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Full text of "Die Gartenlaube"

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LIBRARY OF THE 
UNIVERSITY OF VIRGINIA 





PRESENTED BY 
MRS. C. W. KENT 





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© 893 o—— 


—An unfere Leſer! -+- 


— — ⸗⸗“— 


RM, diefem Hefte befchließt die „Gartenlaubre* ihren fehsunddreißigfien Jahrgang, welcher ihr wiederum 
eine anfehnliche Erweiterung ihres Koferfreifes gebracht hat. ; ‚ 

So aufrichtig und herzlich der Dank ift, mit dem wir diefe Thatfache an der Schwelle des neuen Jahrganges feſt 
ftellen, fo raftlos werden unfere Bemühungen auch fernerbin fein, der hohen Derpflichtung gerecht zu werden, welche aus der 
bevorzugten Stellung der „Bartenlaube” im deutfchen Haufe für uns erwädhlt. 

Wie fchwer die Erfüllung diefer Aufgabe ift, das wird jedem unſerer Freunde Par werden, wenn er an die 
Bunderttaufende denkt, die durch ganz Deutfchland und über alle Welt zerftreut mit ihm die große Bartenlaubegemeinde 
bilden, wenn er ſich die Derfchiedenheit des Alters, der Eebensftellung, der Bildung, des Gefchmads all feiner Mitlefer 
vergegenwärtigt! Aber wir find getroft, denn wir wiffen, daß die Eeitfterne, welche ſich der Begründer der „Bartenlaube” 
vor ſechsunddreißig Jahren auserfehen, unwandelbar und untrüglich find. Sie beißen: 


Deuffches Haus! Deutfches Vaterland! 


Wenn wir diefen Sternen folgen, wenn wir unfern alten Grundfäßen getreu unentwegt fortfahren, unter ftrengen 
Ausſchluß alles Miedrigen und Bemeinen, den Samilienfinn, die Daterlandsliche, die ideale Begeifterung für die höchften 
geiftigen Güter, den Sinn für deutfche Treue und Wahrhaftigkeit zu pflegen, dann find wir ficher, daß die „Bartenlaube‘‘ 
ihre Leſer auch Fünftig in Mord und Süd, im deutfchen Bürgerbaufe, in der Hütte wie im Palafte finden, daß fie das 
bleiben wird, was fie als ihren ſchönſten und ftolzeften Ehrentitel betrachtet: 


Das erſte deutſche Bolks- und Familienblatt! 


Unfere Handfehriften und Bildermappen find wohl verforgt; aus den reichen und mannigfaltigen Dorrathe feien 
hier nur angeführt: 


Lore von Tollen. Roman von ID, Heimburg. 


Die neueſte Schöpfung der beliebten Schriftſtellerin, ein Roman, deſſen farbenreiche, ſpannende Handlung, erſchütternde 
und gemũthvolle Schilderungen eine außerordentliche Wirkung verbürgen. 


Die Vermählung der Todten, Erzählung von AIſolde Kurz. 
Eine ergreifende, an feflelnden Kontraften reiche Eiebesgefhichte aus der Zeit der Peft in Florenz. 


Sakunfale. Fon Reinhold Orkmann. Anlerm Glohenkubl, zo. Gerhard Walter. 


Eine in Berliner Künftlerfreifen fpielende und das Leben und Eine neue Befchichte des ſinnigen Erzählers, deffen fchlichte 
Treiben derfelben trefflich fchildernde Novelle, i Herzenstöne unfern Leſern wohlbefannt find. 


Gold-Aninia. Don Ernſt Pasquö. 


Ein Roman aus der Hochgebirgswelt des Engadin, der mit packender Lebendigkeit das Schickſal einer den Schrecken 
der Elemente anbeimfallenden ganzen Gemeinde und eine mit der Kataftropbe verflochtene Kichestragödie ſchildert. 


Ein deulfcier Fiebesgoll, zu Stefanie Keyfer, Uebertaſchungen. zo Viklor Hlükögen, 
ac en La Dee nkiefe Dylan eine jener anbeimelnden echt deulſchen Familiengefhichten, 


ihres liebenswürdigen Humors geformt hat. in welchen der Derfaffer fich ftets als Mleifter bewährt. 


Tudivig Gannhofer, Th. Fontane, Sophie Junghans, Hermann Beiberg, R. v. Perfall, Belene 
Pichler, A. Weber, die unferen Teſern wohlbefannten Erzähler, werden ihre neueſten Werke den genannten anreihen. 


Im Dienfte der Aufflärung und Dolfsbelehrung haben ſich unfere altbewährten Mitarbeiter, denen ver: 
fchiedene junge Kräfte ſich zugefellten, der „Gartenlaube“ aufs neue zur Derfügung geftellt. 

Prof. Dr. €, H. Kild, Prof. Dr. Karl Pogt, Dr. WM. Taube, Dr. F. Dorndfüth, Dr. A, Wolpert, Prof. Dr. @tt, Dr. Karl uf, 
die Brüder Karl und Adolf Müller u. a, werden ihre ardiegenen Beiträge aus dem mediziniſchen, hrgieniſchen und naturwiffenf haftlihen 
Gebiete fortfetien. Prof. Dr. Max Haushofer, Prof. Dr. Karl Biedermann, Fr. Selbig, Dr. &. Paufus u, a. intereffante gefchicdhtliche 
und Fulturgefhichtlide Bilder, landfchaftlihe Schilderungen ze, darbieten, während £udwig Gannbofer, Guido Hammer, Eugen Friefe, 
Karl Brand fih wieder mit ihren fo gerne gelefenen Sfijzen aus dem Wald: und Jagdleben einftellen. Feſelnde Plaudereien 
ans dem gefellfdaftliden, litterarifchen nnd Fünftlerifhen Leben der Gegenwart haben Mudolf v. Goltfhall, Oskar Jufinns, 
sermann Heiberg, Emil Pelhlian, Mudolf SKleinpauf u. a. briaeiteuert, und über die wichtigſſten Fortſchritte m der Cechnit und 
Induftrie, die neueiten Erfahrungen in Haus“, Land und Gartenwirtbidaft werden R. Arlaria, 2. Erufl, ®. SHätlig, 
Dr. &. van Muyden, €. Fallienborfi, Th. Gampe, &. Schubert berichten. 


Ueberdies follen zahlreiche und gut gewählte furse Mittheilungen aus den verfchiedenften Bebieten dem 
Ceſer cine —— von Unterhaltung und Belehrung zuführen, während bildliche Darſtellungen unſerer erſten Künſtler 
wieder das Auge erfreuen und den Kunſtſinn fördern werden. Fr R 
So rufen wir dem unferen Leſern am Schluffe des alten Jahres ein zunerfichtlihes: „Auf Wiederfeben im 
neuen Jabre!“ zu. 
Keipgig, Ende Dezember 1838. DE Bedaktion der Gartenlaube. 





— 


An der JFabreswende. 
Driginalzeichnung vom F. Wittig. 












d 





" Iahrgang 1898. 


Derlag von Ernft Keil’s Nachfolger in Leipzig. 


8* 
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GIF 


mViS 37 





Anhalt, 
Der Steru (*) zeigt an, daß der betreffende Attilel illuſtritt if. 


Scite — Seite | Seite 
Gedichte. d 
* Abendblandichaft. Von J.v. Eichendorff 
Bitte, eine, für arme Kinder. Xon 
Emil Nittersbaus . : 
* Braun Gold. Bon Feodor vdwe 
Fenſter, ihr. Bon Klaus Groth 
Beftgedicht zur Einweihung des Deutichen 
Buchhändierhanfes in Leipzig. Bon Ernft 
v. Wildenbruch . . 
* Feperteite er,der. Von Cduatd Mörife 
riedrich It, — N Lon 
deder Zr Er 
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— er ig 
Perebeta —— 
Bon Kubolf v. Woitfänt 2. 
* — jebt nit mehr! _. — 
FEIcdeids, —— ug In 
Bo ietrihh Theden . . 
— ben En E ann 
ar albis Memoiren. Fon . Kury 
Heichichtichreiber jeiner Heit, ein 
deuticher yyalrit als, (ermit I. bon No» 
) Son jr. ohmann  . 
Teutiche Stadtebilder,)} Bon 
i 
l 
| 


E BEER ee = B E & — 


burg-WBotla 
+ Damburg. 

Dujtab Hop 
* Damburgs neue Eibbrüde . 
eBernward 







Dildesheim,b 
Kon WW Ho 
burget 







anleim, 











Biographien und — — 


* Eichrodt, Ludmig. 
„ — 
na —— 
efterreid z 








Baturwillfenfihaften. 
fütbe, die größte, der Welt . . 414 
) eben, wie Berge und, entftchen. Won 
— Rn. Wilhelm Meyer 11 
r 95, | Erderjhätterungen, über. ' Von di. Falb 245 
x IB Dupnotismus, der, fein Nußen und 


mia au. —” DI j 
. Karııeva 






Z2is 











jeine Gefahren. 












v wre 6 — 
gel— 
Difeefüfte, Wilder von den | Dermilchtes. 
hrmnrzort) 314 * Umateurphotographie Von C. 


‚* Neichög erichtög ebäudes, Grumditein, \  Ralfenhorft 
legung des. Bon Herm. Bil . . . . 797!* Aus dem Leben eines nadhniebige en 
Ncidhshauptffadt, aus der Deuf« BGeſellen. (ftorfgewinnung und = 





hen. Bon Ba Indenberg. arbeitung.) Bon R de rar sur ar U 
‚ um Derzen von Berlin 1. — 2, Beethoven in der Klemme. Eine 
Arbeit und Berfeh ır 3I6. — 3. Fin Thier- | Fidelioepifode von Ernft Pasand . 
arten #8. — 4. Das Tultige Berlin Beruf, ein weibliher . 
0, — 5, Tas galtlihe Berlin 519, ‚Vertlerelend. (Das dfenttichfte Elend) 
. Shmugg erbilder von der preumiich- ' Bon Friedrich Hofmann . . . 25 
R } 2. lumenlurus. Bon Su 8 ftlein . 531 





+ Ed warı ort. Yon Fe Wernid 
: onnmwenbfeier, die, an berot 
Donau. Bon Ed. Beildie . 


or, Freun on u 
— was uns ber, erzählt. 
Ron Hudolf v. Gonihal . . 













384 |* Stadtebilder, dentice. Dresden 2 |* „Cirtus vom. Bon Osfar Auftiuns 151 
i" — Hamburg . . 2 ri 1 D 
4 teine, unlerejag emumran ten. Son 
Be ibende u. gel u ich ähe, 3, Wener-Marlo 767 | Eifenbahbneeile, eine, im BT, 
zuge —— i i Bon Hans Bam . 22... . 512 





ao Rudolf Eronau 541 R FE [. 
* Torcelto, eine Fahrt nad. Tor 
572 2 


Elend, das öfienuichfie. Ton 


Fortihritte und Erfindungen der 
Neuzeit, 
Das Delen der See 735, — Die Glas« 
ſchmelzerei zu Jena 115, 
Fu 


‚au 
eld, wie hebt man fein, auf? Son 
Dar Auftinus . . oo 
Semifiensirege, eine . 
Glasihmelzerei, — zu dena, Bon 
Dr. ©. Stleinftüd 
* Gute Fer der, des deutschen 


Soldaten. Bon Fri Klien . . 

Hausfrau, fie wird feine, Bon 
Natalie Guth — 
ausſchatz, ein. Von D. Juſtinus 
ena, die Glasſchmelzerei zz 
Kleid, bas rationelle. . . R 

* Konverfationsleriton, ein neues 

* Kortgewinnung und »Bearbeitung. 
Aus dem Leben eines nachgiebigen Ge» 

en.) Bon Fr. Helbig . . 

RetterBereins, die Dausbaltung * 
ſchule des, in Berlin, Bon ð Schu 

Metall, A loergeljenes Sim). 
Bon Tb. Gampe . 8705 

Oper, wie eine, entficht Von Joſef 
Lewinsth — 

Oelen der See, das 

Beſtalozziſtift, im. 

Vhotogtaphiren, Son 
E. Fallenhorſt : 

* Bierers onverfationslerifon — 

Puppentoilette, aus ben Geheimniſſen 
der. Von C. Fallenhorſt 

* Schäbße,vergrabene undverfunfene. 
Bon R. Zander 

* Soldaten, yon gute Durh des deutichen. 
Bon Brig Ri 

Statuen, —*8 Von Siegmi. Feldmann 

* Theaterbränden, MEN 
bei. Von W. Döhrin 

° Ucberfömemmunnenbird@ie,Di ‚Ode, 


"geheimes. 


IV 0. — 


Vetriebstraft der Welt, die. . 
Blütben, friiche, zu Beihnachten 
Blüthgen, Viltor — der — 
laube“). 
* Blume, eine 
* Blumenmweibe iu Wariae Dimmel- 
fahrt . —— 
Böhmerwaldbund, der deutiche . 
* Breslau, das Juguna · Poſpitoi in 
‚Brieffäften am Ocean . 
Bühnengenoifenidait, 
Bazar für bie deutiche . 
Bülow, Hans v., und A. Rubinftein 
Burgtheater, das, in Rien . 
Chamisio, Adalbert v.. 
* Chriſtabend in einer 
Warmſtube .. 
EHriftbaumihmud ” 
Corcorang, Billiam wWilfon 
Lichtbild zu einem Saanendude) 
Damenkludb, ein 
Damp daͤnmer, bei dem . 
379 Dentmal, das, ber Völferihladt 
bei Veibsig, Bon Otto Moier . 
347 Zeutlde in Venezuela . 


der Verliner 





Bienen 


(ein 


Deutihe Worte von Otto v. Yeipuer . 
7198| Deutichroftafritaniiche Beten Mr 
26 | Diamanten, himmlische 

286| Dichter, ein ölonomiidher. 
sus Qihterhonorar . ö 
a) Döring, Theodor, Aneldoten von 
158|* Dor eites, am Borabend eincs 

Drama, ein Iunftiges . 

16 Durft, genen den —F 
(Ehemann, ein geprüſfter . . 
525 | Eibenban u Pie inder Deimatb) 
+ Eihendorfi, Joſebh SErBIEEN von 
29 Eihendorfj- Schtmat ‚bad .. 
57* n Niße . . 

Einbandbede zur „Hartenlaube* 
685 * Eiäbredher auf der Oder . . 

Eiſenbahn, die, im — 
BB Mohlfahrt . . 





der 


Unfall Meldeftellen. . . 59) — die erfte chineſiſche! 
Bermifiten, bie deuticen, und die — eine neue ruffifche . 
„&artenlaube”. Bon Hermann Hindbt . 608) — in Paläftina 


® Balfersnoth, aus den Tagen der 
Weihnachtsbaum, wie alt ift ber, und 
wo ift Kine deimath? Von A. Tille 
Meihna 1bnsihente. Bon Gehen 
Zinn (ein ha bbergeſſenes Detail) . . 


Blätter und Blüthen, 


Aale, ——— der ENDEN) 
Yalgift, das. . 

Abbazia. 

Abichied. . j 

geist: ein Lob der... 

Agftein, der Rofengarten von... 
Aamode» Unmejen, Stimmen genen das 
* Alarich in Rom . 

* Alexanders de Gropen Tod 

Alles ift ihon dagemwejen. . 

*Alpirsbach, bie Benediftinerabtei 

Altes und neues , . : 

Amazonen, die, von Dahome R 

Amerifaner, wann ift Ber erfte, nad 
Deutfhland re u : 

Annaburg, Mil litair-Anaben-Erziehungs- 
inftitut zu (150 Jahre i im ee | der 
Wolithätigkeit) . . . 

Aphorismen . 

Aquarelle und Borzelfanmalerei, 

orlagen für z 
* Urpt, der . : 
* A mungsftuhl, der . 
Audienz, eine jeltfame. 
* Huerbadj3 Keller, in. : 
Auerftädt, ein Dentitein auf dem 


Schladtfeld von, . 
Auguft, der 14, — F 
* Yutomat. . R Er er 


* Ball, der erfte . 

Baftille, die wiebererftandene , . 

* Bäume, Deutihlands merfwürdige 
(Königseiche bei Beifterwip) 

Berlin. Brandenburger Toon, das 
„Biergeipann aufdem . . 5 
— Das snigtige Zeughaus 

—*5 — Nadıitleben. . . . . 
— Theater, ZmPeNeUe u nn. 


zau'* Kalb, Rudolf , — 

. 3 amiliendronit 738, 

. 195 Faſchingszeit, die. ; 

. 482 fFaftnadtsjviele 
131|* Feinde, am. . 

Z04 enfterihmud, ein neuer. . 

. 2m hie ra ein, in den «pen F 
80 edit Ernit von Wildenbruchs 
419 den im Papier (Brieflaften) 
= ———— („But Ding will Beil 
418 Florenz, Maienfeft in 


 &4äl Friedrich IL. („Welch — Bilichigefähl”) 


285 |* Eitel Friedrich, Prinz "Friedrich Wil 
beim und Bring, von Breuben 5 
834 | Elifabetb von England, ein Sonn 
ber Königin a 
317 * Engelhard, Vrofeſſor Wilhelm 
Epidemie, das Dpfer einer. . . 
'Epileptiihen, das Brennen der . 
‚Erinnerung, eine... 200. 
äll/Eraminand, ein hinejifher. 





Einen ber. . 
rau, eine edle (Roman Vomen bon 
Redwih) 

Freifa ezen Vrie iaſteu) 


Fremdling in der Heimath, ein (Eiben- 
35 | baum) . 
Fremdwörter des #dentjcen Bühnen: 
wejens 


64 een Karl, KReiteritatue des 
zas tinzen, von Preußen . ; 
* Friedrich Karl-Dentmal, Bring, su 

672 Srantfur a, Dder . . 

— Friedrichskron, Bau des Schlofies . 
67° riedeih Wilhelm, Prinz, und Erin 
97 itel Friedrich von Freuen ; 

416 Seidtüdsansipe im Herbft . . 

J sn ee ke au arte 

N elifaberh, die "Neformerin ber eng« 

us|® Tilsen dien Gefängni . 
32 Fürftenjubil en, — deutſche 
67 * Funkenfeuer, die, am weißen Sonne 
768 —*— in berſchwaben — .. 





* — ws a BENE BEE BE J 


— x 35 Sb — 


27 — aus dem Nadılafie von 


Subaänger, ein ———— (Emein 


Garibalbi, Anita : . 
„Bartenlaube“ »stalender . 
„Gartenlaube”, Bocten der . . 

Befängnifie, die Neformerin 
englifchen (Elifaberh Seh). - 

Geibels, Emansıel, eine Augendliebe 

Geige von Tieifenbruder (Berloren 
negangen) . . 

Geldfürft,cin ameritanifcher (Mad) 

Beneſende, Füriorge für. . . 

* Genie, ein verfanntes . . 

Genoveva (eine Hafiiche Stätte) 

* Gerade! Kind, halte dich . 

Geſchentwerte für den Familientiic 

Gejihtsjinn, der, eines Dupnotifirten . 

. Görlip, der Bierbrunnen zu . j 
„Bofe“, ein Aubiläum der 
„Gut Ding will Weile haben“ 

Dandicuhe, die, ſouſt und ient 
Derjensgeihent, et... 
entid . 

ill (ein ameritanifcher „Zonverting) 
ofmann, Friedrid 7 
oofer, frau Obriſt 
otelgenie, cin, » 

FIRTE) Hugdietrids Brantfahrt a 
34/150 Jahre im Dienſte ber Wohl: 


der 


160) thätigleit ; 
=|9 Hujaren, erite, im deutichen Reich j 
159 | gypnotificien, der Gefichtsiinn eines 
. 321! Sägerabernlanbe des 16, ——— 
. Dil * Jägers Freude, det . . 
337 | Yagdantife, eine . . 
224 | Nagd- Zeitung, neue. . — 
160 | Zahrhunderts, Scinßiahr eines 
353 — — ee 
6 Japaniſches Kunitwert, ein. 
02 nis eine neue Methode zu 
64° Jung Werner beim Freiheren . 
KRaffeeverbot für das — — 
Weſtſfalen 
339|* Kampf, baricı . 
160 | Kanal zwiichen Frantreich und Eng- 
131) Land, Eiſenbahnbrücke über den . 
Kanarienvogel, der Harzer . 
2233| — Was koftet ein. 


° Kautafus, Razzia im 
„Kibige", die. . 
Kind, halte Did gerade! 
Kinder, unglüdlide . 
Kindergejellichaften, über 
Kinkels, ein Wort Gottfricd 
Kiraififce Sultanin, eine 
K 


lage» und Trojtlieder dentjcer 
Dichter . ; 
tailiiche Stätte, eine (Genovevn) . 
Kleinfte, das. 
Klimatifcher Binteranfenthalt, 
neuer . . 
* Hlönthaliee _. 
Kochunterricht für arme Mädchen 
Konverjationdlerifon, ein, für 
10 Markt. . ; 
Körners, Theodor, au Todestage : 
Kornblume, die, im Garten . A 
Korreipondenz, der Heiz der . 
Sereidezeihuungen zu firiren Vrieft. 
Kuh, die gepfändete . , 
Kühne Sultan (ein eh des $ Jungen 
Deutichlands) . 
Kühne Studien. . ; 
Kunst, die, alüdlich zu fein j 
* Künftler, der franfe . 
Künftler-Aubiläum, ein (Karl Werner) 
Läufe an Böneln (Brieftaften! . 
Sandbriefträger, die 
Lebenäbilder, ideale 
*Lehrerin kommt, die . 
E10 Lehm up! . . 
a0 * geibipeifen. voltsrhänlice e 
Lichtbild, ein, einem Schatten 
223) bilde (William Bilfen Gorcorans} . 
—X Liebesbotſchaft, eine 
Lindner, Alberi. 


ein 


Lifzt in Berlin. 
97 | 2olomotive, was fojtet eine? Grieft. 


. 418|* Lömwenbräufeiler, der, inMünden 


FR er tr (ein Voltsnahrungsmittel) 
30 Lorelel, die, in Sübamerila . 


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E as — 


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67 


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EB <BuERE E 


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BERN 
N 
Pi”. 


Sotosblume, die, in Megnpten 
Ludwig XVI. und Napoleon L.. . 
* Qubwigs IL, die Schlöffer König. 
Maday dein ameritanfeher — 
Vaiblunien, die , , 

Manie, eine moderne . 

* Maria Therejia-Dentmal in Wien 
in — illuſtrirte ne 


e —8 das entjlohene. . 
Rono grammftiderei, ein neues Bert für 
* Mofen-Dentmal in Plauen . 

* Motor, ein neuer (von Daimler) . 
zeunam, der Lchrlingshort in . . 
” der Löwenbräufeller in 
— Mündener — eine... 
nike die rohe . Fuer 

Mujterbühne, eine deutice ee 
Nufterfammlung alter Beinen» 
ftiderei für Haus uud Schule 
* Nahbarstinder . . 
Radtigal, Guſtav (ein muthiget deuſcher 
Meiſende 
Namen, Beräkinie, auf der Tafel’ 


‘ Namendzug, der leßte, Haifer * Sommertag, ein. . 
Wilhelms . p genberting: ein amerifanifher . 
Napoleon 1. und gudmig \ xvi. plakl auf Thronen . . 
NRarrenleiben. . ; beifenträger (ein nübliches Hans. 
Nafen, rotbe. . geräth für den Sommer) . 
u Natter, bie Schredmittel einer Spipenflöpplerin, bie erfte deutihe 
ift rianifchen. Bon Thomas Schlegel Sprade ohne Borte. . . . . 
* Meitlinge . * Stegen, Johanna, die —— von 
Rew>Morter Bolisiften, ma und | Süneburg —— 
Gewicht der Steub, Ludwig 7 


Rew-Morker Romantik. 

Nidel (Bricitaften) . 

Rorden, im hohen. 

be Nordenifiöld “4 

* Norderucn, die Kinderpflegean, 
ftaltin . . 

Norwegiidhen Bauern, Sitten der 

Norbhilfstäfichen im Haui e. 
TTZDERIETENTRID, Srübjahrärennen 


uf. — 
= Der: Eisbreder auf der . 
Offiziersabzeihen, äußere . . . 
Dieander, der, eine Biftpflanze . 
Saläftina, Eifenbahn in. . . 
Sanoramenfarten ber Zukunft 
Bapierne Kleider im Jahre 1718, 
garten: Salon, ein, der döer Jahre 
erle, eine toftbare RT 
Berlenfifcherei, die, im Vogtlande. 
Betrarca und die Kölner ? rauen 
Eilze, Vorſicht enuß ger 
trodncter . a Ver 
Pintos, die drei 
Plab am Tiſch 
Berti, Oster F — 
Xoeten der „Bartenlaube” . 
Porta Beitfa lica, Kaifer Firbeim- 
Dentmal an der. sun 
* Rojjart, Ernit 22 
— — ans den Traueriagen in 
— bie Friedenstiche al — 
Mer Karl, zwei Schriften von . 
Buppendoltorin, Leipziger (Brieft.) 
* Kassa im Kaulaius . . 
— 
Kinder 
* Reichenbach, am 
— und BWetterhorn,. 
Neifenker, ein mutbiger deutjcer 
(Guftad Nachtigal) . 
Repetir uebee dei 18, Iahrbunderis 
Riedel, Bros. Karl Fr. 
Riefenw rite. . 
Nittershaus, Emil (Bocten der „arten 
laube*) . F 
Rittmeiiter, der verfettete . 
Roman, ein oberichleiiiher . 
Roiengarten, ber, von Agftein : 
Roitflede im Papier (Brieflaften) . 
Rubinftein, Anton, Hansp, Bülow und 
Rüdert-Dentmal in Schmweinfurth 
(Brieftaften) . . 2 
Nüderts, Friedrich, Gedentiag 
” Autfhpartie 


beim 


für arme 


er ze 


e 1 * Salbadı, 


— GE Fr er E: EEBEESEEFUSERN — 


. A56* Studienmappen deutſcher Meiiter 
‚, ZMb|* Sturm gejagt, vom . 
. 384! Tataren, Traunngsbrände bei den 


. GL 


. Bd Berein deutſcher Kehren in Eng‘ 


= 


= 

* re Anna. . 
Clara . s 
130 Satutihüffe, die Hundertein . 

F Sängerin, Yenab, eine nad 
Sau Remo,nad . . 
häbdelthurm, ein — 
Schäferidyll 
beras, Ernſt, „Kailer ir 
beim 1. 
herenberg, Ernft@Bocn der’, Garten 
laube)) .. 2... 4 
childbach, Dr. Karlet. 
Schildhorn, das Söwancupfen in 
chnitzwert, inuſireiches —F 
Sch nheit, .. von 17%. 
Suiten, die Weiber von 
© 


LET aa MR “on 


ulkleid . BanIeIAF —JF 

churz, € 
—J——— daB in — 
Schwarzblatt om a er 
* Schwefelbad in Algier, eın . 
Schwiegermütter, Ebrenrettung der 
* Seegradernte bei St. Male . 
* Selig entidlafen . 
Selbftmord aus gefränfter &ireifeit 
Semler, Deinrih F 
Sibirien, Binterabende in. 
* Sommernahtätraum, ein, 


Steuern vor gapren V 
* Steuertag, der N i 

Storm, Theodor Fo. z 
Stormä, eine Biographie Theodor . 
⸗ Strähne, die, verwideln jich 








fibiriihen - »- » » 2... R 
353 Taucherknaben, die, in Meijina ; 
64 * Taufe, nad ber . . : 
ä14 |* 1000 Mart elohnung 
483 | Tetle-Frau, d 
131/ Telegraph, Ar mertwiürbiger, im 


18. Jahrhundert. 
Kumperaiun, Beftimmung der, des 

nädften T . 
Teneriffa, * em Bir von 
Zeppichgärtnerei, über 

* Teftament, das . . 
Theaterbeforationen und "Boltsbühne 
Tbierarten, bleide . R 
7 ronfoiger deren Lifche . 


206 ı* geringer Vauernirau, eine . . 
w|* Todten eer, Abenddämmerung am 
353 | Trinkgeld, der Hampf gegen das . } 


Trinkgelds, der Urfprung des . . 
736 | Ueber hwemmungen, ein Opfer der 


322 | Ueberjeeifdhe MUISEHENBEN, das erite 
4ör | bentiche F 


4ö1|* Unfterblichleit 
Urania, bie 
Pr] Uttmann, Barbara 
159 | Bater und Todter . 
j® gereibigung der Artilleriften in 
739 | Berlin. 





368 | land, der 
. Berlaffen 
158 | Berloren ge angen A 
131) Bermißten-lifte . 
418 | Berjudhspilan ungen R 
323 | Vertrauen, belohntes . 
* Bogtländerin. 2% 
353 | Bolfsbühne ımb Theaterdeforationen 
- Bollsnahrungsmittel, ein . . 5 
35 |Bölterfhladtdentmal bei Leipzig s 
131 * Borjtehhunde, die. Von ©. Yang . 
Bortrag, der mündlidie 
Vorträge, zur my? der” öffentlichen” 
Vaijen und Halbwatien . . 
Waldes, vom Werth des deuticen 
„Waldlilie,* die. Bon er sem 
97 need (Brieflaften).. . 


286 


SEBES — ßen — 


F "re Baier“, das, in Berlin 





Eeite 

U Wwarmnuse, Ehrijtabend i. e, Wiener S 

. 97 Bas fjolfen wir lefen? . . . Zus 

. 0) Weibern, mit aäntiihen . 131 

— ————— W 

IN * Beihnachtswunſch 839 

. 483 |)* Wein, der theure . . sul 

alb | Weintrauben, Verwerthung unteifer 206 

Werner, Kari (ein Künftlerjubilä 8 

194 Werther, ein weiblider . . . 226 

‚Wie eine neue Stadt entjtcht Fri] 

. 83 Wien, dat Mutgiäseiee in . Bub 

226 |* — dasMaria herejia- Denfmal in 481 

ı Bil Pllbeemnt 3 Augenbgarten . 238 

35 1* Wilhelm. ‚Kai er,a.d. Sterbebeite IM 

. 28| — ein Freund bed Turnens 414 

2 |* Wilhelms 1, der legte Namenszug 259 
482|* Ealraehm IL, "Kaifer, auf dem Exrerzier⸗ 

31 file... 2... ül4 
tr — die Eröffnung bes denticen Reihe 

&7| tanes buch : 676 

älä* — nordiiche Meerfagrt . ih 

204 |* Wintermärdien , . PS 

162 Bohnungänoth, eine bevoritehende 1 

258|* Zenab, eine arabiihe Sängerin , . . 4 

131|* } eunhaus, bas *8* in Berlin. 32 

’ ierbrunnen, der, au Görlig „ . . 190 

immerpflangen im —— — 

ufall, ein —* . 2237 

u guten Jweden . . 386 

u nichts tauglid. . %9 


Illuftrationen. 


Abendlandihaft. Von J. R. Wehle . 
Abſchied. —JI der —— * 
er 


an ihre Zefer. ( a e) Et 


wuris in Rom im} 
W. Lindenichmit. . 

Aleganders des Großen Tod. — 

E. v. Vilom IP 


Alpirsbach, die Benebittinerabtei. — 
DM. Bad . 





Umatencpfatsgies ie, die + 220. 221 

Andas Fräulein!” on 9. sotichenreiter 160 

Arizona, durd. Bon Rudolf Cronau 
540. &i2. 


SH, &ih 

Arzt, der. Bon Hans Badımann , 21 
Ahmungsitubl, der . . . 2 2.0. 
Auerbachs BEN, in, Bon Eduard 
Grüner . ß 
— Yon Sr. Brolß ante 
Augusta Biltoria, deutſche Raiferin 
483 | Automat . . 

Avanciert! Bon Chr. "Henden . 
dans der erfte. Bon ®. Franz . 


nEablR 


1/Bäume, Deutihlands merfwäürbige. 
Königseiche bei Peifterwiß.) Yon Felig 
ampel . 
130 | Berlin. Bid in den Kichtbof des "Zeug: 
738| Haufes, Bon L. Deitmann . . . 
195° — Vismard im Thiergarten: don 
a kg... 
3 Blume, eine Bon R, Beyihlag . j 
210 Sn au Mariae dimmet- 
za | fahrt. Bon J. MR. Wehle . . 
Di, Bor, Freund . 
|8raun Gold . . 
162 Breslau, das Kugufo-Sospitat in 
on 


: BEE Es EB 


IR 


Friedrich Stahl . Sl Bi 
3 —E— inder. Son Anton Braich 152. 753 
4 Chartum. Bon N. Püttner . 
Ehriftabend in einer Wiener Bärm- 
14: Stube Bon W. Gaufe . . . . 812, 813 
Eirkus, vom. Bon C. W. Allers 151, 


67 152, 153. 154. 155. 156, 157 

. Mi Dampfhanımer. Bon fir. Kallmorgen. u 
. DR Porfieftes, am — des. Bon 

Zu 8, Biandi. Hö 
195 | Dredben, Anfihten von. on Dtoi 

j 27) Winfler. . nn po 20, Si. DR. 006 
Aal Eihendor «Denkmal, das, in Reife 

10) Eichrodt, Ludwig, beim Sehtundiedhzig ee 

67) \Eisbreheraufder Oder. Ron®.Stdwer 59 
E38 | Eitel Friedrich, Prinz Friedrich m 

2 helm und Prinz, von Breufen . . 197 

ll) Eibbrü de, die neue, in Damburg . 25 

G Emin Balda . .. 81 

. #9 Ernft MH, es! von Kodurg-Borha ..28 

. Hd’ Wald, R 248 

384 | Bejding, Biene Von W. Gauje 69, 77 77.78, 79 

. Gl Feinde, am. Bon ®. Ehuh . . . . 283 


° 


VI o— 


—0 


Saite | Eeite 
Simſon, Neihägerichtspräfid. Porträt ADi 


Eelte | 


Felde, im. Ron 9. Pannen ; 417 | Leipzig, Grundſteinlegung bes 














enfter, ihr. Bon C. W 78* .. MM) MBeidsgerihtsgebäudes in . . Soldaten, der gute Muth ag Sn 
BE Bon I3.R ‚ Wehe . 4692| —GSiegedbentmalin Bond. Wintleräb2 D56 Von D. Berladh — 29. 30, 31 
Feuerteiter, ber : 81 Sengesbläthen. Von R, Benichlag . 255 Sommer Bon R. vinger — 457 
Feuerwehr. R 8 WRZ 089) Lette- Vereins, bie Haushaltungs- Sommerhirih R 2.381, 383 
lei, der. Bon A. Brunner — 8329| fchule des, in Berlin. Bon E. Thiel 380 Sommernadhtstraum: Titamia und 
Storeng, Reienfefl in. Von J. Waqre 273 | Lie esbotihaft, eine. Von H. — 33| _Bettel. Bon Julius Hoeppuer . . 
Sranz Zofephl., Kaifer, und feine — Bon F. Fehr . 332 | Sommertag, cin. Bon E. Friedeichien 539 
milie. Bon W. Gaufe . 16, 222 Liebeszoll. Kon u, Friedrich. : ; 3 Sounmwendfeier ander oberen Donau 
Frledenstixche, die, in Potsdam. . 4öl Qömenbräufeller, der, in Minden . 341 a2, 37. 308 
Friedrich Ul, Kaifer, und feine Ge— Ludwig L, König, von Bayern . . Yi/Spuntag, am, Bon R. Beyſchlag Rn 
mablin . 184, 185 Luft, in fhwebender, Bon Herm. Bogel 573! Speijenträger . ; 355 
Srjebrihß, Kaiier, Be; rügung in Mädchenblüthe. Bon Hermann ſtaulbach Au |Spieigefänrten. Von B. Pigihein 3457 
Leipzig. le Gerlah . . 192, 19% | Maitrant . . Stegen, Nobanna, die Heldin Bun NE. 
— den Ranen. Bon Edm. Brüning 424 425 | Manöverwagen, der, des Kaijers burg. "Ron Sudm, Herterich 
— Tod und Beſtattung 4i 448, 49| Wilhelm I... 244) Steiner, Emil, Bildhauer . . 7 
Friedrih Karl, Meiteritatue des Maria Therejin> Dentmal, in Wien. di ‚Steirisches Mäpden. on Fofeh Lied 319 
Bringen, v. Preußen. Bon Emil Steiner Di Meteorologiſche Vocitationen 2, Stenertag, der. Bon H. Deinnichen . wu 
Kriedridefron, Schloß, in Potsdam 4ül 728, 7229| Strähne, die, verwideln jid. Von 
Friedrich Wilhelm, Prinz, und Prinz ‚Milhapparat, der Sorhletihe. . . 224) ©. dei Torre. 17 
Eitel Friedrich von Preußen : . 197 | Mittenwald. Bon R. Kütner 660. BEL 66h | Sturm gejagt, vom. Bon st. Ölampp an. a0 
Frühling Bon R. Püttner . 2361| — am Stammtiich in der Poſt zu. Bon Taf enbuchfamera — 
— erſter. Bon H. Prell . . . 217) 9%. Broelß .. Taufe, nadı der. Von Ad, Yüben . . 385 
Frühlingsbild. Bon W. Dienzler . 213 Modell, dasentflohene. Von B. Lautier 40.411000 Mart Belohnung. Bon Fr. Stahl GiS 
Frühlings Erftlinge, des, Won de |Mofen-Dentmal, das, in Plauen . Gl! Teftament, das. Bon 2. Bokelmann 312. 313 
Screner . . 297 | Motor von Daimler, Wagen mit dem 162 DRS SEBEBREEN, Menihenrertung 
— gemeinfames. Bon 3. R. Münden, Bilder von der Kunſtgewerbe⸗ — 687. 689 
Wehle 27| Ausſtellung in. Bon 9. Bartels, dam. 497 — Vauerufrau— Bon A. Weber 277 
—— die, am weiden Zouniage — der Löwenbräufeller in. 341: Tiroler Jäger, ein Bon Franz vd, 
in Oberſchwaben. Bon G. Hochler . 124 | Mündener Japanerin, eine. Bon | Deirenger . . 857 
Gäfte, hungrige. Bon E. Ravel . | DW Dvorat. .. >00 Todten Weer, Abenpdämmerung am. 
Belasterieeufhen Elle, Von Th. Grab 65 Nachbarskinder. Bon W. WMenzler. 57: Ron Eugen Bradit . . 337 
Geheimlamera . . 575 | Namensaug, der lebte, Wilhelms J. 259 Torcello, der Markuslöwevon. Lou 
Geheimniß, das rohe. Bon Meyer Matter, iftrianifche, einen Angriff ” E Werner . . . ga 
von Bremen . an 704 | wehrend, Von G. l 891 | Turnübungen genen hodige Haltung 24 
Omie, ein verfanntes. Bon C. W. Medereien. Bon Hugo Kaufmanı _. . KM Ungeididte, der Heine. Bon. Hotta 12% 
J u Jengierige Bolt. Bon Friedr. Stahl 33 Uniterblidyleit. Von Hermann Kaulbach ZU 
Gerade! Kind, hatte Bid. Snftradion Neftlinge Bon J. R. Welle. . . = ‚Urgroßmutters ———— Von 
u Hansgummnaftit “" .. rd Nordenjtiöld, Bon Graf Georg v. Roſen Dans Fechner jun... . 623 
Börliß, der Fierbrummen zu. . . 17|Nordernen,bieffinderpflegeanftalt in ia Verlaffen. Von Mathias Schmid, 2, 2 
Grokmutters Bild. Von E. Havel . Bi |Dasrmielenteth BSRAIBRIRLENNEN IE Versperrter Weg. Bon F. D’'Stüdenberg 7 
Gropmütterden. Bon J. Günther . 12, Bon PB. Bauer . . 328, 329 Veverl. Bon firr Defrenger . 121 
Großvater, der. Bon G. Hall . . 801 Ober, Eisbredher auf der. . 53 Vittorio, Friedrich, denticher Kaiſer, und 
Gud, Sud! Bon Sau van Beer . 37, Scterreihiichrungariiche Hrmes Bon ‘ feine Gemahlin j 84. 185 
Gute Muth, ber, I deutichen Sel- W. Gauie . . .. 367. 368. 369 Vogelwelt, Originalgeftatten in Er 
daten. Bon D. Ger tab . . . 20.30. 31 | Bapageicuftänder ü 62 beimifchen. 1. Steine und Boldadler. 
Hamburg, die neue Elbbrüde . . . 3)®ierers Konverfationste :iton, aus 158.159 Bon F. Specht EL — Tas Udlerange SER 
— Bilder aus. Bon CE. ®. Allers 80. SäL| Pompeji, Kaifer Wilhelm D, in . 129 Vogtländerin. Bon Herm. Bogel 44 
u Pal, Ernft, als Bart IX, don Vorftehhunde. Bon H. Sperling 345 


— Der nee Dampfkrahn auf dem ww 
Duai in s 


877| 8. Grotjohann 


305 Waldenars Brautfahrt Beh, 558, BE 890 


Darrijon, Benjamin. Vorträt — 518 | Potsdam, die Friedeustirde in... Aal! Waldhere, die. Von Herm. Bogel . . Zus 
Heimfehr dom Maxkt. Bon Ed. Havel 101 Kaabe, Wilhelm — 4V ,‚WWaldlilie“, die. Bon dans Braudſtetter 372 
erz⸗Ober. Bon M. Schotz 4772| Rafflesia Schadenbergiana . 415 Masiersnoth, ans den Tagen der, 
srüenbgeident, ein, — Razzia, eine, im — Von J. Von O. Gerlach 288. 
ber „Bartenlaube” ihre Leſer. Kunſt 8 16. 137 Weihnachtswunſch. "Bon Allexander Bid, Bi 


beilage) Halbheft 
Hildegundis. Von — Kiefel . 
Yildesheim, die Bernwardsjäufe auf 
dem Tomplage zu. Bon Carl Grote . 
Sirfhbrunft, zur Zeit der, im Hoch 
gebirge. Bon v Thiele. . 
Son Haltung, Turmübungen — 
ofburgtheater, das neue, in Wien 


Reidenbnd, au. on 3.6 , Steffan . 
389) — umd Wetterhorn, Bond. '&.Stejlan 
204 |" Grhndheiniegung den, I die feierliche 
Örumdfteinlegung des, in Leipzig. Bon 

Gerlach 

Koß, 667 | Reichshauptitadt, a,b, "dentichen LOL. 105, 
24' 10%. 111.112.113.114. 315220408 —411. 
61! 613, 617, GW, GI 819-554, 


Ton B. 


a Wein, der theure. 
Bon C. W. Allers 


361 | Werner, Anton vd. 


autier 632, GIS 


Du 


— Ans feinem Skiz zenbuch 5%. 589-591 


- König Walmund findet Wolfdietrid) 


2797| im Waide . 


Wien, Fafching. Bon W, Ganſe 6U. 77. 78. 79 


— das Galadiner im großen Re— 
doutensaal (Haiferbejuh) . 








off, Kirche zu. Bon Rob, Aßmus 565570 Rolegger, B. 8. . . . 364. 365. 306) — das Maria Iherefin- Denkmal in —— 
agdhütte im doqhgebirs. Von J. Nüdgratsverfrümmungen, Die Be— das neue Hofburgtheater in . sl 
Amipberger . . R 49 tämpfung der eniſtehenden jeitlichen . 222 Wilhelm 1, Ruuſtbeilage) Dalbheft b. 
Jagers Freude, des, Bon J Deiter . Zin Rurinaıie Von Fritd Bergen . 30) — aus dem Leben des Kaiſers 181. 
Nabreswenne, an der. Von F. nn En Sadfe-dofmeifter, Nuna . . 182, 189, 186, 187. 211. 220, 238, 
Navaniide Bronzefigur £ #12 Sängerin, Zenab, eine arabiide, in 230 25, 269, 271. 
Sung Werner beim öreiheren. Von \ Kairo. Von Alired Schüler . . . 28) — aufdem Todtenbett . . . 18 
R. Eiſermann 464, 45 | Salbadı, Clara, als „Greichen , . 97) — der legte Namenszug des karſers 250 
Auftiz, bie freifprechende wud die ber Schäferidyll, ein. Von L. Blume Siebert — Tod und Beftattung des Kailers 
urtheilende. Statuen von W. Engelhard az | Sdeldearkb für das Jahr 88 . . SI] 169-174. 177. 180, 189.200. 201, 205, 207. 208 
Kampf, harter. —— enberg 23 —— — Rupfen der Schwäne Wilhelm II, deuticder Kailer 4 
Kartoffelpreffe 674) im. Bon €, Thiel. . 645 | — auf dem Ererzierfelde . 40 
Kautaius, eine Razzia im. Bon J. Schlemmer und Bettler. "Bon E. Arnold — Eröffunng des deutſchen Neichs- A 
dv. Bere . 136, 137 Schmugglerbilder von der vreußiſch— tages durd. Von H. Lüders . SU0. Sb 
Kaulbach, Hermann a ruſſiſchen Grenze. Bon Nobert Aßnus — ın Kiel, Von — An 537 
Kegelbahn, aufder. Von, origenreiter zu | 709, 717, 218, A| — in Wien 745 
Kindertuft. Bon E Havel. . . Schönheit, eine, aus dem Ende dei vorigen — in Pompeii . 0 
Kirfhenbiüthe. Bon U, aappi⸗ Jahrhunderts. Von M. Beyſchlag 5972| Winter im Gebira. Bon X. Vuitner 9 
Kleid, das rationelle A — 3 Schurz, C. Von C. W. Alers..Bintermärchen. Bon W. Kray . . 817 
flönthalfee. Kon F. X. v. Niednüller = Schwanrupfen, das, in Schilbhom . . ne Von Ft, Vergen a0 
Korbflechter, der. Von L. vinn Siebert 581 Schwarzblattl. von Fr. Defregger. Zu Nojemitefälle, die, in Kalifornien 377 
Kortgewinnung und»Bearbeitung652. Gi} Schwarzort . . 309, 315 |Doiemiterhal, das, in Kalifornien. u 
Kriegsheld, cinjunger. Von &, Ehierici 837 Schweielquellen, die "heißen, zu Bon Rudolf Cronau 373 
Kub, Die gepfändete. Bon Anton Sid | Hammanı-Mestontine in Algier . , 5l2/Benab, eine arabiiche Sängerin in Mairo. 
Kunjtgewerbe- Austellung, Bildervon Scegrasernte bei St. Walo. Von Bon Aliued Schüler . 28 
der, in Münden, Bon 9. Bartels 496, 4972| Wrtkur Calame . gar 149 Zeughauſes, Vlid im den Lichthof des, > 
Künitler, der franfe. on €. Ravel . Zi3 | Selig entjchlafen. Bon W. stray 210. 241)“ im Berlin. Von 2, Dettmaun , . Fr 
Lehrerin fommt, die. Bon €, Spiper 4. 5/Siemering, Nudotf . . ., BüitlSierbrunnen, der, zu Görlig . 11 


Se EIER 


9 





| Halhheft 19. 








Illuſtrirtes Samilienblatt. — Beorindet von Ernſt Keil 1853. 


Zahrgang 1858. Erſcheint in albhheften a 25 Pf. alle 12— 11 Tage, in Heften a 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1. Tanuar bis 31. Dezember, 





Die Alpyenfee 


Roman von &, Werner, 


Netirrud ten. 
Ane Kedhte derbedalten. 


wi 


och über den ſchneegekrönten Häuptern der Berge ftand ein | Erfer, die mit ihren fpigen Dächern tie Thürmchen aufragten, 


leuchtender Negenbogen. Das Gewitter war vorübergezogen; 
noch grollte es fern und dumpf in den Schluchten und an den 
Bergwänden lagerten dichte Wolfenmaflen, aber der Himmel war | 
bereits wieder Har, die Hochgipfel hatten ſich entichleiert, und jeht 


begannen auch dunkle Wälder 
und grüne Matten Tangjam 
aufzutauchen aus dem Nebel 
und Wollenmeer. 

Das mächtige, von einem 
Wildwaſſer durchbrauſte Alpen: 
thal lag tief im Gebirge, jo 
einfam und abgeichieben, als 
fei e8 der Welt und ihrem 
Treiben gänzlich entrüdt, und 
dod) hatte die Welt den Weg 
zu ihm gefunden. Auf der 
jtillen Bergſtraße, wo ſich ſonſt 
nur ſelten ein Wagen oder ein 
wandernder Fußgänger zeigte, 
herrſchte jetzt reges Leben und 
Treiben. Ueberall ſah man 
Gruppen von Ingenieuren und 
Arbeitern; überall ward be— 
ſichtigt, gezeichnet, vermeſſen; 
die Eiſenbahn ſollte ſchon in den 
nãchſten Jahren ihre eiſernen 
Arme in dieſe Bergeseinſamkeit 
ſtreden und die Vorarbeiten 
dazu waren im vollen Gange. 

Oberhalb der Bergſtraße, 
am Rande einer Schlucht, deren 
felſige Wände ſchroff abfielen, 
lag ein Gehöft, das ſich auf 
den erſten Blick nicht viel von 
den anderen unterſchied, die 
hier und da am Bergeshang 
zerſtreut waren; beim Näher: 
fommen aber entdedte man bald, 
dab es fein Bauernhof tar, 
der da auf der weiten grünen 
Matte lag. Das Haus hatte 
fejtgefügte jteinerne Wände und 
niedrige, aber breite Fenſter und 
Thüren; bie beiden halbrunden 


1885 





Hilvegundis,. Roc dem Deigemälte ven Conrad KtiefeL 


gaben ihm ein noch jtattlicheres Anichen, und über dem Eingange 
prangte, funjtvoll in den Stein gemeißelt, ein Wappenbild. 

Es war einer jener alten Herrenfige, wie fie ſich bisweilen 
noch ganz vereinzelt im Gebirge finden, ſchlicht und einfach, mit 


einem halb bäurischen Anſtrich, 
grau und verwittert, aber kräftig 
dem Verfall troßend, dem ſchon 
manche ftolze Burg zum Opfer 
aefallen war. Der aufjteigende 
Bergwald gab ihm einen äußerit 
malerijchen Hintergrund und 
dariiber hinaus vagte ein mäch— 
tiger Bergaipfel mit nadten, 
starren Felswänden und ſchnee 
gefröntem Haupte einfam und 
jtolz empor, Das Innere des 
Hauſes entipradh feinem Aeuße 
ren. Durch einen gewölbten Flur 
mit Steinfliefen gelangte man 
in ein weites, niedriges Gemach, 
das fajt die ganze Borberfeite 
des bebäudes einnahm. Das 
altersbraune Wandgetäfel, der 
riefige Kachelofen, die hochleh— 
nigen Stühle und der ſchwere 
aeichnigte Eichenichranf, das 
alles war derb, einfach und 
zeugte von Tangjährigem Ge 
brauche. Die Feniter ſtanden 
weit offen und boten einen 
prachtvollen Ausblit auf das 
Sebirge, aber die beiden Herren, 
die am Tiſche ſaßen, achteten 
nicht auf die ji) immer mehr 
entichleiernde Landſchaft, fie be 
fanden ſich in lebhaftem Ge 
jpräche. Der eine, ein Mann 
von etiva fünfzig Jahren, war 
eine Hünengeſtalt, mit breiter 
Bruſt und kraftvollen Gliedern. 
Durch das volle Haar und den 
dichten blonden Bart zug ſich nod) 
fein einziger Silberfaden und das 
wettergebräunte Geſicht jtroßte 


50 


— 0 


390 > 


von Leben und Gejundheit, wie die ganze Erfcheinung. Sein Gefährte | 
mochte in dem gleichen Alter ftehen, aber bie ſchmächtige Geftalt 


mit den fcharfen, Hugen Zügen und das fchun völlig erar 
Haar ließen ihn weit älter exicheinen. 


aute 
Das Antlig und die hohe 


Stim, in die fid) mande tiefe Falte grub, ſprachen von raſtloſem 


Sorgen und Ningen, freilich auch von einer Energie, die diefem 
Ringen gewacjen war; aber es lag zugleich ein Zug von Hod)- 
muth darin, der nichts weniger als angenehm berührte, und in 


Haltung und Sprache verrieth fih das Selbftbewußtfein eines | 


Mannes, der gewohnt iſt, feine Umgebung zu beherrſchen. 

„So nimm doch Vernunft an, Thurgau,“ jagle er in einem 
Tone, dem man die Ungeduld anhörte. „Dein Sträuben hilft Dir 
nichts; Du mußt unter allen Umftänden Deine Bejigung abtreten.“ 

„Ich muß?“ rief Thurgau heftig. „Das wollen wir doch 
abwarten! So lange ich lebe, wird Fein Stein angerührt auf 
dem Wolfenfteiner Hofe.” 

„Der Hof liegt und aber direft im Wege, 
die große Brüde ihren Ausgang nehmen und die Bahnlinie geht 
mitten durch Dein Eigenthum.“ 

„Dann ändert Eure verwünſchte Bahnlinie! Führt fie, 
wohin Ahr wollt, meinetwegen über den Wollenjtein da oben, 
aber mein Haus laßt in Ruhe. Gieb Dir feine Mühe, Nord: 
heim; ich bleibe bei meinem Nein.“ 

Nordheim lächelte, halb mitleidig; halb ſarlaſtiſch. 

„Du ſcheinſt es in Deiner Einſamkeit vollitändig verlernt 
zu haben, mit der Welt und ihren Anforderungen zu rechnen. 
Bildeft Du Div denn wirklich ein, ein Unternehmen wie das 
unfrige würde Halt machen, weil es dem Freiheren von Thurgau 
beliebt, uns einige Quadratruthen feines Bodens zu verweigern ? 
Wenn Du dabei beharit, dann bleibt ung nichts übrig, als von 
unjerem Zwangsrechte Gebrauch zu machen. Du weißt ja, daß 
uns die Vollmacht dazu längſt eriheilt worden iſt.“ 

„Oho, mein Recht iſt auch noch dal“ vief der Freiherr, 
indem er dröhnend mit der Fauſt auf dem Tifch ſchlug. „ch 
habe proteftirt und werde proteftiren bis zum letzten Athemzuge. 
Der Wollenſteiner Hof bleibt ftchen und wenn die ganze Eifen- 
bahngeſellſchaft, mit dem Herrn Präfidenten Nordheim an der 
Spitze, ſich auf den Kopf jtellt.” 

„Aber wenn man Div das Doppelte des Werthes bietet —“ 

„Meinetwegen das Zehnfache! Ach ſchachere nicht mit dem letzten 
Erbe meiner Väter. Der Wolfenjteiner Hof bleibt jtehen, Bunktum!* 

„Dein alter Starrfinn, 
verichüttet Hat," ſagte der Präfident gereist. „Ach hätte es 
vorausfehen können, aber angenehm ijt es mir allerdings nicht, 
wenn mein eigener Schwager die Geſellſchaft, an deren Spike ic) 
ftehe, zu einem gewaltfamen Vorgehen zwingt.” 

„Deshalb Haft Du Dich auch höchſtſelbſt heraufbemüht,“ 
fpottete Thurgau, „zum erſten Mate ſeit Jahren.“ 

„Ich wollte es noch einmal verfuhen, Dir Vernunft zu 
predigen, da meine Briefe wirkungslos blieben. Uebrigens weißt 
Du ja, wie ſehr ich mit meiner Zeit geizen muß.“ 

„a, das wei; der Himmel! Ach würde mich bedanlen für 
die ruheloje Hebjagd, die Du Leben nennjt. Was haft Dur denn 
eigentlich von Deinen Millionen und von Deinen unglaublichen 
Erfolgen? Bald bift Du hier, bald da, immer im Fluge, immer 
mit einer Laſt von Geſchäften. Das geht vom frühen Morgen 
bis zum fpäten Abend, und Nachts, wenn vernünftige Leute ich 
zu Bette legen, ſeheſt Du Did noch ſtundenlang an Deinen 
Schreibtiſch. Daher ſtammen Deine grauen Haare und die Falten 
auf Deiner Stirn. Sieh mid) an!“ Er richtete fi empor und vedte 
die mächtigen Glieder. „Ach bin ein volles Jahr älter als Du!” 

Nordheim blickte auf feinen Schwager, deſſen Stirn allerdings 
noch; feine Falten zeigte, aber jeine Lippen zuckten ſpöttiſch babei. 

„Ganz recht, aber es iſt nicht jedermanns Sache, hier oben 
bei den Murmelthieren zu leben und Gemfen zu ſchießen. Du 
haft ja ſchon vor zehn Jahren Deinen Abſchied genommen, vb: 
gleich Dir Dein alter Name die Karriere überall verbürgte.“ 

„Weil ich nun einmal nicht für den Herrendienjt tauge. Die 
Thurgaus haben alle nicht dafür getaugt — deshalb find fie 
auc jo heruntergefommen, meinjt Du? Ich fehe das an Deinem 


wenigften Deine verwünschte Eifenbahn. — Nun, nichts für um: 
gut, Schwager, wir wollen uns nicht zanfen über die Geſchichte, 
und vorzuwerſen haben wir ung beide nichts; denn wenn ich ftarr- 
finnig bin, fo bijt Du ein Tyranı. Du vegierft Deine hochlöbliche 
Gefellichaft ja, dab ihr Hören und Schen vergeht, und wenn Dir 
einer widerfpricht, wird er einfach gemaßregelt und hinausgeworfen.“ 

„Ras weißt Du denn davon?“ fragte Nordheim, der bei 
den Ichten Worten aufmerffam wurde „Du kümmerſt Dich) ja 
nie um unfere Angelegenheiten.” 

„Nein, aber ih ſprach neulich ein paar von den ngenieuren, 
die hier in der Nähe die Vermefjungen vornehmen und natürlich 
feine Ahnung von unferen verwandtſchaftlichen Beziehungen haben. 


‚ Sie ſchimpften wie die Rohrſperlinge auf Did) und Deine 
Tyrannei und die Günftlingstwirthichaft, die Du eingeführt hätteft; 


Gerade bier foll | 


| aufgeriffen. 


der Dir ſchon fo vieles im Leben | 


Spottläheln. Ja, viel iſt Freilich wicht übrig geblieben von der | 


einftigen Derrlichkeit, aber ich habe doch wenigſtens nod ein Dadı 
über dem Kopfe, und der Grund und Boden, auf dem ich ftehe, 
ift mein: da Dat mir niemand zu befehlen und dreinzureden, am 


es waren recht erbauliche Dinge, die ich da zu hören befam.“ 

Der Präfident zudte gleichgültig die Achſeln. 

„Bermuthlich die Ernennung des DOberingenieurs für dieje 
Strede, die den Herren nicht genehm ift. Sie drohten allerdings 
im eine fürmliche Revolte auszubrechen; fie fühlen fich in ihrer 
Ehre gelränlt, weil man ihnen einen jungen Mann von jieben: 
undzwanzig Jahren zum Vorgefegten giebt, der mehr in feinem 
Kopfe Int als ſie alle zuſammen.“ 

„Sie behaupten aber, er fei ein Streber, dem jedes Mittel 
recht fei, um emporzulommen,“ ſagte Thurgau derb. „Und Du 
als Präfident des Verwwaltungsrathes hätteſt Did) überhaupt nicht 
darum zu Fümmern; ber Chefingenieur hätte allein das Nect, 
feinen Stab zu ernennen.” 

„Offiziell allerdings und es geichieht auch nicht oft, daß ich 
meinen Einfluß auf feinem Gebiete geltend mache; tue ich es 
aber einmal, jo erwarte ich auch, daf meinen Wünfchen Rechnung 
getragen wird. Genug, Elmhorſt iſt Oberingenieur und wird es 
bleiben. Wenn das den Herren nicht paßt, jo mögen fie ihre Ent: 
lafjung nehmen; ich fimmere mic) jeher wenig um ihre Meinung.“ 

In den Worten Tag das ganze huchmüthige Selbitbewußtfein 
eines Mannes, ber gewohnt ift, feinem Willen unbedingt und 
rückſichtslos Geltung zu verichaffen. Thurgau wollte antworten, 
aber in diefem Augenblick wurde die Thür geöffnet oder vielmehr 
Es jtürmte etwas herein, das mit naflen Kleidern 
und wehenden Soden an dem Präfidenten vorüberflog und ſich 
ungeltiim an den Hals des Freiberen warf; dann folgte ein 
zweites, zottiges Etwas, ebenjo naß, das aleichfalls auf den Herrn 
des Hauses zuſtürzte umd mit lautem Freudengeheul am ihm 
emporjprang. Die unerwartete und lärmende Begrüßung glich 
beinahe einem Ueberfall, aber Thurgau mußte wohl daran gewöhnt 
fein, denn er fträubte ſich nicht im mindejten gegen die feuchten 
Liebloſungen, die ihm reichlich von beiden Seiten zu theil wurden. 

„Da bin ich, Papa!“ vief eine helle Mädchenftimme. „Nah wie 
eine Wafjernire! Das ganze Wetter habe ich ausgehaften droben 
am Wolfenftein; fich nur, tie wir ausfchen, ich und der Greif!“ 

„Da, man merkt es, daß Ihr direft aus den Wolfen kommt," 
jagte Thurgau lachend. „Aber ſiehſt Du denn nicht, Erna, daß 
wir Beſuch haben? Erkennt Da ihm noch?“ 

Erna richtete ſich empor; fie hatte den Vräfidenten, ber bei dem 
Einbruch der beiden aufgeiprungen und jeitwäris getreten war, noch 
gar nicht bemerft und ſchien einige Sefunden lang ungewiß zu fein 
über feine Perfönlichkeit, dann aber jubelte fie auf: „Onkel Nord- 
heim !*, und eilte auf ihn zu, aber er ſtredte abwehrend die Hände aus. 

„sind, ich bitte Dich, Du ſprühſt ja förmlich Näſſe bei jeder 
Bewegung! Du gleichſt wirllich einer Wafjernire — um Gottes: 
willen, halte mir den Hund vom Leibe! Wollt Ihr mic) bier im 
Zimmer noch nachträglich mit einem Gewitterregen erfreuen?“ 

Erna ergriff lachend den Hund am Halsbande und zog ihn 
zurüd. Greif zeinte allerdings Luft, nähere Belanntihait an- 
zufnüpfen, was bei dem gänzlich durchweichten Zuſtande, in dem 
er ſich befand, nicht gerade angenchm für den Betreffenden geweſen 
wäre. Uebrigens jah jeine junge Herrin nicht viel beſſer aus: ihre 
Beraichuhe, die derb und plump den Heinen Fuß umſchloſſen, das 
hochgeſchürzte Kleid vom dunklem Lodenſtoff und das ſchwarze Filz- 
hüten, alles triefte von Näſſe. Sie idien fih aber jehr wenig 
darum zu fümmern, jie warf den Hut auf dem erjten beiten 
Stuhl und ſtrich mit beiden Händen die feuchten Loden zurüd, 
aus denen noch einzelne Tropfen rannen. 

Erna glid ihrem Water ſehr wenig; nur die blauen Mugen 
und das blonde Haar hatte jie von ihm; ſonſt egiftirte nicht die 


—0 


geringſte Aehnlichteit zwiſchen der hünenhaften Geſtalt des Frei— 
herrn, ſeinen gutmüthigen, aber ziemlich ausdrudslojen Zügen 
und der Erſcheinung des etwa ſechzehnjährigen Mädchens, das, 
ſchlank und geichmeibig wie eine Gazelle, trog feines ungeftümen 
Auftretens doch in jeder Bewegung eine unbewußte Grazie ver— 
vieth. Das Geficht zeigte die ganze rofige Friiche der Jugend; 
für ſchön fonnte es nicht gelten, wenigſtens jeßt noch nicht. Die 
Züge waren noch jehr findlich und unentwidelt und um den Heinen 
Mund lag ein Ausdruck, der auf herben Kindertrotz deutete, 
Schön waren eigentlid nur die Augen, deren tiefes dunkles Blau 
an die Farbe der Bergieen erinnerte. Das Haar wurde don 
feinem Bande, feinem Netze feitgehalten; vom Sturme zerzauft, 
vom Regen durchnäßt, fiel dies wilde üppige Gelod feijellus auf die 
Schultern nieder. Das Mädchen jah allerdings nicht gerade falon- 
fähig aus, fondern wie ein lebendiggewordener Frühlingsjturm. 
„Fürchteſt Du die paar Negentropfen, Onkel Nordheim ?* 
fragte fie übermüthig. „Was hättejt Dir denn angefangen in dem 
Wolkenbruch, dem wir ganz ſchutzlos preisgegeben waren? Ich 
machte mir freilich nicht viel daraus, aber mein Begleiter —“ 


„Nun, ich dächte, dem Greif wäre der Pelz auch oft genug 


gewajchen worden,” fiel der Freiherr ein. 

„Greif? Den hatte ich, wie gewöhnlich, bei der Sennhütte 
zurüdgelafjen; er faun ja nicht Mettern und von da an heißt es, 
mit den Gemſen um die Wette fteigen. Ich meine den fremden, 
mit dem ich unterwegs zufammentraf. Er hatte ſich verjtiegen 
und konnte in dem Nebel den Rückweg nicht finden; hätte ich ihm 
nicht geführt, er jähe noch droben am Wollenjtein.” 

„Ja dieſe Stadtherren!“ jagte Thurgau ärgerlih. „Das 
fommt bierher mit den aroßen Bergjtöden, mit den nagelneuen 
Touriftenanzügen und thut, als ob ihm unfere Alpengipfel nur 
ein Spiel wären; aber bei dem erften Regenguß kriecht es in eine 
Felsſpalte und holt ſich den Schnupfen. Es hat fich wohl jehr 
gefürchtet, das Hẽrrchen, als das Wetter losbrach?” 

Erna fchüttelte den Kopf, aber auf ihrer Stirn erfchien eine 
Falte. „Nein, furchtſam war er nicht; er hielt ganz gelaflen neben 
mir aus unter Sturm und Bligen, und aud beim Abjtieg hat 
er ſich tapfer qezeigt, obgleich man jah, daß er die Sache nicht ge— 
wohnt war. Aber es war ein abſcheulicher Menſch. Ex lachte, als 


ich ihm von der Alpenfee erzählte, die jeden Winter die Lawinen ” 


in das Thal niederfchict, und als ich böfe wurde, jagte ex jo gan; 
von oben herab: Ja freilich, wir find bier in der Sphäre des 
Aberglaubens, das hatte ich ganz vergeſſen!“ ch wollte, die 
Alpenfee hätte ihm gleich auf, der Stelle eine Lawine über den 
Hals geſchickt, und das habe ich ihm auch gefagt.“ 

„Das Haft Du einem fremden Herrn gejagt, den Du zum 
eriten Mat ſahſt?“ fragte der Präjident, der bisher ſchweigend, 
aber mit befremdeter Miene zugehört Hatte. 

Erna warf troßig den Kopf zurüd. „Gewiß that ich das! 
Bir mögen ihm nicht leiden, nicht wahr, Greif? Du Hajt ihn 
auch angefnurrt, als ich mit ihm bei der Sennhütte anlangte, und 
das ift brav von Dir, mein Thier, ſehr bravl — Aber jept muß 
ich wirklich jehen, daß ich in trodene Kleider fomme; Onkel Nord: 
heim befommt fonjt den Schnupfen von meiner bloßen Nähe.” 

Sie eilte fort, ebenfo ſtürmiſch wie jie gefommen war; Greif 
machte Miene, ihr zu folgen; da ihm aber die Thür vor der Nafe 
zufiel, fo bejann er ſich eines anderen. Er ſchüttelte fi), daß die 
Tropfen nach allen Richtungen hin fprühten, und lagerte ſich 
dann zu den Füßen feines Herrn. 

Rorbheim hatte fein Taſchentuch berborgezogen und fuhr 
damit demonftrativ über jeinen feinen Schwarzen Rod, obgleich er 
glüdlich von der Douche verichont geblieben war, 

„Nimm es mir nicht übel, Schwager, aber es iſt wirklich um 
verantwortlich, wie Dur Deine Tochter aufwachien läßt,“ jagte er ſcharf. 

„Was?“ fragte Thurgau, der augenſcheinlich höchſt erſtaunt 
darüber war, daß man an feinem Rinde ivgend etwas auszuſetzen 
fand. „Was fehlt dem Mädel denn?" 

„Nun, ich dächte jo ziemlich alles, was man von einem 
Fräulein von Thurgau erwarten darf. Was war das für ein 
Aufzug, in dem fie bier erfchien! Und Du duldeit es, daß fie 
ftundenlang in den Bergen umherſchweift und mit dem erſten 
beiten Touriſten eine Befanntihaft ankmüpft?” 

„Pah, fie iſt ja noch ein Kind!” 

„Mit fechzehn Jahren? Es war ein Unglüd, daß fie fo 
früh die Mutter verlor; feitdem haft Du fie förmlich venwildern 

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0 — 


laſſen. Freilich, wenn ein junges Mädchen in ſolchen Umgebungen 
aufwächit, ohne Unterricht, ohne Erziehung —“ 

„Bitte Schr,“ unterbrach ihn der Freiherr gereist. „Ich 
habe damals, als ich beim Tode meiner Frau nach dem Wolfen: 
fteiner Hof überfiedelte, einen Lehrer mitgenommen, den alten 
Meagifter, der erſt im legten Frühjahr geftorben ift. Erna bat 
bei ihm alles Mögliche gelernt, und erzogen habe ich fie. Gerade 
fo Habe ich fie gewollt; denn eine zarte Treibhauspflanze wie 
Deine Alice lönnen wir bier oben nicht brauchen. Mein Mädel 
ift gefund an Leib und Seele; frei iſt fie aufgewachien, wie der 
Vogel in ber Luft, und foll cs bleiben. Wenn Du das „ver 
twildern‘ nennft — meinetwwegen! Mir ift mein Kind recht.” 

„Dir vielleicht, aber Du wirft doch nicht immer bie einzig 

‚ maßgebende Berfönlichkeit in ihrem Leben fein. Wenn fich Erna 
dereinft verheirathet — ” 

„Ber — heirathet?“ wiederholte Thurgau mit ſtarrem Entiegen. 

„Allerdings, Du mußt doch erwarten, daß früher oder 
fpäter fich ein Bewerber meldet.“ 

| „was ſoll ſich einer unterftehen! Dem Kerl ſchlage ich 
Arme und Beine entzwei!“ ſchrie der Freiherr in voller Wuth. 

„Du verspricht ja ein liebenswürdiger Schwiegervater zu 
werden,“ bemerkte Nordheim troden. „Ich dächte, es wäre bie 
Bejtimmung der Mädchen zu heirathen, oder glaubjt Du viel- 
leicht, dah ich von meiner Alice fordere, fie ſolle undermählt 
bfeiben, weil fie meine einzige Tochter iſt?“ 

„Das ift etwas anderes,” fagte Thurgau langjam, „etwas 
ganz anderes. Du magit Deine Tochter Lieb haben — nun ja, 
warum denn nicht — aber Du würdeſt fie ſehr leichten Herzens 
bingeben. Ich habe nichts auf der weiten Gotteswelt als mein Kind, 
das Einzige, was mir geblieben ift, und das gebe ich nicht her, um 
feinen Preis, Sie follen mir nur kommen, die Herren Freier, ich 
werde fie ſchon heimſchicken, daß fie das Wicderfommen vergefien.“ 

Der Präfident lächelte; es war jenes falte, mitleidige Lächeln, 
mit dem man auf die Thorheiten eines Kindes herabficht. 

„Wenn Du Deinen Erziehungsgrundfägen treu bleibt, wirjt Du 
überhaupt nicht in den Fall kommen,“ fagte ex ſich erhebend. „Aber 
nod) eins — Alice trifft morgen in Heilborn ein, wo id} fie erwarte; 
der Arzt Hat ihr die dortigen Bäder und die Mipenluft verordnet.” 

„In dem eleganten langweiligen Mobenejt wird kein Menich 
geſund,“ erflärte Thurgau verächtlid. „Du jollteit und das 
Mädel hierher jchiden, da bat fie die Alpenfuft aus erjter Hand.” 

Nordheim: Blick alitt mit einem nicht mißzjuverjtehenden 
Ausdrud durch) das Zimmer, über den ſchlafenden Greif hin und 
blieb zufegt auf feinem Schwager haften. 

„Du bift ſehr Freundlich, aber wir müjjen uns wohl an die 
ärztliche Vorjchrift Halten. Wir werden uns doch jehen in den 
nächſten Tagen?” 

„Natürlich, Heilborn ift ja faum zwei Stunden entfernt!” 
rief der Freiherr, dem das Kühle und Gezwungene der Ein- 
Ladung völlig entging; „ich fomme jedenfalls mit Erna hinüber.“ 

Er ſtand gleichfalls auf, um den Gajt zu aeleiten; bie 
Meinungsverjciedenheiten, denen er bisweilen einen To draſtiſchen 
Ausdruck gegeben hatte, waren in feinen Augen gar fein Hinder 
niß für die verwandtichaftliche Zuneigung, und er entließ den 
Schwager mit der derben Herzlichfeit, die ihm eigen war. Jetzt 
| fam auch Erna wie ein wilder Vogel die Treppe berabgeflattert 

und alle drei traten auf den Vorplatz des Hauſes. 

Hier fuhr foeben der Bergwagen vor, der vor einigen 
Stunden den Präfidenten gebracht hatte und auf den grumndlofen 
Wegen nicht ohne Mühe bis zum Wollenſteiner Hofe vorgedrungen 
war, Gleichzeitig trat ein junger Mann durch das Eingangs: 
thor und näherte fich grüßend dem Herrn des Hauſes. 

„Öuten Tag, Doktor!“ rief diejer jovial, während Erna mit 
der Freiheit und Unbefangenheit eines Kindes dem Anlömmlinge 
entgegeneilte und ihm die Hand bot, und zu feinem Schwager 
gewendet jehte er hinzu: „Das iſt unjer Aeskulap und Leibarzt! 
Dem folltet Du einmal Deine Alice anvertrauen, der Mann 
verſteht jeine Sache.” 

Nordheim, der mit deutlichen Mißfallen jene vertrauliche 
Begrüßung feiner Nichte bemerkt hatte, griff nachläſſig an feinen 
Hut und beehrte den jungen Landarzt, der eine etwas unbeholfene 
und Iintiiche Verbeugung machte, kaum mit einem flüchtigen Blid, 
Er reichte feinem Schwager die Hand, fühte Erna auf die Stirn 
und jtieg ein; wenige Minuten ſpäter rollte der Wagen davon. 


— 6 


„Set kommen Sie herein, Doktor Neinsfeld,“ ſagte der 
Freiherr, dem es erſt mach diefer Abfahrt vecht behaglich zu 
werden fchien. „Aber da fällt mir ein, dak Sie meinen Schwager 
» ja noch gar nicht fennen — den Her, der forben jortfuhr.” 

„Bräfident Nordheim — ich weiß,” entgegnete Reinsfeld, 
während fein Blid dem Wagen folgte, der ſoeben in einer Bie— 
gung des Weges verſchwand. 

„Merlwürdig!“ brummte Thurgau. „Alle Welt kennt ihn 
und er iſt doch ſeit Jahren nicht hier geweſen. Es iſt gerade, 
wie wenn ein Potentat durch die Berge fährt!” 

Er trat in das Haus; der junge Arzt zögerte noch einen 
Uugenblid, che er folgte. Er ſah fid) nad) Erna um, aber dieſe 
jtand anf der niedrigen Mauer, die das Gehöft umgab, und 
beobachtete die nicht ganz unbedenfliche Niederfahrt des Wagens. 

Doltor Neinsfeld mochte ſechs- oder fiebenundztwanzig Fahr 
alt fein; er Hatte nicht ganz die viefine Geſtalt des Freiherrn, 
war aber immerhin eine Frajtvoll derbe Erfcheinung. Hübſch war 
er allerdings wicht; cher hätte man das Giegentheil behaupten 
fünnen; aber es wurde einem unwillkürlich warm ums Herz, 
wenn man in biefe blauen Augen ſchaute, die jo Hat und kindlich 
bertrauend in die Welt blidten, in dies Geficht, dem die Herzens- 
güte an der Stimm gefchrieben jtand. Die Haltung und das 
Auftreten des jungen Mannes verriethen freilich die vollite Un: 
befanntichaft mit den geſellſchaftlichen Formen und auch der Anzug 
ließ manches zu wünſchen übrig. Die graue Gebirgsjoppe und 
der alte graue Filzhut hatten offenbar ſchon manchen Tag geſehen, 
mauchen Regenguß miteinander ausgehalten, und die Bergſchuhe 
mit ihren nägelbeſchlagenen Sohlen trugen reichliche Spuren des 
ducchweichten Bodens. Sie gaben Zeugniß davon, dab dem Herrn 
Doltor für jeine Beſuche nicht einmal ein beicheidenes Neitthier 
zu Gebote ftand; ex wanderte zu Fuß, wohn feine Pflicht ihn rief. 


„Nun, wie geht es, Herr Baron?“ fragte er, als fie im, 


Zimmer einander gegenüber fahen „Alles in Ordnung? Der 
Anfall von neulich hat ſich doch nicht wicderhoft?* 

„Alles in Ordnung!” lachte Thurgau. „Ach bin wieder ganz 
der Alte. Ich begreife überhaupt nicht, daß Sie von dem Heinen 
Schwindelanfall jo viel Aufhebens machen. Eine Natur tie die 
meine giebt Ihnen und Shresgleichen nicht viel zu thun.“ 

„Wir dürfen die Sadye doch nicht au leicht nehmen! Gerahe... 
in Ihren Jahren muß man vorfichtig fein,“ meinte der junge 
Arzt. „Ich hoffe allerdings, daß es nichts auf ſich hat, wenn 
Sie nur meinen Rathſchlägen folgen: vermeiden jeder Erhitzung 
und Aufregung, eine möglichit einfache Diät, eine theilweiſe Aen— 
derung Ihrer aetvohnten Lebensweiſe — ich habe Ahnen ja die 
einzelnen Vorſchriften bereits gegeben.“ 

„Sa, das Haben Sie gethan, aber idy befolge fie nicht,“ 
erflärte der Freiherr ganz gemüthlich, indem er ſich in feinen 
Stuhl zurüdichnte. - 

„Aber, Herr von Thurgau —“ 

„zafjen Sie mich in Ruhe, Doltor! Das Leben, das 
mir vorfchreiben wollen, ift überhaupt gar fein Leben mehr, 
ſoll mich fchonen, ich, der ich gewohnt bin, den Gemſen nachzu— 
jteignen bis auf den hödhjten Grat, der fid) weder um Sonnen: 


—⸗ 


e 


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gluth, noch um Schneeſturm gelümmert hat und immer der Erſte 


war, wenn es etwas Geſährliches gab im unſeren Bergen! ch 
ſoll meine geliebte Jagd im Stiche laſſen, ſoll Waſſer trinken 
und mich ängjtlich hüten vor jeder Aufregung, tie ein nerven— 
ſchwaches Frauenzimmer? Unfinn! Fällt mir gar nicht ein!“ 

„Uber ich habe Ahnen micht verhehlt, daß jener Anfall be- 
denflich war, daß die Folgen gefährlich werden fünnen.* 

„Meinetwegen! Der Menſch entgeht jeinem Schidjale dod) wicht 
und ich tage nun einmal wicht für ein ſolches Jammerleben, wie 
Sie es mir in Ausſicht ſtellen. Lieber ein raſches ſeliges Ende!“ 

Reinsſeld ſah nachdenllich vor ſich hin und ſagte halblaut: 

„Eigentlich haben Sie recht, Herr Baron, aber —“ er kam 
nicht weiter, denn Thurgau ſchlug ein lautes Gelächter auf. 

„Das nenne ic) mir einen gewillenhaiten Arzt! Wenn man 
ihm erklärt, daß man ſich den Kudud um feine Verordnungen 
ſcheert, jagt er; Sie haben ganz recht! Ja, ich habe auch recht, 
das jehen Sie jelbit ein.“ 

Der Doktor wollte fich gegen dieſe Auffaſſung feiner Worte 
verwahren, aber Thurgau lachte immer unbändiger und jet lam 
auch Erna herein, mit Greif, ihrem unzertrennlichen Begleiter. 

„Onkel Noröheim iſt glüdlich über die Brüde gekommen, 


0 — 


obgleich ſie halb üherſchwemmt war,“ berichtete ſie. „Die In— 
genieure ſtürzten alleſammt herbei und halfen den Wagen vor— 
wärts bringen, und dann bildeten fie Spalier zu beiden Seiten 
und verbeugten ſich, Fo tief.“ 

Sie ahmte in komiſcher Weiſe die Ehrfurcdtsbezeigungen 
der Beamten nad, aber der Freiherr zudte ärgerlich die Achjeln. 

„Recht gefinnungstüchtige Leute, diefe Herren! Da ſchimpfen 
fie über meinen Schwager und jagen ihm alles mögliche Schlimme 
nach, und jobald er in Sicht iſt, bücken fie fich bis zur Erde. 
Da ſoll der Mann nicht hochmüthig werden!” 

„apa,“ jagte Erna, die an den Stuhl ihres Vaters getreten 
war umd jeßt den Arm um jeinen Hals legte, „ich glaube, der 
Ontel Nordheim mag mich nicht, er war fo kühl und gemeſſen.“ 

„Das iſt jo jeine Art,“ meinte Thurgau, fie an fich zichend. 
„Aber an Dir, Du Wildfang, hat er freilich gemug auszuſehen.“ 

„An Fräulein Erna?” fragte Reinsfeld mit einer fo er- 
ftaunten und entrüfteten Miene, al$ ob das mindejtens eine 
Majejtätsbeleidiaung jei. 

„Sowohl, fie joll durchaus ein Fränlein von Thurgau vor- 
fielen; hat er mir doch früher schen einmal angeboten, fie in 
fein Haus zu nehmen, um fie mit feiner Alice zuſammen von 
ben Bonnen und Gouvernanten für die Gejellichaft dreſſiren zu 
laſſen! Was ſagſt Du zu dem Borichlage, Kind?“ 

„sch will nicht zu dem Onkel, Papa,“ erflärte Erna troßig- 

„Ich will überhaupt nicht fort von Dir, ich bfeibe im Wolfen: 
jteiner Hofe, mein Leben lang.“ 

„Ach wußte es ja!“ rief der Freiherr triumphirend, „und 
da behaupten jie, Du würdeſt eines Tages heirathen, würdeſt 
davongehen mit einem wildfremden Menfchen und Deinen Bater 
in feinem Alter allein lafien! Wir willen es befler, gelt Erna? 
Wir zwei gehören zufammen und wir bleiben auch bei einander.” 

Er ftreichelte die wilden Locken feines Kindes mit einer Zärt 
lichkeit, die bei dem derben rüdjichtelofen Manne etwas Nührendes 
hatte, und Erna ſchmiegte ſich mit leidenſchaftlicher Annigfeit an 
ihn. Die beiden gehörten in der That zufammen, das jah man; 
eins hing an dem anderen mit ganzer Seele. 

Nun, Herr Oberingenieur, Sie haben Ihre neue Stellung 
alio bereits angetreten? Sie iſt ſchwierig und berantwortungs: 
reich, zumal für einen Mann in Ihren Jahren, aber ic 
hoffe, dag Sie ihr trogdem gewachſen find.” 

Der junge Mann, an den Präfident Nordheim dieie Worte 
richtete, verbeugte ſich ehrfurchtsvoll, aber keineswegs demüthig, als 
er entgeanete: „Ach bin mir vollfommen bewußt, daß ich diefe Aus— 
zeichnung exit noch zu verdienen habe; ich verdanfe fie ja über 


‚ haupt nur Ihrem emexaijchen Eintreten für mid, Herr Präſident.“ 


„Ja, es fand Ahnen mancherlei entacgen,“ jagte Nordheim. 


' „Bor allem Ihre Jugend, die den mahgebenden Berjönlichkeiten 


als ein Hindernif galt, um jo mehr, als ältere und erfahrene Be 


‚ werber da waren, die ihre Zurückweiſung nun ſelbſtverſtändlich als 


eine Kränkung anſehen; endlich erhob ſich noch eine Oppofition gegen 
mein perfönliches Eingreifen zu Ihren Gunſten. Ich brauche Ahnen 
wohl nicht exit zu Sagen, daß Sie mit all diejen Dingen rechnen 
müſſen; man wird Ihnen Ihre Stellung nicht gerade leicht machen.“ 

Ich bin darauf gefaßt,“ erwiderte Elmhorſt ruhig; „aber 
ich werde vor der Feindjeligkeit meiner Herren Kollegen aud nicht 
einen Schritt weichen. Ahnen, Bere Präfident, babe ich meinen 
Danf bisher nur in Worten abftatten können; ich hoffe zuverfichtlich, 
es dereinit noch mit der That zu thun.“ 

Die Antwort jchien dem Bräfidenten zu gefallen und wohl: 
woltender, als es jonjt jeine Art war, winfte ev jeinem Günſtlinge, 
lat zu nehmen. Elmborjt galt bereits dafür in den betreffenden 
Kreiſen, die da wußten, was eine joldye Gunst bedeutete, 

Der junge Oberingenieur, der bei dieſem offiziellen Beſuche ſelbſt⸗ 
verſtandlich den Gefellichaftsanzug trug, war eine äußerſt gewinnende 
Erſcheinung, hoch und ſchlank, mit energiſchen, vegelmäßigen Zügen, 
denen die leicht gebräunte Farbe und der Dunkle Bollbart etwas ent= 
ſchieden Männliches gaben. Das reiche dunkle Haar lieh zurüdfallend 
eine hohe ſchöne Stirn frei, die auf ungewöhnliche Intelligenz deutete, 
und auc die Augen wären jchön geweſen, wenn fie nicht jo unglaublich 
falt und nüchtern geblidt hätten. Diele Augen fonnten ſcharf bes 
obachten, vielleicht auch aufbliten in Stolz und Energie, aber 
aufflammen in heller Begeifterung, in irgend einer der heißen 
Negungen des Menjchenherzens Lonnten ſie schwerlich: es barg fich 


iIndg 'g5 on bunuſpſrn bug 
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— 0 


fein Jugendfeuer in ihren dunllen Tiefen. Die Haltung war einfach 
und angemeffen; fie wahrte die volle Ehrfurcht vor dem hoch: 
geftellten Manne, aber es lag feine Untertwürfigfeit darin. 

„Ich bin nicht gerade fehr befriedigt von dem, was ich hier fche,“ 
nahm Nordheim wieder das Wort. „Die Herren laſſen fich Zeit 
mit ben Vorarbeiten und ich zweifle, ob wir den Bau im nädjiten 
Jahre beginnen können. Es ift kein Zug, feine Energie in der 
Sache; ic) fange am zu fürchten, daß wir einen Fehler begangen 
haben, als wir fie in die Hände diefes Chefingenieurs Tegten.” 

„Er gilt für eine Autorität erjten Nanges,“ warf Elmhorſt ein. 

„Gewiß, aber jegt ift er alt geworden, körperlich und geiftig, 
und ein ſolches Werk fordert das Einfehen der vollſten Mannestraft: 
mit dem berühmten Namen it es nicht allein getban. Er wird fid) 
ſehr auf die Leiter der einzelnen Seklionen verlafien müffen, und 
die Ihrige ijt eine der wichtigften anf der ganzen Bahnfirede.* 

„Wohl die wichtigite überhaupt. Gerade hier haben wir mit 
allen möglichen elementaren Hindernifien zu fämpfen; id) fürchte, 
feldft die genauejten Berechnungen werden nicht immer Stand halten.“ 

„Das ift auch meine Anficht; der Poſten fordert einen Mann, 
ber jelbjt mit dem Unvorhergeichenen zu rechnen weiß und nöthigen- 
falls auf eigene Hand eingreift. Allerdings muß ex auch die volle 
Berantwortfichkeit Iragen. Ach habe Sie dazu vorgeichlagen und 
Ihre Ernennung dem fait allgemeinen Widerſpruch gegemüber 
durcchgeiegt; rechtfertigen Sie jet mein Vertrauen!” 

„Ich werde es reditfertigen,* war die feſt und bejtimmt ges 
gebene Antwort. „Sie ſollen fid nicht in mir getäujcht haben, 
Herr Präfident.” 

Ich täufche mich elten in den Menſchen,“ ſagle Nordheim 
mit einem prüfenden Blid in das Geficht des jungen Mannes, 
„und den Beweis Ihrer techniichen Fähigkeiten haben Sie ja bes 
reit® gelichet. Ahr Plan, die große Brüde nad) diefem Syſtem 
über die Wolfenfteiner Schlucht zu führen, ift genial.” 

„Herr Präfident —“ 

„Sie brauchen mein Lob nicht abzulehnen, ich bin ſonſt far 
damit; aber als ehemaliger Ingenieur habe ich ein Urtheil darüber 
und ich fage Ahnen, der Entwurf ift genial.” 

„Und doch fand er lange Zeit nirgend Annahme ober auch nur 
Beachtung,” fagte Eimhorft mit einem Anfluge von Bitterfeit. „Hätte 
ich nicht den glüdlichen Gedanken gehabt, bei Ihnen einen Vortrag 
zu erbitten, als ich überall abgewieſen wurde, und Ihnen perfön 
lich meine Pläne vorzulegen, fie wären niemals beachtet worden.“ 

„Möglich, den armen und unbelannten Talenten wird das Em: 
vorfommen meist ſehr ſchwer gemacht; das ift num einmal nicht anders 
im Leben. ch habe in früheren Zeiten aud) darunter gelitten, aber 
ichlichlich überwindet man das und Sie haben es bereits überwunden 
mit Ihrer jebigen Stellung. Ich werde Sie darin zu halten wifjen, 
wenn Sie Ihre Pilicht thun; das Uebrige iſt Ihre Sache.“ 

Er jtand auf umd gab damit das Zeichen zur Entlafjung. 
Huch Elmhorſt erhob fich, aber er zögerte nocd einen Augenblich 

„Dürfte ich noch eine Bitte ausjprechen ?* 

„Gewiß, reden Sie nur!“ 

„Ich Hatte vor einigen Wochen in der Stadt die Ehre, 
Fräulein Mlice Nordheim zu ſehen und ihr flüchtig genannt zu 
werden, als fie mit Ihnen in den Wagen ſtieg. Das guädige 
Fräulein ift in Heilborn, wie ich höre, — wäre e3 mir erlaubt, 
mich perfönlich nach ihrem Befinden zu erkundigen?“ 

Nordheim ftußte und ſah den feden Bittjteller von oben bis 
unten an. Er pflegte mit den Beamten nur geichäftlich zu verlehren, 
galt überhaupt für ſehr hochmüthig in der Wahl feines Umganges, 
und jeht forderte diefer junge Mann, der bis vor furzem noch 


394 > 


geſchwungen hatte, und diefer Elmhorſt ſah aud) nicht aus, als ob 


einfacher Ingenieur war, eine Gunſt, die nicht mehr und nicht 


weniger bedeutete, als den Butritt im Haufe des allmächtigen 
Präjidenten. Das fchien diefem denn doc etwas ſtark zu fein; 
er runzelle die Stine und fagte in ſehr kaltem Tone: 

„Die Bitte iſt etwas fühn, Here — Elmborft.” 

„sch wei es, aber mit dem Kühnen tft ja immer das Glüch!“ 

Die Worte hätten einen andern Gönner vielleicht verleht; 
hier trat das Gegentheil ein. Der einflußreihe Mann, der 


Millionär war nur zu ſehr mit der Schmeichelet und Kriecherei 


vertraut und verachtete fie aus dem Grunde feiner Seele. 
ruhige Selbſtbewußtſein, das ſich auch ihm gegenüber nicht ver: 
leugnete, imponirte ihm; er fühlte darin etwas feiner eigenen 
Natur Verwandte. „Mit dem Kühnen iſt das Glück!“ Das 
war jein Grundfag geweien, mit dem er fich im Leben empor: 


Dies | 


er auf den unteren Stufen ftehen bleiben werde. Die Falte ver: 
ſchwand von Norbheims Stirn; aber jeine Augen hefteten fich burd- 
bohrend auf bie Hüge des jungen Oberingenieurs, als wollten fie darin 
die geheimjten Gedanken leſen. Endlich, nach einer ſekundenlangen 
Paufe, fagte er langſam: „So werden wir wohl aud) diesmal dem 
Sprichtworte fein Recht geben müſſen. — Kommen Sie!" 

An Elmborfts Augen blißte es triumphirend auf; aber er 
verneigte ſich nur danfend und folgte dem Voranſchreitenden 
durch mehrere Zimmer nach der andern Seite des Haufes. 

Nordheim bewohnte eine der Shöniten und eleganteiten Villen 
in dem vornehmen Badeorte. Sie lag halb verftedt in dem 
ichattigen Grün der Anlagen, hatte- aber die volle Ausſicht auf 
das Gebirge und ließ aud im ihrer inneren Einrichtung feine 
von den Annehmlichteiten vermiſſen, welche reiche und verwöhnte 
Säfte beaniprucden. Im Salon ftand nur die Glasthür offen, 
die auf den Balkon führte; die Jalouſien der Fenſter waren ge: 
ſchloſſen, um das arelle Sonnenlicht abzuhalten, und im dem 
fühlen, halbdunklen Gemach befanden fih nur zwei Damen. 

Die ältere, die ein Buch in der Hand hielt und zu Tefen 
ichien, war längst über die Jugend hinaus. Ahr Anzug, von 
dem Spitzenhäubchen an, das den Schon leicht ergrauten Scheitel 
bededte, bis zu dem Saum des dunfeln Seidenkleides, verrieth die 
peinlichite Sorgfalt, und fie ſaß fo fteif, fo fühl und vornehm da 
wie die leibhaftige Etikette. Die jüngere, ein Mädchen von 
höchitens ſiebzehn Jahren, ein zartes, blaſſes, offenbar kränkliches 
Weſen, faß oder faq vielmehr in einem Armſtuhl. Den Kopf 
ftügte ein feidenes Kiffen, und die Hände ruhten nachläſſig ver- 
ichlungen auf dem weißen, ipibenbejchten Morgenlleide. Das 
Geſicht Fonnte, wenn nicht Schön, doch anmuthig genannt werden; 
aber es hatte einen müden, apathiichen Musdrud, der es fait 
leblos ericheinen Tief, zumal jebt, wo die junge Dame mit halb- 
geſchloſſenen Augen zu fchlummern jchien. 

„Herr Wolfgang Elmhorſt,“ ſagte der Präfident, feinen Be- 
gleiter vorftellend. „Ach glaube, er it Dir nicht mehr ganz 
fremd, Alice — Fran Baronin Lasberg,” 

Alice ſchlug langſam die Augen auf, ein Baar große braune 
Augen, die aber genau denfelben apathiihen Ausdruck hatten 
wie das Antlig. Es lag nicht das mindejte Antereffe in diejem 
Blid, und fie ſchien fich weder des Namens noch der Perfönfichkeit 
zu entfinnen. Frau von Yasberg dagegen fah etiwas erjtaunt aus bei 
der Worjtellung. Nur Wolfgang Elmhorſt und nichts weiter? Rang: 
und titellofe Herven pfleaten jonft nicht im Nordheimfchen Haufe zu 
verkehren; aber mit diefem jungen Manne mußte doch wohl irgend 
etwas Bejonderes fein, da der Präfident ſelbſt ihn einführte! Trotz⸗ 
dem wurde feine tiefe Verbeugung mit kalter Gemeſſenheit erwidert. 

„sch kann unmöglich erivarten, daß Fräulein Nordheim ſich 
noch meiner erinnert,“ ſagte Wolfgang nähertretend. „Die Be- 
gegnung War eine nur che flüchtige; um jo danfbarer bin ich 
dem Herrn Präfidenten für die Heutige Vorjtellung. Aber id) 
fürchte — das qnädige Fräulein iſt doch nicht leidend?“ 

„Nur etwas ermüdet noch von der Reiſe,“ antwortete der 
Präfident an Stelle feiner Tochter, „Wie gebt es Dir heute, Alice?” 

„sch Fühle mich ſehr angegriffen, Papa,“ erwiderte die junge 
Dame mit einer fanften, aber völlig ausdrudsloien Stimme. 

„Die Sonnengluth in dem engen Thalkefjel iſt aud um 
erträglich," mifchte ich Frau von Lasberg ein. „Diele ſchwüle 
Temperatur wirkt immer ungünftig auf Alices Nerven; ich fürchte, 
fie wird es hier nicht aushalten.” 

„Die Aerzte haben fie aber eigens nach Heilborn gejandt ; 
wir müflen wenigjtens erſt das Refultat abwarten,“ jagte Nord 
heim in einem Tone, der mehr ungeduldig als zärtlich Hang. 
Alice erwiderte feine Silbe und schien überhaupt mit jener furzen 
Antwort ihre Sprechluſt erichöpft zu haben; fie überlich e8 dem 
Bater und Frau von Lasberg, das Gefpräch zu Führen. 

Elmhorſt betbeiligte fih anfangs nur befcheiden an dem: 
felben; aber ganz unmerklich übernahm er die Führung der Unter: 
haltung, und man mußte cs ihm laſſen, dab er zu unterhalten 
verftand. Es waren nicht die gewöhnlichen Nedensarten über 
das Wetter und die nächite Umgebung; cr ſprach vielmehr von 


' Dingen, die dem ntereffe der Damen ziemlich fern zu liegen 


fchienen: von der im Üntjtchen beariffenen Gebirgsbahn. Er 
fchilderte den mächtig emporragenden Wollenſtein, der das ganze 
Berggebiet beherrichte, die aufgähmende Schlucht, über welche man 





die Brüde führen wollte, die ſtürzenden Bergwafler und dann 


ben eilernen Meg, der durch Frelsflüfte und Wälder, über Ströme | 


und Abgründe hinweg geichafien werden folle Das waren feine 
trodenen Beſchreibungen, feine techwiichen Einzelheiten — wie ein 
farbenprächtines Bild entrollte er das ganze Rieſenwerk in 
lebendigſter Darftellung vor feinen Zuhörerinnen, und e8 gelang 
ihm wirklich, fie zu feffeln. Frau von Lasberg wurde um einige Grade 
weniger fühl und vornehm; fie ihat fogar einige Fragen, welche 
ihe Intereſſe an der Sache verriethen, und Alice verharrte zwar 
in ihrem Schweigen, hörte aber offenbar zu, und bisweilen ſtreiften 
ihre Augen mit einem halb verwunderten Ausdrud den Sprechenden. 
Der Präfident jchien gleichjall3 überrascht von diefer Unter 
Haltungsgabe jeines Schützlings, mit dem er bisher nur über 
amtliche und techniſche Dinge geiprodyen Hatte. Er wußte, daß 
der junge Mann aus ſehr einfachen Verhältniſſen hervorgegangen 
war und noch nie im der eigentlichen Geſellſchaft verkehrt Hatte, 
und jept bewegte fich diefer im Salon und den Damen gegenüber 
mit einer Ungezwungenheit und Sicherheit, als fei er von früheſter 
Jugend an in folder Umgebung gewelen. Dabei hatte fein Be: 
nehmen durchaus nichts Vordringliches; er wußte genau die Örenzen 
einzuhalten, die ihm bei diefem erjten Beſuche gegogen waren. 
Man war nod) milten im Geſpräche, als ein Diener erfchien 
und mit etwas verlegener Miene meldete: 
„Ein Herr, der ſich Baron Thurgau nennt, wünſcht —“ 
„sa wohl, er wünſcht jeinen allergnädigften Herrn Schwager 
zu fprechen,“ unterbrach ihm eine faute, zormige Stimme, während 
er zugleich von einem Fräftigen Arme bei Seite geſchoben wurbe, 
„Donnerwetter, was iſt das bier für eine Wirthichaft bei Dir, 
Nordheim! Ich glaube, man gelangt leichter zum Kaifer von 
China, als zu Dir, Drei Injtanzen haben wir durchmachen müſſen, 
und ſchließlich wollten uns die betreten Lümmel noch den Eingang 
venivehren. Du haſt ja einen ganzen Troß davon mitgebracht!“ 


Alice war erſchreckt zufammengefahren beim Klange der | 
drößnenden Stimme und Frau von Lasberg erhob fich langſam 
und feierlich, in ftummer Enträjtung, während ihr Blid zu fragen 


ſchien, was diefer Eindringling denn eigentlich wolle. Auch dem 


Präfidenten ſchien diefe Art der Anmeldung nicht gerade angenehm | 


zu fein; indeſſen faßte er ſich raſch und ging feinem Schwager ent- 
gegen, der in Begleitung feiner Tochter jet in den Salon trat. 

„Du haſt Dich wahrfcheinlich erſt nachträglich genannt,” 
fagte er; „sonst hätte ein ſolcher Irrthum nicht vorfallen fünnen. 
Die Dienerichaft kennt Dich ja noch gar nicht.” 

„Run, es wäre auch gerade fein Unglück geweſen, wenn fie 
einen einfachen ehrlichen Mann zu Div aelaffen hätte,“ grollte 
Thurgau, noch immer hochroth vor Werger. 
hier nit Sitte zu fein; erſt als ich mit dem ‚Baron‘ heraus: 
rüdte, ließ man ſich zu der Anmeldung herab.“ 

Der Jerthum der Dienerichaft konnte allerdings verzeihlich 
erfheinen; denn der Freiherr war auch Heute in der Gebirge: 
tracht, an die er fich feit Jahren gewöhnt hatte, und Erna jah 
gleichfalls nicht aus wie eine junge Baroneß, obgleich fie ſich 
diesmal nicht in Sturm» und Negentoilette zeigte. Sie trug 
einen jehr einfachen dunklen Anzug, der mehr auf Bergwanderungen 
als auf Befuche berechnet war, und ein cbenfo einfaches Stroh: 
hütchen auf den Loden, die Heute allerdings durch ein ſeidenes 
Nep gebändigt wurden, aber fi) offenbar nur fehe ungern diejem 
Zwange fügten. Sie ſchien die anfängliche Abweiſung noch tiefer 
‚zu empfinden als ihr Bater, denn fie ſtand finfter, mit troßia 


aufgewworienen Lippen neben ihm und blidte faſt feindfelig auf | 
Hinter den beiden aber wurde der unvermeidliche | 


die Anweſenden. 
Greif fichtbar, der den Berfuch des Dieners, ihn von dem Salon 
auszufchließen, mit einem grimmigen Zähnefletichen beantwortet 
hatte und nun feinen Plat behauptete in ber unerſchütterlichen 
Ueberzeugung, dab er dahin gehöre, wo feine Berrichaft weilte, 

Der Präfident fuchte die Sache möglichit auszugleichen, aber 


Thurgau, deſſen Zorn ebenſo Schnell verrauchte, als er aufgeflammt ; 


war, lieh ihm nicht zu Worte fommen. 

„Da iſt ja auch Mlice!* rief er. „Grüß Gott, Kind! Sicht 
man Did; auch einmal wieder? Aber wie fichit Du denn aus? 
Haft ja feinen Blutstropfen im Geſicht, Mädel! Du bift ja ein 
richtiges Jammerweſen!* 

Mit diefen ſchmeichelhaften Worten fchritt ev auf die junge 
Dame zu, um fie feiner Meinung nad) zärtlich in die Arme zu 
drüden; aber da trat Frau von Lasberg mit einem im ſchärfſten 


„Aber das jcheint | 


35 + 


‚ Zone ausgefprochenen: „Ach Bitte!” jo entichieden zwiichen ihn 
und Alice, als müſſe fie diefe vor einem Attentate ſchützen. 

„Nun, nun, ich thue meiner Nichte fein Leid,“ ſagte Thurgau 
ärgerlich. „Sie brauchen fie nicht fo ängſtlich vor mir zu hitten 
tie das Lamm vor dem Wolfe. Mit wem habe ich denn eigent- 
lid die Ehre?“ 

„Ich bin die Baronin Lasberg!“ erklärte diefe, den Titel 
| mit vollem Nachdruck betonend; ihre ganze Haltung ſprach eine 

eifine Abwehr aus, aber das verfing Hier nicht. Der Freiherr 
fafite gemüthlich eine der abwehrend ausgejtredten Hände und 
jchüttelte fie, dak ber Dame Hören und Schen verging. 
„rent mich, meine Gmädige, Freut mich außerordentlich! 
Ich bin ja wohl bereits angemeldet, und das da ift meine 
Tochter. Nun, Ema, was ſtehſt Du denn jo fremd da, willſt 
Du Alice nicht begrüßen ?” 

Erna fam langfam näher; der finftere Ausdrud lag noch 
auf ihrem Gefichte; aber er verfchtvand völlig, als fie auf ihre 
junge Verwandte blidte, Die jo matt und bleich in den Kiſſen 
ruhte; fie ſchlang plöglih in ihrer gewohnten ſtürmiſchen Weiſe 
beide Arme um den Hals derſelben und rief: 
| „Arme Mlice, es tut mir fo Teid, daß Du frank bift!- 
| Alice nahm die Umarmung bin, ohne fie zu erwidern; als 

aber das blühende, rofige Antlip ſich an ihre farblofe Wange 
fchmiegte, als zwei frifche Lippen ſich auf die ihrigen drückten 
und der warme, innige Ton an ihre Ohr ſchlug, da flog eltwas 
wie ein Lächeln über die apathiichen Züge und fie erwiderte leiſe: 
| „Ich bin nicht Frank, nur müde.” 
| „Bitte, Baroneß, nicht jo ſtürmiſch,“ ſagte Frau von Lasberg 
lalt. „Mlice muß ſehr geichont werden; fie hat äußerſt empfinds 
liche Nerven.“ 
„Ras hat jie? Nerven?“ fragte Thurgau. „Das iſt auch fo eine 
Angewohnheit der Stadtlente! Bei uns auf dem Wolfenfteiner Hofe 
fenut man folches Zeug gar nicht. Sie follten einmal mit Alice 
zu ung herauffommen, gnädige Frau; ich gebe Ihnen mein Wort 
darauf, in drei Wochen haben Sie beide feinen einzigen Nerven mehr.” 

„Das glaube ich ſelbſt,“ entgegnete die Dame mit einem 
empörten Blid. 

„Komm, Thurgau, laß die jungen Mädchen Belannticdaft 
machen, fie haben fich ja feit Jahren nicht geſehen,“ ſagte Nord: 
heim, der an die Derbheiten feines Schwagers zwar längft ge— 
wöhnt war, im dieſer Umgebung aber doch peinlich dadurch be- 
rührt wurde, Er wies nad dem Nebenzimmer, aber jetzt trat 
Elmhorſt hervor, der ſich während der Familienſcene rüdjichtsvoll 
in eine ber Fenſterniſchen zurüdgezogen hatte. Er griff nad) 
feinem Hute, um fich zu verabichieden, bei welcher Gelegenheit 
der Präſident ihn natürlich feinen Verwandten voritellte. 

Thurgau erinnerte jich fofort des Namens, den die Kollegen des 
jungen Oberingenieurs ihm in einer allerdings nicht empfchlenden 
Weiſe genannt hatten. Er mujterte den „Streber” vom Hopf bis 
zu den Frühen, und die gewwinnende Erfcheinung desfelben ſchien ihn 
| nur in feinem Mißtrauen zu bejtärfen. Ema hatte ſich gleichgültig 

umgewandt; auf einmal aber ſtuhte fie und trat einen Schritt zurück 

„Es iſt nicht das erſte Mal, daß ich die Ehre habe, 
Baronch Thurgau zu Sehen,“ ſagte Elmhorſt, fich ihr mit voller 

' Artigkeit nähernd. „Das gnädige Fräulein Hatte die Güte, 
meine Führerin zu fein, als id) mich an den Abhängen des 
Wolfenjtein verirrie — ihren Namen freilich erfahre ich erſt heute.“ 

„So, das war alfo der fremde, mit dem Du zufammen: 
getroffen biſt?“ brummte Thurgau, der von dieſer Begegnung 
nicht ſehr erbaut zu jein fchien. 

„Die Baroneß war doch hoffentlich nicht allein?“ fragte 
Frau von Lasberg in einem Tone, der ihr ganzes Entſetzen über 
eine ſolche Möglichkeit verrieth. 

„Natürlich war ich allein!” rief Ema, welcher der ſcharfe 
Tadel in den Worten nicht entging, mit aufflammendem Troße. 
„Ich gehe immer allein in die Berge, nur den Greif nehme ich 
| mit mir. Ruhig, Greif! Leg’ Dich!” 

Elmhorſt hatte den Verſuch gemacht, das ſchöne Thier zu 
ftreicheln, wurde jedoch von ihm mit einem zornigen Knurren 
abgewehrt. Auf den Auf feiner jungen Herrin aber ſchwieg es 

| jofort und legte fich gehorſam zu ihren Füßen nieder. 

„Der Hund ikt doch nicht böje?“ fragte Nordheim mit einem 

ſehr deutlich kundgegebenen Mifvergnügen, „ſonſt müßte ich wirklich 
bitten —“ 





—o 


„Greif iſt gut!” fiel Erna beinahe heftig ein „Er thut 
feinem Menichen etwas zufeide und läßt fich gern von Fremden 
ftreicheln, aber den Herrn bier mag er nun einmal nicht, und —“ 

„Baronch — ich bitte Sie!” murmelte Frau von Lasberg, 
die nur mit Mühe noch ihre gemefjene Haltung bewahrte; Elm— 
horſt dagegen nahm die Worte mit einer tiefen Verbeugung und 
einem überlegenen jpöttiichen Lächeln Hin. 

„Ic bedaure unendlich, bei Heren Greif und, wie ich fürchte, 
auch bei feiner Herrin in Ungnade gefallen zu fein,“ verficherte 
er, „aber ich bin wirflich ſchuldlos daran. Darf ich mich jeht 
den Damen empfehlen?“ 

Er trat zu Mlice, neben der fich Frau von Lasberg wie 
ein Poſten aufgeitellt Hatte, ala müſſe fie ihre Schubbefohlene 
vor jeder ferneren Berührung mit diefer wilden Gefellfchaft be— 
hüten, die fo urplößlih in den Salon eingebroden war und die 
man leider nicht Hinausweifen konnte, weil es ſich, ganz abaejchen 
von der Verwandtſchaft, um einen geborenen Baron handelte. 

- Dagegen benahm fid) der junge Mann mit dem einfach bür- 
gerlichen Namen 
wirklich wie ein 
Kavalier. Weich 
und ſmpathiſch 
fang ſeine Stim⸗ 
me, als er die 
Hoffnung aus— 
ſprach, Fräulein 
Nordheim werde 
ſich in der ſtär— 
lenden Luft von 
Heilborn völlig 
erholen; ritler— 
lich fühte er die 
Hand derälteren 
Dame, die ihm 
anädig gereicht 
wurde; danu 
wandte er Sich 
an den Bräfiden- 
ten, um fich auch 
von ihm zu ber: 
abſchieden, als 
ein ganz; ner: 
warteter Zwi⸗ 
ſchenfall eintrat. 

Draußen auf 
dem Balkon, der, 
wiedie Wohnung 
überhaupt, im 
Erdgeſchoß Tag 
und rings mit blühenden Gewächſen umftellt war, erſchien ein 
Kätschen, das wahricheinlih vom Garten aus den Weg hierher 
gefunden Hatte. Es mäherte fich mit Darmlofer Neugier der 
offenen GHasthür und fam dabei unglüdlicherweiie in den Ge— 
fichtöfreis Greifs. Diefer, der mit dem gefammten Katenge- 
ſchlechte in Exbfeindfchaft Iebte, fuhr mit wüthendem Gebell auf, 
riß Frau von Lasberg beinahe um und ſchoß dann, an der 
tödlich erſchrecenden Alice vorüber, auf den Balkon hinaus, 
wo mun eine wilde Jagd begann. Das geängjtigte Heine Thier 
fuhr blitzſchnell hin und her, ohne einen Ausweg zu finden, der 
Berfolger ihm nad; die Scheiben der Glasthür klirrten, die 
Blumentöpfe fielen um und zerbrachen und dazwischen tünte der 
gellende Pfiff des Freiherrn und der Ruf Ernas. Aber der noch 
ſehr junge und ungebärdige Hund war einmal in Jagdeifer ge: 
tathen und gehorchte feinem Nufe mehr — es war ein Höllenlärm. 

‚Endlic) gelang es dem Käbhchen, die Brüſtung des Ballons 
zu erreichen und von dort in den Garten hinabzufpringen. Aber 
Greif ließ feine Beute nicht fahren; er Schoß ihr mit mächtigem 
Sabe nad), wobei die legten der noch unverschrien Blumentöpfe 
fradyend in Trümmer gingen, und gleich darauf hörte man unten 
im Garten fein twüthendes Gelläff, zugleih mit dem Taten 
Angftgefchrei einer Kinderſtimme. 

Das alles geſchah in kaum zwei Minuten, und ale Thurgau 
auf den Balkon eilte, um Frieden zu ftiften, war es bereits zu 
ſpät. Inzwiſchen hereichte drinnen im Salon eine unbeſchreibliche 


396 > 


| 


| 





>obanmisfeuer auf der Donau. 


Verwirrung. Alice fag in einem Newvenanfall mit geichlofjenen 
Augen da, Frau von Lasberg hielt fie in den Armen; Elmborft 
hatte fich, raſch entſchloſſen, eines Flalons bemächtiat, das er auf 
dem Nebentiſchchen erblidte, und negte der Ohmmächtigen mit dem 
fölniichen Wafler Stirn und Schläfe, während der Präjident mit 
tiefverfinftertem Gheficht nad) der Klingel griff, um die Diener: 
ſchaft Herbeizurufen. Inmitlen all dieſer Hilfeleiſtungen aber 
hatten die drei einen Anblick, der ſie ſämmilich innehalten Lich. 
Die junge Baroneß, das Freifräulein von Thurgau, fand ur 
plöglich oben auf der Brüftung des Ballons, aber nur für einen 
Moment, dann fprang fie als dritte in den Garten hinab. 

Das war zu viel! Frau von Lasberg lich Alice aus den 
Armen und ſank ſelbſt auf den mächjten Stuhl; Elmhorit jah jich 
genöthigt, auch ihr mit dem Fölniichen Waſſer zu Hilfe zu fommen, 
das er num abwechlelnd nad) rechts und links ſpendete. 

Unten im Garten jchien Emas Dazwiſchenkunft allerdings 
nothwendig. Das Kind, deſſen Angſtrufe fie zu dem Sprunge 
veranlaßt hatten, ein Heiner Vube, hielt mit beiden Armen 
ſein Katzchen um⸗ 
faßt, das ſich in 
ſeiner Noth zu 
ihm geflüchtet 
hatte, und vor 
ihm jtand ber 

tiefige Greif, 
drohend und bel- 
fend, aber ohne 
den Kleinen an- 
zugreifen. Dieſer 
war augenſchein 
lich in Todes— 
angſt und fuhr 
in feinem lauten 
Kammergeichrei 
jort, bis Erna 
herbeieilte und 
den Hund am 
Halsband padte. 
Baron Thurgan 
ſtand inzwiſchen 
ganz ruhig auf 
dem Balfon und 
jah dem Verlauf 
der Dinge zu. 
Er wußte, daß 
dem Kinde fein 
Leid geſchah, 
denn Greif war 
in der That nicht 
bösartig. Als Erna aber mit dem ſehr Heinlaut gewordenen Mille: 
thäter in das Haus zurüdlchrte, während Bübchen und Kätchen 
unverfehrt davoniprangen, wandte ſich der Freiherr triumphirend 
um und rief mit feiner Donnerjtimme in den Salon hinein: „Habe 
ich Dir nicht gefagt, Nordheim, meine Erna ijt ein Prachtmädel!“ 


3 + 
* 


Präfident Nordheim gehörte zu jenen Männern, die all ihre 
Erfolge nur fich jelbjt verdanken. Der Sohn eines untergeordneten 
Beamten und von Hauſe aus ganz mittellos, hatte ex fich zum 
Ingenieur ausgebildet und in den engſten und einfachiten Verhält- 
niſſen gelebt, bis er auf cinmal mit einer technischen Erfindung ber: 
vortrat, welche die Aufmerkjamfeit des ganzen Berufskreiſes auf 
ihn Ientte. Dean nahm gerade damals den Bau der eriten Gebiras- 
bahnen in Angriff, und der junge, noch gänzlich unbefannte 
Ingenieur reichte den Entwurf zu einer neuen Lolomotive ein, 
welche die Bahnzüge auf die Höhen befürdern follte. Es war 
ein Plan, der, ebenſo finnreich wie praltiich, den Sieg über all 
die andern Borfchläge davontrug und von der Geiellichaft an: 
aenommen wurde, Sie erwarb jchlichlich das Patent von dem 
Erfinder und zahlte dafiir ein Kapital, das im feinen damaligen 
Verhältniſſen als ein Vermögen gelten konnte; jedenfalls legte es 
den Grund zu feinem künftigen Reichthum; denn er trat damit 
felbft in die Neihen der Unternehmer ein. Wider Erwarten ver 
folgte Nordheim die Yanfbahn, in der er doch einen jo alänzenden 





— — 


Erfolg errungen Hatte, wicht weiter; ex ſchien merkwürdigerweiſe 
das Intereſſe daran verloren zu haben und wandte fich einen 
anderen, allerdings verwandten Gebiete zu. Er übernahm die 
Pildung und die finanzielle Leitung einer großen Baugejellichaft, die 


er in wenigen Jahren zu einer ungeahnten Blüthe brachte, während | 


fein eigenes Vermögen ſich dabei verzehnfachte. 

Tem einen Unternehmen folgten bafd andere; mit den groß 
artigen Mitteln, die er jetzt verwenden fonute, "wuchs auch Die 
Großartigleit feiner Pläne, und es zeigte ſich in der That, daß 
er bier erit das eigentliche Feld für feine Begabung gefunden 
hatte. Er war fein Mann des Sinnens und Grübelns, der 
jahrelang über irgend einem techniſchen Entwurfe brüten konnte; 
er mußte mitten hineingreifen in das Leben, mußte wagen und 
schaffen, im engiten Anſchluß daran ſich alle möglichen Intereſſen 
dienſtbar machen und fein mächtiges Organiſationstalent nad) 
allen Richtungen hin entfalten. 


Der raſtios thätige Mann wußte immer die rechten Menſchen 


auszuwählen und fie an ben rechten Ort zu jtellen; er übertwand 
jedes Hinderniß, erſchloß jich überall neue Hilisquellen, und feiner 
Energie fam bald aud) das Glück zu Hilfe, Die Unternehmungen, an 
deren Spite Nordheim ftand, waren immer erfolgreich, und während 
er ſelbſt dabei zum Millionär wurde, wuchs fein Einfluß in all den 
Kreiien, zu denen er in Beziehung jtand, ins Ungemeſſene. 

Dem Präfidenten war vor einigen Jahren feine Gattin ge— 
jtorben, ein Verluſt, den er nicht tief empfand, deun es war feine 
bejonders alüdliche Ehe gewejen. Er hatte ſich noch als einfacher 
Ingenieur verheirathet und die jtille, anſpruchsloſe Frau veritand 
es nicht, ſich in den wacjenden Glanz des Haujes zu finden 
und die große Dame zu jpielen, wie ihre Gemahl es verlangte. 
Dazu fam, dab der Cohn, den fie ihm schenkte und in dem er 
ſich audy einen geiftigen Erben zu erziehen dachte, ſchon im Kindes: 
alter jtarb. Erſt einige Jahre jpäter wurde ihm Mlice geboren, 
das jhwächliche ränfliche Kind, für defien Leben man fortwährend 
bangen mußte und dejien apathiiches Wejen der energiichen Natur 
des Baters durchaus widerftrcbte. Sie war feine einzige Tochter, 








SHödenfener auf der Auine Parnflein, 


ener sah! von Roltstelt 
x (27 weldye, noch heute in Mebung, 
mit ihrem Urſprung in die früheſten an unjerer altheidniſch 
germantichen Worzeit zurüdweiien, achört aud) die Sonnwend: oder 
1855 


feine dereinjtige Erbin und wurde als ſolche mit allem umgeben, 
was der Neichthum zu bieten vermag; aber eine andere Bedeutung 
hatte fie faum für ihn, und er war froh, als er ihre Pilene und 
Erziehung in die Hände der Baronin Yasberg legen konnte, 

Die einzige Schweſter Nordheims, die in feinem Haufe lebte, 
hatte dem damaligen Hauptmann von Thurgau die Hand gereicht. 


Ihrem Bruder, der zu jener Zeit feine erjten Erfolge errungen 


hatte und ſchon für einen reichen Mann galt, wäre ein anderer 
Bewerber wohl willfommener geweſen als der lete Sproß eines 
verarmten adligen Hanfes, der nichts befah als feinen Degen und ein 
fleines Gütchen hoch oben in den Bergen; aber da die beiden ſich 
von ganzem Herzen fiebten und gegen die Perfönlichkeit des Freiers 
nichts einzuwenden war, jo lich ich die Zuſtimmung nicht verweigern. 

Das Ehepaar lebte zwar in beicheidenen Verhältniſſen, aber 
auch in cinem yamilienglüd, das dem veihen Nordheimfchen 
Hauſe fehlte, und das einzige Rind, die Heine Erna, wuchs im 
vollen Sonnenschein diejer Liebe und diefes Glüdes empor. Yeider 
verlor Thurgau jeine Fran ſchon nad jechsjähriger Ehe, und ihn, 
den Gemüthsmenſchen, warf der unerwartete Schlag jo vollitändig 
nieder, daß er nun auch nichts mehr von der Welt willen wollte, 
jondern feinen Abichted zu nehmen beichloß. Nordheim, der in 
jeinem raſtloſen Ehrgeiz und Thatendrang einen ſolchen Entſchluß 
überhaupt wicht begriff, befämpfte ihm aufs heftigſte, aber ver 
aebens; fein Schwager hielt mit der aanzen Dartnädigfeit jeines 
Charakters daran ſeſt. Er quilticte wirflid den Dienft, in dem er 
bis zum Major vorgerüdt war, nahm fein Kind umd zon ſich mit 
ihm nach dem Wolkenſteiner Hofe zurüd, deſſen geringe Einkünfte, 
im Berein mit der Penfion, für feine einfachen Bedürfnifje genügten. 

Seitden war eine gewiſſe Entfremdung zwiſchen den beiden 
Schwägern eingetreten; der vermittelnde Einfluß der Gattin und 
Scweiter fehlte und dazu Fam noch die räumliche Entfernung. 
Sie fahen ſich immer feltener und jchrieben ſich auch nur felten, 
bis der Bau der Gebirgsbahn und die Rothwendigkeit, Thurgaus 
Beſihung dafür zu erwerben, wieder eine perjönliche Annäherung 
—⸗ — (Fortfesung folgt.) 


Die Sonnwendfeier an der oberen Donan. 


Dit Aluftirationen von B. Haufe, 


Sohannisfeier. Schon in ihren beiden Namen kient zugleich ihr Sinn, 
wie ihre Geichichte angedeutet. Einſt war fie die bedeutungsvolle 
Naturfeier der jommerlichen Sonnenwende (der Umkehr des feurigen 
Sonnenrades) ; die junge hriftliche Kirche verlegte aber an ihre Stelle 
das Feit Johannis des Täufers. Für unjere Tage hat jich wohl keine 
der beiden Bedeutungen mehr recht Tebendig erhalten; die uralte nativ: 
nale Bezeichnung der „Sunawentfeuer“ iſt aber an Vollsthümlichkeit 
hente noch der offiziellen „Fohannisfeier* entichieden über, und 
wenn and) mancherlei Sitte und Meinung, die ſich an diejelben 
fnüpften, nun meiſt verichollen find: noch immer lodern, wie, vor 
mehr denn zwei Jahrtauſenden, im der jpäten Abenddämmerung 
des 23. Juni freudig jene jommerlichen Opferllammen von un— 
zähligen Höhen des deutichen Yandes empor. Zumal im bergigen 
Süden, im bayeriihen Hochgebirg, in Schwaben, Franken und 
wicht zulegt im dem öſterreichiſchen Bergen und am der oberen 
Donau. Der eben genannte Theil diefes Stromes, etwa von 
Krems bis Melk reichend, im engeren Sinne die Wachau geheißen, 
it durch den hoben Reiz feiner Naturjcenerie und cine dichte 
Reihenfolge von malerischen, alten und erlebnißreichen Orten, 
Kirchen, Alöftern und Burgen eine der jchönften deutichen Strom» 
landichaften überhaupt; er bildet jo gewiß auch den wirkungs 
volliten Schauplag für die Entjaltung unſerer Sonnwendfeier. 
Und zu der Schönheit des Ortes gelellt ſich der Zauber der Yeit, 
denn im eine ſchönere füllt wohl feines von allen Felten des 
Jahres. Die Erde prangt in ihrer volliten frihiommerlichen 
Herrlichleit und allen Hofinungen auf eine goldene Exntezeit lann 
noch ihre Erfüllung werden. Der Wein, eine Haupikultur dor 
Wachau, ift eben im Berblühen, ans den Gärten weht noch der 
fühe Roſenhauch, und im Laubwalde blüht und duftet die hohe, 
grünlichweiße Platanthera, die ſchönſte der Orchideen, die ja einſi 
als Frigga (Freya⸗) Gras” der Göttin der Liebe geweiht 
waren. In den Abendjtunden aber Klingt aus dem Dunkeln 
Föhrenwalde in Tanggezugenen, weichen Tönen das Yied der 
Amſel berüber, und durch die laue Dämmerluft fliegen die leuch 
tenden Heinen „Sunamendfaferin“ wie ausiprühende Licht- und 
dl 


°o 3 o 


Feuerfunken dieſer gluthvollen Zeit und Borboten der großen 
Freudenflammen, die min bald auflodern jollen. 

Tie Borbereitungen zu denjelben bilden natürlich ſchon 
einige Tage vorher eine Dauptfreude der Augend. Kurze Vers— 
kein jingend, ſammeln die Schulfinder, von Haus zu Haus ziehend, 
Holz aller Art, Weriigbündel (Bürteln), Sceite, alte Beſen, 
Stroftviiche für die großen EScheiterhaufen. Karl Stieler, der 
warmberzige Nenner und Schilderer des Fübdentichen Berglebens, 
jagt, daß auch dieſes Abjammeln und Singen in feiner Heimath 
bereits in Vergeſſenheit gerathen fei. In der Wachau find beide noch 
aufrecht, und noch im Vorjahre hörten wir dort die Strophen: 


„Der beiline Sault Reit 
Thät bitten nm a Scheit, 
Wer ung fa’ Scheit ner gibt, 
Hat mir'n Feur a fa’ Giud!“ 


wird. Das Schauspiel der beiden dort brennenden, wahrhaſt 
rieſigen Holzſtöße ijt aber and) ein dämoniſch feſſelndes: die 
leidenichaftlihe Wuth, das Nnattern, Ziichen, Yodern, Knallen, ja 
Heulen der bochaufichlagenden Flammen, rings um die beiden 
Feuerherde ein weiter bunter Kreis von halb beivundernden, halb 
grauſig erregten Zuſehern: Landleute, Tonriiten, Sommergäfte, 
nicht wenige ſchöne Wienerinnen unter ihnen — alle mit dem 
Wechſel des Windhanchs bald in hellen Gluthſchein, bald in kiefe 
Schatten getaucht. Tritt man aus diefem tobenden Feuerkreis hin: 
weg ins ftille Nachtdunkel hinaus, fo it es dann Wieder cin ganz 
einziger Anbli, das weite Bergland ringsum wie überſäet mit 
unzäbligen Höbenfeuern zu Sehen, die Hammend, glühend, zudend 
bis in die legten Fernen hinauszichen. Das Inuteite mud mannig— 
faltigſte Treiben aber entfaltet ſich doch unten im Bereiche der 
Menichemvohnungen. Wie phantaitiich leuchten nun dort im Wandel 





Sonnwendfeuer am Donanufer Dei St. Midael. 


Gewiß eine hübſch anklingende und zugleich etwas artigere 
Variation zu den ebenfalls bajuvariichen Versen, die Stieler anführt: 
„Wie fommen von Sanlt Xeit, 
Gebi's ums anh a Scheit, 
Bebr's uns auch a Stener 
Yu unſerm Sonnmwenbiener; 
Der uns fa Steuer will geben, 
Soll das nächſte Jahr nimmer erleben!“ 

Dit dem Hereinbrechen des Abendonnfels am Feſttage ſelbſt 
wird cs überall im Thale und auf den freien Höhen lebendig von ev 
wartungsvollen Zuſchauern und erregten Meitthätern. Bald 
prafielt und aualmt es bier und dort luſtig aus den Teichten 
Netiinbäuflein einiger „Schulerbubn“ oder aus jolider ange 
legten Holzſtößen auf endlich ſlammt vom Berge drüben 
über der Donau eine erſte mächtige Feuergarbe empor, der mm 
raſch unzählige andere aroße und fleine in Nah und ern, 
auf den Höhen wie im Thale, ja jelbjt den Strom auf Heinen 
Flößen berabtreibend, folgen, von immer lauter werden 
den Aubelrufen begrüßt und begleitet. Die gewaltigften dieſer 
Feuer brennen alljährlich draußen schon am Ausgange der Thalenge, 
auf dem Kloſterberge des Stiftes Göttweih und auf der Spitze des 
hohen Jauerlingas (059 Meter), einer berühmten Ausſichtswarte, 
die in dieſer Sonnwendnacht oft von 3- bis 400 Meenichen erſtiegen 


Original zeichnung von W. Gauſe. 


ſcheine dieſer Feuer alle die alien und maleriſchen Orte an Strand 
und Berglehne auf: die beſeſtiglen Kirchen von Sault Michael und 
Weißenlirchen, die geboritenen Mauern der Knenringer Burg Dürn: 
ftein, die zarfinen Wallmauern und Thürme des gleichnamigen 
Städtdrens zu ihren Füßen. An hellichimmernden Donauftrande 
werden leere Pechfäſſer angezändet und in den Strom hinaus 
buglirt, amaetriebene brennende Heine Floße Hier jubelnd 
ans Yand aezogen, dort wieder abgeſtoßen; hochgeſchwungene 
alimmende Beſen fahren wie Feuerräder durch die Luft, bier 
und da zilcht eine Mafele auf; überall wird einzeln oder 
paarweiſe mit mehr oder weniger Geſchid über. die Flammen 
geſprungen. Die Thalwände hallen von all dem Schreien, 
Jubeln, Lachen und Auftreiſchen der jugendlichen Stimmen wie 
der. Aber auch dieſe Luſt geht zu Ende ſchon lange vor 
Mitternacht it auch das letzte Feuer erloſchen, der letzte Ruf 
verhallt. Ueber Thol und Berg berricht ungeſtört die kurze, 
die fürzefte Sommernacht mit dem jtillen Prangen ihrer ewigen 
und unzählbaren Himmelslichter. Auch dieſer Gegenſatz gehört 
noch mit zum Bilde einer ſolchen Sonnwendfeier, die dem Be 
trachtenden gewiß eine ſchöne und bedentſame Erinnerung bleiben 
wird, Tebensvoll und das Nachdenken beichäftigend. 
Eduard Jetjche. 


—o 


399 
Dom Nordpol Bis zum Aeyuator. an 


— 


erbeten. 
13 


Populäre Dorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. 
«ine Melfe nadı Sibirien.* 


ie volfabelebten Strafen St. Vetersburgs, die goldftrahlenden 
Kuppeln Mosfaus lagen hinter ums, die. Thürme Nifchnis 
Nowgorods am jenfeitigen Ufer der Oka vor uns, Danlerfüllt 


waren wir aus den beiden Hauptſtädten des ruſſiſchen Reiches 


aeichieden. Bon Sr. Majeftät, unferem wubmreichen Kaiser Wilhelm, 


huldvoll verabichiedet, vom auswärtigen Aute Dentichlands warm 


eınpfohlen, von dem deutichen Boticafter in St. Petersburg aufs 
freundlichjte embjangen, hatten wir in Rußland wohl cine gute 


Aufnahme erhofft, eine ſolche aber gefunden, welche unfere kühnſten 
Die beiten Em: 


Erwartungen bei weiten übertreffen mußte. 
pfehlungen, deren Gewichtigleit uns erſt ſpäter erfennbar werden 
N begleiteten uns. 

Bis Niſchni⸗Nowgorod hatten uns die Verkehrsmittel der 
Neuzeit gefördert; fortan. jollten. wir erfahren, wie man im 
ruſſiſchen Reiche Entfernungen von Taufenden von Kilometern 
oder Werften durchmiſſt — durchmißt im Winter wie im Sommer, 
des Nachts wie am Tage, im grolleuden Unwetler wie im lachen: 


den, Sonnenicheine, im klatſchenden Regen oder eifigen Schnees 


ſturme wie bei jtäubender Dürre, im Schlitten wie im Waagen. 
Bor uns jtand der rieſige und maflige, in allen Fugen vers 
Hammerte, durch weit auslegende Streben gegen das Umjallen, 
durch ein. Verded gegen Schnee und Regen neihügte Reifeichlitten, 
und das Glöcklein erklang im Krummholze des Dreiſpanns. 

Auf der Feyitallnen Dede der Wolga begannen wir am 


19. März 1877 die bier raſch fördernde, aber doch nicht ungehinderte. 


Fahrt. Thauwetter hatte uns begleitet von Deutſchland nach 

Rußland, Thauwetter uns aus Petersburg und ‚Moskau ver: 
trieben, Thauwetter blieb unſer bejtändiger Gefährte, als wären 
wir Boten des Frühlings. Mit Wafler gefüllte Löcher im Eife, 
an .die gähnende Tiefe unter uns bedrohlich mahnend, durch— 


näßten Pferde, Schlitten und uns oder nöthigten zu unlicbfamen 
Ummegen, welche, des lnarrenden und dröhnenden Eifes halber, .| 
machten auch Kutſcher und 


gefährlicher ſchienen, als fie ware, 
Bojtmeiiter jo beforat, daß wir Schon nach kurzer Fahrt die 
alatie Eisbahn mit der bisher. noch wicht befahrenen Sommer: 
ſtraße vertanfchen mußten. Sie, die Straße, auf welder nicht 
allein Taufende von Frachtwagen, ſondern ebenſo viele der Ver— 
bannten dem gefürchteten Sibirien zuziehen, für letztere eine 
Seufzerſtraße, wurde auch uns zu einer ſolchen. Meterhoch lag 
der noch lockere, aber bereits waſſergeſättigte Schnee auf ihr; 
rechts und links rannen und rauſchten Bächlein überall da, mo 
fie rinnen und rauſchen Tonnten; in beflagenswerther Weiſe 
quäften ſich die jetzt im Langer Reihe - vor einander geſpannlen 


Pferde. um feſten Fuß zu faſſen, ſprungweiſe verfuchten fie, die 


‚Spuren der. ihnen vorausgegangenen zu erreichen, und bis an 
die Brust fanten jie bei jedem Fehlſprunge ein in den Schnee, 
in das eiſige Waſſer. Hinterher polterte der Schlitten, in allen 
Augen fradyend, wenn ex mit jähem Schwunge aus der Höhe 
herab in die Tiefe geichleudert wurde; ſtundenlang blieb er zu⸗ 
weilen, der unglaublichjten Anftrengungen der Verde Spottend, in 
einem Loche figen, und wehmüthig faſt klagte das wölfeſcheuchende 
Gloͤdlein. Vergeblich mahnte, bat, beſchwor, frädhzte, kreiſchte, 
ſchrie, brüllte, fluchte und peitſchle der Kutſcher: im den meiſten 
Faällen gelang es erit durch fremde Hilfe wieder flott zu werden. 

Qualvoll dehnten ſich die Stunden, zu vier und Ffünffacher 
Länge dic Wegſtreden. Vom Schlitten aus nach rechts und linfs 
zu schauen, verfohnte ſich laum dee Mühe; denn veizlos und 
öde liegt das flache Yand vor dem Ange; nur in den Dörfern 
bot ſich viel Erbauliches und Beſchauliches, aber auch bloß dem, 
welchet beobachten wollte und konnte. Noch hielt hier der 
Winter die Leute zurück in ihren Keinen, zierlich angelegten, meiſt 
aber ara vernachläfjigten Blodbänfern; nur bepeljte Anäblein lichen 
barfühig durch den wäſſerigen Schnee und Eothiaen Schmuß, 
weichen ältere Anaben und Mädchen mit Bilfe von Stelzen zu 
überwinden ſtrebten; nur alte weißbärtige Bettler umlagerten 
Poſthäuſer und Scheufen, Bettler aber, welche jeder Maler ebenſo 


’ Pi Anbetracht dei Interefies, 
Meileberiht A. E. Brehms unſeren 
Theil dem Dampiroh erichloflen worden find, 


zu welchem der Islam feine Befenner fordert; 


entzüdend gefunden haben müßte, wie ich fie fand. Much die 
Thierwelt trat in den Dörfern mehr hervor als auf den Feldern 
und ſelbſt in den. Wäldern, welche wie durchzogen. Draußen 
hielt der Winter noch alles thieriſche Leben gefeifelt, war noch 
alles ſtill und tobt, bemerkten wie, außer der Nebelfrähe 
und der Goldammer, Fat keinen Vogel, im Schnee faum die 
Spuren eines Süungethieres; in deu Dörfern bewillfommten uns 
werigſten⸗ die reizenden Dohlen, der Blochausdächer anmuthigſter 

Schmuck, die Kolkraben — bei uns zu Lande ſcheue Gebirge: und 
Haldbewohner, hier des Dörflers vertrauenjelige Genoſſen —, 
Efjtern und. andere Vögel mehr, ganz abaejchen von den Hans: 


‚ thieren, unter denen vor allen die frei umberlaufenden Schweine 


unjere Beachtung auf fich ziehen mußten, 

Nach viertägiger, ununterbrochener Fahrt, ohne erquicklichen 
Schlaf, ohne ftärkende Ruhe, ohne genügende Nahrung, an allen 
Gliedern wie zerichlagen, erreichten wir, nachdem wie zu Fuße 
die vielfach geborjtene Eisdede der Wolga überjchritten, Kaſan, 
die alte Haupiſtadt der Tataven, deren ſechzig Thürme uns fchon 
gejtern freundlich entgegengeleuchtet hatten. Ich glaubte mich 
zurückverſetzt in das Morgenland. Bon den Minarets und den 
fie hier und da vertretenden jpigdachigen Holzthürmen herab Hana 
mir wiederum in arabischen Lauten der Ruf zum Gebete entaegen, 
zwiſchen turban 
tragenden Männern huichten, ängſtlich vor diejen ſich verichleiernd, 
neugierig vor uns ſich enthüllend, ſchwarzängige Frauen dahin, 
der zierlichen und durchläffigen Saffianichuhe halber beſorglich die 
übertrauiten Stege längs der Häuſer juchend; im Gewühle des 
Bazars trieb ſich zwanglos Alt und Jung umher: alles ganz 
ebenio wie im Moprgenlande Nur die vielen pomphaften 
Kirchen, unter denen die des Mofters der „nicht von Menfchen- 
handen neferligten ſchwarzen Gottesmutter von Kaſan“ durch Lage 
und Bauart bervortritt, wollten zu diefem morgenländiichen Bilde 
nicht paſſen, To wenig fich auch verfennen ließ, daß hier zu Lande 
Chriſten und Mohammedaner einträchtiglic mit einander Teben. 

. Mit leichteren Schlitten, auf womöglich noch arundlojeren 
Wegen zogen wir weiter, Bern, dem Ural entgegen. Durch 
tatariiche und ruſſiſche Dörfer und die fie umgebenden Fluren, 
durch weitausgedehnte Wälder führt die Strafe. Die tatarischen 
Dörfer ſtechen meijt vortheilhaft von den ruſſiſchen ab und machen 
fi) nicht allein durch das Fehlen der als unrein geltenden 
Schweine, fondern, und mehr noch, durch den stets wohlgepflegten, 
mit hohen Bänmen bejtandenen Friedhof lenntlich; denn der Tatar 
ehrt die Nuhejtätte jeiner Todten. Die Wälder find, obſchon 
forſtlich eingetbeilt, doch nichts anderes als Uwwälder, welche 
wachen und gedeihen, altern und vergehen, ohne Zuthun des 
Menſchen; fie liegen viel zu weit ab von ſchiffbaren Flüſſen, als 
das fie ſich jegt ſchon verwerthen ließen. 

Zwei große Flüſſe, die Wjätfa und Kama, freuzen unjere 
Straße. Noch hält jene der Winter in ſtarren Banden; aber der 
berampehende Frühling beginnt bereits die eiſige Dede zu löſen. 
Wafjer überfluthet die Uferränder und zwingt die Pferde der 
Fradıtfuhrlente, weldye die über ſolche Stellen geſchlagenen Noth 
brücden verichmähen, jchwimmend den Hinter ihnen wie ein Boot 
treibenden Schlitten durch das Waſſer zu ziehen. 

Schon vor Perm müſſen wir den Schlitten mit dem Reiſe— 
wagen vertaufchen, und in ihm rollen wir dem Europa und Miien 
trennenden Ural zu. Ueber Sangaeitredte, fanfte, aber mehr und 
mehr anfteigende Hügelreihen zieht jich die Strafie. Das Gepräge 
der Sandichaft ändert jich; zwar nicht großartige, aber doch hübſche 
Gebirgsbilder ftellen fich dem Auge dar. Kleine Wäldchen mit 
daziwiichen Tiegenden Feldern und Wieſen erinnern an die Bor 
berge der Alpen Steiermarks; die meijten Wälder find arm und 
dürftig, denen der Mark vergleichbar, andere reicher und bunt, 
auch auf weithin geſchloſſen. Dort bilden fie niedrige Kiefern und 
Birken, bier zeigen fie beide Bäume mit dazwiſchen eingeiprengten 
Linden, Erlen, Esvon, Schwarz und Weißpappeln, über deren 


welches in lebter Zeit die geplante „ruſſiſche Pacifichahn“ in weiteren Kreiſen erregt hat, dürfte diejer 
Leſern um jo willlommener fein, als ex die früheren Zuftände in jenen Yändern fchildert, welche er Mal n zum 
Die He 





Mom St 


Nach dent Delgemälde v 


rofeſſor Aarl Raupp. 





e 42 >» 


runde Krone die chpreffenartigen Wipfel der herrlichen Pichta 
oder fibiriichen Tanne wie Kerzen emporragen. Die Dörfer find 
durchichnittlich größer, die Häuſer ſtattlicher als in den bisher 
durchreiften Gegenden, die Wege aber über alle Begriffe fchlecht. 
„Mit müder Dual“ ſchleichen Taujende von Frachtwagen auf oder | 
richtiger in tieflothigen Geleifen dahin, langſam und verdrießlich 
auch wir, big wir endlich, nach dreitäniger Fahrt, die Waſſerſcheide 
der beiden großen Stromgebicte der Wolga und des Ob erreichen | 
und duch einen Denkftein, auf deſſen Weftjeite das Wort „Entopa*, 
auf deſſen Dftieite das Wort „Aion“ eingenraben it, erfahren, 
daß wir die Grenze des heimathlichen Erdtheils überſchritlen haben. 
Unter dem lange der Gläſer qedenfen wir der fernen Lieben. 

Das freundliche Jekateriuburg mit feinen Goldichmelzen und 
Steinfchleifereien darf ung, troß der Gaſtlichtkeit feiner Bewohner, 
nur kurze Zeit feſſeln; denn mächtiger und eindringlicher rent ſich 
der Frühling, und weicher und morfcher wird das Eis der Flüſſe 
und Ströme, welches bis nach dem fernen Omsk uns mod als 
Brüde dienen Foll- Raſtlos cilen wir weiter durch die Gefilde 
des afiatifhen Theiles des Permichen Gouvernements, bis wir 
deſſen Grenze und damit Weſtſibirien erreichen. 

Hier, im erſten Poſthauſe, erwartet ung der Kreishauptmann 
von Tjuméen, um uns im Namen des Statthalters zu begrüßen 
und durch feinen Kreis zu geleiten; in der Hauptſtadt desfelben 
finden wir das Haus eines reichen Mannes zu unſerem Empfange | 
bereit. Fortan lernen wir erfahren, was ruſſiſche Gaſtlichkeit be 
deutet. Auch bisher Hatte mau uns allerorten aajtlid) empfangen, 
gaſtlich bewirthet; von jebt am ſind überall die höchſten Beamten 
des Kreiſes, der Provinz zu unſeren Gunſten rege und thätin, | 
die vornehuſten Häuſer zu unſerer Nufnahme geöffnet. Wie , 
Fürsten hat man ung behandelt, bloß weil wir wilienichaftliche 
Zwecke verfolgten. Sp dankbar wir dies and) anerkennen, warm 
genug zu danken vermögen wir nicht, den dazu fchten uns die Worte. | 

Hinter oder jenfeit Tjumen, woſelbſt wie deei Tage ver 
weilten, um die Gefängniſſe der Verbannten, die Lederfabrifen 
und andere Schensiwürdigkeiten der erften fibiriichen Stadt in 
Hugenichein zu nehmen, zeigten ung die Banern, wie fie fogar 
die Flüffe zu bemeiftern willen. Der kommende Frühling hatte 
aud das Eis der Pyſchma gelöft, und die Scholfen begannen fich 
in Bewegung zu fegen, wir aber follten vorher noch über den 
Fluß feßen. Unfer harrend, jtand die Bewohnerichaft des Dorfes 
Ramanoffstoje emtblöften Haubtes vor der Pyſchma; unier 
harrend, mußte auch dieje jich gedulden, bevor ſie ihre kryſtallenen 
Feſſeln abichütteln durfte. Mit ebenfo viel Geſchick wie Kühnheit 
hatte man eine Nuth> und Hilfsbrüde über den theilweiſe bereits | 
eisfreien Fluß gefchlagen, ein’ größeres Boot als mittlere Unter⸗ 
lage benubend, die des Abgangs verdächtigen Eisflöhe oberhalb | 
und neben diefer Brüde aber mit jtarlen Tauen und Striden 
fejtgebunden. Geichäftige Hände entichierien die für die heutige 
Fahrt erforderlichen Fünigefpanne, padten Achſen und Speichen, 
ariffen handfeſt zu und führten’ einen Wagen nad) dem andern 
über die ſchwankende, wellenförmig ſich biegende, Inarcende und 
achzende Brüde. Sie hatte ihren Zweck- erfüllt; drüben ging's 
luſtig weiter durch Waſſer und Schnee, Schlamm und Koth, über 
nüppeldämme und Eis. 

Minder fügſam erwies ſich der Tobol, weldien wir am 
Karfreitage den 14. April und dem erſten eigentlichen Frühlings: 
tage überjchreiten wollten... Auch hier - hatte man alle erforder: 
lichen Borkehrungen getroffen, um uns überzujegen, ſogar einen 
unjerer Wagen bereits ausgeſpannt und auf die Eisdede gerollt, 
als dieſe krachend ſich theilte umd zu icjleunigitem Nüdzuge | 
nöthigte. Fröhlich waren die Glöcklein im Krumuholze erllungen, 
als wir Jalutaroffek verlaſſen; traurig läuteten ſie uns wieder 
nach dieſer Kreisſtadt zurüch, und erſt am Oſtertage konnten wir 
den großen Fluß mit Hilfe einer Fähre überſchreiten. 

So ging es weiter; vor oder hinter uns warfen die Flüſſe 
ihre Winterdeden ab, nur der gefürchtetete Irtiſch Tag noch er— 
ſtarrt und ficher unter uns, md jo erreichten wir Omsf, die 
Hauptſtadt Weitjibiriens, nad) mehr als monatiger Reife ohne 
weitere Zwiſchenfälle. 

Nachdem wir in Omst gejchen, was zu ſehen war: die 
Straßen und Häufer, das Kadettenhaus, Muſeum, Krankenhaus, 
das Kriegsgefängniß und anderes mehr, fuhren wir auf der 
längs des rechten Irtiſchuſers ſich dabinzichenden, die Dörfer 
der fogenanmien Koſalenlinie verbindenden Straße nad) Semi: 


‚ den Stegreifdiditer begeifterte. 


palatinst weiter, Schon zwiichen Jalntawoifst und Omsk hatten 
wir eine Steppe, die von him, durchreiſt; jetzt umgab fie uns 
von allen Seiten, und allmächtlich faſt rötbeten die Flammen 
ihres in Brand geitedten vorjührigen Graſes und Krautes den 
Himmel. Längs des Irtiſch zogen die Wandervögel dahin, tm: 
mittelbar hinter dem nordwärts treibenden Eije her: die Waſſervögel 
erfüllten alle Aitwäfjer und Steppenfeen mit ihrer Menge; verſchie— 
dene Lerchenarten trieben ſich in jtarlen lügen am Wege umher; 
die niedlichen Fallen der Steppen hatten ihre Sommerftände bereits 
wieder bezogen: der Frühling war zur. Wahrheit geworden. 

In Semipalatinst hatten wir das Glück, in dem Gouverneur, 


‘ General von Poltorattati, einen warmen Freund und Beförderer 


unferer Beftrebungen, in feiner. Gemahlin die liebenswürdigſte 
Wirtbin zu finden, welche wir iiberhaupt hätten finden können. 
Nicht zufrieden damit, uns in Semipalatinst die gaſtlichſte Auf 
nahme bereitet zu haben, beichloß der General, uns in der am 
iprechenditen Weife mit dem Haupttheile der Bevölkerung. feines 
Öbebietes, den Kirgiſen, bekannt zu machen, und veranstaltete. zu 
diefem Zwecke eine großartige Jagd auf Archare, Wildichafe, deren 


' Größe die unferer Hausſchafe fait um das Doppelte übertrifft. 


Am dritten Mai bradyen wir zu dieſer Jagd auf, Feten 
über den Irtiſch und fuhren cuf der Poſtſtraße nach Tajchkeut 
in die Kirgiſenſteppe Hinein, Nach ſechzehnſtündiger Fahrt hatten 
wir das Jagdgebiet, ein felſiges Steppengebirae, erreicht; „bald 
darauf fanden wir vor dem unferetiwegen errichteten Aul oder 


Jurlenlager, freundlich bearüßt von der uns geſtern boraus- 


areilten Frau Generalin, herzlich quch von einigen zwanzig lirgiſiſchen 
Sultanen, Gemeindevorftehern und deren zahlreichem Gefolge. 
An den drei folgenden Tagen ging's buch ber in den Arlat 
bergen. Für die ftets mach Feſtlichteiten verlangenden Kirgiſen 
waren Feiertage angebroden, für uns nicht minder. Das Thal 
und die Berge wurden laut unter dem Hufichlage der adıtjia 


Reiter oder mehr, welche. an den beiden nächſten Tagen zur Jagd 


binauszugen; die Sonne blibte, To oft ſie ſich zeinte, auf bunte, 
fremdartige Gewänder herab, weldye bisher unter Pelzen verhülkt 
gewejen waren; lebendiges Gewimmel erfüllte Berge und Thal: 
ichluchten. Mit ihren beiten Nennpferden, ihren. werthvollſten 
Koſtgängern, gezühmten Steinadlern, Windhunden und Kamelen, 
mit Citherſpielern und Stegreifdichtern, Ringlampfern und ſonſtigen 
Recken waren ſie erſchienen, die einſt ſo gefürchteten Kirgiſen, 
deren Name. nicht® anderes als Nänber bedeutet, heute die ge 
fügigſten, getreueſten und zufriedenjten Unterthanen des ruſſiſchen 
Neiches. An Gruppen und Haufen ſaßen ſie beiſammen; einzeln 
und: in Scharen ſprengten fie hin amd her, im Luſt amd Ueber— 
muth ihre Roſſe tummelnd; mit regſter Aufmerkſamkeit folgten 
ſie dem Riuglampfe. mit Begeifterung den von Anaben gerittenen 
Renunpferden ; ; nit Geſchick und Verſtaͤndniß leiteten ſie die Jagd; 
mit Entzſiden lanſchten ſie auf die Worte des Stegreiſdichters, 
weldyer dieſe Jagd befang. Ein Nimife hatte chen vor unferer 


‚ Ankunft einen Archar erlegt; mir. führte das Jagdglück einen 


zweiten vor die ſichere Büchſe. Dieſes Jagdglück war cs, welches 
Seine Berje waren zwar nicht 
beionders inhaltreich und tief gedadıt, jedoch immerhin jo eigenartig, 
daß ich. fie aufzeicdhnete, um die erſte Probe kirgiſiſcher Dichtung 
zu ſammeln. Während der Mann fang, überiegte der Dolmetjcher 
ins Ruſſiſche, der General ins Dentihe, und als der Sänger ge 
endet, hatte auch ich feine Worte eilichriftlich zu Papier gebracht. 


„Spridy nur, rothe Zunge, ſprich Fo lange du noch Yeben haft; dem 
nad dem’Zode wirst du ſtumm fein, 
Sprich mer, rothe unge, die mir Bott gegeben, nach dem Tode 


‚ wirft du ſchweigen. 


Worie wie jet die entilingen, nach dem Tode werden fie dich nicht 


' verlafien. 


Yeute, ragend wie die Berge, Sch’ ich vor mir; ihnen will ich Bahr 
heit fanen. 

Berge, Felſen glaube ich vor mir zu Schen; mit dem Nennpferb mag 
ich fie vergleichen. 
= Er die größer find als Boote, wie ein Dampfichiif auf des Artiich 

dellen, . 

Sch’ ich dach in dir, o Herrſcher, nach des Kaiſers Wajeftät, den 
höchſten, einem Berge zu vergleichen, werthboll wie ein Rennbſerd, das 
im Bah acht. 

Eine Wutter war 08, die mich hat acboren; 
mie Bott gegeben. 

Wenn vor dir ich jetst nicht rede, zu wem Fonft ſoll ich wohl ſprecheu? 

Bollfte freiheit babe ich zu reden, ebenfo als ob zu meinem Wolf 
ich Sprüche, 


meine unge aber hat 





Glüd dir, Herr, und Beil und Segen deinen Gäften, unter denen | breiten Pforte. Ahr genenüber erhob ſich eine künſtlich zufammen: 


hochgeitellte Leute, ob fie jebt auch anf der Seite liegen. 

Jeder Gaft des Generals iſt auch der unsere, nuſ'rer Freundſchaft ſicher. 

Gott nur gab mir meine Zunge; mag fie weiter reden. 

An den Bergen fahn wir Jäger, Schützen, Treiber; dody nur mit 
einem war das Gluck. 

Wie des höchften Berges. Spitze über alle andern ragt, fo überbob 
es diefen einen über ale; denn er Schoß dem Archar wohlgezielt zwei 
Kugeln durch den Yeib und brachte ih zur Jurte. j 

Aller Fäger Wunfdı war, Bente zu gewinnen; doch mr einer jah 
den Bunich erfüllt: nus zur Fremde, auch‘ zur Freude dir, v hohe Frau, 
zu welcher jet ich rede. 

Alles Bolt ift hocherfreut, dich allbier zu chen, zu begrüßen; alles 
Bolt wünfdt die mur Freude, taufend Jahre Leben und Gejundheit. 

Laß es dir gefallen, nimm die Huldigung entgegen! Ob du gleich viel 
beſſer BoIfgeiehen; trener aber hat dir feines Gruft und Gaſtlichteit geſpendet. 

Möge Bott dich ſegnen, ſegnen auch dein Dans und deine Kinder! Viel 
su wenig Worte mag ich finden, dich zu preifen; aber meine Zunge hat mir 
Bott gegeben, und jie ſprach, die rothe Zunge, was im Herzen feine.” 


Wir verliefen die Arfatberge und bald darauf auch das 
Verwaltungsgebiet unſeres Gaſtfreundes, von welchem wir uns 
auf dem Jagdplatze netrennt hatten, wurden in Sergjopul von 
Oberſt Friedrichs empfangen, im Namen des Generalgouverneurs 
begrüßt und zogen nunmehr in feiner Gejellichaft unjeres Weges 
weiter, Kirgiienhäupter gaben uns das Ehrengeleite und ftellten uns 
Jugbferde, welche freilich vorher noch niemals als folche benutzt 
worden waren und anfänglich jtets wie toll mit dem ſchweren 
Wagen davonjagten; Kirgiienfultane erwieſen uns Gaſtfreundſchaft, 
foraten unterwens für Obdach und Nahrung, jtellten Aurten auf 
an allen Orten, wo wir vajten wollten oder ruhen jollten; 
Kirgiſen fingen für unjere Sammlungen Schlangen und ander 
friechendes Geihier, warfen zu Gunſten diefer Sammlungen Nebe 
in den Steppenfcen aus und folgten uns auf unferen Jagdzügen 
wie treue. Hunde. So durchreiften wie die jegt im volliten 
Frühlingsihmude prangende Steppe, verweilten, jagend umd 
fammelnd, am Ala-kul oder „bunten See“, zogen durch blühende 
Thäler und über lachende Berge der am Mlatau, einem der groß: 
artigften Steppengebirge, gelenenen Koſalenſtaniza Lepſa zu, durch: 
jtreiften die Umgegend der Anfiedelung, ein Neines Paradies, in 


geſetzte Mauer, in der Mitte ein wunderſames Thierbild zeigend, 
rechts und lints davon Tagen chineſiſche Marterwerlzeuge am 
Boden. Ein Hausbeamter bat einzutreten, bedentete aber gleich— 
zeitig Koſalen umd Kirgiſen, draußen zu bleiben, Der Statt: 
halter empfing uns in feinen Wohn-, Gefchäfts: und Gerichts: 
rãäumen mit größter Feierlichkeit. Ale Würde eines hohen 
Mandarin bewahrend, mit der Mede fargend und nur einzelne 
abgebrodhene Laute ausjtohend, welche jedoch ſtets von einem 
heiter grinienden Lächeln begleitet wurden, veichte er uns die 
Hand und [ud zum Niederfigen an ber mit Thee und unzähligen 
feinen Schüſſeln beididten, wunderliche Genüfle aufweiſenden 
Hreühftüdtafel ein, „und wir erhoben die Hände zum leder be: 
reiteten Mahle“. Reis, verjchiedene in Del eingemachte und ge: 
trocknete Früchte, pergamentdünne Scheibchen Schweinefleiih, ne: 
dörrte Garnelenſchwänze nebſt einer Menge unkenntlicher vder 
doch unbejtimmbarer Pedereien und Süßigleiten bildeten die 
Speifen, treffliher There und abichenlich Fufeliger NReisbrannt: 
wein von weingeiftartiger Stärke die Getränle, Nach der Mahl 
zeit, welche infolge eines  vorfichtigertveife ſchon vorher ein— 
genommenen veichlichen und zweifellofen Imbiſſes, fir mich 
wenigſtens, unſchädlich ablief, wurden Wafjerpfeifen gereicht und 
ſodann verfchiedene dentbare und undenfbare Gegenſtände dieſes 
und des Mebenraumes befichtigt: Landſchafts- und Thierbilder, 
von der Megierung gefandte Belobigungsichreiben, das große, 
mit erheiternder Sorglichleit in bunte Seidenſtoffe gelünftelt ein: 


. gehüllte Staatsfiegel, abfonderliche Pfeile von einer Bedeutfamteit, 


welchem Mitch und Honig flieht, erkllommen die Huchberge, er: ı 


labten uns hier an rauſchenden Gebirgswäſſern, grünen Alpſeen 
und köſtlichen Fernſichten, und wandten uns ſodann, in nord: 
öftlidyer Richtung weilerreifend, der chineſiſchen Grenze zu, um 
auf dem fürzejten und bequemjten Wege durd) einen Theil des 
Reiches der Mitte nad) dem Altai zu gelangen. 

In Balti, dem legten ruſſiſchen Grenzpoſten, ward ung die Kunde, 
daß Seine Unausfpreclichkeit, der Dichandſun Djun, Oberftatthalter 
der Provinz; Tarabagatai, uns auch von feiten Chinas begrüßen wolle 
und zu einem Gaftmahle eingeladen habe. Diefem Wunſche des hohen 
Mandarin nachzufomnten, ritten wir am 21. Mai nach der Haupt- 
ſtadt befagter Provinz, Tſchulutſchal oder Tichauutichat, hinüber. 

Der Reiterzug, welcher ſich Durch die ſommerlich glühende 
Steppe bewegte, war zahlreicher und glänzender als je zuvor. 
Theils um in dem von Aufruhr heimgefuchten Lande die nöthige 
Sicherheit zu genießen, theils um vor Seiner Herrlichkeit würdig, 
um nicht zu fagen pomphaft, auftreten zu fünnen, hatten die uns 
begleitenden Herren außer den uns unter Führung unferes neuen 
Geleitgebers, Major Tichanoff, aus Saiſan entgegengelommenen 
dreißig Koſalen und unjeren alten lirgiſiſchen Freunden noch cine 
halbe Sotnie Koſalen aus Balti aufgeboten, und fomit erbröhnte 
die bisher jo öde Steppe unter den Huffchlägen eines Heinen 
Heeres, Alle unſere Kirgiſen ritten heute in Feierkleidern, und 
ihre Schwarzen, blauen, gelben und rothen, mit Silber und Gold: 
treſſen beſetzten Kaſtane wetteiferten a Glanz und Schimmer 
mit den Uniformen der uns begleitenden ruſſiſchen Offiziere. An 
der neuerdings vereinbarten Grenze evivartete ung ein chinefiicher 
Krieger höheren Ranges, um uns zu begrüßen, kehrte ich hierauf 
um und jagte, jo Schnell fein Roß ihn tragen wollte, wiederum 
zurück, um feinem Gebicter untere Ankunft zu melden. Ueber 
Trümmerhaufen ftolperten, zwischen halb eingefallenen und Halb: 
fertigen Gebäuden, aber auch ztwiichen blühenden Gärten dahin 
Schritten die Hufe unserer Pferde, als wir die Stadt erreicht 
hatten; fratzenhafte Mongolengefichter grinſten uns entgegen; 
rauen von geradezu abichredender Häflichleit befeidigten mein 
Schönheitsgefühl in empfindlichiter Weile, 

Bor dem Wohngebäude des Statthalters ſammelte ſich der 
Zug; Erlaubniß zum Eintreten begehrend, hielten wir vor der 


wie folche nur ein chincfiiches Gehirn ihnen beifegen konnte, Ex: 
zeugnifje europätfcher Betriebſamkeit und dergleichen mehr. Ueber— 
aus gemeffen und mausſprechlich wũrdevoll bewegte ſich die Unter: 
haltung. Unfere Anreden wurden aus dem Franzöſiſchen ins 
Ruſſiſche, aus dem Ruffiichen ins Kirgifiiche, aus dem Kirgiſiſchen 
ins Chinefifche überfeht und die Antworten auf dem rüdwärtigen 
Wege uns übermittelt — fein Wunder daher, daß die Geſpräche 
den Ton der größten Feierlichleit annahmen. 

Nach dem Frühſtücke traten chimefifche Pfeilſchühen au, um 
uns ihre Friegeriiche Tugend und Geichidlichkeit zu zeigen; hieranf 
führte uns der Dſchandſun allerhöchſt selbit in feinen Gemüſe— 
garten, um ums deſſen Erzeugnifje fojten zu laſſen; endlich ver: 
abichiedete er uns, und wir ritten nunmehr durch die Strafen 
und Märkte der Stadt, fanden im Haufe eines Tataren Gaſt— 
freundfchaft und ein vortreffliches, durch die Gegenwart der bild: 
ihönen, jungen, zu unferer Ehre in das Männergemach berufenen 
Frau noch befonders gewürztes Mahl und verließen hierauf gegen 
Sonnenuntergang den auch geſchichtlich merkwürdigen Drt. 

Tichukutichat ift diefelbe Stadt, weldhe im Jahre 1867 nad) 
langwieriger Belagerung den Dunganen, einem mongolischen, aber 
dem Islam ergebenen, gegen die chineſiſche Oberherrichaft in be 
ftändigem Aufruhr ftchenden Vollsſtamme, in die Hände fiel, mit 
Mann und Maus’ vernichtet und der Erde gleich gemacht wurde, 

Bon den breigigtaufend Einwohnern, welche Tichututichat 
furz vorher gezählt haben foll, war über ein Drittel geflohen, 
der Reſt aber, durd wiederholt abgeſchlagene Stürme ſicher ge: 
macht, zu feinem Verderben geblieben. Als den Dunganen der 
legte Sturm gelang, hauſten fie mit derielben Grauſamleit und 
Unmenfchlichteit, welche die Chineſen ihnen gegenüber bethätigt 
hatten. Was nicht dem Schwerte verfiel, wurde vom Feuer vernichtet. 

Als unfer bisheriger Neifegeleiter, Oberſt Friedrichs, vierzehn 
Tage fpäter die Stätte befuchte, auf welcher Tſchukutſchak geitanden, 
fräufelte Feine Rauchwolke mehr um die verfohlten Firſten. Wölfe 
und Hunde, die Bäuche geſchwellt vom Fraße an menſchlichen 
Leibern, ſchlichen, beutefatt, vor ihm davon oder liefen ſich in 
ihrem effen Mahle nicht jtören und nagten weiter an dem Gebein 
ihrer früheren Gebieter; Adler, Milane, Raben und Krähen theilten 
mit ihnen den Schmaus. Wo man Nam hatte fchaffen müſſen, 
twaren die Leichen auf Haufen geworfen worden, Dutzende, Hunderte 
über einander; in den übrigen Stadttheilen, in den Straßen, Hof: 
räumen, Häufern, Tagen fie einzeln, zu zweien, zu zehn, Gatte und 
Gattin, Urahne, Großmutter, Mutter und Mind, Familien und nach 
Rettung geflüchtete Nachbarn neben einander, die Stirnen zerklafft 
von Schwertbieben, die Gefichter zerfegt, verbrannt, die Glieder vom 
Zahne der Hunde und Wölfe benagt, zerriſſen, die Leiber ohne 
stöpfe, ohne Hände. Was die tollite Einbildung an Greueln erfinnen 
kann, fand das entieht umherirrende Auge bier verwirklicht. 


— 2 


Zur Zeit unſerer Anweſenheit zählte Tſchulutſchak höchſtens 


404 


tauſend Einwohner; die neu aufgebaute zinnengekrönte Feſtung ſtand 


thatſächlich unter dem Schuße des kleinen ruſſiſchen Pilets in Bakti. 
Unter Führung des Major Tichanoff und feiner dreißig Koſalen 
durchzogen wir das Thal des Emil, ohne einen Dunganen zu 


en zu befommen, ohne auf tagelangen Wanderungen Menfchen | 
‚ beiten Theil der Steppe, welcher uns bisher zu Geſicht gefommen, 
‚ lernten aber gerade hier drei der bemerlenswertheſten Steppentbiere 


zu begegnen. Der Emil fließt, vom Saur herlommend, zwifchen 
dem Tarabagatai und Semistau, zwei in ſpitzigem Wintel zu- 


fammenftoßenben Hochgebirgäfetten, dahin, von beiden Seiten her | 
zahlloſe Bächlein in ich aufnchmend, Die Bewäfjerungsfunft der | 


Ghinefen hatte, alle Wafjeradern benußend, aus dem ganzen 
Thale einen fruchtbaren Garten neichaffen, als die Dunganen 
hereinbrachen und diefen Garten verwüſtelen und der Steppe, 
welcher jene ihn entrungen, twieder übergaben. Wohl durcheitten 
wir in der Nähe der Stadt noch Kleine Dörfer, ftiegen auch auf einen 
Aul der Kalmüden, dann aber nur noch auf die Trümmer früheren 
Befites und Wohlftandes, früherer Betriebjamfeit des Menjchen. 

Ueber die Felder bat die Natur ſelbſt mit milder Hand 
einen Schleier gebreitet; aber die noch nicht dem Sturme, dem 
Wetter erlegenen Trümmer der Dörfer flagen zum Simmel. 
Befucht man ſolche Dörfer, fo treten die Greuel vergangener 
Tage mit erjcjredender arbeit vor Mugen. Zwifchen verödeten 


Mauern, deren Dächer verbrannt und deren Giebel halb oder | 


gänzlich eingefallen find, auf dem modernden Schutt, aus welchem 
geile Giftpilze aufichießen, Reſte von chineſiſchem Porzellan und 
hafbverohlten, deshalb aucd erhaltenen Einrichtungsgegenjtänden 
umberliegen, ſtößt man überall auf menſchliches Gebein, zer 
trümmerte Schädel, 
Knochen, vermiicht mit einzelnen Theilen des Gerippes ber Haus: 
thiere, insbejondere des Hundes. Die Schädel zeigen noch heute 
die Spuren der ſcharfen Klingen, welche fie zjertrümmerten, der 
Arthiebe, welche fie zerichmetterten. Die Menfchen verficlen der 
Wuth der mordenden Feinde und die Hunde theilten das 
Scidfal ihrer Herren, zu deren Schuge fie jemen fich geitellt 
haben mochten; die übrigen Hausthiere aber wurden weggetrieben, 
geraubt wie alles werthvolle Beſitzthum der Erſchlagenen, Die 
augenblidtih wertbloien Gegenftände endlich zerjtüdelt und ver 


> 


mit VBogelfang und beiterem Vogelleben erquidten das Auge. Ein 
raſch ausgeworfenes Netz förderte in reicher Menge köſtliche Fiſche 
ans Licht und bewies uns, daß der Strom ebenfo reich wie fchön ift. 
Nachdem wir am 2. Juni den flachen und trüben, überaus filchreichen, 
aber nur durch die von ihm aus ſich bietenden Fernfichten anziehen: 
den See überfahren hatten, durchzogen wir am nächſten Tage den 


kennen: den Kulan, ein Wildpferd; die Steppenantilope und das 
Faufthuhn. Abends rafteten wir in den Borbergen des Altai; am 
nãchſten Tage trafen wir am beftimmten Orte mit den früheren Gajt- 
freunden zufammen und ritten fortan unter ihrem Geleite weiter, 
Es war eine köſtliche Neife, ob auch Sturm, Schnee und 
Regen nur allzu oft uns umtobten und die freundliche Jurte, 
hier mit uns mwandernd, dann einen quten Theil ibrer Behag— 
lichkeit verlor, ob auch Wildwäfler unfere Pfade fpereten und 
zur vaujchenden Tiefe jach abftürzende Gehänge fie in Wege 
veriwandelten, wie fie bei uns zu Lande wohl dev Gemsjäner, 
nidyt aber der Neiter zieht. Ein ruſſiſcher Gouverneur reift nicht 
wie andere Sterbliche, am allerwenigjten dann, wenn er durch 
unbewohnte Gegenden feinen Weg nimmt. Mit ihm ziehen die 
Kreishauptlente und die unter dieſen ſtehenden Amtsvorjtcher, 
Gemeindbeältejten und Gemeinbeichreiber, die vornehmen und ans 
gejehenen Männer der ganzen Gegend, welche er zu befuchen ge: 


‚ denft, ein Trupp Kofaten und deren Offiziere, bis zum Oberſten 


vom Zahne der Raubthiere zerfplitterte 
‚ Berathungen zu pflegen, 


brannt. Bloß zwei halbwilde Hausthiere find den Trümmer noch 


neblieben: die Schwalbe und der Sperling; an Stelle der übrigen 
haben ſich die Vögel der Ruinen eingefunden und eingeniftet. 

Wir zogen einfam durch das verödete Thal. Kein Dungane 
ließ fich bliden; denn hinter unferen dreißig Koſalen jtand das 
große mächtige Rußland, Als wir wiederum auf Menfchen 
ftießen, fanden wir, daß es ruſſiſche Kirgiſen waren, welche bier 
in China ihre Herden weideten, ihre Felder bebauten und für 
einen ihrer Todten ein Grabmal errichteten. 

Vom Thale des Emil aus überjtiegen wir den Tarabagatai, 
an einer der niedrigiten Stellen des Gebirgäfammes, ftiegen dann 
auf die von ihm, dem Saur, Manrak, Terjerif, Mustau und 
Urkafchar umgebene, ungefähr 1600 Meter über dem Meere 
liegende, fait ebene Hochfläche Tichitifti hinab, überquerten fie, 
mehrere ungemein große Kurgane oder Grabhügel der Einge— 
borenen berübrend, und ſuchten uns dann in dem unendlich zer- 
riſſenen Manralgebirge jchlangenartig fich windende Thäler, um 
nad) der Ebene von Saiſan umd dem erſt jeit vier Jahren be- 
itehenden Grenzpoſten gleichen Namens, einem freundlichen 
Städtchen, zu gelangen. Hier, hart an der dhinefiich-rufftichen 
Grenze, umgab uns jeit Lepſa wieder einmal europäiſche Be 
quemlichteit und Behaglichkeit. An den Gejellichaften, denen wir 
beitvohnten, verkehrte man wie in Petersburg oder Berlin: man 
unterhielt ſich, ipielte, fang und tanzte im engeren Familienkreiſe 
wie in einem öffentlichen Garten. Köſtlich jchlagende Sprofier 
begleiteten Tanz und Gefänge: man vergaf, wo man fich befand. 

Am Nadimittage des 31. Mai beftiegen wir unfere Neife- 
wagen wieder und rollten dem Schwarzen Irtiſch zu, um ein 
uns von General Poltorattsti im Altaigebirge gegebenes Stell 
dichein nicht zu verfehlen. Durch reiches Steppenland, über fohl- 
ſchwarze Erde, fpäter durch trodenere Hochſteppen ging die raſche 
Fahrt bis zum Strome, deſſen hochgehende Wellen uns am 
nächſten Tage dem Saifanfee zuführten. So langweilig uns 
bisher alle Flüfje und Ströme Sibiriens erſchienen waren, der 
Schwarze Irtiſch war es wicht; denn löſtliche Fernlichten auf zwei 
gewaltige Hochgebirge, Saur und Altai und Die Damit zu: 
Sammenbängenden Ketten, entzüdten, ein friſchgrüner Uſerſaum 


hinauf, die eigenen und die Diener der Geleitgebenden x. Und 
wenn es ſich nun vollends, wie in unferem Falle, um theilweiſe 
fremdes Land handelt, wenn es gilt, mit firgififchen Gemeinden 
vermehrt fi) der Troß ins Unendliche. 
Dann müſſen nicht allein Wagen und Zelte mitgeführt werden, 
wie ſonſt bei Reifen in der Steppe, fondern gleich ganze Schaf 
herden dem wandernden Heere vorausgehen, um die Hunderte 
ernähren zu lönnen in der Wildniß. Seitdem wir den Saifan 
ſee verlaflen hatten, befanden wir uns wiederum in China und 
eine Reihe von Tagen hatten wir zu reifen, bevor wir hoffen 
durften, in ben jet nur in den tieferen Thälern bejiedelten Theilen 
des Gebirges twiederum auf Menſchen zu ftoßen. 

Mit uns aber reiften anfänglich mehr als zweihundert 
Menſchen, meift Rirgifen, welche berufen worden waren, um einen 
faiferlichen Befchl betrefis Aufhebung ihrer Weiderechte im kaiſer— 
lichen Krongute Altai entgegenzunchmen und ſich über ihre in 
folge deſſen zu ändernden Wanderungen zu einigen: aber aud) 
nachdem die Berathungen vorüber waren, zählte unfer Neifezug 
noch immer über hundert Pferde umd jechzig Reiter. Am frühen 
Morgen wurden die Jurten und Männern über dem Kopfe 
abgebrochen und dem Zuge vorausaefandt; dann folgten wir in 
Hleineren oder größeren Gefellichaften, langſam veitend, bis uns 
auch die Damen, des Generals Tiebenswürdige Gemahlin und 
holde Tochter, wieder eingeholt hatten. Wir frühjtüdten an 
Stellen, die dafür geeignet waren, ließen die letzten Badpferde an 
ung borüberziehen, folgten ihnen nad, überholten fie wieder, 
trafen meiſt fchon mit den zu allererit aufgebrochenen, täglich 
ſich verringernden Schafen am Hallteplatze ein und hatten ſomit 
Gelegenheit, allabendlich das bunte Bild des Lagerlebens vor 
unferen Augen ſich aejtalten zu ſehen. Herrliche, friſchgrüne, 
frühlingsduftige Thäler nahmen uns auf; hohe, ſteil aufiteigende, 
weithin noch mit Schnee bedeckte Berge gewährten uns Fern 
blide ins Hochgebirge hinein, anf die durchzogene Steppe hinab; 
bis zum Saur und Tarabagatai hinüber, bis wir endlich den 
Markakul, diefe Perle unter den Gebirgsſeen des Altai, vor ums 
liegen jahen und damit ins Hochgebirge felbit eingetreten waren. 
Drei Tage lang zjogen wir, duch Wen und Wetter behindert, 
durch eine an den Gouverneur gelangte chineſiſche Geſandiſchaft 
aufgehalten, längs des Sees dahin; dann aber cilten wir durch 
wirklich geſchloſſene Wälder, über ſchwer zu erflimmende Päſſe 
bergauf, bergab der ruſſiſchen Grenze entaegen und auf hales 
brechenden Wegen in das blühende Thal der Buchtarma hernieder, 
um im der neugegründeten Kofatenanfiedelung Altaisla Staniza 
wiederum einmal ruſſiſche Gaſtlichleit und Behaglichkeit zu ge: 
niehen, zu vajten und zu ruben. 

Bon den Offizieren der Staniza reichlich beſchenkt mit allerlei 
GErzengnifien der Umgegend, feßten wir am 13, Juni die Meife 
fort. Sell und freundlich lachte die Sonne vom reinen Dimmel 
herab auf die großartige, heute zum eriten Male unverichleierte 


—ö 


Landſchaft. Unabfehbare parkartine Thäler, eingerahmt durch 
ſchrojf ſich aufthürmende, ſchneebedeckte, 


blühende Gebüſche an den Gehängen, unendlich mannigfaltiger, 
über alle Beſchreibung köſtlicher Schmuck der im langentbehrten 
Sonnenlichte gleichſam aufjauchzenden Blumen, friſch erblühte 
Heideroſen aller Farben dazwiſchen, Kuckucksruf und Vogelgeſang 


aus allen Kehlen, kirgiſiſche Auls in den breiteren Thälern am 


Fuße der Berge und ruſſiſche, grun umbuſchte Dörfer, weidende 
Herden, frudtbare Felder, rauſchende Bäche und zadige Fels: 
maflen, milde Luft und twürziger Frühlingsduft umfchmeichelten 
die Sinne während ber ganzen Fahrt. 

Bald überfchritten wir bie Grenzen des kaiſerlichen Gutes 
Altai — eines Guter, welches an Größe nur wenig binter 
Frankreich zurüchſſteht; nach einer Tagesfahrt erreichten wir das 
Bergitädtchen Serianoffst mit feinen Silbergruben. Nachdem 
wir bier, freundlich empfangen wie immer und überall, alle Werke 
befichtigt, wandten wir uns wiederum dem Irtiſch zu, Tiehen uns 
von feinen zwifchen hohen und malerischen Felienbergen raſch 
dahinfluthenden Wogen an Buctarminst vorüber und nad) 


Das Eulenbaus. 


405 + 


heute mit zauberiichen | 
Farben übergofjene Hochgebirge, herrliche Bäume auf den Wieſen, | 
| dem befiedelten Lande wechleln ausge 


Uittamenegoraf treiben und zogen von bier aus wiederum zu 
Wagen durch das zufmftreiche Kaiſergut. Un die anmuthigen 
Gelände der Vorberge ſchließen fich fteppenartige Ebenen an; mit 
nie, bunte Wälder ab. 
Große, reiche Dörfer, werthvolle, fruchtbare, in Tohlihwarzer 
ı Adererde angelegte Felder, ſchön gebaute, ihres Wohlitandes be 
wußte Männer, ſchöne, in maleriiche Tracht gefleidete Frauen, 
Kindifch meugierige und kindlich qutmüthige Menſchen, treffliche, 
leiftungsfähige, unermüdliche Pferde, kräftige, wohlgeitaltete Rinder, 
in großen Herden weidejatt die Dörfer umlagernd, unendliche 
Wagenfarawanen, auf guten Wegen Erz und Kohlen verführend, 
Murmelthiere an den Verggehängen, Ziejel in den Ebenen, Kaiſer— 
abler auf den Markpfählen am Wege, veizende Zwergmöven an 
den Gewäſſern um die Ortſchaften beleben die Gegend, welche 
\ bie Straße durchſchneidet. Wie im Fluge eilten wir durch das 
Land; wie im Fluge beſuchten wir das mit Fug und Recht 
| Schlangenberg benannte Hüttenftädtchen; Furze Raft nur gönnten 
wir uns in dem Hauptorte bes Gutes, der Kreisſtadt Barnaul, 
dann ging es weiter nach dem Bergjtäbtchen Salair, nad) der 
großen Gonvernementsjtadt Tomsk. (Schluß folgt.) 


Nandeud verboten. 
All: Rechte verbehaiten. 


Hinterlaffener Roman von &, 2Marlitt, Dollendet von Zu. Heimburg, 
(Fortjeßrung.) 


laubine war den fteilen Schloßbera hinauf gefahren und ftieg | 

an dem Portale des Flügels ab, den die Herzogin- Mutter be 
wohnte Die aufgehende Sonne tauchte eben die verfchneiten ſpitzen 
iebeldächer, die Thürmchen und Mauern in Burpuraluth, und in 


demfelben Moment entrolite ſich das herzuglihe Banner auf dem | 


Hauptthurm der Stadt, die unten noch i in grauer Dämmerung lag, ein 
Zeichen, daß die Herein heimfehre, ja — heimkehre, um zu fterben. 

Claudine fand im ziveiten Stodwerf ein paar gemüthliche 
Zimmer zu ihrer Verfügung und ward nod im Laufe des Bor: 
mittags zur alten Hoheit beſchieden. Die freundliche Dame hatte 


verweinte Augen; fie ſaß an dem befannten Exkerfenjter und | 
blite über die Dächer ihrer guten Stadt hinweg, weit in das | 


verjchneite Land hinein. D, wie oft hatte Claudine bier vor ihr 
geſeſſen in dem lauſchigen Bimmer, mit ben fteifen Foftbaren 


Möbeln der erften SKaiferzeit und den vielen, vielen Bildern an | 


den Wänden, und hatte ſich mit ihrer Gebieterin der herrlichen 
Ausficht gefreut. In der gegenwärtigen Stunde hatten fie beide 
fein Auge für dieje Schönheiten. Sie fahen dort hinaus, wu der 
Scyienenitrang aus dem Walde hervortrat, auf dem der Zug 
daherlommen jollte, der die arme Kranke brachte. 

Die Herzogin hatte einen neuen Blutfturz gehabt in Cannes; 
fie wollte nur noch Eins — ihre Kinder wiederjehen und Ver— 


ichiedenes ordnen vor ihrem Sterben. Die Heinen Prinzen waren | 


daheim geblieben, fie jollten der Mutter wicht zuviel Unruhe 
machen; der Arzt hatte es fo gewünſcht, obgleich fie dagegen ge: 
fämpft: „Herr Doktor, ich jterbe ja vor Sehnſucht!“ 

Die alte Hoheit ſchüllelle nur immer leise das areife Haupt, 
während fie dies alles erzählte: „Es iſt hart, es ift jo befonders 
hart für Adalbert; fie hatten fich ganz und vollitändig gefunden ; 
fie waren auf dem bejten Wege, ein glüdliches Paar zu werden, 
Er ſchreibt jo Tiebevoll von ihr, und nun?“ Sie ſeufzte; — 
„Bott t mag wiſſen, was man noch alles erlebt!“ 

Die Herrihaften hatten fich jeden Empfang verbeten, aber 


die olte Hoheit wollte doch mit dem Erbprinzen hinunterfahren | 
zum Bahnhof, und befahl, Claudine möge fie begleiten. Gegen zwei | 


Uhr fuhren fie den Schloßberg hinab; ein trüber Novemberhimmel 
hing über der Stadt und fandte große dide Schneefloden her: 
nieder. Aber trotz des ſchlechten Wetters ftanden Hunderte von 
Menihen in der Strafe, die zum Bahnhof führt. 

Der Landauer der Herzogin hielt dicht dor der Rampe des 
füritlichen Wartegimmers; die Polizei bemühte fich, der Menge zu 
wehren, die ſich ſtumm herzudrängte. Alle ſtanden denn auch 
ruhig in weitem Bogen um die Equipagen. Auf dem Perron 
befanden ſich einige Herren; der Schnellzug, der die berzogliche 
Familie bringen follte, war bereits fignalifitt, Endlich brauften 
die Wagen unter die Halle, es entiwidelte ſich plöplich ein buntes 
Treiben auf dem Perron. Der Herzog war zuerst ausgejtiegen ; 

1533 


er fühte feiner alten Mutter die Hand; dann hob er felbjt die 
feidende Gemahlin aus dem Wagen. Aller Augen waren auf ihr 
bleiches ſchmales Antlig gerichtet, deilen große Augen den Erb— 
prinzen fuchten. Sie umarmte die alte Herzogin und küßte ihr 
Kind mit einem traurigen Lächeln. „Da bin ic) twieder,* flüfterte 
fie matt. Saum vermochte fie die paar Schritte zum Warte: 
zimmer zu gehen; der Erbprinz und der Herzog jtühten fie; 
freundlich, müde erwiderte fie die Grüße. Prinzeß Helene und 
| ihre Hofdame, Frau von Kagenjtein und die Kammerfrau, die 
Herren vom Gefolge, alle hajteten durch einander. 

Als fie Claudine jah, zudie e8 in ihrem Gejicht; fie winfte 
mit der Hand und deutete auf den Wagen. 

Das jchöne Mädchen eilte hinüber. „Hoheit,“ ftammelte fie 
ergriffen und beugte ji über die Hand ber Herzogin. 

„Komm, Dina!“ flüfterte diefe, „jahr mit mir; und Du, 
mein Herz,“ wandte fie fih an den Erbprinzen, „Adalbert wird 
mit Mama fahren.“ Und als man fie in den Wagen achoben, 
fagte fie, während fie durch die ſchweigende chrfurchtsvoll grüßende 
Menge fuhr: „Grüße, mein Kind, grüße ſehr freundlich; die Leute 
‚ willen alle, wie franf ich bin.“ 

Sie ſelbſt bog ih mit Anjtrengung ein wenig bor und 
wehte matt mit dem weißen Tuche. 

„Das letzte Mal! Das lebte Mol!” murmelte fi. Dann 
fahte fie des Mädchens Hand. „Wie gut, daß Du da biſt!“ — 
Oben am Portale entlich fie die Freundin: „Wenn id) gerubt, fo 
laſſe ih Dich rufen, Dina.“ 
| Claudine fuchte ihe ftilles Zimmer auf und ſchaute in den 
| winterlichen Schloßhof hinab, der plöglich das Gepräge der Ein- 

ſamkeit verloren hatte. Equipagen fuhren ab und zu; die Wache 
zog auf und die großen Gepädtwagen kamen langſam den Bera 
herauf. Dort unten läuteten die Gloden der Marienkirche, vielleicht 
| zu einer Hochzeit; hier umd da blitzten ſchon Lichter auf, trot 
der frühen Nachmittagsftunde, und es jchneite, ſchneite immerzu. 

Stunden vergingen. Man fervirte Claudine den Thee in 
ihrem Zimmer. Sie betradıtete, in einem Fautenil jitend, das 
zudende blaue Flämmchen unter der Maſchine und dachte an 
Lothar umd wie er ihr feine Einfamfeit und Sehnſucht auf dem 
verlaffenen Schloſſe in Sachſen geſchildert. O ja, es iſt fchwer, 
ſehr ſchwer, allein zu ſein mit den marternden Gedanken, der 
ichredlichen Ungewißheit. Ungewißheit? Sie war jajt zornig auf 
ſich; ach Gott, fie wußte es ja nur zu gewiß! 

Prinzeſſin Helene hatte gut ausgesehen, ihr Geficht hatte einen 
etwas anderen, günftigeren Ausdruck gezeigt. Das Leidenſchaftliche, 
Unrubige war von ihr gewichen — fie hatte wohl Hoffnung, 

' gegründete Hoffnung! 

Was wollte nur die Herzogin von ihr ſelbſt? Ad, es war 

ja Har! Sie würde, nachdem jie Lothars Antwort erhalten, zu ihr 


62 


———ö 


tagen: „Elaudine, fei aroimäthig, gieb Du ihm fein Wort zurüd! 
Er fühlt fich gebunden.“ 

Freilich, das wußte fie, er würde die Verlobung nicht löſen, 
nie! Er war auf ihre Großmuth angewiefen. Ein heißer leiden: 
ihaftliher Trotz erfüllte fie. „Und wenn ich jet nicht will? 
Und wenn ich lieber elend an feiner Seite werden will, als 
elend ohne ihn? Wer kann mid; hindern?" Sie fchüttelte den 
Kopf, „DO mimmermehr! Nein!“ 


406 


Die altmodiſche Uhr auf der Spiegelfunfole ſchlug Neun, 


Heute war die Herzogin ſicher zu angegriffen geweſen; es war 
wohl feine Hoffnung mehr, fie zu fchen. Es fror fie plötzlich in 


dem dunklen Zimmer; das Flänmchen unter dem Keſſel war längſt 
erloſchen; im Kamin glühte nur noch ein ſchwacher rother Schein. | 
Sie begann umherzuwandern; bis zehn Uhr wollte fie noch warten, | 
dann zur Ruhe gehen. Vielleicht konnte man ja ichlafen. Aber gegen | 


sehn Uhr Fam doc die Kammerfrau und befchied fie hinunter, 


Sie ging die Korridore entlang und über verfchiedene Treppen | 


und Treppchen, bis fie in das wohldurchwärmle und hellerleuchtete 
Veſtibul gelangte, vor den Gemächern Ihrer Hoheit. Sie war 
früher felten hier geweſen; bei den Feſtlichkeiten, die im Schloffe 
ftaltfanden, hatte fie die Herzogin-Mutter immer nur in die 
Trunfjäle begleitet und die Heinen Geſellſchaftsabende in den 
Salons Ihrer Hoheit zu vermeiden gefucht. Aber fie empfand aud) 
heute wieder den eigenthümlichen Zauber diefer prächtigen Räume. 


Ueberall diejes fatte Roth auf Wänden, Teppichen und Borhängen, | 


überall das aedämpfte Licht röthlich verichleierter Ampeln md 
Yampen, überall Öruppen üppiger exotifcher Pflanzen, und überall 
prächtige farbenglühende Gemälde in breiten funkelnden Goldrahmen. 

Kranlhaft! fieberhaft wie der Geift, "der diefe Räume be- 
wohnt,“ Hatte einſt Se. Hoheit gefagt, der, an die wine Waldfuft 
gewöhnt, in diefer ſchweren duftdurchhauchten Atmoiphäre zu er- 
ftiden gemeint. Es lag etwas Wahre: darin. Ein heifes Ber: 
langen, die arme Wirklichkeit zu verſchönern, die Sehnſucht nad) 
Leben und Glück ſprach ſich aus in dieſer den Gemächern eines 
Feenſchloſſes gleihenden Umgebung. 

Die Herzogin Tag in ihrem Schlafzimmer, in dem niedrigen, 
mit fchweren rothen Vorhängen umgebenen Bette, deren Falten 
oben am Plafond ein vergoldetee Adler in feinen Krallen bielt. 


Auch hier eine röthliche Beleuchtung, die das bleiche Geficht mit | 


trügerifchen Roſen überhaudhte, 

„Es iſt jpät, Dina," fagte die Kranke mit verſchleierter 
Stimme; „aber ich kann nicht Schlafen, faſt nie mehr, und id) 
fan nicht allein fein, ich fürchte mich. Ich Habe mir darum 
einen Borhang des Bettes fo legen laſſen, daß ich die Thür nicht 
fehe. Mich erfaßt mitunter eine unerklärliche Angft, es möchte 
irgend etwas Schredlicyes über die Schwelle fommen, unfer Haus: 
aejpenft, die weiße Frau, die mir melden will, was ich ja ſchon 
weiß: daf ich fterben muß. Lache mich nicht aus, Dina; id) lag 
font fo gern im Dunkeln. Erzähle, Claudine, erzähle mir alles; 
ich meine, oft wird es nicht mehr fein, daß ich Dir zuhören 
kann. Wie erging es Dir, Dina? Sprich!” 

Glaudine meinte, fie müſſe hinauseilen aus diefem reichen 
Himmer mit feinem vergoldeten ‘Plafond und dem betäubenden 
Maiblumenduft, der vom Wintergarten herüberzug. 

„Mir acht es qut, Elifabeth, ich bin nur traurig, daß Du 
leideft,“ ſagte fie und nahm Platz zur Seite des Bettes. 

„Claudine,* begann Die Kranke, „ich habe noch fo vielerlei 
zu fchreiben und zu ordnen, und wenn erſt mein Vater hier ift 


und meine Schweiter — fie werden bald eintreffen — und wenn | 


ich die Angſt wieder befomme, die erjtidende Angſt, dann iſt's 
zu ſpät. Hilf mir ein wenig dabei.“ 

„Eliſabeth, Du regſt Dich unnöthig auf.“ 

„Mein, o nein; ich bitte Dich, Dina!“ Und fie wandte ihr 
abgemagertes Geſicht um und biidte das Mädchen an mit ben 
großen glänzenden Augen, als wollte fie in das Herz der Freundin 
Ichauen. „Du bijt eine jo feltjame Braut, Claudine,“ begann fie 


nad) einer Weile flüfternd, „und ſeltſam iſt aud) Euer Brauts | 


ſtand. Er dort, Du da. 
frommes Opfer von Dir, als Du Deine Hand verfchenkteft an 
jenem gräßlichen Tage! Sprich, Claudine, Du liebſt ihn nicht?" 


blaffen Antlig des Mädchens. 
„Elifabeth,“ ſagte dieſes nach einer Pauſe und legte die 
Hände auf ihre Bruſt. „Ich Tiebe Lothar, ich Habe ihn geliebt, 


Claudine — geſtehe, es war ein | 


o— 


als ich nod nicht wußte, was Liebe iſt; als halbes Kind ſchon 
babe ich ihm gelicht!* 

Die Herzogin ſchwieg, aber fie athmete raſch. 

„Glaubſt Du mir nicht, Eliſabeth?“ fragte Claudine Leite. 

„sa, ih glaube Dir, Dina; aber liebt er Dih? Sage, 
liebt er Dih auch?“ flüfterte die Herzogin, 

Sie fenkte die Wimper. „Ach weiß es nicht,“ ftammelte fie. 

„Und wenn Du wüßteſt, er liebt Dich nicht, würdeſt Du 
troßdem fein Weib werden wollen?* 

„Rein, Eliſabeth!“ 

„Und Du würdeft Dich nie entichlichen können, einem Andern 
Deine Hand zu ſchenlen, der Dich unfäglich liebt?“ 

Das Schöne Mädchen ſaß wie ein Steinbild, ohne zu antiworten. 

„Claudine, weißt Du, weshalb ich gefummen bin?“ fragte 
die Herzogin leidenſchaftlich erregt — „um mit der lebten Lebens— 
fraft denjenigen, der mir am theuerſten ift auf diefer Welt, ein 
heißerſehntes Glück zu reiten. Wls. ich fortging nach Cannes,“ 
ipradı fie weiter, „da kämpfte noch meine thörichte Schwachheit, 
mein verwundetes citles Herz mit der bejleren Einſicht. Claudine, 
der Herzog liebt Dich — mich hat er nie geliebt. Er liebt Did) 
mit aller Ehrlichkeit und Mufrichtigkeit, deren fein edles Herz fähig 
it. Ach habe während der Jahre unferer Ehe in jedem Zuge feines 
Geſichtes leſen aelernt — er Tiebt Dich, Dina! Und er wird Did) 
nie vergeffen. Sie nicht fo ſtumm da; um Sotteswillen, antworte!“ 

„Du irrſt Dich!" vief Claudine angitvoll und ftredte abwehrend 
ihre Hand gegen die Herzogin aus. „Du irrſt Did); Se. Hoheit 
liebt mich nicht mehr, es ift ein Wahn von Dir! Du darfit nicht 
grübeln über ſolche Hirngeſpinſte, Du durfteft deshalb nicht lommen.“ 

„D, glaubſt Du, Dina, daß man die Liebe auszicht wie ein 
seid?" fragte die Herzogin bitter, „daß man ſich vornehmen kann, 
etwa als wolle man einen Spaziergang machen: von heute ab wird 
nicht mehr geliebt — Punktum!? So iſt das Herz nicht beichaffen.“ 

Claudine ſchwieg. „Ich werde mich nie verheitathen,“ ſagte 
fie dann leiſe und beftimmt, „wenn nicht beider Herzen jich einander 
zuneigen, nie! Berzeihe, Elifabeth, ich darf Dir feine trügerifchen 
Verfprehungen maden. Berfüge über alles, alles! Ueber mein 
Leben, wenn es fein muß, nur verlange das nicht!" 

Die Herzogin blidte mit weinenden Augen an Glaudine 
vorüber Ein Weilchen blieb es ganz fill im Gemad). 

„Armer Mann! Ich Hatte es mir fo Schön gedacht Fir 
Dich,“ fagte fie dann mehr zu ſich ſelbſt. „Es ſoll nicht fein!“ 
Und etwas lauter: „Welche Verwirrung — Du liebft Lothar, 
und er — arme Heine Prinzeſſin!“ 

Eliſabeth!“ ſchrie Claudine auf und ihre erblaßten Lippen 
zitterten. Ich will ja fein Glück nicht hindern — was denfit 
Du von mir? Mie! Nie! Erweiſe mir eine Liebe,“ fuhr fie 
haftig fort, „gieb ihm in meinem Namen feine Freiheit zurüd — 
id) weiß, Du ſprichſt mit ihm über diefen Punkt.“ 

„Morgen,” fagte die Herzogin. 

„So gieb ihm das!" Sie zog heftig den Brantring bon 
ihrem Finger. „Bier iſt das Glüd der Prinzeffin, nimm es 
und — la mich meine eigenen Wege geben, allein, fern von 
allem, was mich am ihn erinnert!” 

Sie fprang empor und ging zur Thür hinüber. 

„Claudine,“ bat die Herzogin mit ihrer ſchwachen Stimme 
und ihre kranken Hände umfchloffen den Ning, „Dina, ach’ wicht 
fo von mir! Wer iſt die Aermere von uns beiden? Hilf mir 
lieber, dak noch etwas Scaen aus alledem werde.“ 

Elaudine kam zurück. „Was fol ich noch thun?“ fragte fie 
refignirt. 

Die Herzogin bat um Waſſer. Dann hieß fie Claudine eine 
Schatulle bringen, öffnete diefelbe und reichte dem Mädchen ein 
Stüd Papier. 

„Es iſt ein Verzeichniß der Heinen Andenken, die ic) nad 
meinem Tode vertheilt wiſſen will. Bewahre es — es ijt eine 
Abſchrift, das Original hat der Herzog.” 

„Du ſollſt Dich nicht fo entfeplich aufregen, Elifabeth.” 

„O, ich werde ruhiger fein, wenn alles geordnet ijt, Dina. 
Lies noch einmal laut, ob ich aud nichts verfäumte Es foll 


‚ niemand fagen: Sie vergaß mich!” 
Mit wahrhaft verzehrender Angft hingen ihre Blide an dem | 


Mit bebender Stimme las Claudine. Zuweilen machte ein 
Thränenflor ihren Augen die Schrift unleſerlich; es war alles 
fo zart ausgewählt, es zeugte jedes Einzelne von einem fo innigen 
tiefen Gemüth. 





—eo 


„Meiner lieben Claudine gehöre der Schleier aus Brüſſeler 
Spigen, den ich getragen als Braut —.” 

Eine jlammende Röthe fchlug Über des Mädchens vergrämtes 
Geſicht — fie wußte, was die Herzogin gemeint. 

„Nimm es zuriick, nimm es zurück!“ fchluchzte fie und knieete 
am Bette nieder. 

„D wie jchlimm! D wie ſchlimm!“ fagte die Herzogin, 
„Du under — unglüdlic. Ihr meine beiden liebſten Menſchen!“ 


407 


[TER 


gemacht, hätte athmen dürfen — diejes Weib wagte, noch an den 


‚ Frieden des Sterbebettes zu rühren? 


„sch danke Ihnen, gnädige Frau!“ fagte ber Herzog erfchüttert. 
Und er nahm die Briefe und warf fie in den Namin, und jene andern 
Papiere warf er ebenfalls nach. Unwillkürlich wifchte er ſich hinterher 


‚ die Finger an dem Batiſttuch. „Lafien Sie den Schuft Taufen, Her 


Elaudine Füßte die heißen Hände der Kranfen und eilte 
‚ erregt im Zimmer auf und ab. Einer der Briefe, ein Heines 


hinaus; der Schmerz tobte zu heftig in ihre. Im Wintergarten 
‚unter den Magnolien und Palmen weinte fie ſich aus; das leiſe 


Gepläticher des Springbrunnens zu ihren Füßen befchtwichtigte ihre | 


wilde Berzweiflung; fie war nad) einigen Minuten jo weit gefaßt, 
daf ſie ruhig „Gute Nacht!“ wünjchen konnte. Als fie durch die 
feidenen Vorhänge hinüber jpähte zu dem Bette, Tag die Kranke 
anscheinend im Schlummer, einen gramvollen Zug um den Mund, 

Im Borzimmer traf Elaudine den alten Medizinalvath, er 
begrüßte fie freundlich. 


von Schmidt,” fagte er dann verächtlic und machte eine Tiebens- 
wirdige verabfchiedende Bewegung zu dem Potizeidireltor. 
Der Herzog ging, nachdem jener ſich — hatte, ſehr 


Billet, war da liegen geblieben vor dem Kamin; der Herzog be— 
merkte es erſt nad) einer Weile und bob es auf. Es war Herrn 
von Balmers wohlbekannte Handſchrift. 

„Beten Abend,“ Tas er, „babe ich der fchönen Claudine 
ein Billet des Herzogs überreichen müſſen; ich ftahl es ihr, als 


‚ich ihr beim Einfteigen half. Anbei übergebe id) Ihren eminenten 


„Iſt es denn wirklich jo nahe, das Ende?" fragte das ers | 


Schütterte Mädchen. 

Er reichte ihr zutraulich die Hand, „So fange noch Athem 
ift, qnädiges Fräulein, ift auch Hoffnung. Aber nad) menſchlichem 
Ermeffen — Hoheit wird auslöfchen wie ein Licht, wird vor Er: 
ſchöpfung einfchlafen eines Tages.” 

. Elaudine deutete ummoillürlich nad) ihrem Arme — „Herr 
ath?“ 

„Ad, gnädiges Fräulein," ſagte der alte Mann gerührt, 
„das Hilft nicht mehr. Bier iſt's vorbei, Hier!” Und er deutete 
auf die Bruft. „Ich will noch zum Herzog, um Nachricht zu 
bringen vom dem Befinden Ihrer Hoheit,“ ſprach er leiſe, indem 
er neben der jungen Dame den Korridor entlang ging. „Seine 
Hoheit hat übrigens gleich eine Fehr unerfreuliche Ueberrafcjung 
bier vorgefunden. Sie wiljen doc ſchon? Palmer ift verſchwunden 
und hat eine große Konfufion Hinterlaffen.“ 

„Rad Franfiurt fuhr er dieſe vergangene Nacht,” fagte 
Elaudine betroffen, „er wollte vermuthlich den Herrichaften ent: 
gegen reifen; ich Jah ihn auf dem Bahnhofe in Wehrburg.“ 

„Diefer Schuſt,“ murmelte der alte Hewr, „er iſt längft jen- 
feit der Grenze, 
fabelt, qnädiges Fräulein?” 

„Ich hörte, wie er zu Frau von Berg davon ſprach.“ Und 
Claudine ftand ftill; das ganze merkwirdige Erlebniß wurde ihr 
plötzlich Har. 

„Die paffen für einander,“ Tachte der Arzt; „ich will's aber 
doch beitäufig Seiner Hoheit erzählen. Da werden wir morgen 
die Nachricht erhalten, daß auch die Gnädige verreift ift, mit 
Hinterlaffung von allerhand Allotriis und Konfufionen. 
ſoll nicht ſchadenfroh fein, aber Ihrer Durchlaucht gönnte id es; 


war erplodirt, 


‚ empört, 
Entgegenfahreh? Wer Hat Ahnen das vorge | 


Mean | 


fie hat auf eine wunderbare Art die Dame protegirt. Gute | 


Nacht, guädiges Fräulein !* 

Es war fo. Am andern Morgen erfuhr man im Schloſſe, 
dab Frau von Berg plötzlich verſchwunden fei. Sie hatte weiter 
feine „Allotria und Konfufionen“ Hinterlaffen, als ein Palet 
Briefe, an die Herzogin gerichtet, und einen Brief an Seine 
Hoheit. Aber der Schußengel, der an der Schwelle des Kranken— 
zimmers Wade hielt in Geſtalt der Frau von Kabenftein, ahnte 
fofort, daß der Inhalt des Päckchens nicht geeignet fein könne 
für Ihre Hoheit, fie übergab es daher reſolut dem Herzog. Die 

alte Dame kam juſt in dem Moment, als Seine Hoheit mit der 
Zornader auf der Stimm einen Haufen Papiere durchjtöberte ; der 
Polizeidireftor war ebenfalls im Zimmer anweſend. 

Der Herzog mochte glauben, Frau von Kasenftein bringe 
ihm Nachrichten von Ihrer Hoheit. Statt deffen reichte ihm die 
alte Dame num ernithaft ein mit Himmelblauem Seidenbande um: 
wundenes Pädchen Briefe bin, deifen oberfter, unverkennbar von 
der Handſchrift Seiner Hoheit, die Adreſſe der Frau von Berg trug. 

Der Herzug ward blaß. 

„Und das follte man Ihrer Hoheit übergeben?” fragte er 
beivegt und fah fchier faſſungslos die Zeugen einer luſtigen Jung— 
gefellenzeit an, von damals, wo man jo gern bei Herrn und 
Frau von Berg foupirte und Ballarat fpielte in dem blauen 
fofetten Salon der fdhönen Frau. Diefes Weib, das niemals in 
einem Naume mit der Frau, deren Lebenszeit nur nod Tage 
zählte, der man dieſe Tage durdy eine Infamie zu qualvollen 





Dispofitionstalent das werthvolle Blättchen zu belicbiger Ver— 
wendung. Nun, mein Schägchen wird die Mine fo geſchickt zu 
legen wiſſen, daß die kluge, uns beiden fo freundlich gefinnte 
Dame in die Quft fliegt —“ 

„Alſo Balmer auch fchuldig hierin!” Er lächelte bitter und 
dachte an das heißblütige dunkeläugige Geſchöpfchen, dem man 
die Zündſchnur zu diefer Mine in die Hand gab. Die Mine 
das erſte Opfer lag da drüben und — die Ver: 
brecher waren entlommen. 

Diefer ſchlaue Menſch hatte ſich wenigitens vorgefehen, hatte 
verftanden zu betrügen mit Tächelnder Natürlichkeit, wie es bis 
jet noch an feinem Hofe vorgefommen fein mochte, Es war 
fein Bedienjteter unter dem gefammten Perfonal des Hofhaltes, 
der nicht rüdjtändige Gage zu fordern Hatte; fein Hoflieſerant, 
welcher Art es fei, der jeit zwei Jahren einen Pfennig befommen. 
Die Beamten des Herzogs hatten alle Hände voll zu thun, um zu 
erfahren, bei wen cr etwas fjchuldig war. Im berzoglichen 
Nentamt drängten fi) die Leute mit Forderungen, nachdem 
die Flucht Palmers bekannt geworden, Der Herzog mußte 
zornig lachen, als er die Details erfuhr. 

Die in Geldfachen ſehr peinfiche Herzugin-Mutter war darüber 
einen Landauer zum zweiten Male bezahlen zu müſſen, 
und erirug dennody nur mit Mühe den Gedanfen, daß fie in 
eben diefem Wagen ganz ruhig an dem Haufe des Fabrifanten 
vorüber gefahren jei, der fo oft unterthänige Mahnbriefe an 
Palmer gefchiet Hatte. Die ganze Nefidenz war außer fid) und 
wünschte dem Entlommenen Zuchthaus und Galgen; aber jo 
ſchlaue Vögel entwiſchen in der Regel. 

Glaudine erfuhr dies alles duch die Hofe; es erregte 
kaum flüchtig ihr Intereſſe. Sie dadıte nur an das, was das 
Heute ihr bringen würde, an die Enticeidung ihres Schidjals. 
Die Nachrichten über das Befinden der Herzogin Tauteten wicht 
ſchlechter; fie hatte verichiedene Stunden gefchlafen, aber nod) 
nicht die Gegenwart der Freundin gewünscht. 

Claudine ftand am zenfter und fah hinaus in den grauen 
Novemberhimmel. Es ſchneite noch immer; fo dijter lag die 
Welt vor ihren Bliden, fo todt, und drüdte ihr befümmertes Herz 
noch tiefer nieder. Eine dunkle Röthe überzog plötzlich ihr 


| Antlip. — Ein Wagen rollte in den Hof und a. vor dem 
| Portal des Flügels, den die Herzogin bewohnte. 


Da ihr Zimmer 
in dem Mittelbau lag, in dem die Prachträume ſich befanden, 
konnte fie deutlich fehen, wer dem Wagen entjtieg und das Schloß 
betrat. Er war es; eben verſchwand Lothars hohe Geſtalt hinter 
den fpiegelnden Glasicheiben der inneren Thür. Er fam, Ihrer 
Hoheit die Antwort zu bringen! 

Sie mufte ſich feſt aufjtügen, fo ſtürmte es auf ihre Seele 
ein; was wollte der thörichte Hoffnungsftrahl noch immer in ihrer 
nequälten Seele? Jedes Wort, das fie von ihm gehört, ſeitdem 
fie fich zum erſten Male wiederjahen im Neuhäuſer Garten, feit 
dem Tage, wo fie herüber gekommen, um Beate von dem Wads- 
funde zu benadjrichtigen, war verwundend geweſen, fcharf wie ein 
gefchliffener Stahl. Er Hatte ihr Miftrauen und Richtachtung 
gezeigt, wo er gefonnt; er lichte fie nicht, mein, nein! — Einmal, 
einmal hatte ihr Herz thöridyt in Wonne geflopft, das war in 
jener dunklen Sommernadht, als er daher geritten fam, um nad) 
ihrem Fenſter zu lauſchen — einen Augenblid, einen einzigen jühen 
berzverwirrenden Augenblid. Aber die Ernüchterung folgte auf 
dem Fuße; es war eine militärische Angewohnheit von ihm; er 





< 408 °— 


revidirte, ob auch alles in Ordnung — die Familienehre auch nicht | Claudine dachte faum an das Körbchen. In einer halben 
in Gefahr! \ Stunde follte fie erfahren, ob er ihren Ring genommen — man 
Sie wandte ſich vom Fenſter weg und ging zu dem Tiſche, würde ihr dod) die Wahrheit jagen? 
auf dem noch das Frrühftüd ftand, Sie ergriff die winzige Sie begann unruhig umber zu wandern, obgleich die Füße 
Karaffe, mit Sherry gefüllt, und goß ſich ein halbes Glas ein; | fie kaum trugen. Dann trat fie ans Fenſter; die Wache hatte 
fie liebte diefen Wein ſonſt micht, fie fühlte ſich nur fo er: „Heraus!“ gerufen; der Herzog fuhr eben im Jagdſchlitten über 
barmungswerth Schwach in diefem Augenblick. in leifes Klopfen | den Schloßhof; zwei andere Schlitten folgten; er ſuchte wohl 
an die Thür lich ſie das Glas hinſetzen, noch che fie es ausgetrunken. dem Werger und der Sorge zu entflichen? Auch fie fühlte 
„Herein!“ fagte fie jo tonlos, daß der Aufenftehende es unmöglich | den Drang, hinunter zu laufen in den Parf und in der Schnee— 
hören konnte. Aber Frau von Katenjtein öffnete troßdem die luft die heiße Stimm zu fühlen, ſich müde zu gehen, Schlaf und 
Thür und fam freundlichernjt über die Schwelle Sie Hielt ein | Bergefien zu finden. Mechaniſch war fie vor dem Körbchen 





Körbchen. mit weißem Seidenpapier verdedt, in der Hand. ftehen geblieben, das die Herzogin ihr geſchickt; cin Reiſegeſchenk 
„Meine liebe Gerold,” fagte fie Herzlich, „Ihre Hoheit bes | vermuthlich — die hohe Frau verfäumte ja nie, Freude zu bereiten. 
auftragt mich foeben, Ahnen diefes zu überreichen,“ Sie stellte Sie hob das Papier ein wenig auf; in einigen Minuten 


den Korb auf einen Seitentifh und trat Glaudine näher. „Die | mußte fie hinunter, fich zu bedanfen; man wollte doch willen wofür? 
Herzogin erwartet Sie in einer halden Stunde,” fügte fie binzu | In dem mit bellblaner Seide gefütterten Körbchen lag auf fojt 
und drildte dem Mädden die Hand, „Berzeihen Sie nur, wenn | barem echten Spibengewebe ein Zweig blühender Myrtbe, und 
ich mich nicht verweile, ich kann die Kranke cbem nicht lange diefer Myrthenzweig war durch ihren Berlobungsring gezogen. —- 
verlaſſen.“ Das bleiche, heftig alhmende Mädchen befand ſich plötzlich 
„Wie geht es ihr ?* brachte Claudine Über die zitternden Lippen. | auf der Treppe; fie durcheilte die Korridore, und erſt im Vor 
„Sie Hagt heute nicht; fie jagt, es fei ihr leichter und freier | zimmer‘ der Herzogin jühlte fie, dab fie die Füße nicht mehr 
auf der Bruſt,“ enviderte die alte Dame, die noch athemlos | tragen wollten. Dort ftand der Medizinalrath und flüfterte mit Frau 
vom Treppenjteigen war. von Natenjtein. Die alte Dame deutete mit der Hand auf eines 
„D, und Sie bemühten ſich ſelbſt,“ ſprach Claudine zerjtreut;z der Nebenzimmer und legte den Finger auf den Mund. „Hoheit 
aber Frau von Katbenftein ging fchon wieder zur Thür hinaus. | fchlafen eben ein wenig,“ ſprach fie feije. (Schinf folgt.) 


Aus der deutfden KReichshauptſtadt. 


8. Int Chiergarten. 
Bon Raul Lindenberg, Mit Illuftrationen von », Bauer u. a. 













f ‘ 
Aubthang Park 
Mr far konet. 
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onriſchen 
ne Cape 1 

vu 
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tin uud der Thiergarten — für jeden, der mur 
— die fürzeite Friſt in der Haupiſtadt zugebracht 
hat, ift dies ein untrennbarer Begriff, Berlin ohne den 
Thiergarten, und umgekehrt, diefee ohne die faiferlihe ° 7 7" 7 
Reſidenz: das iſt thatiächlich undenkbar, es ift um * 
möalich, eine ſolche Idee ernſthaft weiterzuſpinnen. Das 

fröhliche Lacheln von Berlin, ein Stückchen Poeſie im rauſchenden 
Trubel der nimmer raſtenden Weltitadt: fo erſcheint uns ſtets 
dieſer ſchöne Park, weldyer in feinem Umfang und jeinen An— 
lagen nicht jo leicht feinesgleicyen findet und dejjen Werth ein 
großer Theil der Einwohnerichaft auch wohl zu würdigen weiß. | aus nach Charlottenburg führt, ein anderes Gepräge. Das frobe 
Wie freut ich das ermüdete Auge, wie heben ſich die vom | Treiben des Alltags war ernſteren Aufzügen gewichen. Durch 
Staub der Strafen bedrüdten Lungen, wenn wir, von den dieſes Thor hinaus fchritt der Tranerfonduft, der die fterbliche 
Linden kommend, das Brandenburger Thor, jenen herrlichen, Hülle des großen Kaifers zu dem Maufoleum in dem weihevollen 
den athenienfiihen Propyläen nachgebildeten Bau, durchichritten Schloßparke von Charlottenburg geleitete; auf dieier Strafe 
haben und ſich man Die lodenden grünen Hallen des Ihier- wogten Volksmaſſen, um in Charlottenburg Kaiſer Friedrich zu 
gartens vor uns ausdehnen! Hinter uns liegt die Stadt, aus huldigen, bier ftanden fie Dichtgedrängt und grüßten ihn mit 
deren Häufermeer das neue Reichstagsgebäude fejt emporſtrebt lautem Jubel, da er nach einer ſchweren Kriſe endlich hinaus: 
und die Siegesſäule, von goldenen Sonnenstrahlen umfluthet, fahren und in der Meichshauptitadt Berlin erſcheinen durfte. 
aufrant — ein froberes, freiered Treiben umfängt uns bier. Diefer Pla vor dem Brandenburger Thor bildete nicht 
Freilich in diefem Frühjahr trug die Strafe, die von hier immer den Eingang zum Thiergarten, o nein; diefer erſtreckte ſich 


2 & 
Am Birandruburger Über, 


Bor der Söwengruppe im Thlergarten zu Berlin. 
Driginalzeihinung von Fr. Stahl, 


Res Stan; - 
* 4 In #7 \ = 





- 410 > 


früher bis mitten in die Heutige Stadt; aus den Fenſtern des 
kurfürſtlichen Schloffes an der Spree Tonnte man zu Anfang bes 
16. Iahrhunderts auf feine wogenden Baummwipfel herabichen, 
und der weidlujtige Kurfürſt Joachim I. Hatte es bequem, auf 
die Birjch zu gehen. Hirfche, Auerhähne, Fafanen und allerlei 
anderes jagdbares Gethier hielt fich in dem ſorgſam umzäunten 
Wildpark auf, der jedoch, mit dem Wahsthum der Stadt, mehr 
und mehr zurücdwic, zunächit bis zum jeßigen Zeughauſe, dann, 
zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, bis zur Wilhelmſtraße, 
Schließlich, nachdem in den Jahren 1789 bis 1793 der Baurath 
Sangbans das Brandenburger Thor errichtet, bis zur heutigen 
Grenze. Die Verliner der früheren Zeiten haben jich herzlich 
wenig um den mit Moräjten durchſetzten, ſchwer paflirbaren 
Wald gekümmert; erft als Friedrich der Große ſich feiner Pflege 
widmete und ihm durch feinen genialen Baumeifter und Freund 
Knobelsdorff gänzlich umgejtalten ließ, da fanden fie Geichmad 
an ihm und twandelten in Helfen Scharen zu ihm Hin. Zwei 
loloſſale Statuen, der pythiſche Apoll mit dem Bogen und 





Herkules Muſageles mit der Leher, Hilteten damals den Eingang | 


und gaben einzelnen prüden Gemüthern, die übrigens zu jener 
Beit feltener waren als heute, Anlaß zu energischen Beſchwerden. 
Ienfeit des Thores hielten Kleine Korbwagen, welche den 
fchnellen Verkehr mit Charlottenburg vermittelten und die Perſon 
für zwei Groſchen dorthin beförderten. 
fie bedeutende Geſchäfte; denn Charlottenburg war jtets ein 
Lieblingsausflugspunft der Verliner, und die Hauptſtraße dajelbjt 
war dann zu beiden Seiten mit zahllofen Tifchen und Stühlen 
befegt; reichten letztere aber nicht mehr aus, fo ſaßen die Haupt: 
ftädtifchen Gäfte in einzelnen Gruppen auf Schemeln, Bänten 
und fogar auf altem Bauholz; fie tranfen behaglic ihr Bier 
und ihren Kaffee und waren fröhlich und guter Dinge. An der- 



















An Schönen Tagen madıten | 


arligen fchönen Tagen zeigte auch der Eingang zum Thiergarten 
eine volfsthümliche Phnfiognomie; unter den Bäumen wurden 
Semmeln, Piefferkuchen, Würfte und fogar gefüllte Branntiwein- 
flafchen feilgehalten; bier und da ftand ein Invalide mit einem 
Gudkaften, oder ein mechanifches Kunſtwerk, das Innere eines 
Bergiverkes, einer Schmiede :c. darftellend, wurde den ftaunenden 
Umſtehenden gezeigt. Während vechts nad der Spree zu ein 
weiter Ererzierplaß Sag, befand fid) links vom Thiergarten eine 
Reihe von Landhäufern, welche von ihren Vefigern zu Sommer: 
wohnungen benußt wurden; „brachtvoll Schön” erichienen fie einem 
zeitgenöffifchen Schilderer; wenige von ihnen haben ſich bis heute 
erhalten und zwifchen den prunfenden Palais der ftolzen Thier- 
gartenjtrafe dünlen fie ung arm und fümmerlich; aber troßdem acht 
von ihnen etwas ungemein Behagliches und Gemüthliches aus. 
Wie wir erwähnt, Hatte Knobelsdorff den Park ganz um: 
geſchaffen; von ihm ſtammen aud die „Labyrinthwege“, die uns 
jest noch immer das Zurechtfinden erfchiweren, von ibm aud) 
überall die ehemaligen zahflofen Götter und Göttinnenftatuen, 
zwölf allein auf dem „Großen Stern“, den deshalb die Ber: 
liner nie anders wie Puppenplag nannten. Da diejer damals 
als einer der entlegenjten Spayiernänge galt, jo entjtand daraus 
der Ausdrud „bis in die Puppen“, gleichbedentend mit „zu 
weit”. Das Hauptrendezvous für die große Welt war der 
von Hohen Ulmen und Eichen eingefaßte „Zirkel“ mit den 
gegenüuberliegenden Zelten, einigen Kaffeewirthſchaften, die ihren 
Namen von Zelten, die fi) früher hier befanden und gleichfalls 
der Erholung dienten, führten und ebenſo noch jeht führen. 
Im „Zirlel“ verfammelte fich alles, was zur guten Berliner 
Sejellfchaft gehörte; in den Nadymittag: und Abendjtunden war 
er häufig überfüllt. Zwiſchen den Beamten in fteifer Haltung, 
zwifchen den wohlhabenden Bürgern mit forajamft acpudertem 
Daarbeutel und ſchneeweißem  Spitenjabot 
ftolzirten Die Offiziere der vornehmen Stavallerie 
reqimenter, wie der Garde du Corps, der 
Sendarmen und Hietenichen Huſaren, umber. 
Sie fagten den fchönen Damen viele Schmeiche 
leien und erzählten von den Thaten des grohen 
Friedrich und ihren zukünftigen eigenen. Auf 
den Alleen umber tummelten Reiter fofett ihre 
muthigen Roſſe und mediſirten mit den Inſaſſen 
der offenen Gefährte; in eleganten, von allen 
Seiten mit Glasſcheiben verſehenen Karoſſen, 
an deren Schlagen Pagen und Heiduden ftanden, 
erichienen die Prinzeſſinnen des königlichen Hofes 
und erfrenten fi an dem frohſinnigen Durch⸗ 
einander. Dann aber verödete mit einem Male 
\ der „Zirlel“; verhallt waren die Nadotagen 





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der Offigiere, verweht die qejuchten Mpercus der Holden Damen; | 
traurig und verödet lag das nahe Schloß Bellevue da, deſſen 
ritterlicher Befiter, Prinz Lonis Ferdinand, den Heldentod ge: 
jtorben. Napoleons Stern glänzte heller als. je und von der 
mit Friedericianiſchem Lorbeer umkränzt geweſenen preußischen 


Urmee waren nur noch demoralifiete Bruchtheile vorhanden. Und | 
| Adels ijt Hier vertreten, jene Kreiſe, 


eines Morgens, da war die Duadriga vom Brandenburger Thor 
verſchwunden und Hatte den Weg nad) Paris angetreten; die | 
Berliner aber fagten, der Sieg ift aus unferen Thoren gefahren, 


denn die Göttin hatte chedem ihr Angeficht dem Thiergarten zus | 


gelehrt. 


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von ber Polizei geitattet — mit ihren ebenfo eleganten Beſihern 
und Befigerinnen, Tetere in den modernften fommerlichen Toiletten ; 


‚ nebenher fprengen die Reiter und auch fchlanfe Amazonen; 


duftige Blumenfträuße fliegen herüber und hinüber, und wir 


; wetten: oft hat fie Amor gebunden und Ient ihren Flug zum 





Die Blüthe der Jugend und die Blüthe des 
die im Winter auf dem 
' Hofparfett zu finden find, wohlbefannte, weitberühmte Namen, 
die unter den Zuſchauern, welche ſchwarz zu beiden Seiten die 
Allee einfäumen, von Mund zu Munde ſchwirren. Dazu die 
‚ flotten Weifen der in den Gebüſchen aufgeftellten Meilitärkapellen, 


richtigen Biel. 


Heute biidt fie nad der entgegengefeßten Richtung und das vergnügte Leben ringsum, der woltenlos blaue Himmel hoc) 
‚ Aber uns — man darf fich nicht wundern, nirgends ein mürriſches 


| Geficht zu fehen. 


zwar auf die Linden herab; wie einſt wallfahrten in dichten 
nedrängten Scharen Taufende und Wbertaufende an  heiteren 
Tagen heran und ergiehen ih durch das hoheitsvolle Säulen: 


portal in die grünen Yaubhallen des Parkes. Weld fröhliches | ſchwunden, hat das Auge ſich genug gefättigt, 


Iſt der Korfo vorüber, find die Wagen und Meiter ver 
dann kommt aud) 


Gewimmel, befonders an Feſt- und Feiertagen! Wer es möglich | der Magen und dabei wieder vor allem der Durst zu feinem 


machen kann, verläßt das fteinerne Hänfermeer und pilgert mit 
Kind und Segel ‚hierher. 
Wohl giebt es ja noch 
verschiedene andere Park⸗ 
anlagen in der Stadt, 
fo den Humboldt: und 
den Friedrichshain; aber 
wagt diefe nur einmal mit 
dem Thiergarten zu ber 
gleichen, ihr würdet bei 
den Berlinern ſchön an- 
fommen! Das wäre ge 
rade jo, als ob ihr die 
Franffurterallee, die aud) 
hübfh und breit und 
mit Bäumen bepflanzt ift, 
den Linden an die Seite 
ftelltet! Thiergarten bleibt 
Thiergarten, damit bafta; 
hier it immer etwas und 
meiltens Neues zu fehen, 
zumal wenn auf dem end» 
lofen Rennplaße bei Weit: 
end jenfeit Charlottenburg 
die fonntäglichen Hinder- 
nißrennen jtattfinden. Da 


zieht fich auf der Chauffee eine undurchdringliche Wagenkette dahin; | 


alle Gefährte find vertreten, von der ſeidenausgeſchlagenen, von echtem 
Vollblute gezogenen fürjtlichen Equipage bis zu dem berüchtigten 


„Hammelwagen“, der fonjt zum Vichtransport dient, heute jedoch von | 


den jcherzenden und lachenden Verwandten des diden Schlächter- 
meijters, der wie ein Brinz auf dem Bode thront, beſetzt ift, von 
der mit Offizieren in leuchtenden Uniformen geradezu befäcten, 
ihwanfenden, die VBaumäfte ftreifenden Mail-Coad bis zu ber 
Happernden Drofchle „zweiter Güte“, deren Rofinante philo— 





Auf dem eitweg. 


fophifche Betrachtungen über die Entfernung zwifchen Berlin und | 


Gharlottenburg anzuftellen und darüber das Gehen — denn Laufen 
zu fagen wäre eine ungeheuerliche Uebertreibung — zu vergefien 
ſcheint. Gin menjcenüberfüllter Pferdebahnwagen folgt dem 
andern; dicht belebt von Reitern find die Nebenwege, und Flint 


wie Eidechſen schießen die Velocipediften in ihren Heidfamen Trachten 


an uns vorbei. Die Mehrzahl freilich benugt Schufters Rappen, 


eine fehr billige Gelegenheit zum Borwärtägelangen und nicht | 


minder dazır geeignet, die vorüberhaftenden Neitenden und Fahren: 
den zukritiſiren und zu befpötteln — man weiß ja, wie wohlſeil 
und foftenlos diefe Waare in der deutfchen Kaiſerſtadt ift. 

Wer an diefen Tagen nicht felbft zur Rennbahn hinauspilgert, 
um auf feinem Fünfzigpfennigplag ſich derart fportgemäß zu be— 
nchmen, als ob er mindejtens zehn Nennpferde im Stall hätte, 
wer nicht dem weihe- und ſtimmungsvollen Charlottenburger 
Schloßpark, in welchem uns ernft und feierlich aus dunklem Grün 
das Maufoleum grüßt, einen kurzen Beſuch abjtattet: der läßt 
fih den Korfo, der im Frühling und Hochſommer fi) den 
Rennen anschließt, nicht entgehen. Ein entzüdendes, farben- 
reiches Bild bietet fih uns dann in der Hofjägerallee dar, die 
den Thiergarten quer durchichneidet: auf und nieder rollen die 
eleganten Gefährte — nur den herrſchaftlichen iſt die Zufuhr 


Recht. Der Hauptftrom wendet ſich, ganz wie früher, den Zelten 
zu; man weiß zwar, bafı 
fie ſchon gefüllt find; aber 
man verfucht es doch und 
findet auch fein Flägchen 
in den Kleinen, dicht mit 
Männern, Frauen, Kin: 
dern vollgepfropften Vor⸗ 
gürtchen. Wie das mög: 
lich iſt umd wie fich die 
Kellner mit ihren fpeifen- 
bejegten Tablet3 durch⸗ 
zudrängen vermögen, das 
wird felbjt den aufmert- 
famften Beobachtern ein 
Näthfel bleiben. Bricht 
die Dunkelheit herein, 
flammen im benachbarten 
Krollſchen Garten die ſich 
zu den nieblichiten Ara: 
beslen, Kronen und Lau—⸗ 
ben verichlingenden Illu⸗ 
minationsguirlanden auf, 
dann wird es hier Icerer 
und die dunklen Maſſen 
wälzen fid) wieder dem 
Brandenburger Thore zu. So mancher von ihnen hegt ficher 
im Innern ein ftilles Danfgefühl gegen den Thiergarten, und 
fein abendliches Rauſchen läßt die ſchwere Arbeit, welche die neue 
Woche in Fülle bringen wird, in beſſerem Licht erſcheinen; horch, 
jebt fett auch noch der Stelzfuß dort am Damme die Kurbel feines 
Leierlaſtens i in Bewegung; einige Stimmen fallen leiſe, ſchüchtern 
ein; andere ſchließen ſich an und die Melodie wird von Hunderten 
gefurrt und gefummt, bis es ganz laut und verncehmlicd im Chor 
erſchallt: „Wer hat dich, du ſchöner Wald“ — und unter diefem 
Wald, was Lönnten die Berliner darunter anderes verftehen ala 
ihren Thiergarten! 

Uns, wenn wir offen fein follen, iſt er allerdings am All: 
tage lieber, befonders wenn mit duftigen Schwingen ber Lenz 
nabte oder diefem mit goldiger Sonnenfluth der Sommer folgte. 
Dann am frühen Morgen im Thiergarten — es iſt wirklich ein 
Stüdcden reiner, friſcher Natur, welches dort feinen ganzen uns 
befcreiblichen Zauber auf uns einwirken läßt. Die weiten Rafen- 
flächen, die dichten Gebüſche, die Zweige und Kronen ber Bäume, die 
Blumen, welche an vielen Stellen zu zierlichen Beeten vereint find, 
ſchimmern von Millionen Berlen Thaus, und wenn die erften Sonnen> 
ſtrahlen darüber Hufchen, ſcheint ein Diamantenregen niedergefallen 
zu fein. Aus dem dichten Grün Leuchten die marmornen Statuen 
der Königin Luiſe, ihres Gemahls und des Dichterkonigs Goethe, 
alle drei von Meiſterhand geſchaffen, hervor; ein kräftiger, würziger 
Erdgeruch umfängt uns; zitternde Reflere fallen durch die Wipfel 
der mächtigen Buchen und Eichen auf die ſorgſam gefäuberten Wege, 
über weldhe in munteren Sprüngen Eihhörnden hufchen, während 
Fink, Amfel und Drofjel ihre Morgenkonzerte beginnen und von 
fernher die jühen Töne der Nachtigall berüberichallen. Au den 
Strafen der Stadt iſt es noch fill und öde; hier aber beginnt, 
früher als dort, das erſte Leben; mit ſorgſamen Schritten nahen 


— 42 — 


die Brunnentrinfer, welche den vorgejchriebenen Weg mit dent- | 
barjter Genauigfeit zurüdlegen, einige poetifche Gemüther ſchwär— 

‚ men ganz in dem Morgengenuß und bfiden mit deutlicher Vers 
achtung auf den ſchlanken jungen Künftler, der, Die Skizzenmappe 
unter dem Arm, mit ſichtlichem Behagen die bläulichen Ringel 
feiner Cigarre in die klare Luft hinaufſteigen läßt; mehrere | 
junge Damen, denen wir begegnen, haben ſchöne, rothgebundene 
Bücher mit Goldſchnitt unter dem Arm; verſtohlen werfen fie 
hin und wieder einen Blid hinein, ja, es iſt doch ganz anders, 
Heine und Lenau und Ruͤclert hier zu leſen, als in den engen 
vier Wänden! 

Mit jeder Stunde nimmt das Leben zu. Lange Arbeiter 
folonnen, welche in entfernten Stadttheilen wohnen, durchkreuzen 
den Park; ihmen folgen zahlreiche Schilerfcharen, diejer und jener 
noch einmal den Homer oder Cicero memorirend; dann wird aud) | 
das Läuten der Pferdebahnen vernehmbar, übertönt alsbald von | 
raufchender Militärmufif, denn die Truppen ziehen zum Tempels | 
hofer Felde hinaus. Frohes Jubeln und Scherzen erklingt aus den 
mit Fahnen und Bannern geihmüdten Kremſern, welche die dreis 
fäfchohen Angehörigen der unteren Klaſſen einer Schule zum 
Grunewald hinausbefördern, während zu Fuß die herangewwachieneren | 
Schüler demselben Ziele zuftreben ; nachdem fie längſt verſchwunden, 
hallt ihr Gefang noch zu uns herüber: „Alles neu macht ber 
Mai, macht die Herzen froh und frei”, und die fo lange nicht 
gehörte Melodie zaubert aud uns Schöne Fugenderinnerungen her- 
vor. Der Jugend jpeciell gehört ja in den Vormittagsitunden ber 
Thiergarten; von allen Seiten fommen fie angetrippelt, die Kleinen 
und Kleinſten, Buben und Mädchen, Arme und Neiche, behitet | 
von der Wärterin, der Schwejter oder gar von einen Diener, der 
ſich in feiner Nolle ſichtlich höchſt ungemüthtich fühlt. Ueberall 
find Spielpläte errichtet, und num folltet ihr einmal fehen, wie 
eifrig alsbald die Arbeit begonnen wird; mit Schaufel und Harfe | 
und Hade wird gebuddelt und gegraben und gebaut; bier entiteht 
eine Feftung, dort ein Kanal, da eine Gärtnerei; die Wangen 
glühen und die Augen bligen, ein helles Jubeln vor Luft und 
Freude, vor Wonne und Genuß — und wer ba zuſchaut, dem 
geht das Herz weit auf und er wünſcht nur ein Mal, nur ein 
einziges Mal noch fo forgloe und glüdlich zu fein! 








‚ ericheinen, dann wird es auch hier etwas Ichhafter, 


Wenn wir wieder allein fein wollen, müſſen wir die ent: 
fernteren Partien des Thiergartens auffuchen; vorbei an der 
bronzenen Yöwengruppe von Wolff, dem blumenumtobenen Denk- 
mal ber Königin Luiſe gelangen wir zur lauſchigen Rouſſeau⸗ 
inſel und von dort über die Löwenbrücke zum Neuen Se. 
Das it bier doch das ſchönſte und idylliſcheſte Fledchen in 
der näheren Umgebung Berlins! Still und ruhig liegt der 
Waſſerſpiegel vor uns; Schwäne durchfurchen ihn langfam 
und majeftätiich; ein Zug Enten vudert ſchnatternd daher und 
verſchwindet in dem Hohen Schilf und Binſenrohr am Ufer; 
das hellere Grün der Linde hebt fich von dem duntleren des 
Ahorn ab, Eiche und Kaftanie machen die Schattirungen nod) 
mannigfaktiger; in ſchweren Dolden ſteht der lieder in Blüthe 
und jein ſüſſer Duft fcheint fich mit dem nah und immer näher 
ertönenden Loden und Schluchzen der Nachtigall zu einem ums 
nennbaren Ganzen zu verichmelzen, welches unfere Sinne um— 
fängt und uns die Weihe der Natur aufs innigite empfinden 


| läßt. Berhältnißmäßig felten ſuchen Spaziergänger dieſen Punkt 


auf; erſt wenn ſich nen Charlottenburg bin der Himmel mit 
goldigem Schimmer überzieht und noch einmal in purpurne Gluth 
die Wipfel der Bäume und einzelne Theile des Sees getaucht 
Bon dem 
mit Fahnen umflatterten jchmalen Hafen, in dem einzelne phan— 
taftifch foftümirte Matrofen eifrig berumbantiren, löſen fich die 
Heinen, ſchwankenden Nachen los und werden mit fräftigen Ruder— 
ſchlägen auf den Sce hinausgetrieben. Faſt jede diefer Nußſchalen 
beherbergt zwei Menfchenkinder, deren Herzen jich gefunden; häufig 
genug wird das Ruder eingezogen und dann vereinen jich die 


‚ Hände zu ſanftem Drud, während der Mund heimlich leiſe 


Liebesworte flüſtert. Abgebrochen trägt der Wind die länge des 
Konzerts im Zoologiſchen Garten herüber; das Waſſer plätichert 
eintönig an den Bug des Schiffleins und ſchmelzender als je 
erzittert das Lied der Nachtigall — dann padt der Heine geflünelte 
Gott, der nern hier im dem dichten Buſchwerk, durch welches 
fünfelnd der Abendwind flitftert, lauſcht und jpäht, die Pfeile in 
den Köcher und hängt den Bogen über die Schulter, um mit 
leichtem Flug nach einem anderen Ort zu ſchwirren — bier ift 
feine Anweſenheit nicht mehr von nötben! 


— —ñ — 


—* 


— fei die Frucht der Beben, 





Braun Gold 


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An Taſeln nidıt allein und Tiſchen 





Des edlen Weines Fenerkraft; 

Doc Ehre fet and dir gegeben, 

Du aoldigbrauner Gerftenfaft! 
Gefenkt in tiefe Kellerruhe, 

Von dichter Dämmerung ummwebt, 
Liegt du wie in verboraner Truhe, 
Ein reicher Sort, bis man ihn hebt, 


Wenn did), in blankes Glas gegoflen, 
Das ſchaumgekrönt bis an den Hand, 
Im Sreife wahrer Trinkgenoffen 
Die Schenkin reldyt mit flinker Hand, 
Regrüßt dich frohes Augenlendten 


Und Lob aus manchem durf'gen Alund, 


Den deines Schaumes Perlen feuchten 


Beim Schaun bis auf des Glafes Grund, 


Uicht nur am ſchwülen Sommerabend, 
Wo lets ein hühler Mrunk gedeiht — 
Du bit ergnihend auch und labend 
Im Kerbfte und zur Winterzeit, 

Und wenn im Zen die Lerchen fingen 
Hort überm Saatgefild im Slan, 

Bift dr gedeihlidy, wie dem Springen 
Der Rlüthenhnospen Morgenthan, 


RER ww 


Der Helden ſchüumt dein brauner Quell; 
Er quilt auch, jenen zn erfeifcen, 

Der nicht des Glückes Pfadgefell, 

Der mühend ſich vom frühen Morgen 
Bur Stunde, bis die Sonne fank, 
Bedrüct von manden Lebensforgen 
Sid ſchwer verdient den Labetranlı. 


In Märchenbüchern Acht zu lefen 

Und iſt durch Schilderei'u bekannt, 

Buerft ein Köntg ſel's geweſen, 

Der hab’ aus Gerſte Malz gebrannt, 
Doch wie and; drob das Meinen ſchwankt, 
Ob man's verneinet, ob belaht, 

Es wor rein fürftliher Gedanke 

Und eines Königs würd'ge Chat, 


Die Frucht der Rebe fer gepricfen, 
Des edlen Weines Fenerkraft; 
Allein audy Ehre die erwielen, 

Du galdiabrauner Gerftenfaft! 

Wo et und lauter deine Welle 
Vom Fah in blanke Gläſer Nieht — 
Gefegnet fei des Kanfes Schwelle 
Und was fein Kellerraum numfdlient! 


Fevdor Löwe. 


—o 


418° — 


Der Kukudk Brütet. 


yr Jahre 1873 (vergl. Nr. 25) brachte die „Bartenlaube“ einen 
intereffanten Artikel „Vom Kududsei* aus der Feder Mdolf 
Müllers. Diefer Artikel jchließt mit den Worten: „Es fommt 
vor, dab der Kuckuck ausnahmsweiſe feine Eier ohne befondere 
Neitbereitung ſelbſt ausbrütet, die ansgebrüteten Jungen pflegt und 
großzieht.“ Dieſer Sa ftühte ſich auf eine im Sommer 1868 
bon dem bewährten Bogelfenner Kießel in St. Johann an der 
Saar gemachte Beobachtung. Ju einem Walde bei St. Johann 
wurde von den dortigen Holzbanern ein weiblicher Kudud auf 
zwei Eiern brütend gefunden. Ex hatte beide Eier gezeitigt und 
die Jungen großgezogen. Obwohl Kießel vier Zeugen für die 
Richtigkeit feiner Beobachtung anführte, wurde diefelbe doch be- 
ftritten und von vielen, unter anderen auch von Brehm, als ein 
nröblicher Irrthum bezeichnet, der nur durch eine Verwechslung 
des Kuckucks mit der Nachtſchwalbe zu erflären fei. 

Heute, nad) fünfzchn Jahren, find die Brüder Müller in der 
erfreufichen Lage, einen endgültigen Beweis für die Richtigkeit 
der damaligen Behauptung zu bringen. Unfer Mitarbeiter Starl 
Müller jchreibt uns Folgendes: 

Endlich iſt ein großer Theil des myſtiſchen Dunkels im 
Leben des intereffanteften heimiichen Vogels, des Kuckucks, wiederum 
gelichtet worden: von meinem Bruder, dem Oberförfter Adolf Müller 
in Kroſdorf. Die Reihe unferer veformatorifhen Forichungen, 
welche in unjerem Were „Thiere der Heimath“ enthalten find, 
wird demnädjit beim Erſcheinen der Mbtheilung „Vögel“ in der 
zweiten, olorirten Auflage dadurch bereichert werden. 

Unjer Vermuthen, daß der Kuckuck auch felbft brüte, hielten 
wir im unjerem Werke zurüd, da die Verantivortung vor der 
wiſſenſchaftlichen Welt zu groß ift und in unjerem Schriftſteller— 
leben das Eelbjterfahrene den Ausschlag giebt. 

Schon vor drei Jahren wurde bei mir jene Vermuthung in 
hohem Grade beftärkt, und zwar durch eine Beobachtung in einem 
Diſtrilte der „Steinfürft“, welche nahe bei Alsfeld liegt. Ein 
Kududsweibchen ftrich jedesmal, wenn ich die Hege betrat, die 
aus jungen Siefern und Buchenbüichen beitand, auffallenderweije 
am Boden über das reichlich Wuchernde Heidefraut dahin, ent: 
ſchwand wie ein Schatten und kehrte mad) längerer Zeit zurüd, 
mic) umfreijend und zuweilen dicht an mir boriberhujchend. 


ich diefelben als von feinem einheimiichen Heineren, in erdſtändigem 
Nefte brütenden Vogel herrührend erkennen konnte und der Kudud 
mid auch auffallenderweife mehrmals umkreiſte, jo zog ich mic) 
fogleich in eine nahe Dedung der jungen Hege zurüd, um den 
Vogel näher zu beobachten. Aunerhald weniger Minuten lich ſich 
derjelbe wieder, nahe am Boden Hinfliegend, ſehen und fußte 
alsbald nächſt der Stelle, an welcher ich die Eier entdedt hatte. 
Ich vermuthete, der Kudud fei im Begriff, fein Ei zu ben 
gefundenen abzulegen, und wartete mindejtens qui dreiviertel 
Stunden hinter meiner Deckung, ohne daß ich den Vogel ſich 
entfernen jah. Dies jowohl, wie der Umstand, daß feine um 
ihr Gelege beforgten Nijtvögel in der Nähe ſich zeigten, ließ mid) 
ſtark vermuthen, daß hier ein anferordentlicer Fall obwaltete, 
den zu ergründen idy nunmehr eifrig bejtwebt war. Ich näherte 


‚ mich jegt vorſichtig der fraglichen Stelle, und in deren Nähe 


Die ganze Woche hindurch, jobald ich nur abfommen konnte, | 


forſchte ich mach, durchſuchte alle Nejter der Kleinvögel, Roth: 
lehlchen, Grasmücken, Laubvögel und Zaunkönige, aber nirgends 
fand ich ein Kuckucksei oder einen jungen KRudud. Nun unter: 
juchte ih Schritt für Schritt den Boden, aber auch dieſe 
Bemühungen blieben ohne Erfolg. Ich stellte mich mit dem 
Fernglas auf den Beobachtungsitand. Es blieb ruhig, ber Kuckuck 
unfichtbar. Sobald id) aber nachforſchte, ſah ich den Kuckuck 
immer twieder in meiner Nähe dicht über die Büſche und Heide 


ſtreichen. Am ſechſten Tage nahm ich ihm micht mehr wahr, es 


war der 14. Juni. 

Heute aebe ich in Tebhafter Erinnerung an die große Wach— 
ſamkeit und Beforgui des Kududs der Meinung Raum, daß er an 
irgend einem Pläbchen gebrütet Hatte und felbftpflegender Multer— 
vogel geworden war, nachdem mein Bruder mir die nachjtehenden 
Aufzeichnungen feines treu und pünktlich geführten Tagebuch 
übermittelt hat, damit die „Gartenlaube“ Das die ganze omitho- 
logiſch wiſſenſchaſtliche Welt nicht bloß, ſondern and das Laien- 
thum hochintereſſirende Ereigniß zuerjt veröffentliche. 


erhob ſich der Kudud zum zweiten Male, diesmal, nachdem er 
einen Halbkreis um mich befchrieben, weiter in eine Nadelholz— 
dickung ſtreichend. Die mähere Betradytung der Eier ergab nun, 
daß zwei davon feinen auffallenden Unterichied in Größe und 
Geſtaltung zeigten, wohl aber in der Grundfärbung von einander 
abwichen. Ich erfannte fie als Eier des Nududs von jehr zartem 
Korn und dünner Schale. Das eine trug die charakteriftiiche 
Färbung in weißgelblichem (blaßwachsfatrbenem) Grundton, mit 
dunfelbraunen Punkten und einzelnen Strichen und Schnörfeln 
bin und wieder verfehen; das zweite, gleichgroße war röthlichgelb 
oder Ichmfarben begrundet und trug ölfarbene, verichtuommene 
Zeichnung, jo daß es einige Aehnlichkeit mit den Eiern des Roth: 
lehlchens aufwies. Beide waren mindejtens von der Größe eines 
Goldammereis, aber fchlanker. Das auffallendfte, von dieſen 
beiden weſentlich verfchieden, war das dritte Es erinnerte ſehr 
an die Eier des Buch: oder Edelfinfen, bot auf graugrünlichem 
Grunde fpärliche, Heine röthliche und größere dunkel rothbraune 
Punkte und war ungewöhnlicherweife nehäuft punktirt am fpigen 
jtatt am ftumpfen Pole. Es erreichte nicht einmal die Größe ber 
Eier der eben genannten Finkenart. Wie fhon erwähnt, lag das 
Gelege in einer flachen Bodenmulbde, die zwiſchen Gras und Ginſter— 
—— ringsum in einem Abſtand von 30 bis 35 Centimetern 
rei war. 

Raſch entfernte ich mich nad) diefer Unterfuhung nad einem 
etwas erhöhteren Hinterhalt in dem Jungholze des Buchenlicht: 
fchlages. Bon diefem Punkte aus fonnte ich mit meinem glüd: 
licherweiſe mitgenommenen Fernglafe die Stelle an dem ab- 
ichüffigen Hange des Raines genau überfchen. Innerhalb elwa 
der ſechſten Minute fehrte der Kuckuck zurüd und fiel nad mehr: 
maligem Umkreiſen des Ortes wieder an der Niftjtelle ein, um fich 
gleich darauf in jeinem dharakteriftifchen unbeholfenen Gange auf 
das Gelege zu begeben. Ueber anderthalb Stunden behielt ich die 
Stelle nod) im Nuge, während welcher Zeit der Kucuck unbeweg⸗ 


‚ lich auf den Eiern verharrte, jo daß kein Zweifel mehr über das 


Doch hören wir die werthvolle, foftbare Entdedung, wie jte 


im Laufe der Beobachtung von meinem Bruder ftets nad) Be: 
fund jogleich aufgezeichnet worden ift. 


“ * 
* 


Als ih am Vormittag des 16. Mai d. X. im nordöſtlichen 
Theile des königlichen Walbortes Hohenſchied im meinem Dienit: 
bezirke eine junge Pflanzung befichtigte, jtand plöblich aus dem 
Geſtrüpp ein Kudud jeher nahe vor mir auf, dem ich ſogleich an 
jeiner blafjen, bräunlichen Farbe als einen weiblichen Vogel er: 
lannte. ch entbedte alabald nahe der Stelle, wo der Vogel 
aufflog, in einer ganz flachen Bodenvertiefung drei Eier, welche mir 
dadurch auffielen, boR fie eine verfchiedene Färbung beſaßen und das 
eine gegen die beiden anderen eine merklich geringere Größe hatte, Da 


1858 


thatfähliche Brüten des Nududs über feinen eigenen Eiern bei 
mir obwaltete. 

Ich ließ nun bis zum 25. Mai d. |. den Kuckuck ungejtört in 
feinem Brutgefchäfte. Am Morgen des gedachten Tages befuchte 
ich die Niftitelle und fand zu meiner großen Freude — nadı 
dem Mbjtreihen des Brutvogels — einen jungen Rudud in der 
Erbmulde Liegen. Er mochte nad) meinen früheren Erfahrungen in 
Bezug auf junge Kudude etwa ſeit fünf bis ſechs Tagen dem Ei 
entichlüpft fein, denn die Kiele leuchtelen aus der Haut der Flügel: 
arme und der Schultern und das Augenlicht aus den Riten ber 
faum nod geöffneten Augenhaut. Das eine vöthlihbraune und 
das Meine Ei fand ich etwas abfeits des Brutlagerd. Das eritere 


‚ war eingedrüdt und erwies fi als ungezeitigt und faul, das 


Heine war unverfchrt. Ach ertannte aber beim Werfuche, es aus: 
zubfajen, daß es unbefruchtet und mit nur wenig hafbvertrodnetem, 
halb verdorbenem Anhalte verjehen war. Unftreitig war es, wie 
das Halbzerdrüdte, ein während des Brütens nachgelegtes, aber 
auch nicht ausgebildetes, unbefruchtet gebliebenes ei. was jein 
auffallend geringer Umfang, die äußerft zerbrechliche, dünne Schale 
jowie fein dürftiger Inhalt bewieſen. 

Unermädlich, immer wieder nach furzen Zwifchenzeiten, um 
freifte mich in niedrigem Fluge der Brutvogel, ein Zeichen, daß 

63 


—o 


er große Beſorgniß um fein Junges hegie. Meine Berfuche mit | 


dem jungen Vogel ergaben ein ganz anderes Refultat, als das, 


welches mir früher zwei in dem Neſte eines Rothkehlchens aufs 
aefundene junge Kudude in ihrem Verhalten zeigten. Dieje waren | 


bejtändig unruhig, vetten zitternd die Fliigelarme über dem Rüden 


und der cine derfelben ſchnickte fich zeitweilig heftig mit Kopf 


und Hals nad) Hinten, fo da er öfters überfiel; der neue Gegen: 


itand meiner Beobachtung verhielt ſich Hingegen jehr ruhig, mit | 


Kopf und Hals auf dem Boden liegend. Er reagirte auch gar 
nicht, wenn ich ihm den Müden — der nod) die charafteriftiiche 


Bertiefung der erſten Jugend des Nududs trug — mit dem | 


Finger berührte oder ihm das eine Ei oder einen entſprechenden 
anderen runden Gegenftand auf den Nüden legte. Daraus ſchließe 


ich, daß die brütende Mutter felber die umgezeitigt gebliebenen Eier 


abfeits geihoben haben muß, nicht aber der junge Kudud, wie 
das die jungen Individuen in fremden Neftern Hin und wieder 
zu thun pflegen, indem fie die Nejteier oder ihre Stiefgeſchwiſter 
hinausfchieben oder hinauswerfen. 

Ich zog mic darauf wieder auf meine frühere Beobachtungs- 
ftelle zurüd, vermochte aber noch nicht zur genauen Auskund— 
ichaftung des Atzens (Fütterns) vom alten Vogel zu kommen. 
Ein ferneres Verweilen wurde auch von Grasdieben unterbrochen, 
welche in der Nähe den Ort beunrubigten, und ich verichob die 
weitere Erforſchung dieſes Gegenftandes auf einen ruhigeren Tag, 
da auch die grasınpfende Bevölkerung an der nahen Grenze des au 
den fiskaliſchen Wald ftoßenden Gemeindewalbes ihre berechtigte 
Nugung, jtörend für meine Abſicht, fortichte. 


der Walbort war ein Heines Rendezvous von Hududen. 


Am Morgen des 26. am Orte eingetroffen, hatte ich einige | 
Male Gelegenheit, zu jehen, wie der Brutuogel den jungen Kudud — | 


wie mir's ſchien — mit grünen Räupden abte. 


Schlich mic nämlich bei meiner Annäherung an den Ort gededt 
auf meinen Beobachtungsplaß und ſah durch mein Fernrohr den 
alten Vogel auf der Niſtſtelle figen. Zweiundzwanzig Minuten 
beobachtete ich ihn in diefer Situation, worauf ich plößlich durch 
fein Anfitchen und Fortſtreichen überraſcht wurde, welches tief 
an der Erde her mehrere Schritte entfernt don dem Niftorie 
auf einer Blöße geihah. ch unterfuchte, die Abweſenheit des 


Vogels benugend, jogleih die Stelle und fand den jungen 


Kuckuck mit beinahe gänzlich offenen Augen in der Mulde 
liegen. Bei meiner Annäherung vxichtete er den Borderförper 
in die Höhe und fperrte den orangefarbenen Rachen auf, jeine 
feinen, piepfenden Töne ausftohend. Die Lagerjtelle um den 
jungen Audud war vollftändig von Exlrementen desjelben reins 
nebalten, ein Iprechender Beweis dafür, dab der Muttervogel die 
übliche Eigenihaft der Niſtvögel ebenfalls befigt, die verhäftniß- 
mäßig ehr großen Faeces des Neftlings im Schnabel zu ent 
fernen, Nach etwa drei Minuten, nachdem ich mich in meinen 
Hinterhalt zurüdgezugen, ſah ic den alten- Wudud auf einen der 
freien Plate etwa ſechs bis acht Schritte von der Nijtitelle ein: 
fallen, wonach er vor dem Felde meines Fernrohres mit Athung 
von grünlichen Segenftänden — wahrfceinlih Räupchen — er 


Dabei wurde der | 
junge Neftling von der Mutter viel und anhaltend erwärmt. Ach | 





ſchien, das Junge atzte und dasfelbe hierauf wieder ungefähr | 


eine Biertelftunde bededte. Die Entfernung des Muttervogels 


erfolgte durch Auffliegen abermals in der früher eingefchlagenen | 


44 >» 


Richtung und nicht unmittelbar von der Brutftelle aus, fondern 
von einem freien Raume außerhalb der Bodenbedefung. Innerhalb 
weniger Deinuten kam der alte Bogel mit gleicher Agung von 
etwa einem Quadratcentimeter Umfang zurück, entfernte ſich aber 
nach der Fütterung fogleich wieder in der befchriebenen Weile. 
Nach der ziveiten alsbaldigen Ritdkunit und Atzung erfolgte das 
Erwärmen des jungen Bogels wieder. Ach entfernte mich nad 
einer guten Viertelftunde gededt, ohne Störung des alten Vogels. 

Schon während der Beobachtung hörte ich in dem Walb- 
orte auffallend zahfreiche Rufe männlicher Kudude Ach zählte 
nach und nach ſechs Individuen, welde ſich mit Minnes und 
Hampfrufen antiworteten. In den nahen Horjten höheren Holzes 
vernahm ich in kurzen Intervallen die klaiſchenden Flügelicläge 
eiferfüchtiner Kämpfer und das erotische „Gwawawawach“ der 
Männden mit, dem anttwortenben Kiwiwiwi“ ber Weibchen. 
Einen unterhaltenden Anbli gewährte das Treiben der verliebten 
Gauche im Gehölze, das ic) bei meinem Weggange noch einige 
Beit aus ber ferne beobachtete. Bald zeigten ſich auf den Wipfeln 
von Eichen und Fichten die Hitigen Männden mit hochauf— 
gerichteten, gefächerten Steuern und hängenden Flügeln und unter 
beftändigen Rufen, worin vielfah das „Kudud* überjtürzte in 
„Kududut“ und bei manden Gremplaren heifer und furz ab- 
gebrochen ertönte; bald jagten jich männliche Individuen im 
Seäfte herum, ab und zu mit weiblichen Erempfaren, die be— 
kanntlid) an ihrem dlaſſeren bräunlichen &eficder von den viel 
dunkleren (ichwärzlichen) Männchen zu unterſcheiden find. Kurz, 
Troß der 
unfreundfichen Witterung diefer Tage (Heerraud) und Nebel am 
Horizont und froftiger Wind bei Nachmittags nur + 11° R, 
im Schatten) entjpann fih ein Minnetreiben und Kampf in 
Rufen und Jagen, wie man es nicht lebhafter in den wärmſten 
Tagen des Mai und Juni erlebt. 

Begierig, den Grund einer ſolchen Anhäufung von Kududen 
in dieſem Waldbezirfe zu erforichen, begab ich mid) in das be— 
nachbarte Gehölz, wohin dev Muttervogel vorher zur Erbeutung 
der Atzung mehrmals geflogen war. Ich entdedte dajelbit als- 
bald an den Gruppen von Eichenoberjtändern eine Anſiedelung 
des Eichenwicklers, Tortrix viridana 1; ſchon von weitem fah 
ich Erempfare davon in den befannten Seidenfäben herabhängen, 
und fand auch die Eichenwickler in ziemlicher Anzahl auf den 
Blättern vor. Ganz gewiß bildete diefe Anfiedelung die Urfache, 
daß ſich hier die Kuckucke jo zahlreich zufammenfanden. 

Das Vorftehende beweift unmwiderleglih Har die Thatſache: 
1. dab der Kuchud ausnahmsweife im Stande ift, eines und 
das andere feinee Eier — die er dann ohne Neftbereitung an 
irgend einer ficheren Stelle wahrſcheinlich ſämmtlich ablegt — 
jelbft auszubrüten und das Junge zu ernähren; 2. daß die Eier 
von einem und bemielben weiblichen Kucdude ſehr verfchieden 
aefärbt und gezeichnet fein können. Damit wird aber die von 
gewiſſer Seite aufgeftellte, rein theoretifche Behauptung völlig 
entfräftet, jedes Kuckudsweibchen lege aleichnefärbte und «gezeichnete, 
fogenannte „typiſche“ Gier, welde für das „zum Berwechfeln 
ähnliche Gelege* einer befonderen Art der Kleinvögel beſtimmt 
feien und regelmäßig diejer Art von dem weiblichen Kuckuck 
oftrogirt würden. “dolf Müller, 


Die größte Blüte der Welt, 
Bon B. Hein, 
mDdären das Ange des Laien über die das Nivenı der Mittelmähige | Größenverbältniffe unendlich überichreitenden Blüthen anfänglich mit Mif- 


feit nicht überichreitenden Ericheinungen der Pflanzenwelt gleich 
giltig babinjchweift, wird es regelmäßig gefellelt durch diejenigen Formen, 
welche durch Maflenentwistelung fich auszeichnen, ſei es durch die Koloffal- 
größe von ganzen Stämmen 3. B. der Riefenfichten Kaliforniens oder 
nur einzelner Pilanzentheile, wie etwa der enormen Blätter und Blüthen 
der jildamerifaniichen Victoria regia, Lodt aber ſchon die jährlich in fait 
allen unferen botaniihen Gärten ihre fuüßgroßen Blumen entfaltende 
Victoria mit immer neuer Zugkraft Zehntauſende neugieriger Beſchauer 
heran, welde Scharen würden fich dann erſt in unfere Gärten drängen, 
° wenn es möglich wäre, die Miefenblütben dev Philippinen, denen gegen» 
über die Victoriablüthen zu wahren Zwergen herabiinfen, lebend vorzur 
führen, Leider iſt aber hier der närtnerifchen Hunt vorausiichtlich noch Pie 
lange Zeiten ein Riegel vorgeſchoben, und wir milffen uns begnügen, dieſe 





Rieſenbluthen durch Wort und Bild zur Auſchauung zu bringen. Selbit in | 


botaniſchen Kreiſen fahte man die erite Kunde über derartige, alle befannten 


trauen auf, Es Hang wie eine jchlecht erfonnene Fabel, als der Begleiter 
des Sir Stanford Raffles, des engliichen Gouverneurs von Sumatra, 
Dr. Joſef Arnold, von einer Blilthe berichtete, welche er 1818 auf der 
Aufel Lebbar, im Gebüſch an den Ufern des Manna-River gefunden und 
welche einen Umfang von faft nem Fuß befeffen habe Dabei war es 
sicht die Blüthe eines ftarfen Strauches oder einer tiehwurzeinden Staude, 
fondern ohne jede Spur eigenen Blattwerles jdhmaropte der wunderbare 
Saft auf den am Boden hinkriechenden Neben eines hartbeerigen Wein» 
ſtodes. In das weiche Holz diefer Neben hatte er fein ſchwaches Wurzel» 
inftem eingelentt, gleichwie unfer Miſtelbuſch es auf Pappeln, Ahornen, 
Fichten ze. thut, und aus dem ibm maflenhaft zuftrömenden Rebenjaite 
entnahm er die Stoffe zum Aufbau der folofialen Blume, 

Am 30. Juni 1820 bejchrieb der damals bedentendfte engliſche 
Syſtematiler Nobert Brown dieje wunderbare neue Pflanze und verewigte 
die Namen der beiden Entdeder, indem er ihr den Namen Raftiesia 


RR * 


0 


Arnoldi beilegte. 
männliche Blůthe au j 
nämlich getrennten Geſchlechtes. Ehe es gelang, die weibliche Blüthe der | 
Raftlesia Arnoldi. aufjufinden, was erjt 1 glüdte, wurde noch eine 
Anzahl anderer Rafflefiaarten entdertt, aber die zuerſt erwähnte ſchien 
auch die größte Urt zu bleiben, bis im April 1882 bie Entdetungen 
eines Denken Frorichers ihre den Rang flreitig machten, 

Zwei Dentiche waren es, melde als Pioniere der Wilfenichaft im 
Februar bis April 1882 die ſüdoſtlichſte Juſel der reichen Philippinen- 
gruppe, das nodı wenig befannte Minbanao, durchforichten. Dem bo- | 
taniichen und et Imsgrapbiiten Sammteleifer des Dr, Alexauder Schadenbern, 

ofapotbeters in Gl 
ein Better Otto St 
Konfulats in Manila, die Interefien der Drnithologie und Entomologie 
bei der Durdforihung Mindanaos wahrnahut. Beide Neifende waren 
durch Tängeren Aufenthalt auf den Philippinen, Koch als Ehef eines 
rohen Dandelshaufet auf Cebu, Dr, Schadenberg als geprüfter ſpaniſcher 

harmacent, vorzüglich für die Erforihung der großen Inſel vorbereitet, 
deren höchiter Gipfel, der Vullan Apo, bis zu 300 Meter fidh erhebt. 
Berfuche zur Erfteigung des Bullans waren ſchon früher gemadjt worden, 
bejondersder in Dabao an der Hüfte refidirenbe jpaniiche Bonvderneur Sennor 
Rajal hatte 1880 eine große Erpedition nad) dem Apo in Begleitung von über 
hundert Mann Trägern und führern unternommen. In nem Tagen 











drang die Truppe bis zum Bulfan vor, und zwei Begleiter de3 Gouver- | 


neurs, ein Franzoſe Dr. Montano 
und ein Spanier Martinez, erreid)« 
ten ben vorlegten Gipfel von 3150 
Metern, aber erft ber Ausdauer um- 
ferer beiden Landsleute war es be> 
ſchieden, den Gipfel ſelbſt zu erklim⸗ 
men und feine Hitje anf 3300 Meter 
zu beitimmen. i 

Der Bofteinung des ſehr thätigen 

Vullans ftellt ſich befonders Hin» 
dernd der Aberglaube der Einger 
borenen in den Weg, welche ihren 
böfen Gift, Mandarangan, auf 
dem fie oftmals beunruhigenden 
Apo thronen glauben, Ehe daher 
ein Anjtieg von den Eingeborenen — 
um and den Solfataren Schwefel 
u holen — verſucht wird, bringen 
ie dem DMandarangan Menſchen- 
opier, und es fkojtete die deutichen 
Neifenden endloje Mühe, Ueber: 
rebungstünfte und Geſchenke, dieſes 
Menidyenopfer zu ungehen. 

Auf dem Berge Bardq, einem 
der dem Apo vorgelagerten Gipfel, 
fand wun Lr. Schadenberg in 50 
Metern Höhe jene loloſſale Blüthe, 
welche unjer Bild wiebergiebt. Der 
Forſcher glaubte feinen Augen fauın 
trauen zu dürfen, als er mitten 
im Buſchwalde reihenweis, riejigen 


u, jtand ber Fleiß würdig zur Seite, mit weldyen | 
‚der letzte Tanfmänniiche Verwalter des deutichen | 





415 


Yu Browus Bedauern hatte Dr. Amold nur eine | fugel hervor. Geht nun das Aufblühen normal wor ſich, jo Happen bie 
wahrt; troß ihrer Niefengröhe find die Rafflefien | fünf Blumenblätter flah aus einander, bleiben einine 





o 


tunden aus: 
gebreitet und krümmen dann volllommen zurüd, fo daf die Blüthe 
nur etwa halb fo groß erſcheint. Sehr oft aber fomme es aus noch 
unbefannten Urfachen nicht zu dieſer regelmäßigen Entfaltung, fondern 
es entwidelt fih in der Anofpe eine Gasmaſſe — Sohlenjänre? — 
o raſch und energiſch, dab die fünf fiber einander liegenden Blunen« 
lätter ringäherum abgeiprengt und in Form einer Kappe herabae- 
ſchleudert werden. 

Legt die Blürhe normal offen, jo präfentiren fich die fünf Blumen: 
blätter als matt braunrothe Dvale mit zeritrenten weißnelbliden zoll« 
hoben warzenartigen De nerrogungen der dickfleiſchigen Blattmaffe, Die 
innere Blumenröhre it eine außen ebenjo gefärbre Halbfugel von eima 
fünf Eentimetern Wandſtärle. Das oberite Sechstel dieſer Halblugel iſt 
wie weggefchnitten und diefe Definung von einem duntelfleiſchfarbeuen 
Wulſt umringt, Die innere Kugelwand ift ſchwarzviolett, bededt mit 
unzähligen, gleichlarbigen jaftigen Haarauswüchſen von etwa einem Ceuti- 
meter Hänge. Aus dem Grunde der Kugel erhebt ſich auf einer etwa 
fünf Eentimeter hohen Säule eine zwölf bis fünfzehn Eentimeter breite 
Scheibe, deren im Gentrum hellviolette, in mehreren abmechjelnd hell- 
und dunfelvioletten Ringen abgetönte Flache am Nande zierlich kerbig 
wellig ift, während aus ihrer Mitte zahlreiche kegelförmige bis band» 
Örmige, zwei bis drei Eentimeter lange Griffel hervorſproſſen. Diefe 
angen braumvioletten Griffel find in den weiblichen Blüthen Träftig 
und fruchtbar, in dem männlidyen 
Blüthen jhmäler und mifruchtbar. 
Die männliden Organe, bie Staub- 
beutel, fißen von aufen dem Blicke 
vollltonmen verbedt in der Hohl⸗ 
lehlung des obern Ringes der Schei» 
benfänle, Die weibliden Wlüthen 
entwideln fich zu einer großen, weich" 
beerigen Frucht, in deren leicht fau⸗ 
lendent —*6 die wingigen Zamen 
maslenhaft jigen. Die Befruchtung 
jelbjt erfolgt offenbar nur durch Aas+ 
inſelten, denn der Duft der ſich öff- 
nenden Blüthe ift der volllommenſte 
Aasgeruch, und zwar iſt der Ge— 
ſtant nicht nur für die menſchliche 
Raſe demjenigen faulenden Fleiſches 
tauſchend ahnlich, ſondern and) 
Schmeißfliegen, Aaslafer und ver- 
wandtes Gelichter werben durch den⸗ 
ſelben maſſenhaft augelockt. Die 
Lebensdauer der Bluͤthe iſt eine 
ſehr lurze; nach ein⸗ bis zweitãgigem 
Blühen finft Die enorme Maſſe in 
fih zuſammen und geht raſch in 
Fäulnik über, fo daß auch dieYarven 
der Hasinielten in dieſer rim 
organischen Maſſe ihre Rechnung 
finden, Wie die Frucht ausreilt, 
wie die Samen feimen und ihren 
Wurzeliproß in die Rebe verienten, 


bräunlihen Kobltöpfen gleich, die Knoſpen der Riefenblüthe jah. Weitere | um dort aus dem Spftem der Wurzelfafern neue Knoſpen zu bilden: das 


Umschau lieh ihn bald auch blühende Eremplare finden, weiche über 
80 Gentimeter Durchmeſſer hielten, alio die Gröhe cines Wagenrades 
hatten!! Diele mächtigen Blüthen fahen auch hier wieder auf den am 
und in Boden friechenden Stämmen einer Nebenart (Cissus),. Den Ein» 
geborenen, weiche Dr. Schadenberg begleiteten, waren die Miefenblüthen 
sicht unbefannt, fie nannten diefelben Bo-o, Da eine Wage nicht zur 
Dand war, wurde dad Gewicht der Blüthen mittelft einer ſelbſt her 
eftellten Naturwage beftimmt und ald Gewichte die beiden Büchſen der 
Reiſenden und eine Anzahl Batronen benutzt. Eine ipätere Kontrolle diejer 
ungenichten Gewichte ergab, dah die größte Blüthe etwas über 11 Kilo— 
gran gewornen hatte. Da an einen weiten Transport der friichen Blüthen 
ihrer weichen, handdicken, fleiſchigen Blüthenblätter wegen um jo weniger 
zu denfen war, ala ſchon an Ort und Stelle die Blüthen nach furzer Zeit 
in Fäuluß überningen, To photographirten Koch und Schadenberg bie 
Blumen und trodneten eine Anzahl derjelben raſch am euer, Photo— 
graphien und Trockenmaterial erhielt der töniglidie botanifche Garten 
m Bresian von Pr. Schadenberg geichentt. Geheimrath Goeppert, 
der langiährige hochverdiente Pirchtor des Gartens, erlannte in dem 
Material jofort eine nene Mafilefta, welche ex nach dem Entdecher, einem 


* 


| 


feiner Schüler, Raftlesia Schadenbergiana taufte. Goeppert jelbit war | 


es nicht mehr beichieden, das von Schadenberg geſammelte Material 
genau unterfuchen zu fönnen; allein die von Profefjor Hieronymus in 
Breslau veröffentlichte eingehende Beſchreibung aller Theile dieier neuen 
Raffleſia bat ergeben, daß wir in ihr wirflich eine neue Art und zwar 


wahrscheinlich die größte der bisher befannten Kaflleften erhalten haben. | 


Kaftlesia Schadenbergiana treibt ihe Wurzelfoftem ausschließlich im 
Holälörper der von ihr befalfenen Reben. An anblreichen Stellen diejer 
Stämme, oft dicht neben einander, entitehen Inotige Auſchwellungen, aus 
welchen die raſch fich vergeöhernde Knoſpe der Rafilejia ungeſtieli hervor» 
bricht; gleichzeitig bilder ch aus der Rindenſchicht der Nebe ein bis hand 


tellergroßer, Forlartiger Kelchbecher. Aus diefem Iproffen, piralig geitellt, | 


gleich den Blättern eines Kohllopfes dicht über einander gebrekt, zahl: 


reiche, bon außen nady innen an Größe aunehmende, Mage rg trodene | 


Scuppenblätter hervor, melde die Knoſpe bis zur vollen Entwicklung 
überdeden. Mit der Vergrößerung der Kuoſpe werden dieſe Troden 
blätter zurüdgedrängt und die eigentliche Stuofpe tritt als rieſige Halb 


find Fragen, welche vorläufig noh unbeantwortet find und erſt ihre Er- 
ledigung finden werden, wenn an Ort und Stelle neue Forichungen 
über dieje riefigite aller Blüchen werden angejtellt werden fünnen. Sa 
Dr. Schadenberg wiederum nach den Philippinen abgereift ift, jo wird eine 
oder die andere Frage ſchon in den nächiten Jahren ihre Antwort wohl finden, 

Echen wir uns nun unter den Bilanzen, welche uns belannter find, 
nach Verwandten der riefigen Naffleiien um, jo müſſen wir eingefteben, 
da; wir in unſerer euröpäiſchen Flora nichts haben, was ſich mit 
diejen Eropentindern vergleichen liche. Allerdings giebt es in Jialien 
auf den Wurzeln der Eiſtroſenbüſche eine Schmaroserpilanze, welde, 
botaniſch angelehen, in dielelbe Ramilie der Urtinaceen wie die Nafflefien 
gehört, aber jie bilder nur daumendide, wenige Kentimeter hohe Segel, 
auf denen winzige, dunkelrothe Blüthchen ſihen, und nur ihr innerer 
Bau deigt dem Gelehrten, daß man auch bier eines mit Großem ver 
an. 

Schadenbergs botaniihe Funde auf Mindanao, meldies dem 
Flädyenraum nach die zweitgrößte Inſel der Philippinen ift, gipſein aller- 
dings in der Entdedung der ungebenerliben Raftlesia Schadenbergiana; 
aber auch unter den übrigen von ihm gefammelten Bilanzen war eine 
reiche Hall neuer oder dod) hochintereljanter Pflanzen. Mächtige, beeren« 
tragende Myrihenbäume fand er in der Yähe dei Nafflefiaplages, welche, 


‚in der Botanit als Glaphyria Annae fortlebend, den Nanten jeiner 


dantaligen Brant und jegigen Gattin und treuen Meifebegleiterin verberr- 
lichen. Eine Tolojiale Aroider, deren Blatt neun Meter Umfang mah, 
brachte er lebend mit, und auferbem zwei wunderſchöne Alpenroſen, von 
denen die eine bei AH) Metern Höhe am Bulfan Apo ſchneeweiß er- 
blühende Wälder bildet und nach feinem Reilefameraden „Rhododendron 
Kochii” getauft ward, während die zweite den Namen des Apo trägt, 
unter deilen Spite fie die legte ftrauchartige Pflanze ift. 

Unmittelbar nach dem Velanntwerden der reichen und wertvollen 
Pilanzenichäge, welche Dr. Scyadenberg auf Mindanao eridloß, gingen 
engliihe Sammler dahin, um bie dort wachlenden Orchideen für England 
anszubeuten. So vollzog ſich auch hier das, wie es ſcheint, unabänder- 
liche Schauipiel: der ideale Deutſche bahn den Weg, zeigt die Schäße, 
welche daliegen, und der geichäftstundige Engländer folgt jeiner Spur 


und mache das Geſchäft! 


— ü 


416 > 


Blätter und Blüthen. 


Zwei deutfhe Fürftenjubilien, Am 21. Juni erreicht Herzog 
Eruft von Sachſen⸗Koburg⸗ Gotha jein Fiebzigftes Lebensjahr, am 24. Juni 
Großherzog Karl Merander von Sahjen-Beimar, zwei deutiche Fürſten, 
die ſtets cine nationale Geſinnung bewährt und ſich gleichzeitig als 
Förderer der Litteratur und Kunft ausgezeichnet haben, Was Goethe 
in den „Benetianischen Epigrammen" von Stark Augnſt fang, das iſt ein 
Motto, welches auf feinen Entel und Nachfolger ſowie den Frürften 
des Nachbarlandes noch heute berechtigte Anwendung findet: 

Klein ift unter den Fürsten Germaniens freilicd der meine; 

Kurz und ſchmal iſt fein Land, mäßig nur, was er vermag; 

Aber jo wende nach innen, jo wende nach außen die Aräfte 

Jeder, da wärs ein Feſt, Deuticher mit Deutichen zu ſein.“ 

Ueber das vielfach mit den wichtigſten politiichen Begebenheiten ver: 
teitete Leben des Herzogs Ernit haben wir, im Anſchluß au den erften 
Band feiner Eelbitbiographie, vor kurzem eingehend geſprochen; er wird 
unter den Förderern einer wahrhaft nationalen Gefinmung in trüber Zeit 
ſlets in erjter Linie genannt werden müſſen. Doc nicht minder lebhaft als 
fiir des deutichen Volkes politifche Bedeutung und Größe ift er begeiftert für 
die Thnten des deutichen Beiites in Wiſſenſchaft und Kunſt, und micht ab» 
hängig von alten Ueberlieferungen, jondern dem Neuen und Neueſten freudig 
zugewendet. Selbſtſchöpferiſch ift er als Opernkomponiſt auf dem Gebiete 
der Mufit aufgetreten; mit allen namhaften didhteriicden und fchriftitelleri» 
Ichen Talenten der Gegenwart ftand er mehr oder weniger in perjönlicen 
Beziehungen. Wie nahe hat jahrzehntelang ihm und jeinem Hofe Guſtav 
Freytag neftanden! Doch wie hervorragende Dichter, jo hat er auch), mit 
dem bdeutichen Theater vertrant, Künſtler von Ruf und tüchtige Bühnenleiter 
ſtets in ihren Veftrebungen verfolgt und Gelungenes nadı Berdienft aus: 
3 er bat von feiner hohen Warte ans ſtets den ganzen Horizont 

es geiftinen 
lafienden Mäcenatenthume, jondern einer freichätigen Mitarbeiterichaft. 

Groũherzog Karl Alerander von Weimar, der drei Tage Später den 
Siebzigiährigen ſich anfchlieht, hat ebenfalls ſtets auf der Seite bes 
nationalen Fortichritts geftanden und mitgewirit für Deurfchlands ein» 
heitliche Geſtaltung. Much er ift als veritändnißvoller Gönner neuer 
Dichtung, Mufit und bildender Kunft zu den Förderern des geiftigen 
Lebens wunferer Nation zu redinen. Die Pflege der Erinnerungen 
unferer Hajfischen Dichtungen, das Proteftorat über die Schiller- und 
Gocthevereine, die an den Ufern der lm ja die rechte Heimathitätte 
fanden und denen ſich auch die Shabkeſpearegeſellſchaft auſchloß, hat 
den Fürſten durchaus nicht neuer Didytung entjremdet, welcher ex 
mit ftets feinfühliger Theilnahme entgegenfam, jo wie feine Bühne 
unter der Leitung eines 2* und Loen ihre Pforten bereitwillig 
allen jüngeren Talenten öffnete, 
geitanden und die Anregungen diefes cdeln, allſeitig gebildeten 
waren für den 


uſilers 


Lebens deutſcher Nation erfaßt, nicht im Sinne eines herab: | 


ob. Wein fie da vom frühen Morgen an geihafit, heißt es, Abends noch 
mit fchwerbeladenem Schiſſe eine Stumde weit heimfahren, und dabei giebt 
8 zuweilen, wenn ein Unmetter über den See bereinbricht, einen böfen 
Tanz mit Wind und Wellen. Solch eine durdaus nicht ungemöhnlidye 
Scene ſchildert uns Profeffor Karl Naupp in dem prächtigen Bilde, welches 
wir heute unfern Leſern bringen, mit der ihm eigenen Meiiterichaft und 
mit dem feinen Berftändniß bon Land umd Leuten, weldes ihm aus 
langjährigem Studium derfelben erwuchs. 

Die Landdriefträger. Die Briefträger gehören im ganzen zu ben 
beliebteften Perjonen,. Der Menſchen Sinn ift einmal * das Neue ger 
richtet und mit Spannung jehen fie den Nachrichten entgegen, welche bie 
verichloffenen Kouberts enthalten. Die Hoffnung auf irgend einen ber 
jonderen Glüdsfall ift, bei den Sterblichen nicht anszurotten, und wer 
fann davon Hunde bringen, als der Roft« oder Telegraphenbote? Thür 
den Geichäftsinaun Find die Nachrichten, welche diefe bringen, if der Nenel 
das Scwungrad, welches ben nanzen Betrieb in Bewegung ſetzt; für die 
Liebenden aber trägt der_erftere in feiner Mappe verihwiegene Mit- 
theilungen, bejeligende Geſtändniſſe. Darum wird er, wo er ericheint, im 
der Regel mit einer gewiſſen freudigen Aufregung, bisweilen freilich auch 
mit banger Erivartung begrüßt. Er mag es wohl fühlen, daß er eine 
wichtige Verſon it, aber bei den Strapazen ſeines Dienftes hat er feine 
Muhe, mit VBehagen darüber nachzudenlen. Wenn er an heißen Qunds« 
tagen Straße auf, Strafe ab laufen, die Treppen hinaufflettern mu bis 
ins vierte oder fünfte Etodwerk und in Schweiß gebadet ſich feine Ruhe 
gönnen darf, jo ift er gewiß; nicht in der Stimmung, den Eindrud mad 
juempfinden, den ör bei den Empfängern feiner Briefe hervorruft. 

Die diefer Dienft aber ſchon in der Stadt ein beſchwerlicher, fo iſt 
er's noch mehr auf den Lande, wo der Vriefträger weite Entfernungen 
durchmeſſen muß bei jedem Wetter, den Gewitterftürmen und Schnee- 
stürmen ausgelegt it und felbit räuberifchen Anfällen bei feinem einſamen 
Gang durch die Wälder und über die Felder. Daß es ſich bier nicht um 
romanbafte Phantafiegebilde handelt, das bemweift die Statiftit mit ihren 
umerbittlihen Zahlen, denen ſich nichts abhandeln läüt. Während der 


' zwei Jahre Oltober 1885 bis 1887 find im Poft- und Telegrapbenbetriebe 





Stets bat ihm Franz Lilzt nahe: | 


Hof von Weimar nicht verloren. Aır der Jlm hatte des | 


ächteten Richard Wagner Mufit eine Stätte gefunden, noch che König | 


udwig ihr ein glänzenderes Anl an der Niar eröfinete, Auch bervor- 
ragende Dialer hatte die vom Großherzog in Weimar begründete Kunſt⸗ 
alademie nach der Stadt an der um gezogen, So wach allen Seiten 
hin eingreifend, von freudiger Einpfänglichleit für das Schöne der llaſſiſchen 
Stadt den alten Ruhm wahrend, hat Karl Alerander_edlem Streben im 
Sinne der großen Männer verpanaenee Beit eine Schußherrlichteit ge: 
währt, die Altes und Neues in Ichöner Eintracht verhrüpfte, 
Mögen die Länder felbit die Segnungen der fürjtliden Fürlorge 
feiern, welche für ihre materielle Entwidelung und ihr geiftines Wohl 
jopiel getban: das deutſche Volt darf mit Stolz anf die beiden ſiebzig 
jährigen Fürſten bliden, die niemals feinen edeliten Beſtrebungen wutrei 
—— find und ſtets ſeine höchſten Intereſſen gewahrt haben, und ſich 
o den Glücwünichenden am de beiden Feittagen anſchließen. * 
Boui Sturm edel. (Mit Pluftrattion S, 400 und 401.) Die ftatt- 
lichen Bemwäjler des Chiemſee bilden heutzutage einen der mächtigſten An: 
iehungapuntte für den gewaltigen, durch Oberbayern fluthenden Torriftens 
(rom, jeitdem das Feenſchloß König Ludwigs auf der Anjel Herrenwörth 
eine Wunder erichloflen hat, von melden wir unſeren Leſern wiederholt 
berichtet baben, Ullſommerlich zieht eine wahre Völferwanderung nad) 
dieſein größten Landſee des Königreiches, welchen der Vollsmund „Vayeri⸗ 
iches Meer” nennt und deifen Umgebung, namentlich im Südoſten und 


Süden mit den Gipfeln des bodummölkten Hochgern und Dochfellen, ein | 


herrlihes Stüd Erde ijt. 
ſinnigen Narmrfrennd hoben Benuß: die glüdlice Verbindung eines ſchön 
gezeidineten Bebirgälranzes mit der mächtigen landſchaftlichen Wirlung eines 
weiten Horizontes und dem taufendfältig wechleinden Zauber des Waſſers 
fidhert derielben eine Wille von fünftleriicher Anregung, einen MReich- 
thum von Motiven und eine Mannigfaltigleit der Stimmung, in welcher 
ihr wohl nur wenig Dertlicleiten des Albenvorlandes gleichtonmten. 
Zudem hat jich hier troß der ansgleichenden und abjchleifenden Wirkung 
des gefteigerten Verkehrs nod viel eigenartiges und ftartes Vollsthum er- 
halten und von nralter Sitte und dunklen Reften heidniichen Brauches bietet 
das Chiemgau dem Forſcher ausgiebige Quellen. Es iſt ein ftahlhartes, 
wetterfeftes Geſchlecht, Das Da zwiſchen Bergluft und Wellenſchaum aufwächſt 
und gedeiht; eimas herber vielleicht und ſchwerfälliger als der Tegerniecer 
Schlag, aber ebenſo ſchneidig und jangesfreudig. Kara irgendwo trifft man 
tühnere und zuperläffigere Fährleuie als auf der Heinen Fraueninſel. 
Sobald der Junge nur erjt einmal das Ruder heben kann, ſieht man ihn 
draußen anf den Fluthen mit feinen ungeſchlachten Fahrzeug ſich tummeln, 
und der Neifende mag fein Heil einem zwolfjährigen Burſchen, wenn der 
See nicht allzu jehr bewegt ift, getroft anvertrauen. rauen und Mädchen 
ftehen an Much und Gewandtheit faum hinter den Männern zurück und 
baben oft genug ®elegenheit, fie zu erproben. Denn ihnen lient — wie 
in ältefter Zeit — ein großer Theil der Feldarbeit drüben am Feſtlaude 


Die Chiemſeelaudſchaft bietet für jeden fein | 


den Menſchen 


im ganzen &3 Unfälle eingetreten, von denen W auf_den Landbriefträger 
dienſt und auf die Beitellung von Telegrammen auf dem Lande famen; 
darunter waren 16 Todesfälle, Fünf jener Unglüdsfälle erfolgten durch 
Ansgleiten bei herrichender Blätte, einer durch das Umſtürzen eines Yand- 
briefträgerwagens auf glatten Wegeu, gen durch Einbrechen auf dem 
Eſe, ſechs durch Erfrieren, zwei — exirren bei herrſchender Dunlel⸗ 
heit, einer durch Schneetreiben und Nebel, zwei durch Hipichlag. Auch 

wurden ein Sandbriefträger und ein Bojthilfsbote ermordet. i 
Der Winter bejonders erweiſt ſich den Landbriefträgern gefährlid), 
deren Dieuft weder durch die größte Kälte, noch durch dem dichteſten 
Schneefall, noch durch die lichtlofefte Dunkelheit Unterbrechung erleiden 
darf. Mögen daher die Poftboten auf dem Lande wegen ihres auf 
opfernden Dienftes überall mit der Freundlichkeit behandelt werden, weldıe 
gegenüber am * iſt, die mit Erfüllung ſchwerer 

Pflichten uns willlommene Dienſte leiften. r 

»Profeffor Karl Miedel 7. In unierem WBlatte (Jahrgang 1869, 
S. 564) haben wir das Porträt und die Lebensſtizze des hervorragenden 
Mufiters gebracht, der am 3. Juni d. J. in Leipzig veritorben iſt. Wir 
wiederholen hier aus jener Lebensſlizze, daß Karl Riedel in der preußiſchen 
Rheinprovinz in Eronenberg als Sohn eines ans Thüringen ftamımenden 
Apothefers am 6. Dftober 1827 geboren wurde, fo daf er alio ein Alter von 
Hl Fahren erreicht bat. Nach einer auf Bolts- und Realichulen erlangten 
Bildung wurde Riedel Lehrling, ſpäter Geſelle in einer Seidenfärberei; 
bald zog ihn indeh fein Herz zur Muſik. Als Schüler Karl Wilhelms, des 
Komponiften der „Wacht am Rhein“, in Krefeld begann er feine muſilaliſche 
Laufbahn, die er dann am Konjervatorium der Muſit in Leipzig fortlegte. 
Schon früh widmete er ſich dem Studium der altitalienifchen und altdentichen 
Meifterwerke; aus einen im Jahre 1854 begründeten einfachen Geſangs 
auartett erwuchs der berühmte Riedelſche Verein, über dejien Tendenzen 
und Schidjale bi zum Jahre 1869 wir bereits Auslunft ertheilt haben. 
Wi den legten zwanzig Jahren iſt der Verein mit feinen großen 
en gewachſen; jowohl die Naht ber Theilnehmer, als audı fein mufifali 
es Repertoire, fein Anſehen in Leipzig und auswärts hat zugenommen : 
es ift dies durchaus das Verdienft des unermüdlichen Leiters, der lange Zeit 
hindurch ſelbſt finanzielle Opfer nicht ſcheute. Am Mai 1872 fang der 
Riedelſche Berein ——— mit dem Sternſchen und Reblingichen Ge 
fangverein in Bayreuth zur Feier der Grumdfteinlegung des Treftipiel- 
haujes unter Wagners Leitung, und zwar trug ex dort die Chöre aus 
der neunten Symphonie Beethovens, dem Kaiſermarſch und den „Meiſter 
fingen“ vor. Dann jang der Berein 1877 zu Nürnberg, 1883 in Berlin, 
1884 in Bremen. Riedel gehörte außerdem zu ben —— des Allge⸗ 
meinen deutſchen Muſilervereins, deſſen Borat er 1868 übernahm; feiner 
Anregung ift es eg zu verdanken, daß die Tonkünftlerverjanm- 
lungen in Altenburg, Weimar, Magdeburg, Kaffel und Dalle ftattfanden. 
Für die Pilege des ernſten Ehorgefangs, jowohl was ältere Meifter 
werte, ala die neuen Schöpfungen von Lılzt, Berlioz u. a. betrifft, hat 
Karl Miedel ausnehmend viel gethau; eifrig, ausdauernd, von hoher 
Begeifterung Für feine Kunſt und gerade für die ernftefte Richtung der 
jelben erfüllt, beſaß er auferdem ein großes orgamſatoriſches Talent und 
was er ins Leben gerufen und geſtallet hat, wird noch nach dem Tode 
des wadern Meifters reiche Früchte tragen. r 
ie wiedererflandene Zaſtille. Unſere Leſer erinnern fich unſerer 
Mittheilungen über die Baftılle im Jahrg. 1886 (5. 875 u. 910). Es wird 
fe interejjiren, zu erfahren, daß in Paris diefe Baftille neu erbaut worden 
ft und zwar nicht aus Pappe oder Papiermadıe, ſondern aus Steinen. 
Zwei Pariſer, der Banmeifter Kolibert und der Großinduſtrielle Perruffon, 


— —— 





Im Felde. 
Originalzeihummg von H. 


AL Bin A kin F 


Shwenzen. 


7, 


KL 











- © 


haben dies im Juli 1789 zertrümmerte Banwerl, wie es fur; vor der 
Yerftörung ausjah, wieder ins Leben gerufen und zwar auf ben Mars⸗ 
telde beim Ausgang der Avenue Enfiret, und nicht bloß die Vaſtille, 
ſondern auch einen Theil der zu ihr führenden Rue Antoine mit 30 Meinen 
einftödigen Hãuſern und an 
Strafe erleuchten. Da ficht man das alte Hotel Mayenne mit einem 
en im Parterre, wo die Wirthin ſitzt im Koſtüut Louis' XVI. Heine 
Hufterläsen, Modengeidräfte, Wirthshäufer, Boldichmicdläden mit Silber: 
e —— bier hauſen Schreiber, Friſeure, Bäder: durch die Straße 
sieben Soldaten, Blumenmädchen, Gantler und Seiltänzer, alles im 
Koſtum der yii in den Läden und Wirthöhäufern ficht man Mädchen 
mit weihen 
Antoinette, An die Baftille ſelbſt lehnen ſich Heine Buden mit Büchern 
und Antiquitäten, Im Innern allein iſt der hiſtoriſche Charaller nicht 
volljtändig durchgeführt. Es jieht hier nicht jo unheimlich düfter aus 
wie früher; an der Stelle des eriten großen Hofes liegt ein Feſtſaal 


mit, einer Meinen Bühne, auf welder bei ter Eröffnung eine Operette | 


Gretrys and dent Jahre 1769 aufgeführt wurde. Daß dieſe Baftille nur 
eine geringe Zahl von Gefangenen zu beherbergen vermochte, haben 
wir bereits früher erwähnt und das menerjtandene Bauwerk liefert den 
Beweis dafür, 

Ein mertwirdiges Volk, die Franzoſen! Mit ſolchen arditeltoniichen 
Spielereien illuſtriren fie ihre Geſchichte, und doch find fie nicht jicher 
davor, daß nelegentlic eine ernſtgemeinte Baftille in Paris uns dem 
Boden machte; denn es ijt bier nicht recht gehener und es fpuft etwas 
wie das Geſpenſt einer Säbelberrichaft. r 

ie Amajonen von Dabome, Die weibliche ſchwarze Garde des als 
jo Triegeriich gepriefenen Dahome_gehört zur Romantil des dunfeln Erd» 
theils, aber Die neuen Afrilareiſenden zerjtören mehr und mehr den 
Nimbus, der diefen fagenhaften Staat und feine blutigen Schreden um- 
ſchwebt. So berichtet Ernſt Henvici in feiner Schrift „Dad bdeutiche 
Togogebiet und meine Afritareiſe 1887" (Leipzig, Karl Reiner), in 
welchen Land und Leute diefes nenen olonialgebiets eingehend geſchildert 
werden, gelegentlich über den Naubitant Dahome, Der König desjelben 
hat es allerdings lange verjtanden, die unnvohnenden Stämme in Schreden 
zu halten; demm wenn er plößlich mit Dunderten feiner Leute, um Sllaven 
einzufangen, in ein friedliches Land einfiel, jo war an Widerftand nicht 
—— weil alles ſogleich den Kopf verlor und denen, die ſich zur 
hr jetten, der Kopf abgeſchnuten wurde. Au neueſter Zeit, wo die 
ummohnenden Stämme an Die Tahomelegende nicht mehr recht glauben 
mollten, hat der König von einem nördlichen Stamm gehörige Schläge 
belommten, und feine vielgerähmte Weibergarde ergriff die Flucht, als die 
Pfeile wirflih flogen und die FFlinten fnallten. 
fünfgehniundert Mann stark, bildete den Kern des Heeres. 
an darf aber dabei nicht an tapfere Amazonen denfen, wie fie in 


der griechiichen Sage geſchildert werden: es find Niggerweiber, weiter | 


gar nichts, und zwar des Königs Weiber, die er unter der Fuchtel hält 
und die er ſchlauerweiſe zur Leibgarde gemacht hat. Der pfilfige König 
von Dabome weiß ganz genau, daß feine Weiber jo faul find wie alle 
Nigger, dab er aber mt ihmen, welche die Allerweltspadefel find, ganz 
anders umſpringen lann, als mit den Männern. 
mit feinem Sriegsheere ab, und dazu müſſen die Männer and heran. 
Man ſpricht von Anfanterie und Artillerie des Königs bon Dahome; 
das heit weiter nichts, al& daß außer den üblichen Steinichloßgewehren 
und ein paar Hinterladern aller möglichen Syſteme andı einige alte Berg: 
aeihige vorhanden find, aus denen man Kartätichenichüfie abgeben fanır. 

Immerhin ziehen die Weiber von Dahome in den Krieg, mit Wehr 
und Wafien ausgerüftetz aber der Heldenmuth, den man ihnen früher 
zuſchrieb, erweift ſich ala eine fagenhafte Ausichmädung: fie werden von 
ihrem Etaatd- und Haustyrannen in den Kampf hineingefuchtelt und find 
eben nichts als Futter für Pulver, 

Der Franciflon-Salat. Die Nachahmungswuth der Deuſſchen, bie 
glürlicherweife nur in manchen reifen epidemiſch it, treibt immer 
neue jeltſame Blürben. Nicht mer werden uns gute und ſchlechte, wft 
jogar ausrangirte Variſer Stüde anf den Bühnen vorgejeht; auch allerlei 
Detailfeam aus denielben wird bei uns eine Modeſache und beſchäftigt die 
Gemüther. Das beweift nenerdings der Francilon-Salat. In Dumas’ 
letztem, in Berlin ınie Erfolg gegebenem Schauſpiel „Francillon“ erteilt 
der Berfafier die Antweifung zur Bereitung eines japaniſchen Salate, 
welcher in dem Stüde die Serlenbrüde zwiichen zwei jungen Leuten, der 
Salaterfinderin Hırnette von Niverolles und dem Feinſchmecker Henn 
von Simeng, bildet. Der Salat ſpielt eine hervorragende Role in ihrem 
furzen Liebesroman. Als „Francillon“ in Paris gegeben wurde, beftürmte 
die Damenmwelt den Dichter mit Bitten um die Abſchrift des Rezepis. Es 
lautet, aus dem Dialog zwiſchen Denim und Annette heransgelöft, 
folgendermaßen: „Man Foche Kartoffeln in Bonillon, Schneide fie in Spalten 
wie zu einem gewöhnlichen Salat und mache jie, während jie noch lau 
find, mit Salz, Pfeffer, ſehr gutem Friichen Olivenöl und Orléanseffig an. 
Wichtig iſt ein halbes Glas guten Weins, weihen natitrlih und womöglich 
Chäteau d’Yquem,. Man the Hein gehackte Kränter hinzu, Gleichzeitig 
toche man ſehr große Mieswurzeln in einer kurzen Bouillon, laſſe fie 
gut austropfen, thue etwas Sellerie dazu, miſche fie mit den bereits 
angemadıten Kartoffeln und vühre das Ganze leicht um. Sierauf bededt 
man dasjelbe mit runden Trüfielfcheiben ‚wie mit einem Dottorhut. Die 
Trüffeln werden in Champagner gelodt. Der Salat muß zwei Stunden 


vor dem Diner fertig Di: damit er gehörig abgelühlt aufgetragen werde, | 
a 


Die Salarihüfel darf nicht im Eis geitellt werden, denn die Kompo— 


fition ift ſehr empfindlich und alle ihre Arome müfjen jih in Ruhe vers | 


binden.“ 
Das ift die Vorſchriſt, nach welcher der frangöfiidhe „Alademiler* den 
japaniichen Salat bergejtellt wifien will! Der Salat joll außerordentlich 


wohlſchmedend, eine wahre Gourmandiſe fein. Leider hat Dumas, der | 


fich den Anfchein eines fachlundigen Stüchengenies giebt, vergeſſen, das 


418 > 


nüren hängenden Dellampen, melde die | 


Perüden, breiten Tüllkragen und der Friſur der Marie | 


Dieje Weibergarbde, | 


Er hält auch Mandver | 


' Mezept durch jene Angaben zu vervollſtändigen, welche für das Wohl 
und Wehe des Salata ausi laggebend find: Die Quantitäten, und es liegt 
auf der Hand, daß diefed Rezept die Ausbeutung der fenfationellen Er 
findung noch nicht ermöglicht; auch dürfte jede Köchin allgemeine Angaben 
wie „man tbue Hein gehadte Kräuter hinzu“ nur beläceln, denn man 
mäßte doch erfahren, welche Kräuter gemeint find. j 

| Run hat man in Berlin mehrfach verfuch den Francillon⸗Salat zuzu⸗ 
bereiten; doch es wollte nicht gelingen. erlwurdiger iſt die Thatſache 
der bedauerlichen Abhängigkeit von Pariſer Anregungen: man gucdt dei 
Franzoſen ab, wie fie ſich ränſpern und wie fie Ipuden, und läuft dem 
jüngern Dumas in die Küche nach, und nicht bloß in die dramatiſche, 
wo er manchen ſchwerverdaulichen Salat hergerichtet bat. 

s Brennen der Epifeplifden. In der humoriſtiſchen Novelle 
mAmicitin“, welche die „Gartenlaube“ vor furjem gebracht bat, Uagt 
einer ber Schulungen, daß ihn jeine Kameraden „per Brennglad ver» 
wundet haben.“ Dieſer Tertianeritreich bringt uns eine Verwendung des 
Brennglaſes zu Heilgweden in Erinnerung, weldie wenig befannt ift und 
‚ einen großen Theil unferer Leſer intevefitren dürfte. x — 

eiten in ber 


Das Brennen mit glühendem Eifen war feit uralten 

Medizin eingebürgert und auch heute wird die galvanofauitiiche (durch 

‚ den eleftriichen Strom glühend gemachte) Schlinge bei einer großen Reihe 
hirurgiicher Operationen mit Bortheil angewandt. Die humane Richtung 
der neueren Medizin hat das Feuer als Heilmittel Längit aller Schreden 
entlleidet, in früheren Seiten aber wurde mit dem Brenneilen mancher 
Mißbrauch getrieben, und als eine jolde Berirrung muß aud) das 
Brennen der Nerventranfen, namentlich der Epileptiichen bezeidynet werden, 
Nur in den jelteniten Fällen wurde diefes Mittel richtig und mit Erfolg 
angewandt, wie z. B. bon dem beritbnmten Arzt 9. Voerhabe. Dieſer 
bejeitigte bekanntlich eine unter den Aindern einer Armenanjtalt in Darlem 
überhand nehmende, durch pfchiſche Anftedung verbreitete Epilepfie da» 
durch, dafi er Glutbofannen und Brennerfen ind Jimmer fegen lieb und 
den Kindern mit der Anwendung des Glüheilens drohte, 

Mitunter wurde in Dentichland das Brenneiſen durch das Brillen: 
ober Brennglas eriept. Wir verdanfen diefe Nachricht Dr. M. Höfler 
in Zölf, der fie in feinem verdienſtlichen Werte „Wollsmedizin und Uber 
glaube in Oberbanerns Gegenwart und Vergangenheit” wmittheilt, Durch 
eine Urkunde aus dem Nahre 1452 wird den Mönchen von Tegerniee die 
Anwendung des „Brillglafes* zum Brennen der Epileptifchen geftatiet, 
wobei den Kranlen eingeſchärſt werden ſollte, daß die Heilung nicht durch 
ein Wunder, Sondern die „natürliche Eigenſchaft“ des Brillglajes erfolge. 

Es ift möglich, daß die Mönde von Tegernjee mit dieſem neuen 
Mittel Heilerfolge erzielten, aber die Einſchränkung der Urkunde giebt 
uns den Fingerzeig, welche Strajt bier als eine heilende zu betrachten iſt. 
Die Kinder der Armenanitalt in Harlem wurden ohne Zweiſel infolge 
des Schredens geſund und die Patienten von Tegernjee durch ihren 
Glauben geheilt. 

„Bielleicht,” fügt Dr. Höfler binau, „hatte aud das Tragen und 
Beſchauen des nlänzenden Berylifteines eine hypnotiſirende, die epileptiichen 
Anfälle hindernde Wirkung.” * 

ak und Gewicht für New-Forker Pofizifden. Die New-Vorler 
Polizei gehört zu den beitbezahlten ın den großen Hauptjtädten. Früher 
lag ſie jeher im Argen und war in hohem Maße heſtechlich und poluiicen 
Umtrieben zugänglid. Seit dem Jahre 1861 ift jie neu organifirt worden 
und fteht unter vier vom Stadtoberhaupt gewählten Kommiſſären, welche 
die Oberaufficht führen. Außerdem giebt e8 einen Oberinipeltor mit einem 
Gehalte von 30000 Frranten, vier Anipektoren mit je 17.500 Franlen, 
wäbrend die Patrol-men, das Gros der Poliziften, im drei Klaſſen zer- 
fallen, die zwiſchen SO bis 6000 Fraulen Gehalt beziehen. Der Ge— 
lammtbeftand der Polizei beträgt 3216 Beamte; das Budget der Stadt 
ift dadurch mit einer Ausgabe von 22 Millionen Frranten belaftet. 

Die Beamten diejer ven durchweg tüctigen Volizei brauchen nicht 
Nachweiſe einer befondern Bildung zu liefern, nur eine Teferlihe Hand» 
ſchriſt wird verlangt; aber auf Rehrihaffenheit und auf Korberſtärle wird 
geſehen. Wer in ihre Meiben einrüden, ihrer hohen Beſoldung tbeilhaft 
werden will, der muB die Berechtigung dazu fich von dem Yollftod und der 

| age boten; es iſt al$ Bedingung vorgeihrieben eine Größe von 1 Meter 
72 Tentimetern, mindejtens 87 Wentimeter Bruftweite, ein Körpergewicht 

| bon 62), Kilo. Unferes Wiſſens ift die New-Yorler Polizei die einzige, 
welche ihre Beamten mit folder Genauigkeit mift und wägt, * 

Die „Aibitze“. Die Kibitze ſind, wie vielen unſerer Leſer gewiß 
betanut iit, die Schlachtenbummler des Kartenſpiels, heimisch in allen 
öffentlichen Lolalen. In Bien ift um ein Kibikgeſeß in den Kaſſee 
häufern zur Rachachtung ausgehängt. Dasjelbe begiunt mit einer Begriffs 
beſtimmmg: „ls Mibit iſt derjenige zu betrachten, der, ohne ſich's 
etwas often zu laſſen, an der Auirenung, welde alle Spiele ver- 
uriachen, theilnimmi, und findet das Gleich über Gewerbefreiheit auf 
Kibibe keine Anwendung, nicht einmal das eich zum Schutze der perfön- 
lichen Freiheit. Kibitz dark fünftighiu nur derjenige fein, welcher nach 
werfen fan, daß er nichts mehr zu verlieren batz er kann auf der Börſe 
anusgeblieben Ferm, darf aber noch nid im Kriminal geſeſſen haben.” 
Wohl aber joll nadı dem neuen Geſetz der Stibig etwaigen Falſchſpielern 
auf die Finger fehen und fie anzeigen, die an feinen Platz beim Miſchen 
ober Geben herabjallenden Karten valch aufheben und immer genägende 
Auskunft darüber geben, wer die Vorhand hat. 

In Rorddentichland ift der „Statlibig" die verbreitete Species. 
Verlennen darf man nicht, daß die Kibihe phantafievolle Naturen fein 
müjjen; denn ohne felbit betheiligt zu jein, müſſen ſie ſich als Zuſchauer 
in die Leidenſchaſt der Spieler hineinempſinden können. Wohl giebt es 
rg ſcharſſinnige Hibite, welche bei geipannter Aufmertiamteit nicht nur 
die ſchärfſte Kritik üben, jondern auch die wiſſenſchaftliche Theorie des Stats 
au fördern fucen und, fomweit dies möglich iſt, den ſchwer gen 
Geheimniſſen des AZufalls, der ja bei allen Kartenipielen ſich neltend 
macht, u die Spur zu fonmen Inchen. T 





Aaiſer Det 
Dr. Euler in Halbheft 10-diefes Blattes, welche diefen Titel trägt, wird 
uns ein Heiner Zuſatz mitgetbeilt, welcher einen neuen Beweis für die 
Gunſt giebt, die Katfer Wilhelm dem Zurnen zuwendete. Ein Turms 
Ichrer, der in Heddernheim bei Frankfurt am Main wirkte, hätte mit 


ſhelm ein Irreund des FJurnens. Yu der Abhandlung bes 


feinen Kollegen für ihre beiden Gruppen nem zwei Trommeln gehabt; 
2 wollten fie die Gemeindelaſſe mit ſolchen Ausgaben nicht belaften. 
Auf den Kath des Vorfigenden des Scuivereins, ſich doch an den Kaijer 
zu wenden, fandte 1887 der oberfte Knabe ein Geſuch um zwei Trommeln 
ab und ihm wurde der Beſcheid, Seine Majeität habe das Geſuch zur 
Erledigung den beiden naflaniscen Negimentern Ar. 87 und 88 in Mainz 
zugeftellt. An der That famen auch in Furgem von dort zwei Trommeln 
an, welche uuſere Turnerſcharen bei friegeriihem Aufmarsch beneiftertei. 
So zeigte ſich auch im Stleinen des Kailers Vorliebe für das Turmielen. F 
150 Zahre im Dienfle der PEohftdätigkeit. Auf ein und ein 
halbes Süculum blidt am 21. November diejes Jahres das Töniglich 
preußiſche Militär» Anaben- Erziehungs-Intitut zu Schloß Annaburg 
(Regierungsbezirf Merieburg) zurüd. Servorgegangen aus den Wunſche, 
den Kindern verdienter Soldaten eine angemeflene Erziehung und ben 
Eltern derjelben durch foftenlofe Bewährung diefer Erziehung cine Wohl» 
that zu ermeilen, erfüllt die Anftalt noch heute ihren jegensreichen Zweck 
in ansgedehntem Mafe. Sind derjelben doch mehr als 500 Sinaben 
vom zehnten Jahre bis zu ihrer Seonfirmation anvertraut, welche alle 
Bedürfnifie: R 
handlung ꝛe. umſonſt geniehen, ohne daß ihnen irgend welche Pflichten 
für die Zulunft hierdurch erwüchſen. Mit dem Inſtitut verbunden und 


ans bemjelben hervorgegangen ift eine Umteroffigiervorichnle, in der 


taugliche junge Leute, ohne indeß hierzu gezwungen zu fein, zwei Jahre 
hindurd ihre erfte Vorbereitun 
auf der Unteroffizierfchule in Beißenfels —— wird. 

Die Anftalt befindet fi der Hauptſache nach in den Mäumen des 
bon der Aurfürftin Anna von Sahfen in den Jahren 1572 bis 1575 
erbauten Schloſſes. Begründer wurde fie am 21. November 1738 vom 
sturfürften Kugufı IH, zu Dresden-Neuftabt, wojelbft ihr die Teerftchende 
Gardelaſerne als Aufenthalt diente. Die Zahl der Zöglinge wuchs von M in 
9 Monaten auf 300 an und fie hatte nad) zehnjährigem Beftehen fchon 700 
Knaben zu verpilegen. Die böfen Nahre des ſiebenjährigen Krieges 
machten fich auch für das Auftitut fehr fühlbar und braditen es der Auf 
ldiung nabe; allein durch — Männer, welche das Intereſſe Fried⸗ 
richs des Großen für die Anstalt zu erweden wußten, wurde diejelbe 
erhalten, Am 12, Anguft 1762 wurde das Inſtitut von Dresden nadı 
feinem jeßigen Heim verlegt und genoß zunäcit eine Zeit ruhiger Weiter: 
entwidlung. Doc nicht allzu fange! Die Kriensiabre 1806, 1812 und 1813 
brachten es wieder an den Rand des Berberbens, und unfehlbar wäre es 
jebt aufgelöft worden, wenn nicht das Beneralgonvernement der ver- 
bündeten Mächte es unter feinen Schuß genommen hätte, Arı Juni 1815 
ging darauf die Anſtalt in preußiſchen Belig über. Zwar war audı jett 
noch das Fortbeſtehen derſelben gefährdet, allein cin Beſuch des Königs 
Friedtich Wilhelm II, ne endgültig das drohende Gemwölt, und 


n Meffina. Belanntlich wurde Schiller zu 
* durch einen Vorſall angeregt, der — 


eigen ſich wie in einem Spiegel jo deutli 
h Mann, der ihnen Münsen ins art 





„ melde jih mäber für das Juſtitut imterelfiren , ſei 

te des Leniglic presſuſchen 
ven ber Grautu 

. Serofe, Preis 


Den 

—A ——— 
m ri 

ng run van. Verlag von 


Information 


Pig 


419 


ehrung, Kleidung, Unterricht, Wohnung, ärztliche Ber | 


als Unteroffiziere erhalten, die hernach 


Üruttär-gmaben: ) 
des Inftitats die zur Gegen· 


8-— 
Waſſer zu werfen, damit die Taucherfnaben dieje Geldſtücke flin!, im Nu 
und während des Hinabfinfens im Waſſer auffangen. Aber die heraus- 
nefiichten Münzen werden von ben Anaben den Capo abgeliefert, welcher 
diefe arınen Bürfchlein fo zu Sagen in Sold genommen hat und dabei 
ganz nut fährt, da ihm newih der Hauptantheil der Einnahme bleibt. 

Es ift ganz unbeichreiblich, wie lebendig ſich das Bild diejes originellen 
Antermesjos geftaltet, Ne werthvoller die ins Wafler geworfene Münze 
iit, deſto heftiger ift der Kampf um bdiejelbe in der Flutth. Da es immer 
zehn bis zwölf ſolche Taucherbuben hier giebt, die vermuthlich für jedes 
erhaichte Geldftüd von ihrem Capo einen Lohnantheil erhalten, fo ſtürzen 
meift mehrere auf ein und dasjelbe Lireftüd los, und es iſt dann fehr 
ergößlich zu ſehen, wie ſich die jungen Waſſermenſchen in der Haren, 
ſonnenbeſchienenen durchfichtigen Huth die Beute abzujagen verjuchen. 
Stundenlang lann man diefen raffinirten und gewandten jungen Tauchern 
äufehen, und immer wird man wieder ein feſſelndes Detail dieſes rei: 
zenden Spiels erbliden. 

Altes iſt fhon dagewefen! Die Sorgen und Bemühungen unjerer 
Regierungen und Rollsvertretungen, die Einwohnerichait aller Mafien in 
Bezug auf ihre täglichen Rahrungs- und Bedarfsartitel möglichit vor be 
teügeriichen Falſchungen und Nebervortheilungen zu ſchühen, Tind hoch 
anzuerkennen, und es bleibt wur zu wünſchen, daß gegen die gewiſſenloſen 
Frälfcher auch ferner mit der nanzen Strenge des — vorgegangen 
werde; aber aud; bei ſorgfältigſter Aufichtsführung wird es wohl kaum 
nelingen, diefe betrügeriihen Manipulationen ganz zu verhindern, meil 
die Sufapftoffe zu mannigfaltig find und es oft ſchwer ift, eine jtrafbare 
Fäffehung wirflich nachzumweilen. Wer glauben wollte, da erit durch den 
mächtigen Aufihmwung, melden Handel und Verlehr in der neueren Zeit ge 
nommen bat, die Verfälſchung der Rahrungdmittel in Gebrauch gelommen 
und lohmend geworben fei, der würde fich Fehr irren, denn ſchon die 
Schriftiteller des llaſſiſchen Alterthums erheben lagen über diejen ver 
werflichen Unfug. Der römiiche Naturforiher Plinius der Neltere er- 
wähnt mehrfach die groben Vetrügereien, die an den gewöhnlichiten Ge 
nußmitteln verübt worden jeien; aber es Icheint, ala hätten die geſehlichen 
Beitimmungen des alten Nom nicht ansgereicht, derartige Vergeben vor 
das Strafgericht zu ziehen. In Bezug auf den Honig, der zur Zeit des 
Plinius eine viel ausgedehntere Verwendung fand als jeßt, Magt dieſer 
‚ Gelehrte, daß er eine der berrlichiten Gaben der Natur jei, aber ber Ber 

teng der Menjchen verſchlechtere alles. Ferner erzählt er, daß der viel⸗ 
begehrte campaniiche Gries mit Thon oder Kreide verfälfcht worden fei, 
angeblich um ibm die jchöne weihe farbe und weit größere Hartheit zu 
verleihen, in Wirklichfeit aber lediglich in gewinnfüchtiger Abſicht. 
Auch bei den Griechen war riet, welchen fie aus dem von Mejo- 
potamien und Perfien bezogenen Spelz gewannen, ein wichtiges Nahrungs» 
' mittel; aber auch hier trieben die Fälfcher bereits ihr verberbliches Weſen, 
indem fie bemfelben eine aus der Kolonie Olunthos an der Südtüfte Mace- 
doniens ftammende weite Erde oder, wie der griechiiche Arzt und Natur 
forſcher Diosforides behauptet, gefiebten weißen Sand zufehten. Andere 
trodene Gemüfe, Erbſen, Linien, Hirfe wurden mit geſtoßenen Baditeinen 
vermifcht, um das Gewicht zu erhöhen; gang befonders aber richteten die 
‚ Betrüger, wie zum Theil ja noch beute, ihr Augenmert auf Gewürze, 
da hier Falſchungen bei den — mangelhaften Hilfsmitteln ſchwer 
‚ zu erfennen waren. Vfeffer vermilchte man mit getrodneter und danıt 
erriebener Baumrinde, Zimmt mit —— und Mar geſtoßenem 
!chm und jogar das an mwohlfeile Salz mufite jih Verunreinigungen 
durch Gips gefallen laſſen. Wie der ſchon genannte Diosforides in 
feiner Arzneimittellehre berichtet, ſcheuten die Händler jogar vor giftigen 
Be nicht zurüd; denn der zu jener Zeit jehe häufig au häuslichen 
Iweden verwendete Safran fand Ih nicht jelten mit Sinnober vermengt. 
Selbitverftändlich entging aud dad Mehl der Habjuct der Falſcher nicht 
umd es war denſelben Beimiſchungen wie der Gries ausgefept. Am 
meisten hatte aber, wie das ja aud in unferen Tagen der all iſt, der 
Bein unter der Unredlichleit der Kaufleute zu leiden; denn bei dieſem 
Artitel fehlte dem Käufer nicht nur fat jede Kontrolle, ſondern hier 
waren auch derartige betrügeriihe Bornahmen am innbringenbiten. 
Dem Rothwein wurde eine Ablohung von Wadhholderbeeren zugejeht, 
während bei dem Weißwein meiit Waſſer mit Citronen- oder Orangenjaft 
ala Fälfchungsmittel diente, abgeichen von verſchiedenen Blanzenabiuden, 
die das Quantum zwar vermehrten, aber nicht verbeflerten. 

Einzelne wilfenichaftlich gebildete Leute, wie die oben genannten 
\ beiden &elchrten, erfannten zwar manche dieſer Fälſchungen; und doc 
' wurde viel Unheil durch diefe Gewiſſenloſigleiten angerichtet. Und das 

ift in gewiſſer Beziehung noch heutigen Tages jo; denn wenn aud die 
Biffenicaft die Entdedung derartiger VBetrügereien jetzt weſeutlich erleich 
tert, fo hat doch auch die Kunſt bes Fälſchens große —** gemacht. 
Das öffentliche Intereſſe verlangt aber gebieteriih Abhilfe und hierzu 
niebt es faum ein wirfameres Mittel, ald die Veröffentlihung der Namen 
der Webelthäter. Eine mäßige Geld», felbit auch Gefängnißſtrafe wird 
bald verſchinerzt; das Fälſchen der Nahrımgsmittel bringt ja viel Geld 
ein; aber vor ber Möglichkeit, Öffentlich als gemeine Betrüger gebrand 
markt zu werden, jcheuen doch diejenigen, denen noch ein Funke Ehr- 
gefühl innewohnt, zurüd. 








Kleiner Briefkaften, 
Anonmme Anfragen werden mit berüdiictint.) 

Abonnent in Edeiia. Es giebt in Deutihlandb mur cine „Seien ie”, umb 
mar in Gbemnig (Sschien). Anherbem veranftaltet jedech die „Möniglidhe Wentratitele 
ür Gewerte umd Danbel” in Stuttgart Faaturje für Seitenfieter. 

EM. in Nürndere. Die gewünihte Austanft Auen Ele in „Bode uch vom 
geiunben um® Tramten Wenihen“, 

9.9. in Ztettin. Einen empfeblenswertben Leitfaden zur Erternung der mwichtigiten 
Arten des mobernen Damelpkels bat Jean Dufresne unter dem Titel „Der freund des 
Dameipield“ Wien, A. Hartlebens Berlag) beransaegeben. Sie werten banadı dab 
Dameipiel —X erlernen fönnen, wenn Sic zugleich dem Gruudſah im Auge bebalten, 
| ba gute Epieikenmtnifie my dert Uetang erlangt werben. 


— — 


Allerlei Kurzweil. 


5chach-Aufgabe Nr. 8. Aufföfung des Quadral-Mäilhfels auf 5. 388: Damefpiel:-Aufgabe. 
Ben F. Pubbe in Rodoc. . 
SCHWARZ 


Bea bir. €. $. ?reund. 
SCHWARZ 





Aufföfung des Bilder-Mälblels auf S. 388: 
Nimmer blüht die That des Stühnen 
In der Ruhe trägem Schoh. 


nn oo - GG ao 1 © 


ADC D EFt6GıH Aufföfung des Räthſels auf 5. 388: 





= — Haft, Reſt, Riſt, Roſt. N 
Wei zieht am und jegt mit den vierten Zuge matt. Anfföfung der Dediffrir- Aufgabe auf $. 388: 
Aufföfung der Sfiat-Aufgabe Mr. 7 anf 5. 388: 
Wernn bie J "rar er And: a 0, „ a m. " RL * ei ei 
md ber Evicke E% 2 —— * fa — 34 Seen u wo er — 
* we — Den a) Unverſa dt um rein, 
und ber vice iR — Du dagegen ver © Erin ik, * Tag ie wird er nach Sei nur ftet3 befliiien, 


Selber wahr zu fein. 
Marimilian (Kaifer von Aerico 4 1867). 


K ( 
sunddlt bie Zräupfe beramspelen m bödtend noch 28 Hugen inr "obgeben. 


“ Nimmt ber ** 59* eD, ſo wistmelt die Verband im 2. Stich zumächlt ri» 
und ftidt erſt Im 8, W, um danu 2% uachzubringen 
“. Borbaub ie Die = änierft rD mwinmeln, dann aier ſich darch Umfſellun j 
der Stiche dasielbe —— 


G. Marlitt 5 's geſammelte Romane und Hovellen. Alluſtriert. 


ca. 70 Lieferungen a 40 Pfennig oder 10 Zände a 3 Mark geheftet,. 4 Mark elegank gebunden. 














chon im Sommer vorigen Kahres, nach dem Ableben der in den weiteften Kreijen befannten und beliebten Gartenlaube— 

Grjähferin, wurden wir von zahlreichen Verehrern und Verehrerinnen derfelben aufgefordert, eine Gelamt- -Ausgabe der Marlitt'ſchen 

Romane zu billigem Breife herauszugeben und jo die Anſchaffung derjelben Allen, auch den weniger Bemittelten, möglich zu machen. 
Wir fommen diefen vielfach an uns gelangten Wünſchen nach und veranftalten von 


K. Marlies Romanen und Novellen 


eine illuftrierte Gefamt:Rusgabe. 
Diefelbe erfcheint vollſtändig in ca. 70 Lieferungen zum Preife von je 40 Pfennig (alle 14 Tage eine Lieferung). 
And in 10 Bänden zum Preife von 3 Mark es geheftet, 4 Mark cleg. gebunden zu beziehen. 


Die neue Ausgabe beginnt mit: Bd.1. „Bas Beheimniſt der alten Mamſell“; demfelben folgen: Bd. 2, „Das 
Baideprinzeſtchen“. — Bd. 3. „Beichegrüäfin Bifela“. — Bd. 4. „Im Schillingshof“. — Bd. 5. Im Baufe 
des Hammerzienenihes“, — Bd. 6. „Bie Frau mit den Anrfunkelfteinen“. — Bd. 7. „Bie zweite Frau“, — 
Br. 8. „Boldelfe‘. — Bd.9. „Das Fulenhaus“. — Bd. 10. „Ehüringer Erzäßlungen“ (Inhalt: „Umtmanns 
Magd“, „Die zwölf Apoftel“, „Der Blaubart“, „Schulmeijters Marie”). 

Die Jlluftration der neuen Ausgabe haben wir einer Anzahl der tüchtigſten Künftler übertragen und ebenjo für mufter: 
haſte Ausführnng der Bilder in Holzſchnitt und Zinfographie, für guten Drud und elegantefte Austattung geforgt. 

Es iſt jomit allen alten Freunden E. Marlitt's, wie aud) ber jüngeren Generation, welcher zum Teil noch viele ihrer 
Werle fremd jind, die günſtige Gelegenheit geboten, mit geringem Aufwand fich in den Bejit einer ſchönen, illujtrierten Ausgabe ; 
der jämtlichen Romane und Novellen der unvergeplichen Erzählerin zu fegen und jo auf billige und bequeme Weiſe eine in hohem ’ 
Grade anregende und fejlelnde Lektüre für viele Mufeftunden zu erwerben. 


Beinahe alle Buchhandlungen find in den Stand gejett, Beftellungen entgegenzunchmen und die erfte Lieferung zur Anficht 
vorzulegen. Wo der Bezug auf Schwierigfeiten ftöht, wende man fich Direft an die 


Perlagshandlung von Ernſt Reil's Nachfolger in Leipzig. 


Heraudgegeben unter — —*—*— von Adelf Siräner. Bertog re ven Gruft Keil’d RNachtelzer in Leipzig. Trus vom U, Wiebe im Leipzig. 








Illuſtrirtes Samilienblatt. — Besrundet von Ernſt Seil 1853. 





Kailer Friedrich toöt! 


Vohl ſah ic; Herrſcher ſteigen von den Thronen 
Oebengt von pflichterfüllter Tahre Laſt, 

An Ehren xeich, beweint von Aillionen, 

Und ſah den Tod mit unwillkommner Haſt 

Die Knochenhand ausſtrechen nach den Kronen 
Auf Häuptern, blühend in der Tugend Glaſt, 
Dody keinem ward im langen Lauf der Beiten 
Ein Los, wie Dir, Friedrich dem Todgemweihten! 


Scdmeeftürme rasten, als in winterkalter 
Lenmadt Da einzogſt in des Reichs Gebiet, 
Ein Baifer Da im folgen Mannesalter — 
Da ftand er, dem kein Sterblicher entflicht, 
Schon hinter Dir, der dürre Senfenhalter, 
Doch keiner Muskel banges Spiel verrieth, 
Wie er Dir drohte mit gefdjwungner Kippe; 
Kell blieb Dein Aug’, es lädjelte die Kippe. 


Und ob er gleich ſchon an dem Purpur jerrte, 
Himüberdeutend nad der nahen Gruft, 

Und ob er gleidy in mitleidlofer Härte 

Des Bettlers Gut, die freie Öottesluft 

Dem Baifer Dir, dem Oottgefandten, [perrte, 
Doch feften Schritts am Band der dunklen “luft, 
Wie je ein Geld auf glangerhellten Balmen, 
Stiegt Du empor zum Throne Deiner Almen, 





Wir kannten Did! Bei der Trompete Tönen 
Bum Sieg oft rief uns Deiner Stimme Laut, 
Stols überhallend der Geſchütze Dröhnen; 

Und ad; wie mild, wie freundlid und wie trant 
lang fie zum Preis des Edlen und des Schönen, 
Was Friedenskunft erſchaffen und erbaut, 

Im Scherz wie hell, daf alle Sorgen ſchwanden — 
Yun wie ein Handy aus fernen Geiflerlanden! 


Doch frei noch hob Dein edler Geift die Scywingen, 
Frei ſchlug Dein Kerz, und was in kühnem Flug 
Der Geift erſann, in mühevollem Ringen, 

Womit das treue Herz ſich forgend trug, 

Daf 25 den Völkern Segen möge bringen, 

Thatſt Du's uns kund mit fellem Federzug: 

Ein Friedensfürft zu fein gleich dem Verklärten, 
Das war der Ruhm, den Geift und Merz begehrten. 


Du warft es uns — fo mochte Gott es fügen — 
Schon ſchwebt Dein Geift empor zu feinem Thron, 
Schon athmeſt Du in vollen, durſt'gen Bügen 

Die Simmelsiuft, die Deines Duldens Lolm. 

Dort nur it Friede, feliges Genügen, 

Dort grüßt der Vater den geliebten Sohn, 

Und al’ die edlen, tapfern Bollernfproffen 
Empfangen Dich, den würdigen Genoſſen. 


Dod; du, Germania, ob ans frifdyer Wunde 
In Strömen auch hinflieht dein theures Blut, 
Ertrage fie, die Prüfung diefer Stunde, 

Wie er fie trug mit ungebrod'nem Muth! 
Daß er die höh're Sendung dir bekunde, 
Schickt dir der Gimmel foldye Thränenfluth; 
Wen je im Kampf die Kräfte didz verliehen, 


So wird ans Gräbern nene Kraft dir fpriehen! 


Carl Berker. 


+ 


Nech trauert Alldeutſchland um Kaiſer Wilhelm, den Gründer des neu geeinten Reiches, der „aus feinem 

glorreihen Leben ſchied“; noch zittern in unfern Herzen die Worte nad, daß es jedem Deutſchen über- 
laſſen bleiben möge, wie er um einen „jolden Monarchen“ Leid tragen jolle — und ein neuer Schichſalsſchlag trifft 
bereits den Kaiſerthron und das Reid: der zweite Kaiſer ruht auf der Todtenbahre! 

Welch düftere Schatten, welch namenloſe Tragik erfüllen die kurze Spanne Zeit der heiteren Lenzes— 
monde dieſes einzigen Jahres! 

Der Frühling nahte; wir rülteten uns, bem greifen Herricher Wilhelm I. zu jeinem bevorftehenden Geburts: 
tagsfeft zu Huldigen. Doch Trauer milchte fich bereits in die alljährlich wiederlehrende Freude: fein Sohn, der 
Kronprin;, der Stolz und die Hoffnung der Nation weilte in der Ferne, von tückiſcher Krankheit befallen! Fernhin 
über die Alpen, an der blühenden Riviera Geftade flogen unjere Gedanken; mit bangen Zweifeln blidten wir nad) 
San Remo, ob die Kunst der Aerzte und die milde Luft Staliens dem ftillen Dulder Heil und Nettung bringen würden. 

Uber das Schickſal Hatte dem deutichen Volle noch Schwereres aufgejpart! Kaiſer Wilhelm erkrankte 
plöglih und in ungeahnter Schnelligkeit brach die erſchütternde Stataftrophe herein: der alte Kaijer ftarb — 
und ein fterbender Kaijer beitieg den Thron! 

In jenen winterfalten Märztagen trugen wir nicht allein einen großen Zodten zu Grabe — in unieren 
Herzen welften blühende Hoffnungen dahin. 

Wohl eilte Kater Friedrich, dem Gebot der Pflicht gehorchend, von den jonnigen Küſten in fein nordiſches 
Reich; wohl Hang markig jein Aufruf an das Volt durch alle Gauen Deutjchlands; wir horchten begeiftert den 
Morten — dod) des Gedanfens konnte ſich niemand erwehren, daß alles das, was wir vernahmen, das Vers 
mãchtniß eines durch Hohe Herrichertugenden ausgezeichneten, reihbegabten Geiftes ſei, welchem nur nod eine kurze 
Arift zu wirfen vergönnt war! 

Die Weltgefhichte verleiht Ruhmeskränze für große Thaten regierender Herricher. Von Kaifer Friedrich wird 
fie nur berichten können, was er zum Heil des Vaterlandes als Herrſcher erjtrebte; dem unermüdlichen Arbeiter 
ward ja das harte os beichieden, auf das Wlühen und Gebeihen eigener Schöpfungen nicht zurücbliden zu dürfen! 

Wenn aber aud) die zeit feines kurzen Kaiſerthums nur allzuraſch dahinflog: Großes hatte er ſchon 
gewirkt, noch che er den Thron beitieg. 

Lorbeer und Eiche ſchmückten fein Haupt; glorreih waren die Siege, welche jein Schwert erfämpfte, wie 
die Erfolge, welche er im Frieden als Schüter von Kunſt und Wiſſenſchaft, von allen bürgerlihen Tugenden 
errang. Freudigen Herzens durfte Kaiſer Wilhelm I. feinen Sohn mit höchſten Ehren für feine VBerdienfte in 
Krieg und Frieden auszeichnen, und warn ſchlugen die Herzen aller Deutjchen für den Helden, der jein Leben jo 
oft für des Vaterlandes Einheit und Größe in die Schanze gejchlagen, der im heißer Schladht die Söhne des 
Nordens und des Südens zum Siege geführt und als gelichter Führer unfterblihe Verdienſte um die innere 
Einigung von Nord und Süd fi erworben. 

„Unſer Fritzl“ Ja, er war gelicht, die Liebe des Volkes galt ihm jeit Jahren voll und ganz. Am 
unermidlichiten und rührenditen befundete fie ſich in jenen ſchweren Tagen, als er todtfrant, aber auch todes: 
muthig mit dem tüdijchen Feinde rang, der jein Yeben bedrohte. Da mochte es ihm ein jüher Troſt in Leiden 
fein, an taufend Zeichen zu erkennen, wie jehr er von jeinem Volke geliebt war: Blumen ftrente es ihm auf den 
Weg, als er nod einmal die Pracht des deutjchen Waldes am frohen Pfingſtfeſt Schauen wollte; Blumen jandte 
es ihm ins Haus, als er durch rauhes Wetter an jein Kranken und zugleich Arbeitszimmer gefeffelt war; mit 
Blumen und Fahnen ſchmückte es Kirchen, Häufer und Brüden, als er auf der Spree und der Havel dahinfuhr 
nah Potsdam, jeinem Lieblingsjtg, dem Ort, der für immer geweiht iſt durd die jtolzen Erinnerungen an Kaiſer 
Friedrichs ruhmreiches Vorbild, Frievrid den Großen. 

Dort, wo er vor 56 Jahren das Licht der Welt erblidte, ſank Kaiſer Friedrich in der elften Morgenftunde 
des 15. Juni in den ewigen Schlummer, nachdem er mit männlihem Heldenmuth die unausiprehlihen Qualen 
eines Yeidens ertragen, weldes ihm zum Yorbeerfranz und Eichenzweig aud) nod die Märtyrerfrone auf 
das Haupt drückte. 

Wenn diefe Zeilen in die weite Welt hinauswandern, wird die Trauerfunde längſt überall verbreitet fein, 
wohin der eleftrifche Funke veicht; in den fernen Orten aber, wo jenjeit der Meere Deutſche für Neu-Deutjchland 
ringen, auf den fernen Inſeln, wo kaum nad Monden ein Dampfer die neueite Pot aus der Heimath bringt, 
wird dieſes Blatt vielleicht das erfte fein, welches in deutſchen Herzen die tieffte Trauer wedt, indem es die 
erichütternde Nachricht verkündet: 


Auch Kaifer Friedrid lebt nicht mehr! 





— 0 


Aus dem Teben 


an 


— — 









—— fr den Mann, der 
das feltene Los gezogen, 
ber Liebling einer Nation, 
ja einer ganzen Zeitgenoſſenſchaft zu 
fein, wird auch das, was der Zufall 
ihm bot, mit bejonderer Bedeutung 
ausgeſchmũckt. In einer ſolchen Bedeutung glänzt gleich der Ge— 
burtstag Kaiſer Friedrichs: es iſt der 18. Ottober, und zwar 
des Jahres 1831, das uns ſofort an das Jahr 1813 erinnert und 
an die Vollerſchlacht bei Leipzig. 

Die Wiege des Prinzen Friedrich Wilhelm Nitolaus Karl, 
welche Namen derfelbe bei feiner Taufe am Sonntag den 13. No— 
vember erhalten Hatte, jtand im Neuen Palais bei Potsdam, dem 
jegigen Schloß Friedrichsktron, und der diefes Schloß gebaut, ijt 
des Preußenvolls und aller Deutſchen „Alter Frib”. 

In Glüd und Frieden flofjen die erſten Kindheit: und 
Knabenjahre Friedrich Wilhelms dahin. Kriegeriſche Stürme 
bedrohten nicht das. Vaterland und die Schwere Prüfung, welche 
einst Kaiſer Wilhelm als Knabe tragen mußte, blieb dem Sohn 
eripart. 





- —«“ 
— 


—— 


Knaben, den er beſonders in fein Herz geſchloſſen. So hatte 
er in feinem Lieblingsfige Barch für Fritz und deſſen viertehalb 
Jahr älteren Vetter Friedrich Karl ein Soldatenfpiel im Großen 
hergerichtet. Die gefammte Dorfjugend bildete ein Bataillon, das 
fogar Meine Kanonen befok und von den beiden Prinzen fom- 
mandirt Wurde. 

Aus diefem Spiel fand die Mutter des Prinzen in finnigiter 
Weije den Uebergang zum Ernſte. Zum Geburtstag des Vaters 
follte derjelbe als fertiger Rekrut ausgebildet fein und den 
Ropport von der Wade ertatten. Es wurden ihm zwei 
gleichafterige Nameraden, v. Zaſtrow und Graf v. Königsmark, 
beigegeben, und objchon an den übrigen Unterrichtsftunden nichts 
verſaumt werden durfte, machten die Unteroffiziere, und namentlich 
Bludan, ihre Sache fo aut, daß die Ueberraſchung aufs beſte 
aelang. Stamm in Dienftjade nebſt Mantel der Stettiner 
Sardelandwehr, den Tſchako auf, das Lederzeng umgehängt 
und vom königlichen Großvater mit einem Gewehr ausgerüjtet, 
fo marichirte der Rekrut am Morgen des 22. März; 1939 
vor feinem Bater auf und meldete mit allem Ernſt der Pflicht: 
„Rapport von der Potsdamer Thorwache. Auf Wache und 


Poften nichts Neues. Sie ift ſtark 1 Unteroffizier, 1 Spielmann | 


und 18 Grenadiere.” 


Und nicht allein Vater und Mutter, auch der fönigliche 
Großvater Friedrich; Wilhelm III. forgte für Luft und Lehre des 


423 0— 


Kaiſer Friedrichs. 


Das Jahr 1840 brachte dem jungen Prinzen zwei un— 
vergeßliche Erinnerungen. Am 1. Juni wohnte der Prinz in 
feiner Militärdienftjade der Grumdfteinlegung zum Denkmal 
Friedrichs des Großen bei, und nur ſechs Tage jpäter jtand 
er am Sterbebette feines Grofvaters, der dem Enfel jo viel 
zärtliche Liebe eriwiefen hatte. Das war des Knaben eriter tiefer 
Schmerz. 

Nachdem ver Brinz die Huldigungsfeier bei der Thronbefteigung 
feines Oheims Friedrich Wilhelms iv mitgemacht, wurde er an 
feinem zehnten Geburtstage, 1841, Sekomdelientenant der Leib: 
fompagnie des erften Garderegiments zu Fuß 

on jept an leitete den militärischen Unterricht des Prinzen 
der Oberſt dv. Unruh und ebenfo forgfam den wiſſenſchaftlichen 
der Prediger Godet, bis mit dem 13. Jahre Ernſt Curlius, der 
Altertjumsforicher, diefe Leitung übernahm und bis zum eriten 
Bonner Scmejter fortführte. Die alte gute Sitte der Hohenzollernfchen 
Familie, daß jeder Prinz auch ein Handwerk lernen muß, führte 
den Prinzen in die Werfjtätten des Hoftiichlermeifters Kunath 
und des Buchbindereibeigers Mofiner, Auch die Jünger der 
Bucdruderfunft verebren in Kaiſer Friedrich einen gefrönten 
Genofjen, der gleich ihnen tüchtig ſchaffend am — Sekerkaften 
geſtanden hat. Diefe Thatfadhe wird in den uns vorliegenden 
Quellen verſchiedenartig erzählt, Der Unterricht fand, wie in 
den „Graphiſchen Küniten* (Nr. 7, Jahrgang 1888) berichtet 
wird, im Jahre 1844 ftatt, Jeden Mergen wanderte ein Gehilfe 
aus der Buchdruderei Meifter Eduard Hänels in das Palais, 
um den Prinzen Friedrich; Wilhelm im Setzen ꝛc. zu unterrichten. 
Diejer Gehilfe war ein Magdeburger Stadtkind und hieß Wilhelm 
Geldmacher; derielbe fühlte fich nicht wenig Stolz, als eines 
Tages fein hoher Lehrling den Konfirmationsiprud fein ſäuberlich 
geſetzt und eigenhändig gedrudt hatte. — Um beiden Prinzen, 
Friedrich Wilhelm und Friedrich Karl, Gelegenheit zu Uebungen 
‚im Felddienſt zu geben, wurden bei Botsdam fogenannte Kadetten- 
manöver — von 60 Potsdamer und 10 Berliner Kadetten — 
organifirt, deren Waffe das „Puſtrohr“ war. Mit einer Aus: 
wahl derjelben unternahm der Prinz feine luſtigen Ferienreiſen 
in inländiſche Berglande, wie die märkiſche und die ſächſiſche 
Schweiz, ins Riefengebirg und den Thüringerwald, die meiftens zu 
Fuß erjtiegen und durchwandert wurden. Alle, was in Natur 
und Leben das Herz erfriſchen und den Geiit mit lebendigen 
Unfhauungen aus den verſchiedenſten Vollskreiſen bereichern fan, 
war da in Fülle geboten und beglückte das fir alles menſchlich 
Gute, Liebe und Heitere fo empfängliche Gemüth. 

Diefes Glück ſchöner jugendlicher Harmlofigkeit unter den 
Augen der Eltern, die ſich des Gedeihens ihrer Kinder erfreuten, 
dauerte drei Jahre — von 1844 bis 1847. 

Der Sturm des Jahres 1848 hat fein Haus mehr be 
droht, als das des Vaters „unjeres Arib“. Der „Bring von 
Preußen" galt fälfchlich für den Urheber des Blutbads vom 
18. März, während er doch ſchon am 13. das Kommando der 
Garden niedergelegt hatte. Das Palais desjelben fonnte befanntlid) 
nur dadurch gerettet werden, daß es für „Nationaleigenthum” 
erflärt wurde, und er felbjt begab ſich, auf des Königs Wunſch, 
nad) Yondon. Seine Familie harrte in äuferiter Zurüdagezogenheit 
in Botsdam in der Sehnjucht nady dem Gatten und Water aus — 
bis der 6. Juni ihn zurüdführte. Jetzt exit Fonnte der Konfirmanden: 
unterricht des Prinzen Friedrich Wilhelm durch den Hofprediger 
Heym beginnen, worauf am 19. September 1948 der Oberhof 
prediger Dr. Ehrenberg in der Schloßlapelle zu Charlottenburg 
den Aft der Konfirmation vollzog. 

Das Nahr 1849, für Tauiende von Familien ein ſchweres 
Unglüdsjahr, führte den jungen Prinzen auf friedlicher Bahn 
vorwärts, Am 3. April ftand er bei jeinem Bater neben dem 
Thron, von weldiem herab König Friedrich Wilhelm IV, die 
ihm vom deutichen Parlament angetragene deutiche Kaiſerkrone 
ablehnte. Dem Feldzug gegen die Aufitändiichen der Rheinpfalz 
und Badens, den jein Vater befchligte, blieb cr fern, ausſchließ— 
lich feinem Dienjt und den Studien unter feinem Militärgonvernent, 
dem Dberftlientenant Fiicher, ergeben. Der 18. Oktober ſchloß 
feine Zünglingszeit ab; die Grofjährigfeit des zukünftigen Thron: 
‚ folgers ward mit vielerlei Feftlichleiten, Adreſſen und Reden 





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degrüßt; wir können aber nichts mittheilenswerther finden, als 
die Worte feiner Mutter: „Ich babe meinen Sohn in der 
Liebe zum Vaterlande erzogen und ich hoffe, er wird 
fie bewähren!” Und es geichab offenbar mit im Geiſte diejer 
Mutter, daß der Prinz am 7. November die Univerfität (Bonn) 
bejog, ein damals für die Angehörigen vegierender Häufer nod) 
ſehr ungewöhnlicher Bildungsgang. 


426 


Nach Bonn waren ihm fein bisheriger Exzicher Profeſſor 


Dr. Curtins und Oberſtlieutenant Fiſcher gefolat, deren Rath 
er allezeit chrte. Dabei hatten ihm die Eltern den Genuß des 


Wahl der Lchrer, wie des geielligen Verlehrs gejtattet, und fü 


o— 


endlich die am 16, Mai in Berlin erfolgte Verkündigung feiner 
Berlobung las. 

Diesmal fangte er als erflärter Bräutigam in England an 
und empfand dies fofort bei ben Huldigungen, die ihm nun 
gebracht wurden, denn als er nad dem ftillen Glück der 


‚ Liebe und den lauten Feiten England wieder, zum leßten Male 


vor der Hochzeit, 
London“. 
In Breslau nahm der Prinz, nachdem er nod) die Manöver 


verließ, that er es als „Ehrenbürger von 


‚ in der Meichenbacdher Gegend mitgemacht, am 19. September Ab— 
freien, frohen deutſchen Studentenlebens ſowohl binfichtlich der 


trieb er's auch. Er hörte nicht bloß römiſches, Kirchen- und 
Völlkerrecht bei Walter, Bluhme und Hälfchner, ſondern auch 


Volitik und vergleichende Völkerkunde bei Dahlmann und dem 
alten Arndt, 
Bundestag 1821 ab» und erjt 1840 von Friedrich Wilhelm IV. 
wieder cingefeßt worden war. Und ebenjo ijt fein freies, offenes 
und fröhliches Weſen durch die rüjtige alademiſche Jugendluſt 
gefräftigt und zu dem edeln Humor ausgebildet worden, ber 
auch dem Ernſt nevecht wird und am ftandhaftejten der Trübfal 
Troß bietet. 


Nachdem der Prinz von Preußen als Militärgonverneur der | 
Rheinprovinz und Wejtfalens am 17. März 1851 feinen Hofhalt | 


nad) Koblenz verlegt hatte, wo er mit feiner Familie fieben 
glüdliche Jahre verleben follte, mufte Prinz Friedrich Wilhelm 
das Bonner Studium von Dftern 1851 bis zum Oktober unter: 
brechen, um feine Eltern zum Beſuch der Reltausitellung in London 
zu begleiten, Bier hatte er zum erften Male feine künftige Gattin, 
die damals im Alter von zehn Jahren stehende Prinzefjin Victoria, 
gejehen. 

Am 26. Mai verlieh der Prinz von Preußen mit den Seinen 
England, um fen am 31. der Feier der Enthüllung des Dent: 
mals Friedrichs des Großen beizuwohnen. Friedrich Wilhelm ward 
wieder vom Dienſt fejtgehalten, wurde im Juni bei einem Beſuche des 
Zaren zum Chef eines ruſſiſchen Hufarenregimentes (Ifum Nr. 11) 


und nach den Manövern von feinem königlichen Oheim zum Haupt: | 
Ende Oltober lehrte der Prinz nach Bonn zurüd, | 


man ernannt. 
von Stadt und Umniverfität mit fejtlicher Freude begrüßt, und 
als er Dftern 1852 ſcheiden mußte, war es ihm wirklich zu 
Muthe twie einem „bemooften Haupte”, das von der „alten 
Burſchenherrlichkeit“ ſcheidet. Die Liebe, die ſich der Prinz aud) 
da envorben, wurde durch glänzende Feſte und Erinnerungsgaben, 
Fackelzüge der Studenten und der Bürger, ein prachtvolles „Ab- 
gangszeugniß“ u. dergl. bethätiat. 


fchied von feinem Negiment. Wenige Wochen fpäter erichütterte 
feine Familie und das ganze Land das ſchwere Schidfal des 
Königs, der, vom Gehirnſchlage aetroffen, der Negierung ent 
ſagte. Brinz Wilhelm wurde Prinz-Regent von Preußen, und 


‚ als folder erhob er jeinen Sohn an defien Hochzeitstage zum 


der als Profeſſor der Geſchichte vom deutſchen 


Generalmajor. 

Umgeben von allen Lieben, Verwandten und Theilnahme- 
berechtigten reichten in der Kapelle des St. James Palaſtes am 
25. Januar 1858 Prinz Friedrid Wilhelm von Preußen und 
Vrinzeß Vietoria von England fich die Hände zum ewigen Wunde, 
welcdem der Erzbischof von Canterbury ben kirchlichen Segen 
erteilte. 

An der deutfchen Heimath wurde dem jungen Ehepaar 
das Haus zur Stadtwohnung bergerichtet, welches Friedrich Wil: 
helm III. bewohnt Hatte und in welchem Kaiſer Wilhelm geboren 
worden war. 

Am 27. Jannar 1859 fchenkte Prinzeffin Victoria dem jetzt 
regierenden Slaifer das Leben; zur Begrüßung diefes Enkels, der 
den Namen Wilhelm erhielt, war der Großvater in einem Fiaker 
zum Palais geeilt; auch der alte Wrangel fehlte nicht und ver- 
\ fündete der Vollsmenge vor dem Palais: „Kinder, es geht alles 
qut; es ijt eim tüchtiger, derber Mekrut, wie man es nur ver- 
langen fann!“ 

Es beginnen nun die Tage aroßer innerer und änferer 
Kämpfe. Der Krieg Defterreihs gegen Italien und Frankreich, 
welcher mit der Schlacht von Solferino, am 24. Juni 1859, und 





Staatsgejchäfte, Reiſen nach Rußland und alien füllten | 


die nächſten Lebensjahre des Prinzen aus, bis er im September 


1955 die Fahrt nach England antrat, um mit Zuftimmung feiner | 


Eltern um die Hand der Prinzeffin Victoria zu werben. Die 


fönigliche Familie hielt fi damals in dem ſchottiſchen Schlofie | 


Balmoral auf, und hier erfolgte auch die Verlobung, von welder 
die Königin von England im ihrem „Tagebuch“ unter dem 
29. September folgendes erzählt: 

„Heute hat ſich unſere geliebte Victoria mit dem Prinzen 
Friedrich Wilhelm von Preußen verlobt. Schon am 20. hatte 
er uns fein Anliegen mitgetheilt, aber um ihrer großen Jugend 
willen waren wir zweifelhaft, ob er jebt mit ihe veden oder bis 
zu feiner Wiederkehr warten jolle, entichloffen uns aber dod zu 
erjterem. Als wir nun beute Nadymittag den Graig-na-Ban 
binanfritten, brach er einen Zweig weißer Heideblumen (dev Glück 
bedeutet), gab ihr denfelben und knüpfte daran auf dem Heim— 
wege, den Glen-Girnoch hinab, Andeutungen feiner Hoffnungen 
und Wünſche, die dann alsbald in Erfüllung gingen.” 


Nach feiner Heimkehr mußle ſich Prinz Friedrich Wilhelm den | 


Staatsaeihäften widmen, welde, wie aus feinen Briefen am den 
Prinz Albert erfichtlich it, 


als Ehrendoltor von Orford zurüd, um fogleid eine große 
Rerräfentationsreiie zur ruſſiſchen Raifertrönung in Moskau an: 
utreten. 

a Mit dem Anfang des Jahres 1857 finden wir den Bringen | 
in Breslau, wo er als Führer des 11. nfanterieregiments das 
Schloß bezieht und es in kurzer Zeit zum Mittelpunkt eines 
frifchen geiftigen Verkehrs erhebt. Hier war es auch, wo er 


nicht gerade erfreulich waren; dejto | 
jreudiger eilte er im Mai 1856 wieder zu jeiner Braut und fehrte 


dem Verluſt der Lombardei endete, veraulaßte Preußen zu einer 
„Mobilmachung“, in deren Folge der Prinz das Kommando der 
1, Garde-Infanterie-Divifion erhielt; im Oftober wurde ev Mit 
glied der Kommiſſion für die „Neorganifation der Armee“, welche 
dann die Konfliktszeiten verurfachte. 
Mitten in diefen äußern Unruhen mehrte fid) das jtille 
Glück des Haufes, dem am 24, Juli 1860 das erſte Töchterlein 
befchert wurde: Charlotte, jebt Gemahlin des Erbprinzen von 
Meiningen. Indeſſen war die Zeit angebrochen, in welcher die 
großen politifchen Umwälzungen ſich vollziehen follten, die wir 
alle erlebt haben. 

In der Nacht vom 1. zum 2. Jannar 1861 war König 
Friedrich Wilhelm IV. geſtorben — König Wilhelm beitien 
den Thron; fein Sohn hieß von jet an „Kronprinz von 
Preußen“ und wurde zugleih zum Statthalter von Pommern 
ernannt. Mit der großen Fahnenweihe am 17. Januar, bei 
‚ welcher der Kronprinz als nunmehriger Generallieutenant das 
Truppentummando zu leiten hatte, galt die Armeereorganiſation 
als vollendet. 

Der Glücksſtern der Hohenzollern strahlte hell, Der Augujt 
des Jahres 1862 bejcherte den föniglihen Großeltern zwei neue 
Enfel, am 7. Victoria von Baden (jet Kronprinzeſſin von 
Schweden) und am 14. den Prinzen Heinrich, der num als See: 
fahrer glänzt. — In diefem Jahr iſt aud Bismard Preußens 
Miniſter geworden. 

Das Jahre 1863 rief durd feine fünfzigjäbrigen Erinne 
rungen an 1813 eine nationale Bewegung in aanz Deutfchland 
ins Leben, und zivar bei den Fürjten wie im Volle. Noch lauter 
als die Berufung eines Fürjtentongrefjes und Pläne zur Ber: 
beſſerung der Bundesverfaflung ſprachen die großen National: 
fejte der Turner, der Schügen, der Sänger und der Kämpfer 
von der Leipziger Völlerſchlacht, und das überall erfchallende 

Schleswig⸗ Holſtein meerumjchlungen“ wedte fogar den Bundes: 
‚tag auf, fo daß er zum eriten Male und nod am Schluß des 
Jahres Bundestruppen gegen Dänemark marſchiren ließ. Aber 
erſt im folgenden Jahre unternahmen Preußen und Oeſterreich 
in ihrem nicht von gegenſeitiger Eiferſucht freien Bündniß die 
Kriegsführung. 





—o 


To 


Belanntlich erhielten das Kommando, unter Oberleitung |, Konftantinopel, am 4. November nad) Kerufalem und über 


Wrangels, über die Defterreicher Feldmarfchall-Lientenant von 


1 
) 


Damaskus nach Port Said führte, wo er, vom Wicefönig per: 


Gablenz und über die Preufen Prinz riedrich Karl. Dem Kron- ſönlich eingeladen, zugleih mit dem Kaiſer von Oeſterreich, der 


prinzen fiel die Rolle einer Mittelaperjon bei etwa nöthig werdenden 
Ausgleihungen der verſchiedenartigen Kampfgenoſſen zu, eine Rolle, 
für die er im jeder Beziehung, durch perfönliche Liebenswürdigkeit 
wie durch joldatifche Tüchtigkeit und feinen hohen Rang, wie ge: 
ichaffen war. Gr wurde bald der Liebling aller Truppen, mit 
denen er alle Beſchwerden und Enibehrungen des harten Winter: 
feldzuges iheilte. Im Gefecht bei Nübel, am 22, Februar, ftand 
er zum erjten Mal im Feuer. Mit Wrangel zog er dann bis 





vor FFridericia, wo er am 21. März abermals im Feuer ftand; | 
am 18. April beobachtete er von der Gammelmark Lobten aus | 


den Sturm der Düppeler Schanzen und empfing am 21. in 


Flensburg feinen Vater, vor welchem dann die Sieger von Düppel 


in ihrer Sturmfleidung Parade machten. 

Dienft und Familie theilten ſich nun wieder in fein 
Leben und die Familienfreude gewann einen Zuwachs; am 
15. September 1864 wurde den drei Geichwiftern ein Brü— 
derchen geſchenlt, welches Siegismund getauft wurde. Die 
froben Eltern brachten den Spätherbit in der Schweiz zu und 
waren Mitte Dezember wieder bei ben hren, um nun für 
vier Kinder den Chrijtbaum zu ſchmücken. Wir wollen bier 
aleih melden, daß noch ein Töchterchen am 12. April 1866 
binzufam, das den Namen Bictoria erhielt. 


Provinzen ihre fünfzigiähtige Zugehörigkeit zum preußiſchen Stoate. 


Bundestag endlich den Bruch herbeigeführt. Deutichland ftand 
vor dem Krieg von 1866. 


Kaiferin von Frankreich und dem Prinzen Heinrich der Niederlande 
am 17. November der Einweihung des Suezlanals beimohnte. 
Nachdem er in Suez das Rothe Meer begrüßt, dann den Nil bis 
zum erſten Kataralt befahren, in Sairo am 5. Dezember den 


‚ Grumdftein zu einer evangelifchen deutſchen Kirche gelegt und Die 


Pyramide bei Gizeh beftiegen hatte, trat er am 9. Dezember von 
Alerandrien aus die Heimfahrt an. In Cannes eilte er and Land; 


| denn dort fand er alle feine Lieben, Gattin und Kinder feiner 


harrend, Das Wiederfehen war nur durch die Krankheit des Jüng— 
jten, Waldemar, getrübt, der an der Bräune lit. So mußte 
diesmal der Chriftbaum in Frankreich angebrannt werden, wie dies 
auch zur nächſten Weihnacht aeihah. Am 26. Dezember veifte 
die Familie ab, nahm den Heimweg über Paris, wınde von 
Napoleon und Eugenie aufs gaſtfreundlichſte beehrt und begrüßte 
im alüdlichiten Friedensgefühl in der Heimath das neue, das 
große Jahr — 1870. 

Wie H. Hengjt in feinem „Fürftenbild aus dem 19, Jahr: 
hundert“ ſchlagend zufammenftellt, hatte ſchon am Nachmittag des 
15. Juli die „Kaiſerin Eugenie ihren hübſchen Heinen Krieg, 


‚ übernahm Ollivier Teichten Herzens die Verantwortung für den: 


felben, war der Kriegsminiſter Leboeuf erzbereit, und fo fonnte 


am 19. Jufi der franzöfifche Gefchäftsträger dem Grafen Bis- 
Das Jahr 1865 war wieder ein vielbewegtes; denn während | 


der Unfriede der Konfliktszeit fortdauerte, feierte der König in vier | 


mard die Kriegserklärung überreichen.“ — Und der Kronprinz? 
„som gewährte das Schichſal die denkbar höchſte Gunſt, die es 


‚ einem preußifchen Sronprinzen bewilligen konnte: an der Spitze 
Und in derjelben Zeit Hatte die alte Eiferfucht und Zwietracht 
zwiſchen Defterreich und Preußen in Schleswig:Holitein wie am | 


eines aus faft allen deutfchen Stämmen gebildeten Heeres für 
Deutichlands gekränkte Ehre ins Feld zu ziehen und als deutfcher 
Kronprinz ſiegreich zurüdzufchren.“ 

Heute und immerbar werben wir es auch preifen, bafı der 


Das Vertrauen feines königlichen Vaters ftellte ſchon am | Kronprinz nad den Meer Siegen der anderen Armeen nicht 


17. Mai den Kronprinzen an die Spike der zweiten Armee, 


nad) Paris zug, fondern nad Norden abſchwenkte; denn nur 


welcher die wichtige Aufgabe zufiel, Schlefien gegen den dort dadurch ift der Tag von Sedan zu einem Feſttag aller Deutichen 
erwarteten Angriff zu vertheidigen. Diesmal war es ein jchwerer | geworden. 


Abſchied vom geliebten Weibe und von den fünf Kindern, bie 


im liebreizendſten Alter den Water umdrängten, der in den | 


Krieg zog. Ob eine dunkle Ahnung mit ihm aing? — Auf des 


| 
| 


Königs Befehl eilte er, am 2. Juni noch zum Militärgouverneur 


von Schlefien erhoben, nad Neiße, um von dort aus die Aufs 
ftellung feiner Armee zu ordnen, und dort, mitten in angeftrengtefter 
Thätigfeit traf ihm die Nachricht, daß fein jüngſter Liebling, 
jein Heiner Siegismund, gejtorben ſei. — Erft nad) dem Friedens: 


ſchluß schrieb er darüber nad) Berlin: „Es war eine ſchmerzliche 


Aufgabe, daß ih meiner Gemahlin und meinem  fterbenden 
Kinde nicht beiftchen, daß ich meinem heimgegangnen Sohne 
nicht die Augen zudbrüden fonnte. So ſchwer es mir damals 
wurde, fern von Heimath und Familie zu bleiben: ich ſehe jet 
mit Genugthuung darauf zurüd, weil es cin Opfer war, das 
ih dem Baterlande brachte.” — 

Mit jeinem Unterfelderen drang er durch die Päſſe des 
Riefengebirges bis Königinhof vor, nach deſſen Erftürmung (am 
29. Juni) er am 1. Juli in einem Armeebeſehl ſich fünf glänzender 
Siege und der gelungenen Berbindung mit der 1. Mrmee (unter 
Prinz Friedrich Karl) vühmen fonnte. Am 3. Juli wurde die Ent: 
iheidungsichlacht vor Königgrätz geſchlagen, welcher die Friedens— 
verhandlungen und der Friedensabſchluß folgten. 





Wie alle feine Feldherren, fo belohnte der König and) | 


jeinen Sohn mit den höchſten militärischen Orden und Mürden, 


und welches Glück, welde Hoffnung jpricht er in den Worten | 


aus: „Ich habe Dir den größten Beweis Königlichen und väter: 
lichen Vertrauens gegeben, indem id) Dir die Führung einer 
Armee übertrug. Du haſt diejem Vertrauen in hohem Grade 
entiprocdhen. — Ein chreuvoller Friede bereitet Preußen und 
Deutihland cine Zukunft vor, 


die Du berufen fein | 


wirjt, unter Gottes gnädigem Beiftand dereinft aus: . 


zubauen,” 

Nur drei Kahre trennen das Neujahr 1867 bon dem von 
1870, aber fie find für den Kronvrinzen und die Seinen reich 
an wichtigen Erlebniſſen. 

Die galänzendfte Seite des Jahrbuchs von 1869 nimmt 
die große Drientreiie des Kronprinzen ein, welde ihn über 
Venedig und Brindiſi nad Korfu und weiter nach then, 


Den größten Sieg aber gewann Friedrich Wilhelm über 
die Herzen des Volls in Waffen und daheim durch fein Herz, 
dejien Reinheit und seitigfeit der Klarheit und Kraft feines 
Geiftes würdig war. Sein Rang, feine Thaten, fein Wiſſen und 
Können berehtigten ihn, ſich hoch zu fühlen, und doch ſtieg er 
am Tiebjten von dieſer Höhe herab, um als Menſch bei Menichen 
zu ftehen. Seine Vollsthümlichkeit war nicht gemacht und geiucht: 
das Volk trug fie ihm entgegen im Süden wie im Norden. Er 
war e3, der durch feine ritterliche, volfsthümliche Perfönlichkeit 
die Herzen der füddeutfchen Soldaten im Sturm gewann und der 
dadurch am meiften dazu beigetragen hat, die innere Ber: 
einigung und Berfchmelzung des Südens mit dem Norden 
herbeizuführen. So ift der Name „unſer Fritz“ als die 
höchſte Ehrenbezeiqung des gefammten deutihen Wolfes für den 
deutjchen Kronprinzen anzuerlennen. 

Nach dem Kriege lan dem Kronprinzen zunäcit am Herzen 
die Heilung der Wunden, die Pflege umfafjender nationaler Wohls 
thätigkeit. Ihn ſelbſt bebrüdten fait die Ehren, mit welchen 
man ihn daheim wie von außen auszeichnete. Noch höher jtellte 


| ihm jeine militärische Pflicht, denn aus dem nordbeutichen Bundes: 
heer war eim deutjches Reichsheer geworden, und Inſpeltionen, 


Revuen und Manöver führten den Kaiſerſohn in alle deutichen 
Staaten und Provinzen. Nicht weniger nahmen ihn die Feſte 
aefhichtlicher Erinnerungen an deutiche Thaten und Männer in 
Anipruch, an denen der erwachte und jo gewaltig gehobene National: 
jtolz ſich erfreute. Und ſchließlich war dies alles nur glänzendes 
Zwiſchenſpiel, welches von außen den Himmel feines Hauſes be: 
ftrablte, während im Innern Einfachheit und Imigkeit am jtillen 
Herd waltete und die Pflege des aufblühenden Kinderichmudes 
der Eltern ernſte Sorge und reinites Glüd war. 

Am 22. April 1872 wurde dem Kronprinzen fein jüngſtes 
Töchterchen, Margaretha, geboren. Zwei Jahre darauf brachten die 
Eltern ihre beiden älteften Söhne auf das Gymnaſium in Staffel, wo 
fie genau wie ihre Schulgenofien gehalten und jo dem Bolte nahe 
gebracht werden follten, anftatt von Hofmeijtern im Glanze der 
Hofhaltung erzugen und dem Wolfe entfremdet zu werden. Für 
die Küngeren aber, die in ihrem Alter von jechs, vier und 
zwei Jahren der herrlichiten Spielzeit angehörten, war auf deu 


— 428 — 


Spielplätzen und in den Gärten von Potsdam und Bornſtedt das 
Paradies der Kindheit geſchaffen, — aber nicht nur der eigenen, 
ſondern vieler Kinder der Stadt und des Dorfes, die ſie zu 
Spiellameraden derjelben auserwählten. Von den Kinderfeſten in 
Bornftebt erzählen alle, die dort mitgejpielt haben, ja fie erzählen 
noch mehr: welch heiliger Ernſt es dem Kronprinzen ſtels mit 
quter Volksbildung war, bethätigte er dadurch, daß er häufig 
die Dorfihule beſuchte und den alten Lehrer Scheffler im Unter— 
richt unterftüßte; ja, als der Lehrer einmal, an das Kranken: 
bett jeiner Mutter gerufen, die Schule hätte ſchließen müſſen, da 
vertrat der Kronprinz feine Stelle. Das vermochte derjelbe Fürit, 
der zu anderer Zeit Regimenter: führte und Heere befchligte. — 

Zu Kaiſer Friedrichs Schönsten Lebenserinnerungen gehörte die 
Reife nad) Italien zur Thronbefteigung des Königs Humbert im 
Januar 1878. Als nad) der Krönung der König mit Gemahlin und 
Sohn und feinem deutichen Gaſte auf dem Balkon fich dem Volle 
zeigte, hob der Kronprinz den Heinen Prinzen empor, nahm ihn 
auf den Arm, zeigte ihn jo der zahllos verfammelten Menge und 
tüßte ihn. Dieſe einfache Herzensthat des hohen, vitterlichen 
Mannes erregte ungeheuern Jubel und tilgte den letzten Zug des 
alten „Morte ai Tedeschil“ aus. — Und am 18. Februar er: 
febten die Eltern die erſte Hochzeit ihrer Finder, die der Prin: 
zeſſin Eharlotte mit dem Erbprinzen von Meiningen. Das war 
die legte Freude diefes Jahres. Mit dem Mai brachen die Tage 
des Unheils an. 

Am 11. Mai erlebte man in Berlin das erjte Attentat auf 
den zweiundachtzigiährigen Kaiſer Wilhelm, dem am 2, Juni 
Nobilings Mordanfall folgte Die furchtbare Nachricht wurde 
dem Kronprinzen nad) England telegraphirt, und ſchon am 
3. Abends ftand er am Schmerzenslager ſeines Vaters, Ein 
halbes Jahr nahm die Heilung der ſchweren Wunden in | 
Anspruch; inzwiſchen führte der Kronprinz die Megierung. 
Während derſelben fand der noch heute vielbefprochene „Berliner 
Kongreß“ mit dem „Berliner Frieden“ ftatt, hatte im Batifan 
der Tod Pins’ des Neunten beim Thronwechſel Leo XII. auf 
den päpftlichen Stuhl gebracht und den Kronprinzen zu einem echt | 
faiferlichen Brief am denfelden veranlaßt. Gegen den Jahresſchluß 
bin verabfchiedete ſich Prinz Heinrich von der Familie, denn er | 
beftieg das Schiff zu einer zweijährigen Fahrt um die Erbe. 

Noch waren Trennungsleid und Sorge um Heinrich nicht 
verwunden, da jollte ein viel härterer Abichied die Familie und 
die Großeltern treffen: der elfjährige blühende Knabe Waldemar 
wurde den Seinen am 27. März 1879 durd) die Diphtheritis, diefe 
tückiſche Krankheit, entrifien. 

Damit ſchien das Schickſal die ſchwarzen Tage des Haufes 
ſchließen zu wollen, denn am 12, Mai brachte es wieder eine 
erjte große Freude: Prinzeſſin Charlotte Tegte das erſte Enkel: 
find, Feodora, in die Arme der Großeltern und der Urgroß— 
eltern, die dazu am 11. Juni ihre Goldene Hodzeit 
feierten, und zwar umgeben von ihren beiden Sindern, adıt 
Enten und einem Urenlelchen. 

Hochzeitsfeſte füllen auch die nächſten Jahre aus; denn nun 
führte auch Friedrich Wilhelms ältefter Sohn feine Braut zum 
Altar, und die faijerliche Familie eilte nad) Karlsruhe, um die 
jilberne Hochzeit des großherzoglichen Paares zu feiern. 

Am 18. Dftober 1881 feierte Friedrich Wilhelm jeinen | 
fünfzigſten Geburtstag, und der 6. Mai des folgenden Jahres | 








fah zum erften Male vier hohenzollernfhe Thronfolger umter 
einem Dad, als Urgrofvater, Großvater und Bater an ber 
Wiege von Prinz Wilhelms Erftgeborenem ftanden. 

Noch in diefem Jahr war nicht nur am Hofe und in vielen 
reifen Berlins, jondern weit hinaus ſelbſt über die Grenzen des 
Reichs vorgearbeitet, gerüftet und gefammelt worden für eine 
Hauptfeier von 1883, die Silberhocyzeit des Lieblings aller 
Deutichen am 25. Januar. Da fiel ein ſchwarzer Trauerſchleier 
mitten in all die bunte Pracht; am 22. Januar jtarb, nach kurzem 
Krankenlager, Einer, ber ſich jo herzlich mit auf das Feſt gefreut 
hatte, —* Wilhelms älteſter Bruder, Prinz Karl. Ruhte auch 
ein Schleier auf dem Feſt, ſo duldete das gute Herz des Kaiſers 
es doch nicht, daß koſtſpielige Vorbereitungen zum Schaden der 
Unternehmer vergeblich) geweſen jein follten, wie 5. B. das große 
Koftümfeft, das am 8. Februar noch ftattfand. Des Kronprinzen 
größte Freude waren die vom ganzen Meiche aus Heinften Beiträgen 
gefammelten 800 000 Mark „Kronprinzenipende“ zu einem wohl⸗ 
thätigen Werf. 

Am 17. November unternahm der unermüdliche Mann der 
Pflicht die große Meife nad) Spanien, an den Hof bes Königs 
Alfons XI, welcher infolge der am beutfchen Kaiferhofe ge— 
noffenen Ehren auf der Heimreife in Paris rohejter Behandlung 
ausgeſetzt geweſen war. Bon da eilte der Kronprinz nad. Rom, 
um dort König und Papft zu begrüßen. Welche Reihe von 
Erlebniffen diefjes einen Mannes! Viele Einweihungen, Ehren; 
beſuche, Manöver, Volksfefte müfjen wir ımerwähnt laſſen oder 
fünnen nur daran erinnern, wie an die herrlichen Tage von 1886 
in Elſaß und Lothringen. 

Nie ift ein Tag auf deutſchem Boden mit freubigerer Be 
geifterung gefeiert worden, als ber 22. März 1887, Sailer 
Wilhelms neunzigiter Geburtstag, Ihn feierten die Deutichen, 


die ber gerechte Stolz befeelte, Deutſche zu fein, als höchſten 


Rationalfefttag in aller Welt, und alle edlen Völler ftimmten 


bewundernd und neidlos diefem Jubel bei. 


Und doc — nur eine furze Spanne Zeit, und das Unglüd 
warf jeinen Schatten über das Reich, immer dunfler und unheim- 
licher, immer drohender, bis das unerbittlihe Schidjal ſich voll 
zogen hatte. Gleich darauf erkrankte der Kronprinz, und während 
er in Italien weilte, ftarb Kaiſer Wilhelm J. Der 9. März warb 
der erfte große Trauertag des neuen deutſchen Reichs — und nur 
ein Trauerflor war es, der bis zum zweiten, bis zum 15. Juni, 
dem Todestag Kaiſer Friedrichs, reichte. 

Was Kaifer Friedrich in den legten Monaten feines Lebens 
leiden mußte und mit welchem Heldenmuth ex die unausfprechlichen 
Qualen der heimtüdischen Krankheit ertrug, das haben wir alle 
mit bangen Herzen miterlebt und mitgefühlt. Zu ſchwach find 
Worte, um der Tragik der lebten Ereigniffe Ausdrud zu ver: 
leihen, und wer würde auch im Stande fein, heute, wo noch der 
tieffte Schmerz unjere Seelen durchzuckt, die Geſchichte dieſes 
Kaiſerthums nieberzuichreiben? Es zählt mur mad wenigen 
Deonaten — und doch ift es reich gemug an Thaten und fogar 


an Kämpfen geweſen, um in der deutfchen Gefchichte ein ergreifendes 
Blatt zu füllen. So viel Trauer und fo viel Liebe zugleid) 
bat noch feine Nation empfunden wie Deutſchland in diefen legten 
Monaten. Möge die veredelnde Kraft von beiden im vielgeprüften 
Baterlande fortwirken! 


Friedrih Hofmann. 





— 


— 419 

































> 
vu 


Yu Kaifer Wilherm N) | 


En trauerwollen Tagen 
Ward Dein der Krone Bier! 
Denn um zwei Raifer klagen 
Wir alle jet mit Dir. 

Auf ewig unvergeſſen 
Lendtet der Todten Rulın: 
Aus Lorbern und Eypreffen 
Erflaud Dein Kaiferthum, 


Don Glorienſchein umfloffen, 
Io würdig und fo mild, 
Sleht wie aus Erz gegoffen 
7: Des Ahnherrn Heldenbild. 
Gr hat den Sieg errungen 
- In Stürmen der Öefahr, 
= Den gold'nen Keif geſchlungen 
Wlorreich ins Silberhaar. 


Der Sohn an feiner Seite, 
Wie er int Kampfe geof: 

Uun ruht aud) er vom Streite | Daum ſteht Dein Volk gerüftet 
In ew'gen Friedens Schoß. ; Sturuifeſt um Deinen Thron. 
Ein Dulder auf den Throne, : Da mag der Feind gerfplittern 
Tcht langer Qual entrückt; | An Deinem Herrſcherſihh! 
MM Dem cine Dornenkrone 
Ward ihmaufs Yaupt gedrückt. ; Des Schwarzen Adlers Blitz. 


Bwei Sterne find verblichen; 
Glückauf dem neuen Herru! 
Denn Dir, dem jugendlichen, 
Glänzt hell der Zuknuſt Stern 
| Ausftrahle reichen Segen 

; Der Herrfdjerkrone Gold; 
Auf allen Deinen Wegen 

| Sci Glück und Kuhm Dir hold! 
13 





| Umrankt, ihr Friedenskränge, 
| Dies Scopter blüthenreich; 

| Es were geift'ge Lenge, 

; Dem Banberftabe gleich! 

: Wächft in des Landmanns Pfleg, 
‚ Der Garben Fülle auf: 

© Aunſt und Wilfen lege 

‚ Den ſchönſten Kranz darauf! 

| Und wenn's den Feind gelüftet, 
; Dem Friedensreid; zu drohn, 





| 






Du führt in Kriegsgewittern 


Sa 


Zindolf von Gotiſchall. 


Kaiſer Wilhelm II. und Saiferin Auguſta Victoria. 


Aal ereignißreiches Jahr in der Gefchichte Preußens und 


Deuffchlands; aber ein Trauerjahr wie wenige! Saum brei 


Monate, nachdem der erite Kaiſer des Deutſchen Reichs fein ehr | 


wirdiges Haupt zur eigen Ruhe gebettet, iſt ihm fein Suhn 


und Erbe, Kaiſer Friedrich, nachgefolgt und fein Eulel, Kaiſer 


Wilhelm I1., hat deu preufiichen Königs, den deutfchen Kaiſer— 


thron beitiegen. Ihm, der in der Bluthe der Jugend, öffnen ſich 


uneingefchränft die Weiten des Lebens; lange Jahrzehnte der 


Herrichaft Liegen vor ihm, nad menschlichen Ermeſſen und nad | 


den Wünfchen feines Volles, welches nicht an abermalige ſchwere 
Schiclſalsſchlaͤge, die das Haus der Hohenzollern treffen, glauben mag. 

Prinz Friedrich Wilhelm Victor Albert wurde am 27. Januar 
1859 in Berlin geboren. So ift er jept, wo er dem Könige 
und Kaiſerthron befteigt, noch wicht 3O Jahre alt, Bon ben 
preußifchen Monarchen haben drei vor dem dreißigſten Lebens: 
jahre die Krone erlangt: Friedrich Wilhelm L war 24 Jahre alt, 
als cr König wurde, Friedrich der Große 23 Jahre, Fricdrich 
Wilhelin 11. 27 Jahre. 





Prinz Wilhelm hat, den volfsthümlichen Geſinnungen feines 


Baters entfprechend, eine Erziehung erhalten, die weit entfernt 
1888 


war von vornehmer Höfiicher Abgeſchloſſenheit und ihn ſchon früh 
in die Kreiſe der bürgerlichen Jugend, unter gleichjtrebende 
Stubiengenoffen verjehte. Bis zu feiner Konfirmation Teiteten 
Profeljor Hinzpeter als Civilgouverneur und mehrere ſich ab— 
löfende Offiziere als Militärgouverneure feine Erziehung. Am 
Herbit 1874 befuchte Prinz Wilhelm das Gymnaſium zu Kaſſel, 
dag Lyecum Fridericianum, und bejtand dort zu Anfang 
1877 jein Abiturientenegamen. Nach der ausdrüdlichen Be— 
ſtimmung des Kronprinzen follte fein Sohn während der Schul: 
jahre im Bezug auf Anforderungen, welche die MAnitalt au 
feinen Fleiß und feine Leiftungsfähigfeit ftellte, mit feinen 
Mitihülern ganz gleich achalten werden. Der Prinz war cin 
fleißiger und pünlilicher Schüler, gewiflenhaft in Verwendung 
und Eintheilung feiner Bei. Am feinen Mußeſtunden gab er 
ſich mit Eifer gymugſtiſchen Uebungen Hin und machte Er— 
furfionen mit feinen Mitſchülern, mit been er durchaus unbe 
fangen verfehrie, 

Am 27. Januar 1877 wurde der Prinz, da er Sein acht: 
zehntes Lebensjahr vollendet hatte, volljährig nach einem alten 
Hansgejeße der Hohenzollern. Der Tag wurde im kronprinzlichen 


56 


— — 


Palais feſtlich begangen; Kaiſer Wilhelm ſchmückte den Prinzen 
mit den Inſignien des Schwarzen Adlerordens. 

Dann trat dieſer, um den praktiſchen Dienſt zu erlernen, 
in das erſte Garberegiment zu Fuß ein; auch wurde er von 
mehreren Offizieren in den Striegswilienichaften unterrichtet. Im 
Herbjt 1977 bezog er die Univerfität Bonn, wo er juriftiiche, 


hiſtoriſche und phyſitaliſche Kollegien hörte und fich eine vieljeitige | 


Bildung aneignete. Er beibeiligte sich hier als Konlneipant 
an dem fröhlichen Stubentenleben bes Korps Boruſſia. So 
lernte er das Gymnaſium, die Univerfität und die alademiſchen 
Kreiſe aus eigener Anſchauung kennen; ftets hat er feinen Schul: 
und Univerfitätsfteunden ein treues Gedenken bewahrt und mit 
warmer Theilnahme ihre Lebensgeſchichte verfolgt. Und jo hat 
er fich auch ſpäter am ftudentiichen Feſten betheiligt und erſchien 
öfters mit dem Corpsband über der Uniform und mit ber 
weißen Corpsmühe: fo bei den Feften, welche die alten Herren 
der Boruffia in Berlin zu feiern pflegen. Auch dem Stiftungs- 
feft des Corps in Bonn im Jahre 1886 wohnte er bei und 
machte Kommers und MWagenfahrt mit. In feiner Tonjtrede 
hob er hervor, daß das Corps die Farben des Hohenzollern: 
haufes, die preufiichen Landesfarben trage. 
Farben von Fremden als micht prumfend, als zu ernſt ans 
geſehen worden. In ihrem Ernte aber entipräden fie der Ges 
ſchichte Preußens, welches durch ſchwere Schichſale und Zeiten 
hindurch in ernſtem Ringen erſt zu jener Stellung ſich hindurch— 
fämpfen mußte, die es heute einnimmt. Das ſchönſte Symbol 
diefes Kampfes ſei das Eiſerne Kreuz, welches eben diefe ernſten 
Farben trage. , 

In feiner militärischen Karriere avaneirte der Prinz, aber 
wicht jo raſch, wie es im früheren Zeiten Brauch war. Am 
16. Dftober 1585 wurde ihm als DOberft und Regiments: 
fommandeur das Garde-Hufarenregiment übergeben, am 27. Januar 
1888 emannte der Kaiſer den Bringen aus Anlaf feines Geburts: 
tages zum Beneralmajor and Kommandenr der zweiten Garde: 
Infanterichrigade. 

So in verichiedenen Chargen mit dem militäriſchen Dienfte 


vertrant, wurde er and) zu Negierungsgeichäften zugezogen und | 
i Herbit | 


in den preußiſchen Verwaltungsdienſt eingeweiht. Im 
1882 wurde Hierin Staatsminiſter Achenbach fein erfter Lehrer, 
ber ihm nach einem fejtentwworfenen Programm, anfnüpfend an 
einzelne Borlagen, mit den Provinz, Bezirks- und Gemeinde: 
verhältniffen vertraut machte. Im Winter 1886/87 trat der Prinz 
dem auswärtigen Amte näher; fein großer Lchrer war bier 
Fürſt Bismard, dem er einmal einen begeifterten Trinlſpruch 
gewidmet hat. Auch an den Sohn des Reichskanzlers, den Grafen 
Herbert Bismard, ſchloß fich der Prinz an; im Herbſt 1887 
ftudirte er die Einrichtung und die Geſchäfte des Finanzmini— 


ſteriums. In den letzten Monaten hatte ihm der ſchwerkranke 


Kaifer einen Theil der Negierungsgeichäfte übertragen. 
Auf feinen Neifen an befreundete Höfe Hatte der Prinz mit 


dem Kronprinzen Rudolf von Oeſterreich ein engeres Freundichafts- | 
bündniß aeichlofien, das für die Beziehungen der beiden Stanten | 


aud für die Zufunft eine ſchöne Bürgſchaft giebt. 


Oftmals jeien diefe | 


480 °—- 


| Mit einer Füritentochter des ſtammverwandten und meer: 
umſchlungenen Scyleswig-Holftein, Auguſta Victoria, der Tochter 
des vielgenannien Herzogs von Auguftenburg, dejjen Exrbanfprüche 
bei der politifchen Weltlage nicht zur Geltung famen, bat fid 
Prinz Wilhelm 1880 in Gotha verlobt. Ihr Vater lebte damals 
als Privalmann auf Schloß Primlenau in der Niederlaufig. Die 
von ihm im Anſpruch genommenen Sande waren längſt in Preußen 
aufgegangen; jept trägt die Erbtochter von Schleswig-Holjtein die 
\ preufifche Königskrone, die deutſche Kaiſerlrone: eine jchöne Ber: 
ſöhnung der politischen Gegenfäge, die einft in Heftigem Kampfe 
ſich befchbeten. 

Am 27. Februar 1881 fand die Vermählung in der Kapelle 
des königlichen Schloffes zu Berlin ftatt. 

Von der jungen Braut berichtet ein Brief aus Gotha, ben 
wir dem Fürftenbild von W. von Hendrichs „Prinz Wilhelm von 
Preußen“ entnehmen; 

„Was für die Braut bes Bringen Wilhelm beim erjten Anblid 
einnimmt, ift das gemüthliche, deutiche Element, das ſich in ihrer 
äußeren Erſcheinung wie in ihrem Weſen ausdrüdt, Bon Geftalt 
groß, ſchlank, hoch, voll edlen Ebenmahes, Hand und Fuß ſchön— 
geformt, weiß fie in ihrer Haltung wie in ihren Bewegungen 
Würde mit Anınuth zu vereinigen. Kann man auch nicht fagen, 
daß der Schnitt der Züge und des Kopfes zu jenem Genre ges 
hört, das beim erſten Anblick den Zuſchauer frappirt, fo wird 
man doch bald innewerden, daß dieſes ovale Geſicht mit den 
zarten blauen Mugen, dem lieblichen Munde mit den fchönen 
Zähnen, mit der Fülle blonden Haares bei längerem Anſchauen 
von Minute zu Minute gewinnt und feſſelt. Die Augen nieder: 
geichlagen fcheinen finnend oft anderen Dingen nachzugehen; um 
jo anmuthiger aber ift ihr Auffchlag, um fo Herzlichen ihr heller 
fteahlender Blid.. Aus ihrem Weſen ſpricht eine überzeugende 
Herzensfreundlichkeit, die das Gepräge innerer Wahrheit trägt, 
welche nur in der Quelle eines Tauteren Gemüthes Liegt. Mit 
ber Bildung ihres Herzens, die von religiöfen Grunde ausging, 
verſchwiſterte fich die ihres Geiftes. Die Prinzeſſin ſpricht Schr 
nut, weiß ſehr viel, und daß fie nicht nur Angelerntes, fondern 
eigen Geiftiges zu geben weiß — davon giebt der Reiz Zeugniß, 
der in ihrer Konverfation Tiegt. Aus deutfichem Stamm iſt fie 
entfprofien, deutſch iſt ihre Erſcheinung, deutſch ihr Weſen.“ 

Ueber das reizende Familienleben des prinzlichen Paares im 
Marmorpalais bei Potsdam Haben wir bereits in Halbheit 18, 
Jahrg. 1887 diefes Blattes berichtet; ebenſo gaben wir in Halbheft 7 
diefes Jahrg. ein Bild der jungen Prinzen Friedrich Wilhelm und 
Eitel Frig, denen ſich Prinz Adalbert und Prinz Auguſt anſchließen. 

Die kaiſerlichen Kronen fchmüden jetzt ein Paar voll Jugend— 
frifche. Eine ſchwere Laft der Sorge fentt ſich auf des jungen 
Kaiſers Haupt; die Weltlage ift, wenn auch nicht unmittelbar 
bedrohlich, jo doch voll Gefahr, doch in allem, was er bisher 
gethan und gefprochen, prägt ſich das Pflichtgefühl der Hohen» 
zollern aus, das allen feinen Ahnen eigen war, und fo wird er, 
welche Geſchicke auch die Zukunft im Schoße tragen möge, wie 
fein Water und Großvater feine Pflicht thun im Dienjte und 
ı zum Heife des Boterlandes. 








Schloß Friedridskron. 


Ss Friedrichsfren — der Name iſt new; im den erften | 


Tagen ber kurzen Regierung Kaiſer Friedrichs wurde er 


dem prachtvollen Bau beigelegt, der länger als ein Jahrhundert | 


unter dem Namen das Neue Palais dem deutſchen Volle be 
fannt war. 

Mir wiſſen alle, daß in jenem Schlofie der verewigte Kaiſer 
das Licht der Welt erblickt hat. War dies der Grund, warum 
er die Stätte mit dem Namen Friedrichs in engjte Beziehung 
brachte? Durchaus nicht! Nur wir, das trauernde Volk, denfen 
heute bei dem Namen Friedrichskron zunächſt an Kaiſer Friedrich; 
ihm ſelbſt ſchwebte bei dem Namenswechſel der Gründer des 
Schloſſes, der große Preußenkönig Friedrich IL, vor. 

In der That follte der Ban des Neuen Palais gewiſſer⸗ 
maßen die Errungenſchaften Friedrichs II. im Siebenjährigen Kriege 
feönen; denn nadı Beendigung desjelben beichloß der ſiegreiche 
König, neben dem Schloſſe Sansfonei cin Palais aufzuführen, 


welches nicht allein feinen eigenen Bedürfniſſen, ſondern auch denen 
eines wahrhaft königlichen Hofhaltes entiprecdhen würde, Drei 
Millionen Thaler waren für den Bau in Ausficht genommen, 
‚ und durch dieſe außerordentliche Ausgabe wollte Friedrich feinen 
Gegnern beweilen, daß er noc über genügende Mittel verfügte, 
um nöthigenfalls den Krieg weiter zu führen. Im Kahre 1763 
‚ wurde der Bau begonnen und im Jahre 1769 vollendet. 

Potsdam, der Lieblingsfiß preußiicher Herricher, erhielt da⸗ 
durch eine werthvolle Perle in dem Kranz der Schlöffer, die es 

heute umgeben. 

Es verdient den ftolzen Namen Friedrichskron; denn nach 
| außen und innen ift es jo pracdtvoll ausgejtattet, wie kaum 
ein anderes der königlichen Schlöſſer. Mit feinen vier Flügeln 
bietet es eine gewaltige Front von 213%, Metern; 425 Sand- 
fteinfiguren zieren fein jteinernes Podeſt; auf der Kuppel 
thronen drei gefrönte Genien, welche, wie der Volksmund fagt, 


— — — — — — — — 


— a — 


die drei Feindinnen Friedrichs IL, die Kaiſerinnen Maria | ihre hoher Gemahl. Gar feltene Kinder der Flora blühlen im 
Thereſia von Defterreich, Elifabeth von Rußland und die bes | den Anlagen zwiichen Friedrichslron und den Kommuns; dort 
ruchtigle Marquiſe Bompadour, darftellen follen; auf dem Sims | entfaltete im Winter auch die Chriſtroſe ihre zarten Blitihen; dort 
oben ift ein ftolzes Symbol angebracht: ein preußiſcher Adler mit | reiften im Sommer herrliche Erdbeeren und Früchte des Johannis- 
der Inſchrift: nee soli cedit, („Ex weicht felbft der Sonne nicht.) | beer: und Stachelbeerſtrauches, die jubelnd von den fürftlichen 

In diefen wahrhaft königlichen Bau, der über 200 herr: | Kindern gepflüdt wurden. Unfer Kaiſer Wilhelm I. wird gewiß 
ichaftliche Gemächer und prachtvolle Säle enthält, zog im Jahre | oft jener Freuden im Garten zu Friedrichskron nedenfen; denn 
1859 Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen mit feiner | die Früchte, die er genoß, hat er ſelbſt unter der Anleitung 
Gemahlin ein. Lieb und thener war ihm das Schloß, da er in | feiner Mutter großgezogen. Unser Kaiſer wird auch des Spiel: 
demſelben das Licht der Melt erblidt hatte; Tieb und theuer auch plaßes unter den Eichen und Linden nedenfen, wo er als Knabe 
darum, weil ſich an dasfelbe Erinnerungen an Friedrich IL | Feſtungen baute und Feitungen ſtürmte, während fein Bruder 
fmüpften, der des künftigen Königs und Kaifers leuchtendes Bors | Heinrich den Maſt eines allerdings auf dem Sande errichleten 
bild war. Schiffes erſtieg; er wird auch denken an die frohen Kinderfefte, die er 

Das Arbeitszimmer des alten Frig im Neuen Palais ift | dort mit der Bornftedter Jugend verfebte, und wie ihm, fo ijt aud) 
bi auf die jüngjte Zeit unberührt geblieben; in demfelben Zuftande, | uns allen das ftille Glück eines echt deutjchen Familienfebens un: 





wie er es ver⸗ RB 3 vergehlich, das 
fafjen, konnten De — \ | fi dort „bei 
es Taufende 2 Se Kronprinzens 
der Beſucher * im Schatten 
fehen. Ja, der |" der Bäume von 
damalige ſtron⸗ Friedrichskron 
prinz Friedrich lange Jahre 
Wilhelm ſuchte hindurch ab⸗ 
mit ſellener ſpielte. In der 
Pielãt alle Er⸗ „NRohrhütte” 
innerungen und des Gartens 
Andenken an hängt in ein⸗ 
den alten Fritz = 19 [2 [# 1 SE = fachem Rab: 
zu  fammeln, slctelle MA Ir 15a 95 75 m var IE - a‘ I man ein Ge 
und erft vor — AN Rp ‘ — ir Ken DE dicht, das in 
kurzem haben ng) ichlichten Wei: 
wir es erfah- fen diejes Glück 
ven, daß einige dverherrlicht: 





diefer Anden⸗ 


„Dies Pläpchen 
fen die letzlen 5 


nenn" ich bier 





Beihnadhts- : . rm — mein eigen, 
gaben waren, Sitoh Frieriäskren In Yolsdam. — * 
die zwiſchen ſchwebt, 
Kaiſer Wilhelm und feinem Sohn, zwiſchen Berlin und San | Bon der Erinn'rung reiner renden _ 

Nemo in der Chriſtnacht von 1887 ausgetaufcht wurden. Schloß | Und von des Sommers lei; belebt. 
Friedrichstron birgt auch eine Erinnerung an die undergehliche An den Scriftzügen erfennen wir die Pichterin — die 


Königin Luife. In dem Antikentempel, der im Schloßgarten fid) Naiſerin Witwe Victoria. Wer in diefem Kahre nad) Friedriche: 
erhebt, befindet ſich das liegende Marmorbild der Königin von kron wandert und in jenem Ghartenpavillon weilt, den wird die 
Raud. Der große Meifter, der das befannte Marmorbild für Erinnerung an jene Freudetage mit Wehmuth erfüllen... Das 
das Maufoleum in Charlottenburg geſchaffen hatte, wollte ſich ſelbſt ijt eben die Tragik des Lebens; die länge der Freude verwehen 
übertreffen und ein zweites vollendeteres jchaffen. Er arbeitete | raſch im Winde; die Trauer haftet fejt in den Herzen. Schloß 
jahrelang an diejem Kunſtwerk, das jpäter in dem Antikentempel Friebrichsfron wird in unfrer Erinnerung forileben; aber wir 
aufgeftellt wurde und zu den eriten der Welt zählt. werden dabei ſtets zuerst an die ftillen Räume denken, in welchen 

Die Gartenanlagen von Friedrichsfeon find jeht berühmt; | der Tod feine grauſame Ernte hielt, an die ſchwarze Todtenbahre, 
das war nicht immer fo. Ihre Pflege danken wir der kunftfinnigen | auf welcher einer der edeliten und beiten Kaiſer Dentichlande die 
Gattin Kaiſer Friedrichs, welche die Blumen ebenfo lichte, wie | lehte ftumme Huldigung feines treuen Bolfes empfing. 


Die Alyenfee Mic Weite verbegaiken. 


Roman von &, Werner, 
(Fortiehung.) 


Si jenem Bejuche in Heilborn mochte eva eine Woche ver | ingenieur — das macht Dir jo feicht Feiner nach! Am Vertrauen 
gangen fein, als Doktor Neinsfeld wieder den Wen nad) dem | aefagt, Deine Herren Kollegen find wüthend über dieſe Ernennung. 
Wollenſteiner Hofe einichlug; er war aber diesmal nicht allein, | Nimm Dich in Acht, Wolf, Du gerätbit in ein Weſpenneſt!“ 
denn an feiner Seite ging Oberingenienr Elmhorſt. „Glaubſt Dur, daß ich Weſpenſtiche fürchte? Geipürt habe 
„Das hätte ich mir nicht träumen laſſen, Wolfgang, daß | ich fie allerdings fchon. ch babe den Herren bereits Mar ae: 
das Schichſal uns bier zufanmenführen würde,“ fante der junge | macht, da id; nicht gefonnen bin, mir unnöthige Schwierigkeiten 
Arzt heiter. „Als wir uns dor zwei Jahren trennten, haft Du | bereiten zu laſſen, und daß fie in mir den Vorgeſehten zu reſpektiren 
mich veripottet, weil ich in die ‚Wildniß‘ ging, wie Du Dich | haben. Wenn fie den Krieg wollen — id) jchene ihm nicht!” 
auszudrüden beliebteft, und jeht fommft Du ſelbſt hierher.“ „Sa, Du warjt immer eine fampfluftige Natur, ich hielte 
„Um diejer Wildniß die Kultur zu bringen," ergänzte Wolf: es nicht aus, mit meiner Umgebung fortwährend auf dem Kriegs— 
gang. „Du ſcheinſt Dich freilich darin ganz behaglich zu Fühlen; Du | fuße zu leben.” 
baft Did) ja förmlich angeficdelt in dem elenden Alpendorfe, wo „Das glaube ih; Du bift der alte jriedfertige Benno ae 
ich Dich auffpürte, Benno. Ich arbeite hier nur für meins Zukunft.“ | blieben, der feinem ein böſes Wort ſagen konnte und deshalb 
„Nun, ich dächte, Du fünnteft ſchon mit der Gegenwart zus auch ganz folgerichtig von feinen lieben Nebenmenſchen malträtirt 
frieden fein,“ meinte Benno. „Mit jiebenundzwanzig Jahren Ober: | wurde bei jeder Gelegenheit. Wie oft Habe ich es Dir fchon 





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gefagt: damit lommſt Du nicht vorwärts im Leben, und vorwärts 
muß man doch nun einmal!” 

„Bei Dir geht es freilich, mit Siebenmeilenftiefeln vorwärts,“ 
fagle Reinsfelb trocken. „Du biſt ja der erklärte Günftling des 
allmächtigen Präfidenten Nordheim, wie es Heißt. Ach Habe ihn 
kürzlich wiedergefchen, als er auf dem Wolfenfteiner Hofe war.” 

„Wiedergefehen? Kennſt Du ihn denn überhaupt?“ 

„ewig, aus meinen Sinabenjahren. Er und mein Bater 
waren Kugendfreunde und Studiengenoffen; Norbheim kam damals 
faft täglich in unfer Haus — wie oft habe ich auf feinen Hnieen 
gefeffen, wenn ev den Abend bei ums zubrachte!“ 

„In der That? Nun, Du haft ihn doch Hoffentlich daran 
erinnert bei dem Zufammentrefien?“ 

r „Rein, Baron Thurgau nannte überhaupt meinen Namen 
nidt —* 

„Und da haft Du es natürlich auch nicht gethan!“ rief Wolfgang 
fadyend, „Das ficht Dir ähnlich! Der Zufall bringt Dich in Bes 
zichung zu dem einflußreichen Manne, dem es nur ein Wort Foftet, 
Dir irgend eine vorteilhafte Stellung zu eröffnen, und Du nennit 
Dich nicht einmal! Da werde ich das Berfäumte wohl nachhofen 
möüjjen; fobald ich den Präfidenten ſehe, werde ich ihm fagen —“ 

„Ich bitte Dich, Wolf, laß das,” fiel Benno haſtig ein. 
„Es ift beffer, Du vedeft nicht davon.“ 

„Aber warum denn nicht?“ 

„Weil — der Mann iſt fo hoch geſtiegen im Leben; er liebt 
3 vielleicht nicht, an die Zeit erinnert zu werden, wo er noch 
einfacher Sugenieur war.“ 

„Da thuſt Dur ihm unrecht. Er ift ſtolz auf feine einfache 
Herlunſt, wie alle tüchtigen Männer, und er wird die Erinnerung 
an einen Jugendfreund sticht zurückweiſen.“ 

Reinsfeld fchüttelte Teiie den Kopf. 

„sch fürchte, die Erinnerung würde eine peinfiche fein. Es 
iſt jpäter irgend etwas bvorgefallen — was? das habe ich nie 
erfahren; ich war ja noch ein Knabe, aber id} weiß, daß der 
Bruch ein volljtändiger war, Nordheim betrat unſer Haus nicht 
wieder und mein Water vermied es fogar, feinen Namen zu 
nennen; fie hatten jich völlig entzweit.“ 

„Dann fanıft Du allerdings nicht auf fein Wohlwollen 
rechnen,“ jagte Elmhorſt enttäuſcht. „Wie ich den Präfidenten 
fenne, vergiebt er nie eine vermeinte Beleidigung.“ 

„sa, er fol unglaublich hochmüthig und bereichlüchtig ge: 


worben ſein. Mich wundert es nur, daß Du mit ihm austommft. - 


Du liebſt es doch grade nicht, Dich zu bilden.“ 

„Und eben deshalb beaünftige er mich! Das Büden und 
Kriechen überlaſſe ich den Bedientenfeelen, die jich vielleicht irgend 
eine untergeordnete Stellung damit erfchleichen. Wer wirklich empor 
will, der muß den Kopf hoch tragen und den Blick aufwärts ges 
richtet nach feinem Ziele; jonft bleibt er ewig am Boden kleben.“ 

„Run, Du wirft Div wohl auch einige Millionen zum Ziele 
nenommen Haben,“ jpottete Benno. „Du warjt nie befcheiden in 
Deinen Zukunftsplänen. Was willit Du denn eigentlich werben ? 
Etwa and; Bräjident des Berwaltungsrathes?” 

„Vielleicht in Zuklunft — vorläufig nur fein Schwiegerfohn !" 

„Dachte ich es mir doch, daß fo etwas zum Borfchein 
fommen würde!” rief Benno, laut auflachend. „Eigentlich haft 
Du ganz recht, Wolf: warum willſt Du Dir nicht lieber gleich 
die Sonne da oben herunterholen? — Das ift ebenjo Teicht.“ 

„Glaubſt Di, daß ich ſcherze?“ fragte Wolfgang kühl. 

„a, ich bin fo frei, das zu glauben, denn im Ernſte denfit 
Du dod wohl nicht an die Tochter des Mannes, deſſen Reid: 
thum und Erfolge beinahe ſprichwörtlich geworden find. Nordheims 
Erbin wird wohl unter fo umd fo viel Freiherren und Grafen zu 
wählen haben, wenn fie nicht gleichfalls einen Millionär vorzieht.“ 

„Dann fommt es eben darauf an, dieſen Frreiberren und 
Grafen den Rang abjulaufen,“ ſagte der junge Oberingenieur 
mit volltommener Ruhe, „und das denke id} zu thun.” 

Doktor Reinsfeld blich plötzlich ſtehen und fah feinen Freund 
mit einer gewiſſen Beforguik an; er machte fogar eine Bewegung, 
als wolle er nach deilen Puls greifen. 

„Dann bit Du entweder übergeichnappt oder verliebt,” ent 
mennete er Furz und bündig. „Ein Verliebter freilich hält alles 
für möglich, und Div ſcheint der Beſuch in Heilborn verhängniß- 
voll getvorden zu fein. Armer Runge, das ift allerdings eine 
traurige Gefdyichtel” 


44 o- 


Verliebt?“ wiederholte Wolfgang, während ein unendlich 
ipöttifches Lächeln um feine Lippen zudte „Mein, Ben, Du 
weißt, ich Habe nie Zeit und Luft gehabt, mich mit Licbesgebanfen 
abzugeben, und jeßt weniger ala je. — So ſieh mich doch nicht 
fo entießt an, als 0b das ein Hochverrai wäre! Ich gebe Dir 
mein Wort darauf, Alice Nordheim würde es nicht bereuen, wenn 
fie mir die Hand reichte; fie würde an mir den aufmerkjamften 
und rüdjichtsvolliten Gatten haben.” 

„Run, dann nimm es mir nicht übel, wenn ich dieſe ganze 
Berechnung erbärmlich finde,“ brach der junge Arzt heftig aus. 
„Du biſt jung und talentvoll; Du haft eine Stellung errungen, 
um die Dich Hunderte beneiden, die Dich) aller Sorgen enthebt; Die 
ganze Zukunft ſteht Die offen und Du hast nichts im Kopfe, als die 
Jagd nad) einer reichen Fran — Du follteit Dich Ihämen, Wolf!“ 

„Lieber Benno, das veritehit Du nicht,“ erflärte Wolfgang, 
ber den Vorwurf ſehr gelaſſen hinnahm. „Abe Ndealiften be 
nreift es ja überhaupt nicht, dab man mit dem Leben und beit 


Menſchen rechnen muß. Du wirt natürlich aus Liebe heiraihen, 


wirjt im irgend einem Heinen Landftädichen mitbfelig das Brot für 
Frau und Kinder erwerben, vieleicht mit Sorge und Noth ringen 
und endlich klanglos in die Grube fahren, mit dem erhebenden Bes 
wußtiein, daß Du Deinem ‚deal‘ treu geblieben bit. Ich bin 
num einmal anders geartet; ich will alles vom Leben oder nichts.” 

„Nun, dan im des Kuckucks Namen erobere es Dir dur 
eigene Kraft!” rief Benno, der immer Higiger wurde „Bein 
großes Vorbild, Praſident Nordheim, Bat es auch getan.“ 

„Gewiß, aber er hat mehr als zwanzig Jahre dazu gebraudt. 
Wir jteigen auch bier auf der Bergſtraße langſam und mübfelig 
zue Höhe, im Schweiße unjeres Angefichtd. Sich Dir den ges 
flügelten Burſchen da an!“ er wies auf einen mächtigen Raub: 
vogel, der über der Schlucht feine Kreiſe zog. „Den tragen feine 
Schwingen in wenigen Minuten bis zum Gipfel des Wollenſtein. 
Ja, es muß ſchön fein, dort oben zu ftehen, die ganze Welt zu feinen 
Füßen zu jehen und der Sonne nahe zu fein! Ich will nicht damit 
warten, bis ich alt und grau geiworben bin; jet will ich empor 
und, verlaß Dich darauf: ich wage den Flug, Früher oder ſpäler.“ 

Er hatte ſich hoch aufgerichtet; die dunklen Augen bligten, 
und die fchönen Züge fpannten ſich in energiſcher Willenskraft, 
Man glaubte es dem Manne, daß er fähig war, einen Flug zu 
unternehmen, von dem andere nicht einmal zu träumen wagte. 

Da ranfchte es in dem Lärchenwalde, der zur Seite der 
Straße anftieg. In großen Sägen fam Greif von ber Höhe 
berab und begrüßte den jungen Arzt, von dem er wedelnd bie 
gewohnte Liebkojung forderte, Jet wurde oben zwiſchen den 
Bäumen auch feine junge Herrin ſichtbar, die den gleichen Weg 
nahm. Das ging im vollen Lauf über Steine und Baummwurzeln, 
mitten durch das Seftrübp, bis fie endlich mit alühenden Wangen 
unten anlangte. 

Frau von Lasberg wirde troßbem eine gewiſſe Genugthuung 
empfunden haben, wenn fie geſehen hätte, wie die Verbengung 
des Heron Oberingenieurs erwidert wurde, fühl und fremd, ganz 
wie es einer Baroneß Thurgau zufam, und dabei ftreifte ein halb 
veräctlicher Blid die elegante Erjcheinung des jungen Mannes. 

Elmhorſt trug heute einen leichten, bennemen Anzug, ber 
fi einigermaßen der Gebirasiracht näherte und dem jeines 
Freundes ſehr ähnlich war, aber ihm ſtand das ausgezeichnet; er 
ah darin aus wie ein vornehmer Touriſt, der in Begleitung 
feines Führers einen Ausflug macht. Doktor Reinsfeld mit feiner 
nachläjligen Haltung verlor allerdings jehr neben diefer ſchlanlen, 
hochgewachſenen Gejtalt; feine graue Joppe und fein Hut hatten 
inzwiſchen noch einen Regenguß mehr ausachalten, was fie nicht 
arade verfchönte; aber ihn fchien das wenig zu kümmern. Seine 
Augen Teuchteten im heller rende, als er das junge Mädchen 
erblidte, das Fich ihm mit gewohnter Yutraulichleit näherte. 

„Sie wollen zu uns, Herr Doktor, nicht wahr?“ fragte fie. 

„Gewiß, Fränlein Emma,” beftätigte er. „Es ift doch alles 
wohl daheim?“ 

„Papa war heute morgen gar nicht wohl,“ ſagte Erna; 
trotzdem iſt er auf die Jagd gegangen. Ich wollte ihm mit 
Greif entgegen, aber wir haben ibn nicht getroffen, er muß einen 
anderen Rüchweg genommen haben.” 

Sie ſchloß ſich den beiden Herren an, die jeht die Berg: 
ſtraße verliehen und den ziemlich jteilen Weg nad dem Wollen 
fteiner Hofe einfchlugen. Greif ſchien jedoch mit der Anweſenheit 


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des jungen Oberingenieurs durchaus nicht einverſtanden zu ſein; 


15 0 


„Nun, fo wollte ich, die Alpenfee fäme einmal im Sturme 


er begrüßte ihm mit dem üblichen Knurren und wies ihm freund: | hernieder vom Wolkenftein und zeigte Ihnen ihr Antlitz — Sie 


ſchaftlich die Zähne. 
„Was hat denn Greif?“ fragte Reinsfeld verwundert. „Er 
iſt doch ſonſt autmüthig und zutraulich gegen alle Welt.“ 


„Ich Scheine aber in feine allgemeine Menſchenliebe nicht | 


eingeichloffen zu fein,“ fagte Elmhorſt achſelzuckend. „Er bat 
mir ſchon verſchiedene Male eine derartige Kriegserllärung gemacht, 
und feine Gutmäüthigfeit fcheint auch wicht überall Stand zu 


halten; in Heilborn veranlaßte er einen wahren Aufruhr im | 
Fräulein von Thurgau unters | 


Salon des Herrn Präfidenten. 
nahm eine förmliche Heldenthat, um ein Heines Kind zu beruhigen, 
das er in Todesangit gejagt hatte.“ 

„Und Herr Elmhorft gab ſich inzwijchen mit ben ohn— 
mächtigen Damen ab,“ jpottete Erna. „Ich ſah es mod, als ich 
zurüdtam, wie ritterlich er von Alice zu Frau von Lasberg Tief 


N 





und wahre Fluthen von kölniſchem Waſſer über beide ausgoß. | 


D, es war zum Tobdtlachen!“ 

Sie lachte Taut und übermüthig. Wolfgang prefte einen 
Moment die Lippen zufammen und warf einen Schr gereizten Bli auf 
das junge Mädchen, dann aber erwiderte er mit voller Artigkeit: 


Anjpruch, mein gnädiges Fräulein, daß mir nur diefer bejcheidene 
Nitterdienft übrig blieb. Daß ich nicht grade furchtſam bin, 
haben Sie wohl kürzlich am Wolfenftein geſehen, wenn ich auch 
bei meiner völligen Unbelanntfchaft mit Weg und Steg den 
Gipfel nicht erreichte.” 

„Den erreicht Du überhaupt wicht,“ miſchte ſich Reinsfeld 
ein. „Der Gipfel iſt unerſteiglich; ſelbſt die kühnſten Bergfahrer 
machen Halt vor dieſen ſenkrechten Wänden und mehr als einer 
hat den tollfühnen Berjuch mit dem Leben bezahlen müſſen.“ 

„Hiütet die Alpenfee ihren Thron fo eiferfüchtig?* fragte 
Elmhorſt lachend. „Es ſcheint überhaupt eine ſehr emergiiche 
Dame zu ſein, die mit den Lawinen um ſich wirft wie mit 


Scnecbällen und ganz wie die heidniſchen Gottheiten ſich jährlich 
‚ Immer nicht zufrieden; er proteftixte immer Wieder von neuem 
Er blidte nad dem Wolfenftein hinauf, der aud heute | 


jo und jo viele Menſchenopfer ſchlachten läßt.“ 


feinem Namen Rechnung trug: während all die auderen Berge ſich 
in voller Klarheit zeigten, war feine Spitze allein von weißem 
Gewölk umlagert. 


junge Arzt halb unwillig. „Di haft noch feinen Herbft und 


Winter bier durdjlebt und kennſt fie noch nicht, unsere wilde | 


Nipenfee, die jurchtbare Elementargewalt der Alpen, die nur zu 


oft das Leben und die Hütten der armen Gebirgsiente bedroht. | 


Man fürchtet fie nicht umſonſt hier in ihrem Neiche, aber Du 
ſcheinſt ja ſchon ganz vertraut zu fein mit der Sage.” 

„Fräulein von Thurgau hatte die Güte, meine Belanntſchaft 
mit der gejtrengen Dame zu vermitteln,” ſagte Wolfgang. „Freilich 
empfing fie uns jeher ungnädig an ber Schwelle ihres Berg: 
palaſtes — mit einem Hochgewiller, und einer perfönlichen Bor: 
ftellung bin ich überhaupt nicht gewürdigt worden.” 


lommen!“ vief Erna, gereizt durd) den Spott. Elmhorſt lächelte, 
mit einer Ueberlegenheit, die allerdings etwas Verlehendes hatte. 

„Mein anädiges Fräulein, ven mir dürfen Sie feinen 
Neipelt vor den Vergaeiftern verlangen; ich bin ja eigens ge— 
kommen, um den Kampf mit ihnen zu unternehmen. Die Arbeiten 
des neunzehnten Jahrhunderts vertragen ſich nicht mit der Ge— 
ſpenſterfurcht. — Bitte, fehen Sie nicht jo empört aus. Unſere 
Bahnzüge gehen ja nicht über den Woltenftein und Ihre Alpen- 
fee bleibt vorläufig unangefochten anf dem Thron fiten. Aller— 
dings muß fie es von dort mit anfehen, wie wir Beſitz von 
ihrem Reiche nehmen und es im unsere Feſſeln ſchlagen. — Aber 
ich beabfichtige nicht entfernt, Ahnen Ihren findlichen? Glauben 
zu nehmen. Ku Ihrem Alter ijt das noch vollfommen begreiflich.“ 

Er hätte feine jugendliche Gegnerin wicht ſchlimmer veizen 
fönnen, als durch diele Worte, die jie fo vollitändig zu den 
Kindern wieſen; es war das die ſchwerſte Weleidigung, die man 
einem ſechzehnjährigen Fräulein anthun konnte, und fie that auch 
ihre Wirkung. Erna fuhr auf, fo zornig und leidenjchaftlich, als 
habe man gedroht, fie jelbit in Feſſeln zu jchlagen; ihre Augen 


verlangten ficher nicht zum zweiten Male danach!“ 

Damit wandte fie ihm den Nüden und flog, ohne ſich weiter 
um ihm und Neinsfeld zu kümmern, über die Matte hin, Greif 
ihe nad. Schon nad) wenigen Minuten verfchwand die jchlanfe 
Geftalt mit den heut wieder feſſellos wehenden Locken in der Thür 
des Haufes, Wolfgang blieb ftchen und jah ihe nach; das ſpöttiſche 
Lächeln weilte noch auf feinen Lippen, aber feine Stimme hatte 
einen fcharfen Stlang. 

„Was denkt ſich Baron Thurgau eigentlich dabei, wenn er 
feine Tochter jo aufwachfen läßt? Sie ijt ja unmöglich für 
eivilificte Berhältniffe, fie paht höchftens für diefe Bergwildnif.“ 

„sa, wild und frei it fie aufgewacjen, wie eine Alpen: 
roſe!“ ſagte Benno, deſſen Augen ebenfalls an der Thür hingen. 
Elmhorſt wandte fi) bei diefen Worten plöglic um und ſah den 
Freund forfhend an. 

„Du wirft ja förmlich poetifh! Haſt Du vielleicht Feuer 
gefangen ?* 

„Ich?“ fragte Benno überrajcht, faſt beftürzt. „Was fällt 


' Dir ein!" 
„Sie nahmen die Heldenrolle fo entjchieden für fich ſelbſt in 





elwas ausrichten! 
„Du follteft nicht darüber fpotten, Wolfgang,” ſagle ber 





„Rum, ich meinte nur, weil Du in Bildern ſprichſt; das ift 
doch fonft nicht Deine Art. Borläufig ift Deine ‚Alpenroſe‘ nod) 
ein jehr eigenfinniges und ungezogenes Kind, Du wirft fie erit 
erzichen müſſen.“ 

Es Tag nicht etwa eine harmlofe Nederei in den Worten; 
fie hatten einen böhnischen, herben Beigefhmad und verlchten 
offenbar den jungen Arzt, welcher ärgerlid) erwiderte: 

„Zah doch die Poſſen! Sage mir lieber, was Dur eigentlich im 
Wollenſteiner Hofe zu Ihn haft — Du willft den Freiherrn Iprechen ?“ 

„Jawohl, aber unfere Exrörterungen werden nicht grade 
freundjchaftliher Natur fein. Du weißt ja, daß wir die Be- 
ſihung nothiwendig brauchen für unjere Bahnlinie, daß fie uns 
verweigert wurde und wir von unjerem Zwangsrechte Gebrauch 
machen mußten. Der alte Starrlopf da oben aber gab ſich nod) 


und weigerte fi) hartnädig, auf feinem Grund und Boden irgend 
eine Vermeſſung vornehmen zu laſſen. Der Mann bildet fich in 
jeiner Beichränktheit wirklich ein, er fönne mit feinem Nein irgend 
Man iit natürlich über jeine Protefte zur 
Tagesordnung übergegangen, und da der ihm geſtellte Termin 
jeht abaclaufen ift und wir den Befig antreten, werde ich ihm 
ankündigen, daß die Vorarbeiten nun unverzüglich beginnen.“ 
Reinsfeld hatte ſchweigend zugehört, aber feine Miene war ernft 
geworden und feine Stimme verriet eine gewille Beſorgniß, als er 
fagte: „Wolf, ich bitte Dich, geh nicht wieder mit Deiner getvohnten 


‚ Rüdjichtslofigfeit zu Werke. Der Freiherr ift wirklich nicht ganz 


aurechnungsfähig in dieſem Punlte. Ach habe mir ja auch oft genug 
Mühe gegeben, ihn zu Überzeugen, dab fein Sträuben umfonit 
it, aber er Hat fich formlich verrannt in den Gedanken, niemand 
könne und dürfe ihm feinen alten Exrbhof nehmen. Er hängt mit 


‚ Jeder Faſer feines Herzens daran, und wenn er ihn wirklich her: 
„Hüten Sie ſich nur davor, das möchte Ihnen theuer zu ftehen 


iprühten, und während der Heine Fuß heftig den Boden ftampfte, | 


brach jie im vollen Kindertrotze ans; 


; Jagdbeute, 


geben muß — id) fürdhte, das gebt ihm ans Leben.“ 

„Warum nicht gar! Er wird fich fügen, wie alle unver: 
münftigen Menschen, jobald fie die unbedingte Nothwendigkeit 
fchen. Ach werde allerdings rüdjichtsvoll fein, da es ſich um 
den Schwager des Präſidenten handelt; ſonſt hätte ich überhaupt 
nicht fo viel Umftände mit ihm gemacht, fondern ihm einfach die 
Angenienre in das Hans gejchidt. Aber Nordheim wünſcht, daß 
die Sache in möglichit fchonender Weije erledigt werde, und 
deshalb habe ich fie persönlich übernommen.“ 

„Es wird eine Scone geben,” meinte Benno, „Baron 
Thurgau iſt der beſte Mensch von der Welt, aber unglaublich 
jähzornig und leidenſchaftlich, wenn er jich in feinen vermeint- 
lien Rechten gekränkt alaubt, Du keunſt ihm noch nicht.“ 

„Doc, ic) habe die Ehre, ihm umd feine Urwüchſigkeit zu 
fennen. Er gab mir ſchon in Heilborn verjchiedene Proben davon, 
und ic bin heute nun vollends auf die möglichſte Grobheit gefaßt. 
Aber Du haſt aanz recht; der Mann iſt unzurechnungsfähig in 
erniten Dingen, und darnach werde ich ihn behandeln.“ 

Sie hatten jeht das Haus erreicht und traten ein. Thurgau 
war in der That jochen erſt zurüdgelommen; jeine Flinte laq 
noch auf dem Tiſche und daneben zwei Steinhühner, feine heutige 
Ema mochte ihn wohl ſchon von dem bevorjtehenden 


— — 


Beſuche unterrichtet haben, denn er zeigte keine Ueberraſchung 
beim Anblid des jungen Oberingenieurs. 
„Run, Doktor,” rief er lachend Neinsfeld entgegen. „Sie 





436 


„Auf Ihrem Grund und Boden? Aber die Befigung ift ja 
gar nicht mehr Ihr Eigenthum,* ſagte Elmborft ruhig. „Die Gefell- 
ſchaft hat fie Schon vor Monaten ertvorben und ebenjo lange liegt der 


fommen gerade vecht, um zu fehen, wie ungehorfam ic) geweien | Raufpreis für Sie bereit. Das iſt ja alles längſt abgemadht.“ 


bin. Da liegen die Verräter!" Ex wies auf feine Flinte und 
die Jagdbeute. 

„Das zeigt mir jchen Ihr Ausſehen,“ entgegnete Reinsfeld mit 
einem Blick in das dunlelrothe, erhitzte Geſicht des Hausheren. 
„Und noch dazu waren Sie heute morgen unwohl, wie id) höre.“ 
Er wollte nad) dem Puls greifen, aber Thurgan entzog ihm die Hand. 

„Das hat Zeit, wir können jpäter davon reden; Sie bringen 
uns ja einen Gaſt mit.“ 

„Ich Habe mir allerdings erlaubt, Sie aufzuſuchen, Herr 
von Thurgau,“ ſagte Wolfgang nähertretend, „und wenn id) nicht 
unmwilltommen bin —“ 

„Als Menſch find Sie mir willlommen, als Oberingenieur 
nicht,“ erklärte der Freiherr in feiner derben Weiſe. „Ich freue 
mich, Sie zu Sehen, aber fein Wort von Ihrer verwünſchten Eiſen⸗ 
bahn — das bitte ich mir aus, ſonſt werfe ich Sie troß aller 
Gaftfreundichaft zur Thür hinaus. So, nun machen Sie es fid) 
bequem im Woltenfteiner Hofe!” 

Er jchob- ihm einen Stuhl Hin und nahm felbjt feinen nes 
wohnten Play ein. Elmhorſt ſah gleich in der erften Minute, wie 
ſchwer ihm feine Miffion gemacht wurde; er empfand überhaupt die 
NRüdjicht, welche die Berhältniife ihm auferlegten, als eine läftige 
Feſſel; aber fie mußte doch nun einmal genommen werden, und 
fo ſchlug er vorläufig den Ton des Scherzes an. 

„Ich weil bereits, weld) einen grimmigen Feind unfer Werk an 
Ihnen hat. Mein Amt ijt die ſchlechteſte Empfehlung, mit der ich 
mich bei Ihnen einführen fonnte; ich Habe mid, deshalb auch nicht 
allein hergetwagt, ſondern meinen Freund zum Schuge mitgenommen.“ 

„Doltor Reinsſeld ift Ahr Freund?“ fragte Thurgau, in 
defjen Achtung der junge Beamte plötzlich zu jteigen fchien. 

„Mein Augendfreund; wir haben uns jhon in der Schule 
zufammengefunden und fpäter an demfelben Orte jtudirt, wenn 
auch in verichiedenen Berufszweigen. Ich habe Benno ſchleunigſt 
aufgeſucht, als ich hierherlam, und denfe, wir werden auch jet 
gute Kameraden bleiben.“ 

„Da, wir leblen hier fehr gemüthlich, fo Lange wir unter 
ung waren,” bemerkte der Freiherr anzüglid. „As Sie mit 
Ihrer verdammten Eifenbahn famen, fing der Merger an, und 
wenn das Gepfeiſe und Gefaufe da drüben erſt losgeht, wird es 
wohl ganz aus jein mit der Ruhe und Behaglichkeit.” 

Papa, jegt Üübertrittjt Du felbft Dein Verbot und fprichit von 
der Eisenbahn,” rief Erna lachend. „Aber nun müſſen Sie mit mir 
kommen, Here Doktor! Ich muß Ahnen zeigen, was mir meine 
Konjine Alice aus Heilbern geihidt hat, es ift fo allerlichft!” 

Mit dem Eifer und Ungeſtüm eines Kindes, das nicht die 


Zeit erwarten faun, feine Herrlichfeiten zu zeigen, zog fie den | 


jungen Arzt in das Nebenzimmer und gab damit dem Herrn 
Dberingeniene von neuem Gelegenheit, ſich über ihre Erziehung 


oder vielmehr Erziehungslofigfeit zu ärgern — cr war in diefem | 
Punkte durchaus eimverjtanden mit Frau von Lasberg. Weld | 
j jteiner Hof,” fante er ernſt, „und die Wälder wurzeln noch feiter 


eine Art, mit einem jungen Manne umzugehen, und wenn er 
zehnmal der Arzt und Hausfreund war! 

Benno warf einen bejorgten Blid auf die beiden Zurüch 
bleibenden, als er folgte; er wußte, was jeht zur Sprache kommen 
mußte, aber er verlieh fich auf das diplomatische Talent feines 
Freundes, und itberdies blieb die Thür offen. Wenn der Sturm 


gar zu heftig wurde, konnte man im Nothfall dazwiichen treten. | 
Schluchten, und was uns im Wege fteht, das muf; nieder. 


„Ja wohl, man kommt nicht los von der Geſchichte,“ 
brummte der Freiherr, und Elmhorſt, der jegt endlich zur Sache 
fommen wollte, fnüpfte fofort an diefe Worte an. 

„Sie haben ganz vet, Herr Baron; man fommt immer 
wieder darauf zurüd, und auf die Gefahr hin, dab Sie Ihre 
Drohung wahr machen und mich wirklich zur Thür hinauswerfen, 
muß ich mich Ahnen jeht als Bevollmächtigten der Bahngefell- 
ſchaft vorjtellen, der Ihnen eine Mittheilung zu machen Hat. Die 
Bermejlungen und Vorarbeiten auf dem Wollenfteiner Hofe können 
unmöglic Länger aufgeihoben werden, und die Angenicnre werden 
in den nächſten Tagen damit beginnen.“ 

„Das werden fie bleiben laſſen!“ fuhr Thurgau zornig auf. 
„Wie oft joll ich es denn noch jagen: ich leide nicht, daß der: 
gleichen auf meinem Grund und Boden vorgenommen wird!“ 








„Nichts iſt abgemacht!“ ſchrie der Freiherr, deflen Gereiztheit 
fid) fteigerte. „Denten Sie etwa, id) werde mid) um Urtheile 
kümmern, die jedem Recht Hohn ſprechen und die Ihre Geſell— 
ichaft Gott weiß wie erfchlichen hat? Denken Sie, id) werde von 
Haus und Hof achen, um Ihren Lokomotiven Pla zu machen? 
Keinen Schritt weiche ich, und wenn —“ j 

„Bitte, regen Sie fid) nicht fo auf, Herr von Thurgau,“ 
fiel Wolfgang ein. „Es ift ja vorläufig gar feine Rede davon, 
Sie zu vertreiben; nur die nothivendigiten Borarbeiten follen in 
Angriff genommen werben; das Haus felbit bleibt zu Ihrer un: 
befchränlten Verfügung bis zum nächſten Frühjahr.” 

„Sehr gütig!* lachte Thurgau bitter. „Alſo bis zum nächften 
Frühjahr! Und was dann?“ 

„Tann muß es allerdings fallen.“ 

Der Freiherr wollte von neuem auffahren, aber es lag etwas 


‚ in diefer kühlen Gelaffenheit, was ihn wider Willen zur Mäßigung 


zwang. Er machte werigitens den Verſuch, ſich zu beherrſchen; 
aber jein Geficht färbte fich noch dunkler, und fein Athem ging 
kurz und heftig, als er im berbjten Tone ſagte: 

„Das fcheint Ahnen wohl ganz ſelbſtverſtändlich? Freilich, 
was wiſſen Sie davon, wie man an feinem Erbe hängt! Sie find 
ja auch aus dem Feitalter des Dampfes wie mein Schwager, Der 
baut ſich drei, vier Paläſte, einen immer kojtbarer als den andern, 
aber heimisch ift er in feinem. Heute bewohnt, morgen verkauft 
ex fie, wie ihn gerade die Laune anmwandelt. — Der Wolfenjteiner 
Hof iſt feit zwei Jahrhunderten bei den Thurgaus und foll es 
bfeiben, bis der letzte Thurgau die Augen fchlieht, darauf —“ 

Er brach mitten in der Mede ab und hielt ſich, wie von 
einem plöglihen Schwindel ergriffen, am Tiſche feſt; doch das 
dauerte nur einige Selunden; wie zornig über die ungewohnte 
Schwäche, ſchüttelte er fie ab und richtete fich wieder empor, 
während er mit fteigender Bitterfeit fortſuhr: 

„Alles audere haben wir verloren; wir verjianden es cben 
nicht, zu ſparen und zu ſchachern, und da ijt eines ums andere 
bingegangen! Aber das alte Neit, wo die Wiege unferes Haufes 
ftand, das hat Feiner hergeaeben, das haben wir fejtgehalten in 
Sturm und Noth und Unglüd. Lieber hätten wir gedarbt und 
gehungert, als davon gnelafien, Und nun kommt Ihre Eiienbahn 
und will mein Haus dem Boden gleich machen, will Hundert: 
jährige Rechte zerreigen und mir nehmen, was von Gottes und 
Rechtswegen mein it? Sie foll es nur verfuchen! Ich fage 
Nein und nochmals Nein — das ift mein lebte Wort!“ 

Er fah in der That aus, als wolle er dies Recht auf Leben 
und Tod vertheidigen, und cin anderer hätte dem leidenſchaft 
lichen Manne gegenüber wohl geſchwiegen vder die Auseinander— 
feßung verschoben. Wolfgang dachte nicht daranz er Hatte fich 
num einmal vorgenommen, die Sache zu Ende zu bringen, und 
ging unbeirrt feinen Weg. 

"Die Berge da draußen ftehen noch länger als der Wollen— 


im Boden, als Sie in Ihrer Heimatb, und doch müſſen fie 
weichen. ch fürdte, Herr von Thurgau, Sie haben feine Vor— 
ftellung davon, welch ein Rieſenwerk unser Unternehmen it, mit 
welcen Meitteln es arbeitet und was für Hinderniſſe es über: 
winden muß. Wir graben uns mitten durch die Felſen und 
Wälder, zwingen die Ströme in ihrem Lauf, überbrüden die 
Wir 
nehmen den Kampf mit den Elementen auf und bleiben Sieger 
darin — fragen Sie ſich ſelbſt, ob da der Wille eines Einzelnen 
uns Halt gebieten lann?“ 

Es folgte eine ſekundenlange Pauſe. Thurgau aab keine 
Antwort; fein wilder Jähzorn ſchien ſich zu brechen an der ums 
erjchütterlicen Ruhe dieſes Gegners, der im rüdjichtsvolliter 
Haltung vor ihm ftand und jtreng den Ton der Höflichkeit feft- 
hielt. Aber die Have Stimme hatte einen eiſernen, unerbittlichen 
Klang, und der Blid, der fo jet und Falt auf den Freiherrn ge: 
richtet war, ſchien dieſen förmlich zu bannen. Er war biäher 
jeder Vorftellung, jedem Zureden unzugänglich geweſen; mit der 
aanzen Hartnädigkeit feines Charakters hatte ex ſich an fein ver: 
meintliches Recht geklammert, das in feinen Angen fo unerjchittertic) 


BEraTT 
7 * 


war wie die Berge ſelbſt. Jetzt zum erſten Male kam ihm eine 
Ahnung, daß fein Trotz gebrochen werden könne, daß er unter: 


o 


felbjt an die Berge legte. Gr ftühte fich wieder ſchwer auf 
den Tifch und rang nad) Athem; es war, als verfagte ihm die 
Sprache. 

„Sie dürfen überzeugt ſein, daß wir mit aller nur mög: 

lichen Rüdjicht zu Werte gehen,“ nahm Wolfgang wieder das Wort. 

„Die Borarbeiten, die wir zumächft in Angriff nehmen, werden 
Sie faum jtören, und während des Winters bleiben Sie über- 
haupt ganz unbehelligt; erſt mit dem Frühjahr beginnt der eigent- 
liche Bau, und dann allerdings —* 

"Muß ich weichen, meinen Sie?" ergänzte Thurgau mit 
beiferer Stimme. 

„sa, Sie müſſen, Herr Baron!“ ſagte Elmhöorſt kalt. 

Das verhängnifvolle Wort, deſſen Wahrheit er gleichwohl 
empfand, vaubte dem Freiheren den lebten Reſt feiner Faſſung; 
er bäumte ſich dagegen auf mit einer Seftigfeit, die etwas Er: 
fchredendes Hatte und wirklich an feiner Zurechnungsfähigkeit 
zweifeln lieh. 

„Ich will aber nicht — will nicht, Sage ich Euch!” ſtieß er 
außer jich hervor. „Und wenn Euch Felfen und Wälder weichen, 
ich gehe nicht aus dem Wege. Aber mehmt Euch in Acht mit 
unferen Bergen, die Ihr jo hochmüthig zwingen wollt, daß fie 
nicht herabftürzen und all Eure Bauten und Brüden wie Splitter 
entzweibrechen. Ich wollte, ich könnte dabei ftehen und es mit 


anfehen, wie das ganze verfluchte Werk in Trümmer geht; ich 


wollte —“ 

Er vollendete nicht, Sondern griff zufammenzudend mit beiden 
Händen mach feiner Bruſt, das Ichte Wort erjtarb in einem 
dumpfen Stöhnen, und dann ftürzte die mächtige Geftalt wie vom 
Blige getroffen zu Boden. 

„Um Gotteswillen!“ vief Doktor Reinsfeld, der ſchon während 
der letzten ſtürmiſchen Scene in der Thür des Nebenzimmers er- 
ſchienen war und jebt berbeieilte. Aber Emma war ihm bereits 
zuvorgefommen ; fie erreichte den Vater zuerjt und warf fich mit 
einem Schredensrufe bei ihm nieber. 

„Aengſtigen Sie ſich nicht, Fräulein Erna!“ jagte der junge 
Arzt, fie fanft zuräddrängend, während er mit Elmhorſts Hilfe 
den Bewußtlofen aufhob und auf das Sofa legte. „ES ift eine 
Ohnmacht — ein Schwindelanfall, wie ihn der Herr Baron Schon 
vor einigen Wochen gehabt hat — er wird ſich auch diesmal 
erholen.” 

Das junge Mädchen war ihnen gefolgt und ftand jet da 
mit lrampfhaft verfchlungenen Händen, die Augen ſtarr auf das 
Gheficht des Sprechenden gerichtet; fie mochte wohl etwas darin 
lefen, was den tröftenden Worten widerſprach. 

„Nein, nein!“ ſtieß ſie angitvoll hervor. 
mich, das ift etwas anderes. Er ftirbt, ich jche es! — Papa, 
Papa, ich bin es! Kennſt Du Deine Erna wicht mehr?” 

Benno antwortete nicht, ſondern vi den Rod des Krauken 
auf; Elmhorſt wollte ihm dabei Hilfe leiſten; aber Erna ſtieß mit 
furchtbarer Heftigfeit feine Hand zurüd. 

„Rühren Sie ihn nicht an!” rief fie mit Halb erftidter 
Stimme „Sie haben ihm den Tod gebracht, mit Ahnen it 
das Berderben in unfer Haus gefommen! Fort von ihm! ch 
leide nicht, daf Sie auch nur feine Hand anrühren!“ 


Dom Nordpol Bis zum Aequator. 


| 


437 





o 


Wolfgang wich unwillkürlich zurück und blickte betroffen, ſaſt 


| erſchreckt auf das Mädchen, das in dieſem Wugenblid fein Kind 
liegen müfle im Kampfe mit einer Macht, die ihre eiferne Hand | mehr tar. 


Sie hatte ſich vor den Vater geworfen mit weit 
ausgebreiteten Armen, als müſſe ſie ihn ſchützen und vertheidigen, 
und ihre Augen flammten in fo wilden, grenzenloſem Haſſe, als 
jei es ein Todfeind, der da vor ihr ftehe. 

„Geh', Wolfgang!“ ſagte Reinsfeld leife, indem er ihn fort: 
309. „Das arme Kind ift ungerecht in feinem Schmerze md 
Du kannſt überhaupt nicht bleiben. Es ift möglich, dak der 
Baron noch einmal zur Belinnung kommt — dann darf er ge— 


rade Dich nicht fehen.“ 


„Noch einmal?“ 
alfo —— ?“ 

„Das Schlimmfte! Geh’ und ſchicke mir die alte Vroni zur 
Hilfe, fie wird wohl irgendwo im Haufe zu finden fein. Warte 
draußen, ich bringe Dir fobald als möglich Nachricht.” 

Er drängte mit diefen nur geflüfterten Worten den Freund 
nad der Thür. Wolfgang kam ſchweigend der Weiſung nad: 
er jchidte die alte Magd, die er im Hausilur traf, in das 
Simmer und trat dann ins Freie, aber auf feiner Stim lag 
eine Anftere Wolfe. Wer konnte auch einen ſolchen Ausgang 
ahnen! — 

Eine Biertelftunde mochte vergangen fein, da erichien Benno 
Neinsfeld. Er war jchr blaf, und feine jonjt jo Haren Mugen 
hatten einen feuchten Schimmer. 

„Nun?“ fragte Wolfgang baltig- 

„Es it vorüber!“ entgegnete der junge Arzt halblaut. 


wiederholte Elmhorſt. „Du fürchteſt 


Ein 


| Schlaganfall, der unbedingt tödlidh war — ich ſah es im der 


„Sie täuichen 


eriten Minute.“ 

Wolfgang ſchien eine ſolche Nachricht doch nicht erwartet zu 
haben; feine Lippen zudten, als er in gepreßtem Tune fagte: 

„Die Sadye ift mir furchtbar peinlich, Benno, wenn ich auch 
feine Schuld an dem unfeligen Zufall trage! Ich bin mit aller 
Rüdfiht zu Werke gegangen. Aber wir werden den Präftdenten 
benachrichtigen müfjen.“ 

„Gewiß, er iſt der einzige nähere Rerwandte, To viel ich 
weiß. Ich bleibe inzwiichen bei dem armen Minde, das ganz 
faſſungslos iſt. Willſt Du es übernehmen, einen Boten nad) 
Heilborn zu Tchiden ?“ 

„Ich fahre ſelbſt hinüber umd bringe Nordheim die Nach— 
richt. 


Geb’ wohl!” 

„Leb' wohl,” fagte Benno einfilbig und kehrte in das 
Haus zurüd. Wolfgang wandte jich zum Geben, hielt aber plötzlich 
inne und trat dann langjam an das Fenſter, das zur Sälite 
offen jtand. 

Drinnen im Zimmer lag Erna auf den Knieen und hielt 
mit beiden Armen die Leiche des Waters umklammert. Der 
Teidenfchaftlihe Wann aber, der noch vor einer Viertelſtunde bier 
in voller Lebenskraft geftanden und fich jo trotzig aufgebäumt 
hatte gegen eine unabwendbare Nothwendigkeit, lag jetzt ſtill und 
vegungsios ausgeitredt; er vernahm nicht mehr das verzweillungs 
volle Weinen feines verwaijten Kindes. Das Schidfal hatte feine 
Worte zur Wahrheit gemadıt: der Wolfenfteiner Hof blieb bei 
dem alten Geſchlechte, deſſen Wiege er geweſen war, bis der feßte 
Thurgau die Augen geſchloſſen hatte fir immer. 

(Fortiegung folgt.) 


Hadtrud verboten 
Aue Redite vertchalten. 


Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. 
@ine KNeiſe nadı Sibirien, 
Schluß.) 


chen vor Barnaul hatten wir den Ob erreicht, bei Barnaul ihn 

überichritten; in Tomst ſchifften wir uns ein, um ihn zu 
befahren. 2600 Wert, fait 400 geographiſche Meiten, ſchwammen 
wir, nachdem wir durch den Tom in ihn aelangt, abwärts — 
auf diefem Niefenftrome, welcher ein größeres Stromgebiet bejitt 
ale alle Ströme Wejtenropas zufammengenommen, mehr und 
mehr dem Norden uns mähernd; vier Tage und Nächte trug uns 
das Tampfichiff, welches mit den zum höchſten Waſſerſtande ans 


1588 


geſchwollenen Fluten faſt doppelt fo ſchnell als ſtromaufwäris cilte, 
dem Eismecre zu; elf volle Tage und Nächte brauchten wir, um die 
Strede von der Einmündung des Irtiſch bis zum Ausfluſſe der 
Schtſchutichja zurüdzulegen, obaleih wir nur in Samarowo und 
Bereſoff einige Stunden raſteten und die beiden Tage, welche 
wir in Cbdorst, dem letzten rufſſiſchen Dorſe am Strome, ver 
beachten, im jener Rechnung nicht eingeichloffen find. Gemaltig, 
überaus großartig iſt dieſer Strom, So einförmig, jo öde er auch 


3% 


—öo 


genannt werben mag. In einem Thale, deſſen Breite von zehn 
bis dreißig Kilometern wechſelt, ftrömt er dahin, mit unzähligen 
Armen zahlloſe Inſeln umfchliegend, zu oft unabjehbaren fecartigen | 
Flächen fich breitend, nahe jeiner Mündung bis zu durchſchnittlich 
28 Meter Höhe das Bette feines meilenbreiten Hauptarınes 


438° 


| 


füllend. Kaum durch Lichtungen unterbrochene Urwälder, bis in | 


deren Innerſtes noch nicht einmal der eingeborene Menſch vor: 
gedrungen, befleiden das Gelände feiner wirklichen Ufer; Weide: 
waldungen in allen Zujtänden des Wacsthums diefer Baumart 
deden die ewig durch die umgeftaltenden Fluthen benagten, ihnen 
verfallenden und von ihnen wiederum men aufgebauten Inſeln. 


diefe Wälder, liederlicher auch die Dörfer, je weiter man jtrom- 
abwärts kommt, obgleich der Strom, je näher feiner Mündung, 
defto reichlicher fpendet, was das arme Land verfagt. Schon bald 


Umfichtig, erſt nad) fangen Berathungen unter uns und mit 
den Eingeborenen wurden die Vorbereitungen bewerfitelligt, ſorg⸗ 
fältig die Falten abgetvogen, welche jeder auf feinen Rüden laden 
follte; denn drohend ſtand das Geſpenſt des Hungers bor uns. 
Wohl wuhten wir, daf nur der Wanderhirt, nicht aber der Jãger 
im Stande iſt, ſein Leben zu friſten in der Tundra; wohl 


lannten wir erfahrungsmäßig alle die Mühjfeligfeiten, welche 


der pfadloſe Wen, die Qualen, welche das Heer der Miüden 
bereitet, die Wettertvendigfeit des Himmels, die Unwirthlichkeit 
der Tundra überhaupt, und trafen danach unsere Vorkehrungen; 


gegen das aber, was wir micht kannten, nicht ahnen fonnten 
Aermer und ärmer wird das Land, ärmer und dürftiger werden | 


wer Toms, unterhalb Tobolst, Lohnt die Erde die Arbeit des | 


aderbautreibenden Menſchen nicht mehr; weiter abwärts hört auch 
die Viehzucht allmählich auf, aber reiche Beute gewährt hier der 
von unſchäßbaren Heeren köſtlicher Fiſche mwimmelnde Strom, 
reiche Jagdbeute auch der Urwald längs ſeiner beiden Ufer. An 
Stelle des Bauern tritt der Fiſcher und Jäger, 
Bichzüchters der Nenthierhirt. Seltener und jeltner werden die 
ruſſiſchen Anfiedelungen, häufiger die Wohnfige der Oſtjalen, bis 
endlich nur noch die beweglichen, fegelförmigen Birkenrindenhütten, 
bier „Tſchum“ genannt, und dazwiſchen höchftens überaus ärmliche 
Blodhänfer, die zeitweiligen Wohnfige der ruffiichen Fiſcher, von 
dem Dajein des Menſchen Runde geben. 

Wir hatten beichloffen, and) eine Tundra oder Moosjteppe 
zu durchwandern, und deshalb das zwiſchen dem Ob und dem 
Karischen Meerbnien gelegene Land der Samojedenhalbinjel ins 
Auge aefaft, um fo mehr, als in dieiem von Europäern kaum 
noch betretenen Theile der großen, als breiter, baumlofer Gürtel 
um den Pol fich ſchlingenden Wüſtenei aud eine für den Handel 
wichtige Frage zu löjen war. Behufs diefer Reife mietheten wir 
in Obdorst und weiter unten am Strome mehrere Leute, Rufen, 
Syranen, Dftjafen und Samojeden, und traten am 15. Juli unfere 
Fahrt au. 

Auf den nördlichen Höhen des Ural, welcher bier als wirt: 
liches Gebirge, feinem Gepräge nad) fogar ala Hochgebirge, ſich zeigt, 
entipringen nabe bei einander drei Flüſſe, 
Betichora, die Bodarata, welche dem Kariſchen Meerbuien, und 
die Schtichutichja, welche dem Ob zuitrömt Das Gebiet der Icht- 
genannten beiden war es, welches wir bereiien wollten. Wie 
das Land befchaffen fei, wie es uns ergehen wirde, ob wir auf 
Renthiere hoffen dürften oder den Weg zu Fuß zurüdiegen müßten, 
wußte uns niemand zu jagen. 

Bis zur Mündung der Schtſchutſchija reisten wir nod in ge 


an Stelle des 


und was uns dennoc betraf, ums vorzujehen, ibm vorzubeugen, 
war unmöglich. Umfehren wollten wir nicht; hätten wir vor— 
ausfehen fünmen, was uns beacanen follte, wir hätten es doch 
wohl gethan. 

In kurze Pelze achüllt, ſchwer belajtet, außer dem durch ae 
wichtigen Schießbedarf beſchwerten Ruckſack noch Gewehr und 
Reiſetãſchchen über der Schulter, bradien wir am 29, Juli auf, 
unser Boot der Obhut zweier Leute überlaffend. Mühſelig, keuchend 
unter der unſerem Rüden aufgebürdeten Laſt, ununterbrochen, 
Tag und Nacht gequält von den Müden, Schritten wir durch 
die Tundra, nad ftündiger, balbitündiger Wanderung, zuleht 


"nach je tauſend Schritten Ruhe heiichend und wegen der Mlüden 


kaum fie findend. Zahlloſe Hügel überitiegen, ebenfo viele Thäler 
überfchritten, kaum weniger Sümpfe, Moräfte und Brüche durch— 
wateten wir; am hundert namenlofen Seen gingen wir vorüber: 
Bäche und Flüßchen mußten wir kreuzen. Unfreundlicher, als 
es geihah, konnte die Tundra uns wicht wohl empfangen. Feinen 
Negen peitichte der Wind uns ins Geſicht; in den durdmähten 
Pelzen legten wir uns auf dem regengetränften Boden nieder, 
ohne Obdach über, ohne wärmendes Feuer neben uns, auch jeßt 
noch immer unabfäfjig gequält von den Müden. Doc die Sonne 
trodnete Die leider wieder, brachte neuen Muth und nene Kraft: 
es ging vorwärts. Cine freudige Nachricht jtärkt mehr als Sonne 
und Schlaf: unſere Leute entdeden zwei Tſchums; unfere Fern: 
gläfer zeigen uns deutlich, fie umgebende Renthiere. Beglüdt 
im innerften Herzen, ſehen wir uns beveit$ behaglich hingeſtreckt 
auf das einzige und allein mögliche Gefährt, den Schlitten, fehen 


wir vor und das dieſen Schlitten raſch bewegende abſonderliche 


die Üſſa, welche ber | 


Hirſchgeſpann. Wir erreichen die Tſchums, die Renthiere — 
ein grauenvofler Anblick verleßt das Auge. Alnter der ge: 
weibeten Herde wüthet der Milzbrand, die fürchterlichfte, auch 
für Menſchen gefährlichſte aller Viehſeuchen, der unerbittlichite, 
ohne Wahl und ohme Gnade vernichtende Todesengel, deſſen 


' verderbenbringendem Würgen der Menſch ohnmächtig gegenüber: 


wohnter Weite, bei jeder oftjakifhen Anſiedelung unſere gemietheten | 


Ruderer ablohnend und neue annehmend; auf der Schtſchutſchja 
felbft traten unsere eigenen Leute in Thätigteit. Acht Tage lang 
fuhren wie langjam dem Fluſſ e entgegen, jeder ſeiner zahlloſen 
Schlangenwindungen getreulich folgend, 
eintönigen, ja ertödtend langweiligen Tundra dahin, bald dem 
Ural uns nähernd, bald wieder von ihm uns entfernend. Acht 
Tage fang fahen wir feinen Menfchen, jondern nur die Spuren 
desfelben, feine auf Schlitten gepadten, für den Winter nöthigen 
Schäte und feine Grabjtätten. Unwegſame Sümpfe zu beiden 
Seiten des Fluſſes hemmien jeden weiteren Ausflug, Milliarden 
biutgieriger Müden quälten uns unabläſſig. Am fiebenten Tage 
der Fahrt jahen wir einen Hund — für ung wie für unjere Leute 


das vor uns liegende Land Auskunft geben konnte. Ihn nahmen 
wir als Führer mit, und mit ihm traten wir drei Tage fpäter 
eine Wanderung an, welche ebenfo befchwerlic wie gefährlich 
werben follte. 

Neun volle Tagereifen von uns entfernt, auf dem Weide: 
platze Saddabei im Ural, follten ſich Renthiere befinden: an der 
Schtichutfchja war zur Beit Fein einziges aufzutreiben. Es blicd 


uns daher nichts anderes übrig, als die Meile zu Fuß zu be 


ninnen und alle Beichwerlicjkeiten und Unannchmlichleiten einer 
ſolchen Wanderung durch ein unwegſames, nahrungslofes, müden- 
erfülltes, menfchenfeindliches und — was das ſchlimmſte — un: 
befanntes Gebiet auf uns zu nehmen. 


| Leichen, auf 
immer in der überaus | 


fteht, welcher hier zu Sande Völlerſchaften verarmen macht und 
unter den Menſchen ebenjo unvettbar Opfer fordert wie unter 
den Thieren. 

Schsundfiebzig todte Nenthiere zähle ich in unmittelbarer 
Nähe der Tihums; wohin das Auge ſich wendet, trifft es auf 
efallene, in den letzten Zucungen Tiegende Hirſche, 
Thiere und Kälber. Andere kommen, den Tod im Herzen, zu 
den bereits zur Abfahrt gerüſteten Schlitten berbeigelaufen, als 
hofften fie in der Nähe der Menſchen Hilfe und Rettung zu finden, 
laſſen ſich von hier nicht vertreiben, bfeiden mit glogenden Augen 
und über einander gefreuzten Borderläufen eine, zwei Minuten 
fang jtehen, wanfen hin und ber, ftöhnen und fallen um; weißer, 
blajiger Schaum tritt ihnen vor Maul und Naſe — noch einige 
Zudungen und ein Leichnam mehr liegt am Boden. Säugende 


| Mutterthiere mit ihren Kälbern trennen ſich von der Herde; die 
ein Ereignig; am achten Tage trafen wir auf einen bewohnten | 
Thum und in ihm den einzigen Menfchen, weldyer uns über | 


Mütter verenden unter gleichen Erſcheinungen; die Kälber be 
trachten neugierig und verwundert Die abfonderfich ſich gebärdenden 
Mütter oder äfen fich unbejorat neben dem Sterbelager ihrer 
Erzeugerinnen, lehren dann zu ihnen zurüd, finden anjtatt der 
liebevollen Ernährerin einen Leichnam, beſchnuppern dieſen, prallen 
erſchredt zurück, eilen weg, irren blöfend umber, beriechen 
diefes Altthier, nähern ſich jenem, werden von allen vertrieben, 
blöken und fuchen weiter, bis fie finden, was fie nicht gefucht: 
den Tod durch einen Pfeilſchuß von der Hand ihres Beſitzers, 
welcher wenigftens ihr Fell zu retten ſucht. Der Tod hauſt 
unter den alten wie unter den jungen Nenthieven mit gleicher 
Unerbittlichfeit; die jtärkiten, jtattlichiten Hirſche verfallen dem 
Würgengel ebenfo fiher wie die Sprößlinge ihres und des anderen 
Geſchlechtes. 





—. 439 ⸗— 


Zwiſchen den ſterbenden und verendeten Thieren aber wandeln | 
und haften die Menjchen, der Herdenbeſiher Schungei und feine | 


Angehörigen und Knechte, um in finnlofer Gier zu retten, was 
ſich irgend retten läßt. 

Obwohl wicht unfundig der furdhtbaren Gefahr, welcher fie 
fi) ausjegen, wenn auch nur der geringfte Theil eines Bluts- 


tropfen, ein Stäubchen bes blafigen Schaumes mit ihrem Blute 


ſich vermijcht, obſchon vertraut mit der Thatſache, daß bereits 
Hunderte ihres Volkes unter entieplichen Schmerzen der unbeil- 


baren Seuche erlegen, arbeiten fie dody mit allen Kräften, um | 


die vergifteten Thiere zu entfellen. Gin Beilfchlag endet die 
Qualen der jterbenden Hirſche, ein Pfeilſchuß das Leben der 
Kälber und einige Minuten fpäter Liegt das Fell, welches noch 
nad) Wochen anftedend wirken kann, bei den übrigen, tauchen bie 
blutigen Hände den vom Leibe der Kälber losgelöſten Biſſen in 
das in der Brufthöhle des erlegten Thieres ſich jammelnde Blut, 
um ihm roh zu verichlingen. Schindersknechten gleichen die 
Männer, ſcheußlichen Seren die Frauen, im Aaſe wihlenden, | 
biutbeichmierten, bluttriefenden Hyänen die einen wie die andern; | 
achtlos des über ihrem Haupte ſchwebenden, nicht an einem Roß— 
haar, jondern an einer Spinnwebe aufgehängten, toddrohenden | 
Schwertes, zerren und wühlen fie weiter, unterftügt ſogar jchon 
durch ihre Kinder, vom halberwachſenen Knaben an bis zu dem | 
wie jie bluttriefenden, kaum dem Säuglingsalter entwachlenen 
aan herab. 

Die Tihums werden verrückt und auf einen benachbarten 
Hügel wieder aufgefchlagen; die unglüdliche Herde, welche, zwei- 
taufend Köpfe ſtark, vom Ural aufgebrodyen und auf zwei— 
hundert zuſammengeſchmolzen ijt, welche die ganze von ihr be- 
Schrittene Strafe durch gefallene Thiere bezeichnet Hatte, ſammelt 
fihh von neuem um die Tſchums; am anderen Morgen aber 
liegen wiederum vierzig Leichname in der Nähe des nächtlichen 
Ruheplahzes. 


Bir lannten die Gefahr, welche das milzbrandige Thier 


auch dem Menſchen bereiten kann; aber wir kannten ſie doch 
nicht in ihrem ganzen, grauſenerregenden Umfange. Deshalb 


fauften wir neun dem Anſchein nad noch gefunde Menthiere, | 


beipannten mit ihnen drei Schlitten, beluden diefelben mit unjerem 


Gepäck und zogen, nebenher jchreitend, erleichtert weiter Mens 


thierfleiſch zu genießen, wie wir gehofft, worauf wir gerechnet, 
verbot die furdtbare Seuche; jorgender und ängſtlicher ſpähten 
twir daher von jet am in die Munde, um Kleinwild ausfindig | 
zu maden, ein Morafthuhn, 
tegenpfeifer, eine Ente zu erlegen. 
viel al& möglich jchonend, hockten wir, falls die geringjte aller 
Dianen dienenden Nymphen uns bold gewejen war, um das 
mühjam genährte Feuer, je männiglih ein jo unbebeutendes Ge: 
wild am Spieße bratend, fo qut e8 eben gehen wollte. Wirklich 


zu ſättigen aber vermochten wir uns nicht mehr. .| 


Wir erreichten, nachdem wir die von Sehungei gezogene 
Todesitraße gefreuzt, das erfte Ziel, die Bodarata; wir hatten 
das unnennbare Glück, noch einmal Tihums aufzufinden, mod) 


einmal auf Nenthiere zu ftoßen; wir zogen mit deren Hilfe 


dem Meere zu und mußten umkehren, ohne unjeren Fuß auf 
den Strand aefegt zu Haben. Bor uns lag nicht allein ein 
unmegfamer Moraft, jondern twiederum ein unabfehbarer Haufen 
von Kentbierleihen; wir fanden noch einmal vor der Strafe, 
auf welcher Sehungei heimwärts geflüchtet war, und unser 
neuer Belannter, der Hirt Sanza, wagte nicht, diefe Straße zu 
kreuzen. 

Denn auch unter jeiner Herde mähete der Schnitter Tod; 
auch fein und, noch ungleich mehr, feines Nachbarhirten Haus 
hatte das Berderben heimgejudht. Der Mann, welder bisher 
mit ihm getvandert, geweidet, hatte von einem milzkranken feiſten 
Renthierhirſche gegeſſen, welchen er fur; vor dem Tode noch 
raſch geſchlachtet, und er Hatte diefen Frevel mit dem eigenen 
und dem Leben feiner Familienglieder zahlen müſſen. 
hatte Hirt Sanza feinen Tſchum verrüdt und dreimal je ein Grab 
zwiſchen den Leichen der gefallenen Nenthiere gegraben. Zuerſt 
waren zivei Kinder, dann der Knecht des Teichtfinnigen Mannes, 
am dritten Tage er felbjt geftorben und begraben worden. Ein 


Kind war noch Frank und ftöhnte unter entfeglichen Schmerzen, | 


eine Doppelichnepfe, einen Gold: | 
Unfere geringen Worräthe fo | 


Dreimal | 


ala wir die Reife nad dem Meere antraten. Sein Stöhnen war 
verjtummt, als wir zurüdfehrten zum Tſchum; denn das vierte 
' Grab Hatte inzwiſchen das fünfte Opfer aufgenommen. Und 
noch jollte es nicht das Ichte fein. 
Einer unſerer Lente, der Oftjafe Habt, ein williger, immer 
heiterer, uns lieb und wwertb gewordener Mann, Hagte und 
wand jich feit vorgeftern unter entjeglichen, mehr und mehr fich 
fteigernden Schmerzen, Hagte namentlich auch über zunchmendes 
Kältegefühl. Wir Hatten ihn auf einen Menthierichlitten gelagert, 
als wir dem Tſchum des Hirten zugewandert waren; wir jchafften 
‚ ihn in derfelben Weife fort, als der Tſchum zum fünften Male 
berrücdt wurde. Unter und zwiſchen uns lag er Magend und 
wimmernd am Feuer. Bon Zeit zu Zeit erhob cr fich, entblöfte 
feinen Leib und lieh die Wärme des Feuers dagegen ftrahlen. 
Ebenfo brachte er feine erftarrenden Füße negen die Flammen — 
daß diefe die Sohlen verfengten, fehien er nicht zu achten. Endlich 
fchliefen wir ein, er wohl auch: als wir jedoch am andern Morgen 
erwachten, war jeine Nuheftätte leer, Draußen aber vor dem 

Tſchum, an einen Schlitten gelehnt, das Antlig der Sonne zu: 
| gekehrt, deren wärmende Strahlen er gefucht, ſaß er ruhig und 
fill, ohme zu ftöhnen oder zu ächzen. Hadt war tobt. 

Wir begruben ihn wenige Stunden fpäter nah Sitte und 
Gebraud feines Volkes. Er war ein chrlider „Heide“ geweſen 
und follte deshalb aud) nad) heidnifcher Weife bejtattet werden. 

Unfere „rechtgläubigen* Begleiter weigerten fich, dies zu thun; 
unfere „heidniſchen“ Gefährten verrichteten daher das zwar nicht 
chriſtliche, aber doch menjchenwürdige Werk nur mit unferer Hilfe. 
Im fünften Grabe lag das jechste Opfer. 

Sollte das Grab das Tehte geweſen fein? Unwillkürlich 

| legte ich mir dieſe Frage vor; denn unheimlich wurde es mir 
und wohl uns allen in diefem Gbeleite des Todes. Zu unferem 
Glücke war Hadts Grab das letzte auf diefem Wege. 

| Ernſt, ſehr ernſt geftimmt, bedrängt auch durch den immer 

fühlbarer werdenden Mangel zogen wir weiter, der Schtſchutſchja 

‚ wiederum entgegen. Sanza ernährte nothdürftig unfere Leute, 

unsere Jagdkunſt in Färglicher Weile uns felber. Als es uns 
gelang, an einem einzigen WVormittage eine Familie von Gänfen 
zu erbeuten und dazu noch Hühner und Schnepfen und Regen- 
pfeifer zu erlegen, feierten wir ein Feſt; denn wir waren einmal 

im Stande zu efien, ohne mit den Biſſen zu fargen. Ohne die 

| Hilfe unſeres Wirthes aber würde es uns doch faum möglic) 
gewefen fein, uns durchzuhelfen. 

Wir erreichten die Schtihutihja; wir langten, von allen 
Vorräthen fajt entblößt, wiederum auf unjerem Boote an und 
ſchwelgien bier mac) vierzehn Tagen zum erften Male wieder in 
‚ zwar jehr beicheidenen, für uns jedoch unſchatzbaren. tangentbehrten 
' Genüffen. Bon der Tundra nahmen wir Abſchied für immer. 
Ein Schamane freilich, welchen wir weiter oben am Ob 
mit Fiſchen beichäftigt fanden und baten, uns eine Probe feiner 
Kunſt und Weisheit abzulegen, verkündete ung, nachdem er durch 
den dumpfen Klang feiner Trommel Jamaul, den ihm befreundeten 
Boten der Götter, herbeigerufen, als Botſchaft der Himmliſchen, 
daß wir ſchon im nädhiten Jahre wiederum in das umwirthliche 
Land, welches wir foeben verlajfen, zurüdfcehren, dann aber dahin 
ums wenden wirden, two Schtihutiche, Bodarata und Uſſa ihren 
Lauf begonnen; denn zwei Kaiſer würden uns belohnen, unſere 
„Aelteften“ mit unferen Schriften zufrieden fein umd uns von 
neuem ausfenden. Auf diefer_ Reife aber werde fernerhin kein 
weiterer Unfall uns treffen. So habe jich der Götterbote, nur 
ihm vernchmbar, geäußert. Der letzle Theil feiner Weiſſagung 
iſt eingetroffen. 

Langſam zwar, aber ohne Unfall oder jtörende Zwiſchen 
fälle fuhren wir 23 Tage lang den Ob aufwärts, drei Tage 
mit einem mad) langem Harren glüdlich erreichten Dampfichiffe 
den Wellen des Irtiſch entgegen. Ohne Unfall, wenn auch wicht 
ohne Hemmuiſſe, überichritten wie den Ural; raſch glitten wir im 
bequemen Dampfer die Kama hinab; Tangfamer trug uns das 
Schiff die Wolga hinauf. In Niſchni Nowgorod, in Moskau, 
in Petersburg wurden wir freundlicd empfangen wie das cerite 
Mal, in der Heimath freudig begrüßt. Unſere „Weltejten“ 
ſcheinen auch mit unjeren Schriften zufrieden zu fein — zur Tundra 
zurüd aber ziehen wir, ziehe ich wenigitens nicht wieder. 








a 





—o 


Das Eulenbaus. 


440 


Aahtrug verboten 
Ale Mechte vorbehalten, 


Hinterlaffener Roman von G. Aarlitt. Dollendet von WM. Heimburg. 
Schluß.) 


laudine aina wie im Traume nadı dem fogenannten Arbeits | 
zimmer dev Herzogin; es war ein Meines, zu halber Höhe | 


mit koſtbarer Holztäfelung verfchenes Gemach; antike, gold— 
bedruckte Ledertapeten beHeideten die Wände; Bücherſchräule und 
em Schreibtiſch aus dunklem Eichenholz, ſchwere Vorhänge 
und Teppiche, und die Büſten von Goethe, Shakeſpeare und 
Byron bildeten die Einrichtung. Es war faſt dunkel hier an 
dieſem grauen Tage. Durch eine der Thüren, deren Vorhang 
halb zurücgenommen war, ſah man in den Wintergarten, und 


dort ftand in dem vollen Tageslichte, das durch die Glas— 
wände hereinſtrömte, Lothar; er Hatte den Müden hierher ges | 


wendet und betrachtete ſcheinbar mit Intereſſe einen Strauch 
blühender gelber Nofen. 


Unwillkürlich trat Claudine zurüd in den Schatten der | 


hohen Bücherichränte Sie jah ihm nicht mehr: fie wollte und 
fonnte ihm jet micht begegnen. Mit furdytbarem Herzklopfen 
Ichnte fie in dem jchügenden Winkel; fie twollte den Ring nicht, 
der ihr als eine Gabe des Mitleids erſchien; wußte fie doch, daß 
er ihn zurüdgab, weil er fein Wort nicht brechen wollte, und 
fie — durfte, fonnte ihn micht behalten. Und plöglich blickte fie 
ſich um, ob fie nicht entfliehen könne, denn fie vernabm die harte 
Stimme der Prinzeß Thea. 

„Nun, Baron,“ fragte diefe, „alio endlich ficht man Sie? 
Wiſſen Sie, daß ich Ahnen ganz böje bin? Sie find jeit 
geftern hier und haben jich im rothen Schlößchen noch mich 
bliden laſſen!“ 

„Es iſt unrecht, Durchlaucht, allerdings! 
hier jo vielerlei zu thun, und außerdem — man macht doch nicht 
gerade Beſuche an feinem Hochzeitstage.“ 

„Hochzeitstagꝰ“ ſchrillte lachend die alte Dame. „Ich finde, 
Sie wählen die Zeit zu Ihren Scherzen vecht eigenthümlich — 
die Herzogin todtfranf! Wirklih, Lothar, Sie find jeht zuweilen 
ſehr jonderbar; willen Sie, daß Ihre Hoheit noch heute jterben 
kann ?* 

„Ah, Durchlaucht nehmen an, ich erlaubte mir einen un 
paſſenden Scherz? Nichts würde mir ferner liegen. Ich ſelbſt 
bin überrajcht worden durch die Nachricht; indeh, die Herzogin 
wünſcht, daß unier Bund noch heute aejchlofien wird — wenn 
meine Braut einwilligt, natürlich.” 

„Meinen Glückwunſch, Baron! — Weshalb follie Ihre 
Braut nicht eimvilligen?“ Hang es ſpöttiſch; „Sie willigte doch 
fo raſch in die Verlobung, und naturgemäß pflegt dieſer doch 
die Hochzeit zu folgen. Sonderbare Laune übrigens von Ihrer 
Hoheit!“ 

„Sonderbar? Hit es fo fonderbar, wenn Hoheit, noch che 
fie jterben, das Glück zweier Menſchen, To zu jagen, in den 


fiheren Hafen flüchten möchte, aus allen Nänten und Schlichen 


hinaus, denen es preisgegeben ift, jo lange fie nicht verbunden 


find? Ich geftehe, ich Finde es fo eigenthümlich nicht; ich nehme | 


danfbar dieje ‚jonderbare Laune an.” 

„Sie waren doch ſonſt nicht fo Schubbebürftig, Gerold; 
jeit wann fühlen Sie ſich jo ſchwach? Sie wuhten doch meine 
Einwilligung zu ertrogen, ala ich Ahnen die Hand meiner 
Tochter verweigerte? Seit wann überhaupt fürchten Sie bas 
Recht des Stärkeren — jagen wir das Recht des Mächtigeren, 
oder —“ 

„Ich fürchte feinen ehrlichen Feind,“ erwiderte er laugſam, 
und feine Worte hatten eine vernichtende Schärfe, „Durchlaucht 
willen ohne Zweifel aus der Fabel schen, daß der Löwe immer 
aroßmüthig it; ihm fürchte ich nicht ale Gegner, ich fürchte die 
Scylangen, die da umbemerkt jich beranjchleichen und Unschuldige 
beipripen mit ihrem Gifte Ach kann die, weldıe meine Gattin 
werden foll, nicht vor boshafter Verleumdung ſchützen, bevor fie 
wicht wirklich mein Weib geworden, denn ich kämpfe bier mit 
ungleichen Waffen. Mir ijt, trotz meines jahrelangen Hoflebens, 
die Intrigue ein unbefanntes Terrain geblieben; man fünnte ebenso 
ant von mir verlangen, ich follte eine alte aſſyriſche Keilſchrift 
fließend vorleſen und überfegen. Und, Durchlaucht, ich fürchte, ich 
würde es nie lernen, auch wicht durch das hervorragendſte Beifpiel,“ 


Sch fand aber 


Recht beanſpruche, Leoniens Erziehung zu leiten, 


Aber die Prinzeſſin schien nicht verftanden zu haben. „Oder,“ 
wiederholte fie, unbeirrt in ihrer Rede fortiahrend, „ängjtigen Sie 
ſich, daß Sie der Treue Ihrer Braut erit dann ficher fein werben, 
wenn Sie diejelds, jo zu ſagen, hinter dem Riegel des Gelübdes 
wiſſen * 

„Durchlaucht haben zum Theil recht,“ erwiderte er höflich. 
„Ich ängſtige mich indeß nicht um die Treue und Feſtigkeit 
meiner Braut; ich ängſtige mich, weil ich noch nicht weiß, vb 
meine Braut mir verziehen hat, daß ich mich mit der Dreiftigfeit der 
Angſt an ihrem Wege aufitellte, um ihr das ‚Na gleichſam ab» 
zuzwingen.“ 

Die alte Prinzeß lachte kurz auf. „Dean könnte auf die 
entjetliche Idee kommen, cher baron, daß, falls Ihr Fräulein 
Braut nicht verzeiht, Sie ſich das Leben nehmen oder jonit eiivas 
Schreckliches thun werden.“ 

„Das Leben nehmen? Nein! Denn ich Habe ein Kind, 
dem mein Leben gehört; aber ein unglüdlicher einfamer Mann 
würde ich fein, Durchlaucht, denn ich liebe meine Braut!” 

Claudine war hervorgetreten; fie that ein paar Schritte nad) 
jener Thür zu, dann blieb fie fichen. Sie fah die Prinzeſſin 
dort in dem ſchwarzen feidenen Belzmantel; fie ſah, wie die Fächer: 
palme über ihrem Sammethute leife ſchwankte und wie das gelb— 
liche magere Antlitz von der Nöthe unliebiamer Ueberraſchung fich 
färbte. — Sie mußte ſich fefthalten an dem gefchnigten Löwen— 
kopf des Bücherſchrankes, denn die Stimme der alten Durchlaucht 
‚ fagte in unbefchreiblich verächtlichem Tone: 

„Daß Sie diefe Dame lieben, Baron, iſt mir noch feine 
Gewähr für die Charaktereigenſchaften derjenigen, welde die 
Stiefmutter meiner Enfelin werden Toll.” 

„Durchlaucht,“ erwiderte er fchneidend, „wollen vermuthlich 

noch einmal von mir hören, daß ich für mich ganz allein das 
Auf welce 
Weife dies geſchieht? Nun, ich übernehme mit Freuden die Ver— 
antwortung! Diejenige, welche Mutter des Kindes fein wird, iſt 
in meinen Mugen das edelite, das beite, das jelbftlojejte Weſen 
der Erde! Niemals find auc nur ihre Gedanken von dem Pfade 
abgewichen, den Sitte und Ehre dem Weibe vorzeichnen, nie, das 
weiß ich. Meine Braut mag in ihrer Liebe für die kranke Freundin 
vergejien haben, daß tauiend hämifche neidiiche Zungen bemüht 
waren, an ihrem Thun und Laſſen zu deuteln und zu drehen; in 
meimem Herzen jteht fie darım nur höher. Vor den Augen 
der Welt die Ehrbare zu jbielen, das ift fehr leicht, Durchlaucht; 
aber allein, geftügt auf den Muth eines quten Gewiſſens, der 
- Welt zu troßen, die uns vernichten möchte — fejt zu bleiben in dem, 
was man fiir Hecht erfannt, und doc zu wijjen, man wird falſch 
beurtheilt — fejt zu bleiben, indem man unter allen Umjtänden die 
Pflicht erfüllt, die man aus ehrlicher Zuneigung übernahm, und 
‚ wäre es auch nur die von bielen angezweifelte Pflicht der Freund: 
ichaft, dazu gehört Scelenreinheit und ein ftarker Gharalter, 
Eigenschaften, die ich bis jetzt vergeblih in —” 

„Lothar!“ ſchrie Glaudine auf. Wor ihren Mugen ſchwankte 
' das Kuppelgewölbe von Glas: es war, als ob der Boden, auf 
dem fie ftand, zu wogen beginne Dann fühlte fie ſich umfaßt, 

und „Glaudine!“ ſcholl es in ihr Ohr. 

„Sei nicht jo hart,” flüfterte fie, „ſei nicht jo Hart! Er ift 
jo ſchwer, der Gedanke, andere grollend zu willen, wenn das 
Glück jo allmächtig auf uns bereinbricht!” 

Sie waren allein. Sie ſah ihn jeht am mit ihren blauen, 
in Thränen ſchimmernden Aigen. „Nein Wort,” jagte fie und 
legte ihm die Heine Hand auf den Mund, „kein Wort, Lothar — 
jet iſt's nicht Zeit, glücklich zu fein. Sch weiß genug und — 
dort drüben ſitzt der Tod,“ 

„Aber Du wirjt dem Wunſche der Sterbenden nicht wider 
ſprechen?“ bat er demütbig. 

Ich werde nicht widerſprechen.“ 

„Und wir fahren beim in unser ftilles Neuhaus, Claudine?“ 

„Rein,“ erwiderte fie bejtimmt, „o nein! Ich gehe nicht 

von ihr, die fo schwer um mich gelitten, fo fange fie am Leben iſt. 
Ich fürchte mich nicht mehr, denn ich weiß jet, daß Du und ich 





Aaiſer Friedrid auf dem Paradedett in der Jaspisgaferie des Schlofes Frledrihskron, 
Driginalzeihnung von F. Wittig. 





o 


zuſammen gehören für immer, daß Du mir vertrauft und an mich 
alaubit, immer, ohne Wanfen. Und Du Du reifeit indeh; noch 
einmal gebe ich Dir Urlaub; und dann, wenn Tu zurücklehrſt, 
term mein Herz fich wieder freuen Tann, wenn ich alanbe, das 
Recht zu haben, glücklich zu ſein — dann werde ich zu Die 
kommen.“ 

In den Gemächern der Herzogin hatte gegen Abend eine 
Trauung ſtattgeſunden. Sie wußten es alle im Schloß, von der 
Leinenſchließerin in der netten Manſardenwohnung bis zu dem 
Küdenjungen, der dort im Souterrain auf feine künftige Lauf 
bahn ſich vorbereitete. Man wuhte, daß gleich nach der Trauung 
der junge Ehemann abgereit war und daß Frau Glandine 
vor Gerolb ihren Platz am Krankenbetle der Herzogin ein 
genommen hatte. 

Tie bobe Frau befand ſich Fehr ſchwach heute Abend. Bei 
der Geremonie war fie zugegen geweſen; fie ſelbſt hatte mit 
zitternden Händen ben Brautichleier über das ſchöne blonde Haupt 
des Mädihens aelegt. Seine Dobeit, die Herzogin Mutter und 
Fran von Katzenſtein waren die andern Trauzeugen geweſen. 
Rod im Bellen der Herrſchaflen hatte das junge Paar Abichied 
bon einander qenonmmen. 

Und nun ſaß neben Glaudine am Fußende des Himmel— 
bettes eine kleine zierliche Geitalt, und beibe hatlen verweinte 
Mugen. Die Herzogin war nach der Trauungsfeiertidikeit ohn 
mächtig geworden, und der Medizinalrath hatte ich zum Herzog 
begeben und ihn flüſternd vorbereitet auf das Unabweisliche. 

Es wollte zu Ende gehen, 

Ta draußen waren Die Schneewollen zerriſſen, und Die 
Sterne bitten berab auf die winiertiche Erde. Iu den Sims 
mern der Bringen fehlen bie Amvel auf ſchlummerude blonde 
Kopfſchen; Nie ahnten nichts, Sonft wachte alles in dieſer 
Nacht. Die Lichter des Schloſſes flimmerten hinaus in die 
Schneelandſchaft, und dort unten in den Häuſern der Stadi betete 
man fie die allzeit hilfbereite freundliche Herrin, die auf ihrem 
Sterbobette Ina. 

Im Borzimmer ging der Herzog auf und ab: zuweilen 
warf er einen Blick in das Schlafgemac feiner Blenahlin. Dann 
hörte ex eine leiſe Stimme: 

„Adalbert, iſt Clandine Fort?” - 
rüdte aeränichlos am die Zeite Des Beltes. 
fragte die Kranfe. 

Laſi mich bei Dir bleiben, Eliſabeth,“ bat Clandine: „Gerold 
bat noch fo Verſchiedenes zu ordnen, bevor ich nach Neuhaus 
fonmten Fam.“ 

Die Herzogin lächelte ſchwach. 

„Du veritchft ja nicht zu lügen, Claudine; ich weiß, wes 
halb Dar bliebſt! Armes Kind, welch traurige Hochzeit! — Huf 
Adalbert!“ ſtieß fie Damm hervor; „it Helene da?” 

Die Priuzeß Tamm. Dicht neben einander ſtanden Claudine 
und ſie. 

„Gebt Euch die Hand,“ bat die Herzogin. 

Prinzen Delene faßte die Hand der jungen Fra. 
Sie mie!” ſagte fie leiſe weinend. 

„Und nun ruft Adalbert!” forderte die Kranle. 

Er lam, fehte ſich auf den Hand ihres Bettes, und fie drüdte 
ihm ſtumm die Dände bei jenen heißen Bitten um Berzeihung. 

„Wenn ich Teben Fönmte, Dich zu bröften, mein armer 
Freund!“ jläiterte fie. „Es iſt fo ſchwer, entſagen zu müſſen, 
ich weiß; es. Aber — Ste liebten fich mim einmal, und Du, Tu 
geht fo leer aus, fo Teer! Ach, wenn es in meinen Macht ge 
jtanden hätte, wie glücklich ſollteſt Du werden!” 

„Sprich wicht ſo,“ ſagte er, „Ich werde nur unglüdlich, 
mein Lieſel, wenn Dar mich verläßt!“ 

„Sag' noch einmal mein Lieſelt,“ bat ſie nud ſah ihn 
an, und Die fait erloſchenen Augen flammten noc einmal in dent 
alten innigen Liebesſchein. 

„Mein Lieſel!“ flüſterte er mit verſagender Stimme., 

Sie drückte feine Hanud. 

„Nun geh‘, Adalbert, ich will fchlafen, ich bin jo müde 
Küſſe die Kinder — geh'!“ dränugte fir, 

Und ſie ſchlief. 

Die junge Frau ſaß treu wachend an ihren Lager, Nur 
einmal war cs, als legie ſich minutenlang eine zwingende Müdig: 


Und die junge Frau 
„Du bit noch da?" 


„Bergeben 


42 


o> 


feit auf ihre Mugen: klaum eine Minnte mochte es gewährt haben, 
da raffte fie Ach auf, von einem Schauer erwedt. Die Herzogin 
lag fo feltfam ruhig da, ein Lächeln auf den Lippen, die Hände 
gefaltet. 

Claudine fohte ihre Hand. 
und faul, 

Sie hörte es nicht mehr. 

Auch Die Prinzeſſin trat mäber und ſank ſchluchzend vor 
dem Bette nieder. Und der Herzog kam und der Arzt, die alte 
Hofdame 

Es war fo fill, fo beängſtigend ſtill in dem hellen vrächtigen 
Nam, 

Dann aingen fie alle; nur der Herzog und Glandine blieben 
zuräd, Sie fahen am Bette der Todten, und durch die geöffneten 
Fenster des Nebenzimmers ichollen die tiefen Klänge der Kirchen 
aloden herein, Die an dieſem Falten dunklen Wintermorgen dem 
Lande verfündigten, daß femme Fürſtin Tchlafe, den langen ewigen 
Schlaf, 

So bielten ſie Todtenwache, die beiden, 
Menfichen geweſen. 


Euiſabeth!“ Tante ſie angjtvoll 


die ihr die liebſten 


Im Garten des Eulenbhauſes blühten Leberblümchen, und 
gelbe, blaue und weiße Croens lugten ans der ſchwarzen rrüklings 
erde hervor. Der alte Heinemann ſchaffte emſig an ſeinen Roſen 
ſtöcken, nahm ihnen die Winterbülle und band fie an die friſch 
aeitrichenen grünen Piähle Die Some hatte über Mittag ſchon 
heiß auf Die alten Grabſteine geſchienen, und die jungen Blättchen 
vegten und dehnten ſich, ſie jehnten ſich nach Luft und Yicht. 

Ter alte Mann war doppelt fleißig Beute; er hatte um 
Urlaub gebeten für morgen: er wollte nach Altenstern hinunter, 
jur Hochzeit feiner Enlelin, die ihren alten Schatz beiratkete. ' 

Hinter den blipblanfen Fenſterſcheiben tauchte Fräulein 
Linbenmeners Trenndliches Geſicht auf; zuweilen twandte ſie vedend 
den Kopf in das immer zurück; dert ftand die Heine runde 
Ida und legte Wäſche. Die Ida war wieder hier, auf Verlangen 
der jungen Frau von Gerold, weil dieſe doch über kurz oder 
lang nadı Neuhaus überfiedeln wollte Wann? Ja, das wußte 
niemand, Der Herr Baron war mod immer auf Reifen, und 
feine junge Gattin trug noch diefe Trauer mm die Herzogin. 

Merkwürdig, was heute dieſe ſchmalen Frauenfüße für eine 
Umajt entwidelten. Die anädige Fran war im ganzen Haufe 
umbergejtiegen mit dem Happernden Schlüffelbund, hatte in alle 
Schränle und Spinden geſchaut, des Herrn Wäſcheſchrank inſpicirt 
und die Garderobe des Kindes; ſie hatte das Wirthſchaftsbuch 
nachgerechnet und die Heine Haushaltungstaffe. Nun ſchüttelte jie 
über ſich jelbjt und ihre Unruhe den Kopf; ſie begriff ſich heute 
wicht; ſie hatte weder die nöthige Sammlung, zu ſchreiben, noch 
tonnte ſie ſich heute entichtiehen, ihr Feierſtündchen am Klavier 
zu halten, worauf ſie ſich ſonſt den ganzen Tag ſchon freute. Sie 
meinte endlich, es fer am beſten, wenn ſie einen Spaziergang 
mache Da fie ohnehin feit mehreren Tagen Beate und Die 
Meine in Neuhaus nicht gefeben, beichloß fie dorthin zu wandern; 
vielleicht yonfte Beate auch Näheres über Lothars Reiſepläne; 
feine Tepten Nachrichten hatten fe aus Mailand empfangen. 

Ste hatten ſich nicht geichrieben, Clandine und er; die junge 
Frau wollte es nicht. „Wir können uns ja mündlich alles er 
zählen,“ hatte fie qebeten, „es iſt das ſoviel Schöner; ich erfahre 
ja von Beate, ob Du geſund biſt und wo Du weilſt.“ 

Zie band ſich den Mantel um, ſchlug das Spikentuch uber 
den Kopf und ging hinauf, um Jdachim „Wien!“ zu jagen. 

„Wo willſt Du hin?“ fraate er. 

„Au Beate, Joachim.“ 

Er war anfacjtanden und ſah fie liebevoll au. „Wie bald 
wird Die Zeit lommen, wo Dur ganz fort achit!" ante er. 

„Ich komme mie bei dem Bedanfen, daß ich Dich eines 
Tages verlafen werde, ſchon ganz Ireulos vor.“ 

„O mein Liebling, Du ahmst nicht, wie froh ich bin, Dich 
glüdlih zu wilten!“ Und er begleitete ſie hinunter bis zur 
Gartenpforte. „Willſt Du allein achen?” 

„sch fürchte mich wicht, Joachim.“ Sie drängte ihn zurid 
und ning fill daven. Es jenlte ſich ſchon die Dammerung über 
die Bäume; die Wollen zogen raſch dort oben am Himmel; aber 
ber Wind, der jie trieb, war find und weich, und er wehte den 


| 








— Hs 


Schleier zurüd von der weißen Stirn der jungen Frau und Drei Jahre jind vergangen. Im Sludir zimmer Joachim 
bengte die knoſpenden Aeſte zu einander; er fuhr über das junge | von Gerolds ſitzt Frau Beate, in der Dämmerung eines Winters 
Gras am Wegesrand und erzählte von kommender Herrlichkeit, : abends und plaudert mit ihrem Gatten. 

bon Blüthenpracht und Sonnenglanz Mit eiligen Schritten kam | „Bo ift Etifabeth 2“ fragte, er. 

fie daher, jo ſchwebend und leicht, als habe fie Flügel. Sie jah „ber, Schatz, Du wirjt immer erſtreuleit Wo ſoll ſie 
bald in die Wellen des Baches, der ihr zur Seite rauſchte, das wohl ein? An Neuhaus natürlich. Sie kann doch nicht leben 
fegte Schneewaſſer von den Bergen führend, bald in die Wolfen ohne ihre Tante Claudine; fie bettelt jo lange, bis ich fie hinunter: 
hinauf, und Lächeln und Eenft gingen in beftändigem Wechſel ſchicke mit Heinemann. Es fei jo ichön in ber Neuhäuſer finder: 
über ihr Geſicht. Es war ihr jo eigen zu Muthe, und cinmal | ftube, und jo etwas Süfes, wie Klaudinens Baby, gäbe es nicht 
jagte fie halblaut: „Wenn er ſchon da wäre?“ weiter. — Sie muß übrigens bald zurüdtommen.“ — 

Am Eingang des Neuhäuſer Parkes blieb fie ftehen; in der „Halt Du die Zeitung heute geleſen?“ fragte fie dann. 
Lindenallee ranfcıte der Wind duch die Aeſte und das Schloß „Nein? — Nun, da hajt Du viel verfäumt. Höre zu, Joachim, 
lag fo ſtill und fo dunkel. Einen Augenbfid wollte mädchenhafte ich will Dir erzählen: alſo, erſtlich jtcht da, daß das Gerücht 
Schen ihre Füße lähmen; berzflopfend und evglühend Ichute ſie von der Verlobung unjeres Herzogs mit Prinzeß Helene immer 
an dem Sandfteinpfeiler und wagte nicht, den Fuß in den Garten | mehr Glaubwürdigkeit gewinne. Ich Fände es übrigens ganz 
zu jegen. Wieder fam es wie Ahnung über fie: „Wenn er jchon | pafiend, Joachim, denn in der Kleinen itedt neben aller Launen— 
hier wäre?“ Noch hatte niemand fie geichen, das war qut! Sie | haftigfeit ein aquter Stern. Sie hat damals in Cannes jo rührend 
meinte plöglich, fie müſſe umlehren. die Herzogin gepflegt, und gegen Glaudine ijt fie jeitdem doch 

Dann drüdte fie ſich angſtlich zur Seite; die Allee entlaug wahrhaft erfinderiſch im Freundlichkeiten; fie möchte alles gut— 
fam ein Reiter in raſcheſtem Trabe. Sie erlannte ihm frog der . machen. Ach bin überzeugt, daß es feine Paſſionsheirath fein 
tiefen Dämmerung, fie wußte, wohin er reiten wiirde — und ein würde, denn ich vermuthe, fie bat Lothar noch wicht vergeſſen; fie 
unausſprechliches Glüdsgefühl bemächtigte fih ihrer. Aber er | Heirathet aber den Herzog, weil fie glaubt, eine Bilicht zu erfüllen.” 
durjte fie nicht ſehen. Dann ſchrie fie leicht auf; der Jagdbund, „sch will es auch Sr. Hoheit wünschen,“ ſagte Joachim 
der in tollen Sprüngen das Pferd umkreiſte, hatte ſie erfannt und behaglich, „es iſt furchtbar öde, ein Leben ohne ein Paar freund: 
ſtürmte auf ſie zu. Im nämlichen Augeublick ſtand das Pferd; ſein liche Augen und eine weiche Frauenhand.“ Und er griff nach 
Neiter warf ſich aus dem Sattel und hielt die junge Frau umfaſſt. Beatens Rechten und küßle fie. 

„Endlich!” ſagte er. „Und Du bift hiev — hab’ Dank!” | Frau Bente lacht; es ijt das frische ſilberne Lachen, das ihn 

Sie konnte nicht antworten, fie weinte nur. Und als fie einſt bethörte; jenes furze harte Yachen hat fie verdernt, Er 
langſam dem Haufe zufcwitten, da ſagte jie endlich: „Ich Habe | begreift überhaupt gar nicht, wie er fie mit ihrem Tinderquten 
gefühlt, daß Dur hier biſt. Wann famft Du, Lothar?" Herzen jemals al? „barbariich“ bezeichnen konnte. Er hat cs ihr 

„Bor einer Biertelftunde, mein Yieb.“ aber einmal geftanden, und da hat fie erit recht gelacht und ges 

„Wo wollteſt Du cben hin?” fragte fie, und ein ſchelmiſches ſagt: „Ich fühlte mich zu weiter wichts aut als zur Wirthichaft, 
Lacheln, das dem erniten Antlitz wunderbar aut jtand, flog um und Du jahit fo geiiteshochmüthig auf mich herunter — ich hatte 
ihren Mund. Dich damals jchon Lieb, Dich und Deine Gedichte, hatte damals 

„Yu Dir, Elaudine,” erwiderte er einſach. ſchon Durſt nach allem Herrlihen, was das trodene Leben ver: 

Sie Tächelte ihm glüdielig zu. „Und num ſollſt Du auch ſchönt. Aber keiner wollte es mir glauben. Da ward ich cin 
willen, Lothar, ich Babe Did ihon immer geliebt. Gott fei richtiger Wirthichaftstenjel, rechthaberiſch und allzujtrenge.” 
Dank, daß Er Dein Herz mir zuwendete!“ Ein Weilchen blidte jie wie träumend vor fich bin. 

„Dir zuwendete?“ fragte er bewegt. „Ich habe Dich geliebt jeit „Bottlob, das ijt vorüber, Mber nun höre weiter.” Und 
dem Tage, wo ich Dich fo unerwartet im Zimmer der Herzogin Mutter | fie fuhr fort in ihren Neuigkeiten. „Dann ſteht auch noch darin, 
traf, Weißt Du nod, Du jangjt das ‚Beilden‘ von Mozart?" Noadim, daß Lothar Altenftein zurüdgefauft hat. Der ſcharf— 

„Und nachher: ‚Willſt Du Dein Herz mir jchenten. D, ob ich finnige Zeitungsſchreiber fagt: Vermuthlich wünſcht Baron Gerold 
es weiß! Aber, Lothar, wenn Dur mich damals schen thehigit: das · alte Spormmgut der Familie jeinem zweiten, ihm vor einigen 

„Frage nicht, Claudine,“ wehrte er, „es liegen zit jenert ! Motatar nebdneu” Sohne dereinjt zu übergeben; wie wir hören, 
düjtere ‚Seiten dazwischen, Jahre, in denen ich mehr geQfich Ihe,“ wird vör dei ‚Hand Baron Koadim von Gerold das einit 
als ich jagen kann.“ 2% Flut fügehärige: Schloß bewohnen‘ — Wie Hug die Lente fü >! 

Sie ſchwieg und ſah wieder zu den Wolfen unbar und“ Wir werden ds doch hüten, Joachim; — mich bringſt Du 
drüdte ſich feſter an feinen Arm. Ahr zur andern Seite ging nicht heraus ans dem Eulenhauſe, ich bim zu alüdlich hier ge— 
der Hund, Hinter ihnen folgte das Pferd, deſſen Zügel Lothar worden.” 
um den Arm aejchlungen hatte, „Ja! ja!“ ſagte er raſch, „wir bleiben hier, Beate; wir 

„Nur noch Eins,“ flüfterte fie zaghait und jah ihm bittend - haben ja völlig Platz, feitdem angebaut iſt; und es it fo ſtill 
in das bewegte Antlit. „Lothar, wenn Du mic) Liebteft, warum und jo friedlich. Hoffentlich denfen die Neuhäuſer nicht daran, 
haft Du mit ſchneidenden Worten mir wehnethan, wo Du fonnteit, das von uns zu verlangen.“ 
mich vor mir ſelber erniedrigt, daß ich fajt verzweifeln wollte?“ „D behite, Joachim! Die denfen an nichts als am ſich 

Er blidte fie lächelnd an. „O Du Thörin, weil ich von elbſt. lächelte Beate. „Aber das ſoll fein Vorwurf fein, wir 
Angie und Eiferſucht gehetzt war, weil mein Herz krank war vor machen es ja auch nicht beifer. — Weißt Du auch, Schat daß 
Sehnſucht nach Dir, und weil ich ſah, was kommen mußte; weil heute unſer Verlobungstag iſt?“ plauderte fie. „Siehſt Du, wie 
ich die Welt lannte und ihre Schlechtigleit und wußte, daß Du Du alles vergißt? Ja, heute ſind's zwei Jahre, da ſaßen wir 
zu Boden geſchmettert fein würdeſt, wenn ſie hereinbrächen über am Bettchen Eliſabeths und wußten, das ſchwerkranke Kind iſt 
Dich, die Verleumdung, die Gemeinheit; weil Du trotziges Kind gerettet, es ſchläſt den Schlummer der Geneſung. Und da ſprachen 
es mir jo namenlos ſchwer machteſt, über Dich zu wachen; endlich, | wir ſlüſternd vom Tode, vom Seelenleben und von der Unfterbfich: 
weil Du mich nicht veriichen wolltejt. — Laß, Claudine! Die keit. Du lafeit mir das Gedicht vor, das Dur auf den Tod Deiner 
Zeiten liegen hinter uns. Ich habe Did, und id darf Dein Gattin gebichtet, und MHagteit, wie einiam Du feilt, nun auch 
Wegweiſer jein auf allen Pfaden von diefer Stunde an. Gottlob!" Claudine gegangen, und wie verfaffen das Kind, — und —“ 


„Bottlob!” ſprach jie ihm leiſe nad). „Und dann fragte ich Dich, Beate —“ 

Das Pferd ging allein mit gejenktem Kopf zu den Stallungen „Und ich jagte ‚ja‘.” 
hinüber: die beiden jtiegen die Freitreppe cmpor, Baron Gerold „Und da fam e3 dann auch zur Sprache, wer mir damals 
öffnete die Thür. heimlich meine Bibliothel zurücdagefauft.“ 

„Tritt ein in Dein Haus, Klandine,“ jante er bewegt, „es „Freilich!“ achte fie, „ich Hatte eben von jeher ein gefähr 
fell unfere Heimath bleiben, wicht die Welt da draufen — — liches Mitleiden mit dem Träumer, dem unpraftiichiten, hilfs— 
wenn Du es willſt!“ bedürftigſten Menichen auf Gottes weiter Welt.“ Und fie küßt 


Sie lachte unter Thränen: „Ob ich will? Bertraujt Du mir ihm und nimmt ihr Schluſſellorbchen. „Ich muß noch die alte 
noch immer nicht? Nichts will ich weiter auf der ganzen Welt!“ Lindenmeyer beſuchen,“ entſchuldigie fie ihr Fortgehen; „te hat 
- r nad) mir verlangt, und jie ſitzt da fo geduldig in ihrem Lehnſtuhl, 


.r 


* 


—e. 444 
Dieſe 
Und während fie hinuntergeht, fliegt die Hausthür auf und 


die aute Alte, und ſtrickt Kinderſtrümpfchen für Claudine. 
muß wahrhaftig ſchon einen ganzen Scheffel voll haben.“ 


ein Rind, ein Mädchen, fommt an des alten Heinemann Hand 


reißen und jubelnd der ftattlichen Frau entgegen zu fliegen. Die 


ift im Flur ftehen geblieben und fängt das Kind lachend in ihren 


Armen auf. 


„Wildfang!” fagt fie mütterlich ſtolz und nimmt das rofige | 
Kindergeficht zwijchen ihre beiden Hände. „War's jchön bei Tante 


Claudine, Töchterhen? Was habt Ahr geipielt? 
Ontel Lothar daheim ?* 

„sa! Uber Onkel war böje, und Tante Claudine auch,“ 
fagt das Kind und fieht plötlich ganz befümmert zu Heinemann 
hinüber. 

Der Alte hat feine Müte, auf der die erjten Schnee: 
fterne des Winters Teuchten, abgenommen und ſchwenlt fie Hin 
und ber. 

„Nicht wahr, Heinemann ?* fragt die Kleine ängſtlich. 

Der alte Mann Hatte einen ganz verjchmigten Ausdruck in 
den Augen. 

„Grauſam Hat fie ſich gezault, 
ernſthaft und blinkt Frau Begten zu, „und gar vor mir. 


Und mar 


die Herrichaft,” bejtätigt er 
Duft als 


o—— 


ich hinein fam, um unferem Kind das Mäntelchen umzuthun, 
weil der Schlitten vorgefahren war, jaqte der Herr: ‚Du wirft 
das Kleid anziehen, Claudine, das ic) Div kürzlich geſchenkt habe, 


und mit mie nach der Nefidenz fahren zur Hochzeit Sr. Hoheit. 
über die Schwelle, um ſich im nächſten Moment von ihm loszus 


Ich möchte wirklich einmal probiren, ob ich noch immer eiferjüchtig 
‚ fein fann“ — hat er gejagt.“ 

„Und da,“ fiel die Kleine ein, „war Tante Claudine traurig 
und fagte: Wie Du willjt, Lothar.‘“ 

„Freilich!“ nickte ſchmunzelnd der Alte. „Und da ging's 
fo8. — Nein, wie Du willft!" rief der Herr Baron — ‚Nein, 
wie Dir gefagt haft, Lothar‘ — Mein, bitte, Du haſt recht, 
Dina, was follen wir auch da, mir bleiben daheim‘ — ‚Wenn 
ich nun aber gern möchte, Lothar?‘ — ‚Das kenne ih ſchon, 
Dina; wir bleiben hier“ — So haben fie ſich gezankt, gnädige 
Frau, eine Viertelſtunde lang, endlich — —“ 

„Nun?“ unterbrach Beate lächelnd, 
recht * 
„Gnädige Frau, wer allemal vecht behält, wenn ſich cin 
' Ehepaar zanft,“ erwiderte der Alte ſchelmiſch. „Die frau 
| Baronin natürlich. Sie laſſen einen ſchönen Gruß beftellen an 
\ die gnädige Frau, und an dem Tage, wo unfer Herzog heirathet, 
| wollten fie und der Herr Baron zu einem gemüthlichen Thee— 
| ftündehen herüber kommen und von alten Zeiten plaudern.“ 


„und wer behielt 


Aus dem FSeben Ludwigs I. von Bavern. 


Ki berühmten Berftorbenen gerechtzuwerden, vermögen jeine | 


eigenen Beitgenoffen am wenigjten. Räumliche wie geijtige 
Größe erfordert zur richtigen Betradytung eine gewiſſe Dijtanz, 
und erſt nach Nahrzehnten erreicht das Bild eines großen Todten 
die ruhigen, unverzerrten Linien, die der Nachwelt dann als die 
bleibenden erscheinen. Ob für den „teutichen“ König Ludwig, 
ber bei Lebzeiten ebenfo exbitterte Gegner wie beiwundernde Ver: 
chrer beiaß, dieſe Zeit ruhiger Betrachtung ichon gekommen ift, 
mögen diejenigen enticheiden, welche berufen find, ein umfaljendes 


Bild feiner Regierung, feiner politiichen und Tinftlerifchen Bes | 


ftrebungen zu zeichnen. Bier follen die nadyfolgenden Züge, die 
fämmtlich aus beiten Uuellen geichöpft find, dazu dienen, 
perfönliche Gedächtniß des Fürſten aufzufriſchen, 
würdiger und eigenartiger Menſch war, auch wenn man alles 


das | 
der ein mer | 


Die Schläge meiner alten Wehland Haben mir wicht gefchadet, 
im Gegentheil.“ 

Und er nahm fofort eine Drojchle und fuhr nach dem weit 
entlegenen Kirchhof, um das verfallene Grab des alten Fräuleins 
aufzufuchen und für Herrichtung besfelben und ein fchönes Gitter zu 
forgen. Er dankte ihrer ftrengen Erziehung die große Einfachheit 
und Bedürfniklofigfeit, die ihm zeitlebens zu einem von feiner 
Umgebung unabhängigen Menſchen machten. 

Es ift befannt, mit welchen Gefühlen der Jüngling nach der 
Thronbejteigung jeines Vaters das napoleoniſche Joch ertrug, wie 
er mit den Tirolern ſympathiſirte, die er befämpfen mußte, und 
wie in feinem Herzen das Ideal „Teutſchland“ brannte, während 
die beiten Geiſter unferes Volkes mit einem traurigen Welt: 
bürgerthum fich über ihre — — hinwegzutauſchen 


wegdentt, was die Gunſt des Schickſals und die — inchtenz« » 


Menjchen einer Erſcheinung äußerlich Hinzugefügt 
Diefer Maßſtab wäre manchem fürftlichen 


unter allen Umftänden, auch wo er irrte umd" schkte: : din ym 


dem Höchſten jtrebender Menſch, voll Begeifterung für arofe” | 


Zwecke, und mas der Wille des einzigen Mannes in wenig 
Jahrzehnten bei beſchränkten Mitteln gejchaffen Hat, das muß 
heute Bewunderung erweden, ganz abgejehen von dem äſthe— 
tiichen Genuß an jeinen Werfen felbft. Auch den bei Lebzeiten 


Ludwigs ftet$ wiederholten Vorwurf, daß er die Strafen und 
Brüden im übrigen Königreich verfallen laſſe, um 
traßen 


herauszupugen, werden wir heute nicht mehr erheben. 
und Brüden find inzwiſchen längjt von andern gebaut worden: 
aber niemand würde heute König Ludwigs Kirchen und Mufcen 
bauen! 

Der junge Prinz hatte das Glüd, früh mit ben Wedhiel- 
füllen des menfchlichen Lebens befannt und dadurch ein jelb- 
jtändiger Mensch zu werden. Seine Kindheit fiel in böfe Heiten: 
fieben Jahre war er alt, als fein Eöniglicher Bathe in Paris ge- 
löpft wurde, und vor den herandrängenden Sansculotten flüchtete 
fein Water, Prinz Mar von Zweibrüden-Birkenfeld, der künftige 
Thronerbe Baherns, jeine Familie nad) Mannheim. Dort be— 
ſuchte ein halbes Jahrhundert fpäter der alte Ludwig noch) pietäts- 
voll das Haus am Theaterplag, das einft jeine Kinderſtube ent: 
bielt, und ergina ich in Erzählungen von der höchit einfachen Koſt 
und Sleidung, die er und feine Geſchwiſter aehabt, ſowie von der 
Ruthe hinterm Spiegel, welche feine Erzieherin, Demoifelle 
Wenland, mit Kraft und Gejchidfichkeit zu führen wußte „ch 
fage Ihnen,“ Schloß er feinen Bericht gegen den ihr begleitenden 
alten Mannheimer Werehrer, „wir waren ftreng gehalten. ber 
das war gerade recht. Kinder müſſen eine tüchtige Zucht haben. 


Mapoleons Sturze, 


als die Welt wieder friedlich ge: 


in adafıting: "worden ıbär, lonnte endlich der Kronprinz einen längeren Auf⸗ 
König Ludwig aber lann ihm fh ruhig gefallen, Toficht "Er, wirt: z serthall; ww ialien nehmen, 


das ex 1804 zum erſten Male ge— 
Nhen. "Son in Münden hatte er mit den wenigen Gelehrten 
und Künftlern vertchrt, die es dort gab, und in ihrem Umgang, 
wie man bei Hofe glaubte, die ungraziöjen Manieren und bie 
ungejtüme Lebhaftigfeit erworben, die ihm zeitlebens zu einen 
blieben. In Wirklichkeit war fein felbftändiger und lebhafter Geiſt 
wenig mit äußerlichen Dingen befchäftigt; er überlieh die Sorge 
darum gern feinem jchönen und graziöſen Bruder Karl, der den 
Auf eines vollendeten Navaliers genoß. Ludwig war mehr als 
mittelgroß; er hielt fich aber vornübergebeugt und ſchoß im ab- 
getragenen Rödlein eiliger auf der Strafe dahin, als der Würde 
fönigliher Majeftät angemeffen fein mochte. Seine Züge waren 
nicht unſchön, die Augen hell und Iebhaft; aber die ftete Unruhe 
feines Weſens kam auch im Geficht zum Ausdruck, das überdies 
in jeinen fpäteren Jahren durch einen ziemlich ſtarken Auswuchs 
auf der Stimm entjtellt war. Aber eine gewinnende Ericheinung 
war er troß alledem, und Die liebenswirdige Wärme, die er 
zeigte, wenn ihn jemand intereſſirte, nahm die Herzen für ihn ein, 
bejonders in jenen ihönen römifchen Tagen, wo er, jung und ver: 
trauensvoll, in den Kreis hochbegabter Nünftler und tüchtiger 
Menschen eintrat, welcher damals die eine Seite der Fremden— 
folonie ausmachte, während die andere den ganzen Trümmerjturz 
napoleonifcher Herrlichfeit umfaßte, Brüder, Schweitern und die 
alte Mutter des fo unerhört Gejtiegenen und Gefallenen. 

An zufälligem Zuſammentreffen hatten ſich dort Cornelius, 
Veit, Overbed, Schnorr und Schadow aefunden: Ludwig trat in 
ihren Kreis ein, in dem er alle fürjtliche Prätenſion bei Seite 
fegte und mit Geiſt und Humor als gleicher unter gleichen 
lebte. Ein fprechendes Zeugniß davon fiefert heute noch ein Bild 


7% — 4— 
anne, 


von Eatel in der neuen Pinafotbel, eine der höchſt einfachen 
Kneipereien darftellend, die der luſtige Kreis in der Dfterie eines 
alten Spanierd, Don Raffael d’Anglade, abzuhalten pilegte. Die 
Geſellſchaft figt in dem räucherigen Flur um einen alten Holz- 
tisch; der dide Wirth ftrebt mit zivei Flafchen, jo fchnell es feine 
kurzen Beine erlauben, dem ungebuldig twinfenden Kronprinzen 
entgegen, während der Leibarzt Ningreis feinen Trinkſpruch bes 
veit begonnen Kat, und Schnorr, Klenze, Catel, der Bildhauer 
Wagner, wegen feiner entjeglichen Grobheit von den Römern 
„il mangia-christiani‘ (dev Menfchenfrejjer) genannt, mit den 
Kavalieren des Königs den Frutti di mare zufprechen, die auf 
dem ungebedten Tiſch ſervirt find. 

Eine Augenzeugin jener Tage, die geiftvolle Henriette Herz, 
berichtet in ihren Erinnerungen folgende anziehende Einzelheiten: 

„Eine der angenehmſten und liebenswürdigſten Erſcheinungen 
war mir und gewiß allen der Kronprinz Ludwig von Bayern. 
Er, der äußerlich fo Hodae- 
ftellte, welchem bei dem Aller 
des Königs der Thron ſchon 
winfte, war gleichwohl der 
Anſpruchsloſeſte, welchen ich 
jemals gefannt habe . , . wie 
er denn überhaupt feiner Würde 
nichts zu vergeben glaubte, 
wenn er weder ſich noch andern 
Zwang anferlegte, noch ſelbſt 
den Prinzen kundgab. — ‚Noch 
zu Haufe?‘ rief er mir wohl 
von der Straße herauf, wenn 
e3 in Rom irgend etwas Be: 
fonderes zu fehen gab... 
Und eim Abend, im Freundess 
freis mit dem Prinzen fehr 
heiter verfebt, ift mir befonders 
im Gedächtniß. Es war bei 
Signora Buti, einer achtungs 
werthen Witwe, welche meift 
beutfcheftünftler logirte, bei wel- 
der auch Ehorwaldfen wohnte. 
Es ging da in intereffanter 
Geſellſchaft jehr Heiter zu, und 
Frau von Humboldt, eine ans 
dere Freundin umd ich hatten 
uns einmol für den Abend an- 
melden lafjen. Dem ſtronprinzen 
war ein Winf davon geworben 
und unerwartet stellte er ſich 
mit feinem Gefolge auch ein. 
Der Ubend zog ſich bis zwei 
Stunden nad Dlitternadht hin. 
Man denfe ſich die bunte Zuſammenſetzung der Geſellſchaft, vom 
Kronprinzen bis zu den Töchtern des Haufes, die man dem 
Stand der Arbeiterinnen beizählen durfte, weil fie, um der Mutter 
die Bürde zu erleichtern, für Gelb nähten und wuſchen, durch die 
verichiedenen Nünncen der Stände und Bildungen durch! Uber 


ſolch ein buntes Gemifch ift auch nur in dem glüdlihen Süden | 


möglich, wo Grazie, Takt und gute Sitte in der Regel auch dem 
Geringften innewohnen ... 

Mir erfchien der Prinz von ſolcher Vortrefflichkeit, daß ich 
für ihren Beftand fürdhtete. 
in feiner Begleitung die ſpaniſche Treppe heraufiteigend ihn 
fragte: ‚Werden Eie denn aud) als König jo bleiben, wie Sie 


jegt find?‘ antwortete er mir, die Schillerſche Zeile parodirend: | 


‚Bas der Züngling veripricht, leitet der Mann auch gewiß.““ 

Als dann Ludwig nad) mehrmonatigem Aufenthalt wieder 
nac Deutfchland zurüdmußte, gaben ihm zu Ehren die Künftler ein 
großartiges Abſchiedsfeſt im lorbeergeſchmückten Saale, zu dem 
Cornelius und die andern die Transparente gemalt hatten, Alle 
Kationen waren unter den Gäſten vertreten; Ludwig bewegte ſich 
heiter und glüdlich unter ihnen, tanzte mit den jchönen Frauen 


und ja zulegt im ihrem Kreis, während die Künſtler beutfche | 


Lieder jangen und ein unfichtbares Orchefter begleitete. Der 
Rheinwein funkelte in den Gläjern; durch Fenſter und Balkone 
drang die warme Nachtluft, blidte der dunfelblaue ſüdliche Himmel 


1888 


\ heiten der hohen und niederen Schmaroger. 





Aönig Ludwig 1. von Banırm, 





45 > — 


mit feinen Sternen, und unter der hochgelegenen Villa breitete 
ſich ſchweigend das ewige Nom aus... 

Es ijt wohl begreiflich, da Ludwig für alle Zeiten feine 
geijtige Heimath dort fühlte. Ex ift im ganzen zweiundfünfzig— 
mal in Rom getvejen. 

Die Uebernahme der Regierung 1826 gab ihm endlich die 
Möglichkeit, feine künftleriichen Pläne in größerem Maßſiabe als 
bisher auszuführen. freilich war es nicht immer Teicht, die dazu 
nothwendigen Mittel zu finden; der Hofhalt war unter dem guten 
Vater Mar zu unglaublicher Verſchwendung gedichen und jede 
verſuchte Erfparungsmaßregel verlegte Tiebgewordene Gewohn— 
Der Kontraft war 
allerdings fchmerzlich für fie: Mar Kofepb war ein äußerſt 
febensfuftiger Herr von bequemem Weſen, der die lascive Spaß: 
weife des alten Franfreih, im dem es aufgewachien, mit ber 
Gemüthlichkeit eines gut bürgerlichen Familienvaters vereinigte. Er 
gewährte leicht und gern und 
wurde deshalb aufs äußerſte 
mißbraucht. " 

Wer in München Luft nad) 
einem guten Punſch hatte, ver- 
fchaffte ſich einen der zahlics 
ausgegebenen Scheine zur freien 
Benubung der königlichen Hof: 
apothefe und Holte ſich dort 
ruhig jeine Flaſche Rum, Zucker 
und Citronen. Die von feinen 
Beamten bei Mar Fofeph aller: 
unterthänigft erflehte Unter: 
ſtützung zu einer Heinen Bade 
reife des abgearbeiteten Fami⸗ 
lienoberhauptes fiel leicht fo 
reihlih aus, daß diefes mit 
Frau und Kindern den Som: 
mer in Tegernfee zubringen 
fonnte, und der gute König 
fah darin nichts Unangemefje- 
nes, fondern freute fi, wenn 
er den Leuten dort begegnete, 
wo er in dem fchöngelegenen 
Schloſſe die herrlichiten Zeiten 
zubrachte, aber aud) riefenhafte 
Summen verbrauchte. 

Und nun auf einmal dieſer 
fparfame, nüchterne Monarch, 
der die Augen überall hatte und 
fih in einer unerhörten Weife 
um Dinge kümmerte, welche 
die Majejtät nichts angehen! 
Nãchſt der freien Apothele war 
die freie Wäfhe in der Föniglihen Hofwaſchtüche ein ſehr an- 
genehmes Privilegium für alle die, welche auch nur die ent- 
ferntejte Beziehung zu einer Hofcharge hatten, fei 8 zum Ober— 
hofmarjhall oder zum Dfenheizer. Nun ftand, wie mir ein Zeuge 
jener Tage einft erzählte, in dev erſten Karwoche feiner Regierung 
König Ludwig am Fenster nach den inneren Refidenzhöfen zu und 
fah, in Gedanken verloren, auf die Wagen, die, mit Bündeln 


ſchmutziger Wäſche beladen, durch das Thor der Reſidenzſtraße 
' herein rollten, den Hof paſſirten und in der Negion der Waſchküche 
Als ih in folder Stimmung einſt verſchwanden. Endlich fiel ihm doch die überaus große Anzahl diefer 


Wagen auf, die eine fürmliche Kette bildeten ; ex ließ den Schloß: 
verwalter rufen und hörte von diejem die demüthige Auskunft, daß 
der hödjitielige König einigen bebürftigen und würdigen Berjonen 
erlaubt habe, ihre Wäſche in der Hofwaichlüche waichen zu laſſen. 

„Einigen Berjonen ?!” fuhr ihn Ludwig an. Ich jtehe nun 
bald eine Stunde am Fenfter, und noch ift fein Ende. Das ift 
ein Unfug, ein heiflofer Unfug, das muß aufhören!“ 

Und es erging jtrenger Befehl, die Bündel ungewaſchen zu 
laſſen, die Waſchküche zu ſperren bis Dfterdienstag und vorher 
fein Stüd, dann aber alles ſchmutzig zurüdzuliefem, mit einem 
ftrengen Abſchreckungswort, jemals wiederzulommen. 

„Und ſehen Sie,“ ſchloß mein alter Gewährsmann dieſe 
ergögliche Gefhichte, „an jenem Ofterfonntag hatte hald München 
fein jauberes Hemd anzuziehen!“ 


57 





o 446 o 


Bei den Eriparungen an der Hoftafel aber jollte Ludivig der 
Grenzen der königlichen Allmacht innewerden. Er iheilte wohl 
feinem Hofmarfchall als nene Entdedung mit, daß man in bürger- 
lichen Häufern aus altem Brot Knödei made, und befahl auch, 
ſolche auf die Tafel zu bringen, begegnete aber einer jo entrüfteten, 


ftummen Renitenz feiner Hofherren, als das harmloje Nationals | 


gericht wirklich erſchien, daß er es aufgab, fie dazu zu belehren. 

Aber wenn auch die Knödel von der Speifefarte verſchwan— 
den, jo konnten die Herren doch nicht bindern, daß der unter 
Vater Mar fo reichliche Küchenzettel bedeutend vereinfacht wurde. 


Der König betrachtete das Eſſen als Nebenjache; feine Tages- | 


ordnung war viel mehr auf Arbeit, als auf Genuß gerichtet, 


Sein Licht glänzte allmorgendlih um halb fünf Uhr als das | 


erfte am Refidenzplab auf, und bis der ſpäte Wintermorgen Heil 


wurde, hatte der König ſchon Stöße von Berichten und Akten | 


erledigt. Dann begab ex jich zum Frühſtück. Daß ein Herricher, 
der es mit feinem Beruf fo ernit nahm und bedeutende Geiftes- 
kräfte in fich ſpürte, ſich zu ſtarker Selbſtherrlichkeit entwidelte, 
iſt natürlich, und im Ludwigs genauer Biographie dürfen die 
Schattenfeiten einer fo abjoluten Herrichaftsführung nicht fehlen, 
die vecht oft jein Bild zu einem abjtoßenden machen. Aber die 
großen Wirkungen feiner energiichen Berjönlichkeit in anderer 


Richtung jtehen ebenso feit, der geniale Blick, mit dem er oft | 


viel weiter fah als feine Zeitgenofien. Wie prophetiih war jein 
Wort: „Ich will aus Münden eine Stadt machen, die Teutfch- 
land fo zur Ehre gereicht, daß feiner Teutichland kennt, wenn 
er nicht auch München geſehen bat.“ 

Die Kritik fchlug damals ein Hohngelächter auf über eine 
ſolche Anmaßung: die Pinakothek wurde Dachauer Gemäldegalerie, 
der Obelisk auf dem Karolinenpla der Nymphenburger Grenz— 
pfahl genannt; Saphir witzelte über die paar Häufer, die in 
Münden zufammengefommen jeien, um „Stadt zu Spielen”, 

Andere beiwiejen dann ernſthaft, daß Münden niemals jo 
wachen fünne, um die überall in die Steinwüſten hinaus ver- 
ftreufen Denkmale einzujchließen, abgejehen davon, daß diefe Denf: 
male buntichedig in allen Stifen, aljo ein äſthetiſches Unding 
feien. Und heute liegt ein dichter Kranz von Häufern und Billen 


rings um diefe Bauten und über ihre Stilberedhtigung denkt | 


niemand mehr nach, weil ſie bereits Hiftorifch geworden find und 


die Erinnerungen von zwei Generationen daran haften. Aber ihre 
weile Bertheilung nad allen Richtungen hin Hat die gleichmäßige 


Ausbreitung von München bedingt. 

Auch das Gefchrei über Ludwigs Geiz beginnt zu verſtummen. 
Sein oft ausgefprochener Grundſatz: im Kleinen zu fparen, um 
e3 dann im ö 
zu fichtlihe Wirkungen geübt. 
lich, die Einzelheiten jeines Spariyitems zu betrachten. Heigel 
erzählt 3. B., daß der König einen alten Rod vierzig Jahre lang 
unverdroffen immer wieder fliden ließ und ſtets zum Rafiren 
anzog, aud daß er, wenn beim Ausgehen Negen drohte, jchnell 
einen Lakaien jchidte, feinen alten Regenſchirm zu holen, um den 
neuen zu jchonen: „'s it Schade darum, er hat fieben Gulden gekojtet.” 

Schr darakteriftiich in dieſer Hinficht ift eine mir von 
Augenzeugen berichtete Gejchichte, welche ins Jahr 1856 fällt, 
um welche Beit der junge Sailer Franz Joſeph nah München 
zur Brautwerbung kam. König Ludwig, als Inhaber eines öfters 
reichiſchen Negimentes, fühlte die Verpflichtung, deſſen Uniform 
zum Empfang des jungen Monarchen zu tragen; als man aber 
das ehrwürdige Kleidungsſtück Hervorholte, erwies es ſich, daß 
das kurze Schwalbenihwanzfrädden fehr bedeutend von dem 
nunmebrigen öfterreichiichen Waffenrock abſtach; auch wollte der 
alte Tichafo die Stirn mit dem Auswuchs durchaus nicht mehr 
deden. Einerlei — der Gedanke, für den einen Tag eine neue 
Uniform machen zu laſſen, konnte verninftigerweife nicht gedacht 
werden, und fo Tegte denn der alte Herr troß verzweifelter 
Segenwehr feines Kammerdieners harmlos und fröhlich die 
Reliquie aus den Befreiungskriegen an, hielt die Linfe mit dem 
Zichalo auf den Nüden und ftieg an der Seite des jungen 


Kaiſers die Ludwigsſtraße hinunter, lebhaft mit der Nechten ges | 


jtifufirend und die Honneurs feiner Strafe machend. Er hatte 
es durchgeſetzt und zug am Abend Hocdhvergnünt das alte Frädlein 
ans: hundert Gulden zum mindeften waren eripart! 

Bekannt ift auch, daß er es durchaus nicht liebte, als König 
mehr zahlen zu jollen, als andere. K 


roßen für ideale Zwecke vertvenden zu können, hat 
Lächeln macht e8 uns heute freis | 


Kleine Bouquet? und der: | 


gleichen ließ er ſich gern durch Farbenreiber aus den Ateliers 
‚ bei der nächjten Blumenfrau holen, weil er meinte: „Mir vers 
‚ Tangt man zu viel dafür ab!" und der Botenlohn dafür entſprach 

jedenfalls viel mehr den Berhältnifien des Farbenreibers als 
‚ denen des Königs. 

In den Aleliers war er ftändiger Gaft, nicht immer zum 
Entzüden der Inbaber, die fein lebhaftes Dreinreden beim Be 
| ginnen der Arbeit gern entbehrt hätten. Allein er ließ nicht nach 
‚ und wanderte jo unermüdlich auf den Gerüften von Cornelius, 
' Heh umb anderen umber, dag ihn feine Künftler ſcherzweiſe den 
Oberpolier nannten. 

Wie fie aber innerlich doch zu ihm ftanden, das zeigte das 
große Hiftoriiche KHünftlerfeit des Jahres 1840, das erfte feiner 
Urt und, wie heute die Siebziger ſtolz verfichern, das ſchönſte, 
welches jemals dageweien. Einzig war es jedenfalls durch die 
intime Theilmahme des Königs an der feier, welche im Hoftheater 
ftattfand und die Begegnung Kaifer Marimilians in Augsburg 
mit Albrecht Dürer zum Gegenjtand hatte. Die Koſtüme waren 
mit folder Treue hergetellt, daß z. B. im ganzen langen Zug 
fein einziger Knopf zu ſehen war, alles mit Nefteln gefchlofien, 
wie es vor Erfindung der Knöpfe üblich. Ueber die Perfon des 
Kaiſers war das Komité lange Zeit rathlos — in der ganzen 
Mündener Künftlerihaft wollte ſich Marimilians bartlofes Geſicht 
mit der großen Nafe nicht finden, bis plöglic in der elften 
Stunde ein eben mit dem Eilwagen angeflommener Hamburger 
Maler Namens Lichtenheld in die Künftlerfneipe trat, ahmungs- 
los über alles, was darin berathſchlagt wurde, und ſich plötzlich 
von allen Seiten angefchrieen hörte: „Da ift ja der Kaiſer, 
da haben wir ihn!“ Als der junge Mann begriffen Batte, 
da er nicht unter Wahnfinnige gerathen fei, nahm er- die oberſte 
Würde der Chrijtenheit mit Vergnügen entgegen; die Aehnlichteit 
foll denn aud in der That eine frappante geweſen fein. Als 
eine Woche jpäter der große Feitzug fich unter Muſik und Jubel 
vom Theater durch die füniglihe Loge bewegte, da chrte König 
Ludwig ſich und die Künftler dadurch, daß er den Pfeudo- 
Marimilion mit vollendeter Kourtoifie als kaiſerliche Majeſtät 
behandelte, zu feiner Rechten fen ließ und dem ftrengen Eeremoniell 
entiprechend anredete. Und alle Mugenzeugen jtimmen überein, 
daß der Kaifer feine Rolle ebenfo tadellos gefpielt habe wie der 
König. Ein Umzug durch die vielen Gänge der Mefidenz und 
ein großes Feitbanfett ſchloß die Feier, welche unvergänglich in 
‚ den Herzen der alten Münchener Künſtlerſchaft lebt. Freilich 
| find es Heute nur noch fehr wenige, die aus eigener Erfahrung 
davon ſprechen können! 

König Ludwigs Berührungen mit feinen Künſtlern waren 
allerdings nicht immer fo freundlicher Natur. Es gab Mifhellig- 
feiten genug zwifchen dem hitigen König und dem higigen Cornelius, 
| die dem Iehteren beivogen, don Nünden zu Scheiben. Beide aber 
hörten darum nicht auf, ſich gegenfeitig hochzuhalten. Kaulbach 
mit feiner ironifchen Höflichfeit fam im ganzen gut mit ihm aus, 
und der ftärfite Verdruß, den fie hatten, betraf nicht gerade die 
Kunft, fondern ihre Beziehung auf den empfindlichen Punkt: Cola 
Montez. Kaulbach, der immer den Drang fühlte, fi feine Ent« 
rüftungen vom Herzen herunter zu malen, hatte während der auf- 
geregten Zeiten von 1847 rein zu feiner Satisfaltion die Viel: 
berufene auf die Leinwand gebracht als Zauberin, die Scylange um 
den Leib, den Giftbecher in der Hand. Das blieb ſelbſtverſtändlich 
dem König nicht verborgen und eines Tages ſchoß er herein: 

Kaulbach, was höre ich, was haben Sie gemadt! Das ijt 
eine Beleidigung, gegen mich auch! Warten Sie nur, das wird 
Ahnen die Lola gedenten!“ 

Und ohne das Bild näher zu betrachten oder Kaulbach zu 
Worte fommen zu laflen, war er wieder hinaus. Jener aber, 
welcher wußte, wie ſchnell die heifblütige Tochter des Südens 
zum Angriff mit der Reitpeitiche überging, legte ſich ein küchtiges 
Sceit Holz neben die Staffelei, um fommendenfalls gerüſtet 
zu fein. Ex hatte nicht Sange zu warten. Eine Stunde jpäter 
wurde die Thür wieder aufgerifien und Lola Montez erichien mit 
dem großen Bunde, der fie ſtets begleitete, hinter ihr der König. 
Kaulbach ergriff fein Holzicheit und trat ihr entgegen; im nächſten 
Augenblid hatte fie den Hund auf ihm gehetzt; zu gleicher Zeit 
aber ſchoß hinter der Staffelei fein eigener riefiger Neufund— 
länder heraus und dem andern an die Kehle Nun fuhren die 
beiden Beftien heufend und beißend hinaus in den tiefen Schnee 














— 6 


des Hofes, Lola in Angit und Zom Hinter ihrem Hunde brein, 
der König ihr nad, und Hinter ihm Kaulbach. Und fo nahm 
diefer Auftritt, der jo bebrohlich begonnen, plößlic ein lächerliches 
Ende. Die beiden Hundebefiger hatten die größte Mühe, im tiefen 
Schnee hin» und herrennend, ihre vierbeinigen Bertheidiger aus 
einander zu bringen, und ein allgemeiner Rüdzug nad) vericyiedenen 


Seiten ſchloß die bewegte Scene. Ich füge Hinzu, daß mir diefe | 


Begebenheit von einem alten Freunde Kaulbachs erzählt wurde, 
dem er fie am mächften Tage mittheilte. 

Daß ihm Ludwig die Sache nicht weiter nachtrug, ala 
Kaulbach das Bild dem allgemeinen Anblick entzogen hatte, be 
weift noch nichts für feine Mäßigung im allgemeinen. Bon 
feinem berühmten Wahlſpruch „Gerecht und beharrlich“ hielt 
er nur den lebten Theil umverbrüclid und konnte im übrigen 
manchmal rachſüchtig genug fein, wo er fich beleidigt alaubte. 


Sn ihm war ein Gemisch von Königlichen Größenbewußtfein und | 


bürgerlicher Einfachheit, welches die wideriprechendften Aeußerungen 
zu Tage fürderte Man war nie fiher, welche Seite gerade 
herauskam: einmal ſchlug er einem Studenten, der ihm nicht 
rühte, die Mühe vom Kopf; ein anderes Mal minfte er im 
tarfen Negenwetter ſchon von ferne ab: „Nicht, mit! Bu 
ſchlechtes Wetter für Höflichkeiten!“ Einem Malergehilfen, der, 


um ihn vor dem Sturz von der ins Schwanken gerathenen Leiter 


zu retten, beiſprang und ihn unter den Armen faßte, rief er noch 
taumelnd mit einer Art von Entfegen zu: „Majeftät nicht ans 
rühren!” Und dann lich er fi) wieder von dem oben genannten 
alten Wagner Dinge fagen, die fih ob ihrer ariftophanifchen 
Derbheit jeder Wiedergabe entziehen, welche aber jedenfalls fein 
anderer Monarch und wenige Wrivatmänner ruhig angehört 
hätten Er war cben von deſſen unerſchütterlicher Ergebenheit 


und Rechtlichkeit überzeugt und fagte höchſtens: „Den Wagner | 


muß man reden laſſen; ex lann nicht anders.“ 

Das war nun in der That richtig; feine Macht der Erde 
hätte der Elementargewalt von Wagners Grobheit gebieten können; 
außerdem aber war er für Ludwig unentbehrlich als der kunſt— 


verftändige, thätige und ſchlaue Agent, ber ihm die heute une 
ihägbaren Antiken der Glyptothek zu äußert billigen Preifen 


einfaufte und ihre Auslieferung unter taufend Schwierigkeiten 


durchzuſetzen wußte, mitten im Getümmel der aufgeregten Kriegs 


zeiten. So find die’ Wegineten, das hochbedeutſame Mittelglied 
zwiſchen archaiſtiſcher und freier Kunſt in Griechenland, um 20 000 
Studi erworben worden und der qlüdliche Beſitzer wies alle ver: 
zweifelten engliihen Nachgebote hohnlächelnd ab, indem er zugleich 
die Zahlungsbedingungen fo zu regeln wußte, daß an den Zinſen 
noch die Fracht herauskam. 

Es würde viel zu weitläufig fein, hier auch nur eine einfache 
Aufzählung alles deſſen zu geben, was König Ludwig in feiner 
reichen Kunftthätigkeit gejchaffen, von den Münchener Monumenten 
an bis zur herrlichen Regensburger Walhalla und den zahllojen 
über das ganze Land veritreuten Kirchenbauten. Dies alles ift aud) 
weltbefannt. Aber gerade für unfere Zeit ift es eigenthümlich 
rührend zu Tejen, daß ex bei feinen unzähligen Gaben an deutjche 
Schulen und Kirchen in allen Welttheilen immer den deutſchen 
Sefichtspunft Hatte und überall die Konfuln anmwies, darauf zu 
achten, dab die Deutfchen über dem Meer ihrer Nationalität treu 


blieben. Niemals war ein Herz ftolzer auf dieje, als das Stönig | 


Ludwigs, und dab er diefe Gefinnung in den elenden zwanziger 
und dreißiger Jahren ſtets behielt und unermüdlich ausiprad): 
das ijt ein Berdienft, welches viele ‚jeiner Fehler aufwiegt. 

Dem hervorjtechendften derfelben, der herrichfüchtigen Anmaßung, 
alles felbjt am bejten wiſſen und felbjt ordnen zu wollen, hält 


dod) aud) die außerordentliche Gewiffenhaftigfeit die Wage, mit 


der er trachtete, diefe über die Kräfte des Einzelnen gehende 
Aufgabe zu erfüllen. Heigel giebt in feinem jehr fchönen und 
lejenswerthen Buch über König Ludwig eine Auswahl feiner 
eigenhändigen Randbemerkungen über Strafvollzug, Straferlaf 
und Beguadigung, aus denen überall der ernfte Wille Spricht, 
das Rechte zu finden, foräfältige Erwägungen anzuftellen, ob der 
zu Begnadigende Ausficht auf Beilerung biete, ob er wieder 
Arbeit finden werde, ꝛc. Wie ſchön klingt folgender Beſchluß: 
„Ich bin gewiß nicht far, aber wir find menſchlich. Wer feine 
Arbeit befommt, fein Geld befommt, wem beides abgeſchlagen 
wurde und mer dem ganzen Tag gehungert, der nimmt Brot, und 
diefes zu beftrafen, wäre — wenigſtens — fehr hart. Die ganze 


447 ⸗— 


Strafe laß ich dem P. St. nad), der jedoch wohl zu warnen iſt 
vor Wiederholung.” 

Auch wo ihn momentan der Merger ergriff, fam oft die 
mildere Ueberlegung nad. Am Rande eines ſehr Schlecht ge— 
fchriebenen Berichtes findet ſich die Note: „Der dies geichrieben, 
fcheint auch zu allem eher zu paſſen, als zum Schreiber. Will 
diefe Schrift nicht mehr ſehen.“ Zwei Tage jpäter aber fügt er 
den Bufab bei: „Damit foll aber nicht geſagt fein, daß er des 

Dienstes entlaffen wird, zumal wenn er Familienvater.” 

Das letztere Wort iſt cdarafteriftiih. Der König war in 
feinen Verfügungen für Witwen: und Waifenpenfionen ſtets be— 
dacht, „daß fie aud wirklich davon Icben Lönnen“, Freilich, 
Luxus treiben durften fie nicht, wie die folgende mir von einem 
Augenzeugen berichtete Begebenheit zeiqt. Er halte einer Majors- 
witwe in Nüdficht auf ihre zahlreichen Kinder einen Zufhuß zur 
Penfion aus feinen Mitteln venwilligt und ſich ihren thränen- 
überftrömten Handfüffen vafd) entzogen. Am Oftoberfejt desſelben 
Jahres aber, als er feiner Gewohnheit gemäß mit der Königin 
am Arm unter der dichten Vollsmenge auf der Thereſienwieſe 
einheripazierte, erlannte fein fcharfes Auge die Bittjtellerin und 
zwar im einem neuen, eleganten Hute. Sofort drängte er, 
die Königin gewaltiam nacjchleppend, duch die Wand ber 
Bauern durch, pilanzte fi vor der Witwe auf und fagte 
mit unheimlicher Freundlichkeit: „Schön, daß ich Sie ſehe, Fran 
Majorin; jcheint Ihnen qut zu gehen, haben einen fehr jchönen 
Hut auf. Nichtwahr, Therefe, wenn Du einmal einen folden 
Hut hätteſt?!!“ ſchrie er im Abſchwenken der Königin zu. 

' Die erjtarete Witwe jah, feines Wortes mächtig, dem Töniglichen 
Rüden nad, erhielt aber noch am felben Abend die Ankündigung, 
daß ihe die Penfionserhöhung wieder entzogen worden fei. Der 
König blieb unerbittlich trotz allen Flehens; vielleicht wirkte zu dieſer 
Härte ein geheimer Haß gegen neue Hüte im allgemeinen mit; 
denn er felbjt hatte, ſoweit fich die Münchener zurüderinnern konnten, 
nur alte und fagte bei Gelegenheit einer Gefellichaft, wo man ihm 
den Hut Holen wollte, qutgelaunt: „Sie haben nicht Tange zu 
fuchen; nehmen Sie nur den fchlechteften, das ijt der meinige.* 
Viele Züge diefer Art furfiren noch heute in Münden und 
halten das Gedächtniß an Ludwigs Wunderlichkeiten friſch. Auch 
kann jeder im Hofgarten Spazierende ftet$ von neuem den 
hoffnungsloſen Verſuch machen, die über Rottmanns Bildern 
ftehenden allerhöchiten Herameter zu jfandiren, die fchon ſoviel 
Anlaß zur Heiterkeit boten. Ein ſchallhafter Kopf (Fernbadher) hat 
ihren holperigen Gang ſchon vor 30 Kahren fehr glüdlich parodirt: 

„DO Hofgarten, der du genannt bift Garten des Hofes, 

AR ofgarten bift du genannt, weil du ber Hofgarien bift.” 

ri 

„Näber als Menterihweig nicht ift Sejlelohe dem Münchner, 

Doch, weil die Eifenbahn geht, glaubt er halbweges ſich heim.” 

Ludwigs Diftihon fautet: 


Naher der Heimath nicht als in Sicilien ift Neggio dem Deutſchen, 
Dod weil dazwiſchen fein Meer, glaubt er halbweges jich heim.“ 


Ludwig ſelbſt jah fehr wohl da und dort das fiebente Füß- 
fein aus feinen Herametern quden, ohne fich darüber zu betrüben. 
Einft Stand ein Fremder Topfichüttelnd vor dem Bilde „Monte 
Gavo“ und jlandirte angeftrengt: 





— U — 


„Steine warfft du Berg aus, einſtens“ ... 

Nein, jo kann es micht fein. 

„Steine warfit du Berg aus, einftens . . .* 

Nein! Da Hopfte ihm eine lange Geſtalt im grauen Ueberrod 
auf die Achſel und jchrie ihm freumdichaftlih ins Ohr: „eben 
Sie ſich feine Mühe; es hat's noch Feiner herausgebracht, Sie 
kriegen's auch nicht heraus!” 

Troß ſolcher jtellenweifen Erkenntniß und troß jeiner grau: 
ſamen Rartizipialformen hielt fich Ludwig doch für einen Dichter 
und ritt fein Stedenpferd mit der Ausdauer und Begeijterung 
des echten Dilettanten. 

Die Nachwelt wird feinen langen und Formlofen Gedichten 
keine Kränze reichen, aber fie wird doch zugeſtehen müſſen, daß 
heiliges Feuer in jeinem Herzen loderte, und daß er der Poeſie 
wärmer und voller zu eigen war, als mancher Berufspoet. Die 
Klaſſiker aller Völker und Zeiten bildeten feine jtete Lektüre, 
Schiller und Goethe kannte er auswendig. Nichts anderes audı, 
als die Begeifterung für die alten Griechen trieb ihm an, die 











Beltattung Maifer Friedrichs: Auf 


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Sache ihrer unterbrüdten Enkel zu jeiner eigenen zu machen und 
in Wort und Schrift unermüdlid) dafür zu wirken. 

Nach Teutſchlands Befreiung, unter Napoleons Zwingherrſchaft 
gebeugt, glühte ich für nichts jo, al$ daß Hellas fiegen möge... 
Thätig war ich, thätig bin ich, daß Unterftügung ihm werde. . .” 


Er ließ bei feinen häufigen Rundreijen überall ſich den feier- | 


lichen Empfang und bie Beleuchtungen verbitten, aber — 


auffordern, die dafür beabſichtigten Summen ihm für Griechenland | 


zu geben. Junge begabte Griechen ließ er nad Münden fommen 
und auf feine Kojten ftudiren, ohne fi) am das Gerede von 
Menſchen zu ehren, die, wie er ſehr richtig jagte, „es ganz in 
der Ordnung fänden, wenn ich diefe paar taufend Gulden jährlich 
auf meinen Marftall verwendete.” 

Er wiegte fich in der Illuſion, daß die Neuhellenen bald 
ihrer großen Ahnen würdig fein würden, und überhörte geflifients 
lich Fallmereyers Warnungsrufe über die flavifirte Nafie Als 
dann, nachdem das große Werk gelungen und Griechenland bes 


freit war, Thierſch und andere den Prinzen Otto von Bayern | 


für den griechiichen Thron in Vorſchlag brachten, da hielt ſich 
König Ludwig ganz zuräd; er wollte aud den Schein meiden, 
mit diefer großen Sache einen VBortheil für fih und fein Haus 
bezwedt zu haben. Er hat auch wahrlich feinen damit erreicht: 
in dem Nahre, als cr die Propyläen, das Siegesdenlmal für 
Griechenland, vollendete, jagten die Griechen feinen Sohn aus 
dem Lande und den Borichuß von 1800000 FL, den er ihnen 
men gegeben, mußte ex der Staatskaſſe aus feinem Bermögen 
erjegen. 


Diefe Schlimme Erfahrung mit dem einftigen Ideal ſchlug ihn 


aber nicht nieder; fein Herz war und blieb begeifterungsfähig bis 
in die jpäten Jahre, wo er, ber Megentenpflichten ledig, einer 
feligen Freiheit genoh unter den Palmen und Cypreſſen der Billa 
Malta in Rom, deren Erdgeihoß er dem alten Wagner als 
Atelier eingeräumt hatte und wo er intereflante Fremde und Ein- 
heimifche zu Heinen Diner3 um fi verfammelte, bei denen es, 
troß der jtörenden Schwerhörigfeit des Königs, heiter genug zus 
ging. Er war unerfhöpflich in Erzählungen und Erinnerungen. 
Wenige Herrſcher, ſeit Divcletian, haben es verjtanden, mit joldher 
Heiterkeit die Krone zu entbchren, und Ludwig erreichte fogar in 
feinen fpäteren Jahren in München einen Grad von Popularität, 
wie er ihn in der Vollgewalt feines abfoluten Königthums nicht 
gehabt Hatte. Feder freute fih, den alten Herm im Odeons 
fonzert feine gewohnte Runde machen zu fehen, nad) allen Seiten 
iprechend und grüßend. Allerdings verfiel er dabei gelegentlich) 


| wieder in feine alte Unart, Damen und bejonders verblühte 
‘ Damen, die ihm ein äſthetiſches Aergerniß waren, in Berlegenheit 
‚ zu feben. Eine ſehr ichöne Frau pflegte er früher regelmäßig zu 
begrüßen: „Ah, Frau N..., freue mid), freue mich; was macht 
der Gemahl, ift er vecht eiferfüchtig?* umd ihr „Nein, Majeſtät“ 
hartnädig zu ignoriren. Nad) jahrelanger Abweſenheit ihrerjeits 
ſah er fie wieder im Odeonsſaal, ſchoß auf fie zu und rief, wie 
früher: „Freue mid, lange nicht geichen, haben ſich jehr verändert. 
Was macht der Gemahl, iſt er immer nod) jo eiferfüchtig ?* 

„Nein, Majeſtät!“ 

„Glaub' id; gerne,“ rief der König lachend, „hat es jeht 
auch nicht mehr nöthig!” 

Derlei ungezogene Spähe Tonnte er fih nun einmal nicht 
verfagen, aber im aanzen famen doch bei zunehmendem Miter die 
liebenswürdigen Seiten feiner Nalur überwiegend zum Vorſchein; 
er bewegte fich mit jugendlicher Nüftigfeit und guter Laune unter 
den Menfchen und pflegte auf den Künftlerbällen, wenn gegen 
Mitternacht das junge Königspaar verſchwand, lachend zu rufen: 
„So, Kinder, jetzt ift der Hof fort, jeßt wollen wir unter uns 
Iuftig fein!” In der Pfalz, in Berchtesgaden, wo er abwechſelnd 
feine Sommer zubradhte, hing das Volt mit aufrichtiger Liebe an 
ihm, der ſtets ein freundliches Wort und eine offene Hand für 
die Armen und Geringen hatte. 

Deshalb war die Trauer tief und aufrichtig, als am 
29. Februar 1868 die Nachricht aus Nizza Fam, daß nach längerem 
Leiden ein fanfteer Tod den Hochbetagten erlöſt habe. Je mehr 
feither die Erinnerung an feine herben Seiten erloſch, um fo 
mächtiger richtete fi) das Bild feines reichen Wirlens empor und 
die Beurtheilung König Ludwigs I. ift beute eine ganz andere 
tie vor einem Menjchenalter, Als das Jahr 1886 die hundertite 
Wiederkehr feines Geburtstages bringen follte, da rüſtete ſich das 
ganze Bayernland, voran die Stadt München, um in einer großen 
Centennarfeier den Dank feines Volkes zum Ausdrud zu bringen. 
Damals ließ das furdtbare Schidfal feines unglüdlichen Entels 
jeden Gedanken an eine freudenfeier verftummen. Aber auf 
gegeben wurde er darum nicht, und im Juli diefes Jahres, wo die 
große Münchener Ausftellung Taufende aus aan; Deutichland 
zufammenführt, wird von den Sünftlern und ber ganzen Bes 
' völferung mit allem erdenllichem Glanz das Feit des Mannes 

vorbereitet, der es nicht nur veritand, Deünden groß zu machen, 
| fondern durch fein Wollen und Wirken ſich einen Ehrenplatz in 
der Geiſtesgeſchichte der Menfchheit errungen hat, der ihm unver 
lierbar für alle Zeiten bleibt. 





N. Artaria. 


2Blätter und Blüten. 


om Bau bes Scloffes 
bon Potsdam” von Heinrih Ludewig Manger (Berlin, 1789) wird and) 
der Einrichtung des „Neuen Schlofjes” gedacht und dabei werden einige 
Thatſachen erwähnt, die heute nach hundert Jahren angefichhts der lehten 
Trauerereigniffe auch einen weiteren Lejerkreis intereffiren dürften, 

Den Plag, auf dem fi das jebige Schloß Friedrichslron erhebt, 
wählte König Friedrich II, felbjt aus, Die Baulente waren mit dem 
Pla nicht äufrieden und unterfuchten den Baugrund, Durch Graben 
und Anwendung bes Erbbohrers wurde feitgeftellt, dab der Grund bis 
zu 36 Fuß Tiefe „einerlei Sand" war, und es ward daher beichlofien, 
„zur Grundlage des Fundamentes nidyt tiefer als, wegen Ungleichheit der 
Dberjläche, vier Fuh zu graben“. Schloß Frriedrichätren wurde alfo anf 
dem Sand gebaut; aber Manger bemerkt hierzu: „und auf diefem Sande 
runde fteht nunmehr biefes große Gebäude h 
wie auf einem Felſen.“ Zu dieſen 25 Jahren Tönnen wir heute noch 
ein ganzes Hundert binzufiigen. 


m uni 1763 war ein Theil des Fundamentes fünf Fuß über bie | 


Erde fertig, bis dahin, wo man die Plinſhe von Sandftein aufießen wollte. 
Der König, der bald darauf den Bau bejichtigte, war jehr ungnädig, daß mit 
dem Fundamente fo hoch über den Boden gegangen worden fei, befahl daher 
ernitlich, dab fogleich wiederum drei Fuß davon abgetragen werben jollten. 
Es war fchr wohl befannt, daß man auf diejer Stelle in nafjen Jahren 

mit dem Kahne hatte jahren fünnen. Um indeſſen nicht ungehorfam zu 
5 zugleich aber auch um zu vermeiden, daß bei wiedertommendem hohen 
aller ſolches nicht in die Himmer laufen konnte, ward in Gegenwart 
des Königs jopleih die obere Schicht und, da die Anweſenheit länger 
dauerte, die zweite und dritte Schicht, zufammen neun Zoll, weggeräumt. 
Dierbei lich man es nach dem Hinweggehen besjelben bewenden, fing for 
gleih an die Blinthen zu veriepen und Erde gegen das Fundament zu 


farren, damit e8 nicht zu hoch fcheinen möchte, und — es war fehr 


wohl gethan. Denn nach vollendetem Bau hat das Grundwaſſer etliche 
Mal bis nabe an das Mittel der Gewölbe im Erdgeſchoſſe geſtanden. 
Ueberhaupt interejfirte fich Friedrich IT, jehr für den Bau bes Neuen 


Schloſſes und ließ vieles, was ihm nicht gefiel, niederreihen. So lieh | 
numgen zumanern und neue | 


er einmal die bereits fertiggeftellten Thür 


edrihshron. In der guangefigiäte 


eit fünfundzwanzig Jahren | 


anlegen, damit fie wicht in einer Linie fägen und der Luftzug verhütet 
würde. Fur bie geek Aufmerkfamleit des Königs ſelbſt in Meineren Ge- 
Ichäften legen diefe Details ein deutliches Jeugniß ab. Die Baumeifter 
waren aber mit dem „Preinreden“ nicht zufrieden und klagten oft mit 
‚ Recht; denn Friedrich war wohl Stantengränder, aber auf Häuferbauen 
verftand er fich nicht jo gut. — 
| Die Maidlumen haben nicht die hijtorifche Bedeutung wie Veilchen 
und Kornblumen, die Erinnerungsblumen an Napoleon und Kaijer Wilhelm: 
‚ aber fie find als Fruͤhlingsblumen die Lieblinge des ge Publikums. 
Neuerdings ſpielten fie namentlich in Berlin eine große Rolle; aus Schlefien 
trafen dort ganze enladungen diefer Blumen ein, Es wird berichtet, 
daß ein Bahnwagen BO Körbe, jeder Korb 300 Bund Maiblumen, jedes 
Bund wiederum 100 Stiele mit Blüthen, fo daß die Wagenladung 000 
einzelne Blumen enthielt. Berlin ift ber Hauptitapelplag für Sendungen 
nach Paris und London; in Paris hat die deutihe Maiblume ihre Schweiter 
‚ aus Ftalien und London verdrängt, Dan kann ihr keinesfalls nachlagen, 
daß fie zu dem feltenen Bilanzen gehört; aber das Maflenaufgebot von 
Maiblumen zeugt doch für eine 6 Beliebtheit. 
Die Bundertundeln Salutfhüfe. Ueber die Entitchung des Ge 

brauchs, bei feierlichen Gelegenheiten Hunbertundeinen Salutfhuk zu 
geben, hen verichiedene Meinungen, Mehrere leiten dieje eigen» 
thümliche Zahl aus der alten deutihen Sitte ber, zu allem eins’ zuzu« 
geben, bie ſich auch im deutſchen Mechte, z. B. bei Seifen, wiederfindet 
und jich noch beim Handel im gewöhnlichen Leben vielfach erhalten hat; 
andere geben dieſer Zahl folgende hiſtoriſche Entftehung: Ws Kaiſer 
Marimilion fiegreih aus einem Feldzuge nad Deutſchland zurüd- 
tehrte und feinen Einzug in Augsburg halten wollte, wurde ihm ein 
länzender Empfang zugedacht; unter anderem follten hundert Stanonen- 
chüſſe zu feiner Ehre abgefeuert werden. Der Konftablermeifter wußte 
aber zuleht nicht, ob er fich nicht um einen Schufi zum Nachtheile des 
Staifers geiert, und lieh, um zum I entgehen, das Geſchüt noch⸗ 
mals abjenern. Bon Augsburg zog imilian nad) Nürnberg; auch 
dieſe Stadt wollte den Kaifer in gleicher Weife begrüßen, aber man beſchloß, 
um ihm nicht weniger Ehre als Mugaburg anzuthun, denjelben ſogleich 
mit hundert und einem ſtanonenſchuß zu empfangen, 





— :® 


Aus den Trauerlagen in Polsdam. (Mit Ylluftrationen S. 441 
und 448 und ©. 449.) Ohne Brumt follte nad) dem eigenen Wunſch 
weiland Raifer Friedrichs, dei hohen Dulders, deilen Beftattung erfolgen, 
und wenn auch dem leßten Willen des verewigten Monarchen, fo weit 
es möglich war, Rechnung getragen wurde, geftaltete fich doch die Trauer- 
feier zu einer unvergeßlicdien, bie Herzen im Tiefinnerjten ergreifenden. 

Schon Sonnabend, den 16. Juni, wurde die Leiche Kaifer Friedrichs 
in der Yaspisgalerie des Schloſſes Trriebrichsltren auf dem Parade» 
beit aufgebahrt und Tanfende wallfahrteten dorthin, um ben hoben 
Verblichenen zum lehzten Male zu 
ſehen. 

Die gelben Wände des weiten 
Saales waren mit Ihwargem Tuch 
ausgeſchlagen, die Fenſter ver⸗ 
hängt. Die eine Band wurde durch 
ſchwarze Draperien in einen Altar 
umgewandelt, über dem ein eins 
faches Chriftushild King. Bor den 
Stufen dieſes Altars ftand der offene 
Sarg. Das Haupt Haifer Friedrichs 
rubte unbebert auf einem weißen 
Adloshiien. Die Geftalt war in 
den Militärmantel gehüllt; Orden 


Aufiät von der Waflerleite, 


ſchmüclten die Bruft, und weiter 
unten lag über der Leiche die pur» 
purne Königsstandarte ausgebreitet. 
Zwei große Kandelaber und Kron⸗ 
leuchter, die vom Plafond herab» 
hingen, warfen ein mattes Yicht auf 
den todien Kailer und die ſtumme 
Tobtenwadcht. An diejem ergreifen- 
den Bilde zogen in ftiller Andacht 
ge Leidtragende vorüber: hohe 

eanıte, ergraute Baflengefährten 
Friedrichs, tranernde Frauen — 
Tauſende aus dem Volle, welches 
den vollsthümlichen Kaifer fo jehr 
geliebt, 2 

Montag den 18, Juni ftanden 
ſchon am frühen Morgen ungezählte 
Boltsmaflen längs der Trauerſtrahe, die von ge nach der 
Triedenäti hrte. Sie hatrien auf den kaiſerlichen Sarg und den 
glänzenden Zfauerfonduft, weicher ihm das letzte Geleit geben follte, 

njere Jlluftration ©. 448 u. 449 giebt den Augenblid wieder, in 
welchem der mit rothem Sammet ausgeichlagene, mit dem Ritterhelme 
geſchmückte Sarg durch die große Flügelthür des Muſchelſaales und über 
die Schlohterralie nad) dem Leichenwagen getragen wird, 

Minifter mit den Reidjs- und Sroninfignien ſchreiten dem arg 
boran; ————— tragen, Offiziere geleiten ihn; das Reichspanier folgt 
ihm nadı. 

In dieſem Augenblide fafutirte die deutf 
tationen im Schlophofe und längs der Trauer 
ihren Heimgegangenen oberften 


beren Depu- 
riegsherrn: die Truppen präjentirten; 


— 


liche 


e Armee 
abe verfammelt waren, | 


451 


















Der Worbof. 


Die friedenskirdie in Potsdam. 
Drigimalgeiömung von J. Wittig. 


die Fahnen ſeulten ſich; gebämpfter Trommelwirbel erfholl und fänmt- 
Mufitcorps fielen mit: Jeſus meine Zuverſicht“ ein. 
Das Gewölk, welches bis jet den Himmel bededte, zertheilte 
6: lichte Sonnenftrahlen fielen auf den Trauerzug, der unter ben 
ängen ber Trauermuftt nach der Friedenslirche ſchritt. Die Sonne 
verllärte den legten Weg Kaiſer Friedrichs. ° 
Die Frledenskirhe zu Polsdam. An dem ftillen Spiegel eines 
ber Seen, welche bie Gärten von Sansjouci beleben, erhebt ſich im 
laufdigen Grün der Bäume die Friedenslirche, die Kaifer Friedrich 
zu feiner lepten Ruheſtatte gewählt 
hat, Sie iſt von Friedrih Wil 
beim IV. in den Jahren 1845 bis 
1848 erbaut und der Stiche von 
St. Elemente in Rom nachgebildet 
worden. Der Brunditein wurde am 
14. April 1845, hundert Jahre nad 
der Sründung bon Sansiouci, je» 
lent. König Friedrich Wilhelm IV, 
wollte damit feinem Wunſche Aus» 
drud geben, daß gegenüber dem 
Schloſſe, das ein Sumbol eines 
forgenfreien Lebens fein jollte, ſich 
ein Gotteshaus erhebe, welches an 


> der Driebenskirde, 


den inneren Frieden ber Seele 
gemahne. 

Der Weg zu der Kirche führt 
durch das jogenannte Atrium, den 
Vorhof, an den ſich eine lange 
Zänlenballe anſchließt. Immitten 
des Borhois fteht über einem Kunſt ⸗ 
brunnen ein folofiales Chriftusbild 
bon Thormaldien. 

Das Annere der Kirche ſelbſt 
macht den Eindrud ernfter Schön- 
heit. Das Mittelfichiif wird bon 
ioniſchen Säulen aus dunklem 
Marmor mit weihen Kapitälen ge 
tragen; die Apfis ift mit einem lojt- 
baren Mofailbilde geichmüdt, wel⸗ 
ches König Friedrich Wilhelm IV, 
auf einer italienischen Reife aus der ſtirche St. Eipriano de Murano ge— 
fauft hat. Wahre Kunftwerle find die Kanzel, das Gebetpult und der 
Altar, fämmtlid aus —— Marmor gehauen. Weber dem Altar 
breitet fih ein vergoldeter Baldadıin mit Säulen von grünem Jaspis, 
welche Kaiſer Nilolaus von Rubland dem Könige geſchenli bat. 

In der Friedeustirche wurde ihr Erbauer König Friedrich Wilhelm IV, 
nebjt feiner Gemahlin Elijaberh begraben. Später wurden in der linls 
vom Altar gelegenen Sakrijtei die im frühen Alter veritorbenen Söhne 
Kaifer Friedrichs, Siegismumd und Waldemar, beigejept. 

‚ „Der Sarg Kaifer Friedrichs iſt nur vorläufig in ber Friedens ⸗ 
Kirche niedergelegt worben; denn ſchon in nächſter Zeit ſoll neben biejem 
Gotteshaufe ein Manfoleum für Kaifer Friedrich und feine Familie er- 
richtet werben. ” 











— 42 :.— 


Alferlei Kurzweil. 


5ch ach · Aufgabe Ar. 9. 


Bon Georg CDoqotouc in Godenbad. 
SCHWARZ 


Pas rätdfelhafte Wappen. 


ABCDEFGH 


2 oh — * 2 . * — 
mi DO 
2 7 u 
3 u A 


WEISS 
Weiß zieht an und fett mit dem dritten Zuge matt. 











Budhflaben-Mätbfel. 
Mit a ſucht es jo mandher auf, 
Daß Troſt es ſpende ihm und Frieden, 
Dem's immer nur mit einem u 
Die Welt, die lärmende, beichieden. 


Mäthfer. Möffelfprung. 


Werd ich von Wellen oft getrieben, 
So iſt auch nicht gering die Zahl 
Der Leute, die zu hören lieben 
Mich in geihmüdtem, vollem Saal. 


Aullöfung ber Shad- Aufgabe Ar. 8 auf $. 420: 
Weis: L3 


LU 
4—6 ht 
ieh beliebig 








Und troßdem pflegen meiſt zu ſchweigen, 
Die, baar ber eignen Willenskraft, 

Eid) nur ald meine Sllaven zeigen 
Im wilden Sturm ber Beidenihaft. Bo | im | mon 


Nicht denken fie der lieben Tage, j —— 
Wo durch mich ihnen ward geweiht i zu m 
n Haus und Hof, im grünen Sage u Br 
er Kindheit reine Seligfeit, 





Die | sei | fs 


Bilder-Mätdfer, 








| hop | fot 

















jalsirin]eju 


15 





ulejej7z|jsjajı 



















Pre 2 














Komonym. 





Das einit die Welt bejiegt durch jeine Straft, 
Das beut dir jetzt der Mebe goldnen Saft. 

Die den jettgedruchten Zahlen der Mittelreihen entfprechenden Buch y 
ftaben ergeben, ſowo A jr wie wagerecht geleien, einen bedeutenden N. Paul 
dentichen Boltsfchriftiteller. 






ar 


Die einzelnen Heilen von linfs nad) rechts bedeuten : Aufföfung der Damelpiel-Aufgabe auf $. 420: 
1. Einen Buchſtaben. 2, Einen füddeutihen Fluß. 3. Einen berühmten 21 — 
Dunnenführer. 4. Eine Oper. 5. Einen Komponiſten, zugleich Stadt am .e5—b6 3.Das— 07} 
Main. 6, Einen Boltsichriftiteller. 7. Einen berühmten Dichter. 8. Einen Wes—t6 ‚"Der—gbtiä 
Bewohner einer italienifhen Stadt. 9. Einen Fluß Ztaliend. 10. Ein BERTERENT ER EEE RN 
Bild. 11, Einen Buchſtaben. Ernſt Kornrumpf. &....4Ds7—est,5d44—dsftD und gewinnt. 


Serandgegeben unter verantwortlicher Redaftien ven Übell Aröner. Berlog von Ernfi Reil’s Rachfelget in geipgig PDrut von A. Wicde im Leipzig. 


1. 





Illuſtrirtes Samilienblatt. — »esründet von Ernft Keil 1853. 
Zahrgang 1888, Erſcheint in Galbheften à 25 Pf. alle 12—14 Cage, In Heften à 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1. Zannar bis 31. Deyember. 














Die Alyenfee anne Ncdte verbehulten 
(Fortfegung.) Roman von G. Werner. 


Tys Haus, welches Präfident Nordheim in der Hauptitadt be+ | treter der Bahnaejellihaft, an deren Spike Nordheim ftand; 
wohnte, entfprach mit jeiner wahrhaft fürftlichen Einrichtung | er ſchien jedoch zu dem mäheren Belannten des Haufes zu 
vollflommen dem Reichthum feines Beſihers. Das große, palajt- | gehören, denn die Unterhaltung hatte einen vertraulichen Anſtrich, 
artige Gebäude lag im vornehmiten Theile der Stadt und war wenn fie fich auch augenblidticd um gefchäftlide Dinge drehte. 


von einem ber erften Architekten erbaut worden; die inneren Räume | „Sie follten mit Elmhoörſt verfönfih die Sache befprechen,“ 


zeigten eine verichwenderifche 
VBracht, und eine zahlreidye 
Dienerſchaft jtand zur Ber: 
fügung; kurz es fehlte nichts, 
was ein Haushalt im großen 
Stile fordert. 

An der Spie dieſes Haus⸗ 
haltes ſtand ſchon jeit Jahren 
die Baronin Lasberg. Die ver: 
witwete und ganz mittellofe 
Dame, die von einem ihrer 
hochgeftellien  Berwandten 
dem Präfidenten empfohlen 
war, hatte jeher gern die 
Stellung im Haufe des reichen 
Emporkoömmlings angenom— 
men, ber fie unbeſchränft 
fchalten und walten lieh, und 
Nordheim, fo wenig ſchwach 
er aud in ſolchen Bunkten 
war, empfand es dod als 
eine Annehmlichkeit, daß eine 
wirllich vornehme Dame feine 
Säfte empfing und bei feiner 
Tochter und Nichte Mutter: 
jtelle vertrat. Seit drei Jah: 
ren Ichte auch Erna von 
Thurgau im Hauje des Ou— 
tels, der zugleich ihr Bor: 
mund war md fie unmittelbar 
nach dem Tode ihres Vaters 
zu fich genommen hatte. 

In feinem Arbeitszimmer 
faß der Präfident, im Ge 
ſpräch mit einem Herr, der 
ihm gegenüber Platz genom: 
men hatte. Es war einer 
der erjten Rechtsanwälte der 
Stadt und der jurijtifche Vers 


1898 





fagte der Praſident. „Er 
fan Ihnen jedenfalls die beſte 
Auskunft dariiber geben.” 

„Er ijt alio hier?” fragte 
der Rechtsanwalt etiwas über 
raſcht. 

„Seit geſtern, und wird 
vorausſichtlich eine Woche 
bleiben.” 

„Das ift mir lieb; aber 
unſere Hauptftadt Scheint cine 
beiondere Anziehungskraft 
auf den Herrn Oberingenieur 
auszuüben; er ijt ziemlich 
ojt bier, wie mir ſcheint.“ 

„Allerdings, auf meinen 
Wunſch. Ich lege Werth 
darauf, über manches ein 
gehender unterrichtet zu wer 
den, als es durch Briefe 
neichehen kann. Ueberdies 
nimmt Elmhorſt nur dann 
Urlaub, wenn er fich wirklich 
entbehrlich weiß; Davon Fün 
nen Sie überzeugt fein, Herr 
Doktor,” 

Doktor Gersdorf, ein Mann 
von etwa vierzig Jahren, eine 
äußerſt jtattliche Ericheinung, 
mit erniten geiſtvollen Zugen, 
ſchien die Worte anders ge 
meint zu baben; denn er 
lächelte ein wenig ipoitich 
als er erwiderte: 

„Den Bilichterfer des Deren 
(eimborit zweiſlſe ich gewiß 
nicht au, wir wiſſen za alle, 


Ssermann Aaulbdad. daß er darin cher zu viel 
Rad einem Selbftperträt. thut als zu wenig, Die 
58 


os 


wonnen zu haben.” 

„Nun, das iſt wahrhaftig nicht das Berdienft der Gefell- | 
ſchaft,“ ſagte Nordheim achſelzuckend „Ich habe damals, als es 
fih um feine Ernennung handelte, Kampfe genug qebabt, und ihm 
jelbft hat man feine Stellung auch fo ſchwer nemadht, dak ein 


anderer vielleicht aewichen wäre. Es trat ihm ja überall die | 


ausgeſprochenſte Feindſeligkeit entgegen.” 

„Er iſt aber ziemlich ſchnell damit fertig geworden,“ 
Gersdorf trocken. „Ach erinnere mich, es gab im Anfange be— 
denkliche Stürme von feiten der Kollegen, die ſich dieſes ſouveräne 


Auftreten nicht gefallen laſſen wollten, aber fie verſtummten nad 
und nad. Ich glaube, der Herr Oberingenieur it jehr energiſch in 
ſolchen Dingen, und er bat ja auch in den drei Jahren fo ziemlich | 


alles in feine Hand gebracht. Man weiß es nun nachgrade, daß 


er feinen über oder auch nur neben ſich duldet als allenfalls den | 


Chefingenieur, und der ift jebt auch ganzlich auf feiner Seite.” 
„Ich table diefen Ehrgeiz durchaus nicht,” Tante der Preäfident 
fühl; „wer empor will, muß ſich freie Bahn fchaffen. Meine 


Menſchenkenntniß hat wieder einmal recht behalten, all dem Lärm | 
gegenüber, der damals losbrach, als ich dem allerdings mod fehr | 


jungen Manne die wichtige Stellung ſicherte. Auch der Chef: 
ingenieur war anfangs gegen ihn eingenommen und gab nur 
widerwillig nad. Jeht ift er froh, eine fo unbedingte Stütze zu 
haben, und was nun vollends die Wollenſteiner Brüde betrifft, 
Elmhorſts eigenſtes Werk — ich dene, damit kann er fich getroſt 
in die erjte Reihe jtellen.” 

„Die Brüde verfpricht allerdings ein Meiſterwerk zu werden,” 
ſtimmte Gersdorf bei. „Ein kühnes, großartiges Banwerk icon 
in der Anlage, es wird zweifellos der Glanzpunkt der ganzen 
Bahnlinie. — Es bleibt alfo dabei, daß ich felbjt mit dem Ober— 
ingenieur fpreche; ich finde ihn doch in feinem gewohnten Hotel?” 

„Rein, Sie finden ihn diesmal bei mir. Sch habe ihm die 
Gaftfreundfchaft meines Haufes angeboten.“ 

„AH jo!” Ueber das Geficht des Doltors glitt ein eigen: 
thümliches Lächeln. Er wußte, daf Nordheim Beamte von dem 
Range des jungen Oberingenieurs ftundenlang in feinem Vor— 
zimmer warten lieh; biefen Eimhorit Ind er als Gajt in fein 
Haus ein. Man erzählte jich freilich noch viel eritaunlichere Dinge 
von feiner Vorliebe für den Mann, der von Anfang an fein 
Gunſtling geweſen war. 


Der Rechtsanwalt aber ließ die Sache für diesmal auf ſich 
er hatte andere, widjligere Dinge im Kopfe und ver: | 


beruhen; 
abſchiedete fi) etwas zeritreut und eilig von dem Präfidenten 
mit der Bemerkung, daß er Heren Elmhorſt fogleih auffuchen 
werde. Troßdem ſchien er feine bejondere Eile damit zu haben; 
denn die Karte, welche ex draußen dem Diener übergab, war für 
die Damen des Hauſes bejtimmt, bei denen er fid) anmelden lieh. 

Die Wohn: und Empfangsräume lagen im oberen Stodwerk, 


und im Salon ihronte Frau von Lasberg in gewohnter feierlicher | 


Gemeſſenheit. Nicht weit von ihr fah Alice; auch fie hatte ſich 
faum verändert in den drei Jahren. Es war noch immer die zarte, 
blaffe Erfcheinung, mit dem müden, theilnahmlofen Ausdrud in den 
anmuthigen Zügen, die „Zreibhauspflanze“, die ängſtlich vor jedem 


rauhen Luftzuge behütet wurde und ein Gegenftand fortwährender | 
Ihre Gefundheit | 
ſchien fich allerdings etwas mehr befeftigt zu haben; aber cs Tag | 
auch nicht ein Hauch von Augendfriiche und Jugendfreude auf | 


Sorge und Schonung für ihre Umgebung war. 


dem farbfojen Antlig. 
Die junge Dame, 
hatte um fo mehr davon. Es war cine Heine, zierliche Geftalt, 
der die dunkelblaue Straßentoilette mit dem pelzbeſetzten Jãdchen 
allerliebſt ſtand. Unter dem blauen Sammethute blickte ein 
teizendes, roſiges Gefichtchen bewvor, mit dunflen, muthwillig 
bfigenden Mugen, und eine Fülle von ſchwarzen Ringellöckchen 
fraufte fi) über der Stirn. Dazu lachte und plauderte der Heine 


Mund unaufhörlidh; das etwa achtzehnjahrige Mädchen war von | 


überjprudelnder Lebhaftigleit. 
„Wie Schade, dag Erna ausgegangen iſt!“ rief fie. 


davon, Alice; es handelt ſich um eine Ueberraſchung zu Deinem 
Geburtstage. Es wird doch hoffentlich getanzt bei dem jFejte ?“ 

„Ich glaube kaum,“ fagte Alice gleichgültig; „wir jind ja 
ſchon im März.“ 


454 ⸗ 
Geſellſchaft kann ſich Glück wünfcen, eine fo tüchtige Kraft ge- | 


meinte | 


welche neben der Baronin Lasberg ſaß, 


nm 1) 
„sch Hatte 
etwas Wichtiges mit ihr zu befprechen; aber Du erfährft feine Silbe | 


„Aber mod mitten im Winter! Heute morgen hat es ge: 
ſueil, und tanzen kann man überhanpt immer!“ ‚verficherte die 
junge Dame, und dabei geriethen ihre Füßchen in eine eigenthüm— 
| lich zudende Bewegung, als wolle fie aleid auf der Stelle den 

Beweis davon liefern. Frau von Lasberg jandte den vorwitzigen 
kleinen Füßen einen ſtrafenden Blick zu und bemerkte kühl: 

„Ich glaube, Sie haben in diefem Winter fehr viel getanzt, 
| Baroneh Rally,” 

„Aber nod fange nicht genug!“ erflärte die Heine Baronef; 
„Wie bedauere ich die arme Alice, der das Tanzen verboten ijt! 
Dean will doch feine Jugend genichen, und wenn man heiratet, 
it es ohnehin vorbei damit. ‚Ehe bringt Wehe! vflegte unſere 
alte Kinderfrau immer zu jagen, und dann weinte fie regelmäßig 
und fprad von ihrem Seligen. ine fchlimme Prophezeiung ! 
Glaubſt Tu auch daran, Alice?” 

„Mice giebt fich ſchwerlich mit jolchen Gedanken ab,“ Tante 
| die alte Dame zurechtweiſend. „Ach muß Ahnen überhaupt ge 

itehen, Liebe Wally, daß ich diefes Thema unpafiend finde.” 

O!“ rief Wallh, „finden Sie das Heirathen auch unpaffend, 
gnädige Frau?“ 

„Wenn es mit Zuſtimmung und Billigung der Eltern, mit 
' Beobachtung aller nöthigen Nüdjichten geſchieht — nein.” 

„Dann ift es aber meijt ſehr langweilig!“ plagte die junge 
Baroneß heraus und erweckte damit jogar Alice ans ihrer Theil 
nahmloſigleit. 

„Aber Wally!“ mahnte fie vorwurfsvoll. 

„Baroneh Ernſthauſen ſcherzt ſelbſtverſtändlich,“ Tante Frau 
von Lasberg mit einem vernichtenden Blick; „aber ſelbſt ſolche 
Scherze ſind nicht zu billigen. Eine junge Dame kann nicht 
vorſichtig genug ſein in ihren Aeußerungen und ihrem Benehmen ; 
die Geſellſchaft ijt leider ſehr zu Klatſchereien geneigt.” 

Die Worte mochten wohl irgend eine geheime Beziehung 
haben ; denn um die Lippen Wallys zudte es, al& unterdrüde fie 
das Sachen; aber fie entgegnete mit der unſchuldigſten Miene: 

„Da haben Sie volllommen vet, gnädige Frau. Denken 
Sie nur, im vergangenen Sommer hat die ganze Badegeſellſchaft 
von Heilborn über die häufigen Beſuche des Herrn Oberingenient 
Elmhorſt gellatſcht. Er fam allerdings faft in jeder Woche —“ 

„gu dem Herrn Bräfidenten,“ fchnitt ihr Die alte Dame 
das Wort ab. „Herr Elmhorſt hatte die Pläne und Zeichnungen 
für die neue Gebirgsvilla entworfen und leitete jeloft den Bau; 
da war eine häufige Rückſprache unerläßlich.“ 

„Ja, das wußte alle Welt, aber man Matfchte doh! Man 
\ hielt fi an die Blumenfpenden und die fonftigen Liebenswürdig 
| feiten des Herrn Baumeifters und meinte —“ 

„Baroneß, id muß Sie wirklich bitten, uns mit derartigen 
Berichten zu verichonen,” unterbrady fie Frau von Lasberg, indem 
fie fih in zümender Moajeftät aufrichtete. Die vorlaute junge 
ı Dame hätte wahrſcheinlich noch eine längere Strafpredigt erhalten, 
wenn nicht in diefem Augenblid der Diener eingetreten wäre und 
gemeldet hätte, dab ber Wagen vorgefahren fei. Die Baromin 
erhob ſich und wandte fich zu Alice. 

„Ich muß in die Sigung des Frauenvereins, mein Kind, 
Du darfit heut ſelbſtverſtändlich nicht ausfahren bei diefer rauhen 
Luft. Du jcheinft überhaupt etwas angegriffen zu jein, und id) 
fürchte —“ 

Ein ſehr bezeichnender Blid ergänzte die Worte und gab das 
dringende Verlangen nad) einer baldigen Entfernung des Beiuches 
| fund, aber Teider vergebens. 

„Ich bleibe bei Alice und leiſte ihr Geſellſchaft,“ verficherte 
| Wally, mit ber liebenswürdigſten Bereitwilligkeit. „Sie können 
ganz ohne Sorge fein, guädige Fran,“ 

Die gnädige Frau preßte in gelinder Werzweiflung die 
Lippen zufammen; aber fie wußte aus Erfahrung, daß dies enfant 
terrible nicht fortzubringen war, wenn es ſich einmal in den 
Kopf gejegt Hatte zu bleiben; fie küßte deshalb Alice auf die 
Stirn, neigte das Haupt gegen deren junge Freundin und nahm 
‚ einen wirdevollen Abgang. 

Kaum hatte ſich die Thür hinter ihr geichloffen, fo flog Wally 
twie ein Gummiball in die Höhe. 

„Gott fei Dank, daß fie fort ift, Deine allergnädigfte Frau 
Dberhofmeifterin! Ich babe Dir etwas anzuvertrauen, Alice, 
etwas umendlich Wichtiges; das heißt, eigentlich wollte ih Emma 

| ins Bertrauen ziehen, aber fie iſt ja leider nicht da, alio 


I 
| 
I 
| 











—oö 


mußt Du mir helfen, Du mußt! Oder Du machſt zwei Menjchen 
unglüdlich, für Zeit und Ewigkeit!“ 


„Ih?“ fragte Mlice, die ſich bei diefer bedenklihen Ein: | 


leitung denn doch veranlaft fah, die Augen aufzufchlagen. 
„Jawohl, aber Du weißt ja noch gar nichts! Jetzt muß 

ich Dir das alles erſt auscinanderſetzen, und es ift ſchon zwölf 

Uhr und Albert wird gleich hier jein — den Doktor Gersdorf 


meine id). — Er liebt mid) nämlich, und ich Liebe ihn, und wir 
wollen uns natürlich heivathen; aber meine Eltern wollen das | 
Du das wirklich auf Dein Gewiſſen nehmen?" 


wicht zugeben, weil er bürgerlich if. Mein Gott, Alice, jo ſieh 
doch nicht jo erſtaunt aus! Ich Habe den Doktor ja in Eurem 
Haufe kennen gelernt, und in Eurem Wintergarten hat er mir 
die Liebeserflärung gemad;t, vor act Tagen, als der berühmte 
Birtuos im Muſikſaal fpielte und all die anderen zuhörten.“ 
„Aber —“ verfuchte Alice einzuwerfen; fie fam jedoch nicht 


zu Worte bei der Heinen Baroneß, die ihre ganze Liebes- und | 
willkommen!“ 
„Unterbrich mich nicht, ich habe Dir ja noch gar nichts | 


Leidensgeſchichte unaufhaltiam hervorfprubelte. 


aefagt! Als wir alfo an jenem Abende nad) Haus famen, er: 
Märte idy meinen Eltern, daß ich Braut fei und daß Albert am 
nächiten Tage fommen werde, um mid anzuhalten. Da bradı 
aber ein Larm los! Der Papa war entrüftet, die Mama empört 
und der Großontel ſchnaubte förmlich vor Wuth. Er ijt nämlich 


eine ungeheure Refpeltsperfon, ber Großonfel, weil er fo ſehr 


reich ift und wir ihn einmal beerben werden; aber dazu muß er 
dod) erit todt fein, und er hat nod) gar feine Luft zum Sterben. 
Das iſt Sehe ſchlimm für uns, fagt der Papa, den wir haben 
gar nichts; der Papa kommt nie aus mit feinem Gehalt, und 
der Großonfel rüdt bei Lebzeiten aud nicht das Geringite 
heraus — fo, nun biſt Du im Klaren!“ 

„Nein, ich bin durchaus nicht im Klaren,“ ſagte Alice, 
förmlich betäubt von diefem unendlichen Redeſtrom, mit dem fie 
— wurde „Was willſt Du denn mit Deinem Groß: 
onfel?“ 

Waly ſchlug verzweiflungsvull die Hände zufammen über 
diefen Mangel von Begriffspermögen. 

„Alice, ich bitte Dich, ei nicht fo gleichgültig! Ich verjichere 


Dir, fie haben förmlich Gericht gehalten über mid. Die Mama | 


fagte, fie befomme ſchon Nervenzuden bei dem Gedanken, ich könne 
einmal Frau Gersdorf genannt werden; der Papa behauptete, ic) 


dürfe mich micht wegwerfen, weil ich dereinſt eine ‚Bartie‘ fein 


werde, und der Großonkel ſchnitt eim fürchterliches Geſicht dazu, 
weil er die Anjpielung auf die Erbichaft gewaltig übelnahm; 
aber er ſelbſt ſchrie am lautejten Peter über die Mesalliance. 
Er zählte mir al unfere Ahnen und Urahnen auf, die fich 


jammtlic im Grabe umdrehen würden. Das ijt mir nun eigents | 


lich ſehr gleichgültig; die alten Herren mögen ſich umdrehen, fü 


viel jie wollen; dann haben fie doch eine Abwechſelung in ihrer | 
Aber id) lieh mir unglüdlicherweiie | 


langweiligen Ahnengruft. 
beilommen, das zu fagen, und nun kam das Ungewitter über 
mic von drei Seiten zugleid, Der Großonkel hob die Hand 
empor und that einen Schwur, aber id) ſchwor auch! So habe 
ic; vor ihm geitanden,“ fie ftampfte mit beiden Füßchen den 


Teppich, „und ihm erklärt, daß ich von meinem Albert nicht Tafie, | 


nun und nimmermehr!“ 








Die Heine Baroneß mußte jetzt endlich einmal Athem fchöpfen | 


und benußte diefe unfreiwillige Baufe, um an das Fenſter zu 
eilen, da man foeben einen Wagen fortrollen hörte; dann flog fie 
ebenso fchleunig. wieder zurüd in das Zimmer. 


„Da fährt jie hin, die Frau Oberhofmeifterin, Gott jei Dank, | 


jegt find wir fie (os! 


Sie ahnt etwas von der Sache; ich be: 
fam nicht umfonft vorhin die ſpihen Bemerkungen! 


Aber jebt 


fommt fie vorläufig nicht wieder; denn dit Sitzung daucıt | 
minbeitens zwei Stunden, das wußte ich und darauf habe id) 
Du kannſt wohl denken, Alice, daß mir | 


meinen Plan gebaut. 
jeder fchriftliche und mündliche Verkehr mit Albert ftveng verboten 
wurde; natürlich fchrieb ich ihm fofort, und jorechen muß ich ihn 


auch. Ich habe ihn deshalb hierher in Deinen Salon beitellt, | 


und Du jollit der Schußgeiit unferer Liebe fein.“ 

Alice fchien nicht ſehr erbaut von ber Rolle, die man ihr 
zuwies. Sie hatte die ganze Eröffnung in einer Weile auf: 
genommen, welche die heißblütige Wally zur Verzweiflung brachte, 
ohne jedes Ah und DO, nur mit fummer Verwunderung darüber, 
daß jo etwas überhaupt paffiren Eonnte! Eine Verlobung ohne, 





55 0 


ja gegen den Willen der Eltern, Tag vollig außerhalb des Ge— 
fihtskreifes der jungen Dame; dazu hatte Frau von Lasberg fie 
viel zu gut erzogen. Sie richtete fich deshalb mit einer gewiſſen 
Entſchiedenheit aus ihrer bequemen Stellung empor und fagte: 

„Nein, das ſchickt ſich nicht.” 

„Was ſchickt fih nicht — daß Du ein Schutzgeiſt bijt?” 
rief Wally entrüftet. „Willit Du mein Vertrauen täufchen, willit 
Du uns in Unglüd, Verzweiflung, in den Tod jagen? Denn wir 
fterben alle beide, wenn wir uns nicht heirathen dürfen. Kannſt 


Es blieb glüdlicherweife Feine Zeit, diefe Gewiſſensfrage zu 
erörtern; denn foeben wurde Doktor Gersdorf gemeldet, und es 
trat ein peinlicher Moment des Zögerns ein. Alice ſchien wirklich 
geneigt, ſich für frank zu erklären und den Beſuch abweiſen zu 
laſſen; aber Wally, die das fürchten mochte, ftellte ſich dicht vor 
fie Hin und jagte laut und diftatorifh: „Der Herr Doktor ift 


Der Diener verſchwand, und Alice fant mit einem Seufzer 
wieder in ihren Sefjel zurüd. Sie hatte das Aeußerſte gethan 
und fich fträuben wollen; da man ihe aber den entſcheidenden 
Befehl vor dem Munde fortnahm, fand fie fich nicht zu weiteren 
Unftrengungen veranlaßt, ſondern ließ die Sache ihren Lauf 
nehmen. 

Doktor Gersdorf trat ein und Wally flog ihm entgegen, 
bereit, ſich in jeine weitgeöffneten Arme zu ſtürzen; aber er öffnete 
feinesiwegs die Arme, fondern zog nur ihre Hand au feine Lippen 
und trat dann, die Heine Hand noch feit in der feinen Haltend, 
zu der jungen Dame des Haufes. 

„Mein gnädiges Fräulein, ich habe vor allen Dingen um 
Verzeihung zu bitten für die eigenthümliche Art, in der meine 
Braut Ihre Freundichaft in Anſpruch genommen hat; die Ver— 
häftniffe zwingen uns feider dazu. Sie willen vermutblich ſchon, 
dab ich Wally meine Hand angetragen und ihr Jawort erhalten 
habe; id) wollte am nächſten Tage die Zuftimmung ihrer Eltern 
erbitten, aber der Herr Oberregierungsrath hat meinen Beſuch 
nicht einmal angenommen.“ 

„Und mic; hat er eingesperrt,“ {hob Wally empört dazwiſchen, 
„den ganzen Vormittag lang!” 

Ich stellte darauf meinen Antrag jchriftlich," fuhr Gersdorf 
fort, „und erhielt eine eifig verneinende Antwort, ohne jede Un: 
gabe von Gründen. Baron Ernſthauſen ſchrieb mie —“ 

„Einen ganz abicheulichen Brief!" fiel Wally wieder cin; 
„aber der Großonkel Hat ihm diktirt. ch weiß es, ich ſtand am 
Schlüſſelloch!“ 

„Jedenfalls war es eine Ablehnung meiner Bitte; da Wally 
mir aber freiwillig Herz und Hand gegeben hat, jo werde id 
mein Recht darauf zu behaupten willen, und deshalb glaubte id) 
mich auc) zu dieſer Unterredung berechtigt, obgleidy fie ohne Vor: 
wien der Eltern geſchieht. Noch einmal, Berzeihung, gnädiges 
Fränfein! Sie dürfen überzeugt fein, daß wir Ihre Gite nicht 
mißbrauchen werden.“ 

Das Hang alles fo offen, jo männlich und herzlich, dak 
Alice anfing, die Sache minder unſchicklich zu finden, und mit 
einigen Worten ihre Zuftimmung zu erfennen gab. Freilich be— 
griff fie es nicht, daß diejer ernjte, zurüdhaltende Mann, der nur 
feinen Berufspflichten zu leben fchien, die Heine auedjilberne, 
überjprudelnde Wally liebte und daß feine Neigung evwidert wurde; 
aber bezweifeln ließ ſich dieje Thatſache nicht mehr. 

„Du braucht gar nicht zuzuhören, Alice,“ fagte Wally 
teöftend, „Nimm dod) ein Bud) und lies, oder wenn Du wirklich 
angegriffen bift, jo lege den Kopf zurüd und ſchlummere ein 
wenig. Wir nehmen Dir das durchaus nicht übel, ganz im Gegen: 
theil — nur jorge dafiir, daß wir ungejtört bleiben.“ 

Damit ergriff fie ihren Albert am Mım und zog ihn in den 
Erker, den die halb zurüdgefchlagenen türkiichen Vorhänge theil- 
weile vom Salon abſchloſſen. Das Geſpräch wurde anfangs im 
Alüftertone geführt; aber die Heine lebhafte Baroneß hielt das 
nicht lange aus; fie ſprach bald genug erregt und laut, und auch 
Sersdorf erhob umwilltürlich die Stimme, jo daß Alice ſchließlich 
die ganze Unterredung mit anhörte. Sie hatte gehurjam ein 
Bud) erarifien, lieh es aber urplötzlich finfen, da das entjegliche 
Wort „Entführung” an ihr Ohr ſchlug. 

„Es bleibt uns durchaus fein anderes Mittel," ſagte Wally, 
ebenio diftatorisch wie vorher, als fie den Eintritt des Doftors 


o 


erjivang. 
Mittag um zwölf Uhr dreißig Minuten. 
Großonlel nad) feinem Gute zurüd und Papa und Mama be: 
gleiten ihn bis auf die Bahn; fie machen immer fo entſetlich 
viel Umftände mit ihm. Inzwiſchen Tönnen wir mit aller Bes 
auemlichkeit durchgehen; wir reifen nad Gretna Green, Taffen | 
uns jchleunigft trauen — id) habe einmal gelefen, daß es dort 
fein Standesamt und fonftige Umftändlichfeiten giebt — und 
fommen als Mann und frau zurück. Dann mögen ſich all meine 
todten Ahnen auf den Kopf ftellen und der lebendige Großonkel | 
dazu; ic) frage gar nichts danach, wenn ich erſt Deine Frau bin.” 

Der ganze Entführungss und Reifeplan wurde in höchſt 
überzeugender Weife vorgetragen, fand aber leider nicht die er: 
wartete Buftimmung; denn Gersdorf fagte mit ruhiger Ent— 
ichiedenheit: 

„Nein, Wally, das geht nicht.“ 

„Richt? Warum nicht?“ 

„Weil es verſchiedene Geſetze und Paragraphen giebt, 
dergleichen romantiſche Exlurſionen nachdrücklich verbieten. 


die 
Dein 


mir, ber ich eigens berufen bin, das Recht zu ſchühen, ſchlecht 
anſtehen, wollte ich dies Recht mit Füßen treten.“ 
„Was gehen mich denn Deine Geſehze und Paragraphen 


456 


„Du muft mich entführen, und zwar übermorgen | 
Tann reijt mämlich der | Baroneß völlig verfiegten, leiſe ſank ihr Köpſchen an feine Bruft, 


o-— 


Das lklang fo warm, fo innig, daß die Thränen der jungen 
und es zudte fchon wieder ein Lächeln um ihre Lippen, als fie 
| halb ſchelmiſch und halb ängitlich fragte: 
| „Aber, Albert, fo lange wird es doc) nicht banern, bis Du 
fo alt wie der Großonfel geworden bijt ?* 
„Nein, fo lange nicht!“ tröftete Albert, indem er bie legte 
| Thräne fortfüßte, die no) an der Wimper hing. „Dann würde bies 
| böſe troßige Kind, das ſich fo ohne weiteres von mir fosjagt, 
wenn ich ihm nicht gleich auf der Stelle den Willen thue, mid) 


ſchwerlich noch wollen.“ 


| 


„D, Did) will ich immer!“ rief Wally mit ſtürmiſch aus- 
brechender Zärtlichkeit. „Ich Habe Did) ja fo lieb, Albert, jo 
grenzenlos lieb!“ 

Er zog fie in die Arme; aber feine Stimme fank jet zum 
Flüftern herab; Wally antwortete ebenfo, und der Schluß ber 
Unterredung blieb unverjtändlic. Nach etwa Fünf Minuten traten 
beide wieder in den Salon, gerade zur rechten Beit; denn ſoeben 


erſchien Oberingenieur Elmhoͤrſt, der als Hausgenofie feiner An- 
feines Sprubeltöpfchen hat freilich mod) Feine Ahnung von dem 
Leben und feinen Pflichten; aber ich kenne fie, und cs würde 


an!“ ſchi⸗ Bally, höchlich beleidigt durch dieſe fühle Aufnahme | 


ihres romantischen Planes. „Wie kannſt Du überhaupt von jo 
profaifchen Dingen fprechen, wenn es fich um unfere Liebe handelt! 
Was jollen wir denn anfangen, wenn Papa und Mama bei ihrem 
Nein bleiben?” 

„Bor allen Dingen warten, bis Dein Großonfel wirklich 


abgereift ift, Mit diefem ftarren alten Ariſtokraten ift nicht zu. 


rechten; ich bin als Biürgerlicher in feinen Augen gänzlich un: 
fähig, eine Baroneß Ernſthauſen heimzuführen. Sobald aber fein 
Einfluß nicht mehr fo ausschließlich in Deinem Efternhaufe vor 
erricht, werde ich mir Gchör bei Deinem Bater verfchaffen und 
verfuchen, feine Vorurteile zu überwinden; jo leicht und ſchnell 


wird das allerdings nicht geben, wir müſſen eben Geduld haben | 


und warten.” 

Die Heine Baronek ftand ganz ftare vor Schred bei dieler 
Auseinanderfegung; fie ſah all ihre Luftichlöffer zufammenftürzen. 
Statt de3 geträumten Romans mit Flucht und heimlich ge: 


harren bei den tyrannifchen Eftern, und der Geliebte, von dem 
fie erwartete, ex werde fie im Sturme auf jeinen Armen davon: 
tragen, benahm ſich fo nüchtern und verftändig, als beabjichtige 
er, einen regelrechten Prozeß um ihren Beſih zu führen; das 
war zu viel für ihre heißblütige Natur, fie fuhr zornig auf: 
„So ſage es doch lieber gleidy heraus, daß Dir an meiner 
Hand nichts Tiegt, daß Du nicht den Muth Haft, etwas dafür zu 
wagen! Damals, als Du mie Deine Liebe erflärtejt, ſprachſt 
Du ganz anders. Aber ich gebe Dir Dein Wort zurüd, ich 
trenne mich auf ewig von Dir, ich —“ hier begann fie laut zu 
ſchluchzen, „ich werde irgend einen Menſchen mit unendlich viel 


meldung bedurfte und von diefem Rechte Gebrauch machte. 


Woligangs äußere Eriheinung hatte entſchieden noch ges 
wonnen in den letzten drei Jahren; die Büge waren noch feiter, 
männlicher geworben, die Haltung ftolzer und energiicher. Der 


junge Mann, der damals den erften Fuß auf die Stufenleiter 
jegte, die ihn emporführen follte, hatte es gelernt, zu fteigen und 
zu befehlen: das ſah man, aber trotzdem Hatte das Selbftbewußt- 
fein, das ſich in feinem ganzen Auftreten fundgab, nichts Ber: 
letzendes; man empfing unwillkürlich den Eindrud, daß bier eine 
überlegene Natur das ihr zujtehende Recht in Anſpruch nahm. 
Er hielt einen duftenden Blumenftrauß in der Hand, den er 
mit einigen artigen Worten der jungen Dame des Haufes übergab. 
Eine gegenfeitige Vorftellung war wicht nothwendig; denn Ger&borf 
hatte ſchon öfter mit dem Oberingenieur verkehrt, und Wally 
fannte ihn von Heilborn her, wo fie im vergangenen Sommer 
mit ihren Eltern geweien war. Man plaubderte eine Weile, blich 
aber nicht lange beifammen; der Dollor ergriff die erfte Gelegen- 
heit fich zu empfehlen, und zehn Minuten fpäter brach auch Wally 
auf. Sie wäre zwar gern noch geblieben, um ihr Herz gegen Alice 
auszufchütten, aber diefer Herr Elmhorſt ſchien fürs erite nicht 
weichen zu wollen; troß all jeiner Artigfeit fühlte die Heine Baronch 


doch, dab er ihre Anweſenheit als ſehr überflüffig betrachtete; fie 
ichloffener Ehe empfahl man ihre geduldiges Warten und Aus- | 


Ahnen heirathen, den mir der Großonlel ausfucht; aber ich werde | 


jterben vor Gram darüber, und che ein Nahe vergeht, 
jelbft in der Ahnengruft!“ 


liege ich | 


„Wally!“ fagte die ernjte milde Stimme des Doktors vor 


wurfsvoll. 


„Laß mich!” fie verjuchte ihm ihre Hand zu entreißen, aber | 


er hielt fie feit. 

„Rally, fich mid an! 
Siebe?“ 

Das war wieder jener Tun der volljiten Zarklichkeit, den 
Wally nur zu gut kannte von jenem Abende her, wo fie beide 
allein waren in dem duftigen, dämmernden Wintergarten, wo fie 
mit Hopfendem Herzen und glühenden Wangen das Geſtändniß der 
Liebe empfing, während drüben aus dem Saale die Töne der Mufik | 
herübertlangen. Sie hörte auf zu ſchluchzen und blickte durch den 
Thränenfchleier zu dem Geliebten empor, der fich tief herabbeugte. 

„Hat meine Füße Heine Wally denn gar fein Bertrauen zu 
mie? Du haſt Dich mir zu eigen gegeben, und nun bift und 
bleibft Du mein, mag fich auch alles dagegen fepen. Ich werde | 
mir mein Glüd ſicher nicht entreißen laſſen, wenn es aud) noch | 


Glaubſt Du wirklich nicht an meine 


| 


eine Weile dauert, bis ich mein Weib in die Arme ſchließen kann.“ 


verabjchiedete fich daher gleichfalls, aber draußen im Vorzimmer 
legte fie den Finger an das zierliche Näschen und ſagte weisheitsvoll: 

„Ich glaube — da drinnen entwidelt jich etwas!“ 

Sie möchte nicht unvecht haben, aber vorläufig ließ diefe Ent: 
widiung noch auf ſich warten. Alice hielt den prachtvollen Strauß 
von Kamelien und Veilchen in der Hand und athmete deren Duft 
ein, aber fie ſah Sehr gleichgültig dabei aus. Die reiche Erbin, 
die ftets der Gegenſtand alljeitiger Bemühungen und Aufmerkſam— 
keiten tar, wurde mit Blumengaben überjchättet von allen Seiten; 
fie schien auch auf diefe Artigleit fein befonderes Gewicht zu legen. 
Wolfgang hatte ihr gegenüber Platz genommen und unterhielt ſie 
in feiner lebhaften, anregenden Weile; er ſprach augenblidlich von 
der neuen Billa, weldye Nordheim im Gebirge hatte erbauen laſſen 
und welche die Familie in dieſem Sommer zum erjten Male be: 
wohnen Sollte, 

„Bis zu Ihrer Anlunft wird auch die innere Einrichtung 
vollendet fein,” fagte er. „Das Hans felbjt war ſchon im Herbite 
fertig und die Nähe der Bahnlinie machte es mir möglich, alles 
perfönlich zu überwachen und zu leiten. Sie werden fid) bald 
genug an den Gebirgsaufenthalt gewöhnen, gnädiges Fräulein.” 

„Ich keune ihn ja bereits,” erwiderte Mlice, noch immer mit 
den Blumen beſchaftigt. „Wir ſind regelmäßig im Sommer in 
Heilborn geweien." 

„In der großen Sommerpromenade der Reſidenz, mit einer 
Alpenlandſchaft im Hintergeunde!* ſpottete Elmhorſt. „Das find 
nicht die Berge; die werden Sie exit in Ihrem neuen Heim lennen 
lernen; die Lage ift herrlich, und ich ſchmeichle mir mit der 
Hoffnung, dab; auch dies Heim ſelbſt Ihnen gefallen wird, mein 
Fräulein. Es iſt freilich nur eine einfache Billa im Gebirgaftil, 
aber das war mir ausdrüdlich vorgeichrieben.” 

„Bapa meint, e8 fer ein Heines Meiſterwerk der Baukunſt,“ 
bemerfte Alice ruhig. Wolfgang lächelte und jchob mit einer 
jcheinbar zufälligen Bewegung feinen Seſſel etwas näher heran. 
















mo) Sommer. arm 


Nenn draußen laflet die Sommergluth), 
J u Wipfeln fdjlafen die Winde: 
Wo If die Kiebe behütet gut? 
Unter der blühenden Linde. 

Das wölbt fit fo klug 

Und dämmert genug, | 
A Daft die laute Welt te nicht finde. 





Grasmũckchen hafdıt mit dem Gatten — 
Da fragen die Lichter, wer küffen will? 
Tus Herz tief duften die Schatten. 

Im Aug! ein Stewn x 
Und ein Aumuck fen — 








— 





„Es würde mich fehr freuen, wenn ich auch als Architelt 
Ehre einlegte mit meinem Werke. Es ijt ja eigentlich nicht mein 
Fach, aber es handelte ſich um Ihren Sommerfiß, mein Fräu— 
lein, und den wollte ich feiner andern Hand überlaffen. Ich 
erbat und erhielt von dem Herrn Präfidenten das Recht, das 
Bergfchlößchen zu erbauen, das, wie er mir mittheilte, zu 
Ihrem ausſchließlichen Eigenthum beftimmt iſt.“ 

Der Hinweis war deutlich genug und auch das von dem Vater 


| 
| 


„Ich muß vor allen Dingen mit meinem Papa ſprechen, was 
er bejtimmt —“ 

„Ich komme focben von ihm,“ fiel Elmhorſt ein, „und ich 
fonme mit feiner vollen Zuſtimmung und Erlaubniß. Darf ich 
ihm mittheilen, daß meine Bitten und Wünſche Erhörung ge: 
funden haben? Darf ich ihm meine Braut zuführen?” 

Alice jah auf, ebenſo fragend und bang wie vorhin, dann 


erwiderte fie Teife: 


ertheilte Recht wide leiſe und doc merflich hervorgehoben; aber | 
die junge Dame erröthete weber dabei, noch gerieth fie in Wers | 


wirrung; fie fagte nur in ihrer matten gleichgültigen Weife: 

„a, Papa hat mir die Villa zum Geſchenk beftimmt; des— 
halb ſoll ich fie auch micht cher fehen, als bis alles vollendet ift. 
Es war ſehr freundlich von Ahnen, Here Eimhorit, den Bau zu 
übernehmen.” 

„Bitte, Toben Sie mich nicht jo unvorfichtig,“ fiel Wolfgang 
rafch ein. 
zu der Aufgabe drängte; denn jeder Baumeijter fordert ſchließlich 
feinen Sohn, und meine Forderung wird Ahnen vielleicht allzu 
hoch erscheinen. Darf ich fie trogdem ausfprechen, eine Bitte 
ausſprechen, die mir Schon fange am Herzen liegt?“ 

Alice Hob Tangfam die großen braunen Mugen zu ihm 
empor; es war ein fragender, beinahe trauriger Blick, der in den 
ihönen energischen Zügen des Mannes irgend etwas zu fuchen 
fhien. Dort jtand allerdings lebhaft gefpannte Erwartung, aber 
weiter auch nichts — und die fragenden Hugen verfchleierten ſich 
twieber unter den langen Wimpern, ohne daß eine Antwort erfolgte. 

Wolfgang fhien das gleichwohl als eine Ermuthigung an: 
zufehen; er erhob ſich und trat an den Sefjel des jungen Mädchens, 
während er fortfuhr: 

„Sie it Fühn, diefe Bitte, ich weiß es, aber ‚mit dem 
Kühnen ift das Glüd! Das fagte ich einft dem Herrn Rräfis 
denten, als ich mir die erfte Vorjtellung bei Ahnen erbat; das 


ift mein ſteler Wahlipruch geweien, und er fol es aud Heute | 
das die Meine Wally vorhin zwiſchen Lachen und Weinen aus: 


fein — tollen Sie mich anhören, Alice?“ 

Sie neigte leicht das Haupt und wiberjtrebte auch nicht, als 
er ihre Hand faßte und fie am feine Lippen zug. Er ſprach 
weiter. Es war ein Antrag in aller Form, und er wurde in chr: 
furchtsvoller ritterficher Weife gejtellt, während die Mangvolle 
Stimme beredt genug die Worte unterjtühte. Nur die Wärme 
fehlte darin; es war eine Bewerbung, feine Liebeserflärung. 

Alice hörte jchweigend, aber ohne Ueberrafchung zu; es war 
ihe längſt fein Geheimniß mehr, daß Elmhorſt um fie warb, 
und fie wußle auch, daß ihr Vater, der ſich anderweitigen Bes 
mühungen gegenüber fehr ablehnend verhielt, gerade ihn begünftigte. 
Er gejtattete dem jungen Manne einen Verkehr und eine Vers 
traulichkeit in feinem Haufe, deren ſich fein anderer rühmen 
durfte, und Hatte fchon verfchiedene Male in Gegenwart feiner 
Tochter nachdrücklichſt cyHlärt, Wolfgang Elmhorſt habe eine be> 
dentende Zukunft vor ſich und das gelte ihm unendlich mehr als 
die Wappenfchilder vomehmer Herren, die mit fremden Gelde 


den verblichenen Glanz ihres Namens wieder herjtellen wollten. | 


Alice ſelbſt war viel zu pafjiv, um in diefem Punkte einen eigenen 
Willen zu haben; man hatte es ihr ja auch von frühefter Jugend 
an eingeprägt, daß eine wohlerzogene junge Dame fich nur nad) 
Bejtimmung der Eltern vermählen dürfe, und fie hätte im dieſem 
fo ganz forreften Antrage ficher nichts vermißt, wenn Wally nicht 
auf die Idee gefommen wäre, fie feierlichit zum Schutzgeiſt ihrer 
Liebe zu erheben. 

Es hatte doch jo ganz anders geflungen, das Flüſtern und 
‘Mandern, das vorhin aus dem Erker zu der Lauſchenden herüber: 
drang, dies Koſen, Troßen, Schmeicheln des übermüthigen 
Mädchens, das gleichwohl mit ganzer Scele an dem viel älteren 
ernften Manne hing! Und welche uberjtrömende Zärtlichkeit kam 
von feinen Lippen! — Hier warb man rejpeftvoll um die Hand 
der reichen Erbin, nur um ihre Hand, von dem Herzen war gar 
nicht die Rede geweſen! 

Voligang hatte geendet und harrte auf Antwort; jegt beugte 
er fid) nieder und fragte vorwurfsvoll: 

„Alice — Haben Sie mir gar nichts zu jagen?“ 

Alice jah wohl ein, daß fie irgend etwas fagen müſſe; aber 
fie war es nicht aewohnt, jelbjtändig zu enticheiden, und ihre 


Antwort Hang denn auch jo, wie es einem Zöglinge der Frau | 


von Lasberg zufam. 


„Es war im Gegentheil ſehr egoiſtiſch, daß ich mich 


„Sie werden viel Nachſicht mit mir haben müſſen. Ich bin 
oft und ſchwer krank gewefen in meinen Kinderjahren, und das 
liegt noch jegt auf mir wie ein Drud, den ich nicht abwerfen 
lann. Sie werden auch darunter leiden, umd ich fürchte —“ 

Sie brach ab, aber es lan etwas findlich Ruhrendes in 
ihrem Ton, im bdiefer Bitte um Nachlicht aus dem Munde der 


‚ jungen Erbin, die mit ihrer Hand einen fürftlichen Reichthum zu 





vergeben hatte. Wolfgang mochte das fühlen; denn zum erjten 
Mal während der ganzen Unterredung brach elwas wie Wärme 
aus feinem Innern hervor. 

„Sprechen Sie nicht weiter, Alice! ch weiß es ja, daß 
Sie eine zarte Natur find, die behütet und geſchützt werben 
muß, und id) werde Sie ſchühen vor jeder rauhen Berührung 
des Lebens. Vertrauen Sie mir, legen Sie Ihre Zuknunft in 
meine Hand und ich veripreche es Ahnen bei meiner —“ Liebe 
hatte ex jagen wollen; aber die Lüge wollte wicht über die Lippen 
des ſtolzen Mannes, der wohl berechnen, aber nicht heucheln 
konnte, er vollendete langſamer — „bei meiner Ehre, Sie jollen 
es nie bereuen!” 

Die Worte Hangen feit und männlich und es war ihm ernſt 
damit. Das empfand auch Alice; willig legte fie ihre Hand in die 
feinige und duldete es, daß er fie in die Arme ſchloß. Die 
Lippen des Bräutigams berührten zum erſten Male die ihrigen; 
er ſprach ihr feinen Dank, feine Freude aus, nannte fie feine 
theure Braut, kurz, die Verlobung vollzog ſich in aller Form. 
Es fehlte nur eine Kleinigkeit dabei, jenes jubelnde Geſtändniß, 


geiprochen hatte: „Ich habe Dich; jo lieb, fo unendlich Lieb!” 


Die Fefträume des Nordheimſchen Haufes ftrahlten im hellſten 
Lichtglanze, man beging zugleich mit dem Geburtöfefte der Tochter 
deren Berlobungsfeier, Es war eine überrafchende Neuigkeit für 
die Gefellfchaft geweſen, die troß aller Gerichte und latfchereien 
doch niemals ernſtlich am diefe Verbindung geglaubt hatte. Es war 
ja auch unerhört, daß ein Mann, der notorifch zu den Meichiten 
des Landes gehörte, die Hand feines einzigen Kindes einem jungen 
Ingenieur zugejtand, der, bürgerlich, aus den einfachiten Berbält- 
niffen hervorgegangen und gänzlich vermögenslos, nichts beſaß, 
als fein Talent, das ihm allerdings die Zufunft verbürgte, 

Daß es fich hier um feine Herzensgefchichte handelte, wußle 
man; Alice nalt überhaupt für ſehr beichränft und feiner tieferen 
Neigung fähig. Trogdem war fie eine Bartie erſten Ranges und 
die Nachricht ihrer Verlobung vief manche bittere Enttänfchung 
hervor in arijtofratiichen Kreifen, wo man ſich um die Erbin be: 
mübt hatte. Diefer Nordheim zeigte wieder einmal, daß er bie 
Vorrechte gar nicht zu ſchaͤtzen veritand, die fein Reichthum ihm 
gewährte. Er Hätte feiner Tochter eine Grafenfrone damit er 
faufen fönnen; ſtatt deſſen fuchte er ſich den Schwiegerſohn unter 
den Beamten feiner Bahngeſellſchaft. Man war förmlich entrüſtet 
darüber; dennoch kam alles zum Feſte, was überhaupt geladen 
war. Man wollte doch den Glückspilz lennenlernen, der all 
den vornehmen Bewerbern den Rang abgelaufen hatte und den 
das Schidjal jo plöplich auf die Höhen des Lebens erhob, indem 
es ihn zum dereinftigen Herrn über Millionen machte. 

Es war kurz vor dem Beginn des Feſtes und ſoeben frat 
ber Präfident mit dem Bräutigam in den großen Empfangsfanl. 
Er war augenscheinlich in bejter Laune und im beiten Einvernehmen 
mit jeinem künftigen Schwiegerſohn. 

„Du mußt Dich ja heute erſt der Reſidenzgeſellſchaft vor 
ftellen, Wolfgang,“ jagte er. „Bei Deinen kurzen flüchtigen Be 
Suchen Haft Du immer nur im unſerer Familie verkehrt. Jetzt 
fnüpfen ſich auch für Dich all diefe Beziehungen an, da Ahr 
Euren fünftigen Wohnfig hier nehmen werdet. Alice it an das 
aropftädtifche Veben gewöhnt und Du wirft aud nichts dagegen 
einzuwenden haben.“ 


— oo 


„Gewiß nicht, Bapa,” verficherte Wolfgang. „Ich liche es ſehr, 
im Mittelpunkte diejes großartigen Lebens und Treibens zu ftehen, | 
es vertrug fich bisher nur nicht mit meinen Berufspflichten. Daß es 
in Zulunft möglich fein wird, fche ich freilich au Deinem Beifpiel. 
Du leiteſt ja von bier aus Deine jämmtlichen Unternehmungen.“ 

„Diefe Thätigfeit fängt aber nachgerade an, erbrüdend zu 
werden,” verfehte Nordheim. „Ach habe es im der Tehten Zeit 
dod) gefühlt, daß ich einer Stüße bedarf, und redjne darauf, dafı 
Du mid theilweife entlafteft. Worläufig bift Du allerdings noch 
unentbehrlich bei Bollendung der Bahnlinie; der Chefingenieur 
mit feiner zunehmenden Kränktichfeit giebt ja einentlich nur den 
Namen her für die oberfte Leitung.“ 

„Ia, fie ruht Ihatfächlich in meinen Händen, und wenn er ganz 
zurücktritt — ich weiß, daß ex ernftlich mit dem Gedanken umgeht — 
fo habe ich Dein Wort, Papa, daß id; fein Nachfolger werbe.” 

„Gewiß, und id) dente, diesmal wird man mir feine Schwierig: | 
feiten dabei machen. Es ijt freilich wohl das erfte Mal, daß ein 
Mann in Deinen Jahren an die Spite eines ſolchen Unternehmens 
neitellt wird; aber Dur Teifteft mit der Worfenfteiner Brüde Dein 
Probeftüd, und meinem künftigen Schwiegerſohne darf man die 
erſte Stellung überhaupt nicht vertveigern.” 

„Du giebft mir viel mit diefem Familienbande, Bapa, id) | 
weiß es,“ fagte Elmhorſt ernſt, „unendlich viel — id fann Dir | 
une einen Sohn dafür geben.“ 

Die Augen des Präfidenten ruhten nachdenklich auf dem Antlitz 
des Sprechenden, und mit einem Anflug von Wärme, der bei dem 
fühlen Geſchäftsmann äußert felten war, entgegnete er: 

„Ich Hatte einen einzigen Sohn, an den ſich all meine Pläne 
und Hoffnungen knüpften; er ftarb Schon im Kindesalter und 
es ijt mir oft ein bitterer Gedanke geweſen, daß irgend ein vor- | 
nehmer Nichtsthuer die Früchte meiner Arbeit ernten und ver: 
geuden könne, wo id) gefammelt habe, Zu Dir habe ich ein 
befferes Vertrauen; Du wirst fortführen und erhalten, was id) 
ſchuf, wirft vollenden, was ich vielleicht unfertig zurüdlaffen muß; 
in Deine Hände lann ich dereinft auch mein geijtiges Erbe legen.“ 

„Und ich werde es zu wahren willen,“ ergänzte Wolfgang 
mit einem feften Händedruck, der ebenjo erwibert wurde. (Es 
fanden fi ja hier zwei durchaus gleichartige Naturen zufammen ; 
aber es war doch ein merkwürdiges Geſpräch bei der Verfobungs: 
feier in Erwartung der jungen Braut. Die beiden ſprachen 
ausjchließlich von ihren Angelegenheiten und Plänen; Alice wurde 
dabei gar nicht erwähnt. Der Vater forderte alles Mögliche von 
feinem fünftigen Schwiegerfohn; das Glüd feiner Tochter zu 
fordern fiel ihm nicht ein, und der Bräutigam, der fo Har die 
Vortheile diefes „Familienbandes“ erkannte, nannte nicht einmal | 
den Namen feiner Braut. Sie redeten von Bauten und Brüden, 
von dem Chefingenieur und der — *— fo kühl und | 
aefhäftsmäßig, ala ob es fich um eine Kompagnonſchaft handelte, 
die heute zwiſchen ihnen abgefchloffen wurde, und im Grunde | 
war es ja auch nichts anderes; fie hätten beide die Verwandt: 
ſchaft dabei entbehren können. Die Herren wurden aber jebt | 
unterbrochen; es trat ein Diener heran, um den Befehl des 
Präfidenten bei einer Anordnung der Tafel zu erbitten, und Nord» 
heim fand es für nöthig, ſelbſt in den Speifefaal zu gehen, um 
die Entiheidung an Ort und Stelle zu treffen. Es war noch zu 
früh für die Ankunft der Gäfte und auch die Damen des Hauſes | 
zeigten fi) noch nicht. Die Diener waren bei der Tafel beſchäftigt 
oder Schon auf ihren Boten in den Vorzimmern und Wolfgang 
befand ſich augenblidlich allein in den Gejellfchaftsräumen, welche 
das ganze oberite Stodwert des Hauſes einnahmen. 

Bon dem großen Empfangsfaal, mit feinen purpurfarbenen | 


Tapeten und Sammetvorhängen, zwiſchen denen überall die reichjte 
Bergoldung bligte, überfah man die ganze Flucht diefer Räume, 
eine Reihe von Gemädern, deren Pracht gerade jegt, wo fie noch 
leer und einfam waren, um jo blendender hervortrat. Ueberall 
eine verſchwenderiſche Fülle von koftbaren Gegenftänden; überall 
Gemälde, Statuen und fonjtige Kunſtwerle, von denen jedes 
einzelne ein Heines Vermögen geloftet Hatte, und am Ende der 
fangen Zimmerreihe, wie ein märchenhafter Abſchluß all dieies 
Ganzes, der nur matt erhellte Wintergarten, der eine exotifche 
Pilanzenwelt von feltener Pracht barg. In der nächſten Stunde | 
füllten fich diefe lichtſtrahlenden blumenducchdufteten Säle mit den 
erſten Berfönlichkeiten der Reſidenzgeſellſchaft, die ſämmtlich im 
Haufe des Eifenbahnfürjten verkehrten, 





459 


— 


Wolfgang ftand regungslos da und Tief; feine Blicke fang- 
fam umberfchtweifen. Es war in der That ein beraufchendes 
Gefühl, ſich als Sohn diefes Haufes zu wiſſen, als bereinftiger 
Erbe all diejer Herrlichkeit. Man konnte es dem jungen Manne 
nicht verdenfen, daß feine Bruft ſich ſtolzer hob und feine Augen 
triumphirender aufblisten. Er Hatte das Wort gelöft, das er 
ſich jelbft gegeben, und den fühnen Plan verwirklicht, den er einft 
dem Freunde anvertrante; ex hatte den Flug gewagt und die Höhe 
erreicht. In dem Alter, wo andere erſt anfangen, ſich ihre Zukunft 
zu erbauen, riß er fie mit einem Lühnen Griffe vollendet an fi. 
Jetzt ftand er droben auf dem einjt extränmten Gipfel, und fie 
nahm ſich Schön aus, die Welt, die da unten zu feinen Füßen faq. 

Da wurde die Thür des Saales geöffnet; Elmhorſt wandte 
ſich um und that einige Schritte dorthin, blieb aber plötzlich ſtehen; 
denn ftatt feiner Braut, die ertvartet wurde, trat Erna von Thurgau 
ein. Sie ſah jetzt freilich anders aus, al3 damals, wo fie mit 
dem verirrten Bergivanderer an den Mbhängen des Wolfenftein 


zuſammentraf. Das ungeftüme Kind, das in feinen Bergen fo frei 


und feffellos aufgetwachjen war, hatte nicht umſonſt drei Jahre in dem 
vornehmen Hauſe des Onkels gelebt und die „Drefjur“ der Frau 
von Lasberg über fich ergehen lafien. Die Heine Alpenrofe Hatte 
ſich in eine junge Dame verwandelt, die mit vollendeter Grazie, 
aber auch mit vollendeter Förmlichleit die Verneigung Wolfgangs 
erwiberte; aber ſchön war fie geworden, biendend ſchön! 

Die einft fo findlichen Züge hatten fich zur volliten Negel- 
mäßigfeit entwidelt; fie blühten auch jet noch in rofiner Friſche; 
aber es lag ein Hauch von Ernft und Kälte darauf, den das 
frohe, übermüthige Kind des Freiheren von Thurgau nie gefannt ' 
hatte, und auch die Mugen leuchteten nicht mehr in unbetümmerter, 
lachender Jugendluft. Jehtt barg ſich etwas anderes in dieſen 
feuchten fchimmernden Tiefen, xäthjelhaft wie die Fluthen der 
heimifchen Bergfeen, von denen fie ihre Farbe entlehnten, und 
geheimnißvoll und mächtig anziehend wie dieſe Fiuth felbit. 
ebenfalls war es eine hohe ftolze Erſcheinung, die da im bfen- 
denden Ganze des Kronleuchters ftand, in dem duftigen weißen 
Gewande, das nur einzelne Seerofen fchmüdten. Den gleichen 
Schmud trug das Haar, das freilich nicht mehr in wilden Loden 
um die Stirn flatterte; aber die Mode erlaubte ihm doch, feine 
ganze Fülle zu zeigen, und die mattſchimmernde weiße Blume 
lag wie bingeftreut in den blonden Haarwellen. 

„Alice und Frau von Sasberg werden ſogleich ericheinen,“ 
fagte fie, vollends in den Saal tretend. „Id glaubte, der Onfel 
fei ſchon Bier.” 

„Er iſt augenblidlih im Speifefaale,“ verfeßte Elmhorſt, 
deſſen Begrüßung ebenfo förmlich geweien war wie die ihrige. 

Erna machte eine Bewegung, als wolle fie dem Präfidenten 
dorthin folgen; es jchien ihr aber doch einzufallen, daß Dies eine 
Unhöflichkeit gegen den nunmehrigen Verwandten fei; fie blieb 
ftehen und fandte einen prüfenden Blick durch die lange Zimmerreihe. 

„Sie ſehen die Feſträume ja wohl zum erften Male in ihrem 
vollen Glanze, Here Elmhorft? Sie find ſchön, nicht wahr?“ 

„Sehr ſchön! Und wenn man, wie ich, aus der winter 
lichen Einjamfeit der Berge kommt, machen fie einen geradezu 
biendenden Eindrud.” 

„Mich hat es auch geblendet, als ich hierherlam,“ jagte die junge 
Dame gleichgültig; „aber man gewöhnt fid) jchr leicht an derartige 
Umgebungen; die Erfahrung werben Sie auch machen, wenn Ste 
Iren fünstigen Wohnfig Hier nehmen. Es bleibt alfo dabei, daß 
Ihre Bermählung mit Mlice erſt in einem Jahre gefeiert wird?” 

„Allerdings — im nächſten Frühjahr.” 

„Das ijt ein etwas langer Termin. 
damit einverjtanden?“ 

Dem Bräutigam ſchien merlwürdigerweiſe dies Geipräd über 
jeine Vermählung läjtig zu fein. Er betrachtete angelegentlich 
eine große Majolifavaje, die in feiner Nähe ftand, und eriiderte, 
offenbar bejtrebt, auf ein anderes Thema überzugehen: 

„Ich muß es wohl fein, da ich vorläufig weder über meine 
Zeit, noch über meinen Aufenthalt frei verfügen fan. Es handelt 
ſich zumächit um die Vollendung der Gebirgsbahn, deren Ober 
ingenieur ich bin.“ 

„Sind Eie denn fo feſt gebunden?“ fragte Erna mit leiſem 
Spott. „Sch ſollte meinen, es könnte Ihnen nicht ſchwer werben, 
fi) frei zu machen.” 

„Brei zu machen — wovon?“ 


Sind Sie wirklich 


„Von einem Berufe, den Sie fpäter doch jedenfalls auf: 
eben werden.“ 

„Nehmen Sie das als fo felbjtverjtändlid an, anädiges 
Fräulein ?“ fagte Wolfgang, gereizt durd ihren Ton. „Ich wühte 
in der That nicht, was mic dazu veranlafien follte.“ 

„Nun, einfach die Stellung, die Sie in Zukunft einnehmen — 
als Gemahl von Alice Nordheim.” 

Die Stirn bes Oberingenieurs färbte ſich dunkelroth und 
ein drohender Blick traf die junge Dame, die es wagte, ihu 
daran zu erinnern, daß er cine Geldheirath machte, Sie lächelte 
zwar und ihre Bemerkung Hang ſcherzhaft; 
redeten eine andere, verächtlichere Sprache, die er nur zu gut ver— 
itand. Doch Wolfgang Elmhorſt war nicht cin Mann, den man jo 
ohne weiteres mit der Verachtung des Glüdsrittertfums abfertigen 
fonnte; er lächelte aleichfalls und erwiderte mit kühler Artigkeit: 

„Ich bedaure fehr, mein Fräulein, aber da befinden Sie id) 
doch im Irrthum. Mir ijt der Beruf, die Arbeit ein Lebensbe— 
dürfnig; zum thatenfofen trägen Genuß des Lebens bin ich nicht 
gefchaffen. Das ſcheint Sie allerdings zu befremden —“ 

„Durchaus nicht,” fiel Erna ein. „Ich beareife es vollfommen, 
daß ein echter Mann ſich einzig und allein anf bie eigene Kraft ftellt.“ 

Wolfgang biß ſich auf die Lippen, aber er parirte and) 
diefen Schlag. ‘ 

„Ich darf das wohl als ein Kompliment nehmen. Ich habe 
mich allerdings qanz auf meine eigene Kraft geitellt, als ich den 
Plan zu der Wolfenfteiner Brüde entwarf, und ich hoffe, mit 
meinem Werfe Ehre einzulegen, felbit als Gemahl von Alice 
Nordheim. Doch Verzeihung, das find Dinge, die eine Dame | 
nicht intereffiren können.” 

„Mich intereffiren fie," ſagle Erna herb. „Es war ja mein | 
Baterhaus, das dieſer Brüce weichen mußte, und hr Merf hat 
noch ein anderes, ſchwereres Opfer von mir gefordert.“ 


„Das mir wie verzichen worben ift, ich weiß e3,” ergänzte | 


Wolfgang. „Sie laſſen mich noch immer einen unfeligen Zufall 
büßen und Ahr Gerechtigkeitsgefühl müßte Ihnen doch jagen, dat; 
ich den Vorwurf nicht verdiene.“ 

„sch mache Ihnen feinen Vorwurf, Herr Elmhorſt.“ 


„Sie Haben ihm mir gemacht, in jener verhänguißvollen | 


Stunde, und Eie thun es noch heute.* 

Erna gab feine Antwort, aber ihre Schweigen war beredt 
genug. Elmhorſt ſchien doch eine, wenn auch nur formelle Ab— 
wehr erwartet zu haben; denn in feiner Stimme verrieth fich eine 
aufquellende Bitterkeit, als er fortfuhr: 

Ich Habe es ſelbſt am meiſten bellagt, daß grade ich dazu 


auserſehen wurde, die lebte Verhandlung mit Baron Thurgau | 


zu führen. Gefährt mußte fie unter allen Umſtänden werden, 
und ihr trauriger Schluß Tag außerhalb jeder menſchlichen Be— 





—— 


HK“ kommt es manchem Maler zu statten, wen er fich | 
durch Noth und Zrangſal zur Gellung und Auerlennung 
hindurchringen muß. Die Energie, mit welcher er allerlei Ent- 
behrungen und Gegnerichaften zu bekämpfen hat, mag mitunter 
feine Kühnheit und fein Selbjtvertrauen Heben ſowie die Ent: 
ichiedenheit feiner Geſtaltungskraft ſteigern. Allein nicht immer 
itchen Mühſale und das raſchere Neifen künſtleriſcher Fähigleiten 
in einer fürderlichen Wechſelwirkung. Mancher Kunſtjünger unter: 
liegt im Kampfe mit des Lebens Noth; der größte Kraftaufivand 
bleibt oft unfruchtbar, wenn nicht gute Menfchen, wohlwollende 
Lehrer und nünftige Aufälle den jungen Künſtler fügen. Beſſer 
entwideln jich vorhandene Anlagen 
forgenfreien Lebenslage; Kunſtwerke werden ſicherer befriedigen, 
wenn jie bei voller Muße, in glüdshellen Stunden geſchaffen 
wurden, als wenn fie bloße Schmerzenskinder find. 

Hermann Kaulbach gehört nun zu jenen Künſtlern, welche 
ihre Schaffenskraft unter den gänftigiten Lebensverhaltniſſen zur 
Entwickelung bringen konnten. Als einziger Sohn des großen 
Meiſters Wilhelm von Kaulbach, des vormaligen Direltors der 
Münchener Kunſtakademie, verbrachte er feine Jugend unter den 
erziehlidhen Einflüſſen einfichtsvoller Lehrer. Schon als Knabe 
befaß Hermanı eine lebhafte Ehantafie und den Drang, dem 
Spiele feiner Vorftellungen und den Einflüffen auf fein Empfinden 


460 


aber ihre Mugen | 


unter dem Schutze einer | 


° — 


rechnung. Nicht ich, mein Fräulein, die eiſerne Nothwendigkeit 
verlangte das Opfer Ihres Vaterhanfes; die Wolkenſteiner Brücke 
iſt daran ebenſo unſchuldig wie ich Telbjt.“ 

„Ich weiß es,“ erllaärte Erna kalt; „aber es giebt Fälle, 
in denen man nun einmal nicht gerecht fein kann; das follten 
Sie einfehen, Herr Elmborft. Sie find jebt ein Glied unferer 
| Familie geworben und dirjen überzeugt fein, daß ich Ihnen feine 
‚ einzige der Rüdfichten verweigern werde, die der nunmehrige Ber: 
wandte fordern darf — über meine Gefühle habe ich niemand 
Rechenſchaft zu geben.“ 

Wolfgang richtete den Blick voll und finfter auf ihr Geficht. 

„Das heißt mit andern Worten: Sie. haſſen mein Wert 
und — mid?“ 

Erna ſchwieg; fie hatte längſt den Kindertrotz abgelegt, mit 
| dem fie einſt dem fremden Manne ins Geficht fante, daß fie 
ihm nicht leiden mochte, mit dem fie voll Empörung feinen Spott 
über ihre VBergjagen zurücwies. Die junge Dame wuhte jetzt 
ſehr genau, daß fid) das nicht Schide, und fie ftand auch in voll: 
fommen ruhiger Haltung vor ihm, mit unbewegten Bügen. Aber 
| ihre Augen hatten es noch nicht verlernt, aufzuflammen, und was 

in diefem Moment darans hervorbrach, verrieth, da die ſtürmiſche 
Natur des Mädchens nur äußerlich gebändigt war, daß fie nod) 
‚unberührt im der Tiefe fchlummerte. Sie flammten wie Blibe, 
| diefe Mugen, und ſprachen ein glühendes, energiſches Ja zu der 
legten Frage, wenn auch die Lippen ftumm blieben. 
Wolfgang Fonnte das unmöglich mißverſtehen, und doch 
| hing jein Blid an diefen feindfeligen, dunkelblauen Tiefen, als 
hätten fie die Macht, ihn feitzuhalten, freilich nur einige Sekunden; 
dann wandte fi ich Erna ab und ſagte in leichtem Tone: 
„Wir find wahrhaftig in ein ſeltſames Geſpräch gerathen! 
ir reden von Opfern, von Haß und Vorwürfen, uud das alles 
| an Ihrem Verlobungstage!“ 

Wolfgang trat mit einer raſchen, beinahe heftigen Bewegung 
zuräd. 

„Sie haben recht, 
\ anderen Dingen!“ 

Sie redeten gleichwohl nicht: es trat vielmehr ein Schweigen 
ein, das drüdend war für beide. Die junge Dame Hatte fich 
niedergelaſſen und ftubirte angelegentlic die Zeichnung ihres 
Fächers, während ihr Gefährte auf die Schwelle des nächſten 
Gemaches trat und noch einmal die Prachträume zu muſtern 
ſchien; aber feine Züge verriethen jegt nichts mehr von der ftolzen 
Genugthuung, die er eine Viertelftunde vorher bei diefer Mujte- 
rung empfunden Hatte; es lag ein tief gereister Ausdruck auf 
denfelben. 

Da öffnete fid die Thür des Eimpfangsiaales von neuen; Alice 
und Frau von Lasberg traten cin. (Kortjetung folgt.) 








anädiges Fräulein — reden wir von 





Kanlbad. 


einen künstlerischen Ausdrud zu geben; er machte mit großer 
' Leichtigkeit kurze Gedichte, in welchen fein gutes, weiches Herz 
lebhaft und Licbenswärdig das Wort nahm. Schon als fünf 
jähriger Knabe hat Hermann gereimte Verſe aus dem Stegreif 
vor jich hingeſagt. Geibel, Bodenftedt und andere Freunde der 
Familie Wilhelm von Kaulbachs meinten, da fi aus Hermanı 
ein bedeutender Dichter entwideln werde. Hermann Kaulbach 
würde vielleicht ein tüchtiger Schriftſteller geworden fein, wenn 
er nicht jener Poeſie dienjtbar geworden wäre, welche in Werten 
der bildenden Kunſt ihr Heim findet. Bezeichnend iſt es für 
jein Weſen, daß er als Knabe den Werth von Spielfadyen gering 
anſchlug, dafür aber um fo lieber mit Thieven verkehrte. Ex be 
fan ein Zimmer für Schlangen, weldye er fütterte, pflegte, be 
obachtete und andichtete; Füchſe, Hunde, Tauben, Truthähne und 
Pfauen waren feine Spielgenoflen und treuen Freunde, Ahnen 
erichloß er fein mildes Herz, während er Menichen gegenüber 
jtill, ernſt und verichloffen blieb. 

Wilhelm von Kaulbach, welcher ſich viel mit feinem Sohue 
abgab, nahm ihn nach Berlin, wo er dem Vater zuſah, wie er 
jeine weltberühmten Bilder auf die Wand zauberte. Dabei 
mag ſich in der reizbaren Phantaſie des hochbegabten Knaben 
der Drang nach künſtleriſchem Beftalten eutwidelt haben. In 
Nürnberg, wo cr fpäter das Gymnaſium befucht hatte, zeichnete 


und malte cr im Haufe feines 
Schwagers Kreling, des Leiters 
ber Nürnberger Kunſtgewerbeſchule, 
ohne methodifche Anleitung und 
nur deshalb, weil er am Nadj: 
bilden der Natırformen Vergnügen 
fand. Voet ift Hermann Kaulbach 
geblieben, auch als er aufgehört 
hatte, Berfe zu machen, Dan 
fiebt es ja im feinen Gemälden, 
wie er die Poeſie der fFrauen- und 
Kinderanmuth zu verfinnlichen ver: 
ſteht, Leuchtet doch diefe Art von 
Voeſie in fein eigenes Leben hinein. 
Hermann lernte nämlich, noch jung 
an Jahren, die ebenfo anmuthige 
wie geiſtesfriſche Tochter eines 
Nürnberger Künftlers kennen, ge: 
ftand nicht nur ihr, fondern auch 
dem Water feine Liebe, und die 
Verlobung fand ftatt. 

Hermann Kaulbach wollte ur- 
ſprünglich Arzt werden und befuchte 
bereits die Borlefungen Liebigs, 
Jollys und anderer Univerfitäts- 
lehrer, als Karl von Piloty einmal 
die Studienköpfe entdedte, welche 
Hermann zum Zeitvertreib zeichnete. 
Piloty redete num dem gnewediten 
Nünglinge zu, doch Maler zu 
werden. Wilhelm von Kaulbadı 
hatte dagegen um jo weniaer etwas 
einzuwenden, ala jich Piloty, der 
vortreffliche Kunſtlehrer, erbot, den 
vielveriprechenden Scyüler in jeinem 
eigenen Atelier zu unterrichten. 
Dermann verbradjte nun mehrere 
Yernjahre unter dem wohlthätigen 
Einfluffe Piloihys, welcher dem 
jungen Künſtler befonders feit einer 
aemeinichaftlich nach Venedig unter: 
nommenen Reiſe in treuer Freund 
ſchaſt zugethan blieb. 

Die Liebe fürderte die Fünft 
leriijche Entwidelung Hermanns. 
Früher darfit Dur nicht heiraiben, 
bis Tu Dein erites Bild verkauft 
haben wirft,“ ſprach Wilhelm von 
Kanlbach zu feinem Sohne, umd 
diefe Worte beflügelten den Lern— 
eifer des jungen Malers. Das erjte 
Bild Hermanns war ein fchlichtes 
Stillleben, von dejien Verkauf der 
innialte Zuſammenſchluß zweier 
hoffender Herzen abhing. Plößzlich 
fam ein Kaufer, welcher dem jungen 
Maler vierhundert Gulden für die: 
jes Stillleben ausbezablen lieh, und 
jubelnd fam der qlüdliche Bräutigam 
nach Hauſe. Da aber ſaß jtill Lächelnd 
der edle Nunjtmäcen vor einem Glaſe 
Wein und vor dem eben angelauften 
Bilde Hermanns. „Evviva! liches 
Kind!“ rief Meifter Wilhelm Raul 
bad) feinem Sohne entgegen; „wann 
macht Du Hochzeit?” Heute hängt 
das cerite Bild Hermanns in dem 
Arbeitszimmer der acijtvollen Gat— 
tin des Künstlers und ficht auf das 
häusliche Glüd desielben herab. 

Die innigen Hergensbeziehungen 
Karl v. Pilotys zu feinem Schüler 
Hermann Kaulbach fanden auch 
darin ihren Ausdrud, daß Piloty, 


1888 





„Mäöchenblüthe.“ 


Ha dem Gemälde von Hermann Kaulbad. 





einen Sohn Hermann Kaulbachs 
aus der Taufe hebend, jeinem 
Pathenlind geftattete, nad) amerika 
niſcher Sitte den Namen Piloty 
Kaulbach zu führen. Als Karl 
v. Biloty vor zwei Jahren das Bild 
9. Kaulbachs „Die Krönung der 
heiligen Elifabeth“ (fiche „arten 
faube* Jahrg. 1986, 5.708. 1.709) 
der Bollendung nahe auf der Staffe 
lei nefehen, regte er es an, daß der 
Schöpfer diefes edlen Bildes zum 
Ehrenmitgliede der Münchener Afa 
demie der bildenden Künſte er 
nannt wurde Dieſe Ernennung 
erfolate einftimmig. Piloty war 
eben ein neiblofer und warmherziger 
Klinftler, welchem es immer eine 
aufrichtige Freude bereitet hatte, 
die Vorzüge feiner Kunſtgenoſſen 
rüdhaltlos anzuerkennen. — Da 
Profejlor Hermann Kaulbach das 
Glüd feiner Jugend dem Umftande 
verdankte, daß fich feine Anlagen 
zwanglos entfalten, feine Herzens 
wünsche frei offenbaren durften, So 
hat ex die Freiheit und verſönliches 
Ungebundenfein fchäten gelernt und 
ift jpäter einer jeden Zwangsſtellung 
im Leben aus dem Wege gegangen. 
Seine Schen vor Zwangslagen acht 
fogar fo weit, daß er gegenüber 
Kunſthändlern und Kunſffreunden, 
welche ein kanm angefangenes Ge 
mälde von ihm erwerben wollen, 
abtwehrend zu bemerfen pflegt, doch 
lieber zu warten, bis das Bild zu 
Ende gemalt fein werde. Seinen 
Drang, als Künſtler ungefeſſelt zu 
bleiben, findet Hermann Kaulbach tn 
dem von ihm oft wiederholten Sinn 
ſpruch Raul Heyfes prägnant aus 
gedrüdt: 

„Mir ward ein Hlüd, das ich höher 

ſchatzie 

Als alles Gold in Perus Ebene: 

Ach Latte niemals Vorgeſebte 

Und niemals Untergebene!” 

Bei Hermann Kaulbach bewährte 
es ſich, daß eine fücdhlige Schulbil 
dung die fünftleriiche Entwidelung 
fürdere. Sein feiner Geſchmack ist 
nicht nur die Folge eifriger, ted) 
nifcher Studien, fondern auch die 
Konſequenz einer gewählten Lektüre, 
welche ihm, dem Biltorienmaler, 
aejtattet, immer neue bedeutfame 
Stoffe fie feine Bilder zu finden 
Die techniſche Befangenheit, welche 
feinen Erſtlingswerlen noch au 
haftete, wurde immer entſchiedener 
überwunden und ein erjtes größeres 
Bild „Der fterbende Muzart bei 
Aufführung feines Requiems“ hat 
im Jahre 1872 in Wien ebenfo 
eine goldene Ehrenmedaille errun— 
aen, wie fein Tehtes Gemälde „Die 
Krönung der beilinen Eliſabeth“ 
in der Berliner Nubilaumsans- 
jtellung. 

Vortheilhaft befannt find Her 
mann Kaulbachs Taritellungen zu 
den Nomanen von Übers und 
von Guſtav Freytag, und an don 


d9 


— 9 


SMuftrationen zu Hüderts „Licbesfrüpling“ kann man die viel: 
feitige Geftaltungstraft des Künſtlers erkennen und würdigen. 
Zwölf Bilder zu deutlichen und italienifchen Opern erweiſen eben: 


falls 9. Kaulbachs Finftleriidy vege und friſche Phantaſie, welche | 


außerdem in feinen voriqinellen Hofnarrenbildern ausblüht, die 
leider zu wenig befannt geworden find, weil fie — faum- fertig 
gemalt — von Sunftfrennden erworben wurden. Hoffentlich 
wird der Künſtler diefe eigenartigen Bilder in einem Sammel 
werte heransgeben. Eines derfelben, „Der Berzensvertrante”, 
hat die „Sartenlaube” im Jahrgang 1887, Seite 21 wicder- 
gegeben. Das Bild, welches unfere Heutige Nummer fchmüdt, 


462 





enge 


oe — 


„Mädchenblüthe*, ift, wie wir verrathen wollen, das Porträt 
feiner Tochter. 

Der Entwwidelungsprozeh bewegt ſich bei Hermann Kaulbach, 
der jet zweinndvierzig Jahre alt ift, noch immer in aufiteigender 
Linie, denn von Bild zu Bild wächſt fein Können und der 
Werth des von ihm Gefchaffenen. Gleichwohl bewahrt fich dieſer 
Diftorienmaler feine Tiebenswürdige Beſcheidenheit, da er als 
denfender, ftrenge Selbſtzucht haltender Küuſtler genau weiß, daß 


die äußerſten Grenzen der Kunſt ebenjo wie die. Ichten Grenz— 


linien des Willens einem jeden gewiſſenhaft Strebenden uner— 
richbar erfcheinen. Dr. Adalbert Zvoboda. 


Der Hypnotismus, fein Nutzen und feine Gefabren. 
1. Pie wiſſenſchaftliche Forfdiung. 


rofeffor J. N von Nußbaum erzählt in feinem jüngſt er: | 
ſchienenen Bortrane „Neue Heilmittel für Nerven“*, daß er | 


vor 30 Jahren in Paris Situngen beiwohnte, im welchen 
Erperimente mit dem ſogenannlen tbierifchen Magnetismus an 
gejtellt wurden. 
„hätten natürlich das höchſte Antereffe daran achabt, eingejchläfert 
zu-werden, um alles dabei Vorlommende möglichjt ſelbſt durd): 
zumachen; allein es ift bei feinem einzigen von ums gelungen, 
ihn einzuschläfern, fo daß die franzöfifchen Aerzte, die ſich damit 
befchäftigten, immer ungehalten wurden, wenn wieder einer bon 
ung hypnotiſirt werden wollte „Les Allemands paflen nicht 
bierfür,‘ meinten fie. Bon den anweſenden Pariſern ift es da 
negen ſtets aclungen, mindejtens die Hälfte einzuſchläfern.“ Pro— 
feſſor von Nufbaum hat auch fpäter auf feiner Klinik in München 
ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Deutſchen paßten nicht für 
hypnotiſche Erperimente, fie waren dazu Weniger veranlagt als 
die Franzofen. 

Dies mag wohl mit der Grund geweſen fein, warum ber 
Hypunotismus in Deutſchland fo geringe Fortichritie gemacht bat 
und bis vor wenigen Jahren von den wilienichaftlichen Autoritäten 
die fonderbaren Ericheinungen desfelben in das Gebiet der Fabel 
oder des Schwindels verwieſen wurden. Dazu kam ja noch, daß die 
gelehrigen Scyüler Anton Mesmers, der am Ende des vorigen Jahr: 


hunderts als der größte Apoftel des „thieriichen Magnetismus“ auf | 


getreten war, durch ihre Schwindeleien die ganze Lehre in den ärgften 
Mißkredit gebradıt hatten, fo daß ſchon eine einfadhe Beſchäftigung 
mit derartigen Erperimenten als etwas Ungeheuerliches und Un» 
reelles betrachtet wurde. Das Boruribeil in den fachwiſſenſchaft⸗ 


lichen Kreiſen war fo feitgerwurzelt, daß ſelbſt die ſchlagendſten 


Forſchungen eines ernft die Wahrheit fuchenden Arztes, wie die 
von James Braid in den vierziger Jahren diejes Jahrhunderts, 
umnberädfichtigt geblieben find und bis auf die meuejte Zeit faſt 
gänzlich vergeſſen wurden. 

Heute iſt es aber anders geworden. Es fanden ſich Meifter, 


welche aud) die Deutjchen in der Kunſt des Hypnotiſirens unters | 


richteten, und wenn wir an die Scauftellungen Hanfens und 
feiner Nachfolger denken, fo müflen wir zugeben, daß nun— 
mehr auch die Deutſchen für den Hypnotismus ſich eignen. 
wer die Tageslitteratur und die Fachzeitſchriften nach dieſer 
Nichtung bin prüft, der wird finden, daß wir troß unſerer ge— 
ringeren Weranlaqung zum Hypnotismus an Auswüchſen des: 
felben zu leiden haben, beinahe ebenfo wie die leichter empfäng— 
lichen Nachbarn jenfeit der Vogeſen. Selbft die Behörden mußten 
aenen den hypnotiſchen Unfug bei uns cinfchreiten, und aud) die 
voltsthümliche Breffe hat die Pflicht, weitere Vollskreiſe 
auf die Öefahren des Hypnotismus aufmerffam zu machen. 
Gleichzeitig darf man die überraſchenden Thatſachen, welche eine 
durchaus vornetheilsireie Forſchung zu Tage gefördert hat, nicht 
einfach leugnen. Man muß Tozufagen ſtreng zwiſchen wiſſenſchaft⸗ 
licher Forſchung auf diefem Gebiete der Nervenerfcheinungen und 
einer laienhaften Erperimentirfucht unterscheiden. Von der eriten 


„Wir deutfchen Mediziner,“ ſagt der Verfaſſer, 


a, | 





es dem größten Gelehrten nicht möglich, nad) dem gegentwärtigen 
Stande der Wiſſenſchaft diefen Wunfch zu erfüllen. Wir fünnen 
nur fagen, daß der Hypnotiſirte fi) in einem eigenartigen Yu: 
ftand befindet, der dem gewöhnlichen Schlaf in mancher Vezichung 
wicht unähnlich, in vieler Hinficht aber von diefem durchaus vers 
ſchieden ift und darum wohl in früheren Seiten „magnetifcher 
Schlaf” genannt wurde, 

Am leichteften können wir durch Unführen einiger Beifpiele dem 
Laien einen Begriff von dem Wefen des Hypnotismus ermöglichen. 

Früher glaubte man, daß nur einige wenige Menfchen bie 
befondere Eigenfchaft hätten, bei andern den hypnotiſchen Zuftand 
bhervorzurufen, nannte fie „Magnetifeure” und behauptete, fie be: 
fäßen ein bejonderes „magnetiſches Fluidum“. Dept wiſſen wir, 
daß jedermann, der die nöthigen Vorlenntniſſe fich erworben hat, 
andere hypnotiſiren kann, und daß cs cine ganze Reihe von 
Mitteln giebt, durch welche dieſes Ziel erreicht wird. 

Der befannte Magnetifeur Abbe Faria, der zu Anfang dieſes 
Jahrhunderts in Frankreich wirkte, pflegte feine Patienten zu über: 
raschen, indem er ihnen plötzlich die Hände entgenenftredte und 
befehlend rief: „Schlafe!“ Es gelang ihm, auf dieſe Weife viele 
zu hypnotiſiren. Braid lich die Patienten einen glänzenden 
Gegenftand (Glastnopf ıc.) firiven, und diefe zuverläffigere Methode 
wird heute noch am häufigsten angewandt. Heidenhain verfegte feine 
Studenten dadurch in Schlaf, daß er fie mit geichloffenen Augen 
auf das Tiefen einer Taſchenuhr horchen lich. Andere wieder wenden 
die fogenannten „Paſſes“ an, Stridye, bei weldyen die Handſlächen 
in der Nähe des Körpers lanafam und immer in der gleichen 
Richtung bewegt werden. Es find dies alles Methoden, bei welchen 
länger andauernde, gleihmäßige Sinnesreize die Hauptſache 
bilden. 

Früher glaubte man aud), daß nur ein geringer Bruchtheil 
der Menfchen (namentlih Nervenſchwache und Nervenkranke) hop: 
notifirt werden fünne Je mehr aber die Wiſſenſchaft Fortichritt, 
deſto größer wurde jener Bruchtheil, und heute nehmen einige 
der Gelchrten an, daß wohl alle Menſchen hypnotiſirt werden 
fünnen, jobald man die für jeden am beiten gecignete Methode 
zur Anwendung bringe. Endlich kann man ſich felbit, ohne Zu- 
ihun einer zweiten Berfon, in den Auftand der Hypuoſe verichen, 
was fchon Braid an fich ſelbſt bewies. 

Welches find nun die Erfcheinungen des magnetischen Schlafes 
oder der Hypnoſe? Auch auf diefe Frage läßt ſich Feine eng be- 
grenzte Antwort geben; denn die Erſcheinungen find fo mannig- 
faltig, wechſeln fo ftark je nad) dem Grade des Schlafes umd der 


Individualität des Hypnotiſirten, daß es der Wiſſenſchaft bis jept 


lonnen wie neue Aufſchlüſſe über ein noch ſehr dunkles Gebiet er: | 


warten; letztere Faun nur Verwirrung bringen und Schaden ſtiften. 
Was iſt nun Hypnotismus? wird zunächft der Laie fragen 
und eine genaue Definition desſelben haben wollen. Leider iſt 


*Eduard Treweudt, Breslau 1888, 


| 


nicht gelungen iſt, fie in ein unanfechtbares Syſſem zu ordnen, 
Je nach der Tiefe des Schlafes unterſcheidet Charcot z. B. drei 
und Liegeois ſechs Stufenleitern der Hypnoſe. An dieſer Ab: 
handlung, welche für Laien bejtimmt it, glauben wir, von einem 
näheren Eingehen auf den fataleptiichen, lethargiſchen oder fomnam- 
bulen Zuſtand abfehen zu dürfen. Wie groß die Unterichiede 
zwilchen dem einen und dem anderen fein fünnen, mag nur an 
einem Beiſpiel erläutert werden. 

In der volljtändigen Hupnofe twird das Gefühl derart ab: 
aeftumpft, daß der Hypnotiſirte feine Schmerzen empfindet; man 
hat darım den Houpnotismus als Erſatz für das Chloroform 
anempfohlen, und in der That find mir deſſen Hilfe von vielen 
Aerzten zahlreiche ſchwere Operationen ganz ſchmerzlos ausgeführt 





worden. Bei leichteren Graden des hypnotiſchen Schlafes treten 


dagegen ganz entgegengeſetzte Erſcheinungen auf. 

Das Gefühl iſt in ſolchen Fällen nicht abgeſtumpft, im Gegen: 
—* es iſt eine ſehr auffällige Verfeinerung aller Sinne nachzu— 
weifen. 
verſchärft; in vielen Fällen fonnten von den Hypnotifirten Worte 
und ganze Zeilen bei einer jo fchwachen Beleuchtung noch deutlich 
gelefen werden, dag weder diefelbe Perfon im wachen Zuſtande, 
noch die andern Anwefenden nur einen Buchitaben zu entziffern 
vermochten.* 
Schärfe, fo daß Hypnotifirte die Eigenthümer der ihnen vorge: 
bhaltenen Gegenftände allein — den Geruch zu finden in der 
Lage waren. 


Die Hautnerven werden empfindlicher; der Gefichtsfinn | 





| 


Auch der Geruchsfinn erlangt eine eigenthümliche 


463 · 


chlaſenden Perſon ber Auftrag ertheilt wird, nad; dem Erwachen 
zu einer bejtimmten Zeit eine beftimmte That zu begehen, fie 
diefen Auftrag erfüllt, felbjt wenn die That eine unſinnige ift. 

Kurz gejagt, der Hupnotifirte Tann zu einem blinden Wert 
zeug des mit ihm Operivenden werben, und es giebt Fälle, in 
weldyen beinahe Unglaubliches erreicht wurde. 

Noch merkwärdiger find die „negativen Hallncinationen“. 
Es find mehrere Perfonen im Zimmer zufammen Dem Hybno: 
tiſirten wird gefagt, Fünf Minuten nad) feinem Erwachen werden 
alle weggehen bis auf den Arzt. Der Hypnotificte erwacht; man 


‚ Spricht mit ihm über allerlei Gegenftände; aber nad) fünf Minuten 


Die intereffanteften und zugfeich wichtigjten Griheinungen, | 


welche während der Hypnofe überhaupt beobachtet worden, find 


jedoch diejenigen, welche ſich auf dem pſychiſchen Gebiete volle 


ziehen: die hochgradige Willensſchwäche, welche bis zum gänzlichen 
Mufgeben des eigenen Willens gefteigert werden kann, die Be: 
einfluffung des Gebächtnifies und die Suggeftion. 

8 Gedächtnig kann im hypnotiſchen Somnambulismus 
ungemein gejteigert werben. Schon in Braids Schriften ift von 
einer ehemaligen Haushälterin eines hebräifchen Geiftlichen die 
Rede, welche im hypnotiſchen Zuftand ganze hebräifche Predigten 
herfagte. Der Geiſtliche hatte die Gewohnheit, feine Predigten laut 
auswendig zu lernen, und die Laute hatten ſich dem Gedächtniß 
der Haushälterin eingeprägt. Merkwürdig war es dabei, daß 
die Haushalterin ſich im wachen Zuſtande keines Wortes der 
Predigten erinnerte und erſt in der Hypnoſe die klarſte Er— 
innerung des früher Gehörten zeigte, 

Aus jüngfter Zeit ſtammt der Verſuch von Nice. Er 
bypnotifirte eine Dame und vecitirte ihr einige Berfe, von denen 
fie beim Erwachen nichts mehr wußte Abermals eingefchläfert, 
fagte fie diefelben volllommen richtig auf und hatte fie, erwechkt, 
abermals vergefien. 
hypuotiſchen Zuſtande einen ganzen Text, den man ihm diftirt, 
von einem leeren Blatte richtig ablas, nachdem man ihm die 
beſchriebenen Blätter weggenommen hatte. 


Das Gedächtniß kann aber bei ähnlichen Verfuchen auch völlig | 


{hwinden, namentlich wenn dem Hypnotificten fuggerirt wird, er 
foll alles das, was er in der Hypnofe erlebt hat, vergeffen. 

Das Wort „fugaeriren“ bedeutet fo viel als jemand etwas 
einreden, ihn beeinfluffen, daß er etwas thut, und für die Sug— 
geition find die Hnypnotifirten befonders empfänglic. 

„Belanntlich,“ ſchreibt Projeſſor Dr. H. Oberjteiner,** „laſſen 
ſich willensſchwache Menſchen durch jedermann beeiniluffen; man 
lann fie leicht dahin bringen, 
ihre Anschauung wechjefn. Wenn nun, wie wir gefchen haben, 
beim Hüpnotifirten der eigene Wille auf ein Minimum reducirt 
it, jo muß es uns bon vornherein begreiflich erfcheinen, daß der 
ſelbe im höchſten Grade für Suggeftionen empfänglid) ift.* 

In den Aupmotifchen Schauftellungen, die öffentlich ver 


Bottey erzählt, daß ein junger Menfch im | 





daß fie von Stunde zu Stunde | 


anjtaltet wurden, bildeten die Suggeftionsericheinungen die Glanz: | 


punkte des Programms. 
Kartoffeln, in der Meinung, es feien Aepfel, tranfen ein Glas 
Waſſer, das ihnen als Branntwein gereicht wurde, und taumellen 


Da verzehrten die Hypnotiſirlen vohe 


darauf wie Betrunlene; hielten eine Flaſche für eine Trompete | 
und bliefen darauf; tanzten mit alten Herren in der Meinung, | 


fie hätten junge Damen vor fid), ꝛc. 

Dan kann der hupnotifieten Berfon einreden, daß fie anders 
heiße, jemand anders fei. Co brachte Richet eine dreiundvierzig— 
jährige Dame dahin, fi) nach einander für eine Bäuerin, eine 
Schaufpielerin, einen General, einen Prediger, eine Nonne, ein 
Heines Rind, einen jungen Mann ze. zu halten, und die Hypuoliſirte 
gab ſich alle erdenkliche Mühe, ſich fo zu gebärden, wie es die 
Rolle erheiſchte. Als kleines Mädchen will ſie ihre Puppe und 
Süßigleiten; als General verlangt ſie Roß und Degen, lommandirt, 
bellagt ſich über ſchlechtes Mandvriven; als Schauſpielerin er— 
zählt Sie ihre Erlebniſſe x. 

Die Suggeftion kann ſich aud) über die Zeit des hupmotifchen 
Schlafes hinaus erftreden. 


1 Bergl. = ah den Artikel „Der Gefichtsfinn eines Hypnotifirten”, 


ab 
— — sit be — — — ichtigung ſeiner winiſchen 


= 


rl, 


find mit Ausnahme des Arztes alle Anweſenden für ihn ver 
ſchwunden; er antwortet nicht auf ihre Fragen, hört nicht, was 
ſie ſagen, bemerlt nicht, daß ihn der eine am Arme genommen 
hat, fragt vielmehr den Arzt: „Wohin find denn die Herren 
plöglic gegangen?“ 

Mit diefen Beifpielen ift jedoch die wunderbare Welt hupno- 
tiſcher Erſcheinungen noch micht erfhöpft. Nicht mur der Geift, 
fondern auch die Funktionen des organifchen Lebens, die wir ſonſt 
durch unfern Willen nicht beeinfluffen tönnen, jollen der Macht 
der Suggeition unterworien fein. 

Es ijt in der That eriwiefen, daß durch Anwendung der 
Hypnoſe bedeutſame und praltiich wichtige Thatfadhen für die 
Heiffunde gewonnen werden.* Eine neue Entdedung ift damit wohl 
ſchwerlich gemacht worden; denn fogenannte moraliiche Huren, in 
denen der Glaube an ein Mittel oder den Arzt allein heille, find 
feit den ältejten Zeiten befannt. Die Wilfenfchaft ift aber durch 
dieſe Berfuche dem Wefen und den Urſachen jener Wunderkuren 
nähergetreten, und man darf wohl hoffen, daß die gründliche 
Unterfuchung diefer Frage fchlieglich zum Wohl der leidenden 
Menſchheit ausfallen wird. 

rhehlen darf man aber nicht, daß der Reihe der glüdlichen 
Treffer auch eine Reihe mißlungener Verſuche gegenüberjtcht, und 
dies mahnt zur Vorſicht in der Anwendung des neuen Heilmittels. 

Man follte troßdem meinen, daß diefer Auſſchwung der 
Forſchung auf dem Gebiete des Hypnotismus mit Freuden begrüßt 
werden müßte. Erklärt uns doc) derjelbe, daß viele Thalfachen, 
die Jahrhunderte hindurch bald als Wunder, bald als Zauber, 
bad als Schwindel aufgefaßt und gedeutet wurden, natürliche Vor— 
nänge find, die im Bereich unferer Forſchung liegen. Verſpricht er 
uns doch, daß dieje fonderbaven, ftaunenerregenden Verſuche mit 


| ber Zeit in der Hand eines tüchtigen Arztes zu Heilmitteln werden 
‚ fünnen, die der leidenden Menfchheit zu qute fommen werden! 


Aber die Fortſchritte des Hupnotismus werben keineswegs 
überall mit enthufiaftifcher Freude begrüßt. Man jpricht weniger 
von defien Nuten als von den Gefahren, die er mit ſich bringt. 
Wir müſſen zugeben, dab diefe Befürchtungen durchaus berechtiat 
find, Smwicken die Hypnoſe zu verbrecherifchen Sweden miß 
braucht werden kann, darüber bat die „Bartenlaube* ſchon im 
vorigen Jahre ihren Leſern berichtet. Heute müſſen wir ned) 
auf die Gefahren aufmerkjam machen, welche aus ihm der Ge: 
fundheit und der öffentlichen Moral erwachſen können und zum 
Theil leider ſchon erwachſen find. 

Das Suchen nadı uenen Heilmitteln ift in der Natur des 
Menfchen begründet. Wenn aber in fernen Welttheilen irgend cin 
Bilanzenftoff gefunden wird, der ein ſtarkes Gift und zugleich ein 
Heilmittel ift, fo wird niemand von dem über das Land verjtrenten 
praktiſchen Merzten verlangen, daß ſie in ihrer Praxis VBerfuche mit 
dem neuen Pflanzenſtoff anftellen. Man weiß es wohl, dal 
dadurd) viele nur am ihrer Geſundheit geſchädigt werden künnten. 
Das neue Heilmittel muß zunächſt von Specialärzten, die über 
Klinilen und Hofpitäler verfügen, von Profejforen, die mit Hilfe 
ihrer Afiftenten den Kranken unausgejegt beobachten fünnen, in 
vorfichtiafter Weile geprüft werden, und erſt wenn die zur Forſchung 
berufenen Mediziner ihre Urtheil abgegeben Haben, wird das Heil: 


‚ mittel zum Gemeingut aller Aerzte und aller Kraulen. 


Man hat Beifpiele, daß, wenn der | 


Ein Heilmittel und Gift zualeich, ein zweifchneidiges Schwert 
ist aber auch die Hypnoſe, und Merzte, die über die obenenwähnten 
Hilfsmittel nicht verfügen und feine Gelegenheit hatten, befondere 
praftifche Studien über den Hypnotismus anzuftellen, verzichten 
‚ zumächft im Intereſſe ihrer Sranfen auf die Anwendung derjelben. 

* Diefe Meinung vertritt auch der berühmte Irrenarzt Krof. Dr, 


v. Krafit-Ebing in feiner ſoeben eridhienenen Schrift „Eine erperimentelle 
Studie auf dem Gebiete des ypnotismus“ Stuttgart, Ferdinand Ente). 








Jung Werner 


Nach dem Delgemuü 
Etetograptie im Bertaz 














' 
A 
1 
9 
u 


Freiheren, 


t. Eifermann. 


2 





nſtt angal in Münden 


— o 


Was die Wiſſenſchaft bis jet auf dieſem Gebiete erlangt 
hat, das ift im großen und ganzen nur die Feitftellung einiger 
Thatfachen: fie müffen noch ergründet und geprüft werden, bevor | 
wir aus ihnen allgemeine Schlüſſe ziehen fünnen, und darum. 
gehört das hypnotiſche Erperiment entfhieden und aus> | 
ſchließlich in das Laboratorium des Fachgelehrten. 

Die Lage der Dinge iſt ſo einſach, daß man eigentlich weder 
Papier noch Tinte zu verſchwenden brauchen ſollle, um fie Har 
zu legen. In Wirllichkeit aber ſieht es ganz anders aus. Die 
Sadjverftändigen Merzte ſchreilen mit der größten Vorſicht vor- 
wärs; dagegen Haben wir eine ganze Legion von Heil 
magnetifeuren, welche die Menfchheit Furiven wollen, ohne irgend 
welche ärztliche Borbildung zu befiken; dagegen werden aus 
reiner Neugierde und Unterhaltungsluſt von Laien Erperimente 
angeftellt, welche geeignet find, die Geſundheit der Theilnchwer 
zu ſchädigen und die öffentliche Moral zu untergraben. Darum 
muß der Laie gewarnt werben, und Ddiefem Zwed follen die 
beiden folgenden Artikel dienen. 


- 


2. Sdjädigung der Gefundheit durdı den Mihbraud: 
der Buypünfe, 


AS im Beginn der achtziger Jahre der Magnetifeur Hanfen | 
die europäifchen Großſtädte durdizog und die Demonjtrationen | 
Dypnotifcher Erfcheinungen die Gemüther der gelchrten und uns 
gelehrten Welt erhihten, waren es nur einige wenige, welde in 
den Schauftellungen des abentenermden Dünen nicht den mit bes 
zahlten Subjekten qetriebenen unheimlichen Unfug, fondern höchſt 
reale Vorgänge fahen, deren Wefen und Tragweite der englifche 
Chirurg James Braid bereit3 vor vier Decennien in einer Reihe 
trefflicher Schilderungen beichrieben hatte. E3 konnte dann aud) 
bei der Unkenntniß der Braidfchen Werke gefdichen, daß Thnfifer 
und Bhnfiologen ausgedchute hypuotiſche Verfuche anftellten, deren 
Refultate als Neuentdeckungen gepriefen wurden; es fonnte ge 
ſchehen, daß die deutfchen Polizeibehörden dem gefährlichen Treiben 
Hanfens und feiner Nachahmer geduldig zufahen. 

Je mehr ſich aber dann die Berufenen mit dem Studium 
der hypnotiſchen Phänomene beichäftigten, je eifriger die Publi— 
fationen der älteren ärztlichen Hupnotifeure aus dem Dunlel der 
Bibliothelen herausgefucht wurden: um fo mehr ftellte ſich die 
Gefährlichkeit der hypnotiſchen Laienerperimente heraus, erwieſen 
fich die öffentlichen Vorftellungen als nicht nur die Gefundheit 
aefährdend, jondern in nleicher Weife das Nechtsbervußtfein, die 


Moral und die Sittlichfeit aufs allerempfindlichfte verlegend, | 


Der Unfug blühte trogdbem weiter; allee Orten thaten fich 
Hhpmotifenre und Heilmagnetifeure auf, die bei dem Hange der 
Menſchen zum Miyfteriöfen ftets gläubige Seelen und offene 
Geldbeutel finden; ja das Unglaubliche geſchah: der tudtgefagte 
Hanfen, den die Lorbeeren und die pefumiären Erfolge feines 
ehemaligen Unternehmers, des früheren Theaterdireftors „Theo“ | 
Böllert nicht ruhen liefen, tauchte wieder auf, und beide, welche 
ſich ehedem in heftiger Fehde getrennt, weil fie fich von einander 
übervortheilt wähnten, hupnotifirten in follegialer Eintracht die 
wunderfüchtigen Einwohner der deutschen Metropofe. 

Die Behörde ſchritt aud) im Jahre 1887 nicht ein, wie fie | 
im Jahre 1980 geduldig abwartend bei Seite aejtanden hatte; fie 
ließ es zu, daß Hanfen öffentlich bekannt machte, er unterridhte 
jeben feine Borftellungen Beſuchenden, jo daß der folder Art 
Eingeweihte fortan als Hypnotiſeur thätig fein könne, und erjt 
erneute Skandale während der Hanſen Bölleriſchen Schauftellungen 
zeitigten das Verbot der öffentlichen Demonjtrationen, ein Berbot, 
welches feit Kahren in Defterreich, Ktalien und Frankreich beftcht. 

Ebenfo waren es Skandale Ichlimmiter Art, welche einen 
Erlaß des Grofherzoglich badiſchen Minifteriums nöthig machten, 
nad) welchem jede öffentliche hypnotiſche Schauſtellung, jedes 
Hypnotiſiren in neichlofienen Gefellfchaften und an ſolchen Oxten, 
die dem Publikum zugänglich find, bei Strafandrohung unterfagt 
iſt. Diefe Skandale find für die Geſchichte der hypnotiſchen 
Mißbräuche in Deutichlaud fo charalteriſtiſch, daß fie in einem 
dritten Artikel ausführlich gefchildert werden follen. 

Für den badischen und den vpreußiſchen Erlaß waren vor: 
nehmlich der mit den Hypnotiſirten getriebene Unfug, das öffent: 
liche Wergerniß, maßgebend; man überfah oder verfannte die bei 
weitem größeren Gefahren, welche die Hypnoſe im civil- und | 





466 > 


ſtrafrechtlicher Beziehung, vor allem aber für Leib und Leben der 
Berfuhsperfonen im Gefolge haben Tann. 

Ungfeih wichtiger als die jwriftifchen Beziehungen ericheint 
den Aerzten die Geſundheitsſchädigung durch die Inienhafte Un— 
wendung der Hypnoſe. Hier bergen fich Gefahren, die uns 


‚ in ihrer ganzen Größe bis jebt noch unbelannt find. Die Aerzte 


ftehen von einer Durchführung der Hypnoſe ab, ſobald Athmung 
und Pulsfrequenz unvegelmäßiger werden, fobald irgend welche 
abweichenden Erfcheinungen in den fog. Brimär- Symptomen ein 
Bedenlen wegen übler Folgen auffommen laſſen. 

Anders die Laienhupnotifeure. Ohne Wahl werden die ſich 
zu den Berfuchen meldenden Individuen, deren Gefundheitszuftand 
dem Erperimentator völlig unbefannt, den Manipulationen winter: 
worfen, allen möglichen Rohheiten ausgeſetzt und in jo jäher 
Weile dehupnotifirt, d. H. aus dem hypnotiſchen Schlaf gewedt, 
daß tagelang die übeln Nachwirkungen mit Kopfſchmerz, Muskel— 
zittern ꝛe. zu verfpüren find. So in den günftigen Fällen. 
Scylimmer da, wo cine vorher verborgene Krankheit durd die 
Beeinflufjung des Gentralnervenfuftens, welches befannttich den 
Angriffspuntt für die den hypnotiſchen Zuftand erzeugenden Reize 
abgiebt, zum jähen Ausbruch kommt, oder wo organische Fehler 
die Urſache eines tödlichen Ausganges abgeben künnen. 

In einem berühmten deutichen Kurorte wirken jeit einigen 
Sahren zwei „Magnetopathen“, der eine von ihnen war ehedem 
Feldwebel, der andere Volksſchullehrer. Beide erfreuen ſich eines 
großen Zulaufes, und da es an präciſen geſetzlichen Beſtimmungen 
— lann, obwohl Amtmann und Bezirlsarzt den beiten Willen 

dazu haben, dem Schwindel nicht aeftenert iwerden, weil die Wunder: 
doftoren ſchlau genug jind, keinerlei Handhabe zum Einfchreiten 
zu bieten. Standalöjerweie bediente fich der cine Magnetopath 
zu feinen Kuren eines Heinen Mädchens, welches er lataleptiſch 


‚ machte, al3 Medium für die auf den Patienten auszuftrömenden 


Kräfte. 

Wiederholt iſt ärztlicherſeits auf die nachtheiligen Folgen der 
Laienhypnoſe hingewieſen, aber die Warnungen verhallen nutzlos; 
die Herren Hypuotiſeure und Heilmagnetiſeure üben nad wie 
vor ihr Ätrafwirdiges Handwerk ohne jede Einfchränkung. 

So trieb beijpielsweife noch vor lurzem ein ehemaliger 
Barbier in einer norddeutichen Stadt als „Nnti-Magnetifeur” 
fein Unweſen, und mad) einem vorliegenden Berichte „ist bei 
der Auswahl der geeigneten Medien der bedauernswerthe Fall 
eingetreten, daß einer der Herren, welche ſich freiwillig gemeldet, 
in Krämpfe verfallen war und fortgetragen werben mußte.“ 

Ein franzöfifches Tribunal verurtheille im vorigen Jahre 
einen Laien, der einen Knaben Hupnotifirt hatte, da infolge 
defien Krämpfe bei demfelben auftraten, zu einer Geldbuße von 
1200 Franfen. Huch die Straffammer des Landgerichts Karls: 
ruhe verurtheilte einen Hypnotiſeur zu 14 Tagen Gefängniß, weil 
er einen 19 Jahre alten Burichen, ohne deſſen Einwilligung, in 
Hypnoſe verjegt hatte. Das Bezirksamt Hatte den Hypnotifeur 
wegen „groben Unfuns“ zu 20 Mark verurtbeilt, wogegen der 
Angellagte Berufung einlegte. Das Schöffengericht erblidte jedod) 
im dieſer neuen Kunſt eine Freiheitsberaubung und fahrläjfige 


| Körperverlehung, weswegen die Angelegenheit an die Straffammer 


verwieſen und wie oben angegeben ertannt wurde, 

Von einem andern Dopnotifeur, der, feines Zeichens Lilho— 
graph, im vorigen Sommer öffentliche Borjtellungen gab, ſchrieb 
unlängst eine bochangefehene Zeitung: „Er betreibt diefen neuen 
Sport als Liebhaberei!” 

Ein fonderbarer Sport, bei dem die Gefumdheit der Mit- 
menfchen feichtfertig aufs Spiel gefet wird! 

Eine junge Künftlerin unterzog ſich wiederholten Berfuchen 
mit einem der veifenden Hhpnotifeure, und aud) hier blieben die 
Folgen nicht aus. Das bellagenswerthe Opfer fränfelte, wurde 
bleihfüchtig, und da von Stund an eine hochgradige Gedächtniß— 
ſchwäche Platz gegriffen Hatte, mußte die zu dem ſchönſten 
Hoffnungen berechtigte junge Dame ihre fernere VBühnenthätigfeit 
aufgeben. 

Eine faft lonſtante Erfcheinung beftimmter Grade der Hypnoſe 
it infolge der gejteigerten Neflererregbarkeit aller quergeftreiften 
Muskeln die totale Katalepfie, ein pathologiſcher Auftand, der in 
allen Fällen zur äußerſten Vorficht zwingt und zur ſchnellen 
Dehypnofe nöthigt, will man fich wicht der Leichtfertigfeit ober 
gar einer fahrläffigen Tödtung ſchuldig machen. 


Uffes wegen” von einem Laien in Hypnoſe verfepen. Nach kaum 
vier Minuten war der Körper aanz fteif; die befannten Kunft- 
ftüdchen wurden demonftrirt, indem Fr., mur mit Ferien und 
Hinterhaupt auf zwei Stühlen aufliegend, die ganze auf Bauch 
und Oberſchenkel ruhende Laſt feines Erperimentator® minuten: 
lang exteug :c., und als diefer nun fein „Medium dehypnotiſiren 
wollte, Tiefen ihn feine Künfte im Stich, Herr Fr. erwachte einfach) 
nicht. Der Hinzugerufene Arzt verbrachte das Medium in einen 
Nebenraum, Icitete eine künſtliche Reſpiralion ein, während 
welcher der Kataleptifche plöglih und mit einem Tobfuchtsanfall 
exwachte. Am folgenden Tage berichtete Here Fr., er fei erft 


vor Furzer Zeit aus dem Meilitärlazareth als untauglich zum | 
Weiterbienen bei ben ſchweren Meitern entfafjen worden. Fr. war 


bei einer Uebung geftürzt, Hatte einen Hufichlag auf die Bruft 
erhalten und innere Verletzungen davongetragen, diefe Umftände 
aber dem Hypuotiſeur verfchtwiegen.* 


Der Nachahmungstrieb und die Luft, für einen Wundermann | 


gehalten zu werden, verführt die meiften Laien, ihren ehrlichen 
Beruf mit dem eines Heilmagnetifeurs oder Hypnotiſeurs zu ver: 
taufchen, fofern nicht der Lodende und leichte Gewinn ben weſentlichen 
Trieb abgiebt, ſich zum Netter der leidenden Menfchheit aufzuwerfen. 


Wie Hanfen als adtjähriger Knabe zufällig Zeuge eines | 
magnetiſchen Eirfchläferungsverfucdyes war und er feit diefer Zeit, | 


die Manipulationen, die er mitangejehen, nachahmend, die Gold: 





* Sallis, „Der thieriſche Magnetismus und feine Geneſe“. Darwiniſche 
Schriften. Band XVl. en „ ” 


467 >» 
Der Kaufmann Fr. in R—burg ließ fi vor Jahren „des 


gräber Anjtraliens, die Zululaffern wie die civilifirten Nationen 
in Hypnoſe verfeßte, fo wurde die Schuljugend Pforzheims, die 
Bauern im Dorfe Toloz, fo wurden jene Kinder, die in ber 
Charcotſchen Klinik behandelt werden mußten, zum hypnotiſchen 
Unfug verleitet. 

Im November 1886 Hatte in Chaumont ein Magnetijeur 
Baubervorftellungen gegeben, welche eine Art von aktiver hypno— 
tifcher Manie zur Folge Hatten, bie fogar bis in die Schule der 
Stadt eindrang. Mehrere Schüler hypnotifirten ihre Kameraden, 
trieben allerhand Aflbernheiten, und es traten bei den Burſchen 
verfchiedene Nervenfeiden auf, die eine ärztliche Behandlung noth: 
wendig machten. So bei einem zwölhjährigen Knaben, der, ohne 
erblich belaftet zu fein und obwohl er auch niemals vordem 
irgend welche nervöfe Störungen erfennen ließ, in das Hofpital 
gebracht werben mußte, da er jegt plöhlich ftreng formulirten 
hypnotiſchen Unfällen, die ſich täglid wiederholten, unterworfen 
war. Much bei dem jüngeren vierjährigen Bruder desjelben 
‚ traten die gleichen Erſcheinungen mit Kopfſchmerz, Hämmern 

in den Schläfen, Ohrenfaufen, Verdrehungen und Berkrümmungen 
' auf, und die Sorge der armen Eltern nahm erft ein Ende, als 
am letzten April des vorigen Jahres beide Kinder genefen aus 
der Charcotfchen Behandlung entlafien wurden. 

Die „Bartenlaube* wird in dem nächſten Artilel ein Bild 
hypnotiſchen Unfugs im einer deutfchen Stadt aufrollen, wie es 
‚ Iehrreiher wohl nicht zu finden wäre und aus welchem unfere 
Leſer noch deutlicher als aus den vorhergegangenen Artikeln Die 
Unzufäffigfeit der von Laien betriebenen hypnotiſchen Berfuche 
| und Spielereien erfennen werden. 





Zur Gecchichte der Namen in Deutſchland. 


Sy Zutheilung eines Namens an einen Menfchen ijt eine der 
wichtigften Thatſachen im Leben desfelben: durd fie hört 
er gewiffermaßen auf, ein bloßer Gattungsbegeiff zu fein und 
gewinnt individuellen Werth und perfönliche Bedeutung, die ihn 
von vornherein von anderen feinesgfeichen untericheiden. 

Alle Namen haben eine beftimmte Bedeutung, wenn dieſe auch 
im Laufe der Zeit vielfach verloren oder doc verbunfelt worden 
ift, und darum ift die Erkenntniß derfelben für die Kulturgeichichte 
ven hohem Werthe; in ihnen fpiegelt ſich aufs treueſte der 
Kulturzuſtand und die Anſchauungsweiſe eines ganzen Volles wieder. 

Im Hinblid auf die Wichtigfeit der Beilequng eines Namens 
fand und findet diejelbe bei allen Kulturvöllern unter Beobachtung 
gewiſſer Feierlichkeiten ftatt, die durd) Tradition oder Kultus fejt: 
geitellt worden find und der Eigenart derſelben entſprechen. 

Bei den germanischen Völkern beitand dieſer Alt darin, daß 


das neugeborene Kind in Gegenwart eigens dazu geladener Zeugen | 


gebadet, hierauf von dem angelchenften derfelben, gewöhnlich dem 
Bruder der Mutter oder vom Großvater, mit Waller übergofien 
und dabei mit einem einzigen Namen belegt wurde. 

Bergliedert man die Älteften deutichen Namen genau, fo findet 
man, daß darin immer große, edle, entweber geiftige oder fürper- 
liche Eigenfchaften, Erinnerungen oder Wünſche ausgeſprochen 
twurden, und man kann fagen, da dem Kinde fofort bei feiner 
Geburt, wie in allen Dingen, fo aud in diefer Beziehung eine 


edle Anregung und Richtung gegeben wurde. Alles was dem | 


Germanen werth und theuer war, was er hudyihätte, finden wir 
in den einzelnen Beftandtheilen jeiner Eigennamen zufammengefaßt. 
Sie find hervorgegangen aus den Idealen, welche der Kreis 


nationaler Anschauung geichaffen; fie Sagen dem Kundigen heute | 
noch, wie der alte Germane lebte, dachte und handelte und wie | 


er wollte, daß jeine Kinder leben, denfen und handeln follten. 

Faſſen wir einzelne folche Bejtandtheife ins Auge. 

So bedeutet amal unbefledt, adal edel, reich, karl ſtarker 
Mann, ram kräftig, handfeit, win gewinnen, überwinden, er hohe 
Art, Ehre, leot, liut lauter, bret prächtig, drut traut, bald kühn, 
gewaltig, brand hervorleuchtend, gunt edles Weib, rie, rich 
reich, mächtig, vig Kampf, Kämpfer x. 

Hiernach ift es vielfach der Sium für Mannhaftigfeit, Kampf, 
Sieg und Waſſenruhm, aber auch fiir weiſes, geſetzliches und 
friedliches Walten, für ein geregeltes öffentliches und Privatleben, 
der in den Namen ſich ausipricht, und zwar nicht nur im denen 
der Männer, fondern and) der Frauen. 


| Die Namen der letzteren wurden meift aus den Männer 
| namen gebildet, indem man diefen eine weibliche Endung anhing. 
‘ Einigen Borzug hatten dabei diejenigen Stammfilben, deren Bes 
deutung für das weibliche Geſchlecht befonders angemeſſen war, 
wie namentlich amal, trut und gunt entweder in Zufammen: 
| itellungen mit einander, z. B. Amaltrut, Amalgunt oder mit 
anderen Silben, 5. B. Amalsuintha, Gertrud, Hildegunt :c. 

Abgeſehen von denen der Götter find die Namen vielfach) 
durch römiſche Endfilben wie us und um ſowie durch Umbildung 
des deutſchen rie (veich) in rix entftellt. Beiſpiele hierfür geben 
Tacitus, Caefar, Strabo ıc. in den Männernamen Alpin, Alfenus, 
Ambiorig, Arioviſt, Malorig, Teutomad, Brinno, Segeit, Segimer, 
Gejorig, Teutobod, Marbod, Mallovendus ꝛc. und in den Frauen: 
namen Aurinia, Epponina, Rhamis, Beleda, Thusnelda, Gauna. 

In der Zeit der Merowinger, vom Ende des 5, bis um die 
Mitte des 8. Jahrhunderts, herrichen noch die althergebradjten 
germaniichen Perfonennamen weitaus vor und verſchwinden neben 
denjelben die lateiniſchen Heiligennamen faft ganz und gar. Da 
finden wir bei Gregor von Tours: Mari, Childebert, Agin, 
Audo, Berthramm, Dagobert, Eharinwald, Attifa, Baddo, Agnes, 
Fredegunde, Chlodofinda sc, im Leben des heiligen Gallus: 
Eolumban, EHlotar, Audomar, Meginald, Brunhilde, Fridifurga ıc., 
im Leben der heiligen Balthilde: Waldalen, Chrodowald, Ado, 
Dado, Theudemanda, Niga ıc., in der Chronif des Fredegar: 
Sigismund, Guntram, Gundoald, Arnulf, Adalulf, Agilulf, Erodo- 
bert, Fredegunde, Gomatrud, Chlotilde ıc., im Leben des Abtes 
Otmar: Waltram, Pippin, Gogbert, Marie ꝛc. 

Eben dasfelde Berhältnig zwiichen den alten heidniſchen und 
ben neuen chriftlichen Namen beitcht auch in den folgenden Fahr: 
hunderten unter den Karolingern und den ſächſiſchen Kaiſern fort. 

Bis in die Zeit der fräntifchen Kaiſer (11. und 12. Jahr: 
‘ Hundert) gab es in Deutichland feine Stamm: oder Geichledhts- 

namen, jondern nur Eigennamen (unjere Vornamen). Und aud) 
jegt gab es eigentlich nur folde, doch fing man an, aus ver 
fchiebenen Gründen, insbefondere zur Unterſcheidung von Berfonen 
gleichen Namens wie Schon früher im gewöhnlichen Leben, jo 
jeht auch in Urlunden ꝛc. gewiſſe Beinamen hinzuzufügen, welche 
zwar bei der Benutzung der lateinischen Sprache als Schriftipradhe 
ebenfalls Tatinijirt zu werden pflegten, aber von Haufe aus deutich 
waren. Soldye Beinamen bezeichneten nicht bloß eine körperliche 
| oder geiſtige perſönliche Eigenfchaft, wie groß, Mein, fondern aud) 
‚ eine Wehnlichkeit, wie Wolf (lupus), oder ein Amt oder eine 





— 0 


Beihäftigung wie Markwart (Marauardus, Schenke), oder die 
Herkunft dom Vater durch Anhängen eines a, fen (Sohn), er, 
ing oder Ting, wie 3. B. Harringa der Sohn des Harring, oder fie 
bezeichneten den heimathlichen Befig, wie: der Sadjfe, der Franke, 
der Staufe ıc. 

Aber noch immer wurben folhe Beinamen nur einzelnen 
Perſonen zugetheilt, und erſt feit Söhne, Enkel :c. —— 
den Eigen: oder Beinamen des Vaters reſp. Grofvaters fort: 
zuführen und auf ihre Nachkommen zu vererben, kann von eigent- 
lichen Stamm; oder Geſchlechtsnamen die Rede fein. Der Adel 
namentlich zog es vor, fich nad) dem Beſitze zu nennen, 5. B. 
von Habsburg, von Zähringen, von Babensberg zc., daher fo oft 
die Endungen: berg, burg, thal, feld, wald, bad), dorf. Dabei 
ift jedoch wohl zu bemerken, daß felbft Brüder, ja Sohn und 
Vater troß ihrer Beinamen nad dem Beſihe nod) gar oft ganz 
verichiedene Namen Haben, weil fie eben ganz verſchiedene Bes 
figungen Hatten, nach denen fie fich nannten. Das dauert big 
ins 15., ja 16. Jahrhundert hinein fort und bis dahin blieben 
die Geſchlechtsnamen immer noch jelten. 

Bon großer Bedeutung für diefe Verhältnifje ward eine 
Verordnung Kaiſer Konrads II., wonach die Söhne, Enlel und 
auch Brüder des unbeerbt verjtorbenen Vaſallen bas Lehen erben 
konnten, wenn das Lehngut von ihrem Water herrührte. Nun 
fonnien erſt alle Söhne des Vafallen und deren Nachkommen im 
Hinblid auf die Hoffnung zur Succeffion den Namen des Gutes 
und den davon abgeleiteten Beinamen annchmen. So wurde aus 
dem urfprünglichen Gutsnamen ein Geſchlechtsname. Das galt 
aber vorerjt nur vom unmittelbaren, unter Kaiſer und Neid) 
ftehenden, das heißt hohen Adel. Die mittelbaren Lehengüter 
jedoch, die Himwiederum vom hohen Adel ausgingen, waren nicht 
erblicy und twurden es erft im 14. Sahrhundert, jo daß unter 
dem niederen Adel erſt von diefer Zeit an Geſchlechtsnamen auf: 
fommen. Die Uebung verbreitete fi) aber auch beim hohen Adel 
fo Tangfam, daß noch im 13. Jahrhundert in Urkunden neben 
den bereits einen Gejchlechtsnamen führenden noch mehrere Zeugen 
bloß unter ihrem Taufnamen ericheinen. 

Eine andere wichtige Neuerung vollzog ſich zur Beit der 
Hohenſtaufen im 12. bis 13. Jahrhundert, 

Bor dem 12. Jahrhundert find nichtdeutſche Taufnamen in 
Urkunden ungemein ſellen. Erſt von da an und namentlich gegen 
dejien Ende fommen hin und wieder bie Namen Johannes, Peter, 
Paul, Philipp, Thomas, Martin, Joſeph, Bonifaz und die Namen 
einiger anderer Heiliger der chriſtlichen Kirche vor. Zu Anfang 
des 13. Jahrhunderts, als man anfing, Heilige zu Schutzpatronen 
zu wählen, fügte man deren Namen den altherfömmlichen als 
zweiten an, während der alte blichb und nad) wie vor zur Be: 
nennung im gewöhnlichen Leben diente. 

Unter den fremden Heiligennamen war in diefer Zeit feiner 


fo allgemein wie Kohannes, Hans, daher aud) die Redensarten: | 


Hans an allen Enden, an allen Eden, in allen Gaſſen. 

Was die bürgerlichen Familien» oder Zunamen betrifft, jo 
bildeten fie ſich zunächſt zur näheren Bezeichnung des Bornamens, 
Material dafür lieferten körperliche Eigenschaften mehr oder minder 
auffälliger Natur, wohl aud Spitznamen, und fo entjtanden die 
Lang, Kurz, Schwarz, Roth zc.; Heimath und Beſchäftigung wie bei 
Frank, Baier, Sachs, Nürnberger, Miller, Schneider, Schuiter ıc.; 


Am Seudttburm. 


468 


o— 


Eigenthünmflichkeiten des Grundbeſitzes wie bei Baumgartcıt, 
' Winkler ꝛc.; Bezeichnung des Wohnhaufes nad) altem Herkommen 
| wie bei Zumbuſch, Kranz sc, woraus erhellt, daß die Hausnamen 
‚ älter find als die Perſonennamen. 
| Am 15. Jahrhundert wurden die alten echtbeutfchen Namen 
| Immer mehr zurädgedrängt, um denen von Heiligen Bla zu 
machen. Auch Taufnamen aus dem alten Teftament werden nun 
häufiger, jo Adam, Abraham, David, Samuel, Benjamin, Joachim, 
Iſaal, Tobias, Salomo, Jofias, Elias, Sarah, Judith x. 
1 Im biefelbe Zeit fällt auch die Unfitte, die Gefehledhtönamen 
zu grägifiren oder zu latinifiren, fei e3 durch Anhängen einer 
‚ lateinischen Endung oder, was noch ſchlimmer war, durch Ueber: 

fegung des ganzen Namens ins Griechiſche oder Lateinifhe. So 
' entftanden die Namen Marlini, Pauli, Petri, Neander, Xylander, 

Agricola, Faber, Tertor, Sartorius, Piltorius, da es ihren 
ı Trägern nicht vornchm genug aebünkt, Martin, Paul, Peter, 
—— Holzmann, Bauer, Schmied, Weber, Schneider, Bäder 
zu heißen. 

Namentlich die Gelehrten konnten dem Kiel nicht wiberftehen, 
wie z. B. auch Melanchthon nicht, der urſprünglich Schwarzerd 
| geheißen haben dürfte. Dafür muhten fie ſich's auch gefallen 
laſſen, daß ſich der Volkswit gegen fie wendete und z. B. Ofiander 
in Hofenanderle umbilbete. Nebenbei Hatte die Neubelebung 
der klaſſiſchen Studien aud die Folge, daß, wer irgend 
‚ etwas im Leben gelten follte — und das wünfchten ja gar viele 

—* — auf den Namen Achill, Heltor, Cicero ꝛc. getauft werden 
mußte, 

Im 18. Jahrhundert tauchen auf einmal neue Taufnamen 
auf, wie Kürchtegott, Lebrecht, Gottlieb, Gottlob, Traugott zw. 
Diefelden wurden feit 1722 durch die Sekte der Herrnhuter cin: 

ı geführt und gingen bald nadı England uud Nordamerifa hinüber, 
und etwas jpäter werben wieder andere der damaligen Roman: 
litteratur entlchnt. 

Was endlich die Juden anlangt, fo führten fie in einzelnen 
Theilen von Deutfchland bis in unfer Jahrhundert Feine Geſchlechts— 
namen und wurben zur Annahme von ſolchen erſt durch ftaatliche 
Verfügungen genöthigt, wobei vielfah Ortsnamen zu Grunde 
gelegt wurden, So entjtanden die Nürnberger, Fürther, Bappen- 
heimer, Wertheimer ıc. 

Von den Heut üblichen Vornamen reihen nur ſehr wenige 
bis in die Zeit der Karolinger zurüd wie z. B. Anton, Andreas, 
Adalbert, Eberhard, Jakob, Karl, Johann, Dtto, Ulrich, Otmar, 
' Ludwig (Hludowig), Reinhard (Reginhard), Neiner (Reginber), 
Nobert, Paul, Walther, Werner (Werinheri), Bernhart, Willibalt, 
Friedrich, Dietrich, Heinrih, Herman (Heriman), Gebhard, 
Gotthart (Godehart) und Thella. 

Unter den Merowingern lommen ſchon vor Adolf (Ataulf), 
Ditmar (Sun) Berthold (Berthoald), Theodor (Theodorid)), 








Konrad (Gunro) und Bertha. 

Noch weiter zurüd, bis ins 5. Jahrhundert, reicht der einzige 
Name Sigmund —— 

Auffällig iſt, daß vom den älteſten Frauennamen ſich wur 
die zwei genannten Bertha und Thella bis auf unfere Tage herab 
erhalten haben; als eine gute VBorbedeutung für die Zukunft aber 
wollen wir e3 betrachten, daß Sigemunt, der Siegesmächtige, feit 


‚ unfer Volk eine Geſchichte Hat, in feinen Heerſcharen wie gefehlt Hat. 


Nabbraf verketen. 
Ale Rechte vorbehalten. 


Uovelle von Gerhard Walter. 


lo das war dein erfter Gruß nach vielen, vielen Jahren, | 


mein lieber alter Hausburfch! Wenn du wühteft, wie er 
mich gefreut hat! Aber du weißt es ja, du Treuer! Und wenn 
du gleich das Weltmeer und den Aequator zwiſchen uns gelent 
haft, und wenn wir uns auch ſcheinbar feitdem im Freud' und 
Leid de3 Lebens aus den Augen verloren: oft Habe ich doc) dein 
gedacht in deinem Wandel unter Palmen, und aud) du haft deine 
Gedanfen über den Dcean fliegen laſſen, bis fie die ſicht- und 
areifbare Geftalt eines Briefes annahmen, der mir erzählte, 
da dir Süd umd Liebe drüben hold geweien, daß du beiner 
dunkeläugigen und jchwarzlodigen Donna Juanita Tereſa de 


Dliveira auch von mir berichtet, und daß fie, die Edle, dich 
getrieben, das erite Exemplar deiner Verlobungsanzeige an mid) 
zu ſchicken. Das wirft ein wahrhaft eleftrifches Licht auf euch 
beide. — Zum Lohn will ich die nun auch einen langen, 
langen Brief ſchreiben, nachdem id) deiner Braut die Hand ge— 
füßt und fie dir fo gedrüdt und nefchüttelt Habe wie am jenem 
Abend beim „Siebenfäs“, als wir aus Maßkrügen Schmollis 
tranken in jeliger Fuchſenzeit. 

Mir iſt fo riefig wohl zu Muth Heut Abend, Was für 
Vilder hat dein Brief vor meiner Seele erftehen lajjen! Komm, ſetz 
| dic) zu mir, wie einft auf dem fteinharten Kattunfofa der Madame 


» 469 ⸗ 


Rud — mein. jeiges ift ehwas weicher und mit olivenfarbenem 
„Granit“ überzogen — nimm die wieder die Tage Couleur— 
pfeife vom Nagel und lab uns twieber jung werben! 

Wenn ſich zwei nad) langen Jahren treffen, dann fliegt es 
berüber und Hinüber, das Köftlihe: „weißt du noch?“ — Und 
zu dem Heinen Roman meines Lebens, ben ich dir jeht als 
Antwort auf den deinen erzählen will, muß id; auch den Anfang 
machen mit „weißt du noch?“ Nur vorher zu deiner allgemeinen 
Drientirung bemerfend, daß ich Landrichter in dieſem reizenden Berg: 
ftäbichen und — „Doch id) will nicht, dorgreifen,” wie jene fagte. 

Ja, Fri, weißt du nod), wie wir an einem wunderſchönen 
Apriltage uns zum erften Mal als Hospitauten in ber Germanen: 
fneipe trafen und da gleich entdeckten, da wir in demfelben 
Haufe wohnten? Weißt du noch, da wir am nächſten Morgen 
zufammen zum Frühſchoppen bei dem oben erwähnten Manne 
mit dem melodifchen Namen 
zogen und daß der Früh— 
ichoppen 6i8 zur Dunfelheit und 
noch etwas Tänger dauerte? 
Weißt du noch, daß wir dann 
im gleichen Schritt und Tritt 
wieder auf bie Germanenkneipe 
zogen und uns gleid) zufammen 
zum Einfpringen meldeten? 

Und was dann fam — ja 
das willen wir beide nicht mehr! 
Proſt, ich komme dir nen 
Halben, Confuchs; habe mein 
Seidel neben mir ftehen; das 
Glas gina längft in Trümmer, 
aber den Dodel habe id) noch, 
und unter all den vielen cins 
gerigten Namen — habe neben 
manchen ſchon ein Kreuz ins 
Zinn graben müſſen — fteht 
auch deiner!) 

Aber id; führe dich wieder 
in meine Bude, Da jeh' id) 
vor uns meinen runden Zchn- 
männertifch mit der weißgrünen 
Wachstuchdede und auf ihm 
eine Heine Spiritusmafcine, 
und fehe in dem Heinen Blech⸗ 
topf uniere getmohnheitsmäßigen 
vier Abendeier fieden. Zuweilen 
nahmen wir aud) bie Heine 
Pfanne in Gebraud und mad}: 
ten uns Spiegeleier, manchmal 
auch, befonders zu Anfang des 
Monats, Rührei; und die Welt 
war eine Einrichtung, an der 
wir nichts, gar nichts auszus 
feßen hatten, wenn wir nad) 
vollbradhtem Mahl mit der 
meterlangen Bieife zum Fenſter hinausfchauten, in Geduld bie 
Stunde abwartend, bis wir auf die Kneipe ftiegen, 

- Aber entfinnft du dich auch wohl noch, daß auf der andern 
Seite der Straße ein Garten faq, ziemlid) verwildert, fo etwas 








Ausflug in ben Ferien, 
Originalgeiguung von J. NR. Wehle, 


eichendorffiich romantifch, mit Gebüſch, das niemals Scyere und | 


Meſſer gejehen, und mit Wegen, die anderswo als Graspläge 
gegolten hätten? Und daß aus dem dichten Grün zuweilen 
filberhelles Lachen Hang, und daß über die Steige zuweilen zwei 
allerliebſte Mädchengeftalten Hufchten, die eine davon mit dunkel: 
braunem, bie andere mit blondem Haar? Dann weißt du 
auch noch, daß ich in die Braune bald aufs heftigjte verliebt 
war, und weißt, wie wir in den Garten hinunterfpäbten, two fie 
manchmal bei dem verwilderten Rofenbeet fich zu ſchaſſen machten 
und wir jie fo recht ohne Dedung betvundern Fonnten. 

Du weißt aber noch mehr! Auch daß wir eines Sonntag: 
nachmittags vergnügt und guter Dinge, aber chrbar und ſittſam 
hinausgingen nach dem „Weißen Schwan” — und daß ich erichraf 
und xoth wurbe wie ein PBenfionsmädel, das ein Lieutenant zum 
Lancier auffordert, al$ ich dort unterm Fenſter im grünen leide 


meine holde Nachbarin vom Garten fiten fah zwifchen ihrer | 


1858 


Schweſter und einer alten Tante, welche ben beiden Mäbdels, bie 
fonft wohl nicht viel Herausfamen, auch einmal ein Vergnügen 
hatte machen wollen. Und wie id) da nod im feligen Schred 
in bee Thür ftand, ba hob fie die großen, blauen Augen — das 
war cben ihre Hauptichönheit, die braunen Haare und die blauen 
Augen — und ſah mid — und — es zieht mir noch warm 
durchs Herz vor Freude! — und wurde dunfelroth. Ja, wenn 
Schiller nur das Eine gedichtet hätte: „Das Auge ficht den Himmel 
ofien“, dann wäre er doch mein Liebling und ich hätte mir feine 
gefammelten Werke gekauft. 

Altes, gutes Tantchen, hätteft du geahnt, wie allmählich hinter 
deinem fchmalen Rüden ein Kreuzfeuer eröffnet warb, erſt nur 
ſcheu und ſchüchlern, nach und nach immer ftärfer, und wie dabei 
zwei junge, friiche, unverborbene Herzen, das eines Juriſten im 
erften Semeſter und das eines jungen Sanitätsrathstödhterleins, 
in Tichter Gluth auflohten — 
ac, du wärjt mit deiner Hälel- 
arbeit zu Haufe geblieben, über 
die du jo wundervoll furzjichtig 
gebeugt Hinter deinem Stein; 
krügel ſaßeſt! Und du hätteft 
faum fo harmlos dem Stu- 
denten gebanft, der dich und 
deine lieblichen Schützlinge in 
den Tannen von Stienlikhof 
einhofte, um ſich gemeſſen zu 
erfundigen, ob eine der Damen 
vielleicht das eben auf dem 
Wege gefundene duftige Taſchen⸗ 
tuch veriuren habe; und Hättelt 
nicht fo guemüthig und vedjelig 
did) für verpflichtet gehalten, 
ein Geſpräch N über 
den wundervollen Nachmittag, 
ein Geſpräch, das du, Fri, 
fo verjtändnißinnig aufzunch: 
men und fortzufeßen verjtandeit, 
neben der auten Dame und 
dem Hugen Aennchen gehend, 
während der andere Germane 
frendetrunfen hinter euch ber: 
wandelte an der Seite Hilde 
nards, die vor Freude über 
das twiedergefundene Tüchlein 
wie cine Roſe glühte. Die 
beiden ſprachen eigentlich nicht 
viel zufammen und äußerlich 
war's cine etwas verlegene 
Partie. Aber am Wege, da, 
wo cr umbog, ftand ein pradjt 
voller rother Fliegenpilz unter 
einer grünen Tanne; den zeigte 
er ihre, und fie ftanden davor 
ſtill und beſahen ihn ſehr ernit- 
| baft; ihre Hände ftreiften fich, zwei warme Hände — und 
| pröffich ſchlang er den Arın um das reizende Kind, neigte fich 
zu ihr, küßte fie auf die weichen, füßen, rothen, warmen Lippen 
' und feine Augen blieten tief in die blauen fonnigen Augen, die im 
holdeſten Licbesichein zu ihm auffahen. Fritz, Menſch — das war 
der Schönfte Moment meines Lebens! Nein, einer war nod) ſchöner. 

„Hildegard!“ ſchallte die Stimme der Tante jenfeit der 
Biegung, und Hildegard wand ſich los, hochathmend, glühend, 
und hielt die Händchen vors Geſicht. „Die Tante merkt's!“ flüſterte 
fie — und wir gingen ſchnell hinterher. Die Tante merkte nichts; 
aber Aennchen machte lächelnd eine allerliebfte Grimaſſe. 

Und eine jelige Zeit fing an. Erinnere dich der Mittans 
ftraßenbummelf, wie's da in der Hanptitraße von Studenten aller 
Farben ſchwärmte. Siehſt du fie nicht noch oben im Fenſter am 
Eckhaus zum Markt, die beiden reisenden Mädchenköpfe; und 


ſchauſt du das Schweſterpaar nicht, wie es daherwandelte im 


Schloßgarten in der Abendfühle? Da ftand, ganz verborgen, eine 


Bank unter und zwiſchen ſüß duftendem Jasmingeſträuch; da hielt 


ich wohl an manchem Abend eine furze prachtige Viertelſtunde lang 
zwei Heine, weiche Händchen und ſah, oft jtumm vor Süd, in ein 


[Er 


° 470 >» 


liebliches Blumengeficht. Das Glück ruhle dann aus bei uns auf 
feiner raftlofen Fahrt durch die Welt. „Und Du kannſt noch zehn 
Jahre warten — zehn Fahre find bald herum!” fang fie leife vor 
meinem Ohr. Ja, was waren ums zehn Jahre? Wozu eigentlich 
überhaupt heirathen? Waren wir nicht felig genug? — Ya, dann 
fonnten wir freilich immer beifammen fein und brauchten nicht auf 
den Schlag der Thurmuhr änaftlid zu horden. „DO wenn Papa 


das wüßte!” Hauchte fie wohl — „er iſt auf die Studenten , 
gar nicht aut zu fprechen! Sei nur recht fleißig, daß wir uns 


bald verloben können!” — Wir waren beide reinen Herzens und 
darum waren wir auch fo felig. — Eine Mama war nicht mehr 
im Haufe; Hildegard ging felbjt in reizender Michtigkeit mit dem 
Hirrenden Schlüfjelbund am Schüirzenband über den Flur, wenn 


ich bei dem alten Herrn Kirchenrath, der über ihmen wohnte, | 


meine Korrekturbogen abfieferte. Nöthig hatte ich es im Grunde 
nicht, Korreturen zu leſen; weshalb that ich es wohl? Um 
einen lächelnden Gruß, einen fenrigen Blid, einen fdmellen, ver: 


ſtohlenen Kuß zu erhaſchen! — Aber Liebe und Korrektur und 
Kneipe, fie hielten mid) nicht vom Arbeiten ab. Im Gegentheil, 


die fühe, ftille, verfchwiegene Leidenſchaft für Hildegard war mir 


wie ein Leitftern durch alle Fährlichleiten und Verlodungen des | 


Sebend. „Du bijt für ihe Leben mit verantwortlich!" das jtand 
überall geichrieben, wohin mein Blid geleitet wurde „Mein | 
eigen foll fie fein — feines andern mehr als mein; — und, 


fo leben wir in Freud und Leid, bis und Gott der Here aus: 
einander ſcheid't!“ fang ich still in mich hinein über dem Corpus 
juris. — Es follte bald genug zum Scheiden gehen! 

Du erinnerft dich des großen Kellerfejtes am Schluß des 
Sommerjemefters und des Auszugs dorthin mac dem Feitmahl 
im „Boldenen Löwen“, weißt noch, wie ſtolz wir drei Nenommir- 
füchfe, der Senden, du und ich, zu Pferd ftiegen, als der Zug 
ji) ordnete und wir in großem Wichs, den Schläger in ber 
Fauft, Hinter der Mufif dreinritten an dev Spike all der braven 
ritterlichen Geſellen; Hinter uns die Rahme und die Chargirten? 
Wie ließ ich meinen Schimmel fteigen, und wie fühlt ich mid 
frei und groß, nad) dem alten Liede: „In feinem Arm wohnt 
Rieſenkraft — und Freiheit ijt fein Los!" Aber ein anderes 
Lied jollte es mir anthun! Auf den Bürgerfteigen ftand wohl- 
gefällig lächelnd der Philiſter Schar; aus den Fenſtern ſchaute 
es Kopf an Kopf — war manch lieb Geficht darunter! — aber 
das Tiebfte auf Erden neigte ſich dort in dem hohen Edhaus 
berans, Lächelnd, bethörend, Warum mußte die Mufif auch gerade, 
als wir dicht daran waren, anftimmen: 


„Ei ritten drei Neiter zum Thore hinaus — ade! 
Feinsliebchen die jchaute zum Fenſter hinaus — ade!” 


Und droben, da winfte fie, von der ich glüdfeliger Burſch 


fein Auge verwandte, mit dem Tüchlein — und wie ich unten 
jo vorbeiritt, entfiel es ihrer Hand und flatterte herab. Da 


gab ich dem Schimmel die Sporen, daß er jteil aufbäumte, und | 


ch ihn an der Kandare herum, daf er mit mädhligem Satz zur 


Seite und faſt in die gaffende, aufkreiſchende Menge hineiniprang; | 


und che noch das Tuch zur Erde kam, hatte ic) es aufgefangen 
mit der Spihe des Speers und barg es, die Zügel lafiend, an 
meiner Bruft, den Schläger fenfend zum Gruß vor der liebfichen 
Mädchenblüthe — und dann euch nach, wie das Wetter! Cs 


war eim gutes Reiterſtückchen, geübt im Naufh der Jugend | 
und ber eriten Liebe — aber es follte mir und ihr verderblid 


werben. 

ALS die Säfte angefahren kamen und ich an ihrem Wagen 
Stand, in dem fie mit Aennchen und ihrem Vater faß, da blidte 
fie mid) traurig an, und ich meinte, die fonft fo Haren Augen 
ſchauten trübe und verweint. Kalt und vornehm grüßte mich der 
Vater und hob jelbft fein Töchterlein hinaus, Wohl durfte er 
es mir nicht wehren, daß ich nad) altem Feſtbrauch und Burfchen- 
recht ihr den Arm bot; aber fie ging till, den Bid gefenkt, neben 
mix ber. 
als ich fie zu ihrem Sit geführt hatte, von wo fie dem Feſtſpiel 
jufhauen follten, da fante er laut, daß ich's hören mußte: 
„Alfo, Hildegard, dent daran, daß Du unter feinen Umjtänden 
tanzen darfit. Ich Hab’ es Dir als Arzt verboten!” Ein kurzer, 
ſtummer Blid traf mid, der mir fagte: „Warum haft Du das 
gethan! Nun ift unfer Geheimniß verrathen und alles vorbei!” 

Und aud für mich war alle FFeitfreude dahin. Wie die 
Brüder auch ihr Beſtes thaten und zündender Wit rafetenaleich 


Auf Schritt und Tritt folgte uns der alte Herr, und 


von der Inftigen Bühne ſprühte und wie fie da unten lachten 
und jubelten — ich fah nur fie, und jie lachte nicht! Wie war 
da für mich ber frohe Tag fo fonnenleer geworben! Und erjt 
ale die Paare zum Tanz fich reihten und der Sanitätsrath 
würbevoll feinen Wagen beftellte, da bäumte mein Herz fich 
auf im grimmigem Leid. Kein Wort Hatte ich mit ihr reden 
können, und ich hatte foviel, foviel im Sinn gehabt! Sie dantte 
feife und befangen aus dem Wagen, und es zudte um bie rothen 
Lippen in verhaltenem Weinen. Dann fuhren fie ab. Aennchen, 
auf dem Rüdiik, fah auch nicht Heiter aus. Sie fchüttelte kaum 
bemerlbar den Kopf nach mir Hin, als wollte fie fagen: „Worbeil” 

Und es war vorbei. Gin einziges Mal noch ſah ich fie, auf 
dem Flur, als ich zu meinem Kirchenrath ſtieg. Da Hujchte fie 
aus ber Küche und warf fich ſtürmiſch, eilig, wortlos in meine 
Arme; heiß brannte ihr Kuß auf meinen Lippen, und ver: 
ſchwunden war fie wieder. Ich ſtieg wie ein Trunfener die Treppe 
hinauf und mag tolles Zeug genug da oben im Studirzimmer 
des alten, frefflichen Herrn geredet haben; denn er biidte mir 
fopfichüttelnd zuletzt ins Geficht und fagte milde: „Ein anderes 
Mal, mein Lieber! Sie find heute zu aufgeregt!“ 

Ich mußte auf Ferien gehen, ohne jie wieder gejehen zu 
haben. Mir war gräulich zu Muth. Da drängte ſich auf dem 
Bahnhof, gerade wie ich in den Wagen fteigen wollte, ein zer 
lumptes Bübfein an mid) heran, ſchob mir etwas in die Hand 
und verſchwand in der Menge Es war ein Heiner, duftiger 
Briefumschlag, den ich hielt, und dein lag ein Bild: Hildegards 
Geſicht ſchaute mic daraus an! Auf der Nüdfeite jtand ge— 
ihhrieben: „Lebe wohl und behalte mid lieb!“ — So reifte ich 
ab, frendevoll und Teidvol, Mein Herz und mein Denken lieh 
ich da zurück. 

So weit weißt du alles. Was nun kommt, das weißt du 
nicht. Dur kamſt nicht zurück im MWinterfemefter. Deines Baters 
Tod hatte alles für did) geändert, und das war mir ſchon Leides 
genug. Wir beide haben uns feitdem von Angeſicht nicht wieder 
geſehen! Und als ich in einer dunklen, regnerifchen Oftobernacht 
zum erſten Mal wieder vom Bahnhof durch die ſtillen Strafen 
meiner Bude zuwanderte, da fror's mich bis ins Herz hinein. 
Und was id) dann erfuhr, zerftörte meinen wonnigen Jugend» 
traum bis auf den Grund. Hildegard war fortgejchidt mit ihrer 
Schweſter! Endlich, nadı langem Forſchen brachte ich heraus, 
daß fie in oder bei Leipzig fih aufhalten follte. Ach wagte cs, 
einen Brief auf gut Glück an fie abzufchiden. Es dauerte nicht 
lange, da brachte der Yaufjunge des Sanitätsraths ihm mir unter 
Umichlag auf die Bude. 

„Meine Tochter bittet dringend, fie nicht zu beläjtigen!* 
jtand auf einem dabei Tiegenden Zettel. 

Nun gab's zwei Wege für mich: entweder konnte ich nun 
verlumpen oder id) fonnte, ftatt im tollen Leben, meinen Kummer — 
und er ſaß tief! — durch Arbeit betäuben. Ach fiel zunächſt 
auf den eriten Weg. Ach wurde ein wilder Gefelle, ein Kneip— 
genie und ein böfer Naufbold. Wenn die Klingen gebunden waren 
und wenn tofender Gefang und tobende Luft die Kneipe durch: 
braujte, dann wurde es mir erit wohl. Da rettete mich ein qutes 
Wort, das ich irgendivo in einer wülten Stunde las: „Wer ein 
Lump wird, weil er ein Mädchen nicht befommen hat, der wäre es 
höchſt wahrſcheinlich aud) geworden, wenn er jie befommen hätte!“ 

Das schlug durch! Hildegard einen Lumpen zum Dann? 
Nein! Und von Stund an kehrte ich um. Ich konnte es noch. 
Im Grunde war's doch wieder nur die Liebe zu Hildegard, die 
mich aus den Sumpf zog. Allmählich wurde ich ruhiger, wie 
ber Segen der Wrbeit an mir kräftig wurde. Ich ing nach 
Leipzig. Umviderftehli zog es mich dahin. Am den nicht 
häufigen Freiftunden, die ich mir gönnte, wanderte ich durch die 
Straßen, jedes Mädchengeſicht mufternd, das mir in den Weg 
fam. Vielleicht, vieleicht begegnete fie mie einmal! Der Zettel 
des Vaters fonnte ja nicht ihr Werk jein! Die Leute, bei denen 
fie wohnte, mußten meinen Brief aufgefangen haben! Daran 
Uammerte ich mid). 

So ſaß id) eines Abends im Zwielicht in einer Konditorei 
hinter meiner Zeitung. ch legte fie nieder — da hörte ich mir 
gegenüber einen leichten Schrei — ich bfidte auf: Hildegard ſtand 


\ bfeich umd Lieblih über das Marmortiichchen dort gebeugt und 


blidte mich an! Ich ſprang auf, alles um mid; her vergeiiend. 
„Fräulein Starke, es ijt Zeit, daß wir gehen!" tönte da kurz 


an 


oe 4 > 


und berbe die Stimme einer dürren Dame, die neben ihr ſaß, in 
diefes Wiederfehen hinein, und ein Blick traf mid, in dem Ab— 
ſcheu und Schreden ſich Tpiegelte. Da zog fie mit Hildegard ab 
in eiliger Flucht! Noch ein tieftvauriger Blid aus den großen, 


bfauen Augen, ein faum merfbares Beugen des Hauptes — und | 


fie war in Nacht und Nebel verfchtuunden ! 

Test ſuchte ich rajtlos vom Morgen bis zum Mbend — 
ich wußte es, fie war und blieb mein. Da fand ich eines Tages, 
als ich müde nach Haufe fam, einen Brief auf meinem Tifch. 
Ihre Hand, ihre Hand! Ein Lefezeichen fiel heraus, ein Feines 
rothes Seidenband und ein Heiner, flüchtig geichriebener Zettel: 

„In der Nacht gearbeitet! Die zum Andenlen! Werde 
morgen wieder fortgejchiet und weiß nicht wohin! Vergiß mid 
nicht! Hildegard,” 

Und dann ſah ich fie nicht wieder und fand feine Spur 
von ihr, und fein Zeichen des Lebens oder der Liebe fam je 
wieder an mid). 

Was fol ich dir” ein Langes uud Vreites von mir ſelbſt 
und mir allein erzählen! Ich machte qute, ſehr gute Eramina, 
arbeitete bald hier, bald dort umd fand überall offene Thüren; 
aber in mir vente ſich ftets die Sehnſucht nach meinem verlorenen 
Lebensglück. Es machte mie alles feine echte Freude mehr. 
Manche Tiebe Blume blühte an meinem Wege, aber ic) mochte 
mich nicht büden, fie an meine Bruſt zu ſtecken. Ich wurde ein 
einjamer Menſch. Meine Nachforſchungen hatte ich zuleht auf 
gegeben. Hildegard war wie vom Erdboden verſchwunden. Ahr 
väterliches Heimweſen war aufgelöjt worden, nachdem dev Vater 
gejtorben, wie es jchien unter eigenthämlichen Umftänden, über 
die ich nirgend rechtes Licht erhalten fonnte, und die Töchter waren 
in die Welt hinausgegangen. Wohin? Das brachte ich nicht heraus! 
So viel wurde mir allmählich far: Hildegard wollte fich nicht finden 
laſſen. Weshalb nicht? Ja, wenn ich das gewußt Hätte! 

Die Gejellfchaft und die Sejelligkeit unferer Kreiſe lich mid) 

kalt, wie geiant, und ich Fam nach und nach jo etwas in den 
Ruf eines Sonderlings und Einſamkeitshubers. Oben im dritten 
Stock eines Hauſes der Worftadt mit herrlicher Ausſicht hatte 
ih mid) einquartiert bei einer jungen Witwe, die mit einem 
reizenden Büblein da till und ehrbar haufte, und um devent 
willen ich manche Anſpielung und mauchen nicht immer zarten 
- Scherz anhören mußte, bis endlich ein an ſich ganz harmloſer 
Anlap denn doch dem Faß den Boden ausitich. Ich kam 
eines Tages von einem langen Spaziergang zurüd, auf dem 
mich der Negen überraiht hatte. Und wie ich jo zwiſchen den 
Weinbergen eilig meiner Behaufung zuftrebte, ſah ich vor mir 
auf dem einfamen Wege eine Frau in Trauer, ein fchreiendes 
Knäblein auf dem Arme, und im Näherlommen entdedte ich 
meine arme junge Sekretärswitwe, wie fie, friefend vom Regen 
und glühend von der Aufregung und Angſt, eilig dahinjchritt. 
Ich Habe immer ein Herz gehabt für duldende Menschen. Schnell 
war ich an ihrer Seite: 

„Erlauben Sie, Frau Wald; 
wenigitens abnehmen !" 

„Nein,“ jagte die ftattliche, 
Aſſeſſor — das geht nicht!” 

Uber ihr Athen ging keuchend. Statt aller Antwort nahm 
ich ihr das Mind aus dem Arme: „So, nun kommen Sie!” 

Und fo zogen wir felbander unfere Straße, und oben dor 
unjerev gemeinfamen Etagenthür gab ich ihr das Bengelchen zurüd. 
Aus danfbaren Augen fah fie mich am umd ging. Und ich freute 
mich des Heinen quten Werfs. 

Unangencehm aber empfand ich das Laden einiger befannter 
Herren am Abend, als ich im Schübenhaufe mein Bier trank. 
Die Redensarten wurden allmählich anzüglicher und deutlicher und 
die vermeintlichen Scherze nahmen ſchließlich eine Geſtalt an, Die 
ich miv nicht gefallen Laffen wollte. Ach nahm meinen Hut und 
wollte gehen. Da hörte ich halblaut ein Wort fallen von einem 
Gruß, den ich bejtellen ſollte, jo daß ich mich kurz umkehrte und, 
während das Blut mir jtürınend in die Stivn ftieg, mit ſcharfem 
Schlag die Infamie rächte. Die Folge war ungeheures Aufjchen, 
ein Duell anf Piſtolen, bei dem ich meinen Gegner lahm ſchoß 
und felbft verwundet wurde, dab ich fieben Wochen im Lazavetl 
lag; zwei Monat Feftung, meine Berjegung nach einem entfernten 
Gericht und Bekanntwerden meines Namens bis in das Heinfte 
Aäſeblait in allen Provinzen. Am Schluß der erbaufichen Artilel 


die Laſt darf ich Ahnen 


hübiche junge Fran „Der 


hieß es gewöhnlich: „Wie wir erfahren haben, foll ein Liebes: 
handel die Veranlaffung zu der blutigen Affaire gewefen fein.“ 
Da haujte ich nun nahe der Grenze unter einem rohen Ge— 
ſchlecht — und wurde allmählich müde Es iſt ein böjes 
Ding für einen jungen Mann, wenn er von Erinnerungen leben 
fol. Und das that ich. Ich Hatte für nichts und für niemand 
zu forgen, ritt meilenweit ins flache, öde Land hinein und fah 
abends jtill zu Haus hinter meinem Theefeffel, tauchte meine 
fange Gouleurpfeife und las. Wenn’s Zehn ſchlug, klappie ich 
mein Buch zu und legte das „rotbe, flüchtig beitidte Seidenband 
aus Leipzig hinein. — Müre Neuer bei mie ausgebrochen, hätte ich 
jedenfalls zuerſt nad) diefem Bande gegriffen und nad) dem ihweren, 
tiefen Goldrahmen über meinem Schreibtiſch, der ihr Bild ein— 
ſchloß, auf das ich morgens den erſten und abends den letzten 
Blid warf. Es war mir ſchon zur Gewohnheit geworden, und 
oftmals dadıte ich faum etwas Vejonderes dabei; mandmal aber 
fam auch das alte Weh der ſtillen holdieligen Studentenlieb' 
über mich, daR ich mich aufs Pferd warf und im wilden Jagen 
in triefendem Negen und jtöberndem Schnee durchs Yand ritt; 
aber das Glüd, das verlorene, immer wieder lodende, erjagte ich 
auf feinem Wege. „Und du kaunſt noch zehm Nahre warten — zehn 
Jahre find bald herum!“ hörte ich ihr, Hildegards, leiſes Singen 
auf der Bank im Mondichein. — Ja, jie waren jegt bald herum; 
aber was wir uns von ihnen veriproden hatten, war nicht in 
Erfüllung gegangen und ging nicht in Erfüllung. Immer nod) 
zehn Jahre mehr — jegt mußte Hildegard ſechsundzwanzig Jahre 
alt jein — immer noch zehn Nahre mehr, bis wir beide alt und 
gran und ftumpf geworden? Na, lebte jie denn überhaupt noch? 
Bar der fühe, blühende Leib nicht gar ſchon im Grabe vermodert, 
die Hand, die um meinen Naden gelegen, verwelft? Wußte ich es? 

Berftimmt wandte ich dann das Pierd und trabte heimwärts. 
Mir graute manchmal ordentlih vor dem grauen Städtchen, 
das da im grellen Abendlicht aus der weiten Schneelandicaft 
vor mir auftauchte, mit jeinem Thurm und feinen veriallenen 
Wällen dunkel und im Scharen Linien ſich abhebend von dem 
goldigen Horizont. 


„Hören Sie ’mal, das acht ſo nicht mit Ihnen!“ redete 


| mich eines Tags der Bräfident auf einer Juſpizierungsreiſe an; 


jenes nicht, 


„wie farm ein junger, friſcher Mann ſich jo einſpinnen! Ich 
will Ihnen etwas fagen: Sie reichen ein Urlaubsgefuh auf ſeche 
Wochen ein; ich Ichide Ihnen einen Referendar als Stellvertreter, 
und Sie fliegen aus — in die Welt, ‚auf die Dörfer,‘ wie man 
fo fagt. Nur feine Redensarten! Ich liebe die alten jungen Herren 
nicht; wär’ jchade um Sie! Alfo ich erwarte bejtimmt Ahr Ge 
fuch, und dann fommen Sie mit einer jungen Frau zurüd. Sit 
wichts mit den Junggeſellen. Nur die berühmte junge Witwe 
nicht! Hoffentlich tragen Sie um die feinen Öram? Na, na, 
nur nicht jo böje ausſehen — meine es gut mit Ahnen!“ Damit 
jchüttelte ev mir die Hand und ging. 

Alſo ich jollte auf Urlaub! Nun kam die wichtige und 
ſchwere Frage: „Wohin?“ Jedenfalls au die See, um den Staub 
diefer Pußta hier um mid) herum, oder richtiger diejer Lehm: Sahara, 
'mal gründlich abzujpülen. Aber es mußte ein einfames Seebad 
fein; wenig Menſchen, feine Kurhotels, feine Stellner Wo gab 
es das? Ich ſtudirte Specialfarien. Hier war dies nicht, dort 
wie es fein follte; plötzlich haftete mein Auge 
auf einem Punkte nicht an, ſondern vor der Küſte. Da war, 
eine Scemeile vom Stande auf einer einzelnen Klippe, die zu 
einer nanzen Weihe ihresgleichen gehörte, welde man durch 
kleine Kreuze angedeutet hatte — da war auf diejer Klippe ein 
Leuchtthurm eingezeichnet, deſſen Licht man auf zwölf Scemeilen 
weit übers Waſſer Hin fehen follte. Das war mie nun im 
Grunde gleichgültig; hauptſächlich kam's mir nur darauf an, 
möglichit viel von dem Salzwaſſer und möglichſt wenig von dem 
Lande der brotefjenden Menichen vor mir zu jehen. Am Strande 
lag ein Heines Fiiherdorf, von dem ich nie gehört — da Fonnte 
die Menge der Badegäjte unmöglid) eine bejonders große jein. 
„Wie wär's,” fagte ih mir, „wenn du an den Leuchtthurm— 
wärder unmittelbar jchriebeft und ihm ein anſtändiges Stüd Geld 
für ein Zimmerchen oben bei der Laterne böteit? Die Leute 
fünnen auch zuweilen Geld gebrauchen, und div und ihm wäre 
vielleicht zugleich geholfen!” 

Acht Tage nach Abjendung meiner Anfrage hielt ich einen 
etwas unbehilflich qefchriebenen Brief in Händen, laut deifen id) für 


4 


c 


die Dauer von vier Wochen im Juli und ber erſten Muguftwoche | 
unbefchränfter Here eines Zimmers war, wie ih mir's gewünscht. | 


Und nun padte mich plößlich eine wahre Ungeduld. Ich konnte den 


Zeitpunkt des beginnenden Urlaubes faum abwarten. Endlich war | 
der Tag gekommen; und vierundzwanzig Stunden ſpäter ſaß ich | 


vor dem jchmalen Feniterhen meiner Thurm— und Burgfammer, 
hundert und einige Stufen über dem Spienel des Meeres, das 
ſich prächtig blaufunfelnd im Sonnenlicht vor mir dehnte, grün: 
lich und weiß am Fuße des Felſens in ewiger Brandung ſchäumte, 
die murmelnd oder braufend zu mir in meiner luftigen Höhe 


binauftönte. Ach Ttredte die Aeme vor Behagen: bier war's gut 
fein! Nadı dem Herings- und Flunderdorf dort an der Yandieite 


in Den Dünen warf ich feinen Blick. 
ihn unwilllürlich auf dem bildhübſchen Mädchen ruhen fallen in 
ſeiner Heidfamen Boltstracht i Felllein und ſilbernen 
Spangen und Roſetlen, das jebht gerade eintrat und mir Den 
erſten Kaffee meines hieſigen Aufenthaltes brachte, Blond, ſchlank. 
voll, yon zarten Farben und mit einem reizend ſchelmiſchen 
Licht in den Augen ſtand ſie vor mir und hielt mir das Kaffee— 
breit dar, 

„Sind Sie die Tochter von Haufe, oder vielmehr vom 
Thurm?“ fragte ich fie, während ich mir den Rahm zugof. 

Sie bejahte mit einer Stimme, deren weicher Wohllaut an 
genehm berührte. 

„Iſt es denn nicht ſehr einfam hier für ein jo junges” 
faft hätte ich geſagt „und fo hübſches — Mädchen?” 

Im Winter wäre es ara geweſen, meinte fie; im Sommer 
füme dod) ab und zu 'mal ein Menſch in Sicht: aber daß ſie 
einen Zogiergaft gehabt hätten, das wäre ihnen noch gar micht 
vorgekommen, und fie hätten ſich auch nicht wenig gefreut, Tehte 
jie hinzu. Und dabei jpielten die eiwas arbeitsharten, aber zierlich 
Meinen Hände mit dem Schürzenband, und nur ein halber Blid 
unter den fangen Wimpern ſtieg bis zu meinem Eeſicht. 

„Sind denn da drüben im Fiſcherdorf gar feine Vadegaſe? 
fragte | ich weiter. 

Sie fchüttelte Tächelnd den Hopf und fah en mir vorbei 
durch das Fenſter. 

„Eine einzige Familie wohnte diefen Sommer bis jebt da; 

Lente, die fein Geld haben. Schen Sie — da das Hans mil 
dem vothen Dach, halb hinter der Düne!“ 

Ich mußte dicht neben fie treten, 
Richtung ihres Fingers mit den Blick zu Folgen. 
war mir's einerlei. Aber fie war gar zu niedlich. 

„a, wie fommt denn das?“ fragte ich, eigentlich mar, tm 
fie noch ein bißchen zurädzuhalten; „Stagerfand, das große 
Modebad, sit doch nur reichlich eine Meile entfernt.” 

„Das iſt's ja chen!“ lachte ſie, daß man ihre tabellofen Zähne 
beioundern mußte, „das drüben it fein Modebad! Der Strand 
iſt gerade fo gut und das Waller genau jo friſch und ſalzig und 
der Wellenichlag noch etwas jtärfer, und die Luft befommt einem 
bier auch wicht Schlechter“ - ich mußte unwilllürlich auf ihre 
blühenden Wangen bliten — „Sie meinen, ih fühe auch nicht 
franf aus? Warten Sie nur, wie Sie nach fünf Wochen voth 
und braun jein werden! Können Sie ſegeln?“ 

ch jagte ihr, ich jei von Geburt eigentlich am ber 
fante zu Haufe und von Hein auf gewohnt, 
Schoten umzugehen, 

„Unier Boot da unten lönnen Sie immer benuben,” plauderte 
fie weiter: „für uns iſt das etwas Altes, aber Almen wird's 
Freude machen und Ihren wohlthun.” 

„Zangen Sie —“ ich wußte wicht recht, wie ich ſie anreden 
ſollie — „Fräulein“ wollte mir nicht heraus, das Hang mir zu 
tellnerinnenmäßie 

„sch heiße Wiebke!“ ſagte ſie und lachte leiſe auf, „haben 
Sie den Namen ſchon früher gehört?“ 

Ich mußte es verneinen. „Sagen Sie, 
nicht immer biex im Thurme geweſen?“ 

Ein ſchneller Augenblitz traf mich wieder von der Seite. 

„Ach bin drüben zwei Jahre auf dem Feſtlande als junges 
Mädchen bei einem Arzt im Hauſe geweſen, und bei meiner 
Großmutter in der Stadt bin ich zur Schule gegangen; nun 
muß ich Haus Imiten für den Bater und den Kuecht — aber ic 
berplaudere mich hier; ſeien Sie nicht böſe, daß ich Sie anf 
gehalten habe!“ Und hinans war sie, 


Wolhl aber mußte ic) 





Im Grunde 


Waſſer⸗ 
mit Hals und 


Wiebke, Sie find 


24 
„Wann ſoll ich Ihnen das Abendeſſen bringen?“ fragte 
ſie, noch einmal den hübſchen Kopf durch die viertelgeöffnete 


Thür ſteckend; „um ſieben? Schön!” 

„Eine bedenkliche Leuchtthurmwirthin!“ mußte ich halblaut 
hinier ihr herſagen. „Wer bier nicht fattelfeft ift, verliebt ſich 
in dieſer Einſamkeit ficher in fie. Und das wäre doch ein ges 
fährlich dummer Streich. Ihr ſelbſt wäre es jcheinbar nicht ganz 
unangenehm.” 

Da unten, fern, ging die Sonne unter, Rothes, glühendes 
Sewölt im Weiten. Weinfarben, jegt ganz ftill, leiſe gegen die 
$elippen vanichend Tag die See da. Immer bunfler wurde das 
Feuer, das dort am Horizont feinen blutigen Schein in die Wollen 
warf — dunller die Ser, nur hier und da glänzte ein weißes Segel 
auf dem Waſſer. Unter, am Rand der Klippe ftand Wiebke, 
auch ihre Geſtalt lichtumfloſſen. Die Dünen drüben am Land 
hatten Glanz über ihren weißlicden Sand gededt, umd wie mochten 
die Laternengläſer des Leuchtthurms in diefem Mugenblid im 
rothen Fener über die Sce hinausgleißen“ — Aber «3 ift alles 
falſcher Glanz bald fommt die Nacht! — Nun, laß ſie 
kommen! Da iſt fie ihon. Die Wollen erblaſſen — über der 
See liegt noch blinlende Spiegelung; aber die Dünen und das 
Mädchen ſtehen nicht mehr da, vom Märchenglanz übergolien. 
Ueber mir leuchtet jegt Mar und ruhig das gelbe Licht des 
Thurmes hinaus über die ſchlummernde See; dort unten ſeh' id) 
allmählich, wie's dunkler wird, den Haren Wiederichein im Waſſer — 
und über mir taucht nach und nad) ungezählter Sterne Flimmern 
aus ber dunkelblauen Himmelstiefe auf; und auch die Sterne werfen 
zitternde Spiegelbilder in die kaum gewellte Fluth. Die Brandung 
ſpült mit lockendem Murmeln zwiichen den Klippen. Nur von 
drüben ber ſchallt ununterbrodien dumpfes Naufchen Herüber: 
die Dünung, die auf den Strand läuft, und die nie, nie ftille 
jein kann. Da klopft es bei mir an, ich fahre herum; MWichfe 


| jteht in der Thür und hält hoch in der Rechten die Lampe, daß 
‚ der Schein voll anf ihr lächelndes Geſicht und auf ihre Schultern 


um aus Höflichleit der 


dich doch noch einmal treffe, finde, halte, 


fällt, ein Bild zum malen. „Wünſchen Sie Licht? Dann müſſen 
Sie aber die Läden vorm Fenfter jchliehen, daß fein zweites Licht 
neben oder unter dem Nefleltor ſichtbar iſt! Oder möchten Sie 
zu uns auf ein Stündchen herunterlommen?“ 

„Ja, Wichke, nehmen Sie Ihre Lampe nur wieder mit; 
die prächtige Nachtluft will sch nicht ausſchließen, ich Fomme 
gleich hinunſer. Hier, nehmen Sie mein Seidel auch mit: 
ich trinke nur aus ihm, und es darf feinem andern vorgejeßt 
werben.“ 

Wichte faßt es mit der andern Hand und gebt; ich trete 
noch einmal ans Fenſter und lehne weit hinaus, Im Werten glübt 
noch ein ſchmaler, gelber Streif, tief unten über dem Meer; der 
hält fich fange. — Glänzt nicht jo duch jedes Menſchenleben 
noch eine Hoffnung, ob nuc mit ſchwachem Schein, im Dunlel 
de3 einfamen Herzens? Die Hoffnung auf ein Glück, das einſt 
heil über unjerem eben geftrahlt, und das unterging — aber 
um wieder aufzugeben in neuem, blendendem Glanz? Ob id 
du Süd? Ob mir 
deiner Augen Schein doch noch einmal leuchtet — Hildegard? 

Ich bob das Haupt: „Es Toll und muß jeßt anders werben. 
Kommt dns Glück, dann das Herz auf mit all jeinen Fenſtern 
und Thüren; aber dies Hängen am Wlten, das macht alt. Nord 
feeluft ſtärlt — nun laß Dir and) die Seele jtärten!“ 

So ging ich kajtend die Schmale, dunkle, gewindene Treppe 
hinab. Auf den einen Abſatz unter mir fchien helles Licht durch 
eine Thüripalte — die Thür that ſich auf, ich ſah in Wiebkes 


Zimmer. Nett md mit einer gewiſſen Zierlichteit war's aus 
geſtattet. „Wir jind Nachbarn,” ſagte fie; „ich befam chen 


ordentlich einen Scred, ala ich Ihren taftenden Schritt hörte 
und dachte nicht an Sie. Unſere Leulte geben mit ſchweren und 
ſicheren Fußen. Es ift ihnen gewohnter Weg in der Nacht. 
Gcher Sie voran, ich Teuchte Ahnen!” 

Sie ſtedte eine fange, nelöfte echte auf und ſchloß den 
legten Hafen ihres engantiegenden Mieders oben an dem weißen 
Halfe; — der Silberfhmud lag in einem offenen Käſtchen aus 
geſchnitztem Sandelholz unter dem Spiegel. 

„Wenn Sie meinen Vater aus Seiner Ruhe aufrütteln fünnen, 
dann fan er Ihnen viel Munderbares und Intereſſantes aus 
der Zeit feiner Seefahrten erzäblen, das er zu Waller und zu 
Sand erlebt Hat. Sonſt ift’s recht ſtill bei uns unten.” 





Das Maria-Iherefia-Penimal in Bien. 
Nach einer Photographie von M. Franlenftein u. Komp. in Wien, 


414 >» 


Der Alte, ein biederer, ſchwerer Oberjtenermann, veichle mir 
mit lurzem, wie ein Knurren Eingendem Gruß die ungeheure 
Floſſe. Wie kam fein Tüchterlein doch zu fo Meinen Händen? 

Er lieh fich dann, aus der Furzen Shagpfeife rauchend, in 
feinem großen Lederlehnſtuhl nieder. Die Fenſter jtanden offen, 
und friſche Seeluft ftrich durch den behaglichen Raum. 

Auf einem Negal an der einen Wand ftand cine Reihe 
buntbefiebter Flaschen. 

„Wir haben das Recht, an Fremde und Badegäſte, wenn 
fie herüberlommen, auszuſchenken,“ erklärte Wiebke. Sie blidte 
fragend auf den Bater. Er nidte. Sie nahm eine der Bortwein- 
Hafchen und zwei Gläſer und jchenfte den bernjteingelben Trank ein. 
Dann bot fie mir mit freundlichen Blid und Lächeln das cine, 
das andere dem Vater: „Zum Willlommen!" fagte fie. 

Der Alte hob jein Glas und hielt es ans Licht. „Proſt!“ 
tief er mit tiefer Stimme, 

Hell fangen die Glaſer zuſammen. 

Das war lange Zeit das einzige Wort, das Brar Vollers 
Sprach. Nachdenklich und behaglich rauchte er weiter. Wiebke trug 
mir einen Stubl herbei, weit genug entfernt von dem Sitz ihres 
Baters, daß mir die fcharfduftenden Wolken feines Tabals nicht un: 
mittelbar ins Geficht twehten, und dann jtellte fie mein Seidel 
voll jchäumenden Bieres vor mich auf den Tiſch. Alles ſtand 
ihe jo nett an; jede Bewegung war jo flint und anmuthig, daß 
ich ihre mit wahren Vergnügen folgte. „Nun, und Sie?“ fragte 
id, als fie mir fogar eine brennende Sohle auf die Pfeife 
gelegt hatte, 

Ich ſpinne!“ ſagte fir. 

Und ſie holte ihr Rad und ſebtte ſich mir gegenüber inmitten 
des Zimmers. Ich ſchaute auf den zierlichen Fuß, wie er unter 
dem kurzen Rod raſtlos das Breltchen trat. Mb und zu hob 
fie die Augen und fah mit ſchnellem Blid zu mir hinüber, und 
derfelbe Blick ftreifte den Vater Was waren das für lebhafte, 
tlare, feuchte Hugenfterne! Gin flüchtiges Lächeln pielte dann 
und wann um den weichen Mund. 

Kleines von uns faqte etwas. Nur das Rad jchnurrte, und 
der Alte blies von Zeit zu Zeit hörbar Dampf ab. Ich hatte 
fein Bedüriniß, die ſchöne, behagliche Stille zu unterbrechen. Jetzt 
fing Wiebke an, ganz leiſe vor fih herzuſummen, eine einfache 
Melodie ohne Worte, 

„Wie heißt der Text?“ fragte id. 

„Et mailen wee Sönigetinner 

De hadden cenanner fo leef! 

Se lunnen tofämen wich fanen, 

Dat Water weer veel t0 deep!" 
fang fie mit Harer Stimme. - - Nun war das Eis 

„Na, Wichfe fann ſchön fingen!” dröhnte der Ba 
nadı dem erſten Verſe dazwiſchen. „Sing’ weiter!" 
fang bis zum Schluß: 

„Se nehm om in chre Arme, 
Dat Hart ded ehr jo weh; 

Un länger hınn je nich lewen, 
Se jprung mit em in de Ser.“ 

„Dub, mein!“ rief fie, indem ſie lachend aufiprang, 
„das Lied endet jo traurig, Geben Sie mir Ihr Seidel, es 
ist leer!” — 

„ZTrinten Sie an, Wiebke!“ bat ich, als ſie es wieder gefüllt 
hatte. Sie bob das Glas und nette die Lippen, über den Rand hin 
mich mit den muthwillig ichillernden Augen anblidend. Wie jtand 
ihr alles aut! Aber war fte ein Kind, das unbewurt alle Anmuth 
des blühenden Mädchens entfaltete in unwilllürlichem Thum — 
vder wußte fie, daß fie ſchön war, und wollte jie ihre Augen werben 
laſſen und wollte fie gefallen? — An foldyen Gedanken jah ich 
fie wieder an, ohne es zu beabfichtigen, meinen Blick tief in ihren 
tauchend; da überflog dunkle Gluth plöglic das frische Geſicht, und 
jie ſetzte ſich ſchnell an das Rad, das Seidel vor mid, niederjtellend. 
Hatte ich) ihr weh getban mit dem Anjtarren? 

„Wie oft ijt Verkehr mit dem Lande?“ wandte ich mid 
ichnell an Brar Volfers. 

„So oit Sie wollen, Sie fünnen jeder Zeit das Heine Boot 
befommen,“ fantete die Antwort. „Wichle fann Sie immer 
binüberpullen; können auch jegeln, wenn Sie Luft haben. Auf 
die können Sie ſich verlaſſen.“ 

Wieble nickte munter, 


ebrochen. 
des Alten 
Und ſie 


„Iſt drüben im Dorf etwas zu bekommen?“ fragte 
„Ich muß noch allerlei haben!“ 

Er fchüttelte den Kopf. „Nichts was Sie gebrauchen können. 
Aber wenn Sic morgen mit Wieble nach Stagerſand ſegeln wollen, 
da giebl's alles!“ 

„Segeln Sie denn morgen bin?” fragte ich erfreut. 

„Muß einkaufen Für unſern Haushalt!“ ſagte fie wichtig. 

„Schön,“ rief ich, „wann geht's los?“ 

„Um acht Uhr; wollen Sie wirklich mit? Das iſt herrlich; 
da will ich gleich ſehen, wie Sie mit einem Segelboot umzugehen 
wiſſen!“ 

Draußen war das Brauſen lauter und tiefer geworden, als 
wenn größere Waſſermaſſen ſich gegen das Geſtein und den Auf; 
des Thurmes drängten. 

„Die Fluth kommt!” ſagte Wichfe. „Die kennen Sie nic 
aus Ihrer Heimath. Wenn fie mit Nord: Weit einfeht, müſſen 
wir oft die eiſernen Laden fchliehen; fonft fchlägt die See uns 
die Fenſter ein!” 

Ich ftand auf. „Alſo auf morgen!“ 

Wieble jtellte ihr Spinnrad in den Winfel. „Ich leuchte 
Ihnen hinauf und gehe auc zu Bert! Gute Nacht, Yater!“ 

„Gute Nacht!” ſagte er bedächtia und Hopfte das Pfeifchen 
an der Tiichlante aus, 

„Erichreden Sie nur nicht, wenn's über Ihnen 'mal laut 
wird; es acht nicht immer leiſe zu bei dem Lichtern und wenn 
die Wache wechjelt." 

Bir gingen binauf, Wiebfe vor mie ber. Bier, in dem 
engen ZTreppengang hörte man das Rauſchen und Hollen der 
jteigenden Sec noch viel deutlicher, dumpfer, klatſchender. Und 
dazu das über die gerumdeten Wände fahrende Licht, vor umd 
binter uns alles im tiefiten Dunkel. „Hören Sie," ſagte Wichfe, 
ſich zu mie wendend, daß ihr halbes Geſicht vom Yichtichein 
itbergojien war und die andere Hälfte vom Schatten bededt; „Hören 
Sie das Braufen! Sie werden aut dabei fchlafen! Es iſt wie 
Geſang!“ 

Ich war allein hier; ſern von allem und allen Bekannten 
mitten im Nordmeer, allein mit dem verführeriſchen Kinde in 
dunkler ſchweigender, einſamer Nacht; über uns das ſtrahlende, 
warnende Licht, das feinen Glanz hinauswarf in die weite Finſter— 
wiß: unter uns jener Gejang der Nacht und der Fluthen — es lag 
ein Hauch wahrhaft lodender Poeſie über diejer Stunde, 

| Bir ftanden vor ihrer Hammer. „Gute Nacht, Wiebke,” 
Ich reichte ihr Die Hand, „Ehe Nacht!“ — „Gute Nacht!” 

Ihr Auge ſprach mit, Ich trat in mein Himmer ımd lehnte 
hinaus, 

„Ja, Luftveränderung!“ ſagte ich zu mir: „es iſt merk 
würdig, was die thut; ich kenne mich felbft nicht mehr; ich bin 
heute ſchon ein ganz anderer Menſch!“ 

Ich ſchlief köftlichen, tenumlofen Schlaf. Eine frische Stimme 
wedte mich, die mich durchs Schlüſſelloch mit munterem Klang 
anvief: „Herr Amtsrichter, es iſt Zeit!“ 

Was für ein Morgen lächelte über der Sce! Prächtige Luft 
umtvehte uns; der Duft des Salzwaſſers fächelte belebend um 
meine Stirn und ich fon ibn eim wie cin Geneſender. Wir 
faßen dicht an einander hinten im Boot, das vor frischer Brife 
mit halbem Wind, wie man fo Sant pfeilichnell, durch die grün 
liche, ſchillernde Fluth ſchoß. Wiebke ftenerte; ich hielt die Schot. 
„Immer klar zum Loswerien!“ mahnte Wieble, die in all ihrem 
Silberſchmuck alänzte Ich lieh eines der filbernen Mettchen durch 
die Finger laufen. 

„Schöne, feine Arbeit - - und Sie Iragen gem Schmud?“ 

Furchtbar gern! Wenn ich mich 'mal verlobe, dann muß 
mein Bräntigam mir viel, viel chenten! ch bin gar nicht To 
jeher für Schöne Kleider; man kann in einfachen Zeug, wenn's 
nur que it, ebenſo nett ausfehen; aber alles, was Geſchmeide 
beißt, das lodt mich, ich hab's von Hein auf jo gern achabt. 
heben Sie Adıt, wir drehen etwas in den Wind, fonjt laufen 
wir auf den Stein da auf!“ 

Ein einfamer großer Felsblod vagte um einige Auf aus 
dem Waſſer, und filberne Tropfen jprigten um ibn. „Bel Ebbe 
liegt er troden; gerade foweit geht das Waller zurid," erklärte 
Wieble. „it einmal ein Rind bier ertrunken, das vom Hoch 
waſſer überraſcht wurde und zu ſpät ein Herz faßle zurüchzugehen. 
wie's Waſſer ſchon tief war. Keiner hatte cs bemerkt. Die 


ich. 


— 45 ⸗ 


Dünen liegen zwiſchen dem Dorf und dem Stein. Es full noch 
da ſpulen und die Schiffer warnen bei ſchlechtem Weller.“ 

Heute morgen ſaßen weiße Möven auf ihm und flogen, wie das | 
Boot eilig vorüberſchoß, Fchreiend in Die Höhe. Das Boot ftampfte 
feicht vor dem Seegang; im Sonnenlicht glikernde Spriger über- | 
iprühten den eintaucenden Bug mit Perlenſchaum; Tanggeftredi, | 
fangfam anwachſend, rauſchten Die niedrigen Seen quer gegen 
uns an, felten nur einen Keinen Hatichenden Guß über den Doll— 
borb werfend, mern die Brife nachließ und das Boot ſich nad) 
(uvart aufrichtete. 

„Sürchten Sie ich?” fragte Wieble. Sie fah mit der Ruhe 
alter Gewoͤhnung und regierte die Ruderpinne mit ficherer Hand. 
Ic fürchtete mich nicht. Sie nidte mir vergnügt zu und zeigte 
voraus. „Da fehen Sie ſchon den langen Steg, den fie ins 
Waſſer hinausgebant haben; da legen wir an und machen das 
Boot ſeſt. Dann weiſe ich Sie erit zurecht und mache meine 
Einkäufe. Ich effe bei meiner Tante —“ 

Ein Injtiger Gedanke durchfuhr mic. 

„Rein, Wiebke, möchten Sie nicht 'mal an der großen Baft: | 
tafel miteſſen? Ich lade Sie ein; bitte, fommen Sie mit!* 

Freudig Tenchtete 8 im ihrem Auge auf. 

„Iſt das Ihr Ernſt, Here Amtsrichter? Ra, das möchte | 
ich ſchredlich gern einmal; o, bas ift reizend von Ihnen!“ rief 
jie banfbaren Tons. 

„Abgemacht!“ Und ich freute mich darauf, mit dem Schönen 
sriefenfinde zufammen bier, cin Fremder, den feiner kannte, zu 
Tiſch zu ſihen und ihr einen Gefallen damit zu thun. Ich war 
ja ſicher, daß fie mir feine Verlegenheiten bereitete. Sicher 
aber auch war ich manchen Neiders. Sie mußte auffallen, und 
das war mir gerade recht in der jaft übermüthigen Stimmung, 
in die ich jeit geitern gerathen mar. Und heute im frifchen | 
Morgenwind ſchwoll miv das Herz ordentlich in neuer Lebens— 
luſt. Als ih auf der Brüde ihr die Hand reichte, um ihr ans 
dem Boot zu helfen, da war miv der Gedanke, wieder unter fo 
vielen Menſchen zu fein, gar nicht mehr unbehaglich; ich fühlte | 
mit einem Male, tie jung ich noch war. 

So gingen wir Seite an Seile über den Steg, und ich hatte 
meine Freude daran, wie ficher und zierlich ihre Füße in den 
furzen Schuhen und weißen Zwickelſtrümpfen auf den hallenden 
Planken anftraten. 

Ich ging mit ihr in allerlei Läden umher, und cs machte 
mir Vergnügen, zu fehen, wie das reizende junge Ding mit friicher 
Thatlraft ihres Amtes waltete als Führerin und Anwalt in all 
den Sachen, von denen ich nichts verftand, und ebenfo ihre 
eigenen Angelegenheiten bejtimmt und umſichtig ordnete. 

„So, nun möchte ich nur noc in den Handichuhlaben da 
drüben, und dann gehen wir zum Eſſen! Gind Sie nicht auch 
hungrig, Wiebte?” 

„Nein, ich free mic viel zu Schr!“ ſagte fie kindlich. 
Und das glühende Roth der Ueberraſchung und des Glüds, 
das ihre Wangen färbte, als ich ihre ſagte: „Jetzt fuchen Eie 
jich ein Paar Helle Handſchuhe aus au umferem Diner!” war 
allerliebit. 

Eo traten wir ein im ben großen Saal mit feinen fangen, | 
üppig gededten Tafeln. „O wie wunderſchön!“ flüfterte fie be 
fangen und ſchmiegte ſich in unwillkürlicher Schen an mich, den 
einzig bekannten Menſchen unter den vielen, die theils ſchon längs 
der Tiſche ſaßen, theils noch Flutbartig durch alle Thüren gepubt 
herein jtrömien. 

„Kommen Sie, Wiebke, Tegen Sie Ahren Arm in dem | 
meinigen! So — nur die Finger!“ 

Die Hand, bie leicht in ihrem bellgeauen Handſchuh auf 
meinem Mrm lan, ſah jebt ſehr zierlih aus Wir gingen die 
fange Neihe entlang. Wie fie nun feiten Halt an mir Hatte, 
da richtete fie ihre Schlanke Geſtalt auf, und den Kopf ein wenig 
zurück und zur Seite gelegt, Tieh ſie die Blide Schnell muſternd 
iber die Leute hinwandern, ohne Berlegenheit, mit einem wirklich 
allerliebſien Ausdruck von kindlichem Stoß. Manches Auge 
folgte uns. 

„Sehen Sie nur,“ flüſterte fie zu mir aufſchauend, „wie 
die Leite uns nachſehen; das thut gewiß meine Kleidung! Iſt 
Ihnen das nicht unangenchm?* 

Sch wollte wiberfpreden, dech ich befam mich noch zu 
rechter Zeit. Wozu das Mädchen eitel machen! 





; ein wenig auf, 


| Schaummweinpfropfen an zu knallen. 


‚ beten. — 


Geſicht! — Ich fah und jah und jah — das war fie! 


Ziemlich weit unten an der Tafel fanden wir Plat. ch 
ließ einen Stuhl frei zwifchen der zunächſt figenden, die Speiſe— 
farte mufternden Dame und mir, den bald darauf ein Herr mit 
blondem Wollbart einnahm, welcher ſich ihr ſehr cifrig zu 
widmen ſchien. 

Sie antwortete ihm mit einer Stimme, deren Klang mir 
befonnt vorlam; aber als ich ſelbſt von der Speiſelarte aufblidte 
nad ihr hin, Konnte ich nur ihren Naden ſehen. Sie ſprach 
eifrig mit einem älteren Herrn an ihrer rechten Seite; ich wandte 


‚ mich Wieble zu, die ftrahlenden Blides die Neihen hinauf und 


hinunter fah. 

„Soll ich die Handichuhe ausziehen?“ fragte fie leiſe, ſich 
dicht zu mir beugend und mie mit einem wirklich ſüßen Blid ins 
Geſicht ſehend. 

Mein!“ erwiderte ich ebenſo leiſe; „ſehen Sie, viele Damen 
behalten fie an!“ Sie nickte. — Und nun kam die Hahl der 


' Gerichte, 


„Das kenne ich ja kaum!” bewunderte fie eins ums andere; 
aber jie ſaß troßdem mit einem Anjtand zu Tiſch, der meine letzte 
Beforgnig um Dos Wageſtück unterdrüdte Mir felbjt that die 


geſellige Luſt hier jet wohl und ich wurde heiterer und heiterer, 


Sie plauberte Fo frisch und natürlich und fo vertrauend, als wäre 
ich eim alter quier Bekannter; jetzt ſchwirrte über die ganze Tafel 
das Geſpräch, und noch dazu fpielte nicht fern don uns raufchende 
Tofelmufit; da that kein Flüſtern mehr noib und wer auch nicht 
mehr möglich, wenn man fich verjtändfich machen wollte Auch 
Wiebke ſprach jegt laut und lachte wohl einmal ſilberhell dazwiſchen 
Die Muſik ipielte eben die Ouvertitre zu einer 
befaunten feinen Oper: es war ein Potpourri von Studenten 
liedern, und ich ſang innerlich Die befannten flotten Melodien mit. 
„Yivant omnes virgines 
Faciles, formosne !* 

Hang es gerade jegt zu den Flöten und Fagotts in meinem zum 
Leben ertvachenden Herzen nad. Jetzt fingen hier und da die 
Ich mwinkte dem Kellner — 
er stellte eine Halbe Flaſche Fühlen Seft vor mich hin und zwei 
Gläſer. Wiebke jchrie beinahe Teife anf vor Freude: 

„Champagner?“ ſagte ſie und legte bie Hand auf meinen 
Arm — „nein, wie joll ic Ihnen ſo viel Freundlichleit dauken? 
Den habe ich noch nie getrunken!“ 

Der Trank brauſte auf in den Kelchen. „Nun ſchnell, Wiebfe, 
ch der Geift noch verduftet!” Klingend neigten fie ſich gegen 
einander; fie fah mir tief in die Augen; dann den blonden Stopf 


‚ In den Naden beugend, ſchlürfte fie auf einen Zug den fchäumens 


den Wein, und, ein wenig feitlich im Stuhl gelchnt, das glückliche 
Geſicht mir voll zugefehrt, hielt ſie mit berüdendem Lädeln das 
Icere las gegen mid) bin, ein wahres Bild von Jugendluſt. — 
Mein Herz ſchwoll, wie ich meinen Blick tief in ihren ſenlle — 
(Du ſiehſt, Fritz, ich bin ehrlich!) „Noch fünf Wochen mit dem 
reizenden, gefährlichen Geſchöpf zufammen!* zog es mir durch ben 
Sinn mit bethörendem Klang — 

„Es ritten drei Keiter zum Thore hinans, abe — 

Frinstiebchen, die fchaute zum Freniter hinaus — ade!” 
ſchallte es da von oben plöglich, Fräftig, im alten, herrlichen, uns 
vergeffenen Ton in meinen Traum hinein mit Binlen und Trom— 
- ch fenfte den Hopf und jtüßte ihn in die Hand — 
welche Fluth von Erinnerungen ſtrömte bei der Weile mit einem 
Male auf mich ein! 

„Was iſt Ahnen?" hörte ich Wichfe fragen, und wieder 
fühlte ich ihre Hand auf meinem Arm Bas Hans an ber 
Markiede — das flatternde Tuch — etwas wie bremmendes 
Heimweh alomm in meinem Herzen auf — ſeufzend Hob ich das 
Geſicht; eben mir Hatte mein blondbärtiger Nachbar fein Glas 
ungeltoßen; ich blidle zur Seite und — fah in Hildegarde 
Und fie 
fah mich an, blaß, ernit, aus großen blauen Augen — fannte 
fie auch mich? Taunte fie mic) nicht? Kein Lächeln auf ihren 


| Lippen, kein Gruß im ihren Blick — jebt ſchaute fie fremd und 


falt weq und fagte ein Wort zu ihrem Nachbar; er ſtand auf, 
bot ihr dem Arm, und fie gingen; der alte Herr umd eine weiß: 
haarige Frau folgten ihnen und ich ſtarrte ihnen nad). 

„Aber, Herr Mutsrichter!” ſprach Wiebkes weiche Stimme, 


| bittend, ängſtlich, bejtürzt, und ihre Fingeripiten berührten meine 


— 46 


Hand — id fuhr herum. „Was ift Ihnen? Um Himmels 
willen, Sie find ja weiß wie die Wand!” 


Ich ariff willenlos nach der Flaſche; was fpielten fie jept da | 


oben? War das nicht „Es ftcht ein Baum im Odenwald“ ? Jawohl: 


„Und als id) wied'rum kam zu ihr, 
Verdorret war der Bauın; 

Ein and’rer Liebfter ſaß bei ihr — 
Jawohl, es war ein Traum!“ 

Ich goß uns ein und ftich mit ihr an und jah fie au, 
ohne zu trinfen; wunderbar, hatte ich die fo hübſch gefunden ? 
Nimm das bißchen Jugend aus ihrem Geficht fort, und was 
bleibt ihr? Sie ſehle das Glas nieder: „Sie denen ſchlecht 
von mic!“ fagte fie Teife. 

. Mir that das Herz weh. 

„Wiebke — wie kommen Sie auf ſolchen Gedanken? ch 
habe Sie fehr Lieb!" 


— > Mein 


Schnell ſind die Jahre vergangen — 
Bodj denk’ id; der bangen Badıl, 
Als Pu, jubelnd empfangen, 

Zum Irben rinft erwadıt; 

Bit freudezitfernden Bunde 

Küft’ ich Dich inniglid; 

Und ſprach aus Berjensgrunde: 
Brin Rind, Golf ſegne Dich! 


Dery- 


er Mai war Alles Leben fing an ſich zu regen. Die 


——— ‚Ticdh zu 
Bäume, der Wald, Wieſe und Berg hatten ſich in junges durch⸗ 


fichtiges Grün gehilflt, der lieder zeigte die erften duftenden Blüthen, 
an den Heden barg fich mn... das zarte Nöslein, indeh unten 
im Thale die Obftbäume ſchon in voller Blüthe ſtanden. 

Aluch die Spalierfprößlinge au des Tannenbauern Haus auf der Süd- 
feite wetteiferten mit ihren freien Vetlern drunten im Thal und zeigten 
Blüthe an Bluthe, und felbit die alten Tannen zur Seite des ftattlichen 

ofes hatten ein men Gewand über das alte angezogen. Bor den ſchmalen 

nftern prangten Geranien und Fuchſien in brennendem Roth, jo daß der 
auernhof im mwunderhellen Sonnenglanz ausſah wie cin geſchmückter 
Bräutigam, der zur Brautjchau bereit iſt. Drin in der Küche ſchaltete 
das jüngfte Töchterlein, die blonde Marei, am Herd, indeh die Nejei und 
Vreni mit dem Abmwaichen des Geichirres vom Millageſſen jich beeilten. 
So gut wie heut’ treffen wir's nimmer,“ hatte die ältefte und Hügite 

(wie "ie nlaubte), die Reſei gejagt, nachdem die Eltern zu einem Befuche in 
bie Stabt vom Hof ge ren waren. „Der Anecht iſt auf die Kirchweih 
'nüber und die zwei Mägd’ dürfen auf des Leimbauern Elis ihre Hochzeit — 
ent’ muß die alte Urjchel her und uns Karten legen.“ Das hatte die 
eſei geſagt und war felbjt vor Tiſch hinüber geeilt jur halbzerfallenen 
Hütte der alten Urſchel, die ihren Beſuch bis um zwei Uhr zugejagt. „Sie 
joll aber ja die Karten wicht vergefien,* ar ihr Vreni noch nadıgerufen. 
Ein guter Kaffee ift unerläßlt zielung glädlidher Prophezeiung, 

und fo nahm denn Marei zu dem 


thuende Wirkung bes guten Kaffees müfle einen ebenſo mohlthätigen 
iufluß anf das nachfolgende Orakel ausüben, 

Marei war jegt To fill, ganz gegen ihre Art, und erſt vor Tiſch 
hatte fie noch ihre Schweitern ausgelacht und gejpoitet über ihre Neus 
gierde, einen Blick in die verhällie Zukunft zu wagen. Wie oft hatte 
te gelacht über Nejei, die (ein öffentliches Gcheinmig) mit dem Müller 


En auf gutem Fuße ſtund, und wie viel muÄte "8 Breni unter ihrem | 


Spotte leiden, wenn fie in Ber, ae gerieth, fo oft der Betier Seppl 
ein ander Mädel auqudte, ch bin froh und frei," fagte die Marei, 


„und lümmere mich den Kuduck um Eure Mannsbilder, die einem mr | 


den Kopf verdrehen und uns hinterher auslachen.“ 

Lebt ftand fie am Herde md ſchaute in die brauſende ſchäumeude 
anne umd tanfend Gedanken flonen ihr durchs Keine Köpfchen, und 
alle drehten fich um einen blonden Loclenlopf mit grünem Jägerhut. Sa, 
der Mai ift gelommen und alles fängt an, ſich zu regen und zu blühen, 
und tief innen im feufchen Mädchenherz ruht der Keim der Liebe und 
haret der warten Sonnenjtrablen ans dem Auge bes Rechten, um auf- 
zublühen und zu wachen zum Baune der wahren Treue und Ergeben» 
heit, oder jäh abzukniden, wenn ein rauher Sturm oder cin Blik aus 
dunklem Himmel die noch zarte Bilonge vernichten foll. 

Daran dachte 's Marei nicht. obl aber des herrlichen Sonnen⸗ 
unterganges von geften, als es am Waldrande entlang ſchritt, deu 
Schweſtern entgegen, die oben auf der Böengezele die Hütte für ben 
fonmerlichen Aufenthalt eingerichtet hatten. Sie gudte der ſcheidenden 
Sonne nad), ein ſtuckuck rief von ferne und fie zählte die Nufe, um zu cr» 


Xeſtlich die Glodten erhlangen, | 
Es ſchmückte Prin Baupf der Kranz; 
Boch glühfen Peine Wangen, 

Feucht war des Auges Glınt. 

Eng hielt id; Dich noch umſchlungen, 
Und Wehmuth mid; beſchlich; 

Schwer hal ſich's mir enfrungen:; 

Mein Rind, Gollt ſegne Dich! 


r r 
—— enwas mehr — 55 ala | 
die Bäuerin Er an Feittagen je genommen, in der Meinung, die wohl | 
ri 





o— 


! Bor fünf Minuten Hätte uns das Wort zufammengeführt. 
Sept ftand fie auf und fagte mit zudenden Lippen: 
„Herr AUmtsrichter, wollen wir gehen? Ich glaube, die 
ı Leute fchen uns an!“ 
Ich Hatte nicht den Muth, ihr den Arm zu weichen. Stumm 
ging fie neben mir her. 
„Bann müflen wir fort?“ fragte id). 

„un einer quien Stunde Bitte, erwarten Sie mid) dort 
in der Ölasveranda; ich muß mod) zu meiner Tante!” Ich reichte 
ihe die Hand. Sie legle die ihre hinein, aber ohne Drud, und 
es glomm etwas auf in ihrem Mage, wofür id) feinen Namen 
fand — und doc) war fein Leben in diefem Blick, wie's fonft 
daraus gelacht Hatte. „Ich danke Ahnen!“ sagte fie und gab 
fi Mühe zu lächeln. — Sie that die Lippen von einander, als 
wolle fie chvas Hinzufügen — aber fie fagte nichts und wandte 
ſich zum Gehen. Fortſehung folgt.) 


Rind. sEx- 


Schon lange bil Pu geſchieden, 

Und ich blieb ſehnend purlich; 

In Prnes Baufes Fricden 

Wiegll Pu Pein ſchönſtes Glüchk; 

Doch ob Dein Leben und Lieben 

Sucht neue Bahnen ſich, 

Du bift mir doch geblieben: 

Rein Kind, Golf fegne Dich! 
Albert Srarger. 


Ober, 


fahren, wie fange Sahre fie noch leben werde — patich, trat fie bis über den 
Anbdchel in eine jumpfige Stelle und zog mit einem eridjeedten Schrei den 
—* heſtig zurück, fo daß der Schuh in dem Schmuhe zuritdblieb. Als 
ie noch überlegte, auf welche Weiſe fie ihn wieder erlange, ohne die Hände 
zu beichmußen, klam nebenan aus dem Gebilſch cin braungeiledter Jagd 
Inınd Schuuppernd, nefolgt von feinen Heren, Es mußle ber neue Fagdgehilie 
fein, ein roſig Gejicht imd dichtes braunes Gelock mit grünem Hut, hohe 
Geftalt und Joppe und Flinte — auf mehr fonnte fid) Warei nicht befinnen, 

Doch ja, ald er fagte: „Was iſt denn, Jungfer?" und fie zu ihm 
aufſchaute, ſah ein Paar fo recht gute (mie fie glaubte) blane Augen 
auf fie herunter. Dann lachte er über ihre lomiſche Situation, zeigte 
dem Hund das untergehende Belleidungsitüd im Sumpf. „Anport, Tiras“ 
und der treue Begleiter legte ihm den waſſertrieſenden Schub vor bie 
Füße. Sie hätte weinen Formen, wie fie jo Häglich vor dem fremden 
tund, mit dem einen bloßen Strumpf, und ſich anſchickte, nach Hauſe zu 
gehen mit dem naſſen eg. in der Haud. , , 

„Ach, jo geht man mit fort,“ ſagle der Jäger, „erſt muß ich meinen 
Dant haben“, und damit legte er den Arm um ihre Taille und meigte 
' fein Geſicht zu ihr nieder, Sie aber ſchlug ihm mit dem naffen Schuh 
auf die Hand und entlief, olgt von dem fröhlichen Lachen des Burſchen. 

„ber Marei, das Waſſer ſiedet ja fhon lange,“ rief die Breni 
und wedte ihre Schweſter aus den Träumen. Go wurde ber Kaffee 
fertig, gerade als die alte Urſchel, auf ihren Stod geftügt, hüſtelnd zur 
Etube ciutrat. s 

Man Tonnte fie jonft nicht vecht leiden und fie ward gefürditet, denn 
fie wußte allerhand Mittel und Zauberſprüche gegen verheries Dieb, und 
man hatte fie im Verdacht, etwan da und dort gegen gut Geld und heiliges 
Berſprechen des Schweigens manch Liebestränklein abgegeben zu haben. Der 
Ninibus einer Here ungab ihr Thun und Treiben; aber zur Erforjdung 
der Zulunft wagt man alles und fürchtet weder Deren, noch böfe Geiiter, 

Der Kaffee war getrunken; die Kaffeetafie und das Gebäd waren ab» 
netragen und der Tiich abgewiſcht; da zog die Alte ihre Karten aus der 
Taſche, fepte ihre in Meffing gefahte Brille auf die Raſe und andte 
darüber weg mit ihren Heinen unruhigen Aeuglein bie drei blühenden 
Mädchen im Sreife herum at. 

„sent ſoll ich lartenſchlagen ?* 

Wir, mir,“ riefen die älteren Zwei. - 

Wen's teifft, wir wollen mal fehen,* fagte die Alte und legte die 
Karten; 's Refei mit rothem Gefidyt Fonmte den weiſen Spruch nicht er» 
warten und 's Vreni ftellte fich neben Marei, um von oben beiier ju die 
Karten ſchauen zu Tönen. 's Marei aber machte ein ſpöttiſch Geſicht, 
denn fie ging's doch nichts an. 

"Ich ſeh ihm ſchon,“ ſagte die Wahrfagerin, „da iſt er.“ 

„ie ſchaut er denn aus?“ rief vorlaut 'S$ Marei. _ 

„Das konmt zulcht, nur häbich Geduld, Eichel, Eichel, viel Verdruß; 
hier lommt ein Grafen, das bringt Hoffunug dem Herz-Umer; ſchau, ſchau, 
dee Graszehner, alfo ein Brief ſcheint die Sache zu vermitteln, nachdent 
die Alten nichts davon willen wollen — Ecjellen-Ober, aha, er bar Geld; 
Eichel-AF, ein großer Berdruß tremmt fie noch inter — aber Herz Ober — 
fie finden ſich ind friegen ſich und die Alien fagen Ja und Amen,“ 





YJ0PS "yk von agpundpg uiaq Pog 
. aagg-iar 

















— 48 


„ch,“ rief Therefe, und 's Breni — „wer iſt's denm, wie ſchaut or aus?“ 

„Und wer iſt der Herz Ober?“ fngte '# Marei, 

„Wie ſchaut er aus?* ſagte bie Alte; „er iſt groß und fchön ger 
wachſen, bat blonde Locken und blaue Augen, eine Roppen und ein’ grünen 
Hut und den Stugen zur Seiten Es Marei war wie verhert — im * 
drin fing es an Fa vochen und das Blut ftieg ihr hinauf und weiter in 
die Wangen, da fie dunkelroth wurden) und der Herz Ober — (die Alte 
nahm ihn in die Dand und ſah ihn prüfend an) das bift Du,“ plaßte fie 
heraus, mit dem 


in den Voden wertunten wäre, zum Erftaunen ihrer beiden Schweſtern. 


o — 


Dieſen Moment hat unſer Künſtler erfaßt und mit liebevoller Treue 
auf die Leinwand gebannt, Es ift ein Bildchen aus dem ge 
nommen und ber Moment erfaßt, wie er wirklich war; denn and) die 
Geſchichte ift wahr und noch nicht zu Ende, und ber Maler hat_die 
Stube und die Töchter und die Alte oft geſehen und fie nicht vergeſen, 
wie die treue Wiedergabe in feinem Bilde uns zeigt; und wenn hr 
willen wollt, wie die Geſchichte weiter ging, jo weiß es niemand er 


‚ als unſer Maler, und der wird euch gerne erzählen, daß die Karten der 


Feigefinger auf das verwirrte Marei deutend, die lieber | 


j 


alten Urſchel diesmal recht behielten und daß die blonde Marei und der 
Jägerfrang ſich wirllich Triegten. 6. Aunter. 





Wilhelm Raabe. 


Bon Wilhelm Goſobaum. 


dr iſt nun auch wieder jchon dreißig Jahre ber, ſeildem 
ich die „Chronik der Sperlingsgaffe* geleſen. Man fommt 
fich fo alt vor, wenn die Erinnerung bereits mit ſolchen Ziffern 
arbeitet, und der Dichter ericheint einem beinahe wie ein Rübe— 
zahl mit wallendem weißen Barte und bemoojtem Stabe in der 
Hand, obwohl er ganz und gar noch zu den modernjten Erzäblern 


lebt. Das ift doch wahrlid) fein vollgerüttelt Maß von odyſſeiſchen 


‚ Erfebniffen und Erfahrungen, und dennoch — wie viel lachende 
' Weisheit und mitleidsvoller Zuſpruch find der Phantaſie und dem 


aehört, ungeſchwächt an Kraft der Erfindung und Darftellung. | 


Damals — vor dreisig Jahren — nannte er ſich Jalob Corvinus, 
vermutblich, weil er als Neuling exit ungefannt feine Flügel 
erproben wollte, und als ihm der erſte, der zweite, ber dritte 
Flug vortrefflich nelungen war, da lam allmählich fein wahrer, 
nicht Latinifirter Name Wilhelm Naabe zu Tage. Ich weiß nicht 
genau, Mann es zum erſten Male geſchah, daß der Poet feine 
Maske lüftele; aber ich weiß, dab es lange danerte, bis ich 


Beifte diefes dichtenden Menjchentindes ſchon entquollen, jeitbem 
ihm in der Berliner Spreeftraße vor etlichen dreißig Jahren bie 
Geſtalt des Johannes Wacholder erichien! 

„Seid gegrüßt,“ rief damals der alte gelehrte Hageſtolz am 
Ende der Gedichte, die ihm Raabe erzählen ließ, „alle ihr 
Herzen bei Tag umd bei Nacht; fei gegrüßt, du großes träumen: 
des Vaterland; fei gegrüßt, du Meine, enge, dunkle Gafle; fei ge 


‚ grüßt, du große, ſchaffende Gewalt, weiche du die ewige Liebe 


Wilhelm Raabe und Jakob Corvinus als die nämliche Perſon 


zu betrachten mich gewöhnte, weil es mir ſchier als ein zu großer 
Neichthum in Eines Beliters Hand bedünfte, der Funfelnd und 
blitzend durch diefe Geſchichten rollte, Als bartlojer Anabe trug ich 
verjtohlen die „Ehronit der Sperlingsgafle” aus der Leihbibliothet 
nad) Haufe — es war nicht lange nach dem Krimkriege — und heute, 
nachdem inzwiſchen unter dem dröhnenden Tritte der Geſchichte 
die Welt und die Menſchen ein anderes Geficht befommen haben, 
finde ich es faſt wunderlich, daß der alte, treue Johannes Wadı: 
holder von der Sperlingsaafje noch immer lebendig und leibhaitig 
vor mir dajteht, als gäbe es für ihn fein Sterben. Oder jollte 
er wirklich unvergehlich fein für Diejenigen, denen er einmal bes 
nennete, obgleich fein erites Wort, mit dem er fich überall vors 
jtellte, eine wehmüthige Klage über fein Alter war: „Ich bin ein 
einfamer alter Mann geworden”? 

Ach Gott, mit dem Alter iſt es ein jeltiames Ding; das 
graue Haar ift es nicht, in dem es ich offenbart, und unter 
denen, die immer jung bleiben, find die Humorijten am unvers 
wüſtlichſten. 

Nichts Mühigeres giebt es, als tiefſinnig über das Weſen 
des Humers zu grübeln. Wis, Satire, Sarlasınus haben wenig 
mit dem Humor zu jchaffen, jo wenig wie der Verftand mit dem 
Herzen, der Kritiler mit dem Worten etwas zu fchaffen Bat. 
Aber befreie dich, du mühjeliges Menichenlind, von aller Schwere 


bijt! Amen!“ 

Und der Gruß ward vernommen und erwidert, von ben 
Herzen, vom Vaterland, von der Safe, von ber Liebe. Wo 
unlerdeſſen auch der Dichter jeinen Stab niedergejegt hat, immer 
fand fich eine liebevolle Gemeinde, die nad) ihm ausichaute, die 
ſich lauſchend um ihm fcharte; denn Thränen zu trodnen giebt es 
ach! jo viele auf der Welt umd ein befreiendes Lächeln ſich ab- 
ſtehlen zu laſſen, dazu find gottlob alle guten Menſchen gern bereit. 
Freilich, das große träumende Vaterland hat längſt zu träumen 
aufgehört; die Meine, enge, dunkle Gaſſe ift umbrauft von dem 
betäubenden Lärm der Weltftadt, und mitunter will es mürrijche 
Zweifler bedünfen, als ob die große fchaffende Gewalt, welche 
die ewige Liebe iſt, gar nicht mehr ihres Amtes walte. Aber 
fagt nur nicht etwas derartiges dem Humoriften auf der Wolfen: 
büttelerftraße in Braunſchweig! Er ijt der nämliche geblieben, 
und was aud) um ihn ber fich verändert Hat, er fieht es und 
grüßt e8 mit feinem weiten Herzen, mit jeinem finnvollen Blide, 


‚ mit jeinem überfchauenden Geifte auch in der veränderten Welt: 


das große Vaterland, das wicht mehr träumt, aber auch micht 


‚ mehr das „Sand der Vaterländer” ift; die Liebe, die nicht ne: 


und allem Elend des Dajeins, fteine ſeſſellos in den Weiher | 


empor, um von da oben herab mit ungetrübten Blick, gleich 
theilnehmend am Glüd wie am Unglüd, die Welt zu betrachten, 
lache den Traurigen das Leid aus der Seele, den Uebermüthigen 
die Wehmuth in den Sim, und du bift der wahre Humorift, wie 
man dies Wort auch definiven mag, Seine Form darf dich beengen, 
fein Bedenken dich hindern — du weint, wo andere ladyen, du 
lachſt, wo andere weinen. Das ift die Freiheit, die du voraus haft 
vor den Millionen Sklaven, den SHaven des Berufes, der Leiden- 
ichaft, der Sitte Was iſt's denn mit diefem Wilhelm Raabe, 
daß jich ihm die Herzen erfchließen, als befäße er einen Zauberſtab, 
fie zu Öffnen? Hat er große Abenteuer zu bejtehen gehabt, iſt 
das Schichal Iaunenhaft mit ihm umgejprungen? Nein, es 


handelt fich um eines der anfpruchsfofeften und einfachjten deut- | 


ſchen Poetenleben, ohne Stromfchnellen und Katarakte in feinem 
jtillen Laufe, 
Ein braunfchweigiicher Beamtenſohn abjolvirt das Gym— 


naſium in Wolfenbüttel, verfucht es dann mit dem Buchhandel, | 


findet aber an dem Studium größeres Gefallen, heirathet jeine 
Baſe, wohnt acht Jahre in Stuttgart, um Hierauf nad) der 
Hauptitadt feines Heimathlandes zuriidzufchren, wo er bis heute — 
ein fiebenundfünfzigiähriger Mann — zufrieden und emfig jchafend 


jtorben, obgleich fie nicht mehr am Arme des Philifters einher- 
jchreitet; die Gaſſe, in die der Strahl einer neuen Sonne hinein: 
gefluther Jedoch die großen Wandlungen, welche ſich in ber 
äuferen Gejtaltung der Völkerſchickſale vollziehen, fafjen den wahren 
Humoriſten unberührt; ihm iſt das Menichenherz der Mittelpunkt 
und Inbegriff der Welt und eine weltumformende Völkerſchlacht 
Todt feinen Blick weniger mächtig an als der verborgene Liebes— 
kampf eines einfachen Menichentindes, Das liche Ich, das eigene 
wie dasjenige des anderen, diefes geheimnifvolle, wunderliche 
Ding inmitten des Weltgetriebes, das gehordht und gebietet, 
ſchafft und leidet, bedeutet ihm mehr als der gefammte Globus, 
und als echter Humoriſt ſchreibt Wilhelm Naabe in einem Briefe 
an einen Freund nad dem Erſcheinen der „Srähenfelder Ges 
ſchichten“, zu dem ihn der Freund beglüdwünjdt hat: 

„Ja, ja, fo fpringt man in Krähenfeld mit den erlauchteſten 
Damen des höchſten Adels um! Aber die verw. Gräfin Frede— 
qunde zum Stuhle ift bereits gerächt; Müller hat ung die Woh- 
nung gekündigt und ich ſchreibe feine Krähenfelder Geſchichten 
mehr. Vom ceriten Oktober dieſes Jahres an (1882) wird die 
Salzdahlumerjtrafe meinen Scyeitt nicht mehr vernehmen, meinen 
Schatten nicht mehr an ihren Manern hingleiten jehen! Nur in 
der deutschen Litteraturgeicichte wird einige Zeit hindurch der 
Vermerk haften, daß einmal in jener Strafe Nr. 5 ein Mann 
wohnte, der zwölf Jahre hindurch von dort aus allerlei Abfonder- 
liches in Drud gehen lich; aber auch das Gerücht wird verhallen 
und Eine Nacht einmal uns alle bedecen.“ 

Man Hat Wilhelm Raabe oft mit Nean Paul verglichen 
und in feiner Weltanfhauung die Spuren der Schopenhauerfchen 
Philoſophie geſucht. Ties wie jenes zeigt, weld hoher Mafitab 


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an den Dichter gelegt wird; ſonſt aber zeigt es nur, wie under 
wüſtlich unfere gute deutſche Art it, alles mit allem zu vers 
gleichen, jedes aus jedem berzufeiten. Es giebt laum etwas, 
das unferem heutigen Schauen und Empfinden fremder wäre ala 
der unlünftlerifche Beijt des Bayreuther Humoriften, und wiederum 
faum etwas, das fo bis im die geheimfte Ader modern wäre wie 
die Muſe Raabes. 

Jean Paul kompilirt, Raabe komponirt; Jean Paul ſperrt feinen 
Zettelkaſten auf, fügt deſpotiſch zuſammen, was er bei verſchiedenen 
Anläſſen, in verſchiedenen Stimmungen, an Beobachtungen, an Ein- 
fällen, an Reflerionen und Eindrüden aufgefpeichert, und läßt dieſe 
wunderſame Moſailk hinausfliegen, wie der Knabe den Drachen, 
in alle Lüfte, in alle Weiten. Wilhelm Raabe modellirt jeine 
Geftalten, jchafft bedächtig an feinen Charakteren, verſucht jogar 
feine bildneriſche Kraft, wie meines Wiffens niemand vor ihm, 
an einer Roman-Trilogie — 
„Der Hungerpaftor*, „Abu Tel: 
fan”, „Schübderump” — wel⸗ 
her nicht ein Charakter, fondern 
eine Idee ald Mittel: und Binde: 
punft dient. Bei Jean Paul 
fomponirt der Zufall, bei Raabe 
das fünjtleriiche Bewußtfein. 

„Wir find am Schluſſe,“ 
jagt er, indem er die Trilogie 
beendet, „und es war ein langer 
und mühjeliger Weg von ber 
Hungerpfarre an ber Dftjee über 
Abu Telfan im Tumurkinlande 
und im Schatten des Mond: 
gebirges bis in bag Siechenhaus 
zu Krodebeck am Fuße des alten 
germanischen Zauberberges.* 

So inftematiih iſt Jean 
Paul niemals einer künſtleri— 
chen Abficht nachgegangen. Nur 
darin lönnte man allenfalls 
eine Aehnlichleit exrbliden, dal; 
beiben, dem älteren Franken 
wie dem neueren Niederbeut- 
ſchen, die Spradje gewaltſam 
überquillt und bei dem Jünge: 
ren empfindlicher als bei dem 
Aelteren ſich gleichſam neben 
dem Laufe des Hauptitromes 
ein Nebenbett gräbt. Das 
wäre ein Defekt, wenn es nicht 
ein Humorijt wäre, mit dem 
wir es zu thun haben; fo eigen: 
willig, fo frei in feiner Laune, 
jo regellos ift ja nichts wie der Humor, und er muß es fein; 
wie wollte ex ſich fonft in jedem Augenblide zu allem und jedem 
in jenen wunderlichen Gegenfaß ftellen können, der fein Werfen 
ausmacht? Das am meiften Humoriftifche, was von Börne übrig- 
geblieben, ift eine Trauerrede, diejenige auf Jean Paul; bejaat dieje 
Thatjache nicht zur Genüge, daß es feine Gefehe für den Humor 
giebt aufer jenen, die ex fich ſelbſt auferlegt? Damit wäre denn 
freifich ausgeiprochen, daß der Humorift ſich der Beurtheilung mit 
fejten Maßſtäben und nadı allgemein vecipirten Grundſätzen 
entziehe, und das könnte leicht als unfritiiche Keherei betrachtet 
werden. Aber auf alle Gefahr hin bleibt e8 dabei, daß man den 
Humoriften nur auf den Eindrud prüfen darf, den man von ihm 
empfangen, und was mid) betrifft, fo weiß ich fat wicht zu unter- 
fcheiden, was ich in vericiedenen Zeiten bei der Lektüre der ver- 
idiebenen Erzählungen Raabes empfunden habe; denn durch 
einander lag es dabei wie nächtliches Düfter und wie heller 
Sonnenjchein über meiner Scele Nur foviel war mir als Mare 
Wirkung gegenwärtig, da, um mit Naabes eigenen Worten zu 
reden, „Uber ben Feldern und Wieſen jenes Flimmern und Bitten 
lag, welches auch über den Werken der großen Dichter liegt und 
überall die Sonne zur Mutter hat.” 

Wie aber nur ganz äuferlic von einer Aehnlichleit zwiſchen 
Jean Paul und Wilhelm Raabe geſprochen werden fann, jo iſt 
es auch höchſt bedenklich, dem Dichter des „Hungerpajtors” die 


479 >» 


| 
| 





BBilhelm Raabe. 


Scopenbauersche Weltauihauung aufzubisputiven. Mehr vder 
minder ijt jeit dreißig Jahren jeder gebildete Deutiche ein Schopen⸗ 
hauerianer,, der eine bewußt, der andere unbewußt. Es ergeht 
uns, wie es ber Generation vor uns mit Hegel erging. Uber 
damit ift noch lange nicht gejagt, daß nun auch jeder heutige 
Dichter von tieferer Weltanſchauung auf die Werneinung des 
Willens zum Leben ſchwöre, daß er ſich ihr als einer bejtimmens 
den Wirkung auf fein künftleriihes Schaffen nicht zu entziehen 
vermöge. Ganz im Gegentheile, es wäre der Tod aller Poeſie, 
wenn der Frankfurter Bhilofoph das Drafel unferer Dichter wäre. 
Es mag jein, daß Wilhelm Raabe, dem von dem Wiſſen und 
Denken unſerer Beit nichts fremd geblieben, in die Werke Schopen- 
hauers fih mit Vorliebe vertieft hat, wenn er fein Bebürfnif 
nad einer ſyſtematiſchen Bufammenfaflung feiner philofophiichen 
Anſchauungen befriedigen wollte; aber der Humoriſt wäre er 
ficherlich nicht geworden, wenn 
er zugleich fein dichterifches 
Schaffen an den Abgrund der 
Verzweiflung gerüct hätte, ben 
der Frankfurter Lebens⸗ und 
Weltverächter für alle diejenigen 
eröffnete, denen aus irgend einem 
Grunde das Unglüd ſympathi⸗ 
fcher it ala das Süd. Ober 
hätte man beshalb, weil einige 
Novellen und die Roman⸗Tri— 
logie einer düſteren Lebens: 
anfchauung entquollen zu fein 
fcheinen, ein Recht, den Dichter 
Naabe ſchlankweg unter die 
Veſſimiſten zu weilen? Sit 
nicht dagegen bie überwiegende 
Mehrzahl feiner Schöpfungen, 
find nicht „Horader“, „Die 
Gänſe von Bütow“, „Keltiiche 
Knochen“, „Der Dräumling* 
von einer ergreifenden Heiters 
feit, die „SNrähenfelder Ge— 
ichichten“ und „Wunnigel* fo> 
gar von einem barod Luftigen 
Ueberſchwang, gegen den man 
bisweilen zu protejtiren ſich 
verjucht fühlt? Nein, mit der 
Schablone fommt man diefent 
Poeten nicht beiz man fann 
jeine Erzählung in der Apothefe 
„Zum wilden Mann“, einen 
Stoßſeufzer der bitterften Men: 
fchenverachtung, al3 eine Ver: 
irrung des Humoriften abfehnen, 
fann manche feiner Gefchichten wegen der überwuchernden Fülle 
ungehörigen Nebenwerks nad) Gebühr tadeln; aber man darf ihm 
nicht eine Kritische Marke anheften, auf der das Wort Beffimift 
zu leſen, weil er, wie es des Humoriften Amt und Sendung 
it, neben den Wonnen des Daſeins auch das Elend diefer Welt 
an feinen Gejtalten demonftrirt. 

Wir Deutichen fünnen uns nicht beſchweren, daß es uns an 
Humoriſten fehle; nur die Engländer befigen ihrer mehr als wir. 
Es Scheint doch, als ob — von Cervantes und Nabelais abge: 
fchen — der Humor eine fpecifiich germaniſche Geiftesanlage jei. 
Aber um jo danfbarer und pietätvuller haben wir die köſtlichen 
Gaben derer hinzunehmen, die ung in der langen Reihe von 
Fiſchart bis Raabe ihre Neichthümer in den Schoß gejchüttet 
haben. Und wie unerichöpflich find diefe Reichthümer! So 
fruchtbar wie der Humorift ift ja naturgemäß fein anderer Schrift: 
jteller, Schon deshalb, weil nichts jo Hein und nichts jo groß iſt, 
daß es der Humoriſt nicht in fein Kaleidoſtop einfügen dürfte. 
Vergangenheit und Gegenwart, Weisheit und Narrheit, Gemüth 
und Geiſt — wo cin PBarallelismus, wo ein Nontraft vorhanden, 
der Humorijt darf ſich ohme Nüdjiht auf erſtarrte oder übliche 
poetische Formen ihrer bemächtigen; er ift der Nabob auf dem 
Parnaß. Soviel hat Wilhelm Raabe in dreißig Jahren geichrieben, 
daß es einen Heinen Katalog ausfüllen würde, wollten wir alle 
feine Schöpfungen verzeichnen. Und micht leicht ift es ihm 


— 6 


aeworden, den Punkt zu erflimmen, von dem aus das deutiche | 
Volk zum erften Male ihn zu erbliden vermochte. In fünfter 
Auflage Liegt die „Chronik der Sperlingsgaſſe“, fein Exitlingss | 
wert, vor. Als fie vollendet twar, wanderte fie von Verleger 
zu Verleger; feiner nahm fie an, bis der junge Poet fie für den 
Preis von fünfzig Thalern auf feine eigenen Koſten drucken lich. 
Bücher Haben eben ihre Schidjale. Freilich war damals bie 
Nation nicht aufgelegt, dem Humoriften Gehör zu ſchenlen; denn 
es war eine böfe Zeit, die Zeit der Reaktion. 

„Es fit eigentlich eine böſe Zeit! Das Lachen ift theuer 
geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen qur wohlfeil” — 
mit diefen Worten beginnt Johannes Wacholder feine Erzählung. 


480 > 


Aber zehn Jahre jväter Hang es doch ganz anders, felbitbewußter 
und boffnungsvoller von Raabes Lippen, als er dasjelbige Büch— 
lein in neuer Auflage mit dem Begleiticheine ausfendete: „Es 


| full niemand fein Handwerfägerätb, die Waffen, mit welchen er 


das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen laſſen.“ Seit 
dem find Wiederum zwanzig Jahre dahingegangen; das deutiche 
Volt ijt jo mächtig, jo gebietend, jo glüdlich geworden, daß es 
fait den Neid der Götter fürchten müßte, wenn es nicht befcheiden 
in aller Macht das Kleine wie das Große achtete und bei feinen 
Dichtern, bei feinen Humorijten vor allen andern, täglich Ternte 
fic) fern zu halten von dem lebermuthe, der das Menſchenherz 
verödet wie der Samum die Mitte. 


Eine Gewiffensfrage 


A“ ift feliger denn Nehmen,” heißt es in der Schrift, 
und taujend qute Herzen im weiten Waterland bejtreben 
fich täglich, das Wort zur Wahrheit zu madyen. Aber das Wieder: 
geben muß offenbar eine viel geringere Seligfeit gewähren, fonft 
würden nicht jo viele ſonſt ganz rechtliche Menfchen, bejonders 
Frauen — 

„Nun Höre einmal jemand diefe Unverichämtheit! Geben 
wir nicht redlich alles wieder, was man uns geliehen hat? Porto: 
auslagen, Beſtecke zur Geſellſchaft, wenn die eigenen nicht reichen, 
Schmudjtüde, Borwiengläfer, Lampen und Teller —“ 

„Auch Bücher und Zeitſchriften?! ... Warum ſchweigen 
Sie denn jet To plöglich, meine Damen? (denn ich fehe nur 
Zuhörerinnen um mid; die Männer gehen den ‚Gewillens- | 
fragen‘ grundſätzlich aus dem Wege, wir brauchen uns feinen 
Zwang anzuthun.) Alſo Hand aufs Herz: aud) Bücher, aeliehene 
Bücher?" 

Pauſe. — Dann eine Stimme: „Ja wohl, auch Bücher.“ 

„Wann? Nah wie viel Erinnerungen? In weldem Bus 
Stande?“ 

O meine lieben, verehrten und reizenden Damen, geftatten 
Sie mir, bier in der „Sartenlaube“, wo Sie es am wenigiten 
erwarten, eine Heine Strafpredigt in der Hundstagshite. — Wo | 
liegt dod; momentan der Band Heyſe, Dahn, Ebers, Spielhagen, 
Heimburg, Keyſer, Werner, Lewald (von unfern „leichtfertigen 
Nachbarn im Weften“ zu fehweigen), den Ahnen cine acfällige 
Freundin, jagen wir drei Wochen vor Weihnachten, gelichen? Troß | 
der dringenden Arbeiten hatten Sie damals Zeit, ihn zu Iefen, 
natürlich, fo etwas läßt man nicht ungelefen liegen. In drei, 
in act Tagen waren Sie mit der Lektüre fertig und die Bes 
geifterung oder der Aerger (über die „unglaublihen" Franzofen) | 
fprühten in Iebhaften Neben von Ihren fchönen Lippen und 
gaben Gelegenheit zu den animirteften Unterhaltungen im ge— 
jelligen Kreiſe. 

Aber das Buch felbit! Mein Gott, das dumme Buch — 
allemal wenn man im pelzbejeßten Koftüm auf zierlichen Knopf— 
ftiefelchen „einmal“ ausging, war es richtig droben liegen ge 
blieben; wollte man e3 morgens dem Dienſtmädchen mitgeben, jo | 
war gewiß jonjt jo viel zu laufen, daß man Babette nicht aud) | 
damit noch belaften fonnte, und die meijten Male, ja — hatte 
man eben überhaupt nicht daran gedacht. 

Und es reibten fih die Tage zu Wochen, die Wochen zu 
Monaten; es famen jo viel prefjante Dinge, aud) nene Bücher — 
mein Gott, wer kann auch alles im Kopfe haben? Ein Hausball 








folgte mit großer Näumerei; die Zimmer wurden auf den Kopf 
geitellt, in den Hintergrund des Bücherſchrankes flog alles, was von | 
Gedrudtem unnüß berum lag, ohne Unterſchied des Formates. 
Und dann, ja dann fam Dftern ins Land, eine Frühiahrsreiſe 
wurde gemacht, und um Pfingſten herum erfolgte eine etwas | 
gereizte Mahnung der Freundin, ihr „endlich“ das Bud) zurüd- | 


zuſtellen. 
Das Buch — ja, iſt denn das nicht ſchon lange zurüch 
gebracht? Erſt beſinnt man ſich, dann ſucht und endlich — da 


man etwas zum Leſen in die Sommerfriſche mitnehmen will — 
findet man es. Aber in welchen Zuſtand! Die Eden zerbrüdt, 


das broſchirte Nüdgrat der Auflöfung nahe, und hier auf dem 
ehemals neuen, zartgelden Umfchlag lächelt in viefigem Glanze ein 
großer, in Wellenlinien verlaufender Fettjled unbeqreifliher Her 
funft. Ganz unbegreiflih, empörend ſogar; denn man ift fonjt 
ein Muſter von Ordnung und Reinlichkeit und hat feine Sachen 


ſämmtlich am Schnürchen ! 


Um die fanerblidende Freundin einigermaßen zu befänftigen, 
verspricht man ihr nun feinerfeit3 ein neues, fehr interefiantes 
Bud und greift in den Bücherſchrank, dritte Reihe rechts, zwiſchen 
Frit Meuter und Ebers hinein, wo es ſtehen muß. Muß, aber 
nicht Steht. Eine Lüde Hafft zwiichen den grünen und den rothen 
Bänden. 

Mo ift das Buch?! Nirgends. Wer hat ed genommen ?? 
Der befannte freundliche Anktifter von angenehmen Ueberrafchungen, 


‚ der Herr Niemand. Er läßt beftens grüßen! 


Und nun, ſchönſte Frau, bricht Ihr Unwille mit der 


unwiderſtehlichen VBeredfamteit los, die ich ſchon oft ſtaunend 


verehrte: 

„Wie, foll man ſich da nicht todtärgern! Das ganze Jahr 
Teihe ich meine Bücher aus; niemand ift darin. gefälliger als ich. 
Und ganz ausnahmsiweife, daß ich einmal vergeſſe, eines zurüd: 
zugeben; aber mir giebt jie niemand zurück; ich habe jchon die 
ſchönſten Werke auf diefe Weije eingebüßt. Es fann fie ja immer 
nur ein Bekannter haben, aber alles Fragen ift umjonjt. Es 
giebt offenbar Leute, die es rein vergeſſen, von wem fie ein Bud) 
geliehen haben!” 

„Ad, gnädige Frau, es aiebt fogar ſolche, die vergeſſen, 
wen fie es weiter leihen, ohne den Eigenthümer zu fragen. Das 
ift noch viel ärger. Hören Sie eine fchredliche Geichichte: 

Einer meiner Freunde, ein alter, würdiger Rechtsgelehrter, 
hatte nicht ohne Mühe und Belaftung feines Gewiſſens ſich ein 
verbotenes fozialdemokratijches Buch verſchafft und dasſelbe nach 
genommener mißbilligender Einſicht einer ſehr jungen, höchſt 
liebenswürdigen Freundin geliehen, welche vorgab, ſich für die 
ſoziale Frage zu intereſſiren. Natürlich behielt ſie es ein halbes 
Jahr; endlich mahnte er; ſie ging auch an ihren Bücherſchrank, 
um den bewußten Griff zu thun, und ſiehe da! griff im die Luft. 
Bebels Bud) war verschwunden; fein Nachſinnen half, fie zerbrad 
fi) den Kopf drei Tage umd drei Nächte umſonſt, wen fie es 
gelichen haben lönne; es fiel ihe wicht mehr ein. Und nun 
denfen Sie fid) die Lage der Aermiten, die dem geftrengen Juriſten 
nicht zu geitehen wagt, daß das Lojtbare, verbotene, nicht wieder 
herbeizuſchaffende Buch dahin it! Sie zittert im Gedanken an 
das, was folgen wird, wenn er endlich doch dahinter kommt; denn 
weiten kann ein ergeimmier Juſtizrath micht alles fähn fein! 
Aber verklagen kann er fie glüdlicherweije darum micht, und 
das ift noch ein Heiner Troſt.“ 

Und nun, meine verehrten und holden Zuhörerinnen, nehmen 
Sie fih) fammtlih ein Erempel daran! Jede von Ahnen möge 
fih) ein Bud) anlegen, worin Namen und Datum des Leib: 
geichäftes pünktlich einvegijteirt werden, und jede möge es einmal 
‚ probiven, ein gelefenes Bud sofort zuwüdznitellen! Erſparniß 
an Aerger iſt aud) Erſparniß, und zwar cine der beiten, die 
man machen fan! na. 





— 8 


481 >» 


Blätter und Blüfben. 


Earf 5churz. Der freundliche Empfang, welchen unfer Reichsfanzler | obwohl erheblibe Schwierigkeiten zu überwinden waren, denn Zumbuſch 


bem hervorragenden nordamerifanijchen Staatsmann zu teil werben lich, 
beweift, wie ſehr fih die Beiten geändert haben: gehört doc Karl 
Schurz zu denjenigen Revolntionären der bewegten Epoche von 1848 
und 1849, deren Thaten damals wegen ihrer Hühnheit das größte Auf⸗ 
ſehen machten. Geboren am 2, März 1829 in Liblar bei Köln, ftubirte 
er in Bonn, wo er mit Kinkel in näheren Verlehr trat, beteiligte ſich 
im Frühjahr 1849 an der Erftürmung des Giegburger Zeughaufes, 
fämpfte dann in Baden mie Sinfel gegen bie Neichöteuppen, wurde 
wie diefer gefangen genommen, entfam aber nad) der Schweiz. Bon 
bier aus begab er ſich 1850 unter angenommenem Namen nad Berlin, 
wo es ihm gelan , die Flucht Kintels aus Spandau ins Werk zu fepen. 
Daun begab er ſich nach London, wo er jich 1852 verheirathete, und 
von bier aus nah Amerila. 

Damit war feine vomanhafte Jugend in Europa abgefchlofien. 
Schurz hatte kaum das einundzwanzigite Lebendiahr Hinter ji, als 
er bereits eine ſolche Fülle revolutio» 
närer Erlebniffe in den Annalen ſei⸗ 
nes Lebens verzeichnen fonnte. In 
Amerita hat er ald Staatsmann, Di- 
plomat, General und Sournalift, in 
Berufolreiſen, die in Europa ſcharf ger 
trennt zu fein pflegen, eine hervorragende 
Rolle gejpielt, ftet3 im Dienfte der 
Br und der Sumanität mb zu 

ren des Deutſchthums, dem er eine 
leitende Rolle in den großen politifchen 
Bewegungen der Union gefichert. 
Jin Jahre 1855 finden wir Schurz 
in Satertown im Staate Bisconfin, wo 
er ald Vollsredner für die republifaniiche 
Partei mit geingenben Erfolge wirkte, 
Im Jahre 1850 lebte er als Advolat 
in Wilmaufee, 1861 begab er ſich als 
Gefandter der Union nah Spanien. 
Der Bürgerkrieg rief ihm zurüd; er 
mollte für das Sternenbanner gegen 
die fich Iosjagenden Staaten des Sir 
bens fämpfen. Er jtieg in raſcher milie 
täriicher Laufbahn zum Majorgeneral, 
befehligte eine Divikon in der Schlacht 
bei Bull⸗Run und betheiligte fih an 
anderen Hauptſchlachten des großen 
Strieges wie an denjenigen bei deine. 
burg und Ehattanooga. 

Nadı Beendigung des Krieges wurde 
ber General zum Publiciften, gab 1806 
die „Detroit: Poft“ herans, 18657 die 
Weſtliche Poſt“ in Saint-Louis, wie 
er denn auch noch in ben Ichten Jahren, 
1888, Medaltrur der „Evening. Boft“ 
(„Abendpoft”) in New⸗Yorl und, 1885, 
der „Bojton-Roft* in Vofton war. In 
die Zwiſchenzeit fallen feine hoben 
Staatsjtellungen in Amerika. Nachdem 








aite ſich gerade in wichtigiten Zügen an gegebene Vorichriften zu halten, 

ſollte auf die Anbringung hervorragender hiftorifcher Verſönlichleiten 
an den Monumente ein befonderes Gewicht gelegt werden, Aber noch 
andere wichtige Momente waren für ihn gründlich zu erwägen Dem 
Denlmale war jein Pla angewieſen zwiſchen den mächtigen, —A 
Bauten des naturhiſtoriſchen und des Kunſtiuſeums, gegenüber der im 
Entftehen begriffenen Hofburg. Bon diejer grandiofen Umgebung und 
Nachbarſchaſt nicht erdrüdt zu werden, galt ala eine gr eringe Aufgabe 
für den Bildner. Er hat fie in bewiundernswerther Weile gelöit; heute 
Hingt das Denkmal mit den Haſenauerſchen Vrachtgebänden barınoniid 
zu einem lichen Accord zufammen. 

Die önheit des Wertes Täht den Gedanken an deſſen rielige 
Dimenfionen faum auflommen. Leßtere mögen damit angedeutet fein, 
daß die Borträtjtandbilder 3,63 Meter, die Heiterftandbilder 4,50 Meter 
hoch find, aber an Hehe noch gewaltig überragt werden von ber 

. Koloffalfigur der Kaijerin, melde im 
erhabener Majeftät den oberften Plah 
einnimmt. 

Ein Voſtament aus Mauthauſener 
Granit trägt einen Aufbau aus grauen, 
rothgelprenteltem Pilfener Spenit und 
von dieſem baut fid der Kern des 
Monumente auf, der auf jeder feiner 
—* —* eine —* en BEUNER 

ogen — geltüßt von Säulen au e 
nem Tirdler Een — enthält. Sr 
vier borfpringenden Sodeljlügeln er- 
ſcheinen die Heerführer Daun, Laudon, 
Traun und Sthevenhüller zu Pferde, 
ebenjo mie alle ag >> guren in 
Bronze ausgeführt. Die Wände des 
Hauptiodels find mit Rifchen verfehen; 
in legteren fieht man Hautreliefs, vor 
ihnen aber freiftebende Figuren Rath» 
eber und Zeiigenoſſen der Kaiferin. 
ie freiftehenden Figuren find: Fürſt 
Kaunig nzel Liechtenſtein, 
Ban Swieten, der treiflihe Leibarzı 
Maria Thereliens, und Haugwih, einer 
der tapferften Generale der Monardin. 
In den Reliefgruppen finden ſich: der 
berühmte Staatsmann Bartenftein, die 
Feldimarschälle und Generale Starhent- 
berg, Merch, Lach, Hadit und Nadasdy ; 
die bedeutenden Numismatiter Edhel 
und Bray, die Mufiter Gluck, Haydn 
und Mozart (ala Kind); Graflaltovich, 
ungarischer Magnat, Brudenthal, fieben- 
ſcher Landesgouverneut, Rienger, 


Rechtsgelehrter, Martini, Feldzeugmei- 
ſter, und Sonnenfels, der Mann ohne 
Vorurtheil. 


Eine möge Seiten ift die Figur 
u 


der Kaiferin. nitler war die 


F 1860 vom malt Miſſouri zum Buns €. Scurr. —— — ge wi fie wiſchen ‚dein 
fenator gewählt worden, wurde cr Drigiselyelänung von €. @. Allers. 30. und 35. Lebensjahre” zu aeigen, 
1877 unter Hayes Minifter des Innern, „das Antlig der Burg zugewendet“. 


Ein vorzüglicher Vollsredner und 


Es mochte nicht leicht fein, eine figende 


ebenfo tüchtiger Parlamentarier, dabei mit der Feder Ichlagfertig wie mit | Frau — Zumbufch hatte fich Freiwillig entſchieden, fie thromend anzır- 


dem Schwerte, iſt Karl Schurz einer jener öffentlichen Charaktere, welche, 
in ihrer überand vielfeitigen Thätigkeit ſtets das eine Jiel verfolgend, 
das Mohl ihrer Mdoptivheimanh, fich in Amerifa der höchſten Anerlennung 
erfreuen und auf welche wir Deutfchen mit Necht ſtoiz fein dürfen. 7 
Das gr eg in Bien, (Mit Nlluftration S. 473.) 
Der Monat Mai diejes 
erbebende Feſtiage aus Anlaß der Enthällung des Maria-Thereiia- 
Denfmales. Dieje Enthüllung reihte ſich als Glied in die Kette von 
Feierlichteiten, welche das vierzigiährige Regierungsjubilium franz 
Joſephs I. bezeichnen; aber in diejer Kette darf f 
Glied genannt werden. Mebr als ſechzig Mitglieder der Taiferlichen 
Familie und alle Spiken der Armee hatten fich zufammengefunden, um 
den Manen der großen Herrſcherin eine Huldigung darzubringen; bie 
ganze Bevölferung Wiens, verftärft durch taufend Gäſte aus den Pro» 
binzen, nahm enthufiaftiich theil an dem verichiebenen Feſtalten. Die 
moderne bildende Kunſt hat in dem Maria-Therefia-Dentmale einen ihrer 
beiten Siege errungen. Der Schöpfer des Werkes, Kaipar v. Jumbuſch, 
mag mit frendiger Genugthuung auf die Frucht fünfzehnjähriger Arbeit 
bliden; er bat einen vollen eo eingeheimft. Aus der dielen Beilen 
beigegebenen Abbildung des Maria-Therefia-Dentmals tönnen die Leſer 
fih einen Begriff von der Befanımtwirkung des herrlichen Werkes machen. 
—5— ber in feinem vor dem Alademiſchen Gymnaſium aufgeſtellten 
eethoven nur fein Talent für die zielbewmuhte Durchbildung einer 
einzelnen Figur erwielen hatte, legte nunmehr u dar, daß 
feine Begabung viel weiter und viel höher veicht. verstand es, ein 
plaftiiches Zeit- und Geſchichtsbild in großem Stil zu liefern, und wenn 
er auch gewiß manche Anregung von dem Berliner Dentmale Friedrichs 
bes Großen gen hat, fo befundete er doch eine bedeutende Selb- 
mer der Auffafiung und ——— Das neue Monument in 
einer Ganzheit bringt einen ebenſo ſchönen wie ſtarlen Effelt hervor, 


Jahres brachte der öſterreichiſchen Kaiſerſtadt 


| 


bi 


ie wohl das glängenbite | 


| 


bringen — mit impofanter Feierlichleit und doch mit weiblicher Grazie 
andsuftatten. Ein eigener Sodel bient bem Throne zur Grundlage; 
er ijt mit den Infchriften geſchmückt: „Maria Therefia” und „Errictet 
von Franz Joſeph I. 1888. Die Haiferin ftredt die Rechte aus wie 
zur Begrüßung, die Linfe hält das Scepter; auf dem Schofe liegt 
eine Rolle, die pranmatiihe Sauftion, das berühmte Dokument, mit 
welchen Saifer Karl VI, die Erbfolge zu Gunften feiner Tochter tnge- 
ftaltete und regelte. Macht und Liebreiz zugleich umitrablen die Stirn 
der hoben Frau. Ahr Name erwedt Erinnerung an ihre Tugenden, an 
ihre edlen Eigenfhaften; win diefe aber doppelt ficher in das Gedächtuin 


"der Nachwelt zurüdgurufen, hat Zumbufch zu Fühen der Hailerin, a. 


den vier Eden des Hanptaufbaues entiprechende Allegorien einen Platz 
finden lafien: Milde, Gerechtigkeit, Weisheit und Kraft. j 

Die angeführten Perfönlichteiten find mit Borträttreue wiedergegeben; 
aber eine ſolche lag nicht in dem eigentlichen Zwecle des Dentmals, das 
—— ne Entfernung zu wirfen hat und diefer Beſtimmung 
in tadellojer Weiſe entipricht. 

Panoramenlarten der Bufunft. Die Rundſchau, welche ein Aus— 
fichts- oder Höhenpunft bietet, wurde biäher, ſobiel mir befannt ift, ſtets 
nur in Längenflähen, auf bandartigen Blättern, gezeichnet. Diele Dar: 
tellungsart entipricht aber durchaus nicht der natürlichen Anlage —* 

nfichien, welche doch in einem Kreiſe rings um uns liegen. Unſer 
Auge, unſer Blick braucht, ſich gewiffermahen nur um feine eigene Axe 
u drehen, fo ſchauen ihm ja all die berüdenden Bilder, welche in freis- 
Pormiger Flache uns umgeben, entgegen. Eine Panoramenlarte, welche 
uns diefe im Kreiſe liegenden Anfichten, diefe Rundichaubilder, auf band» 
artigen Blättern zeigt, Tann, ſelbſt wenn fie auf das Gewijienhaftefte 
ausgeführt ift, doch nur in geringerem Maße nüblich werden und wird 
namenilic; dem ungeübten Kartenlefer oder demjenigen, der zum erften 
Male die Ausfiht von einem beftimmten Höhenpunfte betrachtet, kaum 


— 0 


grobe Aufklärung über die einzelnen ſich ihm zeigenden Bergfpipen, 
etichaften zc. bringen. Nur ſchwer wird er ſich zu orientiren vermögen; 


482 


! 


denn es wird ihm ganz befonders an Unhaltspunkten für diefe Orientirung | 


fehlen. Schon vor mehr als zwanzig Jahren hat aber der damalige Kurarzt 
in dem fteierifchen Babeorte BRobikt-Bauerbrunn, Dr. Joſeph Burghardt, 
Meter) in Kreisform 


ein Panorama vom nn (884 — 
des Betrachters auf dem zog pfel 


beffen Centrum ber Stanbpun 

jelbft war, Es waren in demjelben nicht nur die einzelnen fidhtbaren 
Höhen, Berge und gogel in getreuen Kontouren firiet, ſondern auch en 
miniature im Aufriß Kirchen und Schlöſſer fowie jonftige Orientirungd- 
unfte: Alleeftrafen, Bahnen, Brüden 20, angeneben und deutlich be» 
chrieben. Doch die damalige Zeit war dem Töuriſtenweſen nicht jo ge 
mo wie die heutige und die ungemein praktiiche Neuerung blieb in 
weiteren Streifen unbelanmt Wim ift von dem toweiftiichen Zeichner 
ohann Pabft in Bien — ofme daß derjeibe Kenntniß hatte von jener 
xte — eine äbnlihe Panoramentarte in Sreisform; gewifienhaft und 
profilgetren, faft reliefartig gezeichnet, erichienen, welche die Rundſchan von 
der Stephaniewarte auf dem Sahlenberge bei der Donaumetropole in 
ungemein Marer, leicht orientirender Art wiedergiebt. Selb ndlich 
fehlen bei den Kontouren der Bergzüge und der einzelnen Berge, welche 
das Rundbild abichließen, auch die nenaueften —— — nicht, jo daß 
die Harte im diejer neuen Geſtalt nicht etwa nur eine Tändelei, fondern 
aud für ernftere Beſtrebungen volltommen brauchbar ift. Jedenfalls ift 
diefe Neuerung der Beachtung der Banoramenzeichner zu empfehlen, 
Das touriftiiche a wird benfelben dann ficherlich für die Eins 

führung diejex Rundpanoramen“ Dant willen. Ernit Heiter. 
Jung Werner beim Sreiherrn. (Mit JIlluſtration S. 464 und 465.) 
Da eben wir ihn vor uns, den Helden einer Dichtung, welche jeßt hundert⸗ 
fünfundfünfzig Auflagen erlebt bat, den Helden einer Oper, welche über 
alle deutſchen Bühnen gegangen, den Trompeter von Sälfingen, den 
wadern Jung Werner, ben Vittor v. Scheifels Muſe in Deutſchland jo 
populär gemacht! Der Maler ftellt ihn ums dar, wie er auf dem Schloß 
des Freiherrn erfcheint, dem er abends unten ein Trompeterftädchen vor- 
eblafen und der nicht eher ruht, bis jein Diener im Städtchen den 
rompeter ausfindig gemacht, da nerade ein folder feinem Orcheſter fehlt. 


„Dort im hohen Ritterjaale, 

Bo der Winde Holzvertäflung 

Mit verftäubten Ahnenbildern 
Mannigfach geichmüdet war, 

Saß behaglic in dem Lehnſtuhl 

Bei dem luftig loben Feuer 

Des Kamins der alte Freiherr. 

Grau ſchon war fein langer Schnurrbart; 
Zu der Narb’, die auf die Stirn einft 
Ihm 'ne ſchwed'ſche Reiterllinge 
Enge —— war vom Alter 
Manche Furche ſchon gezogen, 

Und es hatt’ ein ſchlinmet Gaſt ſich 
In des Freiherrn linlem Fuße 
Unbernjen eingeniſtet; 
Zipperlein nennt man's gewöhnlich.“ 


Werner iſt beſcheiden eingetreten: 


„Brüfend ruht des Freiherrn Auge 
Auf Jung Werner, Muft'rung haltend. 
Bei dem Vater, an den Lehnituhl 
Sich anfchmiegend, ſchaute ſchüchtern 
Margarerha nad dem Fremden, 

Und bei beiden war bes erften 
Flucht'gen Blids Ergebniß günstig.” 


Jung Werner wird des Freiherr Trompeter. Wie verhängnißvoll 
ibm der Eintritt in das Echloh werden follte, das weiß das deutiche 
Rolf, welches Scheffels Dichtung in feinen Hausſchaß aufgenommen. 7 

Das Öngienifhe Schufkfeid. Die englische Bewegung für leider 
reform der Mädchen und Frauen, über weldye wir vor einiger Zeit be— 
richteten, ſteht nicht vereinzelt da, jondern macht fich ſchon feit einigen 
Jahren in Schweden und Norwegen fühlbar, wo die weibliche Thätigfeit 
in nelehrten und geicäftlichen Berufsarten, ſowie die Gleichſtellung beim 
Univerittätsitudium längſt durchgeführt ift. Ein Berein gebildeter rauen 
in Stodholm und Ehriftiania hat in Nebereinftimmung mit Aerzten und 
Profefforen den Grundſatz aufgeftellt, daß angelichts des heute auch an 
die Fran heramsretenden Stamıpfes ums Dafein die Zoilettenfrage nicht 
mehr ihr Denfen ausfüllen darf, da fie eine einfache, billige und vor 
allem praftiiche und Ingieniiche Kleidung haben muß. Der ſchwediſche 
Hefornwerein geht minder radifal vor als der engliſche; er läht vorerft 
die äußere Hülle noch beſtehen und wendet ſich der Reform der Unter 
Neider zu, welde, den Bedürfniſſen bes nordiihen Klimas entiprechend 
und in Müdficht auf die vielfaden Sportübungen der dortigen Mädchen: 
Schlinſchuhlaufen, Eisiegeln, Fahren auf Schneeichuhen bei 20 &rad Kälte, 
warm und doch leicht ſein ſollen. Deshalb jchlägt der Verein vor, die 
mehrfachen, ber freien Bewegung hinberlichen Unterröde abzuſchaſſen und 
ftatt ihrer umter dem Bloufenoberfleid mit fuhfreiem Nod ein Baar 
warme bequeme Beinfleider zu tragen. Ein Ioder jitendes Yeibchen als 
Erfah des Korfetts, Schuhe mir niedrigen Abſätzen vervolitändigen das 
„bugieniiche leid“, in welchem ſich ohne Zweifel Stinder und ganz junge 
Mädchen viel behaglicer befinden werden als in ihrer bisherigen, 
fnapperen Tracht. b die Meiormbeitrebungen aber bei der großen 
Frauenichar Anklang finden, welche heute 
füllt und immer das Neuejte verlangt? , 

Tas ift eine große frage, welde wir im Hinblid auf die Gedichte 
der Moden und die Geſehe der Menſchennatur nicht jo unbedingt zu be» 
jahen wagen wie die feurigen Borlämpferinnen der Reſorm. 


odebazars und YPupläden 


mie der fchwerfte und höchite. 


‚ Blüthenzeit erlebte. 


 -— 


B der Aerzte. Schr viel haben fich bie M und —— 
bon ben Satirifern und Luſtſpieidichtern aller Zeiten gefallen laſſen 
und Molicre ift noch nicht der Schlimmfte, der ihnen am Zeuge geflidt 
hat. Bis in die neueſte Zeit hinein find die Meiſter und Sünger der 
Heiltunde ein Stichblatt der Satire geworden. Da macht es einen über 
raſchenden Eindruck, wenn wir das begeifterte Lob der Aerzte Iefen, das 
eine namhafte Schriftitellerin ihnen ſpendeta i 

„Ach meine, wir können im allgemeinen die heldenhafte Dingebung 
ber Aerzie nicht boch genug veranfchlagen, und in ber großen Mafie fieht 
man darüber, wie über die großen täglichen Wunder, viel zu achtlos 2 
Man iſt's gewöhnt, jo vieler Größe zu begegnen; man benft, es muB jo 
fein. Mir aber fommen die Aerzte immer wie die größten Helden, wie 
die modernen Heiligen vor; dem mas that der herrliche edle Carlo 
Vorromeo, was wahre UAerzie nicht thäten wie er? 

Gewiß, es feht Todesverachtung, es fept fittlichen Idealismus und 
Baterlandsliebe voraus, feine Bruft dem Feinde darzjubieten und unter 
Hingendem Spiel in der Mitte von Taufenden den todbringenden Batterien, 
dem Anſturm der Regimenter muthig zu begegnen; aber es iſt nicht an 
allen Tagen jedes Jahres Ktrieg, und die Gemeinſchaft mit anderen iſt eine 
erhebende Kraft. Es werden auch im Kriege ſchweigend Heldenthaten 
verrichtet, bei denen der einzelne ſtill feinem wahrſcheinlichen Untergang 
ins Auge zu bliden hat, und ich bin weit davon entfernt, den Werth des 
friegeriicdhen Heldenthuums zu unterihäßen, Andeh, wenn der Soldat fi 
9— beſtandig vorzubereiten hat für feinen kriegeriſchen Beruf, er * 
ihn nicht lebenslang, nicht alltäglich auszwüben; er hat Jahre und Jahre 
. ochten ficheren Lebensgenuſſes für fich und mit den Seinen, 

ber jabraus, jahrein bei Tag und bei Nacht bereit zu jein für fremde 
Hilfe, mitten aus dem Sreife von Frau und Kindern, mitten aus dem 
oft fo nöthigen und jo eriehnten Sclafe der Nacht hinansgerufen zu 
werden und bi > ger durch die Schmweigenden Strafen in die entlegenften 
Quartiere und nicht fragen zu dürſen: welche Art von Bergiftung 
iſt es, die Dir dort droit? Welch ein Elend trägft Du vielleicht in der 
nächſten Stunde, nit für Dich allein hinweg, fondern hinüber zu denen, 
die Dir wertber find, als Du Dir felbſt? Nicht ——— vor 
der Berührung deſſen, was alle andern, wenn ſie's fönnen, fliehen, das 
ift mir immer ald das Höchfte erichienen, was die menschliche Selbft- 
verleugnung zu leijten vermag — und unjere Aerzte leiften es mit der 
Unbefangenheit dei Selbitveritändlihen. Ya, ihre Familien werden in 
biefem Sinne heroiich mit ihnen. Sie gewöhnen ſich daran, die Aranlen 
als die Hauptjache zu betrachten; fie gewöhnen ſich daran, zu jehen, wie 
die ſchwere Sorge um die Kranfen den Gatten, den Water binnimmt; 
fie gewöhnen fi, ihn zu theilen mit feinem Beruf und dielem ben Löwen— 
antheil zufallen zu jeben. 

‚Was aus und wird, iſt 
nur gut geht,‘ jagte einmal 
zu mir, dejien Familienleben als cin Muſter gelten Tann. 
ein Korn von Wahrheit in dem Scherze. 

Wenn ich fie fo vorüberfahren jehe, bie Meinen Kabriolets der älteren 
Aerzte, wenn id) die jungen Merzte eifrig in tedem Wetter, ihrer felbft 
nicht achtend, durch die Strafen eilen jebe, Schmerzen zu lindern und 
wenigſtens Troft zu bringen durch ihr Kommen, wo jie mit bitterem 
Scmerze fühlen, daß fie nicht helfen Fönnen, fo blide ic, mit der größten 
Verehrung zu den Alten wie zu den Jungen hin, und oftmals frage ich 
mich, wenn ich ihmen begegne: von melden Elend lommen fie jeht? 
Der Beruf des Arztes, wenn er vecht erfaßt und ergriften wird, dünft 
Es ift ein Beruf, der das Weſen bes 
Menſchen über jich jelbit hinaushebt; es iſt ein erhabener Beruf!” 

So ſchreibt Yanıny Lewald in ihren „Zwölf Bildern nach dem Leben“. 7 

Eine deulſche Mufterbühne. Unſere Leſer werden gewiß geſpaunt 
fein zu erfahren, wo eine ſolche zu finden iſt, und unter ben großen und 
Heinen deutfchen Hoftheatern und Stadttheatern danach fuchen. eben- 
falls ohne Erfolg — denn auch die eifrigſten Freunde dieſes ober jenes 
TIhenters hüten ſich doc, demjelben die glänzende Etitette einer „Mufter- 
bühne” anzuheften. Nur die fanatiichen Anhänger Laubes trugen eine 
Seit lang feine Scheu, den von diefem geleiteten Bühnen das rühmende 

rädifat zu ertbeilen, doc es fehlte nidt an Widerſpruch, ba auch bei 
dieten viel mit Waffer gekocht wurde. 

Die Mufterbühne, an welche wir durch den Titel eines nenen, ſeht 
umfangreichen Werkes erinnert werden, ift diejenige Karl Ammermannd 
in Düfleldorf, und es ift bereits mehr als ein halbes Jahrhundert verflofien, 
jeitdem die deutfche unit auf diefer rheinländiſchen Station eine kurze 
Das Werl aber, das wir erwähnten, ift Richard 
Frellners Geſchichte einer deutichen Mufterbühne* (Stuttgart, I. G. Cottas 
Verlag). Es ift Über das Ammermanniche Theater ſehr viel aeichrieben 
worden; doch ift das große Publilum troßdem über die eigentliche Ein« 
richtung desielben im Dunkeln geblieben. Die attenmähige Darktellung 
Fellners giebt über alles Bezügliche die Harften Auſſchlüſſe; beſonders 
aber enthält das Werk eine große Menge von Bemerkungen und Kath: 
Kölägen betrefi$ der dramatischen Kunft, welche theils aus Immermanns 
ämmetlichen Schriften zufammengetragen find, theils im Anichluß an die» 
elben von anderen nambaften Theatertennern und von dem Herausgeber 
elbſt beigeitenert werben. 

Lange Dauer hatte die Mufterbühne nicht. Die Gelbanellen ver- 
fiegten; die Oper eg zuviel Geld, Auch ſtießen Immermanns 
Beitrebungen auf vielſache Oppofition bei den profanen Tbeaterjängern. 
Sind die Heitverbältnifie heute günjtiner geworden für ein derartiges 
Unternehmen? Bir bezweifeln es mit Hecht. Immermann war ein 
ausgezeichneter Dramaturg, das geht aus jeder Seite diefer Aufzeich 
nungen hervor, fenntnißreich, feingebildet, unermüdlich, dabei imponirend 
und herrichgemaltig; und doch die kurze Herrlichfeit! Heutzutage find 
Männer wie er jelten, Gleichwohl ift es ein hohes Berbienft, an der 
Reform des Theaters zu arbeiten; denn die Scaubühne ijt ein Werth. 
wmieſſer für den Bildungsſtand eines Volles. T 


— gauz gleichgültig, wenn's ſeinen Kranken 
cherzend die Frau eines unſerer erſten Aerzte 
Aber es war 





Das Biergefpann auf dem Dirandendurger Thore. Wir haben 
vor Furzem in Dalbheit 13 unferer geuteif ber 
Thore gedacht. Wie viele haben ſich an derfelben t und wie wenige 
willen Näheres über Entftehung und Echidjale derjelben! 

Nach einer handaroken Shräze von * G. Schadow und nach einem 
VPferdemodell von Holz der Gebrüder Wohler hat der Hoftupferſchmied 


Bilhelm Eruft Emanuel Jury im Jahre 174 das Werk in Kupfer ne | 


trieben, Werle folder Siulptur in Edelmetallen kannte das 


werte 
die Funftreichen Hammerer der rin ftehen in der Kunſtgeſchichte fast 
ar da; nichts Achnliches giebt es in Jo Toloflalem Maßſtabe und zugleid) 
von ſolcher Kormenichönheit, wie die Gruppe des Brandenburger Thores. 
Und wie interefiant find die Schidjale diejer Gruppe! Nach der Nieder: 
lage von Jena war Preußen den Franzoſen preisgegeben; diele rüdten in 
Berlin ein und der Sailer Napoleon ]., der ſich jehr auf den Kunftireund 
berausspielte und eine Menge foftbarer Kunſtſchähe nach Paris fenden lich, 
fand auch die Viktoria des Brandenburger Thores mimehmenswerth; er 
befahl dem General Dar, den die Franzofen jelbjt „notre Volenr a la 
Suite de la grande Armee‘ (unjer Dieb im Gefolge der großen Armee) 
nannten, die Onadriga don dem Thore abzunehmen und fie nach Paris 
zu bringen. Dies madjıe den tiefften Eindrud auf das Bolt, weldes 
diefer Tiltoria eine ſymboliſche Bedeutung gab; es nährte den patrioti- 
ſchen Ingrimm für den Rachekrieg der Zukunft. Meilenweit begleitete das 
Bolt unter Schluchzen und Ihränen das unter der Eöforte franzöfiicher 
Dragoner fortgeichleppie Aunftwerf. Uebrigens ift das preußiiche Balla- 
dium in Paris nicht enthüllt, nicht den Bliden des profanen Volls ger 


zeigt worden, 
Nah der Einnahme von —* im Jahre 1814 kehtte die Quadriga 
nach Berlin zurüd, und zwar feierte die Trophäe einen Trinmphjug von 
der Seine nach der Spree. Ueberall heftete das Volt dem Wagen feiner 
Göttin Juſchriften nebſt Blumen, Bändern und Sränzen an. Ein Buch 
diefer Aufchriften, in der Bibliothek des Prinzen Alexander von Preußen 
befindlih, enthält 60 ** Oliabſeuen, Kern⸗ und Sinnſprüche, 
Ergüjie in Proſa und Verſen. Auf ſechs Wagen, deren größter mil 
9 Pferden befpannt war, wurde die Siegesgöttin durch franzöfiiche Fuhr- 
leute unter Bededung von etwa 30 preufiichen Kriegern wieder nad 
Berlin geführt, Wir entnehmen diefe Mittheilungen einem mit roman 
haften Elementen reichverfchten hiftoriichen Gemälde „Die Onadriga, ihre 
Zeit und ihre Meiſter“ von Elije Schmidt (Berlin, 1888), in weldem 
der Kupferbiſdner Jury, feine Familie und Schadow felbft bie Hauptrolle 
in > theils geſchichtlich überlieferten, theils freierfundenen Handlung 
pielen. 
etrarca und die Köfner Frauen. Als Petrarca auf jeiner Reife 
nach Köln und Machen in erfterer Stabt weilte, war er dafelbft Jeuge 
des überrafhenden Schaufpiels einer Feier der Tölniichen Rrauen am 
Lorabende des Johannisfeſtes. Das ganz: Ufer des Rheins ſah er mit 
einer herrlichen Schar von Frauen und Mädchen bededt, über deren 
Schönheitder Sänger Lauras erftaunte, „Welche Geſtalten, welche Anmu 
und meld liebliches Benehmen!” berichtet er. „Wahrlich, man hätte ji 
verlieben tönen, ohne ein Schon vorher mit Licbe erfülltes Herz, Uns 
glaublic war der Aulauf und doch ohne Bedränge, Alles athmete Muth 
und Freude, Gin Theil der jugendlichen Geftalten war mit wohlriechenden 
Blüthenranfen und Blumen umgürtet, und mit zwrücgeitreiften Gewande 
wuſchen ſie die weißen Hände und Arme im Fluſſe, wobei fie in ihrer 
Sprache mir unverftändliche und doch wohllautende Sprüche mwechjelten.” 
Auf Vetrareas Frage mach der Vebeutung des feltfamen Beginnend 
erhielt er zur Antwort, das ſei ein uralter Brauch des Volles, nament- 
lich der Frauen; denn man plaube, alles im Jahre bevoritehende Unglück 
durch die an diefem Tage übliche Abwalcung im Fluſſe ufpülen, 
worauf dann nur Fröhliches begegne. Betrarca aber erwiderte feufzend: 
Die beneide ich euch, ihr glüdlichen Anwohner des Rheins, daß euer 
luß Leid und Klagen hinwegſchwemmt — o, wenn doch aud Po und 
iber dies vermöcten!” — Betrarcas Worte haben die Erinnerung an 
dieſes Johannisfeſt der Kölner frauen erhalten — das Feſt jelbft ift der 
modernen Beit zum Opfer gefallen. 
Ein merlkwürdiger Kelegrapb im 18. Jahrhundert, Im Jahre 1744 
erichien bei Phil. Wilhelm Stod in Frankfurt am Main und Beip ig ein 
Werlchen „Eröffnung unterichiedlicher Heimlichleiten der Natur, Worbey 





Biel ſcharfſſinnige, Muge, wohlerwogene Neden von müglichen und Jeder | 


mann dienlihen Dingen . . . bengefüget“ zc., das eine Menge wunder: 
licher Geſchichten enthält, die theils 
beruhen, welche die Zeitgenofien in großes 


taunen verjeßten. Yu den 


lepteren gehört ein auf S. 134 des Werlkcheus befchriebener Apparat. | J 


Er beftand aus zwei runden Büchſen, „darauf das ABE abgetheilet 
unb mit folder Kunst gemacht newelen, dab, wann man dem einen Heiner 
aus dem Mittelpuntt auf das A oder B gerüder, ſich zugleich auch der 
Beiger der anderen Bücfe, fo an einem davon entlegenen Ort ebenjo 
tünftlich zugerichtet geweſen, auf eben dieſe Buchftaben von ſich ſelbſt ge 
wendet, aljo dab man mtit einem Abtweienden ohne Wort oder Schrift 
reden könne.“ Leider ift micht angegeben, wer der (Erfinder diejes 
Zelegraphenapparates war, und ebenjo der Mechanismus nicht erklärt, 
Man betrachtete denſelben, wie es Scheint, |. als Kuriofität, dem 
leinerlei praltiſche Bedeutung zufomme, da er jo gänzlich wieder in 
Vergefienheit geriet. 
Wann it der erfie Amerifaner mad Deutſchland gekommen? 
Ohne Zweifel im Jahre 1521, Wie man weiß, fand damals der ber 
rühmte Meichstag in Worms, wo auch Yuther ii ftatt. Um dem 
Kaifer Karl V. zu huldigen, hatte Gortez aus Mexilo einen Einge- 
borenen geiendet, der in jeiner Nationaltracht zum Staunen und iu 
Verunderung der Grafen und Herren und Fürften erſchien, bie daſelbſt 
in fo großer 
allein 66 zählte, 


bein find, theils auf Thatſachen 


483 





Eee nn — —— — — — 


Menge zufammengelommten waren, daß man bon letzieren | 


Der Bfeander eine Glſtyſſanze. Wie bekannt, ift der Oleander, 


Siegesgdttin auf diefem | wegen feiner ſchönen, rohen Blüten, ein beliebtes ee“ . Dar 
—* gegen wiſſen die meiſten Liebhaber desſelben wohl nicht, daß Der Oleander 


au deu pflanzen gehört. Es ift deshalb, zumal wenn cr im immer 
nehalten wird, Borficht geboten, da er unter Umftänden ſeht ichAdlich 
werden kann. Schon Blinius erwähnt vom Dleander, daß er giftig ſei, und 
neuere Forſchungen haben dies bejtätigt, Ju Mabrid famen vor einigen 
Jahren Bergiftungsfälle dadurch vor, daf man Vögel a, die mit Oleander- 
blättern gebraten waren. Im Süden Italieus und Spaniens verwendet 
man die geriebene Rinde diejer Bilanze als Rattengift und zur Bertreibung 
fonftigen Ungeziefers. In beiden Ländern gelten die Gegenden, wo viel 
Dleander wachſt, als mit dem Sunpfficber behaftet, und die Einwohner 
vermeiden es, ſich längere Jeit dort aufzuhalten, In Norbafrila, wo er 
ben Ufern der Flüſſe einen befonderen Reiz verleiht, wird er im der 
Nähe menschlicher Wohnmmgen nicht geduldet, und cs beftehen in biejer 
Beziehung fogar_obrigteitliche Vorſchriften. Mertwürdig ift, dab felbit 
die Bienen den Dleander verſchmähen 
Zageraberglaube des 16. Zahrhunderls. An Roc Meurers Jagd⸗ 
und Forſtrecht“ welches im 16. und 17. Jahrhundert eine Reihe von 
Auflagen erlebte, finden fih am Schluß auch einige „Gebeimmuß und 
Kunſtſtüde“, jo den Jägern zu wiſſen nötbig. Ein vergrabener Wolfs: 
ſchwanz fichert nad) denjelben einen Meierhof vor dem Bejuche des 
Wolfes; ein im Haufe anfgehängter Wolfsfdnwang vertreibt die fliegen 
daraus, Lörwenjchmalz, mit weichem man den ganzen Leib einfchmiert, 
ichüßt den Jäger vor wilden Thieren: „derowegen, fo dir ein Wolf oder 
Bär begegnet, fo fliehe mich, auf daß er das Schmalz rieche.“ Der 
Amerhuft, den ber Jiner bei ſich trägt, bringt Glück auf der Jagd. Um 
bor dem milden ein ficher zu jein, hänge man Kreböfcheren an den 
Hals. Dann find nod) viele andere Mittel aufgezählt, die man theilweiſe 
ar nicht wiedergeben Tann, wie man den Hirſch an fich loden, Hafen, 
üsıe Wölfe in großer Menge an einem Ort verfammeln und erlegen, 
ögel Teichtlich fangen fünme zc. . 
Ein Schädeltfurm. Ein Bauwerk aus eigenthünlihen Material, 
erinnernd an die von dem grimmen Timur aufgerichtete Schädelpyramide, 
befindet fid) in Serbien unweit der Stadt * In feinem großen, mit 


— — reich ausgeſtatteten Werte „Serbien und die Serben“ 


eipzig, Eliſcher welches überdem eine Fülle ftatiftifdhen Materials ent« 
hält, berichtet Spiridion Goprevic, daß diefer Schädelthurm jich eine 
Biertelftunde vor der Stadt auf der Strahe nach Pirot befinde. Er ift 
vieredig, heute etwa 5 Meter hoch und beitand aus 56 Reiben ein- 
emauerter Todtentöpfe, jede Reihe zu 17 Schädeln, jo daß fid) deren 

fammtzahl auf 962 belief, Die Köpfe rührten von den unglüdlichen 
Gefährten des ſerbiſchen Helden Singielic ber, der ſich bei Vertheidigung 
der Schanze Cegar unweit Kamenica am 31. Mai 1809 mit den Türken 
in die Luft ſpreugte. Der Paſcha von Niſch Lich and ben Köpſen der 
efallenen Serben diefen Thurm, die Cele-Kula genannt, errichten. 
Eon bor 1877 hatten Fromme Serben, wenn fie es beimlich thun 
fonnten, den einen oder den andern der eingemauerten ‚Schädel her» 
———7 und begraben. Nach der en von Riſch durch die 
Serben trieb man die vermeintliche Vaterlandäliebe ſoweit, alle Schädel 
—— und als Religuien im Hauſe aufzuſtellen. Dadurch iſt die 
ſtula ihres Hauptſchmuckes beraubt und Serbien um ein Dentmal ärmer 
geworben, welches den Nachlommen ftets in Erinnerung gebracht hätte, 
was ihre Väter für die Freiheit gettan und ihre Vorjahren unter der 
turtiſchen Fremdherrſchaft gelitten hatten. + 

Kleiner Briefkaflen, 
F. ie Pranfturt a. W. Sitwe @. im Mauentkal tbeilt uns eine Aueclkdete 
des feligen Raiferd . _welde 
alisät giebt, 


mu de 


vorker waren 
ifbelm und bes rompringen Friedrich Wilbelme in mohlgeteoffenem Oeldruc giemich 
ron mit Khönen breiten Golbrabmen amgeihafft worden. Ber Arompring 

fein Br, legte der Kellnerin, einem jungen hen Madchen, cear Wanentbaler 
J a Mauen Sie einmal, 


E gm auf bie Schulter am» jagte: „ jebe ih denn dem dba 
entihr" Setichen beiraditete Me ver ibr Itchenbe berriide Mämı It von eben 
biö unten, dan antwortete lie: „Sere teonprim,, 


dem Wild; jo find Sie viel Ihdwer,“ Da mente ha ber Brin 


umb jogte: „ Du, liebe ram, daß id den jungen Wläpchen m alle t* 
Dieke Yüge won Leutjeligkeit und Kerzensgüte bejtätigen in hütjher Weije Ihre Auftaffung 
teb Übaralterd umferes werermigten Hailere. 
rt. Br. am Mubarg. Es ii Telbfiverflänblich nur ein Drndfchler, ber im elmem 
Theil der Wuflage des Dalbbeits 10, 5. 322, in dem Meritel über Friedrich Müderts 
Wedenttag” unkemertt blieb, we ftarı „Seln Dentasi in € a im 
‚Neules“ . Bas Dentmal_in Meukes, bie in breifadher —— 55 
ie bes Meiningen Bildhauer Müßer nah dem Driginalgipsmoml rnit 
onrads in Hlidkurgbaußen, iſt ſchen am 24, worten. ine 


1874, Seite 346 uad 327. Cine eriengecide Bärbigung 
usichlands Barbe 
und Brabmane* (5. #5) mir Müderts Bilpnik mad Sarl Barthe Seidmung. gab bie An ⸗ 
ug ja ber großen inen poetiichen 
anf an bie blätwiln r ——— 
Wepicht An Friedrich Helmanı“, den Berfafler jenes Artikels, autiprach, Lepterer 
nach dei Dichters Zode (am 31. Januar 1866), unfere Leite neh einmal „in 
Haus”, indem er im einem Artitel Jahrg 1866, S. 105) feinem „Ichten Gang zum Miten* 
und im einem anbern (S. 361) „Die des Alten in Meufes” fdriterie. Das 
Beigefänte Bocträt dom, bem atlys früb geftorbenen Maler Hobnbaum, eimenm Pirbling 
WR ei. felt ben Dichter im Vancn lepteit Vebensjabr, 4 beine Arbeutrlade bie 
„Bartenlanbe” Iefend, bar. — Das nädıfte abe volr® ums Me Gelegenheit geben, aud ber 
Denkmalldier in ber Waterftabt bes Dichters ums mwürbig amsukbliepen, 


. iu N. Seide Bücher Kınen Er fihım Kder Sertimentöbuchhanklung vorlegen 


em. 
BR, Kettet „Matehiämus der Gebachtnißku (b. + 2 » 9. 9. Weber) 
Mare u — ‚ter achtnittunt· (5. Anl, Leipzig, I. I ) 
KR. ©. in Dresden, Der Dorfroman von Ludwig Mamgboler „Der Umfeieb”, ben 


a „WBartenlaube brachte und ber wohl bem Lehern vater Blattes eine Ichbaite Eher! 
ie eimgeflößt bat, ift ala Buch im Berlag von Arelf Benz m. Komp. in Stuttgart er 
nen. 


wur Bar I Sa arg nt 
fondern Rasarims — 


—6 


Sdad:Aufgabe Ar. 10. 


Bott 38. Steinmann in VPardılm. 


SCHWARZ 





tivifche Wörter. 





WEISS 
Weiß sicht an und fett malt dem vierten Zuge matt, 


Aebus. 








Buhfladen-Mäthfel. 


Bon vorue gelefen, ein Fluß im Herzen Europas, 
Zahl' ich zu Waſſen und Wehr’, ftelleft ein Zeichen du um. 


Auflöfung der Shad-Aufgade Mr. 9 auf 5. 4bt: 


Weiß Schymarz: Maß: Ehwarz: 
1.583—e2 Sh6—fbla) | 1.... Le1—12 
5812244 bellebig. Rbes — 672 f beliebig. 

3, D, s, B ſetzt matt, 2. D re'p. s ſedt matt. 
a) Dieſer Bug, miterlegt die beiden Drobipiele (2. D u 7: F ober 2, D d 7 }) mub 


ermöglicht das 


Aufföfung der Aleinen Woribilſd · Zäthſel auf 5. 452: 


1. Auterwinde. 2, Handelsinarine. 3. Blumenbinfe. 4. Gambrinus. 5. Eine 
Aufmunterung. 6. Lamartine. 7, Eine Schachpartie. 8. Baumſchlauge. 


Aufföfung des Bahlen-Mätdfels auf $. 452: 


pringerepfer auf © 4. Recht ſela peintirt ! 





















77 

N 

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ENE MER 

| ® |N|Uu 
jıle| 

R|E 

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Die in den Flageln dieſer Figur ftehenden 
Mörter follen in jeder Zwiſchenreihe je eine 
Henderung in einem Buchitaben erleiden 
fie bei der fünften Beränderung zu „lern“ 
werden. Benußt werden nur richtige jubjtan- 


Beifpiel: Salle, Hall, Halm, Helm, Hela, 
Hera, Dora, Horn, E ® * 


484 > 


Allerlei Kurzweil. 


Ammwandlungs- Aufgabe, 


iſder · Zathſel. 


daß 





Siſden · Zathſel. 
Die dritte werfen die erſten zwei; 
Das Ganze ijt im Nu vorbei, 
Sfat:Aufgabe Ar. 8.* 
Ron Wil. Helbig in Eisleben. 
Cin Spieler hatte auf die folgende Karte: 


Thorn, 





ch.) tcar,b) (ar.K.) (te7) (Aa) (ec. Z) (car, As) (car.D.) 


(te.B.) (p.B.) 
Eichel (tr.)-Solo-Schneider angefagt, er verlor aber nicht mur das Spiel, 


obwohl no &.D., g.K. (p.As, p.K.) im Stat lagen, fondern wurde fogar 
jelbjt Schneider. — In welder Hand war der Spieler? Wie waren 
die übrigen Karten bertheilt und wie war der Gang des Spiels? 





* Diefe Aufgade iſt im Probfemturnier des vorjährigen Skatlomgrefied dur einen 
Preis ansgeseidne worden, 
Aufföfung des Yroßfems: „Der @defish‘‘ auf 5. 452: 


Nunterivt man das Alphabet (i mb j getrennt) mit den Nummern 
1— 2% fortlaufend, fo zeigt jede Zahl unter ben Rumenzeichen ben be» 
treffenden Buchftaben des Alphabett, während die Anzahl der Siriche 
oder Theile eines jeden Beihens die Meihenfolge angiebt, in ber die 
Yuchitaben zu verbinden find, Jede Heile der Obelisteninfhrift giebt 
ein Wort. Das Ganze lautet: 

Was ihr ſeid, 
Tas waren wir, 
Was wir find, 
Das werdet ihr. 


Aufföfung des Mälhfels auf 5. 452: Spiel, 
Aufföfung des Bilder-Mäthfels auf S. 452: 
Ein Freund ift eine Münze, man prüfe fie, che man fie ninnut. 


Aufföfung des „‚täthfeldafien Wappens‘* anf 5. 452: 
Nichtswürdig die Nation, die nicht 
Sr Alles freudig jept an ihre Ehre. 
R Schitler. 
Aufföfung des Auchſtaben · Aaͤthſels anf 5. 452: 
Kammer, Kummer. 


Aufföfung des Möffelfprungs auf 5. 452: 
Wenn einen Menschen die Natur erhoben, 
Iſt es fein Wunder, wenn ihm viel gelingt; 
Man muß in ibm die Macht des Echöpfers loben, 
Der ſchwachen Thon zu folher Ehre bringt: 
Doc wenn ein Mann von allen Lebensproben 
Die ſanerſie befteht, ſich ſelbſt bezwingt, 
Dann lannſt Du ibn mit renden andern zeigen 
Und fagen: Das ift er, das ift fein eigen! 


Auflöfung des Somonyms auf 5. 462: Romer. 








Heraußgegeten unter verantiwertlidier Redaktion ven Adelſ Krdner. Berlag von Ernft Keil’d Rachtelger in Leirzig. Druc von A. Wiebe im Leibzig 


. 
J 


a 











Illuſtrirtes Familienblatt. — Begründet u Ernft Seil 1853. 


Tahrnang 1888. Erſcheint in Galbheften a 25 Pf. alle 12— 14 Tage, in Heften a 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Deyember. 


(Fortfehung.) 


ran von Sasberg, die mit Alice eingetreten war, zeigte eine 
x) gewille erocbungsvolle Miene,; denn fie begrub an bem | 


heutigen Tag einen Lieblingswunfd. Sie hatte feſt darauf ges | 


rechnet, Alice, die fie ganz in 
ihrem Sinne erzogen hatte, 
dereinft in die Meihen der 
Ariftolratie einzuführen, und 
einer der vornehmen Bewer: 
ber, der cinem alten Grafen: 
baue entftammte, erfreute 
ſich ihrer ganz bejonderen 
Begünftigung — und jeßt 
trug Wolfgang Elmhorſt den 
Preis davon! Er war freilich 
der einzige Menſch, dem 
rau von Yasberg das ver: 
sich, denn er hatte es längjt 
verjtanden, auch fie zu ges 
innen; aber es blieb nichts 
deito weniger eine jchmerz= 
liche Thatjache, daß diefer 
Dann, der jo ganz zum 
Ntavalier geichaffen war und 
an deſſen Berfönlichkeit ſelbſt 
die aejtrenge Frau Oberhof; 
meiſterin nichts auszufegen 
fand, einen einfach bürger- 
lichen Namen trug. 

Alice, in einem Atlaskleide 
von zartblauer Farbe, mit 
überreihem Spitzenbeſat und 
langer Schleppe, ſah nicht 
beionders vortheilhait aus. 
Der ſchwere Faltenwurf des 
foitbaren Stoffes ſchien die 
zarte Geſtalt förmlich zu er 
drüden, und die Diamanten, 
welche an Hals und Armen 
funfelten, ein Geſchenk des 
Waters zu dem heutigen Feſt 
tage, vermochten es nicht, das 
Matte, Farbloſe der ganzen 
Ericheinung zu heben. Sie 
war nun eimmal nicht ae 

1588 





Die Alpenfee 


Roman von &, Werner, 


Aungrige Säle. 





Eriginalgeidimung won E. Ravel. 





Nattrud verboten. 
ABe Kedıte vorbebalten. 


ſchaffen für einen jochen Rahmen; ein Tuftiges, blumengeſchmüdtes 
Ballkfeid hätte ihe viel befjer geſtanden. 
Wolfgang ging raſch feiner Braut entgegen und zog ihre 


Hand an feine Lippen. Er 
war voll zarter Aufmerffam- 
feit gegen fie, voll Artigfeit 
gegen die Baronin Yasberg, 
aber die Wolfe auf feiner 
Stirn wich erſt, ala der Prä 
fident zurüdfam und gleid): 
zeitig die erften Gäſte vor 
fuhren. Allmählich begannen 
ſich die Säle zu füllen mit 
einer in jeder Hinſicht glän- 
zenden Berjammlung. Es 
waren in der That die erjten 
Perjönlichkeiten der Haupt 
ftadt, die fich hier zufammen- 
fanden Geburtis und Gei— 
jtesadel, Finanzwelt und 
Kunſt, Militär und höheres 
Benmtenthum waren mit 
ihren beiten Namen ver 
treten. Neben den koſtbarſten 
Toiletten, die an Pradıt 
einander überboten, blitten 
sahfreiche Uniformen, und 
das alles ſchimmerte, wogte 
und rauſchte durch einander 
— die Geſellſchaft entſprach 
volltommen dem Ghlanze, den 
das Nordheimſche Haus bei 
diejer Gelegenheit entfaltete. 

Den Mittelpunft der all 
gemeinen Aufmerkſamleit bil- 
dete ſelbſtverſtändlich das 
Brautpaar, vder vielmehr 
der Bräutigam, der den 
meiften noch gänzlich am 
befannt war und eben des 
halb ein verboppeltes In 
terefje erregte. Er war ja 
ein ſchöner Mann, dieſer 
Bolfgang Elmborit, das lich 


62 


-o Mi >» 


fich nicht leugnen, und man zweifelte auch nicht an feiner Begabung 
und feinem Talente; aber mit diefen Eigenſchaften allein gewann 
man doch nicht die Hand einer der reichſten Erbinnen, die ganz 
andere Anfprücdye erheben fonnte. Und dabei ſchien der junge 
Mann fein unerhörtes Glück, das jeden andern beraufcht hätte, 
durchaus felbitverjtändlich zu finden! Much nicht die leiſeſte Unficher- 
heit oder Befangenheit verrieth, daß er ich zum erften Male in 
diefem glänzenden Kreiſe beivegte. Seine Braut am Arme, ftand 
er ruhig und ftolz neben dem Fünftinen Schwiegervater, lieh ſich 
vorjtellen, empfing und beantiwortete jeden Glückwunſch mit der 
aleichen Artigfeit und fand fich mit der Hauptrolle, die der heutige 
Tag ihm anferlegte, in bewundernswertber Weile ab, Er war 
jo ganz der Sohn des Hauſes, dev mit aller Entichiedenheit die 
ihm zufommende Stellung in Anfpruch nahm, und bisweilen jah 
es aus, als nehme er die Borftellung der gefammten Gefellichaft 
entgegen. 

Unter den Gäſten befand jich auch der Oberregierungsrath 
von Ernfthaufen, ein vornehmer, fteifer Bureaukrat, der heute ohne 
feine Gemahlin erichienen twar, aber dafür fein Töchterlein am Arme 
führte. Die Heine Baroneß jah reizend aus in dem Tuftigen, vofigen 
Ballanzuge mit dem Kranz von Schneeglöckchen in den Fraufen 
chwarzen Soden, und fie jtrahlte förmlich vor Freude und Triumph 
tarüber, daß jie nach heißen Kämpfen den Beſuch des Feſtes doch 
durchgefeht hatte, Die Eltern hatten fie anfangs davon ausſchließen 
wollen, weil auch Doktor Gersdorf eingeladen war und fie erneute 
Annäherungsverſuche von diefer Seite fürchteten. ebenfalls war 
der Herr Papa gewappnet und qerüftet gegen die feindliche Macht; 
er ging wie eine Schußzwache neben feiner Tochter her und hielt 
ihren Arm fo feit, als wolle er ihn während des ganzen Abends 
nicht wieder Toslajien. 

Der Doktor jchien aber nicht gefonnen, ſich einer erneuten 
Zurückweiſung auszufehen, und beqnügte fich mit einem artigen 
Gruße aus der Rene, den Baron Ernithaufen sehr jteif erwiderte 
Wally meinte das Kopſchen fo ernſthaft und verjtändig, als ſei 
fie ganz einverftanden mit der väterlichen Eskorte; natürlich hatte 





lie ihren Feldzugsplan längſt entworfen und machte fich jofort an | 


die Ausführung, mit einer Energie, Die nichts zu wünschen 
übrig ließ 


Sie umarmte und beglüdtwünfcte zunächſt die Braut, wobei 


jie nothgedrungen den Arm des Vaters loslajjen mußte, begrüßte 
dann Frau von Lasberg mit größter Liebenswürdigfeit, was die 
alte Dame ziemlich fühl aufnahm, und ward endlich von einer 
überjtrömenden Zärtlichkeit für Erna ergriffen, die fie denn aud) 
glüdlich bei Seite zog. Der Oberregierungsrath bfidte ihnen 


etwas argwöhniſch nad; da aber Gersdorf ruhig am anderen | 
Ende des Saales blieb, jo berubigie auch er ſich wieder und 


glaubte feines Hüteramtes trefflich zu walten, wenn er den Feind 


unausgefeßt im Muge behielt. Er ahnte nicht, welcher araliftige 
Streich hinter jeinem Rüden geplant und ausgeführt wurde. 
Das Seflüfter in der Fenſterniſche dauerte nicht lange, dann 
verichtwand Fräulein von Thurgau plöglih aus den Saale, 
während Wally ganz umnbefangen zu dem Vater zurückehrte und 
ſich mit einigen Bekannten in eine angelegentlide Unterhaltung 
vertiefte. Sie ſah es aber troßdem recht qut, dab Erna nach 
Berlauf von einigen Minuten zurückkehrte, jich dem Doftor Gers- 
dorf mäherte und ihm einige leiſe Worte fagte. 
überrafdyt auf, verneigte fich aber zuftimmend und die feine 
Baroneß breitete triumphirend ihren Fächer aus. Die Aktion 


war eingeleitet und der Herr Papa matt geießt Für den größten | 


Theil des Abends. 

Der Präftdent vermißte inzwijchen feine Nichte und jah ſich 
ungeduldig nach ihe um. Er jprady mit einem Seren, der joeben 
erſt in den Saal getreten war und jedenfalls nicht zu den ge: 
wöhnlichen Gäſten des Hauſes gebörte. 
wohl beiondere Nüdjichten beanſpruchen können, denn Nordheim 
empfing und behandelte ihn mit einer Auszeichnung, die er mur 
iche wenigen PBerfönlichleiten zu theil werden lieh. Erna war 
faum wieder fichtbar geworden und in feine Nähe gelommen, als 
er mit feinem Begleiter auf fie zutrat und dieien vorstellte, 

„Herr Ernit Waltenberg, deſſen Namen ich Dir bereits ge- 
nannt habe — meine Nichte, Fräulein von Thurgau.” 

„ch hatte das Unglück, die Damen bei meinem geitrigen 
Beſuche zu verfeblen, und bin daher dem gnädigen Fräulein noch 
ganz fremd,” fagte Waltenberg, ſich artig verneigend, 


Er ſah etivns | 





Derfelbe mußte aber | 


„Nicht doch, ich habe bei Tiſche viel von Ahnen erzählt,“ 
fiel Nordheim raid ein. „Ein MWeltfahrer wie Sie, der ſchon 
die ganze Erde umkreiſt hat und diveft aus Perſien fommt, ift 
immer eine intereffante Perfönlichteit für die Damen und in 
meiner Nichte kann ich Ahnen noch eine bejonders aufmertiame 
Auhörerin veripredyen, wenn Sie von Ihren Erlebniſſen erzählen. 
Tas Seltfame und Ungewöhnliche ift ganz ihr Geſchmach“ 

„In der That, amädiges Fräulein?” fragte Waltenberg, 
deſſen Mugen mit unverhoblener Bewunderung an den Zügen des 
ſchönen Mädchens hingen. Nordheim bemerkte das und lächelte; 
ohne jeiner Nichte Zeit zu einer Antwort zu laſſen, fuhr er fort: 

„Berlaffen Sie ich darauf, Aber wir müflen vor allen 
Dingen veriuchen, Sie wieder etwas heimischer in Europa zu 
machen, dem Sie gänzlich fremd geworden find. Es wird mich 
freuen, wenn mein Haus etwas dazu beitragen kann; Sie willen 
ja, daß es Ahnen immer offen jteht.“ 

Er reichte feinem &afte in der zuvorfommendften Weile die 
Hand und trat dann zuräd. Es lag eine gewifle Abfichtlichkeit 
in der Art, wie er die beiden einander näherte und fie ſich 
dann jelbft überlich; aber Erna bemerkte das nicht. Sie hatte 
die Vorſtellung gleichgültig hingenommen; überſeeiſche Fremde 
waren feine Seltenheit im Norbheimichen Hauſe, welches überall 
Verbindungen hatte; doch der flüchtige Blick, mit dem fie den 
Gaſt mufterte, blieb gefeijelt haften an diefen eigenartigen Zügen. 

Ernft Waltenberg war fein junger Mann mehr, er jtand 
im Anfange der Vierzig und feiner nicht allzugeoßen, aber 
jehnigen Geftalt Tab man es an, dak er Anitrengungen und 
Gefahren gewachſen war. Das dunfle Antlitz mit feiner tief- 
braunen Färbung verriet} den jahrelangen Aufenthalt in den 
Tropenländern; es war durchaus wicht ſchön, aber um jo aus: 
drudsvoller und zeigte jene tiefen Linien, welde nicht die Jahre, 
jondern die Erfahrungen den Menſchengeſichtern einzuprägen pflegen. 
Das fraufe tiefſchwarze Haar umgab eine breite Stirn mit 
dichten jchwarzen Vrauen, die ſtahlgrauen Augen hatten einen 
düjteren Blicd und doc fchienen fie aufflammen zu können in 
voller Leidenschaft: das ſah man an ihrem gelegentlichen Auf 
bligen. In der ganzen Erſcheinung lag etwas Ungewöhnliches, 
remdartiges, das ſich ſcharf und bedeutfam unterfchied von all 
den glänzenden, aber meist jeher unintereflanten Geftalten, die 
bier durch die Zäle flutbeten. Auch die Stimme hatte einen 
eigenthlimlichen Tonfall; fie Hana tief, aber gleichfalls fremdartig, 
vielleicht infolge der fangen Gewähnung an andere Sprachen. 
Jedenfalle war Waltenberq volllommen vertraut mit den geſell— 
ichaftlichen Formen; die Art, wie er neben Fränlein von Thurgau 
Mat nahm und die Unterhaltung führte, verrieth den Weltmann. 

„Sie kommen aus Berjien zurück?“ fragte Emma, an die 
Worte ihres Onkels anknüpfend. 

„sa, gnädiges Fräufein, dort war ich zuleht wenigſtens. 


Es find mehr als zehn Jahre, daß ich den europäiſchen Boden 


nicht betreten habe.” 

„Und dod find Sie ein Deuticher? 
Beruf Sie jo lange fern?“ 

„Mein Beruf?“ wiederholte Waltenberg mit einem flüchtigen 
Lächeln. „Nein, id) folgte darin nur meiner eigenen Neigung. 
Ich gehöre wicht zu den ſeßhaften Naturen, die in Haus und 
Heimath feſtwurzeln; mich hat es von jeher binansgezogen in die 
weite Welt amd ich babe diejem Drange ſchrankenlos nachgegeben.“ 

„Und haben Ste in diejem ganzen Jahrzehnt niemala Heim 
weh empfunden?” 

„Dffen geitanden, nein! Man entwöhnt ſich nachgerade von 
der Heimath und ihren Beziehungen und wird ſchließlich fremd darin. 
Ich bin and jest nur zurückgekommen, um geſchäftliche und 
veriönliche Angelegenheiten zu ordnen, und glaube faum, daß 
mein Anfenthalt von langer Dauer jein wird. Mich feſſelt in 
auch hier feine Familie, ich ſtehe allein,“ 

„Aber das Naterland Felbit Follte Sie doc feſſeln,“ warf 
Ema ein. 

„Bielleicht, aber ich bin beicheiden genug, zu alauben, daß 
es mich nicht brancht. Es jind jo viele Beſſere da.” 

„Und Sie braucden Ihr Baterland gleichfalls nicht?“ 

Die Bemerkung war etwas ungewöhnlich für eine junge 
Dame und Waltenbera ſah in der That itberraicht auf; aber ber 
Bid, dev dem feinigen begegnete, verschärfte noch den Tadel, der 
in jenen Worten lag. 


Bermuthlich hielt Ihr 


EV 


—ö 


„Sie jind darüber entrüftet, mein Fräulein, ich ehe es,“ 
jagte er ernſter. „Zroßdem muß ich mich ſchuldig befennen, 
Aber glauben Sie mir, ein Leben, wie ich es jahrelang geführt 
habe, frei von allen Schranken und Feſſeln, inmitten einer Natur, 
die in verſchwenderiſcher Fülle prangt, wo die unferige mit jeder 
Blüthe kargt, das wirft wie ein berauſchender Baubertrant, Wer 
einmal davon gekoſtet hat, der kann ihm nicht wieder entbehren. 
Wenn ich wirklich dauernd zurüdtehren müßte in dies Schein: 
und Formenweſen der fogenannten Geſellſchaft, unter diefen grauen, 
winterlihen Himmel, ich glaube — dod das find keheriſche An— 
fichten in den Augen einer gefeierten jungen Dame, die im Mittels 
punkte diefer Geſellſchaft jteht.” 

„Und die Sie doc vielleicht veriteht,“ jagte Erna mit auf: 
wallender Bitterfeit. „Ich bin in den Bergen aufgewachjen, in 
der mächtigen Einjamfeit des Hochgebirges, fern von der Welt 
und ihrem Treiben, und id; entbehre fie ſchwer, ſehr ſchwer, die 
fonmige, goldige Freiheit meiner Kindertage!“ 

„Auch Hier?” fragte Waltenberg, indem er auf die licht 
ſtrahlenden Säle deutete, wo die Geſellſchaft plaudernd und lachend 
auf und nieder wogie. 

„Grade hier am meijten!” 

Die Antwort Hang Seile, faum hörbar und es war ein 
eigenthümlich müder und trauriger Blid, der durch das glänzende 
Serwühl ftreifte; aber ſchon im nächiten Augenblick ſchien die junge 
Dame zu bereuen, daß fie fich zu dieſem Halb unwillfürlichen 
Geſtändniſſe hatte hinreißen lafjen, denn fie brach plöglich ab und 
fagte ſcherzend: 

„Doch Sie haben recht, das find ketzeriſche Anfichten, und 
mein Onfel würde fehr wenig damit einverſtanden ſein; er be— 
abſichtigt ja im Gegentheil, Sie in unſerer Geſellſchaft wieder 
heimisch zu machen, — Darf ich Sie mit dem Herrn dort befannt 
machen? Es ijt eine unferer eriten Berühmtheiten, die Sie ficher 
intereffiren wird,” 

Ihre Abficht, eine Unterhaltung zu beenden, die eine fo 
ungewöhnlich ernſte Richtung genommen hatte, war deutlich genug. 
Waltenberg verneigte jich zujlimmend, aber es lag ein unver 
fennbarer Ausdrud von Mißvergnügen auf feinem Gefichte, als 
er der Berühmtheit vorgeftellt wurde, und fein Geſpräch mit 
derfelben dauerte faum einige Minuten. Dann juchte ex dein 
Doktor Gersdorf auf, einen von den Wenigen, die er noch aus 
früherer Zeit fannte; jie waren alte Univerfitätsfreunde. 

„Nun, Ernſt, Du füngft wohl nachgrade an, Dich hier bei 
uns zu alllimatiſiren?“ rief ihm der Rechtsanwalt entgegen. „Du 
haft Dich ja ſehr eingehend mit Fräulein von Thurgau unter- 
halten! Ein Schönes Mädchen, nicht wahr?“ 

„Sa, und es verlohnt fic) jogar der Mühe, mit ihr zu 
reden,“ erwiderte Exrnft, während ex mit dem Freunde chvas ab- 
jeits trat. Dieſer lachte und jagte in medämpftem Tone: „Ein 
artignes Kompliment für die anderen Damen! Mit denen zu 
iprechen lohnt es wohl der Mühe nicht?“ 

„Nein,“ erklärte Waltenberg fühl, aber gleichfalls in leiſerem 
Tone. „Ich wenigftens gewinne es nicht über mic), den aanzen 
Abend lang inhaltloje Phraſen zu hören und zu beantworten. In 
der Nähe des Brautpaares eracht man fid) ganz bejonders darin. 
Welch ein Schwall von nichtsfagenden Nedensarten! Uebrigens 
fieht die junge Braut recht unbedeutend aus und fie ſcheint auch 
etwas bejchränfter Natur zu fein." 

Gersdorf zudte die Achſeln. 

„Sie heißt aber Alice Nordheim und das fiel wohl allein 
ins Gericht bei dem Bräutigam. Es giebt bier im Saale 
manchen, der mit ihm taujchen möchte; er war aber Hug genug, 
ji) die Gunſt des Waters zu fichern, und damit gewann er 
den Preis.” 

„Eine Geldheirath aljo? Ein bloßer Streber?" 

„Wenn Du willit — ja, aber jedenfall® einer von den 
energifhen und begabten, die ihres Erfolges ficher find, Gr 
regiert bereits die ſämmtlichen Beamten feiner Bahn ebenfo 
abjolut, wie fein künftiger Schwiegervater den Berwaltungsvath, 
und wenn Du jein Rieſenwerl, die Wollenjteiner Brüde, ſiehſt, jo 
wirst Du zugeftehen, daß fein Talent nicht zu den gewöhnlichen 
gehört.“ 

Gleichviel, mir ift jedes Streberthum verhaßt in tieffter 
Seele,” fagte Waltenberg verächtlich. „Dem Unbedeutenden mag 
es noch hingehen, ex hat überhaupt feinen Anſpruch auf Beachtung ; 


47 >» 








aber diefer Elmhorſt ficht aus wie ein Charakter und verkauft 
fih und feine Freiheit für Geld — erbärmlich!“ 

„Mein lieber Ernft, man Hört es, daß Tu aus der Wild: 
niß fommit,“ verjeßte Gersdorf troden. „Dergleichen Erbärm 
lichkeiten‘ kannſt Du in unſerer vielgeprieſenen Gejellichaft täglicd) 
erleben und fogar bei jonft ganz chrenwertben Lenten. Bei Dir 
foielt das Geld allerdings feine Rolle; Du gebietejt ja ſelbſt über 
verſchiedene Hunderttaufende. Wirft Du denn nie Dein ruhelojes 
BWanderleben aufgeben und verfucen, wie es ſich am häuslichen 
Herde ruht?“ 

„Mein, Albert, dazu bin ich nicht geichaffen. Meine Braut 
ift die Freiheit und der bleibe ich treu.“ 

„a, das habe ic) aud) gejagt,“ Tachte der Doftor, „aber 
mit der Zeit macht man doc die Erfahrung, daß diefe Braut 
etwas kalter Natur ift, und wenn einem dann noch das Unglüd 
paffirt, fic) zu verlieben, dann ift es aus mit der Freiheitsluſt 
und der angehende Hageftol; verwandelt ſich ohne alle Gewiſſens 
bifie in einen vechtichaffenen Ehemann. Ich bin eben dabei, Dielen 
Umwandlungsprozeß durchzumachen.“ 

„sc Eondolire,“ warf Ernit farkaftifch ein. 

„Bitte, ich befinde mich ganz vortrefflich dabei. Uebrigens 
habe ich Div meine Liebes: und Leidensgeſchichte ja bereits au 
vertraut; wie findet Du die fünftige Frau Doktor Gersdorf?“ 

„So reizend, daß fie Deine ſchmähliche Fahnenflucht einiger 
maßen entichuldigt. Es iſt allerliebft, dies vofige, lachende Ge 
ſichtchen.“ 

„a, meine Heine Wally iſt der verlörperle Sonnenſchein!“ 
ſagte Albert warm, während fein Auge das junge Mädchen ſuchte. 
„Bei den Eftern jtcht das Barometer freifih nocd auf Sturm, 
aber wenn der Oberregierungsrath aud) feine fämmtlichen Ahnen 
gegen mid ins Feld führt und den berühmten Grofonfel dazu 
der, nebenbei gefagt, viel ſchlimmer ift als all die Hochſeligen — 


ich bin entichleffen, unter allen Umjtänden zu fiegen.“ 


„Herr Waltenberg, darf ich Sie bitten, meine Nichte zu 
Tiſche zu führen?“ fagte der Präfident, der focben vorüberging 
und auf einen Augenblick zu den beiden Herren trat. 

„Mit Vergnügen,” verficherte Waltenberg, und das Ber 
guügen über diefe Anordnung prägte ſich in der That fo deutlich 
auf feinem Geſichte aus, daß Gersdorf ein fpöttiiches Lächeln nicht 
unterbrüden Fonnte. 

„Sich da! Am Ende bim ich micht der einzige Fahnen— 
flüchtige!* murmelte er, als fein Freund ihn jegt ohne weiteres 
im Stiche ließ und ſich eiligft Fräulein von Thurgau näherte. 
Der Frauenverächter fing an galant zu werben, 


Die Thüren des Speifejaales wurden jeht geöffnet und die 
Gefellichaft begann ſich paarweije zu urdnen. Baron Ernſthauſen 


‚ bot Frau von Lasberg, die ihm zur Tiſchnachbarin bejtimmt war, 


| 


den Arm; er hatte zu feiner großen Befriedigung von ihr erfahren, 
daß Lieutenant von Alven feine Tochter führen werde und daß 
Doktor Gersdorf jeinen Plab am anderen Ende der Tafel habe. 
Das Baar ichritt wirdevoll davon und ihm nad) flntheten die 
übrigen; aber merkwürdigerweife verneigte fid) Lieutenant Alven 
dor einer anderen jungen Dame und Doltor Gersdorf trat auf 
Baroneh Ernithaujen zu. 

„Was bedeutet das, Wally?” fragte er leife. „Ach Toll 
Did zu Tisch führen, wie Fräulein von Thurgau mir jagte? 
Du Haft doch nicht etwa Frau von Yasberg -—?* 

„D, die ift längſt im Komplott mit meinen Eltern,“ flüfterte 
Rally, indem fie feinen Arm nahm. „Denfe mur, die ganze 
Länge der Tafel wollten fie zwiichen uns legen! Mama hat 
Migräne, aber fie hat dem Papa die ftrengite Weifung gegeben, 
mic nicht aus den Augen zu laflen, und rau von Lasberg 
figurirt als Schubwache Nummer zwei — aber fie follen es einmal 
verjuchen, mit mir etwas anzufangen! Ich habe ihnen allefammt 
eine Nase gedreht.” 

„Was haſt Du denn eigentlich gethan?“ fragte Gersdorf, 
etwas beunruhigt, 

„Die Tiſchkarten habe ich vertaufcht!“ riumphirte Wally. 
„Oder vielmehr Erna hat es thun muſſen. Sie wollte anfangs 
wicht; aber ich fragte fie, ob fie es auf ihr Gewiſſen nehmen 
könne, uns beide in arenzenlofe Verzweiflung zu ſtürzen. Das 
fonnte fie nicht und da hat fie nachgegeben.“ 


— 0 


Der Heinen Baroneß waren die Phraſen, mit denen fie die 
verschiedenen Schußgeiiter ihrer Liebe vorführte, Schon recht geläufig 
geworden; der Doktor ſchien aber nicht ſehr erbaut zu fein von 
diefem Stantsftreiche, er jchüttelte den Kopf und jagte vor— 
wurfvoll: 

„Ich bitte Dich, Wally, das lann ja unmöglich verborgen 
bleiben, und wenn Dein Vater uns erblickt —“ 

„Dann wird er wüthend fein!“ ergänzte Wally mit volliter 
Seelenruße, „Aber weißt Du, Albert, das ift er jegt eigentlich 
immer und da kommt es auf etwas mehr oder weniger wirklich 
nicht an, Und num fieh nicht jo pedantiſch ernithaft aus; ich alaube 
wahrhaftig, Du willſt mit mir zanfen wegen meiner Hugen dee!“ 

Ich follte es eigentlich thun,* fagte Albert, wider Willen 
lächelnd; „aber wer fann mit Die vediten, Du übermüthiger 
Bud!“ 


unbemerkt geblieben; fie ſchloſſen ich jet den anderen Paaren 
an und traten in den Speifefaal, wo der Oberregierungsrath 
bereits an der Seite jeiner Dame Pla genommen hatte. Er 


liebte die Tafelfrenden auferordentlid und die Erwartung eines | 
guten Diners ſtimmte ihn ganz menſchenfreundlich. Auf einmal | 


aber verjteinerte ſich fein Antlig, als babe er das Medujenhaupt 
erblidt, und es war doc nur das höchſt vergnügte Geſicht jeines 
Töchterleins, das foeben am Arme des Doktor Gersdorf auf⸗ 
tauchte. 

„Gnädige Frau, um Gotteswwillen!" flüfterte der Baron 
ganz jaſſungslos. „Sie ſagten mir doch, daß Lieutenant von 
Alven —“ 


ausdrücklichen Wunſch den Doftor Gersdorf — 


Frau von Lasberg verſtummte mitten im der Rede und ſchien 


nun ihrerfeits zu verſteinern, denn jeßt erblidte auch jie das 
Paar, das ſich joeben am anderen Ende der Tafel niederlich. 

„An feiner Seite!” Mnirichte der Oberregierungsrath und 
jchleuderte über dreißig Couverts hinweg einen vernichtenden Blick 
auf den Doktor. 

„sc begreife nicht, wie das möglich ift, ich habe jelbft die 
Taſelordnung feftgejtellt.* 

„Vielleicht ein Irrthum der Diener —“ 

„Mein, es iſt eine Intrigue der Baroneß,“ fiel Frau von 
Lasberg empört ein. „Aber ich bitte Sie, nur jet fein Auſſehen, 
feine Scene! Wenn die Tafel aufgehoben wird —“ 

„Dann fahre ich ſofort mit Wally nach Haufe!” ergänzte 
Ernſthauſen und padte feine Serviette mit einer Wuth, die der 
ungehorfamen Tochter das Schlimmſte verhieß. 








488 ⸗— 
Meere, die Pracht der Tropenlandſchaft; 


die ganze weite Welt 
that ſich auf in dieſen glühenden poeſiedurchwobenen Schilde 
rungen, und Erna, die mit leuchtenden Augen zuhörte, ſchien 
ganz hingeriſſen davon zu ſein. Der Blick des Bräutigams 
ſtreifte bisweilen mit einem eigenthümlich forſchenden Ausdrude 
die beiden; fein Geſpräch mit Alice zeichnete ſich allerdings nicht 
durch bejondere Lebhaftigleit aus, und er war doch ſonſt ein 
Meifter in der Unterhaltung. 

Endlich wurde die Tafel aufgehoben und man fehrte in 
die Geſellſchaftsräume zurüd; die Stimmung war zwangloſer und 
beiterer geworden. Es bildeten ſich überall einzelne Gruppen, das 
Laden und Plaudern Hang lauter und die ganze Geſellſchaft wogte 
und fluthete fo durch einander, daß es ſchwer ward, jemand darin 
aufzufuchen. Das mußte Oberregierungsratp Ernſthauſen zu 


‚ feinem tiefften Werger erfahren: fein Fräulein Tochter Hatte fich 
In dem allgemeinen Geplauder war das Gejlüfter der beiden | 


vorläufig unauffindbar gemadıt. 

Ernft Waltenberg batte feine Dame nad) dem Wintergarten 
geführt und fa, die lebhafte Unterhaltung von vorhin fortjepend, 
an ihrer Seite, als das Brautpaar eintrat. Wolfgang ſtutzte einen 
Moment, als er die beiden erblidte; dann verneigte er ſich fühl 
aegen Waltenberg, der von feinem Site auffprang, um der jungen 
Braut Platz zu machen, und fagte: 

„ice Magt über Ermüdung und wünſchte den ftilferen 


' Wintergarten aufzujuchen — wir jtören boch nicht?“ 
| „Wen?" fragte Emma rubig. 


„Er führt Wally zu Tifche, gewiß, und ic) habe auf Ihren ! 


Die Tafel nahm ihren Anfang und Verlauf, mit all dem | 


Glanze, den man von einem Feſtdiner im Nordheimſchen Haufe 
erivarten durfte. Die Tijche waren fajt überladen mit ſchwerem 
Silber und leuchtendem Kryſtall und dazwifchen dufteten die 
jeltenjten Blumen; 
richten, mit den edelſten Weinforten, die üblichen Toafte auf 
das Brautpaar wurden ausgebracht, die üblichen Reden ge: 
halten und über dem Ganzen lag die übliche Langeweile, die 


von ſolchen Schauftellungen eines fürftlichen Reichthums unzer— | 


trennlich it. 

Das ſchloß jedoch nicht aus, daß einige von den jüngeren 
Herrſchaften ſich trefflih unterhielten, in erſter Linie Baroneß 
Wally, die ganz unbefümmert um das ihrer harrende Straf 
gericht unaufhörlich mit ihrem Tiſchnachbar plauderte und lachte, 
und Gersdorf, der fein Liebender hätte fein müſſen, 
nicht auch feinerjeits alles Uebrige vergefien und mit vollen Zügen 
das unerwartete Glück dieſes Beifammenjeins genofjen hätte. 

Nicht minder Tebhaft, wenn auch ernſter und inhaltreicher 


auch den Ihrigen, Herr Elmhorſt! 


es folgte eine endlofe Menge von Ges | 


wenn er 


war das Geſpräch, das am oberen Ende der Tafel geführt | 


wurde Fräulein von Thurgau hatte als nächſte Berwandte 
des Haufes ihren Platz dem Brautpaare gegenüber und Ernſt 
Waltenberg war die aleiche Auszeichnung zu theil geworden. 
Er Hatte fid) vorhin der Ghefellichaft gegenüber ehr fühl und 
ſchweigſam benommen, jet zeigte er, daß er mit feiner Unter: 
num feſſeln konnte, wenn es ihm wirklich darauf ankam zu 
fejleln. 

Er ſprach freilich von Ländern und Veenfchen, die im weiter 
Ferne lagen, aber ſie ſchienen lebendig zu erftehen vor den Mugen 
feiner Zuhörerin. Er jcdilderte den Zauber der Fidlichen 


„Sie und Herrn Waltenberg. Sie waren ja in jo lebhafter 
| Unterhaltung und wir würden fehr bedauern —“ 

Statt aller Antwort ergriff Erna die Hand ihrer Koufine 
und zog fie an ihre Seite. 

„Du Haft vecht, Alice, Du mußt Dich) erholen; es iſt 
ſelbſt für ftärkere Naturen, als Du es bift, eine Aufgabe, der 
Mittelpunkt eines folchen Feſtes zu fein.” 

„Ach wollte mich nur auf einige Minuten zurüdziehen,“ 
fagte Alice, die in der That etwas angegriffen ausſah. „Aber 
wir ſcheinen wirllich geitört zu haben; Herr Waltenberg war 
mitten in einer gewiß ſehr intereffanten Schilderung und bradı 
| plöglich ab, als wir eintraten, “ 

Ich ſprach von meinem Teßten Aufenthalt in Andien,” er 
| Härte Waltenberq, „und ich habe die Gelegenheit benupt, Baroneß 
Thurgau eine Bitte vorzutragen, die ich aud an Sie richten 
möchte, gmädiges Fräulein. ch habe im Laufe der zehn Jahre, 
die ich fern von Europa zubrachte, eine Menge fremdländifcher 
Schätze geſammelt. Sie wurden gelegentlich nach Haufe gefandt 
und jegt ijt ein fürmliches Mujeum daraus geworden, das ic) 
eben von kundiger Hand ordnen und aufitellen laſſe. Darf ich 
mir einmal den Beſuch der Damen erbitten? Selbſtverſtändlich 


Ich glaube Ihnen manches 
Intereffante zeigen zu können.“ 


„Ich fürchte nur, dag meine Zeit es nicht erlauben wird, 
Ihrer freundlichen Einladung zu folgen,” entgegnete Elmhorſt mit 
einer Artigleit, die etwas Cifiges hatte „Sch habe nur mod 
einige Tage zur Verfügung bis zu meiner Abreiſe.“ 

„Sie wollen abreifen? So kurz nach Ihrer Verlobung?” 

„Ich muß, denn ich lann bei dem jepigen Stande unjerer 
‚ Arbeiten feinen längeren Urlaub in Anfpruc nehmen.” 

„Sind Sie damit einverftanden, gnädiges Fräulein?” wandte 
ſich Waltenberg an Alice. „Ach jollte meinen, die Braut hat in 
ſolchem Falle doch das erſte Recht.“ 
„Das erſte Recht bat die Pflicht, 
meinen Augen wenigſtens.“ 

„Nehmen Sie es ſo ernſt damit — auch jetzt noch?“ 

Wolfgangs Augen blitzten auf, er verſtand dies „auch jetzt 
noch?“ und verſtand auch den Blick, der dem ſeinigen begegnete; 
er hatte ihn ja erſt vor wenigen Stunden in einem andern Antlitz 
geſehen. Der ſtolze Mann biß die Zähne zuſammen; zum zweiten 
Male wurde er heute daran erinnert, daß er für die Geſellſchaft 
nur der „fünftige Gemahl von Alice Nordheim” war, der fid) 
mit dem Gelde feiner Braut von jeder übernommenen Verpflichtung 
lostauſen Tonnte, 


„Für mich iſt jede Wilicht eine Ehrenſache,“ 





Herr Waltenberg — in 


erwiderte 


er kalt. 


Ja, wir ia find Fanatifer der Pflicht,“ ſagte Walten- 
berg nachläſſig. „Ich habe dieje nationale Eigenthimlichteit 
einigermaßen abgelegt in der Fremde, D mein gnädiges 





Kalter Bilhelm 11. auf dem Exerzierfeldr. 
Driginalzeichnuug von 5. Wittig. 





Fräulein, Schon wieder dieſer ftrafende Blick! 
noch unmöglich machen bei Ihnen mit meiner unjeligen Auf 
richtigkeit; aber bedenken Sie, dah ich aus einer ganz anderen 
Welt komme und nad) europäiſchen Begriffen gänzlich ver- 
wildert bin.” 

„In Bezug auf Ihre Anfichten ſcheinen Sie das allerdings 


! 


zu fein,“ verjeßte Erna jcherzend, aber doch mit einiger Schärfe. | 


Er lächelte, und fid) auf die Yehne des Divans ſtũtzend, 
beugte er fich tiefer herab. 

„a, ich muß erſt twieder zum Menſchen und braven Deut- 
fchen erzogen werden. Vielleicht nimmt fich ingend jemand barm— 
herzig meiner an. Glauben Sie, daß es der Mühe lohnen 
würde ?* 

„Alice, Hältft Du es wirklich aus in dieſer ſchwülen, er- 
ftidenden Temperatur?” fragte Wolinang mit faum  verhehlter 
Ungeduld. „Ich fürchte, fie iſt Div nachtbeiliger als die Hitze in 
den Sälen.“ 


„Aber dort ift ein ſolches Gewühl von Menſchen,“ warf 


Alice ein. „Bitte, Wolfgang, laß uns noch bleiben!“ 

Er preßte die Lippen zufammen, 
deutlich Fund gegebenen Wunfche feiner Braut nichts anderes thun 
als ſich fügen. 

„Es iſt Tropenfuft,“ fagte Waltenberq achſelzucend. 

„Ja wohl! Erdrückend und eninervend für jedes Weſen, 
das gewohnt ift, frei zu athmen.“ 


490 > 
Ich werde mic den Lippen; aber auch Erna fah das und fam ihm zuvor, indem 


fie dem Gefpräh raſch eine andere Wendung gab. 

„Ach fürchte wirklich, mein Onkel muß es aufgeben, Sie 
wieder bei uns heimiſch zu machen,“ fagte fie. „Sie find fo 
verloren in den Zauber Ihrer Tropenwelt, daß Ahnen im der 
Heimath alles Hein und dürftig ericheint. Ich alaube, nicht ein 
mal unſere Bergwelt vermag es noch, Ihnen Bewunderung ab 
zugewinnen; da aber finden Sie in mir eine entichiedene Gheanerin.“ 

Waltenberg wandte ſich zu ihr; er mochte ihre Abſicht er 
ralhen und wohl felbft fühlen, daß ex zu weit gegangen war. 

„Sie thun mir unvecht, mein Fräulein,“ erwiderte er. „Ich 
habe fie noch wicht vergeflen, die heimiſche Alpenwelt mit ihren 
bochragenden Gipfeln, ihren tiefblauen Seen und — ben holden 
Gejtalten der Sage, die fie bevöltern; dieſe Erfcheinungen,“ 
hier verichleierte fich feine Stimme, „wie aus Tuft und Alpen 
schnee gewoben mit der weißen, märchenhaften Blume der Gewäſſer 
in den blonden Locken!“ 

Das Nompliment war kühn; 


aber die Art, wie «3 gefagt 


wurde, nahm ihm das Berwegene und die Augen des Mannes 


fonnte aber bei dem fo | 


Die Aeußerung Hang beinahe ſchroff, aber der, dem fie galt, | 


schien es wicht zu bemerken; fein Auge hing noch immer an Erna, 
während er erwiderte: 

„Die Palmen und Orchideen fordern fie doch! Sehen Sie 
mar, gnädiges Fräulein, fie entzüden das Auge jelbit hier in der 
Gefangenichaft. In der mächtigen Tropenwelt, wo jie in voller 
Freiheit aufragen und ranfen, it der Anblick ein überwältigender.“ 

„Ia, fie muß ſchön fein, diefe Welt!“ fagte Erna leiſe und 
ihr Blick irrte träumerijch über die fremdartige Blüthenpradht hin, 
die ringsum aus dem Grün bervorleuchtete und den ganzen 
Wintergarten erfüllte mit ihrem fühen, 

„Sie waren lange im Drient, Herr Waltenberg ?” fragte 
Alice in ihrer kühlen theilnahmlofen Art. 


aber befäubenden Duft. | 


„Jahrelang, aber ich bin fo ziemlich in allen Welttheilen zu | 


Haufe und kann mich rühmen, ſogar bis in die Tiefen von Afrika 
eingedrungen zu jein.” 

Wolfgang wurde aufmerkſam bei den Iehten Worten. 

„Als Deitglied einer wiſſenſchaftlichen Erpedition vermuth: 
lich?“ warf er bin. 

„Nein, das hat für mid) nie einen Reiz gehabt. ch haſſe 
nichts jo jchr als den Zwang, und bei ſolchen Unternehmungen 
tann man nicht feine perfönliche Freiheit wahren. Man ijt ae 
bunden an das Reifeziel, an die Befährten, an alles Mögliche, 
und ich bin es gewöhnt, 
folgen.” 

„Ah jo!" Um die Lippen Wolfgangs fpielte ein halb ver- 
üchtliches Lächeln. „Ach bitte um Werzeihung; ich glaubte 
wirklich, Sie feien als Pionier der Wiſſenſchaft nach Afrika ge— 
gangen.“ 

„Mein Gott, wie ernſthaft Sie das alles nehmen, Herr 
Elmhorſt!“ jagte Waltenberg ſpöttiſch. „Muß denn jedes Leben 
nothgedrungen eine Arbeit fein? Ach habe niemals gegeizt nad) 
dem Ruhm des Forſchers; ich Habe die Freiheit und Schönheit 
der weiten Welt in vollen Zügen getrunfen und mir immer neue 
Kraft und neue Jugend geſchöpft aus diefem ZJauberquell, Wenn 
ih anfangen ſollte, ihn nugbar zu machen, wäre jeine Poeſie für 
mich dahin,“ 

Elmhorſt audte die Achſeln und im einem anscheinend gleich: 
güftigen Tone, in dem ſich nleidnvohl eiwas Verletzendes barg, 
entgegnete er: 

„Sebdenfalls eine ſehr bequeme Art, ſich das Leben einzu: 
richten! Mein Geichmad wäre es troßdem wicht, und es iſt 
wohl überhaupt nur den wenigſten möglid. Mau muß Dazu 
nothwendigerweiſe im Schoße des Reichthums geboren fein.“ 

„So unbedingt nothwendig iſt das wicht," gab Waltenberg 
ebenſo zuriid. „Man kann ja auch durch irgend einen Glücksfall 
reich werden.“ 

Wolfgang vichtele ſich empor mit einen fo tief gereizten 
Yusdiud, dap mau jah, er halle eine ſehr ſcharſe Autwort auf 


ſtrahlten auf in Teidenichaftlicher Bewunderung, als fie an ber 
weißen, wie in Schneeduft gebüllten Gejtalt des jchönen Mädchens 
hingen. 

„Nice, Haft Du Dich jetzt erholt?“ fragte Wolfgang laut. 
„Wir dürfen uns heute wirklich nicht jo lange der Gejellichaft 
entziehen; lomm, lab uns in den Saal zurüdtehren!“ 

Die Worte Hangen beinahe befehlend; Alice erhob ſich 
folgſam und legte ihren Arm in den jeinigen, fie verließen in 
der That den Wintergarten. 

„Herr Elmhorſt Scheint eine bedeutende Anlage zum Befehlen 
zu haben,“ ſagte Waltenberg farfaftiih, indem er ihnen nad) 
blidte. „Der Ton hatte ſchon etwas von dem künftigen Deren 
und Gebieter, und das am Verlobungstage! Ich finde, Fräulein 
Nordheim hat eine in mehr als einer Hinſicht überraſchende Wahl 
getroffen.” 

„Alice ijt eine jehr janfte, fügſame Natur,“ bemerkte Erna 
einfilbig. 

„Um fo ſchlimmer! Ihr Berlobter ſcheint gar nicht das 
Bewußtjein zu haben, daß dieſe Verbindung allein ihm zu einer 
Stellung erhebt, auf die er periönlich wohl nie hätte Anspruch 
machen lönnen.“ 

Die junge Dame hatte ſich erhoben und war zu einer 


‘ Pilanzengruppe getreten, deren ſchwere, purpurtarbene Blüthen 


darin nur meinem eigenen Willen zu | 


aus dunklem Grün niederhingen. Erſt nach einer jelundenlangen 
Pauſe erwiderte jie: 

„Ich glaube, Wolfgang Elmhöorſt iſt nicht der Mann, der 
ſich ‚erheben‘ läßt.“ 

„Und weshalb hätte er denn ſonſt — Verzeihung, ich möchte 
feinen Vorwurf gegen Ihren künftigen Verwandten ausiprecen.“ 

Erna antwortete wicht und er ſchien ihr Schweigen als eine 


' halbe Zuſti m mung zu betrachten, denn ev fuhr ernſter fort: 


„Glauben Sie, daß bei diejer Bewerbung ideale Gründe 

maßgebend ivaren?“ 
„Nein!“ 

Das Wort Fam eigenthümlich Herb von den Lippen bes 
Mädchens, aber das Autlig jenkte ſich noch tiefer herab auf die 
Burpurblumen. 

„Das iſt and) meine Anficht und damit fteht mein Urtheil 
über Herrn Elmborjt feſt. — Bitte, mein Fräulein, athmen Sie 
nicht jo unausgejeht den Duft dieſer Blüthen ein; ich kenne ihn, 
er iſt beranichend, aber tüdiich und wird Ihnen Kopfſchmerz zu 
ziehen, jeien Sie vorſichtig damit,” 

Erna richtete ſich empor und fuhr mit der Hand über die 
Stirn, 

„Sie haben recht,“ Tante fie mit einem tiefen Athemzuge. 
„Es iſt wohl überhaupt Zeit, daß wir zu der Gefellichaft zurück 
fehren — ich bitte, Herr Waltenberg!“ 

Er ſchien nicht ganz damit einveritanden zu jein, bot ihr 
aber mit voller WArtigfeit den Arm und führte fie in die Zäle, 


| wo die Gejellichaft noch vollzählig beijammen war. 


An einer Ede ſaß der Oberregierungsrath mit feinem 
arimmigen Vaterzom und mil Frau von Yasberg, die es ſich 
angelegen jein fieß, das Feuer noch zu ſchüren. Sie hatte durd) 
Nachfrage bei der Diemerichaft feſtgeſtellt, daß die Tiſchlarten in 
der Ihat vertaufcht worden waren, und ließ ihrer Empörung 


darüber freien Yauf. Sie ſprach in leifem, aber nacdhdrüdlichem 
Tone anf den unglüdlichen Vater einer ſolchen Tochter ein und 
ichloß ihre Rede endlich mit der vernichtenden Erklärung: 

„Mit einem Worte — ich erlaube mir das Benehmen des 
Doftors empörend zu finden!“ 

„Sa, es iſt empörend!" murmelte Ernſthauſen wiüthend. 
„Und dabei ſuche ich Wally ſeit einer halben Stunde, um mit 
ihr nach Hauſe zu fahren, und lann ihrer nicht habhaft werden — 
es iſt ein ſchredliches Kind!” 

„Ich Hätte ihre den Beiuch des Feſtes unter feiner Bes 
dingung geitattet,” eiferte die alte Dame. „Ich erflärte der Frau 
Baronin jhon damals, als fie mir ihr Herz ausfchüttete, daß fie 
energiiche Maßregeln erareifen müſſe.“ 

„Das haben wir ja bereits gethan,“ verficherte Ernſthauſen 
verzweiflungsvoll, „aber es half nichts, Meine Frau hat fchon 
Migräne von all dem Aerger, und das pflegt bei ihr tage- 
lang auzubalten! ch bin duch mein Amt in Anipruch ae 
nommen — ter foll da diefen Irrwiſch hüten und all feine 
tollen Streiche pariren?“ 


41 + 


wiefen. Sie gejtatten aber wohl, daß ich Sie nicht im Mini— 
fterium, fondern in Xhrer Wohnung aufſuche, da ich noch eine 


‘ Brivatfache mit Ihnen beiprechen möchte.” 


„Schiden Sie Bally aufs Land zu dem Großontel,“ vieth | 


Frau von Lasberg. „Da ift fein perfönficher Verkehr mit Gersdorf 
möglich, und wie ich den alten Baron kenne, wird er auch einen 
Briefwechiel zu verhindern willen.“ 

Der Oberregierungstath jah aus, als jei plögfich ein Licht: 
ftrahl in die Finiterniß feiner Seele gefallen; er ergriff den Vor: 
ſchlag mit einer förmlichen Begeifterung. 

„Das ift eine Idee!“ rief er. „Sie haben recht, gnädige 
Frau, volltommen xecht! 
in den nächften Tagen, ſchon übermorgen. Er war ja außer ſich 
über die Sache und wird jebenfalld der befte Hüter fein; ich 
Schreibe ihm aleich morgen jrüh.“ 

Er war fo erfüllt von diefem Gedanken, daß er fchleunigit 
aufbrach und von neuem verjuchte, feiner Tochter habhaft zu 
werden, aber das war ein fchiwieriges Unternehmen. Er hätte 
ebenfo leicht einen Schmetterling fangen fünnen; denn Wally ent 
twidelte ein unglaublices Talent, gerade dann zu verichwinden, 
wenn der Vater fie endlich zu Geficht befam. Ernſt Waltenberg, 
der ja auch zu den Eingeweihten gehörte, wurbe zweimal als 
Bligableiter dem nahenden Ungewitter entqegengejtellt und mußte 
es mit feiner Unterhaltung ableiten, Inzwiſchen tauchte die feine 
Baroneß umter in irgend einer plaudernden Gruppe und famı an 
einer ‚ganz anderen Stelle wieder an die Oberflädie. Sie ſchien 


Der Baron konnte Teider nicht im Zweifel fein über dieſe 
Privatfahe; da er aber den Nuriften in diefer Eigenfchaft noth— 
gedrungen empfangen mußte, fo richtete er fich in feiner ganzen 
Vornehmheit auf und antwortete kühl: 

„Webermorgen um fünf Uhr Nachmittags ftehe ich zu Ihren 
Dieniten.” j 

„Ich werde pünktlich fein,“ verficherte der Doktor, fich mit 
einer Berbeugung von Wally verabfchiedend. Diefe fand cs num 
endlich fir qut, ſich der väterlichen Gewalt zu fügen und ſich 
fortführen zu faffen; aber draufen auf der Treppe erffärte fie mit 
voller Energie: 

„Papa, übermorgen laſſe ich mich aber nicht wieder einfperren. 
Ich will dabei fein, wenn man um meine Hand wirbt.” 

„Uebermorgen bift Du bereits auf dem Lande,” verfeßte 
Ernfthaufen mit Nahdrud. „Du fährst mit dem erjten Zuge; 
ich bringe Dich der Sicherheit wegen felbft auf die Bahn und 
an der Station nimmt Dich der Öroßonfel in Empfang, bei dem 
Du vorläufig bleiben wirft.” 

Wallys Köpfchen fuhr ganz entfegt aus der weißen Kaputze. 
Einen Moment lang war fie ſprachlos; dann aber nahm fie eine 


' äußerft friegerifche Stellung an. 


Wally foll zu meinem Onfel, chen 


„Das thue ich nicht, Vapa! Ich bleibe nicht bei dem 
Grohontel; ich laufe davon, zu Fuß laufe ich mad) der Stadt 
zurück!“ 

„Das wirſt Du bleiben laſſen,“ ſagte der Oberregierungs— 
rath. „Ich dächte, Du fennteft den alten Herrn und feine Grund 
füge. Du biſt nad feinem Tode eine Partie erjten Ranges, 
merle Dir das!” 

„ch wollte, der Großonkel reiſte nach Monaco und ver- 
fpielte dort all fein Geld," ſchluchzte Wally zornig, „oder er 


| adoptirte ein Waifentind und vermachte ihm fein ganzes Ber: 


die ganze Geſellſcheft als eine Verfammlung von Schupgeiitern 


zu betradyten, die jie je nach Bedarf verwendete, und fogar der 
Deinifter, der hohe Chef ihres Vaters, der gleichfalls antvefend 
war, mußte jich in diefer Eigenichaft benußen laſſen. 

Sie Hlüchtete ſchließlich zu Seiner Ercellenz und Hagte in 
beweglichen Worten, daß der Papa durchaus ſchon nach Haus 
fahren wolle, während jie noch fo gern bliebe. Der alte Herr 
nahm fofort Partei für das reisende Kind, umd als der Ober: 
regierungsrath auftauchte und ſich mit einem arollenden „Wally, 
der Wagen wartet!” der jungen Dame bemächtigen wollte, fiel 
ihm jener freundichaftlicd in die Nede: 

„Zahlen Sie ihm warten, lieber Geheimrath. Dean darf der 
Jugend ihr Recht nicht verfümmern und ich habe der Baronef 
—— Fürſprache einzulegen. Sie bleiben noch, nicht 
wahr?“ 

Ernſthauſen mwüthete innerlich, während fein äußerer Menſch 
fich böflich zuftimmend verbeugte;: als Anerkennung dafür ver- 
widelte ihn der Chef in ein fehr eingehendes Geſpräch und gab 
ihn erſt nad einer Viertelitunde frei. Jetzt aber fannte der 
Baron feine Rüdficht mehr; er brach geradezu ein in das feindliche 
Lager, wo feine Tochter höchit vergnügt zwiichen Waltenberg und 
Gersdorf Stellung genommen hatte. 
mit voller Artigkeit entgegen. 

„Herr Oberregierungsrath, ich wollte mir erlauben, Sie 
morgen oder übermorgen aufzufuchen. Darf ich bitten, mir irgend 
eine Stunde zu beftimmen?“ 

Ernſthauſen warf ihm einen vernichtenden Blick zu. 

„Ich bedaure, Herr Doktor, dringende Geichäfte — * 

„Ganz recht, davon wollte ich eben mit Ihnen reden,“ fiel 
Gersdorf ein. „Es handelt fi um eine Angelegenheit der Bahn: 
geſellſchaft, deren juriftiicher Vertreter ich bin, wie Sie ja willen; 
und Seine Excellenz der Herr Minijter hat mid) an Sie ge: 


Da trat ihm der Doktor | 


mögen.“ 

„Kind, um Gotteswillen, was haft Du für entjegliche Ein» 
fälle!” rief Ernſthauſen erſchroden; aber die Heine Baronch fuhr 
in voller Empörung fort: 

„Dann wäre ich feine ‚Partie mehr und dann könnte ich 
Albert heirathen. — Ach will alle Tage beten, daß ber Srofi: 
onfel solch einen dummen Streich macht, troß feiner ſiebzig 
Jahre !" 

Damit iprang fie, noch immer fchluchzend, in den Wagen 
und warf ſich in die Polfter, Der Vater folgte ihl, aber er 
murmelte verzweiflungsvoll: 

„Ein jchredliches Kind!“ 

Droben in den Feſträumen begann es allmählich leerer und 
jtiller zu werden. Giner nach dem andern verabfchiedete ſich, bis 
endlich der Bräfident, der ſoeben die legten Säfte entlafien hatte, 
fich allein mit Wolfgang in dem großen Empfangsfaale befand. 

„Waltenberg hat uns eingeladen, jeine Reiſeſammlungen zu 
beſichtigen,“ fagte er. „Ich werde dazu ſchwerlich Zeit haben, 
aber Du —“ 

Ich noch weniger,“ fiel Elmhorſt ein. „Die drei Tage, 
die ich überhaupt noch zur Verfügung babe, find ſchon vollauf 
in Anſpruch genommen.“ 

„Ich weiß, aber Du wirit troßdem Alice begleiten müſſen; 
fie und Erna haben bereits zugeſagt, und ich wünſche überhaupt 
nicht, daß dieje Einladung abgelehnt wird.” 

Wolfgang ſtutzte und ſah feinen fünftigen Schwiegerbater 
forſchend an, dann fragte er raſch: 

„Wer und was ilt diefer Waltenbera einentlich, Bapa? Du 
scheinst ihm mit einer ganz befonderen Rückſicht zu behandeln und 
doch tauchte er heute zum erjten Male in Deinem Haufe auf. 
Du kennſt ihn von früher ber?“ 

„Allerdings. Sein Vater war bei verichiedenen meiner 
Unternehmungen betheiligt. Ein tüchtiger, umiichtiger Geichäfts- 


‚ mann, der Millionen hätte verdienen fönnen, wenn er länger ge— 


lebt hätte. Leider hat der Sohn gar nichts geerbt von Dielen 
praktiichen Eigenichaften. Der zieht es vor, freuz und quer durch 
die Welt zu reifen und ſich bei allen möglichen wilden Völler 
schaften herumzutreiben. Nun, jein Vermögen erlaubt ihm ja 
dergleichen Ertravaganzen, und jeht verdoppelt es fich beinahe. 
Seine Fante, die einzige unvermählte Schweiter feines Vaters, it 


— | 


vor einigen Monaten geftorben und bat ihm gleichfalls zum Erben 
eingefeßt. Er ijt überhaupt nur zurüdgefommen, um diefe An— 
nelegenheit zu orbnen, und foricht fchon wieder von Davongehen — 
ein unbegreiflicher Menſch!“ 

Der Ton, in welchem Nordheim von dem Manne ſprach, 
den er fo auszeichnete, verrielh, daß er perſönlich gar feine 
Syympathie für ihn hegte, und Elmhorſt ſchien in dem gleichen 
Falle zu fein, denn er ftimmte jofort ein: 

Ich finde ihn unerträglih! Er ſprach ja bei Tiſche nur 
von feinen Reifen und in einer Art, als wolle er Vortrag bar: 
über haften. Man hörte nur von ‚blauen Meerestiefen‘, von 
hochragenden Palmen und träumeriſchen Lotosblumen‘ — ed war 
faum mehr zum Wushalten! Fräulein von Thurgau allerdings 
ſchien ganz Hingerifien davon zu fein. Offen gejtanden, Papa, 
ich fand, daß diefe poetifch orientalische Unterhaltung viel zu ver 
traulid war für den erjten Tag der Belannifchaft." 

Die Worte follten jarkaftiich fein, aber es barg ſich eine 
nur mühſam verhehlte Gereistheit dahinter. Der Präftvent bes 
merkte das jedoch nicht, ſondern erwiderte ruhig: 

„In diefem Falle Habe ich gegen die Vertraulichkeit durchaus 
nichls einzuwenden, ganz im Gegentheil." 

„Das heißt — Du haft eine beftimmte Abſicht mit den beiden?” 

„Gewiß,“ veriehte Norbheim, etwas verwundert über Das 
Haſtige. Gepreßte Diefer Frage. „Emma ift neunzehn Jahre; man 
muß jest ernſtlich am ihre Vermählung denfen, und ich habe als 
Berivandter und Vormund die Pilicht, fie möglichft gut zu ver— 
jorgen. Das Mädıhen wird ja unendlich gefeiert in der Gefell: 
fchaft, aber mit einem wirklichen Antrage hat fich ihr noch feiner 
genaht, fie iſt eben feine Partie * 

„Mein, jte ift feine Partie!” wiederholte Wolfgang wie mechns 
niſch und dabei richtete ſich jein Blick auf das Ncbenzimmer, wo 
die Damen noch weilten, 
ftand dor ihr; die Thüröfimung innſchloß wie ein Rahmen die 
fchlante, weiße Geſtalt. 

„Ich kann das den Männern nicht verdenlen,“ fuhr ber 
Präſident fort. „Ernas einzines Erbtheil find die paar taufend 
Mark, die für den Moffenfteiner Hof aezahlt wurden, und wenn 
ich meiner Nichte auch felbftoerktändlich eine Ausſtener mitgebe, 
jo iſt das doc fo gut wie nichts für einen Mann, der gewohnt 
ist, Anſprüche an das Leben zu machen. Waltenberg braucht 
nicht auf Vermögen zu fehen; ex ift felbit reich, ams gutem Haufe, 
lurz, eine glänzende Bartie. Ich habe fofort nach feiner Rücklehr 
den Plan gefaht, und ich denle, die Sache wird ſich machen.” 

Er ſetzte das alles jo fühl und geihäftsmäahig auseinander, 
als ob es ſich um eine neue Spekulation handle. 


492 


fr 


war bie „Berforgung” feiner Nichte ja auch nur ein Geſchäft für 
ihn, ebenfo wie die Verlobung der eigenen Tochter. In dem 


‚einen Falle wurde Vermögen, in dem andern Intelligenz einge: 


Alice ſaß auf dem Sofa und Erna | 


Sm Grunde | 


taufcht für die Hand de jungen Mädchens, und Nordheim konnte 
ſich auch ganz rüdhaltlos darüber ausfprechen acgen jenen fünf- 
tigen Schwiegerſohn, der genau auf bemfelben Standpunkte ftand 
und nach denselben Grundſätzen gehandelt Hatte. In biefem 
Augenblicke aber Tag eine eigenthümliche Bläffe auf dem Gh 
jichte des jungen Mannes, und es war ein feltfamer Nusdrud, 
mit dem feine Augen an jenem Bilde hingen, das fich noch 
immer in der Thiröffnung zeigte, vom helliten Kerzenglanze 
umfloften. 

„And Du glaubt, daß Fräulein von Thurgau einverftanden 
if?" fragte er endlich Tanafam, ohne den Blick abzuwenden. 

„Sie wird do nicht die Närrin fein, ein ſolches Glück 
von ſich zu ſtoßen! Freilich, das Mädchen ift unberechenbar 
in feinen Launen, ſtarrſinnig wie der Water und in manden 
Punkten gar nicht zu regieren. Wir beide paflen überhaupt 
wicht zufammen, das zeigt ſich oft genug, aber diesmal, denke 
ich, werben wir übereinftimmen Ein Mann wie Waltenberg 
mit all feinen egcentrifchen Neigungen iſt grabe nach dem Ge— 
ſchmack Ernas. ch glaube, fie wäre im Stande, fein tolles 
Banderleben mit ihm zu theilen, wenn er fich nicht entichließen 
fann, es aufzugeben.“ 

„Warum denn nicht?" fagte Wolfgang herb. „Es ift ja 
fo ungemein poetiſch und interejfant, die Leben in der Fremde, 
ohne Beruf und Vaterland, Dan ift Iosgelöft von allen Pflichten ; 
man ſchwärmt und träumt unter ben Balmen und verträumt 
ſchließlich das ganze Leben im thatenlofen Genuß. Ach finde es 
erbärmlich, wenn ein Mann mit feinem Dafein nichts weiter on: 
zufangen weiß; mir wäre bas unmöglich!“ 

„Du ereiferft Dich ja förmlich,“ ſagte Nordheim, ganz er- 
ſtaunt über diefen heftigen Ausfall, „Du vergißt aber, daß 
Waltenberg von Haufe aus reich geweſen ift. Du und id, wir 
mußten arbeiten, um emporzufommen; fir ihn erifticte dieſe Noth 
wendigfeit nicht; er ftand von Anfang an auf der Höhe, und 
ſolche Menſchen taugen jelten für eine ernfte Thätigkeit.“ 

Er wandte ſich zu einem Diener, der foeben eintrat, und 
gab ihm noch einige Befehle Wolfgang ſtand finſter und un: 
beweglich da; feine Mugen hingen noch immer an jener weihen 
Geſtalt, an der Erſcheinung „wie aus Duft und Alpenſchnee ge 
mwoben, mit der märchenhaften Blume der Gewäſſer in den blonden 
Locken“, und unbörbar, aber mit dem Ausdruchk der tiefiten Bitter: 
feit murmelte er: „Ra, er ift reich — und darum Dat er das 
Recht, glücklich zu fein!“ (Fortfepung folgt.) 


Der Supnotismus, fein Außen und feine Gefahren. 


8. Per Bupnotismus in Pforzheim, ein Brifrag zur Gefchichte des hypnotifchen Unfugs in Deutſchland. 


Ks zweite Stadt in Deutichland mag wohl in Sachen des 
Hypnotismus fo zahlreiche und jo eigenartige Erfahrungen 
aufzumeifen haben ald Pforzheim, die mweltberühmte Stadt ber 
Goldwaareninduſtrie Man muß diefen am Ausgangspunkt dreier 
reizender Thäler des nördlichen Schwarzwaldes gelegenen, unge 
führ 25000 Einwohner zähfenden Ort mit feinem in mannigfadher 
Hinſicht orininellen Getreibe fennen, um verſchiedene Epifoden zu 
verſtehen, weldie das bier zum Sport gewordene Hnpnotificen 
im Verlauf des Jahres 1896 zeitigle. 

Schon dem flüchtig ſich hier aufhaltenden Fremden fällt 
Verichtedenes anf. Pforzheim iſt die erite Fabrikſtadt Badens, 
und doch entbehrt fie faſt ganz der rauchigen Schlote und bes 
rußgeichwärzten, kohligen Pflaſters. E3 bringt das der bier ge 
pflegte Fabrikationszweig der Edelmetallwanren mit ſich, weicher 
die Stadt mit den unſchönen Attributen anderer Fabrikorte ver: 


ichonte. Von einem der umliegenden Höhenpunkte aus betrachtet, | 


ericheint daher Pforzheim wie ein fchmudes, gutgepflegtes Land: 
jtädtchen mittleren Schlaget, Wenn man dagegen an den 
Wochentagen den Marttplat und einzelne Hauptſtraßen während 
der mittäglichen Arbeitspanfe betritt, Dann bringt einem das 
Sedränge de& hier fich jtauenden männlichen und weiblichen 
Arbeitervoffes, das der Hauptmaſſe nach unter der allgemeinen 
Sefammtbezeihmung „Bijoutiers“ und „Poliſſeuſen“ beariffen wird, 


eine ungefähre Borftellung bei von dem Arbeitsfleiß und der 
Betriebſamkeit Bforzbeime und jeiner Nachbarorte im zmeis bis 
breimeiligen Umkreiſe. Alltäglich mit Musnabme der Sonntage 
fommt früh mit dem Morgengrauen auf allen vom Lande herein 
führenden Zufahrtsitraßen eine nad) Hunderten zählende Schar 
von Arbeitern und Arbeiterinnen verichiedenen Alters der Stadt 
zugejchritten, von der Menge abgeſehen, die in Pforzheim jelbjt 
wohnt oder mit verichiedenen Zügen von den Vororten herein 
fährt. Diele Scharen find es, die über Mittag auf Markt umd 
Straßen unter lebhaftem Gedanlenaustauſch friiche Luft ichöpfen 
und abends wicher dem ländlichen Heim mit cbenfo  ciligen 
Schritlen zupilgern, wie fie morgens ankamen. 

Eine zweite Abſonderlichleit bietet Pforzheim in feinen 
„Tigern“. Kommt man morgens ziemlich früh an ben größeren 
Gaſthänſern vorbei, dann wandert man ſich über die Schar bier 
wartender Herren, die als Zeichen ihres „Zigertbums” einen zier- 
lihen Wufterfoffer bei fich führen. Dieſe Herren find dazu be- 
ftimmt, den aus aller Welt eintreffenden Großhändfern von 
Schmuckwaaren in den Safthäufern, wo diejelben ihr Abfteigequartier 
genommen haben, den verlodenden, blinfenden Anhalt der Mufter- 
koffer vorzulegen und möglichſt umfangreiche Bejtellungen für 
die Heren Prinzipale entgenenzunchmen. Dieſes im Grunde ges 
nommen wenig blutdürſtige Geſchäft hat den aus dem Hinterhalt 


— 1 


auf Beftellungen Jagd machenden, meift jüngeren Herren die ges | feiner Kunftfertigfeit gelangt. An demjelben Abend, da Geo Schmibt 
radezu offiziell gewordene Bezeichnung der „Tiger” eingebracht. | in einem gefelligen Vereine Pforzheims eine Abendunterhaltung 
Nicht felten Tieft man wenigitens im Änzeigetheil biefiger Blätter, | gab, befand fi Here W. im Kreiſe verichiedener Bekannten im 
daß von diefer oder jener Firma „ein getwandter Tiger“ gejucht Wirihshaufe Das Geſpräch drehte ih ausihliehlih um den 
werde. Mitunter „tigert“ übrigens der Here Prinzipal ſelbſt, Hypnotismus und die Frage, ob diefe Verſuche wohl aud von 
namentlich, wenn er noch jung und Anfänger ift. andern angeftellt werben fünnten. Man beſchloß, das alsbald 
Doch ich wollte ja vom Hypnotismus erzählen und von den | feftzuftellen, und begab fich zu dem Zweck in das Nebenzimmer, 
Wundern, die derfelbe vorvergangenes Jahr hier gewirkt. Al ı wo einige junge Arbeiter als Berfucsperfonen dienen follten. 
Hanſen im Anfang der acht⸗ Nocd bevor es fo weit 
ziger Jahre Deutjchland bes 5 ö - fam, drängte ſich die Kelle 
reifte, fam er aud nad) nerin troß wiederholter Ab⸗ 
Pforzheim und gab hier eine weifung heran und vers 
Vorſtellung, die zwar wie fangte immer dringender, 
überall Aufſehen erregte, aber bupnotifirt zu werden, wor: 
ohne weitere Folgen blieb. auf fchließlich Here W. uns 
Da fam am 29. April 1886 muthig die Zubringliche Platz 
ein neuer Apoftel vom blin- nehmen hieß und einige 
tenden Glasknopf, und dies Striche über deren Haupt 
jem gelang es, halb Pforz— mit den Händen beſchrieb, 
heim auf den Kopf zu ſiel⸗ wie er es bei Hanfen und 
len. Es war ein Stuttgarter Schmidt gefehen hatte, Der 
Frifeur, ein Here Georg Erfolg war ein ganz über: 
Schmidt, ber da bei irgend rafhender; denn das Me: 
einer Gelegenheit die Erfahs dium verfiel alabald in tich- 
rung gemacht hatte, daß ihm ften Schlaf und theilweiſe 
die gleiche Fähigkeit inne— fataleptifche Starre, einen 
wohne wie weiland Herrn Zuftand, den feiner der An: 
Hanjen. Herr Schmidt, der weſenden zu heben vermochte. 
auch in der That nicht ohne Der um Hilfe erſuchte Geo 
Gewandtheit und Eleganz Schmidt ſchickte zumächit ſei⸗ 
erperimentierte, reiſte im nen Seichäftsführer. Diefer 
Lande umher und gab aufer: verordnete, al3 die gewöhn⸗ 
ordentlich bejuchte Vorſtel⸗ lichen Belebungsmittel nicht 
tungen. Er kürzte nad) bes anichlugen, Champagner, von 
rühmten Muftern* feinen weldhem der Bewußtlofen 
Vornamen in „Geo“ ab, eingeflößt wurde, Da fie 
und als Geo Schmidt fam aber wegen gänzlicher Starre 
er auch nach Pforzheim, wo unfähig war zu ſchlucken, 
er in ziemlich ſchneller Folge fo mußte man das pridelnde 
5 bis 6 öffentliche „magnes Naß einftweilen ſelbſt trinfen 
tiihe Soireen“ abhielt. Es und auf den Meifter warten. 
ging da alles wie bei Hanfen Als diefer endlich angelom⸗ 
zu, nur lieh Herr Schmidt men war, gelang es ihm 
feinen Berjuchen einen von nach längerer Zeit, das 
feinem Gejchäftsführer vers Medium zu erwecken, wel: 
fefenen, ziemlich monotonen ches indeß nunmehr in ſechs 
Vortrag vorausgehen, in unddreißigftündigen, umuns 
welchem von dem „geheime terbrochenen Schlaf verfiel, 
nifvollen Fluidum“ die Rede dem es fich im ftädtifchen 
war, das den Händen und Kranfenhaufe in aller Muße 
Augen des Meijters ents bingeben durfte. Nunmehr 
ftröme und fo wunderbar zu ihrem Brotherrn zurück⸗ 
auf empfänglihe Perſonen gelangt, erblidte die Kell 
einwirte. Mit einem Wort, nerin abends Herm W. und 
Geo Schmidt vertrat den verfiel ohne deſſen Zuthun 
längst überroundenen Stand» wieder alabald in Hupnofe, 
punkt des „thieriichen Mage welche auch mit längerem 
netismus* und wirkte auf 1 nn - Schlaf endete, ein Vorgang, 
viele Köpfe nicht aufllärend, der ſich nod) ein zweites Mal 
fondern verwirrend. Anfangs gab er auf eigene Kauft jeher wiederholt haben full, was die Dame veranlaßte, ſich ein ander: 
befuchte Vorftellungen bei ziemlich hohen Eintrittspreifen; ſpäter weitiges Feld für ihre bierfpendende Thätigfeit auszufuchen. 
wurde er von verjchiedenen Vereinen angeworben. Das Ganze : Herr W. aber, der nunmehr auch die Methoden des kunftgerechten 
bewegte jich nämlid damals noch in ziemlich harmlojen Bahnen Erweckens bei ſchwierigeren Fällen erlernt Hatte, machte bald 
und etwaige ſchädliche Folgen vermochte nod) niemand voraus: darauf alle Verſuche des Meifters und noch zahlreiche andere, 
zujehen. die fogar Geo in Erſtaunen gefcht haben würden. Da nun 
ebenfalls erregten Schmidts Verfuhe allfeitig das höchſte Here W. feine Schönen Verſuche in Vereinen und Privatfreifen 
Anterefie. Wie erftaunte man aber, als gegen Ende Mai die | mit unerfhöpflicher Bereitwilligkeit ohne Entgelt zum Beften gab, 
Nachricht durch die hiefigen Blätter ging, daß ein jüngerer Pforzs | jo wäre für Herren Schmidt die ſchöne Hiefige Einnahmequelle 
heimer Fabrilant, Here W,, jene Verſuche mit ‚ineifelfofem Erfolge | verfiegt, felbft wenn ihm nicht ohnehin das Piorzheimer Bezirks— 
nachzuahmen verfucht und ſchließlich Meifter Geo vollftändig über- amt in Nüdficht auf verſchiedene Vorlommniſſe die Genehmigung 
teoffen habe! Herr W. war in eigenthümlicher Weile zur Kenutniß | zu weiteren öffentlichen Borftellungen verweigert hätte, ein 
= fehr eg Einfchreiten, dem fi) bald ein Gheneralverbot 

PR ; „Theo“ öhnlicher Produltionen für ganz Baden anſchloß. Es durfte von 
— Hauptnebenbuhler wat damald der Magnetifeur „Theo | da ab mıic noch in gefejloffenen Gefelifchaften Ahpnotifirt werben, 


1888 63 





—o 


494 


o— 


von welcher Freiheit in Pforzheim in ungeahnt ausgicbiger Weife | ohne Sefährden Plaß, wurde dagegen, nachdem es fpäter den Sitz 


Gebrauch gemacht twurbe. 
Herr W. 
den Pforzheims Mauern bargen. 
verfchiedener Herren arbeiteten, wenn auch mit weit Weniger 
Glück und Geſchick, in ganz gleicher Weiſe. Das machte in 


Schr bald zeigte ſich nämlich, daß gewechſelt Hatte, 
nicht der einzige Musübende in dieſer Kunſt war, | mit jtarren Untergliedmahen. 
Mindeitens ein halb Dubend | 


der Stadt begreiflihes Aufſehen und reiste Groß und Klein 


zu Berfuchen, für welche mamentlich das jüngere Wolf der 
Bijoutiers und Lehrlinge ein überaus leicht zugängliches Material 
darbot. So fam cs denn, daß man hier nody nicht ein volles 
Vierteljahr nad) Geo Schmidts Auftreten die Hypnotiſeure zu 
Hunderten zählte. 

Gleichzeitig damit trat die Sache noch nad einer anderen 
Seite hin in eine neue Phafe. In Lofalberichten der hiefigen 
Blätter war bei Beiprechung der Schmidtichen Boritellungen zur 
Aufklärung bes Publitums auf das Irrige der Mesmeriſchen Lehre 
vom „thierifhen Magnetismus“ hingewieſen und die richtige, auf 
den Arbeiten von Braid, Weinhold, Heidenhain und anderen 
fußende phnfiologiihe Deutung der Hypnoſeerſcheinungen erörtert 
worden. Das lieh nun einige Heißſporne vom „magnetiichen 
Fluidum“ nicht ruhen, und es erichienen in der Lofalprefie mehr 


oder weniger geharmischte Verwahrungen, in denen Lanzen für 


den Lebensmagnetiämus und gegen die ungläubige Wiflenfchaft 
gebrochen wurden, die ſchon oft neue Wahrheiten anfangs aufs 
bejtigjte bejehdet habe. Die Folge war, daß zunächit alle weiteren 
Verſuche unter dem Feldgeſchrei „bie VBraid“, „bie Mesmer“ 


ſchaftlichen Vereins zu Pforzheim, hielt die Streitirage mit Recht 
für wichtig genug, um im Schoße des genannten Bereins behandelt 
zu werben. Er demonitrirte bem Berein in mehreren Situngen, 
theilweife vor zahlreichen geladenen Gäften, ſolche Berfuche, die 
fpeciell geeignet fein follten, über die Frage des Mesmerismus 
Licht zu verbreiten. Die intereffante, lebhafte Debatte führte zu 
einer ganzen Reihe von Kontrollverfuchen, aus denen mit immer 
größerer Klarheit die Nichtigkeit aller Tebensmagnetiichen Behaup— 
tungen hervorging. Das reizte indeß weitere Anhänger des 
Mesmerismus zu neuen Einwürfen. 


neun bis zchnjähriges Söhnden hypnotiſirt und wollte dabei 
wunderbare, ganz räthfelhafte Beobachtungen gemadıt haben, die 


auf einem anderen nicht beftrichenen hypnotiſch 


Wieder vom Banne befreit, vermochte es jenen Bierſeidel 
unterſatz anzufaſſen und weiterzugeben, befam aber eine ftarre 
Hand, als ihm der Borfißende feinen eben hervorgezogenen 
Hausichlüffel überreichte. Kurz, alle Verſuche bewieſen aufs 
zweifellofefte, daß von „Magnetifirung“ lebloſer Dinge nicht 
die Rede fein könne, daß vielmehr die bisher in ſolchem Sinne 
gedeuteten Beobachtungen auf Täufchung durch ungejchidte An- 
ftellung der Experimente zurüdzuführen fein. Dem Vater wurde 
überdies zu Gemüthe aeführt, wie wenig zuträglich feinem 
blafien, ſchwächlichen Söhnen die mausgeſetzten Aufregungen 
folcher GErperimente fein dürften; am wenigften fei es für den 
zukünftigen, aufs Bijonteriefach gerichteten Beruf des Kleinen 
eine angenehme, förderliche Beigabe, wenn derfelbe von jedem 
erjten Bejten durch einen ſcharfen Blick in Willenlofigfeit und 
Starre verfeßt werden könne. Der Vater war denn aud) ein: 
ſichtevoll genug, die Richtigkeit diefer Bemerkungen einzujchen, 
und verfchonte von da ab feinen Sprößling mit biomagnetischen 
Berfuchen, fo daß der lehtere zur Seit von feiner Hypnomanie 
völlig geheilt ist. 

In der Stadt nahm inzwifdhen das Magnetifiren feinen 
weiteren Verlauf in immer ausgedehnteren Kreiſen. Seht bupno- 
tifirten ſchon einzelne WBijoutericarbeiter diefen oder jenen ihrer 


‚ Kameraden durch ftarre Blide und Beſtreichen mit den Händen, 
unternommen wurden. Gere W. eifriges Mitglied des naturwiſſen- 


‚ die umliegenden Dorfichaften verpflanzt. 


und verübten mit denfelben den duch Geo Schmidt befannt ge 
worbenen Unfug, wo nur cin geeigneter Platz und ein paar freie 
Aungenblide aufzutreiben waren. 

Natürlich wurden die Verſuche auf ſolche Weile auch auf 
Doch es follte noch weit 
befler und viel draftilcher kommen! 

Ein Sefundaner bhpmotifirte den einen und anderen feiner 
Mitichüler mit beitem Erfolge, brachte auch einmal ein ſolches 


\ Medium in feine Wohnung und zeigte der ftaunenden Mama 


feine Künfte Wie fih Fama erzählt, wollte er bei dieſer 


' @elegenheit in -jugendlichem Eifer aud die eigene Mutter 
Ein anderer Herr, gleichfalls Bijouteriefabrifant, hatte fein | 


eine Uebertragbarkeit ber „magnetijchen Kraft” auf lebloſe Dinge 


nachzuweiſen im Stande fein. Das Bürfchdhen war von einem 


älteren Arbeiter der Fabrit und vom Water jo oft in Hypnoſe 


verfeßt worden, hatte namentlich wiederholt jugefchen, wie Stühle, 
Thürklinken, Fußbodendielen durch Beſtreichen mit den Fingern 
der Erperimentatoren „magnetiſch“ gemacht wurden, damit es bei 
der Berührung diefer Gegenjtande mit Händen oder Füßen ftare 


werde und diejelben nicht mehr loslaſſen könne, — daß ſchließlich 


der Gefamnterfolg ein wunderbarer werden mußte. Der Kleine, 
der in Eriahrung gebracht hatte, daß ihm auch in feiner Ab- 
wejenheit durch Beſtreichen einzelner Gegenftände Fallen gelegt 
wurden, witterte mun überall folde und blieb bald an einer 


Klinfe mit der Hand hängen, bald fonnte er von einem Stuble 


bald endlich eine Zimmerdiele, auf die er 
Dabei lam es denn be 
bald unbejtrichene 


nicht mehr aufitchen, 
getreten war, nicht mehr verlafien. 
areiflicherweile vor, daß ihm bald beitrichene, 
Gegenſtände feflelten. 
eben Feine Notiz davon genommen. Der Bater erbot ſich nun, 
dem ungläubigen naturwiſſenſchaftlichen Verein und deſſen noch 
ungläubigerem Borfigenden umwiderlegliche Beweiſe von der Eriftenz 
einer biomagnetifhen Kraft beizubringen. Am der hierzu anbe: 
raumten Sitzung wurden in Abweſenheit des Söhnchens ein Stuhl, 


ein irdener Bierſeidelunterſatz und eine Jimmerdiele mit großer | 
| Händen des Erperimentirenden entitrömenden räthjelhaften Arait 


Inbrunſt und vielem Kraftaufwand vom Vater und Herrn W. 
aeftrichen, auf defien minimale Eimwirfungen der Knabe ſonſt auch 
mit auferordentlicher Yeichtigfeit reagirte. Nachdem ſich nun beide 
Erperimentatoren entfernt hatten, 
Berratben der „Fallen“ ausgeſchloſſen fei, rief man das jugend» 
liche Medium herein. Dasfelbe blieb alsbald an der nicht be- 
fteichenen Thürklinfe mit ftarrem Arm Hängen. Bon diejer frei 
gemacht und vom Vorſitzenden ſowie einem anweſenden Arzt, dem 
zweiten Präfidenten, freundlich angeredet und ins Geſpräch ge— 
zogen, durchſchritt es das Zimmer und paſſirte qlüdlich die be 
ſtrichene Diele, Auf dem „magnetiſch gemachten“ Stuhl nahm es 


Wenn das aber bei leßteren eintrat, wurde | 





damit jegliches unbeablichtigte 


hinter deren Rüden durch Striche in Hypnoſe versehen, ein 
Beginnen, das fich die Mama, als fie es zu ihrem Schreden 
wahrnahm, nicht gefallen ließ, vielmehr durd kräftig geführten 
Gegenftrih am geeigneter Stelle ein für alle Mat nachdrücklichſt 
abtwehrte. 

Schr bald fanden fid unter den Schülern der beiden höheren 
Lehranitalten Bforzbeims Scharen von Hnpnotifeuren und empfäng- 
lihen Medien, denen fich bald ungezählte Haufen von Böglingen 
der Vollksſchule in gleichem erfolgreichen Beginnen aniclojien. 
Am Auli 1886 wurde diefer kindlichen Hypnotiſeure in der 
Lokalpreſſe zuerſt Erwähnung aetban und feitgeitellt, dah man 
auf Strafen und in Hausgängen vielfach Kleine Buben fchen 
von 11 Jahren beobachtet habe, die durch ſtarres Anjchen und 
ftreichende Handbewegungen über Kopf, Geficht und Körper jüngere 
und felbft um mehrere Jahre ältere Spielfameraden in Schlaf, 
Willentofigfeit und vollftändige Starre verfepten. Damit war der 
nene Sport auantitativ auf feinen denkbar höchiten Höhepuntt 
gelangt, denn nunmehr hypnotijixten außer Greifen und Männern 
auch Aünglinge und halbreife Anaben, fo daß in der Geſammt⸗ 
reihe allein das zarte Kindesalter unvertreten blieb, Nur noch 
qualitativ Fonnte die Sache überboten werden. Zunächſt wurde 
in mehrfacher Weije ein neuer Ansturm im Sinne des Mesmerismus 
verſucht. Vor allem wies man nämlich auf verichiedene mehr oder 
weniger verbürgte Heilerfolge bin, welche da und dort das bloße 
Beitreihen Kranker feitens dieſes oder jenes Hypnotiſeurs er: 
zielt habe. Man wollte darin das heilſame Walten einer den 


erbliden. Auch Here W,, den ſehr bald an verſchiedenen Uebeln 
Kranfende in Anfpruch nahmen, machte dahin zielende Verſuche, 
welche durch die Einwirkung der Suggejtion zum Theil auch 
gelungen Waren. 

Uebrigens jollte man in Pforzheim ſehr bald auch noch in 
anderer Weife Gelegenheit haben, wunderbare Wirkungen ber 
Eingebung auf empfänglihe Perjonen in reichen Maße kennen 
zu lernen. 

Aunähft gaben abermals biomagnetiſche Anwandlungen ein: 
zelner den äußeren Anſtoß zu den erften bezüglichen Berfuchen. 


—o 


Ein Herr WM, gleichfalls aefchicter Experimentator auf dem Ge: 
biete des Hypnotisinus, wollte die Beobachtung gemacht haben, 
daß er aud ohne jegliche Willensäußerung, das heißt lediglich 
durch innere Willensfraft bei empfänglichen Rerfonen jede beliebige 
Einzelwirtung z. B. felbft dann hervorbringen könne, wenn er 
diefen Perſonen den Rüden fehre und durd fein Wort, durd) 


feine Gebärde verrathe, weldyer Art die von ihm beabfichtigte | 


Wirkung fein ſolle. In der Lofalpreffe wurde berichtet, Herr A. 
habe feine erftaunliche Kunſt in Privatkreiien mit unfehlbarem, 
nie verfagendem Erfolg ausgeübt. Huch dem naturwiſſenſchaftlichen 
Verein erbot fih nunmehr A. durch die Vermittelung des Herrn 
W,, feine beweifenden Verfuche vorführen zu wollen. Wblehnen 
ließ ſich das nicht, und fo erſchienen denn in der nächiten Situng 
Herr U. und drei bis vier feiner Medien, denen Herr W. eine 
ungefähr gleiche Anzahl der feinigen hinzugeſellte. Die jungen 
Leute nahınen in einer Meihe neben einander auf Stühlen Platz, 
ebenfo die beiden Ausübenden, jener Neihe den Rüden zufehrend. 
Es war vereinbart worden, daß der Vorfigende auf einem Blatt 
Papier eine beliebige Hypnoſewirkung und diejenigen Medien 
namhaft mache, bei denen fie eintreten folle. Das Blatt wurde 
dem Anfteller des jeweiligen Verfuches übergeben, der davon ftill 
Kenntniß zu nehmen und fobann feinen Willen in Thätigkeit zu 
ſetzen hatte. 
fehrend, das Beichen gegeben haben werde, fertig zu fein, follte 
die Verfammlung den Eintritt oder Nichteintritt der gewünſchten 
Fernwirkung feftjtellen. 

Wie vorauszufchen war, ergaben in der That alle in 
biefer Art angeftellten Berfuche ein durchaus verneinendes Er- 
gebnif. Der durch nichts geäußerte Wille des Ausübenden ver: 
mag eben feine Wirkung auf die empfänglichen Perſonen aus: 
zuüben. Herrn A. wurde 3. B. fchriftlich aufgegeben, ex folle die 
von Herin W. herbeigeführten Verfuchsperfonen in Schlaf finten, 
die eigenen aber im wachen, völlig unhypnotiſirten Zuftand ver- 
harten laſſen. Gerade das Umgefehrte trat ein, als Herr A. bei 


fautlofer Stile der Verſammlung, ſelbſt unbeweglich dafigend, | 


feinen Willen anftrengte. Ein Sontrollverfuch, den Herr W. ans 
ftellte, ergab das gleiche Ergebniß. Here W. follte ohne Vorwiſſen 
der Berfuchsperfonen, um 
eigenen unbeeinflußt lafjen, diejenigen des Herrn U. einjchläfern. 
Es wurden indeß troß des emergifchen Willens des Herrn W. 
beffen eigene Medien hypnotiſch, während die fremden im wachen 
Buftand verharrten. 

Dabei muß noch betont werden, daß beide Herren, wie durd) 


mehrere Berfuche feftgeftellt war, auf alle Medien ohne Aus: 


nahme mit Leichtigkeit Hypnotifirend einzuwirken vermochten, wenn 
fie nur ihre bezügliche Abſicht durch Worte, Blide oder irgend 
welche Gebärden, beziehungsweife Zeichen kundbar machten. Ohne 


ſolche Kundbarmahung des Willens trat die vorgefchriebene 


Wirkung nie ein. 

Daß durch ungeſchickte Anftellung des Verſuchs aud ein 
mal ein die Willensfermwirfung ſcheinbar beweifendes Ergebniß 
erzielt werden kann, zeigte fich, als ein anderer der anweſenden 
Herren vorichrieb, der linke Vorderarm einer fpeciell hierzu 


ausgewählten Berfuchsperfon folle in Mustelftarre verjegt werden. | 


Nachdem Herr U. erklärt hatte, den Willensaft gefaßt zu haben, 
ariff unvorfichtigerweife der Herr, der den Verſuch veranfaft 
Hatte, micht zumächft mac anderen Gliedmaßen des Mediums, 
fondern gleich nad) dem linken Borderarm und verrieth auf diefe 
Weiſe unbeabfichtigt, daß es ſich um diejen handele. 
wurden die betreffenden Muskeln nunmehr alsbald starr. 
hatte ſich nämlich bei anderen Verfuchen herausgejtellt, dab faft 
immer derjenige Körpertheil in fataleptifche Starre verfiel, der 
nad) Ausführung des Willensverſuches im erjter Linie auf feinen 
Zuftand unterfudht wurde, ſelbſt wenn er nicht der für das Ein- 
treten der Wirkung vorgeichriebene war. 

Bei Gelegenheit diefer lehrreichen, erperimentell ausgefochtenen 
Streitfrage wurde nun auf ein fchen bei anderen Anläſſen ſtets 
wahrgenommenes merhvürdiges Einzeliumptom hingewieſen. Unter 
den Medien des Herrn M. befand fich nämlich ein junger Mann 
Namens E,, ein eifriger Turner, wie angegeben wurde. So vit 
E. auf irgend eine Weife in leichtere oder tiefere Hypnofe verſehzt 
oder aus derfelben zum normalen wacen Zuftand zurüdgernfen 
wurde, trat bei ihm fast wie auf Kommando eine Reihe taftvoll 
in wuchtigſter Weiſe ausgeführter Arm- und Beinbewegungen ein. 


495 > 


Wenn er, den Medien unausgefept den Nüden 


—* Wirkung es ſich handele, die 
i 


Natürlich 
Es 


— 


E. fprang nämlid) mit gleichen Füßen auf der Stelle zwei: bis 
| dreimal in die Höhe, hierbei jedody mit einer ſolchen wilden 
| Energie den Boden ftampfend, dab das Zimmer erdröhnte und 
| man nicht wußte, ob man mehr die Kraft des Mediums oder 
die MWiderflandsfähigfeit von deſſen Stiefelabfäßen bewundern 
follte. Gleichzeitig drüdte er die Bruft heraus, hob den Kopf 
und jtemmte wiederholt beide Arme im heftigen Ruck abwärts, 
| Niemals wurde E. ohne Eintreten diefer fonderbaren Uebungen 
hypnotiſch; nie erwachte ex aus der Hupnofe, ohne daß ſich diefelben, 
wern auch in etwas gelinderer Weife, wiederholten. 

Bei anderen Medien wurde dergleichen nie gefehen. Da: 
‚ gegen zeigte fich bei diefen in allmählich wachſendem Maße theil 
| weife eine andere Erſcheinung, die ſich im höchſten Grabe be 
‚ deutfam erwies und die letzten Alte des Pforzheimer Hupnofe 
| dramas einleitete, 

Bevor wir in unferem Bericht fortfahren, müſſen wir vor 
ausfhiden, daß die ſchon erwähnte auferordentliche Gewalt der 
| Eingebung auf Hypnotifirte ſich auch in Pforzheim durch zahlreiche 
Verſuche des Herm W., der die einfchlagende Litteratur befonbers 

ftudirt hatte, bewahrheitete. E3 gelang Herrn W., feine wachen 

Medien zur Ausführung von Aufträgen zu bringen, die er ihnen 
' während des Zuſtandes ihres hypnotiſchen Schlafes mündlid auf: 
negeben hatte. Wir wollen nur einzelnes aus diefen fehr reich— 
haltigen Werfuchsreihen namhaft machen. 

Bon zwei jchlafenden Medien, welde angeblich nie Klavier 
gefpielt Hatten, was fchon die Betrachtung ihrer ſchwieligen, 
arbeitsgewohnten Hände jeher wahrſcheinlich machte, erhielt das 
eine den Auftrag, das Lied „Heil dir im Siegerkranz“, das 
andere den Walzer des Coaksmannes auf dem Piano vor: 
zutragen. Ohne das mindefte Zaudern feßte ſich erſt der eine, 
dann ber andere nach dem Erwachen ans Klavier und feiftete 
mit beiden Händen fpielend feine Aufgabe Klang zwar auch 
die Weife fteinerweichend, jo wurde fie doch auffallend flott zu 
Gehör gebracht und jedermann konnte unſchwer die beabfichtigten 
Tonftide erfennen. Auch zu einer vierhändigen Amprovifation 
| wurden beibe neugebadene Pianiften veranlaft, die troß ihrer 

fchauderhaften Klänge doch eine gewiſſe Geſetzmäßigkeit heraus: 

zuhören geitattetee Einem andern wurbe während des Schlafes 
verfihert, er fei ein exit feit wenigen Tagen in Pforzheim 
wohnender geborener Norddeutſcher. Nach dem Erwachen ins 
Gefpräd; gezogen, bediente er ſich, der bis dahin fid) nur in 
\ Pforzheimer Mundart hatte ausbrüden können, völlig dialeft- 
freier Rede, was ſich bei ihm komiſch genug ausnahm. Das 
Nichtfehen anweſender Perſonen oder da3 vermeintliche Exrbliden 
nicht anwefender konnte ſtets mit Leichtigkeit durch Eingebung 
während des hupnotiichen Schlafes erzielt werden, ebenfo pofitive 
und negative Täufchungen jedes anderen Sinnes, 

Ein Medium, Herr J, glaubte nad) dem Erwachen, die ihm 
im Sclafe angefündigte junge Dame zu fehen, die Braut eines 

Belannten, und ftellte derfelben einen der anweſenden Herren auf 
dejfen Wunſch vor, veichte ihr auch ſchließlich galant den Arm, 
um fie, wie ihm vom Experimentator bedeutet worden war, auf 
den Bahnhof zu führen. Er würde ſich zweifellos dorthin be- 
geben haben, hätte ihm nicht Herr W. eilends von der Strafe 
 zurüdgeholt und von feiner Sinnestäufchung befreit. War dem 
Schlafenden aefagt worden, diefer ober jener der anweſenden 
Herren jei nicht mehr zugegen, To fonnte feine Frage des be- 
zeichneten Deren an das wiedererwachte Medium das legtere zu 
irgend einer Antwort beivegen, während es fid) mit den anderen 
Anweſenden vernünftig unterhielt. Aufgefordert, die im Zimmer 
vorhandenen Perfonen zu zäblen, bradyte es in der That eine 
Perſon zu wenig heraus. Ganz wie man es verlangte, hörte der 
eine nad) dem Erwachen eine fchöne Muſik, der andere innerhalb 
einer beftimmten vorbergefagten Friſt einen heftigen Knall x. 
Bemerlenswerth war ein Verfuh, bei welchem dem ſchlafenden, 
gegen Nadeljtihe empfindungslofen Medium geſagt wurde, es 
werde foeben mit einem glühenden Eifen berührt und die ge— 
brannte Stelle werde nach dem Erwachen fich röthen, anfdnvellen 
und eine Blafe erzeugen. Gleichzeitig berührte Herr W. die 
Wange der Verſuchsperſon mit feinem Finger. Nach dem Er 
wachen war das Medium anfangs geſprächig, Hante aber ſehr 
bald über brennenden Schmerz auf der Wange; hierbei vöthete ſich 
die berührte Stelle zufehends und begann ſich zu erheben. Zu 
einer Brandblaſe lam es indeß nicht. 








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Bilder von der deuffhenalionalen 
Originalze ichn 





figemerhe-Musftellung in Münden. 


1 &. Bartels, 


1. Brr 


— —0 


Nun, dieſe durch hunderterlei Verſuche feſtgeſtellte Macht der 
Eingebung iſt es wohl jedenfalle geweſen, die zu anderen nicht 
unbedenklichen Erſcheinungen, welche ſich immer mehr fteigerten, 
bie erſte Beranlaffung gegeben haben mag. ch meine nämlich 
die Später für Pforzheim jo carafteriftiich aetvordenen Tobfuchts: 
anfälle Supnotifixter, deren allmähliche Entwidelung ich munmehr 
fchildern will. Der Anfang derfelben reicht ziemlich weit zurüd. 
An einer in der zweiten Junihätfte 1886 im Privatfreife angejtellten 
Berfuchsreihe ward nämlich in einem fehr brauchbaren Medium 
während des wachen Zuſtandes der Halbbypnofe die Vorftellung 
erwet, dab es in einem Walde in der Nähe Pforzheims von 
Strolchen augegriſſen und verwundet worden fei und fein foft 
bares Daſein nunmehr mit Erfolg gegen dieſelben vertheidige. 
Das Medium, ein fräfliger junger Arbeiter, ſpielte feine Rolle 
wunderschön. Mit wuthverzerrtem Gbeficht vingend, gebärdete es 
ſich, als ob es auf der Bruſt eines unfichtbaren Gegners kniee, 
denfelben an der Gurgel pade nnd feinen Kopf wiederholt 
triumphirend genen die Erde aufſchlage. Die Scene ſah jo wild— 
natürlich aus, daß dev Erperimentivende ihr Durch Erwecken Des 
Mediums ſchnell ein Ende machte. Als Tags darauf mit diefer 
und noch einer andern Verſuchsperſon abermals vor größerem 
Aufchauerfreife experimentirt wurde, wiederholte fi die Wahn— 
vorſtellung und die Kampfſeene ganz von ſelbſt, mit allen 
ihren Einzelheiten ein getrenes Spiegelbild des Vorganges am 
Tage vorher daritellend. Pur war diesmal der Ingrimm des 
um ſich Schlagenden ein noch größerer und dag Erwachen erichien 
etwas verzögert. Merlkwürdigerweiſe zeigten Tid nun bald auch 
bei anderen Medien ähnliche Erſcheinungen. Die Fülle wurden 
verichieden befprochen. Namentlich hieß es, ein Älterer Herr aus 
Freiburg, welcher, nebenbei bemerkt, viel in Spiritiemus und 
ähnlichen Liebhabereien macht, babe ſich dahin geäußert, daß 
ſolche Tobfuchteanfälle immer dann eintreten, wenn ein bei den 
Berfuchen UnbetHeiligter mit feinem ungünſtig wirkenden „magne- 
tifchen Fluidum“ den Hypnotiſirten zu nahe tree oder fie gar 
berühre, Diefe ganz unzutreffende Erflärung der oben erwähnten 


Fälle wurde num allen Einwürien zum Troß fo oft unvorfichtiger- | 
| wüthendes Gebell und Geblaff, jo aut fie es mit ihren Hierin 


weile in Gegenwart wacher, hochgradig empfänglidier oder auch 
bypnotifirter Verſonen wiederholt, daf fie fungeftiv wirken mußte. 


Thatſächlich traten von da ab dergleichen Anfälle immer häufiger | 
ein; fie wirkten gewiſſermaßen anftedend, weil ein Medium fie | 


bei dem andern fah und unbewußt demielben nachahmte, nament— 
lich da es viel zu viel von diefer Erfcheimung während der Hyp⸗ 
nofe zu hören befam, 

Eine Zeit lang ſchien es im der That, als ob bie Anfälle 
des tobenden, wilden Umherſchlagens mit den Armen nur auf zu: 


fälliges, ſelbſt ganz harmlojes Eingreifen dritter Berjunen erfolgten, | 
wiewohl umgekehrt in zahllofen Fällen troß eines Foldhen Kin- | 


areifens keine Spur irgend welcher unangenehmen Wirkung be- 
merfbar wurde. Später trat fogar wiederholt das Symptom der 
Tobſucht mährend der Hnpuofe vollſtändig ſpontan ein, das heißt 
ohne jegliche Einwirkung anderer, fo daß ein von vornherein be- 
jtchender urſächlicher Zuſammenhang ausgeſchloſſen fein dürfte. 
Am wahricheintichiten ift, wie geſagt, unbeabfichtiate Eingebung 
die Quelle der ganzen Manie geweſen. Ueberhaupt wurde die 
Ericheinung, daß die Medien allgemein anfingen wild zu werden, 
erit im Herbſt wahrgenommen. Seren W., der feine Verſuchs 
perfonen gut fannte und zu behandeln wußte, paſſirte fie höchſt 
felten. Er ergriff in ſolchen Fällen den Mebelthäter, preßle ihn und 
feine Arme an ſich oder genen die Wand, machte ihm dadurch zu: 
nächſt wehrlos und unschädlich und erweckte ihn ſodann durch un— 
bedeutende Bewegungen feiner eigenen freien Rechten vor dem Ge 
ſicht desfelben. In zwei, drei Sekunden war auf dieſe Weiſe der 
ganze Anfall gedämpft und das erwachende Medium wußte nichts 
von feiner eben begangenen Unart. Außerordentlich wirkſam und 
beruhigend erwies fich bei ſolchen Anläffen im Momente des Er- 
wachens der Blick Herrn Ws, der das Medium jtets nuch Durch 
Anrufen zwang, ibm ſelbſt anzufehen. Etwas bedenklicher ſah die 
Sache ſchon aus, wenn gleichzeitig mehrere Berfuchsperfonen zu 
toben amd mit eimander wüthend zu ringen begannen, wobei zur 
nächit die im Wege ftehenden Stühle, auf denen die Medien bis 
dahin geſeſſen hatten, mit Gepolter umgewerfen wurden und zur 
Seite flogen. Auch Hier bewährte fih die Meiſterſchaft des Herrn 


48 ⸗— 


irgend jemand auc nur den mindeften Schaden hatte nehmen 
fünnen. Weniger harmlos Sollte ſich die Erſcheinung in der Folge 
bei anderen Erperimentatoren gejtalten. 

Zunächſt fam es in Brößingen, dem nächſten Nachbardorfe 
Pforzheims, vor, daß Arbeiter abends im MWirthöhaufe einen 
ihrer Genoſſen in Hypnoſe verſetzten. Sche bald wurde das 
Medium wild und tobfüchtig, woraus fich eine förmliche Keilerei 
entwickelle, da niemand den Nafenden zu bändigen und zu 
normalem Zuſtand zurücdzuführen vermochte. Es mußte aus 
Pforzheim mitten in der Nacht ein Arzt herbeigeholt werden, ‚der, 
am Orte der That angelangt, das Zimmer voller Menſchen und 
die bewaffnete Macht des Dorfes in Perfon zweier Gendarmen 
und eines Wachtmeiſters aufgeboten fand. Der hochgradig erregte 
Patient wurde alabald kunſtgerecht dem normalen menfchlichen 
Bemußtiein wieder zurücgegeben, Während ihn aber der Arzt 
mit einigen Fräftinen Worten auf das Unſinnige, ſich zu ſolchen 
Berfuchen berzugeben, aufmerfam machte, begannen bei jenem 
bereits wieder die Zeichen neuer Hypnoſe, aus der er abermals 
und zwar diesmal dauernd herausgeriſſen wurde” Vielleicht 
mochte die Hierbei eröffnete, wenig verlodende Ausſicht, bei 
erneneriem Hypnoſeaufall fünfundzwanzig geeigneten Orts auf: 
gezählt zu erhalten, fuageltiv gewirtt und den Mann munter er- 
halten haben. 

In ein Pforzheimer Reſtaurant tritt eines Abends ein 
Erperimentafor, hinter ihm einige feiner Medien, die ſich gerne 
da einftellten, wo Verſuche zu erhoffen waren, weil da erfahrungs- 
gemäß mit Freibier und feſter Leibesſtärkung nicht gelargt zu 
werden pflegte. Kin im Zimmer bereits anweſender junger 
Saft, ein ungläubiger Thomas, ruft dem Hypnotiſeur, feinem 
Bekannten, höhnend zu, feine Erperimente beruhten doch nur auf 
Schwindel. 

„Was, Schwindel?“ entgegnet jener entrüſtet, und, zu den 
Medien gewandt, ruft er die verhängnißvollen Worte: „hr ſeid 
feine Menfchen! She feid Hunde! Auf, padt mir den da!“ 

Der Erfolg war ein ganz überrafchender, denn flugs Tieß 
fih die ganze Schar auf alle Wiere nieder und begann ein 


noch ganz ungeibten Kehlen zuwege bringen kounte. Ghleichzeitig 
ftürzte fich die Mente auf den unglänbigen Thomas und begann, 
an diefem emporfpringend, ſich zum Theil auf die Hinterbeine 
zu erheben, worauf alabald die bereits ortsüblich gewordene 
hypnotiſche Prũgelei ihren Anfang nahm. Unſer Thomas nahm 
Reißaus, jo lange es heil davonzukommen noch möglich war, 
und ber Erperimentator beruhigte feine Schar und gab ihr 
die Erkenntniß ihrer Menſchennatur und Menſchenwürde wieder 
zurüdk. 

Noch etwas beſſer gina es in einem geſelligen Verein, wo 
nleichfalle Demonſtrationen mit 7 bis 8 empfänglichen Perſonen 
angeſtellt wurden, die jchon oft hypnotiſirt worden waren. Eine 
Zeit lang ging alles gut und ſchön; als aber einer der anweſen— 


| den Serren eines der Medien vor cinem befonderen Tiſche Platz 


W., der in allen vorgefommenen Fällen den wirren Meenichen: | 


fnäuel ſchnell trennte und im kürzeſter Friſt Ruhe ſchaffle, bevor 


nehmen und auf das Tiden einer auf diefem liegenden Taſcheuuhr 
achten lieh, um es durch den Eindrud diejes aleihmähig wieder— 
fehrenden Geräuſches in Hypnoſe zu verfeßen, da wurde unvor— 
fichtigeviweife vor dieſem harmlofen Verſuche gewarnt und hinzu— 
gelebt, es fünne dadurch Tobſucht entitchen. Tiefe Aeußerung 
wirkte ſuggeſtiv, denn in dee That stellte ſich bei der Verfucs- 
perfon Hypnoſe und bei der ganzen Mediengeſellſchaft Tobfucht 
ein, welche binnen lurzem den Schauplatz friedlicher, fröhlicher 
Unterhaltung in ein Schlachtfeld verwandelte, wo Nampfesrufe 
ertönten, Tiſche und Stühle krachend zur Seite flogen, Bier in 
Strömen auf den Fußboden flo, Püffe, Stöße fowie noch weit 
bandgreiflichere Thätlichleiten hinüber und herüber flogen und Die 
Bernünftigiten in ſchleuniger Flucht ihr Heil fuchten. Nicht ohne 
Mühe gelang 88, aus dem weinen Knäuel der Neden die toll 
gewordenen Medien berauszubefommen, welche dann der Erperimen: 
tator mit fimdiger Hand bäudigte, bis die hochgehenden Wogen 
ihrer Gemüthsitimmung ſich beruhigten und wieder friedlicher 
Denkungsart Platz machten. 

Tod das Beſte, ein farbenreiches Schlußtableau, kam im 
Dezember, als Pforzheims vereinte Tiger dem berechtigen Drange 


* Yır Sommer dei Jahres 1887 batte dieler Fall noch ein gericht 
Tiches Nachipiel, wovon weiter unten die Rede fein ſoll. 


ä Ki - 


— 49 


nicht mehr widerftehen fonnten, im Gafthofe „Zur Poſt“, dem 
Haupffchauplag ihrer alltäglichen Frühthätigleit, einmal ein frieb- 
liches abendliches Feſtmahl zu feiern. Dasfelbe verlief urfprüng: 
lich, durch verfchiedene künſtleriſche Weranftaltungen verfchönt, 
aufs prächtigſte. Herr S., ein ebenſo gewandter Tiger wie 
Hnpnotifeur, Hatte dem zur Würze des Mahles dienenden Pro- 
gramm eine Vorführung feiner Kunſt einverleibt, die ihm nur 
zu fehr gelingen follte. 

Als nämlich die Herren Tiger ſich genugſam durch Speife 
und Trank auf die ihnen noch bevorftchenden Aufregungen und 
Anftrengungen vorbereitet und gekräftigt hatten, ließ Herr ©. feine 
Medien aufmarihiren und zeigte deren vielfeitige Fähigfeiten und 
Künfte. Eine geraume Weile ging alles ausgezeichnet, bis durch 
irgend welche jett ſchwer ſeſtzuſtellende Zufälligleiten der Funke 
ins Pulverfaß flog und die Tobfuchtsfeidenjchaft entfefielte. Mit 
einem der Medien foll, wie geſagt wird, ein Theilnehmer des 
Mahles, ein holländiicher Geichäftsreifender, im Vorzimmer auf 
eigene Fauſt erperimentirt haben, was ſchon zu einer beginnenden 
Heinen Balgerei führte, die von Heren S. gedämpft wurde, Das 
war der Vorbote des Sturmes, ber ſehr bald im Saale felbit 
mit ber medialen Hauptperfon zum Ausbruch fam und in feiner 
Ausdehnung alle bisherigen derartigen Erfahrungen weit über: 
traf. Da wurden die Medien zu Tigern und manche Tiger fehr 
bald zu flüchtenden Lämmern, was übrigens unter den obwalten: 
den Umftänden für bie meiften das Beite war. So begann denn 
die große Schlacht, reich an wechſelvollen Epiſoden, das ſchönſte, 
was Piorzheim der Sport des Hypnotismus an padenden 
dramatifchen Situationen gebracht hat. Am Handumdrehen vers | 
änderte fid) der Anblid des Schauplatzes. Geballte Fäufte, bfutige 
Naſen, Beulen — das alles war das Werk eines Mugenblids. 
Stühle krachten und fplitterten im Getümmel, Tiſche flogen 
zur Seite und wurden umgeftoßen. Ungezählte Teller, Flaschen 
und Gläſer follen da ein unrühmliches Ende gefunden haben 
und unter der Wucht der die Luft durchſauſenden Wurfgeichofie 
der Kronleuchter bös mitgenommen worden fein. Einen großen, 
ichönen Spieqel wollte man reiten, nahm ihn herab, verläumte 
es aber, ihm fortzuichaffen und lich ihm an die Wand gelchnt 
ftehen. Das Hauptmedium K. ergriff ihm mit beiden Händen 
und fchlug die Vorderflähe dem ihm in den Wurf fommenden | 
Herrn R. auf den Kopf, daß alsbald die Scherben zum Glüd 
nicht des Kopfes, fondern des Glaſes davon flogen. 

Mas der Thür zunächit war, ergriff die Flucht, Einer der 
Herren Tiger fell mit beiden Armen einen Tiſch ergriffen und 
fi mit ihm gegen den Anſturm des Mediums gewehrt haben, 
das Möbel wie einen Schild benugend. Unter andern Tischen 
hatte gleich anfangs hier und da cin weniger wehrhafter Tiger | 
einen zeitweiligen Zufluchtsort gefunden. Bald war der Saal 
geräumt und K. im alleinigen Beſitz des Kampfplatzes. Er | 
durchſchritt denfelben im Gefühl des Sieges, erariff da und dort 
einen Stuhl, hob ihn empor -und tauchte mit kräftigem Rucke die 
Borderbeine desselben gegen den Boden, daß mur die fplitternd | 
abkrachende Lehne in den Händen des Tobenden zurüdblieb, welche ' 
er alsbald mit Ingrimm wegſchleuderte. Much warf er nach allen, | 
die Miene machten einzudringen, mit Stühlen und anderen ſchweren 
Geſchoſſen. Ungehindert durchmaß er, vor deilen riefig ge 
wachjenen Kräften alles ſcheu zur Seite wid, den Flur und 
gelangte hinab auf die Strafe, fand es aber ſehr bald wieder 
geratbhener, den Saal aufzuſuchen, von wo er der Küche einen 
Beſuch abjtattete. Da Herr ©. die Geifter, die er gerufen, 
weder bannen noch meijtern konnte, fo blieb als letter Rettungs- 
anfer in der Noth nur noch der eiligjt herbeigerufene Herr W. | 
übrig, Diefer erſchien nachts gegen 1 Uhr auf der Wahlſtatt. 
Er fand K., der indeß ſchon einmal furz vorher von einem 
anderen Herrn eriwedt, aber fpäter nochmals in Hypnoſe und 
Tobſucht verfallen war, ein großes Küchenmeſſer ſchwingend, 
allein in der Küche vor, wo er bereits zum Zeitvertreib ver: 
ſchie denes Geſchirr umhergeworfen und zerfclagen hatte. Herr | 
W. ging dem Rajenden Tühn zu Leibe, padte mit einem Griffe 
beide Handgelenke besjelben und verfenkte ihn, nachdem er jelbjt 
eine Band freibefommen hatte, in tiefiten hypnotiſchen Schlaf. | 
Nunmehr entzog er dem ſtill Daliegenden das Mefjer und 








o.— 


werte ihn kunſtgerecht. Leider fam es jedoch bald darauf durch 
irgend welche Störung zu nochmaligem Toben und zum Aus: 
tauſch von abermaligen handgreiflichen Liebenswürdigleiten, bis 
man von anderer Seite den Thäter ſchließlich beim Rodkragen 
padte und jeinen Kopf dem Strahle der Wafjerleitung ausfepte, 
Das führte denn zur Abkühlung jeiner Leidenichaftlichkeit und 
zu endgültigem Erwachen. Zwar erllärte K. zunächſt, noch 
nicht ſehen zu können, da offenbar der hypnotiſche Zuftand 
nod nicht volllommen gewichen war. Here W. hob nunmehr in 
regelvechter Weife aud) das letzte Uebel, und fo ſchloß die be- 
rühnte Tigerjchladht in der „Bot“. Zu bedauern war ein anderer 


‚ Sejttheilnehmer, den man im Getümmel für ein rafendes Medium 


angejehen hatte, während doc nur die Geiſter des Weines aus 
ihm in allzu lebhafter Spradye redeten: da er fid) wiederholt 
unnüß machte, wurde ec nad) kurzem Handgemenge vom Kellner 
unfanft can die frifche Luft befördert, bei welcher Gelegenheit auch 
fein Trommelfell zeitweilig benadhtheiligt worden jein fol. Ein 
anderer Tiger hatte in der Eile der Flucht auf dem Flur ein 
Fenjter eingefchlagen, um fich nach einem andern Naum hin reiten 
zu können. Wiel Heitpflaiter und Bleiwaller zu kühlenden Um— 
ichlägen ſoll noch im jener Nacht verbraucht worden fein, und 
wer in ben nächjten Tagen mit Beulen, dider, blauer Naje und 
fchönen Kratzwunden im Geſicht betroffen wurde, der konnte mit 
Sicherheit darauf redinen, ohne weiteres nad) feinen Erlebniffen 
auf dem Tigerefien gefragt zu werden. Der angerichtete Schaden 
wurde auf alle Theilnehmer als eine Kriegsſteuer umgelegt, der 


| ich jedermann willig unterwarf; „denn ſchön war's doch geweſen,“ 


fagte mir erſt kürzlich einer der Augenzeugen. Vielleicht wäre 
damals die Tigerſchlacht wenn auch nur in engerem Rahmen, 
auch noch ins „ewig Weibliche“ übertragen worden, denn auf 
einem Damenkränzchen follte, nachdem bereits mit Erfolg das 
Gedanlenleſen qeiibt worden war, zum Hypnotiſiren übergegangen 
werden. Die Schöne, Fühne Unternehmerin wurde aber von einer 
Genoffin, welche die Greuel des Tigereflens in der „Poſt“ mit 
eigenen Augen hatte ſchauen müſſen, von ihrem ſträſlichen Be: 
innen zuräcgehalten, jo daß der mandıes Intereſſante in Ausficht 
jtellende Plan nicht zur Ausführung kommen konnte, Uebrigens 
wurde nunmehr jedes nicht von beruflicher Seite und nicht zu 
rein wiſſenſchaftlichen Sweden ausgeübte Hypnotiſiren mit Recht 
feitens der Behörde unter Strafandrobung geſtellt. Dept iſt's in 
Pforzheim von der Sache ftill geworden, oder es wird höchſtens 
noch in der Erinnerung an die verflojienen fchönen Ereigniſſe 
geſchwelgt. 

Unſer Bild von Pforzheims Erfahrungen auf dieſem Gebiete 
würde indeß ein unvolljtändiges fein, wenn wir nicht auch des 
wiederholten ftrafenden Einſchreitens der Behörde gedenken wollten. 
Das Bezielsamt erließ von Anfang an gegen ſolche, die in 
Wirthshauſern duch hypnotiſche Berfuche Störung verurſacht 
hatten, „wegen groben Unfuges" Strafverfünungen in Höhe von 
je 20 Mark. Es mag ſich das von Anfang Juni bis Ende Dezember 
1836 wohl 6: — Smal verfchiedenen Anftiftern gegenüber wieder: 
holt haben. An dem bervorragendften Falle diejer Art erkannte 
das Schöffengericht gegen zwei Ausübende auf eine Strafe von 
40 beziehungsweile 20 Mark, Am theueriten Fam der in Brögingen 
erlebte Fall feinem Anftifter, einem jungen Mebger, zu stehen, 
nachdem derfelbe noch im Mai 1887 das pfer des bereits er— 
zählten Tobjuchtsanfalles abermals hypuotiſirt hatte. Dasfelbe 
wollte gerade ein Glas Wein zum Munde führen, als den Thäter 
Luft zu neuen Streichen überlam. Durch Anjtarren und Streichen 
machte er jenen ftarr und hypnotiſirt, welcher Zuſtand mit achtzehn: 
ftündigem Schlaf des Opfers endete. Einen ihm zuerlannten 
Strafauftrag in Höhe von 20 Mark nahm der Schuldige nicht 
an. Das Schöffengeriht in Pforzheim erlannte auf das Bor: 
handenjein von FFreiheitsberaubung und fahrläffiger Körperver— 
legung und verwies den Fall vor die Straffammer zu Karlsruhe. 
Hier wurde gegen den Thäter auf eine Gefängnißfteafe von 
14 Tagen erkannt. — Soweit unfer Berichterjtatter! 

Mögen dieſe Zeilen dazu beitragen, unſere Leſer Niber bie 
Gefahren der Laienhypnoſe zu belehren und fie zur Selbithilfe 
gegen diefelben dort zu veranlaffen, wo geſetzliche Beſtimmungen 


‚ dem gefährlichen Treiben feinen Einhalt gebieten können. 


500 · 


Mündener Ausftellungsbilder. 


in tiefblauer Julinachmittag! 

der alten Iſarſtadt; die Frauentbürme ragen fonndurchglüht 
zum wolfenlofen Himmel empor; die weiten Straßen und Plätze 
aber ericheinen wie ftanbweiße Flächen, und mancher Fremde, 
den die beiden großen Ausſtellungen hergelockt, wiſcht jich jebt 
im Heranfchreiten zum Glaspalaſt feufzend die Stirn, nach Kühlung 
und Schatten lechzend. Aber auch dort ift beides nur bedingt 
zu finden. Wohl fteiat in dem peachtvoll deforirten Veſtibül 
zwiichen Statuen und Marmorfäufen cin Springbrunnen aus 


Schwül Taftet die Site über | 


grünem Palmendidicht in die Höhe und fällt plätichernd im feine | 


Schale zurüd; wohl find die einfallenden Sonnenstrahlen durch 
riefige Tücher gedämpft, aber trotdem bleiben mehr Wärmegrade, 
als wünschenswerth iſt, in den weiten Hallen. 

Dies vergißt indeſſen raſch genug, wer im die bilder: 
und ſtatuengeſchmückten Säle eintritt, denn es ift viel, was 
fih bier von allen Seiten dem Auge darbietet — zu viel, 
um in den flüchtigen Zeilen, die nur von Eindruck des Ganzen 
reden können, einzeln erwähnt zu werden. Hier heißt es, 
felbjt fommen und fehen, allmählich das Auge bilden und vor: 
fehnelles Urteil vermeiden. Wird es doch ſelbſt den berufenen 
Kritifern nicht leicht fein, zu enticheiden, auf welcher Seite 
das Schwergewicht diefer großen und impofanten Wusftellung 
liegt, ob in der deutjchen Abtheilung, mo ber Kampf einer 
jungen, neuanfftrebenden Schule mit hergebrachten Auſchauungen 
entbrannt ift, oder auf Seite der Fremden drüben, deren bunte 
Originalität den verichiedenen Sälen eine fo große Anzichungs- 
kraft verleiht. 

Wieder und immer wieder muß kommen, wer aud nur cine 
mäßige Anzahl Bilder feit in Erinnerung behalten will; aber 
auch der flüchtigite Beſucher wird eine gehobene Stimmung aus 
diefen kunſtgeweihten Räumen mitnehmen, wo täglich viele Hunderte 
zu ernithaften Studium und frendigem Genuß zufammentommen 
und ihre Allingseriitenz gerne bei Seite legen, um eine Zeit 
lang in ber reinen Atmoſphäre der Kunſt zu atmen. 

Die Wirkung einer ſolchen Ausjtellung ift, trog allem was 
ihre Gegner fagen mögen, eine große, weithin zu fpürende. Sie 
iſt es doppelt in München, wo die Kunſtfreude und das Kuuſt— 
verftändniß ſozuſagen in der Luft liegen md, verbunden mit einer 
jeltenen Babe des Arrangements, durch die ſelbſtverſtändliche Art, wie 
fie in die Ericheinung treten, auf die Fremden entzüdend wirken. 
Münden Hat immer nod die künstleriiche Führung in Deutſch— 
land; fein Glaspalaft befigt die rühmlicdhite Tradition und Taufende 
eifen herbei, fobald er wieder feine Pforten öfnet. Sie gehen 
leiſe unter den farbenstrahlenden Wänden ber, die Nenner figen 
voll Hoher Andacht in Lenbachs jtimmungsvollem. Saal vor der 
berühmten Galerie hervorragender Zeitgenvffen, die aroße Menge 
drängt ſich um die Senfationsbilder, und drüben in der hiſtoriſchen 


Ausftellung ſehen die Alten mit ftiller Rührung, die Jungen mit | 


ftillem Lächeln die Bilder aus der Biedermeierzeit, die beſcheidenen 
Anfänge der Mündner Kunft, welche heute das hundertjährige 
Nubiläum ihrer erjten Ausjtellung feiert. 

Am ſchlimmſten ergeht es den überall in den Sälen vertheilten 
Skulpturen. Der Sinn file Plaſtik iſt nicht Stark entwickelt im 
deutschen Publikum; cs find nur Schr wenige, die vor den Marmor: 
und Bronzewerfen in Betrachtung jtehen; der große Strom raufcht 
vorüber, ohne mehr als einen flüchtigen Bid darauf zu werfen. 
Die Farbe fagt dem heutigen Gefchlechte offenbar mehr als die Form! 

Aber die Hibe fteigt inzwiſchen, troßdem die Sonne fintt, 


' großen Feſtabend, 


denn ihre Strahlen durchglühen, von Weiten einfallend, das riefige | 


Glashaus und der Seufzer: hinaus! entringt ſich allmählich auch 
dem begeiftertjten Kunſtenthuſiaſten; hinaus nach dem kühlen Iſar— 
ftrand, wo über den rauſchenden Waflern cin Prachtban fich erhebt, 
deſſen gleichen noch Feine deutiche Ausſtellung umichlofien bat. 
Unsere Abbildung rechts oben giebt die Geſammtanſicht der Front 
wicder. 
hohen Kunſt vereint, den Glaspalaſt füllte. Damals, 1876 und 
1882, hoben ſich Bilder und Statuen aus köſtlich erdadıten und 
zufammengeitellten Phantaſiezimmern heraus; Sammet, Holzwerk, 
Metall und die Pradıt vrientaliicher Teppiche wirkten zum 
ftimmungsvollen Eindrud zufammen, und abends warf das 
neuentdeckte eleftriiche Gtühlicht feinen Zauberglanz über das 


Hier thront das Kunstgewerbe, weldes früher, mit der | 


Ganze. Aber die Künftler waren doch über die Gleichſtellung 
mit Tapezier und Möbelfabrifanten nicht jehr entzüdt; auch reichte 
der Raum nur nothbürftig, der Heute gar nicht mehr reichen 
würde. Statt alfo häßliche Annere in den botanifchen Garten 
hineinzubauen, entſchloß man jich kurz zu einem Neubau, übertrug 
denfelben dem genialen Architelten und Dekorateur E. Seidl und 
hatte damit einen wahren Glücksgriff gethan; denn ſehr bald 
ſchon, nachdem in zauberhafter Geichwindigfeit auf dem öden 
fteinigen Iſarquai die langgedehnte Prachtfront des NAusitellungs: 
nebäudes mit einer breiten herrlichen Terraſſe fich erhob, 
merften die Münchener, daß fie bis dahin ihre ſchönſte Stadt: 
gegend unbegreiflih vernadyläffigt hatten. Bor wenig Jahren 
noch jtand hier an der „Lände*, wo die Flöße aus dem ber: 
land anlegen, ein anipruchstofes Wirthshaus „Zum grünen Baum“. 
Floßtnechte, Arbeiter, auch etliche Künſtler ſaßen abends im 
Schatten am der rauſchenden Iſar und tranken vergnüglidh ihr 
Bier im Anhauch der friichen Waſſerluft. Den übrigen Münchnern 
aber galt dieje für ungefund; jomit brachten es der „grüne Baum“ 
und feine Gegend niemals über einen jehr beicheidenen Ruf hinaus. 

Und heute! 

Tanfende ftrömen gegen Abend, wenn die Sonne den Himmel 
aolden durchfſammt, duch die Marimiliansjtraße hinaus, der 
ar zu. Luſtig vollen die Perdebahnwagen vom Glaspalaſi 
ber, wahre Fremdenzüge ausladend, und nun ergießt fich der 
Strom durch den Eingangsthurm, den unfer Bild links oben 
zeigt. In heiterem Zopfſtil, wie die ganze Front, den Steinbau 
glüdtich imitirend, fteigt er glänzend weiß in den tiefblauen 
Himmel empor. Unmittelbar davor raufcht ein mächtiger Spring: 
brumnen, deſſen Beden vier holzgeſchnitzte und buntbemalte Frucht⸗ 
pyramiden umgeben. Der an ihnen Vorüberfchreitende genicht 
dann gleich; den Ausblick auf die ganze Terrafje, melden der 
Künjtler in dem unteren Bilde rechts giebt. 

Hier wogt in den Nacmittagsftunden eine bunte, ſtets 
wechſelnde Menge; elegante Damen, wie die im Vordergrunde, 
welche joeben ihren beiden jpielenden Kleinen zueilt, Dachauer 
Bänerinnen mit Regenihirm und Korb, vom jtäbtiichen „Herrn 
Vetter“ geleitet, töchterreiche Familien mit Bädeler und Fern— 
alas, Studiofen und Künftler, ein Zug amerifanifcher Tou— 
riſten, die in geichloffener Kolonne marſchiren, Hodhzeitspärcen, 
die mit Vorliebe die entlegeneren Bänke aufjuchen, wo man unter 
den ſchattigen Bäumen binüberficht auf das im Abendroth pur: 
puren erglühende Marimilianeum, das ftadtbeherrichend auf dem 
Steilrande der Iſar liegt. Das untere Bild links giebt diefen 
jtimmungsvollen Ausblick vorzüglich wieder. Kleine Rololo— 
amoretten qaufeln und fchätern auf der Terraffenbrüftung, aus 
deren Mitte eine breite Treppe zum Waſſer hinabführt, welches 
bellgrün, in taufend Schaumfronen ftrudelnd, über die nahen 
Wehre binabjtürzt. Und aus der Mitte des reißenden Stromes 
Schießen drei hohe Springbrunnen empor und werfen den qlänzen- 
den Waſſerſtaub weithin — ein wahrhaft überrafchender Anblid 
für jeden, der zum erſten Male die Terraſſe betritt. 

An dieſer Waffertreppe werden gegen Ende des Juli, von 
Tölz und Lenggries lommend, geichmüdte Schiffe anlegen, 
Burfchen und Mädchen in fejtlicher Gebirgstracht, graue Schügen 
in voller Wehr ihnen entjteigen, um dem Regenten, Prinzen 
Quitpold, den Gruß des DOberlandes zu bringen und dann einen 
an dem ganz München ſich beteiligt, unter 
feinen Augen auf der beleuchteten Terraſſe zu verleben. Das 
Verhältniß zwiſchen Fürſt und Volk ift in Bayern ein befonders 
herzliches und Prinz Yuitpold mit feinem einfach gemütblichen 
Weſen ift eine in den Bergen ſchon lange wohlbefannte und ge: 
liebte Perſönlichleit. 

Am angenchmiten wäre cs, gleich hier auf der Terrafje figen 
zu bleiben und in wohligem Ausruhen nach des Tages Laft und 
Hitze die Wlide aus dem fühlen Schatten hinüber ſchweifen zu 
laſſen auf die golden beleuchtete Uferlandichaft, die Stadtiilhouette 
itrumanfwärts mit Vrüden und Kirchen, den blauen Streifen 
Hochgebirg, der im Süden das reiche Bild abſchließt. Aber hinter 
den Pradjtportalen der Märchenburg tet ja auch noch eine 
Ausitellung, die nefehen Sein will! — Und welcher Reichthum 
empfängt den im die tweitgeftredten Hallen Eintretenden alſobald! 


— — 


— 501 


Die Induſtrie von ganz Deutichland und Defterreich ijt es, die ! 
hier auf den Plan tritt, zum „Wettkampf der Künſte“, wie die 
Inſchriſt auf dem Thorbogen befagt. Wenn irgendwo ein mate- | 
rieller Ueberblick möglich it über das arofartine Emporkommen 
Deutichlands im Laufe der letzten 20 Jahre, fo iſt es auf einer 
folhen Ausstellung, welche die Leijtungen und Eigenthümlichkeiten 
‚aller deutſchen Stämme neben einander Har vor Augen ftellt. Das | 
Refultat iſt hoch erfreulih: was wir noch vor zwei Decennien 
dem Ausland ungeſchickt kopivend abfahen, das machen wir heute 
aus eigener Kraft, nad) eigenem Geſchmack, jedes einzelne Land 
nad, feiner Beſonderheit mehr oder weniger künſtleriſch und qut, 
aber alle geſtützt auf die Kenntniß der eigenen Vorzeit, welche 
die Quelle aller gefunden Fortentwicklung ift. 

Es braucht eine lange Wanderung durch alle die endlojen 
Hallen, bis man alles geſehen hat, was fich hier an Prachtmöbeln, 
Snftrumenten, Borzellan:, Glas- und Metallarbeiten, an Gold» und | 
Silberherrlichleiten aufbaut. Biel Schönes und Erleſenes giebt | 
es dort, vieles, wovon der gebildetite Menjc vor 20 Jahren 
feine Borftellung hatte und was heute zu den Unentb.hrlichkeiten 
gerechnet wird. Ein Hauptanziehungspuntt iſt der Mitteljnat, 
welcher die Prachtmöbel des unglüdlichen Ludwig II. enthält, das 
blaufammtene, noldjtarrende Himmelbett, einen koloſſalen Schrank 
voll goldener Schnörkelornamente und endlich den reichverzierten 
Schlitten mit langer Hermelindede. Es muß ein ſeltſamer An- 
blick gewefen fein, wenn diefer feenhafte Goldichlitten mit der 
elektrisch Teuchtenden Krone durch die einfamen Schneewüſten 
zwiichen den Felswänden, die den Linderhof umgeben, dabinflog! | 
Heute ftcht die Menge und betrachtet neugierig, was damals kein 
fremdes Auge ſehen durfte! 

Plötzlich durchtönt helles Glodenläuten alle Räume; es zeigt 
die ficbente Stunde und damit den Schluß der Austellung au. 
Nun jtrömt es aus allen Bortalen heraus; verlorene Familien— 
angehörige werden wiedergefunden, Belannte und Freunde be 
grüßen fich, neue Hunderte ziehen aus der Stadt heran, um ben 
Abend hier am arjtrande zuzubringen, denn es foll Feuerwerk 
und Konzert geben, Hiftorisches Konzert fogar, von badijchen 





Am Seudttburm. 


um 


Mititärfapellen aufgeführt, wo ein Marſch, von Friedrich dem 
Großen fombonirt, gefpielt werden joll mebjt anderen, mie 
gehörten Dingen. Fröhliche Gefellichaften erfüllen den Reftau- 
rationdgarten mit den unzähligen Tifhen und Bänlen oder die 
reigende offene Halle, welde in der Art eines Luſtſchloſſes aus 
dem vorigen Jahrhundert heiter ardjiteftoniich dekorirt ift. Uns 
zieht es für Heute hinüber nach der Meinen, durch eine Brüde mit 
der Ausftellung verbundenen Infel, wo es fi) jo köſtlich unter 
den Bäumen figt mit dem Blid auf die Wafjergarben der 
großen Springbrumnen. Die Dämmerung finkt allmählich nieder; 
da leuchten drüben Feuerichnüre und Rafeten auf, elektriſches Licht 
dringt duch das Blätterdunfel, und plötzlich ſchimmern die großen 


Waſſerſäulen in feenhaftem Glanz. Er verftärkt fid) immer mehr; 


die Schaumfpigen fangen an, roſa zu leuchten, wie Gletſcher beim 
Sonnenauigang, endlich brennen fie in tiefrother Gluth, ein wahr: 
haftiges „Fener:Wafjerwert”. Dazu dringt die Mufit von ber Zerrafie 
berüber, Ton, Licht und Dunkel verweben ſich zu einem märchen- 
haften Ganzen, das die Seele mit magifcher Gewalt gefangen 
nimmt und Bild auf Bild aus der Vergangenheit heraufzaubert. 
Eine Strafenlänge von bier ftcht das Muſeum mit den Stein: 
beifen der Wilden, denen einſtmals, die Jar gerade fo rauſchte 
wie heute uns, aber wie weit ijt der Weg von dem Kienſpan 
ihrer Höhlen bis zur eleftrifchen Sonne, die dort auf der Kuppel 
brennt! Welches Wunder ijt diefe Menfchheit, der wir felber 
angehören, und wohin mag ihr Weg noch von unferer Stufe aus 
führen ?! 

Aus ſolchen Gedanken wedt den Träumer auf der Terrafie 


‚ das Schlußfortiſſmo drüben und taujendftimmiges Bravorufen. 


Die Schöne Nachtſtunde will zu Ende achen. Langſam erhebt er 
fich, überichreitet die Iſarbrücke und wandelt durch die Gajteig: 
anlagen heim, immer wieder die blaſſe, leuchtende Front durch die 
Zweige betradhtend. Allmählich verliſcht ihr Schein, in der Seele 
aber bfeibt die unverlöfchliche Erinnerung an die ſchöne Zeit zurüd, 
an die Künftler, die ſolche Serrlichfeiten hervorzuzaubern wußten, 
an die fröhliche alte Iſarſtadt, die niemand wieder vergißt, der 
einmal darinnen weilte! 


Nachbrud verboten. 
Mne echte vorbehalten. 


Novelle von Gerhard Waller, 
(Schluf.) 


1 


ch ſaß in der Veranda. Alles, alles, was ic) vergejien glaubte, 

lebte in mir auf. Die alten Tage zogen einer nad) dem | 
andern an mir vorbei; aber alanzlos, wie in Nebel gehüllt. Sie | 
war es gewejen — ich hatte mich nicht geirrt; aber fie war für 
mich verloren. Und nicht nur, daß ein anderer fie erworben: wir 
waren innerlich getrennt, ganz getennt. Ich barg das Seficht in | 
den Händen. Nun war alles vorbei! — Und in meinem Herzen war | 
die alte Liebe mit ungeſtümer Gewalt wad) geworden! Was für ein 
Seben lag vor mir! So ſaß ich noch, als Wieble neben mich trat. 

Sie jah gehalten und ernſt auf mic. „Wollen wir Segeln? 
Der Wind kann umſchlagen!“ 

Sch ftand auf und aing neben ihre herr Wir jtiegen ins 
Boot; fie jehte ſich ans Steuer und ich machte das Segel los. 
Auf dem Stege ftanden Badegäjte, die und nachſahen. 

„Ei, da möcht’ ich auch mitfahren!" näjelte ein junger Herr 
in Perlgrau und das Monvcle ins Auge geflemmt. Eine vothe | 
Nofe flog herab, traf Wiebke vor die Bruft und fiel in ihren 





Schoß. Sie nahm fie und warf fie ins Wafler. 

„Abgeblitzt!“ rief eine andere Stimme. Jetzt befam das 
Boot Fahrt, das Segel ftand voll, wir entfernten uns vom Steg. | 
Aus Verſehen rührte mein Fuß an ihren; baftig zoq fie ihn zurüd, | 
So jahen wir ſchweigend bei einander, 

„Wiebke!“ fagte ich endlich — was hatte das arme Kind mir 
denn gethan ? — und legte meine Hand auf die ihre. Sie lieh c$ ge— 
ichehen, aber jah mic) nicht an. „Ach habe Ahnen weh gethan —“ 

„Holen Sie die Schot befjer an und belegen Sie diejelbe!* 
fagte fie mit kühlem Ton; „wir liegen Kurs au, und dev Wind 
iſt hier beitändig.“ 

„Wollen wir nicht wieder gute Nameraden ſein?“ Ach hatte 
jest beide Hände frei und faßte die ihre jo. Sie veriuchte ſie los— 
zumachen und ſah von mir weq auf die See. „Nein, Wiebfe, lafjen 

1893 


Sie uns in Frieden jcheiden, Sie fünnen nicht wiffen, was mid) 
wegtreibt von hier und was heute in meinen Weg gefallen iſt —“ 

Da fuhr jie herum. Dunkle Gluth lag auf ihrem Geficht. 
„sa, ich weiß es! Sie meinen, Sie haben den Spaß mit dem 
Mädel doch zu weit getrieben in luſtigem Weinraufch, und fie ift 
zu leicht darauf eingegangen“ — fie hielt ein und verfchludte 
mühſam die Thränen — „und nun wollen Sie fort — damit —“ 

Sie brady in lautes Weinen aus. Ich fah rathlos. Was 
halfen hier Verfiherungen? Sie trodnete ihre Thränen. So 
ſaß fie wieder eine Weile till, Endlich jah fie mid) an. 

„Iſt es wahr, daß Sie nicht meinetwegen fort wollen ?” 

„Das weiß Gott, Wichfe!* 

„Wollen Sie mir einen Beweis dafür geben?" 

„Kann id) das ?* 

„Sa; bleiben Sie bei uns!“ 

„Warum wollen Sie das?” 

„Weil ich nie wieder zur Nube kommen könnte, wenn Sie 
meinetwegen gingen, weil Sie mich ſchrecklich unglüdlich zurück 
lafjen würden; weil ich mir vor mir jelbjt zeitlebens entehrt vor: 
fommen wirde —“ Jetzt war wieder Leben in ihrem Auge. 

„But, Wieble, ich bleibe!“ 

Da zog das erfte Lächeln wieder über ihr jonft fo jonniges 
Geſicht. „Taufend Dank!“ 

Es Hang fröhlich. Und ich, ich fonnte es thun! Mir war 
fie nicht mehr gefährlich. Noch in dem Augenblid, in dem ich 
fie auf immer verlor, war Hildegard als mein guter Engel zum 
zweiten Male über meinen Weg gegangen. 

Jetzt Tam das Fiſcherdorf hinter den Dünen in Sicht und 
das Haus mit dem rothen Ziegeldach. Sie zeigte darauf bin. 

„Den Leuten da babe ich vielleicht heute qute Miether ver- 
ſchafft,“ ſagle fie mit einem Ton des alten harmlofen Wejens. 


64 


—« 509 


Wieſo?“ 
„Als id) aus der Hausthür der Tante trai, lam mir cin 
Herr entgegen — id) hab’ ihm auch bei Tifch gefchen, flüchtig — 


3 —- 


| fichen Stunde vertieft. Da hörte ih unten am Fuß des Thurmes 


es ging alles im wechielnd bunten Strom an mir vorüber; ih | 
| Wendeltreppe im Auffteigen widerhallten, durch die große Stille 


glaube, cr ſaß im unferer Nähe, ziemlich di, mit flacher Naje — 
und fragte mich ſehr höflich, ob ich hier nicht ortsangehörig ſei 


und ihm ein Quartier für Vier nachweiſen Fönne, das nicht fo | 
unerſchwinglich theuer wäre, irgendwo in der Nähe; es ſei alles 


überfüllt in Stagerfand. Da jagte ich ihm, am unjer Geſpräch 
von gejtern denfend, ex jolle nur 'mal nad) Fiſchbeck fahren, da 
näbe es Quartier genug. Er fragte noch, ob ich dort aus ber 
Gegend wäre, und ich fagte ihm, vom Leuchtihurm Da meinte 
er, dann Hoffe er mich wieder zu ſehen, zeichnete den Namen in 
fein Taſchenbuch und ging ebenio höflich, wie ev gefommen.“ 

Ich hörte mit halbem Chr zu. Es war mie im Grunde 
ſehr aleichgültia. 

Als wir mac) Schneller Fahrt unten am Fuße des Leuct- 
thurms anlegien, wurden gerade die Lichter angeftedt. Die 
Ebbe hatte ſchon angefangen zu laufen. Die eifernen Stufen, die 
in bie Untermauerung eingefajfen waren, lagen zum Theil troden. 
An beiden Seiten hingen Stetten als eine Art beweglichen Ge— 
länders herab zur Silfe beim Ausiteigen aus dem Boot. 

Wir holten das Segel ein und beſchlugen es. 

„Eind Sie mir ganz gewiß nicht mehr böſe?“ fragte 
Wiebie leiſe. 

„Nein, ich bin es mie geweſen!“ 

„Sagen Sie mir dann einmal, was Sie heute jo anders 
werden ließ? Bitte, ſpater — nicht jetzt — nicht heute.” 

„Ich will Sehen, ob ich's kann, Wieble; es ift eine fraurige 
Geſchichte —“ Ich Hetterte hinauf; fie folgte, Oben jtand Vater 
Vollers und rauchte. Er nidte ſchweigend 

Um Abend trank ich wohl wicder unten mein Bier und 
hoxcchte auf das Saufen des Windes und das Klatſchen der Seen 
und Wichfe fang ein Lied — aber mein Herz war weit, weit 
davon fern. — Ob an der polnischen Grenze oder am Meer — 
es ift alles eins: die Sorge reift mit dem Menſchen, und das 
Leid fliegt ihm doch wieder an. ch hätte aucd zu Haufe bleiben 
fönnen. — Ich konnte aud) hier bleiben! 

Ich Fichte und jegelte und badete vom Boot aus im regel: 
mäßigften Leben, das ſich denlen läßt, und diefe ftille Regel: 
mäßigfeit that mir wohl. Wenn ich draußen meine Angel aus- 
warf und die qroßartige Einfamfeit des Meeres mich rings um- 
aab, der fandige Strand einem Wolfentreifen gleih am Horizont 
lag und nur der Leuchtthurm Schlank aus der See aufragte, wenn 
die Heinen Wellen im leichten Sergang mein Boot wiegten und 
gegen feine Planken pläticherten, dann ward's mir leichter, freier 
ums Herz. Ich war vielleicht auf dem Weg der Heilung. 

Es war drei Tage nach der Fahrt mit Wiebfe. Wir waren 
qute Freunde; aber unfer Verkehr war harmloſer, ungefährlicher 
geworden, als am Anfang. 

Ich war vom Fiſchen zurüdgetummen, hatie oben auf meiner 
Stube mir von Wichle deden und auftragen laſſen — alles 
zierlich und qut und freundlich ——- und unter dem Auflegen von 
Meſſer und Gabel erzählte fie mir, die vier Herrichaften von 
Stagerſand jeien richtig beim Krüger in Fiſchbeck eingezogen. 

„Ad fo, Ihr Verehrer!“ ſagte ich, „der mit der platten 
Nafe, wicht wahr?“ 


Stimmen und Ruderſchlag. 
„Ah ſo — Wiebfes Beſuch!“ dachte id) und las weiter. 
Nah einer Weile drang der Ton von Schritten, die auf der 


an mein Ohr. Nun kommen fie nach oben. „Müflen einem die 
auch nod) die ſchöne Stille des Nachmittags jtören! Ich mag 
jetzt feine alltägliche Unterhaltung machen!“ jagte ich mir. Schnell 
legte ich mein Buch auf den Stubl und fchlüpfte in meine Kammer. 
Kaum war ich eingetreten, da famen bie Schritte an meiner 
Thür vorbei. Ich hörte Wiebfes Stimme: „Bier wohnt jegt ein 
Sommergaft, ein Herr aus dem Binnenlande —“ da traten fie 
ſchon auf die Plattiorm hinaus. Verdrießlich lehnte ich am 
Fenſter. Da rief Wieble mit einem Male faut und eifrig: „Herr 
Amtärichter, kommen Sie jchnell; Hier unterm Thum ſpielt ein 
ganzer Schwarm von Tümmlern!“ 
„So, da haben wir's!“ dadyle ih — „nun muß es doch 
Nun bin ich verrathen!“ 
Langjam öffnete ich die Thür und ging hinauf. Aber fait 
wäre ich wieder hinuntergetaumelt: vor mir, feinen Fuß von mir 


fein! 


‚ entfernt, ſtand — Hildegard am eilernen Geländer. 


ſchaulte. 


„Fräulein Starke!“ ſtammelte ich. 

Sie war blutroth geworden. 

„Sehen wir uns hier wieder?" fagte fie. 
ihre Stimme, 

Da wandte fie jih an den Herrn, der erftaunt auf und 
„Ein alter Bekannter aus jungen Tagen,” erflärte fie 
mit ſchwachem Lächeln, „Here Rüdiger, Juriſt —“ 

„Mein Name ift Baumann!“ ftellte mein Nachbar von 
Stagerfand fi) vor; „ich glaube, ich habe jchon das Vergnügen 
gehabt, Sie zu fehen in Benleitung unferer liebenswäürbigen 
Führerin hier.” 

Ich verbeugte mich, ohne etwas enwidern zu lönnen. 

„Sehen Sie dort, Herr Baumann!” rief Wiebke und zeigte 
hinab — „nein, da ſchwimmen immer mehr! So viele fieht man 
bier ſelten!“ 

Schnell wandte er ſich und trat zu ihr. Hildegard und ich 
ftanden allein und fahen einander ftumm in die Augen. hr 
Athen aing ſchnell. Mid fahte etwas wie Schwindel. Ich erariif 
die eifeme Stange des Geländers. 

„Hildegard!“ flüfterle ich. 

Sie ſchüttelte leicht das Haupt. Die beiden andern ftanden 
jenfeit der Laterne. Ach that beſinnungslos einen Schritt vor — 
fie zurüd. Da ftieh fie an den Felditubl, er fiel um und das 
Bud auf den Boden, Das Heine rothe Leiezeichen lag auf dem 
dunklen Asphalt. Sie erblidte es und zudte zufammen. Ich 
nahm es auf. 

„Kennit Du das, und weißt Du, was Du mir dazu ſchriebſt?“ 
raunte ich. 

Sie ſagte nichts, aber farbloſe Bläfje lag auf ihrem Geficht. 
Da trat Baumann hinter der Laterne hervor. „Hildegard, was 
fehlt Div?” vief er; „Kind, bit Du frank?” 

Ich riß den Stuhl auf und fie ſank kraftlos darauf nieder. 
Mir fuhr ein Stich durchs Herz. „Hildegard“ und „Du!“ hatte 
der fremde Mann gejagt! 

„Mir ift unwohl geworden vom Treppenſteigen!“ fagte fie 


Na, das war 


mit matter Stimme. 


Sie lachte: „Ta; ich mag ihn nicht leiden; geitern begegnete 
er mir drüben am Strand und tar wieder jehr freundlich | 


und ſagte, er würde mich nächitens befuchen; ich hab! ihm gar 
nicht darauf geantwortet. Er wirft einem immer fo wunderliche 
Augen zu und redet jo fomifches Zeug; das ſchick fich doch nicht 
für einen verlobten Dann. 
fein." Damit aing fie. 
Ich Hatte meinen Mittansichlummer gehalten und lehnte aus 
meinem Fenjterlein. Die See laq venungslos wie ein großer Schild 
aus blanfem Stahl vor mir. Kein Lufthauch rührte ji. „Heute 
fügt es fi) gut oben auf der Galerie, im Schatten der Laterne,“ 
fagte ich mir, nahm ein Buch und stieg, meinen Klappjtuhl unter 
dem Arm, die paar Stufen hinauf bis an den Gang mit dem 
eifernen Gitter, der um die Laterne lief. Hier oben ſaß es ſich 
wonnig. Ach ſchlug auf, da wo das rothe Seidenband lag — 
ich brauchte ja nie ein anderes Lefezeihen — und las und blidte 
hin über die Sce und las weiter, ganz in den Genuß der köſt— 


Die junge Dame ſoll ja feine Braut | 


„Ich Hole Dir ein Glas von dem guten Portwein unten!” 
tief er eilig. „Nein, nein, Fräulein, laſſen Sie mich!” hielt er 
Wiebfe am Arme zuriüd, „bleiben Sie bier!" Und Hinab polterte 
er mit ſchweren Stiefeln. 

Ich warf Wiebke einen Bli zu: „Bringen Sie dem Fräulein 
ſchnell zuerjt ein Glas Waffer aus Ihrer Stube!” 

Sie verjtand mich und ging. 

Ich nieete vor Hildegard und faßle ihre Hände und fah zu 
ihr auf. Sie lächelte fchmerzlich auf mid nieder. „Lak mich 
los!“ bat fie leiſe — „zu fpät! Er ift mein Berlobter!” 

„Und wenn er's it — das gilt nicht! Du biſt mein ge— 
wejen und bfeibjt mein, und vb ich um Dich fämpfen jollte bis 
aufs Blut — Hildegard, ich kann Dich nicht wieder Tafjen!“ 

Sie machte ſchnell ihre Hände los und jtand auf. 

„Rein, ich bin fein!” ſagte jie mit tiefer Stimme, 

„Hildegard, nimm das Wort zurück!“ rief ih und grijf 
wieder nad) ihren Händen. 


ee Sn - ‘ 
2 


e 508 + 


Sie entzog fie mir. Wieder faq der falte, todte Blid auf | was Du mit der Hand erreichen fannft, feinen Werth — gar 
mir, der mich an der Tafel getroffen hatte, unerbittlich, ftreng. | feinen!* Und NRüdfihten zu nehmen Hatte ich ja auch auf 
„Du folit, Du mußt mich hören um unferer füßen, feligen, | niemand. So fuhren wir zu zweit hinaus. Es waren wunder 
nie vergefjenen Liebe willen! — Denke daran, daß ic Deine liche Stunden, wie wir draußen den Bootsanfer fallen Tiefen 
Lippen gelüßt Habe! Sag’ mir, wo und warn ich zu Die | umd die Buttangel auswarfen: ringsum die heilige Stille ber 


fommen darf!” flchte i ‚ See, über uns Sonnengold und Himmelsblau, unter uns bas 
„Nirgends und niet“ antwortete fie feſt; „ich bin micht mehr | &figern und Funfeln und Rauſchen im Waller — da fchien mir 
Herrin über meinen Willen.“ das ganze Leben mit all feinem Leid und all ſeinem Süd, mit 
Ich ſah fie ſtarr an. | all ſeiner Sehr. und feiner Ehre wie ein großer, bunter 
„Iſt das Dein Ichtes Wort, Hildegard?” Traum. Ich lag hinten im Boot; auf der erjten Ducht fah 
„Mein lehtes Wort!” fagte fie feſt. | Wichfe und ſah auf mich nieder. „Wiebke, bitte, fingen Sie!" 


„Run, dann fahre hin!“ tief ich außer mir, „und los und | Ich ſchloß die Augen und ſie erhob die Stimme. Frieſenlieder 
ledig will ich fein, und wie Du mich vergefien, To will ic) Die in Moll fang jie über mir; wie der Geſang der Meerfrauen 
vergefien, und fein Erinnern an Dich Soll in mir aufwachen — | Hang es über dem Waller — grenzenlofe Wehmuth padte mich 
auch dies hier foll im Wind verwehen und in den Wellen unter: | und meine Seele ging auf die Wanderſchaft. Ich vergaß Angel 
achen! Wenn Du mir's wieberbringjt, dann will ich Dich wieder und Meer und Mädchen, bis diefer Seelenſchlaf und Traum in 
in mein Herz ſaſſen!“ Und ich Initterte das rothe Seidenband leiblichen Schlummer überging. Da fuhr ich auf: über mic) 
in der Hand zufammen und warf es hinaus über das Geländer, | gebeugt ſaß Wiebe und ihre Athem fuhr über mein Geſicht. 
daß es im der ftillen Luft langſam zum Wafler nieberflatterte, Ich richtete mich auf; fie Fette ſich ohne Verwirrung auf ihren 


Sie ſah ihm nad, don mir abgewandi. Plah und fühlte nach der Angelſchnur. „Wieble, warum wedten 
Leb' wohl!” fagte fie leife und reichte mir die Hand. Sie mich?" 
Ich gab ihr die Hand nicht, Und ihe Geficht Fomnte ich „Sie wachten von felbit auf!* 
auch nicht fehen. Da nahten die Schritte von unten und laute „Wiebke, faq’ die Wahrheit!“ 
Stimmen — Herr Baumann fam mit Wiebfe langfam die Stiegen | „Die willen Sie!“ jagte fie ruhig und fah mich an. 
herauf. Ich * Wieble lachen. | „Und was follte wohl daraus werden, Wiebfe?” 
„Ach, Du ſiehſt ja wieder ganz roth und wohl aus!” rief | „Gar nichts! Denken Sie, daß ich nicht weiß, wie's in 


er faut, als fie jich zu ihm wandte „Da hätte ich mir ja die Ahnen ausficht? Soll ich's Ahnen jagen?” Sie beugte ſich 
Chimborajjoreife fparen Können; willft Du trinken?” Sie nebte | wieder gegen mid. „Sie lieben die Dame von drüben und Ahr 
die Lippen und gab ihm das Glas zur, ‚ ganzes Derz gebört ihr; aber fie kann Ahnen nicht ‚gehören. Und 
„Nun, dann auf Ihre Gefundheit, Sie Nire der See!" fagte , Sie find zu ehrlich, um mit einem Mädchen, wie ic) bin, zu 
er und warf Wichfe einen langen Bid zu. Sie wandte ſich ipielen — und desiwegen, weil ich mich bei Ihnen fo ficher weiß 
erröthend ab. Hildegards Blick lag auf ihr. wie in meines Vaters Schoß, darum habe ich Sie fo lieb, darum 
„Nun wollen wir aber hinuntergehen!“ mahnte er; „dies , fage ich es Ahnen auch — und heucheln kann ich nicht! Werden 
Fanorama mit Salzwafer auf allen Seiten ift auf die Dauer Sie num noch abends zu uns fommen und mic wieder ins 
langweilig. Ach begreife nicht, verehrter Herr, wie Sie ſich hier | Boot nehmen?” bat fie weich. 
in diefer Wüſte allein haben anſiedeln fünnen. Indeſſen auch „Abends fomme ich zu Euch — aber ins Boot, Wieble — 
die Sahara hat Oaſen, wie ich ſehe!“ ſetzte er Leife hinzu. „Nicht , Wiebke — nein!“ vier ich plöglich. „Geben Sie mir die Hand, 
wahr?“ Er biinzelte mir zu. Ich muß ihn fehr zormig an- , wir wollen die fechite Bitte nicht vergeffen!® Es fam wie 
gesehen haben, denn ſchnell fuhr er in verbindlichem Tone fort: ; eine liebe, unvergehliche Stimme übers Meer von den Dünen 
„ch Hoffe, daß wir gute Nachbarfchaft halten werden; man ift | ber geflogen, die dort fern auftauchten: „Führe uns micht in 


bier jo fehr auf einander angewiefen. Nicht wahr, Hildegard?" | Berfuchung!“ 
„Gewiß!“ gab fie zurüd; „meine Schwiegereltern werben | Sie reichte mir mit abgewandtem Geficht die Hand, 
fich freuen, Sie kennen zu lernen! Adieu!“ Am nähiten Tage fuhr ich allein. Ich hatte feine Freude 


Sie wollte gehen — plößlich reichte fie mir die Hand, Ach am Fiſchen. Sollte ich umfehren? — Ich blieb draußen. Aber 
mußte ihr jegt die meine wohl geben — da fühlte ich einen ich fah wenig nach der Angel; ich ſchaute mit meinem Kieler Hin- 
kräftigen Druck der Fleinen Finger, daß es mich wie mit eleftris über nad) dem Yand, da wo zwifchen den gelben Sandhügeln ein 
chem Schlag durchzuckte — und dann war fie verſchwunden. Ich rother Punkt erfchien: das Ziegeldach ihres Haufes. Und ich ſah, 
ging wie ein Träumender in mein Zimmer und warf mich mit | wie ein Boot vom Strande abſetzte und auf den Leuchtthurm 
dem Geficht aufs Bett. So lag ih im Kampf und Ktrampf zuſteuerte. Bis mir die Mugen weh thaten, folgte ich ihm uns 
meiner Sede, bis die Sterne am. Himmel ftanden. War's abläfjig: wer jah darin? Es war feine Dame dabei; und das 
nun endlich vorbei? „Ya!“ fagte ich Taut; „wein!“ rief die wäre ja auch unmöglich geweſen! Und doch feufzte ich auf, wie 
Stimme meines Herzens, „nie!“ über eine verjinfende Hoffnung. Aber den gelben Strohhut da, 

den kannte ich, der gehörte ihrem Verlobten. Ich hißte das Segel 
und fuhr hinaus, bis ich kaum noch den Leuchtthurm gewahren 

Du fragſt mich, warum ich jet nicht mein Bündel fehnürte konnte; dann fehrte ich wm; jet mußte er fort fein. 


und auf und davon ging, und meinst, nun wär's Beit geweſen? Wichfe fam mir, eine Karte in der Hand, entgegen; „Arthur 
Ra, ich dachte auch daran und das Verſprechen, das ic Wiebe Baumann, königlicher Domänenpächter*, ftand darauf. 
im Boot gegeben, hätte mich nicht am Neifen gehindert; aber „Der Herr lief bitten, ob Sie morgen vormittag nicht zu 


etwas anderes that es: mein Stoß! Ich wollte nicht als , Haufe bleiben wollten; er fehne ſich gar zu ſehr nach Umgang! 
Ausreißer in Hildegards Augen daftchen. War doch, troß aller ; Er wollte mit mir anbinden und machte fo verlichte Augen, aber 
„Neins“, die ich dem Ja entgegeniepte, in meinem Herzen noch ich mag ihm micht! Gin verlobter Mann, pfui!“ 
ein tief verborgen Kämmerlein, in dem ein Funken von Hoffnung Sie warf den Kopf in den Naden und ging hinaus. Die 
alühte? War's vielleicht jener Händedruck, der mich zurüchielt? Wufforderung abzulehnen, wäre ungezogen geweſen, und ich blieb. 
Ich wei es ſelbſt nicht. Aber ich blieh und fuhr mit Wieble Allerdings nicht ſehr gern. Ach hafte den Burfchen von ganzer 
zum Fiſchen weit hinaus in Sce — aber nie dem Lande zu. Seele. Mehr aber noch als die Furcht, gegen die Sitte der 
Ich fagte, ich fuhr mit Wiebke. Cie trat zu mir, als ich Menſchen zu verftohen, trieb mid) eine Art unwiderſtehlicher Neu— 
am nächften Nachmittag das Boot Mar machte, und fragte mit , aierde, ihn fennen zu lemen, der da im Ueberfluß leben jollte, 
ihrem Tieblichiten Lächeln: „Darf ich mit Jhnen fahren? Es ift wo id), ein Bettler, blutarm und hofinungslos am Wege jtand, 


jo ſchrecklich langweilig und einfam hier!“ Um zehn Uhr meldete mie Wiebke, der fremde Here komme. 
Da Stand fie auf dem Felſen über mir, und wie ich hinauf: Ich nickte ihr über der Arbeit zu⸗ bei der ich ſaß. 

ſah, mußte ich mir wieder eingeftehen: „reizend!“ Aber aud: | „Soll ich ihm fagen, dak Sie kommen?“ fragte fie. 

„nimm fie ruhig mit! Es iſt fein Wagniß mehr: aud jept | ja!“ 


nicht, und jept gerade nicht! Wo Dir das in unnahbare Ferne | Wiebke huſchte hinaus. Ich machte mic) fertig und folgte 
gerüct ift, wonach Du fchnend die Arme ausjtredit, da hat das, ihr zu Herrn Baumann, ber ſehr erfreut that. 


+ 504 


Wieble brachte eine Flaſche von dem guten Portwein. Ach 
folgte Baumanns Blid, als fie den edlen Trunk vor uns hinſtellte. 
Unabläſſig lag fein Auge mit geradezu begehrlichem Ausdrud auf 
ie. Sie hielt die langen Wimpern gelenkt. Dann ging fie hinaus. 

„Donnerwetter, Herr Amisrichter,“ ſagte er und hob jein 
Glas gegen meines, „Sie haben fid) bier aber vorzũglich ein» 


quartiert.” Draußen erflang gerade Wiebkes Stimme, die in der | 
„Alles, was dazu gehört,” fagte er aufhorchend; | 
„recht jo, Sie find Junggeſell und fünnen das Leben genießen! | 
‚Wer nicht liebt Wein, Weib und Geſang — der bfeibt ein Narr | 


Küche fang. 


fein Leben lang!‘ Profit!” 

Ih Hatte Luft, ihm meinen Wein ins Geficht zu gießen; 
aber ich mußte mich wohl bezwingen und ſtieß feicht mit ihm an. 
„Sie irren ſich!“ fagte ich bejtimmt. „Laflen wir dies Thema !“ 

„Ja wohl, Sie Heiner Schäfer Sie!“ drohte er mit dem 
Finger; „na, nur feine Sorge, made Ahnen keine Konkurrenz, 
bin Witwer und verlobter Mann! Auf das Wohl denn meiner 
reizenden Braut! — Sie fennen fie ja auch und ſogar ſchon von 
früher her! MPröftchen, der Mein ift vorzüglich!“ Wieder ftieh 
ich mit ihm an, aber diesmal war's, als ob eine andere Hand 
die meine führte, fo Hirete mein Glas gegen —53 daß dieſes 
zerſplitlernd brach und der Wein über den Tiſch fl 

„Sie meinen's aber ehrlich!“ rief er od: „da 
hilft Ihnen nun nichts, da gilt die nächte Flaſche ald Strafe!“ 

Wiebke trat ein. „Ra, fehen Sie 'mal, was Ahr Here 
Amtsrichter hier gemacht hat. Baden ‚Sie's nur 'mal wieder 
ein bifschen rein, Sie reizendes Kind - 

Wiebfe wurde roth und jah mich au; dann wiſchte fie ſchnell, 





. wilder Luſtigkeit losbrach. Aber dennoch war es mir, 


.— 


ihn: „Broit, was fann das Schlechte Leben Helfen!“ und während 
ich trank, zug mir ein Werslein durd) den Sinn, ein böles: 
„Da Huch ich den Weibern und reichen Halunten 
Und mifchte mir Zenfelsfrant in den Wein — 

Id glaube, ich wurde ihm etwas unheimlich, und es war 
ihm eine nicht unliebe Ablenkung, als Wicbfe wieder erfchien, um 
die zweite Flaſche auf dem Tiſch zu ftellen. Der ſtarle Wein 
fing am, ihm zu Kopf zu Steinen, und mit einem zudeinglichen 
Blick ſchaute er fie am, Aber meine Gegenwart behinderte ihn 
offenbar. Das Mädchen ging ſchnell davon. 

Ich war in einer gräßlichen Stimmung, die in einer Art 
als ob 
durd all das Dunkel des Jammers jener Hoffnungsfunfen tief 


unten im Herzen heller aufleuchtete. 


„Giebt's denn feine Möglichkeit, Hildegard aus den Händen 
diefes Geſellen zu xetten? Sie kann ihm doch nicht lieben, 
und er liebt fie ja auch nicht!” ſagte ich mir; und dabei ſchlug 
ich ihm vertraulich auf die Schulter und ſah ihm forichend, 
lauernd in das geröthete Geſicht: Sie ſcheinen mir auch kein 
Koſtverächter zu fein! Ei, ei, fo ein bißchen Türke? Was? 


Hal's die Meine bier Ihnen angethan?“ 


bejtändig unter dent Feuer feiner Blide, den Tiih ab und ning. | 


Vertraulich Hopite er mir aufs Bein. „Nun leugnen Cie 
noch!” Tachte er; „der Blick eben, den Sie frienten! Das find 
ja ein Paar ganz famofe Augen, welche die im Kopf hat —“* 

„Wollen wir nicht von diefem Thema abſehen?“ fragte ich 
jeher beitimmt. 

„Ra, nun thun Sie mir den einzigen Gefallen und werden 
Sie nicht ungemüthlich! Meinetwegen; aber ich habe nun einmal 
troß meiner Kurzſichtigkeit für Frauenichönheit ein Auge; daß id) 
einen guten Geſchmack habe, das hat Ahnen doc) auch meine 
eigene Wahl beiwiefen. Sie ift doch reigend, nicht wahr? 
Und jo tüchtig! ch fage Ahnen, meine vier Kinderchen be— 
fommen eine exemplariſche Stiefmutter. Na, Sie trinken ja aber 
gar nicht! Proſt! Ein junger Mann wie Sie darf nicht jo 
traurig ausichn; was haben Sie denn?" 

Ja, mir ging Stich auf Stich durchs Herz! 
jetzt d'rin — id) mußte durch. Nun trank ich mit ihm, am feine 
Zunge zu löfen. 

„Wenn's nicht aufdringlich ist, Herr Baumann, dann 
möchte ich Sie bitten, mir zu erzählen, wie Sie das junge 
Mädchen Fennen gelernt haben, für das ich mid) ſelbſtverſtändlich 
intereffire, teil ich fie als Student gefannt und verehrt habe.” 

„Das kann ich mir wohl denken! Rum — fie war viele 
Jahre Gejellichafterin meiner alten Mama, oder vielmehr, jie 
jtand dem ganzen Hausweſen mit wirklich rührender Treue vor. 
Das gefiel mir; das war etwas für mich und meinen großen 
Hausftand. Und dazu die Tiebreizende Erfcheinung, das echt 


Aber ih war | 


„Hören Sie 'mal, die kann ja einen verjländigen Mann 
irre machen; fällt mir natürlich nicht ein, ihr den Hof zu machen! 
Aber Sie willen ja auch als Juriſt und Mann von Welt: jo 
ein Küchen in Ehren —“ raunte er halbtrunfen — 

„Soll niemand wehren!” rief ich — und ich malte mir mit 
febhaftem Behagen das Bild, wie diefer Herr Nittergutspächter 
von einem Haifiſch unter Waſſer gezogen wurde, 

„Wollen wir nicht einen regelmäßigen Frühichoppen aqründen 
hier in diefem vorzüglichen Lokal?“ ſchlug er weinfelig vor, als 
er fich erhob, um in fein Boot zu gehen. „Sie gefallen mir! 
Wir müſſen überhaupt zufammenbalten; was meinen Sie z. B. 
zu einer gemeinfamen Waflerpartie, einer Fahrt in Sce — in 
Ihrem großen Boot da? Und dann nehmen Sie diefe allerlichjte 
Heine Leuchtthurmfrabbe wieder als Stenermann mit, wie damals; 
fah famos aus, als Sie abfuhren; meine Braut und ich ftanden 
aud) auf dem Damm; aber wurden doch ein paar Schlechte Wie 
über Sie gemacht.” 

Mid, überlief es wieder kalt troß der erhitenden Gluth des 
Weines. 

„Nun ja, wollen fehen, wollen ſehen!“ rief ic) ihm nach; 
„beiuchen Sie mich nur recht häufig, Am Bormittag bim ic) 
aber meijtens draußen zum Baden; am Nachmittag —“ 

„Schön, schön, aljo vormittags baden Sie! Freut mid), 
laſſen Sie ſich's gut befommen,* vief er mit etwas unficherer 


. Stimme aus dem Boot; „Donnerwetter, Ihr Wein ift zu jtark 


Weibliche in ihrem ganzen Sichgeben, das goldene Gemüth und | 


die Fräftige Entichiedenheit ihres Charakters; das zog mich an. 
Und fo habe ich mid) mit ihe verlobt und bin ein jehr, ſehr 
glüdticher Bräutigam, und ich kann Ahnen Sagen, die Ausſicht, in 
wenigen Monaten ſolch ein Weibrhen heimzuführen, die iſt höchſt 
angenehm! ch bin wieder ganz jung im Herzen geworben, 
jeit fie mir das Jawort gab — auf einer Landpartie, im Walde 
war's, unter einer grünen Tanne — Herr, was haben Sie denn, 
was finden Sie Lächerliches daran?“ unterbrad) er ſich plöglic 
in einiger Entrüftung. 

Ich dachte an einen anderen Wald und eine andere Tanne, 
unter der ein vother Fliegenpilz aejtanden hatte! Hatte fie auch 
daran nedadıt? Und dod „Ja“ geſagt? 

„Ste wiſſen das jo famos lebendig zu Schildern,“ antivortete 
ich ihm, „das Führt uns ganz nothwendig zu der zweiten Flaſche, 
die ich zu leiſten Habe; trinken Sie aus!“ 

Es fam wieder einmal eſwas von der tollen Stimmung 
über mich, die auf der Germanenkneipe nach jenem Tage der 
eriten Trennung in mir auflohte. Ich hob mein Glas gegen 


' hinaus. 


pullte kräftig mit. 


zum Frühſchoppen! — Komme bald wieder; viefig gemüthlich bei 
Ihnen — grüßen Sie —“ mehr hörte ich wicht; denn das Boot 
flog vor der Brife dem Lande zu. 


Tage waren vergangen. Theils mit, theil® ohne mein Aus 
thun hatte er mich mehrmals verfehlt. 

„Nehmen Sie ſich im Acht,” fagte Brar Volfers, als ih an 
einem der folgenden Nachmittage ins Boot ging; „wir befommen 
het noch über kurz oder lang ſchlecht Wetter aus Nordiweit. 
Die Stille feit geitern und die ſchwere Dünung gefällt mir nicht, 
der Himmel noch weniger. Darauf gebe ich mehr als auf die 
Sturmwarnungen der Seewarte. Sehen Sie nad) oben; da hängt 
der Warnungaball ſchon feit heute vormittag! — Und jetzt läuft 
die Fluth Schon; kann qut werden; vorgeitern war Vollmond!“ 

„Ich will auch nicht weit,” entgegnete ich; „aber ich muß 
Komme zur rechten Zeit wieder!” 

„Wenn die Fiſcher, die auf die hohe See gefahren find, nur auch 
rechtzeitig einlommen!“ brummte er befümmert „Kommen fonft 
schwer an Land und lönnen in der Niejenbrandung fentern und voll 
Schlagen. Die volle See fteht mit Nordweit hier auf die Dünen; und 
wir haben nicht umsonst eine Rettungsbootitation drüben in Fiſchbed.“ 

Er aing und ich fehte Segel. Aber faum, daß die flaue 
Brife mich vorwärts bradıte. Ich griff nach den Riemen und 
Allmäblich kam etwas mehr Wind auf, und 
ich ließ mich treiben, die Arbeit einjtellend, — Da ſaß ich nun 
wieder, in meine ſchweren Gedanken verfunfen. Sollte ich Hilde: 
gard warnen? Sie wurde verrathen von ihm; ich brauchte ja 

















Am Reichenbach. 


teffan. 


— 
= 


de von J. 6, 


acmä 


Tach dem Oelg 


y 
x 


— © 


nur Wiebles Zeugniß beizubringen. 
nein. Sie hätte mir und ihr nicht geglaubt! Und in welchem 
traurigen Licht hätte ich als Kläger gegen ihn dngeftanden! Hätte 
es nicht wie ein jämmerliches Manöver der Eiferfucht ausgefehen? 
Nein, es ging nicht! Sie mußte ihr Geſchick erfüllen — und 
ih and. — So hatte ich wohl eine Stunde gefegelt. Plöhzlich 
wurde ich aus meinem drüben Sinnen gewedt. Ein Windſtoß 


Aber mein, und abermals | 


500 0 — 


weiß überfchäumende See, und dort hinter uns die in matten 


' Selb Icheinenden Dünen. 


fauchte über die Ser ber, das Stille Waſſer ſchaumig vor ſich ber | 
aufregend und mir in die Segel fallend, daß ich Tchmell bei der | 


Hand jein mußte, damit mein Boot ſich nicht zum Stentern legte. 
Dann ward’s wieder still. Aber vom Lande ber aroflte und 
rollte die zunchmende Brandung. „Es iſt die fteinende Fluth!“ 
ſagte ich mir und ſteckte ficherheitshalber ein Neff ein. Die Briſe 
wurde jtetiger, ſtärker. Dann und wann fuhr wieder eine ſauſende 


1 
) 


Bö einher. Das Waſſer fah grau und trübe aus; die See ging ' 


hohl, weiße Wellentöpfe kamen auf und verliefen fich, waſchend 
und ſpülend. Am Himmel zogen eiline Wolfen dahin, mehr und 
mehr fich verdichtend zu bleifarbiger Dede. 

„Es giebt am Ende dod etwas!“ dachte ich; „aber vor 
Nacht kann's micht ſchlimm werden.“ 

Ich Fannte die Mordiee nicht! — Als die Böen allmählid) 
jtärfer und häufiger einfeßten, und als der Wind plößlich wirklich 
nach Nordweſt umfprang, gleichzeitig an Araft zunehmend, ba 
wurde mir die Geſchichte aber doch bedenklich, und ich machte 
UAnftalten zum Umlehren. Jetzt ftanden die Segel voll, und mit 
eiliger Fahrt flog ich dahin. ch war durch mein Manöver 
näher an Land gelommen, und lauter dDonnernd rannten die Fluth— 
und Sturmjeen ſchnell fortichreitend auf den Strand, daß ich 
die weiß aufrauſchende lange Beile auch mit dem Auge deutlich 
erlennen konnte, Wenn die Fluth erſt mit aanzer Kraft einſetzte — 
jegt war fie noch im Anfang — dann fonnte das Schauipiel 
recht großartig werden — wenn die withende See exit alle Kräfte 
anfbot, um die Dünen zu ftürmen. Dort, gerad voraus, lag 
ragend ber grofe dunkle Granitblock, der ſeltſame, einfame, wogen- 
umfprigte Findling, vor dem mich Wiebke einst gewarnt hatte — 
wo das Kind ertrumfen fein Sollte; es follte ja noch da fpufen, 
hatte jie geſagt. Ich blickte hinüber — und es lief mir troß 
jeglichen Weangels an Geipenfterglauben doch plößlich kalt über 
den Nüden: wahrhaftig, da jtand es ja in feinem Trauerkleid 
und winfte warnend von der Höhe des Steins zu mir berüber! 
Ach ſtarrte und ſtarrte Hin — da befam ich eine See über und 
das Segel fing an zu fehlagen, eine beſſere Warnung jedenfalls 
für unaufmerkſame Schiffer, auf ihre Fahrzeug zu achten und 
alle Kraft zufammenzunehmen, als die weſenloſen Zeichen eines 
Schemens. ch Fafte die Ruderpinne ſicherer und hielt ab; aber 
ich mußte doch wieder hinſchauen: da ſtand das Geſpenſt ja aber 
noc immer umd winkte! Ach war dem Stein näher gekommen. 
Test ſah ich mehr, es war cine Geſtalt von Fleiſch und Blut, 
mit im Winde wehendem loſen Haar — cine Frauengeftalt in 
ichwarzem Kleid, ein flatterndes weißes Tuch in der Hand; eine, 
die um Hilfe winkte, und welche die plötzlich mit dem Sturm ein: 
brechende, schnell steigende Fluth vom Nüchveg zum Lande ab: 
geichnitten hatte. 

Ich Tegte das Ruder und holte die Schoten; in jchneller 
Fahrt ſchoß meine Jolle auf den Stein zu ins face Waſſer und 
in die erite Brandung hinein. Und wie ich noch näher und ganz 
nabe heran fan, da fing mein Herz an zu hämmern; was ic) 
von Anfang geahnt hatte — jegt war es Gewißheit: die Frait 
auf dem Stein war Hildegard! 

Wilde Freude fahte mich. 


zufanımen! Nun war ich dicht bei ihr. Ach riß das Segel 


Alſo doch noch einmal mit ihr 


berunter und drehte hinter dem Stein auf, im Schuß vor der | 


See, die ihren Giſcht ſchon hoch über ihm hinſpritzte. 
noch Waſſer genug unter dem Stich. 
Aus dem tanzenden Boot reichte ich dem bleichen Mädchen 


die Hand; eim ſchneller, behender Sprung, und jie jtand im 


der Jolle und fiel nieder auf die Ducht. Wir fanten fein 
Wort, das Segel vor, und hinaus flonen wir auf das tiefe 
Waſſer. 

Da war ich mit ihr allein! 

Um uns rauſchende, brauſende, ſchäumende See. Und dann 
das Schreien der nach Land zu fliegenden Möven. Ueber uns der 
dumpf fausende, Seine Flügel hebende Sturm umd der dunkel fich 
verhüllende Himmel. Keine Farben ringsum, als die ſchwarzgrüne, 


Ich hatte 


Und wir beiden im arbeitenden Boot allein über der Tiefe. 
Schweigend fuhren wir in das Wetter hinein, Sie ſaß ſtill am 
Maft, die Hände im Schoß, und jchaute hinaus auf die immer 
ungeftümer ceinherrolfenden Wogen. Spriter um Spriger lam 
über. Ihr dunkles Haar flatterte im Wind. Wafjerperlen glänzten 
darin und zerrannen. Jeht traf ein zifchender Guß fie ins Ge 
ſicht. Sie legte die feinen, weißen Finger über die Augen. Wic 
Thränen quoll und rann es darunter hervor. 

Jetzt brach ich das Schweigen. „Seen Sie fi) auf den 
Boden des Boote!“ bat ich; „ſonſt kann Sie das Segel über 
Bord fegen.“ 

Sie ließ ſich hinabgleiten und fauerte dort, ein geängftetes, 
zagendes, zartes Weib, 

„Fürchten Sie ſich, Hildegard?” 

Sie lich die Hände finfen und ſah mich an: „Ja!“ 

Ach hätte beinah aefagt: „ich wollte, wir gingen zuſammen 
unter! — Mir mußten noch weiter in See hinausjteuern, wenn 
ich nicht an den Stlippen ſcheitern twollte, die vom Leuchtthurm 
aus längs des Strandes ich, jegt unter Wafler, weithin ers 
ftredten. 

„Hildegard, wir find zum legten Mal beifammen, und nicht 
Sie und nicht ich haben diefe Stunde bejtimmt: es war Gottes 
Wille, Sobald id Sie an Land gebracht habe, neben unfere 
Wege ganz aus einander. Nuten wir diefe Minuten aus, um 
es zwiſchen uns Mar zu machen.“ 

Sie nickte langiam. 

„Alſo erst zu Ihnen, Sind Sie glücklich?“ 

Schnell hob ſie das Geſicht. 

„Glücklich?“ ſagte fie mit ſchmerzlichem Lächeln. „Haben 
Sie ſchon einen glücklichen Menſchen geſehen? Ich dachte vielleicht 
gerade darüber nach, als ich da auf dem Stein ſaß und über 
das heranbrauſende Meer hinſah — ich weiß nicht, wie lange es 
geweſen it! Ich konnte trockenen Fußes über den Schlick bis zu 
dem Stein hingeben, und ich freute mich tief veriunfen, wie die 
Wellen nach mie hinaufledten, und wie fie weiß wie fochende 
Milch am Geftein herunterrannen; und über dem wilden Schaufpiel 
und meinen Gedanlen vergaß ich des Heimwegs, bis er mir ab- 
gejchnitten war und hinter wie vor mir die Sce lochte; und 
gerade wollt ich'ſs wagen und durch die Brandung an Land zu 
achen verfuchen — da jah ich ein Boot und winkte ihm. Daß 
Sie 8 waren, wußte ich wicht, ſonſt hätte ich es wohl nicht 
gethan; denn ich hätte vorher gewußt, daß Sie mir diefe Frage 
vorlegen würden. — Sie jagen, eine Braut muß glücklich jein? 
Ka denn; ih — ich bin glüdlich in dem Gedanken an den 
Wirkungsfreis, der mir befchieden fein wird, an das Vertrauen, 
dem ich gerecht werden fol. Das ijt viel! — Sci es dem 
geſagt: die Zeit deifen, was die Menschen Liebe nennen, die Liegt 
hinter mir. Aber laljen wir das! Die Würfel find gefallen !" 

Sie ſprach ruhig, ergeben. 

„Hildegard — warum haben Sie den Mann genommen?* 

„Ich fagte es Ihnen!“ antwortete fie janft. „Ich bin feinem 
Daufe zu unendlichen Dauf für viel, viel Liebe und Güte ver: 
pilichtet; amd ich —“ fie ftodte — „und ich hatte nichts, was 
mich zurüdhielt!* 

Wicder lam eine See über und überfprühte uns beide, 
Stärfer, heulender fang oben der Sturm aus, 

„Alſo nichts!“ fante ich, und mir war's mit einem Mal, 
als follte ih das Segel loswerſen und die Nuderpinne aus den 
Handen ſchleudern — „alfo nichts!“ 

Da legte fie die Hand auf meine. Boll tiefen Leides ruhten 
ihre Augen auf mir. 

„Nichts, ſeitdem ich las von dem Duell, das Sie um jener 
Witwe willen ausgefochten; da erjt gab id Sie auf!" 

„Herr Bott!“ mehr konnte ich nicht jagen. 

„Ich ſchrieb, ohne Namen zu nennen, dorthin; ich befam zur 
Antwort, es fer alles wahr! Da wußte ich, daß Sie mich ver: 
geſſen hatten!“ 

„So! Alſo das war der Grund! Nun erlauben Sie mir, 
Ahnen Hier im Angeſicht Gottes zu jagen, daß es nicht wahr 
war! Hören Sie?” 

„sch höre!“ jagte fie traurig. „Aber ich fah Sie auch mit 
dem Mädchen vom Leuchtthurm ſiegesfroh in den Saal treten 





—“ 507 
und ſah Sie tief verfunten mit ihr reden und ſcherzen, und wie : 


Sie fein Auge hatten und fein Ohr für etwas anderes, und id) 
hörte das Reden der Leute — und das that mir weh — ob- 
gleich ich verlobt war, und ich mußte mir viel Gewalt anthun!“ 

Ihre Lippen bebten. Jetzt ftanden wirkliche, Hare Thränen 
in ihren Mugen. Ich preßte die Zähne zujammen und fagte 
fein Wort, zu den Segeln aufjchauend. 

„War das auch nicht wahr?” fragte fie mit erjtidter Stimme. 

Sch Hatte die eine Hand frei und reichte fie ihr hin: „Yegen 
Sie Ihre Hand Hinein!“ Sie ihat es. 

„Wenn ich jenes Mädchens Lippen je mit ben meinen bes 
rührt und wenn ich je ein Wort von Liebe zu ihr geſprochen 
oder fie im Arın gehalten oder meine Gedanken um fie geworben 
haben, daß ich fie fündig für mic) begehrt hätte zu Ernſt oder 
frevfem Scherz, dann will ich jcheiden von Ehre und Namen 
und Amt! Das ift bündig, nicht wahr?“ 


ihr Geficht, und fie hielt fie wicht zurück. 
Irrthum!“ flüfterte fie und vang die Hände im Schoß. 

„Und nun richte ich, an Sie noch eine Frage, Hildegard; 
die lehle warum verbargoͤn Sie ſich vor mir, wenn Ihr Herz 
noch mein gedacht; warum ließen Sie ſich nicht finden fo viele 
Jahre hindurch?” 

Sie war blaß geworden. „Weil ih nicht mehr die war, 
die Sie geliebt hatten; weil Unehre auf meinen Namen gekommen 
war; weil mein Bater" — ſie ftodte — „weil er einen böfen Tod 
jtarb und Feiner ihm zu Grabe folgte und weil fein Andenken 
nicht das eines Gerechten war, als wir arm und nur Erben 
feiner Unchre aus unferm Haufe nach furchtbaren Tagen in die Welt 
zogen. Darum wollte id) mid) nicht an Sie drängen; darum verbarg 
ich mich. Und als ih nad Jahren ruhiger und vernünftiger 
dachte, — was fonnte ich denn dafür? — da fam jenes Andere — 
und ich legte der Stimme meines Herzens Schweinen auf! Nun 
wiſſen Sie alles! Theilen mit andern konnte ich nicht!“ 

Es war aud) über mic) eine Ruhe gefommen, die mir felbft un: 
erflärlichh war. War es die jeht mächtig wachſende Gefahr von 
außen ber, die alle meine Geiſtes- und Körperkräfte in Anſpruch 
nahm, oder war es der Hare Blick, den ich in unfer beider Ver— 
aangenheit und Zukunft that, der mir die Kraft einer Art ruhiger 
Verzweiflung gab? Ich weiß es nicht. 

„Gut; zu Ende, Hildegawd! Nun gieb mir noch ein einziges 
Mal die Hand — fo, Du einzig, unendlid) und ewig Geliebte — 
nun zieh in Frieden! Aber jegt ailt's!“ 

Wir waren querab vom Leuchtturm, um den ich herum 
mußte, um meinen Fahrgaft an Land bringen zu können. 
dahin Hatte ich das Boot fchräg gegen die heranrollende Ser ge 
jteuert, und ob es auch wild genug ſtampfte, fo hatte es doch 
immerhin noch qute Stübe am gerefften Segel. 
nach Lee über, als daß wir viel Waſſer hätten überbefommen 
fönnen, und wieder wicht weit genug, daß wir Waller geichöpft 
hätten. Aber jebt fam der NAugenblid der Gefahr. Run mußte 
ic Ruder geben und abdrehen, jo daß das Boot, wenn auch nur 
eine kurze Zeit lang, quer gegen die hohe See zu liegen fam. 

Jeht fam es dazu — wenn wir herumkommen fonnten, che 
die nächſte Ser heranbraujte! Tief lag das Boot auf der Seite; 
der Dollbord ftreifte im Waſſer — ich hielt die Schot Har zum 
Loswerfen. Hildegard hatte die Hände um den Majt geſchlungen 
und blidte aus großen entfeßten Augen auf die dunkeln weiß— 
ſchaumigen Seen. 

„Sie tommt, fie fommt!* ſchrie fie laut — und ſchloß die 
Augen, das Geficht neigend. 


Sa, fie fam, wir fonnten nicht jchnell genug drehen in dem | 


hohen Seegang. Höher und höher jchwoll fie an; deutlicher das 


Raufchen; — wie der Schaum perlend berniederläuft über den | 


Kamm — hohles Braufen — ein Wirrfal von Giſcht, ein durch: 
einander Fluthen und Gießen. Jetzt hat fie das Boot erreicht; 
jie verdedt den Horizont als dunkle Fluthende Maner — mun 
fämmt fie über, num überjchüttet fie das Boot; fiedend, ſauſend, 
ziſchend, dröhnend bricht fie über uns zujammen; krampfhaft halte 
ih das Steuer in der Rechten, mit der Linken decke ich meine 
Augen; das Boot jenft ſich — nun müſſen wir fentern! — 
ich ſehe auf, fait liegt das Segel auf der fortjtürmenden Ser; 
das Boot hebt ſich — unter ihm her ſchießt milchweiß die Woge, 
die uns bedroht; den Brecher haben wir zwar befommen und 


On 


das Boot ift halb voll Waſſer, Hildegard und ich triefen — 
aber es iſt noch micht vollgeichlagen und nicht gekentert! Nun 
fällt es ab — jebt laufen wie mit den Seen, die an uns vor: 
bei fpülen, mit windverwehten Kämmen rauſchend, weißitreifig, 


vom Sturm geheht; — aber jetzt fchlingert der Kahn von Bord 


zu Bord und jchöpft mit beiden Seiten; im Boote ſchwabbert 


das Salzwafjer herüber und hinüber, und immer mehr kommt 


über. „Hildegard“ — rufe ih, — „Ichöpfen Sie, wir laufen 
voll.” — Aber meine arme Blume lag da, Halbtodt vor Angſt 
in dem wilden Kampfe, zitternd, die Stirn an den Maſt gedrüdt. 
Ich bücke mich und öfe mit einer Hand, fo aut ich ldann; aber 
was fruchtet das! est läuft uns eine See von achten auf, ich 


‘ höre fie, ſehen kann ich fie nicht; nun brauſt es ſiedend Hinter 


mir, num läuft es mir über Kopf und Naden, num ergießt fie jich 
ins Boot — wir erreichen nimmer den Strand! — — N 


Sie nidte wieder, und dies Mal perkten die Thränen über | einmal ſolche See, und — da blide ich auf: wir find dicht am 


„Alſo alles, alles | 


Bis | 


Es lag zu weit | 


Lenchttburm! Und da jteht Brar Bolfers und donnert mir mit 
dem Sprachrohr zu: „An Lee von dem Thurm — an die eifernen 
Stiegen! Hart das Ruder! Scout anholen!* 

Wieder liegen wir quer vor der See; das Boot geht ſchwer; 
es muß ja finten — nur noch eine Heine, Heine Weile hält's 
über Waller, Barmherziger Gott — nur micht jo nah der 
Rettung verderben! Nun in den Schwall hinein, der an dem 
Felſen vorbeifluthet, dann kommt das jtillere Wafler! Ich 
bin Halb geblendet vom Salzwaſſer — fahre ich richtig? — 
„Dicht heran, dicht heran!“ dröhnt die mächtige Stimme des 
Alten; umdentlich fehe ich Wiebkes Gejtalt über mie — num 
fluthet’3 heran, donnernd, übermächtig: „Greif' die Fangleine! 
Das Boot hadt weg! Bier Dal um den Arm!“ höre ich's noch 
ichallen. Da fliegt die Leine auf mich zu; ich fſaſſe Hildegard 
nit dem Tinten Arm um den Leib; eiſern frampfen meine Finger 
um die Leine — plöhtllich ſchnürt fie mir den rechten Arm jaft 
ab in ihren Windungen, aber ich laſſe nicht los; unter mir 
weicht es — id) tauche unter — was brauft mir fo donnernd 
vor den Ohren? ch werde durchs Wafler gezogen, über mir 
bricht ſich die Brandung; jetzt wache ich auf, dicht vor mir ſind 
die eiſernen Stufen; nur zwei davon kann ich noch ſehen — ic) 
laſſe die Leine und Hammere die Finger der Hand um die Geländer: 
fetten — die Sce treibt mich heran, meine Füße ftehen — id) 
habe Grund auf einer der unteren überflutheten Stufen. Bon 
oben ftreden ſich Arme mie entgegen. Halb reiche ich jie hinauf, 
die blaſſe, beſinnungsloſe, halb ertrunkene Hildegard, hald ziehen fie 
fie; matt hängt das liebliche Haupt, ſchlaff hängen die Arme, 
ich Himme mad. Wichfe und der Bater tragen fie ſchweigend 
hinein und legen fie auf den Tiſch, an dem ich das Glas zer- 
brach, das ihr Verlobter ihr brachte. Ihre Bruſt hebt ſich in 
langſamem Athmen, und ich ſtürze auf meine Kniee nieder am 
Tiſch und lehne die Stirn an die Platte: „Gott ſei Dank!“ 

Sch Springe auf und jane zu Wiebke: „Nun wollen wir fie 
in Ahr Zimmer tragen und auf Ihr Bett legen!“ Wieble ſieht 
mich ſtill und ernſt an und jagt: „Ra, ich will für fie forgen!" 
So tragen wir fie die Stufen hinauf und legen fie nieder. „Nun 
entlleiden Sie fie, Wieble; und wenn fie die Angen aufſchlägt, 
dann laſſen Sie's mid) willen.“ 

Sp wurde Hildegard gerettet! 
Uhr. — 

Halb todt ſank ich ſelbſt auf mein Bett nieder, nachdem ic 
mit zitternden Händen mich des triefenden Zeugs entledigt hatte. 
Da tappte es mit ſchweren Schritten nadı oben; ohne anzuflopfen, 
trat Brar Volkers ein, ein breites Lachen anf dem verwitterten 
Seficht, und hielt mir eine große Flaſche entgegen. Er zog den 
Piropien ab und vieb quietſchend damit an dem Glas entlang. 
„Bißchen was Gut's!“ ſagle er mil feinem tiefen Neblton: „Alter 
Goanac! Seven Stars; ſehen Sie 'mal; vor langen Jahren 'mal 
felbit aus Bordeaur mitgebracht. Riechen Sie erſt! nicht wahr, die 
reine Eau-de Cologne? Das hilft dem alten Adam wieder auf 
die Beine; habe der Kleinen auch einen Schlud voll herunter: 
gegoſſen, sie ſchludte wicht ſchlecht und Fam wie men zu ſich! 
Nun nehmen Sie ordentlich einen!* Er hielt mir die Flaſche 
beinah an den Mund. Troß des Ernſtes der Lage Fonnte ich 
mich eines Lächelns nicht erwehren bei dem Gedanken, daß ich 
mit Hildegard aus einer Cognacjlafche tränfe! Wer mir das je 
prophezeit hätte! Wohlige Wärme duchitrömte mid nach dem 
starken Trunke. — Brar Bolters jah vergnügt auf mich: „Sa, 


Es war Abends ſieben 


—ö 


ja, fie fante auch: ‚OD wie das breunt!® aber fie friegte gleich 
ein bißchen rothe Baden wieder.” 

Id) drückte dem braven Mann die Hand und er ning. 

In der Thür blieb er noch einmal jtehen: „Na, ich will die 
Buddel lieber bier laſſen; aber das Boot iſt weg,“ ſagte er; „das 
müſſen der Herr Amtsrichter ſchon bezahlen!“ Ich nickte ihm zu. 
Wie gern! 

Nicht lange danach fam ein andrer, leichter Fuß vor meine 
Thür; Halb im Schlafe hörte ich, wie's anklopfte, und ſah Wiebke 
behutſam eintreten und mein Abendeſſen auf den Tiſch itellen. 

„Nun schläft fie," meldete fie fröhlichen Geſichts, als ich 
mich aufrichtete. „Exit war's ihr ſehr ſchlecht, ala fie zur Be- 
finnung fam; fie hatte ſchon eine ganze Menge Salzwaſſer ge: 
ſchludt; aber nachher gab ich ihr heißen Thee mit Rum, und 
num iſt jie ganz warm und ſieht nur noch ein bißchen blaß aus. 
Sonst fehlt ihr gar nichts. Jetzt gehe ich nad) unten, um das 
Abendbrot zu machen für Bater; ihr kann nichts geſchehen. Ich 
fehe auch mal wieder nach!“ 

Sie verſchwand. 

Ich lag in einem eigenthümlichen Zuſtande halber Betäubung. 
Draußen tobte jeht der 
Sturm mit voller Wuth 
und ſchlug die jtarfen 
Schwingen um den 
Thurm, als wollte er 
ihn niederiverfen in Die 
raſende Fluth, die don: 
nernd ihre Seen an 
ihm zerichelfen und ihre 
Schaumkronen hoch au 
ihm emporklettern lich, 
bis fie zerftiebend und 
tojend zufammenbrachen, 
ſich überſtürzend im ver: 
geblichen Anfturm. Es 
war ein Wettern und 
Brüllen und ein Braufen 
und Branden und Sieden, 
als müßte die Sce das 
Yand und die Klippen 
und das Menſchenwerk, 
das ſtolz und ficher auf 
ihnen ftand, verichlingen 
und in die Tiefe betten. 
Und dem Rüthen da unten 
hatte ich fie — Hildegard 
entrifien. Aber wozu? 
Fir wen? Ein anderer 
wird fie in die Arme chliehen und ihr Herz fuchen — „aber es 
wird ihm nie gehören!" jagte eine Stimme in mir, „Was hilft's 
Dir,” fragte eine andere, „da fie unglüdlich wird, wenn Du 
wicht glücklich wirft? Er wird fid) tröſten. 
Einfame.“ 

Ich drückte das Geficht in die Kiſſen und ſtöhnte. 

Es duldete mich wicht länger im Bett. Ich ftand auf umd 
zog mich an. Mir warb wohler, als id) am Fenſter ftand und 
binausjah in die tobende See. So weit ich Sehen konnte — ein 
Aufruhr! Vom Lande war nichts zu jehen. Der aufgepeitichte 
Wafjernebel von den verwehenden Seen verhüllte es wie mit weiß— 
lichem Schleier. Es fing ſtark an zu dunleln, es war alfo ſchon 
ſpät. Ach Hatte länger gelegen, als ich dachte. Der fait noch 
volle Mond jtand ichen body am Himmel, jet von jchweren, 
dahinjagenden Wolfen verdedt, nun wieder hellen, geſpenſtigen 
Schein über das wiüthende Meer werfend. 

Sch trat zurück und jehte mich am den Tiſch. Mein Abend 
eſſen ſtand unberührt. Ich tonnte feinen Biſſen nehmen. Ich 
fügte den Kopf in beide Hände und ftarrte auf den Streifen 
aelden Mondlichtes, der durch das ſchmale Fenſter auf dem 
Tiſch und dem Fußboden ſich malte. Da famen wieder die 
leichten, behenden Schritte die Treppe herauf und hielten vor 
meiner Thür au. Es klopfte mit leichtem Finger. Ich Tchaute 
nicht auf, als auf meinen Ruf Wiebke eintrat. Ich ſah mur 
ihr Seid. 

„Nehmen Sie's nur fort,“ fagte ich; „ic kann nichts eſſen!“ 





Die Ainderpflegeanflalt in Norderney. 


Sie bfeibt die | 


rn 


508 9 — 


Sie lam näher. Eine Hand jtredte ſich vor und legte etwas 
vor mich hin, daß mein Muge darauf fallen mußte Es war 
ein Kleines, dunfelrothes, verwaſchenes, zerfnittertes, etwas beftidtes 
Seidenband — mein Herzichlag ftodte; war denn bier höllifches 
Blendwerk im Spiel? Mein Lejezeihen? Ach blidte auf — 
Wiebke? — Aa — und nein! ihre Geſtalt — ihr Zeug — aber 
das Mondlicht fiel auf ein anderes, jühes, blaſſes Geſicht — das 
liebjte mir auf Erden; dunkles, ſträhniges, fenchtes Haar fluthete 
um Stim und Schultern — Hildegard? War jie tobt? Nahm 
ihr Geiſt Abichied von mir? ch ftarrte wortlos, vegungslos 
die Tiebliche, ſtille Erſcheinung an — da that fie die Lippen auf 
und ſagte mit leifer Stimme: 

„Du ſagteſt: ‚wenn Du mir das Band wieder bringst, will 
ich Dich wieder in mein Herz fallen! Da lient es, nimm mich 
an Dein Herz!“ 

Ach ſtand auf und trat zu ihre und that die Arme weit 
auf — jie warf jich hinein! Langſam beuate ich mich über fie, 
langſam jenkte ich meinen Mund auf ihren; fie ichlang den Arm 
um meinen Hals — fein Wort von ihr, von mir — draußen 
brüffte die See, heulte der Sturm — aber wir hörten's nicht: 
unſere Seelen flogen auf, 
weit, weit über Wetter 
und Leid! 

Sie lehnte ſchwer— 
athmend in meinem Arm. 
Ich führte ſie ans Fenſter, 
in den vollen Monden— 
glanz und ſah ihr ins 
Geſicht und ſah, wie das 
blaſſe Licht in ihren 
Augen ſich ſpiegelte. 

„Halt Du je einen 
glüdlichen Menichen ge 
fchen ?” fragte ich Teile 
mit ihren Worten. Sie 
lächelte wunderſam zu mix 
auf. „Ich che zwei!” 
antwortete fie ebenjv. 

Und die zwei faßen 
im Kämmerlein od) oben 
unter der Laterne des 
Leuchtihurms, einſam, 
weltverloren, ſturmum⸗ 
rast; über ihnen fiel 
lichter, goldener, fried- 
liher Schein in das 
tojende Wetter, über die 
ftürmende Ste — und 
goldener Schein des Friedens war in ihre Herzen gefallen nad) 
Qual und Sturm und Roth. Frik! Die Stunden! 

Der Mond zog oben feine Bahn, böber, immer höher; was 
waren uns Stunden? Sie ſaß neben mir an meine Schulter gelehnt. 

„Immer, immer warſt Du meines Lebens Glück und Leid!“ 


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3 
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flüfterte fie; „immer vang mein Herz nach Dir, immer ftanden 


die Tage vor mir, in denen Du mic im Arme hielteſt! — O 
was hab' ich acduldet um Deinetwillen! Und num kommt das 
Glück, das unfahliche, und bfendet meine Augen mit feinem Glanz: 
Dein fein, Dir gehören — und los von den gräßlichen Feſſeln! 
Küſſe mich!“ rief fie und fchlang wieder die Mrme um mich, 
„mach meine Lippen vein, die jeinen Mund dulden mußten.” 
Und ihre Lippen waren heiß. — 

Ter Mond ftand über dem Thurm, es war nad) Mitter: 
nacht; nur blaffer Schimmer der Sommernacht fiel noch in meine 
Kammer. Immer noch ſaßen wir beilammen. 

„Ich erwachte,“ To erzählte fie; „neben meinem Bett brannte 
Licht. In feinem Schein alänzte Wichfes Silberfihmud in dem 
offenen Näftchen auf ihrer Nommode und zog meinen Blid an. 
Auf den filbernen Netten und Spangen lag, halb in Seidenpapier 
verborgen, ein goldenes Schmuckſtück — ein Armband Mir 
war's, als hätte ich es ſchon geſehen mit den blauen Vergiß— 
meinnicht darauf. Gerade jo eines hatte ich vor zwei Tagen auf 
feinem Tiſch unter allerlei Papieren in einem zierlichen Käſichen 
liegen ſehen; ich glaubte, es fei für mid zum Geburtstag be: 
ftimmt — Du weißt, übermorgen, und fait reute es mich, 





Ein Scäferidpft. 


Nah dem Delgemälde von F, Blume> 


iebert. 


S 
2 


—o 


daß ich's bemerkt. 
Haufen zerknitterten Papieres; ich erhob mich im Bett und griff 
danach — und erſtarrte: darunter ſtand jene ſelbige Schachtel und 
nachlaſſig daneben geworfen lag ein Blatt Vapier, ein beſchrie 
benes — von ſeiner Hand ohne Namen; ex bat fie, morgen in 
das Dimenthal zu kommen, zur Abenditunde; er müſſe Wichtiges 
und Geheimes mit ihr reden; und recht ſüß und vorfichtiq Hatte 
er Feine Worte geſtellt. Wie ih es Tas, feat erſt Efel in 
meine Secle, und dann fing fie an, aufzujauchzen: ‚Du biſt 
frei, Du bit ſrei“ — Auf der Rückſeite fand mit Bleiſtift 
Wiebles Antwort: ‚Das Armband ſchicke ich zuräd. Ich man 
fein geftohlenes Geſchmeide, es gehört wohl Ihrer Braut, Ach 
lomme nicht nach den Dimen, und Sie nicht wieder zum Thurn; 
ich mag Sie nicht, jo wenig wie Ihr Gold! So ungefähr. Ich 
drädte die Hände anf mein pochendes Herz: ‚Erlöft! Er und 
ih" Ich meinte Dich.” 


fagte ihr alles. 

„Es wäre eine Verſuchung geweſen von manchem andern; 
von ihm nicht!“ befannte fie ehrlich und Half mir mit freundlich 
gelchäftiger Hand. 

„Sie weiß, wo ich jeht bin! Und ich bin bei Dir, bei Dir!” 
jauchzte Hildegard. „Alle Nolh ift vorbei; nur habe mich lieb!” 

„Und das Band?“ fragte ich und hielt fie ſeſt im Arm— 

„Als ich am jenem Tage ins Boot ſtieg, an dem Du es im 
Horn Hinabwarfft, fah ich es auf dem ftillen Waſſer neben dem 
Kahn treiben, wie's langſam gegen die Felſen getragen wurde 
von den ſpülenden Heinen Wellen. Da tauchte id} die Hand ein 
und nahm es mit — fiches Leid um Dich) im Herzen; zum An— 
denken an Dich — an meine Zugend — an mein Gläd! Und 
hab's alle Stunden bei mir getragen! . .. Und mun will ich 
gehen,“ sagte fie und ftand auf und legte mir bie Hände auf 
die Schultern. „Der Mond wird bald untergehen, und es ſchickt 
ſich eigentlich nicht, Ddak ich Dich auf Deiner Kammer beiuche 
zur Mitternachtszeit; aber Du bit mir nicht böje darum, nicht 
wahr? Und unſer Herrgott wird's auch nicht fein; Heut’ war 
Deine Stube eine Stiche, denn feine Lieben Engel waren mit dabei; 
nicht wahr, bei unferem Verlöbniß?“ 

Ja, der Mond ging unter; aber funfelnd ging unfere Sonne 
auf, Ströme goldigen Lichtes ausgiehend über unferen Weg. Es 
giebt doch Glück, auch auf Erden fon! 


Wiebke kam; ich zeigte ihe alles mit zitternder Hand und 





Als ich erwachte am nächſten Morgen, da war mir's wie 
ein Traum. Allmählich fam mir das ganze Gefühl der Erlöſung 
ans jahrelangen Banden einfamen Leids, das Gefühl der Teligen 
Gewißheit und ich bob die Hände in unendlicher Freude! So 
blühten uns zwei Tage eines Glückes, wie es wenigen beſchieden 
it. Wir ſaßen zuiammen und hordjten hinaus, wie da immer 
noch Ddins wilde Jagd mit Pfeiſen und Heulen über Die 
brandende Nordſee fuhr, und bauten uns unfere eigene Welt, 
Sie lag vor mir auf den Knieen, die Arme aufgejtüßt und das 
Seficht in die Hände gelegt — To fah fie zu mir anf mit den 
blanen Augen, umwallt von dem langen dunklen Haar, und welch 
ein Feuer ftrahlte aus den Augen, welde Welt lag für mid) darin! 

„Weißt Du, was ich wollte?” fragte fie ernfthaft. 

„Run ?* 

„Dah wir fo allein blieben! So ganz nur Du mir und nur 
ich Div angehörig! O, wenn Du wüßteſt, wie lieb ich Dich habe!” 

Ich wußle es. 

Kennſt Du das Lied von den zwei Königskindern?“ fragte 
fie weiter, „die nicht zu einander kommen lomiten, denn das 
Waller war viel zu tief?” 


510 
Neben dem Schmudkäftchen Wiebkes Tag ein | 


‚ Babe eine gute Sache! 


‚ Kopftuch mit den abjtchenden Flügeln gezwängt. 


0-—: 


Dein Arm umfing, wie die Nachtigall ihre fegten Werfen fang; 
aber ich bin älter, mein Herz ift ſtärler; ich till, ich muß jetzt 
Dein ſein mit allem, was in mir lebt und lebendig getvorden 
it; es Soll feine Falte meines Herzens fein, in die Du wicht 
hineinſchauſt, fein Gedanke, den Du nicht kennſt — aber ich will 
auch Dich haben; ganz —!“ Starke Feidenfchaft brach aus ihren 
Augen; holdfelig ftand fie vor mir. 

Zwei Tage lebten wir fo hoch über der Welt, während Tein 
Verfehr mit dem Lande möglich war. Aber doch ging die Rede 
zwifchen uns und dem Hauſe, zu dem jie bisher achört, häufig 
genug Hin und Her. Der Leuchtthurm fand in tefegranhiicher 
Verbindung mit Stagerfand, und von dort gingen die elettriichen 
Boten nad Fiſchbeck, uns von drüben, ihnen von hüben Kundſchaft 
zu bringen. Bear Vollers war fo verjtändig geweſen, gleich am 
erften Abend beruhigende Nachricht hinüber zu jenden, und von den 
prächtigen alten Leuten, wie von dem minder prächtigen Domänen: 
pächter, ihren Sohn, Tiefen Trojt: und Mahntelegramme genug ein. 

Hildenard behandelte alle, die von ihm kamen, mit einer 
grenzenlofen Verachtung, die an Haß grenzte. Eben war wieder 
eines angekommen; fie Dielt es mir entgegen, lachend, daß die 
weißen Sahne unter der feinen Oberlippe beworbligten. Wenn 
fie mid) anladıte, war's anders! 

„Dier, lies!” jagte fie. Ach las: „Theure; ſobald morgen 
ein Verkehr möglich it, komme ich hinüber und hole Dich; wir 
jehnen uns unbeſchreiblich nach Dir!“ 

Wieble lachte auch. 

„Ma, ich gönme es ihm!” ſagte fie Leichthin, „aber die Augen!“ 

Nur Brar Vollers ſaß ernſt und bedächtig und rauchte ſtark 
aus feiner Kreidepfeife und fagte nichts. 

Am nädften Morgen war der Sturm abgejlant und Die 
Sce wiedergegangen. Wir ftanden oben auf der Galerie des 
Thurms, Hildegard auf meinen Arm gelchnt und eng an mid) 
gefchmicgt, und beobachteten ben Strand durch meinen Kieler. 

Ach reichte ihn ihr: „Schau bin; da wird ein Boot Mar 
gemacht!" Helles Noth ſtieg in ihre Wangen; ich richtete ihr 
das Glas, „Na,“ ſagte ic, und ich fühlte, wie ein leichtes 
Zittern durch die Schlanke Mädchengeftalt ging — „un jehe ich 
einen gelben Strohhut. Ich fürchte mich!” ſagte ſie, das Glas 
finfen laſſend und ihr Geſicht an meiner Schulter bergend; „laß 
uns hier oben bleiben!“ 

„Das geht nicht, Hildegard; Aug im Auge müſſen wir 
Abrechnung mit ibm halten!“ 

Sie richtete jich auf: „Nun gut denn! Du haft recht; ich 
Ya uns gehen! Aber um eines bite 
ih Dich: laß mich ihn allein empfangen, wenn das Boot landet; 
wiliit Du? Aber bleib’ in der Nähe, in dee Wiriheitube, jonjt 
fürchte ich mich doch!“ 

Langiam gingen wir die hohe Treppe hinunter. Bor Wicbfes 
Zimmer machte fie ich los: „Ich fomme nach! Geh’ in die 
Wirthsſtube und komm mir zu Dilfe, wenn's fein muß!" Die 
Heine Sand war doch falt, Die fie mir reichte. 

Sie ſtand unten an der Landungsftelle; nod immer in 
Wiebfes Kleidern, jegt fogar mit dem reichen Silberſchmuck auf 
der Bruſt, das aufgenommene Baar inter das ſchwarzſeidene 
Das Boot fam 
näher. Der Mann mit dem gelben Strohhut winkte vergnügt 
mit der Hand. Hildegard ftand ruhig, an den Bootsdabit gelehnt. 
Ich jah, wie fie mir verſtohlen und verſtändnißinnig zunidte; der 


‚ etwas kurzſichtige Heer hielt fie offenbar noch für Wiebke. 


' ein Irrlhum verzeihlid; war. 


Ich dachte am dei erften Abend ten im Thurm und an | 


Wichkes Belang. 

„Für uns war's nicht zu tief! Mir waren Die Königs— 
finder, aber uns hat's zufanmtengebradht, Und wenn ich Dich 
jetzt wieder laſſen jollte —" wie glomm es auf in ihrem Blid! — 


„ja, damı hieß es auch zum Schluß: ‚Und länger konnt' fie nicht | 


leben!" Sie jprang auf und legte die Hände um meinen Naden | 


zuſammen, und ihr langes Haar wallte um mein Geficht, wie fie 
ſich über mich feligen Mann neigle: „Alles, alles, was ich feit 
jenen Tagen ins Herz zuriddrängen mußte, jegt iſt's über feine 
Daämme getreten — ich bin wieder diefelbe, die im Schloßgarten 


Nun kam das Boot näher. Hildegard beichattete die Mugen, 
wie von den Sonnenftwahlen geblendet, mit der Hand. An Ge— 
ftalt und Wuchs waren fich beide Mädchen ziemlich gleich, fo dat 
An dem fo emporgehaltenen Hand- 
gelenk funfelte ein goldenes Armband — jenes mit den blauen 
fleinen Vergißmeinnicht. Er mußte es bliken ſehen. Er wintte 
mit feinem Tuch; er freie ſich offenbar über den Anblid, den 
das ſchöne Frieſenmüdchen dort vben bot, Das zu feinem Empfang 
da ſtand. Das Boot ſchoß herum und das niederacholte Segel 
verbarg ihm auf kurze Zeit ihre Beftal. Kaum war das Boot 
nahe genug, So fprang er gewandt herans; Hildegard lieh die Hand 
von ihren Angen finfen und biidte ihn an — er faumelte einen 
Schritt zurüd. 

„Hildegard! Stotterte er — „mein, diefe Ueberraſchung! 
Du ſiehſt ja entzüdend ans im dem Anzug —“ 


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„Da wohl, beionders mit dem jchönen Armband, nicht wahr? | 
Iſt es nicht wundervoll?" fragte fie und trete ihm die Hand 
entgegen. Sie fuchte ihre Stimme fest zu machen, aber ihr Busen | 
wogte in mächtiger Aufregung. 

„Um Gott!” rief er und war bleich geworden — „wie | 
tommſt Du dazu?“ entfuhr es dem Faſſungsloſen, Ueberrafchten. 

„Lab unfern Herrgott aus dem Spiel!“ fagte fie ernft und | 
ihre großen Mugen Tagen mit einem wnausiprechlichen Ausdrud 
auf ihm; „nehmen wir an, ich hätte c& gefunden, und dies 
dazu!" Sie ariif in die Tafche und hielt ihm den Brief ent« 
negen. „Da Sie das Armband fo qut twieder erfannt haben, it 
die Frage, ob Sie die Handfchrift hier anerkennen, wohl über: 
flüſſig — bier!" Sie fnitterfe das Blatt zufammen in der Heinen 
Hand und warf es ihm vor die Frühe; „und bier!“ das Arm— 
band klirrle auf den Fels; „und bier!“ cin Heiner Goldreif 
jprang auf und rollie über die Granitquadbern ins Meer. Ohne 
einen weitern Blid wandte fie dem Mortlofen den Rücken und 
ging langlam auf die Thür des Thurmes zu. 

Er ſah micht ſehr geiftreich aus in diefem Augenblid. 
Plöglich aber fuhr er auf und lief ihr nach. Er fahte ihren Arm. 
„Hildegard!“ Feuchte ex, „was foll das? Biſt Du wahnfinnig ?“ 

Mit vornchmer Bervegung machte fie ihren Arm los. Kalt 
und feindfelig jah fie ihn an, das Haupt zurüdgeworfen, die 
volle Unterfippe etwas vorgejchoben. Sie fagte fein Wort. Mich 
hatte fie doch noch anders angeſchaut damals im Kurſaal! 

„Hildegard, was machſt Du?“ rier ex heijer; „fo höre mich 
doh! Was ijt dem mit Dir vorgegangen?“ Ihre Lippe jchürzte 
ſich in bitterer Verachtung. Sie blidte über ihn weg nach dem 
Fenſter, an dem ich fand, und winkte mir. Sein Auge folgte 
unſtet ihrer Bewegung. Jetzt jtrömte wieder dunkles Roth über 
fein fahl gewordenes Geſicht und es Teuchtete auf in feinem Blid. 
Ah!“ rief er. 

Ich trat hinaus. 

„Sprid Du mit dem Herrn!” ſagte Hildegard kalt und trat 
in den Thurm. 

„Du? Du?“ ſtammelte er und machte einen Schritt auf mich 
zu — „Herr, was ijt hier vorgegangen? Stehen Sie mir Rede!” 

„Kommen Sie mit,” fagte ich und zog ihn in einen Winkel 
des vorjpringenden Felſens, wo man uns nicht jah vom Thurme 
aus; „die Sache ift Sehr einfadh: Sie haben ſich fo wenig als 
Mann von Ehre gegen Ihre Braut benommen — Sie werden 
die Thatſache jelbjt nicht Ieugnen wollen, denn die Beweiſe find 
ja erdrüdend — daß Sie nichts Beſſeres thun können, als die 
Löſung Ihres Verlöbnifles ohne weiteres anzuerkennen —“ 

„Den Teufel will ich!“ jchrie er mich an. 

„Es wird Ahnen wohl nichts anderes übrig bleiben; denn 
ich vertrete die Interefien des Fränleins von jept an —“ 

„Sind Sie verrüdt, Herr? Mit welchem Recht?“ 

„As ihre zukünftiger Gatte!“ 

Er ſah mich an, als ob er falich gehört Hätte. 

„Ihr — zukünftiger — Gatte, fagten Sie?" Er lachte laut 
auf. „Das iſt ja eine reizend anjtändige Geiellichaft hier! Auf 
diefe Art von Leuchtthurm will ich doch die Polizei aufmerkſam 
machen! Die Tochter und die Gäſte jcheinen gleich qut zu Fein —“ 

Da langte mit einem Male ein dider Arm in Flaus ge 
fleidet um die Ede und fahte den Faflungslofen in des Wortes 
eigenjter Bedeutung am Kragen. Er jah fih um, fo qut er 
fonnte, und fchaute in Brar Bolfers’ grimmiges dunfelrothes Geſicht. 

„So? Der Bolizei wollen Sie mid) melden?” grollte der 
Alte im heißen Zorn; „und meine Tochter und das Fräulein 
wollen Sie bier ſchlecht machen? Nun will ich Ihnen 'mal 
etwas jagen: die Polizei wohnt da drüben an Land; und nun 
machen Sie nur ſchnell, daß Sie hinfommen; fonjt fönnten Sie 
bier vorher noch die Fänfte eines alten Scemanns fennen lernen, 
dak Ahnen Hören und Sehen veracht —“ Und nun brach die 
Wuth [os bei dem Alten: „Was?“ donnerte ev und jchüttelte den 
Machtloſen — „und Sie haben mir hier mein Kind, mein Mädel 
verführen wollen ?* — 

Und was nun Fam, das jchenfe ich dir, Frig; aber bei jedem 
Kraftwort flon der gefnidte, jeden Widerftand aufgebende Herr 
vor der Eijenfauft, die ihn hielt, vorwärts oder rückwärts. 

„Und nun fort!” brüllte Brar Vollers und ſchob ihn vor 
ſich her, „und Bunde Ihnen Gott, ſetzen Sie je den Fuß wieder 
hier auf den Felfen!“ 


5li >» 


Jetzt waren fie beim Boot; mit einem Tehten Stoß warf er 


! den großen Mann hinein, daß cr über die Duchten fallend Hin 


fchlug. „Ab!“ ſchrie er dem Schiffer zu, der in ſtummem Ent— 
fegen zugehört hatte und ſich beeilte, dem Befehl zu folgen. 

Der Domänenpädter ſetzte ſich aufrecht und drohte mit der 
Fauſt hinauf gegen mich und ihn, ohnmächtige Muth im Geſicht. 

„Hier, Sie haben nod) "was vergeflen!“ vief Brar Volfers; 
„verichenfen Sie's nur anderswo, wo Sie mehr Slüd damit haben!“ 

Damit jAhleuderte er das Armband mit Mräftigem Fußtritt 
vom Stein hinaus, daß es Hirrend gerade ins Boot fiel, in dem 
der Schiffer da3 Segel ſetzte — und hin fuhr es! Ich athmete 
auf. Als ich in die Thurmitube trat, fiel mir Hildegard wortlos 
um den Sale. 

Nur einen Schmerz hatte fie noch zu überwinden, einen 
harten Abſagebrief der Mutter, von der fie jo herzlich viel hielt. 
„Wie weit Sie im Recht oder Unrecht find meinem Sohn gegen- 
über, will und kann ich nicht unterfuchen; aber es wäre Unnatur, 
wenn von Stund' an nicht jegliche Verbindung aufhörte. Schreiben 
Sie mir nicht — ich nehme feinen Brief von Ahnen an!” 

Thränen ftanden im ihren Mugen, als fie mir das Schreiben 
zeigte. 

„Thut's Dir leid?" fragte ich. 

„Sprich jo etwas nicht!“ ſagle fie, in ihren Thränen lächelnd; 
„ich brädyte Dir wohl noch andere Opfer!” — 

Am Nachmittag nahmen wir Abſchied vom Thurm und feinen 
Bewohnern, Brar Vollers jchüttelte mir herzhaft die Hand. 
Mit einem Male lieh er meine jchon ziemlich zerarbeitete Rechte 
los, trat am dem Kredenztiich und ſchenkte vier Gläfer goldigen 
Portweins ein. 

„Hier, Fränleinchen, das trinken Sie nur ruhig aus; das 
kraft nicht fo wie der Cognac neulich! Und nun glüdliche 
Reife, und wenn Sie im Sommer 'mal wieder an die See 
reifen, dann fommen Sie nur immer zu uns! Proft!” 

Hell Hangen die Gläſer zufammen. So jchieden wir. 

Wiebke jteuerte wieder wie an jenem Tage das Boot, das 
uns nad) Stagerfand brachte. Was lag zwiihen damals und 
jept! Hildegard hielt meine Hand und jah zu mir auf, Mein 
Lebensglüd lag in diefem Blid. Da ragte der Stein aus dem 
Wafler, auch jept noch umfpült von der Brandung. Wir ſchauten 
hinüber — und jchanten uns an: es war der Grundſtein des 
Hauſes, in dem wir wohnen wollten. 

Um’s kurz zu maden: Wiebke war ſehr beivegt, als wir 
Abſchied von ihr nahmen, und fiel Hildegard weinend um ben 
Hals. „Ach mag gar nicht in den alten langweiligen Thurm 
zurück!“ Hagte fie; „nun wird's wieder jo gräßlich einfam!* Mir 
drüdte fie mit abgewandtem Geficht die Hand und fticg ins Boot, 
hißte ihr Segel und ſchaute nicht um, jo lange wir ihr nachſahen; 
und wir ftanden auf dem Steg, Hildegards Arm lag in dem 
meinen, und ich verglich diefe Stunde mit jener, ala ic damals 
in bitierer Seelengual mit Wieble hier ins Boot gefticgen war. 

Hildegard ſah träumeriſch ins Mailer. 

„Dentſt Dur an die Roſe, die in Euer Boot fiel?“ fragte fie. 

„Ja!“ fagte ich eritaunt, „wie fommjt Du darauf?“ 

„Er Hatte fie mir wie im Scherz von der Bruft genommen 
und fie hinabgeworfen; ich dachte nichts Böſes dabei, aber cs 
that mir doch weh: doch wie er oben auf dem Thurm ihr das 
Gas zutrank, da ging mir eine Ahnung auf, Und je öfter ex 
binüberfuhr, defto deutlicher wurde fie. D wie elend war mir 
zu Muth! Und als Du mid) fragteft im Boot, ob ich glüdlich 
jet — da hätte ich aufichreien können vor Leid. Mber ich durfte 
Dich nicht im mein geqnältes Herz ſchauen laſſen und Du durfteft 
damals am wenigſten von allen Menſchen wien, was für Ge— 
danfen durch meine Seele auf dem Stein gezogen waren, die mic) 
alles um mid; her vergejfen liegen: ich dachte an Dich umd 
wußte, daß ich zu lebenslänglichem Unglüd verurtheilt ſei! Und 
nun iſt alles, alles neu geworden!“ — 

Ich brachte Hildegard zu meiner Schweſter. An 
Novembertage, gerade als der erite Schnee niederriefelte, traten 
wir aus der Kirche, Fröhliche Brautlente, ein glüdieliges Paar; 
wicht rührfelig und mit feuchten Augen, jubelnder Lebensmuth 
leuchtete mir aus den tiefblanen Augenſternen der wonnereichen 
Frau, die laut und friih „Ja“ geſagt hatte. Es war Roll: 
mond an dieſem Novemberabend, wie in jener Nacht im Leucht- 
thurm. Hell fiel fein bläuliches Licht auf die verichneiten Felder 


einem 


und in breitem Strabfenbündel in unſer Zimmer. Wir ftanden 
am Fenſter. Ihre Arme Tagen um meinen Hals und meine Hand 
wählte in dem dunklen gelöjten Gelod ihres Haares, das um 
fie niederwallte. Ihr Mund Tag dicht an meinem Ohr; da jang 
fie wieder leiſe: 

„Und dur lannſt noch zehn Nahr warten, 

Zehn Jahr find bald herum!“ 

Wunderfam jah fie mic an und ein filberhelles glüdliches 
Baden erklang von den rothen Lippen, die fie mir bot! — 

Du fragſt nad) der ſchönen Wiebke? Sie ift jeit anderthalb 
Jahren mit einem königlichen Lotſen verbeirathet; wir waren von 
Stagerfand aus beide auf ihrer Hochzeit und Haben bei ihrem 
Buben kürzlich Gevatter geftanden. Wir haben ihr zur Hochzeit 
ein ſchweres goldenes Armband gejchentt. Meine Frau war erjt 
dagegen; aber Wichfe wurde roth vor Freude, als fie es anlegte. Sie 
iſt jedenfalls die hübſcheſte Frau an der Küfte und ihe Mann ift 
ein forſcher Seemann mit zwei fehr hellen, fcharfen Mugen im Kopf. 


Eine Eifenbahnreife im Jahre 1893, 


s war am 14. Auli 1898, Die lehten Termine waren überftanden. 


Die Gerichtsferien hatten begonnen, auch die Schulferien. Alles | der Thüringifchen Eifenbabn zu Leipzig zur 


512 


0 — 


Da haft Du die Geſchichte meiner Liebe, Frit. Ich wünſch' 
Div nur, Sei fo alüdlich wie ich, dann gehſt Du geſegnet auf 
Erden. Hildegard läßt Dich hundertmal grüßen! Sie trägt mir's 
auf, indem fie als reizende forgliche Hausfrau in die Laube tritt, 


‚ eine Kanne mit dem jchäunmenden Trunk in der Hand. Ja wohl, 


num finge ich wieder wie einft: 

„Das ſchwarzbraune Bier, das trink’ ich To gern,“ wenn 
fies mic ſchenkt — und „die ſchwarzbraunen Mädel, die küſſ' 
ich jo gem“ — wenn fie mein eigen find, Heut‘, morgen und 
allezeit! 

Auch Aennchen läßt Dich grüßen. 
Paftorsfrau geworden. Sie ift zu Beſuch bei uns, 
gerade drinnen am Klavier und fpielt: 

„Das Lieben bringt groß’ Freud', 
Es wiſſen's alle Leut!“ 

Hat recht! Ich weiß es; Du weißt es auch! Vale faveque! 

Auf deutich: „Behut' Dich Gott! und behalte mich Tieb!” 


St eine allerliebſte 


Sie ſitzt 


Nachdruck mit Ciuellen» 
angate geitattet.) 


Seit mehr als dreißig Jahren war id) im diefem „Empfangsgebäude“ 
eit der Somimerreijen 


drängte den Bahnhöfen der Stadt zu, die aber bei Leibe nicht mehr | Stammgaft. Hier hatte einft der Bräutigam die Briefe an bie in der 


Bahnhöfe hießen, jondern „Eimpfangsgebäude", 

Seit Beginn des Nahres war in ganz Deutfchland die große Eiſenbahn⸗ 
reform in Kraft 
getreten, welche 
mein Freund 
Dr. Eduard En» 
gel in Berlin 
vor fünf Jahren 
anf dem nicht 
mehr ungewöhn- 
lichen Werne ei⸗ 
ner Drudſchrijt, 
damals zunãchſt 
theoretiſch, ber 
gonnen hatte, 
auf demſelben 
Wege alſo wie 
mancher andere 
Neformator — 
und jeither hat» 
ten die Bedan- 
ten des Büch- 
leins ihren Sie⸗ 
ges zug gehalten 
durch die Spal⸗ 
ten der Tanes» 
und Fachpreſſe, 
durch die Parla« 
mente des Reichs 
und der Einzel 
Staaten, ſchließ⸗ 
lih Sogar 
wenn auch von 
mandem Kern« 
fluch über die 
— — 

euerung ber 
nleitet, durch die 
Eifenbabnänter 
und — bie ober» 
ften Stellen ber 
Reichs · und Lan- 
beseiienbabnen, 
Und feit Beginn 
des laufenden Nahres 1893 hatte man im Deutidhland den geben 
Sprung ins Dunfle gewagt, und die „Eifenbahnreform" Dr, Engels 
durchgeführt, welde in Buchform vor fünf Jahren, 1888, Hermann 
Eoftenoble in Jena in Verlag genommen hatte. 

Der Lärm im der in» und ausländiſchen Preſſe über die gm 
diefer deutichen Neuerung war in der erften Hälfte des Jahres 1893 ein 
jo ungeheurer, jo betäubender geweſen, daß id) jeit Januar grundſätzlich 
nichtd mehr darüber nelefen hatte. Daß unfere jenbaßufinangen infolge 
dieler Neuerung feineswegs dem undermeidlichen Banterutt zueilten, den 


Hunderte von Eiſenbahnſachmännern vorher geweisfant hatten, war bereits | 


ausgemadit. Mich interefiinte aber viel mehr, als dieſe leineswegs un: 
wichtige Frage, die andere: wie man mach DA zu neichlihen Anſehen 
gelangten Grundſäthen der Eifenbahnreform meines Freundes nun reifen 
werde, "Das perjönlich zu erproben, hatte eine Kette widriger Umftände, 
vor allem jeitmangel, bisher gehindert, Reugierig wie ein Kind, nahte 


ich mic nun Mitte Juli des Probejahres ſammi meiner Familie dem | 


Empfangsgebäude und in biefem dem „sahrscheinfcalter" — auch das 
Wort „Billet“ war von der Hochſſuth der Sprachreinigung längſt ver- 
ſchlungen worden. 





Die beiken Schwelelquelfen von hHammam-WMeskoutine in Afgler. 





Schweiz wohnende Braut in den Nachtſchnellzug geworfen, Bon hier 
war er ausgezogen, um fie heimznführen. Hier waren fpäter die Kinder 
in den Wagen 
gehoben wor- 
den, um mit den 
Eltern alljähr- 
lich die fröhliche 
Sonmerfahrt 
in die ſchweizer 
Berge anzutre- 
ten. Höher und 
böber wuchſen fie 
heran und theu» 
ver und theurer 
wurde die Fahrt. 
Au der Zeit, da 
es noch Feine 
fombinirten 
Rundfahrtbillets 
und Ertragüge 
gab, wurden je- 
desmalrund 37) 
Martin Leipzig 
für die Fahrt 
nach Bafel, und 
ebenfo viele 
Markt in Baſel 
für die Fahre 
nach Leipzig, an 
dem Schalter 
aufgezählt, nur 
um Die Fahrt 
weiter Klaſſe 
x fieben Per⸗ 
onen au beftreis 
ten, Die große 
Ausgabe fürlle> 
beriradit des 
Gepäds war da» 
bei migeredhnet. 
Mit dem feli- 
gen Gefühl ei- 
nes Bürgers der 
Borzeit, wenn 
diefer vor dem erlepten Landesdrachen jtand und demfelben nun beruhigt 
in das nimmerfatte Maul biidte, nahte id} diesmal an der Spite meiner 
Lieben dem thüringiichen Schalter und forderte fieben Fahrſcheine zweiter 
Klaſſe nach Baſel für den Blipzug — ber, beiläufig bemerkt, num in elf 
bis zwölf Stunden von Leipzig bie Baſel fuhr, 
ach Baſel?“ verfete lachelnd der Beamte, „Biebt’s nicht mehr 
feit Engel. Sie meinen ‚dritte Zone‘, da können Sie nad allen Richtungen 
bis an die Grenzen des Deutfchen Reiches reilen, wohin Sie wollen. 

Die Worte Hangen beraufhend ſchön und verlodend Vor fünf 
Jahren hätte — dieſe „dritte Zone“ in der berühmten „vierten 
Dimenfion” geiucht, natürlich ohne fie zu finden. Ich wollte aber doch 
noch etwas mehr über diefe „dritte Zone” hören, ehe ich aufs Gerathewohl 
mit meiner ganzen Familie darauf los oder in fie bineinfubr. 

„Wodurch unterfcheidet fich denn diefe ‚dritte Home‘ von den übrigen 
Bonen, z. B. den beiden eriten?* fragte ich. 

„3. B. den beiden eriten?* verfete der Beamte met himmlifcher 
Geduld und mit milden Läden. „Das ift auch nicht autreffend, wenn 
Sie etwa damit andeuten wollen, da wir noch mehr al drei onen 
hätten oder annähmen. Sie Iefen wohl wenig Zeitungen, lieber Herr?“ 


ET 


Bu 


„Bar Teine über die Eifenbahnreform.” 

„Das muß wohl fein. Denn feit jechs Monaten find alle Blätter 
tagtäglich damit —5 unſern ſo einſachen Zonentarif dem lieben 
Vublſtum einzuprügen. Bier nebenan hängt der 
Sie ihm und enticheiden Sie ſich dann. Das Gedränge am Schalter ift 
jebt zu * zur Fortführung unſeres Geſpräches.“ 

— on.“ 


ch las den Anſchlag. Er war in der That von verblüffender Ein» 
fachheit, Denn er lautete: „Es werden im ganzen Deutſchen Reiche mr 
nem Arten von Eifenbahnfabricheinen (Billers) ausgegeben, nämlich: 
1., für die erſte Zone (25 Kilometer Entfernung im jeder Richtung 
von der Abfahrtöftelle mit intiadger Gültigkeit) zu folgenden Breifen: 
II, Klajie . Klafie I. Maſſe 
25 Big. 50 Pfg. 2 Mark. 
2,, für die zweite Zone (26 bis 50 Kilometer in jeder Richtung 
von der Abjahrtsjtelle): 
111. Elaſſe I. Klafie 


Pin. . 4 Marl. 
ER Sültigleitsdauer einen os. j 
3., für bie dritte Zone (Entfernung über 0 Kilometer in jeder Richtung 


mit dreitägiger Gültigkeit der richeine): 
ie Klaſſe 1 Kae 


I. Klaſſe 
1 Dart. 2 Mart. 6 Marl. 

Fe die Benußung des Blipzuges find je zwei Fahrſcheine der Klaſſe 
zu loſen, welche man bemußgen will,” 

Ich machte mie mach diejer Anweiſung die Kopfrehnung: Leipzig 
Bajel ift ‚dritte Zone‘, Sieben Billets — Bergebung ‚Kahrfcheine! — 
aweiter Klaſſe foiten aljo fieben mal zwei Mark, alſo 14 Mart mit dem 
nemwöhnlihen Zuge, bie doppelte Zahl Fahriheine für den Blitzzug 
3 Dart! Das heiht jieben Berjonen zablen zuſammen 
bie Hälfte bes Fahrpreijes, den Anno 1888 eine einzige n für ſich 
erſchwingen mußte, um in dem damals viel langfamer fahrenden Schnell- 
zug von Leipzig nach Bajel zu reijen (52 Mart 30 Pin.)!" 

„Beh Dir, daß Du ein Enlel biſt!“ rief ich mir bei biefer Entdedum: 
im Stillen zu. „Wie jchade, daß diefer ebenfo einfache als beicheidene Tarı 
nicht Schon ſeit —— in Geltung iſt! Ich hätte viele Tauſende 
dabei eripart, und die Eifenbahnen hätten — wie bie Erfahrung zeigt — üch 
auch nicht Schlechter dabei geitanden. Ercellenz Varus Maybach, neben Sie 
mir doch meine Legionen Marl wieder! Ach, das iſt ein frommer Wunſch!“ 

‚ „Geben Sie mir alfo vierzehn Fahrſcheine zweiter Klaſſe nach der 
dritten Home,” fagte ich laut zum Schalterbeamten, 

„Aber wollen Sie nicht lieber erſte Klaſſe nehmen?” fragte mich 
biefer Berführer au Berfhwendung. Die Wagen zweiter Klaſſe find 
nämlich nach den Borichlägen des Eijenbahn-Evangeliften Engel bedeutend 
unbequenier geworden als früher. Die Wagen eriter Klaſſe dagegen 
bedeutend bequemer. > Reifegefellichaft würde einen Salon oder zwei 
Fahrabtheilungen erfter Klaffe für fich haben, Die Sie find fehr bequeme, 
tiefe, breite Bolfterftühle, verihiebbar, mit Schemel, p Nachtfahrt als 
jörmliche Betten auseinander zu Hapzen, Sie haben da Schwere Teppiche 
auf dem Fußboden, eleftrifches Licht, Wafcheinrichtung mit allem Zubehör, 
Ein doppelter, mit bämpfender Füllung verjehener Fußboden, befte Federn, 
boljgefüllte Wagenräder bieten alles, was bisher zur Verminderung des 
Fabrgeraiiels und Wanenftoßens erfunden ift. Und der Preis für diejen —“ 

„Hochgenuf des Jahrhunderte, wollen Sie jagen —* 

MRichtig, mein Derr, beträgt von Endtluhmen bis Trier und von 
Emben bis Bajel, von Verviers bis Freilaſſing jehs Mark im gemöhn« 
lichen, zwölf Mark im Blipzuge. Bon Leipzig nach Baſel zahlen Sie 
alſo für Ihre vierzehn Fah 
für ein einziges Billet erſter Klaſſe (70 Mart 50 Pfennig) auf derſelben 
Strede oder ein zeitraubendes ‚Tombinirtes Rundfahrtbiller‘ zweiter Klaſſe 
hin und äurüd (71 Mark 60 Pfennig oder 75 Mart 0 Pfennig). Sie 
fönnten aber, wenn Sie u Luſt hätten, für dasielbe Geld auch die 


doppelte Entfernung im Dentichen Reiche durchfahren, als die von Leipsig 


nach Baſel, denn die Entfernung Spielt heute nur bei Abgrenzung der 
drei Zonen, fonjt nar feine Nolle mehr.“ , 

‚Der Mann hatte mich. Ich nahm 14 Fahrſcheine eriter Klaſſe 
dritter one für 84 Marf, Sie faben eigenthiimlih aus. Auf der 
Zorderfeite fand mäntlich nur: 





| Von 
| Leipzig, Thüringer Bahnhof 


| 
} 


I. Klaſſe I, 
Dritte Done 
6 Mark. 














Auf der Rüdfeite jtand in Meinem Druck: 


Dieter Hadricheln terechtigt nur zur einmaligen 
abrt nad jeder beliebigen Wilentabeitatiee bes 
Teutichen Weiher. Er ift beim Betreten bes Babu⸗ 
Reigd ter Ab Natien derznzeigen wub beim 
| Berlafien des —5 ver CEatanen abı it. 
1 Er dat nur Mältigfeit für drei Halenzertage- 
Der Benuper einer höheren Stlalke alt der, au 

weldwr dieſer Fahrſchein beredtigt, wird mit 
, eimer Sofort zu entrichtenbeu Orbuumgsitraie von 

10 Mart belegt umd bat auerdent ftrafrechtlice 
| Berfelgung zu qewärtigeit. 





Die nächſte meiner Sorgen war die Aufgabe des Gepäcks Das war in 
den alten Tagen des Eifenbahnbetriebes, die mit 1808 zu Ende gegangen 


513 > 


niclag. Bitte, leſen 


zei, mehr als | 


eine zum Blipzuge wenig mehr als früher 


| waren, in der That ein fornenreiches Geſchäft für einen Familien— 
vater geiwejen! Denn mit den 25 Kilo „reeinepäd“, welche die alte_Be- 
teieb8ordnung dem norddeutichen Eifenbahnreifenden gewährte — Süd- 
deutſchland fannte überhaupt fein „Freigepack“ aufer dem Tleinen Hand 
epäd -- war bei längeren Sommerreifen übel auszulommen, namentlich 
ir Damen. Mit trübem Blid ſah man damals die unbeftechliche ſcharfe 
Nadelzunge der Eiſenbahnwage höher und höher ſchnellen, bis alle Grpäd- 
ftüde der Familie aufgeladen waren — und dann fam die bittere Er» 
Öffnung des Gepädbenmten, baf irgend ein fabelhafter Betrag, zwanzig, 
— Mark und darüber als Ueberfracht“ au — ſei. 
ir hatten diesmal, im Vertrauen auf die Weitherzigleit der Eifen- 
bahnreform auch im Gepädtarif, eine ſchwere Menge Gepäd einge 
laden, fünf Koffer zu je 50 Kilo. Ich war ſehr neugierig auf den Koſten 


betrag. 

Sn Stelle ber vier bis fünf Leute, welche chedem das Berwiegungs- 
und Einfchreibegeidyäft des Gepäds beſorgt hatten, war diesmal ein 
einziger Beamter zur Stelle, welder meine von den Trägern ifin vor- 
gelegten fünf Koffer und Körbe abwog, fich die Fahrſcheine vorzeigen lich 
und fragte, wohin bas Gepäd eingeichrieben werden folle, 

** Baſel,“ fagte ich. 

ut.” 


Rn Nu hatte er auf zehn Scheinen das einzine Wort Bafel_aus- 


| gefüllt, Hebte fünf der ausgefüllten Scheine auf die Koffer und Körbe 
und gab mir die andern fünf. Diefe Scheine fahen jo aus: 


Nr, 38340(—8844), 
| Ton Leipzig, Thüringer Bahnhof 


| nach Basel 
1 Mark (GBlitzzug). 









Fünf Mark für die fünf Stüch“ ſagte er. 

Fünf Mark?" fragte ich eritaunt über die Billigfeit der Forderung. 

„a, fünf Mark,“ wiederholte er. „Wenn Sie den gewöhnlichen Zug 
benußt hätten, würden Sie nur die Hälfte zu bemblen gehabt haben. 
Nach Stationen der erften und zweiten ‚gone gar nur 25 Pfennig für je 

50 Kilo und dad Doppelte im Blikzug. 
Ref „Aber das ift ja fabelhaft billig. Kommt denn da die Bahn auf ihre 
ojten ?* 

„Allerdings,“ verjeßte er. „Denn früher waren unfere Gepädwagen 
nur zu drei Frogent gefüllt. Der Frahrgaft ſchleppie ſich — namentlich 
in der menfchenunmirdigen, nun für immer abgeichafiten vierten Mlafie, 
aber auch in den übrigen — mit einer erdrädenden Traglaft — 
oder begnügte ſich mit einem lächerlich Heinen Borrath von Wäſche, 
Kleidung, von Meifegepäd überhaupt, nur um die unerichtwinglichen 
Baffagiergepädpreife zu fparen. Seht zahlt ein Koffer von 50 Hilo von 
Evdttuhmen bis Baſel nicht mehr als 50 Pfennig, bis 50 Kilometer Ent- 
kung nur die Dälfte, Und die Folge ift, daß unjere Gütertongen gefüllt 
ind und einen ſchönen Ertrag neben.“ 

„Freilich werden Sie auch die Beamtenfräfte ftart haben vermehren 
milſſen, um dieſen gefteigerten Güterverfehr zu bemältigen?“ wandte 


ich ein, 
„Banz im Gegentheil!“ rief der Beamte. „rüber jtanden hier drei 
bis bier Beamte, wie Sie ſich erinnern werden; zwei an der Wage, zwei 


im Schreibzimmer, und die Verwiegung und Bellebung, die Aufſuchung 
des richtigen Gepädicheins mit dem im voraus vorgedrudten Bejtimmungs- 
ort, unter Tanfenden folcher Scheine, die Eintragung des Gewichtes, die 
ſchiwierige Berechnung der Fracht oder gar Ueberfracht nahm für manchen 
Ballagier fünf Minuten in Anſpruch. Das ift jeht einfach unmöglich, 
Ich beforge allein, wie Sie ſehen, die ganze Arbeit, und zwar bequem; 
denn ich habe in jeden Schein nur ben Bejtimmungsort einzufchreiben. 
Allein an Beamtengehältern ſpart die Bahn infolge diefer Vereinfachung 
und Berbilligung des Bafjaniergepäds Millionen Jährlich.” 

„Dier find fünf Dart, danfe verbindlichſt.“ ; 

ir traten auf den Bahnfteig (Berron). Der Zutritt zu demfelben 
war nur mit Fahrſchein erlaubt und unfere Fahrſcheine wurden vorgezeigt 
und „eingelnipit“, jowie wir den Bahnſteig betraten. Sein Schaffner jtand 
vor dem langen Zug, weldier das einjteigende Publikum bevormundere 
und unterwegs den Zug begleitete, Vielmehr forgten große Aufichriften 
an beit —5* dafür, daß der Reiſende ſich nicht verſtieg. Ueberall ſtand 
in riefinen Buchſtaben: „Nach Frankfurt über Eiſenach-Bebra-Elm“, auch 
an der Yofomotive. j 

Die Farben des Anftrihs_der drei Wagenflaffen ftimmten genau 
überein mit der Farbe der Trahricheine zu den drei Stlaffen: grün, 
braun und roth. 

N Niemand fonnte ſich verfteigen. Niemand bedurfte unterwegs eines 

bevormundenden oder kontrollirenden Schaffners. Die Taufende von 
Schaffuern, welde in der alten Zeit während der Fahrt in fteter Lebeus 
gefahr geſchweht hatten, waren abgeichafft, und zwar theils penlionict, 
theils minder unnügen und gefahrbollen Beiäftigungen des Eifenbabn- 
dienftes überwieſen. Nur ein einziger Kontrollbeamter tauchte plöblich 
einmal unterwegs auf, welcher die Fahriheine einfah und dann bei der 
nächſten Station wieder verichwand. 

Wir bielten nur viermal auf der Fahrt bis Frankſurt und legten 
den Weg in ſechs Stunden zurüd. Es war Mittag geworden. ir 
hatten bier anderthalb Stunden Aufenthalt, ehe der Bligzug nach Balel 
abging, und begaben uns in ben Speiſeſaal des Eentralbahnhofes. Der 
Speiſeſaal befindet ſich im Bereiche des Bahniteiges und ift abpeiperrt 


514 © 


nach aufen, jo daß nur mit Fahrſcheinen verſehene Gäfte dort verkehren 
und eine nochmalige Fahricheinvorzeigung beim Befteigen des Basler 
Auges nicht nöthig ift. 

Dann nimmt uns diefer Jun auf, Ri 
Bergitrafe bis Friedrichsſeld, die Hheinebene bis Aarlsruhe, der Schwarz: 


Tr 


wald zur Linfen, jpäter der Wasgenwald und der Haijerituhl zur Rechten 
an uns vorüber, Rachmittags Sechs Uhr laufen wir in Baſel ein, nadı- 
den wir Leipzig vormittags genen ſechs Uhr verlaſſen haben. Und diele 


und in fünf Stunden zieht die | Fahrt eriter Klaſſe mit Gebäck doſtet auf die Verſon nicht ganz 13 Mart. 


So reift man Mitte Juli 1898, — Wirflih ? — Hans Blum. 


Blätter und Blüthen. 


Aaifer Wilbelm II. auf dem Exerzierſelde. (Mit Alluitration 
5.489.) Ehe der Iehte ſchwere Schidinlsichlan das deutiche Volk traf und 
ihm nach einer Turzen Spanne Zeit den zweiten Kaiſer entrib, lonmte man 
alltäglich um die zwölfte Mittogsitunde an der Erfe der „Linden“ und der 
Friedrichſtraße in Berlin dichte Menſchenanſammlungen bemerten, welche 
geſpaunt nach einer Richtung die endlofe Straße hinunterblidten. _Hörte 
man dann in der ferne den vollen Klang der Militärmuſit und fah die 
bligenden Truppenzüge fich nähern, jo fuhr es wie ein eleftriicher unten 
durch die bier augeſammelte, nach vielen Hunderten, ja Tauſenden zäblende 
Menge; alles ihob und drängte fich nad) vorwärts, Hüte und Tafchentücher 
wurden geſchwentt, branfend ertönten Hoch und Dirrabrufe, und freundlich 
grüßend dankte fir diefe Huldinungen der an der Epipe eines Infanterie 
regimentes einberreitende Kronprinz Wilhelm. ö . b 

— Stunden lagen dann bereits hinter ihm, denn 
feitbem er an feinem diesjährigen Geburtstage, dem 27. Nannar, zum 
Generalmajor und Kommandeur der zweiten Barbeinfanterie- Brigade 
ernannt worden war, vertrich fait fein Tag, am welchem er nicht einen 
Theil besfelben dem ibm unterftellten Truppenförper gewidmet hätte, fei 
es, daß er dem Eperzieren auf einem Kaſernenhofe beimohnte, daß er 
undermuthet bei den Turnübnngen erichien oder die einzelnen zier⸗ 
corps zu ausführlichen dienftlihen Beſprechungen und Inſtrullionen um 
fih verfammelte, wobei der Thronfolger, wenn es nölbig war, „Tein 
Blatt vor den Mund nahm“, wovon das Nügen verichiedentlicher Mode 
ausſchreitungen ein offenlundiges Zeugniß abgelegt bat. u. 

Ganz bejonderen Eifer aber widınete der a. den Aufpizierungen 
feiner Brigade auf den Zeimpelhofer Felde, In früher Morgenftunde, 
wenn Berlin allmählich erit erwacht, ritt er, entweder mit dem jur 
Beſichtigung beftimmten Negimente oder auch allein, mr von einen 
Adjutanten benleitet, zu der weiten hiſtoriſchen Ebene jenfeit des Kraus 
berges, it Hchtlicher Dingebung, mit von hohen Militärs begeiltert 
geruͤhmtent ficheriten Verſtändniß lag er dort feinen veranmortungsvollen 
Prlichten als Brigadefommandene ob, Es war ein ſchönes, von einer 
ſich an der Tempelhofer Chanfiee binziehenden langen Zuſchauerkeue oft 
genug bewundertes Bild, den ritterlichen Dohenzollernfobn auf jeinem ftatt- 
lichen Goldſuchs, gefolgt von einer glänzenden, aus Offizieren aller Waflen- 
nattungen gebildeten Suite, dahiniprengen zu fchen, hier jelbit das 
Sommando Übernehmend, da den Parademarich grüßend, dort ſich an 
die Spige der ftürmend vorgehenden Kolonnen jebend, danıı gleich daranf 
ſich zu einem andern Bataillon verfügend und, nachdem das Signal er 
tönt, an der Seite reitend, genau den Schritt der einzelnen Glieder ver— 
folgend, um machher, wenn fich die Stabsoffiziere um ihn verfammelt, 
detaillirie Kritik zu üben. nz 

Berlin ift befanmtlich eine durch und durch militäriiche Stadt, und 
der Berliner hat ein feines, ſich von Jugend an äußerndes Verſtändniß 
für alles Soldatiſche; daf der Enkel Kaiſer Wilhelms eben durch und 
durch Soldat ift, hat ihm jchon frib, gerade in der Neihshauptitadt, die 
Sumpathien der mweitejten Mreife eingetragen, als deren lautes Echo man 
jene oben erwälnten Huldigungen betrachten fonnte, Aber and ſeitdem 
die Kaiſerkrone das jugendliche Haupt des bisherigen Hronprinzen Wilhelm 
ſchmückt und er ala Kaiſer Wilhelm 11. den Thron feiner Väter beitiegen, 
hat er ſchon vielfach feine Sorgfalt für die Armee, jeine rege Antheil- 
nahme an derjelben bewiejen. „So gehören wir zuſammen — Ich und 
die Armee — fo find wir für einander geboren und jo wollen wir un— 
auflöstich feit zuſammenhalten, möge nad Wottes Willen Friede oder 
Sturm fein“ — jo Iautete es im feinem erſten Armeebefehl. Trotz der 
fo zahlreich am ihm herantretenden Nepierungsgefchäfte erübrigte Kaiſer 
Wilhelm doch nocd immer Zeit, ſich direft mit jeinen Truppen, zunächſt, 
durch die Dertlichfeit veranlait, mit denen des Gardecorps, in Ber 
bindung zu ſetzen. Bon feiner Sommerrefidenz, dem Warmorpalais bei 
Potsdam, kommend, befuchte er in der Beneralmajorsuniform des Garde⸗ 
vegiments zu Fuß gerade während der lehten Wochen wiederholt ohne 
jegliche vorherige Anmeldung das VBornftedter Ererzierfeld und übernahm 
mehrfady perjönlich die Führung der Negimenter, beijpielsweile jüngft die 
feines Veib-Gardehufaren- und die des 3, Gardeulanenregiments, als 
idineidiger Reiter zuerſt alle Hindernifle übertwindend und an der Spike der 
Kaballeriemaſſen dem marlirten Feinde entgegenſtürmend. Daß dieler 
Feind anf fange hinaus nur eben ein marlirter jein möge — wer hätte im 
Deutſchen Reiche nicht dieſen Wunfch, zumal ihn, alle Kriensgerüchte und 
Hriegsgelüfte mit einem Schlage vernichtend, Kaifer Wilbelm felbft, um« 
geben von den Fürſten feines Keiches, vor den Vertretern des gelammten 
Noltes jo warm erjt Kürzlich geäußert! Wir werden diejen denfwürbigen 
hiftorifchen Vorgang unlern Leſern in einer der nächiten Nummern in 
getreuer bildliher Darftellung vorführen. 

Boglfänderin. (Mit Alufteation S. 493,) Zu denjenigen mittel 
deutichen Vollstrachten, die der alles gleichmachende Jun der Jeit immer 
mehr und mehr verichwinden läht, gehört auch die des Bogtlandes, jenes 
Yanditriches zwilchen der Eger, Saale und liter, der, jo rauh er dem 
Fremden auch fcheinen mag, doch ſchön genug iſt, um unter ben Landes— 


tindern eine jprichwörtlich gewordene Heimathsliebe hervorgurufen, Bauer | 


und Bauerdirne haben indeß längft gelernt, ſich jtädtiich zu tragen; fie 
haben die alte Tracht meiitens abgeftreift, und mr die ee äuerin 
bat ihre Anhänglichfeit an diefelbe bewahrt, obſchon dieje Tradıt auch 
für jugendliche &eftalten jehr Heidfam war. Das zeigt unfer Bild: die 


Heine Dirne, die mit einer Schüflel voll Grüngeniffter“ (rohe Kartofiel- 
tlöße, das Leibgericht der Bontländer und Thüringer) zur Thür hereintritt, 
lacht ganz —— aus ihrer „Buckelhaube“ hervor, dem Pracht: 
ſtück ihrer vontländiichen Toilette, In Form eines Kegels, defien ab- 
neftumpftes Ende der mit allerlei goldgligerndent Flitterwert in oft ganz 
eigenartigen Verzierungen ausitaffirte „Haubenfled“ frönt, ſiht fie auf dem 
Dinterhaupt und wird bon einem buntichillernden Seidentuch, dns über 
der Stirn zur Schleife gefmäpft ift, umſchlungen. Das Gejiht umrahınt 
ein ſchwarzer Spigenbehang, während am Hintern Ende breite ſchwarze 
Seidenbänder niederhbängen. Pas dide, mit engen, an den Achſeln auf 
gebaufchten Aermeln veriehene Mieder, auch „Spenzer“ genannt, der 
weite Rock mit der ihm faft ganz bededenden nrünjeidenen Schürze und 
das bunigeblümte Haletuch vervollftändigen die hübſche Tradıt, die leider! 


allmählich verſchwindet. 

Am Reichenbach. (Mit Illuſtration S. 505.) Der Reihenbach im 
Berner Oberlande, von deſſen Bajlerftürzen hier einer nach dem Delbilde 
von J. G. Steſſan als Stimmungsbild vorgeführt wird, bildet ſchon jeit 
dem vorigen Nahrhundert für die Maler der verichiedenften Nationen 
einen Hauptanziehungspunkt. Der Künftler ſelbſt jchreibt: „Wenn man 
bon Meyringen im Berner Oberlande die Mare überfchreitend an den 
Reichenbach gelangt, führen längs deafelben Fußwege nah den Höhen 
hinauf, vorüber an den verſchiedenen Föftlihen Heineren und größeren 
Waſſerſällen, die den Lauf desfelben aus dem Docthal von Rofenlaui 
nad dem Haslithale hinab jtufenweie begleiten; im dieſem malerischen 
Terrain befindet ſich auch einer diefer Waflerftürze, die dem Bilde ala 
Motiv dienen.“ 

‚Grohartiger find die_obern ‚Fälle, bejonders der oberfte, ber ſich 
wilden den Felſen des Schiugel- und Burghornes hervordrängt, deiien 
Sturz etwa 4) Meter beträgt, Wer aber für die feineren maleriſchen 
Geunſſe begeiftert ift, wird die fleinen Wallerfälle vorziehen, wie der- 
junge den Stefan dargeftellt bat. _ Er führt uns die ergreifenden Iand- 
chaftlichen Eigentbümlichleiten der Schweiz im Stleinbilde vor. Bier ficht 
man den wilditrömenden Bergftrom, der ſich bald erweitert, bald durch 
gewaltige Steinblöde eingeengt wird, dort mächtig geichichtete zeripnltene 
Felſen mit pittoresten Formen und Narben, auf den terraffenförmig an- 
fteigenden Hügeln kräftig aufitrebenden Baumwuchs, der bald geheimmik- 
volles Dunkel, bald lichte Fernſichten bildet. Oben auf der grünen Wieſe 
über dem wildbewegten Waſſer erblidt man die behaglich gelagerte, weidende 
Herde — eine friedliche Idylle! 

Acuhere Offiziersadjeihen. Wie als beſtimmt werlantet, ftehen 
dem Difiziercorps des deutſchen Heichäbeeres verschiedene wo 
in der lan und Ausrüftung bevor, über welche Staifer Friedrich III 
endgültigen Entichlui gefaßt hatte, Wenngleich derartige Anordnungen 
von nur untergeordneter Bedeutung find, jo bat doch alles, was das 
äuthere und innere Weſen des deutichen Volls in Waffen betrifit, ein fo aus 
gebreitetes Intereſſe, dab Mittheilungen über beabiichtigte Veränderungen 
bier ihren Bag finden dürfen, 

Zunächſt follen die Tage der Epanletten gezählt, oder richtiger, dieſe 
follen auf eine noch geringere Zahl beichräntt werden, als ſie in der Ichten 
Zeit ſchon im Gebrauch waren. Urſprünglich waren die Epauletten ein 
Schußmittel zur Dedung der Schultern, hauptſachlich gegen Diebe von 
Kavalleriiten, und jollen im vorigen Jahrhundert zuerſt in Frantreich 
—— ſein. In veränderter Form wurden ſie ſodann von der 
ruſſiſchen Armee angenommen und im Jahre 1813 von König Friedrich 
Wilheim IH, in der preußiſchen Armee für alle Offiziersgrade eingeführt. 
(Der hochielige Kaiſer Wilhelm empfing feine eriten Epauletten aus der 
a feines Vaters am 2. Oftober 1813 zu Breslau, unter gleichzeitiger 

ennung zum Kapitän.) Diefelben hatten äugleich den Jwech, durch ihre 
Form, Farbe und Verzierung den Eruppentheil, dem ihr Träger angehört, 
oder den vom ihm befleideten Hang ertennen au laflen. Außerdem find 
die Epauletten Kennzeichen einer bejonderen Waffengattung, nämlich der 
Ulanen, und werden hier audı von Unteroffizieren und Gemeinen ge— 
tragen; fie find jedoch dann an den Seiten mit Metallihuppen beiept 
und können leicht von den DOffizierscpanleiten unterſchieden werden, 

Seit dem deutſch-däniſchen Feldzuge von 1864 legen die Offiziere im 
Felde die Epauletten ab, damit der MWetallglang bderielben nicht die 
Träger zu Deutlich als Zielſcheibe dem feindlichen ‚euer verrathe. An 
deren Stelle traten im genannten Jahre die Achſelſtüde bezw. Achlelichnüre, 

Der Uriprung der Achſelſtücke iſt jeher alt und joll auf das 16. Jahr⸗ 
hundert zurüdgefihrt werden fünnen. Es wird berichtet, daß ſich damals 
ein walloniiches Regiment in den Niederlanden bei den Spaniern jo jchr 
gefürchtet gemacht habe, daß lehtere gedroht hätten, jeden Gefangenen 
dieſes Negements aufzubängen, Die Antwort_auf diefe Drobung beitand 
jedoch darin, daß ſich das ganze Regiment Stride auf die Achjeln ge— 
bunden und die Enden mit Nägeln verichen Iat, damit die Spanier gleich 
alles Erforderliche zur Dand hätten, falls fie wämlich einen Wallonen 
fafien Follten. Anf dieſe Weile wurde der Strid zu einer Ehren 
anszeihnung und endlich zu einem befonders Ihmüdenden Stennzeichen 
für die Befehlshaber und für diejenigen, welche in deren Auftrag Befehle 
zu überbringen hatten. 

Die heutigen Achſelſtücke befteben aus einer filbernen Treſſe, die mit 
zwei ſchmalen Streifen eingefaht iſt und die Mbzeichen des Ranges mit 
der Nummer oder dem Namenszug des Negiments aufweiſt. Für bie 


Stabsoffiziere find die Adhjeljtüde aus einer ftarfen filbernen Schnur 
hergeitellt, die mach einen beftimmmten Mufter verichlungen ift, und die 
Seneralihulteritüde find mit einer Goldſchnur —A Wenn auc 
die Achſelſtücke fein jo pruntendes Ausrüſiungsſtüc für die Offiziere find 
wie die Epauletten, fo ift doch nicht zu verfennen, daß fte gerade durd) 
ihre geichmadvolle Einfachheit den beiten Eindrud machen und ihrem 
Zwecke durchaus entipredhen. 

Die Ainderpflegeanflalt in Norderney. (Mit Illuſtration S. 508.) 
Längſt hat man erfannt, wie heilfam ein längerer Aufenthalt an der 
See für jfrophulöfe Kinder ift. Es ift ſchon länger al& ein Jahrzehnt, 
bat; eine bon dem Diafonifienmutterhaufe Henriettenftiit in Hannover 
erbetene Schweiter nach Nordernen fam, um eine ſolche Pilegeanftalt zur 
übernehmen. Die Anfänge waren jehr beicheiden; in einem primitiven 
Häuslein wurden die eriten Pilenlinge untergebradi boch troß der Thätig- 
keit eines Kontitees und vieler freitwilligen Spenden wollte die Sache nicht 
recht in Fluß lommen. Die Dorfbewohner fürcteten die Nachbarſchaft 
eines Kranlenhauſes und außer dem erwähnten Häuslein konnte das 
Komitee fein anderes zur Micthe erhalten. Ailmäblich erit Fonnte es der 
Borftand wagen, die ihm unter jehr günftigen Bedingungen angebotene 
bisher gräflich Aunphauſenſche Villa zu laufen, die im Oftober 1876 ber 
zogen wurbe; fie fteht im Dorfe, freundlich umgeben von einem eigenen 
und dem fisfaliihen Georggarien, dem Strande ebenjo nahe wie dem 
Warmbadehauſe. Die Räume wurden zwedentiprechend eingeridjtet; bie 
Säle um zwei große Baraden vermehrt; für die Wartefchule wurde ein 
eigenes Zimmer hergerichtet. Die Bedeutung der Anftalt für bie Ge— 
meinde, der Kreis ihrer Beziehungen hat fich jeher vermehrt. Reichlich 
fließen die freiwilligen Spenden, denen die Auftalt ihre Begründung und 
ihre Eriſtenz verdanft. Am 23. Jannar 1878 ſchon hatte fie die Rechte 
einer juriſtiſchen Perfon erhalten, Knaben zwiichen dem fechiten und 
elften und Mädchen zwiſchen dem ſechſten und vierzehnten Lebensjahre 
werden ohne Unterschied der Konfeſſion aufgenommen; der Sat für das 
Koftgeld ift ſehr mäßig. Die Diatoniffinnen verdienen fir die aufopfernde 
Pflege der armen Seinen warme Auerlennung; den höchſten Lohn werden 
fie gewiß felbjt darin finden, wenn wie nit bleichen Geſichtern Anlommen- 
den frifch und fröhlich die Anſtalt verlafien. T 


Scäferiduf,. (Mit Illuſtration S. 500.) Es gab eine Zeit, wo 
die Schäferidullen Mode waren und wo man auf allen Borzellantafien 
und Tellern die lieben Schafe mit ihren Hirten und Dirtinnen jah. Das 
war die jelige Rotofogeit, im welcher ſelbſt eine Stönigin wie Marie 
Antoinette in ihrem Trianon ſich mit dem ganzen Dofe an felbit aus« 


-——n 


515 


geführten Schäferipielen ergötte; doch das waren buntbebänderte elegante _ 


Salonſchäfer, und auch die Maler und Dichter lichten es, ſolche Bejtalten 
auf die Leinwand zu zaubern oder in ihren Verſen zu feiern. Dentigen- 
tags ift man, wie das reizende Genrebild von Blume-Siebert zeigt, der 
Wahrheit der Natur wieder nahe gelommen. Das ijt ein urwüchſiger 
alter Schäfer, der bier fein Entelchen und zugleich das jüngite Lammlein 
der Herde auf jeinem Schoße hält und mit Sa eluden Behagen ſich 
darüber freut, wie das Kleine fich am dem Aarten Tbierlein ergößt und 
jedenfalls veripricht, einmal des Grofivaters Laufbahn einzuichlagen, auf 
der man es zwar nicht zu Gold umd Ehren, doch zu friedlichen Behagen 
bringen fan. Und auch die Mutter, die mit nicht geringerer Freude auf 
ihren Liebling blict, die Tafie, aus der er gewiß oft getrunfen, im der 
Hand, ijt ein echtes Landweib, friſch und kernig, und feine Chloe oder 
Daphnis hat zu ihr Modell geiefien. Auch der treue Schäferhund ber 
trachtet das Fantilienbild mit Antheil, während das Mutterichaf offenbar 
mit Angjt über dem Gejchide feines Spröhlings wacht. * 
Ein weſelbad in Algier. (Mit Illuſtration S. 512.) Auf der 
Eifenbahnlinie Bona-Conftantine, unmeit von Guelma, liegt die Meine 
Station Hamman-Mestoutine (Bad Mestoutine), welcher im Vorjahre die 
Keifegefellichaft des Wiener wiſſenſchaftlichen Klubs einen Beſuch nemacht 
hat. Bon der üppigen Vegetation der Landſchaft an beiden Seiten des 
Bahnweges vermag man fich faum einen richtigen Begriff zu machen, es 
ift ein wahres Paradies, das ſich den Bliden der Reiſenden zeigt. Knabp 
vor "der Station Dammam-Mestoutine, zur Linfen der Bahnlinie und 
nur wenige taufend Schritte von derjelben entjernt, ericheint plößlich ein 
etwa 100 Klafter hoher, fait freiftchender Higel, von dem fich fastaden- 
artig die ſchnecweißen jiedenden Waſſer ichäumend herabjtürzen. Dichte 
Dampfwolten jteigen von den Heinen Quellenteihen oben auf der Höhe 
des Hügels auf, in denen das fochende (6 Grad Eeljins) ſprudelnde 
Schwefelwaſſer brodelt und umanfhörlih in neuen reichen Mengen 
aus dem vulfaniichen Innern der Erde aufquillt. Ein märdenhait 


ihöner Anblid bietet fich dem Beſchauer ſchon im Kifenbahncoup! oder 


auch vom Fuße des rauchenden Hügels aus dar. Hundert und hundert 
Stufen, die ſich aus dem fich anfeßenden ſchwefelſauren Halt im Laufe 
der Jahrhunderte, vielleicht der Jahrtauſende, gebildet haben, ſchaffen da 
eine Scenerie, die eine geradezu impofante Wirlung ausübt, Bom 


grellſten Weih der Schaumfänmme der Meereswogen und des Schnees 


unferer Alpen bis ins Orangenelb und Notbbraun und Blaugrau wechſeln 
die Farbentöne der einzelnen Partien diejes fegelfürmig aus dem Thale 
aufftrebenden Hügels . .. Und wirft die alühende Sonne Wirifas in 
diefe herabjtärzenden dampfenden Waſſerbäche, in dieſes tauſendfache 
Waflergerielel, das den Heinen Berg wahrhaft lebendig macht, ihre 
Strahlen, dann glitzert diefe Yauberwelt in Milliarden Demanten auf. 
Daß fi das phantafiereiche Arabervolt eine phantaftiiche Yegende 
7 diejem Märcenbügel und zu den unweit desſelben frei aufragenden 
‚reljenriffen nedichtet hat, eine Sage, die noch heute im Wunde der 
dortigen Vevöllerung lebt, wird nicht Wunder nehmen ,. . Die Myjthe 
der Araber erzählt, dab das branjende Geräufch, das aus dem Innern 
des Hugels tönt, eine Muſit ſei, welde die Denouns, die Dimonen, 


| 





u — 


welche diefe Tiefen bewohnen, anjtimmen, und daß alle diefe Felſenrifſe 
und Steinmrämmer ringsum einft weidende Schafe, Ziegen, Pferde, 
Männer, Frauen und Kinder geweſen find, welche den Zorn biejer nuter⸗ 
irdiſchen Mächtigen auf fich geladen haben. Jeder einzelne diefer Rieſen 
fteine, die zu Füßen des walleripeienden Hügeld wie eine Trümmerwelt 
liegen, iſt den Arabern ein Schrein, in welchen bie Römer Toftbare 
Schäpe eingeichlofien haben; doch wurden die Schlüffel au diefen Behältern 
bon ihnen binwenngenommen und me die Ehrijten allein vermögen dieſe 
geheimnigvollen Kaſſetlen zu öffnen. 

Theodor Storm FT. Am 4. Juli ift ein deuticher Dichter gejtorben, 
der auch über dem Kreis feiner begeifterten Anhänger hinaus ſich einen 
angeiehenen Namen verſchaſſt hatte. Theodor Storm war ein dichteriicher 
Aquarellmaler und feine ftimmungsvollen Natur» und Pebensbilder haben 
einen eigenartigen Neiz; vor allem gelang es ihm, idylliſches und märchen- 
haftes Stillleben zu ſchildern. Sein poetiicher Blumengarten ift nicht ve 
groß, doch es find anmuthige und würzige Blüthen, die ihn ſchmücken. 

Er iſt im erfter Linie als Novellift berühmt geworden, denn feine 
„Gedichte“ (1852), obichen fie in mehreren Auflagen erichienen, haben 
wohl in vielen Kreiſen Anklang gefunden wegen ihrer Sinnigfeit und 
ihres fchlichten Gefühlstons; aber es wurde faum eins derfelben volls⸗ 
thämlid. In feinen Novellen jedoch ift er ein eigenartiger Miniatur 
maler. (Es find bisweilen ganz Meine bingehaudte Figurenbilder, idyl- 
liche Genrefcenen, die aber gleichlam mit der ftilen Friedenslampe eines 
tiefinnerlichen Gemüthslcbens beleuchtet, werden. oft liegt etwas von 
jenem träumerifchen Zug darin, den wir in Wilhelm Jenſens Romanen 
finden. Seine befanntefte Erzählung iſt mmenſee“, fie iſt in einer 
großen Zahl von Auflagen erichienen, neuerdings in einer Prachtausgabe; 
wir erwähnen noch „Am Sonnenschein“, „Ein grünes Blatt“, „In der 
Sommermondnacht“, „Ein ftiler Mufitant”, „Die Negentrude", „Nenate”. 

Ein Bilduih und eine furze Lebensſtizze des Verewigien brachte 
die „Bartenfaube* im vorigen  Perieir (Seite GOR) zu feinem 70, Ge⸗ 
burlstage, Nun bat der didier bie glänzenden Augen Fr immer 

eichlofien und von feinem jchönen Bortenfik in Hademarſchen wurde 
2 ſterbliche Hülle nach Huſum gebracht, der theuren Bateritadt, 
wo er zum langen Schlummer beftattet fein wollte. Eine unendliche Zahl 
von Yeidtragenden hatte fich verſammelt, grüne Yorbeerfränge und Nränze 
von Garten» und einfachen Feldblumen bededten den Trauerwagen, 
Bürger Hufums, Mitglieder der Regierung, Vertreter der deutfchen Schrift: 
ftellerwelt, Freunde des todten Sängers von nab und jern Ri ihm 
das letzte Geleit. Ihränenden Auges verabiciedete ſich am Grabe auch 
die geliebte rau mit den Söhnen und Töchtern. T 

Ssimmfifhe Diamanten, Der Boldregen ift jedermann aus der Sagen- 
und Närchenmwelt belannt. In Wirklichkeit findet er befanntlich nicht jtatt; 
er iſt nur eine finndolle Schöpfung der menſchlichen Phantafie. Aber 
Thatfadye ift es, daf mit dem leuchtenden Meteoren manchmal Diemanten 
zur Erde niederfallen. Der Beweis ift erit neuerdings geliefert worden. 
Am 1. September 1886 war ein Meteorftein in einem Gewichte von vier 
Pfund im Diftritte von Sirasnoflobodst, Bouvernement Kenſa in Rußland, 
niedergefallen. Bei der vorgenommenen wiſſenſchaftlichen Unterjuchung 
fanden jich in dem unlöslihen Rüdjtande Heine Theilchen, welche härter 
als Korund waren und ich auch durch ihre Dichte und die anderen jpecifi 
ſchen Eigenichaften als Diamanten tennzeichneten; die Steinmafie enthielt 
etwa ein Prozent Diamant. — Leider beſiht der himmlische Diantanten- 
ftaub nur einen wiſſenſchaftlichen Werth; aus dem Bertanf desſelben 
wiürbe man feinen bejonderen Gewinn erzielen, dba der aus dem Weltall 
tommende Diamant demjenigen ähnlich ift, dem wir in winzigen 
Bartilelchen künstlich zu erzeugen vermögen, dem ſchwarzen fogenannten 
Karbonat. + 

Fom Werth des deutfhen Waldes. Der beutihe Wald ift un« 
bezahlbar; er ift der Liebling der Nation. Dichter haben ihn unzählige 
Male verherrlicht und politiiche Hämpfe wurden um den Waldbeſiß und 
die „Waldfreibeit” geführt. Wir wollen troßdem verjuchen, den Bert 
desfelben in Flingender Münze zu berechnen. Natürlich lann dabei nur von 
einer annähernden Summe die Rede ſein. Bon den 311 Millionen Deltaren 
Wald, welche in Europa noch Stehen, beiigt das Deutjche Reich 13,9 Millionen 
ze Waldboden. Bier und dort wurde der Mapitalwerth einzelner 

alditreden berechnet und für die koniglich ſächſiſchen Staatsforften wurde 
das Sümmchen von 292 Millionen Mark ermittelt, Legen wir dasjelbe 
als Werthichhägung für den Wald in allen deutschen Staaten zu Grunde, fo 
erhalten wir die rımde Summe von 24 Milliarden Mark, die den Mabital- 
werth des deutichen Waldes darſtellt. Das iſt ein hübiches Wational- 
vermögen, welches Dauf der fürforglichen modernen Forſtwirthſchaft noch 
unsern Ururenleln erhalten bleiben wird, ” 


Kleiner Brieflaflen, 
(Anongme Anfragen werden nicht berüdiidptint.) 

B.N.in Irier. Auch im biefem Iabre jellen die Mriegergräber und Denkmäler von 
Mey wie alljährlich vom dem Sricgermereine biefer Stadt in einschaft mit 30 andern 
pe in Kotbringen am 14. umb 38. Maui geidimüdet werben, Da das Waterial 
sure Aue ſanticung nit amarescht, ſe werben von bem Bercinen alle Hameraben unb Gönnet 
ber Qrieptepcnotenjankten um eldipenten erſucht 

O. 9. ie St. Umter den legten Bhetograpbien Aalier Friedrichs mad dem Leben 
widmen ſich die von ben Sefpbatsgrapben Horne u. Some Hihmond Surren (bei London) 
aufgenommenen burd; eine verziäglihe tedumiide Ausluitrung aus. Tichelten fimdb im 
srölerem und Neinerem Fermat ber William Luls 14 Vebiord Street in Yendon eridienem, 
%.D.in d. Spigenflöppelihulen unter Maigliher Verwaltung beiteten in Näbttade, 
Sammer-Untermwieientbal, Unterwichenibal, Oberwichnibal, Elterlein, Gbreniriebersborf. 

Frau V. V. in M, War Hilleras Woman „Aus eigener Kraft” eridiiem im Aabr 
gang 1870 der „Wartenlanbe*. 

v Rn in Aunt. Na, menden Sie ſich ditett am die Borftcherin des beireflenden 
ofpitale. 

M. E. in Eſſen. Wir eriadhem bebufs briefliher Seantwertung Ihrer Mirage wm 
Rirteilung Ihrer genamı Aperlle. 





— 5 -·- 


Allerlei Kursweil. 


Bilder- Mäthfel. ShatAufgabe Nr. v. 
Bon *. A. Falk in Leipzig. 
Die Dinterband fpielt Grün (p.-Solo auf folgende Karte: 


| #2) 


ti) od; fear) Pi) mh ind) (nA wann) lied) (ear.Anı 


Im erften Stich wird ihr = at vorgeipielt. Nimmt der 


ir) dtr®) 


e—— —— —ñ— —ñ—e —— 








Spieler den Stich mit, fo verliert er und die Gegner erhalten 61 Augen; 
läßt er dagegen den Stich laufen, fo gewinnt er und die Gegner be 
kommen böchitens 57 Augen. — Wie jiben die Karten und wie iſt iu 
beiven Trällen der Gang des Spiels? 


Form-Aritömogroph von Erin. 

Gift. 

Beliebter Dichter. 
Saiteninftrument, 

Eine Tugend. 
Ruſſiſches Adelsgeſchlecht. 


Blume. 


86 
4 W886 


= = ge Figur in Schillers „Don Carlos“. 
za Karl A \8 | 4 Ungejeplih (Fremdwort). 





se | se |the na | po | si 


Dean ſehe ftatt der Ziffern in obiger Figur die entiprechenden Buch- 
Die den Feldern jedes Dundrates eingejchriebenen Silben find zu Taben und bilde in wagerechter Richtung 8 Wörter, melde die den be 
je drei Worten zu ordnen, weldje in wagerechter uud Senfrediter Kidytug  trehfenden Reiben nebengedrudte Bedeutung haben. Die Anfangs und 


aleich lauten. Endbuchftaben der richtig gebildeten Wörter, nennen, abwärts gelejen, eine 
Mätbfel-Sonett. beliebte Rubrik in den meiſten Familienblättern. 
Tie Erſte nennt das Gegeutheil von dem, £itterarifhes Berneh-Mäthfel, 
Woranf ein jeder ſchon jeit langer Yeit, Wenn nach Kuh! ſich ſehnt dein Herz, 
Wird es verlangt, oft viele Meilen weit, Sonſt dir alle Wänſche ſchweigen, 
Kann fahren ohne Wagen ganz bequem. Muht du auf die Berge fteigen, 
Wenn es jedoch gilt zu euticheiden, wem Stiller wird es hlmmelwaris. 
„Ma wohl mit Recht den erften Preis verleiht Aus den fett nedrudten Buchſtaben iſt durch richtine Juſammenſtellung 
Ob feiner Araft und echten Männlichkeit, derſelben der Mutor des obigen Spruches zu ermitteln, 
So ziemt der Zwei das jchönfte Diadem. Aapfel-Räthfet. 
Tas Ganze bringet häufig jeine Stunden Ich bin ein Schönes fchlanfes Thier, 
Nur damit zu, die Mutter zu verwunden, Bin im Gebirg zu Haus, 
Der er verdanfet all fein Hab und Gut. Nimm Kopf und Fuß hinweg von mir, : 
i ß d ird d'raue! 
Und doch verlangt ein jeder, daß er's thut IM: VORDER FRE EEE NUR Oskar Leebe 
Und mühten Voll und Fürſt es tief beklagen, n x* 
Wollt er für immer feinem Thum eutfagen. Auflöfung des Buchflaben-Häthfels auf 5. 484: Spree — Speer 
Auffofung der Shad-Aufgade Mr. 10 auf $. dt: Aufföfung des Silden-Mäthfels auf 5. 454: „Augenblid,“ 
Weih: Enmwarz: Weis: Schwarg: Aufföfung der Ammwandfungs-Anfgabe auf 5. 484: 
1.1 e4: Ku4 a4:ıah) Pr boot 
2 Led ve; Kuntioan 2. .47 38 Aug ywana 
l.a7 44 Kalt L.bbe dich telledig 
4, d4 — ed wall 4. It reip. 8 matt 
> Kathi , bhh-ad: 
uU dT: Klbi=-et 8, Les — 420 as au 
4.748 — da mai. 3, db batac. 


Auffölung der Shat-Anfgade ir. Hanf 5. 484: 
Spieler fint in Hinterbamd. Stat: eb, ck 

Verband: 0%, et, en, eZ, ih, rK, ri), #9, 18, 17, 

MWittelband: «I. elt, ed, 2, #7, #7, uk, 9, a4, 7. 


[7] 
* 









1. sk, eD, ri I 
2 “RK, aD, 2 
0, el. rl im 15) 


4 All, url 2) var 
Zvi.ter, welcher Stmeiter angeſagt hatte, iſt ſeiber Schaelder zewerden 
Aufföfung des Zilſder -Aäthſels auf 5. 484: 
Bafgeine. — Harte. — Zimbal. — Triangel. — Clavier. 
Aufföfung des Mebus auf 5. 484: — 


Lab Dich biegen, aber nur nicht knacken. ® Diefe Aufgabe iM iur Probfemturnier bes vorjährigen Statfengrefied durch einen 
Gocthe, Breit andgezeidhnet workeit. 


* 


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w.oy 
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UFerT} 


Herausgegeben unter werauwertlider Aedaltien von Adolf Ardner. Berlag ron Eruſt Keil’? Nadjelger in Yeipzig. Drag ven A. Wiede in Veipzig- 


— un en. m, mn 







Ualhheſt 17, 














Illuſtrirtes Samilienblatt. _ Begründet von Ernſ Seit 1853. 


Zahrgang 1888, Erſcheint in Halbheflen a 25 Pf. alle 12— 14 Tage, in Heften & 50 Pf. alle 3—4 Worten vom 1. Tanuar bis 31. Deyember. 


Die Alyenfee 


Roman von &, Werner. 


(Forrfegung.) 


37» Walienbergſche Haus 

lan ziemlich entfernt 
vom Mittelpunfte der Stadt; 
es war eime fchöne, gerät: 
mige Billa, inmitten eines 
parkartigen Gartens, die der 
Later des jeßigen Beſihers 
erbaut und bis zu feinem 
Tode bewohnt hatte, Seits 
dem freilich war fie leer 
aeblicben; denn der Sohn, 
der ja immer auf Reiſen 
febte, dachte bei jeinem 
Reichthum nicht daran, das 
Haus nußbar zu machen, 
Er hatte die Aufjicht einem 
Verwalter übergeben, dem 
zugleich die Pilicht oblan, 
die ‚von Zeit zu Zeit and 
weiter Ferne eintreffenden 
Sendungen auspaden und 
aufitellen zu laſſen, bis end— 
lic), nach einem vollen Jahr 
schnt, die verichloffenen Lä 
den und Thüren wieder ge— 
öffnet wurden und die fo 
lange verödeten Räume jich 
wieder belebten. 

Das große Balfonzim: 
mer, das in der Mitte des 
Hauſes Tag, hatte dicjelbe 
Einrichtung behalten wie zu 
Lebzeiten des alten Herr. 
Es herrichte dort feine bfen 
dende Pracht, wie in der 
Nordheimfchen Wohnung; 
aber überall zeigte ſich die 
Gediegenheit und Behaglich 
leit eines vornehmen Bür 
gerhauſes. Die Menſchen 
freilich, welche ſich augen 
blicklich hier bewegten, nah 
men ſich fremdbartig genug 
aus in dieſer Umgebung. 
Ein Neger, von dunfeliter 

1888 


ee. 


PTR 2 — — 


Nadı deu Oelgentalde ven Chr. Henden. Mit Geuehmgung ter Ehetegraphiichen 





Auvnamnecirt! 


Gehelliyaft im Berlin, 


Nıtrud verbeien 
Alle Hedite vorbehalten 


Färbung, mit fraufen, wol: 
ligem Haar, und ein ſchlan 
fer brauner Malapentnabe, 
beide in der phantaftiichen 
und maleriichen Tracht des 
Drients, waren cben be 
Ichäftigt, einen Tiſch mit 
Blumen und mit allerlei 
Erfrifchungen zu beſetzen, 
während ein Dritter in ber 
Mitte des Zimmers ſtand 
und die nöthigen Anweiſun— 
gen gab. 

Die Kleidung des Lehle 
ven war allerdings vun 
enropätichem Schnitt, ſchien 
aber die Mitte zwiſchen 
einem Matrofen- und einem 
Farmeranzuge Fir halten. 
Der Schon Ältere Mann, 
eine ungewöhntic, lange und 
bagere Geſtalt, zeigte qleich 
wohl einen kräftigen Glieder⸗ 
bau. Das kurzgeſchnittene 
Haar begann ſchon bier 
und da zu eraranen und 
das durchfurchte, ſonnen 
verbrannte Geſicht nab in 
jeiner dunklen Färbung dem 
Braun des Malayen kaum 
eiwas nad. Aus dieſem 
braunen Antlig aber blidte 
ein Baar Augen von cht 
germanifchem Blau und 
von den Lippen fam ein fo 
echtes, derbes, unverfälichtes 
Deutſch, wie es nur dem 
eigen iſt, der in feiner Mut 
teriprache redet. 

„Die Blumen in die 
Mitte!" Fommandirte er. 
„Die Geſchichte muß poctiich 
ausjchen, hat Herr Walten: 
berg geſagt, alſo machen 
wir fie durch und durch 

5 


— 9 


poetiſch! Sid, Meufh, Du flellft ja die jilbernen Fruchtſchalen 
neben einander wie ein paar Grenadiere! An die beiden Enden 
des Zifches achören fie, Und was willſt Du denn mit den Kryſtall 
gläfern, Djelma? 
werden, habt Ahr verftanden?“ 

„O yes, master,* verficherte ber Neger, aber der Andere 
fuhr ihn an: 

„Deulſch ſollſt Du ſprechen! Halt Du es noch nicht gelernt? 
Wir find jetzt in Deutfchland, auf dieſem gottverlaſſenen Boden, 
wo man ſich im März nod die Naſe erfriert, wo die Sonne alle 
Monat nur einmal fheint und dann auch nur auf obrigfeitlichen 
Befehl. Ich lann es fo wenig leiden wie Here Waltenberg, aber 
wenn Ihr mie nicht Teutſch lernt, dann kommt cin Dommerwetter 
über Euch!“ 

„Il ſchon ſpreden deutich, Mafter Hron' — wundervoll!” 
erflärte Said mit großem Selbſigefühl. 

„Wundervoll, jawohl! Nicht einmal meinen Namen fannit 
Du ausfprechen. Beit Gronau Heiße ich, nicht Maſier Hron“; 
hundertmal habe ich Dir das ſchon geſagt, aber ſolch ein Heide 
begreift das nicht.” 

Said nahm eine äußerſt qefränfte Miene an bei dieſem 
Vorwurf. 

„Bitte, Maſter Hron' — au if fein guter Chriſt.“ 

„Ja, getauft biſt Du wenigſtens,“ ſagte Gronan iroden; 
„aber Du biſt doch noch ein halber Heide und der Djelma iſt 
ein nanzer. Bei dem Hat man feine liebe Noth, ihm den Allah 
und Mohammed aus dem Kopfe zu bringen und ben lieben Herr— 
got dafür hineinzufegen. Djelma, Du Schaf, was ſiehſt Du 
mich jo an? Haft wohl wieder nicht verftanden, was ich ſage?“ 

Der Malayenfnabe, der mit dem Deutichen. augenfcheinlich 
noch auf Sehr acipanntem Fuße jtand, ſchüttelle verneinend den 
Kopf, fo daß ih Said veranlaßt ſah, ihm mit feiner „wunder 
vollen“ Sprachkenniniß zu Hilfe zu fommen und den Dolmetfcher 
zu machen. 

„Das hat der Here davon, daß er mit Euch fortwährend 


in Eurem Kauderwelſch redet,“ grollte Veit Gronau. „Wenn ich 


Euch wicht das Deutfche beibrächte, Ahr verftändet noch heute Fein 
Wort davon. — So, nun ift der Tiſch in Ordnung! Lauter 
Blumen und Früdte und nichts Drbentliches zu eſſen und zu 
trinfen! Das iſt wahrſcheinlich auch poetiſch; ich finde es vercüdt, 
aber das fommt auf eins Heraus.” 

„Es fommen auch — ladies?" fragte Said neugierig. 

„Damen!“ verbefferte ihn fein Mentor. „Xa, die fommen 
leider auch mit. Em Bergnügen it das nicht, aber eine Ehre; 
denn fie werden bier zu Lande ungeheuer veipeltuoll behandelt, 
ganz ander& wie Eure ſchwarzen und braunen Weiber; alfo nehmt 
Euch zujammen!“ 

Er hätte den beiden mwahrjcheintich noch weitere Verhaltungs 
mafregeln ertheilt, aber in diefem Augenblichk öffnete fich bie Thür 
nnd der Herr des Hauſes trat ein, Er muſterte flüchtig den mit 
Blumen und Früchten überladenen Tiſch, gab Said einen Minf, 
fich in das Borzimmer zu verfügen, umd ſprach einige indifche 
Worte zu Djelma, der daraufhin ebenfalls verfchwand, dann 
wandte er fidı zu Veit Gronau und fagte: 

„PBräfident Nordheim hat ſich entſchuldigen laſſen, aber die 
anderen Herrichaften werden erſcheinen; auch Doltor Gersdorf hat 
zugefagt. Sie entgehen alfo für diesmal der gefürchteten Be— 
gegnung, Gronau,“ 

Gefürchtet?“ wiederholte Veit. „Daß ich nicht müßte! 
Ein großes Vergnügen wäre es mir allerdings nicht geweſen, 
von einem ehemaligen Spielfnmeraden, mit dem id auf Du und 
Tu geftanden habe, mit einem alfergnädigiten Kopfnicken beehrt 
und ihm als eine Art von Bedienter vorgeftellt zu werben.” 

„Als mein Sefretär,” betonte Waltenberg. „Ich dächte, eine 
ſolche Stellung hätte nichts Entwiürdigendes.* 

Sronan zudte die Achſeln. 

Sekretär, Haushofmeifter, Reiſebegleiter, alles in einer 
Perfon! Sie haben mich freilich immer als Landsmann behandelt, 
Herr Waltenberg, nicht als Untergebenen. Als Sie mid) damals 
in Melbourne auffiſchten, war id grade am Berhungern und wäre 
auch verhungert ohne Sie — vergelt's Gott!" 

„Zborheit,“ ſagte Ernſt, fat umvillig den Dank ablehnend. 
„Zie waren mir mit Ihren Sprachlenntniſſen und all Ihren 
praftiichen Erfahrungen ein ganz unfhäßbarer Fund und ich 


Am Seitentifche foll der Wein eingefchentt | 


5i8 > 


glaube, wir find in den jehs Jahren beide zufrieden mit einander 
geweſen. — Alfo der Präfident und Sie waren Angendfreunde?“ 

„Isa, wir find zuſammen aufgewachſen als Nachbarskinder 
und Haben auch ſpäter noch zuſammengehalten, bis der eine 
hierhin und der andere dahin ging im Leben, Er hat es mir 
freilich voranägefagt, daß ich ein armer Teufel bleiben wiirde, 
mir und dem Benno Reinsfeld, der auch dabei war.“ 

Waltenberg war an das Feniter getreien und ſah etwas 
ungeduldig hinaus, aber er hörte aufmerkfam zu. Die Augend 
zeit des Mannes, den er nur in der Fülle des Reichthums und 
Glückes fannte, ſchien ihn zu inlereſſiren. 

„Wir Hatten natürkich alle drei ungeheure Zukunftspläne,“ 
fuhr Veit mit gutmüthiger Selbjtverfpottung fort. „Ich wollte 
in die weite Welt gehen und als goldbeladener Nabob zurüd- 
tommen, Reinsfeld wollte mit irgend einer Erfindung die ganze 
Menichheit in Eritaumen eben, wir waren eben Buben, die Da 
meinten, daß die Welt ihnen achörel Mber der Muge Nordheim 
ſaß dabei und goß uns einen kalten Waſſerſtrahl über die er 
higten Köpfe. Ihr werdet beide nichts zu Stande bringen,’ 
ſagte er, ‚denn Ahr verfteht nicht zu rechnen!“ Wir Tachten ihn 
damals aus, den zwanziajährigen Rechner, mit jeiner nüchternen 
Weisheit, aber er hat doch recht behalten. Ach babe mich tüchtig 
in der Welt herumgelrieben und alles Mögliche verfucht, aber bei 
mir hieß es immer: Wie aetvonnen, fo zerronnen! ch blieb 
arm wie eine Kirchenmaus und Meinsfeld ift mit all feinem Talent 
auch irgendwo ſitzen geblieben, als armfeliger Ingenieur — under 
Stamerad Nordheim aber wide Millionär und Bräfident und 
Eifenbahnpring — weil er zu rechnen verſtand!“ 

„a, das hat er von jeher veritanden,” ſagte Waltenberg 
fühl. „Jedenfalls nimmt er eine einflußreiche und in mander 
Hinficht allmächtige Stellung ein. — Doch da kommen unfere 
Gaſte!“ 

Er Irat raſch vom Fenſter zurück und ging den Anlommen— 
ben entgegen. Draußen war in der That cin Wagen vorgefahren, 
der Frau von Lasberg und Alice in Begleitung Elmhorſis brachte. 
Wolfgang hatte ſich doch nicht ber Pflicht entziehen können, feine 
Braut zu begleiten, und es hatte fich auch Fein Borwand gefunden, 
die Einladung abzulehnen, deren Annahme fen Schwiegervater 
fo dringend wünſchte. Gr fügte ſich alſo der Nothwendigkeit; 
aber wer ihn genauer fannte, ſah, daß er ein Opfer damit brachte, 
wenn er es auch nicht an Söflichkeit fehlen Lich, ebenfo wenig 
wie der Herr des Hanſes. Die beiden Männer, die vom erjten 
Augenblick der Befanntichaft" an eine inſtinktmäßige Abneigung 
gegen einander fühlten, ſtellten ſich nenenfeitig auf den Standpunlt 
tühler Artigfeit und das geſchah auch bei dem heutigen Beſuche. 

„räulein von Thuraau verivätete ſich; fie ſuhr erſt bei dem 


Oberregierungsrath vor, um Baronch Ernſthaufen abzuholen.“ 


Frau bon Lasberg, die das mittheilte, war gleichwohl etwas 
befremdet darüber. Ihrer Meinung nad mupte Wally chen 
feit aeftern auf dem Yande fein, im der ficheren Hut bes Groß— 
ontels. Statt deifen war heut morgen ein Briefchen am Erna 
gekommen, mit der Bitte, fie zu dem Beſuch im Waltenberg: 
fchen Haufe abzuholen. Die Reife war alfo aufgejchoben 
worden, vermuthlich um einige Tage. Aber das Miffallen der 
alten Dame darüber verwandelte fich in Empörung, als fie den 
Doltor Gersdorf eintreten ſah. Alſo ein Förmliches Rendezvous! 
Und man erfühnte ſich Sogar, die Damen des Nordbeimicen 
Hauſes zu Mitichuldigen zu machen, indem man fich gewiller- 
maßen unter ihrem Schutze zuſammenſand. Das lonnte und 
durfte den Eltern nicht verborgen bleiben; noch bente follten fie 
es erfahren und Frau von Lasberg, die nicht die geringite Au— 
lage zu einem Schutzgeiſte hatte, lieh vorläufig dem Doktor einen 
eifigen Empfang zu theil werden. Leider machte das wicht den 
mindeften Eindrud auf ihn; auf feinen eruiten Zügen lag heute 
ein eigenthümliches Peuchten und er betheiligte ſich mit unge: 
wohnter Heiterkeit an der Unterhaltung. 

Erna war inzwifchen, dev Verabredung gemäß, an der Ernſt— 
haufenichen Wohnung vorgefahreen und da es ſchon etwas zu Tpät 
war, jo fandte fie nur den Diener hinauf. Nach fünf Minuten 
erſchien auch die junge Baroneß, iprang in den Magen und überfiel, 
faum daß der Schlag geſchloſſen war, ihre Freundin mit einer 
fo ungeftümen Umarmung, daß diefe fait erichroden zurückwich. 

„Was haft Du denn, Wally?“ fragte fie „Du bit ja 
ganz außer Dir?“ 


— 0 


"Berlobt bin ich!“ jubelte Wallh. „Ich bin Alberis Braut 
und in drei Monaten werde ich jeine Frau. O diefer vortreffliche, 
unvergleichliche Großonkel! 
wie Dir, wenn er nur nicht ſo garſtig wäre!“ 


Erna war nicht fo leicht aus der Faſſung zu bringen wie | 
Alice, aber diefe Nachricht kam ihr doch zu unerwartet — fie | 


faunte ja den Widerftand der ganzen Ernſthauſenſchen Familie 
gegen diefe Verbindung. 

„Deine Eftern haben eingewilligt ?" fragte fie. 
plößlih? Das jchien ja nod) vor wenigen Tagen unmöglich zu fein ?* 

„Nichts iſt unmöglich!" rief Wally entzüdt. „OD, ich habe 
den Himmel fo gebeten, dem Großonkel irgend einen dummen 
Streich einzugeben! Daß er auf diefen Streich verfallen würde, 
das ahnte ich allerdings nicht; das glaubjt Du auch nicht, Erna; 
das mu man überhaupt erlebt haben, um es zu glauben!“ 

„So ſprich doch vernünftig! 


ſicht der Heinen Baroneß. 

„Geheirathet hat er!” plapte dieſe heraus. 
mit fiebzig Jahren, und nun ift er ein junger 
iſt zum Todtlachen!“ Und damit warf fie ſich in die Polfter zurüd 
und lachte, bis ihr die Thränen in die Augen traten. 

„Der alte Baron hat ſich — vermählt?* wiederholte Erna, 
die das gleichfalls unerhört fand. 


„&eheirathet, 


Ich möchte ihm um den Hals fallen, | 


„So ganz | 
ſchuldiger Miene, 


Erkläre doch endlich!" fante | 
Erna, mit einem vorwurfsvollen Blid in das glüdjtrahlende Ge: | 


Ehemann — es | 


519 oo — 


vor der Waltenbergichen Billa und damit war der große Moment 


| aefommen, den Wally mit vollem Triumphe genoß. Sie traten 


I 





ein und während der Here des Haufes Fräulein von Thurgau 
empfing, eilte Gersdorf, von feinem Rechte Gebrauch madend, 
feiner Braut entgegen, was ihm einen niederfchmetternden Blid 
von feiten ber frau von Lasberg zuzog. 

Ich glaubte, Sie feien bereits auf dem Lande, Baroneß,“ 
fagte fie im fchärfiten Tone, 

„D nein, gnädige Frau,“ verſetzte Wally mit harmlos un— 
„Ich Hatte allerdings die Abficht, dem Groß— 
onfel einen Beſuch zu machen; da er fid) aber verheirathet hat —* 

„Wer?* fragte die alte Dame, die fich verhört zu haben 
alaubte. 

„Mein Großontel, Baron Ernſthauſen auf Franfenftein — 


und ich habe mich gleichfalls verlobt. Sie gejtatten, gnädige Frau, 





„Jawohl, mit einem uraltadligen Stiftsfräulein. Die Sadıe | 


war ſchon längſt abgemadjt; aber fie wurde geheim gehalten, weil 
er die Scenen mit meinen Eltern fürdjtete. Er ift überhaupt 
nur hergefommen, um fein Teftament zurüdzunehmen, das er hier 
beim Gericht niedergelegt Hatte, und gleich nad) der Rückkehr hat 
er ſich trauen laſſen, jtandesamtlich und kirchlich, niet- und nagel« 
feft, wie der Papa fagt, und das ganze Vermögen hat er feiner 
Frau verfchrieben, auch niet: und nagelfeit, und wir befommen 
gar nichts umd nun bin ach feine Partie mehr — denke nur, 
welches Glück!“ 
Die junge Dame hatte eine höchſt merlwürdige Art, ohne 
alle Baufen zu Sprechen, To daß es unmöglich war, ein Wort 
dazwifchen zu werfen. 
nothivendigfte Zeit, um Athem zu fchöpfen, und dann fing fie von 
neuem au: 


dak ich Ahnen meinen Bräutigam vorftelle.* 

Das Lächeln, mit dem Waltenberg die Nachricht aufnahın, 
berrieth, daß er bereits unterrichtet war; Frau von Lasberg da— 
gegen Faß völlig ſprachlos da, und erſt als die Glückwünſche von 
allen Seiten kamen, ſaßte fie fich ſoweit, auch ihrerjeits eine 
Gratulation auszuſprechen, die freilich fehr fühl und förmlich 


‘ Hang und von der jungen Braut mit einer allerliebften Bosheit auf⸗ 
| genommen wurde. Aber lange hielt das nicht an bei Wally, die 


heute ihrem ärgiten Feinde verziehen hätte und im Uebermuth 
ihres Glückes, in ihrer ſprudelnden Heiterkeit alles mit fich fortriß. 

Das Zuſammenſein gejtaltete ſich auf diefe Weife jehr zwang: 
los und anvegend, troßdem es „nichts Ordentliches zu effen und 
zu trinken gab”, wie Gronau id) ausdrüdte. Seine Natur ver- 
langte entfchieden etwas Gediegeneres als Früchte, die in diejer 


‚ Jahreszeit und in ihrer Muserlefenheit allerdings mit Geld auf- 


Auch jetzt nahm fie ſich nur die aller 


„Sie hatten ein förmliches Komplott geichmiedet, der Papa 


und Eure weile Frau Überhofmeijterin, der ich das zeitlebens 


gedenken werde. Wie ein Poftpadet follte ich eingepadt und am | 


die Adreſſe des Großonkels geſchickt werden. 
und Trogen half nichts, die Koffer waren Schon ſertig. Da fiel 


All mein Weinen | 


der Brief des Großonkels mit der Anzeige feiner Bermählung | 


wie eine Bombe in unjer Haus. 


Papa fah aus, als habe ih ı 


der Schlag getroffen, Mama befam Weinkrämpfe und ich tanzte | 
in meinem immer umher und warf die fänmtlichen eingepadten 


Sachen wieder aus dem Koffer, denn von der Reife war natürlid) 
feine Rede mehr. 


Am anderen Morgen herrſchte bei uns eine 


Stimmung, als hätten zehn Gewitter eingeſchlagen; der Großonkel | 


wurde im Acht und Bann gethan; es gab eine lange geheime 
Konferenz zwiſchen meinen Eltern und als Albert am Nachmittage 
fam, wurde er ohne weiteres angenommen.” 

„Und Du warjt grenzenlos glüdlich — 
denfen !* fiel Erna ein. 

„Nein, zunächſt war ich empört," ertlärte Wally, indem fie 
das Näschen rümpfte. „Albert benahm ſich jo unendlich proſaiſch 
bei der Werbung. Anftatt von unferer ewigen unendlichen Liebe 


id) kann cs mir 


und unſeren ſchon halb gebrochenen Herzen zu ſprechen, rechnete 


er meinen Eltern ganz genau vor, was ſeine Praxis ihm ein— 
bringe, welches Bermögen er ſchon erworben habe und noch zu 
erwerben hoffe. Ich war außer mir über dies abſcheuliche Rechen 
erempel — natürlich jtand ich wieder am Schlüſſelloch und hörte 
alles mit an — aber Papa und Mama wurden immer fanft- 
müthiger und freundlicher dabei. Schließlich wurde ich gerufen 
und dann gab es allgemeine Umarmung und Rührung und 
Thränen. Ich weinte immer mit, obgleich ich eigentlich lieber 
getanzt hätte, und nahm es Albert fehr übel, da er feine einzige 
Thräne vergoß! 
wird ihn ärgern in jeinen Flitkerwochen — und morgen werden die 
Berlobungsfarten gedrudt und in drei Monaten heiraten wir!“ 

Die Meine Baroneß fiel im Uebermaß ihrer Wonne der 
Freundin von neuem um den Hals. Uber jet hielt der Wagen 


Der Großontel erhielt ein Telegramm — das | 


gewogen werben mußten, und etwas Zrinibareres als den ſchweren, 
duftenden- Wein, von dem man nur nippen fonnte. Die Damen 
ſchienen aber anderer Meinung zu fein und man brach endlic) 
in der heiterften Stimmung auf, um die Sammlungen zu be 
fichtigen, für welche das ganze obere Stodwerk des Hauſes aus 
ſchließlich eingerichtet war. 

Waltenberg führte feine Gäfte die Treppe hinauf, und als 
ſich die hohe Flügelthür öffnete, die jene Räume abichloß, da war 
es in der That, als jei die ganze Gefellihaft aus der grauen 
winterlichen Dede diejes nordiſchen Märztages auf einem Zauber 


mantel in den fonnens und farbenglühenden Orient getragen worden. 


Die fremdartigen Schätze aller Länder und Zonen waren 
hier in einer Fülle und Pracht aufachäuft, wie es nur ein langes 
Heifeleben und eine unbefchräntte Verfügung über die veichiten 
Mittel möglich machen konnten; aber die Aufſtellung dieſer in 
mancher Hinſicht unſchäßzbaren Sammlung hätte einen Mann der 
Wiſſenſchaft zur Verzweiflung gebracht, denn fie war ohne jede 
Negel, einzig mit Rüdfiht auf ihre malerische Wirkung geordnet. 
Allerdings wurde diefe Wirkung im vollften Maße erreicht und 
die geichidt vertheilten Gruppen ervtifcher Pflanzen, die ſich 
überall erhoben, geitaltelen das Ganze zu einem Bilde, vor dem 
der nüchterne Begriff der „Sammlung“ völlig verſchwand. 

Teppiche von echt orientaliicher Jeichnung und Farbe be- 
dedten die Wände und fchmüdten Fenfter und Thüren; dazwiſchen 
bingen feltfam geftaltete Wahlen, die friegeriiche Wehr von Völlern, 
die fern von aller Kultur lebten, bunter Federſchmuck und mächtige 
Palmenfächer. Neben ſchimmernden Seidenftoffen und zarten, 
golddurchwirlten Schleiergewweben zeigten ſich fremdartige &eräthe 


‚ und Gefäße vom thönernen Waflertruge an bis zu dem foit 


barften Trintbecher aus edlem Metalle, feltene Mufcheln und 
riefige Meerkorallen. Bier lag das Fell eines Löwen am 
Boden, dort ſchien eine buntgelledte Schlange aus der Moosdede 
einer Pflanzengruppe emporzuzüngeln; eine ganze Bogelwelt in 
den leuchtenden Farben des Südens und mit dem täufchenden 
Anſchein des Lebens hing und ſchwebte zwifchen den Palmen 
und ein mächtiger Tiger blidte mit feinen Glasangen fo drohend 
auf den Eintretenden, als fei er jeden Wugenblid bereit, zum 
Sprunge anzufeßen. Said und PDjelma in ihren malerijchen 
Trachten vollendeten das phantaftiiche Bild, und die quldfarbenen 
Schreiben der Fenſter, durch welde das Tageslicht eindrang, 
erwedten die Täufchung, als jluthe wirlliches heißes Sonnenlicht 
durch die Räume und taucde fie in einen glühenden goldigen 
Schein, der diefe ganze Yauberwelt der Wirklichkeit vollends zu 
entrüden fchien. 











Merl 








Ten. 


Schmid. 


ias 


6 


rt Mat 


— 0 


Waltenberg war cin cbenfo fundiger wie liebenswürdiger 
Führer. Er geleitete ſeine Gäſte von einem Gemach in das 
andere, don einem Gegenſtande zum andern und hatte die Ge— 
nugthuung, zu fehen, daß feine Schäge volle Bewunderung fanden. 
Es ergab ſich ganz zwanglos, daß er bei all den Erklärungen 
auch von dem Drte und der Gelegenheit fprady, wo er dies und 
jenes erworben hatte, und dabei entrollte er, vielleicht unabjicht- 
lid, vor den Mugen ber Zuhörer ein Leben, das in feinem 
bunten Wechfel von Gefahren und Genüffen in der That einem 
beranfchenden Märchentraum glich. Daß er fich dabei vorzugs— 
weife an Erna wandte, war nur natürlich; fie allein hatte wirt 
liches Verſtändniß und Antereffe für den eigenartig phantastischen 
Charakter diefer Umgebung, das hörte er an ihren Bemerkungen. 
Elmhorſt wollte offenbar feine Bewunderung zeigen, ſondern bes 
obachtete eine höflich kühle Zurüdhaltung, während Alice und 
Frau von Sasberg nur die Theilnahme zeigten, die man dem 
Seltfamen und Ungewöhnlichen entgegenbringt. 

Gersdorf, der die Sammlungen feines Freundes bereits 
fannte, machte den Führer bei feiner Braut, und das tar 
feine Teichte Aufgabe; dein Wally wollte durchaus alles ſehen 
und bewundern und ſah im Grunde doc nur ihren Albert, 
der ihr nicht von der Seite gehen durfte. Cie flatterte umher 
wie einer von den leichtbejhwingten Kolibris dort, als dieſe noch 
ihr leuchtendes Gefieder unter der heimiſchen Sonne entfalteten, 
und jubelte beim Anblid irgend eines neuen und merkwürdigen 
Gegenstandes auf wie ein ausgelafjenes Kind, zum großen Mif: 
fallen der Frau von Lasberg, die fi) wieder einmal gedrungen 
fühlte einzuſchreiten, obgleich fie aus Erfahrung wußte, wie 
wenig das au nützen pflegte. Sie benußte einen Augenblid, wo 
Gersdorf mit Alice ſprach, und bloclirte die junge Dame förmlich 
in einer Fenſterniſche. 

„Meine liebe Baroneh, ich möchte Sie darauf aufmerkſam 
machen, daß auch eine Braut Rüdjichten zu nehmen hat,“ hof: 
meijterte fi. „Sie hat ihre Frauenwürde zu wahren und darf 


es nicht aller Welt zeigen, dah fie vor Glüd ganz aufer ſich it. | 
„Asch möchte 


Eine Berlobung ift —“ 

„Etwas Himmliſches!“ unterbrach fie Wally. 
nur willen, wie mein Großonkel fid dabei benommen hat! Ob 
er auch Luſt gehabt hat, den ganzen Tag zu tanzen, wie ich?“ 

„Man follte meinen, Sie feien noch ein Kind, Wally,“ Tante 
die alte Dame entrüſtet. „Schen Sie Alice an, fie ift auch Braut, 
und gleichfalls erft feit einigen Tagen.“ 

Wally faltete mit dem Ausdrude fomifchen Entfegens die Hände. 

„Ja wohl, aber das ift aud) eine Brautſchaft — daß Gott 
erbarm’!* 

„Baroneß, ich muß fehr bitten!“ 

„Ja, ich kann mir nicht helfen, gnädige Fran, Alice ift ja 
ganz zufrieden und Herr Elmhorjt benimmt fich äußerſt gebildet. 
Man hört immer nur: ‚Du wünſcheſt, liebe Alice?” oder: ‚Wie 
Du befiehlit, liebe Alice" Immer höflich, immer artig! ber 
wenn mein Bräutigam mich mit diefer langweiligen Fühlen Artig— 
feit behandelte, die immer auf dem Geftierpuntt fteht — ic) 
fdidte ihm auf der Stelle den Ring zurück!“ 

Frau von Lasberg ftieh einen Seufzer aus; fie gab es auf, 


dieler jungen Dame Schidlichkeitsgefühl beizubringen, und hob die | 


Blodade auf, worauf Wally wie ein Pfeil davonſchoß und fich 
mit Verleugnung aller Frauenwürde jchleuniaft an den Arm ihres 
Verlobten hing. 

Anzwifchen war Elmhorſt in ein Geſpräch mit Veit Gronau 
gelommen, der ihm wie den übrigen als „Sekretär“ vorgeftellt 
worden war und der, feinem Grundfage getven, daß die Anweſenheit 
der Damen eine Ehre, aber fein Vergnügen Sei, ſich möglichit 
von ihnen entfernt hielt. Sie fpradyen natürlich auch über die 
Sammlungen, und Wolfgang fagte, auf den Neger und den 
Malayen deutend, die auf den Wink ihres Heren bald dies und 
bald jenes zur näheren Betrachtung herbeiholten: 

„Herr Waltenberg fcheint jelbjt in feiner nädhiten Umgebung 
das Fremdartige zu lieben. Er holt ſich feine Dienerichaft aus allen 
Zonen, und auch Sie, Herr Sefretär, ſcheinen troß Ihres Namens 
und Ihrer deutfchen Aussprache ein halber Ausländer zu fein.” 

„Ganz vecht,“ bejtätigte Oronan. „Ach bin fünfundzwanzig 
Jahre da draußen geweſen und glaubte überhaupt nicht, daß 
ih es wieder Sehen würde, das alte Europa. Ich bin in 
Anftealien zu Herrn Waltenberg geitohen; den Schwarzen da, 


522 0 — 


den Said, haben wir von einer Vergnügungstour durch Afrika 
mitgebracht und den Djelma erſt im vorlegten Jahre in Ceylon 
aufgefiicht; deshalb ift er auch noch fo dumm. Seht fehlt uns 
nur noch ein bezopfter Chinefe und ein Kannibale von den Süd: 
feeinfeln, dann ift die Menagerie volftändig.“ 

„Ueber den Geſchmack läßt ſich nicht ftreiten,* fagte Elmhorſt 
achjelzudend „Ach fürchte nur, Herr Waltenberg entfremdet ſich 
in all jeinen Gewohnheiten fo vollftändig feinem Geburtsfande, 
daß es ihm Schlieglih unmöglich wird, hier zu leben.“ 

„Das fällt uns aud gar nicht ein,” verficherte Weit mit 
derber Aufrichtigfeit, „Das fehlte noch, daß wir uns wieder 
einfpinnen in das alte biedere Philijterleben, der Here und ich! 
Wir gehen fo bald als möglich wieder auf und davon,“ 

Wolfgangs Bruft hob ſich bei den letzten Worten unwill— 
fürlich unter einem tiefen exleichteenden Athemzuge. 

„Sie feinen fich nicht viel aus Ihrem Baterlande zu 
machen?“ warf er hin. 

„Bar nichts mache ich mir daraus! Man muß über die 
nationalen Vorurtheile erhaben fein, fagt Here Waltenberg, und 
da hat er recht. Er hat mir eine ganze Predigt darüber nehalten, 
als ich auf der Rüdreife mit dem amerikaniſchen Prahlhans zu: 
fammengerieth, der ſich unterftand, auf Deutschland zu ſchimpfen.“ 

„Und da famen Sie in Streit mit ihm?" 

„Einentlich micht, ich ſchlug ihm nur die Naſe entzwei,“ 
fagte Beit kaltblütig. „Zum Streite fam es gar nicht, denn er 
lag gleich am Boden. Natürlich ftand er wieder auf und Tief 
wüthend zu dem Kapitän, um Genugthuung zu fordern, worauf 
der Herr Napitän unangenehm wurde. Uber da bekam er 
denifche Grobheit zu hören, Schließlich miſchte ſich Herr Walten- 
berg ein umd zahlte dem Manne mit der biutigen Naje cin 
Schmerzensgeld und ich war fortan eine ungeheure Rejpeltsperion 
auf dem ganzen Schiffe. Es Hat feiner wieder ein Wort gegen 
Dentichland geſagt — ich hätte es auch feinem vathen wollen!“ 

„Nun, ich hatte Mühe genug, die Sadye auszugleichen,” Tagte 
Maltenberq, der foeben heran trat und die legten Worte hörte. 
„Wenn der Dann fich nidyt mit Geld befchwichtigen lieh, fo hätte 
er übel ablaufen fünnen, diefer Friedensbrudy auf dem Schiffe. _ 
Sie waren ja wie ein gereizter Kampfhahn, Gronau, und die 
Veranlaſſung war gar nicht der Nede werth.“ 

„ich dächte doch!“ brummte Gronau. „Was hätte ich denn 
thun jollen dieſer Unverfchämtheit gegenüber?“ 

„Die Achſeln zuden und jchtweigen. Wer wird ſich um die 
Meinungen Fremder kümmern! Der Mann vertrat nur feinen Stand 
punkt, wie Sie den Jhrigen, und das war im Grunde fein Recht.“ 

„Sie ſcheinen allerdings hoch über jedem ‚nationalen Boruriheil‘ 
zu ſtehen, Herr Waltenberg,* jagte Wolfgang mit herber Ironie. 

„Wenigjtens jeße ich eine Ehre darein, jo borurtheilefrei 
wie nur möglich zu fein,“ Tautete die fehr bejtimmte Antwort, 

„Es giebt aber Verbältuiffe, wo man das nicht fein fann 
und darf. Sie haben ohne Zweifel volltommen vedt, aber ich 
halte es in diefem Falle mit dem Unrecht des Herrn Gronau 
ich hätte ebenfo achandelt. * 

„Wirllich, Herr Elmhorſt? Das überraſcht mich, ich hätte 
‚es Ihnen am wenigſten zugetraut.“ 

„Warum mix nicht?" Es lag ein ſcharfer Ton auf dem Worte. 

„Weit ich nicht glaube, daß Sie fähig find, fich irgendwie fort 
reihen zu laffen. Ihre ganze Perfönlichkeit verräth eine jo fichere 
Rube, eine jo volljtändige Beherrichung aller Verhältniſſe, daß ich 
überzeugt bin, Sie willen ftels genau, was Sie thun. Bei uns 
Dealiſten ift das leider nie der Fall — wir können von Ahnen lernen.” 

Die Worte Hangen artig, fogar verbindlich; aber der Stachel 
darin wurde doch gefühlt und verftanden und Wolfgang Elmhorſt 
war fein Mann, der fich ungeftraft veizen ließ. Er maß feinen 
Gegner von oben bis unten, 

„Ah jo — Sie glauben Idealiſt zu fein, Herr Waltenberg ?" 

„Gewiß — oder redinen Sie fich vielleicht zu den Idealiſten?* 

„Nein,“ fagte Wolfgang kalt. „Aber zu den Männern, die 
feine Beleidigung dulden, und das werde ich nöthigenfalls beweiſen.“ 

Er hatte jich hoch aufgerichtet und ftand jo herausfordernd 
da, daß Waltenberg die Nothwendigfeit begriff, einzufenten. Aber 
jein ganzes Weſen jträubte ſich dagegen, dem „Stveber“ zu weichen, 
der ihm mit fo unnahbarem Stolze gegenüberftand. Das Geſpräch 
hätte vielleicht eine fehr bedenflihe Wendung nenommen; aber 
zum Glüd kam Doltor Gersdorf dazwiſchen. Er hatte feine 


_ © 


Ahnung von dem, was hier verhandelt wurde, und wandle fich 
ganz unbefangen zu Wolfgang: 

„Ic Höre foeben, daß Sie ſchon morgen abreifen, Here 
Elmhorſt. Darf ich Sie bitten, meinem Vetter Reinsfeld einen 
Gruß von mir zu bringen ?“ 

„Mit Vergnügen, Herr Doktor; ic) darf ihm doch Ihre Ver: 
fobung mittheilen ?* 

Gewiß, ich ſchreibe ihm noch ausführlich darüber und viel: 
leicht befuche ich ihn auf der Hochzeitsreife mit meiner jungen Frau.“ 

Waltenberg war zurüdgetreten. Es war ihm noch rechtzeitig 
zum Berwußtfein gelommen, daß er als Hausherr feinen Streit 
mit feinem Gafte provoeiren bürfe, und aus diefem Grunde war 
ihm die Unterbrechung ſehr willfoimmen. Beit Gronau aber hordhie 
dabei anf, 

„Um Bergebung, meine Herren,“ miſchle er fih ein. „Sie 
nannten da einen Namen, den ic) aus meiner Jugendzeit her Tenne. 
At vielleicht von dem Angenieur Benno Reinsfeld die Rede, der 
aus Elsheim ſtammte?“ 

„Nein, aber von feinem Sohne,“ ſagte Gersdorf etwas über: 


raſcht, „einem jungen Arzte, der mit Heren Elmhorſt befreundet ift.“ | 


„Und der Valer?“ 

„Iſt längſt tobt, ſchon feit mehr als zwanzig Jahren.” 

In dem braunen Gefichte Gronaus zudte es eigenthümlich 
und er fuhr raſch mit der Hand über die Augen. 

„sa freilich, ich hätte es mir bdenfen fünnen! Wenn man 
nad fünfundzwanzig Jahren einmal wieder nachfragt, dann Hat 
der Tod aufgeräumt unter den alten Freunden und Genofien. 
Aljo Benno Reinsfeld ift geitorben! Er war der beite von und 
allen und aud) der tafentvolljte; aber NReichthümer hat er wohl 
nicht erworben mit all feiner Erfindungsgabe?” 

„Halle er wirflich ein derartiges Talent?" fragte Gersdorf. 
„sch habe nie davon achört und jedenfalls iſt es nicht zur An— 
erfenmung gelangt, denn er ftarb ala einfacher Ingenieur. Sein 
Sohn Hat ſich auch ganz auf eigene Hand durch die Welt jchlagen 
müffen, ijt aber ein tüchtiger Arzt geworden; fragen Sie nur Heron 
Eimborft.“ 

„Ein ausgezeichneter Arzt jogar,“ 
„nur zu befcheiden. 


bejtätigte Wolfgang, 
Er verftcht es nicht, ſich und feine Leiftungen 
aeltend zu machen.“ 


„Das hat er von feinem Vater,” jagte Gronau, „Der lieh 
ſich auch überall bei Seite fchieben und ausbenten von jeben, 
der ihm zu benußen verftand. Gott habe ihm felig! Er war ber 
beſte, treufte Kamerad, den ich je achabt habe!“ 

Inzwiihen jtand Waltenberg mit Erna von Thurgau am 
anderen Ende des Saales. Er hatte ihr jveben eine jeltene, 
phantaftijch geftaltete Meerforalle gezeigt und ftellte dieſe wieder 
an ihren Pla, während er fragte: 

„Es hat Sie alfo intexeffirt? Ich würde fehr glüdlich jein, 
wenn meine ‚Scäge‘, wie Sie es nennen, Ahnen eine mehr als 
flüchtige Theilnahme abgewinnen fünnten; vielleicht vechifertigen 
fie mich dann einigermaßen vor diefen ſtrengen Augen, in denen 
ih noch immer einen Vorwurf leſe. Geftchen Sie es nur, 
gnädiges Fräulein, Sie können es dem Weltfahrer nicht verzeiben, 
daf er fich feiner Heimath fo volljtändig entirembet hat?" 

„Aber wenigjtens kann ich ihm jett entfchuldigen,“ erwiderte 
Erna lächelnd. „Diefe Märdyenwelt, die uns hier umgiebt, hat 
in der That etwas Bejtridendes; es ift Schwer, ja faſt unmöglich, 
ſich ihrem Zauber zu entziehen.“ 

„Und es find doch nur ftumme, todte Zeugen eines Lebens, 
das in nie verfiegender Fülle ſchafft,“ fiel Emft ein. „Wenn 
Sie das alles befeelt erblidten, an der Stätte, der es enliprofjen 
it, zu der es gehört, Sie würden begreifen, daß ich nicht ans: 
dauern lann unter diefem Falten nordischen Himmel, daß es mich 
gewaltſam zurüchzieht zu den Ländern der Sonne und des Lichtes. 
Auch Sie würden unwiderſtehlich dort feitgehalten werden!" 

„Bielleiht! Und vielleicht auch wide mich im Ihren 
Sonnenländern ein tiefes Heimweh erfaſſen nach meinen kühlen 
heimathlichen Bergen. Doch wir wollen nicht darüber ſtreiten; 
das könnte nur eine Probe entſcheiden und die werde ich ſchwer— 
lich jemals machen.“ 

„Wenn Sie es wollen — warum nicht?“ 

„Weil uns rauen eine fo ſchranlenloſe Freiheit nicht ver— 
gönnt iſt. Wir können nicht fo allein und feſſellos durch die 
Welt ſchweifen, wie es Ihnen möglich iſt“ 


523 


—— 


„Allein!“ wiederholte Ernſt mit gedämpfter Stimme. „Sie 

| Lönnten fich ja auc einem Schuße, einem Führer anvertrauen, 

der Ahnen diefe Welt öffnete, dem es ein Glück wäre, Ahnen 

dies Reich der Gluthen und Farben zu erichliehen; vielleicht be: 
treten Sie es einft an der Seite eines — Gemahls!“ 

Das letzte Wort wurde leiſe, nur ihre allein hörbar ausge: 
ſprochen. Erna hob betroffen, wie fragend das Auge empor; fie 
begegnete einen Blick, der mit heißem, jengendem Strahl den 
ihrigen fraf, mit dem vollften Ausdrucke der Leidenfchaft. Sie 
erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurüd, 

„Das ift ſehr unmwahricheintich!* fagte fie mit einem Ber 
fuche anszuweichen. „Für ein foiches Leben muß man geichaffen 
fein und ih —“ 

„Sie find dafür geichaffen!* fiel er beinahe ftürmifch ein. 
„Sie allein unter Hunderten von Frauen, ich weiß es!” 

„Sind Sie ein fo volllommener Menſchenkenner, Herr Walten— 
berg?“ fragte Erna kühl. „Wir ſehen uns ja Heute erft zum 
zweiten Male; da iſt ein folches Uxtheil über einen fremden 
Charakter doch wohl etwas gewagt.“ 

Die Zurechtweiſung war deutlich genug, Waltenberg biß ſich 
auf die Lippen. 

„Sie haben recht, mein anädiges Fräulein,“ erwiderte er 
verlegt, „vollfommen recht! In dieſer Melt der Formen und 
Rückſichten irrt man feiht in der Benrtheilung eines Charakters. 
Hier giebt es ja überhaupt fein leidenſchaftliches Empfinden und 
ein heißes Wort, das ſich halb unbewußt auf die Lippen drängt, 
wird zur Verwegenheit. Hier muß ja alles feine Zeit und Negel 
haben — ich bitte um Werzeihung, daß ich das vergaß.“ 

Er verneigte fich und trat zu den anderen Damen. Erna athmete 
auf, als er jich von ihr wandte; fie hatte feine unverfennbaren 
Huldigungen bingenommen, ohne Gewicht darauf zu legen, ohne 
eine Ahnung von den Plänen ihres Onkels zu haben. Aber 
arade deshalb hätte fie dem Manne wicht zürnen dürfen, dem 
jede Berehnung fo fern lag! Es war wohl kühn, ihr ſchon 
bei dem zweiten Zufammenfein ſolche Andentungen zu machen; 
befeidigend war es micht und fie Tiebte ja grade das Kühne, 
Ungewöhnliche, das nicht nad Form und Regel fragte. Warum 
erſchral fie denn fo vor diefem halbverhüllten Seftändnif, warum 
überfiel fie eine heiße Angft bei dem Gedanken, fie könne wirklid) 
vor eine ſolche Enticheidung geftellt werden? — Sie fand keine 
Antwort auf die Frage. 

Fran von Lasberg mahnte jegt zum Aufbrud. Dean hatte 
fih im der That fchon ungewöhnlich lange feſſeln laſſen und eilte 
mun, ſich zu verabſchieden. Es wurden Dankjagungen und Grüße 
ausgetaufcht und Ernſt Waltenberg gab ſich alle Mühe, bis zum 
legten Augenblid der liebenswürdige Hausherr zu bleiben, der er 
bisher gewejen war. Aber es wollte ihm nicht gelingen, der Ver— 
fimmung Herr zu werden, die der Ausgang jenes Geſprãches 
mit Erna zurückgelaſſen hatte. Es lag etwas Gezwungenes in 
der Art, wie er jeine Säfte entlich, und doch war es ihm eine 
Erleichterung, daß fie ihm verliehen. Finſter, mit zufammenge: 
prefiten Lippen ſah er dem fortroffenden Wagen nad) und kehrte 
dann zurfid in die eben verlajjenen Räume. 

Er war tief gereizt und erbittert über die empfangene Bu: 
rüdtweifung. Sie berührte den Teidenfchaftlichen Mann wie ein 
Hand aus dem eijigen Norden, den er fo ſehr haßte; er flüchtete 
zurüd in feinen geliebten Orient, der ihn bier umaab mit feiner 
farbenreichen Pracht und feinem guldigen Lichte. Aber es fchien, 
als ſei aud) hier etwas von jenem falten Hauche zurücgeblieben. 
Das alles erjchien ihm auf einmal fo farblos und öde; es war 
ja dod nur eim todtes Abbild der Wirklichkeit! 

„Mafter Hronau, was hat der Herr?“ fragte Said, als er 
nach einiger Heit mit Djelma wieder in das Balkonzimmer trat, 
um den Tiich abzuräumen. „Er will jein ganz allein — er 
hat Fehr fchlimme Laune.“ 

„Ja — Sehr ſchlimm!“ bejtätigte Djelma, der es vorläufig 
erſt bis zu einigen deutichen Worten gebracht hatte. 

Beit Gronan hatte diefe Verſtimmung feines Herrn aleichfalls 
bemerkt, ohne fie fich erklären zu können, und war daher etwas 
in Verlegenheit, was er antworten folle, Er blieb aber nie eine 
Antwort ſchuldig, und diesmal traf er unbewußt den Nagel auf 
den Kopf, als er furz und bündig erwiderte: 

„Das kommt davon, daß er jih Damen eingeladen hat, und 
wenn Damen dabei find, giebt es immer Konfufion.“ 


-o 524 


„DO — immer?“ fragte Enid, dem bie Sache wicht recht 
einzuleuchten jchien. 

Immer!“ bejtätigte Gronau, mit vollem Nachdruck. 
fie weiß oder ſchwarz oder braun find, darauf fommt c& nicht an, 
Konfuſion ftiften fie doc an. Deshalb muß man unter ich bfeiben 
und ihnen aus dem Wege gehen — merkt Euch das, Ihr Schlingel!* 


Es war Sommer geworden, für bas Gebirge freilich noch 
Frühſommer, denn man befand fich erft in der Mitte des Juni, 
aber die Wälder und Matten ftanden fchon im friſchen Grin umd 
nur die Hochgipfel 
trugen nod das 
Schneegewand, das 
fie niemals ableg— er 
ten. Dort oben gab — ng 
es ja weder Früh. G 
ling, noch Som: 
mer und Serbit, 
dort herrſchte der 
inter in ewiger, 
eifiger Pracht. 

Das mächtige 
Alpenthal, das vor 
drei Jahren noch 
fo unberührt dalag 
in feiner erniten, 
düjleren Einfam- 
feit, trug jeßt über: 
all die Spuren des 

Menfchengeiftes, 
der damals mit 
einem Beer von 
dienſtbaren Kräf⸗ 
ten ſeinen Einzug 
hielt. In den Fels: 
twänden  gähnten 
dunkle Oeffnungen, 
aus der Tiefe wand 
fih in Schlangen: 
Linien ein ſchmaler 
Weg empor, ber 
eiferne Weg, dem 
Wälder und freljen 
hatten weichen müf: 
fen, und hoch oben 
über der Schlucht 
ſpannte ſich das 
Meiſterwerk dieſes 
ganzen WRiejen- 
baues, die Wolfen: 
fteiner Brüde, die, 
ſchon zum größten 
Theile vollendet, 
dort oben in der 
ichwindelnden Höhe 
zu ſchweben ſchien. 

Es war leine 
leichte Arbeit ge⸗ 
weſen, ſich hier Bahn zu ſchaffen, und gerade das Wollenſteiner 
Gebiet hatte dem kühnen Werke die höchſten Schwieriglkeiten be; 
reitet, die hier fürmlic aus dem Boden zu wachſen fchienen. 
Berechnungen, die man mit der größten Sorgfalt angeftellt 


Dampflammer, 


„Dh 





Driginalzeidinung von fer. Kallmorgen. 


hatte, erwieſen fich als trügeriſch, Hilfsmittel, auf die man | 


ſicher baute, verjagten ihre Wirkung, ungeahnte Kataftrophen 
traten ein, und mehr als einmal ſchien die Vollendung der Bahn 
in Frage geitellt zu fein. 

Aber an der Spike der Wollenfteiner Sektion jtand cin 
Mann, der all diefen Schwierigleiien gewachien war, den kein 
Hinderniß fchredte, Teine Kataſtrophe entmuthigte. Ex ging krot 
alledem vorwärts mit feiner Schar, immer vorwärts und inter: 
warf ih, Schritt vor Schritt vordringend, die trobige, bisher 
noch unbezwungene Alpennatur. 

Die Geſellſchaft wußte es nur zu gut, welche Kraft ſie in 
ihrem Oberingenieur beſaß, und pries jetzt die Wahl des Prafi 


denten, Die fie anfangs fo befämpft hatte. Man legte nach und 
nach eine fait unbegrenzte Bollmadyt in die Hände des noch ſo 
jungen Mannes und er wußte fie feſtzuhalten und zu gebrauchen. 
Der Ehefingenienr gab länaft nur noch den Namen ber für das 
ganze Wert; jedes Eingreifen, jede Eutſcheidung lam von bem 
energiſchen und genialen Führer feines Stabes, und jeit dieſer 
ſich nun vollends mit der Tochter Nordheims verlobt Hatte, feit 
ein Vermögen von Millionen hinter ihn ftand, verftummte jede 
Oppoſition, es beugte ſich alle vor ihm. 

Bon dem Wolfenfteiner Hofe war jede Spur verſchwunden, 
er wor der Erbe 
gleich gemacht wor⸗ 
den noch in bems 
jelben Jahre, wo 
fein Herr die Augen 
geſchloſſen hatte. 
Man brauchte ja 
nun feine Rüdjicht 
mehr zu nehmen 
auf ben wunder 
lichen Alten, dem 
das «Herz darüber 
gebrochen war. An 
der Stelle, wo einſt 
der alte Erbſitz ber 
Thurgaus ſtand. 
erhob fich jebt ein 
ftattlihes Haus, 
das künftige Sta- 
tionsgebäude, das 
gerade am Aus 
aange der großen 
VBrüde Tag. Bis 
zur Eröffnung ber 
Bahnlinie, die für 
das nädjte Frühs 
jahr in Ansficht ge: 
nommen war, hatle 
man das technische 

Burean darin 
ımtergebracht und 
die oberen Räume 
bewohnte einftwei 
len Oberingenieur 
Elmborft. Hier war 
gewiffermaßen das 
Haupiquartier ber 
Wollkenſteiner Sek: 
tion und Damit 
der Mittelpunkt des 
ganzen Bahnbaucs. 

Wolfgang hatte 
ſich auch bier fü 
eingerichtet, wie es 
ibm zum Webilth- 
niß geiworden war, 
feit er das immer: 
hin veichliche Ein: 


fommen jeiner ‚Stellung bezog. Die hohen, hellen Räume hatten, 


ein jehr behagliches Ausfchen, befonders das Arbeitszimmer mit 
feinen dunkelgrünen Borhängen und Teppichen, den eichengeichnigten 
Möbeln und ben veichgefüllten Bücherichräufen. Das Edfenjter, an 
welchen der Schreibtisch ſtand, bot den vollen Blick auf die arofie 
Brüde — das fühne Werk ftand feinem Schöpfer immer vor Augen. 

Elmhorſt ſaß am Schreibtische und ſprach mit Benno Reins— 
feld, der ſoeben gelummen war. Der junge Arzt zeigte ſich ganz 
unverändert in jeinem Weußeren wie in jenem Wejen, nur ned) 
etwas jormlojer und ungelenker war er geworden. Der jahre: 
lange Aufenthalt in dem Heinen, abgelegenen Gebirgsorte, Die 
anjtrengende Laudpraxis, die ihm wenig Zeit übrig Tick, md der 
ausſchließliche Umgang mit Männeen, bei denen es auf die Formen 
nicht jo genau ankam, äußerten ihre Wirkung. 

Augenblicklich freilich war der Herr Doktor in voller Gala; 
er trug einen fchwarzen Anzug, fein Staatsgewand, das nur bei 


oe 535 > 


aanz auferordentlichen Gelegenheiten zu paradiven pflegte, aber 
leider hinter der herrfchenden Mode um zehn Jahre zurüdblich, 
Vortheilhaft ſah er gerade nicht darin aus, es beengte ihn augen: 
ſcheinlich ſehr; die graue Joppe und der Filzhut waren ihm weit 
bequemer. Es ließ fich nicht leugnen, Reinsſeld war etwas ver— 
bauert in feiner Erſcheinung, und er mochte das wohl ſelbſt Fühlen, 
denn er nahm mit zerfnirichter Miene die Vorwürfe jeines Freundes 
hin, der ihn kopfſchüttelnd betrachtete. 

„In dieſem Aufzuge joll ich Dich den Damen vorftellen ?* 
fagte er ärgerlih. „Warum haft Dur wicht wenigſtens den Frad 
angezogen ?* 

Ich befige ja gar feinen Frack mehr,“ entichuldigte ſich 
Benno, „Er ijt bier wirllich nicht nothiwendig und da wäre es 
eine unnübe Ausgabe geweſen; aber ic; habe mir meinen alten 
Hut neu aufbügeln Taffen und habe mir auch in Heilborn ein 


Paar Handſchuhe aefauft.” 


Er zog ein Paar Rieſenhandſchuhe von ſchreiend gelber | 


Rarbe aus der Tafche und breitete fie mit großem Selbit- 
aefühl vor dem Oberingenieur ans, der ganz entfeßt darauf 
wieberblidte, 
„Aber Menih, Du wirst doch nicht etwa diefe Ungethüme 
tragen wollen!” rief ee. „Sie find Dir ja viel zu groß.“ 
„Aber fie find ganz neu und jo ſchön nel, verſicherte 
Benno gefränkt, denn er hatte auf Biene für dieſen uner 


hörten Toilettenauſwand gerechnet, zu dem er ſich erſt nach langem | 


Zögern entichloffen hatte. 

„Du wirst eine ſchöne Figur bei Nordheims ſpielen,“ ſagte 
—— achſelzuclend. „Mit Dir iſt wahrhaftig nichts anzu— 
angen.“ 

„Wolf — muß ich demn durchaus den Beſuch machen ?” 
fragte der Doftor mit einer jammervoll bittenden Miene, 

„Ja, Du mut, Benno! Ich wünſche, dab Du Mlice 
während ihres Hierſeins behandelft, denn ihre Kränklichkeit macht 
mir ernftliche Sorge. Sie Hat ja in Heilborn und in der Stadt 
alle möglichen Werzte gehabt, aber jeder ftellte eine andere 
Diagnofe und geholfen hat ihr feiner. Du weißt, wieviel ich 


von Deinem ärztlichen Scharfblid Halte, und wirft mir biefen 
Freundfchaftsdienjt nicht verjagen.” 

„Gewiß nicht, wenn Du es verlangit, 
den Grund, der es mir peinlich macht, 
Beziehung zu treten.“ 


aber Du kennt ja 
zu dem Präfidenten in 
















einigen * über den koſt 
baren Anhalt einer napofeo: 
nifchen "seriegstaffe, welche in 
einem Dorje in der Nähe von 
Bonn bei Öelegenheit der Aus: 
rodung von Baumwurzeln auf: 
gefunden wurde. Der Fund 
beitand im einer eifernen Stifte, 
welche in die Erde verjenft 
worden war und anfer wichti— 
gen hiſtoriſchen Doku— 
menten über eine Drittel 
. Million Franken bares 
Geld in Edelmetallmünzen enthielt. 
erinnere mich, gelegentlich eines Aufenthaltes 
in jener Gegend vor Jahren ſchon aus dem 
Munde der dortigen Bevöllerung von einer in 
ber Franzofenzeit verloren gegangenen Kriegs: 
fafje vernommen zu haben, aber die darüber im Umlauf befindlichen 
Gerüchte waren fo unbejtimmter Natur, daf es wohl ſchwerlich der 


Mühe gelohnt haben würde, ernſtliche Nachforſchungen dieferhalb | 


anzuftellen. Doc) hat das zufällige Auffinden des Schatzes bewieſen, 
wie wohl begründet jene Ueberlieferung geweſen it und wie infolge 


Ich. ſelbſt 





„Doc; nicht etwa wegen des ehemaligen Zerwürfniſſes mit 
Deinem Bater? Mer denkt heute nad) zwanzig Nabren noch 
daran! Ich Habe allerdings auf Deinen Wunſch bisher ber: 
mieden, Deinen Namen zu nennen, aber jetzt, wo ich Deine 
Hilfe für meine Braut in Anipruch nehme, muß ich Dich doch 
nothgedrungen voritellen. Uebrigens wirft Du mit meinem 
Schwiegervater gar nicht zufammentreffen, denn er wollte heute 
morgen wieder abreijen. Geftche es nur, Benno, der wahre 


| Grund liegt ganz wo anders, Du ſcheuſt Dich, mit Damen zu 


verfehren, weil Du nur Deine Bauernpraxis gewohnt bift." 

Er fchien mit der Vorausiehung das Richlige getroffen zu 
haben, denn Reinsfeld vertheidigte fich nicht dagegen, ſondern 
ſtieß nur einen tiefen Seufzer aus. 

„Du wirst noch ganz und gar verfumpfen in diefem Leben,“ 
fuhr Wolfgang ungeduldig fort. „Da figeft Du nun feit Fünf 
Jahren in dem elenden Heinen Bergneſte, veibft Dich auf in 
einer Praris, die die unerhörteften Anforderungen an Dich ftellt 
und Dir dabei die färglichjten Einnahmen bringt, und wirſt viel 
Teicht Dein Lebenlang hier jigen bleiben, nur weil Du nicht den 
Muth Haft, zuzugreifen, wenn jich irgend etwas anderes bietet. 
Wie hältſt Du es nur aus in folhen Umgebungen?" 

„Sa, bei mir Schaut es allerdings etwas anders aus als in 
Deinen Salons," jagte Benno qutmüthig, während er fich in 
dem Schönen behaglichen Arbeitszimmer umjah. „Man muß ſich 
eben nach der Dede ftreden, und die meinige ift elmas kurz ge— 
rathen; Du freilich Hatteft von jeher die Neigungen eines 
Millionärs, haft Dir ja auch fchon vor Jahren vorgenommen, 


‚ einer zu iverben, und das fee Zugreifen verftehit Du, das muß 


man Dir laffen.* 
Elmhorſt runzelte die Stim und im gereiztem Tone antı 
wordete er: 

„Muß ich das auch von Dir hören? Ammer und ewig 
diefe Hindentungen auf den Reichthum Nordheims! Es ſcheint 
wahrhaftig, als ob meine ganze Bedeutung einzig und allein in 
meiner Verlobung beſtände. Bin ich denn gar nichts mehr?” 

Neinsfeld jah ihm ganz erſtaunt an. 

„Was fällt Dir denn ein, Wolf? Dir weißt es doch, daß ich Dir 
Dein Glück von ganzem Herzen gönne, aber Du bift merkwürdig 
empfindlich, jobald die Hede darauf kommt, und hätteft doch allen 
Grund, jtolz zu fein. Wenn irgend jemand jein Ziel ichnell und 
alänzend erreicht hat, dann bijt Du es.“ (Fortfeßung folgt,) 


— und verſunkene Schätze. 


ſich ſeit dem Entſcheidungstage der Leipziger Völkerſchlacht auch 
unter den Anwohnern des Pleißethals, ſüdwärts von Leipzig. 
Der Ueberlieferung gemäß full, ganz ebenſo wie fich dies bei 
Bonn ereignete, am Ende der napoleoniichen Kriege, infolge 


‘ Befehls eines hohen Kommandirenden der flichenden franzöfiichen 





der Eile während der Flucht der damaligen franzöſiſchen Armee gegen | 


Ende des Jahres 1813 die fpäter für unmwahricheinlic gehaltene 
Verſenkung der Kriegskaſſe wirklich ftattgefunden hat. Dasselbe 
Gerücht, wie es im Munde des rheinischen Volkes umging, erhält 


1888 


Armee, beim Beginn des Rüdzugs im Dorfe Dölitz — deſſen zer: 
ſchoſſenes Schlößchen 1884 die „Gartenlaube“ im Bilde brachte 
(S. 129) — oder im benachbarten Marfileeberg, vielleicht auch 
zwiſchen beiden Drten im Fluſſe ſelbſt, die Kriegslaſſe eines 
franzöſiſchen Armeecorps mit ſehr beträchtlichem Goldinhalte ver: 
ſenlt worden fein, Alle im Laufe der Jahre vorgenommenen 
Nachforſchungen führten indeß zu feinem Ergebniſſe, und da nach 
menichlicyer Berechnung die beim Berjenten diefer Kriegskaſſe be 
theiligt geweſenen Zeugen jetzt jchwerlich mehr ſich unter den 
Lebenden befinden dürften, fo wird es künftig hierbei, gleichwie am 
Rhein, dem Zufall anheimgeitellt bleiben, vb jene Napoleond'or — 
wenn fie nicht überhaupt märchenhaften Urſprungs find — einjtens 
im Sonmenlichte wieder glänzen oder ob fie dem dunklen Schof; 
der Erde für immer follen einverleibt bleiben. 

Solche Funde, wie der Gingangs erwähnte, erinnern un: 
willkürlich daran, welche Schäße, im Yanfe der Jahrhunderte ver 
graben, noch unter der Erdoberfläche verborgen liegen mögen, der 
Erlöfung und Hebung harrend; wie viele davon, befaunt oder 
unbekannt, fchon zum Theil gehoben worden find und welche Un 
fummen von ſolchen Werthen noch der Nutnießung der Erden 
betwohner harren! 

Im allgemeinen wird man bei Funden zwei Hauptarten 
unterscheiden muſſen: Maffenfunde, welche auf großen hiſtoriſchen 


67 


— 0 


und kulturgeſchichtlichen Stätten aufgefunden werden, und Einzel— 
funde, welche der Zufall aufdedte. 

Die ungeheuren Anfiedelungen des Altertfums in Aleinafien, 
von Ninive ımd Babylon, von Troja-Hiſſarlik und Pergamos, 
die jemitifchen Numen von Palmyra und Perſepolis, die Todten— 
jelder der alten Aegypter im Nilthal, die Ueberreſte Karthagos 
an der Nordküſte Afrikas, die gelammten Inſeln des Aegäiſchen 
Meeres, das heutige Königreich Griechenland, ganz Italien und 
vor allem Nom jind feit Jahrhunderten umerichöpfliche Fund: 
gruben von Schätzen dev mannigfachiten Art. Es ift eine Un 
möglichkeit, auf diefem Gebiete auch nur ein annähernd vollitän- 
diges Bild der wichtigjten Entdeckungen zu geben, da bloße Ber: 
zeichnifje einzelner belangreicher Kunditellen von Orten, wo Hırltur 
völfer hausten, jhen Bände füllen wirden. Deshalb follen 
hier nur einige näher liegende Funde von allgemeinem Intereſſe 
Erwähnung finden. 

An eriter Linie dürften dies die Ausgrabungen Layards in Syrien 
und diejenigen des Ir. Schliemann fein, die von ungewöhnlichen 
Erfolge gefrönt wurden. An Refultaten diefen würdig zur Seite 
jtehen die Auſdelungen von Olympia, ein Berdienft der preußiſchen 
Negierung und des Deutichen Reiches. Die Ausgrabungen Schlie 
mann bei Troja an Stleinaftens Hüfte, woſelbſt der Schatz des 
Triamos gehoben worden jein ſoll, find für die Alterlhumskunde 
und Kunſtgeſchichte ebenfo bedeutimgsvoll, wie die Auffindung des 
Hönigsarabes von Agamemnon in Myſenä bei Argos, auf griechi 
fchem Gebiete, epocdhemachend wurde, Das Auffinden der welt 
befannten Benus auf der griechiſchen Anfel Milo füllt im das 
zweite Jahrzehnt diejes Kahrhunderts; viel ipäter entdedten Eng: 
länder auf der Inſel Eypern ein im Felſen ausachanenes Königs: 
arab, weiches Tojtbare Anfignien der Würde des darin Nuhenden 
enthielt. Jene aufgefundenen Attribute der Madıt, wie Scepter, 
Krone sc, waren in prachtvoller antifer Arbeit an fünf Pfund in 
feinem Golde ſchwer. 

Auch Dentichland befigt ſolchen Mafifchen Boden, und ins- 
befondere find es jene Stätten, auf welden römiſche Nieder 
faffungen gegründet waren, die ſich Durch werthoolle Kunde aus; 
zeichnen. Süddentichland jowie die Ufer des Rheins mögen 
zahllofe Schäße bergen; obenan dürſte in dieſer Richtung die 
Fejtung Mainz ftehen. In den fünfziger Nahren fanden dort 
Arbeiter auf der Citadelle, dem römischen Castrum, beim Auf: 
araben des Bodens ein großes Ehrenſchwert von Nom, dem ſieg— 
reichen Feldherrn Druſus vom dantbaren VBaterlande gewidmet, 
auf. Griff und Klinge waren vun hodhfünftleriicher Arbeit, erſterer 
in GEdelmetallen getrieben. Ferner ſei des befannten Silber 
fundes bei Hildesheim gedacht, der, wie angenommen Wird, 
von den Tafelgefchirren eines römiſchen Feldherrn herrühren 
joll, was, lebhaft bejtritten, mehrfache Kontroverſen bervorrief. 


526 > 


Entjtehung aus einer altgriechiichen Werkitätte Hin; der Zeitpunft 
der Anfertigung des Fundes bürfte in das 6. Nahrhundert 
vor Chriſto fallen. An lünſtleriſchem und materiellem Werthe 
bildet diefer Schmud ein würdiges Seitenſtück zum Hildesheimer 
Silberfunde Er dürfte zu einer Prachtausrüſtung für einen 
Skothenhäuptling beitimmt gewejen fein. 

In beireff der Frage aber, auf welche Art diefer jeltene 
Fund in die preußische Lauſitz gekommen, jei daran erinnert, 
daß genen Ende des 6. Kahrhunderts vorchriſtlicher Zeitrechnung 
ein mächtiger Strom pontifcher Stythen ſich unaufhaltſam nach 
Nordweiten durch Mitteleuropa wälzte. Durch das Heer des 
Darius von der Donau her bedroht, ſchidtien die Bölferwanderer 
wahrſcheinlich alle Habe, Frauen und Kinder voran, und ihnen 
ſelbſt scheint es damals nelungen zu fein, die Perſer bis über 
die Quellengebiele des Bug und Dnjepr nach Europa zu loden. 

Mindeitens ebenſo reich, wie Dentichland an hiftoriichen und 
alten Fundſtellen it, diirfte Oeſterreich Ungarn fein. Die Deff: 
mungen von anderthalb laufend Steltengräbern am Rudolfsthurm 
bei Hallitadt auf den Dürrenberge im Salzlammergute, wobei 
außer den üblichen Bronze und anderen Gegenjtänden mehrfad 
Dolchklingen in Goldſcheiden aufgefunden wurden; die Runde im 
Laibacher Moore, in den Umgebungen der Landeshauplitadt Yaibadı 
und auf den weiten Leichenfeldern von Walſch in Krain fürderten 
zahllofe und manniafaltiae Gegenſtände zu Tage. 

Das HZollerfeld in Rärnten ſowie die Gefilde von Charnuntum 
an der ungarifchen Grenze im der Nähe von Wien bergen die 
Reſte großer römiſcher Städte, welche feit Jahrhunderten unab— 
ſehbar ausgebeuntet werden. 

Auch Böhmen iſt in dieſer Richtung mit ſeinem hiſtoriſchen 
Boden eine wichtige Fundgrube, im welcher der Berg „Hradiſcht“ 
mit der alten Feſte Pürglis eine hervorragende Rolle fpielt. Im 


‚ Kahre 1771 wurde im Dörfchen Podmofl, der unmittelbaren 


Auch der Fund in einem alten Patricierhauie zu Regensburg | 


verdient erwähnt zu werden. Wahricheinlih zu Anfang des 
Dreißigjährigen Krieges verborgen, wurde er dort dor etwa 
15 Jahren gelegentlich einer Treppenreparatur in einer durch 
Wendung der Stiege gebildeten acheimen Niſche aufgefunden. Die 
hierbei zu Tage gebrachten, in Edelmetall getriebenen mittel: 
alterlichen Gefäße erregten durch die hohe Vollendung der Arbeit 
ſowie durch die Neinheit des Stiles das ungetheilte Intereſſe aller 
Alterthumsfteunde, 

Für Dentichland aber ſteht der reiche Goldfund von Betters- 


Nachbarſchaft der Burg, ein umfänglicher Bronzefeffel unter der 
Erdoberfläche aufgefunden, der, mit großen Goldjtüden angefüllt, 
über 80 Pfund altöfterreichiichen Gewichtes wog und einen Metall 
twerih von chen 58000 Gulden vepräjentirte. In demjelben 
Behälter befand ſich eine überaus werthvolle maſſivgoldene Arm 
ipange, Die wie ein Theil jener Münzen im Muſeum des Fürften 
zu Kürftenberg in Dongaueſchingen aufbewahrt wird. Der obere 
Theil jenes intereffanten Bronzegefähes iſt im Schloßmuſeum 
desfelben Fürſten zu Niſchburg in Böhmen aufgeftellt. Ohne 
Ausnahme zeigten die bei dem Schatze gefundenen Goldmünzen 
keltiſchen Urſprung, beiläufig 300 Jahre vor: bis IM) Jahre 
nachchriſtlicher Zeitrechnung. Im Juni 1877 gruben beſchäftigungs— 
loſe Hiüttenarbeiter auf dem Berge Hradifcht nach urvorzeitlichen 
lleberreiten und fanden inmitten einer modrigen, nicht erkenn— 
baren Maſſe in verwittertem Behälmiß etwa 200 Stüd Gould: 
münzen, im beilänfigen Werth von 2500 Gulden; fie zeigten 
diejelben Zeitperioden und Prägungen wie die zuerſt anfgefundenen. 
Nach ſtarlen Regengüſſen werden noch jept dort zuweilen Gold: und 
Silbermünzen zerftrent aufgefunden, und es müßte vorausſichtlich 
für die Wiſſenſchaft lohnen, wenn Burg Pürglitz, die um das 


Jahr 1200 erbaut it, ſammt ihren Umgebungen fachmänniſch 


unterfucht witrde, Denn nicht nur Gold- und Silberftüde birat 


‚ der Hradiicht, jondern auch Gegenſtände ans Bernjtein, Kryſtall, 
' Bronze, Glas :c.; einen Beweis dafür liefert das ff Hofmuſeum 


felde in feiner Art vereinzelt und als ein Unicum da, weil man 


bis jegt ſolche Schäge nur ans den großen Tumulis (Grab— 
hügeln) des Orients, jpeeiell der Krim, Ffannte, Genannte Ort 
ſchaft liegt eine und eine viertel Meile ſüdöſtlich von der preußi 
ſchen Areisitadt Guben und die fojtbaren, in 23farätigem Golde 
getriebenen Stüde wurden beim Ziehen eines Wajjergrabens in 
einer Tiefe von nur einem drittel Meter auf einem Ader, eine 
Rierteljtunde vom Dorfe entfernt, ganz zufällig entdedt. Eines 
der Dauptjtüde stellt einen aus ſtarkem Goldblech getriebenen 
Fiſch dar, der durch die Bruſtfloſſe im zwei Yangshälften getbeitt 


in Wien, welches, in abgejonderter Auswahl, mehr als 4000 Stüd 
hier ausgegrabener Species beſitzt. 
Ein arofartiger Zilberfund römischer Denare, von denen leider 


nur 18 Pfund, 4277 Stüd, vor dem Berichleppen gerettet werden 


und mit verichiedenartigen Figuren verziert iſt; nach dem Urtheile 


von Archäologen iſt er Beſtandtheil eines Schildes. Ferner wurden 
eine aus vier Medaillens gebildete Zierplatte, mit ſeltſamen Ge 
ſtalten geſchmückt, cin höchſt funftvoller Scheidenbeſchlag, zu einem 
Säbel gehörig, Hängeziergeräthe, Ohrgehänge, Armringe, Dolche 
und Schwertariffe, altes in hochfeinem Golde gearbeitet, auine 
funden. Die vortrefflichen fünftleriichen Arbeiten denten auf die 


fonnten, wurde von zwei Brüdern zu Bafony-Szombathely im 
Weßprimer Komitat 1864 durch Nuspjlügen eines großen Gefäßes 
gethan. Schon im Jahre 1858 war in erwähnter Gegend ein 
bedeutender Schatz achoben worden, durch die Unwiſſenheit der 
Finder aber in Hände gelommen, welche in den Münzen nur den 
Werth des Edelmetalls zu würdigen verftanden. Die Prägung dieſer 
Zilberdenare vertheitt ich auf 52 römiſche Negenten, doch entfallen 
auf Alerander Zeverus allein 743, auf Heliogabal 399 Stüd. 
Im Wiener Naturalienlabinet befindet fich der größte Opal., 


welcher bisher ala geſchlifſenes Stüd aufgefunden wurde, im 
\ Gewicht eines allen Wiener Pfundes und von dem benfbar 


ichönjten, ſeurigſten Farbenjpiel, der, wenn überbanpt von Gold 
werth bei einem ſolchen Juwel die Rede jein kann, von Sach— 
verftändigen auf über zwei Millionen Gulden gejchäbt wird. Er 


EN ac 
j N - 


wurde zur Zeit Maria Thereſias in Ungarn aufgefunden, umd | 


man vermuthet, daß er ſich urſprünglich in römischen Befite 
befand, doch find die näheren Umftände, welche feiner Auffindung 
vorangingen, jegt nicht mehr bekannt; unter Kaiſer Joſefs IL. 
Regierung befand er ſich bereits in diefer Sammlung, welcher er 
noch heute als eines der werthvollſten Stüde angehört. 

Eine hochintereffante Entdedung ward 1870 in einem bis dabin 
noch nicht durchforſchten Winfel des Prager Doms, am Hradſchin, 
gemacht. Dort fand man die feit mehr als 500 Kahren ver- 
aefjene Grabjtätte Nudolis von Habsburg, des Sohnes Albrechts 1. 
Die geöffnete Gruft barg zwei ganz morfche Kiſten, deren eine 
menschliche Ueberreite und Reſte zerfallener Goldbrofatgewänder 
enthielt, während die andere Reichsinſignien umſchloß. 

Das vom Nojte zerfreſſene, in drei Stüde zerfallene Schwert 
repräfentirte feinerlei Werth; Dagegen wurden Krone, Scepter 
und Reichsapfel, in hochſeinem Silber getrieben und ſtark ver: 
aoldet, unverſehrt aufgefunden. 
zeugniß mittelolterlicher Goldſchmiedekunſt, zeigt über dem Kopf: 
reifen je vier Lilien und ebenfo viel Kreuze. 





Erjtere, ein wundervolles Er: | 


Es fei nunmehr aber mit wenig Worten noch jener Schätze 
gedacht, welche, im feuchten Elemente ruhend, in den Ocean oder 
andere umfangreiche Gewäſſer verſanken. Welche Unjummen von 
Werthen mögen allein nur auf dem Grunde des ntlantischen 
Deeans, zwiſchen Enroba und den Bereinigten Staaten Nord: 
amerifas — der wahricheinlich am ftärkiten befahrenen Schifffahrts 
linie unferes Planeten — ruhen! Vielleicht könnten die amtlich 
geführten Navigationstabellen der engliſchen Admiralität am chejten 
annähernd ein Größenbild dieſer verfunfenen Schäbe bieten. 

Erwähnenswerth find jene Edelmetallichäge, die beim Unter— 
gange der ſpaniſchen „Armada“ an der Müjte der Niederlande in 
der Nordiee verfanfen und welde neuere Mimahmen im Harlemer 
Meer ruhen ließen. Inzwiſchen iſt gedachter Binnenſee troden 
aelegt, aber man fand die dort jehnlichit erwarteten Schäge nicht, 
obſchon Trümmer der gejtrandeten ſpaniſchen Kriegsſchiffe bloß— 
gelegt wurden. Das fragliche Fahrzeug muß alſo auf hoher See 
geſunken fein, denn fo aut man die bronzenen Schiffskanonen 
der Spanier auffand, ebenio qut wären wohl jene Metallichäte 


euldeckt worden. 


An der Stelle, two die Kronenbügel Frenzen, jind in erhabener | 


Arbeit die heilige Jungfran und der Engel Gabriel dargeftellt. 
Sämmtlicye Kleinodien find von hohem Kunſtwerthe. 

Und mindejtens ebenjo weich wie Deutſchland und Oeſterreich 
dürſten die Nulturländer des Weſtens an Funden fein. Ent— 
dedten beiipielsweife doch in der franzöfiichen Stadt Dijon vor 
wenigen Jahren Handwerker bei Gelegenheit von Reparaturen 
im Wohnhauſe einer Bürgerfamilie bei dem Wegräumen von 
altem Eichenhofzgetäfel über eine Viertelmillion Franken in Gold— 
münzen altfränfifcher Prägung, weiche feit der Neformation dort 
geruht haben mochten. Die Funde der auf diefem Gebiete weichiten 
Yänder Europas, Italien und Griechenland, wur in einigen 
Hauptjtüden zu verzeichnen, würde, jelbft bei qröhter Auswaähl, 
an diefer Stelle zu weit führen; wie müſſen darauf verzichten! 


Aud an den Sejladen des Bodenfees erhalten ſich unter den 
Werbewohnern Geſchichten über zur Römerzeit verfuntene Schäße, 
welche jeit Jahrtanfenden auf dem Boden des Schwäbiichen Meeres 
lagern follen. Freilich iſt zu Beiten der römischen Weltherrichaft 
dieſe Waſſerſtraße ein frequenter Weg zur römiſchen Feſte Auguſta 
(Angsburg) geweſen, und bei der geringen Qüchligfeit der da— 
maligen Schiffe ſowie dem wilden Wogenſchwall des Bodenſees 
im Sturm iſt es wohl möglich, daß dieſe Sagen auf That— 
ſachlichem beruhen. Wahrſcheinlich werden die auf dem Meeres— 
boden ruhenden Schätze aber für alle Zeiten verloren fein, es 
mühten denn Wiſſenſchaft und Technil der Zukunft die Hebung 
derjelden aus den Tiefen, in denen fie jeht Liegen, erleichtern, 
oder aber der Grund des Decans ſich ſoviel heben, daß denſelben 
beizufommen wäre. N. Zander. 


Ferien! 
Rlomentanfnahmen aus wei Kebensaltern. 
Bon Maximilian Harden 


Corping läßt jeinen Zaren Peter belammlich fingen: „DO jelig, o jſelig, 
ein Sind noch zu Tein I" Im Parkett entſteht bei dieſer mufilaliich 
fo ihönen Stelle jenes eigenthümliche Geräuſch, welches ſich aus allerlei 
Nalallauten nebſt obligater Taichentuchbegleitung zuſammenſezt — Die 
älteften jungen Damen ftimmen dem jentimentalen Beherrſcher aller 
Reußen wehnuthspoll zu, noc auf dem Heimweg ſäuſeln fie leije vor 
fih hin: „DO fetig, o felig, ein Mind noch zu fein! Hu, wie Talt ift es 
geworden!” 

Ich Habe mich der Schwärmerei für die Kindheitsepoche niemals 
unbedingt anschliehen Tönen. Auf die fo gern geitellte Frage: „Möchten 
Sie nicht noch einmal Kind fein?“ babe ich fters mit einem 9 euergiſchen 
„Nein“ geantwortet, daß die zartſinnigen Fragerinnen ſich entrüuſtet 
ob ſolcher Geſühllofigleit abwandten. Wenn man das Gymnaſium in 
einer arofen Stadt befucht hat, wenn man den jchweren Kampf mit der 
Trigonometrie nnd Stereometrie beftanden und fid bon einem Mlaffen- 
eramen zum anderen mehr jchlecht als vecht durchgelogen bat, wenn man 


ſich der heißen Mittagsftunden erinnert, wo man, nach haftig verichlungener | 


Mahlzeit, auf den durchglübten Trottoirs eiligſt der Schule zuſtrebte, um 
dort von 2 bid 4 Uhr im den entlegenften Winteln der Weltgeichichte und 
der Syntar einberzutaumeln, dann gehört ein hoher Much dazu, ſich 
ernſtlich nach den Fleiſchtöopſen der Gymnaſiaſtenzeit zurüdzufehnen. 

Zweimal in jedem Jahr packt jedoch auch mid, die brennende Selm: 
fucht nad den dämmerhellen Tagen der forgenlofen Freiheit. Sobald 
die Zeit kommt, wo in Ellernhauſe die Weihnachtstanne gefanft zu 
werden pilegte, wo die erjehnte Arbeit des Aufpubens begann, fängt 
auch das Heſmweh mach der Jugend am jich zu regen — wie der Baunt, 
den uns einst die Mutter anzündete, ftrahlt ja doch nimmer ein anderer! 
Gerade die Weihnachtsſtimmung, die uns alle zu froben Minden macht, 
ift and) folcher wehmüthigen Rückerinnerung am günftigiten; bald aber 
verhallt and fie im Prange der Tageseindrüde und der Sorge für 
die nächſte Stunde, Noch einmal aber meldet ſich dies Heimweh nad) 
der Jugend, faft genan ein halbes Jahre jpäter Hopft wiederum der Wunſch 
bei ns an, Teile, aber vernehmlich: „Wärft du noch einmal Mind!“ 

Die großen Ferien! Welch Zauberwort für alles, was einen Schul 
tornifter oder eine Büchertajche trägt! Wie zählt man fchon von Piingiten 
an die Tage, wie minmt der Fleiß aud bei den beiten Schlern 
rapid ab, wenn der Aulianfang in Sicht ift! Am dem feßten Tagen br 
fonders giebt es fein Halten mehr, ſchon mehren ſich die Lucken in den 
Klaſſen, denn alle, die jo „alüdlich“ find, krank zu fein, veifen fon 
etlibe Tage vor dent Schulichluffe ab, es gelingt audı dem ſtrengſten 
Lehrer nicht mehr, die Foncentrirte Aufmerkfamteit zu erzwingen, um jo 
weniger, als ja auch dieſe vielgeplagten Vadagogen ſich binausichnen aus 





ber dumpfen Maſſenluft, hinaus ans dem ewigen Eirkeltanz um ein fters 
gleichbleibendes Arbeitspenfnn, 

Wenn 08 in den lepten drei Tagen vor dem Ferienauſang auf 
unjerem Gymnaſium gar nid mehr vorwärts gehen wollte, dann wurde 
um äußerſten Mittel gegriffen; es wurde aus irgend einem intereflanten 

uch vorgelefen, und jo Ichlichen die Stunden denn nlüdlich bin, bie 
endlich der jonft qefürdhtete, gern binausgezögerte, diesmal aber hei er— 
jehmte Moment der Cenſurveriheilung eridienen war. In dem brauienden 
Jubel, der nun die großen Ferien begrüßt, verftummt fogar der Horn 
und Schmerz über die vermeintlichen „Ungerechtigleiten“ der Yehrer, 
welche jonjt noch Stunden lang nad dem Schlußalt von dem jungen 
Gemüthern eifrig debattirt werden. Wer hat aber heute dazu Yeit? 
Kaum die Aermſten, denen auch für die Ferien Fein anderer Aufenthalt 
winlt. Alles, was in die Bäder oder aufs Yand reift, ſtürzt eilends nach 
Dans, um ſchnell noch die lebten Bücher und Heſte den ſchon nepadten 
sofern einzuvderleiben. Die Eltern finden laum Zeit, ſich nach dem 
Zeugniß des Spröflings zu erlundigen, ſelbſt eine Wr, 3, die im jedem 
anderen Moment die Stimmung für Tage und Moden hinaus getrübt 
hätte, acht laum beachtet unter in der Daft und Unrnhe der Reiſe— 
Vorbereitungen. 

Man muß einen Berliner Bahnhof beim Arerienanfang neichen haben, 
wenn man fich eine ahnungsweiſe Borjtellung von eiger modernen Völter 
mwanderung machen will, Daß die Eonpis überfüllt find, verſteht jich 
ebenjo von ſelbſt wie die Anmwelenheit einer fchier unüberjehbaren Hinder 
ſchar bis zur außerſten Augendgrenze binab; das Schlinmſte aber vom 
Schlimmen iſt das ganz unglaubliche Handgepäd. Die Nebe über den 
Spanien. der Raum unter denselben, jedes Edchen iſt angelüllt mit 
Koſſern, Plaids, Taſchen, Mörben, Scadieln, Schirmen und anderem 
für jo vericiedenartige Generationen unentbehrliden Dausrath. Und 
welche Anhäuſung von Lebensmitteln! Obft, „Stullen“, Kuchen, Bonbons, 
Chofolade, Cales, Drops, Wein, Bier, Liqueur, Magenbitter; wenn 
man das Glück bat, mit einem ganz jugendlichen Exrdenbürger die 
Selle zu theilen, wohl and das durch einen Gummipfropfen geſchloſſeue 
Milhiläfchehen — eine gefährliche Enmphonie von Düften! Der Beginn 
einer echten und rechten Ferienreiſe ift ohne eine gewaltige fr — pardon — 
Eßorgie nar nicht denfbar; wozu geht man dem auch in die Sommer: 
friſche, wenn man fich vorher micht noch einmal den Magen ordentlid) 
verderben fol?! Fährt der Jun m acht Uhr von Berlin ab, jo beginnt 
die Zuſuhr von Nahrungsmitteln etwa um halb neun und dauert bis 
unmittelbar vor dem Mittagsejlen, das natürlich auf der Haupiſtation 
herimtergefagt wird, um dann gleich nach dem Kaffee mit frischem Muth 
und geiteigertem Appetit wieder einzuichen. 


o 


Wehe dem „einzelnen Herrn“, ber noch im ber legten Minute vor 
Abgang des überfüllten Zuges von dem zur Eile drängenden Schaffner 
mit ber Berjicherung: „Hier ift noch ein Plag* in ein folches Kleintinder⸗ 
bewahreoupe geihoben wird — könnten Blide tödten, entjeelt ſäule der 
Unglüdliche dahin, getroffen vom Wurhblide beleibigter und empörter 
Mütter! Einen Pla für die mitgebrachte Neifetafhe? Nicht für eine 
Million! Niemand rührt fi; mit ber ganzen Ridfidtslofigkeit, welche 
den ſchwachen Geſchlecht — mitunter! — zur Verfügung fteht, ſeyt man 
dem frechen Einbruch ben entichiedenften paſſiben Widerſtand entgegen, 
Diefe Tage gehören den Müttern und Kindern, wer nicht zu ihnen zählt, 
der bleibe in feines Nichts durchbohrendem Gefühl eben fort, wenn er 
nicht wie ein völlig Ichamlofer Eindringling behandelt fein will, 

Ich habe dieje Erfahrungen fchon früh gemacht, als ich, ſelbſt noch 
ein Knabe, aber mit dem männlichen Vollbewuhtfein des Untertertianers 
nebſt etlichen Schintenbroten ausgerüftet, zum eriten Male allein in die 
lachende Welt hineinfuhr, um Mutter und Schweſter nach der lieblichen 


528 


Infel Rügen zu folgen, Alle Schwierigkeiten und Unbequemlichleiten der 
Ferienzuge Sind gefteigert auf denjenigen Streden, welde die landichaits: 


hungrigen Grokitädter an die Sce führen, denn da nimmt der Berliner 


eben außer feinem heimiſchen Dache einfach alles mit, einschließlich Betten, | 
die, in riefige Säde eingenäht, den Heinen behanlichen Oftjeedanıpfern die | 


Vonfiognomie von Auswanderericifien neben. 

Wie es ſich für die erſte ſelbſtändige Neije gehört, war ich früh am 
Plate und richtete mich in einer Ede des Goupis behaglid ein. ch 
hatte den Betrag für ein Billet zweiter Klaſſe erhalten, nach einiger Er— 
wägung aber eins dritter Güte erftanden, angeblich um die vorausgereifte 
Familie durch jold beroiiches Beifpiel freiwilliger Svarſamteit zu über- 
raſchen. So wenigitens ſuchte ich mir damals die unjchuldige Betrügerei 
plaufibel zu madıen, heute bin ich ffeptiicher geworden und glaube eher 
an eine fpätere Hapitalanlage in Cigaretten und Apfelfuchen mit Schlag— 
—5 Wie dem auch ſei — die hiſtoriſche Wahrheit iſt nicht mehr genau 
eſtzuſtellen, denn es kam auders, als ich erwartet hate. 

Eingekeilt in drangvoll fürchterlicher Euge ſaß ich während der ſechs 
ſtündigen Fahrt nach Stralſund, rings umher Kinder, auf die ich mit der 
ganzen unfäglichen Beratung eines zwölfiährigen Herrn herabfah, Mütter 
und freundlicde Beſchlherinnen derjenigen Paſſaglere, welche die Reiſe 
in ihrem eigens dazu mitgebrachten Stedliifen machten. Kein Fenfter 
durfte gedfinet werden, denn im Coupe nebenan war eins offen, es gäbe 
fonft Zug, und „Dänschen hat ein Gerftentorn“, Dabei ah Händchen 
aber A eine Käſeſtulle nach der andern, während rischen Kirichen 
v fih nahm, deren Kerne jein lieblihes Münden dann auf den Boden 
pie, und die ganze Familie von Yeit zu Zeit von einem ſcharf riechenden 
Kräuterligueur geneh. Was Emmen, die allerfüngfte Mitreifende, angeht, 
fo wurde mir ihr holder Anblit in mäßigen Intervallen dadurd ent 
zogen, daß fie jih mit ihrer Nährmutter in die entlegenfte Ede zurüdzog, 
—— die wirkliche Mutter mit fühner Leibesborbeugung den Rückzug 
dedte. A 

Endlich nimmt ja alles ein (Ende, fogar eine Ferienreiſe mit Hinder 
niften. Nachdem etliche wenig erquidliche Scenen fih in unferem Kinder 
heim auf Nädern abgeipielt und die Folgen der irrationellen Ernährung 
ſich in der verſchiedenſten Weiſe bemerkbar gemacht hatten, erreichten wir 
endlich, mit der gebührenden Weripätung, Stralfund. Auf zum Hafen! 
Eine mäßige Viertelftunde vergeht, bis die Familie mit Sad und Pad 


© 


ausgelaben ift. Ich ſtehe auf Kohlen, denn das Dampfſchiff muß in fürzefter 
Zeit abfahren, und der Weg iſt gewiß ziemlich weit. So! Ginen Blid 
noch wirft die Mutter auf den num verödeten Mau — außer Frihchens 
Kirſchlernen und einem feinen Berg Stullenpapier iſt nichts mehr bor- 
handen, was an die jeligen Stunden erinnert — majeſtätiſch wie die 
Mutter der Gracchen verläßt fie die Stätte, und nun iſt auch für mich 
die Bahn frei! 

Vor dem Balnıhofsgebäude waren inzwiichen alle Bande frommter 
Scheu gerifien, eine wilde Jagd auf ein benußbares Vehikel hatte be- 
onnen. Mütter irren, inder winmmern — mit Hilfe der herbeineichleppten 
ſettſädde niebt das Ganze ein beinahe maleriſches Bild. Mir wurde ob 
diejes Anblids um meine Selbftändigfeit denn doch ettwas bange; fo weit 
ich auch das Auge ſchickte, feine Droſchte war mehr zu erbliden, Teiner der 
biederen vorpommterjchen Mofielenter hatte ſich auch die Mühe gegeben, 
auf einen halbwüchſigen Anaben zu achten, dem man wohl gar nicht das 
zu einer ſolchen Fahrt erforderliche Stapital zutraute. Endlich — id) jah 
eben meine lieben RHeifegefährten auf hoch bepadter Kutſche davomjagen, 
Freund Fritz ſaß einen halben Meter hoch über dem Kuſſcher auf einem 
gelben Reiſekorb und fchien noch bei den neliebten Kirſchen zu fein — 
entfchloß ich mich wohl oder übel zu Fuß zu gehen. Gedacht, gethan! 
In wilder Flucht ftrebte ich dem daken zu, mich durch ein jchier ument- 
wirrbares Labyrinth von Straßen und Gaßſchen durchfragend, und richtig 
lam ich auch gerade noch Zur rechten Zeit, um — ben Dampfer abfahren 
zu ya und von Hanschen eine „lange Naje* als liebevollen Abichieds- 
gen u empfangen. 

„Einen Berlorenen zu bemweinen ijt auch männlich,” jagt Dranien; 


‚ ich hatte den Dampfer verfäun, beim Laufen meinen Gloriaſchirm ver 


mehr 





loten — ich war ein Mann, aber ich weinte, 

Mit dem exrhofiten Ueberſchuß war es num nichts. Das Geld ging 
in Depeſchengebühr und der Begleichung meiner Hötelredinung zu Grabe. 
Aber ich hatte nicht nur meine Reiſe, ſondern auch ein veritables Aben» 
teuer gebabt, und das wog die Musficht auf verſchiedene Apfelluchen auf. 


— * 
* 


Wie fehnt man fich jetzt nach all der Ferienlujt zurück! Selbit das 
Schredgeſpenſt der Ferienarbeiten, das damals fürdterlich mahnend Tag 
und Nadıt, in Thüringen wie am Dftleejtrand, vor meiner geängiteten 
Seele ftand, id) würde es gern ertragen, lonnte ich dafür das drüdende 
ra er) der Sorgen los werden, ohne das es nun feine Ferienreiſe 
iebt, 
anderlei habe ich feit meiner erjten jelbftändigen Reiſe hinzu ge 
lernt, ich ſehe es ruhig mit an, wenn meine Rebenmenſchen ſich den 
Magen verderben, ich lann große und Feine Leute Kirichen effen jehen, 
i pr Moth jelber welche mit ihnen effen, und wenn mir ein Dampf 
hit vor der geehrlen Naje davon fährt, jo weine ich nicht mehr wie 
damals, denn ich babe feriher oft genug das Nachſehen gehabt, Sind 
wir darum wirklich Müger und vernünftiger geworden, wie wir es uns 
ſo gern einbilden?! a lieber Gott — wir haben eben reſignirt und 
laflen des Schidfals Stöhe und Schläge geduldig über uns ergehen — 
das iſt unfere ganze Weisheit! 

mmer aber, wenn der Juli mabt und die großen Sommerferien 
begimmen, Mingt und ſummt es in meinem Innern: „O felig, o felig, ein 
Kind noch zu fein!" 


Migräne 


Bon Brofefior Dr. £. Heinrih Kiſch. 


ine dharafterlofe Krankheit, bei der man nicht gefund und wicht‘ 

frant iſt!“ Dies Wort des Dichters Heine, mit welchem 
er feinem Unmuthe über einen Schnupfen Ausdruck gab, läßt ſich 
mit vollen Fug und Recht aud) auf die Migräne anwenden. 
Wiewohl feine jener Krankheiten, welche den menschlichen Organis- 
mus in feinem Bejtande gefährden und durch ihren Verlauf ernftlich 
das Leben bedrohen, bildet fie doch eine höchſt qualvolle Geſund 
beitsftörung, eines der verbreitetiten, aber auch hartnädigiten und 
veinlichjten Nervenleiden, die unfere durch die vorichreitende Kultur 
immer feinfühligere Generation plagen. 

Wer kennt wicht, zum mindejten vom Hörenjagen aus Be— 
fauntenfreifen, die Dualen, welche die Migräne bereitet, jene 
eigenthümliche Empfindung von Kopfſchmerz, grundverſchieden von 
dem gewöhnlichen, leicht erträglichen und leicht verſchwindenden 
Kopfweh, indem fie zumeijt nur die eine Hälfte des Kopfes betrifit 
und in periodiichen Anfällen auftritt, die fich durch viele Jahre, 
zuweilen die ganze Lebensdauer hindurch, von ‚zeit zu Zeit, micht 
an beitimmte Regel gebunden, wiederholen! Aber gar manche 
unferer Leer und Leſerinnen wiſſen wohl aus höchſt unlieblamer 
eigener Erfahrung von den Qualen diefer Unfälle zu erzählen. 
Denn die Migräne it im fehr vielen Familien zu Haufe und 
nicht jelten haben alle Familienmitglieder von ihr zu leiden, 
allerdings in ganz befonders bevorzugter Weife die weiblichen 
Angehörigen, zuweilen von dem Heinen Mädchen angefangen, das 


in der Schule von diefem Nervenleiden befallen wird, bis hinauf | 


zur Großmutter, welche noch immer bie und da ihr altgewohntes 


Migräneansälihen befommt. Wie bei den meijten Merven- 
erfranfungen giebt ſich auch bei dev Migräne eine erbliche Familien— 
befaftung fund, welche in einer von den Eltern auf die Kinder 
und Sindesfinder übergehenden Schwäche der Nervenapparate be 
fteht und es zu Wege bringt, daß unter bejtimmten, Die all 
gemeine Nervofität begünftigenden und fürdernden Einflüfen auch 
jenes jverielle Nerventeiden zur Entwichung gelangt und im die 
Erſcheinung tritt. 

Sole die Entstehung der Migräne fürdernde Momente 
giebt es viele amd mannigfache: in der Jugend das lang 
dauernde Stubenboden im den ungenügend gelüfteten Kinder 
zimmern oder in den von lindern überfüllten Schulräumlichleiten, 
die Ueberbiirdung mit geiftigen Arbeiten, welche das Gehien und 
das geſammte Nervenigitem allzu ſehr im Anspruch nehmen; 
weiter in den Jahren der förperlidden Entwidlung, bei deu 
heranwachſenden Mädchen unzwedmäßige Art der Ernährung und 
mangelhafte Bewegungsweiſe, wodurd dem Störper fein hinlänglich 
kräftiges, ſauerſtoffreiches Blut zugeführt wird; bei den jungen 
Männern aber das viele Tabakrauchen, welches die Nerven 
überreizt, das anhaltend lange Studiren bis tief in die Nacht 
hinein vder auch, was gleichfalls in den Kinglingsjahren nicht 
jelten jein Fol, das nächtliche Kneipen, durch weldes die Nerven 
fraft gar walch abgenugt und anfgericben wird; endlich auf ber 
Höhe der Yebensjahre die mannigfachen Angriffe, welde das 
Nervenſyſtem im Getümmel der Arbeit, in der Thätigfeit des 
Berufes wie in den Vergnügungen der Gejellichaft, kurz allenthalben 


ze 





walgrıgsıın Yuryauıg uog o Aputabjq uoq pur 
Brpoutuog us 


was, 


und immer während des hajtigen Lebenserwerbes und raſchen 
Lebensgenufjes der Gegenwart zu erdulden hat. 

So kommt es, daß das Migräneleiden in jedem Lebens- 
alter vorlommen kann, zumeiit aber in dem jugendlichen 
Lebensabichnitte und in den Jahren bis zu Fünfzig vorherricht, 
und feicht begreiflich it es auch, dah das Weib, deſſen Erb 
übel ja die Schwäche ift, am hänfinften davon betroffen wird. 
Wenn das Leben feine Höhe. überfchritten Hat, die Nerven 
ruhiger und abaejtumpfter geworden find, dann werden in der 
Kegel auch die Minräncanfälle viel feltener und treten minder 
quälend auf. 

Die Urſachen, welche den unmittelbaren Anſtoß zur 
Auslöſung eines Migräneanfalles bei den mit diefem Leiden 
behafteten Individuen neben, jind ſehr mannigfacher Art. Bei 
dem einen Nerbenſchwachen bringt eine unerwartete tiefe Gemüths 
bewegung, ein heftiger Schred, ein großer Aerger den Migräne 
anfall hervor. Bei der anderen nervöſen Perſon wird zuweilen 
eine veichlichere Mahlzeit, eine leichte Leberladung des Magens 
durch den Eintritt jenes Anfalles gebüßt; wiederum in anderen 
Fällen, befonders bei reisbaren Damen, genügt ichen irgend ein 
beliebiger unangenehmer Eindrud, welher das Auge, Ohr ‚oder 
die Naſe trifft, um Migräne herbeizuführen. 

Der Anfall jelbjt bietet zumeist ein Bild großer, ja man fann 
bisweilen Tagen, unerträglicher Qualen. Gewöhnlich beginnt er 
mit einem Gefühle von Eingenommenfein des Slopfes, der Em— 
pfindung eines dumpfen Schmerzes und peinlihen Drudes in 
der Schläfengegend der einen Seite, vorwiegend auf dev Tinten 
Körperhälfte. Won bier ftrahlt der Schmerz allmählich gegen 
die Angengegend aus umd macht ſich im Ange ſelbſt geltend, 
während zugleich die Antenfität der fchmerzbaften Empfindung 
zunimmt und fich als tiefes Bohren, fpannendes Drücken, quälendes 
Hämmern im Kopfe fundgiebt. Die Empfindlichkeit der Nerven 
für die Sinneseindrüde ift dabei jo franfhaft aefteigert, daß jeder 


Lichtftrahl die Augen biendet, jedes leiſeſte Gerauſch das Ohr 


peinlich berührt umd jede Bewegung im Zimmer ein tiefes Wehe 
verurfacht, Der von Migräne Befallene möchte jich deshalb am 
liebjten von der Außenwelt ganz abſchließen, er ſucht einen ftillen 
Naum auf, den er fich verdunfelt, vergräbt feinen Kopf tief in 
die Bettliſſen und will nichts als Ruhe, Ruhe. Zu den peinlichen 
Kopfſchmerzen geſellen ſich häufig während des Anfalles noch Uebel 
leiten, Magenſchmerz, gaſiges Aufſtoßen und Erbrechen einer 
wäſſerigen, galliggefärbten Flüſſigkeit. Dieſer qualvolle Zuſtand, 
welcher manche Aehnlichkeit mit der Empfindung der Seekrankheit 


bat, dauert bald längere, bald fürzere Zeit, meiſtens aber einige 


Stunden, zuweilen einen ganzen Tag, bis allmählich der Schmerz 
an Stärke einbüht, die Druchgefühle nachlaſſen und ein wohl 
thätiger Schlaf den ermüdeten Körper umfänat, Aber noch am 
nachſten Tage verrathen oft das blafie Ausjehen, die dunllen Ränder 
um die Augen, die jchlaffen Geſichtszüge, die allgemeine Schwäche 


den Sturm, weldyen der Migräneanfall von gejtern hervorgerufen. | 


Ucber das eigentlihe Wejen der Minräne berricht in 
den ärztlichen Anſchauungen noch wicht volle Klarheit; ja es iſt 
Sogar noch jtreitig, wo der Gib des Schmerzes bei Migräne eigent 
tich jei. Während die einen den fonenannten dreigetheilten Nerven 
umd feine oberflächlichen Verzweigungen für die eigentliche Quelle 
des Schmerzes halten, nehmen andere an, daß der Schmerz inner 
halb des Schädels jelbjt in den Newen der Hirnhäute fire. Zur 
Aufhellung der Vorgänge bei diefem Leiden haben Beobachtungen 
beigetragen, welche von mehreren Forichern bezitalich des Verhaltens 
der Blutgefäße der betroffenen Kopfhälfte angejtellt wırrden. Man 
bat nämlich in einigen Fällen eine Berengerung der Blutſchlagadern 
auf der entiprechenden Kopfſeite, auf welder der Schmerz tobte, 
beobachtet und damit einhergehend eine auffällige Blaſſe diefer Ge 
jichtshälfte, eine merfliche Kühle der betreffenden Partie und Er 
weiterung dev Hugenpupille. In anderen Fällen wiederum bemerkt 
man im Gegenſahe zu der eben hervorachobenen Erjcheinung, dah 
eine Erweiterung der arteriellen Blutgefähe der betroffenen Hopf 
hälfte eintritt und hiermit in Verbindung eine Starte Röthung und 
Schwellung diefer Gefichtsfeite, vermehrte Schweiß: und Thränen 
abjonderung, Erhöhung der Temperatur, Berengerung der Augen 
vupille. Als Urjache der Zufammenziehung der Mustelfafern der 
Blutgefäße im erſten Falle betrachtet man eine Reizung der 
im Halsſympathieus (der Halspartie des jogenannten ſympathiſchen 
Nervenfyftems) verlaufenden gefähverengenden Nervenfaſern und 


530 > 


die Erichlaffuung der Gefäßmuslelfaſern; im zweiten Falle ficht man 
als ſolche Urſache eine Lähmung der gefähverengenden Nerven 
fajern an. : 

In vielen Fällen von Migräne ſcheint das Bauchganglienſyſtem 
der Ausgangspuntt der Reizung der Nervenfafern zu fein. Schon in 
alten Zeiten war es den Merzten befannt, daß Störungen der 
Magenverdaunng, der Darmthätigfeit wie der Leberfunktion 
zu dem Auftreten von Migräneanfällen in einer gewiſſen Be 
ziehung ſtehen. Diefe Anschauung wurde jpäter als nicht richtig 
wieder verlaflen; aber in der jüngiten Zeit haben ſich die Be— 
obachtungen nchänft, weldye den Zuſammenhaug von Unterleibs 
ftörungen mit der Erregung von Migräne darthun, gleichwie ein 
ſolches urfächliches Verhältniß zwiſchen Leiden der Verdauungs 
organe und anderen Neuroſen (Rervenleiden) nachgewieſen worden 
iſt. Man mühte dann die Migräne als eine jogenannte refleltoriſche 
Nervenerregung betrachten, welche ihr veranlaffendes Moment in 
den kranthaſten Zuſtänden des Magens und Darmfanales, fpeciell 
in Darmträgheit hat, indem durch Neränderungen der nervöſen 
Apparate im Darme Franfhafte Erregungen dem centvalen Nerven 
injteme anf dem Wege des jumpathiichen Nerven mitgetheilt 
werben, welche ſchmerzhafte Empfindungen (Migräne) auslöfen 
und zugkeich eine Reizung oder aud eine Lähmung der im Hals 
ſympathicus verlaufenden gefähverengenden Nervenfaiern bewirken. 

In der That konnte ic) in einer beträchtlichen Reihe von Fällen 
einen innigen Zuſammenhang zwiſchen chroniſcher Darmträgheit 
und Migräne nachwpeiſen und vermochte durch Behebung des 
erjteren Leidens eine Heilung der Tegteren zu erzielen.  Nament 
fich bei Männern und Frauen, tweldye infolge diätetifcher Sünden, 
zu veichlicher üppiger Moft, figender Lebensweife, anjtrenaender 
geiftiger Arbeiten oder übermäßiger Sinnenreizung die Erfchei 
wingen der Unterleibsblutvölle boten und dabei an halbfeitigen 
Kopfſchmerzanfällen fitten, welche durch lange Zeit den verfchieden 
jten örtlichen und allgemeinen Behandlungsmethoden trogten — 
aclang es, bei dem Gebrauche geeigneter abführender Mittel 
mit Durchführung zweckmäßiger Ddiätetifcher Maßregeln baldige 
Heilung zu erzielen. In einigen diefer Fälle deuteten auch Um: 
behanlichkeitsacfühle und ſchmerzhafte Empfindungen, welche in 
der Magengrube, in der Blinddarmgegend oder im ganzen Unter 
feibe dem Ausbruche des Migräncanfalles vorhergingen, auf den 
angegebenen Zuſammenhang hin. Es fei hierbei hervorgehoben, daß 
fich die Anwendung jener die Unterleidsthätigleit vegelnden Mittel 
nutzlos erwies, den beginnenden Anfall zu unterdrüden, daß aber 
ihr methodiicher fängerer Gebrauch in der Weife, daß dann der 
Darm regelmäßig und ausreichend feine Schuldigfeit that, auch eine 
Wiederlehr der Migräneanfälle verhütete. In anderen Fällen iſt 
der Grund der Migräneanfälle ein viel tiefere, in einer Wer: 
änderung der Blut: und Zäftebeftandtheile gelegen. So Tann 
Blutarmuth und Bleichſucht, gleichwie fie den Boden liefern, 
auf weldyem die verichiedenften Nervenleiden üppig gedeihen, auch 
die Urſache der Migräne bilden. Oder es fann — und ob dies 
der Fall ijt, vermag nur die genaue ärztliche Unterfuchung zu 
enticheiden — die gicht iſche und rheumatiſche Kranlheitsanlage 
ſich durch periodiſch auftretende Kopfſchmerzen befunden, welche 
das Gepräge der Migräne tragen. Endlich ift die. Migräne zu: 
weilen, wenn and, felten, wicht ein selbjtändiges Mervenleiden, 
jondern das Symptom einer eigentlichen Erkrankung des Gehirnes. 

Die Behandlung der Migräne wird nach dem eben Er— 
Örterten ganz beionders auf die Darmfunktion Rücſſicht nehmen 
müſſen und, wo ſich eine Tränbeit des Magens und des Darmes 
erweifen läßt, auch dahin anregend zu wirlen beſtrebt fein. 
Gegen die jo außerordentlich häufige Darmträgheit muß man nicht 
fogleich mit dem jchweren Geſchütze der arzneilichen Nüftlammer 
anrüden; oft geunug, ja man lann wohl jagen in der weitaus 
überwiegenden Yahl der Fälle, kommt man mit einer gehörigen 
fonfequenten Regelung der Lebensweife und richtiger Ver 
änderung der Koſt, ohne eigentliche Arzneimittel zum Ziele. Die 
Menge der Speifen bei jeder Mahlzeit muß, entſprechend den Ver 
danungsfräften, geregelt und befonders jedes „zu viel“ vermieden 
werden. Betreſſs der Art und Beichaffenheit der Nahrungsmittel 
müſſen bei chroniſcher Darmträgheit alle jene Speifen jorgfältig ver 
mieden werden, welche geeignet find, die regelmäßige Darmentlecrung 
zu beeinträchtigen. Alle groben, ſchwer verdaulichen, viel Nüdjtände 
hinterlaffenden Speifen find als verboten zu betradhten: jo befonders 
Hilljenfrüchte — Exbien, Linſen, Bohnen — grobe Mehlipeiien, harke, 





—o 


zähe Fleifcharten, Kartoffeln, gewiſſe Fruchtarten, wie Mifpeln, 
Rajtanien. Wo auf eine geringe Abjonderung der Darmfäfte als 
Urfache der Darınträgheit aejchlofien werden muß, find folde 
Nahrungsmittel zu wählen, die viel jlüffige Beitandtheile enthalten; 


531 


o 


' zu Fräftigen, es vor Verweichlichung und Verwöhnung zu wahren, 


daher ijt Suppe mittags und abends zu geniehen, Mild), heißer | 


Kaffee, leicht verdauliche Gemüle, wie Spinat, gelbe Rüben, Blumen: 
tohl, Obſt, Kompotte find empfehlenswerth, weiches, junges, mürbes 
Fleiſch mit veichlicher Zuthat von Sauce auszuwählen. Die be 
treffenden Perionen jollen das Bedürfniß der Stuhlentleerung, 
wenn es fid) geltend macht, niemals unterdrücken und müſſen fich 
vielmehr an eine gewiſſe Negelmäfigfeit diejer Körperfunktion ge 
wöhnen. 
dem Erwachen einen Verſuch zu unternehmen, den Darm an feine 
Prlichterfüllung zu mahmen. Thun es die Patienten, fo wird 


So ift es Sehr zweddienlich, des Morgens aleich nad) . 


ihnen die Freude zu teil, die fangacwohnten Flaschen mit Arzneien | 


und Schachtein mit Pillen bei Seite fchieben zu können 

Nicht zu vernachläffigen iſt dabei eine angemefiene Förper 
liche Bewegung, längeres Spazierengehen, Reiten, Turnen. 
In hartnädigen Fällen habe ich von zweckmäßiger Maflage in 
Verbindung mit Anwendung des eleftriihen Stromes günftige 
Wirkungen geſehen. Brunnenkuren mit auflöfenden Mineral: 
waſſern (Marienbad, Karlsbad, Kiſſingen, Homburg) haben, da 
fie auf die Darmthätigkeit mächtig fürdernd einwirken und in an- 
genehmſter Weife eine günftige Veränderung ungeeigneter Yebens: 
acwohnbeiten gejtatten, oft ausgezeichnete Heilerfolge bei gewiſſen 
Füllen von Migräne aufzuweiſen. 


Bei ſchwächlichen, blutarmen, in ihrer Emährung herab 


gelommenen Individuen, wo die jchlechte Blutbeichaffenheit, die 


zarte Drganifation des Körpers und die Manaelhaftigleit des | 


Nervenigitems als veranlafiende Momente der Migräne betrachtet 
werden mülfen, iſt es zur Behandlung der Teßteren unumgänglich) 
nothwendig, auf das Grundübel durch biukfräftigende und nerven- 
ftärfende Mittel einzuwirken. Gifenpräparate, Eräftigende Keoft, 
Aufenthalt in Gebirgsluft oder an der Ser, falte Wafchungen des 
Körpers, Seebäder, Stahlbäder, Eijenmoorbäder u. f. w. werden 
in ſolchen Fällen, vaſſend angewendet, ihre treffliche Wirkjamfeit 
entfalten. 
Erhöhung der Widerjtandsfähigfeit des Nerbenſyſtems eine paf- 
fende geiftige Diät einhergehen: Vermeidung jeder Aufregung, 
Anjtvengung und Ueberreizung dev Nerven. 

Wenn in einer nervös veranlaglen Familie eines der Eltern 
an Migräne leidet, muß man, um den Ausbruch diefer Nerven: 
anfälle bei den Kindern zu verbiten, ganz beionders darauf 


bedacht fein, von früßejter Jugend an das Iindliche Nervenſyſtem 


Dabei wird mit der körperlichen Kräftigung auch zur | 


andererjeits aber geiftige Ueberbürbung zu meiden. Beſondere 
Borficht in dieſer Richtung ift bei Kindern um die Zeit deu zweiten 
Zahnung und in der Periode der Entwidelung des Jünglings 
und der Jungfrau nothwendig, weil im diefen Lebensabicnitten 
eine vorzugsweiſe Neigung zur Ausbildung von Nervenleiden 
mannigfacher Art fich geltend macht. 

Um den Ausbruch des Migräneanialles zu verhüten vder 
den bereits aufgetretenen Anfall zu mildern, ift eine große Anzahl 
von Arzneimitteln, fo bejonders Ehinin, Coffein, falicyljauves 
Natron, Amylnitrit u. a. m. empfohlen worden. Dieſe anzınvenden, 
muß immer dem Arzte vorbehalten werden und lann nicht Sache 
des Laien fein, der Leicht Unheil jtiften könnte. Ich belone dies 
befonders, weil es in fetter Zeit modern geworben iſt, ſich einfach 
eines der in den Zeitungen gepriefenen Gegenmittel gegen die 
Migräne anzuſchafſen und im Bedarfsſalle nach Belieben an: 
zuwenden. Ein ſolches Mittel iſt beiſpielsweiſe das Amylnikrit, 
von dem man 1 bis 3 Tropfen auf ein Tuch oder Watte gießt 
und dasſelbe vor die Nafe hält. In der That erfolgt hierauf 
zuweilen ein jofertiges Verſchwinden des Schmerzanfalles; allein 
die Anwendung diejes Mittels ijt durchaus nicht gefahrlos; die 
Einathmung von 1 bis 2 Tropfen desielben erzeugt ſogleich jtarke 


' Röthung des Öefichtes und der ganzen oberen Körpertheile, womit 


fih Hibegefühl, eine rauſchähnliche Empfindung von Schwere im 
Kopfe, Steigerung der Herztbätigfeit und Pulsfrequenz verbinden, 
welche zuweilen Bewußtlojigteit, Ohnmacht ſowie plötzlichen Still: 
ftand des Herzens zur Folge haben. 

Nicht felten gelingt cs, Durch einfache Mittel eine gewiſſe 
Linderung im Schmerzanfalle herbeizuführen. So verichafft zu- 
weilen Die Anwendung von Kälte, das Auflegen eines fenchtlalten 
Tuches oder eines mit Eisſtückchen gefüllten Gummibeutels auf 
den Hopf Milderung des Schmerzes, in anderen Fällen iſt ſolche 
Wirkung nur durch Wärme zu erzielen. Defter empfinden die vom 
Migräneanfalle Betroffenen es wohlthuend, wenn man ihnen ein 
Tuch recht Feit um den Kopf herumbindet und dadurch einen 
kräftigen, tiefen Trud bis auf die Schädelfnochen ausübt. Auch der 
Genuß einer Tale ſtarken ſchwarzen Kaffees oder recht heißen 
Thees und die hierdurch erfolgende reichliche Schweißerregung 
vermag manchmal Erleichterung zu verſchaffen. Es giebt allerdings 


auch Migräneanfalle gewiſſer verwöhnter Damen, welche ebenſo 


raſch wie ſicher durch ein — neues Kleid oder eine Balllarte zu 
luriren find; doch dieſe Art nervöſer Anfälle gehört nicht in den 
Rahmen meiner Betrachtung, welche es nur mit Krankheiten, micht 
aber mit Ungezogenbeiten zu thun haben will. 


Blumen-[uxus. 


DI" Diode Fpottet bekanntlich aller Logik und Fo ſtecken audı 
unfere rauen, wenn die Natur erftarrt im Winterichlafe 
liegt, Die duftigen Roſen in das Haar, während im Sommer, 
wenn die Kinder Floras fiegreich alle Felder und Bauen behaupten, 
Kunſtblumen aller Art auf det Damenhüten exicheinen. 
die Blume felbſt, jei fie num Kunſt oder Natur, aehört zu dem 
Luxus unjerer Tage, wie fie in allen früheren Zeiten ihre Nolle 
ſpielte. 
und die neue Geſchichte. ſchmückt die Heldengräber und die Burg 
ruinen, huldigt der Schönheit und dem Ruhme, windet der 
Zukunft ihre jarbenprangenden Kränze. Sie beberrichte alle 
Geremonien der alten Völler, und die dhriitliche Kirche, Die fie 
anfanas als ein Abzeichen des Heidentbums ansichloß, wollte ſich 
ſchließlich auch micht mehr ihrem blühenden Zauber entziehen. 
Fortunatus, Biſchof von Boitiers, ſchrieb ein zierliches Gedicht 
an die Königin Radegund und die Aebtiſſin Agnes von Roitiers 
und fagte darin: „In Diefer ſchönen Frühlinnszeit ſchmücken alle 
Menſchen ihre Häuſer mit Blumen, Ihr aber jollt die herrlichen 
Blumen jammeln, fie zur Kirche tragen und damit die Altäre 
ſchmücken, damit fie in leuchtenden Farben erglänzen. Der goldne 
Krokus geſelle ſich zum holden Veilchen, grelles Noth ſei durch 
ſchimmerndes Weiß abgelöſt, dunkles Blau zu Grün geſellt. Es 
iſt ein Kampf unter Blumen, die eine ſiegt Durch ihre triumphirende 
Scönbeit, die andere duch ihren ſüßen Duft; fie verdunkeln alle 
Edeliteine und ſpotten des Weihrauchs.“ 


Aber 


Wie ein poetiſches Symbol zieht fie ſich durch die alte | 


Tas war im fechsten Jahrhundert, in Nom aber ſchmückt 
man noch heute im der Kirche der Sata Maria Maggiore die 
Altäre mit weißen Rofen und Jasminblüthen. Die Blume ge— 
hörte im Mittelalter zum höchſten Luxus der Kirche. Die 
anglitaniiche Kirche kennt noch hente feinen höheren Prunk und 
vor Dfterfonntan drängen jich auf dem Blumenmarkt von Kovent 
Garden unzählige Churdimen zwiſchen vornehmen Ladies, um 
wahre Wagenladungen prächtiger Blumen für den Schmud der 
Altäre zu erwerben. Die Römer befränzten ihr Haupt, und 
darum wies die chriſtliche Kirche anfangs dieſen Gebrand zurüd, 
im neunten Jahrhundert aber waren bereits die Kränze von 
Roſen und Myrthen für Braut und Bräutigam, die der chriftliche 
Vrieſter verband, allgemein. Die plöblich verpönten Grabkränze 
erichienen zuerſt wieder auf den Heinen Särgen der hriftlichen 
Kinder und fpielten bald bei den Begräbniſſen überhaupt die 
wichtigite Nolle, die fie noch heute innchaben. 

Aber nicht nur im den firchlichen Geremonien, auch in allen 
weltlichen Dingen errichtete die Blume ihre Herrſchaft. In 
Frankreich gab es eine Roſenſteuer (baillse des roses), die noch 
gegen Ende des jechzehnten Jahrhunderts entrichtet wurde. Es 
war dies ein Tribut, welchen die Pairs von Frankreich dem 
Farlamente darzubringen batten. Er mußte an einem Tage im 
April, Mai oder Juni, wenn Die erite Sitzung ftaltfand, ent 
richtet werden, Bor Beginn derielben hatte der Pair, an dem 
die Neihe war, für die baillee zu forgen, alle Gemächer des 


—“ 532 


Palaſtes mit Rofen zu fchmüden, felbft den Fußboden mit grünen 
Gräſern und Feldblumen zu beftreuen. Dann ging er, in bie 
große Halle und vertheilte die Roſen, die man ihm in großen 
jilbernen Körben vorantrug, an die Mitglieder des Parlaments 
und die Hausoffiziere, die zu ihrem Pienfte beigejtellt waren. 
Wenn die Vertheilung beendet und die Sigung geſchloſſen war, 
gab er den Präfidenten, Räthen, Beamten und Geremonienmeiftern 
des Hofes ein großes Feſtmahl. 

Der Urfprung diefer Sitte ijt nicht befannt. Sie eriftirte 
nicht bloß für das Parifer, fondern auch für die übrigen Parla— 
mente des Königreiches, befonders für jenes von Toulouſe. Die 
Nofenfteuer war ferner auch am die Kinder des Königs, die 


Prinzen von Geblüt, die Herzöge, Kardinäle und übrigen Pairs 


zu entrichten. Ein Edift Heinrichs IH. ſoll die Entrichtung bes 
duftinen Tributs angeordnet. haben. Große Ausdehnung nahm 
der Blumenluxus in Frankreich unter Ludwig XIV. an, welcher 
ein großer Blumenfreund war. 
Duft jeltener, koſtbarer Blumen einzuathmen, und in den fünig: 
lichen Gärten gab es weite Beete von Beilchen, Orangenblüthen, 
Jasmin, Tuberofen, Heliotropen, Hyaeinthen und Narcifien. Die 


Vorliebe des Königs wurde felbftredend in den Paläſten der | 
Jenes Porzellanhaus, in welchem Ludwig 


Großen nachgeahmt. 
feine glänzendften Fejte gab, trug den Namen „Palais de Floret — 
Palaſt Floras. 
den Porzellanpalaft. Er fiel mit Madame de Montefpan in 
Ungnade und an feiner Stelle erhob ſich ein impofanterer Bau, 
zu Ehren des neuen Sternes, der Maintenon. Das war Trianon, 
in italieniichem Stile gebaut, ganz aus rofafarbigem Marmor, mit 
einer mächtigen Balujtrade, welche das ganze Gebäude krönte, ge 


ſchmückt mit marmornen Statuen, Körben, Urnen, Kronen, Lenötre 


erfand einen neuen Stil für die königlichen Gärten. Fortonl 
fchreibt in den „Fastes de Versailles“: „Wenn man von Ver: 
ſailles nach Trianon fam, glaubte man, Land und Zune gewechſelt 
zu haben und in irgend eine beliziöfe Billa Staliens gerathen zu 
fein. 
und Marmor, die ſich in jtillen Waflern fpiegeln, daß es ſcheint, 
als leuchte da eine wärmere Sonne und überfchütte die ganze 
Landſchaft mit ihrem Ganze.” 

Wenngleich die Herrſchaft der Blume bejtändig neuen Glanz 
gewinnt, fo find die Blumenarten doch der Mode unterworfen, 
wie alles in der Welt. Die alten Griechen fiebten die Levlojen 
und Narciffen, in Dentfchland beherrichten Lilien, Roſen und 
Rosmarin lange den Markt und die Frauenherzen, bis fich die 
Tulpe zur Alleinherricherin emporichmwang und alle Börjen plünderte. 
Sie ruinirte Holland wie fpäter die Georgine Frankreich. Heute 
find die Pelargonien, Hortenjien, Geranien, Kakteen, Kamelien, 
Azaleen die Lieblingsblumen der eleganten Melt. Sie ſchmücken 
alle unsere Feſte. Auf den Bällen ftrahlen die Damen nicht blof; 
von Juwelen, jondern farbenglühende Blumen nijten in ihrem Haar, 
ſchlingen fih in Gewinden aller Art um ihre Foftbaren Roben, 
blühen an jeder Frauenbruſt, umjäumen den weihen Naden am 
Rande des Hleides, werden, zu Sträufen gebunden, bon den 
ihönften Händen getragen. Wir jenden fie ber Geliebten ins 
Haus und fein Geburts: oder Namenstag fchöner Frauen geht 
ohne Blumenhuldigung vorüber. Wir tragen fie fofett im Knopf— 
loche und chren die Künſtlerin für die fchöngefungene Arie mit 
einem Blüthenregen. Es giebt bereits eine „Blumenbindelunſt“. 

Zu Anfang der vierziger Jahre erfanden die Franzofen die 
Ehampignon-Bonaquets, welde die kunſtvollſte Unordnung der 
Blumen gejlatteten, indem die Blumen an lange Drähte geheftet 
und dann nach Belieben neben einander gereiht wurden. Mit 
Hilfe diefer Drähte bildet man aus Blumen Phantaſieſtücke aller 
Art, die als finnige Gefchenke dienen, für die Eängerin die 
Blumenkyra, für den Gelehrten den Blumenfolianten, Füll— 
hörner, Vaſen, Fächer x. Neueſtens hat man die Blumentifien 
erfunden, aus feuchtem Moos gebildet, welches den Blumenjtengeln 
eine feite Grundlage bietet. Mehr als alle diefe künjtlichen formen, 
zu welchen die feltenften und koſtbarſten Blumen verwendet werden, 


wird uns aber immer das Heine Sträufchen von Primeln oder | 


Maiglödchen erfreuen, das uns in der fchönen Fräblingszeit ein 
miedliches Blumenmädchen an der Straßenecke anbietet. 

Die Kunſtblumen verdanken ihre Entjtehung Frommen 
Schweitern. In den Frauenklöftern Italiens wurden bis gegen 
Ende des 18, Jahrhunderts zur Ausſchmückung der Altäre umd 


Er liebte es, am Abend den 


Eine der königlichen Launen zertrümmerte aber | 


Die Erde ift derart geſchmüdt und vergoldet durch Blumen 


o— 


zur Belränzung der Heiligenftatuen mühſam aus Bapier, Perga 
ment und jonjtigen jteifen Stoffen künſtliche Blumen verfertigt. 
Seither haben die ſogenannten „italieniichen Blumen“, die in 
den venetianiſchen Fabriten aus den Bälgen der verborbenen 
Seidenfofons hergeftellt werden, überall in Europa als cin be> 
fonder3 zierliher Damenihmud Ruf befommen. Selbitredend be 
ſchränlt fih die Fabrifation in Venedig, welche beinahe ganz 
Italien mit Tünftlichen Blumen verforgt und ganze Waggon— 
ladungen derjelben in das Ausland erportirt, nicht bloß auf diefe 
einzige Sorte. Ich habe in einer venetianiſchen Blumenfabrif 
Umfchan gehalten. Kaum ift die erſte Chofolade bei Florian auf 
dem Martı splatze hinuntergeichlürft, fo präfentirt fich dort ſchon 
dem Fremden ein Gicerone mit dem Mnerbieten, ihn im eine 
' „berühmte“ Fabrik der „berühmten italienischen Blumen“ zu 
‚ führen. Sie nimmt zwei Stodwerfe und das Erdgeſchoß in einem 
der dunklen, grauen, alterthümlichen Häufer der Frezzaria ein und 
beichäftigt mehrere hundert Mädchen, die in den weiten niederen 
Sälen der Stodwerte untergebracht find, während ſich die Waaren: 
' niederlage im Rarterre befindet. In allen Glasſchränken ſieht 
man bier die täuſchendſten Erzeugniſſe der Kunst, welche der 
Natur die leuchtenden, fatten Farben und oft auch den Duft ge— 
ftohlen zu haben feheinen. Denn diefe Blumen werben häufig in 
Varfüms getaucht, welche berufen find, unfere Geruchdorgane zu 
täuſchen, wie der glänzende Schmelz; diejer zierlichen Fabrilale 

unfer Auge täufcht. Bier können die abjonderlichiten Wünſche 
| der fremden, die aus Venedig nur etwas Bejonderes heimbringen 
' wollen, befriedigt werden. In den oberen Sälen ſihen die 
| Arbeiterinnen, welche mit ihren geichidten Fingern jo märdenhaft 
ichöne Kunſtgebilde verfertigen. Denn bei der Fabrilation feiner 
Kunjtblumen ift beinahe alles Handarbeit und ibe Werth hängt 
einzig und allein von ber Gefciclichkeit und dem Geichmade der 
ärmlich gefleideten, zumeift kränklich ausjehenden Mädchen ab, die 
an den langen Tifchen figen und den gelundheitsihädlichen Staub 
der gefärbten Bejtandtheile ihrer Blumenprodufte einathmen. Diele 
Gefchidlichkeit und diefen Geſchmack vermag feine Mafchine zu erjehen. 

Im vergangenen Jahrhundert erfand wohl ein Schweizer 
eine Ausſchneidepreſſe für Blätter, doc) iſt diejelbe nur für Blätter 
Heinjter Art, wie der Hyacinthen, Maiglöckchen ꝛe. in Gebraud). 
Bei den größeren Blumenblättern zieht man der forreften Form, 
welche der Natur nicht immer entipricht, den höhern Weiz ber 
Unregelmäßigfeiten vor, welche die Schere der Arbeiterin beacht. 
Die Gewebe zu den Blumenblättern erfahren eine befondere 
Appretur in anderen Fabriten. Die Scheren und jonjtigen Werf: 
zeuge der Nrbeiterin, die Prejjen, welche die Blattnerven botaniſch 
treu wiedergeben, find eigenthümlich Eonftruirt. Die Verrichtungen, 
die mit der Blumenfabrifation verbunden, find bie verſchieden⸗ 
artigſten und werden von verſchiedenen Arbeiterinnen beſorgt. In 
einem Saale heiſpielsweiſe werden ausſchließlich die Blumenſtengel 
und Blattſtiele verfertigt; im einem zweiten Saale gieht man 

Früchte aller Art, Beeren, Kirſchen, Weinteauben und jo weiter, 
wie fie oft zwifchen Blätter und Blüthen vermischt werden, aus 
Wacht; an einem befonderen Tijche werden nur Staubfäden 
fabrizirt; andere Säle jind der Herftellung der Blumenknoſpen 
| gewidmet. An einer weiten Halle erledigt man die Glasarbeiten, 
denn nicht alle Früchte werden aus Wadıs gegofien; beionders 
die Beeren find zumeift aus Glas. Die Glaslügelchen werden 
aus dünnen Glasſtangen hergeftellt, deren Ende man über eine 
feine Flamme Hält und glühend macht; durd eine geichickte 
Drehung wird die runde Form erzeugt, durch den Gebrauch ver: 
ichiedenfarbiger Stäbe werden die feinjten Farbennlancen erzielt. 

Den geichidteften Arbeiterinnen it das Zuſammenſetzen der 
Blätter zu Blüthen und der Blütben zu Bouquet, Kränzen und 
Guirlanden aller Art anvertraut. Es ift interejjant, diele Arbeit 
zu beobachten, bei welcher die emfig ſich bewegenden Fingerchen 
der Arbeiterinnen mit den Innentheilen der Blumen beginnen, 
die äußeren Blumenblätter, zuerjt die farbigen, dann die qrünen 
nach und nad) anfehen, die Krone an den Stengel fügen und die 
gezadten Blätter an den Stengel reihen. 

Venedig und Italien haben indeſſen ſchon lange fein Monopol 
mehr auf die Blumenfabrifation,, die bereits and) in Frankreich 
und Deutichland in großem Maßſtabe betrieben wird. Paris 
beichäftigte vor dem Siriege im Jahre 1870 15 OUO Arbeiterinnen 
in Blumenfabrifen und erportirte Nunftblumen alljährlich) im Werthe 
bon 25 Millionen Franken. Seit dem Kriege foll die franzöfiiche 





Blumenfabrifation unter der Konkurrenz der beutfchen ftarf gelitten Wer baut die Epheublüthe nach, die ſich dem Sonnenſtrahl ver- 
haben. Namentlich die Berliner Blumenfabrifen Tiefern wahre Kunſt- ſchließt und ihren Kelch nur dem keuſchen Mondlicht öffnet? die 
werfe und erobern fich wader das heimische Abſatzgebiet zwrüd, Ju Mimofe, die bei fremder Berührung zitternd ihre Blätter ſchließt? 
Bien erfreuen fih die wunderſchönen täufchenden Aunftblumen die Sonnenwende, die ſtrahlenberauſcht ftets gegen Oſten blidt? 
der Gräfin Baubiffin großen Beifalle, welche ganze Blumenſtöcke, So weit indeffen die Hunt reicht, muß fie mit der Natur dem 
erotifche Pllanzen aller Art, ganze Epheuheden, natürlich alles ungeheuren Luxus dienen, den wir modernen Menfchen mit deu 
„unverwelkfich“, zur Zimmerbeforation verfertigt. Blumen treiben. Taufende und Taufende eifriger Hände wirken 
Mit den imitirten Blattpflanzen befreunden fich auch jene, | und ſchaffen jahraus, jahrein, nur für ihn. Dann fehrt ja der 
welche fonft den Blumen „ohne Seele” feinen Geſchmack abge | Frühling immer wieder, der große Bauberer, der aus reichen 
winnen können. Freilich iſt jeder Kunſt eine Grenze gezogen. | Füllhorn feine Gaben jtreut. Hugo Sein. 


In der Schutzhütte. ade Bade verfehuten, 


WHovellenkhram von Joßannes Vroeclh. 
1. Eingerrgnet. 


Ebay einmal wurde das flatterndbe Gewölt, das die ſchnee— „sa, glaubt Ihr denn, daß das Wetter fich über Nacht aufhellt?* 
ummandeten Scheofen des Säntis, der Giyrenfpige und des | „Wird Schon gut, Herr. Ein Gewitterregen hält nicht die 
Alten Manns zu umjchleiern ftrebte, durch den Sturmwind verjagt, | Ewigkeit an.“ 

der nun ſchon feit einer Stunde von der Innerrhodener Hochebene „Und wie fange danert's denn noch bis zur Meglisalp?” 
in. die Felfenwelt des Appen Ein lauter Donnerſchlag. 
zeller Gebirgs emporfegte. Die N ann deſſen Krachen mit ſchauerlichem 
mächtigen Wollenmaſſen, welche Dröhnen in den Schluchten des 
das tiefe Scralpfeethal gleich Gebirgs widerhallte, erftidte die 
diden Dämpfen ausfüllten, wur: Antwort des mit feinem kurzen 
den von ihm, in einzelne Fetzen Alpenftod vor fich hin deutenden 
zerriffen, emporgetrieben ; oben Burschen. 

aber in der Sphäre des ewigen „Wenn wir Schnell gehen, 
Schnees ftießen fie noch eine kann's fein Viertelſtündli mehr 
Weile auf den Widerjtand der dauern.” 

Sonne Doch immer bichter „Nun dann, junger Mann, 
fam es wachgedrängt, immer vorwärts! Wir haben zum Glück 
dunfler wurde es auch dort den Wind im Rüden! .. 
oben — no ein Furger Kampf Hoho!“ unterbrady er jich, als 
zwiſchen den Dämonen des Lichts vom grafigen Abhang über dem 
und der Finſterniß, und Die schmalen Pfad, den fie beſchrit 
letztere hatte geſiegt. est war ten, lautes Getrampel vernehm 
auch die ſchlanke Zäntisfpike bar ward und dazu ein Ge 
und das letzte Stuckchen blauen rauſch, wie wenn flüchtiges 
Himmels verſchwunden und die Wild durchs Knieholz bricht. 
einpordrängenden Nebel hatten Der Stadtherr blieb dabei ftehen 
fih mit den Gewitterwolken und faßte feinen Bergitod, als 
oben fo eug vereinigt, daß der wollte er ich zur Wehr ſetzen. 
Blick aud) die verichiedenartigen „Nur unbejorgt, Herr,” be 
Bewegungen ber Dunftmalfen ruhigte der Führer, „Die Küh 
nicht mehr zu verfolgen ver: von der Alp find es, hören S' 
mochte. Ja, der Wanderer auf wicht das Geläut ? Es gebt über 
dem ſchmalen Fußpfad, der ſich die Almen an uns vorbei. Die 
hoch ob dem See auf der linken hellen Schellen — das ſind die 
Firſtlelle über die Felsabhänge Geiß'n. Die Thiere merken, 
der Maarwies nach der Meg: daß das Unwetter arg wird 
lisalp hinzieht, vermochte über: Da ſuchen ſie Unterſchlupf iu 
haupt nichts mehr zu ſehen als den Nothſtällen. Wir müſſen 
rings um ſich grauen Nebel ganz nahe dem Ziele jein.“ 
dunſt und die immer dichter E 3 ir { In Schnellem Zauffchritt, als 
fallenden Negentropfen, die auf z fer ihm der vollbepadte Trag 





dem Geröll des Glimmerſchie— Blumenweibe ju Marine Himmelfahrt, forb auf dem Rüden mit den 
fers am Boden Hatichend auf- Crigimalzeichnang von I. R. Wehle. Handgepäd des Touristen feine 
ſchlugen und die Alpenroſen galt, flog der Burſche voran; 
am Abhange niederbugen. der alte Here bewährte auch jeht 


" „Eine ſchöne Geſchichte,“ rief unmuthig ein äfterer Herr | feine Rüftigfeit und blieb dem jungen Blut wader auf den Ferfen. 
von kräftiger Geſtalt, deſſen weißer Vollbart ein Gefiht von edlem Als ein neuer Big den Aether zudend durchfuhr und, eine fchnell 
Brofil und lebhaflem Ausdruck umrahmte, „da wird's ja völlig Nacht verldſchende Helligkeit verbreitend, in großer Nähe einfchlug, lag 
und es ift doch kanm erſt vier Uhr. — Mber wer hatte recht?“ vor den Wanderern das Feine Gehöſt, das ihnen eine ſichere 
wandte er fid) an feinen noch recht jugendlichen führer, deſſen Unterkunft für die Nacht veriprad). 
bloße Füße mit Behagen die Näſſe des vorher fo heißen Weges Der alte Herr mit den elaſtiſchen Sehnen war fofort in 
zu empfinden fchienen. „Ach traute dem Wetter ſchon unten in die große fchwarzgeräucerte Küche getveten, die in jeder echten 
Weißbad nicht. Ahr aber bliebet dabei, es könne haft nur ein Alphülte zugleich das Haupt: und Familienzimmer bildet, und 
paar Tröpfli geben. Die paar Tröpfli liefen ja nicht auf ſich bald fand er fich mit dem Alpwirth, feiner Frau und einer Tochter 
warten; aber fie blieben nicht allein, und jegt gieft's in Strömen. derſelben im bejter Unterhaltung, Er hatte eine ſchlechtere 
Wie follen wir fo auf den Säntis fommen? Kaum den Weg Herberge in diefer Alpeneinfamteit eviwartet, wie er fügte; daß 
unter feinen Füßen kann man noch erkennen.” die Aufnahme eine gaftliche jei, hatte er schon unterwegs aus 

„Müflen halt auf der Meglisalp übernachten und morgen | feiner Herreife gehört. Gleich zwei Gebäude und beide für die 
früh bei Beiten naufigehn.“ Aufnahme von Tonrijten berechnet, das laſſe er fich gefallen. 
1888 [IS 


2X," BE, Ale 3 


—o 


Die beiden Gebäude waren zivar recht Hein und dürftig, nur im 
Unterbau aus zufammengemörtelten Steinblöden, im übrigen aus 
Holz roh zurecht gezimmert; aber der freundliche Herr, der ſich 
feines naſſen Lodenmantels entledigt hatte und ſich nun behaglid) 
am Feuer wärmte, über welchem der große Milchkeſſel am eifernen 
Hafen hing, hatte ganz recht mit diefem Lob, war er doc aud) ein 
vielerfahrener Alpengänger, dem gar wohl befannt war, wie un— 
behaglich fo manches Unterkunftshaus ähnlidyer Art jich bietet. Im 
Hintergrunde des vom offenen Herdfeuer nur halbbeleuchteten, an 
den Wänden mit blanfem Milchgeſchirr ausgeftatteten Raumes ſaßen 
zwei führer, jeder einen Napf Milch mit großem Appetit auslöffelnd. 

„Wollen's auch eine Milch?“ fragte die Sennin ben Wn- 
tümmling. 

„Dante, liebe Frau. Aber ich möcht” ichen lieber. etwas 
Warmes. Das kalte Wetter draußen hat mich ganz ausgeiroren.“ 
Er lieg ſich von feinem Führer feinen Nudjad bringen und ent 
nahm demjelben eine Yedertafche, die mit allerhand Sonferven 
und ähnlichen Nahrungsmitteln, wie fie dem Neifenden nützlich 
find, gefüllt war. Er öffnete eins der Blechbüchsſschen und roch 
mit Wohlbehagen daran. „Kaffee künnen Sie doch kochen?” 

Die Fran bejahte das, faſt beleidiat über den Aweifel, 

„Run, nun,“ berubigte der freundliche Herr, „hab' mir ſchon 
in mancher Alphütte den Kaffee felbjt Fochen müſſen.“ 

Er fchüttelte mit prüfendem Blick aus feiner Büchſe ein 
Häuſchen des bereits gebrannten und gemahlenen Kaffees auf ein 
entjaltetes Blatt Papier und reichte diefe Portion der twieder ein- 
trefenden Ammerei, wie die Alpleute ihre Tochter nannten. „Das 
reicht gerade für zwei Taffen. Und, nicht wahr, - Du bringt mir 
ihn recht heiß, Ammerei? Fit das Dein Taufname?“ 

„Hına Maria jteht's im Kalender.” 

„And ohne Milch, Ammerei. Inzwiſchen giebt mir der 
Vater wohl Beſcheid, wo ich heute mein müdes Haupt betten foll.“ 

„'s iſt ſchon auf," fagte diefer. „Es ift noch eine Kammer mit 
zwei 
drin Schlafen. 

„Es find alfo fchen mehr Reiſende da?“ 

„Ei freilich, drei Parteien mit Führen, vier Herren und 
zwei Damen. Gehn's nur gefälligit in das Gaſtzimmer gerad’ 
bier über uns. Da finden's ſchon Geſellſchaft. Den Kaffee bringt 
Ahmen die Ammerei hinauf, jobald er fertig ift.“ 

„Gut denn! Behüt' Gott einftweilen! Hab’ mich hier unten 
bei Euch vet wohl befunden. Wegen meiner bedurft's nicht 
des ‚Sajtzimmers‘. Und vor dem Kaffee bringt's mie aud) was 
zu ejfen. Ein paar Spiegeleier und Brot Tann ich doch haben?" 

„Wohl, wohl!” 

„Gut alfo, bringen's mir drei und dem Führer geben's auch 
ein paar. Fleiſch habe ich bei mir,“ 

Er war in die Thür getreten, wo ihm der Mengen ins Geficht 
ſchlug. „Das scheint ſich bier feſtregnen zu tollen,“ ſagte ex 
ärgerlich, indem er feine goldene Brille abnahm, um die ange 
laufenen Gläser zu putzen. „Was denkt hr, Alpmeiſter? Wird's 
über Nacht Har werden ?* 

Der alte Senn fragte ſich hinterm Ohr. 

„Seht läßt ſich gav nichts fagen, Herr. 
‚Duft‘ ja nicht einmal das Wetterloch fehen. 
ſchon werden bis morgen.“ 

„Dazu gehört freilich wicht viel," ſagte mit fauerfüßem 
Lächeln der Gaſt, der nunmehr in den Negen Dinaustrat und über 
die hölzerne Freitreppe zu dem ihm angekündigten oberen Gajt- 
zimmer emporitieg. 

Das herzhaite „Guten Tag“, mit welchem ex bier eintrat, 
wurde nicht gerade entgegenfommend erwidert. Langeweile und 
Mißmuth schienen hier oben das Regiment zu führen. Das Ge— 
fühl des Eingereqnetjeins ſchien auf den Gemüthern aller zu 
lajten. Auch diejenigen Opfer des launifchen Wettergottes, die 
zu einander gehörten, gaben fich, ſtill für ſich, irgend einer 
Beſchäftigung oder müßiger Mebellaune Hin. An einem der 
Fenjter, durch die man bei gutem Wetter die herrlichite Aus— 
ficht auf die Hänpter der Säntisgruppe gehabt haben würde, 
jtand ein Herr in mittleren Jahren und trommelte an den 
Scheiben. Die Züge und der Bartichnitt desfelben verriethen 
angelfähfiichen Typus, doc erinnerte der einfach und praktifch 
gefleidete Touriſt ſonſt im nichts am jenen „großlarrirten", 
murraybehafteten Engländer, deſſen überlebte Erſcheinung in 


Wir fünnen vor 
Aber bejjer kann's 


534 > 


deutſchen Meifebefchreibungen noch immer ſich umtreibt. Gin 
jüngerer Mann, deſſen etwas blaſſes Geſicht auf einen gelehrten 
Beruf Schließen ließ, war in die Leftüre eines Buches vertieft. 
Er hatte eine Flafche Vier vor ſich auf einem der zwei großen 
Tifche ftchen, welche die im übrigen ziemlich kahle Stube den 
Gäſten darbot, und lieh jich durd das Lejen im Rauchen micht 
ftören. Gin Ehepaar, das, jichtlich im beiten Alter, ſich bejter 
Gefundbeit erfreute und vor Ausbruch des Negens offenbar von 
der Hitze ſehr auszuftehen gehabt Hatte, deren Mefler noch auf 
ihren Stirnen und Wangen glühte, gab jich im beichaulicher Weh 
muth einem frugalen Mahle bin, weldes in der Hauptſache aus 
mitgebrachten Fleiſchſchnitten beſtand und dem eine Flaſche des 
landesüblihen Hallauer die Würze gab. Ein anderes Paar 
bon ſchlankerem Wuchſe und aparterem Weſen ftand fchließlich 
neben dem Nähtifch einer zweiten jungen Alpnerin, die am Feniter 
neben der Thür mit einer der kunſtvollen Weißjtidereien be 
ſchäftigt war, wie fie die Appenzeller „Meidli* mit ihren geſchickten 
Händen alljährlih zu Tauſenden in die groben Ausfuhrgeſchäfte 
in St. Gallen, Uppenzell, Gais und Bühler abliefern. Der 
blonde bärtige Herr hatte in der Nechten ein Skizzenbuch, in dem 
er offenbar vorher gezeichnet hatte, denn die andere Hand fpielte 
mit einem Bleiftiit; die junge Fran hatte einen großen Strauß 
von Alpenblumen in der Linken und reichte aus demjelben eben ein 
ſchönes Eremplar von ſelbſtgepflücktem Edelweiß der Stiderin hin. 

Auch der nene Ankömmling, der zunächit mit prüfenden Bliden 


\ ein paarmal das Zimmer durchmeſſen hatte, in deſſen Hintergrunde 


etten frei, und wenn niemand mehr kommt, können's allein | 
Der Seppli kann Ihre Taſch'n gleich naufi tengen.” | 


eine Falltreppe in ein oberes Stockwerk führte, fand ſich angezogen 
von dem Bild der ftidenden Gebirgstochter, deren feine Nadelftiche 
eben dabei waren, auf einem Streifen duftigen Mouflelins das 


\ ziemlich naturgetrene Abbild einer Edelweißblüthe auszuführen. 


„Das iſt ja wahrbafte Künſtlerarbeit,“ rief er unwilllürlich, 
nachdem er dem Mädchen eine Beitlang zugeſehen. 

Diefes blickte befriedigt auf bei’ dem Lobſpruch, fagte dann 
aber gelaſſen: 

„'s iſt nur Uebung, Herr. Mühſam aber iſt's ichon, und 
wenn wir im Winter Tag für Tag über unferen Kiſſen fiten, 
hun uns die Finger mitunter vecht weh. Seht im Sommer 
giebt's immer Abwechſelung in der Arbeit; da macht einem das 
Stiden Freud’. Die letzten Tage, wo das Wetter jo ſchön war 
und ſehr viele Säfte bei ung einfchrten, bin ich gar nimmer 
dazu gefommen.“ 

„Bleiben Sie denn auch im Winter hier oben?” fragte jeht 
theilnehmend die Dame Hinter ihr. 

„D nein,“ ſagte das Meidli; „da geht's mit den Kühen 
und Geißen hinunter ins Schwender Thal,” 

„Nun, da bringt ja wohl auch der Winter Unterhaltung 
und Lujtbarfeit?” 

„Das ſchon auch, den Sennenball und den Schöttlerball in 
Appenzell und bei Hochzeiten oder Kindstaufen ein ‚tanziges Dahl‘. 
Aber die Hauptſach' iſt doch unfere Arbeit. Wenn die Meidli aus 
der Freundſchaft nicht zufammenhalten thäten und zum Stiden zu- 
fammentämen, fönnt'$ mandmal etwas qar zu einfam werden,” 

„Da wird wohl wader acplaufcht, während die Nadeln fid) 
fleißig rühren ?” 

„Wohl, wohl; aber auch ein G'ſangl giebt’s oft, und wer's 
kann, erzählt Geſchichten, die alten heimischen, die jedes gern 
immer wieder hört, von der Jungfrau und dem Schatz in den 
Auen, vom blauen Schnee und der verichneiten Alp, vom Bößler, 
vom bejten Loder oder auch etwas neues.“ 

„Das ijt recht,“ rief der alte Herr; „man ſollt' es nicht 
glauben, aber wahr iſt es doch: die Leute auf dem Lande willen oft 
bejjer für ihre Unterhaltung zu jorgen, als wir drin in den Städten 
mit unſerem Ueberfluß an Bildungsmitteln und Sceinbildung.“ 

Der Blonde mit dem Sünftlerfopf neben ihm midte zu: 
ftimmend und fagte: 

„Sicher ftedt in den alten Geſchichten, wie fie fi) bier von 
Mund zu Munde und von Gefchlecht zu Geſchlecht vererben, oft 
mehr Weisheit und Schönheit als in den Gefprächen, mit denen 
in unferen Salons vielfach über Kunst und Litteratur gefprochen wird, 
und dor allem — mehr Natur. Und die iſt's doch, die wir hier 
oben fuchen.“ 

Die fleißige Stiderin hatte ſich indeſſen erhoben: es ſei 
zwar noch früh am Tage aber fie müſſe bei der wachſenden 
Dunfelheit doch jet die Lampen anzünden. 


Während das flinfe Mädchen die beiden einfachen Hänge: 
lampen über ben Tifchen anzündete, fam einige Beiwequng in bie 
Geſellſchaft. Die Ammerei fam und brachte das einfache Eier: 
gericht, das jich der legte Untömmling beftellt Hatte. Der junge 


Gelehrte, der ſich die Seit mit Rauchen und Leſen vertrieben | 


hatte, ftand auf und trat an ein Fenſter. Der Engländer wandte 
fih von dem feinen ab, und jener fagte mit Humor zu dieſem: 

„sa, von der erhofften Ausſicht ift hier cbenfo wenig zu 
geniefen wie oben auf dem Säntis, den Sie — mie Sie er 
zählten — fo unbefriedigt verliehen.“ 

„Indeed,“ fagte mit Tangfamer und feine Abkunft ver 
rathender Sprechweiſe der Engländer, „weil es heute mittag für 
meinen Geſchmack zu — heil war. Hier bietet der Sturm — 
mir Erſatz für die fehlende Ausſicht. Sehen Sie mur, wie er 
den Regen gegen die Scheiben ſchüttet.“ 

„O ja,“ meinte ſchmunzelnd der Deutſche, „auch das ſieht, 
jozufagen, ganz nett aus. Mber bei fchönem Wetter muß es hier 
doch wohl noch hübſcher fein, wenn man da draußen ſtatt Dunſt 
und Nebel das großartige Panorama fieht, wie ich es eben da 


in dem Specialwerle über den Appenzeller Kanton gelefen habe.” | 


Mit komiſchem Pathos im Ton die Weiſe eines berufsmäßigen 


Fremdenführers Fopirend und fich indirelt an alle Anwejenden | 


wendend, fuhr er fort: „Um die weite Alp herum vagen aus den 
leuchtenden Schneefeldern der Säntis, die Gyrenſpihe, die Hintere 
Wagenlule, der Böhler, der Fählerſchaſberg nad) dem blauen 
Dimmelsgewölbe hinauf; wilde Bergwaſſer ſchäumen tubend von den 
Schneefelbern in die Tiefe hinunter; Herbengeläute erllingt überall, 
Jodler fchmettern durch die Luft . . . Ja, ja! All das lann man 
an befferem Tage hier geniefen. Und hat man es recht qut 
getroffen, noc) mehr. Wenn nämlich auf der grünen Alpe hier vor 
ung, welde der Nebel unferen Blicken entzieht, von den Sennen 
und Sennerinnen des weiten Seealpſeethals ‚Alpftubeten‘ gehalten 
wird, da entfaltet ſich Hier ein feitliches Treiben von ungemein 
„ malerifchem Reiz. Da fommen die Appenzeller Meibli in ihrem 
ichönften, reich mit Silbergefpänge und Ketten verzierten Sonntage: 
ftaat in "Scharen herbeigezogen und mit ihnen die Sennen, gleich: 
falls in feitliher Tracht; ein Tanzplab iſt abgeftedt, die Fiedel 
und die Handharmonifa jpielen auf und unter Gottes blauem 
Himmel beginnt der Reigen. Bei einiger Bhantafie, meine Herr: 
ſchaften, kann man ſich das alles ja jchönitens vorſtellen und 
das darf uns einigermaßen mit unierem Schidfal verjöhnen.” 

„Bravo!“ rief der Alte, der feine feine Mahlzeit beendet Hatte. 

„Doc; lange dürfte dieſer Troft nicht vorhalten,“ jagte der 
robuſte Herr, deſſen Appetit jegt befriedigt war und der nun begann, 
jein umftändliches Reifenecefjaire in Ordnung zu bringen. „Solch ein 
Metter! Wenn wir wenigjtens unten in Weißbad geblieben wären.“ 

„Und dabei ijt wohl wenig Ausſicht auf Beſſerung?“ warf 
der Alte fragend Hin, als wolle er zum Widerſpruch reizen. 

„Es fann leicht noch fchöner werden, wollte jagen — ſchlimmer,“ 
erwiderte der Engländer. „Sie müſſen wiſſen, ich bin ein großer 
Enthufiaft für die Natur, wenn fie — wild iſt. Es iſt das mur 
natürlich; denn dann iſt fie doch am ſchönſten.“ 

„Dennoch dürfen Sie ſich nicht wundern, wenn wir dem 
Sonnenſchein und blauen Himmel den Vorzug geben und in 
unferem Falle recht fehr wünschen, der böſe Regen möchte baldigit 
aufhören,“ ſagte mit gutmüthigem Lächeln der Mann des 
materiellen Behagens, im Einklang mit feiner Frau, die fich be 
gnügte, Aber den romantijchen Standpunft des Engländers lebhaft 
den Kopf zu schütteln, 

„Und leider fteht es mit den Musfichten fchlecht genug,” be- 
merkte nun der junge Gelehrte. „So ift es rathiam, ſich wenigſtens 
feinen Illuſionen hinzugeben. Das macht erft recht ungeduldig.” 

„Uber die Führer machten uns eben nod Hoffnung auf 
baldigen Wechſel des Wetters.” 

„sa, die Führer! Die find immer Optimiften. Das bringt 
ihe Geichäft mit fid. Sie müfjen fonjt fürchten, auf halbem 
Wege entlohnt zu werben. 
mus nichts willen.“ 


über der Stiderei, wenn hr Euch Gejchichten erzählt. 


| 


Und davon will ihr gefunder Egois- 
Gehen's, was machen der Herr für Gſpaß! 


„Aber was für Gründe haben denn Sie für Ihre peffimiftiiche | 


Auffafjung ?“ 


„Das ift der Kaſſandrafluch der meteorologiſchen Wifjenichaft. 


Ic bin meines Zeichens Aftronom und foweit fich nach den vorhan- 
denen atmofphärischen Anzeichen ein Schluß ziehen läßt, handelt es 
fich heute nicht nur, wie es anfangs ſchien, um ein Gebirgägemitter, 


Sondern um einen gründlichen Negen, der nur von getvitterartigen 
Erſcheinungen begleitet iſt. Ja, wenn der Wind umichlüge! Aber 
dazu ift vorderhand feine Ausſicht. Morgen früh vielleicht!” 

„Da beißt es ſich in Geduld faſſen,“ ſagte mit einem Seufzer 
bie ältere Dame,‘ indem fie fih in ihr Shawltuch widelte und 
ſich wieder auf ihren früheren Platz zurüd;on. 

„Aber wie foll man fic denn in diejer öden Hütle die Zeit 
vertreiben?” rief verzweifelt ihr Ghatte, der fein leichtes Sommer: 
rödchen mit einer Lodenjoppe vertaufchte, die er feiner umfang— 
reichen Reiſetaſche entnahm. „Zu Bett lann man dod zu jo 
früher Stunde noch micht gehen, zumal uns Hier nicht grade 
Stahlfedermatragen ertvarten dürften und der Sturm einem ohne: 
bin das Einschlafen micht erleichtern wird.“ 

Der Aftronom ſchlug den Herricaften, deren Sprechweiſe 
verrieth, daß fie im norddeutichen Plattland ihre Heimath hatten, 
ein Spielden vor. „Sie lönnen doch gewiß Stat?“ Doch dieſe 
verneinten es. 

„Nicht möglich,“ xief der Iuftige Sternguder. „Nun, dann 
ein anderes Spiel! Bärbeli,“ rief er gleichzeitig, „Ihr habt doch 
Spielfarten ?* 

„Wir hatten wohl, aber geftern find fie abhanden 
Es muß fie eins Haben mitgehen laſſen!“ 

„Run, das muß ich fagen!* rief jeht auch im Tone der Ber: 
zweiflung der joviale Werehrer des Skatſpiels. „Eingeregnet fein, 
das ift ſchon ſchlimm; aber eingeregnet fein ohne Karten, bas 
überfteigt das Maß des Erträglichen! Bringen Sie mir wenigſtens 
noch eine Flaſche Bier!“ 

Das jüngere Ehepaar Hatte ſich inzwifchen feinen vorher 
nur unterbrochenen Beſchäftigungen hingegeben. Die Dame ordnete 
die mitgebradgten Alpenpflanzen in ihr Herbarium ein; der Herr 
führte in feinem Stizzenbud eine angefangene Zeichnung aus. 
Er that dies mit fo leichtem fünftleriichen Strich, daß ſich der 
Weißbart mit der goldenen Brille, welcher um Erlaubnif gebeten 
hatte, ihm zuzuſehen, nicht der Frage enthalten konnte, ob er 
Maler von Beruf fei, was jener ohne viel Aufhebens bejahte. 
Der Engländer hatte ſich wieder an fein Fenſter gejtellt und 
faufchte jeinem Freunde, dem Sturm, der mit fchrillem Geheul 
das Gebäude umtoble, Es war dies jept allen vernehmlich, da 
aud) die übrigen wieder in die frühere Schweigjamfeit verfallen 
waren. Der Aſtronom rauchte nachdenklich jeine Cigarre, ber 
norbdeutiche Here hatte ſich auch eine ſolche, offenbar eine echte, 
angezündet und ſah nun mit feiner getrenen Ehehälite der Gattin 
des Malers zu, welche mit beivunderungswürdigem Geſchick ihre 
Pllanzen auf den Köfchpapierblättern des Herbariums jo zurecht 
legte, daß die einzelnen Blüthen und Blätter in ihrer Eigenart 
und doch auch wieder in maleriicher Geſammtwirkung zur Geltung 
famen. Das Bärbeli unterbrad die Stille; es brachte das ge- 
wünschte Bier und den Kaffee für unſeren Freund Derſelbe 
kojtete mit prüfender Mennermiene und Tobte das Getränk, 

„Sag der Mutter, daß fie ihm vorzüglich aefocht Habe. 
Aber es ijt zu viel. Darf ich den Damen eine Tajie anbieten ? 
Echter Mofta. Ich habe ihm jelbjt mitgebracht... . Sie laflen 
ſich die Meine Aufmerkſamkeit gefallen? Das iſt Schön! Geh, 
Bärbeli, dort im Schrank ftehn ja Taſſen.“ 

Das Mädchen brachte das Nöthige ſchnell herbei. 

„Und nun, Meidli, da wir jo gemüthlich beiſammen figen, zum 
Theil ohne zu willen, was wir anfangen follen, wie wär's, wenn 
Du etwas für unfere Unterhaltung thäteſt? Da, der Herr Maler 
fit grade jo über fein Stizzenbuch gebeugt wie Ahr im Winter 
Und 
aud wir anderen befleigen ung einer andactsvollen Ruhe So 
find wir Städter nun einmal, wenn wir, gänzlich unvorgejtellt 
und unvermuthet, auf Meilen Tiſch- und Zeltgenoſſen werden, 
Aber von Div werden mir uns wohl alle gem eine Euerer 
heimischen Gefchichten und Sagen erzählen laſſen. Wie war's mit 
dem ‚Böhler‘ und mit dem ‚blauen Schnee‘? Fang’ einmal an!“ 

Das Mädchen zupfte ſich verlegen an den Schürzenzipfeln, 
Für ſolche ge: 
fcheite Stadtleut wie Sie find das Feine Geſchichten und Sie 
würden mich nur auslachen, wenn ich Ihnen eins erzählen wollt.“ 

Doch die Touriften, der Engländer nicht ausgeſchloſſen, proteftir- 
ten jehr lebhaft. „Nein, nein, Bärbeli! Erzähl nur frisch drauf los!“ 

„Ei, wenn S’ denn gar fo d'rauf aus find; ich weil; jchon, 
daß drinnen in den großen Städten es grundftudirte Leut giebt, 


aefommen. 


die eine ganz närriſche Freud' an unjern Liedern und Geichichten | 


haben; da will ich nachher die vom Böhler Ihnen jagen, aber 
vorher muß der Herr jelber etwas erzählen; der weiß gewiß 
ichönere Gefchichten wie jo ein dummes Meidli in den Bergen.“ 

„Seht einmal, was für ein durchtriebener Schalf dem Mädel 
im Naden fitt!" rief dagegen abwehrend der geiprädige Alte. 

„Ia, aber recht hat das Bärbeli, Herr Profeſſor,“ rief jebt 
der luſtige Wetterprophet mit dem düſtern SKafjandrablid von 
vorhin, indem er ſich erhob. „Ach habe doch die Ehre, in Ihnen 
Heren Profeffor Hermann Schröder zu begrüßen. Mein Name 
ijt Helbig, Objervator der Sternwarte in —, doch das thut 
nichts zur Sache; ich habe als Student bei Ihnen Kolleg gehört 
und jegt exit erfannte ich Sie an der Stimme. Damals war 
Ihr Bart noch nicht weiß, auch trugen Sie keine Brille.“ 

„Ja, ja, man wird alt. Ich erinnere mich wohl. Bor 
zehn Jahren etwa. Cie hörten bei mir das Lefjingkolleg und 
englische Litteraturgeichichte.“ 

„Sanz recht, Herr Profeſſor!“ 

„Freut mich jehr, Sie wiederzujehen, und bedaure nur, daß 
der Anlaß diefer gräuliche Regen iſt.“ 

„Für den wir uns jeßt ſchadlos halten wollen durd eine 
animirde Unterhaltung.“ 

„Recht jo! Das wollen wir! Die Herridaften mögen 
unfere plögliche Inkognitoenthüllung freundlichit als Vorſtellung 
betrachten,“ fuhr mit einer höflichen Verbeugung gegen die Übrigen 
der Profeſſor fort. 

„Bitte gleichfalls,“ ſchloß ſich Here Helbig an. 

„Maler Breitinger, meine Frau”, „Auguft Kurz, Fabrikant, 


meine Frau“, „John Whitfield“ — ftellten ſich auch die iibrigen vor. | 


„Und nun, Here Profeffor, Ihre Geſchichte?“ 

„Fällt mir nicht ein, meine Ferien und diefe Schweizerreiie 
durch ein Kollegium zu profaniren. Ich habe genug im Hörſaal 
borzutragen.” 

„Aber, Herr Profeffor, Sie würden gewiß uns ſämmilich 
erfreuen !* 

„Bleiben Sie mir mit dem Profeffortitel vom Leibe. Bin 
ich deshalb auf diefe Höhen geſtiegen? ‚Auf den Bergen ift 
Freiheit“, fingt der Dichter und ‚hier bin ih Menſch, Hier darf 
ich's fein‘, ijt mein Wanderſpruch!“ 

„Den ich mir gefallen laſſe,“ warf der Maler dazwiſchen. 
‚Aber Sie follen ja auch gar nicht doziren. Sie follen nur das 
ichönfte und freiefte Unterhaltungsmittel bier wieder zu Ehren 
bringen, das der freien Erzählung. Wie die arabiihen Kaufleute 
auf ihren Reiſen durch die Wüſte des Nachts in ihren Zelten 
fi) die Zeit vor dem Einschlafen durch Stegreif-Erzählen von 
Märden und Geichichten vertreiben und der Berufenſte dabei 
zuerſt das Wort erhält. . .* 

„Ja und wie Sie uns in Ahrem ‚Rollen‘ fo anziehend von 
Chancers Canterburygeſchichten erzählt haben, deren Einkleidung 
ums eine bunt zufammengewürfelte Geſellſchaft von Rilgern vor— 
führt, die auf der Reife zum Grabmal des heiligen Becket von 
Canlerbury begriffen find und fich auf den Vorſchlag des luſtigen 
Wirkbs vom Tabard-Anr den mühſamen Weg durch) Geichichten: 
erzäblen lärzen, jo wollen auch wir's machen, um die Yangeweile zu 
bannen und das jehlechte Wetter zu vergefien.” 

„Der Vorſchlag läßt ſich hören. Wenn Sie mich zum 
Alterspräfidenten des Sympofions ernennen, fo erhebe ich den 
Vorſchlag zum Antrag. Wer ift dagegen?“ 

Die meilten erflärten zwar, fie hätten feine Uebung und 
würden ſich blamiven, aber die Idee wurde von allen heiter 
willtommen geheifen. „Und nun zur zweiten Frage: welcher 
Art follen die Geſchichten jein? Herr Breitinger, Sie melden jich 
zum Wort, bitte!“ 

„Ich denfe, da uns die Luft am Meilen, am Wandern bier 
zuſammengeführt hat, jo follten es Reiſeabenteuer fein, und da 
una das Unwelter draußen heute um den erhofften Reiſegenuß 
gebracht hat, möge jeder, ſich und uns zum Troſt, feine ſchönſte 
Neifeerinnerung zum beiten geben!” 

Lebhafte Zuſtimmung war von allen Zeiten die Antwort, 

„Angenommen alfo,“ vejümirte der Proſeſſor. „Jeder erzähle 
feine Schönste NReifeerinnerung. Aber wer foll anfangen?“ 

„Ich denke, die ftudirten Herren machen den Anfang,“ war 
die Meinung der Damen. 

„Iadies first,” fagte verbindlich Tächelnd der Engländer. 


„Dem Alter gebührt die Ehre,” ftichelte der Aſtronom, der 
fih ala Yüngfter in dem Kreiſe fühlte. 

„Das hieße die natürliche Ordnung auf den Kopf Stellen,“ 
entgegnete der Profeſſor. „Je älter wir find, um fo reicher find 
wir an eifeerinnerungen und um jo mehr Zeit brauchen wir 
alfo, die ſchönſte aus der Menge herauszufuchen.“ 

„Es iſt wirklich recht Schwer,“ ſeufzte Herr Kurz, der mit 
gerungelter Stimm vor ſich Hinbritete. Seine Frau fah ihn vor 
wurfsvoll an. „Aber, Mann, mußt Du erſt nachdenten, welches 
Dein jchönfter Reifetag war?“ 

„Natürlich unser Berlobungstan, Lina, id weiß wohl,” be; 
Ichwichtigte der Mann; „aber das ift doch feine Gejchichte.“ 

Doc der Profefjor fchlichtete den Streit mit einem Ge— 
waltſpruch: „Here Doktor Helbig, kraft der mir übertragenen 
Befugniß als Präfident erfuche ich Sie, den Reigen des Er— 
zählens zu eröffnen.“ 

„Nun gut! Dann müſſen Sie es mir aber auch nicht ver: 
argen, wenn ich die grade heranichtwimmende Erinnerung aus 
meinem Gedächtnißſtrom Heraufangele und für die beſte erkläre, 
weil fie eben die erſte if. ch könnte ihr den Titel geben: 
‚Wenn man nidt Stat fann.‘ Für die poetiicheren Gemüther 
unter ums empfiehlt jich dagegen als Titel ein Wort, mit welchem 
ich die ganz eigenthümliche, aus Abenteuerluft, Naturgenuß und 
Hreiheitsgefühl gemischte Stimmung bezeichnen möchte, die man 
namentlich im der Jugend beim frohen Wandern über Berg 
und Thal empfindet; unfer litteraturfundiger Präfident geftatte 
mir den Mnflang an ben ‚Waldeszauber‘ Eichendorffs; das 
Wort heift: ‚Wanderzauber‘!” 


2. Wanvderjauber. 

Ach bin zwar der Jüngjte in diefem Kreiſe, aber wenn id) 
an die Zeit zurüddenke, an deren Erinnerungen ich jept rühre, 
komme ich mir Schon recht alt vor. Damals verfolgte ich noch 
nicht mit mühfamen Berechnungen die Bahnen der Planeten und 
Kometen und nod weniger erfchienen mir bie Babnen des Menfchen: 
lebens von Geſetzen und Regeln abhängig, die fich berechnen 
laſſen. Und von jener Heit her erfcheint mir ald Hanptreiz des Reifens 
und Wanderns, daß feine Wechlelfälle aller Vorausberechnung 
ipotten und man an jedem Kreuzweg dem Süd in einer anderen 
freundlichen Geftalt begegnen kann. Meine schönften Reife: 
erinnerungen jtammen denn auch aus ber Zeit, da ich mit meinen 
Kommilitonen von Nena aus die Höhen und Thäler des Thüringer 
waldes wandernd durchmaß, ohne viel Geld in der Tafche, aber 
das ganze Herz voll Lebensfrifhe und Dafeinsfreude, das 
Beibelihe „OD Wandern, o Wandern, du freie Burſchenluſt!“ 
zum Panier. 

Die verehrten Damen unserer Tafeleunde werden fich ſchwer— 
lich einen Beariff machen können von der Stimmung, welche den 
Ton angiebt, wenn Studenten wandern. „Studio auf einer Reiſ', 
juchheibt, juchheida!“ heißl's im Licd md die holde Mahnung 
eines anderen Verſes: 

„Laht und die Becher befränzen, 

Laßt bei Gefängen und Tänzen 

Uns durch die Pilgerwelt geh'n —" 
wird nie jo wörtlich befolgt, als wenn der Bruder Studio das 
Nänzel auf den Nüden nimmt und fi) auf die MWanderfchaft 
begiebt, planlos, ziellos, hinaus ins freie, in die Welt, wo fie 
ichön iſt. Und mit feinen Augen betrachtet, ift die Welt fait 
überall ichön. 

In unſeren großen Städten, wo neben anderen wichtigen 
Gentealftellen des Lebens auch Univerfitäten jind, kommt dieſe 
Stimmung faum mehr vecht auf; aber in jenen Heinen Orten, 
die nur Univerfitäten find, um welche einiges Philiſtervolk ehr- 
furchtsvoll herum wohnt, bat die alte deutfche Burfchenfreiheit 
noch mächtige Bollwerfe und behauptet ſich ficgreich vor der alles 
nivellivenden Großſtadtlultur. Cine der Hochburgen der alten 
echten Studentenpoefie it Jena an der Saale und von einem 
Pfingſtausflug von hier in den Thüringerwald, den ich mit zwei 
gleichgeftimmten Kameraden im eriten Semeſter unternahm, will 
ich nunmehr erzählen. Wohl habe ich Seitdem Schöneres gefehen 
als die idylliſchen Waldthäfer Thüringens und Bedeutenderes er- 
lebt als an jenen Tagen, aber feine fpätere Reifeerinnerung fteht 
in gleichem Maße von Roche verflärt vor meiner Seele wie diefe. 


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0 · 


In Thüringen, wo von alteräher immer Deutiche gewohnt | 
haben, ohne daß fremder Einfluß von aufen die heimiſche Sitte | 
hätte verändern fünnen, findet fich im Volksbrauch noch fo manches 
aus altersgrauer Vorzeit erhalten. Wie die thüringiichen Mädchen 
noch heute in ber Nacht zum erjten Mai „in den Maithau gehen", 
das heißt mit ihren Freundinnen unter Scherzen und Yiederfang 
in die nächite Umgebung des Orts pifgern, wie es die Vorfahren ge— 
than, die mit dem wunderihätigen Than dieier Nacıt gläubig Schläfe 
und Stivn ſich netzten, um damit ihr Geficht vor den Spuren 
des Alters zu feien, jo spielt zu Pfingften die „Maie“, das iſt 
mit ihrem jungen bellgrünen Blätteridhimud die Birke, eine von 
Alters ber geheiligte Rolle. Wie zur Weihnacht die dunkle Tanıe, 
wird diefer luſtige Frühlingsbanm dann zum Schmuck der Hänjer 
und Kirchen verwandt. Und in jedem Dorf wird auf dem 
großen Plat, wo die Linde fteht oder wenigſtens einſtmals ſtand, 
ein Tanzplat abgejtedt, oft auch mit Brettern ausgeichlagen, und 
ringsherum im Geviert werden wiederum grüne Maien aufgeftellt. 

Auch ung hatten flatternde Maienbäume auf der Fahrt von 
Jena nach Nudolftadt luſtig umranfcht, als wir das blühende 
Saalthal am erſten Pfingſtiag morgens in einem offenen Bei: 
wagen der Poſt durchfuhren. So wollte cs die alte Tradition 
unserer Verbindung, der Eiſenbahn zum Spott, die uns weit 
fchneller, aber auch ohne alle Romantik ans Ziel gebracht haben 
würde. Und Hatte’ jchon bei diefer Fahrt eine Stimmung fich 
unjer bemächtiat, die dem Inftigen Grün der Birken am Friſche 
nichts nachgab, jo wollte der Jubel fein Ende nehmen, als wir 
nad) beendigtem Mahl im „Adler“ zu Nudoljtadt in größerer 
Gejellfchaft von anderen Jenenſer Studenten, die ſich dort zus 
jammengefunden hatten, in langem Zuge, zu zwei oder drei Arın 
in Mem, fingend und mit den Stöden jchwenfend „zum Städtle 
hinaus“ zogen auf der Strafe mad) Blankenburg, von wo be 
fanntlic) der Weg ins wildeomantifche Schwarzathal abbiegt. 
Schwarzburg am Ende desielben war das Endziel dieſes erften 
Reiſetags. 

Wir waren noch nicht lange gegangen; das unverwüſtliche 
Wanderlied „Der Mai iſt gekommen“ war eben zum dritten Mal 
mit zum Theil ſchon recht Heiferen Kchlen zu Ende gefungen 


worden, da zeigte fich ein neued Dorf vor uns auf dem Menge 


und dieſer Anblid wedte in der Mehrzahl der Genoſſen das 
gewohnheitsmäßige Verlangen nad) einem ſolennen Kaffeeſtat. Das 
Din und Her der Vorichläge führte zu dem Entſchluß, in 
dem Wirthshaus des Dorfes, falls es nur einen Garten zum 
Sitzen im Freien habe, die erſte Einkehr zu halten und einen 
vbligaten Stat dabei ins Werk zu feben. An Karten dazu konme 
es nicht fehlen; denn vier bemoofte Häupter unferer bunt zu: 
ſammengewürfelten Reijegeiellichaft hatten diejen Einwand jofort 
damit niedergeichlagen, daß fie aus ihrer Bruſttaſche jeder ein 
Spiel Karten trinmphirend hervorzogen. 

Für unfere Damen, denen die zwingende Macht des Sfat 
ſpiels ber alle, die es vielen können, vielleicht noch unbefannt it, 
muß ich hier hervorheben, daß Jena nur wenige Eiſenbahnſtunden 
von Altenburg, der Wiege diefes finnreichen Kartenipiels, liegt und 
die Jenaer Studentenfchaft ſchon frühzeitig ihren Beruf erkannt 
bat, demſelben ein anhaltendes Studium ud Die ausdauerndite 
Pflege zuzumenden. Sie werden daher meine Zerknirſchtheit nach 
empfinden fünnen, daß ich es damals bis über die Anfangsgründe 
des Slats noch nicht hinausgebradjt hatte, während meine zwei 
eigentlichen KReifegefährten leidenichaftliche Spieler waren, die, 
nachdem fie mic) meiner Unfähigkeit wegen weiblich veripottet 
hatten, ihrer Befriedigung lauten Ausdruf gaben, in jo ange: 
nehmem Kreiſe den „dritten Mann“ für den eriten „Pfingſtreiſe 
ſtat“ finden zu können. 

Das Wirthshaus im Dorf hatte richtig einen geräumigen 
Garten und bald ja die bis dahin freigeeinte Gejellichaft im 
Gruppen von drei und vier Perionen abgelondert beim Spiel. 
Während der Wirth vergnügten Angefichts die eriten Gläſer heran: 
ichleppte, fchmetterte es auf den Holztiſchen bereits von grünen 
Wenzeln, Schellenaſſen und Eichelzehnem. Mir blieb nichts übrig, 
als mich, wemn nicht „weinend“, jo doh beſchämt „aus dieſem 
Bund zu ſtehlen“ und mein Heil auf eigene Weile in einem 
„Zolo" zu Suchen. Und ich hatte wicht lange zu Suchen. Schon 
beim Einzug in die grüne Kaftanienhalle des Wirthsgartens | 
waren uns Fanfaren einer nahen Tanzmuſik entgegen geflungen, 
und diefen lodenden Tönen nachgehend, aelangte ich bald auf 


den freien Dorfplap, unter deſſen breitem Lindendach aus blanten 
Brettern ein Tanzboden hergerichtet war, auf welchem ſich ſonn⸗ 
täglich geputzte Burſchen mit ihren Mädchen im Tate drehten. 
In mächjter Nähe des von Birken umrahmten Tanzplabes waren, 
ebenfalls in primitiver Weile, aus Brettern und Pfoſten Tifche 
aufgefchlagen, an denen die älteren Lente fahen, die Frauen 
jtridend, die Männer Pfeife rauchend, paariveis ein gemeinfames 
Bierglas vor fich, das offenbar nur in langen Pauſen von dem 
blondzopfigen Türhterlein des Lindenwirths gefüllt zu werden 
brauchte, deſſen Haus und Gehöft am diefen Platz grenzte. 
Wenigſtens behielt das ſchmude Kind genug Zeit übrig, um fich 
der Tanzluft hinzugeben, die ihm aus den blauen Mugen über den 
gerötheten Wangen fchimmernd leuchtete. Es war fein Wunder, 
daß eine merkliche Trübung diefes freudigen Ausdrucks eintrat, 
als ich durch mein Begehr nach einem Glaſe Bier fie nöthigte, 
fi) aus den Armen ihres Tänzers zu löſen, nachdem die Mufit 
eben erſt ein neues Stück begonnen. Ahr Tänzer war nicht eben 
ein bevorzugter Vertreter feines Gefchlechts und der Unmuth auf 
der Stien der flinfen Hebe, der noch nicht ganz verflogen war, 
als fie mir den Trunk brachte, galt, wie ſich zeigte, and nur der 
Unterbrechung des Tanzes überhaupt, nicht dem Berlufte grade 
diefes Tänzers. 

Da mir ihre frische Jugend ſehr gefiel, Fuchte ich fie denn 
auch feftzuhalten in dem Geſpräch, das ich mit dem Ausdrud 
meines Bedauerns begonnen hatte, fie im Tanze geftört zu haben. 
Ziemlich) unvermittelt antwortete fie darauf: feitdem fie den vorigen 
Winter bei ihrer Tante, der Wirthin „Zum goldenen Lamm“ in 
Kahla, zugebracht Habe, nefiele ihr es gar nicht mehr, wie bier 
in ihrem Heimatbsorte die Burſchen tanzten. Die Herren Studenten, 
init denen fie auf den Winterbällen in Kahla ojt habe tanzen 
fönnen, die walzten freilich auch gar zu ſchön. Sp ſagte fie und 
blickte dabei unwillkürlich nach meinen Füßen, twie um zu prüfen, 
ob ich wohl in der Lage jei, dieſes allgemeine Lob durch eigene 
Leiſtung als vollberechtigt zu erweiſen. In der That war id), 
damals wenigitens, ein bejjerer Tänzer als — Statipieler. Der 
Blid des keden Dirnfeins auf meine nicht arade ſalonmäßig 
beffeideten Füße wirkte auf mic elektriſirend. Die Muſik lodte, 
das Lachen und Singen der Tanzenden mahnte zum Meittbun und 
das ſchlanke Mädchen vor mir Hätte gar nicht nöthig aehabt, ſo 
ermunternd mich anzureden. Als der alte Wirth, ihr Water, fein 
geſtricktes Käppchen Lüftend und die fange Tabafspfcife aus dem 
linten Mundwinlel in den rechten nehmend, num auch noch hinzutrat 
mit der Frage, ob ich nicht ein wenig mittanzen woße, da war ich 
mit dem Inftigen Flachskopf ſchon mitten unter den Tanzenden 
und wirbeite die mich leiſe Belobende jlott im Kreife herum. 

Es ging ganz prächtig. Das Mädchen war gejchmeidig und 
leicht, wie jelten eins, das auf dem Lande erwachlen it. Und 
der feineswegs gebohnte Bretterboden war viel alätter, als ich 
beim erſten Anblid vermuthet hatte Biel Unterhaltung gab's 
dagegen micht. So lange die Muſit fpielte, mußte ich auch das 
Tanzbein ſchwingen. Und trat eine Pauſe ein, jo rief mir der 
Bater ſein sind Fort, damit es ihm helfe, fisch Bier den Gäjten 
zu bringen. Endlich konnte ſie jich ein wenig Ruhe gönnen und 
als ob ſich das von jelbjt verjtände, jeßte ie fich neben mich und 
tranf mir ohne beiondere Nöthigung ein drollig burſchikoſes 
Schmollis zu. Ich muß nun bier einfchalten, daß ich damals 
noch recht blöde war, da ich während der Schulzeit ohne Verlehr 
mit Altersgenoffinnen aufgewachſen war; die Mede floß daher 
meiner Nachbarin viel behender von den Lippen al® mir, und 
meine Unbeholfenheit jtimmte mic um fo unbehaglicher, je mehr 
die Heine Wirthstochter ſich Mühe gab, aus ihrem Aufenthalt 
bei der Tante in Kahla die Anſchauung herzuleiten, daß fie nun 
eigentlich Tein Landpomeränzchen mehr, jondern eine perfefte 
Städterin jei. 

Ic Fand diefen Ehrgeiz recht wenig angebracht, da mie das 
Leben auf dem Lande viel reizvoller als das in den Städten, 
namentlich aber als das in einer Kleinſtadt erichien, und ich war 
eben im Begriff, die Dummheit zu begeben, der kindlichen Ein: 
bildung der Heinen Dorflofette mit pedantifchen Einwänden zu 
begegnen, als ein plögliches Ereigniß mich veranlaßte, vom Sitz 
aufzuipringen. 

Wie ein Blib aus heiterem Himmel und mit lautem Donner: 
gedröhn Fam plötzlich auf der Landitraße ein zweilpänniger Herr: 
ſchaftswagen mitten auf den Platz gelauft und in bemfelben 


Moment, da ich das Fuhrwerk in der emporgetvirbelten Staub: 
wolfe deutlicher erfennen konnte, riſſen die Stränge, die Deichſel 
brach mit Krachen umd die wildgewordenen Pferde ſchleiſten den 
Kutſcher ein Stüd vorwärts, bis auch die Zügel nicht mehr hielten 
und die Mofje ungehindert weiter ftürmten. Während die Theil- 
nahme der Bauern ſich vor allem den Pferden zutwandte und dann 
dem Kutſcher zugute Fam, hatte mich umvillfürlich mein Intereſſe 
dem Wagen zugetrieben, an welchem mit der Deichiel gleichzeitig 
ein Rad gebrochen war. Ich Fam grade zurecht, um den Infaſſen 
aus dem Wagen zu helfen; es waren drei Damen der verſchieden— 
ften Altersitufen, nur die Urahne fehlte, um das berühmte 
Quartett der Schwabichen Ballade vollzählig zu maden. Groß: 
mutter, Mutter und Kind dankten alle drei ſehr höflich, über: 
zengten ſich ſchnell, daß der Kutſcher ſich nichts Ernſtliches 
durch den Fall zugezogen, und gingen dann auf das Wirthe- 
haus zu, den fie geleitenden Wirth bittend, dafür Sorge zu 
tragen, daß der Schmied ſchleunigſt Herbeifomme, um die 
Schäden des Wagens fo qut wie möglich in aller Schnelligkeit 
auszubejjern. Das Wort führte in diefer Sache die Großmutter, 
eine ehwas korpulente, aber noch Schr rüſtige Dame, welder die 
Brille, die fie trug, nichts von der Freundlichkeit des Ausdrucks 
ranbte, der das Geficht trotz des Unfalls ſchon beim Aussteigen be; 
lebt Hatte. In der Mutter fanden ich diefe Züge foltenlos und 
in Frauenhafter Frifche wieder. Und gar erſt in der Tochter! 
Sie müfjen mir verzeihen, daß ich es Ihnen überlafle, ſich aus 
fiebzehn Jahren, fchlanfen Gliedern, braunen träumerifchen Reh— 
augen in einem zarten, aber gefunden Mädchenangeficht ein Bild 
auzzumalen, das annähernd dem gqleichtummt, welches mir in 
ber Erinnerung haftet. Während die beiden älteren Damen 
Ihwarze leider trugen, war das Mädchen ganz weiß gekleidet; 
um den Hals trug es eine Schnur weißer Perlen. Ich Hatte 
ihnen gleich beim Ausiteigen die Schirme und Mäntel abgenommen 
und machte mir ein Vergnügen daraus, dies Handgepäd ihnen 
nach dem Site zu fragen, den ihmen der Wirth in der Laube 
feines Meinen Gärtchens, das linls an fein Haus grenzte, anwies. 
Die älteren Damen zeigten ſich fehr dankbar fiir meine Keinen 
Mitterdienfte. Während mid aber ihre würdevolle Freundlichkeit 
trogdem mit einiger Berlegenheit erfüllte, erwedte die ſchweigſame 
Sympathie, mit der mich das kleine Schlanke Fräulein von der 
Seite wiederholt anfchaute, eine mir bis dahin im Verkehr mit 
Damen völlig unbefannte Stimmung von Vertrauensfeligleit. Wie 


‚ Bfingiten ? 


ich nun eben nad Worten fuchte, um diefes Empfinden in irgend | 


paſſender Form zum Musdrud zu bringen — die Damen hatten 
gerade in der von weißem und blauem Flieder dicht ums 
blühten Laube Plag genommen — da that ſich die Gartenthiür 
hinter mir auf und die Stimme ber blonden Wirthstochter, die 
aber gar nicht mehr luſtig Hang, xief mir zu, daß eben wieder 
der Tanz beginne, umd ich habe ihe doc noch einen verſprochen. 
Ich murmelte verwirrt etwas von älteren Pflichten, verbeugte 
mic) verlegen und ging zögernd auf die unwilllommene Ruferin 
zu, die mich, als Habe fie wunder weldhe Rechte auf meine 
Galanterie, an der Gartenthür mit dem Vorwurf empfing: 

„sa, To find die Herren Studenten. Iſt niemand befferes 
zur Hand, fo machen fie ungenirt uns Mädchen vom Lande die 
Kour; kaum aber zeigt ſich etwas Vornehmeres, jo iſt man für 
die ftolzen Herren nicht mehr auf dev Welt!“ 

Da id) dem Mädel mit feinem Worte ein Mecht zu ſolchem 
Anſpruch gegeben, verdroß mich diefe Mit fehr, und als ich 
ein paarmal mit der mich jetzt Fehr zärtlich an ſich Drüdenden 
herum getanzt und dabei zwijchen den flatternden Birkenzweigen 
in der Richtung des Gartens ein weißes Kleid ſchimmern ges 
sehen hatte, tien ich die Heine Eiferfucht nad) einer fürmlichen 
Verbeugung ruhig jtehen und fchritt mit einer mich ſelbſt über 
raſchenden Kühnheit direct auf das fremde Mädchen zu, welches 
neugierig von der Gartenthür aus dem fvemdartigen Treiben unter 
der Linde zufchaute, begrüßte fie Fröhlich und exmunterte fie, von 
der Pfingitjreiheit, die heute alle guten Menfchen verbrüdere, 
Gebraud zu machen und auf dem ländlichen Tanzplab mit einem 
fahrenden Bruder Studio einmal herum zu tanzen. Ihre Mutter 
würde wohl nichts dagegen haben. 

In den träumerifchen Augen des zarten Geſchöpfs blipte es 


von heller Lebenstuft auf; fie blidte ſich um zu ihrer Mutter, | 


welche Hinter ihr jtand, und da dieſe uns gewährend zunidte, 
war fie im Nu an meiner Seite, 


„O wie ſchön, wie romantiſch!“ rief fie leiſe, „ja, Pfingſt 
freiheit! — das war's, wonach ich mich fehnte, als ich vorhin 
aus der heißen Kulſche unbefriedigt auf die um uns aufwirbeln 
den Staubwolfen fah und mic mißgeſtimmt fragte: ijt das 
Iſt das Meifeluft? Wie dankbar bin ich Ahnen!“ 

Wir waren auf dem Podium; die Muſik begann cben ein 
nenes Stück; luſtig und fidel wirbelten die Klänge; Tuftig und 
fidel wiegten wir uns auf und nieder 

„Nein, ſeht nur den Fuchs an!” Hörte ich plößlich die 
Stimme des einen meiner beiden Reifelameraden vom Zaune her 
ziemlich laut jagen. „Wetter, was der Kerl für ein Süd Hat! 
Während wir im Skat verlieren, läßt fih der Taugenichts zur 
Belohnung dafür, dab er fein artig das Kartenſpiel meidet, das 
ſchönſte Prinzeßchen vom Himmel berunterzaubern, nur damit ex 
auch fein Beraniiaen habe.“ 

„Uber nun iſt es Zeit,“ rief der andere, ala der Tanz ge 
trade zu Ende war. „Es ijt jo wie jo jpät geworben.“ 

Und mit der Autorität eines Leibburichen, die feine Wider 
vede verträgt, trat er auf mich zu md fagte unter ſtummer 
Begrüßung meiner verlegen und chen dreinblidenden Tänzerin 
zu mir: 

„Thut mir leid, Fuchs; wir müſſen geben. Die andern 
find ſchon voraus. Haben fo ſchon Zeit verloren mit dem Suchen 
nach Dir! Doch Du wirft das Fräulein gewiß noch zu ihrem 
Platz führen wollen. Alſo wie warten dort an der Ede. Mein 
Fräulein, habe die Ehre!” 

Ein Student im erſten Semeſter fteht viel zu widerftands 
los unter dem Regiment feines Leibburfchen, als daß ich in 
diefem enticheidenden Augenblick zu widerſprechen gewagt hätte, 
zumal die Freunde bereit? auf mich gewartet hatten, In ver 
legener Eile und mit ftammelnden Entfchuldigungen geleitete ich 
das bis in die Stirn erröthete Mädchen zu den Ihren, empfahl 
mich dort mit dem Hinweis, daß mic die Rückſicht auf meine 
Reifegefährten zum Aufbruch zwinge, und danı machte ic) Kehrt 
und mir war, als jei plötzlich die Sonne hinter Wolfen ver 
ſchwunden. Unwillkürlich Gatte ich beim Wegachen „auf Wieder 
jehen“ gejagt, und zu ſpät fiel mir's auf die Seele, daß ich 
wicht einmal den Namen des Mädchens erfahren hatte. Zerſtreut 
zahlte ich an den Wirth meine Heine Zeche, und wenn mich wicht 
eine Bemerkung meines Leibburihen daran erinnert hätte, ſo 
würde ich ganz vergeſſen haben, meiner Heinen Tänzerin mit dem 
eiferfüchtigen Nöpfchen Lebewohl zu jagen. So that ich's von 
weitem, indem ich meinen Hut gegen fie ſchwenkte. 

„Aber, Fuchs, Did) dürfen wir ja gar nicht mehr allein laſſen. 
Das acht doch über das Bohnenlied,” hieß es nun, indem die 
Freunde ſich aenenfeitig darauf aufmerbam machten, daß das 
Mädchen mit dem Ansdruck ſchweren Mißmuths mich ziehen Tab. 
„Es iſt im Grunde Hug von Dir, Fuchs, daß Du Did um das 
Statipielen ‚drüdjt. Dur würdeſt höllifch verlieren bei jo viel 
Süd in der Liebe!“ 

Ich aber fühlte nichts von dieſem Glüd, jondern im Gegen 
theil nur Aerger über die frühe und jähe Unterbrechung eines ſo 
poetijch Fi) anipinnenden Abenteners. Um den Nedereien der 
Kameraden, Die es übrigens herzlich qut mit mir meinten, ein 
Ende zu ſehen, erzählte ih ihnen von dem Unglüdsfall, der mein 
eines Neifeabentener eingeleitet hatte, Der Schmied des Orts 
twar eben mit der Reparatur des Wagens beichäftigt, Den da 
neben ftehenden Kutſcher hätte ich gar zu gern nach dem Namen 
feiner Herrſchaft aefragt, aber ich fürchtete, meine Freunde 
würden mir dies als Peichen der Verliebtheit auslegen, und 
jo ſchwieg id. Dieſe flimmten im Weiterjchreiten ein über: 
müthiges Wanderlicd an, in dem es von den Mädchen heißt, 
daß fie mit Sehnfucht dem weiterziehenden Burſchen nachblicken, 
an den fie ihr Herz verloren; ex aber lönne fich nicht aufhalten, 
denn höher noch als Kuß und Liebesglück ftehe ihm feine Frei 
heit. „Wonach zu achten, Fuchs," ſagte am Schluß des keden 
Gefangs mein Leibburfch Lorenz. Und damit war das Thema 
unter uns erledigt und wir gaben uns gemeinſam den Eindrüden 
der uns umgebenden Natur hin, deren zauberiſcher Reiz um jo 
jejfelnder ward, je mehr ſich das Thal verengte, je wilder zer- 
klüftet die röthlichgrauen Felſen am Ufer der Schwarza zwifchen 
dem dunklen Tannengrän und dem Fichten Yaubgebüfh empor: 
ragten, je ungeftümer und Feder das friſche Berggewäſſer vor- 


| wärts ftürzte, die Vergißmeinnicht am Ufer nur flüchtig berührend, 


— 0 


wie ein fröhlicher Geſell in brauſender Jugendluſt auch weiter ſtürmt, 
ob auch freundliche Mädchenaugen am Wege zum Weilen laden. 

Abends in Schwarzburg, wo ſich im „Thüringer Hof" wieder 
eine ganze Kneiptafel fibeler Scholaren zufammengefunden hatte, 
brachten meine zwei Gefährten das Geipräd auf mein Abenteuer 
und eines der bemooften Häupter nüpfte daran in jalbungsvollem 
Ton eine recht Teichtfinnige Betrachtung über die fchöne Ein- 
richtung ber Melt, 
andern Mä 
am nächiten 
Livland ftammte und auch mit 
zwei Freunden von Xena ats 
eine Pfingſtiour unternommen 
hatte, erzählte ein luſtiges Aben- 
teuer, das fie zufammen am 
frühen Morgen erlebt Hatten. 
In Rußland befteht befanntlich 
die Sitte des Dfterluffet. Beim 
erjten Begegnen am Dftermorgen 
wird ein Kuß ausgetaufcht, wobei 
man Christos woskress (Ehrift 
iſt erftanden) fagt. Die drei 
waren num früh am Morgen 
mitten im Feld einem hübjchen 
Bauernmädchen begegnet und der 
Livfänder hatte fie angehalten 
und mit freier Benutzung dieſes 
Dfterfußmotivs ihr auseinander: 
gefeht, er müſſe als Muffe hei 
ligem Braudye gemäß dem erften 
Mädchen, dem er morgens am 
Pfingſtlag begegne, einen Kuß 
geben. Offenbar hatte er dns 
recht gut vorgebradht, dem das 
Mädchen war auf die Schelmerei 
inſoweit eingegangen, daß fie 
ftehen geblieben war und ſich 
vorfichtig wngeblidt hatte, wie 
um ſich zu vergewijjern, ob fie 
allein ſei. Der Livländer hatte 
jedoch dieje Gelegenheit verfäumt 
und gewartet, was ſie Weiter 
thun werde, indem er fich in 
theslogiiche Spibfindigkeiten ver- 
for, die das Landkind unmög 
lich verftehen Tonnte, Da Hatte 
jie fich zu den beiden anderen 
gewandt: ob die Herren auch 
Ruffen feien. Und ohne viel 
Zögern habe darauf der Heinfte 
der drei, ein fideler Breslauer, 
ihr entgeguet: bloß Freund von 
Ruß, dod auch Freund von 
Kup, habe ſich auf die Zehen 
gehoben und der jtattlichen Tod): 
ter des Thüringertvaldes einen 
berzhaften Kuß gegeben. Die 
habe darauf gelacht und fich 
dann davon gemacht; der Livländer aber hatte das Nachſehen, 
weil er, als es zu handeln galt, die günftige Gelegenheit ver: 
ſchwatzt hatte. 

In der folgenden Nacht Hatte ich einen quäfenden Traum. 
Ich war im Garten bes Lindemwirths in dem Dorf an der 
Straße nad) Blankenburg; nur war derjelbe viel größer als in 
Wirklichkeit. Die tanzluftige Wirthstochter verfolate mich auf den 
Kieswegen, über die ich mit um fo größerer Hajt jagte, als die 
Berfolgerin mir näher fam, welche in allen Tonarten mir zurief, 
ich folle doch ftehen bleiben und mit ihr hinter die Laube treten, 
two uns niemand ſehen fönne, und dba wolle fie mir einen Huf 
geben. Dort hinter der Yaube aber jtand, das fühlte ich inftinktiv, 
Hoifchen blühenden Springenfträuchern das weißgefleidete Fräulein. 
Ihr wollte ih den Huf geben, um dem mich meine Verfolgerin 
bat. Mber dba ich auch nicht von jener dabei gefehen fein wollte, 
lief ich immer zu, bis jene ermüdet fein und die Jagd einſtellen 


en den Hof machen könne, ohne nur einem wieber 
g begegnen zu müllen, 


re 
— > 
— N 


Ein anderer, ber aus 


die jo groß fei, daß man jeden Tag einem | 





Junger Yumaindianer, 


5 . — 


würde. Endlich geihah dies. Nun eifte ich hinter die Laube. 
Aber id) Fam zu jpät. Das holde Mädchen in Weik war freilich 
dageweſen, jet aber wurde fie von Wolfen hinweg getragen, un: 
wiederbringlich, und fie fonnte mic nur aus der Ferne mit ben 
Händen zuwinfen, während der traurige Blid ihres Auges Hagte: 
warum ſäumteſt Du fo lange? Debt iſt's zu fpät! 

Und num merken Sie auf, wie jeltiam das Neifeglüd mit 
mir am folgenden Tag fpielte. Wir waren früh bei Zeiten auf 
gebrochen, ben fchönen Waldweg hinauf zum Trippjtein und von 
dort über Paulinzelle, wo wir nad) Beſichtigung der alten Kloſter 
ruinen Mittag hielten. Am Nadı 
mittage ging's gemächlich auf 
einem Waldwege nad) Gräfinan, 
um bon dort aus weiter zum 
Abend nad) Ilmenau zu ge 
fangen. Bald Hinter erſterem 
Orſe, gerade als wir an einem 
Kreuzwege uns im Zweifel be 
fanden, welchen Pſad wir zu 
gehen hätten, trafen wir auf 
einen Landgendarmen, einen trotz 
feines martialifchen Ausjebens 
und riefigen Vollbarts recht ge 
müthlihen Vertreter der ge 
ſtrengen Polizei, der uns nic! 
nur den Weg zeigte, ſondern 
auch Fener für unfere ausge 
gangenen Cigarren anbot, wo— 
gegen er eine friiche von ums 
annahm und fich jelbjt anzin 
dete, Ex erflärte, denſelben Wen 
zu achen, und hatte ſich bald 
mit meinen Freunden in ein 
Geſpräch eingelafjen über aller 
hand aufregende Ereignifie ans 
der Verbrecherivelt, wofür dem 
Gendarmen feine Praris, mei 
nen Freunden der „Neue Bitaval” 
den Stoff Tieferte, deſſen Bände 
fie gerade damals eifriger ftudir 
ten, als das Corpus Juris und 
Windicheids Pandelten. Mir 
behagten dieſe Räubergeſchichten 
nicht, die ſehr wenig zu meiner 
Stimmung vaßten ; aber ſie ließen 
ſich nicht ſtören; eine Geſchichte 
gab die andere, das Thema war 
zu ergiebig. Erſt als det biedere 
Mann der Ordnung gelegentlich 
einer Erzählung erwähnte, dafı 
er auch Skat fpiele, nahm das 
Geſpräch eine andere Wendung, 
die dahin führte, daß beim 
nãchſten Wirthshaus die beiden 
Spielvatien den Gendarm ein: 
Iuden, mit ihnen einzufehren und 
ein paar Stunden zu fpielen. 
Mein Brotejtiven half nichts. 
Ich fönne mir ja die ſchöne Gegend betrachten, das müſſe für 
einen „Naturfimpler“ wie ich doch nod ein größeres Vergnügen 


ſein; ich aber fagte unwirſch: „Nun gut, ich gehe voraus; in 


Ilmenau treffen wie uns abends in dem Gafthaus, das uns 
eben der Herr Gendarm empfohlen hat.” — 

Aergerli ging ich vorwärts; doch der Blid auf die in der 
That herrliche Umgebung und die zur Rüſte fich neigende Sonne, 
die im Weiten die dunllen Waldberge mit rothem Lichtſchein über: 
fluthete, gab mich bald wieder der träumeriſch wohligen Stimmung 
zurück, die ſchon den ganzen Tag mich beherrfcht hatte, Das 
Scaufpiel des Sonnenuntergangs, das duch Heraufziehen von 
Gewitterwolken einen bejonderen Reiz erhielt, ſeſſelle mich derart, 
daß ich nicht merkte, wie der Hauptiveg eine Biegung nad links 
machte, während der Waldpfad, auf dem ich langſam meinen 
Weg verfolgte, mich in die Irre führte. Ich mechte jo eine 
hafbe Stunde gegangen fein, als ich mic) plöhlich in einer Allee 


— 541 >» 


von hohen dichten Laubbäumen — ob es Linden oder Kaftanien 
waren, weiß ich nicht mehr — befand. 

Rechts und links von dem vielfach mit Gras überwachlenen 
Fahrwege dehnte fi der Wald hin. Bald konnte ich bemerken, 
daß ber erftere im ziemlicher Entfernung in einem breiten Thorweg 
minbete. Neugierig näherte ich mich demſelben; ein parkartiger 


aroßer Garten mit alten dichtfronigen Bäumen, zwiichen denen 


aus der Ferne die Manern eines großen Gebäudes vorjdimmerten, 
nahm mich auf, 
Im Hintergrunde des Gartens ſchien eine größere Geſellſchaft 
mit Spielen im Freien befchäftint; helle Damenkleider blinften ab 


und zu in Lüden des Buſchwerls auf, und nun vernahm ich auch 
Stimmen. Aus meinem Laufchen wedte mich plöglich ein Geräuſch. 


Schritte Anirfchten auf dem Kiesweg, der, von dichtem Geſträuch 
umbegt, nad) einem laufchigen Rondel führte, 
ſtamm verhinderte, daß ich von dort aus geſehen werden konnte. 
Die Statue eines fein Schilfrohr blafenden Pans entzog anderer: 
jeits auch meinem Blick einen Theil des fo nahegelegenen Platzes, 
auf dem jeßt ein feiner Lieutenant in Interimsuniform mit einer 
jungen Dame heraustrat, auf die er mit lebhaften Beten eins 
ſprach. Er war jet ftehen geblieben, doch fie ging weiter mit 
einer abweifenden Gebärde umd lieh ſich auf einer Bank wie ge— 
langweilt nieder. Seht konnte id) das Antlitz ſehen; es war — 
ich traute meinen Wugen nicht — meine Reifebefanntichaft von 
geitern; das weiße Kleid war mit einem rojafarbenen vertauſcht. 
Der junge Offizier drehte Fich verlegen den Schnurrbart; dann 
folgte er dem Mädchen und begann aufs nene feine eindringlichen 
Borftellungen. Der Erfolg war eine furze Antwort von feiten 
der jegt fehr ſtreng ihn anblidenden Schönen, welche bewirkte, 
da er jtrads mit militärtichem Ruck Kehrt machte und den Weg, 
den er vorhin an der Seite des Mädchens gelommen, allein 
zurücklegte. 

Dieſes blieb wie in Träumen verloren ſitzen. Als ſie die 
Augen wieder hob, ſtand ich vor ihr. Ja, fie war es wirklich, das 
holde Kind, deſſen Wejen mich gejtern wie mit magiicher Sympathie 
berührt, von dem ich die verwwichene Nacht fo feltiam geträumt hatte. 
Wunderbare Fügung! Und diefelbe freudig ftaunende Ueberraſchung, 
die mich bejeelte, lächelte mir freundlich aus ihrem Angeficht ent: 
gegen. Wir brauchten wenig Worte zur Aufllärung: fie war geſtern 
auf der Neife hierher geweſen; die Beſihung gehörte einem Onlel 
von ihr. Daß ich mich auf meiner Wanderfahrl von den Gefährten 
getrennt, um mich hierher zu verieren, mußten unfre jungen Ge— 
müther als eine Fügung des Himmels auffaffen, der beſchloſſen hatte, 
uns einander wieder zuzuführen. Die berüdende Wirkung dieſer 
Thatſache machte das Mädchen zutraulicher gegen mich, als es ein 
jahrelanger Verkehr in den Salons der Städte würde ermöglicht 
haben. Sie war aufgeftanden und Hatte mir freudig die Hand 
gegeben, wie ‚einem alten Befannten, Dann aber war eine jelt: 
fame Befangenheit über fie nelommen und fie war unwillkürlich 
einige Schritte in den Schatten der Bäume zurüdgewichen, dad) 
ohne mich zu hindern, ihr zu folgen. 

Sie ftand. zwijchen blühenden Syringenzweigen, ganz wie ich 
fie im Traum gefehen, und gelbe Blüthentrauben des Goldregens 
umvingelten ihre jchwarzen Yoden und ihren weißen Hals. Es 
war mir plöblich, als Könnte fie mir durch ein Wunder — wie es 
in dem Traum geſchehen — entführt werden, als müſſe ich fie feit 
halten und als könne ic) die jlichende Miyute verfäumen, in der 


Auch anderes ſchimmerte heil durchs Gebüfch. | 


Ein dider Baums | 


! allein mir vergönnt fei, das Lächeln des Glüds von diefen Lippen 
' zu Iefen. Und fo fühten wir uns. 
In den Sträuchern und Bäumen um ums begann es zu 
rauhen; das fhredte uns auf. Es war nur der Wind, aber das 
‘ Geräufch hatte ihr das Ungewöhnliche ihrer Lage, unfres Thuns 
| zum Bewußtfein gebracht, nachdem fie vorher die Welt aufer uns 
fo ganz und gar vergefien gehabt, was ihr jegt die Röthe der 
Scham in die Wangen trieb. Der Wind blies heftiger, und das 
Geſicht in ihre Hände bergend, fing fie an zu weinen. Ach ſah 
ihr am, wie in ihrem Innern Zweifel rangen, ob fie mid) ein: 
laden folle, ihr zu den Ihrigen zu folgen. Sie hätte es ficher 
gethan, wenn die Verlegenheit, die ſich ihrer bemächtigt, wicht in 
diefem Augenblicke ftärker geweſen wäre als jede andere Empfindung. 
Am Himmel wetterleuchtete 8. Große Tropfen fielen. Und 
nun hörten wir ihren Namen rufen. — „Marie!“ — So erft erfuhr 
ich, wie fie hieß. „Marie,“ fagte ic) leife und ergriff ihre Hand. 
„Wir müflen uns wiedersehen,“ fagte fie; „aber nicht heute.“ 
Ein furhtbarer Donnerſchlag unterbrad) ihre Worte. Gleich 
darauf begann der Regen in Strömen zu giefen. 
„Marie,“ rief jebt eine Männerftimme lauter und näher 
als früher. Geängftigt fuhr fie zufammen „Ich muß hinein. 
Auf Wiederfehen!" Indem fie dies leiſe rief, eilte fie von 





dannen. Fort war fie, ummwiderruflih fort. Und bis heute 
bin ich ihre nicht wieder begegnet. 


* ” 
* 


Die Damen bliden mich erjtaunt an. Sie werden mit 
Net fragen, ob und warum ich feinen Verſuch gemacht habe, 
fie wiederzufehen? Ob ich ihm gemacht habe! Nach ihrem 
schnellen Verſchwinden Gatte mich, der ich trat des Negens ftehen 
blieb, ein Auffeher angetroffen und barſch gefragt, was ich hier 
zu fuchen Hätte Der wolfenbrucdartige Regen unter Donner 
und Blitz hatte jedoch alle weitere Verftändigung abgeſchnitten; 
zu fuchen oder zu fordern hatte ich ja nichts hier. Hinter mir 
wurde fnarrend das eiferne Varkthot geſchloſſen; mir war, als 
habe ein zorniger Cherub die Pforte des Baradiefes Hinter mir 
äugefchmettert. Es war tief im der Nacht, als ich in Almenau 
ankam. ch hatte mich im Walde bei dem furchtbaren Gewitter: 
regen verlaufen. Die Freunde empfingen mich mit Vorwürfen 
und fie hatten ein Necht dazu; was wußten fie von dem Wander: 
märchen, das ich inzwiichen erlebt! Ihr Einfluß und die Zucht 
des ftudentifchen Komments waren Stark genug, um mich zu 
zwingen, am anderen Morgen mit ihnen dem verabrebeten Reife: 
plan gemäß weiter zu marſchiren. Mein Geheimniß mochte ich 
ihnen nicht verrathen. Kurz nach Pfingften hatte ich meine erfte 
Menfur, bei weldyer ich einen ſcharfen Hieb über den Kopf erhielt, 
der nur Schwer heilte. Sobald ich konnte, habe ich mich dann auf: 
gemacht, um den Weg zu dem einfamen Park im Wald wieder 
zu finden. Aber ich fand mich in der Gegend wicht zurecht; ging 
wiederholt irre; die Spur blieb mir verloren. Und dann: ich 
war eben ein junger Student, der andere Dinge im Kopf Hatte, 
als einem verwunichenen Schloß nachzugehen. Oft war mir's * 
wirklich, als fei- das ganze Erlebniß nur ein Traum geweien. 
Aber es war doch wirklich erlebte Wanderpoefie, die unver: 
geßlich meinem Erinnern eingeprägt ift und heute noch in dem— 
jelben als ſchönſtes Reifeerlebnih glänzt. So... ., das war 
, meine Gefchichte. Fortſehung folgt.) 








Durd Arizona. 


Bon Andolf Eronau, 


27° fchneegelrönten Berge der Sierra Nevada, das Wunderthal 
Hojemite und feine Niejenbäume lagen Hinter uns, und in 
haftiger Eife trug uns das fchnaubende Dampfroß neuen Bielen 
entgegen. Wir fuhren durch die füdfaliforniichen Ebenen. Aus 
dunflem Laube glühten die feurigen Granaten, goldgelb ſchimmerten 
am Buden die Melonen. Feigen, Pomeranzen- und Pfeferbäume 
drängten fich neben hochſtammige Palmen, neben Bananen, Eufa- 
Inpten und immergrine Eichen. Auf den weiten Sandfläcen 
fproß der Kaktus in üppiger Fülle, die Agave redte aus 
ihrem ſchwertergleichen Blätterforb den hoben, mit ſchneeweißen 
Blüthen gezierten Schaft empor. 
1388 


Und mun, inmitten biejer 


| jonnigen Herrlichkeit, von ausgedehnten Weingärten, Orangen: 
und Zimonenhainen umfleidet und von freundlichen Höhen um- 
fchlofien, erichienen die weißleuchtenden Häufer von Los Angeles, 
der Stadt der Engel. 

Der ganze, eines 150jährigen Alters ſich rühmende Ort 
iſt ein einziger großer Fruchtgarten; alles blüht und gedeiht dort 
in frohlichiter Ueppigfeit, dank dem benachbarten Los Angeles: 
River, deſſen Waſſer durch fünftliche Zeitungen nach der Stadt 
und ihrer Umgebung geführt wird. In der Nähe liegt San 
Gabriel mit feiner alten Miffton, deren Orangenhain der ältelte 
Kaliforniens ift und der noch von jenen Patres jtammt, die, 


6) 


—o 


— 


lange bevor die Pilgrimväter an ber ſturmgepeitſchten Küſte von leichtem Luſthauche gekräuſelt erſcheinen die blitzenden Wellen, 


Neu-Englands landeten, die nördlich von Merifo gelegenen 
Territorien durchzogen und überall an den maleriſchſten Punkten, 
an der blauen See wie im Schatten ſchneegekrönter Bergesgipfel 
ihre mit Kolonnaden und Glockenthürmen verjehenen Miſſions— 
lirchen errichteten. Zum Theil noch erhalten, zum Theil fchon 
Ruinen, weiſen diefelben heute in ihrer Architeltur einen feltfamen 
halb jpaniichen, halb mauriichen Stil auf. Die reihe Ornamentil 
der Thür- und Fenſterbogen ftammt noch von alten Meiſtern, und 
altersbraune Bilder reden von jener Zeit, wo die Conquijtadoren, 
diefe gigantifcdhen Freibeuler, mit Kreuz und Schwert die Welt 
durchzogen und der Geſchichte ihres Baterlandes hohen Glanz 
verliehen. 

Savannah, Monte, Puenta, Spadra, Pomona, Cucamanga 
find Stationsnamen von gutem lang, aber wenig Belang; erſt 
das 61 Meilen von Los Ungeles entfernte Städtchen San 
Bernardino, an dem durch den GajousPah nach den Minen: 
regionen von Nevada und Arizona gelegenen alten „Trail“, ift 
von einiger Bedeutung. Hiſtoriſch interefjant ift, da dieje Stadt 
eine Kolonie der Mormonen und in gleicher Weile wie Salt: 


‚ die all die jcharfen Sontouren der Klippen aufs treuefte wider 
ſpiegeln. Da plöglih hebt ſich ein Berg aus bem Silberfee, 
' eine purpurfarbene Inſel mit wiegenden Palmen: und Lorbeer 
hainen; Waſſervögel mit glänzend ſchönem Gefieder, weißbrüftige 
Schwäne, Neiher und Flamingos beleben die Küfte, durchwaten 
das erauidende Naß und vervollftändigen das traumhaft fchöne 
Gemälde. — Es iſt das Geipenft der Wüſte — und morjche 
umberliegende Gebeine befunden das Geſchick der Unglüdlichen, 
die den Berlodungen dieſes Gefpenftes, der Fata Morgana, folgten. 
Im Scheine der untergehenden Some erglühte die ganze 
Landichaft in einem jeltiam rofigen Licht. alt karminroth 
ſchienen die Bergzüge, in deren Spalten blaue Schatten lagen. 
Bleich und Falt gegen diefe Gluth dehnten fi die öden Sand: 
flächen, aus denen nur bier und da phantaſtiſch geſtaltete Kakteen 
ragten. Die vofigen Tinten verblaften mehr und mehr, der 
Himmel zeigte ein faltes Grün, welches ſich in ftumpfes bleiernes 
Blau umwandelte und endlich ganz im nächtlichen Duntel aufging. 
Aber wieder erglänzt Lichtichein aus diefem Dunkel, cin 
‚ mächtiger Fluß kommt in Sicht, über eine Brüde donnert der 





Fata Morgana in der Coloradowüſte. 


Lale⸗City angelegt und mit Waſſer verfehen if. Bei San 
Bernardino führt die Bahn über den 2501 Fuß über dem 
Meeresipiegel gelegenen San Gorgoniapaf, um nunmehr in die 
Sahara Ameritas, in die berüchtigte Coloradowüſte einzutreten. 

Deder und der wird die Seenerie. Die plöglid) aus dem 
Thal anfjteinenden Bergwände, die bisher fpärlich mir dunlel 
ſcheinendem Buſchwerk verjehen waren, zeigen fich nunmehr gänzlich 
fahl und nadt und bieten troſtloſe, nur durch ihr Kolorit feſſelnde 
Wände dar. Nur einzelne Eedernbüiche und Sakteen find ge- 
blieben; kaum ein Vogel, kaum ein Nagethier ift mehr zu ſehen; 
alles Leben jcheint erjtorben zu fein. 

Schnell beginnt die Bahn in die Wüſte hinabzujinfen. Bei 
„Seven Palms“ ijt die Erhöhung über dem Meeresjpiegel nur 
noch 584 Fuß, danı aber erfolgt ein Gefälle bis jogar unter 
den Meeresſpiegel. So Tiegen die Stationen Indio 20, Dos 
Balmos 254, Frinfs Springs fogar 266 Fuß unter dem 
Nivcan des Oceans. 

Weit und breit fein Baum, fein Hälmden Gras; leer 
twie eine Bettlerfanft dehnt ſich eine nadte fandige Fläche, die 
negen ihre Südende von mächtigen Wanderbünen durchzogen ift. 
Gegen Weiten und Dften wird fie von ebenfo vegetationglofen, 
rothbraunen, jeltfam zerhadten Klippen eingefaßt, die fi in 
langen Zügen fonliffenartig Hinter einander emporichieben und in 
der grellen Sonnengluth all ihre zerriiienen Linien, Schründe 


‚ angehörig, große, 


und Klüſte zeigen. Sengende Hite ift hier; die Mimofphäre bebt | 


und flimmert über der dürren Ebene und zaubert die feltfamjten 
Trugbilder. Drüben, two einzelne ſchwarze Klippen aus dem Flug— 
jande ragen, wallt ein langer Wajjerftreifen, filbern und hell, Wie 


Zug, wir find in Yuma, am Colorado, in Arizona. Um Bahn 
hofe drängen ſich Merikaner, Indianer, Chinefen, Neger und 
Vankees bunt durch einander; neben der engliſchen Sprache er- 
fchallt das Gurgeln der Yumaindianer, der Wohlflang der fpanischen 
Laute und das Kauderwelſch des Negers. 

Wie die Gebäude aller —— Städte, fo find auch 
die Häufer von Puma aus „Adobe*, fonngebrannten Lehmziegeln, 
errichtet und nur ein Stodwerk hoch. Die Wände find zwei bis 
vier Fuß did, die Dächer aus Holz, Leder: und Weidengeflecht 
gebildet und mit Erde beworfen. Berandas, roh aus Bjählen 
und Weidengeflecht gefertigt, ſchieben ſich nach allen Seiten zehn 
bis zwanzig Fuß weiter hinaus, um Schuß gegen die Sonnen: 
ftrahlen zu gewähren. Auffällig ericheinen noch die hohen Um: 
zäunungen der Ghehöfte ine Reihe von Prählen wird dicht 
neben einander vier Fuß tief eingeramımt und mitteljt vohleberner 
Riemen feit verbunden. Manche diefer „Fenzen“ haben ein originelles 
Ausfehen, zumal die an Länge und Dide ſehr ungleihen Pfähle 
nicht zu einer gleichmäßigen Höhe abgefchnitten werden. 

Eingeborene wie Weiße tragen während der Sommerzeit fo 
wenig Kleider wie möglich; erftere, dem Stamme der Pumas 
behende Geſtalten von dunkler Hautfarbe, be- 
ichränfen fich zumeift auf einen die Lenden umgürtenden Schurz; 
denft man ſich Hierzu, daß fie ſich das Geficht kohlſchwarz be 
malen und es durch einen rothen Stridy in zwei gleiche Hälften 
theilen, den übrigen Körper aber mit weißer Erde beftreichen und 
mit den Fingernägeln allerlei Streifen in dieſen Untergrund 
hineinreißen, fo wird man der Verficherung chriſtlicher Sendboten 
gerne Glauben beimeffen, wenn fie uns erzählen, es habe ihnen 


———— 


— uä — 


geſchienen, als befänden fie ſich in der Nähe leibhaftiger Teufel. 
Selbit die Kinder tragen ſchon dieſe eigenartige Bemalung des 
Körpers, wie wir fie auf unferer Illuſtration S. 540 erbliden. 
Im Gegenfag zur den Männern find bie Meiber Hein, unterjett. 
Auch fie tragen ihren Farbenſchmuck und dazu einen bis zum 
Sinie reichenden Baftrod. Won weitem gleicht eine ſolche In— 
dianerin beinahe unferen Ballettängerinnen, 


Yuma ift an der Mündung des Gila in den Coforabofluß | 


gelegen, welch Iehterer, überaus ſchmutzige Strom, deſſen Waffer- 
menge ungemein wechſelt, von feiner Mündung in den kalifornifchen 
Meerbufen bis etwa 800 Meilen aufwärts ſchiffbar ift. In 
feinem mittleren Laufe, da wo Nevada, Arizona und Kalifornien 
zufammenftoßen, iſt der Strom durchweg unfahrbar; denn Hier 


find die faft unzugänglichen Catons, die Schluchten des Colorado, | 


und niemand anders ijt hier Herrſcher, ala er. 


„In uralter Zeit — vor vielen Jahrtaufenden — herrfchte | 


ein mächtiger, weifer Häuptling über die Stämme von Arizona. 
Der Tod raubte demfelben fein Lieblingsweib, und fo tief und 
ergreifend war des Häuptlings Klage hierüber, daß Ta-vwoats, 
einer der indianischen Götter, ſich feiner erbarmte und ihm vers 
ſprach, ihm für kurze Beit ins beflere Land zu der verlorenen 
Gattin zu führen, falls er nad) feiner Rücklunft nicht mehr trauern 
wolle. Der Häuptling ficherte ihm dies zu, und nun nahm ber 
Große Geift eine ungeheure Kugel in die Hände und rollte fie vor 
dem Häuptlinge über den Boden, und wo die Kugel rullte, da 
ſchnitt fie tief in die Erde ein und bildete einen viele taufend Fuß 
tiefen Engpaß. Durch dieſen führte Ta-vwoats den Indianer zu 
jenem glüdlichen Sande, wo er fein Weib wicderfand. Nachdem 
der Gott den Häuptling zurüdgeleitet, nahm er die Schneewafler 
der Hochgebirge, die Regenſtröme, die auf die Ebenen niederfielen, 
und leitete einen furchtbaren, braufenden Strom durch den Eng: 
paß, damit niemand im Stande fei, aufs neue durch die Schlucht 
nach den Ländern der Seelen vorzubringen.“ 

So lautet die indianifche Sage über die Entjtehung der 
mächtigen Cafions des Colorado, über welche auch an den Lagers 
feuern der weitlichen Jäger und Goldgräber manche wunderbare 
Erzählung verbreitet wurde.* 

Bon dem Borhandenfein diefer furchtbaren Engfchluchten 
hatte man fchon jeit Jahrhunderten Senniniß, aber diefe war 
eine höchſt befchränkte und mangelhafte, da die ungeheuere 
Dürre, die endlofe Berrifienheit der ganzen Landſchaft, die Un: 
zugänglichfeit der Canons aller Erforſchung unüberwindliche 
Schranken entgegenfegten. Die fpanifhen Mönche und Conqui— 
ftadoren, die im 16. und 17. Jahrhundert diefen Theil Amerilas 
berührten, mußten ſich damit begnügen, einen Blid in die graufigen 
Abgründe geworfen zu haben; fie zu erforſchen oder zu über: 
ſchreiten, war ihnen nicht beſchieden. 

Auch verſchiedene Erpeditionen, die in den fünfziger Jahren 
von der Regierung der Vereinigten Staaten ausgejandt wurden, 
um den Colorado bezüglich feiner Sciffbarfeit zu erforschen, 
blieben erfolglos und erft in den Jahren 1869 bis 1872 ward das 
Eaionland zum erften Male in jeiner ganzen Länge von dem 
amerifanischen Major J. W. Powell befahren. Die unerhört 
fühnen und heldenmüthigen Bootfahrten diejes Gelehrten bilden 
eines der glänzenditen, wenn nicht das glänzendite Kapitel in der 
Erforſchungsgeſchichte des amerilaniſchen Weſtens. 

Der Colorado iſt eines der großartigſten Naturwunder. Iſt 
ſein unterer Lauf nur wenig über dem Meeresſpiegel gelegen, fo 
ift fein Dnellgebiet Hingegen im Bereiche jener Gebirgäfetten, 
deren ſchneegekrönte Häupter bis zu 14000 Fuß emporragen. 
Hier füllt den ganzen Winter hindurch Schnee, und fo weit das 
Auge reihen mag, find Wälder, Klippen und Thäler in einen 
weißen, leuchtenden Mantel gehüllt. Bringt der Sommer mit 
feinen Fenergarben den Schnee zum Schmelzen, fo ftürzen von 
allen Bergwänden Millionen von Sastaden. Zehn Millionen 
diefer Kaskaden vereinen ſich zu zehntauſend ſchäumenden 
Bächen, zehntauſend dieſer Bäche bilden hundert toſende Flüſſe 


voller Kataralte und Stromſchnellen. Hundert dieſer unbändigen 


Flüſſe bilden den Colorado. Alle dieſe Waſſer graben und nagen 
ſich Klüfte in die dürren Felslande, tiefer und immer tiefer, bis 
die Uferwände thurmbohe, unerjteigliche Klippen bilden. Diefe 


tiefen, engen Felſengaſſen heißen Cañons. Jeder Strom, jeder | 





* Nach Powell, Exploration of the Colorado River (Erforfchung des 
Eolvradoftroms). j 


Bad, alle jene winzigen, nur während ber Regenzeit beftehenden 
Wäfferlein haben ihre eigenen Cañons, fo daß das ganze mittlere 
und. obere Gebiet des Colorado ein ungeheures Labyrinth tiefer, 
in einander miündender Klüfke und Felsſchluchten ift. 

Die Cañons des oberen Colorado find von geringerer Tiefe; 
| immerhin find die Klippenwände mehr als fünfmal ſo hoch wie 
der Kölner Dom. Erſt nachdem der Strom bie rofenroth, weiß, 

rau und purpurn gefärbten felfengaffen des Marmorcaions durch— 
Yngt hat und in das große Kaiion eintritt, wird die Tiefe gewaltiger. 
Da mwogt der Fluß fechstaufend — fiebentaufend Fuß unter ber 
Oberfläche der Erde, unzugänglich im wahrften Sinne des Wortes; 
benn die taufend Fuß hoch aus Granit bejtchenden Kerkerwände 
find abfolut ſenkrecht. Dann folgen ſehr jteile Abhänge und wieder: 
um himmelhohe ſenkrechte Klippen, eine über der andern. 

Kehren wir nah Yuma zurüd, fo führt die Südpacificbahn 
tagelang durch die an Schreden nur wenig hinter der Colorado—⸗ 
twüfte zurüdjtchende Gilawüfte Nur in den Flußniederungen ift 
ſtrichweiſe guter Boden, der von den Pimaindianern ausgenußt wird. 
Das Binnenland ift auch hier unfruchtbar und dürr. Durch diefe 
Einöden unternahm im Jahre 1539 Marcos de Niga feinen bes 
rühmten Zug; durch fie drangen 1540 die verwegenen Abenteurer 
Eoronado, Pedro de Tohar, Lopez de Cardenas und Cabeza de 
Vaca (KHuhkopf genannt, beſſer aber Löwenherz heißend) bis zum 
Grand Carion des Colorado und bis über die djtlichen Grenzen 
des heutigen Neu-Mexiko binaus vor. Ihre Reiſeſchilderungen 
berichten don großen, feltfam amgelegien Städten und von 
Wunderftrömen, deren Geftade ſich drei bis vier Stunden Hoch 
in die Lüfte erheben. Kein Roman fommt der Beichreibung dieſer 
Wanderungen gleich, die mit unfäglichen Entbehrungen und Ges 
fahren verbunden waren, Vielſach waren die Abenteurer einzig 
auf den Genuß der Kakteen angewieſen, die in diefen Einöden fait 
die einzige Flora bilden, dafür aber auch in geradezu überrafchender 
Mannigfaltigfeit vertreten find. Welche Formen, Gejtalten und 
Farben der Pflanzenwelt anzunchmen überhaupt möglich ift, Hier 
bei den Kakteen Arizonas find fie zu finden. Da Hammern ſich kugel- 
runde Mammillarien an die von der Sonne durchglühten Felswände 
an, von Fauftgröße bis zum Umfange von mehreren Fuß wechſelnd 
und ftroßend von Saft. Dort bilden die aus lauter flachen ovalen 
Gliedern fich zufammenjegenden und mit flammendrothen Blüthen 
gezierten Opuntien mächtige undurchdringliche Gebüiche; im finger: 
dünnen langen Seilen hängt von den Klippen der Schlangentaftus 
herab, ferner fällt der Spihenkaktus auf, der in geringem Ab: 
ſtande den Eindrud erwedt, als ob er mit einem Spitenjchleier 
bededt jei. Da ſtehen ferner hohe Stangen von grauem Holz; mit 
Heinen grünen Blättchen, Hinter denen ſich fchrediich widerhafige 
Dörner verſtecken. 

All diefe Kakteen aber werden weit überragt von der Pita— 
haya, einer Eereusart, die eine Höhe von 40 bis 60 Fuß er- 
reiht. Ihr Stamm ift zwei und zweieinhalb Fuß im Durch— 
mefler und theilt ſich nad) oben in einige dem Stamme parallel 
laufende Hefte, jo daß ein mit mehreren derartigen Seitenarmen ver- 
jehener Rieſenkaktus mitunter, wie unfere Illuſtration S. 544 zeigt, 
| einem gewaltigen Kandelaber gleicht, um fo mehr, da die Zweige ger 
| wöhnlid) ſymmetriſch am Stamme anfegen. Große weiße Blüthen 








fchmüden in den Monaten Mai und Juni die Spitzen der Zweige 
wie des Hauptitammes und die im Auguft zur Meife gelangenden 
wohlichmedenden Früchte dienen den Indianern als Speife. Ganz 
fonderbar ift der Anblick einer mit derartigen Riefenfafteen be: 
fetten Hochebene, namentlih, wenn zwiſchen den dunfelgrünen 
gefunden Exemplaren abgeftorbene ftehen, deren verwitterte Ober: 
hant in Febhen herunter hängt, während das weiße, von der Sonne 
gebleichte Holz gleich einem Sfefett von dem tiefblauen Simmel 
fich) abhebt. . 

Finden ich in einem derartigen Kaktus jchadhafte Stellen 
und Wunden, jo Schlägt in diefen Löchern Hurtig ein Buntjpecht 
feine Wohnung auf. Eine Eigenthümlichkeit diefes auch in Kali— 
| fornien häufigen Vogels ift, daß er, wo irgend ein mit Wurm— 
löchern verjehener Stamm fid) findet, dieje Wurmlöcher mit Eicheln 
verichließt. In diefen Eicheln entwickeln ſich mit der Jeit Maden, 
die nun ihrerfeits wieder dem Spechte zur Beute fallen, der ſich 
jo im wahriten Sinne des Wortes eine Borrathsfammer groß: 
arligiten Stiles bildet. 
| Zweihundertfiebenundvierzig Meilen öftlih von Yuma ift 
Tucſon gelegen, die zweitältefte Stadt der Vereinigten Staaten, 





— — 


Bereits im Jahre 1560 gründeten bier die Spanier eine Nieder: | der indianiſchen Bevollerung von Arizona nur 30000 Köpfe 
lafjung; fie hat ſich, namentlich feitdem die Eifenbahn den Ort beträgt und davon die zufanmen 25000 Seelen zähfenden Moquis, 
erreichte, zu der gröften und mwichtigiten Stadt Arizonas empor: Pimas, Maricopas, Mohaves, Chimohuevis, Pavayos und Yumas 
geihwungen. In ihrem Ausſehen eine echt merifaniiche Stadt, friedlich gefinnt find, fo haben fich dagegen die 5000 Apachen 
iſt ihre an 10000 Köpfe ftarke Vevöfferung vorwiegend aus mit um fo bfutigeren Pettern in die Chronik von Arizona ein- 


Merikanern und Ans 
dianern zuſammenge⸗ 
fegt; auch eine Anzahl 
Deuticher ift vorhanden, 
die im Sommer 1881 
einen eigenen Turn—⸗ 
derein gründeten. Das 
Intereſſanteſte, was die 
Umgebung von Tueſon 
bietet, ift die zchn Mei— 
fen ſüdlich gelegene 
Miffion San Xavier 
del Bac, das fchönfte 
und größte jener Bau: 
denfmäler, bie von den 
ſpaniſchen Mönchen in 
diefen Landen errichtet 
wurden. 

Weiter öſtlich an der 
Bahn liegt Benſon und 
füdlich von Hier find 
die berühmten Sil- 
berminendiftrifte von 
Zumbftone zu finden, 
wo jahraus, jahren 
Tanfende von Händen 
die Schahlammern der 
Erde durchwühlen. Die 
mineraliihen Schäbe 
diefes entlegenen Er 
denwinlels wurden im 
Februar 1878 durch die 
Gebrüder Scheiffelein 
entdeckt. Allen War 
nungen ihrer Freunde 
troßend, daß fie in 
diejen durch Mpachen 
höchſt unficheren Regio⸗ 
nen ſchwerlich Reich— 
thümer, ſondern höch— 
ſtens ihren „tomb- 
stone“, ihren Grab: 
ftein, finden fünnten, 
legten die Abenteurer 
den Grund zu dem 
Städtchen, welches fie 
in danfbarer Anerken: 
nung der ihnen ge— 
machten Prophezeiung 
„Zombjtone" benann- 
ten, ein für den Dit 
immerhin recht charal⸗ 
teriſtiſcher Name, da 
hier von Minern und 
Cow⸗ Boys (Rinderhir⸗ 
ten) unzählige Schieße⸗ 
reien und Mordthaten 
verübt worden find. 
Dem Ortsnamen an: 
gemeſſen waren aud) 
zur Beit meiner An: 


'onau 32" 





aezeichnet. Neben den 
Sioux ift ihr Stamm 
der gefürchtetfte uud 
ruheloſeſte aller nord: 
amerifanifchen India 
nerſtämme. In vers 
ſchiedene Heinere Ab— 
theilungen zerfallend, 
wie die Tontos, Chi— 
ricahuas, Gohoteros, ' 
Mefcaleros u. ſ. W., 
leben fie auf einem 
unermehlichen Gebiete 
zerjtreut, und die vie» 
len. louliſſenartig Hin 
tereinander auffteigen- 
den, wenig gelannten 
und waſſerarmen Ge 
birgäzüge diejes Gebie⸗ 
les mit ihren wilden 
Schluchten und Paſſen 
bilden den unbezähm:- 
baren Apachen will 
fonmene Schlupfwinfel 
und Bertheidigungs 
pläge. So find nament- 
lid} die Schwer zugäng 
lichen Ehiricahuns, Hu⸗ 
achuca⸗ dos Gabezas 
und Dragoonberge voll 
bon graufigen Remi— 
niscenzen an die Blut- 
hereichaft der Häupt: 
linge Cochiſe, Mangas, 
Colorado, Vittorio und 
Geronimo. Aenßerſt ge 
wandte Reiter, muthig, 
entichlofien und ver- 
ichlagen, unempfindlich 
fir Hunger, Ermüdung 
oder lörperliche Schmer⸗ 
zen, mit Muskeln vers 
fehen wie von Stahl, 
dabei araufam wie 
Hyãnen, find die Apa 
den ſeit Jahrhunder 
ten die wahre Geißel 
für ganz Arizona, Nen- 
Merifo und Nord- 
Merito und haben 
aanze Länderftriche ge 
radezu entvöllert. Der 
jeit Generationen herr⸗ 
ſchende Guerillalampf 
zwiſchen Weißen und 
Apachen wird wahr- 
Icheinfich erft dann fein 
Ende finden, wenn der 
lebte Apache jein Leben 
inter dem Revolver 
eines Bleichgeſichtes 


Diefenkakleen in Arljona. 


weſenheit die Namen einiger Bierfalons gewählt, wie „The | verbaudt Wie erbittert und grauſam diefer Guerillafampf ge— 
Coftm® (dev Sarg), „The Poison-box* (die Giftſchachtel), führt wurde und noch wird, gebt daraus hervor, daß die 


„Ihe Tombstone-gem“ (der Grabſteinſchmuck) ꝛc. 
erſcheinende Zeitung hatte als Titel das Wort „The Epitaph“ 
(„Die Grabſchrift“) angenommen, 


Eine Hier | mexilaniſche Nenierung in den vierziger Jahren für jeden Npaden> 
ffatp einen Preis von 100 Dollars (425 Marf) bezahlte. Die 
Schädelhänte von Frauen ftanden mit 50, die bon Kindern 


Daf die Befürchtungen der Freunde der Gebrüder Scheiffelein mit 25 Dollars im reife. Derartige Prämien wurden vom 
wicht unbegründete waren, beweift die ganze Geichichte von Arizona, | Staate Chihuahua noch im Jahre 1880 gezahlt, als die unter 
deren jede Seile mit Blut geichrieben ift. Wenngleich audy die Zahl Führung des Oberften Terrazas jtehenden mexilaniſchen Freiwilligen 





Aus aftfpanifher Zeit, 
Motiv aus Arizona gezeichnet von R. Cronan. 


° 546 


die Sfalpe des Apachenhäuptlings Vittorio und feiner 77 Krieger 
in feierlichem Triumphzuge in die Hauptſtadt Chihuahua ein: 
brachten. 

Eine Hauptſchwierigleit in der Bekämpfung der Apachen be— 
ſtand darin, daß die Rothhäute, wenn von den Truppen des 








o— 


und der Union in der Apachenfrage gemeinfhaftlihe Sache gemacht 
und ihren Truppen, wenn diele in Verfolgung von Apachenhorben 
begriffen waren, das Betreten des angrenzenden Staates freigeftellt 
haben, ift eine entjchiedene Wendung zum Befjeren eingetreten und 
dürfte mit der im Sommer 1886 erfolgten Gefangennahme des 


einen Landes verfolgt, ftet? auf das Gebiet des benachbarten | Häuptlings Geronimo und feiner Verpflanzung nad) Florida einft- 


Staates überiraten, wohin ihnen dann die Soldaten nicht folgen 
durften. Erſt neuerdings, nachdem die Regierungen von Mexilo 


Blätter und Blüthen. 


* aifer Ziſheſms II. nordiſche Aeerſfahrt. (Mit Illuſtration 
als der reife Kaiſer 
Nord-Dftfeelanals beimohnte (vergl, „Bartenlaube* 1887, ©. 435). Mitte 


Juli d. I. prangte die Stadt abermals im reichen Feitihmud, als es 


alt, den Entel Wilhelms des Siegreihen, Kaiſer Wilhelm II, beim | 


nteitt feiner Mecrfahrt nah Rußland und den nordiſchen Höfen zu 
begrüßen, md wie das Bolt vor Jahresfrift den greifen Kaiſer mit 
jubelnder Begeifterung empfing, fo brachte es jept auch dem Enlel und» 
gebungen der Liebe umd des freudigen Vertrauens entgegen. 

Des Kaiſers Bruder Prinz Heinrich, der ftellvertretende Chef der 
Hbmiralität Graf von Monts, Bizeadutiral von Blanc, die Eontreadimirale 
Kuore und von Kall, die Spihen der Eivilbehörden x. hatten ſich am 
Morgen des 14. Juli zur —— auf dem Bahnhofe eingefunden, 
wo die Ehrentompagnie des Serbataillons Aufftellung genommen hatte 
und Manuſchaften des Füfilierbataillons eine Ktetie gegen die nadı 
Tauſenden zählende Volksmenge bildete, Der Hofzug traf bald nadı 
4llhe ein und der Kaifer, weicher über ber Adniralsunirorm das Drange 
band vom —— Adler trug, umarnue den Prinzen Heinrich und be 
grüßte die zum Empfange anweſenden hoben Dffiziere ſowie die Ver— 
ireter der Stadt. Als er dann die VBahnhofätreppe hinabſchritt, ſpielle 
die Muſit des Seebataillons die Nationalbumne. ü 

An dee Stadt wurde feinerlei Aufenthalt genommen, and nicht im 
Schlofe, über dejien inneren Hof die Wagen nad dem Hafen fuhren. 
An lehterem herrichte ein überaus reges Leben; die Zuſchanermenge war 
eine unüberiehbare und das Schaufpiel, welches fich derjelben bot, in der 
That ein impoſantes. Als der Kaijer in das Boot ftieg, welches ihm nad) 
der Roddampferiaht „Dohenzollern“ überfegen jollte, erſchütterte 55* 
der gewaltige Donner der ſalutirenden Geſchütze die Luft, und von Bord 
wie von den Ragen jedes einzelnen Schiffes, weldes das Kaiſerboot 
paffirte, erbraufte ein ac feemänniiches Hurrah. Bereits um 
11%), Ute warf fich die Jacht „Hohenzollern“, den Kaifer an Bord, von 
ber Boje los und jehte ſich in Bewegung, gefolgt von den beiden 
Divifionen der Torpedoflottille, zwölf ſchwarzen Schichauboten, welche 
bis dabin in der Binfer Wucht verborgen gelegen Tatten und nun gleich 
unheimlihen Eeeteufeln heranfanften, um der kaiſerlichen Jacht das 
Geleit bis zu dem draußen wartenden Geſchwader zu geben. Bei der 
Dafenbefeftinung von Friedrichsort wurde die Flotte nochmals jalutirt — 
dann ging's hinaus aufs offene Meer, in rafcher Fahrt dem Ziele entgegen. 

Heute wijlen wir, bat die Fahrt eine alüdlihe war, da bereits am 
Nadyınittage des 19, Juli das deutſche Geſchwader in Sronftadt einlich 
und Kaifer und Kaier ſich begrühten, in Freundſchaft und — hoffen 
wir's! — zu dauerndem Frieden, 2* 

Berlaſſen. (Dit luftration S. 50 und 521) Unter den vielen 
—— tiroliſchen Bauernlebens, welche München befigt, nimmt neben 

ve ger Mathias Schmid, deſſen Lebensbild und Porträt die „Barten« 
laube! im Aalıgang 1884 (5.606) brachte, unftreitig den erften Blap ein, 
Indeß hat er ſich einen fo gar anderen Wirfungsfreis ausgeſucht als jener, 
da er mit dem Dölfacher Meifter und dejjen liebenswürdigem Idealismus 
laum jemal& fonfurrirt. Denn nicht unter den jonnigen Halden des Puiter- 
tales als mohlhabender Bauernjohn, der niemals irgend melde Noth 
gefannt, fondern im rauhen Paznarın unter Noth und Kämpfen aller Art 
aufgewachien und geftählt, zeigt er uns mit einer gewilfen Vorliebe die 
Nachtjeiten dieſes Tiroler Lebens, den ewigen Kampf mit der Natur, die 
North der Armen und Heimathlofen, den falten Egoismus der Reichen 
oder derer, die es werben wollen. Eine folche Scene führt uns fein Bild 
„Berlaffen” vor, wo ein hübicher Bauernburfche, der um einer reichen 
Braut halber die arıne Geliebte treulos verlaſſen, diejelbe nun unver 
muthet auf der Höhe eined Joches vor einem Bildftod niedergejunfen 
trifje und ſchuldbewußt die Augen niederichlägt, während die Braut, welde 
mit ihm die Bertwandien befuchen gewollt, den Zulammenhang zwar nicht 
Tennt, aber doch jofort ahnt und den Burſchen unſchlüfſig und erichredt 
Iosgelafien Int. Sind ſchon die Eharaltere dieies hochträgiſchen Stoffes 
vortrefilich gegrifien, ift befonder® die arme Verrathene, die offenbar aus 
dem Thal auswandern gewollt und nun bier unter der Laft ihres Nammers 
zuſammenbrach, mit erihütternder Wahrheit gegeben, jo unterftügt auch 
die —* in der ſich die Scene abipielt, die Stimmung des Ganzen 
meilterhaft, Es ift ein düſterer Spätherbftiag, wo der erfte Schnee ſchon auf 
ben Bergen im Dintergrunde gefallen, der auf dem Joch ohnehin immer 
braufende Wind hat darum faum eime dürftige Spur von Vegetation 
mehr übrig gelaſſen. Das talte grelle Licht, welches auf die Verlaſſene 
fällt, der mit Sturm und Regen drohende Himmel, der ſich über ihr 
wölbt, vollenden den unbeimlicdhen Eindbrud dei Ganzen, das mit finfterer 
Schwere auf uns laftet. Dabei hat Schmids Zeichnung immer_ einen 
roßen Bug, wie fein Kolorit zwingende Stimmung; es ıft eine Energie 
u jeiner Darftellung, die alle Meinen Reize erbarmungslos unter den 
Tiſch wirft, nur um bie Totalwirtung um fo ichlagender zu machen. Wie 


.) Bor einem Jahre erft erlebte Kiel denfwürdige „Saifertage”, | 
Wihelm 1, Anfang Juni der Grundſteinlegung des 





weilen Ruhe und dem Lande die Ausſicht verſchafft worden ſein, 
nunmehr in Frieden der Weiterentwidelung entgegen zu gehen. 


vortrefjlich iſt nicht das Vermwöhnte, Weichliche der reihen Bauerntochter 
rer ober der falte Egoismus des fräftinen Burſchen, der weit mehr 
erger über das undermuthele Zuſammentreffen empfindet als Rene, und 
dem man die Bauernſchlauheit jofort anfieht, 
BGegen den Dur! Was ift das Beſte gegen den Durft? Die 
wird jept oft und am viele heramtreten; dem bie Hundstage ftehen bevor 
und fo windig fühl wie bis jeßt wird der Sommer nicht bleiben; bie 
Die wird ſchon fommten, wird ſchon erſchienen fein, wenn diefe Heilen 
in die Hand unferer Lefer gelangen. Die Frage wird aber alsdann 


' vericdyiedenarrig beantwortet werben. 
„Das Belle ift das Waſſer!“ ruft einer, ber mit griechi Meilen 
auf verirautem Fuhe fteht und den alten Spruch recitixt, ir möchten 


an der Bebeutiamfeit desfelben nicht rütteln und fo manchen rathen, 
lieber mehr Waller als Wein, Bier oder gar — Schnaps zu trinken. 
Das bejte Mittel, um in der heißen Jahreszeit den Durft zu löſchen, 
22 das Waſſer nicht, Durch reichliches Waſſertrinlen werben die 

chweißdruſen zur erhöhten Thätigleit angeregt; dies iſt wicht angenehm 
und Schwißen erzeugt wieder Bunt. „Ein las Bier!” ruft ein anderer, 
und ein Touriſt füllt feine „Feldflaſche“ mit Rothwein. Sie beide haben 
ebenjo wenig ung wie der Handwerlsburſche, der ſich fein Bläschen 
Kornbranntwein lobt, Allohol ift ein Reizmittel, das die Blutgefäße er- 
Ichlafft und deſſen üble Folgen im der Hibe ſich bald bemerkbar machen. 

„Ein Glas Limonade!“ ruft eine Dame, und in der That bat fie 
beinahe das Richtige getroffen. Mar muß ja immer bei Frauen au— 
fragen, wenn man ih einen guten Rath holen will, Mber die Dane 
trinkt jühe Pimonade und der Aid dwädt die Wirkung des febönen 
Getrãules ab; er entwidelt im Körper Wärme umd erzeugt wieder Durft. 

Das befte gegen den Durft ift eine ſchwache Sänre, gleichviel welche. 
Wir geben natitrlich Fructfäuren den Vorzug und unter ihnen ſteht obenan 
die Eitronenfänre, die ja in feiter Form in jeder Apothele gelauft werden 
faun, Für bie Zeit der jauren Gurke empfehlen wir barum ber Ber 
achtung der durftigen Leſer auch — faure Yimonade, * 

Beidem DPampfbammer. (Mit Jlluftration 8.524.) In einen jeiner 
reizvollen techniſchen FFreuilletons Biber M, M. v. Weber eine keunzeich- 
ende Scene aus der Erfindungsgeichichte des Dampihainmers. In der feiner 
Zeit gröhten Schmiedewertftätte der Wett, bei dem berühmten John NRasmuth 
au Batricroft, war im Fahre 1842 — fast gleichzeitig mit einer ähnlichen 
Konftruftion, die Bourdon und Scheider in Ereugot erdacht batten — ein 
freilich noch ſehr primitiver —— aufgejtellt worden, der Embryo 
eined Dampfhammers, möchte man fast jagen, denn das ganze Ding beftand 
nur aud einem alten Dampfeylinder, der mit feinem Kolben einen ſchweren 
Eifenblod hob und wieder fallen lieh, wenn man dem wirkenden Dampfe 
das Eniweichen geftattete. Es war das Ganze nicht einmal neu, ſchon 
James Watt hatte faſt ſechs Jahrzehnte früher (1784) ein Patent auf diejelbe 
der nenommen, aber ed war doch thatjächlich der erite Dampfhammer, 
der wiriich in Betrieb gefeht wurde, und machte daher cin gemwaltiges 
Nuffehen in England, Da famen nun eines Ihönen Tages die Einen- 
thümer eines großen Eilenwerts, um fich die Ronftrultion in der Nähe 
anzufehen und auch gleich eine Beftelung auf einen Dampfhammer von 
gewaltigen Dimenjionen aufzugeben. Die Herren waren jedoch tüchtige, 
wohlerfahrene Fachleute und erfannten Schnell, daß die Erfindung noch im 
den Kinderfduhen ftedte; das Schmieden ging vor allem zu langiam, 
das Heben des Kolbens erforderte zu viel Zeit, die Schläne folgten nicht 
ſchnell genug aufeinander, jo daß das Schmiedeſtück nicht während ber 
Weißalühhitze, auf deren Ausnütung es vor allem anlam, vollendet 
werden konnte. Sie waren daher im Begriff, mit dem Ausbrud des 
Bedauerus, daß fie ihre Banknoten nicht im —— laſſen fonnten, 
wieder abzureiſen, als John Nasmyth ausrief; „Legen Sie Ihr Geld nur 
für uns bei Seite — wir werden es doch und noch zehnmal mehr dazu 
von Ahnen erhalten.“ 

Und in überrafchend Kurzer Zt formte ſich unter den Händen der 
gneiftvollen Angenienre von Patricroft wirklich die Erfindung zu einen 
vollendeten Ganzen. Bor allem gelang es Nobert Wilfon, die automatische 
Steuerung des Hammers Br finden: im Auf- und Niederjteigen öffnet 
und jchlieht der riefige Fallblock fich jelbft verſchiedene Bentile und regelt 
dadurch deu Huftrom des Dampfes, der ihm feine Bewequng verleiht, 
Bald lam man auc darauf, ben hochgeſpannten Dampf, der den Fallblock 
hebt, oberhalb desjelben eine zweite Verwendung zu geben; der Dampf 
mmÄte bier wie das Pulver auf ein Geſchoß wirken und den malligen 
Block mit verzehnfachter Gewalt auf das Werkitüd zurüdichleudern. Kaum 
fünf Monate nach dem erjten Beſuch jener Herren wurde dad Wort des 
Meifters zur Wahrheit; der Dampfhammer war der unentbehrlichfte Be- 
hilfe der Eifenindustrie geworden. 

Seitdem hat das merfwürdige Werkzeug, das vielleicht eine der eigene 
artigften Erfindungen des Jahrhunderts des Dampfes ift, zahlreiche und 
aum Theil ſeht ingeniöfe Berbefferungen erfahren, ohne daß es darum die 
charatteriſtiſchen Merkmale, die ihm Nasımyth gegeben, verloren hätte, 


—A 


— 547 


Unſere Zeichnung giebt ein Mares Bild der ganzen Konſtruktion; ein 
mãchtiges Eifengerüjt trägt hoch oben den —— in welchem 
ber Kolben mit dem gewaltigen Hammerblod, dem „Bär“, ſich auf und 
nieberfchiebt; feitwärts auf einer Plattform fteht der Schmied, den Griff 
der „Steuerung“ in der Rechten — jo haarſcharf vermag er mittelit ihrer 
nicht nur die Zahl und die Wucht der Schläge, fondern auch bie Höhe 
bes Hubes zu 5 daß er eine Nuß auffnaden lann und ben Kern 


nicht Bee 8 Kaiſer Wilhelm I. die Kruppichen Werte bejuchte, bat 
man den hohen Herrn, feine Uhr auf den Ambos zu legen: der taufend 
Gentner ſchwere Block jaufte herab und blieb einen Millimeter über dem 


Uhrglas ftehen, ohne dasfelbe zu beichädigen. 

Ohne den Dampfhammer würde das Schmieden vieler Werkftüde 
der modernen Induſtrie ganz unmöglich jein, die gewaltigen Schrauben 
und Wellen der heutigen Riefenbampfer, die großen Pangzerplatten, die 
ſchweren Gußftahlrohre der Artillerie find nur durch ihn ausführbar ne 
mworben. Während fi die Dimenfionen der Damp 
einen Seite ins Gigantiſche gefteignert haben — auf den Eifenwerten in 
Creuzot befindet fich ein Hammer bon 1800 Eentnern Bärgemicht und bei 
Krupp arbeitet ein Hammer von 1000 Eentnern Gewicht bei einer » 
höhe von drei Metern — hat fich neuerdings auch in größeren Schmiede: 
wertitätten der Dampfhammer, fait möchte man jenen Koloſſen gegenüber 
fagen: en miniature, fein Bürgerrecht verſchafft. Der Aufwerfhammer 
des Amerifaners Bradley vollführt z. B. mit einem Heinen Hammer bon 
12 bis 100 Kilogramm Gewicht über 200 Schläge in ber Minute und 
eignet fid) ganz vorzüglich für den Betrieb in der Werkitätte. So bient 
auch bier der Dampf feiner großen Kulturmiffion: der Entlaftung der 
u - von der ſchweren phnliichen Arbeit. 

Keinrih Semfer +. iederum hat das afrifanifhe Klima ein 
Opfer gefordert: Heinrich Semler, der erft vor etwa drei Monaten in 
den Dienft der ojtafrifanischen Gefellichaft getreten war, ift am Fieber 

ftorben. Unferen Leſern ift Heinrih Semler fein Fremder. Bor 
Sahren erfhien von ibm ein Artikel über das Alden-Obſt — das 
amerifanifche Dörrverfahren, in ber „Bartenlaube". Damals wollte 
Semler bahnbrechend wirken, die in PMmerita gefammelten Erfahrungen 
den beutichen Obftzüchtern mittheilen und in Deutichland neben der DObjt- 
zucht eine Obftinduitrie ins Leben rufen. Er hat auch zu diejem Amerde 
ein auägezeichnetes Werk gefchrieben über „Die Berwerthung bes Obſtes“ 
(Bismar, Hinftorffiche Hofbuchhandlung), welches ein Mufterwerk genannt 
werden darf und weldies wir oft und warm empfohlen haben. 

Als jpäter Deutfchland feine Machtſphäre in fernen Welttheilen er- 
weiterte, als endlich beutfche überjeeiihe Kolonien begründet wurden, 
überrafhte uns Heinrich Semler mit einem Meifterverfe „Die tropiiche 
Agrikultur”, en in ausführlicher zufammenfafiender Werfe die Kultur 
fämmtlicher tropiicher Gewächle behandelt. Wer diejes Wert geleien, dem 
mußte es Har fein, daß Semler wie faum ein Anderer dazu 
in der fchwierigen Frage, wie in Afrifa Plantagen 
bahnbrechend zu wirken. Die Deutſch- oftafritaniiche 
ihn für diefe Aufgabe zu gewinnen. Leider fonnte er dem Klima nicht 
troßen; 
des beu hat er ſich den Dank der Nation verdient. 

i ibm die Erde! ⸗ 


n mertag. (Mit Illuſtration 529) Da liegt bie jpiegel- 
* Wa ſſerfläche * Sees uns ae Bis eg du —* 


gründen feien, 


inaus tanzen die goldenen Sonnenlihter darauf, und in ber ſchattigen 
einen Landungsbucht fpiegeln ſich Bäume und Sträucher fo Har in den 
futhen, daß es iſt als tauche der Blid in einen andern, noch duftigeren 

d hinab, Die Dorffinder haben dieje Bucht längſt fchon als Badeplay 
eingeweiht; furdtlos tummeln fi bie fühnen Heinen Naturſchwimmer hier 
in den lauen Fluthen. Nur Klaas, das einzige Söhnen der reichten 
jungen Bauersfrau, ift ganz aus der Art geichlagen; er fürchtet jich vor 
dem Waſſer! Vergeblich hal ihm ein freundliches Rachbartind die helfende 

and entgegen, vergebens verſchwendet die Mutter Liebfofungen und 
prechen; er Manmert fich feit an ihren Arm und blict mitrauiſch 
hinaus nach dem Elemente, das „teine Ballen“ hat. Doch vielleicht wird 
er fih noch dazu herbelaien, zaghaft mit den diden Füßchen ein wenig 
im Baffer zu plätihern, und das ift doch wenigjtens ein Anfang; mehr 
freilich wird heute wohl nicht erreicht werden. 

Blumenmweiße zu Mariae Himmelfahrt. (Mit Illuſtration S. 533). 
Unfer Bild ftellt eine Scene dar, wie fie fih am 15. Auguſt zu Mariae 
Himmelfahrt, einem hohen Feiertage der Katholilen, vornehmlidy im babe: 
riſchen Scwabenlande, aber aud) in anderen Gegenden abipielt. Die 
Kinder, meift Mädchen in Feittagslleidung, find von nah und fern herbei- 

eeilt, um vor der Mutter Gottes zu prangen“. Die Heinen Hände 
Önnen die mächtigen Blumenſträuße faum umfaflen, denen auch bie 


Feldes beigebunden find, um an ihnen die fegenfpendende | 


chte des 
Sr ber Kirche vollziehen zu laſſen und fie als Talismane gegen alle 
erdenklichen rein nadı Haufe zurkdzutragen, 
vollzieht der Wriefter die Segnung, indem er aus dem bon einem Chor- 
Inaben gehaltenen Beden geweihtes Waſſer um ſich iprengt, Ueber der 
ormatgefämädten Geitalt des Geiftlichen glimmt mit matten Schein die 
„ervige Lampe“ und zu beiden Seiten des Hodaltars fällt das volle 
Sonnenlicht ein und durchbricht jiegreih wie ein Gruß von oben bie 
buftenden Wollen, weldje dem filbernen Weihrauchfaffe entfteigen und 
über die ga BEE Gruppe dahinziehen. — 

Der 4 ngsdort in Münden, Ueberall in Deutſchland find, 
nach dem in München gegebenen Beijpiel, nabenhorte entjtanden, deren 


nimer aber auf der | 


‚jelbaeiie ————— ein rüftiger Kämpfer für die Hebung 


Bor dem Altar | 





eiftige Anregung, alfo mit einem Wort: ern! vor den elenden 
| der Großſtadt, welche fo viele Arbeiter ſchon in der 
eriten Jugend dem moralifchen Ruin I Ihren. 

Die Mittel find auch hier, wie beim Knabenhort, bie allereinfachiten: 
ein geräumiges helles Lokal nahe den Jfarauen, ein Stüd Brot und ein 
Glas Bier um die Vefperzeit. Aber hierher, wie in den Knabenhort, 
drängen fih die armen Jungen, um in dem Winters gut geheigten und be- 
feuchteten Raume, unter den Augen „ihres Deren Raths Jung“, den alle 
wie einen Water lieben, im herzlichen Verkehr mit ihm und feinen Ge— 
hilfen fo frohe Stunden zu verleben, wie ihre glüdliher fituirten Alters» 
genoffen in der eigenen Familie. Eine ftattlihe Bibliothel von se 
werfen, Umnterbaltungsblättern und Qugendfchriften beglüdt die „Leies 
raßen”, die mit aufgeftüßten Köpfen daſihen, taub gegen alles, was rings 
umber vorgeht; andere bemächtigen ſich ter Dominos, Schachbretter und 
Schachſpiele, der Beichenftifte x. Um 5 Ubr aber wird alles bei Seite 
gelegt, denn da hält entweder Herr Rath Jung oder ein Lehrer der 


| bielen hiefigen Schulen oder ein fonftiger Freund der Auftalt dem jungen 


Auditorium einen feinen ee angemeffenen Rortrag, der mit 
geipannter, lautloſer Aufmertfamleit aufgenommen wird. Bei meinen 
neulichen Beſuche erllärte den Knaben eben ein junger Militärbeamter 
ihre künftige el indem er ihnen bewies, wie die Forderungen 
von Gehorſam, Pünktlichkeit und Meinlichleit nicht eine Plage, fondern 
ein Gewinn fürs Leben feien. An einem fpäteren Sonntag wurde „Die 
Glocke“ von Schiller vorgelefen und erklärt, aber immer auf die Gemüths- 
wirfung berechnet, indem alles von ben Leitern ber Anftalt vermieden 
wird, was die Lehrlinge geiftig zu ſehr heraufihrauben und mit ihrem 


' Stand unzufrieden machen fünnte, 


Dafür iſt der Pilege des Talentes, welches in allen Ständen be» 
glüdend wirkt, ein weiter Spielraum gelaffen. Es wurden am fpäteren Abend 
oberbanerifche Gedichte v. Stieler und Kobell deflamirt und mit fchallender 
Heiterleit aufgenommen, dann lam die Mufif an die Reihe, und nun vers 
Härten fich die Geſichter. Bücher und Spiele wurden keiwilig bei Seite 
gelegt, und mit wahrer Andacht hörten alle ben Vorträgen ihrer Kameraden 
u. Der oberbayeriihe Stamm iſt ſehr mufitbegabt; viele Bauernburichen 
Poieten Bither, ohne eine Note zu fennen; jo genügte auch hier, nachdem 
die Inſtrumente angeſchafft waren, eine —— Unterwerfung, um das 
größte andern zu verurſachen. Ein luftiger Tanz, von einem Schloffer- 
und einem Drechölerlehrling anf zwei Zithern flott gefpielt, fand raufchenden 


Beifall, dann holte ein Heiner Kaminſeger feine Geige, ein riftſeher die 


' Hlarinette, und dazu alloımpagnirte auf der &uitarre der junge Lehrer einer 


Menſchenfreundlichteil feine 


rufen war, | 
1! 
Vefelifchaft wußte | 





fegensreihe Wirkungen ſich bereits deutlich fühlbar machen. Nun ift in 


der bayerischen Hauptjiadt ein weiterer — geihan worden, um die 
jungen Lehrlinge ebenfo vor dem fittlichen Werberben zu bewahren wie 
—— die Schulfnaben, und der durch edeldenlkende Männer gegründete 

ehrlingshort verdient, in den weiteften Sireifen dringend zur Nach— 
ahmung empfohlen zu werden, demm in ihm finden die jungen Leute für 
ben Sonntag 


mittag einen gemüthlichen Aufenthalt, Gefelligfeit und 


‚ Wolff neben jüngeren Talenten, und da jeder dieſer Dichter feine 


biefigen Schule, welcher nad ſechs überlafteten Mocentagen aus edelfter 
bolungszeit dem Lehrlingshort widmet! 

Es braudit fein weitered Wort, um eim folches Unternehmen an+ 
zupreiſen; jeder kann fich felbft jagen, vor welchen Gefahren betvahrt, 
um welche Güter bereichert die jungen Menfhen abends um adıt Uhr 
das ihnen jo Tiebe Erholungsfofal verlafien, mit der ſrohen Auaficht, 
nach abgethaner Arbeitäwode wieberfehren zu dürfen, 

Feder aber ſollte auch trachten, in feinem Sreife, in feiner Stadt 
einen ähnlichen Lehrlingshort gründen zu helfen, denm es ift unzweifel 
haft, daß nur folche Anftalten vermögen, die ſotialen Mikftände an der 
Wurzel anzugreifen. azu beizutragen ift patriotiiche Pflicht — bie 
danfbaren und glüdlichen Gefichter der armen ungen zu betrachten aber 
ein jo großes Vergnügen, dab darin allein ſchon reichliche Dergeltung für 
alle aufgewandten O fe liegt. . A. 

Ein einfaches Mittel, die Temperalur des nächſten Ru u voraus 
zu beftimmen, wurde ſchon vor längerer Beit von Dr. AM. Zrosfa an+ 

egeben, Neuerdings veröffentlicht derjelbe in der „Naturwiſſenſchaftlichen 
ochenichritt" eine berbeilerte und vereinfachte Regel. Diefelbe lautet: 
Die Temperatur, melde das feuchte Thermometer eine Stunde vor 
Sonnenuntergang im Freien und im Schatten anzeigt, it, wenn man 
von Abweichungen bis zu 1° C. als unerheblich abjieht, in 80° aller 
Fälle gleich derjenigen Temperatur, welche basjelbe Thermometer troden 
um 8 Uhr des nächſten Vormittags im Schatten zeigen wird." Danad) 
braucht man nur jein Thermometer eine Stunde vor Sonnenuntergang 
mit einem in veinem Waller getränften Heinen Lappen von SRoufelin 
Tall oder feiner Leinewand an der Duedjübertugel einfach, aber an- 
are zu ummideln und den Lappen mit etwas Binbfaden daran 
eftzufhnüren, Hierauf wird das Juſtrument im freien und im Schatten 
ausgebängt, und die Temperatur, die es anzeigt, ift die mittlere Tempe» 
ratur des nächften Tages. Auf 20%, falicher Prophezeiungen muß man 
fih allerdings auch bei diefem Wetterpropheten gefaßt maden, . 
Alage- und Zrofifieder deuffher Aichter. Der Tod unferer Kaifer 


' Wilhelm I. und Friebrich III. hat natürlich) eine Reihe von Gedichten 


„Lichterftimmen ans Deutihlands Trauertagen* (4. März, 15, Juni 1888) 
efammelt worden find (Dortmund, Th. Garmelche —— Es 
Inden fih unter den Verſaſſern gefeierte Dichternamen wie &. von 
mypntor, Fr. von Bodenftedt, Felix Dahn, Ernft von Wildenbruch, Julius 
gen« 
art nicht verleugnet, jo it alles Eintönige in der Meinen Sammlung ber 
mieden und in ben verſchiedenſten Tonarten ertönen die Klagegeſänge, 
welche ein Echo im Herzen des fchwergeprüften deutichen Volles gefunden 
haben. Auch die Sänger der „Bartenlaube” FFriedrih Hofmann umd 
E. Heder find in der Sammlung vertreten, T 


feiner Birlefkaflen. 
(Anontme Anfragen werden nit berüdfictint.) 
RK. 9, in Freienwalde, Ein arık 
das in ber Werlagöbanblung vom er. 
eitellang it fläche und 


€ 
ſchienene v 8. de Ela Befpe y 
en ©. , tönigl. He) er. 
ka Raikrö m X andere Abtilbungen erläutern ben 


wart; Bilbniße Tert. 

K. ©, in Mreield, Wir babem zwar fein Porträt Haller Friedrichs wie bad Haijer 
Sa a Taf 0 vn Sr Sf aaa 
erichiewene J nt a 
als Himmerichmud Wersormbung finden ee x = — — 


hervorgerufen, von denen einige der ragen 3 unter dem Titel 


r. if 





— 38 — 


Allerlei Kurzweil. 


Sieroglyphen. 


Bilder · Zathſet. 


Die rathſeſhaſte Scheibe. 





r 











Iu biefer Aufgabe stellt jedes Bild den Au— 
—— feines Namens dar (Ragel = N, 
Sibel = Su, J. w.). Es find nur die Konſo— 
nanten durch Bilder Degehaeet; werden dieſelben 
aber durch die richtigen Bofale ergänzt, fo ergiebt 
die Loſung eine befannte Sentenz. 


Silden-Mäthfel. 
ı|2 
3 4 


Die Sn fo durch je eine Silbe zu 
erfeßen, daß 1 2 eine Perfon aus einem Ggetbe- 
ſchen Roman, 1 4 eine Juſel bei Schledwig, 
3 2 eine Perfon aus einer befaunten Ballade 
von Schiller und 3 4 einen Öfterreichiichen Luſt⸗ 
pieldidytier bezeichnen. 


Diagonal-Mäthfef. 


1 Quadreue, I. Quadrat, 


eine! 
sn 91 


414156 
4 12 107 
1, Quadrat. 


Die Zahlen in der Figur find durch eutſprechende Buchſtaben au 
erfegen, und zwar jo, dal; die erfte Diagonale (von oben nach unten) 
„eine enropäiice Inſel“ ergiebt, die zweite (vom unten mach oben) 
die „Bezeichnung für eine große Stadt“, ferner die ſentrechte Mittel» 
reihe „einen Theil Indiens“, die wagerechte Mittelreihe „eine Muſe“. 
; Die Wörter in den Quabdraten beftehen je aus vier Biuchſtaben und 

enennen: 


1, Ein Gebirge. 














I. Quadrat. 
2. Eine Farbe, 3. Ein Metall, 4. Ein Getränf, 
ll. Quadrat, 


1. Einen Vogel 2. Einen Fiih. 3. Eine Jaunige Herricherin. 4. Eine 
amerifanijche Kepublif, 


II, Quadrat. 

2, Einen römifchen Redner. 3, Ein Nahrungsmittel, 
4, Ein Nagethier. 
IV. Quadrat, 

1, Einen Titel, 2, Einen Schiffstheil. 3, Einen Fluß. 4 Einen Planeten. 
Aufföfung des litterarifhen Verfieh-Mätdfels auf 5. 516: 
„Martin Greif.“ 

Aufföfung des Aapfel-Mätdfels auf 5. 516: 

Gemſe, Ems. 


1. Einen Fluf. 








Eharade. 
Ach Teider find es ſchon gar viele, 
Die fid) die Erfte nahm zum Ziele 
Und denen ihre Geſchoß gebracht 
Nur allzuſchnell des Todes Nacht. 


Gleich offnem Thor’ läßt dich die Zweile 
Oft ſchau'n in ungemefine Weite, 

Daß fie jo manches Wandrers Yauf 

In Berg und Thal fucht freudig auf. 


Dod; wen das Ganze wird gegeben, 
Der muß, da hilft fein Widerjtreben, 
Sich trennen ſchnell von alle dem, 
Bas lieb ihm war und angenehm. 


Aufföfung der Süet-Aufgade Nir. 9 auf $. 516: 
artem find fo vertbeilt: Sfat: rK, #7. 
u. Fer ad: 0%, El, E0, E7, ED, TZ, 10, 29, ı8, aZ. 
Wittelband: EW, ##, “X, < . ei, »K, 0, sd, se, 17. 
Nimmt ber Spieler Me vergelrielten eZ, e9 mit dem 0. mit, fo jelgt bamın: 
z. eVV. let), 6. ed, «8, r i(— 14), 
5 6. sK! mul, a0 (— 18), 
eh! er, 2 (— 


4 14), 
und die Geguer haben #1 Angen. Kalte dagegen der Spieler ben Erich laufen laſſen, fo 


folgt dann 
2, a2,® »6, »D (4 20), 5. eK, «A, rD (— 15), 
3. eW, £7, 08 6. 20, eb, KO (— 175) 


+ 2 
3.1W,zD, EW (— 18) 
und bie Wegner haben mur 57 Mugen. Es iſt Übrigens kein Pa gm ber Spieler den 
n Erfolg. 


erftien Stich mitnimmt, nur bie ‚eigenadduniche Eipung bemwi 
* Spielt Bortand ſtatt »Z Roth vor, ſe ergiebt ſich datſelbe Mefultat. 
Aufföfung des Bilder-Mälhfels auf S. 516: 


Das größte Glück im Leben 
Und der reichlichſte Gewinn 
Iſt ein guter, leichter Sinn, 


Aufföfung der magiſchen Silben · Quadrale auf 5. 616. 
1. u, 


the re | so 


re |cla | me 


se |me| le 





Aufföfung des Mä.hfel-Sonetts auf 5. 516: Landmann. 
Aufföfung des Form -Arithmogryphs auf 5. 516: 








a 
eı 
- Die Anfangs - und Endbuchſtaben, 
u hirje,e, di) = | abwärts gelefen, ergeben: 
R o|m no w „Allerlei Rurtweil“. 














Herausgegeden unter eerantwertlider Medaltion ven Aboti Hröner. Berlag ven Ermft Keil's Ragtelger in Leipzig, Druf von A. Wiebe in Leipzig. 





Illuſtrirtes Samilienblatt. — Serie von Ernſt Keil 1853. 


Zahrgang 1888, Erſcheint in Halbheften a 35 Pf. alle 12— 14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1. Fanuar bis 31. Deyember. 





ne 





Die Alpenfee 5, nalen vrken 


Fortſehung.) 


I" dem Schreibtifch Wolfgangs ftand in einem reichgeichnigten 
Rahmen Alicens Bild. Es war ähnlich, aber wenig vortheil⸗ 
haft, denn die zarten weichen Linien der Züge verſchwammen 
allzu jehr in der Photographie und die Mugen waren völlig 
ausdrudsios. Die jchlanfe junge Dame in der überreichen Toilette 
machte Hier völlig den Eindrud einer jener nervöſen, blafirten 
Erſcheinungen, wie man jie oft in der großen Welt findet. Auch 
Doktor Reinzfeld jchien diefer Meinung zu fein; er jah auf das 
Bild, dann auf jeinen Freund und bemerkte troden: „Glücklich bift Du 
aber nicht getvorden dadurch, 
dab Du Dein Ziel erreicht!“ 

Wolfgang wandte ſich 
raſch und heftig um. 

„Barum nicht? Was 
meinjt Du damit?” 

„Nun, fahre nur nicht 
gleich wieder auf! ch kann 
mir nicht helfen, aber Du 
bift verändert jeit den letzten 
Monaten. Ich erhalte aus 
der Stadt die Nachricht Dei- 
ner Berlobung und denke, Du 
wirſt zurüdtommen, ſtrahlend 
vor Triumph über die Ver— 
wirtlichung all Deiner Zu⸗ 
funftspläne, ftatt deffen biſt 
Du fortwährend ernſt, ver 
ſtimmt, reizbar im höchiten 
Grade, Du, der allezeit Ruhige 
und Befonnene — was hajt 
Dur eigentlich, Wolf?“ 

„Richts! Lak mic in 
Ruhe!” Tautete die abwei— 
fende Anıwort, aber Benno 
trat zu ihm und legte die 
Hand auf feine Schulter. 

„Wenn Deine Berlobung 
eine Herzensgeſchichte wäre, 
jo würde ich glauben, daß 
da etwas nicht in Ordnung 
ift, aber —“ 

„sch habe ja kein Herz, Du 
haft es mir oft genug geſagt,“ 
warf Wolfgang bitter ein. 

1888 





Ein verkanntes Genie. 
Orizimalgeidinung ven 6. @, Allers. 


Roman von &, Werner. 


very Du haft nur Ehrgeiz — weiter nichts!” ſagte Meins 
d ernit. 

Elmhorſt machte eine ungeduldige Bewegung. 

„Bredige nicht ichon wieder, Benno! Du weißt, im dem 
Punkte verjtehen wir ung nit. Du bift und bleibjt —“ 

„Der überjpannte Idealiſt, der Lieber mit feiner Herz; 
allerliebften trodenes Brot ißt, als mit einer vornehmen Frau 
Gemahlin in der Equipage fährt! a, ich bin mun einmal 
fo umpraktiſch angelegt, und vorläufig reicht es noch nicht einmal 
zum Brot für Zivei aus, des 
halb ijt es ein &lüd, daß ich 
überhaupt feine Herzaller 
liebjte habe.” 

„Wir müfjen gehen,“ jagte 
Wolfgang abbredend. „Alice 
erwartet mich um zwölf br, 
und nun thu' mir den Ge 
fallen und nimm Dich we 
nigftens etiwas zuſammen. Ich 
glaube, Du kannſt nicht ein 
mal mehr eine regelrechte 
Berbeugung machen.“ 

Iſt auch ſonſt nicht nöthig 
bei meinen Patienten,“ ver— 
fehte Benno trotzig. „Die 
find zufrieden, wenn ihnen 
aeholfen wird, ohne Verbeu: 
gung, und wenn Du feine 
Ehre mit mir einlegit bei 
Deinem vornehmen Feäulein 
Braut, jo ift es Deine Schuld; 
warum fchleppit Du mich hin 
wie ein Opferlanım. — Fräu⸗ 
fein von Thurgau ift doc) 
werinitens mit gelommen?* 

Jawohl!“ 

„Und ſie iſt vermuthlich 
auch eine große Dame ge: 

« worden ?* 

„In Deinem Sinne aller 
dinge." 

Die Antworten Fangen 
ſehr einjilbin und lauteten 
nicht jehr tröftlich für den 

70 


. 550 >» 


armen Doktor, der diefem Befuche mit einer wahren Herzens: 
angft entgegenfahb. Er wagte gleichwohl nicht, ſich zu ſträuben, 


denn er war es num einmal gewohnt, fidh von feinem Freunde | 
denn auch jet den men auf: | 


beherrſchen zu laſſen. So nahm 
gebügelten Hut, der trotzdem fein ehrwürdiges Alter nicht ver— 
leugnete, vom Tiſche und machte Wiſtalt, die berühmten „Gelben“ 
anzuziehen, wahrend er ergebungsvoll Tante: 

„Wenn es denn durchaus nicht anders geht — in Bottes 
Namen!” 

Oberhalb der Bahnlinie, etwa eine halde Stunde von dem 
künftigen Stationsgebäude entfernt, Tag die neue Villa des Prä— 
fidenten, zu der ein eigens angelegter, 


Dach und zierlichen Holzgalerien, 
ſeiner Umgebung, war aber trotz ſeines einfachen Gewandes voll 
fommen darauf eingerichtet, einen fo anſpruchsvollen Haushalt 
wie den Norbheimfchen aufzunehmen Die Lage war pradhtvoll 
und bot die Ausficht über den ſchönſten Theil des Gebirges; die 
Matten ringsum hatte man mit Anlagen verjehen und den nahen 
Wald in einen Heinen Naturpark verwandelt, Das Katte freilich 
unenblihe Mühe und unglaubliche Koften verurfacht und Sollte 
doh im Grunde mur für einen Aufenthalt von wenig Wochen 
dienen, aber Nordheim pflegte nicht nach den Kosten zu fragen, 
wenn er irgend etwas plante, und gab bem Baumeiſter unbe: 
ſchränkte Vollmacht. Elmhorſt hatte denn auch im der That ein 
fleines Meiſterwerk gefchaffen in dieſem Bergſchlößchen, das zum 
Eigenthum jeiner Braut beftimmt war. 

Im Inneren hatte man freilich auch nicht mehr den Schein 
der Einfachheit feitgehalten. Das Licht fiel durch bunte, koſtbar 
gemalte Scheiben auf Flur und Treppen, und teppichbelegte Stufen 
führten zu einer Reihe von Zimmern, die, wenn auch nicht fü 
prachtvoll wie die Salons in der Stadt, ihnen an Luxus und 
Behaglidyfeit doch wenig nachgaben. Es waren reizende Heine 
Neftchen, vorwiegend in lichten farben gehalten, und jedes ein 
zelne bot eine entzüdende Fernficht. 

Der Präſident war exit vor einigen Tagen mit feiner Familie 
auf der neuen Beſitzung eingetroffen und Alice, der die Höhen- 
{uft verordnet war, jollte die beiden Sommermonate hier zubringen. 
Nordheim felbjt Hatte wie gewöhnlich feine Zeit zur Erholung, 
er nahm Hier nur jein Mbfteinequartier, zur Befichtigung der 
Balnarbeiten, wie er es früher in Heilborn genommen hatte, und 
jetzt riefen ihn jchon wieder Geſchäſte nach der Stadt zurück. Er 
hatte allerdings Schon am Morgen abreifen wollen, war aber 
durch eingetrofiene Briefe, die jofort erledigt werben mußten, 
noch einige Stunden zurüdgehalten worden. Sein Wagen ftand 
bereits angeipannt und ex felbft befand fich bei jeiner Nichte, Die 
er kurz vor der Abjahrt noch ſprechen wollte, 

Ernas Zimmer lag im oberen Stodwerfe, die Glasthür, 
welche auf die Galerie führte, war geöffnet und draußen ag 
Greif, behaglich im Sonnenſchein ausgeſtreckt. 

Der Hund war faſt das einzige Andenken, welches das junge 
Madchen damals aus der Heimath mitgenommen hatte, dies eine 
aber verteidigte fie auch mit der ganzen Leidenſchaftlichkeit ihrer 
Natur gegen den Unkel und Frau von Sasberg, die das „läjtige 
Geſchöpf“ nicht dulden wollten. Es follte zurüdbleiben, aber da 
gab es eine unendlich jtürmiihe Scene. Erna weigerte fich em 
Schieden, das Haus zu verlaſſen, wenn man ihe nicht gejtatte, 
Greif mitzunehmen, und Nordheim hatte endlich nachgegeben, unter 
der Bedingung, daß der Hund niemals in die Wohnräume der 
Familie fomme. 

Das war denn auch nicht geichehen, Greif war überhaupt 
manierlicher geworden, er hatte Lebensart gelernt und es fiel ihm 
jet nicht mehr ein, im Salon eine Jagqdjcene aufzuführen; aber 
das damals noch ſehr junge Thier Hatte ſich erſt jetzt zu jeiner 
vollen Kraft und Schönheit entwidelt. Es Hatte etwas Löwen: 
artiges, als es fo ausgeftredt faq, mit den mächtigen Branfen, 
dem langen dunfelgelben Fell und den großen ſchwarzen Augen, 
die jeder Bewegung feiner jungen Herrin folgten. 

Es mußte eine ganz befondere Veranlaſſung fein, die den 
Präfidenten zu Emma führte. Er hatte ja ſonſt überhaupt niemals, 
Zeit für feine Familie und auch nicht das Bedürfniß, mit ihr 
gemäütblich zu verfehren; fie fah ihm gewöhnlich nur bei Tiiche, 
wenn er nicht tage und wochenlang abweiend war. Selbft fein 
Berhältniß zu der eigenen Tochter war ein fehr kühles und jeiner 


bequemer Wen führte, | 
Das Haus, in dem hier üblichen Sebirgsftil, mit vorfpringendem | 
entiprady wenigitens äußerlich 


Nichte ſtand er vollends fremd und falt gegenüber. Er Tebte 
und webte nur in feiner geſchaftlichen Thätigleit, alles andere, 
fogar die Familienbeziehungen, waren ihm vollftändig Nebenſache. 

Er war im vollen Reijeanzuge eingetreten, ohne Play zu 
nchmen, und jagte flüchtig, wie im Borbeigehen: 

„ch wollte Div nur mittheilen, daß ich vor einer Stunde 
einen Brief von Waltenberg erhalten habe. Er iſt qeitern in 
Heilborn eingetroffen und denft einige Wochen dort zu bleiben, 
wahrfceinlich macht er Euch morgen einen Beſuch.“ 

Die Worte Hangen aleihgültig, aber es lag eine gewiſſe 
Schärfe in dem Bid, der dabei auf Erna ruhte Sie nahm die 
Nachricht ebenſo gleichgültia auf und erwiderte ruhig: 

„So? Dann werde ich Alice und Frau von Lasberg be— 
nachrichtigen.“ 

„ran von Lasberg weiß cs bereits und wird es nicht an 
der nöthigen Rückſicht Fehlen laſſen; ich wünſche aber, daß fie 
ihm auch von — anderer Seite zu theil wird. Hört Du, 
Erna?“ 

„Ich wüßte nicht, Unfel, 
fichtslos geweſen wäre.” 

„Meinen Gaſt? Ms ob Du wicht fo gut wie ich wüßteſt, 
was ihn am unjer Haus feflelt und was ihn jetzt nach Heilborn 
führt, Ex will endlich einmal Gewißheit haben, und ich kann es 
ihm nicht verdenfen, mern er des Spiels müde ift, u. nun 
fchon monatelang mit ihm getrieben wird.” 

„sch Habe mie mit Herrn Waltenberg gefpielt,“ ſagte Cm 
fühl. „Ich fand es nur für nöthig, ihm gewiſſe Schranfen zu 
ziehen, denn er jdeint der Meinung zu jein, daß er nur die 
Hand auszuftreden braucht, wenn irgend etwas feinen Wunſch 
reizt.“ 

„Run, wir wollen nicht darüber jtreiten, denn Du ſcheinſt 
mit Deiner kühlen Zurüdhaltung grade das Rechte getroffen zu 
haben. Männer wie Waltenberg, die einen förmlichen Kultus 
mit ihrer Freiheit treiben und jedes Kamilienband als eine 
Feſſel empfinden, wollen eigenartig behandelt fein. Ein Ent 
gegenfommen hätte ihn vielleicht ſtutzig gemacht, das jcheinbar 
Verſagle reizt ihn.” 

Die Augen des Mädchens flammten umwillig auf. 

„Die Berechnung jtellit Du an, Onkel — nicht ich!“ 

„Gleichviel, wenn ſie nur richtig iſt,“ ſagle Nordheim, ohne 
auf den Vorwurf zu achten, der in den Worten lag. „Ich habe 
mich bisher nicht eingemiſcht, weil ich ſah, daß der Weg trotz 
alledem zum Ziele führte, jeht aber wünfche ich, dah Du micht 
länger einer Erflärung ausweichſt. Ich zweifle nicht, day Walten- 
berg ſchon in der nächſten Zeit die enticheidende Frage an Did) 
jtellen wird, und Deine Antivort —“ 

„Könnte anders ausfallen, als er es wünſcht!“ ergänzte 
Erna mit voller Beitimmtheit. 

Der Präfident ftugte und jah feine Nichte forichend an. 

„Bas joll das Heifen? Du wirt doch nicht etwa den 
tollen Einfall haben, ihm abzuweilen?“ 

Sie ſchwieg, aber in ihrem Antlig zeigte ſich wieder jener 
herbe Troß, der jchon dem ſechzehnjährigen Mädchen eigen war. 
Nordheim mochte diefen Ausdruch kennen umd willen, was er 
verhieh, denn er runzelte finiter die Stirn. 

„Erna, ich erwarte mit aller Beſtimmtheit, daß meinem 
ernjten und wohlüberlegten Blanc feine unnöthigen Hinderniſſe 
bereitet werden. Es handelt ſich um Deine Vermählung mit 
einem Manne —" 

„Den ich wicht Liebe!” unterbrach fie ihn heftig. 

Nordheim lächelte, halb ipöttiich, halb mitleidig. 

„Dachte ich es doch, daß wieder irgend eine Ueberſpanntheit 
dahinter jteden würde! Liebe! Die fonenannten Liebesheirathen 
enden ſtets mit Enttänfchung. Eine Ehe muß auf vernünftigerer 
Grundlage aufgebaut werben und Alice giebt Dir das Beifpiel 
dazu. Glaubſt Du vielleicht, daß jie fi) von romantiſchen Ge- 
fühlen bejtimmen lie bei ihrer Verlobung, oder daß Wolfgang 
es that?“ 

„D nein — er am wenigften!“ fagte Erna mit unver 
ichleierter Verachtung. 

„Was in Deinen Augen natürlich ein Verbrechen ift! Ich 
vertraue ihm trogdem die „Zukunft meiner Tochter an und bin 
überzeuat, daß er ein auter Ehemann fein wird. Einen Roman- 
tifer hätte ich mir überhaupt nicht zum Schwiegerſohn gewählt. 


daß ich gegen Deinen Gaft rüd-> 


im 


_—-o 


Waltenberg kann ſich freilich diefen Luxus geitatten, er hat die | 


Mittel dazu. Er ift im Grunde ebenfo ereentriich wie Du, Ahr 
feid Euch im höchſten Grade ähnlich und deshalb begreife ich 
nicht, was Du eigentlich an ihm auszuſetzen haft.“ 

„Seinen Egoismus! Er lebt nur für fich und fir das, 
was ihm Lebensgenuß heißt. Er kennt weder Baterland noch 
Beruf, weder Pflichten noch Ehrgeiz, will das alles nicht Fennen, 
weil es ihn in diefem Genuſſe ſtört. Ein folder Mann wird 
nie ein ernjtes Streben, nie eine Zukunft haben und er Fann auch 
eine Frau nicht lieben, denn er Fiebt nur ſich allein.” 

„Er bietet Dir aber feine Hand und das ijt in diefem Falle 
die Hauptjache. Wenn Du von Deinem künftigen Gatten nur 
Ehrgeiz und Energie verlangft, dann allerdings hättejt Du Wolfgang 
beirathen müſſen. Der bat eine Zuhmft, dafür verbürge id) 
mich.* 

Emma zudte zufammen und ihre Stimme Hang beinahe 
ſchneidend, als fie rief: 

„Berichone mich mit ſolchen Scherzen, Onkel — ich bitte 
Dich!“ 

Ich bin nicht zum Scyerzen aufgelegt,“ ſagte Nordheim 
icharf. „Aber beiläufig, Ema, Dein Verhältniß zu Wolfgang it 
ein jeher unerquidliches und die Art, wie Ihr beide Euch gegen- 
überjteht, ift wenig angenehm für die Umgebung. Ich bitte 
ernftlich, den jchroffen Ton zu ändern, der nachgerade bei Euch 
zur Regel geworben it. — Um aber wieder auf die Hauptſache 


Sl 0° 


Er ging und einige Minuten jpäter hörte man jeinen Wagen 
fortrollen. 

Ema warf fi in einen Seffel, das Geſpräch Hatte fie doc 
tiefer erregt, als jie dem Falten Manne zeigen wollte, der ihre 
Bermählung einzig und allein ala ein vortheilhaftes Geichäft 
behandelte. 

Als Braut! Sie fehredte zurück vor dem Worte, das fonit 
einen Zauberflang hat für jedes Mädchen, und doc) wurde ſie 
geliebt von jenem Wanne, dem einzigen, der nicht danach fragte, 
ob fie reich oder arm jei, der fie hinausführen wollte aus diefem 
Haufe, wo das Geld allein vegierte, weit fort, in eine Welt von 
Freiheit und Schönheit! Vielleicht Ternte fie es dennoch, ihn zu 
fieben, vielleicht war er troßalledem der Liebe wert! War es 
denn nicht möglich, ſich zu überwinden? 

Sie verbarg in qualvollem inneren Kampfe das Geficht in 
beiden Händen. Da fühlte ſie eine leise, ſchmeichelnde Berührung. 
Greif war unbemerkt heveingelommen und jtand jebt dicht vor 
ihr. Er legte den mächtigen Kopf in ihren Schoß und ſah fie 


‚ fragend an mit jeinen großen jchönen Augen, als fühle er das 


zurüdzufommen, fo Scheint Du zu glauben, daß Du unter allen | 


möglichen Bewerbern zu wählen haft, bis irgend einer Deinem 
orale entipricht. Es thut mir leid, Di aus Deinem Irrthum 
reißen zu müjlen, aber Du haft überhaupt feine Wahl. Ein 
armes Mädchen wird allerdings umſchwärmt und gefeiert, wenn 
fie Schön ift — geheirathet wird fie für gewöhnlich wicht, denn 
die Männer verſtehen zu rechnen. Diefer Antrag iſt der erſte, 
den Du erhältft, und wird vorausſichtlich der einzige bleiben ; 
überdies ift es eine glänzende Partie, auf die Du gar nicht 
rechnen fonnteft — Du haft allen Grund, zuzugreifen.“ 

Die Worte wurden nicht in dem Tone vernünftiger wohl: 


wollender Ermahnung geſprochen, es Tan etwas unglaublicd Herz: 


lojes und Werlegendes in der Art, mit der Präfident Nordheim 
feiner Nichte auseinanderjegte, daß ſie troß ihrer Schönheit gar 
feinen Anspruch darauf habe, geliebt und gewählt zu werden, 
weil fie arm je. Erna war bfeich geworden und ihre Lippen 
bebten, aber ihr Geficht iprach eher alles andere aus als Füg— 
famfeit. 

„Und wenn ich troß alledem nicht zugreife?* fragte fie 
fangjam. 

„So haft Du Dir die Folgen ſelbſt zuzujchreiben. Deine 
Stellung dürfte feine beneidenswerthe Sein, wenn Du unvermäblt 
bfeibjt. Alice heivathet im nächiten Jahre, wie Du weißt.” 

„Und in demjelben Jahre werde id) mündig — umd frei!” 

„Frei!“ fpottete Nordheim. „Wie großartig das Hingt! Du 
bijt wohl in Feſſeln und Banden in meinem Haufe, wo Du als 
Tochter aufgenommen wurbejt? * Oder pochit Du vielleicht auf 
Dein väterlihes Erbiheil? Das ift nicht mehr als ein Bettel- 
pfennig und Du bijt an die Aniprüche einer vornehmen Dame 
gewöhnt.“ 

Ich habe mit meinem Water in den einfachiten Verhältniſſen 
gelebt,” jagte Erna bitter, „und wir find glücklich geweſen — 
in Deinem Haufe war ich es nie!“ 

Der Präſident zudte verächtlich die Achieln. 

„Ja, Du biſt die echte Tochter Deines Vaters! Der zog 
es auch vor, auf einem Bauernhofe zu hauſen, ſtalt mit feinem 
alten Namen in ber Welt Garriere zu machen. Nun, Waltenberg 
bietet Dir ja die erſehnte Freibeit. Als feine Gattin haft Du 
Reichthum und Lebensftellung, er wird Dir jeden Wunſch befriedigen, 
jede Laune erfüllen, wenn Dur es verſtehſt, ihm zu beherrſchen. Ich 
fordere zum letzten Male, daß Du die Sade vernünftig anfiehft. 
Thuſt Du es nicht, jo jind wir beide zu Ende mit einander. 
Sch Habe feine Duldung für Ueberipanntheiten, die jich in der 
Thurgauichen Familie fortzuerben ſcheinen.“ 

Erna gab feine Antwort und er fchien fie auch micht zu 
eriwarten, denn er wandte ſich zum Gehen, blieb aber an der 
Thür noch einmal jtehen und fagte mit eiligem Nacdrud: 

„Ich hoffe mit aller VBeftimmtheit, Dich bei meiner Rücklehr 
als Braut zu finden — leb' wohl!“ 


ı Fall bewahrte, 


Leid feiner jungen Herrin mit. Sie blidte auf, das Thier war ihr 
ja das Einzige, was fie gerettet Hatte aus jener glüdlichen, ſonnigen 
Jugendzeit in den Bergen an der Seite des Vaters, deſſen ver- 
aötterter Liebling fie war. Dept ruhte er längit ſchon im Grabe, 
die alte theure Heimath war verichtwunden von der Erde umd fein 
einziges Kind lebte in dem fremden Hauje, eine Fremde, trotz 
aller Berwandticdhaftsbande, 

Ema jchluchzte plögfich laut auf, fie ſchlang beide Arme um 
den Hals des Hundes und fich zu ihm niederbeugend flitjterte fie: 

„D Greif, wären wir doch twieder in dem alten Wolfen: 
fteiner Hofe, wären fie nie gelommen, diefe Fremden! Sie haben 
Deinem Heren den Tod gebracht und mir — noch Schwereres!“ 


Der Wagen des Präfidenten rollte ſchon auf der Bergſtraße 
dahin, die bis zur Eröffnung der Bahn die einzige Verbindung 
war, als Elmhorſt und Reinsfeld die Wohnung des eriteren ver 
lichen und zu der Billa emporftiegen,. Der künftige Schwieger 
Sohn bedurfte natürlich feiner Anmeldung, die Diener bückten ſich 
tief vor ihm und er führte den Freund fofort zu jeiner Braut. 
Wenn der Doktor aber ſchon dem Beſuche jelbjt mit Befangenbeit 
entgegenfab, fo wurde er vollends bedrüdt durch diefe Umgebung, 
an die er fo gar nicht gewöhnt war. 

Er jtand auf weichen Teppichen, die jeden Schritt unhörbar 
machten, inmitten eines Zimmers, das ihm wie ein Zaubergemad) 
erfchien. Die weißen Spikenvorhänge an den Fenjtern waren 
herabgelaflen und ſchufen eine halbe Dämmerung in dem Heinen 
Raume, der dadurd; nur um fo jchöner und behaglicher fchien 
mit feinen hellgrauen Tapeten und dem matten Blau der feidenen 
Polſter und Bortieren. Nur wenige Gemälde ſchmückten die 
Wände und eine Statuelte von weißem Marmor erhob fih aus 
einer Blumengruppe, deren Düfte leije die Luft durchhauchten. Es 
war bier alles fo licht, fo zart und duftig wie in einem Elfen— 
reiche. 

Aber Benno war leider nicht gewohnt, mit Elfen zu ber- 
fehren, Er ftolperte über den Teppich, ließ feinen Hut fallen, 
büdte ſich danach umd ſtieß, al& er ſich wieder aufrichtete, ein 
Tiſchchen um, das Wolfgang noch alüdlich auffing und vor dem 
Stumm und wehrlos Tieh er die undermeidliche 
Borftellung über ſich ergehen, machte eine höchſt ungejchidte Ber 
beugung, und als nun noch das kalte, ftrenge Geficht der Frau 
von Lasberg vor ihm auftauchte, die mit fichtbarem Befremden 
diefe „Perjönlichfeit" mufterte, da war es ganz aus mit jeiner 
Faſſung. 

Elmhorſt runzelte die Stirn; jo ſchlimm hatte er ſich die 
Sache doch nicht gedacht. Aber fie war nun einmal angefangen 
und mußte durchgeführt werden, Er kürzte daher die Vorſtellung 
möglichit ab, zur qroßen Erleichterung des armen Benno, der in 
feinem altmodiichen Staatsanzuge wirklich eine höchſt unglückliche 
Figur ſpielte. Er hielt den „Aufgebügelten“ krampfhaft feft in 
den Bänden, welde nunmehr die verbänanikvollen „Gelben 
ſchmückten; fie waren ibm natürlich um zwei Nummern zu weit 
und fchlotterten förmlich um feine Finger. Der Herr Oberingenieur 
legte in der That feine Ehre ein mit feinem Freunde, als er ihn 
zu feiner Braut führte, 


„Du haſt mie verſprochen, Tiebe Alice, Did) der Behandlung | 
des Doktor Neinsfeld anzuvertrauen, bier bringe ich ihn Dir! | 
Du weißt es ja, wie bejorgt id) um Deine Geſundheit bin.“ | 

Der Ton der Worte war in der That beforgt und äußerft 
vüdfichtsvoll, aber es lag feine Zärtlichkeit darin. Reinsfeld, den die | 
Bornehmbeit der Baronin Schon gänzlich eingefchüchtert hatte, wagte | 
der jungen Millionärin genenüber nicht einmal eine Berbeugung, denn 
jeiner Meinung nach mußte diefe noch weit vornehmer und hoch— 
müthiger fein. Er ftand da, mit der Micne eines Opferlammes, 
als eine leiſe, aber unendlich fanfte Stimme an fein Obr fchlug. | 

„Sie find mir willfommen, Here Doktor, Wolfgang hat mir | 
ſchon viel von Ahnen erzählt.” 

Der Herr Doktor jah ganz überrafcht auf und bfidte in 
ein Baar große braune Mugen, die allerdings etwas verwundert, 
aber ohne jeden Spott auf ihm rubten. Er Datte noch die in 
Atlas und Spitzen gehüllte Erjcheinung im Kopie, die er aus 
dem Bilde kannte und die ihm dort jo unnahbar erſchien, und 
jet ſah er eine zarte Gejtalt, im weißen duftigen Morgen: 
Heide, das Fichtbraune Haar nur loſe aufgenommen, ein blafjes, aber 
liebliches Antlig, defien Ausdrud wohl müde, aber nichts weniger 
als blafirt und hochmüthig war. Er war förmlich bejtürzt darüber 
und ftotterte etwas von großer Ehre und vielem Vergnügen, blieb 
aber natürlich fchon im zweiten Sage rettungslos fteden. 

Wolfgang fam ihm zu Hilfe und brachte das Geſpräch auf 
den Zwed des Beſuches. Er wollte feinem Freunde, der, wie er 
wußte, am Srantenbette ſehr entſchieden fein konnte, Gelegenheit 
geben, fich als Arzt zu zeigen, aber Benno verleugnete heut jeine 
ganze Natur. Ex ſtellte die Fragen jo ſchüchtern und ängſtlich, 
als erbitte er mit jeder Antwort eine unverdiente Gnade, ftotterte, 
wurde roth wie ein junges Mädchen, und was das Schlimmſte 
war, er fühlte jelbit, wie unpaffend er fich benahm. Das raubte 
ihm den letzten Reſt der Faſſung, im völliger Zerfnirfchung ſaß 
er da und richtete einen wehmüthig bittenden Blid anf die junge 
Dame, als wolle er ihre Berzeihung erflehen, daß er fie über— 
haupt mit jeiner Gegenwart befäftige. 

War es dieſer hilfeſuchende Blid vder der troß aller Ver— 
legenheit doch kindlich treuherzige Ausdruck der blauen Mugen, 
genug, Alice richtete ſich plöglih auf und fagte freundlich und 
ermuthigend: 

„Sie werden ſich bei Ihrem erſten Beſuche ſchwerlich fchon |, 
ein Urtheil bilden künnen, Herr Doktor, aber Sie dürfen überzeugt 
fein, daß ich dem Freunde meines Verlobten unbedingt vertraue.“ 

Sie reichte ihm die Hand, die Benno zögernd ergriff. Die 
ichmale weiße Hand lag zart umd leicht wie ein Blumenblatt in 
der jeinigen, er bfidte fo ſcheu und ehrfurdhtsvoll darauf nieder, 
als könne jede Berührung fie verlegen, und urplötzlich brady er 
ſtürmiſch aus: 

„ch danke Ihnen, guädiges Fräulein! D, ich danke Ihnen!“ 

Fran von Lasberg machte ein Geſicht, als zweifle fie an 
der Burehnungsfähigkeit dieſes Doktors, der fich jtulpernd ein- 
führte, im Gespräch nicht zum Reden zu bringen war und ſich 
nun urplöglich jo ſtürmiſch bedankte, obgleich gar kein Grund | 
dazu vorlag. Und dieſen Menſchen nannte Elmhorſt feinen 
Freund und Mlice ſchien ganz einverſtanden damit zu fein! Die 
alte Dame fchüttelte entrüftet das Haupt und bemerkte mit kühler 
Aurehtiweifung: 

„Du bift ſonſt ſehr zurüchhaltend mit Deinem Bertrauen, 
liebe Alice.“ 

„Um jo mehr freut es mich, daß fie diesmal eine Aus- 
nahme macht,“ fiel Woligang mit einem gewiſſen Nachdrud 
ein. „Du wirst es micht berenen, Alice. Ich gebe Dir mein 
Wort darauf, Berno kann fich mit feinen Kenntniſſen und Er 
fahrungen getroft an die Seite manches bocdhberühmten Kollegen 
itellen. Ich bin ftets im Kriege mit ihm, weil ex fie nicht 
auf einem anderen Felde geltend macht. Schon feit Jahren 
opfert er ſich auf im einer untergeordneten Praxis, und wenn 
ihm wirklich etwas Beſſeres geboten wird, dann greift er nicht 
einmal zu, wie im vorigen Jahre, we er eine äußerſt vortheilhafte 
Stellung einfach im Stiche lieh.” 

„Aber Wolf, Du weißt ja —“ verfuchte NReinsfeld ein 
zuwerfen. 

„Ja, ich weiß, daß Dein gutes Herz Dir da wieder einen 
Streich geſpielt hat, den Du vielleicht Dein Lebenlang büfen | 
mußt. Weil ein paar Bauernkinder frank lagen, die Tu in Bes | 


handlung hatteſt, verſäumteſt Du die rechtzeitige Meldung, und 
nachher war es zu fpät.“ 

„Ah, deshalb?“ fagte Alice halblaut und ihr Blick heftete 
fich wieder auf den jungen Arzt, der fo niedergebrüdt ausjah, 
als werfe man ihm das ſchwerſte Unrecht vor. 

„Der Herr Doktor hat feine Praris alfo auch unter den 
Gebirgsleuten?“ fragte Frau von Lasberg. „Fahren Sie denn 
wirtlich nach den einzelnen, abgelegenen Höfen?“ 

„Rein, anädige Frau, ic) Be dorthin,“ erllärte Reinsfeld 
harmlos. „Ich habe mir allerdings in den letzten Jahren ein 
Heines Bergpferd anſchafſen müjlen, um bei weiteren Entfernungen 


‚ reiten zu können, für gewöhnlich aber gehe ich zu Auf.“ 


Die Dame räufperte ſich und ſandte einen jehr bebeutungs 
vollen Blick zu dem Oberingenieur hinüber, der die Behandlung 
feiner Braut einem Bauernarzte anvertraute; diefer Hatte jetzt 
völlig bei ihr verfpielt. Wolfgang verjtand den Blid und lächelte 
etwas fpöttiich, als er jagte: 

„Jawohl, gnädige frau, er gebt zu Fuß und wenn er dann 
aus Sturm und Schnee nad) Haufe kommt, fegt er ſich noch hin 
und arbeitet an einem wiſſenſchaftlichen Werke, das ihn vielleicht 
einmal berühmt macen wird. Aber das darf beileibe niemand 
wiflen, ſelbſt ich habe c8 nur durch Aufall entdedt.” 

„Wolf, ich bitte Dich!“ proteftirte Benno in fo grenzenlofer 
Verwirrung, daß Elmhorſt in der That die Nothwendigleit ein- 
fah, ihm zu erlöfen. Er lieh einfließen, fein Freund habe noch 
einen ärztlichen Beſuch zu machen, und ermöglichte es ihm, auf 
diefe Weile ſich zu verabſchieden. Das war aber eine neue, 
ſchwere Aufgabe für den armen Doktor; er fam indeflen damit 
zu Stande — wie, das wußte er freilich nicht, er wußte nur, 
daß jene weiße, zarte Hand ihm nochmals zum Abſchiede gereicht 
wurde und daß die großen braunen Augen halb mitleidig den 
feinigen begegneten. Dann ergriff ihn Elmhorſt am Arme, lotſte 
ihn glüdlih an den Blumen und Gtatuetten vorbei und dann 
ſchloß fi) die Thür zwiichen ihm und dem Elfenreiche. 

Erſt draußen im Borzimmer fam er wieder zur Maren Be- 
finnung und zaghaft aufblidend fragte er: 

„Wolf — es ijt wohl recht ſchlecht gegangen?“ 

„a, das weiß der Himmel!” bradı Elmborjt ärgerlich aus. 

„Ich Habe es Dir ja vorher geſagt — ich Habe feine 
Manieren,“ jagte Benno wehmüthia. 

„Aber Du bijt doch ein Mann von beinahe dreißig Jahren, 
ein Arzt, der bei feinen Patienten fehr energiich auftreten lann, 


und heut jtandeft Du da wie ein Schulfnabe, der fein Benfum 


nicht gelernt hat.” 

Er hofmeiiterte jeinen Freund in gewohnter Weije und diefer 
ließ ſich ganz geduldig ausſchelten. Erſt ala ihm nachdrücklichſt 
eingeprägt wurde, ſich das nachſte Mal vernünftiger zu benchmen 
und dieſe lächerliche Unbeholfenheit abzulegen, fragte er halb 
erſchrocken, halb freudig: 

„Darf ich denn wiederlommen ?*” 

Elmhorjt machte eine ungeduldige Bewegung. 

„Benno, ich weiß wahrhaftig nicht, was ich von Dir denken 
joll. Ich habe Dich doch gebeten, die ärztliche Behandlung 
meiner Braut zu übernehmen, und natürlich bleibt es dabei.” 

„Aber die alte Dame war ſehr unanädig, ich fah es,* 
verfegte Reinsfeld niedergeichlagen, „und ich fürchte, auch Fräulein 
Nordheim denkt —“ er brach ab und ſah zu Boden. 

„Ich pilege die Baronin Lasberg nicht um Erlaubniß zu 
fragen, wenn ich irgend etwas hinfichtlich meiner Braut beftimme,* 
erflärte Wolfgang in ſehr entjchiedenem Tone. „Und den Einfluf; 
auf Alice habe ich mir von Anfang am geſichert. Es ift mein 


Wuunſch, alfo wird fie Dich als ihren Arzt empfangen.“ 


Der Doktor ſah ihm mit einem eigenthümlichen Blide an, 
dann fagte ex halblant: 

„Wolf, Du verdienit Dein Glüd eigentlich) gar nicht!“ 

„Weshalb nicht? Etwa weil ich aleidy von vornherein das 
Steuer ergeeife? Das verftehit Du nicht, Benno! Wer wie ich 
vermögenslos in eine Familie wie die Nordheimfche tritt, hat 
nur die Mahl, fie entweder zu behereichen oder eine höchſt unter: 
neordnete Holle zu fpielen. ch ziehe die Herrſchaft vor.“ 

„Du bift ein Unmenſch, wenn Du diejem zarten Wefen 
gegenüber von Herrſchaft redeſt!“ brach Benno zornig aus. 

„Nun, Alice it natürlich nicht damit gemeint,“ verſetzte 
Wolfgang gelajien, „fie ift eine äußerſt fanfte Natur und 


Pas Fiegespenumal in Jcipyig- 
Originalgeihuung von Dlof Winller. 


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gewohnt, ſich einem fremden Willen zu beugen; ich forge nur dafür, 
daß diefer Wille ausſchließlich der meinige ijt. — Du brauchſt 
mich nicht jo geimmig anzufehen, ich werde meiner Frau fein 
Tyrann werden. Ich weiß, daß fie der größten Schonung und 
Rückſicht bedarf, und die wird fie ftets bei mir finden.” 

„Ja, weil fie Dir Millionen zubringt!“ murmelte Benno 


bitter, indem er fich zum Gehen wandte, Eimborft hielt ihn zurück. 


„Run? Und Dein Urtheil über Alice?” 

„Das kann ich fiir den Augenblick noch nicht feftitellen. Es 
icheint ein hochgradiger nervöſer Zuftand zu fein, aber ich mu 
ihn länger beobachten.” 

„So lange Du willit, auf Wiederfehen alio!” 

„Adieu!” fagte Benno kurz. 


Sie trennten fih, und während Wolfgang zu feiner Braut | 


zurädfehrte, verließ der Doktor die Villa. Er ſchien es eilig 
damit zu haben, denn er flieg mit langen Scheitten bergabwärts, 
und erjt als er eine ganze Strede entfernt war, blieb er ftehen 
und blidte zurüd, 


nieberwallten, Tag das Elfenreich und dort lachte und fpottete 
man jet jicher über den lächerlichen, tölpelhaften Geſellen, der 
mit jeder Bewegung, jedem Worte verrietb, wie wenig er in die 
Nordheimichen Salons paßte. Sein Auge fiel unwillkürlich auf 
die Handſchuhe, die ihm noch vor einer Stunde fo äuferjt vor- 


554 





und erſt im Herbite wieder zu Thal ftiegen. 


+ 


Berges begannen, lag eine freie grüne Alpenwieſe, auf der ſich 
eine Heine Sennhütte befand, Es war für gewöhnlich ſehr 
einfam da oben, Fremde famen nur felten herauf, da der Wolten- 
ftein für unerſteiglich galt, Heute aber herrichte hier ein unge- 
mwohntes Leben und Treiben. Auf der weiten Matte war ein 
mãchtiger Holzſtoß errichtet, dem die alten Tannen und Fichten 
ihren Tribut hatten zollen müſſen. Rieſige Holzicheite, trodene 
Hefte, ausgerodete Baummwurzeln thürmten fid) übereinander. Das 
Sonnwendfeuer auf dem Wollenftein war ſtets eins der mächtigften 
und Teuchtete weit im das Land hinaus, es flammte ja auch 
an dem alten Sagenthron des Gebirges, zu ben Frühen der 


| Alpenfee 


Um den Holzftoß war ein reis von Gebirgslenten ver 
jammelt, meijt Hirten und Holzinechte, und dazwiſchen Mädchen 
von den benachbarten Almen, alles fraftvolle, braune Gejtalten, 
die in Sturm und Sonnenihein hier oben auf den Höhen hausten 
Es ging derb und 


' Tuftig zu zwifchen ihnen, es war ein Lachen und Audızen ohne 
Dort, hinter jenen Fenjtern, wo die weißen Spigenvorhänge | 


nehm erichienen, und wie von einer plößlichen Wuth ergriffen, ' 
riß er die unfchuldigen gelben Dinger von den Händen und | 


ichleuderte fie in das Tannendidicht. Der eine fiel zu Boden, 
der andere aber blieb an den Zweigen hängen, wo er wie eine 
ungeheure Sonnenblume nidte und fchaufelte Das bradyte den 
Eigenthümer nur noch mehr auf und er Hatte nicht übel Luft, 
auch feinen Hut nadyzufenden, als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß 
er doch nicht feine ganze Garderobe auf diefe Weije ablegen könne. 

„Du kannt ja nicht dafiir, Alter!” ſagte er wehmüthig, auf 
bie ehrwürdige Kopfbedeckung niederblickend. „Ich Habe keine 
Manieren, das iſt das Unglüf — ob jie wohl aud laden 
wird?" 

Es bfieb unentjchieden, wer mit diejem „fie“ gemeint war, 
aber Doktor Reinsfeld war in diefer Stunde der unglüdlichite 
Menſch im ganzen Gebirge. Das Bewußtfein, feine Manieren 
zu haben, drüdte ihn zu Boden. 


Santt Fohannistag! Der alte Sagen und Heilstag des 
Volles, dem die geheimnifvolle Mittſommernacht vorangeht, wo 
die verfunfenen Schäbe aus der Tiefe emporfteigen und ver- 
heißungsvoll winfen, wo all die jchlummernden Zauberfräfte auf- 
wachen und die ganze Märchen: und Geifterwelt der Berge ſich 
anftbut zu unfichtbarem, mächtigem Wirken. Das Bolt hat das 
uralte Sonnwendfeſt noch immer nicht vergeffen und noc immer 
webt die Sage ihre Schleier um die heilige Mittijommerzeit, w 
die Sonne am höchiten jteht, two die Erde in ihrer volliten Schön: 
heit prangt und heißes, volles Leben durch die ganze Natur fluthet. 

Für das MWolfenfteiner Gebiet war diefer Tag eins der 
größten Fefte des Jahres. Die Vevölferung des einfamen, noch 
wenig betannten Alpentbales, das die Bahn erft im nächſten Jahre 
der Welt erfchliegen follte, hing unverbrüchlich an ihren Sitten 
und Gebräuchen und ebenfo feit an ihrem Aberglauben. Hier 
herrichte noch umumfchränft die Alpenfee, und nicht bloß als ver- 
heerende Naturgewalt, mit Schneeftürmen und Lawinen — für bie 
meiſten tbronte fie noch leibhaftig droben auf dem umfchleierten 
Gipfel des Wollenjtein, und die Bergfener, die am Borabende des 
Sohannistages überall emporflammten, hatten einen geheimniß— 
vollen Aufammenbang mit ber gefürchteten Macht des Gebirges. 
Weder die altbeidnijche Bedeutung der Sonnwendfeuer nod die 
hrijtliche Legende hafteten mehr im Bewußtſein des Volles, es 
fmüpfte mit feinem Aberglauben direft an feine Bergſagen an, die 
ihm noch immer lebendig waren. 

Der Hare, milde Junitag ging zu Ende, die Sonne war 
bereits aefunfen, nur um die höchſten Gipfel wob ſich nod ein 
leichter röthlicher Schimmer, all die anderen Höhen ftanden chen 
im blauen Nebelduft und in den Thälern lagerten dämmernde 
Schatten. 

Hoch über den Wäldern, die den Fuß des Wollenſtein um- 
jäumten, da wo die weit voripringenden Abhänge des mächtigen 


Ende; die Leute, die hart arbeiteten Tag für Tag und beven 
einförmiges Leben ihnen nur jelten eine Abwechslung bot, machten 
ſich die alte Boltsfitte zum frohen Feite, 

Sie waren aber heute nicht ganz unter jich allein; es Hatte 
fich eine Meine Gruppe von Aufchauern eingefunden und jeitwärts 
auf einer hügelartigen Erhebung des Bodens Pla genommen. 
Das war den Nelplern ungewohnt und wäre ihnen unter andern 
Umftänden auch wohl unwillkommen geweſen, denn fie fühlten 
ſich bei ſolchen Gelegenheiten als unumfchränfte Herren auf ihrem 
Grund und Boden. Aber die junge Dame, die dort auf dem 
moofigen Steine ſaß, war ihnen nicht fremd, fo wenig wie der 
große, Löwenartige Hund, der ihr zu Füßen lag. Die beiden 
hatten ja jahrelang mitten unter ihnen gelebt in bem alten 
Woltenjteiner Hofe, von dem län ngf kein Stein mehr itand. 
Freilich, das wilde übermütbige Kind von damals war ein 
nädiges Fräulein geworden und lebte in der vornehmen Nord- 
Beimfehen Villa, die den einfachen Gebirgäleuten wie ein Jauber 
ſchloß erſchien, aber das Fräulein war doch zu ihnen herauf- 
geftiegen mie ſonſt und plauderte mit ihnen im Dialekt, wie in 
früheren Beiten, e3 fiel feinem ein, fie als eine fremde zu be- 
trachten. 

Ueberdies war der Sepp mitgefommen, der zehn Kahre lang 


in den Dienften des Baron Thurgau aewefen war und der Heinen 


Landwirthſchaft des Gütchens vorgeftanden hatte, und die beiden 
Fremden, die das Fräulein begleiteten, jaben mit ihren tief 
braumen, fonnenverbrannten Geſichtern auch nicht aus wie Stadt 
leute. Der eine, der eine Art Untergebener zu ſein jchien, hatte 
ih von Sepp folort in den Kreis der Gebirgsleute einführen 
lafien und war fchon nad zehn Minuten heimifch unter ihnen. 
Er veritand den Dialeft vollfommen und blieb auf derbe Fragen 
und Scherze feine Antwort jchuldig. Der andere, augenjcheinlich 
ein boruehmer Herr, mit ſchwarzen Haaren und ſchwarzen, buſchigen 
Brauen, hielt ſich ausſchließlich an der Seite der jungen Dame 
und beugte ſich jebt eben zu ihr nieder mit der etwas beſorgten 
Frage: 

„Sind Sie müde, gnädiges Fräulein? Wir haben nicht ein 
einziges Mal ausgerubt auf dem ganzen Wege.” 

Erna ſchüttelte lächelnd den Kopf. 

„O nein, jo habe ich das Steigen denn doch nicht verlernt, 
daß mich ſchon der Weg zur Alm müde macht. Ach bin im 
früheren Jahren wohl höher hinaufgefommen, zum großen Miß 
vergnügen Greifs, der regelmäßig Hier zurüdbleiben mußte, wenn 
ich die Felſen erfletterte, er fennt den Ort noc ganz genau.“ 

„Ja, ich habe es bewundert, wie leicht und jiher Sie auf 
wärts ſtiegen,“ fagte Waltenberg. „Ich glaube, Sie würden 
fpielend die Mühen und Beichwerden der größten Reife über 
winden, die man anderen Damen nicht zumuthen darf. Jeden 


' falls bin ich ſehr ſtolz darauf, Ihren Wavalier machen zu dürfen 
‚ bei diejem Ausflug zum Sommwendfener,” 


„Sonſt wäre er mir auch ſchwerlich erlaubt worden! Frau 
von Lasberg entfeßte fich ſchon bei dem Gedanken an diefe in 
die Radıt hineindauernde Bergpartie, und Alice darf ſich jolche 
Anstrengungen überhaupt nicht zumuthen. Sepp hatte ſich zwar 
längjt erboten, mid) zu begleiten, aber er galt nicht für hin— 
reichend verirauenswerih, obgleich er zehn Jahre lang in unſerem 
Haufe gelebt hat.” 


—eo 59 + 


Die Worte hatten einen Anflug von Bitterleit, dee dem Zus 
börer nicht entging. 

„Man hat es Ahnen nicht erlauben wollen?“ fragte er be- 
frembet. „Yallen Sie ſich in ſolchen Dingen wirklich noch be- 
vormunden, gnädiges Fräulein?“ 

Erna ſchwieg, fie wußte am beiten, welche Scene es gegeben 
hatte, als fie ihren Wunſch ausſprach. Frau von Lasberg war 


außer ſich geweſen über dieſe ercentriiche und unfhidliche Idee, 


lich zur jpäten Abenditunde mitten unter die Bauern zu begeben 
und ihrem rohen Bergnügen zuzuſchauen. Zufällig war Ernſt 
Waltenberg mit feinem Sekretar am Nadmittage von Heilborn 
eingetroffen. Er Hatte jich zum Begleiter und Beichüger der 
jungen Dame erboten, und ihm, ber im Norbheimjchen Haufe 
bereits als der künftige Gemahl Ernas galt, war der Vertrauens: 
poiten auch ohne weiteres zugeftanden worden, den man dem 
alten Sepp verjagte. Er war eben im Begriff, noch eine weitere 
Frage zu thun, als ein Fremder herantrat und halb ſchüchtern, 
halb zutraulich jagte: 

„Grüß Gott, gnädiges Fräulein! Willtommen in der Heimath!* 

„Doltor Reinsfeld!* rief Emma froh überraicht und bot ihm 
die Hand mit derfelben unbefangenen Vertraulichkeit wie damals, 
ala fie, eim halbes Kind noch, ihm entgegenlief, wenn er ſich im 
väterlihen Haufe zeigte. Er fchien im erjten Mugenblid faft be— 
jtürzt darüber, dann aber flog ein heffer Freudenſchein über fein 
Geſicht, und er ergriff und drüdte die dargebotene Hand mit der 
gleichen Herzlichleit. Aber jet drängte ſich noch etwas anderes 
an ihm heran; Greif hatte den ehemaligen Freund nicht vergefien, 
er erfannte ihn auf der Stelle wieder und begrüßte ihm mit un— 
geſtümer Freude. 

„Ich Habe Sie gejtern nicht einmal gejehen, als Sie in 
unjerem Haufe waren,“ ſagte Erna. „ch erfuhr es erft, als 
Sie bereits wieber fort waren.” 

„Und ich wagte nicht, nah Ihnen zu fragen,“ geſtand 
Benno. „Ich wußte ja nicht, ob es Ahnen recht war, wenn ich 
die alte Belanntichaft geltend machte.” 

„Haben Sie wirklich daran gezweifelt?“ 

Der Ton Hang vorwurfsvoll, aber Reinsfeld fchien ſehr 
alüdlich zu fein über diefen Vorwurf und blicte mit leuchtenden 
Augen auf die junge Dame. Er jah es freilich, daß fie jo viel 
fchöner, ſo viel ernjter geworden war; aber fremd mar fie ihm 
nicht geworben und ihr gegenüber empfand er auch nichts von der 
Scheu und Verlegenheit, die ihn geftern jo blöde und ftumm ge: 
macht hatte. 

„Ich Habe fo jehr gefürchtet, Sie als große Dame wieder: 
zufehen,” jagte er treuherzig. „Sie find es nicht geworden — 
Gott jei Dank!“ 

Die etwas ungeichidte Menferung kam aus vollem Herzen, 
das hörte man, und Erna lachte laut auf dabei, es war wieder 
das alte frohe Ninderlachen, welches jahrelang verftummt ge- 
ivejen tar. 

Waltenberg hatte anfangs mit ſichtlichem Befremden die ver- 
trauliche Begrüßung der beiden gefehen, und es war ein finfterer, 
argwöhnifcher Blid, mit dem er Reinsfeld mujterte, aber bie 
Mufterung mußte wohl beiriedigend ausfallen. Diefer Herr 
Doklor, in Joppe und Filzhut, mit feinem treuherzig ungeichidten 
Weſen, war fein gefährlicher Mann und gerade in der Unbefangen- 
beit feines Verkehrs mit Erna lag die bejte Gewähr dafür, daß 
es ſich hier in der That um nichts anderes handelte, als um 
eine harmlofe Jugendfreundſchaft. Ernft Waltenberg war Menſchen 
fenner genug, das jofort einzufchen, und deshalb nahm er dic 
Borftellung Reinsfelds fehr liebenswürdig entgegen. 

„Wir find ſoeben erft gefommen," fagte diefer nach der 
üblichen Begrüßung, „und wir gewahrten Sie anfangs gar nidıt 
in dem Iuftigen Treiben bier auf der Alm. Mber wo ift denn 
Wolfgang geblieben? Ich habe Ihren nunmehrigen Verwandten 
mitgebracht, gnädiges Fräulein. Wolf, wo ſtedſt Du denn?“ 

Der Ruf war überflüfftg, denn Elmhorſt jtand etwa fünfzig 
Schritte entfernt, den Blid unverwandt auf die Gruppe gerichtet. 
Er hatte ſich offenbar nicht nähern wollen; jetzt erſt trat er 
langlam heran, und Benno konnte nicht umhin, ſich zu wundern, 
daß die Begegnung der „Verwandten“ jo ungemein fremd ausfiel. 
Wolfgang verneigte fich ſehr förmlih und Erna nahm eine fü 
fühle Haltung an, als fei ihr dies Zufammentreffen nichts weniger 
als erwünſcht. 


„Ich glaubte, Sie würden heute abend in Oberjtein fein, 
Herr Elmhorſt,“ fagte ſie. „Sie Sprachen doch geitern davon?“ 

„Allerdings, und ich war auch dort bei Benno, aber er 
überredete mic), mit ihm zur Alm herauf zu fteigen.“ 

„Damit er einmal ein wirkliches Sonnwendſeuer ſieht!“ fiel 
Benno ein. „An Oberftein wird es ja auch angezündet, aber dort 
finden fich das ganze Dorf, mit Kind und Kegel, die fämmtlichen 
Arbeiter der Bahn, die Ingenieure und eine Menge von Bäften aus 
Heilborn zufammen. Da wird der alte ichöne Voltsbrauch zu einer 
lärmenden Schauftellung für die Fremden. Hier oben haben wir 
noch echtes umverfälichtes Gebirgsleben. — Da ift ja auch der 
Sepp! Wie geht es, Alter? Na, wir find audy dabei, Ihr ſeht 
es freilich nicht gem an diefem Tage, das weiß ich und habe 
deshalb auch in Oberjtein kein Wort von unferer Bergpartie ver- 
lauten alien. Uber uns müßt Ihe ſchon in Kauf nehmen, das 
heißt, den fremden Herrn da und den Herrn Oberingenieur, denn 
das gnädige Fräulein und ich, wir gehören doch eigentlich dazu.” 

„a, Sie gehören dazu!” bekräftigte Sepp feierlih, „Sie 
dürfen beifeibe nicht fehlen.“ 

„Ic möchte doch dagegen protejtiven, jo vollftändig als 
Fremdling behandelt zu werden," fagte Wolfgang. „Ach lebe 
feit drei Nahren in den Bergen.“ 

„Aber im fortwährenden Kampfe mit ihnen,” warf Walten: 
berg halb fpöttifch ein. „Ach glaube faum, daß man Ahnen 
darauf Hin Heimathsrechte zugeiteht.” 

„Nein, höchſtens das Recht des Eroberers,“ jante Erna fall. 
„Herr Eimborft rühmte ſich ja jhon damals bei feiner Ankunft, 
er werde Befitt nehmen von dem Reiche der Alpenfee und es in 
Feſſeln ſchlagen.“ 

„Sie ſehen doch, gnädiges Fräulein, daß das feine Prahlerei 
war,” gab Wolfgang in dem gleichen Tone zurüd. „Wir Haben 
fie bezwungen, die ftolze Herrfcherin des Gebirges. Sie hat cs 
uns freilich ſchwer genug gemacht und fi jo verſchanzt in ihren 
Felſen und Wäldern, daß wir ihr jeden Fuß breit des Bodens 
erft entreißen mußten, aber befiegt wurde fie doch! Im Spätherbit 
werden bie legten Bauten vollendet und ſchon im nächften Frühjahr 
braufen unfere Bahnzüge durch das ganze Wolfeniteiner Gebiet.“ 

„Schade um das herrliche Alpenthal!” jagte Waltenberg. 
„Es verliert feine ganze Schönheit, wenn exit der Dampf Befip 
davon genommen hat und der gellende Pfiff der Lolomotiven die 
erhabene Ruhe des Hocgebirges ftört.” . 

Wolfgang zudte die Adyjeln. 

„Ich bedaure, aber mit ſolchen poctifchen Erwägungen kann 
man ſich wirklich nicht abgeben, wenn man dev Welt nene Wer 
lehrswege erschließt.“ 

„Der Welt, die Ihnen gehört! Sie haben ſich ja hier in 
Europa längjt mit Dampf und Eifen zum Herrn derfelben ge: 
macht. Man wird fchließlic mach irgend einer fernen Anfel im 
Deean flüchten müſſen, um ein ftilles Thal zu finden, wo man 
ungejtört träumen fann.“ 

„Wenn Ihnen dies Träumen als alleiniger Zweck Ihres 
Dafeins erjcheint — allerdings, Herr Waltenberg. Bei uns gilt 
die That dafür.” 

Ernft biß ſich auf die Lippen, er jah, dab Ema zuhörte, 
und vor ihr in folcher Weife zurechtgemwielen zu werben, war 
mehr, als er ertrug; er nahm wieder den vornehm nachläſſigen 
Ton an, mit dem er jchon bei der eriten Begegnung veriudht 
hatte, den „Streber“ zu demüthigen. 

„Der alte Streit, den wir ſchon damals im Wintergarten 
des Heren Präfidenten führten! Ach habe nie an Ahrem Thaten 
drange gezweifelt, Herr Elmhorſt, und Sie Haben ja auch ein 
glänzendes Rejultat damit erreicht.“ 

Wolfgang richtete ſich hoch auf, er wußte, wohin die Be 
merfung zielte und welches Rejultat gemeint war, aber er fächelte 
nur verächtlich. Hier war er nicht der „künftige Gemahl von 
Alice Nordheim“, wie bei der Nefidenzgefellihaft, hier jtand er 
feft auf eigenem Boden, und mit dem ganzen ftolzen Selbjtgefühl 
eines Mannes, der fich feiner Kraft und feines Erfolges bewußt 
ift, erwiderte er: 

„Sie meinen meine Thätigkeit als Ingenieur? Die Wolfen: 
ſteiner Brüde ift allerdings mein erjtes Werk, aber ich denfe, ſie 
ſoll nicht das legte fein.“ 

Waltenberg veritummte. Er Hatte bei feiner Ankunft ja 
auch den fühnen Riefenbau geichen, der fich von Fels zu Fels 


° 556 


über die gähnende Schlucht ſpannte, und fühlte, dab er es auf- 
geben müjje, den Mann, der das gefchaffen hatte, als einen 
Glũcksritter zu behandeln. , Und wenn er zehnmal feine Hand 
nad) der Tochter des Millionärs ausjtredte — in diefem Elmhorſt 
lag doch mehr als bloßes Streberthum, er hatte es bewiefen ; 
felbjt fein Gegner mußte das anerfennen, wenn auch widerwillia 


genug. 

„Ich habe hier in der That gelernt, den kühnen Ingenieur 
zu bewundern,“ wverfeßte er nad einer augenblidlichen Pauſe. 
„Es ift ein großartiges Werk.“ 


„Es ift mir ſehr ſchmeichelhaft, wenn Sie das zuge: | 


jtehen, der Sie die Bauten der halben Welt kennen.“ 

Die Worte Hangen verbindlich, aber die Wide der beiben 
Männer kreuzten ſich wie zwei ſcharfe Klingen. 
es in dieſem Momente deutlich, daß mehr als Abneigung, daß 
entſchiedener Haß zwiſchen ihnen lag. 

Erna hatte ſich bisher mit feiner Silbe an dem Gefpräche 
betheiligt, aber fie mochte es doch wohl fühlen, wer hier Sieger 


blieb, denn ihre Stimme verrieth eine faum verhehlte Gereiztheit, 


als fie ſich endlich einmifchte. 
„Beben Sie e8 auf, mit Herrn Eimborft zu ftreiten. Er 
ift ebenfo eifern wie feine Werfe und die Poeſie hat für ihn 


Sie empfanden | 


SS 


überhaupt teine Berechtigung auf der Welt. Wir beide gehören 
eben einer ganz andern Welt an und über die Kluft wird er 
feine Brüde ſchlagen.“ 

„Wir beide — ja wohl!“ wiederholte Ernit, indem er ſich 
rasch zu ihr wandte. Vergeſſen war der Streit, und der Haß 
ging unter in dem Strahfe, der aus feinem Auge brach, es hatte 
einen fast trinmphirenden Klang, dies „Wir beide!” 

Wolfgang trat plötzlich zurüd mit einer fo jähen, heftigen 
Bewegung, dat Benno ihn höchit verwundert anfah. Der Doktor 
ſprach gerade mit Veit Gronau, der herbeigelommen mar, als er von 
Sepp den Namen Reinsfeld hörte, und ſich nun ſelbſt voritelfte. 

„Erinnern Lönnen Sie fih meiner unmöglich,“ fagte er 
foeben. „Sie waren noch ein Heiner Bube, als ich im die weite 
Welt ging So müſſen Sie es mir denn auf mein chrliches 

\ Geficht hin glauben, daß ich ein Jugendfreund Ihres Baters ge 
wefen bin. Er ift längſt tobt, ich weiß es, aber ich benfe, der 
Sohn wird mir ben Händedruck nicht verweigern, den ich meinem 
alten Benno nicht mehr geben kann.” 

„Gewiß nicht," verficherte der Doktor, indem er die dar- 
ebotene Hand kräftig drüdte. „Nun laflen Sie mic aber auch 
ören, wie es kommt, daß Sie in Europa wieder auftauchen.“ 

(Fortjegung folge.) 


* 
€ 





Das Hiegesdenkmal auf dem Marktpfage in Leipzig. 





m 18. Augujt, am Tage der Schladt von Gravelotte und 

Saint: Privat, wird in Leipzig das Siemeringfhe Sieges 
dentmal enthüllt, welches lange Jahre Hindurd die Gemüther der 
Zeipziger Bürgerjhaft jo angelegentlich befchäftigt hat. Nament: 
lich die Frage, welden Plag das große Monument ſchmücken folle, 


hat lange Zeit vielen Staub aufgewirbeit. Die Entſcheidung, 
unterjtügt durch die Gutachten der Sunftverjtändigen, fiel zu 
Gunſten des Marktplatzes aus. Hier im Herzen der Stadt, vor 
dem alten ſchönen Rathhaufe, umrahmt von den hoben alter 
thümlichen Häufern, von denen es fid im feiner energiſchen 
Öliederung wirkſam abhebt, wies man ihm feine Stelle an. 

So erbebt es fich jet auf dem Markte, ein echtes Volks—⸗ 
denfmal, mitten im vegen Leben und Treiben des Tages. Gekrönt 


wird es von dev mächtigen Geſtalt der Germania, die als Kriegerin 
nad erfämpftem Siege, als gewaffnete Schirmerin des Friedens 
erſcheint. Ihr Schwert ruht in der Scheide. Sie hat es vom 
Gürtel gelöft, über die rechte Schulter gelegt und Hält es am 
untern Ende; ihre Linke ruht auf dem mit dem Reichsadler ge- 
zierten Schilde. Der faltenreiche, in breiten Maſſen angeordnete 
Brofatmantel ift zurüdgeichlagen, wird am Halfe mit einer 
Spange zufammengehalten und läßt die ftolze Geftalt, die von 
einem Lederpanzer umfpannt wird, in aller Kraft und Schönheit 
hervortreten. Das etwas nad links, dem Rathhauſe zugewendete 
Haupt wird von einem geflügelten Helm bededt; unter dem Helm 
quillt das reiche Haupthaar Hervor und wallt frei über Nacken 
und Rüden. Der Ausdrud der Züge ift von energifcher Schönbeit, 





— 57 » 


von ftoßzer Sclbftgewißheit, nicht Iriegeriich drohend, Fondern 
friedlich geſinnt, den Frieden jchügend. 

Diele Germania, in Kupfer getrieben, aus der Howaldtichen 
Wertitatt in Braunschweig hervorgegangen, hat beinahe die doppelte 
Größe der unteren überlebensgroßen Figuren, An den vier Eden 
des Hauptiodels auf ſtark ausladenden Rojtamenten jchen wir die 
Reiterjtandbilder des Königs von Sachen, des deutjchen Kron— 
pringen (des jüngft veritorbenen Kaiſers Friedrich III.), des 
Neichäfanziers Fürjten Bismard und des Generalfeldmarſchalls 
Strafen Moltfe. Alle bezeugen das feltene Talent des Meiſters 
für monumentale Rorträtbildnerei. Er weiß das Charakleriſtiſche 
in großen Zügen zu treffen und verliert ſich nirgends in Fleinliches 
Detail. Die Borderfeite des Hauptiodels zeigt uns die erhabene 
und wunderbar zu Herzen prechende Gejtalt Kaijer Wilhelms 
als Rundfigur; er ijt ſitzend dargeſtellt, im vollen Krönungs— 
ſchmutle, das Haupt lorbeerumkränzt; der Thron tritt aus einer 
Niſche der Boftamentiwand auf halbrundem Sodel heraus. 

An jeder der vier Seiten des Hauptpoftaments ftehen, nach 
den Eden zu, zwei Fahnenträger, volfsthümliche Kricgergeftalten 
mit dem einenartigen Gepräge bejtimmter Waffengattungen. So 
gipfelt jich das Denkmal von der breiten Grundlage des fümpfen: 
den Volkes, durch den Kreis der Herrscher, Feldberren und Staats- 
männer zu der Idealfigur der allbeherrichenden Germania empor. 

Die Inſchriften des Denkmals künden mit ſchlaghafter Kürze 
feine Bedeutung: 


„Unf'rer Bater heißes Sehnen, 
Dentichlands Einheit, ift eritritten, 


Unf're Brüder haben freudig 
für das Neich den Tod erlitten. 


Entel mögen Traftvoll walten, 
Schwer Ernungenes zu erhalten.” 
So hat die Stadt Leipzig mit treuem Bürgerlinn ein Denkmal 
errichtet, weldyes nicht nur ihe jelbjt, jondern auch dem ganzen 
Deutichland zur Ehre gereicht, und aud zum größten Nuhme 


In der Schutzhütte. 


dem Meifter, der es geichaffen. Rudolf Siemering, der ben 
Lefern der „Gartenlaube“ im früheren Schilderungen ſchon be- 
gegnet it, ſtammt aus Dftpreufen, aus jenem Sande, in welchem 
große Denker das Licht erblidt haben, weldyes aber der bildenden 
Kunſt bisher wenig Meifter geſchenlt hat. Siemering ift im 
Jahre 1835 in Königsberg geboren, kam dann nad Berlin zu 
Bläfer, wo er mitarbeitete an den Meliefs für die Dirihaner 
Brücke. Aus der für das Berliner Scyillerdentmal ausgeichriebenen 
Konkurrenz ging er neben Reinhold Begas als Sieger hewvor. 
Sein Entwurf wurde zwar wicht ausgeführt, doc) fand der Künſtler 
fortan die warme Theilnahme und Beachtung der Kunſtlenner. 
Bald gewann er auch die Anerkennung weiterer Kreiſe durch feine 
fitende Figur König Wilhelms I. in der Vorhalle der Berliner 
Börfe, durch fein Denkmal Albert von Gräfes und die Büſte von 
Wilms vor dem Bethanienhofpital in Berlin, durd das 1877 
für Marienburg geichaffene Denkmal Friedrichs des Großen und 
vor allem durch feine bedeutendfte bisherige Schöpfung, fein 
Lutherdentmal zu Eisleben, welches am 10. November 1883 ent 
hüllt wurde. Durch fein Leipziger Siegesdenfmal hat er ich jetzt 
neben den Dresdener Meijter Schilling geitellt. 

Die gediegene Kraft des oftpreußiichen Vollscharakters prägt 
ſich in feinen Schöpfungen aus; er ift wahr und fchlicht, marfig 
und treffend in feinen Bildniſſen. Ein Meiſter iſt er beſonders 
im Relief, wie der Reliefſchmuck beweiſt, mit welchem er die 
beim Einzug der Truppen in Berlin 1871 im Luſtgarten er: 
richtete Gejtalt der Germania ſchmückte, deren Abbildungen die 
„Gartenlaube“ im Jahrg. 1971, S. 772 und 773 brachte. Auch für 
die Leipziger Siegeegöttin war ein folder Relieſſchmuck bejtimmt, 
und zwar für die Seitenwände des Hauptjodele, An feine Stelle iit 
jebt auf der Vorderfeite das Bild des Kaiſers getreten. Jeden 
falls hätten die großen für diefen Sodel entworfenen Reliefs, 
die mit Nüdjicht auf die Koften nicht zur Ausführung gelangten, 
durch ihre malerische Wirkung für des Künſtlers fchöpferiiche 
Kraft im dieſem Bereiche der bildenden Kunſt ein glänzendes 
Zeugniß abgelegt. fr 


Rahorat verboten. 
Alle Rechtt vorbehalten. 


Hovellenkram von Ioßannes Wroelf. 
(Fortfebung.) 
3 Bochgefreit. 
‚ Meine periönliche Erfahrung jebt mich dagegen in Stand, dem 


ic Damen bedauerten Tebhaft, daß die Erzählung des jungen 

Altronomen feinen befriedigenden Schluß babe. Dieſer ent- 
ichuldigte fich, er fei fein Dichter, und die Gefchichten, welche das 
Leben dichte, blieben nun einmal öfters ohne harmonischen Abſchluß. 

„Bielleicht ift die Ihre aber noch gar nicht zu Ende,“ meinte 
der Maler, „und das Leben dichtet Ahnen noch unvermuthet den 
paſſenden Schluß hinzu.“ 

„Offen geſtanden, ich habe früher manchmal auch dieſen Aber— 
glauben gehegt; jetzt bin ich aber längſt der Meinung, daß gerade 
der poetiſche Reiz meines Abenteuers in feinem fragmentariſchen 
Charalter beſteht, und gerade darin erblide ich das Weſen des 
Banderzaubers, daß auf Reifen jelbjt Herzenserlebnifie an der 

Seele flüchtig vorüberziehen wie die Eindrüde der Landichaft und 
feinen anderen Eindrud zurüdlaffen, als den eines ſchönen, rein— 
bealüdenden Bildes.” 

„Im Grunde iſt denm doc diefe Auffaſſung,“ 
Profeſſor Schröder das Wort, indem er fich über den weißen 
Bart ftrich, „ebenfo romantisch wie pefjimiftiih. Mir fielen vorhin 
bei Ihrem Schluß ein paar Berfe Scheffels ein, des Dichters, 
auf deiien Spuren wir bier im Gebiete des Säntis wandern, 
Berie, die für feine im Grunde jo melancholiſche Gemüthsart ebenſo 
bezeichnend find wie für feine Neigung, an die Schönheitswelt der 
Alpen feine poetischen Gedanfen anzulnüpfen. Er ſchildert in dem 
Sedicht eine Wanderung fahrender Schüler über Alpenhöhen: 


‚hier blihzt ein Städtlein und dort ein Geſilde, 
Dort eines Stromes ſich Schlängelnder Yauf, 
Dort aud) ein See, wie ein Menſchenaug' milde, 
Aus der vernebelten Kerne herauf. 
Flüchtig nur wintt es und flüchtig verſinlt es 
In das umflorende Dunftmeer zuräd . . . 
& ift das Leben — fternichnuppig nur blinft es ... 
Sp ift die Minne, die Hoffnung, das Glück.“ 


1833 


ergriff nun 


Leben wie dem Reiſen bleibendere und tiefer greifende Segnungen 
nachzurühmen. Mich wenigitens hat meine erſte größere Reife 
in die Alpenwelt nicht nur von Shnlichem Peſſimismus befreit, 
fondern auch an dauerndes Glüch zu glauben gelehrt. Wenn 
niemand ſonſt fidy zum Worte meldet, will ich Ahnen dies Er: 


lebniß erzählen,“ 


unſer junger Freund in Bonn, 


„Bitte, Here Profeſſor! Wir hören!“ 

„Jene Tage liegen bereits jo abgeflärt hinter mir, daß id) 
von dem jungen Privatdozenten Hermann Schröder, dem Helden 
meiner Geschichte, völlig objeltiv erzählen fann, tie von einem 
auten Freund, an defien Jugendgeſchicken ich einſtmals herzlichen 
Aniheil genommen. Wie jchon angedeutet, war diefer für feine 
Wiſſenſchaft begeifterte junge Gelehrte in der Zeit, welche jenem 
Erlebniß vorausaing, von einem Peſſimismus angekränfelt, wie 
er ihm ſpäter nie hat theilen können. Diefer Peſſimismus war 
freitih feine Meußerung eines etwa angeborenen Trübfinns, 
jondern die Folge von Ereiquiffen, die nicht mur auf ihm fo 
niederdrüdend gewirkt haben. Seine Univeriitätsjahre fielen in 
jene Zeit, da die Träger der deutichen Bildung von der Deutichen 
Nationalverſammlung in der Frankfurter Ranlsfirche eine Neu- 
errichtung des deutichen Neichs im Zeichen der Freiheit erhofften 
und auch anfangs erhoffen durften in Anbetracht der Begeifterung, 
mit welcher, gleich den edelſten deutichen Männern wie Grimm 
und Uhland, der beite Kern des Volls in allen Schichten diejem 
Ideale anbing und zuitrebte, Ein aeborener Nheinländer, ſtudirte 
aniangs die Nechte, bis er fid) 
mit wachiender Ausichtiehtichfeit den ſchönen Wiſſenſchaften, im 
befonderen der Litteratur- und Kunſtgeſchichte, zuwandte, ange 
zogen durch die glänzenden Vorträge Gottfried Kinkels, welchem 


‚ er and) troß des Unterichieds in Stellung und Alter freundichafttich 


71 


näher trat, 
finns fchon wiederholt gemaßregelten Dichters herrichende poli- 
tische Erreptheit, feine Theilnahme an den Nämpfen für die Ver- 
wirflihung eines freigeeinten deutichen Baterlands ergriff auch 
ihn, und als die fo jchön erblühten Hoffnungen dann im Jahre 
1848 gewaltiam zeritört wurden, fand die revolutionäre Gegen— 
bewegung der Batrioten auch ihn in ihren Reihen. An dem 
Sturm auf das ZFeughaus in Siegburg nahm auch er theil und 
würde dem geliebten Yehrer und Führer Sogar auf den Kampf— 
pla in der Pfalz und Baden gefolgt jein, wenn ihn nicht direkt 
nach jener Sturmnacht ein bitiges Nervenfieber ergriffen und 
ihm jeder Theilnahme an allem, was ihm theuer war, entzogen 
hätte... . 

Dod mic beengt die objektive Erzäblungsform, die ich 


DS o 


Die in dem engeren Kreiſe des wegen feines Arei- | 


wählte, laſſen Sie mid nicht mehr wie von einem Fremden, 
ich beide bald. 


fondern frei von der Leber weg von mir jelber erzäblen. 

Als ich wieder genas, war Kintel aefangen und mit ihm fo 
mancher, auch mir licher Gefährte des Ziegburger Waflenganges; 
andere Geſinnungsgenoſſen waren nad) der Schweiz und England 
geflohen, denn die Reaktion wüthete unbarmberzig. Auch ich 
wandte mic nad) Zürich, wo ic meine Studien zum Abſchluß 
brachte, mein Doltoreramen beftand und dann an die Ausarbeitung 
eines größeren litterargeichichtlichen Werkes ging, das meiner 
Geiftestichtung entſprach; es behandelte die Anfänge der politischen 
Dichtung im Vlittelalter. Die Arbeit follte mie die afademijche 
Laufbahn ebnen, für welche ich inneren Beruf fühlte. Sie follte 
mid aber auch abziehen von der Gedankenwelt trübiter und troft- 
loſeſter Urt, welche ſich meines Gemüthes infolge des Fehl— 
ichlagens jener großen Erwartungen bemächtigt hatte. Empfand 
ich doch ſogar meine Freiheit, mein Unbehelligtbleiben, während 
meine Freunde im Kerker Schmachteten, als eine Schuld, obgleich 
ic) doch wahrlich) nicht dafiir verantwortlich war, daß meine 
Natur unter den ungewohnten Aufrequngen So ſchnell einem 
Nervenfieber zur Beute fiel. Bei den Eindrüden, welche mid) nad) 
dem Verlaſſen des langen Aranfenlagers empfingen, hatte mein 
angegriffenes Geiſtes- und Seelenleben wicht recht wieder geneſen 
können. ine allgemeine Berftimmung der Nerven war zurüd: 
geblieben, ein die Thatkraft lahmendes Mißtrauen in meine Nraft 
und die Kraft der Menjchen überhaupt; ſie änferten ſich in einem 
reſignirten Berftummen all den idealen fragen gegenüber, die 
mir vorher das Herz fo mächtig bewegt hatten, wahrend mein 
Geiſt über die Umzulänglichfeit menſchlichen Wollens, über die 
Ohnmacht idealen Streben trojtlos grübelte, Ach empfand es als 
demütbigende Schmach, durch die Schwächlichfeit meines Körpers 
um die Ehre gebracht worden zu fein, für meine Geſinnungen im 


— 


An jene Tage, da auch in Wien, dem Wien Metternichs, 
für die Freiheit gelampft wurde, fühlte ich mich täglich beim 
Huf- und Niederiteigen der Treppe zu meiner bochgelegenen Wohnung 
durch das Schild vor der Wohnung des eriten Stodwerts erinnert, 
das einen altariftofratifchen Namen trug, welcher, einem der Führer 
der Reaktion in Dejterreich zugehörig, damals viel, in liberalen 
Kreifen aber immer nur mit Abneigung, ja erbittertem Grimm 
genannt wurde. Freilich war es nicht jener berüchtigte Staats 
mann felbit, der bier wohnte. Wie ich von meiner Wirthin, 
einer gutmüthigen alten Wiener Kleinbürgerin, der ein Plauſch 
über alles ging, ſchon bald nad) meinem Einzug erfuhr, wurde 
der erſte Stock von einer Schwägerin des gefürchteten „‚Demagogen- 
riechers; bewohnt, deren Mann Leibarzt eines der Taiferlichen 
Erzberzöne geweien und früh gejterben war. Sie bewohnte die 
ſchöne Gtage mit ihrer einzigen Tochter. Auch zu ſehen befam 


Der Eindrud war ein ſehr verichiedener. Die alte Medizinal— 
räthin hatte im ihrem Weſen und Antlip ganz jenen Stolz aus 
geprägt, der den Ambitionen dieſer Familie entſprach, und ihre 
fühle, jtrenge Art wirkte um fo auflälliger, als die Dame beitändig 
auf die Hilfe und Liebe von ihr untergebenen Menſchen angewieſen 
war: fie hatte ein neuralgiſches Yeiden und musste jich im Nollituhl 
fahren laſſen. Die Tochter, deren Gejtalt von vollendeter Schön 
beit war, hatte dagegen in ihren Zügen zwar auch einen Zug 
von erniter Zurückhaltunug und vornehmen Selbſtbewußtſein, 
welcher die natürliche Anmuth derselben beeinträchtigte, aber in 
ihrem Blide äußerte ſich ein warmes Seelenleben, das ſehr wenig 
zu der froſtigen Gemeſſenheit ihres Benchmens paßte. 

Ich hatte gleich beim erften Begegnen Gelegenheit, dieſen 
Blick kennen zu lernen. Bei der Rückehr von der Bibliothek 
fand id; eines Abends den Eingang ins Haus gejperrt durch deu 
Kolljtuhl der alten Dame, der von einem gleichfalls bejahrten 
Diener in den Flur aeichoben wurde. Da ihm die Schwelle bei 
diefer Manipulation einige Schwierigkeit machte, war Das 
Fräulein vor der Thür jtehen geblieben und ich wurde auf dieie 
Weife ihr Gegenüber, da ich natürlich auch warten mußte. Un 


willlürlich Lüftete ich grüßend den Hut; fie emwiderte den Gruß 


offenen Kampfe einzufteben, und mit Neid auf das Märtgrerihum | 
meiner eingeferferten Genoſſen las id die Berichte von deren | 
fühner Standhaftigteit im Verhör, während fih um meine geringe | 
Betheiligung jelbjt die Unterfuhungstommiffionen nicht fümmerten. | 


Meiner Heimlehr ins Baterland jtand nicht einmal ein elender 
Stedbrief im Wege. 

Dennoch trat ich Ddiefelbe nicht an. Die Nachrichten von 
der Nenktion, die auf allen Gebieten aeiftigen Lebens Platz ne: 
ariffen, Inuteten zu abſchredend für einen jungen Gelehrten, für 
dejien Beruf Gedanlen- und Hedefreiheit Boransjchung des Ge: 
deihens find. So habilitirte ich mich im Zürich als Privatdozent 
und verwandte den größeren Theil meiner Zeit auf mein Bud), 
deſſen Intereſſe mich ſchließlich doch nöthigte, einige deutiche 
Städte ihrer Vibliothefen wegen aufzusuchen, um dort gewiſſe 
Uuellenwerte und Handſchriften zu benugen, 

Eine jolche Reiſe führte mich im Frühjahr 1851 nad) Wien, 
und da mich dort unvermuihete Funde von Mannjfripten, die ich 
auf der Faiferlichen Bibliothet machte, zu einer durchgreifenden 
Umarbeitung mehrerer Napitel meines Buchs nöthigten, blieb ich 
dort länger, als ich uriprünglich beabjichtigt hatte, fante für das 

Semeſter meine Vorlefungen ab und miethete mich in der Nähe 
der Bibliothek ein, wo ich mich bald derart hinter meinen Büchern 
eingeiponnen halte, daß ich von den Lockungen des Frühlings 
und der lebenslujtigen Kaiſerſtadt kaum etwas ſpürte. Für mich 
war und blieb diefe das ‚Capua der Geilter‘, wie ſie der 
ftrafende Mund des Dichters genannt hatte, Der fröhlich leichte 
Zinn der Bevölkerung erichien mir jo kurze Zeit nach den 
furchtbaren Auftritten der Straßenkämpfe fait als irivale Leicht 
ſertigleit. 


mit einer kühlen, laum merklichen Neigung des Kopfes, doch mit 
einem Blick, der in höflichiter Weiſe um Entichuldigung bat wegen 
der von der Mutter verurjahten Störung der Paſſage. Dieie 
ſtumme Art nöthigte mich unwillkürlich auch zum Schweigen; fie 
verdroß mid), denn ich meinte, darin die Anmaßung der jungen 
Ariftolratin erfennen zu follen. Während der Diener in Gemein: 
ſchaft mit einem Stubenmädchen, das beruntergeeilt war, den 
Rollſtuhl ſammt der Baronin hinanftrug, paffirte dem Manne ein 
Unglüd. Er trat fehl, Ätrauchelte und wäre wahricheinlich ae 
fallen, wenn ich, der ich Hinter ihm ſchritt, ibm nicht Hätte 
auſhalten lönnen, worauf ic) ihm Furzer Hand und das Yamento 
der erichrodenen alten Dame nicht achtend, die noch fehlenden 
Stuſen den Stuhl tragen half. Dann grüßte ich kurz und jtumm, 


| ganz wie die alte Dame, ohne daß es mir entging, wie die 


Tochter mir einen Blich voll freundliher Sumpathie nachlandte. 
Ich begegnete ihr noch oft, und fie erwiderte ſtete freundlich meinen 
Gruß, aber die Wärme jenes Blides Fand ich micht wieder. Doch 
vergeſſen konnte ich ihm nicht; er Stahl fich in meine Träume, er 
leuchtete plößlich zwiſchen den Heilen meiner alten Pergament 
folianten hervor, im denen ich die Originale der Minnelieder 
altprovengaliicher Troubadours, der Bertrand de Born und Guillem 
de Cabeſtaing jtudirte, Strophen, die jene kedfen Belenner kühner 
und freier Gedanfen einit an geiellichaftlich hoch über ihnen ftehende 
rauen gerichtet hatten, durchglüht von hoffnungsloſer Liebe. 
Thoren, die fie waren, ſagte ich oft in jenen Tagen zu mir, 
Thoren, ſich in fo unnahbare Wefen zu verlieben, welche — wert 
fie wirflich die Frauen dieſer Dichter geworden wären — ſie 
in jeder Beziehung die erhoffte Herzens: nnd Geiftesgemeinfchaft 
bätten entbehren laffen. Rene — muthvollen Kämpen einer neuen 
Zeit mit freien Anſchauungen und dieſe hochariftofentiichen Ritter: 
damen, ganz erfüllt von den Vorurtheilen eines berzlofen, in ftrenge 
Formen gezwängten Feudaliemus! ... Ich aber — fühlte mid) 
gewappnet gegen derartige Schwächen. Und wenn mich jene Blide 
noch tiefer getroffen achabt hätten, ich hätte mich jchon hüten 
wollen, ibnen mein Herz preiszugeben. So meinte ich. Doc 
wenn ich ihr dann wieder auf der Treppe begegnet war vder beim 
Voräbergeben ans ihrer Wohnung den Gejang einer mich im 





e 59 » 


Innerſten ergreifenden Altitimme vernonmen hatte — das Mignon: 
lied in Beethovens herrlicher Kompoſition fang fie mit Vorliebe — 
da waren meine Gedanken wieder ganz in ihrem Baun und mir 
war, als habe ich ſelbſt ähnliche Gedichte an fie zu richten wie 
jene bofnungslofen Troubadours. Da, es war Thorheit, es 
war Wahnfinn, was jene gethan; aber was Kimmert fich Die 
Liebe darum, ob das, Was fie amitiftet, Thorheit ift. Ach war 
verliebt im jene ftolze Trägerin eines von jedem  freiiinnigen 
deutichen Mann damals achaften Namens — troß all meiner 
Klugheit . . . 

Natürlich lich ich ihr meine Empfindungen mit feinem 
Winpernichlag merken. Aber je mehr ich gegen die ſchnell empor 
gewachlene Seidenichaft anlämpfte, um fo mächtiger nahm Re von 
all meinem Denken und Kühlen Bejig. Ich ſchämte wich; ic) 
verhöhnte mich im Stillen; aber immer mehr zehrte das Ber: 
langen, fie zu fchen, an mir und machte mich zum Narren meiner 
Grumdläge. Denn dieſe Liebe erfchten mir in den Stunden 
ruhiger Ueberlegung als Verrath an meiner Ueberzengung. Schließ— 
lich verfor ich alle Füähigleit, wie bisher an meinem Werle fort 
zuarbeiten. Ich ging ſchon damit um, in eine andere Wohnung 
zu ziehen, weil ich es in Demfelben Haufe mit ihe doch nicht 
aushalten könne; da nahm mich eines Mittags ein junger Arzt, 
der nit mir denſelben Mittagstiich befuchte, bei Seite und fagte 
mit wohhvollendem Ernſt zu mir: ‚Lieber Freund, Ahr Ausichen 
und Ihr Werfen machen mir Sorge. Ihre Nervoſilät iſt in leiter 
Zeilt bedenklich geſteigert. Klappen Sie Ihre Bücher zu und reifen 
Sie auf ein paar Wochen ins Gebirg. Es iſt hohe Zeit! Folgen 
Sie memem Rathe!“ 

Ich folgte ihm um fo bereitwilliger, als ich au demſelben Tage 
durch meine Wirthin erfuhr, die Damen vom erſten Stod, von 
denen ich mehrere Tage nichts geſehen, frien, wie nun ſchon mehrere 
Jahre um diefe Zeit, nach Richt ins Bad gereiſt. Nicht als ob id) 
num die Abficht gehabt hätte, ihnen nachzureiſen, — im Gegentheil. 
Wohl Hang es wie Lodruf in meiner Seele, ihre Art, wie fie die 
Goetheſche Sehnſuchtsſtrophe Dahin. dahin’ gelungen hatte; aber 
die Reiſe, Die ich vorbatte, Tollte mich grade von folder Sehnſucht 
befreten, mich wicht wieder in ihre geführliche Nähe bringen, Aber 
dab auch fie nicht mehr Hier war, erfeichterte mie doch den Ent: 
ſchluß zur breite. Die öſterreichiſche Alpenwelt it To groß, 
und Jichl jo Hein; da lann man ſich ja ſchon ausweichen. 

Die Herrichaften fonnen das Salztammeraut? 

„Bir waren erſt voriges Jahr vier Wochen in Anuſſee,“ 
erwiderten zuftimmend die Kurzſchen Eheleute. 

„Und ich habe Ichon dreimal den Tachſiein bejtienen, das 
eine Mal vom Süden ber, die zwei andern Male von Golan aus; 
da iſt der Anstieg ein vecht ſchwieriger,“ Tante dev Engländer. 

„Und wir haben das herrliche Land von Ser zu See durch 
ſchweiit,“ riefen die Malersleite. Nur der Aſtroönom war noch 
nicht dort geweſen. 

„Nun, da Steht Ahnen noch eine Fülle lieblicher und groß 
artiger Eindrucke von eigenften Reize bevor. In jener herrlichen 
Gegend, wo eine fait füdliche Wegetation Die Thaler und Seeufer 
mit Luſtgärten überzieht, während zu ihren Zeiten mächtige 
Felſenkämme über waldigen Norbergen aen Himmel ragen, ging 
mir damals zuerit die Pradıt und Schönbeit unſerer Alpen auf. 
Und ned viel anderes, 

Sch ging wirklich nicht mach Iſchl. 
und empfand es mit Genugthuung, wenn 
ih im Unterhaltung fam, das modiſche Solbad zwiſchen den 
Zalzbergen für den langweiligften Ort im Lande erllärten. Ich 
reifte, Wie es meiner Inneren Unruhe entſprach, nad Laune von 
einem der Schönen Scen zum andern. Zuerſt machte ich am 
Traunuſee Station und bier war es, wo ich, dev Weiſung des 
Arztes folgend, mic allmählich an immer größere Bergtouren 
wagte, To daß ich feinen irgend erträglichen Tag vorüberlieh, ohne 
eine Höhe zu beſteigen. Im Anſang überwog die Anſtrengung 
den Genuß. Ich war ja des Steigens zu ungewohnt, um mich 
nicht von einem mehrſtündigen Auf- oder Niederſtieg wie zer 
ſchlagen zu fühlen. 

(ine der erſten fteileren Höhen, die ich damals erflonm, 
war in ihren Anfängen ein Salvarienberg und die Mühſeligkeit 
des Anſtiegs, den Wallfahrtsjiationen vorüber, erſchien mir in 
der That als eine Stafteiung. 
Schluß der Table d'hote aufgebrochen, Halte erſt in meinem 


Ich mied es ängstlich 
Touriſten, mit denen 


EG 


Mißmuthig war ich noch vor | 


Zimmer Ruhe geſucht, und da ich fie dort nicht fand, war ich 
aufgebrochen und hatte planlos den Wen eingefchlagen, von keinem 
anderen Wuniche beſeelt ala dem, allein zu fein und nichts mehr 
zu Hören von den Phrajen übertündhter Höflichteit und über: 
firnihter Thorbeit, die mich bei Tiſche umfchwiret hatten. Das 
waren nun Menschen, auf Mang und Stand höchſt eiferfüchtine 
Menichen geweſen, die ſich alle fir höchſt gebildet erachteten, und 
doch Hatte cin jeder geſprochen, als erichöpfe ſich in Toiletten, 


Küchen⸗, Etilette- und Sportfragen das Antereffengebiet des 
Geiſtes. Und das wird immer jo bfeiben, ſprach ich in mid) 
hinein. Aller Fortichritt der Menfchheit it nur ein fcheinbarer, 


weil man den Fortjchritt einzelner mit dem der Menfchbeit 
verwechiel. Der Wen, den ich beichritt, zog jedoch wegen 
jeiner Steilheit meine volle Aufmerfiamteit auf ſich. Es war 
das ausgewaſchene Bette eines offenbar einft mächtigen Be 
währe Wohl viele hundert Jahre Hatte hier das Waſſer fließen 
müſſen, che es diefen Wen To qlatt und Tauber in bie Felſen 
eingeichenert. 

Unwillkürlich fiel mir der lateinische Spruch ein: gutta eavat 
lapidem — der Tropfen höhlt den Stein. Und wie ih mühſam 
Schritt für Schritt anf dem fteilen Pfade empordrang, nur nach 
langer Mühe ein Ziel erreichend, das nad dem Augenmaß wie im 
Sprunge zu erreichen geſchienen, da miſchte ſich in meine Ge 
danken die verlöhnliche Einjicht, day eben auch die Höhen des 
menschlichen Rortichritts wicht allen zugänglich und nicht gleich— 
mäßig zu erllimmen find und die Langſamkeit des Vorwärts 
ichreitens in ihrer Natur begründet ift. Ne höher ich ſtieg, 
um fo Meinticher erichien mir der Anlaß meines Grolls, Uud 
als ich oben auf der Spike des Berges war, da überkam mid) 
ein wonniges Gefühl des Berreitfeins von Trübſal und Klein: 
muth, entzückt ſchweiſte mein Blid ins weite Sand über Berg 
und Thal, iiber bligende Spiegel von biauen Seen und Weihe 
Gipfel von blauen Bergen und auf meine Lippen drängte jich 
der Ausruf: ‚Die Welt iſt doch ſchön — troß alledem.‘ Und 
gleich dann mußte ich an fie denlen, deren Anblick ich fliehen 
wollte, deren Wild mich aber überallhin begleitete. Much fie, die 
Nichte des finjteren Realtionsmanns, Bier oben würde ſie aus 
dem Anblid der jchönen großen Gottesivelt eine ähnlich beireiende 
Wirkung gewinnen. 

Und mit jeder neuen Bergfahrt fühlte ich mich, obgleich fie 
mich den Menſchen entrüdte, den Menfchen und der bunten 
Mannigfaltigkeit ibres Strebens näher gebracht. Viel trug dazu 
bei der Eindruck, den ich von dem Leben der Landleute dieſer 
ichönen Gebirgswelt empfing, Die zähe Ausdauer, mit der 
diefe Lente dem entlegenften Grdjtrid zwischen Felſentrümmern 
Gras und Autterfränter für ihr Vich abgewinnen, ihre Genüg— 
ſamkeit und ihre Fähigleit, von Herzen froh zu fein im ihrer 
Dierftigfeit, jteigerte meine Achtung vor dem Menſchenthum 
und ließ mir die ſocialen Wuterichiede, Die uns im Dualın 
der Städte entziweien, im ihren Kern nur noch gering ericheinen. 
‚Und fie bewegt ſich doch,‘ ſagte ich mir, wenn ich in einem 
weltentlogenen Einödhof des Gebirgs moderne Werkjenge in 
Gebrauch Fand, und ſie bewegt ſich doch vorwärts, die Menſch 
hei — wenn ich Spuren geiſtiger Aufgellärtheit entdedte bei 
Lenten, denen ich die Kunſt des Leſens nicht zugetraut hatte. 
Und: Sollten wir uns nicht doch finden können? fügte ich bei, 
wenn ich der Slolzen gedachte, deren Piad mein Beritand hatte 
meiden wollen, während im Stillen mein Herz hoffte, ich möchte 
ihn kreuzen. 

Es war auf Der Strafe madı Golan, die vom Hallſtätter 
Zee aus om Fuße des Salzberas hin durd das waldumſchattete 
wildromantiiche Goſauthal führt. Die vielgerühmte Goſanſchmiede 
war mein Ziel: ich wollte in der Nähe des wunderſam ſchönen 
jtillen Alpenſees, der jeine anmuthige Idulle unmittelbar unter 
der Gletſchermajeſtät des gewaltigen Dachſteinmaſſivs entfaltet, 
ein neues Standauartier ſuchen. Ich war in der Fröhlichiten 
Stimmung und jang ein altes Studentenlied vom Wandern. 
Plotzlich hörte ich hinter mir einen Wagen in ſchnellem Tempo 
heranfahren. Da ich inmitten der Straße ging, jchwenfte ich 
nach vedhts ab, mich unwillkürlich nach der Urſache der Störung 
umichend. 

Eben fam die Equipage herangerollt und ichon mollte ich 
mic zum MWeitergehen wenden, da erblicten meine Augen Fräulein 
Fofephine neben einer freundlichen alten Dame im Wagen. Nur 


SETRIHNEBENE, 
— 
— —99 


Vi 


—— 


— 


— 





„Ich bin entſchloſſen, Frieden zu h 
Gröffnung des deutſchen Reidısfages | 


Originalgeicbn 


I — — 





rmann, fo viel an Alir liegt.“ 


Juni 1888, 


fer Wilhelm II. am 25. 
Zübders. 


562 > 


für einen Moment verlor ich die Faſſung. Dann grüßte ich 
höflich. Die Damen evividerten freundlich den Gruß und bie 
ältere, welche mid) mit Intereſſe angeblidt hatte, richtete dann 
eine Frage an ihre Nachbarin, worauf fie mit ihrem Sonnen: 
ſchirm dem Kutſcher das Zeichen zum Halten gab. 


Beide Damen wandten jich mit einfadender Gebärde nad) | 


mir um, id war an ihrer Seite. 

‚Ein Belannter meiner Nichte, Herr Doktor, das freut mich. 
Wir armen Frauen reifen So allein durd die Berge, da iſt das 
Vergnügen doppelt groß, einen Heren zu finden, an deſſen Rath 
und Stüge man zu appelliven ein Necht hat,‘ 

Die Nichte, welche hoch erröthend neben ihr ſaß, wollte fie 
unterbrechen. Die alte Dame aber ließ ſich nicht ftören und 
ſtellte fih vor ala Schwejter der Mutter Nofephinens, als welche 
fie es für ihre Pflicht gehalten habe, ihren Liebling aus der 
Monotonie des Iſchler Badelebens auf einige Tage zu befreien 
und fie zu einer MWagenpartie nach den fchönjten Orten des 
Salzfammerguts einzuladen. 
gnügungsiahrt ohne Herrengeſellſchaft! 

‚Aber Tante jlüfterte wiederum Joſephine. 

‚Ei was, id will mit Eurer Dudmäuferei nichts zu thun 
haben; ich ſage meine Meinung immer chrlic heraus. Alſo, 
Herr Doltor, Sie haben die Wahl. Wollen Sie zu uns ein— 
fteigen oder dürfen wir zu Ihnen auf die Strafe fommen, um 
an Ihrer Wanderluft tbeilzunchmen, die Ahnen da eben jo 
fröhlichen Geſang aus dem Herzen lodte? Joſephine, die über 
dieje Fröhfichkeit Schr erflaunt that — ich wundere mich qar nicht 
darüber — hat ſchon während der ganzen Fahrt beklagt, daß fie 
nicht zu Fuß durch die Schönen Thäler einherzichen tönne. Wollen 
Sie uns mitnehmen? 

Ich öffnete in einer ganz eigenen Stimmung, die aus Selig 
keit und Verlegenheit wunderſam gemiſcht war, den Wagenichlag, 
aber fie, deren Nähe mic) fo erregte, zögerte noch, indem fie mit 
einem Frageton, der fih an mid; wandte, zur Tante ſagte, fie 
wiſſe doch nicht, ob jie berechtigt wären, an mid, jolche Aniprüche 
zu erheben; Tante hätte fie falfch verftanden, wir hätten zwar 
in demjelben Haufe gewohnt — ‚Ei was da,‘ unterbrach fie 
die lebensluſtige alte Dame, ‚ſiehſt Du denn nicht, dah der Herr 
jeher erfreut iſt über den Zwiſchenfall? Nur ohne Umjtände! 
Schnell ausgeftiegen! Dafür find wir auf Reiſen. Kutſcher, 
fahren Sie nur immer voraus und halten Sie, wo die Wege 
nach Ober: und Untergojau jich theilen.‘ 

Auf diefem jo originell eingeleiteten Spaziergang durch eines 
der ſchönſten Alpenthäler der Welt, vor ums die zadige Wand 
der Donnerlogel, überragt von einigen ſchneeigen Spiten des 
Dachſteins, lernten wir ums nun eigent.ich erft kennen. Sie hatte 
bisher in ich! wie auch in Wien ein recht einfames Leben ge 
führt, Das Leiden ihrer Mutter und deren Hur-Diät hatten auch 
ibren Bewegungsbedürfniß enge Schranlen aezogen. Der ober: 
flächtiche Umaangston in den Bejellichaftskreiien, mit denen die 
Mutter Berkehr pflegte, hatte fie, wie ſchon gelegentlich der früheren 
Aufenthalte in Iſchl, wenig befriedigt. Na, fie war eine Nrijte- 
fralin, jie war in Fonfervativen und fendalen Anſchauungen auf- 
gewachſen; aber fie hatte das bürgerliche Element in feinen beiten 
Xertretern, in Künſtlern und Gelehrten, fennengelernt und in 
ihrer ſtillen Wohnung, wo ſie jeit des hocdhgebildeten Baters Tode 
viel einſame Stumden gehabt, hatte ihr die ſonſt von niemand 
benutzte Bibliothet des WVerftorbenen Quellen höchſter Bildung 
erſchloſſen. Wohl war jie in einer Kloſterſchnle erzogen und 





Aber troß dieſer Annäherung, troß der zwiſchen uns embor- 
blühenden Freundichaft blieb ein Etwas zwiſchen ums, was meine 
Hoffnungen niederdrüdte. Das viele Alleinfein, das leider nicht 
fehr Herzliche Verhältniß der Mutter zu der Tochter hatte in 
diejer eine gewiſſe Selbjtändigleit des Meinens und Willens ent- 
widelt, die mich bisweilen wie Standeshochmuth berührte. 

Unjer Leben im Schube der Tante hatte jich ſehr gemüthlich 


| geftaltet. Sie fuhr mit uns jpazieren, nahm die Mahlzeiten mit uns, 


anftrengendere Partien aber lieh fie uns allein unternehmen. So 
gab fie der nach einer richtigen Hochtour ſich ſehnenden Nichte 
auch die Erlaubniß, mit mir die Zwieſelalp und von da den 


| großen Donnerkogel zu bejteigen, dieje ber.lichen Ausfichtspunkte, 


Doch was ſei eime ſolche Ber: | 


welche gleichzeitig in die Gletfcherwelt des vielaipfeligen Dadı- 
ſteins aus unmittelbarer Nähe intimen Einblit und einen weiten 
Ausblid über die Höhen, Thäler und Seen ber Salzalpen ge 
währen. Sie hatte gehört, daß man dieje Gipfel ganz qut ohne 
Führer bejteigen könne, und fette meinem Vorſchlag, dennoch einen 
folchen zu nehmen, hartnädigen Widerſpruch entgegen. 

Es war ein heißer Tag, und obgleich wir ſehr früh am 
Morgen aufgebrochen, machte ih die Gluth der Sonne bald 
genug geltend. Wir ftiegen anfangs mit frischer Kraft und in 
beiter Stimmung die Zidzadwege zur Zwieſelalp bergan, deren 


Beſchreiten fein beſchwerliches gewejen wäre, wenn nicht der lockere 


dann von einer franzöfiichen Gouvernante mit jenen Nenntwiffen 


verjehen worden, die nur auf äußere Nepräfentation berednet 
find, aber fie hatte jeitdem aud) Goethes Fauſt' und Humboldts 
‚Nosmos* gelejen und ihre mir jo ſympathiſchen Augen btidten 
mit bejjerer Einficht in die Welt, als fo mancher meiner früheren 
Belannten, der jich hoher Bildung vermaß. Das alles erfuhr 
ich, während wir, bald allein, bald mit der freundlichen Patronin 
uns unterhaltend, der in ftiller Vergeinjamfeit gelegenen Gofan- 
ſchmiede zufcheitten. Daß ich aber den Muth zu all den Fragen 
fand, verdankte ich einzig dem befreienden und belebenden Einfluß 
der erhabenen Alpennatur. Wie bringt dod das Leben in der 
freien Natur der Natürlichkeit näher; wie ſchnell entitand hier 
eine herzerquidende Antimität zwiſchen zwei Menfchen, die drin 
in der Stadt, obgleich in demfelben Haufe wohnend, kaum mehr 
als drei Worte mit einander gewechjelt hatten! 


Slimmmerjchieier den Füßen nur einen jchlüpfrigen Halt geboten 
hätte. Ich lich fie zunächit voranichreiten, um ihr fofort, im 
Falle fie es bedürfe, als Stüge dienen zu Fönnen. Auch wenn 
ich micht verliebt gewejen wäre, würde mich der Anblid dev vor 
mir elajtiich emporfteigenden ſchlanlen Gejtalt entzüdt haben. 
Dennod) glitt ihre Meiner Fuß wiederholt aus und ich bot ihr 
an, fie bei der Hand zu führen. Das verdrof fie: ie bedürfe 
ſolcher Hilfe nicht. Auch bat ſie mich, voran zu gehen, ſie werde 
ſchon ſicher nachlommen. Da erſteres bei ſteileren Stellen ohnedies 
nöthig geweſen wäre, zögerte ich nicht, es zu thun. Doch er 
fuchte ich fie, dicht hinter mir zu bleiben. Da fie gerade wicder 
ein Rutſchen der Glimmerſteine verurſacht hatte, machte ſie, 
darüber ärgerlich, ich dran, den ſteinigen Fußpfad zu verlajien 
und über den arafigen, mit Knieholz durchießten Aohang emporzu 
tlimmen. Umſonſt warnte ich jie davor; fie ſchwang ihren Alpen 
ſtoch und jtieg vüjtig voran: bier fei der Wen viel weicher und 
zudem Schneide He dabei gehöria ab. 

Ich beeilte mid nun, an ihre Seite zu aelangen; es war 
auch hohe Zeit. Als ich bei ihr war, hatten jich ihre Füße im 
Geäſt eines breittwuchernden Alpenrojenbu ches verfangen; als fie 
glüchlich wieder frei war, lachte fie mich aber aus. 

Der Abhang wurde fteiler und jteiler, moosüberwachſene 
Felsblöcke jtellten fi in den Weg, und noch zeigte ſich nicht der 
Fußweg, auf den fie gedacht hatte, nach wenig Minuten wieder 
zu aelangen, Schattenlos dehnte fih vor uns die arüne, fels- 
überfäcte Bergbalde ſteilan; um mir zu zeigen, daß fie gar 
wohl den eigenwillig auſgeſuchten Schwierigfeiten gewachien jei, 
muthete ſich die ſolchen Steigens völlig Ungewohnte Ueber: 
menschliches zu. Ich drang in fie, einmal jtill zu jteben und 
zu raſten — Sie jchritt, ſchweigend mit dem Kopfe jchüttelnd, 
weiter; da — als ich wieder von dem jteinbeläeten Wege auflah, 
brach fie zuſammen. 

Ich eilte vorwärts. Hinter einer Zwergliefer fand ich jie, 
auf den Alpenroſentebpich bingeftredt. Eine Ohnmacht, ein Hitz 
ichlan hatte jie getroffen. Ich ſelbſt fühlte mich bei dem Anblick 
wie vom Schlage aerührt. Doch ermannte ich mid ſchnell. Ich 
hob ihr Haupt und legte es jo, daß cs vom Schatten der Kieſer 
gefühlt ward. Ich machte ihren Hals frei, damit fie freier 
athmen könne Dann nahm ich aus meinem leichten Ruckſack 
die milgenommene Weinjlaiche, von der zu trinken fie vorher 
abgelehnt Hatte. Ach nehzte mit dem kühlen Nah ihre Schläfe; 
dann Fette ich ihr die Flaſche an den Mund, der feit geichloffen 
war, Die erſten Tropfen viefelten ungetcunfen über Wangen 


und Kim. 


Auf einmal aber löſte fih die Starcheit in dem bleichen Antlig. 
Sie öffnete die Yippen und mit gierigen Zügen tranf fie von dem 
erquidenden Wein. Und jet öffnete jie die Augen. Träumeriſch 
fchaute fie im die meinen, die gewiß mit warmer Zärtlichfeit auf 
ihr ruhten. 

Welch ſchöner Traum! hauchte ſie und ſchloß die Augen 
wieder, jetzt mit dem Ausdrud wohliger Schlafſeligleit. Dann 


öffnete fie aufs neue wie durſtig Die Lippen. 
wieder den Wein; fie trank davon, doch nur wenig; dann 
fchüttelte fie enttäuscht den Kopf. 

Fräulein Joſephineß vier ich, indem ich mein Geficht zu 
dem ihren niederbeugte. Da fühlte ich meinen Hals von den 
Armen der Träumenden umfaßt, fie jchmiegte ihre Wangen an 
die meinen: 

„Hier bin ich!" fagte fie leife aus dem Traume heraus und 
nannte mit den Ausdruck särtlicher Liebe meinen Namen." 

Der Profeſſor, der ſelbſt wie im träumeriicher Entrüdtheit 
dies letzte erzählt hatte, blidte wie erwachend auf. Er fuhr ſich 
über die Stirn und lächelte dann feinen Zuhörern zu. 

„Wozu mehr erzählen? Das war mein ſchönſtes Reiſe— 
erlebnig! — Wie es fam, daß wir am Abend nad) dieſem 
Morgen als verlobtes Paar an jener Stätte glüdjeligen Unglüds 
wieder vorüberſchreiten fonnten? Das Bewußtjein weiblicher 
Schwäche, das von ihrer Ohnmacht zurücdgeblieben, und noch ein 
anderes Bewuhtiein hatten die Starrheit des Stolzes von ihr ae 
nommen. Sie fühlte, daß im Kampf gegen elementare Schwierig: 
feiten nicht der Eigenwille enticheidet,, wenn ihm die Kraft zur 
Ausführung ſehlt. Sie fühlte, daß fie mich liebe. Soll ich noch 
ſchildern, wie wir uns oben auf der Iuftigen Bergesſpihe empor: 
gehoben fühlten und erhaben über jo vieles, was unten in den 
Städten die Menichen jcheidet und die frennenden Vorurtheile 
nährt, wie wir ums jo vein im unſerer Menichlichfeit dort 
gegenüber jtanden, daß uns leicht zu überwinden jchien, was 
uns noch trennte: wie die eimit für unüberjteigbar aehaltenen 
Hindermifje im Austauſch der Seelen uns nichtig erſchienen 


gegenüber der Harmonie der Natur, wie fie unjeren entzücdten | 


Biden ji darbot? Ein Wort jagt alles: es fanden ich 
unfere Herzen auf Bergeshöh'n: jo hab’ ich mir im Freien mein 
Weib voll Freiheit gefreit.“ 


4. Die Geſchichte der Malersleute, 

Profeſſor Schröder hatte kaum jeine Erzählung geſchloſſen, 
als ihm auch ſchon eine Menge Fragen aus der Tiicharjellichaft 
entgegenflangen. Nicht nur fein ehemaliger Zuhörer, der Ajtronom, 
auch alle übrigen erfundigten ſich nad) der Heldin der Geſchichte 
und ihrem Befinden. 
Joſephine auch diefes Jahr den Profeſſor auf ſeiner alljährlichen 
Gebirgsreiſe begleitet habe und nur unten in Weißbad geblieben 
wäre, doch nicht allein, denn eine feiner Nichten, die er einge 
laden, die Reife mitzumachen, leiſte ihr angenehme Sejellichaft. 
Mr. Whitfield, der Engländer, nahm ein noch größeres Intereſſe 


Mit Theilnahme hörten fie, daß Frau 


' Jahre vom Vater nad) München geichitt wurde, 


an der Schwiegermutter, wie das feiner Vorliche für Unglüds- | 


fälle entſprach. Diefelbe werde doch ihr Möglichites neihan haben, 
die Mesalliance ihrer Tochter zu bintertreiben. Der Profeſſor 
bejahte, wenn auch mit einiger Zurüdbaltung, die Frage: trotz 
aller Schonung und zarten Rüchkſicht hätte fie dem Eheprojelt 
ihrer Tochter den hartnädiaften Wideritand entgegengeieht, doch 
fi vor ihrem Tode noch eine Berfühnung erfolgt. Sept aber 
schnitt mit freundlicher Abwehr der Vielgefragte die Debatte ab, 
indem er feiner Präfidentenpflicht eingedent die Mahnung aus: 
iprach, man ohne weiteren Aufſchub dem dritten Erzähler das 
Wort zu gönnen. Diesmal wurde geloft, und das Los traf Frau 
Breitinger, die anmuthige Gattin des jleißinen Malers, der auch 
während des Erzäblens nicht aufgehört hatte, an feinem Skizzen— 
bfatt weiter zu arbeiten. 

„Wenn ich es denn schon fein Foll, die mach des Herrn 
Brofejjors jo ergreifender Geſchichte den Verſuch wagen ſoll, ein 
Erlebniß in geordnetem Zuſammenhange vorzutragen, dann muf 
ich Schon meinen lieben Mann bitten dürfen, daß er mid) dabei 
unterſtützt — leider Habe ich gar nichts vom Talent einer 
Scheherezade.” 

Der Maler lachte und wollte proteftiven; Herr Kurz aber 
unterſtühte den Vorſchlag: auch er werde, wenn er an die Reihe 
fomme, nleichzeitin im Namen feiner Fran feine Gefchichte er— 
zählen: 
diefer Weiſe die anweſenden Ehepaare ihre Ginheit und Einigkeit 
sum Ausdruck brädhten. 

Der Maler nickte nun zuftimmend und rief: „Fang' nur an, 
Aennchen, ich werde fchon helfen; nur muft Du feine Geheimniſſe 
erzählen, von denen ich Felder nichts weiß.“ 


chen in Anbetracht der Zeit empfehle es fich, dah in | 


HI 0 — 
Ich reichte ihre 


„Behüte, Frig! Erſtens hab’ ich gar feine ſolchen und dann 
weißt Du doch jelbft, daß mein ſchönſtes Meijeerlebniß unſer ge— 
meinfames Eigenthum tt; freilich, jo recht Schön wurde es da— 
mals erſt, als das Reifen vorbei war und die Rückkehr uns zus 
jammenführte,“ 

„Still, Aennchen! Nichts verratfen! Du verdirbit ja die 
Spannung. Nur ohme lange Einleitung Frijch drauf los! Erſter 
Abſchnitt: Warum an eine Heirath zwiſchen uns nicht zu denfen 
war oder — ‚Sie fonnten nicht zu einander, das Waſſer war 
viel zu tief, Vorher aber mußt Du Dich den Herrichaften in 
Deiner Eigenfchaft als Malerin, nicht nur Malersfrau, vorjtellen. 
Anch’ io sono pittore, Oder laf mich das bejorgen: Hier, mein 
blondes Weibchen, das fo beicheiden ihre Blumen ins Herbarium 
ordnete, während ich ihr ins Handwerk pfufchte, it ihres Zeichens 
eine Malerin von Beruf und auch leidlichem Nufe; ihre Bilder, 
die noch weiter unter ihrem Mädchennamen gehen, find auf dem 
Kunſtmarkt in erfrenlicher Weiſe geiucht. Konkurrenz machen wir 
uns nicht, da fie Pandichaitämalerin ift, während ich mich bis 
auf gelegentliche Sünden im Skizzenbuch auf das bäuerlich-läud—⸗ 
liche Genre — Sittenbild jagen jegt die Spracdyreiniger, ohne den 
Begriff zu erihöpfen — beichränfe. Und das ijt wahr: ohne 
daß wir beide unſer Leben der edlen Malkunſt geweiht, würden 
wir uns ſchwerlich je kennen, ichäßen, lieben und heirathen gelernt 
haben, während audererjeits dev Umstand, daß wir unſer Talent 
zwei verichiedenen Gebieten unferer theuren Hunt gewidinet, um: 
gefehrt beinahe zum Anla wurde, eine gemeinfame Haus, Kerd: 
und Ateliergrändung dauernd zu verhindern. Und das fam 
v0... Lebt, Aennchen, bijt Du aber dran. Ueber den Anfang 
wärjt Du binitber.“ 

Frau Bereitinger folgte heiter der Mahnung: 

„sch bin Holländerin. Bereits mein Vater war Maler und 
liebte es, feine Studien am Ufer des Meeres zu machen. Wis 
halbwüchſiges Mädchen ſchon durfte ich ihn begleiten, wenn ex 
des Sommers ſich in einem der Fiicherdörfer des Nordieeitrands 
in irgend einer qaftlihen Hütte einguartierte, um zwiſchen den 
Dünen frei nad) der Natur das Meer in jeinem Horn und in 
jeinem Frieden zu malen. Die eriten Anfangegründe der Malerei 
lernte ich in jolcher Umgebung von ihm; er war mein Lehrer, 
und meine eriten Verſuche, auch meinerfeits die Eindrüde der in 
ihrer Einfachheit jo großartigen Meereslandſchaft im Bilde feſt⸗ 
zuhalten, vollendete-ich unter jeiner Leitung. Sie werden be: 
greifen, daß diefer Anfang die Richtung meiner beicheidenen 
Künſtlerlaufbahn entichied. And) als ich in meinem neunzchnten 
um bier unter 
Leitung von Profeſſor Schönfeber, den er nicht nur jeiner voll 
endeten Technik, jondern auch feiner tiefen Naturauffaflung wegen 
befonders jchäbte, mein Talent weiter auszubilden, blieb id) der: 
felben treu. Die Motive, die Vorlagen zu meinen Bildern, die 
ich jet in Münden unter des Meifters anregender Kontrolle 
mit peinlichjter Sorgfalt bis ins Detail ansführte, entnahm ich 
meinen Stizjenmappen, welche ich aus der gelichten Heimath mit 
gebracht hatte und nun während des Sommers eifrig um neue 
Studienblätter bereicherte. Denn jobald Pfingiten vorüber war 
und die den Malern eigenthümliche, aus ihrem Beruf erwachſende 
Reiſeluſt die große Münchener Kinftlerfolonie auseinanderfprengte, 
brach auch ich auf nad Holland, um dort wie früher an der 
Seite meines Baters dem Meere bei Sonnenauf- und suntergang, 
bei heiterer Stille oder bei Sturmeswüthen feine zauberhaften 
Schönheitsreize abzulauſchen. Auch als mein Bater durch ein 
ſich immer öfter und ſtärker wiederholendes rheumatiſches Yeiden 
verhindert ward, mein regelmäßiger Begleiter und Genoſſe in ber 
ſommerlichen Villeggiatur zu jein, und ich den größeren Theil 
meiner Ferien bei ihm und den Meinen in der Stadt verbringen 
mußte, wurde id) meinem geliebten Nordjeeftrande nicht ungetren, 
zumal eine uns befreundete Familie in der Nähe von Zandvoort 
ein Landgut beiah, weldes jie im Sommer bewohnte und in 
dem mir ibre Gaftfreundichaft ein Stübchen immer bereit hielt. 
Außerdem aber Fannte mich in unserem alten Fiſcherdorfe, das 
damals noch nicht den Rang eines Secbadeplages beanipruchte, 
jedes Kind und jedermann war gaſtlich und freundlich zu 
mir; wurden mein Vater umd ich doch vom allen wie zum 
| Drte gehörig und mit allerhand Ehrenbürgerrechten ausgeitattet 
| Betradtet. Und jo ſehr mid; meine Münchener Freunde auch 
baten, doch einmal mit ihnen ins Gebirge zu ziehen und das 





564 >» 


langweilige Holland, wie jie ſagten, fich ſelbſt zu überlaflen: ich 
fonnte es nicht übers Herz bringen, jowohl um der Meinen 
willen, als in Rüdjiht auf das Meer und meine Kunſt, die 
nun einmal aufammengehörten. Selbſt mein Mann, das heit 
Herr Breitinger —“ 

„a, ſelbſt ich,“ nahm mit humoriftiichem Lächeln diejer 
nun den Faden der Erzählung auf, „ſelbſt der liebenswürdige, 
aufmerfiame und vedegewandte Maler Fri Breitinger, der mit 
der jungen Holländerin tänlich auf dem gleichen Flur und aud) 
jonst mancherorts zujammentraf, aus dem ſehr einfachen Grunde, 
weil unsere Ate: 
liers in demſel 
ben Stodwert 
neben einander 
lagen — ſelbſt 
ich fonnte die 

hochgeſchãtzte 
Kollegin nicht 
überreden, ein: 
mal verſuchs 
weile unſere 
Sommervillen 
giatur im Hoch: 
gebirg zu thei- 
fen, ſollte dar 
über auch Hol 
fand in Nöthe 


gerathen. Ach 
muß bier ein- 
schalten, daß 


diefe Aufmunte⸗ 
rung von meiner 
Seite einzig und 
allein aus fame 
radſchaftlichem 
Intereſſe, kei 
neswegs aber 
unter dem An 
trieb einer war⸗ 
meren Empfin 
dung stattfand, 
die über das 
Niveau Freund 
nachbarlicher 
Theilnahme hin⸗ 
ausging. Es iſt 
unter uns Ma 
fern eine ſehr an- 
aenchme Sitte, 
gegenüber den 
weiblihen Ta» 
lenten, die fich 
unter uns mi: 





nad) einigen Tagen unterhielten, machte ich fogar den Verſuch, ihr 
den Spibnamen ‚Das Mädchen aus der Fremde‘ zu aeben; doc 
der Thiermaler proteftirte: er habe noch nicht bemerkt, daß ‚ihre 


Nähe beieligend" fe. — Silentium, Wenndhen! Du befommit 
jogleich wieder das Wort, — Sie fei eben eine phlegmatifche 


Holländerin, das fage alles. Wenn fie aber einen bejonderen 
Ehrennamen belommen jolle, fo made er als echter Berliner 
einen andern Borichlag: die ‚kühle Blonde‘ Aennchen, Du 
verzeihft die Indiekretion — die ‚Kühle Blonde‘ folle fie hinfüro 
heißen. Ja, ſchlechte Wige machen leider auch wir Maler, zumal 
wenn wir jung 
und guter Yaune 
find. Und wir 
waren ganz qu 
ter Laune in je 
ner Stunde und 
waren troß der 
Spötterei vom 
erjten Tage an 
jehr qut auf un 
jere Ateliernach⸗ 
barin zu jpre 
dien, die micht 
nur blond und 
im Anfang wirk 
lih etwas gar 
zu fühl war, 
fondern auch 
beicheiden und 
geräuichlos in 
ihrem Auftreten, 
Har und be 
jtimmt in ihren 
Abſichten und 
Anfichten, dant 
bar und em 
pfänglich für je 
den quten Rath 
und ſchließlich 
auch ſehr ac 
müthlih und 
heiter im Um 
gang, wie wir 
es im Anfange 
nie für möglich 
gehalten. Ja,als 
das Fräulein 
nach der erften 
Ferienunter 
brechung etwas 
ſpater als mir 
anderen zurüd 
fehrte, aeitand 





ſchen und mit ſogar der Ber 
uns dieſelben liner, daß das 
Berufsintereſſen Rudolf Siemering. Fehlen der füh 
theilen, von dem len Blonden‘, die 


Geſchlechtsunterſchied möglichit abzufchen und mit ihnen auf Grund— 
lage diefer Gemeinschaft zu verlehren; der Ernit ihres Streben 
und ihr Können enticheidet, ob wir fie chrlih und offen als 
unfere guten Kameraden willtommen heißen oder ihnen, falls fie 
Pfuſcherinnen und anſpruchsvolle eitle Dilettantinnen find, ab- 
Ichnend aus dem Wege gehen. Was aber fpeciell die junge 
blonde Dame betrifft, die da eines Tages das leerſtehende Aiclier 
neben dem meinen gemiethet und dabei durch ihre rubige Sicher: 
beit im Verhandeln mit dem Hausbeſitzer nicht nur mir, jondern 
auch den beiden andern Malern, deren Ateliers auf den afeichen 
Flur stießen, bedeutend imponirt hatte, jo galt vorn ihe im be 
fondern jene Stelle aus Schillers Mädchen aus der Fremder: 
‚Doch eine Würde, eine Höhe entfernte die Vertraulichkeit‘, 

„Du wirſt weitichweifig, Schab.“ 

„Unterbrih mich nicht, Aennchen! — Als wir drei Maler, 
der eine war ein Thiermaler aus Berlin, der andere aus Dresden 
und gleich mir ein Genremaler, uns über die empfangenen Eindrüde 


auch feine Fran inzwiſchen ins Herz geſchloſſen habe, ihn ordentlich 
beunruhige, und er habe ihr unrecht gethan, fie gleiche wirklich 
dem ‚Mädchen aus der fremde’ in des Wortes fchönfter Bedeutung.” 
Hier unterbrach aber doch nachdrücklichſt den feden Er 
zähler die Malerin, indem fie ihm mit dem Finger drohte. 
„Die Andisfretionen und Spöttereien konnt' ich mir noch 
aefallen laſſen,“ vief fie, „aber jo ins Angeficht ſich Toben und 
über Gebühr rühmen lalfen, das geht mir wider die Natur, Es 
ist Zeit, daß ich Dir das Wort entziehe, damit wir wieder zur 
Sache fommen. Es it wahr, ich hatte mich über die Herren nicht 
zu beklagen, umd wenn fie mich für übermäßig kuühl gehalten hatten, 
fo belehrte ich fie bisweilen eines Beſſeren, zum Beiſpiel jobald 
fie fich erlaubten, ſich Über mein aelicbtes und fchönes Holland, 
das man in Deutichland Fo wenig fennt und deshalb fo oft un 
gerechterweiſe laſtert, luſtig zu machen. Wie mir mein Mann 
ipäter geitanden hat, ihaten dies die ſchlimmen Menſchen gerade 
erit recht, nachdem fie bemerlt, in welche Wallung die gefränte 





eo 565 > 


Raterlandafiebe mein Gemüth verſetzte. Denn ich nahm noch 
alles für Ernft, und da unfere heimische Lebensweiſe von der in 
München üblichen recht bedeutend abweicht — nicht immer zum 
Nachteil der unſeren — ich daher ſchon fo Mühe hatte, mid) 
im all das Fremde zu finden, war ich dem drei Flurnachbarn, die 
im übrigen ja meinen Dant verdienten, oft recht ernſtlich bös dar- 
über, daß fie durch folche Ausfälle mein Heimweh noch fteigerten. 
Natürlich bewog mich dies erſt recht, Sobald die Junifonne zum 
Reisen lockte, 
meinen Weg den 
Rhein hinab in 
die Heimath zu 
nehmen, und id) 
hätte es für Ber: 
rath an dieler 
gehalten, wenn 
ich einer der Eins 
fadungen von 
mir befreundet 
gewordenen 
Mündner a: 
milien gefolgt 
wäre, auch ein: 
mal meine Fe— 
rienzeit fern von 
Holland zu vers 
bringen." 
„Das hielt 
uns aber nicht 
ab, liebes Aenn⸗ 
chen,“ fiel ihre 
der Gatte ins 
Wort, „recht 
aute Freunde zu 
werden. — Ich 
war der einzige 
von ihren nähe: 
ren Belannten, 
der aus eigener 
Anſchauung das 
Meer kannte und 
ihre Freude am 
Kudern und je- 
der Art Waſſer⸗ 
fport theilte, was 
ich bei gelegent⸗ 
lichen Tages: 
partien an die 
nahen Seen von 
Starnberg und 
Tegernſee auch 
bewährte. Wenn 
wirtroßdem auch 
damals nod) 
nicht unfer Herz 
entdedten, ſo 
war eben ber 
fordial gemüth: 
liche Tun uns 
ſeres Verlehrs 
daran ſchuld, an 
den wir uns ge 
wöhnt hatten, und ferner — die große Aehnlichleit unſerer 
Anihauungen und Neigungen; das Geſetß der Goetheſchen 
‚Wahlverwandticaft‘ fonnte ſich zwiſchen uns gar zu wenig 
aeltend machen. Ein alter griechiſcher Philofoph hat aefagt, 
der Streit fei der Water der Dinge. Und die antike Mythos 
fogie macht den Kriegsgott zum Geliebten von Aphroditen und 
giebt beiden zum Sind Eros, den Gott der Liebe. Heutzu— 
tage unterihägt man meiſt die fegenbringende Bebentung des 
Streits für die Liebe. Thatfächlihh bringt er noch immer die 
Herzen ſchneller zufammen als Nachgiebigteit und Friedferligkeit. 
Kir aber jtritten uns nie oder wenigjtens fait nie Wir hatten 
io ziemlich denfelben Umgangsfreis und trafen uns daher oft in 


1888 





Die Weiterfiatue des Prinzen Frriedrid Karl von Preußen, 
Modellirt von Bildhauer Emil Steiner in Berlin, 


Gejellichaft. Wenn ich durch irgend eine Behauptung zum Wiber: 
ſpruch gereizt ward, fonmte ich jicher fein, fie auf meiner Seite 
zu haben, und frat wiederum fie für irgend eine Anficht mit Be 
geifterung ein, jo mußte ich nolens volens fie unterftügen. Nur 
wenn der Frühling fam und die verjchiedenen Reiſebläne ber 
einzelnen zum Hauptthema wurden, dann jtanden wir uns oft 
ala jtreitbare Kämpen gegenüber. Ich ſchalt es unfruchtbare 
Einfeitigfeit und Philiftrofität, bei fo jungen Fahren immer 
demjelben Yand 
ſchaftsgebiet fei 
ne Motive zu 
entlehnen, und 
ſie nannte unfere 
herrliche Alpen 
welt, im beſon 
dern die Ober: 
bayerne, mo 
noton und die 
Genrebilder mit 
den ewig lachen: 
den Sennerin 
nen und den ja 
Frisch ſchneidigen 
Buab'n fang 
weilig im Ber: 
hältniß zu der 
Fülle höchſter 
Poeſie, welche 
das Meer und 
feine Uferland 
haft in all 
ihren Wandlun 
gen dem kundi 
gen Auge böten. 
Dann konnten 
wir ſcharf anein 
ander gerathen, 
und wenn ich in 
folchen Domen 
ten ihre Augen 
drohend und mit 
flammendem 
Blick auf mich 
gerichtet ſah, 
wenn ihre Stim: 
me zum Dol— 
metih leiden 
ichaftlichen Em 
pfindens wurde, 
dann überkam 
mich unver 
ſehens ein fonit 
nicht gekanntes 
Verlangen, diefe 
troßgigen Lippen 
zu kühlen, dieſe 
ftürmiich be: 
weqte Brust an 
die meine zu 
drüden.“ 

„Aber Frik, 
nun werde ich 
ernjtlih böfe Du fprichit ja wirklich von mir, wie von der 
Heldin einer Novelle, aber nicht, wie es ſich ſchicht, wenn 
Du von Deiner Frau erzählſt. Wie ich dazu gekommen, troß 
allem mein Leben an das eines fo ungejugenen Wildfangs 
zu fetten, dies zu erklären, Scheint mir jehl die Ddringendfte 
Aufgabe zu fein. Damit Sie aber überhaupt dies begreiflich 
finden, müſſen Sie ſich chen die Mühe geben, ihn fich etwas 
rüdfichtsvoller und zartfühlender vorzuitellen, als er chen er 
ſchien. — Nur ruhig, Männchen! — Die Ferien ftanden wieder 
einmal vor der Thür und ein Streit von jener Art, wie mein 
Mann eben angedeutet, hatte hohen Wellenichlag verurſacht. Er 
hatte mir vorgeworfen, daß ich mich im eine Antipathie gegen 


72 


unfer ſchönes Hochgebirg hineingeredet habe, die um jo bebauer- 


licher und haltloſer fei, als ich dasſelbe ja gar wicht richtig lenne. 
Und ich hatte ihm — mit mindeftens cbenfoviel Berechtigung — | 


das Gleiche vorachalten in Bezug auf meine nordiſche Heimath. 
Als ic am jenem Abend, von dem Hausmäbchen der freund: 
lichen Proſeſſorswitwe, bei welcher ich wohnte, bealeitet, dic 
Villa des Gajigebers verlieh und über die Schwanthaler Höhe 
meiner Wohnung zuſchritt, beſchäftigte mich der mir gemachte 
Vorwurf bald um fo mehr, als ich an einer nach Süden fich frei 
öffnenden Stelle durch einen wunderbaren Blid auf die im Mond— 
licht Mar vom blauen Sternenhimmel ſich abhebende Alpenkette 
ans angenehmite überrafcht und mächtig ergriffen wurde, Ein 
älterer Maler, Yandfchafter wie ich, der mir fchon immer wohl— 
wollte, hatte ſo begeiftert von dem arößten ber bayerischen Seen, 
dem Chiemſee, geiprochen, er hatte mir verfichert, daß deſſen weite 
Fläche mit dem erhaben ſchönen Kranz der Alpenberge um ihn 
ber, obgleich ihm die Bewegung von Ebbe und Huth fehle, dem 


Treuloſen geriethen; 


Marinemaler die veichſte Ausbeute lieblicher und bedeutender | 


Motive erfchlöfle, und feine Einladung, ihm und jeine Familie 


zum Ferienaufenthalt auf die idylliſch ſchöne Fraueninſel mitten | 


in diefem See zu begleiten, erſchien mir immer mehr in ber: 
lodendem Lichte. Daß mein Antagonift gejagt hatte, er würde 
dann and dort fein, dieſer Thatiache Tente ich bei dem Voraange 
wenig Bedeutung bei. 

Der Wunsch, endlich einmal den Teidigen Streit im Wege 
der Erfahrung zu fchlichten, gina mir auch weiterhin nad. Briefe 
von daheim brachten mir die Mittbeilung, dab diesmal mein 
Beſuch mit mehreren umdermeidlihen Störungen verknüpft fein 
würde. Ein Bild, das ich auf Bejtellung zu malen hatte und 
noch vor der Abreife fertigftellen wollte, hielt mich wider Er- 
warten lange in München zurüd. Alles dies bejtärfte mich in 
der Mbjicht, diefen Sommer endlich einmal die wielbegehrte Aus— 
nahme zu machen und, ftatt nad) Holland ans Meer, in das 
bayerische Hochland nach dem Chiemfee zu gehen. Aber Mit: 
iheilung davon madte ich niemand Auch den Gaftfreunden 
wicht, die ich auf Frauenwörth überraſchen wollte, am aller 
wenigſten dem geehrten Herm Iteliernachbar, der ſich dann wo— 
möglich eingebildet hätte, er wäre es, ber dieſen Entſchluß bewirkt. 
Er, wie feine Freunde, waren bereits ausgeflogen, als ich endlich 
mit nicht geringer Spannung nach dem Chiemſee aufbrach. O, 
wie entzückte mich der Anblid des weiten breiten Binnenmeers, 
deflen Spiegel jo groß iſt, daß feine Ufer jich nicht überbliden 
lafjen, und das doch einen umfriedeten Eindruck macht, weil 
ringsherum ſtolze Mipenketten oder Heinere Höhenzüge jein Weich- 
bild umrahmen. Und wie erfriichend wehte mich die kräftige 
Alpenluft an, die von der nahen Hampenwand herniederblies und 
das Margrüne Waffer des Sees luſtig anffräufelte, fo daß der 
Einbaum, im dem ich mich aus Liebhaberei, das Dampfboot ver: 
achıtend, von zwei Schiffen zu der fernen Inſel hinüberfahren 
lieh, ganz wie bei einer Meerfahrt im Falle günjtigen Windes 
fröhlich auf und nieder ſich bäumte! 

Welche Fülle maleriicher Motive zeigte ſich je nach der 
Nähe und Ferne der Ufer jchen bei diefer Fahrt meinen entzückten 
Augen! Wie prächtig hoben fich die dunflen Laubwälder ber 
größeren Inſel Herrenwörth in die fonnige Luft und wie reizend — 
schön wie ein Noetentraum! — bot fid) ſchließlich das kleine 
Eiland dar, auf dem neben uralten Lindenbäumen das Kirch— 
fein des alten Frauenklofters mir entgegengrüßte! 
anf der Inſel die Begrüßung, die feitlihe Berillfommmung ! 
Ich lam wirklich überraſchend; um jo unmittelbarer war der Ausdrud 
berzlicher freude über mein Kommen von feiten meiner Freunde 
ſowohl als der Übrigen mir meiſt wohlbefannten Mitglieder der 
Heinen Maferkolonie, die ſich in den gemüthlichen Räumen des 
alten BWirthshaufes neben der Kirche häuslich niedergelafien hatte. 

Alles übertraf meine Envartungen. Nur in einer Beziehung 
fühlte ich mich enttänfcht, mehr als ich e2 für möglich achalten 
hatte: Here Breitinger befand ſich nicht bei der Bejellichaft. 
Nachdem er jahraus jahrein mir von dem fielen Künſtlerleben 
in den Bergen vorgeihwärmt, nachdem ex indireft die befondere 
Beranlaffung meines Entichlufles geworden war amd er mir dod) 
bei jenem Geſpräch verfichert hatte, daß auch er diefen Sommer 
bierher achen wolle, war er nicht da! Das war doc mehr als 
Gleichgültigkeit. Ich beachtete nicht, daß er ja nur die Zuſage 
für den Fall meiner Herkunft gegeben und ev von dieſer durd) 


' verwandelt hatte, 


leriſchen 


o — 


mich abſichtlich nichts erfahren hatte. Mer weiß, wu er nun 
hingegangen, jagte ich mir, und als auf ihn einmal das Geſpräch 
fam, fuchte ich möglichſt unbefangen die Antwort darauf in Er- 
fahrung zu bringen, body ohne befonderen Erfolg; er werde wohl 
twieder nad) Mittenwald gegangen fein, wo er fchon in früheren 
Jahren immer am längſten ausgehalten habe, angezogen von der 
herrlichen Lage und dem lebhaften Volksleben des alterthümlichen 
Geinenmacherdorfs am Fuße des alten Karwändel. Es machte 
ich dann — ohne mein Zuthun natürlich, denn ich wollte nadı 
diefer Rüdfichtslofigkeit gar nichts mehr von ihm willen — daß wir 
einige Wochen Später einen Ausflug mehr ins Annere des bayertichen 
Hochgebirgs und über den Kochel- und Walchenſee in das Iſarthal 
machten, wobei wir auch in den aenannten Lieblingsaufenthalt des 
aber aud hier war er nicht anzutreffen.“ 
„Und das war fehr natürlich,“ nahm jetzt der Maler wiederum 
das Wort, „Denn der Treulofe verdiente dieſe Bezeichnung damals 
wahrlich am wenigiten in Bezug auf meine geehrte Worrednerin, 
jondern ganz allein in Rüdficht auf fein geliebtes Hochgebirg. Mir 
war es feit jenem Streit eigenthümlich gegangen. In jener Mond- 
nacht, welche fo zaubermächtig auf die Entidlüffe meiner Gegnerin 
eingewirtt hatte, war ich noch fange in einer mir ganz meinen 
Berfaffung in den Strafen Mündens umbergeihweiit. Ich hatte 
die Kollegin urſprünglich, wie ich es Schon oft gethan, in dieſer Nacht 
nad; Haufe begleiten wollen; fie war aber fo plößlich aufgebrochen 
und hatte mic eine fo Kühl ablehnende ‚Gute Nacht!" geboten, 
daß ich ummillfürlich davon zurüdgefchredt und dageblieben war. 
Zufällin brach einer meiner Kollegen, der meine holländiſche 
Freundin ſchon feit einiger Zeit mit befonderer Auszeichnung be 
handelt Hatte, furz nad) ihr auf, und als ich dan alfein meinen 
Weg heimwärts fuchte und dies fchr langweilig fand, blikte in 
mir ganz plöglich die Boritellung auf, daß jener wohl gar ſich 
ernftlich um ihre Neigung bemühe und jtatt meiner ibr Begleiter 
aeworden fein werde. Dies machte mein Blut ganz rebelliſch. 
Mir wurde mit einem Male Har, daß ſich meine kameradichaft: 
liche Freundſchaft für fie in aller Heimlichleit längſt in Liebe 
Wenn fie dod gar Feine Künſtlerin wäre, 
jondern ein Mädchen wie die amdern auch, deren Wille nicht 
durch die Rüdficht auf einen ernſten Beruf gehemmt und geleitet 
werde: diefer Wunſch war mein nächiter Gedanke, Und wenn 
ihon Künstlerin, warum nicht eine Blumenmalerin wie jo viele 
ihrer Genoſſinnen, itatt Specialijtin in der Darſtellung des fernen 
Nordieeitrandes und feiner Fluth? So aber: jie mit ihrer fünjt- 
Schnjucht nach Norden, ich mit meinem Berhältniß als 
Künſtler zum bergigen Süden — wie ſollte da ein gedeihlicher 
Bund zu ſtande kommen? Damit fielen mir die Vorwürfe auf 
die Seele, die ich ihr am verwichenen Abend mit etwas gar zu 
rüclſichteloſer Entichiedenbeit gemacht. Sie hatte nanz recht; was 
wußte ich eigentlich von Holland und feiner Küſte? Meine 
Wiſſenſchaft, ſoweit fie ungünstig lautete, hatte ich vom Hörenjagen, 
foweit fie günſtig war, aus ihren Bildern. Monvton in Bezug 


‚ auf die äufßerlichen Motive waren ja dieje Anfichten in der That, 


Und dann | 


aber welche unerichöpfliche Fülle koloriſtiſchen Neizes hatte ſie dieſer 
einfach elementaren Natur abgelaufcht. Und nach den Staffagen zu 
fchließen, war das Leben des fernigen Fiſchervolls diefer holländi- 
fchen Küſtendörfer, feine Tracht und fein Thun nicht minder maleriſch 
als das Leben der Bauern im Hochgebirg. Es dürjte fid) wirklich 
verlohnen, aus eigener Anfchauung fich ein Urtheil zu bilden. 

In der folgenden Woche beftärkten mich zwei Umſtände in 
diejer Anſicht. Ich verkaufte ein Bild, am dem ich lange 
aemalt Hatte, für eine ganz bedeutende Summe, und ich mußte 
erleben, daß meine Nachbarin mich mit auffälliger Kälte behandelte. 
Sie hatte immer zu thun und war in größter Eile, fo oft ich fie 
anredete; dies war wirklich der Fall, ich aber glaubte, daß fie 
fi) von mir befeidigt fühle vder aud) qleichqültiger gegen mich 
werde aus nterefle für einen Andern. Eines Morgens war 
mein Entſchluß gefaßt; noch bevor fie aufbrach, wollte ich eine 
Reife nach Holland antreten, und wenn fie dann in ihrem ge— 
liebten Zandvgort eintraf, ſo follte fie mich dort vorfinden, eifrig 
bemüht, wid) zu beſſeren Anſichten über ihr Heimathland zu bes 
fehren. Und fo veilte ih ab, ohne irgend jemand chvas von 
dem ‚Ziel meiner Fahrt zu jagen — der Triumph der Ueberraſchung 
follte mir durch Feine Indiskretion geichmälert werden. Ich hielt 
mich erft einige Tage in Amjterdam und im Haag auf als 
fleißiger und andächtiger Belucher der ſchönen Biltergalerien; in 


o 567 » 


Scheveningen, dem lurnriöfen Modebad der holländiichen Küſte, 
fand ich die Mynheeren und Mefrouwen, in ihrer Art das Dajein 
binzubringen, ziemlich ebenjo langweilig wie das Geſellſchaftsleben 
in allen Badeorien, two die Plutokratie den Ton angiebt; auf 
einer Fußtwanderung aber in weftlicher Richtung durch das grau: 
grüne Hügelland der Dünen, die ich öfter unterbrad), um mid 
im Segelboot weiterbringen zu laſſen, da ging mir die eigen- 
thũmliche Schönheit auf, welche allerdings nur für ein gelibtes 
Malerauge ich in dieſen Wüjtengegenden entfaltet, während der 
Blick des Ungeübten nur den gelblichen Dünenjand, das dunkle Grün 
de3 mächtigen Oceans und das hellere des Tanghalmigen Dünen- 
graſes von der farbe des Himmels zu untericheiden glaubt. Welche 
Fülle jeiner Farbenſchattirungen erzeugt nicht allein das wechſelnde 
Spiel von Licht und Schatten, das der Gang der Wolfen erregt! 

In Zandvoort brauchte ich nur ihren Namen zu nennen 
und ich Hatte mich der gaſtlichſten Aufnahme zu erfreuen. Bald | 
mar ich dahinter, eine Feine Genrefcene zu malen, welche 
Pfeifen rauchende Fiſcher beim Nekejtriden darftellte, während 
Heine muthwillige Kinder im Maſchenwerk der Nebe fpielten. 
Tas Meer bildete den Hintergrund. Der Gegenfland fejjelte mich | 
ſehr — aber doch nicht genug, um die Ungeduld zu unterdrüden, 
mit der ich der Ankunft von — nun, ihrer Ankunft entgegens | 
ſah. Ich hatte ja feine Ahnung, daß Tie inzwiichen ein Seeftüd | 
malte, welches den Wellenichlag des Bayeriichen Meeres, wie man 
den Chiemſee auch nennt, darjtellte mit den bayerischen Alpen: 
bergen im Bordergrumd und einem altbajuvarifchen Einbaum mit 
zwei jungbajuvariichen Fiicherinnen zur Staffage; ebenfowenig 
wie fie von meiner Anweſenheit in ihrem geliebten Zandvoort. 
So fahen wir fern von einander und malten uns im die An— 
ſchauungswelt des andern hinein, während die Hoffnung einer 
baldigen Begeanung den Pinfeljtrich beichleunigte. 

Tod die Hoffnung trog uns. Als ich mein Bild fertin 
hatte, juchte ich ihre Eltern in Utrecht auf und erfuhr von den 


freumdlichen Leuten, daß ihre Tochter diesmal in die bayerischen 
Berge gegangen fei. Sie fannten mid) durdy die Erzählungen 
ihrer Tochter gar wohl und waren erftaunt, daß ich gerade jet 
nach Holland gelommen, wo fie nicht anweſend. Siedend heiß 
fteömte mir das Blut in die Wangen, als ich das hörte, Welche 
Blamage! Welcher Hohn, welder Verrath! Kaum, dab ich 
mich beherrſchen konnte. Sobald ich wieder im Freien und mir 
ſelbſt überlaffen war, fiel ich den widerjtrebenditen Empfindungen 
ur Beute. Ach wollte ſofort ſie aufſuchen und Mecenichaft 
—— Aber mit welchem Rechte? War fie nicht Herrin ihrer 
Entichlüffe? Ich wollte die ganze beſchämende Geſchichte ignoriren; 
aber wie hätte ich das auf die Dauer vermocht? Ich war vedht 
unglüdlih — fait wie Heimweh überfam es mid. Schließlich 


löſte ih ein Billet nad meiner Vaterſtadt und beſuchte die 


Meinen. Dort im Schoße meiner Familie fand mein Gemüth 
das nöthige Gleichgewicht wieder, um mit fcheinbarer Ruhe, ja 


‚ fogar mit einigem Humor der ſchnöden Berrätherin brieflich meine 


erfahrt in ihre Heimath zu ſchildern, eine Irrfahrt in doppelter 


\ Beziehung, die mich auch von einem doppelten Irrthum geheilt 


babe, von meinem Borurteil gegen Holland und meiner Ein: 


‚ bildung, daß fie mir gut fei. 


Als ic) dann in meine vier Wände nad) Miinchen zurüd- 
gelehrt war und id) eben dabei war, cine neue Leinwand auf 
zufpannen, da Mopfte es an die Thür... .“ 

„Nein, nicht weiter," rief jept erregt die Nachbarin des 
Erzählers, die jchon lange feine vechte Hand mit ihrer Linken 
zärtlich umfaßt hielt; „mehr brauchit Dar nicht zu erzählen, Frit 
Die Geſchichte ift fertig... Ich war eben von meiner Reiſe ins 
Gebirg zurüdgefchrt, hatte in meiner Wohnung feinen Brief ge 
funden und mit Entzüden gelefen und nun trieb's mic) zu ihm...“ 

„Halt, Frauchen,“ rief nun der Maler, „es it wahr, die 
Geſchichte ift fertig. Diejer Weg zu mir war Dein war 
mein ſchönſtes Reijeerlebniß.” (Forıjepung folgt.) 


Zu Fuß! 


Seit Fahren ijt im unſeren Volle ein Wandertrieb erwacht, der uns 
in den Sonmmermonaten aus der Schwüle der Stadimauern in | 
die grünen Dallen des Waldes hinauslockt. Sie iſt jeht auch gar nicht 
ſchwer zu erreichen, die freie Natur! Aus dem ftauberfüllten gersen | 
einer Millionenftadt bringen und die Dampfzüge in einer halben Stunde | 
an jtille Seen und in rauſchende Daine; ja Shelbit Reifen ins Gebirge 
find Heutzutage fein Brenn Unternehmen. Tauſende können fie aus- 
führen. reulich ift dieſe Bewegung, welche die weitelten Vollsſchichten 
ergriffen bat, und man muß alles dranjeßen, fie zu erhalten und auszu« 
bilden, Aber eine Schattenfeite beiißt fie doch: wir benußen den Danıpf 
und rühren zu wenig unſere Füße. Dies kann mean allerdings micht 
vom Zonriften im He birg behaupten, der nur zu oft viel au viel fteigt 
und marſchirt und häufig feine Geſundheit eher Ichädigt als ſtarlt. Wohl 
aber wird jeder zugeben, daß die gewöhnlichen Sommerfriichler oder 
Yente, die nur Sonniagsausſſüge machen, das Fußwandern in geringen 
Maße pilegen. Man braucht ja nur den Vollsmaſſen auf ihren Ausflügen 
zu folgen. Ein Konzert- oder Biergarten in einen benachbarten Dorfe 
ft das Hiel der meiiten. Wer das für einen Naturgenuß hält, der it 
zu bedauern, und für das Voltswohl iſt es durchaus nicht gleichgültig, 
wie die lurzen Erholungsreifen ausgeführt werden; denn die Touriſten 
zählen nur nach Tanfenden, und der Reſt, der in der Nähe der Stadt 
Erquickung finden Toll, beziffert ſich nach Millionen. 
Laßt man über die Schar der Sonntagsansflügler einen Blick 
ichmweiten, jo erfenmt man in ihr jofort das erfchlaffte, nervöſe Geſchlecht. 
Es jind Kulturmenſchen, die an das haftine Treiben unſerer Jeit gefeſſelt 
find und die Feſſeln nicht abzuftreifen vermögen. Mit der Eiſenbahn 
find fie ins Freie hinansgeeilt, haben die bequemften Züge, die im den | 
Mittagsftunden abgehen, gewählt, und nach einen furgen Marſche über 
—— viel begangene Strafen erholen ſie ſich bei Vier und Tabats- 
qualın. 

Wie ſehr zu beneiden ift die geringere Zahl dagegen, welche von früh 
an den Wald anfgelucht bat, im Frelen fampirt und mir während der 
furzen Mittagsraft den Lärm des Gaſthauſes vernimmt! Sie hat das 
Richtige getroffen und wenigftens auf eine Zeit den Fuliurmenſchen ab- 
gelegt und ſich don den eutnervenden Einflüſſen dei modernen Haſtens 
und Treibens befreit, 

Zur bedauern ift namentlich, daß jene läjfige Art der Erholung au 
unfere Nugend zum großen Theil ergriffen hat. Much bei ihr arten die 
Ausflüge häufig zu Bier und Reinreifen aus, „Wan muß,“ jchrieb vor 
furjem Profeflor Sriedrich Kagel, „unſere Jugend in den Sommeritiichen 
des baneriihen Hochlandes oder des Thilringerwaldes fich lummeln ſehen, 
um die ganze Seichtigkeit des poeſie- und thattraftarmen Yebens würdigen 
au können, welches das Weiterfreflen der blofirien Genußſucht und die 
Üilege des leider in der Naturanlage num einmal vorhandenen Phlegmas 
unferer Zeit verheißt.” 


| ummittelbaren Waturjrende zurüdlehren. 


Als Heilmittel gegen diefe Nebel hat man den Teiblichen Sport 
empfohlen und Rudervereine und Radfahrerllubs ündet; es giebt aber 
ein noch wirtſameres Mittel, das mit einem age Millionen helfen 
fan, und dieſes ift das Wandern zu Fuß mit Mänzel und Stab, 

Gerade im unjerer Zeit, wo wir ſozuſagen nicht zu neben brauchen, 
wo Bierdebalmen, ijenbahnzüge, Dampfidiiie und Seilbahnen uns 
bis im die tiefiten Waldwintel und auf Bergſpihen bringen lönnen, 
it es ummngänglich nörhig, die Wanderung zu Fuß in Ehren zu er 
halten und Yuft und Freude au derfelben namentlih in der Augend 
aroh zu ziehen. Der „Sport zu Fuß“ ift jedermann zugänglich. Stahl 
roh und Muderboot erfordern ſchon eine Mapitalanlage; Schuiters 
Happen befigt im Deutschen Reiche jedermann. 

Die Fuhwanderung ift Dabei auch eine Kunſt, die gelernt fein will 
und ihrem Jünger die veichlichiten Freuden und Genüſſe bietet. Wer zu 
wandern verjteht, der wird es ae mit jandhzenden bergen. Der 
Banderer gewinnt den beiten Einblid in das Leben und Weben der 
Natur; nur der Wanderer finder Scäbe an Orten, an denen der Eiſen— 
bahnzug pfeilfchnell vorüberſauſt; nur der Wanderer vermag Yand und 
Leute genas fennen zu lernen und lehrt mit neuem Reichthum an Willen 
und Erfahrung heimmwärts. Darum follte ein jeder, der nicht wandern 
Tann, wandern lernen. 

Vor 48 Jahren hat ein freund des Wanderns, der befammte Buch: 
händler Fir. Joh. Frommann, in deſſen elterlihem Hauſe Goethe vertehrte, 
ein „Zajchenbuc, für Fußreiſende“ geichrieben und druden laffen. Der 
Ton, der das Werten durchweht, war ein jo Veragehmdet; die Math: 
ichläge fo benditenswertb, dah vor einigen Nahren Dr, Friedrich Kabel, 
der berühmte Profeſſor der Erdfunde an der Umiverjität Yeipzig, fich der 
Aufgabe unterzog, das Werkchen zu ergänzen und men herauszugeben 
(Friedrich Frommanns Verlag in Stuttgart). Ju diefem Taichenbuch wird 
genau erörtert, wie man wandern fol, was man auf Fußreiſen lernen 
tann, und jeder wird darin etwas finden fünnen, was feinen eigenen 
Anlagen entiprict. 

Naturgenuß — aber nicht am Biertiich unter der Blasveranda, fondern 
an murmelnden Quellen in den majejtätiichen Hallen des Waldes, - Natur+ 
genuß — aber nicht von Eoupefenfter des Kurierzuges erhaicht, fondern in 
vollen Zügen in der Morgenfrühe beim Bogelgefang und Windesranfchen 
vom Fußwanderer genojien, das iit das große Heilmittel gegen die blafie 
Krantbeit des 19, Jahrhunderts. Und wer bedarf desjelben micht ? 

Wie treiflich Thließt Profeſſor Nabel feine Einleitung zu dem er 
wähnten Taschenbuch für Fußreiſende: 

„Wir haben alle in dielen Iehten geräufchvollen Jahrzehnen die 
moraliihen Wirkungen der ulturfortichritte, der Willenichaft, der Auf 
tHärung, der willenfdaftlidhen und üfthetiichen Bildung überſchätze; wir 
haben alle nöthig, dab wir an den ewig friichen Geſundbrunnen der 
Jene fonnien uns bereichern 


und verfeinern; diejer vermag zu ftärken und zu ftählen, und diefes iſt, 
mas wir jet vor alleın nötbig haben. Hören wir auf, immer nur auf 
unfere Kulturhöhe ſtolz zu fein; fteigen wir zeitweilig etwas herab auf 
die Stufe des Naturmenfchentbums, freuen wir uns immerhin, daß wir 
eiſenbahnfahren und telegraphiren fönnen, aber freuen wir uns noch mehr, 
jo fange wir im Stande find, den Wanderftab zu ſchwingen und das 
Nänzel zu tragen.“ 

In früheren Jahrhunderten wurde jelbit das Spazierengehen von 
der Öbrigteit überwacht und leider den Bürgern verboten, Sonntags int 
die Nachbardörfer zu gehen. Dies geſchah namentlich im 17. und 18. Jahr⸗ 
hundert, Die Bäter der Stadt wollten durch ihre Verordnungen der 
Umfitte des Kueipens ſteuern und fügten am Schluſſe ihrer Erlaſſe ev 


läuternde Säbe hinzu wie der nachfolgende: „Mögen hierben doch wohl 
leiden, daß an einem Sonntag eim ehrlicher Bürger nad der Morgen- 
predigt vor das Thor, fich im Unſchuld zu ergdgen oder au feinen Sachen 
u fehen, jpaziere, wenn er vor ter Abendpredigat wieder bereinzufommten 
ich vornimmt.“ > , 

Derartige väterlihe Bevormumndung laſſen ſich die Kinder des 19. Jahr 
hunderts u mehr gefallen; aber wir follten uns auch auf diefem 
Gebiete der Freiheit, die wir errungen, würdig ertveilen. Heute achtet 
fein Stadibüttel darauf, wie und wohin wir Tpazieren geben, nm fo 
mehr follten wir jelbft darauf ſehen, daf die furzen Stunden der Er 
holung, die ns zur Verfiigung ftehen, richtig bemügt werden, daß fie 
uns jtärlen an Leib und Seele! . 


Dem Antergang geweibt. 


j Bon Moberi Ahmus, 


in 





in eifiger Nordweſtwind herrichte auf dem Dünenhochplalcan. 


Unbarmberzig ſchüttelte er die herbitlich befaubten Bäume | : N ” 
, Dimamente in Form von Krappen, Bällen, Kreuzblumen ꝛc. nur 


und Sträucher, welche ſich amter feiner elementaren Herrſchaft 
ächzend bogen. Während am Himmel graublaue Wolfen einher: 
jagten, „wie wenn der Wolf die Herde icheucht“, ſahen auch die 
pommerſchen Landwege, welche mein Fuhrwerk im vorigen Spät: 


herbſte auf der Fahrt von Treptow über Zedlin, Lenſin, Schlefiin | 


nach Hoff zu pafliren hatte, ebenfalls aufs traurigfte aus. 

Mein Fuhrwerk wadelte im Schlamme. Selbſt die Poeſie 
der zahlreichen Windmühlen wollte in dem eifigen Sturme wicht 
auf mich wirken. Die Trägerinnen der pommerſchen Gänfebriite, 
jene göttlich junoniſchen Vögel, wahre Prachtexemplare, flohen 
laut Schreiend vor meinem Wagen einher. Im übrigen umgab 
nic eine verlaffene Landichaft in echter Herbftitimmung: ſtroh— 
aededte Hütten, Teiche, Morälte, Pfübhe an Pfüte, die wir aber 
flott durchführen, während mir der Schmutz ins Geficht und auf 
die leider ſpritzte. Ich muhte jedoch meinem der Redaktion der 
„Bartenlaube” gegebenen Verſprechen nachkommen, die dem Unter— 
gange geweihte Kirche zu Hoff im Bilde der Nachwelt zu erhalten, 
und da hindert auch nicht das eiſigſte Spätherbitwetter. 

„Drüben liegt Hoff,” ſagte mir der Auticher, mit der Veitſche 
die Richtung angebend. 

Und da faq die alte Kirche vor mir! 

In weiten Kreiſe beherrjcht fie die ganze Gegend; hoch 
über dem Meere thronend, anf einfamer Dünenhöhe, ragen ihre 
uralten ehriwirdigen Mauern embor, romantisch aclegen wie ein 
Schloß am Meere, denn fein Kirchthurm erinnert mehr au ihre 
einftige Beltimmung. Durch die Mirchenjenjter zug benlend die 
Windsbraut, tief unten brandete wild das Meer, welches mir in 


Erinnerung an die auf dem atlantiihen Decan erleblen Stürme 
graufig und furchtbar erichien. 

Das Gotteshaus full das drittältejte Pommerns und unter 
Biſchof Dito, der im Jahre 1124 zur Belehrung der Heiden 
nad Pommern ging, erbaut worden fein. Ans diefer Zeit dürfte 
wenigftens der im romanijhen Stile ausgeführte, jedenfalls ältefte 
Theil der Kirche jtammen, der übrigens in der Anordnung der 
Fenfter und der neben einander befindlichen Portale fehr unregel- 
mäßig erſcheint. Innerhalb diejer Seite befanden ſich die Sike 
der Männer, während an der der Oſtſee zugelehrten nördlichen 
Seilenfacade, welche bereits die Verbindung des Rundbogens mit 
dem Spipbogen zeigt, die Bänke für die rauen ftanden. Die 
Weitfagade (auf unjerem ganzleitigen Bilde fichtbar) zeiqt ein in 
Schlanten Berhältniſſen erbautes gothiſches Portal, mit den rechts 
und links die Fagade flantirenden Spigfänlen, deren Krönung 
vom Zahne der Zeit zerjtört it. 

Von der links am Portale befindlichen Heinen Rubebanf 
genieht man einen herrlichen Bid auf die wejtlich gelegene 
arofartige Dünenlandihaft und die Oſtſee, der ſich steigert, 
wenn die Sonne am fernen Horizonte über dem weiten Waſſer 
fpiegel der See Abſchied von der Landichaft nimmt und ihre 
Abenditrahlen die alte braune Kirchenrnine mit goldenem Lichte 
überſluthen. 

Ein unvergeßliches Bild! 

Von großer maleriſcher Schönheit iſt der Eindruck des 
wahrſcheinlich aus dem 15. Jahrhundert ſtammenden Chors mit 
feinen gedrungenen fünf gothiſchen Fenſtern, unter denen ſich 
Niſchen mit Flachbogen befinden. Im ganzen wirkt der gegen— 
wärtig völlig offene Bau übereinſtimmend mit den jo charalleri— 
ftiichen Kicchlichen Badjteinbauten der balliſchen Architektur, die 
durch das einfache Baumaterial des gebrannten Fiegelſteins 


Spärlich zuließ. Der Bau iſt schlicht in der Ausführung, Mein in 
feinen Größenverbältnifien. Die Länge des Schiffes mißt etwa 
60 Fuß, die Breite 25. 

Und doc wie beredt fprechen diefe vom Alter tief ge 
bräunten Mauern, in denen jo viele Geſchlechter ihre Andacht 
errichteten, zu uns! 

As durch den unaufhörlichen Wogendrang und bie raube 
Binterlälte Scholle um Scholle aus der Umgebung der alten 
Kirche in die Tiefe ſank und von den Wellen verichlungen 
wurde, gab die Megierung im Jahre 1874 Befehl, die Kirche 
zu schließen. Derielbe wurde unmittelbar vor dem lebten Gottes: 
diente am 2. Auguft 1874 dem Geiftlichen zugeftellt, und er- 
greifend mag die Abjchiedspredigt an dev geheiligten Stätte ge; 
weſen fein, an welder zahlreiche Geiſtliche im Laufe der Jahre 
hunderte das Gotteswort verfündigten. 

Wohl um den Bau zu entlaften und ihn dadurd länger 
vor feinem Untergang, vor dem unten feiner harrenden Wellen 
grab zu ſchützen, entfernte man den Dachſtuhl, ſowie die Flache 
Dede, welche früher aus einem Gewölbe bejtand, das aber jchon 
im Jahre 1616 einſtürzte. In den ehemaligen aus Holz ae: 
bauten Thurm ſchlug während des Gottesdienſtes im Summer des 
Jahres 1760 der Blik. Die beiden Gloden, darunter diejenige 
vom Jahre 1679, befinden ſich gegenwärtig in der weiter land 
einwärts erbanten neuen Micche. 

Bon dem Anventar der Kirche jehen wir innerhalb devielben 
nichts mehr, weder Kanzel, noch Orgel, weder den Altar, noch 








Die Kirche zu Hoff in Pommern, 
Originalzeichnung von Nobert Aßmus. 


. 50 >» 


die aus dem Jahre 1582 ftammenden Chorjtühle. 
Kicchenbänfe, an denen ſich plattdeutſche Inſchriften befanden, find 
längst verſchwunden. Ein dichter Grasteppich befindet fich an 
Stelle des Steinbodens, ftatt des Kirchengewölbes ſchaut der 
Himmel auf die braunen, zum Theil getündhten Mauerrejte. Au 
einem Schlußfteine des fünffenfterigen Chores erbliden wir ein 
altes gemaltes Kreuz der deutſchen Ordensritter. 

Unter der ehemaligen Apfis vor dem Altare Tiegen heute 
noch im Schofe des unterixdiichen Slirchengewölbes die angeblich) 
aut Fonfervirten Leichen der Geiftlihen und wahricheinlich die- 
jenigen der ehemaligen Beliter des Dominiums, Zur Barochie 
der Kirche Hoff zählen noch Heute elf Ortichaften; die Kirche 
gehört zur gleichnamigen Herrichaft, welche ſich gegenwärtig im 
Bejite des Majors d. Keller befindet. 

Früher Stand die Kirche weit vom Meere entjernt, allein 
Jahr um Jahr verlangten Kälte und Dftfee ihren Tribut. Be: 
jonders find es, wie mir der Lehrer von Hoff, Herr Kiſon, 
mitteilte, dem ich aud die hiſtoriſchen Daten über die alte 
Kirche verbanfe, die Monate Februar bis April, welche der Kirche 


Aud die | 


\ 


aefährlich werden und in denen größere Landftreden in die Tiefe | 


jtürzen. Der Bo; 
den, auf welchem 
die Kirche ſich er- 
bebt, ijt lehmhal⸗ 
tig. Tritt Thau⸗ 
weiter nad) an: 
baltendem, ftar: 
fom Froſte ein, fo 
föjt fid) das vor: 
ber gefroren ge 
weſene Erdreich 
ab und ſtürzt 
hinab in die lu: 
then. Dazu kom⸗ 
men die Sturm; 
fluthen, welche 
das Terrain um: 
terwaſchen und es 
hinabreißen. 
Noch im Jahre 
1806 war die 
Kirche 48 Fuß 
vom Strande ent⸗ 
fernt, während 
heute der Fuß des 
Banderers nicht 





Die Alrde su Hof in Yommern. 
Origlnalgeichnung ven Hobert Ahmus, 


mehr im Stande iſt, die der Dftice zugekehrte Nordjeite zu be 
freten, weil dieſe unmitteldbar am Nbhange jtebt. Es iit fein 
Fuß breit Yand übrig geblieben. 

Wie bald werden die alten Mauern, über denen einit 
Sahrhunderte lang die Kirchengloden weit ins Land und über 
die See zur Andacht riefen, in denen frommer Kirchengefang 
zu den feierlichen Klängen der Orgel ertönte, von der umten 
auf ihre Opfer harrenden Oſtſee für alle Ewigkeit aufgenommen 
werden! Wie mächtig und ergreifend mag bier der Goltes— 
dienft auf die gläubigen Gemüther gewirlt haben, angefichts 
einer fol’ aewaltigen, hehren Umgebung! 

Aber die Andächtigen, weldye einjt hier fromm zur Kirche 
aewallt, dem erniten ermahnenden Worte des Geiſtlichen gelaufcht, 
fie finden im Tode feine Ruhe! 

Während id nad) einem geeigneten Punkte zum Zeichnen 
ſuchte, ſtolperte ih. Es war ein menfchlicher Armknochen, 
der aus dem Boden ragte, und bald ſah ich bloßgelegte 
Stellen des die Kirche umgebenden chemaligen Friedhofs, mit 
Scädeln und Steletten, welche durch das Abbrödeln des Erdreichs 
wieder zu Tage gelangt waren. Wohl dedt der fromme Sinn 
des Schulichrers 
dieje Stätten wie 
der mit Erde zu, 
allein fie find 
bejtimmt, nad 
dem ſie Jahr— 
hunderte lang ge⸗ 
ruht, das Schicfal 
der Kirche zu thei 
len. Das Gottes 
haus mit feiner 
längit entſchla— 
fenen Gemeinde 
wird bald in die 
aähnende Tiefe 
der See ftürzen, 
und bort unten 
auf dem Mecres- 
runde werden die 
Reſte der Kirche 
vereint mit ben 
menschlichen Ge⸗ 
beinen für immer 
von den Wogen 
der Dftfee zuge: 
dedt werden. 


— J—— 


Tr yoy DEROSTSELSENE 


Die Sette Theaterfaifon. 


1 Bühne hat gegenwärtig Feine Glanzepoche: Operellen, 
Schwänfe, die von Tag zu Tag lebenden dramatischen 
Erzeugniſſe überwiegen; man erftaunt, wenn man die Chronik 
der leßlen Saifon durchblättert, über dieſe Maſſe ftaubauf- 
wirbeinder Nichtigkeiten. Gleichwohl zeigt unſer Theater doch 
öfters noch ein fejttägliches Anfehen, nicht bloß bei der häufigen 
Aufführung klaſſiſcher Dramen und nichtklaſſiſcher Stüde von 
poetifchem Werth, die ſich auf den Repertoiren eingebürgert 
haben; mein, auch die begabten Dramatiker der Gegenwart 
ichaffen rũſtig weiter, umd es gelingt ihnen bisweilen ein glüd— 
licher Wurf. 

Einer der unermüblichiten iſt Paul Heyſe, der mit einer 
Dichtung, welcher es an ichärferen dramatischen Necenten, aber 
nicht an einem Hauch poetijcher Weihe fehlt, an mehreren Bühnen, 
befonders auch am Berliner Hoftheater, einen ſchönen Erfolg er 
rungen hat, Dieje Dichtung, „Die Weisheit Salomos“, bringt 
zwei biblische Frauengeitalten auf die Bühne: Sulamitb, die Braut 
des Hohen Liedes, und die Nönigin von Saba, Für eine drama 
tiiche Handlung niebt die biblische Ueberlieferung feinen Anhalte: 
punkt, hier mußte die freie Erfindung des Dichters ergänzend 
eintreten. Die Hönigin von Saba liebt den wegen feiner Weis 
heit hochaerühmten König von Israel mit heißer Leidenſchaftlich 
keit; aber dieſer empfindet für das Gärtnermädden Sulamitl 


eine glühende Neigung, die jedoch nicht den König, jondern einen 
armen Hirten liebt. Der letztere begeht ein Attentat gegen den 
Herrſcher, wird zum Tode verurtheilt und lann nur dadurd) ge 
rettet werden, dak Sulamith den Wünſchen des Königs Gehör 
ſchenkt. Doch ſchon feſtlich als Braut geſchmückt, bebt fie in dem 
entſcheidenden Augenblick vor ſolchem Opfer zurück und eilt in 
die Arme des Geliebten, um vereint mit ihm den Tod zu er 
leiden. Salomo aber bezwingt ſich ſelbſt und verzichtet auf 
dieſe Liebe, er begnadigt den Verbrecher. Das eben iſt ſeine 
Weisheit, 

Die Königin von Saba kann bei diefem Verlaufe der 
Handlung Feine dramatiich enticheidende Rolle jpielen. Sie ijt 
von Eiferjucht entbrannt und fucht Sulamith zu entführen. Doch 
ihr Blan mißlingt, und jo bewegt fie ſich mir in leidenjchaftlichen 
Ergüfjen, denen jeder dDramatiiche Abſchluß fehlt, denn der Wer: 
zicht Salomos kommt ihr nicht zu ftatten. Seine Gleichgültig 
feit gegen die hohe Dame mit der Phönirfeder hält von 
Anfang bis zu Ende Stich, und nachdem fie Salomo genügend 
„interviewt“, Fehrt fie wieder in ihre Goldland zurüd, Das alt- 
bibliſche Kolorit st überhaupt an dem Stüde verwiſcht: on feine 
Stelle find moderne Empfindungen und Zuſtände geſetzt, denn 
die Eiferſucht gegenüber einem König, der tausend Frauen 
befigt, dürfte wenig am Orte fein. Dod man fan die Dichter 


— 


Br 


nicht tadeln, welche die kulturgeſchichtliche Wahrheit opfem, um 
nicht der berechtigten Wirkung auf ihre Beitgenofien verluftig 
zu gehen. 

Wenn in diejem Stüde das Serlengemälde über die energiich 
forifchreitende Handlung überwiegt, jo haben wir in unferer 
Sitteratur Haffiiche Vorbilder, denen man das Gleiche nachiagen 
muß und welde doch ihre Bedeutung behaupten. An dichteri- 
ichem Reize fehlt e3 ja auch dem Heyſeſchen Schaufpiel nicht. In 
den Scenen des Gartenidylls herrſcht Anmuth und Yieblichfeit, 


—6 


St >» 


ichwacher Träger der Gegenbewegung im Schaujpiel, die dadurch 
etwas Zufällige erhält. Die Handlung ſelbſt inde it mit 


großer Gewandtheit durchgeführt; der Grundgedanke wirkt frap 


die Weisheit des Königs fpricht ſich oft mit einer jalbungsvollen | 


Milde aus, viele Sentenzen haben ein anmuthendes Gepräge, 
eine edle lünſtleriſche Faſſung, das Ganze ift in eine janfte Be— 
leuchtung gerüdt, welce die Sympathien der Zuſchauer zu weden 
und feitzuhalten vermag. 

Ganz im Genenjage zu Baul Heyſe Hat Ernft von 
Wildenbruch etwas dramatiſch Markiges in feinen Schöpfungen, 
und gerade die Teidenfchaftlichen Scenen, in denen Heyſes Muſe 
ſich nicht recht Heimisch fühlt, find die Domäne, in welcher 
Wildenbruch vorzugsweile zu Hauſe if. Sein Schaufpiel „Der 
Fürſt von Verona“ iſt am Berliner Hofthenter gegeben worden, 
ſonſt aber im Lauf der vorletzten und letzten Saiſon nur über 
wenig Bühnen gegangen. Es hat im Stoffe cine gewiſſe Achn: 
lichfeit mit „Romeo und Julie“ ; es ftellt eine Liebe dar, die jich 
in der Mitte toilder Parteifämpfe entfaltet. Wie dort die Mon- 
tecchi und Capuletti, jo befehden ſich hier die Guelfen und Ghi— 
bellinen. Selvannia, des queffiichen Grafen San Bonifazio Tochter, 


träumt von einer Berfühnung der Parteien; ihre Stiefmutter | 


aber will ihre Hand einem der erbittertiten und wildeſten Guelfen, 
Scaramello, geben. Die Tochter jedoch wendet ihr Herz dem 
neuen abibelliniichen Fürſten von Berona, Meftino della Scala, 


zu, der durch fein mildes würdiges Weſen die Neigung eines | 


edeln Mädchens verdient. Ahr Bund jcheint Frieden und Ber- 
Söhnung zu verbürgen. Doch der llebergang des Königs Nonradin 
über die Alpen entflammt von neuem den Kampf der Barteien 
und Selvaggia fällt als Opfer der wilden Wuth des von ihr 
verſchmähten Scaramello. 

In diefem Gemälde fehlt es nicht an Scenen von leiden: 
ſchaftlicher Kraft; einzelnes ift auch ſehr anmuthend, wie beim 
Beginn des Stüdes der Nofenfrieg im Mojtergarten, in dem 
ſich die Töchter der Guelfen und Ghibellinen gegenfeitig mit 
weißen und rothen Roſen bewerfen. Dod die Haupthandlung 
Töft fich nicht Scharf genug von den tumultuariichen Gruppen los, 
welche in ihrer lärmenden Aufdringlichkeit das Drama zu oft in 
das Gebiet der Hiſtorie Hinüberziehen; dadurch verzettelt ſich 
die Theilnahme des Publikums, und durch dieſen Fehler gegen 
die Kunſt der ‚dramatischen Perſpeltive wird manche ſchöne 
Wirkung einer im ganzen leidenſchaftlich bewegten Darſtellung 
geſchädigt. 

Der Haupitreſſer der letzten Saiſon war ein ſpaniſches Stüd 
„Galeotto“ von Joſe Echegarah, weldies in der Bearbeitung 
von Raul Lindau über fait alle großen und nennenswerthen 
deutichen Bühnen ging, Warum ſoll unsere dramatiſche Muſe, 
die jo oft franzöſiſch aufgepußt erichien, nicht auch einmal, wie 
es im „Egmont“ heißt, jpaniich fommen? In geſchickterer Weile 
als von Paul Lindau fonnte ein neuſpaniſches Drama bei uns 
nicht eingeführt werden. Lindan machte furzen Prozeß mit den 
fpanifchen Trochäen und Heidete das Ganze in einen gewandten 
und pilanten Dialog nach den beiten franzöſiſchen Muftern ein. 
Der Grundgedanle des Stüdes aber iſt ein ſehr beachtenswerther. 
Der gejellichaftliche Alatich mit feinen Berleumdungen it ja von 
manchem neuen Schaufpieldichter, wie z. B. von Seribe, als 
dramatiiches Motiv benugt worden; aber in „Galeotto“ Findet 
fich eine ganz neue Bariante desfelben. Was in der Gefellichait 
erzählt wird, iſt unwahr: das Verhältniß, von dem man ſpricht, 
bejtcht nicht. Aber es wird gerade durch diejen Klatſch hervor— 
gerufen. 

Ein junger Schriftftellee iſt mit einer verheiratheten Frau 
befreundet; die öffentliche Meinung ſpricht von einen ſtandalöſen 
Verhältniß. Dadurch) aber werden die Beziehungen zwiichen den 
beiden immer inniger, aerade durch die Duelle und erniten Be— 
gebenheiten, die aus diefem Klatſch hervorgehen. Wer aber ift 
der Schuldige? Der dramatiiche Dichter und der dramatische 
Held kann aus der unfaßbaren Menge nur einen herausgreiſen, 
welcher derartige Gerüchte lolportirt hat. Das iſt aber nur ein 


pirend; aber weis man einmal Beicheid damit, fu wird das Stüd 
pe ein gelöftes Räthſel ericheinen und laum auf die Dauer 
eſſeln. 

In Leipzig, Prag und an einigen anderen Bühnen iſt ein 
neues Schaufpiel von Richard Voß, „Eva“, mit Erfolg ge: 
aeben worden. Man darf cs dem Stüde nadjrühmen, da über 
einzelne Scenen der Zauber warmen Empfindens gebreitet iſt 
und daß die großen Auftritte mit leidenſchaftlichem Nachdruck 


\ behandelt find. Das jchöne Talent von Richard Voß hat Mark 


und Kraft; 





| Liebe wenig merken. 


doc) die Plöglichkeit der Wendungen und Wand. 
ungen in dieſem Schauſpiel hat etwas Beiremdendes und Ge— 
twaltfames, 

Eva, eines Grafen Tochter, ift mit einem gräflichen Beiter 
verlobt. Als der Vater durd) Spelnlationen ich ruinirt bat, als 
der Unwille der Arbeiter gegen ihn fosbricht, ala Vetter Ellimar 
gegen diefe mit Gewaltmaßregeln einichreiten will, da fagt fie 
jich plöglih von dem Bräutigam los, mit dem fie dem Anfchein 
nach überhaupt wenig harmonirt, und veicht einem bürgerlichen 
vermögenden jFabrifanten ihre Hand, der für fie begeijtert ift 
und der durch den Ruin ihres Waters, dem er alles Bertrauen 
geſchenkt, ſelbſt bioßgejtellt und dem Horn des Volles preis: 
gegeben wird, 

Diefe Sconen erinnern theils an das „Falliſſement“, theils 
an den „Hüttenbeſitzer“, doch fehlt ihnen das Ueberzeugende der 
dramatifchen Beweisführung, wie cs jenen Stüden eigen it. 
Eva lebt mit Hertwich nicht glücklich; ſie iſt offenbar einer 
launenhaften Eingebung gefolgt, als fie ihn zum Chatten wählte, 
Im Grunde liebte jie Ellimar, was fie ſelbſt überraſcht und 
auch uns überraichen muß, da wir im eriten Alte von biefer 
Ellimar, den plöglich eine unbezwingliche 
Sehnſucht nad jeiner früheren Braut ergriffen hat, lehrt 
aus Neapel zurüd und Eva, durch feine Liebesbetheuerungen 
bethört, verläßt Gatten und Kind und folgt bfindlings dem 
jungen Grafen. Diejer denft aber nicht daran, fie zu Hei 
rathen; er hat nebenher ein anderes Verhältniß; fie greift zur 
Pijtole, die ihr eine verlaflene Geliebte Ellimars, eine Art von 
Gräfin Orfina, reicht, und erſchießt ihn. Darauf folgt im legten 
Zwifchenafte die Auchthausjtrafe und im letzten Alte ein melo— 
dramatiſches Sterben, nach franzöfiihen Muftern. 

Der Charalter der launenhaften und abenteuerlichen Heldin 
erregt bei ruhiger Ertvägung der Vorgänge ſchwerwiegende Bedenken; 
doch das Talent von Voß hat etwas fo Teidenichaftlih Hin 
reißendes, daß wir bei einer Darftellung des Stüdes auf der 
Bühne gleichlam in feinem Banne gehalten werden und die Haupt 
icenen mächtin auf uns wirken laſſen. 

Auch unjere Romanfchriftiteller jtreben nad) dem dramatischen 
Lorbeer, der aber für ihre Darſtellungsweiſe ſchwerer erreichbar 
it. Friedrich Spielhagen hat mit feinem neueften Stüd 
„Die Philoſophin“ einen geijtreihen Eſſay in dramatiſcher Form 
acliefert, aber trotz einzelner für den Autor als folden chrenvoller 
Erfolge die Bühnen damit wicht erobern können. Die Heldin 
Friederike ijt eine Philoſophin, die ſich gegen die Beftimmung des 
Weibes letzeriſch auflehnt; natürlich wird ſie wie ihre ſtolze Vor— 
gängerin Donna Diana zuletzt von der Liebe beſiegt — Die 
jebenfalls gelungenite Scene des Stüdes, welches Vorzüge der 
Eharalterzeichnung und des Dialogs befigt, aber, wenn ſich auch 
die Handlung im dritten und vierten Aft jteigert, doch nicht den 
rechten dramatischen Guß und Fluß gewinnt Es ift bedauerlich, 
daß ſoviele nichtsfagende Autoren ſich auf das dramatische und 
theatraliiche Metier verftehen und mit ihrer bandwerfsmäfigen 
Fertigkeit Erfolge erringen, während mande geiftreiche und had) 
begabte Schriftfteller daran ſcheitern, daß fie der dramatiſchen 
Technit nicht ihre großen und Heinen Geheimniſſe abzulaufchen 
veritchen. 

Dem auf den Höben moderner Bildung ſich bewegenden 
Salonſtück Spielhagens ſteht Lontrajtirend ein Vollsſtück wie 
Ludwig AUnzengrubers „Stahl und Stein“ gegenüber. Dies 
Stück iſt an dem Wiener Hofburgthenter mit Erfolg gegeben 
worden, die Erfindung ift Scharf zugeipigt, die Ausführung kräftig 
und energiſch. Die Vollsbühne Anzengrubers liebt hechtragiſche 
Konflikte; die verſöhnlichen Abſchlüſſe der oberbayeriſchen Bauern 


—o 


jtüde liegen ihr fern. Der Held des Stüdes, Eisner, iſt Bürger— 
meifter des Dorfes geworben, In feiner Jugend hat ex ein 
wüftes Leben geführt und manche Schuld auf ſich geladen. So 
bat er ein Mädchen verführt und dann dem Sohn, welcher eine 
Frucht des Verhältniffes war, dem Elend preisgegeben. Dafür 
verfolgte ihn felbit häustiches Unglüd, feine Frau brachte ihm 
keinen Segen ins Haus; es fehlte Ruhe und Frieden; feine drei 
Söhne ftarben ihm. Nun verfolgt er eine Fromme Richtung 
und waltet feines Amtes mit umerbittlicher Strenge. 


das Schidjal aus ihm einen unfreiwilligen Brutus. Ju dem 


Nahbarbergen wohnt ein einſamer junger Mann, der jede Aus: | 
funkt über ſich verweigert. Der Ortsvorfteher ift verpflichtet, ihn 


zur Rede zu ftellen, und als der fremde verharrt in wilbtroßigen 
Wefen, ſchidt der Bürgermeifter Gendarmen ab, um ihn zu ver— 
haften. Es kommt zum Kampf zwiſchen ihnen und dem Einſamen, 
der, den einen erjchießt, von dem andern aber ſelbſt töblich 
verivundet wird. 

Nun folgt Die ergreifende Wiedererfennungsfcene: 
Eisners Sohn, der ihm jterbend gebracht wird, nad) dem er 
Jahre lang vergebens aejucht hat, um feine alte Schuld zu ſühnen. 
Der Sohn hat wegen Todtſchlags im Zuchthauſe geſeſſen; er hat 
einen erſchlagen, der ſeine Multer beſchimpft hatte. 
iſt von ergreifender Innerlichteit, ſchlaghaft und padend; freilich 
iſt in ihr auch der ganze Ertrakt ber dramatiſchen Handlung zu 
fuchen, die jich ſonſt vielfach in Erzählungen der Vorgeſchichte 
verflüchtigt. Dem Drama liegt eben eine Erzählung unſeres 
Autors zu Grunde und dieſe Herkunft verleugnet ſich nicht ſo 
leicht. 

Charalteriſtiſch für dieſe Saiſon iſt die Geltung, zu welcher 
die Lutherfeſtſpiele gelommen ſind. Abgeſehen von Wilhelm 


Henzens Luiherbrama, welches fi ich den Anforderinaen unferes | 


Bühnemvejens anſchmiegt, haben wir drei Fejtfpiele, die aus dem 
Nahmen des Theaters herausgewachſen find, nicht von Schau: 
ipielern, jondern von Studenten und anderen Mitwirkenden bar: 
geftellt werden und zu einer primitiven Form der Bühne zurüd: 
fehren: einen „Luther“ von Hans Herrig, der in Leipzig und 
Dresden mit Erfolg gegeben, einen andern von Otto Deprient, 
der in Nena zur Aufführung aefommen it, und einen bon 
Trümpelmann, der zuerſt in Torgau und neuerdings in 
Berlin aufgeführt wurde. Das Streben nach einer Vollsbühne iſt 
für gewiſſe fejtliche Zwede und nationale Scauftellungen gewiß 
wicht unberechtigt, doch darf dem darjtellenden Dilettantiämus 
wicht ein zu breiter Raum anbeimgegeben werben, 

Jede Saiſon hat cin paar Lujtipiele, die ſich Fröhlich im 
Lichte der Proſceniumslampen tummeln, viel beffaticht und viel 
belacht werden und nach kurzer Dafeinsfreude in den Thenterandyiven 
verfdnvinden. Selten findet ſich ein alüdlicher Treffer, der für 
Jahrzehnte ausreicht. In der Tehten Saifon bat die Firma 
Franz von Schoenthan und Nadelburg, die bereits mit 
den „Goldfifchen* die Bühnen erobert, ein Luſtſpiel: „Die be; 
rühmte Frau“ verfaßt, welches zuerst am Deutichen Theater 
in Berlin mit Erfolg geneben wurde und dann feinen Wen 
über die dentjchen Bühnen machte Schade, daß „die be- 
rühmte Frau“ ſelbſt zu wenig im Mittelpunkte des Lujtipiels 
ſteht; die befannte Satire Schillers mag die erite Anregung zu 
dem Stiide gegeben haben, aber man erwartet vergebens, ein 


5172 


Da macht | 


es iſt 


Die Scene | 


.—— 


Charaltergemalde darin zu finden, welches die Schillerichen 
fatirifchen Pfeile in einem bdramatiichen Köcher jammelt. Die 
berühmte Frau weit in alien; indeß herricht in ihrem Hauſe 
eine Funterbunte Wirthichaft. Der Batte gebt einem Licbesabentener 
mit einer Schaufpielerin nad, die Töchter haben aud) ihre Liebes: 
handel; wie da ein Freund der berühmten Frau Ordnung ſchafft, 
felbjt das Herz der einen Tochter gewinnt, die Mutter zur Nüd- 
fehr bewegt, das wird uns in einer Neihe Icbendiger Scenen 
vorgeführt. Die berühmte Frau behandelt den unberühmten 
Gatten mit vernichtender Ironie: und man ijt vollitändig davon 
überzeugt, daß, wenn fie ihm vorichlägt, jeder möge feine eigenen 
Wege gehen, dies das einzig Richtine, ja Mögliche ift. Doch da 
muß noch ein Ausgleich zur Befriedigung des Publikums geſucht 
‚ werben, das ſolche Diſſonanzen nicht verträgt, und damit geht 
die Lebenswahrheit in die Brüche. 

Ein anderes Luftfpiel: „Auf glatter Bahn“ von Heinrich 
Heinemann fam im Berliner Schauſpielhauſe mit Erfolg zur 
Aufführung und machte auch feitdem die Runde über die deutſchen 
Bühnen. Der PVerfaffer ift ein tüchtiger Thenterpraftifer und 
weiß die effeltvollen Lichter zur vechten Zeit aufzjufehen, die 
padenden Scenen an die rechte Stelle zu vüden. Die Voraus 
fegung der Luſtſpielhandlung iſt ein pilauter Skfandalprozeh, in 
welchem cin Graf Marberg als Zeuge vorgeladen wird. Diele 
Borladumg trifft ihm gerade zur Yeit, als er mit feiner jungen 
Frau die Hochzeitsreife nad) Paris antreten will. Um welchen 
Skandal es ſich einentlich handelt, das erfahren wir nicht. Die 
Thatjache genügt, daß Graf Marberg da in eine ſehr mißliche 
Angelegenheit mitverwidelt ift. Seine ganze Sorge iſt, daß feine 
Frau nichts davon erführt; er feht es daher durch, daß er in 
den Zeitungen nur als der Zeuge M. erwähnt wird. Doch 
gerade für diefen Zeugen, der die pilanteften Ausſagen mad, 
interefjirt fidh feine Freu; es bleibt ihm nichts übrig, als, einen 
‚ alten Univerfitätsfameraden Müller zu bitten, daß er ſich für den 

Zeugen ausgiebt. Die Scene, in welcher das bemooſte Haupt 
fich zu diefem Freundſchaftsdienſte entſchließt, iſt die ergöglichite 
des Stüdes. Doc Müller wird dadurch in Konflikte mit der Familie 
feiner eigenen Braut verwidelt und plaht ſchließlich mit der Wahr: 
heit heraus. Dadurch geräth der Graf in eine Verlegenheit, 
welche durch eine gewandte Bermittlerin befeitigt wird. Das 
Stüd trägt Teine fchriftitellerifch bedeutende Phyſiognomie zur 
Schau, aber es amüfirt durch ein paar eraöbliche Auftritte und 
das große Bühnenpublifum begnügt ſich mit ſolcher geiftig 
frugalen Koſt. 

Ein Faſtnachtsſchwank, der vorzugsweise in Malerateliers 
jpielt, ift „Die Amazone“ von ©. v. Mofer, deſſen Produllion 
ſich aber nicht in auffteigender Linie bewegt, denn die Verkleidungs 
fcenen diefes Stüdes gehören einer wohlfeilen grotesfen Komik 
an und man muß ſich Schon in einer Karnevalslaune befinden, 
um das Derbe und Scharfgewürzte vieler Sconen genichbar zu 
finden. 

Eine große Zahl von nenen Luſtſpielen, Die wir bier nicht 
weiter erwähnen wollen, überlebte einen oder mehrere Theater- 
abende nicht; doch zu allen Seiten war ja folder dramatijche 
Unterhaltungsitoff für das alltägliche Nepertoire ein Bedirfnif 
und auch die Mujterbühnen konnten ihn nicht entbehren. 

Rudolf dv. Gottſchall. 


Ein deutfhes Dorf in Attika. 


Neijebild von Eduard Engel. 


er Ausflug, den ich vor einigen Jahren an einem Mais 
fonntage von Athen nach dem deutichen Dorf in Attifa Herafli 
(oder auch Jrakli) machte, jollte mir nicht nur ein Bild über den 
jeßigen Zuſtand diefes halb vergangenen baheriſch-griechiſchen Idylls 


verschaffen, jondern ich hatte dabei aud) die Abjicht, mir einmal | 


durch ein vecht greifbares Beiſpiel eine deutliche Vorftellung zu ver- 
ſchaffen von dem Entwidelungsgange des griechiichen Volkes in feiner 


Miſchung mit fremden Volfsbejtandtheifen. Was in diefer deutschen | 


Kolonie ich vollzogen, das mußte ja vorbildlich fein für die 
Bildung des neugriechiſchen Vollsthums überhaupt, denn anders 
ift es auch, im großen und ganzen, 
der Ueberfluthung mit fremden Stämmen im frühen und fpäten 
Mittelalter und unter der Türkenherrichaft. 


nicht zugegangen während | 


| Jralli, wie es im Wolfamunde heißt; Herakli, wie es die 
‚ Gebildeten und die Eifenbahnvertvnliung in der Erinnerung an 
ein altes Heraflesheiligthum nennen, ift ein Dörfchen von ungefähr 
30 Häufern, alfo 30 Yamilien, und Faum 200 Seelen; es liegt, 
mit der Eifenbahn in 20 Minuten erreichbar, nordöſtlich von 
‚ Athen, unweit des Fluſſes Kephiſos, mit ſchönem Blick auf das 
| Parnesgebirge und den Gipfel des Pentelifon. Das Dorf iſt Eifen- 
bahnſtalion der ftark befahrenen Bahn Athen-Kephifia und fogar 
Sinotenpunkt der bier abzweigenden wichtigen Yinie Athen-Laurion. 
Aber der Verlehr nach beiden für Athen fo bedeutfamen Orten brauft 
an dem flillen Heralli vorüber; ſelten ſteigt jemand auf der feinen, 
weit vom Dorf entlegenen Station aus oder ein, und als ic 
mit einem atheniichen Freunde auf dem Frühzuge dort anlangie, 


erregten wir die nengierigfte Aufmerkſamleit der Eijen- 
bahnbedienjteten. 

In den vierziger Jahren diejes Jahrhunderts iſt 
das Dorf entjtanden, und zwar, wie immer bei Neu: 
aründungen in Griechenland, auf einer alten Kultur: 
ftätte. Bayeriſche ausgediente Soldaten, Halbinvaliden, 
die nicht mehr nad) der deutichen Heimath zurüdfchren 
wollten, wurden bier von König Otto angefiedelt und 
mit genügenden Mitteln zum Fortkommen ausgeitattet. 
Der Erdboden eignet fi mehr zum Weinbau als zur 
Körnerfrudt; er ift, wie fait aller attiſche Boden, 
Hartichollig, ftark mit verwittertem Felsgeröll unter: 
mifcht und ſchlecht bewäſſert. Weſtlich läuft in ziemlicher 
Entfernung die Fahrſtraße nad Tatoi, dem Landlig 
des Königs Georg, und nad Dekelea, der alten 
attischen Gebirnsfeftung, vorüber, und bis zur Fahr: 
ſtraße von Athen nad) Kephijia iſt's wohl eine gute 
Stunde weit, Nicht einmal von der jehigen Station 
führt eine Fahrftraße, wäre es auch nur ein leidlicher 
Bauernweg“, nad) dem ehemals deutſchen Heralli. Alle 
Verlehrsadern laufen daran vorbei, feine berührt cs. 

Jene bayerifchen Anfiedler hatten zum größeren 
Theile deutiche Frauen geheirathet, Töchter deuticher 
Handwerker in Athen, die vom Hofftaat lebten. Aber 
gleich bei der Gründung des Dorfes war etwas grie- 
chiſches Blut Hineingefommen; einige griechiſche Frauen 
wirthichafteten ſchon damals an der Seite ihrer baye— 
rischen Gatten, und damit war der Gährungsftoff ge— 
geben zu der langfamen, aber unaufhaltiamen Um— 
wandfung des Volkscharakters jener Heinen Gemeinde, 

Nundum wohnten Griechen, wie fie heute dort 
wohnen in den zahlreichen Dörfern und Weilern der 
attiichen Ebene. Auf den Verlehr mit dieſen griechiſchen 
Nachbarn angetwiefen, viel zu weit von When ent: 
fernt, um regelmäßig mit dem damals noch ziemlich 
ſtarken deutjchen Element der Hauptjtadt in Verbindung 
zu bleiben, hörten die bayeriſchen Anfiedler beim erjten 
Schritt aus ihrem Dorf heraus nur Griechiſch, welches jie 
ja jchon vorher in der Armee und im ftädtischen Verkehr 
erlernt hatten. Es hätte einer größeren Widerjtandsfähig- 
feit bedurft, al& fie der einfache Deutiche im Auslande 
meift befitt, um ſich troß der quten eigenen Kenntniß des 
Griechiſchen und troß des täglichen Verkehrs mit Griechen 
die reine Mutterfprache zu erhalten. Die Kinder der 
Miſchehen lernten natürlich von der griechiſchen Mutter 
zuerft Griechifch und fpäter vom Water nicht immer 
Deutich, denn diefer ſprach ja auch mit der Gattin nur 
griechiſch. Sp wurden ſchon in der nächſten Generation, 
eigentlich jchon wenige Jahre nad) der Gründung, ganze 
Familien mit deutfchem Oberhaupt ſprachlich zu Griechen. 

König Dito nahm fic freilich nach Kräften feiner 
eigenthümlichen Schöpfung an und jorgte namentlich 
dafür, daß fie eine deutſche Schule und einen deutichen 
Pfarrer erhielt. Die Kirche trägt noch heute äußerlich 
einen ungriechiichen Charakter, wie fie denn auch nicht 
dem griechiich-tatholifchen, jondern dem römisc-tatho- 
liſchen Gottesdienit geweiht it. Was wurde aber aus 
einer deutſchen Schule, deren Kinder im elterlichen 
Haufe und auf der Dorfgafje zum Theil Griechisch 
hörten und ſelbſt ſprachen? Nachdem der erſte deutſche 
Lehrer abgenugt war, fand fich nicht Leicht wieder cin 
Nachfolger. Denn er hätte ja aus Deutſchland bezogen 
werden müffen; und welcher deutfche Lehrer hätte ſich 
bei Mäglichem Gehalt in jene Einfamteit und Fremdheit 
verbannen laſſen? Man nahm alfo feine Zuflucht zu 
einem bdeutichen Pfarrer, der nun gleichzeitig Lehrer 
jein mußte. Aber gar bald fand fich auch fein Pfarrer 
mehr aus Deutichland jelber für das verfrüppelte ferne 
Gemeinweſen, und nun ging der Umwandlungsprozeß 
mit Riejenichritten vorwärts. Als vollends vor einem 
Deenichenalter König Otto das Land verlieh, hatte die 
letzte Stunde des deutihen Dorfes Heralli geichlagen; 
denn von nun ab kümmerte jich überhaupt niemand 
mehr um jenen verlorenen Poſten. 


1588 


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„In ſchwebender — £uf**. Driginalzeidhunumg von Herm. Vogel, 
73 


— 571 


Der Zuftand, in dem ich Heralli im Mai des Jahres 1886 
borfand, war vollends ein kritiſcher. Wis —* hatte es einen 
Pfarrer gehabt, der mit beiwundernswerther Hingebung ſich der 
Wahrung des Deutſchthums annahm, ohme felbjt ein Deuticher 
zu fein, Herr Armaͤgos, der bisherige Ortspfarrer, dem ich die 
meilten Angaben über Herakli verdanke, ftammt von der Inſel 
Syra her, dem Sauptfit des römischen Katholicismus in Griechen: 
fand, Er bat feine Studien in Münden gemacht, ſpricht ein 
angenehmes Bajnvarendeutih, hat Verftändnig und Liebe für 
deutiche Art, deutſche Litteratur und deutiches Volk und ift während 
vieler Jahre ein treuer Hüter des ihm anvertrauten fremden 


Dienjchengutes gewefen. Auf die Dauer aber hat er die furchtbar | 


bedrüdende Einfamkeit nicht ertragen und jelbjt die neugeichaffene 
Eifenbahnverbindung mit Athen bat. nicht vermocht, ihm jeine 
Bürde leichter zu machen. Als ic) ihn befuchte, war er im Be 
griff, Heralli den Rüden zu lehren auf Nimmerticderfehn, und 
wenige Wocen fpäter traf ich ihn dann auf dem Dampfer, der 
mic von Korinth der Heimath zuführte, auf dem Wege nad) 
München begriffen. 

Schon Here Armägos hat ſich genöthigt geſehen, griechiſch 
zu predigen und griechiſch die Ehriitenfchre zu treiben. Unter 
ben Frauen des Dörfchens find nur noch ſehr wenige, die Deutjch 
genug verftchen, um dem höheren deutjchen Stil in Predigt und 
Kicchlicher Unterweifung zu folgen. Sie hören von ihren Männern 
wohl die wichtigſten deutichen Wörter des täglichen Verfchrs in 
Haus und Hof, aber fie ſelbſt ſprechen fie nicht nad). 

Aehnlich ftand es um die Zeit, wo ich Herafli befuchte, mit 
der von Herrn Armägos geleiteten Dorfſchule. Zwar hielt er ftreng 
darauf, daß es eine Unterrichtsftunde „deutich Leſen“ gab; aber 
den Unterricht felber mußte er in griechiicher Spradye ertheilen, 
weil die Kinder die höhere abjtrafte Spradye eines deutjchen 


Unterrichts nicht mehr verftanden. — Der Nachfolger des Heren | 


Armaͤgos ift kein Deuticher, fondern hat nur nothdürftig etwas 
Deutfd in Griechenland gelernt. 
Dan kommt nad) mühfamer Wanderung von der Eifenbahn: 


ftation, querfeldein über Sturzäder und Weinfelder, über Gräben | 


und MWildbachichründe („Rewmata“ nennt fie der Grieche), nad 
dem hoch gelegenen Dörfchen, auf deſſen jtillen Gaſſen fi 
föpfige Jungen mit funfelnden, ſchwarzen Augen herumtummeln. 
Die Farbe des Gefichts und der Haare ift deutfch, aber der Blid 
ift griechiſch, und die Zunge iſt auch griechiſch geworden, wie 
wir bei der Antwort auf die erſte Frage nach dem Namen 
merfen. Dieſer Knirps jagt, er heiße Franz (oder vielmehr 
Franzistos) Müller; jener nennt ſich Lukas Sep; ein dritter 
Georg (gemauer Jorji) Regelmeier; doch ſchon an der Ausſprache 
diefer Namen hören wir, daß es hier aus it mit der deutichen 
Sprache als einem lebendigen Dinge. 

Ein bejonders Ichrreiches Beispiel für die Art, wie ſich der 
Umwandlungsprozeh in ſolchen Zwitterbildungen zu vollzichen 
pflegt, bietet die Familie des angefehenjten Bürgers von Heralli, 
des deutfchen Bierbraners Kir. Der Name hat unter den Dentfchen 
in Athen quten Klang, denn der „alte Fig”, der Bater des 
Herakliers, it der Begründer und Pfleger der Bierbereitung und 
des Biertrinkens in Griechenland, Die berühmte Bierftube von 
Bernudatis in der Hermesftraße zu Athen verzapft Firſches Bier, 
und daß es erbärmlich ſchmeckt, daran ijt wahrscheinlich nicht 
des Heren Fir Bierbraukunſt ſchuld, ſondern die ſchlechte Art 
der Aufbewahrung und Behandlung durch griechiſche bier-unvers 
jtändige Hände. Der junge Fir, der in Herakli wirthicaftet, 


— Todtenwacht. 


Die Andern jubelnd zum Bale gehn, 

Ic allein bin verlaffen und traurig, 

Im glänzenden Saal wie fie alühend ſich drehn — 
Und hier ſtöhnt der Madytwind fo ſchaurig. 


blond- | 


| Spricht felber noch vorzügliches Bayerndeutich, aber daneben auch 
‚ ein volllommenes Vollsgriechiſch und in feinem eigenen Haufe 
fat nur das leptere; denn feine rau, obwohl eine geborene 
| Deutjche, ift in einem römiſch latholiſchen griechiſchen Kloſter er- 
zogen und hat bort nur ariechifch und franzöfiich geſprochen, fo 
daß nun dieſe beiden deutſchen Eheleute im eigenen Haufe und 
im Verlehr mit den Kindern ſich nur des Griechiſchen bedienen. 
So geht es mit dem Deutfchthum dieſer verfprengten deutichen 
Menschen inmitten eines ganz fremden Vollsthums. 

Ich habe diefe Darftellung der PVerhältniffe von Herakli 
nicht gegeben, um daran wehmüthige Betrachtungen über einen 
„verlorenen Bruderjtamm* oder dergleichen zu Mmüpfen. Es mag 
fchade fein um die paar armen Leute, die nicht wieder in ihre 
eigentliche Heimath gelangen und doc auf dem fremden ſpröden 
Boden nicht gedeihlich fortlommen fonnten; aber Deutschland Hat 
andere fpradylidye und nationale Berlufte im Auslande zu be: 
Magen, als daß cs lange Magen jollte um jenes Häuflein ber: 
lorener Söhne in Attifa. Ich ſelbſt habe vielmehr Herakli an 
und für ſich angefehen und möchte es als ſolches aud den 
Leſern vorführen, als ein im hellen Sonnenlicht der Gegenwart 
fich darftellendes Belegſtück für die Art, wie das griechifche Volks 
thum fich zu den fremden Eindeinglingen im Mittelalter verhalten 
hat, Was fih an diefem abgelegenen led Erde Attifas in dem 
kurzen Beitraum von 40 Nahren vollzogen hat, das hat ſich un: 
zählige Male in den Thälern des Peloponnes, auf den Ebenen 
von Theffalien und an den Berahängen der Inſeln abgefpielt. 

Niemand leugnet, dab Welle auf Welle fremder Vollsſtämme 
über das griechifche Wolf, über die Nachlommen der „alten 
Griechen“ Hingefluthet iſt feit dem Untergange des römiſchen 
Neihs bis zur Unterwerfung unter das Türlkenjoch. Die 
Geſchichte bietet fein Beiſpiel, daß ein eroberndes Heer die 
Sprache und die Sitten des von ihm ausgerotteten Volles an: 
genommen, und die flavifchen Stämme, die im frühen Dittelalter 
in Griechenland eindrangen, jowie die franzöſiſchen und italienifchen 
Heere, die ihnen im jpäteren Mültelalter folgten, waren allefammt 
nicht zahlreich genug, um das griechiſche Vollstgum und bie 
griechifche Sprache jo zu ändern, daß man von einem neuen 
Bolte, kaum von einem Mijchvolfe, reden darf. Slaven, 
Franken, Ilaliener ließen fich unter den Griechen nieder, gründeten 
wohl aud eigene Dörfer, ganz wie die bayerijchen Veteranen in 
Herakli; aber fie heiratheten die Töchter des Landes, fie verkehrten 
freundichaftlich mit den Dörflern desfelben Bezirks, ihre Kinder 
ipielten miteinander. Juſt jo, wie es den Deutſchen im Attifa 
ergangen, To it es auch den fremden Eroberern griechiſchen 
Bodens geichehen: fie haben nad) zwei, drei Menfchenaltern Art, 
Spradje, ja jelbft ihre Namen verloren und find zu Griechen 
geworden. Gerade von den der Zahl mad) mädhtigften ins 
deinglingen haben die Neugriehen am wenigjten aufgenommen: 
von den Slaven. Das Neugriecifche Hat überhaupt nur fehr 
wenige Fremdwörter; am wenigſten aber, wenn überhaupt welche, 
aus dem Slavischen. 

In wenigen Jahren wird das ſchöne Lebendige Beifpiel 
Herakli nicht mehr unmittelbar zum Studium fprachlicher und 
nationaler Umbildung benugt werden können, denn alsdann wird 
wohl auch die legte Spur ehemaligen Deutichtgums dort ver- 
ſchwunden fein. Um fo wichtiger erfchien mir der Verſuch, 
wenigitens den Auftand dieſes deutichen Dorfes in Attifa feft: 
zubalten, in welchem ich es vor nun zwei Jahren fand; wer es 
‚ heute auffucht, wird ihn ſchon wejentlich verändert finden. 








SSH 


Grofmütterlein liegt auf der Codtenbahr; 
| Von einfamen Kerzen zittert 

Gin matter Schein um Das bleiche Haar, 

) Um die Stirne blaf und verwittert, 


3dy halte treulich die Todtenwacht, 

Von fern klingt der Sang der Geigen, 

Es bläf der Wind fo ſchrill durch die Macht, 
Ums Gans tanzt cin Geifterreigen. 


Goltfrieb Pocher. 





en rothen Bädeler kennt jedermann; er ift das Wahrzeichen 


— 55 — 
Geheimes Photograpbiren. 


Mit dieſer Geheimlamera können je nach der inneren 


des Touriſten. Er hat viele Konkurrenten, aber feiner | Konſtruktion derſelben 6 oder 4 Aufnahmen gemacht werden, bis 
‚ man nöthig hat, fi wieder in die Dunfellammer zu begeben und 


dürfte ihm jo ungefährlich fein wie das Buch, welches vor wenigen 
Wochen erichienen ijt und welches wir in Abbildung unferen 
Lefern vorführen. Scherzweiie hatte es jemand den „ſchwarzen 
Bädeler“ genannt, weil das Eremplar, das ihm gezeigt wurde, 
ſchwarz „gebunden“ war. 

Der rothe Bädeler dient uns auf Reijen als getreuer Führer; 
der Schwarze Bädeler ijt auch auf Reifen zu gebrauchen, aber ein 
Bud) mit leeren Blättern, eine Zeichenmappe en miniature, 
welche die befondere Eigenſchaft befigt, daß auf den 24 Blättern 
derjelben jebermann bie naturgelreueften Bilder berborzaubern 
fan, auch wenn er niemals eine Stunde Zeichenunlerricht ge⸗ 
noſſen. Mit Hilfe des rothen Bädekers können wir die ſchönſten 
Gegenden und die beſten Hötels aufſuchen; der ſchwarze Bädeler 
verhilft uns zu etwas anderem: er Tiefert uns ein Reifenlbum, 
in welchem unfere Exlebniffe, die Punkte, die wir bejucht haben, 
in bübjchen Miniaturphotographien wiedergegeben find. 

Es klingt vielleicht väthielbaft, was wir da fagen, aber 
wahr ist es, denn das ſchwarze Büchlein ift eben ein photographiicher 
Apparat, eine der jogenannten Geheim⸗ oder Deteftivfameras. 

Bor einiger Zeit, in Halbheft 7 dieſes 
Jahrganges, haben wir unfere Leſer auf 
die Bedeutung der Amateurphotographie 
aufmerfiam gemadt und den Touriſten- 
apparat von R. Lechner in Wien beichries 
ben. Wir haben fchon damals gejagt, daß 
mit Hilfe ähnlicher Apparate es möglich iſt, 


nahmen zu machen. Wie leicht diefe Tou— 
rijtenapparate auch zu transportiven und 
zu handhaben find, fie zwingen uns doch, 
uns vor der ganzen Umgebung als Photo: 
graphen zu befennen. Wir können mit den- 
felben alles aufs trefjlichjte photographiven, 
aber unbemerkt können wir es nicht. Die Berge ftehen zwar 
gedufbig und laſſen fich abfonterfeien, aber eine ſchmucke Sennerin, 





Gcheimkamers. 


Nun ift das Gewehr fchuhiertig. 
überall auf Meijen photographiiche Auf: 


ein prachtvoller Jägerburſch, einige Landleute in ihrer eigenartigen | 


Tracht, die bfeiben nicht immer fill vor dem Glaſe ftehen. Alles 


fonnte bis jet der Photograph aufnehmen, aber bei vielen Sadıen | 


und namentlich Perfonen brauchte er noch die Zuſtimmung des 
Beſitzers oder der Perſon ſelbſt . . Porträts auf der Laudſtraße 
ſozuſagen zu ſiehlen, das Dermodhte er noch nicht. 

Seit einigen Jahren ift es aber ander& geworben. Sind 
die Lichtverhältniffe recht günftig, dann ijt der Photograph 
im Stande, alles, was er will, zu photographiren, ohne daß 
jemand eine Ahnung davon hat. 

Die hohe Entwidelung der photographiſchen Technik hat es 
den Erfindern möglid gemacht, Heine photographiiche Apparate 
zu fonjtruiren, mit deren Dilfe deutliche Momentaufnahmen un- 
bemerft erzielt werden. 
entitanden und dort erhielten aud die Apparate den Namen: 
Deteftivfantera. 
gegeben, die ein photographiiches Iuſtrument nicht vermuthen läßt. 

et hat 3. B. den jogenannten photographiicden Hut 
erjunden. Am Inneren des Hutes befindet ſich der Apparat ver- 
ftedt ; 
einer Schnur, welche vom Hute herabhängt und den aewöhnlichen 
Haltern an den Hüten, die eine Entführung derſelben durch den 
Wind verhüten jollen, ähnlich ſieht. Der photographiidhe Hut, 
eine intereflante Spielerei, wird aud in Deutichland vertrieben. 

Ein anderer Typus der Deteltivlamera ift die Geheimtamera 
von Rudolf Stirn in Berlin, die bereits in Taufenden von Eremplas 
ren verbreitet ift. Sie hat die Form einer runden Scheibe von der 
Größe eines Defferttellers. Das Objeltiv ragt in einer trichter- 
förmigen Einfaffung aus der Scheibe hervor. Man verbirgt die 
Stirnihe Geheimlamera unter der Weite und ſtedt das Objektiv 
ducch das Knopfloch. Eine ſchwarze Schnur, die mit dem Moment: 
verichluß des Apparates in Verbindung jtcht, läht man unter dem 
Weſtenrande hervorſchauen. Soll die Aufnabme gemacht werden, 
io braucht man, nachdem man die richtige Stellung eingenommen, 
wur an der Schnur zu zichen, 


die Kamera von neuem mit Trodenplatien zu füllen. Die 
Fotographien, die man auf diefe Weiſe erzielt, find vund, etwa 
fo u. wie ein filbernes Fünfmarkitüd. 

Das Neuefte und zugleich vielleicht das Driginellfte auf dem 
Gebiete der Geheimlameras ift aber der Apparat, von dem wir 
als von dem „Schwarzen Bädeker“ im Eingang geiproden haben, 
und der von Hanfe und Albers in Frankfurt am Main in den 
Handel gebracht wurde. Er heißt mit feinem wirklichen Namen 
„Krügeners Tahenbuclamera” und iſt nur viermal jo groß 
wie die beiftehende Abbildung desjelben. 

Bor allen uns bekannten Apparaten diefee Art bat. er den 
Borzug, dab er mit der bedeutenden ‚Zahl von 24 Trodenplatten 
aefüllt werben kann. Wir find alfo im Stande, mit ihm 24 Auf: 
nahmen zu machen, bevor wir uns in die Dunfellammer begeben 
und den Plattenwechſel bejorgen müſſen. Und wie raſch nad) 
einander können bie Aufnahmen erfolgen! Die Tafchendud)- 
famera ift in der That ein photographiſches Magazingewehr. 

Wir wollen deſſen Handhabung kurz erklären. 

Die runde Oeffnung (links) in der „ . 
Mitte der vorderen Kante führt zu der Ob— 
jeftivlinfe. Hinter diefer Deffnung befindet 
fih der Momentverfhluß. Wir jpannen 
ihn, indem wir an dem oberen Linfen 
Knopfe ziehen, bis es cin wenig — 

ir 
gehen auf die Straße, auf die photo— 
graphiſche Jagd. Bald iſt ein Opfer aus— 
erleſen; es naht uns, es fommt auf etwa 
6 Schritt an ung heran; gleichgültig halten 
wir das „Buch“ unterm Arm, die Deffnung 
des Dbjeftivs dem zu Photographirenden 
zuwendend; wir ziehen nun an dem Knopfe 
der unteren Seite; es fnadt wieder leife in dem Apparat; die erjte 
Aufnahme ift fertig und der Ahnungsloſe photograpbirt! 

Wir rüften uns fofort zur zweiten Aufnahme Wir fallen 
den rechten oberen Knopf, ziehen an ihm einen Stift empor und 
ſchieben ihn wieder hinein; dadurch wixd im Innern des Apparates 
die vorhin befichtete Platte in das fogenannte untere Magazin 
bineingefchoben und aus dem oberen eine frifche in die Mitte vor 
die DObjektivlinfe gefchoben. Zweier Griffe hat es nur bedurft, 
und wir find zur zweiten Aufnahme bereit. So können wir 








Taſcheubuchkamera. 


dieſes einfache ABE 24 mal wiederholen. 


Die Idee iſt unferes Willens in Amerila 


Den Apparaten wird zumeiit eine Äußere Form 


die Aufnahme jelbft aefhieht durch einen leifen Zug an 


Und die Photographien? Sie find ebenfo groß wie die 
der Stirnichen Kamera, nur daß fie vierediq find, Heine 
Quadrate von 4 cm Breite. Eind die Aufnahmen gelungen, 
fo gewähren die Heinen Bildchen viel Freude, ſie Taffen ſich 
aber bei Benugung entſprechender Apparate um das Mehrfache 
vergrößern. 

Wir alle Haben heutzutage jogenannte Reifealbums, Samm- 
lungen von Fotographien, die wir an Orten gelauft, welche 
wir bereift haben. Sie bereiten uns viel Freude; mehr Ber- 
anügen wird aber derjenige empfinden, der über ein ſelbſtge— 
machtes Reiſealbum verfügt. Solche Albums find heutzutage feine 
Seltenheit mehr, 

Die Geheimkameras aber ſtehen keineswegs ausſchließlich im 
Dienfte der Unterhaltung, find nicht allein zum Zeitvertreib da. 

Sie find aud) für den ernjten Neifenden, der wiſſenſchaftliche 
Zwecke verfolgt, von hoher Bedeutung; fie ermöglichen ihm, aud) 
in folchen Gegenden Aufnahmen zu maden, wo die Benöfferung 
nicht „sigen“ will und vor dem photographiichen Apparat Neif- 
aus nimmt Die Geheimfameras find aud für Künitler von 
großem Werth, die ihre Mappen mit leichter Mühe mit treff: 
lichjten Motiven bereichern können. Ernten Sweden überhaupt 
verdanten fie ihre Entitehung. 

Die großen verjtellbaren Apparate, von denen wir in unferem 
Artilel „Die Amateurphotographie“ berichtet haben, können fie 
nicht erfeßen. Aber fie bedeuten einen weſentlichen Fortſchritt 
und werden mit der Zeit ficher noch mehr vervolltommmet 
‚ werden. 6. Falfenhorit. 


Tran 


— 56 — 


Blätter und Blüthen. 


Die Eröffnung des deufihen Reichslages durch Kalſer Ziſhelm II. 
(Mit Flluftration S. 560 und 561.) Am Abend des 24. Juni hielt dns 
Naiferpaar in vierfpänniger Eanipage, geleitet von zwei Schwadronen 
der Gardes du Corps, feinen Einzug in die Neichshauptitadt, und am 
Mittag des folgenden Tages fand ım Weißen Saale, diefem prädtigiten 
Raume des alten Schlojies an der Spree, die feierlide Eröfiming des 
deutichen Reichstages ftatt. 

Als Kaiſer Wilhelm U., gefolgt von rs ſämmtlichen bdeutichen 
Fürſten, den Saal betrat, wurde er nit einem 
Sciritied und erniten Antlikes ftieg er die drei Stufen zum Throne 
hinan und im Halbkreis herum geuppirten ſich die regierenden deutichen 

ürften, an ihrer Spike König Albert von Sachſen und Prinzregent 
Luitpold von Bahern — eine imponirende Berjammlung, zufammen- 
etreten, um an der Seite des jungen Kaiſers von des Deutichen Reiches 

lan; und Macht und von der unverändert feſten Einigteit feiner Fürſten 
vor aller Welt offen und ernft Zeugniß zu geben, Auf einer fogenartigen 
Erhöhung hatte die Kaiferin mit dem Kronprinzen, einem fchönen, mit 
tindlihem Ernſt dreinichanenden Anaben, Plap genommen. Der Kailer 
- trug den Purpurmantel des Schwarzen Adlerordend und gleich ihm die 
merjten übrigen Fürften und Ritier dieſes Ordens. Yu beiden Seiten 
des Throne: ſah man die greifen Baladine 
Kaifer Wilhelms I, Vismard, Moltte u. a, 
die Minifter und Mitglieder des Bundesraths, 
die Generalität und die Hofchargen — und 
ihnen gegenüber hatten, Freund und Genner 
friedlich dicht neben einander, die Mitglieder 
des Reichstand Aufstellung genommen, Die 
Minderzahl im schlichten Bejellichaftsanzug, die 
Mehrzahl in Kivil- und Militäruniformen und 
den bunten Staatelleidern der preufsiichen 
Bitterichait. 

Einen ergreifenden Eindrud machte es, als 
der greife Fürft Bismard, das Knie vor dem 
jungen Monarchen beugend, diefem die Ehron- 
vede überreichte. Stehend verlas der Kaijer 
das wichtige Aktenftüd; er ſprach furz, fait 
abgerifien, aber deutlich, die Hauptſtellen der 
Rede mit erhobener Stimme ſcharf marlirend. 
mich bin entichlofien, Frieden au halten 
mit jedermann, jo viel an Mir liegt!” — der 
furze Satz mochte wohl der bedeutungsvollite 
und inhalticdiwerfte der ganzen Thronrede jein 
und der Telegraph trug ihn mit Blißesichnelle 
hinaus in alle Yänder der Welt, arlig wie 
das Weſen des jungen Kaifers find dieſe Worte 
des Friedens, ernſt, obne Drohung, feit und 
vertrauenerwedend. Sie find das Nenierumngs- 
programm des Monarchen, ein Gelübde, den 
Frieden des Reiches zu ſchüben und zu dir: 


men, jo lange es geht — und wenn er mit Birdbauer Emil Steiner, 


von feinem Worte follte laſſen müſſen, dann 
trifft micht ihm die Schuld, — Es mar die 


od empfangen. “reiten | 





ſchlichte, überzeugende Sprade der Wahrheit, die ein Iebhaftes Echo fand | 


in der ofen glänzenden Verſammlung der erſten KHeihstagseröfiwumng 
untee Wilhelm II. und im Herzen des ganzen deutſchen Woltes, und der 
Ernit diejes Kaiferwortes fand Achtung und Würdigung weit über die 
Grenzen des Dentidien Reiches hinaus, .. 

ne Blume. (Mit Illuſtration S. 577.) Eine veizende Menfchen- 
biume, bei der einem wohl der Ausdrud Deines einfallen mag: „Die 
Blumen, deine Schweltern,” und der man eine Blüthe als Sumbol wie 
von felbjt in die Hand denft. Wir würden freilidh eine andere als die 
der Tulpe wählen, hätten wir eine fo anmuthige HYeitgenoifin Inmboliich 
auszuftaffiren. Allein die Holänder des 17. Nahıhunderts dachten über 
die Zulpe anders als wir; fie war ihr Blumenideal, der Gegenſtand 
äußerjter Berwunderung, Vilege, Berihivendung. Biebt es eine paljeudere 
Blume für die jchlanfen Fringer einer Mäbchenfchönbeit aus jener HYeit? 
Dan lieh ſich in der Flat damals wohl mit einer Tulpe in der Hand 
malen, und das hat Meifter Beyſchlag der Zeit abgelaufcht, deren Koſtüm 
er für die Studie wählte. 

Beiterflatue des Generalfeldmarfhalls Prinz Friedrih Aarl von 
Preußen. (Mit Jlujtration S. 565.) Wir geben hier eine Abbildung 
diefer Meiterftatue, welche auf dem Friedrich Karl Platz zu Steglik bei 
Berlin errichtet werden foll und zu welcher in diefem Frühjahr bereits das 
Granitpoftament gelegt worden ijt, jo daß die Enthüllung des Denkmals 
wohl im nicht zu ferner Seit zu erwarten ift. Der zu früh verftorbene 
Feldmaricall, der tapfere und ſieggewohnte Neitergeneral, der in den 
Feldzügen von 1866 und 1870/71 ala Heerführer jo glänzende Lorbeeren 
geerntet, ift bier dargeitellt in Oufarenumniform, den Feldinarſchallſtab in 
der Hand, auf hoch ſich bäumendem Hoffe, welches über eroberte Kriegs- 
trophaen hinwegſeßt, ein Bildiverk, welches den ganzen jenrigen Schwung 
atmet, der ſich mit der Geſtalt diejes fühn vordringenden, fanıpfes- 
muthigen Helden verknüpft, der zugleich feiner Armee ein Tumdiger 
Führer war. 

Der Schöpfer des Hunjtwerkes, der ſchon vorher vortreffliche Rorträt- 
büften des Prinzen geliefert, ift der Bildhaner Steiner in Berlin, ein 
hervorragender Münftler, mit dem ſich die Preſſe weniger beichäftigt hat, 
weil er Ausſtellungen jelten beichidte, da er meiftens beftimmmte Mufe 
träge auszuführen hatte, Doch den Befuchern der Paläfte, der Parts, der 
Rathhäuſer find feine Werte nicht fremd geblieben, 


‚ and Scyelmijches darin. 


Bir erwähnen die Porträtbüften deuticher Heerführer in Marmor, 
Bronze x, im Parke zu Vabelöberg, im Kadencuhauſe zu Lichterfelde, 
in Hohenihwangau, Darınjtadt, im Hobenzollernmujenm, in den Forts 
au Straßburg, ın den Offizierfaiinos zu Köln, Rofen, Stettin, Bresları 
oder in den Hatbhänfern vieler Städte. Was den Statuenichmud der 
Facaden großer Paläfte anbelangt, fo braudyen wir nur auf die Rieſen 
am Balafte Bringsheim in Berlin hinzuweiſen, die nach Steiners Modellen 
nemeielt wurden und durch Nachbildungen weit über Deutſchlands Örenzen 
binaus befannt geworden jind. Dasjelbe gilt von den Statuen am Ratb- 
baufe zu Stettin, am Krimnalgericht Moabit, am Ministerium der öffent 
lichen Arbeiten und am Reichspoitgebäude in Berlin, o war es be 
greiſlich, dab der Vorſihende des Centrallomitös für das Prinz frriedrich- 
Karl⸗Rationaldenkmal jich an den Künſtler wandte, defien Entwurf des 
Dentmals den Beifall der Mehrzahl der beiftenernden Fürftlichteiten in 
hohem Grade gefunden hatte. J 

Doch auch Steiners freie Phantaſieſchöpfungen, denen die Kritit 
Sicherheit der Formbehandlung und echt plaſtiſchen Stil nachtühmt, 
zeugen für des Stünftlers Meiſterſchaft: jein Mbndonna, eine Geſtalt, die 
er zuerſt für die Plaftit erobert, fein graziöfes Mojenmädchen Atthis, 
feine fchöne Gruppe Rheingold. Er beabfichtigt, nächſtens ein Skizzen 
buch herauszugeben, welches alle dieje frei» 
geſchaffenen Geſtalten enthält. Auch als Dichter 
und fulturgefchichtlicher Schriftjteller iſt Steiner 
aufgeireten. 

Adafdert v. Chamiſſo. Am 21. Auguft 
find fünfzig Jahre verjlofien jeit dem Tode 
eines Dichterd, der in unſerer Pitteratur eine 
durchaus originelle Stellung einnimmt, Bon 
franzöſiſcher Herfunft, bat er fid) auf dem 
deutſchen Barnah einen Ehrenplatz erobert — 
und das ift ein einzig daftchender Fall in 
umjerem feit Jahrhunderten fo oft von Frauf⸗ 
reich her beeinjluäten Schriftihum. Wir haben 
foviele franzöftrende deutſche Dichter, daß ein 
deuntſchdichtender Freanzofe zu ihnen in einen 
höchſt Teltenen — ſteht. Und doch fällt 
ein Dichter wie Chamiſſo ſchwer ins Gewicht, 
da er Bedeutendes und Danerndes geichafien 
bat, was fich von jenen Eintagspoeten meistens 
nicht ſagen läfit. 

Freilich hat_Chamiffo, am 0, Janıar 
1781 auf dem Scloffe zu Boncourt in der 
Champagne geboren, vom Sabre 1790 ab, 
wo er mit feinen Eltern ausgewandert war, 
eine bdeutiche Erziehung erbalten auf dem 
frangzöfiichen Gumnaſium in Berlin. Er war 
Page der Gemahlin Friedrich Wilhelms IT. und 
trat dann 1798 in ein Berliner Negiment ein, 
wo er 1800 Lientenant wurde. Noch hatten 
ſich jeit der Schlacht von Roßbach die preufi- 
ſchen amd franzöflichen Heere nicht gemeſſen; 
die Schniach des Marſchalls Soubiſe war noch 
ungerächt und es mochte in _ranfreic als eine Art von Baterlands- 
verrath erjcheinen, daß der Sohn einer emigrirten Familie unter den 
preußiichen Fahnen diente. Im Jahre 1806 trat er aus diefen Dieniten 
wieder aus, führte ein wechfelvolles Wanderleben, begab ſich nach Paris 
und verweilte jpäter längere Zeit bei der geiftreiden Frau von Statl 
in Eoppet. Hier begamı er mit 32 Jahren naturwifienfchaftlidie Studien, 
die er mit großem Eifer an der Berliner Univerfität fortjeßte, Ju den 
Nahren 1815 bis 1818 begleitete er den en Eeelapitän Kotzebue 
auf feiner Beil um die Welt als naturforichendes Mitglied der Expe- 
titton, Nach feiner Rückehr erhielt er eine Anftellung am botanischen 
harten, wurde Mitglied der Akademie der Wiffenichaften, gründete ſich 
eine Häuslichleit und lebte fo theils den Studien, theils der Dichtung 
bis zu feinem Zode 21. Anguft 1838, 

Der deutſchen Sprache längere Zeit hindurch nicht volllommen mächtig, 
zeigte er ſich doc als jprachgewaltiger Beherrſcher derjelben ſchon in fer 


' nen erften Dichtungen; die grazisfe Schalfhaftigleit des Trangdftichen 


Geiſtes war in „Peter Schlemihls wunderſamer Geſchichte“, diefer Nafii- 
ſchen Humoreslte, nicht zu verfennen und fie ſchützte ihn auch davor, fich in 
den Arrgängen der rountiſchen Schule zu verlieren, welche damals in 
Deutichland den Ton angab. Ferner ſchützte ihm davor feine tüchtige 
naturwiſſenſchaftliche Bildung, welche die Dinge der Wirklichkeit ſeſt und 
Har ohne Verſchleſerung und Verzauberung ins Auge faht, und der Belt- 
blid, den er bei feiner großen Seereife erproben tonnte, über welche er 
Bemerkungen und Anjichten von praktischen und wilienichaftlichem Werthe 
veröffentlicht bat. Dieje Weltreife befruchtete auch feine Bhantafie mit 
rohartigen Anfchanungen und eine Dichtung wie „Salas y Gomez“, ein 
Stimmungsbild aus dem Großen Ocean, mit dem ergreifenden Ausdruck 
einer grenzenlofen Weltverfajjenheit, iſt als die fchönfte Frucht dieſer 
großen Meile zu bezeichnen. Das Herbe und Schroffe in Chamiſſos 
Charakter prägt ſich im dieien Verſen von meiiterhaftem Gefüge und 
ehernem Stil aufs nachdrüdlichſte aus. An Diefe Dichtung‘ jchloh ſich 
der junge Wejtfale Freiligrath an, als er die Wunder der Ferne in 
phantafievollen Bedichten ſchilderte. Die Balladen Chamiſſos wie „Die 
Yöomenbraut” haben Kraft und Spannung und eine gewiſſe Treffficherheit 
des oft Mmappen Husdruds. In feinen Liedern wechſelt graziös ſich 
Einfdymeichelndes mit herbem Ton; es ift viel Kindliches, bisweilen 
Einige einer YViederchlien aber Gaben ſich 




















Sine Blume 
Nach dem Selgemälde von NM. Aeyſchlag. 


Lichtdrud im Berlag von F. 4. Aſer mang In Dündıen 


— 58 


eingebürgert im deutſchen Hauſe und ihn befonders zu einem Lichlinge 
der Frauenwelt nemadıt. ’ 

e „Bartenlaube* Hat bes Dichters in vielen Artileln gedacht; eine 
eingehende Würdigung desſelben enthält der Artikel „Mönlbert von 
Ehamiffo* von Hermann Schuits, welcher im Jahrgang 1881 (S. 4) zu 
feinem Kundertiten Geburtstage ericien. r 

Sprade ohne Worte. Ein jehr reichhaltiges Thema! Unſere Leſer 
werden babei an diejes oder jenes Zeichen und Sumbol denfen; aber fie 
werben Tann glauben, dab man eine umfangreiche Schrift über dieſe 


' abaelefen. 


immer nur bis 100 gezählt und bie einzelnen Hunderte an dem Fingern 
Wenn boll war, jo wurde auf dem Notigblatt ein Strich 


‚ gemadit, das zweite 500 gab aladann einen Strich in die Quere, fo daß 


Sprade ohne Worte“ ſchreiben kann. Und doch hat neuerdings Rudolf | 


Seleinpaul unter diejem Titel ein folches Wert verfaßt, Da erfahren wir 
— daß es eine Sprache giebt, ohne Abſicht der Mittheilung und 

dantlenaustauſch, eine Sprache der religiöſen Symbole, der Ahnungeu 
und Tranme, eine Sprache der Mienen und Gebärden, denen ſich dann 
erſt eine ſolche mit Abſicht der Mittheilung, ohne oder mit Gebanten« 
austaufch anschließt. 

Wir treten in ein Suriofitätenlabinet und ein ethnographiiches 
Mufenm; der vielbelejene Antor beingt aus der ganzen Weltlitteratur 
feine Beifpiele und Aneldoten herbei. Wir erfahren dabei mandes Neue, 
auch aus der neueften Beit. Es wird jehr viele unjerer Leſerinnen ger 
wiß intereffiren und auch überraſchen, wenn fie. von einer „Brieimarfen» 
ſprache“ hören, die befonders von den Damen der Reichshauptſtadt ge 
pflegt wird. Man follte faum glauben, daß ein jo nüchternes 


ojtwerth> | 


zeichen zum Ausdrucke der Empfindungen gewählt werben fann, und body 


wetteifern die Funf und Zehnpfennigmarten hierin mit Rojen, Beilden, 
Goldlad, Aſtern und Holunderblütben und dem ganzen öftlichen und 
weitlihen Selant der Blumeniprache und ein Empfänger oder eine 
Empfängerin weiß ſchon, ehe fie ben Brief eröffnet, was fie vor allem 
aus ihm erfahren will und was vielleicht nicht einmal darin fteht, wenn 
die Vorſicht es verbietet. Wie aber ift das möglih? wird man fragen. 
igentlich fol die Freimarke auf dem Kouvert in die Ede redits oben 
bt werden; da aber dieſe Vorſchrift nicht fereng ift, jo läßt fich die 
arte auch an anderen Stellen des Kouverts auftleben, und ebenfo fann 
man fie aufrecht, quer und verkehrt anbringen. Daraus ergeben ſich nun 
für den Kundigen allerlei Offenbarungen und Bebentungen. Eine Brief: 
marke z. B. rechts oben umd aufrechtſtehend jagt: ich wünſche Deine 
Freundfihaft: linis oben und aufrecht jagt fie: ich lebe Dich! Rechts oben 
verfehrt meint fie: Schreibe nicht mehr! Yinfs oben auer: Mein Herz 
gehört einem andern zc. Gewiß, von dieſen poftalifchen Geſtändniſſen 
mittelit Brieffouverts hat fich Ercellenz Stephan auch bei feinen kühnſten 
Neuerungen, bei feinen die ganze Welt beherrfchenden Reformen nichts 
träumen lafien. — 

Ueber Lachen und Weinen, über den Kuß, die Bilderſprache finden 
fich allerlei finnige und ergöhliche Mittheilungen. Wie man heutzutage 
das Lachen Tauft und die Heiterkeit beftellt, um damit Rellame zu machen: 
das belegt der Berfafjer mit der Aneldote von den Parifer Sandwich. 


männern Gin Sandwichman ift ein armer Teufel, der mit je einer | 


Anzeigetajel auf der B 
Seine Heimath ift London. An einem fchönen fonnigen bitjonntag- 
a des vorigen Jahres bemerfte man nun einen Zug von etwa 
ün 
Anblid trübjelig binjchleichender, ftumpfer Kopfhänger, ſondern ſchienen 
allefammt von einer unbändigen Luſtigleit erfaht zu fein. Jeder hielt 
ein Blatt in der Hand, in dem er las _oder zu leſen vorgab, und drüdte 
anf die mannigfaltigite Weile das nröfte Ergöpen aus. Der eine_blieb 
alle paar Schritte Beben, warf den Kopf zuritd und hielt fich die Seiten 
vor Lachen; der andere krümmte fid), von einem Tautlofen Gelächter 


er 
jchüttelt; der dritte machte Luftfprünge und hob beide Hände wie außer Hi | 


in die Höhe und fo, mit beftändiger Abwechslung, die ganze Reihe der Sünfsig 
entlang. Was bedeutete das? Haren die Leute plöplic) verrüdt geworben‘ 


ein Blid auf ihre Anzeigetafel Ichrte, waren fie dafür begeht, die Aufmerl⸗ 
famtfeit des Publituns auf ein neues Wißzblatt zu Ienfen, und ihre Auf- 
traggeber hatten den Einfall gehabt, die großartig erheiternde Wirlung 
ihrer Zeitung durch Sandwihmänner mimiſch darftellen zu lafjen. 
Borfiht Beim Genuß getrodineter Pilze. Much der eßbare Bilz 


farın bei underfichtigem Genuß der Geſundheit Ichädlich werden. Dies 
ailt namentlich von den ausgewaclenen, wurmſtichigen ober faulen 
Eremplaren aller ebaren Gattungen wie Mordiel, Ehampignon, Stein 


pilz x. Bei Benußung friiher Waare find die verdorbenen Eremplare 
leicht zu erfennen und auszujceiden. Es giebt aber auch ein leicht an- 
zuwendendes Mittel, unter den netrodneten Pilzen die verborbenen zu 
erfennen. Man beaucht nur Die Pilze vor der Zubereitung durch todhen- 
des und Taltes Waſſer 1 ! 
ungefund ausjehenden Stüde zu entfernen. In derartig aufgefriſchtem 
AYuftande laſſen ſich auch im den getrosdneten Pilzen era beigemengte 
Eremplare giftiger Sattungen leichter erlennen. Das Fleiſch des ehbaren 
Steinpilzes bleibt 3. B. nach dem Trodnen weiß, während feine gefähr- 
lihen Nebenarten blau zu werden pflegen. * 
Ein derüßmter Fuhgänger hat vor ; 
Reiche haupiſtadt feinen Wohnfig genommen. (Es ift der Afrilaſorſcher 
Schweinfurth, der biäher ftändig fich in Kairo aufhielt. Tüchtige Fuß 
gänger find alle Airifaforicher überhaupt; denn dort muß man zu Fuß 


furzem im der deutichen | 


und auf dem Rüden dur die Straße zieht. | 


folcher Sandwichmänner in Paris. Sie boten nicht den gewohnten | 


ein Kreuz entitand, welches 1000 bedentete, In den jeds Monaten, 
welche die Rüdreije_ dauerte, zählte weinfurih auf dieje Weile 1'/, 
Million Schritte, Ein Kapitel feines Wufterwertes „Am Herzen bon 
Afrika“ fließt mit den bezeicdnenden Worten: „Am 19. Februar ber 
grüßte ich mach neunundvierzigtägiger Abweſenheit und nach einer Wande- 
rımg don 876 000 Schritten meinen alten Freund Ehalil.” 

Dieſes Schrittzäblen, das zur Stizgirung ber Landlarten dem Ge 
Ichrten beinahe als einziges Mittel übrig geblieben war, zeugt gewiß von 
einer jeltenen Ausdauer; denn auf dem Marjche mußte nicht allein ge- 
zählt, jondern auch beobadıtet werden. — 

Ein verkanntes Genie, (Mit Illuſtratjon S. 549.) Jeder giebt 
ben Werth fich felbft — fagt Butler im „Wallenjtein“, und wir durſen 
wohl nicht daran zweifeln, dab unfer Schildermaler, der eben damit be- 
ſchäftigt ıjt, ein fettes Schwein mit voller Naturwahrheit auf das Wirtbe- 
hausſchild zu pinjeln und daneben ein Stillleben mit Würften und Wein - 
gläfern, fih für einen Künftler hält, welchet den großen holländiſchen 

eiftern der Thierr und Stillfebenmalerei vollfommen ebenbürtig ift. 
Sein Künftlertopf ift allerdings andbrudsvoll genug, und die Art und 
Weife, wie er mit der Cigarre im Munde und der Brille auf den Mugen 
den RKinſel führt, zengt vom größten Behagen und Selbftgefühl, Doc 
wie felten findet das Genie dem verdienten Lohn! Mittelmäßigleiten 
ſchwelgen in den Herrlichfeiten des Ruhms, in allen Luxus des Yebens, 
und eine Kraft, die dad Größte zu leiften vermöchte, wird zu ſchnödem 
Tagwert verurifeilt. Das find die Gedanken, die durch den Kopf des 
unbelfannten Künſtlers gehen, ſobald er den Pinfel bei Seite gelegt hat; 
doh fo lange ex felbit bei der Arbeit ift, vertieft er fich in dieſelbe 
mit der vollen Dingebung, aus ber allein bie großen „Meiiterwerte” 
hervorgehen. f 

Perloren gegangen. Die „Bartenlaube* hat ſchon fo oft mit Erfolg 
Verlorene gefucht, die der Strom des Lebens fortgerilien, daß fie den 
Angen der Jurüdbleibenden entihwanden, um, an ferne Küſten ver: 
ſchlagen, von der Heimath fehnfuchtsvol au träumen, daß ich hofie, fie 
leiht micht allein Menichen, jondern auch einem verloren gegangenen 
Meifterwerte aus beutfcher Hand ihren Beiftand. Es handelt ſich nämlich 
in bdiefem alle um eine räthfelhaft verſcſwundene Weine des Geigen— 
erfinders Tiejjenbruder, den man bekanntlich italienifirt und in der 
Mufitgeichichte Duiffopruggar genannt hat. — Es war vor wenigen 
Wochen, als ic) in der Wertſtant des ebenjo beicheidenen wie tüchtigen 
Geigenbauers Böller zu Hannover, der auch durch wunderbaren Yufall, 
über Holland, in den Bejit eines Neceptes des altitalieniichen leuchtenden 
Geigenlads gerietb, eine nach alten Zeichnungen und Mahen von il 
mit böchiter Feinheit und Sorgfalt neiertigte Kopie der berühmtejten der 
fünf Geigen Tieſſenbruders jah. Das Original jelber aber ift zuver- 
läfjigen Wittheilungen zufolge zuletzt im Belipe eines alten Mufilers in 
Machen geweien, der es nur Sonntags zur mwillaliichen Meile im alten 
Dont zu fpielen pflegte. Auf dem Boden diejes hodyintereflanten In— 
ftrumentes war unten das aus verſchiedenen Holzarien kunſtvoll ge 
Ichnittene und eingelegte Bild einer Stadt zu ſehen, oben bie Form der 
eriten Geigen mit ihrem Bogen, eingefaht von Zweigen, die ſich wie ein 
Kranz um die Zeichnung legen. Die Zargen tragen die finnreiche In⸗ 
ſchrift: „Viva fur in sylvis, dum vixi taeni, mortua dulee cano.” ich 
lebte damals in Wäldern — als ich lebte, ſchwieg ich, jetzt, da ich todt 
bin, finge ich lieblich“) Die berrliche Schnede aber zeigt den jchön ge- 


\ Ichnittenen, ausdeudsvollen Kopf eines bärligen Wannes, nad aufge: 


fundenen Notizen das Selbitporträt des Tieffenbruders, Der Ton eben 
diejer Geige joll von wahrhaft zauberischer Schönheit geweſen fein, Bier 


| der andern Geigen diejes deutſchen Geigenerfinders find nadimeisbar in 
Hatten fie Lachgas geatbmet? Nein. Die Sadıe mar viel einfacher, Wie | 


Privatbefig — wohin ift nun diefe fünfte, allem Anichein nad) voll- 
fommenjte geraten? Sie verihmand ſpurlos mit der Geſtalt des alten 
Muſikers in Machen. Mer Hilft fie fuchen? — Elife Polfo. 

Der deuffhe Böhmerwaldbund unterjtügt die wirchichaftlichen und 
nationalen Beftrebungen im füdlihen Böhmen. Wie groß feine Ber— 
breitung ift, geht daraus bervor, daß er aus 153 Bundesgruppen mit 
WMOOO Mitgliedern beſteht. Er unterftügt alle deutihen Wereine, be 
ſonders Haudwerler, Geſellen, Arbeiterinnen, landwirtbichaftlihe Vereine, 


Er veribeilt Stivendien an die Schüler deuticher Fach⸗ und Mittel- 


u reinigen und aufsufriichen und alsdann alle 


fchulen, bat felbit eine Sorbflecht- und eine Töpferſchule gegründet, in 
60 Orten Boltebibliorhefen aufgeitellt, an feine Bundesgruppen Dunderte 
von Heitungen, Büchern und Bildern verfendet. Ebenſo wurden vele 
hundert Objtbäume, die verichiedenartigiten Iandwirthichaftlichen Wenichinen 
und Sämereien vertheilt, auch der Fortſchritt der Landwirthſchaft durch 


' Errichtung von 14 Zuchtſtierſtationen gefördert. Altjährlich finden Gruppen⸗ 


tage und Wandervorträge ftatt; die Zeitung „Wittheilungen des deutichen 
Böhmerwaldvereins* ericheint viermal im Jahr. In Hörik und Rudolf. 
ftabt wurden vg she - namen errichtet. 

Soeben hat der Böhmermaldbund ein neues Lebenäzeichen gegeben 
und einen Führer durch den Böhmerwald und das deutiche Südböhmen 
erfcheinen laſſen, ber, mit Karten, Wandernotizen, Landichaftäbildern 


‚ reichlich ausgeitattet, ganz geeignet Scheint, die Auimertiamteit der Touriſten 


vordeingen, und die wenigften der Reiſenden haben weitere Streden auf | 


Ochlen durchritten oder Stromfahrten unternommen, Schweinfurth war 
jedody der erfte, der in feine Fußtonren eine fnitematiiche Ordnung 
brachte. Er zählte die zurüdgelegten Schritte. Die Noth brachte ihn 
auf dieſen Gedanken, derart die Wege zu meſſen. Ein Brandunglüd be 
raubte ihn fajt fämmitlicher Vorräthe und dabei gingen auch feine Taſchen- 
uhren verloren, Da zählte er feine Schritte, ftudirte fie und fand, daf Die 
gewohnheitsmähige Schrittlänge des Wanderer immer fo ziemlich diejelbe 
bleibt. Die Schweinfurthiche varürte je nach Beihaflenheit des Pjades 
zwiſchen 0,6 bis 0,7 Meter, Die Zählmerhode war folgende; Es wurde 


auf diefe Landſchaften zu lenfen, die, an Naturſchönheiten und hiftoriichen 
Erinnerungen reich, gegenwärtig eine Bevölferung haben, deren Hegiam- 
a im nationalen Sinn die größte Anerlennung und Unterſtühung ver- 
ient. 

Was koſtet ein SKanarienvogel? Demtichland züchter alljährlich 
Hunderttauſende Kanarienvögel, die zum großen Theil in das Ausland, 
namentlich nad Mmerifa, gefandt werden. Die zur Ausfuhr beſtimmten 
Bügel werden in der Negel mit 3 Mark für den Hopf bezahlt: im Einzel» 
vertauf im Dentichland beträgt der Durchſchnitispreis 10 Mart. Die 
befferen Sänger machen natürlich eine Ausnahme: e$ werden für diefelten 
20 bis 50 Markt bezahlt; ja, es find Fälle befanmt, daß für einzelne 


Fer) 





Vögel 100 Mark und mehr gegeben wurden. Die höchiten Preiſe werben 
jedoch in Nordamerifa erzielt. gr unglaublich, Mingt cs, dab dort 
einzelne ausgezeichnete, Eremplare für 1000 Dollar (über 4000 Marf) 
verfauft wurden, Stein Wunder darum, dab die Kanarienvogelzucht für 
viele eine reiche Quelle der Einnahme bildet. Für St. Andreasberg wird 
von W. Böder-Meplar („Et. Audreasberg und feine Sanarienzucht*, 
Verlag von A Schröter in in * seh liche Einnahme der Züchter 
mit 20000 Mark beredinet, Familien — ſich nebenbei 
mit derſelben und einzelne — aus ihren Heden eine nröhere, Ein: 
nabıne als aus ihrem Hanpterwerbäjmweine, 

Bie eine nene Stadt entfleht. Den berftab der Städtegründung 
beiigt Amerifa und wenn bie norbamerifanifhe Union die aus dem 


Nichts in Türzefter Jeit bervorgejauberten Städte als ihre Monopol zu | 


beſiben ſcheint, jo macht ihr doch auch Sibamerifa Konkurrenz. 

leſen wir von eine * —— — £a Plata, nicht weit von 
Buenos Anres. m Jahre 1882 trat bier in einer Solabarade ein 
Songrei zu —— ber eine ſolche Stadt zu gründen bei (of, und ſchon 
jeht erheben fich dort Brachtbanen, welche die Bewunderung der Reijenden 
erregen. Deuiſche Kunſt bat dort Herrliches geleifter. 
Bicteria erblidt man das Parlamentsgebäude von La Plata, erbaut von 
den — 5 Architelten Heine und Hagemann, einen prachtvollen 
und großartigen Bau, demfelben gegenüber das von Vrofeſſor Stiers 
erbaute, — nicht ganz vollendete Rathhaus, das in entſprechendem 
Frübrenaiflanceftil gebalten ift. Eigenthümliche Veleuchtungseffelte bietet 
die Plage Victoria. Ju der Mitte derjelben 
hohes Eifengerüft, an deſſen höchſter Spibe gelegentlich ftrahlende Fener- 
werte abgebrannt werden und weldyes nacht? mir mächtigen eleftriichen 
Aitrallampen den Blat belenchtet. Rod merfwirdiger ift der Kirchthuurm 
ber firche Drola, ber bis zur 
ift, unter_ welcher nachıs eleftriiche Flammen leuchten, weithin fichtbar auch 
den Schiien, die in den prächtigen Dafen von Ya Plata einlaufen, 

Die Stadt hat ein Handelsgericht, das feinen Sik in einen groß- 
artigen Balafte hat, ein Ainanzminifterium von großer Pradıt, ein Mufum, 
ein aftronomijces Objervatorium, zwei elegante 
darunter eine Elementarjehule von 400 Schülern und eine Schule für 
Eleltrotechnif; eine Umiverfität it im Eniftehen begriffen. Die ganze Stadt 
Ya Plata ift elettriich beleuchtet. 

Und wie wächſt eine foldhe ftäbtifche 2 Eirmeengne aus ber Erde? 
Der Kongreh beſchlieüt die Gründung; 2) Nilionen werben beigefteuert; 
zwei Prüjidenten, Dr. Roda und Don Carlos d’Amico, jein Nachfolger, 
beireiben mit Eifer dad Werk; der lehtere weiß durch geniale Entwürfe 


die Aufmertjamfeit von ganz Buenos Apres auf die werdende Stadt zur | 


lenten. Es bilben ſich Wltien: — die ſoviel Baugrund als 
möglich zuſammenlaufen. Banfpefulationen find aber dort jo landet: 
üblich, dab jeder Argentiner vom Präfidenten bis zum Stiefelgußer einmal 
wenigjtens jih an huen betheiligt und eine hübiche Proviiion bei einer 
BVodenparcelle verdient hat; die u Attiengejellichaften thun bas 
erg Und fo wachſen dort ü 


empor, 

Die Beirießsäraft der Welt. Die Angaben der ftatiftischen Amts- 
ftelle in Berlin über die in der Welt beitehende Betriebstraft jind von 
großen Anterefie. So find während der Iepten 25 Jahre vier Fünftel 
ber gegenwärtig auf der Welt arbeitenden Mafchinen gebaut worden. 
Franfreich allein bejigt 49590 ftabile oder — TOO Loto« 
motiven und 1850 Sch HR Deutſchland hat 59 Sefiel, 10000 
Yotomotiven und 1700 öteilel; Dejterreih-Ungarn 12000 Keſſel 

"und 2800 lolomotiven. Die Kraft, welche den arbeitenden Dampfmaldinen 
nleichtommmt, beträgt in den Vereinigten Staaten 7500000, in England 
TOO, in Deutichland 4500000, in Frankreich 3000000 und in 
Defterreid “Ungarn 1500000 Bierbeträfte, doch ift in diefe Zahlen die 
Arbeitsjtärle der in der ganzen Welt vorhandenen Lolomotiven nicht 
eingerechnet. Die Zahl elben beträgt 105 000 und umfaßt eine Ge— 
Sammitraft von 30000 Pierdelräften. Wenn man dieſe Ziſſer zu der 
vorhin angeführten ſununirt, fo ergiebt dies eine Summe von 46 Millionen 
Bierbeträfen. Nimmt man num eine Dampfpferdetraft gleich der Ar» 
beitstrait von drei wirlliden Pferden und ein lebendes Vſerd in diejer 
Beziehung gleich ſie ben Menſchen, fo erhält man annähernd die in 
Maidyinen der Belt ftedenden Pferde und Menſchenarbeitsträfte. 
ftellen fomit die Dampfmaſchinen der ganzen Welt annäherungsweiie a 
Arbeitsitärle von taufend Millionen Men * dar, ſomit wohl mehr als 
das Dop — der arbeitenden Bevollerung, die auf der Erde wohnt. 

7 pfer der Beberfäwemmungen. Fällt das Hochwaſſer 
fo läht es = iefen oft breite Tümpel und Lachen zurüch die im Lau 
des Sommers allınäblid) austrodnen. Biele derjelben beherbergen eine 
große Zahl von Jungfiſchen, die one Dazwiichentunft des Menichen 
dem fihern Untergange geweiht find. Der oberpfälziſche Streis-Filcherei- 
verein hat im Dielen Jahre mit uf 


immung der betreffenden Veſitzer 
die Zümpel in den Donaumielen Regensburg ausfiihen laſſen und 


bis Ende Juni gegen 15000 Stüd Fiichbrut gerettet und wieder in die 
Donan gebradit. D 

Ueberiäiisenmungen ftattgefunden Habe, jo lann man anuchmen, dab 
auch in anderen Gegenden 2. Verhaltniſſe ähnlich liegen wie bei Regens- 
burg, und die „Deutsche Fiicherei- Zeitung“ empfiehlt allen Intereſſenten, 
fofort in ihren Besi en 9 —* zu halten. Wir möchten unſere Leſer 
auf diejen Umſtand anfmertjam machen, damit Künftig die Fiſchbrut, auch 
ein Opfer der — — gerettet werde. 

Menfdenfreffer in @findien. Während die Beoölterung ber 
Süpfeeinfeln us die Berührung, mit den Europäern immer civilfirter 
wird und —— he — wie das Menfchenfreilen, dort im Aus- 
fterben begrifien ſprechen neuere Berichte, bejonders diejenigen 
des Engländers gohn C. Nasfield, von Menſcheufreſſern unter der ür— 
bevölterung Borberindiens, wo natirlih religioje Teremonien damit im 


An der Plaza | 


befindet ich ein 50 Meter | 


älfte mit einer matten Glasdecke vertleidet 


ntpaläfte, 3 Schulen, 


er Nadıt neue glänzende Sm | 


a in biefem Dahre in jo vielen Gegenden Deutichlands | 


— 


— — ſtehen ober auch ein blinder Aberglauben. Im Bezirke 
irjapur ſollen Manner und Frauen, welche einen Berg auf einem ge- 
wiſſen Pfade herauf firaen, fpurlos verſchwunden fein. “ Bauberer 
in einer Berghöhle joll fie getödtet und verzehrt haben, da er feine 
‘ Bauberkraft nur folhem Mahle verdante. Einige Stämme Mittelindiens 
follen das Fleiſch der Männer und Knaben, welche fie ber Todesgöttin &; 
opfert, bis in bie neuefte Feit verzehrt we Die Muſharas pflegten bis 
vor furzem ihre todten Eltern aufzueſſen; diejenigen, die dem Tode nahe 
waren, Juden ihre Verwandten * daß fie nach ihrem Hinſcheiden fie 
‚ veripeifen möchten. In der Nähe von Bufter wurde noch vor kurzem 
‚ eine Wenge Menfchen zu Menſchenopfern fortgeſchleppt. 
offen wir, daß joldhe Greuel vor der immer mehr um fich greifenden 
Eipilifation nicht mehr Tange Stand halten! f 


Aleiner Birlefafen. 
Anonyme Anfragen werden mldt berüdiichtint,) 
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penbolterin® mit Bil erliner Puppen-Rlinif,* wie Sie end un 
abe) finden Sie Im — 1874, Re. 49, Grite 786. Leiber befteht diefes 2 
it, wie wir bereits im dem Artifel „Mus ben Bebeimmifien ber H 


rin, mel 
öbleirhen oter bergeien- 


erfelgreiche Er eit inmitten ihrer 


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an Bryanston Square, London W.) peramlafıte 
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kin alle Sram. ee nd i ru —S ze... u. a, mit * 

urver Ihrer en Zape mit rn 

—— ie rz or Br ng Und he Mein 
Yeels bis viermal, Oaupt aber, da fee ‚ern ihem 
Wafler andgebrüht, dann mit } Het —* — end Banker über» 
bet und berüber tredemer, jauberer je Eiche, am welder dr 


werigitenb mit Smiekten- 


2 ir einem newent 
das Ungezücher bat. Undeitumg 


Ivertim — 
— a keine re it 2 Schlapfteintel 


wie ein holder arordmählz eimgerichtet fein zuuß, Tännen Sie in meinem Bude „Eier 
Ranarientogel* finden. Dr. Kari Ruß. 
* in Münden. Im dem Wetifel über A IM mit t, „bob 
Orie tb Beute nad; Banern 1 800 000 Wulden Kchulbe*, jombern, bak Sönla Me 
| Enmme, "o lange er Er nid gurüd erkielt. In Ihrem il n Eie keibit 
! viefe aibefannte Tba — * mehmen a Selen * Jg an 
' Tide a her Veröffentibden, dad «8 ber Energie bes Fu Bismard 
\ Berliner 1878 bie Sablung Ku at a —— —— 9 kan 
Difere solchen Baterm lanb m dab amt bie Grleche 
Qubwig 1. die wehlrerbisnte Statue — we Uen —2 se zu ſelaer —E 


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Laube" erjchiewen Im Berlage der Bbotographi 


—o 


50 — 


Allerlei Kurzweil. 


DamefpielRufgabe. 


SCHWARZ 





WEISS 
Weit; zieht und armwinmt. 
Budflaben-Mätdfel. 
Was mit e bir ericheint als ein tobeswerihes Verbrechen, 
Iſt mit o die willlommen, wenn es nur dauernd und groß. 
Scdery- Aufgabe. 

Die Buchftaben des Wortes LICHTENSTEIN 
find fo in die Facher der nebenftchenden Figur zu ver⸗ 
teilen, daß in jedem Fach ein Buchitabe fteht, und 
zwar joll von den Buchftaben nichts hinweggenommen 
werden. Wie ift dies zu bewertftelligen? 

Aufföfung der Sierogfupben auf S. 548: 
Das Edle zu erfennen ift Gewinſt, 
Der nimmer uns entriſſen werden fann, 
ſdas edle zu erfennen ift gemwinjt 





Altgermanifher Grabſtein. 





Aufföfung des Piagonal-Mätbfels auf 5. 548: 


N. Qumdrat, 














ı1l. Quadrat, 
Aufföfung der Ebarade auf 5. 548: Laufbaß. 
Aufföfung des Silden-Mätldfels auf S. 545: 
Al hert 


IV. Qumwtrat, 


Aufföfung des Bilder-Näthfels auf 5. 548; 
Wer vor der Zeit beginnt, der endet früh. 
Aufföfung der „„räthfelbaften Scheider auf 5, 548: 


Hält man die Scheibe in wagerechter Lage in einiger Entfernung 
vor den Augen, fo fann man die vom der Peripherie zum Centrum 
fich verrüngenden Buchitaben ganz leicht ablejen: „Friſch gewagt ift halb 





der nimmer uns entrilien werden fanm) gewonnen.“ 








Gartenlaube⸗Kalender 
— für das Jahr 1889. 
io Vierter Jahrgang. 


14", Bogen 8° mit zablreiden Illuftrationen. 
Preis elegant gebunden 1 Mark. 






* * — J J 
— — 
— 


dem reichen Inhalte des Gartenlaube-KRalenders für das Jahr 1889 heben wir hervor: 





— ⸗ — 


Aus 
Gruß an die Teſer. Don Viktor Blüthgen. — Doktor Buppfte. Humoreske von B. Renz. — Onkel Teos 
erlobungsring. Don W. Heimburg. — Am hohen Preis. Muſikhiſtoriſche Novelle von Moritz Lilie. — Eine 


Obſtfabel. Don Oskar Juftinus. — Die nene Bteidsgefehgebun Wehrgeſetz, Wahlgefehnovelle, Vogelſchutzgeſetz u. |. w.). 
Don Hermann Pilz. — Vom Bühermarkt, Don R. v. Borfhall. — die erfte Silfe gegen Mafern, Diphtherie 
und Scharlad. Don Dr. M. Taube. — Eine Rhein- und Weinfahrt. Don Emil Pejhtau. — Nühdfik anf die 
Tagesgefdidte. Don Schmidt: Weißenfels. — Die Fürforge für bfinde, taubflumme und andere unglüklihe Kinder. — 
Die im Deutfden Beide geltenden Berjährungsfriften für Klagen und Forderungen, Don Kermann Pilz. — 
Statiftifche, volkswirtſchafiliche u. ſ. w. Notizen und Tabellen. NRathichläge für Haus-, Garten: und Landwirtichaft. — Pofl- 
und Belegraphentarif nebit den einfchlagenden Beftimmungen in bisher nirgend gebotener Dollftändigfeit und Heberfichtlich- 
keit. — Ueberſicht der Barnifonsorte des deutfchen Heeres nebſt Servisflaffeneintheilung. — Jahrmarktsverzeichnis, Blätter 
und Blüten, Humoriftifches u. f. w. u. few. Eine große Anzahl vorzüglidyer Iluftrationen von A. Müller:Eingte, 
6. Bahn, F. Defregger, R. Püttner, Fritz Bergen, ®. Gerlah, F. Wahle u. a. 

Pie wachſende Prerbreitung, Deren id unfer Gartenlaube-Ralender gu erfienen hat, madıte es uns 
möglid;, von Jahr zu Jahre mehr zu bieten und den Kalender für 1889 unter Beibehaltung des überaus billinen 
Preifes von nur 1 Wark durch geſteigerte Reidihaltigkeit und Gediegenheit des Inhalts, ſowie Durdı geſchmam; 
volle Rusfjlattung zu rinenr kleinen Praditiwerk von dauerndem Wert zu geflalten, . 

Gartenlaube-Kalender 1836—1858 ift zum Preife von I Mark für den Jahrgang ebenfalls noch zu haben. 

Beftellungen auf den BartenlanberKalender 1599 wolle man der Buchhandlung übergeben, welde die Gartenlaube liefert. Poftabonnenten 
erhalten den Kalender in jeder Buchhandlung oder gegen Einfendung von | Mark und 20 Pf. (für Porto) in Briefmarken direkt franfo durch die 


— Verlagshandlung von Ernſt Reil's Dadıfolger in Teiprig. +—— 


Herausgegeben uater verautwertlichetr Nedaltion von Adolf Arömer. Berlag von Ernmit Aril’ö Nadıfelger in Leipzig. Drud von A, Wiede in Leipzig. 


Illuſtrirtes Samilienblatt. — Beorindet von Ernfi Keil 1838. 





Zahrgang 1888, Erſcheint in Qalbheften a 5 Pf. alle 12— 14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Derember. 


(Bortiehung.) 


er legte Abglanz 

der Abendröthe 
warlängftverichtmun: 
den und feuchter 
Abendthau legte ſich 
auf Wälder und 
Matten, leiſe ſtieg 
die Dämmerung aus 
den Thälen emporzu 
den noch lichten Höhen 
und dort drüben be 
gannen die Schnee— 
aipfel in weißem 
Lichte zu jehimmern. 
Der Mond, der noch 
nicht fichtbar war, 
Sandte jeinen geijter: 
haften Schein voraus. 

Da Hammte auch 
der Holzſtoß auf am 
Wolfenjtein, anfangs 
nur dampfend, fui 
ſternd, glühend, bis 
das Teuer die mäd) 
tigen Scheite jelbjt 
ergriff, und nun 
loderte es empor in 
wilder, gluthrother 
Pracht, begrüßt von 
dem Jubel des ganzen 
Kreiſes, der es um: 
gab — das alte 
Sonntvendjeuer der 
Berge! 

Es war ein eigen: 
artig ſchönes Bild, 
das mit der zuneh- 
menden Dunfelheit 
nur noch malerifcher 
wurde: die viejige 
slammengarbe, die 
funfeniprühend zum 
Himmel »- auffchlug, 
und ringsum die 


1888 


Die Alpenfee. 


Roman von &, Werner. 





Der Kordffediter. 


Rach dem Drlgemälte von 2, Blume-Gichert. 


a Med vorbealkn. 


braunen Geſtallen 
der Aelpler, in dem 
rotben Feuerſchein, 
in ſtürmiſch jubeln 
der Bewegung. Das 
verfolgte und neckte 
ſich, ſchwang ſich um 
das Feuer, jchleuderte 
glühende Holzſcheite 
empor und jauchzte 
dabei Hell auf in 
übermüthiger Luft, 
die das Praſſeln und 
Lodern der Flammen 
nur noch wilder an 
aufachen jchien, und 
über dem allen wallte 
und wogte in dichten 
Wolfen der Rauch, 
der den ganzen Feuer⸗ 
freis bald verichleier- 
te, bald wieder ent- 
hüllte. 

Erna und Balten- 
berghattenihren Platz 
nicht verlaffen, fie 
mochten bei der gar 
zu ibermütbigen Luft 
dort drüben wohleine 
gewiſſe Abgeſchloſſen⸗ 
heit für nöthig hal 
ten. Nicht weit von 
ihnen ſtand Wolf- 
gang, mit überein 

andergejchlagenen 
Armen, anfcheinend 
ganz verfunfen in den 
phantaftifchen An 
blid. Er hatte, viel 
Leicht zufällig, feinen 
Standpunft jo ge: 
wählt, daß er größlen⸗ 
theils im Schalten 
blieb. Um fo heller 


74 


o 582 3 


beleuchtet war die Gruppe auf dem Heinen Hügel, die ſchlaule, 
lichte Geſtalt des jungen Mädchens, die größere, dunkle des Mannes 
an ihrer Seite und das zottige fell des Hundes, der, den mächtigen 
Kopf zwiſchen den Pfoten, vegungslos ihnen zu Füßen lag. 
Benno, der mit Gronau in der Nähe des Feuers ſtand, 
blickte bisweilen hinüber; aber noch ein Paar audere Augen ruhten 


ftarr und düfter auf demſelben Punkte, und wenn fie ſich auch 


zuweilen gewaltfam losriſſen und zu den anderen Gruppen 


ichweiften, die in dem Feuerſchein bald auftaud)ten, bald verſchwan- 
den, fie Tehrien, wie von einer geheimnigvollen, unwiderſtehlichen 


Gewalt gelenkt, immer wieder zurück zu den beiden, die da auss 
ſahen, als gehörten fie bereits zuſammen. 

Erna hatte vorhin, erhitt vom Steigen, den Hut abgenommen; 
er lag neben ihr auf dem moofigen Steine, der ihr zum Sif diente, 
während ſich Waltenberg im leifen, angelegentlichen Geſpräche zu 
ihr Herabbeugte. Er ſprach vielleicht nur gleihgültige Worte, 
aber fein Blicd hing an ihren Zügen mit einem leidenfchaftlichen 
Ausdrude, den er ſich gar nicht mühte, zu verbergen. Seine Mugen 
hatten es gelernt, die Sprache der Leidenschaft zu reden, die fein 


ganzes Wefen ducchglühte Der Mann, deſſen Freiheitsdurſt ſich 


fo fange nejträubt hatte gegen die Bande der Liebe, er lag jet 
gefeffelt und willenlos in ihrem Bann, 

Sie fpradyen nur Halblaut und doch veritand Wolfgang jede 
Silbe; mitten durch das Lachen, Schreien und Jaud)zen, mitten 
durch das Praſſeln und Knattern der Flammen drang Wort für 
Wort zu feinem Ohre, denn all feine Nerven fpannten ſich an 
zu fieberhaftem Laufchen, als hänge für ihn Leben oder Tod ab 
von dem, was dort oben geſprochen wurde. 

„Unerjteiglich nennen Sie den Wolfenftein?” fragte Walten— 
berg. „Das heißt wohl nur, es bat ihn bisher noch niemand 
beftiegen. Er wird doch zu bezwingen fein, diejer unnahbare Gipfel.“ 

„Bisher hat ihn aber noch feiner bezwungen,” entgegnete Erna. 
„Dur das Felfenmeer wagte ſich ja mander hinauf, bis an den 


Fuß der Hochwand, aber da hat noch ein jeder Halt machen müflen, | 


jeloft mein Water, dem nicht leicht etwas zu hoch oder zu fteil 
war. Er stieg den Gemſen nach bis auf den höchſten Grat, aber 
er erklärte mehr als einmal: ‚Die Hochwand ift nicht zu nehmen!“ 

Ernſt blidte zu dem Gipfel des Wollenſtein empor, der hier 
nur theiltweife fihtbar war, und lächelte. 

„Willen Sie, mein gnädiges Fräulein, daß Sie mir gerade 
durch diefe Schilderung Luft machen zu dem Wagniß?“ 

Sie fah betroffen zu ihm auf. 

„Herr Waltenberg, Sie werden doch nicht —?“ 

„Die Hochwand nehmen — gewiß! Wenigitens werde ich es 
verfuchen.” 

„Unmöglih! Das ift ein Scherz!” 

„Glauben Sie? Ach denke, Ihnen nächſtens zu beweifen, daß 
es mir Ernſt damit iſt.“ 

„Aber warum denn? Zu welchem Zwede?“ 

„Warum beſteht man Abenteuer? Weil die Gefahr reizt, 
weil es ein Sieg, ein Triumph ijt, das ſcheinbar Unmögliche zu 
erzwingen.“ 

„Und wenn diefer Triumph Ihr Leben fordert? Sie würben 
nicht das erfte Opfer der Hochwand fein, fragen Sie Sepp, er 
fann Ahnen Trauriges erzählen.“ 

„Rah, mir find die Gefahren nicht fremd, ich habe fchon 
höhere Gipfel erftienen als dieſen gefürchteten Wollenftein.“ 


ſchien unheimlich verwandelt in dem rolhen zudenden Lichte, in 
den Rauchwollen, die darüber hinjagten. 

Und ein Widerfchein diejes Lodernden Brandes faq auf dem 
Geſichte des Mannes, der ftumm, mit feitzufammengebiffenen 
Zähnen die Folterqual erbufdete, der er doch nicht entflichen wollte. 
Er fühlte ihn ja, den verzehrenden Athem der Flammengluth, und 
blieb doch wie feftgebannt an feinem Plage, er fonnte ſich nicht los 
reifen von jenen halblauten, bisweilen nur geflüfterten Worten, 
die vielleicht ſchon eine entjcheidende Frage und Antwort brachten. 

„Hüten Sie fi! Es iſt der alte Sagenhort unferer Berge, 
und der ijt gefeit! Seine Herrſcherin duldet Fein menfchliches 
Weſen auf ihrem Throne.” 

„Bis auf den Einen, ber fie hezwingt! So enden ja immer 
die deutſchen Sagen. Der Muthige, der doch hinaufdringt, ſchließt 
die Zaubergeftalt in feine Arme.“ 

„Und ftirbt in dem eifigen Kuſſe der Alpenfee — ja, fo 
lautet die Sage!” fagte Erna leiſe. 

Waltenberg lachte ſpöttiſch auf. 

„Nun ja, es iſt ein Märchen, das Finder und allenfalls 
aud Naturmenfchen erfchreden fann. Daher ftammt alfo die Un: 
nahbarfeit des Wollenſteins — nicht die Gefahr, der Aberglaube 
macht ihm unzugänglich! Ich dene, ihn mir trotzdem zu holen, 
diefen verhängnißvollen Auf.“ 

„Das werden Sie nicht thun,“ fiel Erna halb bittend, halb 
befehlend ein. „Geben Sie den tulltühnen Gedanken auf!“ 

„Nein, mein Fräulein, ſelbſt auf Ihren Befehl nicht,“ 

„Run denn — auf meine Bitte!” 

Es trat eine ſekundenlange Baufe ein, langſam wandte ſich 
Wolfgang um. Er fah in der grellen Beleuchtung jeden Zug in 
dem Antlig des Mädchens, das wirklich angitvoll bittend empor: 
gerichtet war, und in dem braunen Gefichte des Mannes, der fich 
jest zu ihr niederbeugte, fo tief, daß er fajt ihre Locken berührte, 
Der fpöttifche, übermüthige Trog war verſchwunden aus feinen 
Zügen wie aus feiner Stimme, fie Hang leife, aber in Heißer, 
leidenfhaftlicher Innigleit, als er erwiderte: „Sie bitten mich?" 

Ja — von ganzem Herzen! Stehen Sie ab von der 
Thorheit, ic) ängjtige mich.“ 

Ernſt lächelte, und in einem weichen, verjchleierten Tone, 
wie er vielleicht noch mie von den Lippen des hochmüthigen 
Mannes gelommen war, erwiderte er: 

„Sie follen fehen, daß ich gehorſam fein fan. So füh es 
auch wäre, zu willen, daß ein Welen um mich bangt, wenn ich 
die Gefahr beftehe — ich gebe es auf!” 

BWolfgangs Hand umfahte frampfbaft die Heine —— 
die ſich neben ihm aus dem Boden erhob; die harten, ſpitzen Nadeln 
gruben ſich tief in feine Haut, er fühlte es nicht. Drüben lobte es 
nod) einmal auf wie eine Feuerſaule, dann ſanken einzelne der glühen 
den Brände, die anderen mit ſich reißend. Krachend und prajielnd 
ftürzte der ganze Holzſtoß in fich zujammen, aus der zudenden, 
iprübenden Gluth lecklen taujend Flammenzungen, aber der rothe 
Schein beleuchtete jeßt nur noch die nächſte Umgebung, die Matte 
und ber Heine Hügel veridwanden im dämmernden Schatten. — 

„Es war ein prächtiger Unblid, wicht wahr?” fragte Benno 
heiter, indem er zu dem fo einſam dajtchenden Freunde trat und 


‘ die Hand auf die feinige legte; plöglic aber hielt er inne und 


fragte beforgt: „Wolf, was haft Du? Ich glaube, Dich Ichüttelt 


ein Fieberfhauer, Deine Hand iſt todtenfalt.* 


Sein Tun verrieth den troßigen Uebermuth eines Mannes, | 
der gewohnt ijt, mit der Gefahr zu fpielen, der fie um ihrer | 


felbjt willen auffucht. Nordheim hatte recht, ihm reizte nur das 
Verjagte und das Leben verfagte ihm ja wenig genug. Einen 
Alpengipfel bepwingen, den vor ihm noch feines Menſchen Fuß 
betreten hatte, oder ein Schönes, ſtolzes Weib erringen, das ihm 
falt und fpröde gegenüberjtand — gleichviel! Es mußte erreicht 
und errungen werden, für ihn gab es feine Unmöglichkeit, 

Der Wind, der fi) jeht ftärfer erhob, jagte die Flammen 
feittwärts, fie jprühten und fladerten und ein ganzer Regen von 
Funken ergoß fich über Wolfgang, der das kaum beadhtete. Er 
jtartte unbeweglid in die prafjeinde Gluth, deren Schein cs nicht 
erfennen lief, wie bleid) er war. Der ganze Holzftof war jept 
ein einziges Feuermeer, immer wilder züngelte es empor, immer 
höher ſchlug die Lohe auf, alles verzehrend und vernichtend, was 
ihr heißer Athem berührte. Die fühle, thaufeuchte Matte, die 
dunllen Wälder, die ſchroſſen Abhänge des Wolfenftein, das alles 


„Mir ift nichts," ante Wolfgang dumpf. 
ich mich erfältet auf der thaufeuchten Matte.“ 

„Erkältet an diefem warmen Sommerabende, und Du mit 
Deiner eifernen Geſundheit? Mer Du bijt wirklich nicht wohl, 
ich fehe cs, zeig’ einmal Deinen Puls.“ 

Eimbort, Statt der Aufforderung nachzulommen, z0g un 
geduldig die Hand zurüd, 

„Sch bitte Dich, mache doch nicht fo viel Aufhebens von 
einem leichten Umwohlfein. Das vergeht ebenfo ſchnell als cs 
kommt. Ich habe es ſchon vorhin bei unſerem Aufftieg aefühlt.“ 

Benno fchüttelte den Kopf, er hatte wicht das Geringite von 
einem Unwohlſein bemerkt. 

„Dann wäre es wohl das Bejte, wir träten den Rückweg 
an,“ meinte ev. „Das Feuer erlifcht und wir haben noch eine 
ſtarle Stunde bergabmwärts.* 

„Sie haben recht, wir brechen gleichfalls auf,“ jagte Walten- 
berg, der jeßt auch herantrat. „Sepp fchlägt vor, uns über bie 


„Vielleicht habe 


— 


e—— 


Geierklippe Hinabzuführen, aber dieſer nähere Weg ſcheint nicht | Erna erhob jet Einwendungen und meinte, es fei befier, mit: 


ganz gefahrlos zu fein.“ 

„Bei Mondlicht ift er das allerdings nicht.” 

„Dann geben wir es auf Sch Habe mic bei Frau von 
Lasberg für eine fihere und rechtzeitige Rüdtehr derbürgt und 
muß ihre Wort halten. Gronan mag allein mit dem Führer 
über die Klippe hinabſteigen, da er große Luft dazu zu haben 


| 


zugehen. Aber Waltenberg wollte nichts davon hören. Er eilte 
mit dem Doktor und Sepp über die Grashalde und dann ver- 
ihwanden fie alle drei im Walde drüben. 

Die Zurüdgebfiebenen mußten ſich wohl oder übel zum 
Warten bequemen. Erwünfct war es ihnen offenbar nicht, fie 
wechjelten einige Worte über den Unfall, über die möglichen 


ſcheint. Wir treffen ja dod) fpäter auf dem Hauptwege zufammen.“ | Bolgen desjelden und dann trat ein längeres Schweigen ein. 


Es ergab fih ganz von ſelbſt, daß die Heine Gejellfchaft den 


| 


Rüdweg gemeinjam antrat, nur Gronau und Sepp ſchlugen eine 


andere Richtung ein mit der Verabredung, an einem bejtimmten | 
Bunte wieder zu den Uebrigen zu ftoßen. Die Matte mit dem 
immer mehr niederfinfenden Feuerſchein verſchwand, und bald ver- 
fchlang aud) ber ſchweigende Bergwald das Lachen und Jauchzen 
dort oben. Das Geſpräch der Niederfteigenden ftodte aleichfalls ; 
fie mußten auf den Weg achten, der zwar weder teil noch ge— 
fährlih war; aber die dichten Tannen fingen das Mondlicht auf 


und ließen nur hier und da einen Strahl hindurch, jo daß man | 


immerhin vorſichtig fein mußte. Waltenberg blieb dicht an Ernas 
Seite, die anderen beiden folgten. So ging es bergabwärts, 
etwa eine Halbe Stunde lang, da war der Saum des Waldes 
erreicht und fie traten hinaus auf die weite Bergeshalde. 

„Dort flammt und leuchtet es noch überall,“ jagte Waltenberg, 
auf die anderen Höhen deutend, wo die Bergfeuer nod) größtentheils 
fihtbar waren. „Die Wollenfteiner Haben fehr früh angezündet, 
Ihre Majeftät die Alpenſee hatte den Bortritt und fie ſcheint ſich 
auch wirklich zu Ehren der Sonnwenbnacht entichleiern zu wollen.” 

Er hatte recht. Der Woltenftein, defien Gipfel ſich hier in 
feiner vollen Mädhtigfeit zeigte, war während des ganzen Abends 


verſchleiert * erſt jetzt begann das Gewölk zu weichen, das | 


fein Haupt verhüllte. 


„Mich wundert nur, daß Herr Gronau und Sepp noch nicht hier | 
find,“ bemerkte Erna, die ſich etwas befremdet umfah. „Sie müßten | 
‚ Wieder in dem duftigen 


eigentlich ſchon vor uns eingetroffen fein, ihr Weg ift der nähere.“ 


„Vielleicht hat fie irgend ein Zauberſput aufgehalten,“ ſagte 


Benno lachend. „Die Johannisnacht iſt ja bereils angebrochen und 
da iſt das ganze Geiſterweben los in den Bergen. Ich wette darauf, 
die beiden Haben mit irgend einem Gefpenft zu thun, oder fie graben 


Ueber dem Gebirge lag die Mittfommernadht, mit ihrem tiefen, 
geheimnißvollen Schweigen, aber ohne das tiefe Dunkel der Nacht. 
Der Vollmond, der fhon Hoch am Himmel ftand, tauchte alles 


| in feinen träumerifchen Schimmer. Er ließ die Bergfeuer rings: 


| 


um nur matt erglänzen. Sie flammten nicht wie fonft in glühend 
rother Pracht, aber es jah aus, als feien große leuchtende Sterne 
vom Himmel niedergefunfen, die nun dort auf den Höhen weiter 


' Teuchteten, in ihrer Haren ruhigen Schönheit. Bei Tage blickte 





noch in aller Eile einen von den verſunkenen Schätzen aus, die ja | 


heute allefammt aus der Tiefe herauffteigen. 

Es war allerdings Scpp, der 
Seite erfhien, aber er war allein und die Haft und Eile, mit 
der er näher fam, verhieh nichts Gutes. 

„Was giebt es?“ fragte Waltenberg ihm entgegentretend. 

Es ift doch nichts vorgefallen? Wo ift Herr Gronau?“ 
Sepp wies nad) der Richtung, in welder die Geierklippe Tan 
„Dort oben! Wir haben einen Unfall gehabt, der Herr iſt 
ausgeglitten auf den Felſen und der Fuß — 

„Iſt doch nicht eva gebrochen?“ 

„Nein, jo arg wird's nicht fein, denn wir famen nod) 
hinunter auf den feiten Boden, aber weiter ging es nicht. Der 
Herr ift droben im Walde und fan den Fuß nicht wegen, und 
da wollt’ ich den Herm Doktor doc; bitten, einmal nachzuſchauen.“ 

„Natürlich müſſen wir nachſchauen!“ rief Meinsfeld, der 
iofort bereit war. „Wo haben Sie ihn denn zurüchelaſſen? Sit 
es weit von hier?“ 

„Nein, nur eine Heine Viertelſtund' aufwärts.” 

„Ih gehe gleichfalls mit,” ſagte Waltenberg raſch. „Ich 
muß doch nad) Gronau jehen, bitte, bleiben Sie, gnädiges Fräulein, 
Sie hören ja, es ift micht weit und wir kommen jofort zurüd.“ 

„Wäre ed nicht am beiten, wir ftiegen allejammt hinauf?“ 
fragte Elmhorſt. „Vielleicht iſt auch meine Hilfe nothwendig.“ 

Nun, ein verrenfter oder jchlimmftenfalles gebrochener Fuß 
if doc) feine Lebensgefahr,“ meinte Benno. „Da reichen wir 
drei aus zur Hilfe, felbjt wenn wir Heren Gronan tragen müßten, 
und Fräulein von Thurgau ann doch nicht allein hier bfeiben.“ 

„Gewiß nicht, Herr Elmhorſt wenigftens muß bei ihr zurüd- 
bfeiben,“ entjhied Ernſt. „Wir beeilen uns fo viel als möglich, 
verlaffen Sie fi) darauf, anädiges Fräulein!” 

Die Anordnung war eigentlich jelbftverjtändlih; man konnte 
die junge Dame, fo furchtlos fie auch fein mochte, unmöglich bier 
in der Nacht allein zurücklaſſen und Wolfgang, der ihrer Familie 
jet fo nahe jtand, war jedenfalls der paſſendſte Schuß für fie. 
Dennoch schienen die beiden nicht ceinverjtanden damit. 


Ah, da find fie!" 


da drüben auf der anderen | 


man von der Halde weit hinaus in die Ferne, jetzt hüllte ein 
zarter, ſchimmernder Nebelduft die ganze Bergwelt ein wie ein 
Schleier, der die einzelnen Züge noch deutlich erfennen läßt. Die 
ftarren Linien der Hochgipfel ſchienen ‚zu verichwimmen, die dichten 
Maffen der Wälder verdämmerten in bläulihen Scatten; tief 
unten, wo die Wolfeniteiner Schlucht aufgähnte, herrſchte noch 
das Dunkel, aber die Brüde wurde bereit? von dem Mondlichte 
getroffen. Wie ein jchmaler blinfender Steg ſchwang fie fid) von Fels 
zu Fels, ſelbſt in diejer Höhe noch erfennbar für ein ſcharfes Auge. 

Nur der Wolkenftein, mit feiner unmittelbaren Nähe, hob 


ſich Scharf und Mar ab von dem lichten Nachthimmel. Die Wälder 


zu feinen Füßen, die Zaden und Klüfte des Felſenmeeres und 
die riefigen Schroffen der Hochwand, das alles war überfluthet 
von dem weißen Lichte. Um das Haupt felbft wob ſich noch 
leichtes, jchleierartiges Gewoͤll, das langſam zu zeriliehen fchien 
vor den Mondesftrahlen; bisweilen fchimmerten die eisumſtarrten 
Zinnen des Gipfels Teuchtend hindurch und verſchwanden dann 
belgewande. Erna hatte ſich auf dem 
Stumpf einer gefällten Tanne am Rande des Waldes niedergelafien. 
Der Anblick feflelte fie, ebenſo wie ihren Gefährten, der jetzt das 
Schweigen brad), das ſchon einige Minuten gewährt hatte. 

„Da hinauf gelangt Herr Waltenberg ſchwerlich,“ fagte er. 
Ich naube es war nicht nöthig, ihn ſo ernſtlich abzumahnen, 
er wäre jedenfalls umgekehrt am Fuße der Hochwand.“ 

„Sie haben gehört, was wir ſprachen?“ fragte die junge 


‚ Dame, ohne den Blick von dem Gipfel abzuwenden. 


„Gewiß, ich ftand ja in der Nähe,” 
„Run, dann hörten Sie wohl auch, daß das Wagniß ſchließlich 


aufgegeben wurde." 


„Auf Ihre Bitte!“ 

„Es lag mir allerdings daran, für mich hat jede zweckloſe 
Tollkühnheit etwas Beängjtigendes.” 

„Jede? Mir Scheint, Herr Waltenberg gab Ihren Worten 
eine andere Deutung und er ift auch wohl berechtigt dazu?“ 

Erna wandte fih um und jtreifte ihm mit einem fühl ab- 
weijenden Blid. 

„Herr Elmhorſt, Sie rechnen ſich bereits zu unferer Familie, 
ich jehe e8; aber das Recht zu ſolchen Fragen geftehe ich Ihnen 
dennoch nicht zu.“ 

Die Zurehtweifung war deutlich genug. Wolfgang biß ſich 
auf Die Lippen. 

Verzeihung, gnädiges Fräulein, wenn ich taftlos erſchien, 
aber nach den Andeutungen meines Schwiegervaters glaubte ic) 
wirklich, die Sache jei kein Geheimniß mehr.“ 

„Mein Onkel hat mit Ihnen darüber gefprochen? Sekt, 


| vor feiner Abreiſe ?* 


„Allerdings, aber er that das auch bereils vor drei Monaten, 
als id) in der Stadt war.” 

In dem Geficht des jungen Mädchens ftien eine dunkle 
Röthe auf. Alſo fchon damals hatte der Präfident feinem 
Scwiegerfohne mitgeteilt, wie er feine Nichte zu „verforgen“ 


\ gedenfe, wahrſcheinlich noch vor der perſonlichen Belanntſchaft mit 


Auch 


Wi tenberg! Ihr ganzer Stolz empörte ſich dagegen, und mit 
unverheblter Gereiztheit erwiberte fie: 

„Ih weiß, daß mein Ontel mit allem zu rechnen pflegt, 
warum nicht auch mit meiner Hand; aber in diefem Falle habe 
ich doch wohl das legte Wort zu fprechen — das ſcheint ev und 
fcheinen Sie vergeffen zu haben.” 


Ich?“ fuhr Wolfgang auf. daß 


ich — hatte an dem Plane?“ 


„Glauben Sie vielleicht, 


584 


Sie jah ihn an; es war ein jeltfamer Bid, den er nicht | 


enträthſeln konnte, und in ihrer Stimme Hang etwas wie Teiler 
Hohn, als fie antwortete: 

„Nein, an diefem Plane nicht, das weiß ich!” 

„Sie würden mir auch entfchieden unrecht thun mit einem ſolchen 
Berdadhte. Ich habe überhaupt Feine Sympathie für Heren Walten- 
berg und bin überzeugt, daß er froß all feiner bejtechenden Eigen 
ichaften doch nicht im Stande iſt, ein anderes Weſen zu beglüden.“ 

„Das ift Ihre Anſicht,“ jante Erna falt, „Eine Frau fragt 
in ſolchem Falle nur mad) einem — ob fie aeliebt wird ohne 
äußere Nüdfichten und Bedenlen.“ 

„Sollte das allein entjcheidend fein? ch meine, fie müßte 
noch eine zweite Frage ftelen — ob fie ſelbſt liebt!” 

Die Worte famen fangfam, fait zögernd von feinen Lippen, und 
doch hafteten feine Mugen wie in athemlofer Erwartung auf dem 
Antlit, das er im hellen Mondfchein fo deutlich vor ſich ſah, aber 
es erfolgte feine Antwort. 
ichweifte hinaus in die dämmernde Ferne. Die Berafeuer dort glänzten 
matter und matter, eins nadı dem andern exrlofch, nur das größte 
Hammte noch drüben auf der Höhe mit feinem fternartigen Leuchten. 

Droben am Wollenftein wogten und wallten noch immer die 
weißen Schleier und die Mondesjtrahlen ſchufen feltfame Gebilde 
daraus, die das Auge täufchten mit allerlei phantaftifchen Ge— 
ftalten und zerfloffen, ſobald es versuchte, fie feitzuhalten. Aus 
diefem Nebelweben aber tauchte jegt langſam und leuchtend ber 
Gipfel jelbjt empor, der zadige, unnahbare Thron der Alpenfer, 
in feinem ewigen Eis und Schneegewand. 


Ernas Blid vermied den feinigen und | 


Wolfgang hatte feinen Platz verlaſſen und trat jekt am die ı 


Seite des jungen Mädchens, während er halblaut fortfuhr: 

„Ih habe auch zu diefer frage fein Necht, ich weiß es; aber 
Sie ſelbſt werden fie fich doch wohl geftellt haben und die Antwort —“ 

Ein dumpfes, zomiges Anurren unterbrach ihn. Greif hatte 
feine einftige Abneigung gegen den Oberingenieur nicht vergeſſen; 
er duldete es nicht, daß diejer feiner Herrin nahe kam, und 
drängte ji, wie zur Abwehr, zwilchen beide, Erna legte be 
ichwichtigend ihre Hand auf den Kopf des Hundes, der fofort 
verftummte; dann fragte fie plötlich ohne jeden Uebergang: 

„Warum haften Sie Ernſt Waltenberg ?” 

„Ich?“ Elmhorſt war augenſcheinlich betroffen über dieje 
Öegenfrage, die ihm gänzlich unerwartet kam. 

„Ja — oder wollen Sie es ableugnen ?* 

„Nein,” fagte Wolfgang mit trogiger Entſchiedenheit. 
geſtehe es zu, ich haſſe ihm!“ 

„Sie müſſen aber dod) einen Grund dazu Haben.“ 

„Den babe ih! Aber Sie gejtatten wohl, daß ich Ihrem 
Beifpiel folge und auf das Warum? die Antwort veriveigere.“ 

„So will id) jie Ihnen geben — weil Sie in Ernſt Walten- 
berg meinen fünftigen Gatten fehen!* 

Elmhorſt zudte zufammen und blidte fie mit einem Ausdrud 
der Bejtürzung, ja des Schredens an. „Sie — willen ?" 

„Glauben Sie denn, eine Frau fühlt es nicht, wenn fie 
geliebt wird, und wenn man auch alles dran ſetzt, es ihre zu ver- 
bergen ?* fragte Erna mit tiefer Bitterleit. 

Es folgte eine lange, Schwere Pauſe; Wolfgangs Auge fant 
zu Boden; endlich faqte er dumpf und leiſe: 

„a, Erna, ich habe Sie geliebt — fchon feit Jahren |“ 

„Und Sie wählten — Alice!” 

Es lag eine herbe Verurtheilung in den Worten, ee ſchwieg 
und ſenlte das ftolze Haupt. 

„Weit fie reich it, weil an ihrer Hand das Gold hänat, das 
ich nicht befige. Alice wird trogdem nicht unglüdtich werden, fie fennt 
und fordert ja lein Glück im höheren Sinne, ich aber wäre grenzen: 
108 elend an der Seite eines Mannes; den ich verachten müßte.“ 

„Erna!“ fuhr er wild und drohend auf. 

„Here Elmhorſt?“ fragte fie ſchneidend. 

Die Mahnung fruchtete, er zwang ſich acwaltfam zur Selbſt— 
beherrſchung. 

„räulein von Thurgau, Sie glauben, mich haſſen zu müſſen 
feit der Todesſtunde Ihres Vaters, und Sie haben überreih Ver— 
aeltung geübt für eine nur vermeinte Schuld. Nun denn, Ihren 
Hof will ic) Iragen, wenn es jein muß, Ihre Verachtung nicht. Ach 
dulde ihn nicht Länger, dieſen Falt verächtlichen Blick, den ich immer 


„Ich 


| 


— 


und immer in Ihren Mugen fehe. Sie verjtchen es, damit zu treffen, 
aber ich Bitte Sie jept — treiben Sie mic nicht aufs äußerte!“ 

Er fah wirklih aus, als fei er aufs äuferfte gebracht, 
ber Falte, beredjnende Mann, der ſich jo eiſern zu beherrſchen 
wuhte. Sein ganzes Weſen bebte in fieberhafter Erregung, das 
verhäugnikvolle Wort hatte ihn furchtbar getroffen. 

Greif hatte ſich fampfbereit aufaeridytet und verfolgte mit 
glühenden Augen jede Bewegung des vermeintlichen Feindes, von 
dem er glaubte, ex drohe feiner jungen Herrin. Diele ergriff den 
Hund am Halsbande und hielt ihn feit. 

„Wollen Sie mic etwa zur Achtung zwingen?" fragte fie. 

„Ja, beim Himmel, das will id!” brach er aus. „Ich 
habe mir ja vorhin ſchon die Anerfennung erzwingen müſſen bei 
ienem hochmüthigen Egoiſten, der das Geld mur veradhtet, 
weil er es in Fülle befigt, der fein träumerifches, thatenlofes 
Genießen für Idealismus ausgiebt. Sie hörten es ja, wie er 
verſtummte, als ich mich auf meine Arbeit berief. Er weiß 
freilich nicht, was es heißt, arm zu ſein und der nackten, harten 
Wirklichteit ins Auge ſehen zu muſſen. Ich babe das reich 
lich durchgekoſtet in einer entbehrungsreichen Jugend, für mid) 
hat das Leben feine Poeſie und feine Ideale gehabt. Ich fühlte 
die Kraft im mir, das Höchſte in meinem Berufe zu leiſten, und 
wurde in niederer unbedeutender Arbeit feitgehalten. Ich mußte 
mich beugen vor Menſchen, die geiftig tief unter mir ftanden, 
mußte bitten, wo ich jetzt befehle Der Plan zu der Wolfen 
jteiner Brüde, die fie jeßt anftaunen, wie ein halbes Wunder: 
werk, ijt zehmmal Hochmüthig verworfen, überfchen, bei Seite 
aelegt worden, weil ich Feine Proteltion hatte, weil man den 
Armen und Unbefannten ja immer am Boden hält. Aber id) 
wollte empor, troß alledem, nicht um des Geldes willen, wicht um 
auszuruhen im trägen Genuß, jondern um frei Schaffen zu Lönnen, 
ungehemmt von all den Zurüdiegungen und Erbärmlichleiten, über 
die der Reichthum wie mit Flügeln binwegträgt. Dort fteht mein 
Wert!" Er wies auf den fchmalen Steg über der dunklen Schlucht, 
der im Meondlichte wie Silber blinlte. „Ob Sie es haſſen oder 
nicht, weil Ihr Voterhaus ihm weichen mußte, es wird feinem 
Schöpfer wenigjtens Achtung erzwingen, aud) bei Ihnen!” 

Das war wieder bie ftolze, fühne Sprache, mit der Wolf 
gang Elmhorſt felbit jeine Gegner verſtummen machte, mit der 
er überall fiegte, bier aber fiegte er nicht. Erna Hatte fi) er- 
hoben und ſtand ihm hocaufgerichtet gegenüber, aber der Blid, 
den er nicht ertragen Fonnte, war noch immer in ihrem Auge. 

„Nein!“ fagte fie feſt und kalt. „Gerade dies Werk verurtheilt 
Sie! "er das ſchaffen konnte, der mußte aud) den Muth haben, der 
eigenen Kraft zu vertrauen und allein vorwärts zu ſchreiten, denn 
er trug feine Zukunft in fi. Mein Onfel hatte Ihr Talent erfannt, 
lange ehe Sie um feine Tochter warben, er hatte Ihnen den Weg ge: 
öffnet und Sie wären zum Ziele gelangt aud) ohne ihn. Aber ireilich, 
das hätte Zeit und Mühe geloſtet und & wollten im Sturm fiegen.” 

Wolfgang fteeifte mit einem langen, ſchweren Blid das erregte 
Antlig des Mädchens. 

Ja, ic wollte es!“ fagte er düfter. „Uber ich Habe auch 
einen hohen Preis dafür gezahlt, vielleiht — war er zu hoch!“ 

„Der Preis ift jept Shre Freiheit — einft wird es vielleicht 


Ihre Ehre fein!” 

„Emal* Er ballte frampfhaft die Hand. „Hüten Sie fi! 
Ich ertrage feine Beleidigungen.“ 

„Ich beleidige nicht, ich ſpreche nur aus, was Sie ſich ſelbſt 
noch nicht eingeftehen. Glauben Sie, daß man fich umfonjt einem 
Manne verbindet, wie mein Onlel es it? Cie haben noch 
Ehrgeiz, er hat längſt abgeſchloſſen damit, ihm gilt nur noch der 
Erwerb. Er hat freilich ſchon Millionen eriworben und das Gold 
jtrömt ihm immer noch zu, aber das ift ihm alles nicht genug. 
AL das Große jeiner Unternehmungen it ihm michts, er zuct nur 
die Achſeln darüber; Geld follen fie ihm bringen, und das wird er 
auch von Ihnen verlangen, wenn er Sie erſt ganz in Händen hat. 
Sie werden nicht mehr ſchaffen, ſondern nur noch erwerben dürfen!“ 

Wolfgang fah finfter zu Boden, er wußte, daß fie die Wahrheit 
ſprach, er fannte den Rräfidenten längſt von diefer Seite, aber jein 
Stolz ſtränbte ſich gegen die Nolle, die man ihm dabei zuertheilte. 

„Halten Sie mich für fo energielos, daß ich meine Selb 
jtändinfeit nicht zu wahren weiß?" fragte er. „Sch habe audı 
einen Willen und werde ihn nöthigenfalls geltend machen, felbft 
an diefer Stelle.“ 














Studienkopf. 


Von Antonv Werner. 


586 > 
„Dann wird man Ahnen ein Entweder — ober ftellen und | faft bedürfnißloſe Natur wie die Bennos dazu, um in ſolchen 


Sie werden fi fügen. Sie Haben ihn ja nicht gehen wollen, 
den einfamen, ſtolzen Weg, den fo viele große 
find, die nichts hatten als ihr Talent und den Glauben an fich 
ſelbſt. ch,“ Hier Brad) es wie Leidenfchaftliche Begeifterung aus 
den Augen des Mädchens, „ich Habe mir immer gedacht, fchon 


änner gegangen | 


das Ningen und Streben müſſe ein Glück fein, eim größeres | 


vielleicht ala einft das erreichte Ziel. So enporzufteigen aus 
der Tiefe, mit jedem Schritt, den man vorwärts thut, mit jebem 
Hinderniß, das man überwindet, die eigene Kraft wachen zu 
jehen und endlich droben zu ftehen auf der freien Höhe, im Ge: 
fühl des felbjterrungenen Sieges. Ich habe das ja fo oft gefühlt, 
wenn ich einen Mlpengipfel erftieg, und ich Hätte mich wicht 
emportragen laſſen von fremder Hand, um feinen Preis!“ 

Sie ftand vor ihm, fortgerifien von der Erregung bes 
Nugenblids, wieder ganz das freie wilde Kind der Berge, das er 
einjt gefunden Hatte an den Abhängen des Wolfenftein, mit 
den wehenden Loden, ſtürmiſch in der Liebe wie im Haß. Er 
hatte vereint mit ihr dem Sturme Troß geboten, er hörte noch 
ihr übermüthig jubelndes Lachen, mitten in dem Wettergraus, und 
es war ihm, als fei er damals glücklich geweſen, grenzenlos 
glüdlih, und feitdem niemals wieder! 

„Und hätten Sie den Mann lieben können, der fo emporsteigt ?* 
fagte er endlich, aber es lag eine verhaltene Dual in feiner Stimme, 
„Wären Sie ihm zur Seite geblieben in Mühe und Gefahr, im Sturze 
vielleiht? Antworten Sie, Ema — id muß es willen!“ 

Erna bebte Teife zufammen, aber der Strahl in ihrem Auge 
erlojch, e3 ging wie ein Eishauch über ihr Antlig und eifig Hang auch 
ihre 
nur eins: den Mann, der feine Liebe verleugnete und zertrat um 
des Geldes willen, das ihm mit der Hand einer Anderen winfte, der 


Umgebungen auszuhalten. Seine Vorgänger waren aud) ftets 
nur kurze Zeit in diefer Stellung geblieben, er ſaß nun ſchon 
im fünften Jahre bier, unermüdlich und unverdroſſen in feiner 
anftrengenden Thätigfeit, und Hatte aud vorläufig noch feine 
Ausficht, fortzulommen. 

In feinem Arbeitszimmer jah es freilich anders aus als in 
den fchönen, behanlihen Räumen, die Oberingenieur Elmhorſt be: 
wohnte. Die weiß getündten Wände zeigten als einzigen Schmud 


‚ ein paar Heine Familienbilder, die verjtorbenen Eltern Reinsfelbs. 


widerung: „Wozu die Frage? Sie fommt zu jpät! Ich weiß 


es borzog, fich feine Zukunft zu erfaufen, weil er nicht den Muth 


hatte, fie zu erfämpfen, den hätte ich nie geliebt — niemals!“ 


Sie athmete tief auf, als werfe fie mit dem Worte eine | 


Laft von fid), und wandte ihm den Rüden. Greif begann plötzlich 
unruhig zu werben und richtete ſpürend den Kopf nach dem Walde, 
er witterte bereits die Zurüdfehrenden, deren Tritte den, anderen 
beiden noch unhörbar waren, aber feine Herrin verjtand ihn. 

„Sie kommen?“ fragte fie halblaut. „Wir wollen ihnen 
entgegen gehen, Greif!” 


Ein alter, fchon jehr gebrechlicher Schreibtifch, mit einem Arm: 
ſtuhl, deſſen ehemals ſchwarzes Leder längft grau geworden war, 
ein fehr hartes Sofa mit derbem Leinenüberzug und Tiſch und 
Stühle von gleich ehrivürdigem Alter, das war die ganze noch von 
dem Vorgänger übernommene Einrichtung diefes „Salons“, in 
welchem der Doktor wohnte, arbeitete, Rath ertheilte und auch 
Beſuche empfing wie in diefem Augenblid, wo fein Vetter Albert 
Gersdorf fi) bei ihm befand. 

Der Rechtsanwalt war bereits geſtern von Heilborn ge: 
kommen und hatte ſchon einen Gaſt vorgefunden, den er gleich 
falls kannte, Weit Gronau, der ſich hier von den Folgen feines 
Unfalls auf der Geierflippe erholte. Die ſchmerzhafte Verrenfung 
des Fußes, die er fich dort zugezogen, war zwar nicht gefährlich, 
hinderte ihn aber fehr am Gehen. Man hatte ihn damals mit 
Mühe bis nach Oberftein gebracht und Reinsfeld erbot ſich ſofort, 
den Patienten in Pflege zu nehmen, bis er wieder hergejtellt fei, 
was auch danfend angenommen wurde. 

Die beiden Vettern hatten fich feit Jahren nicht geſehen und 
auch nur felten gefchrieben, um fo freudiger war Benno über- 
raſcht geweſen, als Gersdorf gejtern ganz unerwartet bei ihm 
eintraf, Er Hatte ihn ſoeben überredet, den Beſuch noch etwas 
länger auszudehnen, und fagte nun vergnügt: 

„Alſo abgemadıt, Du bleibjt bis übermorgen! Das ift brav 
und Deine junge Frau hat hoffentlich nichts dagegen, wenn Du 
fie fo lange in Heilborn bei ihren Eltern läßt.” 

„D, fie befindet ſich dort vortrefflich,“ erklärte Gersdorf, 


‚ aber troß der Verfiherung gab fich eine gewiſſe Verftimmung in 
der Antivort fund und ex ſah auch ungewöhnlid ernſt aus. Der 


Langſam fchritt fie über die Grashalde, auf der fchwer und 


ihimmernd der Nachtthau lag. Wolfgang machte feinen Verſuch, 
fie zurüdzuhalten, er verharrie regungslos auf feinem Plate. 
Das letzte der Bergfeuer fank ſoeben zufammen; einige Minuten 


fchimmerte es noch auf der Höhe wie ein matter verlöfchender | 


Stern, dann verſchwand es. 
Der Wollenftein war dagegen völlig Mar geworben, das 


Gewölt, das ihn zuletzt nur noch wie ein fhimmernder Nebelduft | 
umgab, jchien zu zerflichen und zu zerrinnen in den Mondes: | 


jtrahlen; Mar und leuchtend ftand der eisgefrönte Gipfel da. Sie 
hatte ſich entichleiert, die ſtolze Herrſcherin des Gebirges, und 


thronte num dort oben in ihrer aeifterhaiten Schönheit und über | 
ihrem Reiche Tag die ſchweigende geheimnigvolle Mittiommers 


nacht, mit ihrem Geifterwweben, wo die verfuntenen Schätze 


heraufiteigen aus der Tiefe und auf Erlöfung harren — die | 


uralte, heilige Sonnwendnacht! 


Es war am Sonntag nach dem Zohannistage, wo nad) altem 
Brauche in Oberjtein der Kohannistanz jtattfand. Der Heine 
hochgelegene Gebirgsort, der Wohnfig des Doltor Reinsield, hatte 
duch den Bau der Eifenbahn allerdings etwas von feiner Ein: 
ſamleit und Abgeſchiedenheit verloren. Die Arbeiter der Strede 
verfehrten bisweilen dort und einige der jungen Ingenieure hatten 
in dem einzigen Gafthaufe ihre Wohnung genommen; das war 
aber bis jegt alles; das ziemlich armielige Ausſehen bes Dertchens 
hatte ſich vorläufig noch nicht geändert, 

Die Wohnung des Heren Doktor machte auch feine Aus- 


nahme davon, es war ein Meines Häuschen, das fi) nur wenig | 


von den übrigen unterjchied, mothdürftig eingerichtet und faum 
mit den einfachiten Bequemlichkeiten verjehen. Die Witwe des 
verftorbenen Meßners führte dem jungen Arzte das Hausweſen, 
fo aut oder fo ſchlecht fie es eben veritand, und viel verjtand fie 
wirklich nicht. Es gehörte in der That eine fo beicheidene und 





Doktor blickte ihn forfchend an, 

„Höre, Albert, es ift mie ſchon gejtern bei Deiner Ankunft 
vorgefommen, als ob da etwas nicht ganz in ber Orbnung wäre. 
Sch glaubte, Du würdeſt mit Deiner Frau kommen! Ahr habt 
Euch doch nicht etwa gezanti?“ 

„Nein, Benno, fo arg iſt es nicht, ich bin nur im die 
Nothwendigkeit verfeßt worden, meinen Schwiegereltern Har zu 
machen, daß ſich der bürgerliche Schwiegerfohn feine Stellung zu 
wahren weiß.“ 

„Aha, weht der Wind daher? Was hat es denn gegeben ?* 

„Borläufig nur eine Heine Auseinanderfepung. Ich erzählte 
Dir ja bereits, daß wir verſprochen hatten, am Schluß unferer 
Hochzeitsreiſe die Eltern in Heilborn zu befuchen, wo meine 
Schwiegermutter die Kur braucht. Wir fanden fie dort in einem 
fehr erflufiven Kreiſe, der allerdings die Gnade hatte, mich auf- 
zunehmen, es mir aber ſehr deutlich fühlbar machte, daß id) dies 
nur der Ehre verdankte, eine Baroneß Ernſthauſen zur Frau zu 
haben. Ich verweigerte alfo dieſen liebenswürdigen Umgang und 
fagte ab bei einer großen Bartie, die für gejtern geplant war. 
Natürlich) gab es darüber hochgradige Empörung, bie Fran 
Schwiegermutter erlärte mic) fir einen Turannen, behauptete, ihre 
Tochter gehöre nad) wie vor zu diefem Kreife, und brachte es wirklich 
dahin, daß auch Wally obftinat wurde. Ich ftellte es ihr darauf 
frei, allein mitzufahren — und fie fuhr in der That mit.” 

„Ohne Dich?“ 

„Ohne mich! Eine Stunde foäter war ich auf dem Wege 
zu Dir — id) wollte Did) ja jedenfalls auffuchen in den nächiten 
Tagen — und ließ nur eine kurze Benachrichtigung zurück.“ 

„Es war doc ein Wagnig von Dir, in dieſe adelſtolze 
Familie zu heirathen,“ fagte Benno Eopfichüttelnd „Du fiebit, 
die Kämpfe find mit der Heirath keineswegs zu Ende.“ 

„Nein, aber darauf war ich von vornherein gefaßt, das 
muß eben durchgefämpft werden.“ 

„Wenn Du Deiner Frau ficher biſt?“ 

Gersdorf lächelte nur bei der etwas bebenflich ausgeſprochenen 
Fran. 


» 587 > 


„Gewiß, das bin ih! Wally ift ja noch ein Kind mit 
ihren achtzehn Jahren, ein verwwöhntes Kind, das im Elternhauſe 
jo gut wie gar micht erzogen wurde, aber ihres Herzens bin ich 
unter allen Umftänden ficher. 


Glaubſt Du, daß es mir Teicht | 


geworben ift, mein holdes Meines Troßföpfchen allein zu lafjen? | 


Uber es muß durchaus begreifen Temen, daß die Frau einzig 
und allein zu dem Manne gehört. Laſſe ich diesmal meiner 
Schwiegermutter freies Spiel, fo miſcht fie ſich fortwährend in 
unfere Ehe und das dulde ich mum einmal nicht.“ 


Man ſah es dem neugebadenen Ehemanne troß alledem an, daf | 


ihm der Entichluß nicht Leicht geworden war; feine Augen ſchweiften 
recht fehnfüchtig durch das Fenster, mac) der Richtung, wo Heilborn 
lag, während Benno die Chnrakterfetigkeit feines Vetters mit höchfter 
Bewunderung anftaunte. Er hätte fich ſelbſt einer iyranniichen 
Schwiegermutter gefügt, nur um ein gelicbtes Weſen nicht zu verlegen. 

Sie wurden unterbrochen, denn joeben trat 
ein. Er Hinkte zwar noch jehr bedeutend, ſchien ſich aber fonjt 


eit Gronau | 


ganz wohl zu befinden und legte ein ziemlich umfangreiches | 


Radet auf den Tiſch. 
„Eine Empfehlung von Herren Waltenberg,” fagte er. „Er 
wird am Nachmitiage mit den Norbheimfchen Damen herüber- 


fommen, fie wollen ſich das Tanzvergnügen anfehen. Einftweilen | 


bat er den Said gefchidt und nun fäuft ganz Oberftein zu— 
fammen und dem Schwarzen nad), den fie für den Teibhaften 
Gottfeibeiung halten!” 

"Was haben Sie denn da?” fragte Gersdorf auf das Padet 
deutend. 

„Echt türkiichen Tabakl” verfeßte Gronau wichtig, „Der 
Herr Doktor ift nämlich ala Menſch vortrefflich, aber als Raucher 
barbarifh. Seine Sorte ift, mit Erlaubniß zu fagen, ein ganz 
ſchändliches Kraut, deshalb Habe ich mid) um Hilfe an Heren 
Waltenberg gewandt und er hat mir aud) fofort aus unferen 
eigenen Borräthen das Nöthige geſchickt. Jetzt werde ich die 
Pfeifen ftopfen — man raucht nämlid) noch Pfeifen in dieſem 
biederen Oberſtein — und ic) verftche mich darauf.” 

„Das glaube ich!” jagte Benno lachend. 
Waltenberg verdbampfen in einem Jahre vermuthlich jo viel, wie 
mein ganzes Einfommen beträgt. Ich darf nicht fo wähleriſch fein.“ 

Beit, der bier ſchon völlig zu Haus war, hinkte inzwiſchen 


| 


! 


zu rechnen fei; er hätte ihr zu Ehren jedenfalls wieder den be- 
rühmten ſchwarzen Staatsanzug angelegt und nun traf fie ihn 
in folder Toilette! In feiner grenzenlofen Verwirrung ergriff 
er fein Taſchentuch und verfuchte damit, den Rauch zu verjagen, 
aber er jagte ihn leider nach der falſchen Richtung, der Dame 
grade in das Geſicht! Dabei fente er die Thonpfeife vom Tiſche, 
die nun in Scherben zerbrady, und ſchließlich warf er noch feinen 
Armſtuhl um, der bei diefem Unglüd ein Bein verlor. Gersdorf 
ergriff endlich feinen Better beim Arm. 

„Sei ruhig, Benno, Du richteft ſonſt noch ein Unglück an,“ 
fagte er beſchwichtigend. „Vor allen Dingen laß Dich meiner 
Frau vorjtellen. Mein Better, Benno Reinsfeld, liebe Wally!“ 

Wally blidte mit höchſt ungnädiger Miene auf diefen Mann 
in Hemdärmeln, der ihr als Verwandter vorgeftellt wurde, fie 
ihien das empörend zu finden. 

„Ich bedaure fehr, die Herren geftört zu haben,” fagte fie, 
mit einem nieberjchmetternden Blick auf ihren Gatten. „Mein 
Mann theilte mir mit, daß er Sie befuchen werde, Herr Doltor — 
auf unbejtimmte Zeit.“ 

„Gnädige Frau,“ jtotterte Benno ganz faſſungslos. „Es 
ift mir eine hohe Ehre — ganz gewiß —“ 

„Das frent mich,“ fchmitt ihm die gnädige Frau ohne weiteres 
das Wort ab. „Draußen fteht mein Gepäd, Here Doktor, bitte, 
lafien Sie es hereinbringen. Ich bleibe auch Hier — auf unbe 
ftimmte Zeit!“ 

Das fehlte noch, um die Verzweiflung des Doltors voll zu 


‚ machen. Er dachte an das feine, dürftig eingerichtete Giebelſtübchen, 


das er feinem Better hatte anbieten müſſen, und num wollte eine 
Baroneß Ernfthaufen darin wohnen! Da fiel jein rathlos ums 
berfchweifender Blick endlich auf die fo angitvoll gefuchte Joppe, 
die grade vor ihm faq, er jtürzte plöglich darauf los, padte fie 
und verſchwand mit feiner Beute im Nebenzimmer. Gronau, der 
eine ebenjo refpeftvolle wie entfchiedene Abneigung gegen „die 
Damen” hegte, hinlte ihm fchleunigft nady und lieh Dabei die 


‚ Thür fo unvorfidtig in das Schloß fallen, daß das ganze Haus 


„Sie und Here | 


an ein Heines Schränkchen und holte verschiedene Pfeifen heraus, | 


die er mit großer Sachlenntniß zu ftopfen begann, und bald 
dampften die drei Herren Tuftig drauf los. Es war im ber 
—* — vorzügliches Kraut, das alle drei in die roſigſte Stimmung 
verſetzte. 

Da wurde die Thür geöffnet und auf der Schwelle zeigte 
ſich etwas höchſt Unerwartetes: eine junge Dame, im eleganten 
Neifeanzug, mit einem fchleierummwundenen Hütdhen und einer 
zierlichen Reijetafche in der Hand. Sie war im Begriff, raſch 
einzutreten, blieb aber jtehen, wie erjtarrt von dem Anblid, der 


ſich ihre bot. Gronaus unendlich lange Geftalt Tag der Länge nach 


auf dem Sofa ausgejtvedt, der Doltor fah in Hemdärmeln jeelen: 
vergnügt in feinem Armſtuhl, Gersdorf nicht weit davon und über 





ihnen ſchwebten die blauen Tabalswollen und umhüllten die ganze | 
abnahm; fie duldete das zwar, aber fie behielt ihre wernichtende 
„Herr Doktor,” meldete die alte Wirthichafterin, deren Ge: | i 


Gruppe mit einem dichten, aber leider durchſichtigen Schleier. 


ficht jeht Hinter ber Fremden fichtbar wurde. „Da ift eine junge 
Gnäbige angekommen und fie will —“ 

„Meinen Mann will ich!” fiel die junge Gnädige in ſehr 
energiichem Zone ein, indem fie vollends eintrat und damit einen 
förmlichen Aufruhr entfeſſelte. Gronau fuhr vom Sofa auf und 
ftieß dabei einen lauten Schmerzensichrei aus, dem jein Fuf 
vertrug noch nicht derartige heftige Bewegungen, Benno fprang 
entjebt empor und juchte feine Koppe, die er nirgends fand, und 
aus den Dampfwolfen tauchte Gerädorf hervor und rief in 
freudigiter Ueberraihung: „Wally — Du bift e3?” 

Ja — ich bin es!“ erklärte Frau Doktor Gersdorf in 
einem fo vernichtenden Tone, als habe fie ihren Gatten auf 
irgend einem Verbrechen ertappt, und dabei trat fie in die Mitte 
des Zimmers und nahm eine höchſt impofante Stellung an. 
Leider ftörte fie der Tabafsraud darin, fie begann entſetzlich zu 
huften und Fämpfte mit einem fürmlichen Eritidungsanfall. 


Der arme Benno war ganz vernichtet. Er hatte heimlich auf: | 


geathmet, al3 er hörte, da auf den Beſuch der neuen vornehmen 
Verwandten, vor der er einen ungemejlenen Reſpelt hegte, nicht 


erbebte. 

„Bin ich denn Hier unter die Wilden gerathen?” rief bie 
junge Frau entrüjtet über’ diefen Empfang. „Der Eine fchreit, 
der Andere läuft davon und der Dritte —!“ fie ſchauderle 
förmlid) bei dem Gedanken, daß diefer Dritte ihr Gatte war. 

Gersdorf aber fümmerte ſich nicht um ben bitterböfen Aus- 
drud des roſigen Geſichtchens. Jetzt, wo fie allein waren, eilte er 
mit jteahlender Miene und ausgebreiteten Armen auf feine feine 
Frau zu. 

„Wally, alfo bijt Du wirklich gefommen!“ 

Wally entzog jich der Umarmung, fie trat zurüd und er— 
Härte feierlich: 

„Albert — Du bift ein Ungeheuer!“ 

„Aber Wally —!“ 

„Ein Ungeheuer!” wiederholte fie mit Nadydrud. „Mama 
fagt es auch umd fie meint, ich müffe Dich mit Verachtung jtrafen. 
Deshalb bin ich auch nur hergefommen.“ 

„Sp, deshalb?” fagte Albert, während er ihr die Reifetajche 


Haltung bei. 

„Du haft mich verlajfen, mid, Dein eheliches, Dir ange: 
trantes Weib, Mandlich verlaſſen — und das noch dazu auf der 
Hochzeitsreiſe! 

„Bitte, mein Kind, Du verließeſt mich,“ proteſtirte Gersborf. 
„Du biſt mit der Geſellſchaft gefahren —“ 

„Auf einige Stunden! Und als ich zurückkam, warit Du 
fort, warſt in die Wildnif gegangen, denn etwas anderes ift ja 
dies Oberjtein nicht, und nun ſitzeſt Du bier in dem abfchenlichen 
Zabatsaualm und rauchſt und lachſt und jubilierft — leugne es 
nicht, Albert, Dur Haft gelacht, ic) habe draußen deutlich Deine 
Stimme gehürt!“ 

„Allerdings habe ich gelacht, aber das ift doch fein Verbrechen.” 

„Wenn Deine Frau fern it!" rief Wally zormig, „wenn 
Deine tiefgefränfte Gattin in derfelben Stunde ihr Schidjal beweint, 
das fie an diefen berzlofen Mann kettete — 0, Du fichit das 
nicht einmal ein!“ 

Sie ſchluchzte laut auf und warf ſich verzweiflungsvoll auf 
das Sofa, fuhr aber erfchroden wieder in die Höhe — auf eine fo 
harte Ruheftätte für ihren Schmerz war fie nicht gefaßt geweſen. 


— 0 


„Wally,“ ſagte ihr Gatte ernſt, indem er zu ihr trat, „Du 
wußteſt, warum ic) jenen Kreis meiden wollte, und ich glaubte, 
meine Frau würde darin unbedingt an meiner Seite ftehen — 
es Hat mir ſehr wehe gethan, daß ich mich darin täuſchte!“ 

Der Vorwurf verfehlte feine Wirkung nicht; Wally jchlug 
die Mugen nieder und erwiderte Meinlaut: 

Ich mache mir ja gar nichts aus all den albernen Menſchen, 
aber Mama meinte, ich dürfe mich nicht unterdrücken laſſen.“ 

„Und Du folgteft natürlich Deiner Mutter, nicht meiner 
Bitte, Du zogft eine fremde Geiellihaft der meinigen vor!“ 

Das haft Du ja auch gethan,“ ſchluchzte Wally; „Du bift 
fortgefahren, ohne danach zu fragen, ob Dein armes Weib ſich 
verzehrt in Schmerz und Sehnſucht!“ 

Albert fegte Leife den Arm um fie und beugte jich zu ihr 
nieder, feine Stimme Hang jet in vollſter Inmnnigkeit: 


„Haft Da Dich wirklich geſehnt, meine Heine Wally? — | 


Ich auch!" 

Die junge Frau blickte mit großen Augen zu ihm empor; 
die Thränen verfiegten und fie ſchmiegte fich feſt am ihn. 

„Wann wollteit Du wiederfummen ?* fragte fie. 
f „Uebermorgen — wenn ich es nämlich fo lange ausgehalten 
ätle.“ 


„Und ich bin ſchon Heute gefommen — iſt Div das genug?” 


„a, mein füßer, Meiner Troßfopf, es ift mir genug!“ vief 
rar in überftrömender Zärtlichkeit, während er fie in die Arme 
chloß. 
zurüdtehren.” 

„Nein, das wollen wir nicht,“ erflärte Wally mit großer 
Entjciedenheit. „ch habe mich gezantt mit der Mama, die 
mich nicht fortlaſſen wollte, und mit dem Bapa aud). Ich habe 
das ganze Gepäch mitgebracht, und nun bfeiben wir hier.” 

„Um fo beſſer,“ ſagte Gersdorf ſichtlich erleichtert. „Ich 
bin ia doc nur Dir zu Liebe nach Heilborn gegangen; bier find 
wir mitten in den Bergen. Sch fürchte nur, wie werden ung 


„Nun wollen wir meinetwegen noch Heute nach Heilborn 


ſchein. 


ein anderes Quartier ſuchen müſſen, das Doktorhaus wird Did) 


mit all Deinen Koffern ſchwerlich beherbergen können.” 

Die Heine Frau ſah ſich naſerümpfend in dem Zimmer um, 
wo die Tabalswallen noch immer lieblich mwallten und die Pieifen- 
fcherben mit dem nunmehr bdreibeinigen Stuhle einträchtig am 
Boden Tagen. 

„Ja, es Scheint hier überhaupt eine entfegliche Junggefellen- 


wirtbichaft zu fein! Du bift Schon ganz verwildert bei dieſem viel- 


gerühmten Vetter, der wie ein Unſinniger davonftürzt, wenn eine 
Dame über feine Schwelle tritt. Hat ex denn gar feine Yebensart ?” 

„Der arme Benno war in jo grenzenlofer Berlegenheit,* 
entfchuldigte Albert, „Ex hatte vollftändig den Kopf verloren. 
Sei liebenswürdig gegen ihn, Wally, ich bitte Dih — und nun 
will id) vor allen Dingen nad) Deinem Gepäd fehen.” 

Er ging, und Frau Doltor Gersdorf jehte ſich diesmal mit 
etwas größerer Vorſicht auf das Sofa, deifen Härte fie vorhin 
fo erfchredt Hatte; da wurde leiſe und ſchüchtern eine andere Thür 
geöffnet und der Herr des Haufes erſchien. Ex hatte bie Zwiſchen— 
zeit benußt, um ſich in aller Eile etiwas falonfähiger zu machen, 
und näherte ſich nun verlegen und demüthin der jungen Dame, 
die vorläufig noch wicht geneigt fchien, die Bitte ihres Gatten zu 
erfüllen und liebenswürdig zu fein, da fie im Gegentheil mit 
ftrenger Richtermiene auf den Eintretenden blidte. 

„Önädige Frau,” begann diejer ftodend. „ch bitte um 
Entfchuldigung, daß Sie bei Ihrer unerwarteten Ankunft — id) 
war fehr unglücklich darüber, gewiß ſehr unglücklich —* 

„Ueber meine Ankunft?" unterbrach ihm die junge Frau 
entrüftet. 

„Um Gotteswillen, nein!” rief Benno, ber fich ſchon wieder 
in feiner Rede verwidelte. „Ich meinte nur — ich wollte be- 
merlen — dab ich Junggeſelle bin." 

„a, leider!“ fagte Wally, noch immer fehr ungnädig. „Ein 
Junggeſell ift etwas Tranriges! Warum heirathen Sie nicht?” 

„Sch?“ rief Benno ganz entſetzt über die Frage. 

„Natürlich, Sie möffen beirathen, fo bald als möglich!“ 

Die Worte fangen jo diftatorisch, daß der Doftor gar nicht 
zu widerfprechen wagte, jondern nur eine Verbeugung machte; das 
entwaffnete Frau Wally einigermaßen, fie jehte etwas milder hinzu: 

„Albert hat auch geheirathet und befindet fich fehr wohl 


dabei, Dder zweifeln Sie vielleicht daran?“ 


. 


„O nein, gewiß nicht!“ verficherte der ganz eingejchüchterte 
Benno, „aber ih —* 

„Nun, Sie, Herr Doltor?“ eyaminirte die neue Verwandte. 

„Sch habe feine Gewandtheit im Verkehr mit Damen, keine 
Manieren,” fagte er wehmüthig. „Gar feine, gnädige Frau, 
und das gehört doc dazu.“ 

Diefe Selbſterlenntniß fand Gnade bei Wally; ein Dann, 
der feine Mängel fo tief empfand, jchien ihr der Theilnahme 
werth, fie lieh ihre Strenge Miene fahren und entgegnete wohl- 
wollend: 

„Das läßt fich lernen! Sehen Sie ſich zu mir, Herr 
Doktor, wir wollen die Sache beiprechen.” 

„Das Heirathen?*“ fragte Benno entfegt; er jchien zu fürchten, 
daß die Sache augenblidlih ins Werk gefeht werben könnte, und 
wich drei Schritte zurück 

„Nein, vorläufig nur die Manieren, Es jehlt Ihnen nicht 
an qutem Willen, wie ich fehe, aber Sie brauchen jemand, der 
ſich Ihrer annimmt und Sie erzieht — und das werbe ich thun.“ 
| „D gnädige Frau, wie gut Sie find!" ſagte der Doktor 
' mit jo rührender Danfbarfeit, daß die adptgehnjährige Erzieherin 
| dadurd) völlig gewonnen wurde. 
| „Ich bin Ihre Verwandte und heiße Wally,“ verfeßte fie. 

„Wir nennen uns fortan beim Vornamen; alfo, Benno, jeben 
Sie ſich zu mir!“ 

Er kam der Aufforderung nach, anfangs noch etwas ſchüchtern, 
aber die Heine Frau verftand es, ihn zutraulich zu machen. Sie 
fragte unaufhörlich, und er beichtete denn auch treuherzig alles, 
jeine Unbeholfenheit bei dem Beſuche in der Nordheimfchen Billa, 
feine Troftlofigfeit darüber, feine verzweifelten, aber vergeblichen 
Verſuche, irgendwo und irgendwie Manieren zu fernen, und ge: 
rade bei diefer Beichte verſchwand die Unbeholfenheit volljtändig, 
und der wahre, ehrliche, herzensqute Benno fam dabei zum Vor: 
Als der Rechtsanwalt nad etwa zehn Minuten zurüd: 
fchrte, fand er feine Frau und jeinen Vetter in vollſter Eintracht 
und unbedingter gegenſeitiger Hochachtung bei einander. 

„Ich Habe das Gepäd einitweilen hereinbringen laſſen,“ 
fagte er, „und zugleich nach dem Gajthaufe geſchickt, um zu 
fragen, ob dort mod) Pla iſt.“ 

„Das ift nicht nöthig,“ fiel Wally ein. „Wir bleiben hier, 

Benno wird ſchon Platz ſchaffen, nicht wahr, Benno ?“ 


| „Natürlich wird Platz geſchafft!“ vief der Doltor eifrig. 


„Ich ziehe aus, ich ziehe mit Gronau in das Meine Giebelzimmer 
und überlaſſe Ahnen die unteren Räume, Wally. ch werde 





gleich, auf der Stelle das Nöthige beforgen.“ 

Er fprang mit einem förmlichen Enthuſiasmus auf und lief 
hinaus. Gersdorf ſah ihm höchſt verwundert nad). 

„Benno — Wally? Nun, Ihr jeid ja jhon recht hübſch 
weit gelommen in den paar Minuten!“ 

„Albert, Dein Better iſt ein höchit vortreffliher Menich,“ 
erklärte Wally. „Man muf ſich des jungen Mannes annehmen, 
das iſt Verwandtenpflicht.“ 

Der Rechtsanwalt lachte laut auf. 

„Des jungen Mannes? Er ift gerade zwölf Jahre älter 
als Du. * 

„Ich bin eine verheirathete Frau!“ lautete die ſehr würde— 
volle Antwort, „und er iſt leider nur ein Junggeſelle, aber 
dafür kann er micht und ich werbe ihm auch möglichft bald ver- 
heirathen.“ 

„Um Gotteswillen!“ rief Gersdorf. „Du Haft den unglüd 
lichen "Benno kaum gejehen und hajt fchun Heirathspläne für ihn? 
Ich bitte Dih —“ 

Weiter fam er nicht, denn feine Frau trat mit empörter 
Miene dicht vor ihn Bin. 

„Unglüdlid nennjt Du ihn, weil er heirathen joll! Du 
hältjt alſo die Heirath für ein Unglüd und die Deinige wohl 
auch? — Albert, was haft Du gemeint mit dem Worte?” 

Die Frage Hang jehr zornig und die Heinen Fühe ftampften 
dazu den Takt auf den Boden, aber Albert lachte nur und nahm 
fein Weibchen in die Arme, 

„Daß es nur eine Heine Fran giebt, die ihren Mann jo 
glüdlich machen kann, wie ich es bin!“ jagte er zärtlich. „Bift 


Dur zufrieden mit dem Geſtändniß?“ 


Und Fran Doktor Gersdorf war zufrieden! 





— — — — — 


Die Nachmitlagsſonne ſchien hell und luſtig herab auf das 
bunte Treiben, das ſich vor dem Wirthshaufe in Oberftein ent: 
jaltete. So unbedeutend das Oerichen war, es bildete doch den 
Mittelpunkt fir all die einzelnen in der Umgegend zerftreuten 
Höfe und Wohnftätten, und deren Bewohner waren ſämmtlich 
zu dem Feſte gekommen, das wie übfich mit dem Kirchgange be— 
gann und dann dem Vergnügen fein Necht lieh. 

Der Kohannistanz, der nach altem Brauche im Freien 
itattfand, Hatte längjt begonnen, auf dem vor dem Wirthshauſe 
improvifirten Tanzplatze drehten ſich die jungen Burfche und 
Mädchen, die Alten ſaßen beim Trunk, die ländlichen Muſikanten 
fiedelten unermüdlich 
und die Kinder jag- 
ten ſich und Tärmien 
mitten im dem  fröb> 
lichen Durcheinander. 
Es war ein heiteres, 
beiwegtes Bild, deſſen 
Reiz durch die male: 
riſchen Sonntagstrach 
ten ber Aelpler noch 
erhöht wurde. 

Die Anweſenheit der 
Stadtleute“, die gleich): 
falls erichienen waren, 
störte die Feſtfreude 
wicht im geringften, 
denn die jungen Aus 
genienve, die in Ober 
ftein wohnten, tanzten 
wader mit, und die bei⸗ 
den dunfelfarbigen Die: 
ner, welche der fremde 
Here aus Heilborn mit: 
gebracht hatte, bildeten 
ein höchſt ſehenswer⸗ 
thes Schauſpiel für bie 
Gebirgeleute. 

Veit Gronau, der 
ſchon mit aller Melt 
befannt geworben war, 
zog wie ein Menageric- 
führer mit den beiden 
umber, jie überall prä: 
fentirend und bereit» 
willigſt Auskunft ge 
bend auf all die neu— 
gierigen Fragen über 
den Afrifaner und den ’ 
Indier. N — — 
Said und Djelma >34 
waren offenbar fehr 
ſtolz auf die allge 
meine Bewunderung 
und machten verschie: 
bene Verfuche der Annäherung an die Eingeborenen, die Gronau 
wohlwollend unterjtübte, denn er fühlte ſich verpflichtet, feine 
Schüglinge mit europäiſchen Sitten befannt zu machen. 

In dem Heinen Kraut: und Blumengärihen zur Seite des 
Wirthshauſes, wohin man für heute Tiih und Stühle geſchafft 
hatte, befand ſich Waltenberg mit den Norbheimichen Damen, 
denen fich Doktor Gersdorf und feine Frau angeſchloſſen halten. 
Die Stimmung der Heinen Gefellichait war durch das uner— 
wartete Zufammentrejien eine ſehr heitere geworden, nur Frau 
von Lasberg machte eine Ausnahme davon. 

Sie Tiebte es überhaupt nicht, den Vollsbeluſtigungen beis 
zuwohnen, auch nicht als bloße Zuſchanerin, und hatte überdies 
eine leichte Migräne, fo daß fie entichloffen war, von der Partie 
zurüczubleiben. Da fchidte Elmhorſt die Nachricht, er lönne 


diesmal feine Braut nicht begleiten, auf der unteren Strede der | 


Bahn habe ein Waſſerdurchbruch jtattgefunden und er müſſe jofort 
hinunterfahren. 

Die alte etifettenftrenge Dame hielt es darauf him nicht 
für zufäflig, daß Waltenberg allein die jungen Damen begleitete, 


1888 


I 





KAinderfindte von A. v. Werner. 


er war ja noch nicht erflärter Bräutigam wie Wolfgang. Sie 
opferte ſich alfo und fuhr mit, büfite das aber mit einer Zu- 
nahme ihrer Kopffchmerzen, und nun führte der Zufall fie 


‚ auch noch mit Wally zufammen, die bei der Baronin endgültig 
in Ungnade gefallen war, ſeit fie die bürgerliche Heirath durch 


geſetzt hatte. 

Die Meine Frau wußte das fehr genau und bemühte fich 
nad Kräften, ihre Gegnerin zu ärgern. Sie äußerte den 
deingenden Wunſch, mitzutanzen, erllärte die vornehme Ab— 
geſchloſſenheit in dem Gärtchen für fangweilig und machte 
ſchließlich den Vorſchlag, fich mitten unter die Gebirgsleute 
zu begeben, lurz, fie 
jagle die geitrenge Fran 
DOberhofmeifterin von 
einer Empörung in die 
andere. 

„Und wenn Benno 
fommt, tanze ich mit 
ihm auf die Gefahr 
hin, meinen Herrn Ge: 
mahl eiferfüchtig zu 
machen!“  fagte ie 
mit einem muthwilligen 
Blick auf ihren Gatten, 
der mit Erna und Wal: 
lenberg an dem Holz: 
gitter ſtand und ſich 
das Treiben draußen 
anſah. „Der arme Dot: 
tor fanın fich gar Tine 
Erholung gönnen; ge 
rade als wir fort woll: 
ten, wurde er wieder 
an ein Kranfenbeit ge⸗ 
rufen, glücklicherweiſe 
hier in Oberftein, und 
er verfprach, im einer 
halben Stunde nad): 
zulommen. Alice, Dur 
läßt Dich jeht auch 
von Benno behandeln, 
wie ich höre?“ 

Die junge Dame 
neigte nur bejahend das 
Haupt und Frau don 
Yasberg bemerkte ſehr 
von oben herab: 

„Mlice fügt fich da: 
rin dem Wunſche ihres 
53 5— Bräntigams, Ich fürchte 
eng A Fomeern Zsaßy FR) aber, Hear Elmhorſt 

. überichägt feinen Freund 
fehr, wenn er ihm ei— 
nen größeren Scharf: 
blick zutraut, als unſe⸗ 

ren erſten ärztlichen Autoritäten. Jedenfalls iit es cin Wagnif, 

die Behandlung der Braut einem jungen Arzte anzuvertrauen, 
‚ der feinem eigenen Gejtändniffe nach fait ausſchließlich eine 
Bauernpraxis hat.” 

„ch finde, daß Herr Elmhorſt in dieſem Punlte vollftommen 
recht hat,“ erklärte Wally wirdevoll, „Unſer Vetter kann ſich 
getroſt jeder ärztlichen Autorität an die Seite ſtellen, ich verjichere 
es Ihnen, gnädige Fran.“ 

Die Baronin lächelte etwas ſpöttiſch 
| „Mh, ich bitte um Verzeifung! ch vergaß es wirklich, 

dab Doftor Meinsfeld jett zu Ihren Wertvandten nehört, Liche 

Baronch.” 

„Bitte: Frau Doktor Bersdorf,” berichtigte Diele. „Ich bin 
ſehr ſtolz auf meinen Doktortitel und meine Frauenwürde und 
möchte fie um feinen Breis miſſen.“ 

„Das ficht man!“ bemerkte die alte Dame mit einem ent 
rüjteten Blick auf die Feine Frau, die ihren bürgerlichen Namen 
mit einer fo herausfordernden Ghlüdfeligfeit zur Schau trug und 
jet unbefümmert weiter planderte. (Fortiekung folgt. 


7 





590 °—- 


Anton von Verner. 


er Künſtler 
kann ſich 

vor vielen glüd: 
lich preifen, deſ⸗ 
fen Leben in 
eine Epoche fiel, 
welche ihm in 
ihren geſchicht⸗ 
lichen Menichen 
und Ereignifien 
wahrhaft große 
würdige, jeiner 
befonberen Be- 
gabung ent» 
fprechende Ge⸗ 
genftände und 
zugleich die Mög: 
fichkeit bietet, jein 
Talent in vol- 
lem Maße zu 
entiwideln und 
e3 in deren fünjt- 
leriſcher Behand: 
fung zu bethäs 
tigen. Anton 
v. Werner iſt 
dies Glück zu 
theil geworben. 
Gerade wäh: 
rend feiner Lehr: 
und Wander: 
jahre begannen 
jene Perſönlich⸗ 
keiten in ben 
Borbergrund der 
baterländifchen 
Gefchichte zu treten und bie erften jener Reihe von gewaltigen 
biftorifhen Thaten zu vollziehen, deren treue Schilderung ihm 
zur fünjtlerifchen Hauptaufgabe feines Lebens geworden iſt. In 
ber perjönlihen Anſchauung der Ereigniffe und in der perföns 
lichen Berührung mit den Männern, welche diejelben fo glorreich 
hinausführten, wuchs mit der Begeiiterung auch die Kraft 
zur Löſung diejer Mufgabe, wurde er ſich feines Berufes dafür 
erjt wahrhaft bewußt. Im Vollbefit einer früh ſchon errungenen 
Meifterichaft aber hat es ihm jederzeit cbenfo wenig an ver 
ftändnißvollen Auftraggebern, welche die Größe jener Kraft richtig 
erfannten und würdigten, als an einem Publitum gefehlt, das 
feinen Scöpfungen und fpeciell eben den Darftellungen aus 
diefer großen Zeitgeſchichte Freudiges Antereffe und warme An— 
erfennung entgegenbradhte, Aber auc mit Werfen von wefentlich 
anderer Urt hat er feines Volkes Herz zu treffen, es zu erheitern 
und zu rühren verjtanden. Der die Wahrheit über alles hoch— 
haftende, ftreng realiftiiche Maler, welcher „dem Jahrhundert und 
Körper der Zeit feinen Spiegel“ vorzubalten trachtet, war und 





Aus A. v. Werners Skinenbach. 


ift ebenjo Heimifch im alten romantischen Lande der beutjchen 


Dichtung und in der geſchichtlichen Vorwelt wie in der modernften 
Wirklichkeit. 
ſchen Momente und die intimeren Einzelfcenen aus den Seiten 
des Krieges gegen Frankreich und der Erringung der Deuts 


Manche Jahre fhon, bevor er die großen hiftoris 


fchen Einheit auf deſſen Schlachtfeldern fchilderte, war er als 


hochbegabter Nachfolger der romantischen Geſchichtsmaler Alt: 
düleldorfs aefhägt. Seinen heutigen populären Ruhm danlt ex 
zu nicht geringerem Theil als feinen Wand» und Staffelei- 








Kunſt auf der Mfademie zu beginnen. 


häuslichen Verhältniffen wuchs der zarte, anfcheinenb ſchwächliche, 
aber geiſtig ſehr gewedte und lebhafte Anabe auf. Früh ſchon 
wurde er im die Lehre zu einem Bimmermaler gegeben, um 
deſſen Kunst aut handwerfsmäßig praftifch zu erlernen. Ueber 
feine künſtleriſchen Neigungen und feine Begabung Hatte er Schon 
ala Kind feinen Zweifel gelafien. Mit jenem Beruf meinte man 
daher den für ihm geeignetften gewählt zu haben. An die Er- 
möglichung des höheren Kunftitudiums für den Knaben war 
unter den gegebenen Verhältniſſen zunächſt gar nicht zu denfen. 
Anton dv. Werner hat diefe harten Fehrjahre ſpäter nie beffagt, fie 
niemals als eine verlorene Zeit angeichen. Bor der Mehrzahl 
feiner nur auf dem herfömmlichen modernen Wege des Alademie 
und Atelierbeſuchs zur fünftleriichen Ausbildung gelangten Genoſſen 
hat ihm gerade jene von ihm durchgemachte Lehrzeit einen un— 
ihäßbaren Vorſprung gegeben. Dankt er ihr doch die handwerllich— 
technische praktifche Schulung, feine Fertigleit und Sicherheit in 
der Behandlung auch der größten Flächen und aleichzeitig die 
Vertrautheit mit allem Ornament und mit deffen Malerei. 

Des jungen Gehilfen höherer Lünftleriicher Beruf und un: 
gewöhnliches Talent, die fi in jenen Jahren mehr und mehr 
durch wohlgetroffene Bildnilje und Sompofitionen befundeten, 
ertveften ihm indeß in jeiner Vaterſtadt thätige Freunde und 
Gönner, Mit deren Hilfe und der eigenen Kraft vertrauend, 
begab er ſich 1859 nad Berlin, um Hier mit dem Studium der 
Was ihm noch zum 
Lebensunterhalt mangelte, bejtritt er durch eine cifrige illuſtrirende 
Thätigkeit. Seine Erfindungsfraft und feine Geſchicklichkeit im 
Entwerfen ornamentaler Kompofitionen fam ihm dabei vortrefilidy 
zu ftatten. Seine Vorliebe für dies Genre erwedte und nährte 
in natürlicher Folge aud) die für einen der erſten, phantafievolliten 
und liebenswürdigiten deutſchen Meijter desselben, Adolf Schrödter 
in Düfjeldorf. 

Anton v. Werner, theil® um dem verehrten Manne die 
Bewunderung für feine Schöpfungen Fund zu geben, theils ihn 
zu einem Urtheil über feines jungen Verehrers eigene derartige 
Arbeiten zu veranlaften, fendete an Schrödter eine Auswahl 
feiner Entwürfe und Studien. Sie fanden bei diefem die freund» 
lichſte Aufnahme Es entwidelte jich eim briefliher Verkehr 
zwifchen ihm und Werner. Als Schrödter damals, 1862, dem 
Ruf nad) Karlsruhe an die großherzogliche Kunſtſchule folgte, 
[ud er feinen jungen freund ein, dorthin zu überfiedeln. Letzterer 
entſprach diefer Aufforderung mit Freuden. An Karlsruhe be 
gann für ihn eine ſchöne glüdliche Zeit, die rechte Blüthenperiode 
feines Daſeins. Schrödters Edywager, C. F. Leſſing, der 
Direktor der Kunjtichule, wurde Werners Lehrer. Schr bald 
Schon überrafchte der begabte Schüler lehteren und die gefammte 


' deutliche Kunſtwelt durch jelbjtändige Schöpfungen von großer 


Reife und allfeitiger Gediegenheit: die Illuſtrativnen zu Herders 
„Eid“, zu einigen Dramen Schillers, zu Scefiel® „Frau 
Aventiure” und befonders durch das im 21. Jahr gemalte, in 
feiner Einfachheit fo hochdramatiſche und charalteriſtiſche Geſchichts— 
bild „Luthers Dispitation mit Cajetan“ — eine Gruppe Iebens- 


\ großer Halbfiguren von echt geſchichtlichem Gepräge, voll Wucht 


gemälden, Panoramen und PDioramen, auf denen er Könige, | 


Fürſten, Generale, Staalsmänner und Soldaten unserer Tage 
lebendig in die Erſcheinung ruft, — manchen von ihm gemalten 
boetifchen Allegorien und mehr noch feinen Heichnungen zu den 
Dichtungen eines nachgeborenen Spröflings der deutſchen romans 
tifchen Poetenſchule, Scheffels. 

Anton dv. Werner iſt 1843 zu Frankfurt an der Oder ge— 
boren als der Sohn eines Handwerfers. In engen bürftigen 


und Nachdruck, — und durch die Genrebilder voll frifcher Laune 
und feiner Beobachtung „VBertrauliche Unterredung“, „Geburtstag 
im Atelier“, „Das Duartett”. 

Den jtarken Einfluß ſeines Meiſters Leffing verleugneten 
die in Karlsruhe und demnächſt in Paris gemalten größeren 
Seichichtsbilder, jener Cajetan, „Konradin empfängt das Tudes- 
urtheil beim Schachipiel* (1866) und „Erzbiſchof Hanno ents 
führt den jungen König Heinrich IV. auf dem Rhein“ (1867 
gemalt) keineswegs. Aber an Energie der farbigen Wirkung zeigte 
Werner ſich dem Maler des „Hub auf dem Scheitechaufen“, 
feinem Meifter, ſchon damals überlegen. 

Mit Scefifel in Karlsruhe perſönlich befannt geworden 
und für deſſen Perion wie für feine Dichtungen begetitert, 
widmete Werner außer der Illuſtrirung von „rau Aventiure* 
auch den anderen Dichtungen desjelben feine lünſtleriſche Kraft. 
„Juniperus“, die „Saudeamuslieder”, die „Bergpſalmen“, vor 
allem der „Trompeter von Säktingen“ empfingen durch ihn 
reichen fünjtleriichen Schmud. An der ungeheuren Bopnlarität 





der Teblgenammen Dichtung haben 
Werners bewundernswerthe Zeich— 
nungen einen vollgemeſſenen Antheil. 

Nach mehr als vierjährigem 
Aufenthalt verließ er Karlsruhe, um 
feine Studien in Paris fortzufegen 
( . Dort hat ex die zeitgenöjftiche 
franzöſiſche Kunſt jo gründlich ſtudirt 


der alten Kunſt aller Völker. Einen 
erkennbaren Einfluß auf feine Rich 
tung und Weiterentwidelung aber hat 
erjtere nicht ausgeübt. Auch Rtalien, 
wo er jich während der Jahre 1869 
und 1869 aufhielt, ift ohne einen 
folchen Einfluß auf ihn geblieben. 
Er nahm die Heimath gleichiam mit 
ih. Im Schatten der Orangen 
Sorrentos, auf den ſonnenheißen 
Klippen Gapris, unter den immer: 
grünen Eichen Dfevanos zog es feine 


dunkel des geliebten Schwarzwaldes. 
Gerade mehrere feiner ſchönſten, gleich: 
fam vom Duft des deutfchen Wald: 
gebirges würzig durchwehten Heich 
nungen zum „Trompeter“ hat er an 
jenen Orten ausgeführt. Ebenfo ent: 
ftanden im Jahre 1869 feine meijter: 
haften Sluftrationen zu Wilhelm 
Herb’ epifcher Dichtung „Hugdietrichs Brautfahrt”, von denen 
das vorliegende Heft der „Gartenlaube“ das ſtimmungsvolle 
Bild „König Walmund findet Wolfbietrich im Walde” wieder: 
giebt (S. 597), 

Ein ehrenvoller Muftrag veranfafte 1870 Werner: Rück— 
tchr nad) Deutichland, Die Aula des neuen Gymnaſiums zu 
Kiel, eines gothifchen Badfteinbaues, follte er mit Wandgemälden 
ihmüden: „Luther auf dem Reichstag zu Worms“ und Friedrid) 
Wilhelms IH. „Aufruf an mein Bolt“, 

Der KHünftler übernahm die fehöne Aufgabe und führte in 





Ans A. v. Werners Shippenbedh, 


überrafchend kurzer Zeit diefe beiden, dem gegebenen Raume vor: | 


zügfich entiprechend komponirten, trefflich gemalten Bilder und 
unterhalb derjelben die Einzelgeftaften Gutenbergs und Fuggers, 
des Erasmus und Dürers aus. Während der Arbeit an diejen 
Malereien war der Krieg mit Frankreich ausgebrochen. Die 
deutichen Heere Standen vor Paris. A. v. Werner wurde bes 
auffragt, für das ſtädtiſche Miſeum zu Kiel ein Delbild zu malen, 
das die Ankunft der Truppen unter den Augen des Grafen 
Moltle zur Belagerung der franzöfijchen Hauptftadt darftelle. Um 
die nötigen Naturftudien vorzunehmen, begab Werner ſich ins 
Hauptquartier zu Verfailles (November 1870). Der von dem 
Großherzog von Baden warm an den Kronprinzen Empfohlene 
fand dort eine fehr ehrende Aufnahme Er ſah den Krieg und 
das Leben des Hauptquartier in der Nähe, zeichnete den Führer 


und die Soldaten des Heeres, die Landſchaft, die Scenen be# | 


Mariches und der Gefechte und wohnte dem hiftoriichen Akt der 
Kaiferproffamation in der Spiegelgalerie des Verſailler Schlofjes 
bei. Als der Krieg beendet war, folgte Werner der Einladung 
des Ktronprinzen, welder den Künſtler wie den Mann nad) 
feinem vollen Werth ſchätzen gelernt hatte, nad) Berlin. Hier lieh 
er ſich dauernd nieder. 


Sein erjtes Gelegenheitswert, das er daſelbſt ausführte, das | 


folofiale Gemälde für das eine der Velarien, mit denen die Sieges— 
Straße zum Einzuge der Truppen in Berlin geſchmückt wurde, machte 
ihn für die Hauptjtadt mit einem Schlage zum berühmten Meijter. 

Ihm als dem dazu Berufenften wurde dann auch die Löfung 
einer der größten Aufgaben der monumentalen Kunſt übertragen: die 
ala farbiger koloſſaler Karton auszuführende ſymboliſch-hiſtoriſche 
Darjtellung der Erhebung Dentichlands zum Kampfe gegen Frank— 
reih, der Einigung der deutſchen Stämme und der Kaiſerbro— 
Hamation, nach welchem Karton das Mofaifgemälde um den Fuß 
der Siegesfäule auf dem Königsplatz zu Berlin ausgeführt werden 
follte. Man weiß, in welcher Fühnen, großartigen, poefievollen und 
originellen Weife Werner diefen Stoff behandelt und geftaltet hat. 


wie die dafeldft angehäuften Schäge 


Seele unmiderftehlich zum Tannen-⸗ 


: 591 >» - 


Damals führte er die Tochter A. Schröbters, feine Braut, 
als Gattin in feine neue Heimath ein, wo er fortan eine immer 
ausgedehntere ſchöpſeriſche Thätigfeit entfaltete. Jenes Bild für 
| Kiel: „Graf Moltfe und die Truppen vor Paris“, wurde vollendet, 

die farbigen Kartons für die tieffinnigen, theils fo heiteren und 
‚ anmuthigen, theils fo ernſten und hoheitvollen Mojait:zFriesbilder 
am Pringsheimichen Hauſe in der Wilhelmsſtraße, das Föftliche 
Kabinetitüd „Graf Moltke in feinem Arbeitszimmer zu Verjailles“ 
ausgeführt. 

Delorative und monunentale Wand: und Dedengemälde für 
öffentliche Gebäude und Privathäufer, realiſtiſche Geſchichts- und 
Genrebilder, romantiſche Märchenbilder, Bildnifie — zuweilen in 
mittelalterlicher Maslirung — Iluftrationen, Gedentblätter, 
| Beichnungen, Nquarellen aller Art wurden in nie jtodender Arbeit 
‚und gleichmäßiger Gediegenheit geichaffen. Im Wuftrage der 
‚ deuffchen Fürſten und Städte malte er das zum Geichent Für 

den Kaiſer bejtimmte koloſſale Gemälde der Haijerproflamation 
zu Verſailles. Was er darin aegeben bat, ift ein Triumph ber 

Gewiſſenhaftigkeit und ftrengen Wahrhaftigkeit in der Schilderung 
‚ eines zeitgeichichtlichen Ereigniſſes. Der gleiche Ruhm gebührt 
in vollem Maße dem großen Bilde der Schlußſitzung bes Berliner 
Kongrefies von 1878 für den Feſtſaal des Berliner Rathhauſes, 
| ben realiftifchen Wandgemälden aus den Kriegstagen Saarbrüdens 

für den Rathhausſaal diefer Stadt, den Bildnißfiguren der Haupt: 
| führer der Deutfchen fiir andere Wände desjelben Raumes, welchen 

außerdem das ſymboliſche Gemälde „Die Einigung Nord: und 
‚ Sidbeutfchlands" ſchmüdt. 

Die Wahrheit und genaue Richtigkeit in der Darftellung 
zeitgefchichtlicher Ereigniſſe in ber Gefammtlompofition und «Wirkung 
wie in allen Einzelheiten bis zum legten irgend erreichbaren 
Grade finnlicher Täufchung zu treiben, gaben unferem Meijter das 
riefige Banoramagemälde der Schlacht von Sedan für Berlin und 
die in dasfelbe Gebäude aufgenommenen drei Dioramen aus der 
Geſchichte jenes großen Tages, feiner Nacht und bes folgenden 
Morgens die willfommene Gelegenheit. Was er dort, unterftüht 
durch werktächtige ausgezeichnete Schüler und im Werein mit den 
Sandichaftsmalern Proſeſſor Bracht und Schirm, in dieſer 
Richtung geleiftet Hat, iſt umübertroffen, ja mit wenigen Aus: 
nahmen unerreicht in ber modernen Panoramamalerei. Theils 
durd feine Schüler nad) feinen Farbenſtizzen, theils durch den 
Meifter felbjt mit eigener Hand ausgeführt, jind auch jene 
prächtigen Schilderungen aus altrömiichem Leben, mit welden er 
die Wände des Cafe Bauer deforirte — Bilder, in deren Erfindung 
ſich die künſtleriſche Phantafie um fo freier ergehen durfte. 

So zuverläffige, praftiich geübte Schüler und Mitarbeiter 
heranzubilden, die fich vor feiner Aufgabe zu ſcheuen hätten, galt 
A. v. Werner old eine Hauptpflicht auch jenes Amtes, zu dem 
er 1875 berufen wurde. Damals trat die längft ſchon als drin: 
gend noth⸗ - 
wendig ers 
fannte gründ⸗ 
liche Umge⸗ 
ftaltung des 
Inſtituls der 

Berliner 
Kunſtakade⸗ 
mie ins Le— 
ben. Beim 
auch dv. Wer⸗ 
ners Reor⸗ 
ganiſations⸗ 
entwurf nicht 

in allen 
Punklen zur 
Annahme ge⸗ 
langte, ſo 
wurde der 
Meiſter doch 
mit dem Di: 
reftorat der 

Hochſchule 
der bilden⸗ 
den Slünfte 
und mit der 


— 








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Aus A. v. Wernere Sahjenbach. 


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“ * . | 


—ı 5. — 





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— Sit 


—— 


— 


— 


Anton von Berner, 
Driginalzeihnung von C. W, Allers. 


Leitung eines Meifterateliers betraut. 
wurden gewonnen. Gin überrafdhend jchnelles, Träftiges Auiblühen 
der bereits fait völlig in Verfall geratbenen Kunſthochſchule war die 
Folge dieſer Berufung des rechten Mannes an die rechte Stätte. 
Klug und Har im Denfen und Beurtheilen ber Menichen, Dinge 
und Berhäftwiife, energiſch und zäh ausdauernd im Handeln und 
Ausführen des für richtig Erfannten, hat ce den mannigfachen 


Hinderniffen, Feindjeligfeiten, Schwierigleiten, die ihm dabei wicht | 


erfpart blieben, jederzeit ruhig die Stirn geboten und ifl ber 
meiſten ſchließlich Herr geworden. 


Aus der Fülle der hier noch unerwähnt geblicbenen Kunſt- 


fhöpfungen Werners, welde troh der feine Zeit und Kraft fo 


Neue friſchere Lehrlräfte 


ſtarl in Auſpruch nehmenden Umtsthätigkeit in den letzten Jahren 
durd ihn zur Musführung gelangt find, nenne ich bier nur das 
diefergreifende Deljemäldee „König Wilhelm im Manjoleum bei 
den Örabdenktmälern feiner Eltern vor feiner Abreife zur Armee 
1870”; das Heinere Bild der Kaiſerproklamalion, welches die 
Mitglieder der Löniglichen Familie dem Fürſten Bismard zu 
feinem 70. Geburtstag ftiftelen; die Koloſſalausführung der 
gleichen Kompoſition an der einen Wand ber Kuppelhalle des 
umgeftalteten Zeughauſes; das zunächſt benachbarte dortige 
Wandgemälde „Krönung Briebrichs I. zu Königsberg"; das 
lichenswürbige, das innerfte Wefen des preußiihen Soldaten 
' fo treffend charalteriſirende Genvebild aus ben Tagen der 





— sos . 


Belagerung von Metz, „Kriegsgefangene“, welches, neben feines 
Malers lebensvollem Selbitporträt, die Berliner Jubiläums: 
ausftellung zierte, und bie Herrliche aquarellirte Kompoſition 
der Randbilder zur Adreffe der Alademie zu des Kaiſers Wilhelm 1. 
90. Geburtstage. 

Der Berliner Künftlerverein Hat den Meifter 1886 zu 
feinem Borjigenden erwählt, in ber richtigen Erkenntniß, daß 
die Intereſſen der Genoffen in ihm den beiten Wertreter haben, 
bei dem fih das eigene fchöpferiiche Vermögen, die aner— 
kannte Meiſterſchaft, die imnige Vertrautheit mit allen künſt— 
lerifchen Dingen, die Liebe zur Sade mit weltffugem, durch— 


In der Schughütte. 


dringendbem Verſtande, Kraft und sFefligfeit im Wolfen und 
Handeln verbinden. 

Die Fachimile von Wernerfchen Stizzenbuchblättern, die wir 
unjeren Lefern hier darbieten, die Naturjtudie eines „anlegenben 
Soldaten“, das Meine Sind mit dem rührend drolligen, halb 
weinerlichen Gefihtsausdrud, die jchlanfen, feinen Knabenfiguren, 
die mit anfgefegten weißen Lichtern plaftifch mobellirte Offiziers 
gejtalt, der intereffante Schwedenkopf mögen als Proben dafür gelten, 
wie alles, was die Wirklichleit jeinen immer beobadjtenden Augen 
zeigt, unferen Meijter intereffirt und anreizt, es wenigjtens in raſchen 
Strichen mit unfehlbarer Sicherheit nachzuzeichnen. L. P. 


Rahbruf verbeten 
Alle Rechte verbebalten. 


Vovellenkramy von Iobannes Proeclf. 
(Fortfegung.) 
5, Der Bönler. 


ie Geſchichte der fröhlichen Malersleule hatte in der Gejellichaft 
die heiterjte Stimmung gewedt. Profefjor Schröder brachte 
ein Hoc auf Erzähler und Erzählerin aus, die ſich beide fo treu— 
lih beigeftanden, und herzhaft ftimmten die anderen ein; auch 
Here und Fran Breitinger jelber, welche ſich gegenſeitig hochleben 
biegen. Man ſchien das Unwetter draußen ganz vergeſſen zu 


haben; jogar Mr. Whitfield hatte zur Zeit fein Ohr für die 


herdiſchen Fanfaren des Sturmwinds; und der Vorſchlag des 
rebegewandten Witronomen, nun auf das Wohl des verehrten 
Vorjigenden zu trinken, dem man die Anregung zu dieſem im— 


provifirten Delamerone der Neifenbentener verdanke, fand eben: 


falls freudigen Widerhall. Doc) mit verbindlichen Lächeln lehnte 


aebühre dem braven Bärbeli, dad durch die Erwähnung ihrer 
alten Heimathsfagen den Anftoß zu dem Verſuche gegeben und 
nun ſchon die deitte Geſchichte wohlaufmerlend mit angehört 
babe, ohne ſich in ihrer Stidereiarbeit jtören zu laffen, aber 
auch ohne das ihrerfeits im Anfang gegebene Berfprechen einzu: 
löfen. Das Bärbeli ſchaute von ihrer Arbeit auf umd ſchickte ſich 
eben — nidjt ohne zögernde Verlegenheit — an, auf die freund- 
liche Nederei zu antworten, als plöglid von unten ber bie Stille 
unterbrochen wurde, 

Die Führer in der großen Küche des Alpwirthe, diejer ſelbſt 
mit den Seinen, ſchienen von dem frohen Lärm in der Gajtitube 
angejtedt worden zu fein. Sie hatten fich zu einem gemeinfamen 
Eantus vereinigt; laut und vielſtimmig Hang es herauf in einer 
feltfanen Melodei — Tanggezogene, tiefe Gurgeltöne in melancd)o- 
lifchem Rhythmus und wieder hellaufiuchzende Laute aus höchſter 
Tonlage. Der Appenzeller Kuhreigen, jenes urwüchſig naive Lob— 
lieb des Sennen auf feine „Rüh — i — a“, icholl ducd den Raum. 
Der Wortlaut des Tertes ließ ſich nicht verjtchen, nur die lang: 


„O, das ijt nur fo eine Ruhmvedigkeit von den Bub’n, um 
uns Mädli zu reizen,” fagte, mit Ernſt auf die Frage eingehend, 
das ehrlihe Sennentind. 

„Sa, ja, die böfen Bub'n. Im ihren Liedern prahfen fie, 
die Mädchen wären ihnen völlig gleichgültig, und im Grunde 
find fie bis über die Ohren verliebt, entweder in alle Schönen 
oder, wenn's aut geht, in eine.” 

„Wohl, wohl,” jeufzte die Stiderin treuberzig- 

„Sag mal, Bärbeli, Du haft wohl aud) jhon einen Schatz?“ 
fragte aufmunternd der Maler. 

Das Mädchen fchlug ihre Augen wieder und ſtrich ſich ver- 


legen über die Schürze. 
der alfo Geehrte die ihm nacgerühmten Verdienite ab: der Dank | 





gezogenen Jodler — „Wendria — wendria” und „durididi duida — | 


duida du” — waren deutlich vernehmbar. 


Der Profeffor lachte 
vor ſich hin, als wieder Stille eintrat. 


„Willen auch die Hevrs | 


ſchaften,“ frug er, „was dieſem Schlufjodler für ein Text 


voranging? Mean jollte es nicht meinen, wie viel Reffimismus 
in diejer Volfspoefie der Berge enthalten ijt. Nachdem in dem 
Siede der Senn all feine Kühe mit Namen aufgezählt — die 
geichedet, die gefledet, die liſtig, die ſchlau — die langbänri, die 
langlänri, 's halböhrli und '3 möhrli — ift das Facit feiner 
— — 

als ſeine Kühe, und weiter fingt er: 


Guot wenn ıma ledig ift, 

Ma bed tä Kommer, 

Sobald ma g’wiber het, 

So hommt dev Jommer . . 
Gelt, Bärbeli — fo heißt es dodj?... Schämt Ihr Euch wicht, 
Ihr Leute, bier in Euren fhönen Bergen — ſo ſchlimm vom 
Heirathen zu denken? Nach diefen Verſen muß man ja meinen, 
Ihr Appenzeller bliebet am liebſten alle ledig und das fei die wahre 


Seligkeit. Es wäre Euer Ländli dann freilich der einzige led | 
Sag mal, Bärbeli, wollt Jhr 


Erde, wo die Mädel jo dächten. 
wirklich nichts vom Heirathen wiffen, weil der Jommer hommt‘, 
‚Sobald ma g'wibet hat‘?” 


daß es feine Menfchen gäbe, die beifer wären 





Der Iuftige Ajtronom eriparte ihr die Antwort, „Natürlich 
hat fie einen,“ rief er zuverfichtlih. „Dafür gehört fie zur 
Meglisalp und die fteht unter einem der Liebe günstigen Sterne! 
Iſt ihr Name, der foviel wie Mägdelitalp bedeutet, doch innig 
verknüpft mit einer Sage, welche von einem gar treuen Liebes 
paar handelt, dem felbft der Teufel nichts anhaben fonnte. Das 
habe ich vorhin hier in meinem Buche gelefen, das von dem Appen 
zeller Ländli ausführlich Handelt, und ich ſchlage vor, daß das 
Bärbeli uns jetzt — wenn fie uns nicht auch ihr ſchönſtes Reiſe 
abenteuer erzählen will — die Seichichte vom Böhler erzählt; 
dies iſt der Titel der Sage der Meglisalpe.“ 

„Eigentlich fteht Freilich das Reiſeerlebniß auf der Tages 
ordnung,“ wandte Profeffor Schröder ein. 

Das natürliche Kind, welches von ihrer Stidereiichule in 
Appenzell und der vielfachen Berührung mit dem Touriſtenſtrom 
ber eine diafeltfreiere Sprache führte, als fonft die Sennentöchter 
diefer Gegend, welche ihre Leben ausfchliehlih dem Hirtenberuf der 
Väter widmen, rüdte ſich zurecht und jaate: „Ach hab’ wohl zum 
Theil ganz gut verftanden, was die Herren und die rau Malerin 
Schönes erzählt haben — alles freilich nicht —; aber davon, was 
Sie die Schönheit der Natur und den ‚Wanderzauber‘ nennen, 
davon kann unfereins Schon gar nicht mitreden. Wer hier zwiſchen 
den Bergen immer wohnt, Sommers und Winters, der fann nur 
fchwer begreifen, was die Herren und gar die Damen aus den 
ſchönen Städten hier herauf treibt und daß fie ein Pläſir darin 
finden, die fchlechten Wege herauf und hinunter zu Trareln. Ja, 
wenn's immer ſchön Wetter wär! Ich für mein Theil blieb’ Tieber 
immer in ber Stabt mit den ſchönen Käufern. War auch ſchon 
dein. Unten in St. Ballen und, als im Sommer vor zwei Jahren 


die Winfofriedfeier war, zu der das ganze Schweizervoll nad) 


Sempach gewallfahrtet ift, gar in Luzern und in Zürich. Da 
iſt's Schön. Aber lieb — das ift wahr — hab auch) ich unsre Berge 
und jo ſchlimm iſt's mit uns auch nicht beitellt, als Sie gemeint 
haben von wegen der Worte im Kuhreigen. Su wüſt und bös find 
auch unfre Bub'n nicht, wie man danach denken könnt‘, und dafür 
zum Beweis iſt's mir fchon vecht, wenn ich Die Geichichte vom 
Bötzler erzähle. Müßt's mich aber nicht auslachen, darf ic) bitten.“ 

„Bravo, Bärbeli! — s Bärbeli hat das Wort,” 

„Hier oben in der Meglisalp, lange vor der Zeit, daß für 
die durchziehenden Fremden hier Wirthichaft geführt wird, als noch 
Geifter in den Bergen fidhtbar hausten und die armen Seunen 
nedten und fchredten, hat das Sennthum ein Mädli geführt, das 


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weitum für die Schönfte galt. Der Hirt einer Nachbaralpe, ein 
gar frijcher und feiter Bub, war ihr Schatz Wenn es Abend 
war, famen die beiden vor der Hütte zufammen und unterhielten 
fich wie zwei Liebesleute, doch in allen Ehren. Als der Senn 
einft von anderen Hirten, die von Treue und Tugend ſehr gering 
dachten, aufgezogen wurde, weil er an die Treue feiner Liebſten 
glaubte, ward ex jehr aufgebracht und verſchwor fich, fie auf immer 
demjenigen abtreten zu wollen, der auch nur den Schein einer 
Untreue ihr nachweiſen Tönne An einem der nächſten Abende 


geichah es, daß der junge Senn ſich ganz unvermuthet abgehalten | 


fand, zum Stelldichein zu ericheinen. Die ſchöne Senuin harte 
feiner mit Sehnjucht, aber vergebens. Sie zog ſich in ihre Hütte 
zurüd vol Mißmuth über das Ausbleiben des Öeliebten Da 
fnarıte auf einmal die Thür — es trat ein Mann herein 
und jebte ſich neben fie nieder. Obgleich jie die Geſtalt infolge 
der herrſchenden Dämmerung nicht recht erfennen Fonnte, hielt fie 


den Ankömmling dem Klang der Stimme nad für den Exrjehnten | 


und die gewohnte Unterhaltung begann. Da fie anfangs wegen 
feines Zuſpätlommens fchmollte und das Geſicht ihm wicht zuwandlte, 
wurde fie ihres Irrihums nicht gewahr. Als aber die Liebfojungen 
des Mannes bald weit zudringlicher wurden, als es dem bisherigen 
Verlehr der beiden Liebenden entſprach, und fte ich unter Sträuben 
feiner Umarmung entzog, merkte ſie im Umwenden, daß es ein 
Fremder war, und zugleich entdedte fie, daß derſelbe einen Geiß— 
fuß hatte. Es ward ihr hei und falt bei dieſem Anblid, doch 
fand fie bald ihre Faſſung wieder und fante beherzt: ‚Satan, 
Du bijt ein Betrüger, über mid haft Du keine Gewalt.‘ Der 
Teufel aber erwiberte: ‚Dein Liebhaber Hat unlängft fich ver— 
ſchworen, feine Braut Dem abzuiveten, der jie dahin zu bringen 
vermöchte, auch nur einen Schein von Untreue zu zeigen, und das 
haft Dur nethan, indem Du midy bei Dir aufgenommen haft. Nun 
bleibft Du unabänderlich folange in meiner Macht, bi$ Du mir 
meinen wahren Namen fagen kannſt.“ Als aber am nächſten Abend 
der wahre Liebhaber zu ihr Fam, fand er fie in großen Aengiten 
und fie erzählte ibm alles, was ſich zugetingen. Betrübt und 
verzweifelt fi der Uebermacht des Böjen, der ihm um fein Glück 
bringen wollte, nicht gewachſen fühlend, fteich der Senn, nachdem 
er die Sennin verlaffen, im Lichte des Mondicheins in den Bergen 
umber, So kam er andy auf die höchite Alpe des nächſten Berges, 
der jetzt der Bötzler‘ heißt. Da ſah er ein offenes Feuer und 
einen Sennen mit einem Geikfuß, der um dasſelbe mit übermüthigen 
Gebärden tanzte. Als er näher trat uno hinter einer, Legföhre 
fnieend hinfaufchte, Hörte er, wic der Böfe, den er gar wohl 
erfannt Hatte, die Worte fang: 

‚Ben mi Schäßle thät wöſſa, 

Dab i Böhler heiß, 

Bär's vorbei ınit dem chöſſa — 

Guot, daß ſie's nöt weih.' 


Flugs eilte er am andern Morgen noch vor Beginn der Arbeit | 


zu feinem Scab, erzählte ihm fein Abentener und nannte den 
Namen, den er gehört. Als dann am Abend der Satan erſt vor: 
fichtia die Hütte umſchlich und, da er die Semin allein in dieſer 
bantieren ſah, led zu ihr eintrat, da ſcholl ihm and ihrem Wunde 
der Gruß entgegen: ‚Sch nur, Böhler, ich kenne Dih! Kaum 
war das Wort ihren Lippen entflohen, jo machte der unheimliche 
Gaſt einen Luftiprung zur Thür hinaus, wobei er dem Meidli 
mit feinem Geißſuß einen derben Schlag ins Geficht verfebte, 
io daß fie ohnmächtig niederjant; als fie aber erwachte, lag fie 
in den Armen ihres freuen Sennen. Bon diefer Beit an heißt 
der Berg, auf welchem der Böſe jenen Vers fang, der ‚Böhler‘. 
Die Sennin von der Meglisalp und ihr Schatz aber wurden bald 
danach ein glüdliches Baar.“ 

Das Bärbeli ſchloß ihre mit großer Schlihtheit vorgetragene 
Erzählung, indem fie ohne weitere Umjtände ihre Stidarbeit 
wieder aufnahm. 

„Eine wurzelechte Sage, völlig der Gegend entwachſen, für 
deren einfache Verhältniſſe und einſame Menſchen ſie ſehr be 
zeichnend iſt,“ ſagte mehr zu ſich ſelbſt als zu den anderen ber 
gelehrte Lifteraturleuner, welcher dem Mädchen am nächſten jap. 
„Um fo auffallender iſt die Verwandiſchaft des einen Motivs, 
dak die Sennin den Namen des geheimmivollen Gaſtes errathen 
muß, mit demjenigen, auf das fich unfer deutiches Märchen vom 
Rumpeſtilzchen gründet... Auf jeden Fall verdient unier braves 
Bärbeli unfer aller Dank für die Mitiheilung; möge ihre Treue 


von folchen Anfechtungen verjchont bleiben, dafür aber einen leihen 
Lohn finden wie die Sennin der Enge vom Bötzler!“ 

„Und möge jid ihre Schab auch jederzeit fo frei von Eifer: 
ſucht erweifen wie der Senn der Geſchichte,“ fügte nedend der 
Altronom dem Glüdwunjche bei. 

„ber, Herr Doktor,“ unterbrach ihn da mitleidigen Tones 
die bisher fo ſchweigſame Fran Kurz, „bringen Sie doch das liebe 
Kind nicht in Verlegenheit; Sehen Sie nur, wie fie roth wird.” 

„Das iſt nur ein Beweis, wie ſehr meine Vermuthung be: 
rechtigt it, Daß Heutzuinge auch in dieſen entlegenen Revieren 
der Glaube an den Tenfel verſchwunden ijt und daß fo ein 
warmblütiger Burſche von heute, wenn er börle, cin Mann ſei 


‚bei feiner Liebften geweſen, es habe fich aber Herausgeftellt, daß 


es der Catan felbjt in höchſteigener Perſon mar, diefem Berichte 


! mit eiferfüchtigem Miftrauen begennen würde.“ 


Die Stiderin legte erregt die Arbeit nieder, indem fie finnend 
bor Sich hiublickte 

„Es ift aber doch der Teufel, ber aud noch heute fich 
neidiich zwilchen liebende Herzen drängt, wenn er auch nimmer 
fichtbar mehr kommt,” jante fte dann. 

„Wie meinft Du das, Bärbeli?“ fragte wiederum mit einem 
Lächeln warmen Wohlwollens die Frau des Fabrifanten, welder, 
über dieſe Initiotive feiner Gattin ſichtlich erfreut, näher rüdte, 
während ex mit Behagen den blauen Ranch feiner Havanna funft- 
gerecht in Ringen vor ſich Hinblies. 

„Ei, ich und mern Schab wären benah aus einander ge 
fommen, ganz unnölbig, nur weil er eiferfüchtig war. Die 
Eiferjucht, das ift eben der Böfe . , ., der Böhler. Und die er 
heimſucht, willen ach jebt nicht um den Betrug, bis ihnen Die 
Yugen aufgehen.“ 

„Das mußt Du uns erzählen,“ mahnte nun der Proſeſſor. 
„Wenn aud) dag Neijen feine Rolle dabei fpielen ſollte, jo it's 
doc) fiher ein Erlebniß, das hier in den Bergen Äpielt, die wir 
Städter nur vom Reiſen her kennen.” 

„Wohl ift auch das Reiſen daran betheiligt,“ erwiderle eifeig 
dad Mädchen. „Wenn die fremden Gäjte, die auf ihrer Reife 
den Säntis befteigen, hier wicht voräberlämen und in der Meglis: 
alp einfehrten, wären wir beide nie unein® geworden.“ 

O weh,” fcherzie ber Maler, „jo find wir eigentlich Fammt- 
lich Milſchuldige!“ 

„So iſt es nicht gemeint," fuhr das Mädchen fort, ohne 
fih im ihren Ernſt ftören zu laſſen. „Und dann, was ich nleich 
jegt fagen will, dem Meilen verbanfen wir auch unjer Glück, 
unſere ſchönſten Stunden.“ 

„Aha, das iſt Waſſer auf unſere Mühle! 
wir alle fein zuhören.“ 

Der Profefior hätte dieſe Mahnung kaum nöthia gehabt, fo 
andächtig Tauichten bereits alle. 

„Mein Schab ift auf der anderen Seite des Säntis daheim, 
im Zoggenburgiichen. Sein Bater war ein Prbeiter in der 
großen Nothfärberei zu Ebnat-Kappel; auch er war ala Knabe 
mit in der Fabrik beichäftigt, dann aber wurde er Schmied, und 
damals, als ich ihn kennen lernte, war er Geſell in der Schmiede 
von Nen-St. Johann, das nur eine Stunde vom füblichen Fuße 
des Säntis gelegen it. Es war am Sonntag nad Jakobi vor 
zwei Jahren. Ich war mit meinen Leuten zum großen Schwing 
fejt auf die Bottersalp gezogen, welche in der Nähe des Krätzern— 
waldpaſſes grade in der Meitte zwiſchen unſerem Weißbad und 
dem Rietbad der Toggenburger liegt. Dieſes Schwingfeſt wird 
alle Jahre abgehalten; die kräftigſten und ſchönſten Sennen des 
Gebirgs ſtrömen dann zuſammen, um im Schwinglampf ihre 
Kräfte zu meſſen. Ich war damals noch ein halbes Kind und 
bewwunderte gar fehr die Sieger; am allerbeiten von ihnen geftcl 
mir aber der St. Johanner Schmied-Jakob. Der ſtolze Bub 
mochte dies wohl bemerkt haben, denn ala es nachher ans Tanzen 
ainq, fam er gar bald zu mir, als ob fich das von ſelbſt ver: 
ſtünde, und holte mid zum Zanze, und als er dann mich im 
Kreiſe drehte, während ich, wie es ſich achört, meine Hände auf 
jeine Schultern gelegt bielt und ihm grad ins Geſicht ſehen mußle, 
da war mir's, als verficherten mir feine Mugen, daf er nur um 
mir zu gefallen feinen Gegner vorhin fo mächtig geworfen habe. 
Später hat er mir's aud mündlich geſagt, und als es aus 
Scheiden ging, da waren wir einig, daß von nun an eins dem 
andern jein Schatz fei. 


Aber nun wollen 


_—o 


Leider hatten wir wenig Ausfichten, bald zu Heirathen. 
Sein Bater war arm und er hatte auch noch weit Hin, um fein 
Schmiedhandwerk jelbjtändig zu betreiben. Auch ficht man's bei 
uns nicht gern, wenn eine Aunerchoderin über die Grenze heirathet. 
So mußten wir unferen Verſpruch geheim Halten. Aber ein paar 
Zufammenfünfte mittenwegs auf ben Pfaden zum Säntishaus 
machten wir doch möglich und bei unferer Alpftubeten im Herbſt 
war auch er da und tanzte von allen am fchönften. Was mir 
aber noch ganz bejonders gefiel, das war feine Stärke, mit der 
er es dor den andern zu verbergen vermochte, wie ſehr ev mich 
fieb Hatte Und doch ftand uns der Abſchied für die lange 
Winterzeit bevor. 





As wir und dann heimlich noch einmal | 


trafen, da fpürte ich's wohl, welche Anftrengung ihm diefe Selbjt: 


beherrſchung gefoftet haben mülle. 


Ich wußte auch aus eigener | 


Erfahrung, wie ſchwer es ift, feinem Schag ein fremdthuendes | 


Geſicht zu machen. Und nun einen ganzen Winter lang fich 
nicht jehen follen — es kam uns hart an. 

Statt daß aber dann das Wiederſehen im Frühjahr nach 
fo langer Trennung um fo fröhlicher geweſen wäre, brachte er 
aus feiner ſchwarzen Schmiede in die hellen Berge ein mißmuthig 
Herz mit. An den langen Winterabenden, two die Burfchen, die 
im Sommer den Fremden als führer auf den Säntis und zum 
hohen Kamorn dienen, müßig im Wirthshaus figen, Hatte er 
allerhand dummes Gerede gehört, wie die Fremden in den Gaſt— 
häufern und Schutzhütten den Mädlen ſchön thäten und Diele 
nicht fpröde wären, fondern fich noch etwas drauf einbildeten, 
wenn fo ein Stäbtiicher ihnen den Kopf verdrehe Ich fuchte 
ihn zu beruhigen. Es fei nur in Ordnung, dab wir den Gäjten, 
die wir zu bedienen haben, auch ein freundlich Geſicht machten, 
er folle fich feine fo thörichten Sachen einbilden: wegen meiner — 
fo könnten mir hundert Herren an einem Tage ſchön tun und 
ich würde noch feine Minute in meiner Treue wanfend werden. 
Da fei Gott vor! ... Er ſprach zwar bei jenem erften Wiederfehen 
nicht mehr davon und unterdrüdte fein Miftrauen, aber der einmal 
rege Argwohn in feiner Seele war nur dem Scheine nad) befeitigt. 

Nun traf es fich vorm Jahre, dab Schon zeitlich im Sommer 
ein Herr drunten im Weißbad Wohnung nahm, ber von ber 
dort gebotenen Molkenkur ſehr wenig willen wollte, deſto mehr 
aber von den alten Ucherlieferungen in Haus und Geräth, Sprache 
und Braud, wie fie in unieren Appenzeller Gebirgathälern fich 
erhalten haben. &3 war einer, die fo Bücher jchreiben, wie bort 
eins auf dem Tiſch liegt. Er ſprach immer von der ‚Kultur — 
das wär’ fein Fach, fante er. Er hatte eine Brille auf der Naſe, 
wie all die aelehrten Herren, und dann frug er zu viel — wie 
ein Heines Kind, das bei allem ‚warum denn‘ und woher denn‘ 
fragt, fonjt aber war's ein netter und honetter Mann, auch noch 
nicht alt und zu einem guten Scherz aufgelegt. Nun war meine 
Großmutter unten in Schwendi befonders angefehen, weil fie jo 
viel wußte, was früher in unjerem Ländli ſich zugetragen, auch 
die Sagen und Lieder und die Bedeutung von fo manchem 
Brauch und Geräth, an die Heutzutag eben nur noch die ganz 
alten Leute denfen. 

Bon dieſer Frau Hatte der Herr von einem feiner Lehrer 
in Zürich, einem Profefjor an der Univerjität, der fich auch mit 
Folchen Dingen abaab, gehört, und jo war er denn jehr betrübt, 
dar fie ſchon todt war. Mich Hatte die Ahn immer befonders 
Tieb gehabt, weil ich ihren Geſchichten gem zugehört hatte, aud) 
mir manches vermacht von alten Sadıen, namentlich ihren voll 
ftändigen Sonntagsjtaat, um den mich feitdem viele bemeiden, 
denn jet werden all die Nettchen und Spangen, die Haarnadeln 





und die Ohrgehänge, die Plättlifette und das Haldnufter, die | 


Schürzroſe und die Schluttenfetteli Tange nicht mehr fo Schön und 
aediegen gemacht. 


Bon alledem hörte der ftudirte Herr und fam num eigens | 


zu uns herauf, um mich vecht nach Herzensluſt auszufragen. Es 
gefiel ihm hier oben, und To ließ er ſich's bei uns gefallen, als 
ob er's nicht anders gewohnt ſei. Wir alle hatten ihn gern, 
denn es freut unfereinen doch aud), wenn ein fremder gar jo 


viel Theilnahme für alles Heimiiche Hat, und fo laſtig mir's mit 


unter wegen ber barüber verfäumten Arbeit war, gab ich ihm 
redlich Beicheid über alles, wonad er mich fragte, foweit ich 
dies eben fonnte. Ein ganz befonderes Inlereſſe hatte er auch 
für alles, was ihm an unſerer Art zu ſprechen als fonderbar 
auffiel: er nannte das Dinleftforichung. Und daran lag's. 


Weiß noch heute nicht, wer's dem Jakob geftedt hatte — es 
verfehren ja fo viele führer hier, auch die von ber Toggenburger 
Seite fommen gern einmal vor dem Nüdweg zu uns herunter — 
genug, ihm war gefagt worden, daf ein fremder, der noch jung 
und nicht uneben fei, ſich dauernd hier bei uns aufhalte und 
zwar nur wegen meiner. Den ganzen Tag habe er fein Wefen 
um mic. Das war ja nicht gegen die Wahrheit. Aber der arme 
Joggeli wußte nicht, wie's gemeint war, Hei ſtieg ihm die Eiferfucht 
in den Kopf und brachte ihn um alle Ueberlegung. Ich hatte davon 
feine Ahnung. Wie immer, ſchloß ich jeden Tag mein Denken 
damit ab, daß ich dem fernen Scha eine gute Nacht zurief, ohne 
einen Schimmer, daß er ſich um diefelbe Zeit unruhig auf feinem 
Lager wälze, von den furctbarjien Vorjtellungen gepeinigt. 

Der Gaſt hatte mich nun jchon öfter gebeten gehabt, ihm 
einmal den vollen Sonntagsitant meiner Ahneli vorzuführen, indem 
ich mich felber damit herauspuge. An einem Sonntag hatte ic) 
mic, denn früh am Morgen mit allem ausftafiirt und behangen, 
daß es eine wahre Pracht war, Die Haube mit den großen 
Schwarzen, aus Roßhaar und Seide gewobenen Schlappen, der 
weiße Stoßer vor der Bruft, das ſammtne Mieder, das bunte, 


goldgeſtickte Brujttuch, die ſchneeweißen Hembärmel, die braune, 
\ feingefältelte Joppe, der rufenrothe Schoß aus jchimmernder Scide — 


all das ftand mir gar gut, das fühlte ich ſelbſt. So erfchien ich 
dem gelehrten Kulturdoftor, der hier in der Gajtitube allein über 
jeiner Arbeit ſaß, und Hatte meinen hellen Spaß an feiner Freude. 

Da auf einmal wird die Thür aufgeriffen. Als wolle er 
feinen Augen nicht trauen, ftaret mit dem Ausdrud ſprachloſen 
Zorns der Jalob ins Zimmer — auf mich, auf ihn. So hatte 
er mich noch nie geſehen, jo hatte ich mich ihm noch nie ge 
zeigt — ‚nur dem Fremden zulieb wird folher Staat gemacht!‘ 
las ich im feinem Auge. 

Jalob! fchrie ich erfchredt und ftürzte mich ihm entaegen, 
um alles aufzullären. 

Mit einem Rud ftich mid) der Starfe bei Seite: ‚Wir zwei 
find fertig, geh’ aufi* — nirfchte er, einen wilden Bid auf mich 
fchleudernd, mit heiferer Stimme — ‚aber mit dem da will ich 
nod ein Wörtli veden. '8 ift Zeit, ſcheinſ's.“ Damit fchritt er 
auf den im Vergleich mit ihm nur ſchwächlichen Stadtheren zu 
mit einer ausholenden Armbewegung, als gölte cs, beim Schwing 
fejt den ſtärkſten Gegner beim Gürtel zu fallen und in die Luft 
zu ſchmettern. 

Sicher wäre es ſehr ſchlimm abgelaufen, wenn der Doltor 
nur die geringſte Miene zu ſeiner Vertheidigung gemacht hätte. 
Aber daran dachte der gar nicht. Er war gerade damit beſchäftigt 
geweſen, fich die Namen aller Ketteli und Spangen genau auf: 
zuſchreiben, als die heftige Unterbrechung erfolgte. Da er mid) 
‚„satob‘ rufen gehört, wußte er, daß der Eingetretene mein Schah 
war; denn ich Hatte- ihm auch öfter von meinem Schatz erzählt, 
und wenn ex fein Verlangen geäußert hatte, eine genaue Bes 


ſchreibung der bei unferen Schwingfeſten eingehaltenen Gebrauche 


zu erhalten, fo Hatte ich ihm vertröftet auf den Tag, wenn mein 
Joggeli aus St. Johann zu Befuch fommen würde, der fei einer, 
der's vom Grund aus verftünde Diefe Hoffnung Hatte fich in 
feinem Geiſte mit der Erwartung feines Eintreffens derart ver: 
ichwiftert, daß er das drohende Auftreten Jalobs für ein Gſpaß 
nahm, dem nun eine Erklärung der Schtwingfeftgebräuche auf dem 
Fuß folgen müßte Jetzt muß ich lachen, wenn ich dran dent”. 
Damals aber war's ein furchtbarer Augenblid. Ich denk grad’, 
Jeſus, Marian und Jofeph, der zerichmeißt uns unfern zarten 
Kulturdoltor in lauter Heine Stüdeli, da Höre ich dieſen auf 
einmal ganz vergnügt ‚Bravo, bravo! fchreien und, als handle 
es fh um ein Schaufpiel, vergnügt in die Hände Hlatichen. 
Tarauf war der wilde Nafob nicht vorbereitet. Wenn der Fremde 
fi) in einen Rieſen verwandelt hätte, wäre er nur exit recht auf 
ihn eingedrungen; diefe Verwandlung des vermeintlichen Feindes 
in ein harmlojes Kind entwaffnete ihn. 

‚Rod; einmal diefe Stellung — das war echt, das war ur 
echt,‘ rief der Doktor. — Mit dem ‚echt‘ machte er fich immer 
zu thun. 

Nun hatte der Jakob feine Sprache wieder gefunden. ‚Nichts 
da,‘ donnerte er, ‚bier ift der Spa aus; das Bärbeli da war 
mein Schab und bie laß ich mir von feinem hergelaufenen Stadt: 
bheren verjchimpfiren! Wenn Ahr ein Mann jeid und Ehr im 
Leib habt, laßt's uns ausfechten.‘ 


——o 


Nun endlich konnte ich zu Wort fommen. Sch fuchte ihn 
aufzuflären. Er aber glaubte mir nicht. ” 

Iſt's eiwa nicht wahr, daß ihr vom ‚chöſſat und ‚lieba‘ 
Euch unterhalten habt?" warf er mir entgegen. 

‚Kann wohl fein,‘ ſagte ich, ‚der Herr ift ein Sprachen; 
gelehrter und ftudirt unfere Mundart.‘ 

Das verftand mun mein quter Schatz zwar nicht, aber er 


merkte doch, daß es noch Menfchen gäbe, die mit mir vom Küflen | 


ſprechen könnten, ohne mie Küſſe abzuverlangen. Ich benutzte 
feine Berwirrung und zog ihm mit mir hinaus. Und mun denkl's 
Euch, als ich ihn, nachdem er etwas ruhiger geivorden war, frug, 
wie er jo unerwartet habe eintreffen können: 

‚Weißt, Värbeli,‘ ſagte er, ‚Führer bin ich geworden. Hab’ 
den Schmiedhammer an den Nagel achängt, Die Berg’ kenn' 
ich auch, wie die andern, und Geld bringt's ein. Die Hauptfad' 
aber ift, nun_fann ich jelbit fehen, was Du treibjt und wie Du 
febft, und braudy's nicht zu hören von giftigen Ohrenbläfern, die 
eine Freud’ dran haben mic aufzuheben, wie die ſchlimmen 
Kameraden in der Gejchichte vom Böhler.” 





On 


armen Hirſche und Nehe bedauern, um deren Erſchießen ſich die 
Jagdluſt dreht, oder wenn ein leidenjchaftlicher Reiter fein 
Lieblingsthema eingehend behandeln wollte vor Sonntagsreitern, 
denen das bloße Zupferdefigen ſchon eine Anftrengung tft. Aber 
ic) habe die Frage nad) meinem fchönften Neifeabenteuer zu be: 


| antworten, und jo muß ich wohl oder übel manches vorbringen, 


was theils ruhmredig Mingt, theils Iſnen thöricht erfcheint, und 
was doch nicht zu verſchweigen iſt, weil es organiſch zu meiner 
Weichichte gehört. Denn gerade diefes Erlebniß hat meine Leiden: 
ſchaft für die Eis- und Firnwelt der Alpen zur Vorausiegung. 
Nur eines falten Sie mid noch kurz vorausſchicken. Die 
meiften derer, die in den Städten einem friediamen Berufe nad): 
gehen, meinen, nur die Befriedigung der Eitelleit fei der eigent- 
lihe Ansporn zu dem gefahrbollen Alpenſport. Das Gegentheil 
it der Fall. Es giebt nichts, was die menjchliche Eitelkeit jo 
aründlic demüthigt wie die innige Berührung mit der gewaltigen 
Hocalpenwelt, die in ihrer Schönheit wie ihrem Schreden alcich 
großartig iſt. Much herricht die Meimung, cs handle fi dabei 


me um Akrobatenkunſtſtücle von Leuten, welche die Alpen als 


Und feitdem,“ schloß das Bärbeli vergmügt, „ſehen wir ung 
‚eine Kunſt und eine Wiſſenſchaft. Die Kunft des Bergiteigens 


oft und find glücklich mit einand'. Der Böſe iſt ausgetrieben.” 


> „Und,“ ſuhr der Profeſſor, indem ex fein Glas erhob, fort, 
„Die Wandlung Deines Schmied-Jalob in einen Reifeführer war | 


auch — Dein fchönftes Nerjeabentener!“ 
„Und dar wir zu Euch ins Gebirg reifen, hat auch fein 
Gutes. Gelt, Bärbel?" ſagte vergnügt der Maler. 


6. Im ewigen Eifer. 

Es war inzwifchen abends act Uhr geworden, um welche 
Zeit Bergjteiger, die ein Alpenſchutzhaus zum Uebernachten be: 
nupen, um andern Tags nod) vor Sonnenaufgang den eigentlichen 
Aufftieg zum Ziel anzutreten, ſich niederzulegen pflegen. Profeſſor 
Schröder ftellte daher der animirten Tiſchgeſellſchaft die Ent: 
ſcheidung anheim, ob man die Fortfehung des Sympofions vertagen 


oder noch beifammen bleiben folle, jo daß auch Mer. Whitfield 


und Here Kurz noch heute zu Worte fämen. Er felbjt würde es 
lebhaft bedauern, wenn der fid) rundende Kranz von Erzählungen 
jept unvollendet bleiben müſſe, aber dies fei feine Privatmeinung 
und könne für die übrigen Theilnchmer nicht maßgebend fein. Durch 
die ins Freie führende Thür, welche das Bärbeli geöffnet hatte, um 
den Herren frifches Getränk zu holen, pfiff in diefem Moment der 
draußen noch immer herrfchende Sturm fo kalt und ſchrill, daß Herr 
Kurz wohl die Meinung aller ausſprach, als ev lächelnd bemerte: 

„Na, morgen früh vom Säntis herab die Sonne aufgehen 
zu ſehen, dieje Hoffnung hat wohl ein jeder von uns längit völlig 
aufgegeben. Ach denke, Here Whitfield und ich ſpinnen gleich weiter 
das Garn zu Ende, um diefen auten norddeutſchen Seemanns— 
ausdrud zu gebrauchen.“ 

Der Engländer nickte zuſtimmend. 

„Aber wer von uns beiden fängt an? Was mic betrifft, 
fo laſſe ich Ahnen als Ausländer gern den Vortritt, voransgefcht, 
daß der Faden Ihrer Geſchichte bereit Liegt.“ 

„Ganz wie es Ihnen beliebt,” fagte, feine Cigarette nieder: 
legend, Mr. Whitfield. „I am ready.“ 

Nachdem audı Projeffor Schröder ihn gebeten, daß er an- 
fangen möge, rückte der ſchlanke, auffallend fchön gebaute Brite 
näher au den Tifch heran und begann ohne weitere Umſtände: 

„Auch ich will ein Neifenbenteuer erzählen und von Wander- 
luft und Wanderglüd; aber ich fürchte, daß nicht alles nad) dem 
Geſchmack der Mehrzahl von Ihnen it, denn Sie find Ber: 
gnügungsreifende, die ins Gebirg gelommen find, um im An— 
ſchauen großer und Schöner Natur auf furze Zeit Ihr ſtadtiſches 
Kulturfeben zu vergeflen; mir ift das Ueberwinden der Schrednilie 
der gewaltigen Gebirgsnatur dagegen zum Berufe geworben, bie 
Alpen find die grande passion meines Herzens, ich bin Alpiniſt 
mit Leib und Seele. Ach weiß wohl, wenn ich bier vor Ahnen 
ein Loblied auf Die Kunſt des Bergjteigens anftimmen und des 
längeren auseinanderjegen würde, wie hocherhaben dieſer Sport 
über jeden andern zu ftellen ift, Sie würden im Stillen mic) 
einen ‚Alpenfer nennen und fih vor allem Folgenden befreuzen. 
Es wäre dies auch gerade fo verkehrt, wie wenn ein paſſionirter 
Jäger von feinen Jagbabentenern vor Zuhörern ſchwärmen wollte, 
die, weil fie feine Näner find, während ber Erzählung nur die 


Kletlergerüſt betrachten. Aber die wahre Alpiniftit ift zugleich 
fordert eine Entfaltung der perfönlichen Thatkraft und Geſchidlich— 
feit, welche fait alle Fähiakeiten der Seele und der Sinne ins 
Spiel febt, fie fördert und bereichert durd die Erforichung der 
Alpenwelt unfere Kenntniß der Natur auf allen ihren Gebieten. 
Vor dem Botaniker, der die Flora, vor dem Boologen, der die 
Fauna, dem Geologen, der die Geſteinſchichten und GHeticher: 
ſchiebungen der Alpen eriorichte, vor dem Techniker, der bequeme 
Hochſtraßen und kühne Schienenwege über und durch die Alpen 
legte, dem Meteorologen, ber feine Beobachtungsſtativnen auf 
hohen Bergesfpigen errichtete, dem Strategen, der die im Kriege 
vortheilhafteften Alpenpäfie auf feinen Karten eintrug, vor den 
Erbauern beauemer Alpenſchutzhäuſer und Unterkunftshütten fir 
das reijende Publikum, ſtieg als Bionier ihrer aller der Tourift 
in die Wirrniß der Bergriefen mit ihren Felsgraten und Geröll— 
böden, Gleticherabftürzen und Schneeüberhängen, Firnbaffins und 
Schuttlaminen und erforichte die Geſetze ihres Bauen, 

Leider freilich macht jich auch in der Alpiniſtik, wie überall 
in Kunft und Wiſſenſchaft, der Dilettantismus befonders wichtig. 
In einem Dorfe am Fuß des Grofglodnergebirgs liegt auf dem 
Friedhof ein junger Mann begraben, der bei einer Bejteigung 
jener eisumpanzerten Spige ums Leben fam. Ich war damals 
felber in Hals, als man feine Leiche herunterbradhte. Diejer 
Verunglüdte ericheint mir immer als Typus dilettantiſcher Berg: 
fererei. Ohne an Heineren Hochtouren feine Kräfte erprobt zu 
haben, ohne irgendwie vorbereitet zu fein, im einem leichten 
Summeranzug, welcher nur im Zuſchnitt der wetterfejten Tracht 
der Gebirgsbewohner Fofett nachgeahmt war, war ev nad Kals 
mit einigen Freunden gefonmen ohne die geringſte Abficht, den 
Glodner zu befteigen. Die Rücklehr einer nicht gerade befonders 
kräftig gebauten Dame von einer glücklichen Bejteigung der hohen 
Eispyramide veranlaßte ihn zu der Behauptung, ihm würde das 
aleiche Unternehmen eine Kleinigkeit ſein, und als er damit auf 
den Widerjpruch und Spott feiner Kameraden ftich, wettete ex 
voll Uebermuth, daß er es ihnen beweifen werde. Unterwegs 
gerieth er mit feinen Führern in einen eiligen Schneeſturm; den 
Mahnungen der kräftigen Männer, umzufchren, gab er nicht nach, 
io fche er fühlte, wie feine Kräfte nachließen; feine Eitelfeit ver: 
mochte ſich nicht in die aus einer -Müdkehe ſich ergebende De— 
müthigung zu finden, und fo trogte er den Elementen, bis ex 
erlag, in Krämpfe verfiel und dann auf dem Nüden des treuen 
Führers, der ihn herunterteug, fein Leben aushauchte. 

Ein wirflicher Alpinift wird im Gegenſatz zu dem Leichtiinn 
und der Eitelfeit, die hier einen alpinen Unglüdsfall bewirkten, 
alle Hilfs: und Schugmittel in Anspruch nehmen, welche ihm die 
Rultur und die Technik zur Ueberwindung der Scwierigleiten 
einer ſolchen Hochtour darbieten. Wir ftudiren das Maß unferer 
eigenen Kräfte und richten danach die Inanſpruchnahme der 
Kräfte erprobter führer ſowohl als einer vationellen Musrüftung. 
Der Eine laßt beim Ueberſchreiten fteilerer Gletſcher ſich anfeilen 
und in das Eis Stufen bauen, der Andere verläßt fi, wenn es 
ſich nicht um befonders gefährliche Entdedungsiahrten Handelt, 
auf feine eigenen, mit Steigeifen betwafineten Fuße und ben Berg: 
ſtod in feiner Hand. Ein richtiger Alpinift wird auch immer bie 


Va 


4* 





König Walmund findet Wolfdietrih im Walde, 
Aus dem Prachtwerk „Hugdiefrihs Brauffadri, Ein epiſches Gedicht von Wilhelm Herb, illufrirt von A. v. Werner", 


—* 


FETT 


3598 >» 


notbwenbigften Hilfsmittel für Höhenmeflung und Terrain: 
beobachtung mitnehmen und feine Entdedungen und Erfahrungen 
der Wiſſenſchaft zu qute Fommen laſſen. Wenigjtens habe ich es 
immer jo gehalten. Daß das Bewußtſein abjoluter Schwindel: 
freiheit und oft erprobter Kraft auch ſolche Alpinijten bisweilen 
zu verwegenen Unternehmungen verleitet, bei welchen allein die 
Luſt am gefährlichen Abentener und der ‚Neiz des Unbelannten‘ 
als Motive wirken, will ich” ebenfo wenig leugnen wie den Ehr— 
geiz, der im Metteifer mit Gleichbegabten ins Spiel tritt. 
Gerade das letztere war in befonderem Grade bei einer Reihe 
von Hochtouren der Fall, die id) vor einigen Jahren in dem be- 
reits erwähnten Gebiete des Großglodners ausführte. 
Verſönlichleit, welche meinen Ehrgeiz und Wetleifer fo heraus: 
fordere, war — wie im Kalle jenes Verunglücklen — eine Dame. 
Kennen Sie Heiligenblut? Wenn man bon Regenwelter feſtge— 
haften, dort um alle Ausficht betrogen twirdb und in dem kahlen 
Wirthszimmer des einzigen alten Gaſthofs über jeine Specialfarde 
des Broßglodnergebiets gebüdt darüber fimulirt, welche Partien 
man machen Könnte, wenn nur das Wetter beſſer wäre, iſt's ein 
armfeliges Gebirgsdorf wie taufend andere Wenn aber cm 
nünftiger Wind die grauen Wollenſchleier emporweht, welche 
bisher die hermelingefchmüdte Majeftät des Grofiglodners dem 
Anblick entzogen, wenn über den dunklen Bergen des oberen 
Möllthals, über den ſchneebededlen hohen Leiterföpfen und dem 
ſchimmernden Abſturz des großen Pajterzengletfchers in der Ferne 
ſich die ſchlanle Firnnadel des Großglockners leuchtend aus der 
fie umgebenden Eiswelt ins Blau des Himmels hinaufſchwingt, 
ericheint dies Dorf mit feiner gleichfalls ſchlank emporgejtredten 
Kirche dem Alpenfreund als die denkbar ſchönſte Bforte zu einem 
Baradieje im Neiche des rigen Schnees! Je Länger ich vorher 
die Langeweile des Eingeregnetieins hatte ertragen müſſen, um jo 
entzückter wurde ich dann des fafeinivenden Reizes diefer Scenerie 
inne, als endlich — endlich die Spite des Glockners frei ward. 
Es waren mod mehrere Herren im Schoberwirthshaus, die gleich 
mir mit Schnfucht diefem Ereigniß entgegengefchen hatten. Ein 
Profefior aus Münden, Botaniker von Fach, cin Entomolog 
aus Wien, der anf den Almen unterhalb der Firnwelt auf 
Schmetterlingsjagd ausgehen wollte, und noch mehrere Touriften, 


Und die 


wodurch das fchöne edle Profil ganz ſichtbar geworden war, ſowie 
ihr blondes welliges Haar, das born ſchlicht geicheitelt, hinten im 
einem einfachen Knoten aufgeftedt war, ähnlich dem, den wir an 
antifen Statuen der beiten Zeit lennen. In diefem Haare fpielte 
etwas wie ein goldener Schimmer, und ich Fonnte dem Profeſſor 
uchen mie nicht umvecht geben, der auf meine leiſe hingeworfene 
Bemerkung, welche auf die Aehnlichkeit diejes Gefichts mil einem 
befannten Dianakopf hinwies, mir antivortete; ‚Nein, die Gleticher- 
fünigin Selber.‘ 

Diejer Nachbar, der ein Stammaajt von Heiligenblut war, 
wußte mir dann auch, ala wir draußen auf dem Were zum 
Kapenfteig dem Spiele der Wolfen zujhauten, welche mehr und 
mehr den vollen Anblid des Glockners Freigaben, mäheres über 
den neuen Ankömmling zu ſagen. 

Ihr Vater war cin Kollege von ihm geweſen, der, zwar 
Deutscher von Geburt, als Proſeſſor am einer ruſſiſchen Univeriität 
bor einigen Jahren gejtorben war. Derſelbe Hat fich als Ent 
defungsreifender dauernden Ruhm erworben. Ihre Mutter, eine 
geborene Nuffin, war ihm bald in den Tod gefolgt. An der 
Seite dieſes Waters hatte die Tochter ſchon in frühen Kahren 
viel von der Welt aejehen und auch die Gefahren des Hochgebirgs 
ſchon als Mädchen verachten gelernt. Die letzten Hochtouren, 
welche ſie mit dem geliebten Bater gemacht, hatten einigen Spigen 
des Glocknergebiets gegolien und daher ftamme ihre Vorliebe für 


dieſe Gegend. Meiter erzählte mir der geſprächige alte Herr, daß 


welhe nur die Wanderung an dem Glodnerhaus umd der 
Bajterze voriiber über die Pfandlſcharte ins Fuſcherthal vor: | 


hatten. Wir ſaßen gerade in lebhaften Geſpräche bei Tiſch, als 
zum Fenſter einfallende Sonnenſtrahlen uns die Aenderung bes 
Welters ankündigten und überdies der frendige Nuf eines Führers 
vor dem Hauſe: ‚Der Glockner wird frei!" unfere Ahnung beftätigte, 

In dieſem Augenblicke that ich ‚die Thür 5 und in der⸗ 
aufzu⸗ 
ſtehen und ins Freie zu eilen, um — der Aufbeilung des 
Himmels zu werben — eine touriſtiſch aefleidete Dame, bei deren 





Erfcheinen es auch wie Sonnenfhein durch die niedrige Stube 


ging. Da cin blauer, von ihrem Florentiner Strohhnt herab: 
wallender Schleier ihr Geſicht zur Hälfte bededte, welches vbenein 
zurück mach der Hausflur gewendet war, bejtimmte der auffallend 
Schöne Wuchs von jeltener Kraft und Grazie den erjten Eindruck. 
Sie trug eine auliegende, leicht geſchürzte Kleidung aus hellbraunem 
Lodenſtoff, in der Rechten hielt ſie einen Bergſtock, ihre Schuhe 
waren aus dickem Leder und auch vorn mit Nägeln beſchlagen. 
An der Seite der Wirthin, welche fie als alte Bekannte begrüßte, 
trat jie nunmehr ganz ein, indem fie zu diefer fagte: 





‚Der Michel foll nur mein Gepäd gleich auf mein Zimmer | 


tragen; ich aber will hier unten bleiben; der Weg von Dölſach 
hierher hat mir Appetit gemacht.“ 

Das iſt Schön,‘ ſagte die Wirthin, welche der Dame auf 
einem andern Tiſch als dem unſeren ein Gedeck zurechtlegte, ‚und 
ſchönes Wetter Haben Sie auch mitgebracht, nachdem es vierzehn 
Tage fang bei uns geregnet hat. Das heife ih Glück und qute 
Borbebentung.‘ 

Ueber das Autlitz der Dame glitt bei diefer Veglückwünſchung 
ein herber Zug, der jedoch die eigenthümliche Schönheit des Ge— 
fichtes cher erhöhte als minderte, Tasfelbe war von einer gleich: 
mäßigen, nicht ungefunden Bläffe, mit welcher das arofe grünlich 
blaue Auge, defien Blick klar und bejtimmt, beinahe jtreng war, 
fonderbar fontrajtirte. Die feingeſchwungenen Lippen waren feſt 
geſchloſſen und ihr Ausdruck deutete wie die Kontour ihres Kinns 
anf beſondere Energie. Sie hatle den Strohhut abgenommen, 


die Dame troß des jungfränlichen Ausdruds ihres Weiens fein 
Mädchen mehr, fondern eine Frau fei, aber eine geſchiedene. 
Warum die Scheidung nad einer übrigens wur kurzen Ehe ev: 
folgt jei, darüber Seien feiner Zeit die verjchiedenften Meinungen 
faut geworden. Auf jeden Fall war diefelbe von ihrer Seite 
eingeleitet worden, und zwar unter Angabe keines andern rundes 
als dem unüberwindlicher Abneigung. Es ſei wahrfcheinlich, daß 
diejenigen recht hätten, welche damals behauptet, der Mangel an 
Mannhaftigkeit und Muth, den ihr Mann in einem kritiſchen 
Augenblide an den Tag geleat, habe diefe Abneigung ihr einge: 
flößt. Ja, er habe Anlaß, zu glauben, daß jenes Erlebniß einen 
allgemeinen Widerwillen aegen das männliche Geſchlecht, oder 
wenigſtens gegen die gebildeten Vertreter desſelben in ihr zurüd: 
gelafien habe, denn fie meide jeitdem gefliffentlich, Freilich auch ohne 
DOftentation, allen Umgang mit folchen; nur im Verkehr mit den 
wetterfejten, wortfargen, durch Muth und Entichlofienheit ausge— 
zeichneten Führern dieſer Gegend aus Kals, Fuſch oder Heiligenblut 
habe ex fie geſprächig und frei von jeder Zurüchhaltung gefchen. 

Alles dies war nur geeignet, mein Anterefle für die Dame, 
das ſchon ihre Erfcheinung gewedt hatte, weſentlich zu jteigern, 
und mit Spannung jah id; einer Gelegenheit entgegen, mic ihr 
zu nähern und ihre Bekanntſchaft zu machen. Bei der gleidjen 
Vorliebe für die Alpenwelt und das Erfteigen ihrer Gipfel und 
Ucbergänge fonnte es ja an Anknüpfungspunkten nicht fehlen, 
und was ihre Antipathie betraf, jo mahm ich cs ja, wie id) 
meinte, in Bezug auf Muth und Entichlofjenheit mit dem beiten 
Bergführer im Glocknergebiet auf, Als ich aber erleben mußte, 
daß fie mir gerade wie jedem andern Tourijten diefelbe Unnah— 
barleit und Ablehnung zu theil werden ließ, entbrannte ich vor 
Begier, diefem ſelbſtbewußten und ſelbſtgenügſamen Weibe Reſpell 
vor meiner Kraft abzugewinnen und fie die Leberlegenheit eines 
Mannes, eines männlichen Willens fühlen zu laffen. 

Es ift ein natürliches Bedürfniß, nad einer alüdlich zurüd: 
gelegten Hochtour, während weldyer fein unmöthiges Wort ge- 
ſprochen wird, mit Gleichgeſtimmten die überjtandenen Erlebniſſe zu 
beſprechen. Gerade hieraus ergiebt jich ja die Würze der Gefelligkeit 
in den Unterkunftshütten der Alpenklubbiiten, welche auf andere 
Unterhaltungsmittel völlig verzichten muß. Wir Hatten das 
damals noch ſehr primitive Ghodnerhaus des Dentichen und 
Defterreichiichen Alpenvereins am Abjturz der Pafterze ziemlich 
gleichzeitig zur Station genommen, um den öfteren Nüchven nach 
Heiligenbfut zu baren. Es konnte nicht fehlen, daß wir des 
Morgens vor Aufbruch und abends nad) ber Nüdfehr an dem 
einzigen Tiſch des einzigen Baftzimmers diefes Aſyls unfere 
Mahlzeiten nahmen, und gleich am zweiten Tag nad) einer glüd— 
lich durchgeführten Beiteiqung der Glodneripige auf dem Wege 
über den Ködnipgletiher, die Banitfcharte umd den Stüdlweg 
fühlte ich mich gedrängt, ohne weitere Umftände das Wort an 
die Dame zu richten, obgleich ſich diejelbe an einem Plage möglichit 


— 5 59 — 


jern von mir niebemelajien hatte. Ter Uebergang über die 
Banitfcharte hatte mir unerwartet viel Mühe gemacht, und fo 
unterdrückte ich denn auch die Alage darüber nicht, nachdem ich 
meinem Entzüden über den auf der Spike erlebten Sonnenauf: 
gang und die einzig grandioſe Ausſicht Luft gemacht hatte. 

Die Gletſcherkönigin, jo nannte ich unwillkürlich in meinen 
Selbſtgeſprächen die ſchöne Einfame weiter, blieb auch bei diejer 
Gelegenheit dem in diefem Namen ausgedrüdten Charakter treu. 
Meine enthujiaftiihen Schilderungen nahm fie, zwar ohne die 
Höflichkeit zu verlegen, aber mit eiſiger Kälte entgegen, und nur 
nach jener Beſchwerde ging ein Lächeln über ihre Lippen, ein 
Lächeln des — Mitleids. Es war, als wolle fie jagen: wie, du 
prahlendes Männlein, Schon diefe Heine Auftrengung macht dir 
Beſchwerniß; ſchon vecht, was drängjt du dich in mein Reich ein, 
wo beinesgleichen wicht hingehören. Wohl fühlte ich das Be- 
dürfnin, auf diefes Lächeln mit gebührendem Hohn zu antworten, 
dod) fand ich ihrer ſtillen Gelafienheit gegenüber feine paſſenden 
Worte dafür, ohne Gefahr zu laufen, mich vor ihr lächerlich zu 
machen. Als ich dann in die Stube der Führer hinausging, um 
mit den meinen einiges für den folgenden Tag zu verabreden, 
war ich Zeuge, wie der Heiligenbluter Nede, der fie gerade auf die 
Johannisſpihe zu führen gehabt hatte, in Worten höchſter Be 
wunderung von ihrer ſicheren Kraft und Gewandtheit beim 
Steigen, der Unbeirebarkeit ihres Willens, der völligen Furcht: 
kofigteit ihres Weſens ſich ausſprach, wie fie in ſolcher Vereinigung 
and) bei den fräftigiten Männern jelten nur anzutreffen ſeien. 

Dieſer empfindlichen Demüthigung meines Selbjtgefühls folgte 
bald eine zweite, Es war einige Tage jpäter. Der Zufall hatte 
es gefügt, daß wir beide qleichzeitig einen Raſtiag hielten. Die 


- Bot hatte Briefe gebracht, die beantwortet werden mußten; ich 


hatte außerdem das Bedürfniß gehabt, einige werthvolle Funde 
für meine Sammlungen näher zu beitimmen und probiforiich zu 
fonferviren, ſowie meine Beobachtungen in meine Tagebücher ein- 
zufchreiben. Much fie Hatte Aehnliches vor, und da wir aud) 
dafür gemeinfam auf das Touriftenzimmer angewiefen waren, in 
welchem gerade aud) ein befannter Naturforfcer aus Wien ſich 
aufhielt, deſſen ruhige, ſchlichte Gelehrtennatur felbft die Sympathie 


der geitrengen Gletfcherfönigin zu gewinnen wußte, jo fam ein | 


ganz leidliches Einvernehmen zwiichen uns zu ſtande. Die 
ſchlichte liebevolle Art, mit der fie von ihrem Vater ſprach, deffen 
binterlaffene Aufiäge über feine Forſchungsfahrten in die Alpen» 
welt fie herauszugeben vorhatte, die anfpruchslofe Sicherheit, mit 


der fie ſich als deſſen veritandesfhare Schülerin erwies, ae | 


wannen meine höchfte Sympathie. 


Am Nachmittag fahen wir drei vor dem Glochnerhaus auf | 


dem quasbededten Felſenvorſprung, von welchem der Abhang zum 
Paſterzenlees und feiner Moräne hinabzieht. Das Licht ber 
Sonne fiel voll auf den breiten mächtigen Gfetfcherabfturg vor 
uns und die Strahlen erzeuglen ein magiſches Glitzern und 
Leuchten in den riefigen Eisfpalten des taufendfach zerichründeten 
Eiskataralls, deifen Riffe und Sprünge die grauweiße Farbe des 
Maſſivs mit bläulich grünem Geäder durchſurchten. Das groß: 
artige Bild dieſes ſchaurig ſchönen Gletſcherabſprungs, der rechts 
und links von dunklen Felſenwänden umrahmt wird, während 
fein ſcheinbares Ende nach oben hin von dem hochaufſtrebenden 
Firnkegel des Großglodners überragt iſt — in Wahrheit dehnt 
fich die Eismaſſe um die Freiwand einbiegend noch ftundenlang 
weiter als ein breites Eismeer bis zu dem eigentlichen Maſſiv 
von Große und Kleinglodner und Glodnerwand hin — diefes 
prachtvoffe Bild fejlelte bald unfere Aufmerkſamleit derart, daß 
das von uns geführte wiſſenſchaftliche Geipräd über die ver: 





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ſchiedenen Theorien der Gletſcherentſtehung und Ofetfcherbewegung | 


vlötzlich verfiegte, weil eim jeder dem magischen Reize des Ans 
blids erlag. ALS wir jo in ſuumme Bewunderung eines der größten 
und ſchönſten Wunderwerle der Natur verloren daſaßen, tauchten 
plötzlich vor uns die Seftalten zweier Führer auf, die vom Ghleticher- 
rand heranfgeitiegen lamen, ein jeder jeinen Bergitod und Steigeijen 
in Händen. Es waren die zwei Kalſer Führer, die ich mir, auf 
bejondere Empfehlung Hin, für die Dauer meines Aufenthalts 
hier gemiethet hatte, zwei prächtige, unternehmungsftohe, fraft- 
ſtrotzende Burfchen, die auf meine Frage, woher fie kamen, Tachend 
erwiderten, fie hätten einen Brobemaric über die Pafterze verjucht. 

In früheren Jahren hätte es einen leiblichen Weg über die 
durcheinander geichichteten Eisberge und Blöde geacben, auf 





welchem ſchwindelfreie Touriſten, vorausgefet daß fie Steigeifen 
benüßten und ſich anſeilen lichen, nach der Franz Joſephshöhe 
am rechten Rande derjelben hätten gefangen können. Die ftrenge 
Kälte des lehten Winters, die Nachwirkungen des vielen Neu: 
ſchnees, verſchiedene Eislawinen von oben her hätten die Ver— 
hältniſſe des Gletichers jedoch derart verändert und verſchoben, 
daß ein ſolcher Weg noch nicht wieder ausfindig gemacht worden 
fei. Much ihre Mühe fer eben vergeblich gewejen. 

Meine Natur würde fich gänzlich verleugnet haben, wenn 
ich auf diefe Mittheilung hin nicht Sofort den Borichlag geäußert 
hätte, mit ihnen gleich jegt eine zweite Erpedition in die Gleticher- 
welt, deren Anblif uns eben erſt in höchſtes Entzücken verſetzt 
hatte, anzutreten. Immer entferntere Ziele im Auge, war ich 
nie auf den Gedanken gefommen, dem nahen Paſierzeabſturz einen 
Beſuch abzuftatten. Die Führer erklärten jich mit Freuden bereit 
und der Brofeffor aus Wien bat um die Erlaubniß, ſich anſchließen 
zu bürfen, was ich ſelbſtverſtändlich herzlich willlommen hieß, 
indem ich and meine Nachbarin aufforderte, an der Heinen Er 
furjion theil zu nehmen. ‚Gern‘, jante fie in ihrer lurzen Weiſe, 
aber mit Höjlicher Freundlichkeit, und fo brachen wir denn, nadı 
dem die Führer noch die nöthigen Steigeifen und Seife herbei 
geholt hatten, auf, Unten auf dem letzten Ausläufer des Gletichers 
ging's an die Ansrüftung. Die Steigeifen waren bald angeichnallt. 
Weniger jchnell ging das Anfeilen. Frau Wallenbeim, dies war 
der eigentliche Name der Gleticherfönigin, erflärte plötzlich, fie bedürſe 
des Anfeilens nicht, dasfelbe genire fie bloß. ch entgeqnete, daß 
auch ich des Mnfeilens nicht bedürfe, daß aber bei derartigen 
Unternehmungen, bei welchen der Weg faſt beftändig an Spalten 
und lüften vorübergehe, es die gemeinfame Sicherheit erfordere, 
daß jämmtliche Theilnehmer ſich durch Seile mit einander verbänden. 
Strauchle oder falle dann einer, jo fei Die Kraft und der fichere 
Stand der anderen ihm Stütze. Dies fah fie ein, aber nun 
wollte fie wenigftens die Leite im Auge fein. Dagegen proteftirten 
jedoch die Führer: einer von ihnen mühe die Führung haben, der 
andere den Schluß bilden, dafiir hätten fie die Verantwortung. 

Ohne ihren Mißmuth ganz verbergen zu fünnen, Tieß Sie 
ſich nunmehr anjeilen, wie es den Führern beliebte, Die Meihen 
folge war jet die folgende: voran ein Führer, dann der Wiener 
Gelehrte, dann Frau Wallenheim, dann ich, gefolgt von dem 
zweiten Führer. Und nun ging das Steigen los. Anfangs mit 
übermäßigen Vorſicht, denn der mir vorauſchreitende Profeſſor, 
des Ucberichreitend von Eisbergen ungewohnt und durd die Nähe 
der unheimlich ſchimmernden, weitllaffenden Spalten geängftigt, 
wirkte zunächſt als Hemmniß. Bald aber hatte aud) er jeine 
Schen überwinden und mm wurden unfere Bewegungen fchneller 
und kühner. Bald ging es bequem über fchräge Abfenfungen 
twellenförmiger Erhebungen bin, bald auf den emporragenden 


| Rippen von langſam ansteigenden Eisbergen, bald mußten wir 


vorjichtig von einer Eiswand zur anderen fpringen oder eine 
Kluft überflettern, wobei vorragende Eiszungen in Gletſcherſpalten 
unferen Füßen Halt bieten mußten. Der Proſeſſor qlitt manchmal 
aus und nahm auch fonjt öfters die Hilfe des ihm voranſchreitenden 
Führers in Anſpruch. Um jo ficherer und leichter überwand da 
aegen die ihm folgende Dame jede Schwierigfeit, Es war, als 
fei ihr all dies nur ein Spiel, als ſei dies Alettern und Volligiren 
auf Eis und Firn ihre eigentliches Element. Und spielend in 
ihrer Grazie und darum ein Schaufpiel für mic von ſeſſelndem 
Neize waren ihre Bewegungen. So fam es, daß anch id ein 
paar Mal ins Stolpern lam, eben weil meine Blide an der vor 
mir fchreitenden Schönen Geftalt hingen, Statt auf den Weg zu 
achten. Da endlich ſchien auch fie einmal ihre ſichere Ruhe ein 
zubüßen. Mit einer gewiſſen Genugthunng, im welcher ich die 
Empfindungen eines Lebensrelters vorichmedte, ſah ich jie plötzlich 
nach linls ausgfeiten und mit jähem Ruck ein Stüdk der ſchrägen 
Eiswand herunterrutſchen. Mit zwei gewaltigen Sägen war ich 
dicht hinter ihr und umfaßte ſie mit voller Kraft. Doc fie hatte 
inzwifchen, wie ich jet erſt merlte, ſchon wieder feiten Stand 
gewonnen, und, mit heitiger Gebarde ſich meinen Armen entziehend, 
wandte fie fich nach mir um und fagte mit herbem Lächeln: 
‚Sahen Sie denn nicht, daß ich abjichtlich dieſen Abrutſch 
ausführte? Dort oben Hat der ſich aufſchwingende Tritt des 
Profeſſors die Stübe abgebrochen, welche der Kührer für feinen 
Weg fand, und wenn ich das nicht vechtzeitig bemerlt hätte, fo 
wäre Ahre jeht fehr unnöthige Hilfeleiitung allerdings vielleicht 


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Dresden, 
Dlof Winkler. 


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nöthig geworden. — Uebrigens, meine Herren,‘ fuhr fie mit ge: 
hobener Stimme fort, ‚fommen wir fo nicht ans Biel. Die 
Eiswand dort zur Rechten können wir nicht nehmen und Hinter 
berjelben ſchichtet ſich Eislklotz am Eisklotz. 
einmal, über die Rippe, welche dort nad) linls hinzieht, vor— 


Probiren Sie doch 


zudringen, ich Sollte meinen, daß wir fo den Weſtrand ber ı 


Paſterze erreichen können, von wo aus wir bequem unferen Weg 
über den Felſenrand und dann den minder ſchwierigen Bajterzen 
boden zur Franz Joſephshöhe einschlagen lönnen.“ 

Um mich Fümmerte fie ſich micht weiten, Und zu dieſer 
Demüthigung fam noch bie zweite, daß ihr Rath ſich als voll- 
fommen wichtig erwies. So hatte alfo aud der erfahrene Führer, 
ber voraugegangen tar, jeine Lektivn weg — don einer Dame, 

Diele Scharte muß ansgeiveßt werben, diefes Verlangen be: 
berichte nunmehr mein ganzes Geiſtesleben. Much meinen Führen 
glaubte ich anzumerken, daß fe ſchwer an der Erfahrung trugen, 
von einer Flachländerin im ihrem eigenſten Berufe zurechtgewieſen 
worden zu Fein, Auf jeden Fall kam es mic wie eine Heraus— 
forderung ihrerjeits vor, als fie zwei Tage ſpäter des Abends 
nadı einer fürzeren Tour, da Fran Wallenheim und ich allein 
in dem Gaftzimmer bes Glocknerhauſes ſaßen, mit der Bemerkung 
vor mic, hinteaten, fie wüßten nod eine ſchöne Aufgabe fire mid. 
Durch den Sturz einer Eislawine vom Glockerkarkees herab fei 
vor einigen Tagen ber untere Theil des Hofmannsweget, der 
bisher über felſiges Geſtein führte, verichüttet worden; «3 nälte, 
über das veränderte Terrain einen brauchbaren Steig ausfindig 
zu machen, fo daß dieſer lürzeſte Aufſtieg zum Glodner dem 
Touriſtenwerkehr wieder gewonnen würde. Vielleicht entichlöffe 
fih auch die gnädige Frau, fi an dem Unternehmen zu be 
theiligen; fie fände fih ja mit ihren ſcharfen Augen im ber 
Gletſcherwelt noch beifer zurecht als fie, die Führer. Sie hatten 
ſich mit dieſer leßteren Bemerkung fragend an fie getvandt. Und 
diefe, weit eutfernt, irgend welche Anzügtichkeit darin zu erbliden, 
ging mit lebhaften Anterefie fofort auf den Gegenftand ein. Ich 
felber war nunmehr für die Idee feuer und Flamme. Meine 
Rivalin bewies auch ſofort wieder ihren touriſtiſchen Scharfblid 
and Haren Verſtand. Die Hinderniſſe von unten aus zu nehmen, 
jo führte fie aus, würde viel unnöthige Kletterei veruriachen; es 
fei rathfam, von oben her auf dem Kalſer Wen über Stüdlhütte und 
Adlersruhe ſich dem perationsfeld zu nähern, wobei man es 
mit dem Fernrohr und Feldſtecher relognoseiren und danach den 
Angriifsplan einrichten könne. 

Mir war im Grunde die Art der Ausführung gleichgültig, 
mein ganzes Sinnen und Trachten ſtand nur darauf, bei dieſer 
Gelegenheit mich in Bewährung von Muth, Thatkraft und Scharffinn 
mit der jtolzen Gletſcherkönigin zu meſſen. in Feldherr Fam 
nicht begieriger dem Ausgang eines Treffens entaegenichen als ich 
dem Ausgang des verwegenen Unternehmens. 

Während ich mit meinen rühren am folgenden Tage den 
Weg nur bis zur Stndlhütte zurücklegte, ging fie mit ihrem Heiligen: 


biuter, einem ruhigen älteren Mann, nocd bis zur Erzherzog 


Johannhütte auf der Adlersruhe hinauf, um dort zu übernachten. 
Den Boriprung, den fie dadurch früh am Morgen voraus Balte, 
beußte fie, und zwar wider die Abrede, zu einer ſelbſtändigen 
Rekognoscirung des veränderten Gletſcherterrains. Die heiße 
Witterung dev lehten Tage Hatte viel Neuſchnee zum Schmelzen 
gebracht und dies jene Eisyuticdhungen bewirkt, Auch Sprünge 
hatte der oft im einem Winkel von vierzig Grad abſchüſſige 
Glocknerkargletſcher befommen; die einiame Erfurſion der einzelnen 
Dame war daher ſehr gewagt. Der Ehrgeiz war cben auch in 
ihr zum Ausbruch gelommen und Hatte ihre ruhige Beſonnenheit 
getrübt. Ihr Führer war aber viel zu ſehr überzeugt von ihren oft 
bemäbrten Tugenden als Bergfteigerin, um ihrer Weiſung, uns 
oben auf dev Adlersruhe zu erwarten, einen Wideriprud) entacaen- 
zuftellen. So Hatte ex jie ziehen laſſen und ihre nur noch ein 
bar rothe Fähnchen mitgegeben, bie ſie an beionders markanten 
Stellen ihres Vordringens möglichit weit ſichtbar befeftigen fellte. 


Als wir gegen ſechs Uhr früh auf der Adlersruhe eintrafen, | 


fanden wie den biederen Graubart in großer Unruhe und Sorge. 
Er hatte jeine Schuybefohlene jo lange wie möglich mit jorgfamen 
Blicken verfofgt, bis ſie Dielen gänzlich entſchwuunden war, und 
ſeitdem — es war wohl der Berlauf einer Stunde — war fie 


im ſeinem Geſichtsſeld nicht wieder aufgetaucht. Mit großer Eile | 


[Hritten wir — zunächſt angefeift — den Weg hinunter, ſcharf 


2 


—— > 


ausſpaͤhend, ob nicht eines der rothen Fähnchen fichtbar werde. 
Wir waren ſchon nahe bei der Stelle, wo in früheren Jahren 
der Gletſcher zu Ende geweſen, als wir faſt aleichzeitig an ver 
fchiedenen Stellen mitten in dem vor uns im Abſturz ſich fiber 
fchichtenden Eisblockgewirre drei ber volhen Fähnchen anfichtig 
wurden. Leider ijt man in dieſer Gfeticherregion den ärgſten 
optischen Täuſchungen ausgeſetzt; fo kam es, daß wir alle vier 
verſchiedener Meinung waren, welches vom den Fähnchen das 
nädhite, welches das entferntefte fei. Daraus ergab ſich das Be 
dürfniß, in getwunter Marſchordnung vorzurücken. Ich und einer 
meiner Führer zogen geradeswegs auf das mittlere los. Die 
beiden anderen Männer rüdten zu beiden Seiten vor. Es war 
ein verwegenet Wandern; jeht galt es, felfiges Terrain zu über 
fletten, dann Wieder über fteife Gletſcherabhänge voriihtig ab 
zurutſchen, und wieder, tiefe Gletſcherſpalten zu überipringen oder, 
wenn Dies nicht ging, zu umgeben. Bald befanden wir ung 
mitten in einem Labyrinth von Eisbergen, «Nadeln, Kegeln und 
Firnhängen, in welchen wir nur Daul des Kompaſſes die Richtung 
einhalten konnten, fo verwirrend wirkte diefe Umgebung. Sowohl die 
rothe Fahne als die Führer waren ung aus dem Auge gekommen; 
auf unſere Jodelrufe fam Feine Antwort. Doch verloren wir dadurch) 
wicht unſere Beifteägegenwart, Ohne Aufenthalt, aber auch mit 
Huger Ausnutzung jedes Zerrainvortheils vüdten wir vorwärts. 

Endlich erreichen wir die Binne einer hoben Eistwand, Die 
uns einen Ueberblick nach vor- und rückwärts gejtattet, Erſtaunt 
entdecken wir zwei ber rothen Fähnchen hinter uns. Vielleicht 
hatten wir alſo die Geſuchte ſchon überholt. Wir lugen ſcharf 
aus, ob wir nicht im irgend einer ber Einſcharlungen im Eiſe 
ihe Gewand chen. Nirgends läßt jich eine Spur mur entdeden. 
Da plöglih — fait direft unter una — werden wir fie gewahr. 
In eier äußerſt fteil geneigten Eisrinne, deren Boden nilenbar 
fußtief von Schnee bededt war, denn bei jedem Schritt ſank fie 
bis an das Knie cin, ſchritt ſie langſam vortwärte. Mein Führer 
wollte fie gerade anrufen, ala ich ihm ſtumm bedeutete, zu ſchweigen. 
Mich gelüſtele es, dem fühnen Weibe zuvorzufommen, das offen 
bar im Geiſte Shen den Triumph genoß, ohne jegliche Mannes 
hilfe das ſchwierige Unternehmen durchgeführt zu baben. Wir 
fletterten Teife über die fteile Neigung des Eisberge nad Dften 
hinab, fanden hier günftiges Terrain zum Vordringen in Die 
Rinne und waren aerade in einer breiten luft zwiſchen zwei 
Eiswänden angelangt, welde in diefe mindete, als cin pridelndes 
Geräuſch im Diefer uns ſtill ſtehen heißt. Enſſeben macht unſer 
Mut für einen Moment erſtarren: die Schneededte in der ſteilen 
Eisrinne vor ums bewegt ſich. Durch das Gewicht der Tritte 
eines dev anderen Führer, der aucd die Einſame entdedt Halte 
und von oben her in die Rinne, halb rutſchend, eilte, war, 
fo erfuhren wir jpäter, die auf dem Eiſe lagernde, von der Sonne 
erweichte Schmerdede ins Gleiten gelommen. Schon war die 
Bewegung und das von ihre erzeuate Geräuſch ein Saufen. Es 
war fein Zweifel, die tollfühne Fran mußte von dem Sturze 
mit fortgeriſſen und auf Die an die hundert Meter unter dem 
Ausgang dee Rinne lagernde Paſterzeumoräne mit vafender Wucht 
eichlewdert werden. Ohne uns zu befinnen, ſtürzten wir vor 
nach dem Round, an welchem jeden Augenblid die Unglüdliche 
vorbeitreiben mußte. 

Noch rechizeitin gelange ich, als der vordere, zu dem wilden 
Schneeſturz, umd vom Inſtinkt getrieben, ſtürze ich, als die halben 
Leibe ım Schnee noch anfgerichtet Stehende, mit ſtarren Augen 
dem Tod Entgegenfchende herantreibt, mich ihr enigegen, indem 
ich dem Führer hinter mir zurufe, das Seil Felt anzuzichen, das 
mich und ihn verband. lit dem Unterlörper tief in den Schnee 
geſunken, it dem rechten Arm die von Schred Erſtarrte um 
die Hüfte fallend, während die Linke feit das Seil umklammert 
hält, gelingt es mir, für einen Moment die Bewegung zu hemmen. 
Der trene Führer hat Stand hinter einem Eisvoriprung genommen 
und hält unverrädbar den acwaltigen Nud aus, der das Seil 
um feine Bruſt furchtbar anzieht, fo dab ihm, dem Starken, faft 
der Athem vergeht, der aber auch uns beide aus der Tobeägefahr 
hinauf auf feiten Boden brinat. Auch der nachitirzende Führer 
hatte von dem Stillſtand der Bewegung profitivt, Ihm war cs 
gelungen, ſich mit Hilfe feines Beraftods ans fer der Rinne 
zu ſchnellen. Es war eine Rettung aus höchſter Todesgefahr. 

Schon aus dieſem Grunde ſteht diefer verhängnißvolle Tag 
als der Bringer meines fchönften Reiſeerlebniſſes mir im Gedächtniß. 


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Es giebt fein beſeligenderes Gefühl, als einem anderen bas 
Leben zu retten, indem man das feine preisgiebt. Die That als 
folche war kaum etwas Bejonderes; der Antheil des Führers an 
derselben war gleich ftarf wie der meine, und jeder Bergführer 


der Alpen ift jeden Tag bereit, ähnliches zu thun, und ihut es | 


ohne Aufhebens. Mir aber war zudem in jenem Momente Mar 
geworden, welch ein Verluſt gerade der Tod diejer Fran für mic 
fein wide. Sie verförperte das Ideal einer Lebensgenoifin für 
mich, fo ſchön, To beivundernswerih, wie ich es bis dahin 
für unmöglich gehalten hatte, c8 im Leben finden zu können. 
Und nun lag fie vor mir, doppelt ſchön in ihrer Todesbläſſe, 
febend, weil ich fie gerettet! Sie war nicht die unnahbare, unbe 
ſiegbare Gletſcherkönigin mehr, fondern ein gebrochenes Weib, das 
der furdtbaren Gewalt des Königs, der im ewigen Eife regiert, 
in Schwachheit erlegen war. Sie war ein Weib wie ein anderes 
auch, das einer Stüße bedurfte — dieſe Stübe wollte ich ihr fein. 

Und ich war ihr, der Ohnmächtigen, zunächit auch die nöthige 
Stüße, Ic Lich es mir, nachdem wir ihe Wein eingejlößt und 
den Blutumlanf durch Neiben gefördert hatten, nicht nehmen, fie 
ſelbſt herniederzutragen auf dem Wege, welchen die inzwiſchen 
vereinigten Führer fir uns über das Gletſchereis gehauen. Und 
mir wurde das Glück zu theil, daß die aus ihrer Ohnmacht 
Erwachende fi in meinen Armen fand ohne Zeichen des Mif- 
muths oder des Mißbehagens, vielmehr den fanften Drud meiner 
Arme dankbar erwidernd. 

Unten über die Paſterze trugen wir die wieder Entſchlum— 
merte zu viert und im der Hofmannd= Hütte zimmerten wir 
eine Bahre, auf der wir fie wohlgebeitet ins Glocknerhaus brachten. 


Leider verfiel die geliebte Frau im ein fchweres Fieber. So fange 
‚ bis eine ihr befonders befreundete, von mir telegrapbifd herbei: 
gerufene Couſine herbeikam, Tieß ih mir, im Bunde mit ber 
Wirthin im Heiligenblut und unter Hinzuziehung des Dölſacher 
Arztes, ihre Pilege angelegen jen. Dann mußte ich dringender 
Gejchäfte halber fort, Auf mein Landgut in Surrey ließ ich mir 
Nachrichten über ihren Zuftand nachſenden. Als id vernahm, 
daß fie wieder geneſen fei, hielt ich beieflih um ihre Hand an, 
Nach einigen Tagen empfing ich die Antwort. Sie war ablehnend, 
aber die Ablehnung hat mich nicht gedemüthigt. 

Sie ſchrieb mir, daf fie meine Neigung bis zu einem gewiſſen 
Grade herzlich erwidere. Und zwar nicht bloß don dem tiefen Dant- 
nefühl getrieben, das fie mir als Netler aus Todesgefahr jchulde. 
Sie verchre in mir den muthigiten und unerfchrodenften Mann, ber 
ihr im Leben begegnet fei, aber der Mann, dem fie ihr Leben ganz 
anvertrauen möchte, müſſe ihr and) das Vertrauen einflöhen, daß 
er das feine wie das ihre nie verwegen aufs Spiel fee, Das 
hätte ich gethan, als ich fie zu einer Urt Weltlampf im Reiche 
des ewigen Eiſes heransgeforderl. Durch mein Beiſpiel jei fie 
damals jich Felder untren geworden und ihre Buße folle fein, daß 
fie hinfort nur fich, ſich ganz allein tren fein wolle, 

So bin ich ledig geblieben und fie auch. Aber eine treue 
Freundſchaft verbindet uns. Es ift wahr, ein Alpinijt, wie ich, 
taugt nicht zur Ehe. Aber wenn ich zur Winterszeit in meinen 
Arbeitszimmer daheim zwiſchen den Hobel Regalen mit meinen 
alpinen Sammlungen das Bild, das fie mir damals fchenkte, 
beruntergeüßien ſehe, — ich muß geitehen, daß ich dann recht 
melancholiich werden lann.“ (Schluß folgt.) 


Dentfde Städtebilder. 


Dresden. 
Bon Dr. Franz Koppel-Ellfeld. Mit Illuftrationen von Dlof Winkler 





Amgedung Presdens den Loldwiger Bergen zu. 


Brad ren müſſen ſich's gefallen laſſen, immer aufs neue 
abfonterfeit und bejprochen zu werden, heute en face, morgen 
im Profil; es giebt ſtets ehwas anderes zu loben und zu tadelı. 
Dresden iſt eine Berühmtheit unter den Städten; es iſt eine Perle, 
die im 18, Jahrhundert ihre reiche Rofokofalfung erhielt. Noch 
heute läßt der erſte Ucberblic den Fremden erkennen, daß die Natur 
und August der Starke das Meijte, ja fajt alles für Dresden 
gethan haben; Auguſt der Starke und fein Sohn, der in des 
Vaters Fußſtapfen trat. Links der Elbe erhob jich die wunderbare 
Kuppel der Frauenlirche und dev Zwinger wuchs wie cin Märchen 
aus dem Boden, die Bildwerle Corradinis und Bermofers füllten 
den Großen Garten, dem rechten Ufer gab damals ſchon das 
Japaniſche Palais den eigenartigen Abſchluß, die Nitterafademie 
und das Blodhaus an der alten Brüde ſchloſſen das Uferbitd. 
Die reizvolle Fatholiiche Hofkirche und die großartigen Garten- 
anlagen des Grafen Brühl auf der Feitungsterraffe vervollitändigten 
‚ die weltbefannte Vignetle, die man das malerische Monogramm von 
Dresden nennen lönnte. Unfere Hauptanficht (S. 600 und S. 601) 
zeigt dieſe Vignette von der Albertbrüde aus. Diefe Brücke wurde 
erft vor zehn Fahren dem Verkehr übergeben, aber fie hat raſch zur 


Entjtchung neuer aus Palajtreihen ſich zufammenfegender Strafen 
und Avenuen auf beiden Ufern geführt; aud die impofante 
Terraſſenuferſtraße mit dem vorliegenden breiten Quai naht ihrer 
Vollendung; fie wird einen prächtigen Abſchluß am Fuß des 
Belvedere erhalten, wenn erſt in einigen Jahren die neue Ring 
ſtraße dort, wo jeßt dem alten Elbberg mit feinen Baracken nodı 
eine furze Galgenfrift gewährt it, auf die vierte Elbbrücke mündet 
und zu dem peojektixten großartigen Staatsgebäuben und Straßen 
anlagen der Neuftadt hinüberführt. Unfere Abbildung zeigt alfo 
die altberühmte VBignette Dresdens, wie jie bald nicht mehr fein wird. 

Schon ijt der Doublettenfaal und das charakteriftiiche Cafe 
Torneamenti von der Terraffe verſchwunden; die neue Welt, die 
dort erjtehen ſoll, ift zwar noch mit Brettern vernagelt, aber 
ſchon fieht der fertiggeftellte Umbau des Zeughaufes der Terrasic 
von der Stadtjeite aus jo zu fagen über die Achſel; bald werden 
die Nunftafademie und das Kunftausftellungsgebäube ſich erheben. 
Das war das raſch ſich zu unvergänglicher Schönheit entfaltende 
Dresden, von welchem Loen im Jahr 1718 gejchrieben hat: „Es 
ſchien zu meiner Zeit ein recht bezaubertes Land, welches jogar 
die Träume der alten Poeten übertraf. Hier giebt es immer 


—e 604 














Masferaden, Heldens und Liebesgeichichten, verirrie Ritter, Aben- 
teuer, Wirthichaften, Jagden, Schützen- und Schäferfpiele, Kriegs 
und Friedensaufzüge, Geremonien, Grimaſſen, ſchöne Naritäten ; 
furz alles fpielt; man fieht zu, man fpielt mit, man wird 
ſelbſt aejpielt, Judendo ludimur.* Und von demfelben Dresden, 
das ſich dem Lebemann fo verführeriſch darjtellte, ſchrieb etwas 
fpäter der ernfte Windelmann: „Die reinjten Quellen der Kunst 
find geöffnet; glücklich it, wer ſie findet und fchmedt. Dieie 
Quellen juchen, heißt nad; Wihen xeiien, und Dresden wird 
nunmehr Athen für Hünftler.“ Dem Kavalier und vornehmen 
Abenteurer erichten dasfelbe Dresden als das deutiche Verjailles 
und dem finnigen Poeten, wie Herder, däuchte e3 ein deutſches 
Florenz. Schrieb er doch in der „Adraſtea“: 
„Blühe, deutfches Florenz, mit deinen Schaben der Kunſtwelt! 

Stille geſichert ſei, Dresden-Diympia, uns!" 

Und heute weiß jeder halbwegs Gebildete in allen fünf Welt- 
teilen, daß Dresden gemeint ift, wenn man von „Eilbilorenz“ 
fpricht. Nicht das Teibliche, das geiftige Auge nur konnte biefen 
Vergleich ſchaſſen. In Beziehung auf ihre eigenartigen äußern 
Neize können Florenz und Dresden nur mit ſich felbit verglichen 
werden und haben gar feine Aehnlichkeit miteinander. Es ift ein 
bimmelweit verjchiedener Blid, der von San Miniato und der 
von der Brühlſchen Terrafje; aber überrafchend iſt jeder und 





| Heftigiter Gegner war Ghiareri, 


o— 


wohl geeignet, ſich dem Beſchauer unvergeßlich einzuprägen. 
Der reisende Bogen des Elbſtroms mit feinen zahlreichen 
Schiffen, den belebten Brüden, den eigenartigen Bauten, 
den villengeichmüdten Gärten und Höhen elbaufwärts über 
Loſchwiß mit dem Burgberg bis zum Weißen Hirſch 
und thalwärts bi® zu den violettihimmernden 
fteifen Rebenhügeln der Lößnitz, das iſt ein Rund 
bild, auf welchem Architeltur und Landſchaft, laute 

großſtädtiſche Pracht und ruhige landſchaft 
liche Schönheit miteinander wetteifern, wie 
in gleicher harmonifcher Vereini 
gung nicht leicht an irgend einem 
anderen Punkt der Welt. So 
ftellt e8 dem Rundſchau Haltenden 
Auge im großen und ganzen ſich 
dar; im einzelnen freilich und als 
Detail betrachtet erfcheint mandes 
Heinlich, ftörend und geradezu häß 
lich. So das ftellemveife noch fehr 
vernachläffigte Ufer, der Ponton 
ſchuppen, fislaliſche und andere 
unansehnliche Gebäudelompfere auf 
der Neuftädter Seite, jo das fo- 
genannte italienijche Dörichen, das 
ipichbürgerliche Hötel Bellevue, das 
Finanzminifterium und die bau 
fälligen Baraden des Elbbergs 
auf dem Tinten Ufer. Da, die 
Brühliche Terraffe ſelbſt rechtfertigt 
den Welteuf, den fie hat, hödjitens 
als origineller Ausſichtspunlt auf 
Stadt und Land; Gebäude, ihrer 
würdig und bon monumentaler 
Schönheit, find unter Lipfius' Lei⸗ 
tung dermalen erſt im Bau be— 
griffen, und das wellbekannte Bel- 
vedere, das Rendezvous für alle 
Welt aus aller Welt, nimmt fich 
zwar ganz einzig aus, wenn es 
bei Nacht im Glanz feiner pom: 
pöfen Beleuchtung weit in bas 
Elbthal hinausſtrahlt und, wie e& 
unfere Abbildung zeigt, überdies 
noch die vom Vollmond befeudytete Kuppel der 
Frauenlirche zum Bintergrund Hat; bei Tag aber 
fieht es dafür wie eine richtige Theaterlouliffe nach gar nichts 
aus und nur die nediegene Fiebigeriche Bewirthſchaftung und die 
guten Konzerte der Hausfapelle entichädigen den Fremden einiger: 
maßen für die mit der Borftellung des Weltreftaurants vom 
Belvedere meiltentheils werbundene Enttäufhung Welches bunte 
Bild mag ſich Übrigens die Phantafie des Fremden von dem 
im Mittelpunkt des Dresdener Verlehrs liegenden „italienischen 
Dörfchen” entwerfen, und wie nüchtern muß ihm basielbe in 
Wirktichfeit daneben ericheinen! Unſere Abbildung bemüht fich, 
auch dieſes über Verdienſt befannte und populäre Nejtaurant 
von feiner vortheilhaftejten Ceite zu zeigen. Much Hier fpielt 
die Kuppel der Frauenlirche wieder eine Hauptrolle am Nacht: 
himmel. Sie erſcheint aber nicht bloß immer intereffant, fic 
hat auch eine ſehr merkwürdige Baugeſchichte. Georg Bähr, 
ihe Schöpfer, war ein einfaches ſachſiſches Dorffind, welches im 
Jahr 1666 zu Fürſtenwalde im Erzgebirge das Licht der Welt 
erblickte. Er ift nie aufer Lands geluommen und hat ala des 
„Raths Zimmermeiſter“ zu Dresden den genialen Baugedanfen, 
der ihn neben Michel Angelo und Chriſtopher Wren ftellt, aan; 
aus ich ſelbſt geſchöpft. Dit der zähen Energie eines Autodidalten 
bat er den Kampf eines echten Nünjtlenvollens gegen die fad) 
aenöffiiche Beichränftbeit fein Leben lang führen müſſen. Im Jahr 
1736 jchloß der Greis von TO Jahren die Kuppel; man zweiſfelte 
an ber Haltbarkeit derfelben; der Nath forderte wiederholt Gut 
adıten und fpecielle Riſſe für die Lalerne. Als dann der hochbetagte 
Meifter durch einen Sturz vom Baugerüjt jein Leben einbüßte 
(26. März 1738), bildete jich die Sage, er habe das Martyrium 
feines Lebens enden wollen und freiwillig den Tod geſucht. Sein 
der Erbauer der Fatholiichen 


—s 


Hoflirche. Unfere Abbildung (auf dem Tableau rechts oben) zeigt die 
lehtere von der Auguftusbrüde aus; fie wirkt befonders durch die 
Schönheit des luſtigen und elaftifchen Aufbaus und die vollendete 
Harmonie aller Berhältniffe. Achtundſiebzig Figuren von Heiligen, 
welche die Baluftraden ſchmücken, vollenden die reizende malerijche 
BWirkung des Ganzen; es find perſpelliviſche Künſtwerle, man 
fan jagen optifche Kunſtſtücke in ihrer Art. 

Un Thürmen ift bekanntlich, Dresden nicht reich; dagegen 
feibet es feinen Mangel an ſchönen wafjerreihen Brummen. Der | 
berühmte Marcolinifche ift fozufagen die Fontana Trevi der 
Stadt; der wie eine gelungene Illuſtration zu Scheifel ans 
muthende Gänfedieb-Brunnen von Rob. Diep könnte in Nürnberg 
ftehen. Der fogenannte „Gholerabrunnen“ von Semper ftrablt 
nad ſoeben vollendeter Neparatur in erneutem Glanz und — 
anderer wicht zu gedenlen — der jüngite bon allen, last not , 
least ift der Brummen mit der Vronzefigur bes heiligen Georg 
von Altmeifter Hähnel, feitwwärts der Sophienticche. Aus unferer 
Abbildung (S. 606) lann der Leſer die Stifreinheit und Formen⸗ 
ſchönheit erlennen, bie Hähnel eigen ift, fowie namentlich auch 
die klaſſiſche Ruhe, deren großartiges Gepräge er ſelbſt einem 
fo romantisch bewegten Stoff wie dem des Dradentödters in fo ge 
drängter Darſtellung aufzudrüden verfteht. Oben linf3 auf unferem 
großen Bilde jehen wir die Gemäfdegalerie oder das Mufeum, mit | 
welchen Semper in einem genialen Wurf den Renaiffanceftil der 
Neuzeit, der für Dresden und anderwärts maßgebend wurde, be 
gründet. Zugleich ſchuf Sempers Meifterhand damit einen echt Fünjt: 
leriſchen Abſchluß für das wunderfame und jphinyartige Fragment, 
das phantajtiichite Bauwerk Augufts des Starken, den Zwinger. 

Die Abbildung zeigt dasjelbe vom Hofe aus — mit Recht; 
denn” der ganze Zwinger (vom Bwingergarten fo genannt) war 
nur als Vorhof des nie zur Ausführung gefommenen Pracht: 
ſchloſſes gedacht, welches feine koloſſale Front mit Terraffen 
gegen die Elbe fchren follte. Der Zwinger ijt ein Unicum, 
mit feinem Bauwerk der Welt vergleichbar. Eine beraufchende 
Sinnlichteit weht uns aus feiner Formenfülle entgegen, die, ein 
Schreden aller hochweiſen Kunftpedanten, Teicht, kühn, 
frivol, aber immer elegant, den Baroditil im grandioſer 
Ueppigfeit auf die Spite treibt, im Gegenſatz zu aller 
Steifgeit flüffig und wie Champaanerihaum zu mouffiren 
fheint. Der Exbauer, Pöppelmann, bat feinem Fürſten 
ein prägnant charakleriſtiſches, unfterbliches Denk: 
mal gefegt, „un monument öternel de sa 
parfaite connaissance dans les beaux 
Arts“, wie es in einem hoben Dant: 1% 
ſchreiben ausgedrückt if. Aber ab- ve 
gejehen von allem Fremdarfigen 
und unbeichabet der Eigen: 
thümlichkeiten des Ba⸗ 
rockſtils Hatte fih am 
Zwinger eine ganz drigi⸗ 
nale ſachſiſche Kunſt aus: 
zubilden begonnen — - 
wie fehade, daß es dabei FF ZZ 
fein Bewenden Haben ° 
joflte! Was hätte aus 
Dresden nad ſolchen 
genialen Anläufen wer: 
den können! Auguſt der - 
Starte war ſicherlich 
fein konftitutioneller Fürſt und 
Vollsbeglüder im modernen 
Sinne des Wortes, aber heute 
noch follte fein Dresdener an 
feiner Statue vorübergehen, 
ohne den Hut abzunehmen. 

Diefelbe ftcht (vergl. das 
große Bild) vor dem Rath 
haus in Neuftadt am Gin 
gange der Hauptallee. Das 
etwas plumpe Meiteritand 
bild, von dem Augsburacı 
Kupferjhmied und Haupt 
mann Ludwig Wiedemann im 
Auftrag Friedrich Auguſts IL. 

1888 





> 
7 Pillmit) 
Gy — 


—— 

















gefertigt, iſt in Kupfer getrieben, ſchwer vergoldet und ſtellt den 
Herrſcher in römiſcher Tracht dar, mit frappanter Aehnlichkeit der 
Gefichtszüge, wie man fagt. 

Das ftimmungsvolle Bild des Zwingerteichs (S. 601 rechts 
unten) zeigt uns das neue Hoftheater Sempers leider nur von feiner 
unvortheilhafteſten Seite aus, dem fogenannten ‚Kaſten“ über der 


| Bühne; unfere Lefer aber willen ſchon aus dem Artifel „Dresdener 


Oper (Seite 847 des Jahrganges 1897), daß es eines der ſchönſten 
DOpernhäufer der Welt und gegenwärtig unter der mufifalifchen 
Leitung des genialen Ernft Schuch die hervorragendite Pilanzftätte 


‚ bes neuen beuffchen Opernftiles ift. Zu dem fonzentrirten inneren 


Dresden um ben Thealerplatz herum gehört aud die ioniſch— 
anmukhige Hauptiwache, das Schloß mit feinen romantifchen alter: 
fhümlichen Thurmhöfen und dem angrenzenden Stallgebäude (die 
Abbildung Links unten im Tableau zeigt den zu Ringelrennen und 
Balliumftechen dienenden „Stallhof*), deſſen Errichtung den Haus: 
und Landzeugmeiſter Paul Pücdner in ganz Europa berühmt ge- 
macht hat. Der Arfadenhof, theils von Ephen überwuchert, ift von 
ftimmungsvollfter Wirkung. Die Freitreppe, welche zur Terrafle 
führt (in der Abbildung dicht darüber), wird von vier bergol- 
beten Figurengruppen geſchmückt. Es find die vier Tageszeiten ; 

ohannes Scillina, der fich damals erſt durd) die Demiani-Statue 
in Görlitz bekannt gemacht hatte, führte fie auf höheren Befehl aus. 
Die Gefahr, an Michel Angelo zu erinnern, hat er glücklich um- 
gangen, die Aufgabe mit Geſchick gelöft und poetifch Liebliche, fein 
empfundene Figuren geichaften. Das dem deutſchen Klima gegen« 
fiber unzulängliche Material des Sandfteines hat zu der geichmads 
loſen Vergoldung geführt. 

Aus Dresdens beſter Zeit ftammen die großartigen Anlagen 
des Großen Gartens mit dem Palais im italienischen Willen: 
Renaiſſanceſtil (fiehe die Abbildungen S. 601 u. 602). In dem 
Ichteren find heute, wie im Thorwaldfen-Mujeum zu Kopenhagen 
des bäntichen, fo hier des fächfifchen Bildners Rietſchel fämmt- 
liche Werke pietätvoll zur Betrachtung aufgeitellt. Das Palais ift 
beſſer erhalten als irgend ein anderes Bauwerk früherer Zeit; 





gegen den Ruß, der alle Architektur zu Dresden auffrißt, Hat 


Pimgedung Dresdens unierhald der Marienträde, 


Familien und Hat nod vielfach den Charakter eines großen 


der herrliche Park einen ſhühenden Wall gebildet. Der „Große faſhionabeln Weltbadeortes; aber der Ruß, der von den vielen 


Garten” mit weiten Teichanlagen diente den üppigiten Sommer: 
feften; auch das Jagdſchloß zu Morigburg erinnert an die, 
luxuriöſen Gelage Augufts des Starken; die Abbildung (S. 605) 
zeigt jeine aparte Lage mitten im See, auf welchem der lebens— 
teuntene Mongrch Seegefechte mit venetianiichen Gondelfeſten ab: 


wechleln lief. Das Bildchen 
darunter zeigt den Sum: 
merfig des regierenden Kö— 
nigspaares, Schloß Pillnik 
an der Elbe, ein etwas wun⸗ 
derliches Gemifch von chine⸗ 
jifcher, japanifcher und ita= 
lienischer Bauart. Die oben⸗ 
itehende Nbbilbum deutet 
den idylliſchen, ſtellenweiſe 
niederländiſchen Charakter 
(unterhalb der Marienbrücke 
der nächiten Umgebungen 
von Dresden an. Diefer Cha: 
after ändert fich jedoch von 
Tag zu Tag mehr, indem 
namentlich im Reiten, alio 
unterhalb der Brüde, cin 
Fabrik: und Induſtrievier⸗ 
tel, eine Arbeiterſtadt her: 
anzuwachſen jcheint. Dres- 
den hat wohl noch immer 
feinen vornehmen Gharaf- 
ter; es iſt Die bevorzugteite 
Stadt der Fremden im 
Deuticen Reich; Englän 
der, Amerilaner und Rus 
fen bilden hier ſtarle Aus 
lonien, geben ganzen Stadt: 
theilen den Namen und 
haben, wie unfere Abbil: 
dungen zeigen, ihre eigenen 
Kirchen; Dresden iſt auch 
noch immer die Stadt der 
Schulen und Benfionate; 
es ift mit feinen herrlichen 
Umgebungen und gartenges 
ſchmüclten Billenvorjtädten 
das Eldorado der Rentiers 
und auf Penſion gefehten 


— 


J 
* 


Be a = 5 


- 
[et 





Per Georgsärunnen an der Sophienkirde in Presden, 


Scyloten des Plauenſchen Grundes und den Weftvorftädten als 
eine wahre Plane über Dresden fih ergießt, die entwidelte 
Kellenſchleppſchiffſahrt auf der Elbe, die mit ihren dichten Rauch— 
wollen und dem Ghetöfe der Mebelpfeife die Beſucher der Ter- 
raſſe, des Linfeichen Bades ober des Waldſchloößchens mitten in 


der ſchönſten Bewunderung 
jtört, geben fühlbar zu er 
fennen, daß Dresden bes 
reitd ein wichtiger Schiff: 
jahrtsplab, eine anſehnliche 
Induſtrieſtadt geworben ift. 
Die fächlifche Reſidenz be: 
findet ſich gegenwärtig gleich 
andern Städten im Reich 
im Webergangsprozeh von 
der großen Stadt zur Groß: 
jtadt. 

Bon innen heraus offen: 
bart ſich dieſer Forlſchritt 
in den grandioſen Durch— 
brüchen vom Altmarkt zur 
Ringitrafe, von der Morik: 
jtrajje über den Kohannis: 
plab zum Großen Garten, 
jowie in der Umbildung 
von unanfchuliden Häu— 
fern der Aliſtadt zu groß: 
jtädtifchen Raläften, Ma: 
gazinen amd Raufhallen. 
Großartige öffentliche Bau: 
unternchmungen find ber 
veits im Werle, wie auf 
der Terraife, die Erſchlie 
jung der Ringſtraße, oder 
jtehen nächſtens bevor, wie 
die vierte Vrüde, die Bes 
bauung des weitfchichti- 
nen fistafiichen Areals der 
Neustadt mit öffentlichen 
Prachtbauten und Impofan- 
ton Quai⸗ und Strafenan- 
lagen. Möne die Aera der 
Durchbrüche der freien Ents 
widelung auf allen Lebens> 
gebieten eine Gaſſe bahnen! 


= o 


607 


Die Augen der Frauen. 


Simon Hherbel. 


on Dr, mel. 


ID“ Bieles und wie Schönes ift nicht ſchon über die Augen | 


ber Frauen geſchrieben und gefprochen worden! Wie ha: 

ben diefe „strahlenden Sterne” feit jeher Sänger und Dichter zu 
fhwungvollen Dithyramben begeiftert, 
welche die ſchmerzlich ſüßen Gefühle bejingen, die ein Frauenauge, 
verfagend oder verheißend, hervorzurufen vermag! Bon Al-Hafiz 
und Firdufi bis Heinrich Heine und Bodenftedt-Wirza:Schaffy, ſtets 
derjelbe Breisgefang, wenn auch in taufend Variationen und in unge 
zählten Farbenmifchungen von verherrlichenden Worten und Tönen! 
Und doc; ijt das Muge der Fran nicht anders gebaut wie 

das des Mannes, und beide gleichen einander in der Art, wie 
fie gebildet find, fo vollfommen, daß der geiviegtejte Anatom, 
wenn ihm ein Auge allein vorgelegt wirde, nicht im Stande 


zu den fchönften Liedern, | 





wäre, zu entjcheiden, ob es das einer Frau oder eines Mannes | 


geweſen it. Daher giebt es denn unter den Naturforichern jo 
manchen böfen Sfeptifer, der von all dem, was die Dichter in 
das Auge der Frau hineingelegt und aus ihm herausgelefen haben, 
nichls, gar nichts vorgefunden haben will, der das ſchmachtende 
Blau, den „Widerfchein des Himmels“, oder das feurige Schwarz, 
die „nluthvollen Pemanten* des Frauenauges für einfaches 
blaues oder dunkles Pigment, d. 5. Farbjtoff in der Regenbogen- 
haut erklärt, und fo fan auch der Arzt leider nicht umhin, zu 
aeftehen, daß die Augen der Frauen ebenjoviele „Fehler“ beſitzen 


wie die der Männer, ja, daß es Leiden der Augen giebt, die in | 


der weiblichen Welt viel häufiger anzutreffen find als in ber 
männlichen. Wenn wir bier mit einigen Worten darauf Hinweisen 
wollen, fo feitet uns der Wunsch, eine Mahnung und Warnung 
auszufpredhen mit Bezug auf gewiſſe zunehmende Verſchlechterungen 
in den Augen vieler frauen, und dem weiteren Umfichgreifen jener 
nach Möglichkeit vorzubeugen, damit nicht ſchließlich die Wirllich— 
feit in einem zu ſchroffen Gegenſatz ftche zu den Lobhymnen der 
überftrömenden dichterifchen Vegeifterung. 

Zunächft ift es die Kurzſichtigkeit, welche fich auch bei dem 
weiblichen Geſchlechte immer mehr auszubilden beginnt, wenn fie 
auch nicht die hohen Grade erreicht, die wir bei dem männfichen 
Geſchlechte antreffen. Die Ueberlaftung mit Arbeit in den höheren 
Töchterſchulen geht eben glücklicherweiſe nicht fo weit wie in den 
höheren Bildungsanftalten der Knaben. Nun ift ja allerdings 
die Kurzſichtigkeit fein fo großer Uebelftand, fo lange fie nicht 
hodygradig ift; fie zwingt aber zur Benugung einer Brille für das 
Fernſehen, was freilich den Neiz eines jchönen Mädchenauges nicht 
eben erhöht. Allein wenn die Aurzfichtigfeit ftärler wird, fo 
machen fich doch größere Bejchwerden bemerlbar, da es nothwendig 


wird, die Gegenitände näher an das Auge heranzubringen, was | 


einen vermehrten Blutandrang nad) dem Auge zur Folge hat. 
Dann ftellen I die ſogenannten fliegenden Müden (mouches 
volantes) ein, d. h. lleine dunkle Pünktchen, welche im Hellen vor 
dem Auge hin⸗ und herichweben; es kann ferner zu Trübungen 
im Slasförper fommen und zu nod) gefährlicheren Veränderungen 
in der Schnervenhaut. 

Segen die zweifelloje Zunahme der Aurzfichtigfeit unter dem 
weiblichen Geſchlecht läßt fih nur dadurch anfämpfen, daß in den 
Schulen für beffere Bänke und Tiſche und für hellere Beleuchtung 
geforgt wird, und daß die Urbeiten in der Häuslichleit, bei denen 
die Augen angeftrengt werden müſſen, verringert werden. 

Ebenjo wie die Kurziichtigfeit ift auch die von Proſeſſor 
Donders in Utrecht vor noch nicht langer Zeit endete Ueber: 
fichtigkeit in geoßem Maße im der Frauenwelt verbreitet, 
Während aber bei der Nurzfichtigfeit die Augenaxe zu lang ift, 
d. h. das Auge in der Nichtung von vom nach Hinten länger iſt 
als normal, und diefer Fehler durch eine Konkavbrille ausgeglichen 


der Nähe. Deshalb ift es cin Fehler, 








wird, iſt bei der Ueberfichtigkeit die Augenare zu kurz, und bier | 
drei bis vier Prozent der Männer an diefer Krankheit leiden. 


ift eine Ronverbrille nöthig, um die dadurd) bedingten Geh: 
ftörungen zu befeitigen. Die Ueberfichtigkeit jedoch ift angeboren 
und laßt fich nicht erwerben. 

Wohl zu unterjcheiden von der Ueberfichtigfeit iſt die bei 
Frauen ebenfalls fehr Häufig vorhandene Weitfichtigfeit ober 
Altersfichtigkeit. Den Iepten Namen hat fie daher, daß fie 
gewwöhnfich erſt im Anfang ber vierziger Jahre auftritt, und ihre 


desjenigen Mustel3 im Augeninnern, ber die Aderhaut anfpannt, 
infolge deſſen das an derfelben befeftigte Band lodert, am welchem 
die Linfe aufgehängt iſt, und dadurd die ihrer eigenen Elaftieität 
folgende Linſe ſtärker gefrümmt macht, was für das Schen in ber 
Nähe (Accommodation) nöthig if. Wenn diefer Muskel, wie alle 
Musfeln im Körper, mit zunehmendem Alter ſchwacher wird, wenn 
alfo infolge davon die Linſe nicht mehr in die ftärker geklrümmte 
Form verjept werden Tann, dann wird auch das Leſen in der 
Nähe immer ſchwieriger. Namentlich zeigt fi) dies am Abend, 
und das Bud) wird danı weit vom Auge entfernt und hinter 
das Licht gehalten, um das Lefen zu ermöglichen. 

Hier erſpart eine richtige Konverbrille, die vor das weit: 
fichtige Auge gefeht wird, der Linfe die ftärkere Krümmung, er 
ipart denn ſchwach gewordenen Necommodationsmustel die Arbeit 
und ermöglicht alfo wieder das bequeme Lefen und Arbeiten in 
unter ſolchen Umständen 
das Auge übermäßig anzuftrengen, nur um das Tragen einer 
Brille zu vermeiden, was ja allerdings mancher Frau, die durch— 
aus noch nicht gewillt ift, ich zu den „Alten“ zählen zu laſſen, 
als „großmütterlich” erjcheinen muß. Die Konverbrille hilft aber 
unter dieſen Berhältniffen jene Altersbeſchwerden, die ſich un 
erbittlich geltend machen, leichter ertragen und beivahrt vor 
größerem Schaden an den Augen. 

Gar nicht felten aber hen ſich eine ſolche Ermüdung 
des Accommodationsmuskels gewiſſermaßen vorzeitig ein, alfo 
ſchon vor dem vierzigften Lebensjahre (oft ſchon im ziwanzigjten 
Jahre), und dies ijt eine der hauplſächlichſten Erkrankungen 


| des Frauenauges. Profeſſor Cohn in Breslau hat dies Leiden 


unter 811 Fällen fiebenhundertzwanzigmal bei frauen vorge: 
funden. Es iſt alfo ein Mangel an Ausdauer im Sehen, 
eine leicht eintretende Ermüdung und wird Aithenopie genannt, 
Diefelbe fann fo hochgradig werden, daß ſelbſt für wenige Minuten 
ein anhaltendes Lejen oder Arbeiten in der Nähe zur Unmöglid): 
feit wird, daß die Buchſtaben oder die Nadelftiche durch einander 
laufen oder gleichfam zittern und ſchwanken, und daß ſchließlich 
bei fortgefegter Anftrengung der Augen Schmerzen in denfelben 
und Entzündung eintreten fünnen. Die Aithenopie ift gewöhnlich) 
auch die Folge einer andauernden Thätigkeit in der Nähe, kann 
aber auch von nmiederbrüdenden Einwirkungen auf das Gemiüth 
herrüßten, 3. B. von Schred, Gram und Sorge, von erichöpfenden 
Krankheiten und von v.elem Nachtwachen. 

Dit zu den wejentlichften Urfachen gehören die feineren 
Handarbeiten; vor allem alſo das Buntjtiden, die Stanevas- 
ftiderei, die jo beliebte Filetquipure, ganz befonders aber das 
Namenjtiden, der Blattjtih) und die feine Perlen: und Spiben: 
arbeit. Hier ift es erforderlich, die Arbeit dicht and Auge heran- 
zubeingen, und dadurch twird der Accommodationsmuskel in einer 
Weiſe angeftvengt, die ihn immer mehr entkräften muß, vornehmlich, 
wenn auc die Beleuchtung bei biefen Arbeiten eine nicht aus: 
reichende ift. Wer durd) den Kampf ums Dafein gezivungen ift, 
ſolche Arbeiten auszuführen, der möge wenigjtens dabei genügende 
Unterbrechungen jur Erholung des Auges eintreten laffen und 
möge für gute Beleuchtung und große BVorzeichnungen forgen. 
Der übrigen Frauenwelt ift jedod von jenen feineren Handarbeiten, 
die ja heutzutage durch die Mafchine ebenfo gut und wohlfeil her— 
gejtellt werben, durchaus abzurathen. 

Indem wir andere noch ernitere Augenleiden, welche über: 
twiegend das weibliche Gefchlecht bedrohen, z. 8. den grünen Staar, 
hier übergeben, da die dabei auftretenden ſchweren Symptome 
fofort zum Arzte führen, wollen wir nicht unterlaffen, hervorzuheben, 
daß, im Gegenfage zu den erwähnten Sehftörungen, die Farben— 
blindheit in ber weiblichen Welt äußerft ſellen iſt, während doch 


So haben denn alfo audy die Augen der Frauen ihre Fehler, 
fogar foldye, die ihnen mehr anhaften als den Augen der Männer. 
Ob auch jener geheimnißvolle Aufruhr, jene uralten und doch 
eiwig neuen Empfindungen, die fie in dem „himmelhochjauchzend 
zum Tode betrübten“ Mannesherzen wachzurufen pilegen, zu 
dieſen „Fehlern“ zu rechnen find, darüber zu enticheiden, wollen 


Ürſache ift die Ermüdung des Mecommodationsmustfels, nämlich | wir den Dichtern oder den — Ehemännern überlaffen. 


—ö 


608 


Die deuffchen Vermißten und die „Hartenlaube*. 


** zulehzt im Jahrgang 1886 (5. 335), hat bie „Gartenlaube“ 
ie 

mit ganz genauer Mdreile zu veriehen, da dieſelben ſonſt nicht —— 
find und nur allzu oit verloren gehen. Erfolgt dann anf einen jo ver— 
forenen Brief feine Antwort, fo tritt oft eine lange unangenehme Unter: 
brehumg des chriftlichen Verlehrs ein, bis endlich durch mühjelige Nadı- 


forjchungen die Adrefie aufs neue feftgeftellt, ber Geſuchte wiedergeiunden | 


1 Ir Vermißtenliften der „Bartenlanbe” geben hiervon ein beredtes 
eugniß. * 

Die meiſten unbeſtellbaren Briefe gehen nach den Vereinigten Staaten, 
troßdem ameritaniſche Zeitungen von Zeit zu Jeit die Aufforderung er- 
laffen, die Adreſſen der nadı den Vereininten Etaaten beilimmten 
ja decht deutlich zu fchreiben, da große Mengen aud aus Dentich 
tommender Briefe ungenügenter Adreffen halber zerjtört werden müßten; 
zumal auch, weil die Unterfchriften der Abfender in den fpäter amtlich 
als „unbeftellbar" geöffneten Briefen oftmals nur aus blohen Bor oder 
Berwandtichaftsnamen bejtänden, Snmer wieder wird auch darauf auf⸗ 
mertfan gemacht, dat der Aufban oder die Anordinung der Adreſſen jelbft 


riefe | 
land | 


ahnung ausgeiprodhen, Briefe an Angehörige im Auslande | 


beiier nach ameritaniichen Syſtem als nach deutſcher Weiſe geſchehe, 


welche eritere Art von allen anberenropäifcen Staaten angenommen 
worden ijt. Zum Vergleiche diene dieſe Anordnung: 


deutſch: amerilaniſch: 

Mr, N. R. Mr. N.N. 
Eineinnati 349, Vine Street, 
Rord- Amerika Cineinnati (O.) 


Bine Street Nr. 49. U. St. of N. A. 

Es ift hierbei dad von unten nad oben zu wandernde Auge bed 
Briefträgers und befonders der Brieffortirer in Obacht genommen: Land — 
Stadt (mit Staat) — Straße mit Nummer — Name, Ju den Adreſſen 
amerifanifcher Briefe num, die hier ja hauptfächlich in Betracht Fomuten, 
erg auch die verichiedenen Ablürzungen eine große Rolle, in eriter 

eihe die Buchjtaben- und Eilbenablürzungen 


ür bie verichiedenen | 


einzelnen Staaten der Union, die unmittelbar hinter den Städtenamen, 


meistens in Klammern, ftehen, z. B. Bofton (Maij.) oder Boston, Mas 
Die folgenden Abkürzungen der Staaten und Territorien habe ich fämmtlich 
amerifaniichen Briefitempeln, öflentlihen Anzeigen und fonftigem autben- 
tifchen gedrudten Material für den Zweck entnommen, um ameritanische 
Adreſſen beſſer verfichen und fchreiben lernen zu Lönnen. Für viele 
Empfänger, für die meiſten vielleicht, jind ja dieſe Buchjtaben- und 
Silbenablürgungen Hinter den Stäbtenamen, wie O, Pa., Cal, Or., Va., 
N. Y. ac. etwas durchaus Räthſelhaftes. Die gebräuchlichen Abkürzungen 
find die folgenden: New-Eugland Staaten: Me, (Maine), N. H. (New 
oder Neu Dampihire), Vt. (Bermont), Mass. (Maffachnjetts), R. J. 
(Rhode Aland), Comm, (onnecticut); die Mittel» Staaten: N. Y. 
(New ort), N, J. (New Jerſey), Pa, (Beunfulvanien), Del. (Delaware), 
Md. (Maruland), D. O. Bundespifteikt von Eolumbia). Die füdlichen 
Staaten: Va, (Birginia), N. C. (Nord-Earolina), S. ©, (Sitv-Earolina), 
Ga. (&eorgia), Fla. (Florida), W. Va, (Weit-Birginia); die nordiweftlichen 
Staaten: ©. (Dbio), Mich. (Michigan), Ind. (Andiann), IN. (Alinvis), 
Wis, (Bisconfin), Jo, ($omwa), Minn, —— Kans. (Stan as) und 
Colo. (Eolorado); die jüdhweitlihen Staaten: Ar (Kentudy), Tenn, 
(Zenneffee), Als, Alabana), Miss. (Miffijfippi), Mo. (Mifiouri), Ark. 
(Hrkanfas), La, (Zonifiana), Tex. (Teras), Nev, (Nevada), N. M. (New 
Merito), und die paciſtſchen Staaten: Cal. —— und Or. (Oregon), 
Die Territorien, das heißt nicht in den Unionsftanten-Verband eingetretene 
Staaten, die jih ihre eigene Verjafjung neben, welche jedöch vom 
Kongreh anerlaunt werben muß, wie aud) der jebesmalige Präfident bie 
„Governors“ der Territorien ernennt, dieje Halb-Staaten And: U, (Utab), 
Wash, sten), Nebr, ae Ariz, (Yrizona), Dak. (Dafotah), 
ld. (Idaho), Mont, (Montana), Wyo, ring) und Alas, (Mlasta). Ad 
glaube wohl annehmen au Tönnen, daß deutſche Berwandte in allen dieſen 
Staaten vertreten find und Briefe abienden und „erwarten", 


Mass. | 





‚ weniger geben! 


Die fonft auf ameritanischen Briefen üblichen Abkürzungen find und 
bedeuten: Mr. Miiter, fo ausgeſprochen, allein nie To geichrieben, 
unfer „Drer“), Mrs. (gefprochen Mifiis, doch wicht fo geichrieben, eine 
Abtürzung von Miftren) für verheiratete, wie Mih für unverheirathere 
Frauen aller Gejelljchaftstlafien. Die Ablürzung Esqy., and Esqre. ge 
ihrieben (= Esquire), ift, im Bergleich mit dem einfachen Mr. (Der), 
ein den feineren Geſellſchaftstlaſſen angehörenden Herren, Großlaufleuten, 
Grumndbefiern, Gelehrten und Beamten beigelegter „Titel“, der eima 
unferem „Docdtwohlgeboren* eutſpricht. Das Mr. fällt dann vor ‚dem 
Namen fort, 4. B. alfo James Field Esq. — Unfer „per Adreſſe“ ift 
anf den Briefen durch das vielangewandte c./o, (= care of, wörtlid) 
zur Bejorgung von) wiedergegeben, 4. B. 

Mr. M. Mrımm 
e./o, James Field Esq. 
Ave, {= Avenue), eigentlih Allie, jeht allgemein für größere Straßen, 
wie Fifth Ave. (auch nur 5tb Ave.), in New York als Millionär-Strabe 
befaunt; cor. (— corner, Ede einer Straße); st. (hinter 1, 21, 31, 121 x.) 
nd, (hinter 2, 22, 42, 122 ꝛc), dd (binter 3, 33, 133 2c.), th, (hinter 4, 
5,6, 7, 8, 18, 128 a0.) Dedenten 1., 2, 3, 4., 42. 2c. und ftehen zur Be- 
zeichnung der nad und mit Jahlen vielfach benannten Straßen (Streets, 


oder abgelürzt Str.), alfo 3. B. 


cor. of 31 Ave, & 24 Str, 


das heiiit Edle der 3, Avenue und 4. Straße. U. St. of N. A. fteht für 
United States of Nortli America, Vereinigte Staaten von Nord-Amerifa. 
Die Adreſſen müſſen, wie ja auch befannt, nur mit lateiniſchen Bud 
ftaben und redıt deutlich gefchrieben werden. Auf der Nüdfeite des Briejr 
unsichlag® oder Slouverid bemerte man auch den vollen Namen des Mb- 
jenders, feinen Wohnort und die etwaige nähere ner ung here 
(4. 8. A. Hahn, Briepert bei Füritenberg, Medienburg), Cine voll- 
ftändige Adreſſe baut ſich etwa jo auf: 
Mr, A. Brenner 
e./o. B. D, Petersen Esq, 
cor, Zul Ave, & 334 Str. 
Fontana (Kans.) 
U,St, of N. A. 
oder: North America, 
Mr. H, Gern 
23, Whitney Street 
Congress 
Wayne Co. (0.) 
North America, 

Die Ablürzung Co, in der Ießteren Adreſſe bedentet nicht etwa 
Kompapniegeihäft, Fondern steht für Comm, Grafichaftseintheilung eines 
Staates, wie bier eine der Eintheilungen von Ohio (0.). 

Diefes find die groben Einzelheiten einer joldyen Adrefle, die auch 
in dem Briefe ſelbſt wiederholt werden muß, wie dies in jebem von 
Deutichland abgejandten Briefe mit der deutichen Adreſſe, oben zu Anfang 
des Schreibens, der Fall ſein follte, damit beim etwaigen Oeffnen des 
Briefes von amtlicher Seite nicht nur die volle Litterichriit, fondern auch 
die volle Adreſſe des Vrieifchreibers feitzuftellen iſt. Die Mehrzahl 
der Auswanderer achört dem Bauern» oder Handwerkeritande an, bie 
zum großen Theil ihre Schulbildung zu einer Zeit erhalten haben, wo 
noch der Unterricht in der Vollsſchule arg daniederlag, Man muß 
Briefe von folder Hand geichen haben, um au erfchreden über den 
Mangel an prattifchen Keuntniſſen und Fertigkeiten in diefen Vollelreiſen 
Nadı_ „drüben“ bin geht dazu der Wunſch, vodt deutlich und Har die 
Adreſſen in jeden Brief zu Schreiben; an unfere Beiefichreiber „daheim“, 
die gelandten Adreſſen reht deutlich nachzuſchreiben, oder „nahzumalen*, 
wo es nicht anders geht, und ſich dabei die obenerllärten Abfürzungen 
recht Mar zu machen. Richtige, genaue Adreſſen und fteis ganze Namens- 
unterichriiten — und viel Jammer und lage über Verfdjollene wird es 
Kermann Aimdt. 


Oder ad): 


Bläfter und Blüten. 


Friedrih Hofmann F. Wiederum dringt zu uns aus dem Thüringer: 
lande eine Schmerzlihe Trauerbotichaft: der ältefte Veteran der „Barten» 
laube“ Friedrich — iſt am 14. Auguſt in dem Badeorte Ilmenau 
m Hreile feiner Lieben ſanft entichlafen. 

Sicbeuundzwanzig Jahre bat er raftlos für unſer Blatt gewirkt, 
und wie verdienftvoll feine Thätigfeit geweſen, das ift unferem weiten 
Lejertreife wohlbefannt. Bor zwer Jahren, als der mın Deimgegangene, 
damals schon in dem hohen Alter von 73 Jahren ftehend, sich von der 
regelmäbigen Thätigleit in unferer Redaktion zurüdzog, um die wohl« 
verdiente Ruhe zu genießen, haben wir unferen Leſern eine ausführliche 
Biographie Friedrih Hofmanns mitgerheilt und ihm öffentlich gedault für 
die anfopferungsvolle Treue, mit der er unſerem Blatte gedient. An dem 
erhebenven Lebensbilde, welches wir damals entrollen founten, vermochten 
die zwei legten Jahre nichts zu ändern: Friedrich Hofmann ift bis zum 
leiten Athemzuge der „Alte“ geblieben, der ſiets nad) feinem Gruudſabe 
handelte: „Nur das Echafien macht rende und aller Freuden frendigfte 
ift das Bauen am Glück anderer.“ 

Stets folgte er dem Auge des Herzens und fonnte nicht leben olme 
wohlzuthun. Er jelbit Pommte nicht mit offenen Händen geben, aber er 
fand fters das richtige Wort, um die Hände der mit Yebendgütern reicher 


Geſegneten zu öfinen. Dabei war er ein eigenartiger Wohlthäter. Nicht 
allein materielle Hilfe wollte er denjenigen bringen, welche hart ringen 
mit der Lebensnorh, jondern er war aud; unermüdlich darauf bedacht, 
dort, wo es nöthig war, „den Derzensfrieden zit ſtiften“. Er hatte feine 
Unglüdlichen, die Tonit in der Belt vergejien waren, und für die zu ſorgen 
er ſich verpflichtet fühlte, So war er jahrelang beftrebt, Verſchollene 
aufzufinden und die verlorenen Söhne in den Schoß der Fantilie zurüch 
zubringen. Wie viele er dadurch beglüdt hat, davon zeugen feine oft 
rührenden Berichte über die „Befundenen“ in der „Bartenlaube*. 

Las ift der höchſte Lohn für unfer Wirken, wenn wir erfahren, 
daß 08 und gelungen ift, in ein düfteres Heim einen Sonnenjtrabl dringen 
zu laſſen,“ jo fagte er, wenn Dantbriefe für irgend ein von ihm unter- 
nommenes Liebeswert aulamen, und er halte diefon Lohn in hohem Waiie 
geerntet, denn bie von ihm gefammelten Licbesgaben wanderten in alle 
Gaue Deutichlands, 

Bas Friedrihb Hofmann als Schriftſteller und Didter 


+ i eſchafſen, 
das wird nicht verloren gehen und wicht vergeſſen werden; da 


er aber 


, monatelang im Jahre in aller Stille an den Werten reiner Nächſtenliebe 


arbeitete, das iſt nicht einmal allen denjenigen befaunt, die Durch ihn 
beglüdt wurden — und in dem Lorbeerlrang, der anf das Grab des 


——— — RER 


·'⸗ * * u 








Bedereien, 
Rach dem Delgemälde von Dugo Kaufmann— 


efegt wurde, ift gerabe biefes edle ſelbſtloſe Wirlen 
doch das ruhmreichite Blatt, Friedrich Hofmann war nicht, wie man zu 
fagen pflegt, ein quter Menſch, wie es deren viele im Leben giebt und 
die ſich an wo'lthätigen Werfen betheiligen; ihm war die Wohlthätigleit 
Lebenoͤzweck und darum gebührt ihm eim chrender Pla ımter ben 
Vhilantbropen der Neuzeit. , i 
Friedrich Hofmann zählt zu den populärften Dichtern und Schrift- 
ftellern Deutſchlands und feinen Ruf verdankt er feiner patriotifchen Ge— 
finmung. „Die Feder tangt 7 wenn fie nicht im Dienfte einer höheren 
Idee jteht”, fo dachte er als cheiftiteller und die Einheit Deutſchlands 
war auch für ihm das Ideal, welches er litt und tritt. Sollen wir 
an feine Berdienfte mac dieſer Richtung hin erft erinnern? Fragt 
nur in Schleswig. Holftein, fragt in Siebenbürgen, fragt die Deuſſchen 
unter dem Sternenbanner jenfeit des Oceans — dort überall fennt man 
ihn; denn in Zeiten ſchwerer Kämpfe trat er muthig ein für die „wer: 
lasienen Bruderjtämme* und ſuchte fteis auch im meitefter Ferne das 
Band nationaler Zuſammengehobrigleit fejter zu hrüpfen. —— 
Noch vor wenigen Wochen dachſen wir, daß unſer Veteran ſich in 
den Thüringer Bergen unter der ſorgſamen und liebevollen Pflege ſeiner 
Gartin und Kinder erholen werde. „Auf Wiederſehen!“ wie frifch und zu⸗ 
verfichtlich Hang noch der letzte Abſchiedsgruß! Es ift anders gelommen. 
Nun ruht er im Thüringerlande, das er jo oft befungen, in fo vielen 
Artifeln wahr und warm geſchildert. ‚ 
„Man lebt berrlic auf den Thüringer Wald und ruhet wohl in der 
Thüringer Erde!” Das war vom Herzen geiprochen, theurer Freund, 
und das Schigſal hat dir deinen Wunſch erfüllt. Dein „Ihüringer 
Frühling“ wird jedes Jahr Tommen und mit friichen Blumen deinen 
rabhügel ſchmũcken. &s wird aber noch Jahre lang auch eine andere 
Saat Iprießen, blühen und goldene Früchte tragen, die herrliche Saat der 
guten Thaten, die du ansgeftrent Haft. Umd dein Andeulen wird fort 
leben in den derzen aller, die du beplüdt haft, und in den Herzen der 
Freunde und Kameraden, die um dich trauern. nd 
Prinz Friedrih Karl-Denkmal zu Frankfurt a, O . In Halbe 
heft 18 der „Shartenlaube“ brachten wir eine Mbbildung der Reiteritatue 
des Prinzen Friedrich Karl von Preußen, welche in Steglik bei Berlin 
errichtet werden joll; inzwiſchen ift ein anderes dem tapferen Neiter- 
general gewidinetes Denkmal in Frantfurt a. D, bereit® enthüllt worden, 
und zwar am 16. Auguſt, im Gegenwart Kaifer Wilhelms I. Das 
Bentmal zeigt den Prinzen im ſtehender Figur ohme jede *06 
Zuthat in der fireng hiſtoriſchen Hnſarenunſoörm, den Marſchaliſtab in 
der Rechten. Die Geſichtszüge des Feldmarſchalls zeigen Erregung und 
Energie; die Borträtähnlichteit it eine unverfennbare. 
er Schöpfer des Denkmals ıft der noch junge Berliner Bildhauer Mar 
Unger, der mit diefem Standbilde — feinem exiten Werke von mionumen- 
taler Beitimmung — einen fehr glüdlihen Wurf gethan hat. ° 


Heimpegangenen nied 


610 





' plöglich vor uns auf und eröfinet den 


Fremdwörter des deulſchen Bühnenwelens. Abgeſehen vom den 
Speifetarten und den militärischen Menlements findet ſich der größte Schab 


von Fremdwörtern bei der deutichen Bühne, In einem kurzen Mahnruf: 
entjche Worte für deutſche Kunſt“, will a enoees bie deutſche 


D 
Bühne von diefen Fremdwörterwuſt befreien. Unter feinen Vorſchlägen 


findet ſich weniger Gezwungenes als unter vielen Verdeutſchungen fremd» | 


ſprachiger Kunftausdrüde. Wir wollen aus der großen Lifte einige mehr 


oder weniger annchmbare neudeutiche Mortbildungen hervorheben: für | 


Negie Spielorduung, für Regiſſeur Spielorbner, Fir Bonvivant Lebe 
mann, für Corps de Ballet Tanzchor, für Koulifie Seitenwand, für 
Euſemble Geſammtſpiel, für Repertoire Spielplan, für Requifiten Gerätbe, 
für Soufilene Vorſprecher, für Soliſten Einzeljänger, für Soubrette 
muntere Sängerin, fiir Berfonal Hünftlerichaft, für Novität Neuheit. Doch 
EL es auch nicht an einzelnen Hebertragungen, denen man die Gewalt» 
anfeit anmertt, während bei andern das neue Wort einen — 
hat. Aue ganzen iſt es nur zu billigen, daß man auf allen Gebieten 
wenigitens die überflüfligen Fremdwörter auszumerzen ſucht. + 
Kohunterriht für arme Mädden. or einiger Zeit haben wir 
unſeru Leſern mitgetheilt, daß in Darınjtadt der Verſuch gemacht worden 
ift, Schulmädchen im Alter von 13 bie 14 Jahren Hocunterricht zu 
ertheilen. Der Unterricht erſtredte jich lediglich auf Tochter ärmerer 


Familien, auf jene Kinder, deren Eltern tagsüber in Fabrilen arbeiten | 
Nunmehr ift 


und ber häuslichen Erziehung fich nicht widinen können. 
beinahe ein Jahr jeit der Einführung des Unterrichts verfloffen und die 
Möglichkeit gegeben, über die Amedmähjigfeit der Neuerung ein Urtbeil ab- 
zugeben. Es ut uns, daß mir unfern Leſern jagen fönnen: ber uch 
iſt gelungen. In einem Bericht, der darüber ſoeben erfchienen iſt, heilt es: 

„Der Eifer der jungen Köchinnen war ftets groß, ihre Anſtelligleit 
natürlich jehr verſchieden; die Mehrzahl begriff aber ehr leicht und arbeitete 
forgfältig und mit gutem Erfolg. Bei der Entlafjung aus der Anftalt 
erhalten die Kinder ein entiprehendes Kochbüchlein (Jur Bollsküche in 
der Familie‘, bei 2, C. Wittih in Darmftadt) als Seichent. Bereits 
werden die Mädchen zu Haufe an den Herd geitellt, fo oft die Mutter 
ihrem Verdienſt nachgeſt. Ber Zweck des Unternehmens ergiebt ſich 
alio ala vollitändig erreichbar, es ift aber auch durch dieſes gelungene 
Veiipiel dargethau, daß die Gemeinden olme große Koſten ihren Wolts- 
mäbchenichulen einen folhen Kocunterricht beigeben können, und dieſer 
Beweis hat im Antereffe der ärmeren Familien und ihres häuslichen 
Glüdes für uns den höciten Werth.“ 

In der That berrugen die Hoften des Unternehmens nur einige 
hundert Dart, Dan fann darum die Nachahmung dieles gemeinnüßigen 
Kodmterridts nicht warm genug empfchlen. Wie viele Taufende von 





Gartenlaube Veſern beftens empfohlenen We 


„Dausfrauen” des Arbeiterftandes Mo: ed heutzutage, die nicht fochen | 


fönmen; wie viele Taufende von Männern werden dadurch ins Kirchs- 
haus geführt, und wie viel Vermögen der Meinen Leute wird durch bie 


Unkenntniß der frauen in KHüchenangelegenheiten nuplos verſchwendet! ı tiver Beziehung gleih dauernden 
focintes llebel, und doch iſt es jo leicht, ihm abzuhelfen. 


Das ift audı ein 
Alfo geht und thut deigleichen! ⸗ 


0· — 


Der „Garlenfauße- Kalender‘ für das Zahr 1389. Seit dem 
Ericheinen des älteſten gedrudten deutichen Kalenders, der 1439 von Dans 
v. Schwäbiſch Gmünd herausgegeben wurde, hat ſich mit Hilfe der Bud: 
deudertunft eine ganze Halenderlitteratr herausgebildet. 

Sold ein Nalender damald war freilih nur in Folioausgabe au 
haben und beftand aus zwei einfachen Holztafeln, auf welchen die 
Schriftzeichen eingravirt waren. Heutzutage haben unjere Kalender fchon 
ein anderes Ausſehen befominen; nehmen mir nur den „Sartenlauber 
Kalender“ mit feinem reicverzierten Pradıteinbande in die Hand, um 
das zu erlennen. 

enn wir die Inhaltsüberſicht“ anſehen, jo find es Namen vor- 
alien Klanges, die und genannt werden; gehen wir aber an ben 
halt ſelbſt heran, fo bietet ſich uns eine ſcher nuverſiegbare Quelle 
der Belehrung und Unterhaltung dar, daß wir das ſchöne und billige 
—— als ein wahres Schaptäftlein für Haus und Familie bezeichnen 
möchten. 

, Gleich vorn, wenn wir die Buchſchale aufgeichlagen haben, fönnen 
wir leicht an der Hand einer überfichtlihen Tabelle die Zinfen unteres, 
eines jeden Rapitald berechnen; wir blättern um, und das finnige Auge 
eines reizenden Mädchenlopfes von Deirenger ruft auf uns. Das 
Kalendarium, deffen einzelne Blätter mit bübichen Sopfleiften geziert 
find, ift gleich nußbar für Broteftanten wie atholiten Deutſchlands und 
Defterreich- Ungarns, Aufien wie Juden; es läßt auch nicht im Zweifel 
über die genauen Daten der fürſtlichen Geburtstage, Bußtage zc., verſorgt 
uns mit bauswirtbichaftlichen, aftronomilden und anderen Notizen, fowie 
einer Neihe von Dent und Siunfprüden. 7 

Nun folgen eine Genenlogie der Regentenhäufer, dann ftatiftifche 
Notizen für das Deutſche Neich in großer Mannigfaltigkeit, und eine 
Tafel, welde die Beitunterfchiede zwiichen Berlin und anderen Orten 
angiebt. Much die vergleichende Zuſammenſtellung der Thermometer: 

rade nach Geljius, Riaumur und Fahrenheit fehlt micht, der fich eine 

ünzvergleichungstabelle, Stempeltabelle für Altien, Obligationen x. 
und ein Wecjelftempel-Tarif anreiht. ferner ift der Fürſorge für 
blinde, taubftaumme und andere unglüdlihe Kinder ein Kapitel von 
weiteftgehender Bedeutung gewidmet, das ein genaues Verzeichniß der 
beitehenden Heil- und Pflegeanſtalten * Vergeſſen wollen 
wir in unſerer Aufzählung auch nicht die tabellariſche Ueberſicht betrefis 
Berjährung der Sagen umd Forderungen im Deutſchen Reiche, und 
einer recht praftiichen Frlertenreinigungstabelle von Hermann Sräper. 
Jept_Fünnen_wir uns in_ein Jahrmarktsverzeichnig mit Einwohnerzahl 
der Städte, Servisflaffen-Eintheilung und Angabe der Bamifonen ver- 
tiefen und weiterhin und mit den Ipo- und Telegraphenbeftimmungen 
nebft Tarifen befannt machen. 

Ein reizendes Bildchen, „Die Waifen” von ®. Dahn, taucht da 
eigen der nun in reicher Zahl 
durch das Ganze verflochtenen Illuſtratinen. Biltor Blüthgen tritt 
uns mit einem launigen Gedichte entgegen, das mit gefälligen Heich 
nungen von A. Lewin verſehen iſt. Die beliebte Gartenlaube“. Er⸗ 
äblerin W. Heimburg fügt dem im vorjährigen Kalender begonnenen 

ovellencyutlus unter dem Titel „Ontel Leos Berlobungsring” eine zweite, 
der erjten an feffelndem Reiz nicht nachſtehende, von E. Jopf hübfch illuftrirte 
Geichichte hinzu. Durch eine interefjante mufifhiftorifche, mit Bildchen von der 
Hand Fritz Bergens geihmidte Novelle erfreut uns ferner Mori Lilie, und 
von dem Vorhergehenden nur durch einige finnreiche „Orientalifche Sprüche” 
getrennt, ift es eine hübjche, von Ostar Juftinus verfaßte Obſtfabel, die und 
überaus angenchm unterhält, Wer nod nicht am Rhein felber war, der hat 
doch Schon feine Weine gerrunfen, und einem jeden wird es willlommen jein, 
„eine Rhein⸗ und Weinfahrt”, wenn auch mer im Geifte, anzutreten, zu 
der und in führerfundiger Gemeinichaft Emil Peſchlau und R. Püttner 
in weindurchduftelem Bilb und Wort hier einladen. Ein ergreifendes 
Gedicht von M. Eichler bringt Abwechslung in die fange Reihe der Dar- 
bietungen, aus der wir einen Ichrreidien Auffatz, „Beibeld Fugendliebe“, 
von Dietrich Theden noch befonders hervorheben möchten. Aber dem Ernite 
darf jich auch der Scherz beigefellen, und da ift es denn eine Sumoresfe, 

Doltor Pupple“ von 3. Renz, die im Verein mit den dharalteriftiichen 
Allwitrationen O. Gerlachs die Heiterfeit des Lefenden erregen muß. 
„Blätter und Blüthen“! Welche Fülle an Intereflantem und Unterhalten- 
dem dieje fpenden, das allerdings auszuplaudern ift uns nicht neitattet, 
jol doch dem Leſer auch eine Heine Üeberraſchun aufgefpart bleiben; 
nur verichweigen wollen wir nicht, daß auch dieie Hubril des Kalenders 
mit trefilichen Bildern von F. Wahle und D. Gerlach beducht worden ift. 
Doch wir find noch immer nicht fertig. Ein Meines Kunſtblatt ift es, 
meldet uns da wieder in die Mugen fticht;z „Mufikunterricht" von 
U. Wüller-Lingte lautet die Unterfchrift des Holzſchnitts. Dr. M. Taube, 
eine mediciniiche Autorität, giebt und in dem lebendig geichriebenen 
Artitel „Die erſte Hilfe gegen Maſern, Arme und Scharlach“ wohl · 
bewährte Rathſchlaäge, und Hermann u} beſpricht in leichtiahlicher Weife 
die Neichsgeießgebung der Neuzeit, in wohlgetroflenes Porträt des 
Kaifers Wilhelm 1. leitet gleihlam die ITehte Mbibeilung des Kalenders 
ein, die in einem von Schmidt⸗Weißenfels geſchriebenen „Nüdblid auf 
die merlenswerthen Ereigniſſe vom Juli_1887 bis Juli 1888% beiteht, 
dem wieder viele Jlluftrationen von E. Thiel, H. Füderd und anderen 
beigeneben find. 

en Schluß des überaus zeitgemäß DRIeUBERSEBEREER, allen 

hens bildet ein Bericht 

„von Büchermarkt“ von Rudolf von Gottſchall und eine ebenfalls illuſtririe 
polytechniiche Umſchan. —. 

Sugdletrichs Zrautſahrte“ von Wilhelm Hertz (Stuttgart, Berlag 
von Gebrüder Kröner) ift unter dem nachgerade fait allzu zahlreich ae» 
wordenen Prachtwerlen eines derjenigen, welche in tertlicher und illujtra- 
erib behaupten. Wie meilterbaft 
Anton v. Werner dad Buch iluftrirt hat, das haben wir ſchon in der 
vorstehenden Schilderung des Künftierd und feiner Werle erwähnt und 


— . 611 — 


3* am beſten bie denn Werle entlehnte ſtimmungsvolle Iluſtration: 
Walmund finder Wolfdietrich im Walde“ (S. 597). 


Kon 
a ift der Entel König Malmunds, aber feine Geburt muhte | 


dem Großvater verheimlicht werden; dns Kind wurde verftoßen und im 
Walde - einer Rölfin genäht, bis es nad Wochen vom Kagdtroß bes | 
Königs aufgefunden und ins Schloß zurüdgebracht wurde. Der Dichter 
jelbft erzählt den Vorgang mit Humor folgendermahen: 


„Rad Wochen zog vom —— 
Walmund, ne ui n aus; 
Er ftreifte Thal und Schucht entlang 
Und kam nach manchem jauren Gang 
din, two im niedern Tannenjchlag 

e Wolfin bei den Jungen lag. 
Die Jäger fah'n das Kind * ſchrien, 
Die Alte wandte ſich zu flichn; 
Sie wich, doch eilt’# ihr nicht ‚u fehr: 
Die Wölflein trabten neben! 
Im Lager gi gina | der Herr — — 

ſaß der Knab' und lacht ihn au. 

en mund Sprach: ‚Bei Gottes Bart! 
Das ift ein Kind von guter Art!" 
Er hub es auf und nahm es mit 
Und herzt es jchier bei jedem Schritt. 

Dft hält er unterweges an 
Und zeigt's den Jägern Mann für Mann: 
‚Habt ihr, das follt ihr mir geſtehn, 
Jemals ſolch ihönes Kind g m 

rwahr, ih bin dem Rangen 

ls wär's mein eigen Fee ed und Blut.” 


Daß es in der That „fein eigen Fleiſch und Blut” ift, ahnt er nicht 
und aud Frau Liebgart, die Königin, weiß es noch nicht. Gerade fie 
wird aber bald eingeweiht, giebt der heimlich vermählten Tochter den 
Segen und ſucht num and dem König zu gewinnen, anf Umwegen. 
Sie frägt ihn eined Morgens beim Erwachen vorficdtig: 


Was thut man zu dem Ding mit Fu 
Das nicht durch Kraft und nicht durch in 
Yu heben noch zu ändern ift?" 


„Da ſprach Herr Walmund lobefan: 
‚Das muß man eben fahren lan.“ 


Aber troß diefer weilen Einfiht braust ihm doch die Babrkeit, als 
er fie endlich von feiner Frau erfährt, „wie ein Schlag im Dip“: 


ge: Gott, behut uns allerwegen 
Das ift ein Schöner Morgenfegen a 


Er hat geſchworen: niemals fol Hugdielrich von Byzanz ihm die 
Tochter ins k erne Land entführen dürfen; doch die Liebe triumphirt und 
der Ünzanzer endet jeine Brautfahrt glüdlich. — — So berichtet die befannte, 
bon Wilhelm Herh feiner reizenden epiſchen Dichtung zu Grunde gelegte 


Sage. 

Zwei Schriften von Karl Pröf. Von Karl Pröll, der den Leſern 
—* Blattes durch feine 
ift, find kürzlich zwei Bücher erſchienen, auf die wir hiermit die Auf- 
merljanteit unferer Leſer lenken wollen. „Moderner Tobtentang“ ift eine 
Sammlung von zum Theil ergreifenden Phantafien über das menschliche 
Elend in "einen verichiedenen —— Wird auch die Er- 
zählung in biefen Phantafien von dem Veimerte der Betrachtungen zu- 
weilen zu jeher überwuchert, jo wird doch faum eine derjelben ihr Kiel 
verfehlen, Beritändniß und Theilnahme für das förperliche und geiftige 
Leid ber Menfchheit, das uns rings umgiebt, au weden. 

Das „Bilderbud; eines Bummlers“ beweift, daß Pröll ein ebene 
Karies Auge für die Schwächen der Menichen hat wie für ihe Leid. 
ach Stofj und Darftellung, weiche weit einfacher und durchſichtiger ift 
als im „Zodtentanz“, bildet es eine Art von Pendant zu dieſem. Dat 
das „Bilderbuch“ bereits in zweiter Auflage erichienen, beweift uns, wie 
viel lieber man im allgemeinen fih an den Schwächen der Menfchen 
ergößt, als daß man dem menichlichen Elend wehmüthigen Antheil jchentt. 
Der mündfihe Vortrag. Das it ein Thema, welches heutigentags 
von göhter Wichtigkeit ift, befonders_jeit das Prineip der Mündlichteit 
und Deffentlichteit auch in "der juriſtiſchen und praktiichen Beichäftswelt 
das frühere Altengeheimmni der Bureauftuben verdrängt hat. Der Ber 
amte wie der Vollärebner, der Parlamentarier, der Feſtredner, der Bor: 
tragende in geſchäftlichen Berfammlungen, fie alle müſſen jebt des milnd« 
lichen Vortrags Meifter fein und die es nicht find, mußten vielfach, den 
Anforderungen der Zeit gegenüber, in den wohlverdienten Ruheſtand 
treten. Natürlich ift dieſe Munft des mündlichen Vortrags noch noth- 
“ wendiger für den eigentlichen Künftler, den Rhetor und Schaufpieler. 
Einer unferer beften deutſchen Yuftipieldichter, der ſich aber ftets im 
bürgerliher Proſa bewegte umd nie dem geflügelten Pegaſus beftien, 
Moderich Venedig, bat ein jehr verdienftliches Wert ber den „mündlichen 
Vortrag” geichrieben, das auch dem höheren deflanatorichen" volftändig 
gerecht wird. Der erite Theil diefes „Lehrbuchs für Schulen md zum 
Seibftunterricht” beipricht ein ſehr wichtiges Thema: „Die reine und 
deutliche Ausſprache des Hocdeutichen”. Gerade hierin wird viel ge⸗ 
jündigt; der aufdringliche Dinteft Ipielt in Varlamenten und jelbjt auf 
der Ghhne noch immer eine wenig vortheilhafte Holle. Diefer Theil des 
im I. 3. Weberſchen Berlag in Leipzig erichienenen Wertes hat foeben die | 
ſechſte Die richtige 


flage erlebt, während der zweite: etonung und | 


hilderungen aus dem Bohmerwalde betannt 





| 


\ die Rhythmik der beutfchen Sprache” und der dritte: „Die Schönheit des 
‘ Bortrags” in vierter Auflage vorliegen. Bahlreiche Beißpiele erläutern 
die von dem Verfafler aufgeftellten Regeln, und nur in Bezng auf die 
Rhythmit der deutfchen Sprache wird cine abweichende Theorie ihr qutes 
Recht behaupten. T 

Mechereien. 

(Stnobertäplein ) 
(Mit aftration ©. 608.) 


—* verliebt biſt haft bo’, Warn aar anal? jung, 
Da berfit ja en, was db’ magft, Und d'rum fenn’ ma den Handel; 

Und dos wiſſ'ma vonch?, Schaug nur nit jo wega 

Wannſt aa gar nie mehr ſagſt! | Und mad’ fon jo Pfandel?, 


Schaug lieber auf's Piandel® 

Am Feuer da drent?; 

Wann der — für Dein 
b waar”, 

Waar’ er nit fo verbrennt! 


Mir fan alte Jager, | 
Die gipüren’s im Wind; 

Und die birfchen all's auf? 

Und d’rum b’fteh’& uns mir 


aichrwind! 
7 A rue 
Karl Stieler. 
4weg. 5 mad’ fein je bis 





Mir jan alte Jager — 
Und verliebt biſt halt do’! 
3 site 2*8 zuvor. 2? enibefen. > au einmal, 
PH ae BEER: 7 da brüten. 
Kleiner Briefkaflen. 
(Anonyme Antragen werden nict — 
G. in, And von anderer Seite gingen und M welche bezũglich 
ui Same „Unfal«Reibeitellen“ („Garteniaube“ ıasa, x 50) N in bie were: 
„Er immte ven Gemeinderaib 
Ba einer raſch wollführten That” 
mengeloht St werben kounten. Die Eintichtung einer Unfall-Melbetelie in für bie 
für bie groͤhte Gemeinde eime wink eng zu empieblente Borficttmaßrrgel. 
Bleibt die Einrktig umbemmpt, am io ber man follte es man baranf anfommen 
lafjen, durch Den Er au werben. Es = und, dab unſer Mrtitel im Ihrem Wohns 
orte me mg ausgelkt bat zum Nupen und gromma 3 bree Wirbürger. 
Se „Hidel” bereutete Irüber wohl ce a [7 
* eine segmerfene Beyeidinung bei Arer tie Werinaie Var galt —— 
dem Metall, welches in hoben Ehren ſteht, ſondern eiaen nidel ie rs 
gun den äufieren u. mach viel Stupier zu enihalten, und da cd mit ws 
ererzen vermengt 1 1 * —* man bſte ans ibm Kupfer zu gewinnen. Tas 
une 3 ae ni lerz erädmerte vielmehr bie Bearbeitung des wirklichen 
Kup ii, Beit aus dem Rigelmetall Echeivemänge geprägt wurde, 
— ara ne wott ber altın m ſenden Bezeihmumg, bie bald pe ie rure 
— ir danten Ihnen F die Mittbeilung, dab wide 
in allen nestamerifanılden Stäbten, in denen dad jogenannte 
ofen u Are] ver ibrer Aufuahwe in 2“. olizel» 
ben. ach Sunen tele bt darin, daß in den Etäbten, im bemem 
—— zu unterhalten bat, bie Wätälicher ter« 
ten, nicht Stadibeamten. gebildeten Bermaltunges 
5. —22 bie prattiicht au auf bem 
Eu: aufm: —A und ee nn Ba 
perraiben, woher 


Ferale nieder 55 


Metall“ ve wollen mir Aber 6 

Be anblumg ven Qaufsaltungsgesenttänben 
oder Be. ra eher in irgend einem größeren ze ana Ly-- vorlegen ober 
N Sandlum; * en ——— ei * Fey E — 
je an un ie ze he nen 53 Birma —— nambatt ud 


. D. I * en nd obme Zwocijel aus dem — wilte 
ter galtif -y ne z entflanden, bemn Wappen ift bad Bert wie 
Safın. ie waren uriprü, 12 cn "erreit des mwalhenführenden we ie Wappen 


ver aa Kirchen und AU n vom dem Bamiere emtftambem fein, mit welchen bie 
igen ber Stadt eber N vtes Ind Gelb zogen; die EchliMerm wer —* biof 

Kuleım ung. Wit dem Aufblüben ber Stätte nabm ber Webraudy — 
—— — zu. frü © mar mit_ber —— eines Wappenbri 


nr 80 und ber saiter — 
am erhielten auch die kaiſetl. en a eilegimm , 
welhem ſie einen Iche ausgedehnten Gebrauch munchten, — 
sablung. Weber ben Grund, welcher cite Berien oder eine Nerperation veramlahte, die ſe⸗ 
ober jenes Wappewbild unchmen, if keiten etwas uwerläliiges befannt, wenn wicht etwa 
ein rebenbes Wappen vorl wobei ———— allerdings oft ee Zwang angrtban 
wird, tage werben von ben Sereibämtern nur mit dem Mappen verlichen; 
doch Meht e® jebem frei, fich ein Mappen nadı eigenem Geichtade beigulegen, jcferm er lich 
ur * *8 er Hänier und adeliger Mamilien, Etasttwappei ic. Dur 
ober te Nechte aus ber Aübenng leines Mappens ableiten weil. Gime gre‘ 
Ran ar üngeriter —— bat ein Barpen geläbrt. Exibitveritändin if ee * Uns 
wenn ein bei Zeiten mt einem Seren Drama in Berlin ein Wappen giebt, bad 
ta einmal, gin Braun in Wänden führte: dus gielthe Wappen führen Sch nur Die. 
sbar zur ſelben Famuie gebören, nidıt jene, welche sufallig ben gleiden 
—88 daben Gin Recht daben dieſe Babpenfabrikanten — nicht; «8 wird ſogar 
manderlei Schwindel von jeldıen a um ‚ um * 
nlichteit gm eben, ein amgeblih „in R 
. 96 Bol, " (eder Ahnn ei 
VB. in, Alte Aale Lehren in der ak Hit vom Weere in unlere 
eden aus jungen, 
su Berge meber burdh 


Stremfhnellen, Webre. nod —8 — ir Sc auge ten werten, kit rianig 
Re au, Beh Me feibft ben Wheintall von —— indem ſie an 
Krim tuD eupectietieen: aber nur ben weniglten gr Hay eicht einem von ches 

5* cd darum Im Adbeln unten Aaltet auf —5* —* oberhalb dese alles 


eingelcht. ee if, da I; Hal einen Sog va — aufıerbalb des Maflerd 

teten kann, Taf er ater m in bie Erbſen · und Bidenfelder jchleicht, um dort Würmer 

— su fangen, ift pe feit Jahrhunderten bebamptet, aber miemald Übergeugend 
jen wort 


„es beirettt" Wir bitten um Umgabe ber Adrefſe, damit wir Ihnen dad Manıt 


ſtripi — Bat 
se in Cosmwi 3* Dauer der Eilenbahuſahet dur) den großen St. Gotthart - 
tunmel beträgt bei 20 bis 91 Winuten, bei ten anderm Berſenen zagen 77 
583 ee Die le —E— Durch den Zummel fand in ber Chri t bes 
ahre 
tn B. Bon Herbert Sptucere — im geiſttiger, ſunticher umd leiblichen 
ar allerdän en deutſche Ueteri len, rd von Brei, Dr, Friy 


kein n britter Auflage vorl! N 38 m] Maufes Verlag), 
wH.NR. ine. Wir — vom zuß bipee miätgetbeilt wird, beträgt das 
* "ar die Phleglinge ter inte rofegeanfalt zu Rorbeenen monatlich 60 Mark. 





Berir-Emblem-Mäthfel. 
Das Wappen derer von ,. .? 





Aus ben in obigem Bilde masfirt enthaltenen 
Buchitaben it der Name einer Stadt des alten 
Griechenlands zu enträthfeln, reip. zufammen« 
äuftellen, auf welche die Figuren des Wappens, 
die anf eine klaſſiſche Schilderung diefer Stadt 
Bezug haben, hindeuten, 


Mätdfer, 
Ich fchleiche wie ein Dieb zur Nadıt 
ns Menſchenherz mich leif und ſacht; 
ft Kopf und Hals mir weggenommen, 
ird ein Gebirg zum Borichein kommen. 


3iffern-Mäthfel. 
Wenn 1223 cine Stadt ift im deutichen Bezirken, 
Wiegt 2312 ermft ihr Haupt unter Pappeln und flüfternden Birfen. 


Borſilben · Rathſet. 


Ob auch ſein Vater iſt ein Schwein, 
So birgt verbunden es mit Ein 

Doch Shäbe von noch höherm Werthe 
Als alle andern auf der Erde, 


Steht aber dicht ed neben Un, 

So läft es feinen Menſchen ruh'n 

Springe auf den Herb, Triecht in die Schränfe, 
Wirft Silk, Stühle um und Bänte, 


Mit Ver bringt 24 es zu Stand, 

Daß Gleiches wollen Stadt und Land, 

Läßt nahen Herzen fi den Herzen, 

Stillt auch das Blur und mildert Schmerzen. 


Eharade, 


Ein Land bin ich, das fich zum Horte Im engften Bunde mit der Pforte 
Erfor ſchon mander Geiſtesheld eig’ ich ſodann ein Sunftgebild, 
Und das im Eingang eine Pforte Das lange ſchon am jedem Orte 
PTarbietet für die ganze Welt. As Beichen treuer Liebe gilt. 


Mein Ausgang nennt bie Kampfesweiſe, 
Durch die bei den Sellenen jchon 

Dan fraftvoll warb um edle Preife 
Und fpäter auch um goldnen Lohn, 


Buchfaden-Rätfel. 


Ms Mittel der Aucht nicht begehrt von den wildeſten Hangen, 
Berg’ ich oft feltenen Schag, ftelleft ein Beichen du um. 








612 » — 


Allerlei Kurzweil. 


Windmühl- Königsmarfd. Füt-wäthfer, 





Die mit einem Steruchen verjehenen Felder 
biefes Quadrats find jo mit je einem Buchſtaben 
auszufüllen, daf die wagerechten Reihen bezeichnen: 
einen Novelliiten der neneiten Jeit, einen beliebten 
deutfchen Dichter, einen General Friedrichs 11. von 
Vreußen, einen atbenienfiiden Staatsmann, einen 
röntischen Dichter aus bein 1. Kahrhundert v. Chr., 
einen &eigenvirtnofen der Gegenwart, einen ner- 
maniſchen Voltsftanm, einen Phiiofophen bes 
Alterihums. Jede der beiden diagonalen Reihen 
nennt einen Helden des griechiſchen Heroenthums, 


Mätdfel-Sonett. 
Wohl möchteft du das Sind beneiden, So manches vielgelei'ne Buch 
Das fhon in einem Häuflein Sand | Erzähler dir von jenem Fluch, 
Stoff für die Erfte reichlich fand, | Der an dem Ganzen pflegt zu 
Mit echtem Frohlinn und beicheiden. | haften; 


O, daß * fern blieb’ ſchweres Leiden | Fröhnt es doch nur den Leiden⸗ 


Und auf der Zwei, die den Verſtand aften, 
Soll reifer machen und gewandt, | Die furchtbar, wie der Hölle Macht, 
Es lernte Unrecht ftet3 zu meiden. | Gar viele ſchon zu Fall gebracht, 


Aufföfung der Pamelpiel-Aufgade $. 580: 


.b0—g7 1, Db2—es5t{A) 
2.Ddg—-as 2.h8—f6t 
LL.08-d6 2.Desb—ett} 
4 DaB 6 Emm grmmnl. 

L.oo 1.58 —fht} 
2.Da2—a5s“ tote vorber, 


Aufföfung des Problems „Altgermanifher Graßflein‘‘ auf 5. 580: 


Ordnet man die einzelnen Heilen mad Anzahl der Männchen 
und Gewehre mie folgt: I. 1 Männcen Ras, Il, 2 Männchen t. ie, 
IH, 1 Männden, 2 Gewehre h. so. R, IV. 2 Männchen, 2 Gewehre ost, 
V. 2 Männden, 3 Gewehre i, VI. 2 Männchen, 4 Gewehre ch., fo ergiebt 
fih der Spruch: „Haft’ ich, jo roſt' ich!” G. Neumaun. 


Aufföfung der Scherj- Aufgabe auf 5. 550: 


Man halte fich genau an den Wortlaut der Aufgabe und nehme von den 
Buchftaben des Wortes LICHTENSTEIN nichts (die Buchftaben 
NICHTS) hinweg. Es bleiben hieranf die 6 Buchltaben LETEIN 
übrig, welche fi num bequem in den 6 Fächern der Figur unter 
bringen lafien. 


Auflöfung des Buhfladen-Mäthfels auf 5. 590: Verrath — Vorrat). 








hei Friedrich Karl, 


Dilder und Skizzen aus dem Feldzuge der zweilen Armee, 
Don Keorg Korn, 
2 Bände, gr. 8. — Preis 6 Mark. 


Bei dem durch die kürzlich ftatigefundene Enthülung des Prinz | 


Friedrich Hark-Dentmals neuerdings gewedten Intereſſe für das Leben 


und die Thaten des heidenmülhigen Heerführers dürfte ein Hinweis auf 


obiges Buch unſeren Lefern angenehm fein. 





In dem unterzeichneten Verlage ift erfchienen und durch die meiften Buchhandlungen zu beziehen: 


Uach fünfundfünfzig Iahren, 


Nusgewählte Gedichte 


Don Friedrich Bofmann. 
Pur Leinwand gebunden mil Geldfänitl, Preis 5 Mark 25 PT. 


Den vielen $reunden und Derehrern des alten Deterans 
der „Gartenlaube”, Dr. $riedrih Hofmann, wird ein 
Hinweis auf obige Gedicht Sammlung als bleibendes 
Andenken an den dahingefchiedenen Dichter willkommen fein. 


Verlag von Ernft Beil’s Hacyfolger in Leipzig. 


Herausgegeben unter verantwertlider Redallien von Abeli Kröner. Verlag ven Ernft Keıt's Mameiger ur Leipgg. ruf wen A. Wuiede in Lelpzlz 





4 





_ — — —— — — — — — 





Illuſtrirtes $ amilienblatt, — Begründer von Ernſt Keil 1853, 
Sahrgang 1888, —— In halbheſten a W * ale 122 14 Um. In * a Sy alle .- 4 ER vom 1. Zannar bis 31, Dezember, 


(Fortfeßung.) 


ID" hat Dir Benno 
gefallen, Alice?* 
wandte Wally ſich an 
ihre Freundin, „er war 
ganz troftlos darüber, 
daß er ſich fo ungeichidt 
benommen hat bei dem 
erften Beiuche. Haft Du 
ihm das wirklich übelae- 
nommen, wie er glaubt ?* 

„Bertrauenerwedend 
wardas Benehmen Ihres 
Vetters allerdings nicht, 
Frau Doltor Gersdorf,“ 
bemerfte die Baronin, 
die den Namen diesmal 
merklich betonte; zu ihrer 
größten Verwunderung 
aber ſtieß fie bei der 
ſonſt fo paſſiven Alice 
auf einen Widerſpruch; 
die junge Dame hob den 
Kopf und fagte mit ganz 
ungewöhnlicher Entſchie⸗ 
denbeit: 

„Mir bat Doktor 
Reinsfeld einen ſehr an- 
gencehmen Eindruck ges 
macht, und ich theile das 
Vertrauen unbedingt, das 
Wolfgang in ihn febt." 

Wally fandte der alten 
Dame einen triumphis 
renden Blid zu und war 
eben im Begriff, das Lob 
ihres „Verivandten” noch 
weiter zu verfünden, als 
diefer ſelbſt erſchien. 

Benno war heute in 
feiner ſchmuclen Sonn: 
tagstracht, die von der 
eigentlichen Volkstracht 
nur wenig abwich und 
auch von ben Herren bier 
im Gebirge vielfach ge 

1888 


die Alpyenfee 


Roman von &, Werner. 





Bel Kroll im Berliner Thiergarten. 
Origlnatzeichnung von O. Gerlad. 


Nadiiruf verboten. 
Ale Rechte vorbehalten 


tragen wurde. Die graue 
Koppe mit den grünen 
Aufichlägen und der dun 
felgeüne Hut mit dem 
Gemsbarte ftanden ihm 
vortrefflich; feine Fräftige 
Ericheinung fam darin 
zur voffen Geltung, und 
bier, wo ihn feine fremde 
Umgebung beengte, be 
nahm er ſich auch ben 
Damen gegenüber mit 
ziemlicher Unbefangen 
heit. Er begrüßte jeine 
Verwandten und Erna 
herzlich, Waltenberg 
freundlih, und ſelbſt 
ſeine Verbeugung vor 
Frau von Lasberg fiel 
ganz erträglich aus. Als 
er aber nun vor Alice 
ſtand, da war es aus 
mit der bisher fo tapfer 
behaupteten Faſſung; er 
wurde wieder dunlelroth, 
ſchlug die Augen nieder 
und bradjte kein Wort 
über die Lippen. Er 
vernahm auch anfangs 
gar nicht, was die junge 
Dame zu ihm ſprach, 
fondern hörte nur die 
weiche, ſanfte Stimme, 
die ihm and) heute wie: 
ber jo gütig entgegen 
fang wie damals im 
„Elfenreiche*. Erft als 
Alice auf ihre Begleiterin 
deutete, kam er wieder 
etwas zur Beſinnung. 
„Die arme Frau Ba 
ronin Teidet an heftigen 
Kopfichmerzen und bat 
uns doch das Opfer ge 
bradıt, mitzufahren, aber 


18 


das Uebel ift dadurch ſchlimmer geworden. Wiffen Sie fein 
Mittel dagegen ?* 

Frau don Lasberg, die eben ihr Flacon zur Naſe führte, hielt 
plöplich inne; bie Frage fam ihr fehe unerwünſcht, denn fie war | 
durchaus nicht geſonnen, ihre foftbare Gejundheit dieſem Bauern— 
doftor anzuverkrauen. Meinsfeld Prach befheiden die Anficht aus, 


die Steigerung des Uebels fei wohl in dem arellen Sonnenſchein | 
und der lärmenden Umgebung zu juchen, und ſchlug der gnädigen | 


Frau vor, 
zurücdzugichen, das hoffentlich im Wirthshauſe zu haben ſei. Er 
eilte bereitwillig fort, um die Wirthin zu rufen, die auch ſogleich 
erichien. Gin leeres Bimmer war vorhanden, es Tag nadı der 
andern Seite hinaus, 
ſehr angegriffen fühlte, gernhte, fich Diefee Verordnung zu fügen, 
beren Zweckmäßigkeit fie einjah. 

„Bott fei Dank, jegt ſind wir unter ung, jept gehen wir 
auch auf den Tanzplag!” fagte Wally, die fofort die Führung 
übernahnt. 

„Unter die Bauern?“ fragte Alice erſchrocen. 

„Mitten unter die Bauern!“ vief die Heine Frau über: 
müthig. „So fieh doc nicht jo entfeßt aus! Du folliejt Gott | 
danken, daß Deine Frau Oberhofmeifterin Migräne hat, fonft | 
hätte fie Dich ficher feitgehalten. Benno, reichen Sie Fräulein 
Nordheim den Arm!“ 

Benno jah wicht minder entfegt aus bei diefer Zumuthung, 
aber Wally Hatte fich bereits ihres Gatten bemächtigt und Warten: 
berg Erna den Arm geboten; Alice ftand allein, es blieb alfo 
dem Doktor nichts übrig, als dem Befehl nachzulommen. 

„Gnädiges Fräulein — darf ich denn?“ 
nd ängſtlich. Alice zögerte noch einen Augenblid; aber ob nım 


fih auf eine Stunde im ein jtilles, Tühles Zimmter | 


und die alte Dame, die fich in der That | 


| ung vorftellen, 


fragte er ſchen 


das luſtige Gewühl da drauken fie wirklich reizte, ober bie | 


ichüchterne Bitte den Ausichlag gab, fie Tächelte und nahm den 
dargebotenen Arm an, um mit ihm den anderen, die Schon außer: 
balb des Gärtdjens waren, zu Folgen. 

Inzwiſchen madıte Weit Gronau Volks— 
mit feinen beiden Schutzbefohlenen. Er erklärte ſoeben dem wih- 
begierigen Said das Wort „Wlpenfee*, das dieſer irgendwo auf 
gefangen hatte, in jeiner draftiichen Weife: 


geweſen wäre. 
und Sprachſtudien 


6i4 >» 


„Dann wir fie nehmen mit!“ ergänzte Said, dem bie Sadje 
höchſt einfach und annehmbar ericien. 

„Kannst Du denn Deine afritanijchen Begriffe nicht los 
werden?“ fchalt Gronau. „Bier nimmt man die Damen nicht fo 
' ohne weiteres init, dazu muß man fie erſt heirathen.“ 

„Dann wir fie heirathen!“ erflärte Djelma, der in dieſem 
Punkte mit feinem Kollegen durdiaus einverjtanden var. 

„Wir!“ rief Gronau, entrüftet über dieſe Begriffsvertotrrung. 
„Ihr folliet Gott danken, daß Ihr mit bem Heiralhen nichts zu 
{hum habt; denn das ift ein Schiedjal, vor dem ber Himmel jeden 
Chriſtenmenſchen bewahren möge!“ 

„O, Maſter Gersdorf auch iſt verheirathet,“ ſagle Said, 
indem er auf den Rechtsanwalt beutete, an deſſen Arme bie 
tofige, allerlichfte Heine Frau hing, „und das ift ſerr ſchön.“ 

„Ja — ſerr ſchön!“ ftimmte Dielma bei, zum höchſten 
Mißvergnügen des Maſter Gronau, der fie beide „Schlingel“ nannte 
und ſich entſchieden dies Heirathsgeſpräch verbat; er wußte freilich) 
längft, wie es um Ernſt Waltenberg ftand. 

Diefer befand fih mit Gersdorf und den beiden Damen 
ſchon mitten unter der fröhlichen Menge; Erna Tannte bie 
meiften der Leute noch von früher ber, und Wally wollie 
auch teilhaben an diejen Belanntſchaften, fie ließ ſich Alt und 
plauderie mit jedem und machte die brolligiten 
Verſuche, gleichfalls im Dialekt zu ſprechen, den fie gar micht 
verftand. 

Benno und Alice folgten langſamer; aber der Doltor war 
ein ſtummer Savalier, er prach fein Wort, ſondern blickte nur 
mit ſcheuer Ehrfurcht auf die junge Dame, die an ſeinem Arme 
ging, und doch erſchien ſie ihm heute gar nicht mehr fo vornehm 
und unnahbar wie hei der erſten Begegnung. Sie ſah in dem 
leichten hellen Sommerkleide und dem blumengeſchmückten Stroh 
hütchen jo einfadh und anmufhig aus; das war der Rahmen, der 
für ihre Ericheinung pahte, wenn das Geſicht nur nicht fo blaß 
Sie war offenbar etwas ängſtlich inmitten der 
Bolfsmenge, und als jeht vom Tanzplate Helles, übermüthiges 
Jauchzen Berüberflang, blieb fie jtehen und blidte zaghaft zu 


ihrem Begleiter auf. 


„Das ift eine Berggottheit, die aber fein Menſch zu Gefichte | 


befommt, 
weilen kommt fie den Leuten dod auf die Köpfe und ruinirt 
ihnen Dans und Hof. Die ſämmtlichen Wolkenſteiner beten fie 
an, obgleich fie Chriften find, 
und dor ein Heide fein. Djelma, was ſperrſt Du wieder den 
Mund auf? Tas geht wohl über Dein Vegriffspermögen? Sag’ 
einmal Alpenfee!!“ 

Dielma, der mit offenem Munde nad dem Wolkenſtein 


weil fie immer droben in den Wolken fitt; aber bis: | 


aber man kann cin guter Chriſt 


hinaufguckte, begriff dieſe wunderſame Erflärung allerdings nicht, | 


mühte fich aber, das bezeichnele Wort nachzuſprechen, was ihm 
nach einigen mißrathenen Verſuchen auch gelang. 

„Run, es geht einigermaken,” jagte fein Mentor befriedigt. 
„Wenn Du wieder ein neues Wort hörft, 
nach und übſt Dich darin, jonft lernſt Du niemals Deutſch. — 
Da kommt Herr Waltenberg mit den Damen und dem Doftor! 
Sie wollen wahrfcdeintih auf den Tanzplatz; ich alaube, fie 
find froh, daß fie die alte Schndhtel auf eine Stunde los 
geworden find.“ 

Dielma höorchte auf bei dem neuen Worte, 


dann ſprichſt Du es 


und der eben ı 


empfangenen Weifung gemäß begann er es leiſe umd eifrig zu | 


üben. 
aber die alte Schachtel Fräftiger betonte, wurde ihm Mar, was er 
angerichtet hatte, und er fuhe den armen Jungen an: 

„Hältſt Du das etwa für einen Ehrentitel? O Du Schaf! 
Guade Dir Boll, wenn Du das Wort jemals vor den Damen 
ausiprichit, die guädige Frau Baronin Lasberg heißt cs!“ 

Djelma fah tiefgefräntt ans, er war jo aufmerkfam geweſen 
und fand das neue Wort fo ſchön, und nun verbot man ihm, es 
auszuſprechen. Said aber fagte wichtig: 

„Mafter Hronan, der Herr immer ift neben dem Fräulein. 
Er gar nicht mehr fortgeht von ihrer Seite.“ 

Ja, Gott ſei's geklagt!“ brummte Veit. „Verliebt iſt er 
bis über beide Ohren! Muß uns das in dieſem verwünſchten 
Deutſchland paſſiren, nachdem wir alle Welltheile durchzogen 
haben! Ich fürchte, wenn wir wieder hinausziehen —“ 


Gronau achtete anfangs nicht darauf; als der Malaye 
klang es von allen 


„Fürchten Sie ſich, gnädiges Fräulein?“ fragte dieſer. 
„Dann wollen wir umlehren!“ 

Alice ſchüttelte den Kopf und veriehte halblaut: 

„Es ift mir nur ungewohnt, die Leute find gewiß nicht 
fchlimm.“ 

„Nein, das find fie nicht!” fiel Benno ein. „Bei unferen 
Wollenſteinern ift die Rohheit nicht zu Haufe, das lann ich be— 
zeugen, denn ich habe fange genug unter ihnen gelebt.“ 

„Ja, Seit fünf Jahren, wie Wolfgang ſagt! Wie haben 
Sie das nur ausgehalten?” 

Die Frage Hang jo mitleidig, daß Benno lächelte. 

„D, die Sache ijt nicht To Ichlimm, wie Sie glauben. Es 
ift wohl ein einfames und mitunter auch ſchweres Leben, aber 
es bringt doch auch manche Freude.“ 

„Freude?“ wiederholte Alice zweifelnd, während ſie die 
Augen zu ihm emporhob, dieſe großen braunen Augen, die den 
Doktor auch jeht wieder jo in Verwirrung brachten, daß er zu 
antworten vergaß. 

Ta auf einmal fam eine Bewegung in die Menge, fie 
erblidte jetzt erſt Meinsfeld, der vorhin duch das Gafthaus 
gelommen war, und fofort war er von einem bichten Kreiſe 
umgeben. 

„Der Here Doktor! Unſer Doltor! Da ift er!“ rief und 
Seiten, zwanzig, dreißig Hüte flogen zu— 


' gleich von den Köpfen und „ebenfo viel branne Hände ſtrecklen 


‚ Dame dem Tanze zujufehen wünſche, 


fich dem jungen Arzte entgegen. 
an ihn bevan, jeder wollte ein Wort, einen Gruß von ihm 
erlangen, jeder ihm ein „Grüß' Gott“ jagen, die Sente brachen 
in einen förmlichen Jubel aus, als ihr „Doltor“ ſich in ihrer 
Mitte zeigte. 

Reinsfeld blickte bejorgt auf feine Begleiterin; er fürchlete, 
died Herandrängen werde fie ängjtigen, aber Alice jchien im 
Gegentheil DBergnügen an der ſtürmiſchen Begrüßung zu finden, 
fie ſchmiegte ſich etwas fejter an feinen Arm, ſah aber ungemein 
heiter aus, 

Der Doktor hatte 


At und Jung drängte fich 


den Leuten laum erklärt, daß die junge 


als man ſich ebenſo 


ſtürmiſch bemühte, ihnen Plab zu maden. Der ganze Zug ging , 
mit zum Tanzpfahe, die Reihen der Zuſchauenden wurden 
rüchſichtslos durchbrochen, ein Stuhl wurde herbeigeſchafft und 
einige Minuten ſpäter ſaß Alice mitlen in all dem Lärm und 


— — 


Jubel des Johannistanzes und die Burſchen Hatten ſich rechts 


und lints wie eine Ehrenwache aufgepflanzt und forgten dafür, 
daß die Paare nicht gar zu nahe vorüberflogen und das gnädige 
Fräulein jtreiften. Es lag eine gewiſſe derbe Ritterlichkeit in der 
Art, mit der fie ſich bemühten, der Begleiterin ihres Doftors 
einen Ehrenplab zu fchaffen. 

„Die Lente scheinen Sie ſehr zu Lieben,” fante Alice „Ich 
habe nicht geglaubt, 
verjtänden.* 

„Für gewöhnlich thun fie das auch nicht,” eriwiderte Neins- 
feld. „Sie jehen in dem Arzte meijt nur einen Mann, der ihnen 
Geld Toftet, und fträuben ich gegen feine Hilfe. Zwiſchen mir 
und den Wollenſteinern herrſcht aber ein Ausnahmeverhältnip. 
Wir haben fchen jchwere Zeiten zufammen durchgemacht und fie 
rechnen es mir hoch an, daß ich fie da nicht im Stiche gelaffen 
babe und ohme Unterschied zu jedem ache, der mich braucht, wenn 
mir viele auch nur ein ‚Vergelt's Gott‘ jagen können. Es ift 


viel Armuth unter dem Volle, und man kann da wahrhaftig 


dak die Bauern ihren Arzt jo zu jchähen | 


615 > 


eine behagliche Stellung zu fihern. Ach habe es freilich gemeldet, 
daß und warum ich nicht fommen könne, aber darauf fonnten 
die Herren natürlich nicht warten; es Waren ja genug andere 
Bewerber da, die Stelle wurde vergeben.“ 

„Und Sie?” fragte Alice Teife. 

„Ih? Nun, gnädiges Fräulein, ich babe es nicht bereut, 
denn die meiften meiner Heinen Patienten habe ich damals glüd: 
lich durchgebracht und feitdem gehen die Wolfenfteiner für mid 


durchs Feuer!” 





nicht immer an ſich denlen, ich wenigſtens habe es nie gekonnt.“ 
„Ja, das weiß ich,” fiel Alice mit ungewöhnlicher Lebhaftig 


feit ein. „Sie haben auch damals nicht an fich gedacht, ala es 
ſich um eine beijere Stellung für Cie handelte, Woligang er- 
wähnte e3 ja bei Ihrem Befuche.” 

In dem Geſichte Bennos ftieg eine flüchtige Nöthe auf bei 
dieſer Hindeutung. 

„Erinnern Sie ſich wirklich noch jener Neuferung? Ja, 
Wolf hat mich damals arg ausgeiholten, und er Hatte auch 
tet. Es mar eine äußerſt vortheilhafte Stellung au dem 
Krankenhaufe. einer größeren Stadt und durch einen gnünftigen 
Zufall waren mir Fürjprache und Borzug vor den anderen Be: 
werbern geſichert worden, aber ich mußte mich perfönlich vor- 
ſtellen bei der Wahl und fofort eintreten, das wurde zur Be: 
dingung gemacht.“ 

’ „Und Sie hatten gerade zu der Zeit Kranle hier am Orte?" 

„Nicht Hier im Orte allein, überall in meinem ganzen Bes 
zirk. Der Würgengel der Diphtheritis war ausgebrochen und 
fuchte fidy feine Opfer unter den Kindern, welche die Anſteckung 
wohl aus der Schule mitbrachten. Faſt in jedem Hauſe lag 
eins oder mehrere und die meiſten waren fchlimm dran, denn 
die Krankheit trat ſehr bösartig auf — und gerade als fie ihren 
Höhepunkt erreicht hatte, fam das Anerbieten! Der mächite Arzt 
wohnt eine halbe Tagereife entfernt, und unfere vornehmen Herren 
Kollegen aus Heilborn fommen nicht in Sturm und Schnee her: 
auf zu den einjamen Höfen, fie find den Leuten auch zu Iheuer. 
Sch zögerte von Tag zu Tag mit der Mbreife und Wolfgang 
drängte immer wieder von neuem, aber ich Fonnte doch nicht 
fort — Nazi, fomm’ einmal her!“ 

Er wintte einem etwa fechsjährigen Buben, der ſich mit 
borgedrängt hatte und num vergnügt dem Tanze zuichaute Es 
war ein draller feiner Burfche, mit flachöblonden Haaren und 
einem friichen, pausbädigen Geſicht; er Fam ſchleunigſt herbei, fehr 
jtolz darauf, daß der Herr Doltor ihn rief, und ſah zutraulich 
zu der jungen Dame empor, der er vorgejtellt wurde. 

„Schen Sie ſich den Buben einmal an, anädiges Fräulein,” 
fuhr Neinsfeld fort. „Nicht wahr, man merkt es ihm nicht an, 
daß er vor acht Monaten auf den Tod lag? Es iſt der Enkel 
des alten Sepp, der früher im Wolfenjteiner Hofe war, und er 
hat noch ein Schwejterdhjen, das damals auch beinahe am Sterben 
war — die beiden haben den Ausſchlag gegeben! Grabe vor 
meiner nun endlich doc beichlojjenen Abreije fam der Sepp in 
einer Sturmnadht, um mich zu holen; der Alte weinte bitterlich 
und die junge Bäuerin, die Mutter, jammerte und fchrie: ‚Sehen 
Sie nicht fort, Here Doltor, der Bub’ ftirbt mir und das Mädel 
auch, wenn Sie davongehen!! Nun, ich wußte am beiten, wie 
noth den Kindern ärztliche Hilfe that, ihnen und all den anderen, 
bie ich in Behandlung hatte. Der arıne Meine Burſch kämpfte 
jo jammervoll mit der ſchlimmen Krankheit, ſah fo angjtvoll 
bittend zu mir auf, als ſei ich der liebe Herrgott felbjt — da 
blieb ih! Ich brachte es micht übers Herz, davonzugeben 
und das Heine Bolt allein zu laſſen in feinem Elend, um mir 








Alice antwortete wicht, fie ſah mur mit großen Mugen zu 
dem Manne empor, der das alles jo jchlicht und einfach erzählte, 
weit entfernt davon, jich ein Werdienft daraus zu machen, daß 
er vielleicht feine ganze Zukunft geopfert hatte; dann aber zog 
fie den Heinen Nazi an ſich und drüdte einen Kuß auf das 
friſche Geſicht des Bübchens. Es Tag etwas unendlich Liebens 
würdiges in der Bewegung und Bennos Mugen leuchteten auf 
dabei, er verftand die wortloſe Anerkennung, die darin lag. 

„Nun, Venno, nehmen Sie auch bier die Huldigunaen bes 
verfammelten Volles entgegen?” rief Wally, die focben mit ihrem 
Manne herantrat, und Gersdorf fügte lachend Hinzu: 

„Das war ja ein. förmlicher Triumphzug, der Dich und 
Fräulein Nordheim nad) dem Tanzplate geleitete; laß uns doch 
aud) etwas von Deiner Popularität zukommen.“ 

Jetzt kamen auch Waltenberg und Erna, und die ganze Ge: 


ſellſchaft lieh ſich gemithlich im jener Ede des Tanzplahes nieder. 


Die arme Frau von Lasberg ahnte nicht, was ihre unzeitige 
Migräne angerichtet hatte. Mlice, die jo ängſtlich vor jedem 
Lärm, jeder unpafienden Umgebung behütete Alice, ſaß jet dicht 
bei der ohrenzerreigenden Mufit des ländlichen Orcheſters, mitten 
in dem Juchzen und Schreien der Tanzenden, deren nägel: 
beichlagene Eohlen kräftigft den Takt ftampften, mitten in den 
aufwirbeinden Staubmwolten und befand ſich merkwürdigerweiſe 
ganz vortrefflich dabei. Ihre bfeichen Wangen hatten ſich leise 
geröthet, die jonft jo müden Augen jtrahlten förmlih vor Ver— 
gnügen und Benno Reinsfeld ftand neben ihrem Stuhle, jtolz 
und glüdfelig, wie noch nie in feinem Leben, und benahm fid) 
wirflih und wahrhaftig wie ein Kavalier — es geſchahen Zeichen 
und Wunder am heutigen Tage! 

Die Popularität des Doftors hatte indeſſen auch ihre be- 
denfliche Seite, das follte fi) bald zeigen. Der Heine Nazi war 
bon feiner Mutter mit geheimnißvoller Miene vom Tanzplake 
geholt worden, da man ihm eine wichtige Miſſion anzuvertrauen 
beabfichtigte. Der alte Sepp hatte damals aus der Nordheimſchen 
Villa eine Neuigkeit mitgebracht, die der Dienerichaft bereits für 
ausgemacht galt, die Nachricht, daß Fräulein von Thurgau und 
der fremde Herr aus Heilborn ein Paar werden follten oder es 
eigentlich ſchon feien, und daß man nur auf die Rücklehr des 
Präfidenten warte, um die Verlobung zu feieen. 

Die junge Bäuerin, Sepps Tochter, die bis zu ihrer Heirath 
gleichfalls im Wolfenjteiner Hofe geweſen war und die alte An- 
hänglichteit bewahrt hatte, war aufer ſich vor Freude geweſen, 
als fie das gnädige Fräulein heute wiederfah und ihre beiden 
Sprößlinge vorftellen durfte Seht follte der Nazi der Braut 
den Johannisſpruch auflagen und im Verein mit feiner Schwejter 
die Sträußden überreichen, welche die damit Beſchenkten ver- 
pflichteten, mit einander zu tanzen. Das Fräulein fannte ja die 
alte Sitte und war gewiß erfreut, wenn man fie und ihren „Schatz“ 
damit begrüßte, Aus dem großen Strauß frischer Alpenblumen, 
ber im Gaftzimmer ftand, wurden die ſchönſten ausgewählt und 
in aller Eile noch eine Generalprobe veranstaltet, bei welcher Nazi 
trefflich beftand, und num follte die Sache ihren Lauf nehmen. 

Auf dem Tanzplage war gerade eine Paufe eingetreten, auch 
die Mufit jchwieg, als Nazi wieder auf der Bildfläche erichien. 
Er hielt in der einen Hand ein Sträufchen von Alpenroien, an 
der anderen fein jüngeres Schwejterchen, das ein ähnliches 
Sträufchen trug, und schritt ernſthaft und feierlich auf die fremden 
Herrſchaften zu, wie man es ihm eingefchärft hatte. Die Juſtrulktion 
mußte aber wohl nicht hinreichend Mar geweſen fein, denn die 
beiden Aleinen marſchirten geradeswegs auf den Doktor und Alice los, 
boten ihnen die Blumen und Nazi begann feinen Spruch aufzulagen. 

„Jeſſes, Nazi, das find ja micht die Rechten!“ xief halblaut 
und erichroden die Bäuerin, die ihnen gefolgt war, aber Nazi 
ließ ſich dadurch nicht ftören. Für ihn gab es überhaupt nur 
einen „Rechten“, das war der Herr Doltor, und die junge Dame 


— 0 


an deſſen Seite mußte nothgedrungen auch die Rechte fein. 
betete daher tapfer feinen Spruch herunter und ſchloß treuherzig: 


„Weift meine Blümeln | KRohannisfegen 
Nimmer zurüd, Schafft Euch das Glüd!" 


Alice nahm verwundert, aber freundlih das Sträußchen, 


welches das Heine Mädchen ihr reichte, Benno jedoch, der die | 


Bedentung kannte, gerieth in arenzenlofe Berlegenheit. 

„Aber Bub!’ — Mädel, was fällt Euch denn ein!” rief er 
und verfuchte, die Kinder abzuwehren, aber Nazi ließ fich fo 
leicht nicht abweifen, jondern drüdte energiſch fein Sträußchen 
dem Heren Doktor in die Hand, 

„So nehmen Sie doch die Blumen!* fagte Alice unbefangen. 
„Aber was bedeutet denn das Ganze?“ 

„Es iſt der alte Johannis- und Segensſpruch,“ erflärte 
Erna lächelnd, „und die Blumen bedeuten, dap Du nun 
unweigerlich mit dem Heren Doltor tanzen mußt, 
PR. es acht nicht anders.” 

„D, das ift köftlich!” jubelte Wally, indem fie vor Entzücken 
in die Hände klatſchte. „Natürlich muß Benno tanzen, unter 
allen Umſtänden!“ 

Der arme Reinsfeld wehrte ſich in voller Verzweiflung, 
aber Waltenberg und Gersdorf nahmen lachend gegen ihm Partei 
und ſelbſt Erna, die das verlegene Geſicht der Bäuerin jah und 
wohl ahnen mochte, wie die Sache eigentlih zujammending, trat 
für den Scherz ein. 


616 
Er | Zögling Alice Nordheim! 


Und die beiden tanzen miteinander! 
Hräufein Mlice Nordheim tanzte mit dem Bauernarzt! 
Das war mehr, als die ohnehin ſchon angenriffenen Nerven 


| der Frau von Lasberg ertrugen, fie befam einen Schwindelanfall. 
Said fing die Ohnmächtige zwar pflichtſchuldigſt auf, wußte aber 


Alice; ich 


„Du brauchſt ja nur ein einziges Mal den Tanzplatß zu 


umfreifen, Alice," fagte fie. „Bringe der alten Sitte das Opfer, 
die Leute würden tiefgefränkt fein, wenn Du ihrem Doftor, von dem 
fie jo viel halten, den Tanz veriveigern mwollteft, auf den er ihrer 
Meinung nad) ein Necht hat, Mit dem Tanze würbeit Du auch 
den Johannisſegen zurüdweijen, den fie Dir fo freundlich bringen.“ 

Alice fchien ihrerfeits die Sache gar nicht jo unerhört zu 
finden, fie lächelte nur, als fie fah, mit welcher Herzendangit der 
junge Arzt ich gegen den angefonnenen Tanz fträubte, und fid) 
zu ihm wendend fagte fie halblaut: 


„Wir werden uns wohl fügen müſſen, Herr Dolter — | 


meinen Sie nicht?” 

Dem guten Benno, ber höchſtens einmal bei einem länd- 
lichen Feſte einen Tanz mitgemacht hatte, ſchwindelte es förmlich 
bei diefen Worten. 

„Bnädiges Fräulein — Sie wollten —?“ fragte er. 

Statt aller Antwort erhob ſich Alice und Tegte ihren Arm 
in den jeinigen; die Umſtehenden, die das für jelbftverjtändlich 
erachtelen, machten ſchleunigſt Platz, die Muſik begann zu fpielen 
und in der nächſten Minute fchwebte das Paar dahin. — 

Inzwiſchen hatte fid) Frau von Lasberg einigermaßen erholt; 
die Stille und Kühle des abgelegenen Zimmerdens hatten ihr in 
der That wohlgetban; fie fam nun in voller Majeftät angerauſcht, 
fand aber zu ihrem großen Mihvergnügen den Ausgang verlegt. 
Auf der hoben jteinernen Treppe, die zum Wirthshauſe führte, 
ftanden die Leute dichtgedrängt, unter ihnen auch Gronau mit 
Said und Djelma, ſelbſt Wirth und Wirthin waren dabei. Alle 
retten die Hälfe und blidten geſpannt über die Köpfe der Unten— 
ftehenden hinweg nad) dem Tanzplatze, den man von bier aus 
überfehen fonnte. Dort ſchien etwas ganz Befonderes vorzugehen. 


Neugierde und nebenbei entrüftet, daß niemand fie bemerlte; jie 
wandte ſich daher an Said, der ihr am nächſten jtand, und ſagte 
bejehlend: 
„Said, ſchaffen Sie mir Platz! 
noh im Garten?“ 
„Nein — auf dem Tanzplatz,“ antwortete Said vergnügt. 
Frau von Lasberg war empört, fie ahnte in diefer Unſchick 
lichfeit wieder einen Streich dieſes enfant terrible, diefer Wally. 
„Und Fräulein Nordheim it allein geblieben?“ fragte jie, 
„Miſſis Nordheim tanzt mit Herm Doltor!" erflärte Said 


Die Herrſchaften find doch 


\ fein Auge hing an dem lieblichen Gefichte, 


augenſcheinlich nicht, 
änaftlid) : 

„Mafter Hronau, Mafter Hronau, ich habe eine Dame!“ 

„Nun, dann behalte fie nur!“ ſagle Weit, der einige 
Stufen tiefer ftand, ohne ſich umzumwenden ; aber der Noth— 
ſchrei Saids hatte aud) den Wirth und die Wirthin aufmerkſam 
gemacht, fie eilten herbei, um Hilfe zu leiſten, all die Um— 
ftehenden kamen in Bewegung, und Djelma jprang eilig die 
Stufen herab und wollte nad) dem Tanzplate, als er von Gronau 
aufgehalten wurde. 

„Halt! Wohin willit Du?“ 

„Holen den Doktor!" vief der Malaye dienfteifrig, aber 
Veit ergriff ihn am Arme und hielt ihn feft. 

„Du bleibjt hier!” ſagte er nachdrüdlich. „Soll denn der 
arme Doktor gar Fein Vergnügen haben? Exit laß ihn tanzen 
und dann kann er die alte — Djelma, Du bewegjt fchon wieder 
die Lippen, ich drehe Dir den Hals um, wenn Du das ver- 
wänfcte Wort ausſprichſt — die gnädige Frau Baronin wieder 
zu ſich bringen.“ 

Drüben war der Zwiſchenfall unbemerkt geblieben und das 
Paar tanzte weiter. Bennos Arm umfaßte die zarte Gejtalt und 
das jeßt nicht mehr 
bleich und matt, fondern roſig angehaucht von der raſchen Be— 
wegung⸗ mit leuchtenden Mugen zu ibm aufblidte, und in dieſem 
Blick gingen ihm DOberftein und Die ganze Welt unter. Oberjtein 


was er mit ihr anfangen follte, und tief 


‚ aber war höchlich befriedigt von diejem Verlauf der Sache und 





und grinste vor Freude, daß die weißen Hähne in dem jchwarzen | 


Geſichte qlänzten. 


das dieſer Menfd in feinem gebrochenen Deutſch zum Beſten gab, 
aber unwilllürlich folgte ſie doch der Richtung feiner Hand und 
da fah fie etwas, was fie völlig veriteinerte: die kräftige Gejtalt 
des Doftors und in feinen Armen eine junge Dame, im Fichten 
Sommerkfeide, mit einem blumengeſchmückten Steobhütdyen, ihren 





gab feinen Beifall in der unzweideutigſten Weife fund: die 
Mufifanten fiebelten mit doppelter Energie, die Burſchen und 
Mädchen jauchzten, Nazi und fein Schwejterchen hüpften hoch— 
vergnügt nad) dem Tafte mit und dazu fangen die fämmtlichen 
Wolfenfteiner im Chor: 


Weiſt meine Blümel'n 


hannisſegen 
Nimmer zurid, 


| Ic Euch das Süd!“ 


Beinahe vier Wochen waren vergangen und der Juli neigte 
ſich ſchon feinem Ende zu, als Präfident Nordheim nach feiner 
Bergvilla zurückkehrte. Die Zwifchenzeit Hatte ihm und der 
Bahngefellichaft eine Veränderung gebracht, die allerdings laum 
mehr ein Verfuft genannt werden fonnte. Der Chefingenieur, 
den feine Kränklichleit ſchon längst genöthigt Hatte, die Oberleitung, 
wenn nicht dem Namen, jo doc der That nad, in Elmhorfts 
Hände zu legen, war geftorben und über feinen Nachfolger gab es 
keine Meinungsverichiedenheit; der Schwiegerfohn des Präfidenten, 
der Erbauer der Wollkenſteiner Brüde, wurde einftimmig erwählt. 
Er trat damit an die Spitze des großen Werlkes, das feiner Boll: 
endung fo nahe war, 

Es war einige Stunden nach der Ankunft Nordheims, und 
diefer hatte fich mit Wolfgang in fein Arbeitszimmer zurüdgezogen, 


um das Ereigniß, das fie ſchon brieflich verhandelt hatten, ein: 
Die Baronin war natürlich erhaben über eine derartige 


gehend zu befprechen. Sie waren beide gleich befriedigt davon. 

„Deine Wahl war ja eigentlich nur eine Form,” fagte der 
Praſidem. „Sie wurde ohne jede Debatte genehmigt, denn ein 
anderer als Du kam überhaupt nicht in Frage; aber ich gratulire 
dem Herrn Chefingenieur.“ 

Elmhorſt lächelte flüchtig, aber es Tag darin nichts von 
jenem jtolzen, freudigen Selbftbewuftfein, mit dem der junge 
Oberingeniene einft feine Stellung angetreten hatte, und damals 
hatte er doch nur die erſte Stufe einer Laufbahn erreicht, die 
ſich nun fo ſchnell und glänzend vollendete. Es war eine Ver: 
änderung mit ihm vorgegangen, er jah bleich und düſter aus, 
und in den Mugen, die jonjt fo kalt und ſcharf blidten, deren 


' Tiefe fo eifig war, barg ſich jegt ein Feuer, Das bisweilen jäh 
Die Baronin zudte die Achſeln über das ungereimte Zeug, | 


und unſtät auffladerte und dann ebenfo Schnell Wieder erloſch. 
Auch im Geſpräch wollte die Tühle Ruhe und Ueberlegenheit nicht 
immer Stand halten, troß aller Selbſtbeherrſchung; es war, als 
od ein innerer Kampf den Mann verzehre, der einſt fo ficher 
und feit feinem Ziele zufchritt, ohne nach rechts oder nad) Links 
zu bliden — ein ruhelojer, qualvoller Kampf. 


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als ⸗— 


„sch daule, Papa,” erwiderle er. „Dan hat mir immerhin 


einen Beweis großen und unumſchränkten Vertrauens gegeben, den | 


ich zu Schägen weiß, und- ich geitehe and, es iſt mir eine Geung— 
thuung, dah die Vollendung des Werkes, dem ich 


bfeibt.* 

Legſt Du fo großen Werth daranf?“ fragte Nordheim 
aleihgültia. „Freilich, in Deinen Jahren iſt man noch ehrgeizig, 
Du wirit Dir das bald abgemöhnen, wenn erft höhere Inlereſſen 
in den Bordergrumd treten.“ 

„Höhere, al? die Ehre und der Stolz, ein großes Werk zu 
Ichaffen?“ 

„Nun denn, realere Antereflen, die ſchließlich doch bei allen 
Tingen den Ausſchlag geben, und darüber wollte ich eben mit 


Dir reden. Du weit, daß ich Tängft die Abſicht heate, mich | 


nach Vollendung der Bohn von der ganzen Sache zurüchzuziehen.“ 

„Gewiß. Du haft mir chen vor Monaten davon geſprochen 
und der Entſchluß hat mich ſchon damals befremdet. 
willſt Dir zurüctreten von cimem Unternehmen, dad Du ins 
Leben aerufen haft, deiten ceigentliher Schöpfer Du bift?” 


„Weil es mir nicht mehr einträglich genug erſcheint,“ fante | 
„Die Bankoften ftellen fich ſehr hoch, viel | 


ber Präſident fühl. 
höher, als ic) glaubte. Wer fonnte denn auch mit all den Wider 
wärtigfeiten und Stataftrophen rechnen, die wir durchmachen mußten, 
und dazu hatte Dein Vorgänger die Manie, jo unglaublich ſolid 
zu baten. 
Solidität, die Unjummen geloftet hat.” 

„Berzeih, Papa, aber dieje Manie‘ Habe ich auch!“ erklärte 
Wolfgang mit einigem Nachdruck. e 

„Natürlich! Du biſt bisher nur Jugenieur der Bahn ge— 
weſen und es konnte Die fchr gleichgültig fein, ob fie einige 


Millionen mehr Foftet oder nicht. Wenn Du bei künftigen Unter: | 


nehmungen als mein Schwiegerjohn peluniär betheiliat bift, wirft 
Du anders darüber denken.“ 

„In ſolchen Punkten — nein!“ 

„Nun, dann mußt Du es lernen! In dieſem Falle lönnen 
wir uns übrigens nachdrüdlichſt auf die Vortrefjlichteit der aus: 
geführten Bauten ftüben, wenn es zur Abſchähung lommt, und 
das wird vorausfichtlih noch in diefem Jahre geſchehen. Die 
Aktionäre müſſen die Bahn übernehmen, das jteht läugſt bei mir 
feft und ich habe bereits die einfeitenden Schritte dazu gelhan, 
Ich bin mit Millionen beiheiligt, wo die anderen höchſtens Zehn: 
taufende gezeichnet haben, und kann mich thatſächlich als Eigen: 
thümer des Unternehmens betrachten. Ich werde alfo meine 
Bedingungen ftellen und aus diefem Grunde iſt es mir ſehr Tieb, 
daß Du jegt ala Chefingenieur an der Spike ſtehſt. Wir 
brauchen dann micht Fremde ins Vertrauen zu ziehen, jondern 
gehen Hand in Hand.“ 

„Ich ſtehe Dir ganz zur Verfügung, Rapa, das weißt Du, 
aber wie die Dinge liegen, wird die Abſchätzung ziemlich hoch 
ausfallen.“ 

„Das hoffe ich!“ ſagte Nordheim langſam und bedeutungs- 
vol. „Uebrigens ift die Berechnung chen zum größten Theil 
fertiggeftellt, fo ehwas muß ja lange vorbereitet werden und 
fordert auch einen gewiegten Geſchäftsmanu. Dich fonnte ich 
dafür micht in Anſpruch nehmen, Du haft genug mit der techniſchen 
Leitung zu thun, Du ſollſt ſchließlich die Abſchätzungen nur 
revidiren und beſtäligen und ich rechne in dieſer Veziehung um: 
bedingt auf Dich, Wolfgang. Das unumſchräulte Vertrauen, das 
Du infolge Deiner bisherigen Leiftungen genicheft, wird uns 
die Sache ſehr erleichtern.” 

Wolfgang ſah etwas befremdet aus; es war ja felbftuerftänd: 
fich, daß er feine Pflicht that umd dem Schwiegervater möglichit 
zur Seite jtand, aber Hinter deſſen Worten ſchien ſich noch irgend 
etwas anderes zu bergen, fie MHangen ganz eigenthümlich. Zu 
einer weiteren Erllärung kam es indeſſen nicht, denn der Präfident 
brach ab und erhob Sich. 

„Schon vier Uhr! Mir werden bald zu Tische achen; 
fomm, Wolfgang, wir wollen die Damen nicht warten laſſen.“ 


„Du haſt Waltenberg mitgebracht?“ fragte Elmhorſt, indem | 


er gleichfalls aufftand. 

„sa, er empfing mich in Heilborn und begleitete mich hier: 
ber. Seine Geduld ſcheint in den vier Wochen auf eine harte 
Probe geftelt worden zu ſein. Ich begreife den Mann nicht! 


meine | 
befte Kraft geopfert habe, nunmehr an meinen Namen geknüpft 


Warum | 


Er brachte mic, oft zur Verzweiflung mit dieler | 


Er iſt doch ſtelz und cigemwvillig genug, hochmüthig ſogar in 
gewiſſer Hinſicht und läßt ſich von den Sarnen eines Mädchens 
‚ am Narrenſeil ſühren. Jetzt werde ich aber ein ernſtes Wort 
mit meinem Fräulein Nichte veden und ihre ein Entweder — oder 
ftellen, die Sache muß endlich einmal zur Enticheidung fommen!“ 

Wolfgang ichwieg, aber das unftäte Fener in feinen Augen 
Hammte wieder auf, heiß und verzehrend wie der Kampf in 
feinem Inneren. Er mußte es ja Tag für Tag mit anichen, 
wie ein anderer offen und rückhalllos um den Preis warb, der 
ihm ſchließlich doch wohl zuſallen würde — da? war mehr ala 
Folterqual und ſie wurde nicht leichter durch das Bewußtſein, 
daß ſie verdient ſei. 

Sie hatten inzwiſchen das Nebenzimmer durchſchritten und 
traten in den Salon, wo ein Diener focben beſchäftigt war, bie 
Vorhänge aufzuziehen, die der Sonne wegen herabgelaſſen waren. 
Nordheim fragte, ob die Damen im arten ſeien. 

„Nur Baroneß Thurgau und Herr Waltenberg,“ Tantete die 
Antwort. „Das gnädige Fräulein empfängt in ihrem Zimmer 
den Herrn Dottor.” 

„Ah, der neue Arzt, den Du aufgeipürt. haft," ſagle ber 
Präſident, fi) am jeinen Schwiegeriohn wenbend. „Es iſt ja 
wohl cin Jugendfreund von Div? Jedenfalls verftcht er feine 
Sache, denn Alice hat ſich merlwürdig erholt im der furzen Zeit. 
Ich war ganz überrafdht von ihrem Ausſehen und ihrer un: 
gewohnten Lebhaftigkeit; die Kur des Herrn Doftors ſcheint 
förmlich Wunder gethan zu haben. Wie heißt denn eigentlich 
dieſer Aeskulap von Oberftein? Du vergakeft in Deinen Briefen 
regelmäßig, den Namen zu nennen.“ 

Wolfgang hatte das allerdings vermieden, wenn auch nicht 
aus VBergeplichkeit, jetzt aber konnte er der „Grille“ feines 
Freundes, wie er es nanute, nicht Tänger Rechnung tragen und 
antwortete rubig: 

„Doltor Benno Reinsfeld.“ 

Nordheim wendete ſich mit einer jühen Bewegung um. 

„Wie jagteft Du?“ 

„Benno Reinsfeld," wiederholte Elmhorſt, betroffen durch 
den heftigen Ton der Frage, 

Er hatte geglaubt, der Präfident werde ſich kaum noch des 
Namens erinnern und jedenfalls nicht das geringſte Intereſſe 
mehr an ben alten Beziehungen nehmen, denen der jekige Millionär 
fo fern Stand. Jene Erinnerung mußte aber doch wohl tief und 
nachhaltig fein, das fah man; Nordheims Geſicht zeigte eine fahle 
Bläfle, es prägte fich Beſtürzung, ja Schreden darin aus und 
diejelbe Empfindung verrieth ſich auch in feiner Stimme, als 
er rief: 

„And dieſer Mann iſt in Oberftein? iſt jetzt fogar im 
meinem Hauſe?“ 

Wolfgang wollte antworten, aber in dem Augenblick wurde 
die Seitenthür geöffnet und Benno felbit trat ein Er ftußte 
‚ zwar, als er dem Bräfidenten. erbfidte, bfieb aber ruhig ftehen 
und verneigte fi. Er hatte ja jochen von Alice gehört, daß ihr 
Bater angefommen fei, umd mußte auf diefe Begegnung gefaft fein. 

Nordheim errieth auf der Stelle, wen er vor ſich habe, 
vielleicht entfaun er ſich auch noch der Berfünlichkeit des jungen 
Arztes, den cr vor drei Jahren Hüchtig im Wollenfteiner Hofe 
gejehen hatte, ohne daR ihm der Name gemammt wurde, und er 
war Weltmann genug, ſich augenblidiih zu falten. Scheinbar 
ganz ruhig und unbewegt nahm er die Vorjteflung entgegen, aber 
auf diefen unbewegten Zügen Tag noch immer jene eigenthämliche 
' Bläffe, 

„Mein Scwiegerfohn Hat mie bereits brieflich mitgetbeitt, 
daß er Ihren Rath für feine Braut in Anspruch genommen hat,” 
jagle er mit Fühler Artigleit „Ih lann Ihnen nur danlbar jein, 
Herr Doltor, denn Ihre Bemühungen fcheinen ein jehr günſtiges 
Reſullat zu haben, meine Tochter hat ſich auferordentlih erhalt. 
Sie ftellen eine andere Diegnofe als Ihre Herren Kollegen, wie 
ich höre?“ , 

„Ich alaube bei bem Fräulein nur ein hochgradiges Nerven: 
leiden annehmen zu dürſen,“ verſetzte Benno beicheiden, „und habe 
danach meine Behandlung eingerichtet.” 

„So? Die anderen Herren nahmen ziemlih allgemein ein 
Herzleiden an.” 

„Ich weiß es, lann mich aber diefer Meinung nicht au— 
' Schließen und der Erfolg meiner Kur ſcheint mir ja auch Recht 





unterfogt war, täglicd; Spaziergänge machen und biefe täglich) 


weiter ausdehnen, habe ihr auch ein mäßiges Bergfteigen ange: | 


rathen und fie erſucht, möglichit den ganzen Tag im Freien zu: 


zubringen, da die Höhenluft außerordentlich günftig auf ihre | 


Befinden wirkt; bis jetzt Habe ich alle Urſache, damit zufrieden 
u fein.“ 

. „Bewiß, das find wir alle,“ ſtimmte der Vräſident bei, 
deſſen Blick ſich bei diefer im rubigiten Tone geführten Unter: 
haltung förmlidy einbohrte in die Züge des jungen Arztes, „Wie 
gelagt, ich bin Ahnen ſehr dankbar — Sie Ieben in Oberftein, 
wie Wolfgang mir ſchrieb? Sind Sie ſchon lange dort?“ 

„Seit fünf Jahren, Herr Präfident.” 

„Und Sie denfen aud) dort zu bleiben ?* 

ü Wenigſtens vorläufig, bis fid) irgend eine andere Stellung 
findet.” 

„Nun, das wird doc feine Schwierigkeiten haben,“ warf 
Nordheim Hin und ſprach weiter, 

Er war ſehr höflid, aber auch ſehr vornehm und augen: 
ſcheinlich bemüht, eine unüberfteigliche Schranke aufzurichten, die 
jede mögliche Vertranfichkeit ausſchloß. Kein Wort, Tein Blid 
verrieth, daß er wußte, der Sohn feines einftigen Zugendfreundes 
ftehe vor ihm; troß feines anfcheinend verbindlichen Wefens war 
er dech fo fremd und eifig wie nur möglich. 

Benno fühlte das ſehr aut, war aber feineswegs überrafcht 
dadurch, denn er Hatte nichts anderes erwartet, Er wuhte ja, 


daß die Erinnerung, die fein Name wachrief, für den Präfidenten | 


feine angenchme war, und nahm in feiner Befcheidenheit gar nicht 
an, daf feine ärztlichen Erfolge bei der Tochter den Vater um: 
jtimmen kinnten, Er dachte natürlich nicht daran, Beziehungen 
aeltend zu machen, bie von jener Seite fo volljtändig ignorirt 
wurden, aber die Begegnung war ihm peinlich, und er ergriff die 
erfte Gelegenheit, ſich zu verabfchieden. 

Nordheim blidte ihm einige Selunden lang ſchweigend, aber 
mit finfter zujammengezogenen Brauen nad), dann wandte er ſich 
zu Woligang und frante furz und ſcharf: 

„Wie fommjt Du zu dieſer Bekanntschaft?“ 


„Ach habe es Dir ja bereits gejagt, Neinsfelb it mein 


Augendfreund, den ich zufällig hier in Oberjtein wiederfand.” 


„Und Du verkehrſt Jahre fang mit ihm, ohne mir auch nur 


feinen Namen zu nennen?“ 

„Das geichah auf Bennos ausdrüdlichen Wunſch, denn Dein 
Name ijt ihm jo wenig fremd wie Dir der feinige. Du willſt 
allerdings nicht daran erinnert fein, daß fein Vater Dein Studien: 
genoffe war — das fah ich heute.” 

„Was weißt Du davon?“ fuhr der Bräfibent Heftig auf. 
„Hat der Doftor Dir davon geſprochen?“ 

„Allerdings, und er theille mir auch mit, daß die einjtige 
Jugendfrsundjchaft mit einem vollftändigen Bruce geendigt hat.“ 


Nordheim ftühle wie zufällig die Hand auf die Lehne des | 


Seſſels, der vor ihm ftand; fein Geſicht war wieder bleich ge— 
worden und feine Stimme Hang fajt heilen, als er fragte: 

„So — und was weiß er darüber?“ 

„Nicht das Geringfte! Er war ja damals nod ein Knabe 


und bat nie den Grund jenes Brudyes erfahren, aber er war | 


viel zu ſtolz, ſich Dir, der jo hoc) geftiegen ift, in irgend einer 
Weife zu nähern, deshalb nahm er mir das Verſprechen ab, ihn 
wicht zu nemmen, fo Tange das zu bermeiden war.” 

Nordheims Bruſt hob ſich unwillkürlich unter einem tiefen 


Athemzuge; aber er antwortete nicht, fondern frat an das 


Fenſter. 
„Mir ſcheint, Doktor Reinsfeld hatte trotz alledem Anſpruch 
auf einen wärmeren Empfang,“ hob Wolfgang wieder an, den 


die eiſige Art, mit der man ſeinen Freund behandelte, verletzt 


hatte. „Ich lann natürlich nicht beurtheilen, was damals ge— 
ſchehen iſt —“ 

„Sch wünſche auch nicht, daß Du Dich damit abgiebſt!“ fiel 
ihm der Präſident ſchroff ins Wort. „Es waren rein perjüns 
liche Verhaͤltniſſe, über die mir allein ein Urtheil zuſteht; aber 
Du wuhteft, daß mir diefer Reinsfeld nicht ſympathiſch fein 
tonnte, und da benreife ich nicht, . wie Du dazu famft, ihn in 
mein Haus einzuführen und ihm die Behandlung meiner Tochter 
zu übergeben. Das ift eine Eigenmächtigfeit, die ich durchaus 
nicht billige.“ 


— m EEE a en a a Neun u nn un 


-o 619 °— 
zu geben. Ich laſſe die junge Dame, ter jede ftärfere Bewegung | 


Er war offenbar aufs äußerfte gereizt durch jene Begegnung 
und Lie num dieſe Gereiztheit an feinem Schtwiegerfohne aus, 
| aber diefer fchien durchaus nicht gefonnen, einen Ton zu dulden, 
‚ ben er heute zum erjten Mal hörte. 
„Ich bedaure es, Papa, wenn Dir die Sache unangenehm iſt,“ 
| fagte er falt, „aber von Eigenmädhtigfeit ann hier wohl nicht die 
' Rede fein. Ach habe doch zweifellos das Recht, für meine Braut 
| einen Arzt zu wählen, der mein volles Vertrauen befitt und 
dieſes Bertranen, wie Du felbft zugeben mußt, fo glänzend recht: 
\ fertigt. ch Fonnte unmöglich) vorausſetzen, daß eine alte Feind- 
ſchaſt, die vor mehr als zwanzig Jahren entjtand und an der 
Benno ebenfo unfhuldig wie unbetheiligt it, Did) jo ungerecht 
machen würde. Dein ehemaliger Freund ift ja längſt todt und 
damit ſollte auch alles andere begraben und verachen fein.” 

„Darüber habe id) doch wohl allein zu entſcheiden!“ unter: 
brach ihm Nordheim mit fteigender Heftigfei. „Genug, ich will 
nicht, daß diefer Menſch in meinem Haufe verfehrt. Ich werde 
ihm ein Honorar ſchiden — felbjtverftändlich ein ſehr hohes 
Honorar — und mir feine ferneren Beſuche unter irgend einem 
Vorwande verbitten. Dich aber eriuche ich gleichfalls, diefen Um: 
' gang aufzugeben — id; wünsche ihn nun einmal nicht.“ 

Die Worte Mangen wie ein Befehl, aber der junge Chef: 
ingenieur war nicht dee Mann, ber ſich befchlen ließ, er trat 
einen Schritt zurück und feine Mugen ſprühlen auf. 
| „Ich glaube Dir bereits gefagt zu haben, Papa, daf Doktor 
Neinsfeld mein Freund ift,“ verfeßte ex mit aller Schärfe, „und da 
lann ſelbſtverſtändlich von Aufgeben feine Rede fein. Es ift eine 
Beleidigung für ihn, wenn man ihn nach der aufopfernden Weife, in 
der er ſich um Alices Gefundheit bemüht hat, mit einem ‚Honorar‘ 
verabfchiedet, noch che die Kur beendet ift, und ich muß Did) über: 
haupt bitten, in einem andern Tone von ihm zu iprechen. Benno 
ift cin Mann, der die höchſte Achtung verdient, er verbirgt unter 
feinem anfpruchslofen und etwas unbeholfenen Weſen Kenntniſſe 
und Charaftereigenichaften, die man nur bewundern lann.“ 

„Wirllich?“ Der Präfident lachte laut und ſpöttiſch auf, 
„Ich Terme Dich ja Heute von einer ganz neuen Seite lennen, 
| Wolfgang, als ſchwärmeriſchen und aufopfernden Freund — id) 
hätte Dir das laum zugetrant.“ 

„Wenigftens pflege ich für meine Freunde einzujtchen und 
fie nicht im Stiche zu laſſen,“ war die ſehr beflimmte Antwort. 

„Ich wiederhole Dir aber, daß ich dieſen Mann in meinem 
Haufe nicht jehen will,“ fagte Nordheim herriſch, „und darüber 
| habe ic; hoffentlich zu beftimmen.“ 

„Gewiß, aber in meinem fünftigen Haufe wird Benno 
jtets ein willfommener &aft fein und ich werde mich rüdhaftlos 
gegen ihn ausipredjen, wenn ich wirklich gemöthigt fein folkte, 
Deinen Wunſch Hinfichtlich feines Fortbleibens zur Sprache zu 
bringen und Dich — zu entſchuldigen.“ 

Die Worte ließen an Energie nichts zu wünſchen übrig; es 
war das erſte Mal, daß eine Meinungsverjchiedenheit zwiſchen 
den beiden entjtand; biäher waren ihre Anficyten und Intereſſen 
durchaus gleichartig geweſen, aber Wolfgang zeigte fehon bei 
diefem erften Konflift, daß er fein fügjamer Schwiegerfohn war 
und feinen Standpunkt mit aller Entſchiedenheit zu wahren 
wußte Er gab ficher nicht nach, das jah auch der Präfident, 
aber diefer mochte wohl irgend einen Grund haben, den Streit 
nicht auf die Spitze zu treiben, denn er lenkte ein: 

„Der Gegenjtand iſt es gar nicht werth, daß wir uns jo 
darüber ereifern," fagte er achſelzuckend. „Was geht mich im 
Grunde diefer Doltor Reinsfeld an! Ich will eine unangenchme 
Erinnerung loswerden mit feinem Anblick — weiter nichts. 
Troß Deiner begeifterten Lubpreijung erlaube id mir, feine 
Perjönlichfeit ebenſo unbedeutend zu finden, als der Borfall es 
war, dee mich gegen feinen Water einnahm. Alſo laſſen wir 
' meinetwenen die Sadje auf ſich beruhen!“ 

Er hätte feinen Schwiegerſohn nicht mehr in Erftaunen 
ſehen können, als durch diefe ungewohnte Nachgiebigleit. Die 
Gleichgüftigfeit, die er jetzt zeigte, ftand im volliten Widerſpruch 
mit feiner fieberhaften Gereiztheit von vorhin. Wolfgang ſchwieg 
zwar und ſchien zuſriedengeſtellt, aber jene alte Feindſchaft ge: 
warn doch jett eine ganz andere Bedeutung fir ihn. Er war 

feſt überzeugt, daß es fi) damals nicht um etwas Unbedeuten- 
' des gehandelt hatte; ein Mann wie Nordheim hielt nicht zwanzig 
Jahre lang die Erinnerung an irgend eine Bagatelle feit, 





— 620 ⸗— 


Seht trat Alice ein, zur offenbaren Erleichterung des 
Präfidenten, der mit feiner Silbe den ärztlichen Beſuch be— 
rührte, fondern ſofort von anderen Dingen zu ſprechen be 
gan, und auch Wolfgang gab ſich Mühe, feine Berftimmung 
zu verbergen. Die junge Dame bemerlte in der That nichts 
davon, fie war im Begriff, in den Garten zu gehen, um Erna 
aufzujuchen, und der Bater fowohl als der Bräutigam ſchloſſen 
fi) ihr an. : 

Der Garten der Bergbilla entiprady der Hohen Lage, Die | 
gewöhnlichen Sierfträuche und Blumen fonnten nicht gedeihen an 
diefem Orte, der fich nur eines jo furzen Sommers erfreute und 
den größten Theil des Jahres im Schnee begraben lag. Die 
Anlagen, die man auf der ehemaligen Matte rings um das 





Aus der deutſchen 


Haus gefchaffen Hatte, waren nen und fonnig, aber ber Kleine 
Tannenwald, der fich an den Garten anſchloß und bis zur Berg: 
wand ausbehnte, bot in der Somnengluth einen fühlen, ſchattigen 
Aufenthalt. 

Man Hatte eine Art Naturpark daraus gemacht, dem die 
riefigen, moosbededten Felsblöde, welche, von einem einftigen 
Bergiturz herrührend, überall zerjtreut lagen, ein höchſt romanti: 
ſches Anjchen gaben. 

Auf der Bank, die am Fuße eines dieſer Feljen errichtet 
war, ſaß Baroneß Thurgau und vor ihre fand Ernſt Walten: 
berg, aber nicht im ruhigem Gejpräcde; er war aufaciprungen 


‚ und Hatte ſich ihr in den Wen geſtellt, als wolle ex eine Flucht 


verhindern. (Fortfegung folgt.) 


Reichshauptſtadt. 


4. Pas luſtige Berlin. 
Bon Paul Sindendere. Mit Alluftrationen von ®. Gerladi, B. Bauer u. a. 





Im „Sterneder, 


( b Sommer oder Winter, ob | 
—_ Frühling oder Herbft, wer 

» fich Die Zeit in Berlin verlürzen 
will, der braucht nicht darauf zu achten, ob die erften Schnee: 
glödchen ſchüchtern im Thiergarten emporipriehen, ob die Linden 
auf der nad) ihnen benannten ftoßzen Strafe fühen Duft aus: 
ftrömen oder ob Tuftiges Schlittengeläut erichallt und dem 
ahnungsloſen Paflanten aus jicherem Verſteck ein feftgefügter 
Schneeball nachgeſandt wird. Die Auswahl der Vergnügungen 
ift allerdings mehr oder minder eine andere, jegliche Saifon 
hat ihre befonderen Lockungen, und fajt jeder Monat bietet feine 
„Specialität”, die häufig grundverſchieden von der vorangegangenen 
it; aber gerade diefe bunte Abwechslung enthält eine große Ans 
ziehungskraft und zeigt die luſtige Seite der Weltjtadt im mannigs | 
fachſten Licht. 

Natürlich üben die einzelnen Jahreszeiten einen wefentlichen 
Einfluß auf den Charakter der Beluftigungen aus, fie vermindern | 
fie nicht, aber fie prägen ihnen eine bejtimmtere Individualität | 
auf und umgeben verichiedene von ihnen mit doppeliem Glanz. 


Betrachten wir und Berlin von biefer Seite im Sommer, 
fo lenken wir wohl zunächſt unfere Schritte nad) dem Zoologiſchen 
Garten, auf den die Kaiſerſtadt mit volljtem Recht ftolz fein darf. 
Das weite Terrain mit feinem prächtigen Baumwuchs gehörte 
einft zum Thiergarten, bis Fur; vor Mitte des vergangenen 
Sahrhunderts a Veranlaſſung Friedrichs des Großen hier eine 
Faſanerie eingerichtet wurde. Als man letztere 1842 nad) dem 
idylliſchen Eharlottenhof bei Potsdam überjiedelte, bat der Natur: 
forſcher Lichtenftein den König Friedrich Wilhelm IV., daß an 
biefer Stelle cin zoologiicher Garten angelegt werden möchte, 
Der Herrfcher war dieſem Plane fehr geneigt und unterftüßte 
das neue Unternehmen noch dadurch, daf er ihm eine beträchtliche 
Zahl bisher auf der von der Havel umfpülten Pfaueninſel ge: 
fangen geivefener fremder Thiere überwies und auf diefe Weiſe 
fogleich einen ficheren Bejtand ſchuf. Im Sommer 1844 wurde ber 
Garten, der damals vollftändig außerhalb der Stadt lag, zum 
erften Male dem Publitum geöffnet, und wenn cr auch zunächit 
nur langſame Fortſchritte machte, jo blühte er unter fach: 
verftändiger Leitung und im Befite einer apitalsfähigen Aftien- 
gefellichaft deſto Fräftiger in den fiebziger Jahren fowie in diefem 
Jahrzehnt auf und beanfprudt gegenwärtig den Nang als 
eines der bedeutendften und angefchenjten derartigen Anftitute in 
ganz Europa. 

Es ijt aber aud ein feltener Genuß, an einem ſchönen Bor: 
mittage bier entlang zu wandeln, ohne befonderen Zweck und ohne 
fpeeielles Ziel; fchmetternder Bogelgefang ertönt aus den breit: 
äftigen Baumkronen, filberner Thau liegt auf Gräfern und 
Halmen, goldene Sonnenftrahlen Hufchen über Weg und Steg 
und mit munterem Öefchnatter ziehen in Heinen Zügen die Enten: 
ſcharen durch die von fünftlichem Felsgeröll und fchattigen Weiden 
umrahmten Teiche. Wer Luft hat, kann in diefen Stunden am 
beten die Thiere betrachten und ftudiren, denn der Beſuch ift 
nicht ſehr zahlreich und ftört uns nirgends. Zwar treffen wir 
zuweilen auf lange Rinderfaratvanen, bejtehend aus Schülern und 
Schülerinnen dieſer oder jener Gemeindeſchulen, aber wie könnten 
fie uns ftören, diefe Scharen Meiner Blond» und Schwarztöpfe, 
die mit andgelaffenem Jubel. die Affenfäfige umdrängen und fid) 
nicht fatt fehen können an den drolligen Sprüngen der lang: 
geſchwänzten Bierfüßer, die mit heuer Ehrfurcht das ftattliche 
Löwenpaar betrachten und furchtſam fih zufammenduden, wenn 
der Wüſtenkönig feine dröhnende Stimme erhebt, und welche die 
legten Krumen ihres fpärlichen Frühftüdsbrotes den Reben reichen, 
die bereits an die qutmüthigen Geber gewöhnt find und fich zu: 
traulid) nähern. Sonjt bilden um dieje Zeit Fremde den Haupt: 
befuchertheil, einzelne Brunnentrinler ferner wandeln gemeflen die 
vorgejchriebene Friſt ab, auf ihren von Jasmin und lieder über: 
ſchatteten Lieblingsplägden ſitzen empfindungsvolle Damen, ein 
Bud des erforenen Autors in der Hand, und auf den Spiel- 
plägen, die, ebenfo wie im Thiergarten, auch hier vorhanden find, 
tummeln ſich im frober Ungebundenbeit Knaben und Mädchen 
durch einander, Kinder von Eltern, die im Beſitze einer allen 
Bamilienmitgliedern freien Eintritt gewährenden Altie find. 

Nachmittags ſchaut es allerdings anders im Zoologiſchen 
Garten aus, da kommen mehr die Menfchen als die Thiere zur 





Geltung, denn 
der ſchöne 
J Bart erieht 

vielen, welche 

ausirgend eis 
nem runde 


nate in Ber 
lin zubringen 
muſſen, einen 
Badeaufent 

balt, Weraus 
beitimmten 
aelellichaft 

lidyen Krei 
jen e3 ermög 
lıhen fanı, 
wendet ſich 
dann hierher; 
Stadt» und 
Pierdebahn 
vermitteln 

den Verlehr 
aus dem An 






die heißen Mo: | 


— nern Der Re—⸗ 
ſidenz, und da: 
neben rollen unaufhörlih Droſchten und Eauipagen an den | 


weitgeöfineten Portalen vor; ſichtlich gern giebt fich hier die 
elegante Welt ein Rendezwvous. Und man kann es ihr nicht 
berdenfen, denn der Mufenthalt, namentlich vor dem arofen 
Reftaurant mit feinen verichiedentlihen breiten Plateaus, tt ein 
ganz allerkiebter und gewährt den Mugen eine Fülle anregender 
Eindrüde. Das it auf der Promenade dort am Neptunteich, in 
den fich raufchende Kaskaden ergießen und deiien Waſſerſpiegel 
durch allerlei ausländifches Friechendes und jliegendes Gethier 
belebt ift, ein ftetes Hin- und Herwogen lachender, ſchwatzender, 
plaudernder Menihen, ein unaufhörlihes Kommen und Gehen, 
ein fortwährendes Bilden und Auflöſen Heinerer Gruppen, die 
lich Hier und da jcharf von dem Gefammtbilde abheben — dort 
eine Schar junger Mädchen in hochmodernen, luftigen, hellen 


1888 


Toiletten, da ein Trupp 
Offiziere, herumfpazierenb, 
ſäbelraſſelnd, hier eine 
Schar bunibemüßter Stu: 
denten, fichtlich von einem 
recht ausgedehnten Früh 
ſchoppen kommend, und 
überall Fremde, jeglicher 
Nationalität angehörend 
und jeglihe Sprache re— 
dend, Franzoſen, Englän: 
der, Italiener, Amerifa: 
ner, Türken — es iſt 
taum ein eivilifirder Stant 
nicht vertreten, Dazu die 
floiteſte Militärmufit von 
zwei ſich ablöfenden Ka— 
pellen, der blaue Himmel 
über uns — wahrlich, 
man trennt ſich ſchwer von 
diefem Fleckchen Erde, zu 
mal wenn jich eine laue 
Sommernadt hernieder⸗ 
jenft und mit einem Male 
die eleftriichen Flammen 
ihr magisches Licht ver 
breiten, während ftim- 
mungsvoll der Wagner: 
fche Tannhäufermarihhvon 
dem Podium hernieder 
rauſcht und feine tönen: 
den Weiſen das Echo der 
friedlichen, jtillen Natur 
erweden. 

Und nun — als Gegenſtück — der erſte Sonntag eines 
Monats! Iſt das noch derſelbe Zoologiſche Garten, der Alltags 
eine gewiſſe arijtofratifche Vornehmheit aufweiſt? Man follte es 
faum glauben, Cine wahre Völfertwanderung ergießt fid dann 
von den frühen Morgenjtunden an hierher, an den Kaſſen 
bereicht ein faſt lebensgefährliches Drängen und Schieben, 
Tausende und Abertaufende begehren Einlaß, der an diejen Sonn 
tagen nur 25 Pfennig foftet und der diejelben zu richtigen Volls 
jeiten jtempelt; daneben aber auch zu langdauernden, denn die 
zuerft Erjchienenen maden nicht etwa den fpäter Kommenden 
Flag, 0 nein, diefer Tag wird volljtändig ausgenugt. Proviant 
bergen ja die rumdbaudyigen Körbe, welche fürforglid „Mutter“ 
mitgenommen, Bier giebt es aller Eden und Enden, ‚denn da bie 
Reſtaurationsräumlichteiten bei weitem nicht ausreichen, wird 
überall das „Baneriiche” friſch vom Faß verzapft, bier bei den 
Tigern und da bei den Giraffen und dort bei den fefanten. 
Seht fonmen auch die Thiere wieder zu ihrem Recht, und wenn 
fie nur ein Mein bischen Verſtand hätten, fie würden ſtolz fein 
über ein derartiges Anſtannen und Bewundern, aber fie wirden 
noch öfter Einfpruc erheben gegen derartige, Taut werdende fühne 
zoologiſche und geographiſche Kombinationen! Fortgewiicht find 
die fonst bier zu treffenden elenanten Geſtalten der Fremden und 
Einheimischen; das echte Berlinerthum hat an diefem Tage Beſitz 
vom „HZapperlotfchen Jarten“ genommen, und wo das erft der 
Fall iſt, da bfeiben die ungezählten Scharen feft und unentwegt 
bis ın die Nadıt hinein und ſchieben die Heimfehr bis zur letzten 
Minute auf, mit dem fejten Vorfage jcheidend: auf Wiederſehen 
am nächſten Erjten! 

Weiſt der Zoologiſche Garten nur einmal in vier Wochen 
ein ſolches Vollsleben auf, fo kann man dies dafür an jedem 
Tage, mit bedeutender Verjtärtung aber Sonntags, in der Haſen 
haide beobachten. Hafenhaide — armer Fremdling, der du dir 
bei diefem Namen einen ſchattigen Wald mit freundlichen Nube- 
plägchen und Lichtungen voritellit, welch bittere Enttänfchuna 
harrt deiner, wenn du nach diefem ‘Baradiefe zahlloſer Berliner 
binauspilgerit! Die Hafen find ebenso verſchwunden wie es die 
Haide it; wo noch einige ſpindeldürre Tannen ftehen, bat der 
Mititärfisfus Schießpläge für die Berliner Garnifon angelegt, 
und die ftrengjten Bejtimmungen warnen vor dem Betreten diejes 
Terraine. Einſt faq dasfelbe weit von der Stadt entfernt, in 
79 


o— 


jenen Jahren, wo hier „Water Jahn“ den erjten Berliner Turn | fädten liegenden Vollsgärten befuchen, wer fich nicht in das bunte 
platz anlegte und wo die heidenmüthigen Männer, welche in den | Gewimmel, welches im Ausitellungspark herrſcht, ſtürzen will, der 
Schlachten von Großbeeren, Dennewitz und Hagelsberg den Tod | wird ficherlich feine Rechnung in einem ber Sommertheater 
für das bedrängte Vaterland jtarben, hier ihre lebte Ruhe fanden. | finden. rolle und Belle-Nlliance-Theater, zu denen fid) neuer: 


Heute jtreden ſich die fteinernen Arme der Weltſtadt bereits bis 
zur Hafenhaide aus und umfchlingen fie an einzelnen Stellen; 
wer weiß, tie lange es dauert, daß mur noch dunkle Sagen von 
diejer fogenannten Haide und ihrem Injtigen Wolkitrubei fünden! 

Gegenwärtig ift leßterer noch im feiner ganzen Urſprünglich— 
feit und Ausdehnung dort zu finden. 
der Hafenhaide — ihre Götter, beihügt unfere Ohren und unfere 
Lungen! 
ber erſte überwältigende Eindrud, den wir, den breiten fandigen 
Weg entlang fchreitend, erhalten. Allmählich nur untericheiden 
wir das brüllende Schreien der Ausrufer, das Unielen ber 
Karoufielmufit, das Klappern der Würfelbuden, die bonnernde 


Ein Sunntagnadymittag in 


Staub und Lärm und Lärm und Staub — das ift | 


Ankündigung der Schenswürdigfeiten — hier „Menſchenfreſſer 


aus Aegypten“, dort eine „eleftriiche Jungfrau”, daneben ein 


„unübertreffliches Raritätenlabinet“ u. dal. m. — das Fiedeln | 
der Tanzlapellen, den Spektalel der Kinderinftrumente, das Knallen 
in den Schiehftänden; und mitten in dem Lärm wandeln fie zu | 


Tanfenden herum, die bier von harter Wochenarbeit Erholung 


juchen und merkwürdigerweiſe auch finden, Heine Beamte, Hand» | 


werfer, Arbeiter und Soldaten, mit ihnen in traulichem Bunde 
junge Arbeiterinnen, Laden: und Nahmamjells, Dienjtmädchen, 
Nindenwärterinnen, nun eben alle die, welche jich hier mit innigem 
Behagen wohl fühlen, und deren giebt e3 nicht wenige in Berlin! 
Das zeigen uns die den Weg einfäumenden Vergniüqungstofale, 
theils „Naffeefüchen* im des alten Berliner Wortes Bedeutung, 
theils Ausſchankſtätten der angeſehenſten Berliner Brauereien mit 
gewaltigen Gärten und in diefen wieder ein felbftändiger Ver— 
anügungsapparat: Scaufeln, Karouſſel, Kegelbahn, Tanzjanl, 
Slatingrink, Kraftmefler, Turngeräthe, und jo in bunter Folge 
jort. Sie find häufig Schon nachmittags überfüllt und weten 
gegen Abend faum ein leeres Plägchen auf; ſelbſt das umfang: 
reichſte Etabfiffement, die „Neue Welt“, ſcheint dann im einen 
wimmelnden Menjchenhaufen verwandelt zu fein, und wer ſich 
nicht höchſt eigenbeinig und eigenhändig um fein Bier und fein 
Eifen kümmert, der muß häufig durftig und Hungrig den Heimweg 
antreten, 

Etwas mehr Natur, wenn man überhaupt davon in ber 
Hafenhaide ſprechen kann, findet man nun doch in dem Wororte 


Berlins, Weißenſee, wo ein thätiger Unternehmer ein cbenjo | 
amiüjantes wie Foloflales Vergnügungslokal, „den Sterneder“, | 


nach dem Vorbilde des Kopenhagener Tivoli, geichaffen hat. Hier 
trifft man vor allem auf einen wirklich jchönen Bart mit präch— 
tigen Partien ferniger Bäume und jeltener Sträucher, mit ſorgſam 
nepflegten Bosfett3 und fauber gehaltenen, überall Taufcige 
Ruhepläbchen darbietenden Pfaden mit ſehr geichidt gemachten 


fünstlichen Grotten und zierlichen Borkenhäuschen, jogar mit einer | 


hübichen Musficht auf einen miniaturartigen See, den ein ebenfo 
miniaturartiger Dampfer befährt. 

Und was it daneben alles für die Unterhaltung aethan! 
Elektriſche Bahn, Reitichule, Lacjlabinet, Nutichbahn, Panorama, 
Cirtus, Theater, Ehanfonettengefang, Schnellphotographie — das 


ift nur ein geringer Theil der Auswahl, die hier den Beſuchern für 
' gefertigten fünftlichen Blumen, kurz, mit jenen hunderterlei Sachen 


ein Sehr Heines Entree tagtäglich geboten wird. Und gerne laſſen 
ſie es ſich bieten, die Berliner und Berlinerinnen, welche in hellen 
Scharen per Pferde: und Stadtbahn, per Kremier und Thor: 
wagen, per Drofchte und — ſehr jtart — per pedes aposto- 
lorum bier hinausftrömen, zumal wenn der Abend hereinbricht. 
Daun bietet der arofe Park einen bezaubernden Anblick dar, 
überall fladern und funkeln Glühlichtflämmchen auf, aus den 
Springbrunnen, den Blumenbeeten und den Gebüſchen, aus den 


Nafenflächen, den Grotten und Lanben, fie umzüngeln die Orchejter, | 


von denen ſchmetternde Mufik erſchallt, und ziehen ſich wie Jrr— 
fichtchen am Ufer des Sces entlang. Der fcheint aber mit einem 
Male in ein Flammenmeer verwandelt zu fein, von allen Seiten 
tniſterl's, ſprüht es, glüht cs auf, ſtrahlende Feuergarben ſchießen 
zum Himmel empor, ein Regen ſchimmernder Leuchtkugeln nieht 


ſich herab — das Feuerwerk hat begonnen, die rende und der | 


Jubel der Befucher haben ihren Höhepunkt erreicht. 
Natürlich kann man die fommerfichen Abende auch fehr aut 
in Berlin ſelbſt verbringen. Wer nicht die zumeift in den Bor 





dings auch die Friedrich Wilhelmftädtiiche Bühne geiellt, haben 
bisher fiegreich jede Konkurrenz zu Schlagen gewußt; fie gehören 
eigentlich zu Berlin wie die Siegesfäule und das Brandenburger 
Thor. Zwar fucht man fie weniger auf, um ſich an ihren theatras 
liſchen Genüſſen zu erfreuen, obgleich diefe — bei Kroll die Oper 
mit berühmten Gästen, im. Belle-Mlliance-Theater ein wirkungs 
volles Volksſtück oder ein heiterer Schwanf, im Friedrich Wilhelm: 
ftädtifchen Theater die Operette — häufig ſehr quite find, fondern 
mehr wegen des flotten Lebens, welches ſich in ihren bejteidenden 
Konzertgärten entwidelt. In kühnen Bogen, in hübſchen Arabesten 
ziehen ſich aus buntfarbigen Lampions gebildete Guirlanden 
von einem Theil des Gartens zum anderen, die bei den Alängen 
der Muſik umberpromenirenden Beſucher mit tageshellem Licht 
übergiegend. Auch Hier lächelt uns das Leben nur von feiner 
freundlichen Seite an; wohin wie hören, Scherzen und Plaudern, 
Bergnügen und Lachen; wer aber näher prüfen würde, der könnte 
ſich überzeugen, dab unter der jtrahlenden Oberfläche auch viel 
Häfliches und Trauriges ſich verbirgt! — — — 

Die Belnftigungen des Winters, die ſich der Mehrzahl nach 
anf die berühmten „vier Wände”, welche allerdings fait immer 
ſehr weit aus einander ftchen, beichränfen, beginnen ſchon ziemlich) 
frühzeitig, Wenn noch goldiger, wärmender Septemberjonnen: 
ſchein über die Straßen und das Dächermeer dabinfluthet, öffnen 
bereits die jogenannten „Specialitätenbühnen“ mit Gummimenſchen, 
Waflerföniginnen, dreffirten Sechunden ꝛc. ihre Pforten. Auch 
das „Americain-Theater*, diejes originellfte Berliner Etablifjement, 
verjammelt wieder zahlreiche Liebhaber derben Scherzes in feinen 
jtets überfüllten Räumlichkeiten und giebt zumeiſt fchon um diefe 
Zeit das Wihwort für die ganze Saifon aus; auf diefer Stätte 
begannen ja „Dirfch in der Tanzftunde”, der „Geſchundene Raub— 
ritter” und ähnliche Erzeuanijfe des Blödſinns ihre „ruhmvolle“ 
Wanderung. Die vielen „Tingeltangels“ ſchließen ſich dem Ver: 
gnügungsreigen an. Die beffere Geſellſchaft Hält fid) denfelben 
natürlidy fern. Aber auch fie finden ihr Publilum, und je nad) 
ber Bugfraft der neuen Sängerinnen find fie bald bis auf den 
Tegten Platz beſetzt, bald nur fpärlich beincht. — Einige Wochen 
fpäter ſchwingt auch wieder im Stonzerihaufe an Stelle Bilfes ber 
Dirigent einer ganz vorzüglichen Kapelle den Taktitod, und ebenjo 
hat Altmeifter Renz von neuem mit feinen zwei- und vierbeinigen 
Künstlern den Einzug in Berlin gehalten md führt unter dem 
Jubel der Cirkusbeſucher die herrlichen zwölf arabifchen Hengſte 
in die Manege, Dann ift and der November gekommen und in 
feiner Gefolgichaft eine wahre Flut von Premieren und Won: 
zerten, von Matinden und Soirden, vun Wohlthätigleitsbazaren 
und den erjten, vorläufig nur fchüchtern anjtretenden thes dan- 
sants — kurz, von allen nur möglichen einzelnen Theilen des 
braufenden hauptftädtiichen VBeranitqungsprogrammes. 

Naht allmählich das Weihnachtsfejt, fo füllen ſich die Schau: 
fenster der großen Modemagazine mit den lodendjten Dingen, mit 
ganzen Tüll- und Gazewogen, mit ſchimmernden Seiden- und 
prunfenden Sammetjtoffen, mit einem Beer zierliher Schuhe 
nnd Stiefelden, mit Heidfamem Kopfpug und täuſchend aus 


und Sächeldyen, welche die Mädchen- und Frauenherzen höher 
fchlagen machen und welche zum Sturm gegen die verhärtetiten 
Junggeſellen gebraucht werben. Dieſer Stuem aber, der natürlich 
auch ebenfo muthig von der anderen Seite aus unternommen wird, 
beginnt kurz nachdem die letzten Weihnachtslerzen herniedergebrannt 
find. Dann kann man felbit in den entlegeniten Strafen bis in 


die fpätefte Nacht hinein die Fenfterreihen einzelner Stodwerfe hell 


‚ deutlich vernehmbar. 


erleuchtet jehen, an den Borbängen zeichnen fich die Schatten 
tanzender Paare ab und bin und wieder wird auch die „Haus— 
kabelle“, gewöhnlic aus einem gemietheten Klavierſpieler beſtehend, 
Die gefellichaftlihe Saiſon ift in Berlin 


| eine ausgeprägt lebhafte und neben den Beinen fommt and) 


der Magen zu feinem Recht, denn die einſt gefürchtete „ge: 
heimräthlihe Berliner Gajtfreundichaft” „mit Butterbrötchen 
eingeftippt in heißes Waſſer mit Peccoſaſt“ ift an vielen Stellen 
durch einen häufig fogar zu weit aetriebenen gaftronomifchen 
Luxus erſetzt worden. 


Im Hasmiltagskongert, 





Dem Subjkriptionabaffe ſchließen 
fich die übrigen größeren Fejtlichkeiten 
an, deren Zahl natürlich nur cine 
beichräntte/ift, auf denen man aber 
dafiir auch „ganz Berlin” findet, mit 
anderen Worten alle jene Geiellicyafts- 
Hafen, die unter einander eine gewiſſe 
Fühlung haben. Die auferordentlid) 
raſche Vermehrung der Einwohner: 
ſchaft hat mehr und mehr eine Mb 
fonderung der einzelnen Kreiſe und 
damit auch eine Specialifirung der 
Bergnitgungen herbeigeführt, eine Ein: 
richtung, die in dem früheren Berlin 
gänzlich unbefannt war. 

Die Millioneneinwohnerſchaft Täft 
nur noch felten allgemeine Feſtlich 
keiten zu Stande fommen, und das 
ganze Weſen derfelben nebſt den wicht 
unbeträchtlichen often ermöglicht aud) 
nur ganz bejtimmten, allerdings den 
verſchiedenſten Berufszweigen ange: 
börenden Klaſſen die Theilnahme. Die 
fes Aufammenfinden und Zuſammen⸗ 
gehören vermitteln feit einer Reihe 
von Jahren fpeciell die vom „Berein 
Berliner Künſtler“ und vom „Bereiu 


Sit der Januar fhon reich an Dinerd und Soupers und | Berliner Prefie* veranftalteten Bälle, welche gewöhnlich im „Winter: 


allerhand anderen privaten Feitlichkeiten, jo hat der Februar eine | 


Ueberfülle im Gefolge, denn er ericheint neben anderem mit dem 


„schweren Geſchütz“, mit einer Reihe großer officieller und öffent | 


licher Bälle, unter denen wiederum die vom Hofe ausgehenden den 
erjten Rang einnehmen. Sie vereinigen die Erame ber Geſellſchaft 
auf dem glatten Parkett der jtolzen Säle im altersergrauten 
Königsichloffe; alle Wiürdenträger und fremden Gejandten, die 
hohen Beamten und Offiziere, die in Berlin anweſenden Fürft: 
lichkeiten und der bevorzugte Adel ericheinen da und haben das 
Süd, die Mitglieder der Herriherfamilie in ihrem reife zu 
fehen. Allerdings ift diefes auch noch auf einem anderen Feſte 
der Fall, und zwar auf dem ftets im Opernhauſe abgehaltenen 
Subjtriplionsballe. Hier treffen wir neben den eben erwähnten 
Kreifen die gute bürgerliche Geſellſchaft der Nefidenz und zugleich 
mit ihr ſehr viele aus allen Yandestheilen ericdienene Fremde. Er 
hinterläßt einen tiefen und unverlöfchlichen Eindrud, diefer Ball, 
denn cs iſt ein berauſchend ſchönes Schauſpiel, von einer der 


Logen auf diefes unter uns befindliche Meer von Jugend und | 


Schönheit, Pracht und Reichtum Herabzubliden; denn was Berlin 
davon aufzuweiſen bat, es hat fich am diefem Abend hier zufammen- 
gefunden. Und diefes Chaos von ſtrahlenden Uniformen und 
twehenden Helmbüfchen, von flimmernden Ordensſternen und 
bligenden Kreuzen, von funkelnden Diamantagraffen und fojtbaren 
Rerlenfetten, von weißen Schultern und farbenprächtigen Toiletten, 
es iſt in einen buntbewegten Rahmen eingefaht, denn das ganze 


herrliche, gold in wei gehaltene Haus ift bis auf den oberften | 


Tribünenplag mit einer Feftlich gelleideten Menge befept, welche, 
weil fie nicht unten an dem Trubel theilnehmen Fonnte oder wollte, 
ihn ſich nun doch wenigſtens aus der Vogelſchau betrachtet. 

, Gegen neun Uhr tritt der Hof in feine Logen ein und unter 
dem Borantritt des Herricherpaares unteruchmen Prinzen und 
Prinzefjinnen alsbald den gemeinfamen Umzug durch den Saal, 
freundlich die chriurchtsvollen Grüße erwidernd; find fie in ihre 
Logen zurückgekehrt, jo beginnt, obwohl man es als ein Wunder 


in diefem fabelhaſten Gedränge bezeichnen muß, der Tanz, und war | 


es zuerſt mit unglaublichen Schwierigleiten verknüpft, das Heinfte, 
freie Plähchen dafür zu erringen, fo wird doch allmählich der 
Kreis ein etwas größerer, denn während ſich die junge Welt im 
Walzertalte dreht, erfriſcht die ältere ihre bei der Hihe und der 
Fülle mattgetwordenen Lebensgeifter in den benachbarten Sälen 
an einigen Gläschen Sekt und einer federen Fajanenpaftete, Ganz 
findige Geiſter entdeden fogar in Schwer zu erklimmenden Räums 
lichkeiten, wo fih an profanen Abenden die Primadonnen oder 
Heldentenöre umzufleiden pflegen, einen kühlen Schoppen Bier 
und daneben, was mander den Pajteten vorzieht, eim richtiges 
Butterbrot mit Schinken oder Wurſt belegt! 








garten” jtattfinden und eine befondere Anziehung ausüben, Einen 
zwar ähnlichen, aber dod) wieder anderen Charakter tragen die an der: 
felben Stelle veranftalteten Schaufpielerbäfle, die ſich gleichfalls großer 
Beliebtheit erfreuen. Und diejen größeren Fejtlichkeiten ſchließen fich 
dann insbejondere diejenigen an, welche von deu zahlreichen Bereinen 
beranftaltet werden, zu denen aber meift nur die Bereinsmitglieder 
und eine Heine Anzahl von geladenen Freunden Zutritt haben. 
Neben dem „Inftigen Berlin” gelangt in den Wintermonaten 
auch das „Leichtlebige Berlin® mehr zum Durchbruch und findet 
einen weiten Anhängerkreis. Es ift ein bezeichnender Bug in 
der Kaiſerſtadt, daß fich diefe beiden Arten von Feſtlichleiten 
ſcharf abgrenzen und ſich niemals zu einem übermüthinen Ganzen 
verschmelzen, wie dies an anderen Orten vorübergehend wohl zur 
Karnevalszeit der Fall if. Aber mit der tollen Herrſchaft des 
ausgelaflenen Prinzen ist es eine eigene Sache in Berlin — er 
ist da und ift doch nicht da; man hört das Klappern feiner 
Schelle, aber bekommt ihm nie ſelbſt zu Geſicht. Bor mehreren 
Jahren war der Verſuch gemadyt worden, feinen Thron officiell 
in Berlin zu errichten — man arrangirte einen großen öffentlichen 
Mastenzug; er wurde ausgelacht und verfpottet; man verjicht 
eben den harmlofen Humor an der Spree nicht zu würdigen, 
hier muß jeder Scherz, jede Satire eine fcharfe Spitze haben. 
So koncentrixt ſich denn jegt der 
Berliner Faſching in einer Ueber: 
zahl der verichiedenartiniten 
Bälle, welche in den mehr 
oder weniger befannten 
Vergnũgungsorten, die 






Rinderwärterin aus dem Spreemaloe. 


fänmtlich von einem Leichtfertigen Stern beftrahlt werden, ftattjindey, | 
Sie tragen zwar die pomphaftejten Namen und werden ftets als ‚ck 
Schenswürdigfeit der Reſidenz“ angefündigt; aber ob wir dem | 
„Einzug der Roſenkönigin“ beiwohnen oder gar dem „Triumph 
der Königin Pomare“, ob wir uns die „Feenquadrillen“ ans 
jehen oder den „Belccipedencontre”, der Eindruck ijt fait immer 
derfelbe: ein Trupp Teichtgefchürzter Dämchen, umgeben von oft | 
ſehr alten und oft noch ſehr jungen Herren, alle ſich bemühen, 
die ungemein Amüfirten zu fpielen, und gerade dadurch zeigend, 
wie jehr fie fich langweilen. in häßlicher Anblick! 

Da geht es denn doc auf dem Corps de Ballet-Ball, der | 
bei Kroll abgehalten wird, noch eufrenlicher zu; auch dort ift die 





In der Shußbdütte 


624 


o0o — 


Geſellſchaft meiſt eine vecht „gemiſchte“, aber es herrſcht doch noch 
wirkliche Lebensluſt vor, man ſieht den Einfluß der rauſchenden 
Muſik auf die dicht durch einander wogende Menge, die reich au 
graziöjen und anzichenden Erjdeinungen it — zierliche Pagen, 
niedliche Blumenmädchen, ſchöngepuhzte Ticherleffinnen, zumeist 
aber ichlanke Dominos, die Gefihter durch die Seidenlarve oder 
den Spitzenſhawl verhüllt, troßdem oder vielleicht gerade deshalb 


dem Tanze mit Leidenschaft huldigend, dem fich bier fogar die 


Herren mit Eifer hingeben. Wir nehmen beim Berlaflen des 


‚ Ortes den Eindrud mit, daß auch im Berlin der Freudenbecher 


überichäumt und daß die Reſidenz auch darin „Weltftadt” ge— 


| worden ijt! 


Nagdrud verbeten. 
Aue Rechte vorkehmiten 


Novellenkranz von Tobannes Proelp. 
Schluß. 
7. Brimkehr. 


b die entthronte Gletſcherkönigin des melancholiſchen Eng— 

länders, wie ſie die Herzensfönigin des kühnen Alpiniſten 
geworden, nicht ſchließlich doch noch ſeine Frau werden würde: 
dieſe für ihr echt weibliches Gemüth gar wichtige Frage wollte 
eben Frau Kurz zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Betrachtung 
über die wunderthätige Macht des chejtiftenden Gottes maden, 
als jie von ihrem Gatten mild beſchwichtigend unterbrochen wurde: 

„Du Haft ganz recht, Mutting, es ift oft wunderbar, auf | 
tie gewundenen, anseinanderlaufenden Wegen das Schidſal die | 
Menichen, die es fir einander beſtimmt Hat, bis zur endgültigen 
Bereinigung führt; die theoretischen Erörterungen aber wollen wir 
laſſen, da ja auch meine Geſchichte und die erfrenliche Thatjache, 
daß wir hier ſozuſagen als Aubelpnar voll Heiterkeit neben einander 
ſihen, die Sache genugſam veranichanlichen. Es ijt ohnehin fpät 
geworden und für die Herrichaften daher jchon eine Zummthung, 
nad) all den geiftigen Genüſſen, die fie gehabt, nun noch meine 
Geſchichte mit anzuhören, und ich dächte, liebe Alte, ein Glas 
gut gebrauter Grog wird allen eine willtommene Aufmumterung 
fein. Wir Haben ja dort in unſerer Handtaſche noch eine uns 
angebrochene Flaſche alten Cognac und heifes Wafler giebt's in 
der Küche — nicht wahr, Bärbeli, Du holjt ums welches herauf, 
and) Gläſer und Löffel, wenn's giebt — Zucker haben wir aud)... 
alſo man zu! Ach muß neitehen, bei Ihrer padenden Erzählung, 
Herr MWhitfield, mit ihren. graufigen Gletfcherabenienern iſt's mir 
ganz eifig durch die Glieder gefahren, und da muß ich jhon ein 
bischen nachheizen.* 

Bald hatte ein jeder fein Dampfendes Glas Grog vor ſich 
fiehen und alle rücdten in angeregter Stimmung dichter am ben | 
Tiſch, als Here Kurz in behaglichem Tone begann: 

„Wenn ic Ihnen leider auch nicht in Aussicht ftellen Tann, daß 
das Sprichwort ‚Wer zuletzt Tacht, lacht am beiten‘ Fich am dem bes 
wahrheiten werde, womit ic) unfer Quodlibet von Erzählungen num 
beſchließen will, fo habe ich als legter ficher den einen Borzug, daß 
ich in einer wahrhaft gehobenen, durch das Borangegangene erſt er— 
zeugten Stimmung das Wort ergreife. Wollte ich aus der Fülle 
meiner Reifeerlebnifje nur das ins Auge faſſen, was in letzter Zeit mir 
begegnet, fo hätte id) Leichte Arbeit; ich hätte dann eben nur fchlant: 
weg zu erklären, daß der bier mit Ihnen in jo anregender Weije 
verbrachte Abend mein ſchönſtes Reiſeerlebniß ſeit langer Zeit 
war. Dies ijt fein leeres Kompliment für die Vorredner. Bunt 
zufammengetürfelt, vom Zufall in Geftalt widrigen Wetters hier 
in einer nur dürftig ansgeftatteten, wenn auch gäſtlichen Herberge 
zuſammengebracht, hat unfer Kleiner Kreis ohne Verabredung und 
lünſtlich erfonnenen Plan nnd nur von dev Absicht geleitet, mit | 
Hilfe fchöner Erinnerungen die Langeweile zu vertreiben, etwas 
wie eine wohlgegliederte Symphonie hervorgebracht, deren Thema 
fantet: welch' Föftlih Dina iſt dod das Reiſen! Welche Fülle | 
an heiteren und großartigen Eindrüden es vermittelt, wie es 
beglüdend, befveiend, veredelnd und ſtärlend wirkt, wie es bie 
Kunſt und die Willenichaft fördert, wie es Herzen in Fremd: | 
Schaft und Liebe zufammenführt, Vorurtheile überbrüdend und 
dem rein Menichlichen Geltung verichaffend, all dies haben 
uns die jo verichiedenen Gedichten einiger weniger arumdvers | 
ſchiedener Menichen eindringlich zu Gemithe geführt. Ob die | 








Mufit des einen Stüdes allegro oder andante Hang oder ſich 


‚ als scherzo entjaltete, alle Melodien vereinigten ſich zu einem 


Lobgeſang auf das Meifen. Ach ſoll nun das Finale liefern. 
Es hieße, das Spiel verderben, wollte ich jet abſichtsvoll 
und fo aut ich's vermöchte die bisherigen Melodien in einander 
zu weben verfuchen zu einem kunſigerechten Schluffe Mich 


ı drängt 08, eime einzige beranszugreifen und an dieſelbe eine 


neue anzufmüpfen; vielleicht dab dabei auch die anderen ge 
legentlich mit aufklingen. 

Ein Gemeinfames Hatten alle Ihre Geſchichten: Ihre 
Thüringerwald-Pfingjtidglle, Here Doktor Helbig, jo qut wie Ahr 
Abenteuer im ewigen Eije, Here Whitfield, fie alle haben be- 
zengt, dak das Reiſeglück die Menfchen nicht nach dem Reiſepaß 
fragt, ſondern unbefümmert um Unterſchiede und Vorurtheile, die 
aus der Abjtammung und Herkunft der einzelnen fich herleiten, 
feine Segnungen fpendet. Was Schiller von der Freude fingt: 

‚Ihre Zauber binden wieder, 

Was die Mode ftreng getheilt — 
haben Sie alle unwillfürlicd) dem Reifen nachgerühmt. Der Münchener 
Maler, Herr Breitinger, führte, vom Reiſeglück geſegnet, die 
holländiiche Kunſigenoſſin als Braut Heim; der vabifale Rhein 
länder lnüpfte in der freiheit der Berge fein Lebensglüd an das 
der Tochter einer öfterreichiichen Mriftofratenfamilie; das brave 
Bärbeli hat bekannt, daf fie die glüdtiche Wendung in ihrem Heinen 
Liebesromane der Wirkung des Fremdenverlehrs verdankt, und 
Here MWhitfield kümmerte fich ebenjo wenig um die Angaben des 
Paſſes feiner Gletſcherkönigin, da ſich fein Herz ihr in Liebe zu- 
wandte, wie Herr Doktor Helbig um denjenigen der Heinen 
N deren Herz er jo ſchnell eroberte und jo ſchnell 
vergaß.” 

„Doch nicht, verehrter Herr Kurz. Vergeſſen hab’ ich fie nicht.“ 

„Am fo bejfer paft auch Ihr Beispiel zu dem, was ic) aus: 
führe. Diefes in unſerer Zeit der Nationalitätenverhegung befonders 
erhebende Vorkommniß einer Uebereinjtimmung grundverſchie— 
dener Menichen in der Bethätigung echter, freier Humanität 
hat mich im Innerſten erquict. Denn ein Deutscher in meinen 
Jahren, der von Jugend auf gleich vieltaufend anderen am ſich 
ſelbſt es erfahren hat, daß fein emzelner, fein Stamm, feine 
Nation für fich und durch ſich eriftiven, fie vielmehr nur Dank 
dem wechfelfeitigen befruchtenden Verlehr mit ihrer Mitwelt 
leben, wachien und gedeihen fönnen, der muß mit tiefem Ingrimm 
wahrnehmen, wie die an Bildung reichiten Völker, die doch mur 
Traft diejes Zufammenhangs zwilchen Nationen und Generationen 
aus Barbaren zu Kulturvöllern geworden find, ihr höchſtes Gut, 
eben die Sumanität, mit Füßen treten und verleugnen! Man 
fannı ja heutzutage kein Zeitungsblatt zur Hand nehmen, ohne 
Symptomen davon oder Klagen darüber zu begegnen. Daß das 
nur eine vorübergehende Krankheit ijt, für die uns Deutſchen, 
wie der verftorbene Kaiſer Friedrich als Kronprinz fagte, qlüd 
licherweife ſogar die Bezeichnung fehlt, in dieſer Auverficht bejtärkt 
mic vor allem das Bewuftiein, daß der ſicherſte Talisman 
gegen dies Uebel eben das Reiſen iſt und daß das Meilen, Die 
Reiſeluſt und das Reiſebedürfniß, Das Neijen zur Erholung wie im 
Dienjt von Handel amd Wandel, bei jeiner jteten Wechſelwirkung 


Kangmndig-rrgiung °g non Bunupmfjondug 
una⸗o 29 jwäpge m ⸗poua⸗ s*: € 


—* 





—⸗ 


nit der glänzenden Entwickelung der Verkehrsmittel, nur immer 
mehr zunchmen Tann und jelbft die Unbemitteltiten und am ent- 


legeuſten Wohnenden mit jeinen Wohlthaten berühren muß. Mein | 


ganzer Lebenslauf, auf deſſen unruhige wechſelvolle Geftaltung 
ich jeßt aus bemooften Schwabenalter heiter zurüdblide, war in 
ganz ungewöhnlicher Weile dazu angethan, dieſe Erlenntniß in 
mie zu nähren und zu befeftigen. 
bis ich dazu lam, unter die Vergnügungsreiſenden zu geben. 
Unfere Schönen Alpen kann ich mir 3. B. erſt jept mit rechter 
Muße betrachten. Und doch war von Jugend an mein Sinnen 
und Tradjten dem Reifen zugewandt und die Neijeluft hat ſich 
frühe in mir geregt. Aber fie trieb mich nicht in die Höhe, 
Sondern in die Meite, 
bin ich aelommen. 


Wenn es eine qute und eine jchlimme Fee gäbe, eigens um | 


für Glück und Unglück der Menſchen auf Reiſen zu Torgen, jo 
müßte ich annehmen, day an meiner Wiege beide gejtanden haben. 
Die eine gab mir ben leidenſchaftlichen Reifetrieb und eine vorzüg 
liche Geſundheit mit auf den Wen; die andere verfah mich mit 
Eigenjdaften, welche gar leicht den eriteren mir zum Verhängniß 
hätten werden laſſen fünnen. Viele Umstände kamen zuſammen, 
um denfelben verfrüht zum Ausbruch zu bringen. Mein Vater 
war ein wohlhabender Holzhändler in Stettin. Als fünfjähriger 
Knabe schon durfte ich ihm auf einer Seereiſe nach Schweden 
begleiten. Um Schifffahrt, Flöferei, Fluß und Meer drehten ſich 
die Lieblingsgeſpräche meines Baters bei Tiſch. Ferner hatte 
ich einen Onfel in Amerifa, der nach bewegter Vergangenheit 
Kapitän auf einem Miſſiſſippidampfer geworden war. Was ich 
von ihm hörte, wenn es auch jelten Gimftines war, erregte 
mächtig meine Phantaſie. In noch höherem Grade ihaten dies 
einige Bücher, welche mir bald, nachdem ich leſen gelernt Hatte, in 
die Hände famen, Campes ‚Nobinfon* und populäre Bearbeitungen 
einiger Nomane von Cooper, dem Lederjtrumpf Autor, und 
Marryat, defien ‚Peter Simpel‘ idy in jener Zeit wohl mehr ala 
ein Tutendmal gelefen habe. Wie diejer englische Midihipman 
auf See zu gehen, auch auf die Gefahr hin, gleich Robinſon auf 
einer wüſten Inſel zu jtranden, oder wie Lederſtrumpf im den 
anerifanischen Hinterwäldern als Bundesgenoſſe eines Chingachguot 
gegen Apachen oder Sipurindianer zu fämpfen und den Büffel 
zu jagen, dies wurden meine Knabenideale 

Das war am jich gewiß nichts Beſonderes. Als ich aber 
über diefen und ähnlichen Büchern dann meine Schulaufgaben 
zu vernachläflinen begann, als ich — fo oft und fo lang idı 
fonnte — mic von Haufe wegitabl, um mit einigen gleich— 
geitimmten Kameraden mich am Dafen, ja bald auch auf den dort 
lagernden Schiffen herimmzutreiben, amd mein Vater mit der herben 


Strenge feines Charakters dagegen feine Autorität geltend machte, | 


wurde aus jenen Träumen allmählich der Plan, mic dem ſtreugen 
Negimente und dem Schulswang durch die Flucht zu entziehen 
und bei meinem Onkel auf dem Miſſiſſippi, dem id), wie fie zu 


Haufe fagten, ‚leider: nachſchlug, mein Heil zu fuchen. Au irgend 
einer ſchwülen Ghewilterjtunde, in welcher das Donnerwetter von | 


meines Baters Munde grollte, lieh ich mich dann hinreißen, in 
ftörriger Knabenweiſe mit der Ausführung dieſes Plans den 
Eltern zu drohen, und diefe nahmen die Drohung ernſter, als es 
damals möthig geweſen wäre: ich wurde, mm jedem bei der Nähe 


des Meeres jehr leicht auszuführenden Fluctverfuch vorzubengen, | 


von Stettin fort in ein Knabenpenſionat nach Heidelberg gethan, 
das wegen der in ihm herrſchenden jtrengen Zucht wohlverdienten 
Nufes aenof. Ka, die Zucht war jtrena dort, zu jtreng für mein 


nach freier Uebung der bejondeven Anlagen lechzendes Naturell. | 


Dort lernte ich zuerjt den Werth der Heimath jchäten; die Welt 
meiner Knabenträume und Knabenſpiele wurde zum Gegenjtand 
jehnlüchtinen Heimwehs. 

Als ich aber zu Weihnachten in die ferien fam, mußte ich 


erfennen, daß diefe Schnfucht einem verloxenen Paradieſe galt. | 


Mein Bater hatte fich in den Kopf geſetzt, daß ich ſtudiren jollte; 
fein Ehrgeiz wollte den einzigen Sohn in Amt und Würden 
jchen, die nur ein flantsgeprüfter Juriſt erlangen kann; meine 
Natur aber war auf venlere, praftiichere Dinge gerichtet als die 
griechiſche Synlax und das Weberichen von Giceros Neden, und 
meine Genfuren, die ich heimaebradıt hatte, lauteten nicht günſtig— 


Ein Uebermaß von Nachhilfeitunden, das mir mun im Heidelberg | 


aufgebürdet wurde, machte die Sache wicht beſſer. Der alte 


Wohl bat es lange gedauert, | 


Und weit — weit herum in der Welt — | 


626 > — 


' Plan, nad) Amerifa durchzugehen, nenährt durch die heimliche 
' 2eftüre von allerlei Reifenbentener- und Gntdedergeichichten, ge 
nährt aud durch das Gefühl, im mir ſchlummernde Gaben 
draufen in der Welt bewähren zu können, die jegt mit aller 
Macht unterdrüdt wurden, nahm immer mehr feite Gejtalt an. 
Als die großen Ferien herannahten, war mein Entſchluß veif. 
Das Geld zur Fahrt nach Stettin, das mir bei Beginn der 
jelben ausgehändigt werden würde, wollte ich an mich nehmen 
und als Zchrpfennig benugen auf der Flucht in die weite Welt. 

Wie jeher mein Geiſt dem Zuge mac der Fremde damals 
erlegen war, wurde mir erjt Har, als ich viel fpäter enmal das 
ſchöne Heidelberg wieder betrat. Für die Fülle anmuthigen er- 
habenen Schönheitsreizes, die das Nedarthal hier umfaßt, hatte 
ich damals fein Auge. Nur der Nedar jelbji, der flinfe Geſelle, 
der mit brauſendem Ungeftüm an der Stadt vorbeieilt, dem Rheine 
zu, hatte mir's angethan, Ex aud bot mir das Mittel zu einer 
ebenfo ſicheren wie wohlfeilen Flucht. Wie oft Hatte ich den 
fangen mächtigen Flößen nachgeſchaut, welche die ſchnellen Fluthen 
des Nedars, jobald nur der Fluß vom Eiſe befreit war, dem 
Nheine alltäglich zutragen. Mit dem Vorgeben, ein armer Hand 
werlsburſch zu Sein — mit entfprechender Kleidung hatt’ ich mid) 
vorber versehen —, der nach Holland wolle, ftellte ich mich in 
Mannheim auf einem der nroßen Floßfahrzenge ein, die dort zur 
Abreife bereit lagen, und gelangte jo, wenn auch auf langſamem 
Wege, nad) Rotterdam. Gerade dieſe Langjamkeit hielt mich den 
Nachforſchungen der ebenſo erzürnten wie erfchreten Eltern ent 
zogen. Ich hatte ihmen einen Brick gefchrieben, worin ich ihnen 
Mittheilung von meinem Entichluß machte und mein aufrichtiges 
Bedauern ausſprach, ihnen Schmerz und Enttäuſchung zu bereiten; 
um Berzeibung wolle ich fie erſt bitten, wenn ich auf dem jelbft- 
gewählten Wege ein Mann geworben fei, der ohne Erröthen der 
Scham werde vor fie hintreten fünnen. 

Wie tief ich meine Eltern fräntte, wie groß der Kummer 
war, den ich ihnen bereitete, davon hatte id) damals feine Vor— 
stellung. Ich glaubte mich am fich im Nechte; in meinem Bater 
fah ich den ftarren Gegner meines Lebensglüds; das Gefühl, 
einen Alt der Selbjterhaltung in allerdings ſehr eigenmächtiger 
und waghalſiger Weife zu vollziehen, begleitete mich auf der 
abenteuerlichen Fahrt. Daß ich nicht aus Arbeitsichen oder Sucht 
nach materiellen Genüſſen dem Ort firenger Schulzucht entjlohen, 
bethätigte ich von Beginn an. Als einer der Ruderlnechte des 
Floßes erlrantte und in Köln ans Land gefcht werden mußte, 
trat ich an jeine Stelle und zeigte mich, trotz meiner halbwüchligen 
Jugend, der kürperlichen Anſtrengung newacjen. In Rotterdam 
dverdingte ich mich auf ein Kauffahrteiſchiff, das zumächſt nad) 
‚ Nordamerika ging, ala Schifisjunge. Troß der Entbehrnngen und 

Anftrengungen, ja and Mißhandlungen, denen ich hier ansgeicht 
war, fühlte ich mich anf dem Schiffe qlüdlicher als ſeit langem. 
Der Gedanfe an meinen Onkel in Amerika gab mir Halt, Der 
war ja Sciffsfapitän auf dem Miſſiſſippi, der werde mid) ſchon 
beſſer zu verwenden willen, Daß ich demfelben kaum befannt 
war und als Sohn meines Baters ſchwerlich befonders willtommen 
fein fonnte, diefe Bedenken jtörten mich nicht. 

Die Suche nadı meinem Onkel gehört zu den romanhafteſien 
Kapiteln meines Lebens. Unſer Familienname, fo ſtolz "mein 
Vater als Chef des alten Haufes Jakob Aurz und Sohn anf 
denfelben and) war, ijt nicht nur kurz, fondern auch ſehr häufig. 
Der Miſſiſſippi aber ift länger und breiter, als ich mir ſelbſt 
in meinen verivegenften Träumen vorgejtellt hatte, und die Schiffe 
jeden Kalibers, die ihn befahren, zählen nadı Taujenden. Eine 
nähere Adreffe ober wußte ich nicht; war Onlel Richard doch 
nach einer heftigen Entzweiung mit meinem Vater außer alle 
Berührung mit der Familie gelommen. Nur daß er Kapitän 
auf dem Miſſiſſippi geworden war, hatten die Eltern vor Jahren 
zufällig von einem gemeinfamen Belannden eriahren. Lange 
dauerte es denn auch, bis ich überhaupt in Erfahrung brachte, 
daß er zur Heil gar wicht mehr diefem Berufe oblag. Wohl 
ftand mein Dichten und Trachten nach den großen AWierftädten 
des genannten Stromes, wo ich am cheiten hoffen konnte, den 
Aufenthalt des Ontels auszuknudſchaften; aber wie bingelangen? 
Im Verhältniß zu heute war es ja freilich damals für einen 
jungen kräftigen Mann von anfgewvedten Sinnen, der ſich micht 
ſcheute, da zuzugreifen, two fid) Arbeit bot, noch leicht, in Amerika 
ſich durchzuſchlagen und bei einigem Glück zu geordnetem Wohljtand 





- © 


zu gelangen; aber der Weg, den ich bis zu dieſem Biel au 
machen hatte, war recht fang und oft recht fteil, führte mich 
kreuz umd quer und ein paar Mal auch an den Rand der Ber: 
zweiflung. 

Das Erite, was mir blühte, war eine Anftellung als Hafen 
arbeiter. Saure Brot war's, das ich Hier erwarb, aber bie 
Zeit doch nicht verloren, denn während des Laſtentragens beim 
Laden und Loöſchen der Seeſchifſe wurde ich mir bewußt, wie viel 
natürlihe Begabung für das Erfaffen der Struktur jeder Art 
von Maſchinenwerk in mir ſchlummere und nach Bethätigung 
ringe. Dies veranlaßte mich dann, eine Stelle als Werftarbeiter 
zu ſuchen, die ich endlich ſand. Der Direktor des Bauplahes 
wurde auf mich aufmerkſam und engagirte mich für ſein Bureau, 
wo ich allmählich Einblick in die Pläne und Berechnungen ge— 
wann, auf denen der Schiffsbau beruht, und mir theoretiſche 
Kenulniſſe auf dem Gebiete der Statik und Mechanik erwarb, die 
ich dann abends in der Heinen Manfarbenftube, die ich betwohnte, 
eifrig vervollſtändigle. 

Dann aber regte ſich aufs neue der Neifetrieb mächtig in 
mir. Ich machte das Stenermannseramen und wurde nad) einigem 
Suchen Steuermann auf einem Nlauffahrer, der zwiſchen Stali- 
fornien und News York regelmäßig verkehrte. Jetzt Hatte ich oft 
Gelegenheit, mich nach einem Kapitän Richard Kurz, der auf dem 
Miſſiſſippi fahren folle, zu ertundigen; doch niemand wußte von 
ihm. Auch als ich ſelbſt an das Steuer eines fein Stromgebiet 


627 >» 


‚Sa, ja, mein Junge,‘ sagte er gleich am erjten Abend 
unferes Beifammenfeins zu mir, ‚verlajien foll man das warme 
und bequeme Bett, das einem die Heimat bietet, bei Zeiten, in 
der Jugend und hinausgehen in die Welt, um die Sträfte zu 
ftähfen und mit eigener Hand ſich fein Glück zu ſchmieden; aber 
man foll fie doch nur verlafien, um wieder zurüdzufehren. Wenn 
ich nur ein wenig befjer zu unferer familie paſſen würde, ich 
wäre ſchon längſt einmal wieder hinüber und hätte mid) nad) 
einem hübſchen Plate umgeſchaut an unferem Dftierftrand, am 
Rande der alten Buchenwälder, die jo ſchön doc nirgends wieder 
zu finden find, um mir für die Tage des Alters ein gemüthliches 
Neft da zu bauen. Du bift erftaunt, daß Dein ſee- und land— 
fahrender Onkel fo fpricht? Es ift aber doch mein volfer Ernſt. 
Ganz fich loslöſen von feiner Heimath kann und darf niemand, 
wenn er nicht an den theuerjten Beſitzthumern des Herzens 
Verluſt erleiden fol. Ich bin auch Hier in Amerika ein Deuticher 


\ geblieben, und wenn meine Gedanken gelegentlich nach Stettin 


befahrenden Dampfers Fam, konnte ich lange Zeit nichts von ihm 
erfahren, bis ich eines Tages in New-Orleans einen älteren | 


Kapitän im Bureau einer Dampfihifffahrts-Gejellichait traf, der 
den Onkel gar wohl gefannt hatte und mir mittheilte, daß 
derselbe Schon vor mehr ald zehn Jahren den Dienft quittirt habe 


und aus der Gegend gejcieden fe. Das war ein ſchwerer Tag, 


für mid damals. Den Onkel zu finden, 
Jahre das feite Ziel meines Streben und Hoffens geworben; 
auf einmal fühlte ich mich im Meere bes Lebens plan und ziellos, 
und was it ein Steuermann ohne Reifeziel! 

Ein Zufall war es, der mid) fchließlich dem Manne meiner 
Sehnſucht zuführte. 
einige Reparaturen nöthig geworden, und einige Befonderheiten 
in der Ronftruftion veranlaften mid, an die Schiffsbanerfirma zu 
ichreiben, auf deren Werft die ‚Minerva‘ entjtanden war. 
Antwort, die ich erhielt, trug unter dem Namen der Broofiyner 


war im Laufe ber | 


ziehen und Einfehr im alten Valerhaus halten, fo geht auch 
unſer guter alter plattdeutfcher Spruch durch meine Seele: 
Nord, Dft, Süd, Welt — 
To Hus is’ beit.‘ 

Und darum müſſe er e3 bedauern, wenn jein Beifpiel dazu 
beigetragen, mich auf die Dauer der Heimat zu entfremden. 
Daß ich fortgelaufen und auf meine Manier ein tüchtiger Mann 
der Arbeit geworden fei, darüber wolle er nicht mit mir rechten; 
daß ich aber aud) wieder zurückkehre und mit den Meinen noch 
rechtzeitig meinen Frieden made als vernünftiger Sohn, wie 
es ſich gehöre, das erwarte er von mir, umd es mir zu ers 
leichtern,, folle feine Sorge fein. Ich erwiderte zwar, daß id) 
nicht eher zweüctehren könne, als bis ich feit auf einenen 
Füßen ſtehen twerde, brüdte aber dem braven Onkel, der To 
viel Herz fich Hinter der wetterharten Bruſt bewahrt Hatte, ge— 


' rührt die Hand. 


In der That fühlte ſich das meine auch feinesivegs von der 


Heimath Losgelöft. In den Heitungen verfolgte ich die politifchen 


An der Machine unjeres Dampfers waren | 
| den Prozeh wahr des allmählichen Erſtarlens und der Rück— 


Die 


Firma John Gowley u. Co. denjenigen, der mir fo oft auf den 


Lippen ſchweble: 
Ich ſchrieb nun ſofort einen perſönlich an dieſen Richard Kurz 
ſich wendenden Brief, um die Identität mit dem geſuchten Onlei 
feſtzuſtellen, und richtig, er war es. Meine briefliche Darſtellung, 
wie er in meiner Knabenzeit ſchon mich beeinflußt, wie der Ge— 
danke an ihm mich nach Amerika begleitet und wie ich ihn dann 
iv unverdeojjen gefucht habe, rührten den alten waderen Herm, 


‚Richard Kurz‘ ftand in fefter Handjchrift darunter. | 


wie er mie jchrieb, aufs tieffte; er lud mic ein, zu ihm zu 


fommen, und fobald ich meinen Stenermannspojten verlafjen 
fonnte, eille ich nad) Broofiyn. 
meine Eltern in der That ganz recht gehabt, als fie ſchon bei 
meinen Anabenjtreichen gellagt hätten, daß ich dem fchlimmen 
Onlel Richard nachſchlüge, und daß dies nicht nur in Bezug auf 
den abenteuerlichen Trieb in die Ferne, ſondern aud auf das 
Talent, das ihn nad langer Irrfahrt ſchließlich zum Betriebs: 
direftor einer der größten Shihamerlien. am New-Vorker Hafen 
hatte werben laſſen, der Fall fei. Unter Freudenthränen lachend, 
füßte und umarmte mich der auf den erſten Blick rauh erſcheinende 
gute Mann; er bot mir zunächſt eine Stelle als ſein Privat- 


fefretär an, damit unſer Verhältniß aud Ordnung und einen | 


Namen habe, und veridaffte mir bald einen ſchönen Posten im 
Bureau des gewaltigen Injtituts, dem er als am Gewinn be- 
theiligter Chef vorjtand. 

Nur in einem fand ich mich in meinen Erwartungen ge— 
täufcht, wenn auch nur auf angenehme Art. ch Hatte erwartet, 
den Dntel voller Antipatgien gegen die Heimath und umfere 
Familie zu finden, die ihm ohne genügenden Grund ſchlimm mit: 
geſpielt hatte. Das Gegentheil war aber der Fall: meinem Vater 
hatte er in der Stille des Herzens das Unrecht, das ihm diefer 
gethan, längſt verziehen. Und daß er fid) fo völlig entwurzelt 
vom Heimathboden wiſſe, bezeichnete er als Urſache eines tiefen 
Kummers, der an ihm zehre. 


Mit Freuden jtellte er feſt, daß 


Wandlungen im großen deutihen Waterlande wie irgend ein 
anderer jtimmberechtigter Bürger. Mit Genugihuung nahm id) 


wirkung desfelben auf das Ausland, das dem deutfchen Namen 
mit wachſendem Reſpekt zu begegnen begann. Dann beitand aber 
auch noch eine direfte Beziehung zwifchen mir und der Heimath. 
Um meinen Fluchtplan hatte ein einziges Wefen gewußt, dem ich 
auch den Abfchiedsbrief an die Eltern anvertraut hatte, welcher 
erſt drei Tage nad) meinem Aufbruch der Volt übergeben werben 
follte. Diejes Weſen war cin Mädchen, das gleich mir damals 
in dem grünen Alter von fechzehn Jahren gejtanden Hatte und 
duch die zwiſchen uns in aller Stille erblühte Neigung in mehr 
al3 einen ſchweren Konflikt gerathen war, Denn dies treue 
Zining, fo hieß fie und heißt fie — nicht wahr, Alte? — war 
die ältefte Tochter des gejtrengen Scyolarchen, deſſen allzu drüden- 
der Schulzucht ih mich fo freventlich entzog. Much fie fühlte 
fich nicht glüdlich in einer Umgebung, die, bei aller gegenfeitigen 
Liebe zwiſchen den Eltern und ihr, nicht geeignet war, frohe 
Stunden und heitere Eindrüde, wie fie einem jungen Mädchen: 
herzen Bedũrfniß find, ihr zu bereiten. Der Höfterlihe Ton im 
Knabeninſtitut beherrichte aucd das Familienleben; andererfeits 
war der Vater vom Stundengeben und anderen pädagogiichen Ge— 
fchäften und die Mutter von der Führung des großen Haushalts 
viel zu jeher in Anſpruch genommen, als daß die Erziehung der 
Todhter eine gleichmäßige hätte fein künnen. Lina hatte jchon 
überall mit anzugreifen, namentfich die Gartenarbeiten lagen ihr 
vb, und in einer von tothblühenden Bohnenranlen umiponnenen 
Laube Hatten wir ung unſere junge Liebe aeftanden. Ohne die 
Billigung meines Fluchtplans von ihrer Seite würde ich ſchwerlich 
aufgebrochen fein. Das Wertrauen in meinen Charakter war 
aber in dem braven, frühreifen und über die Jahre ernſten 
Kinde ſtark genug, um mir nad) längerer Ueberlegung, wenn 
auch unter Thränen, ihren Reifefegen zu geben. Ihr Hatte ich 
die Sorge um den Brief an meine Eltern übergeben, und fie 
übernahm freiwillig, an meine Mutter zu meinen Gunften ober 
werigitens zur Aufflärung über die Motive meines Handelns 
bald nach meiner Abreife zu fchreiben. 

Unfere beiden Mütter waren nämlich Freundinnen von der 
Schule her, und bei einem Beſuche der meinen im Heidelberger 


Bo 


Injtitutshaus Hatte diejelde eine warme Sympathie für das junge 
Mädchen bezeigt und fie eingeladen, Später, wenn ich Student fei, 
einmal während der erienzeit auf unfer Gut am Dftfeeftrand zu 
längerem Befuche zu fommen. Meine qute Mutter, die, wie fie 
in Bezug auf meine Herzenswahl denfelben Geſchmack mit mir 
1heilte, auch fonst weit mehr Verſtandniß für meine Eigenart und den 


Kern meines Wefens Hatte, als fie unter dem Drud der Autorität 


meines Vaters zu erfennen gab, meine gute Mutter hatte dieſe 
Herzensregung der Heinen Freundin ihres Sohnes hoch aufge 
nommen und freundlich beantwortet. Dies Verhältniß hatte 
Dauer gewonnen, nachdem Lining einer Einladung gefolgt war, 
ihr in ihrer Einfamfeit Gefellfchaft zu leiſten. So jtrömten mir 
durch den geheimen Briefwechfel mit meinem treuen Schat immer 
auch Nachrichten aus dem Vaterhaus zu, ohne da die Eltern, 
die ſich gewöhnten, mid) aleid) einem Todten zu betrauern, davon 
eine Ahnung hatten. Und auch fie erhielten Nadjrichten auf diejem 
Wege von mir. Denn das fchlaue Mädchen that fo, als er— 
fahre fie durch die Schweiter eines meiner Schullameraden, 
was ich ihr an Thntjächlichkeiten ſchrieb. 
endlichen Zuſammentreffen mit dem langgeſuchten Onfel und allem, 
was damit zufammenhing, erjuhren fie auf meinen beſonderen 
Wunſch nichts. 

Meine Braut, von dem feiten Vertrauen befeelt, daß ich 
fchon vechtzeitig heimlehren werde, wenn ich's zu ehwas Tüchtigem 


gebracht hätte, und daß auch dies feine Ewigleit währen Tönne, | 


verichonte mich ihrerfeits in rührender Weiſe mit naheliegenden 
Boritellungen und Bitten, doc fchon vorher als reuiges Kind 
ins Vaterhaus zurüdzufehren. Aber als das dritte Weihnachten 
fam, das ich im fernen Auslande zujubringen hatte, da fandte 
fie mir als Geſchenk eine Brieftafche, in welcher vorn auf einem 
Seidenblatt mit feiner Perlenschrift die Worte aus Goethes 
‚„Ssphigenie‘ eingeftidt waren: 
‚Der ift am glüdlichiten, ex fei 

Ein König oder ein Beringer, dem 

In feinem Haufe Wohl bereitet iſt.“ 

Unter meines DOnfels Leitung ging es nunmehr mit mir 
trefflih vorwärts. Bald erhielt ih im Laboratorium der Fabrik, 
das ausfchliehlich dem Zwecke diente, zur Vervolllommnung des 
Dampfbetriebs von Fahrzeugen Experimente zu machen, eine be 
fonders gut bezahlte Stelle. Ich Hatte auch hier Glüd. Nad) 
einigen Jahren gelang es mir, einige Verbejlerungen zu erfinden 
und durchzuführen, welche die Gefahrlofigfeit hoher Fahrgeſchwin— 
digfeit bis zu einem gewifjen Grad fo gut wie garantirten. Die 


Nur von meinem | 





Firma nahm Katente darauf und betheiligte mich am Gewinn der | 


Verwerthung. Der Bortheil der Neuerung war fo einleuchtend, 
daß faft jede Mafcinenfabrik ſich gedrungen fühlte, ihm ſich zu 


nuge zu machen. Das Geſchäft war ein alänzendes. Unſer Haus | 


war mit mir höchlich zufrieden. Ich erhielt den Auftrag, meine 
Erfindung aud in Europa befannt zu machen und patentiren zu 
laſſen, jowie zur Einführung derfelben in die dortige Fabrifation 
jelbft hinüber zu reifen. Der Tag der Rüdfchr in die Heimath 
war gelommen. Wie Hopfte mein Herz, als ich zum erſten Mal 
feit langer Zeit wieder ein Schiff beitieg, ein Schiff, das das 
erjte war, welches mich, wie Goethe in feiner „Italienifchen 
Neife* jo ſchön es ausgedrüdt hat, ‚heimatbwärts, liebewärts 
tragen jollte! 

Und ic) fam nad) Stettin. Ich trat ein in mein Vaterhaus. 
Aber nicht als Sohn Hopfte ich an feine Thür. Der Vertreter 
der großen Brooklyner Maſchinen- und Dampfſchifffabrik Kohn 
Cowley u. Co. forderte Einlaß im Bureau des gejtrengen Herrn 
Jalob Kurz und wurde mit Zuvorlommenheit willlommen geheißen. 
Mein Bater hatte ſchon in den Fachzeitichriften von den Er— 
findungen gelefen, und diefelben für feine Schleppbampfer zu vers 
werthen, war bereits fein Entſchluß, che ich Fam. Ach hatte mid) 
mündlich als Vertreter meines Haufes anmelden laſſen, natürlich 
ohne meinen Namen zu fagen. ch wollte ohne jede Beziehung 
zu dem, was ich dieſem theuren, troß allem innig geliebten 
Manne durch die Beburt war, ihm entacgentreten, jo wie ich ae: 
worden war. Mit warmem Antereffe hörte er meine Aus— 
einanderjegungen über Weſen und Werth der Erfindungen an und 
legte großes Berjtändni für beides an den Tag. 

‚Der ganze Weltverfehr gewinnt ja durch diefe an ſich Heinen 
Aenderungen, die verhältnifmäßig wenig Koſten verurfadyen ! 

‚Das Ei des Columbus,‘ fagte ich lächelnd. 


| 


 fünnen?” Ein Schatten flog über fein Geficht. 
ich lönnte wohl eine friſche, ausgiebige Perfönlichkeit vol Welt: 


‚Ei, nur ein Erfinder felber darf jo geringſchäßend von 
feinen Berdienften ſprechen. Ach wollte Sie fchon immer fragen, 
habe ich denn die Ehre, den Erfinder felbjt vor mir zu haben?“ 

‚Freilich, verehrter Herr Kurz‘ 


Der Vater erbob ſich und drüdte mir die Hand. „Und Sie 


' beforgen perfönfich die Einführung in Europa,‘ fuhr er fort. ‚So 


wird die Sache überall ſchnell Eingang finden Die ganze 
Handelswelt ift Ihnen Dank ſchuldig, ja, jedermann, ber reiſt, 
und wer reifte heutzutage nicht! Das Reiſen ift ja das eigent» 
liche Ferment der modernen Kultur, Nun, das Haus Cowleh 
kann ich gratuliren, eine fo frische aufftrebende Kraft fein nennen 
zu Tönen.’ 

‚Sie ahnen nicht, wie fehr mich Ihre Worte erfreuen. Da 
ich von Geburt ein Deutjcher bin, möchte ich nicht ewig im Dienite 
bes in der That bedeutenden amerifaniichen Haufes bleiben. Ach 
würde dabei jelbjtverjtändlich nicht gleich eine ähnliche Poſition 
bier beanspruchen, wie ich fie dort aufgeben würde. Zum Beilpiel, 


' wenn Sie in Jhrem großen Holzimportgeihäft . . .* 


‚Aber, lieber junger Mann,‘ unterbradh mid) der Water, 
‚ic falle aus den Wolfen. Wie follien Sie Ihr ganz be 
fonderes Talent für Maſchinenbau bei mir vortheilhaft verwerthen 
‚Sonft, ad) ja, 


erfahrung und Unternehmungsgeiſt auch im meinem Geſchäfte 
brauchen. So ein ganzer Wann ijt ja fiberall von Nuben und 
Herr der Situation.‘ 

Nun denn, wenn Sie mich für einen folden Mann halten 
und ihn brauchen können, fo wäre ja uns beiden geholfen,‘ rief 
ich, ‚mein Name üft. . .* 

In diefeom Augenblide ging die Thür von der Wohnung zum 
Burcan auf und — unwillkürlich trieb es mich, der eintretenden 
Dame mit den troß der grauen Haare mir gar innig vertrauten 
Zügen entgegenzueilen, fo daß ich mich nur ſchwer beherrſchen konnte. 

Sie aber hatte dieje Bervegung bemerkt, und obgleich ich 
bei meinem Wanderleben ein aanz anderes Ausſehen wohl befom: 
men, als mein Knabengeſicht einft hatte ahnen laſſen, erfannte das 
freue, ſcharfe Auge der Mutter mic) fofort und: ‚Guter Himmel, 
das ift ja unfer Emjt‘ rufend, jtürzte fie auf mich zu; dann lag 
fie, von einem Weinkrampf durchſchüttert, mich zärtlich umfaſſend, 
in meinen Armen. 

Ich Hüfte ihr Haar, ihre Stirn. Ja, ich bin’s,‘ fagte ic) 
und blidte zum Water auf. ‚Du hajt mid) eben um meiner Perfön— 
lichfeit willen willfommen geheißen, Water; bin ich es auch weiter, 
da ich Dein Sohn bin? Kannſt Du dem Ausreißer vergeben, 
nun er auf Reifen und durch feine Begeifterung für das Reifen 
und die Mittel desielben das geworden ijt, was Du eben einen 
ganzen Mann genannt haft? Bilde Div ein, ich fei auf Deinen 
Wunſch fort geivejen, und nimm mich nun auf in Dein Haus 
und Dein Geichäft — nicht als verlormen, jondern als pünktlich 
wiedergefcehrten Sohn! 

Mein Water hatte feine Worte für fein Empfinden. Er 
jagte nur: ‚Das unfer Emmft? — Ja, Du biſt es! ... Gottes 
Wege find wunderbar,‘ und reichte min feierlich aufs neue feine 
Rechte. Nachdem er fie gefhüttelt, murmelte er: ‚Es ſei jo, wie 
Du es fagteit,‘ und ging hinaus, mit dem Arm ich über die Mugen 
fahrend, und ließ mich mit der Mutter allein. 

Draußen hielt eine Droſchle. Es war meine Lining, die 
fam. Ich hatte gleich nach meiner Ankunft in Hamburg an ihren 
Vater geichrieben, meine Lage ihm dargelegt und um die Hand 
feiner Tochter angehalten. Als Antwort im günjtigen Kalle folle 
er dieje zu meinen Eltern veifen laſſen, wo ich fie treffen wolle. 
Die Treue feiner Tochter hatte den ftrengen Heren doch gerührt, 
zumal ihr Vertrauen zu mir jich bewährt hatte. Die Mutter 
war jchon lange vorher von ihre eingeweiht worden in unfer Ge— 
heimniß und gab nun jelig der Tochter ihren Segen mit auf die 
Reife nad) Stettin... Das war ein Wiederfchen! „ . .“ 

Herr Kurz ergriff unwilltürlich fein Glas: „Nicht wahr, 
Mutting, das war unfer ſchönſtes Reiſeerlebniß? Darauf müſſen 
wir anſtoßen!“ 

Mit einem verſchämten Ausdruck jtillen Glückes ſtieß die 
treue Gattin des Erzählers mit ihm an. Aber aud) den übrigen 
Zubörern, die jich erhoben, mußten fie und er Beſcheid thun. 

„Ja, Yining, das it nun jchon lange her... Aber es ift 
ung and) weiter meijt recht gut gegangen . . . Das Neifen, meine 


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Herrfchaften, haben wir zwei in unferer aefegneten Ehe immer 
nad Gebühr geſchätzt. Deshalb kraxeln wir in unſern alten 
Tagen auch noch jo hoch im die Alpen hinauf, und unſern Sohn 
haben wir ohne Widerftreben als Freiwilligen in die Marine eins 
treten laffen. Aber nicht minder hoch halten wir unfer Heim. | 
Und num es Schlafenszeit ift und wir für heute auseinander 
gehen, Taffen Sie mich diefen Abend beſchließen mit dem herzlichen 
Wunſche: Allen eine glüdliche Reife — 
Nord, Dit, Süd, Weit! — 
aber allen auch eine glüdliche Heimkehr, deun — 
‚Zu Hus is' beit‘.” 
„Recht jo! 


Das war ein braver Schluß! Und mun, in 


der That, ift es auch Zeit, die Sigung zu Schließen,“ rief mit | 


Wärme Profeflor Schröder. „Mit bejtem Dank gegen Sie alle 
lege ich mein Präfidentenamt nieder.” 


„Ihnen unferen Dank!" . . . „Auf Wiederſehen!“ und 


„Glückliche Reife" — Hatıg es noch einmal fröhlich durcheinander. | 


Dann ſuchien die Ehepaare und Junggefellen ihr Lager auf. Das 
Bärbeli Löfchte die Lichter. 
„Gute Racht — Gute Naht!” 


8 Im Sonnenfcein. 


Das Metterprophezeien müffen wir Ajtronomen doch aud) 
ferner noch den Mitrologen überlafien ; 


nun fo einige Tage weiter regnen.” Mit diefem ftillen Selbft- 
vorwurf erhob fih Herr Doktor Helbig, die Augen nochmals 
reibend, von 
lönnen, daß er bis eben feit und tief geſchlafen hatte. Freilich 
nicht ohne Träume, die von den am Abend vorher gehörten 
Geſchichten ſtark beeinflußt waren. Eben noch hatte jein Traum 
den dramatischen Höhepunkt erreicht. Er hatte fich mitten in einer 
von blauem Licht durchflutheten Gletſcherſpalte befunden, um ſeine 
Brut ein Seil, an welchem ihn ein Führer in der Schwebe hielt, 


in feinen Armen ein Mädchen, in deſſen holdem bfeichen Angeficht | 


die Augen gefchlofien waren . Wer war es nur geweſen? 
Die Züge waren ihm nicht fremd. Bergeblih! Er konnte fich 
nicht befinnen, wo im Leben er fie fchon geſehen . . . Da war 
die Sonne von oben in die Sleticherfpalte, nein im die jchmale 
Kammer, die er mit Here Whitfield als Schlafgemach theilte, 
gefallen und hatte ihn geweckt. 


Du mie num den Traum gelandt oder ift nicht hier mein noch 
fchlummernder Stubengenofie der Uebelthäter, deſſen Gleiſcher— 
abenteuer meine erregte Bhantafie in ihrer Weife weiter ges 
ſponnen?“ 

Leiſe war er ans Fenſter getreten und hatte den linnenen 
Vorhang zurüdgejhoben. 
feinen Lippen: „Serrlih, wunderbar! Hollah, Herr Whitfield, 
aufgewacht, es it über Nacht das ſchönſte Wetter geworben und 
nun ſehen Sie einmal, weldy ein Schaufpiel!* 

Der Engländer war fofort aufnefahren, hatte ſich fchnell am 
Waſchtiſch mit laltem Waller die Augen genegt und trat mit 
einem freundlichen Good morning, Sir! neben den enthuſiasmirten 
Aſtronomen an das Fenfter. Und aud fein verröhnter Sinn 
mußte eingeftchen, daß der ſich darbietende Anblid ein aufer: 
ordentlicher war. 

Dicht vor ihnen und in der tiefen Schlucht, die ſich vom 
Seealpthal zu den Schnecieldein des Hoben Säntis und feiner 
Nachbarn heraufzog, wallte und wogte es von weißſchimmernden 
Dämpfen und Wollen, Har und fcharf aber über dieſer vom Licht 
ducchfloffenen Rebelmaſſe hoben ſich die zadigen Formen der 
Bergipigen jelbjt empor ins Blau des wolfenlojen Himmels, auf 


der einen Seite nech tief in Schatten, auf der andern aber vom Licht | 


der fiegreichen Morgenſonne leuchtend überfluthet. Immer mächtiger 
wurde ihr Walten, immer mehr verflüchtigten ſich die Wolfen, 
aleich fliehenden Spulgeftalten, hinunter ins Thal, deilen Um— 
riſſe allmählich auch ſichtbar wurden. 


„Das wird ein Tag,” rief befriedigt der Deutſche, der ſich 


bon dem Anblid nicht hatte trennen lönnen, als der Engländer 
bereit3 mit einem Splendid indeed daran gegangen war, feine 
einfache Toilette zu vollenden. „Nun aber auch feine Zeit ver- 
loren; ich gehe nach dem Frühſtück fofort auf die Spige!” 


das find ja wirklicde 
Eomnenftrahfen, und ich meinte geſtern Abend bejtimmt, es werde | 


dem Lager, deſſen Härte nicht Haste verhindern | 


„Nedender Traumgott, läßt Du 
Dir von der Wirklichkeit fo direlt ins Handwerk pfuichen? Haft | 


Da aber brady es mit Entzüden von | 


| „All right, ich werde Sie begleiten. Die Ausficht war geftern 
\ zu m Ein fo friſch geflärter Morgen wie heute iſt felten.“ 
| Auch in den anderen Räumen der Meglisalpe war es ins 
| zwiſchen lebendig geworben. An Plaids und wollene Bettbeden 

gehüllt zum Schuß gegen die noch herrſchende Kälte, erſchienen 

fast gleichzeitig mit den beiden Junggejellen die Kurzſchen Ehe: 
| leute und Profeffor Schröder auf dem hofartigen Play vor den 
| beiden Unterfunftshäufern, einander in froheſter Stimmung wie 

‚ alte Bekannte begrüßend. Aus der Küche tönte dev Appenzeller 
| Kuhreigen und ber Führer Doktor Helbigs, der eine Heine felſige 
ı Anhöhe in der Nähe beftiegen hatte, ließ einen Juchzer ertönen, 
fo laut und fräftig, dat der in den Bergen getvedte Widerhall 
wie Donnerflang dröhnte. Das Bärbeli, das bereits blikfauber 
angefleidet war und eben den aufgeftandenen Gäften auf einem 
Tiſch im Freien den Kaffee auftrug, ſagte mit ftolzem Lächeln: 
„Das ift mein Scmied:Fakob, gelt, der Fann's!“ 

Mit warmem ntereffe wurde der fräftige Burfche, der 
\ lachend herantrat, um feinen Heren zu fragen, ob er die Sachen 
zum Aufbruch herunterholen folle, von allen bewillfommnet; er 
war ihmen ja durch die Gefchichte vom Böhler, wie fie das 
Bärbeli gejtern Abend erzählt, allen aufs befte befannt. 

Jetzt traten auch Herr Breitinger und feine Frau aus dem 
‚ Nebengebäude, fir und fertig zum Abmarſch. Die fröhlichen 
Malersfeute jahen heiter aus wie der Sonnenſchein, der das Bild 
rings umfluthete. 

„Da find einmal wirklich die Rechten zu einander gefommen, * 

flüfterte mit einem fajt mütterlich zärtlichen Blick auf das fchöne 
Menfchenpaar Frau Kurz ihrem Gatten zu; dann rief fie den 
Nahenden mit freundlichem Gruße entgegen: „Schon reifefertig?* 
| „Verfteht ih, an ſolchem Morgen iſt jede Minute koftbar,“ 
enigegnete die Malerin. „Und zwei Stunden braucht auch ein 
rüftiger Berafteiger zum Hinaufftieg,“ fügte ihr getreuer Mann 
und Kollege Hinzu. 
| „Die Herrichaften haben recht, 
wir — fo kann's denn losgehen. Aber warten dürfen Sie nicht 
auf ung Wir nehmen uns Zeit. Das Alter hat etwas über: 
flüffigen Ballaft angefept und da ‚Örteln‘ wir uns fo Tanafam 
hinauf. Das eine große Schneefeld dort wird uns ohnehin 
Muhſal bereiten.“ 

Doch dem widerjpradh ihr Führer Ein wenig ftrapaziren 
würden fich die Herrichaften ſchon, aber bejonders ſchlimm wäre 
der Weg nicht. Nicht einmal für Damen beichwerlich, bei jo 
ichönem Wetter wie heute. 

Auch Brofeffor Schröder Hatte ſich reifefertig gemadt und 
fam, mit jeinem Alpenftod bewaffnet, gerade auf die im Geſpräch 
begriffene Gruppe zu, um Adien und Auf Wiederfehen zu fagen, 
denn er wollte fich den eben aufbrechenden jüngeren Männern 

‚ anfcließen. Er fam gerade zurecht, um die Ichte Verſicherung 
des Führers zu vernehmen, und dieje bewirkte eine Aenderung 
feines Entſchluſſes. Er drehte ſich um, winkte den feiner Harrenden 
Lebewohl zu und rief „Auf Wicderfchen, meine Herren, heut 
Mittag! Ach bleibe hier und erwarte meine Damen, um banıt 
gegen Abend mit ihnen den Aufſtieg zu unternehmen. Das 
Barometer ift jo bedeutend geſtiegen, daß das ſchöne Wetter gewiß 
anhält, Da wär's eine Sünde, wenn ich meine Frau, die unſerer 
| Verabredung gemäß nun ficher den Weg bis hierher macht, nicht 
animiren wollte, ganz mit hinauf zu ragen... Sie hat fich die 
Sache offenbar ſchwieriger vorgejtellt als fie it, und wird ficher 
nicht hinter Ihnen, verehrte Frau Kurz, an Unterncehmungsmuth 
zurüdjtehen wollen. Ich babe nämlich,“ erklärte er weiter ben 
Damen, „mit meiner Frau verabredet, falls es fich über Nacht 
aufhelle, möchten fie und meine Nichte mir bis hierher entgegen- 
tommen. Nach meinem Plane wollte ich ja geitern Abend noch 
auf den Säntis und dort übernachten. Nun werden die Damen 
bereits unterwegs fein und ich müßte mich übermäßig abheben, 
wenn ich bis zu ihrer Ankunft bier den An: und Abſlieg zur 
Spite erledigen wollte. Da ijt mir noch zur rechten Jeit ein— 
gefallen, daß die Damen jid bei dem ſchönen Wetter, und mın 
der Reiſeplan doch einmal geändert werden muß, ganz gern ent 
ichliegen werden, in der Kühle des Abends mich hinauf zur Spite 
zu begleiten. Der Sonnenuntergang muß, nad) dem Aufgang zu 
ſchließen, heute ja wundervoll werden.” 

Fröhlich Hana dann das „Auf Wiederſehen!“ von Mund zu 

Munde Der Profeffor blickte den drei Gruppen noch eine Weile 








Lina. Gefrühjtüdt hätten 


mag | 


—oe 


nad. Dann ging er hinein ins Gaftzimmer, wo geftern Abend | 


der Geiſt Frau Aventiures die Tafelrunde der Eingeregneten von 
fette ſich an ein Fenſter, 


Mißmuth und Trübfinn befreit hatte, 
deſſen Husblid zum Säntis hinausging, und nahm fein Taſchenbuch 
heraus, um einiges niederzufchreiben; doch bald lieh er es finfen 


und Ichaute träumeriſch ins Freie hinaus, auf die firnumpanzerten 


Berge und den weiten blauen Himmel über ihnen. Sonnig 
heitere Erinnerungen woben in feine Träume liebliche Bilder; 
die Erzählung, welche er geftern Abend hier vorgetragen, ging 
3 einmal durch ſeine Seele mit der Friſche ſelbſterlebter 
Poeſie. 

Um dieſe Zeit etwa bog auf dem vom Weißbad ins Gebirge 
führenden Wege, da, wo er ſich in der Nähe des Itterbachfalls 
nad) dem Seealpfee und nach der Höhe linls gabelt, in dem 
letzteren jteilauffteigenden Saumpfad eine Heine Karawane ein, 
bejtehend aus zwei Damen, einem Heren, drei Maulthieren und 
zwei diefe führenden Treibern. Die jüngere der beiden Damen, in 
deren braunen Gelod der friſche Morgenwind fpielte, ſodaß 
bald dieſes bald jenes Löckchen luſtig aufflatterte, war mit leichten 
Schritten borangegangen, als die auffallend hohe Stimme des 
Stadtheren, der etwas Hinter der älteren Dane heranfam, dem 
Zuge Halt gebot. 

„Meine Damen, meine Damen; darf id bitten, Fräulein 
Marie! Hier geht es ja ganz fteil hinauf — ah — und da möchte 
ich die Gnädigen doch gehorfamft bitten, fich endlich der beiden 


Reitthiere zu bedienen, die ih — fo frei war, für Sie zu ber 


ſtellen.“ 

Während er dieſe Sätze mit der Haft eines Kurzathmigen 
hervorftieh, war er jtehen geblieben und trodnete fich mit einem 
rothjeidenen Taſchentuch den Schweiß von der Stim und bem 
bereits ziemlich, kahlen Schädel, welchen er zu biefem Zwecke ent= 
blößt hatte. 

„Es thut mir Teid, ein fo freundliches Anerbieten ablehnen 


zu müffen, aber ic) jagte Ihnen unten in Weißbad fchon, daß 


ich auf fteilen und vielleicht — Bergpfaden von 
jeher lieber gehe als reite, ja gegen das Meiten in ſolchem Falle 
geradezu eine Antipathie Habe,“ antwortete in fanftem Tone die 
ältere. Dame auf diefe Einladung. Minder janft, ja faft erzürnt 
flang es dagegen von der Höhe zu dem im einen eleganten 


ſchwarzen Anzug mit weißer Weſte eingezwängten, bereits jeßt 


unter der Sonnenwärme jchwer leidenden Kavalier hernieder: 
„Aber Herr von Tümpling, wollen Sie mir denn die ganze 
Partie verderben? Ich habe zwei aefunde Füße und das Berg: 
fteigen ift mir eine wahre Luft. Schiden Sie doc die zwei 


für uns beftimmten, höchſt unnöthigen Muli wieder zurück und 


beſteigen Sie ſelbſt das dritte, mern Ihnen das Zuberg-Reiten 
ein joldes Vergnügen macht.“ 

„Ich bebaure fehr, meine Damen, Ihren Geſchmack nicht 
aetroffen zu haben. Was mich betrifft, — eh — fo hab’ ich von 
Kleinauf gern im Sattel geſeſſen und verfchmähe dies auch nicht 
auf — Bergeshöhen. Auch bin ich für fo befchwerliche Touren nicht 
mit dem pafjenden Schuhwerk eingerichtet,“ fuhr er feufzend fort, 
mit einem halb Mäglichen, halb ſelbſtgefälligen Blick auf feine 
enganliegenden glänzenden Zadjtiefeletten. „Ya, wir armen uns 
praltiſchen Junggefellen jind übel dran. Cine jo gute Hausfrau, 
wie Fran Brofeffor, bedenken freifih alles und haben fogar 
Fräulein Marie veranlaft, über ihre zierlichen Füße die plumpen 
ſchweren Nagelfchuhe zu ftülpen. Auf meine befcheidene Weile 
lafjen Sie mic) aber gleichfalls vorforgen. So preſſant iſt es 
aud mir nicht, den Muli zu befteigen. 

"und feine beiden Sameraden; die Damen könnten denn doch ihre 
Kräfte überfhägen. Es wird warm werden, jehr warm, ah, — 
und ich fühle fchon den Triumph voraus, den ich empfinden werde, 
wenn Fräulein Marie mir eingejtehen wird, daß es ihr dod recht 
angenehm fei, fich von einem fo ficheren Meitthier — bis zur 
Meglisalpe weiter tragen zu laſſen.“ 

„Das wird niemals gejchehen,“ rief es trußig von oben herab. 
„Wenn mein Wunfd einigen Werth für Sie hat, fo fchiden Sie, 
bitte ich nochmals, die Thiere zurüd. Sie fo feer mit hinauf: 
ziehen zu laſſen, erinnert gar zu fehr an die Stüdlein der Herren 
von Schilda. Nichts für ungut, Herr von Tümpling; aber Sie 
zwingen einen ja zum Spott.“ 

Damit wandte fi das Fräulein, weldyes ſah, daß auch ihre 
Tante den Unftieg begonnen, und Hletterte vergnügt über den 


Aber mitgehen follen er 


Gl — 


fteinigen Boden empor, den für eine Gebirgsreiie jo wenig ge: 
eigneten Heren fammt feinen drei Maulthieren feinem Schickſal 
überlaffend. 

Der alſo Verhöhnte mußte nun auch fich wohl oder übel in 

Bewegung jegen und feine ſchönen Ladjtiefel dem fpigigen Stein: 
geröll preisgeben. Er jah ſeht verdrießlich und mißmuthig aus. 
Mehr noch als die Gefahr, in die er ſich begeben, ärgerte und 
kränkte ihm der verletzende Uebermuth der jungen Dame. Ihret- 
wegen hatte er eigens feine Weiferoute geändert, Hatte er 
ganz gegen feinen Grunbfaß, die Rieſen des Hocdgebirges mur 
von unten aus jchön zu finden, die verrüdte Idee gefakt, 
die Damen auf diejer verwünfchten Tour zu begleiten. Mit 
größter Sorgfalt hatte er alles bedacht und angeihafft, was 
denjelben die Mühſeligleit irgend erleichtern könnte, und jtatt 
' Dank zu ernten, erfuhr er nun ſolche Behandlung. Als er das 
Fräulein im vorigen Winter in Berlin im Haufe dortiger Ver 
wandten kennengelernt hatte, war fie ihm gerade durch ihr 
geſeztes Wefen und die gebiegenen Eigenichaften ihres Charafters, 
die fie ohne Mbbruc ihrer jugendlichen Anmuth zu entfalten ge 
twußt hatte, jo bejonders angenehm aufgefallen. Was halte fie 
nur fo umgewandelt? Sollte fie jegt, da fie ſah, daß er fich 
ernftlich um fie bemühe, etwa gar an feinem Alter Anjtoß nehmen? 
Er war doch noch lange nicht fünfzig wie fein Freund, der 
Dekonomierath von Bellwig, der erjt kürzlich einen blühenden 
Backfiſch Heimgeführt hatte. Und gar jo groß war der Alters: 
unterschied überhaupt nicht. Wenn man fie fo vor ſich jah, wie 
er eben, da follte man freilich wicht meinen, daß fie ſchon längjt 
die Zwanzig überfchritten. Dies aber hatte er von ihrer Tante 
felbft gehört. Dagegen wurde diejer Unterfchied ja durch weit 
Schwerer wiegende mehr ald aufgehoben; war er dod) bereit, ein 
fimples Fräulein Müller, deren Vater allerdings ein wohlhabender 
Architelt und Baurath war, zu einer — von Tümpling zu machen. 
Einen von Zümpling behandelt man aber nicht ungeitraft jo, 
mein Fräulein, wie es Ahnen foeben beliebte, Ein von Tümpling 
läßt ſich dergleichen micht bieten... . 

So ſchwer ihm bei dem anhaltenden Steigen der Verſuch 
fiel, Taut zu fprechen, feine innere Entrüftung drängte nad) diejem 
Selbſtgeſpräche danach, ſich laut zu äußern. Natürlich nur in 
der feinen Weile eines Kavaliers von Geburt. 


wandte er fih an deren Tante: 

„Fraulein Nichte Haben bisweilen recht eigenthümliche — 
Saunen. Scheine mich doch in der Veurtheilung ihres Charakters —— 
ausnahmsweiſe geirrt zu haben. Bei meiner Menſchenlenntniß paffirt 
mir das — ſonſt nicht. Wen — problematifche Natur fein.” 

„Ei, lieber Here von Tümpling, Sie müflen, was fie fagte, 
nicht Auf die Goldwage legen. Sie ſprach unüberlegt; die frifche 
Gebirgsluft, die Luft des Wanderns Haben fie beraufcht. Sie 
werden ſich aber auch ſchwerlich voritellen können, wie fehr fie 
ſich auf diefe erfte wirkliche Hocdtour gefreut Hatte, die beinahe 
zu Waſſer geworden wäre.“ 

Frau Profeſſor Schröder war bei diefen Worten jtehen ge: 
blieben, um Athem zu jchöpfen. Sie wandte fid) dabei um. 

„Aber lieber Freund,“ rief fie fait erjchroden, „wie echauffirt 
Sie ausjcehen! Das Steigen greift Sie wirklich an; da ijt der 
Merger ein um fo jchlimmerer Saft. Söhnen Sie ſich aus mit 
der jo ganz gegen Ihre Abſicht, vielmehr durch Ihre überquellende 
Liebenswürdigkeit herbeigeführten ärgerlihen Situation. Machen 
Sie gute Miene zum böjen Spiel, das ficher micht bös gemeint 
ist, und plagen Sie ſich nicht mehr mit dem Steigen ab, Sehen 
Sie fid) auf eines der Thiere, und wenn der Weg oben wieder 
ebener wird, will ich Ihrem Beifpiel folgen.” 

Ein Zug von Nührung ging über das erhifte Antlig des 
an ein behagliches Scylendern durch die Yuftgärten des Lebens 
aewöhnten Rittergutsbefigers. Von diefer Dame, die ihre ariſto— 
kratiiche Ablunft jo fchön bewährte, fühlte er ich veritanden. 
Und warum follte er nicht das Maufthier beſteigen? Er madyte 
zu Pferd eine qute Figur, das wußte er. Einige Schritte weiter fing 
der Weg an breiter und ebener zu werden. (Er ließ die Treiber 
mit ihren Thieren dort halten und beftieq das vordere derjelben, 

Fran Profeffor Schröder machte ihm ein Kompliment über die 
dabei entwidelte Gewandtheit. Es war ihr wirklich drüdend, den 
auf feine Weile ſtets aufmerffamen und galanten Reiſegenoſſen 
verſtimmt zu jehen. 








* 


Da er den Gegenſtand ſeines Zornes nicht erreichen — 


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von B. Vautier. 


— 634 


Ihr Zuſpruch hatte auch die gewünschte Wirkung. Herr bon 
Tümpling vichtete Sich, ſoweit es fein Embonpotmt erlaubte, 
elegant im Sattel empor und machte dabei mit den Füßen eine 
Bewegung, als gälte es, einem gelernten Neitpferd die Sporen 
in die Weiden zu drüden. In diefer Beziehung aber verftand 
das in der Freiheit der Berge nur mangelhaft drefiirte Maul: 
thier keinen Spaß. Am Nu bäumte es auf, jtellte fid) auf die 


Hinterbeine, bodte nad) vorn, und dann jagte es auf dem fchmalen | 


Bergpfad, ohne der Zügel feines Neiters zu adıten, vorwärts. 
Und als ob die zwei unbenugt bleibenden Muli nur auf dies 
Beiipiel gewartet hätten, ſtürzten fie dem Durchgänger nad). 
Die überrafchten Treiber ſuchten fie unter Schreien und Drohen 
einzuholen. So ging es wie die wilde Jagd an der erjchredten 
Dame vorbei. Zum Glüd war das Terrain gerade an dieſer 
Stelle nicht befonders gefährlich, und als der Pfad wieder jteiler 
bergan 309, mußten die Thiere von jelbit wieder in eine rubige 
Gangart zuräüdfallen. Während die Frau Profeiforin in dieſer 
Betrachtung berubigenden Trojt fand, kam Herr von Tümpling, 
dem der aufgejpanmte Sonnenſchirm bei dem jchnellen Ritt ent 
fallen war und der ſich nun Frampihaft an der Mähne des wilden 


Thieres feithielt, an jene Stelle, wo die Steigung wieder begann. | 


Bon demſelben Troftgedanfen geleitet, daß Hier die Sache ein 
Ende haben müſſe, lieh er die Mähne fahren, um wieder die 
Zügel zu ergreifen, denn er hatte Beijtesgegemwart genug, darauf 
bedacht zu fein, daß er in feiner peinlichen Lage auf das voraus- 
geeilte übermüthige Fräulein feinen komiſchen Eindruck made. 
Ta, die Sache hatte ihr Ende erreicht, aber es fam anders, 
als er mehofft hatte. Su dem Momente, als das Terrain das 
Muli wieder zum Steigen zwang und der Reiter fich wieder 
emporrichtete, bäumte dasselbe von neuem und jcleuderte dabei 
den Aermiten rüdlings auf den Nafenabhang, jo zwar, daß er 
vor einem weiteren Abſturz geihütt war, dafür aber auf einen 
ſtachligen Stechpalmenftrauch zu Tiegen fam, aus dejjen Zweigen 
er ſich ganz faſſungslos und wie ein Wahnfinniger jchreiend 
mühſam freimachte. Als er zu ſich fam, jah er Fräulein Müller 
mit einem troß allev Anſtrengung nicht zu unterdrüdenden Lächeln 
auf den Lippen dicht über fich ftehen und das num wieder ruhig 
gewordene Maufthier beim Zügel halten. 

„Sie haben ſich doch nicht weh gethan?“ fragte fie, das 
Lächeln nun doch bejiegend, im Tone aufrichtiger Theilnahme. 

Er aber hatte das Lächeln gejehen und las aus der Frage 
nur Spott und Hohe. Es wurde ihm troß alles Herumtaftens 
Mar, daß er in der That feine Blejjur davongetragen, die einiger 
maßen dem Hilfegefchrei entiprochen hätte, das er im erſten 
Schrecken ausgejtoßen. Au allem war das bösartige Vieh jchuld, 
das num da lammfromm neben der Spötterin ſtand, als habe es 
an dem ganzen Malhene keinen Antheit. Nun hatte er wenigitens 
einen Gegenjtand, an dem er feinen Horn auslaſſen konnte. 

Verwünſchte Beſtie,“ ſchrie er, „rädern follte man Dich. 
Hals und Beine hätte ich breiten können, wenn's nad) Div ge: 
gangen wäre. Berichmettert würden meine Gebeine im Abgrund 
liegen, wenn ich nicht vechtzeitig Deiner Herr geworden wäre! Recht 
fo, ſchlagt nur zu!“ jpornte ex die Treiber an, die inzwiſchen herbei- 
gekommen waren und nun unter Flüchen auf die Thiere eindrafchen. 

„Genug!“ vief aber num auch Fräulein Müller. „Ein Glück, 
Herr von Tümpling, daß der Sturz fo qut abgelaufen ift. Sch 
aratulire Ihnen herzlich. Was aber joll jett das nachträgliche 
Schlagen der Thiere nüten? Bon meinem Standpuntte jah die 
Sache übrigens nicht fo gefährlih aus; die Stelle hier war für 
den Unfall ungemein günſtig. Auch warf Sie das Muli ziemlich 
janft ab. Wenn Sie von Anfang an geritten wären, würde das 
Thier gewiß nicht plötzlich ſolche Saunen bekommen haben.“ 

„Aber Marie!“ mahnte die berzugelommene Tante. 

„um, iſt es nicht wahr, daß dieſes vierbeinige Trio uns die 
ganze Bartie verdirbt? Herr von Tümpling thut mir ja leid —“ 

„Ach aber danfe für Ihe Mitleid, im dem ſich nur Spott 
und Hohn verbirgt. Theilnahme hätte ich allerdings von Ahnen 
erwartet nach folchem Unglüdsfall. Ahr Benehmen aber belehrt 
mic), daß es in der That eine Dummheit von mir war, Ahnen 
auf dieſer Fahrt mid) zum Mitter anzubieten. Dem kann man ja 
abhelfen. Habe die Ehre, meine Damen!“ 

Sich verbengend, wandte er ſich ab zu den Treibern. Mit 
Würde wies er einen derielben an, die Damen als Führer mit 
einem der Muli zu begleiten. Dann ſchritt er dem anderen und den 


o 


zwei übrigen Thieren auf dem Wege voran, den er wenige Minuten 
vorher in jo verhängnißvoller Weiſe hatte zurücklegen müſſen. 

„Sprach's und ſchlug ſich ſeitwärts in die Büſche,“ vecitirte 
das nunmehr doch recht ernſt dreinblickende Mädchen mit gewalt- 
ſamem Humor, der ihre Verlegenheit verbergen ſollte 

„Ein recht unangenehmer Auftritt, an dem, wie er jeht ver: 
laufen, auch gar nichts mehr komiſch iſt,“ jagte dagegen im Tone 
fanften Vorwurfs die Tante. 

„Sei mir nicht böfe, Tantchen," ichmeichelte aber das Mädchen, 
indem es auf die mülterliche Freundin zueilte Es barg den 
fraufen Sodentopf an deren Brust und Fühte fie dann innig auf 
den Mund. „Nicht böje fein, Mattel! Ich konnte nicht anders.“ 

Fran Profeffor Schröder Hatte die Tochter ihrer liebſten 
Schwägerin viel zu Tieb, um ihr eruitlich böfe fein zu können. 
Sie lüßte das erregte Mädchen, das fo jäh ihre Stimmung ge 
wechſelt, auf die Stirn, blieb aber ernſt, indem fie jagte: 

„Da haft Du wieder einen Freund weniger. Ich will 
Dein Urtheil im Herzensſachen nicht beeinfluffen, aber Du erſcheinſt 
wirklich zu anfpruchsvoll gegenüber der Wännerwelt,* 

„Herr von Tümpling — mein Fremd?“ 

„Nun, er bewarb ſich fichtlih um Di und nannte fich 
Deinen Berehrer.“ 

„Den aber zum Beiipiel die Frage, ob ich eine Gänfeleber- 
paſtele auf Straßburger Art zuzubereiten verſtehe, bei weitem mehr 
intereffirte, als irgend eine meiner feineren Empfindungen.“ 

„Du übertreibit.“ 

„Nein! Drin in der Stadt, in den Gejellichaften des 
vorigen Winters war es mir nicht jo aufgefallen, in welchem 
Grade dieſer Felbitgefällige Modejunfer vom roheſten Materialis: 
mus und Egoismus beherriht war, Hier aber im der freien 
Natur it es mie Mar geworden, wie ihm alle geiunde Natürlich: 
feit und echte Empfindung abgeht. Und nun gar heute. Mit 
Laditiefeln auf den Säntis! Und dieſe alberne Komödie mit 
den drei Muli. Weil er mit feinen bereits vom Sipperlein ge— 
Schwächten Gliedern nicht fteigen kann und deshalb reiten will, 
follen auch wır es, jo fchr wir von Beginn an dagegen prote- 
jtirten. Ihn hat nur die gerechte Strafe ereilt. Und ich danfe 
Gott, daß wir ibn los find.” 

Die beiden Damen waren langjam vorwärts gegangen. 
Nun gelangten fie an eine offene Stelle, welche einen Ausblid 
in das Seealpthal gewährte. Ein entzüdter Ausruf drängte ſich 
auf die Lippen der Spredyerin. Sie machte eine Bewegung mit 
der Hand, als wiſche fie etwas Häßliches aus. 

„D Tante, welche Ausjicht! Sich, da fteht eine Bant! 
Segen wir uns; die Schönheit der Natur mag das umange- 
nehme Erlebniß aus der Seele verdrängen. Wie till und ver- 
ſchwiegen dort in der Tiefe der dunkle Bergfee ruht, ganz ums 
rahmt von rauſchendem Wald und vagenden Felswänden. Da 
muß es Schön fein, zu träumen.“ 

„Immer gleich träumen, Du närriihes Kind. Warum nicht 
wachen Auges dem Schönen ins Angeficht jchauen ?* 

„Sind denn die Träume wicht Schöner noch als die Wirklichleit? 
Bervollitändigen fie doch die Eindrüde der Natur und des Lebens zu 
Stimmungsbildern, welche ſich unverlöichlic der Seele einprägen.“ 

„Du liebe Träumerin! Finde Du nur erft das Glück, das 
Dein veines Herz im Träumen erſehnt, jo wirſt Du ſchon auch 
an der Wirklichkeit ein Genüge Finden.“ 

„Sch bin eben jegt ganz glüclich. 
träumeriich zu Muthe.“ 

„Weil Dir das Märchenhafte diejes Sees, diefer Umgebung 
heimlich den Glauben nährt, dab auch there Märchenträume 
Deiner Seele ſich noch erfüllen könnten.” 

Das Mädchen wurde rot und fah verichämt zu ihrer 
Tante auf. 

„Märcenträume? Wie fommft Du zu dem Wort?“ 

„Ei num. Vrinzen, die verzauberte Prinzeſſinnen erlöſen, die 
brave Mägdlein aus Einfamkeit und Vergeſſenheit befreien, bevölfern 
die nicht Schon die Traumwelt unferer Sinder? Wenn ic Dein 
fprödes Verhalten allen bisherigen Heirathsanträgen gegenüber 
betrachte — ich will dabei von dieſem, ich gebe es zu, nicht ſehr 
verlodtenden Tümpling aanz abjehen — jo muß id) glauben, ein 
folcher Traum aus der Kinderzeit jtehe bei Dir einem vealen 
Erfafjen ehelichen &lüdes im Wege.“ Sie umſchlang bei diefen 
Worten ihre junge Nachbarin, welche, ihren Kopf an ihre Schulter 


Und doch iſt mir gar 


— 0 


um ihre Lippen ſchwebte. „Ich habe alſo recht," fuhr fie fort. 
„Willft Du mir nicht einmal den Kindertraum erzählen?“ 
Marie Ichttelte mit dem Kopf. 
„Er läßt ſich nur träumen!” 


„Und gar nicht zur Wirklichkeit machen?“ frug fanft und 


mit beforgtem Blid die mütterlihe Freundin. 
„Doch, doh! Noch hoffe und alaube ich's.” 
„Aber Sage, Sind, Dein Prinz, Dein Märchenprinz muß 


dann doch auf Erden wandeln, von Fleisch und Blut fein wie 
Man muß ibm doch auffinden, ihn darauf aufmerfiam | 


Du? 
machen fönnen, daß Du feiner harrit.” 
„Er muß von felbjt kommen!“ 
„Ja, aber ſag' mir nur wenigjtens, wo er lebl. Kenn' ich ihn?" 
„Das weiß ich nicht.” 
„Aber wie er heißt?“ 
„Das weiß ich nicht.” 


„Du Iprichft in Räthjefn, Kind. Was er ijt, mußt Du aber | 


doch willen ?“ 

Ad, aud das ift mir unbelaunt Aber" — und das 
Mädchen erhob ſich plötzlich — „ieht habe ich genug verrathen. 
Mir verfäumen die Zeit. Der DOnfel wird droben ſchon auf 
uns warten, 
aber nicht für gefährliche Bergpartien. Sicht Du, Tantchen, 
dort geht's ſchon wieder recht ſcharf in die Höhe.“ 
Schritt fie mit dem ihr eigenthümlichen Teichten Gange voran. 

In der That war inzwifchen oben auf feinem Wartepoften 
Profeſſor Schröder ungeduldig geworden. Er Hatte mit einem 
Fernrohr von geeigneter Stelle aus die Nahenden verfolgt und 
auch ein paarmal an Punkten, wo der Weg fichtbar wurde, fie 
erfannt; 


ihn. 
haben? Am Grunde that es ihm wohl, den ihm unſympathiſchen 
Menichen aus dem Gejichtsfeld ſchwinden zu fehen. Er hatte 
zwar von Anfang an das Vertrauen gehabt, das Muge Mädchen 


werde die Hohlheit und Oberflächlichkeit feines Weſens bald genug | 


ducchichauen und feine Bewerbung zurückweiſen. Aber wer ift 
vor Irrthum geihüßt, wenn es fih um Vorausberechnungen 
handelt in Bezug auf Neigung und Liebe? Much kannte er die 
Schwäche feiner jonjt jo vernünftigen Frau jowie der Mutter 
Mariens, das eigenthümliche Mädchen, deflen Herz fo lange Zeit 
zur Entlnofpung brauchte, durchaus unter die Haube bringen zu 
wollen. Natürlid, um es fpäter nur zu bereuen! .... Unter 


folchen Betrachtungen war er den Damen entgegen gegangen, be: 


gierig auf die Löfung des Rälhfels, denn etwas Befonderes mußte 
den Hern doch zum Rückhzug veranlaft haben. 

Mit warmem Intereſſe hörte er dann, al& er die Damen, 
die er gejtern bei unſicherem Wetter verlaflen und jet bei 
leuchtendem Sonnenfchein wiedergefunden hatte, die Mittheilungen 
feiner Frau an, während Marie, die ibn mit inniger Herzlichfeit 
begrüßt hatte, vorausicritt. 

„Ein feltfames Mädchen,“ ſagte er, nachdem er den Hergang 
erfahren hatte. „In dieiem Falle kann ich ihr ja nicht unrecht 
geben, im Gegentheil; aber ihr Berhalten it allerdings auch ein 
neues Symptom jener ablchnenden fühlen Art, mit der fie bisher 
allen fie umwerbenden Männern begegnet iſt. Weißt Du dem 
gar nicht, was dieſe verurjacht?” 

„Eben vorhin erft hat mir das Kind einen, jedoch aud) nur 
ſchmalen Einblid in diefe Welt ihres Herzens gewährt. Und das 
fragmentariiche Belenntniß klingt fo feltiam, fo märchenhaft, daß 
es mich recht mit Sorge erfüllt hat. Der Mann, den fie liebt, 
ift nicht viel mehr als ein Hirngelpinit, faum dab er mehr 
Wirklichkeit hat als die Geftalt eines Traumes. Denle Dir: jie 
weiß nicht, wo er lebt, nicht was er ift, micht einmal wie er 
heift. Und dabei hofft jie mit einem Glauben, der an den des 
Käthchens von Heilbronn gemahnt, dennoch auf ein Wiederſehen, 
ja auf eine dauernde alüdliche Vereinigung mit ihm. Welche 
romantifche Schwärmerei!” 

Der Profeffor war nachdenklich geworden. Er jtrich ſich 
über ben weißen Vollbart, zog dann die Stirn nad) oben und 
blicte in die Ferne, als ob es dort geheime Inſchriften zu ents 


räthſeln gäbe, dann aber ging ein feines Lächeln über feine Züge , 


Das Märcdenerzählen taugt für die Winterabende, | 
Und damit ı 


anfangs in Begleitung von dem geſchniegelten Ariſto— 
fraten, der feit einigen Tagen aus fichtlichem Inlereſſe für 
feine Nichte Marie ihr Neijegenofie geworden war, dann ohne 
Was fonnte vorgefallen fein und die Trennung bewirtt | 


635 > 
legend, die Augen ſchloß und ſchwieg, während ein feliges Lächeln | 


und er jagte ſchmunzelnd: „Bielleicht handelt es fich doch hier nur 
| um ein nedifches Spiel des launigen Gefellen, den Gott Amor fo 
gern zum Megiffeur wählt, wenn ex eines feiner Luſtſpiele auflührt, 
des Aufalls. Ja, lauſche nur auf! — Marie!“ rief er dann der 
‚ vor ihnen in Sinnen einher Schreitenden zu, und als Diele 
dem Rufe entiprochen hatte, fuhr er in herzlichem Tone fort: 
„Wir reden cben vom Thüringer Wald, in dem ich meine 
erſten Heinen Bergtouren als Anabe vollführt habe; ſag' mal, 
warst Du auch einmal in Thüringen?“ 

„Freilich, Onkel. Papa hatte dort einen reichen Verwandten, 
der leider bald, nachdem ic) einmal mit Mama und Grofmama 
einen Monat lang auf feinem Gut zu Beſuch geweſen war, ver— 
ftorben if. So bin ich fpäter nur noch einmal flüchtig auf einer 
| Rundreije durch das ſchöne Stüd Land gelommen.” 

„Es hat Dir alfo damals ſehr aut dort gefallen?“ 

„Ad, Onkel; ich Fam damals gerade, kaum ſechzehnjahrig, aus 
ber Benfion von Laujanne; es war mein Eintritt aus der Schule 
ins Leben. Und was für ein Eintritt! Ein herrlicher Mai, 
blühender Frühling ringsum, freundliche, liebe Menſchen, Freiheit 
und Jugendluſt — mie vergeſſen kann id) den Tag meiner Hin: 
fahrt, meiner Ankunft; es war, als jtände der Himmel offen! 
D Gott — es war eben zu fchön, als daß es hätte fo bleiben 
können!“ Eine plößliche Ueberwallung des Gefühls erſtickte die 
Stimme des Mädchens, fie mußte jehluchzen, weinen. Doch bald 
fand fie wieder die Herrichaft über ſich. „Verzeiht,“ Tante fie 
Teife, „ich bin heute jo aufgeregt und reizbar troß all der Schön- 
heit, die mich umgiebt; weiß jelber nicht warum.” 

„Die Scene mit Herm don Tümpling hat Dich mehr alteritt, 
ale Du zugeben wolltejt,“ tröftete theilnehmend die Tante, welche 
ihren Mann fragend von der Seite anjah, was cr denn mit 
feinem Verhör über Thüringen beabfidhtigte. Diefer aber fuhr 
fort, indem er jeinen Arm aus dem dev treuen Gattin Löfte und 
ihn um die Schultern des geliebten Pflegelindes Tegte: 

„Ic gebe nichts auf Ahnungen und die jpiritiftiichen Aus— 
legungen des Zufalls find mir verhaßt. Und dody möchte id) 
fagen, es Liegt etwas im dieſem Sonnenfchein, der jhimmernd 
dort die Spike des Säntis umipielt und von Fels zu Fels 
und Firnfeld zu Firnfeld feine goldenen Nebe ſpinnt, was wie 
Sumpathie auf Deine Nerven wirken könnte. Ob nicht auch der 
jo fröhlich veranlagte und doch melancholifche Herr Doktor Helbig, 
der mir geſtern Abend ein Erlebniß, das er zu Pfingiten vor 
acht Kahren zwiſchen Schwarzburg und Ilmenan Hatte und als 
das ſchönſte feines Lebens bezeichnete, eben etwas Aehnliches aus 
diefem Sonnenlicht auf ſich einwirken fühlt?“ 

„Onlel, wer — was ſagſt Du?“ 

Ein Beben ging durch die Stimme des Mädchens, und dod) 
hielt fie ihren Onkel fejt, daß er nicht weiter fchreiten jolle und 
ihr fein Wort von dem, was er da jagte, verloren ache. 

„Faſſung, Kind! Nur eine Vermuthung. Mehrere Herren 
und Damen, die gejtern Abend gleich mir in der Meglisalpe 
eingeregnet waren, beſchloſſen auf meine Anregung, ſich die Zeit 
durch Weichichtenerzäblen zu vertreiben. Jeder jollte fein ſchön— 
ſtes Reiſeerlebniß zum Beiten geben. Darunter ein junger Mann, 
ein Aſtronom, Obſervator an einer deutichen Univerfitätsitern- 
warte, Doktor Helbig mit Namen, der fid) mir als ein einjtiger 
Zuhörer vorgejtellt hatte, und dieſer erzählte ung ein romantijches 
Liebesnbentener, das er auf feöhlicher Studentenfahrt durd den 
Thüringer Wald einjt erlebt hatte, mit einem Mädchen, an das 
er fichtlich noch heute mit Zärtlichkeit dachte, doch wußte er weder 
wie fir hieß, noch wer fie war, noch wo jie danernd wohnte. 
Doch halt, den Wornamen Hatte er erfahren. Der Name 
lautete — Marie . . .* 

„Onkel, Onkel! Und wie fah er aus, der Erzähler?” 

„Ei, vecht hübſch, Kind. Geſcheit umd dabei aanz unter: 
uehmend. Dody wozu da viel Worte maden! Wir find ja zur 
Stelle und wenn ich mich nicht irre, fo ift dev dort auf dem 
Felſen mitten im Alpenroſenhag fitende junge Mann, der chen 
feinen Feldſtecher auf uns richtet, der, den ich meine. Siehſt 
Du, er hat Dich betrachtet, er zudt zufammen, er blidt wieder her, 
nun laßt er das Glas ſinken, finnt und finnt, mein, iprinat auf — 
er kommt uns entgegen! Da frag ihn selber, ob er Dir aufer 
feiner Geſchichte von geſtern noch etwas Beſonderes zu erzähfen hat,“ 

” * 


— «630 ·— 


Die Sonne ſtand im Zenith. Da oben auf der Meglisalp 
ließ ſie ihre Strahlen frei und luſtig ſpielen. Sie ließ ſich ge— 
nũgen, hier nur als Lichtſpenderin zu walten — bei, wie funlelte 
es! —; Wärme gab es ſchon genug ohne fie. Wärme echter 
Feftesfreude, theilnehmender Freundichaft, feliger Liebe. Auch Durch 
die Stube, in der geitern Abend die Eingeregneten beim tritben 
Schein der Lampe gefeffen, ſluthete hell ihr Licht und vergoldete 


das ſchlichte Tafelgeräth auf dem Tiſch, um welchen eine fröhliche | 


Fejtverfammlung bei der Mahlzeit ſaß. Die Mahlzeit war fehr 
einfach; aber nicht das glänzendſte Feſteſſen kann gleichzeitig fo 
fröhlich und fo weihevolf verlaufen. Eben erhob jid Herr Kurz: 
„Meine Damen und Herren,“ fagte er in feiner behagfichen Weife. 
„Sejtern Abend ſchloſſen wir unſer Sympofion in der Alpenhütte 


mit dem Rufe ‚Glückliche Neife* und ‚Gute Heimfchr‘ und Heute | 
Huf Wiederjehen!' — | rufen: 


früh trennten wir ung mit dem MWunfche , 





\ und welche Heimfchr fie zweien der Bergfahrer zufichern werde, 


ahnen wir alle wohl aleid) wenig. Und welch ein Wiederſehen 
uns bier fo bald bevorjtchen würde, uns allen, aber vor uns 
allen dem wmaderen Doktor Helbig und feiner nunmehrigen Braut, 
wer hätte dies vorausfagen wollen? Nun ſchmähe noch einer 
die Wirklichkeit: fie fei aller Poeſie, aller Schönheit bar! Die 
ſchönſten Märchen erdichtet das Leben felbit. Meift nur hinein 
in die Welt, und ihe erlebt auch Heute nod im umjeren 
Tagen der Niüchternheit wunderſame und abenteuerliche Ge 
fhichten die Menge. Da ſeht unfer Brautpaar an! Die beiden 
werden das Reifen, fein Glück, feine Wunderkraft für alle Zeiten 
fegnen. Möge ihnen aud) daheim am Häuslichen Herd wicht 
weniger Segen erblühen! Das wünſchen und hoffen und glauben 
wir. Darauf fafjen Sie uns mit ihnen anſtoßen und nodmals 
‚Südliche Reif — und ‚Gute Heimfchr und — ‚Auf 


Welches Glüd aber noch diefe Säntisfahrt zur Reife bringen | Wiederſehen““ ... 





Aus dem Beide Emin Pafldas. 


Ein jeltgeſchichtlicher Rückblick von E. Falſienhorſt. 


—5** Land der ſchwarzen Menſchen, der ägyptiſche Sudan, 
beſchäftigle ſeit jeher die öffentliche Meinung Europas. Ein 
Näthiel- und Fabelland war es in früheren Beiten, und wunder 
bare Nachrichten dringen zu uns aud Heute aus der Haupt: 
ftadt jenes Landes; wir erfahren, daß ein tapferer Chriftengeneral 
in ber Gefangenfchajt des falichen Propheten das Sklavenjoch 
trage, dem Mohammebaner den Steigbügel halten müſſe, wenn 
ſich diefer auf fein Roß ſchwingen wolle; wir hören, daß ge: 
fangene Nonnen, die einft in der Miffion wirkten, auf den 
Strafen von Chartum elend ihre Dafein friften — Gerüchte 


melden, daß dort ein „weißer Paſcha“ erichienen jei und auf 


Ehartum marjchire — und wir wiſſen, daß ein denticher Arzt 
(Dr. Eduard Schniger), der berühmte Emin Baia, im fernen 
Süden ein Land halte und veriheidige, welches die betheilinten 
Regierungen Aegyptens und Englands längſt aufgegeben haben. 

Das find Nachklänge jener Kataftropbe, welche einit die 
civilifirte Welt mit tiefem Schmerz erfüllte, als am 26. Januar 
1885 Gordon und mit ihm Chartum gefallen war. Die euro: 
päiſche Kultur wurde damals in jenen Gebieten fozufagen von 
dem Halbmond aufs Haupt geichlagen und der ägyptiſche Sudan 
auf Jahrzehnte verloren. Wie die Hauptitadt, fo fiel aud eine 
Provinz nach der andern in die Hände der Nebellen, nur die 
Aequatorbrovinz wußte ſich zu halten, nur am oberen Nil hielt 
Emin Bey die ihm anvertraute Fahne aufrecht. 

Aber die, für die er ſtritt und litt, die Regierungen 
Aegyptens und Englands, Hatten aud) ihn aufgegeben, und von 
jener Seite geſchah gar nichts, um ihn zu befreien. 

Gleichzeitig mit Emin Paſcha ſchwebte der bei ihm weilende 
Afrilaforſcher Dr. Wilhelm Junker in Gefahr, und zu deſſen Bes 
freiung wurde von deulſcher Seite eine Nettungserpedition auss 
geräte. Dr, &. U. Fiſcher, unferen Leſern als Mitarbeiter der 
„Bartenlaube* befannt, war ihr Führer; ce mußte jedoch uns 
verrichteter Dinge heimfchren und ftarb bald darauf in Berlin 
infolge der Strapazen. 

Don anderer Seite wurde inzwiichen eine Befreiungserpebition 
in großem Stil ausgerüftet und der berühmte Stanley übernahm 
die führung derielben. Ein eigenthümliches Dunlel ſchwebt über 
den Zielen diefer Erpedition, welche augenblicklich verſchollen ift. 

Inzwiſchen war Dr. Runfer nad Deutſchland zurüchekehrt 
und brachte Nachrichten von unſerem Landsmann; es wurde eine 
feſtere Verbindung zwiſchen der Aequatorprovinz und der oſt— 
afrikaniſchen Küſte hergeſtellt, und wir wiſſen heute, was Emin 
Paſcha geleiſtet, wie er ſich zu halten wußte und welche Dienſte 
er der Wiſſenſchaft und der Kultur erwieſen. 

Die „letzten Nachrichten“ aus jenem fernen Sande dativen 
allerdings immer um Monate zurüd, und wie jicd die Verhältniſſe 
gerade in den lebten Monaten gejtaltet haben, das ijt uns nod) 
völlig unbefannt. Nur die eine Annahme fcheint gerechtfertigt 
zu fein, daß Stanleys „Befreiungszug“ mißglüdt ift, und daraus 
ergiebt ſich für die civilijirte Welt die Pilicht, 
Weife dem tapferen Emin Paſcha beizuſtehen. 


auf eine andere | 
‚ Namen, der mid; dedt (feine Furcht, 


Das Gefühl diefer Pflicht ift im Deutfchland befonders rege 
geworden. Während wir dieſe Zeilen fchreiben, ſcheint das Zu: 
ftandefommen einer neuen beutichen Expedition nach der Aequator⸗ 
provinz gefichert zu fein. Sie ſoll von der Dftküfte Afrikas, von 
den Befigungen der deutſch-oſtafrikauiſchen Geſellſchaft aus vor: 
dringen. Ahr Zweck befteht nicht in der Heimführung Emin Paſchas, 
der auch jet fein Reich nicht verlaffen will, jondern darin, ihn 
in feiner Bofition zu ftärfen und durch Gründung von Stationen 
ihm eine ſtele Verbindung mit der civilifirten Welt zu fichern. 

Das Intereſſe an diefer Erpedition iſt jo ‚allgemein, die 
Sympathien für Emin Paſcha find überall jo warn, daß unsere 
Leſer es gewiß gern jehen werden, wenn wir im Nachftehenden 
jenes eigenartige Land und die aufopferungsvolle Thätigfeit Emins 
zu jchildern versuchen. 

Bor etwa zehn Fahren wurde der ägyptiſche Sudan, cin 
Ländergebiet, das in feiner Größe den Territorien von Deutſch— 
land, Deiterreich-Ungarn und Frankreich gleichlommt, von Gordon 
organifirt und unter den Provinzen, im welche dieſes Reich ae: 
theilt wurde, bildete Hat-el-Ejtiva, die Aequatorprovinz, die füd- 
lichfte Sie umfaßte die Gebiete, weldie an dem oberen Ni, am 
Bahr el⸗Gebel, gelegen find. Im Norden reichte jie bis zu dem 
Kitichlande hinauf, im Süden erftredte fie fih bis zu dem See 
Albert-Nyanza und umfahte das Monbuttuland; im Weiten 
grenzte fie an die Länder des Gazellenfluffee. Man wird nicht 
zu hoc greifen, wenn man fagt, daß diefe Provinz etiva jo groß 
war wie das Königreich Preußen. Am Jahre 1878 wurde 
Dr. Schniger, damals noch Emin Efjendi, von Gordon zum 
Mubdir, das heißt Gouverneur, von Hat-el-Ejtiva und zum Bey 
befördert, 

Dr. Schniger war ſchon damals kein Neuling in afrikaniſchen 
Angelegenheiten. Er iſt Scilefier von Geburt und erblidte zu 
Oppeln am 28. Mär; 1540 das Licht der Welt, Seine me: 
dieinifchen Studien hatte er in Berlin beendet, die Sucht nad) 
dem Unbefannten und feine Vorliebe für die Naturwiſſenſchaften 
trieben ihn im die Ferne Schon im Jahre 1864 verlieh er 
Berlin und begab ſich nach der Türkei. Hier fand er Aufnahme 
im Gefolge des damaligen Balı Muſchir Divitihi Ismael Hakki 
Paſcha, mit dem er die verſchiedenen Provinzen des weiten 
türkiſchen Reiches, Armenien, Syrien und Arabien, bereiſt hat. 
Im Jahre 1873 ſtarb fein Gönner und Dr. Schniher kehrte 
auf kurze Zeit nad Deutſchland zurüd, Aber ſchon im Jahre 
1876 jehen wir ihm unter dem Namen Dr. Emin Effendi in 


\ Dienjten der agyptiſchen Regierung, welde ihn dem General» 


gouverneur des Sudans zuc Verfügung jtellte. Ueber feinen 
Namenswechlel hat er bereits im Jahre 1871 aus Trapezunt an 
feine Schweiter aefchrieben: „Auch Hier in Trapezunt Hat mich 
mein Süd nicht verlaffen und ich habe mir ſchnell als Arzt einen 
Ruf erworben. Dazu fommt, daß ich des Türkijchen und Ara— 
bijchen mächtig geworden wie felten ein Europäer, daß ich mir 
Sitten und Gebräuche jo angeeignet habe, daß hinter dem türkischen 
es iſt nur der Name und 


— 


Deutſchen vermuthet.“ 
Gordon Vaſcha erfannte ſofort den Werth des ihm zur Ber: 
füqung gejtellten deutichen Arztes; er beiraute ihn zunächſt mit 


Inſpektionsreiſen durch die neu erworbenen Gebiete und mit Miffionen | 
nach Uganda zu dem berühmten König Mtefa, bis er ihm ſchließlich 
nicht den gehegten Erwartungen, und jo wurden die Seriben zu 


die hohe Stellung verlich, in der ſich Emin bis jeht befindet. 

Wie war das Land beichaffen, deſſen Verwaltung er übernahm ? 

Um die Lage der Dinge, unter denen er zu wirken hatte, 
fennen zu lernen, müſſen wir zunächſt einen Rüdblid auf die 
Bergangenbeit des ägyptiſchen Sudan werfen. 

Am Anfange diefes Jahrhunderts war jened Land noch 
völlig unbefannt; allmählich wurde es von Aeghpten aus entbedt 
und erobert. Schon in früher Zeit fand man einen natürlichen Stütz 
punkt für das jpätere Vordringen. Dort, wo ſich der Weihe und 
Blaue Fluß vereinigen, lag auf einer Sandipike, die den Namen 
Ras el Chartum (Ende des Elefantenrüffels) trug, ein Heines 
Fiſcherdorf. Die vorzügliche ftrategiiche Lage des Ortes entging 
nicht der Aufmerkſamkeit der türkischen 
Befehlshaber, und fo wurden bier im 
Sabre 1823 zunächſt Steohhütten für 
türtiiche Soldaten erbaut. Das Feuer 
verzehrte fie bald und man baute 
Lehmhäuſer. An das Lager fchloffen 
fi) bald Bazars und Meofcheen an. 
Chartum wuchs zu einer Stadt heran 
und jchon im Jahre 1830 war es 
die Hauptitadt des äghptifchen Sudan. 
Es iſt mit feinen 420000 Einwohnern 
bis jeht diefe Hauptſtadt geblieben, es 
war bis zum Machdiaufſtande der Sig 
der europäifchen Konſuln und der 
Knotenpunkt des nordoſtafrilaniſchen 
Handels mit Elfenbein und Sklaven, 
mit Straufenfedern und Gummi und 
auch mit wilden Thieren für zoolo— 
giſche Gärten und Menagerien. 

Unsere Jllujtration veranſchaulicht 
uns diefe Stadt zu jener Zeit, da 
noc Gordon in ihr refidirte. Sie liegt 
in einer öden, jtraudjlofen Sandebene, 
von einem Erdwall umgeben und birgt 
große, mit Eitronenbäumen und Rals 
men bepflanzte Gärten in ihrer Mitte, 
Die ſchmutzig grauen Häufer find aus 
Luftziegeln erbaut, und von bemerfens: 
werthen Gebäuden find nur zwei nad) europgiſcher Art gebaute 
Regierungspaläfte, eine Fatholiihe und eine koptiſche Kirche, eine 
Mofcee und eine Miffionsanftalt nebſt Schule zu nennen. 

Bon Chartum aus fuhren bie ägyptiſchen und europäiſchen 
Entdederbarten nilaufwärts, und namentlich war es der Weihe 
NE, auf dem die meiften Fahrten unternommen wurden. Neben: 
ftröme wurben entdedt und im Jahre 1853 befuhr 3. Petherid 
zum erften Male den Gazellenftrom, an deifen vielverziweigten 
Gewäſſern jet der „weiße Paſcha“ erſchienen fein joll. 

Der Elfenbeinveichtgum des neu entdedten Landes hatte 
in früher Zeit Händler herangelodt. 
liche Zeiten für die türkifchen Spekulanten. Glasperlen, Kupfer— 
platten, Armjpangen waren bei den Megern gern aefuchte 


Anfangs gab es here | 





min Yalda. 


Artikel, und man konnte gegen 5 bis 10 jogenannte Taubeneier | 


große Milchglasperlen) einen Efefantenzahn von 80 Pfund 
und mehr eintaufchen; ja, ſelbſt ein Sklave konnte dafür gefauft 
erden. 

In diefen Verhäftniffen trat raid eine Menderung ein. Der 
Sudan wurde mit Glasperlen ꝛc. überſchwemmt, fo daß dieſe 
Artikel beinahe werthlos wurden; der Werth der Sklaven aber 
wuchs immer mehr und dies veranlafte die Spekulanten, aud 
SHavenhandel und Sflavenjagden einzuführen, 

Bewaffnete Erpeditionen drangen in das Land ein. 'Plöß- 


| 


lih wurde eine Ortſchaft überfallen; die Plünderer machten | 


alles nieder, was ſich zur Wehr jepte, trieben Menſchen und 
Vich bis zum nächſten Stamm fort und taufcdhten Hier die 
Rinder gegen Elfenbein aus, während fie die Sffaven nad) Chartum 
führten. 

1H88 


67 0° — 
ih bin nicht Türke geworden"), fein Menſch einen ehrlichen | 


1855 hatte der Vicefünig Said Paſcha diefen Sklavenhandel 
verboten und dies führte zu einer neuen Organifation des 
Elfenbeinhandels. 

Die europäischen und türkifchen Spekulanten fandten Efefanten: 
jäger nad) den betreffenden Gebieten, welche bier Seriben, d. bh. 
Hanbelsjtationen, gründeten, Die Elefantenjagd entſprach jedoch 


neuen Stübpunften eines organifirten Vieh: und Menſchenraubes. 
Man muß leider geitchen, daß anfangs die Herren Europäer den 
Türken und Mrabern darin mit „gutem“ Beiipiel vorangingen. 

Die ESeriben der Effenbeinhändfer, welche mit ſtarlen 
Raliffadenzäunen oder Dornenheden umgeben wurden, bildeten 
eine Urt von Naubburgen und manche von ihnen waren fo mächtig 
geworden, daß fie felbft der ägyptifchen Regierung trohen durften. 

Eine der mächtigjten vielleicht war die Seriba Sibers, 
welche Schweinfurth in anihaulicher Weife geichildert hat. 

Siber, ein Nubier von Geburt, war urſprünglich Schreiber 
bei einem Elfenbeinhändfer, begann zunächſt Heine Geichäfte auf 
jeine eigene Hand zu treiben, hatte 
Erfolg auf Erfolg, legte eine Seriba 
nad) der andern an und erlangte eine 
foldhe Macht, daß er lange Zeit der 
eigentlihe Herrſcher in den Ländern 
am Gazellenilufie war. Seine Haupt: 
feriba oder Refidenz hie Dem Siber; 
fie lag auf einem Abhange und war 
von einem Pjahlwert von 200 Schritt 
im Geviert umgeben. Rings um fie 
erhoben ſich Hunderte von Hütten amd 
Gehöften, in welchen eine ägyptiſche 
Sarnifon Tag und in denen die Mei 
neren Sflavenhändler, die Danagla, 
fi) unter den Augen der „Beamten“ 
zu Sammeln pflegten, um bier ihre 
Geſchäfte abzuwideln. Die Zahl der 
felben in Dem Siber betrug im Jahre 
1870 während der Amwejenheit von 
Schweinfurth gegen 20001 Schwein 
furth ſelbſt zog es vor, bei Siber 
und nicht bei dem äghptiſchen Komman⸗ 
danten Gajtfreundfchaft zu juchen. 

Es iſt ſelbſwwerſtändlich, daß die 
Seribenbeſiher, die ja eigentlich Räuber 
waren, über eine bewaffnete Macht 
verfügen mußten. Sie bildeten ihre 
Truppen aus jüngeren Negerillaven, 
und fo entjtand in dem ägyptiſchen Sudan ein Soldatencorps, 
welches unter dem Namen „Bafinger* zu einer wahren Blage 
des Yandes wurde, Die Bafinger, mit Feuerwaffen ausgerüſtet, 
erhielten ihren „Sold“ in Raturalien und jeder von ihnen hatte 
feinen eigenen Hausjtand, eine oder auch mehrere Sflavinnen und 
mitunter aud) männliche Sklaven. Liber allein verfügte über 
eine Bafingertruppe von 1000 Mann. 

Die Seribenbefiger fühlten ſich als unumicränfte Seren 
in ihren Gebieten und legten den Negern befondere Abgaben an 
Korn und Nahrungsmitteln auf. Die Neger waren jo zu jagen 
die Honigbienen, weldye für die Drohnen arbeiten mußten. 

Außer diefen „großen“ Skavenhändlern gab es im Sudan 
eine Anzahl von Heinen Leuten, die gleichfalls vom Sklavenhandel 
lebten, die ſchon erwähnten Danagla vder Dongolaner, welche mit 
einem Eſel, der die Waarenlaft trug, das Yand durchzogen und 
Pulver und Stoffe gegen Stlaven eintauschten. Die galtfrennd: 
liche Aufnahme, weldye in den ſudaniſchen Seriben jedem zu 
theil wurde, machte es ihnen möglich, weiteſte Streden zu 
bereifen; denn das Reifen kojtele die Danaqla gar nichts; überall 
erhielten fie freies Obdach, Nahrung Für ſich und Futter für 
ihre Eſel. 

Das Verbot des Sklavenhandels, weldes die ägyptiſche 
Negierung erlaffen hatte, wurde nur an der großen Nilſtraße 
aufrecht erhalten. Diele wurde auch darum von den Sklaven 
händlern gemieden und um fo üppiger wucerte das Unkraut 
auf allen entjernteren Landwegen. Die Gegenwart ägnptiicher 
Beamten verhinderte das Treiben nicht; denn dieſe ließen ſich 
feicht beitechen und machten auch Sklavengeſchäfte auf eigene Hand. 

8 


Fa, die Danagla freuten ich, wenn fie mit ſolchen Beamten zu- 
fammenfamen, da fie in ihnen nur zu oft qute Käufer fanden. 
Wir wollen nur einen dieſer Beamten fchildern, den Schwein: 


6 > 


Emin Paſcha war auch in ſeinem Bezirk auf den Transport 


zu Lande angewieſen, und in jenen Theilen von Afrika giebt es 


furth in dem äghptiſchen Lager vor Dem Siber kennen lernte. 
ziehen. 


Er iſt eine typiſche Ericheinung. 
Ibrahim Effendi beffeidete in dem Lager das Amt eines 
oberjten Schreibers und Rechnungsführere. Seine Lebensgeſchichte 


war eine fortlaufende Kriminalgeſchichte; denn er hatte jich wieder: | 


holt die unglanblichiten Schtwindeleien und Betrügereien zu Schulden 
fommen laſſen. Urſprünglich ein Subalternbeamter in einem der 
aghptiſchen Mintiterien, hatte er unter Said Paſchas Regierung 
das vicefönigliche Siegel gefälfcht, um eine Ordre zu fingiren, 


welche ihn zum Chef eines neu zu formirenden Regiments in 


Oberäghpten ernannte und der Yofaltegierung alle Ausgaben bes 
hufs Aushebung und Equipirung der Truppen anbefahl. Er 
hatte die Frechheit, dieſe Ordre perfönlid dem Gouverneur 
der Provinz zu pröfentiren und fit als Megimentsoberjt zu 
aeriren. Nur wer die Unordnung und Willkür kennt, welche in 
allen Zweigen der Verwaltung Aegyptens unter Said Paſcha 
herrichte, wird das Beiſpielloſe dieſes Betrugs für möglid) 
halten können. Zwei Monate nah der vollzogenen Reubildung 
des Megiments traf es ſich zufällig, daß der Vicekönig cine 
Nilfahrt ſtromaufwärts machte, und als er am Ufer fo vieler 


feine Strafen in unferem Sinne; wir finden hier nur Schmale 
ausgetretene Pfade, auf welden die Karawanen Hin und her 


Auch Transportihiere fehlen faſt gänzlich in der Mequator- 
provinz; der Neger iſt hier das Transportmittel, alle Waaren 
und Lebensmittel muß er auf feinem Rücken befördern. 

Die äanptiiche Megierung hatte num aucd in der Aequator— 
provinz eine Reihe von Stationen errichtet, welche den Negern Schu 
gewähren follten; dafür aber mußten die Neger Abgaben zahlen, 
namentlich das nötbige Korn liefern. Trat nun in einer Station 
und beren Umgebung Mangel an Lebensmitteln ein, fo mußte 
eine günſtiger geftellte anshelfen. Da wurden jo und fo viele 
Negerträger aufgeboten, jedem wurde eine Traglaft von 50 bis 


. 60 Pfund aufgeladen, und nun mußte die Karawane vit jedhs 


Soldaten anfichtig wurde, erkundigte er fich nad) der Nummer | 


ihres Negiments und dem Zwed ihres Hierfeins. Wer befcdreibt 
die Ueberraſchung Sald Paſchas, als cr von einem Negimente 
börte, deſſen Exiſtenz ihm bisher unbefannt geblieben! Der 
berbeiacholte Ibrahim warf fich dem Fürſten alsbald zu Füßen 
und, flehte, feine Schuld befennend, um Gnade; der gutmüthige 
Said, deſſen Gewohnheit‘ c8 war, fich mie zu ärgern, ließ es mit 
der Berbannung nach Ghartum und einigen Jahren Gefängniß 
bewenden. Kaum aber hatte unfer Held Ibrahim die Freiheit 
wieder, io begann er auch ſchon in feiner neuen Eigenſchaft als 
Schreiber in einer ſudaniſchen Winfelbehörde die Betrügereien und 
Unterichleife von neuem, ging mit Kaſſe und Geldern durch, wurde 
erwifcht und nun nach Faſchoda am Weißen Nil gebracht, als 


bis acht Tagemärfche zurücklegen. 

Kleinere Beamte erlaubten ſich bei derartigen Kontributionen 
Ausichreitungen. Kein Wunder alfo, dab die Neger aud bie 
Hegupter venvänjchten und ihre Herrſchaft loszuwerden tracdhteten. 

Emin Paſcha war redlich bejtrebt, dieſe Abgaben gerecht zu 
vertheifen und die Neger beijer zu behandeln. Gänzlich konnte 
er jedod das Syſtem nicht aufheben und von einer völligen Ber 
ſohnung der Schwarzen konnte nicht die Nede fein. Dabei hatte 
er nicht einen einheitlichen Stamm zu regieren. Die Bölferfarte 


‚ feiner Provinz iſt recht bunt; da wohnen im Norden die kriegeri— 


dem fiheriten Plate des Gewahriams fiir gefährliche Leute feiner | 


Urt, Es gelang ihm jedoch, Wieder eine Megierungsanitellung 
zu erhalten, und er war bald, wie Schweinfurt ſagt, auf dem 
beften Wege, feine alten Armeereorganifationsgelüfte von neuem 
zu befriedigen. 

Das waren die Fremden und Beamten, weldye fid) in diefem 
Sande niedergelaffen hatten — ein Abſchaum der ägyptiſchen Be: 
völferung, ein Geſindel im wahrjten Sinne des Wortes. 

So lagen die Verhältnifie, als Anfang der fichziger Jahre 
die änyptijche Regierung, um dem ſchmählichen Handel ein Ende 


zu machen, dieſen munopolifirte und die Seriben auf ihre Rechnung | 
Gefangenſchaft dev Machdiſten geitorben jein foll, mußte den Befcht 


übernahm, nachdem jie die Beſitzer enticyädigt hatte. 

Colonel Gordon wurde nah dem Sudan aeididt, um dort 
Ordnung zu ſchaffen. 

Die Zeit hat aber gelehrt, daß Gordon feine ſchwierige Aufs 
gabe auf die Dauer nicht durchführen fonnte 
zeitweilig die Macht der wieder auffällig gewordenen Seriben: 
befiter und der Dongolaner zu brechen, wie dies der Scldzug | 
Geſſis gegen Soliman Siber beweiſt; wohl hatten die Neger, | 
von der Regierung mit Feuerwaffen ausgerüftet, mehr als einmat | 


. Station 
Wohl gelang es, 


ſich blutig an den Sklavenhändlern gerächt; aber es gährte | 


immerfort im Sudan, 


die Verhältniſſe waren im großen und | geben mußte. 
ganzen diefelben geblieben, die ägyptiihen Beamten nicht beſſer Aequatorprovinz aus und Irug viel dazı bei, 


geworden, und mit allen diefen Schwierigkeiten hatte auch Emin 


zu lämpfen, als ex zum Gouverneur von Hatel-Eitiva be: 


fördert wurde, 


Sudan, fo ericheint uns die Yage der Aequatorprovinz troß ihrer 
weiten Entfernung befonders günftig, da fie von einem großen 
Strome, dem Werfen Nil, durchichnitten wird. Die Schifibarkeit 
des Stromes wird jedoch von Redjaf bis Dufile durch Strom: 


ichen, vichzüchtenden Dinfa, welche ihre Selbitändigfeit niemals 
ganz aufgegeben hatten. Am Centrum des Neiches fihen die 
Bari, welche Jahrzehnte hindurch ausgeplündert wurden und leicht 
zu Aufitänden ſich hinreißen laſſen. Weller ift es im Süden be- 
ſtellt, der zugleich die Koörnlammer der Provinz bildet; aber aud) 
bier begegnen wir einer ganzen Anzahl von Wölfern, den Sculi, 
den Lırri, den Monbntin sc. Es muß in der That eine Riefen- 
aufgabe genannt werden, in dieſem Böltergemifch, weldyes noch 
von Tanjenden von Danagla und Fakibs durchießt iſt, mit Hilfe 
eines elenden Bonmtenthums Ordnung zu Schaffen! 

Dant Emins Energie begannen fid die Berhältniiie aber 
doch zu beſſern, namentlich in ökonomiſcher Beziehung war der 
Zuftand der Provinz ein volltommen beftiedigender geworden; da 
wurde jeine Thätigkeit dur den Machdiaufſtand unterbrochen. 

Aber bevor noch die Truppen des falſchen Propheten gegen 
Bahr el⸗Ghaſal und Hat⸗el-Eſtiva vorrüdten, bradyen im diejen 
Provinzen friegerijche Verwidelungen aus. 

Abd⸗el ⸗ Kader Paſcha, der Generalguuvernene vom Sudan, 
verlangte, da er vom Machdi bedrängt wurde, die Stellung von 
7000 Negeen, welde Yupton Bey, Gouverneur don Bahr-el- 
Ghaſal, beichaffen follte. Yupton Bey, der vor kurzem in der 


nachlommen. Aber welche Mittel mußten angewandt werden, um 
diefe Zahl zu erlangen! Dr W. Junler ſah ſelbſt in einer 
mehrere hundert Diefer Unglüdlichen, Knaben von 
15 Jahren und ältere Männer, gefettet, in die Halsgabel 
eingezwängt! ine folche „Nefeutirung“ überjticg dod wohl die 
newöhnlichen Thaten der SHavenräuber; fein Wunder, daß Die 
Dinkaneger zu den Waffen griffen und, von den Machdiſten unter 
fügt, die Macht Lupton Beys ſchwächten, bis er felbft, von feinen 
Soldaten verrathen, ſich dem Machdijtenführer Karamallah er 
Der Aufftand der Dinla breitete ſich and) auf die 
daß der Norden 
derjelben unhaltbar wurbe. 

Da kam eine Hiobspoſt nad) 


Ladö. Karamallah theilte 


Emin Bey die Gefangennahme Lupton Beys mit und forderte 
Werfen wir einen Blid auf die Landlarte des änuptichen | 


ichnellen unterbrochen und von Seit zu Zeit bilden ſich auf ihm | 
die Fogenannten Grasbarren, Anbäufungen von allerlei Schilf: 


und Graspflanzen, welche allen Schiffen die Paſſage unmöglich 
machen. Die Bedeutung der Waſſerſtraße für den Berkehr wird 
am beiten durch die Statiſtik Flargelegt, 
ſechs Jahren nur neunmal ein Dampfer von Ehartum nad) Yado, 
der Hanptitation dev Mequatorprovinz, gekommen war. 


faut welcher während | 


Emin Bey auf, feine Provinz zu übergeben und ſich bei ihm in 
Perſon einzufinden. In einer Sitzung der höheren Beanten 
wurde die Unterwerfung beſchloſſen; Emin Beh wollte jelbit zu 
Karamallah reifen und gab fogar den Befehl, fein in Makrala 
befindlihes Maulthier direft nach Amadi zu ſchicken, um es von 
dort reiten zu lönnen. 

Nah und nad rat jedoch eine lühlere Benrtheilung der 
Berhältniffe ein, ımd am 3. Juni 1884 verlieh nur eine 
Kommiſſion ohne Emin Bey Ladö, um die Unterwerfung an 
zuzeigen. Thatſächlich aber erfolgte dieje nicht, und bald lam 


‘es im Norden der Provinz zu Kämpfen mit den Machdiſten, 
‚ die jedoch nad) der Eroberung von Amadi wieder abzogen. 


— 639 


Die Geſchichte dieſer Kämpfe, in denen Verräther und Ueber: 
laufer ihre Rolle vielen, in welchen Soldaten betrunfene Führer 
durch Tapferkeit beſchämen, iſt einzig in ihrer Art. Richard 
Buchta hat ſie in dem jüngjt erichienenen Werke „Der Eudan 


unter ägbptiicher Herrſchaft“ durch Mittheilung der Briefe Emin | 


Vaſchas und Yupton Beys zu ſtizziren gefucht und aud) die Berichte 
Emin Paſchas an Schweinfurth geben ein getreues Bild derfelben.* 
Nach diejer Schilderung der Verhältniſſe können wir uns ane 
nähernd in die Lage Emin Paſchas verjegen. Nad und nad) 
konzentrirte ex feine Macht in dem füdlichen Theile der Provinz 
und hält augenblidtidy den jchmalen Streifen Landes von Rediaf 
bis Albert-Nyanza beicht. Seine „Hauptfladt” iſt jept Wabdelai, 
das mäher der Kornlammer im Schulilande Liegt als das un- 
wirthliche Lado, welches zuletzt ganz aufgegeben wurde. 

Die ſchlimmſte Zeit für Emin Paſcha waren die drei Jahre, 
da er auf feinem verlorenen Boten von Europa gänzlich abge 
fchnitten war und nur durch Ueberläufer, Spione oder Briefe 
der Machdiſten, die ihn wiederholt aufforderten, ſich zu ergeben, 
Nachrichten über die Ereignifte im Sudan erhielt. Die Nachrichten 
waren manchmal vecht eigenartig. So erzählte z. B. cin Mann, 
der von Kordofan gekommen war, daß vor feiner Abreije der 
Machdi feinen Leuten einige geichloflene Körbe gezeigt und aelagt 
habe, vor vier Tagen fei Gordon an der Spite von 60000 
Daun, mit Geld und allem reich verſehen, von Megupten ab: 
gegangen und komme, um ſich mit ihm zu mejlen. In den Körben 
jeien die Seelen diefer GO 000 Mann — 20 000 werde die Erde 
verjhlingen, andere 20 000 wilden in die Lüfte verſchwinden und 
der Reſt ſich zu ihm, dem Machdi, fchlagen. 

Diefe Nachricht erhielt Emin im Juni 1894 und im April 
des nächſten Kahres empfing er Briefe vom Emir Karamallah, 


in welchen der Fall von Chartum und der Tod Gordons, des | 


Feindes Gottes, gemeldet und Emin aufgefordert wurde, zu 
Naramallah zu kommen und ihn zu begrüßen. 

Emin beeilte ſich jedoch feineswegs, dieſer Aufforderung 
Folge zu leiſten, und Karamallah zog, nachdem er zum Fall 
Chartums 75 Kanonenſchũſſe abgefeuert hatte, mit vielen Tauſenden 
von Sklaven von der Aequatorprovinz ab. Emin Ber organiſirke 
indejjen jeine Brovinz auf militärifcher Orundlage. „Wir arbeiten,“ 
ichrieb er, „Tag und Nacht, um das Wenige, was uns an Waffen 
geblieben, in Ordnung zu bringen, d. h. aus 10 alten Gewehren 
vielleicht 2—3 brauchbare herzuitellen. Ich hoffe, in kürzejter Zeit 
im ganzen über etwa 2500 brauchbare Gewehre verfügen zu Fönnen.“ 





And nad dem Rüdzug der Machdiſten gab es um Labs | 


Kämpfe mit den Dinfa und Bari; nad und nad Hatten jich 
jedoch die Verhältniſſe geklärt, unfriedliche Elemente wurden ab» 
geſtoßen oder jonderten fich jelbft aus, und zwiſchen dem bejferen 
Theile der Zurüdgebliebenen entfaltete ſich ein größeres Vertrauen. 


Emin konnte im April 1887 jchreiben: „Bei uns iſt alles | 


beim Alten. Wir fäen, ernten, fpinnen und leben in den Tag 
binein, als ob das ewig fo dauern könnte. . . . Ach verlafie 
keineswegs meine Leute, Wir haben trübe und ſchwere Tage mit 
einander durchgemacht, und ich hielte es fir jchamvoll, gerade 
jett von meinem often zu defertiren. 
vieler Mängel brav und gut.“ 


* Veral. „Emin Baia“. Herausgegeben von Dr, Schweinfurth und 
Dr. Hagel (Veipzig, F. U. Brodtians, 1888), 


Aultur verichloffen worden, 


Meine Leute find troß | 


Im März 1886 erhielt aud) Emin Nachrichten von feiner 
äghptiſchen Megierung über Sanſibar. Es iſt intereflant, zu er: 
fahren, wie er fid) in einem Briefe an Schweinfurth darüber 

| äußerte: 
„Die ägyptiſche Depeſche, Franzöfiich geichrieben, jagt mir, 
| daß es dem Gouvernement unmöglich fei, uns beizuftehen, da 
man den Sudan aufgebe, und giebt mir carte blanche bezüg- 
lich der zu ergreifenden Mafregeln, falls ich mich entichlöffe, von 
hier fortzugchen; bewilligt mir audı Kredit beim enalijchen 
Generalfonful in Sanfibar. Eine kühle Geſchäftsdepeſche im 
vollen Sinne des Wortes — nicht ein Wort der Anerkennung 
für drei Jahre Sorgen und Kämpfe wit Danagla und Negern, 
Hunger und Nadiheit; nicht ein Wort der Aufſmunterung zu der 
mir bevorjtchenden übermenjchlichen Arbeit, die Soldaten heim 
zuführen. Ich bin übrigens an deraleichen gewöhnt. Als ich in 
den Jahren 1878 bis 1880, während duch 22 Monate der 
Fluß veritopft war, Land und Leute zuſammenhielt und zum 
erjten Male zeigte, dab es möglich fei, uns durch einene Krälte 
ohne jede Zufuhr von Chartum zu erhalten, als ich dem Gou- 
vernement in jener Zeit nicht allein Eriparnifie machte, fondern 
auch praktifch bewies, dab die Provinz bei regelrechler Ber: 
waltung ihre Ausgaben deden und noch Ueberſchüſſe liefern 
könne, als id begann, Neis und Zucker zu pflanzen, die 
Verwaltung zu ordnen, die Brovinz zu erweitern: wer hat da 
auch nur eim gutes Wort für mid) gehabt? Passons la-dessus! 
Der verjtorbene Serdar Ekram Omer Paſcha fagte mir einſt, daß 
man im Orient, um Anerkennung zu finden, entiveder mächtige 
‘ Proteftionen, oder viel Geld, oder eine hübſche Frau haben müſſe; 
follte er recht gehabt haben?“ 

Auch nad) der Adreiie Dr. W. Junkers iſt Emin nicht der 
einzige „Franke“ in der Nequatorproving unter Negern, Qürken 
und Kopten geblieben. Der italieniiche Afrikareiſende Caſati hielt 
ſich bei ihm auf; aber audy er verlieh die Nequatorprovinz, aller- 
dings mit dev Abjicht, jenem Freunde Emin zu dienen. Emin mußte 
alles dran feßen, um au der Südgrenze feines Reiches beſſere 
nachbarliche Verhaltniſſe zu erhalten, und fo ging Cafati zu 
Kabrega, dem Herrſcher von Unyoro, um an dejjen Hofe jozuiagen 
die Rolle eines Gefandten von Emin zu fpielen und zugleich den 
Weg zur Oftfüfte offen zu halten. 

So ſpielt ſich, wie wie nur anzudenten vermochten, im 
fernen Sudan ein Stüd Weltgeſchichte ab, veih an Schlachten, 
Siegen und Niederlagen und ebenſo reich an diplomaliſchen 
Intriquen an den Höfen brauner Gäfaren. Bewundernd aber 
müflen wir zu dem Manne emporbliden, welcher ſich felbit 
„Der Getreue“ (Emin) genannt hat und mit anfopferungsvoller 
Trene in allen diefen Wirrniſſen Stand zu halten weiß. 

Durch Englands Furzfichtige und engherzige Politik ijt der 
Nordweg nach dem ägyptiſchen Sudan vielleicht für Jahrzehnte der 
Hoffen wir, daß es deuticher That» 
kraft gelingen wird, von Süden her das Land von neuem zu 
erschließen. Hoffen wir, daß Emin ausharre, bis ihm deutiche 
Landsleute Hilfe bringen, und daß es uns vergönnt fein werde, 
einmal an diefer Stelle den frohen Augenblid zu ſchildern, wo 
unter Salven der ſchwarzen Narawanen die Fahnen Emins am 
fernen Nil die Standarten der deutichen Rettungserpedition bes 
grüpen! 


Ein Daunsfchak. 


Vlauderei über eine Neform des Vhotograpbiealbums, 
on Oskar Iuflinus. 


ma: es ein ficheres Zeichen für die Höhe der Kultur ift, daß ein 
Geſchlecht für eine möglichit lange Dauer jeiner Schöpfungen Sorge 
trägt, dann dürfen uniere en ſich nicht die Palme zueignen. Die 
Aſſurer und Babnlonier beredineten ihre Mittheilungen für die Ewigleit, 
die agupriſchen Temvelwände melden uns mit ungeichwächter Rrarbenpracht 
die Kriegs» und Friedensthateu ihrer Mönige durch in Stein gemeihjelte 
Juſchrifien; von den Dellenen und Römern gilt das Wort: 

„Könnte die Geſchichte davon jchweigen, 

Tauſend Steine würden redend zeugen, 

Die man aus dem Schoß der Erbe gräbt.“ 

Nod das Mittelalter bemahrt uns feine eigene und die Weisheit der 

Alten in feinen unzerſtörbaren Pergamentrollen, aber unfere Jeit, die 
wcgjamfte, vielfeitigite, ſchnelllebigſte, vertraut ihre Toftbarjten Kefultate, 


ihre wichtigiten Errungenjchaften dem wideritandslofeiten, flüchtigſten aller 
Stoffe, dem Papier, ihre äußere Erſcheinung der Farbenwirkung einiger 
ohotograpbiichen Salze an, deren Bejtändigleit noch gar feine Probe hat 
beftehen fönnen. — Nun immertin! mögen in 4000 Jahren die Archäologen 
von dem längft entſchwundenen Berlin nichts mehr finden, als vielleicht 
einige zerträmmerte Stadtbahnbögen, ein paar Wajlerleitungsröhren und 
vergrabene Telephondrähte, den Sodel der geboritenen Siegesſäule 
und das Eifengeitänge der Kentralmartihalle — mögen fie ſich auch ein 
wenig ihre Nöpfe zerbrechen, wie es unjere Yeitgenofien in Philae oder 
Mitglene tbun! Wber für das lebende oder für die nächſten paar Ge— 
ſchlechter, die rings umher unter unjeren Augen heramwaden, könnte 
man do in feinen Einrichtungen forgen, und daß man aud an Diele 
wicht denft, ſcheint mir namentlich dort Umredht, wo mit einer geringen 


—ö 


Mühe die werthlofefte Spielerei zu einem wertvollen und interefjanten 
Dentmale umgejtaltet werden fann. 

Sehen wir uns ein Photographicalbum an, wie es auf den Tiſchen 
unferer Salons auszuliegen pflegt, jo finden wir wohl eine mehr oder 
minder jchöne Ausſtattung des ſchweren Leder: oder Holzeinbandes, im 
Innern aber ein und dasjelbe jorglofe Arraugement oder vielmehr aud- 
geiprochene Syſtemloſigkeit. Hier wenden ſich zwei Brautleute oftentatib 


von einander ab, dort hot ein Großväterchen unter drei jungen Damen, | 


die er ſein Lebtag wicht neichen, Feinde find hier gezwungen, einander 


ewig anzulächeln, und Herzensfreunde werden durch ganze Geſchlechter 


getrennt. Natürlich, nicht ihre Beziehungen zu einander oder zu uns find 
ja hier maßgebend, jondern die gem zufällige Bröße des Formates, der 
Tag der Einreihung geben den AÄusſchlag. Blättern wir noch ein wenig 
weiter! Der Herr des Haufes, dem wir eben eine Bifite machen, ift jo 
freundlich, den Führer zu ſpielen; denn wie in vielen Gebirgsgegenden 
gefliffentlich fein Wegweiſer angebracht wird, um den Freuiden jur Ber 
nüßung eines Führers zu zwingen, jo beitcht auch die ähnliche Ein» 
richtung bei dem Album. . 
Die Erklärung muß duch ein Familienmitglied geicheben; feine Iu— 
ſchrift oder Unterichriit beiteht, um uns, ohne eine derartige Hilfe, in 
diejer Fülle der Geſichter zurechtzufinden, Alſo Seite eins: ein ziemlich 
verwiſchter Herr mit Knebelbart, ganz in die Yeltüre eines Buches vertich, 
im Hintergrunde romantiihe Landſchaft. Wir fehen ihn eigentlich nicht, 
aber wir hören, es ift Onfel Morik, und das Bild beruhigt und. Ga 
folgt: eine Tame mit faffeebraunent Teint. Hörten wir nicht, daß das cin 
mißrathenes Bild ift, fo würden wir fie für eine Mulattin halten; über 
ihre Züge haben wir fein Urtheil, da ein grober Sommerhut_die obere 
June des Geſichtes werdet. ES bedarf der ganzen verwandticaftlichen 
iebe, um hierin Tante Annette zu erkennen, — Kun fommt ein Dund! 
Er gehörte einem Herr, mit dem die Familie in einem Babeorte ver 
fehrte, und erfreute fich allgemeiner Beliebtheit. Er Scheint fich nicht ſehr 
behaglich in feiner Rolle zu fühlen, die zwei Hände des Photographen- 
fchrlings Trampfen ſich um ihn, ihm die plajtiiche Ruhe feines moloſſiſchen 


Lorbildes zu geben, — Nummer vier ift ein Rind — ein Kind von. 


dreiviertel Jahren — es hat zwei Mündchen, vier Mugen und vier ziemlich 
abjtehende Ohren. Das Heine Weſen hat troi der unfajienditen Borjichts- 
maßregeln mit dem Köpfchen gewadelt, und der Photograph wollte feinen 
dieler fojtbaren Momente verlieren, fo daß wir es hier Doppelt fehen. 
Aue eine Verhärtung des Gemütbes Tann wicht ſofort in ihm den Spafi- 
macher der Familie, den heute bereit 22 Jahre zählenden Better Julius 
erfonnen, — Nun kommt ein Gruppenbild von altmodisch gefleideten Damen, 
welche ängitlich die Kopfchen vorjtreden; die Geſichter jind verblaßt, Augen, 
Raje und Mund heben ſich von der grauen Luft ab, Ich hielt das Ganze 
für eine japaniſche Hathsverfammtung oder ein Krailiiches Dochzeitsfelt, 
war aber glüdlicherweile jo vorfichtig, meine Muthmahungen zu ver: 
ſchweigen; das Bild entpuppte fich als eine Selefta und meine Erflärerin 
befand jich Darunter. — Dann wieder ein Großmütterchen vom Yande, eine 
thurmhohe Haube auf dem Stopfe, ein Geſangbuch krampfhaft in den 
Händen und den erbarmungswertbeiten Blid in den Augen, als ginge es 
ihr aus Leben. — Dann wieder ein gr in Uniform mit einen ges 
ſchwollenen und einem abgezehrien Fuß; zu meiner Freude erfuhr ich, 
daß diefe Fehler, die ibn dauernd militäriteh untauglih gemacht hätten, 
auf feine Stellung bei der Aufnahme zurüdzuführen jeien. Nun Frau 
Hedwig Niemann und unmittelbare darauf ein Gruppenbild eines in allen 
unmöglichen Stellungen hangenden, baugenden Furnvereins, deſſen Mit 
glieder wegen Abweſenheit des jüngften Sohnes von Dane nicht zu 
reloguosciren find; dann ein paar junge Mädchen, Schulfreunbinnen 
von Fräulein Elife, welche diefe zu erflären berbeigebolt wird. Zum 


64 





.— 


Schluß ein Nubier, jhimmernd in feiner Bräune — und dahinter Barnay 
in der Rolle dei Nareiß. 

Wenn ich mir auch hier ein bejonders intereffantes Eremplar für 
meine Auseinanderfegungen herausgeſucht habe, an ähnlicher Bunt» 
ſchecligleit und Softemlofe feit leidet Yarı jedes Photograpbienlbum, Und 
doch fonnten gerade folde Albums einen wirklich werthvollen Beiip. 
einen wahren 
mäßte zunächſt jeder dahin ftreben, diefe Sammlunaen derartig einzu— 
richten, daß unter jedem Bilde ein großer freier Raum bliebe, um den 
vollftändigen Namen der Dargeitellten, die Daten ihrer wichtigiten 
Pebenstage und fonftige biographiiche Notizen aufzunehmen. Durch dieje 
Bervollftändigung befommt das Bild, das in zwanzig, dreißig Jahren, 
oft noch in weit fürzerer Zeit werthlos wird, weil diejenigen, welche das 
Driginal fennen, in der It zerftreut find oder nicht mehr leben, einen 
wirklichen, dauernden Werth, und die juftematiiche Gruppirung der Bilder 
von den Borfahren, joweit man folde erreichen fan; bie anf die lehten 
Sprojien verſchafft jeder Familie den erinnerungsvollen Eindruck von 
Geſchlechtstaſeln, wie fie jeder römiihe Bürger, nicht etwa bloß der aus 
vornehmen Beichlechtern, pietätsvoll in feinem Tablinum aufgeftellt hatte. 
Dieje find aber um fo viel intereflanter und ſprechender, als eine wohl 
gerroffene Photographie die damals übliben Wachsmaslken der Yamilien- 
mitglieder an Deutlichteit und Aehnlichteit übertrifft. Cine folche Tafel 
fan photonraphiich vervielfältigt und dieſes Bild zum Ausgangspuntt 
für die Fortführung durch die einzelnen Seitenlinien genommen werden, 
Sp wird es in gewiſſem Sinne ein Heiligthum, weldes die Aufammıen- 
gehörigkeit der ‚Kamilien durch Wort und Bild im Gedächtniß erhält, 
Freude macht und vielleicht manches Gute ftiftet. 

Nach ähnlichem Spiteme, meine ich, dürfte überhaupt eine chrone- 
togische und inhaltliche Gruppirung nebſt einem erklärenden Terte den 
phorographiihen Sammlungen überall Weihe und Werth verleihen. An 
Stelle der Stammbücher mit ihren Sinngedichten ift das Sammeln von 
Photographien einerſeits und von Antographen andererjeits geireten, 
Wie interejlant wäre eine Verſchmelzung diefer beiden Richtungen, Deren 
jede für ſich allein troden ift: ich meine ante Bilder berühmter Leute mit 
ihren Facſimile! Weiche hübfche Erirmerung wäre für die ganze Lebens 
zeit ein Album, das ein Tagebuch aus den Studienjahren oder aus dem 
Penftonate, aus der Militärzeit oder von einem gemeinfamen Sommer 
aufenthalt enthielte und zwiſchen den Erzählungen die Photographien der 
Stätten und die Bilder ber freunde, die man dort hebgewonnen, 
brädhte,. So, meine ich, laſſen ſich aus allen Bebieren menſchlicher Thätig 
feit durch die ſyſtematiſche Anordnung und Verbindung von Wort und 
Bild ungleich harmonifchere Eindrüde firiren, und zwar weit weniger mit 
—2 als mit enwas Liebe und Sorgfalt, Darum wende ich mich mit 
diefem Dinweife an jene Weſen, die jo gern beglüden und behufs einer 
Ueberraſchung ſich oft nid nur ihre Söpfchen zerbrechen, Tondern auch 
ihre Augen verderben, und bitte fie, diefer Anreaung ihre freundliche 
Aufmeriſamleit zu ſchenlen. 

Verſuchen Sie es einmal, meine Verehrte, Ihren jungen Herrn Ge— 
mahl nach dieſen Andeutungen zu feinem Geburtstage durch ein Album 

u überrafhen, auf welchem im rofigen Buchſtaben die Worte „Unſere 
dochpeitsrei e“ prangen und in weldes Sie die Vilder_aller Gegenden 
und aller Rerjonen, welche Ihnen in Dielen goldenen Tagen lieb und 
werih geworden, nebft einer Meinen Chronik des Exrlebten aufnehmen, 
Ich möchte fait behaupten, daß es ihm mehr Freude machen dürfte, als 
das elfte geiticdte Sofatifien, für das Sie ſich bereits entichieden, oder der 
große Tiſchläuſer mit ſchwer zu enträthſelndem gothiichen Sinniprude, 
zu deilen Fertigſtellung Sie ſich Seit Wochen jeden Morgen einige Stunden 
in Ihre Zimmer zurüdgezogen haben. 


Blätter und Blüttzen. 


Am dodestage Theodor Körners. }} 
war n bi. Aumnn d. ver Todestag Theodor Störners, des ſmnng 
und gluthvolliten Dichters der Beireiungstriene, wiedergelehrt und an 
jeinem eidhenbeichatteten Grabe bei Wöbbelin wurde an diefem Tage des 
edlen Todten im erbebender Freier gedacht. 

Eine jonnige Jugend hatte dem Dichter gelächelt, in Wien Gatte er 
eine Stellung gefunden, die ibm zufagte, fein Pichtergenins wurde von 

länzenden Erſolgen gefrönt, das Glück der Liebe erblühte ihm an der 
Seite einer liebreigenden Braut — die reiche Gegenwart verhieh eine 
noch reichere Zukunſt: da brach im deurichen Vaterland die Sehnſucht nach 
Befreiung von der Fremdherrſchaft gewaltiam fih Bahn, wie ein Mann 
erhob ſich das Bolt, und feine beiten und edeliten Söhne eilten zu den 
Fahnen. Nichts vermochte jept Theodor Körner mehr in Wien I. jeſſeln. 
er verlich ſein Glück und feine Liebe und geſellte fortan der Leyer das 
bintige Schwert. Und zu welcher Größe erbob ſich mun der Dichter! 
Der ganze ideale, freudige, todveradhtende Beift der großen Keit fand in 
feinen Liedern den reiniten, markigjten, erhebendſten Ausdruck. 

„Zerbrich die Bilugichar, laß den Meihel fallen, 

Die Leyer ftill, den Webftuhl ruhig ſtehn! 

Verlaſſe deine Döfe, deine Hallen: — 

Vor Delien Antliß deine Fahnen mwallen, 

Er will fein Rolf in Wafenrüftung feh'n. 

Denn einen großen Altar ſollſt dur bauen 

In feiner Freiheit em’gem Morgenroth; 

Dit deinem Schwert jollit du die Steine hauen, 

Der Tempel grande ſich auf Heldentod!“ 
io mahnte er beredt, begeiftert und nur eine Parole gab es für ihn: fallen 
oder fiegen! 


um fünſundſiebzigſten Male | 





| 


„Das Leben gilt nichts, wo die Freiheit füllt, 
Was giebt und die weite unendliche Welt 
Für des Waterlands heiligen Boden? — 
Frei woll'n wir das Waterland wiederſehn, 
Oder frei zu den glücklichen Bätern gehn! 
Da! glüdlich und frei find die Todten. 


Drum heule, du Sturm, drum braufe, du Meer, 
Drum zitt're, dur Erdreich, um uns her; 
Ihr Hu uns die Seele nicht zügeln! 
Die Erde fann neben uns untergehn; 
ir woll'n als freie Männer beftehn 
Und den Bund mit dem Blute beſiegeln.“ 

Und mit feinem „Blute befiegelt“ hat der Held und Sänger die 
Freiheit des Baterlandes in der That! Er jah die Braut nicht wieder, 
die er in Wien verlaflen, nicht die theuren Eltern, die Nagende Schweiter, 
die dem Sram um ihm nad kaum zwei Jahren erlag und am feiner 
Seite zur ewigen Ruhe gebettet ward; doch ob auch die tüdifche feindliche 
Augel den Mund des Sängers fir immer berjtummen machte: under 
gänglich lebt er fort in feinen Liedern, und jeine Mahnung: 

„Doch jtehft du dann, mein Volk, befränzt vom Glüde, 

In deiner Vorzeit a De Siegerglanz: 

Bergiß die treuen Todten nit und ſchmücke 

Audı unjre Urne mit dem Eichentranz!“ 
iſt nicht vergebens geiproden. Das Grab des edlen Todten von Möbbelin 
wird von treuer Dand gepflegt und mit den größten und edelften Söhnen 
des Vaterlandes hat Theodor Körner einen dauernden Plab gefunden 
im Derzen des danfbaren deutſchen Woltes, ws 


ausichag bilden, Um fie zu einem folhen zu geftalten, ' 


— 64 


3wei Denkmale deutfher Dichter. (Mit Allnftrationen.) Den | 
zablreihen Denlmalen, welche das deutfche Volt feinen Dichtern aelcht 
hat, haben ſich wieder zwei neue qefellt, das eine in Neiße (Scileften) | 
und das andere zu Plauen im Wogtlande. Beide gelten echten Boeten, 
welche jich ſowohl als Lyriler, wie als Erzähler und Dramatiker einen | 
Ruf erworben haben: das Denkmal zu Neihe dem Dichter der allbetannten 
Lieder Ju einem fühlen Grunde‘, „Wen Gott will rechte Bunft er- | 
weien“, „DO Thäler weit, o Höhen“, „Wer hat dich, du jchöner Wald" x: | 
Doleph Kreiheren von Eichendorff (1788 bis 1857), und das 
ienige zu Plauen Julius Mofen (1803 bis 1867), defien „Andreas 
Hofer“, „Die legten Zehn vom vierten Regiment”, „Der Trompeter an 
dev Kabbach“ u. a. wahre Voltsthümlichkeit erlangt haben. 

Das Denkmal Eichendorffs in Neiße follte bereits am 10. März, 
dem Tage der hundertiten Wiederlehr des Geburtätages des Dichters, 
enthält werden. Als aber am Tage vorher der erfte deutiche Kaiſer die 
Hugen im Tode ſchloß, wurde die Enthällung bis Anfang Mai verihoben 
und ging dann in jchlichter würdiger eier vor ſich. Es befindet fich in 
der Friedrichſtadt auf dem von Linden und Afazien befehatteten Eicyen- 
borfi-Blap. Im Dintergrunde auf unferem Bilde jieht man das Sterbehaus 
des Dichters, au welchem ſchon feit 1861 eine einfache Gedenktafel fich 
befindet. Nur wenige 
Schritte vom Denkmal 
aus — und wir find 
auf dem Friedhof St. 
Jeruſalem, woſelbſt 

ichendorff neben ſei⸗ 
ner Gemahlin beſtat⸗ 
tet Liegt, 

Das Denkmal, wel- 
ches mit einem äier- 
lichen Eifengitter ein- 
gefriedigt äft, beiteht 
aus zwei Staffeln von 
fchlejiihem Granit, 
worauf ſich ein vier- 
ediges, nach oben ſich 
berfüngendes Bojta 
ment erhebt, Dasjelbe 
befteht aus geichlific- 
nem und  polirtem 
Syenit aus dem id): 
telgebirge und ijt auf 
der Borderjeite mit 
allegorifchen Berzier 
rungen von Bronze 
verſehen. Auf einer 


w 


Sr 


fih das Eichendorff» 
ge Frantilienwappen 
(Nitterharniich, Frei⸗ 
herentrone 
henzweig), dahinter 
erfennt man Schrift» 
rollen, Feder und 
Sängerharfe. Ein Ei- 
chenzweig ftrebt zur 
Höhe und umrankt 
die Anschrift: „Rofeph 
R , ß Sreib, v. Eichendorii. 
1788/1867.” Die bronzene Büſte des Dichters ift nach einem jüngeren 
Vorbilde vom Breslauer Bildhauer Seeger, rinem geborenen Neißer, 
entworfen und Trönt das Poftament in jchönfter Weife. 

Die Feier der Denfmalsenthällung in Plauen, wo Aulius Mofen 
das Gymnaſinm beiucht und den eriten Grund zu feiner Bildung gelegt 
hatte, fand im Juli diejes Nahres ftatt. Das Monument erhebt ſich auf 
dem Pojtplage an der Bahnhofitrafie inmitten der ftädtiichen Anlagen. 
Der Unterbau desielben beiteht aus polirtem rothen Granit, der Sodel 
aus Spenit, die Büſte, in anderthalbfacher Yebensgröße nach einem Ent 
wurfe von Dr. Kich- Dresden ausgeführt, aus Bronzeguß. Eine befondere 
Weihe erhielt die Feier in Plauen durch die Anweſenheit mehrerer An« 
gehörigen des Dichters: feines einzigen noch Iebenden Sohnes Dr. Rein- 
hard Mofen, eines Bruders und zweier Nefien, und einen erbebenden 
Eindrud made es, als von den Stufen des Denkmals der Sohn des 
Verewigten in furzen, martigen, bewegten Worten jeinen und der fkamilie 
Dank zum Musdrud bradte, 

Die ehemalige fürſtbiſchöfliche Reſidenz und berühmte jchlefiiche 
Feſſung Neihe und die jchöngelegene Hauptitadt des Vogtlandes mit deu 
hoch über die Stadt fich erhebenden alten Schloſſe Hradichin haben beide 
in den Dentnälern einen neuen würdigen Schmud erhalten, der zugleich 
in Schöner Weile von der pietätvollen Dankbarkeit der Bevölferung für 
die Söhne ihrer Heimarı Zenguih ablent. .. 

Anglüdifide Kinder. Im Deurichen Neiche giebt es ungefähr 
OO blinde Finder, etwa 10000 Stinder Find taubſtumm und etwa 15 000 
find ſchwach⸗ oder blödjinnig. Wieviel Jammer und Derzeleid ſchließen 
doch dieſe trodenen Angaben in ſich ein! Sie bedeuten ein Meer von 
Vater⸗ und Mutterthränen und einen Abgrund von Hilfloſigleit und 
Hilfsbedürftigfeit, den menschliche Barmherzigkeit mur zum Heinen Theil 
ausfällt. Aber die Liebe hört nicht auf. Mit jedem Jahr fteigert fie ihre 
Leistungen und trifit immer neue Beranitaltungen, das Elend diejer um 
glüdlihen Kinder zu Iindern und zu mindern. 

Mit diefen beredten Worten beginnt im „Sartenlaube Kalender“ für 
1889 (Berlag von Eruft Heil’ Nachfolger in Leipzig) ein Artikel über 
„die Fürlorge für blinde, taubſtumme und andere unglüdliche Kinder“, 





Das Eihendorfj-Penkmal in Reife, 
Nach eimer Photographie von Eruſt Jentſch in Meike. 


breiten Bolute befindet | 


und Ei« | 
Namen nidit, woraus 


Nicht das Bild dea Elends wird in ihm vor unferen Mugen entrollt, 
jondern es werden den Eltern praftiiche Natbichläge ertheilt, wie fie der- 
artige unglüdliche Kinder behandeln jollen. Bor allem aber wird darauf 
hingewiefen, daß diefe nur im beſtimmten Erziehungsanftalten jich eine 
Bildung aneignen können, welche ibnen das Leben erträglich und fie 
troß ihrer Gebrechen zu müplichen Gliedern der menſchlichen Geſellſchaft 
macht. Biele Eltern wifien nidyt, daß ſolche Anftalten vielleicht in ihrer 
nächſten Nähe beftchen, andere haben ganz verfehlte Anfichten über den 


' Geift, im welchem die Anſtalten geleiter werden, und ımterlafien jo 


die Unterbringung ihrer Kinder in denjelben, In ihrer Unwiſſenheit 
begehen fie ein ſchweres Unrecht an den bedauernswerthen Geichöpfen, 
und jo war es ein gewiß verdienftliches Unternehmen der Medaltion 
des „Gartenlaube⸗ Kalenders“, nicht mur genen die Unwiſſenheit und das 
BVorurtheil durch ein warmes belchrendes Wort anzulämpfen, jondern 
all und jedem, der es nörhig bat, zu jeigen, wo er in feiner Nähe eine 
Erziehungsanitalt für taubjtumme, blinde oder ſchwach und blödjinnige 
Kinder finden Tann. Die überfihtlich geordnete Juſammenſtellung der An« 
ftalten umfaßt nicht allein das Deutſche Reich, jondern auch Defterreich- 
Ungarn und die Schweiz. 7 , k 
Möchte die gute Abficht, die mit dem Ariilel bezwedt iſt, aufs 
befte erreicht werden! 
Möchten nicht nur die 
Eltern der unglüdli« 
chen Kinder, jondern 
auch die gejunder ihn 
lejen! Viele von ihnen 
dirften ſich dann ver- 
anlaßt jehen, auch 
ihrerſeits ein Scerf- 
lein beizutragen zu 
dem großen Werte 
der Nächitenliche, wel- 
ches aus den Heilen 
des Artilels uns ent- 
gegenteuchtet. Finger⸗ 
Arige, wie das au 
thun ift, findet, wer 
Mittel und Herz zum 
Geben bat, in dem 
** ea * 
erüßmte Namen 
auf der Taſel. Es 
giebt auch eine Küchen⸗ 
pbantajie. Darunter 
find aber nicht etwaige 
phantastische Aınvand- 
lungen der Köchinnen 
zu verjiehen, jondern 
die Aunft der Köche, 
Nanten für Speifen zu 
erfinden, Beingen dieje 


die Speile beiteht, jo 
nennt man fie in der 
Küdeniprabe Phan⸗ 
tafienamen. Das Re⸗ 
giſter folher Produkte 
derftühenphantafie iſt 
jtemlih umfangreich. - 
Bir wollen nur einige hervorheben, bei denen Namen berühmter Berfonen 
als lange für die Speife benutzt werden. Manchmal find dabei recht 
jonderbare Zufammenftellungen zu Stande gelommen. So ift der kriege- 
riſche Nelſon, der Sieger bei Abntir, auf den Speifelarten mit Lamm⸗ 
Toteletten à la Nelfon vertreten; Macciavelli, der Diplomat, durch einen 
Schweinskopf à Ia Macchiavelli verewigt. Wer kenut nicht den Sänger 
der „örtlichen Komödie“? Auch die Köche Imben ihm nicht vergeiien, 
fie bieten uns an: ein Rindsjtüd a la Dante Aligbieri. Chateaubriand, 
der Dichter der „Atala“, ift uns gleichfalls befannt; was bedeutet aber 
wohl auf der Speifefarte: Chateaubriamd naturel, Uhateanbriand A la 
jandiniere, Chateaubriand aux trufies? Ja, das find echte Phantaſie 
namen. Der Dichter-Gonrmand Chateaubriand ift hier gleich einer Art 
Rumpfteat, An die Schwimmtünjte Byrons erinnert uns ein Fiſchgericht: 
es iſt Steinbutte a Ja Lord Byron. Auch Gambelta, der Hedeluftige, 
fehle nicht in dem Stüchenlerifon: grenouilles & la Gambetta heiſit das 
Gericht, welches wir mit ‚Gambetia⸗Fröſche“ verdeutichen möchten. Die 
Franzoſen beherrichten Jahrhunderte lang die Küche, und jo find auch 
die Titulaturen dee Speilen zumeift dem franzöjiichen Ruhmeslexikon 
entlebnt worden, Deutihe Namen find auf den Speilefarten feltener; 
es giebt aber auch ſolche, wie 3. B. „AFürit-PBüdter-Eis", Neuerdings 
find auch bei Feitefien die Bezeichnungen Kaiſer-Wilhelm Suppe“, „Bis- 
mard- Pudding“ oder Ochſenlende nadı Bısmard-Art“ aufgetaucht. Aber 
fie werden ſich ſchwerlich halten. Wozu and dieje Tafelverberrlihung ? 
Wir müßten dann auch „Moltlebomben“ haben, und diele lafien wir doch 
lieber unfere Nachbarn koſten und Ichmeden. ® 

er ibeure Wein. (Mit Alluftration S. 632 und 633.) Das Bild 
von B. Wautier führt uns im eine von den Tonriften aufgeiuchte Dorf- 
ſcheule in den Schweiger Bergen. Ein mißverguügnter srerienreilender ift 
eben im Begrifie, feine Rechnung zu bezahlen. Der behagliche Wirth hat 
ben Ereis fiir das Frühſtück verlangt: doch diejer Preis it dem Gaſte zu 
bob; mit einer ärgerlichen und verächtlichen Gebärde deutet er auf den 
theuren Wein, den der Wirth viel au hoch angeredynet bat; der Reit in 
der Flaſche beweilt, dah dieſer Wein nicht gerade zu den bejonders 
trinfbaren, den „süfligen” gehörte, Ueber die Brille hinweg wirft der 





Pas Molen-Peukmal in Plauen, 
Rad einer Photograpbie von H. Artmanın in Planen, 


——O 


Gaſt dem Wirth einen ebenfo prüfenden wie ſtrafenden Blick zu. 
diejer laßt ſich nicht aus der Faſſung bringen und verliert auch die gute 
Laune nicht; fein ſchlaues Lächeln jagt, daß er als tüchtiger Beihäftsmann 
von den Beſuchern feiner Wirtbichaft Rutzen zu ziehen weiß, denn daß 
feine bäuerlichen Stammgäjte denfelben 
das lieft man ans ihren ausdrudsvollen Geſichtern. Drei derielben 
lacheln pfiffig und vergnügt über die unverfrorene Geichäftstüchtigfeit ihres 
Wirthes; der vierte hat die Pfeife aus dem Mund genommen, die ge 
ballte Fauſt auf den Tiſch gelegt; er ift offenbar im höchften Grade über 
den „Spipbuben“ von Wirth beluftigt und hält die unverjchämte Ueber: 
theuerung des Fremden für einen ganz ausgezeichneten „Big“. Das 
anheimelnde Detail des Bildes verräth die Sand des anägezeichneten 
Genrenalers, welcher mit Vorliebe jeine Stoffe dem Wollsleben im 
Schwarzwald, dem Elſaß und der Schweiz entminmt, j 

_ Kin japanifhes Aunfwerk,. (Mir Alufteation.) Das japanische 
Kunstgewerbe hat in den beiden legten Jahrzehnten im chriftlichen Abend⸗ 
land eine ungewöhnliche Verbreitun gefunden, und den Erjeugnifien ins» 
beſondere der Ladnalerei, Keramif, Email und Brongeinduftrie, der Holz⸗, 
Elfenbein und Steinichneiderei, Weberei, Färberei 2. find auf den 
verschiedenen großen Weltausftellungen erfte Preife zuerlannt worden. 


Ueber den Werth des auferordentlidien Eimfluſſes, den das jabaniſche 


Kunftgewerbe auf unſere ganze Geſchmadsrichtung 
ausgeübt hat, faun man indeh ſehr entnenen- 
gejebter Meinung fein, und der Behauptung, daß 
die übertriebene Nachahmung alles Fapanıiden, 
von der Dekoration unjerer Zimmer an bis zum 
Mitadofopfpug der Damen, der freien Entwiclelung 
der heimiſchen Kunſt entichieden binderlich jei, wird 
laum ernftlich widerfproden werden fönnen. Ebenjo 
wenig aber iſt zu verfennen, daß die japanische 
Runftinduftrie in der That eine hohe Blüthe er- 
langt hat und darum der Beachtung durchaus 
werth iſt. Dies beftätigte and die überſichtliche 
Yufammenftellung japanischer Deforations« und 
Schmudjtüde, welche feiner Zeit auf der Kunit- 
gewerbe Ausſtellung in Nürnberg die allgemeine 
Aufmertfamteit anf ſich zogen und unter denen 
namentlich eine Figur von Bronzeguß Auſſehen 
erregte, Diefe Figur, den Waſſergoit darftellend, 
giebt unsere Abbildung wieder. Sie mar von 
t. Marumala in Potohama ansgeitellt, it einen 
Meter und zwanzig Gentimeter hoch und aus 
einem Stück. Die bis in die kleinſten Details 
feine Arbeit der Figur fand befondere An— 
erlennung. . 
Die Weiber von Schorndorf. Es war an- 
ſangs Dezember 1688, als der franzöfiidıe General 
Melac zu Ehren jeines allerchriſtlichſten Königs 
Ludwigs NIV, olme Kriegsrecht mit jeinen Mord- 
brennerhorden auch nach Württemberg vomgedrungen 
wor und das wehrloſe Yand bejebte. Am Stutt- 
gart vor Brand und Plünderung zu reiten, über- 
gab die Bormundicaftsregierung dajelbit die feiten 
Städte, welche die Franzoſen begehrten. Nur Schorn- 
dorf im Memsthal, damals ebenfalls mit Wal und 
Graben befeftigt und eine der bedeutendſten Städte 
des Herzogthums MWürtiemberg, war noch übrig, 
und um die Franzoſen auf ihr deohendes Ber- 


in nicht fo theuer bejahlen, | 


642 
Doch | 








Dapaniide Bronzefigur. 
Gezrichnet von Erntt Häberle. 


0 — — 


verſtändlich den Oberbeſehl und führte ihre Armee, ſtraum in Reih und 
Glied georduet, zum Raihhauſe. Dort foll ſie vorſichtigerweiſe erſt im 
den großen Kachelojen des Sitzungs zimmers getrochen ſein, um zu horchen, 
was die Herren berathen, und, als fie ſich derart überzeugt, daß ihre 
ichlimme Befürchtung bereditigt Sei, zunächſt ihren Mann heransgernfen 
haben, um ihm au erllären, daß fie ihm mit eigener Hand todiſchlagen 
werde, wenn er fich unterſtehe, die Stadt au übergeben, und gleiches 
deohte fie dann im Saale allen verrätheriich gefinnten Vätern bderfelben 
an. Dieſe bewegte und höchſt intereſſante Scene ift im Jahrgang 1867 
der „Gartenlaube“ (S. 189) von der Meifterhand E. Häberlins in vor« 
trefjliher Weile dargeftellt. 

Die Sache war keineswegs ſpaßhaſt für die verjammelte Katlıs- 
tweisheit und die Stuttgarter Herren; denn die bewaffneten Weiber hatten 
das Stadthaus beſetzt und hielten die ganze Obrigkeit faltberzig gelangen 
zwei Tage und drei Nächte lang. Derweil waren unter dem weiblichen 
Dberlommando die Mahregeln zur Vertbeidigung der Stadt netrofien, 
woran natürlich Oberſt Krumbar mit Leib und Seele ſich betbeiligte. 
Die anrüdenden Franzoſen wurden mit ihrer Forderung um Uebergabe 
ſchnöde abgewieſen, reitende Boten hatte man gen Mm um Hilfe geididt 
und richtig nahte ſich diefelbe. Die Franzoſen aber zogen ſich davor 
ſchleunigſt zurück und Schorndorf war gerettet, Seinen muthigen 
‚rebelliichen Weibern war es zu danten geweſen, 
und ibe Werdienft war wm jo größer, als das 
Beifpiel von Schorndorf den Geiſt des Bolles 
im Yande belebte und es zur Selbithilfe gegen 
die ſchamloſe Willkür des eingedruugenen Feindes 
in Bewegung feßte, 

Und Anng Barbara Walch, die Bürger: 
meiiterin, Hatte ſich in eriter Reihe um ihe Schorn 
dorf verdient gemadıt. Sie wurde als Frau Stünfele 
oder Küntelin gebührend in der Geſchichte und 
in Dichtungen aefeiert; zur Zeit ihren Heldenthat 
war jte aber, mie urkyndlich in neuerer Zeit 
erwicien wurde, an den VBürgermeiiter Wald ver 
heiratbet und erit ein Jahr danach, nachdem ihr 
Gjähriger Gemahl das Heitliche gejeguet, gab ihr 
der Rathsherr Hintelin feine Hand und feinen 
Namen. Er war auch Walchs Nachfolger als 
Vürgermeilter von Schorndorf. eine berühmte 
Frau ftarb M Jahre alt erjt im Rahre 1741 und 
daher fannten ihre Zeitgenoſen fie nur als die 
Künlelin. Ahr und der zweihunderiiährigen Aubel 
feier in diefem Jahre zu Ehren bat Hark Mauer 
in Stuttgart ein Feſtſpiel in fünf Alten gedichter, 
das ſich an die Ergebniſſe der neueſten geſchicht 
lichen Ermittelung bält und das unter vielem Bei— 
fall auch auf dem Theater in Cannftatt mehrfach 
zur Aufführung fam, Friedrich Unufier hat ferner 
eine „Feſtſchrift zur zweihundertjäbrigen Rubel» 
feier der Befreiung von Stadt und Feitung Schorn⸗ 
dorf im Jahre 1688" berausgegeben, die Des 
Antereflanten viel bietet, während die Stadt felbit 
anfangs September in einem großartigen und 
finneeihen Dank: und Freudenfeſt das Andenken 
ihrer tapferen Bürgerinnen ehrte, welche Schorn- 
borf aus den Morbbrennerhänden Milacs vor 
200 Fahren retteten und der Welt ein Beiſpiel 
gaben, wie „die ſtolze Franzdjiiche Kriegswellen 


langen aucd in den Belig diefer Stadt zu feßen und damit von ihren | durch Weibercourage, au ihrem ewigen Ruhmgedächtniß, der hochmüthigen 


ihamtlojen Gewaltthatigkeiſen im Lande abzubalıen, begaben ſich im Auf- 
trage der Stuttgarter Regierung ein paar Beamte dorthin, welche mit 


dem Gemeindernth wegen Uebergabe der Stadt an die Ichredlihen Ber | nennt 


Reuter aber emwigem Spott niedergeleget worden”. 
Muferfammlung alter Leinenflidierei für Haus und Schule 
fih ein neues, Dandliches Lieferumgswert, in Leipzig bei 


dränger unter milden Bedingungen verhandeln jollten. Der waere | T. O. Weigel erfchienen, welches zu den bereits bekannten Werfen von 


Kommandant von Schorndorf, Oberjt Günther Krumhar, zeigte fi, ob- 
wohl er über feine nennenswerthe Truppenmacht verfügte, durchaus ab» 
geneigt, zu einem fo Ichmählichen Handel die Hand zu bieten; aber 
Bürgermeifter und Räthe erwieſen jich einem ſolchen Ablommen zuging- 
licher, wenn es ibnen Hab und Gut fichern würde und da ja dod ein 
längerer Widerjtand der Stadt gegen die frauzöſiſche Macht nicht möglich 


ohme Hilfe von den entfernten Reichstruppen erſchien, bei einer Er | 


ſtürmung aber der Feind fchonungslos gegen die Einwohneridaft ver- 
fahren wäre. 

Als die Frau Bürgermeifterin witterte, dab ihr Ehegemahl als Ober- 
haupt der Stade fllr einen heroiichen Entichluß in diejer Noth nicht fähig 
fein werde, fahte fie mit ihrem heißeren Blut jelber einen ſolchen und 
ließ ſugs, derweil der wohlweiſe Rath am 14. Dezember morgens mit 
den Stuttgarter Herren im Stadthansfaal verhandelte, in aller Heimlidy- 
feit andere, ihr als muthig bekannte Rachbarinnen und Gebatterinnen zu 
fich Inden, Sofort und ohne viel weibliches Gerede wurde da beicdhloffen, 
alle Weiber der Gemeinde aufzubigten, um vor das Matbhans zu ziehen 
und mit Schonumgslojer Energie zu verbinden, dab die ſcwachmuthige 
Obrigkeit „einem liederlichen Trüpplein Frauzoſen“ die Ehre und die 
Habe, wenn nidıt gar auch die Tugend der Weiber von Schorndorf feige 
und Ichmählich überliefere. 

Blitßzſchnell wurde diejes Angebot verbreitet, und bald war vor dem 
Haufe der Bürgermeifterin eine Menge von erregten rauen verſammelt, 
zunachſt wohl älterer Jahrgänge und deito geeigneter, das große Wert zu 
unternehmen. Sie waren gleich in Waſſen erichtenen, mit Diem, Heu⸗ und 
Miſtgabeln, Braripiehen, Beienitielen, Munteln, uchel- und Stallaewehr, 
Dellebarden jogar und Nactmäcrterpartiianen, oder wer es an dergleichen 
fehlte, die belam es augenblide. Die Anna Barbara Wald, die fieben- 


unddreigigiährige „Heine, unaniebnliche, aber äukerft thätige, muthvelle, | 


geicheite und dabei angefchene” Frau Birgermeifterin übernahm jelbit- 





ı be 


Siebmaher und Leſſing als werthvolle Ergänzung binzutritt, denn im 
richtiger Erlenntniß vermeidet es den Verſuch, jenen in ihrem eigeniten 
Gebiete, den kunſtvollen altdeutichen Muſtern, Sonfurrenz zu machen; 
vielmehr legt diefe Sammlung das Hauptgewicht auf die ausländiichen 
Gebiete, die bisher noch nicht a behandelt waren, und bringt 
eine große Anzahl außerordentlich hübſcher Wufter von altfranzöftichen 
und italieniichen, ruſſiſchen, ſlavoniſchen, rumäniſchen, altholländiichen, 
perſiſchen, türtiidhen und ungariihen Muftern. Auch die berühmten 
fiebenbürgisch-Jächfifchen Stidereien find in außerordentlich aniprechenden 
Muftern vertreten, an welchen jede Stiderin ihre Freude baben wird, 
Die altdeutfchen Mufter zeichnen ich faſt durchweg durch zierliche Einfach⸗ 
heit und praftiiche Brauchbarteit aus. Die der andern Nationen zeigen da+ 
gepen einen großen Reichthum prächtiger Grundmuſter und Umrahmungen; 

onders düriten die orientalijhen Mufter auch zur Ausführung im 
Seide und Gold geeignet fein. Wir glauben durch den Hinweis auf diefes 
vortrefflihe Wert, weldes lieferungs-, ja ſogar blattweile zu billigen 
Preife läuflich ift, den Freundinnen der Anftvollen Qeinenjtiderei einen 
Gefallen zu erweifen. 

Ein neuer Fenfterfhmuh. Die Kultur der Hyazinthen mehört zu 
den dankbarſten Beihäftigungen des Blumenliebhabers, dem für die 
Pflege der Bilanzen nur der geringe Haum feiner Fenſter zur Verfügung 
fteht. Die bekannte Gärtnerei von J. C. Schmidt in Erfurt hat für 
berartige Kulturen bereits vor einigen Jahren die ſehr praktiichen 
Snagzinthengläfer in Dandel gebracht, welde feiner Zeit auch in der 
„Sartenlaube" beiprocen wurden. Vergl. Jahrg. 1884, S. 53.) Diele 
Glaſer haben Fich que bewährt und der Erfolg gab die Veranlafiung zu 
einer Neuerung, welche die gleiche Firma gerade jeßt, wo die Kultur der 
Hyhazinthen im Jimmer beginnt, darbietet. Die empfchlenswerthe Neuheit 
führt den Namen „Schmidts Fenſterſchmuck“ und bejteht aus einem 46 cm 
langen, 8 em breiten Hinftaften, der zur Mufnalme von ſechs Awiebeln 


—— 0 


Bluͤthe in der That feinen Namen „Fenſierſchmuck“ mit Hecht führt. 

Der 14. Auguf 188%. Diefer Tag gehört 
denfwürbigen Tagen, wenn man au dieſen auch die Unglückstage vedinen 
will: er war der brandreichite Tag des Jahres 1 im Köonigreich 
Preußen. Das haben wir am jenem Tage nicht erfahren, erft in dieiem 
Jahre meldet uns davon die amtliche vor furzen erſchleuene Breugiſche 
Statiftit" (Heft LAX), in welcher dieſem Tage ein beſonderes Kapitel ge 
widmet ift. Nicht weniger ala 126 Brände wurden am 14. Hunuft ger 
meldet, und es brannte an diefem Tage in Preußen 30 Stunden fang. 
Diefe Anuhauſung der Brandichäden wurde durch Gewitter verurfact, 
welche ein Gebiet von 4206000 Hektar bedrohten. Tie ftatiftiicdhen Er- 
hebungen ergaben mehrere intereflante Einzelheiten. So erfahren wir, daß, 


obgleich der Himmel in Feuer zur ftehen ſchien, nur ein ſchädlicher Blitz -· 


ſtrahl auf 8 Quadratmeilen traf. Dagegen iſt durch forgfältige Berechnung 
die Wefährlichteit der durch den Blipichlag hervorgerufenen Brände nad 
gewieſen. Der mittlere Tagesſchaden an Bränden betrug im Jahre 1883 
155600 Marl, am 14. Auguft brannten aber Mobilien und Immobilien 
im Werth von 659992 Mark nieder. Vergleicht mar nun den Blitzſchaden 
vom 14. Auguſt mit dem Schaden, der infolge von Bränden, die durch 


irgend eine andere Urſache hervorgerufen wurden, entitanden iſt, fo zeint | 


es jich noch deutlicher, daß die durch den zündenden Blitz herborgerufenen 
Brände weit verderblicher find als die Übrigen; die erjteren vafften in einer 
Stunde durchſchnittlich 1864 und die leßteren nur 768 Markt Werthe hin. 


Der 14. Auguft 1883 liefert ſomit einen lehrreichen Beweis, wie wichtig ' 


die Beitrebungen find, durch richtige Anlagen von Blikableitern Leben 
und Eigentum der Menſchen zu ſchüßen. ° 
Kaffeeverbot für das Kerzogthum Weſtſalen. Während in der 
Gegenwart humanitäre Vereine beitrebt find, den Verbrauch des Kaffees 
noch mehr zu verallgemeinern, um hierdurch dem Brauntweingenui ent- 
negenzuwirten, wobei fie fich des freundlichften Entaegenfommens der 
Behörden erfreuen, fahen noch vor hundert Jahren die Obrigfeiten den 
Kaſſeegenuß mit „höchſtem Mißfallen“ und den Gebrauch dieies Getränkes 
als einen „Mißbrauch“ an. Mancherlei Verordnungen wurden gegen 
den Kaffee exlaſſen: unter anderem and im Jahre 1781 durch den Rur- 
Bm Marimiltan Friedrich von Köln eine für das Herzogthum Seit: 
alen. Ein vollitändiges Verbot hielt man aber doch nicht für geeignet: 
es wurde vielmehr nur aller und jeder un mit staflec im Yande bei 
Strafe von 100 Reicheihalern, oder bei Unvermögen bei Strafe von zwei 
Jahren Zuchthaus verboten, der Bezug von Kaffee von auswärts aber 
gejtattet, allerdings nur unter der fonderbaren Bedingung, daß fein 
geringeres Quantum als 50 Piund angeichafit werde — bei Strafe von 
Goldgulden. Und zwar musste der Betreffende diejes Quantum ente 
weder ganz für ſich behalten oder durfte wenigjtens nicht unter 50 Bund 
an andere abgeben, auch nicht geichent- oder tauichweile, bei Strafe von 
200 Reichsthalern oder vier Jahren Zuchthaus, Sollten ſich Geſellſchaſten 
bilden, welche gemeinjchaftlic kaffee bezichen würden, um ihm in Onanti» 


täten unter 50 Rfund zu theilen, fo jollte denjenigen, unter deilen Namen | 


die Anſchaffung geſchah, die Ichtere Strafe trefien, die übrigen muhten 
20 Goldgulden bezahlen. Alle Kaferfrämereien und staffeeichenten wurden 
aänglich verboten und den Dausvätern und Müttern ftreng eingeſchärft, 
„denen Arbeitsienten, befonders den Waſch- und Bügelweibern” Leinen 
Kaffee bereiten zu laſſen. Allen Beamten und Bürgermeiftern wurde 
weiter bei Strafe von 100 Boldaulden anbejohlen, auf die genauefte Be- 
folqung diefer Verordnung ein wachlames Auge zu haben. Jedenfalls 
kann dieſes Berbot, das die Einichräntung des Berbraudies eines Artitels 
dadurch zu erreichen fuchte, dab es den Anlauf desfelben nur in großen 
Duantitäten geitattete und fo nur den Reichen die Erwerbung ermöglichte, 
Anforuch auf Originalität machen, 


Der Athmungsſſuhſ. Mit Abbildungen) Es ift fein Folter— 


inftruntent, welches unſere beiden nebenſtehenden Abbildungen wieder | 


geben. Diejer Stuhl ist nicht das Prodult des finftern Mittelalters, 


ſondern entjtanden im unſernt humanen Jahrhundert, Deugemäß foll er | 


auch Peidenden Linderung bringen. 

Die Beſchwerden der Athemnoth, welche das Lungenemphyſem und 
das Aſthma mit fich bringen, find zu allgemein befannt, als dat wir jie 
zu ſchildern brauchen. Ebenſo befannt iſt es, daß die inneren Heilmittel 
in den allermeiiten Fällen feine Dilfe gegen dieſe Beſchwerden bringen. 
Dan hatte in der lebten Zeit verjucht, dierch einen vom Arzte oder vom 
Gchilfen desselben auf den Bruftlorb ausgeübten Händedruck die Aus» 
athmung zu erleichtern, und dieſe Methode erwies ſich günjtig. Leider 
wor mit ihr der Uebelſtand verbunden, daß die Kraft feines Menichen 
ausreichte, diefe Fogenannte manuelle Behandlung des Brufttorbes länger 
als eine Biertelitunde bis höchſtens eine halbe Stunde fortzuſetzen und 
daß, wenn der Anfall plößlich, namentlich in der Nadıt, eintrat, der Ge— 
hilfe wicht genenwärtig war. Anherdem fonnte der Händedrud den Athem* 
bewequngen des Kranten nicht genan angepajit werden, 


643 >» 
zugleich eingerichtet ift, die Pflege dev Pflanzen erleichtert und in voller | 
H den jonenannten | 


Allen diefen Uebelſtänden, oder wenigitens dem größten Theil der 
| Selben, wird durch den Athmungsſtuhl abgeholien. Nachdem ſich ber 
Aranle bei eintretender Athemnoth in den Stuhl geſetzt, werden die Bander 
eingehaft und ſchließen nun den Bruftforb und die Schultern ein. Die 
beiden Hebelarme find möglichſt weit zurüdgeftelt, Der Kranle erſaßt 
nun die Hebelarme mit feinen Händen umd holt tief Athem (vgl. Fig. 1). 
Athmet er aus, jo zicht er die Debelarme zuſammen, bis er die auf Fig. 2 
angedeutete Stellung erreicht. Durch diefe Bewegung der Pebelarme 
wicht der Mechanismus des Stuhles derart, daß die Bänder auf den 
Bruftlorb den gewünschten Drud ausüben und die Ausathmung erleichtern 
und veritärten. Beim weiteren Einathmen werden die Hebelarme vom 
Kranken wieder auseinander geſtrect und dann beim Ausathmen wieder 
angezogen — eine gewiß Fehr einfache Thätinfeit. . 

Prof. Dr. W. X. Roßbach in Jena hat den Stuhl in die willen 
ſchaftliche Welt durch einen Vortrag auf dem VI. Kongreh für innere 
Medizin in Wiesbaden eingeführt; er ift aber nicht der Erjinder desſelben. 
Der Stuhl ift Freien ein Wert der Selbithilfe eines hochgradigen 
Empiniematiters. Prof. Roßbach berichtet darüber folgendes: 

„Einer meiner Kranken, Herr Bürgermeiſter Zoberbier aus Gera 
bei Eigersburg, hatte jich anf meinen Rath wegen hoggradigen Emphuiems 
mit gutem Erfolge durch feine Frau mannell den Brufttorb Tomprimiren 
laſſen, wurde aber in der Forſſekung diefes Verfahrens durd eine Er 
trantung der letzieren geftört. Er nahm ſich daher vor, einen eigenen 
| Apparat zu fonftenirem, mit Hilfe deſſen er ohne Beiftand mirtelft feiner 
eigenen Arme im Stande wäre, feinen Brufttorb rhythmiſch bei jeder Aus» 
athmung zu fomte 
primiren. Derſelbe 
gelang uber Erwar⸗ 
ten gut; ich habe 
ihm ein halbes Jahr 
lang auf meiner 
Klinit geprüft, auf 
Grund der gejame 
melten Erfahrungen 
nadı mehreren Rich» 
tungen bin durch 
Herrn  Boberbier 
verbefferulafienund 
jtelle ibn mnmehr 
in dieſer verbeiler- 
ten Bejtalt vor.“ ’ Fi 

Diefer Stuhl wird Der Allmungskußf. 

fabrikmäßig herge; 

ſtellt und iſt durch Julius Zoberbier in Gera bei Elgersburg zu beziehen. 
Möge er recht vielen Leidensgenoſſen des Erfinders Linderung bringen! 
Bir möchten nur allen, die jich ihm anichafien wollen, den Rath geben, 
die eriten Sipungen in Gegenwart ihres Hansarztes vorzunehmen, damit 
die Regelung des Druckes zc. unter facverjtändiger Anflicht neichehe; 
denn auch ein gutes Werkzeug ftiftet Schaden in Händen, die danmit nicht 
umjugehen wijien. * 








Bi. 1 


Kleiner Briefünften. 
Anonnime Ankranen werden nicht berädlichtint.) 
I. ©. in Düßeldorf. *eien Sie gefl. unieren Artifel „Brieflihe Kuren" („Okarten- 
laube“ 1886, ©. 198), aus weitem Sie erſebes werben, dafi wir in mebiyimiichen Fragen 
' keinerlei Nath exibeilen, als ven, einen tildtigen wraftilden Arzt zu beicagen, ber den 
ı Aranten perfüniidh umteriuhen und bebanbeln Tanır. 

C. V. Der brame Berg Deutidlants ift, wie Sie in der „Martenlanbe*, Safegana 
1874, E. 245 nadılelen finnen, bie aualeie” ia Obertanern; ſie ereht ih 2974 Meter 
über ben Weeresipiegel. Als böcite Erbebang Deurihlande im weiteren Sinne das beikt: 
wit Sinzurechnumg der Acleniem) gilt jede der Vergrieke Milima Roiharo in Oftafrita, 
der etwa 5700 Meter boch gehtäht wird. 

A. P. in Chicaguo. Eine gete illuftrirte und anyiebend geſchriebene Weltgeldricite iit bie 
jenige von St. 5. Befer, nem bearbeitet von Wilhelm Mäler. (Eruttgart, Gebr. Strdner.) 

Lchrerinnen in Ennland,. Bır find vom Kemitee tes deulſchen Yebrerinnenpereins 
im England, 16 Bonpbau Plate. Bryasiten Eanare, Lenden W., erjudt werden, iinleren 
Velerm initzutbeilen, bak bie vom frränlein Ostilie Oeſſcaaun auf Edrevenborm, Wit: 
Hellenborf, Helltchn, veramflaltete Samımluma zur Deung ber Bereinsianatorlumsbanigald 
12000 Mark betvägt. Ueber dem Emplang bieler Summe auittirt dad Homitee des Vereins 
mit berzlächese Dant au alle freumbliden Meter. — Mech etwa einlaujende Beträge jeden 
an den Kranlenionbs bed Vereins ũberwicſen werben. 

3. In Kometan. Cine Meije wach der Scdabeig and „Me Scdmeiserreiie" bedeutet 
| durchaus micdıt ein umb Dabjelte. „Die Schmeigerreiie* if ein Härider Austeud, der ans 

bem Eude bes berigen J derts ftammt. Sever bie zunzen Leute damals won Hiirich 
auf 1 bis 2 Jabre in bie fremde aingen, mächten fie zunächt in Wehelihatt eine Berg 
reije, welde bie Edmorizerveife genatint wurde 

PR m in Münlter 1.20. Die Beantwortung Ihrer Aufrage it im dem knappen 
Rabmen umieres Vröeffaltens mit wöglid, Cie finden aber die gewänichte Wirleitung * 
| Uetertragung in Tel nadgesaltee Ebotegrapdien auf Solz in einer Abhandlung ber 

„KReneften Erfintungen umb Erfahrumgen“, Jahrgang 1588, Seit 14, S. 615 (8. Hartleteng 
Berlag in Wien). 
RW. in Wien, Dantewd abgelebna. 








Für die nothleidenden Bewohner der von Elbe, Oder und Weichſel überſchwemmten Gebiete 
gingen ſerner ein: Carl Kgeſſer in London Mark 20; J. Kritzner, Kinderjäbelfabrifant in Nürnberg 10; 2. Enenter, Abotheler in Altshaujen 4; 


Marie und Emilie Klauwell in Brighton 20; Herm. Schroeder in Cedar, 
Chenmig 1:23. 8., Schleswig 9; 9. Krohne. Deuticher Reihsangehöriger 


Texas, 10 Dollar — 41,60; Merander Wiede in Yeipzig 40; Hugo W. in 
in Orlowo 25 Rubel = 44,10; Oberförjter Paulus in Oberems 5; Yehrer 


Bolfrum in Schwarzenbach a. W. 10; G. Reinh. Glück, Roſenthal b. Altenburg 3,50; Ergebnih} einer Sammlung des Deutihen Bereins (Woohwidı) 
durch W. Zoephel in London 150; M. und U. in Hamburg 10; die Braut eines Weſtpreußen in %b. 2; „Ungenannt in Fr. b. E.“ WRLE.M, — 


16,10; M, Musmann in Wittenberg aus feiner Sparbüchſe 1; Emmi in tönigsberg i. d. N. 2; 


9. Mene in Huſum, zweiter Beitrag 2; Damen 


Spiellrängchen der Geſellſchaft „Erholung” in Mittweida 12,86; zuviel bezahlter Betrag eines werthen Kunden in Stützerbach eingeſ. durch Friedrich 
Rilde in Berlin 7; aus dem Kattenbuſch in Bidern 8; Familie Seiler in Yudan 3; aus StararJerilla, mit dem Motto: „Bott ſegne es taujendfach” 


10 Rubel = 17,00; 3. H. in Hamburg 10: ein Abonnent der „Bartenlaube“ 


in Mosfau 2 Rubel = 3,65; Delar Scharwenter in Lerihin 3; G. in E. 10; 


G. Bicber in New Brompton 3; E, St, Poititenipel Bahnpoſt Yeipzig-dof 1; von Julius, Mar und Fanny aus Graaff Reinet, South Afrita, durch 


J. Rab in Kaſſel 20; Nobert W 


u....... 


d in Sachſenhauſen 3; von den Schülerinnen einer Privarhandarbeisftunde duch Alm, Krüger in Dresden: 


Wit. 4; von der Witwe C. Binjenbrud in Burlington durch Theod, Guelich 5 Dollar — 20,66; 1. Cor. XIII v. T in W. (Holland) 4; inter einigen 
Freunden gelammelt durch Guſtav Schmolfe in Tarnarvon, Hapland 60,69; Otto von Schröter in San Joſe, Coſta Nica 3m, 


64 >» — 


Allerlei Kurzweil. 


Sifhonelien-Mebus. 


= = > mn s > 


Kreuj-Mäthfel. 


Sdad:RAufgabe Ar. 11. 
Bon Johannes Adermann. 
SCHWARZ 


F 





| 
a ER SE 


Binchflaben-Mätdfer. 


Beichieden ift es mir vom Glück, 
Daß ſtolz ich Schauen darf zurüd 
Auf jene Zeit, da noch das Schwert 
Beftimmte echten Manneswerth. 


— je 


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8 
J 
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ABCDE 

Die Buchſtaben dieſer Figur laſſen fich fo um—⸗ 
ſtellen, daß die vier langen wagerechten gleich den 
entiprechenden jenfrechten Heiben bezeichnen: 1.einen 





WEISS 


Weiß zieht am und fett mit dem dritten Zuge matt. Steht vorn ein T mir angefügt, den ſen A 
So wird mit Ernſt durch mich gerügt, befannten Schriftiteller der Gegenwart, 2, ein Hodı- 
Raithſet Was jedem meiner Meinung nach, wild, 3, eine Stadt in Nordamerifa, 4. eine be 
2 Bern er es thut, bringt Schimpf und Schmach. liebte Topfpilanze. 


Brliebten Sängern fir das Leben 
Als Schuß und Dedung mitgegeben, 
Bracht' in die Höh' ich manchen jchon, 
Der feines Kerters Dual entjloh'n, 


Ebarade. 


Die Erfte ift belaunt als Titel, 

Den mander Fürſt gebraucht als Mittel, 
Wenn es an andern ihm gebricht, 

Zu lohnen trener Diener Pilicht, 


Die Zweite wirft in jedem Derzen, 

Den Gliedern aber ſchafft jie Schmerzen, 
Sp ernten Dank ihe auch geweiht 

Die Ritter in der alten Zeit, 


Doch wird das T mit N dertaufcht, 
So hat mein Duft dich oft berauscht 
Am Wald, wogegen mandes Mal 
Ta oder dort dein Blut ich ftahl. 
Was aber auch nur ward nefungen, 
Ddurch mich ift erft zumeift gelungen, Bilder-Mäthfel. 
Daß Lied und Wort man A) bedadıt 

Mit Ehren jowie Gold und Macht. 





Selbſt Dingen, bie fonft nie ſich regen, 
Gab ich die Kraft ſich zu bewegen, 
Um ihnen jo des Lebens Schein 

Wie durch ein Wunder zu verleif'n. 


ge hoher Macht und neuem Glanze 
erhalf gar vielen ſchon dad Ganze, 
Befreite manden aus der Notlı, 

Fa ſchlug ſelbſt im die Flucht den Tod, 


2 Bände, 





Aufföfung zum Windmũhl · Königsmarkd Aufföfung des Fül-Mälbfels auf 5. 612: 


auf 5. 612: 


Aufföfung des BETEN 


An der Mitte Naar Schildes, ein Feld für fich 
bildend, it das A, lints das zweitheilige Stadt- 
thor mit feinen FR das B; rechts die Zweige 
der Ranlen ergeben das D; der Schatten des 
Eſels bildet dns E; lints die Zweige der Ranten 
stellen das 1 dar und im oberen Theile des 
erben A befindet ſich das Iehte A des Mortes 

inlera“, 
Aufkfeng bes Biffern-Mälhfels auf 5. 612: 
Leer — Eile. 
Auflöfung des Borfilden-Mäthfels auf 5.612: 
Eins, Un, Berband, 

Auflöfung der Eharade auf 5. 612: 
Thüringen. (Thür, Ring, Ringen.) 
Aufföfung des Buhlladen-Räthfels auf 
5. 612: Ruthe — Truhe. 
Aufföfung des Mäthfel-Sonetts anf S. 612 
Spielbanf, 





Aufföfung des Mätlbfels anf $. Kit: 
Zweifel, Eifel, 
Auflöfung des Bilder-Mätdfels auf S. 612: 
Umüberwindliche Dindernifle, 





Das Feuer prüft das Bold, 
Das Bold aber prüfet die Menichen. 


In dem unterzeichneten Verlage iſt ſocben erſchienen und durch bie meiſen Buchhandlungen zu beziehen: 


Dus 
Das Cufenhaus. Logghuch desKapitäns Eifeufinger, 


Sinterlafener Roman 
von G. Marlitt. 
Vollende von W. Heimburg. Zweite Auflage. 
Eleg. broch. M. 7.00. Eleg. geb. in 1 Lubd. M. 8.50. 3 Bände, Eleg. broch. M. .—. Ele. geb. in 3 Lubde. M. 11.—., 
—s° Derlag von Ernft Keil's Hachfolger in Beiusig, ne 


Herandgegeten unier brrantwertiliier. Acemen von UAdelſ Hröner. Berlag ron Ermft Heil’d Nacılelger in Delpakg. Druck vom A. Wiede in Yelpaa 


Koman 


von Balduin Möllbaufen. 


— 
8 1 


I | 
1) 





Illuſtrirtes Familienblatt. * —— von Eruſt Sei 1853. 


Zahrgang 1588, Erſcheint in Lhalbheften a 25 Pf. alle 12—14 Tage, in Heften a 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1. Tanuar bis 31. Derember, 


Die Alpenfee I. 


(Fortfeung.) Roman von E. Werner. 


ID jtand in großer Erregung vor Erna. „Nein, mein der Ausdrud ihres Geſichtes verrieth, daß fie dieſe Erflärung 

Fräulein, diesmal dulde ich nicht wieder Ahr Entweichen!”  fürdhtete, und fein Wort, fein Blid ermutbigte den Mann, der 

tief er. „Sie haben mic) nur zu oft damit geitraft, wenn ich endlich | jeht in fteigender Bewegung fortiuhr: 

das ausſprechen wollte, was ich fchon mondenlang af den Lippen „sch Hätte fie mir längſt Holen müſſen, dieſe Gewißheit, 

trage. Bleiben Sie — id) will und muß endlich Gewißheit haben!“ | aber ich bin feig geweien, zum erften Male in meinem geben. 
Erna mochte wohl fühlen, daß fie diesmal Stand halten Sie ahnen nicht, Erna, was Sie mir angethan haben mit dieſer 

müſſe, denn fie machte feinen Verſuch mehr, auszuweichen, aber | ftummen Abwehr, mit diefem ewigen Answeichen! Wenn ic) 





Das Aupfen der Schwäne in Schildborn. Driainalzeihuumg von E. Thiel. 


—o 


eine Antwort erziwingen wollte, dann las ich im ihren Mugen 
immer und immer wieder ein Nein und das — hätte ich nicht 
ertragen können.“ 

„Herr Waltenberq, hören Zie mich an!* jnate Das junge 
Mädchen leiſe. 

„Herr Walienberg!“ wiederholte er bitter. „Haben Sie 
feinen andern Namen fir mich, bin ich Ihnen fo fremd geblieben, 
dak Sie mich nicht wenigjtens ein einziges Mal Ernſt nennen 
fönnen? 
Sie liebe, mit aller Gluth der Leidenſchaft, daß id) um Sie werbe, 
wie um dad höchſte aller Güter. Es gab eine Zeit, wo mir die 
ſchrankenloſe Freiheit dies Höchfte war, wo id zurüdichredte vor 
dem Gedanten an irgend ein Band, das mich feileln Fönnte; jeht 
ift das alles verſunken und vergefien. Was iſt mir die Weite 
Welt, was die Freiheit ohne Sie! Ich will ja nichts mehr anf 
Erden, ala nur Zie allein!” 

(Fr Hatte ſtürmiſch ihre Hand ergrifſen, die ihm micht ent- 
zogen wurde, aber dieſe Hand lag falt und requngslos in der 
jeinigen und jebt hub Erna langjam das Auge zju ihm empor, 
es war ein lieſernſter und tieftrauriger Bid. 

„Ih weiß es, dag Sie mich lieben, Ernſt,“ entgegneie fie 
gepreßt, „und ich ;weihte nicht an der Tiefe und Wahrheit Ihrer 
Empfindungen, aber ich lann Ihnen feine Gegenliebe bieten.” 

Er lieh jäh und heſtig ihre Sand fallen und trat zurüd. 

„Worum nicht?“ fragte er herk. 

„Eine ſeltſame Frage! Läßt ſich Die Liebe erzwingen?” 

„D ja! Die alühende, ſchrantenloſe Leidenichaft eines 
Mannes erzwingt jih immer Gegenliebe — wenn ihm fein 
Anderer im Wege jtcht.“ 

Erna bebte Seife zuſammen und eine dunkle Röthe ſtieg lang 
fam in ihrem Antliß auf, aber jte ſchwieg. Waltenberg, der mit 
athemfofer Spannung in ihren Zügen forſchte, entging das nicht, 
fein dunkles Antliß twurde plößlich fahl, und feine Stimme gewann 
einen beinahe drohenden Stlang. 

„Erna, warum find Sie mir ausgewichen bis zu dieſer Stunde? 
Barum weigern Sie mir die Gegenliebe? Geben Sie mir Wahr: 
heit, um jeden Vreis ficben Sie einen Anderen ?* 

Es trat eine lurze Pauſe ein, Erna ſchien die Antwort ver- 
weigern zu wollen, es war auch eine harte Zumuthung für das 
ſtolze Mädchen, vor fremden Ohren das auszjufpreden, was fie 
ſich ſelbſt nicht eingeftand, aber cin Blid in das furchtbar erregte 
Geſicht Ernſts brachte fie zum Entſchluß. 

„Ich will Sie in diefer Stunde wicht täuſchen,“ Tante fie feit. 
„Ich Habe geliebt — es war ein Traum, dem ein herbes, bitteres 
Erwachen jvlgte.” 

„So war der Mann Ihrer nicht würdig?“ 

„Er war keiner reinen und großen Liebe fähig, das mußte 
ich erfahren und da riß auch ich dieſe Liebe ans meinem Herzen. 
ragen Sie nicht weiter, ich bitte Sie, es sit zu Ende md 
begraben!“ 

„Mb, er iſt alle todt?“ 

Es lag ein faſt wilder Triumph in der Frage und noch 
wilder war der Blick, dev dabei aufiprühte, er drohte ſelbſt dem 
vermeinten Todten noch mit glühendem Haſie. Erna ſah das und 
vlötzlich überfluthete ſie eine heiße Angſt. Sie ſuchte inſtinktmäßig 
die Geſahr abzuwehren, die jo nahe war, und che fie ſich der 
Züge noch bewußt geworden war, hatte fie fchun befahend das Haupt 
gefentt und damit den Irrthum beſiegelt. 

Ernſt athmete tief auf und langſam Tchrie die Farbe in feine 
Bangen zurüd. 

„Nun den, mit einem Todten will ich den Kampf an 
nehmen! Die Erinnerung an einen Schatten fürchte ich nicht, 
vie ſoll md muß Weichen in meinen Armen — Erna, werben 
Zie men!“ 


Sie wich beſtürzt, erſchrocken zurück bei der alübenden Bitte. 


„Sie bejtchen noch darauf? Und ich habe Ihnen doch ge 
iaat, daß id; Ihnen feine Liebe zu geben vermag: ich alaubte, 
Ihr Stolz würde cin ſolches Geſtändniß nicht ertragen.” 

“Mein Stolz wohin iſt der adlommen !" brad er 
ſtürmiſch aus. „Glauben Sie Den, ich hätte es vermocht, 
monatelang geduldig um Sie zu werben, ohne daß mir auch 
nur ein Wort der Ermuthigung zu theil wurde, wenn ich noch 
der- frübere Ernit wäre, der da glaubte, vom Schickſal nur fordern 
zu dürien? — est habe ich bitten gelernt! Mit Ahnen nahte 


Es it Ahnen ja Tängit fein Geheimniß mehr, daß ich | 


6 


mir das Verhängniß, das jeden einmal erreicht, es bannt mich 
an Ste mit umtwiderftehlicher Gewalt. Crema, ich will mein 
Wanderleben aufgeben, wenn Du es fordberft, und wenn Du im 
jenen Sonnenländern, die ih Dir fo gern zeigen möchte, Heim: 
weh fühlt, fo will ich mit Dir zurückkehren in ben falten 
büjteren Norden, will die Enge und die Feſſeln diefes Lebens 
auf mich nehmen, um Beinetwillen. Du weißt nicht, was Du 
ſchon ans mir gemacht haft, mas Du noch aus mir machen fannit, 
aber ſei nicht jo Falt, jo empfindungslos wie Peine Alpenfce 
da droben auf dem Eisthron. Ich muß Did erringen und Dich 
befiten und follte ich fterben in dem Rufe, wie Eure Sagen 
drohen!" 

Tas war die vollſte Sprache der Leidenſchaft, die im 
Sturme alles mit ſich fortriß; fie klingt ja immer berauſchend für 
das Ohr einer frau und Hier Tegte fie ſich überdies wie heifender 
Balſam auf eine Wunde, Die noch immer biutete. Es war eine 
fo herbe Demüthigung geweſen, verleugnet und aufgegeben zu 
werden, nicht um einer anderen willen — - Erna wußte mar zu 
aut, daß diefe andere dem Marne nichts war, der nur feinen 
Ehrgeiz, feine Zukunft im Auge hatte — aber er hatte fie doch 
biefem Ehrgeiz geopfert. Hier wurde fie neliebt, vergöttert, hier 
fluthete ihr eine Leidenſchaft entgegen, die feine Berechnung und 
feine Schranten fannte. Hier wollte man nichts als nur fie allein. 
Ihr Stolz triumphirte und jegt ftürmten auch das Mitleid, das 
Bewußtiein, ein Glüd gewähren zu fönnen, auf fie ein. Alles, alles 
drängte fie zu dem erflehten Ja und doc hielt ein unfichtbares 


‚ Etwas fie zurüd, doch tauchte gerade in diefem Augenblid der 


Enticheidung ein anderes Antlitz vor ihr auf, das fo todtenbfeich 
erichien in dem weißen Mondlichte, und eine bebende Stimme 
fragte: Hütten Sie den Mann lieben können, der jo emporjteigt ? 


„Erna, ich harre auf Antwort!" mahnte Waltenberg in 
fieberhafter Ungeduld. „Spanne mich nicht länger auf die Fol 


Willſt Du mich denn auf den Knieen vor Dir jehen?“ 
Er ftürzte wirklich vor ide wieder und preßte feine Lippen 
auf ihre Hand, ihr Blid irrte wie hilfefuchend umher. Da auf 
einmal zudte ſie zuſammen und flüfterte haſtig und leiſe: 

„Um Sotteswillen, Ernſt, ftehen Ste auf! Mir find nicht 
allein I“ 

Er fprang raſch empor und folgte der Richtung ihrer Mugen, 
in einiger Entfernung ftand der Präfident mit feiner Tochter und 
feinem Schwiegerfohn, die ſoeben zwiſchen den Bäumen hervor- 
geireten waren. 

Sie hatten alle die Scene mit angeichen; aber Nordheim 
bemerkte recht gut, daß die Entſcheidung noch nicht gefallen war 
und daß jeine ſtarrſinnige Nichte ihm wech im letzten Augenblich 
feinen Plan durchkreuzen konnte, Er beeilte fich deshalb, eine 
unwiderrufliche Thatſache zu jchaffen, und Fam mit raschen Schrit 
ten näher. 

„Bir bitten tauwjendmal um Entſchuldigung!“ rief er lachend. 
„Es war durchaus wicht unſere Mbjicht, zu ſtören, aber da es 
nun einmal aeichehen ıft, To gratulive ih Dir von Herzen, mein 
Kind, und Ihnen auch, lieber Raltenbera! Ucberraihend kommt 
uns die Sache allerdings wicht, wie wußten ja Tängit, wie ee 
mit Euch beiden ftand, und ich merkte icon vorhin bet meiner 
Ankunſt, dab eine Verlobung in der Luft Tag. Run, Alice, 
Wolfgang, wollt Ihr dem Brautpaare nicht auch guatuliven ?* 

Damit umarmte er feine Nichte väterlich, jchüttelte Waltenberg 
die Hand und überftürzte die beiden fo mit jeiner Anerkennung 
und feinen Glückwunſchen, daß ein Zurückweichen Ernas gar nicht 
möglich war. Sie lieh alles halb willenlos über ich erachen, 
ließ es geichehen, daß auch Alice fie umarınte, daß Ernſt fie ale 
Braut in die Arme ſchloß, ſie lam erſt wieder zur Befinnung, als 
Wolfgang ſich ihr nahte 

„Ich ſpreche Ihnen gleichfalls meinen Glückwunſch aus, 
gnädiges Fräulein!“ Tante er. Seine Stimme mar ruhig, wenn 
auch vollig tonlos, und auch das flarre, unbewegliche Antlitz 
verriet nichts vun dem Stürme, Der in feinem Innern tobie. 
Aber jein Auge begegnete dem ihrigen nur einen Moment lang 
und dieſer Blick Saate ihr, daß ſie gerächt fer an dem Manne, 
der feine Lebe dem Ehrgeiz und dem Golde geopfert hatte. 
Jetzt, wo er fie im den Armen eines anderen fab, fühlte er 
doch, wie erbärmlich die Rechnung geweſen mar, fühlte, daß 
er das Glüd ſeines Lebens verlanft hatte. 


ter! 


. #7 > 


„Wie ich Div jage, Wolf, ich weiß nicht, was ich von ber 
Sache denken fol. Ich Habe mich weder um die Stellung be: 
müht, noch überhaupt davon gewußt, umd jetzt wird fie mir an: 
geboten, mir, der ich hier an der andern Grenze des Meiches in 
dem abgelegenen Dberftein ſitze — da Lies felbjt!” 

Mit diefen Worten reichte Benno Reinsfeld feinem Freunde 
ein Schreiben bin, das geftern eingetroffen war. Sie befanden 
fi in der Wohnung des Doktor, und Elmhorſt ſchien nleich- 
falls überrafcht zu fein, denn er las den Brief aufmerkſam durch. 

„In der That Fehr günſtige Bedingungen!” fagte er. 
„Neuenfeld ijt eines unserer größten Eifenwerte, ich kenne es 
mwenigitens dem Namen nad; die Bevöllerung bildet eine ganze 
Kolonie für fi) und Du lannſt dort bei den zahlreichen Beamten 
auf die angenehmjten Beziehungen rechnen; überdies iſt die 
Frovinzialhauptitadt in ummittelbarer Nähe und das Gehalt be- 
trägt fünf bis ſechsmal foviel wie Dein bisheriges Einkommen. 
Du mußt annehmen, das verjteht fich von ſelbſt, Du haft ja ſchon 
einmal einen Glüdsjall von der Hand gewiefen." 

„Aber damals bemühte ich mich eingehend um den Poſien,“ 
wandte Benno ein. „Ich fandte eine meiner wijlenichaftlichen 
Arbeiten, die mir denn auch den Borzug ſicherte; trotzdem 
ließ man mich fallen, als ich den Termin nicht einhalten Fonnte, 
In MNenenfeld habe ich aber gar feine Beziehungen, kenne 
überhaupt feinen Menſchen, und bei jolhen Bedingungen würden 
fi) die Bewerber dutendweije melden. Woher wei das Direk— 
torium denn überhaupt, 
eriftirt ?” 

Wolfgang bfidte nachdenlend vor ſich hin und überjlog noch 
einmal den Brief, den er in der Hand hielt. 

Ich glaube, ich kann Div das Räthſel löſen,“ entgegnete 
er endlich. „Mein Schwiegervater hat die Hand dabei im Spiele.” 

„Der Bräfident? Unmöglich!“ ‚ 

„Im Gegentheil, jehr wahrſcheinlich! Er ift mit bedeuten- 
den Summen an den Werfen beiheiligt und hat den jeßigen 
Direktor in das Amt gebracht, fein Einfluß reicht ja überall hin.“ 

„Nun, dann wird er diefen Einfluß ſicher nicht für mid) 
geltend machen. Du warft ja Zeuge davon, wie eiſig er mich 
empfing bei dem erften und einzinen Male, wo id) die Ehre 
hatte, ihn zu Sprechen.” 

„sch glaube auch nicht, daß es Wohlwollen ift, was ihn 
veranlagt, in folder Weiſe einzugreifen, fondern — Benno, 
weißt Du wirklich gar nichts Näheres über jenen Bruch zwiſchen 
Deinem Bater und Nordheim? Erinnerſt Du Did) nicht irgend 
einer Meuferung, einer Andentung wenigitens?" 

Benno ſchien nachzufinnen, jchüttelte dann aber verneinend 
den Kopf. 

„ein, Wolf; als Kind adıtet man ja nicht auf foldye Dinge. 
Ih weis nur, daß, wenn ich fpäter einmal nad) dem Dnfel 
Nordheim fragte, mein Vater mir mit ganz ungewohnter Härte 
verbot, von ihm zu ſprechen. Bald darauf ftarben meine Eltern, 
und in den harten Zeiten, die num für mich) begannen, hatte ic) 
anderes zu thun, als alten Kindheitserinnerungen nachzuhängen — 
aber warum fragit Du?” 

„Weil ich jegt überzeugt bin, daß damals etwas jehr Ernites 
vorgefallen ift, deſſen Stachel ſich nadı zwanzig Jahren nody nicht 
abgeitumpft hat. Ich habe deswegen die erſte Differenz mit 
meinem Schwiegervater qchabt, der jeinen Groll auch auf Dich, 
den ganz Unbetheiligten, überträgt.” 

„Möglich; aber um fo weniger wird er jid) Mühe neben, 
mir eine vortheilhafte Stellung zu verichaffen.” 

„Wenn es fein anderes Mittel niebt, Dich aus feiner Nähe 
zu entfernen, wird er das allerdings thun, und ich fürchte, die 
Sache verhält fid) in der That jo. Er wollte ja nicht einmal 
Deine ärztlihen Beſuche bei Alice dulden. Ich habe Dir nicht 
davon geiprochen, weil es Dich mit Recht verlest hätte, und er 
gab auch ſcheinbar nadı; in diefem Anerbieten aber von ganz 
fremder Seite, das Dich im einer vorausfichtlih dauernden 
Stellung an einen Ort feſſeln will, der von bier ebenfo weit 
entfernt ijt wie von der Hauptitadt, glanbe ich entichieden jeine 
Hand zu erfennen.“ 

„Das wäre ja eine formliche Intrigue,“ warf Reinsield 
ungläubig ein. „Trauſt Du das dem Präfidenten wirklich zu?“ 

I,“ ſagte Eimhorft kalt. „Aber wie die Sache auch zu: 
fammenbängen mag, eine jo vortheilhaite Stellung wird Dir nicht 


feicht zum zweiten Male angetragen, alſo beſinne Dich nicht fange 
und jage zu.* 
„Wenn fie mir aus ſolchen Beweggründen geboten wird?“ 
„Das iſt vorläufig nur eine Vermuthung,, und felbjt wenn 


| fie wahr fein Sollte, jv weiß man in Neuenfeld jedenfalls nichts 


daß in Dberjtein ein Doktor Reinsfeld | 


von dem Zuſammenhang, fondern giebt nur der Fürſprache eines 
einflußreichen Mannes nad. Bielleicht ſieht er auch ein, wie 
ungerecht es ift, den alten Groll auf Dich auszudehnen, und 
will Dir, deſſen Nähe ihm nun einmal peinlich ift, eine Art von 
Genugthuung damit acben.“ 

Wolfgang wußte fehr qut, daß die letzte Annahme ausge 
ichloffen war; das Gefpräch mit dem Präfidenten hatte ihm ge 
zeigt, daß von einem Akte dev Gerechtigkeit oder Großmuth bier 
nicht die Rede fein konnte, aber ev wollte feinem Freunde, deſſen 
peinliches Zartgefühl er fannte, die Annahme jener Stellung 
ohne jedes Bedenken ermöglichen. Für Neinsfeld war es unter 
allen Umständen ein Glüd, aus den beſchränlten und armieligen 
Berhältniffen feiner jegigen Praxis fortzulommen, gleichviel wer 
ihm dazu verhalf, 

„Wir jprechen noch heute Abend darüber, wenn Du zu mir 
fommft," fuhr Elmhorſt fort, indem er feinen Hut vom Tiiche 
nahm. „Sept muß ich fort, mein Wagen wartet draußen, ich 
fahre nach der unteren Bahnftrede.“ 

„Wolf,“ Fagte Benno mit einem beforgten, forſchenden 
Blide in das Geſicht feines Freundes. „Daft Du die Nacht ge— 
ichlafen ?“ 

„Nein, ich hatte zu arbeiten. Das kommt bisweilen vor,” 

„Bisweilen! Aber bei Dir ift es jebt zur Regel geworden ; 
ich glaube, Du ſchläfſt gar nicht mehr?“ 

„Wenigftens nicht viel, aber das läßt ſich nicht ändern. Die 
fänmtlichen Bauten müflen bis zum Eintritt des Winters voll- 
endet fein. Da häuft fid) natürlich die Arbeit, und ich babe als 
Chefingenieur für alles einzuſtehen.“ 

„Du überarbeitejt Dich aber dabei in einer geradezu ge 
fährlichen Weile. Ein anderer fünnte das überhaupt nicht leiiten, 
was Du Teifteit, und Du faunjt es auf die Dauer auch nicht. 
Wie oft habe ich Dir ſchon vorgejtellt —“ 

„Das alte Lied!" unterbrach ihn Wolfgang ungeduldig. 
„Zah mic in Ruhe, Benno, es geht nicht anders,” 

Der Doktor wußte leider aus Erfahrung, wie wenig feine 
Ermahnungen im diefem Punkte zu nützen pflegten, aber er 
ichüttelte forgenvoll den Kopf, als er feinen Gaſt hinausbegleitete. 
Er war ja auch unermüdlich thätig in jeinem Berufe, aber er 
wußte freilich nichts von jener Fieberſtimmung, die in der Arbeit 
nur Betäubung und Vergeſſenheit jucht, aleichviel um welchen 
Preis, 

In dem Hausflur trafen fie mit Veit Gronau zujanımen, 
der mit Waltenberg von Heilborn herübergelommen war und nun 
die Gelegenheit benutzte, um in Oberjtein einen Beſuch abzu- 
jtatten. Die Herren beqrüßten fich flüchtig, dann beſtieg Elmhöorſt 
jeinen Wagen und fuhr davon, während die andern beiden in 
das Haus zurüclehrten. 

„Der Herr Ehefingenieur war ja ſehr eilig,” Tagte Gronau, 
während er jich in dem lederüberzogenen Armſtuhl niederließ, 
dem das vierte Bein glüchlich wieder angeleimt war. „Er nahm 
ſich kaum Seit, zu grüßen, und wie ein qlüdlicher Bräutigam 
jicht er auch nicht aerade aus. Immer blaß und finjter wie ber 
jteinerne Saft! Und er hätte doch wahrhaftig alle Urſache, mit 
jeinem Schichal zufrieden zu fein!“ 

„Sa, Wolf macht mir ernftliche Sorge,“ erklärte Benno. 
„Er iſt gar micht mehr wiederzuerfennen, und ich fürchte, die 
fo erſehnte erſte Stellung wird ihm noch verhängnißvoll werden. 
Diefe fieberhafte Thätigleit, in die er ſich nun ſchon jeit Wochen 
geſtürzt hat, dann jelbjt jeine eiſerne Natur nicht aushalten, das 
acht vom Morgen bis zum Abend, und auch nocd die Nacht 
hindurch. Er iſt überall auf der ganzen Bahnjtrede und 
gönnt ſich mie umd nirgends Ruhe, ich warne und bitte ver 
aebens.* 

„Sa, er ijt überall, nur nicht bei feiner Braut!” bemerkte 
Gronau teoden. „Das Fräulein fcheint freilich jehr anſpruchslos 
zu fein; eine andere ließe es ſich ſchwerlich gefallen, daf der Herr 
Bräutigam immer nur Lofomotiven und Tunnels und Brüden 
im Kopfe bat und, wenn er wirklich einmal fommt, fchon auf 
der Schwelle erklärt, daß er gleich wieder fort müfje; aber fie 


o BR > 


nimmt das ganz gelafien hin. Es ift überhaupt eine merkwürdige 
Wirthichaft da drüben in der Nordheimjchen Billa. Zwei Braut: 
paare im Haufe! Da follte man meinen, es müſſe alles Luft 
und Freude jein, aber wie mir fcheint, geht es ziemlich ungemüth- 


lich zu unter den Herrſchaften, Herrn Waltenberg mit einneichlofien. | 


Said und Djelma beflagen ſich fortwährend bei mir über feine 
Laune. Ach Habe ihnen zu Gemüthe geführt, daß das einzig 
und allein von den Heiratbsgedanfen kommt, und daß das Hei— 
rathen überhaupt nur Unheil anrichtet, aber die beiden Schlingel 
wollen das durchaus nicht einjehen, jondern finden die Gheichichte 
ſerr jchön!‘* 

„Sie find ein ausgemachter Ehefeind, das willen wir längjt,“ 
fagte Reinsfeld mit einem flüchtigen Lächeln. 
jegt vielfach verſtimmt iſt — und er man wohl Uriache dazu 
haben in feiner ſchweren und verantwortlichen Stellung — bei 
feiner Braut läßt Stimmung und Ausſehen gar nichts zu wilnjchen 
übrig.“ 

„Ja, fie iſt noch die munterite von allen,* ſtimmte Gronau 
bei, 
Doftor, mit Ihrer Kur. Was war das für ein jammervolles 
Pflänzchen, und jept blüht fie auf wie eine Roſenknoſpe. Baroneß 
Thurgau ift um fo ftiller, amd mun erſt die Herren Verlobten! 
Der eine jteht immer auf dem Siedepunfte und ift eiferjüchlia 
wie ein Türke, der andere benimmt fich wie ein regelrechter 
Eiszapfen jeiner Braut gegenüber, und dabei jehen fie ſich 
gegenseitig mit Bliden an, als möchten fie ſich am liebſten 
beim Kragen nehmen — das wird eine ſchöne Verwandiſchaft 
werben!“ 

Benno unterdrüdte einen Seufzer; ihm war die ſtumme, 
erbitterte Feindſchaft zwiichen Wolfgang und Waltenberg, die ſich 
nur mühſam unter den Formen der nothwendigſten Höflichleit 
verbarg, aleichfalls nicht entgangen, aber er ſchwieg. 

„Herr Waltenberg kann mir recht leid thun,“ hob Beit 
wieder au. „Der fann nicht feben, wenn er nicht Tag für Tag 
feine Braut ficht, und Tag für Tag fommt er von Heilborn 
berübergefahren. Sie dagegen ſcheint ſich die berühmte Berggottheit 
der Wolfenjteiner zum Borbilde genommen zu haben, fie fit 
wie die Alpenfee hoch auf dem Throne und läßt fich anbeten, 
bleibt aber ganz ungerührt dabei. Doltor, Sie find der einzig 
Bernünftige unter der ganzen Geſellſchaft. Sie denken wicht an 
das Heirathen — bleiben Sie um Gotteswillen dabei!” 

„Daran denfe ich allerdings nicht,“ ſagte Neinsfeld ruhig, 
„aber au etwas anderes, das Sie faum weniger überraichen 
wird, an das Fortgehen. Mir iſt ganz unerwartet eine ärziliche 
Stellung unter ſehr günſtigen Bedingungen angeboten worden,“ 

„Bravo! Dann greifen Ste zu!” 

„Das werde ich allerdings wohl müſſen.“ 

Gronau lachte laut anf, 

„Mit welchem Gefichte Sie das fagen! Ach alaube wahr: 
haftig, es acht Ahnen zu Heyzen, daß Sie dieje biederen Ober 
jteiner verlaſſen müſſen, die Sie fünf Jahre lang ausgenutzt und 
ſich dann mit einem ‚Bergelt's Gott’ bedankt haben, Mein alter 
Benno, wie er leibt umd lebt! Der wäre auch micht als ein 
armer Mann aeftorben, wenn ev es verjitanden hätte, mit 
der Welt und den Menichen anders umzugehen. Da hat er 
jahrelang geſeſſen und ſich mit einer Idee gequält, die fein 
Glück hätte machen müſſen, aber ev verſtand es nun einmal 
wicht, ſich durchzubeißen, und mit Schüchternen Bitten und An 
fragen kommt man nicht durch bei den großmächtigen Herren 
Kapitaliſten und Unternehmern. Schliehlih find ibm andere 
zuvorgefommen mit der Erfindung, die gewiſſermaßen im der 
Yuft lag, als man anfing, die Gebirgsbabnen zu bauen; aber 
er war doch der Erſte, der das Spitem der Berglofomotiven 
aufftellte — all die ſpäteren Erfindungen bauten ſich auf diefer 
Grundlage auf,” 

„Mein Bater?“ ſagte Benno befremdet. „Da find Sie im 
Serthum, es iſt das Nordheimiche Syſtem, das noch den heutigen 
Maſchinen zu Grunde Liegt.“ ; 

„Bitte, es it das Reinsfeldſche,“ behauptete Gronau mit 
der aröften Beltimmtheit. 

„Zie irren ſich, ich wiederhule es Ihnen! Wolf hat mir 
jeloft erzählt, daß jein Schwiegervater mit dem Entwurf jener 
Berglofomotive den Grund zu feinem fpäteren Reichthume legte, 
Ter Plan wurde damals angefauft und bei den erſten Gebirgs- 


„Wenn Wolfgang | 
| Streich!” 


„An der haben Sie überhaupt ein Meijterjtüd vollbracht, | 


1 
I 





bahnen auch verwendet. Später wurde er natürlich durch allerfei 
Berbefferungen überholt, aber der Erfinder ging keineswegs Icer 


aus, man zahlte ihm einen verhältnigmäßig ſehr hohen Preis für 
‚das Patent.” — 


„Wen? Dem Nordheim?” fuhr Beit heftig auf, 

„Dem jehigen Präfidenten — allerdings.” 

„Und das hat Ahnen der Chefingenieur gejagt?“ 

„Gewiß, wir ſprachen erſt fürzlich davon. Uebrigens ift 
die Sadıe ja tweltbefannt, jeder Ingenieur kaun fie Ihnen 
bejtätigen.” 

Gronau ſprang plöpfich auf und trat dicht vor dem jungen 
Arzt hin, „Doltor,” ſagte er langſam und nachdrüdlich, „das 
ift entweder ein beillofer Irrthum, oder — ein heillofer Schurfen- 

„Schurkenſtreich?“ wiederhofte Benno erſchrocken. „Was 
meinen Sie damit?” 

„sch meine, oder vielmehr ich wei, daß dieſe Erfindung 
von Ihrem Vater jtammt, und Nordheim weih das fo qut wie 
ich; wenn er fie aljo für die feinige ausgegeben hat —“ 

„Am Gotteswillen, Sie wollen dody nicht etwa jagen -—-“ 

„Daß der hodangejehene Herr Präfident ein Schurfe iſt 
nun, Das wird ſich ja zeigen! Es iſt immerhin möglich, daß ein 
anderer, ein fremder gleichzeitig auf die felbe Idee gerieth, Damals 
gab ſich ja jeder Angeniene mit dem Problem ab; Nordheim aber 
bat den fertigen Plan jeines Freundes in Händen gehabt, hat 


- ihm eingehend jtudirt, hat ihn gelobt und beivundert, da ift jede 


Möglichkeit eines Zufalls ausgeſchloſſen. Wir müſſen der Sache 
auf die Spur kommen. Beſinnen Sie jih, Benno, willen Sie 
wirklich nichts über den Grund jenes Bruches, von dem Sie mir 
erzählt haben?” 

„Rein, durchaus nichte! Das Habe ich ſoeben Wolfgang 
erflärt, der die gleiche Frage am mich stellte,“ 

„Der Ehefingenieur?“ fiel Gronau haftig ein. „Wie fam 
er dazu?” 

„Er glaubte, in dem Anerbieten jener Stellung, von der ich 
Ihnen vorhin ſprach, die Hand des Präfidenten zu erkennen, und 
meinte — aber nein, nein! Laſſen Sie uns wicht weiter gehen 
in solchen ſchmachvollen Vorausſetzungen, das ift ja eine Un— 
möglichkeit.“ 

Ihnen fcheint mandes unmöglich, Doktor; Sie haben fich 
als Wanı noch ein Kinderherz bewahrt,“ ſagte Veit ernſt. „Wer 
fich aber jo fange unter den Menichen umbergetrieben hat wie ich, 
der glaubt ſchließlich wicht mehr an ſolche Unmöglichkeiten. Sie 
willen mit voller Sicherheit, dat Nordheim ein Patent auf die 
Berglofomotive genommen bat?“ 

„Gewiß, das ift eine Thatſache, die ich verbürgen kann.” 

„Dann ift er ein Dieb!” brach Gronau mit rüchſichtsloſer 
Heftigfeit aus. „Ein dreifach fchändlicher Dieb, weil er den Raub 
an feinem Freunde beging!“ 

„Hören Sie auf, idy bitte Sie!“ wehrte Benno angitvoll 
ab; aber jener fuhr mit umerbittlicher Konſequenz fort: 

„Ih frage Sie, warum brach Ihr Vater, der in Leben 
und Tod an jeinen Freunden feithielt, gerade mit dem, der ihm 
am mächiten ſtand? Warım blieb Nordheim, wenn er wirklich 
ein jo genialer Kopf war, bei der einen Grfindung jtehen und 
warf den Ingenieur gänzlich bei Seite in feinem fpäteren Leben? 
Wiſſen Sie eine Antwort darauf?“ 

Reinsfeld ſchwieg; er hätte unter anderen Umftänden einen 
derartigen Verdacht weit von ſich gewielen, aber die Beftimmtbeit, 
mit der die furchtbare Anklage ausgeſprochen wurde, das Geſpräch 
mit Wolfgang, das Räthſelhafte jenes Bruches, der bei feinem 
fanften, liebevollen Vater eine fo grenzenloſe Bitlerkeit zurüdlich, 
daß er nicht einmal mehr den Namen des cinit jo geliebten 
Freundes hören wollte — das alles ftürmte betäubend auf ihn 
ein, er war faum nod eines Haren Gedankens fähig. 

„Wir müſſen uns Gewißheit verichaffen,“ ſagte Gronau 
entichlojien. „Wo jind die Papiere, die alten Jeichnungen und 
Entwürfe Ihres Baters? Sie Haben ja das alles ſorgfältig 
aufachoben, wie Sie mir jagten. Es muß fid irgend etwas 
finden, und findet jich nichts, jo trete ich felbit vor den Herrn 
Präfidenten bin und frage ihn, wie die Sache eigentlich zufammen- 


' hängt; ich bin doch neugierig, was für ein Öeficht er Dazu machen 


wird! Wo find die Papiere, Benno? Heraus damit, wir haben 
feine Beit zu verlieren!“ 








in * x 7 
TRETEN SS Er 





Zleftlinge. 
Driginalzeihuung von J. R. Wehle, 


Au, 5 
en”, 


» 650 > 


Benno delete auf einen feinen Schrank, der ſich in einer 
Ede des Zimmers befand. i 

„Dort finden Sie alles, was ich von Andenken an meinen 
Bater beſitze,“ fagte er gepreüt. „Hier ift der Schlüſſel, Sehen 
Sie das Ganze durch, ich —“ 

„Nun, Sie werden mie doc hoffentlich) dabei helfen! Die 
Sache geht doc zuerit und vor allen Dingen Sie an. Was 
zögern Sie denn noch?“ 

Der Doktor zögerte in der That, aber Veit hatte bereits 
das Schränfcden geöffnet und wenige Minuten fpäter lag der 
nicht ſehr umfangreiche fchriftliche Nachlaß des verjtorbenen In— 
genieurs auf dem Tiſche ausgebreitet. Sein alter Jugendfreund 
ging jehr gründlich zu Werte bei der Durchſicht; jede Zeichnung 
wurde eingehend geprüft, jeder Brief gelefen , jedes Blatt ums 
gewandt, aber umſonſt! Es fand fich nichts, was auf jene An- 
gelegenheit Bezug haben konnte; fein Entwurf, feine Notiz, feine 


briefliche Aeußerung, nichts, was den ausgeſprochenen Berdadt | 


hätte beftätigen fünnen. Benno, der nur mit innerem Wider: 
ſtreben an die Durchſicht gegangen war, athmeie unwilllürlich 
auf bei diefem Nejultate, während roman die Bapiere mit einer 
umilligen Bewegung von fich ſchob. 

„Narren die wir find!“ ſagte er. „Das war vorauszuſehen! 
Nordheim hätte den jchändlichen Streich überhaupt nicht gewagt, 
wenn noch irgend etwas eriftirte, was ihn vercathen konnte, Er wird 
feinem Freunde unter irgend einem Vorwande den Plan ab- 
geihwaht und ſich dann gegen jede Eutdeckung gefichert haben. 
Mein alter Benno war nicht der Mann danach, einen Tolchen 
Fuchs zu entlarven, wenn er nicht vollgüktige Beweife in Händen 
hatte, und ich, der Einzige, auf deſſen Zeugniß er ſich allenfalls 
berufen fonnte, war damals ſchon in die weite Welt gegangen. 
Aber jegt bin ich wieder da und jeßt werde ich nicht ruhen und 
raſten, bis die Sache ans Licht gebracht ift.” 

„Und wozu das?* fragte Benno leiſe. „Weshalb wollen 
Sie die alte, längſt begrabene Sache wieder aufwühlen? Meinem 
armen Bater geſchieht dod feine Genugthuung mehr damit, und 
die Beitätigung, wenn fie fid findet, wäre ein furdhtbarer Schlag 
für — die Familie des Präfidenten.” 

Bronau fah ihn einige Sekunden lang fpradylos an, als 
könne er die Worte nicht begreifen; dann aber brad) er zornig aus: 

„Nun wahrhaftig, das geht denn doch zu weit! Gin anderer 
würde außer fid) gerathen bei einer ſolchen Entdecllung, würde 
Himmel und Erde in Bewegung fegen, um die Wahrheit heraus: 
zubringen und vüdjichtslos den Schuldigen zu treffen, und Sie 
mödjten mid, am liebſten zurüdhalten, weil der Chefingenieur 
Ihr Freund ift, weil Sie den Skandal für die Familie Ihres 
ärgiten Feindes fürchten. Sie find der echte Sohn Ihres Vaters, 
der hätte es ebenfo gemacht!" 

Er Hatte u mit dieſer Vorausjehung. Benno hatte 
wicht an Wolfgang gedacht, es war ein anderes Antlitz, das vor 


ihm auftauchte und ihm mit großen braunen Mugen fo angftvoll | 


fragend anblidte; aber er hätte um feinen Preis der Welt ver- 
vathen, was ihm die Beftätigung jenes Verdachtes fo entieglich 
machte und weshalb er die ganze Angelegenheit am liebſten be 
graben geſehen hätte. 

Veit Gronau erhob ſich und fagte in einem halb arollenden, 
halb mitleidigen Tone: 

„Bon Ihnen ijt nichts zu hoffen, Benno, das jehe ich fchon! 
Solche unpraltifhe Gefühlsmenichen taugen überhaupt nicht für 
dergleichen. 
die Spur gefunden und nun laſſe ich fie nicht wieder, koſte es, was 
es wolle Ich will meinem alten Freunde wenigjtens im Grabe 
noch die Genugthuung geben, die das Leben ihm verſagt hat!” 


Präfident Nordheim jaß im feinem Arbeitszimmer in der 


Refidenz und ihm gegenüber Doktor Gersdorf. Sie hatten eine | 


geſchäftliche Nonferenz gehabt, denn die Uebernahme der Bahn 
jeitens der Aktionäre follte jetzt zur Thatfacdhe werden. Der Ent- 
ſchluß Nordheims, ſich nad) Vollendung des Unternehmens davon 
zuritdzuzichen, wurde zwar bedauert, befrembete aber niemand, 
denn der raftlos thätige Mann hatte jedenfalls ſchon wieder neue 
Pläne und Entwürfe, denen ex feine Rapitalien zumenden wollte. 
Ihm blieb der Ruhm, ein großes, kühnes Werk ins Leben ge: 
rufen und der Welt einen neuen Verkehrsweg erichloffen zu haben, 


Zum Glück bin ich noch da! Ich habe jegt einmal 


Der Chefingenieur hatte erktärt, daß er die fämmtlichen Bauten 
‚ no vor dem Eintritt des Winters fertigftellen werde, und fo: 
bald dies geichehen, follte die Uebernahme erfolgen. Es war 
dann Sache der neuen Verwaltung, bie Iehten Vorbereitungen 
für den Betrieb der Bahn zu treffen, deren Eröffnung man für 
das nächte Frühjahr in Ausficht genommen hatte. Das alles 
war ſchon feit Monaten verhandelt und fejtgeftellt worden und 
Gersdorf befonders hatte in feiner Eigenſchaft als jwriftiicher 
Bertreter der Bahngeſellſchaft vielfache Beſprechungen mit dem 
Präfidenten gehabt. 

„Der Here Ehefingenieur leiftet in der That beinahe das 
Unmögliche,” jagte er. „Aber ich begreife dennoch nicht, wie er 
bis Ende Oftober fertig fein will. Wir jtehen ſchon im Anfange 
des Monats und vier Wochen find doch eine gar zu kurze Friſt 
für das, was noch zu thun übrig bleibt.“ 

„Wenn mein Sciwiegerfohn den Termin einmal feitgejebt 
hat, fo wird er auch Wort Halten,” entgegnete Nordheim mit 
ruhiger Zuverſicht. „Er pflegt in ſolchem Falle weder ſich, noch 
feine Untergebenen zu schonen, und hier drängt uns überdies die 
Nothiwendigfeit. Mit dem November pflegen die Schneeſtürme 
einzutreten, die gerade in der Wolfenfteiner Gegend am gefähr- 
lichſten find, da gilt es, vorher fertig zu werden.“ 

„Rum, bis jebt Hat der Herbit uns nur eine Art Spät 
jommer gebracht,“ bemerkte der Rechtsanwalt, indem er einige 
der Papiere, die auf dem Tifche lagen, zufammenfaltete und zu 
ſich ftedte. „Ach kann es Ihren Damen nicht verdenfen, daß 
fie noch immer in den Bergen weilen und gar nicht an die Rüd 
lehr zu denen scheinen.” 

„Sie werden vorausfichtlich noch einige Wochen dort bleiben,“ 
fagte der Präfident, „Bei meiner Tochter hat die Höhenluft ein 
förmliches Wunder gethan; fie ift beinahe vollftändig genefen und 
Doktor Neinsfeld räth, den Aufenthalt jolange auszudehnen, als 
es die Witterung nur irgend zuläßt Ach bin Ihrem Herrn 
Vetter viel Dank jhuldig und bedaure aufrichtig, daß er Ober: 
ftein verläßt. Wie ich höre, hat er eine andere ärztliche Stellung 
in Ausficht, in — wie heißt der Ort doch?“ 

„Neuenfeld,“ ergänzte der Rechtsanwalt. 

„Richtig, Neuenfeld! Der Name war mir entfallen. Ich 
fann es dem jungen jtrebfamen Arzte nicht verdenten, wenn er 
ji) einen größeren Wirkungstreis fucht; aber wie gefagt, wir 
bedauern es alle, daf er joweit forigeht, und auc mein Schwieger 
john wird ihn ſehr vermijien.” 

Die Worte Hangen jo wohlwollend, als empfinde der 
Vräfident wirklich nur Dankbarkeit für den Arzt feiner Tochter 
und aufrichtiges Bedauern, ibn fcheiden zu jehen, und Gersdorf, 
der feinen Grund hatte, etwas anderes anzunehmen, war auch 
überzeugt davon. 

„Benno jchreibt mir, dab er erſt im vierzehn Tagen nach 
feinem neuen Beltimmungsorte abgehen werde,” erwiderte er. 
„Er hatte ſich eine mehrwöchige Friſt ausbedungen, bis zur 
Ankunft feines Nachfolgere. Wir haben auf diefe Weile Belegen 
‚ beit, uns noch einmal zu jehen, da ich im Laufe der nächſten 

Rode nad) Heilborn muß. Der Prozeß der Gemeinden Ober 
und Unterjtein, wegen angebliher Schädigung ihrer Waldungen 
durch die Bahnbauten, wird dort verbandelt und ich babe die 
Geſellſchaft dabei zu vertreten.“ 
„Dann treffen wir uns vorausjichtlich,” ſagte Nordheim. 
„Ich will verfuchen, mic) noch auf furze Zeit frei zu machen, 
und dann mit meiner Familie zurückkehren. Die Laſt der 
Gefchäfte war in der legten Zeit geradezu erdrüdend, ich fühle 
die Notbiwendigfeit, mir aud einige Erholung zu gönnen. Alſo 
auf Wiederfehen in meiner Villa, Sie vergefien doch nicht, uns 
‘ dort aufzujuchen ?* 
| „Gewiß nicht,“ verjicherte Gersdorf, indem er aufftand und 
ſich verabfchiedete. Der Präfident drüdte auf die Hlingel und 
befahl, Licht zu bringen, denn es dämmerte bereits, Er jeßte 
fih an feinen Schreibtiſch und vertiefte fich in die dort liegenden 
Papiere, die wohl Wichtiges enthalten mochten, denn fie wurden 
ſehr eingehend und jorgiam geprüft, aber das Geficht Nord 
heims zeigte dabei den Ausdrud vollfter Befriedigung und als 
ee mit der Durchſicht zu Ende war, flog ein Lächeln über 
feine Züge. 
„Alles in Ordnung!” murmelte er, „Es wird ein brillantes 
Gefhäft werden! Die Zahlen find zwar etwas fühn gruppirt, 


aber fie werden ihre Schuldigfeit tun, und jobald Wolfgang fie | „Wer? Nun, meine Sefretäre und die Beamten, die wir 
beftätigt und die ganze Berechnung mit feinem Namen dedi, | als Sachverſtändige zuziehen mußten.“ 

nimmt men jie anftandstos hin. — Und diefer Reinsfeld wäre | „Das brauchſt Du mir wirklich micht exit zu jagen, Papa! 
nun auch glücklich bei Seite geichoben! Ich dachte es mir, daß | Sie haben felbitverjtändlich nad den Notizen und Angaben 
er die Lodipeije einer ſolchen Stellung nicht zurüdweifen würde. | gearbeitet, die man ihnen lieferte. Ich wünſche aber zu wiſſen, 
Neuenfeld ift weit genug entfernt, und da wird er wohl in aller von wem dieje Angaben jtammen, wer überhaupt die Summen 
Behaglichkeit ſitzen bleiben bis an fein Lebensende. - — Was giebt | aufgejtellt hat, die der Werthſchätzung zu Grunde liegen. Du 


es? ch will heut Abend nicht mehr gejtört fein.” ‚ Tannjt es nicht getan haben, das ift unmöglich.“ 
Die lehten Worte waren an einen Diener gerichtet, der | „So? Und warum nicht, wenn id) fragen darf?” 

joeben eingetreten war und jetzt meldete: „Weil die fänimtlichen Berechnungen gefälſcht find!” fagte 
„Der Herr Ehefingenieur ift angefommen.” | Wolfgang falt, aber mit vollem Nacdrud. 


„Mein Schwiegerfohn?” fuhr Nordheim überrafcht auf. „Gefälſcht? Was joll das heißen?“ fuhr der Präſident auf. 

„Soeben, Herr Präjident.” | „Sollte Dir das wirklich entgangen fein?“ fragte Eimhorft, 

Nordheim erhob fich raſch und mwollie dem Gemeldelen ent- den Blick fejt und unverwandt auf feinen Schwiegervater gerichtet. 
gegen gehen, aber dieſer jtand bereits anf der Schwelle, noch im „ch entdedte es ſchon bei der erjten Durchſicht. Die fämmts 
vollen Reifeanzuge. lichen Bauten find mit Summen beziffert, die ihre Heritellungs- 

„Ich überraiche Dich wohl, Papa, mit meiner unerivarteten | foften fat um das Doppelte übersteigen; bei den Grunderwwerbungen 
Ankunft ?* fragte er. find Poſten in Anrechnung gebracht, die überhaupt nie gezahlt 

„Allerdings, Du haft mir ja nicht einmal ein Zelegramm | wurden. Die Schwierigkeiten und SKataftrophen, mit denen 
geſandt,“ eriwiderte der Präfident, indem er dem Diener einen |; wir zu Kämpfen hatten, find in einer geradezu unglaublichen 
Wink gab, ſich zu entfernen; aber als diejer das Zimmer ver: | Weife ausgebeutet worden, man hat Hunderttaufende in Red: 
laſſen hatte, fragte er raſch und fichtlich beunruhigt: ‚nung geftellt, wo kaum die Hälfte wirflih aufgewandt wurde — 

„Was ift geſchehen? it etwas vorgefallen auf der Bahn?“ kurz, die aanze Berechnung ift um einige Millionen zu hoch 

„Nein, ich habe alles in vollfter Ordnung zunüdaelafjen.” | gegriffen.“ 

„Und Mlice it Hoffentlich wohl?” Die Frage Hang um Nordheim hörte ſchweigend, aber mit gerungelter Stirn 
vieles ruhiger und gelafjener als die erjte: diefer erregten Auseinanderſetzung zu, er ſchien mehr betroffen 

„Ganz wohl, Du braudjt Dich durchaus nicht zu beun- als beleidigt dadurch zu fein, und endlich ſagte er kühl: 
ruhigen.“ „Wolfgang — ich verftehe Dich wirklich nicht.” 

„Nun, Gott fei Dank! Ich glaubte ſchon, es jei irgend „Nun, ich habe Deinen Brief auch nicht veritanden, in dem 
elwas Schlimmes paflirt, weil Du fo ganz plöglich ericheinft. | Dir mich aufforderteft, diefe Berechnung zu beftätigen und mit 
Was führt Dich denn jo unerwartet her?" meiner Unterichrift zu vertreten, Ich glaubte und glaube noch) 

„Eine geichäftliche Angelegenheit, die ich Brieflich unmöglich | immer, daß es fich Hier um einen Irrthum Handelt, und wollte 
erledigen Fonnte,“ ſagte Wolfgang, indem er feinen Hut ablegte. | mir perſönlich Gewißheit darüber holen. Ach hoffe, Du wirft 
„Ich zog es daher vor, die Reife zu Dir zu machen, obgleich fie mir rüdhaltlos geben.“ 


meine Anweſenheit auf der Bahnftrede ſehr nothwendig ift.“ Der Präfident zudte die Achſeln, aber ex behielt den fühlen, 
„Nun gut, dann befprechen wir die Sadje mündlich,“ ver: ; gelaffenen Ton bei, als er antwortete: 
fegte der Präfident, der immer bereit war, von Geſchäften zu „Du magſt ein ausgezeichneter Ingenieur fein, Wolfgang, 


reden. „Wir find heut Abend ganz ungejtört; aber zunächſt ruhe zum Gefchäftsmanne haft Du wenig Talent, das fieht man! Ich 
Did) aus. ch werde Sofort Befehl geben, Deine Zimmer —* hoffte, wir würden uns in der Sache verjtehen, ohne viel Worte 

„Ich danke, Papa,” unterbrah ihn Elmhorſt. „Ich möchte darüber zu maden, das fcheint aber nicht der Fall zu fein; wir 
die Angelegenheit fofort zur Spradye bringen, fie ift dringend, werben uns aljo wohl darüber verjtändigen müflen. Glaubſt Du 


wenigitens für mich. Wir find doc hier ganz allein?“ etwa, dab ich mich mit Schaden von dem Unternehmen zurüd- 
„Gewiß, ich pflege mein Arbeitszimmer vor Lauſchern zu ' ziehen will?“ 
Sichern, indeſſen kannſt Du der Sicherheit wegen die Thür des „Mit Schaden? Du erhältit in jedem Falle Deine auf: 
Nebenzimmers abichliehen.“ gewendelen Kapitalien jammt den Zinſen zurüd.“ 
Wolfgang kam der Weijung nad und lehrte dann zurüd, „Ein Geichäft, das feinen Nuben bringt, it ala Verluſt zu 


und erſt jet, wo er in dem Lichtfreis der Lampe trat, jah man , betrachten,“ ſagte Nordheim „Ach glaubte nicht, daß Du cin 
es, wie bleih und erregt er war. Diele Bläffe ftammte aber ſolcher Neuling im Geichäftsfeben jeieft, daß ich Dir dieſen 
ichwerlih von der Ermüdung der weiten Fahrt, die er ohne Grundſatz erſt Har machen muß, und hier iſt die Möglich: 
Unterbrechung gemacht hatte; auf feiner Stirn lagerte eine . feit eines Gewinnes, eines jehr bedeutenden Gewinnes gegeben. 
Wolfe und die dunklen Mugen Hatten einen finfteren, beinahe , Die Bahn ift jo aut wie mein! Ich habe fie ins Leben ge: 
drohenden Ausdrud. rufen, habe das Hauptfapital hergegeben, das ganze Riſiko ge- 
„Du ſcheinſt etwas ſehr Wichtiges zu bringen,“ bemerfte tragen, da wirft Du mir doch wohl nicht das Recht bejtreiten, 
der PBräfident, indem er ſich niederließ, „ſonſt wärjt Du auch mein Eigenthum zu dem Preife abzutreten, dem ic) feſtzuſetzen 
ſchwerlich ſelbſt gekommen. Nun alfo — aber willit Du Dich | für qut finde.” 
wicht ſehen?“ „Wenn diefer Preis nur mit foldhen Mitteln zu erreichen 
Der junge Ehefingenieur beachtete die Einladung nicht, iſt, beftreite ich es entichieden. Uebernimmt die Geiefticaft die 
fondern blieb jtehen. Er ftüßte nur die Hand auf die Lehne Bahn unter diefen Bedingungen, jo ijt fie von vornherein vor 
des Stuhles und feine Stimme Hang ſcheinbar ruhig, als er den Bankerott aeitellt. Selbit der ausgedehntefte Betrieb iſt nicht 
begann: im Stande, den Schaden, den fie erleidet, aucd nur annähernd 
„Du haft mic die Abſchätzungen und Berechnungen über: zu erſetzen; das ganze Unternehmen geht entweder zu Grunde 
jandt, die bei Mebernahme der Bahn feitens dev Altionäre als oder wird ſchließlich die Beute eines Einzelnen, der beſſer zu 


Srundlage dienen follen.“ j rechnen verjtcht.” 
„Gewiß, ich ſagte Div ja bereits, daß ich Dich mit den „Und was geht das uns an?” fragte Nordheim eilig. 
Details dieſer Berechnungen verihonen würde Du biſt jchen „Was cs uns angeht?” fuhr Elmhorſt empört auf. „Wenn 


allzufehr in Anſpruch genommen von der technifchen Yeitung. das Werk, das Du geichaffen Haft, dem ich meine ganze Kraft 
Ich Habe Die nur die Durchſicht und Beftätigung vorbehalten, gewidmet habe, das unfere beiden Namen vereinigt an der Spike 
denn Du haft ala Chefingenienr das erſte und legte Wort in trägt, elend zu Grunde gebt oder cine Beute ſchwindelhafter 


der Sache zu ſprechen.“ Erperimente wird? Nun, mich wenigftens geht es an, das denfe 
„Das weiß ich! Ich bin mir der Nerantwortlichkeit vol- ich Dir zu beweiſen!“ 

fummen bewußt und eben deshalb möchte ich eine Frage an Dich Der Präſident erhob ſich mit einer ungeduldigen Bewegung. 

richten. Wer bat diefe Berechnungen aufgejtellt?” „Wolfgang, ich bitte Dich, verfchone mich mit ſolchen De- 


Nordheim jtreifte feinen Schwiegeriohn mit einem Halb ver- ' Mamationen! Sie find bier wirklich nicht am Plage, wo wir von 
wunderten Blick; die Frage ſchien ihn zu überraſchen. Geſchäften reden.” 


—o 


Der junge Ehefingenieur trat zurüd, die Erregung verſchwand 
aus feinen Zügen und machte einem kalten, verädhtlichen Ausdruck 
Plat; feine Stimme Hang jet ebenfo eifig wie die des Präfidenten, 
als er erwiderte: 

Ich gebe mich am wenigſten mit Deklamationen ab, das 
ſollteſt Du wiſſen, RBopa. Ich frage daher noch einmal, furz und 
müchlern: wer hat die Zahlen aufgejtellt, die der Werthberechnung 
zu Grunde liegen?“ 

„ch ſelbſt!“ war die völlig unbewegte Antwort. 

„Und Du eriwartejt, daß ich fie bejtätige und mit meinem 
Namen dee?“ 

„Bon meinem künftigen Schtwiegerfohne erwarte id) das 
allerdings,“ erklärte Nordheim mit volliter Schärfe. 

„Dann bedaure ich, daß Du Dich in mir getäufcht haft — 
ich umterjchreibe Diele Berechnungen nicht!” 

„Wolfgang! Es lag eine unverfennbare Drohung in dem 
Worte. 
„Ich unlerſchreibe fie nicht, ſage ich Dir! Zu einer 
Fälſchung, zu einem Betruge gebe ich meinen Namen nicht her.“ 
„Was find das für Ausdrücke!“ rief der Präfident zornig 
„Und das wagt Du mir ins Geſicht zu Sagen?“ 
„Nun, wie nennſt Du es denn, wenn ich eine Auf: 
ftellung janktionire, von der ich mit vollfter Beftimmtheit weiß, 
dab fie gefälſcht iſt?“ Tragte Wolfgang bitter. „Ach bin 


der Chefingenieur, mein Wort ijt entjcheidend für die Gefell- | 


fchaft, für die Aktionäre, die von folhen Dingen nicht das 
Mindeite verftehen Ich allein habe die Verantwortung zu 
tragen,“ 


> 


„Die Feiner jemals von Dir fordern wird,“ fiel Nordheim 
ein. „Ich glaubte wahrhaftig nicht, daß Du fo pedantiſch ſeiſt! 
Dur veritehft eben nichts von Geſchäften, font wirdeit Du Dir 
fagen, daß ich im meiner Stellung die Sache überhaupt nicht 
wagen könnte, wenn fie Gefahr brächte. Die Zahlen find in 
einer Weiſe gruppirt, da ein — Irrthum darin nicht nach: 
zuweiſen ijt, und ich habe für alle Fülle meine Erklärungen in 
Bereitichaft. Man wird weder Dir noch mir das Geringite an- 
haben fünnen.“ 

Um Elmhorſts Lippen zudte ein unendlich herbes Lächeln 
bei diefer Verſicherung. 

„Daran habe idy allerdings zulegt gedacht! Wir verjtchen 
uns in der That wicht: Du ſcheuſt nur die Entdedung, ich den 
Betrug. Kurz und qui, ich will meine Hand nicht in einem 
falichen Spiel haben, und wenn ich die Bejlätigung verweigere, 


ſo iſt e8 überhaupt unmöglich.” 





Der Präfident trat dicht vor ihm hin; jetzt wurde auch er 
erregt, jeine Stimme verrietb die äußerſte Gereistheit: 

„Du bift ja jehr energisch in Deinen Ausdrüden! Glaubjt 
Du etwa, mir Gefehe diktiren zu fünnen? Nimm Dich) in Acht, 
Wolfgang, nod bit Dur nicht mein Schwiegerfohn, noch ijt das 
Band nicht gefnüpft, das uns dauernd vereinigen joll, ich lann 
es im letzten Augenblide nod) zerreigen, und ich denfe, Du bijt 
ein zu guter Mechner, um micht zu wilfen, was Dir mit der 
Hand meiner Tochter verloren geht.” 

„Das heißt — Du ftellft mir eine Bedingung dafür?“ 

„3a, Deine Unterfchrift! Entweder — oder!“ 

(Fortiegung folgt.) 


Aus dem Leben eines nadigiedigen Gefellen. 


Bon Fr. Selig. Mit Illuſtrationen von Frik Bergen. 









en vielen nichtigen Dingen dieſer Erde, 
die einen felbjtändigen, anf den Schmud, 
den Genuß, die Bequemlichkert des Den 

Schenlebens gerichteten Daſeinszweck haben, jon 

dern nur im niederen Dienfte eines anderen 
höheren Zwecles jtehen, ijt nicht am letzten der Korkpfropfen 
zuzuzählen; er, der bloß berufen ericheint, das Amt eines Pförtners 
für. die Behauſung eines großen Herm flüjfigen Charakters zu 
verireten,- und der, wenn dieſer feinen Bann durchbrochen hat, 
verächtlich zur Seite geworfen wird. Und doc ijt diefer Kleine, 
äußerſt nachgiebige Geſelle von einem nicht gewöhnlichen Her: 
fommen. Er hat erſt eine Meile übers Meer gemacht, che er 


den deutſchen Boden betrat, jtammt er doch aus jenem jchönen 
Yande, wo ſich nach des Dichters Wort 
„bei der Zirher Tönen 

Jeder Fuß beflügelt ſchwingt, 

Und der Knabe mit der Schönen 

Glühend den Fandango ſchlingt.“ 
Und doch it er wieder Fein Fremdling, denn cr Hat die 
ganze Heimlichkeit des deutſchen Hauſes genoſſen. Dort hat 
er feine Form und Gejtalt erhalten. Er ift auch nicht von 
heute and gejtern, Kat vielmehr fchon ein langes Leben Hinter 
ſich, che er den Charakter feiner Brauchburfeit erlangte, Zu: 
dem iſt er an und für ich ein Kunſtwerk, denn er iſt fein 
Prodult willenlofer Mafchinenkraft, fondern cin Erzeugniß der 
von dent Willen regierten, formenden Menichenhand. 

Die Benutung des Korlholzes als Verſchlußmittel dürfte 
wohl erjt feit dem Fünfzehnten Jahrhundert dativen. , Ehe man 
die Eigenart des Korlholzes, die durch fein anderes Material in 
nleihem Made erſetzt wird, fannte, war man auf weit fprödere 
Stoffe angewiefen. So it auch die Korkinduftrie in Deutſchland 
noch Feine ſehr alte. Die rührige Handelsjtadt Bremen war es 
wohl, welche zuerit das Korkholz aus feiner ſüdlichen Heimath 
auf dem Seewege nach Deutfchland einführte und feine Bearbeitung 
zu Anduftriezweden anregte. Wir jchliehen dies aus einem Bericht 
im Oldenburger Staatsfalender vom Jahre 1780, dem zufolge 
ſchon im Anfang des vorigen Jahrhunderts in Stuhr, einem 
oldenburgiichen Dorfe, etwa cine Meile von der Etadt Bremen 
entfernt, auf Nechnung eines Bremer Naufmanns, Namens Henſch, 
das „Pfropfenſchneiden“ betrieben wurde, 

Bon Stube aus verbreitete ſich die Induſtrie dann weiter 
im oldenburgiſchen Flachlande, indem fie ſich zugleich von der 
Bremer Abhängigkeit befreite. So wurde durch Friedrich Cordes, 
der beim Kaufmann Henſch Unterricht in der Pfropfenſchneiderei 
erhalten hatte, in Hasbergen bei Delmenhorft bald eine Kork: 
ſchneiderei auf eigene Rechnung gegründet. Im Jahre 1789 
arbeiteten dic Gebrüder Gordes mit 26 Perſonen — ein 
Geſchäftsumfang, der für die damaligen jchlichten Verhältniſſe 
ichon etwas beſagen will. Bald darauf entitanden, ebenfalls 
aus Heineren Anfängen hervorgehend, nene für eigene Rechnung 
arbeitende KHorkichmeidereien, unter anderen die von Lürfien 


rg 


in Hasbergen und wohl noch etwas jpäter die von Müller 
in Bremen. Nachdem im Verlaufe der Tehten dreißig Jahre 
jämmtliche Gefhäfte von Hasbergen nad) dem gemwerbreicheren, 
an ber Strafe von Bremen nach Oldenburg belegenen Belmen: 
horſt überfiedelten, wurde der Haupffiß der deutjchen Korkinduftrie 
nad dieſem jegt etwa 6000 Einwohner zählenden Städtchen 
verlegt, und ebenbafelbjt bejigt aud; heute noch ein Nachkomme 
jener Cordes eines der größeren Korkfabrifgefhäfte unter der 
Firma „Cordes und Ellgah”. 

Auf dem Wege nad) einem norddeutihen Seebade hielten 
wir in dem vielfach ſchon einen holländischen Charakter tragenden 
halb ftädtiichen, Halb ländlichen Orte, der uns Mitteldeutichen 
durch die eigenthümliche Bauart feiner meift nur aus einem 


Schlinggewächſe x, verwenbet. 


653 > 


fehlen hier die flimatiichen und wohl auch agrifultuechemijchen 
Vorbedingungen. Die Bäume müflen erſt je nach ihrem Stand- 
orte ein Alter von 25 bis 30 Jahren erreicht Haben, ehe die erſte 
Rinde abgeſchält werden darf, Mber aud diefe erjte Rinde — 
in Spanien corcho virgen (jungfräulides Rorfholz) genannt — 
ift für die Anfertigung von Korfen noch nicht brauchbar; ſie wird 
in Dentfchland Tediglich zu Zierziveden, wie zur Umbüllung von 
Bartenpavillons, Blumentifchen, hängenden Blumenlörbchen für 
Erſt nachdem diefe erjte Rinde 
abgeichält iſt, bildet fich das eigentliche Korfholz aus dem unter 
der Minde befindlichen Korf-Cambium Das Abſchälen ber 
Rinde muß fo vorfichtig geſchehen, daß das unter ihr befindliche 
Gambium nicht verlegt wird. Dieſes Cambinm bildet ının eine 





Das Abſchaͤſen der Aorkeihen, 


hoben Giebel mit Parierregeſchoß beftehenden Häuſer auffällt, 
Turze Ginfchr und hatten da Gelegenbeit, in der genannten 
Fabrit uns über die Specialitäten der Pfeopfenindufttie unter 
richten zu laſſen. 

Eine ſolche Kortiabrit hat äußerlich wenig Amponirendes. 
Es finden ſich da weder die großen Arbeitsſäle mit ihren langen, 
einförmigen Fenfterfronten, noch die himmelanjtrebenden mächtigen 
Dampfefien, nicht das puſtende Seräufch keuchender Dampfmaſchinen 
noch das Raſſeln des Rädergetriebes. Die Thätigkeit in der 
Fabrik jelbft beichränft ſich, abgeſehen von dem rein fanfınännifchen 
Theile des Geſchäfts, fait lediglich auf das Sortiren und Berpaden 
der von den Mrbeitern in die Fabrik abgelieferten Korke. Aber 
ſchon das Nohmaterial, mit weldyem die Fabrik arbeitet, das Kort 
hof}, hat, wenn es den deutichen Boden betritt, eine Vorgeſchichte, 
ja es iſt jogar bereits durch eine Fabrik hindurchgegangen. 

Das Korfholz ift nicht ein ſelbſtändiges Holzproduft, ſondern 
nur ein Nebenproduft: cs ift die Rinde der Korkleiche Quercus 
suber L.) Das Vorfommen der Rorkeiche beſchränkt ſich fait 
lediglich auf Spanien, Portugal und Algier. Alle Verſuche, die 
Bäume für unferen Boden zu gewinnen, find gefcheitert. Es 

1888 


neue weiße, als Kork brauchbare Rinde. 


Auch dieſe braucht zu 
ihrer vollen Entwidelung ein weiteres längeres Wachsthum, 
das ſich in Portugal auf 8 bis 10, in Spanien und Algier 
auf 11 bis 14 Fahre berechnet. Dann erſt lann die Rinde 


bon neuem abgeihält werden Die Abſchälung erfolgt in den 
Sommermonaten Mai bis September, und zwar in der Meile, 
daß man, wie unfer obenftehendes Bild es darjtellt, mit Hand— 
haden xinas um den Stamm herum in etwa meterhohen Ab— 
ftänden Einjchnitte bis auf dns Cambium macht, die Neeisfchnitte 
mit Sängsichwitten verbindet und die Korlſchicht mit dem Baden: 
jtiel vom Kork:Cambium ablöft. ft die Korleiche einmal in dies 
Entwidlungsitadium eingetreten, daun kann ſie auch je nad Lage, 
Bodenbeihaftenheit und Pflege auf 100 bis 150 Jahre hinaus 
für die Korlinduſtrie nußgbar gemacht werden. Das abgeſchälte 
Korkholz iſt matürlich Sowohl in der Stärke, wie in der Güte 
fehr verjchieden, je nachdem dasjelbe von jungen oder alten 
Bäumen, von Stämmen oder Heften genommen it. Iſt das 
Korfholz von dem Baume abgetrennt, jo wird es vorerſt in große 
Haufen zujammengetragen und dann vermittelit Maulthieren oder 
Wagen aus den Waldungen nach den Kortkholzfabrilen geichnfit, um 


5 


für den Verſand bejonders hergerichtet zu werben, denn jo roh 
wie es aus der Hand der Natur fommt, ijt es nicht ohne weiteres 
zu verarbeiten. In diefen Fabrilen wird es erit eingeweicht und 
dann die allzuftarte äußere Rinde abgeihabt; in großen Keſſeln 
wird es darauf einige Minuten fang gekocht und dann in Platt— 
formen gepreßt. Früher wurde es wohl auch durch ein Schmauch— 
feuer gezogen. Dieſes Verfahren ift jedoch fait alletwärts auf: 
gegeben. Das auf diefe Weile bergerichtete Kortholz; wird ſodann 
je nach Güte und Stärke in eva zehn verschiedene Sorten ge 
teilt und, in Ballen von 60 bis TO Kilo verpadt, zum Berfande 
fertig geftellt. 

Wie ſtart verichieden diefe einzelnen Sorten in der Qualität 
jind, acht daraus hervor, daß der Preis der einzelnen Marten 
zwiſchen 10 und 150 Mark für hundert Kilo ſchwankt. Das 
beite, zur Fabrifation von Wein- und Ehampagnerforten beſonders 
geeignete Holz wächſt in Gatalonien. Doc giebt es aud) nod) 
andere ſpaniſche Dijtrifte und in Portugal namentlich die Gegend 
von Eſtremoz, wo nahezu gleichwerthiges Holz vorfommt. Auch 
Algier kultivirt ähnliche, für Wein- und Mineralwaſſerlorke gut 
brauchbare Eorten, wogegen ſich das jonjt noch in Portugal ge 
wonnene Material wegen feiner größeren Weichheit vorzugsweiſe 
zu Bier: und Medizinforfen eignet. 

Sit nun das Korkholz in die Hände bes deutichen Fabrifanten 
gekommen — natürlich giebt es auch in Spanien Korkfabrifen — 
jo wird es behufs Bearbeitung zunächſt fortirt, die befferen, 
latteren Stüde zu den Wein- und Mineralflaſchenlorlen, die 
hlechteren, riffigeren zu kurzen Sorten bejtimmt und dann an 
die Arbeiter abgegeben. In der Fabrif von Cordes und Ellgaß 
befommt jeder Arbeiter gewöhnfich 50 Kilo Korkholz zur Ver— 
arbeitung; davon muß er wenigitens 20 Kilo große Flaſchenkorlke 
oder 15 Stilo Meinere Medizinforke liefern, der Reſt wird als 
Abfall gerechnet. Das dünne Holz zu Mebizinforfen Kat ver- 
hältnigmäßig viel Ninde und Liefert deshalb auch entiprechend 
mehr Abfall. Der Arbeiter fchneidet Die ihm übergebenen Sort: 
holzplanfen in Streifen, die der Länge der zu arbeitenden Korle 
entſprechen; darauf zieht er die obere Rinde ab, fdmeidet die 
Streifen in Würfel und aus biejen den Korf. 

Hierzu bedient er fich zweier ſcharfer Meſſer mit breiter Klinge, 
wovon ſich das eine zum Streiſen⸗ und Würfelfcneiden, das 
andere zum Rundfchneiden eignet; dieſe bilden fein einziges Werk 
zeug. Die Kunft und zugleich die Vortheile des Arbeiters be 
ftehen nun darin, das Holz richtig zu verarbeiten und ausju- 
mügen, das heißt, die Streifen je nach Erforderniß in breitere 
oder jchmälere Würfel zu ſchneiden, wurmſtichige oder werthloſe 
Stellen ganz zu entfernen, aus jedem Würfel einen möglichſt 
großen und dabei quten, nicht zu berbeffernden Kork zu ichneiden 


654 ⸗— 


Vollslieder mit ihren meijt jchwermüthigen Weifen, bei welchen 
die Frau die erjte und hie Männer die zweite Stimme halten. 

Dean hat zwar öfter ſchon Verſuche gemacht, bie Majcinen- 
arbeit aud in der Korkinhuftrie einzuführen, ift aber immer 
wieder zum Theil davon abgefommen, indem man die Erfahrung 
machte, daß doch die menſchliche Hand hier weit beſſer und aus- 
giebiaer arbeitet als die Maſchine. Es liegt dies namentlid an 
der ungleichwerthigen Beichaffenheit des Materials. Nur für die 
Maflenfabrilation der gewöhnlichen Flaſchenlorle bedient man ſich 
in neueſter Beit der Korkſchneidemaſchinen, welche in zehnjtündiger 
Arbeit über 20000 Stüd Pfropfen zu liefern vermögen. 

An der Fabrit werden die Korke durch verftellbare Siebe ge: 
fiebt, um die gleichmäßigen Größen herauszubringen. Dann werben 
fie noch ein» bis dreimal fortirt, um bie verfchiebenen Qualitäten 
zu tremmen. Dies Gefchäft beforgen beſonders angeftellte Sortirer, 
denen ein Oberfortirer vorgeftellt ift. Sie und die Korkholzſortirer 
bilden das eigentlich ftändigtechnifche Fabrikperſonal. Der Ober: 
fortirer lernt die Arbeiter, namentlich das junge Perſonal, an. 
Die Größe der Korke ift eine jo verichiedene, daß fie Herabgeht 
bis zu einem Größenmaße von jehs Millimetern. Wir fanden 
in der Delmenhorjter Fabrik in einem Heinen, nur zwei Silo 


‚ wiegenden Sade nicht weniger als 30000 Stüd ſolch Meiner 


welche 54 Mark koſteten und zu homöopathi: 
Auch die Qualität und dementiprechend 


Korfe beijammen, 
fchen Sweden dienten, 


‚ die Preislage iſt matürlic eine jehr verichiedene. 


Gute Korke ſchließen fuftdicht, ſchlechte find durch fein Mittel 
gut zu machen Verſuche, bie man bier und dba wohl machte, 
die Qualitäten durch Anwendung von Stearin, Wachs und 
dergleichen Dichtungsmitteln künſtlich zu verbejlern, erwieſen 
fih als ganz nutzlos. ine Fälfchung ift auf dieſem Gebiete 
nicht möglich). 

Die Champagnerforfe, die erſt beim Binden auf die Flaſche 
ihre eigenthümliche Form erhalten, werden fait ausſchließlich in 
Spanien und Frankreich angefertigt. In Frankreich werden fie 
in neuerer Zeit theilweife aus mehreren ausgejucht fchönen, 
dünneren Korkholzjtüden zuſammengefetzt. Diefe Stüde werden 


durch ein geeignetes Bindemittel auf einander geleimt und dann 


twie gewöhnliche Korle gefchnitten. Es geſchieht dies deshalb, weil 


das dide, zu hochſeinen Champagnerforfen geeignete Holz fehr 


und jelbft das kleinſte Hofzftüdhen nicht unbeachtet zu laſſen, ſo, 
‚ man wohl aus der grob gemahlenen Mafje eine Art Luftbad- 


daß verhältnißmäßig wenig Abfall zurüddleibt. 

in gefchidter Arbeiter fann in einem Tage aus den ihm 
übergebenen Sorkplanfen gegen 1500 Bouteillens oder 2000 
Medizinpfropfen Schneiden. Schneidet er mittelmäßig, fo kann er 
es nur auf etwa 1200 Korfe von der eriteren und 1500 von 
der letzteren Gattung bringen. Die Arbeit iſt zugleich aber 
derartig, daß außer dem Hausvater und den älteren Söhnen aud 
die Frau und die Schon halberwachſenen Kinder ſich an ihr be 
theifigen können. Ihnen fällt namentlich die weitere Verarbeitung 
der Heineren Würfel zu. Wir haben in den armen Rhön— 
dörfern des Eiſenacher DOberlandes, wohin von Delmenborft 
aus die Korlinduſtrie feit ein paar Jahrzehnten verbflanzt 
worden iſt, oft Gelegenheit gehabt, biejes friedliche Familien- 
idyll zu beobachten. Die Männer haben um den rechten 
Oberſchenlel ein Stück Leder geichnallt, an dem ſie die beim 
Schneiden in die weiche poröfe Korkmaſſe Leicht ftumpf werdenden 
Meſſer von Zeit zu Zeit abſtreichen. Auf der Bruſt tragen 
alle ein größeres viereckiges Stück Korkholz, das durch ein 
um den Hals geichlungenes Band dort feitgehalten wird. Es 
dient ihnen als Unterlage beim Abziehen der Korlrinde. Bor 
jedem der Schneidenden jtcht ein Korb aus Weidengeflecht, 
die fertigen Korke aufnimmt. Auf dem Tiſche fteht in einer 


der | 


irdenen gemeinfamen Schüfjel das Rhöner Nationalgericht, ſaure | 


Milch mit Kartoffeln, während cine Lampe mit „Stinköl“, wie der 
icherzhaite Rhöner Ausdrud für Petroleum ift, das lebende Bild 
in ein Rembrandtiches Halbdunfel taucht. Ab und zu erhält die 
Scene noch ein beionderes Leben durch den Geſang eines ber | 


jelten und deshalb fehr hoch im Preiſe it. So ftellt ſich der 
Fabrifpreis für vorzügliche Champagnerkorte ichon auf 150 Marf 
fürs Tauſend. 

Der Abfall beim Korkichneiden wurde früher für werthlos 
neachtet und dem Arbeiter überlaffen, der damit gewöhnlich jeinen 
Dfen heizte. Er fand höchſtens eine Verwendung als Polfter: 
material oder wurde gemahlen als Füllmittel bei der Verpadung 
von Weintrauben und anderen Früchten benutt. Später formte 


fteine, welche den Wortheil boten, daß die aus ihnen errichteten 
Wände den Schall nicht durdjliefen und als ſchlechte Wärme: 
leiter einen gewillen Schuß gegen Kälte und Wärme gewährten. 
Man benußt dieje Korkiteine aus lehterem Grunde Hauptiächlich 
für die Innenwände von Eisfellern und wegen ihrer Leichtigkeit 
zur Herftellung von Scharwänden, die ein Fundament nicht be- 
Dingen. Die Hauptfabrifation diefer Korlſteine beforgt eine 
chemiſche Fabril in Ludwigshaien am Rhein. 

Erſt in neuerer Zeit ift der Korlabfall zu einem nicht um 
wichtigen Werthobjeft geworben, der zugleich einen ganz neuen 
Induftrieartifel ins Leben gerufen hat. Es iſt dies die Linoleum: 
oder Korkteppichfabrifation. Das Linoleum befteht aus fein ge 
mahlenem Korfabfall, der mit orydirtem Leinöl zufammen ver- 
mifcht und auf Juteleinwand aufgetragen wird. In der Haupt 
fache dient es als Fußbodenbekleidung und zeichnet ſich gegen 
ähnliche derartige Stoffe dadurd aus, daß es eine große Wider: 
itandsfähigleit gegen Feuchtigkeit, ſowie gegen Hihe und Kälte 
bietet, leicht geveinigt werden kann und das Geräusch des Gehens 
ſtark vermindert. Das neue Fabrifat, das jedenfalls noch eine 
große Zukunft hat und das durch aufgedrudte bunte Muster auch 
dem äſthetiſchen Geſchmack Rechnung trägt, wurde anfangs nur 
in England fabrizirt. Inzwiſchen find in Delmenborft, Köpenick, 
Nirdorf ꝛc. größere derartige Fabriken entitanden, die einen be- 
deutenden Abſatz erzielen. 

Neuerdings findet der Korkabfall ferner Verwerthung zur 
Herftellung von Korkpadpapier, das ſich zur Verpadung von 


655 


Glas, Porzellan und anderen zexbrechlichen Gegenftänden ſowie 
zur Verpadung gefüllter Gefäße mit werthvollem Inhalt gut eignen | 


fol. Auch wird der Kork, jeitdem für beſtimmte Waarengattungen 
die Wertbzölle duch Gewichtszölle erfegt find, feiner Leichtigkeit 
wegen zum Füllen ber Buppenleiber benußt, und wir fahen in 
der großen Puppenfabrik von Fiicher, Naumann nnd Comp. in 
Ilmenau eine eigene Mühle, welche Korlabfälle zu groblörnigem 
Mehle centnerweis vermahlt. 

Die bereit3 gebrauchten Korte lönmen dagegen eine fabrif- 
mähige Verwendung nicht mehr finden, weil fie meijt von der 
Flüffigfeit, zu deren Verſchluß fie dienten, durchdrungen find. 

Außer zu Pfropfen wird das Korkholz noch zu einigen 
anderen Artifeln verarbeitet. So namentlich zu Korkſohlen, zu 
Schwimmern für Fiichnege, zu Schwimm- und Rettungsgärteln 
und »Sleidern, zu Unkerbojen, als Huffutler und zu verſchiedenen 
anderen technifchen Zweden. 

Bekanntlich Hat ſich auch die bildende Kunst in höherem 
Sinne des Korkmaterials bemächtigt und bejonders in den 
plaſtiſchen Nachbildungen von Baudenkmälern mancherlei ge— 
feiftet. Der Erfinder diefer „Phelloplaftit” genannten Kunſt war 
der Architelt Auguſt Noje in Nom, der Ende vorigen Jahr 
hunderts lebte. 

Mit dem ftetig wachſenden Bedarf hat fih aud) die Kork: 
induftrie mehr und mehr ausgebreitet und fie ijt bei uns längſt 
nicht mehr auf ihren urjprünglichen Herd bejchränft. Fürforgende 


Regierungen haben fie namentlich in arıne, von großen Verlehrs— 
wegen und Arbeitsmärkten entfernte Gegenden eingeführt, und für 
biete wurben fie oft eine Quelle von Segen. So finden wir fie 
außer in dem Oldenburgiſchen feit etwa 25 Jahren, wie ſchon 
erwähnt, verbreitet im Eiſenacher Oberlande, mit den Haupt 
fiten zu Dermbach und Geifa, und faſt ebenfo lange im Sächſi— 
ſchen Erzgebirge in Raſchau und Umgegend. Ihr Hauptſitz 
bleibt aber immer das oldenburgiſche Land (Delmenhorft und 
die dortige Umgegend). Einzelne größere Korkfabriken befinden 
fih außerdem in Frankenthal in der bayerifcden Pfalz (mit 
Mafchinenbetrieb), in Wefel, Melle, Lohne, Hannover, Braun: 
ihweig, Schwerin, Franfiurt an der Oder, Breslau, Halle, 
Dresden, Leipzig und Salzungen, abgejehen von den kleinen 
Korkichneidereien, deren faft jede Stadt eine oder mehrere hat. 

‚Der Erport der heimijchen Fabrikate iſt eim nicht unbe 
deutender; er berechnet ſich bei einzelnen firmen auf 60 Prozent 
der gefammten Jahresproduktion. Und felbft nach den Ber 
einigten Staaten, die von Korken einen Eingangszoll von 
30 Prozent des Werthes erheben, iſt ein Geſchäft im gewiſſen 
Sorten, die bafelbft jo vorzüglich nicht hergeftellt werden können, 
möglid). 

Der geneigte Leſer wird nunmehr gejehen haben, daß fich von 
dem Heinen, unjdeinbaren, achtlos Fortgeworfenen Korkpfropfen 
gar mancherlei veden läht, und daß an feine Eriftenz ſich das 
Wohl und der Segen von Familien und ganzen Dijtrikten fnüpft. 


Die Braut Heinrichs von Kleif. 


Bon Shmidt-Weihenfels, 
J' der Oderſtraße zu Franffurt an der Oder, mitten in der | Haushalt in Frankfurt führte, und feine äftere, von ihm be 


außer der Meßzeit ftillen Stadt, in unmittelbarer Nähe der 
alten Oberfirche, jtand das einfache Haus, welches dem Oberſt⸗ 
wachtmeifter von Kleiſt gehörte. Dicht nebenan wohnte der 
Beneral von Zenge. Die Kameraden, die in demjelben Infanterie: 
regiment dienten, lebten als gute Freunde mit einander, und ihre 
Kinder jpielten zufammen. Die Hintergärten der beiden Häufer 
waren nur durch einen niedrigen Lattenzaun getvenmt und im 
Sommer natürlich ein Tummelplatz der Kinder, die auf die Leichte 
Sceidewand der Grundftüde feine Nücficht nahmen, um zufammen 
zu fein. In diefem traufich nachbarlihen Verhältniß änderte fich 
auch nichts, als der Oberſtwachtmeiſter ftarb. 

Der einzige Sohn desjelben aus zweiter Ehe, Heinrich, war 
in feinem elften Jahre nach Berlin in eine Predigerpenfion ges 
ſchickt worden und follte Soldat werden. An der Fertenzeit fam 
er zu feiner Familie zurück, und feit er dann mit fünfzehn Jahren 
als Junker in ein Potsdamer Regiment getreten, benutzte er auch 
den gelegentlichen Urlaub, um ihn im häuslichen Kreiſe der 
Seinigen zu genießen. Ber junge Kriegsmann, der ſich in einer 
gewiſſen Gemeflenheit des Benchmens und in frühreifer Weisheit 
gefiel, fpielte zwar nicht mehr mit den jüngeren Zengeſchen 
Kindern, aber er ſuchte deſto beflifiener den beiden ältejten 
Schweſtern Minette und Luife feine Berlin: Potsdamer Eleganz 
zu beweifen. Waren fie auch jünger als er, jo waren fie doch 
ſchon recht empfänglich für feine erſten Verſuche, den Hof kavalier— 
mäßig zu machen; zubem ficherten ihm Geijt und Bildung eine 
entjchiedene Ueberlegenheit über die einfachen Kinder, und er ge: 
wann damit bei feinen ehemaligen Spielgenoffinnen ein großes, 
jeiner Eitelfeit jchmeichelndes Anſehen. 

In den neunziger Jahren mußte er mit in den Krieg gegen 
Frankreich ziehen. 
einem faulen Frieden endigte. 
bei, dem 1795 zum Fähnrich avancirten Jüngling den Soldaten: 
jtand zu verleiden, zu welchem er von Haufe aus ſchon feine 
rechte Luft und Liebe gehabt. Darüber ließ er in den Briefen 
an die Seinigen feinen Zweifel. Er war von einem anderen, 
frieblicheren Ehrgeiz erfüllt. Wie er unter der Fahne in ftillem 
Eifer an feiner Geiftesbildung gearbeitet hatte, fo jehnte ex fich, 
faum dab er Offizier geworden, aus dem dienſtlichen Zwang 
binaus, um frei, mit dem geringen Vermögen, das ihm als väter: 
liches Erbtheil gehörte, feinen Neigungen für die Wifjenihaften 
zu leben. 


Es war ein Häglicher Feldzug, der bald mit 
Diefer Umftand trug viel dazu | 


fonders geliebte Schwefter Ulrike ihn umzuftimmen; fie fonnten 
die Gewalt nicht ahmen, mit welcher diefer ftürmifche Geift nad) 
Freiheit rang. Eines Frühlingstages im Jahre 1799 kam er in 


nachläſſiger Tivilkleidung nad Frankfurt in das Haus feiner 





Vergebens juchten jeine Tante, die den Kleiſtſchen 


Familie und Fündigte derfelben zu ihrem Screden und Hummer 
lakoniſch an, daß er als Lieutenant jeinen Abichied genommen und 
daß er nunmehr jtudiren wolle. 

Dean mußte ihm feinen Willen laſſen; denn er behauptete 
mit der Beftimmtheit eines Menſchen, der den geiftigen Beruf 
unabweisbar in ſich fühlt, daß er anders als durch die Hingabe 
an die Wiſſenſchaften nicht glüdlich fein könne. Damals hatte 
Franffurt noch feine Heine Univerjität, und obwohl Heinrich von 
Kleiſt ſchon zweiundzwanzig Jahre zählte, jo war es am Ende 
doch noch nicht zu ſpät zum Studiren und manches bemoofte 
Haupt übertraf ihn noch an Alter. 

So jtudirte er denn eifrigſt und hätte bei feiner herbor- 
ragenden Begabung alle Ausficht für die gelehrte Laufbahn ges 
habt. Er fpielte jogar aus innerem Drange den Schulmeiſter, 
wo er nur konnte — im Haufe bei feinen jüngeren Ge— 
ſchwiſtern und bei Zenges gegenüber den beiden Schwejtern, die 
inzwijchen zu Jungfrauen erblüht waren. Er ruhte nicht, bie er 
fie und einige ihrer Freundinnen zu einem Heinen Kollegium 
vereinigt hatte, dem er Borlefungen über Kulturgefchichte bielt, 
wozu er ſich mit bejonderer Wichtigfeit in einem Zimmer feines 
väterlichen Haufes eigens ein Katheder Hatte bauen laflen Er 
lehrte jo mit großer Genugthuung, was er als Student chen ge: 


| Ternt, ließ die jungen Damen deutſche Aufjäge, Denk und Stil- 
; übungen machen, überwachte und regelte ihre Lektüre, dramatifirte 


Sprichwörter und ftudirte ihre Aufführung ein — furz und gut, 
er bewegte ih durchaus als berufener Erzieher und Haushof- 
meifter in diefen beiden Familienkreiſen des eigenen und bes 
Nachbarhauſes, wenn auch als ein etwas jelbitherrticher. 

Bon den Schweitern Meinette und Luiſe von Zenge gefiel 
ihm eine jowohl wie die andere, Aber Luiſe erſchien ihm zu 
neiftreich und jelbjtändig. Dagegen war Minette, oder wie er fie 
bei ihrem deutjchen Vornamen nannte, Wilbelmine, ein weich— 
müthiges Mädchen von zwanzig Jahren, ein Blondkopf mit treu: 
herzigen Augen, mit einer gefühlvollen Seele, die ſich vertrauens— 
voll an feine Lehrhaftigkeit hingab und alle Seine Launen und 
Unfprüce als Ueberlegenheit eines männlichen Geiſtes in Demuth 
verehrte. Sie war weiches Wachs unter feinen Händen, ganz fo, 





Zur Zeit der Hirſch 
Nach dem Gem 


Photogravhie im Bar 





Pu 


eo 


J 


— Ni e — 





im Hochgebirge. 
t N. Tbiele. 


nıgerer in Wien. 





— 2 


wie er es von dem Weibe, das ihm dereinſt Lebensgefährtin ſein 
follte, verlangte; ihre feine, finnige Natur Hoffte er nam feiner | 
Art für fein ideales Liebesbebürfnig erziehen und bilden zu 

fünnen. So erfor er die Gefpielin der Kindheit und die Schülerin | 
feiner Stubentenprofefjur zu feiner Geliebten, und was in ihrer 

Seele längſt für ihm erglüht, verhehlte fie ihm nicht länger. Der | 
General von Zenge nahm die Werbung des Sohnes feines ver 
ftorbenen Kriegskameraden, der von jeher von ihm wie ein Kind 
im Haufe angejehen worden, zwar nicht ohne einige Beſorgniß, 
aber doch mit MWohlwollen auf, und in feiner, wie in der alt- 
befreundeten Kleiſtſchen Familie begrüßte man das Brautpaar mit | 
berzlicher Freude In weiteren Streifen wurde die Verlobung | 
freilich vorläufig noch nicht befannt. | 

Wie oft war num der Garten, bald hüben, bald drüben, der | 
Schauplatz des erjten reinen Licbesglüds der Verlobten! Heinrich 
verjüngte ſich gleichſam. Seine etwas gedrungene Geſtalt verlor | 
die angewöhnte Steifheit und gewann elaſtiſchere Bewegung; fein 
fonjt ſchon fo ernites, migmuthiges Antlik nahm wieder freund- 
lichere Züge und den kindlichen Ausdrud an, der ihm eigen war 
und auch in dem ruhigen Blide der Schönen, tiefgrundigen Augen 
fag. Arm in Arm erging er fich mit der hold verflärten Braut 
unter dem Schatten der Linden draußen vor dem Thore, am 
Bach entlang, und malte ihr das Glück der Zukunft aus, wie er 
es ſich am ihrer. Seite träumte. In der Laube des Zengeſchen 
Gartens ſaß er mit ihr und las Voſſens „Luije* oder Goetheſche 
Dichtungen vor. Und an mondhellen Abenden wurde aus dem 
Vorleſer wohl auch ein phifofophirender Weijer, deſſen Grundfägen 
über des Lebens rechten Inhalt fie mit Andacht lauſchte. 

Aber materielle Sorgen begannen ſich nun einzufinden. 
Mufte er doch jept, nachdem er Wilhelmine an fein Geſchick ge- 
fnüpft, darauf bedacht fein, zu einträglicher Verufsjtellung zu | 
gelangen! Zu unbedeutend war jein Vermögen, um darauf allein, 
gar mit einem Hausjtand, feinen Lebensplan gründen zu können. 
Und je mehr ihn diefe Sorge erfüllte, defto geheimnißvoller that 
er über das, was er eigentlich beabfichtige; beito räthſelhafter 
wurde er feiner Familie und aud dem General Das Studium, | 
nachdem er es num ein Jahr getrieben, gab er plößlich mit ebenfo | 
großem Widerwillen auf, als er es früher mit Begeijterung be 
gonnen hatte. Bon einer Profeffur, zu der er hatte hinftreben 
wollen, follte feine Rebe mehr fein. 

Etwas anderes ſchwebte ihm jeßt vor. Aber was? Niemand 
erfuhr es, denn niemand mochte er anvertrauen, daß er Damals 
mit feinen erſten dichteriichen Verſuchen fich abrang und wie feine 
Seele zwiſchen Hoffnung und Muthlofigkeit hin und her ſchwankte. 
Nur J Wilhelmine ſprach er ſchon damals von feiner unüber- 
windlichen Abneigung gegen jeben fejten Beruf und bat fie, als | 
er planlos nach Berlin reijte, ihm trogdem zu vertrauen. 

Wilig und aus Liebe zu dem trefflichen, wenn aucd) nur zu 
feltiamen Manne that jie, was er gewünſcht. Er nahm es ja 
fo ernithaft, fie als fein Weib geiftig zu erheben und fie dadurd, 
wie auch ſich feldft, in hohem Sinne glüdlic) zu machen! Auch 
in Berlin dachte er immer nur, wie er für fie und ſich den | 
Hausftand gründen fünne Allechand Ausfichten auf Anjtellung 
eröffneten fi) ihm; es ſchien nur an ihm zw liegen, fie zu ver 
wirklichen. 

„Als ich,” Tas fie in feinem erjten Briefe von dort, „Hinein- 
fuhr in das Thor im Halbdunfel des Abends und nun endlich 
in ber jtolzen Königsſtadt war und meine Seele ſich erweiterte, 
um fo viele zujtrömende Erfcheinungen zu u erfaflen, da dachte id: 
wo mag wohl das liebe Dach liegen, das einft mich und mein 
Liebchen ſchühen wird? Hier in der ſtolzen Kolonnade? Dort in 
jenem verjtedten Winkel? Oder hier an der offenen Spree?” In 
ſüßen Hoffnungen wiegte ſich ihr Herz bei ſolchen Worten. 

Und fo fteigerte er, befangen in qlüdlichen Hoffnungen, das 
Vertrauen ihrer Liebe immer von neuem: „Denke, Du wärejt 
in das Schiff meines Ölüdes gejtiegen mit allen Deinen Hoffnungen, 
Wünſchen und Ausſichten. Du biſt ſchwach, mit Stürmen und 
Bellen fannft Du nicht fümpfen; darum vertraue Dich mir ar, 
mir, der mit Weisheit die Bahn der Fahrt entiworfen bat, ber 
die Geſtirne des Himmels zu feinen Führern zu wählen ı und das 
Steuer des Schiffes mit ſtarlem Arm zu lenlen weiß! So lange 
der Steuermann noch lebt, fei ruhig! Weide gehen unter in den 
Wellen, oder beide laufen glüdlih in den Hafen; lann ſich die 
Yiebe, die echte Liebe, ein freundliceres Schidfal wünfchen ?* 








658 >» 


Aber er kam feinen Schritt weiter, der Geliebten ein Heim 
zu bereiten, denn von einem Grauen vor der trojtlofen Dede des 
Bureaubienftes erfaßt, verwarf er jeden Gedanken daran, bradı 
alle Verbindungen, die ihm zur Erlangung einer Anſtellung 
förderlich fein follten, ab, verließ Berlin und machte Reiſen nad 
ben verſchiedenſten deutſchen Städten, ja floh in einer phantaftiichen 


‚ Aufregung bis nad) Paris, wo er Freiheit, weitere Bildung und 


wohl auch, obgleich er dies gegen niemand ausfprach, die endliche 


| Geftaltung feiner inneren Gefühle zu einem bedeutenden Dichtwerk 


erhoffte Es war ihm, als müſſe dort fein Geſchick fich wunderbar 
entſcheiden. 

„Mädchen!” ſchrieb er unterwegs an die Verlobte. „Wie 
alüdlich wirft Dur fein! Und ich! Wie wirft Du an meinem 
Halfe weinen, heiße, innige Freudenthränen! Der Würfel Liegt, 
und wenn ich recht jehe, wenn micht alles mich täufcht, fo ftehen 
die Augen gut. Küſſe mich, Mädchen, denn ich verdiene es.“ 

Weiter fagte er nichts von feinen Plänen; fie erfuhr aus 
allen jeinen Briefen aus Paris nur immer wieder, wie er fih 
mit den Gedanken an fie, an ihre Jdealifirung, möchte man fagen, 
und ihr fünftiges Eheglüd trug. „Dich, mein geliebtes Mädchen, 
ausbilden, ijt das nicht etwas Vortrefflihes? Und dann mid 
felbft auf eine Stufe näher der Gottheit jtellen — das Ziel iſt 


| gewiß hod genug und erhaben.” 


Der alte General von Zenge faßte allmählid) immer fchwerere 
Bedenken über den zukünftigen Schwiegerfohn. Er ſchüttelte feinen 
grauen Kopf bei der Wahrnehmung, wie der junge Mann an 
feiner Braut fort und fort fchulmeifterte, allerhand Illuſionen 
in ihr erregte, als folle fie, ftatt auf der Welt, in einem er- 
träumten Wollenfududsheim ihre Beitimmung erwarten, und er 
daneben jeder Gelegenheit für einen einträglichen Lebensberuf mit 
SHeichgültigkeit aus dem Wege ging. ine bee verbrängte in 
feiner raftlofen Phantafie die andere, und jede diefer Ideen lonnte 
den Bater über das Schidjal feiner verlobten Tochter nur be 
forgter machen. Da fühlte der Bräutigam auf einmal den Beruf 
eines Dichters in ſich; dann, nachdem er in Paris Monate lang 
fein Geld ausgegeben, wandelte ihm wieder die Leidenichaft fürs _ 
Neifen an. Ja, wohin follte dies denn führen? 

Wilhelmine ſchwieg bet jolchen Scheltreben ihres Vaters auf 


den Gelichten. Ahr Glaube an ihn wanfte nicht, entfuhr ihr im 
‚ ftillen Rämmerlein aud ſchon mancher Seufzer, fiel aud) manche 


beige Thräne auf die Briefe, die er fandte umd die feiner inneren 
Dual erihütternden Ausdruf gaben. 

„Liebe Wilhelmine, laß mich reifen!“ hieß es in einem 
berfelben. „Sit es eine Werirrung, jo läßt fie fich vergüten 
und fchüigt mich vor einer anderen, die vielleicht unmiderruflich 
wäre. Sobald ich einen Gedanken erſonnen Habe, nad) dem ich 
wieder ftreben kann, fehre ich um, ich jchwöre es Dir... Es 
muß etwas Gutes aus diefem inneren Kampfe hervorgehen.“ 

Diejer ewige innere Kampf in ihm — mußte fie darin nicht 
mehr und mehr das Berhängnih ihres und feines Lebens erfennen ? 
Sah fie diefen Steuermann, in dejien Glüchsſchiff fie ſich gefegt, 
nicht planlos auf den Wellen treiben? „Warte zehn Jahre und 
Du wirft mich nicht ohne Stolz umarmen!” Kann folder Zuruf 


‚ eine Braut erheben? 


Er ſchickte ihr Rouſſeaus Schriften, um fie zu ſtudiren, ſich 
weiter daran zu bilden, Offenbar ein neuer Einfall von ihm, ſich 
und fie mit einem erträumten Leben nach Rouſſeauſchen Ideen 
glüdlich zu machen. 

„Das Heine einfame Hüttchen unter dem ſchützenden Felſen,“ 
malte er ihr auch ſchon aus, „der Strom, der Kühlung und 
Nahrung zugleich herbeiführt, Freuden, die feine Idylle malen 
kann, Wünfche, die nicht über den Gipfel der umſchließenden Berge 
fließen — ad), liebe Wilhelmine, ift Dir das nicht auch fo rührend 
und veizend wie mie? Wer erfüllt getreuer feine Bejtimmung 
nad) dem Willen der Natur, als der Hausvater, der Sandmann?” 

Es war das unfelige Miftrauen in die eigene Kraft, feine 
Verzweiflung daran, jemals etwas Hohes und Schönes leiſten zu 
fünnen, was ihn zu fol völliger Rejignation trieb. Cine Er- 
Märung über verjchiedene begonnene und wieder aufgegebene 
Arbeiten wollte und lonnte ev nicht geben; er fühlte es felbit, 
wie er Wilhelmine auälte, und lonnte ſich doch nicht entjchließen, 
fie in fein Innerſtes bliden zu laſſen. 

„Erlaß es mir,“ ſchrieb er, „mich deutlicher zu erklären. 


Ich bin noch nicht beſtimmt, und ein geſchriebenes Wort iſt ewig. 


— 0 


Aber Hofie das Beſte! Ich will mich wicht mehr übereilen; thue 
ich es noch einmal, fo ift es das fehle Mal. Denn ich verachte 
entweder dann meine Seele oder die Erde, und trenne fie.“ 
Daraus Mang auch fchon Verzweiflung und Sebensüberbruß. | 
Wilhelmine lonnte nicht mehr froh in eine Zufunft bficen, die | 
fie von dieſem erfahrenen Geiſt ihres Verlobten erwarten jollte. 
Befcheiben, wie ihr Sinn war, beſaß ſie doch eine ruhige Be⸗ 
ſtimmtheit des Charalters, welche einen beſſeren Halt im Leben 


659 > 


Univerität verfehten Profeſſor der Thilofophie Wilhelm Traugott 
Krug verheirathet war. Aber eines war dem anderen bier noch) 
nicht begegnet, und Heinrich hatte ein folches für ihm peinliches 
Zufammentreffen zu vermeiden gefucht. 

Jetzt lieh er dem Zufall fein Necht. Er öffnete der Freundin, 
bie er früher nicht anders als die „goldene Schweſter“ genannt, 


‚ fein übervolles Herz, klagte über ſich jelbft, der nach den Ser» 


verbürgte als Heinrichs ſchwankende und phantaftiiche Natur. So 


fing fie jet an, deutlich den unheilbaren Zwieſpalt ihrer beider: 
feitigen Naturen zu exrfennen. 
An alles, was er ihr noch vom Glück der Zukunft ſchrieb, 


glaubte fie nicht mehr. Gr wollte ſich ein Gütchen im der Schweiz | 


faufen, einen Heinen Bauernhof, wozu wohl noch der Meft feines 
Vermögens gereicht Hätte; und da jollte fie mit ihm zufammen 


die Rouſſeauſche Idylle vom glüdlichften Leben verwirklichen, mit | 
ihm ländliche Arbeit treiben und, wenn der jonnige Tag darüber 


vergangen, abends vor bem Hüttchen im Mondfchein jigen, die 
fühle Luft genießen, vom Dichten und Denken der großen Geifter 
mit ihm plaudern. 


Der General, als er davon hörte, erflärte ihn rundweg für | 


einen Narren, und alle im Haufe ebenjo wie in der Kleiſtſchen 


Familie ftimmten Halb und halb damit überein und verbachten 


es Wilhelminen nicht, daß fie ſich auf dieſe Mbentewerlichkeit nicht 
einlaffen wollte. Sie ſchrieb es ihm, fchonend, Liebevoll; fie 
war e3 jet, die ihm auf den Weg zum Glück zu führen ſuchte, 
indem fie ihn zunächſt von dem des Unglüds abmahnte. Das 
aber ertrug fein herriſcher Sinn nicht. Beleidigt, im Innerſten 
aber auch) 
er jelbjtherrlich geitrebt hatte, zu willenloſer Gefolgſchaft fich zu | 
erziehen, ſchwieg er. Kein Brief mehr Fam von ihm an fie; fie 
hörte nur von jeiner Schwejter, daß er wirklich in der Schweiz 
war und ins Vaterland nicht anders denn als gefeierter Dichter 
zurüdtehren wolle. War fie noch feine Braut oder nicht? Hatte 
er mit ihr gebrodyen oder grollte er nur? 

Sie wußte es nit. Ein Jahr war er ſchon fort und fie 


beihämt durch die Niederlage bei dem Mädchen, das 


| 


trug treu noch die Feel, die er ihre angelegt. Ihre Liebe ger 
| Freundin; ihre Schweiter war ihm twie die feinige. Sie beruhigten 


hörte noch immer ihm. Nun jtarb ihe Bruder Karl, mit dem 


fie durch die innigite Liebe verbunden geweien war, Da folgte | 


fie dem Zug ihres Herzens und fchrieb dem Geliebten, daß er fich 
jebt mit bem wirklichen Leben befreunden und zurüdfommen müſſe, 
daß jie an ihm hänge nad) wie vor und es mehr denn je bebürfe, 
von ihm getröftet zu werden. 

Wohl erfolgte darauf eine Antwort. Er jandte ihr ihren 
Brief zurüd mit einigen wenigen Zeilen, kalt, herzlos beinahe: 
daß er nicht zurücklehre, daß er arm fei und fich von ber 


Schriftitellerei ernähren wolle, daß er ihre nichts mehr bieten | 


fönne. 

Alſo für immer gebrochen! 
Mädcentraumes, in ben er fie gelullt! — 

Bier Jahre nad diefem Vorgang, 1806, fügte es eine der 
wunderbaren Saunen des Schidjals, daf fie in dem fernen Königs: 
berg ihn wiederfehen jollte. 

In einer größeren Gejellichaft daſelbſt befand ſich ein erniter 
junger Mann von dreißig Jahren, der lange abjeits des frohen 


Ein fchmerzvolles Ende ihres | 


Tanzkreiſes ftand und zu überlegen jchien, ob er gehen oder | 


bfeiben folle. 
allein nad) einem der Nebenzimmer ſich begab, zugugehen. Sie 
hielt bei jeinem Anblid erfchrofen inne; dann rief fie halb ver 
legen, halb zutraulid aus: 

„Herr von Kleiſt! Heinrich!“ 

Er reichte ihr die Hand und bat fie, zum Tanz mit ihm in 
den Saal zurüdzufchren. Sie that es gem und beritand im 


Endlich entſchloß er jich, auf eine Dame, die cben | 


Augenblid, einen herzlichen Ton mit dem Jugendfreund zu finden, | 


Es war Luife von Zenge, die jüngere Schweiter Wilhelminens, 
für welche er ſtets eine große Zuneigung gehabt hatte, 


\ bezeichnete Stelle, und fie erftarrte. 


Sie wußte es wohl, daß Heinrid von Kleiſt feit einiger | 


Zeit in Königsberg war, wo er eine beſcheidene Anjtellung als 
preußiicher Finanzbeamter erhalten hatte. Ihm feinerjeits war 
es ebenfo durch feine Stiefjhweiter Ulcite befannt geworden, daß 
und warum Fräulein von Zenge in der norbifchen Stadt Tebte. 


| 


Sie hatte Wilhelmine dahin begleitet, welche feit Jahresfrijt etwa | 


mit dem von frankfurt am der Oder nach Königsberg an bie 


fahrten des Lebens und nad cehrgeizigitem Ningen um dichteriichen 
Erfolg und Ruhm an Geift und Körper gebrochen ins Vaterland 
zueßdgelommen war und num nad allen Stürmen und Kämpfen 
in bem Hafen eines Heinen Staatsamts Ruhe und Sammlung zu 
finden hoffte, 

Er fragte Luiſe dann auch, ob ihn Wilhelmine wohl wieber: 
ſehen möchte. Sie war ebenfalls auf dem Ball; er Hatte das blühende 
Weib ſchon gejehen, wie es fich araziös im Arm des Gatten im 
Tanzreigen bewegt. Luife führte ihn darauf zum Brofefior Krug, 
einem etwas älteren, lebensfreudigen, gejelligen und liebenswürdigen 
Manne, und ftellte ihn bemfelben vor. Krug, der in Frankfurt 
Wilhelmine kennen gelernt und um ihre Hand geworben hatte, 
als er den Ruf nad Königsberg befam, Fannte natürlich die 
früheren Beziehungen des Herrn von Kleiſt zu feiner Gattin. 
Aber dies hielt ihn bei jeiner Theilnahme für den früheren un— 
glücklichen Bräutigam Wilhelminens nicht einen Augenblid ab, 
ihn feiner jungen Frau zuzuführen und aufs freundlichite in 
fein Haus zu laden. 

So ſahen fie fid) denn wieder, die einft fich für das Leben 
einander verlobt und deren Wege feitdem jo jehr aus einander ge: 
gangen waren. Er fand fie als die glüdliche Frau eines ſchon be- 
rühmten Gelehrten; jie ihn ala einen Schiffbrücdigen, der ſich in 
fein Geſchick ohne Aufriedenheit zu ergeben ſuchte. Eine ſtumme 
Zwieſprache führten fie da, als ſie ſich nach nahezu fünf Jahren 
wieder gegenüberſtanden; ihr Mitleid und jein Leiden tauſchten 
wohl leiſe einen Seufzer aus. 

Im Krugſchen Hauſe fand er ſo herzliche Aufnahme, daß er 
bald ein häufiger Gaſt in demſelben wurde. Bier lonnte cr ſich 
ausfprechen; hier boten edle Seelen dem Hadernden und Klein— 
müthigen Troſt. Die Braut von einjt bezeigle ſich hm als eine 


oft die wieder auffteigenden Wogen jeines Ehrgeizes. Er las 
ihnen die Weberjegungen aus dem Franzöſiſchen vor, mit denen 
er jich in feiner freien Zeit beſchäftigte, erzählte ihnen von feinen 
dramatischen Dichtungen, die feinen Erjolg zu erringen vermochten, 
von den neuen, die er im Kopfe trug, von all den Ideen und 
Rhantafien, mit denen jich fein Hirn erhigte, und fie ehrten jein 
Bertrauen durch innige Antheilnahme, durch nachfühlendes Ver: 
ſtändniß diefer echten, aber fo verdüfterten und verbitterten Dich— 
terfeele. 

R Auf einmal Titt es ihn im diefem Frieden nicht mehr. Die 
alte Nuhelofigkeit fam wieder über ihn. Er ftich das Amt 
twiderwillig von ji, nahm Abſchied von Wilhelmine, von Krug 
und wanderte froß aller Franzoſen im Lande, die nad) Preußens 
Zertrümmerung in der Jenaer Schlacht auch ſchon die Nord: 
provinzen überjlutheten, in bitterfter Januarlälte zum Thore von 
Königsberg hinaus nah Berlin. — 

Wilhelmine fah ihn mur noch einmal wieder, in Leipzig, 
wohin Profeffor Krug 1809 verjegt worden war, Sonjt verlor 
fie fein Thun und Treiben auf feinen weiteren Irrfahrten fait 
aus dem Auge. Gelegentlich nur kam ihr etwas von feinen neuen 
Schriften zu Geficht; von der Kleiſtſchen Familie in Frankfurt aber 
erhielt fie die ſchlimme Nachricht, daß fie Heinrich als einen 
Menichen betrachtete, dem nicht mehr zu helfen ſei und der elend 
an feiner Ueberipanntheit untergehen müſſe. 

Eines Tages, Ende November 1811, brachte Profejjor Krug 
feiner Gattin cin Zeitungsblatt. Ein Blid auf die von ihm 
Sie las, daß Heinrich von 
Kleift fich mit der gemüthstranfen Gattin eines Berliner Beamten 
am Wannfee im Grunewald erſchoſſen hatte. Als Leben im fie zu 
rüdgefehrt, flog fie an die Brujt ihres Mannes und meinte da 
fange und heftig. Er verjtand die Thränen, die fie einem Un- 
lüdlicen weihte, der doch ein echter Dichter geweſen war und mit 
Fa —— „Der Prinz von Homburg“, „Der zer: 
brochene Krug”, „Das Käthchen von Heilbronn”, „Penthefilen” 
u. a. ſich die — Unfterbticteit geihaffen hatte, 





— 





Am Lauterfee Bei Mittenwald. Lriginalzcidmmmg won M, ttuer. 


o die jugendliche Iſar mit ihren lichtgrunen Wellen aus 

den Hochlalfalpen Nordtirols hervorbricht, um ſich einen 
Ausgang nad) der baperifchen Hochebene zu fuchen, Liegt noch auf 
bayeriſchem Gebiete, aber hart an der Grenze, das Gebirasborf 
Mittenwald, Ein prachtvolles und großartiges Yandichaftsbild 
umrahmt den Ort; denn ſüdöſtlich von ibm ſtreck ſich die lange 
Kette des Karwendelgebirgs mit Hunderten von jchrofien Fels— 
zaden bin, um unmittelbar hinter Mittemvald ſcharf nach der 
Straße bin abzufallen; im Südweſten baut fih das Wetterjtein- 
gebirg empor, um im der Zugſpitze den höchſten Punkt des Deutichen 
Reichs zu erſteigen. Nordwärfs von dem Marktfleden aber dehnt 
jich eine grüne Thafebene aus, von Hitgelreihen durchzogen und 
begrenzt, zwiichen welchen ichöne Seeſpiegel glänzen. Und rings: 
um ijt Wald, endlofer Wald; und darüber in flimmerndem Dufte 
graue Felshörner mit blintenden Schneeſeldern. 

Es iſt ein after Ort; auch die Strafe iſt uralt, die hier 
durch das breite Felſenthor aus den Alpen ins Flachland heraus- 
zieht, Dier ſaß einſt dev rhätiſche Vollsſtamm dev Breonen oder 
Brennen, im ‚eitalter des Auguſtus von den römischen Legionen 
unterjocht. Pfahlbauten auf dem grünen Grunde des Barmſees 
zeugen hier von vorgefchichtlichen Menſchen. Die römiſchen Er 
oberer zogen eine breite Straße durch das Thal. Sie führte 
ſüdwärts über den Brenner nach Jtalien, nordiwärts nad) Augsburg. 
Heute ift fie vielfach zerriſſen und unkenntlich geworden, von den 


Wildwaſſern zerwaſchen, von Geröll überidhüttet, von Gras und 


Krummholz überwachien. Doc fo mächtig war der Bau, daß 
er jept noch auf Streden von vielen Meilen ſich deutlich ber: 
folgen läßt. 

Nach dem Sturze der Nömerherrichait bleibt die Geſchichte 
des Gaues und des Ortes lange in tiefes Dunkel gehüllt. Exit 
mit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts lichtet fie ich wieder; 
von dieſer Zeit ab fam Mittenwald, das vordem unter der 
Botmäfigfeit der Grafen von Eſchenlohe geſtanden, unter die 
Herrichait der Freifinger Biſchöſe, um fünfhundert Jahre unter 
ihr zu bleiben. Mannigfach jind die Schickſale, welche der Martt- 
fleden in diejer Zeit erlebte. Wie cin Märchen Flingt es, daß 
bier einst reiche Silberadern entdedt wurden. Aber der Bergjegen 
erwies ſich als trügerifch; denn che noch der Streit, der ſich 
jeinetiwegen zwiſchen Biſchof und Herzog entipann, ausgetragen 
war, verichwanden die Adern twieder. 

Meit werthvoller als der kärgliche Bergbau ward für die 
Mittenwalder der Holzreichthum ihrer unermeßlichen Waldungen 
und die Viehzucht anf ihren Almen; aber das Widtigite war 
der bedeutende Handelszug, der aus den oberdeutfchen Handele: 
jtädten über Mittenwald nad) Tirol und alien führte. An 
einem Straßenknotenpunkt und zugleich an der Yandesgrenze ge 


legen, erblühte Mittenwald zum Iebhaften Stapel» und Spebitions- 
plab. Hier ſaßen die herzoglichen Zöllner; hier waren große 
Wanrenlagerhäufer, und die Mittenwalder Fuhrleute, in einer 
Zunft, der fogenannten „Rott“ vereinigt, fuhren mit ihren ſchwer— 
beladenen Frachtwagen ins bayerifche Land hinaus nach Augsburg, 
der blühenden Handelsftadt, und durch den Scharnikpaß dem 
Brenner zu, und weiter nad) Bozen. Selbjt der wilde Berg— 
ſtrom, die ar, ward zur Floßſtraße benützt. Auf ihr ward 
namentlich der feurige Wein des Etſchlandes hinausgeführt nad) 
den bayerischen Städten und Klöſtern, auch Südfrücte, Gewürz 
und Baumwolle aus Jtalien und der Levante, während deutſcher 
Gewerbilei feine Eijenwaaren und Tücher in Mittenwald auf: 
ftapelte, um fie von da nadı Welichland zu bringen. Da gab's 
ein buntbewegtes Treiben zu Mittenwald; hier begegneten fich 
die Nauflente aus Süden und Norden mit ihren Saumroſſen und 
Frachtwagen. Hufgeſtampf und Peitichenfnall befebte die fchöne 
Albenſtraße und den wohlhabenden Markt; reitende und laufende 
Boten verfchrten zwiichen den Benetianifchen und Nürnberger 
Haufhäniern über Mittenwald. Die Mittenwalder Nottftraße er: 
frente fich auch einer größeren Sicherheit al& die andern Handels: 
ſtraßen des Mittelalters; nie hörte man bier von den Piadereien 
der Stegreifritter, 

Genen Ende des fünfzchnten Jahrhunderts erlebte Mitten: 
wald als Handelsplak feine höchſte Blüthe; damals verlegten die 
Venetianer, von der Tiroler Regierung beleidigt, ihren wichtigen 
Bozener Markt nach Mittenwald. Der Wohlitand ſtieg; jtets 
mebrten ich die Wanrenhäufer und Stallungen; neue Straßen 
wurden erbaut; die Fuhrleute wurden unternehmender und über: 
müthiger; neues Gewerb aller Art erblühte. Ueber ein Jahr 
hundert lang währte diefe Blüthezeit Mittenwalds; dann kam 
der Verfall. Der deutſch-italieniſche Handelsverfehr blieb zwar 
noch in Icbhafter Bewegung, aud) naddem Venedig längit von 
feiner meerbeherrſchenden Höhe hevabgejtiegen war, aber er ver- 
theilte ih auf eine größere Zahl von Alpenftrafen. Dazu fam 
der wirthichaftliche Niedergang Deutſchlands feit dem Dreißig— 
jährigen Kriege; dann die Drangfale, welche der Markt ſelbſt 
während des ſpaniſchen Erbfolgekriegs und noch mehr in den 
eriten neun Jahren des gegenwärtigen Nahrhunderts erfitt, als 
er den Heeren der Defterreicdher und Franzojen zum Kriegsſchau— 
plape diente und duch die Felſenengen des Scharnitzpaſſes 
Nanonendonner ſcholl. Und als endlich gar die erjte Lolomotive 
ihren Weg zum Brenner fand, war es um die alte Handelsſtraße 
von Mittenwald vollends geſchehen; fie verödete mehr und mehr; 
die großen Stallungen und Waarenlager ftehen leer, und auf der 
einst jo reich befebten Strafe, die unter den grauen Wänden des 
Karwendelgebirgs hinüberführt nad) den Thälern Tirols, kann 
man tagelang hinwandern, ohne ein anderes Fuhrwerk zu fehen, 
als etwa den gelben Wagen der föniglich bayerifchen Loft. 

Wenn aber aud die Handelsblüthe Mittenwalds dabinge- 
gangen ift, der einmal gewedte Unternehmungsgeift der Mitten: 
walder ſchuf ſich einen Eriag in einem Gewerb ganz eigener Art. 
Dos ging folgendermaßen zu: 

Im Jahre 1663 wanderte eim zehnjähriges VBübchen aus 
Mittenwald mit einem Fuhrmann von da durd Tirol, um in 
dem gewerbfleißigen Oberitalien eine Kunft zuerlernen. Das Bübchen 
hieß Hieſel (Mathias) Klotz und wurde, nachdem es wie ein Stüd 
Frachtgut von einem Fuhrmann an den andern abgegeben worden, 
schließlich in der Werfjtätte des Geigenmachers Nicolo Amati zu Ere: 
mona als Lehrling untergebracht. Der Heine Klotz ward bald einer 
der bejten Gehilfen des Meifters. So fehr zeichnete Amati den 
Mittenwalder aus, daß die Eiferfucht der welichen Geſellen fie 
dazu trieb, den jungen Deutjchen mit bewaffneter Hand anzu— 
fallen. Der Mittenwalder wehrte fi zwar tapfer genug, aber 
er ward verwundet, Sein Meilter verhalf ihm zur Flucht aus 
Gremone. Dann diente er kurze Zeit als Landsknecht und 
wan derte hierauf als Geigenmachergeſell wieder von Stadt zu 

Stadt, um endlich mad zwanzigiährigem Aufenthalt in der 
Fremde mit einem reichen Schaf von Modellen, Zeichnungen und 
Erfahrungen in die Heimath zurüdzufehren. 

Er kam, um aus feinem Heimathorte ein bayerifches Cremona 

zu fhaffen. Seit Mathias Koh aus Welſchland zurüdtehrte, 


— 06 


fingt und klingt es in Mittemvald ımd von da durch ganz 
Deutfchland und durd) die ganze Welt, ein holder, Tanggezogener 
Saitenflang — die Mittenwalder Geigeninduftrie. Won dem be— 
rühmten Tiroler Geigenmacher Stainer zu Abſam Hatten die 
Mittenwalder gelernt, daß die edle Hajelfichte, die an den Sonnen: 
bergen um Mittenwald wächſt, im Holze ihres ſchlanken Stammes 
zanberifchen Wohlfaut verbirgt. Wie es Stainer einjt gethan, jo 
wanderte jeht Klotz durd die Wälder und fchlug mit der Art 
an die Stämme, um zu hören, welchen Ton jie gäben. 


und jie über das fteile Gehäng herabſtürzten, fah er daneben, 
um zu lauſchen, welchen lang die ftiirgenden Stämme gaben; 


x 





Und | 
wenn die Holzkuechte droben im Hochgebirg Bäume niederwarfen ı 


661 > 


Schwärzergeichäft, die eimft bier Hoc im Schwunge jtanden, 
dürften noch nicht ganz aufgehört haben. 

Mittenwald hat auch feine Sonoratioren, und wer Diele 
waderen Männer fennen lernen will, braucht jich nur in ber 
Sajtitube des jtattlichen PBoitwirthshaufes umzufchen. Da hängt 
ihre Tafelrunde als Bildniß an der Wand, eine Kohlenſtizze von 
F. Prölß, die als Holzſchnitt unsern Artikel ſchmückt. Abends aber, 
wenn das Tagwerk treulich gethan it, fommen fie felber zur Thür 
herein, markige Geftalten mit ausgeprägten Charakterföpfen, von 
welchen feiner troß des jtädtiichen Berufs die Beraheimath ver: 
leugnet. Da figen fie dann beifammen und fpielen friedfertig 
ihren „Numpel”, der eine ein Aniteumentenfabrifant, deſſen 





Anfidt von Willtenwald mit dem Alich auf den Wetterſtelu. 
Driginalzeiduning von N, Bürtuer, 


und die, welche den jchönjten Klang hatten, wählte er zum Holz 
für jeine Geigen. 

Es währte freilih mandes Menjchenalter lang, die Mitten: 
wald fich in der Geineninduftrie den jtolzen Ruf erwarb, den es 
heute bejigt. Jetzt ift das Abſatzgebiet der Mittenwalder Saiten: 
initrumente die ganze Welt. Den Abſatz der Anftrumente be 
forgen zwei große Berlansgeihäfte, während das Haufiren der 
Geigenmacher jelbjt immer ſeltener wird. Faſt in jedem Hauſe 
von Mittenwald ift cine Werkitätte; und wenn man an einem 
schönen Sommertage von dem nächſten fchroffen Hügel herunter 
ihant in den Markt, jicht man in allen Gärten die zum Trocknen 
aufgehangten Geigen ichimmern und im Winde tanzen. 

Freilich fißen nicht alle Männer Mittenwalds an der Schnitz 
banf. Mancher, dem das Blut der Bergbewohner zu feurig durch 
die Adern rollt, zieht es heute nody vor, als Fuhrmann neben 
ſeinen ſchweren Roſſen fandein, landaus zu wandern oder bei der 
freien luſtigen Holzarbeit droben im Hochwalde zu Hausen, oder 
auch als Flößer auf feinem rohen Ballenfahrzeug die grünen 
Iſarwellen binabzuichtuimmen nach Tölz und Winden, um 
hernach, mit der blinfenden Art auf der Schulter, wieder berg: 
eimmwärts zu wandern. Auch das Wildſchützenthum und das 


1888 


Zithern umd eigen durd ganz Europa fingen; neben ihm der 
Lehrer des Iris, dann der Inftrumentenverleger, der Arzt und 
der Kaufmann, der Rojthalter und der Thierarzt. Schon manchem 
Fremdling, den das großartige und prachtvolle Gebirgsthal feit- 
gehalten hat, ward das Scheiden ſchwer, nicht allein von der 
Natur, ſondern aud das Scheiden von den gemüthvollen freu: 
berzigen und lebensfrohen Menfchen, die da haufen, aus ihrer 
unverwäftlichen Berqnatur wie aus ihrer kunſtſinnigen Beſchäftigung 
beftändige Anregung ichöpfend. Die Mittenwalder willen auch 
wohl, wen fie die Erhaltung ihres geiftigen und materiellen 
Wohlitandes danlen; ein ſchönes Denkmal für den Gründer der 
Mittemwalder Geigeninduftrie wird demnädyit Zeugniß von diefer 
Dankbarleit wie vom künſtleriſchen Sinne der Bevölferung ab 
legen. In diefem Sommer befand jich daflelbe, aus dem Atelier 
von F. dv. Miller jtammend, in der Münchener internationalen 
Kunſtausſtellung. 

Der Markt ſelber iſt äußerſt maleriſch. Die alten Häuſer, 
größtentheils mit Fresfen reich bemalt, zeugen noch von der ehe— 
maligen Blüthe des Ortes mit ihren zierlichen Erlern, Vorſprüngen 
und Gifenornamenten. Und über die ſchieſen Dächer ſchauen 
dräuend und gewaltig die Felstoloife des Starwendelgebirges 


Pr 


© 


herein. Das bant ſich, vier Ketten Hinter cinander, als unge 
heurer Grenzwall auf zwiichen Bayern und Tirol. Und zwijchen 
diefen Ketten zieten die unbeſchreiblich einfamen Thäler binan, 
aus welchen die Quellbäche der Iſar hervorbrechen. Wer Mitten 
wald am frühen Morgen verläßt, um eines diefer Thäler hinauf: 
zuwandern und eins der wilden Joche zu überflettern, die nach 
Tirol hinüberleiten, dem mag cs leicht begegnen, daR er bis 
zum Abendroth feine menschliche Geftalt erblidt und keinen Laut 
vernimmt, als etwa in weiter Ferne den ſcharfen Knall eines Ge 
wehrs. Die Felienhänpter des Dedfar und Birllar ſchauen in 
ihmeigender Größe auf ihm herab; um ihre Schultern bangen 


662 


o 


ſelbſt im Hochſommer Schneeietder, und grauenhafte Schutthalden 
ziehen ſich aus ihrem zerklüiteten Geſchröff bis zur Thalſohle 
herunter. Legt ſich aber der Wanderer am Ende eines dieſer 
Hochthaäler in den Schatten der lebten Bäume, wenn der Bera 
wind durch dieſelben rauſcht, dann kaun er wohl jenen ſingenden 
Ton vernehmen, der den Bäumen dieſer Thäler eigen iſt. Und 


wenn man einſt dieſen Baum niederwerſen und zerfägen wird, 
um Geigen aus ihm zu ſchnitzen, ſo wird fein Holz immer feiner 
und Harer den Ton der Saiten mitempfinden und nachllingen laſſen, 
als ipürte das Inſtrument ein unvergänglicyes Heimweh nad der 
Mar Haushoker. 


Bergeinfamfeit, die feine Wiege war. 





Am Stammtifh in der „Pofn‘* zu Mittenwald, 


Nach einer Kohlenſtizze von F. Prölß. 


Der Sebrer als Wächter der Geſundheit. 


on Dr. med. Taube. 


> feinem ihrer Einzelfächer hat die öffentliche Gefundheits: 
pflege einen ſo heilfamen und Har zu Tage tretenden Einfluß 
in den fetten Jahrzehnten entwideln können, wie auf dem Ge 
biete des allgemeinen Schulweſens. Es iſt unferen älteren Zeit 
genoffen nicht zu verargen, wenn fie, an die engen, ſchlecht ge: 
lüfteten und durchleuchteten Räume der chemaligen Schulen 
zuräddenkend, mit einem gewiſſen Gefühl des Neides Die modernen 
Schulvaläſte betrachten, und mancher von ihnen wird ficher zu 
der Frage geführt: war denn die Nothwendigkeit für fo had) 
aradige Veränderungen auch twirtlich vorhanden? Denn in den 
früheren Berhältniiien entwidelten ſich gleichfalls im Durchſchnitt 
förperlich und geiſtig geſunde Menſchen. Die Antwort auf dieſe 
Frage lann von Merzten und Lehrern nir bejabend ausfallen, 
Tie Schäden eines Uebelſtandes werden oft erit dann richtig er 
fannt, nachdem derselbe bejeitigt worden ift. Wir können ſchon 


l, 


jet mit Sicherheit behaupten, da einige der fogenannten Schul- 
franftheiten, 3. B. die Nüdgratsperfrümmungen, feltener geworden 
find, andererfeits legt aber die Schule vft den Heim zu Krank 
heiten, welche exit im späteren Lebensaltern zur Gntwidlung 
fommen, 3. B. Bleichſucht, Schwindſucht, Augenkrankheiten. Diele 
Anlagen können aber nur durch den Aufenthalt der Kinder in 
geſundheitlich To günſtig wie nur möglich eingerichteten Räumen 
eine Verminderung erfahren. Man vergleiche in Ztädten, welche 
Schulhäuſer nad) altem und nenem Muiter beiiten, das 
Befinden der Minder und die Verminderung des Kohlenſäure 
achaltes in neuen und alten Anftalten, um ſich hiervon zu 
überzeugen. In der Neuzeit tritt noch die Nothwendigfeit hinzu, 
daß die Schule die Schäden des Hauſes bezüglih Luft und Licht 
in einer großen Anzahl von Fällen ausgleichen muß; nicht die 
Schultrantheiten, ſondern die Hausfranfheiten find es vielfach, 


663 > 


welche die Schule verbeſſern ſoll, und dies lann nur im Ge— 
bäuden, Die im jeder Beziehung geſund angelegt find, ermöglicht 
werden. 

Diefe Wahrnehmung kann uns nur ermutbigen, auf dem 
eingejchlagenen Wege weiter fortzujchreiten, um jo mehr, als nodı 
viele Fragen ihrer Erledigung harren. Pie allgemeine Gefundheits- 
pflege hat den End;wed, den Organismus der Menſchen gefund 
zu erhalten Wenn daher auch die Schlußfäden in der Hand 
des Arztes zuſammenlaufen, jo find dod zur Löſung der Auf⸗ 
gabe die verſchiedenſten Mitarbeiter in Auſpruch genommen. 
Die Schulgeſundheitspflege als Theil des Ganzen ſucht die Ge— 
ſundheit der Schullinder gegen Gefahren zu ſchützen, welche 
durch den längeren Aufenthalt und die größere Anzahl der 
Kinder in aejchloffenen Räumen und die qebengte Haltung der: 
ſelben entjtchen. 

Es fragt ſich nun, wer diefes geſundheitliche Wächteramt 
der Schule übernehmen fol. Es iſt bier zweierlei zu berückſich— 
tigen: erftens der Bau und bie Einrichtung der Schule. In 
diefer Hinſicht wird wohl jet überall in Deutjcland die ganze 
Kraft von den Verwaltungen eingefeßt, das Beſte zu ſchaffen und 
die neneften Erfahrungen zu verwerthen. Das Zweite dagegen, 
die Ueberwachung der Kinder in den gegebenen Verhältiſſen, 
hat noch nicht die nothwendige Erledigung gefunden. 

In mehreren auferbeutfchen Ländern find Schulärzte zu 
diefem Zwecke vorhanden, welche, feit angejtellt, die Schule 
monatlich ein: bis zweimal beſuchen und über das Ergebniß der 
Unterfuhung der Schule und der Schüler amtlich berichten. Die 
Einführung hygieniſch gebildeter Schulärzte ift auch in Deutichland 
ein deingendes Bedürfnißß; ihre Thätigleit muß aber vor allem 
darin bejtehen, die Güte der vorhandenen Einrichtungen bezüglich 
der Wirkung auf die Allgemeinheit der Kinder Fortdauernd zu 
prüfen umd die von den Lehrern gefundenen kranlhaften Ab- 
weichungen der Schüler in Augenfchein zu nehmen. Cine merk: 


liche Verminderung der anſteckenden Krantheiten durch die Echul- 


ärzte zu erzielen, würde nicht einmal durch tägliche Unterſuchungen 
zu ermöglichen fein und cine fo große Anzahl von Aerzlen ev: 
fordern, daß das Zuſammenwirken zwiichen Lehrer und Arzt 
verloren ginge. Für jeden größeren Schulbezirt würde nur ein 
Arzt anzustellen jein. 

Roc) ein anderes Thema, welches bis jept nicht in Betracht 
gezogen worden iſt, gehört in den Bereich des Arztes, nämlich 
ein kurzer Vortrag über gewiſſe Kapitel der Geſundheitspflege in 
dem letzten halben Jahre der oberften Gymnaſial-, Real-, Bolts: 
ſchul- und Fortbildungsklaffen. Der Schüler Soll darin nicht mit 
der Kenntni der neueften Unterſuchuugen aus dem Gebiete der 
Hygiene überbürdet werden, ſondern aus dem Leben beraus die 
Gefahren erkennen lernen, welche dem Jüngling bei feinem jelb- 
jtändigen Eintritt in das Leben in gefundbeitlicher Beziehung ent: 
aegentreten. 

Hiermit iſt die Thätigkeit des Arztes in der Schule abgeichlofien ; 
die Beobachtung des einzelnen Kindes iſt für ihn nicht möglich. 
Dazu it nur der befähigt, welcher das Kind fortdauernd vor 
Augen hat und eine jede Beränderung desjelben mit Bezug auf 
Haltung, Farbe, Ausdruck berüdjichtigen kann: dies ijt der Lehrer. 
Durch jeine Stellung als geiſtiger Erzieher muß ev mit Nothivendig- 
feit während der Schulzeit auch dem körperlichen Befinden des 
Kindes fein Augenmerk zuwenden; er faın krankthafte Abweichungen 
ot früher entdeden, als dies im Haufe geſchieht, weil ihm 
ber Vergleich mit normal geiunden Kindern täalich zu Gebote 
ſteht. Der Lehrer iſt femer zur Ueberwachung der Geſundheit 
feiner Schüler berechtigt, weil gegen die Schule oft die unbe: 
gründetſten Vorwürſe wegen Entjtehung von Krankheiten erhoben 
werden, deven Urſachen vielfach nur im Hauſe zu juchen find, Die 
Eltern jollten deshalb dem Lehrer für eine Benachrichtigung über 
den Geſundheitszuſtand ihres Kindes um jo danktbarer fein, als 
das Anftitut der Hausärzte immer mehr in dev Abnahme begriffen 
und daher von dieſer Seite Aniktärung nicht zu erwarten iſt. Um 
jein Wächteramt aber aenügend erfüllen zu fönnen, muß ber 
Lehrer eine gewiſſe Kenntniß von einigen Eranfhaiten Abweichungen 
des Drganismus, Nüdaratsverfrimmungen, Kurzſichtigkeit, den 
wichtiaften anftedenden Krankheiten, ſowie von allgemeinen Schul— 
einrichtungen, Bentilation und Heizung 2c. beiten. Au den 
nachfolgenden Artikeln wollen wir nun den Berfud; machen, 
eine kurze Erörterung dieſes Stoffes aus dem praktiſchen Leben 


heraus zu geben. Es find oſt Kleinigkeiten, die herangezogen 
werden, doch verdienen jie für die Entwickelung des Kindes 
Berüũckſichtigung. 

Eine Vorfrage, welche dem Lehrer oſt von den Eltern ge— 
ſtellt wird, lautet: wie ſoll das Kind vor dem Beſuch der 
Schule unterrichtet werden? Hier kommt eine Einrichtung in 
Betracht, deren Häufig auftreiende Nachtheile noch nicht überall 
die genügende Beachtung, befonders von behördlicher Seite, ge 
funden haben, nämlich die „Kindergärten“, nicht zu verwechſeln 
mit den Kinderbewahranftalten, welche, faſt jtets gefund gebaut, 
jür die ärmeren Klaſſen unferer Bevölferung die fegensreichite 
Wirkung ausüben, Während bei Schulbauten alles geichiebt, um 
die Räume gejumdheitlih jo günſtig wie möglich auszubauen, 
werben in Kindergärten mitunter Krühmliche Ausnahmen find ja 
glüdlicherweife auch nicht felten) in einem gewöhnliden, gegen 
Norden gelegenen Miethlogis über 40 Kinder ſchon vom dritten 
Jahre an in gänzlich ungenügenden Räumen untergebracht; durch 
unpaſſende Beleuchtung, Site und Arbeiten, bejonders das Ausftechen 
mit Nadeln, entftcht auf diefe Weiſe ſchon im früheſten Alter die 
Grundlage der fpätern Augen- und Scultvanfheiten. Ein Rind 
muß bis zum ſechsten Jahre fo viel durch eigene Beobachtung 
lernen, daß jeder methodiſche Lehritoff vor dieſem Alter zu ver- 
werfen iſt. Fernere Nachtheile ſchafft das längere Stilljigen, weil 
hierdurch für den Organismus ungünjtige Wachsthums⸗ und Blut: 
feeislaufsverhältnijfe eintreten. Außerdem droht, dem Kinde die 
Gefahr von anftedenden Krankheiten ſchon in einem früheren 
Lebensalter, als dies im Haufe durchſchnittlich der Fall iſt. Je 
älter aber ein Kind, deſto leichter wird gewöhnlich eine ders 
artige Krankheit überitanden. Dieſe Zuftände in den ſogenannten 

„Kindergärten“ fordern gebieteriich eine Abhilfe durch geſeh— 
liche Beſtimmungen und befonders folgende Punkte find zu be 
—— 

Die Räume und Einrichtungen müſſen in jeder Beziehung 
der modernen Geſundheitspflege und der Anzahl der 
Kinder entipredyen. 

Die Aufnahme ift nicht vor dem fünften Jahre zu 
gestatten. 

3. Der Zwang zum Stillſitzen darf wicht über eine halbe 

Stunde dauern. 
4. Es find Beichäftigungsmittel zu benutzen, 
Augen nicht nachtheilia ind. 

5. Jeder methodiſche Lehrſtoff, welcher zur Schule Beziehung 

hat, ift verboten. 

6. Bezüglich der anſteckenden Kranfheiten müſſen die Schul 

aefege in größter Strenge zur Anwendung kommen. 

Unmittelbar aus dem elterlichen Hause nimmt der Lehrer ſchon 
deshalb am liebjten das Kind entgegen, weil es dann im volliten 
Umfange die Vorfreude und Sehnſucht nach der Schule mit Tich 
bringt, die es ſchon Jahre lang in Spiel und Gedanken beherricht 
bat. In diefer Borfrende ijt eben einer der Hauptgründe zu 
finden, daß das Sind die Anjtrengungen der Schule in körper 
licher und geiftigev Beziehung nach der vollftändigen Freiheit To 
gut erträgt, und das Erhalten diefer Freude an dev Schule be 
jonders im erſten Sculjahre ift von der größten Wichtigkeit für 
die geſammte geiſtige Entwidelung des Mindes. 

Erwarten wir unſere Schuljuaend früh beim Eintritt in 
die Schule, jo finden wir immer nod in manchen Orten den 
Uebelſtand, daß zu früh aefommene Kinder nicht das Schul 
aebäude betreten können, jondern vor der Thür eine Zeitlang 
warten müſſen. Bei fchlechtem Wetter wird dieies Warten feicht 
zu einer Quelle von GErkältungstrankgeiten. Die Kinder müſſen 
daran gewöhnt werden, die mittlere Durchichnittszeit innezubalten, 
und nöthigenfalls find die Eltern zu benachrichtigen. Gine offene 
Hausthür im Schulhaufe für zu früh qelommene Rinder iſt aber 
durchaus zu fordern. 

Eine große Härte liegt oft auch in der Beſtrafung der zu ſpät 
gekommenen Rinder, Vergleichen wir dieſen Webeljtand an ver 
ichiedenen Schulen, jo jehen wir in den Bezirksichulen, welche 
von den Kindern der weniger bemittelten Stände beſucht twerden, 
viel jeltener dieſe Spätlinge, Der Vater muß bier früh das 
Hans verlajjen, es wird zeitig gefrühſtückt, das Kind kann, nadı 
dem es in Ruhe feinen Kafſee getrunken bat, ſich langſam zur 
Schule rüſten und zur rechten Zeit eintreffen. In den wohl- 
habenderen Ständen hat dagegen das moderne Leben cine größere 


10 


welche den 


_— 6 


Benutzung der ſpäteren Abenditunden herbeigeführt: gleich den 
Eltern kommt auch das Kind oft erſt jpät ins Bett. Am Morgen 
ichlafen die Eltern länger, dns Dienftmäddhen wedt das Sind, 
welches ſich müde erhebt; die nothwendige Zeit zum Frühſtück 
fehlt, im Stehen wird der Kafſee hinuntergegoſſen; zuweilen 
werden auf dem Schulwege noch einige Biſſen gegeſſen, aber 
manchmal kommt das arme Kind volltommen nüchtern, erregt an 


feinen laß, um bald geiſtig zufammenzufinten und oft nod | 


von dem Lehrer falſch bemrtheilt zu werden und madhiiten zu 
müſſen. Die Schulordnung ist jelbjtverftändlich aufrecht zu er— 
halten, doc find vor allem in ſolchen Fällen die Eltern zu 
benachrichtigen und dringend aufzufordern, diefer Unordnung ab: 
zubelfen. Kin Kind bedarf 10 Stunden Schlafes, und eine 
jede Verkürzung desfelben rächt fich bitter bei der Entwickelung 
des Organismus, 

Diermit hängt die Freübftüdsftage eng zuſammen. Ich be: 
fuchte in der Frühſtückspauſe verichiedene Schulen. In den Bezirks: 
ſchulen aßen die Rinder ihre oft ſehr anſehnlichen Butterbrote mit 
größtem Nppetite; ich babe auch in dieſen Ständen felten achört, 
daß die Kinder ihr Frühſtück unberührt aus der Schule mit 
brächten, wie es bei beſſer fitwirten Kindern häufig die Klage der 
Meitter iſt. Durch das übereilte jpäte Frühftüd wird der Magen 
geſchwächt, im der Pauſe ijt fein Hunger vorhanden, nach der 
Schule jtellt ſich derielbe ein und das verfpätet negefiene Brötchen 
verdirbt wiederum den Mittagsappetit. Oft wird aud das Früh— 
ſtück vergeſſen und die Pauſe zu Schularbeiten benutzt. Dieſer 
große bis jetzt nicht genügend hervorgehobene Fehler macht ſich 
beſonders in den höheren Schulen bemerkbar, und es muß hier— 
gegen mit größter Strenge eingeſchritten werden; die Pauſe ſoll 
ohne jede geiſtige Anſtrengung verlaufen und nur der 





664 > 


Ruhe gewidmet fein; die Hauptpaufe iſt zum Freübftüden zu 
benußen. 

Bei ichlechtem und faltem Wetter find cs die fünftigen Herren 
der Schöpfung, welche ihre Aohärtung zum Nachtheile ihrer Ge— 
jundheit zeigen wollen; Regenſchirme und Ueberzieher werden als 
ſehr überflüſſige Gegenſtände des findlihen Haushaltes betrachtet, 
völlig durchnaßt gelangen fie oft in der Schule an. Der Lehrer 
iſt volljtändig berechtigt, derartige Kinder nach Haufe zurüd- 
zuſchicken. Naffe leider leiten die Eigenwärme des Körpers 
leichter fort, das Kind ſitzt fröſtelnd an feinem Plage. Um ein 
Baar nafle wollene Strümpfe an den Füßen zu trodnen, it fo 
viel Wärme erforderlich, ala nöthig ift, 7, Pfund Eis zum 
Scymelzen zu bringen — für ein blutarmes Kind eine Unmöglich— 
feit; die falten Füße drängen das Blut nach anderen Organen und 
Erkältungen find die Folge, Aus diefem Grunde muß der Lehrer 
energisch augen das Spötteln der Milſchüler antämpfen, wenn 
zarte Kinder vor der Stunde ihre Strümpfe werhieln; ſie können 
dieſelben in einer Heinen Blechlapſel leicht in der Schultaſche mit 
fich führen. Das Tragen der Gummiſchuhe ift nur dann den 
Frühen durd Behinderung der Ausdünſtung machtheilig, wenn 
diejelben länger anbehalten werden als nöthig; für den Schulweg 
aber verichaffen fie einen warmen Fuß und es fojtet dem Lehrer 
nur zivei Kommandoworte, um bei fchlechtem Wetter an ihre Ab 
legen zu erinnern. Die Mäntel und Negenichirme werden ge— 
wöhnlich im Klaſſenzimmer abgelegt. Die Haken dafür find jo 
anzuordnen, daß die Regenſchirme getrennt von den Kleidern 
hängen, um deren Innenfläche nicht zu befeuchten. Ber Lehrer 
muß ſich den Einrichtungen jeines Schulgebäudes fügen, die An— 
regung zu kleineren Abänderungen zum Wohle feiner Schüler jollte 
aber von jeder Sculbehörde dankbar angenommen werden. 


Iagdleben im Hochland. 


Geſchildert von Ludwig Gaughoſet. Mit Alluftration S. 656 und 657. 


4, 


Er war fein Jäger, mein Freund, aber was ich ihm jo ab und 
zu von all dem ichönen Leben zwiſchen Wald und Felſen 
erzählte, machte ihn Lüftern, und da war es einer feiner Lieblings: 
wünſche, einmal einen Hirsch im Bergwald „ſchreien“ zu hören. 
Nun traf es ſich aut, daß er mid gerade während der erften 
Oltoberwoche in meinem jtillen Bergfiß beiuchte. Seit adıt Tagen 
fchon war droben die Brunft in Gang, und die Hirſche ſchrieen 
allnächtlich mit orgelnden Stimmen. Es war einer der Haren, 


| 


| 


fauen, Tenchtenden, von bläulichem Duft erfüllten Oftobertage, wie | 


fie der Herbſt mu in den Bergen jpendet. Einige Stunden nadı 
Mittan ſchickten wir uns zum Aufſtieg an; den Träger mit Zeug 
und Proviant Hatten wir bereits am Morgen voransgeſchickt zur 
Hütte, damit wir uns bei ungejtörtem Plaudern und Schauen 
des herrlichen Weges frenen Fonnten. Auf jchmalem Bade ging 


es empor durch fteilen Laubwald, welcher vielfach mit Tannen | 


amd Lärchen untermiicht und an manden Stellen von ſchroffen, 
movsbchangenen Felswänden durchriſſen war. Auf halben 
Wege, unter einer mächtigen Buche ſtreckten wir uns zu furzer 
Ruhe in das rajchelnde Laub, welches handhoch ſchon die Erde 
deckte. 

Unter uns in dem von duftüberſponnenen Bergen umſchloſſenen 


Thal lag ſchon der Schatten; Hier oben aber jchien noch die | 


Wadynittagsjonne warn und golden durch das Laubwerk, in 
welchem der ſachte Wind fein Flüjtern und Wilpern trieb. Zu 
feiner Zeit — vielleicht nur eine mondhelle Winternacht auss 
genommen — ift der Bergwald jo zaubervoll ſchön wie im Herbite. 


Da giebt es in der Welt feine Farbe, die er nicht zeiat, fei es ı 


an feinen hundertfältigen Mooſen und Flechten vder an feinen 
hundertfarbigen Steinen, fei es an feinen weltenden Blumen oder 
an feinen gereiften und veifenden Beeren, ſei es an den knorrigen 


Rinden und immergrünen Nadeln jeiner Fichten und Röhren, oder | 


ſei es an den weiß; und gran erglänzgenden Stämmen feiner Buchen 
und Aborne, deren Wätterfarbe von dem lang bewahrten Grin 
hinüberipielt in brennendes Gelb und in das tiefite Mouth. Und 


mit der einzigen Farbe, die dem Bergwald mangelt, mit dem | 


lichten lachenden Wlan, überdacht der Hare, wolfenreine Himmel 


Hirſchbrunfi. 


das zahlloſe Voll feiner Bäume und Steine. Freilich iſt das 
eine Herrlichfeit, die auf zitternden Füßen fteht. Kine einzige 
Nacht — und dichte Wolfen wallen um alle Gipfel und greifen 
mit ihren gaukelnden Nebelarmen nieder über Wald und Wände, 
schwere Regenſchauer verfinftern die Luft und zeugen vaufchende 
Waſſerſtürze in jeder Schlucht und Rinne, mit nigantiicher Wild— 
heit brauft der lalte Herbſtſturm über die Berge, in gelben Wolfen 
wirbeln die welfen Blätter durch die Lüfte, von den Dächern der 
verlaſſenen Sennhütten fliegen die granen Schindeln, mit Krachen 
jtürzen die Tannen, und durch den weiten Bergwald geht ein 
dumpfes Stöhnen, als ſeufze die jterbende Natur durch die 
achzende Stimme ihrer Bäume . . . 

Wir aber ſaßen ja noch im goldigem Sonnenjcdein und 
lugten mit nimmerfatten Augen in die noch währende Pracht. 

„Wie jhön, wie wunderichön!" ſtaunte mein Freund und 
dehnte ſich behaglich in der lauen Sonne, 

„Ja, Warte nur, morgen um Tagesgrauen wirft Du zittern 
und jchnattern vor Kälte und wirſt vielleicht ſagen: pfui, wie 
ungemüthlich! Wir fteigen micht nur der Höhe, wir fteigen auch 
dem Winter entgegen.“ 

Als der vom Thal emporichleichende Schatten uns überhofen 
wollte, machten wir uns wieder anf die Füße Kaum waren 
wir eine Strede weit gegangen, da hob mein Freund mit Lauſchen 
den Kopf — er hatte ein durch die Ferne gedämpftes, lang— 
gezogenes Brüllen vernommen, 

„War das ein Hirſch?“ 

„Ein Hirſch?“ Tachte ich. „Wenn Du nichts dagenen hait, 
jo war das cine Hub, die irgendwo auf dem jenfeitigen Berghang 
weidet — und wenn Du die Oberen ein wenig ſpitzen willſt, To 
fannjt Du auch ganz leiſe noch ihre Glode hören.“ 

Er stellte jich etwas beichämt, wollte aber nun willen, wie 
denn der Schrei eines Hirſches eigentlich Hänge. Ich ſchaute zur 
Seite, damit mein Schmunzeln mid nicht verriethe, ahmte das 
Medern eines an Heiſerkeit leidenden Ziegenbockes nach und er 
Härte, To Ähnlich, nur ein ganz Hein bifschen anders wäre der 


\ Schrei eines Brunstbiriches wohl anzuhören. 





he in Mittenwald, 


Driginafzeihnung von N. Püttner, 


Stra 





66» 


„Vierlwürdig,“ meinte er. „Und da ſcheint mir, daß 
Dieronymus Lorm auch niemals einen Hirſch Hat ſchreien hören, 
jonft Hätte er dieſes nicht ſehr poetiiche Gekrächze ſchwerlich zum 
Vergleich für feine Techzende Sehnſucht genommen: 

Ich ruſe wie die Wachtel im Getreid, 
Ich ſchreie, wie der Hirſch nach Wafler ichreit.‘* 

„Da manit Du wohl vecht Haben. Uebrigene, der Vergleich 
binft auch mod auf einem anderen Fuhe Die Hirſche jchreien 
wicht nach Waſſer. Es läßt der Hirſch Seine Stimme alljährlich 
nur durch einige Tage hören, nur im der Brunſtzeit, wenn 
ihm ‚das Herz in Liebe fchlägt., Nach Waller braucht er 
nicht zu Schreien, denn wenn er aud weder Teich noch Duelle 
findet, er löſcht ja feinen Durſt beim Aeſen des thaungſſen 
Graſes.“ 

So plauderten wir im Steigen weiter, wobei uns allmählich 
die Dämmerung des fühlen Abends überfiel. Nahe der Jagd— 
hütte Hatten wir die Höhe einer janfe abfallenden Lichtung zu 
paſſiren. Ein aeringer Sechſerhirſch, der aus den Dickicht ge— 
treten jein mußte, an weldem wir vorüber Tollten, zog vertraut 
über den mit bien Etorren und wellendem Meänterwer! be 
dedten Schlan dem tieferen Grinde zu. Um den harmloſen 
Schneider micht zu vergrämen, drückten wie uns am Saum ber 
Didung hinter ein Fichtenböſchlein. Da plötzlich tönte laum 
zwanzig Schritte hinter uns der tiefe, rauhe, weithin hallende 
Brunftſchrei eines ſtarlen Hirſches. Mir ſchlug das Herz; aber 
troß aller Jagdluſt, bie mid padte, ſchielte ich mach Dem Geſichte 
meines Freundes, der erblaßt und erſchrocken aufgeſprungen war, 
als Hätte er dicht Hinter feinem Naden das Brüllen eines 
hungeinen Bären vernommen. Doch war auch cin anderer noch 
erſchrocken: der Scmeider auf der Lichtung drunten; ber mochte 
wohl mit dem böjen Herrn im Dickicht ſchon unbehagliche Be 
fanntjchaft gemacht haben, denn im ſchener Flucht, daſ unter ihm 
die diirren Aeſte Erachten, jegelte ev dem dunkeln Walde zu. Der 
andere im Didicht ſchien das Brechen der Aefte richtig zu deuten; 
es rauſchlen hinter uns die Büfche, und da jland ev nun, farm 
einige Beraftodlängen vor uns, frei auf dem Steige — cin 
prachtuoffer Anblid, Faſt ſchwarz erichien im bereits vollendeten 
Winterkleide der mächtige Körper mit dem Diden, zottig behaarten 
Brunſthals. Weiße Schaumfloden am Nefer, den Grind (Kopf) mit 


den vor Leidenſchaft funkelnden Yichlern windend vorgeitredt, das | 


Geweih, deſſen nefente Enden trog Der Dämmerung gleich weißem 
Silber blinkten, gegen den Naden driidend, ſo ſtand er vor ms 
in ſeinem Stolze, in ſeiner Kraft und Wildheit. Allerdings 


genoſſen wir dieſen Anblick nur wenige Sekunden; anf eine | 


unvorſichtige Bewegung meines Begleiters ſtutzte der Hirſch, und 
da ſchlug er auch Icon um wie der Wind und verſchwand im 
ſchützenden Dielicht, ohne Daß es mir qelana, einen Schuß anzu 
bringen. 

Dit arofen Augen jchante mein Freund mich an und meinte 
mit Heinlauter, ſchwanlender Stimme: „Tu, mir jcheint, Du hajt 
nich anfligen laſſen — mit Deinem Gemecker!“ 

„sa, ſcheint mic and,” brummte ich ärgerlich, „aber der 
jenige, der am meilten dabei aufgejeilen it, bin ich. Hätt, ich 
Dich richtig vorbereitet, fo wärit Dur rubig an meiner Seite ge 
blieben, wärſt nicht erſchrocken aufaejprungen und hätteft Dich 
wicht als wadelnde Kugelwehr mitten zwiſchen den Hirſch und 
meine Büchſe geſtellt. So geht's mit der Bosheit — id habe 
den Schaden davon und Du den Schrecken.“ 

„Scheeden? Das heift . . .* 

„Nah nur aut Sein, Du braucht Dich nicht zu ſchämen, 
denn vor dem „Hirichfieber iſt der älteſte Jager wicht ficher.“ 

„In der That, ſo ein ſchwarzer Burſche hat etwas an ſich, 
was einem das Herz Hopfen macht. Wenn den die Luſt an 
gewandelt hätte, mit feinem Geweih cin Hein wenig nach ung 
zu ftochern . . .* j 

„Su aefährlih iſt die Sade nun doc wicht. Die Berg— 
hiriche Find schen, auch in der Brunftzeit, und ich wüßte mich 
feines Falles zu erinnern, daf; ein geſunder Berghirſch, wie es 
von brunftigen Parkhirſchen häufig erzählt wird, einen Menſchen 
‚angenommmen’ hätte, Etwas anderes it es mit einem angeſchoſſenen 
oder mit einem bei der Treibjagd in die Enge gettiebenen Hiriche. 
Bon Feld einem verzweiielten oder vor Schmerz raſenden Ihiere 
iſt manch ein Treiber und Jäger ſchon übel zunerichtet oder aar 
su Tod ‚acforfelt® worden.” 


„Und das ſoll ein Beranügen fein? Ich danke Für felde 
Jagd.“ 

Ich lachte. „Spür cs nur einmal ſelbſt, wie Dir im ım 
nennbarer Freude das Herz fchlägt, wenn der geweihte Recke im 
euer ſtürzt und wenn Die mitten im Zauber der Natur als 
Herr und Metjter ſtehſt — dann wirt Da anders reden!“ 

Bir hatten die Jagdhülte erreicht und ftrerften uns nach einem 
bejcheidenen Abendbrot und einer bebaglich verplauderten Stunde 
aufs duftende Den zur Ruhe — allerdings zu einer recht zwetiel: 
haften Ruhe. Meinen Freund ließ das ingewohnte Lager und 
die berbitliche Kälte der Nacht micht ſchlafen; mich aber hielten 
die Hirſche wach, Die es toll trieben Die ganze Nacht und bald 
das träge „Grohnen“ und „Trenzen“, bald den vollen, gedehnten 
Trgelton, bald wieder dem kurzen, rauh tönenden Kampfſchrei 
vernehmen liefen. Immer wieder erhob idy mich, lauſchte und 
ipäbte hinaus in das Dunkel, und wenn ich einen Hirſch ganz 
in der Nähe der Hittte ſchreien Dörte vder im matten Sternen 
Ichein einen Schatten huſchen ſah, dachte ich mit ſtillem Neide 
jener Glücspilze, die ſchon manch einen ſchreienden Hirſch bei 
hellem Mondſchein vom Hüttenfenſter aus geſchoſſen. Danebeu 
auälte mich die Sorge, daß ſich die Hirſche, da fie nit die ganze 
Nacht hindurch munter waren, am Morgen deito fchlechter „melden“ 
würden. 

Dieſe Ahnung beſtätigte ſich leider; als wir um die fünfte 
Morgenſtunde aus der Hütte traten, war weit und breit nicht 
der leiſeſte Grohner zu vernehmen. Verwundert ſchüttelte der 
Jäger den Kopf! „Was ſagſt jetzt da dazu? Heut” Nacht wie 
narriſch — und jetzt met an einzigen Röhren! Bann die Teufeln 
mit ei'm ſolchenen Morgen nimmer z'frieden ſind, nachher weiß 
ich bald nimmer was!“ 

Das war auch wirklich ein Brunſtmorgen, wie ihn die 
Hiriche (und auch die Jäger) ſich ſchöner nicht hätten wünſchen 
können. Stein Wölllein am Himmel, an welchem die Sterne noch 
glänzten mit falbem Schein, indeſſen die öftliche Ferne ſich Schon 
zu lichten begann; auf Grad und Büſchen der weiße Reif; eine 
Kälte, dab der Athen gerann, und dazu ein Wind, welcher 
ſchnurgerad' von den matlidhimmernden Felswänden niederzon 
über don Wald. Und dennoch Tein Yaut in der weiten Runde, 
So alt und erfahren die Jägerei auch iſt, fo hat fie über manche 
Dinge doch nur ein Fragezeichen zu machen, 

Zahlloſe Hypotheien find ſchon über die fraglichen Urſachen 
aufgeſtellt worden, welche eine mehr oder minder Tebhaite Brunft 
veranlaffen; aber jede diejer Hypotheſen paßt nur immer fir 
gewifſe Verhältniſſe, feine Happt für alle Fülle Natürlich iſt 
es, daß die Brunft um jo lebhafter fein wird, je größer der 
Stand an Hirſchen iſt; da giebt ihnen ſchon die Eiferfucht cine 
Hleigige Kehle. Auch trifft es allgemein zu, daß die Brunit ſich 
beſonders luſtig und energifch in jenen Gegenden geitaltet, in 
denen die Hiriche die ſtärleren Geweihe franen, im denen ein 
milder Winter und ein ſchönes Frühjahr mit reichlicher Aefung 
eine Fräftige Entwidtung des Wildes begünſtigte. Weshalb aber 
bei gleichem Wildſtand und gleichen Himatiichen VBoransteßungen 
der eine Herbit eine Frijche Brunft, der andere eine träge bringt, 
weshalb die Hirſche oft durch mehrere Tage unermüdlich orgelu, 
m dann jählings zu verſtummen, weshalb fie Das einemal lieber 
bei Nacht, das anderemal lieber am hellen Tage, das einemal 
lieber bei Inner Witterung, das anderemal Fieber bei ſcharfem 


Froſt und frühem Schneefall ſchreien, darüber find die Gelehrten 


unter den Jägern noch immer nicht einig. Die Liebe bleibt eben 
unter allen Umſtänden eine eigene Sache, und auch das Herz der 
Thiere iſt ein fapriziöfes Dina. 

Tas alles plauderte ich mit Seifen Worten meinem Freunde 
vor, während wir adıtiamen Schrittes dem thalwärts führenden 
Steige folgten. Gleich vor der Jagdhütte hatte der Jäger ſich 
bon uns getrennt, um bergwärts zu fteiaen und den Einzug des 
Wildbrets auf einer aroßen, teilen Almlichtung au beobadıten: 
mic aber reizle der Verſuch, eb es mir nicht gelingen möchte, 
noch einmal mit jenem ſchwarzen Herrn aut dem Didicht au- 
einander zu nerathen. In weitem Bogen umgingen wir den 
Schlag, und ungefähr an jener Stelle, an welder das Sechſer 
birichlein im tieferen Gehölze verſchwunden war, famen Wir aus 
dem Walde. Weber dem Zihlage lag das ſchwache Grauen des 
nahenden Moraens, und ſchon anf den eriten Blick gewahrte ich 
inmitten der Rodung den Hirſch, freilich nur als ſchwarzen Schatten 


MT» 


mit trüben Umriſſen. Er batie drei Stück Wildbret bei ſich, die 
er langſam umfreifte und immer mehr gegen die Dickung empor: 
trieb. Er ſchien die Gefahr zu ahnen, die ihm mit dem fteigenden 
Lichte drohte, und ſuchte vor Einbruch desjelden feinen Heinen 
Harem und ſich ſelbſt im Sicherheit zu bringen. ch ſchaute mir 
fait die Augen aus dem Kopfe, aber bei der herrichenden Dämmerung 
war es ummöglic, richtig und ficher zu vifiren — ich mußte zu 
meinem Aerger den Hirſch ziehen laffen ohne Schuß. 

Zwifchen mooſigen Steinblöden richteten wir uns häuslich 
ein. Das Verſchwinden des Hiriches nahm mir noch immer nicht 
alle Hoffnung. Troß ihrer zuttigen Winterfleides ſpüren aud) 
die Hirſche die Kälte der Nacht, und da ziehen fie nicht ungerue 
ein zweites Mal aus, wenn die warme Morgenſonne deut Reif 
von ben Kräutern fchmilzt. Es konnte ja auch ſonſt der Zufall 
einen „ſuchenden“ Hirich des Weges führen. Auch der König der 
Bergwälder folgt nach Schillerſchem Rezepte „ihren Spuren“, wenn 
auch nicht „erröthend". Bon Beginn der Brunfizeit it das 


„Ein ewiges Suchen und Wandern ... .” 


bei allen ſchwächeren Hirſchen, befonders bei jenen, die der 
igrammiiche „Platzhirſch“ vom Rudel abgekämpft Hat. Diefes 
Wandern der Hiriche beginnt in den Bergen gegen Ende Scptember. 
„Um Aegidi“ (1. Sept.), jagt wohl ein alter Jägerſpruch, „Aritt 
der edle Hirſch in die Brunft“, und die ſittſam erzonenen Bart: 
biriche mönen aud halbwegs diefem Spruche folgen; der freie 
Berghirſch hört aber nun einmal mehr auf die Stimme der Natur 
als auf die Mahnung des alten Jägerkalenders. Dann aber find 
fie unermüdlich, die verlicblen Herren, dam wandern fie bergaus 
und bergein, am gleichen Tag oft zwei und drei aneinander jtußende 
Reviere kreuzend, bis fie finden, „was ihr Herz begchrt.“ 

Geduldig Taken wir: es kam ber Morgen mit feinem fahlen 
Himmel nnd feinen aus dem ſchmelzenden Reif erdampfenden 
Nebeln, weiche ſich langſam aufwärts kräuſelten in Die Luft und 
wieder in nichts zerrannen. Es jtieg das leuchtende Geſtirn 
empor über die Berge und goß jein lautres Bold über Wald und 
Rodung. Die wenigen Vögel, welde mit dem Herbſte in dieler 
Höhe noch ausgeharrt hatten, werden munter, flatterten pfeitend 
über die falten Steine und ſträublen das Gefieder. Ich hatte 
fleißig zu thun mit Augen und Ohren, und der Nagdeifer hielt 
mich warm; mein Freund aber, Der meiner Prophezeiung gemäß 
die Sache längſt ſchon „ungemüthlich“ fand, Happerte in dem 
froftigen Schatten, darin wir ſaßen, zu feiner einzigen Unterhaltung 
leiſe mit den Zühnen. Stunde um Stunde verrann, feiner der 
erfehnten Wanderer lich ſich biiden, und auch der „ſchwarze 
Burſche“ erſchien nicht wieder; der hatte ſich irgendwo im Didicht 
zur Ruhe gethan und ließ nur ab und zu ein fchläferiges Trenzen 
hören, bis er endlich ganz veritummte. Gegen elf Uhr — ſechs 
Stunden hatten wir ausgehalten — erlöfte ich meinen Freund 
aus Seinem Klappen und Fröfteln, um ihn der geheizten Jagdftube 
amd der warmen Suppe zuzuführen. Bei der Ankunft in der 
Jagdhütte erhielt ich für meine fchöne Geduldsprobe einen bitteren 
Lohn, denn der Jäger empfing mid mit den Worten: „Aber na, 
g'rad heut’ mühen S' da 'nunter tappen! Bei mix warn 
gweſen wären, Sie, da hätten S’ an Prügelhirſch derſchoſſen! 
Am hellen Morgen iS er noch draußen g'ftanden mitten auf der 
Almlichten — und a Zwölferg'weih hat er droben g'habt — a 
Staat und a Pracht! Aber warten nur, der rumpelt uns 
ichen au heut! abends!“ 

So Fehr ich mich nun über meinen Eigenfinn ärgerte, fo 
gaben mir die Worte des Jägers doch wieder qute Hoffnung Tür 
die Abendbiriche 

Um drei Uhr machten wir uns auf den Weg, da wir aut 
anderthalb Stunden zu fteigen hatten, um die entlegene Alın zu 
erreichen. Die hohen, von gelbem Sonnenlicht umflammten 
Feljenhäupter warfen bereits ihre Schatien über den Bergwald 
und es frifchte ſchun in der Luft, ſodaß ein kalter Mind 
zu erwarten ſtand. Auf einen Heinen Wicjenflede ſtand ein 
Schmalrch ſorglos und vertraut, Wie wenn es wüßte, daf 
es von uns feine Gefahr zu fürchten hatte. Durch das braune 
Heidelbeerfeld, an welchem wir voriberfamen, glitt unſichtbar 
eine Auerhenne mit näſelndem „gnäk, gnat“, und hoch über 
den Almen, auf einem leicht beſchneiten Grate, rodelte und 
arupelte ein Spielhahn fo Iuftig, als wäre Mai und Falzzeit 
in den Bergen. 


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— = 
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De 


— 
— 
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' zicht, bei qutem Winde auf Schußweite anzubirichen, 


Und jet — dieſer Tum, dev für einen Yugenblid die Hände 
zittern und das Blut in den Adern jeden machte! Das war 
der Hirſch. Wir Härten ihn ſchon und waren noch über cine 
halbe Stunde von der Alm entfernt. Der Kerl battle cine 
„Lauten“ (Stimme), jo dumpf und grollend, als läme fie aus 
einem Kanonenrohr. Vom linfsjeitinen Bergbang antwortete ihm 
ein zweiter Hirsch mit ſchwächerer Stimme, der aber ſchon nad) 
wenigen Schreien wieder veritummte. Nach einem befchleunigten 
Mariche, während deſſen das Kanonenrobr dort oben immer 
fleißig weiterbrummte, erreichten wir den unteren Saum der 
großen Almlichtung. Mitten in dem fteilen Grasgebänge ftand 
auf einen Heinen vorfpringenden Plateau die ſchon feit Wochen 
verlaffene Sennhätte, welche uns einen quien Stand geboten 
hätte, da von ihr aus jo ziemlich das ganze „Almbrett“ zu be 
ſchießen war. Dod war es nicht mehr rathlich, über deu un— 
gebedten Hana zur Hülle emporzufteigen, da der Hirſch in dem 
Ichütteren Lärchenwalde ſchrie, der die Höhe des Almfeldes be: 
grenzte. Much war der Wind noch nicht beionders aut: er zon 
wohl schon im Schatten abwärts, fchlug aber doch manchmal mod 
in rechts und links ausweichenden Halbwind um. So jehten 
wir uns, um nur ja nichts zu verderben, am nuteren Waldſaum 
einer breitäftigen Tanne zu Füßen und dedten ums mit vorge- 
ſtedten Steigen. 

Der tiefe Baß, der über uns jo fleißig übte, Hatte auch 
meinen Freund in Aufregung gebracht, md mach feiner Meinung 
hätte ich Ätrads die Büchſe ſpannen und Ferzengerade dem orgeln 
den Herrn entgegenfteigen müffen, Er wollte gar nicht glauben, 
daß der Hirſch fo unliebenswirdig wäre, nicht jo lauge Stand 
zu Halten, bis ich ihm aus aller Nähe die Kugel aufs Blatt ge 
brannt. Es mag wohl häufig und ohne befondere Mühe ae: 
Lingen, einen fchreienden Hirich, Dev des Morgens ein ſam zu Holze 
Hat aber 
der Hirſch nur ein paar Stüdlen Wildbret in feinem Gefolge, 
fo ift er ficher vor dem Nahen des Jägers, Die brammen Damen 
find zu aller Zeit gar fleifig mit „engen“ und „Winden”, be; 
jonders aber während der Brumft; da ſteigert fich ihre Wachſam 
keit auf das doppelte Maß, und jie ſcheinen genau zu willen, 
dak nun in ihrer Hut das Seil und Leben ihres Her und 
Gatten fteht, den die Leidenſchaft der Yiebe und Eiferfucht trunlen 
und Sorglos macht, blind und taub fir alle Gefahr. Sie haben 
icon recht, wenn fie in den Bergen fingen: 


„Bei die Buben, bei die Deanbeln, 
Bei die Thierln im Wald — 

Tie Lieb’, die bat allweit 

Den nändichen malt.” 


Eine Stunde verfloh: die Strahlenfronen, welche die ſinkende 
Sonne um die Gipfel der Berge ſpann, erloſchen allmählich, ein 
grauer, Falter Schatten dedte alles Gehänge, immer Ichärfer und 
frojtiger wurde der Wind, und aus den feuchten Schluchten 
jtiegen dünne Nebel, die fih in langen Streifen ichlangenartig 
durch die Wipfel der Baume wanden. Ueberall herrſchte Tautlofe 
Stille, welde nur manchmal durch den unbebaglich grellen Auf 
des Baumläufers unterbrochen wurde. 

Segen ſechs Uhr hatte der Hirſch ſein Schreien eingejtellt. 
Mein Freund hakte dazu ein langes Geſicht geichnitten; ich und 
der Jäger aber, wir hatten uns ſchmunzelnd angeblidt; wir 
fannten dies Verſtummen als cin Zeichen, daß nun das Wild 
bret Thon im Auszug begriffen wäre. Es dauerte auch kaum 
eige Biertelftunde, bis in der Höhe zwiſchen den Yärchenbofchen 
der emſig jichernde Kopf eines Thieres erichien. Zwei Kälber: 
jtüide mit ihren Sprößlingen traten ans dem Holze, und während 
die beiden Mütter ſich vor einander hinpflanzten, als hätten fie 
neheimen Klatich zu halten, tollten die Kälber mit luſtigen 
Sprüngen auf und nieder über den Teilen Bang und rings um 
die Sennbütte, ein paar geſunden Rindern vergleichbar, Die den 
ganzen Taq in der Stube gefangen waren und nun am Abend 
für cin Erholungsſtündlein ausgelaffen wurden. Zwei Schmal- 
ihtere folgten, zu demen ſich ein harmloſer Spießer geſellle. 
Wieder kam eine Meine Familie, dann machten ein paar einzelne 
Stüde den Schluß. Langſam äſend zeritrente ſich das Nudel 
über den Almenhang. Es zählte genau zwölf Köpfe — ein gutes 
Tmen! Da mußte der Hirſch als Dreizchnter ericheinen - - und 
Jäger find ja immer ein wenig abergländiich. Mit geipanmten 


— 
“ 4:35 


= MR > 


Blicken fahen wir unverwandt der Höhe zu; ruhig ſchloſſen ſich 
meine Hände um die Büchſe, an den Schlälen aber hänmerte 
mir das But. 

Und da fam er mm — durch einen tiefen Grohner 
meldete er ſich am, kreiſchend ſchwirrte ein Tannenhäher aus 
den Lärcenmwipfeln, Weite knadien — jetzt ſahen wir ihn 
zwiichen den unterften Bäumen jtehen, vom dunklen Abend: 
ſchatten des Waldes überichleiert — eine furze Weile zögerte 
er noch, dann zug er majejtätiichen Ganges einem boripringen: 
den Grashügel zu. In ſcharfen Umriffen hob jich bier jein 
Wwuchtiger Körper mit dem herrlichen Kronengeweih vom fahl 
gelben Himmel ab. Yangjam ſtredte er den Grind, daß der 
zottige Hals fich blähte, 
und während ihm der 
heiße Athem vom Aeſer 
tauchte, halte fein dums» 
pfer, langgezogener Or: 
gelton in die Lüfte. 

War das cin Echo? 
Nein — ums zur Linken, 
tief im Walde, meldet 
ſich jener Hirſch, deſſen 
Stimme wir ſchon einmal 
vernommen. Stutzend 
hebt der Platzhirſch den 
Grind, antwortet mit 
zornigem Schrei, und 
wiſchen ibm und jenen 
andern entwickelt ſich 
nun Ruf und Antwort 
ohne Ende. Dabei um: 
freiit der Plagbirich um: 
abläfjig fein Rudel, im 
mer enger treibt er es 
auf einen Knauel zufam: 
men, und wenn ein 
Stüdlein ansbricht, holt 
er es mit wilden Sprün: 
gen ein. Bei all diejer 
Unruhe aber, bei all 
diefem Hin umd Ser 
bleibt er zu meinem 
Nummer immer weit 
aufer Schußbereich. 

„Halten S’ Ahnen 
nur ſtad,“ tröſtet mich 
der Näner, „bald ber 
ander" Hirsch auf d’ Alm 
lichten "reinichreit, nach: 
ber macht der Zwölfer 
xhon amal an Rumpler 
gegen uns.“ 

In heißer Erregung 
faufche ich um dem 
Walde zu, und immer 
höher ichlänt mir das 
Herz, je mäher der Brumftichrei des ziehenden Hirſches tönt. 
Jeht chen wir ihn ans dem Walde treten, etwa dreihundert 
Schritte von uns entfernt; cs iſt ein ftarker Achterhirſch, und 
er scheint ein muthiger Burſche zu fein; Heiß mag die Liebes 
ſehnſucht in feinem Blute brennen, denn Schritt um Schritt 
ſteigt er der Höhe zu, und Schrei um Schrei jchidt er in 
die finfende Dämmerung. Eines der Schmalthiere zieht ihm 
nengierig entgegen. Die latterhaftigleit diejer jungen Schönen 
icheint den Platzhirſch in wilden Grimm zu bringen: ev läßt 
einen Aurzen, heiter brüllenden Schrei vernehmen, dann ſenkt 
er den Grind, bohrt die Enden feines Geweihes in die Erde, 
reißt den Raſen auf und fchlendert ihn in Stüden aus 
einander. * Ein doppelter Schrei, und zornmuthig ſtürzen die 
beiden Nämpen einander entgegen. Regungslos steht ihnen das 
Rudel zur Seite; Stüde und Nälber halten die Yanicher er: 
hoben und die Lichter unverwwandt nach den Kämpfern nerichtet, 
deren Geweihe im Streite irren wie heile Schwertichläge. — 
Es wird in ſolchen Tftobertagen zwischen Wald md Felſen 





„000 Mark Belohnung! 
Erigimiyeidnumg von Fr. Stahl. 


jo mand) ein heißer Kampf in Nacht und Dämmerung ausge: 
fochten. Zuweilen geſchieht es, dah die wilden Streiter im Kampfe 
die Geweihe unlösbar in einander verflechten und in ſolcher Um 
fettung einem elenden Tode ſich entgegenqguäfen. Häufig erliegt 
ein ſchwächerer Hirſch den tödlichen Forlelſtößen des jtärleren 
Gegners, und mandmal entipinnt fi) der Kampf an abſchüſſigen 
Stellen; dann weicht unter einem der Kämpfer jählings die 
Erde und das Bejtein, im einer Staub und Sandlawine rollt 
der Stürzende über das teile Gefäll, liegt zerichmettert in der 
Tiefe, und wenn nicht das nachlinfenbe Erdreich über ihn einen 
ihügenden Grabhügel det, jo umſchleichen ihm zur Nacht die 
hungernden Füchſe, und am Tage kehren die ſcharfgeſchnäbelten Berg: 
raben und der eg 
rıT77 ſtarke Adler auf feiner 

Il ARE Leiche zu Gaſt. 
— So tragiſch jollte nun 
— allerdings der Kampf 
nicht enden, deſſen Zeu— 
gen mir waren. Ber 
Achter ſchien bei Zeiten 
die Uebermacht jeines 
Gegners zu jpüren, und 
jo jpielte er den Klü— 
aeren, Welcher befannt 
lid) nachgiebt. Mit jähem 
Rud beireite ex fein Ge 
weib, juhe zur Seite, 
fam wie der „leibhaftige 
Teufel“ über die Alm- 
lichtung  wiedergeflogen 
und prajielte faum zwan⸗ 
zin Schritt neben uns 
ins Tannendidicht. Der 
jiegreiche Platzhirſch 
fchlug mit den Läufen 
die Erde, fchlittelte das 
Geweih und ſchrie dem 
Fliehenden mit zornigen 

Lauten nad. 

„But is 8, qut,“ 
flüſterte der Jäger an 
meiner Seite, „ieht is 
er woltern in der Hitz — 
pajien S’ auf — jekt 
friegt er den Schneden 
zum Sören. Und richten 
S' Ihnen mur gleid) 
z'ſamm' mit der Büchs, 
jept kann's preſſiren, und 
über a paar Minuten 
wird’s aus fein mit der 


Schußlichten.“ 
Haftig zog er aus 
feinem Ruckſad den 


„Schnecken“ hervor, jene 
arofe, aud unter dem 
Namen Kinthorn bekannte Seemuſchel, ſchielte flüchtig noch zu 
mir hinüber, vb ich fertig wäre, und ahmte dann, in dic 
hohle Muſchel rufend, tanfchend den Brunstichrei des ſchwächeren 
Hirſches nad. Zornig warf der Platzhirſch, der ſchon als ftolzer 
Sieger zum Nudel zurückkehren wollte, den Grind empor, Tief 
einen dumpfen Örohner hören, der Jäger antwortete, und ba 
ſtürzte der ftreit- und eiferfüchtige Mede in langen Sägen nieder: 
wärts, um den vermeintlichen Gegner vollends aus dem Felde 
zu ſchlagen. Auf etwa adıtzig Schritte vor meiner Büchſe ſtutzte 
er plöglich — ſeit einer halben Stunde batte ſich der Himmel 
mit Nebeln zu überziehen begonnen, und jchon feit einigen 
Minuten fadelte der Wind bedenklih Hin und her — da 
mochte der zjommiüthige Herr trotz aller Streitluſt und Eifer: 
fucht von unserer gefährlichen Nähe einen „Schmeder“ be 
tommen haben. Ach aber ließ ihm micht Zeit, über dieje ver- 
fängliche Entdeckung länger nachzudenken; eine leichte Wendung 
nur wartete ich ab, bis er mir die Breitieite bot dann 
fradıte mein Schuß. In wilden Fluchten ſah ich den Hirich 


o 6 » 


ihräg abwärts in die Büſche itieben, droben auf dem Alm— 
breit fuhr das Rudel nach allen Seiten auseinander, wie leichter 
Tonner rollte noch das Echo meines Schuſſes über die dunklen 
Felswaände Hit — und lautloſe Stille lag nun über dem weiten 
Bergwald. 

Als ich mic jegt erhob, überfiel mich, glücklicherweiſe ad 
dem Schuſſe, das richtige Hirfchficber, und meine Hände zitterten, 
daß ich kaum die Patrone zu wechieln vermochte. 

„Gut oder fchlecht — jeßt kann's ſein, wie's mag,“ brummte 
der Jãger. „Wie ſind's denn abfommen?“ 

„Net übel, mein’ ich -—— ſchön kurz am Blatt.” 

„No alfo, wann er am guten Schuß hat, kann's jo weit 
tet ſehlen. 
net ſehen können, weil mic der Wind den Pulverdampf in d’ 
Augen "trieben Hat. Aber jet is allweil nir mehr z' machen, 
jetzt müſſen wir ihm ſchon a Hub laſſen und müſſen ans ver: 
tröſten bis auf morgen in der Fruh. A paar Baterunſer lang, 
und d' Nacht is da.“ 

Gegen Diele richtige Meinung war nichts einzuwenden. Yaut: 
los birſchte ich am Waldrand entlang und „verbrach“ an einem 
niederen Fichtenbaumden die Stelle, an welcher der Hirſch das 
Tidiht gewonnen hatte Damm traten wir den Heimweg au. 
Langſam jtiegen wir thalwärts durch den finfteren Wald, und 
als ich meinen Freund, der ſchweigend an meiner Seite ging, 
nach einer Weile Trug, wie denn der verilojfene Abend mit jeinen 
Ereigniſſen auf ihn gewirkt hätte, athmete er tief auf und jagte, 
daß er durch das herrliche, ſpannungsvolle Schaufpiel diejes 
Abends zu einem verftändnigvolien Freunde der Jagd befehrt 
wäre, der wohl mit der Zeit ein tüchtiger Jäger werden möchte. 

Diefes Geſtändniß machte mir Freude; trog dieſer Freude 
aber wurde mir, je näher wir der Hütte fnmen, immer be: 
Hommener ums Jägerherz. Dichter und dichter überzog jich der 
Dimmel mit Wolfen, und ich fürchtete, daß die Nacht nicht 
ohne Regen vorübergchen würde. Die Regennäſſe mußte Fährte 
und Schweiß verwilchen, und dann war cs, wenn der Hirſch nicht 
ſchon nad kurzer Flucht zufammengebrodyen, um die Nachſuche gar 
übel beſtellt. Und meine Befürchtung wurde zu trüber Wahrheit; 
denn während wir nod beim Nachtmahl um das Heine Tiſchlein 
ſaßen, Hatjchte ichun der Regen über das Schindeldach der Hütte. 
An Bangen und Sorgen verbradyte ich eine Ichlaflofe Nacht, und 
es vermochte mich wenig zu tröften, als gegen die zweite Morgen- 
ftunde der Regen zu verfiegen ſchien. Unruhig wälzte ich mic) bin 
und ber, während mein Freund zu meiner Rechten den bleiernen 
Schlaf des Müden jchlief und mir zur Linken der im Den ver- 
grabene Jäger ſchnarchte wie cin Murmelthier. — 

Als wir bei grauendem Morgen aus der Hütte traten, 
machten wir große Augen. Weiß, alles weiß, die Berge, der 
Wald und die Almen weiß von friſch gefallenem Schnee, und 


Ob er auf 'n Schu a Zeichen g'macht hat, hab’ ich 


noch immer wirbelten die Aloden aus der grauen Hohe. Meinem 
Freunde gefiel das weiße Scimmerfleid, das die Berge über 
Nacht ſich angezogen; mir aber wollte dieſe frische Unſchuld durch: 
aus nicht behagen, ich dachte am meinen Hirſch und ſchaute 
fragend den Jäger aı. 

Der zudte die Achſeln und meinte: „Au web zwid — jet 
lann's aber ſpucken!“ Und daber blidte ex mit Torglichen Augen 
auf den braunen Schweißhund nieder, der uns in großen Sätzen 
umiprang, als wüßte er ſchon, daß cs an die Arbeit ginge. 

Wir brauchten in dem zähen klebrigen Schnee zwei volle 
Stunden, bis wir die Alm ewreichten. Auf dem hoch überichneiten 
Schußſplatz nad) Schweiß oder Schnitthanren zu fuchen, wäre 
vergebene Mühe geweien. So alte ich in brennender Ungeduld, 
meinen zwei Benleitern weit voraus, jenem Fichtenbäumchen zu, 
an welchem ich die Fluchtiährte verbrochen hatte. Da ſchoß eine 
heiße Blutwelle in meine Wangen und es lachte mir das ganze 
Geſicht — mochte nun meinethalben die Fährte verregnet und 
hoch überjchneit fein! — der Hirſch hatte einen prächtigen Schuß, 
das deutete mir der helle Schweiß, mit weldem die über einander 
hängenden Zweige beiprigt waren, und zwar jo veichlich, daß ihn 
alle Näſſe nicht hatte verlöichen lönnen. Freudig winkte id) meinen 
Freund und den Jäger herbei. nahm den Hund an die Leine, 
der den Schweiß begierig anfiel, und ließ mich von ihm ins 
Didicht ziehen, In einem Bogen ging es thahwärts, wohl 150 
Schritte durch dichten Beitand und noch dreihundert Schritte durch 
den Hochwald — dann Tag er vor ums, der Herrliche, zu Füßen 
einer riefigen Tanne, wicht wie verendet, jondern wie in ſorgloſer 
Ruhe. Nur die Läufe waren ein wenig übericdmeit, und leicht 
zur Seite geneigt lag das braune, veichgeperite Prachtgeweih. Er 
hatte die Kugel mitten auf dem Blatte jigen, ein Schuß, mit 
welchem ex zu anderer Jeit feine fünfzig Gänge weit gelommen 
wäre Nur die zäbe, geiteigerte Lebenskraft, die den Hirſch 
während der Brumftzeit erfüllt, Hatte ibm nach einem ſolchen 
Schuſſe jo weit mod) führen Fönnen. 

Rum ließ ich aber auch einen Friichen Juhſchrei hinaus 
ballen in die weißdurdpwirbelte Lufſt und ftedte mie den wohl: 
verdienten grünen Bruch aufs Hütlein. Dem Hirſch ſchnitt ich 
die ſchön gefärbten „Gran'kn“ aus dem Meier und reichte fie 
meinem Freunde als Erinnerung an die Hirſchbrunft in den Beracn. 

Gegen Mittag fticgen wir thalwärts, der Jäger, wm den 
Schlitten jür den Hirſch zu holen, wir beide, um der Stadt 
entgegenzureilen. 

Zweimal wahrend des Niederitieges überholten wir den Schnee, 
doch immer wieder vüdte er uns nad. Es ſchien, als ware die 
weiße Dede ein Yeichentuch, das von unfichtbaren Händen über 
die Berge aczonen würde, tiefer und tiefer mit jeder Stunde. 

Die Hirſche hatten ausgejchricen, und der cisbärtige Winter 
zog ins Yand. 


Der Herr Oberflabsarst. 


on 8 v. Dien. 


ier, mein ficber Werner, bier haben Zie das gewünſchte 

Zeugniß. Gerathen Sie an einen nur halbwegs trätablen 
Kollegen vom Militär, jo denke ich, daR Sie daraufhin freifommen 
werden. Ich wünſche es Ihnen von Herzen!” 

Mit dieſen Worten überreichte mie unfer alter Hausarzt mit 
einen Frenmdlichen Blid über die goldene Brille hinweg das 
Ytteft, welches meine inneren und Äuferen Schäden in To icharfer 
Meile hervorhob, daß ich jeden andern wegen Verleumdung ver- 
flagt hätte — bier drüdte ich nur dankbar und verſtändnißinnig 
die weiche, fette Hand. 

Es lag mir viel daran, vom Militärdienſt frei zu Fommen. 
Hatte ſich doc) eben Gelegenheit gefunden, meinen ſchönſten Traum 
zu verwirklichen, das heißt cine Reiſe um die Welt zu machen, 
und zwar in einer Weile, die für meinen Beruf als Natur— 
foricher die denkbar qünftigite war, Schwerlich würde eine zweite 
derartig günftige Gelegenheit mir jobald werden, und ich hoffte, 
wenn ich dieſelbe ergriff, in meiner Weiſe dem VBaterlande einit 
befier dienen zu fünnen, als wenn ich ein Jahr in Kommiß— 
ſtiefeln einberitolperte. Zudem Waren meine Augen durch nächt 
liche Studien wirklich angegriffen, und mit großer Befriedigung 


188 


bemerkte ich bei meiner Anlunft in D., daß die ſtaubige Eiſen— 
bahnfahrt das Ihrige beigetragen hatte, fie noch mehr zu entzinden. 

Die geröthelen Ränder und der teiibe Blid, die mir aus 
dem jledigen Bajthofipienel entgegenſahen, erweckten die beiten 
Hoffnungen auf Befreiung von meinen ſoldatiſchen Pflichten in 
mir, md im gehobener Stimmung begab ich mich zu einem Stell 
dichein mit einigen Freunden. 

Wir plauderten luſtig und gemüthlich und die Yeutchen gaben 
mir die merhwürdigjten Aufträge Tür die fernen Welttheile mit, als 
Freund R. mich plöglic fragte, welcher Arzt mich unteriuchen wiirde. 

Oberſtabsarzt Römer," antwortete id. 

„Du,“ machte er mit einem langen, wehmüthig verhallenden 
Für, „dann Ade die schönen Neiiepläne! Bade Deine Koffer wieder 
aus, mein Junge, bleibe im Yande und folge dem Kalbfell. Der 
Herr Oberſtabsarzt Nömer it ein Herr, der wicht mit ſich ſpaßen 
läßt. Seiner Anſicht nach aebören zum Militärdienſt nur cin Paar 
tüchtige Arme und Beine, und Deine find ja, Bott ſei's gellagt, 
in der bejten Berfafjung. Aber Scherz bei Zeite, mach' Dich auf 
alles bereit. — Diejer Herr iſt jo unbeugſam, als hieße ev nicht nur 
Römer, fondern jtamme unmittelbar von den alten Quiriten ab,” 

St 


o 


Ich blickte Fragend im Kreiſe umher. Die meiften beftätigten 
durch eim ſtummes Hopfniden die Worte des Freundes, und ©, 
der Inftige Blondfopf, ſprang auf nnd rief mit Pathos: „Ein 
volles Glas für den dem Tode Geweihten!“ 

Wir lachten alle, und hell erklangen die Glaſer, aber mit 
meiner frohen Laune war es vorbei. Ein vertenfchter Svaß wäre 
es doch, wenn AM. vecht behielte. 

Um den üblen Eindruck meines angegeiffenen Aeußeren To 
viel als möglich zu verjtärten, bejchloffen die opfermüthigen Freunde, 
die furze Sommernacht mit mir zu durchjubeln, md die Mugen 
meiner guten Mutter hätten gewiß mit Sorac auf mir aeruht, 
als ich am nächſten Tage bleich und übernächlig in das große, 
abicheulich belle Zimmer des Tohtor Römer trat. 

Beim eriten Blick auf dem Heinen, unteriebten Herrn mit 
dem granen, Kurz gefchnittenen Saar, unter dem das Geſicht fo 
friich, beinahe junendlich hervorjab, zog wieder Hoffnung in meine 
geängitiate Seele, und mit dem ſcharfen Blit des Natırforihere 
alaubte ich zu entdecken, daß Die Brille dem alten Herrn nur ein 
Mittel ſei, ſich amtliche Strenge zu geben und feine freundlichen, 
wohlwollenden Augen möglichit zu veriteden. 

Nein, die Freunde hatten fich einen Spaß mit mir gemacht: 
dieſer Mann war fidjer kein militärischer Automat, er würde 
verftchen — begreifen — und überdies Hatte er gewiß ſchon 
den Wrief des Hausarztes, Den ich ihm geſtern gleich zuſchickte, 
gelefen — richtig, Da lag er ja offen auf dem Schreibtifche, ic) 
erfannte die geichwörkelte Schrift des alten Deren. Ich athmete auf. 

Doltor Römer fam mir mit ernſter Freundlichleit entgeaen, 
forderte mich auf, Pla zu nehmen und, nachdem er über den 
Brief des Arztes geiprochen und einige Fragen ũber weine Familie 
am mich aerichtet, ich ibm quch meine Pläne bezüglich dev Meltreiie 
mitgetheilt hatte, begamm ex eine Tanne, gründliche Unterfuchung. 

Ich fing eben an zu Denken, daß der gute Mann feinen 
Hotuspotus etwas abkürzen könnte, als plöglih in meine gemüth- 
liche Sicherheit die niederichmetteenden Worte fielen: 

„Ks thut mie leid, mein junger Freund, ich weiß, was fire 
Hoffnnngen und Wünsche ich Ahnen zeritören muß, aber id) 
vermag in Ihrer Monjtitutton michts zu finden, was Zie vont 
Dienſte befreien könnte. Tröſten Sie jih, Sie ſind noch ſo jung, 
es lommt ſchon wieder eine derartige Gelegenheit und Sie werden 
diefe dann mit dem ruhigen Gefühl bemugen konnen, Ihrer Pilicht 
genugt zu haben. Das it doch immer die Danptiache für einen 
ehrlichen Menfchen.” 

Er ſagte dieſe Worte fo wohlwollend und ſah mich, jept 
ohne Brille, ans hellen blauen Augen fo freundlich an, daß ich 
dem Marne nicht einmal gram fein konmte, der mit einem Worte 
meine Karriere zerſtörte — wie ich Damals meinte. 

Während ich mich anfleideie, murmelte ich noch einiges über 
meine durch Studien ſehr geſchwächten Mugen, aber der Kleine 
Oberſtabsarzt ſchüttelte lächelnd Den Kopf und meinte: „Mein, 
mern, damit kommen Zie bei mir wicht durch, Es giebt viel 
leicht Kollegen, bei Denen Die mit der augenblicklichen Gnt- 
zundung Ihr Glück hätten machen köunen, aber da das Schidfat 
Ste nun cinmal zu dem alten Römer geführt Hat, fo müſſen 
Sie andy Die Nonfequenzen tragen. Ich Darf mir derartige Heine 
Vicbenswürdigfeiten nicht erlauben, darf es wicht, wenn ich wicht 
die Ruhe meiner Nächte gefährden will.“ 

Ich muß den alten Deren wobl mit ziemlich dummem Ge: 
jichte angefchen haben, denn ev lächelte ernſt und meinte: „Das 
ſcheint Ihnen jeltfam, mein junger Freund. Wenn Zie fire heute 
Nachmittag nichts Beſſeres vorhaben, fo trinken Sie cine Taſſe 
Maffee in meinem Garten, daun erfläre ich Ahnen die Sache. 
Es liegt mir daran, acrade Ahnen gegenüber mic anszuiprechen. Zie 
gleichen auffallend Ihrer Frau Mama, die ich einst aut kannte, 
und ich möchte nicht gerne, daß Die freundlichen Zuge derſelben 
ſich verfinfterten, wenn fie zum eriten Male wieder von dem alten 
Tottor Römer hört,” 

Ueberraſcht und gerührt von dem herzlichen Ausdrud, mil 
dem mein freundlicher „Denker“ mir feine Hand entacaenftredte, 
ergriff ich diefelbe und jaqte mein Kommen zu. 

Um vier Uber Fand ich mich nit militärticher Vünktlichleit 
ein, und nachdem mir der alte Here feine Nofen gezeigt und ich 
ſeine Spaliere bewundert hatte, fetten wir uns in einer Wein 
lanbe zu einer ausgezeichneten Tafe Mofa, die von einer ebene 
guten Eigarre begleitet war. 


© 


In einen bequemen Hartenftuhl zurückgelehnt, blidte ich den 
duitenden Rauchwöllchen nach und war in Der menfchenfreundlichiten 
Stimmung, die Bekeuntniſſe einer Oberſtabsarztſeele entgegen zu 
nehmen, obgleich ich noch ver einer Stunde im Kreiſe ver Freunde 
Rache geſchworen hatte. 

Doktor Römer lieh ſich zuerſt von den Meinigen erzählen 
und hörte aufmerkſam zu. 

Dann ſaß er eine Zeitlang ſchweigend, endlich begann er: 

„Rum, mein junger Frennd, wenn alſo die Frau Mama 
Sie fragt, warum der alte Doltor Römer gar To nmerbittlich 
ſein müſſe, jo erzählen Sie ihre folgende Heine &efchichte: 

Am Jahre TO war es, bald nach der Mriegserflärung, ich 
hatte natürlich alle Hände voll zu thun, als an einem Sommer 
tage wie der heutige cin eleganter älterer Bere mit feinem Sohn 
bei mir eintrat, An ſſeiner Sprache merkte ich Sofort, daß cr Bole 
ſei: in dem jchönen, echt nationalen Geſichte war eine große Aufregung 
unverkennbar, fo che er fich auch mähte, Diefe zu verbergen, 

Ter Sohn, ein hochgewachſener, ſchlanker Menſch, zeigte 
diejelben schönen Züge. Seine dunkelblauen, von ſchwarzen 
Wimpern umrandeten Augen hatten einen Bid, der Damen wohl 
aefährlich werden fonnte; übrigens ichien er, troß feiner Jugend, 
das Leben icon genoſſen zu haben. Es faq etwas Welfes in 
dem ſchönen Geſicht. 

In der verbindlich gewinnenden Weiſe der Polen erzählte 
mir der Vater, er babe es vorgezogen, den Sohn fulort als Frei 
willigen anzumelden, obgteich ec jeit überzengt ſei, daß derielbe 
bei einer Muſterung frer fummen würde. Es ſei dies Der fehle 
von drei Söhnen, die beiden älteften wären an der Schwindſucht 
aejterben, eine Tochter trage den Keim derielben Krankheit in 
ſich, und bei dieſem Jüngſten würde es wohl ebeniv fein, denn 
er fer den verjtorbenen Brüdern ganz abnlid. Daber ſchimmerten, 
trotz aller weltmänniſchen Faſſung, die dunklen Augen des Waters 
von Thränen, und als ich den jungen Mann fich entfleiden bich, 
nahm ich mir feſt vor, Milde walten zu laſſen, fo weit cs ich 
mit meinem Gewiſſen vertrüge. 

Wahrend ich den feingebauten Mörper des jungen Polen 
forafam aushiltirte, fiel mir ein, wie am Tage vorher ein junger 
Graf Matten mich angefleht hatte, wicht zu iehr auf Teine Schmale 
Breuft zu achten, ex könne wirtfich viel ertragen, er sei nicht 
ſchwächlich, als Kavalleriſt brauche man ja Leine Bärenfräfte, 

Dies bier war ein ganz ähnlicher Mörperbau — zart, an 
gegrifien, aber noch vermochte ich fein eigentliches Symptom von 
Lungenleidven aufzuſinden. Den jnugen Grafen hatte ich ange 


nommen, indeß bier — die Wranfheit war nun einmal in der 
Familie, — erblicd; ſogar, wie der Valer werficherte, es war fein 


legter Sohn; wenn er nun doch den Ztrapazeı micht gewachſen 
wäre — ja, Dachte ich bei mir, ich Darf cs diesmal thun, ich 
notire ihm als zu ſchwächlich. 

Wie ich aniblide, das Stethoſtop noch in der Dand, um 
dem Bater die ante Botſchaft zu verfünden, ſehe ich, wie Der 
Pole mit verbindlichen Yacheln drei Dundertmarkicheine auf meinen 
Schreibtiſch legt. 

Ich ſehe noch heute die feingliedrige, weiße Hand vor mir, 
wie ſie die Beſtechungsſumme auf meinen ehrlichen, alten Tiſch 
legt. Es Durchfährt mich wie ein elefiriicher Schlag. Teult dieſer 
polsiiche Ariſtolrat. daß ein büraerlider Dolter überall zu er 
taufen iſt, hier ſowohl wie in Rußland, wo er vielleicht ſeine 
Erfahrungen gemacht bat? Das Blut ſieigt mir in den Mopf, es 
ſauſt mir in den Ohren und ohne den Polen anzufchen, ſage 
ich mit heiſerer Stimme, indem ich zugleich die Notiz in das 
Atteſt eintrage: Tauglich Für leichten Kavalleriedieuſt. 

Ein Seufzer wie cin Stöhnen aus wunder Bruſt dringt 
an mein Ohr. Der Pole iſt todtenblaß in einen Stuhl geſunlen, 
aber wie ich auf ihm zueile, rafft er ſich auf, tritt einen Schritt 
zurück und verbeugt ſich, Abſchied nehmend, mit Falter Würde. 

Ach raffe die Scheine zuſammen und weiche fie ihm, 

.Zie vergeſſen Ahr Eigenthum,“ ſage ich ruhig. Er nimmt 
ſie und ſchreitet der Thür zu. Ich nähere mich dem jungen 
Polen und ermahne ihn, vorſichtig zu fein; er Fer nicht Frank, 
aber er jei ſehr zart aebaut, em wildes Leben könne ihn schnell 
on den Rand des Grabes bringen 

Ich ipreche warm und dringend, er hört mid mit einem 
nleihgüftigen Lacheln an, verbeugt ſich verbindtich und folgt Teichten 
Schrittes feinem Bater, 


* 


. 671 >» 


Ich jtarete den beiden nad. Werden Sie es glauben, daß 


durch alle meine anfixengenden Berufsgeichäfte das jchöne, ernite 


Geſicht des alten Polen mic verfolgte, daß ich immer wieder den 
tiefen, ſchmerzlichen Seufzer zu hören glanbte, mit dem er meinen 
Beſcheid aufgenoinmen hatte? 

Ich ſuchte mir einzureden, daß dieje Polen überhaupt ungern 
gegen Franlreich kämpfen, dag man auf folche Gefühle feine Rück 
ficht nehmen dürfe — vergebens, ic) fonnte den Gedanken nicht 


Abſchluſj gefunden, aber die Yüde wird nie ausgefüllt werden, 
öde und todt liegt die Welt für den Vater, dem der Herzichlag 
des einzigen Sohnes verftummt ift. 

Unzählige Hatte ich im diefen Tagen jterben ſehen, warum 


‚ ließ mir diefer eine Todie Feine Ruhe? 


los werden, daß ich den alten Mann vielleicht um dem letzten 


Sohn gebracht haben Fünnte. 

Der junge Pole, ein Herr v. Malaszow, war beim hiefigen 
Hufarenregiment eingetreten. Er jah bildhübſch aus in der Uni 
form und ſchien ſich auch ganz wohl zu fühlen. 

Troßdem die Geſchäfle in jenen heißen Tagen ſchwer auf 
mir lafteten, fand ich immer noch Zeit, mich nach dem chönen 
Polen‘, wie er im Negimente hieß, zu erkundigen. 
ich denn auch fo mancherlei. 


Bald hörte | 


Er ſpielle die Nächte hindurch mit Teichtiinnigen jungen | 


Kaufleuten, Herren vom Lande und einigen Stameraden, trieb 


allerhand Tollheiten in verwegenen Nitten und hatte ſich in Leicht: | 
‚ durfte ich zu Gunſten irgend eines Gefühls oder bejonderer, Nüd 


finnige Liebeleien eingelafien. 
Ich gerieth in Aufregung; mir war, als jei ich dem alten Herrn 
v. Malaszow verantwortlich für Leben und Gefundheit des Sohnes. 
IH fuchte den jungen Leichtfinn auf, gab ihm ganz unbe: 
gehrte ärztliche Rathſchläge, bemühte mich, bald im Scherz, halb 
im Ernjt, Einfluß auf ihn zu gewinnen, ja troßdem id) abends 
müde und matt war und mic nad) Ruhe fehnte, befuchte ich 


jet die tollen, luſtigen Kreiſe, nur um mein Angfttind nicht aus | 


den Augen zu verlieren. 

Aber alle meine Sorgen’ und Ermahnungen waren vergeblich. 
Es wurde weiter geliebt, nelrunfen, geſpiell — und während id) 
meine Hoffnungen darauf jeßte, daß der Leichtfuh nun bald nad) 
Frankreich müßte, kam das Verhängniß über ihn! 


An einen fonnigen Morgen holte man mich um vier Uhr 


aus dem Bette; der junge Herr v. Malaszow hatte einen Blutftur;. 

An den Vater war telegraphiet, jeine Antwort lautete, er 
ſäße am Bette der todtkvanfen Tochter, ex könne nicht fommen, 
Wie habe ich den jungen Menschen gepflegt! Nicht aus den 
Kleidern bin ich in der ganzen Zeit nefommen, und wie ich ihn 
fo weit hatte, ſchickte ich ihm mit meinem beiten Krankenpfleger 
nach dem Süden 

Ich ſelbſt mußte auf den Kriegsſchauplatz nach Franlreich. 
Die aufregende Zeit, der ſtele Wechſel der Umgebung, die ae 


War es denn wahr? Hatte ih Schuld an jeinem frühen 
Scheiden? 

Fa, mein junger Freund, furchtbar habe ich in jenen Tagen 
nelittien. Ich fühlte etwas von dem Fluche Kains auf mir 
laften. Mein Beruf wurde mir verhaßt, denn cr weckle mir 
immer wieder die Erinnerung, daß damals das Wort, weldes 
der Vater erjchnte, auf meinen Lippen ſchwebte, als er, in unfeliger 
Verblendung, mid) beleidigte und zum Widerſpruch veizte. 

Endlich überwand ich es. Ich fagte mir, daß bei einem 
vernünftigen Leoben der junge Malaszow noch ebenſo friſch einher 
ſchreiten könnte wie der Graf Malten, den das Leben im Kriege 
wunderbar gefräftigt hatte. Selbſt an der Riviera war der 
Teichtfinnige Pole ja mehr in Monte-Carlo an der Spielbanf als 
bei den heilfräftigen Bädern in Mentone geweſen. 

Aber etwas blieb mir aus jener ſchweren Zeit zueigen, Nie 


ficht heiſchender Umftände jemand freiſprechen, der wicht wirklich 
gänzlich untauglich war. Bei jeder folden Ausnahme hätte id) 
die traurigen Augen des alten Herrn v. Malaszow gefürchtet 
mit der ftummen Frage: ‚Wenn diefen, warum wicht meinen 
Sohn, meinen legten, einzigen Sohn?" — 

Der alte Herr ſchwieg ergriffen. Much mir war längſt die 
Gigarre ausgegangen. Weber uns im Weinlaub fang eine Droffel. 

„Schen Sie, mein junger Freund,“ jagte nad) einer Pauſe 
der Doktor mit einem etwas anzüglichen Yäceln, „jo wurde id) 
der alte Grimmbart, der feinen zchuzöfligen Naturforſcher mit 
einem Brufttaften wie ein Preisfämpfer als untanglidy gelten läßt, 
mag er auch etwas entzündete Augen und eine bleiche Selchrten 
farbe haben. 

Donneriwetter, Sie werden ſich wundern, wie Sie nad) jede 


' Wochen ausſehen werden. Wollen Sie bei der Artillerie eintreten ?” 


hobene Stimmung, in der man ſich befand, verwiſchten die Ex: | 


innerung an die traurige Epijode. 

Da, es war im den erften Tagen des Dftober, bald nad) 
der HNapitulation von Strafjbura, ſaß ich in der verwüſteten Stadt 
an einer Wirthstajel. Ich führte einen Zug Verwundeter nad) 
Berlin und Fchimpfte über das ungeſunde, naßlalte Wetter. 

Weiter unten an der Tafel ſiht ein Herr, der mir befannt 
vorkommt, doc weis ich nicht ihm unterzubringen. Schöne, 
tiefleidende Züge, das volle Haar ſchneeweiß, Fit er mit geſentlen 
Augen theilnahmtos da, kaum dab er auf die Fragen feines Be— 
aleiters antwortet. 

Als fühle er meinen forſchenden Bid, hebt er die Lider, 
unere Mugen begegnen ſich. Leichenbläſſe überzieht fein Geficht, 
er ſinkt wie ohnmächtig zurüd, Ich erareife ein Glas Waſſer, in 
welches ich raſch ein paar belebende Tropfen ſchülte, und eile, es 
am die Lippen des halb Bervuftlojen zu halten. Schon will er 
trinfen, da trifft mich wieder fein Ange. Nie im Leben werde 
ich deſſen Ausdruck vergeflen! - 

Hoch auf jprigt das Waſſer aus dem Glaſe, weldyes er von 
ſich ſtößt; im nächſten Angenblick ift dev Fremde, auf feinen Be 
leiter geſtützt, aus dem Saal verſchwunden. 

Der arme Herr, er iſt nicht ganz bei Berftande, er hat 
eben feinen einzigen Sohn in Mentone begraben,“ ſagt der Ober 
fellner, indem er dienftbefliffen mie das veridyüttete Waller abwiſcht. 

Es war Herr v. Malaszow und er jah in mir den Mörder 
feines Sohnes. — 

Was war ein Menschenleben in jenen Tagen! 

Zu Taufenden ſanken fie bin, edle, verdienftvolle Männer, 
boffnungsvollite, blühende Jugend; alles raffte die wilde Kriegs: 
furie dahin, tiefe Yüden wurden in den Staat, die Familien 
gerifien. Hier hatte ein leichtſinniges, inhaltstofes Dafein feinen 


Ehe ich antworten konnte, verbunfelte ein leichter Schatten 
den Eingang der Lande und eine weiche Stimme ſagle: „Verzeih', 
Onkelchen, daß ich Dich ftöre, aber oben ift der Medizinalrath 
Scholten, der Dich gleich ſprechtn will.“ 

„Schotten! ja dann iſt es. vorbei mit dem Plauderſtündchen, 
wir haben eine Nonjultation zufammen. Seien Sie nicht böfe, 
daß ich Ahnen davonlanfe, wir ſehen uns ja wohl noch öfters. 
Liebe Erna, geleite Herrn Werner bis zur Garlenthüre, bier iſt 
der Schlüffel. Auf Wiederſehen, lieber Werner!“ 

Damit eilte der Heine, Eurzbeinige Herr fo Schnell er konnte 
ins Haus, 

Fräulein Erna hielt den großen Schlüſſel verleaen im der 
jierlihen Hand, Aus der wenig ceremonidien Art der Einführung 
und dem kurzen Sommerkleidchen, welches allerliebſte Füße frei 
lieh, glaubte ich den Schluß ziehen zu dürfen, daß die junge 
Dame nocd zu der Species der Badfifche gehöre, obgleich über der 
ganzen Erſcheinung ſchon dev Zauber holdejter Jungfräulichteit lag- 

Ich machte ein paar nicht ſehr geijtreiche Bemerkungen über 
den hübſchen Garten und die Roſen, aber wie idy ein ſchelmiſches 
Yächeln über das veizende Geſicht Kufchen fah, nahm ich mich) 
zuſammen und fuchte, anfnüpfend an eine jeltene Pflanze in unferer 
Nähe, ihr ein Meines botaniiches privatissimum zu halten. 

Sie hörte zwar aufmerkſam zu, jah aber mit einem Ausdrud 
zu mir empor, daß ich folort innerlich überzeugt war, ihr Litleratur 
Ichrer in der erflen Klaſſe der höheren Töchterſchule ſei in ſie 
verliebt. Ich wurde anf den Mann ordentlich eiferfüchtig, denn 
die Yitteratur ift entschieden ein eraiebigeres Feld als die Botanik. 
Indeſſen hatten wir uns auch in diefes trodene Studium jo 
vertieft, daß ich zufammenfschraf, als die Equipage des Medizinal 
raihs am Bitter vorbeirafielte und Doltor Römer verwundert zu 
uns berüberblidte. 

Schleunigſt nahm ich nun Abjchied, aber noch oft Tonnte 


“man an jchönen Summerabenden die lange Geſtalt eines Frei 


willigen im der Weinlaube jigen ſehen und auch die privatissima 
wurden eifrig fortgeſetzt. 

Jahre ſind vergangen. Der Herr Oberſtabsarzt iſt ganz 
ſicher vor meiner Rache, vorausgeſetzt natürlich, daß er nichts 
dagegen bat, mein Schwiegeronlel zu werden. — 


o 68 >- 


Eine Bitte für arme Rinder, 


any wandelt fihh's am Sommermorgen fhön | Des Sommers Vracht ringsum in Eis und Wenn er der Sonne Olanı mit Wolken derki, 


= Dom Thale aufwärts zu den Bergeshöh'n! 
Was in der Tiefe dunſges Uebelgrau 
län auf der Göhe ala demant'ner Chan, 
Das biitt und funkelt in der Sonne Gold, 
Als ob die Welt ein Eden werden wollt! 
Ja, felbR das Blatt, 

Stamm, 

AUmfammel nun ein Kichtfehein wunderſam. 
Iu Perlenſchnüren werden Spinneweben, 
Wenn über fe die Sonnenſtrahlen ſchweben, 
Und jauchend künden's helle Vogelsungen, 


Wie alles rings von Lrbensgluth durchdrungen! Adı, warum irrt das matte, trübe Aug’ 
Stel, auf dem Schulweg Mädel dort und Anabtn! So oft umher, was zittert in der Yand 


ara find fir fie des reidıen Dafeins Ohaben, Der Griffel? — — 
Vart if der Fuf, die Wange hohl und Blei; — — — 
Dodı ſchau', cs hat ans feinem Königreich 


O Gott, wie thut alsdann die Armutlı weh! 
Wie ſchmerzt dene blaffen Kind der nackte £uf, Dann foll das Mitleid reich die Gaben weih'n! 
Der auf acfror'nen Scrollen wandern muß! 

Wie hat verlernt das Bürfdlein den Gefang, 
das krünkelnd hängt am Das frohen Sinns den Bnfıt mit Beeren fAnwung! Wie man den Chriſtbaum für den Dürft'gen 
Im ſchatſen Mord des Mädels Odem randıt, 
Nas frierend in die magern Yändchen haucht 
Und hafig Arebt, im Schulhaus anzukommen, — Gelegntt fei, wer lindert Gram und Woth! 
In warmer Stube wird es aufgenommen, 
Und lernen foll es nun wie's Pflicht und Branch. Das nieb uns heute!“ Höher dies Gebet 


Seid ihr durchfroren nadı der langen Yacht 
Der Sommer diefe tileinen andy befdjenkt! — Einmal auf Stroh am Morgen aufgewarht, 


Sein Scopter über Wald und Fluren vet, 
Dann bring’ die Alenfdrenlicbe Sonnenfcheln, 


Schnee. — 


Wir wilfen’s ja, wie man am Weihnachtafent 
So gern den Acemften and ſich freuen läßt, 


ſchmückt. 
Wenn alles mit Geſchenken ſich beglückt! 
Dom eins vor allem: „Alnfer wialich“ Arot, 
Yo als die ſchönſte Feftagfpende Reht, 


Und kann man auch nicht helfen allen, allen, 
— Die anf der Armuth Dornenmwegen walleı, 


— Habt ihr Yunger je gekannt? Den hagern Mlündlein, die da hungernd beben, 


Das Frühbrot laßt uns jenen Kleinen 
acben! 


Sich, wie der Yurſch' den Huſch mit Keeren Habt mit dem erften Blick nur Voth geſchant ki in Beer Alildı, ein Brot — und fonft nichts 


fdyjwenkt, 
Wie dort das Mändlein ſich des Apfels frent! — 
0, rs find Kinder armer, armer Leut', 
Bri denen mit den Glam vom Aloraenroth 
Beginnen muf der faure Kampf ums Brot, 
Bei denen, wenn der Abendftern erblinkt, 
Bchagen nicht nach harter Arbeit winkt, 


Ein dumpfer Schlaf auf Lumpen nurund Stroh — Vor allem uns bei armen, ſchwachen Kindern, 
Bei jener Iugend, ſiech und hungersmatt, 
Für die der Kebenslem vicht Blüthen hat! 
Wie ſchmal für fie das Erbtheil zugemenen! — Die froferharrt und ungefättigt nah'n 

Der Schule, ihrer nehmt euch liebend an! 
Vin Berher Milch, ein Brot — 


Der Sommer aber macht andı diefe froh 
And läft im feiner Milde fie vergelfen, 


YUun aber wird cs anders allgemadı. 

Weih ſchimmert oft der Reif auf Baum und Dadı. 
Kein Lied dev Vögel IN mehr m erlanfhen; 
In jeden Windhand; dürre Blätter raufıhen. 


Unr kurje Ieit — und cs if eingeſargt 
Herbſt IXGW. 


Und dann als Imbiß troch'nes Hrot gekaut? 
Fürwahr, wenn ihr es einmal nur geſchen, 

Ile könnt nicht Irerslos mehr beifeite Aehen, 

Und könnt ihre auch nicht alles Elend wenden, | Vergeffen iR des Tages Kid geſchwind, 

ihr aebet gern und gebt mit vollen Händen! — Da wüächft im Kind, wie wenig ihm andy bliebe, 

Wohlan denn! Kant den Drum der Armuth Das Gottvertenu'n, der Olaube am die Liebe, 


Welch Kabfal für den jungen Kebensbaum 
Mit ihrem warmen Strahl die Sonne kargt — Solch' kleine Gabe? Wenn der Winter rauh 
In Eiskruftallen wandelt ſchnell den Than, 


mehr! 
Mit lecrem Aagen it das Lernen ſchwer, 
‚Dort, wenn die Wohlthat beingt das Anaebind, 


Da winkt Genefen für den Schwarhen, üranken! 
Nie Enkel werden’s cinft den Vätern danken, 
| Wenn ein Geſchlecht erflanden, das erkennt, 
Wie aliihend nod; der Kicbe Flamme brennt, 
Dafi Lüge fprict der Mund der Gafpropheten, 
Die laut verkünden: Ausgeſaugt, yertreten 

ihe ahnt es Wird von den Beiden, wer da arm und ſchwach! 
kaum, — — — — — — - 
‚Da fromme Alenſchenliebe, werde wach! 
Gedenk' der Uleinen auf der Schülervank, 
Der armen Menſchenkinder, ſchwach und krank! — 


Emil Rittershaus. 


lindern 


Am Rachdruck diefes Gedidtes in öffentlichen Blättern wird gebeten. Die Nedaktion der „Gartenſaube“. 


Blätker und Blüthen. 


Ein Dentiſſein auf dem Schlachlſeſd von Auerſtaädt. Die grohen 

Denimäler gelten den Siegen der Nationen, aber audı, wo ein Heer 
tapfer, doch unglüdlich gekämpfi, verdient die Stelle des Kampfes für 
die Nachwelt bezeichnen zu werden, Ani der Dochebene zwiichen Köſen 
uud Edartäberga liegt das Dorf Haſſenhauſen, um deiten Beſiß am 
14. Oftober 1806 heftig gefampft vonvde, an jenen Tage, der als Schlacht 
tag von Anerjtädt in der Geſchichte bezeichnet wird, Drei Piviiionen 
schlugen jich bier gegen die Truppen des Marichalls Davont mir ſolcher 
Sartmädigkeit, dal der beiderieitige Verluſt itbereinftinmend anf ein 
Drittheil der Kämpfenden angeneben wird, Hdier fiel der Oberit 
fonmmandirende der prenhtichen Armee, der Herzog von Braunſchweig, 
tödtlich getroffen; ein Heiner Denfitein in einem Tannengebüjch bezeichnete 
bie Stelle, So lange die Napoleoniiche Herrſchaft danerte, war es bei 
einer in den Boden eingelafienen Stemmplatte mit einem Kreuz und der 
Juſchrijt „IH, Oftober 1806" geblieben — im Jahre 1816 wurde der auf 
dem stirdhhofe von Tangwig jeit IROT befindliche Dentitein nach dem durch 
jene Platte bezeichneten Plabe überführt. Jeht it es den Bemühungen 
des Landraths von Naumburg, Barth, und des Brigade⸗Adjutanten Daupt 
mann Jäger ‚gelungen, durch die Yiberalität der braunſchweigiſchen He 
gierumg an diefer Stelle ein neues nad) den Rifien vom Rarhsbaumaiiter 
ee. Töpfer in Köſen entworfenes und von demfelben ausgeführtes Dent 
mal zu Schaffen, einen etwa 4 Meter holen Obelisten mit der Anschrift: 
„Bier ward am 14. Oftober 106 Marl, tegierender Derzon zu Bram 
weig und Yüneburg, tödtlich verwundet. P.iosmit) Garetus Angustue 
Irina) S«axoniar) V,limariae), Anf Dentſch: Geſeb von Earl Auguſt, 
Herzog von Sachſen⸗Weimar. Ermenert von der Herzoglich Brauuſchw. 
Staatsregierung 188.* Das Dental wurde am ! September in 
Gegenwart mehrerer Bertreter der braunſchweigiſchen Regieruug und 
der Mriegerbereine der Umgegend feſtlich „ingeweiht, J 

Eine kirgififße Suflanin. Der Sultan der Kirgiſen der Tre 
burger Steppe, Suleiman, den Heinrich Mofer anf feiner rohen aſiatiſchen 
Reiſe beincte, gemürhlich angeregt durch die Branunweinflaſae jeines 
Gaſtes, ließ ibn die aröhıe Ehre widerſahren, welde einem Ehriften au 
Theil werden fan: er drüdte ihm den Wunsch aus, ihn feiner Yieblings 
aemablin vorzuſtellen. Moſer ſchildert ums, wie ibn ſchon bei ihrem 
Eintritt in das Jelt Fatme durch ihre Schönheit und den Neichtbum ihres 


Koſtüms blendeie, Sie war eine etwa Zwanzigiährige, friſch ausſehende, 
wunderhubſch gebamte Kran; fie zrug einen cnlindriichen ſammeinen Stopf- 
vpu$, der buchitäblich mit Edelſteinen bedeckt und am unteren Mande mit 
Jobel bejept war. Eine Art Sad, ähnlich wie an den alten ungarifchen 
Malpals, au deifen Ende ein Türlis von feltener Größe befeitint war, fiel 
auf das linke Ohr herab. Als Untericheidungszeichen ihrer Wirde img die 
Favoritin einen Buſch von Neiher- und Straußſedern anf den Nopipube. 


ls ſie bemerhe, daß der Reiſende ihre Verſon und ihr Koſtünt be » 


wunderte, lieh ihn ein Lächeln der Befriedigung ihre hübichen ſpitzen 
Zähne jehen. Mit offenbareın Berguügen und echt weiblicher Stofetterie 
machte fie ilm auf die einzelnen Theile ihrer Meidung anfmertiam, Won 
obern Nande der Mübe Tielen von Goldfranien eingeſäumte Muſſelin 
ichleier bis auf die Schultern herab, Kine Arı Brieitermehgewand aus 
weihem Atlas, das mit breiten Goldborten und einer hinter dem Mopf- 
pube beieitigten Franſe aus veinem Wolde beiekt war, reichte bis anf die 
Rniee herab. Unter dem Meßgewand jah man einen Sarafan aus Gold 
brofat. Diejes zierliche Koſtum wurde durch ein goldgeſticktes Beinlleid 
ans ſehr dünner weißer Seide, das an den Kubcheln jeit aufchloh, ver 
volfftändigt. Die Fehr Heinen Stiefelchen ans rothem Maroanin bededten 
ebenfalls Hotöftidereien und Gdeljteine, Fame vahm arglos die über 
triebenen Schmeicheleien des Neifenden bin und obſchon eine verheiratete 
Fran niemals wagen darf, ihr Haar fehen zu laſſen, lieh fie ibn doch 
ein Endchen ibrer tohlichtwarsqlängenden Yöpfe erbliden. Er faßte os 
zart au uud war boshaft genug, daran ftart zu zichen, um jich zu über 
zeugen, ob der Stoff wahr oder falſch jel, Selbit in Europa hätte eine 
Frau ſehr ſtolz anf dielen Haarſchmuck fein Tonnen. 

Km mie ihr Mofer von feiner Heimath und der dortigen 
Frauenwelt erzählen; er zeigte ihr das Medaillon einer jungen Dane 
in Balltoilerte. Da ergab es ſich, wir veridieden die Begriſſe von 
den, was ſich ziemt, in der Drenburger Steppe mud in den Salons 
von Zaris, Wien md Berlin find: denn Fame konnte ſich anfangs 
sr denfen, daß eine Dame in ſolcher Weile ihre Schönheit wur 
dent Öbeliebten zeigen fünne, und glaubte daher, der Meilende habe das 
Bild jelbit gemacht. Als ſie erfuhr, daß ein anderer es gemalt, ſagte 
fie: „Diele Frau liebe Dich „nicht , ſonſt hätte fie ſich wicht jo wenig 
bekleidet einem Dritten gezeigt," Und als jte gar erfuhr, daß ſammtlicht 





Argrofmutiers Herrfichleiten. 
Nah den Delgemälde von Hans Fechner jun. 





» 674 > 


Frauen auf den Bällen in Europa fo erfchienen und von dem Arm eines 
Tänzers in den eines andern übergingen, da wuchs ihre Berwunderung, 
Späler vergrößerte ſich der nelelli 


wandte und Freundinnen der Sultanin und andere Säfte. Es wurden 


chaftliche Mreis: es famen Ber: | 


Gefetlichaftsfpiele neipielt, die mit den eurobäiſchen große Wehnlichfeit | 
haben, Tafchentücer verjtedt, der Wirbellnocden eines Scafs in die ı 


Höhe geworfen, was an das Spiel „Hopf ober Wappen“ erinnern mag: 
Tällt er auf die Seite, jo hat der Spielende verloren und es werden ihm 


Strafen zudiktirt, die allerdings einen ftart afiatifchen Beigeſchmack hatten, 


o mußte ein anweſender dider Militärarzt aus Orenburg einen Hund 
nachmachen, und wenn er im Bellen nachlieb, wurde ee durch die Beitiche 
des Sultans und der Sultanin zur Fortſeßung feiner Rolle ermuthigt. 
Andere mußten nit den Zähnen ein Geidſtück aus einem mit faurer Milch 
gefüllten Gefaſſe heransholen. Der Heifende ſelbſt aber Tatte eine 
liebensiwärdige Nachbarin, eine Verwandte der Sultanin, die in großen 
Nationalkojtun neben ihm Pla genommen. Ihre Augen waren zwar 
nid qrofi, aber ausdrudsvoll und tiefſchwarz, ihre wenig plaftiiche Raſe 


hatte bewegliche Flügel und die Jähne waren von merhoärdiger Reihe; der 


tleine Kopf auf dem prächtig gebauten Körber erhöhte das Anziehende ihrer 
Erſcheinung. Chalija war der melodiſche Name des hübichen Mädchens. 
Sie ſtredie ihren Nachbar, fobald fie Plab genommen, zwei weiße 
Händchen entgenen, welche dieſer wecht herzlich drüdte. Diefe Gaſtfreund⸗ 
lichkeit exichien ihm reizend. Bein Abſchied bemerkte er einen Ring am 
Ringer der reigenden Nachbarin; auf feine Frage, woher fie ibn habe, 
zog fie ihm ab und bot ihm denſelben mit ke er Worten an: „Nimm 
ibn bin! Ein armes sind der Steppen giebt ihı Dir! Möge er au 


| 


au leſen, weil er mwuhte, er ſei micht im Stande, den Schein einer 
Improviſation bervorzubringen. Biltor Hugo las Öffentliche Reden bon 

apierbogen ab, auf welchen zollhohe Buchitaben, weithin ſichtbar, gemalt 
waren. roh erflärt, day ibm dev Gelehrte oder Schrüftiteller am Vor 
lefetifch lieber it als der Schauſpieler, aber and nur dann, ment er 
etwas Neues und war in einer Form zu jagen weil, welche die Juhörer 
glauben macht, das Vorgebrachte oder ein Theil desfelben jei nicht am 
Scdreibtiih ansgehedt worden, fondern falle als eine Frucht der Be 
geifterung dem Börer in den Schoß. 

Die neiftreihen Bemerkungen von Ferdinand Groß lafen fich vielfach 
ergänzen, Die Vorträge Find eine Modeſache neworden. Leſt ein Dichter 
vor, der Huf hat, fo fommt die Damenwelt, um fein Porträt nicht bloß 
in efigie anzuſchauen. Bei wiſſenſchaftlichen Worträgen, die doch alle 
ihren Segenjtand nur ftreifen können, ſucht ein Theil Des Publikums 
einen gewiſſen Schein und Firuiß von Bildung zu gewinnen, Sich auch 
bildungsduritig zu zeigen. Wohl aber fehlt es glitdliherweiie and mir 
gends an einen Publifum, das jih von dein didneriichen Werte begeiltern 
läht und aus dem wiſſenſchaftlichen Bortrag die Anregung ichöpft au 
eigenem Forſchen und Studinm. 

Bofisthümfihe Leidfpeifen — cine nicht immer unbedenkliche Ge- 
ſchmadsſache — pin alle Nationen, und wir Deutiche erfreuen uns 
eines befonders großen Borraths derielben. Die in einer Yand- oder 
Ortſchaft vorzugsweiſe erzeugten oder gepflegten Gaben des Tiier- oder 
Pilanzenreichs bieten den Yrundftoff des Yeibperichts und beſtimmen deffen 
Benenuung. Dafür zeugen Weitfäliicier Schinken und Vonnnerſche Gänſe 


\ brüfte ebenjo jehr wie die Badhändl, Nojtbrasmärfte, graue Erbien, Epäßle 


Deinem Finger ſtets mr eine befrenudete Hand berühren, das wünfdt | m 1 
' ein wenig verweilen. Unter Waldklößen verftehen wir die Thüringer und 


Dir Chaliſa.* 
Er erwiderte das Geſchent mit einer alten Neliquie, die er am der 
Uhr trug und ihr mit den Worten Nberreichte: „Du wirft diefe Reliquie 


Deinem fünftigen Geliebten ſchenlen. Möge er Deiner würdig fein, das | 


wünsche ich Dir," 


; über das Yand der ebentaligen 


Dit der ftolzen Anazone machte er noch viele ſchöne Nitte durch die | 


Wüfte, und lange woch jah er fie vor ſich, wie sie ain Tage feiner Abreiſe 


an der Stirn, die andere aufs Ders gelegt, 


ich von ihm verabichiedete, | 


aus der Stirgifeniteppe zu Pierde, in den fa om jtehend, eine Hand | 


Man ficht, das Wild der ſchönen Kirgifenfultanin Fatme wird durch 


das der reizenden Chaliſa etwas in Schatten geitellt, 

Das Schwanrupfen in Scifdborn, (Mit Allujtration ©, 145.) 
Die troß aller Anmuth doch etwas einförmigen Waflerpartien der Marl 
werden durch zahlloſe Schwäne in reizvoller Weile belebt, Spree und 
Davel find von ihnen bevöltert, Die ftolzen Vögel ſchwimmen ftromanf: 
und abwärts, brüten auf ungnnänglicen abgelegenen Juſelchen oder 
jonftigen qeichütten Plägen amd erfreuen fidh Faft immer ihrer Freiheit. 


Nur einmal in Jahre, meiit im Frübjahr, findet auch für dieſe lebenden 


Seichöpfe eine „Einitellung in den königlichen Dienft“ Ttatt. Auf An 
erdimmg des Pöniglichen Gofiagdamtes, dem die Schwäne als „Wild“ 
unterjtellt find, beginnt eim großes Keſſeltreiben. Yu Waller und zu 
Yand werden Die Vögel nach der Richtung von Spandan ud von dort 
die Habel abwärts bis zur Landzunge Schilöhorn, gegemüber der viel 
bejuchten Inſel Richelswerder, getrieben, md viel Ausdauer erforder 
es, die ftarken Thiere einzeln einzufangen, um fie der aus geübien 
Frauen beftehenden „Rupflompagnie" auszuliejern. _ Mit großer Ge 
ichillichfeit und ohne den Tbieren nennenswerthbe Schmerzen ju ver: 
urjachen, zupfen die Angeftellten ihnen die auı Bauch und au der Bruft 
figenden feineren Federn aus, Empfindlicher ift die zur Berhütung der 
Alu fähigteit nothwendige Entfermung einiger lauger Schwungfedern. Mit 
großem JIubelgeichrei verlaflen die Herupften die Warterfammer, werden 
draußen von ihren Yeidensgefährien verjtändwihvoll begrüßt und fuchen 
um jchleunigit alle wieder das Weite, Die ederernte, welche ein ber 
dentendes Kapital repräfentirt, wird der königlichen Hoſbettlammer ab 
geliefert, deren Aufgabe cs it, viele tanſend Betten in Stand zu halten 
und alle preußischen Schlöfler damit au verjehen. 

Eine moderne Manie. Bir haben in Dalbheft 2 diejes Kahrgangs 
Deintbeilungen über die „Geſchichte der öffentlichen Vorträge” gemacht 
und das Berdienftliche derielben hervorgehoben; doch dieje Borträge haben 
auc ihre Schattenfeite, wie das Ferdinand Groß im feinen pilanten 
„Blättern im Winde” hervorbebt. Er ſpricht von einer täglich zunehmen 
den Manie, „Faſt jeder will vorlejen. 
manmigialtig ſind die fich darbieteuden Genüſſe. Literatur, Malerei, 
Bildhauerei, Politit, Naturwiſſenſchaft, Philoſophie, Geiundheitspilege — 
fein Gebiet menschlichen Willens und Erfennens fehlt in dem ei 


Die Wall thut einem web, jo ' 


fogar Borlefungen über die vierte Dimenfion find wicht ausgeſchlöſſen.“ 


Gewiß une man zwiſchen Borlefungen und Vorträgen umtericheiden; für den 
Vorleſer fteht der Stoff oben an, für den Vortragenden die Korm. Ohne 
Frage entipricht es den Muſtern des ehrwürdigen Alterihums, wenn der 
Dichter felbit fein Werk vorträgt wie Homer md die andern Rhapſoden; 
doch daun muß ihm auch die Babe des Wortes verliehen fein, wie dns 
bei Wilhelm Jordan zutrifft, bei Charles Didens u. a, der Fall war. 
Dagegen gab es große Dichter, die, wie Schiller, fchrediih waren, wen 
fie poeriihe Dolmeriher ibrer Muſe fein wollten; belanm ift, wie diejer 
bei einer Vorleſung feines „Fiesco“ mir feiner Dichtung eine höchſt traurige 
Wirlung beworrief. . 

Tie meiiten Dichter leſen mangelhaft und die jeinften Wendungen 
fallen bei nicht genügender Nüancirung unbeachtet zu Boden, Ebenſo 
ſaun aber auch Die gewinnende Verfönlidhteit eines Poeten leicht über dei 
Unmwertb feiner Dichtung uſchen. Ob der Bortefer im Augenblide wirklich 
erjindet, ſchafft oder nicht, ift gleichgüllig, wenn er mx zu Ichaffen, au 
ernuden ſcheint. Saint Beube vergleicht den Vorleſer mit einen Führer, 
der einen anf eine Bergipite aeleiter und, jobald die Sonne aufgeht, die 
beleuchteten Höhen aufzäblı und nennt. Ob der für Vorleſungen Be 
gabte fein Manwifeipt lieit oder Notizen zu Rathe zieht oder gänzlich 
frei Ipricht, ift gleichgaltig; Gutzow Tonmte lich nie entichliehen, Offentlich 


‚alle in Koburg — Prinzen des Hauſes ihre 


und Waldkloße, jegliches an feinem Orte. Bei leßteren aber wollen wir 
Vogtlandiſchen Kartoffelllöße, welche die Sonntant- und Feierianshaupt- 
fpeile in allen Familien, bei Reich und Arm im ganzen Gebiet ibrer 
Herrſchaft find. Dieſes Gebiet eritredt ſich in Thüringen und Franten 
efürfteten Grafihaft Henneberg, namem 
lich vom Kamm des Thüringer des bis nach Koburg hinab, das jich 
als die jühlide Dauptitadt diejes Nationalipeile Meiches anszeicnet. 

Die wejentlichite Eigenthümlichkeit derjelben bejteht aber darin, daß 
zur WVereitung dieler KMöße die Startoffeln mich exit gelocht, ſondern in 
rohen Huftande gerieben werden. Iſt diefer Brei gehörig (eine Nacht 
über) entwäflert, jo wird er tüdhig ausgepreßt, mit Milch angebrüht, 
mit ſcharf geröfteten Semmelbröckchen aefüllt und mit der Dand zu Mugeln 
geballt in das Fochende Wafler geworfen, Wenn ibre Herſtellung geglüd: 
it, jo fteigen ſie, ſobald jie „ertin“ find, an die Oberfläche des Wallers 
und müſſen nun auch ſogleich auf den Tiich fommen. Wenn ein folder 
Kloß anf dem Zeiler liegt, jo darf er nicht mie dem Mefler geicdhnitten 
werden, das wäre eine ſchwere Werlehung für jedes jachtundige Auge; 
der Kloß muß ſchon zittern, wenn man nur am Teller wadelt, und es 
braucht nur geringer Nachhilfe mit der Babel, um ihn aus einander 
fallen und feine inusperige Fülle zeigen zu laflen, Weben der Kloße 
hat allezeit die Bratenſchüſſel zu Äteben, denn Moße ohne Braten mit 
träftiger fetter Brühe find eine reine Unmöglichkeit uud gälten für ebenfo 
unannebmbar wie Braten ohne Mlöfe. 

Dieſe Klöße, welche im Vogtland „grüne Klöße“, im Meiningiſchen 
Henneberg „Kütes“ und im Vreußiſchen „nölle" oder Kuödel“ genannt 
werden, erfreuen ſich der doppelten Ehre, indem ſie 
von Fürſten des Yandes als Hausmaunskoſt hoch 
gehalten werden und von Dichtern des Yandes poctiich 
verherrlicht worden find. Ganz bejtimme willen wir 
eriteres vom Koburger Dofe, von wo aus übrigens 


heimathlicdhe Leibſpeiſe mit auf ihre hoben Lebens 
ey in die Fremde Inıgen. So lann Herzog 
Ernſt IT. von Hoburg in feinen Memoiren (Band 1. 
IV, Kapitel) uns von jeiner erjten Reife nach Por 
tugal, wo jein Geſchwiſterlind Ferdinand von Koburg 
Kohary als Gemahl der Waria IE, da Gloria König 
war, erzählen, daß die dortige Küche „mit unſerer Gansmannstoft" 
viele Aehnlichteit babe und daß er in Lſſabon guch jchon mit Koburger 
Kloßen überraicht worden ſei. Wenige Boltsleibfpeiien fönnen ſich folder 
Treue ihrer Liebhaber im der Fremde rühmen. Was aber die Poeten 
betrifit, jo hat nicht mur jchon ein Dichter in der Henneberger Mundart 
trefiliche Belehrung über die Bereitnng diefer Mlöfe ertbeit, wie 3. B.: 


Alenner, röjt' die Bröckle, 
Laß fe net verbrenm”, 

Wach Iinich Häne Stödle, 
Bin j' ins Mänle genm’ —“ 


ſondern der gefeiertite Henneberger Dichter der Gegenwart, Nudoli 
Baumbac, tat den Hütes“ ein Lied gelungen, weldes weit iiber das 
Kloßegebiet hinaus, das Übrigens anch jenfeit der Meere feine stolonien 
hat, unzäblige Menfchen erquickt. 

Das Hauptinſtrument zur Nloßbereitung ift die tartoffelpreife, Sie 
gilt als jo wichtig für den Haushalt, daß fie beim Aufban des Aus 
fattungswagens früher immer ihren Elyeenplab neben der Wiege gefunden 
hat, Erſahrt ein ſolches Werkzeug eine weientlihe Verbejlerung, LE find 
wir derfelben unſere Aufnerkſamleit ſchuldig. Wie bei der Budöruder 
tunft_ die Preſſe lange Zeit von Holz war, bis die eiſerne fie Derdrangte, 
jo tritt jeßt auch für die Martoffelprefiung an die Stelle der alten, oft 
recht unförmlichen hölzernen eine eijerne Preſſe, und zwar ift Diele 
Erfindung im der ſüdlichſten Hauptſtadt des Stlöhegebiets, in Mobura, 
ins Leben getreten. Daß wir diejelbe Sofort ſelbſt probirten, iit felbit 
verjtändlich, und jo Fönnen wir fie und ihren Verfertiger und Verkäufer, 
Joh. Nic. Debler in Stoburg, wm jo frendiger entpfehlen, ala feine 
neue ftarke und zierliche Gilenprefie uns die Beranlallung gab, Dielen 
Gegenftand einmal vor unſer Publifum zu bringen, se Dfm. 





Kerlöffelprelle. 


Reftlinge. (Mit Illuſtration S. 649.) Ein allerliebites Bildchen, 
das ſich mehr als viele andere ſelbſt erllärt, fo „sprechend“ ift der einfache 
Vorgang, den es darftellt. Die alte, ſauber gelleidete Bauerfran, deren 
runzliges Geſicht, deren jchwielige Hände von einem langen Yeben voll 
unermudlichem Schaffen und harter Arbeit erzählen, beſchräult jet ihre 
Thätigkeit darand, „Neftlinge” groß zu ziehen. Alles junge Leben im Hofe ift 
ihrer Sorge anvertraut, von den Enfelfindern an bis herab zu den cben 
ausgekrochenen Kücken“. And wie nern und frendig ſchafft Großmmtter 


noch immer! Hände wie die ihrigen ruhen nicht eher, als bis ſich der grüne | 


Rajen über itmen wölbt; nidıt eher werden auch die treuen Hugen und 
Lippen aufhören, den heranwachſenden „Neſtlingen“ freundlich zuzulächeln. 
‚ Eines derjelben, ein junges Menſchentind, naht vorfichtig mut Meinen 
trippelnden Echritichen, um die ſchmauſenden Küchlein wicht zu vericheuchen. 
Reizend hat der Künſtler in der Haltung des Nindes die Neugier mit 
ein ganz Hein wenig Bangen vor dem gefiederten Genoſſen auszudrüden 
verjtanden. a, in der That, unſer Kindchen, obgleich ſchon drei Jahre 
alt, iſt in der Entwickelung zum jelbftändigen Wejen noch weit zurück 
hinmſer den Thieren, die Tann chen fo viel Tage zählen. Das Heine 
Menicenfind fürchten ſich vor den Bönlein, die es leicht in jeinen Fingern 
zerdrüden könnte, und Seit Furgem exit hat es gelernt, allein zu eſſen 
und feit auf feinen Füßen zu ftehen, was die gefiederien „Neitlinge” 
ſchon in der erſten Stunde ihres Daſeins vortreftlih gelonnt haben. 
Die Kornbſume im Garten. Die Lieblingsblume Kater Wilhelms 1. 
it auch eine danfbare Gartenblume. Sie hat die Eigenidaft, daß fie 
beim Anbau oft ihre Farbe verändert; man faun aus ihr weiße und 
duntelpurpurne, jleiidhfarbene, ziegelrotbe und roſa Barietäten ziehen; 
manchmal wird fie ſogar mehrfarbig. Ahr Anbau bereitet viel Vergnügen 
und die Blumen laffen ſich ſehr que zu Sträufen verwenden. Allem 
Anichein nach iſt fie auch einer Veredelung fähig und verdient darum 
eine bejondere Aufmertſamleit der Wlumenliebhaber. ‘ 
„1000 Mark Dielohuung!* (Mir Alluitration S. U68.) Das 
Leben der Großſtadt iſt mnerichöpflich in der Abwechelung: bald kosten 
die Theater mir Luſtſpielen oder Ausftattungsftüäden die Menge art, bald 
übt diefer oder jener Cirtus jeine Anziehungstraft; au den Bertfahreen, 
Weillauſen, Pierde- und Velocipedrennen wandern Tanjende von Reu— 


gierigen hinaus; Sommerfejte, Konzerte wit großen Feuerwerlen finden | 


reiche Berheiligung. Wer aber an all dieſen mehr oder minder rauichenden 
Feftlichfeiten ſich nicht betheiligen will, findet der bunteften Abwechslung 
genug in dem vielgeftaltigen Straßenleben, im den buntzuſammen 
newwürjelten Lolalberichten der Zeitungen, in den Cafes, an den Anfchlan- 
ſaulen, und hin und wieder ift es ein feniationelles Ereiguiſt, das alle 
Schichten der Geſellſchaft in gleichem Maße erregt. Ein ſolches iſt es, 
das unferm Stünftler zu feinem wirtungssollen Bilde den Stoff gegeben 
hat. „ION Markt Belohnung“, jo Tanter die veriurfende, ‚weithin fichtbare 
Ueberſchrift einer polizeiliden Bekanntmachung an der Anichlagiäufe, 
weldye auf cilige Geichaͤftslente, befradte Diener, jorgloie Spaziergänger 
und ſelbſt auf Das ſchöne Geſchlecht eine magiihe Anziehung ausübt, 
Ein Verbrechen hat iungſt die Stadı im Aufregung geiebt, die Polizei 
fahndete vergeblib mach den Urhebern, jegt wird der Eifer aller irgendwie 
Intereſſirien durch die ausgeſchriebene Belohnung angtſpornt. Aller 
Intereſſirten — dazu gehören vielleicht auch die beiden fragwürdigen 
Heitalten, deren Menferes und Ichenes Benehmen den Argwohn, mit 
welchent jie beobachtet werden, wohl nut zu gerechtfertigt ericheinen laffen. 
Das Hainsmal ijt beiden auf die Stirme geichrieben, und die 1000 Mart 
Belohnung mönen ihnen eher cin Gegenſtand des Schtecdens ala der 
Anziebung fein. — Ein lebenswahres nrofftädtiihes Bild! An der Seite 
des geachteten Bürgers unmittelbar unter den Augen des Wächters der 
Gerechtigkeit der gebrandmarkte Berächter der Ordnung und des Geſehes, 
und am der bunsichedigen Anichlagläule witten unter den Anzeigen 
ranicbender Bergnägen hart und nüchtern der Aufruf der Memelid, der 
Siedbrief! * 

Der Berein deulſcher Lehrer in England. Hunderte von deutichen 
Lehrern gehen aljährlih nach England und verfallen dort dem Elende, 
denm nur wenigen glückt es, durch aufopfernde Thattraft und eifernen 
Fleiß; ſich eine fichere Exiſtenz zu gründen. Befinden fich doch noch heute 
die englüichen Schulverhältnitie theilweiſe in einer Yane, wie fie einer jo 
arofen Nation nicht würdig find. Pie Engpländer haben cin Wort in 
ibrer Sprache, das kaum zu überſehen iſt: „adventure schools“. Cs 
bedentet, daß jeder mit oder ohne Beruf dort eine Schule anfangen und, 
wenn cs glückt, forsführen famı, ohne auch wur der geringiten Aufſicht 
unterworfen zu fein. Bis vor wenigen Jahren gab 8 drüben nicht allzu 
viel öffentliche Schulen, welche mie unſeren Gymnaſien oder Realſchulen 
verglichen werben fonnten und einen altbewährten Ruf aufrecht erbaften 
batten. In eine ſolche Anstalt als deutſcher Yehrer bineinzutommen, war 
und iſt auch beute noch ſchwer; wur anertammte Leiſtungen, jowie große 
Empfehlungen können der Wen dazu bahnen, So ift es gelommen, daß 
der Unterricht jeit lange haupriählih in den Händen von Privatperionen 
liegt, die mehr oder weniger nur ein Geldgeſchaft daraus machen. Ge— 
wiſſenloſe Agenten bieten nun die dentichen Lehrer aus und drücken die 
Preiſe bis aufs äußerſte herab. 


° or Me i u # | 
Mach manchen dvergeblidien Berfuchen, einen deutſchen Lehrerverein | de ie Tanga — 


ins Leben zu rufen und mit deſſen Dilfe den größten Uebelſtänden ent: 
gegen zu treten, gelang es der Energie und der Opferwilligteit des Herrn 
Reichardt, einen ſolchen Berein zu gründen Sein Buch „Der deutiche 
Lehrer in England“ hat häben wie drüben großes Aufichen erregt, Einer 
im Dezember 1883 erlallenen Cinladung Reichardis waren nur acht 
Verſonen gefolgt; aber im Vertrauen auf ihre que Sache gründeten 
ſie den Verein, und es gelang ihnen, einflußreiche Beriönlichkeiten zu 
finden, die durch ihre Namen der Welt gewiſſermaßen eine Sicherheit gaben 
für die Neipettabilität des Unternehmens, So ward durch Reichardt der 





6 > 


Lord Mahyor Fowler dazu bewogen, das Proteltorat des Vereins zu | 


übernehmen, Jetzt gehören auch der Derzog von Edinburg, der Groß— 





hherzog von Bellen, der Herzog Ernft von Kohurg Gotha zu den Protef- 
toren, Als Fürftlihe Wohlthäter erwieſen ſich and Die Mönine von 
Banern und Sachſen, die Großherzöge von Heflen, von Oldenburg und 
Sachſen⸗Weimar und der Herjog von KoburgGothä. 

Bas beswedt nun der Verein? 

Einmal durch Warnungen im Baterlande dahin zu wirten, dan nicht 
nchr Lehrer wie jrüher aufs Gerathewohl und ohne genügende Mittel 
für einen zeitweiligen Aufenthalt herüberlommen; dann aber denen, die 
einmal in England find und der Anterjtüßtng bedürfen, einen gemein 
ſchaftlichen Halt zu bieten. Demzufolge hat der Berein eine Agentur für 
ut bejegende Yehrerjtellen und eine Unterftäßungsfaiie für bitisbedürktige 
echrer ins Leben treten laſſen. Im eriten Jahre feines Beſtehens 
find dadurch bereits 20 Stellen befeßt und 4 Benfionäre unternebradht 
worden, 119 hilfebebüritige Lehrer erhielten Unserftüßungen, 12 Mit 
aliedern wurden Borjchüfie gewährt und 29 Mitgliedern wurde in ge— 
bildeten engliichen Familien billige Mojt und Wohnung nachgewieſen. Die 
zulezt genannte Thätigleit des Vereins ift wichtig für die vielen jungen 
Vhilologen, die alljährlich nach London fommen, um daſelbſt die engliſche 
Sprache praktiſch zu erlernen und anf dem Britiichen Muſeum weiter zu 
ſtudiren. Ihnen bietet der Verein das erjte Abſteſgeguartier und verihafit 
ihnen dann Unterfommen in Familien, im denen fie ficher find, nur gutes 
Engliich zu hören, mas leider in London nicht überall der Fall ift. 
Anperdem bekommen diejelben Einführungsbriefe in das Britische Mufeum, 
die für einen fremden oft Schwer zu erhalten find, da dieſe Briefe auf 
der Burgſchaft eines Yondoner Dausbeiigers beruhen. Auch der erfrantten 
Mitglieder nimmt ſich der Berein gewiſſenhaft an. j 

Troß jeiner geringen Mittel bat der Verein bereit-Tüchtiges neleifter. 
Für die nächte Zukunft beabſichtigt der Borjtand noch die Gründung 
einer Bibliothek und die Erwerbung eines eigenen Hauſes. Gewiß werden 
dentiche Herausgeber und Privatperionen gern den Berein durch Zuſendung 
ſachwiſſenſchafnicher Werfe, welde unentgeltlich am Lehrer zum Fori 
itudiren verlichen werben, unterftügen. Das rinene Haus aber foll der 
Mittelpunkt aller deutichen Lehrer in Yonden werden. Die Wirtiamteit 
des Vereins iſt eine weitumfafiende, einen großen Segen Ipendende, Möchten 
ihm doch bald ausgiebige Mittel zugehen, damit er jeine wohlthätigen 
Ideen immer ıhatträftigee ausſühren kann. Bon den deutichen Yehrern 
in England jelbft ift nicht viel zu erwarten; die große Mehrzahl derfelben 
iſt ar, und gerade dieſer Umſtand veranlafite ja die Gründung Des 
Vereins. Bielleicht fühlt ſich nun mancher Lehre der „Bartenlaube” be- 
wogen, dem „Berein deuticher Yehrer in England“, der in der Turzen 
eit feines Beſtehens ſchon fo manchen Segen neltifter, zu unterftüßen. 
Die richtige Adreſſe ift: 25 Comptor Terruee, Highbury N, 


Kleiner Brieflallen. 
Anonyme Antranen werden mid berüdiidtint.) 


2. 9. in P. An Bücdern, weise dem Laien Anleitung geben. wie man Blmmen im 
Bimmer pflegen fell, jeblt e# mise. Wiele von denielten jind jedech verbt umiangerih un» 


' entbaiten Deratis, voribe Für die geche Maſſe der gemöhnlicen Ylumenlicbbater ebme 


Belang find. in Ders Büchlein, meldes in Nlarer üt tlicher Herm das Michtigkte 
auf dielem Gebiere verfüber, it aber mamentid Dem Hnkanger a empfehlen. Gin fel 

treflticher Keitjaden it „Der Bimmergarten“ von Dariblesdartreig Leipia. J. Bädeter). 
Tas Büchlein ift als Ergängungsbaub zu Henriette Daridis' „Mühen md Wlumeitgsrten 
für Hausfrauen”, ber bereits 15 Auflagen erlebt bat, eridienen, Die Hahl der Sausfranen, 
welche auf den Bau ber tüchentrauter verzichten müſſen, aber Bunien im immer gern 
ieben end pflegen möchten, IR jebr ech md ihnen mird der „Himmergarten“ von Panidts 


artolg beienters wiltonmen jein 

&. I. im jo. Sie finden die gereämichte Au⸗sſanſt in dam Werte „Die Berwjsmabl 
im Staatsdienft“ von A, Dracare (Leipzis, G. 4, ehe Yerlan). : 

RN, in Budabeſt. Bir tiiten um Angabe der genauen Adrefie bebuſe briei: 
lider Austenit. 

AN. in Yeipzig. Aicht gar Silt jannczue find Feinde mb Bertilger der Mreuzotter; 
au bie Igel und eine ne Amzabt vom Bogeln vertilgen dichelbe Seltit miier Hans- 
bad famı mit der Bine ange fertig werben umb ihr bem Garaus made. Fir natur 
lichen Feinde künzen jedoch, wie die Erlahrumg lehrt, Diele Wiitbrut nit aue retten. Darum 
fellte ber Keuſch in bem Berwihtungstaugpf inftematijdı vergeben. B 

Eari 8. in Eier, Iowa. Das Wert „Haft“, welches Ihnen im ter eriien Strephe 
des Gcbidter: „Haller Ariebeirh tom!" (tr. 20, Salbbeit 14 umb Whanzbeft 7 beries Nabe 

nas aufſaut, “A gut beutichen Mriprumgs und bedeimiet foviel alt „Blanz":; allerdings 
—& man co meilt num im biherriihen Erreaguniſſen verwanm. 

A. A. in Breslau, Ben Ihrer Mittbeilung, daß auber der ven uns in Saltbeit 15 
erwätnten Bareramenkarte in Areitferu amch eine ſeiche, welcht bem im Ihänlten Theut 
tes Salzlammergits belegenen Scaſterg zum Mittelpunkt bat, im Buchhaudel erihienen 
iſt, mehnten wir biee gern Notiz. Weitere ante Sauctamakarten Find Stodce „Uroden 
vanoramıa“, entwoorken md gezeichnet wen Dslar ð. Bemsdorit iWerlag tem E. N. Etofies 
Selbuhbandiung in Sarsbıra), „Baterama vom Köntzltein“ von A. von Gutbier Berlag 
* Ta Biay ardach im Tresen) und Rundſtan von der Doben Menfe* vet Mag 

rau . 
YBrivatgelehrier D. it B. Sie behaspteit, die Quadratut des irkels ariumden au 
baben, und twoßlen Yhre Lölemg am diejenige Alademie ſeuden, oeldıe „dem hoben Preis“ 


dafür auagtlehe bat. Wir Fünmen Amer sur mitteilen, daß in folder Preis nirgenbe 


ausgelegt Die Quadratur des Artels, das beißt bie Benwanbiung eines Mreited in 
ein Mädhenziekhes Quadrat mit alleiniger Wuwenbung won irkeh mp Yimcal, ift um. 
möglich. $ lit dies von Kervorragenben Wathematifern wicberbolt dewieten werben, 


wiegt von Brofeifor Kindemann. Bir tinnen Ahnen beitisemt erllären, das feine Atadem 
fich der frudtloien Müte, derartige Bölnngen u priien, unterjieden wird, 

. x. in Waumburg a. 2. Die Al md weiter nichts als dic altbefamuten „oft 
fee", wie fie in fehberen Bapierjerten cht aufteateıı. Treyden bie Bilder nicht in rechten 
fteben, bat [ih dec mit ber va ber Seit Eiienegyböyprar anf dem Wayier Tom 
und bie betr. Floge Serworgerufen. Ms Bitter zur ntlermeng bieler mihltben Eriheimeng 
empfehlen wir Ihnen felgende: 1) 2u Theile Weinläume umb 10 Theile Mlaun werden im 
10 Teilen Waſſer gelöit. Dieſe u. wird mittelt eines Wattebauſchsens auf die Heit- 

18 lehtere vericdhmunden find. 2) 120 Hramm meike 
Seile werben im IBu Gramm beibem Waſſer im ciner Yiterflaihee aelöft; damıı werden 
20 Gramm Salmiat geiſt Ammon Se bingugexoffen, und tie iplakhe wirb mit 
Walker 3; voll gefüht; Daranf wird Die Slterlaise ned vonftinpig wit Benzin amgehüllt, 
verkortt und übe Frhalt tũchtig zud wicherholt geihätteit. Bon dieier Leſung mimzer man 
einen Tberlöffel vol und — bie betr, Wenge in einer Literflaſche mit etwas Yensim; 
nad gehöriger Miktrnmg füllt man ihliehlich bie Arlaihe unter fortwährendem Scrütteln 
volftändia mit Benzin am. Mit dieler gelatinesrtigen Raſſe Tan mam die Roſtſiede, wi: 
del I) zum Verihminpen bringe. R 

G. B. Das ameritaniihe vier „Yankor duudie* finder Die in Ednard Gagels 
„Weidichte der engliihen Listeratur“ Leipzia. Elihher) unb zwar dt dem „bie augle 
amerılaniiche Yitteratur“ behandelnden Abſdutitt 

RD. ine. Der Erfinder tes in Wr. 97 umb Halbheit 2 dieſes Jahrganas tr 
Ipredienen „Abmungtitahts” it Gere Bergmeiiter Zoberbier, mit Bürgermeiiter <), iz 
Arrtbitmlib amgegeten. 





—⸗ 676 ⸗·— 
na 
Allerlei Aurzmweil, 
2.2 157 u) r 
Shat:Aufgabe Ar. 10. Von U. Buhle, Biffer-Mäthfel, 
—— — Warmt 123 4 behaglich dein Fimmer im Wimer, 
Die jipen die übrigen Karten, wenn auf: So ſchützt doch 42 3 1 ficher die Stade in Gefahr. 
Y u an — # ”% Au’köfung der Shad-Anfgede Mr. I anf $. Kl: 
| 7 | g 1. Tutie ara eıif u TI — veſp. 3* 
j eb nd — 
| * EIER 2Dhi-at Brei. 8 
. * LITZgrTied 
ip As) PK) 1m.D) ‚pB) mE) ip?) dei er) war!) ward ——— re2 427 3, Tu 42 
BG & iz. Pi W — 44! ki da 
Null oder Null ouvert bei richtigem Gegenſpiel verloren werden nıuh? 5 is = s» ı Ins Dus-e«4 
Shat-Briefkaften. Aufföfung des Sifhonellen-Mebus auf 5. 644: 
. 42 W., im St. Tier eingejandte Ylıny der Stat Anfgate Kr. 9 der „Martenlaube* 5 ? Mondphaſen. 
— —— (s auf 5. 644 
WNataberen, Shmeiber angejagt. 7 x 12, alle 84 teltet, witrend Br eb» 16 ==: 80 Aufföfung des Areuj- Räte aufs. ’ 


feier haben würde. (Die Berechnung richtet ſech nacı den Bejtimmungen ter „Allgemeinen 

eutihben Ztsterenung*, melde von bem tem 7. bie ®. Juli &. J. au Treoden tagenben 
Elattengreh für den Deerjhen Zfatvertanb als nültig amgenemien werden üt, machten 
fie ichen vor zwei Jahren von Altenburger Statkeitgreh em bier angetemuen werben 
mar. Die Deuskhe Statorenung, entwerfen von 1. Buble, eribienen bei Tb. Thomas 
in Peirsig 1666, Fit durch see Wuhıbanblumg für 50 Blermig zu begieben. ) 


Stern · Ralhſel. 


Erſetzt man in neben⸗ 
ſtehender Fiqur die Jah- 
fen durch entſprechende 
Buchſtaben, ſo erhält 
man, der Reihe nad, 
act Wörter, welche be: 
deuten: 


1. ein Sängethier, 

2, ein Betäubungs: 
mittel, 

3. einen weiblichen Vor⸗ 
namen, 

4. eine Seejtadt, 

>, einen guten @eift, 

6. einen italientichen 





Maler, Auflöfung des Mäldlfels auf S. 644: 
7. eine er in Weft Feder. (Bogel, Schreibe, Sprungieder.) 
alen, = ö 
8. einen männlichen Auflöfung des Budflaben-Mäthlels anf 5. 644: 
Vornamen. Adel, Tadel, Nadel, 





. . 26 
Die Anfangsbuchſtaben ußerer Kreis ergeben alsdann das Wert Aufföfung des ziifder-Mälbiels anf 9. Gid: 


N ei ift Seh, 
einer beliebten Schriftitellerin, die Endbuchftaben (innerer reis) die Rur im Streben iſt Leben. 
Schrijtitellerin ſelbſt. Auflöfung der Eharade auf 5. 644: Rathſchlag— 






In unferem Verlag ift erfchienen und durch die meiften Buchhandlungen zu beziehen 
N 


artenlaube- Kalender 
für das Jabr 1889. 
Vierter Iahrgang. 


14", Bogen 8% mit jgablreiden Illuftrationen. 


Preis elegant gebunden 1 Mark. 
Mus dem reichen Inhalte des Gartenlaube-Ralenders für das Jahr 1889 heben wir hervor: 
Gruß an die Teſer. Don Diktor Blüthaen. — Doktor Puppfie. Humoreske von B, Renz. — Onfel Teos 
Berloßbungsring. Don W. Heimburg. — Am hohen Preis. Mufikhiftoriiche Novelle von Mori Lilie. — Eine 
Obffabel. Don Ostar Juftinus. — Die nene Reihsgefebgebung Wehrgeſetz, Wahlgeſetznovelle, Dogelidutaeies u. j. m. \. 
Don Hermann Pilz. — Pom Büdermarkt, Don R. v. Gottichall. — Die erſte Hilfe gegen Mafern, Diphtherie 
und Scdarfad. Don Dr. M. Taube. — Eine Rhein- und Weinfahrt. Don Emil Peſchkau. — Rackblick auf die 
agesgefdid e. Don Schmidt-MWeigenfels. — Die Fürforge für blinde, taubſtumme und andere unglüklihe Stinder. — 
ie im Dentfhen Beide geltenden Verjährungsfriſten für Stlagen und Forderungen. Don Kermann Pilz. — 
Statiftiiche, volfswirtichaftliche u. ſ. w. Notizen und Tabellen, Rathſchläge für Haus», Garten- und Landwirtichaft. — Pofl- 
und Tefegraphentarif nebit den einfchlagenden Beftimmungen in bisher nirgend gebotener Dollftändigkeit und Ueberſichtlich 
feit. Heberficht der Garnifonsorte des dentſchen Heeres nebit Servisflaffeneintheilung. — Jahrmarktsverzeichnis, Blätter 
und Blüten, Humoriſtiſches u. ſ. mw. u. ſ. w. Eine große Anzahl vorzügalicher Illuſtrationen von A. Müller-£inafe, 
5. Bahn, F. Defresaer, RB, Püttner, Fritz Bergen, ®, Gerlach, 5 Wahle u. a. 


Beftellungen auf den Gartenlaube-Kalender 18-9 wolle man der Buchhandlung übergeben, welche die Gartenlaube liefert. Poftabonnenten 
erhalten den Kalender in jeder Buchhandlung oder argen Einfendung von | Marf und 20 Pf. (für Porto) in Briefmarken direft franfo durch die 


— Prrlanshandlung von Ernf Reil's Dadtolaer in Keipzgia. +— 


Serausgegeben unter verantwersikher Ketatiion ven Adelſ Krdmer. Berlag von Ermit Keil's Madrichger im Leirzig. Drust von A, Wiede im Leipzig. 





Illuſtrirtes Samilienblatt. — 3egründet von Ernft Keil 1853. 
Fahrgang 1858, Erſcheint in Halbheften a 35 Pf. alle 12—14 Cage, In Heften a 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1. Zanuar bis 31. Dezember. 


Deutfdie Art, treu gewahrt. ande Hehe vorsehlin. 
Eine Hofgejchichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Meyfer. 


enn an ſchweren Wettertagen die jtreitenden Wolfen für eine | Tujtiges Lied und das Müdlein tanzt einen fröhlichen Reigen. Sie 
kurze Friſt einhalten, ihre Blige, Donnerſchläge und Hagel» | verfichen, die gute Stunde zu genießen. Der Menſch iſt gleichfalls 
Ichauer zu verſenden, und ein Sommenftrahl herausichlüpft, dann | tHeifhaftig dieſer natürlichen Weisheit. Zwiſchen Feuersbrunft und 
öffnet alsbald die weiße Windglode ihren zarten Held, der Sommer: Waſſersnoth, Krieg und Peftilenz nimmt er gern dem freien Augen— 
vogel entfaltet die Sammetflügel, der Diftelfint zwitfchert fein | blick wahr zu einem Freudenſprung. 

















— .-- 


Alfo begab es ſich auch vor drittchalb Hundert Jahren im | 


Thüringer Land, 

Zwar war es nur ein fpärlicher Lichtjtrahl, der dem ge: 
blagten Volke leuchtete — feit zehn Fahren wüthete ſchon die Kriegs: 
furie auf deutfher Erde und ein Ende der Heimfuchung vermochte 


niemand abzujehen — aber der Kaiſer Ferdinand unterhandelte doch 


mit dem König Chriftian von Dänemark, dem Haupt der evange- 
tischen Friegführenden Partei; derweilen wurden feine Scladten 
geichlagen, und man brauchte feines Einfalls feindlicher Heere ge 
wärtig zu fein. 
König Chriſtian war mit feinem Heer gleich einer Schar Krebſe 


rüdwärts ins Meer gerutfcht. Indeſſen bei den Fatholifchen Mächten | 


ſah es gleichfalls übel aus; fie hatten fich in einander verbifjen tie 


ein Rudel Wölfe: die Liga beflte wider den Wallenftein, diefer | 


that ihrem Führer Tilly Tort und Dampf an, und den Kaifer zwidte 
in Welfchland der König von Frankreich. Und hatte auch unter 
den Fürſten, welche die Intherifche Lehre auf der Spike ihres 
Schwertes zu erhöhen jtrebten, der Tod eine reihe Ernte in den 
Ichten Jahren gehalten, fo waren nunmehr die Trauertage um 
die Öefallenen zu andern trüben Tagen hinabgefunfen. 

Die Fürftinnen aus den fchwer betroffenen Käufern der 


ernejtinifchen Sachſen Tegten die langen Leidfcyleier ab, die fie um | 


drei gebliebene Herzöge von Weimar und Altenburg getragen 
hatten. 
Erblande zurüd und gönnten ſich eine kurze Waffenruhe. 
Dazu war der Lenz gefommen, in welchem allezeit die 
Lebensluſt neu erwacht. ’ m“ 
Ein lauer Tag des Wonnemondes ging zur Müfte, 


Die evangeliſche Sache lag freifih am Boden; | 


Die nody Iebenden fampfluftigen Herren kehrten in ihre | 








_— 


Die 


finfende Sonne bligte noch einmal in den Fenſtern der Dornburg, 


welche auf fchroffem Felſen über dem Saalthal fic erhebt. Dann 
verblaßten gemadyfam die goldenen Linien an den Giebeln und 
überdachten Schornfteinen; ein roſiger Schein überhauchte den 
Mbendhimmel. In dem Städtlein Dornburg, das hinter dem 
Schloſſe feine fpigen Ziegeldächer in altersgrauen Mauern zus 
fammendrängte, wurde Feierabend qeläntet. 

Da ichallte Hufſchlag und Waſſengeklirr durch die Frummen 
Gaſſen. Aber die Bitrger im Rathskeller blieben gerubia beim 
Broihan ſihen. Die Reiter waren troß Krebs und Sturmbaube 
feine Kriegsleute. An den unrnhigen Beitläufen, wo Weberfälle 
von Waldfifchern und Strauchhechtlein als alltägliches Wbentener 
galten, bewehrte ſich jeglicher Reifende bis an die Zähne, aing 
der Friedfertigite mit einem Morgefiftern ftatt des Wanderftäbleins 
über Feld. Umsfo eiliger hatten es die Frauen, die Fenſter auf: 
zufchieben und vor die Thüren zu laufen, 


War das ein ſchönes Mannsbild, das den Weitertrupp | 


führte! 
ſich im Sattel. 


Biegſam gleich einer Weidenruthe wiegte der junge Herr | 
Er trug dem künſtlich gqearbeiteten Harniſch wie 


ein geivohntes Gewandſtück; aber grüne Sammetpuffen baujchten 


darunter hervor, ein ſpinnwebfeiner Spitenkragen legte ſich dar: 
über. An den hoben Etiefeln gleiften jilberne Nadiporen, und 
der Federhut war auf lange, wohl gefränfelte Loden gedrückt. Nein, 
das female bräumliche Geſicht, das ſich ihnen mit honigſüßem 
Lächeln zumandte, als fie in der fingenden Mundart der Gegend 
die Tageszeit boten, gehörte feinem rauhen Kriegsfnecht an; deren 


Fäuſte trugen nicht fo feine Stulphandichube, winften nimmer | 


ſolch Holden Gruß. Schier behert Fahen fie dem Neitersmann nad). 


Der ftrich fein jpiges braunes Bärtchen empor ımd schaute 


mit den bligenden Augen triumphirend noch einmal ſich um, che ex 


zu dem zinnigen Stadtihor hinausritt, das auf den Burgweg führte. | 


Par Dieu! Er war ja ein „alamoder* Monfieur! Solch 
einem hing allerorten das Frauenzimmer mit Paſſion an. Er 
hatte gelernt, wie man felbiges Lödert, da er vor cinem halben 
Kahrzchnt feinem Herzog Wilhelm von Weimar unter die Fahne 


Chriſtians von Braunſchweig gefolgt war, der feine franzöſiſche 


Sitte liebte. Als ein ungeledter deutfcher Bär zog er dazumal 
aus im eifernen Harnifch, mit der thörichten Fürftellung behaftet, 
daß ein Mann jein ganzes warmes Herz einjegen mühe, um 
eine holde Fran zu getvinnen. Da er zurücklehrte, verstand er, feines 
Spitzenwerk dein Eiien zu vereinigen, zu parliren und den galanten 


verächtlid an, wenn er dem Frauenzimmer des fürftlichen Hof: 
ftaates mit zärtlihen Seufzern und ſchmachtenden Blicken Huldigte. 
Indeß er war ſich bewußt, daß man bei ihm durch die Finger 
fah, dieweil er einen großen Stein im Brett hatte bei feiner 
Herrſchaft. Und wer fonnte fagen, was die Zukunft brachte? 

Sein feder Blid richtete ji auf die Dornburg, die vor 
ihm dunkel in den erblaſſenden Abendhimmel hineinragte. 

Das ſchwarz⸗gelbe Banner auf dem Thurm wallte ihm ent: 
gegen, als biete es den ſchwarzen und gelben Federn auf feinem 
Hut vertrauten Gruß. 

War das ein günftiges Vorzeichen? 

Jetzt hielt er am Buratbor. Die Wachen fperrten mit ac 
freuzten Hellebarden den Wen. 

Aus der Thorftube rief ihm der Wachtmeiſter zu: „Wer 
feid Ahr? Woher kommt Ihr?“ 

Herriſch entgegnete der Weiter: 

„Achalius von Krombsdorff, Hofmeifter Ihrer fürftlichen 
Gnaden, der Herzöge von Weimar, kommt in einer Sendung 
feiner gmädigen Herren zu Ihrer fürftlichen Gnaden, der Frau 


‚ Herzogin Witwe Aına Maria von Altenburg.“ 


„Paſſirt!“ befahl der Wachtmeiſter reſpektvoll. Die Helle: 
barbiere fchulterten die Waflen. Der Hufſchlag der Pferde dröhnte 
durch das Thorgewölbe. 

In dem von hohen Gebäuden umſchloſſenen Hofe war es 
fhon Abend geworden. Ueberall ſchimmerte Licht und zeigte 
neugierig zufammenlaufendes Ingeſinde. Unter einer aufgeitedten 
Fadel drängten fich Stallbuben und junge Dirnen, die aus dem 
Wirthihaftspofe herbeifamen, der Schein des Herdfeuers be 
feuchtete die Küchenmägde und den diden Koch, und in der er: 
hellten Kellerlule tauchte das rothe Geſicht des Kellermeiſters auf. 

Sattellnechte fprangen berzu, um das Pferd des Hofmeliters 
in Empfang zu nehmen. 

Treffe ich den Heren Schloßhanptmann von Tautenburg zu 
Haus an?“ fragte er, ſich abſchwingend. 

Ein Lakai in ſchwarzem, mit gelben Borden befegtem Wams 
trat vor, 

„Der Her Schloßhauptmann it noch nicht aus den Mein: 
bergen zuräd, allwo heute die Reben angebunden werden,“ 

„Uber die Fran und die Jungfrau Katharine find hoffentlich 
dabeim?* erkundigte der Hofmeiſter ſich weiter. 

Ehe der Yatai antworten konnte, tönte eine Kräftige Frauen: 
jtimme aus der Tiefe des Kellers: 

„Was brennt in der fürftlichen Kirche an? 
bis hierher. Meiſter Noch, gebt dem Bratenwender eine Maul: 
taſche, daß er feinen Spieß ordentlich duebe. Und Ahr, Reller 
meifter, habt Acht, damit das Faß mit dem auten Kunitzer Wein 
ficher herunter geſchrotet wird. Das weih Gott: die rau muß 
felber Sein die Magd, will fie im Haufe ſchaffen Rath.” 

Die Stimme ans der Tiefe wirkte Wunder. Jeglicher Dienft- 
bote fchrte zu feinem Geſchäft zurüd. Der Lalai aber fagte; 

„br hört, daß die geitrenge Fran zu Haus iſt.“ — 

Achatius hatte den Mund beim Namen des Weines zufammen 
aezogen. Sept lachte er, kniff die rothbacligſte Küchenmagd in die 
Bangen und wandte fic dem Wohngelaf des Schloßhanptmanns zu. 

An der rundbogigen Pforte blieb er lauſchend ſtehen. Vom 
Refidenzbaufe ber ſchwirrten Klänge eines muſitaliſchen In— 
ſtrumenles. 

„Die junge Herzogin Dorothea geruht, den franzöſiſchen Tauz 
Mimi anf Dero Klavicymbel zu reißen,“ flüſterte cr lächelnd vor 
ſich hin. „Ob das Fürftliche Fränlein wohl auch vermödhte, einen 
hochgebietenden Herrn nach diefer Weiſe tanzen zu laſſen?“ 

In dem 1uſtigen Takt des Mimi ſtieg er die Wendeltreppe 
empor und Hinkte die braune Stubenthür anf. 

Eine rofig gleißende fupferne Lampe hing von dem Deren: 


Ich rieche cs 


gebälk herab und beleuchtete das niedrige holzgetäfelte Gemach. 


Schäfer zu ſpielen. Und vor allem war ihm die Erfenntnik aufs | 


gegangen, daß in der Liebe gerade derjenige ſiegt, der den kühlſten 

Kopf behält. Nun! deſſen vermodyte er ſich wohl zu rühmen! 
Der zweite feiner gnädigen Herren, Herzog Albrecht, war 

zwar ein erffärter Feind des Alamodeweſens und blidte ihn fchier 


Bor einer geöffneten Truhe ftand Käthchen, das ſiebzehn— 
jährige Töchterlein des Schloßhauptmanns, mit einem Körbchen 
voll duftender Kräuter. 

„Better Achatius!“ fchrie fie auf, und die filberglänzenden 
Blätter der Spifa fielen auf den Eſtrichboden, jtatt-zwiichen die 
aufgefhichteten Leinenſchätze. „Ah, der Schrei! Mir zitteru 
alle Glieder. Woher fommt Ahr?" 

Wie ein einziehender Herrſcher schritt Achatius über das 
geftreute Grün klirrend zu ihe hin, 


619 >» 


„Unter des Heinen Gottes Cupido Geleit geradeswegs aus ' 
Weimar. Aber beim Einſpruch eines freumdvetterlichen Gaſtes ger | 
braucht eine holde Jungfrau ihre Purpurlippen zu elwas anderem, 
als zu einem Fetergejchrei. Mit Eurer Bermiffion, holdes Bäschen !* | 

Er zog fie au feine Bruſt und hauchte mit aeipisten Lippen 
einen zarten Kuß auf ihren Mund Dann entließ er fie janft 
aus feinen Armen. ‘ 

Verwirrt, dunkelroth zupfte fie den fteif geftärkten Halstragen | 
wieder qlatt. " 

„Rum habe ich gerade heute den schlechten kartelnen Rod an: 
gezogen,” Hagte fie. „Ich dachte, nur der Junfer Ug von Hageneft 
fäme zum Nbendbrot; da wäre ev lange qut genug geweſen.“ 

Ihr Seid auch fo Schön,“ teöftete Achatins. „Wie ein | 


Nymphlein der Freldflur erfcheint Ahr mir. Hell gleich reifen | 
Hehren alänzt Euer Haar, wie Kornblumen leuchten die Augen, 
und der wilde Mohn ijt nicht röther als Eure Lippen.“ | 

Dit offenem Münden ſog fie feine Worte ein; verjunfen | 
in feinen Anblick jtand fie vor ihm. 

Er aber vergaß iiber das holde Bäschen feine Bequemlich— 
feit nicht. Scäfernd fragte er: 

„Darf ich meine kriegsmäßige Rüſtung ablegen, oder ge— 
bietet meine ftrenge Herrin, daß id) vor ihre paradire wie vor 
einem Obrijten?” 

Sie beſann ſich auf ihre häusliche Pflicht und nahm ihm 
eifeig Hut, Stulphandſchuhe und Degen ab. 

„Sind wirklich fo viele Monde vergangen, feit Ihr mit Eurem 
Herzog Albrecht hier weiltet?” flüfterte fie. „Mir ift, als Hätte 
ich in der ganzen Zeit aeichlafen und wäre jegt exit aufgewacht.” 
— Er lächelte ſelbſtgefällig und küſſte die Heinen, hilfsbereiten 
dände. 

„Euer Gewiſſen wird aufgewacht ſein und Euch Vorwürfe 
machen, daf Ahr bei den Fejtivitäten auf den Schlöffern und Burgen 
des jhönen Saalthales dem Gedenken an mid) Valet gegeben habt.“ 

Räthchen fchüttelte den Kopf: - 

„Die Fran Mutter ift dem Herumfahren im Lande abhold 
und wehret Einladungen zu Schmauſereien und Tänzen mit dem | 
Sprüchlein ab: Wenn fliegt die Taub' zu weit ind Feld, zuletzt 
der Habicht fie behält.” 

Achatius führte jie lachend nach dem Fenſter, auf beifen | 
Brüftung ein Rosmarinfträndplein duftete, und zog ſie neben ſich 
auf die Bank. 

„Die Fran Mutter ift cine Fürfichtige Frau. Wenn um 
derweilen kein Marder in ihren Taubenſchlag kommt.“ | 

„Ein Marder?" wiederholte Käthchen, und die blauen 
Kinderaugen Inaten pfiffig unter dem Büſchelchen blonden Stin- 
haares hervor, das ihr immer wieder auf das zierliche Stumpf: 
näschen fiel. „Meint Ihr den Junker U, der das ſchöne 
Gut drüben in der Stadt gekauft hat mit dem Schlößchen? Ka, | 
der lommt vi. Welch einen Hühnerhof bat er! Dagegen ijt 
mein Taubenſchlag gar nichts. Wenm er pfeift, laufen kalekut— 
tiſche Hähne mit langen vothen Nasen herbei, und ach! fo liebe 
grau gneiprenfelte Perlhühnerchen, denen die Hauben bis über die 
Augen hängen. Und welche drollige Krabfüße macht der bunte 
Gockel! Die hat der Utz ihm abgeguckt.“ Sie kicherle in ſich hinein. 

Achatius hob nediſch drohend den Finger. 

Sie gerieth außer fi) vor Vergnügen. „Ex hat mir auch 
zu Faſtnacht eine ftattliche Verehrung von ſüßen laden geichidt 
und zu meinem Geburtätag grüne Maien ſetzen laſſen,“ erzählte 
fie eifrig und jah ihn aeipannt an, wm zu erfunden, welchen 
Eindrud des Junkers Werbung auf den Better machte. 

Er that ihr den Willen und jtich einen herzbrechenden Seufzer 
aus, von dem die Quäſtchen jeines Spitenfragens erbebten. 

„Wenn ich wollte” — juchte fie ihn, ſelig über feinen Kummer, 
weiter zu quälen. 

Aber fie vermochte nicht zu vollenden. 

Die Thür öffnete fi. Fran von Tautenburg rauſchte herein 
im ftarren ſtahlgrauen Kleid, den Schlüfjelbund am der Seite. 

„Hab' ich vecht gehört?“ rief ſie mit jchallender Stimme. 
„Wahrlich, es ift unjer lieber Better aus Weimar, Was führt 
Euch luſtigen Hoſſchall her?“ 

Er neigte ſich mit verſchloſſener Miene. „Eine Botichaft 
meiner gnädigen Herrſchaft an Eure Frau Herzogin. Bis Selbige 
fie Eud) Mund thut, laßt Euch an meiner demüthigen Neverenz 
genügen, großgünftige Frau.” 


- Sie lachte. „Wollt Ihr Eud) wichtig machen mit Eurem 
Geheimnißkram? Nun, dem fei alfo! Wir empfangen Euch 
gleich einem mächtigen Scharhanfen.” 

Sie küßle ihn mütterlich auf die eine Wange und gab ihm 
einen Freundfchaftlichen Badenftreich auf die andere. Dann ftreiften 
ihre Mugen Augen das glühende Antlik ihres Kindes. 

„Flink. Käthe!” befahl fie; „Hilf die Mbendtafel befchiden. 
Mein Ehehere und der geladene Gaſt werden aleid kommen. 
Hier iſt der Schlüffel zum Seller. Nein, Seht mich micht fo 
ängjtlid an; der Kuniger Wein wird heut nicht angezapft.“ 

Erft nach der Tochter verlieh fie das Gemach, umd nun 
tönte es von draußen: „Sufe, find die guten Meffer mit den 
Achalſteingriffen geputzt? Grethe, bringe den Schinken aus der 
Vorrathslammer! Die Torte von Lammfleifch nicht zu vergeſſen!“ 

Die Thür öffnete ſich; unter den Händen Käthchens und 
der ftämmigen Mägde wurde die Eichentaſel in der Mitte der 
Stube zum Tifchlein deck did). 

Danıı dröhnten jtarfe Schritte auf der Treppe. Der Schloh 
hauptmann erfchien, ein jtattliher Herr mit qrauem Haupt und 
rundem rothen Antlip. Hinter ihm ſchob fich die kräftige Geftalt 
des Junkers von Hagenejt herein. Sein ehrliches rothbadiges 
Geſicht färbte ſich noch dunkler beim Eintritt. Aus den von 
weißblonden Wimpern umrahmten blauen Augen fprad) eine tren- 
herzige Freude. Er fah aus, als erwarte er, daß ihm nun die 
gebratenen Tauben in den Mund fliegen würden, er brauche 
denfelbigen mir zu Öfinen. 

Breitipurig ftellte er fih auf und rief: „Guten Abend, 
Jungfrau Katharinel” 

Aber fein Geſicht wurde lang, als von der Keufterbant jlait 
des blonden Mägdleins ein ſchlanker Kavalier fid) erhob, der 
feine feinen Glieder anf eine ſchmale Linie zufammenzog und eine 
schier unheimliche Reverenz machte. 

Auch der Schloghauptmann war fichtlich überraſcht. Fragend 
fah er den jungen Better au, während er ihm gemüthlich die 
Hand fchüttelte. Dann machte er die Herren mit einander befannt. 

Ug maß den Hofmeifter von dem braunlodiaen Scheitel bis 
zu def zierlichen Fußſpiten. Er empfand einen Widertillen 
wegen den Fant, er wußte jelbjt wicht, warum, und feine Ver 
beugung fiel ſehr aufſtutzig aus. 

Achatius lächelte leiſe. Ja, ja, den Kratzfuß mochte er wohl 
jeinem Gockel abgelernt haben. Es Tag für ihn Märlidy auf der 
Hand, wie es um die Tautenburgs und den Junker bejtellt war. 
Aber ev achörte zu den Menſchen, die am einem rechlſchaffenen 
Gewebe nicht vorüber gehen Tönnen, ohne eine Heine Verwirrung 
zu, ftiften. Ms Frau von Tauntenburg zur Mahlzeit vief und 


‚ Unftalten traf, dem Junler zwifchen Käthchen und fid) den Platz 


anzuweifen, da glitt Achalius wie eine Schlange um ihn herum 
und faß neben dem Bäschen, bevor der umftändliche Junker nur 
au den Tiſch gelangt war. 

Diefer mußte ſich gegenüber an der andern Seite der Tafel 
niederlaffen. Dort machte er es fich bequem. Er rüdte fo lange 
auf feinem hochlehnigen, mit ingwerfarbigem Tuch befchlagenen Stuhl 
hin und Her, bis die Ellenbogen Spielraum hatten, und fnöpfte 
einen Knopf feines Wamſes auf in Erwartung der Tafelfreuden. 

Der Schloßhauptmann bemerkte nicht, wie der Plan feiner 
Hausfrau vereitelt tunede. Als echter Hofmann fann er daranf, 
zu erforfchen, weh Inhalts die Botſchaft war, die der Wetter 
überbradhte. 

Diie Deckelkrũge vollfchenfend, hob er im feiner behaglichen 


Weiſe das Gejpräch an: „Iſt dod) ein wahres Labſal, zu jehen, 


wie das qute Einvernehmen der beiden Hänfer Weimar und 
Altenburg immer wieder fid) herſtellt trog mancher Zwieſpällig— 
feiten. An ſolchen hat es ſchon zu Lebzeiten der beiden, leider 
Gottes! fo früh vertorbenen Häupter der Familie nicht gefehlt. 
Denn wiewohl Brüder, waren fie doch verſchiedentlich aeartet. 
Unfer Herzog Friedrich Wilhelm fegte wader den Bentel, Euer 
Herzog Fohann'febte fill und jparfam wie ein guter Hausvater. 
Und felbige Eigenschaften haben fich jorigeerbt. Unſer Fräufein 
Dorothen ſtrahlt von Kleinodien wie der Nachthimmel von Sternen 
und iſt beweglich gleich einer Welle der Saale. Welch ein Bild 
ſchlichter fefter Männlichkeit iſt dagegen Euer Herzog Albrecht! 
Und doch ſchien Hocpderjelbe nur Augen für unfer Fränfein zu 
haben, als ex im vorigen Herbſt zur Reiherbeize hier weilte.“ 
Er blinzelte den Hofmeifter forfchend von der Seite an. 


Alarich in Kon 


Nach dem Delgemälde 





im Jahre 410, 


mn DW. Tindenſchmit. 





Der dachte: Da müßt Ihr früher aufſtehen, Vetter! gabefte‘ 


eine Mordjel aus der Lammtorte, verfpeifte fie zierlich twie ein 
Eichlägchen und antwortete: 
nicht zu verbenken. Fama hat redit, wenn fie verfündet, die 
Herzogin Dorothea beſihe eine Mlabafterhaut, Rubinlippen, Mugen 
gleich verſchleierten Topasfteinen und Marmorichultern.“ 

Us lachte verächtlich. 
nicht von Stein.” 

Und Käthchen nahm es übel, daß der Vetter noch von einer 
andern Schönheit ſprach als von der ihrigen. „Fama?“ wieder: 
bofte fie verdrießlich. „Die kann das gar nicht wifjen; denn fie 
ijt nicht bier geweien.“ 

„Aber fie erzäglt doch auch,“ ſchmeichelte Achatius, „man 
könne ein Mojenblatt auf Eure Wange legen und jelbiges nicht 
von ihr unterſcheiden.“ 

„Liebweriher Vetter," unterbrach ihn Frau von Tautenburg 
ärgerlich, „es ziemt ſich nicht, die Ohren eines unſchuldigen 
Kindes mit Zuckergeſchwätz zu füllen. Laßt Euch das von einer 
aufrichtigen Frau geſagt ſein. Erzählt uns lieber etwas Neues 
ans Weimar. Daß Euer Herzog Wilhelm mit feiner fanften 
Gemahlin Eleonore glüdlicy lebt, ift uns befaunt. Aber denkt denn 


„Darum ift mein gnädiger Here | 


„Oho, unfer fürſtliches Fräulein iſt 


feiner Eurer drei jüngeren Prinzen daran, ſich zu verheirathen?“ 


Sie jah ihn forichend von der anderen Seite an. 

„Öroßehrenreihe Frau!“ erwiderte Achatius. „Es ziemt 
uns nicht, den Schleier der Zukunft zu lüften.“ 

Und ſchelmiſch lächelnd fuhr er fort: 

„Lat auch Ihr Euch das von einem aufrichtigen Mann 
gejagt fein. — Der Schwan ift fürtrefflich gebraten.“ 

Er fieferte fänberlich ein Knöchlein ab und Tegte es auf 
feinen Tellerrand. 

Käthchen Schante ihm fchier chrfürdtig zu. Dann blidte jie 
finjter auf den Junker Ug, der nad) feinem redlichen Tagewert 
tüchtig aß, ein Schwadrament auf feinem Teller anrichtete und, 
altem Brauch gemäß, bie Kuochen unter den Tiſch warf. 

Dazwiſchen rief er ihr zu: „Jungfrau Katharine, ** 
Ihr auch, ſolchen Moſtrich zu bereiten? Lernt es ja! Er iſt 
aut auf den Trunk gewürzt. Mie geht nichts darüber.” 

Sie vermochte vor Erbofung nur höhniſch aufzulachen. 

Dem Schloßhauptmann verging alles höſiſche Sinniren; er 
ſchenkte eiligſt wieder ein. 


„Trinket aus, liebe Freunde, auf daß wir der Kanne endlich 


anf den Grund kommen.“ 

Utz leerte gehoriam feinen Deckellrug. Er hielt es für Gates; 
vflicht, dem quten Trunk Ehre anzuihun. 
fremden Hofmeifters fchmedte ihm der Rheinfall wie Schlehenwein. 

Welch eine verdammte Art zu lacheln hatte der Kerl, daß 
man immer nur die Spiben der weißen Zähne wiſchen den rothen 
Lippen ſah! Und warum Ding die Käthe alſo mit den Augen 
an dem Sierbengel? Er, der twadere Aunfer Us, bekam nichts 
von ihr zu fehen als die blonden Löckchen im Nacken. 
ein Donnerwetter drein jchlüge! 

Je grimmigere Blide er zu dem Pärlein binüberichoß, defto 
mudlbwilliger wurde Achatius. 

„Holde Herzenäbezwingerin,“ flötere er, „laſſet Euch erweichen! 
Schenfet mir das roth und weißgeſtreifte Schleiflein, daß ich es 
als Favor allezeit bei mir führen fan.“ 

Mit gewandter Hand löſte er die Schleife von Ktäthens 
Kragen und befeftigte fie auf feinem Wams nächſt dem Herzen 
mit einer Spendel. 

Käthchen jtrahlte vor Glüd. 

Ug ſchlug mit der Kauft, in der er das Meſſer hielt, auf 
den Tiih. „Was iſt das für ein alamoder Unrath?“ 

Achatius richtete ſich auf. Seine Augen blibten den Junker 
an, Aber er beſann jich, machte ihm nur eine Spöttiiche Ver— 
beugung und erklärte herablaſſend: „Ein Andenken an die Dame, 
welche wir adoriren. Sp trug Herzog Chriſtian von Bram: 
ſchweig allezeit den Handſchuh der Pfalzgräfin Eliſabeth am Hut.“ 

„Ich erachte ihn für einen Frauenknecht,“ jchrie Uß, dem die 
Ader auf der Stirn ſchwoll. 

Der Schloßhauptmann wiſchte jih den Angſtſchweiß ab. 

„Ru, nu!“ begütigte er nad) beiden Seiten hin, „er war 
ein vollfommener Kavalier und tapfrer Held, Gott hab’ ihn felig. 
Aber Ihr werdet müde fein, Vetter,“ wandte er ſich an Adatius, 
„und wir wollen Euch nicht um Eure Nachtruhe bringen.“ 


Aber angefichts des | 


Dak doch 


Ein” Kavalier wird nie müde," verficherte dieſer 

Die Hausfrau hob jedoch eiligit die Tafel auf. „Euren 
Nachttrunk, Wetter, werde ich Eudy in Euer Lofament jchiden. 
Hole die Poftille, Käthe; es wird Zeit zum Abendjegen.* 

Us wiſchte fid) mit dem Nermel den Mund ab. 

Achatius tupfte mit einem Zipfel des Tiſchtuches an die 
Lippen. „Möget Ihr fanft in Morphens’ Armen ruhen!“ ſprach 
er, fich fittig vor den Frauen neigend. 

Der Junker wollte Einſpruch erheben aegen diefen Wunſch, 
unter welchem er eine abermalige Unziemlichteit witterte; aber 
der Schloßhauptmann Hopfte ihm auf die Schulter, drüdte ihm 
feinen Hut in die Hand und jagte: „Ich begfeite Euch ein Stüdlein 
Weges. Dann muß ich mod bei der Frau Herzogin den Hof- 
meifter anmelden.” 


* 


Achatius fchicdte den Diener, der mit einer Leuchte und 


dem Nachttrunk ihn nad) dem Gaſtgemach im Theme geleiten 
joflte, voraus; er Fonnte ſich allein zurechtfinden. Weit Täffigem 
Schritt aing er über den ftillen Schloßhof. Spöttiſch blidte er 
dem Junker Ug nad, der am Arm des Schlofhanptmanns ver- 
stört zum Burathor hinansitapfte, Wer war ein Frauenknecht? 
Er, Achatius, der die Weiber um den Finger wideln, durch 
einen Blid lenken konnte? oder dieſer Meautjunfer, der in 
feiner biderben Maunnlichkeit wicht einmal mit der Heinen Käthe 
fertig wurde, hinter ihr beritien, beitürzt die ihm zugewandte 


NKehrſeite anftarete und ihre Mißachtung hinnahm, ohne fie dafür 


zu trafen? Was die Heine Unſchuld für vothe Dehrlein befommen 
hatte, als er ihr die Schleife vanbte! Und zu weld früher 
Stunde diefe braven Dörfler im ihre dien Federbetten jtiegen! 

Das vermochte ein alamoder Hofmeister nicht. Der liebte 
die Nachtſchwärmerei. ber es war feine Seele da, die mit- 
ſchwärmen fonnte: fein luſtiger Gefell, fein ficherndes Mändlein; 
nur das erſte Viertel des gulen Mondes fah ibm mit feinem 
jpigen Kinn an. 

Doch halt! 
Lichtihein im breitem Strom in das Burggärtlein. 
noch jemand wachen. 

Er glitt mit leiſem Höflingsichritt hinüber, wo das ſchmiede— 
eiferne Gitterthor einen Einblid nejtattete. 

Bon der alterdgrauen Steimvand des Burggebäudes, welche 
der Mond mit bläulichem Schimmer übergoß, bob ſich ein 
farbenprächtiges Bild ab. Der ehemalige Söller der Bura 
war umgebaut worden zu einem anmuthigen Luginsland. Dem 
Geſchmack der Zeit gemäß wölbte ſich eine leuchtend grüne Ruppel 
darüber. Purpurne Vorhänge wallten zwiſchen den Pfeilern 
leife im Abendwind, weiche Teppiche ſanlen bis auf die Stufen der 
Treppe nieder, die in das Burggärtchen hinabführte. Unter dem 
Kuppeldächlein vor der geöffneten Thür ſaß ein Heiner Kreis 
von Damen um einen Tiſch, Heil beleudytet von Windlichlern, 

Die Frau Witwe mochte der Abendkühle wegen in dem 
Gemach verblieben fein. So thronte denn anf dem mit Boljtern 


Dort aus dem Reſidenzhaus fiel noch heller 
Da mußte 


‚ belegten Hochſitz die junge Herzogin Dorothen. 


In dem Doppellicht von Mond md Kerzen glänzte ber 
blaue mit Silber verzierte Damaft ihres Mleides, fchimmerten die 
Verlenſchnüre in den langen hellbraunen Locken, funfelte ein Ge 
fchmeide von Rubintafeln bei jedem Athemzug an ihrer Bruft 
und wetteiferte doch vergeblich mit dem Strahlen der Ichönen, an 
allen Füritenhöfen berühmten topasfarbigen Mugen. 

Auf niedrigen Schemeln veihte fi) das Frauenzimmer ber 
Herzoginnen um den Tiſch: die rundliche Hofmeifterin, deren 
ſchwimmende Augen allezeit nach einem zweiten Gemahl aus: 
jpähten, die überichlanfe Hofjungfran mit der Tangen Nafe und 
die Heine, welche gleich einem Strohblitmchen verichrumpft und 
vergilbt war. 

Eine Stimme Hang eintönig herab. Aha! die Kangnäfige 
Dame las vor, 

Achatius kannte das dide Büchlein mit dem Goldleder 
einband, der ſeidenen newirkten Schließborte und den bis an den 
Rand vollgedrudten Seiten. Es war der neue franzöftiche Noman 
von Monfteue Honore d'Urfee, welcher von. der Liebe Aſtrege 
und Geladonis, einer Scäferin und eines Scäfers, handelte. 

Zarter Duft ftieg von den Narziffenröslein im Gärtchen auf; 
leiſe einfullend raufchte die Saale im Thal, Wie fchöne Traum: 
bilder der linden Lenznacht jchwebten die Helden und Heldinnen 


' des Romanes am den andächtig Lauſchenden vorüber. Auf blumigen 


Anen am Geftade der Loire wandelten die Schäferinnen, mit | 
Bändern geſchmückt, den Stab in der Hand, die Hirtenlafche | 
umgehangen. Und im Jasmingeſtäude harrten ihre AUmants und | 
lafen ihren Herrinnen an den Augen ab, ob fie ſich hervor zu 
deren Füßen wagen dürften. 

Verſtandnißvoll nidten die Damen zu den Reden des weilen 
Sylvander, der allen mit Liebe Beſchwerten Auffchluß über ihre 
Gefühle gab und diefelben fo fein wie Haare jpaltete. Halblaute | 
Ausrufe der Bertvunderung kamen über ihre Lippen, da er endlich) 
troß aller Weisheit fich jelbjt von der Liebe Narrenjeil ver 
fteiden ließ. Dann tönte ein leiſes Kichern wie Vogelgezwitſcher 
in die warme Maienluft hinaus, als es fund ward, daß ber 
leichtfertige Hylas immer feine Liebchen achl Tage früher verlieh, 
ehvor er ihrer überdrüffig wurde. 

Achatius ſtrich ſich vergnäglid fein Bärtchen. Er mußte 
recht gut, dab ein Flattergeift bei den holden Evastöchtern nicht 
Zorn, fondern nur den Wunſch erwedt, felbigen zu feſſeln. 

Aber wie rerften die Damen jeht die Ohren dar! 

Ah! der treue Celadon nahte, der durch einen großen Knopf 
der Licbe mit der holden Aftrea verbunden mar. 

Der jungen Herzogin mochte die Erzählung bereits befannt 
fein; denn ein triumphirendes Lächeln ihrer Lippen kündigte ſchon 
im voraus jede ſchnöde Rede an, mit der Aſtrea das Herz des 
Schäfers zerriß. Sie zeigte nicht einmal Mitleid mit ihm, da 
die Schäſerin den großen Fehler ſchoß, daß ſie ihrem unſchuldigen | 

| 





Celadon zurief: „Seh bin! geb hin, Du Ungetreuer!" Und als 
er, Statt beleidigt ſich umsehen, fie flehend an ihrem Schäfer: 
bändel feft zu halten ftrebte, da nickte die junge Fürſtin leiſe 
für ſich Hin, als befräftige fie eine nun aud ihr aufgenangene | 
Wahrheit. Sie wiegte fich förmlich in feinem Liebestummer, 

Die Hofjungfran mußte die Stelle zweimal leſen, wo der 
verlaffene Celadon den Hut tief in die Augen drüdte, die Arme 
über der Bruſt kreuzte und, ſchwermuthsvoll die großen Schleifen | 
auf feinen Schuhen beſchauend, davon ſchritt, um unter düſtern 
Sylomoren die Hände zu ringen. 

Als er endlich verziweifelnd fich in die jtrudelnde Fluth ſtürzte, 
da verſagte der Worleferin die Stimme. Aus den Augen der 
Damen riejelte ein feiner Sprühregen von Zähren auf die Hals: 
fragen und Florkücher nieder. 

„O,“ rief Dorothea, und ihre helle Stimme, die an ein 
Zilberglödchen gemahnte, bebte Teile, „weld eine ſchöne Welt! | 
Wie Tieblih muß es fein, aleich der Schäferin verſtohlen mit 
einem Adorateur im Garten ſich zu ergehen! Weldy einen Reiz | 
mag es ausüben, im Yiebesipiel, im Streiten und Meiden die Kraft 
zu prüfen, die uns verliehen ward! Kann cs eine größere Monne | 
geben, als die führen Schmerzen durchzulojten, welche die Liebleidende | 
Aſtrea empfindet, als fie glaubt, ihren Celadon für immer ver: 
Toren zu haben? O glücklich, wer cin ſolches Evenement erleben darf!* 

Adyatius hatte mit angebaltenem Athem gelaujcht. Jetzt 
mußte er lächeln. Kine unglüdliche Licbe wünſchte ſich die fchöne 
Herzogin? Schade, daß er nur der Hofmeilter war! Er hätte 
ihr cine ſolche mit Vergnügen beicheren wollen. 

„Es ift eine eritaunliche Hiſtorie!“ ließ ſich jept die rund: 
lihe Hofmeijterin vernehmen. „Die von Liebe Beſchwerten 
braudjten im Anfang nur ein aufflävendes Wort zu ſprechen und 
das Mifverftänduih wäre befeitigt. Wie klüglich hat der Dichter 
dies ein dides Buch hindurch zu verhiiten gewußt! Und welche 
feine Reden legt er den Schäfern in den Mund! Unaufhörlich 
wie eine Rolle Band fließen ihnen die Worte über ihre Liebe 
von den Lippen. Hier entgegen wirkliche Männer genommen! 
Sie jagen und reiten, und wenn fie heimfommen, begehren fie 
zu ſchmauſen, zu trinken und zu ſchnarchen.“ 

„Ja,“ nidte die langnaſige Hofjungfrau, 
verjteht Erlebniſſe zu Schildern, die ſich nirgends begeben können. 
Bei uns wird ſich ein Schäfer vielleicht für Hunger in die Saale | 
ftürzen, nicht wegen jeiner braunen Gänſehirtin. Und wo trüge 
ein ſolcher Schleifenſchuhe? Welche hohe Stiefel zieht felbit der | 
Junker von Hageneſt an, wenn er feine Herden bei der Schaf: 
wäfche mit der langen Beitiche zuſammenhält!“ 

Das Strohblümchen ſtieß heimlich die Hofmeifterin an; laut 
aber ſprach es gefügig gegen die Herzogin bin: „Die Poeten und 
Reimichmiede follen uns ja auch zeigen, wie es auf der Erde 
jein fünnte, wenn fie noch ein Garten Eden wäre. Wie fie be 
ihaffen ift als Jammerthal, wiſſen wir ſelbſt, leider Gottes!” 


„Monſieur d'Urfee 


chriſtliches Ehewerk auf der Dornburg zu Stande käme! 


Dorothea Iegte die vom Juwelen funkelnde Hand auf den 
Roman, 
„Dieſes Buch,“ ſprach fie jeufzend, „lehrt uns erfennen, wie 
arm das Dafein ijt, welches die Tochter eines edlen Geſchlechtes 
bier zu Lande führt. Wie der Sittich wird fie im Käfig gehalten. 
Ein Herz Hopft ihe in der Bruft; aber die wunderbarlichen Zu— 
ftände desfelden, den Schmerz und die Seligkeit der Liebe, lernt 
fie nie fenmen. Den Gemahl kürt die Familie, aus — Gott 
weiß welchen Gründen, vielleicht, um einen alten Zank abzu- 
Schließen. Man jtiftet eine Zuſammenkunft an, ohne viel zu 
fragen, ob e3 ihr genehm ift, ſich bejchanen zu laſſen wie läuf— 
liches Gut. Findet fie Gnade vor feinen Augen — o, jo winmt 
er ſich dennoch Zeit. Er fendet feine verpetichierten Brieflein 
durch heimliche Liebesboten; er vermummt fid) nicht wie ein 
Bauer mit einer Juppe, um einmal verluppt die Beliebte zu 
fehen, Er fendet von Zeit zu Zeit eine Botfchaft, welche Nach— 
richt bringt von ben vielen Gejchäften, die ihn fern Kalten. Und 
wir erfahren, was alle er über Liebes: und Ehewerk ftellt. Es 
hilft uns nicht, wenn wir darob ſchmollend uns in Stillfchweigen 
büllen; ex bleibt gerubig bei feiner Leier. O,“ rief fie, und ihre 
Augen ftareten in die dämmernde Nacht hinaus, als ſchauten fie 
dort ein dräuendes AZukunftsbild, „er ift auch im Stande, die 
Sache alſo zu Ende zu bringen. Dann Ade, heimlicher Schwur 
unter dem Sternenhimmel! Ade, Gott der Liebe mit Deinem 
goldgeſpitzten Pfeil! Keine zärtlichen Diskurfe führt das junge 
Baar, nicht dunkle Sylomoren neigen ſich, vom Finger des 
Zephyrs bewegt, über die Hand in Hand Wallenden. Der Tag 
der Werbung wird anberaumt wie jede andere Feſtivität, ein ge— 
lehrter Rath rüdt ein mit Feder und Tinte, die Ehepaften feſt— 
zufeßen, die vorgeichriebenen Reden werden gehalten, jteife Höflinge 


‚ maden ihre Büdlinge, und endlich wird die Braut jtatt auf den 


Thron der Liebe auf den Nüdjig der Staatskutſche geſetzt, der- 
weilen der Ehegemahl den Ehrenplag behauptet. Denn aljo it 
es deuiſcher Brauch.“ 

Die Heine Hand ballte jich. 

„Halten zu Gnaden,“ jagte die Hofmeifterin. „Alamode 
Kavaliere laſſen io der Dame den Ehrenplat. Ich babe das 


ſelbſt erlebt mit dem Hofmeiſter von Krombsdorff, als wir in 
| der Dämmerung zur Betſtunde hinüber in die Kirche fuhren.” 


Achatius ſchrak zufammen Was würde die alte Plauder- 


taſche noch alles ſchwatzen? 

Das Strohblümchen ſtieß die langnaſige Hofjungfrau in die 
Seite. Dieſe aber ſprach: „An aller Unterthänigleit ſei cs ge 
fagt: Das Rüdwärtsjahren follte mic) nicht abhalten. Ich kann 
es vertragen.” 

Dorothea zog, unmuthig über ihr unentwegt dem Ehehafen 
zuſte uern des Gefolge, Die Augenbrauen zuſammen. 

Aber im Gemach entjtand eine Bewegung und Tenfte ihre 
Aufmerfiamfeit dorthin. 

Achatius lauſchte. 
ertönte. Jetzt wurde der ‚Hofmeifter aus Weimar qemeldet. 
janfte, immer klagende Stimme der Frau Witwe antwortete. 

Und nun hatten die Damen keine Ruhe mehr zum Schäfer: 
roman, obwohl derjelbe von der ſchönen Dorothea cben viel 
vergnüglicher gefunden worden war als eine Heirath nach deutſchem 
Brauch. Eilig raufchte fie in das Gemac zu ihrer Mutter, Die 
andern flogen wie Schwalben vor dem Sturm ein und aus. 

Endlich tönte wieder die Stimme der Frau Witwe verab- 
ſchiedend herab, 

Die Tagen löſchten die Windlichter und ſchloſſen die Thür. 

Eine Lampe zog an den fchiefen tiefen Lugfenſterlein der 
Treppe vorüber aufwärts nach dem dritten Stod, und wie ein 
Stofjeufzer drangen die Worte heraus: „Wenn nur einmal ein 
Dann 
Es 


Der tiefe Baß des Schloßhauptmanus 
Die 


folgte gewiß bald eine nach der andern dem guten Beifpiel, 


iſt ſchier eine Verftodung in dem imverchelichten Frauenzimmer 


allbier eingetreten.“ 

Achatins lachte in der lautlofen Art der Hufleute, ‚die alle 
feine elſenbeinweißen Zähne zeigte. Das war die Hofmeifterin 
geweſen. 

Bor ſich hinnickend, ſchritt er nach dem Thurm. 

Alſo auch hier machte der Schaferroman die Damen rebelliſch. 
Das Büchlein wurde an allen Höfen verichlungen. In Weimar 
war es aus der Schlohbibfiothet entführt worden, und der 


TR En, 


a — 


Hoffkribent behauptete, feine Spur habe ſich unter den Hofjung⸗ 
frauen verloren. 

Achatius trat in das Thurmgemach, wo ſein Leibknecht das 
Felleiſen ausgepadt Hatte und feiner harrte. Er warf einen 
prüfenden Blid auf feine Staatsffeider. E3 war alles in Ordnung; 
die gelben Atlaspuffen im ſchwarzen Sammelwams wohl aufs 
gefrämpelt, die feidene blaue Schärpe geglättet, die feinen Gala: 
ſchuhe bereit geſtellt. 

Er entließ den Diener und that einen langen Zug von dem 
heißen gewürzten Wein. Der Meine Vorgang im Garten hatte | 
ihn fo munter gemacht wie einen Fiſch, der im fein Element ge: 
fegt wird. 

Als das fürftlihe Fräulein vorhin über Verlobungen in 
hohen Familien ſprach, da Hatte fie — er wußte es wohl — 
ihre eigenen Erlebniſſe treu abfonterfeit. 

Es waren viele Jahre hingegangen, in denen die fo nahe 


verfippten Häuſer von Weimar umd Altenburg ſich fern von | 


einander hielten, dieweil fie um den Worrang haderten. Als 
endlich der Streit neichlicytet ward, da trachtete man danach, das 


verwandtichaftliche Band um fo feiter zu nüpfen. Herzog Albrecht 
meldete fich im vorigen Herbit auf der Dornburg an, und bie | 


Frau Herzogin lud ihn zur Reiherbeize. 


Achatius war im Gefolge geweſen, als das junge Paar zum | 


eriten Mal einander gegenüber ftand. 

Jedoch, wenn er es recht bedadıte, jo hölzern hatte es fich 
nicht zugetragen, wie die ichöne Dorothea es ausmalte, Einen 
ſchüchtern werbenden Adorateur stellte Herzog Albrecht freilich 
nicht dar; aber feine Haren braunen Augen ruhten doch voll 
fichtlichen Wohlgefallens auf der reizenden Baſe, und auch fie 
ſah mit heiterm Blick zu ihrem hochgewachſenen erlauchten Partner 
empor, Und hielt Hochderielbe auch Feine zärtlichen Disfurfe — 
fintemalen feinem fpröden Herzen fühe Worte widerwärtig waren — 
jo fanden ihn doc die Heinen Nedereien, mit denen die junge 
Fürſtin ihm ans feiner gelaflenen Sicherheit aufzuſtacheln fuchte, 
allezeit bei qutem Humor. Mit einem frohmüthigen Lächeln auf 
den Lippen lehrte der Herzog dazumal nach Weimar heim. 

Aber freilich! wenn fie gewärtig geweſen war, heimliche 
Siebesbrieflein zu erhalten, den Herzog, phantafierlih heraus: 
geftrihen, um bie Dornburg ſchleichen zu fehen, da Hatte jie nun 
ihrerjeits einen großen Fehler geſchoſſen. An Weimar barrten 
feiner Kuriere mit Botichaften von verbündeten Fürſten, Bittiteller 
aus den durch fremde Einlagerung fpolürten Dörfern, Schreiben 
vom Herzog Bernhard, der stetig im Dienſt der evangeliſchen 
Sache auf Reifen war. Die in der Refidenz anweſenden Herzöge 
hielten Gcheimratgsjigungen bis in die ipate Nacht; in der 
acheimen Kanzlei brannten die Lichter oft bis zum Morgen: 
grauen. 

Herzog Albrecht ftellte alles bei Seite, wenn es Seinen 
Fürftenberuf aalt; ſelbſt die Ausficht auf eine ſchöne Braut mußte 
davor zurüdtreten. Es dünfte den jungen Hofmeijter ſehr wahr- 
ſcheinlich, daß ihre einzige Tröfteinfamfeit in dieſem Winter ein 


herzlicher Gruß aus dem verwandten Fürſtenhaus geweſen war. 


Er lächelte überhebend. In Weimar duldeten die Männer 
nun einmal nicht, daß der Heine Cupido ihnen über den Hopf 
wuchs, fondern hielten denfelben ftreng im Hügel. 

Unholdes Schnarchen der Schleiereule im Thurm unterbrad) 
feine Gedanken. War es fchon fo ipäte Nachtzeit? Er warf einen 
Bid in den Hof hinab. Alle Fenſter der Dornburg lagen dunfel. 
Tiefe Stille herrichte. Nur aus dem Stübdyen des Feuerwächters 
ſchimmerte noch Lichtichein; nur der Röhrbrunnen murmelte Teife. 

Auch für ihm wurde es Zeit, feine Vorbereitungen für die 
Nacht zu treffen und zur Ruhe zu gehen. 

So beſtrich ex denn feine Haare mit einer Efjenz vun grünen 
Nüffen, dieweil es alamode var, ſchwarz zu fein wie der gefürchtete 
Spanier. Da — während er, ſtarr in den Spiegel ſchauend, feine 
Locken eifrig mit dem Kamme bearbeitete, das Bärtchen berupfte, 
mit einem über der Yampe glühend gemachten Eifen brannte, bis 
es jich zum beliebten Maifäferbärichen krümmte — da meinte 
er plößfich nicht mehr feine eigene ſchöne Perfon, fondern eine 
zarte Geſtalt zu erſchauen, die das vom dunklen, leicht gewellten 
Haar umſchloſſene Köpfchen leije jchüttelte. 

Das fehlte noch, daß die jünafte Hofjungfrau der Herzogin 
Eleonore, die blaſſe Trude, ſich unterfing, ihn zu tadeln, jei es 
auch nur in feinen Gedanten. 


Er ftampfte zormig mit dem Fuße auf, band nun gerade 
erſt recht das Futteral über den Bart und stieg endlich, aliv an- 
| gethan, trußig in feine quadratförmige Bettitalt. 


Noch war die Somme nicht über die bewaldeten Hügel, 
welche das jenfeitige Ufer der Saale begrenzen, aufgegangen, als 
ſchon das hausmütterliche Walten der Frau von Tautenburg be 
gann. Nicht einmal Zeit zum Morgenfegen gönnte fie ſich; fie 

fang ihn im Gehen und Arbeiten. 
| „Der Tag vertreibt die finft're Nacht," tönte c& in dem 
Hausflur. „Töffel!“ rief fie auf den HoF hinaus, wo ein Stall- 
knecht am Brunnen Wafjer für die Tränte jchöpfte, „iorge, daß 
| die Pferde des Hofmeiiters wohl gefüttert und von elf Uhr an 
ſiets veifejertig gehalten werben.” 

Ihr lieben Chriſten, ſeid munter und wacht,“ ſang ſie 
weiter auf dem Wege zur Küche, „Meiſter Koch, ftedt das 
| Spanferkel zur redjten Zeit an den Spiek und das Schaffleiſch 
' zu den Zwiebeln in den Topf, damit unfere Säfte nicht durch 
jpätes Tafeln am Abreiten verhindert werden.” 

„Und Iobet Gott den Herrn!“ Schloß fie mit Schallender Stimme, 
indem fie wieder die Treppe nach ihrem Wohngemach hinaufftieg. 

Dort ſaß der Schloßhauptmann im flockigen Hauskleid und 
löffelte feine Morgenſuppe. 

„Run Habe ih alle Vorkehrungen getroffen,“ ſprach fie, 
„daR Better Achatius erjt geivedt wird, wenn er nur noch genug 
Zeit hat, ſich Schön zu machen für die Audienz. Mit dem 
Morgentrunf wird ihm der Berchl der rau Herzogin gebracht, 
ih um die zehnte Stunde dazu einzufinden. Und cs ijt alles 
beichidt, daf; hierauf das Abrüden des Alamodenarren ohne An— 
jtand vor ſich achen kann.“ 

Der Schloßhanptmann lachte. 

„Nu, nut muß ich mein liebes Ehegefpons mit einem feiner 
Sprüchlein ftrafen? Laß lieber nicht den Gaſt ins Haus, als 
wirft Du ihn zur Thür hinaus.“ 

„Der Saft ift ein hochgefiederler, wohlgeſpornter, weitge- 
ftiefelter Monſieur,“ ſchalt ſie. „Sch begreife nicht, wie die 
ernjten Herzöge von Weimar einen folden an ihrem Hofe dulden 
mögen.“ 

„Der Better hat dem weimarischen Haus von Kindesbeinen 
an treu gedient,” war die Antwort. „In der unglädlichen 
Schlacht bei Stadt Lohn kämpfte er tapfer mit feinem Herzog 
Wilhelm und lieh ſich mit ihm von dem General Illo in die 
Gefangenſchaft nach Wien führen. Ach bin auch überzeugt, ex 
hat ihm aus derselben löſen helfen. Der Plan, daß Herzen 
Wilhelm der Kaiſerin feine fpinnewebfeinen, aus Elfenbein ge 
dreapielten Spinnrädchen und Weiten zum Gefchent fandte, sit 
gewiß von ihm ansgehedt worden. Pie erhabene Dame hat 
richtig darauf ihren ‚Mandl‘ beredet, daß er dem Herzog durch 
einen Kapuziner die Freiheit verfünden ließ. Wetter Achatins 
wird mit allen Frauenzimmern fertig, ſelbſt mit einer Kaijerin.“ 

„Um fo weniger full er eine unnütze Löffelei mit unjerer 
Käthe anfangen,“ antwortete Fran von Tautenburg, und Die 
ſteife Spihe ihrer Haube nidte nachdrücklich. „Wird der Up 
fopfichen gemacht, fo fängt ihn am Ende gar die Hofjungfrau 
ab, die drüben immer ihre lange Naje hinter ihm her zum Fenfter 
beransjtedt. Und meint mein wertber Geſpons, daß der Kathe 
nach dem Buntipecht der graue Holztauber noc gefallen wird? 
Wenn er and alles hat, was ein Weib wünſchen Tann: ein 
Schloß, Fruchtbares Yand, Worrathsfanmern, darin es ausſieht 
wie im Lande Gofen, wo Milch und Honig fleußt, einen Garten, 
in welchem fogar Melonen wachſen -—“ 

„Und auch eine ſtarle treue Hand,“ unterbrady der Schloß— 
hauptmann ihre Nede, „unter deren Schug unſer Kind in den 
jegigen ſchlimmen Zeitläuften wohl geborgen wäre.“ 

Sie nidte. Dann meinte fie foralid: 

„Wenn id) nur wüßte, wo wir die Käthe heute verbergen 
könnten, bis der ungebetene Gaſt abgeritten iſt.“ 

Er lachte in fich hinein. 

„Auf dem Taubenſchlag. Junker Us ſchickte vorhin ein 
Paar Turteltauben in einem Bänerlein. Da bat fie genug zu 
thun, um jelbige in einem bejonderen Gitter unterzubringen. Sa, 
jold ein Taubenſchlag iſt eine fürtrefflihe Einrichtung.” — 

h Fortſeßung folgt) 








⸗ 


Menfhenrettung bei Theaterbränden. 


Yon WB. Pihring, Pr. Hegierungsbaumeifter und Vranddirektor der Stadt Leipzig. 











ur wenige Monde nod), dann jährt ſich zum fiebenten Mafe 
der bedeutungsvolle Tag, an welchem Wien von der 
furchtbaren Ringtheaterfataftrophe heimgelucht worden 
b it; beinahe zwei Jahre find im raſch dahinjliehenden 
Beitenftrome verraufcht feit dem namenlofen Brandunglüde bei der | 
Opera comique in Paris, und das Jahr 1897 kann als eines der 


Sechzehn Schaufpielhänfer und Vergnügungslofafe wurden von 
Flammen zumeift völlig verzehrt; in drei Theatern — der Komiſchen 
Oper zu Paris, dem Alcazav Theater in Hurley und dem Dpern- 
bauie in Stodport — find zufammen 277 Perſonen verbrannt, 
fiebzehn wurden im Gedränge auf der Flucht erdrüdt. Zufammen 
tamen alio 294 Menichen ums Leben, zwanzig wurden ſchwer, viele 
feicht verletzt. Fürwahr, eine reiche Ausleſe des Todes gerade 
an jenen Stätten, welche dem Vergnügen und der Erholung ges 
widmet find. Keine noch fo rege, aufrichtige und warmgefühlte 
Theilnahme für die unglüdlichen Hinterbliebenen der Opfer ſolcher 


Schredensjcenen, feine nod) jo wohlthätige Handlungsweiſe von 


Behörden und Menfchenfreunden vermag die heftig biutenden 
Wunden der trauernden Herzen zu jtillen und deren Schmerzen zu 
lindern, welche zumeift unverantwortlicher Leichtſinn gefchlagen hat. 
Selbſt ftrengite Verurtheilung der Schuldigen vermag dies nicht. — 

Bon der Redaktion der „Siartentaube” bin ich gebeten worden, 
ihr einen Heinen Beitrag über das jo hochwichtige Gebiet der 
Menfchenrettung aus Fenersgefahr und über die newefte 
Tattit der Maffenrettung von Menihen bei Thester> 
bränden zu liefern. Dieſem Wunfche fomme ich fehr gern nad, 
und die Erörterung der häufig auftretenden, durchaus berechtigten 
Frage des großen Yublifums, wie es mit der Nettung von 
maflenhaft bedrohten Menfchenleben beim Ausbrudy einer Kata: 
ſtrophe beftellt ift, ericheint mir darum fehr zeitgemäß, weil die 
beffagenswerthe Thatfache, daß jelbft zweddienliche Hilfsmittel zur 
Rettung don Menſchen bei dem Brande der Opera comique 
in Paris gänzlich fehlten, auch fir die Stadtverwaltungen eine 
Mahnung fein mag, welche für den Feuerſchuß und die Aus— 
rüftung der Feuerwehr Sorge zu tragen Haben; eine ernſte 
Mahnung mag es fein, daß falic angebrachte Sparfamteits: 
rüdjichten, Unterlaffungsfünden und Verſchleppungen fid) er: 
fabrungsmäßia ſchwer rächen. 

Im Anſchluß am diefe Mahnung muß an diefer Stelle aber 


traurigsten in der Chronif der Theaterbrände verzeichnet werden. | auch "betont werden, daß, wie dies feit dem Urbeninn jtaatlicher 


— 
—9 











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und kommunaler Syſteme der Fall geweſen iſt, nad) Herauf⸗ 
beſchwörung von Kataſtrophen jedesmal ein Impuls der Rein— 
waſchung ſich bemerlbar macht, immer bei denjenigen, welche in 
erfter Linie berufen find, für die Verhütung folder unverant: 
wortlihen Unglücksfälle dasjenige zu thun, was nad) menſch— 
fichem Ermeſſen immer nur thunlic ift. Niemand will aber 
dann Schuld Haben, jeber hat dann feine Schuldigkeit geihan. 
Es fei nur an die befannten Gerichtsverhandlungen in Wien 
und Baris erinnert! Wie zu alter Zeit bei den Römern, wenn 
eine Schlacht verloren ging, jo bejteht leider auch noch bei uns 
das jogenannte Abtwälzungsprinzip, und wie bei diefen, jo fehen wir 
auch Heute noch nad) vielem Hin- und Herdebattiren den Abſchluß 
fo mancher wichtigen Berathung und Verhandlung über Entſtehung 
und Verhütung jolcher Unglüdsfälle im Sande verlaufen. 

Man giebt fich zufrieden, der alte Schlendrian beginnt von 
neuem, Wetter und Muhme werden beruhigt, die Sache Ichläft 
allmählich ein, fie wird wohl wieder einmal angeregt, aufgefchoben 
und trotz aller Unftrengungen und Bemühungen einiger gewiſſen— 
hafter Bürger und Feuerwehrlommandanten, Bellerung herbei: 
zuführen, kommt fie ſchließlich ganz in Vergejienheit — es bleibt 
bei der verlorenen Schlacht. 

Erfahren Haben wir ja genugjam, daß der Feuerſchutz 
der wichtigſte Faktor aller einfichtsvollen Gemeindeverwaltungen 
jein müßte! Erfahren haben wir in den leßten Jahren noch an 
den oben genannten granfigen Unglüdsftätten, wie Tod und 


Berderben ſchrankenlos wüthet, wenn in monates und jahrelangen | 


Saumfeligleitstaumel nicht dem alten bewährten Sprichworte: 
„si vis pacem, para bellum“ Rechnung getragen wird. 

Daher will ich an digfer Stelle mit eindringlichen Worten 
zeigen, daß jolden Schredensjcenen überall vorgebeugt werden 


fann, wenn alle Gemeinden die Verpflichtung in ihrem vollen 


Umfange erft erkannt Haben werden, daß neben fo vielen be- 
währten, für Handel und Gewerbe, Kunſt, Induſtrie und Militär 
getroffenen Einrichtungen vor allem auch ſolche zu treffen find, die 


nicht nur das Nationalvermögen ſchützen und erhalten, ſondern 


aud) diejenigen Gefahren befeitigen, weldje unjeren Mitmenschen 
durch die Elementarmächte erwachſen. Und gerade das Intereſſe, 
welches wir folchen gemeinnügigen Anftitutionen ſchenlen, iſt 
der bejte Gradmeſſer für unjere Gefittung, für unſere Kultur: 
enttwwidelung. — 

Mehe denn je ijt ja zum Glück ſchon unſer Auge auf den 
ſtaunenswerthen Aufſchwung unferes heutigen Fenerichußs und 


Rettungswefens gerichtet, dem als wirthſchaftlichen, Wohlitand 


erbaltenden Faktor ja nicht mindere Bedeutung zufällt wie allen 
Wohlftand erzeugenden Beltrebungen unjerer Zeit. 

Unfere Zeit ift Zeuge großartiger Entwidelung des Berufs: 
wie Freiwilligen⸗Feuerwehrſyſtems; in allen Gauen bilden ſich 


neue Wehren, täglich wächſt die Zahl derer, die, hoch wie niedrig, | 


fh in den Wehmwerband ihres Heimathortes einzureihen eilen und 


gegen einen Feind fich rüjten, den nicht Stadtmauer und Thurm, | 


nicht die beſte Wehr und Waffe zurüdichredt, wenn derſelbe erſt 
einmal gewiffe Grenzen überichritten hat: gegen das Feuer, 
diefen unheimlichen Städtevertilger des Mittelalters, den gefürchtet: 
jten Feind unſerer heutigen Theater. 

„Sott zur Ehe, dem Nächſten zur Wehr” — mit diefem 
Wahlipruche und mit ber Macht der Intelligenz ift die Feuerwehr 
der Neuzeit, deren Wert ſich als eine jelbjtloie Belhätigung der 
„Religion der Liebe“ offenbart, wohl in der Lage, dieſem 
gefürchteten Feinde mit Muth, Kraft und Selbitvertrauen erfolg: 
reich gegenüber zu freten, wenn es an ſchnellem Bekannt: 
werden des Feuers: Feuertelegrabhie und telegraphifcher Kon— 
tolle —, an der gehörigen Waffe: der Ausrüftung der Feners 
wehr mit Geräten —, an der nothwendigen Munition: 
dem Waſſer —, ſowie an einer alle Zeit jchlagfertig ge: 
ſchulten, unerjchrodenen Mannichaft nicht fehlt. 

Ich kann das Thema der Menfchenrettung bei Theaterbränden 
nicht beifer behandeln, als daß ich an der Hand von Zeichnungen 
aus meinem Berufsleben als früherer Inſpektionsoffizier der 
Berliner Feuerwehr und aus meiner jüngiten Praxis in der von 
mie in den Tchten fünf Jahren in Leipzig reorganijierten und 
geleiteten Berufsfeuerwehr Schilderungen gebe. 


Wir befinden uns im Hauptfeuerwehrdepöt. Es iſt Nacht! 


Branddireltor, Offiziere, Mannſchaften und jelbit die Pferde Tiegen | 


im Schlummer Nur die Wade für den Telegraphendienit 


wi 
— 
— 


befindet ſich an den Telegraphenapparaten, um die eingehenden 
| Meldungen inftruftionsgemäß weiter zu geben; feiner ahnt, daß 
in der nächſten Minute ihm eine Thätigkeit zufallen kann, welche 
ſelbſt den nervenſtärkſten und im Fenerwehrcorps in jahrelangen 
Dienjte ergrauten Feuerwehrmann in Aufregung zu ſetzen vermag. 
Plötzlich geht eine Feuermeldung ein; der in dem Telegraphen- 
zimmer, wo alle Fenermeldungen eingehen, pojtirie Telegraphiſt 
lieſt ab: „Groß-Feuer“. Er alarmirt das Depöt, inden er 
die bor dem Apparate angebrachte Alarmlurbel dreht — eine 
zweite Feuermeldung folgt fofort der eriten; er ahnt nichts 
Gutes, er fängt an, unruhig zu werden, cr fraut jeinen Augen 
wicht: „Neues Theater brennt!" Er wei nur zu gut, 
was dies zu bedeuten hat. Meine arınen Rameraden! geht cs 
ihm trog der Eile noch bligjchnell durch den Kopf. Kaum it 
er im Stande, diefe Meldung, wie die Inſtruktion vorichreibt, 
auf dem jchon am Telegraphenapparate bereit liegenden, für den 
Branddirektor bejtimmten Meldezettel mit Bleiſtift zu notiren. 
Die Hand zittert. Sein Kamerad hilft ihın ableien — „Brand: 
herd Garderobe”. Am Sturmfcritt läuft die am Apparat 
auf die Depefche wartende Ordonnanz aus dem Telcgraphenzimmer 
zur Thür hinaus, ftürzt die wenigen Stufen der Treppe hinunter 
vor das Hauptfeuerwehrdepöt, woſelbſt das Rettungscorps, wie 
unſer Bild S. 685 zeigt, ſchon unter Fackelbeleuchtung in zugweiſer 
Marihbereitichait jtcht, und überreicht mir die Depeihe. Den 
‚ Zettel: „Theater, Brandherd Garderobe” Iefen und das 
Signal zum Abmarfch geben, muß natürlich das Werk eines Augen— 
blies fein. In voller Stärke wird abgerüdt und unterwegs noch 
das bekannte militärifche Signal den Reitern und Fahrern ac: 
geben: „Schenfel van, Schentel van, lat ihn laufen was er Fan.“ 

Während es im Galopy vorwärts geht, werden die wenigen 
Minuten Fahrzeit ausgenüßt, indem von mir und den Offizieren 
die auf den Berfonenwagen jitenden Mannſchaften ned kurz 
auf die etwa vorzunchmenden Rettungen aufmerffam gemacht 
und zur Anſpannung aller ihrer Kräfte angeipornt werben. Roch 
iſt eine Strafenede zu nehmen; es geht mod) eine kurze Strede 
‚ bergauf und wir find an der Brandftätte angefommen. Die 
einzelnen Züge fahren vorichriftsmäßig an, ich gebe das Signal 
| „Halt!“, darauf „Ubgejtiegen, Marſch!“ 

Anstatt aber unser Neues Stadttheater, den Liebling der 

Leipziger Bürger, in Flammen zu fehen, ſtand dafjelbe düjter und 
dunkel ba, wie wir es auf unſerem Hauptbilde betrachten fönnen, 
| feine Rauchſaule ftieg auf, keine der befannten Flammenzungen 
ſchlug aus den Fenſtern hinaus. Was ift das? Feuer ift auf 
\ jeden Fall, denn der in der bezüglichen Garderobe angebrachte 
‚ automatische Seuermelder ift durchaus zuverläffig; er meldet richtig 
| und auf die Zuverläffigfeit meiner im Theater poftirten, Die 
Kontrolle Tag und Nacht ununterbrochen übenden Feuerwehrleute 
ihwöre ich. in ſolches Verſehen ift bei ihnen noch nicht vor: 
aefommen und kann aud) nicht vorkommen. 
Aha! Da eriheinen die Väter der Stadt, welche vom Be: 
| ginn der von ihnen jelbit veranlaßten Fenermeldung an uns er— 
woarteten amd mit der Uhr in der Band nun meine Meldung 
entgegennehmen. Die mit dem ftädtifchen Feuerwehrweſen be- 
traute Kommiſſion der Stadtverordneten, an ihrer Spike der 
Oberbürgermeifter, wollte ſich überzeugen, wie ihre Feuerwehr 
auf dem Poſten, wie ſchnell fie anrüdt, wie fie jchlagfertig Sei. 
Sie liefen dieſelbe alarmiren, indem fie unverhofft in das 
Theater bis in die Garderobe gingen, hier den fontrollivenden 
Feuerwehrmann eviwarteten und von dieſem dann Feuer melden 
ließen, gerade fo, als ob im der That das Theater in den 
Garderoben brenne Nachdem ich die Befehle der Herren ents 
gegengenommen und erfahren hatte, daß es ih um ein Manöver 
handle, wurden von mir die erforderlichen Signale und Befchle 
gegeben, die einzelnen Hüne begannen unter Führung ihrer Offiziere 
die ihmen zugetheilte Thätigkeit, die Dampfiprigen antiworteten 
mit grellem Pfiffe auf das ihnen gegebene Signal zum Wafjer- 
geben, und die Thätigleit des Corps begann, wie fie unfer Haupt: 
bild darſtellt. 

Dasfelbe zeigt auch eine Maſſenretlung von Menfchen aus 
ı den Garderoben, während zugleich mit voller Dampffraft und dem 
| Mufwande der Kräfte aller Mannjchaften die Bekämpfung des 
fingirlen Feuers im Gange iſt. 

Wir Sehen vedhtsjeitig die Rettung von Menſchen vornehmen 
| auf dem jogenannten Reichenberger Rutjchtuche, linksſeitig durch 





—söo 


den jogenannten Mettungsichlaud — beides Ulenſilien, welche 


687 > 


heute bei feiner Feuerwehr und vor allen Dingen nicht in größeren | 


Städten fehlen jollten, wo zu jeder Minute ein Brandunglüd ent: 
jtehen kann, bei welchen Menjchen aus Feuersgefahr zu reiten find. 
Obwohl die Neuzeit Über ein Mrfenal von Rettungsgeräthen 
verfügt, jet zunächſt nur der beiden erwähnten gedacht, die 
wir auf unjerem Bilde in Anwendung fehen. Von anderen Rettungss 
neräthen und ihrer ziweddienlichen Anwendung nächitens mehr! 

Der zur Rettung von Menichen, die fich in hohen Stock 
werfen befinden, meijtbenußle Apparat ijt, wenn wir von bem 
einfachen Rettungsiad, der unter Benutzung von Halenleitern 
herabgelaſſen wird, abfehen, der Rettungsſchlauch. 

Derſelbe iſt aus ſtarlem Hanſgewebe bergeftellt, hat eine 
Länge von 20—25 Metern und einen lichten Durchmefier von 
etwa 80 Eentimetern. Am oberen Ende wird der Schlauch mit einer 

Durchſchub⸗ 
ſtange und mit 
feften Striden 


bejeftigt. Am 
unteren Ende 
befindet ſich ein 
ungefähr zwei 
Meter langer 
Schlitz. 

Die zu ret— 


tende Perſon 
wird in dieſen 
Schlauch oben 
hineingeftedt 
und gleitet, wie 





Dasſelbe bildet feit mahr als 20 Jahren ein Specialgeräth 
der freiwilligen Feuerwehr in Neichenberg und iſt im einer 
großen Zahl von Feuerwehren anderer Städte in Gebrauch. 
Es iſt ein treffliches Hilfsmittel für arößere Orte mud Städte mit 
hoben Häufern, Thentern :c., wo viele Menichen im Brandfallı 
im möglichit ſchneller Weiſe gerettet werden follen. Iſt das Tuch 
befejtigt, jo wird eine zu rvettende Perfon nad) der anderen auf 
dasjelbe gejeßt, auf welchem fie ohne Gefahr und eigenes Hinzu 
thun herabgleitet. Beim Anblick der Höhe ängstlich werdende 
und fich gegen die Feuerwehrmannſchaft oben beim Aufleken 
fträubende Rerjonen werden zwangsweiſe darauf geworfen, und 
auch in folhem Falle iſt es möglich, die zu retlenden Perſonen 
ohne jede Beichädigung herunterzufhaffen. 

Ms ich mit dem Wutichtuch zum erſten Male an meinem 
Hauptfeuerwehrdepöt übte, fam gerade die Schuljugend aus der 
Schule. Nicht 
lange fah dieje 

unjeren Met 
tungsübungen 
zu, ala ſich erſt 
einer, dann noch 
einer, ſchließ 
lich eine ganze 
Schar von Kin: 
dern an midı 
mit der Bitte 
wandte, auch 
einmal „berun- 
terrutſchen“ zu 
dürfen. Mit 


wie dies auf Vergnügen er 
unferem Haupt« laubte ic) dies 
bilde links jehen, und ließ die 
in demfelben Kinder auf der 
ficher herab. — Treppe hinauf 
Die unten den gehen und dann 
Schlauch ſicher vom dritten 
und feſt haltende Stud aus, erſt 

—— auf * —* 
mannſcha eines Feuerwehr 
den Schlauch mannes, dann 
nach, ſobald die zugleich neben 
gerettete Perſon dm Shlaffaal der Feuerwehr. einem Feuer 


unten angelom 
men ift und duch die jchlikartige Oeffnung entſteigen will. 
Nettung it eine durchaus einfache und ſichere. 

Wo es fih) um Maffenveitungen handelt, würden ſowohl 
der Rettungsfad, welcher bei Häufern mit voripringenden Geſims— 
theifen überhaupt nicht immer mit Sicherheit zur Anwendung gelangen 
fann, wie auch der Rettungsſchlauch nicht mehr genügen. 
fann durch diefe Mtenfilien immer nur eine Person nad) der anderen 
retten, welches zu viel Zeit erfordern wilrde. An ſolchen Fällen 
findet zwechdienlich das Rutſchtuch Anwendung, wie wir dies rechts- 
feitig auf unjerem Bilde im Gebrauche fchen. 


Die 


Dan | 


wehrmann und 
ſchließlich allein in das Nutichtuch jpringen und. heruntergleiten. 
Die Freude war groß und durch ſolche Uebung Habe ich er- 
reicht, daß man bier bei Jung umd Alt Vertrauen zu folchen 
Rettungen durch uns gewonnen bat. In einer der nächſten 
Nummern werden wir weiteres über die Organiſation der 
Feuerwehren und über Selbjtrettungen aus den verichiedenen 
renerägefahren berichten, um unferen Lefern zu veranſchau— 
lichen, wie auch der Laie in Feuersgefahr durch entiprechen- 
des Vorgehen fein und feiner Mitmenichen Leben zu retten 
vermag. 


Der Kampf gegen den „Hopbitter“, 


©in Beltrag mir QDekhämpfung des Gcheimmittelunmelfeno, 


ner „aufgellärtes Jahrhundert“ ift nicht minder reich an Quadjalbern | hindern Suchen; um Fo mehr iſt es nöthig, dab dieſes gemeinnüßige 


wie frühere Heitalter. Ja, man Tann fogar mit Recht behaupten, 
daß, wie alles in unserer Feit, jo auch die Duadjalberei Rieſenfortichritte 
gemacht bat; das iurpfuichertbum hat neben der Ausbreitung der medizi 
niſchen Wiſſenſchaft fich zu behaupten gewußt; es Tat ſich den Beitver- 
hältmijjen angepaßt und eine neue Irnanijatton angenommen. In dem 
Inſerat und der Nellame findet es eine der mächtigſten Stüren und 
weih fie gehörig ausjubenten. Wo wir nur binbliden, überall finden 
wie Mupreiiungen von Geheimmiueln; Millionen werden von Hurpfuichern 
alljährlich für Anjerate ausgegeben, und dieſe Thatſache allein gentgt, 
am die große Verbreitung dieler dunklen Induftrie begreiflich zu machen, 

Der Kampf, welder negen den Geheimmittelſchwindel von ver 
ſchiedenen Seiten geführt wird, ift darum keineswegs jo leicht; er gleicht 
einer Eiinphusarbeit; denn lamm bat man dieſes oder jenes Geheim 


mittel unschädlich gemacht, jo tauchen dafür zehn andere auf. Um fo | 


mehr verdienen diejenigen Anerlennung, welche unermüdlich die Aus: 
beutung leichtgläubiger und unglüdlicher Kranken mit aller Kraft zu ver 


Vorgehen Unterjtügung und Nahahmmug finde, Der Ruf nad neuen 
Geſehen gegen Aurpfujher und Geheinmmittel genügt allem nicht; die 
Sejellichait, in deren Schoß das Unktaut jo üppig in die Höhe ge 
fproffen iſt, muß auch im sich ſelbſt Kraft genug finden, um das Unlräut 
auszurotlen; fie darf nicht immer auf das Einichreiten des Staatdanwalts 
warten; fie muß vielmehr unverzüglich zur Selbſthilfe greifen. 

Daß ein ſolches Vorgehen von den beiten Erfolgen begleitet fein 
fan, das beweiſt uns die Geichichte einer jungen Bereinigung in Holland, 
aus der wir ein Kapitel im Nachtebenden erzählen wollen. 

Im Zabre 1881 wurde in Leuwgarden anf Anzegung von Dr, Vitus 
Bruinsma der „Verein genen die Duadjalberei” gegründet. Anfangs 
zählte er nur 163 Mitglieder, die zumeift Aerzte und Kharmaceuten 
waren. Der Borftand begann jeine Thätigfeit mit der Derausgabe einer 
Heinen Zeitichrift, dei „MWonatäblattes des Vereins gegen die Duad- 
ſalberei“, welde auf Vereinsloften gedrudt und gratis vertheilt wurde, 
Das Unternehmen fand Anklang; am Schluh des Jahres zählte der 


w. 


—o 


Verein bereit? 357 Mitglieder, und er verteilte im Laufe des Jahres 
22 emplare des Journals. Bon mım an wuchs die Zahl der Mit- 
ge beitändig, bie fie 1886 1082 erreichte, Während aber die Gefell« 
haft vor einigen Jahren noch 10BMO Erempfare ihres Journals 
vertheilen fonnte, war fie zuletzt in der Lane, nur etwa LO 000 Exemplare 
druden zu laſſen; denn fie war in diefem Kampfe gegen die Charlatanerie 
auch von den Wedhielfällen, wie fie ein jeder Krieg mit fich bringt, be» 
troffen worden. Einige der Geheimmittelfabrifanten fühlten fich durch 
die fatirifhen Aufſähe des Journals beleidigt, und es war zwei Herren 
gelungen, ein Urtheil gegen den Verein zu erlangen, welder ihnen 
Buße zahlen mußte. „Die niederländischen Richter,” jchreibt der Gründer 
Yes Vereins, „entichieden in der That, daß, wenn man bverbürgte That> 
jachen zur Belehrung und Warnung des Fublitums veröffentlicht, die 


den Quadfalber nicht beleidige.“ Das Meine Journal war alio in dem 
Kampfe negen das Unmejen weniger glüdiih, als ber Ortägeiunbheits« 
rath zu Karlsruhe; denn im Jahre 1860 haben die deutichen Richter in 
einen ähnlichen gegen den Vorſtand des genannten Rathes, Bürgermeifter 
— angeſtrengten Proceſſe wie jolgt entichieden: 


eriftirt ein gutes Necht, einen Schwindler als einen Schwindler | 


au bezeichnen, wenn dies zur Verwirklichung eines gemeinnüßlichen, auf 
andere Weiſe nicht erreichbaren _ Zweckes und zur Abſchafſung eines 
gemeingefährlidhen, vom fittlichen Standpunft zu verurtheilenden Treibens 
nothwendig iſt.“ Vergl. auch Jahrg. 1880 der „Gartenlaube“.) 

Die Buße, welche der „Verein gegen die Duadjalberei” zahlen muhte, 
traf feine Finanzen recht empfindlich, und feit der Zeit werden alle 
Xrtifel de3 genannten Monatöblattes vor dem Drud einem Rechtsauwalt 
voraclegt, welcher in ihnen alles das ftreicht, was die Herren Quackſalber 
beleidigen fünnte, , 

Das Monatsblatt des Vereins findet man in Hunderten von Cafes, 
Bahnhöfen 20.; es wird Mitgliedern der gejeßgebenden Körperichaften, 
den Minijtern und gegen 300 Zeitungsredaltionen zugefchidt und aufer- 
dem dur die Mitglieder nach Kräften verbreitet. Es belämpft das 
—— He md das Geheimmittelunweſen in durchaus wirtſamer 

eiſe. 


oft ein ummilltürlicher Humor ſich findet. P 
Darauf beichräntt ſich jedoch feinesiwegs die Thätigleit des Vereins, 
Er nimmt auch einzelne Schwindler aufs Korn und agitirt fo lange gegen 
diefelben, bis fie in Holland ihre Flagge einziehen müſſen. Dr. Birus 
Briindma erzählt in dem erften Deft der „Änternationalen Nevue der 


Die Alpenfee. 


Es ift vor allem nicht Tangweilig geſchrieben, ja zum Theil find- 
die Artitel humoriftiich; da in dem lächerlihen Gebaren der Onadfalber | 


Ausdrudsweife eine jorgfältig gewählte fein müjie, damit fie den betreffen | 


688 








En 


355 


o — 


Verfälſchungen von Nahrungsmitteln"* ausſührlich von einem ſolchen 
Duell zwiſchen dem Verein nnd einem Gebeimmittelfabrifanten. 

Jin Oktober 1882 tauchte in Holland ein neues Heilmittel auf, welches 
gegen alle möglichen Leiden helfen jollte. Es hie „Dopbitter“, beftand 
aus Waffer, ın dem einige Bitterjtoffe aufgelöft waren, und koſtete 
5 Franken, während der wirkliche Werih der Nngreiengien 20 Eentimes 
betrug. Gleich beim Erſcheinen der eriten Rieſenannoncen erließ der 
Verein Warnungen gegen dad neue Heilmittel; aber der Fabrilant ver- 
doppelte nunmehr feine Anftrengungen; von feinem Sauptquartier in 
Breda fandte er nad) allen größeren Städten Agenten, welche Tauſende 
von Brofhüren vertbeilen mußten, in denen der „Dopbitter“ — 
wurde. Als dies der Vorſtand des Vereins erfuhr, lieh er ſoſort Tauſende 
Heiner Blätter drucken, in welchen es klar nnd deutlich zu leſen war, daß 
die Induſtrie des Hopbitler“ nur eine elende Schwindelei fei, welde 
lediglich den Zweck verfolge, Geld zu verdienen, Diefe Blättchen follten 
überall dort vertheilt werden, wo_die Mgenten des „Hopbitter” zuvor 
ihre Brofchüren abgegeben hatten. Die &efellichait appellirte dabei an ben 
Eifer ihrer Mitglieder in ben bolländifhen Städten, und fie fand aud 
die eifrigite Unterftüßung. Kaum waren hier oder dort die „Dopbitter“- 
Agenten aufgetaucht, da debeſchitte man fofort an das Somite in Leu— 
waarden, und die Geſellſchaft ſandte unverzüglich nach den bedrohten 
VPunlten einige taufend ihrer Blättchen, die unter Aufficht der Mitglieder 
in benfelben Straßen vertbeilt wurden, in welchen vorher die „Hopbitter": 
Vroſchüren aufgetaucht waren, . 

So bauerte der Kampf drei Monate hindurch in Amſterdam, Motter- 
dam, im Daag, in Utrecht, Leuwaarden, Groeningen x. 53000 Blätter 
lieh die Gefellichaft vertheilen, und der Erfolg blieb auf ihrer Seite. 
Anfangs 1833 war der „Hopbitter" in Holland unmöglid — war todt- 
gemacht, während der Unternehmer noc einige Jahre jpäter in Belgien 
gute Geſchäfte machte. R 

Diefe Art der Bereinsthätigfeit hat wie jede Selbfthilfe ungemein 
große Vorzüge. Ihr Hauptverdient liegt nicht allein in dem Unſchädlich 
machen einiger Geheimmittel. Dadurd daß fie Mitglieder wirbt und 
von ihnen Propaganda für die qute Sache fordert, trägt fie unendlich 


| viel zur Märung der richtigen Anſchauungen im Bolfe bei. Im Großen 


und Ganzen iſt das Öeheimmittelmmeien ein betrügeriiches Ausbeuten 

des Volles, und es ift wahrlich endlich an der Zeit, dab die Geſellſchafi 

ſich der Parafiten erwehrt, die durch fremdes Unglüd reich werden möchten. 

Das Lorachen des Vereins gegen die Duadjalberei ift nachahmens 
werth und audı für die Verbältnilie in Deutſchland zu empfehlen. — 
6. Falkenborf. 


Nochdxuck verboten. 
Alle NRechte vorbebalten. 


Roman von &, Mlerner, 


(Fortfepung.) 


Dein fah bei der fategorifchen Erllärung feines Schtwieger- | es feinen Halt mehr giebt auf der abichitifigen Bahn, dab, wer 
dvaters finiter ® Boden; er überlegte die Folgen des Ent ſich Dir verbündet, feine Ehre nicht rein bewahren kann. Ich 


weder — oder; ja freilich, er war ein guter Rechner geweſen, 
er wußte ganz genau, daß ihm mit feiner Braut Millionen verloren 
gingen,. ber Reichthum, die glänzende Aukunft, für die er alles 
eingefegt, um derentwillen er fein Glück verkauft Hatte. Setzt 
fam der Moment, wo er noch etwas anderes verkaufen jollte, 
und plößlich jtand jene Stunde am Wolfenftein wieder vor ihm, 
in der mondbeglänzten Mittfiommernacht, wo ihm dieſer Moment 
mit ahnungsvoller Warnung verkündet wurde: Nebt ijt der Preis 
die Freiheit, einjt wird es die Ehre fein! 

Nordheim deutete dies Schweigen in feiner Weile; er legte 
dem jungen Chefingenieur die Hand auf die Schultern und jagte 
in bedeutend gemildertem Tone: 

„Sei vernünftig, Wolfgang! Wir verlieren beide bei einer 
Trennung und ich wünſche fie am wenigſten, aber ich kann und 
muß von meinem Schwiegerſohn verlangen, daß er Hand in Hand 
mit mir gehe und mein Intereſſe zu dem feinigen made. Du 
giebjt Deine Unterichrift und ich übernehme die Verantwortlichkeit 
für alles andere. Dann wollen wir beide diefe Stunde vergeſſen 
und den Gewinn theilen, der auch Dich zum reichen unabhängigen 
Manne macht.“ 

„Um den Preis meiner Ehre!“ brach Wolfgang in leiden: 
ichaftlicher Empörung aus. „Nein, beim Himmel, jo weit foll es 
denn doch nicht kommen! Ach Hätte es freilich Längst willen 
fönnen, twohin Deine Grundfäge, Deine Geſchäftspraxis führen, 


bin ehrgeizig und rüdjichtstos gewejen — ja, ich habe geredjnet 
bei unserer geplanten Verbindung, wie Du es ihateft, und habe 
ihr ſchon mehr Opfer gebracht, als ich vor meinem Gewiſſen 
verantworten kann, aber zum Betrüger will ich denn doch micht 
herabfinfen. Wenn Du mir zumnthejt, ein Schurke zu werden, 
um Deines Reichthums willen; wenn die Zukunft, die ich mir 
erträumte, nur um biefen Preis zu haben ift, jo mag fie Hin- 
fahren — ich will fie nicht!” 

Er hatte ſich hoch aufgerichtet und ſchleuderte mit Flammen 
den Augen dem Präfidenten die Ablage entgegen, Es lag etwas 
Mächtiges, Uebertwältigendes in diejem ftürmiichen Ausbruch des 
Mannes, der fich endlich frei machte von all den Heinlichen 
Banden des Eigennußes und der Berechnung, die ihn jo Lange 
feftgehalten hatten, deſſen beſſere Natur fich endlich Bahn bradı 
und fiegreich die Verſuchung niedertrat, die ſich noch einmal jo 
fodend vor ihm erhob. Er wußte ja, daß bei jenem „Seichäfte” 


‚ auch für ihn eine Million abfiel; dann war er nicht mehr ab» 


denn Du haft Dir wenig Zwang auferlegt, jeit Alice meine Braut | 


it; aber ich wollte nichts ſehen und willen, weil ich Thor genug 


war, mir einzubilden, daß ich troß alledem meinen einenen Wen | 


chen, meinem eigenen Willen folgen könne. Jehtt ſehe ich, daß 





bängig von dem Wohlwollen feines Schwiegerbaters, dann fand 
er frei und feſſellos da, mit der goldenen Macht in feinen Händen, 
die ihm all feine Zukunftsträume verwirklichen Fonnte. Es war 
nur ein Moment gewejen, wo er zauderte, dann ſtieß er die 
Verſuchung von ſich und reitete feine Ehre! 

Der Präfident ftand mit tief verfinitertem Gefichte da. Er 
ſah jeht auch, daß er ſich getäuicht hatte, ala er in dem Kühnen, 
chrgeizigen Streber ein gefügiges Werkzeug, eine ebenſo gewiſſen 
loſe Natur wie die feinige zu finden hoffte, aber cin vollitändiger 
Bruch war durchaus nicht nach feinem Sim. Er verlor am 
meiften bei der Trennung; in erſter Linie ging der Gewinn 


® Kovue internationule scientiflque et poputalre des falsifieatlons des denrdes alimentaires, Amsterdam. Albert de Lange, 





Fenerwehrübung am Thealer. 
Nach einer Zeichnung von Paul Wagner, 


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verloren, den ihm nur Elmhorſt mit feiner Unterſchrift vermitteln 
konnte, umd überdies fante er fih, daß es nefährlich fei, einen 
Dann, der jo tief in feine Pläne eingeweiht war, als Feind zu 
entlaffen. Das durfte micht gefchehen, der Bruch mußte ver— 
mieben werden, wenigitens fürs Exite, bis jener Gefahr vor: 
gebengt war. 

„Wir wollen heute in diefer Angelegenheit 
letzte Wort fprecdhen ,“ jagte er laugſam. „Sie ift 


nicht das 


rubig zu behandeln. Ich komme in adıt Tagen nad) meiner 
Bergvilla ımd jo Tange haft Du Zeit, Dir die Sadıe zu 
überlegen, für jegt nehme ich Deine übereilte Entſcheidung 
nicht an.“ 

„So wirft Dur fie in acht Tagen annehmen müſſen,“ erklärte 
Wolfgang. „Meine Antivort wird auch danır nicht anders fauten. 
Laß die Bahn berechnen, nad) ihrem Werthe — nach ihrem 
höchſten MWerihe — 
weigern; diefer Berechnung verſage ich meine Unterſchrift, das 
iſt mein leßtes Wort. — Leb' wohl!” 

„Du willit doch nicht jeht ſchon wieder fort?” fragte Nord— 
beim, peintich überrascht. 


„Gewiß, der nächte Kurierzug acht in zwei Stunden und | 


das Beichäft, das mich berführte, ift erledigt. 
auf der Bahnftrede ijt unbedingt nothtwendig.“ 

Er verneigte ſich; cs war nicht mehr dev vertrauliche Gruß 
des Verwandten, des Hinftigen Sohnes, 
fremde Verabſchiedung, die einem Fremden galt, und der Präſident 
fühlte, was darin lag. 

As Elmhorſt in die große Eingangshalle trat, fand er dort 
zwei Diener, die feiner harrten. Man Hatte, ohne erſt den 
Befehl Nordheims abzuwarten, feine Zimmer in Bereitſchaft ac: 
ſeht und erfundigte ſich nun, ob der. Herr Chefingenieur noch 
fonftige Befehle babe; aber diefer wies die beiden Dienfteifrigen 
mit einer kurzen Handbewegung zurück. 


Meine Anweſenheit 


Ich danle, ich muß ſofort wieder abreiſen und Fam daher | 


die Zimmer nicht benutzen.“ 

Die Lakaien madıten höchſt erſtaunte Gejichter, das hieß ja, 
im Gturme fommen und geben! Sie verbeugten ſich indefien 
untertoirfig und fragten mur, wann der Herr Chefingeniene nad) 
der Bahn zu fahren beabfichtige und ob der Wagen ſogleich an- 
geipannt werden jolle, 

„Nein, ich gebe zu Fuße!“ ſagte Wolfgang rubig. Sein 
Bid ſlog noch einmal durch die prachtvolle, hell erleuchtete 
Treppenhalle, über die teppichbelegten Stufen, die zu jenen 
jtrahlenden Feſträumen im oberen Stod führten, dann verlieh 
er das Haus, in dem er fehs Monate lang als Sohn, als 
fünftiger Herr gegolten hatte umd dem er jebt für immer den 
Nücden fehrte. 

Draußen empfing ihn ein dunkler, vaßlalter Oltoberabend, 
der Himmel war jternenlos, die Luft frübe und neblig und ber 
icharfe Wind mahnte an das Nahen des Spätherbftes. Elmhorſt 
zog unwillkürlich den Reifemantel fejter um die Schultern, als 
‚er mit raſchen Schritten vorwärts ging. 

Es war zu Ende! 
und er durchſchaute auch vollkommen die Abſicht Nordheims, der 
einen plötlichen Bruch vermeiden wollte, weil ev einen Racheakt 
des einstigen Schwiegerfohnes fürdytete, der ihn preisgeben fonnte, 
wenn er wollte, Gin verächtliches Lächeln kräuſelte Wolfgangs 
jtolze Lippen — unnöthige Furcht! So miedrig war er nicht! 
Seine Gedanken flogen zu feiner Braut zurüd, wo. jie io felten 
geweilt hatten. Alice würde ficher wicht Teiden, wenn die Ver— 
lobung gelöft wurde. Sie hatte ohne Wideripruch ſeine Werbung 
angenommen, um den Wunfc ihres Baters zu erfüllen, und würde 
ſich ebenſo twillenlos dem Machtworte des, Valel⸗ beugen, wenn 
er das eben exit gefnüpfte Band zereih, Von Liebe war ja 
ohnehin nie zwiichen ihnen die Mede geweſen, ſie verloren aleich 
wenig an einander, f 

Wolfgang athmete tief auf, Jeßt war er wieder frei, die 
Wahl war ibm zurüdgegeben; er kennte ihn noch immer achen, 
den einfamen ftolzen Wea, nur die eigene Kraft und den eigenen 
Muth zur Seite, aber die Stimme, welde ihn damals wach ges 
rufen aus dem Rauſche der Selbjtiucht und des Ehraeizes, würde 
ihm nie wieder erklingen, das ſchöne jtolze Antlig ihm niemals 


allzu | 


wichtig und unſere beiderjeitige Stimmung ift nicht danach, fie | 


und ich werde die Betätigung nicht vers | 


jondern eine Falte, | 


Das wußte er mit volliter Gewißheit 


\ zulächeln ! 
aud in Zukunft noch erringen und erreidyen mochte — 
war doch vericherzt, war verloren für immer! 


Der Preis gehörte jeht einem anderen, und was er 
jein Glück 


Der Herbit hatte diesmal in der That den Charakter des 
Spätfommers. Die Tage waren mit wenig Ausnahmen hell 
und ſonnig, die Luft mild und warm und das Gebirge zeigte 
fich in jener Haren, duftigen Schönheit, die ihm gewöhnlich exit 
die jpätere Nahreszeit zu geben vermag. 

Die Bewohner der Nordheimſchen Villa Hatten den Berg: 
aufenthalt, der anfangs nur für die beiden Sommermonate be- 
rechnet war, bis in den Dftober ausgedehnt. In erfter Linie 
war die Nüdfiht auf Nlices Befinden dabei maßgebend geweſen, 
und dann hatte man auch dem Wunjche Ernas nachgegeben, die jo 
lange als möglich in ihren geliebten Bergen weilen wollte. Seit fie 
Waltenbergd Braut war und eine glänzende Partie machte, hatte 
ſich ihre Stellung im Haufe bedeutend geändert; Frau von Las— 

berg erlaubte jid kein Hofmeiftern mehr und der Präfident kam 
| den Winfchen feiner Nichte artig entgegen. Waltenberg jelbft, 
der das Stadtleben mit feinen Formen und Feſſeln durchaus 
nicht Tiebte, war mit der Verlängerung des Aufenthaltes jehr 
| einveritanden, nur die Baronin ſeufzte über dieje endloſe „Ber 
bannung“ und tröſtete fich "mit dev Ausſicht auf eine um jo 
| glänzendere Winterfaiion. Jetzt, wo Erna gleichfalls Braut war 
und Elmborit jedenfalls für die Weintermonate nach der Nefidenz 


 fam, wenn jeine Thätigfeit als Chefingenienr zu Ende war, 
mußte das Nordheimſche Haus feinen gefellfchaftlichen Ruf vecht- 
fertigen. Es ſtand zweifellos eine Reihe von Feſtlichkeiten zu 
Ehren der beiden Brautpaare in Ausſicht, und Frau von Lasbern 
ichwelgte bereits in dem Gedanken au die Hauptrolle, die fie als 
| Bertveterin dieies Haufes dabei ſpielen würde. 

Die beiden jungen Damen ſaßen in der Veranda an der 
Seite des Hauſes, und das heitere Geplauder, das von doriber 
| Hang, kam twirflich aus dem Munde von Alice Nordheim. Es 
hatte freilich nichts mehr von der gleichgültigen Art, mit der ſie 
fonjt zu Sprechen pflente, Die Veränderung, die mit ihr vorge: 
nangen war, grenzte in der That an das Wunderbare; ver 
ſchwunden waren die Franfhafte Blaſſe, die matten Bewegungen, 
der müde, theilnahmlofe Blid, die Wangen Hatten Farbe, die 
| Augen Leben gewomen. War es die Alpenluft, die Hier auf 
‚ den Höhen jo rein und würzig wehle, oder die Behandlung des 
‚ Jungen Arztes, der das Uebel von einer ganz anderen Seite an 
griff, das junge Mädchen war im den wenigen Monaten aufge: 
blüht wie eine Blume, die fange im falten bdüfteren Schatten 
ı gelränfelt und gefiecht bat und die nun plöglich, wenn man fie 
| in den hellen, warmen Sonnenſchein bringt, ich ii in 
zarter, duftiger Schönheit. 

„Mich wundert, daß Dein Bräutigam noch nicht da iſt,“ 
jagte fie joeben. „Er pileat doch fonjt immer um diefe Stunde 
zu lommen, 

„Ernst hat mir geſchrieben, daß er heule etwas ſpãter ein 
treffen werde, da er uns eine Ueberraſchung aus Heilborn mit 
bringe," entgegnete Emma, die ihr gegenüber ſaß und zeichnete; 
aber fie hob den Blid nicht von der Mappe und ihre Stimme 
verrichh auch nicht das mindejte Intereſſe an der verheißenen 
Ueberraſchung. 

Merkwürdig, daß er Dir fo oft ſchreibt, obgleich er Dich 
täglich ficht!” meinte Alice, die allerdings an ſolche Aufmerkſam 
| keiten feitens ihres Werlobten nicht gewöhnt war, „Und dabei 
‚ überjchüttet er Dich förmlich mit Blumen; mir ſcheint nur, Du 

bift jeher wenig dankbar dafür.” 

„Ich fürchte, daran trägt Ernſt ſelbſt die Schuld,” war die 

ruhige Antwort. „Er verwöhnt mich allzuſehr und ich laſſe 
‚ mich nur zu leicht verwöhnen.“ 

„sa, id) finde auch, daß ehvas Webertriebenes in feinen 
Huldigungen Liegt,” warf Alice ein. „Mir kommt feine Liebe 
immer vor wie ein Feuer, vor dem man fid) in Acht nehmen 
muß, das mehr brennt als leuchtet,“ 

„Er ift nun einmal cine außergewöhnliche Natur,“ ſagie 
Erna. „Man darf ihm nicht mit dem Maßſtabe anderer meſſen, 
und das habe ich auch nie gethan. Glaube mir, Alice, man 
fanın viel, kaun alles ertragen, wenn man voll und qlühend ge 
liebt wird.” 





— o 


Sie fegte den Zeichenftift nieder und bfidte wie iräumend 


in die ferne hinaus, Es hatte doch einen eigenthümlichen Klang, 
das Wort „ertragen“, und es wurde auch durch Fein Lächeln ge— 
mildert. 
Geſichte der jungen Braut jchärfer hervor und im ihren Mugen 
fag etwas, was jich nicht nennen und beſchreiben ließ, aber von 
Süd ſprach es nicht! 

In dem furzen Schweigen, das nun eintrat, hörte man das 
Nollen eines Wagens, der vorn am Haufe vorfuhr. Erna bebte 
leife zufammen; fie wuhte ja, wer fam, wenn man aud) von hier 
aus den Weg wicht überjehen konnte. 
Mappe und erhob ſich; aber noch che fie die Veranda verlich, 
flog eine junge Dame herein, die fie mit einer ftürmiichen Um— 
armung förmlich überfiel und sich dann cbenjo ſtürmiſch zu Alice 
wandte. 

„Wally, Dur bijt es!“ riefen beide wie aus einem Munde, 

Es war wirtich Frau Doltor Gersdorf, die vor ihnen jtand, 
tofig, lachend und übermüthig wie gewöhnlich, und hinter ihr 
wurde Ernit Waltenberg fidhtbar, dem man die Freude über die 
gelungene Ueberraſchung anjah. 

„Ja, ich bin’s leibhaftig!“ ſagte die Meine Frau. „Albert 
bat in Heilborn einen unendlich langweiligen Prozeß zu führen, 
und da bin ich natürlich milgegangen. Man muß dem armen 
Manne feine Dienftreifen doch einigermaßen erträglich machen. Ach 
ache überhaupt immer mit, wenn es irgendivie möglich iſt. 
glaube, wenn es ihm einficke, den Montblanc oder den Himalaya 
zu erflettern, jo würde ich mid) aufopfern und mitklettern. Gott 


Ueberhaupt trat der Zug von Ernſt und Kälte in dem. 


Langſam Schloß fie die 


Ich 


fei Dank, daß er nicht daran denkt, denn da oben giebt es keine 


Prozeſſe zu führen, und er ift ein entfehlicher Altenmenich. Nun, 
und wie geht es Euch denn hier? Ihr feid ja ganz verichollen für 
die Refidenz! Eigentlich braucht man gar wicht zu Fragen, denn 
Alice blüht wie eine Roje und Erna macht jedenfalls ſchon Pläne 
für die Hochzeitsreiſe. Wohin gebt es denn zunächſt? Nach den 
Südfeeinfeln oder nach dem Nordpol? Ich meinestheils würde 
mid für die Südſee entjcheiden, die Temperatur ift dort au— 
genehmer.“ 

Und nach dieſer aus Fragen und Erzählen gemiſchten Be— 
grüßungsrede, die ohne jede Pauſe vorgetragen wurde, warf 
ſich die junge Frau in einen Seſſel und erklärte, ſie ſei ſo müde, 
daß fie überhaupt Fein Wort ſprechen könne. 

Ernſt war nach der erjten allgemeinen Begrüßung zu feiner 
Braut getreten und überreichte ihre einen Strauß Löjtficher, remd- 
artiger Blumen, die aus irgend einem Treibhanfe ftammten, 
farbenprächtige Blüthen, welche einen beranfchenden Duft aus: 
ſtrömlen. 

„Habe ich Wort gehalten?“ fragte er, auf Wally deutend. 
Ich hatte ſchon geftern mit Albert die Ueberraſchung geplant 
und wußte, in diefer Begleitung würde ich willtommen fein.“ 

„Das bit Du ja doch immer!” entgegnete Erna, indem ic 
mit freundlichem Danke den Strauß in Empfang nahm. 

Immer?“ wiederholte er, während ein herber Ausdrud um 
jeine Lippen zudte. „Wirklich? Bisweilen zweifle ich daran.“ 

„Aber Ernft, ich bitte Dich!“ 

Sein Auge begegnete mit Teidenjchaftlichem Forichen ihrem 
vorwurfsvollen Blid, und wie zufällig ſchritt er mit ihr die 
Stufen hinab, die in den Garten führten. 

„Freuſt Dar Dich denn etwa, wenn ich komme?“ fuhr er 
mit gefenkter Stimme fort. „Mir icheint es oft, als fürchteteſt 
Du meine Nähe, als bebteft Du zurüd vor meiner Umarmung, 
und mehr als einmal glaubte ich ein verjtohlenes Aufathmen zu 
jehen, wenn id) mich von Dir wandte.” 

„a, Du überwacht jeden Blid, jeden Athemzug und ſchaffſt 
Die und mir Pein aus allem, was id) fage oder thue,“ ſagte 
Erna gepreft. „Du ängjtigjt mich mit diejer maßlofen Leiden: 
ichaft; was foll daraus werden, wenn wir erſt vermählt find?“ 

„Dann werde ich ruhiger werben,” entgegnele er mit einem 
tiefen Athemzuge „Du follft nur erjt mein fein, ganz mein, 
fein anderer ſoll das Recht haben, fich zwiſchen uns zu drängen, 
vielleicht Ichre ich Dich dann, mich zu Tieben; bisher habe ich das 
vergebens verſucht. Du fannft doch lichen, id weiß es — ihn 
haft Du anders geliebt!” 


‚ fallen war. 


61 > 


„Davon zu ſchweigen! Ja, ich verſprach es, aber ich glaubte 
nicht, daß es jo ſchwer fei, den Kampf mit einer Erinnerung, 
mit einem bloßen Schatten aufzunehmen. Ah, ich wollte, er hätte 
Fleisch und Blut, dann könnte ich mit ihm kämpfen auf Leben 
und Zub!" 

Seine Augen Hammten wieder auf in jenem tödlichen Hafle, 
twie damals, als er erfuhr, daß die Liebe feiner Braut einft einem 
andern gehört hatte. Erna war bleich geworden, aber jie legte 
beſchwichtigend ihre Hand auf feinen Arm. 

„Ernſt!“ fagte fie weich und bittend. „Wozu Diefe ewige 
Selbjtquälerei! Du leidejt grenzenlos darunter, ich ſehe es und 
babe amendlich oft ſchon mein Geſtändniß berent. Beſitze ich 
denn nar feine Macht, Dich ruhiger und alüdlicher zu machen?” 

Es bedurfte nur diefes Tons, um ihn zu entwafnen; er 
preßte in ſtürmiſch aufwallender Reue ihre Hand an feine Lippen. 

„Du hajt die Macht zu allem, wenn Du mit diefem Blick 
und Ton zu mir vedeft! Bergieb, wenn ich Dich) quäfe, es foll 
nicht wieder geichehen, gewiß wicht!” 

Es war ein Berjprechen, das Hunderimal gegeben und 
bundertmal gebrochen wurde: Erna lächelte zwar dazu, aber die 
Bläfie lag noch immer auf ihrem Gefichte, als fie fich dem Haufe 
wieder zuwandten. 

„Dort fcheint eine Dthellojcene zu ſpielen!“ fagle Wally, 
die troß ihrer angeblichen Müdigkeit unaufhörlich erzählte und 
dabei noch Zeit fand, das Brautpaar zu beobadten. „Ernſt 
Waltenberg hat eine gefährliche Aehnlichleit mit jenem ſchwarzen 
Ungethüm. ch glaube, er könnte auch um nichts und wieder 
nichts einen Word begehen, wenn feine Eiferſucht gereizt wird; 
hoffentlich bringt ihm Erna Vernunft bei in der Ehe, denn 
bis jeßt Tiebt er fie höchſt unvermünftig. Ich erzählte ihm 
während der Fahrt alle möglichen intereflanten Dinge aus ber 
Rejidenz, aber er Hörte micht einmal zu, er hielt immer nur 
die Mugen auf Eure Villa gerichtet, und als wir vorführen, 
ſtürzle er förmlid aus dem Wagen, um zu feiner Braut zu ge: 
langen. — Ah, jeht küßt er ihr die Hand und bittet demüthigjt 
um Berzeihung! Albert Hat das mie gethan, jelbjt während 
unferer Brautzeit wicht; im Gegentheil, idy mußte abbitten! Er 
ift leider gar nicht romantiſch angelegt, jo wenig wie Dein 
——— Alice. Kommt der Herr Chefingenieur denn heute 
nicht ?* 

„Ich alaube laum,“ verjegte Alice, die jetzt endlich auch 
einmal zu Worte fam. „Wolfgang hat jo viel zu thun; er kam 
and geftern nur auf einige Minuten, jeine jehige Stellung nimmt 
ihn ungemein in Anſpruch.“ 

Das Hang jchr aleichgältig, viel zu gleichgültig für eine 
Braut, die es doch fühlen mußte, daß ſie vernachläſſigt wurde, 
Alice ahnte allerdings nichts von dem, was vor adıt Tagen in 
der Nefidenz zwiichen ihrem Vater und ihrem Bräutiganr vorge: 
Wolfgang hatte es jedem, ſelbſt feinem Freunde 
Reinsfeld verfchwiegen; ex wollte es dem Präfidenten, defien An- 
funft ja unmittelbar bevorjtand, überlajfen, wann und wie Die 
äußere Löſung berbeizuführen ſei. Einſtweilen zeigte er fich fo 


' wenig als möglich bei Mlice; der Vorwand von Ueberhäufung mit 


Arbeit und Geichäften, der ſchon früher fein ſeltenes Erſcheinen 


ı hatte deden müſſen, that auch im dieſem Falle feine Schuldigfeit. 


Jetzt erichien auch Frau von Yasberg in der Veranda und 
begrüßte Wally mit jchr viel Haltung und jehr wenig Herzlid)- 
feit. Die junge Fran wollte bis zum nächſten Tage bleiben, two 
ihre Gatte fie abholen jollte, und beide beablichtigten dann einen 
Beſuch in Oberjtein bei Benno zu machen. Lebrigens lam Frau 
Doltor Gersdorf wie ein Wirbehvind in das ftille, vornehme 
Dans hineingefahren; von dem Augenblide an, wo fie den Fuß 
über die Schwelle jegte, hörte jede Etikette anf. Ueberall ertönte 
ihr helles, friſches Laden, fie planderte mit Alice, nedte Erna, 
ftritt ſich mit Waltenberg über orientaliiche Sitten, von denen 
fie feine Ahnung Hatte, und ärgerte vor allen Dingen die alte 
Baronin nach Kräften, und dabei jtrahlte fie förmlich vor Glück 


und Uebermuth. 


Su war es Mittag geworden und die guldene Herbitfonne 
fodte unwiderſtehlich in das Freie. Waltenberg ſchlug einen 
Spaziergang nad) einer der nahegelegenen Höhen vor und fand 


Sie entzog ihm mit einer heftigen Bewegung ihre Hand, | allgemeine Zuftimmung; aud) Alice, die noch vor wenigen Monaten 


die er ergriffen hatte. 
„Ernſt, Du Haft mir verſprochen —“ 


von allen derartigen Partien völlig ausgeichloflen war, betheiligte 


ſich heut tapfer daran, während Frau von Yasberg jelbitveritändlic) 


o 


zu Haus blieb. So ſtieg die Heine Geſellſchaft aufwärts, durch 
den jonnigen, duftigen Wald, bis fie an den Fuß eines Fels— 
fegels gelangte, der ſich ſteil und ſchroff erhob, 

„Hier mußt Du aber zurüdbleiden, Alice,” ſagte Erna 
mahnend. „Der legte Theil des Weges iſt teil und mühſelig 
und Du haft Deine Kräfte noch zu fchonen, — Wirſt Du cs 
leijten können, Wally?“ 

„Ich Leiste alles!“ erklärte Die junge Frau, fait beleidigt 
durch dieſe Frage. „Dun glaubjt wohl, Du und Dein Bräutigam, 
Ihr wäret allein tüchtige Bergſteiger? Ich nehme es mit Euch 
beiden auf.“ 

Wallenberg lächelte elwas ſpöttiſch bei dieſer gewagten Be— 
merkung und warf einen vielſagenden Blick auf die feinen Reſidenz— 
jtiefelchen der Dame, mit den hohen Abſätzen. 

„Run, für diesmal bat es feine Gefahr, der Felien iſt durch 
Stufen und Stüfen überall zugänglih gemacht,“ erklärte ur. 
„Mebrigens lann auch dem geübteiten, tüchtigjten Bergſteiger ein 
Unfall begegnen, das mußte mein Sekrelür auf der Geierflippe 





92 o 


eriahren, Er lam noch glücklich genug mit einem verrentten Fuße ' 


davon, es hätte ichlimmer ablaufen lönnen.“ 

„Ah, der unendlich lange Here Gronau!“ rief Wally. 
it er denn eigentlich geblieben? 
nicht zu Geſichte befummen.” 

„Er Bat ſich einen mehrwöchigen Urlaub erbeten, ich er 
warte ihm aber in dieſen Tagen zurüd,” entgegnete Ernſt, der 
im runde etwas befremdet war über das fange Ausbleiben 
Veit, Er wuhte, daß diejer feine Angehörigen mehr in Deutſch— 
fand befak, und konnte ſich dieſe plögliche Reiſe nicht erklären; 
Gronau halte ihm ja micht einmal mitgeteilt, wohin ex einent: 
lich aing- 

Mlice fünte ſich gehoriam der Anordnung, md während 
Waltenberg mit ben beiden anderen Damen die Höhe vollends 
erſtieg, blieb fie auf der Heinen Bergwieſe am Fuße des Felſens 
zurüd, Es war ein fchönes, ftilles Plägchen mitten in der tiefen 
Waldeinſamkeit, die noch fein Hauch des Herbſtes berührt zu 
haben ſchien. Die dunklen Tannen und das weiche Moos hatten 
ihe friſches Grin bewahrt und in den Strahlen der Mittagsionme 
zerrann der letzte Nebelduft, der noch bier und da zwifchen den 
Bäumen ſchwebte. Es war licht und warm, wie an einem 
Frühlingstage. 

Alice mochte etwa zehn Minuten lang allein geſeſſen Haben, 
als fie in einiger Entiernung eine wohlbefaunte Geſtalt erblidte, 
den Doktor Neinsfeld, der zwiſchen den Bäumen fichtbar wurde, 
Er fam von einem Kranlenbeſuche, den er auf einem ber Berg: 
höfe abgeltattet hatte, und war jo eilig und fu tief in Gedanken 
verfunfen, daß er in die Lichtung hinaustrat, ohne die junge 
Dame zu bemerken, bis fie ihm anrief: 


„Ro | 
Ach Habe ihm auch in Heildern | 


„Herr Doltor, wollen Sie wirklich fo vorbeiftürmen, ohne 
Ihre Patientin auch nur anzuichen ?* 

Benno war aufgefahren bei dem lange ihrer Stimme und 
blieb jegt überrafcht fichen. 

„Sie bier, gnädiges Fräufein, und jo ganz allein?“ 

„D, ich bin nicht jo ſchuhlos, als Sie glauben!” ſagie Alice 
beinahe muthroillig. „Dort oben it Here Waltenberg mit Erna 
und Wafln. Ich bin nur zurüdgeblieben —“ 

„Weil Sie ermüdet find?“ fiel er beforgt ein. 

Sie ſchüttelte lächelnd den Kopf. 

„D nein, ich wollte nur meine Kräfte fchonen für den Rück— 
weg. Sie haben mie diefe Schonung ja zue Pflicht gemacht. 
Schen Sie, wie gehorfam ich bin!" 

Sie rüdte feitwärts und ſchien zu erwarten, daß der Doftor 
an ihrer Seite Wlag nehmen werde; er zögerte einige Sekunden 
lang, dann aber folgte er der wortloſen Einladung und lieh ſich 
gleichjalls auf dem moojigen Side nieder. Sie waren fi ja 
nicht mehr Fremd und Hatten ſich in ben letzten Monaten fajt 
täglich geſehen und geſprochen. 

Alice fuhr unbefangen umd heiter jort zu plaudern; es lag 
eine harmlofe, unſchuldige rende in diefer Heiterkeit, die Freude 
der neu erwachenden Lebenskraft, die fid endlich den jahrelangen, 


ſchweren Drudf der Krankheit entwindet und halb fchüchtern noch, 


‚ halb vertrauend dem neuen Daſein entgegenblidt. 


Man fonnte 
nicht einfacher und Iindlicher plaudern als dieje junge Millionärin, 
die fo gar nicht geichnifen war fir die glänzende Stellung, weiche 
der Reichthum ihres Waters ihr zuwies. Bier, wo fie auf bem 
Moosboden des Waldes jah, olme all den Schmuck und die Pracht, 
die fie ftets nur wie eine Lat trug, umipielt bon den goldigen 
Sonnenstrahlen, die auf das weiche Uchtbraune Haar und bas 
zarte, von einer leiſen Möthe angehauchte Antlig fielen, war ihre 
Erſcheinung von einer unausſprechlichen Anmuth und Kiebens- 
würdigfeit. 

Der junge Arzt zeigte fih dagegen ungewöhnlich eruft und 
ſchweigſam; er ziwang ſich wohl zu einem Lächeln, zu heiteren 


, Antworten, aber man fah es, daß fie ihm nicht von Herzen 


famen. Auch Alice bemerkte das endlich, fie wurde ebenfalls 
ftilfer, und als zufegt ein längeres Schweigen eintrat, ohne daß 


Reinsfeld den Berfuch machte, es zu brechen, fragte fie: 


„Herr Dollor — was iſt Ihnen?” 

„Mir?“ fuhr Benno anf, „O nichts, durchaus michte!“ 

Ich ſürchte cher das Gegentheil, Sie waren fo eilig vorhin 
und faben io ernſt und traurig aus und ich bemerfe das nicht 
zum erjten Male Schon jet Moden it es mir borgefommen, 
als bedrüde und quäle Sic etwas, jo ſehr Sie fih auh Mühe 
geben, es zu verbergen — darf ich nicht wiſſen, was es ijt?“ 

Fortſeßzung folgt.) 


Eine Fahrt nad; Vorcello. 


Der Erimmerung eines Künflers naderzählt von Karl Konrad. 


Der Frühliug des Jahres 1841 zog ſo heiß wie nur irgend 
einer feiner Vorgänger über die italiſchen Gefilde hinweg, 
die, ſeinem ſengenden Hauche widerſtandslos offen, ihm erſt an 
ihrer nördlichſten Schwelle den eisgepanzerten Schild der Alben— 
welt vorhalten. 
Lüfte in die märchenhafte Lagunenſtadt, deren eigenthümlich 
porjievolies Waſſerleben fich niemals Beiterer und farbiger ent: 
faltet als im Frühjahr, niemals zahfreichere Scharen fremder 
Säfte in ihren Aauberbann zieht als eben dann. Much ich 
hatte mich mit Pinſel umd Palette vor der römiſchen SBibe 
in ihre leife plätichernden Kanäle, ihre fühlen Marmorpaläſte 
und geheimnißvoll dämmernden Kirchenhallen aeflüctet, die dem 
Architekturmaler eine nie zu erjchöpfende Fundgrube der köſtlichſten 
Motive darbieten, 

Port verrann der Tag in traulicher Abgeſchloſſenheit, während 
die finfende Sonne mich auf dem kühlgewordenen, mufifdurdh: 
rauichten Markusplatze mit den deutichen Yandsleuten, welchen 
ich in der unter öfterreichiicher Herrſchaft ftchenden Stadt zahl: 
reicher als in jeder anderen Italiens begegnete, zujammenführte. 
Zwiſchen dem Heiteren Vollchen junger Künstler und Yitteraten 


Bon dort bringt der Machtwind erfrifchende | 


machte ich manche anregende Bekanntſchaft; Teine unter allen aber 
gewährte mir ein höheres Intereſſe als die des Dichters Heinrich 
Stieglitz, deſſen Iangjähriger Aufenthalt im meiner Valerſtadt 
Leipzig und feine verwandtichaftlichen Beziehungen dafelbft zudem 
mancherlei Berührungspunlte zwiichen uns ergaben. Der Nanıe 
Stieglig war Damals ein viel genannter, Waren duch erſt wenige 
Jahre entſchwunden, ſeitdem der freiwillige Ipfertod einer jungen, 
ichönen, geiftvollen und Tiebenstoürdigen Frau, welche dic ver: 
meintlich nur ſchlummernde That: und Schaffenstraft ihres ge: 
liebten, in feiner dichteriſchen Bedentung von ihr ſtark überjchäßten 
alten durch einen großen, vertiefenden Schmerz aufrütteln 
wollte — eine That, von einigen als erhabenfter Ausdrud reinfter 
und jelbitlofeiter Liebe gepriefen, von anderen als traurige Ber: 
irrung eines eraltirten, kranthaſt überreizten Geumthes bedauert — 
die Nugen von ganz Deutjchland auf ſich und auf denjenigen 
aerichtet hatte, dem dieſes Opfer — leider jo nutzlos — gebracht 
worden war. Denn der Geiſt des Dichterd war ſeit dem fchred- 
lichen, ſo tief in fein Leben einſchneidenden Ereigniß nur noch 
größerer Verdumpfung, fein Gemüth noch tieferer Verbitterung 
anheim gefallen. Kine quälende immere Unrnhe trieb ihn fortan 


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694 ⸗ 


raſtlos von Ort zu Ort und lieh ihn, der von Haus aus mit 
einer reichen Phantafie und echtem dichteriichen Feuer begabt war, 
jede größere Aufgabe fliehen. Durch die Großmuth eines reichen 
Verwandten, des Petersburger Kröſus Baron 2. v. Stieglitz, 
jeder äußeren S Sorge enthoben, lebte ex nur noch feinen Neigungen, 
zur Zeit alfo in Venedig, Hier vorzugsweile mit geſchichtlichen 
beſchäftigt. 

Die äußere Erſcheinung des damals 38 jährigen Mannes 
war eine angenehme, wenn ſie auch nicht gerade den Dichter 
und Denler augenscheinlich verrieth. Seine Geftalt war unter; 
jebt und ein wenig zur Korpulenz neigend, fein Antlip blaß und 
nicht befonders ausdrudsvol. Wohl Lounte er im Kreiſe aufge: 
räumter Landsleute, heiter und geiprächig fein, für gewöhnlich 


aber mahnten ein ſchweigſames Weſen und ein ſchwermüthiger 


Ausdruck in den Augen an das große Leid ſeines Lebens. Mir 
ſchloß er ſich ſeit dem erſten Tage unſerer Bekanntſchaft enger 
an und oft durchſtreiflen wir felbander die alten, zerfallenden 
Dome und PBaläfte der Dogenftadt, in welchen er den Spuren 
der Geſchichte nachaing, ich nad) Motiven für meinen Binfel 
fuchte. Dabei erzählte er mir mehrfach von der Heinen ver: 
geſſenen Laguneninſel Torcello, auf welcher chedem eine reiche 
und berühmte Stadt neftanden, deren Reſte dem Maler möglicher 
weiſe noch reichere Musbeute gewähren bürften, als dem Ge— 
ſchichtsforſcher. Meine Wißbegierde ward Ichließlich rege und eines 
Abends, als wir in traulichem Geſpräch den heiter belebten 
Canale grande hinabgondelten, ſchlug ih vor, am folgenden 
Tage einen gemeinfamen Ausflug nah dem geheimnikvollen Eis 
land zu unternehmen. 

Die Sonne des 10. Juni ſchoß glühende Pfeile vom wolfen- 
loſen Himmel herab, die Yaqunenwellen ſchlichen in träger Ruhe 
zu den Füßen des Dogenpalajtes und die Inſeln jenfeit der 
Giudecea ſchwammen in heihem, blaugrauem Dunjt. Schon früh: 
zeitig entführte uns eine vierruderige, ſchwarz ausgeichlagene 
Gondola unjerem Kafſeehauſe an der Riva degli Schiavoni, an 
Benedigs Uferpaläften vorbei, hinaus in die blaublisende Woſſer 
weite. Unter dem melodiſchen Geſang unſerer trotz der Hitze 
behende rudernden Gondolieri ſchwanden San Michele, der fluth— 
umrauſchte Friedhof der Lagunenſtadt, und die ſtädtiſch bebauten 
Inſeln Murano und Burano an uns vorüber, tauchten die hohen 
Blodenthürme Venedigs hinter uns in den blauen Duft der 
Mittagsgluth, rückte die Hüfte des Feſtlandes mit feiner ftolzen, 
den Horizont begrenzenden Alpenmauer fcheinbar immer näher heran. 

Endlich, nad) faſt dreiftündiger Fahrt, landeten wir am er- 
jehnten Ziele. Das alfo war Torcello! Wie von einem Märchen: 
traum fühlten wir ung umfponnen, noch ehe wir den Fuß auf 
die fonnendurchglühten Steinfliefen des Ufers gefegt hatten. Die 
Nuhe der Siejta Tagerte über dem Heinen, wie ausgejtorben 
erfcheinenden Eiland ; die warme, jtille, von blauen Fliegen leiſe 
durchſurrte Mittagstuft trug nur den Schall der Kirchenglocken 


von Burano undeutlich zu ums herüber und auf den Dächern 


ärmlicher Uferhütten nifteten einige buntſchillernde Tauben. Sonjt 
war weit und breit nichts Lebendes zu fehen, noch zu hören. 


Wenige Boote ftanden unbenutt auf den heißen fandigen Strand | 


geichoben, auf dem oft geflidte Fiichernehe zum Trodnen aus— 
gebreitet Tagen. 

In den verwahrloften Gaſſen des Heinen, nur von einigen 
verarnten Fiſchern und Winzern bewohnten Dertchens brütete 
die Sonne — man meinte das Gras wachien zu hören zwiichen 
den zerbrödelnden Fugen des Maffenden Steinpflajters. Eine 
wahre Domröschenjtimmung überlam uns, die noch wuchs, als 
wir vergeblih an den Thüren des alten Domes, defjen graue 


Mauern ſich düjter und koloſſal über niedriges Hüttengewirr er: | 


hoben, rüttelten — die meiften italienijchen Kirchen pflegen in 
den Mittagsitunden geichlofien zu fein — und uns ebenfo ver: 
geblih nad einem menſchlichen Weſen umjcdhauten, dem das Amt 
der Schlüfelbewahrung etwa anvertraut fein mochte Nachdem 
wir in verjchiedene Icere und finftere Haushaltungen geblidt, fuhren 


wir aus der folgenden entfegt zurüd vor einer zahnlofen, heren- | 


artigen Alten, die im unfagbarften Neglige hinter dem Dunkel eines 
Kochherdes auftauchte und ob des ungewohnten Anblids fremder 
Eindringlinge jprachlos einen Hührlöffel von unglaublichen Dimen- 
fionen jinfen lieh. 

Wir machten uns fhon darauf gefaßt, 
Mephifto bei ihrem Beſuche in der Hexenküche brfomplimentirt 


wie Fauft umd " 


Die 
ung mürriſch und mißtrauiſch mad) 
Nachdem wir ihr diejes Mar ge: 
drehte ſie fi) mit merkwürdiger Clajticität auf dem 
malerifch durchlöcherten Abfab eines anſcheinend noch aus ben 
Zeiten des Langobardeneinjalls jtammenden Pantoffel® um und 


zu werden, hatten uns jedoch glücklicherweiſe getauſcht. 
Unhotdin begnügte ſich, 
unſerem Begehr zu fragen. 
macht, 


tief mit fchrillee Stimme zur Hausthür heraus: „Biufeppina!" 
Es dauerte auch nicht lange, fo trat uns aus einer der Nachbar 
hütten die Geſtalt einer faum erblühten Jungfrau entgegen, die 
uns mittelft Schwingung eines mächtigen Schlüſſels zu folgen 
winfte So beiralen wir denn die ehrwürdige Kathedrale, eine 
dreiſchiffige, Machgededte Baſilila, die in ihren Grumdzügen bis 
zum fiebenten Jahrhundert, alfo in die erſten Kindheitstage 
Torcellos zurüdreict. 

Aber jo fchr uns auch ihre vielen Schenswürdigkeiten, ihre 
berrlihen Marmorſaulen und föjtlichen Mofaiten, ihre alten 
jteinernen Fenſterladen und namentlich ihre hochmerkwürdiges 
Fresbpterium — im Halbrund ſtufenweis anſteigende Priejter- 
bänfe mit der hochragenden bifchöflichen Ktathedra in der Mitte — 
jeſſeln mochten, noch mehr beinahe beichäftigte uns unfere jugend: 
liche Führerin. Es war ein ſchlankes, blaſſes, ſcheues Mädchen 
von höchitens 15 Jahren mit lieblichen Gefichtszügen und ſchwer— 
müthigen jchwarzen Mugen, im welchen es wie eine Ahnung 
fommenden Unbeils lag. Unſere ragen beantwortete fie ermit 
und zurüdhaltend; wir erfuhren nur, daß fie eine verwaiſte 
Berwandte des Küſters und bereits mit einem jungen Torcellaner 
verlobt fei, der jich des reichlicheren Verdienſtes wegen nach 
Benedig als Gondoliere verdungen habe. Mittheilfamer erwies 
ſich die Kleine, wenn es galt, unfere Fragen betreffs der Alter- 
thümer zu beantworten. Aus der Kathedrale führte fie uns in 
das benachbarte achtedige Baplifterium und ſchließlich durch 
malerische Kreuzgänge zur uralten Kirche Santa Fosca, einem 
feltfamen, byzantiniſche Einflüſſe klar darlegenden Centralbau. 
Alle dieje zu einer Baugruppe verbundenen Heiligthümer zeigen 
namentlich im Junern eine feltene, von der ewig ändernden Zeit 
faſt unberührt gebliebene Urſprünglichkeit, alle find fie erfüllt mit 
düjterem Schweigen und durchweht von den Schauern der Ver: 
gangenheit. 

Unwillkürlich vichtet fih der Blick vüdwärts auf die Ge- 
ſchice der alten, einft jo veichen und mächtigen Inſelſtadt. 
Schon im jiebenten Jahrhundert von den fatholiihen Bewohnern 
des Feitlandes gegründet, welche ſich dor dem vordringenden 
Schwert der glaubensfanatifchen, arianifchen Zangobarden auf 
diefe damals noch unbebaute Laguneninfel jlüchteten, wuchs 
fie bald zu einem twichtigen Hafenplage heran, deſſen Name in 
buzantinifchen Chroniken des zehnten Jahrhunderts mehrfach 
vorkommt. 

Aber die Tage ihres Slanzes waren gezählt. Welche Stadt 
konnte fih damals an den Küſten der Adria neben dem immer 
ſtolzer emporftrebenden Venedig, der guldjtrogenden Königin der 
Meere, behaupten? Auch Torcello mußte feinen Reichthum 
in die umerfättlichen Speicher der Nebenbublerin fliehen lajien, 
jein Diadem demüthig am Saum ihres Purpurmantels nieder: 
fegen. Seitdem iſt es verarmt, verfallen, vergeſſen, der üppigen 
Nachbarſtadt ſchon ſeit Jahrhunderten ein warnendes Bei: 


‚Spiel von der Bergänglichkeit irdiſcher Herrlichleit vor Augen 


haltend. Die Weltgeſchichte aber übt gerechte Vergeltung. Auch 
die übermüthige Siegerin mußte ſich ſeitdem manches ihrer 
ſchimmernden Prachtgewande enttleiden — möge ihr der zerfetzte 
Bettlermantel des von allem entblößten Torcello ewig erſpart 
bleiben! — 

Ein Gefühl tiefjter Wehmuth beſchleicht den Wanderer, 
wenn er ſich auf dem alten Forum der Stadt, dem grasbe- 
wachjenen, nun ganz in Ruinen liegenden Marktplatze umichant. 
Noch zeiqt derjelbe größtentheils die urfprüngliche Anlage, Reſte einer 
Bogenhalle, in welcher die öffentlichen Angelegenheiten verhandelt, 
die Geſetze verfündigt wurden, den ſtädtiſchen Glockenſhurm, den 
alten Biſchofsſtuhl, vom Wolf für den Seflel des Attila gehalten, 
und die Spuren des frühgothiichen Ratbspalajtes. Bor legterem 
erblidt man unter einem vegellofen Chaos von Steintrümmern 


| das früher in die Fagade eingelaffen geweſene Reliefbild des ge 


flügelten Markuslöwen, des Symbols der venetianiſchen Macht 
fülle, welches auch die unterjochte Stadt annehmen mußte Es 
war eine twweihevolle Stunde, die wir bei dem altersagrauen 


—o 


Steinbilde verlebten, welches, einjtmals auf blühendes, ſtädtiſches 


695 > 


Handelstreiben Herabblidend, heute entthront, verwittert und von 


Blumen und Schlingfraut überwuchert, nur noch gewaltige Er- 
innerungen herauſbeſchwört. Während ich zeichnete, ſaß Stieglig 
träumerifch umd wortlos da, die Mugen anſcheinend ins Leere ge 
richtet. Als ich vollendet, bat er fich mein Skizzenbuch aus und 
fchrieb auf eines der leeren Blätter das folgende — foviel mir 
bekannt, hier zum erften Male zum Abdrud gebradyte — ftimmungs- 
volle Sonett: 


„Mo vor dem Drang anftürmender Barbaren, 
BVerheerender, In biut'gen Schredensitunden 
Des Freftlands Söhne ein Aſul gefunden, 
Das Ruhmeswiege ward den Eulelſcharen, 


An jenem Eiland, das vor grauen Kahren 
Rorleuchtend mit Venedig war verbunden, 

Schau — wie die Säulen Schlingfraut jept umwunden, 
Die einjt glorreiher Banner Träger waren. 


Sieh auf des Marktes ſchuttbededtem Hügel 
—5* aus bunten Wieſenblumen ragen 
es Markuslöwen Marmorhaupt und Fliügel — 


Ber hat jo lind zu Grabe u getragen, 
Gewalt’'ger Wirklichleit phantaftiich Sıenel, 
Leichnam und Grabftein aus veriholl'nen Tagen?” 


Dann machten wir und auf, um in der dürftigen Trattoria 
des Ortes unfer einfaches Mahl zu genießen Es follte einen 
gar traurigen Abſchluß erhalten. 

Die Zeit des Vejperläutens war gefommen und noch ſaßen 
wir beim vino da Conegliano und den erjten fühen Früchten 
des Sommers behaglich plaudernd vor der weinlaubüberjdatteten 
Thür unferer Locanda, als vom nahen Campanile der erſte 
Giodenſchlag — jeltſam dumpf, wie ung ſchien — ertönte. Allein 
fein zweiter folgte, alles blieb grabesjtumm. Beunruhigt eilten 
wir jofort über den Platz nad der offen ftchenden Thür des 
Glockenthurmes und fchauten in das dämmerige Innere desfelben. 
Weld ein Anblick! Um Boden lag ein junges Mädchen, Icblos, 
aber anſcheinend unverfehrt, nur auf ihrem blaflen, krankhaft ge: 
ſchloſſenen Munde ftand ein einziger dider Blutstropfen. Es war 


| 


dunkeläugiges Lieben zeigten, den Brautfranz auf ber Haren 
Stim, wie fie an feiner Seite vor den Altarjtufen des alten 
Domes zu Torcello miete? Armer Burſche! Wie bald wird 
deine Fichte Traumwelt zerrinnen, wie jäh ein rauher Froft den 
blühenden Liebesfrühling deines jungen Herzens vernichten! 

Man hatte inzwijchen die Leiche in ein raſch herbeigeichafites, 
mit ziwei Ruderern bemanntes Boot geladen, um fie zum Begräbniß 
nad) dem nahen Burano zu bringen. Uns aber, die unfer Rüd: 
weg gleichfalls an Burand vorüberführte, erfuchte man, auf dem 
dortigen Bezirlsgericht die nötigen Ausfagen über den traurigen 
weg von welchem wir fajt unmittelbar Augenzeugen geweſen, 
zu leiſten. 

Die haldjtündige Fahrt nad Burano gehörte zu jenen Er- 
lebniſſen, deren Eindrüde niemals wieder aus unferer Erinnerung 
ſchwinden können. Selten fanden Jugend und Schönheit ein 
Grabgeleite von wehmüthigerer Romantil. In der großen, uns 
voran rudernden Barke lag bie Leiche; ein weißes Tuch bededte 


' die Umriſſe des jugendlichen Körpers, welchen die in troftlofer 


r 
ı 


Giuſeppina, die Küfteränichte, die Verlobte des venetianiiden 


Gondoliers, unſere Führerin durch die Heiligthümer. 
Sie war todt. Indem fie ihr tägliches Amt des Veſper— 


lãutens verrichten wollte, hatte fie diesmal — flogen wohl ihre | 


Gedanken durch die offenen Luken des Thurmes weit übers blaue 


Meer nad den Marmorftufen der Piazzetta? — die nöthige Bor: 


ficht außer Acht gelaflen und war vom Seile der Gloce, die jie 
fäuten ſollte, über das ſchmale, einen nur unficheren Standpunkt 
gewährende Podium Hinausgerifien worden. Einen Augenblid 
hatte fie fich am Seile achalten — der dadurd an die Glocke 
fchlagende Klöppel hatte jenen einzigen, erfchredend dumpfen Ton 
hervorgebradht — und war dann, als ihre Schwachen Kräfte fie 


verlaffen, in die Tiefe des im Innern ganz hohlen Turmes — 


die fteinemen Stufen zur Höhe winden ſich äußerſt fchmal an 


der Innenfeite der Umfafjungsmauer empor — binabgeftürzt. | 
So fagte das weinende Kind aus, weldes die Unglüdliche auf | 


dem verhängnißvollen Gange begleitet hatte und nun jammernd 
und verjtört die fteile Treppe herabfam. 

Das Ausbleiben des gewohnten Veſpergeläuts Hatte ein 
wahres Wunder gewirkt und die Dornröschenjtadt im Nu geweckt 
und mit Menfchen gefüllt. Es waren wohl fämmtliche Bewohner 
des Meinen Ortes, die nun, dürftig gekleidet, aber größtentheils 
den Ausdruck tiefen Mitgefühls in den Zügen, den Gampanile 
umftanden. Drinnen hatte ſich ein fchönes junges Mädchen — 
die ältere Schweiter, wie wir erfuhren — laut ſchluchzend und 
ihr reiches dunkles Haar zerraufend, über die Todte aeworfen. 
Es war ein herzzerreißendes Bild. Drängte es ſich wohl in die 
Träume des jungen, ſchwarzlodigen Gondelführers, der jetzt viel- 
Teicht gerade, fein fchmelzendes „Bella Venezia“ fingend, ſchwatz 
und fchaubegierige Foreftieri von Palazzo zu Palazzo ruderte? 
Flehte er wohl eben zur Santa Madonna della Salute, ihm 


| 


reichlichen Verdienſt zur Beſchleunigung feines Glückes zuzu⸗ 


wenden? Malte er ſich roſige Zukunftsbilder aus, die ihm fein 


Verzweiflung vor ſich binbrütende Schweſter mit ihren Thränen 
netzte. Selbſt die rauhen, bärtigen Nuderknechte ſchienen weh— 
müthig bewegt; ernft und ftumm führten fie bad Boot im raſcheſten 
Tempo über die ftillen, glatten Wellen. In dem langen Silber: 
ftreifen, welchen es Hinter ſich ließ, folgte unfere Gondel mit 
ihren gleichfalls ftillen und traurigen Inſaſſen. Das weite 
Himmelsrund aber ſchwamm in Gold und Purpur. Dunkelblau 
zeichnete fich die Alpenfette vom weſtlichen Firmament ab, Schon 
zur Hälfte das ſcheidende Tagesgeftien verdedend, das mit feinen 
legten glühenden Strahlen Meer und Infeln in Feuer tauchte 
und die lebloſe weiße Geſtalt im Boote überfluthete, die all diejen 
Glanz nun nimmermehr fchauen jollte. 

Der traurigen Pflicht in Burano raſch entledigt, jehten wir 
fpäter am Abend bei langfam aufiteigendem Vollmond unfere 
Fahrt nad) Venedig fort. Noch lag der Bann des eben Erlebten 
mit ſchwerem Drud auf uns; wir hatten faum ein Auge für die 


' beraufchende Pracht der Juninacht, die uns auf mondbeglängter 


Meeresflähe umwob, für den leuchtend Maren Nachthimmel, der 
fo hehe und feierlich auf uns herniederſchaute. Unfere Gondolieri 
hatten ebenfalls Singen und Scherzen verlernt; eintönig pläticherte 
ihr Ruder durch die nächtliche Stille, 

Endlich ſtieg Venedig wie ein lichtſtrahlendes Feenmärchen 
vor uns auf, Bon der Pigzzetta ſchimmerten Hunderte von 
Lichtern weit in die Lagunen hinaus, aus den Kanälen tönte 
der Auf der Gondelführer und auf dem tageshell erleuchteten 
Martusplage wogte bei den fehmetternden Klängen der Militär: 
mufit Kopf an Kopf — allüberall der Ausdruck des heiterften 
Lebenägenufjes, der blühendjten Sinmenluft. Und wir Batten 
eben erjt dem Tode in das unerbittlich jtrenge Auge geſchaut, 
hatten feinen ernjten, mahnenden Hauch verjpürt und — ver 
ftanden. Welche Kontraſte bietet doch oft ein einziger Tag im 
menschlichen Dafein! 

„&s fingt und klingt mir im Gemüth 
Vom Morgen bis zum Abendroth: 
Das Leben ift ein Jühes Lied, 

Sein bitt'rer Kehrreim ijt der Tod.* 

Der ſchwermuthsvolle Klang diefer Verfe von Raul Heyſe — 
freilich) waren jie damals noch nicht gedichtet — giebt am beiten 
die Stimmung wieder, welche mich an jenem Abend beherrichte 
und lange nicht wieder in mir verblafien wollte. Mehr als ein 
Menfchenalter ift feitdem über mic) hinweggerauſcht, aber nod) 
ſchwebt mir das Bild des verfallenen Torcello, der unglüdlichen 
Giufeppina und des ſchwergeprüften deutihen Dichters, in deſſen 
Geſellſchaft ich all das Seltfame geſehen und erlebt, in merk— 
würdiger Slarheit vor der Seele. 

Den leptgenannten ſah ich, nachdem ich Venedig bald darauf 
verlafien, fpäter nochmals in Nom, dann niemals wieder. Ihm 
ward die träumeriiche Lagunenſtadt zur zweiten Heimath; er ver: 
ließ fie aud dann nicht, ala — acht Jahre nad) dem Erzählten — 
in ihren Mauern, durch orientalifhe Schiffe hereingeſchleppt, die 
Cholera ausbrah. Es war fein glüdliches Leben, welches damals 
neben taufend und aber taujend anderen dem afiatiichen Würg: 
engel zum Opfer fiel. 


— 0 


Alferfei 


Gaftronomifc-naturwilfenfchaftlidie Plandereien. 


Nahrung. 
Von Earl Vogl. 


VI Was da krendjt. 


s ift ein ſchon feit langem bekannter Sap, daß die Summe 

des organijchen Lebens in den Polarländern wohl ebenſo 
groß iſt wie in den gemäßigten und heißen Zonen, daß aber die 
Wärme die Mannigialtigleit der Formen entwidelt, während in 
den fälteren Zonen größere Einförmigfeit bericht. Weder auf 
den ſüdlichen Kontinenten nod) in den füdfichen Meeren begegnet 
man foldyen nad) Taufenden und Millionen zählenden Herden 
und Schwärmen von Sängethieren, Vögeln und Fifhen, wie man 
fie in norbifchen Gegenden anzutreffen gewohnt ijt; aber Diele 
Aniammlungen gehören meijt nur einer Art von Thieren an. 
In den Tüdlichen Gegenden kommen folche Herden nur felten vor, 
obgleich man einige Krokodile in amerilaniſchen Strömen oder 
Antilopen in Südafrita anführen könnte; die Arten kämpfen bier 
ihren Kampf um das Leben mehr vereinzelt, nicht in Maſſen 
geſchart. 

Nirgends treten dieſe Gegenſäte ſchärfer hervor als in 
dem Speifezettel der verſchiedenen Völlerſchaften. Ich leſe in 
einem in der Londoner Anthropologiichen Geſellſchaft achaltenen 
Vortrage über die Feuerländer: „Die Sce liefert ihnen ihre 
Hauptnahrung, die aus Muicheln, Fiſchen, Vögeln und ihren 
Eiern, Sechunden, Meerſchweinen und anderen Walthieren, über- 
haupt aus allem bejtcht, was ſie befommen können. Das Öuanaco 
eriftirt nur in einzelnen Strichen des Landes, fie janen es dort 
im Winter mit Hunden auf dem Schnee. Wenn ſie übrige Zeit 
haben, röſten oder braten fie die Muſcheln ganz, die andere 
Nahrung nur halb; find fie aber beeilt, 
Fleiſch roh. Das Tel, Fett und der Spa der Scehunde und 
Meerſchweine werden von ben Leibern abgeichnitten und felbit 
dann gegejien, wenn ſie jchon faul find. Sie haben wenig oder 
gar Feine vegetabiliiche Nahrung.“ 

Man braucht nur ſtalt des Guanaco das Nenthier zu 
fegen, jo ift es genan der Speifezettel der Esfimos, wie er vor 
dem häufigen Verkehr mit den Europäern und den von ihnen 


gebradjten Konferven war. Seehunde und Fiſche, Fifche und See- | 
hunde und zur Abwechſelung einige Seevögel und einige Muſcheln. 


Betrachte man dagegen die reiche Abwechſelung des Tiſches 
eines Votofuden, der etwa auf derjelben Stufe der Civiliſation 
fteht wie der Polarländer, wie diefer alles verzehrt, was er er— 
gattern kann, und fich auch wicht mehr Mühe mit der Zubereitung 
der Speifen giebt. Abgeſehen von der Umzahl der verſchiedenen 
Früchte, Beeren und Knollen der Gewäcje, von den eßbaren 
Kräutern und Blättern, welchen der Polarländer höchſtens das 


Löffellraut entgegen zu Teen bat, fteht dem Botofuden jozufagen | 


das ganze Thierreich in allen feinen mannigfaltigen Formen zur 
Berfügung. Statt des einen Wenthiered oder Guanacos cin 
halbes Dutend Hiricharten und dazu fajt alle Ordnungen der 
Sängethiere, Affen, große Fledermänfe, Nagethiere von den kleinen 
Mäuſen bis zu den großen Wafferfchweinen, Faulthiere, Tapire, 
Ameiſenfreſſer, Gürtelthiere — wer zählt und nennt fie alle, die 
zum Theil, wie die Waſſerſchweine und Tapire unſeren Wild: 
ihweinen, die Agutis unferen Hafen nichts nachgeben follen. Ein 
in feiner Nüdenjchale gebraienes Gürteltbier, ein Tatu, ſoll nach 
der Verfiherung von Autoritäten, welchen ic) vollen Glauben 
beimefien darf, da ich ihren Geſchmack in europäiſcher Küche er— 
probt habe, noch ein Gericht für Götter fein, 
Nektar und Ambrofia fait gefättigt haben. 


ehe ich auf dieje näher eingebe, fei es mir erlaubt, eine Zwiſchen— 
bemertung einzujchalten. 

Mannigfaltigkeit it nicht immer Verbeflerung; Einförmigfeit 
ſchließt nicht nothwendig nur niedere Sorten ein, 

Es eriftirt wohl ein Gegenjah zwiihen Waſſer und Land 
in Beziehung auf Genüſſe der Nahrung und man kann faſt, un: 
beſchadet des Ruhmes unferer gemäßigten Klimate, den Sab auf- 
jtellen, da die Wärme die ſchmackhafteren Yandprodufte, die Kühle 
die vorzüglicheren Nährſtoffe des Waſſers erzeugt. 

Man kann ftreiten über mancerlei Anwendungen dieſes 
Satzes; es mag mande Ausnahme geben, aber im allgemeinen 
wird er wohl feine Geltung haben. 


fo eſſen fie Füche und 


die ſich fchen an | 
Genau jo verhält es ſich mit den iibrigen Thierklaſſen. Aber | 


Für das Pflanzenreich it er wohl unbeitweitbar.  Uufere 
Aepfel find vortrefilih, unfere Birnen ausgezeichnet — fie halten 
nicht Stand gegen die Königin aller Früchte, die Ananas und 
taufend andere Erzeugnifje, nach denen die Koloniſten ſich ſehnen, 
nachdem fie einmal davon gekoſtet und fich an das Aroma gewöhnt 
haben, das ihnen eignet. 

Nicht minder gilt der Satz für das Meer und die fühen 
Gewäſſer. Es giebt nur wenige Fiſche im Mittelmeer, welche es 
on Wohlgeſchmack mit den nordiichen Stod» und Scellfiichen 
aufnehmen können; die Familie der Forellen, Lachſe und Maränen, 
dieſe hochadelige Familie it nur im Norden und den fälteren ge: 
mäßigten Zonen heimiſch; die Fiiche des Nils, jo mannigfad in 
ihren Öbeftalten, munden nur den Arabern und den Fellahs. Ber 
gleicht man zwei verwandte Arten derjelben Fiſchgattung aus 
verichiedenen Meeren, fo wird man ftets finden, daß diejenige 
Art, welche die nordiſche im Süden vertritt, wenn fie auch viel 
leicht reicher gefärbt, jchöner geſtaltet iſt, doch hinfichtlich des Ge 
Schmades dem noxdiichen Better weit nachſteht. 

Bei manchen Thierklaffen laſſen fich ſolche Vergleiche deshalb 

. gar nicht anftellen, weil fie in dem Norden entweder gänzlich 
ichlen oder fo verfümmern, daß jie nicht als Nahrung in Betracht 
‚ fommen Fönnen. 

So war es mit den Schildfröten, von welden wir früher 
ipradıen, fo verhält es ſich mit den Srofodilen, Eidechſen, 
Schlangen, Fröſchen und Molcen. 

Der proteftantiiche Europäer wendet ſich im allgemeinen mit 
Abſcheu von allen diefen Thieren ab; der Katholik Tiebt mit vollem 
Nechte die Fröſche als Faſtenſpeiſe, und zwar ißt er im Norden 
nur die Schenkel derjelben, während er im Süden den ganzen ab 
gehãuteten und ausgeweideten Froſch ſich ſchmeden läßt. Wo die 
\ beiden KRonfefjionen einander berühren oder durchdringen, hat der 
Froſch auch protejtantiiches Gebiet erobert. Auch die Nationalität 
ipielt mit hinein — unter gleichen Verhältniſſen wird der Franzose 
Fröſche efien, der Engländer nicht, und die Anrede jenes enaliichen 
Generals iſt bekannt: 

„Wollt Ihe Engländer, die Ahr alle Tage Noajtbeef echt, 
Euch von diefen Froſcheſſern ſchlagen lajjen?“ 

Als ich im Sommer 1835 zum erjten Male als Flüchtling 
franzöftihen Boden im Elſaß und zwar in Straßburg betrat, 
wunderte ich mich micht wenig über die pittoresfe Nrönung Der 
Feſtungswälle in den Nachmittagsſtunden. In Reihen ſaßen die 
Nothhojen auf dem Gefimje und angelten mit langen Rohrſtengeln, 
an deren Schnüren feine Halen mit rothen Läppchen gelödert waren, 
nach den Fröſchen in den Feitungsgräben. Aber die Straßburger 
Fröſche waren meist ſehr gewibigt; fie ſaßen reihemveiie am ent- 
gegengefegten Ufer des breiten Grabens gegen das Glacis Bit, 
wohin die Soldaten mit ihren Ruthen nicht nelangen konnten, 
und quaften ihre Verfolger etwas höhniſch am. Die Fröſche 
wusten offenbar jeher wohl, daß die Angler die Thore der Feſtung 
nicht pafjiren durften. 

Nicht minder maßlos war mein Erflaunen, als einer meiner 
Scidjalsgenoffen, der die gemeinfame Flüchtlingsmenage zu be: 
jorgen hatte, eines Tages mit mehreren Sprenfeln zu je fünfzig 
Veinpaaren vom Marfte fam: „die Froſchſchenkel ſeien heute jehr 
billig geweſen!“ Ich unterdrüdte mannhaft einige Regung von 
Ekel, ala die Dinge, appetitlich aebraten, auf den Tiſch Tamen, 
erinnerte mich einiger Spricdywörter, wie „Prüfet alles und 
das Beſte behaltet!” oder „Was der Bauer nicht kennt, das 
frißt er nicht“, und da ich fein Bauer fein wollte, prüfte ich 
und war von diefer Zeit für Froſchſchenlel, nicht nur als gal— 
vaniiche Anftrumente, jondern auch als Nahrungsmittel ein 
genommen. 

So weit e3 in den jüdlichen Klimaten Erdfröfche von der 
Größe unferer Teid und Grasfeöjche giebt, wird ihnen audı 
eifrig nachgeitellt; die Ochienfröfche der Vereinigten Staaten Nord: 
amerikas, die bis zu 300 Gramm ſchwer werben können, find 
von der öftlichen Küfte bis zu dem Miffiffippi Hin eine aejuchte 
Jagdbeute, denn man angelt und fängt fie nicht nur in Netzen 
und Fallen, ſondern ſchießt fie auch, wie die Heineren Entenarten. 





ZDahrhunderts. 





— 2 


Die Kröten aber werben nirgends angerührt und ebenſo wenig 
hab: id) gehört oder gelejen, daß die doch fonft jo appetitlic) 
ausfehenden Laubfröfche, die in den Tropengegenden oft fi in 
Scharen unter den Dächern der Hänfer zufammenfinden und durch 
den Höllenlärm, den fie machen, eine wahre Nactplage werden, 
von den ihres Schlafes beraubten, rahgierigen Bewohnern zur | 
Strafe verzehrt worden jeien. Wohl aber giebt es zwei MWafler- 
mofce, die zur lolalen Ernährung dienen und. beide aud in 
anderer Beziehung wohl allzumenig bekannt find. 

Die eine Art ift der jabantiche Rieſenmolch (Urypto 
hranchus maximus), ein wirklich ſcheußlich häßliches Thier, das 
bis anderthalb Meter lang werden lann. Der befannte Erforſcher 
Japans, Ph. F. v. Siebold, entdedte das Thier in den ſüdlichen 
Gebirgsgegenden der Inſel Nipon und brachte ein Eremplar, ein 
Männchen, im Jahre 1820 nach Leyden, wo es, wenn ich nicht 
irre, noch heute lebt. Siebold bejak ein Närchen, aber der 
liebende Gatle fraß fein Weibchen während der Ueberfahrt auf. 
Das Thier lebt in Haren Gebirgswäljern, in Höhen bis zu 
1500 Fuß über dem Meere, iſt außerordentlich träge, ſchnappt 
aber gierig nad) Fiſchen und Würmern. Als Siebold in Japan 
reiſte, war es noch ein beliebtes Wild, dem man mit der Angel 
eifrig nachſtellle, um es auf die Märkte zu bringen. Heute haben 
Mufeen und Aquarien die größte Mühe, ſich Erempfare zu ver: 
Ichaffen, und es ift mehr ala wahrſcheinlich, daß das ſeltſame 





Thier, deſſen Skelett auffallend demjenigen eines in den Deninger | 
Steinbrirhen gefundenen und von Scheuchzer für ein vorlündfluth; N 


liches Menſchenlind gehaltenen fofjilen Molches gleicht, in nicht 
langer Zeit wird ausgerottet fein. 

Gleiches Schidjal würde vielleicht den Axolotl (Siredon 
pisciformis) bedrohen, wenn wicht das wiſſenſchaftliche Europa 
fi) ins Mittel gelegt und ihn in großen Mengen gezüchtet hätte 
und noch züchtete, 

Als die Spanier unter Cortez die Stadt Merifo eroberten, 
fanden fie den dortigen Markt mit eigenthümlichen Fiſchen aus 
dem die Stadt umgebenden See befahren, welche eine ichuppen- 
fofe, ſchwarz- und braungefledte Haut und vier Füße hatten, wie 
die Eidechfen, deren Zehen aber magellos waren, wie bei den 
Fröjchen. Das Thier, meint der Chronift Hernandez, habe feinen 
meritanifchen Namen, welcher Waſſerſpiel bedeute, von der ſelt— 
famen, lächerlihen Geitalt erhalten. Wer einmal einen Arofotl 


nefehen, wird das dunkel gefärbte Thier mit dem platten, breiten | 
Kopfe, den Heinen Augen, den ſchwarzen Siemenbüfcheln hinter | 


dem Kopfe, den hellfarbigen, winzigen Füßen, dem plumpen Leibe 
und breitgebrüdten Ruderſchwanze ſehr häßlich, aber gewiß nicht 
lächerlich finden. Aber das Fleiſch ſchmeckte qut, ähnlich dem 
der Wale, und man bereitete den Arolotl wie andere Fiſche, man 
fochte, jchmorte und briet ihn, ſtets mit viel Gewürz und ſpaniſchem 
Bieffer, wie dies in heißen Klimaten üblih. Die Spanier nahmen 
ihn fofort unter die Faftenfpeifen auf, und da der Mrolotl nur 
im See von Merifo vorkam, richtete man nicht geringe Ber: 
beerungen unter ihnen au. Zu Humboldts Zeiten waren fie fchon 


| 
| 





feltener geworden; doch konnte Cuvier an zwei Erempfaren in 
Weingeift, die Humboldt ihm brachte, feftitellen, daß das Thier 
zwar die Organijation einer Molchlarve habe, aber doch ein fort: 
pflanzungsfähiges Weſen fei. Vor zwanzig Jahren famen zum 
eriten Male lebende Arolotls nad Paris, Iegten Eier, die aus: 
lrochen, und eimige der Jungen verwandelten jich ſpäter in Erd— 
molche ohne Riemen, die man fchon vorher aus Amerika erhalten 
hatte. Nun war begreiflicherweife des Verſuchens, Züchtens 
und Pröbelns an dem Thiere, das merkwürdigerweiſe fich unter 
beiden Geftalten, als Larve und als Salamander fortpflanzt, fein 
Ende und heutzutage leben in Aquarien und Teichen Europas ganz 
gewiß mehr Arolotl als in dem ganzen Ser von Merito, Einer 
meiner Freunde in Senf hatte ihrer genug gezüchtet, um eines 
Tages zum Frühftüd welche zu verzehren; er fand viele Aehnlich— 
keit im Geſchmacke mit Froſchſchenkeln. 

Mit Hühnerfleiih dagegen vergleichen alle, welche davon 
geloſtet haben, das Fleifch der großen Eidehien und mit Sühner- 
eiern die Eier bderfelben. Wenn unjere einheimischen Eidechſen 
eine Länge von anderthalb bis zwei Metern und ein Gewicht 
von einigen Kilos erreichten, fo würde man ohne Zweifel den 
Verſuch gemacht haben, Eidechlen und jelbft Schlangen in bie 
Faſtenlüche bineinzuziehen, wie es in den füdlichen und bejonders 
tropischen Ländern geichehen ijt; wer aber möchte Zeit und Mühe 
mit dem bei uns herumkriechenden Kleinzeug verſchwenden, das 
faum einen hohlen Zahn zu füllen im Stande wäre? 

Krofodile, Alligatoren und Kaimane werden nur an wenigen 
Orten verjbeilt. Die Eingeborenen find nur Selten binlänglic 
betvaffnet, um eine erfolgreihe Jagd ohne allzu große Gefahr 
ausüben zu können, und die Europäer nehmen wohl die Häute 
zu Schuhwerk, verjchmähen aber das Fleisch wegen des Moſchus— 
geruches, den es von zwei großen Biſamdrüſen annimmt, die an 
dem Unterkiefer” liegen und deren Inhalt von cingeborenen 
Afrikanerinnen, Aitatinnen und Südamerifanerinnen gleich) hoch 
geihäßt wird. Die großen Segelechfen und Barane oder Warns 
eidechien der alten Welt, Amboinas und Dftindiens, werden aber 
mit eben folcher Vorliebe gejagt wie die Fafanen, welchen fie 
im Geſchmacke ähneln jollen, und Merifaner wie Brafilianer halten 
Hunde, welche ebenfo auf Lequane und Tejueidechien dreſſirt jind 
wie unjere Vorftehhunde auf Hafen und Feldhühner. in mir 
befreundeter Schweizer, der cine aroße Plantage in Brafilien 
bejaß, verficherte mir, daß ihm zwiſchen den Truthühnern, die er 
dort auf feinem Hofe mäjtete, und den Tejuechſen, die er im 
Walde jagte, die Wahl wehe thue. 

Die wilden Eingeborenen in Brafilien eſſen gerne Rieſen— 
ſchlangen und die Auftralier fogar Giftichlangen, Schwarzottern, 
welchen fie den Kopf abgehauen haben. Wyder in Lanfanne, ein 
wahrer Schlangenvater, im deſſen Zimmern die Nattern dutzend— 
weiſe herumkrochen, hat mir einmal vor Beiten eine vortreffliche 
Suppe vorgefegt, deren Fleiichbrühe aus Vipern gelocht fein follte, 
Er ſagte dies erſt nachher. Ach weiß nicht, ob es wahr war, 
oder ob er mich nur foppen wollte. 


Der Briefträger in der Dichtung. 


| dem Lande und in den Heinen Städten oft genug der Vertraute der 
; Liebenden, der ihre Freude theilt, wenn er die Botjchaft des fernen 


er Poſtillon und fein fernhin tönendes Horn find in zahl- 
loſen Dichtungen gepriefen worden, und die gefeiertſten Lieb: 
linge der Mufen haben es nicht verichmäht, beide zum Gegenjtande 
ftimmungsvoller Verfe zu maden. Ja, der „Uvvater der Har— 
monic”, der große Meifter Johann Sebaftian Bad, Hat das 


Signal des Pofthornes fogar für die Muſil verwerthet, indem er 


die großartige Rojthornfuge, Fuga all’ imitazione di Posta, ſchuf. 
Aber auch der Meberbringer der Briefe — der Schiffe des Ge— 
danlens auf dem Ozeane der Entfernungen, wie Stephan fie 
geiftreich bezeichnet — ift von unjeren deuffchen Sängern ge: 
bührend gewürdigt worden. Bejonders waren es feine Unermüd: 


lichkeit, jein Pilichteifer, feine unwandelbare Treue in der Aus: | 
übung feines mühevollen Berufes, die nicht jelten zum VBorwurfe | 


für Dichtungen gewählt worden find. Und ift dies nicht wirllich 
ein Vorwurf, der ſich vor vielen anderen zu dichterifcher Be— 
handlung eignet? Wer jemals die fühen Empfindungen erwiderter 
Liebe im Herzen getragen hat, der weiß cd, mit welcher Sehn: 


| 


fucht der Bote Stephans oft erwartet wird. Iſt er doch auf | 


Geliebten überbringt. Und wer die Seligfeit des alten Mütterleins 
geiehen und mitempfunden hat, welcher der moderne Merkur die 
Grüße des in fremden Landen weilenden Sohnes bringt, der wird 
nicht Sagen dürfen, daß der Beruf des Poſtboten des Hauches der 
VPoeſie entbehrt. Seht ihn euch an, den waderen Landbriefträger, 
wie er in Hihze und Kälte, in Sturm und Megen, in Schnee und 
Eis munter und unverdroſſen dahinwandert und, wenn er an 
feinem Bejtimmungsorte angelangt ift, für jeden ein freundliches 
Wort hat und von jedem als willlommener Saft froh begrüßt wird! 

Es fei uns geftattet, in möglichiter Kürze dafür den Nachweis 
zu führen, daß der Boftbote zu Fuß, diefer würdige Vertreter 
des vaterländiichen pflichttreuen Beamtenthums, von den Sängern 
des deutſchen Dichterwaldes ebenfo gut verherrlicht worden ift 
wie der Hoch zu Roſſe dahertrabende oder ftolz zu Wagen einher: 
fahrende Voftillon, mit welchem fich der Artikel in Nr. 24, Jahrg. 
1885 der „Bartenlaube” jo warm beichäftigt. 


oe 69 >» 


Die erite poetiſche Schilderung von dem Leben und Treiben 
bes Poſtfußboten, die mir bei meiner flüchtigen Nachforſchung 
aufftößt, ift ein Nürnberger Fliegendes Blatt aus dem 16. Kahr: 
hundert, das gleich mit den Worten beginnt: 

Ich bin die Poft zu Fuß ...“ 

Diefes von einem Bilde, das den Poftboten mit feinem 
Stabe und feinem Hunde zeigt, begleitete Gedicht ift betitelt „Der 
Neue Allamodiihe Poftpot” und zeigt ums den Vermittler des 
brieflichen Verkehres dichterifch behandelt, wenn auch von einer 
nicht gerade ſehr rühmenswerthen Seite. Der Merkur des | 
16. Jahrhunderts denkt nicht viel an fein Ant und feine Pflicht, | 
fondern bringt alles, was ihm anf jeinem Wege aufjtößt, mit 
finnlichen Genüfen in Verbindung. Er fagt von ſich jelbft: 

Jeh bin die Voſt zu Fuß. Ich trage dieß und baf; 
Bend an den fühlen ein, jo bald ich werde naß. 
Ger id) durch einen Thal und höre Vögel fingen, 

Sp dend ich zu dem Tiſch, da die Schalmenyen Hingen. 
Ach gehe durch den Wald und mancher Dörner Strauf 
Und tranre, daß noch weit ift zu deß Wirthes hauß.“ 

Wie anziehend iſt dagegen das Bild, welches ung Frik 
Reuter von dem Poftboten des 19. Jahrhunderts in feinem 
prächtigen, tiefempfundenen Gedichte „Großmutting, hei is dod!“ | 
entwirft. Der Briefträger von Heutzutage denkt nicht zuerjt an | 
den gebeten Tiſch, wo die Schalmeien Mingen, oder an den 
„tühlen Wein", fondern vor allem an feine Pflicht, und das Ver- 
guügen, den Leuten „unverichnauft zwölf Dutzent Zügen“ zu jagen, 
wie es weiter im der angeführten Dichtung heißt, würde ihm der 
Generalgewaltige des Pojtwelens gar bald verwehren. Ach kenne 
feine fhönere Schilderung von der Unermüblichkeit, von der Pflicht 
treue und der Gewiſſenhaftigkeit des deutfchen Postboten, als die 
Berfe des medlenburgiichen Humoriſten, welche diefen Beamten 
geradeswegs als den Sendling des Schidjals felbit baritellen. 
Doch der Leſer höre und urtheile felber: 

„As dat Scidjal ur Nacht, Jo kümmt hei heran, as dat Schichſſal ut 
büftere irn, 


N 
Aewer Feller un Haiden, ümmer tau, ümmer tau; em lücht fein Man! | 











un fein Stirn. 
Dor is von Wannern? in Luft feine Red’, dor is de Befehl, dat hei | 


möt, 

So girn hei of woll mit fin Fru un fin Aind an den Mben?, den 
warmen, mal jet. 

Dat helpt em nich: hei möt um Hei möt, ümmer tau dörch Storm um 


dörch Regen; 

Hei is de Bad’* ut de büftere Nacht, hei fümmt von Scyidfals 
were; 

In de ledderne Taſch, dor dröggt hei de Fund, dor dröggt hei Freuden 
und Leiden, 

Dor dröggt hei Geburt, dor dröggt hei dat Braww um de letzten Grüf; 
von de beiden, 

Dei drängt fi heran an de Hütt un dat Stoß, fin Schälligfeit is ahn 
Erbarmen; 

Wat dat lacht oder weint, em is * egal Hoppt an bi Riklen un 

kınen. 

Berfolgen wir unfere Spur weiter, fo ftoßen wir auf ein | 
hübfches Gedicht von H. Döring mit dem Titel „Der Vriefträger”, 
das mit den Worten beginnt: 

„Ein jeder Stand hat jeinen ag 
Ein jeder Stand hat jeine Laſt! 

Mid; ftellt der alte Spruch zufrieden, 
Der völlig auf mein Aemtchen paßt.” 

In diefem Gedichte finden wir cine treffende Schilderung 
von dem Leben und Treiben unseres Pojtboten, wie e8 fein Los | 
üft, ftet® im Freien zu Haufen, wie er durch Schnee und Regen 
und heiße Sommersgluthen dahin eilen muß, wohin ihm feine 
Bejtellungen führen, wo unruhige Erwartung feiner harrt und 
ungeduldige Herzen feiner Ankunft entgegen schlagen, 

Aber er ijt ſich aud bewußt, daß er überall ein will- 
fommener Gaſt iſt; denn i 

„Es ſpäh'n mach mir viel Augenfterne, 
Die Hoffnung wächſt, die Furcht entweicht, 
Kenn aus dem Fenſter in der Ferne 
Mein Gelb und Roth dem Blick fid, zeigt.“ 

Er freut fid) darüber, daß er mit feiner Botſchaft das 
Dunlel über taufend Dinge zu lichten, der Trennung Schmerz zu 
mildern im Stande ift und da er, mit Gold in der Hand, dem 
Uebel des Trübfinns raſch ein Gegengift zu bieten weiß. Aber 
Eines will ihm nicht behagen, es betrübt ihn, 


ron, 2 Wandern, ° Ofen. + Bote, 








„Daß oft der Freund aus meinen Händen 
Des Freundes Todeslos empfängt.” 


Dann zögert fein Fuß, ſtarr blidt das Auge auf das ſchwarze 
Siegel, das er zitternd in der Hand Hält, und er betet zu dem 
Herrn der Heerfcharen: 

„Laß mich, o Gott, doch ja recht jelten 
Ein foldjer Trauerbote fein.” 

Ein anderes Gedicht von Nikolaus Beder zeigt uns den 
treuen Boten als Opfer feines mühevollen Berufes. Fröhliche 
Landbewohner fehren von der Kirchweihe zurüud und finden ihn 
in einer Scneewehe, vom Todesichlummer umfangen. Um bie 
Schultern hängt feine Ledertaſche und nicht weit von ihm licgt 
fein treuer Begleiter, der Knotenſtock, der ihn flüßte, wenn ex 


‚ ermübet von des Tages Lat und Hibe den Heimweg antrat. 
' Sein Dienft ijt aus; er wird feinen Heren nicht mehr begleiten. 


Die Tajche iſt Teer; denn die Botichaften, welche ihr Träger zu 
überbringen hatte, find wohl bejtellt. Nur einen Brief nod Hält 
die ſtarre Hand feſt an das jtille Herz gepreßt; es ift der Brief, 
den die Liebjte am ihn felber geichrieben hat. Zwar find die 
Worte ſehlerhaft geichrieben und die Schriftzüge find fteif und 
ungefchidt, aber die Licbe fpricht aus ihnen und die Treue, die 
über das Grab hinaus feiner wehmuthsvoll gedenken wird. Sie 
haben ihn geteöjtet, diefe liebevollen Worte, und haben stillen 
Frieden über ihn gebracht, dab er daliegt wie in erquidenden 
Schlummer verjunfen. Have pia anima! Er wird hienieden 
nimmermehr ertvachen. 

„Brabt ihm ein Grab, daß, wenn vom Hausgeſinde, 

Vom Küchenherde fie veritohlen ſchleicht, 


Zur Stunde, wo des Tages Strahl veröleicht, 
Die Stätte fie für ihre Thränen finde, 


Grabt ihm ein Grab! Sein Recht begehrt ber Todte; 
Die froimmte Pflicht, fo ihe an ihm netban, 
Er nimmt jie mit auf feiner neuen Bahn 
Zum Himmel auf, ein Leicht beihwingter Bote.“ 
Ich Habe dem Ernfte des Lebens fein Recht gegeben, und 
der geneigte Lefer wird mir erlauben, daß ich zum Schluſſe 


| den Humor das Wort ergreifen laſſe, der in der poftalifchen 


Poeſie ein germ gejchener und ftändiger Gaſt ift und auch den 
beicheidenen Poſtboten nicht unberüdfichtigt gelafien hat. Da ift 
die Geſchichte von dem „oll Boftmeiiter Möller“ und feinem Boftboten 
Johann, die uns Fritz Reuter in faunigen Berjen erzählt. Auf 
die Frage des Woftmeifters, ob Johann unter den ihm zur 
Beforgung übergebenen Briefen audy den abgeliefert habe, „de an 
Den Johann Kriſchan Engel wir, 
De bi den Snider! Blod 2 in de Lihr?”, 

antwortet der biedere Merkur auf gut mecklenburgiſch: 

„a Herr. Doch mit den ollen Breiw? 

Dor gung mi dat tauirſt* ganz eflich ſcheiwb; 

De Sal, de was ſihr bifterig®. 

Denn in de Yaagerjtrat, dor wahnt hei nich, 

Un wahnt en Enn'lang wider an deu Strand; 

Un —— nich rechtſch — ne! linter Hand; 

Un wahnt of nic, int drüdde Stod, — 

Ne! hei wahnt unnen in en Keller! 

Sin Meifter is nih Suider Blod, — 

Sin Meifter, de heit Suider Teller; 

Hei fülwit?, hei heit® nich Kriſchan Engel, — 

Ne, bei heit Ann'merilen“ Dürten '? Hit, 

Un't is of feinen Enider-Bengel — 

Me, Herr, 'ne olle Waſchfru i8't.” 

Da haben wir zugleich ein Beiipiel bon der berühmten 
Findigkeit der deutichen Poſt. 

Und hiermit ſchließe ich meine anſpruchsloſe Daritelluna 
in der Ueberzeugung, den Beweis geliefert zu Haben, baf: der 
deutiche Poftbote zu Fuße wicht nur ber dichteriſchen Ber: 
herelichung durchaus würdig ijt, fondern auch, daß er feine 
Sänger gefunden hat, die ihn feinem begünjtigteren Berufs: 
genoffen, dem Pojtillon, ebenbürtig an die Seite geftellt haben. 
Das, was id) in der vorstehenden Skizze zur Erbringung des Bes 
weiſes mitgeteilt habe, iſt gewiß nur ein geringer Bruchtheil von 
dem, was zur Berherilihung und zur Idealiſirung jenes be: 
ſcheidenen Staatsdieners in gebundener Rede geiagt worden iſt — 

Wer ſuchen will in wilden Tann, 
Man ſchönes Stüd noch finden kann. 
BR Richard Weſtphal. 

! Schneider. *? Lehre, * Brief. # auerit. ® fchief, ® verworren. 
? ſelbſt. * heit. ? Unnemarie. 9 Dorothea. 


— 0 


700 > 


freund Box 
Schilderung von Dr. Karl Auf. Mit Flluftration von €. Gerber. 


a sich” ihn dir un 

an, lieber Yeier, 
den Bor, welden id) 
im Nachſtehenden als 
ein Wunderihier dir 
vorführen will. Du 
ſchüttelſt beventlich den 
Kopf und meinst, es 
jei ein Hund wie alle 
anderen, ja, dein Nach 
bar ſtößt dich mit dem 
Ellbogen am und flit- 
ſtert verſchmitzt: es iſt 
ein gemeiner Koter von 
undentlicher Ablunft. 
Aber obwohl der Bor 
es allerdings niemals 
zu einer noldenen oder 
ſilbernen Medaille oder 
auch mr zu einem 
Ehrendiplom gebrocht 
und überhaupt mod) 
feine Oundenusftellung 
mit jeiner Anmwejeitheit 
geſchmückt bat, darf 

ich #8 trobdem unter⸗ 
nehmen, dein Intereſſe für ihn zu erwecken, umd id) bitte dich, mir von 
vornherein zu glauben, daß er fich desſelben würdig zeigen wird. 

Seitdem wir — gleiherweile jeder gebildete Yaie wie der Gelehrte — 
uns nicht mehr darauf beichränfen, bloß den Nörperban und die Lebensweile, 
Ernährung, Fortpflanzung u. dergl. der Thiere ausichliehlich zu ergründen, 
fondern es als intereflant genug und wichtig erachten, unſere Aufmert: 
famfeit auch den Regungen ihres Seelenlebens zujumenden und die Thier- 
welt in dieſem Sinne gleiherweife zum Studium zu machen, zeigen uns 
die Thiere im unferer unmittelbaren Umgebung eine Mannigfaltigfeit von 
Erſcheinungen, die und mit Staunen und Bewunderung erfüllen, uns 
aber auch gar viele nod) ungelöjte Räthſel entgegenitellen. 

Rüge aus dem Serlenleben der Thiere — das ift nun ein Stichwort 
geworben, weldes einen ungemein feflelnden Reiz für zahlreiche Leute 
hat. In der That gint es ſich auch als eine unerjhöpfliche Quelle für 
geitige Anregung, Streben nad) Belehrung amd damit zu wiſſenſchaft⸗ 
lichem Forſchen; aber es birgt auch geradezu ſeltſame Gefahren. Als ich 
vor einigen Jahren von der Redaktion der „Sarienlanbe” eine_große 
Anzahl von Juſchriften zur Begutachtung und zum kritiſchen Sichten 
empfing, mußte ich mit Bedauern mich davon überzeugen, daß, troß zahl- 
reicher überaus intereflanter Züge von geiftiger Regſamleit der Thieve, 
doc zur Veröffentlichung nur ungemein wenig brauchbar erſchien. Man 
täufcht ſich je jo gern jelber und hält unendlich zäbe feit am lieben er» 
thum. Gintach ſachgemäße Auffafiung und maturtrene Beobachtung iſt 
bei weitem ſchwieriger, als man gewöhnlid anzunehmen pflegt, und am 
alferjeltenften dort zu finden, wo mod) dazu das volle Verſtänduiß für 
das Weſen des Thieres fehlt. Während auf der einen Seite die Yeicht- 
und Gerngläubigleit das Gewinnen ſtichhaltiger Beobachtungen nur zu 
ihwierig macht, fomımt auf der andern die rüdbaltloie Abweiſung alles 
defien, was nicht von vornherein in den Nahmen des Alltäglichen, Er— 





gehen nefagt wird, dab cine Antwort mörhig ift, fo wartet er nedıldig, 
bid man ihm diefe mitgiebt, während er ſonſt jogleich wieder fortläujt; 
jelbft Geld muß er in diefer Weile zumeilen bringen. Er bält ſich dabei 
unterwegs gar nicht auf, läht dann alle andern Kunde außer Adı, 
während er fich doch jonft gern mit folden tummelt. Wenn er feinen 
Auftrag bekommen, fo treibt er fid and wohl längere Zeit auf der 
Straße umher, und da bleiben Raufereien mit feinesgleichen natürlich 
nicht aus, und Maullorb, Halsband und Marle gehen bei demielben nut 
u oft verloren. In feinen zehn Jahren iit er bereits fünfmal vom 
Scharfrichterlnecht eingefangen und der Maullorb hat Schon einige zwanzig 
Mal erfegt werden mühlen; Bor ift alfo auch in diefem Sinne ein theurer 
Hund geworden. 

Eine feltiame Alugbeit änßert er in jenem Verſtändniß fir den 
Sonntag. Während er allmorgendlic pünktlich um "/,7 Ubr an die Thür 
des Schlafgimmers fommt und fi durch Schnüfleln — kraben darf er 
nicht ⸗ bemerlbar macht, gleidylam um zu weden, verhält er jich am 
Sonntag, wohl infolge der Stille, ganz ruhig und wartet geduldig, bie 
allmählich alle Hausgenofien munter werden. Im Verlanf des ganzen 
Sonntags pflegt er meiſtens gar nicht zu freſſen, wahrſcheinlich weil er 
befürchten, daß, während er damit beihäftigt ift, die Familie ausgeht 
und er jo um jein größtes Bergnügen fommt. Genau weiß er, daß am 
Sonntag das Geichäft geſchloſſen ift, denn wenn es verſucht wird, ih an 
diefem Zage dorthin zu ſchicken, ſo verweigert er den Gehorjan, was 
ſonſt niemals geſchieht. Dagegen fommt es wohl vor, daß, wenn 
die anderen zu Danje bleiben, er hinunter läuft, wm auf der Straße 
* Geſchäftsſührer zu erwarten und dieſen auf einem Ausgange zu 
egleiten. 

Spät des Abends, beim Schlafengehen, wenn jeder jich zur Ruhe 
begiebt, thut dies auch der Bor, aber in der Weile, daß er feine Dede 
von ihrem bejtinmten Pla hervorholt und mit derfelben wartet, bis 
jemand kommt. Dann legt ex fich behanlic anf feinem Strohfad zurech 
und wird zugededt. 

Für Yob und Tadel it er ungemein empfänglih. Bei jeder 
Dienktleiftung, die er verrichtet, erwartet er, daB ijm gedankt und 
er gelobt werde. Wenn man dies aber vergißt, jo fommt es vor, 
daß er bei der nächiten Gelegenheit die betreſſende Dienftleiftung till 
—— verweigert, das heißt alſo ein Baar Hausſchuhe wicht —* 
trägt u. |. io 

Als gejitteter, gleichſam gebildeter Hund hat er für eine gewiſſe 
Feinſchutederei ausgeprägten Hang und nachweislich das vollite Wer- 
ſandnih. So darf ihm nur gejagt werben: Bor, heute giebt es 
Dalenbraten, und es ift ſpaßhaft anzuſehen, wie er ım Vorgefühl des 
Genuſſes, ſchnuppernd und jich die Naje beledend, ſchwelgt — einem 
Feinſchmecker unter den Menjchen ähnlich. Rohes Fleiſch am ich frißt er 
gar nicht, wohl aber mern es geichabt und mit Pieter und Salz zu— 
bereitet worden. Im übrigen ift er, obwohl ftets mäßig und niemals 
nleih anderen Dunden gefräßig, doch fein Koftverädhter, denn er frißt 
von allen, was ihm vorgelegt wird, mit einzelnen Ausnahmen; feltfamer- 
weife verfchmäht er durdaus Hühnerfleiſch, während er u. und 
jedes andere, gekocht und gebraten, gern annimmt. Ledereien, gleichviel 
welche, fo Zuder, Kuchen ı. a, läßt ee unberührt, dagegen hat Pfeiler: 
fuchen einen befonderen Reiz fiir ihn. 

Zu feinen Piebhabereien gehört das Fahren auf der Eijenbahn. 


\ Wenn die familie bei einem Spaziergang, namentlich Sonntags, in die 


Närlihen gehört, faum minder jchroff zur Geltung. Daher it's denn | 


auch gar ſchwer, Züge aus dem Seelenleben der Thiere nicht bloß wahr- 
heitsgetreu zu erzählen, fondern auch und noch viel mehr, fie den Leſern 
glaubhait in zu laffen, Dennoch joll mich nichts davon abichreden, 
ein reichbegabtes Thier, hier den genannten Hund, nach dem wirklichen 
Leben zu ſchilderu. 

An jedem Morgen beim Aufräumen nimmt der Bor, ohne eine Auf- 
forderung abzuwarten, die verſchiedenen Heinen Teppiche, einen nad dem 
andern, ın den Stuben auf und trägt fie zur Reinigung nadı der Küche 
hinaus, ebenſo holt er auf Geheiß die rg 
Staub- und Teppichbejen, Staubtuch u. a. herbei, © dieſe Gegen⸗ 
ſtände, welche er genau lenut und nie mit einander verwechſelt, weiß 
er ſich von ihren Plägen, an denen ſie liegen oder hängen, unfehlbar 
zu verſchaffen, im Nothfall in der Weile, daß er durch Dinaufipringen 
an ber Wand jie hinabmwirst. 

Sobald jemand von den Hausgenoſſen von einem Ausgange zurück— 
kehrt, bringt Vor ganz vom jelber die Hausschuhe, und niemals wird er 
die der einzelnen Familienangehörigen verwechſeln, jondern er fennt das, 
was jedem perjönlich gehört, genan. 

Des Abends zur beitimmten Stunde, um halb adıt Uhr, ipringt er 
plöglih von feinem Ruhelager auf, läuft nach der Küche, belt das 
Mädchen an, damit fie von der Hausfrau ſich Weiſungen zum Einbolen 
fürs Abendbrot erbitte, weil er nämlich weiß, daß er dann mit hinaus 
auf die Strahe gelangen lann. 

Dit wird er zur Beforgung don Aufträgen hingusgeſchickt, fo z. B. 
von der 2 aus nach dem mindeſtens eine Viertelſtunde entfernt 
gelegenen Geſchäft. Dann erhält er aber nicht, wie man #8 bei anderen 
Hunden zu thum pflegt, einen Korb ind Maul, fondern ein Zettel oder 

rief wird ihm am Halsband befeftigt, damit er ſich gegen etwaige Wider 
facher und Störenfriede unterwegs wehren fanı. Wenn ihm beim Fort 


Nähe eines Bahnhoſs gelangt, fo läuft er voller Freuden voran, die 
Bortreppe hinauf, sum ſchwanzwedelnd zur Fahrt einzuladen. Aber auch 
eine foldye in der Drofchte macht ihm Vergnügen; nicht ſelten ift es vor- 
gelommen, dab er anf der Heimkehr von einem ermüdenden Spaziergange, 
auf dem er jich tüchtig umhergetummelt, in eine entgenenfahrende Drojchte 
geſprungen ift, in der Meinung, jegt fei es doch viel beſſer, nach Haufe zu 
fahren, als mühfelig zu geben. Anjtatt hinter der Pferdebahn gleich 
anderen Hunden herzulaufen, ſchlüpft er, wenn's irgend möglich, ift, hinein 
und verbirgt fich it und regungslos unter dem Siß. 

Ein fchöner, faft rührender Zug offenbart fich in feinem Schuldbewußt⸗ 
fein. Hat er etwas Uebles begangen, fo fommt er unter den demüthigiten 
Gebärden, ſchwanzwedelnd und mit förmlich jlehendem Blid zu feiner Derrin, 
und wird er von diejer abgewieſen, fo geht er von einem ber Hausgenoſſen 
zum andern, ja jelbit zu zufällig auweſenden fremden Verſonen, Iedı 
ihnen die Hände und bitter und bettelt jo ausdrucksvoll, daß jeder es 
veriteht, er Den Ausipruch: „Der Bor joll abgeihafft werben“, 
fennt er nach jeinem Inhalt genau und ruht dann nicht cher, alö bis er 
endlich die Worte hört: „Na, denn wollen wir nur wieder gut fein“, 

Billigerweiie fragen die Leſer mum wohl, wie die Herrin des Bor 
den Hund fo abgerichtet oder, wie man zu Jagen pflegt, dreifirt habe — 
und ſeltjam wird ihnen die Antwort dünfen, er jet gar nicht abaerichtet. 
Ein kluges Thier, wie diejer Hund, lernt im fortwährenden Umgang mit 
gejitteten Menſchen nicht bloß alle Gewohnheiten derielben, ihre Lebens 
weile und alles, was zum tänlichen Leben gehört, ganz von felber kennen, 
jondern er entwidelt auch in jo hohem Maß rin eingehendes Berjtändnii; 
für Handlungen und Bortomnmilie, dab daslelbe dem Uneingeweihten 
geradezu wunderbar erſcheinen fann, während es doch thatlächlich nur 
ganz natürlich iſt. Freilich iſt zuzugeben, daß unjer Freund Bor 
intmerbin eine Ausnahme bildet und es micht Leicht iſt, Teden Hund, 
und jei derfelbe auch reich begabt, auf eine ſolche hohe Stufe der 
Klugheit zu bringen, 





o 


71 » 


Der Tehrer als Wächter der Gefundbeit. 


Bon Dr. med. Jaube 


IL 


Schule, jo ift ſelbſt bei der beiten Ventilation eine Luft: 
verichlechterung feitzuftellen, es beweiſt dieies der einfachite Lufts 
prüfer, unjer Geruchsorgan. Hierdurch wird aber zugleich der , 
Beweis geliefert, dab «8 nicht die Kohlenſaureanhäufung allein 
it, welche die Luft verdirbt — diefelbe ijt ein geruchlofes Gas —, 
jondern daß zugleich mit der Athmung und Verdunftung in die Luft 
aufgenommene Stoffe es fein müſſen, durch welche dev Gerud der 
verdorbenen Luft verurſacht wird, die auf das Allgemeinbefinden 
einen jo Gfel erregenden Einfluß hevvorbringt. Neuere Unter: 
ſuchungen zeigen, daß die in folder Luft enthaltenen Subjtanzen 
in fonzentrirter Form dargeſtellt in die Reihe der Leichengifte zu 
jtellen jind, alſo zu den ſtärkſten Giften gehören. 

Da mit der Zunahme diefer Stoffe durchſchnittlich gleichzeitig 
eine Vermehrung der Kohlenfäure verbunden iſt, fo wird die 
Menge der Kohlenſäure beftimmt, um den Grab der Luftver- 
ichlechterung zu finden. Die reine Außenluft enthält ungefähr 
0,03 Theile Kohlenſäure, aljo eine ſehr geringe Menge, in 
100 Theilen Luft und gegen 30 Theile Sauerſtoff; den Stid: 
ſtoff brauchen wir nicht in Berückſichtigung zu ziehen. In dieſe 
reine Luft giebt das ſtark Fohlenjäurebaltige Blut in den Lungen | 
feicht feine Kohlenſäure ab, fo daß die ausgeathmete Luft über 
100 Mal fo viel Kohlenſäure, 5, enthält. Es werden ungefähr | 
in der Stunde 33 Gramm Kohlenjäure ausgeathmet, bei 50 Kindern 
1650 Gramm in der Stunde. Dieſe Menge erklärt ſich durch den | 
ganz außerordentlichen Flächenraum der Lungen. Denkt man ſich 
nämlich die Meinen Lungenbläschen auseinandergezogen auf eine 
Fläche gelegt, To würden diejelben ungefähr 2000 Quadratfuh aus: 
füllen. Kinder athmen 
zwar abjolut etwas we⸗ 
niger Kohlenſaure aus, 
aber auf ihr Körper: 
gewicht berechnet die 
doppelte Menge wie 
cin Erwachſener, bier: 
durch entjtcht eine fait 
gleiche Zahlengröße. Die 
Wärme der Ausath— 
mungsfuit ift von der 
eingenthmeten ziemlich 
unabhängig; nur bei 
hoben Nältegraden der 
Außenluft finft auch die 
Temperatur der aus» 
geathmeten Luft, ſonſt 
wird fie in den Lungen 
jajt bis zur Höhe der 
Körpertemperatue er: 
wärmt. Ferner wird die 
Luft in den Lungen noch 
vollſtandig mit Wafler 
gefättigt, es verliert ein 
normaler Menſch gegen 
500 Gramm Waſſer tag⸗ 
lich durch die Athmung. 
Je mehr Kohlenſäure 
ſich in der Außenluft 
anhäuft, deſto ſchwerer 
löſt ſich die Kohlenſaure 
des Blutes, jo daß zu 
fett, jelbft wenn in der 
Luft mod genügender 
Sauerſtoff vorhanden it, 


B* wir das Schulzimmer am Beginne und Ende ber | 













feider wicht immer vorhanden. Während die Zimmerluft 1 Theil 
Kohlenjäure höchſtens in 1000 Theilen Luft enthalten foll, fteigert 
ſich diejer Kohfenfäuregehalt in ſchlecht gelüfteten Schulräumen bis 
über 10 Theile. Das Schulzimmer mühte daher eigentlich jo 
groß jein, daß es den für jeden Schüler nothiwendigen Luftraum 
für die Yeit des Unterrichts enthielte; es würden dann aber 
Zimmergrößen entjtehen, welche den Unterricht unmöglich machten; 
die Lufterneuerung, Zuführung von reiner fohlenfänrearmer 
Luft und Entweichung der verdorbenen Luft muß daher als Erſatz 
eintreten. Während ſonſt 60 Kubikmeler friſche Luft für Stunde 
und Kopf zugeführt werden follen, genügen für Schulzwede 15 bis 
20 Kubikmeter, da die Schulen nur zeitweile benugt werden; 


‚4 bis 5 Rubifmeter Zimmerraum muß dann für das Kind vor- 


handen fein. Die Lüftung erfolgt als natürliche Ventilation durch 
die Poren der Wände, Undichtigkeiten neben Thüren und Fenſtern ec., 


\ ferner durch die Definung dee Thüren und Fenſter, im Winter 


durch die Fünftliche mit der Heizung verbundene Luflzufuhr. 
Es fommen in der Schule zwei Heizigfteme zur Anwendung, 
die lofale und Centralheizung. Der Kachelofen unferer Jugend: 
zeit iſt alüdklichertweife nur in Ausnahmefällen noch vorhanden 
und duch den bedeutend zwedmäßigeren Mantelofen verdrängt 
worden. Es jind diefes Füllöfen zumeist mit eulindriichen durch 
den Rauch miterwärmten Nebenröhren; den fen umgiebt ein 
eiſerner Mantel, fo daß zwiſchen Mantel und Ofen ein Hohl 
raum vorhanden ift. Die Luft in diefem Zwiſchenraume kommt 
aus dem Freien durch einen Kanal herein, wird zwiſchen Ofen 
und Mantel erwärmt und geht oben am Dfen durch cine 
Deifuung, als reine erwärmte Luft in die Klaſſe. Es lann hier wie 
beiden Eentralheizungen 
nur das Grundprinzip 
Erwähnung finden, da 
die mannigfachiten Ber: 
änderungen vorhanden 
find, welche bei einer 
nur einmaligen genauen 
Befichtigungflarzu Tage 
treten. In der Reuzeit 
haben auch in den Klaſ⸗ 
fenzimmern mandmal 
SHasöfen Eingang gefun⸗ 
den; der Yehrer verbiete 
den Kindern aber aufs 
ſtrengſte, ſich irgendwie 
mit denſelben zu bejchäf 
tigen, weil durch nicht 
jachgemähe Behandlung 
derſelben leicht üble Fol- 

gen entjtchen fünnen. 
Bei der Gentralhei 
zung in der Schule kom⸗ 
men mehrere Arten jett 
in Betracht. Die Luft: 
heizung führt die in einer 
Heizfammer erwärmte 
Luft durch eine oder 
mehrere Wandöffnungen 
direft in das Klaſſen— 
zimmer. Beider Dampf- 
und Heißwaſſerheizung 
befinden ſich dagegen die 
Nöhrenfpiteme in dem 
Zimmer felbjt. Sie jind 
zumeijt an der Innen— 


Rohlenfäurerädfall im Ih mei den Plah, da Acht ein Hans Häcdhe der Fenſterwand 
Blute, aljo Erſtidung — ee ee ae za angebradhtund enthalten 
eintreten muß. Der Mond der ſchaut hinel je nach der Heizung 

Fortdauernd reine Luft Msı age, wewr Diee Auge fäjeint, | ms Fenfter raakt rin Golenſt Dampf oder erwärmies 
iſt eine Grundbedingung —— * * a - er dringt 2 Qası Waſſer. Mit der Dampf 
für den Schüler, aber Der dat Die Won Aus jenem Paradies, Klaus Groth. und Waſſerheizung it die 





1885 


50 


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D * J —* 


702 


Ventilation häufig verbunden; die in einer Heizlammer erwärmte 
Luft ſtromt außerhalb der Röhrenleitung in das Zimmer hinein. 

Wie ſoll nun die Ventilation wirten? Warme Luft it 
leichter als falte und ſteigt deshalb in die Höhe. Diele befannte 
Thatiache erleidet in dem Zimmer aber einige Menderung. Die 
durch Die Athmung erwärmte Luft ſteigt allerdings bis zur Dede 
des Zimmers, wird jedoch hier ebenſo wie an den Wänden etwas 
abgekühlt und finkt entlang der Wände und als breite Querzone 
ein Stüd herab, um ſich dann mit der übrinen Luft zu vermifchen. 
Wird nun Bentifationstuft zu warm vder zu hoch eingeführt, fo 
iſt zu fürchten, daß fie, ohne fich mit der durch die Kohlenſäure 
und den gejättigten Waſſergehalt ſchweren Ahmungsluft im ge 
nügender Weile zu vermijchen, twieder entweicht und der Schüler 
eine an Kohlenfäure zu reiche Luft zur Athmung erhält. 

Der vjt verminderte Waſſergehalt der durch die Yuftheizung 
zugeführten warmen Luft entitcht dadurch, daß diefelbe mehr 
Waſſer aufnehmen fann, ala fie kalt beſaß, und daher, wern ſie 
nicht bei der Erwärmung über große Waflerbeden streicht, einen 
teodenen Eindruck bervorbringt; eine direfte Nerminderung des 
Waſſergehaltes der Zimmerluft durch die Gentralheizung findet 
nicht ftatt. Die zu trodene Luft iſt ebenio nadhtbeilig für den 
Organismus wie eine zu naſſe. Im erjten Falle machen ſich 
Kopfichmerzen und Reizung des Aıhmungsapparates befonders be. 
merkbar, während durch die zu ftarfe Feuchtigkeit die Berdbunitung des 
Körpers gehindert wird, Bellommenheit und Mattigfeit entitcht. Die 
vefative Feuchtigkeit des Zimmers foll 50 bis 60 Prozent betragen, 
beträgt fie weniger, jo muß für die Aufftellung von Waſſerbeden 
im Zimmer gejorgt fein. Wir mejjen dabei nicht die Wafjermenge, 
welche die Luft wirklich enthält, fondern drücken in Brozenten aus, 
inwieweit fie noch nicht vollklommen mit Feuchtigkeit gefättigt iſt. 

Ueber Heizung und Wentilation feines Zimmers muß der 
Lehrer aufs genauejte unterrichtet jein, denn auf deren zweckmäßiger 
Einrichtung beruht hauptfählid das Wohlbefinden feiner Kinder. 
Ein Thermometer ift in dem Schulzimmer unentbehrlich. Dasselbe 
darf nicht befeftigt fein, weil die Temperaturmejiung während der 
Deizung an verſchiedenen Stellen und Höhen des Yimmers vor: 
zunehmen ift. 

Es ijt bei manchen Gentralheizungen leider der Fall geweſen, 


daß zwifchen den Luftichichten zu Köpfen und zu Füßen der Schüler | 
Wärmeunterichiede von über fünf Grad ftattgefunden haben. Das | 
Die 
nachſitzen zu laſſen; hier muß jedesmal eine genügende Lüftung 
vorausgehen. 


Klaſſenzimmer ſoll durchſchnitilich 16 Grad R. enthalten. 
größte Reinlichkeit der Heizanlagen iſt ein ſtrenges Erfordernifi, 
da Staub und Schmutz durch Berbrennung die Luft verunreinigen. 

Da die in der Nähe des Ofens und der Heizröhren figenden 
Schüler mehr Wärme als die entfernteren erhalten, jo kann der 
Lehrer dadurch viel verbeſſern, daß er biutarmen, für größere 
Wärme empfängliceren Kindern dieje Plätze anweiſt. 

Empfindet der Lehrer, daß ſchon nad) einigen Stunden eine 
ſehr bemerkbare Yuftverichlechterung eintritt, fo muß er um To: 
fortige Abhilfe bejorgt fein. Auch in den Heineren Schulen ber 
ichäftigt fich wohl jegt fait jeder Lehrer fo viel mit Phyſik und 
Chemie, daß er eine einfache Kohlenfäurebeftimmung vornehmen 


fann, und jollten ſowohl hierzu die nothwendigen Apparate als 


auch zur Feititellung des Waſſergehaltes der Luft (Molpertiches 


j 


Strohhyarometer) überall vorhanden fein. 

Aus unferer obigen Darjtellung ergiebt ſich von ſelbſt, dar 
die beſte Ventifation durch das geöffnete Fenſter geichieht. Durch 
die Deffnung nur einiger Fenſterſlügel und der Thür wird in der 
Zwiſchenſtunde die Kohlenſänreanhäufung innerhalb fünf Minuten 
auf die Norm zurückgebracht. Während der Stunde muß aber 
der Lehrer berüdfichtigen, daß auch bereits au nur einem geöffneten 
Fenster Zug ftattfindet: nach oben flieht die warme Luft ab, nadı 
unten tritt die fältere herein. Dieſen leichten Zug können empfind 
liche Naturen ſchon nicht vertragen; Erfaltung, ſelbſt Geſichts 
lähmung Schließen fih an. Während der Stunde ift daher ein 
von den Schülern entfernteres und womöglich oberes Fenſter zu 
öffnen. Am Schluß der Schule Soll aber eine ausreichende Fenſter 
füftung eintreten; doch wie wenig geichieht dies! ch befuchte 
abends cine größere Anzahl Schulen; bei GO Prozent war fein 
Fenſter geöffnet, bei 30 Brozent ein Meines Schiebieniter, bei 
10 Prozent ein Fenſterflügel, nirgends jtanden die ſämmtlichen 
Fenster offen! Auch bei Landſchulen beobachtete ich die gleichen 
Verhältniſſe. Selbſt im Sommer, während der Mittagszeit, fanden 
ſich die Fenſter meijtens gejchlofien. 

Un den Schulfenitern zeigt die moderne Schularchitellur 
die geringiten Fortichritte; ſämmiliche Fenſter, auch die oberen, 
mũſſen leicht zu öffnen und zu fchließen fein und Hafen zum 
Feſtſtellen überall das Dffenbfleiben ermöglichen. Vorrichtungen 
find zu treffen, daß auch in der Nacht die Fenſter offen zu 
halten jind und Regenwaſſer feinen Schaden jtiftet, da in den 
Sommermonaten nur hierdurch eine gründliche Lufternewerung 
möglich sit. 

Je größer die Luftdifferenz in Bezug auf Temperatur, Kohlen 
fänreanhäufung und andere Verunreinigungen it, deſto ſchneller 
erfolgt die Ausgleihung, wenn plötzlich gute Luft zugeführt wird. 
Sofort nach Schluß der Schule, im Sommer aud mittags, muß 
der Lehrer, nachdem die Kinder raſch das Zimmer verlaſſen haben. 
durch einige zurückgebliebene ſämmtliche Fenſier, womöglich auch 
Thür und Korridorfenſter, öffnen laſſen, wodurch binnen kürzeſter 
Zeit die volllommenſte Durchlüftung erfolgt; jelbſtverſtändlich aber 
darf er weder die Kinder, noch ſich der entſtehenden Zugluft aus 
fegen. Das Schließen abends hat der Schulwärter zu beforgen. 
Bollftändig verwerflich it es, Kinder in der verdorbenen Luft 


Das Gleiche gilt von den jet in der Entſtehung 
begriffenen, äußerſt wohlthätigen Initituien der Knabenhorte und 
von den Schulen, welde von Fortbildungsichitlen benußt werden. 

Huf die einfachſte Weile kann jo der Lehrer, beionders mit 
Beihilfe von mur einige Male vorgenommenen Thermometer 
mejjungen an verjchiedenen Theilen des Zimmers und Berechnung 
der Rärmenbnahme vor und nach der Deffnung von verfchiedenen 
Fenſtern in der Zwiſchenſtunde, eine Luft in feinem Klaſſenzimmer 
einführen, welche allen Anforderungen an die Geſundheit entipricht 
und ihm und feinen Schülern die geiftige Arbeit erleichtert. 


Blätter und Blüfben. 


Alarih in Mom. (Mir Nlluftration S. 680 und 68L) Der 
Schreden war in Nom! Es ftand — was Seit den Zeiten des furcht— 
baren Afrilaners Dammibal, jeit ſechshundert Jahren, nicht geichehen 
war — ein fremder und waffenmächtiger Feind, ein Barbarentieer, vor 
den Thoren der folgen Stadt, die noch immer und troß der Theilung 
des römiſchen Reiches in ſich die Macht des ganzen Erdfreiles umfahte. 

Marih! Ein Mann, der feit dreizehn Jahren ſchon vom morgen» 
ländiichen Ktonftantinopel bis nach Neialien mit ſich fteigernder Unruhe 
genannt wurde, der die beiden Kaiſer da und dort in Furcht, ihre Neichs 
miniſter und ihre Generale in Ungewißheit erhielt, ob er Freund oder 
Feind ſei — Mlarich, der junge König der Weſtgothen aus dem Herzogs 
geichlecht der Balten, lagerte vor Kom. Gin zweiter Alexander, war er 
gleich diejem aus dem Innern der Balfanhalbinfel mit jeinen friegsinitigen 
Scharen ehrgeizig ausgezogen, ſich ein Reich zu erobern, und gleich diefem, 
den die von ihm befienten Griechen zu ihrem Oberbefehlshaber auf jein 
Berlangen ernennen mußten, hatte er mit jeinem drohenden &othen- 
ſchwert dem griechiſchen Maifer Arcadius diejelbe Macht- und Ehren: 
ſtellung in Dftillyeien abgenöthigt. Nicht befriedigt damit, brach er 
nach Ftalien auf, kämpfte 403 mit den altberübmten römiſchen Legionen 
bei Pollentia und Verona und errang, wenngleich ec in beiden Schlaıten 
geichlagen wurde, doch eine Feldherruſtelle unter dem weſtlichen Imperator 
Honorius, welcher ihn fich dadurch zum Freunde zu gewinnen hoffte, 


In den friegeriichen Erwartmmgen, die er daran zu fnüpfen berechtigt 
war, jab er ſich nadı der ſchmählichen Ermordung Stilidhos, des bis 
dahin allmächtigen Meichsregenten, getäuſcht und zog nun an der Spite 
feiner gothiſchen, alaniſchen und hunniſchen Heerſcharen unaufgehalten 
bis Rom, um von dort jeine neuen Bedingungen vorzuſchreiben. Noch 
war er mir heiliger Scheu vor dem Unterfangen, die Majeſtät dieier 
Haiferftadt zu ermiedrigen, erfüllt, als er fid Kom näherte. Aber fchen 
die erjten Tage der Belagerung belehrten ihn, daß er es nicht mehr mit 
dem stolzen Mom zu thun habe, welches einjt Hannibal zu troßen vermochte, 

Langſt entarıer war das Geſchlecht, das fi von dem Kriegsruhm und 
den alerinen Eroberungen der Legionen gemäjtet, Verworfene Cäfaren 
wirthichaft hatte feit vier Jahrhunderten das Ihrige dazu beigetragen, 
das Bolt in Ueppigkeit und Schwelgerei zu entmannen, und ſchon nadı 
der erſten Belagerung und Einnahme Roms im Jahre 408 war Alaridı 
als König jeiner Gothen mitten in diefem faulen Reich der wahre Herr— 
ſcher, niemand Tonnte ihm mehren. Er hätte die Scattenherrichait 
mmitoßen und die jeinige daflir aufrichten Fünnen, aber er zanderte vor 
folder That, Zwar zog er im Jahre 409 abermals vor Nom, das er 
zwang, den Stadtpräfelten Attalus zum Kaiſer auszurnfen, der ihn dafür 
zum Generaliſſimus des Reichs ernannte. Die halbe Mafregel blich jedoch 
ohne Bedeutung. da er bald mit Attalus zerfiel, diefen enuhronte und 
nun im Jahre #10 ein drittes Mal vor Nom rüdte, um ihm dasjelbe Schickſal 


au bereiten, welches es in feiner Madıtfülle ſchönungslos über jo viele 
berühmte Städte bereits verhängt hatte. 

om zitterte bon neuem und ſah feinen Untergang voraus, als Alarich 
mut feinen Barbarenheeren, zu denen noch flüchtiges und radinieriges Sta 
venvolt zu Taufenden neftoßen war, die Hiejenitadt wieder umzingelt bielt. 
Schreden und Eutfepen berrichten überall, Die Chriſten, welche in ber 
leßten Zeit, wie im ganzen Reich, ſo auch in Mom, die unbedingte Ober 
hervichaft gewonnen hatten, flüdheten jich in die Kirchen und beteten; 
der troßige Meft der noch der altrömiichen Bielgötterei Unhängenden riet 
die gejtürgten Olympier an; die die Gottesgleichhent Jeſu verwerfenden 
Arianer, die feit einem halben Jahrhundert als Steger von der failer- 
licherſeits begünftigten römifch-Tarholiichen Kirche verdammt waren, brüteren 
Berrath an ihren Religionsfeinden und fetten fich heimlich mir Alarich 
in Berbindung, der mit den Seinigen dem ariamichen Chriſtenthum 
angehörte. 

Und nun fiel Rom, fo tief und Ichmählich, wie niemals Teit jenem Tage 

achthundert Jahre an den der Ballierfönig Brennus ihm fein furcht- 
bares vae vietis! (Wehe den Beitegien!) ins Geſicht neichleudert hatte, Ver⸗ 
wirft hatte es feine bisher unantaftbare Majeftät, verfallen war cs 
dent aufitrebenden, Ternhaften Barbarentbum, als deſſen bornehmiter 
Bertreter Marich erichien. Et⸗ 
mas wie eine höhere Mifjion 
erfüllte denfelben hierbei; ein 
dunkles Bewuhtlein feines 
Genius ging in ihm auf, ein 
Ulegander-Zraum umfing ihn- 
Er wollte das politifche, nicht 
aber das chriſtliche Mom ver- 
derben, Dem Gott feiner Heli 
gion zu Preis und Ehren zog 
er wie ein römischer Teium 
phator auf feurigem Schlacht⸗ 
roß, geichmildt mit goldener 
Ruitungunddiefunfelnde Krone 
auf dem noch in Jugendſülle 
itrahlenden Antliß, in die pracht- 
volle Stadt der in Schreden 
Gelähimten. Die AUngft, die Ver⸗ 
jweiflung, den Patriotichen 
Grimm, die bittere Roth, welche 
in taufend Weftalten auf den 
Straßen hodten und feinen Zug 
umgaben, beichwichtigte ex mit 
jeinem guädigen Wort und Zei⸗ 
chen. „Schonung allen, bie in 
den Kirchen find, das Leben 
allen, weiche zum Chriftengott 
beten,“ jo verfündigte er und 
die Geſchichte berichtet, wie er 
die Schäpe von Sanft Peter 
ter jeinen perfönliden Schuß 
nah, 
Bei der Plünderung der 
Stadt Rom, 410, fo erzählt 
Gregorobius in feiner Geſchichte 
der ewigen Stadt und jchildert 
damit genau die von unſeren 
Künſtler im Bilde mwiederge- 
ebene wirtungsvolle Scene, 
anden die Gothen foitbare 
Heiligthämer in der Hut einer 
chriſtlichen Nungfrau,. Darin 
den Kirdienihaß von Sant Peter crlennend, nab Marich den Be 
fehl, die Neliquien und ihre Hüterin nach dem Sanft Beter zu geleiten, 
Als dieſe feltfame Schar, -die von Edeliteinen funfelnden Weihneicente 
tragend, fortzog, verwandelte fie ſich alsbald in eine Proreifion. Fliehende 
Ehrijten, rauen, Hinder, reife, die ſich ſchußſuchend heraudrängten, die 
eben noch leidenschaftlich erregten gothiſchen Krieger, alle ſchloſſen ſich mır, 
und nadı der Kirche ziehend, durchbrachen jie das wüſte Gelärm der 
Plünderung durch bie feierlichen Tone eines Ommmms md boten ein 
Gemälde dar, welches die Kirchenwäter als einen Trinmphzug der chrift 
lichen Religion verhertlicht haben, 

Nah fechstägiger jurchtbarer Plünderung der Stadt bradı der 
Gothenkönig wieder auf und überließ Non feiner North und Schmach. 
Das beutebeladene Heer mit vielen vornehmen Gefangenen bededie in 
endlos langem bunten Zuge die appiſche Straße. Alarich zog nach 
Süden; er wollte nad Sieilien, unklar über das Yiel, welches er 
erjtreben jollte, verwirtten Sinnes über die Fülle feiner Macht, die er 
nicht zu jeftigen wußte. Das Glück tödter auf jeiwindelerregender Höhr 
u der man über Ruinen gejtiegen. Mexander erfuhr es mitten in feinen 
Entwürfen eines indischen Weltreichs in Seinem dreiunddresiiigiten Jahre; 
Alarich in demfelben Alter, trunken darüber, jedes Wlieb des ſtolzen 
Momerreichs gleichfam mit Füßen treten zu Fönnen, In Imeeritalien 
Melt der Tod ibn auf. Er ftarb, ehe cr das Endziel feines Lebens 
erlannt. Seine Gothen ficherten, der Sage nadı, auf ewig eine Schändung 
feiner Leiche durch die Römer, indem ſie diefelbe im Bette des Bnjento 
Hei Coſenza begruben und dann die Gefangenen tödteten, melde dieie 
Arbeit verrichten mußten, damit feiner von ihnen das rab Des 
Glorreichen verratben Fönne. 

Eine Schönheit von 1790. Mir Illuſtraien S, HY7., Das Bild 
von Robert Beyſchlag zeigt uns eine Barsierin in jener Epoche, im welder 
das ancien regime durch den Aufſtand des Wolfos geitürgt worden 
und die Lehren von der Freiheit und Sleichheit ſich der Gemüther be 





Pas Augufa- Hospital des „„Waterländifhen Frauenvereins" in Breslau, 


mächtigt hatten. Ein Umſturz dev Mode ging mit dem politischen Hand 
in Hand; an Stelle der Mofofolojtüme und der den Ton angebenden 
Hofmoden trat eine Frauenlleidung, melde ſich der Tradıt der Männer 
möglichit annäherte, Nahmen doch auch Frauen an der politischen Be 
wegung hervorragenden Antheil; wir eriunern nur an eine Manon Roland, 
eine Charlotte Cordan, eine Theroigne v. Wericourt, eine Rofa Lacombe 
und viele andere, welche jelbft in öffentlichen Berfauumlungen und als Volle 
rednerinnen auftraten. Darauf folgte die Zeit des Direlloriums mit ihrer 
griechiſchen Tracht und den jonderbaren Auswüchſen der Merveilleuſen. Da 
mals gab die Salondame der Revolution, Madame Thereje Tallien-Gabarrus, 
ben Ton an. Die Seltjamfeiten der Salons des Pireltorinms drangen 
jedod) nicht in die eigentlichen Boltsichichten ; dieje betwahrten den niännlichen 
Charalter der Tracht, die Frauen trugen eine dem Männerrod äfmlidhe 
Fade mir Anfichlägen und gingen nie ohne ihe Spazierftödchen aus.  F 

Das Augufla-Hospital des „Baterfändiiben Frauenvereins** 
in Breslau. In den neueſten Schöpfungen der gemeinnißigen Thätig- 
feit des meitverzweigten „Baterländiichen Frauenvereius“ achört das 
nebenitehend abgebildete — Dasſelbe ift am Lehmdamm in gothiſchem 
Stil im Rohbau von dem Architekten A. Gran erbaut nud enthält außer dem 
An! der Krantenpilegerinnen eine chirurgiſche Bolillinif, beides unter der 
bemwäbrten Leitung dei Dr, O. 
Kanide. Es ift in 7 Kraulen 
simmern Naum Für 14 Ktraule 
beiderlei Seichlechts. Sämu 
liche Raume find nach deu 
himieniichen Anforderungen der 
Neuzeit in Bezug auf Bau und 
Einrichtung hergeftellt, gut ven 
tiliet und ſtehen in beiden 
Geſchoſſen in Verbindung mit 
einer am der Sübjeite gelege 
nen Beranda, Auch das innere 
entipricht in feiner einfach ern 
ften gotbhiichen Erſche numg dent 
Aeußeren des Daufes, Das 
Sihunge zimmer, wo auf deu 
bemalten Wänden das bdeutiche 
Neichswapven und das jchleji 
ſche Wappen, von reichem Or 
nament umgeben, dargeſtellt 
find, erhält einen beſondern 
Schmid durch das Porträt der 
Katlerin-Winwe Auguſta. Auch 
an bequemer Einrichtung für 
das Dienſtperſonal fehlt es 
nicht; ein Aufzug vom unterſten 
bis zum —— erſpart 
den läjtinen Zransport bon 
Speifen und Wäihe Aber die 
Treppe; Talted und warmes 
Waſſer faun in allen Stod 
werten auf dem Flur entnom 
men werden; auch Fiir falte 
und warme Wannenbäder it 
in ausreichender Weiſe geſorgt. 
Die Oftfacade ziert eine Sand 
ſteinfigur unter reichen Bal 
dahin, die Charitas mir Dem 
rothen Kreuz in der erhobenen 
Nechten daritellend; den Giebel 
ein Wappen mit dent Nantens 
zug A, darüber die Sönserkrone 
in reicher Bergoldung. Von der oberiten Staffel leuchtet weitbin das auf 
reicher Schmiedeetierster Verzierung bejeftigte tothe Kreuz. 

Tas arofe Grundſtück gewährt in ſeinen durch dem Obergärtner 
I. Schübe hergeftellten Schönen Gartenanlagen den Kranken Gelegenheit 
iur Erbolung.in friicher Luft, fo das allen Bedingungen eines auten 
Seanfenhaufes bier Rechnung getragen ift, rnit berührt den Belucher 
ein Heiner, von Gebnſchen umgebener fapellenartiiger Rohbau im Dinter- 
arunde des Gartent, dejien Imeres einen Aufbahrungsraum, eine Todten 
fammer und einen Desinjektiondraum enthält; das Sandſteintreuz des 
Giebels deutet den ernſten Jwedd des Heinen Baues an 

Sroſeſſor Wilhelm Engeldard. Mir Allujtration >, 677.) Wenn 
einer unterer lebenden Bildhaner es verdient, über den Mreis der Fach 
genoiten hinaus befammt zu werden, To sit es Profeſſor Wilhelm Engel 
hard in Dannover, der Schoöpfer der beiden trefiliden Figuren der frei 
ſprechenden und der veruerheilenden Juſtiz, welche im Dolsichnitte das 
vorliegende Deit unſeres Blattes ſchmüccen. Aber nict jedes Wer 
dienst wird von den Yeitgenoffen anerkannt, bezichungsweiie erlannt, md 
Profeſſor Engelhard iſt dem großen Bublitum bisher init ganz fremd 
geblieben, wenn auch die Fachgenoſſen feine neninle Begabung jchen 
lange gewürdigt haben. Erſt in neueſter Zeu Inchen einzelne Berufene 
den allzu beicheidenen Künſtler großeren ſtreiſen vertraut zu machen und 
die C. R. Stolleſche Hoibuchhbandiung in Harzburg erwirbt ſich das 
Berdienſt, durch eine Krachtausgabe von photograpbiihen Abbildungen 
der Schöpfungen des Meifters dieſen dem allgemeinen Berftändnih mäber 
zu rüden. Nad zweien diejer Bhotographien find unjere obengenannten 
Volzichmitte bergeitellt und auch fie möchten an ihrem Theile dazu bei 
tragen, dem Münftler den woblverbienten Lorbeer zu erringen 

Der Vebensgang derselben it nicht ohne Intereſſe, wenn er auch 
ſenſationelle Wendungen feineawegs aufweist. Friedeich Wilhelm Engel 
hard wurde am. September 1813 in Grünhagen bei Luneburg geboren 
begamm, Imrangemadiien, zuerſt mit der (Elienbeinichnikere Tie 


ex 


© 


Aonigin Friederike von Hannover, welche das Talent des Jünglings 
erkannte, veranlafte ih, ſich ganz der Bildhauerei zu widmen. Engelhard 
ging 1840 nad Stopenhagen, um jich unter des großen Thorwaldfen 
Veitung in diefer Kunſt auszubilden. Cr war des Meiſters lebter Schüler. 
Nach Berlanf einiger Jahre begab ſich der junge Künftler nach Münden, 
wo der berühmte Schwanthaler fein Führer und Lehrer ward, Engelhard 
bfieb 6 Jahre in Münden und wurde Schwanthafers „rechte Hand“. In 
Münden ſchuf er feine erſte Figur von Bedeutung: einen „Germanen“, 
daneben aber noch mehrere, wie Die ſpäter jehr befannt gewordene „Loreley“ 
und das herrliche Reiteritandbild „Deinrich ver Löwe“. Daneben bildete 
ſich der junge Künſtler auch in der Malerei ans. Sein ſchöpferiſcher Drang 
war ftets auf das Große, Heldenhafte, Erhabene, Dentiche nerichtet. So 
erſcheint es auch natürlich, daß ſich Engelhard mit feinen ganzen Fühlen 
und Denfen in die nor- 
difche Götter und Hel⸗ 
denmwelt bineinverjenfte. 
In München wurde noch 
fir vor Scwanthar 
lers Tode Engelharde 
Haubtwert, der mor— 
diſche Fries“, ſertig und 
der Meiſter rieth ſei— 
neut Jünger, damit nadı 
Schweden zu geben. (En 
gelhard blieb aber in 
Pamburg, wolelbit er 
viele Aufträge erhielt, 
verbeirathete jich mit ei⸗ 
nerhochgebildetenjungen 
Dane und trat nun die 
Reife nach Ron an. Im 
Jahre 1857 jiedelte der 
Meiiter nach Hannover 
über, wo er im Streife 
jeiner Familie in glüd 
lichen Verhaltniſſen lebt. 

Engelhards Schafiens- 
fraft ift eine fchier un— 
derjiegbare; er hat ge 
gen 100 Gruppendaritel- 
lungen und Ginzelfigu- 
ren geichaffen und in 
allen feinen Werken hat 
er fih als cin vollen- 
deter Meiſter bewährt. 
Welche lcbensvolle Bla 
ſtil tritt uns z. B. nicht 
in feinen Fiquren der 
verurtbeilenden und der 
freiſprechenden Justiz 
entgegen, welche Lieb— 
lichteit in der Form, wel» 
ches Leben in der Hal⸗ 
tung! Engelbards Haupt 
verdienjt aber bleibt, daß 
er ber bildenden Stunt 
einen ganz neuen Tupus 
gewonnen hat. Die Be: 
jtalten der germanischen 
ötterlehre für die bil- 
dende Hunft zu erobern, 
it wegen ber geringen 
Plaſtit derſelben eine 
ſchwierige Aufgabe; En⸗ 
gelhard hat fie glücklich 
gelöft; er bat in dem 
„wordiicden Fries“ ein 
national-deutiches Mei 
fteriwert geſchaffen. Ein⸗ 
mal iſt dieſer Fries, 
und zwar au dem Hauſe 
des Heren Oberſt von 
Ziele» Winfler in Ber- 
lin (Regentenftrahe), zur 
Ausführung gelangt; aber fehr zu bellagen bleibt es, dab die bon 
Kaifer Wilhelm I, angeordnete Ausführung in Marmor bis jet wuter- 
bleiben mußte, weil — fein Platz fiir das Wert zu finden war! Möchte 
doch endlich dieje „Platzfrage“ erledigt und dent deutschen Volke ein arofies 
Kunfttwerf mehr gegeben werden! 

Eine Ebrenreitung der Schwiegermütter, Die Schwiegermütter 
find jedenfalls beſſer als ihr Ruf, aber in allen Zeiten find fie bei den 
Dichtern, beionders bei den fatirischen, Ichlecht weggelommen. Selbft ein 
berühmter Redner wie Cicero ſprach ſich in einer fehr unbolden Weife über 
die Schwiegermiltier aus: „Man lann nicht zu gleicher Zeit ſich mit der 
Philoſophie und mit einem Weibe befajien, gefchtweige denn mit zwei Weibern, 
wovon das eine eine Schwiegermutter iſt! Ach muß annehmen, daß Ahr 
mein größtes Unglüd wünfcher; denn obichon es viele Leiden giebt, womit 
die jterblichen Menſchen von dei unfterblihen Göttern heimgeluct werden, 
bin ich nach der Meinung meiner Väter gleichfalls der Anficht, daß die 
Schwiegermmtter das größte Unglüd iſt.“ Mehnlich ſprach jich der Khiloſoph 
Senera aus, Die ſpaniſchen Dichter find Hberreih an bosbaften Aus 
fällen gegen die Schwiegermütter; wir erinnern nur an das auch in 
Deuiſchland aufgeführte Yuftipiel „Necept gegen Schwiegermütier", 


‘ 


04 





Tas große Geheimnik. Ben Meyer von Bremen 
Dit Genehmigung der „Bbetegraphiichen Geiellichait in Berlin“, 


> . 


Natürlich ift im den deutſchen Luſtſpielſchwänken die Schwiegermutter eine 
unvermeidlihe Dauptperfon; denn wenn den Dichtern der Humor aus 
geht und fie doch noch einen Trumpf ausjpielen wollen, jo genügt ein 
ſatiriſcher auf die Schwiegermutter abgeicholiener Biel, um die Spmpatbien 
des EHEN wieder zu gewinnen und ein beifälliges ®elädyter bervor 
zurcen. 

Eine reihhaltige Auswahl von Bosheiten, welde der erfinderiſche 
Wis der Dichter und Schriftfteller aller Völler den Schwiegermüttern 
newißfnet hat, finder ſich in der Heinen Schrift von Pr. Adolf Kohut: 
„Das Buch von der Schwiegermutter”, Wir find mit dem Verfajier 
darin einverjtanden, daß dieſe Bosheiten, die ich fogar in voltsthümlichen 
Sprihwörtern finden, weit übers Siel binausidiehen und daß eine 
GEhrenreitung der Schwiegermütter wohl au der Seit iſt. ine ſolche 
bat im dem genann 
ten Buche unter ande 
rem eine Schriftitellerin 
Fran Silvia Brand, den 
Schwiegermüttern zu 
theilwerben laffen: „Wer 
jollte fo willig hereilen 
und die häuslichen Pilich 
ten erledigen, wenn ein 
Dienjtbote plößlich den 
Laufpaß erhält? Do 
nur die Schwiegermutter 
des Hausherrn. Werfollie 
die ſchweren Kranten 
dienfte an feinem Bette 
verrichten, werdieNadıt 
wachen ohne Murren 
übernehmen; wer unter 
zoge fih fo gern, je 
elbſtlos der Mühe, dem 
eriten Heinen Schreibals, 
den der Storch ins Dans 
bringt, menfchlide Ma 
nieren beizubringen ; wer 
wird nicht milde, die 
Wiege zu hüten, wenn 
die Junge Mutter auf 
ihrem Lager bleich und 
fraftlos die Mugen zu 
mwohlthätigem Schlum 
mer Ichlieit? Mbermals 
die Schwiegermutter! 
Wen ruft man im den 
Stunden der Noth und 
Gefahr, wen zieht man 
indie bitterften Sorgen, 
in ben Kampf um das 
tägliche Brot unbedent 
lid) herein? DieSchwie 
nermutter, Wem jchidı 
man die herangewach 
fenen Kinder in den 
serien, den Tagen, dir 
Vater und Mutter anf 
YUusflügen und Erho 
lungsreifen finden, zu” 
Der Schwiegermutter. 
Wem vertraut man das 
undanlbare Ant an, dem 
unfolgiamen Sohn, der 
flatterhaften Tochter deu 
Kopf Aurechtzu eben? 
Der Schwiegermutter. 
Mit einem Worte, in 
allen erniten und heillen 
Yagen des Lebens it 
die Schwiegermutter gut 
genug. Erſcheint ſie 
aber einmal ungebeten, 
nicht programmmäßig, 
o wittert der dankbarc 
Schwiegerſohn jofort ein Unglüd, Eingriffe in feine Rechte," — Nach 
diefer glänzenden Ehrenrettung Tonnen die Schwiegermütler die Aus 
fälle der Komödie, der Wipprefe, der Anekdote ruhig über ſich ergehen 
laſſen. J 

Stimmen gegen das Alamode-Unwelen. Es iſt belannt, wie die 
deutichen Lehr» und Sirafdichter heit Brants „Narrenfchiii" ein qut Theil 
ihrer Angriffe genen das Nadäffen des Fremden, beſonders in der Tradıı, 
gegen die Bevoräugung fremder und neuer Stoſſe und Moden vor den 
einbeimiichen und von den Vätern ererbten gerichtet haben, Die Ani 
faſſung dieler Dichter it gegemüber dem Standpunkte, den die Yehtzeit 
au diejer Frage einnimmt, im weientlichen eine ideale. Sie dämpfen 
genen das der Menſchenwürde Ungesiemende, wie Brant, wenn er im der 
Erlänterng des vierten Bildes feines Narrenſchiffes, auch auf bentige 
Albernheiten noch vaſſend, jagt: 


„seht lernen Männer Weiberart 

Und ichmieren jich mie Affenſchmalz 
Und laſſen am entblöhten Dals 

Biel Ring’ und gold’'ne Reiten jch'n.* 


Sie kämpfen vor allem gegen den in der Nachäjiınıg des fremden 
ſich ausfprehenden Mangel an Selbitachühl und Baterlandsftols, wie 
wenn Pogau, gerade anderthalb Nahrhunderte nach Brant, in bitterem 
Unmmthe auseuit: 


„Frantreich hat es weit gebracht, Frankreich fonmt es ſchaffen, 
i Daß jo manches Bolt und Land ward zu feinem Affen.“ 
oder: 
„Alamode⸗Kleider, Alamode Sinnen; 
Wie ſich's wandelt aufen, wandelt ſich's anch innen.“ 


Heutigen Tanes, in unferem Aeitalter der Boltswirthidaftslchre, 
macht man — und hoffentlich bald mir mehr Erfolg — außerdem und 
hauptſachlich einen an 
deren Geſichtspuntt 
geltend, den der ma 
teriellen Schädigung, 
die das Bolt erleidet, 
wenn es den gleichen 
Iwed erfüllende ein 
heimiiche Erzjeugnilie 
durch Bezug fremder, 
angeblich beilerer ver- 
drängt oder doc; ent: 
werthet. Heute rech⸗ 
net man dem Rolte, 
Männlein wie Weib 
fein, die Millionen 
vor, die für Hofen- 
Stoffe nad England, 
für SeidenHleider und 
Bänder nach Frant- 
reich, Fir Straußen 
federn nad dem Rap- 
lande gehen, u. dgl. un. 

Aber :aucd diefe 
Auffaſſung hat ihre 
Geſchichte. Oft find 
beredte Kanzelredner 
ihre Träger geweſen, 
nicht nur ein Geiler 
von Kaiferäberg, der 
Brants „Narrenjchiji“ 
feinen Predigten au 
Grunde legte, nicht 
mr derbefanntenord- 
deutjche protejtantische 

rediger Balthafar 

dupp und der weit 
belanntere füddent- 
iche Fatholiiche Abın- 
ham a Santa Clara. 
Auch mander andere 
wadere Kanzelredner 
beider —*r 
bat in ähnlicher Weile 
für desdeutichen Bol- 
tes Wohl geitritten, 
nur daß dieje Predig- 
ten nicht immer jo be» 
lannt geworden find. 

Als Beifpiel hier: 
von jolleinjür die an- 
gedentete Auffafſung 
der Frage beionders 
bezeihnender Theil 
einer in G. v. Buch» 
walds „Deuticem Be 
ſellſchaftsleben“ wmit⸗ 
getheilten Predigt au⸗ 








wollen. Doc iſt es in den leßten Jahrzehnten in erfreulicher Weiſe beiier 
damit geworden, und ebeuſo wie die Erzeugnijle der deutichen Induſtrie 
und Wemerbethyätigkeit denen dei Auslandes nicht mehr von vornherein 
nahgejeßt, Sondern nach ihrem Werthe bevorzugt werden, müſſen die 
mwelihen Worte unferer Umgangs: und Berlehrsſprache mehr und mehr 
dem zutreffenden deutjchen Ausdrude weichen, Das Alamode-Weſen hat 
feine Racht verloren in deutichen Landen, 
Sitten der norwegifhen Bauern. Es iit ein höchſt wortlarger 
Menſchenſchlag, diele waderen Norweger, die da an den Ufern der Fjords 
und in den Thälern der ſchroſſen Grenzgebirge leben, Möglid), daß die 
büjtere norwegiihe Ratur den verichlojienen Sinn der Bewohner mit 
verurſacht. Bis zu welcher anscheinenden Gefühlshärte dies ſchweig 
jame und zurückhal 
tende Weſen der Nor 
meger gebt, davon 
erzählt uns Ferdi 
nand Krauß in jeiner 
vortrefllihen Schrift 
„Bon der Oſtſee bis 
zum Nordfap“ (Nen 
titichein, Wien und 
Leipzig, Rainerdolh), 
nank merkwürdige 
Dinge: Ein Bauer 
tritt in die Stube 
eines andern, er zieht 
dabei wederdie Mütbe 
dom Stopfe, noch reicht 
er feine Hand zum 
Grube dar oder mic 
mit dem Kopfe. Nichts 
von alledem. Ebenſo 
wenig läßt fich eineı 
der in der Stube An 
wejenden in feiner 
Beichäftigung irgend 
wie ftören. Dept 
wünscht der fremde 
aber „guten Morgen” 
oder „guten Tag“ dem 
Dausvater zugewen 
det oder er gebrauch 
die in Norwegen all 
gemeine Redewen 
dung: „Dante für das 
Iegt! (Vegtmal)“ ; danıı 
erhälter die Antwort: 
„Senne did; Bor“, 
oder „nicht zu dan 
fen“, und aus der Arı 
und Betonung ber 
Antwort ann ex leicht 
entnehmen, ober will 
tommen ift oder nicht. 

Tritt der Bauer 
irgend eine Neife an, 
jo wird er feinen Wa 
gen bepaden, das 
Vſerd anſpannen, jei« 
nen Weibe vielleicht 
übermanches Beicheid 
geben, was in feiner 
Abweſenheit zu thun 
iſt; aber es fällt ihm 
nicht ein, ſich bei der 
Abreiſe vonder Bäur 
rin etwa mit Gruß 
und Handſchlag u 
verabichieden; ebenio 





geführt werben, bie 
der würdigeDr. Mus» 
culus i. J. 1565 in 
Franffurt a. ©. ge > 
halten hat: WEHEN 
Ich Sage, daß, wo Deutſchland noch länger jtchen joll, jo würde 
fein Blennig darinnen bleiben, nachdem es die Krguier und Kaufleute mit 
Wagen und Schiffen hinausfabren und bringen uns Sojenlappen, Sartel, 
Seiden und andere Dinge mehr herwieder, daß man wohl jagen darf, 
Frankfurt a. M. jei jebiger Zeit das Thor, durch weldjes alles Geld aus 
Deutichland in fremde Nation geführt wird, Es geidieht aber uns 
deutſchen Narren recht; alfo wollen wir es haben, 
und Herren können zufehen, ſolche Pracht von ihren Unterthanen können 
dulden und leiden, daß ießunder junge Vente ſchier mit ihren Hoſen 
allein das Geld aus dem Lande bringen, daß ein junger... . löfiel 
mehr zu einem Baar Holen muß haben, als fein Großvater für alle 


feine Kleidung, jo müſſen fie alle auch vorlieb nehmen, daß fie mit | 


den -Untertbanen in Armuth geraten, md, wenn heut oder morgen 
uns große Norh ftöht, daß man fich für fremden Nationen foll hüten, 
daij wir dann fein Geld im Lande haben und unfer arm Raterland 
zum Raub gelebt wird fremden Bölltern, die das Geld zuvor mans 
haben, mögen Yand und Leute dazu nehmen.“ 

Oft find folche beherzigenswerihe fräftige Mahnungen und Warnungen 
in deutichen Lauden erfinngen, aber man hat fie immer nicht vecht hören 


£iebesyoff, 
Hadı deu Hemälte von W. Friedrid,. 


Und diemeil Frürften | 


wenig hat er bei der 
SHeimfehr irgend ein 
Wort des Willfom 
mensoderein äußere: 
Heiden der Freude 
des Wiederſehens. Der Bauer wird zuerſt jein Bierd verforgen, dann, von 
den Kindern, die ſtets Meine Beichenfe erwarten, umringt, ſeine Einfänfe 
in der Stadt auspaden; die Frau zu qrüfen oder e gar die Hand zum 
Willkommen zu reichen, Fällt ihm nicht ein, ebenſo wenig wie fich die 
— I ihrer Beichäftigung durch die Ankunft des Bauern im neringjten 
ören läßt. 

ALS der alte Eilert Sumdt, der ſich am Ende der fünfziger Jahre 
viele Mühe gab, die alten Sitten der norwegiſchen Bauern zu erforschen, 
mit Bezug hierauf einen alten Bauern fragte: „Döre mal, meiner Au 
ſicht nad) mußte die Frau jogleich von ihrer Wrbeit aufjtehen, Dix 
entgegengehen, Dich willtommen heiten und Dir die Hand zum ruf 
reichen," da fonnte jich der Bauer des Lacheus wicht, enthalten und 
meinte: „Wenn fie ſich jo benäbme, würden uns die Dienjtboren ſchon 
auslachen.” Der wihbegierige alte Sundt fragte jedoch weiter: „Haſt Du 
nie gehört, daß ein Bauer, wenn er von der Reiſe heimfehrte, feiner Frau 
Gulen Tag’ getagt hat?“ „Sa doch,” erwiderte der Bauer, „vor vielen 
\ Jahren lebte ein Mann im Stirchipiele, der dieſe jelllame Gewohnheit hatte. 

Dan vermeidet jorgfältig jede Art von Liebkoſung, jedes Jeſchen der 
Zärtlichfeit, und dies gilt auch von der Kindes und Elternliebe. Tie 


Eltern jorgen aufs beſte jür ihre Kinder; dieje erhalten ihre eigenen 
Truhen und in jeder Truhe liegen foviele Hemden, als das Kind Jahre 
alt ift. Nie wird man jedoch jehen, daß die Eltern die Stinder, wenn fie 
den Windeln entwachſen jind, in irgend einer Weiſe liebloſen. Selbft die 
fonft allgemeine Sitte, daß die Kinder den Eltern jeden Morgen td 
jeden Abend „guten Tag“ und „gute Nacht“ wünjchen, hat ſich bei den 
norwegiſchen Banern nicht eingebürgert; aber felbit wenn ein Sohn oder 
eine Tochter das Elternhaus verläht, um in fremde Dienste zu treten, jo 
wird mit jedem Worte eizt und nie fieht man die Scheidenden den 
Eltern die Hand zum Ab 33 reichen. Nur wenn die Tochter als Braut 
das Elternhaus verläßt, reicht fie den Eltern die Hand, aber nicht zum 
Abſchiede, Tondern ale Zeichen des Dankes für die im Elternbaus ge 
währten Wohlthaten. . 
Für die Brautwerbung ſelbſt bedarf es eines Vermittlers, eines 
älteren Mannes, der als folder auftritt, die Eltern der Braut befucht, 
anfangs mit ber Frage nicht herausrüdt, fonbern den Vorwand gebraucht, 
er wolle ein Adergeräth ausborgen oder ein Kalb faufen, und allmählich das 
Gefpräch auf den Gegenſtand lentt. Wenn er bemerkt, daß der freier will- 
fommen it, fo ſagt er, daß er nach einiger Yeit wiederfommen werde, In— 
wiſchen wird dem Mädchen die Sadıe mitgetheilt, das in der Negel derjelben 
nſicht ift wie die Eltern, denn die Liebe jpielt hier nahezu Leine Rolle, Es 
dauert oft Monate, che der Freier Ernſt macht; dann wird über alle Br» 
dingungen, Musitener, Tragen der Koſten der Hochzeit wieder durch einen 
älteren Man verhandelt. Dann findet die Verlobung ftatt. Was die 
Gebräuche bei der Hochzeit felbit betrifft, fo erwähnen wir nur, dab die- 
jelbe meiftens glänzend und prunfvoll gefeiert wird. Zwei Brautjungiern 
ſchmũcken die Braut, die eine Woche vor der Hochzeit das Elternhaus 
verlafien hat und, von ihrem Vater geleitet, auf den Hof des Bräutigams 
gezogen iſt. Die Braut fipt am Feſtiage mit aufgelöften, langwallendent, 
nahezu durchweg goldblondem Saar regungslos mitten unter der ge— 


Ihäftigen Schar der Freundinnen und Balen, Ihre Bruft wird mit ı 
Spangen und Vroſchen geihmüdt, die, aus Gold und Silber getrieben, ' 


oft mit runden Plättchen behaugen find; um den Leib wird ihr ein 
langer, herrlicher Gürtel aus präctigen veraoldeten Silberplatten mit 


den reizenditen Motiven deuticher Nenaiffance, ein Kunſtwert der alt | 


norwegiichen Woldichmiede, aeichlungen und die alte zackige hobe Braut- 
—* meiſt aus vergolbeſem Silber oder Kupfer, wird ihr aufs Haupt 
geſetzt. 

Im übrigen erinnern die Hochzeitsbräuche an die ſouſt üblichen; an 
Fiedlern und Klarinetibläfern, Trommlern und Viſtolenſchleßern fehlt es 
nicht; die Zahl der Gäſte beläuft ſich oft anf dreihundert und die Feſt⸗ 
tafel it aufs reichlichite ausgeftattet. Originell ift, wenn es dann zum 
Zangen neht, der Hallung- oder Springdands, der eine bejondere Kraft 
von jeiten des Tanzers verlangt. Die Tänzerin bewegt fich Dabei 
gravitatiſch um jich herum im Kreiſe, mährend der Tänzer fie mmfreift 
umd dabei grofe Sprünge macht. 


In einen Hirchipiele in Bergen konnte | 


der erite Tänzer, ala er 17 Nabre alt war, die Beine vier Ellen hoch, 
al& er 30 Jahre alt war, fie gar fünf Ellen hoc im die Luft werfen. | 


Die Tänzerin muß den Bewegungen ihres Partners folgen, und fowie 
er wieder auf die Füße zu ftehen kommt, ihm mit Geſchick ſtets die Hand 
ala Stüße reiden. An einigen Gegenden Telemartens macht and) die 
Tänzerin, vom Tänzer unterftüßt, ganz reipektable Sprünge, 
. „Plab am til. Da fteht eine junge Hausfrau an der Tafel, Die 
jte für ibre „erſte Geſellſchaft“ deden jol, Das Eßzimmer ift geräumig, 
und der Tiſch fan durch Einichieben von Kouliffenbrettern nach Belieben 
länger gemacht werden, ‚Wie ſoll fie ihn deden, wie viel Bretter ein 
ichieben, wie viel Platt jeden Haste an der Tafel einräumen? Das find 
ragen, die ihr durch den Kopf ſchwirren. Sol fie die Tafel_möglichit 
ausdehnen, um zu zeigen, wie groß ihre Haugeinrichtung iſt? Wir wollen 
ihr helfen und ihr mittheilen, daf es auch „Rathgeber“ für ſolche fragen 
des Lebens giebt und daß fie vom der Lektüre einer Reihe ſehr anziehender 
Plaudereien „Jm Vürgerbaufe” von Comelins Gurlitt ſehr entzüdt jein 
würde, Jun Diefem im Ghilbersichen Verlage in Dresden erschienenen 
Büchelchen find aud „Tiſchfragen“ berüdſichtigt. Es iſt eine alte 
Regel, daß jede Verſon, knabp gerechnet, die Breite zweier Teller, alſo 
ungefähr 60 Centimeter, für ſich braucht; bei mehr als 75 Centimeter 
Entfernung von der Mitte eines Sites zu der eines anderen wird fchon 
der Eindrud des Leeren am der Tafel entſtehen. 

Tas find einfache, leicht zu mertende Zahlen, welche alle Zweifel 


beim Tiihdeden raſch zu löjen vermögen, — Wir fünnen bei diefer Ge | 


legenheit noch andere „Tiſchfragen“ berühren. Wie breit foll der Tiſch 
fen? Der Moöbelwaarenbändler bietet uns verihiedene Breiten zur 
Auswahl an. Welche paßt wohl am beiten für das Bürgerhaus? Da 
lautet die Aufwort: Tiſche, die ſchmäler find al& cin Meter, werden ſich 
zu eng erweifen, aber mar follte wicht über 1,25 Meter Breite hinaus» 
peben, weil alsdann die größere Breite die Unterhaltung in der Gejell- 
haft und die gegenfeitige Bedienung im Familientreiſe ftört, — Wie 
viel freien Raum müfien wir hinter der Stuhliehne für die Bedienung 
laſſen? Die Autwort lautet: mindeitens 60 Lentimeter, und daraus er- 
geben ſich wiederum Anhaltspunfte für die Bröhe des Eßzimmers. — Ja, 
das Metermah wird beim Mierhen und Einrichten neuer Wohnungen zu 
wenig gebraudit, und doch umterjtüßt es jo wejentlich das Auge, und 
beifen Anwendung ist fo ehr geeignet, uns vor allen möglichen Ent: 
täwschungen au bewahren, ‚ 

Serwertbung unreifer Zeintrauben. Eine schöne Lefe reifer Wein” 
trauben iſt für dem Bejiger ebenjo erfreulich, als unreiſe Trauben für 
ihn eine Quelle der Sorge und des Mergers bilden, um jo mehr, als er 
vielfach nicht wei, was er mit denfelben anfangen fol. Laſſen ſich un 
reife Trauben überhaupt verwerthen? Im jedem Jahre wird diele 
Frage in zahllofen Briefen an ums gerichtet, Sie läßt fich mit Sa be 
antworten: unreiſe Weintrauben laßſen ſich zur Bereitung von Eſſig 
verwenden und das Verfahren ift fein ſehr fchwieriges. Kin bewährter 
Mitarbeiter unferes Blattes giebt uns die folgende verläßliche Anleitung, 


| 2 Monogramm füllt in eima 22 


welche wir gerne an dieler Stelle abdruden, weil die Verwerthung nicht 
zur Neife gediehener Trauben auch von mwirthichaftlicher Bedeutung it. 

Um aus unreifen Trauben Eſſig zu bereiten, zerquetiche man die 
Trauben mittelft einer Holzleule. Der mit Wafler und Zucker verjeßte, 
zuvor tüchtig ausgeprehte Traubenjaft wird alsdann mit Hefe (am vor 
theilhafteften mit friicher Weinhefe, in Ermangelung diefer mit in Waſſer 
—— Preßhefe) ſogleich in Gahrung verſeßt. Auf 100 Liter Trauben- 
aft gie! man 100 Liter Waller und 17 Hilogramm Auder, Wan läßt 
die Gährung bei 20 bis 22°C, Wärme verlaufen, trennt die vergohrene 
rlüffigfeit jorgfältig von der ausgef iedenen Hefe und kaun die eritere 
entweder in jpunbvoll gehaltenen sällern lagern laſſen, wodurd fie an 
Wohlgeſchmad gewinnt, oder fogleich zur Darftellung von Eſſig benutzen. 
Im leteren Falle miſcht man je einen Theil der vergobrenen Flüſſileit 
mit zwei Theilen gutem starten Eſſig (bedient man ſich des feinsten ein 
efligs, fo erhält man aus unreifen Weintrauben einen vortrefflichen Eſſig 
und füllt das Gemiſch auf Flaſchen, welche man, jehr gut vertorft, liegend 
an einem fühlen Orte aufbewahren muß. 

Es fommt vor, daß ein derartig bereiteter fig nicht Mar, jondern 
trübe iſt; meiſt rührt dies von den Hefetheilchen des Eſſigs her, welche 
ſich noch wicht völlig abgelegt haben; auch findet man wohl in einzelnen 
Fällen, daß ſich der Ein duch einen nnangenehmen Nebengeruch un» 
appetitlicdh zeigt. Dieſe Uebelſtände lann man mitteljt friſch gebrannter, 
Arnd gelörnter Knochenlohle (Beinihwarz, auch Spodium genannt » 

feitigen. Dan rechnet 6 bis 7 Gramm Sirochenfohle auf je einem Liter 
Eiiig, Ichüittelt die Flaſchen, nachdem die Kohle hinzugegeben worden ift, 
tüchtig wiederholt um und filtrirt nach vier Tagen den Eifig durch ein 
feinenes Tuch oder ein reines Filgfilter. Der ſilirirte Eſſig iſt daun 
völlig Har, da alle ſchleimigen Theile desjelben ſich an das Knochenfohlen- 
pulver abgefegt haben, gleichwie auch der Eſſig einen angenehmen Geruch) 
angenommen hat. 

Ein neues Werk für Monogrammfliderei. Das eigenthümliche 
Beitreben unſerer Beit, überall den Stoff zu Sammeln und foitematiic 
anzuorbnen, hat für das Kunſtgewerbe bereits glänzende Früchte getragen 
und ſchafft Mugen in immer weiteren Kreilen, indem auch für die Neben- 
technit der feinen Nadelarbeiten mujtergüftige Vorlagen erichlojien werden. 
Eine ſolche ſchöne, reichhaltige und fehr praktiſch geordnete Mufter 
fammlıng liegt uns heute vor in dem groben Were: „Das Stiderei- 
monogramm für Ausführung in Seide, Bold» und Weihftiderei, entworfen 
von Frau Elife Bender, Hoftunftitiderin in Wiesbaden.” 

Sehr richtig führt die Berfailerin den bisherigen Mangel am gut 
„idbaren“ Monogrammen an, der troß der verſchiedenen von Künſtler— 
hand gezeichneten Monogrammmerle beftand, eben weil fich durchaus 
nicht alles aut ftiden läht, was icon gezeichnet auslicht, Der Haupt 
bedarf, die einfach verichlunnenen Buchftaben, aber dedte fich bisher aus 
den Modezeitungen, wo man aber gewöhnlich nerade die beiden Buch 
ftaben nicht fand, welche man ſuchte. 

Allen diefen Uebelſtänden hilft das neue Werk ab, weiches ai 
320 Tafeln in 6000 Monogrammen jede mögliche Juſammenſetzung zweier 
Buchſtaben in forrefier und reich verzierter ZJeichnung bietet; 6 weitere 
Blätter enthalten einfache und verzierte Alphabete mit Kronen und Zahlen. 
verſchiedenen Eremplaren eine ganze 

afel. In der Mitte fteht immer ein großes Pruntmonogramm für 
reichverzierte Kiſſen u. dergl., auf jeder Seite desſelben drei weitere in 
geier Zeichnung, aber in abgejtuften Größen, entweder für Tafeltuch 

iſchtuch und Servietten oder filr Weberjchlagbetttuh, Vlumeau und 
Kiſſen verwendbar. Derber und einfacher er find die für Daus- 
weihzeng, fein und elegant die Zierichriften für Taſchentücher. Das Wert 
legt auf jedem Matt Zeugniß ab jowohl für das Stilgefühl der Ber 
fajierin als für den Reichhum ihrer Phantaiie, 

Induſtrieſchulen und Stidereigeihäften wird es eine hochwillflommene 
Fundgrube werden, aber auch dem Familienbedürfniß ift durch die Ein 
richtung Rechnung getragen, daß jedes Blatt mit dem beitimmten Mono- 

ramm für 80 Ffennig einzeln gefauft werden kann. Alle dentbaren 
edürfniſſe der Ausitattungswäjche finden fich darauf vereinigt; aber auch 
two feine „Braut im Hauſe“, wird der Beſitz eines jo reichhaltigen 
Familienmonogramms für fleigige Stiderinnen Gewinn und freude fein. 

Das Werk ericheint lieferungsweiie: Probeblätter find von der Ver 
lagshandlung Hoffmann u. Ohnftein, Leipzig, zu beziehen, Wir fönnen 
05 der allgememen Beachtung aufs beite empfehlen. t 

Bermibten- Sie, (Fortfehung aus Halbheſt 23 des Tahrg. 1387.) 

137) Der Bäder Johann Guſtav Karl Rödling, geb. am 3. Januar 
1850 zu Apolda, ging ım November 1876 von Weimar fort. Im Jahre 
1880 iſt er in Bremen gefehen worden, und man vermuthet, daß er ſich 
noch dort oder in Oldenburg aufhält. Der Berichollene hat an der linken 
Hand drei verftimmelte Finger, 

138) Ferdinand Puſchel, Kaufut., geb. 1822 zu Leipzig, weilte vor 
etwa 35 Nahren längere Zeit in Trieit, in Enlentta und Binmouth, Im 


Jahre 1869 Tehrte er nach Leipzig zurüd, verlieh die Stadt aber wieder, 


um nad Dover zu reifen. Seitdem fchlen alle Nadprichten über ih, 
und doch wären ſolche erbiheilähalber ſehr erwünicht, 

139) Der frühere Matroje Paul Sperling, neb. am 12. Dez. 1848 
zu Polen. Den legten Vriet ſandte ex vom sort Fallenſtein bei Fried 
ricbsort, woſelbſt er als Matrofe diente, am 30, Januar 1876, 

140) Der Spradhlehrer, Maler und Pianift Louis Heinrich Guftav 
D’stelly, geb. zu Eiſenach am 18, April 1598. Das legte Lebenszeichen 
von dem Vermißten traf im Jahre 1877 aus Colcheſter in England ein. 

141) 2er Seemann Karl Adolph Hermann Grimm, geb. am 8. Febr. 
1538 zu Yamburg. Er war an Bord eines Kriegsdampfers; die lepte Nachricht 
von dem Berjchollenen fam im Febr. 1869 auf Mio de Janeiro in Brafilien. 

142) Eine Muner bitter herzlich um Auskunft über ihren Sohn, den 
Maſchinentechniler Guſtav Adolt Müller, geb, 4. Muguft 1861 au 
Buxrtehude. Er trat im April 1853 eine Stelle in Medinas bei Tueuman 
in Argentinien an und arbeitete dam in Cordoba, Buenos Ayres, Nofario, 


Srias; fein leptes Schreiben, in dem ex angiebt, daß er nad) Chife wolle, 
datiert vom Dftober 1854 aus Mendoza. J 

143) Der Glaſer Ernſt Paul Gehre, geb. 13. März 1865 zu 
Erimmitihau, wanderte im Juni 1879 nad Brafilien aus, Won Ant 
werpen, wo das Schiff, auf dem jich Gehre befand, anlegte, traf noch ein 
Brief ein. Seitdem iſt nur noch die glüdliche Landung des Vermißten 
in Santos von anderer Seite gemeldet worden. j 

„IH Der Kaufmann Jalob Straßburger, geb. 21. Juni 1862 au 

Neilingen in Baden, lebte in —— von dort machte er ſich vor 
etwa 11 Jahren auf, um nad Angabe des Bezirlskommandos zur See 
zu gehen. Er foll dann anderen 
Male als Matroje die Fahrt nach Andien gemacht haben, r 
. „145) Der Tijdler Friedrich Wilhelm Jacob, geb. 22. Sept. 1862 
in Ebersbach in Sachſen, fiedelte nach beendeter Militärzeit nach Hamburg 
über, von wo er mehrere Male als Feuermann die Fahrt nad) Amerika 
nmternahut. Ende März 1881_fuhr er nah Auftralien, woher er feine 
Ankunft in Sydney meldete. Seitdem find alle Nachrichten ausgeblieben, 

146) Jean Weber, geb. 19. März 1841 zu Hottingen b. Zürich, Reife: 
tafchenarbeiter, hatte ald Werkführer Stellung in London und Glasgow. 
Den lebten Brief ee er mit Datum vom 20, Sept. 1876 aus Dublin 
(Irland), jeitdem Hat die betrübte Gattin feine Nachricht wieder erhalten. 
. _147) Der StrumpffortirmeifterarlWilhelm Jäger, geb. 12. Des. 1815 
in Oberlungwiß bei Hohenftein in Sachſen, wanderte im Nahre 1867_aus 
und lieh nichts mehr von fich hören. Einer Mittheilung von anderer Seite 
sufolge foll der Berſchollene jih in St. Katharina in Brafilien aufhalten, 

48) Damit an ihm ein Meines Le 
der Weber Eduard Karl Prafie gefucht, der am 13, Oftober I841 au 
BWarnsdorf in Böhmen geboren wurde und fih im Jahre 1879 "nach 
Deutſchland wandte, 

149) Dtto Heinrich; Zöllner, geb. 29. September 1852 zu Baupen, 
—— Kaufmann, unternahm mit der Barke „Pacific von Brafe in 

ldenburg aus als Scifistoch eine Reife, welche die Häfen von Bahia, 

Rio, Valparaijo und Jquique berührte. Nach Europa zurücgelehrt, ver» 


lieh Zöllner die Barfe in Antwerben. Die letste fchriftliche Mittheilung | — it beinahe 3 Sahren —— 


efucht der Kaufmann | die a einer Mittheilung über ihre Kinder und ihr Enfelhen fehnt, 


wurde der Mutter im Dezemb, 1884 von Falmouth aus, 

150) Bon jeiner tiejbetrübten Mutter wirb j 
Salmon Jonas, geb, 8, Dftober 1858 zu Weiſenheim a. Bg. in der 
Rheinpfals; er verlieh am 22, Februar 1887 das elterliche Haus, m 
Beingeichäfte zu maden. Am 24. Febr. 1837 ift er noch in Eichholzheim 
in Baden geiehen worden, ſeitdem aber ſpurlos verſchwunden. Jonas 
hatte dunfelbraunen Schnurrbart und ſchwarzes Haar, 

151) Heinrich Theodor Gronau, geb. 15. Juli 1828 zu Deffau, Hat 
als Kaufmann gelernt und war im Juli 1866 im Spandauer Militär 
Eholeralazareih als Gehilfe thätig. Yin Spätſommer besjelben Jahres 
aing er nad) Berlin. Seit dieſer Bet it von Gronau nichte mehr gehört 
und geſehen worden. 

152) Der Schmiedemeifter Joſef Yangenbader, ge zu St. Andrae 
v. d. Hagenthale in Oeſterreich am 15. Juli 1880, reiste im Jahre 1868 
nad Wien, hat jich dort am 20. Oftober 1870 zulegt angemeldet und ift 
feitdent verſchwunden. Des Vorgenannten Sohn hielt in der angeblichen 
Bohnung dort im Jahre 1883 Nacıfrage, aber niemand im ganzen Haufe 
tannte den Verichollenen. 

153) Eine Mutter im Alter von 79 Jahren, erwerbsunfähig und 
lediglich von geringen Unterftäbungen Tebend, ſucht ihren Sohn Karl 
Robert Schmidt, geb. 14. März 1843 zu Breitenbrunn im Sönigreich 
Sachſen. Derfelbe war Tiſchler und ging als folder auf die Wander haft. 
Später wandte er ſich mehr der Bildhanerei zu, in der er 7 Jahre in 
Bien thätig war, dann fand er in Dresden Arbeit. Im Auli 1879 
verlieh er die jächliiche Hefidenzftadt wegen dort „gemadhter übler Er: 
ſahrungen“ und fiedelte nach Berlin über, woher er 14 Tage ſpäter zwei 
Thaler an feine Mutter jdidte. Von da foll ihn eine Strifebewegung 
nach Hamburg getrieben haben, das er, wahrſcheinlich um auszumandern, 
berlajien bat. Schmidt war ein ftrebfamer, intelligenter Arbeiter feines 
Faches; die Mutter, weldye große Stüde auf * Sohn hält, lebt der 
feiten Ueberzeugung, daß fie mit Hilfe diefes 
laube* ihren verlorenen Sohn wiederfinden werde, 

154) Der Küfergefelle Michael Kohl, geb. 1. Febr. 1862 zu Koblenz, 
wandte am 14. Dez. 1886 feinem Seimatbsort den Rüden. oh ſich 
derjelbe begeben, der ſeiner Eltern einziges Kind ift, hat troß der eifrigſten 
Vachforſchungen und erlaffenen Wufrufe nicht ermittelt werden Lönnen. 
Der Bater nimmt in tiefer Betrübniß an, daß, wenn fein Sohn nicht 
verunglädt ift, derielbe unter Führung eines anderen Namens in die 
franzöfische Fremdenlegion oder in die holländiiche Armee eingetreten ift, 
Ermittelungen bei den deutſchen Sefandtichaften in Baris und Rotterdam 
hatten feinen Erfolg. 


t ausgezahlt werben lann, wird | 


ittheilungen zufolge auch verichiedene 


Seitdem it Streubel verjchollen. Die Ungewißheit über das Schidjal des 
jungen Mannes lajtet ſchwer auf der Kamilie. j 

157) Der Schreiner und Berginann Friedrich Wilhelm Steinhauer, 
geb. 5. Sept, 1853 zu neuftadt, Sr. Gummersbach, wollte Biingften 
1874 nad Mülheim a, d. Ruhr, um in einer Kohlengeube für Tagelohn 
au arbeiten. Einige Tage darauf jedoch ſchrieb er aus Holland in einem 
Brief, daß er es vorziehe, fich der ihm bevorftehenden Militärdienftzeit 
durch die Flucht zu entziehen. Seine Mutter, jept eine alte und Fränf- 
liche u, warnte ihm in einem Brief, der aber unbeantwortet blieb. 
Die legte Nachricht traf dann vor etwa 11 Jahren aus Holland und 
Belgien ein, laut derjelben wollte der Verichollene nad) der Türkei. 

158) Ohne dab feine Angehörigen eine Ahnung davon hatten, verlieh 


| der stud, phil. Zilemann Wıiarda aus Emden am 14. Dez. 1885 Jena, 


I 


, als Seemann auf der norweg. Bart 


Die befümmerte Mutter richtet an jeden, der etwas über das Schidjal 
u Sohnes weiß, die herzliche Bitte, der „Bartenlanbe” Nachricht zu 
geben. 

159) Der Majchinentechniter Hobert Göge, welcher 1. Mai 1856 in 
Döben bei Grimma in Sachſen geboren wurde und die letzte Nachricht 
vor etwa 5°, Jahren aus Bakı am Kaspiihen Meere dem Seelforger 
ſeines Geburtsortes gegeben Tat, wird von keinen Eltern geſucht. „Seine 
franle Mutter möchte vor ihrem Ende doch willen, unter welchem Himmels 


itrich ihr Sohn lebt.“ 

160) Nathan Nathan, genannt Ludwig Haufer, geb. 16. Febr. 
1854 zu Wollſtein in Posen, ſchrieb vor ungefähr drei Jahren aus Verth 
(Huftralien), daß er Inhaber eines Pfandleihhauſes und Garderobeneichäftes 
jei, dab es ihm gut gehe und er beabfichtige, im Jahre 1887 nach Berlin 
zu kommen. Seitdem fehlt jede Nachricht von Nathan, der fich auch in 
Berlin noc nicht hat jehen laſſen. Die Mutter des Berfchollenen hat 
fich verichiedene Male an das beutiche Honfulat in Perth gewendet, aber 
nichts in Erfahrung bringen fünnen. 

161) Eine ganze Familie geſucht! Eruſt Groeßt, Handarbeiter und 
Bäder, geb. 16. Juli 1856 zu Berlin, wanderte nebit Frau und Töchterchen 
im Mai 1883 nach Brajilien aus und hielt ſich längere Zeit in Bahia, 
Para und Fir in Rio de Janeiro auf, wo jie „4 Hua da Alfandena” 


richt mehr zugefommen. 1 
162) Earl Guſtab Alfred Püſchel, geb. zu Nieberhermsdorf bei 
Waldenburg, Regb. Breslau am 26. Auguſt 1861, begann feine Laufbahn 
„Appia“; feine Neiien führten ihn nach 
Nordamerika, Norwegen, Rangun in Hinterindien, England x. Die leiste 
Nachricht Fam aus Philadelphia im Auguft 1881, Der Geſuchte hat fich 
dann zu wiederholten Malen bei Verwandten um die Mdreife jeiner in- 
zwiſchen nad) Brafilien aunsgewanderten Eltern bemüht, biefelbe aber nicht 
erhalten fünnen. Die Eltern, die dns erft fpäter erfuhren, haben nun 
der „Sartenlaube” ihren Aufenthaltsort gr und bitten ihren Solm 
et ihm da zu erfragen und ihmen baldinft zu Schreiben, 

165) Um 1. Nov, 1886 verlieh die Meſſerſchmiedsfrau Wilhelmine 
Peter geb. Nölting aus Steinbad in S,-Meiningen, geb. 28. Yan. 1837 
zu Großenberfel b. Hameln, ihre Wohnung und ift bis heute noch micht 


feine 


' zurüdgefehrt. Sie iſt von Statur mittel, die Haare ſchwarz, Naſe ipik, 


ufrufs in der Garten⸗ 


155) Der Matroje Julius Wilhelm Ferdinand Wiedelomwsfn, 


geb. 18. Januar 181 zu Wollin in Pommern, ſchiffte ſich im Jahre 
1847 von Stertin nach Livorno ein und unternahm fpäter die Reiſe nadı 
China, wo er jeit Fahren in Yoriendieniten ftehen fol. Die fette Rach 
richt fam im Jahre 1848 von Livorno. Wiedefowsiy wird von feiner 
Schweſter nefucht. 

156) Der Webermeifter Emil Eugen Rudolf Streubel, geboren 
24, Sept. 1868 zu Braunau in Böhmen, von Statur mittelgroh, dabei 


| erflären ſeh die Ye drudenden — Peroriaungen, das 


der Mund Hein. Die Verſchollene war tiefſinnig * t und ſchon früher 
oft Monate lang von Haufe weg, indem_ fie mit en haufirte, Am 
Ale: 1886. foll fie fich noch in Caſſel aufgehalten haben, aber alle 
—* ufe im verſchiedenen Zeitungen Haben fie nicht nach Haufe zurüd 
geführt. 

164) Heinrich Tannert, Friſeur und Varbier, geb. 11. Juni 1851 
zu Trautenau in Böhmen, {bloß im Juni 18897 fein Feifewrgefcäft, dem 
er in Zürich vorftand, und jendte noch von dort eine Kiſte mit Geſchäfts 
utenfilten an feine Sinder ab. Seit dieſer Zeit find feine Nachrichten 
mehr don hm gelommen. Schon im Jahre 1 ging der Verſchollene 
nad New’Jork und fol ſich dort ein Vürgerpapier (?) haben ausitellen 
laſſen, das er fpäter wieder zu gebrauchen hoffte. Mittel fann Tanmert bei 
feinem Beegpann, bon Yirich kaum gehabt haben; en tam von anderer 
Seite die Nachricht, der Verſchollene habe nad) Aujtralien gehen wollen. 
Nahforichungen dort aber haben feitgeitellt, dat der Name „Zannert“ in 
ben Muswandererliften nicht vorkommt. 

165) Die beiden Brüder, der Maurergeielle Johannes nunmehr 78 
und der Schmiebegejelle Georg Schölpple 64 Jahre alt, geb. zu Scham- 
haufen bei Stuttgart, find in den Nahren 1844/46 nad Amerika aus: 
zen; Johannes nebft Frau und Kindern, Georg noch unverheirathet. 

er in Yeipzig lebende Bruder bittet dringend um Machricht iiber den 
Berbleib der Verſchollenen. 


Kleiner Briefkaften. 
(Anonyme Anfragen werden nicht beridflätigt.) 


KR. in Didenburg. Schernfleine ware im 17. Jahrhundert noch nicht Bekannt, Das 
ener unterbielt man et in eimer im Honic amgebradhten Grube umd Tich beit 
auch durch eine Öefheumg im Dar abziehen, Bei ber leichten Bauert ber Häufer in 

früberen Jabrhunderſen waren biefe Feuerumgdanlagen ſehe fewergefäbrlih und daraus 
euer solle abends zu 
einer beftimmrem Seit —— werden. „Convrefeu® bieh bie Borierift im Fraut rei 
um Jahre 1008 führte Wilbelss I., der Ereterer, in allen Etäbten Emnlandd die „Abend 
aloe" eim, bas beißt, er beflimmte, daf beim Hänten ber Glofe abends jedes ener und 


‚ Yidht Sei ſawerer Strafe amsgelöjht iwerbe. — Das würden wir umd jest nicht gefallen 


Ichlant; Haltung nad) vorm gemeint, das Gejicht regelmäßig, Mugen blau 


und groß, Brauen Ichön 


leifem Tone, iſt verichollen. Als er am 30, Uuguit 1885 das Elternhaus 
verlieh, hatte er unter anderem eine filberne Anferuhr mit Kette und 
einen goldenen, wicht gravirten Siegelring bei ſich. Er gab an, nad 
Reichenberg fahren zu wollen, um dort Garderobe, Bücher 30, einzukaufen. 


das Kopfhaar lichtbraun und jehr üppig, die | 
Borberzähne des Oberkiefers etwas nad auswärts gebogen, Spracde in | 


laſen; denn wir jlceben ja anadı, die Racht womöglih taghell zu erleudten — hie 
Weuerägefabe aber! Das ft auch ein Muterjchied zwihen der alter mid newem ;teir! 

©. in Detmold. Es foll in der Ehat neuerbings gelumgen fein, Weizen uad Hoggen 
am freugen und badurdı eine meue Wetreieart zm erzergen, welche bie Borzge des Weisens 
wir ber Genüghamfeit des Wongems vereinigt. Die Verihte über jene Beriue Mh jene 
eilt Borficht anzanehmen. Die reuzung wird von ben Lortintetben ale Wittel zur Ber- 
edelaug der Getreideneten lürgft atzewandt; dabei werten aber ſtets ner werihiebene 
Sarietäten einer und berieiden Art_ wie 5_B. bes Welyenb, dei_SHaferd orer der Werite 
verbeflert. MHnslührtiches barüber finden Sie in dem Artifel: „D Beretelumg der Ges 
treibearten“, „Hartenlante”, Rabrgamg 1Rsı (©. 575). 


o 708 > 
—9 N [3 Ss PR “ 
Allerlei Aurzweit. 
Damefpiel:Rufgabe, Kombinations-Aßr, Aufföfung des Stern-Mälbfels auf S. 636: 


SCHWARZ 





WEISS DBuchflaben-Rätbiel. 
Weiß zieht und gewinnt, Ju nordiicher Sage ein zahlreid, Geſchlech 
inächtiger Wötter, 

Nälhfel-Sonett. Bin ich ein Theil des Gefichts, ftelleit ein 
Was dir erjtrebt, Scheint wohlgelungen, Zeichen du um. 
Wenn fie, die deinen Blick entzüdı, Truß | Bor ß 
Dich durch mein erſtes Wort beglückt dei Rattet. 
Und liebend hält dich feſt umſchlungen. ——— ee 


Soc) bei ded Schiffale Wandelungen fen | weqt | men | der Surang mer | mie Enticheidet das Erſt⸗ "in blutigem Kriege 


4 5 ' x Und jolget das weite errungenem Siege, 
er „ ——— wie | und Kraft grün King | fe So lebt doch das Ganze, als Held bekannt, 
Weich jdhmell die Alten wie die Jungen. 3 Fir immer im duftigen Sagengewand. 

Ernſt möge deshalb auch das Ganze 


Heid goldnem Reif und Myrthenkranze 
Ten Bund der Neuvermählten weih'n 


Und ihnen jtete Mahnung fein, der al | er doch wind men 
Yır theilen tren und engberbunden - 


mi | m Ime de dahı | der Riten 
— — Auflöfung der Skal-Aufgahe Fir. 10 auf 5. 676: 


bam | die | hof Kehl: du erh noch Anf die angegebene Marte if ein Null oder Null omvert mir 
dan verlierbar, wem der Spieler im Borbaud ſiht. Im bieten 
Falle mug aber auch bei riamigem Gegenſriel das Spiel ver 
leren geben, der Spieler mag awsipielen, was er till, wenn €2 
x9 im Stat liegen und der eine Gegner 6 Wlast in Scheflen |car.), 





Tie heitern wie die trüben Stunden! bis | fen | fiel heert ter | es | Mes —— 6 Bart im Reth bet. alle z. Bbei ſolgenter 
5 — Wintelbande «1, cK, ch ı#, »D, sK, . all, nl, > 
Aufföfung des En auf 5. 676: fang | BE 
orf — Fort, 


Die Epielfübrung bedarf feiner Erläuterung, 


Ein unentbehrlices Familienbuch, ein bewährter Mathgeber in arfunden Tagen und ein frener Helfer in der Noth! 


In unferem Derlage beginnt foeben zu erfheinen und nehmen die meiften Buchhandlungen Beitellungen entgcaen: 


Das Bud vom gefunden und kranken Meuſchen. 
Don Dr. Carl Ernft Boch. | 


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Pieriehnte, nen umgearbeitete Ruflage. 
Mit jahlreichen Abbildungen in Dolrfchnitt und mehreren Lfarbtafeln. 


Herausgegeben von Dr. Mar von Zinmermann. 
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Alle U Tage erjcheint eine Lieferung im Umfana von ca. 5 Drudbogen, 


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übertreffliches Muſter Marer, leichtfaßlicher und im beften Sinne des Wortes voltsthümlicher Darftellung bleiben wird, ift dem 
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einzelnen Organe, ſowie über den Gefnndheits- und Kraukheitszuſtand derjelben unterrichtet und über eine vernünftige 
naturgemähe Pflege des Körpers im gefunden und kranken Iufande belchrt wird. 

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von Bimmermann, einem Schüler Boch's, wiederum auf das Sorsfältigite durchgeſehen und den Fortfchritten der jtetis und 
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deranegegeden unter verantiwertlider Netaftien von Adelf Aröner. Verlag von Ernt Hcil’ö Rachfelger im Lriptig Drimt von A. Wicde im Leirzig 





Illuſtrirtes es Familienblatt. — EEE von Ernſt Keil 1853. 


rn 1888, — In Halbheften 5 Pf. alle 12—14 Tage, In Heften & ü pr. ale 3—4 Woden v vom 1. Sanunz ‚bis 3. — 





Fortſebung. 


m Reſidenzhauſe der Dornburg regte ſich früh das Leben. 
Tas Audienzgemach wurde aufgethan. 
tangen Binſenwedeln die doſtbare Tabezerei ab, welche hinter dem 


Thronſtuhl der Fran Witwe 
die Wand bedeckte und das 
ſächſiſche Wappen, den Rau: 
tenfranz, darſtellte, und rüd» 
ten den niedrigen Seffel für 
die junge Herzogin Dorothea 
neben den Ehrenſitz ihrer 
Mutter. Die Pagen trieben 
mit einer Näucherpfanne bir 
eingeſchloſſene Luft hinaus. 

Als der Zeiger der Son— 
nenuhr am Thurm die zehnte 
Stunde wies, rollte das Hof 
ceremoniell wie ein Uhrivert 
ab. Der Zug der fürjtlichen 
Frauen ging nach dem Ans 
dienzgemach. Auna Marin 
in ſchwarzem Moorkleid, das 
blaſſe Geſicht vom Witwen: 
ſchleier halb verhüllt, Tief; 
ſich auf den Thronſtuhl nie 
der, Dorothea, eine weiße 
Straußfeder in der Hand, 
nahm ihren Seſſel ein. Wie 
Automaten reihten fid) an 
der einen Seite des Gemaches 
Hofmeilterin und Hofjung⸗ 
frauen, überein gekleidet, als 
trünen fie cine Livrei, an 
der andern der Schloßhaupt⸗ 
mann und ein Hofjunfer au⸗ 
einander. 

Die Bagen öffneten die 
Ihr. Auf der Schelle 
ſtand, tief ſich neigend, Acha⸗ 
tins, Dann glitt er unbör: 
bar vor und verbengte ſich 
abermals. 

Trelet naher, Here von 
Krombsdorff.“ ſprach Anna 
Maria in leiſem anädigen 
Tome. „Bir find gewärtig, 


1885 








Deutfdie Art, treu gewahrt. 


Eine Hofgeſchichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Aeyfer- 


' die Botfchaft zu vernehmen, mit welcher unfere lieben Neffen, die 
Lafaien jtäubten mit | Herzöge von Weimar, Euch zu uns gefendet haben.“ 
Zwei Finger der Tinfen Hand am Degengeiff, mit der rechten 


INT, 
de 
— 





Auf ver Pune del Foſangen. Originalzeichnung von Nobert Abmud. 





Nachdruck verboten. 
Alle Rechte vorbehalten. 


den febergeichmidten Hut 
geſenkt haltend, hub Ada 
tius feine Rede au: 

„Eurer fürjtlichen Gnaden 
ſendet meine guädige Herr: 
ſchaft ehrfürchtigen Gruß 
und läßt fund thun, daß 
meine quädigen Herzöge be: 
ſchloſſen haben, in der Mitte 
des Wonnemondes eine Sitz 
ang der Fruchtbringenden 
Gejellichaft in Weimar ab: 
zuhalten, und die Frau Her 
zogin Eleonore gedenkt, zur 
gleichen Jeit Die Hoch: und 
wohlgeberenen Damen zu 
fich zu laden, welche dem 
Bund der Tugendlichen an: 
nehören. Es iſt meiner 
Herrſchaft vornehmlichiter 
Wunſch, bei jelbiger Dccafion 
Eure fürftlichen Gnaden ein 
mol twicder zu schen. Zu 
mehrerer Anfenerung hat die 
Frau Herzogin mir dieſes 
Weſellſchaftsbrieflein mitge: 
geben.“ 

Das Knie beitgend, über 
reichte er dem  Fürftlichen 
Fräulein ein von mächti 
nem Wache ſiegel geſchloſſenes 
Schreiben. 

Dorotheas Augen waren 
während feiner Rede aufge: 
ſtrahlt. 

Auch über Die ſchwer— 
mülbigen Züge der Frau 
tive hatte ſich ein Lächeln 
nebreitet. Boll warmer Au 
erfennung ſprach fie: 

„Unfere lieben Vettern 
von Weimar bleiben immer 


WW 


die ernjten Fürſten, felbjt wenn fie geiellige Freuden planen. Sie 
berufen die Fruchtbringende Geiellichaft, die unter dem Zeichen des 
Falmbaumes Fürſten, Edelleute und Gelchrte vereinigt, um bie 
deuffche Sprache von fremden Worten zu veinigen, die heimifche 
Dichtung zu fördern. Und fie faden die Tugendfichen, welche das 
fchlichte Walten der deutichen rauen pflegen und zu Ehren bringen 
wollen. Ein hochverdienftliches Unternehmen dünlt uns dieſe 
Sejtivität,* 

Die Lippen der jungen Herzogin ſchürzte ein muthiwilliges 
Lächeln. . 

„Den Plan, die. Balmgenofjen einzuberufen, Bat‘ gewiß 
Herzog Albrecht geiponnen. Fremde Wörtlein ins Deutſche zu 
zwingen, ift fein liebites Paſſelelemps.“ 


Achaltius dachte bei fih: Eine erfahrene Dame hätte wicht | 


ſogleich den Namen des Havaliers genannt, 
ſchaft warb; laut aber ſagte er geichmeidig : 

„Herzog Albrecht hat allerdings großen Eifer bewieſen, da 
das Feſt geplant wurde. Doch glaube ich nicht, daß Huchderielbe 
allein an aelehrte Arbeit gedacht hat.“ 


der um ihre Hold» 


Dorothen erröthete leiſe, fuhr aber dennoch Fort zu franen: | 


„So würde unfer Wetter einem ammutbigen - Zeitvertreib 
nicht abhold fein?“ j 

Achatius fah fie erſtaunt an. Das war eine fonderbare Frage 
für eine angehende Braut. Doch mit fchmeichelnder Stimme ſprach 
er: „Ach glaube, der anmuthigſte von alfen wird heiß erſehnt.“ 


Ein noch dunlleres Roth jlog über ihr Antlit. 


Gedankengang. 
„Warum hat Herzog Albrecht alsdann wicht lieber heitere 
Spiele in Ausficht genommen?" jeßte fie ihr Eramen fort, 


Holla! Wo wollte das hinaus? Sie wurde dem Hofmeiſter 
Mühfam fammelte ‚er ſich zu der mit | 


immer undverjtändlicher. 
tiefer Verbeugung gegebenen Antwort: 
„Weil Hochdemſelben jetzo ſehr ernit ums Herz iſt.“ 


Sie wehte Tebhafter, faft ein wenig ungeduldig mit der 
jeder, als wolle jie damit alle Weihrauchwölkchen, welche ans den | 


Worten des Hofmeilters zu ihr auiftiegen, verjagen, um klaren 
Bid zu gewinnen. Dann fragte fie wie mit plötzlichem Entſchluß: 

„Blaubt Ahr, daß Damen und NKavaliere in Weimar zu 
finden wären, welche geſchidt jind, Diskurſe über zarte Gefühle 
zu führen gleich den Schäfern und Schäferinnen in der Aſtrea‘?“ 

Udatius war gänzlid) verblüft. Sacre Dieu! Das fragte 
man ihn! And zu welchem Zweck? Noch mehr auf jeiner Hut 
antwortete ex, doppeldentig gleich einem alten Orakel und jungen 
Hofmann: „Eure fürſtlichen Gnaden werden jich am bejten durch 
eigene Prüfung überzeugen können, daß man in Weimar ebenfo 
aut zärtliche Gefühle zu empfinden und darüber zu fprechen ver: 
mag wie an andern Orten.“ 

Die Frau Witwe hatte jchon fange ihre Tochter mahnend 
angefehen. Jetzt ſchnitt fie ihr die weitere Nede ab, indem fie die 
Audienz beendete. „Ueberbringt Eurer Herrſchaft Unferen freund» 
lichen Gruß und Danf, Wenn nicht wetterwendiiche Tage die Wege 
grundlos machen, gedenken Wir der Einladung Folge zu geben.“ 

Achatius zog ſich mit drei zierlichen Reverenzen zurück. 

Die Herzoginnen erhoben ſich. Ein leiter Wink der Fran 
Witwe entlich den Hofitaat. 

Die fürſtlichen Damen begaben ſich allein in das Gemach der 
Frau Witwe 

„Was ſchreibt Ihre Liebden von Weimar?“ fragte Anna 
Maria, auf ihrem hohen Stuhl Platz nehmend. 

Dorothea cilte nach einer Fenſterniſche, Die ſie ſich mit Der 
Sreiheit eines verzogenen Lieblings eingerichtet hatte. Zwiſchen 
Glavieymbel, Stickrahmen und Nähfäftchen ließ ſie jich wieder, 
erbrach den Brief und las: 

„An die Freudige richtet die Demüthige ihren ſchweſterlichen 
Gruß umd bittet fie, um ihres Bundesgelübbes willen bei ihr im 
Rautengärtlein einzukehren. Sie ſoll finden, was fie sich zum 
Zimmbild erkieſt hat: ein Virginal, das fie meiſterlich zu ſchlagen 
verfteht, und ein Glaslein Wein, von dem die Bibel ſagt: Er 
erfreut des Menſchen Herz.” re 

Ein Teifes ſilberhelles Lachen Fam über, die Lippen Dorotheas. 
„Die qute Eleonore! Es ijt ihre heiliger Ernſt mit dem tugend 
lichen Bund. Wer wird diesmaf das länafte Hemd genäht haben? 
Nun, ich für mein Theil gedenke, gegen die chrbare Langeweile 


Aber in ı 
ihren Augen war cin Ausdrud, als folge jie einem weitabgelegenen. 





mit diefem Hirtentäſchlein zu Felde zu ziehen.” Sie ariif nad 

ihrem Stidrahmen, über den ſich grüne Seide ſpannte. Ein 
vofenfarbiges Herz war in diejelbe geſtidt, das zierliche Flämm— 
lein zeigte, 

„Du willſt die alamode Spielerei doch nicht mit madı 
Weimar uchmen?“ ſagte die Frau Witive, „Wenn mich wicht 
| alles trügt, fo it Herzog Albrecht den franzölifchen Bräuchen 
ram. Er zog nachdenklich die Brauen empor, als Du bei der 
Jagdtafel die Silberſpitzen trugſt, gegen welche die Geiſtlichen als 
eine zu große Ueppigleit eifern, und ſah Dich mahnend an, fo 
Du ein franzöfiiches Wörtlein fliegen ließeſt. ug 

„Aber ex ſah mich doc; an, und meine anädige Mutter hat 
ſoeben gehört, er will mich wiederſehen,“ antwortete Dorothen 
übermüthig und zog einen Goldfaden durch die Nadel, 

„a, er will Dich wiederſehen,“ ſprach Aunag Maria wie 
aufothmend. „Nimm mun die gute Stunde wahr! . Zeige ihm, 
daß Du es vermagit, Dich feiner erniten Lebensführung zu fügen.“ 

Dorothea hob eigenwillig das Köpfchen. „Es wird plaifir- 
licher fein, ihn zu unter heitren zu befehren.“ 

Die Frau Witwe ſchüttelte jenfzend das Haupt. „Ein 
Mann läßt fich nicht ducch.die Frau „umwandeln. Nur aus 
höchſteigener Entſchließung ſchlagt er zuweilen einen andern Wen 
ein. Steter Widerſpruch aber erzürnt ihn und löſcht die Liebe aus.“ 

„Meine anädige Mutter wolle mir vergeben,” erwiderte 
| Dorothea mit heitrer Sicherheit, „wenn ich ihr entgegen die Hof; 
nung bege, daß durch Heine Disputationen eine wohlmeinende 
Affeltion angefacht wird wie der Funke durch das Blaſebälglein.“ 
Und ſie ſtickte die Flammen noch einmal ſo und zackig. 

Die Gedanken, die hinter der weißen darüber geneigten Stirn 
ihr Spiel trieben, waren nicht minder ſunlelnd und aufſtutzig. Sie 
ſchoben die Warnungen der Herzogin-Mutter bei Seite, wie friſch 
auffprießendes Laub das welfe der vergangenen Zeit, In - der 

Abgeſchiedenheit der Tornburg war der gebeugten fürſtlichen Witib 
"die Welt fremd geworden. 

D, Dorothea fannte fie beſſer. Sie wuhte, daß die Zeit 
jich wendete. Wie die Morgenröthe die Gipfel der Berge zuerit 
füht, fo wurden allgemach die Fürſtenhöſe von dem neuen fchönen 
Leben ergriffen, das aus Frankreich ſtammte. 

Eine Reihe heitrer Bilder gaufelte an ihrer Erinnerung vorüber. 

Wie fie in Altenburg bei ihrem älteſten glücklich verheiratheten 
Bınder das Ballet der Bayfans mittanzte, das ihre Schwägerin 
dem haushälteriſchen Gemahl abaeichmeichelt Hatte, wie fie in 
Kaſſel der reizenden Landgräfin ; Agnes half, die Tranzöfiiche 
Sprache am Hofe einzuführen, und in Köthen mit der Fürſtin 
Amöna die Acadlsmie des vrais amis ſtiftete. O, und was 
hatte die alte kurfürftliche Witib ihr hinter dem Faltfächer zuge 
flüſtert, als lie jüngjt bei ihr zum Beſuch auf der Yichtenbura 
weilte? Amı.Hofe der Pfalzgräfin Eliſabeth werde jeglicher, 
der feine Mede nicht. mit Franzöfiichen Worten würze — mit 
Permiſſion ſolle es geſagt Fein — für einen unverſtändigen Eifel 
verfchrieen. Ucberall waren cs die Damen, welche die franzöſiſchen 
Bräuche einführten. Und mit Aug und Recht. Denn fie errangen 
durch jelbige die hohe: Stellung, die ihnen ‘gebührte. 

Mährend der Audienz war ihr die Offenbarung geworden, 
daß auch ſie zu dieſem Verf berufen war, Ahr fiel die Aufgabe 
zu, in Weimar, dns noch im finſteren Thale lag, das neue Licht 
anzuzänden. 

Für das Gewebe, das ihre Gedanken nun zu jpinnen begannen, 
fand fie feine deutichen Worte. Alamode Praktilen, Intriguen 
und. Fineſſen wirbelten durcheinander wie drangen die weißen 
Bürhenblättden im Frühlingstwind. Aber Immer deutlicher trat 
aus_denjelben cin Bild hervor: ein hoher fürftliher Herr, der 
jein vergoldetes Rappier gegen einen Schaferſtab vertauſcht hatte 
und ſeufzend mit einem Meſſerlein ein Madrigal an ſie in die 

Baumxinde ſchnitt. — 

Ihre Zuverſicht hatte die Fran Witwe in ihren eigenen 
Anjichten, ſchwanlend gemacht. Wie alle Menſchen, die nicht viel 
Süd gehabt haben, mißtraute Anna Marie ihrem Urtheil. Und 
doch lajteten- das Hirtentäſchlein und die Meinen Disputationen, 
mit denen Dorothea jich umd den Herzog Albrecht erluſtiren wollte, 

‚ twieseine Sorge auf, ihr. , 

Schwerer Gedauten voll trat fie an das andere Feniter. 

Es war ein heitrer Frühlingstag. Flaumige Wolfen ſegelten 
den bfauen Himmel hin. Die Schlehenbüiche am dem 


uber 


— 2 


Felſen, der die Dornburg trägt, waren mit weißen Blithen über: 
füet. 
Wellen der Saale und rauſchten unter der altersbraumen übers 
dachten Brüde auf, die nad) dem von blühenden Kirichbäumen 
umfränzten Dörfchen Domdorf führte. In den Sonnenjtrahlen 
ſprangen übermüthig die Fiſche aus dem Geſtrudel empor, und 
drüben in der Feldſchlucht jagten ſich Hafen, machten ies 
und ſpitzten die langen Ohren. 

Auch die Gedanken der Frau Witwe begannen ein Fädlein 
zu fpinnen, aber nicht in fpitfindiger alamoder Art, ſondern 
nad) treuherzinem alten Brauch. Stand ihre Fuß nicht jo weich 
und warm auf dem braunen Bärenfell, das ihre von Herzog 
Albrecht verehrt worden war? Es hatte dem letzten Büren am 
Jnuſelsberg angehört und war von ihrem Lieblingsneffen erbeutet 
worden, auf einer Jagd bei feinem alten Better, dem Herzog 
von Eifenad). Sie fchuldete ihm noch eim Gegengeſchenk. Jetzt 
gedachte fie des zur Önfenjagd trefflich abgerichteten Hündleins 
Kiekebuſch, das fie von ihrem älteften Sohn erhalten hatte, weil 
Haſenbraten ihr Leibeffen war. Dies Hündlein wollte ſie ala 
jeltfame Berehrung dem jungen fürftlichen Heren durch den Hof— 
meijter fenden. Denn in ihrer Jugend hatte man für freundliches 
Entgegenfommen freundliche Erwiderung gehabt, nicht ſo lange Ber- 
jteden geſpiell, bis man ſich gar nicht mehr zu finden vermochte. — 

Indeffen ging Adatins wieder nad) der Wohnung des 
Schloghauptmanns hinüber. Er ſchaute zu dem Fenster mit dem 
Rosmarinjträuclein auf. Dasielbe war Icer. Aber bevor er 
ſich noch weiter nach Käthchen umzuſehen vermochte, ſtand ſchon 
ein Diener vor ihn, ter meldete, daß der Schloßhauptmann ihn 
zu einen Imbih, erwarte. 

Und num ging alles wie am Schnürchen von ftatten, daß 
Adatius kaum zur Beſinnung lam. 

Er hatte getaſelt, mit. dem Schloßhauptmanu eine Kanne 
Bein ausgeſtochen, fein Staatsfleid gegen den Meifeanzug ver: 
taujcht — er wußte nicht, wie. Nebt war fein Felleiſen bereits 
von flinfen Händen geſchnürt und wurde in den Hof getragen, 
wo feine Lente ſchon vorritien. j 

Dem bedächtiasten Knecht ſetzte der Schloßhaupfmann das 
Hündlein Kiekebuſch auf das Pferd. Das fand ſich dort ſchnell 
zurecht; denn es war gewohnt, mit auf die Kagd zu reiten; man 
ließ es erſt Taufen, wenn es an das Aufipiren der Hafen ging. 

„Ih bdanfe Euch für die herrliche Traftation,“ ſagte 
Achatius ganz jchmwindelig von der fchnellen Bedienung zu Frau 
von Tautenburg. 

Da fam Käthchen gejprungen. Nod hing ihr vom Tauben 
ſchlag ber ein Strobhalm, ein Federchen an Kleid und Haar. 

Ihre Eltern erſchraken. „Wo haft Du Deine Turteltauben ?* 
fragte ihr Bater. 

„O, mit denen hat es qute Weile,“ erwiderte fie athemlos. 
„Die fliegen mir nicht davon. Ich habe fie einftiweilen wieder 
in ihren Käfig geiperrt.“ 

Dem Hofmeiiter ging ein Licht auf. Wartet! dachte er, 
Ihr follt Euch und mic umionit abachett haben. Er nahm 
eine ſchwermüthige Miene an, ſeufzte und ſprach zu Käthchen: 
„Die Stunden, da ich traulich bei Euch weilen durfte, find fort 
aelaufen wie Wafjerbäche. Bald ſihe ich wieder in meinem öden 
Haus am Schloßplatz ſeelenallein.“ Er jah Kathchen herzbrechend an. 

„Dann komme vielleicht endlich Eure Gederei zur Ruhe,“ 
fuhr Frau von Tautenburg dazwijchen. 

Vor der Hand war diejelbe noch nicht einzudämmen. Er 
fente die Hand aufs Ser und jlüfterte mit bebender Stimme: 

Nun geb’ ic; Euch das ewige Adien und lebte Bewahr Dich Bott!” 

Er ſchwang ſich auf das Pferd. Seine Augen flogen an 
alle Fenſter der Dormburg. 

Sie waren von Frauenköpſen beſetzt. Da bog jich die 
rumdliche Hofmeijterin heraus; dort Iugten, durch die Buben: 
Scheiben ein wenig fchief gezogen, die ältlichen Geſichterchen der 
Hofjungfrauen herab. Selbſt aus der Daclufe guckten noch 
zierliche Kammermägdlein. 

Er nahm den Federhut ab, ſchwenlte ihn rings im Kreis 
gegen all die Frauen und Mägdlein, die ihre Hälschen nach ihm 
austreten, und ritt davon. 

- Käthchen ftand und jah dem Scheidenden nad. Unter dem 
Thorgewölbe ſchaute er noch einmal ſich um und warf einen 
Kuß zurück. Dann war er verſchwunden. 


Drunten im Thal gligerten zwijchen den grünen Wiefen die | 


11 


braune Nymphen grüne Kräutlein in die Warme Erde. 


innerung zu entfliehen. Aber fie ſaß mit ihm zu Pierde, 


oe a 


Sie lauſchte auf die immer ferner Hingenden Hufichläge; 
nun erjtarben auch dieje. Ach, wenn fie doch eines ihrer Täublein 
wäre, die ſich droben auf dem Dach des Thurmes fonnten! Die 
fonnten ihn noch exichanen, wie er, den Arm in die Seite geftemmt, 
auf feinem Sceden ſaß und fo Fed die Welt über die Achſel 
anſah. 

Der Schloßhauptmann raunte ſeiner Ehegeſponſin zu: „Ich 
glaube, die Käthe weint.“ 

Sie warf einen Seitenblid nad) dem jungen Mädchen. 

„Stellet Euch, als ob Ihr es micht fähe, Denn wenn man 
foldhen Liebeshandel erſt ausgerufen und benamfet hat, daun ijt 
er nimmermehr aus der Welt zu bringen, Er kommt ihre ja 
jept aus den Augen,“ 

Der Schloßhauptmaun rückte bedenklich ſein Hausbarett hin 
und her. „Nu, nu! unſere Herrſchaſt reiſt nad) Weimar und 
bat befohlen, dafı Ihr Euch ihrem Geſolge anichliehen jollt!* 

Frau von Tautenburg bob die Arme gen Himmel. 

„Auch die Käthe? Sollen wir das Yamm dem Wolf in 
den Nahen treiben? Und fie iſt aus allen ihren Fähncden 


herausgewadjien. Gott jei Dank, daß der leberfarbene Seiden— 
famelot noch da liegt, Grethe! lauf nad dem Schneider! 
ZTöffel, morgen früh reiteft Du nad Jena und holſt Gold: 


brofat zu einem Bruſtlatzt Suje, 
vorräthig zum Beipvengen der Gewänder?“ 


ijt noch Spilanardiwaſſer 
Sie ftürmte hinter 


‚dem Ingeſinde ber 


Kathchens Thränen waren ſchnell verfiegt. Sie ſchlug vor 
Freude die Hände zujammen. „Nad Weimar? Und ich be: 
tomme einen Teberfarbenen Seidentamelotrod? Was wird Retter 
Adatius für Augen machen!” — 

Beiter Achalius hatte im feinen Gedanken dem Bäschen 
wirllich das ewige Mdieu gegeben. Noch einmal ſah er fih nad) 
der Dornburg um. Dort lag das graue Gebäu mitten im Maien- 
arün. Das runde Haupt der Burglinde ſchaute über die Ring: 
manuern; an der Mittanfeite twehten mit Blüthenquäjtchen be: 
troddelte Birfen; gen Mitternacht zog fich der Hain am Burgberg 
herab. Nur die uralte Ulme vagte dunfel über die Buchen empor, 
wie es der Art des finjtren Baumes gemäß war, unter dem einſt 
dem Donnergott Opfer geichlachtet wurden. Denn nicht von 
Rofendornen, jondern vom alten deutichen Gott Tore feitet die 
Dorndburg ihren Namen ber. 

Der Blid des Hofmeifters fuchte nicht das ſteile Dach über 
dem Wohngelaß des Schlokhauptmanns. Er richtete ſich auf die 
fo hoch herab und jo weit in das Sand hinausichauenden Fenſter 
des Nefidenzhaufes, hinter denen die jchöne Dorothea weilte. 

Wie lautete die Löſung des Räthſels, das ihre Fragen ihm 
aufgegeben hatten? Nachdentlich ſetzte er feinen Weg fort. 

Aber endlich wippte er leichtſinnig mit der Neitpeitiche in die 
Luft. Ach, Hudelt euch weg, ihe nrübleriichen Gedanken! Dieſe 
Nüplein zu naden war Sadıe des Herzogs Albrecht. Die Sonne 
hatte ſich auf ihren goldenen Wagen geſetzt, der Vögel kleine 
Kumpanei jpazierte tirillirend durch das Feld. Dort pilanzten 
Wie 
wäre es, wenn er gleich Pan mit ihnen um die Stauden tanzte? 

Kaum noch mit den adligen Inſaſſinnen einer Burg kareſſirt 
und num ein Bauerndirnlein geſchwenkt: alſo dangirt ein ala: 
moder Monſieur mit feiner Paſſion. Ihm gehört ja das ganze 
Frauenzimmer. 

Da tauchte vor feinem innern Auge eine Geſtalt auf, ſchlanl 
und zart, mit einem von dunklem Haar umſchloſſenen Köpfchen. 

Ob ihm die Gertrud von Heilingen auch achörte ? 

Diable! Er hatte sie noch gar nicht. gewollt. 
ihm viel zu langweilig, wm ihrer zu gedenfen. 

Er aab jenem Scheden die Sporen und fprengle an den 
braunen Nymphen vorüber, ohne fie nur zu jeben. 

In langem ſcharfen Trabe ſuchte er der langweiligen Er 
und 
als er demselben endlich ein Verſchnaufen günnte, machte fie ſich 
wieder maufig. 

.  Schier unausstchlich dünkte ihn die blaſſe Hofjungfran in ihrer 
großen weißen Schürze, mit der ſie allezeit angetban war, Nein! 
Bei Feitlichkeiten, wenn fie in dem Staatsrod von braumem feidenen 
Vorſtatt erichien, den der Herzog Wilhelm den Hofjungfrauen feiner 
Gemahlin zu Weihnachten geichenkt hatte, entitellte das Vortuch 
| fe nicht. Dafür teng fie alsdann ebenso unabänderlich ein 


Sie war 


< 12 © 


altes Familienſchmuckſtück. Dickſatt hatte er das Halsband aus 
Beruftein, an welchem jedes Glied ein veritcinertes Würmlein 


umſchloß. Er vermochte es gar nicht mehr zu erfehen, wenn fie | 


darin an ihm vorüberwandelte mit dem zarten Antlitz und den 
großen dunklen Mugen, die fo ernſt blidten. 


Ihn fchaute fie nie an, er mochte ihr nun in den fürftlichen | 


Sälen begegnen, oder zum niedrigen Fenſter der Kanzleiftube fich 
hinausfegen, wenn fie abends um fieben Uhr nach der Burg- 
mühle hinüber ſchrikt, wo ihre gänzlich verarmte Mutter einen 
Gnadenſitß von der Herrſchaft erhalten hatte. " 

Welche Zeit mochte es wohl jet fein ? 

Er zog feine ſchlagende Halsuhr hervor. Fünfmal erflang 
ihr helles Stimmehen. Und da war Der Meilenjtein, der ihm 
anzeigte, daß er nod zwei Wegſtunden bis Weimar zurück 
zulegen hatte. 

Aber wahrhaftig! Es fiel ihm nicht ein, durch das Mailer: 
thor des Luftgartens beimzureiten. Was ning es ihm an, daß 
die andere Hofjungfrau, die blonde Benigna, ſich von ihm hatte 


aufbinden laſſen, er fchre durch dasjelbe zurück, und nun wahr: | 


icheinlich dort Herumtrippelie? Er wiirde durch das Kegelthor 
einziehen, wenn es auch ein Umweg war md ihn an der Burg— 
mühle vorüber führte. Zum Teufel! Er fürchtete jich wahrlich 
wicht vor dem Heinen Tugendſpiegel. 

„Run Schritt!” befahl er feinem Gefolge. „Bor fichen Uhr 
brauchen wir nicht in Weimar zu fein, und ich denke nicht daran, 
meinen Scheden zu Scanden zu reiten.“ 


Als die Tage famen, an denen die Sigungen der Palm- 
aenofjen und der Tugendlichen stattfinden follten, machte der 
Heilersberg. der alte Wetterprophet für die Refidenzftadt Weimar, 
jeinem Namen Ehre: Har hob ſich fein breiter Nüden vom blauen 
Himmel ab. 

Schen am frühen Morgen waren die Bewohner der Stadt 
auf den Füßen, um von den fremden Gäjten jo viel ala möglich 
zu erichanen. Aus den abgelegenen Rosmaringäßlein fprangen 
die Heinen Handwerker über die Schritifteine nach dem Geleits- 
haus, wo die Einziehenden das Wegegeld entrichten mußten. 
Wohlhäbige Bürger wandelten auf dem ſchönen neuen Pilafter 
ber fürnehmen Rillergaſſe, in welcher die Häufer des auswärtigen 
Models Tagen, der zu dem Feſt erwartet wurde. In der Schloß: 
gaſſe fanden ſich die entfernteſten Muhmen und Baſen cin, ge: 
ſchmückt mit friſch geitärkten Halskrauſen, das jchönjte Meſſer au 
die Gürtellelte gehangen, und nahmen Platz in den Erkern. 

Und alles Bolt fchante auf und hordte, wenn die Palm 
genoflen hoch zu Roß einzogen, einander mit ihren Urdensnamen 
zurufend: „Grüß' Gott, Nutzbarer!“ „Schönen Dank, Wohlbe 
tommender!“ und die Tunendlichen aus den langen Kulſchen, im 
denen fie ſaßen, mit Frühlingsſternen und Himmelichlüfeln ſich 
Gruße zuwinkten. — 

Auch aus einem Fenſter der Burgmühle ſah ein feines ält— 
liches Frauenautlitz voll Antheilnahme auf die Reiter und Wagen, 
die über die Kegelbrücke zogen. 

Der Schnitt der fteifen Haube, die Diademartig das ſchmale 
Geſicht feſt umſchloß, und die vornehme Haltung der rau ver: 
vietgen, daB fie nicht in die Sippe des Müllers gehörte, Sie 
zollte andy den mit Süden heran: und Himvegtrabenden Eſeln 
wicht die mindejte Beachtung. 

„Michel,“ rief fie einem krummen Knecht zu, der vor der 
Thür an einem Sägebod ſtand und einen ebenjo krummen Weiden: 
itamm Hein ſchnitt. „Iſt das dort nicht der Lehnsvetler, der 
unfer Gut befam, als mein feliger Eheherr ſtarb, ohne Söhne zu 
hinterlafien? Das Gefinde trägt weih ünd bfau, die Heilingen- 
schen Wappenfarben. Den wird ber Wirth ‚Zum güldnen Ring‘ 
arg bejwaden; einem Edelmaun berechnet er allezeit achtzehn 
Pfennige für die Nächtigung.” 

Der Knecht ſchaute auf. Dann brummie er: 

„Dierber zu fahren, dazu Haben fie Geld. Das Alten 
häuscen, darin Ahr mit der Jungfrau Trude von Kechtswegen 
einen Sitz hattet, lonnten fie nicht wieder ausfliden, als es von 
den Staijerlichen bei der Einlagerung zerjtört worden war.“ 

„Du mußt nicht immer murren gegen die Fügungen Gottes," 
verwies Frau von Seilingen. „Er hat alles wohl gemacht. Ohne 
unſre Noth wäre die fürſtliche Herrſchaft nicht darauf gekommen, 


die Trude als Hofjungfrau zu nehmen, und mir Hat ihre Gnade 
diefes fire Lolament in Dero Mühle angewieien, wo auch Du 
einen Unterichlupf gefundu haft. Während Du das gefchenfte 
Holz ſpalteſt, folltett Du nur voll Dankbarkeit fein.” 

Der Knecht brummte etwas in feine alte Meide hinein und 
fügte weiter. 

„Michel,“ ertönte wieder die Stimme, „Hoffentlich hat der 
Schneider jein Bedenken iiber das Hoffleid, welches er für mic 
machen foll, bei Seite geftellt, und ich befomme jelbiges zur 
rechten Zeit,“ 

Michel zog die ſchieſe Schulter noch höher empor. „Der 
Meiſter kratzte fich gewaltig hinter den Ohren, als ih ihm Euren 
Befehl austichtete, daß er das Vordertheil von dem alten aſchen— 


farbigen Brofatmäntelchen des feligen Here, das Nüdtheil aus 


Eurem Zindelrock machen jollte.” 

„Das verfteht Ihr Lente nicht,“ ſagte mit ruhiger Würde 
Frau von Heilingen. „Bei Hofe zeigt man fich wicht von hinten.” 

Der Knecht fügte und brummte weiter. 

„Michel,“ erſcholl es wieder über ihm. „Sorge, daß ein 
paar Steine in den Schmut der Straße geworfen werden, auf 
denen ich morgen hinüber jchreiten kann, wenn ich zu Hofe ache.” 

„Der Quadt ift ara,“ ſagte der Knecht, „jolltet Tieber zu 
Hauſe bleiben.“ 

„ans verftehit Dur nicht,“ belehrte fie ihn von oben hevab. 
„Eine Edelfrau darf ſich ihr Recht nicht nehmen laſſen, der 
jürftlichen Herrichaft aufzuwarten. — Vergiß nicht, daß Dein 
blau und weiß geiheilter Mantel wohl ausgebürftet ſei, wenn Du 
nit dem Spieh mir folnit, wie es ſich für die alte Fran von 
Beilingen geziemt.“ 

Dept ftellte Weichel die Säge aus der Hand. „Beitrenge 
Frau! In dem getheilten Mantel lachen mich alle aus, Jhunder 
haben die Knechte, Lalaien werden fie genannt, Wämſer und 
Hofen von einer Farbe, und Fein Menfch trägt einen Spieh 
hinterher, ſondern abends ein Stabliht voraus." 

Frau von Heilingen fchaute gelaflen und erhaben auf ihren 
gelränlten recht herab. „Laß fie lachen! So bin id Schon zu 
Hofe gegangen bei der Großfraumutter der jeßigen Herzöge und 
habe immer mit Ehren bejtanden. Und der liebe Gott wird 
mich fchon behüten, daß ich auch ohne Stablicht nicht in Den 
Quadt falle.“ 

„Der liebe Gott ſoll auch alles machen,” rief der Knecht unwirſch. 

„Wenn Er will, werben wir auf Engelsfitigen getranen,“ 
enigegnete fie zuverlichtlich und ſchob mit der ſchmalen welken 
Hand geruhig das Feuſter zu. — 

Auf den weiten Schloßhof zu Weimar rannte die Diener 
ichaft durch einander wie Mmeifen in einen veritörten Bau. 

Plötzlich wandten ſich die Köpfe der jungen eilfertigen Mägde 
nach dem Schlofthor. 

NAchatins von Krombsdorif ſchritt durch dasſelbe herein 

Die Amme des kleinen Prinzen, eine Thüringer Bäuerin in 
hoher Bändermühe, lachte ihn am, als ſie, das Herrlein auf 
dem Arm, an ihm vorüber nad bem welichen Garten wandelte. 

Er winkte ihre einen Gruß zu, während er jeinen Hut vor 
dem Heinen Prinzen fhwenfte Aber unter den halb aejenkien 
Wimpern hervor fpähten jeine Augen ſcharf an beiden vorüber. 

In dem Laubengang, der vor dem Grünen Schloß), der 
Reſidenz der jungen Herzöge, ſich Hinzog, ſchimmerte etwas Weißes; 
Achatius Tenkte feine Schritte dahin. Es war die hübſche Silber 
wäjcherim mit ihren weißen Mefjertüchern, die ihm erwartungsvell 
entgegenſchauie. 

Goidmägdlein!“ flüſterten ſeine Lippen, während er, ohne 
eine Miene zu verziehen, an ihr vorübereilte. 

Er trat in das Grüne Schloß ein. 

Hacenſchuhe Happerten über ihm auf der Treppe, Er hordite 
geipannt. Es war die blonde Benigna, die ihm entgegen fam. 

„Ach, Abe ſeid es, holde Nymphe?* sprach Achatius mit 
ſüßem Ton und enttäuſchtem Geſicht. 

„Haltet mich ja nicht auf,“ rief fie, indem fie zugleich 
ſtehen blieb, „Die Frau Herzogin bat mic in die Häferer zur 
Kaſemuller enifendet. Ihre fürftliche Gnaden wünſchen Schafkäfe 
bei der Tafel morgen zu geben.“ 

„Sir den Schaffäfe habt Ihr Zeit, für den Schäfer nicht,“ 
entgennete er mit galantem Borwurf und entichlüpfte auf der 
Wendelſtiege. 





IH UHeuhansnez 


Al 


# 


——— 


Der ſtranſe Aunfller. 
Nad) dem Oelgemälde von €, Ravel. 





714 >» 
Fröhliches Sachen lönte zum Korridorfeniter herein. Er Tafel, die morgen ftattfinden wird, jollen anders geordnet 
machte Halt und ſchaute hinaus. Driben im Rothen Schloß, dem | werden. Aber,“ fehte er flüfternd hinzu, „ein Baar muß doch 


ehemaligen Witwenſitz der Großmutter der jeßigen Herren, wurde 
das Loſament fir. die fürftlichen Gäſte hergerichtet. 
—In den Roſenkammern, wo die Tornburger Herrichaft wohnen 


follte, waren die Fenſter geöffnet, und die, Hoſwäſcherinnen zogen 


den Prühlen im den marmornen Bertjtellen die Gewande über. 
Als fie feiner. anfichtig wurden, ſtießen fie ſich Eichernd an und 
luglen nach ihm aus. 

. Plöplich verichwanden fie vom Senfter und vannten au ihre 
Arbeit. 

Da. war. gewiß die Gertrud Heilingen jept drüben eingetreten. 
Der Heine tugendliche Sanertopf! 

Er fonnte micht an fie denken, ohne fich zu ärgern. War 
68 denn etwas jo Schlimmes geweien, dab er ihren Wen nadı 
der Burgmühle ein paarmal gekreuzt hatte? Mufte fie ihn darum 
fo ſtreng anſehen? Ex hatte fie einmal im Vorübergleiten gefragt: 
„Habt Ihr Eure Augen nur um zu ſtrafen?“ Seitdem ſah fie 
ihn gar nichtmehr an. Berbammt! 

Ein paar Minuten jpäter Schlenderte e ex auf dem Berbindungsgang 
nach dem Nothen Schloß hinüber. Seine-Nugen ſpähten in die 
Tiefe‘ des’ dDämmerigen Korridors, wo etwas Lichtes auftauchte. 
Richtig! Da war die große weiße Schürze, Mit rubigem 
Schritt in hofmäßiger Haltung kam Gertrud von Heilingen heran. 

Achatius mußte‘ plöplich tief aufathmen. War er zu raſch ge: 
gangen? Zum Teufel mit dem beflemmenden Gefühl! In feiner 
Halb Läfjigen, halb hevausfordernden Art trat er ihr entgegen.‘ Ich 
wünsche Euch einen gelögneten“ Morgen,“ ſprach ex und ichlofi 
fi dann, als ſei das ſelbſtverſtändlich, ihrem‘ Wandelichritt an. 
„Ich dauke Euch,“ jagte fie leiſe, ohne daß ihr zartes Ge 
ichtchen ſich nad ihm wendete. Nur eine feine Rofenfarbe jtien 
in ihre Wangen, und ſie ging raſcher vorwärts. 

„Warum fo eilig?“ fuhr er nedend fort, ohne den Blid 
feiner” muthtwilligen Augen von ihr zu wenden. „Kommt doch 
jeglicher Menſch ſchließlich nur an dem Ziel an, nach welchen 
jein Magnet ihn - zieht!“ 

Sie wandte, ſich umvilkig ab, 
Sponuitich- auf ein Feuriges Pferd. Kech fuhr er fort: „br 
habt, gewißlich audı -die v Aſtrea? gelefen, und da fteht ge 
fchrieben: ‚Als der liebe Gott die Menfchen ſchuf, berührte ex 
die Seelen “der :Weiblein mit Magnetftüden und ließ unter 
diejen aladann die Männer wählen, Jeglicher muß mun dic 
Frau lieben, deren Magneten er erwiſcht hat, und fie iſt ver- 
obligivet, ibm wieder hold zu fein. Dagegen hilft lein Widerftand, 
Die Stunde kommt doch, da ſie unabwendbar zu einander ſtreben. 

„Ich Habe’ auch geleſen,“ antwortete ſie kalt, „dah es 
Männer giebt, die von jedem Maguetjtein einen Splitter. ſich an: 
geeignet haben und darum? Vegehren tragen, alle Frauen an ein 
Schnürchen zu -veihen» und ‚hinter ſich herzuziehen.“ 

Seine ſchlanke Geſtalt duckte ſich ein wenig; aber er lich 
üch nicht aus der Faſſung bringen, fondern antwortete dreijt: 
„Biekleicht thut Ihr einem Unſchuldigen unrecht. Zuweilen irrt 
ein Schäfer- lange unſer den ſchönen Hirtinnen umber, dieweil ex 
die -Mechte nicht finden kann.“ 

„Mein,“ eutgegnete ſie gelafien und feſt, „dieweil er keine 
Treue? hat. Aud) ich wünſche Euch einen geſegneten Morgen!" 
Sie verihwand in der Apotbefe der Herzogin. 

"  Esrgeichab dem gewandten Hofmann zum erjten Mal, dafı 
er- mit offenem Muud vor einer geſchloſſenen Thür jtand. 

„So drehe Deine bitteren Billulen!“ murmelte ex geimmig. 
Aber wie ſie ihn angeichen hatte! So vorwurfsvoll! Und wie 
das Wort „Treue“ austihren Munde Hang! So edel und warm, 
als füme es aus der tiefiten Tiefe des Herzens. 

‚ Er hatte feine Zeit; fich den lieblichen Laut nochmals ins 
Gedãchtniß zurück zu vufen. 
' Helle Stimmchen ertönten, 

„Herr. Hofmeister! Herr Hofmeiter!“ ſchallte es im Korridor. 

Ein Schwarm von Vagen in Galawämſern, mit goldenen 
Schleifen auf den "Schultern und ſeidenen Röslein an den Knie— 
bandern, umringte ihn. 


Das wirkte gerade wie 


„Mein Herzog! Wilhelm ſendet Euch dieſe Abſagen Iprach 


der eine, mehrere Schreiben überreichend. „ürkt Ludwig 
von Köthen entichuldigt ſich mit einem Todesfall, der Herzog 
von Altenburg mit Unpäßlichkeit. Die läge an der großen 


wohl unverrüdt neben einander bleiben: Herzog’ Albrecht und —* 

Achatius unterbrach ihn. „Mein junger Freund, merke, Dir: 
Es giebt Dinge bei Hofe, die nie ansgeiprochen, Sondern mur 
erratben werden.“ 

Er nahm die Schreiben an fich. 

„Herr Hofmeister!“ Hang es abermals athemlos den Ber 
bindungsgang entlang. Der Heine Conz, Herzog Albrechts Page, 
jagte erhibt, mit verwirrten Zoden heran. „Wo ift die Sendung 
aus Erfurt für meinen Herrn?“ 

„Am kühlen Keller,” war die Antwort, 

„Und das jammelne Hundehalsband mit dem  filbernen 
Namenszug? Kielebuſch fol uns zum Empfang. der fürftlichen 
Damen von der Dornburg benleiten.” 

„Der Hundejunge verwahrt es.“ \ 

Der fchlanfe Heinz, Herzog Bernhards Page, hub hochmüthig 
jein qebräuntes Gelichtchen. „Wegen ein paar Damen reunſt Du 
umber, als jtünde eine Battaglia bevor?“ 

„Monjieue Heinz,“ ſprach Adyatins mit gezwungenem Lachen, 
„äter wird Dir die Einjicht tagen, daß uns manchmal auch 
mit einer Dame eine Battaglia bevoriteht. Aber was willit Du?“ 
wandte er jich an den Pagen der Herzogin Efeonore. 

„Könnt Ihe noch dieſes Gericht für die Tafel beiorgen ?” 
fragte diefer, auf einen langen Speifezettel deutend, wo ein Wort 
von der Herzogin Hand friſch geichrieben ſtand. 

„Ein Kavalier vollbringt alles, was feine Herrſchaft ver 
langt," sagte Achatins, inden er das Gericht ftudixte. „An 
Hänflingen und Butterfaltern ijt fein Mangel im Webicht; und 
ein paar ſchlanke Libellen ſah id) geſtern Abend bei der Burg 
möühle über der Alm flattern.“ 

Er hätte die Burgmühle gern wieder verichludt. Nun 
war auch ihm. geichehen, daß der Mund überging, wovon das 
Herz voll war — das Herz? nein — morbleu! — die Galle. 

Neben ihm jchrie es auf: „Die Burgmühle!“ daß er zu 
fammenfuhr. Es war der Heinfte Page „Hilf, Himmel! Mein 
Herzog Ernſt hatte mir befohlen, eine Bibel hinüber zu tragen zu 
Frau von Heilingen. Die ihrige it von dem kaiserlichen Voll bei der 
legten Einlagerung verbrannt worden. Und ich babe es vergeſſen.“ 

„So lauf!“ nedte Eleonorens Edeltnabe. „Vielleicht tätichelt 
Dir die Jungfrau Gertrud twieder die Baden wie neulich, als 
Dur fo Schön in der Kirche gefungen hattejt.* 

Eine dunkle Röthe ſchoß in Krombsdorffs Gejicht. 

„Dummer Junge!” fuhr er den Kleinen giftig an. 
Du Dich täticheln läßt, wächſt Dir kein Schnurrbart.“ 

Eine Fanfare unterbrach ihn. Die Hoftrompeter, welche von 
dem hohen Schloßthurm die nahenden fürſtlichen Gäſte ankündigen 
follten, blieſen gen Djten den Genf. Es war das Beichen, daß 
der Reifezug’der Dornburger Herrſchaſt in der Ferne fich zeigte. 
Die Pagen ftoben davon. Achatius flog nach den Ghemächern 
des Herzogs Albrecht. 

Die Thür des Vorzimmers wurde aufgethan. 

Die befehlende Stimme des Herzogs rief den herbeieilenden 
Lalaien zu: „Miller! Schaffe Sofort das Stammbuch der Frucht: 
bringenden Gejellichaft in das Archiv zurüd! Und Du, Martin, 
trage den eingeliegelten Brüderlhaler zu der Witwe des Sekretarius, 
die mein Sinnbild als Palmgenoß geſtickt hat. Ach laſſe ihr 
meine Zufriedenheit ausdrüden. Der grüne Atlas it fauber ge 
halten, der Weinjtod ohne Blätter und Trauben ſo ſchlicht, wie 
ich befohlen *habe, der Spruch: Es Toll mod werden‘ ohne 
Schnörkeleien.“ 

Mit raſchem klirrenden Schritt trat dev Herzog heraus, Die 


„Wenn 


hochgewachſene Geſtalt knapp umſchloſſen vom nägleinfarbigen 


Sammetwams, das troß des goldenen Poſamentes einen ſchlichten 
Eindrud machte, 

Adatius verbeugte ſich tief. 

Der Herzog neigte Teicht das Haupt. „Iſt alles-in Tromung ?“ 
fragte er im Weiterichveiten die Handſchuhe überjtreifend. 

„Eine Hoffungfrau hat jveben in den Roſenlammern die 
legte Umschau aebalten, * berichtete Achatius chrerbietig, indem er 


"Dem Herzog die Treppe hinab jolate. 


Den braunen Schnauzbart des Herzogs lräuſelte ein Lächeln. 
„Was das Frauenzimmer thut, iſt Euch allegeit unverborgen,“ 
enwwiderte er mit harmlojem Spott. „Ahr folltet eigentlich im 


> 


715 


Ralmenorden als Sinndild das Kräutlein Liebftödel und den | 


Namen: der Allenwärtsgirrende führen.“ 
Achatius Tächelte gehorſamſt mit. 


„Alsdann würde mein 


alieiniger Troſt ſein, daß in dieſer hochanſehnlichen Geſellſchaft 


die Namen oftmals mit den Qualitäten ihrer Träger in Wider: 
ſpruch stehen. Fürſtliche Gnaden heißen der Unanfchnliche; die 
Damen in Frankreich nannten Hocydiefelben einen beau Alman.“ 

Herzog Albrecht wehrte mit einer Handbewegung ab. „In 
Frankreich wedelt die Schmeichelei mit ihrem Fuchsſchwanz.“ 

Er trat aus dem Schloß. Ein huldvolle Gruß dankte 
jeinem vor demjelben verfammelten Gefolge. Tann ſchwang er 
ſich auf das apfelgraue neapolitanische Leibpferd, und fort ging 
es auf den Wen gen Dornburg hinaus. 

Bon der Anhöhe, welche Weimar nad Dften hin umſchließt, 
nahte der Neifezug der Dornburger Herrichaft. 

An feiner Spige ritt der Schloßhauptmann mit den Pagen, 
Trabanten fchloffen ihn; dazwiſchen jchiwankten die langen Wagen. 

Die erjte Kutjche mit den vergoldeten Sparren, unter denen 
fi) blauer Sammet ausspannte, den Engelsföpichen auf dem 


o 


Er horchte auf; aber wie der Eichbaum nicht erſchüttert 
wird, wenn ein muthwilliges Lüftchen in feine Zweige führt, 
ſondern nur heiter vanfcht und flüftert, fo erwiberte er froh— 
gemuth, jedoch mit fefter Betonung: „Glückliche Blumen! Stät und 
unbeirrbar gebt das Licht, dem ſie zugeeiqnet find, feine Bahn.” 

Die Fran Witwe fah mit Schreden bereits die Disputationen bo> 
ginnen und unterbrad) diefelben, indem fie Befehl zum Aufbruch gab. 

Herzog Albrecht lenkte fein Pferd neben den Wagen. 

Aber die fürſorgliche Multer hatte vergeblich den Faden der 
Unterhaltung abgejchnitten. Wenn auch die Lippen des jungen 
Paares jchwiegen, die Augen ſprachen um: fo beredter. Sein 
halb lãchelnder, Halb ſpöttiſcher Blid ſchien zu fragen: Alfo haben 
Eure Gnaden dero Spibfindigfeiten und Häfeleien nicht auf 


der Domburg gelafjen? 


Himmel, barg gleid) einem Schmuckläſichen den Fojtbarften Anhalt, | 


die beiden Herzoginnen. — Der blaffen Frau Witwe gegenüber 
ſaß Dorothea, halb aus dem Sammetmantel geichlüpft wie ein 
ausfriechender fchöner Falter, das fteile Filzhütchen mit der diden 


Goldſchnur tief in die Stirn gerüdt. Aber der ſchirmende Schatten | 


vermochte nicht zu verbergen, wie das feine Norallenroth in ihre 
Wangen jtieg, das der jungen Fürſtin eigen war, 

Herzog Albrecht jaufte im Galopp heran. Huf einen Winf 
der Frau Witwe hielten die Sattelknechte das perlfarbige Sechs— 
geipann an. Neben dem Wagen zügelte Herzog Albrecht fein 
Pferd und zug den Hut. Sein edles offenes Antlig trug den 
gefammelten Ausdruck, der ihm allezeit eigen war. Unter den 


hochgeſchwungenen Branen ſchauten die Augen fo Har wie immer, | 


Nur da fein Blick von der Fran Witwe zu der Schönen Dorothea 
hinüber flog, huſchte ein leiſes gut gelauntes Lächeln über die ſtolzen 
Züge, als fei er, in Erinnerung an die Dornburger Erlebniffe, 
getwärtig, fie mit einer Nederei aus ihrem Hinterhalt hervorbrechen 
zu fehen. Aber es war ſogleich wicder verſchwunden, und mit 
volllommener höfiſcher Gravität redete er die Herzoginnen an: 


Namen der Gebrüder von Weimar willtommen zu heißen. Wir 
jagen Ihnen innig Danf, daß Sie den frohen Tag, den Gott uns 
in der ernten Zeit fchenkt, durch Ihre hohe Begenwart verfchönen.“ 

Unna Maria biidte mit mütterlicher Zärtlichkeit auf ihn. 
Auch wir find erfreut, einmal wieder bei unfern liebiten Ver: 
wandten weilen zu dürfen,“ antwortete fie. „Mir wurde heimiſch 
zu Sinn, als id) den alten Schlofthurm auftauchen jah. Unter 
jeinem Schub habe ich das erte alüdliche Jahr meiner Ehe ver- 
lebt. Mber zu jo Ächmerzlich Fühem Gedenken lieh meine liebe 
Tochter Dorothea mir feine Zeit. Sie rief: ‚Herzog Albrecht 
reitet uns entgegen‘, als meine ſchwachen Augen nod) nichts zu 
erfchauen vermochten denn ein paar dunfle Bunfte in der Ferne.“ 

Ein warmer Blid des Herzogs traf Dorothen. 


Und ihre übermithig ftrahlenden Augen antworteten: O, 
Wir führen eine ganze Rüftlammer derſelben mit Uns. 

Auch das Gefolge begrüßte fih mun. Die Savaliere er— 
neuten alte Belfanntichaft, und das Hündlein Kielebuſch bezeigte 
feine Ehrfurcht dem legten Knecht. —23 

Im zweiten Wagen ging Käthchens Mündchen wie ein 
Mühlwerk. „Mein Vetter Achatius meinte ſchon, ich ſei Schön 
im fartefnen Nödlein. Und nun beinge ich gar ein Teberfarbenes 
Seidentamelotfleid mit, Mein Better Achalius trägt meine weiß 
und roth geftreifte Schleife allezeit als Favor bei ſich. Mein 
Better Achatius weiß gar nicht, daß ich im Gefolge Ihrer Gnade 
bin. Was wird mein Vetter Achatius jagen?“ 

Selbftbewußt drehte fie ihr Geſichtchen hin und her; es war 
lirſchbraun gebraten von der Sonne, und auf dem Stumpfnäschen 
tauchten Sommerjprofjen auf. 

Die beiden Hofjungfeauen, neben denen jie auf dem Müd 
fig ein winziges Plägchen einnahm, wurden grünlich vor Aerger, 
und ihre Mutter trug eine Zornesfalte auf der Stimm. Nur die 
Hoimeifterin achtete nicht darauf. Sie war einzig befchäjtigt, ihr 
weiß und roth angeftrichenes Geficht durch den Schleier gegen 
die Sonne zu jchüßen. 

„a, das iſt eine richtige Stadt,“ -jubelte Käthchen, als die 
Kutſche durch das bethürmte Thor einfuhr. „Gott ſei Dank, daß 


‚ wir einmal aus dem Heinen Nejtchen heraus gekommen find.“ 
„Eure Gnaden wollen mir die Huld gewähren, Sie allhier im | 


„Eure | 


Gnaden wuhten, daß ich mir nicht nehmen lajlen wide, Sie als | 


Erjter in Weimar zu begrüßen,“ ſprach er. 

Ihre Angen begegneten ich, und ein paar Athemzüge lang ſtockten 
die förmlichen Reden. Dann fuhr er fort, und cs fag ein herzlichen 
Klang in feiner Stimme: „Meine Worte find fchlicht, und ich Habe mir 
derohalb Fürfprecher erwält, die holderen Gruß zu bieten vermögen.” 

Er winkte dem Pagen, der ihm einen verhüllten Gegenſtand 
überreichte. Herzog Albrecht löjte den Silberflor, und es zeiate 
jich ein Strauß von prächtigen Tulipanen, die, noch nicht lange 
ans Holland eingeführt, als eine große Koſtbarleit galten. 


Freudig überrafcht nahm Dorothea den Strauß in Empfang. 


„D die herrlichen fremdländiſchen Blumen!“ vier fie entzüdt, ſich 
über diefelben beugend. „Weld Schönes Präſent!  Scheinen 
nicht Purpurſlammen in Diefe weißen Blätter zu Schlagen? Iſt 
der Kelch hier nicht wie mit goldigem Licht erfüllt?” 


Dafür find fie dem ſtrahlenden Tagesgejtien jugeeignet,“ er: 
widerte Albrecht, in das Anſchauen ihres froh bewegten Antliges ver: 


jenft. „Wie die Sonne über den Himmelsbogen wandelt, jo drehen 
ſich die Blumenfelche ihr nach und ſchließen ſich mit ihrem Scheiden.“ 

In Dorotheas Augen funfelte es Hinterhaltig. Sie Lädelte, 
ſeufzte feife und ſprach: „Südliche Sonne! Welch treu ergebener 
Gefolgſchaft darf jie fich rühmen!“ 


Sie hopjte vor Freude auf dem Sitzbrett in die Höhe. 

Der Schlohauptmann, welcher, den Zug ordnend, am den 
Wagen herangeritten war, fagte: „Mu, nut Hüpfe nur nicht: 
aus dem Köberchen, Käthe!” 

Diefe raunte ihm wichtig zu: „Nun wird endlich allen fund 
werden, wie ein adliger Junker gegen eine adlige Jungfrau ſich 
zu benehmen hat.“ 

Ihr Vater blinzelte fie mitleidig an. „Wer weiß, was alles 
fund wird,“ ſprach ex und begab fich wieder an die Spite feiner Leute, 

Ein buntes Menſchengewimmel erfüllte die Strafen. Auf 
jedem Editein bauten ſich die Kinder als lebendige Pyramide auf 
und brachen in ein lautes Ah! aus, als die Engelskutſche mit 
der ſchönen Dorothea einfuhr. Die Mauern des Rothen Schlofles, 
deren Farbe dasfelbe feinen Namen verdankt, Teuchteten freundlich 
in dee untergehenden Sonne, die Tchnurgeraden Fenſterreihen 
jtrahlten, und die übergüldeten Knöpfe blitzten auf den beiden 
ſchöngeſchwungenen Giebeln und den einem Lerhenihopf ähnlichen 
Dachluken. — Die Wachen am Portal pflanzten die Hellebarden. Die 
Engelstutiche Hielt. Die Pagen fprangen von ihren Pferden und 
lehnten das vergoldete Leiterlein an die Kutſche. Ein Schwarm 
von Nammerjunfern und Lakaien umgab diefelbe. 

Herzog Albrecht hatte ſich rasch abgeſchwungen, trat an die 
geöffnete Wagenthür und feitete die Frau Witwe herab. 

Dann wandte er ſich Dorothea zu. Sie jehte den zierlichen 
perlengeftidten Schuh auf die Sproffen, fah ihn fchelmifh an 
und fpradi: „An Ihrer fejten Hand, Better, werde ich gewißlich 
jtät und unbeierbar die goldene Bahn hinabgleiten.” 

Lächelnd, doch entichiedenen Tones erwiderte er: „Wenn Eure 
—— der Führung derſelben ſich überlaſſen wollten — ſonder 

weifel.“ 

Aber da fie ſich nun auf dieſe ſeſte Hand ſtühte, fühlte ſie 
ein leiſes Zittern durch den Stulphandſchuh. Es theilte ſich ihren 
Fingern mit, daß der Diamantring, den fie über dem Handſchuh 


‚ am Daumen trug, muthwillige Lichter ſprühte. Die Leiter hatte 


| 


nur wenige Sprofien. Aber das junge Baar fah doch aus, als 
wäre e3 ein Stüd von Jalobs Himmelsteiter hinabgeftiegen. 


o 


Auf dem mit Scharlachtuch belegten Weg fchritten die Herr- 
'chaften, umgeben von Hofleuten und Dienerihait, in das Rothe 
Schloß hinein. 

Achatius blieb zurück, um das fürftliche Frauenzimmer zu 
empfangen. " 

Kaäthchen lachte ihm mit allen ihren Heinen Mäusezähnden 
entgegen, troß der ſtrengen Blide ihrer Mutter. 

Aber über der Pforte des ehemaligen Witwenſitzes war nicht 
umſonſt ein weinender Engel angebracht. Achatius jah ſie gar 
nicht. Sein Blid richtete ſich überrafcht auf den dritten Wagen, 
der das Gepäck und die Kammermägdlein enthielt, Welche wunder— 
liche lange verhüllte Stange wurde von ihm abgeladen? Da 
feuchtete ja Noth und Grün heraus. Feierlich zogen die Kammer: 
mägdlein damit ab wie Landsknechte mit der Fahne, zu der fie 
aefchworen haben. 

„Dit welchem ſieghaften Panier haltet Ahr holden Dorn: 
burgerinnen allhier Euren Einzug?“ fragte Uchatius die rundliche 
Hofmeifterin, während er ihr aus dem Wagen half. 

Sie bewegte fid) fo raſch und bemühte fi), troß ihres an- 
ſehnlichen Umfangs jo leicht hernieder zu ſchweben, daß ihr gelbes 
Damajtkleid krachte. „Ach weiß nicht,“ antwortete fie und Tich 
die Reifemuße herabfallen, daß die veizenden Grübchen in Wangen 
und Schultern ſich zeigten. 

Schäflein! dachte Achalius, hielt ſich aber jcherzend die Augen 
zu und flüfterte: „Süße Pomefine! Ad, wer nur einmal an 
ſolcher Holdfeligfeit fid) Tegen dürfte!“ 

Sie fah ihm mit fehmelzendem Lächeln nad), während er 
ſchon ehrfurchtsvoll vor rau von Tautenburg ſich verbeugte und 
dem Schloßhauptmann die Hand jchüttelte. 

Als ihm diefer die. andern Hofjungfrauen nennen wollte, 
ſprach er galant: „Eure Namen find eingegraben in die wachs— 
weiche glatte Tafel meines Herzens.” 


Und ex fandte ihnen einen jo wohlgeichicdten Bi zu, daf 


jede denfelben für fi in Anspruch nehmen konnte, 

Käthchen ftand gang verbußt dabei. 
Better Achatius tufchelte mit der Hofmeifterin, der alten diden, 
fhaute die andern Hofjungfrauen, 
zadtlih an? Das lam dod alles ihr zw. Und jie erhielt nur 
das letzte Bipfelchen eines Grußes. Was follte das fürftellen? 

Vielleicht hatte er jie in der häflichen Reifemube wicht er— 
fannt, in welde fie von der Mutter gewidelt worden war. Nun, 
nur Geduld! Jetzt kam der Teberfarbene No dran. Durch 
diefen Gedanken getröjtet, trippelte fie hinter ihrer Mutter in das 
Schloß hinein. 

Andere Reifezüge nahten. Wagen auf Wagen rollten durd) 
das Schloßthor, Reiter klirrten herein. 
Leibärzte, die ihr Doktorſtüblein hatten verlafien müſſen, Kapitäne 
in Wehr und Waffen, Hammerjunfer und Pagen fragten nad) 
ihrem Loſament. Die Weimariihen Hofjunfer im Galafleid, die 
Lalaien in Staatslivrei hatten alle Hände voll zu thun. — 

Als die Dornburger Herrihaft ein paar Stunden ſpäter der 
fürftlihen Hausfrau einen Beſuch abjtattete, folgte Käthchen mit 
aufgehelltem Geſicht dem Heinen Zug. Sie trug das leberfarbene 
Kleid, den güldenen Bruftlag und duftete nach Spilanardiwaſſer, 
das fie ſelbſt hatte brauen helfen, wie ein Wurzgärtlein. 

Eine Reihe glänzender Näume that ſich vor ihr auf, von 
dem fanften Licht gelber Wachsferzen erhellt, welde auf hohen 
Silberleuchtern brannten. Da — im eriten Zimmer — harte 
auch ſchon Achatius. Aber nur, um von dannen zu fliegen umd 
die Herzoginnen in die inneren Gemächer zu führen, während cin 
int feiner Augen die Hofjunfer in Bewegung fehte, daß fie 
dem Frauenzimmer feinen Pla anwiefen; längs der Wand, wie 
angepugte Doden wurde dasjelbe aufgeitellt. 

Da alitt Achatius ſchon wieder an ihr vorüber. Er fah 
fie abermals nicht. Er geleitete jetzt die Eiſenacher Herrſchaft. 

Aus meld runden Fugen Augen die Herzogin Ghrijtine 
ichaute! Gerade wie die Eule auf der Dornburg. Käthchen 
hätte lachen mögen. 

„Die Herzogin Ehrijtine stellt alles feſt,“ flüjterte neben 
ihr das Strohblümchen, „die Schidjale der Menicen, das Wetter, 
die Landplagen. Sie lieſt es mit großen Ferngläſern aus den 
Sternen und rechnet es dann aus Wie amdere Frauen einen 


War es möglich? | 


die dürren SHopfenjtangen, 


716 


 -- 


Handel mit Butter und Eiern. 
drei Könige zufanmen.“ 

Käthchen verging das Lachen. 

Die Hofjungfrauen, welche der übermenfchlichen Fürſtin 
folgten, pilanzten ſich gleich kernhaften Fichtenzäpfchen vor ihr 
auf. Sie vedte ihr Köpfchen empor, um über diefelben hinweg 
ſchauen zu können. 

Jetzt — jebt ſah Achatius nach ihrer Seite. 

Ach nein; fein Blick ging an ihr vorüber und cr ſelber 
abermals zur Thür hinaus, um den Stoburger Herzog mit feiner 
Gemahlin zu empfangen. 

„Das iſt ein unholder Herr,” wiiperte die blonde Benigna 
au der andern Seite. „Seine erſte Gemahlin, die ihm ein X 
für ein U gemacht haben fol, hielt er eingefperrt fammt dem 
bübjchen Horjunker, der ihr dabei geholfen hatte. Er jtedt alles 
ein, fogar die Wie feiner Hofnarren. Hort! Draußen im 
Korridor Schlagen fie Purzelbäume.“ 

Die Koburger Hofjungfrauen bildelen eine zweite Mauer 
zwifchen Käthchen und Achatius. Sic war gänzlich zurüdgedrängt 
und mußte ſich auf die Kußfpigen heben, wenn fie ihn noch jehen 
wollte. Ach, welche jchönen Kleider trugen die andern — das 
leberfarbene war gar nichts dagegen. Und wie fie fich hervor- 
zuthun fuchten, wenn Achatius vorüber alitt! Wie fie ihm mit 
den Augen verichlangen ! 

Dann flüfterten fie mit einander und rühmten, dab das 
Zöpflein, welches an einer Seite feines Kopfes herabhina, das 
neuejte in der Tradıt: ein Alamobezotten ei. 

Sie mochten ſich nur hüten! Wenn der griesgrämliche 
Herzog das merkte, jperrie er fie auch) ein jammt dem Achatius. 

Fast hätte ſie es gewünſcht. Dann konnte er doch nicht 
mehr jo vor ihnen bin und Her gaufeln, als wolle er jagen: 
haſcht mich doch! 

Bon Zeit zu Zeit ſendete er einen Blick nah Käthchens 
Winkel, Aber ihren Augen begegnete er wicht. Wen fuchte er 
nur da? Meben ihre ftand eine Hofjungfrau, mit einem Bernftein 
halsband geihmüdt, die ebenfalls zurüdaedrängt worden war. 
Käthe lugte fie eiferfüdhtig an. Nein, die lonnte er nicht meinen. 
Sie hatte ja nicht einmal rothe Baden und war die einzige im 
ganzen Gemach, welde ihn nicht anfah. Wie er immer lebendiger 


Sie iſt To klug wie die heiligen 


“wurde, immer zärtlichere Blide herüber warf, jo wurde fie immer 


Der Hof füllte ſich. 


unbeivegter, immer blafjjer. Und Käthchen immer röther und 
heißer. Das Herzklopfen drohte fie zu erjtiden. 

Wie hatte fie ſich über den goldenen Bruſtlatz gefreut, und 
welche Bein jtand fie nun Hinter ihm aus! Aufſchreien hätte 
fie mögen und durfte feine Miene verziehen. Niemand kümmerte 
fi) um ihre Noth. Nur der alte, mit einer Meinen Glage ver 
jehene Papagei, der neben ihr in einem Käfig hudte und ungeftört 


‚ den Gnadenzuder knuſperte, welchen er, jchon der Günſtling ber 


verftorbenen Mutter der Herzöge, nur aus fürftlihen Händen 
nahm, ſchaute fie mit feinen großen Hugen Augen an. Daun fagte 
er in dem gütevollen Tone, den er in dieſen Räumen gelernt 
hatte: „Armes Papchen! Ganz allein,” Sie war ihm ordentlich 
dankbar für jeine teilnehmende Anſprache. 

So ſtill es im Vorzimmer zuging, ſo lebhaft wurde die 
Unterhaltung im Wohngemach der Herzogin Eleonore geführt. 

Summendes Geplauder tönte aus dem Damenfreis, der ſich 
um die zarte Geſtalt der fürftlihen Hansfrau verfammelt hatte; 
mit marliger, wohllautender Bahitimme rühmte der ftattliche 
Herzog Wilhelm die Wichtigkeit des Palmordens in jetziger Zeit, 
da die Worte fremder Völker die deutiche Heldenjprache über 
ſchwemmten; gemeſſene Fragen richtete der ſchmächtig gewachſene 
blonde Herzog Ernſt an die jüngſten fürſtlichen Fräulein, die 
verlegen unter dem Blick feiner nachdenllichen Augen ihre Facinet 
lein drehten; dazwiſchen llang es wie durchdringender Kommando- 
ruf von den feinen Lippen des jungen Herzog Bernhard, deſſen 
ſchmale mandelförmige Augen über die verfammelten Fürjten bin 
blitten. Durch die verſchiedenen Gruppen glitt der alte Sof 
marihall Kaſpar von Teutleben, das höchſte Zeichen feiner Hof 
wirde, den Stab, in der Hand, beflügelten Schrittes dahin. Seine 
ſcharf geichnittenen Züge erſchienen wie verllärt Cs war ja 
fein Ehrentag, wenn die Fruchtbringende Geſellſchaft Sitzung hielt. 
Denn er Hatte ſie gegründet. Fortſetzung folgt.) 


e 17 »- 
Schmugglerbilder von der preußiſch · ruſſiſchen Grenze. 


Mit Triginalzeihnung n von Roberk Afmıs. 





Schmupngler-Porpoften. 


Zs war ein fulter Oktoberabend nud die bieichen Herbſtnebel 

hielten ihren ernjten Einzug auf der trojtlojen weiten Ebene 
Kurlands. Der Zug leerte ſich in Mojcheili, einer Heinen Eifen- 
bahnftation, deren Reitauration aber durch die ſchweren filbernen 
Zafelauffäße mit dem dampfenden jilbernen Samowar (Thee 
maſchine), die Schar befradter Kellner mit weißen Handſchuhen 
und Sravatten einen vortheilhaften Eindrud machte Mich fror 
und ſo nahm id an der langen Tafel zwiichen den ruffifchen 
Offizieren Platz, um mich mit einem Glaſe heißen Thee, der ſehr 
dunfel getrunken wird, aber vortrefflich mundet, zu erwärmen. 

Ich hatte, wie man mir mehrfach faqte, bis zum Abgange des 
Zuges nadı Liban noch eine volle Stunde Zeit. Da der Reiſende 
aber auf den Seitenbahnen Rußlands noch vorjichtiger als im 
Süden der Vereinigten Staaten Amerifas jein muß, nabm id) 
im Zuge Nas und fuhr, troßdem der Zug erit in einer Stunde 
gehen jollte, gleich darauf zu meinem nicht aeringen Erſtaunen 
in die dunfle Nacht hinaus. Ich mußte unwillkürlich an den 
geiftvollen Turgenjeif denken, der jeine Landslente unbarmberzig, 
aber ſehr wahr jchildert und ihnen die Eigenſchaft des fort- 
währenden Yügens beilent. Dagegen habe ich unter den Adligen 
der Deutich-Ruffen in Kurland, Yivland und Gfthland, deren 
Söhne meijtens auf den dentjchen Univerſitäten jtudiren, die 
prächtigiten Menjchen gefunden, voll Ehrlichleit und Wahrheit und 
von der liebenswürdigſten Gaftfreundicait. 

An Libau zeichnete ich Anfichten der Stadt und fkiszirte 
oben auf der Auftigen engen Plattform des Leuchtthurms das 
Bild Libaus*, wofür mic) der ruſſiſche Wächter einfteden wollte 
und evit auf Borzeigen meiner Empfehlung an einen der höchſten 
Beamten mich freiließ. 


*Vergl. „Sartenlaube” Jahrg. 1883, S. 524 und 525. 


1888 


An zweiten Morgen micıhete ich einen Wagen, der mich 
nach Bolangen, dem ruffiich-preufiichen Grenzorte, zurückbringen 
follte. Der Kutſcher, ein Lotte mit verſchmitztem Gefichte, küßte mir 
beim Miethen des Fuhrwerls nad dortiger Sitte die Hand und 
nannte mich Baron. Die Kalefche war ein altersſchwaches mit 
Fenſtern verichenes Vehikel. Bor diefem wurde das Viergeſpann 
befeftigt, alle vier Pferde quergeipannt in einer Reihe, zwei hohe 
Koſalenpferde in der Mitte, zwei Heine Steppenthiere zur Seite. 
Mein Koffer erhielt Hinten auf zwei Tangen Stangen Plah und 
im Galopp ging's zur Stadt hinaus. 

Plobzlich klirrte das eine der Fenſter, die Scheiben zerſprangen, 
ich hörle einen Schrei. Am Boden lag ein altes Botenweib, in 
den Lumpen des Elends und im Schmutze der Armuth, das mein 
Ktutſcher überfahren hatte. Zuderhüte und Cigarren, welche die 
Frau zu tragen Hatte, Tagen im Dünenſande. 

Wie ein Tiger auf die Beute, ſtürzte fich mein Kutfcher auf 
die Waaren. Er nahm dem armen Weibe „zur Entſchädigung“, 
wie er jagte, die ganze Habe für die alten blinden Glasſcheiben. 
Die Frau laq vor mir in Thränen auf den Knieen und rang 
die Hände um Erbarmen. 

„Du giebjt fofort die Sachen zurüd,* befehle ich dem Kutſcher, 
„ich bezahle das Fenster!” 

Der Halunle murmelt einen lettiſchen Fluch zwijchen den 
Zähnen, ficht mich boshaft an, aber gehordht. 

Die Dftfee lag dicht vor mir Am zauberhaften Morgen; 
lichte glänzte der Hamm der Wellen und die Möven tummelten 
jih mit langfamem Flügelichlag über der weiten Waſſerwüſte. 

Der Kutſcher trieb mein Viergeipann den Strand entlang 
ins Seewafler, To daß die Pferde bis über dem Kniegelenk im 
flachen Waſſer gingen und die alte Antiche bedenklich wadelte. 
Links zwiſchen Dünenhügeln blidten einfame ſtrohgedeckte Fiſcher— 
hütten, den polnischen Dorfhäuſern ähnlich, hervor, von dunfeln 
Föhren überragt. Vortreffliche Motive zu Stimmungsbildern! 

Der Weg windet ſich im Dünenſande aufwärts. Aeſende 
Rebe ſchauen uns mit den großen dunfeln Mugen an und eilen 
dem Walde zu. Die Einfamteit umgiebt uns. 

Der ernite Föhrenwald, welcher fih auf dem hellen Dünen 
boden erhebt, uimmt uns auf. Unter den Stämmen twuchern 
üppiges Farrnkraut umd die wilde Waldhimbeere, auf den Bfättern 
und Spinnweben funfett der Morgenthau wie zahlloſe Brillanten. 
Mir wird das einjame Fahren in geichlofiener Kaleſche langweilig, 
ich laſſe halten und ſehe mic) zum Kutſcher auf den Bock. Er 
fingt cin lettiſches Volkslied: 

„Bräutlich Mädchen, goldaclodtes, 
Bas haft du für Schöne Haare! 
Ale meine Klugheit haft du 

In dein ſchönes Saar veritrider!" 

Bon Zeit zu Zeit hielten wir im Walde vor einem Kruge, 
theils um die Pferde zu füttern, theils weil der. Auticher Schnaps 
trinfen wollte. Es fer fo fchredlich kalt, meinte er. 

Die Sonne ging unter, als wir vor dem cinfamen Wald 
kruge Meirifchlen anlangten. Während wir weiter fuhren, wechjelte 
ein Haſe quer über den Wen. Künſtler, Jäger und Sceleute 
find befonders abergläubiich, aber auch Feldherren, wie Napoleon 
und Wallenjtein, waren cs, welche an die Dies fasti und nefasti — - 
Tage, die Glück und jolche, die Unglüd bringen — alaubten, und 
Tode de Brahe kehrte wieder um, wenn ihm eine alte rau oder 
ein Haſe über den Weg lief. 

Ich mufte fortwährend an meinen Koffer denken. Für die 
Beſuche bei hohen ruffiichen Beamten, von denen ich die Erlaubniß 
zu Zeichnungen für die „Gartenlaube“ einholen mußte jowie 
zu den duch warme Empfehlungen von hoher Stelle in München 
vielfady an mich ergangenen Einladungen hatte ich viel Garderobe 
mitgenommen, die ich nicht acjtoblen sehen wollte Bei jedes 
maligem Halten verficherte id) mich vor dem Weiterfahren, ob 
mein Koffer nody jet genug aufgeſchnürt fer; die ſechs fingerdiden 
Stride hielten ihm aber jo eng umſchloſſen, daß er auch beim 
fräftigen Anſetzen der Schulter ſich nicht vührte. 

„Der Koffer iſt wohl jeher werthvoll?“ fragte der mich be- 
obachtende Muticher. 


ui 


— ⸗ 


„Xa, fünfhundert Rubel, und Du ſtehſt mir dafür!“ 


18 





— 


die mir dicht am Ihre vorbeipfiif .und in eine Tanne ſchlug 


Wir fuhren weiter in der Waldeinfamteit und deren tiefem | Wir waren jedoch im der Mehrzahl und jo mahmen dit 


Schweinen. Ich fah nach ber Uhr. 2: BI 
„Ah Gold! Fehr ſchön,“ meinte der Kutſcher. „Hatte mein 

Herr aud), aber längſt tobt.“ 
Nach einer Weile des Schweigens fragte er mich, ob id) 


mid) nachts in einem fo weiten Walde wicht fürchte, es gebe 


ſchlechte Leute in der Gegend, er fei aber ganz ehrlich. Ich ant: 
wortete ihm, daß ich mid; weder vor Hölle noch Teufel fürchte, id) 
hätte den Krieg im Fahre 1870 gegen die Frauzofen mitgemacht. 


Das fei etivas ganz anderes, als durch einen Wald zu fahren. 
Sp, dann müßte ich ja ſchon viel Schredliches geichen | 


haben, gab er zur Antwort. 
„a, ja, Väterchen, ich bin ganz ehrlich,” fuhr er fort, „nur 
im Winter ſchmuggle ich gern.“ 


— — — — — 








Ruſſen, nachdem wir einige Flintenſchüſſe gewechfelt, Reißaus 
Bevor wir in die Nacht Hinauswandern, wird fleißig Wodla 
(Schnaps) getrunken. Der Wirth läßt es am nichts fehlen, wit 
rauchen feine Cigarren und warten ab, bis die vorausgeſchickten 
Kundſchaſter uns Nachricht bringen, ob die Luft rein iſt. Zu 
weilen ſchiden wir wohl auch einen Scheintransbort nach der— 
jenigen Gegend, in welcher wir die Zollwächter auskundſchafteten. 
oder wir leiten fie durch Wacht- und Signalfeuer irre, während 
wir auf einer enigegengejepten Seite die Grenze paffiren umd bie 
pfiffigen Ruſſen auslachen. 

Auch auf der Dftjee wird viel ‚gepaicht‘, beſonders gern bei 
ſturmiſchein Weiter, wo uns die Wellen dechen und Die Ruſſen 
ſich nicht feicht hinauswagen. Setzt uns der Zollkutler vach, jo 


Spirlius-Schmuggler von Solldeamien überrafdt. 


„Das nennt Du ehrlich?" 
„Run, man verdient wenigitens etwas dabei. | 
es manchmal ganz Luftig zu. Wir alle haben Flinten. Meijtens 


werden Zuder, Schnaps, Rum und Cigarren, aber auch Hand: 


ſchuhe geichmungelt. Am Winter befommt jeder von uns für 
den Tag fünf Rubel, im Sommer drei. Es ijt zwar wenig, 
aber doch etiwas. Ad, ich bin jo arm amd mehr als das bifichen 
Leben kann man ja nicht verlieren.“ 

Er ſchwieg. Ich ſagte ihm, Daß ich fein Ruſſe fei, er möge 
nur weiter erzählen. Und er fuhr fort: 

„Haben wir viele Waaren, fo gchen Späher voraus, während 
der eigentliche Transport theils auf Wagen gefahren, theils auf 
unfern Schultern getragen wird. Am liebiten find uns recht 
dunlle Nächte, in denen man feinen Hund hinaus jagt. Müſſen 

aber die Waaren fchnell befördert werden, ſo ſchmuggeln wir aud) 
- om Tage oder in mondhellen Nächten. Da kommt e3 freilich 
vor, daß der eine oder andere im Kampfe gegen Die ruffiichen 
Zollwächter fallt. Dann iſt cs Gottes Wille Wir Hatten alle 
zufammen; fänmitiche Schmuggler verftchen einander durch be- 
fondere Worte und Heichen, alle find Freunde und einer dedt 
den anderen, Das it aber and) nöthig, denn die Zollwächter 
haben qute Nafen und ſchlaue Kundihafterr Sehen Sie, Herr, 
ich war, während id} im vorigen Winter mitten im tief verſchneiten 
Walde ſpahte, ob nicht ein ruſſiſcher Kragen ſichtbar ſei, ſelbſt 
einmal nahe dran, von der blauen Bohne getroffen zu werden, 


‘werfen wir die Waaren oder Kühler ins Meer. 
O, da geht 


es hier mit richtigen Schmugglern zu thun Hatte. 


Dean lann uns 
nichts beweiſen. Einzelne füllen wohl auch den Schnaps in 
Schweinsblajen; fteht die Gefahr, erwiſcht zu werden, nahe bevor, 
fo jchmeidet man die Blafen auf, der Spiritus fließt hinaus 
und — wir find ganz umfchuldig!* 


Ich wußte jeht, mit wen ich cs zu hun hatte. Aus dem 


ı Walde ſchimmerte ein einfames Licht. 


„Ein Krug, wir müſſen dort wieder filtern!” ſagte mein 


Rutſcher. 


Es war gegen Mitternacht, als wir das völlig einſam gelegene 
Haus, das links am Wege, dicht am Walde, fid} erhob, betraten 
Ein ſchmutziges, ſehr großes, von Rauch gefchwärztes Zimmer, 
dos am Stelle des Lichts mit Kienſpänen ſpärlich beleuchtet 
wurde, nahm uns auf. Eine abſcheuliche Fuſelatmoſphäre herrſchle 
im demfelben. Es ging dort hoch ber! Etwa fünfzehn wie 
Inſurgenten koſtümirte Männer mit ſpitzen Hüten, wie fie in 
Kujawien und Galizien getragen werden, Gürtel um die Röde, 
die Beinkleider in den Stiefeln, zechten dort zwiſchen aufgeftapelten 
Cigarrenkiſten, Zuderhäten und Schnapsfäſſern. Gewehre ſtanden 
an die Wände gelehnt. Es waren feäftige Beftalten, einige unter 
ihnen mit geichwärzten Gefichtern. — Ich ſah ſogleich, daß ic 
Das Taute 
Geſpräch verſtummte, als ich eintrat und mir beim Wirth, einem 
Juden, eine Taſſe Kaffee beſtellte. Dieſer Hatte aber nur Schnaps, 
der abſcheulich ſchmedte. 








J— 


—o 


Mein Ruticher trat ein. Sämmiliche Schmuggler füßten ihn 
auf ruſſiſche Axt rechts und links. Ich bemerkte, wie er einem 
von ihnen etwas ins Ohr flüfterte, indem er gleichzeitig nach mir 
herüberjchaute, 

Ein banmlanger Kerl, das Gewehr in der Hand, trat auf | 
mich zu und fragte mich, ob ich Ruſſiſch könne, während er mir 
gleichzeitig einen Zettel mit ruſſiſcher Schrift vorhielt. Ach er: 
widerte ihm in entfchiedenem Tone, daß ich ein Deuticher fei und 
fein Ruſſiſch verſtände. 

Jeder der Schmuggler ließ aus feinem Glaſe meinen ſtulſcher 
teinfen, er mußle allen Beſcheid thun, offenbar wollten fie ihn | 
betrunfen machen. 

Ich befahl anzufpannen und eilte hinaus, um dem Rauch 
der Stienfadeln, dem Tabafsaualm und der Fuſelluft zu entgehen. 
Mein Wagen ftand vor der Thür und ich fah troß der herriden- 
den Dumtelheit, wie eine Gejtalt von meinem Koffer weg über 
die Straße in den Wald fprang. Sogleich fahte ich madı dem | 
Koffer, aber noch ſaß er, von den ſtarken Striden gehalten, Felt. 

Kerl! Du ſtehſt mir für 
den Koffer, und wehe Dir, 
wenn er geſtohlen wird!“ 
ſchrie ich den Kutfcher an. 

„D Herr, hier alles ehr— 
lich!” betheuerte ex. 

Wir fuhren weiter. Die 
Nacht war kalt, ich blieb im 
Wagen jigen. Die Häuschen 
ichrieen im Walde. 

Sehr oft lieh id) halten, 
den KHutfcher abfteigen, da— 
mit er nachiehe, ob der Koffer 
ſich nod hinten auf dem 
Wagen befände. Nachdem 
dies eben twieder geichehen, 
ftellte fich mein Kutſcher er⸗ 
ſchrocken vor mich Hin und 
ftotterte ängſtlich, daß der 
Koffer noch da fei, aber alle 
Stride durchichnitien wären. 

Mit einem abe war 
ich) aus dem Wagen heraus, 
machte Feuer mit einem Bünd 
hölzchen und jah, daß ſämmtliche jtarfe Stricke während der 
Fahrt glatt wie mit einem Raſirmeſſer durchichmitten waren. 
Der Koffer felbjt war bereits fo weit auf den Stangen heraus— 
nerüdt, dab er jeden Augenblick herabiallen mußte. 

Sch höre im Walde pfeifen und jehe in der Ferne Laternen. 
„Schnell den Koffer zu Div hinauf auf den Bod!” und ich helfe 
dem Stuticher, jenen bei ſich unterzubringen. 

„So, nun fchnell vorwärts, pojeschaj!* 

Die Laternen nähern ſich. 

„3a, Pferde müde!” beummt dev Kutfcher unwirſch. 

„Borwärts, Du Schuft, oder ich erſchieße Dich wie einen 
Hund!” Gleichzeitig ſtieß ich mit meinem Ellbogen das rede 
Wagenfenfter aus, zog fchnell meinen mit ſpiher eiferner Ywinge | 
beidylagenen Alpenſtock, der mir zur Befeſtigung des Malfchirmes 
dient und meine einzige Wafle war, aus den Reiſeeſſelten 


Wie eine Oper entitet. 


Von Dofef 


ID“ eine Oper entitcht? Nichts einfacher. Man nimmt eine 
Band voll Tert, eine Hand voll Noten, ein paar Dutzend 
Sänger und Sängerinnen und cin Schock Mufifanten. Das 
Ganze wirft man in einen Topf, rührt es tüchtig durcheinander 
und läßt es gehörig ſchmoren. Soll der Schmaus einen pifanten Ge 
ſchmack erhalten, jo wirft man auch einige Fingeripigen oder befier 
Fußſpitzen Ballet hinein und die Oper ift fertig. Probatum est! 

Nach dieſem Rezept fo behauptete ein in eulinarifchen 
Dingen erfahrener Freund — vollzöge ſich die ſeeniſche Zubereitung 
einer neuen Oper. Ungläubig fchüttefte ich den Kopf. Ach mußte 


719 


Aber es war auch die höchſte Zeit! 





Scämngaler von einem Zolluiter verfolgt. 








0 — 


hervor und hielt die Spitze zum Fenſter hinaus, um frei zuſtoßen 
zu können. 
Wieder höre ich pfeifen, die Lalernen fommen rechts vn Walde 


‘ näher und näher, nochmals rufe ich dem Kutjcher zu, fchnell zu 


fahren, mit der Drohung, ihm zu erſchießen, wenn ex dies nicht 
jofort thäte, Derſelbe hatte meinen langen jchweren Stod wohl 
für eine Büchſe gehalten, demm endlich knallte die Peitſche, die 
Pferde zogen feit an und im jcharfen Trabe ging's vorwärts. 
Hinter mir hörte ich laut 
fluchen und die Laternen blieben in der Ferne zurüd. 

Der Krug, in welchem fich die Schmugglerherberge befindet, 
ift unfchwer zu finden. Bon Polangen aus liegt er etwa zwei 
Stunden einfam rechts am Wege und Walde, das ſchmuhige 


Volangen 


Gaſtzimmer links von der Hausthür. 


Um zwei Uhr nachts Tangten wir endlich in 
an, das ſich ftolz zu den Ditfeebädern zählt. Das unſaubere 
Bauernneit ſchlief. Nach mehrmaligem vergeblihen Anklopfen 
an verschiedenen Hausthüren öffnete uns endlid ein Juden 
mädchen. Meine Frage, ob 
ih in dem. Haufe über- 
nachten könne, bejabte fie. 
Den glüdlih gewonnenen 
ichweren Koffer ftellte mein 
Kuticher in den Hausflur. 
Das Mädchen beftand jedod) 
darauf, daß ich ihn mit in 
mein immer nehme, da 
alles, was nidjt in ver 
ichloffenem Raume ſich be: 
fände, geitohlen würde, 

Ms ich ihre kurz mein 
Abenteuer erzählte, ſagte ſie 
mir, daß dies ſchon der ſechſte 
ähnliche Fall in dem Monat 
jei, der auf jener Straße 
und zwar immer genau au 
derfelben Stelle im Götjchen 
frugwalde pajfirt, nur mit 
dem Unterfchiede, daß den 
andern ihre Koffer gejtoblen, 
der meinige mir durch meine 
Vorſicht erhalten geblieben. 
Sie erflärte mir, daß die Diebe im Walde lagerten; die Stride 
würden mit einem fcharfen Meiler während der Fahrt durd): 
ichnitten und das Herabfallen des Koffers überliege man diefem 
felbft, um ihn dann, nachdem der Wagen längft außer Sicht 
ji) befindet, aufzubrechen und zu berauben. 

Ich wollte die Sadye anzeigen. Sie rieth mir aber ent 
schieden ab mit dem Bemerlen, daß ich dadurch nur Koften und 
Termine haben würde, 

„Der Schulze giebt den Bauem recht und fpricht fie frei,“ 
ſagte fie lachend. 


Wie frob war ich, als fich der preußische ſchwarz-weiße 


Schlagbaum vor mir bob und ich in einem Einſpaänner wieder 


auf ehrlichem deutichen Boden mich befand, 
Die Abbildungen aber find nicht immer fo ſchnell und fpielend 
erworben, als vielleicht viele Leſer glauben. Hobert Aizmus, 


arhbrud verboten. 
“u Hechte vorbehalten, 


Fewinsky. 


mich felyit überzeugen. Doch wie? Ich wandte mid an einige 
Autoritäten. Der Lampenanzünder wußte es nicht; der Theater: 
diener zudte die Achſeln und der Inftrumententräger rümpfte die 
Naſe. Endlid traf ich eine theilnahmsvolle Seele, welche mich 
in das große Geheimniß eimveibte und mir alle die Kräfte 
offenbarte, welche zuſammenwirken, um die Heinen und großen 
Geiſter einer Opernpartitur zu Licht und Leben zu erweden 

Bevor wir aber in eine Schilderung der wechlelvollen Phaſen 
einer aufzuführenden Opernnovität eingeben, ſei es uns geitattet, 
den Urhebern einer folchen wenige Worte zu widmen, 





uslpupym in JDusoylunig ff uoa Goa un gduadorod 
Aouijuna 0 gavnad 10a SgpunBp& utag PIE 


apa stpegaanyf up 





— — — 
Te 





4A 


Ein Komponift, der eine Oper zu fchreiben beabjichtiat, iſt 
ein Menſch, der fich mit mufifafifchen Heirathsgedanfen trägt. 
Kein eheluftiges Mädchen kann mit größerer Sehnjucht nach einem | 
Vebensgefährten ausjchauen, als der Opernfomponift nach einem — 
Textdichter. Endlich ift das Ziel erreicht, der „Mann“ gefunden 
und die Verbindung vollzogen, 
immer „im Himmel“ geichlofien ift. 

Mit jener Diskretion, 
Schleier über die nun folgenden Flitterwochen oder aud «Monate 
de3 glüdlichen Paares. 


neue Dper gebracht.” 

Mit begreiiliher Neugierde eilen die quten Freundinnen und 
Nachbarinnen herbei, jelbftverftändlich, um allerlei „Aehnlichleiten“ 
an dem Kindlein zu entdecken. Der Komponiſt, mit dem feligen 
Lächeln einer jungen Wöcnerin fein Werk betrachtend, denkt in- 


deffen nur daran, wer das Neugeborene aus der Taufe heben | 


joll. Gr enticheidet fi, für das Berliner Opernhaus. 

Die Partitur wird bei der Generalintendanz eingereicht; 
der erſte Schritt ins Leben iſt gethan. 
ein kritiſches Fegefener; dem über den mufifalifchen Theil des 
Werkes fit ein Viermänner- Kollegium zu Gericht, 
der Regifjeur das Libretto auf feinen Goldgehalt zu prüfen 
hat. Dem Komponiften (ev fei denn von berborragender Be— 
deutung) bleibt bis zur Entſcheidung genügend Seit, fich in 
Hoffnungen zu Wiegen und — eine neue Oper zu ſchreiben. 


die uns ziemt, ziehen wir eimem | 
| die Stüuftlerinnen hinein in den Theaterraum. 
Eines Tages hören wir wohl von dan | 
Kindern des Haufes: „Bei Fens Hat der Storch heute Nacht eine | 


22 


1 


eine Ehe, die allerdings nicht 
} 








0 


Herzen; es iſt für ben Erfolg ſeines Werkes geradezu eine Lebens: 
frage . . . In Scharfem Trabe jagt jept der Theaterwagen einher. 
Eine Anzahl Neugieriger umringt denselben. Der Theaterbiener 
ſpringt an den Rutfchenichlag und — 


„Es ſpeit das. . . geöſſuete Hans 
Zwei — Primadonnen auf einmal ans,“ 


Mit anmuthigem Ropfniden nach rechts, nach links, ſchweben 


Die Anfangsitunde der Probe ijt Inzwifchen gekommen; vor 
dem Thenter wird es immer lebendiger, und im Moment, wenn 
die Gejtalt des Regiſſeurs dort an der Ede der Hedwigsbkirche 
ſichtbar wird, iſt es für das in der neuen Oper beichäftigte 
Perfonal an der Zeit, fich auf die Bühne zu begeben. 

Wir dagegen verfügen uns in den völlig dunkeln Zufchauerranm. 
Es macht einen eigenthümlichen Eindrud, diefen Saal, den wir in 
bellfter Beleuchtung zu ſehen gewohnt find, in Finfterniß gebüllt, die 
Logen, Die wir nur im Glanze biendender Toiletten kennen, von 


grauen Deden verhängt, und die übrigen, ſonſt jo gefüllten 


Allein er führt ſofort in 


während | 


' einander. 


Endlich ift der Tag des. Gerichts angebroden, der Urtheils- 
ſpruch gefällt und Triumph! wenn ev lautet — die Oper ift 


angenommen. 

Nun werden Hundert Kräfte in Bewegung geſetzt, um die 
Partitur ins Leben einzuführen. Zunächſt werden die Stimmen 
bherausgeichrieben, die ſchwierige Frage der Beſetzung geregelt — 
eine Frage, die ſchon manden „Sängerkrieg“ 
und die Künſtler mit ihren Aufgaben befaunt gemacht. Gleich 
zeitig werden vom Regiſſeur mit all den wichtigen Berfonen, in 
deren Hände die „Ausftattung” der nenen Oper gelegt werben 
fol, Konferenzen abgehalten, 
Garderoben, Mafchinen- und Beleuchtungsinipeltoren, Requifiteure, 
Lieferanten kommen mit ihren Plänen und Entwürfen angerüdt, 
die Entſcheidung des Regiſſeurs heiſchend, der die Anfcenirung 
der Novität übernommen hat. 

Das Werk ijt eingeleitet, der ganze artiſtiſche und lechniſche 
Apparat in Thätigfeit verjebt, und nun überlaffen wir alle die 
Herrichaften ihrer mehr vder minder ftillen Arbeit, ftören auch) 


entzündet hat — | 


Deforationsmaler, Koftümiers, | 


Chor und Ballet bei ihren Proben nicht umd gedulden uns | 


mehrere Wochen oder auch Monate, bis zur erften Scenenprobe 
auf der Bühne des Opernhaufes. 


+ 
* 


„Um 11 Uhr Scenenprobe am Klavier von . 
wir auf dem ſchwarzen Brett des Kaftellans gelefen. 


.." Haben 
Neugierig 


‚ treten, 


Räume völlig verlaffen zu fehen. Dort oben auf der Bühne, 


die hellerleuchtet iſt, geht es um fo lebhafter zu. Soliſten, 
Ghoriften, Theaterarbeiter, Inſpeltoren, Requifiteur, Inſpicient, 


Souffleur, Kapellmeiſter, Komponiſt — das twirbelt bunt durch— 
Wie der Leuchttfurm im brandenden Meere, überall 
fichtbar der Kopf des Regiſſeurs. 

Da unterbricht die Glocke des Anipieienten den Lärm. 

„Anfangen, meine Herrſchaften!“ xuft dev Regiſſeur. „Wer 
nicht in der erſten Scene befchäftigt ift, den bitte ich, ſich zurüd 
zuzichen.“ 

Der Kapellmeiſter mit der Partitur nimmt links am Klavier 
Plaß. Der Sonfflenr mit feinem Buch rechts an der erſten 
Kouliſſe. 

„Bitte, Here Kapellmeiſter, die Einleitung,“ wünſcht ber 
Negiffeur. 

Die Dper beginnt mit einem Männerchor. Der leitende 
Genins, mit dem Regiebuch in der Hand, inftwuirt die „Mitter“, 
in welcher Weile fie aufzutreten haben. Mehrfache Unterbrechungen, 
bis dieſe „Stügen des Thrones“ fiher geworden. Nun tritt der 
Held der Oper auf. Auch er muß die höhere Gewalt des He 
giſſeurs anerkennen; denn heute wird zum erjten Mal auswendig 
gefungen und gleichzeitig zum Geſauge agirt. Der liebenswürdige 
Regiſſeur macht in der eriten Bühnenprobe quite Miene auch zum 
böfeften Spiel. Handelt es ſich doch zunächſt um dem rohen 
Aufban der Oper, nadıdem der Bauplan in feinen Grundlinien 
feitgeftellt und das feeniiche Gerüſte anfgerichtet it. in Auf 
eine Stellung, eine Bewegung, ein ganzes Bild — e— 
wird eben alles aus dem Fundament hevausgearbeitet und die 
Wirkung des Einzelnen in mehrfacher Wiederholung erprobt. Hier 
und da giebt auch der Komponiſt feine Meinung fund, da es mun 
einmal feine Oper ift, die an diefer Stätte zur Aufführung ge 
langen fol. Im ganzen ift aber der Regiſſeur Herr der Situation 


und es entgeht uns nicht, wie das Räderwerk diefes großen und 


wie wir find, finden wir uns jchon um .11 Uhr am änferen | 


Eingang zur Bühne ein. Wir haben Muße, bis- zum Beninn 
der Probe Beobachtungen anzuftellen. Dieje beziehen fih auf 
die in derjelben beichäftigten Künſtler eriten, zweiten und jechsten 
Nanges. Zuerſt bemerken wir von unjerem Poſten aus nur 
Theaterarbeiter, die aus dem nahen Depot Dekorationen und 
fonjtige Ausſtattungswunder auf die Bühne jchaffen, Herrlichkeiten, 
die im Lichte des Tages allerdings etwas nüchtern ausſehen ... 
Gruppen von Ghorjängern verfammeln ſich, welche die Chancen 
der neuen Oper, die zahlreichen anjtrengenden Proben oder die 
jüngjte Verfügung des Generalintendanten beſprechen. Die hobe 
Gejtalt dort, die, im Vollgefühl ihres Tebenslänglichen Stontratis, 
gemeſſenen Schrittes ſich nabt, ijt der Vertreter der Haremstvächter, 
Priefter und Teufel. Schweren Trittes, als müſſe er unter 
der Laſt feiner Lorbeeren zuſammenbrechen, folgt ihm auf dem 
Fuße der Träger der Heldentenorpartie. Mit jener Herzlicheit, 
die nur den Vertretern verschiedener Fächer eigen, begrüßen bie 
Kollegen einander, Die Partitur unter dent Arm, gefellt ich 
ihnen zu — der Komponist. Mit entzüdender Liebenswürdigleit 
drüdt er „feinen Sängern” die Hand und erfundigt ſich nach 
ihrem Befinden. Ihr „Beſinden“ liegt dem Manne wirklich am 


fomplicirten Apparates auf einen Wink von ihm ſich in Bewe 
aung Seht. 

Beobadyten wir den Lenler diejer „Welt“ im jeiner den 
Außenftehenden unfigtbaren Thätigfeit, fo erkennen wir mit Be 
wunderung einen Heinen Herrgott, einen Schöpfer en miniatum 
in ihm. Wir Sehen feinen Finger in den Werken der Obers und 
ber Unterwelt, des Schnürbodens und der Verſentung. Alles, 
was da leuchtet, alänzt, kreucht, fleugt, fingt und fpielt, ijt ihm 
unterihan. 

Der erſte NE iſt zu Ende, 
ruft der Regiſſeur. 

Wir überfpringen mehrere Taae, während welder die Scenen 
proben am Klavier aftiveife ihrer Entwidelung entgegenteifen, und 
jehen uns wieder in der fogenannten „Sitzprobe“ im Probeſaale 
dis Opernhauſes. Zu dieſem „ſizenden Stelldichein“, im welchem 
die Sänger zum erſten Male mit dem Orcheſter zuſammen 
wirken, ſcheint ſich auch eine anſehnliche Geſellſchaft höchſt frag 
würdiger Diſſonanzen ein Rendezvous gegeben zu haben, Was 
der Notenſchreiber beim Kopiren der Stimmen Hinzu oder 
auch hinwegkomponirt hat, im dieier Probe kommt es an den 
Tag; denn alle Irrthümer, die ſich in jeine Arbeit eingeſchlichen 


„Morgen die Fortjeßung‘ 


haben, vor dem Fritiichen Ohre des SKapellmeifters müſſen fie 
heute Revue pafliren. „Salt, meine Herren!“ ruft . biefer, 
jeden Augenblick mit dem Taktſtock abklopfend. „Hier ftimmt's 
wieder nicht!“ 

Da fehlen die Hörner, hier macht ſich ein „fs“ breit, wo 
ein „e* rechtmäßig bingehört; da klappt eine Figur und dort ein 
Accord in der Begleitung nicht. Die „Sitzprobe“ bietet auch dem 
Komponiften Gelegenheit, dem Stapellmeifter den Kopf recht warm 
zu machen. Diele Stelle hat er. ſich ſo und jene ſo gedacht; da 
möchte er in die Partitur noch eine kleine Aenderung, dort eine 
„weſentliche Verbeſſerung“ einſchalten, und all das müßte wiederum 
in bie Orchefterjtimmen übertragen werden. In der „Sitzprobe“ 
fommen aud) alle Wünſche, welche die Solofänger auf dem Herzen 
haben, zum Ausdrud. 

„Bitte, Herr Kapellmeiſter, meine Arie nur recht diskret be— 
gleiten,” flötet die Koloraturſängerin. 

„Die Partie liegt mir enſſchieden zu tief,” brummt ber 
Barfiit mißmuthig, obgleih er heute bereits die glänzendſten 
Kontratöne „geichmettert” hat. Im ganzen wird dieje Probe 
von allen daran Betheiligten mehr als „Brüfung” angejehen, 
bei der man, im jein Scidjal ergeben, die Nolle des Hivb 
ipielen muß. 


Da wir indeſſen feinen Anlaß haben, die Geduld des Lejers 


auf die — Sitzprobe zu jtellen, fo verlaflen wir fie und eilen 
der eriten Orchejterprobe auf der Bühne zu. 


“ * 
* 


Gelichtet ift das Chaos. Das Schöpfungswerk der „neuen 
Oper“ iſt beim ten Tag angelangt. Zwar hat diefe Schöpfung 
etivas länger gedauert als cinftens die der Well, dafür kann 


man aber auch nicht behaupten, daß in der Opernſchöpfung nun | 


„alles qut” ſei. Die Heinen Hilfsgeifter der Ober: und Unter: 
welt, des Podiums, des Schnürbodens und der Verſenkung find 
in der Zwiſchenzeit nicht müßig geweſen. Dekorationen, Requi- 
fiten und fonjtige Ausitattungsherrlicyeiten haben den ihnen ge: 
bührenden Bla gefunden. Maſchinen- und Beleuchtungseffekte 
funktioniren bereits ohne fonderlihe Stodung, und aud die 
übrigen Werke der Regie nähern ſich mehr und mehr ihrer Voll— 
endung. Die Künſtler haben ihre Aufgaben nun erfaßt und 
feilen nur noch an der gaefanglichen und dramatifchen Ge— 
ftaltung ihrer Partien. Der Chor bat das Indiehöhewerfen 
der Arme verlajjen, das eingelegte Ballet das der Füßchen 
erreicht, während das Orcheſter auf dem beiten Wege fid be 
findet, aus dem Dunftkreis feiner Diffonanzen fich zu veineren 
Sphären zu erheben, 

Der Negiffeur bat inzwiſchen alle das ihm amvertraute 
Scifflein ummwogenden Fährlichkeiten überwunden. Dem Stener 
mann gleich führt er von feinem Negietifh aus mit fefter Hand 
das Schifflein aus der Brandung der Probe dem bergenden Hafen 
ber Aufführung zu, nur bisweilen ſich erhebend, um diefen oder 
jenen Künftler vor gewiſſen Klippen, an denen feine Leijtung zu 
Scheitern droht, zu warnen und dem Kurs der Fahrt immer 
ficherer zu gejtalten. 

Der Souffleur hat fid) heute im jeinem Kaſten etablixt, und 
wir vernehmen jeine Stimme wicht mehr in der aleichen Lungen: 
ftärle wie vorher. In einer Proſceniumsloge jehen wir den 
Komponiften, welcher, die Bartitur vor ſich aufgeichlagen, das 
Orcheſter kontrollirt. Hier und da ruft er einem Inſtrumente 
eine Bemerkung zu oder begiebt ſich, wenn dieſelbe nicht ver: 
ſtanden wird, zum Kapellmeiſter hinunter. Freilich iſt dieſer nur 
wenig erbaut, wenn ihm vom Komponiſten allzu viel „drein— 
geredet“ wird, denn mit dem Mugenblid, in welchem er den Talt— 
tod in die Hand nimmt, jicht er die. zu dirigirende Oper als 
„jein“ Wert an. In der Zwiſchenpauſe können wir in ber 
Drchejterprobe zu Flüchtigem Beſuche auch den Generalintendanten 
auf der Bühne jehen, eine hohe, ſchlanke Geſtalt von ariitofrati- 
ſchem Gepräge, ein Kopf, der jelbjtbewußt auf ſtolzem Naden 


ruht, mit Mugen, die zielbewußt in das Leben fchauen, und 
der in feinem martialiichen Schwunge auf | 


einem Schnurrbart, 
Energie hinzudenten fcheint. 


In den verfchiedenften, fein abgewogenen Schattirungen die | 


auf der Bühne anmweienden Damen und Herren begrüfend, unter 
hält ſich der Generalintendant vornehmlich mit einigen hervor: 


| ragenden Ktinjtlern. Die anderen find fichtlich bejtrebt, einen 
Strahl diefer „Sonne“ auf fich zu lenken. 

Der erfte Alt ift zu Ende, damit zugleich die erſte Oxdjefter- 
probe. In einzelnen Alten werden auch diefe Proben, je nadı 
der Größe und Schwierigkeit der Oper acht bis vierzehn Tage 
hindurch, Bis zur Bollendung fortgefegt. Wir fünnen jelbjtver- 
ftändlich dem Lefer nicht zumuthen, an allen diefen ziemlich gleich: 
mäßig verlaufenden Proben theilzunehmen; wir ziehen e3 vielmehr 
vor, ihn zu der nun ftattfindenden Generalprobe einzuladen, 


* * 
— 


Wie ganz anders iſt das Bild, das ſich uns heute dar— 
bielet! Die „neue Oper“ iſt auf der legten Etappe zu ihrem 
Ziele angelangt — wir befinden uns in der Generalprobe. 
Dieſe repräjentirt gleichſam die erite Aufführung. Der Vorhang 
| ist heruntergelafien, ber Zuſchauerraum Hellerleuchtet wie am 
Abend und eine aus geladenen Zuhörern (Kritikern, Freunden 
und Freundinnen des Komponiſten, der Künstler, der Mufiker c.) 
bejtehende Verſammlung füllt das Haus. Die Stimmung ijt eine 
gehobene, erwartungsvolle, doch minder fritifch geneigt als in 
der Bremiere. 

Das Erfcheinen des Kapellmeiſters macht dem (geman wie 
in ber Aufführung) gehörfeindfichen Stimmen des Orcheſters ein 
Ende. Der Infpicient giebt auf der Bühne das Glockenzeichen, 
die Duvertüre beginnt. Bei dem erjten Ton Hat der Inſpicient 
die Zeit feitgeftellt, um danach die Dauer der Alte, der Zwiſchen 
alte und — für den Theaterzettel --- die Zeitdauer der ganzen 
Oper bemeſſen zu können. Beim Aufgang des Vorhangs darf 
niemand die Bühne betreien, der nicht ſceniſch auf derfelben be: 
fhäftigt ift, und auch ber Regiffeue vermeidet fein Ericheinen, 
wenn nicht bejondere Umftände ihm zu einem perjönlihen Ein 
reifen in die Probe zwingen 

Die Sänger haben indeflen über ihre Aufgaben die Herr- 
ſchaft meift volllommen erlangt, fingen und jpielen wie in der 
Premiere, und ſelbſt das Lampenficber „Happt“ wie in der Auf 
führung. 

Bezüglich der Garderoben bemerken wir, da nur die neu 
angefchafften Koftüme, um deren Wirkungen zu prüfen, in der 
Generalprobe angelegt werden. Die Solijten find davon ausge 
nommen, wenn fie nicht durch ſchwierige Umzüge, um einer 
Störung am Abend vorzubeugen, zu einer Probe ihrer Koſtüme 
bei voller Beleuchtung veranlaft werden, Zur Hilfeleiftung der 
\ betreffenden Mitglieder find die erforderlichen Garderobiers ꝛc. 
felbftverftändlich im Haufe anweſend. 

Geftatten wir ums nun eimen Blick dort Linfs mad) jener 
Loge hin. 

Die Würde des eneralintendanten kann kaum fichtbarer 
zum Ausdruck gelangen, als in der Generalprobe. Einem Herricher 
gleich fit der Chef des Theaters, von jeinen Räthen umgeben, 
in Ddiefer Loge an einem mit Schreibutenfilien verjehenen 
Tiſch. Da fchen wir in feiner unmittelbaren Nähe den Kanzler 
des Kouliffenreiches, den Regiſſeur. Ihm zunächſt den „Staats“ - 
miniiter, Koſtümier-Profeſſor K., den das „innere“ repräfentiren: 
den Intendanzrath S., ferner die Vertreter der andern Reſſorts: 
den Deforationsmaler, die Oberinipeftoren der Mafchinen, der 
Beleuchtung, der Garderoben und mod; verichiedene Sterne 
fleineren Ranges, jeder einzelne fein Werk ciner festen Prüfung 
untertwerfend. 

Nach jedem Alte findet zwiichen dem Generalintendanten 
und dem Regiſſeur ein Meinungsaustauich ftatt, bei welchem 
diejenigen Uebelftände, die dem Chef im Verlauf der Probe 
etwa aufgefallen und von ihm motirt find, zur Sprade fommen, 
Die Abjtellung diefer Unvollfommenheiten vor der Aufführung 
bildet den Gegenjtand der Erörterung mit den betreffenden, 
auf diefelben einwirlenden Perfönlichkeiten in der Umgebung 
des Chefs. 

Bei größeren Aufzügen, bei Balleteinlagen ꝛc. begiebt 
fi) der Generalintendant ins Parkett, um eine beflere Total- 
anficht zu gewinnen. Ihm zur Seite it danı gewöhnlich ber 
Balletmeiſter. Der Stomponift, der natürlich mod) überall 
Mängel erblidt und den Erfolg feines Werles duch alles 
Erdentbare in Frage geftellt alaubt, ift in nervöſer Aufregung 
bald auf der Bühne bei den Sängern, bald im Orcheſter beim 








oo 724 > 


Kapellmeifter, wie ein Feldherr vor der Schlacht, feine Scharen 


zur legten Entjcheidung anfeuernd. 

„Die Stelle: Verſchmäht von Dir, in Ahren großen 
Duett — Sie wiſſen doch, beites Fräulein,” ſpricht er zur Primas 
donna — „die muß einen Beifallsfturm entfejjeln, wenn Sie 
diejelbe noch etwas pathetischer, wie joll ich fagen — fo recht 
ſchmerzdurchwühlt fingen.“ 

„Fir das Allegro con fuoco in ber Arie des Leonardo 
bitte ich noch etwas mehr Eleltrieität, liebſter Kapellmeiſter. Das 
muß in der Begleitung förmlich Funken fprühen." 


„Die Oboe in der Serenade nur ja recht füh und jchmelzend, 
und die Hörner, meine lieben Herren, in der Waldſcene jo weit 
Sie fünnen, fie find mir ans Herz gewachſen —“ 

Der letzte Ton verklingt. Die Generalprobe iſt beendet 
Wir haben gefehen, wie eine Oper entiteht, begehre niemand zu 
wiſſen, wie eine Oper mitunter — vergeht. Von der Wiege 
bis — zu ihrer Mündigfeit haben wir unierer Oper das Geleit 

gegeben; hoffentlich wird fie uns zu feiner andern Gefolgſchaß 
den traurigen Anlaß bieten. Sei ihr ein fanges Leben und — 
aefällt's den Muſen — die Unfterblichkeit beſchieden! 


Meteorofogifde — im Dereid der Wollen. 







” Die Welterwarte auf dem Hodebir 
ine Winter. 


® inem unermeßlichen, zufammenhan 
” genden Ozeane vergleichbar bededt 
die Atmosphäre die Oberfläche unserer 
Erde amd wir Menſchen leben am Boden 
dieſes Luftmeeres. Won dem, was in 

den höchſten Regionen des atmoſphäriſchen 
Ozeans vor ſich Ben willen wir durchaus nichts und die Vorgänge, 
welche in ihrer Geſammtheit unfer Wetter bilden, jpielen ſich in 
Höhen ab, die wohl niemals 1’, deutiche Meilen übertreffen. An 
diefen höchſten Negionen ſchweben die leichten, ſederförmigen Cirrus 
wolfen, welche als Vorboten von Regen und Sturm bekannt find. 
Sie bejtehen aus gefrorenem Waſſerdunſt, aus feinen Eiskryſtällchen 
und erſt tief unter ihnen, in Höhen, die 3500 Meter nicht über: 
ſchreiten, trifft man auf die Haufenwollen, welche am Horizont wie 
ferne, ſchneebedeckle Gebirge ausſehen. und auf die grauen Schicht⸗ 
wolfen, welche bei Landregen trübſelig den Himmel überziehen. (Es 
iſt Har, daß das Studinm diefer Wollen und derjenigen Bor: 
gange im Luftmcere, welche die Bildung von Wollen und Regen 
verurfachen, nur ſehr unvolllommen durch Beobachtung an der 
Erdoberfläche gefördert werden kann. Zwar ift es den unermüd 
lichen Anfirenqungen der Metevrologen gelungen, auch fchon mit 
Dilfe der gewöhnlichen Beobachtungen wichtige Refultate über die 
Bewegungen in höheren Luftfchichten zu erringen, allein es iſt für 
den Fortichritt der Wiſſenſchaft von größter Wichtigkeit, daß aud) 
in der Wolkenregion felbit beobachtet wird. Dazn bieten ſich 
zwei Wege dar, nämlich durch Ballonfahrten und durch Anlegung 
von meteorologiichen Obferbatorien auf den Gipfeln hoher Berge. 
Mit Hilfe des Luftballons hat man in der That bereits wichtige 
Ermittelungen über die Abnahme der Luftwärme mit aunchmender 
Höhe anjtellen können, allein über die Verhältniſſe des Luft: 
drudes in der oberen Schicht der Atmoſphäre faft ſich im Ballon 
nichts ermitteln. 


Das Studium der Luftdrudverhältnifje in der Höhe ii 
aber für das Verſtändniß der geſammten Lufteirkulation über der 
Erde von der allergröften Wichtigkeit, befonders auch, um für die 
Wetterprognofen mit der Zeit eine beffere, zuverläffigere Grundlage 
zu jchaffen. Deshalb find die Amerikaner ſchon vor einer Reihe 
von Jahren mit der Errichtung von Bergobjervatorien vorgegangen 
und haben unter anderem auf dem Mount Waihington im New 
Hampfhire, jowie auf dem Gipfel des Piles Peak in Colorade, 
der ſich 4340 Meter über die Meeresſläche erhebt, ftändige 
Stationen errichtet, an denen Tag und Nacht beobachtet wird. 

In Franfreich faßte man anfangs 1870 den Plan, auf dem 
2877 Meter hohen Pic du Midi ein meteorofogijches Obſervatorium 
zu errichten. Diefer Berg erhebt fich unweit der Stadt Bagneres 
de Bigorre in den Pyrenäen als ungeheure völlig iſolirte Felsmaſſe, 
von deren Gipfel man eine unermeßliche, von feinem höheren 
Funfte beichränfte  Ausjiht bat. Im Wege einer öffentlichen 
Subffription wurden die Mittel zujammengebradht, um ein Meines 
Sans und die nothiwendigiten metevrologiichen Inſtrumente au 
dem Gipfel des Berges einzurichten. General Nanfouty, von einem 
Hilfsbeobachter begleitet, bezog im Sommer 1874 das Meine Häusden 
auf dem Bic du Midi als Beobachter. Schon bald zeigte ſich die 
Bösartigleit des Wetters in diefer Höhe und am 11. Dezember 
jenes Jahres zerjtörten Eismaflen die Fenjter des Raumes, in 
welchem die beiden Männer wohnten. Es fanden ſich oben feine 
Mittel, die Fenſter wieder herzuſtellen, infolge deilen drangen 
Wind, Schnee und Froſt ein und die Kälte fticg dauernd auf 
— 18°C, Um dem Tode zu entgehen, blieb den Beobachtern nichts 


‚ anderes übrig, als mitten im Winter den fchredensvollen Abſtieg 


zu den Menichen zu wagen. Und es aelang, nachdem beide 
16 volle Stunden unter forttwährender Lebensgefahr in der is 
wüſte des Berges umhergeirrt waren. Aber im nächſten Sommer 
waren die zwei Beobachter wieder auf ihrem Pojten, Stunde um 
Stunde, Tag für Tag lafen fie ihre Anitrumente ab; doch im 
Ollober begeub eine Lawine das fleine Oblervationshaus und 
zwang Wiederum zur Einftellung der Beobachtungen. 

Indeſſen verlor General Nanfouty den Muth wicht, er brachte 
mit Hilfe von Freunden der Wilfenfchait die nöthige Summe zum 
Bau eines neuen Objervatoriums zuſammen, das dann audı 
telegraphiich mit der Stadt Bagneres de Bigorre in Verbindung 
geſeht wurde. Unjere Abbildung (S. 725) giebt eine Anſicht des 
Dbjervatoriums nad einer Zeichnung von Tiijandier, dem br 
rũhmten Luftihiffer, der dasjelbe im Jahre 1879 bejuchte. 

Nachdem die Station auf dem Pic du Midi eingerichtet wat 
und ihre Bedeutung für die Wiſſenſchaft ſich als unzweifelhaft 
erwieſen, aing man in Frankreich daran, auch auf einem andern 
Berge ein meteorologifches Obiervatorium einzurichten. Als ſolchet 
erschien befonders der Buy de Döme bei Elermont geeignet und 
mit einem Koſtenaufwand von 100000 Franken wurde von 
1873 bis 1878 dort ein maſſives Gebäude hergeitellt. Tas 
eigentliche Objervatorium beiteht aus einem runden Thurme, dei 
auf dem Gipfel des Puy ſich erhebt, 15 Meter tiefer Liegt ein 
Wohnhaus, von dem ein Tunnel nad dem Thurme führt. Die 
Ausficht vom Objervatorium aus ijt großartig, aber ganz einzie 
dann, wenn weiße Wolfen die Erde völlig den Bliden entziehen 
und das Auge gewilfermaßen nur einen unermeßlichen Ozean 
erblidt, aus dem die Gipfel der benachbarten Berge gleich Inſeln 
hervorragen 

Unſere Abbildung auf S. 728 giebt in meijterhafter Weiſe eine 
Vorſtellung von diefen Bewollungsverhältniſſen. Man ficht vor fi 





» 125 


den Gipfel des Puy de Dome mit dem Übjervatorium, daran | Gipfel ragt bis zu 3103 Metern empor, ift alfo um mehr als 
ihließen ſich mehrere kleinere Puhys, während man in der Ferne die Hälfte höher als der Hochodir und eignet ſich dabei durch 
den 1886 Meter hohen Pic de Sancy und den gleich hohen ſeine Lage wie faum ein zweiter in den Alpen zur Aulage eines 
Plomb de Eantal ficht, die wie Inſeln aus einem Meere auf | meicorologifhen Obſervatoriums. Das Hauptverdienit tum die 
feigen. Die jehr gleichmäßig hohe Oberfläche der Wolten | Errichtung dieſer höchſten Wetteriwarte Europas gebührt dem 
it überaus merkwürdig und Profeſſor Alluard bemerkt, dah bei Gewerlen Ignaz Rojacher. Diefer, im wahriten Sinne des 
heftigem Winde dieſe Oberfläche bisweilen völlig einer bewegten Wortes ein „elbſtgemachter“ Mann, iſt der eigentliche Urheber der 
See gleiche, indem troh der Bewegung das allgemeine Nivea  Sonnenblidtwarte, indem cr das, was die öſterreichiſche metcoro- 
feinen Wechſel erleide. fogifche Geſellſchaft Längit jehnsüchtin gewünſcht hatte, kräftig ins 

In Defterreich beſteht ein Hohobfervatorium erſter Ordnung Werk ſetzte. Ter Ban des Obfervatorinms auf der ſchwer zu: 
auf dem Obirgibſel in 2044 Metern Meereshöhe ſüdlich von  gänglichen Höhe bot ganz befondere Schwierigkeiten, namentlich in 
Klagenfurt. Schon jeit 1846 wurden dort Beobachtungen an: , dem ungünstigen Summer 1886, aber Rojachers Energie über: 
geftellt, aber nur an den Wochentagen, weil die Auficher Sonntags ı wand alle Hinderniffe. Am 2. September jenes Jahres wurde 
zu ihren Familien berabftiegen. Exit feit 1878 wurde auf Ver ! die Station feierlich eröffnet, und ein Knappe Namens Simon’ 
anlafiung der Seftion Gifenfappel bes öfterceichijchen Touriſten- Neumeyer wurde der erite Beobachter. — Unfere naturgetreuc, 


— 


Hubs auf dem 
Dbir ein Tou— 
riſtenhaus nebjt 
einem Heinen 

Schlafhauſe auf: 
geführt und ein 
Beobachter be: 
itelft, der Som: 
mer und Win: 
ter oben aushar⸗ 
ten und regel: 
mähig beobach: 
ten mußte, Bon 
da an wurde Die 
Station wihtig 9 
für die Meteor» 5 
logie, bejonders 
da der hochver⸗ 
diente Direktor 
Han in Wien, ge: 
nenwärtig wohl 
der Erſte umter 
den lebenden Die: 
teorologen, die 
Station anf dem 
Obir mit felbitre: 
giftrirenden An: 
ſtrumenten aus— 
ruſten ließ. 





nach einer Pho- 
tographie darge- 
stellte Abbildung 
auf ©. 728 zeigt 
uns den ſchwieri⸗ 
gen Aufftieg zum 
Sonnenblid. 
Rechts unten find 
die Knappenhan⸗ 
fer des Goldberg: 
werfes von Roja- 
cher jichtbar ; von 
hier zieht ſich der 
Weg auf den Son⸗ 
nenblick über den 
Glaſcher (links) 
bis zu den unter | 
bald der Spike 
auffteigenden 
Felspartien. Ueber 
dieſe hinauf ge— 
langt man zudem 
im Bilde nur 
acgen die Spitze 
zu ericheinenden 
oberen Gleiſcher 
und zu der Hoc: 
worte Sonnen- 


birdhaus. 


ee 


Aufdieie Weile — iR Diegrößteftälte 
wird dert oben WMeteorofogiides Ableruatorium auf bem Fic dm Mid. im Februar 1887 
jeitmehreren Jah war— 32°C. am 


von von Stunde zu Stunde der Drud der Luft, die Temperatur, 
die Richtung und Stärke des Windes, ja die tägliche Dauer des 


Sonnenſcheins automatiſch aufgezeichnet, ohne daß der Beobachter 
weſentlich mehr dabei zu thun hat, als die Aufzeichnungen von 
den Inſtrumenten abzunehmen und die Apparate von Zeit zu Zeit 


nachzufchen, damit ihre Thätinfeit nicht jtode. Die Erhaltung der 


Station und die Verforgung des oben mweilenden Anffehers mit - 
Yebensmitteln geichieht von dem Orte Eijenfappel aus, auch iſt 


eine Telephonverbindung eingerichtet, fo dab der in der Wolfen: 
vegion weilende Beobachter nicht völlig vereinfamt ift, ſondern mit 
den Menschen unten wenigitens durch die Sprache verlehren Tann. 
Unjer Bild (S. 729) giebt den allgemeinen Anblick der Station 
von einem benachbarten hohen Punkte des Obir aus. Wir fügen 
mod) eine zweite Abbildung ıS. 724) bei, welche nach einer Zeichnung 
des Herm Berger in Eifenfappel angefertigt iſt. Sie ftellt 
den Hocobir im Winter dar, wenn das Beobachtungshaus in 
den Schneemaſſen begraben fliegt und ein tiefgrauer Himmel 


über der weißen, öden Flache liegt. Man fiebt, da von dem, 
Beobachtungshauſe aus cine eleftrifche Leitung nach der eigent: - 


schen Spige des Tbir führt Auf diefer Spihe, in 2140 Metern 
Höhe, von feiner andern Grhebung überragt, jteht das Anemo— 
meter, das heißt ein Inſtrument, um Richtung und Stärke des 
Windes anzuzeigen, die dann durch den elektriſchen Strom nach 
dem Beobachtungshauſe übermittelt und automatiich aufgezeichnet 
werden. 

Ein anderes Hochobſervatyrinm befigt Oeſterreich auf dem 
Sonnenblid in der Woldberggenppe der Hohen Tauern. Tiefer 


1858 


9. jenes Monats, die größte Wärme am 5. Januar being 
— 5200, Das find, wie man fieht, ſibiriſche Verhältniſſe. Die 
mittlere Temperatur der Sommermonate fteigt auf mur wenig 
über den Gefrierpuntt, ja fie bleibt zum Theil noch darunter. 
Für den Juni beträgt fie — 1,4%, für Juli +1,20, für August 
+ 1,09, durchichmittlich für die Sommermonate + 0,3" 0. Sonad) 
fommt die Sommerwärme auf dem Sonnenblid zienlid jener auf 
Spigbergen oder Franz Joſef-Land im auktiichen Eismeer gleich. 

Die Schweiz befigt eine Hochftation auf dem Säntis in 2000 
Metern Höhe, den man von Appenzell aus leicht erreichen kann. — 

Die höchſtgelegene Beobadhtungsitation im Deutjhen Reiche 
befindet fid) ſeit 1883 auf dem Wendelftein, der von München 
ans über Bayeriſch⸗gell bequem zu beiteigen iſt. Der Berg Telbit, 
deſſen Beichreibung in Halbheft 3 des vorigen Fahrganges enthalten 
iſt, erhebt jich bis “ 1360 Metern über die Meeresfläche und trägt 
auf der höchſten Nuppe, die mittels eines Drahtfeiles zugänglich 
it, cin großes Kreuz. Da diefe Spige jedoch im Winter nur 
mit Lebensgefahr erreicht werden kann, jo find die Anjtrumente 
der meteorofogiichen Station in dem 130 Meter tiefer liegenden 
Touriftenhaufe aufgejtellt. 

Die nachfolgende Zuſammenſtellung giebt einen Weberblid 
über die haupffächlichſten Gipfelſtativnen ın Europa, geordnet nad) 
ihrer Höhe über dem Mecresipiegel: Somnenblid, Salzburg, Hohe 
Tauern 3103 Meter, Aetna, Sieilien 2900 Meter, Pie du Mid, 
Pyrenien 2877 Meter, Säntis, Appenzeller Yand 2300 Meter, 
Monte Eimone, Apennin 2162 Meter, Hochobir, Kärnten 2044 
Meter, Mont Ventrux, Cottiſche Alpen 1960 Meter, Wendelitein, 


2 


-o 


Südbayern 1860 Meter, Schafberg bei Jichl 1776 Meter, Pic lAi⸗ 


aual, Gevennen 1567 Meter, Puy de Döme, Anvergne 1463 Meter, 
Ben Nevis, Schottland 1418 Meter, Broden, Harz 1141 Meter. 

So jchen wir, daß heute zu Zwecken der Wiſſenſchaft die 
leiſeſten Negungen des Luftozeans überwacht werden an Dxten, 
die noch vor 150 Jahren von allen Schreckniſſen des Aberglanbens 
umbillt waren; und da, wo man vor zwei Menſchenaltern nod) 


Die Alpenfee 


126 


| EEE 


den Aufenthalt von Drachen und Fabelthieren ber 
Art vermutete, in Höhen, im denen nach Anficht der da 

maligen Alpenbewohner der „Ealte Berghunger“ den Menſchen 
befiel, dicht ſich heute das ſelbſtregiſtrirende Anemomeler md 
Schreibt die Summe im Dienjte der Wiſſenſchaſt auf, wie fange 
fir am jedem Tage leuchtet und wie lange fie hinter Wolfen 
verborgen blich. Dr; sein. 


Nıdıdrud verboten, 
Ale Rechte vortebalten. 


Roman von &, Werner, 
Fortfegung.) 


a) weiche Stimme Alices verstand jo ſüß zu bitten und die 


braunen Augen blidten jo fragend und theilnehmend den 
jungen Arzt an, und doc war Nordheims Tochter die lehte, die 
den wahren Grund zu Reinsfelds Stimmung erfahren durfte, Sie 
hatte freifich recht geſehen; Benno litt ſchon ſeit Worhen unter 


dem Drud jenes Verdachtes, den Gronan in feine bis dahin jo | 


arglofe Seele gepflanzt hatte. Zwar hatte ſich nichts gefunden, 
was ihm irgendivie beitätigte, aber Reinsfeld ahnte, daß Neits 
plögliche Abreiſe umd fein lauges Ausbleiben damit zuſammen— 
hingen, daß diefer die Spur weiter verfolgte Er fahte ſich 
indeffen raſch und erwiderte: 

„Es wird mir ſchwer, Oberjtein zu verlaſſen. So anftrengend 
meine Praxis auch bisweilen war, und fo ſehr ich mich mad) 
einem größeren Wirfungsfrejie jehme, ich fühle cs doch jet, wie 


ſehr ich verwachien bin mit den Menichen, deren Freud und Leid 


ich jahrelang getheilt Habe, mit den Bergen, die mir cine zweite 
Heimath geworden find. Ich laſſe hier jo manches zurüch, was 
mir das Sceiden ſchwer macht.“ 

Erin Auge ſuchte den Boden bei den lebten Worten, jonit 
hätte ex die Veränderung gewahren müſſen, die plötzlich mit Alice 
vorging. Sie erbleichte und die eben noch fo jtrahlende Heiterkeit 
ihrer Züge erlojch, während das Sträußchen von Waldblumen, 
das fie vorhin gepflüdt hatte, ihrer Hand entfiel und auf das 
Moos niederiant, 

„Iſt Ihre Abreiſe fo nahe?” fragte fie leiſe. 

„Gewiß, ich warte nur auf die Ankunft meines Nachfolgers, 
der vorausſichtlich in acht Tagen eintrifft.“ 

„Und dann gehen Sie — für immer?“ 

„Ja — Für immer!“ 

Die Frage wie die Antwort hatten einen gleich ſchweren 
Klang. dam trat ein Schweigen ein. 
das Sträufchen wieder auf, das ſie mechanisch zu ordnen begann. 
Sie wußte freilich von der Berufung nach Neuenfeld und von 
der Annahme jeitens des Doltors, aber fie hatte geglaubt, er 


Alice büdte fi und hob | 


werde weniajtens bis zu ihrer Abreife hierbleiben, und über diefe | 


Abreise waren ihre Gedanken nie Hinausgegangen. Sie war bier 
in den Bergen jo glücklich geweien, hatte ſich mit ganzer Seele 
der frohen, Sonnigen Gegenwart bingegeben und laum jemals 
daran gedacht, daß jie ein Ende nehmen fünnte; jetzt wurde fie 
daran gemahnt, wie nahe dies Ende war. 

„Ic kann diesmal ohne Beſorgniß gehen,“ hob Benno 
wieder am. „Der Gejundheitszuftand in meinem Bezirk läßt 
faum etwas zu wünſchen übrig und Sie, gnädiges Fräulein, be: 
dürfen meiner ja nicht mehr. Bei der nmöthigen Schonung, die 
Sie ſich noch cine Zeit lang auferlegen müſſen, alaube ich mid) 
für Ihre dauernde Genefung verbürgen zu können. 
alüdlich darüber, dab ich meinem Freunde Wort halten und 
ihm die Braut geſund und febensfroh wiedergeben fann.* 

„Wenn ihm überhaupt etwas daran liegt!“ ſagte Alice leiſe. 

Reinsfeld fah fie betroffen an bei der ſeltſamen Bemerkung. 

„Snädiges Fräulein —?" 

„Slauben Sie denn, daß Woligang mich lieb hat? — Ich 
alaube es nicht!“ 


Ich din ſehr 


Es lag feine Bitterleit in den Worten, fie klangen nur 


traurig und ebenſo traurig fragend war der Blick, der ſich jetzt 
zu dem jungen Arzte emporhob. 

„Sie glauben nicht an Woligangs Liebe?“ rief er beſtürzt. 
„Uber weshalb hätte er denn ſonſt —“ er brach plötzlich ab und 
verjtummte mitten im Satze. Er wußte ja doch am beiten, daß 
die Liebe bei der Wahl feines Freundes feine Rolle geſpielt hatte; 


er erinnerte ſich noc jo deutlich jener Stunde, wo der junge 
Oberingeniene fih mit Talter, lühner Berechnung vornahm, die 
Tochter des allmächtigen Bräfidenten zu gewinnen, des fpöttifchen 
Adyielzudens, mit dem er den Gedanken an eine Neigung zurüd 
wies — es war eine Spekulation geweſen, weiter nichts. 

„Ich will ja feinen Vorwurf gegen Wolfgang ausſprechen, 
gewiß; nicht,“ fuhr Alice fort, „Er it ftets fo aufmerkſam, fo 
rückſichtsvoll und fo beforgt um mich; aber ich fühle es doch, wie 
wenig ich ihm bin, fühle, daß, jelbjt wenn er bei mir it, feine 
Gedanken weit fort find. ch habe das früher kaum empfunden 
und wenn ich es empfand, that es mir nicht wehe. ch war 
immer jo müde, hatte fo gar feine Freude am Leben und fam 
mir stets wie eine Gefangene vor, in der Sranfenhaft. Erſt als 
der ſchwere Drud zu weichen begann, der mir Geiſt und Körper 
lähmte, babe ich ſehen und unterjcheiden fernen. Wolfgang liebt 
feinen Beruf, feine Zukunft, jein großes Werft, die Wolfenfteiner 
PBrüde, auf das er fo ſtolz ift — mic wird ev niemals lieben!“ 

Benno fand nicht ſogleich eine Antwort, er war ebenfo ex: 
jchredt wie übermicht von diejem Urtheil des jungen Mädchens, 
das er in dieſem Punkte für fo gleichgültig gehalten Hatte, und 
das nun mit fo unerbittlicher Klarheit die Wahrheit durchichaute. 

„Wolf iſt überhaupt feine leidenichaftliche Natur,“ ſagte er 
endlich langſam. „Bei ihm überwiegt der Ehrgeiz nun einmal 
das Gefühlsleben; jchon als Knabe war er fo und bei dem Manne 
tritt das noch ſtarrer und jchärfer hervor, es iſt Charakteranlage.“ 

. Alice ichüittelle verneinend das Haupt: „Doktor Gersdorf ift 
auch eine ruhige, fühle Natur, und wie liebt er Wally! Ernſt 
Waltenberg kannte früher fein anderes Glüd als fein. ſchranken⸗ 
lofe Freiheit, und was hat die Liebe aus ihm gemadht: Frau 
von Lasberg fagt freilich, das eine ſei Tändelei, die mit den 
Flitterwochen zu Ende gehe, und das andere Strohjeuer, das 
ebenſo schnell erlöichen würde, wie es aufflammte; die wahre 
dauernde Liebe ſei überhaupt ein Traumgeſpinnſt, eine thörichte 
Romanidee, die eine Huge Frau von vornherein aufgeben mühe, 
wenn fie eine glüdtiche Ehe führen wolle. Sie maq ja vielleicht 
recht haben, aber es iſt eine fo trojtlofe, jo niederſchmetternde 
Weisheit — glauben Sie auch daran, Herr Doktor?” 

„RNein!“ fagte Reinsfeld, jo jet und nachdrücklich, daß Alice 
ihn verwundert anblidte, aber fie lächelte trübe. 

„Dann find wir beide Träumer und Thoren, die jene Hugen 
Leute nicht aelten laſſen.“ 

„Und Gott jei Dat, daß wir cs find!“ brad Benno aus. 
„Laſſen Sie es fich doch nicht rauben, mein Fräulein, das Einzige, 
was im Leben Glüd zu geben vermag, was das Leben überhaupt 
exit der Mühe werth macht. Mir hat Wolf freilich ſtets prophe: 
zeit, daß ich damit ein armer Tropf bleiben werde, nach dent 
niemand fragt — meinetwegen! Ach bin doch alüdlicher als ex, 
mit all jeinem Selbſthewußtſein und feinen Erfolgen. Er bat 
ja feine Freude daran, ex ficht überall mur die öde, müchterne 
Wirklichkeit, ohne Begeifterung, ohne jeden idealen Schimmer. 
Ich babe ein hartes Leben durchgemacht, bin nach dem Tobe 
meiner Eltern als verwaijter Knabe in der Welt berumgeftoßen 
worden, habe als armer Student oft nicht gewußt, wo ich bas 
Brot für den nächſten Tag hernehmen jollte, und Habe auch bis 
jetzt nur eben das Nothwendige gehabt, aber ich taufche doch 
nicht mit meinem Freunde und feiner glänzenden Zukunft!“ 

Er lieh ſich von feiner Erregung fortreißen und fühlte gar 
nicht, welche ſchwere Anklage gegen Wolfgang in feinen Worten 
lag; aber auch Wolfgangs Braut fchien das nicht zu empfinden, 
denn fie blickte mit leuchtenden Augen zu dem jungen Arzte empor, 





- 


o 


der, ſonſt jo fchlicht und einfach in ſeinem ganzen Weſen, jeht in 
einer fürmlichen Begeifterung aufflammte. Er war ſonſt ſcheu 
und verſchloſſen, wie alle tiefinnerlichen Naturen, jegt aber, wo 
die Schranke einmal gebrochen war, kannte er auch feine Zurüd- 
haltung mehr, fondern fuhr beinahe Leidenichaftlich fort: 


- 
iz 


„Wenn wir beide dereinft die Summe unſeres Lebens ziehen, | 
dann iſt das Glüd doch vielleicht auf meiner Seite, dann aäbe 


Wolfgang vielleicht all feine stolzen Errungenſchaften Hin Für 
einen einzigen Trunk aus den Tuch, der mir unverſiegbar ftrömt. 
Wir armen, verhöhnten und veripotteten Idealiſten find doch dic 


einzig Glüdlichen in der Welt, denn wir Fönnen lieben aus vollem 


Herzen, können ums begeijtern für, alles Große und Gute, können 
hoffen und vertrauen, troß aller bitteren Erfahrungen. - Und 


wenn uns alles zufammenftürzt im Leben, dann bleibt una dod 


noch das Eine, das nad) oben weilt, und das trägt und zu einer 


Höhe, wohin die anderen nicht folgen können; es fehlen ihmen ' 


ja die Flügel, und die find mehr werth, als all ihre vielgepriefene 
Lebensweisheit!” " 

Alice Taufchte fchweigend, athemfos diefer Sprache, die fie 
nie gehört Hatte in ihrem Baterhaufe und die fie doc, verjtand 
mit dem Inſtinkt eines jungen, warmen Herzens, das nach Glück 
und Liebe verlangt. Und fie wußte nicht einmal, daß der Mann, 
der fo begeijtert für den Idealismus, für den Glauben an die 
Menſchen eintrat, eine der herbſten Erinnerungen in Bezug auf 
Freundesehre und Freundestreue mit ich herumtrug, und daß 
diefe Erinnerung ihrem eigenen Bater galt. 

„Sie haben recht!“ rief fie, ihm wie zum Danke beide 
Hände Hinftredend, „Das ijt das höchſte, das einzige Glück im 
Leben und das wollen wir uns nicht rauben laſſen!“ 

„Das einzige?" wiederholte Benno, während er, fat ohne 
zu wiſſen, was er that, ihre Hände ergriff und feſthielt. „Nein, 
mein Fräufein, Ihnen wird doc noch ein anderes Glück be- 
ſchieden fein! Wolfgang ift troß alledem eine groß und edel an- 
gelegte Natur, lernen Sie fih nur erft gegenfeitig verjtchen, 
dann wird und muß er Sie glücklich machen, oder cr wäre cs 
nicht werth, Sie zu befiken. Ich,“ bier wurde ihm doch die 
Stimme untren, fie bebte in verhaltenem Schmerze, „ich werde 
ja öfter von ihm und feiner Ehe hören, wir bleiben in Brief 
wechiel, und dann — erlauben Sie mir vielleicht auch, dann und 
wann einen Gruß an Sie einzuflechten.“ 

Alice antwortete nicht, aber ihre Augen ftanden voll heißer 
Thränen; fie war nicht im Stande, dieſen erften, tiefen Schmerz 
ihres Lebens zu verbergen, und bei den legten Worten barg fie 
mit einem lauten Aufichluchzen das Geficht in beide Hände. 


i o 


einige Minuten fpäter die Bergwieſe betraten, hatte ſich das 
junge Baar gefaßt, Alice ſaß auf ihrem früheren Plage und Reine: 
jeld ſtand ernft und ſchweigſam daneben. Wally war natürlich 
grenzenlos überraicht, ihren Better Benno bier zu finden, defjen 
fie ſich fofort bemächtigte. Ex mußte beichten, ſobald fie allein 
waren, das Stand bei ihr feit, und Alice mußte cs gleichfalls; 
als Schußgeift hatte man Anfpruch auf unbedingtes Vertrauen, 
Die Heine Gejellichaft trat aemeinian den Rückweg an, und 
dabei mußte Benno unausgejeht feiner jungen Vertvandten Staud 
halten, die ihm mit Fragen und Erzählungen überichüttete. Er 
hörte mechanisch zu und gab ebenſo mechanisch die geforderten 
Antworten, während fein Blid an der jchlanfen, zarten Geftalt 
hing, die wortlos an Ernas Seite ging; er wuhte es ja nicht 
e feit heute, dak fie ihm das Thenerfte auf der ganzen 
t war. 


Der Präfident war zur feitgefegten Zeit angelommen, er 
mußte bis zur Eröffnung dev Bahn den Weg mod über Heil 
born nehmen und hatte den Doktor Gersdorf von dort mitge— 
bracht, der feine Frau abholen wollte. Der Chefingenieur war 
an dem Tage „zufällig“ nach einer fehr entfernten Strecke der 
Bahn gefahren und fonnte feinen Schwiegervater nicht wie ſonſt 
begrüßen. Nordheim wußte ſich das zu deuten; allerdings 
rechnele ex jetzt auf Feine Nachgiebigkeit Wolfgangs mehr, aber es 
mußte troß alledem noch zu einer letzten Auseinanderſetzung 
zwiſchen ihnen -fommen. 

Wally hatte unmittelbar nach Tiſche ihren Gatten in ben 
Kleinen Waldpark gezogen, der zu der Billa gehörte, um dort 
ungeftört ihr Herz ausfcütten zu können, aber jie machte fehr 
großartige Vorbereitungen dazu und erging ſich in fo geheimnik 
vollen Andeutungen und Winfen, daß Gersdorf anfing unruhig 
zu erben. 

„Aber, liebes Kind, ſo jage mir dody endlich, was eigendlich 
geſchehen iſt,“ bat er. „Ad habe gar nichts Ungewöhntiches 
bemerkt bei meiner Ankunft; was. haft, Du mir denn anzuver— 
trauen?“ 

„Ein Geheimniß, Albert," verſetzte die junge Frau mit 


| großer Feierlichkeit, „ein ſchweres, tiefed Geheimniß, deſſen Be- 


' wahrung ich Dir auf die Seele binde, 


Benno ſah das mit einem Gefühl beraufchenden Glüdes | 


und beraufchenden Schmerzes. Gin auderer hätte vielleicht alles 
vergefjen bei diejem Anblick, der jo deutlich ſprach, und die Ge— 
liebte in feine Arme gezogen; fir ihn war fie nur die Braut 
feines Freundes, der er um feinen Preis der Welt mit einem 
Liebesworte genaht wäre — ev trat langſam einige Schritte zurück. 

„Es iſt dody aut, daß ich nach Neuenfeld gehe!” ſagte er 
taum hörbar. „Ich wußte längit, daf es nothwendig war!” 

Die beiden Hatten feine Ahnung davon, daß fie belauſcht 
wurden. Schon in jenem Mugenblid, wo der Doltor die Hände 
des jungen Mädchens erariff, theilte jich das Gebüſch am Fuße 
des Felſens, und Wally, die eine nedende Ueberraſchung beabfichtigte, 
lugte daraus hervor. Ihr muthwilliges Geſicht nahm aber den 
Ausdrud höchſter Verwunderung an, als fie Alice, die fie allein 
glaubte, in Gefellichaft des Vetter Benno und in einer fehr viel- 
fagenden Vertraulichkeit mit ihm vrblidte, 

Zu den vielen lobenswerthen Eigenfchaften der Frau Doktor 
Gersdorf gehörte auch eine jehr hervorragende Neugierde. Sie 


Es haben jich hier ganz 
unglaubliche Dinge ereignet — hier und im Oberftein.“ 

„In Oberſtein? ft etwa Benno dabei betheiligt?* 

„Ja!“ Frau Doktor Gersdorf machte eine jehr lange Kunſt 
pauſe, um ihrer Eröffnung den mölhigen Nahdrud zu geben, 
dann jagte fie in einem hochtragiſchen Ton: 

„Benno — liebt Alice Nordheim!” 

Die Nachricht machte leider nicht den nchofiten Effelt, der 
Rechtsanwalt Schüttelte nur den Kopf und jaqte mit empörender 
Gheichgültigkeit: 

„Der arme Junge! Gut, dab er nach Neuenfeld acht, 
da wird er ſich den Unſinn hoffentlich bald aus dem Sinne 


' schlagen!“ 


wollte unter allen Umftänden wiſſen, wie dieſes verfängliche Ju— 


fanmenjein ſich weiter entwidelte. Sie verharrte daher regungs— 
105 auf ihrem Lauſcherpoſten und hörte das ganze folgende Ge— 
ſpräch mit an, bis Ernas und Waltenbergs Schritte ſich vernchmen 
lichen, die exjt jept den Felspfad herabfamen. 

Zum Glück befah die Heine Frau Beiftesgegenwart, und 
überdies hatte fie während ihrer eigenen Brautzeit Alice fo nad): 
drücklich als Schußgeift in Anſpruch genommen, daß fie ih nun 
auch ihrerfeit® zu diefer Rolle verpflichtet fühlte. Sie tauchte 
daher geräuſchlos in das Gebüſch zurüd und rief dann laut 
und luſtig den Niederfteigenden zu, daß fie ihnen ſchon weit 
vorans je. Das that denn auch jeine Wirfung; als alle drei 


„Das nennt Dur Unfinn?* rief Wally entrüftet. „Und Du 
meinjt, man Fönne es ſich jo ohme weiteres aus dem Sinne 
ichlagen? Du hättejt es wahrſcheinlich gekönnt, wenn ich nicht 
Deine Frau geworden wäre, Albert, denn Du bijt ein herzlofes 
Ungeheuer!” 

„Aber ein vortreffliher Ehemann!“ behauplete Gersdorf, 
der an dieje tragischen Ausdrüde feiner Frau ſchon gewöhnt war, 
mit philoſophiſcher Ruhe. „Uebriaens lag die Sade bei mir 
doch etwas anders. Ich wußte, daß Du mir erreichbar warſt 
troß mancher Hinderniffe, und überdies war idı Deiner Gegen: 
liebe gewiß.“ 

„Das ift Benno auch, Alice liebt ihn gleichfalls,“ erklärte 
Wally und hatte die Genugihuung, zu jehen, daß ihr Gatte dieſe 
zweite Nenigkeit bedeutend ernſter nahm, als die erjte. Er hörte 


\ nachdenklich und ſchweigſam zu, während fie in ihrer gewohnten 


lebhaften Weife den ganzen Bericht. hervorjprudelte, ‚von dem Bu 


| fammenteefien im Walde, von ihrem  Laufherpoften im Gebüſche 


und ihren höchit energiichen Bemühungen, Klarheit in die Sache 
zu bringen, wie fie ſich ausdrückte. 

„Eine Stunde fpäter "hatte id) Benno ımter vier Augen, * 
fuhr fie fort. „Er wollte anfangs nicht beichten, durchaus nicht, 
aber man joll es einmal verfuchen, mir etwas zu verbergen, 


ERDE 


— 


wenn ich auf der Spur bin! Ich jagte ihm ſchließlich auf den fie gleichfalls zum Geſtändniß. Kurz und gut, bie beiden 


Kopf zu: Sie find verliebt, Benno, vettungslos verliebt! Da 
endlich gab er fein Leugnen auf und antwortete mit einem tiefen 


Seufzer: Ja — 
und hofinungs- 
los!“ Gr war 
ganz verzweifelt, 
der Arme, aber 
ih ſprach ihm 
Muth ein und 
erllärte, daß ich 
mich der Sache 
annehmen und 
ſie in Ordnung 
bringen werde.“ 
„Was ihn nas 
türlich ſehr ge 
tröjtet hat!" warf 
Gersdorf jarka: 
ſtiſch ein. 
„Nein, im 
Segentheil, er 
wollte nichts da⸗ 
von hören. Die: 
jer Benno iſt 
von einer entſetz⸗ 
lichen Gewiſſen— 
haftigkeit! Mlice 
ſei die Braut ſei⸗ 
nes Freundes, er 
dürfe nicht ein— 
mal an fie den: 
fen, wolle fie nie 
twiederjehen, ſon⸗ 
dern womöglich 
was dergleichen 


mir fogar, mit Alice zu sprechen — natürlich ging ich Sofort 


zu ihre, ſobald 








JJ SS ERET | 
— De N 
ar * * z Du + 
4 ie TE J 
a ——— 
9 —— * 
⸗ et 





Sonnendfik in den Hohen daueru. 
Nach einer Pbetegrapble von Würthle w, Spinnhien in Salgtarg. 


ihon morgen nad Neuenfeld abreijen und 
Ucberipanntheiten mehr waren. Er verbot 


er den Nüden gewandt hatte, und brachte 


Ausſicht von der Zetterwarte des Buy de Dome, 
Belchnang nach eines Abbildang in „La Nature”, 








lieben ſich, namenlos, grenzenlos, unausſprechlich — da bleibt 
aljo nichts anderes übrig, als dak fie fich heirathen!“ 


„So?“ fagte 
der Rechlsan— 
walt, etwas über: 
rafcht von dieſer 
Schlußfolgerung 
„Du ſcheinft gan 
zu vergeſſen, daß 
Alice die Braut 
des Chefinge⸗ 
nieurs iſt.“ 

Frau Wallt 
rümpfte das 
Naschen; dieſe 
Verlobung hatte 
niemals Gnade 
vor ihren Augen 
gefunden, und 
jetzt machte ſie 
vollends kurzen 
Prozeß damit. 

Alice hat die 
ſen Wolfgang 
Elmhorſt nie ge 
liebt,“ verſicherte 
ſie mit der größ 
ten  Beitimmt: 
beit. „Sie hat 
Ya geſagt, weil 
ihr Vater es 
wünfchte, weil 
fie damals über- 


haupt nicht die Energie beſaß, Nein zu jagen, und er — nun, 
er wollte eben eine veiche Partie machen.” 

„Und cben deshalb wird er nicht geneigt fein, fie fahren zu 
laſſen, das follteft Du doch einſehen.“ 





upag DB uoa Bumulpisfjoudragy 
iA dag® maq ſjuv ↄnvau⸗noac 220 Ipyun? 














o 


„Ich Habe Dir ja gejagt, Albert, daß ich mic der Sadıe 
anzunehmen beabfichtige!* erHlärte die junge Frau arofartig. 


„Ich werde mit Elmhorſt ſprechen, werde an feinen Edelmuth | 


appelliren, ihm voritellen, daß er zurädtreten muß, wenn er nicht 
zwei Menjchen unglücklich machen will, Er wird gerührt, erweicht 
fein, wird die Liebenden zuiammenführen und —“* 

„Eine echle Romanfcene fpielen!“ ergänzte Albert. „Nein, 
das wird er micht thun! Du keunſt den Ehefingenienr’ fchledht, 
wenn Du ihm eine folche Gefühlsieliafeit zutrauſt. 
wenigiten der Mann, von einer Berbindung zurüdzutreten, die 
ihm den einſtigen Beſiß von Milltonen verbürgt, und wenn ex 
die Liebe feiner Frau dabei entbehren muß, fo wird er ſich zu 
teöften wiſſen. Und was glaubit Du denn, was Nordheim zu 
der romantischen Geſchichte fagen würde?“ 


„Der Präfident?” fragte Wally Heinlaut. Sie hatte bei 


ihren fühnen Entwürfen, wo jie ſich ſchon als ſegnenden Schußz— 


aeift jah, der die Hände der beiden Liebenden mit der nöthigen 
Rührung vereinigte, gar nicht daran gedacht, daß Alice noch einen 
Bater beſaß, der eim entjcheidendes Wort in der Sache zu 
ſprechen hatte. 

„sa, Präfident Nordheim, deſſen eigentliches Werk dieſe 
Verlobung iſt, und der ſchwerlich geneigt ſein dürfte, ſie aufzu— 
heben und die Hand ſeiner Tochter einem jungen Landarzte 
zu bewilligen, der bei all seiner Bravheit 
doc; äußerlich gar nichts in die Wanichale zu legen Hat. Nein, 
Wally, die Sache ijt völlig ausſichtslos, und Benno bat durd)- 
aus recht, wenn er jede Hoffnung auſgiebt. Selbjt wenn Alice 
ihn wirklich liebt — fie hat ihr Jawort einmal gegeben, frei— 
willig gegeben, und weder der Bräutigam noch der Vater 
werden fie davon entbinden. 
beide fügen.“ 


Er hätte noch weit mehr Gründe anführen können, ohne feine | 


ran zu überzeugen. Sie wuhte, was ihr eigenes Trogköpfchen 
ausgerichtet hatte, als es ſich um die Vereinigung mit dem Ge— 
liebten handelte, und jah durchaus nicht ein, weshalb Alice das 
nicht gleichfalls durchſetzen jollte. 
ichmitt dann aber jede weitere Einwendung ihres Mannes mit 
der diktatoriichen Erklärung ab: 

„Das verſtehſt Du nicht, Albert! Sie Tieben ſich — aljo 
mũſſen fie ſich heirathen, und das werden fie auch!“ 

Und gegen eine ſolche Logil fam Gersdorf mit feinen 
Gründen allerdings nicht auf, — 
Indʒwiſchen befand fid Alice Nordheim in dem Arbeitszimmer 
ihres Vaters, das fie ſonſt nie zu betreten pflegte, und es mußte 
etwas Ungewöhnliches fein, was fie dorthin führte, denn fie ſah bleich 
und erregt aus und jchien, wie fie da am Fenſter Ichnte, mit 
einer geheimen Angſt zu fämpfen, und doch handelte cs ſich 


nur um eine Unterredung zwiſchen Water und Kind. Freilich, 


die Vertraulichkeit und Innigkeit diefes Verhältniſſes fehlten bier 
volljtändig. Nordheim, ber feine Tochter mit allem Glanze 
feines Reichthums umgab, hatte doch im Grunde nur ſehr wenig 
Intereſſe für fie, und Alice hatte das von jeher empfunden, aber 


bei ihrer gehoriamen geduldigen Fügjamfeit i in alles, was der Vater | 


zu beichließen für aut fand, war es wie zu irgend einem Gegen— 
ſatze zwiichen ihnen aefommen, 

Jetzt zum erſten Male follte das anders werden, fie wollte 
dem Water mit einem Geſtändniſſe nahen, das, wie jie wußte, 
jeinen -vollften Zorn herausfordern wiürde. Aber das junge 
Mädchen war doc nicht jo ſchwach und willenlos, 
Anſchein hatte; fie fürchtete dieſen Zorn, fie zitterte davor -und 
ſchwanlte doc) nicht in ihren Entſchluſſe 

Da ließ ſich im Nebenzimmer der Schritt des Präfidenten 
hören amd gleich daranf feine Stimme: 

„Der Sefretär des Herrn Waltenberg ? 
ihn eintreten!“ 

Alice jtand einen Moment lang unentſchloſſen; der Vater, 
der von ihrem Hierfein feine Ahnung Hatte, kam nicht allein, 
und fie lonnte jest, in ihrer anaftvollen Erregung, Teinem Fremden 
negemübertreten. Es handelte ſich jedenfalls nur um eine Nach— 
richt oder Beitellung von feiten Waltenbergs, die in wenigen 
Minuten abgemacdht war. Das junge Mädchen ſchlüpfte aljo 
raſch in das anſtoßende Schlafzimmer, deſſen Thür angelehnt 
blieb; gleich darauf trat Nordheim ein und Hatte ſich kaum nieder— 
gelaffen, als der Gemeldete erſchien. 


Gewiß, laſſen Sie 


730 


Er iſt am | 


und Tüchtigkeit 


Es Hilft nichts, fie müſſen fich 


Sie hörte zwar aufmerlſam zu, | 


wie e8 den | 





3 


Der Präfident empfing ihn mit vornehmer Gleichgültigkeit 
| Er wußte, daß Ernſt auf feinen Neifen eine Perjönlichfeit auf: 
gegriffen Hatte, die unter dem Titel eines Sekretärs alle mög: 
lichen Vertrauenspoſten bei ihm befleidete, intereſſirie ſich aber 
nicht weiter dafür, Den Namen hatte er entweder nicht gehört 
| oder nicht beachtet, jedenfalls erfannte ex den einftigen Jugend— 
freund nicht wieder. Fünfundzwanzig Jahre find eine lange 
| Beit, und ein Leben, wie Gronau es geführt hatte, pflegt den 
Menschen noch mehr als jonft zu verändern, Der Mann mit dem 
braunen, tiefdurchfurchten Geficht und den grauen Haaren hatte 
feinen Zug mehr von dem friſchen, übermüthigen Burſchen, der 
—— in die weite Welt gegangen war, um ſein Glück zu ver— 
uchen 
| „Sie find der Sekretär des Herm Waltenberg ?” eröffnete 
Rordhein das Geſpräch. 

„a, Here Präſident.“ 

Nordheim jtugte beim lange der Stimme, die eine unbe- 
ftimmte Erinmerung in ihm erwedte. Gr richtete einen ſcharfen 
Bit auf den Fremden, und während er ihm flüchtig winkte, 
lag zu nehmen, fuhr er fort: 

„Er kommt alfo heute vermuthlich nicht? Was bringen Sie 
mie, Herr — wie iſt Ihr Name ?* 

„Veit Gronau!” verſetzte diefer, indem er ruhig den au: 
gebotenen Plab einnahm. 

Der Präſident ſah ſehr überrafht aus; er ſchien in dem 
wettergebräunten Gefichte die Züge des einſtigen Jugendfreundes 
zu juchen, aber die Erinnerung, die ihm bier jo unvermuthet 
entgegentrat, jchien feine angenehme zu fein, und ex war offenbar 
nicht geneigt, jene Freundſchaft jeht mod; gelten zu laſſen. Die 
Haltung, welche ev annahm, wies dem Sekretär feines fünftigen 
| Berwandten entichieden eine untergeordnete Stellung an. 

„Dann find wir uns wohl nicht ganz fremd,“ warf er 
bin. „Sch Habe im meiner Jugendzeit öfter mit einem Weit 
Gronau verkehrt —“ 

„Der die Ehre hat, vor Ihnen zu ſitzen,“ ergänzte Veit. 

„Das Frent mich in dev That!“ Die Freude wurde in ſehr 
gemeſſener Weile ausgedrüdt. „Und wie ift es Ahnen im der 
Zwiſchenzeit ergangen? Hoffentlich gut, Ihre Stellung bei Heren 
Waltenberg iſt voransfichtlicd eine ſehr angenehme,“ 
| „Ich habe allen Grund, zufrieden damit zu jein. So weit 
wie Sie, Here Präſident, habe ich es freilich nicht gebracht, aber 
man muß ich zu beicheiden willen.” 

„Ganz vet! Das Schichal lenkt die Bahnen der Menjchen 
in ſehr verſchiedene Richtungen.” 

„Und bisweilen übernehmen das die Menſchen auch jelbit; 
da kommt es denn freilich darauf an, wer fein Lebensſchiff am 
geichichteften zu ſteuern verfteht.” 

Die Bemerkung mißfiel dem Präfidenten, fie Hang ihm zu 
vertraulich, und er wünschte feine Vertraulichkeit mit dem che 
‚ maligen Jugendgenoffen, ‚deshalb fagte ex abbrechend: 
och wir fommen von dem eigentlichen Grund Ihres Be- 
ſuches ab. Herr Waltenberq ſchickt Sie alſo —?* 

„Rein!“ verlegte Gronau troden. 
| Nordheim ſah ihn vertvundert an. 

„Sie lommen doch von ihm, in feinem Auftrage?* 

„Nein, Herr Präfident. Ich kehre foeben exit von einer 
| Reife zurüd. Ich habe Herrn Waltenberg noch nicht wiederge 
\ fehen und mid) nur in meiner Eigenschaft als fein Sefretär 
melden laſſen, um ſofort von Ihnen empfangen zu werden. Ich 
komme in eigener Sache.“ 

Der Präſident wurde bei dieſer Eröffnung noch um einige 
Grade Lühler und vornehmer, denn er erivartete irgend ein Bitt- 
\ geiuch; aber der Mann, der da fo ruhig vor ihm ſaß und ihn 
mit den hellen, iharfen Augen jo forichend anblidte, ſah wicht 
aus wie ein Vittender, es lag cher etwas Heransforderndes in 
feinem Weſen, das Nordheim ſehr unangenehm berührte. 

„Nun, fo ſprechen Sie!” ſagte er mit merklicher Herablaſſung— 
„Unſere Beziehungen liegen zwar ſehr weit zuräd, indeſſen — 

„a, ſie Liegen um fünfundzwanzig Jahre zurüd," ſchnitt 
ihm Gronau ohne, weiteres das Wort ab. „Und doch möchte ich 
mir gerade aus jener Zeit eine Auskunft erbitten und Sie um 
Nachricht erſuchen, was aus unſerem gemeinſchaftlichen — ich 
bitle um Entſchuldigung — aus meinem einſtigen Freunde Benno 
Neinsfeld geworden it.” 








Die Frage fam fo plöplich und unerwartet, daß Nordheim 
einen Moment lang verftummie; er war aber hinreichend an 
Selbſtbeherrſchung aewöhnt, um auch ſolchen Ueberraſchungen 
Stand zu Halten. Allerdings flog ein argwöhniſcher Blick zu 
dem Fragenden hinüber, dann aber zudte er die Achſeln und er: 
widerte mit Falter Abweiſung: 

„Sie muthen meinem Gedächtniß wirklich ſehr viel zu, Herr 
Gronau. Ich kann unmöglid) noch jede einzelne Jugendbelannt⸗ 
ichaft im Kopfe haben, und in dieſem Falle erinnere ich mich 
nicht einmal mehr des Namens.“ 

„Nicht? Nun, dann muß ich Ihrem Gedächtniſſe zu Hilfe 
fonmen, Here Präfident. Ich fpreche von dem Ingenieur Benno 
Reinsfeld, dem Erfinder der erften Beralotomotive.” 

Die Augen der beiden Männer begegneten fich, und in dem 
Augenblid wußte der Präfident, dab cs jich hier um feinen Zu⸗ 
fall handelte, ſondern daß ein Feind vor ihm ſtand, und daß in 


jenen anſcheinend ſo harmloſen Worten eine Drohung lag. Es | 


fam nme darauf an, zu erfahren, ob diefer Menich, der fo ur- 
plöglich aus jahrelanger Vericholfenheit wieder auftauchte, in ber 
That gefährlich war, oder ob das Ganze nur auf einen gewöhn- 
lichen Erpreſſungsverſuch hinaustief, der fid auf irgend eine Er- 
innerung aus alter Zeit ſtützte. Nordheim ſchien das letztere an: 
zunehmen, denn er fante eifin: 

„Da find Sie falſch berichtet, die erjte Beralofomotive habe 
ich erfunden, wie mein Patent es ausweiſt.“ 

Gronau erhob ſich plöglich, ſein dunkles Antlitz färbte ſich 
noch tiefer, man ſah es, wie ihm das Blut in die braunen 
Wangen ſtieg. Er hatte ſich einen ausführlichen Feldzugsplan 
entworfen und genan überlegt, wie er den Gegner angreifen und 
in die Enge treiben wolle, bis diefem fein Ausweg mehr übrig 
blieb; dieſer eiſernen Stirn gegenüber fielen aber all die Mugen 
Vorläge zufammen und die Empörung des chrlichen Mannes ge- 
wann die Oberhand. 

„Und das wagen Sie mir ins Geficht zu jagen!“ vief 
er heftig. „Mir, der dabei geweſen iſt, als Benno uns feinen 
lan vorlegte und erflärte, als Sie ihn lobten und beivunderten! 
Läßt Ihr Gedächtniß Sie auch da im Stich?“ 

Der Präfident legte ruhig die Hand an die Klingel. 

„Werden Sie ſich freiwillig entfernen, Herr Gronau, uder 
fol ich die Diener rufen? ch bin nicht gefonmen, im meinem 
eigenen Haufe Beſchimpfungen zu dulden.“ 

„sch vat 
Beit geimmig aus. „Sie haben die Wahl, ob das, was ic) Ahnen 
zu jagen Habe, unter vier Augen oder vor aller Welt verhandelt 
werden fol. Wenn Sie ſich weigern — ich finde überall Gehör.” 

Die Drohung blieb nicht wirkungslos, Nordheim zug lang: 
fam bie Hand zurüd. Er fah, daf er fein leichtes Spiel haben 
werbe mit dieſem energifchen entichloffenen Wanne, und zog cs 
vor, ihm nicht weiter zu reizen, aber feine Stimme Hang noch 
immer unbewegt: 

„Run wohl, was haben Sie mir zu jagen?" 

Veit Gronau trat dicht vor den chemaligen Jugendgenoſſen 
bin und feine Augen jprühten. 

„Daß Du ein Schurke biit, Nordheim — weiter nichts.” 

Der Präfident zudte zufammen, aber ſchon im nächjten 
Augenblick fuhr er auf: 

„Ad, Sie wagen es —!“ 


„Was ich antworten werde?” jagle er achſelzuclend. „Wu 
ſind die Beweife ?“ 

Gronau lachte bitter auf, 

„a, das dachte ich mir, daß es jo lauten würde! Darum 
lam ich auch micht fofort zu Dir, als ich in Oberftein bei dem 
Sohne Neinsfelds die fanbere Geſchichte erfuhr, fondern ging der 
Spur nad. Ich bin im den drei Wochen überall gewefen, in ber 
Refiden;, in Bennos leztem Wohnorte, im unserer Baterjtadt 
jogar.” 

, „Und jind fie gefunden, dieſe Beweiſe?“ Die Frage Mana 
in vernichtendem Hohne. 

„Nein, wenigitens nichts, was Dich) direlt überführt; Du 
haft Dich) hinreichend gejichert und Neinsfeld hatie cs ja ver 
fäumt, feine Erfindung unter geſetzlichen Schub zu ſtellen, weit 
er noc nicht Fertig damit zu fein glaubte. Das war damals, 
als ich in die weite Welt ging und Du die Stellung in der 
Nefidenz annahmſt. Der qute arglofe Benno änderte und befjerte 
inzwiſchen an feinem Entwurfe und baute glänzende Lufticlöfier 
darauf, bis er eine Tages erfuhr, daß der Plan längit ange: 
nommen und mit Geld aufgetvogen war; aber das Patent und 
das Geld hatte ein anderer in der Taſche, jein beiter Freund, 
der ſich damit zum Millionär aufichwang.” 

„Und dies Märchen willſt Du der Welt erzählen ?* fragte 
der Präfident verächtlid, indem er, jaft unwillkürlich, dem Bei- 
fpiele Gronaus folgte und zu dem einftigen Du zurückkehrte. 
„Glaubſt Du denn wirklich, daß die Behauptung eines Abenteurers, 
wie Du es bift, einen Mann in meiner Stellung jtürzen kann“ 
Du geftehit es ja felbjt ein, daß die Beweiſe fehlen.“ 

„Die direkten, ja, aber was ic erfahren habe, ijt immerhin 
aenug, Dir den Boden heiß zu maden, auf dem Du ftehit. 
Neinsfeld Hat es ja auch verfucht, zu feinem Rechte zu kommen, 
natürlich wurde er abgewiefen, wenn man auch hier und da feinen 


| Angaben Glauben jchenfte; da verlor ex den Muth und gab die 


Ich habe es mir zugejchvoren, 


be Ihnen, die Mlingel in Ruhe zu laſſen!“ brach 


„D ja, und ich werde noch mehr wagen, denn mit dem | 


einen Worte ift die Sache leider nicht abgethan. 


Der arme | 


Benno bat fie freilich nicht durchführen können oder wollen, der | 


beugte jein Haupt unter dem Schlage und litt vielleicht mehr 


durd das Bewußlſein, daf fein kiebjter Freund ihm verrathen | 


hatte, als durch den Verrath ſelbſt. Wäre ich damals hier ge— 
weien, Du wärjt wicht fo leichten Kaufes fortgelommen, Gieb 
Dir feine Mühe mit diefer empörten Miene! Bei mir verfängt 


das micht, ich weiß Beſcheid und wir find ja auch allein, Du 


brauchſt Dich micht zu geniven. Es kommt nur darauf an, was 
Du antworten wirt, wenn ich Dir die Anklage öffentlich ins 
Geſicht ſchlendere.“ 

Er hatte in feiner Erregung den ſremden Ton fallen Laffen 
und gebrauchte das alte Du. Nordheim machte keinen Verſuch 
wiehr, ihm zur Mäßigung zu zwingen, aber er mußte ſich troß 
alledem jicher fühlen, denn er verlor feine überlegene Haltung 
nicht einen Nugenblid. 


Sache auf. Aber fie it damals wenigitens zur Sprache ge— 
funmen, Du haft Did) ſchon einmal gegen die Anklage vertheidigen 
müſſen, und jegt haft Du nicht den weichen, unerjahrenen Benno, 
fondern mich zum Gegner; fich zu, wie Du mit mie fertig wirt! 
daß ih dem Sohne meines 
Freundes die einzige Genugthuung ſchaffen werde, die hier über: 
haupt noc zu ſchaffen iſt, und ich pflege Wort zu Halten, im 
Guten wie im Schlimmen. Ich Habe als ‚Abenteurer‘ ja nichts 
zu verlieren, und ich werde rüdjichtsfos und erbarmungslos gegen 
Dich vorgehen, werde aus allem und jedem, was ich in den lehten 
Wochen erfahren habe, eine Waffe gegen Dich ſchmieden und den 
Verdacht, von dem damals nur die engften Berufskreiie wuhten, 
vor aller Welt zur Sprache bringen. Wir wollen doch ſehen, 
ob die Wahrheit fo ganz ungehört verhallt, wenn ein ehrlicher 
Mann bereit ift, Gut und Blut dran zu Segen!“ 

Es lag eine eiſerne Entichlofjenbeit in den Worten, und 
Nordheim mochte wohl willen, weſſen ex ſich von dieſem Gegner 
zu verjehen hatte. Er ſchien einige Minuten lang mit ſich zu 
tämpfen, dann fragte er furz und Teile: 

„Wie viel verfangit Du?” 

Um Gronaus Lippen zudte ein fpöttiiches Lächeln: 

„Ad, Du läßt Dich aljo auf Unterhandlungen ein?" 

„Es kommt darauf an! Ich Teuane wicht, das ein Yärm, 
wie Da ihn zu erheben drohſt, mir unangenehm fein würde, wenn 
ich auch weit entfernt bin, eine Gefahr darin zu erbliden. Wenn 
Du vernünftige Bedingungen ftellit, wäre ich vielleicht bereit, ein 
Opfer zu zu bringen. Alſo — was forderſt Du?“ 

„Sehr wenig für einen Mann Deines Schlages! Du zahlit 
dem Eohne Bennos, dem jungen Doftor Reinsfeld, die volle 
Summe, die Du damals für das Patent erhalten haft, Es it 
fein rechtmäßiges Erbtheil und ein Vermögen für feine jetigen 
Berhältnifie. Ueberdies geftehit Du ihm die Wahrheit ein, meine 
wegen unter vier Mugen, und giebjt dem Zodten die Ehre, die 
ihm gebührt, wenigitens vor jeinem Sohne; dann wird diejer von 
jeder weiteren Verfolgung der Sache abjtehen, dafür verbürge id) 
mich, und ich werde fie gleichfalls ruhen laſſen. — 

„Die erſte Bedingung nehme ich an,“ ſagte Nordheim in 
einem. fo fühlen Tone, als verhandle er über irgend eine ge 
Schäftliche Angelegenheit. „Die zweite wicht! Ahr werdet Euch 
mit dem Kapital begnügen, das wahrhaftig nicht unbedeutend iſt; 
Ihr theilt es ja doc mit einander.“ 


—o 


„Meinft Du?“ fragte Gronau mit bitterer Verachtung 
Freilich, wie follteit Du aud an eine ehrliche, meigennüßige 
Areundichaft glauben! Benno Neinsfeld wei; nicht einmal, daß 
ich die Sache hier zur Sprache bringe, daß ich überhaupt Be 
dingungen ftelle, und ic) werde Mühe und Noth genug haben, 
ihn zur Annahme deſſen zu zwingen, was ihm von Gott und 
rechtswegen gehört, ihm allein — ich würde cs als eine Schande be- 
teachten, auch nur einen Pfennig davon zu nehmen. Doc nun genug 
der Erörterungen! Willſt Du beide Bedingungen eingehen?“ 

„Nein, nur die erſte!“ 

„Ich Taffe nicht mit mir handeln — das Kapital und das 
Eingeftändnif!* 

„Damit ich mich ganz in Eure Hände gebe? Niemals!“ 

„But, dann find wir fertig! Wenn Du den Krieg willſt, 
jo ſollſt Du ihn haben!“ 

Damit wandte ſich Gromau um und gina nad der Thür; 
der Bräfident machte eine Bewegung, als wolle er ihn zurüd- 
halten, aber es lam nicht dazu, und in der nächiten Minute war 
es auch zu jpät, die Thür Hatte ſich hinter Veit geichloffen. 

Als Nordheim allein war, ſprang er auf und begann mit 
heftigen Schritten im Zimmer auf und nieder zu gehen. Sekt, 
wo er ſich ohne Zeugen wußte, jah man cs, daß ihn die Unter: 
redung keineswegs jo gleichgültig gelaſſen hatte, als er fich den 


132 


laut: 


.— 


Anschein gab. Seine Stirn war tiefqefwcht und in feinen Zügen 
ftritten Zorn und Beſorgniß mit einander; erſt allmählich fing er an, 
ruhiger zu werden, und endlich blieb er jtehen und ſagte halb 
„Thor der ich bin, mich fo aus der Faſſung bringen zu 
laffen! Er hat feinen Beweis, nicht einen einzigen — ich Tenane 
alles !” 

Er wandte ſich nad) feinem Schreibtiſche, aber plöglich ſchien 
jein Fuß am Boden zu wurzeln und ein halb unterdrüdter Aus 
ruf entſuhr feinen Lippen. Die Thür des Schlaigimmers hatte 
ſich geräuſchlos geöffnet und dort auf der Schwelle ſtand Alice, 
todtenbleich, beide Hände negen die Brust gepreft und die großen 
Augen auf den Vater gerichtet, der vor ihrem Anblid erichra! 
wie vor cinem Geſpenſte. 

„Du hier?” herrſchte er fie an. „Wie fommit Du hierher? 
Haft Du etwa gehört, was geſprochen wurde?“ 

„Ja — ich hörte alles!” sagte das junge Mädchen, kaum 
vernehmbar. 

Iept erbfaßte Nordheim zum eriten Male — jeine Tochter 
Zeugin dieſer Unterredung! Aber ſchon im nächſten Mugenblid 
hatte er fich wieder gefaßt, es konnte ja nicht jdnver fein, 
diefem umerfahrenen, urtheilsloöſen Mädchen, das ſich jtets feiner 
Hutovität gebeugt hatte, jeden Argwohn zu benchmen. 

(Fortiepung folgt.) 


Der Lehrer als Wächter der Geſundheit. 


on Dr. med, Vaude. 


III. 
Ba wir die aus der Schule lommenden Sinder, jo erregen | 


in den Städten die Mädchen der weniger bemittelten Stände 
unjere Aufmerkjamkeit. Ihre Haltung ift meiſtens jchlaff, nach 
born gebeugt, die Geſichtsfarbe blaß, während die Knaben ſtramm 
und luſtig berumfpringen. 
Betheiligung der Mädchen fchon in den jüngeren Jahren an der 
Hausarbeit und dem Warten und Tragen der Heineren Geſchwiſter, 
alfo der Unmöglichkeit, der friſchen Luft in dem Grade theilhaftig 
zu werben, als es nothtwendig und bei den Knaben der Fall iſt. 
Hierzu kommt noch die im Durchſchnitt gänzlich ungeeignete und 
ichädliche Weile, im welcher die Kinder ihre Schularbeiten im 
Haufe zu erledigen pflegen. 

Während die Schule der MNenzeit bejtrebt it, die Mängel 
der alten Schulbänfe zu befeitigen, geſchieht im Haufe fast nichts, 
um den Kindern einen der Gejundheit zuträglichen Sit berzuftellen. 
Stehend, oder mit abgerüdtem Stuhle figend, legt das Kind den 
Bruftkaften, wie bei den älteren Schulbänfen, feit am dem nicht zu 
hohen Tiih am. Der linfe Arm befindet ſich unter dem Tiiche, 
der ganze rechte auf der Tafelfläche. 
und die Nafenipike berührt fait das Papier. 
jtcht Hierdurch höher und die Wirbelfäule muß, um diefe Haltung 
herbeizuführen, eine Ausbiegung nad rechts annehmen. Diele 
Biegung wird noch durch das einfeitige Sitzen des Kindes auf 
nur einem Oberſchenkel benünitigt. 


Die Wirbelfänle ift ein gegliederter Stab, an deſſen oberem | 


Theile die Rippen ringförmig befejtigt find. An der hinteren 
Fläche der Rippen und bejonders an der Stelle, wo fie einen 
Heinen Winkel bilden, liegt das Schulterblatt, an welches ſich 
vorn das Schlüſſelbein anfügt; an dem Schulterblatt hängt der 
Oberarm. Diefer ganze ſchwere Scyultergürtel ift nur oder, 
befonders durch Musleln an dem Körper befeftigt. Für das 
aleihmähige Körperwachsthum ift die gleichmäßige Belaftung der 
MRirbelfäule eine Grundbedingung in andauernder ungleich— 
mäßiger Drud wird an der gedrüdten Stelle das Wachsthum 
hemmen, auf der freien Seite dagegen die Entividelung begünftigen. 
Schon bei einer feinen Verbiegung der Wirbelſäule müſſen die 
Rippen in Mitleidenichaft gezogen werden. 

Beim Stehen pflegen befonders die Mädchen mit dem 
einen Beine einzufniden, jo daß der Körper nur auf einem Beine 
ruht und die Wirbeljäule, um das Gleichgewicht zu erhalten, 
unten ſich ausbiegen muß. Anfänglich aleichen ſich beim Mach: 
laſſen der ungünstigen Haltung diefe Biegungen wieder aus; Das 
Kind ijt aber im Wachſen; wiederholt ſich die Schädlichteit öfter, 
fo muß bei ſchwachem Knochenban und bfutarmen Kindern eine 


Die Urſache beruht in der gröferen | 


Rücdwirkung auf die Rippen eintreten. Wenn die Wirbelfäule 
fich in ihrer Mitte, wie gewöhnlich, nach rechts ausbiegt, werden 
die Rippen an diefer Seite hinten zufammengedrüdt, links dagegen 
etwas abgefladt. Schon bei niederen Graden macht fich dieſes 
bemerldar. Der auch normal vorhandene Rippenwinlel prägt 
ſich ftärker aus, das darauf Liegende Schulterblatt wird empor: 
und ruckwärts gehoben, es entiteht die bei den Mädchen von ber 
Scneiderin gewöhnlich zuerjt bemerkte „hohe Sculter*. Hieran 
ichließen ſich fpäter ftärkere Formveränderumgen der Wirbel und 
Rippen an. 

Die gleiche Benachtheiligung wie die Wirbeljäule erleidet 
das Muge bei einer unzwedmäßigen Haltung. Die Neigung 


des Kopfes überfüllt dasſelbe mit Blut, das zu nahe angeftrengte 
Sehen bedingt krampihafte Zufammenziehung der Muskulatur des 


Der Kopf Fällt nad) vorn | 
Der rechte Arm 


Augeninnern. Das Auge gewöhnt jid) daran, nur Strahlen zu 
zerlegen, welche aus der unmittelbaren Nähe einfallen; hierdurch 
gewinnt aud) das Wachethum des Auges eine andere Richtung, 
der Augapfel verlängert ſich mehr, es entitcht das kurzſichtige 
Auge. Barallefe Strahlen, welde von ferneren Gegenjtänden 
auf die Linie fallen, vereinigen ſich bei diefem Auge ſchon vor 
der Nebhant, das Bild wird trübe und verwaſchen, nur aus 
einander gehende Strahlen aus dev Nähe bricht die Line zu 
einem reinen Bilde. An den Städten tritt als erſchwerende Ur: 
ſache hinzu, daß das Findliche Auge jelten Gelegenheit beſiht, in 
die Ferne zu jehen. Auch hier bedingen ungünſtige Schulverhält 
niſſe allgemeine Berichlimmerungen. Der um die Gejfundheits 
pilege des Auges hochverdiente Profeſſor Cohn fand in Bresfan 
in Schulen, welde im engen Strafen gelegen waren, ziemlich 
dreimal fo viel kurzſichtige Ninder als in freiftehenden Schul: 
gebäuden. 

In ähnlicher Weile wirkt das schlechte Sihen auf den Geſammt— 
organismus ungünftig ein. Die Athmung wird behindert, der 
Verdauungsapparat gedrüdt, Blutarmuth und Nervenſchwäche 
entjtehen als Folge. Selbſt im Haufe ift ein richtiger Sig beim 
Schreiben mit Leichtigkeit zu erzielen. Der Stuhl muß ehvas 
unter den Tiſch geichoben fein. Der Tiſch ſoll eine ſolche Höhe 
beſitzen, daß die Schultern nicht gehoben werden, der Oberkörper 
befindet fih bis an die Magengrube oberhalb der Tiichplatte, 
beide Unterarme bis zu °, auf dem Tiſche, den unteren Theil 
des Nüdens ſtützt ein Rollliſſen. 

Dieſe Verhältniffe find bei unjeren neuen Schulbänfen be 
rückſichtigt. Die gewöhnlich zweifißige Bank nähert fich ſowen 
der Tafel, daß die Diitanz gleich Null iſt, die Höhenentfernung 
zwiichen Tafel und Bank (Differenz) it der Schülergröße 


— 0 


angemefien, fie beträgt nad) der Größe der Kinder 20 bis 25 cm. 
Leider findet man aber häufig voch in derjelben Klaſſe meiſtens 
nur die eine Art von Banthöhe, während gerade beim weiblichen 
Gefchleht vom 10. Jahre an ganz verichiedene Körpergrößen 
in der gleichen Klaſſe vorhanden find. Die beitgebaute Bank 


muß dann jhädficd; einwirken; der Lehrer kann aber durch die | 


oben angegebene Beitimmungsart leicht Abhilfe ſchaffen, da jede 
qut eingerichtete Schule 4 bis 6 verichiedene Bankgrößen enthält. 

Es ergiebt jich hieraus, twie auch ſchon früher hervorgehoben 
wurde, dab die hergebrachte Sitzweiſe vom Standpunfte der 
Ghefundheitspflege Menderungen bedarf: blutarme, kurzſichtige, 


ſchwerhörige und verſchieden große Kinder müſſen Plähe nad) | 


ihrem körperlichen Zuftande erhalten. Falls ungeachtet geeiqneter 
Schulbänfe bie Kinder eine schlechte Haltung behalten, fo iſt im 
Haufe die Schuld zu ſuchen und die Eltern find dann von dem 
Lehrer zu benachrichtigen. Diefes jollte auch geſchehen, wenn 
Zeichen von Kurzſichligkeit auftreten, wen das ind die Buchjtaben 
und Zahlen an der Tafel nicht erkennen kann und die Mugen 
zujammenfneift, um jich das Wild deutlicher zu machen. Das 
Sicht ſoll von der linken Seite auf die Kinder fallen, direktes 
Sonnenlicht iſt zu verhüten, cbenio bei künſtlicher Beleuchtung 


arelle und fladernde Flammen; man erachtet für ſechs Kinder | 


eine Gasflamme zum Schreiben und Lefen für ausreichend. Bei 
Hausarbeiten find helle Hängelampen, durch welche das Kind 
nicht gezwungen wird, in das Licht ſelbſt zu jehen, dem Auge am 
zuträglichiten, Eine jede Beengung des Haljes durch enganfigende 
Kragen ift durch die infolge defjen eintretende Blutüberfüllung 
des Auges ſchädlich. Jeder jtarfe gleichmäßige Drud des Bruſt— 
lorbs treibt gleichfalls das Blut nach Kopf und Mugen. Am ben 
oberen Gymnaſial- und Realfhulklaffen tritt oft die „Temmers 
tranfheit“ ein. Der Lehrer thut gut, fich die Nothwendigleit des 
Zragens eines Klemmers durd) einen Arzt bejcheinigen zu laſſen, 
und diejer wird, falls das Auge eines Giaſes bedarf, ficher mehr 
mit einer Brille einverftanden jein, weil das Klemmerglas ſich 
nicht jo zwedmäßig an das Ange anfügt und die Brille zur 
Schonung der Augen ebenfo raſch entfernt werben kann. 

Die Schule muß beftrebt fein, zur Erfüllung ihrer Leitungen 
fich die Geſundheit ihrer Schüler zu erhalten, fie ift daher auch 
berechtigt, gegen die Kleidung Einjpruch zu erheben, falls diejelbe 
nach allgemeinen Grundſätzen geſundheitsſchädlich iſt. Diefes it 
4 B. bei einem enganſchließenden Korſett der Fall. In jeder 
Schule findet ſich eine Nählehrerin, welche in den obern 
Klaſſen der höheren Töchter- und weiblichen Fortbildungs— 
ſchulen eine zu enge Taille kontrolliren kann, und cs muß 


durd; die Schule energiih gefordert werden, dab die Mutter | 


wenigſtens noch nicht im diefer Zeit der Entwidelung ihres 
Kindes die moderne Zwangsjacke in Anwendung bringt. Nach 
törperlicdhen Uebungen, bei denen das Auge gleichfalls mehr Blut 


enthält, follte wicht unmittelbar Schreiben und Leſen folgen. Bei | h 
heit der Schüler erhält durdy die Verbefferung der Klaſſenluft 
Nind Hierdurch hochgradig erregt wird. Die nicht feltene lage | z 


dem Turnen befonders tft hierauf Rüdficht zu nehmen, weil mandes 


Dom Nordpol bis zum Aeguator. 





— 


der Eltern, daß ihr Kind mach dem Turnen ſich außerſt auge— 
griffen fühle, wird von dem Turnlehrer oft für Heuchelei 
der Kinder gehalten, beruht aber auf Wahrheit. Ein blutarmes, 
Schwächliches Kind, welches zu Haufe zu körperlichen Berwequngen 
feine Gelegenheit beſitzt, kann micht durch zwei wöchentliche Turn: 
ftunden zum Herkules herangebildet werden; es wird im Gegen: 
theil oft, wie es and) bei Enwachjenen wach außerorbentlichen 
Uebungen geſchieht, durch die ungewohnte Erregung eine Urt 
Zurnfieber eintreten, auf welches jpäter Erichlaffung und Muslel— 
Schmerz folgt. Dieſer Uebetitand kann wur duch Vermehrung 
der Tuenftunden oder, wie id) es öfter bei folchen Kindern mit 
autem Erfolge angeordnet habe, durch Freiübungen im Haufe 
gehoben werden. Der Turnlehrer muß vor allem die Eigen 
art des Windes berückſichtigen; findet er große Musfelihwäche 
vor, fo ift eim Zettel mit einigen Freiübungen, welche er den 
Kindern einfernt, ſchnell zum Ueben im Hanje anfgeichrieben. Ver— 
ftändige Eltern werden dafür ſicher dankbar fein und für die ein 
viertelftündige tägliche Ausführung forgen — wohl ficher eine der 
nüblichjten Schularbeiten, deren Befolqung der Lehrer leicht durch 
die Zunahme von Geichidlichkeit und Musfelkcaft Fontrolliven 
kant. Die dünnen Kletterftangen jollten aus den Turnhallen wegen 
eines befannten Nachtheil3 für die Gefundheit der Knaben beim 
Erklimmen verichtwinden, und der Turnlehrer muß ftreng daranf 
fehen, daß der Knotenſtrick nur zwilchen die Füße oder Kniee ge: 
nommen wird. 

Die Reinlichfeit und Hautpflege der Kinder fordert cine 
große Berüdiichtigung. Namentlich joll die Meidung der Kinder 
möglichit ftaubfrei in die Schule gelangen, denn Naſe und Luft: 
röhren behalten den mit der Luft eingeathimeten Staub zurüch; 
die qleiche Neinlichkeit ift bezüglich der geſammten Körperober- 
fläche zu fordern, 

Göttingen Hat zuerſt hier fördernd duch Errichtung von 
Schulbädern eingegriffen und jchon mehrere Städte, befonders Frank: 
furt, find nachgeſolgt. Eine Klaſſe badet innerhalb einer Stunde. 
Eine gewiſſe Schüleranzahl wird aus der Klaſſe entfaffen, von 
diefen entkfeiden ich mehrere und gehen unter die Braufe; während 
fie ſich abteodnen, lommen die nächſten an die Meihe; die 
zurüdigebliebenen werden fort unterrichtet. Das Baden geſchieht 
alle vierzehn Tage einmal, and im Winter, Während im Be: 
ginne ſich viele Kinder ausfchlofien, meldeten ſich jpäter immer mehr, 
fo daß zuletzt fait jämmtliche Kinder badeten. Die Lehrer heben 
die geiftige Frifche nach dem Bade hervor; Erfältungen find leicht 
zu verhüten, Zugluft und zu raſches Verlaſſen des Klaſſenzimmers 
im Winter ift zu vermeiden und das forgfame Abtrodnen der 
Haare bei Falter Jahreszeit zu fordern, Die Koſten find fü 
gering (in Göttingen betrugen fie 780 Mark), daf eine derartige 
Einrichtung bei jedem neuen Schulban dringend wünſchenswerth 
it, denn nicht nur der einzelne wird hierdurch gekräftigt und 
zu größerer Reinlichkeit angehalten, ſondern auch die Sejammt 


den größten Nutzen. 


Nagderud verbeten 
Alte Rerhte verbebalten 


Populäre Dorträge aus den Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. 
Die innerafrikanifdıe Steppe und ihre Plagen. 


er Norden Afrikas iſt Wüſte, mus Wüjte fein und wird ewig 

Wüfte bleiben. Gegenüber den ausgedehnten, von einer 
fengenden Sonne durchglüheten Ländermafjen zwiichen dem Rothen 
und Atlantiihen Meere verlieren die erdumgürtenden Gewäſſer 
ihre Bedeutung, kommt das Rothe Meer gar nicht in Betracht. 
erweift ſich das Mittelmeer als viel zu Hein, ift ſelbſt der Einfluß 
des Atlantiichen Weltmeeres nur auf einen fchmalen Rand längs 
jeiner Küſte beſchränkt; über jo weiten und heiken Flächen muß 
jedes Wolfengebilde zerjtäuben, ohne die Techzende Erde zu be: 
Seuchten und zu befruchten. Erſt viel weiter im Süden, unfern 
des Hleichers, da, wo auf der einen Seite das Atlantiihe Welt: 
meer tief fich einbuchtet, auf der andern das Indiſche Welimeer 
Afrikas Küsten beipält, wo, um mich fo auszudrücken, beide 
Meere über den Erdtheil hinweg jich die Hände reichen, ändern 
ſich die Verhältniſſe, indem bier alljährlich zu gewiſſen Zeiten 
unter Sturm und Blitz und Donner fo ausgiebige Regenmaſſen 

1888 


herniederftürzen, dab vor ihnen die Wüſte weichen und der 
febendigeren Steppe Platz machen muß. Daher theilt jich hier 
das rollende Jahr in zwei von einander weſentlich verichiedene 
Heiten: in die befebende und die ertödlende, die der Megen und 
jene der Dürre nämlich, wogegen in der Wüſte einzig und allein 
die zeitweilig herrfchenden Winde von den anderswo wechſelnden 
Jahreszeiten Kunde bringen. 

Um die Steppe zu erllären, ericheint mir eine flüchlige 
Schilderung ihrer Jahreszeiten unerläßlich zu fein. Denn jedes 
Yand fpiegelt das Klima wieder, welches in ihm herricht, und 
jedes Gebiet ijt nichts anderes als ein Ergebniß der jtreitenden 
Gewalten feiner Jahreszeiten und Tann nur verftanden werden, 
wenn man diefe und ihren Einfluß kennen gelernt hat. 

Mit dem Aufhören der Regen beginnt im Innern Afrikas 
die ertödtende Zeit des Jahres oder der lange und furdhtbare 
Winter, welcher durch feine Gluth genau dasfelbe bewirlt, was 


Tg 


. WM 


der nordiſche Winter durch feine Kälte zu Wene Bringt. 
bevor ſich der bis dahin oft bewölfte Himmel völlig geklärt hat, 
werfen einzelne der im Frühlinge ergrünten Bäume ihren Blätter: 
ichmud ab, und mit ben fallenden Blättern verlafen auch die 


Mandervögel, welche während des Frühlings gebrütet haben, das | 
herbitende Land, um in anderen Gefilden ihres Heimathlichen | 


Erdtheils Zuflucht zu fuchen. Die Halme der Brotfrüchte gilben 
noch vor dem Ende der Regen; die niederen Gräſer iwelfen und 
dürren. Beitweilig fließende Gewäſſer verſiegen, durch die Regen 


aefülfte Beden trodnen aus und zwingen nich allein die in ihnen | | 
' Tage, und zudende Blige erleuchten, allnächtlich Fajt, die duſteren 
Fiſche, in feuchten Betten fich einzugraben und Hier ein Winters | 


lebenden Kriechthiere umd Lurche, ſondern ſelbſt die ihnen eigenen 


lager zu ſuchen. Kerbthiere und Pflanzen vertrauen ihren Samen 
der Erde an, 

Jemehr die Sonne ſcheinbar nach Norden ſich wendet, um 
fo rascher rüdt der Winter heran. Der Herbft beſchränkt ſich 
auf einige Tage, Er bewirkt fein Verwellen und Abfterben der 
Blätter, fein Erglühen in Gelb und Noth, wie bei uns zu Sande, 
jondern übt durch glühende Winde eine jo vernichtende Gewalt, 
daß jene vertrocknen wie gemähetes Gras im Strahle der Sonne 
und theils noch grün zu Boden fallen, theil® am Stiele zer: 
itieben, daß die Bäume, mit jehr wenigen Ausnahmen, binnen 
fürzefter Friſt ihr winterliches Ausfehen erhalten. Leber den vor 
wenigen Tagen noch im Winde wogenden, mit hohem Grafe be: 
wachſenen Flächen wirbelt jetzt Staub anf; in den theilweiſe oder 


gänzlich troden gelegten Flußläufen und Waſſerbecken klafft der | 
Alles Angenehme ſchwindet, alles | 


Boden in tiefen Spalten. 
Unangenehme tritt bedrohlich hervor: Blätter und Blüthen, Bögel 
und Echmetterlinge welten, wanderten oder ftarben; aber Dornen, 
Stacheln und Kletten blieben zurüd, Schlangen, Storpione und 
Taranteln feiern die Hochzeit ihres Lebens. Unſägliche Gluth 
bei Tage, unerträgliche Schwüle bei Nacht find die Leiden diejer 
Tage, und gegen das cine wie genen Das andere giebt es fein 
Mittel der Abwehr. Wer jene Tage nicht jelbft erlebt bat, an 
denen dev Wärmemejjer im Schatten bis auf fünfzig Grad C. 
fteigt, während deren man fortwährend ſchwitzt, ohme cher als im 
fühlen Raume zum Bewußtſein davon zu gelangen, weil die Gluth 
allen Schweiß verbunften läßt, während deren eine Stanbwolfe 
nad) der andern zum Himmel aufwirbelt oder trodener Dunſt 
bleiſchwer auf einem laftet, vermag nicht folche Leiden fich aus: 
zumalen; twer jene Mächte, im denen man ſich ſchlaflos auf dem 
Yager wälzt, weil die Schwüle verwehrt zu ruhen und zu ſchlafen, 
wicht durchſeufzt hat, ift außer Stande, die Dual der Menfchen und 
Thiere in gleicher Weile bedrüdenden Zeit nachzufühlen. Selbſt 


der Himmel ändert fein bisher felten getritbtes Blau in fahlere | 


Forben um; denn ber eben erwähnte Dunft verhüllt oft halbe 
Tage lang die Sonne, ohne ihr jedoch die Gluth zu vanben; im 
Gegentheile, gerade wenn der Gejichtäfreis mit ſolchen Dünften 


umdichtet iſt, Scheint die Schwüle noch zuzunehmen. Ohne irgend | 


welche Erauidung für Geiſt umd Leib reihen ſich die Tage an 
einander. Sein Tühlender Hauch aus Norden fächelt die Stirne, 
fein Blüthenduft, Kein WBogelgefang, keine Zaubergemälde in 
fenchtenden Farben und tiefdunklen Schatten, wie das überquellende 
Simmelsficht der Ghleicherländer fonjt wohl hervorruft, exfriicht 
vie Seele; alles Lebendige, Farbige, Dichteriiche iſt verſchwunden, 
in todähnlihen Schlaf gefunten, und diefer iſt viel zu graufen: 
voll, als daß er dichterische Gefühle werden fünnte Menſch und 
Thier welfen, wie früher Gras und Blätter welften, und mancher 
Menſch, matches Thier finft Für immer nieder, wie jene. Ber: 
geblich ringt troßiger Mannesmuth, vun der Laſt dieier Tage fich 
zu befreien, in Seufzen und lagen geht der fejtefte Wille unter. 
Jede Arbeit ermüdet, jede, auch die leichteſte Dede wird zu 
ſchwer; jede Bewegung ermattet, jede Verletzung vertvandelt ſich 
zur bösartigen Wunde, 

Doch jelbit dieſer Winter muß endlich dem Frühlinge weichen. 


in der Mitte zum Samum wird, vent, als Herold des Leuzes, 
feine Schwingen, wühlt in den Risen des Bodens, um fogar ans 
ihmen noch Staub zu entnehmen, wirbelt letzteren im Dichten 
Maſſen empor, baut aus ihm mauerähnliche Wolfen anf und 
führt dieſe braufend und heulend durch das Yand, wirft fie durch 
die Feniterattter der beſſeren Wohnungen in den Städten wie 
durch Die niedere Thür der Hütte Des Eingeborenen und fünt 
neue Unannehmlichfeiten zu den gewohnten Binnen. Gr allein 


Noch | 


' Stille beängftigt Menfh und Thier. 





ſchlanten Balmen neigen ihre Kronen tief herab. 


hat endlich die volle Herrichaft errungen und übt fie unumſchränli, 
als wolle er alles vernichten, was biäher noch wiberitand; er 
aber ift es auch, welcher weiter im Süden regenſchwangere Wollen 
zufammenballt und dem verbrannten Gelände entgegentührt. Bald 
will es fcheinen, als verlöre er mit der ſich mehrenden Stärfe 
jeine bebrüdende Schwüle, als wehe er zuweilen nicht mehr 
glühend, fondern friſch und erquidend, Es ift feine Täufchung: 
der Frühling rüftet fich zum Ginzuge, und auf des Südſturmes 
Fittichen rauschen die Wolken einher. Noch Kurze Heit, und ſie 
dunfeln im Süden das Gewölbe des Himmels; mod) wenige 


Schichten; noch einige Wochen, und ferner Donner kündet den 
befebenden Regen. 

Geſchäftig regt es ſich, wogt und fluthet es in und an 
allen Steömen, welche vom Süden herlommen. Noch haben fie 
fich kaum getrübt; aber fie find Tebendiger geworden, denn jie 
fteigen von jept an fortwährend und jenden im allen tieferen 
Spalten und Riſſen ihrer verfchlammten Uferflächen das belebende 
Naß nad dem Innern des Landes. Und aud die Zugvögel 
find bereit$ wieder eingetroffen und mehren fih von Tag zu 
Tage In den oberen Nilländern erfchien der Stord, um 
wiederum Beſitz zu nehmen von den alten Neftern auf ben kegel— 
förmigen Strobhütten der Eingeborenen, erichien mit ihm ber 
heifige Ibis, um auch heute noch fein vor Jahrtauſenden über 
nommenes Wınt zu üben: Bote, Herold und Bürge zu fein, daß 
der alte Nilgett wiederum feiner Gnade Born und feines Segens 
Füllhorn über die ihm unterthanen Länder ergießen werde. 

Endlich zieht das erſte Gewitter heran. Beengendere Schwüle 
als je liegt über dem todlen, verbrannten Gelände. Unheimliche 
Jeder Belang, fait jeder 
Stimmlaut der Vögel ift verftummt; fie ſelbſt Haben ſich im 
dichtejten Gelaube der immergrünen Bäume geborgen. Aber auch 
das Leben im Lager des Wanderhirten, im Dorfe, in der Stadt 
fcheint zu erjterben. Beforglich ſchleichen die ſonſt fo Tebhaften 
Hunde einem ftilfen, ficheren Ruheorte oder Berftede zu; alle 
übrigen Hausthiere gebärden ſich ängſtlich oder wild; bie Roſſe 
müſſen gefeſſelt, die Rinder in ihre Umzäunung getrieben werden. 
In der Stadt ſchließt der Kaufmann feine Bude, der Hand 
werker feine Werkſtatt, der Megierungsbeamie feinen Divan; 
denn jedermann Sucht Zuflucht in feiner Behaufung Und 
dennoch rührt ſich nocd kein Lufthauch, vernimumt mau mod) 
fein Geflüfter in den Blättern der wenigen noch Blälter tragen 
den Bäume Wohl aber jieht man, wie das Gemitter ſich ge: 
jtaltet und naht. 

Im Siiden jchichtet fich eine dunkle und gleichwohl flammende 
Wand zufammen, vergleihbor der Feuerwolle über einer brennen: 
den Stadt, einem meilenweit in Flammen stehenden Walde. 
Brandroth, purpurn, dunfelroth und braun, fahlgelb, arau, tief: 
blau und ſchwarz Tcheinen in ihr einen Farbenreigen zu Führen, 
vermifchen umd ſondern fich, geben in dem Dunkel auf und treten 
wiederum grell hervor. Sie liegt auf der Erde und wächſt zu 
dem Himmel empor; fte fcheint ſtill zu ſiehen und rast mit 
Sturmeseile dahin, verengert von Minute zu Minute den Ge— 
fichtöfreis mehr und mehr und hüllt alles Borbandene in um 
durchdringlichen Schleier. Pfeifendes und ſauſendes Geräuſch 
acht von ihr aus; anf dem Standpunkte det Beobachlers aber 
iſt noch alles tons und klanglos 

Da brauft plötzlich, lurz und Heitig, ein Windftoß dahin. 
Starte Bäume beugen ſich vor ihm wie ſchwache Gerten, bie 
Dem einen 
Stoße folgen in ftetin befchlemigter Folge andere; der Mind 


| wädjit zum Sturme an, der Sturm steigert fih zum Orkan, und 


dieſer wüthet mit beijpiellofer Gewalt. Sein Toben iſt io ar 


‚ waltig, daß der Schall des ausgefprocdhenen Wortes das Ohr des 
, Sprechers nicht erreicht, daß jeder Laut übertünt und verichlungen 
Sranienvoll aber ist auch deiien Wehen. Derieibe Wind, welder | 


wird. Es rauscht und beawit, toft und jauſt, pfeift und Heult, 
dröhnt und praffelt in den Lüften, am Boden, im den Kronen 
der Bäume, als ob alle Elemente miteinander im Kampfe Tägen, 
der Himmel einfallen, die Grumdiejten der Erbe erjchitttert 
würden. Unwiderſtehlich trifft der gewaltige Sturm die Kronen 
der Bäume, reiht die Hälfte der Blätter aller noch belaubten 
Bäume mit fich fort, bricht mannesitarfe Stämme wie fpröbes 
Glas, bemächtigt ſich der Krone ſelbſt, rollt, dreht und wwirbelt 
fie wie einen leichten Ball über ebene Flächen hinweg und gräbt 


— 2 


ſie endlich, mit den Aeſten, als der breiteſten Grundlage, nach 
unten, dem kläglich emporſtarrenden Bruchſtücke des Stammes 
nad) oben, tief ein in lodere Erde oder Sand, um fie fo der 
vernichtenden Termite zu überliefern. Gierig wühlt er in allen 
Spalten und Rigen der Erde, entnimmt ihnen Staub, Sand und 
Kies, erhebt diefe Stoffe bis in die Wolfen und führt jie mit 
ſolcher Gewalt mit ſich fort, dal; ſie von harten Gegenftänden 
mit vernehmlichen Prideln und Knattern zurückprallen, verbültt 
mit ihnen Himmel und Gelände, wandelt durch fie den Tag jur 
düjteren Nacht, ſo daß der geängjtigte Menſch im Innern der 
ftanberfüllten Wohnung Laternen anzündet, um am der lebendigen 
Flamme gleichſam ſich ſelbſt wiederzufinden oder doch zu be 
ruhigen. 

Doch dad Toben der Windsbraut wird noch übertönt. 
Brafjelnde Donnerſchläge dröhnen mächtiger als ſie und über- 
tänben ihr Heulen und Brauſen. Noch immer ſind die Staubwolfen 
fo dicht, daß man die Blige nicht wahrzunehmen vermag; bald aber 
mischt ich ein bisher noch wicht vernommenes Raſſeln mmter das | 
Wirrſal der Laute und Geränfche, und damit beginnt die um: | 
natürliche Nacht dämmernder Helligkeit zu weichen. Es iſt, als | 
ob schwerer Hagel herniederſchlage, und gleichwohl find es nur 
Regentropfen, welche jetzt zu Boden Fallen und den aufgewirbellen 
Staub und Sand mit fid nehmen. Nunmehr wird man der | 
Blitze gewahr. Einer folgt jo unmittelbar auf den andern, daß 
man unwillkürlich die aeblendeten Augen ſchließt und nur noch | 
an dem ohne Unterbrechung vollenden Donner das Wetter ver | 
folgt. Der Regen wandelt jih zum Wolkenbruche; von den 
Bergen raucht das Waſſer in Bächen Hernicder, in den Niede- | 
rungen jammelt e3 fich zu Seen, in den Thälern fluthet es im | 
Strömen dahin. Stundenlang währt der Niederſchlag, aber ſchon 
mit Begimm des Regens ermattet der Sturm und frischer kühlen: 
der Mind erquickt Menschen, Thieve und Bilanzen, Allmählich 
verringern fich die Blitze, ſchwächt ich der Donner, wandelt ſich 
der Wollenbruch wieder in Regen, diefer endlich in janftes Niefeln: | 
der Himmel Härt jich, die Wollen zerreigen und ſtrahlend bricht 
die Sonne zwijchen ihnen hervor. Frohlockend verläßt die braune 
Nugend, nadt, wie fie erichaffen, Häufer und Hütten, um fich in 
den Gewällern des Frühlings zu baden; nicht minder beglüdt 
entfteigen deren ſchlammigem Grunde Kriechthiere, Lurche und 
Fiſche, und ſchon im der erften Nacht nach dem Negen ertönt 
taujendjach die helle und Tante Stimme eines Heinen Froiches, 
von dem man vorher nichts wahrnehmen fonnte, weil ex, wie 
einzelne Krokodile, viele Schilöfröten und alle Fiſche der zeit: | 
weilig troden liegenden See, in der Tiefe dev Erde ein Winter 
lager geiucht Hatte md durch den erjten Frühlingsregen ins 
Leben zurüdgerufen wurde. 

Allüberall vegt ſich das erwachende Leben gewaltig. Gierig 
ſaugt die Techzende Erde die ihr aeipendete Feuchtigkeit ein; aber 
der Himmel öffnet nach Verlauf weniger Tage wiederum feine 








ihr Gepräge anf. 


135 >» 


Schlenjen und erweckt durch das belebende Naß alle noch ſchlum 
mernden Keime Gin zweites Gewitter ſprengt die Blattfnofpen 
aller einem Wechſel unterivorfenen Bäume und entlodt dem 
Boden Äprofiende Gräſer; ein dritter Regenguß ruft Blüthen und 
Blumen hervor und Heidet das ganze Gelände in ſaftiges Grin. 
Zauberhbaft, wie er gekommen, wirkt und waltet der Früblinn. 
Was bei uns der Friſt eines Monats bedarf, vollendet hier im 
Verlaufe einer Woche den Kreislauf feines Lebens; was in ge 
mäßigten Gürteln nur langſam ſich entwidelt hat, entfaltet ſich 
bier in Tagen und Stunden, 

Binnen wenigen Wochen aber ijt der Frühling auch wieder 
vergangen und der kaum von ihm unterichiedene Sommer ein 
getreten in den Reigen des Jahres, ebenjo raſch dieſem der furze 
Herbjt gefolgt, To daß man, jtreng genommen, nur von einer 
einzigen, Frühling, Sommer und Herbſt in ſich beqreifenden 
Jahreszeit fprechen darf. And wieder fteht der ertödtende Winter 
vor der Thür und verwehrt unmterbrochenes Entleimen, Wachen 
und Gedeihen, wie andere Gleicherläuder, dank ihres gröheren 
Waſſerreichthums, es ermöglichen. Genügend aber it dennoch 
die Menge der hier fallenden Negen, um die jtarre Wüſte zu 
verbannen und überall da, wo fie ſonſt bereichen würde, einen 
mehr oder minder üppigen Pflanzenteppicdy über den Boden zu 
breiten oder, mit anderen Worten, auftatt der Wüjte Steppe 
hervorzurufen. 

Ich gebrauche das Wort Steppe zur Bezeichnung von jenen 
dem Inneren Afrikas eigenen Gefilden, welche der Araber „Ehala“ 
oder zu deutſch „friſche, grüne Pflanzen erzeugende Gelände“ 
nennt. Die Chala iſt freilich ebenſo wenig der Steppe Süd 
rußlands und Mittelafiens, wie der Prairie Nerdamerikas, der 
Tampa oder dem Llano Südamerilas gleich, aber doch dev ert 
genannten in vieler Beziehung fo ähnlich, daß ich kaum der Ent 
ſchuldigung bedarf, wenn ich ein ms befannteres Wort dem un 
befannten vorziehe. Die Steppe erſtreckt ſich iiber das ganze 
innere Afrika von der Wüfte an bis zur Karn, von der Oſtlüſte 
an bis zu der des Weſtens, umgiebt alle dort liegenden Hoch— 
gebirge und ſchließt alle auf ihmen wie im den tiefer eingefenkten 
imd wallerreicheren Niederungen ſich ausdehnenden Urwaldungen 
in fich ein, umfaßt alle Länder im Herzen Afrifas, beginnt weniae 
hundert Schritte jenjeit des lehten Hauſes der Städte, unmittel 
bar hinter den legten Häufern der Dörfer, nimmt die Felder der 
Anſäſſigen im ſich auf und ernährt und erhält die Herden des 
Wanderhirten. Wo nad Süden hin die Wüſte endet, wo der 
Wald aufhört, wo ein Gebirge fich verflacht, macht fie ſich 


‚ geltend; wo der Wald durch Feuer zerjtört wurde, bemächtiat 


zuerſt fie ſich der Brandftelle; wo der Menſch ein Dorf ver 
ließ, dringt fie im deſſen Weichbild ein, um es binnen Wenig 
Jahren bis auf die letzten Spuren zu vernichten; wo der der 
bauer feine Felder aufgab, drückt fie diejen in Jahresfriſt wiederum 
j Schluß folgt.) 


Sortfehritte und Erfindungen der Neuzeit. 


Das POelen Der See. 


m find wicht die Berichte über die ſühnen Fahrten der Walſiſch 


griff zu dem altbefannten Dclen der Ser, und die verichiedenften Ber 


fänger befannt? Alle verrottete Schifſe derfelben, leck wie Siebe, ſuch 


wagten fih auf das weite Meer hingus, iberftanden die ſchwerſten 
Stürme ud Fehrten unverſehrt in die Heimalh zurück, Wohl mwareı die | 
Kapitäne derfelben erprobte Schiffer, aber beſſer als audere Seefahrer 
fanıtten fie außerdem ein Mittel, das geeignet it, die Wefahren der 
ſtürmiſchen See zu mildern: die Anwendung des Deles zur Beruhigung 
der Meereäwellen. Ob lenzend (auf Eee vor ſchweren Stürmen mit Heinen | 
\dicht gereijten] Segeln Janfend) oder treibend, pumpten fie während des | 
Sturmes fo viel Del mit ihrem Bilgewaller ans, dal; Brechſeen über Des 
gar nicht vorfamen. 

Gegenwärtig ift das Delen der Sce zum Gemeingut aller Seefahrer 
eworden. Früher war das Bedürfuig nacı einem ähnlichen Mittel wicht 
vo fehr dringend. Hölzerne und Segelſchiffe waren den Gefahren der | 
Brechſeen nicht jo jehr ausgeſeßt wie eiferne und Dampficifte, Sie | 
hatten Heinere Lulen und waren zur Hebung der Gegelfähigleit mit 
rößter Sorgfalt beladen, was ihnen eine befoudere Stabilität verlieh. 
Dies iſt bei unfern Dampfſchifſſen nicht immer der Kal, und von vielen 
Dambſern, die in der Neuzeit jpurlos auf der Ere verſchwunden find, | 
tann man wohl behaupten, daß ſie tief weggeladen und jchlecht ftabilifire 

. und darum al® eine träge unbeholfene Maffe widerjtandslos der über 
brechenden See preiögegeben waren, Dies machte das Bedürfnis nadı 
Mitteln, welche die Muth der Brechfeen mildern, beionders lebendig; man 


* „ie Berwendnag von Del zur Verubigung der Wellen“. 


uche haben den Nuben desfelben über allen Zweifel Fe 

Es Hingt gewiß; märdenhaft, daß einige Tropfen Del genügen jollen. 
die haushoch daherjtürmenden Wogen zu glätten; aber die Thatiache iit 
unzählige Male beobachtet worden. Die Delichicht jeritört dabei die tänıme 
wicht; ſie umterdrüde fie nur und verwandelt fie innerhalb des Oelbereiches 
in eine weniger gefährliche Diünumg. Jenſeit des Delbereiches kommen 
die Kämme wieder zum Vorſchein. 

Die Art und Weile, wie das Del am zwedwäßigiten angewandt 
werden joll, bildete in lepter Zeit den Gegenſtand vielſacher Unterſuchungen, 
und auch der Damburger Nautifche Berein hat auf er von 
Georg Dunder im Jahre 1887 ein Breisausichreiben für die beite Arbeit 
über diefe Frage erlajien. Eine der prämiirten Schriften* Liegt jetzt im 
ige vor umd geftattet und, den vielfachen Nupen diefer Methode kennen 
zu lernen. 

Räjcht bei anhaltend ſtürmiſcher Witterung die See über das Schiff, 
ichlägt fie Yadelufen cin, richtet am Deck Jerſtörnug an, jo ermattet 
endlich die Mannschaft in dem langen Kampfe mit den Elementen; die 
Schäden können micht mehr ausgebeilert werden und wie das Schiff 
wehrlos, jo wird die Mannſchaſt gleihgükig; das gewiſſe Schidjal, weg 
geſchwemmt zu werden, läßt fie die Gefahr überjehen, daß das Schiff 
unter ihren Füßen wegfinfen tönne. Werden dann die Delbeutel ans 
gehängt, verwandelt das beranstropfende Del die vom Sturme gepritichte 


Bon Kap. N. Harloma, Hamburg 1588, hlarss und Wehterfl. 


. 736 >» 


haushoch heranwogende Brechſee in eine harınloje Dünung, die, anftatt | 
über das iff hinwegzubrechen, unter demſelben hinweggieitet, ſo kehrt 
nit dem Gefühl der Sicherheit der Muth der Mannſchäft wieder, und 
die erlittenen Havarien fönnen leicht ausgebeflert werben. R 

Ein Veiſpiel dafür möge uns ein Auszug aus dem Bericht des 
deutſchen Dampfers „Bohenia” geben, der am 25, Kebruar 1886 einen 
orfanartigen Sturm zu beſtehen hatte, j 

Bis Mittag des genannten Tages herrichte orlanartiger Sturm mit 
Schnee und Hagelbden und einer fürchterlichen Serenziee. Die Ser wuſch 
bejtändig über Ded von drei Seiten zugleich; das Schiff arbeitete ſchreck 
lid), Die Thitren vom Steuerhaus wurden an beiden Seiten eingeſchlagen; 
zwei Boote an Steuerbord und Backbord gleichzeitig vol Waſſer ge— 
ichlagen, und die See drang darüber hin in den Keſſelraum; die Rajüten- 
Stplights wurden demolirt, ein Offizier und ein Mann wicht unerheblich ver»; 
legt. „Wir hingen,” heißt es mm weiter in dem Bericht, „Fünf Delbeutel 
an Stenerbordfeite aus, desgleichen verjahen wir zwei Stlojerts am derjelben 
Seite mit Del zum Tanglamen Durchſidern; jtoppten die Maſchine und 
ließen das Schiff treiben, weldes nad Weit abſtel. Das Schiff mahın 
jebt fein Waller mehr über. Die furchtbar hohe See brach ſich, jobald 
fie die dünne Oelſchicht erweichte, bänfig nur wenige Fuß vom Schiffe, 
lief unter dem Schiffe durch und vafte auf der andern Seite mit jcheinbar 
unverminderter Kraft weiter, Wir lagen auf dieſe Weile bis zum 
folgenden Morgen beigedreht. Obgleih das Schiff in _der hohen See 
netter ſtart überholte, jo Tamı faım Spritzwaſſer an Deck.“ 

Aber nicht allein große Schiffe, auch Boote, die ſich im ſchlechten 
Better auf hoher See beiinden, fünnen von der Anwendung des Oels 
den größten Nußen ziehen. Kapitän Karlowa führt als Beleg dafür 
folgenden Fall an: 

Das engliihe Schiff „Slivemore" verbrannte im uni 1886 etwa 
SO Meilen von den Senichellen- Aufeln. Die Mannichaft rettete ſich in die 


Boote. Am dritten Tage nach dem Verlaſſen des Scijies gerieiben fir 
in einen Enflon, den zu überjtehen niemand erwarten fonnte. Bor bein 
Berlaffen des Schiffes hatte der Kapitän die Vorſicht gebraucht, die Boote 


' mit Del zu veriehen in der Borausficht auf einen Nothjall, wie er jetzt 


wirklich eingetreten war. Ein langer Strumpf, mit Werg gefüllt und mit 
Del getränft, wurde vorn übergehängt, wodurch eine Oelſchicht ruud wın 
jedes Boot aebildet wurde, welche die hohen Brechjeen in unichädliche 
Dünmmg verwandelte, anf der die Boote in vollfter Sicherheit das ſchlechte 
Wetter überftanden. Bor dem Gebrauche des Oels waren verichiedene 
Seen in die Boote geichlagen nud die Juſafſen hatten für ihr Leben 
Waſſer auszuſchöpfen, jett kam wenig oder gar fein Waſſer binein, 
obgleich diefelben tief beladen waren. 

Ebenso wichtig ift die Anwendung des Dels bei Nettung der Wanne 
ſchaften geitrandeter Schiffe, und Kettungsboote werden jett in der u u 
nit Del ansgerüftet, Die Seeleute wifien ſich dabei manchmal in origineller 
Weile au helfen. Der Kapitän des engliihen Dampfers „Barrowmore“ 
bemerkte, als er ſich am 4, Jannar 1885 dem gejtrandeten Schiffe „Sird- 
wood“ näherte, dak die See um das Wrad herum bedentend ruhiger war, 
md fand im der Folge aus, daß die Mannichaft die in der Ladung be 
findlichen Miften mit Lachs entzwei geſchlagen und den fettigen Anhalt 
ins Waſſer geſchüttet hatte, um die See zu dämpien. Der „Barrowmmore* 
jebte im das ölige Waſſer fein Rettungsboot aus und vermochte 26 
Mang zu relten. 

Die Fachlente arbeiten jebt rüſtig an der Loſung der Frage, auf 
welche Weiſe man am zwedmäßigiten das Del bein Vernzen, beim Bei— 
deehen, beim Halſen zc. anwenden folle, dod das find Fachfragen, die 
einem weiteren Pelertreis ferner liegen. Bir begrüßen in diejen Arbeiten 
freudig einen neuen Kortichritt, der beftimme ift, Leben und Gut dei 
Menſchen zu ſchüben, die Gejahren zu mildern, mit denen der fühne See 
mann ringen muß. ‘ 


Blätter und Blüfben. 


Zu Anerbahs Keller. (Mir Slluftration S. 720 und 721.) Die | 
belaunte Scene in Boethes „Fauſt“, welche uns die Zeche luſtiger Geſellen 
in Unerbachs Keller zu Klein Paris vorführt, bat in Eduard Grübner 
einen genialen Dariteller gefunden, 


„Mit wenig Wiß und viel Bebagen 

Dreht jeder fich im engen Girfeltang, 

Wie junge Haben mit dem Schwanz. 

Wenn fie micht über Mopiweh Magen, 

Solang der Wirth nur weiter Dorat, 

Eind fie vergnügt und unbelorgt,” J 


ſagt Mephiſtopheles, als er mit Fauſt im dem mit luſtigen Studenten 
bevöfterten Keller tritt. Dieſe beiden Geſtalten im Hinlergrunde des 
Bildes find mit aralteriftiicher Schärte aufgefaßt. Wephifto freut fidh, | 
al3 Kicerone den Fauſt in diefe Welt flotter Luftigleit einzuführen, 
wo er ihm vor Augen führen kann, wie leicht ſichſs leben läßt — und 
dabei verladht er mut überlegenen Spott die ewig unbefriedigte Weisheit ' 
des tiefjinnigen Forſchers. Dieſer aber fieht und hört befremdet den 
übermüthinen Taumel einer berauſchten Jugend; man ſieht es ihm an, 
nicht lauge wird's dauern, jo empfindet er Die Luſt, wieder abzuſahren; 
das vierblättrige Mleeblatt in der Mitte der Wildes beſindet ſich aber 
auf der Höhe des Wohlbehagens. Da ruft der Schuerbauch Siebel: 


„Mit offner Bruſt ſingt Runda, ſauft und fchreit,“ 
und Alimayer hält ſich die Ohren zu: 


„Weh air, ic bin verloren! En 
Baunmvolle her! der Kerl jprengt mir die Ohren," 


während Froſch und Brander mit Behagen der Träftigen Lofung des 
Krederjüngers folgen. Im übrigen hat der Water Auerbach Keller ut 
ſtimmungsvoller Detailmalerei andgeführt. T 


Die Eifenbahn im Pienfle der Wohlfahrt. Die Staatseifenbahnen | 
werden nicht lediglich von dem Befichtäpuntie des Gelderwerbes geleitet 
und vermögen daher in erhöhten Maße allen öfientlihen Jutereſſen ge— 
recht zu werden, Vornehmlich liegen dieſe Aufgaben auf dem allgemeinen 
wiriſchaſtlichen Gebiete, dansben haben fich aber die deulſchen Bahnen 
auch in den Dienft der Wohlfahrt geftellt und mannigfaltige Erleichte 
rungen gewährt, weldye jich als Unterſtützungen Tranker und bilfsbedürftiger 
Berjonen kennzeichnen. 

An welchen Sinne diefe Einrichtungen getroffen wurden, möge aus 
den nachfolgenden, and) bon anderen deuiſchen Staats> und Privatbahnen 
angenommtenen hanptiächlichiten Beſtimmungen der preußiſchen Staats 
batmen erhellen. 

Mittellofen Berfonen, welhen nachgewiejenermahen feitens der Bor: | 
ftände von Sturanftalten der Gebraud; der Bäder oder anderer Nurein» 
richtungen unentgeltlid, oder zu ermäßigten Breifen zugeftanden it, wird 
für die Neife nach dem Kurort und für die Rückreiſe in die Heimath die 
Benugung der dritten Wagentlaſſe aller Züge zum Dilitärfahrpreis (das 
ift 1,5 Bennig für den Kilometer) geitattet, wenn fie eine Beſcheinigung 
der Ortsbehörde darüber beibringen, daß ihre Bermögensverhältnifie die 
Kırfwendung der Filr den Beſuch und Gebraud des Bades erforderlichen 
Mittel ohne eine Ermäßigung der Eifenbahnfahrpreife nicht erlauben. 

Stroptulöje Kinder der ärmeren Vollsklaſſen und deren Begleiter 
find bei der Reiſe nach den fiir folde Kinder eingeridyteten befonderen 
Heilſtätten auf der Din und Rüchahrt derjelben Ermäßigung auf Gruud 
einer von der Deilanftalt ausgeitellten Aufuahmebefcheinigung und einer | 
Beſcheinigung der Ortsbehörde theilhaftig. 





Unbewinelten Jöglingen der unter Auficht des Staates ſiehenden 
Waiſenanſtallen, der Provinzial» amd anderen Blindenanftalten, der 
öffentlichen Tanbitummtenanftalten und den etwa erforderlichen Beqleitern 


‚ der blinden und taubftummen Zöglinge wird für Frerienreifen zum Beſuch 


ibvee Angehörigen auf Empfehlung der betrefſenden Anitaltsvorftände 
ebenfalls der Militärfabrpreis zugejtanden. Für jedes Kind, rg 
weile HYögling, wird nur ein Begleiter zum ermäßigten Fahrbreiſe be- 
fördert nud zwar auch bei der Rückſahrt nach dem Orte der Abreite, 
fowie für die Wicderabholung ihrer Schüplinge, 

Die gleiche Bergünftigung genichen, auf Grund der von den Bor 
ftäuden der Tanbftummenanftalten zu ertheilenden Erlaubnißſcheine, um- 
bemittelte Tanbitunmme für den Beſuch Heinerer Zuſammenlünfte an den 
Taubitummtenanjtalten, fowie Taubſtumme, welche behufs ihrer firchlichen 
Verforgung einzeln Die betreffenden Anftalten zu beiuchen münfchen; 
jerner and die von Vereinen und Behörden in jogenannte Ferien 


\ folonien entfendeten Kinder und die zur Aufficht beigegebeuen Lehrer. 


Im Intereffe der üfientliden Krankenpflege werden Kappe 
Vereinen und Genofienichaften, ſowohl weltlichen als geiftlichen, welche 
lich ftatutenmäßig in Musäbung freier Yiebesthätigkeit der öffentlichen 
Steanfenpilege widmen, Fahrpreisermäßiigungen in der Weile gewährt, 
daß bei Reiſen der VBorjtandsmitglieder zum Zwecke von Revifionen ober 
Konferenzen, fowie der Krankenpfleger und Pilegerinnen zur Ausübung 
dev öffentlichen Sranfenpflege, zum Wechiel de3 Wohnorts (Berfepung), 
zum Gebrauch von VBadeluren oder zum Beſuch von Bade- und Er- 
holungsorten der Militärfahrpreis, beziehungsweiie bei Benußung der 
zweiten Wagenklaffe der einfache ahrpreis deitter Klaſſe erhoben wird. 

Endlich find zu diefen Wohlfahrtseinrichtungen auch die jeweilig bei 
Unglüdsfällen wie Ueberſchwemmungen, Feuersbrunſten, Mibernten und 
dergleichen zugeftandenen Frachtnachlaſſe, beziehungsweife Ermäßigungen, 
für die an Bilfsansihälie zu jendenden Liebesgaben zu zählen, 

Der Steuerfag. (Mit Illuſtration S. 737.) GSteuertage find auf 
dem Lande nicht gut angeichrieben und kaum eine Amtsperfon ift dort 
jo wenig beliebt wie der Steuereinnehmer, Nentmeifter oder wie er fonft 
heißen mag. Und felbjt, daß er jich im entfernteren Bezirken perfönlid) 
einfindet, wm den Steuerpflichtigen den Weg zum Amte zu erjparen, 
ſtiumnt ihm die Bevölferung nicht günitiger, denn an der Hauptſache wird 
dadurch nichts geändert, Unſer Stünftler zeigt und die Herren vom 
Steneramt in voller Thätigfeit. , Was die hübſche junge Witwe mit ihren 
beiden Nindern, vielleicht das Einzige, was ihr feliger Mann hinterlieh, 
zur Wirthſchaft des Staates beiftenerte, ift freilich nicht der Rede wertb, 
dagegen zählt der ihr unmittelbar Folgende eine anfehnliche Anzahl blanter 
Thaler auf den Tiſch, die fein Ichnurrbärtiges Gegenüber alsbald jauber 
gerollt in die proviſoriſche Safe legen wird. Die behäbige Bänerin 
erinnert an eines der ſieben fetten Fahre Aeghptens, während die Unter- 
thänigkeit des mit dem Amtsdiener Spredenden eben nicht auf einen 
hohen Stenerſaß desjelben schließen läßt, 

sKaifer Wildelm-Denlimal an der Porla Weſtſalica. In der 
Provinz Wejtfalen wurde nach dem Tode Staifer Wilhelms J. der Gedante 
angeregt, zum bleibenden Andenken an den ruhmreichen Herrſcher ein 
einziges mächtiges Wahrzeichen für die ganze Provinz auf einer geſchicht · 
lic) dentwürdigen und landſchaſtlich ausgezeichneten Bergeshöhe zu er- 
richten, ftatt die Kräfte durch viele Heinere Denkmäler in den verichiedenen 
einzelnen Orxticdhaften zu zeriplittern. Dieſer Vorſchlag fand Beifall, und 
heute dritt ein Komitee in Minden mit einem Mufruf an die ODeſſentlich⸗ 
feit, in welchem als geeignetfter Plap für das Dental die Porta Weitfalica 
empfohlen wird, jenes mächtige Felſenthor, durch welches die Weſer im 
Nordweſten des Reiches das Gebirge verläßt und der Tiefebene ſich zu: 


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wendet. Die Stätte ift reich an geſchichtlichen Erinnerungen von den Yeiten 
Hermanns des Befreiers, Karls des Großen und des Sadjjenherzogs 
Wittefind an bis zu dem Tagen, da König Wilhelm zum blutigen 
Kanıpfe genen ben k 
erften Zeichnung von ZOOOO Markt vorangegangen, und es ift wohl zu 
hoffen, daß diefer erhebliche Betrag auch andere Städte anjpornen und 
dazu beitragen wird, binnen kurzem eine günftige pefuniäre Grundlage 
für das fchöne vaterländiiche Unternehmen zu ſchaſſen. ** 
Samiſlenchronik. Die Plauderei in Halbheft 20 der Gartenlaube 
über eine gründliche Reform des Photographiealbums war außerordentlich 


‘ dürfte unter ihnen die befannieite Thierart fein, 


bfeind audzog. Die Stadt Minden ift mit einer | 


zeitgemäh umd man farın wohl mur wünſchen, daß die in derjelben ent“ | 


haltenen Vorſchläge nicht bloß gelefen, ſondern auch wirllich praltiſch ver- 
werthet werden mögen, ch möchte aber einen zweiten „Hausſchaß“ in 
Vorſchlag bringen, der von einem Photographiealbum unabhängig ift 
md doch nicht minder werthboll fein dürfte. Enthält ein Thotographie- 
album die Bilder der Mitglieder, Freunde x. der Familie, jo möchte ich 
in dem zweiten Hausihap eine Chronik aller irgendwie bedeutungsvollen 
Ereigniſſe und Begebenheiten im Leben ber einzelnen Glieder der Familie, 
eine Kamilienchronit mit furzen Biographien, ſchaffen. 


Er iſt bleich und blind 
und einige Zeit hindurch glaubte man, dab ihm der Welichtsfinn vob 
itändig fehle. Später fand man jedoch, dab nmter dev Haut desielben 
ein Auge verſteckt ift, welches zwar verfümmert ericheint, aber deimodı 
die einzelnen Beſtandtheile noch genau erfennen läßt; nur die Yinfe fehlt. 
Aus diefem Beſunde ſchloß man, daß der Dlm einft auf der Oberflähr 
ber Erde gelebt und, nachdem er in die Höhlentiefen hinabgeſtiegen, die 


 SHautfärbung und das Auge verloren habe, Der Schluf, wie gerech 


fertigt er and) fcheinen mochte, gab doch zu Zweifeln Anlah, da fein 
Verwandten des Grottenmolches unter den lebenden Thieren nachgewieſen 
werben konnten, 

In den lebten Jahren iſt es jedoch gelungen, deutlichere Jeichta 
der Veränderungen von Ihierarten unter dem Einfluß des Grotten 
lebend nachzuweiſen, und eine intereflante Jufammenftellung der br 
züglichen Forſchungsergebniſſe wurde vor kurzent von der „Naturwiſſen 
ſchaftlichen Wochenſchrift“ (Berlin, Verlag von Riemann und Möller 
veröffentlicht, 

In unſerer vaterländiidren Höblenfauna find zwei Arten bekam 


‚ ber bleiche und blinde Grottenflobkvebs und die Höhlenwaflerafiel, weldr 


Gewiß wird niemand der Behauptung wideriprecen, dab in vielen 
Kreiſen Nichtadeliger eine große Unfenntnig über das Leoben der Bor | 


fahren, der Bäter nnd Mütter, Großväter und Großuiütter ıc. herricht. Nur 


einer geringen Zahl find vielleicht Epiioden aus der Pebensgejdyichte der ! 


ihnen am nächſten jtehenden Unverwandten belannt, und es iſt wohl häufig 
genug, dah den Stindern ſelbſt das Leben ihrer Eltern ein mit, ſieben 
Siegeln verſchloſſenes Buch ift. Wenn etwa eingewender wird, dab ja in 
den Schichten der bürgerlichen Welt der Einzelne zumeift ein ereigniß- 
lojes beicheidenes Leben führt, welches dem oberjlädhlihen Anichein nad 
gar feine Veranlafiung gäbe, die bedeutungsloien Vorgänge desfelben 
ür die Rachkommen aufzuichreiben, jo fteht hingegen doch auch wieder 


eine enticdiedene nahe Verwandtichaft mit zwei oberirdiichen Arten auf 
weilen, mit dem gewöhnlichen Bachflohlrebſe und der gewöhnliche 
Waflerafiel. Während die beiden oberirdijchen Arten ſich durch lebhafte 
Frärbung und mwohlenttidelte Augen auszeichnen, fehlen den Duntel 
bewohnern der Hautfarbftoff und die Beiichtsorgane, Die Forſchung bei 
num zweifellos ergeben, daß jene Dunlelbewohner von den überirdilde 
Verwandten abjtanımen. Man war in der Lage, Zwiſchenſtufen dieir: 
eigenartigen Ummandlung zu verfolgen, nud zwar in den Stollen unferer 
ültejten Bergmwerle. In den alten Stollen von Elausihal int Oberhat; 


' wohnen Scharen bleicher Flohlrebſe, die bier feit etwa MO Jahren ein 


et, daß fein Menichenleben, wie jtill es auch dahinilichen mag oder | 


mochte, jo wenig Zehrreiches bietet, daß ein heranreifender Sohn oder 
Culel auch nicht cin Nüpliches darin fände, was ihm auf feinem Lebens 
wege in irgend einer Weiſe — fei es als aneiferndes Beilpiel oder vicl- 
leicht ald warnendes mpel — förderlich fein lönnie. ſten 
man ganz und gar abſehen würde von dem gewiliermaßen erjichlichen 
Charakter derartiger ge der Väter und Großväter, die nadı 
ihrem Wbleben diefe ihre Sedenkblätter dem älteften Sohn oder in Er— 
manglung männlichen Nachwuchſes auf die erſtgeborene Tochter een 
tönnten, wird unbedingt zugegeben werden müljen, day dieje in Notizen 
form niedergelegten Aufichreibingen gewiß vom Standpunlte der Familien» 
tradition aus Werth haben werden, 

Wie oft würde 3. B. ein zum Manne herangereijter Sohn oder 
Eufel, oder ſelbſt der Jüngling gerne in diefen Blättern feines längst 
verblidyenen, ihm vielleicht unbefannten Großvaters oder Valers lejen; 
wie oft würde ihm micht diefe oder jene Einzelheit aus dem Leben des 
ihm jo Naheftehenden erfreuen, erwärmen, erheben, vielleicht tröften in 


einer Stunde der Sweilel, ber Trübfal, des Aummers; wie oft wilrde ihn | Ki —— 
ie Hand erlahmt! 


nicht etwa ein wenn auch noch jo einfach und ungekünſtelt niedergeſchriebener 
Sat feines Vaters oder Grofvaterd den Pfad angeben fünnen, den er 


zu ſeinem Glücke einichlagen könnte! Wie oft aber auch würde das geiftige | 


Bild der geliebten Eltern und Großeltern durch die Yeltüre ſolcher ſchlicht 
und einfach niebergeichriebenen aphoriftiihen Lebenserinnerungen dem 
Sohne und Entel wieder in voller Lebenswahrheit und lebendiger Blaftit 


die Bine des Entichlajenen, fein Weſen und Gehaben, all feine quten | 


Eigenschaften oder auch feine Heinen Schwächen, jeine Erlebniſſe und Er- 
fahrungen vors Auge führen und der Lejer würde mit den geſchiedenen 
Lieben ein Stündden in weiheboller inniger Berührung verbringen! 
Vielleicht werden fih aber Stimmen erheben, welde jagen, daß unjere 
Zeit für folche „Sentimentalität" ungeeignet, daß eine alfo berlebte Stunde 
einen Yeitverlujt bedeute und beſſer für praftiiche Zwede zu verwenden 
fei. Aber deſſen ungeachtet möchte ich behaupten, dah eine ſolche Stunde, 
welche uns das Lebensbild eines Vorfahren vor die Seele führt, durch 
ihre belchrende Wirfung auch praftifch nugbar werden Tann. Ein weiterer 
Berth derartiger Aufſchreibungen mag _e8 fein; daß diefelben in ſpäteren 
Tagen dem Kulturhiftorifer, dem Lofalbijtoriter, ja vielleicht mitwmter 
fogar dent Geſchichtſchreiber ſelbſt nüßlich werden Tonnen, Können nicht 
in manchen zweifelhaften Angelegenheiten, in manchen dbämmerigen Fällen 
der Stadt- oder Yandesgeichichte vieleicht ſonſt gänzlich bebeutungslofe 
Familiennotizen Marheit und Aufſchluß bringen, wo jonft von feiner 
Seite ber Licht zu erhalten ift?..., . Wie oft würden unjere heutigen 
Seichichtsforicher in ſoichen zweiſelhaften Fällen raſcher zu voller Auf 
Härung gelangen, hätten fie derartige framiliendhronifen zur Hand, könnten 
fie aus ſolchem Borne ſchöpfeu! . . . Und zur Ausführung diefer der 
iſt fein ſchriftſtelleriſches Talent nothtwendig, feine ftiliftiiche Gabe er- 
ſorderlich; nein, jelbit der einfachite Handwerlsmeifter verning mit wenigen 
ſchlichten Säpen bemerfenswerthe Daten über fein eigenes Leben, über 
das Leben feines Kindes niederzuichreiben und jo den Grund zu legen 
zu einer Familienchronit“, welche, von den nachfolgenden Geſchlechtern 
weitergeführt, für diefe ein „Hausſchatz“ im edeljten Sinne der Wortes 
jein würde, i Ernit Keiter. 
leide Thierarfen. Die Raturſorſcher fuchen noch immer eifrig 
nad) neuen Beweijen für die Begründung der Enttwidelungstheorie, deren 
Grundzüge durch Darwin und feine Schule entworfen wurden, und 
ihre Beinhungen find vielfad von Erfolg gefrönt worden, Wenn äußere 
Einflüffe Arten verändern und neue Thierformen hervorrufen jollen, fo 
muß dies am deutlichjten vielleicht bei denjenigen Thieren zum Vorſchein 
ireten, weldje durch irgend welchen Zufall aus der Erdoberfläche in die 
unterirdifchen Höhlen und Sewäfler eingewandert find. In jolchen Fällen 
find die äußeren Einfläfie außerordentlich ſtark; hier walter der denkbar 
- größte Unterfchied zwiſchen dem lichten Tag und der ewigen Nacht. Wir 
mußten längit, daß die Grotten und Höhlen eigenartige Ihierformen be 


herbergen, Der Olm, der Örottenmold der Strainer Salfiteinhöhlen, 


Und jelbit wenn | 


gebürgert jein müſſen. Der ganze Körperbau und die noch vorhandenen 
Angenflefe deuten daranf hin, daß fie von den gewöhnlichen Flohtrebien 
abitammen, Die Wleichheit haben fie dagegen mit den Höhlenthieren 
gemein und die Unterfuchung der Geſichtägtgane zeigt, daß das Augt 
und namentlich die Linfe verfümmert iſt. So nehmen diefe Thiere eine 
Mittelftufe zwiſchen den oberirdiichen Flohlrebſen und dem Brotienflon 


| trebs cin. Diefelben Erſcheinungen find auch bei der bleichen Waflerafie! 





‚ auf Benefung! 


‘ Male enthalten. 


int „Alten tiefen Fürſtenſtollen“ von Freiberg im Erzgebirge nachgewieſen 
worden, 

Die Wege, welche die Aufllärung nimmt, find oft wunderbar: se 
dringt hier aus der ewigen Macht der unterirdiicen Höhlen und Grotte 
ein heller Lichtſtrahl hervor, der uns die Räthſel der Schöpfungsgeſchichte 
zu deuten geltattet. ⸗ 

Der Kranke Künſtler. Mit Illuſtration S. 713.) „Wer malt dies 
Bild da fertig, wenn ich ſterbe? ds ift unmöglich, daß ich vor jeiner 
Vollendung dahingehe!! — Mar glaubt dem franfen Künftler, deſſen 
Auge beforgt auf ſeiner unvollendeten Schöpfung ruht, dieſen Bedantei 
bon dem Geſichte zu leſen. Lange hat er an dem Gemälde gearbeitet 
feine beite Kraft hat er eingejeht, um Bollendetes zu ſchaffen — da it 
Und im Anſchauen des Bildes, im Krankenſtuhle 
erfennt er, dak niemand im Stande jein wird, feine Schöpfung zu Ende 
zu führen. Andere lönnen Anderes, vielleicht Beileres geben, aber mic! 
das! — — Doch die Hofimung ift nicht ausgeichloffen, die Hoftmuta 
Im Gegentheil: Die jorgende Gattin wird noch mic 
Witwe, das jpielende Kınd nicht Waile werden, wenn es wahr it, was 
man glauben möchte: der Schöpfer dieies prächtigen Bildes hat da rin 
Srüd eigener Erfahrung gemalt, 2 f 

Das Aafaift. Unter diefem Namen wird in die große Reihe der 
Gifte megenwärtin von der Wilfenichaft ein neues eingereibt. Es it 
jurchtbar in feinen Wirkungen und in dem Blute unjerer wohlichinedtenden 
Wer hätte daran gedacht, wenn er einen fetten grofen 
Hal anſah, daf man ans dem Blute diefes Fiſches eine Menge Witt 
gewinnen fönnte, welche wohl gemügt, um zehn Menſchen zu tödten! 
Und doch ift die Thatſache wahr. Profefior Mofio in Turin hat neuer 
dings feine imiereflanten Studien nadı diefer Nichtung hin veröffentlicht 
und wir heben aus feinem Bericht das Wichtigſte hervor. j 

In der zoologiihen Station in Neapel, von welcher Karl Boat in 
früheren Jahren unferen Leſern berichtet hat, befahte fih Profeiior Moſſe 
mit Studien über die Zuſammenſetzung des Fiſchhlutes und wollte vor 
allem feftitellen, warım gewiſſe Fiſche, wie & 8, die Male, in Ser» um 
Süßwaſſer leben fönnen, während andere ehe in lurzer Zeit ab 
fterben, wern man jie in Süßwaſſer bringt. Bu dieſem werte Mies 
Profeſſor Moſſo Aalblut gerinnen. Es bildete ſich dabei wie gewoöhnlich der 
ſogen. Blutluchen und das Blutwaſſer; das Tekiere ſah gelb aus und hate 
einen bläulichen Widerſchein. Vrofeſſor Mofjo foitete einen Tropfen bdieier 
Blutwaſſers. Kaum aber hatte er damit die Zunge berührt, jo einpfand 
er ſchon einen ſcharſen brennenden Geſchmack und hierauf jtellte fich ein 
reichlihe Speichelabfonderung nebft deutlichen Schlingbejchwerden ein. 

Sowohl das Blutwaſſer des gemeinen Aales, wie das des Mer 
aales und der Muräne zeigte diejelben Wirkungen. Es unterlag feinen 

eifel, daß diefes Blutwailer niftine Eigenichaften befiben mußte. Au 

urin wurden die Verſuche weiter verfolgt und das Blutwaſſer dr 
Hale tödtere alle Verfuchsthiere, denen es ins Blut eingefprigt wurde 
Ein Kaninchen 3. B., dem man 3 Decigramm Blutwaſſer einer Murän 
ter die Haut einjprißte, erlag der Wirkung in 2, Minuten; ein 
Hund, dem ", Gramm in die Haldader eingejprikt wurde, wor ın 
4 Minuten tobt. Die Bergiftungserſcheinungen waren derfelben Arı 
wie wir fie beim Schlangengift beobachten; mit dem Unterschied, dns 
dad Schlangengift weit energiicder wirkt. Glücklicherweiſe wirkt dieie 
Fiſchgift unr dann, wenn es unmittelbar in das Blut gebracht wird, un 
wir werden darımı nach wie vor Yale „nadı allen Arten“ eſſen Tonnen: 
denn das Walgift verliert auch durch die Zubereitung des Wildes im bei 
Küche feine verderbenbringenden Eigenſchaſten. Belonders wichtig aber 
iſt die Erflärung des Profeffors Moſſo über die Art der Wirtung des 


n 


Shifies, da cs auch auf die Behandlung des Schlangenbifies einiges Licht | 
wirft. Unfere Leſer werden auch als Laien willen, daß in dent verlängerten 
Mark fich eine Meine Stelle befindet, welche der „Lebenstnoten” genannt | 
wird, Sie ift nur jo groß wie ein Stednadeltopf und bilbet das Centrum 
der Mbembewegungen. Durchbohrt man diefen Knoten“ mit einer 
itarfen Nadel, jo fallt das Thier augenbliclich todt zuſammen, da mit 
einen Schlage die Athembewegungen vernichtet werden. Das Mal» und 
Schlangengift fcheint nun in erjter Linie das verlängerte Markt zu 
beeinftuffen iind durch die Hemmung der Aihmung den Tod zu verurſachen. 
Wird mım fünftliche Ahnung eingeführt, jo lann die Wirtung des Gifte: 
nach der bedenklichen Richtung hin gehoben werden und dem Urganismus 
wird die Möglichkeit geboten, ſich nach und mac zu etholen. 

Man darf den weiteren Forſchungen des berühmten italieniichen 
Welchrien mit Interefie entgegenfehen; vielleicht gelingt es ihm, voll« 
aultige Beweile für die Nichtigkeit feiner Aufjaftung zu bringen und 
ein Mittel gegen das Schlangengiit zu finden. * 


Srühſingsbſumen im Heröſt. 


„Der Mai iſt wieder gelommen, 

Nur dab er September fih nennt —“ 
isat ein altes Lied von der lauen Luft und dem milden Sonnenschein 
des Ichönften Herbitmonats. Aber es ſchweigt von den duftlofen ftarren | 
Blumen, den Aftern und Georgineit, deren größere Farbenpradit ninuner- 
mehr die holde Aumuth der wirklichen Waifinder zu erſetzen vermag. 
Bas indefen die Natur zu deriveigern ſcheint, das hat ihr auf mehr als 
einem Gebiet der menjchliche Geiſt ſchon abzuloden gewußt, uud fo ift 
auch heute das fcheinbar Unmögliche zur Thatfahe geworden: im bota- 
niſchen Garten zu München blühten dieſes Jahr Ende September im 
freien Land dichte Büſchel von dmitenden Maiblunen, Gruppen von | 
Deugien und pontiichen Azaleen, die leßteren in all den zarten Farben | 
von weiß, nelblih und roth, wie wir gewohnt jind, fie im Frühiahr als | 
erften Schmud der Gärten und Anlagen au ſehen. Derr M. Kolb, Ober- | 
inspeftor des botanischen Gartens, iſt es, der nach mannigfachen Ber | 
juchen über die Verlängerung des Winterichlafes der Pilanzen (um dar | 
durch deren Blüthezeit entiprechend hinauszufchieben) endlich, und zwar | 

| 


ala eriter in Europa, das Verfahren gefunden hat, ihre Blüthe in einem 
beftimmten Zeitpunft bervorzurufen. Es läßt ſich leicht deuten, melde | 
Tragweite der an den Frühlingsblumen jo gelungene Verſuch haben | 
wird, wenn es möglich ift, ihn auch auf Hyazinihe, Aris, Nelte und Roſe 
ausjuöchnen und dadurch dem großen Blumenverbraud) des Winters | 
theilweife das Material aus einheimischen Quellen zuführen. Es it | 
ſchon vielfady gegen den einreifenden Blumenfurus — worden, und 
ſicher iſt ev tadelnswerth, wenn er nur prunkhafter Großthuerei den Bor- 
wand liefert. Aber alles, was dazu dient, den beſcheidenen Fenſtergarten, 
die Heine Blumenjpende an liebe Menſchen, den Gratulationsftrauf zum 
Familienfeſt zu ermöglichen, iſt als idealer Gewinn zu adıten, und aus 
dieſem Befichtspunfte bejonders begrüßen wir bie ſchöne Erfindung des 
Pan Kolb als eine für ganz Deutichland bedeutungsreihe und er 
reuliche, 

Deutfhe in Penejuela. Eine Fa ee Beichreibung diefes jüd» 
amerilanifhen Staates Venezuela, von Dr. W. Sievers (Hamburg, 
V. Friedrichſen), macht uns mit Yand und Penten aufs eingehenbfte be» 
kant; wir wandern mit ihm durch die Hafen» und Dauptftädte, lernen 
dir Städte des innern Landes kennen, jteinen auf die Gipfel der Kordillere, 
über die gefährlichen Baramos, die über die Baumgrenze hinausragenden 
fahlen, öden, von Binden umſtürmten Hochflächen, die er gefürchtet 
und gemieden find, weil der allzu jähe Temperaturwechlel, die plößliche 
stälte, die dort eintritt, anf die an die tropiiche Hitze gewöhnten Konftie | 
intionen verderblic wirkt. Die Schilderungen von Sievers find Tebendig | 
und maleriih und von den Mangrovewäldern und Korallenrifien ber | 
Küſte bis zu den Savanenregionen und Schneegipfeln der Sierra Nevada | 
folgt man mit Anterefle den Wanderungen des Neifenden, der einen 
offenen Blick für landſchaftliche Reize, für die Beichaffenheit der Natur 
des Landes, für die Bollsfitten und Raſſenunterſchiede befipt. 

Tenezuela iſt ein im Aufblühen begrifienes Yand, reulicherweiſe 
ist — der Einfluß der Deutschen ein ee ma Auf willen- 
haftlichen Gebiete pielen fie eine große Rolle; der Direltor des Museo 
Nacional in Caracas ift ein Deuticher, Dr. Ernſt, der zugleich die Profeſſur 
für Naturwiſſenſchaften an der Univerfität bekleidet und auch Ober | 
bibliothefar_ iſt, ein Gelehrter von felteniter Bicljeitigleit des Willens, | 
in feinem Specialfach, der Botanif, durchaus heimisch und Beſiher einer 
prachtvollen Brivatbibliotheh, deren Reichſſum am mwerthvollen Ameritanis 
das fait neidiſche Verlangen des Reiſenden erregte, j | 

Der deutihe Handel bat in Venezuela über den engliichen den voll» 
ftändigen Sieg davongeiragen. Unter den Dandelsjlangen ift, abgeſehen 
von der venezolaniichen, die deutiche am jtärkften vertreten, indem fajt 
ein Drittel des gelammten Tonnengehaltes, 660 000 Tonnen von zwei 
Willionen, auf 524 dentibe Dampfer und 120 dentihe Segelichiffe fällt 
(1885 Dia 1886). In weiten Abſtand folgen erſt die Enaländer mit 
einem Ywölftel des Tonnengehaltes. j , 

Auch in Bezug auf Eiſenbahnen wird deutiches Kapital und deutiche 
Juduſtrie und Beichäftslcitung in Venezuela bald die erite Rolle ſpielen. 
or dem Jahre 1883 hatte Venezuela nur eine einzige ſchmalſpurige 
Eifenbahn, die eigentlich nur zum Frachtverkehr diente, « die Bahn 
von den Kupferminen bon Aroa nad dem Hafen Tucacas. Die erjte 
Bahn für Berfonenverfehr, von der Hauptſtadt Caracas nadı dem Hafen 
Ya Gugira wurde 188 eröfinet, diejenige von Puerto Kabello nad 
Valencia im Frühling dieſes Jahres 1888 

Soweit reichen die Berichte in dem intereſſanten Reiſewerl von 
Sievers. Wir koͤnnen aus beſter Quelle verſichern, daß Venezuela jetzt 
and) ein beſonderes Intereſſe für uns Deutſche gewinnt, indem es einer 
erften indnitriellen Firma und zwei hervorragenden Banfen gelungen ift, 





Nothdurft gefefjelten 


‚ Meierhof eingerichter ift. Bei dem Eintritt in das ang gge 
' erhalten bie 


die Konzeffion für den Ban einer Eifenbahn von Caracas nad) Valencia 
zu erhalten. Es wird demnächſt eine große Zahl Eiienbahningenieure 
nach Benejucla gehen, um den Ban der Eiienbahn mit deutichen Kräften 
auszuführen. e F 
Ein KRekonvalescentenhaus für arme Kinder. In ber unweit Wien 
an der Elifabeth-Wejtbahn veizend gelegenen Sommerfriiche Weiblingan 
wurde don dem Wiener Bürgerpaar Herzutanbly ein Relonvalescenten- 
haus gegründet, in welchem Kinder mittellofer Eltern Aufnahme finden, 
nachdem diefelben von den Wiener Spitälern entlaflen worden find, 
ier jollen bie armen Steinen, weiche fait ftets im mod ſehr ge— 
Hwäctem Zuſtande in die dürftigen Verhältniffe ihrer Angehörigen 
nrüctehren und denen zu Hauſe nicht jene Sorgfalt und auch nicht jene 
Härtende nabrhafte Koſt geboten werden kann, welche fie doch zur voll 


ſtändigen Heritellung unbedingt bedürfen, wieder Kraft und Friſche er- 


langen. Das ftattliche zwei Stod hohe Juftitutägebände, welches aus dichten: 
Laubwert aufragt, wendet feine Hauptfront nach Süden und ift vom ber 
Straße durch einen ihönen Vorgarten — Eine breite Steintreppe 
führt auf die im Parterre gelegene Zerrafle, von der man in einen 
geräumigen Saal gelangt, der den Kindern bei unfreundlicher Witterung 
als Spielraum dienen fol, Dort findet fich eine reiche Auswahl von 
Spielfahen, Puppen in allen Größen, Bilderbücher und was nur das 
den Kindes erfreuen mag. Sogar au einem Herbarium fehlt es 
a nicht. 

In dem Parterre befindet ſich auch eine Kapelle, in welder 
die Stleinen unter Führung einiger Schulichweitern, melde die Anftalı 


leiten, ihre Andachten verrichten. Am Ende eines langen Korridors liegt 


noch die Küche. Im erften Stodwerte befinden fih die Wolmräume für 
die Nefonvaleicenten und zwar find diefelben für Anaben und Mädchen 
—— ferner die Ankleideſäle und zwei große Bade zimmer. Eine 

euerung iſt in den ungemein praktiſch eingerichteten Inftigen Schlaf 
räumen eingeführt. Au jedem einzelnen der eifernen Bertchen befindet 
fih ein eleitriſcher Drüder, damit das in demſelben ruhende Kind im 
Bedarfsfalle jojort die Wärterin oder Pilegerin zu etwaiger Hiffeleiftung 
herbeiäurufen vermag. Für die ſchwächlichen Neinen Bewohner giebt es 
einen Aufzug vom Parterre aus hinauf in die Schlafläle, 

Allerdings dürfte diejer etwas zumeitgehende Komfort, welcher deu 
Kindern gänzlich unbemittelter Eltern faum je wieder zu Theil werden 
dürfte, nicht ganz am Platze fein, wie überhaupt die einfachite und be 
iceidenite Einrichtung dieſes Bebäudes wohl für diefe an des Lebens 
? einen ſicher das Empfehlenswertheſte wäre, ſollen 
dieſelben nicht ſpäter daheim den Mangel allzu bitter empfinden, 

Nördlich des Gebäudes liegt ein ausgedehnter Barten mit modernen 
Anlagen, den ein waldiger Hügel benrenzt, hinter welchem ein Heiner 


inder leider und Wäſche und außerdem noch bein Wer- 
laffen desjelben aus einem von den Erbauern geftifteten Fonds eine 
Unterftüßung. ug wurden 24 Kinder in die neue Anftalt anf 
genommen, doc foll diefe Zahl jährlih um fünf Heine Bewohner ver- 
mehrt werden, und zwar fo lange, bis ber permanente Stand 50 Jöglinge 


‚ aufweiit. 


Kleiner Brieflaften. 
Anonmme Anfragen werden nit berüdflicdtint.) 


enge: =Verebrer' in Berlin. Die neuchte Mebelle von W. Heimburg „Ontel 
Lees — finden Sie im Gartentaube · alender 1889, Derſelde iſt zum Prelſe 


apiered, dem man einen u 


Vever man eime neue 
biefe Belle eine anfänglich 
Kreide» 


7 welche auf ber gebarzten Seite eines derartigen Bapier 
nd, Können N irt werben, dafı 


bie vorige immer troden — 
as 


d vorgenommen werben 
man das 


* Aqaungen. 
tet, zunäachſt feier umb dichter am bie Harzoberfläe bed 127 

i lbſt ——— un auf def Diele man 
x rt. Man entiernt banır nadı bem Erkalten 


tbhien und Hleinflen Bölter der 
—— bat —* Du ce be 
113 Erge e ellimger in 

ämmte bilben — * berjelben bir 


Rerbameritawer des Weltens mit einer Durchſchnutta la 
tteimiten Bölter der Erbe, Me jogenannten } mc, Beheben Meile. Die Bus 
in Weitalrıta uellen 157,0 Kentimeter, Me Bejhmänner 137,2 Gentimneter rd bie Afta 


Ichrung über derartige Be Kanten. In eriter Linie machen wir Sie 
Biuhorfide Geftuhganfieng) dir 

infto a am. ift vor eine „Anteitumg zur 
Bänbereitum, St Beeren und Wirt “on. @, !. Dwentell (Berka u 


; it 
Frieje umb von Puttlamer in Dreöden) —— — in ber Sie das Wilkntroertbe 


anf 
diejem Gebiete in aller Kürze mitgetbeilt finden. 





— 0 


740 





o-—— 


Allerlei Kurzweil. 


Skat:Aufgabe Ar. 11. 
Bon S. Schuhmacher in Hamburg. 


Bei einem Bierflat jagt Hinterhand, um wicht im nächſten Spiel 
ernmanfahren, auf folgende Karte: 


— 1 


tr. 3.) ip. BR.) ‚ (var...) 0.9.) 


Grand an nnd gewinnt durch cine Sinte mit Schneider. 
Wie figen und fallen die Karten? 





iu.) danT.) (oar.9.) ıcar, 8.) (car, 7.) 


Bilder-Räthfel. 





Ausfüll-Prodfem. 

Die Teer gebliebenen 12 Quadrate 
find in der Weile mit Buchftaben aus» 
zufülen, dab die wagerechten Reihen 6 
belannte Wörter ergeben. 

Left man bie Buchſtaben der Reihe 
e von oben nad unten, fo erhält man 
den Namen eines beutichen Komponiſten. 
Die Buchſtaben der Reihe d, von unten 
nad oben geleſen, nennen eines feiner 
Werle. 





Quadrat · Auſgabe. 


Man Hat zwei Quadrate von gleicher Größe. Jedes beſteht aus 
gleichviel Heinen Quadraten desjelben Umfanges, deren Zahl jedoch 100 
nicht erreicht. Zu diejen beiden Onadraten, die man zuſammen als 
Poppelquabrat bezeichnen kann, legt man ein Meines vom Imfange der 
Heinen, aus denen jedes große beftebt. 

Aus der nun vorhandenen ungeraden Gejammizahl Heiner Oundrate 
folfen zwei von ungleiher Größe gebildet werben. 


Welche Duadrate find eb? .. welches find die nädhftfolgenden 
Quadrate von — ——— 





Alng · Aaͤthſel. 





Die 31 Kreuzchen obiger rc find 2. die gleiche Anzahl Buch 
ftaben, nämlih 3 a, 3b, : ,1m,22,70,1p,&r2t, 
1umnmd 1x fo zu — daß in E Ringe ein befanntes Bort 
entſteht und baf die & Buchltaben au den Berfnotungspunkten eine bei 
fannte Oper nennen, „Die Wörter der einzelnen Ringe bezeichnen: 1. eine 
Inſel bei Dftindien, 2 einen bibliſchen Namen, befannt aus Ahabs Ge- 
Ächichte, 3. ein Wert "Bielands, 4, einen befaunten Hiftoriographen der 
Neuzeit, 5. einen berühmten Komponiften, 6. einen Bott der alten Griechen. 


Aufföfung der Dameipiel- Aufgabe anf 5. TUR: 
1,b) 14 — 4 8 anı beiten 


1.D 
2.Dei—ht 2.Dis—aS aut 
.D42—o R ,.bas—unda) 
4.Dei— a5 gereinnt 

2.Das—ec7T 
4,.Duug 4,  ht-f4t 


5.b41— e 3 gewinnt. 
Aufföfung des Mälhfels auf S. 708: Sienfried. 
Anflöfung des Mäthfel-Sonelts auf 5. 708: Hanbichlag. 
Aufföfung des Buhfladen-Mäthfels auf S. 708: Aien — Naie. 


Aufföfung des Möffelfprungs anf 5. 708: 
Hoffe! Dir erlebft es noch, 
Daß der Frühling wiederlehrt; 
Hoffen alle Bäume dodh, 
Die des Herbites Wind verheert, 
Hoffen mit der ftillen Kraft 
Ihrer Knoſpen winterlang, 
Bis ſich wieder regt der Saft 
Und ein neues Grün entiprang. 


Aufföfung des Problems „Die Aombinations-Ahr* auf 5. 708: 


Man abdire die jeweilig von beiden Zeigern berührten Zahlen mit 
Ausnahme der beiden Fälle, wo — 9 von den größeren Zahlen in Abzug 
zu bringen ist, beginne damit oben beim 20er, ftelle die Reſultate der 
Reihenfolge nad; neben einander, wähle für die Yablen die entiprecheuben 
Buchſtaben des Alphabets (i und j getrennt als beſondere Buchitaben 
und man erhält: 


Fr. Hädırt 


20-+6, 1-74, 6-+3, 4-16, 3-46, 16.43, 6-14, 3-64, 14-9, 448, 130 
26, 6 9 W. 9, 19, u, 7 5, 123, 4 
2 e i t i 5 t [4 e I d 


„Ye iſt Geld." 





Au dem umterzeichneten Berlage ist en — und — die — —— zu — 


E. Marlitt's Romane und Novellen. 


Illuſtrierte Gefamt-Uusgabe. 
Zweiter Band: „Das Haideprineſſchen“. 


Die Band-Ausgabe von Marlitt's illuſtrierten Romanen erſcheint vollftändig in 10 Banden zum Preiſe von 
3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden. 


— Vierteliäßbrlich ein Band. — 


Anhalt: Bd. 1. „Das Geheimniß der alten Mamjell”. — Bd. 2. „Das Haideprinzeichen“. — Bd. 3. „Neidysgräfin 
Giſela“. — Bd. 4. „Im Schillingshof“. — Bd. 5. „Im Haufe des Kommerzienrathes“. — Pr. 6. „Die Fran mit den 
Starfunteliteinen“. — Bd. 7. „Die zweite Frau“. — Bb. 8. „Goldelje*. — Bd. 9. „Das Eulenhaus“. — Bo. 10. „Thüringer 


Erzählungen“ Inhalt: 


„Amtmanns Magd“, „Die zwölf Apoftel*, „Der Blaubart“, „Schulmeiiters Marie”). 


Der Dis jegt erſchienen: Band 1 1.2. Auch in ca. 70 Lieferungen zum Breife von 40 Pf. zu beziehen. (Alle 14 Tage eine Lieferung.) w 


v Bellellungen werden jederzeit in beinahe allen Buchhandlungen angenommen, 


Rößt, wende man ſich direlt an bie 





Herausgegeben anter mersiutwortlirier Kedaftien vom u Adorf Kroner, Brrtag von Ernt teils 


Wo der Bezug auf Schwierigkeiten 
Beringshandlung von Erf Keil's Lachfolger in Leipzig. 


9 Nachfolger in Leirzig Drugs ven a. Bir Miede in Yelpaia. 














Illuſtrirtes Samilienblatt. _ Berner von Ernft Seit 1858. 


Zahrgang 1888. Erſcheint in Halbheften A 5 Pf. ale 12—14 Tage, in Heften & 50 1) 


f. alle 3—4 Wochen vom 1. Zanuar bis 31. Dezember, 


Radtruf verboten. 
Alle Nechte vortehalten. 


(Bortfegung.) Eine Hofgeichichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Reyfer, 


ine Schar junger Fürſtinnen umgab fcherzend und nedend | 

Dorothea. Sie lachte, erröthete und flüchtete endlich in eine 
tiefe Fenfternifche, wo fie den Vorhang gleich einem jchügenden 
Sie hörte die Damen weiter Fichern 


Bollwerk Hinter ſich zuzog- 


„Mit fo niedrigem Platz begnügen ſich Eure Liebden?“ 
ſcherzte Dorothea ein wenig athemlos. „Sclbit am Hofe des 
Kaifers werden den Herzögen von Sachen Armſtühle geſetzt.“ 

„Alldort werde ich auch immer einen folchen begehren,” aut: 


vor dem züngelnden Thüringer Yöwen, der in dem ſchweren Stoff | wortete Albrecht, und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort: „Aber 


gewebt war. Aber plößlic) 
wurbe ein Gewiſper hörbar, 
und dann huſchten die feidenen 
Nöde davon. 

Im nächjten Augenblick 
ſchob eine ſchön geformte kräf⸗ 
tige Hand den Vorhang zurüd. 

Herzog Albrecht trat: zu 
ihr nnd fragte lächelnd: „Dit 
es vergönnt, Eurer Gnaden 
in die Einſamkeit zu folgen?“ 

Sie meigte anmulbig das 
Haupt und ließ fich auf dem 
hoben, mit Goldtuch beichla: 
genen Stuhl nieder. Und nun 
verſtummten beide. 

So felbitgewiß Herzog 
Albrecht hereingetreten war, 
fo übermüthig Dorothea den 
fürſtlichen Freundinnen gegen 
über das Haupt erhoben hatte 

- als jie jet allein, abge: 
ſchloſſen mie in einem befon: 
dern Gtüblein bei einander 
weilten, Fam cine Befangen⸗ 
heit über jie, daß leines ein 
Wort fand, 

Die Abendluft wehte durch 
das geöffnete Fenſter, bie 
Schwingen ſchwer von dem 
Duft des frijchen Laubes im 
Sarten. Ein bläulicher Mond: 
ſtrahl ſtahl ſich mit herein. 
Fernher aus dem Webicht tönte 
der Teßte jehnfüchtige Lockruf 
der Heinen befiederten Sänger, 

Leife zog der Herzog einen 
Schemel, wie ſolche zum Ges 
brauch der Hoflente bereit ſtan⸗ 
den, für fich Herzu. 


1888 





Anna Sahfe- Hofmeifler, 
Nach einer Photegrappie von J. C. Schaarwähter in Berlin 


bei der Herzogin Dorothea 
poche ich wicht auf ein Recht, 
fondern erwarte alles von 
Dero Gnade.” 

Schallhaft drohend hob fic 
den Finger und flüfterte: „Ich 
habe nicht gewußt, Better, 
daß Sie der Schmeichelei Tun: 
dig find.” 

Jetzt lächelte auch er. „Nicht 
umfonjt bat mich unfer Tanz— 
meiſter Tumon in der Kunſt 
unterwieien, wie man ſich 
muſtern gegen das Frauen— 
zimmer gebärdet.“ 

Sie hielt ſich die Ohren 
zu. „D, 0!" rief fie, ſilberhell 
auffachend. „So hat Monfienr 
Turnon gewihlih nicht ge— 
ſprochen. Er wird ſich be 
miüht haben, die Courtoiſie 
zu Ichren, welche cin Servi- 
teur der Herrin gegenüber 
üben muß.“ 

Er jchüttelte den Kopf wie 
über die Thorheiten eines übers 
müthigen Kindes. „Monfieur 
Turnon unterrichtete feine Die: 
ner, jondern junge Fürsten, 
weiche, bei aller Ehrfurcht vor 
edlen Frauen, nie vergeſſen 
werden, daß fie deutſche Man— 
ner find." 

Sie warf ſchmollend die 
Rubinlippen auf. „Was könnte 
ein deutjcher Mann as ſolcher 
Belchrung zu mäfeln haben?“ 

„Dah die Ordnung der 
Welt verlehrt wird,“ entgeg— 
nete er ruhig. 


4 


— 712 


„Und was belieben Sie, eine Verlehrung diefer Ordnung zu 
nennen?” fragte ſie mit feifem Spott. 

Er hatte ſich unhörbar erhoben und jtand nun hoch auf- 
aerichtet vor ihr, auf fein goldenes Nappier geſtützt. „Daß die 
Frau die Herrin, der Mann der Auecht fein Toll.” 


.— 


Sitte bei der Begrüßung das Knie vor ihr beugte, Hatte durch 


' einen fharfen forihenden Blid die Mdoration feines Grußes 


zu fenben. 


Seine Haltung und fein Ton waren fo entfchieden, dab | 


Dorothea unwillkürlich verjtummte. 

An die eingelretene Stille tönte Efeonorens Stimme von 
dem Damenkreis herüber: 

„Mein Here hat bejtimmt, daß ber morgende Tag fröhlicher 
Feſtfreude aewidmet fein fol. Exit übermorgen werden die 


Sigungen der Balmgenoffen und der Tugendlichen ftattfinden nad) 


meines Her Willen. * 

Bei dieſen Worten, die wie eine Ergänzung von Albrechts 
Rede klangen, ftieg in Dorotheas Wangen ein heißes Roth. 

Der Herzog zwang ein feifes Lächeln nieder. 

Stühle wurden gerüdt. Die Herrfhaften brachen auf, um 
fich in ihre Gemächer zurückzuziehen. Die Verneigung, mit 
weicher Dorothea Abſchied von Albrecht nahm, war von einem 
drohenden Blick begleitet. Mit vollfommener Nitterlichkeit, aber 
unerschütterlicher Ruhe beugte er das Haupt vor ihr. Wis 
die leßte im Auge ſchlich Käthchen davon. 
trübjelig zurüd nad Achatius, der in der Thür des Vorzimmers 
ſtand und die entlaffenen Hofjungfrauen feiner Herrichaft an fich 
vorübergeben ließ. 

Er bemerkte auch diesmal Käthchen nicht. 


Noch einmal fah fie ' 


wieder aufgehoben, und auch der Fromme Ernſt bereitete ihr eine 
Enttäufchung, da er verhieß, ein teures Buch in ihr Loſament 
Es war nicht, wie fie hoffte, der zweite Band ber 
„Aſtrea“, fondern das Gebetbuch, das ihre gemeinichaftliche Groß 
mutter berfürgegeben hatte. 

Und Albrecht! Flattirte ein Kavalier alfo feiner Dame? 

Nicht flehend Hatte er zu ihr emporgeichaut, fondern gleich 
einem Herrſcher auf fie herab. 

Ihre Gedanken hielten bei diefem jüngftvergangenen Augen: 
biid an. Sie jah ihn vor fich Ätehen, hoch, ſtolz, auf das ver- 
goldete Rappier geſtützt, und, ohne daß fie es wußte, Tächelten 
ihre Lippen. Wie war er doch Schön! Im jeder Miene, jeder 
Bewegung ein echter Fürſt und Herr! 

Sie fuhr hod auf. War ein böfer Zauber in dem Wort 
mächtig, daß fie feiner wicht ledig werden konnte? 

Spät erft ſchloß fie die Mugen. Die Morgenfonne ſchien 
hell in das Gemad und malte wie ein luftiger Schelm lauter 
goldene Ringe auf den Fußboden, als fie erwachte. Jetzt waren 
die finfteren Borftellungen der Nacht entflohen. Sie lächelte 
fröhlich dem Morgenlicht entgegen. 

D, fie wollte dem rauhen Männerregiment fchon cin Grüb 


| fein graben, darein es fallen follte. Wozu fannte fie die alamoden 


Seine Augen waren wieder in den Winkel, wo Gertrud | 


ſtand, gerichtet, und ex dachte: einmal muß fie doch aus ihrer 
Ede herauslommen. 

Da jchritt fie heran. 
bogenen Näschen herab. 


Unentwegt jah fie an ihrem fein ges 


„Ehrenreiche Jungfrau,“ redete er fie an, „da Ihr meinen | 


Fehler erkannt habt, fo erbarmt Euch meiner und helft mir von 
demfelben. Schenfet mir eine Perle Eures glüdfeligen Hals: 
bandes, daß ich fie in mein Zöpflein flechte und allezeit dadurch 
gemahnt werde, treu zu fein.“ 

Gertrud Antlig nahm einen Ausdrud von Empörung at. 
„Das Halsband iſt ein Famifienfhmudf, der immer nur am 
Ehrentagen getragen wurde. Gr ift zu gut für eine Narrethei.“ 

„Narrethei nennet Ihr die alamode Salanteric eines Kava— 
liers?“ fragte er, und feine Augen begannen zu funfeln. 

Verächtlich ertwiderte fie: „Weld andern Namen verdiente 
diefe Unfitte, welche die Menjchen dahin führt, daß fie Hunfern, 
Affenwerk treiben, ſich mit Firlefanz behängen wie“ — ihr Blid 
ilog den Korridor entlang, wo die Narren des Koburger Herrn 
ſich tummelten — „wie die, welche beftellt find, die Leute lachen 
zu machen,“ ſchloß fie, todtenbfeich, aber gerade aufgerichtet gleich 
einer Wachslerze. 

Achatins fuhr empor, als jei er von einer Natter geſtochen. 
Glühend vor Zorn, mit einer jtahlharten Stimme entgegnete er: 
„Ueber den Hofmeifter von Krombsdorff lacht niemand, Wenn 
er auch einen Alamodezotten trägt, fo weiß doch jeglicher, 
daß es cin rechter Mann it, der ſich mit jelbigem behangen hat, 
Selbſt Ihr werdet eher eine Ihräne um mich vergieken, als es 
tagen, mich auszulachen. Das ſchwöre ich Euch!“ 

Er drehte fi) auf dem Abfag herum und ftürmte davon. 

Mit trutzigen Schritten ſtapfte ev in fein Schönes Haus 
hinüber, das wie ein Irener Bajall am Weg ins Schloß jtand. 
Er ſchlug die ſchwere Thür jo wüthend hinter ſich zu, daß der 
Roienftod an der Pforte bis in die kief ſchlummernden Knöſpchen 
erſchauerle und ſich laum mit den feinen Dörnchen am dem 
ſteinernen Wappenſchild feſt zu halten vermochte. 

Und als die Bettmeiſterin endlich unter einem der Verden: 
ichöpffein in ihr Bett kroch, da ſchallte drüben aus den geöffneten 
Fenftern noch immer bald ein „Donnerwetter!“ bald cin „Mor- 
bleu! heraus. 


„Mein Herr!“ 
Torothen nad. Es lieh fie feine Ruhe in den jeidenen Kifien 
finden, 


57 
a 


der Hof von Weimar Tag wahrlich im finjteren Thal. 


Waffen, mit denen die Schäferinnen ihre Aborateurs aefügia 
machten, wenn fie diejelben nicht gebrauchte? 

Und war etiwa der Preis des Kampfes nicht werth? 

D, welche Seligkeit mußte es fein, dieſen feiten Willen zu 
beugen, diejen jtrengen Sinn in Weichheit umzuſchmelzen, diefen 
ſtolzen Mann auf die Kniee zu zwingen! Das wäre ein Sieg, 
auch einer Aſtrea wiirdig. 

Heiter wie der junge Maientag, roſig angehaucht, ſaß jie 
alsdann auf dem mit Quaſten umbangenen Stuhl vor dem 


Pußbtiſch. Bärbihen, die erfte Schmudjungfran, bot ihr das Hand: 


Das Wort der janften Eleonore hallte in 


Wie ein Feldhauptmann feine Fähnlein, fo fommandirte Wilheln | 


die Tugendlichen. Der vielgereifte Bernhard, der nach englifcher 


ipieglein. 

„Beinge das Piirfichblüthenwafler zum Kühlen der Wangen,“ 
gebot fie im dem SFlüftertone geſchulter Hofdiener dem zweiten 
Sammermägdlein Aennchen. „Wo ift das Anjtrumentlein für die 
Zähne? — Sie alänzen gleich Elfenbein, fürftliche Gnaden. 
Lange die Phiole Herab mit der Eilenz, um die Nägel zu 
glätten! — Sie jehen aus wie Rofenblätter auf Lilien geftrent. 
Rüde das Kohlenbeden herbei! Lege die Brenneiien hinein! 
Hilf, Himmel! Die Tifchplatte it auch gar zu Mein.“ 

Aennchen ſchwebte auf ben Fußſpitzen hin und ber. 

Bärbchen rollte an den Wangen ihrer Herrin lange Loden 
herab und brannte über der Stirn ein leichtes Gekräuſel. 

Leiſes Klopfen ertünte an der Thür. 

„Die Frau Herzogin läßt zur Eile mahnen,“ berichtete 
Aenuchen, „die Tafeljtunde nahe.” 

Dorothea machte eine Bewegung mit dem ſchönen Haupt, 
als ſchlage fie die Mahnung in den Wind. Sie wußte aus ber 
„Aſtrea“, daß man die Schäfer harren und Tchmachten laſſen 
mußte, wenn fie angefewert werden follten. 

„Du fannjt noch ein paar Steinvofen in die Yoden fteden,“ 
befahl fie. „Nein, nicht So vegelmäfig zu beiden Seiten! Das 
ift micht alamode, Weiter zurüd! Höher hinauf!“ 

Bärbchen mühte fich, die Herrin zufrieden zu Stellen. „Aber 
Kennen, was fällt Dir ein?” Tieß fie ihre acheime Ungeduld 
an der untergeordneten Gehilfin aus. „Warum trägit Du ben 
Rod von violenfarbigem Sammet daher? Meint Du, Ihro 
Gnaden gedenken, Abbatiſſa eines Stiftes zu werden?“ 

Dorothea lachte über die drollige Zumuthung heil auf. „Nein, 
fo weit find wir noch nicht.“ 

Bärbchen aing felbjt in die Kleiderkammer. Sie kam mit 
einem Prachtjtüd von einem Kleid zurück, unter deſſen Laſt fie 
faft erlag. Ein Raufchen ging ihm voraus wie eine Meeresflutb. 
Es war von Silberbliant, mit goldenen Blumen durchwebt, mit 
Goldpojament beſetzt. Dorothen lächelte wohlgefällig und fchlüpfte 
unter dem Beiftand beider Mägdlein in die fteife Hülle. 

„uf das Goldpojament eine Neihe von Steinroien! 
Spangen um die Mermelpuffen!“ befahl fie. „Die Perlen um 
den Hals! Sie find zu matt; hängt den Demantitern daran.“ 

„Tummle Dich!” vaunte Bärbchen. „Der Schloßhof 
wimmelt jchen von anfommenden Gäjten, und brüben am einem 


Die 


o 


Fenſter der Feitgemächer ſteht Herzog Albrecht und ficht her: 
über.“ 

Dorotheas Augen funfelten triumphirend. „SHeftet das gold: 
durchwirklte Band an den Rod. Holt die Zulipanen! Nein, 
nicht in der Hand will ich fie fragen. Knüpft fie an das Band! 
Madıt feine erftaunten Geſichter! Ahr wißt, wir lieben ſolche 
wicht bei unfren Dienerinnen. Wir befehlen es alſo. Auch die 
holde Schäferin Aſtrea trägt einen Blumenftrauß am Schäfer: 
bändchen.* 

Sie ließ ſich die goldgeitidten Handſchuhe 
und xaufchte endlich davon, 
Witwe empfing fie bei ihrem Eintritt. 
füßte Dorothea ihr die Hand. 
die fürftlihe Mutter das Zeichen zum Aufbruch, und in 
aller Unterthänigkeit jchlug der Schloßhauptmann einen raſchen 
Schritt an. 

Drüben im Rautenfranzgemah waren ſchon alle Fürſtlich— 
feiten verjammelt. Die Dornburger Herrfchaften traten als die 
feßten ein. 

Während Herzog Wilhelm mit etwas bedenklich empor ges 
zogenen Brauen die Frau Witwe begrüßte, qlitt Dorotheas Blid 
icheinbar harmlos über die Anweienden Hin. Da ftand Herzog 
Albrecht, nahe der Thür, ganz jo, wie fie ihn jeit geftern unauf— 
hörlih vor Augen hatte, auf das vergoldete Rappier geftügt. Es 
war erjichtlich: ex hatte ihrer geharrt, und nun begrüßte er fie 
mit tiefer Berbeugung. 


überjtreifen 


noldenen und filbernen Wogen ihres Gewandes. Dann aber 
vaufchte fie mit vajcher Wendung vorüber. 

„Tirho!“ lachte der alte Herzog von Eifenad. „&eht der 
ſchmucke Bogel dem jungen Jäger durd) das Garn? Go wollen 
wir alter Weidmann einmal unfer Heil verjuchen,“ Und er ver- 
trat ihre den Weg. 

„Dein gnädiger Vetter ift dafür befannt, daß er ſcheues 
Wild zutraulich zu machen verſteht,“ ertwiderte fie mit kindlichen 
Aufblid. 

Er ſchüttelte pfiffig den Kopf. „Mein jchönjter Edelfalf 
ſeht ſich gewaltig in die Fittige, jo ihm die Kappe übergezogen 
werben joll.“ 

„Sperr ihn ein und laß ihn faſten,“ brummte der Koburger 
dazwiſchen. 

Dorothea ſchaute den verdrießlichen Heren feindſelig ar. 


Ein ungnädiger Blid der Frau | 
Abbittend, fchmeichelnd 
Mit einem leijen Seufzer gab | 





743 


„Streicheln Sie ihn lieber und füttern Sie ihn mit Zuckerbrot,“ 


rieth fie. 

„Dder geben Sie ihm die Freiheit,“ ſprach Herzog Ernſt 
er rg „Was der Zucht fich nicht fügt, ſoll man fliegen | 
laſſen.“ 


Dorothea wurde dunkelroth, und der Eiſenacher Herzog brach 
in ein Gelächter aus zur Verwunderung der andern jagdver— 
jtändigen Herren. 

Dann warf er einen Tiftigen Blid in die Tiefe des Gemaches. 
„Aber was müfjen wir erleben? Herzog Albrecht hat unfer Bes 
mahl förmlich geſtellt.“ 

Dorothea blickte ſich um. 

Bei der Herzogin Chriſtine ſtand Albrecht halb abge— 
wandt, daß fie nur den ſtolzen Schnitt feiner Züge zu ſehen 
vermochte. 

Und er änderte feine Haltung auch nicht, da fie plaudernd 
und jcherzend ſich durd die andren fürftlichen Herren und Damen 
näher an ihn herantvand, 

Aufmerkſam hörte ev zu, wie die gelahrte Fürftin ihm von 
den feurigen Schweifen erzählte, welche die Kometen durch die 
Himmelsräume fchleifen, ftatt auf den goldigen Edjlepprod der 
Schönen Dorothea zu achten, der um ihm herumtniſterte. 


» 


Kelche find alle erfchlofjen, obwohl ihre Sonne heute exit fo fpät 
aufgegangen ift.“ 

„Die fchönen Blumen wägen und markten nicht,“ erwiderte 
fie ebenfalls lächelnd. „Treu bleiben fie ihr zugewandt, wann 
and) fie ihnen erfcheinen mag.“ 

„Hätten fie dafür nicht vielleicht verdient, am Herzen ge: 
* zu werden, wie deutſche Frauen mit Blumen thun?“ warf 
er bin. 

Sie ſtrich Tiebfofend an dem Band herab zu den Tulpen. 
„Iſt dieſe Urt der alamoden Schäferinnen, das, was fie lieben, 
mit fich zu führen, nicht voll Grazia?“ 

Er jah ihr tief im die goldichimmernden Augen, ala wollte 
er auf dem Grund ihrer Seele leſen. „Fremdes Wort und 
fremder Brauch. Bergeffen Eure Gnaden nicht, dab wir hier 
Find, um die deutſche Sprache und die deutfche Sitte zu pflegen,“ 
fagte er ſanft mahnend. 

Sie warf das Köpfchen überhebend auf. „Ah bim nicht 

„Darüber 


Palmgenoß.“ 
Er drehte voll guter Laune feinen Schnauzbart. 
wollen wir von Herzen froh fein. Wären Eure Gnaden Mit: 
alied des PBalmenordens, jo müßte ih Sie jegt zur Hänfelung 
nac dem Drehftuhl geleiten. Statt folder Verdrießlichleit bitte 
ich um die Huld, Sie zur Tafel führen zu dürfen.“ 
Er bot ihe mit tiefer Berneigung die Hand. 
Trompetenfanfaren und Paufenwirbel tönten duch das 


‘ Schloß. Sie riefen zur Tafel. Eine Bewegung entitand; jeglicher 
Holdjelig lächelnd verjant fie auf einen Augenblick im die | 


Herr ſuchte jeine Partnerin. Der Zug ordnete ſich. Die Bagen 
öffneten die vergoldeten Flügelthüren. 

Unter dem Bortritt des Hofmarjchalld und der andern Hof) 
herren jchritten die fürftlichen Herrfchaften paarweife durch die 
tief ſich meigenden und dann anjchliegenden Gäjte nad) dem 
Banlettſaal. 

Es war ein. prächtiges Bild, das ſich bier entfaltete, Ein 
Thronhimmel von Purpurſammet wölbte ſich über der Tafel, 
um welche die Fürſten in Hermelinmänteln, die Fürſtinnen mit 
Rerlenfchnüren, Demantfternen und Smaragdkugeln aefhmüdt, 
ſich reihten; Herren von Adel in bunten Allaswämfern, hohe 
Näthe in fchwarzer, jilbergeftidter Amtstracht, Offiziere mit der 


‚ gelben Feldbinde traten an ihre Pläge; wie ſchimmernde Gewinde 


zogen fi die Frauen im gewällerten Moor: und geblümten 


\ Brofatröden, goldene Röslein an den Hauben, um die bejondren 


Tafeln, am denen fie untergebradyt waren, damit fie nicht von 
angehumpten Herren molejtirt werden fonnten. Und am Tifchlein 
im Winfel, wo die Stühle verkehrt qejtellt waren, bodten die 
rothgekleideten Narren des Koburger Herzogs. 

Die goldenen Pokale und kryſtallenen Becher bligten auf 


' dem Schenktifch; auf dem Pfeiferſtuhl hielten die Mufikanten die 





filbernen, mit Fähnlein und Quaſten verzierten Trompeten, bie 
von goldftoffnen Wappendeden behangenen Heerpaufen bereit. 
Schauluftige Bürger MWeimars in ihrem beſten Sonntagsſtaat 
füllten die Galerie. 

Der Hofprediger im Ornat trat den Herrſchaften gegenüber 
und ſprach mit aufgehobenen Händen das Tifchgebet. Die Finger 
mehr zum Staat denn zur Andacht in einander gelegt, ftand 
Achatius neben der Stufe, welche zur Fürftentafel empor führte, 
Die frommen Worte gingen an feinem Ohr vorüber; in ihm 
fochte nur Groll und Rachegelüſt. 

„Kaltes Blut,“ jagte er fi, als das Amen ertönte. Erſt 
kam der Dienft. 

Die Pagen nepten den Herrichaften über filbernen Gichbeden 
die Hände. An anmuthiger Haltung trat Achatius mit der langen 
Handquehle heran und warf fie jo geihidt, daß fie, auseinander 


‚ flatternd, an den fürftlichen Berfonen vorüberflog und jegliche ein 


Nunmehr Tieß er fie warten — warten, bis das feine ll 
verſtand man, dieſe Kunſt jo volllommen zu üben. 


Korallenroth in ihre Wangen ftieg. 

Endlich wandte er fich ihr zu. Und als das junge Baar 
nun einander gegenüberjtand in der Haltung, die dem Fürſten 
und der Fürſtin geziemte, da jah den beiden niemand an, daß 
fie eben unter dem Schild höfiſcher Gravität den Spieß gegen 
einander gefällt hatten. 

„Eure Gnaden erweijen den Tulipanen eine hohe Ehre, 


Neigung. „Und wahrlich,“ fuhr er Lächelnd fort, „die leuchtenden 


Stüd davon zu fallen vermochte. . 
Der Hofmarſchall lächelte zufrieden. Nicht an jedem Hof 
Adjatius war froh, daß feinen zitternden Händen das ſchwere 

Stüdlein gelungen war. 

Unter erneuten Fanfaren nahten im fangem Zuge die Yalaien 
mit dem erjten Gang. Der Schmaus begann. Die fürfichtigen 

Leute grifien nad) den gelottenen Eiern, welche von den Aerzten 


als Vorefien empfohlen wurden; die Ledermäuler hielten ſich au 
indem Sie jelbige mit jich führen,“ ſprach er mit danfender | 


die Schneden. Die Vorfchneider, Hof: und Kammerjunfer be- 
gannen ihe Wert. Adatins that ſich abermals herfür. Er zerlegte 


o 74 > 


den welſchen Hahn, der in einer Tunſe von Citronen und Wein 
gegeben wurde, an der fangen Gabel in der Luft; dann fchüttelte 
er denſelben, und die Stüde fielen wohlgeordnet auf die filberne 
Schüſiel nieder. 

Nun durite er auch an fich denfen. Er eilte an den Tiſch 
der Hofmeiterinnen und Hofjungfeauen. 

Parbleu! Er wollte zeigen, daß er nicht nur mit Hand: 
auchle und welihem Hahn, fondern aud) mit dem Frauenzimmer 
umzuſpringen wußte. Gr warf einen von Bosheit funkelnden 
Blick nadı Gertrnd bin. Sie war wie immer angelhan mit 
dem fchlichten Kleid aus brannem Borftatt, und um den Hals 
trug fie, aucd wie immer, die langweilige Vernfteinfette, die 
fie gleich einer Narität äftimirte. Seine Augen wurden dunlel 
vor Horn. 

Er machte eine fo tiefe Verbeugung vor der blonden Benigna, 
daf fein Alamodezotten ihm über die Augen fiel, und fchleuderte 
ihm dann mit jo großer Heftigkeit zurüd, als follte er ausgeriſſen 
werden. „Holde Schäferin,” redete er fie an, „ein armer Schäfer, 
den Amor tyrannifirt, ſehnt ſich danach, fein Herz zu erleichtern. 
Wißt Ihe feine Dccafion dafür?“ 

Feuerroth jtocherfe fie unter den Spargeln auf ihrem Teller 
herum. „Bielleiht,” antwortete fie leife, „findet ſich dieſelbe 
morgen im welichen Garten, wo die Situng der Tugendlichen 
jtattfinden ſoll.“ 

„Der Schäfer dankt Euch," ſprach er mit fühem Lächeln 
und einer Stimme, welde förmlich die nad) Biſam, Haarpulver 
und Balfam duitende Hofluft durchſchnitt. Und jo nahe an 
ihrem Ohr, daß fie meinte, er babe einen Kuß darauf ge 
haucht, flüfterte er weiter: „Mich dünkt, die Buchsbaumftaude, 
die wie eine Gans formirt ijt, fei am angemeſſenſten zu ſolchem 
Stelldichein.“ 

Dabei fchob er die Augen nach Gertrud Heilingen. Hatte 
fie gejehen, wie er mit ihrer Gefährtin fchön that? Er fonnte 
es nicht ergründen. Blaß, aber gelajien ſaß fie unter den andern 
und kümmerte fich nicht um ihm. Nun, er ſchor ſich auch nicht 
um fie. 

Er glitt zu der rumdlichen Hofmeiſterin hinüber, „Erlaubt, 
dab id) Euch vorlege,“ ſprach er, ſich tief über ihre vollen 
Schultern neigend, und fifchte ein Stüd Leber aus der aufgefehten 
Schüſſel. Leife fuhr ex fort: 

mDie Leber ift von einem Pfau, 

Erhört mid, allerſchönſte Frau, 

Und laßt mic Euer warten —' 
Dod; wo?“ Er ftodte einen Augenblid. 

Im welichen Garten,“ ergänzte fie kichernd und ſchlug ihn 
mit ihrem Mückenſcheucher auf den Men. 

Er lachte furz auf. Ein zweites Liebesabentener am felben 
Warum nicht? 

„Wohlen, bei der Bildjäule des Hymen,“ flüſterte er 
der galanten Dame zu, ohne die Augen von der Tende abzu— 
enden. 

Aber das war fein Merger, was leije um den Heinen 
blaßrothen Mund zudte. 
achtung. 

Halb toll vor Wuth ſchlüpfte er, einem gereizten Schlangen— 
fünig gleich, zu den Hoffungfrauen von Eiſenach. Ganz gleich— 
gültig war ihm, daß er auch mit jeder von ihnen ein Stelldichein 
im welichen Garten verabredete, um der älteren eine Zuſammen— 
funft der holden Venus mit dem fenrigen Mars zu beweiſen und 
die jüngere um cin Mittel gegen Derzensgebreite zu bitten, das 
fih von dee heiligen Eliſabeth her auf der Wartburg verhalten 
haben Sollte. Es fam ja alles auf eins hinaus, 

Mit wilden Bid jah er ſich nach neuen Opfern um. Da 
fafen die beiden Noburgerinnen, glübend wie Pfingſtröslein 
und fugten ihn am. Er nannte die blonde einen Cherub, die 
braune eine holde Evastochter fo laut, dab Gertrud es hören 
mußte. Was er mit ihnen weiter fprach, wußte er im nächſten 
Augenblick nicht mehr. Aber ein anderes Erlebniß war feinen 
Gedächtniß eingebrannt. 

Einen Augenblid hatte er feine Hand anf den Tiſch gejtitht, 
und dabei berührten die Spigen, welde das Handgelenk ums 
fräufelten, die Finger der Trude Heilingen. Da zog fie diefelben 
zurück, als fei das zarte weiße Gewebe etwas Unreines,. Au 
allen Gliedern bebend wid er zurück. Er machte einen Bogen 


Ort! 


| am ihren Stuhl, als jähe eine Kröte darauf, und wandte fich 


an Käthchen, die als jüngjte den unterften Blab einnahm. 

„Wie habe ich bishero vergeblich danach gejtrebt, ein Wört: 
fein im Vertrauen mit Euch zu brechen,” warf er von oben 
herab hin. „Das ftiefmütterliche Glück ſtand mir allezeit ent: 


gegen.“ 


Da war es vorbei mit Käthchens mühjam bewahrter Faſſung 
Der aufgefpeicherte Kammer brach los, und fie ſchlug dem falfchen 
Vetter die Faſtnachtsmaskle von der Nafe „Das jtiefmütterliche 
Glück ſoll Euch verhindert haben? Das Frauenzimmer iſt's ge— 
weſen. Ihr habt mit der Hofmeiſterin und allen Hofjungfrauen 
angebändelt. Ueber mich ſeid Ahr beinahe hinweggeſtolpert, ohne 
mich anzuſchauen. Und nun zu allerlegt wollt Ihr auch mich 
noch an der Naſe herumführen? Das laſſe ih mir nicht ge 
fallen.“ Helle Thränen in dem Augen, drehte fie ihm troßig den 
Rüden, ohne ſich um das Naſerümpfen und Achfelzuden des 
übrigen Frauenzimmers zu kümmern. 

Achatius jtand wortlos. Der ehrliche Mädchenzorn hatte den 
alamoden Kavalier anf den Sand geſetzt. Er fah mit einem fcheuen 
Bid Gertrud an. Hatte fie gehört, wie Käthe ihn ablapitelte? 

Has war das? Ahr Blid ging an ihm vorüber mit ſehn— 
ſüchtigem Ausdrud nad) einem benachbarten Tiih. Wen fuchte 


fie da? Dem Galan, der fich fo von ihr anjchanen lieh, wollte 


Bei allen Teufeln! das war Vers | 


er feinen Degen in die Bruſt jagen. Mber feinen Augen begegnete 
ein fchmales altes Frauenantlitz, das zärtlich und heiter der Trude 
zunidte. Es war die Frau von Heilingen. 

Da dünfte es ihn, als lege fich plöglich eine kühle, Linde 
Hand auf feine brennende Stirn Warum. — zum Kuckuck — 
witthete er denn nur aljo unter dem Frauenzimmer herum ? 

Gottlob! Da fam ein neuer Sana und befreite ihn auf 
der Klemme. Ein Wink der Herzogin Eleonore befahl ihm, eigen: 
händig eine Paftete, deren Dedel mit Heinen Vogelköpfen verziert 
war, vor dem Herzog von Eiſenach niederzujchen. 

„Wollen Eure Liebden den eriten Angriff auf dieſes Gericht 
machen?” fagte die fürftliche Hausfrau mit jchelmischem Lächeln. 
„Ein Weidmann wei am beiten Beiceid mit ſolchem Bogelberd.* 

Der alte Herr ſchaute ein wenig verwundert drein; aber er 
that ihr den Willen und lüftete den Dedel, Im nächſten Augen: 
blid warf er ihn lachend auf die Tafel. 

Ein Schwarm Heiner Vögel ſchwirrte auf, Schmetterlinge 
und Libellen flatterten dazwiſchen. Die Säfte wehrten fich lachend 
genen vericheuchte Spaten, die dreiſt wider fürftliche Häupter rannten, 
gegen bunte Käferlein, die darauf bejtanden, fich in Malvaſier 
zu baden. 

Mit Hundert ſchelmiſchen Fälichen in feinem aften Jäger— 
aeficht vief der Eijenacher Hart: „Nur einen lofen Vogel vermifjen 
Wir in Eurer Gnaden Verirpaitete: den Cupido. Und felbiner 
wäre bei Unfern drei noch unbeweibten Neffen ſehr am Plat.” 

Herzog Ernſt fchüttelte janft das Haupt. „ch ftimme zwar 
dem Herrn Doktor Luther, chrijtinilden Gedächtnijfes, bei, welder 
fagt: Es giebt Fein lieber Ding auf Erden als Frauenliebe, 
wen fie fann zugetheilet werden. Aber meine Zeit ift noch nicht 
gekommen.“ 

„Die Braut, die ich mir erkoren habe,“ rief Bernhard 
ftürmiich, „macht mir die Werbung ſchwer; fie Heißt: Viktoria!” 

Verftohlene Blide richteten jich auf Albrecht und Dorothea. 

Das junge fürftliche Baar ſaß allen zur Schau unbewegt auf 
den hohen Thronftühlen neben einander. Sie hielt ihr vergüldetes 
Gäbelein in den zarten Fingern, er hatte die Hand mit dem 
arofen bligenden Siegelring um den Fuß feines Polals geleat. 
Nur eine raſche Nöthe, die über beider Antlig jagte, verrieth, 
da fie den Scherz gehört und verjtanden hatten. 

Albrechts Blick glitt nad) jeiner Schönen Nachbarin hinüber. 


ı Wie fie ein paar Athemzüge lang mit gejenkten Wimpern ver- 


harrte, trat ein weicher Zug in fein Antlitz; es war, als ſchwebe 
ein leiſes Wort auf jeinen Yippen. 

Aber im nächſten Augenblid ſchon durchbrach fie den Bann, 
hob das Köpfchen und jah ihn nediih an. 

„Den Cupido werden Eure Liebden ablehnen," ſprach fie 
mit ihrer hellen Stimme; „denn er iſt ein fremdländiicher Gott.” 

Er hielt ihren ſchillernden Blid mit den Mugen feſt. „Eure 
Gnaden haben das Rechte errathen. Das leichte Siebesgeplänkel, 
zu welchen der Heine griechiiche Gott verlodt, iſt nicht nach 
meinem Geſchmack Ich Halte es mit einer ernſten deutſchen Liebe.“ 


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Unſere preußiſchen und deutjhen Kameraden leben had!" 


Das Gafadiner im großen Medoufenfaaf der A. A. Hofburg in Zien am 4. Bflltober 1888, 


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Originalzeichnung von W. 


Er ſprach die letzten Worte, für jie allein hörbar, in einem 
innigen Ton. Ahr aber war zu Muthe, als folle fie mit Sanft- | 
muth eingemauert werden. Faſt ungeſtüm rief fie: „Das Deutiche 
und immer nur das Deutiche heiichen Sie und fünnen doch das 
Schöne nicht entbehren, das aus der Fremde kommt. Sie trinken 
den feurigen Malvafier, obwohl die Sonne Griechenlands ihn 
gezeitigt bat.” Und indem fie die Steinrofen in ihren Loden 
nach dem Licht drehte, daß fie Strahlen fprühten, fuhr fie fort: 
„Fühlen ſich Ihre Augen offendiret durch dieſe Diamanten, weil 
ſelbige nicht in deutſchen Bergwerklen gebrochen wurden? Er 
ſcheinen Ihnen die ſanft leuchtenden Perlen dieſes Halsbandes 
odios, weil nicht biedere Alemannen ſie aus dem Schwäbiſchen 
Meer fiſchten? Die herrlichen Tulipanen, die Sie mir ohne 
Gewiſſenspein gejchentt haben, entitammen den Niederlanden. 
Und diefe goldigen Orangen wurden aus Welichland eingeführt.“ 
Sie zog das Majolikakörbchen, das mit dem Nachtiich aufgefegt 
worden war, heran. „Welch ein Sprüchlein ziert das Geräth? 
Nicht mir und nicht Dir, ſondern es jei zwiichen uns getheilt.‘ 
Wie plaifant! Thum wir nad) dem Wort.” Sie entnahm dem 
Körbchen eine überzuderte Romeranze und teilte diejelbe, „Warum 
follen wir auch nicht von einander annehmen? Sind wir nicht 
Kinder einer Erde?” 


Frucht. 

Er empfing fie auf feinem Silberteller mit tiefer Neigung. 

Aber jein Blid war bei ihrem Tieblichen Gaufelfpiel immer 
ernjter geworden. „Sie verwechleln äußere Dinge mit innerften 
Eigenjchaften,“ fagte er, leife den Kopf ſchüttelnd. 

„O, auch in Bezug auf unfere Sentiments fönnen wir von 
den Fremden lernen,“ rief fie. „Wie verftehen e$ die Franzofen, 
jeder Regung der Seele nachzugehen, jede Empfindung des Herzens 
zu zerlegen! Hech zu loben iſt ihr Brauch, die Gefühle in zarten 
Diekurjen zu ergründen, zu Hären, zu veredeln, bis jeder Zwie— 
jpalt ſich ausgeglichen Hat.” 

„Ein wahres Gefühl läßt ſich fo wenig zerlegen wie der 
Sonnenftrahl,“ entgegnete Herzog Albrecht. Jedoch in verändertem 
entfchiedenen Tone, als ſchiebe er plöglich alle Disputationen | 
bei Seite, fuhr er fort: „Darin aber ftimme ich Ihnen zu, daf 
eine wahrhaftige ehrliche Ausiprache Hoch vonnöthen iſt zwifchen 
Menjchen, die ihre Herzen fich gegenfeitig in Verwahrung geben 
wollen. Wenn Eure Önaden der felben guten Meinung find, jo 
bitte ich Sie, Huldvoll den Ort dazu küren zu wollen.” 

Sie neigle das Haupt, daß der feidige Schleier von Loden 
einen Mugenblid ihre Züge verhüllte. Dann ſprach fie leiſe: „Wenn 
morgen die Situngen unferer Öejellichaften im welichen Garten zu 
Ende jind —* fie breitete den Fächer vor ihr Geſicht, jah ihm mit 
mufhwilligen Mugen darüber hinweg an und flüfterte: „Wenn Luna 
lächelt und Thilomele Hagt, dann harrt Aitren ihres Celadon.“ 

Und jie lachte wie ein Silberglödchen. 

Er neigte ſich tief; aber er lachte nicht mit. In Sinnen 
verloren blidte er vor ſich Hin. 

Die Tafel neigte fih ihrem Ende zu. Immer lautexes 
Summen erfüllte den Bankettjaal, je öfter fi) die Spitz-, Zucker— 
und Tellerbärtchen in Flügelgläjer und Silberbedyer verjenkten. 

Die jungen Schnarcher und Pocher, die im Vorgemach fahen, 
Hluchten fäjterlich, wie es ihnen im Kriegsdienft geläufig geworben 
war; wohlgenährte Yandjunfer thaten nad) dem Wort: „Wer 
nicht verteudnen will, muß ſich feucht Halten“, und liefen für- 
wigig mit ihren Humpen zum Schenkliſch; ſelbſt chriame Räthe 
fpeiften „alla francese“, wobei jeglicher felbjt fich zulangte. 
Und jetzt ftieg gar der Hofzwerg des Herzogs von Koburg auf | 
den Tiſch des Frauenzimmers und machte Unftalt, in der Mars 
melabe der rundlichen Hofmeijterin fih auf dem Kopf zu ftellen. | 

Da Hob die große Uhr, auf deren „Zifferblatt ein Heiner 
Sommengott die Zeit wies, aus und ſchlug die achte Stunde. | 
Und ein Flötenſpiel reihte den majeftätiichen Choral daran: 
„Wachet auf, ruft uns die Stimme,” | 

Eine plötzliche Stille trat ein, als die ernten länge ver: 
halten. Die Tafel wurde aufgehoben. Die Fürftlichkeiten begaben | 
fich nad ihrem Loſament. 

„Auf Wiederfehen im weichen Garten!” ſagte Herzog Albrecht 
feife, als ex fich von Dorothea verabicjiedete. 

„Huf Wiederiehen im welihen Garten,“ flüſterle die rund— 
liche Hofmeifterin, da fie, ihrer Herrichaft folgend, au Achatius 
vorüberjtreifte. 


746 


lammern. Beruhigt folgte ihm die Frau Witwe. 


> 


Das rothe runde Geficht des Schloßhauptmanns Teuchtete 
aleih einem Vollmond feiner Herrfchaft voraus nach den Roſen 
Die Herzogin 
Epriftine hatte ihr mitgetheilt, daß fie ihrem Fräulein Dorothea das 
Horoffop aejtellt und alle Zeichen günftig acfunden habe. 

Dorothea ging wie auf Wolfen. So würde fie es doch 
durchſehen, daß ihr Verlöbniß nicht von einem alten Altenwurm 
am grünen Tiſch zufammengelponnen wurde, jondern im grünen 
Garten, beim fäujelnden Zephur, unter webendem Monditrahl. 

Das Köpfchen geſenlt, die Ichte wie immer, feit fie in 
Weimar war, beſchloß Käthchen den Hua. 

„Auf Wicderiehen im welchen Garten!“ flüfterte es auf dem 
dämmerigen Korridor, allwo Achatius die Hoburger und Eiſenacher 
Herrichaiten mit den lebten Reverenzen verſorgte. 

„Huf Wiederjchen im welichen Garten!” wiirerte es noch 
über das Treppengeländer, als die Hofjungfrauen der Herzogin 
Eleonore in ihre Wohnungen binanf ſich begaben, während 


Achalius in das Erdgeihoß hinab gina, wo er die Mejte der 


Speifen an Arme zu vertheilen haite. 
Ruhig ſtieg Gertrud neben der zeritveut vor fich binlächelnden 
Benigna die Treppe empor, Aber als fie die Thür ihres Stübchens 


\ hinter ſich geichlofjen hatte, da drüdte jie einen Augenblick die 
Und mit einem Liebfichen Lächeln bot fie ihm die Hälfte der | 


zitternden Hände auf das beflommene Herz, und ein tiefer Seufzer 
fam über ihre Lippen. Dann begann fie die Hoflleider abzulegen. 

Während fie ihre einzige Schmudzierde, die Berniteinfette, 
von ihrem zarten weißen Hals löjte, alitt ihr Blick hinab auf 
den Schloßplatz. Er war taghell erleuchtet. An der Pforte loderten 
Bechpfannen, und der Mond ftand über den fpigen Giebeln und 
fteilen Dächern der Stadt. 

Die Gäfte Ätrömten von dannen, mancer Würbenträger 
ihwer auf feinen Knecht geſtützt, in wunderlichem Zichzackgang 
andere. Diener mit Stablichtern leuchteten den nahe wohnenden 
Frauen voraus, die in zubelverbrämten Mänteln bavontrippelten 
Lange ichwerfällige Kutichen fuhren vor und nahmen die auf, 
weldye einen weiten Weg zu machen hatten. 

Dort jtand halb im Schatten zurüd gedrängt eine krumme 
Geftalt im blau und weiß aetheilten Mantel, mit einem kurzen 
Spieß. Das war der treue Michel, der ihre Mutter abholen wollte. 

Alſo war fie noch nicht in ihr Heim zurüdgelehrt. Gewiß 
wollte jie exit das Getümmel fich verlaufen laſſen. 

Das Herz des jungen Mädchens zog ſich zufammen: wegen 
des Rorderitüdes von Damaſt und der Rückſeite von dünnem 
Bindel. Sie Hatte ja auch nur eine kurze alte Scaube mit 
einem fteifen Pelzträglein, das wie ein Heiligewichein ihr Haupt 
umſtarrte. Den Fiſchotter dazu hatte ihr Vater noch auf dem 
Gut erlegt in fernen fchönen Heiten. Wie war ihre Mutter 
damals ſtolz darauf geweſen! Jetzt traute fie ſich nicht damit 


‚ hervor unter die anderen fröhlichen aepugten Menschen, Stand im 


zugigen Portal, wo der Hofmeister dem jcheidenden Frauenzimmer 
Kußfinger nachwarf und die hübjchejten Bettelmädchen mit quten 
Biſſen bedachte. Die feinen Lippen zudten unfäglich bitter. 

Da war er ja. Er trat aus dem Bortal herans und wintte 
einem feiner Diener, die fie an den bunten Dienjtfleidern erkannte. 

Vie rejpeftvoll flog der Gerufene herbei. Nun eilte er von dannen 
hinüber nach dem Haus des Hofmeijters, Was war wohl geſchehen, daß 
Adatius jo in Aufruhr fid) befand? Er ftand mit dem Hut in der 
Hand und redete zu einer von dem Thorpfeiler verborgenen Perfon 

Sich! Da famen Leute mit einem Tragſtuhl herbei. Der 
gehörte niemand als dem alamoden Hofheren. Wer hätte jonit 


ſolche Federbüſche auf dem Stuhlhimmel angebracht? 


Ah fo! Er ließ galant eine Dame nad) Haufe tragen, während 
ihr Mütterlein geduldig warten und dann heimaeben mußte, 

Da führte er das Frauenzimmer heran. 

Ein Halb erftidter Schrei drang über ihre Lippen, 

Das war die Fiſchotterſchaube. Er führte ihre Mutter an die 


| Thür des Tragituhles und half ihr jorafältig hinein. 


Dann trat er mit chrerbietiger Neverenz zurüd. 

Boll wohlwollender Würde neigte ſich die jteife Haube, und 
mit vornchmer Anmuth winkte das Keine alte Fähnlein heraus 

Dann ging er zurüd, und das Zöpflein an der Seite ſchwenlte 
ſich luſtig. Aber Achatius behielt recht, Gertrud lachte nicht über 
ihn. Ein heiße Thräne fiel auf das Bernſteinhalsband und glitzerte 
in dem Mondlicht, dag es ſchien, als bewege das verjteinerte 
Müdlein die Flügel, 


Warm ſtrahlte die Sonne am andern Tag auf den welfchen 
Garten herab. Much diejes Stüdhen Erde bejeelte der Lenz, ob— 
gleich es anzufehen war, als fei es von einem Baumeijter mit 
Richtfcheit und Winkelmaß geſchaffen. Auf einem großen Beet am 
Eingang bildeten Meliffen, Salbei und Rautenitauden das ſächſiſche 
Wappen; ein würziger Duft ſtieg von den Pflänzlein auf. Die 


Fichtenpyramiden, deren verfilztes Gezweig dem ftachligen Fell 


eines Igels gli, wären mit maigrünen Tüpflein geiprentelt. Das 
aus einem Mafholder gezogene Einhorn Hatte ein unziemlich 
langes, von zarten Fächerblättchen umkräujeltes Horn getrieben; 
auf feiner Spike wiegte fi) eine Nachtigall und flötete und 
flötete. Leifes Plätſchern und Murmeln begleitete den fühen Ge: 


lang; das Waſſer des Baſſins, in die vieledige Steineinfafjung | 
gezwängt wie Spiegelglas in den Rahmen, hatte feine muntere 


natürliche Sprache nidyt verlernt. 

Das Ichmiedeeiferne Thor war weit aufgethan. Unaufhörlich 
ftrömten die Mitglieder ber Fruchtbringenden Gejellfchaft von allen 
Seiten herzu. Sie trugen um den Hals das Palmgefchmeide, eine 
am papageigrünen Band hängende, in Gold getricbene Medaille, 
die den Palmbaum zeigte mit der Inſchrift: „Miles zum Nuten,“ 


In dem Tempel der Flora, wie ein von glattgeichorenen | 


Hainbuchenheden umzirkelter Kiesplah genannt wurde, fand ſich 
ein Trupp junger Edelleute zufammen. 

„Ob der Verſpruch zwifchen dem Unanfehnlichen und der 
Freudigen wohl ftattgefunden hat?“ fragte der eine, aus deſſen 
Wams die Ede eines Papieres herausihante. 

„Habt Ahr Euch auch mit einem Gedicht zum Verlöbniß 
aequält?” jeufzte ein anderer, der den Fuß der fteinernen Göttin 
als Screibpult benußte. 

„Wenn nur der Name Albrecht jich gefügiger erweiien wollte 


in dem neuen heroiſchen Vers, den der Dichter Opitz den Franzoſen 


abgelernt hat,“ 


„Ich finde auf Dorothee feinen andern Neim als ‚o weh!‘" klagte 


ein würdiger Rath, den Stift fummervoll hinter das Ohr ftedend. 

Der Herzog von Eiſenach, der mit feinem Bruder, dem 
Koburger Heren, vorüberging, jehüttelte den Kopf. 
dem jungen Paar noch einen Weidmann ſetzen. Wahrlich, es 


it geratben, jegliches bevorftehende Ereigniß vor den Palm | 


genoſſen geheim zu Halten, damit fie nicht einen Ueberfall machen 
mit einem Lobgedicht oder einer Denkſäule.“ 

Der Hoburger nidte. „Seht fchreibt jeder, der Hände hat, 
und wer lügen kann, hält fich für einen Dichter. Von rechte: 
wegen follten jie alle eingeiperrt werben.” 

Der Eifenadher Herzog lachte. Das war feines Bruders 
Allheilmittel. 

Auf dem breiten, von Schwibbogen überwölbten Hauptweg 


wandelte eine Schar Herren heran, in echter Thüringer Art nad) | 


je drei Schritten ftchen bleibend. Sie hatten den Hofmeiſter 
von Krombsdorff in ihre Mitte genommen. 

„Was meint der hochwertheſte Wohlricchende?* fragte ihn 
ein wohlbefeibter Herr, behäbig lachend, „Wird wirklich das 
Buchſtablein ‚e fo viel als thunlich eingefchludt werden ?* 

„Wollt Ihr noch mehr einſchlucken?“ erwiderte Achatius. „Heißt 
Ahr doc) ſchon ‚der Die‘ und führt einen Kürbis als Bild.“ 

Uber der Dide ließ ſich nicht beirren. „Ich Habe ver- 


nommen,“ forach er und machte abermals Halt, „hinfüro dürft | 


Ihr nicht mehr Tanggezogen, gleich einem Sprofier, flehen: 


Liebet mich, holde Herzenskönigin!‘ fondern müßt befehlen wie | 


ein Nottenmeifter: Liebt mich!“ 

„Morbleu!* fchrie Achatius mit wilden Blid. „Laßt mid) 
in Ruhe! Das Getändel ijt mir odios.“ 

Allgemeiner Jubel erhob fi, „Er hat zwei fremde Worte 
gebraucht. Muf den Drebftuhl! Zur Hänfelung mit ihm!“ 

Der Mehfreiche, wie der Hofmarſchall von Teutleben hieß, 
alitt heran. „Hier darf fein Umſtand gebildet werden,“ flüfterte 
er. „Die Herrichaften fommen.“ 

Im eifrigen Geſpräch nahten die fürftlichen Herren, die 
keute nur mit ihren Ordensnamen genannt wurden, 

„Giebt es denn fein Mittel,” ließ ſich fichllich erregt der 
Unanfehnliche vernehmen, „unfrer alten Heldenſprache ſolchen 
Aufſchwung zu verleihen, daß fie die glatten ſchmeichleriſchen 
Worte der Franzoſen in den Staub tritt? Vermögen wir nicht, 
Männer unter uns zu erziehen, die durch echte Dichtungen die 
gleißenden Poefien des fremden Volks überitrahlen wie Sterne die 


„Sie werden ' 


747 ⸗— 


Irrlichter? Weiß unſer Einrichtender feinen Rath?“ wendele cr 
ſich an den Geheimerath Hortleder. 

Der ehemalige Präceptor der jungen Herzöge, welcher jeßt 
auf dem erſten Plab des Landes ftand, fchüttelte die grauen 
Loden, „Die Sprade wächſt mit der Seele des Wolfe, Wie 
biefe fi) entwidelt, fo fpiegelt jene es wieder Da hilft das 

Schneiteln und Drechiein nicht viel. Einft hat die deutſche 
Sprade Kraft und Wohllaut beſeſſen. In Jahrhunderten, in 
denen unſer Volk daniederlag, hat fie beide verloren. Doktor 
| Luther gab ihr die Kraft zurüd, wie die ftreitende Zeit fie be- 
ı durfte. Ich getröſte mich: einst, wenn in unſrem Vaterland 
Frieden geworden ift, wird auc der Wohllaut fich wieder ein» 
finden. Und die Dichter können wir nicht erziehen, die ernennt 
allein Bott der Herr.” 

« „Aber,“ fügte der Schmadhafte, wie Herzog Wilhelm hieß, 
zuverichtfich hinzu, „das foll uns nicht irremachen, an unferer 
Stelle nad) Kräften zu wirken. Der eine pflügt und fäet, ber 
andere ernte. So lann der Boden, den wir io beftellen, in 
fommenden Zeiten die Dichter tragen, die das Werk vollbringen, 
von deſſen Herrlichkeit wir nur eine Ahnung haben.“ 

„Amen,“ ſprach feierlich Teutleben. 

„Amen,“ hallte ein Echo mit leiſem Klang von der Höhe 
drüben zurüd, 

Sie waren am Ende des Bogenganges bei dem blühenden 
Birnbaum angelangt, unter welchem die Tafel für die Palm: 
genoffen errichtet war; denn die von einer Wefpe benagte Birne 
twar das Sinnbild des Schmadhaften, welcher den Vorſitz führte. 

Die Herren nahmen ihre Pläße ein. Trabanten und Lalaien 
- befegten die Zugänge, daß niemand die Sigung ftöre. 

Die Berathungen begannen. — 

Auf dem Lufthäuschen, das in hohe Lindenbäume hinein 
‚ gebaut war, verfammelten fi die Tugendlichen, geſchmückt mit 
den fafranfarbigen Ordensbändern. Die erhöhten Plätze nahmen 
die Fürftinnen ein, eine Stufe tiefer ſaß das adlige Frauenzimmer. 

Ueber die fammetnen und brofatnen Röcke huſchten die Schatten 
der jungen Lindenblätter, als würden jie mit Herzen beitreut, 

Andern Antheil nahm das Herz nicht an ihren Berathungen. 

„Ich Lege den ZTugendlichen cin Rezept vor,“ ſprach die 
alte Gräfin von Gfeichen mit ihrer zitternden Stimme zu den 
Fürſtinnen, „wie Löffelgänfe am feinften zu bereiten find. Und 

rathe ich jeglicher Hausfrau, den ledern Braten ihrem Gemahl 
aufzutiſchen. Es ift eine alte Erfahrung, daß diejenige Frau am 
treuften geliebt wird, welche den Magen ihres Heren wader verforgt.” 

„Und ich,“ fagte am Tisch des adligen Frauenzimmers die 
Braut des jüngiten Balmgenofien, „habe das Sinnbild geftidt, fo 
mein Bräutigam im Orben führt. Es find Rapunzeln,“ fegte ſie 
Keinlant Hinzu, „und der Name lautet: der Fafelnde am Berge‘.“ 

Die Tugendlihen Tiefen die feine Arbeit ftumm von Dand 
zu Hand gehen und verbargen hinter Windfähnlein und Salt 
| fächern eine Anwandlung zum Gähnen. 

Da wurde ein leichter ſchwebender Schritt auf der ſchrauben— 
fürmigen Treppe vernehmbar, und im nächften Augenblick trat 
Dorothea in den Kreis. Sie trug den Schäferitab in der Hand, 
über der Schulter hing ihr das Hirtentäfchlein mit dem brennenden 
Herzen. Der aurorafarbige Mod war furz geſchürzt, wie bei 
einem Sandmädcden, das Leibehen mit Perlen verſchnürt aleich 
einem Micder; aus den langen Locken jlatterte ein Rofenband. 

Die Fächer ſanken nieder. Aller Blide richteten ſich auf fie. 
Dann tönte es laut von allen Lippen: „Aſtrea!“ 

„sa, Aſtrea,“ ſagte Dorothea und pflanzte ihren Schäferitab 
auf wie ein Krieger feinen Speer. „Witrea, die fommt, um ben 
Bund der Tugendlichen zu fragen, warum jie ſich zu einem 
ſolchen vertrodneten Leben Fondemniret haben. Sind wir micht 
\ zufammengefommen, um uns ein Plaiſir zu machen? Und iſt 

es ein folches, die gefmüpften Borten zu beichauen, daran ſich die 

Damen die Augen ruiniret haben? Rezepte aufzuzeichnen, nach denen 

alles, was freucht und fleugt, am Spieße gebraten wird? Gejtehen 

Sie es frei! Nidyt Kurzweil finden wir dabei, fondern Yangeweile.“ 

Beiftimmendes Gemurmel ging durd die Reihen dev Damen. 
„Längjt haben die Fürftinnen anderer Höfe erfannt,“ fuhr 

Dorothea fort, „daß unſre Ergöslichkeiten einer Umwandlung 

hoch bedürftig ſind. Und ſie haben ein anmuthiges Spiel er— 
funden, um dem abzuhelien. Aus dem Roman ,‚Aſtrea‘ entlehnen 
| Herren und Damen die Namen der Schäfer und Schäferinnen, 








— 0 


die fie in Affeltion genommen haber Pas Frauenzimmer acht 
einher, begleitet von Lämmern, di feidene Schleifen um den 
Hals tragen. Die Savaliere folgen demüthig ihren Spuren, den 
Scäferftab in der Hand, au welchen die Würbisflafche gebunden 
iſt. Jede Schäferin kürt ihren Schäfer, und diejer ift verobligiret, 
fie zu adoriren. Er Magt in den Grotten den Najaden jein 
Liebesleid oder ruft im Schön gepflegten Buſchwerk mit ſehnlichem 
Berlangen nad) feiner Schäferin.“ 

Wie ein Sturm brad) die Begeifterung los. „Das ijt ein herr— 
liches Spiel, wohl aeichidt, die Langeweile aus der Welt zu Schaffen.” 

„Wohlan,“ rief Dorothea, „wir wollen diejer Landplage von 
hinnen helfen! Meine Hirtentafche ſetze ich gegen die geitidten | 
Rapunzeln und die gebratene Löffelgans ein. Stellen Sie Nadel | 
und Kochbuch zur Ruhe und armiven Sie fid) mit diefem Stab. 
Einen Hirtenverein wollen wir gründen, an Disfurfen über unfre | 
zartejten Empfindungen uns erlaben. Denn wichtiger als die | 
Verfeinerung unferer Küche umd Handarbeit it die Verfeinerung 
unferer Sentiments.” 

Eine allgemeine Erhebung folgte. 

Nur die Frau Witwe warnte: „Mich düult das ein gefähr- | 
liches Fürhaben. Denkt an unfre drei Gelübde. Zum erften: | 
Tugendliches Leben; zum zweiten: Gegenfeitige Freundichaft; zum 
dritten: Weibliche Arbeiten. Wer weiß, wie die Palmgenofien 
über Schäferfpiele denken?“ 

Aber die aelehrte Herzogin Ehriftine antwortete: „Es Tiegt | 
in jeder Frauenſeele, ſelbſt in der fchlichtejten, ein Zug, der über 
die Alltäglichkeit Hinausftrebt. Wielleicht fann ein Hirtenverein | 
eine unfchuldige Zuflucht fein für manche Frau, deren Sehnſucht 
nad einem edleren, höheren Dafein nicht verjtanden wird. Und 
wenn wirklich hier und da die allzu holde Auffaſſung diejer Welt 
eine Heine Verwirrung in den Frauenköpfen jtiftet, fo wird diefes 
reichlich dadurch aufgewogen, daß auch in manch armes Leben ein 
Sonnensteahl der Poeſie Fällt und die Phantafei wenigftens mit 
ſchönen Bildern füllt.“ 

„Sa, wie wollen einen Schäferorden gründen, vieltheuere 
Schwägerin, und ich werde eine liebevolle Mutter fürftellen,” 
rief triumphirend die finderlofe Herzogin von Koburg. 

„Und ich die Nymphe Silvia mit den vergüldeten Stiefelein,“ | 
trumpfte die Gräfin von Mansfeld, eine ſehr unternehmende 
Dame, auf. 

Das jüngste füritliche Fräulein, welches während der Berathung 
heimlich Puppenhüte aus Lindenblättern gemacht hatte, zwitfcherte 
dazwiichen: „Daß mir nur niemand die hodverjtändige Schäferin 
Diana wegſchnappt, die Mugen wie Feuer und ein Herz wie Eis hat.” 

„Ich befehle mir den Herzog Bernhard,“ jubelte ein anderes 
fürftliches Fräufein auf, das noch bis an die Ohren in einem | 
jteifen Halskräglein ſteckte. 

Und das dritte hob drohend cin Fäuſtchen. „O, wie wollen 
wir den frommen Herzog Ernſt nadı uns fehmachten laſſen! 
Warum Hat er mit uns gefprochen, als fei er cin Präceptor und 
wir Heine Schüßen!* 

Ein Raunen und Flüjtern unter dem jüngeren Frauenzimmer 
wurde endlich in den Worten laut: „Und Jhre fürſtliche Gnaden, 
die Herzogin Dorothea, foll die Aſtrea fein in unfrem Hirtenverein.“ 

Einige der Damen begannen bereits in den Lindenäſten zu 
faden, um ſich Hirtenjtäbe herauszubrechen. 

Die Pagen wurden gerufen, und bald fchnitelten auch fie in 
den Buchengängen. Die bunten Seiden: und Wollenfäden, welche 
zu den Stidereien mitgebracht waren, dienten dazır, Zweige und 
Blumen um die Stäbe zu winden. 

„Ich werde meinen Schäferftab mit Raute ſchmücken,“ fagte | 
die Herzogin Eleonore lächelnd. „Brlüdt mir einen Strauß von | 
dem baljamijchen Kräutlein, liebe Heilingen.“ 

„Wollet mir den Rurpurfaden anfnüpfen, Kungfrau Gertrud; | 
ich verjtehe feinen Kreuzknoten zu machen,” bat die eine Eiſenacher 
Hofjungfrau. 

„Wenn he mie doch die Maiglödchen ſchenktet, die Ihr 
vorgeſteckt habt; ich möchte meinen Stab damit krönen,“ wünſchte 
der Cherub. 

„Zrude, borg' mir Deine Florſchleife,“ heifchte Benigna. 

Gertrud half, wo es verlangt wurde, Sie jelbit trug Fein | 
Begehren nad) einem Schäferjtab. Im Ernſt bewarb jich niemand | 
um die Liebe des blutarmen, unfceinbaren Mädchens, und zum 
leichtfertigen Liebesfpiel war fie zu ſtolz. 


148° 


| er. 


Käthchen ſaß ſtumm und wand alle von den andern ver 
ſchmähten Maßliebchen und Butterblündhen zufanmen. Es wurde 
ihe oxdentlic wohl dabei. Die Heinen Blumengefichter ſahen fie 
hier in Weimar fo vertrant”an wie daheim. So gelb, fo weiß 
mit rothen Blattipischen ſchauten jie aus dem Hafen, der die 
Dornburg umgab, und jo ſaß fie nar oft im Hain, band fich einen 
Kranz, fegte ihn auf und kam damit auf den Hof. Da ftand 
dann das ganze Ingeſinde und jchlug die Hände zufammen über 
die Schönheit. 

Ad! Wer doch in dem lieben friedlichen Nefthen wäre, 
wo es feine Faljchheit aab, wo die Lente wußten, welch eine 
wichtige Berfon die Käthe war! Ob wohl die Zeit nur endlich 
wieder fommen würde, da fie zurüclehrte? 

„Die Sitzung dev Balmgenofien it zu Ende,“ verkündigte 
die Gräfin von MNudoljtadt, durch die ‚Zweige Tugend. „Dort 
fommen die Herren.“ 

„So wollen wir ihnen unfven Beichluß zu willen than,“ 
fagte Chriftine, einen Diamantjtern auf ihrem Stab befeitigend. 

„Und die Schäfer Türen!” 

„Und die Tieblichen Diskurie anheben!” riefen die Damen 
durch einander und cilten dem Ausgange zu. 

„Wer der Geladon fein wird, darüber brauchen wie uns 
nicht den Kopf zu zerbrechen,“ ſprach lächelnd die „Einderloi: 
Mutter“ und folgte den andern. 

Die Schäferinnen ftürmten die Wendelitiege hinab. Mi 
hocherhobenen Köpfen nahten die Palmgenoſſen vom Birnbaum 
ber, der leife über ihnen feinen blühenden Wipfel ſchüttelle. 

„Ich wähle den ftattlichen Grafen von Mansfeld,* entichied 
fid) die hochverftändige Diana, fürbaß eilend wie beim Haſchenſpiel. 

Aber feine Gemahlin mit den güldenen Stiefelein zurnle 
fie an: „Jede Frau behält ihren Mann! So iſt's Brauch hier 
zu Lande." 

Das andere Fräulein marſchirte auf den Herzog Exnit los. 
Diefer jah verwundert auf die Heine Prinzeſſin und befahl einem 
Hofjunker: „Ruft die Gubernantin dieſes Fräuleins!“ 

Bernhard wehrte das Dämchen mit dem hohen Halskräglein 
lachend ab. „Ich bin Ariftander, der jchen im Anfang des 
Nomans gejtorben it.” 

Klagend lief das junge alamode Geſindlein zu feinen Müttern. 

Aber and den älteren Damen ging cs nicht beffer. Hinter 


‚ einem Fugelrund gezogenen Mafholder zankte ſich ein Ehepaar. 


„Nur nicht in der Luft herum gegangen! Immer mit den 
Füßen auf der Erde geblieben!” griesaramte der Herr. 

„Das beforgt Ihr weidlich! Heißt Ihr doch der Gemäſtele 
und führt einen Scheffel fetter Bohnen als Bild,“ barınte die Aran. 

„Mein werther Bräutigam heit fortan Damon,* flüfterte 
die funftfertige Stiderin dem jungen Faſelnden zu, der am Baſſin 
die heiße Stirn fühlte, 


Diefer aber hub das Haupt. „Der Mann verleiht dem 


Weibe den Namen, nicht umgekehrt.“ 


Aus einer Örotte fäufelte es: „Ich ernenne Euch quädigit 
ju meinem Schäfer.“ 

„Das wollet anädigit abwarten,“ brummte es dagegen 
„Der Mann fürt, nicht die rau,“ 

Redet dod nicht jo grobianiſch.“ 

„Sc rede deutſch.“ 

Nur Fran von QTautenburg war auf Seiten der Palm 
genoſſen. „Rt das ein verrüdter Anſchlag unſeres fürſtlichen 
Fräuleins!“ murmelte jie ihrem Ehegejponien ins Ohr „Wenn 
ich die Frau Herzogin wäre!” 

Aber der Schloßhauptmann ſchlug ſich auf die Seite der 
Schäferinnen. „Ach finde nichts Schlimmes dabei,” entgequete 
„u den Epinnjtuben der Bauern wird ein Schmäglein ac 
raubt, bei Hofe werden den Schäfern Heine Freiheiten erlaubt. 
Ich bin gefonnen, einen nalanten Schäfer zu ſpielen.“ 

Sie rüdte ihre Perlenhaube auf Sturm. „Sch verboffe,“ 
ſagte ſie nachdrädlih, „mein vielwerther Eheherr wird mit mir 
vereint ein bejorgtes Ehepaar in diefer Komödie fürſtellen.“ — 

Aengſtlich Tugte Achatins in jeden Gang, che er feinen Fuß 
hinein ſetzte. Wie hatte nur fein Sim ſich To gänzlich gewandelt 
feit dem Angenblid, da die Gertrud Heilingen ihrer Mutter zärt 
lich zuwintte! Als er am Abend die alte fürnehme Fran in ihrer 
ärmlichen Kleidung fo geduldig, ohne daß fie einen Hugenblid 
die ruhige Würde verlor, im der zugigen Schloßpforte harren 


—e Wo 


ſah, bis die prußigen Herren und Frauen den Weg räumten, da | 


murde es ihm Heiß im Herzen; er vergaß feinen gerechten Zorn 
gegen die Sippe Heilingen und brachte fie zu Ehren. Und als 
fie ihm dann vertrauensvoll gedankt hatte, tie eine alte hilfs- 
bedürftige Mutter ihrem braven jungen Sohn, da gefhah es ihm, 
daß er auf einmal die jungen Bettelmädchen auszanfte und den 
alten Weibern die Henkeltöpfe füllen Tieh. 

Gleich einem Alb drüdte ihn in der Nacht die Erinnerung an bie 


Stelldichein, die cr fi über den Hals gerifien hatte. Wie konnte er 


ihrer nur wieder ledig werden? Wie fam cr an all den Stauden 


und Grotten vorüber, die er zu zärtlichen Zuſammenkünften be» 
ftimmt hatte, ohne von den verliebten Nymphen erwifcht zu werden? 
Ueberall jchimmerten die bunten Bänder der Schäferjtäbe, 
| überall fuchten die Damen ihre Aınants zu küren. 
| Seine Gedanken hielten an. Würde Sie fih auch einen 
| folchen wählen? Gewißlich! Uber wen? Etwa den Sauerhaften, 
den fürftlichen Rath, dem allezeit ein Altenſtück aus der Bruft- 
tafche ragte? Er wollte doc) gleich einmal fehen. 
Achatius vergaß die Vorficht und rannte fürbaf. 


| Fortſehnng folgt.) 





Kaiſer Wilhelm II. in Wien. 


ID" im Fluge find die „Kaiſertage“ verraufcht, welche uns 
geftatteten, eines der merlwürdigſten Kapitel Geſchichte mit: 
zuerfeben, ein Kapitel, von dem ber Hiftorifer wird fprechen 
müffen, um die Jımigfeit des Verhäftniffes zu kennzeichnen, wie 
es ſich zwifchen dem Deutſchen Reiche und Oeſterreich-Ungarn 
langſam, aber ſicher — mit der Tendenz unabſehbarer Dauer — 
herausgebildet hat. Am 3. Oktober morgens langte Kaiſer 
Wilhelm in Wien an; er verließ bie öſterreichiſche Hauptſtadt 
oder eigentlich deren nächfte Umgebung am 5. Oftober nach— 
mittags, um borerft mit feinem laiſerlichen Jagdfreunde dem 
Weidwerk obzuliegen und dann die Fahrt nach Nom anzutreten. 
Ein kurzer Aufenthalt war es, der erlauchte Saft ging in bie 
Ferne, faum daß er gefommen; aber die enge Spanne Zeit fahte 
einen ber bebeutfamjten Zwiſchenfälle der zweiten Hälfte diejes 
Sahrhunderts in fih. Man übertreibt nicht, wenn man ſagt, daß 
die Angen ber ganzen civilifirten Welt auf Wien gerichtet waren, 
und daß niemand, der für die europäiſche Lage Herz und Einn 
hat, ſich unklar fein fonnte über die Wichtigkeit des Ereigniſſes. 

Monarchenbefuche von Hof zu Hof find in unjeren Tagen 
nichts Seltenes. Aber diesmal handelte es ſich um mehr ala 
um einen Akt der Höflichkeit, als um einen Zoll, dargebracht der 
zwingenden Konvenienz. Der Enlel Kaiſer Wilhelms I. wollte 


durch perfönliches Erſcheinen befräftigen, daß er unentwegbar | 


hodjhalte, was fein erhabener Großvater gefhaffen; er eilte in 


die Arme des faiferlichen Freundes, der in feiner felbftlofen, nur | 
des Volles Wohl erwägenden Art fich längit mit Verhältnijien 


abgefunden hat, welche ſich fo ganz anders geftalteten, als es zur 
Zeit feiner Thronbefteigung ſich r dan ließ. Kaifer Franz Joſef 
bat es in hochherziger Weife über ſich vermocht, im reifen Mannes: 
alter mit der Vergangenheit abzuſchließen und aus einer 'veräns 
derten Gegenwart heraus an dem 


feiner wahrften Empfindungen, als er während des Galadiners im 


Reboutenfaale fein Glas erhob, um auf das Wohl feines Tieben | 


Gaftes zu trinfen. Und nicht nur die Herzen der Herricher haben ſich 
zufammengefunden, fondern in gleihem Maße auch jene der Völker. 

Heute jpricht der Kaifer uns allen aus der Seele, wenn er 
den Gefühlen „Herzlich treuer und unauflöslicher Freundſchaft und 
Bundesgenoffenfchaft” Ausdrud verleiht, wenn er den Allmächtigen 
bittet, den Freund zu geleiten auf der Bahn, „bie er mit jugend» 
licher Sraft, mit männlicher Weisheit und Entichiedenheit betreten 
hat." Und wir lauſchen mit ungeheuchelter Freude dem Echo 
folhen Grußes und Wunfches, wenn der edle Hohenzollerniproffe 
fi) darauf beruft, er fei „nicht als Fremder“ in Wien erfchienen, 
wenn er von „bewährter und unverbrüchlicher Freundſchaft“ redet 
und fid) dabei in der Ausführung eines „heiligen Vermächtniſſes“ 
begriffen fieht. Die vier Trinkſprüche, welche im Redoutenſaale 


gewechfelt wurden — zwei auf die Monarchen und ihre Häufer, | 


zwei auf die beiderfeitigen Heere, die waderen Kameraden — 


waren Zeugniſſe unverbrüchjlicher Bundesfreundfchaft, und in ihren | 


wurde durch die berufenften Herolde dargelegt, was ben Kern der 
mweihevollen Stunde ausmadhte. 

Niemand, dem e3 vergönnt gewejen, der grandiofen Kund— 
gebung beizumwohnen, wird jemals ben Eindrud vergeſſen, den fie 


hervorgebracht. Die Anweſenden hatten Freundichajtsbezeiqungen | 


in Form von Toajten erwartet, aber daß dieje den Rahmen höfiſcher 
Etifette weitaus, wie mit elementarer Gewalt überfchreiten würden, 
das ahnten die wenigſten. 


18588 


aue der Zukunft zu fchaffen. | 
So bradjte er Wilhelm I. aufrichtige Freundſchaft entgegen; er hat 
diefe auf Wilhelm II. übertragen, und man hörte den Ausdruck 


Das Bild, aus welhem die ewig denkwürdige Scene er: 
wuchs, war ein blendend ſchönes. Der taghell erleuchtete Saal, 
behängt mit den berühmten kaiferlihen Gobelins, fahte eine 

| Fülle von Farbenreichthum im fi, die Pracht der Damen: 

‚ toifetten, die vielfältigen Nuancen ber Uniformen, das Strahlen 
des Schmudes, das Gligern der Orden, der Zierat des mit 
Lichtſchimmer und duftigem Blumenprangen übergoffenen hufeifen- 
förmigen Speiſetiſches, das alles vereinigte fi zu einer bie 
Sinne wahrhaft beftedjenden Wirkung, und unter den Schönen 

| die Schönften waren Kaiferin Eliſabeth und ihre anmuthige 

| Scyiwiegertochter Kronprinzeffin Stephanie. Man tonnte nicht 

| müde werben, zu fchauen, um das unbefchreiblihe Bild in fich 
aufzunehmen. 

Aber der Zauber diejes Bildes trat zurüd, als Kaiſer Franz 
Joſef fi erhob, um feinen Gaft zu ehren. Run jah man nie— 
mand al3 die beiden Kaifer — alles andere verfchwand; es war, 
als hätten fid) die übrigen Geftalten verflüchtigt, um den zwei 

| Trägern des hiſtoriſchen Uugenblides Play zu machen. Raſch 
' aufeinander folgten die Trinkſprüche, und kaum * Kaiſer 
Wilhelm den ſeinigen geendet, als Kaiſer Franz Joſef neuerdings 
das Wort ergriff und ein Hoch dem „leuchtendſten Muſter aller 
militãriſchen Tugenden, den preußiſchen und deutſchen Kameraden“ 
brachte — überraichend für jeden Zuhörer, überrajchend für den 
deutfchen Kaifer, der, offenbar unvorbereitet, doc) ohne Zögern 
und mit nicht zu verfennender Freudigkeit jogleid antwortete und 
dankte. Ein dreimaliges Hoch auf die „Kameraden von der öfter: 
vreichiſch⸗ ungariſchen Armee” ſchloß jeinen Toaſt. 

Die hochbedeutſamen Aeußerungen beider Kaiſer riefen in 
der ganzen auserleſenen Verſammlung eine geradezu ſtürmiſche 
Bewegung und Begeiſterung hervor, und in dieſer mächtig er— 
greifenden, weltgeſchichtlichen Scene hatte der Kaiſerbeſuch in Wien 
unzweifelhaft feinen Höhepunkt erreicht. Der fernere Aufenthalt 
des hohen Gaftes in der öfterreichijchen Haupiſtadt Fonnte bejtätigen, 
wie vollgewichtig ernft die an der hiſtoriſchen Zafelrunde ges 
ſprochenen Worte gemeint waren — Gröferet, Bebeutfameres 
aber vermochte er faum- mehr zu zeitigen, und wir verftehen daher 
unferen Künſtler und danken es ihm, daß er in feinem trefflichen 

Bilde gerade dieſe feſſelnde Scene wiebergiebt, auf welche es bei 
dem ganzen Kaijerbefuch in erfter Reihe anfommt. 
| Ueber die weiteren fFejtlichleiten in Wien, über die Befuche, 
| welche Kaifer Wilhelm an den folgenden Tagen Fürften und be: 

deutenden Perjönlichkeiten abjtattete, über die Uudienzen, welde 
| er eriheilte, zc. find unfere Leſer aus den Tageszeitungen zur Ge: 
nüge unterrichtet, und auch der Fagdausflug mit dem faiferfichen 
Gajftgeber iſt ausführlich beichrieben worden, jo daß wir es uns 
verjagen lönnen, hierauf näher einzugehen. Uber wenn wir auch 
von einer Schilderung der ferneren mehr oder minder wichtigen 
Vorgänge abjehen, eines können wir zum Schluß nicht unter 
laſſen, einer Ueberzeugung aus vollem Herzen Ausdrud zu geben, 

welche in allen Schichten unferer Beböllerung gleich lebendig ift: 
Wie viele Huldigungen Wilhelm IL bei feinen Beſuchen in 
St. Peteräburg, Stodholm und Kopenhagen, bei dem Großherzog 
| von Baden, dem König von Württemberg und dem Prinz:-Regenten 
\ von Bayern als Kaiſer auch erlebt hat, er darf ficher fein, daß ihm 
nirgends wärmere Neigung gewinlt hat, daß nirgends Hof und 
Bevölkerung in der Freude über jein Erjcheinen inniger vereint 
waren als eben in Wien, wo das deutfch-öfterreihiiche Bündbnik 
im Palaſt wie in der Hütte als Schub und Schirm des europäifchen 
Friedens betrachte und verehrt wird! Ferdinand Groß. 

157 














—0 


—— 


750 > 


Die Campagna bei Nom. 


Bon Fri Wernid, 


U"; 20. September 1870 zog das geeinte Ftalien in Nom 
ein, um dasfelbe zur Hauptjtadt des Königreichs zu machen. 
— Turin, Florenz, die bisherigen großen Reſidenzen, hätten 
leine der anderen den Vorrang als Hauptſtadt gegönnt, nur gegen 


ſollte feinen anderen Ertrag liefern, ſondern den Beſitzern und 


‚ dem vergnügungsfuftigen Volke nur zur Luft dienen. 


Rom traten fie freiwillig zurüd. Nom, das ewige, das einjt | 


Mittelpunkt der ganzen damals befannten Welt geweſen, mußte 


auch die Hauptjtadt des modernen bürgerlichen Staates werden. | 
Aber die lokalen Verhältniſſe, die müberwindlichen Schwierigleiten 


ſchienen dies zur Unmöglichkeit zu machen. 

Mit das ſchlimmſie Hinderniß bot die Umgebung der Stadt. 
Ein meilenweites Todtengefilde, von giftigen Dünften unbewohnbar 
nemacht, ohne andere Anjiedelungen als einige Nohrhütten der 


‚ licht, um Rom in Beſitz zu nehmen, dort zu bereichen. 
‚ die Campagna verwandelte ſich bamit. 


Hirten für den Winter, einige Weinschenten auf erhöhten Stellen | 
am Wege, zu denen die Fieberdünſte nicht binaufgelangen, Ruinen 


außerdem und alte Nömergräber, das war alles, was die nahe 
Umgebung der neuen Hauptjtadt zu bieten vermochte. Während 
der heißen Monate des Sommers Fonnte jelbjt ein furjes Ber- 
weilen in der Gampagna von Rom tödlid werben; 


Die Herrlichkeit des alten Nom hat nicht ewig gedauert, der 
heidniiche Staat ging zu Grunde, das junge Chriſtenthum er: 
oberte Rom und feine Campagna. An den Katalomben, den 
höhfenartigen Gängen und Hallen, von denen das mürbe vulfa- 
niſche Geftein durdzogen war, hatte das Chriſtenthum ſich ge 
heim befejtigt und ausgebreitet; nun ſtieg es hervor ang * 

uch 
Die altrömiſche Pracht 
verfiel, die Grablempel wurden in Kapellen und Kirchen ver: 
wandelt, die großen Geſchlechter des Mittelalters, die ewig im 
Kampf miteinander lagen, bauten ihre plumpen Vertheidigungs: 
thirme auf den Fundamenten ber Schlöffer, umgaben die hohen 
Grabftätten mit Zinnenmauern, ſetzten ihre Burgen auf die Vor— 
ſprünge des Gebirges, theilten den Boden unter ſich und mit der 


Kirche. Die Campagna von Rom verödete immer mehr, Die Wafler- 


im Winter | 


befierte jich die Luft, da die fältere Witterung das Auffteigen der | 


Giftbünfte nieberbielt. 
bevölferten Dede jollte Rom wieder zu früherer Herrlichkeit und 
Größe gelangen; das ſchien unmöglich. 


In Diefer traurigen, nur von Hirten | 


| 


Das alte, mächtige Rom hat günftigere Lebensbedingungen | 


nehabt, erſt ſpät und allmählich ift die Campagna verödet. 
allerfrüheiter Zeit iſt ja die jpätere Weltjtadt ein armes Bern: 
nejt geweien, bewohnt von Bauern, Hirten, wilden Gefellen, die 
gern räuberifche Streifzüge in die Umgebung madıten. Da lag, 
wenige Meilen entfernt, eine Menge ähnlicher Dörfer und 
Städtchen auf natürlichen Erhöhungen des Bodens, deren Be- 
wohner ihre Weder beftellten, ihre Herden zur Weide trieben, 
dem damals fruchtbaren Gefilde der Campagna gute Erträge ab: 
gewannen, gelund in gelunden Orten wohnten. Rom bat fic 
nach und nad) alle bezwungen. Dieſe Dugende Heiner Fleden 
vetihwanden, wurden zerjtört oder von Römern kolonifirt — bald 
hieß die weite, biühende Gampagna römiſcher Adergrund. 

Nun ward die Stadt immer mächtiger und größer, die Zeit 
der Kaifer Fam und mit ihr ein Glanz, eine Pracht, wie die 
Welt fie bisher nicht gelannt hatte, Da verwandelte der Frucht: 
ader fich in Luſtgefilde. Die Landſchaft ift ja von hoher, maleri» 
scher Schönheit. Die weite, in fanften Hügelwellen bewegte 
Gampagna wird im Weiten vom blauen Meere begrenzt; im 
Dften umrahmen fie die hohen, röthlichgrauen Kalkfteinwände ber 
Sabiner Gebirge, wie dieſer Theil des Apennin Heißt; da 


In 





bliden Schneehäupter über die vorderen Ketten, da ſchieben be- 


grünte Hügel fih am Fuße vor, befiedelt mit Schlöffern und 
Zandhäufern der Großen. Dort hat Kaiſer Hadrian Luftanfagen | 
geihaffen mit Rennbahnen, Badchallen, Tempeln, Theatern; 
in den fühlen Thalgründen der Gebirgsflüſſe Tebten römiſche 
Dichter unter dem gaftlihen Dache ihrer hohen Gönner. Ein 
anderes Gebirge ſchob fih im Süden mitten in die Campagna 
von Rom. Dort hatte einft unterirbiiches Feuer den Boden ge— 
heben, Lavaftröme fich über das Gebiet ergoffen, das jegt die 
römifhe Campagna heißt. Nun find bie Krater der Vulkane er: 
lofchen, jenriger Wein wächſt auf dem warmen Boden, an deifen 
gerundeien, waldbededten Bergkuppen ebenfalls Schlöffer, Land» 
häuser, Luſtgärten der römischen Großen Tagen. 

Aber auch das Gefilde zwiichen ber Stadt und biefen Ge— 
birgäzügen wurde damals von dem reichen und üppigen Rom 
völlig in Anspruch genommen. 
führenden großen Landſtraßen wurden nad) damaliger Sitte die 
Vornehmen in herrlicdyen Grabtempeln von Marmor bejtattet. 
Zu beiden Seiten diejer Strafen ftanden Säulen, Urnen, Obe— 
tisfe, Tempelchen, hohe Thürme, alles mit Bildwerk aus Marmor 
geſchmückt, dicht neben einander, Neunzehn verfchiedene Waſſer— 
teitungen führten auf hohen Bogenbauten die fühlen Quellen der 
Gebirge durch die Campagna zur Stadt. Es entjtanden Land» 
häujer mit weiten Gärten, es wurden Rennbahnen für die Wett: 
fämpfe zu Verde und in Wagen erbaut, die viele Tauſende Zus 
ſchauer faßten. Der Fruchtader ward damit zerjtört, der Boden 


An den durch die Gampagna | 
‚ die Städtchen und Villen, die Refte des antifen Tusculum, Denen 


N 


| 


feitungen waren geborften, ihr Anhalt ergo ſich auf den poröjen 
Boden von Bimftein, Lava, Tuff, der ihm gierig aufjog und, 
wenn die Sonne brannte, die faulige Flüffigkeit in giftigen Ficher- 
dünsten wieder abgab. Die Feudalherren gaben den Hder, den 
fie ſelbſt nicht bewirthſchaften wollten, an Pächter für ein Billiges; 
die Kirche, die Klöſter und Stiftungen Tiefen ihn meiſt gänzlich 
ruhen; das weite Blachjeld wurde zu einer unendlichen Viehweide, 
die Wohnftätten verſchwanden. 

Damals hat die Campagna von Rom den Charakter ange: 
nommen, ber ihr bis heute eigen ijt, den eines weiten Todten— 
aefildes, einer majeitätiichen Grabjtätte der großen Vergangenheit. 
Im September nad den erften Herbjtregen bededt die hügelige 
Ebene ſich mit furzen Kräutern, mit Gras und Blumen. Bald aber 
ziehen dann die braunen, maleriſch in dunlfe Mäntel gehüllten 
Hirten mit vielen Taufenden von Hiegen, Schafen und Rindern 
aus dem Gebirge herab, um das endloie Weidegebiet zu be 
völfern. Die Luft ift dann reiner geworden, Menjchen und Thiere 
können jet Hier athmen. Schub finden jene in irgend einem 
alten Gemäuer oder in ben Höhlen und Ghrotien des weichen 
Zuff, aus denen man die Ruzzolanerde geholt, die dem Römer, 
mit Kalk gemiſcht, einen trefflich feiten Mörtel giebt. 

Die nächte Mafferleitung hat man angezapft, um einen ge: 
mauerten Trog am Rande des Wegs zur Tränfe zu füllen. Hier 
ziehen auch die Campagnolen vorüber, die auf hohen, ziweiräberigen, 
mit Stieren befpannten Karren den Wein aus dem Bergen zur 
Stadt führen, die Efeltreiber, die ihre Lajtthiere in langem Zuge 
beimtreiben. 

Es ruht ein melancholifcher Zauber, ein feierlicher Ernjt auf 
diefer hiſtoriſchen Landichaft. Alle Vergangenheit hat bier ihre 
Spuren zurüdgelajien. Wenn wir zwifchen zertrümmerten Grab- 
denfmälern die appiiche Straße entlang ſchlendern, die ſüdwärts 
nach Gapua und Neapel führt, fo bfiden wir von ihrer Höhe 
über die Auinen einer weiten Rennbahn, welche Maxentius, der 
Ichte heidnische, von Konſtantin befiegte römische Kaiſer, hat er 
bauen laffen; die Bogen einer geboritenen Waflerleitung erheben 
fih aus der Dede, klotzige Kriegsthärme erinnern an das Mittels 
alter, die Kreuze und Gloden auf Heinen einfamen Kapellen, welche 
das Chrijtenthum aus antiken Grabtempelden umgewandelt, an 


| jene Frühzeit des Lebergangs. Undeutbares Ruinengemäuer fejlelt 


und Mai, dann beginnt fie zu beröden. 





ben Blid, der aber hinüberſchweift zu den herrlichen Gebirgszügen. 
Auf den Kuppen der Ulbanerberge erkennt er deutlich die Stamm» 
burgen der Colonna und anderer alter berühmter Geſchlechter, 


das heitere Bergſtädtchen Frascati zu Füßen liegt. Aus dem 
Sabinergebirge bricht in tiefer Schlucht der Anio hervor, an den 
Abhängen breitet Tivoli fih aus. Während ſchöner jonniger 
Wintertage zeigt fich die römiſche Gampagna, mit den Hirten, 
Karrenführern, Ejeltreibern belebt, als Landichaft großen Stile. 

Steigt aber die Sonne höher, fommen die Monate April 
Die Hirten haben die 
jungen Zämmer und Zidlein als ledere Braten in die Stadt 
verfauft und ziehen nun mit ihren Herden zurück in die fühleren 


a a Se 1 a 


. DBl * 


gefünderen Berge. Die fengende Sonne tödtet allen Pflanzen: 
wuchs, das modernde Waſſer, das fich in unterirdifchen Löchern 
und in dem mürben Geftein gefammelt, beginnt in der Hite zu 
verdunften und jene Peitluft auszuhauchen, welche die furchtbaren 
Fieber erzeugt, die meift fofort tödlich wirken. 
der großen italienischen Hauptjtadt verfinft in fangen Sommerichlaf. 

Der moderne Staat wendet alles dran, um fie aus dem: 
felben zu erweden, die Umgebung der Hauptitadt aefund und 
bewohnbar zu machen. Strenge Geſetze find zu dem Zwede er 


faffen worden. Die weiten, brady liegenden Gebiete, meift im 


Befige der Stirche oder dem hohen Feudaladel gehörend, fullen 
bebaut und befiedelt werden. Der Staat fordert, daß in jedem 
Jahre damit in Meinen Streifen vorgegangen werde, behält ſich 


jedoch das Recht vor, falls in einer feitgejtellten ‚Reihe von | 


Jahren dies nicht gefchehen, den Landbeſitz durch Enteignungs- 


verfahren erwerben und an Heine Leute abgeben zu fünnen. | 


Entwäfljerungsarbeiten werden neplant, um den ſchlimmſten Feind 
der Campagna von Nom, die unterirdiichen Waſſerpfühen, welche 
die furchtbaren Fieber erzeugen, zu verbannen. Man nimmt jedod) 
an, daß ſchon eine dichtere jenhafte Bevölkerung und die venelmäßige 
Bebauung des Bodens die Landſchaft fieberfrei machen dürfte. 
Dann foll die Anpflanzung eines aujtraliichen Baumes 


mithelfen, der in dem römischen Klima ſich bereits völlig ceinges | 


bürgert hat. Der Eufalyptus (Fieberbaum) bat die Eigenſchaft, 
alle Feuchtigfeit aus dem Boden und aus der Quft anzuziehen 
und fich damit zu mäjten. Ex verbraucht zu feinem jtaunensiverth 
ihnellen Wachstum alle Feuchtigkeit, die feine Wurzeln und 
Blätter erreichen lönnen, und hat jhon manches Beſſerungswerk 


unterftäßt. In dem Theile der Campagna, der ſich ſüdweſtwärts 
zum Meere Hinzicht, ſteht einfam die Abtei der drei Brunnen. Das 
Haupt des an diejer Stelle getöpiten Apoſtels Paulus, jo erzählt 


die Legende, foll dreimal von der Erde im die Höhe geſprungen 
fein und an jedem Vunkte ijt da ein Brünnlein heworgefprudelt. 


Die frommen Väter, die dort beichaulicher Andacht lebten, | de 


waren nun genöthigt, in jedem Juni nach der Stadt überzufiedeln, 
um dem tödlichen Fieber zu entrinnen. Sie fehnten ſich fort aus 


Die Campagna | 


diejer gifthaudyenden Umgebung, und als franzöfiiche Trappiiten 
den Wunſch ausfprachen, die verlaſſene Abtei zu beziehen, willigten 
fie gern ein. Diefe begannen jofort damit, das ganze Hügelgelände 
mit Eufalyptus zu bepflanzen, in fo weiten Abftänden, daß darunter 
noch Feldfrucht gebaut werden konnte. Die Bäume gedichen und 
fchufen Wunder. Heute nach faum einem Jahrzehnt iſt diefer 
Theil der Campagna völlig gefund, die Brüder Trappiften bleiben 
den ganzen Sommer hindurch in ihrer Abtei; fein Fieber zehrt an 
ihrer Gefundheit, fie beitellen den gewonnenen Ader und deitilliven 
aus den Blattkeimen des fremden Baumes einen bitteren Schnaps, 
den man von ihnen Faufen kann. 

Ob es gelingen wird, auch die tieferen, muldenförmigen Theile 
der Campagna von Nom derartig zu kultiviren, ob die Boden: 
arbeiten zur Befeitigung der faulenden Waſſer nicht während des 
Sommers bedeutende Opfer an Menfchenleben fordern werden — 
denn nicht felten fallen die vom Fieber ergriffenen Menfchen 
plöglih um, um nie wieder aufzuftehen — das iſt ſchwer vorher: 
zufagen. Die Landichaft von Nom muß aber eine andere werben, 
wenn die Hauptitadt des Königreichs nicht jerneren Schäden 
ausgeiegt bfeiben ſoll. 

Der Aauber, den dieſes unabichbare, mit Ruinen bededte, 
von Hirten und Campagnafärmern allein belebte Gefilde mit den 
Gebirgen, die es umrahmen, jegt auf jeden Beſucher ausübt, die 
hohen und ganz eigenartigen Reize dieſer einzigen Biftorifchen 
Landſchaft werden daun- ſchwinden, wenn Getreibeäder, Dörfer 
und Gutsgebäude fie bededen, wenn Eufalyptuswäldden die Tiefen 
füllen, auf den Rüden alter Lavaftröme neben den Feitungs: 
‚ werfen, die das neue Ktalien dort zum Schuhe feiner Hauptftadt 

erbaut, Pumpſtationen, Waſſerthürme, Dienftwohnungen ſich er 
heben werden. 

Doch alle äftgetifchen und Fünitleriichen Liebhabereien fommen 
| nicht im Frage, wenn es gilt, Rom eine gefunde, bewohnbarc 
' Umgebung zu ſchaffen, und wie jo mandes in der Stadt jelbit 
re nenen Leit mit ihren Anforderungen hat weichen müſſen, 

fo find auch die Tage der jegigen Campagna von Rom viel 
‚ leicht Schon gezählt. 


Die Alpyenfee. 


Nahbend verbaten. 
Alle Nechte vorbebalten. 


Roman von &, Merner, 
(Fortießung.) 


DD“ war für Deine Ohren nun allerdings nicht beſtimmt,“ ſagte 
Nordheim mit voller Schärfe zu feiner Tochter. „Ich be 


greife nicht, wie Du Dich fo lange verborgen halten fonnteit, da | 


Du doc hörteft, daß von Gefchäftsangelegenheiten die Rede war. 
Jetzt bift Du Zeugin eines Erprefjungsverfuches geworden, der 
an Deinem Bater gemacht wurde, und ben ich vielleicht nach— 
drüdlicher hätte zurüdweiien follen. 


nur zu ſehr geneigt, an Lügen zu glauben, und wer wie id) 
fortwährend in großen Unternehmungen ftedt, bei denen das 
Berirauen des Bublifums die Hauptfache ift, darf jich jelbit einer 


bloßen Verdächtigung nicht ausjegen. Eher fauft man ſich mit | 
irgend einer Summe los von dieſen Menfchen, die von folchen | 
Erprejiungen leben — doch davon verjtehit Du nichts! Gch auf | 


Dein Zimmer und ich bitte mir aus, daß Du das meinige nicht 
wieder heimlich betrittit.” 

Die Worte hatten nicht die gewünſchte Wirkung; Alice 
jtand noch immer unbeweglich, fie antwortete nicht, vente ſich 
nicht, und dies ſtarre Schweigen fchien den Präfidenten noch mehr 


zu reizen. 
„Haſt Du nicht gehört?“ wiederholle er. „Ich wünſche 


allein zu fein und im übrigen erwarte ich, daß von dem, was 
Du hier erlauſcht Haft, fein Wort über Deine Lippen fommt — | 


jest ach!” 

UAnftatt zu gehorchen, trat Alice langſam näher und fagte 
feife, aber in einem jeltfamen, nervendurcchzitternden Tone: 

„Papa — id) habe mit Dir zu fprechen.* 

„Worüber? Doc nicht etwa über jenen Erpreſſungsverſuch?“ 
fragte Nordheim fchroff. „Ach habe Dir ja erklärt, wie die Sache 
zufammenhängt, und Du wirft doc hoffentlicd nicht einem Be— 
trüger Glauben ſchenlen.“ 


Aber joldye kühne Betrüger | 
fönnen auch dem bejten Manne gefährlich werden. Die Welt ijt 


„Der Mann war fein Betrüger!” entgegnete das junge 
Mädchen, in demjelben bebenden, geprehten Tone wie vorhin. 

„Nicht?“ fuhr der Präfident auf. „Und was bin ich denn 
in Deinen Augen?” 

Keine Antwort, nur jener jtarre, angjtvolle Blick, der um 
verwandt anf dem Gbefichte des Vaters haftet, Es lag feine 
Frage mehr darin, fondern eine Verurtheilung und Nordheim 
vermochte ihm nicht zu ertragen. Er war feinem Ankläger mit 
tifemer Stirn entgegengetreten, vor den Angen feines Kindes 
ſchlug er die feinigen nieder, 

Alice ſchien nad Athem zu ringen; anfangs verfagte ihr die 
Stimme, aber fie gewann mehr und mehr an Feſtigkeit, während 
fie weiter fprad). 

„Ih kam hierher, um Dir ein Geſtändniß zu machen, 
| Papa, Dir etwas zu fagen, was Did; vielleicht erzürnt hätte — 
‚ davon ijt jegt feine Rede mehr! ch habe nur mod) eine Frage 
an Did. Wirſt Du dem — dem Doltor Reinsfeld die Genug— 
thuung geben, die von Dir verlangt wurde?“ 

„Ih werde mich hüten! Es bfeibt bei meinem Teßten 
' Worte.” 

„Nun, dann gebe ich fie ihm — an Deiner Stelle!“ 

„Alice, bijt Du von Sinnen?” juhe der Präfident töblidı 
erihroden auf, aber jie fuhr unbeirrt fort: 

„Er braucht das Eingeſtändniß freilich nicht mehr, denn er 
lennt die Wahrheit, muß fie längſt gelannt haben. Dept wei 
ih, warum er auf einmal fo verändert war, warum er midı 
| immer fo traurig mitleidig anfah und nie verrathen wollte, was 
ihn drüdte. Er weiß alles! Und doch hat er mir nur Güte 
und Mitleid gezeigt, hat alles aufgeboten, mir die Gefundheit 
zurüdzugeben, mir, dee Tochter de3 Mannes, der —“ fie brad) 
ab, fie konnte den Sag nicht vollenden. 








In N 


Yadı dem Di: 


Er = 
* 











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. 754 >» 


Nordheim machte feinen Verſuch mehr, den Empörten zu 
fpielen, denn er ſah, daß Mlice fich nicht täuſchen ließ, und er 
fah auch ein, daß er es aufgeben mühe, fie mit Härte einzus 
ſchüchtern. Sie hotte einen geradezu unfinnigen Eutihluß ge: 
foßt, der ihm verderblid; werden konnte; er mußte ſich ihr Schweigen 
ſichern, um jeben Preis. 

„Ic bin aud überzeugt, daß Doktor Meinsfeld der Sache 
fern ſteht,“ jagte ex ruhiger; „daß er vernünftig genug iſt, das 
Lächerliche ſolcher Drohungen einzufchen. Was aber Deinen 
tolfen Einfall betrifft, mit ihm darüber zu fprechen, jo will ich 
annehmen, daß es Dir damit nicht Ernſt war. Was geht dieje 
Angelegenheit denn Di an?" 

Das junge Mädchen richtete fih empor, mit einem uns 
endlich herben Ausdrud, den die kindlichen Züge bis dahin nie 
gefannt Hatten. 

„Dich follte es freilich mehr angehen, Bapa! Du wußteſt 
ja, daß der Doltor in unferer Nähe wohnte, daß er fih Tag 
für Tag abmühte im armfeligen undankbaren Verhältniſſen, und 

- haft es micht einmal verfucht, gut zu machen, was feinem Bater 
geſchehen ift! Das Leben und die Menſchen find jo hart mit 
ihm umgegangen; als verwaiſtes Kind iſt er in die Welt hinaus— 
geftoßen worden, in feiner Studienzeit hat er gedarbt, gehungert 
vielleicht — und Du haſt Millionen verdient mit jenem Gelbe, 
haft Dir Paläſte gebaut und in der Fülle des Reichthums gelebt. 
Thue wenigftens, was Gronau von Dir verlangt, Papa, Du 
mußt es thun — ober ich verfuche es ſelbſt!“ 

„ice!“ rief Nordheim, ſchwankend zwiſchen Born und 
grenzenlofem Erftaunen darüber, daß feine Tochter, dies weiche, 
twillenfofe Geſchöpf, das nie aud wur einen Widerfpruch gewagt 
Hatte, ihn jetzt förmlich zur Mede ſtellte. „Halt Du denn feine 
Ahnung von der Tragweite der Sade? Willſt Du Deinen 
Bater in die Hand feines ärgſten Feindes geben, der —“ 

„Benno Reinsfeld ift Dein Feind nicht!” unterbradh ihn 
Alice, „Wenn er es wäre, dann würde er das Geheimniß Längft 
benufst haben, um etwas ganz anderes von Dir zu erzwingen, 
als was Gronau verlangte — denn er- liebt mich!“ 

„Reinsfeld — Did?" . 

„Ja — ich weiß ed, wenn er es mie auch nie gejtanben 
bat. Ich bin ja die Braut eines anderen, und er, der alles von 
Dir erreichen Fonnte, wenn er forderte und drohte, cr geht von 
bier, ohne ein Wort der Drohung, ohne aud nur Mechenichaft 
von Tir zu fordern, weil er mir das Furchtbare erſparen wollte, 
das ich nun doch erfahren habe Du ahnt wicht, wie weit der 
Edelmuth diejes Mannes geht — ich kenne ihn jegt ganz!” 

Der Präſident ftand wortlos da; auf dieſe Löfung war er 
nicht gefaßt geweien, denn es bedurfte ja feines befonderen Scharf: 
blickes, um zu erkennen, daß Bennos Liebe eriwidert wurde. Das 
leidenfchaftliche Aufflammen des jungen Mädchens ſprach deutlich 
genug und wenn Neinsfeld wußte, was geſchehen war, und das 
ließ ſich nicht mehr bezweifeln, fo gab es in der That nur eine 
Erklärung für jeine Burüdhaltung und fein Schweigen in einer 
Sache, die ihn doch zuerjt anging. Es war ihm ſchon zuzutcauen, 
daß er den Vortheil, den jene Kenniniß ihm gab, unbenugt ich, 
nur um die Geliebte vor einer tödlichen Kränkung zu bewahren. 
Dann war aber überhaupt nichts von ihm zu fürdten, dann war 
der Bater des Mädchens, das er liebte, ſicher vor feiner Rache 
und vielleicht ließ fi durch ihn auch Gronau zurüdhalten. 

„Das find ja überrafchende Neuigkeiten!” fagte Nordheim, 
nad) einer kurzen Pauſe, langſam und das Auge unverwandt auf 
feine Tochter gerichtet. „Und das erfahre ich jetzt erit? Du 
ſpracheſt vorhin von einem Geſtändniß — was hatteft Du mir 
zu jagen?" 

Alice jenkte den Blid und im ihre eben noch jo bleiches 
Antlig trat eine alühende Röthe. 

„Daß ich Wolfgang nicht liebe, jo wenig wie er mid,“ 
antwortete fie leife. „Sch habe das felbft nicht gewußt, erſt vor 
wenig Tagen iſt es mir klar geworden.“ 


Sie erwartete mit voller Beitimmtheit einen Zornausbruch 


ihres Vaters, aber nichts dergleichen erfolgte, im Gegentheil, 
jeine Stimme Hang in cinem ganz veränderten, ungewöhnlich 
milden Tone: 

„Warum haft Du fein Vertrauen zu mir, Alice? Ich 
werde meine einzige Tochter ja doch nicht zu einer Verbindung 
zwingen, von ber ihr Herz ſich abwendet; aber das will überlegt 


und erwogen fein. Für jeht fordere ich nur, daß Du feine über: 
eiften Entſchlũſſe faſſeſt und es mir überläßt, irgend einen Aus— 
weg zu finden. Vertraue Deinem Vater, mein Kind, Du jollit 
mit ihm zufrieden fein!“ 

Er beugte fid) nieder, um väterlic) ihre Stimm zu füllen, 
aber fie zudte zufammen und wich mit dem umzweidentigften 
Ausdrude des Entſetzens zurück vor der Liebfofung. 

„Ras foll das?“ fragte Nordheim, mit gerungelter Stirn. 
„Du fürchtet Did) vor mir? Glaubſt Du mir etwa nicht?“ 

Sie hob das Auge zu ihm empor, es war wieder derjelbe 
ſchwere, anklagende Blid wie vorhin und die fonft fo weiche 
Stimme Mang in herber, mnerbittliher Entichiedenheit, als fie 
antwortete: 

„Nein, Papa, id) glaube nicht an Deine Liebe und Deine 
Güte. Ich glaube Dir überhaupt nicht — nie mehr!“ 

Nordheim preßte die Lippen zujammen und wandte fi ab, 
ftumm winkte er ihr, fi) zu entfernen, umd ſtumm und jcheu 
gehorchte Alice, fie verlich ohne ein Wort weiter das Zimmer. 

Sie hatte vollkommen recht geſehen, der Präfident dachte 
aud nicht entfernt an die Möglichkeit einer Verbindung feiner 
Tochter mit dem jungen Arzte, aber er machte ſich fein Gewiſſen 
daraus, eine ſolche Möglichkeit anzudeuten, um für den Nugenblid 
die Gefahr zu beſchwören, die ihm drohte. Hier aber hatte er 
fid) doc verrechnet; das junge, unerfahrene Mädchen durchſchaute 
ihn, und feltiam, er, der Mann mit der eifemen Stimm, ertrug 
das nicht. Er Hatte der ftolzen Empörung Wolfgang, dem 
drohenden Auftreten Gronaus gegenüber feine Faſſung bewahrt 
und neben dem Zorne höchſtens noch Furcht empfunden. Jetzt 
zum exjten Dale nahte ihm etwas, das er während feines ganzen 
Lebens nicht gelannt hatte — die Scham! Wenn die Gefahr auch 
wirklich abgewandt wurde, er fühlte es doch im tiefiten Innerften, 
daß er verurtheilt, gerichtet war von feinem einzigen Kinde. 


Die Urbeiten an der Bahn wurden mit einer beinahe fieber- 
haften Thatigleit gefördert. Es war in der That nicht Leicht, 
Wort zu halten und die Bauten in der gegebenen furzen Frift zu 
vollenden; aber Rorbheim hatte recht, wenn er erflärte, daß der 
Chefingenieur weder fich noch feine Untergebenen jchone. Elm— 
horſt ſpornte die Arbeitskraft feiner Leute bis aufs äuferjte 
an, griff überall jelbjt mit Befehlen und Anordnungen ein und 
gab jeinen Ingenieuren das Beifpiel einer Unermüdlichkeit, das 
fie gleichfalls anfenerte. Unter feiner Leitung ſchien ſich die 
Leiftungsfähigfeit der ſammtlichen Arbeitskräfte zu verdoppeln, 
und er erreichte damit wirklich feinen Zwed. Die zahlreichen 
Bauten auf der ganzen Gebirgsitrede waren größtentheils ſchon 
fertig und an die Wolfenfteiner Brüde legte man fochen die 
lehte Hand. 

Wolfgang war von der Fahrt zurüdgelehet, die er heute 
morgen unternommen Hatte, In Oberjtein hatte er den Wagen 
verlaffen und fortgefandt, um die lebte Strede zu Fuße zu bes 
fichtigen, und jeßt fand er auf einem Abhange, oberhalb der 
Wollenſieiner Schlucht, und fah den Arbeitern zu, die wie Ameiſen 
geihäftig auf dem Schienengeleije und an dem Gitterwerl der 
Brüde wimmelten. Noch wenige Tage, dann war das Wert 
vollendet, das jegt ſchon die allgemeine Bewunderung auf fich 
zog und im Laufe der nädjiten Kahre von Taufenden ‚angejtaunt 
werden follte; aber der, welcher es geſchaffen, blidte fo düjter 
darauf Hin, als fei ihm jede Freude an feiner Schöpfung ge 
nommen. 

Er war für heute noch einer Unterredung mit dem Präſidenten 
ausgewichen und Hatte nur durch fein Nichtericheinen bei deſſen 
Ankunft gezeigt, daß er bei jeinem Nein blieb; aber es mußte 
doh noch zu einer Ichten Auseinanderſetung ziwifchen ihnen 
fommen. Daß der Bruch ein endgültiger war, wußten fie beide; 
auch Nordheim war ſchwerlich mehr geneigt, einen Mann, der 
ihm fo offen und verädhtlid; Troß geboten hatte, von dem er 
auch in Zukunft feine Unterſtützung feiner Pläne mehr erwarten 
durfte, zum Schwiegerſohn anzunehmen. Es fam nur darauf an, 
auf welche Art man ſich trennte, und das beiderjeitige Intereſſe 
erforderte, daß es im möglichjt Ichonender Form geſchah. Dar— 
über allein hatten fie fich mod) zu verftändigen, und das jollte 
morgen geſchehen. 


— — 


Ein Huſſchlag, der dicht Hinter ihm ertönte, weckte Elmhorſt 
aus feinen Gedanken, und ſich umwendend, gewahrte er Erna 
von Thurgau auf einem der Bergpferde, welhe man für den 
Gebirgsaufenthalt angefhafft Hatte. Sie hielt fichtlich überrafcht 
an, als fie den Chefingenieur erblidte. 


„Sie find ſchon zurüd, Herr Elmhorſt? Wir glaubten, | gang mit unverhehlter Bitterkeit. 
Ihre Fahrt würde Sie den ganzen Tag in Anjprud nehmen.” | j 
wie 


„Sch bin früher mit der Befichtigung fertig geworden, ala 
ich glaubte,“ verfeßte Wolfgang. „Aber Sie werben für den 


Augenblick Ihren Weg nicht fortfegen können, gnädiges Fräulein, 


dort unten wird gefprenat; doch es kann nicht lange dauern, die 
Leute mäffen in zehn Minuten fertig fein.“ 

Die junge Dame hatte das Hinderniß bereits bemerkt; ber 
Weg, der den Abhang hinunter und in einiger Entfernung an 
der Brüde vorüberführte, war durch Wachen abgejperrt und eine 
Anzahl von Arbeitern war um einen riefigen Felsblod beichäftigt, 
der augenſcheinlich geiprengt werden follte. 

„Ich habe feine Eile,“ erwiderte fie gleichgültig. „Ic 
wollte obnchin auf meinen Werlobten warten, der mich bat, 
vorauszureiten, da er ganz unerwartet mit Heren Gronau zus 


jammentraf. Ich möchte aber doch feinen zu großen Borfprung | 


haben.“ 

Sie loderte die Zügel und ſchien ihre Aufmerkſamleit gleich: 
falls den Arbeitern zuzuwenden. Die Tele Nacht ion einen 
völligen Umſchlag der Witterung gebracht; ein kalter Regenfturm 
hatte all die fonnige, duftige Schönheit ausgelöfht. Jetzt Tag 
der Himmel grau und ſchwer über der Erbe, die Berge ftanden 
wollenumbüllt und in den Wäldern braufte ber Wind — es 
war über Nacht Herbit geworben. 

„Wir werden Sie doch Heute abend fehen, Herr Elmhorft ?” 
brach Erna endlich das Schweigen, das ſchon mehrere Minuten 
gedauert hatte. 

„Ic bedaure ſehr, daß es mir nicht möglich; ift, zu fommen. 
Ic Habe gerade heute abend noch Dringendes zu erledigen.* 

Es war der alte Vorwand, der ihm ſchon fo oft Hatte 
dienen müflen, und er fand auch feinen Glauben mehr, denn 
Ema fagte mit merklicher Betonung: 

„Sie wiſſen vermuthlich nicht, daß mein Onkel heute vor— 
mittag angefommen ijt?“ 

„Dod, ich weiß es und Habe mich bereits bei ihm ent— 
ſchuldigen laſſen; ich werbe ihn —— ſprechen.“ 

„Aber Alice ſcheint nicht wohl zu ſein. Sie leugnet das 
zwar und will durchaus nicht zugeben, daß nad dem Doktor 
Reinsfeld geſandt wird; aber fie jah vorhin, als fie aus dem 
Zimmer ihres Baters fam, fo bleich und angegriffen aus, daß 
ich erſchrak.“ 

Sie ſchien eine Antwort zu erwarten, aber Elmhorſt ſchwieg 
und blickte angelegentlich nad der Brüde hinüber. 

„Sie foltten fid) doch Heute frei machen und nad Ihrer 
Braut fehen,“ mahnte Ema in vorwurfsvollem Tone. 

„Ih Habe nicht mehr das Recht, Alice meine Braut zu 
nennen!” ſagte Wolfgang Falt. 

„Herr Elmhorſt!“ Es lag eine jhredensvolle Ueberraſchung 
in dem Ausrufe. 

„sa, mein Fräulein! Es haben ſich zwifchen dem Bräfibenten 
und mie Meinungsverihiedenheiten ergeben, die jo ſchroff und 
tiefgehend waren, daß ein Ausgleich unmöglih wurde. Wir 
find darauf beiderfeitig von der geplanten Verbindung zurüd: 
getreten.“ 

„Und Alice?” 

„Sie weiß noch nichts davon, wenigftens nicht durch mich. 
Es iſt möglich, da der Vater ihr die Sadje mitgetheift Hat, und 
jedenfalls wird fie ſich feiner Entjcheidung fügen.“ 

Die Worte fennzeichneten mehr als alles andere dieſe felt: 
fame Verbindung, die eigentlid) nur zwiſchen Nordheim und jeinem 
Schwiegerſohne beftanden Hatte. Alice war verlobt worden, als 
das Intereſſe der beiden es erforberte, und jebt, wo dieſes 
Interefie aufhörte, wurde die Verlobung aufgehoben, ohne die 
Braut auch nur zu fragen; man erachtete es als ſelbſtverſtändlich, 
daß fie fich fügte. Auch Erna ſchien feinen Zweifel daran zu 
hegen; aber fie war bleich geworben bei ber unerwarteten Nachricht. 

„Alſo ift es doch dahin gelommen!” fagte fie Teife. 

„Sa, es Fam dahin! Ach follte einen Preis zahlen, ber 
mir zu hoch war, bei dem ich die Augen nicht mehr frei Hätte 


155 ° 
| aufichlagen Tünnen. 


Es galt ein Entweder — ober — und id) 
habe meine Wahl getroffen.” 

„Das wußte ich!“ rief das junge Mädchen aufflammenb. 
„Daran habe id) nie gezweifelt!” 

„Ufo das wenigitens haben Sie mir zugetraut!” fagte Wolf: 
Ich glaubte es kaum.“ 

Sie antwortete nicht, aber ihr Blick begegnete dem ſeinigen 
mit einem Vorwurfe; endlich fragte fie zögernd: 
| „Und — was nun?“ 

„Run ſtehe ich wieder da, mo ich vor einem Jahre fand. 
Der Meg, den Sie mir einjt fo begeiftert priefen, Tiegt offen vor 
* ‚und ih werde ihn ja auch gehen, aber allein — gan; 
allein!“ 

Erna bebte feife zufammen bei den lehzten Worten; aber ſie 
wollte fie augenscheinlich nicht verftchen und fiel rafch ein: 

„Ein Mann wie Sie ift nicht allein. Er hat fein Talent, 
am Zukunft, und dieje Zukunft Tiegt fo weit und groß vor 
Shnen —“ 

„Und fo öde und fonnenlos wie die Bergwelt dort!” er- 
gänzte er, indem er auf die herbſtliche, wolfenumichleierte Land« 
ſchaft deutete. „Doc, ich habe fein Recht, mic) zu beffagen. Es 
trat mir ja auch einjt entgegen, das fonnige, leuchtende Glück, 
und ich wandte ihm den Rüden, um einem anderen Ziele nad) 
zujagen. Da breitete es feine Flügel aus umd zog fort, weit 
fort in unerreichbare Ferne, und wenn ich auch jetzt mein Leben 
hingeben wollte, es fommt doch nicht zu mir zurüd. Wer es 
einmal verfcherzt hat, dem entflicht es auf immer!* 

Es fprady ein dumpfer, qualvollee Schmerz aus dieſem 
Schuldbelenntniß; aber Erna hatte fein Wort der Erwiderung 
| darauf und aud) feinen Blick für die Mugen, welche die ihrigen 





juchten. Bleich und ſtarr ſchaute fie in die nebelumhüllte Ferne 
hinaus. Ja freilich, jet wußte ex, wo fein Glüch und fein Heil 
lag — jeßt, wo es zu fpät war! 

Woligang trat an die Seite des Pferdes und legte die Hand 
auf den Hals besjelben. 

„Erna, noch eine Frage, ehe wir für immer fcheiden! Ich 
werde nach der letzten Unterredung, die id) morgen noch mit 
Ihrem Onlel haben muß, felbitverftändlich fein Haus nicht mehr 


\ betreten und Sie ziehen weit fort, mit Ihrem Gatten — hoffen 





Sie glüdlic zu werden an feiner Seite?“ 

„Wenigjtens hoffe ich, ihn glüdlich zu machen.“ 

„Shn! Und Sie felber?“ 

„Herr Elmhorſt —“ 

„D, Sie brauchen die Frage micht jo ftreng abzuwehren,“ 
unterbrach er fie. „Es birgt fich fein eigenfüchtiger Wunſch mehr 
dahinter. Ach Habe mein Urtheil ja ſchon aus Ihrem Munde 
empfangen, in jener Mondnacht am Wollenſtein. Sie wären 
mir boch verloren, auch wenn Sie noch frei wären, denn Sie 
vergeben e3 mir nie, dab id) um eine andere warb.” 

„Rein — niemals!” Das Wort Mang in herbiter Ent: 
ſchiedenheit. 

„Ich weiß es, und eben deshalb möchte ic, Ihnen noch eine 
letzte Warnung zurufen. Eruſt Waltenberg ift fein Mann, der 
eine Frau, der Sie beglüden kann; feine Liebe wurzelt nur in 
dem Egoismus, der der Grundzug feiner ganzen Natur if. Er 
wird nie danad) fragen, ob er ein geliebtes Wefen quält und 
martert mit feiner Zeidenjchaft, und wie werden Sie es erfragen, 
an ber Seite eines Mannes zu leben, dem all das Streben und 
Ningen, all die Ideen, für welche Sie ſich begeiftern, nur todte 
Begriffe find? Ich Habe endlic, gelernt einzujchen, dab es noch 
etwas anderes, beſſeres giebt als dies ‚ch‘, das auch mir eimit 
das Höchſte war, wenn ich die Lehre aud) theuer bezahlen mußte — 


er wird es nie lernen!“ 


Ernas Lippen zudten, das alles wußte ſie ja längſt und 
wußte es beſſer als jeder andere; aber was half das, es war 
auch für fie zu ſpät. 

„Sie ſprechen von meinem Verlobten, Here Elmhorſt,“ ſagte 
fie mit erufter Zurechtweiſung, „und Sie ſprechen zu feiner 
Braut — id) bitte, fein foldes Wort mehr!” 

Wolfgang verneigte fih und trat zurück. 

„Sie Haben recht, gnädiges Fräulein, aber es war ein Ab: 
ſchiedswort, und das dürfen Sie immerhin verzeihen.” 

Sie neigte ftumm das Haupt und machte Anstalt, umzu— 





fchren, als Waltenberg am Nande des Waldes erichien, gleichfalls 


— 0 


zu Pferde, und in raſchem Trabe näher fam. Er und der Chef- 
ingenieur begrüßten ſich mit jener Falten Höflichkeit, die zwijchen 
ihnen zur Gewohnheit geworden war, jeit fie beinahe täglid) | 
miteinander verkehren mußten. Sie wechlelten einige Worte über 
das Metter, über die Ankunft des Bräfidenten, und jet bemerkte 
auch Ernit, daß der Weg geiperrt war. 

„Die Leute laſſen fich unverantwortlih Tange Zeit," fagte 
Wolfgang, der froh war, daß er eine Gelegenheit fand, das Ge 
iprädy abzubrecdhen. „Ich werde dafür jorgen, daß fie ſich beeifen, 
in wenigen Minuten Fönnen Sie paffiren.” 

Er cilte den Abhang hinunter und nad) der betreffenden 
Stelle, aber bei den Sprengverfuchen ſchien irgend etwas nicht 
in Ordnung zu fein, und der Ingenieur, der die Sache leitete, 
trat heran, um dem Chef Bericht zu erftatten, Diefer zudte uns | 
geduldig die Achjeln, gab einige Befehle und trat dann mitten unter | 
die Arbeiter, wahrſcheinlich, um bie Vorbereitungen zu bejichtigen. | 

Inzwiichen Hielt Waltenberg auf dem Mbhange neben feiner 
Braut, die jeht fragte: 

„Du Haft alfo mit Gronau geiprochen?“ 

„Ja, und ich Habe ihm mein Befremden nicht verhehlt, ihn 
hier zu finden, ohne daß er mic in Heilborn aufgeſucht hat, 
ohne da ich überhaupt von feiner Rüdlehr weiß. Stattsaller 
Antwort erbat er ſich eine Unterredung für heute abend; er habe 
mir Wichtiges mitzutheilen, das in gewiſſer Hinficht auc mic 
angehe. ch bin doc; neugierig, was er mir zu fagen hat, denn 
bloße Geheimniffrämerei iſt Seine Sache nicht. — Sieh nur, 
Erna, wie dunfel und drohend es ſich über dem Wollenſtein zu— 
fammenzieht! Wir werden doch nicht ein Wetter befommen auf 
unferem Spazierritt?" . 

„Für heute wohl kaum,“ meinte Erna mit einem flüchtigen 
Blick nad dem dichtumſchleierten Berge. „Vielleicht morgen oder 
übermorgen. Die Sturmperiode, die unfere armen Aelpler fo 
fürchten, ſcheint diesmal früher im Anzuge zu fein als fonft, wir 
hatten heute nacht bereits rine Probe davon.” 

„Es muß doc etwas fein an ber Zaubermacht Eurer 
Alpenfee,” fagte Ernſt Halb jcherzend. „Diefer Wollengipfel, der 
feinen Namen mit Recht führt, denn er entichleiert ſich ja fait 
niemals, hat e3 mir förmlich angethan. Es winft und lockt mid) 
immer wieder von neuem mit geheimnißvollem, unwiderſtehlichem 
Reiz, den Schleier diefer ftolzen Eifesfönigin zu heben und ben 
Kuß zu erzwingen, den fie biöher noch jebem verfagt hat. Wenn 
man verfuchte, die Hochwand von diefer Seite —“ 

„Ernſt, Du Haft es mir verſprochen, den tolltühnen Ges - 
danfen ein= für allemal aufzugeben!“ fiel Emma ein. 

„Sei ruhig, ich Halte Wort. Ich verſprach es Dir ja 
damals beim Sonnwendfeuer.“ 

„Beim Sonnwendfeuer!“ wieberholte das junge Mädchen 
feife, wie traumverloren. 

„Erinnerft Du Did; nod jenes Abends, wo id Deinem 
Berbote, Deiner Bitte wid? Der Aufitieg zum Wollenftein war 
beichloffene Sache bei mir und ich hätte ihm um jeben Preis 
erziwungen, aber vor Deinen bittenden Augen, vor Deinem: „3 
ängftige mich!‘ ſank all mein Troß zufammen. Hätteft Du wirkli 
um mich gezittert, wenn ich damals ungehorjam geweſen wäre?“ 

„Aber Ernjt, welche Frage!” 

„Nun, verpflichtet warſt Du nicht dazu, id) war ja damals 
noch nicht Dein erflärter Bräutigam." In Waltenbergs Stimme 
Hang wieder der alte, auälende Argwohn. „Du hätteft Dich 
wahrſcheinlich auch um Sepp oder um Gronau geängitigt, wenn 
einer von ihmen das Wagniß unternommen hätte Ad meine 
jene bebende Angſt, mit der man nur um das Gelichte zittert, 
vor der alles andere verfinft und verſchwindet, bie mich blind 
und befinnungsfos in die Gefahr treiben würde, wenn ich Did) 
darin wüßte — Du freilich Haft diefe Empfindung wohl nie gefannt.“ 

„Wozu denn ſolche Schredbilder heraufbeſchwören!“ fagte 
Erna Halb unwillig. „Ich habe Dein Wort, alfo feinen Grund, 
mic) zu ängitigen, und das bloße ‚Wenn‘ zu erörtern —“ 

Ein Tautes, donnerähnliches Krachen unterbrach fie. Dort 
unten flogen Erde und Steine empor und ber mächtige Felsblod 
janf, in drei Theife gefpalten, mit dumpfem Falle zu Boden, aber 
zugleich gab jidy eine jchrectensvolle Bewegung fund. Die ſaämmt⸗ 
lichen Arbeiter ſtürzten von der Brüde fort und nad) jener Stelle, 








wo eben noch der Ehefingenieur mit feinen Untergebenen geitanden 
hatte Man konnte nicht unterfcheiden, was eigentlich geſchehen 





756 ° 


war, man fah nur einen dichten Menichenfnäuel, aus dem wirres 
angftvolfes Rufen ertönte. 

Aber mitten durch das alles drang ein Schrei, wie ihn nur bie 
Verzweiflung, die Todesangft ausprejjen fann; und als Ernſt fih 
umwandtie, ſah er feine Braut hoch aufgerichtet im Sattel, aber bleich 
wie eine Todte, die ftarren Augen nach der Unglüdsjtätte gerichtet. 

„Erna!“ rief er, aber fie hörte nicht, fondern gab bem 
Pferde die Zügel. Das Thier, erfchredt von dem Lärm, fcheute 
und wollte nicht vorwärts; aber ein rüdjichtslofer Hieb mit ber 
Gerte zwang es zum Gehorfam, und in der nächſten Minute 
jagten Roß und Neiterin wie auf Tod und Leben den fteilen 
Abhang —— gerade auf den Menſchenknäuel zu. 

Dieſer ftob auseinander bei dem ungeftümen Nahen; einige 
der Arbeiter, die da glaubten, das Pferd jei fcheu geworden und 
durchgegangen, fielen ihm in die Bügel und hielten es auf. Erna 
ſchien das faum zu bemerken, ihr Blick fuchte in Todesangft nur 
eins — Wolfgang! und jetzt fah fie ihn, aufrerht und unverlegt 
in der Mitte des Kreiſes. 

Aber auch er hatte fie gefehen, als fie diejen Kreis durd- 
brach; er fah den Blid, der ihn fuchte, das tiefe, tiefe Aufathmen, 
als fie ihn lebend gewahrte, und da brach es aus feinen Zügen 
hervor wie ein Stat leidenſchaftlichen Glüdes. Seine Todesgefahr 
hatte ihr endlich das Geheimniß entrifien, er wurbe doch geliebt! 

„Die Angſt war unnöthig, der Herr Ehefingenieur ift ja 
unverletzt,“ fagte Ernſt Waltenberg, der feiner Braut unmittelbar 
geſolgt war und jeht, einige Schritte entfernt, außerhalb des 
Kreifes hielt. Aber feine Stimme Hatte einen jeltfam fremden 
Hang; aus feinem Antlig ſchien jeder Blutstropfen gewichen zu 
fein und in den dunklen Mugen, die unverwandt auf ben beiden 
hafteten, glühte ein unheimliches Feuer. Erna ſchrak zufammen und 
Wolfgang wendete fich raſch um; es bedurfte nur eines Blickes, um 
ihm zu zeigen, daß er von dieſer Stunde an einen Todfeind Hatte; 
gleichviel, es galt, fich zu fallen vor all den fremden Zeugen. 

„Die Sache Hätte ſehr fchlimm ablaufen können,“ fagte er 
mit erzwungener Ruhe. „Die Sprengung verfagte anfangs 
ganz und ging dann zu früh los, che wir uns in Sicherheit 
bringen fonnten. Wir fprangen glüdlicherweife noch im Teßten 
Moment feitwärts, aber zwei der Leute find verlegt worden, an- 
fcheinend nur Teiht. Wir anderen find wie buch ein Wunder 
ber Gefahr entgangen. 

„Aber Sie bluten ja auch, Here Elmhorſt!“ rief einer der 
Ingenieure, indem er auf die Stirn feines Chefs deutete, von ber 
einzelne Blutstropfen niederrannen. Wolfgang zog fein Taſchentuch 
hervor und brüdte es auf die Wunbe, die er jeht erſt bemerkte. 

„Das ijt nicht der Rede werth; einer der auffliegenden 
Steine wird mich geftveift Haben. Schen Sie nach den Ver— 
wunbeten, fie müflen fofort verbunden werden! — Gnäbiges 
Fräufein, id) bedaure, daß der Vorfall Sie erfchredt hat —“ 

„Mein Pferd wenigitens hat er erjchredt,“ fiel Erna mit 
ſchneller Geiftesgegenwart ein. „Es jcheute und jagte davon, ich 
fonnte es nicht halten.” 

Der Vorwand Hang ſehr glaubhaft und wurde auch von 
all den Umftehenden genlaubt ; er erklärte volllommen das ftürmiiche 
Erjcheinen der jungen Dame, ihre fihtbare Angft und Aufregung. 
Es war ein Glüd, dag man das fcheue Pferd noch rechtzeitig 
aufgehalten Hatte. 

Nur zivei Liegen ſich nicht täufchen, Wolfgang, dem jene 
angftvollen Minuten eine Gewißheit gegeben hatten, bie jett 
freilich zu fpät fam, die er aber doch um feinen Preis hingegeben 
hätte, und Ernft, der noch immer an feinem Plage hielt, ohne 
das Auge von den beiden zu wenden; es lag ein bitterer Hohn 
in feiner Stimme, als er antwortete: 

„Dann hätten wir ja ein zweites Unglück haben können! 
Haft Du Dich jetzt erholt, Erna?” 

„Ja!“ verjehte fie tonlos. 

„So wollen wir unseren Weg fortfegen! — Auf Wiederjehen, 
Herr Elmhorſt!“ 

Wolfgang verneigte ſich mit Falter Gemeſſenheit, er verjtand 
volllommen, was died „Auf Wiederjehen!" bebeutete; aber cr 
wandte ſich ruhig zu den beiden Werwundeten, deren Verlegungen 
fich in der That als ungefährlich herausfteflten; auch feine eigene 
Wunde war nur leicht, ein Steinfplitter hatte 8* im Vorüber 
fliegen die Stirn geſtreiſt. Der ganze Vorfall ſchien unerwartet 
glüdlih vorübergegangen zu fein. 











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Gemeinfames Frübflüd. 
Originalzeihnung von I. R. Wehle 


— 0 


Aber es ſchien wur fo, denn wer Wallenbergs Geſicht ſah. 
mußte doch anderer Meinung werben. Gr ritt ſtumm an ber 
Seite feiner Braut, ohne ein Wort zu fprechen, ohne ſich ihr 
ein einziges Mal zuzumwenden ; das dauerte Minuten, dauerte eine 
Biertelftunde lang, bis Erna es nicht mehr zu ertragen vermochte. 

„Ernſt!“ ſagte fie halblaut. 

„Du wünſcheſt?“ fragte er. 

„Laß uns umfchren, ich bitte Dih! Das Wetter wird 
drohender und wir können den Nüdwen ja über die Bergſtraße 
nehmen.“ 

„Wie Du befichtjt.” 

Sie wandten die Pferde, um auf emem anderen Weg zurüc 
zulehren, und wieder trat jenes Stillihweigen ein. 
nur zu gut, daß fie ſich verratben hatte; aber fic hätte den 


wildeſten Ausbruch der Eiferſucht ihres Verlobten leichter ertragen | 
als dies dumpfe Brüten, das etwas Furchtbares hatte. Sie zitterte | 


freilich nicht Für Ach, aber cben deshalb jollte und mußte es zu 
einer Erklaärung lommen, fobald man das Haus erreicht hatte, 
Doc ihre Abſicht wurde vereitelt, por der Thür der Villa half 
ihr Ernſt zwar vom Pferde, ſtieg aber ſoſort wieder in den Enttel. 
„Du willft wieder hinaus?“ fragte fie betrofſen. 
„Ja — ich muß Heute noch ins Freie!” 
„Bleib', Ernft, ich wollte Dich bitten —“ 


„Leb' wohl!“ unterbrach er fie kurz und fchroff, und che | 


fie noch einen weiteren Beriuc machen konnte, ihn zurüdzuhalten, 
iprengte er bereit davon und ließ fie allein mit einer namenloſen 


Angſi. die ihr das Herz zuſammenpreßte, fie wußte ja nicht, was 


er plante. 


Als Emit den Wald erreicht hatte, mäßigte cr den Yauf | 


feines Pferdes und ritt langſam dahin unter den dunklen Tannen, 
in deren Wipfeln der Herbſtwind branfte. Er wollte feine Er: 
Härung, braschte feine mehr; er wußte ja alles, alles! ber 
mitten durch deu Sturm, der in jeinem Inneren wühlte, bradı 
eine wilde, glühende Genugthuung; der Schatten, der ihn fo fange 
gequält und gemartert, hatte eudlich Heifch und Blut gewonnen; 
jegt Fonnte er mit ihm ämpfen — und ihn berichten! 


Es mar Abend geworden, Elmborit befand ſich in ſeinem 
Arbeitszimmer mit dem Doltor Reinsfeld, der vor einer halben 
Stunde aefommen war, und man ſah es an den Mienen beider, 
daß der Gegenftand ihres Geſpräches cin tiefernfter war, Benno 
befonders ſchien ſehr erregt zu fein. 

„So fteht die Sache!“ ſchloß er jebt eine längere Aus: 


einanderfegung. „Gronau kam ummittelbar nad der Unterredung 


mit dem WBräfidenten zu mir und ich habe vergebens verſucht, 
ihn von feinem Entſchluß abzubringen. Ich gab ihm zu bedenken, 


da cs ihn feine Stellung bei Waltenberg foften wird, der cin | 


ſolches Borgehen gegen den heim und Vormund feiner Braut 


nicht dulden kann; daß er feine direkten Beweife in Händen hat, | 
daß Nordheim alles dram ſetzen wird, ihn als Lügner umd | 


Berleumder hinzuftellen — umfonft! Er warf mir mit den 
bitterften Worten Feigheit und Gleichgültigkeit gegen das Andenken 
meined Waters vor; Gott weiß es, dab er mir damit unrecht 
thut, aber — ic) fanın nicht nit einer Anklage auftreten!“ 

Wolfgang Hatte ſchweigend zugehört, nur um jeine Lippen 
ipielte ein unendlich bitteres und verächtliches Lächeln. Es war 
hohe Zeit getveien, daß er jid) von dem Bündniß mit biejen 
Manne losmachte, er zweifelte auch nicht einen Augenblid daran, 
daß Gronau die Wahrheit geſprochen hatte. 


„Ich danfe Div für Deine Offenheit, Benno,* fagte er. | 


„Es wäre jehr verzeihlidh geweſen, wenn Du gar feine Rüdlicht 
auf mic; genommen und Dich nur als Sohn Deines Baters ge— 


fühlt hätteft. Ach weiß, was Du mir mit diefem Vertrauen giebit.* | 


Benno ſchlug die Augen nieder bei diefem Danke, denn er 
war fich bewußt, ihn nicht verdient zu haben. Es war ja nicht 
ber Freund geweſen, den er fchonen wollte, als er jene Entdeckung 
begraben zu fehen wünſchte. 

„Sch Tonnte feinen Schritt in der Sache thun, das begreifſt 
Du,” entgegnete er leife. „ch muß Pir das überlaffen, Du 
wirſt mit Deinem Schwiegervater veden —“ 

„Rein!“ unterbrad; ihn Wolfgang alt. 

Reinsfeld ſah ihn erſtaunt au. 

„Du wilfft nicht?” 


Erna wußte 


IM > 


| „Rein, Benno; Gronau Hat ihm ja offen und ridhaftles 
den Krieg erlärt, wie Da ſagſt; er ift alſo vorbereitet und 
übrigens Hat ſich meine Stellung zu ihm vollitändig geändert. 
Wir haben uns cin für alle Mal getrennt.“ 

Der Daltor fuhr in arenzenlofer Ueberraſchung auf. 

„Betrennt? Und Deine Verlobung mit Alice ——?" 

„Iſt aufgehoben! Erlaß es mir, Die das ‚Warum‘ aus- 
führlich auseinander zu Segen. Nordheim hat ſich auch mir von 
der Seite gezeigt, von der Du ihn jeht kennen gelernt haft; er 
ftellte miv Bedingungen, die ich nicht für vereinbar mit meiner 
Ehre hielt, und darauf bin id; zurüdgelreten.” 

Reinsfeld ftarrte ihn noch immer ganz faſſungslos an; er begriff 
nicht, wie der Mann, der cinft alles an dieje Verbindung geſetzt hatte, 
mit folcher Ruhe von den Scheitern feiner Pläne ſprechen Fonnte. 

„Und Alice ist frei?” stieß er endlich hervor. 
| „3a,“ fagte Wolfgang befremdet. „Aber was haft Du denn ? 
| Dar bift ja nanz außer Dir.“ 

Denno fprang in heftiger Bewegung auf. 

| „Wolf, Du haft Deine Braut nie geliebt, ich weiß es ja, 
font Fönnteit Dur auch nicht fo ruhig, Fu kalt von ihrem Verluſt 
fprechen. Ach glaube, Du fühljt es wicht einmal, was Du mit 
ihe verliert, Du wußlteſt ja auch nie, was Du an ihr beſaßeſt,“ 

Die Worte Hangen in fo leidenſchaftlichen Vorwurfe, dan 
fie alles verriethen. Elmhöorſt ftußte und beitele einen halb er 
ſtaunten, halb ungläubigen Blid auf das Geſicht des Doftors. 

„Was full das bedeuten? Beimo, wäre es möglich — Du 
liebft Alice?“ 

Der junge Arzt bob die ehrlichen blauen Mugen, in denen 
fein Falſch war, zu dem Fremde empor. 

„Du braudyie mir feinen Vorwurf daraus zu macen. Ach 
bin Deiner Braut mit feinem Worte genaht, das ich nicht vor 
Dir vertreten klann; und als ich die Unmöglichkeit einiah, meine 
Liebe zu befämpfen, da entichloß ich mich zum Gehen. Glaubt 
Du denn, ich hätte jemals die Stellung in Neuenfeld angenommen, 
von der ich argwähnen mu, daß fie von der Hand des Rräfidenten 
fommt, wenn mir ein anderer Ausweg gneblichen ware? Mber 
ich hatte feine Wahl, wenn ich von Oberſtein fort wollte.“ 

In Wolfgang! Zügen malten id) die widerjtreitenden Em: 
pfindungen, welche diefe Entdelung in ibm hervorrief. Er Hatte 
feeilich feine Brant nie aeliebt, ober das Geſtändniß Beunvs 
berührle ihn doch feltinm und es lag etwas wie Bitterfeit in 
feiner Stimme, ala er antwortete: 

Num, ich ſtehe Dir ja jegt nicht mehr im Wege, und wenn 
Du Hoffnung haſt. Deine Liebe erwidert zu chen —“ 

„So wäre es doch umsonst!“ fiel Reinsfeld ein. „Du weißt 
| ja jet auch, was zwiſchen unseren Vätern vorgefallen it, das 
| trennt mich und Alice für immer!“ 
| „Wie Du nun einmal geartet biit, vielleicht! Ein anderer würbe 
es im Gegentheil benutzen, um Nordheim zu einer Einwilligung zu 
zwingen, bie er freiwillig niemals geben würde. Du wirt das 
freilich micht thun, wie ich Dich klenne.“ 

„Rein, niemals!“ Tante Benno gepreßt. 
Neuenjeld und werde Alice nicht wiederſehen!“ 

Sie wurden unterbrochen durch Die Meldung, daß Herr 
Waltenberg da fei und den Herrn Ghefingenieue zu ſpicchen 
wünſche. Elmhorſt erhob ſich ſofort und auch Reinsfeld madıte 
Anſtalt aufzubrechen. 

„Gute Nacht, Wolf!“ ſagte er, ihm treuherzig die Hand 
bietend. „Wir bleiben doch, was wir ums ſtets geweſen find, 
| troßalledem — nicht wahr?” 

Wolfgang erwiderte fett und warm den Händedruck 

„Ic komme morgen zu Dir — Gute Nacht, Benno!“ 

Er geleitete ihm bis zu der Thür, durch welche in demfelben 
Hugenblide Waltenberg eintrat; man wechſelte einen Gruß und 
einige gleichgültige Worte, dann ging der junge Arzt, und dic 
beiden anderen waren allein. 

| Ernſt fchien auf feinem flundenlangen, einſamen Ritt die 
Selbſtbeherrſchung zurüdgervonnen zu haben; ee war äußerlich 
wenigjtens Ealt und ruhig, mur im feinen Ungen glühte ned) 
immer jenes unheimliche Feuer, das nichts Gutes verhich. 

„Ich ſtöre Sie hoffentlich wicht, Here Chefingenieur?“* jagte 
ex, indem er langſam näher trat. 

„Nein, Here Waltenberg, id) habe Sie erwartet,“ 

; die vuhige Antwort. 


Ich gehe nach 





lautete 


Ich danfe!” unterbrach er ſich, als Elmhorſt ihn mit einer Hand» 
beivegung zum Sitzen einlud. „An unferem Falle find dieſe 
Höflichkeitsformen überflüffig. 
jagen, weshalb ih Sie aufſuche. Wir ſaſſen wohl beide den 
Vorfall von heute nadymittag anders auf, als die Fremden, 
welche Zeugen davon waren, und ich Habe einige Worte mit Ihnen 
darüber zu reden.“ j 


Ich brauche Ihnen wicht erſt zu 


„Ich ſtehe ganz zu Ihrer Verfügung,” erklärte Wolfgang 
wiſſen Sie, ber in ber Fülle des Reichthums auſgewachſen iſt, 
dem mie die Eulbehrung, nie die Verſuchung nahte, von dem 


mit eifiger Höflichkeit. 

Ernſt Freuzte die Arme und feine Stimme gewann einen 
Anflug von Hohn, als er fortfuhe: 

„Ich bin mit Baronch Thurgau verlobt, wie Sie ja willen, 


und bin nicht gefonnen, meiner Braut eine fo ſtürmiſche Theil- | 
nahme an der Gefahr eines anderen zu gejtatten doch das werde | 


ich mit ihr ſelbſt ausmachen. Für jept wünsche ich nur zu willen, 


inwiefern Sie daran betheiligt find. Lieben Sie Fräulein von | 
| zuerft! Aber Sie hätten ſich vielleicht nicht daraus emporgeriffen 


Thurgau?“ 
Die Frage Hang dumpf und drohend, aber Wolfgang zögerte 
nicht mit der Antwort. „Jal“ ſagle er einfach. 
Ein Blig tödlichen Haſſes zudte aus den Augen Walten- 
bergs und doch fante ihm dies Geſtändniß nichts Neues, 


den Schatten fuchen zu müffen. 
der Mann, der feiner reinen und großen Liebe fähig geweſen 
war, der eine Erna dem elenden Mammon geopfert hatte, und 


ſtand jo hochanfgerichtet, die Stirn fo ftolz erhoben, als brande | 
ſchehen ift, darin haben Sie recht. 


er fie vor niemand auf der Welt zu beugen. 
nur noch mehr, 


Das reizte Ernſt 


„Und dieſe Liebe dalirt vermuthlidy nicht erſt von heut oder | 
„So viel mir belannt ift, verkehrten ; 


vor geſtern?“ fragte er. 
Sie fhon jahrelang im Haufe des Prüäfidenten, bevor ich nad) 
Europa zurüdfehrte, bevor Baroneß Thurgan gebunden war.“ 

„Ich bedaure, cine ſolche Erörterung ablehnen zu müſſen,“ 
erflärte Wolfgang in demfelben eifigen Tone wie vorhin. „Ich 
werde Ihnen Mede ftehen auf jede Frage, zu der Sie ein Recht 
haben; examiniren laſſe ich mich nicht.” 

„Das glaube ich!“ riet Waltenberg mit bitterem Auflachen. 
„Sie würden and fchlecht beſtehen bei diefem Eramen, als 
Bräutigam von Alice Nordheim!” 

Eluchorſt biß fich anf die Lippen; das traf jeine verwundbare 
Stelle; aber ſchon in der nächſten Minute hatte er jich gefaßt. 


Gr 
wußte es ja aus Ernas eigenem Munde, daß fie cinen anderen | 
geliebt hatte, aber er glaubte, diefen anderen im Grabe, unter | 
Jetzt Hand er Icbend vor ihm, | 





„Bor allen Dingen, Herr Waltenberg, erſuche ich Sie, diejen | 


Ton zu ändern, wenn Sie überhaupt wünſchen, daß wir das 
Geſpräch fortiehen. 


Ich dulde feine Beleidigungen, das follten | 


Sie nachgerade wilfen, und von Ihnen dulde ic) fie am wenigiten.“ | 


„Es iſt nicht meine Schuld, wenn die Wahrheit Sie be: 
leidigt,“ gab Ernſt hochmüthig zurüd. 
Worte und ich bin bereit, ſie zurückzunehmen. Bis dahin erlanben 
Sie mir wohl, mein eigenes Urtheil über einen Mann zu haben, 
der eine junge Dame liebt oder zu lieben vorgiebt, während er 
ſich gleichzeitig um eine reiche Erbin bewirbt. Ste können doch 
unmöglich Achtung verlangen für eine ſolche Erbärm —“ 

„Genug!“ fiel ihm Wolfgaug mit mühſam beherrſchter Stimme 


„Widerlegen Sie meine | 


759 >» 


„Um ſo beffer, dann kann ich mir die Einleitung eviparen. | 


„Darüber bin ich Ihnen wohl feine Rechenſchaft ſchuldig.“ 

"Bielfeicht doch, demm wie mir ſcheint, wird hier auf meine 
Großmuth gerechnet. Darin tänfchen Sie fich aber. Ich gebe 
Erna niemals frei und fie ſelbſt wird diefe Freiheit andy nie 
von mir erbitten, das weiß ich. Sie giebt nicht Heute ihr Wort, 
um es morgen wieder zu brechen, und fie iſt viel zu Stolz, ſich 
einem Manne nachzuwerfen, der dns Geld ihrer Liebe vorzog.* 

„Hören Sie doch endlich auf, die alte Waffe zu brauchen, 
fie hat ihre Spitze verloren,” ſagle Wolfgang finſter. „Was 


Kämpfen und Ringen eines GEmporitrebenden, der fid um jeden 
Preis freie Bahn fchaffen will, von dem nlühenden Ehrgeiz, der 
ein großes Biel vor Augen hat! Sch bin der Verſuchung erlegen, 
ja; aber jetzt Habe ich mid, frei gemacht und biete Khnen und 
Ihrem Tugendhochmuth die Stirn. Sie wären auch unterlegen, 
wenn Ihnen das Leben Süd und Genuß verſagt hälte, Sie 


wie ich, denn Leicht iſt das wahrlich nicht.” 

Es fag cine jo zwingende Wahrheit in den Worten, daß 
Ernſt davor verſtummte. Er, dem der ſchranlenloſe Genuß eine 
Lebeusbedingung war, hätte ſchwerlich vor der Verſuchung be: 
ſtanden; aber eben weil er das fühlte, hafte er mm jo mehr deu 
Mann, der Sieger gebfieben war in dem ſchwerſten Kampfe, in 
dem Streite mit ſich felbit, 

„Und nun gehen Sie bin und halten Sie Ihre Braut feit 
an dem gegebenen Worte,“ fuhr Wolfgang bitter fort. „Sie 
wird es nicht brechen und fie wird mir nicht verzeihen, was ge 
Ich habe meine Schuld mit 
meinem Ölüde bezahlt. Erzwingen Ste fih die Hand Ernas, 
ihre Liebe werden Sie ſich nie erzwingen, denn die gehört mir — 
mir allein!“ 

„Ab, Sie wagen es —!“ fuhr Ernſt wie ein Raſender auf, 
aber Wolfgangs Blick begegnete mit kühnem, ſtolzem Triumph 
dem jeinigen, in dem es unbeilverfüudend glühte, 

„Run, weshalb wollen Sie denn jonft mit mir vediten ? 
Daß ich Ihre Braut liebe, it doch wohl Feine Beleidigung; daß 


ich geliebt werde, lönnen Sie nicht verzeihen — idy weiß cs 


freilich auch erſt ſeit heute!“ 

Waltenberg ſah aus, als Hütte er ſich am liebſten auf den 
Gequer geftürzt, um dad Wort zu rächen, Das ev nicht mehr 
Lügen fteafen Fonnte; jeine Stimme Hang halb erſtickt vor Leiden 
ſchaft, als er antiwortete: 

„Nun, dann werden»Sie es begreifen, daß ich die Liebe 
meiner Braut mit feinem anderen theifen will, wenigſtens mit 
feinem, der mir lebend gegenüberſteht!“ 

Elmhorſt zudte nur die Achſeln bei diefer Drohung. 

„Zoll das eine Forderung fein?“ 

„Sa, und ich denfe, wir machen die Sache fo aid als 


möglich ab. Ich werde Ihnen morgen Herrn Gronau fchiden, 


ins Wort. „E3 bedarf feiner Belhimpfung, um Ihren Zweck zu 
, Achtung vor diejer ‚Ehrenfache‘, die darin beiteht, daß man einen 


erreichen. Ach errathe volllommen, was Sie hergeführt, und werde 
Ihnen wicht ausweichen. Dergleichen Worte aber verbiete ich 
Ihnen — ich bin in meinem Haufe!“ 


Er jtand todtenbleich, aber ungebeugt vor dem Gegner. Diejer | 
Elmborft hatte nun einmal etwas Imponirendes, ſelbſt in der Met, | 


wie er Die verdiente Verachtung zurüchwies; es war ihm nicht bei— 


zukommen damit, das fühlte Erujt, wenn auch widerwillig genug. | 


„Sie ſprechen ja in ſehr hohem Tone!“ fagte er mit herbem 


Spotte. „Schade, daß Ahre Braut nicht Yeuge diefer Unterredung iſt, 


vielleicht würden Ste ihr gegenüber nicht jo elbftbetwunt auftreten.” 

„Ich Habe feine Braut mehr!“ erklärte Wolfgang Fall, 

Waltenberg teat aufs äußerſie betroffen einen Schritt zurüd. 

„Was — wollen Sie damit jagen?" 

„Nichts! Ich theile Ahnen nur eine Thatiache mit, um 
ihnen zu zeigen, daß die Vorausſetzung, auf welche hin Sie mid) 
befeidigten, wicht mehr zutwiftt, denn ich war es, der zurädtrat.” 

„Und wann? Aus weichem Grunde?“ 
in athemlojer Daft. 


' Brüde fertig fein. 


um das Nöthiae feitzuftellen, und ich hoffe, Sie find einverstanden, 
wenn wir noch am demjelben Tage —“ 

„Mein, das bin ich nicht,“ unterbrach ibn Wolfgang 
habe morgen feine Zeit, auch übermorgen wicht." 

„Keine Zeit für eine Ehrenſache?“ branfte Ernſt anf. 

„Rein, Here Waltenberg. Jeh Habe überhaupt feine große 


usa 


Mann, den man haßt, möglichſt bald ans der Weit zu ſchaffen 
ſucht. Aber es giebt Fälle, wo man acgen feine Ueberzeugung 
handeln muß, wm wicht in den Berdacht der Feigheit zu ge 
vathen. Ich Die alſo bereit. Aber wir Männer der Arbeit 
haben noch eine andere Ehre als die Invaliermäßige, und die 
meinige erfordert, daß ich mich nicht der Möglichteit ausſetze, 
niebergeichoffen zu werden, bevor die Aufgabe, die ih übernommen 
habe, erfüllt iſt. In acht Dit zehn Tagen wird die Wolfenfteiner 
Ich will jelbit den Schlußſtein legen, will 
mein Werk vollendet jehen, dann ftche ich zu Ihrer Verfiigung, 
nicht eine Stunde früher, und Sie werden ſich diefen Aufichub 


' gefallen laſſen müſſen.“ 


Es lag cine beinahe verächtliche Ueberlegenheit in der Art, 
wie das Berlangen geitellt wurde, und hier wurde es einem 


, Marne gejtellt, der überhaupt fein Berftändnig dafür hatte. Er 


Tie Frage Mang | 


hatte ja nie gearbeitet, wie ein Werk geichaffen, das er liebte 


ı und vollendet fchen wollte, ſondern immer mir gethan, wozu 


_—s 


Wunſch und Lane ihn lrieb. Jetzt trieb es ihn zur Vernichlung 
des Feindes oder zum eigenen Untergange — gleichviel, danadı 


fengte er nicht; aber warten zu müſſen, tagelang, feine Rachſucht 


zu zügeln, das fchien ihm ein Ding der Unmöglichkeit. 
„Und wenn ich dieſe Bedingung nicht annchme?“ fragte er 


„eo nchme ich Ihre Forderung nicht an — Sie haben die | 


— ballte in verhaltener Wuth die Hand, aber er ſah, 
daß er fich fügen mußte; wenn der Gegner fih ihm stellte, jo 
hatte er auch das Recht, den Aufſchub zu verlangen. 

„Es ſei!“ fagte er, ich gewaltſam bezwingend. „Alſo in 
acht bis zehn Tagen! Ach verlafle mich anf Ahr Wort.” 

„Das Hoffe ih! Sie werden mich bereit finden.“ 


700 


. 
.f 


Noch ein ſtummer, feindfeliger Gruß von beiden Seiten, 
daun trennten fie ſich. Ernſt verlich das Gemad) und Wolfgang 
trat Tangfam an das Fenfter. 

Draufen warf der Mond, der nur bin und wieder zwiichen 
den jagenden Wolfen ſichtbar wurde, fein ungewiſſes Licht auf 
die Umgebung. Jetzt trat er auf einen Moment klar hervor, 
und in feinem Schein blinfte die Brüde auf, das große, kühne 
Werk, das feinem Schöpfer eine fo ftolze Zukunft verhieß. Und 
in demfelben Mondesitrahle jchritt der Mann dahin, der ihm den 
Tod geſchworen hatte, deſſen Hand ficher nicht fehlte, wenn es 
| galt, den Todfeind zu treffen. Wolfgang täufchte ſich darüber 

nicht; er Schloß jekt ab mit den Zufunft&tränmen, wie er fchon 
mit dem Glüde abgeichloffen hatte, 


(Fortießung folgt.) 


Betradtungen zur deutſchen Stegelei. 


m Jahrgang 1885 (Nr. 25) brachte die „Gartenlaube“ den 
Artikel „Die edle Kegelei im Malkaften zu Düſſeldorf“, in 


weldem der Wiſſenſchaft dei Vorwurf gemacht wurde, fie habe | 


fich mit der Kegelei noch viel zu wenig beſchäfligt. Dem gegenüber 
wird es wohl von allgemeinem Inlereſſe fein, nicht nur den 
Urſprung des Spieles, ſoviel es möglich ift, aufzuklären, jondern 
auch auf die hohe Bedentung des Kegels für das deutiche Volfs- 
bewußtſein überhaupt hinzuweiſen. 

Der Urſprung des Spieles iſt mit Sicherheit in den Waffen— 
ſpielen unfrer Vorfahren zu ſuchen. Die uripringliche Waffe derſelben 
war der Keil, ein Wort, das etymologiich dasselbe ift wie Kegel, 
fowie die davon gebildeten Ableitungen Keule und Kugel. 
Waffe, urſprünglich aus acbärtetem Holz verfertigt, zur beſſeren 
Handhabe auch wohl eingeferbt, war in ihrer Geſtalt ganz unſerem 
Kegel ähnlich. Sie war zugleich eine Hieb- und Wurfwaſſe und 
behielt diefe Funktionen auch in ihrer fpäteren Ausbildung als 
Streitfeil, Streitagt, Streitmeißel, Ango und Framen bei. Alle 
diefe waren aus Stein, zumeift Feuerſtein, Granit und Hornbleude, 
fpäter aus Bronze, zuleßt und zwar vorzugsweiſe bei den nordijchen 
Stämmen aus Eifen verfertigt. 


reichte bei ſeiner Schwere ungefähr dreißig Schritte, nach andrer 
Ueberkieferung „zwei Meereswellen weit“. Wie ſehr diefe Waffe 
den Dentichen eigenthümlich geweſen it, geht aus einer Aeußerung 
des Iſidor hervor, nach welder fie bei den Gallien Teutone ge— 
nannt wurde. 

Die Trefflichleit dieſer Waffe und die Sicherheit ihrer Hand- 
habung war an ftete Uebung gebunden, auch in Friedensläuften. 
Seneca jagt in einem feiner Briefe: wenn er in Germanien ge 
boren wäre, würde er fofort als Knabe die Framea Schwingen, 
und an andrer Stelle: 
wer ſtürmt netwaltiger? wer Tiebt Leidenichaftlicher die Waffen, in 
denen fie geboren amd erzogen find, auf welche fid) ihre einzige 
Sorge erſtreckt, während alles andere fie nicht fümmert?" Es ijt 


nun jehe wahricheinlich, daj; aus ſolchen Treffübungen unjer Spiel | 


hervorgegangen it, indem der beſte Wurf mit einem Gewinne 


verbunden war; haben wir dod in den fpäteren Schützenſpielen 


etwas dem aanz Achnliches. 

Scharfſinnig hat nun Jakob Grimm, welcher zuerft ben 
Ursprung des Spieles aufdedte und wiſſenſchaftlich begründete, 
auf eine Anwendung des Spieles bei den Opferungen bins 
netviefen, bei welchen die Gebeine der geopferten Menſchen oder 
Thiere das Material desjelben bildeten. Er geht davon aus, daß 
der Oberarm des Menjchen fowohl wie der Knochen des Vorder: 
fchenfels des Thieres, insbejondere des dem Dentichen heiligen 
Pferdes, der Keil, die Erweiterung desfelben Knochens, der Schulter 
zu, Kugel genaunt wurde. Diefe Bezeichnung bat ſich, was den 
thierischen Nörper anbetrifit, noch vielfach erhalten, und auch auf 
den Menſchen angewandt findet ſich noch in Sachſen und Bahern 
die Wendung: den Arm oder Fuß ausfegeln d. i. ausrenken. 
iſt bemerkenswerth, daß auch die Bezeichnung „Bolzen“ einem 
Knochen und einer Wale in gleicher Weife beigelegt wird. 
Grimm behauptet, jenes Feſtſpiel habe darin beitanden, bie 
Segel der gelödteten Opfer aufznftellen und mit der abgeichlagenen 
Kugel danach zu werſen. ine Erinnerung daran Hütte ſich, 


Dieſe 


Die fraͤnkiſche Framea war mit 
einem Riemen zum Zurückziehen versehen; der Wurf des Geſchoſſes 


„Wer iſt muthiger als die Germanen? | 


Es 


wenn Grimms Gewährsmann recht berichtet, in der Gegend von 
Leipzig bis in die neueſte Zeit erhalten. Denn bei Wurzen und 
Eythra joll man ſich die Segel und die Kugel felbft dadurch ver- 
fertigt haben, daß man die herausgeſchällen Knochen der Border 
fühe eines getödieten Pferdes ale Kegel benutzte und fich die 
über dem Hufe befindliche Kugel von einem Drechsler abrumden lich. 

Es hat jene Sitte ihren Urſprung vielleicht in den der ficg- 
reihen Schlacht ſich anſchließenden Opferungen, bei denen Hab 
und Siegesfrende in dem Werfen nad) den Gebeinen der nm. 
Kriegsgefangenen zu feierlichem Ausdruck kamen. In Be 
ſichtigung dieſer Sitte iſt wohl die mittelalterliche — 
verſtehen: „Dein bein (d. h. wäre nut) das; man mit ſchlüg der 
Keulen.“ Die gefallenen Feinde werden im Mittelalter des öfteren 
mit Kegel bezeichnet, und noch Schärtlin ſagt in einem feiner Briefe: 
„Wan der Luft, als wir das dorf anzündeten, mit jo gar wider 
uns geweſt wer, follt es aud) noch mehr Kegel neben haben.“ 
Sollte nicht auch die moderne Bezeichnung der Kegelwürfe wie 
Carré, Bataillon, Grenadier eine dunfle Ahnung von dem Triege 
rischen Urfprung des Spieles fein? 

Jedenfalls fcheint ih dann fpäter die Ausübung des Spieles 
an befondere Orte und Feierlichfeiten gebunden zu haben. Cine 
Erinnerung daran hat ſich in Hildesheim ziemlich lange bewahrt. 
Denn Lehner berichtet in feiner historia Caroli magmi, 1605, 
es wäre jeden Sonnabend nad) Lätare auf dem Meinen Dombof 
zu Hildesheim ein Bauer erichienen, welder auf zwei je einen 
after Tange Klötze zwei andere Fegelfürmig zugeipigte Hölzer 
gejeht habe, nad) denen dann die Buben und das Geſinde 
warfen. Er fügt ſehr begeichnend Hinzu: Unter diefen Segeln 
find die heidnifchen, teufliichen Gößen zu verftehen, welche die 
chriftlich gewordenen Sachſen niedergeworsen haben, In Halber- 
ſtadt bejtand noch ziemlich Tange die Sitte, nadı Göpenbildern 
zu werien, und in Öbroffeula, deſſen Name vielleicht mit dem 
Kegel in Beziehung jtcht, Schnitt man bei Hodhzeiten im Gemeinde 

badhaufe Kegelfuchen zu. Möglich ijt es, daß Orte wie Kellheim, 
Kellberg und Keula dem Spiele den Namen verbanten. 

Während fih nun die Praris des Stegelipielens bis auf 
den heutigen Tag allgemein erhalten hat, lebte die mündliche 
| Tradition vornehmlich in Form der Sagenbildung weiter. Dem 
friegerifchen Geiſt der Dentichen entſprechend wurden ihre Götter 
zum Krieg und zu den Maffen im enge Verbindung gebracht. 
Dem Wodan war der Speer, daher die Efche umd im weiteren 
Sinn der Wald, dem Zin das Schwert, dem Thor ber Keil und 
daher der Fels überhaupt Heilig. Der letztere, der Gott des 
Gerwitters, in dejien langem rothen Barte, Keil und vollenden, 
‚ von Siegen gezogenen Wagen ſich auch äußerlich die drei 
Momente der Naturerſcheinung darjtellen, war der Patron 
des Kegels. Noch Heute zeigt man oft auf dem Sande den 
Teufelskegel oder Donnerleil, und nod vielfach hat ſich im 
Vollsbewußtſein die Beziehung zwiſchen Gewitter umd Segel er- 
halten. So jagt man beim Gewitter im Elſaß: fie Tegeln droben, 
oder: die Engel fegeln, oder: Petrus fegelt In Leipzig ſagt man: 
' der Tiebe Gott legelt. In diejem Sinne ift wohl aud) die Dar- 

jtellung über der alten Safrijtei zu Annaberg in Sachſen zu ver: 
| jtehen, wo die Engel nach aufgeitellten Segeln ichieben. Das 
Sicht des Chriftenthums verdrängte dann allerdings die nationalen 








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Götter, vermochte jedoch nicht zu verhindern, daß das auhänglidye 
Volk fortfuhr, an ihre Macht als die in Berge entrücdter Wejen zu 
glauben. In alten, an vielen Orten Deutichlands wiederkehrenden, 
vornehmlich an den Kult des Thor ſich anſchließenden Sagen hat 
ſich nun eine Fortlanfende Tradition des Kegelſpieles angeſchloſſen, 


gleihjam als Hätte der naive Vollsglaube feine beſſere Bers | 


fürperung für die elementare Gewalt und Friegeriichen Thaten 
ihrer alten Götter und Vorfahren finden können. Beſonders 
reich in dieſer Beziehung iſt die thüringiſche Sagenbildung; viel— 


fach find hier die Stätten ſolcher unterixdiichen und nächtlichen, | 


von Niejen geitbten Segelibiele. Much in dem Kyffhäuſerberg, 
wo die Sage den rothbärtigen Thor zum Kaiſer Barbaroſſa ver: 
Härt hat, muß der Hiegenhirt, dem es vergönnt war, im den 
Berg einzudringen, den Nittern des Kaiſers die Hegel auffeken. 
Nebit Thüringen ijt dann beionders der Odenwald und das 
Niefengebirge reich an ſolchen Sagen. 


As uralt und den arifchen Völlern eigenthümlich ericheint | 


die Schlachtaufſtellung in der Kegelform. Die Inder beſaßen fie 
und meinten, fie jei ihnen nach göttlichem Willen durch die Gefche 
Menus anbejohlen wurden; auf ihr, der Phalanx, beruhten die 
Erfolge der Macedonier und ihres großen Königs Alerander. 
Am treuiten aber bewahrten die Germanen jene Schlachtform, in 
welcher ſich das frajtvolle Wordringen fo bedeutend auspränt. 
Sie hatten felbjt dns Bewußtſein von dem Hohen Alter dieſer 
Formation; Saro Grammatieus erzählt, Odin Habe fie den 
norwegiichen Köni * Hadding gelehrt. In dieſer Schlachtform, 
dem ſogenannten Eberkopf, von welchem General von Peuder in 
feinem vortrejilichen Werke über das deutſche Kriegsweſen in 
den Urzeiten urtheilt, daß fih in ihm die ganze moraliide Stärfe 
des deutſchen Nationafcharalters vereinigle mit der bedeutenden 
mechanijchen Kraft einer großen Mafje, haben die Deutſchen das 
römische Reich Jahrhunderte fang angegriffen, dasſelbe wieder | 


Vom Nordpol bis zum Aeguator. 


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162 > 


und wieder erjdhütternd, bis es unterlag; in diefer Form jind die 
Angelſachſen im neunten Rahrhundert den Dänen nnd nod im 
elften den Normannen entacaengetreten. Innerhalb diefer Formation 
ftanden die Kämpfenden nach Geſchlechtern und Familien geordnet; 
die vorderfte Stelle aber, die Spite, die Firſte, war dem Tapferiten 
und Stärkiten vorbehalten. Wahrſcheinlich ijt aus diefer Thatfache 
der Name „Fürſt“ hervorgegangen. 

In der Natur stellte fi) unferen Vorfahren die Kegelgeftalt 
unmittelbar in den emporragenden Bergen dar, wie fie ja auch 
noch gegenwärlig als Kegel bezeichnet werden. Hier war daher 
eine vornehmlide Stätte ihrer Götterverehrung, und zwar be 
fonder& der des Thor. Auch bier war der Ehrenplag die Firfte, 
bier war die Stelle, wo die Opfer gebracht wurben. 

Aber auch in ihren Bauten zeigt ſich das Beſtreben der 
Deutſchen, die Kegelform äußerlich darzuftellen. Es tritt das 
nicht nur im ihren Grabdenlmälern hervor, von denen die joge 
nannten Slegelgräber, in Form von Kugelausſchnitlen oder ovalen 
Kegeln aufgefchüttet, unbeftritten germanifchen Urfprungs find, 
fondern auch vor allem in ihrem Hausbau. Es iſt das mächtige, 
fchroff anfteigende Dach, was von den älteften Zeiten her das deutſche 
Haus dharafteriftert hat. Die Firſte, das Ende der beiden vorderen 
' gewaltigen Balfen, Frönte das Haus, hier wurden die Kopfifeletie 
neopferter Pferde aufgehängt, eine Sitte, welde ſich in manden 
Gegenden noch infofern erhalten hat, al& hier die Giebelballen 
ag in geichnigte Bierdeföpfe auslaufen. 

e hier dargebotene Arbeit kann nur den Anſpruch einer 
füdenhaften Skizze machen, aber ihr Zwed würde erreicht fein, 
wenn es ihre gelänge, die Anregung dazu zu geben, das Material 
zur Geſchichte der deutſchen Kegelei, des nationaljten unſerer Spiele, 

wie es in der Leberlieferung, Sitte und Litteratur erhalten iſt, 
' zu fammeln, damit auf diefe Weiſe einmal eine erichöpfende Dar- 
ftellung des Themas ermöglicht werbe. M. Zeiger. 





Rachdruck verboten 
Alle Werte perbchalten. 


Populäre Dorträge aus dem Nachlag von Alfred Edmund Brehm. 
Die Innerafrihanifdıe Steppe nnd ihre Plagen. 


Schluß.) 


— eine: eintönig und wechſellos erſcheint die Steppe dem, 
welcher jie zum eriten Male betritt. ine weite, oft un— 
abjehbare Ebene Liegt vor dem Ange; nur ausnahmsweiſe erheben 
fi) aus ihr hier und da einzelne Berafeael, noch feltener einigen 
Ichtere ſich zu Gebiegszügen. 


fie fid) zu wunderſamen, neh- oder maſchenartig verlaufenden 
Höhenzügen, welche zwiichen ihnen eingetiefte Keſſel einschließen 
oder umgeben, in denen während der Negenzeit Laden, Teiche 
und Seen entjtchen, wogegen während des Winter der Teitige 
Boden durch Taufende von Spalten zerklüftet wird, 


ftehenden Gewäſſer ein „Chör“ oder Regenfluß, das iſt em 
Wafjerbeite, welches ebenfalls mur während des Frühlings theil 


weile, unter befonders günftigen Umständen auch wohl und dann | 


binnen wenigen Stunden bis zum Nande gefüllt wird und nun: 
mehr nicht allein ſtrömt, jundern wie eine bewegliche Maner 
rauſchend und donnernd zur Tiefe brauft, Teineswegs immer aber 
in einen wirklichen Fluß mündet. Mit alleiniger Ausnahme 
folder Waſſerbecken dedt überall eine verhältnißmäßig veiche 


Pflanzenwelt den Boden. Gräjer verfchiedenfter Art, von niederen, | 


auf dem Boden friechenden Pilänzlein an bis zu übermannshohen 
getreideartigen Halmengräfern, bilden den Hanptbeftandtheil der 
Bilanzen der Steppe; Bäume und Sträucher, insbefondere ver: 
ſchiedene Mimofen, Adanfonien, Dompalmen, Chriſtusdornen und 
andere verdichten fich hier und da, zumal an den Ufern der ex 
wähnten Gewäjjer, zu Hainen oder Waldſäumen, find übrigens 
aber fo ſpärlich zwifchen den weite Flächen gleichmäßig über- 
ziebenden Gräfern eingefprengt, 
Stellen zu einem dürr beftandenen Walde cinen. 
zeigen diefe Bäume die Ueppigfeit des Wachsthums wie in den 
wirklichen Stromthälern, welche den Segen des Frühlings be 
wahren durften, find vielmehr oft Frtopeibaft, mindejtens niedrig | 
und ihre Kronen jperrig, und blog ausnahmsweiſe Hettert eine 


Oefter reihen fid) wellenförmig | 
niedere Hügel an flach eingefentte Täler; zuweilen verfchlingen | 


In den | 
tiefften amd längſten Niederungen findet fih an Stelle jener | 


daß fie fih nur an wenigen | 
Nirgends | 


Schlingpflanze zu ihren Wipfeln empor. Sie alle Teiden unter 
‚ der Strenge des langen, glühenden Winters, welder ihnen faum 
geſtattet, das eigene Dafein zu friften, und ſaſt alle Schmaroger: 
pflanzen von ihnen abhält, wogegen die Gräſer in dem wenn 
auch kurzen, fo doch waflerreichen Frühlinge üppig aufichießen, 
blühen und Samen reifen laſſen, jomit alle Bedingungen zu 
fröhlichem Gedeihen vorfinden. Gerade fie aber tragen weſentlich 
‚ dazu bei, der Steppe das Gepräge der Eintönigfeit aufzudrüden ; 
denn fie gleichen, jo niedrig fie find, viele Gegenläße aus und 
wirlen in&befondere auch durch die Gleichmäßigleit ihrer Färbung 
ermübend. 

Nicht einmal der Menſch it im Stande, Abwechslung in 
‚ biejes ewige Einerfei zu bringen, weil feine Felder, welche er 
milten im Graswalde anlegt, von jewn nefehen diefem jo aleichen, 
daß man Getreide und Gras nicht von einander untericheiden 
‚ fan, und die runden, fegelförmig bedadyten Hütten, welche er 

mit ſchwachem Pfahlwerle fügt und mit Steppengras überlleidet, 
mindeitens während der Zeit der Dürre, jo wenig von der um- 
gebenden Fläche fich abheben, daß man ſchon jchr nahe gefommen 
fein muß, wenn man fie wahrnehmen ſoll. Einzig und allein 
die Jahreszeiten verändern das ſonſt jo gleichmäßige Bild, ohne 
ihm jedoch viel von jeiner Eintönigfeit zu nehmen. 

Unfreundlich ijt auch der Empfang, weldhen die Steppe dem 
Wanderer bereitet. Auf hohem Kamele fibend, reitet man durch 
das Geſilde. Irgend ein Wild verlodt zur Jagd und verleitet, 
in den Graswald einzubringen. Da erfährt man, daß zwiſchen 
den anfcheinend jo glatten Gräſern Pflanzen wachſen, welche ſich 
noch weit furchtbarer machen als die Dornen der Mimojen. 
Auf dem Boden wuchert die „Tarba“, deren Samentapieln fo 
Scharf find, daß ſie die Sohle leichter Reilſtiefeln durchſchneiden; 
über ihm erhebt jich der „Eſſek“, deſſen Ketten ſich in alle 
Kleideritojfe fait unlösbar einfilzen; noch etwas höher jtrebt der 

„Wslanit“ empor, ımter den drei genannten die furchtbarſte 
| Bilanze, weil feine feinen Stacheln bei der geringiten Berührung 


—o 


ſich löſen, durch alle Kleiderftoftr dringend im die Haut bohren | 
und bier Eiterbeulen verurfachen, welche zwar au und für jid) | 
ſehr Hein find, ihrer auferordentlichen Menge halber jedoch | 
überaus fäftig werben. Alle drei Bilanzen verwehren ieden 
längeren Aufenthalt, jedes weitere Vorbringen im Grafe und 
werben zur Dual für Menſchen und Thiere, laſſen auch bald | 
begreiflich erſcheinen, weshalb jeder Eingeborene eine feine Greif: 

zange als eines feiner allerwichtigiten Werkzeuge fortwährend | 
mit ſich führt, weshalb, wie bei den Affen, der größte Liebes: 

dienft, welchen einer dem andern erzeigen kann, darin befteht, | 
ihm die feinen, faum fichtbaren, aber nadelicharfen Stacheln aus 

ber Haut zu ziehen. Daß auch die meijten übrigen Pflanzen 

der Steppe, insbefondere faſt jämmtliche Bäume und Sträudyer, 

mit mehr oder weniger hinderlihen Dornen und Stacheln bededt 

find, nimmt denjenigen wicht Wunder, welcher irgendwo in 

Afrila cin Didicht zu durchdringen versuchte oder nur einem 

Baume ſich näherte. 

Noch unangenehmere Erzeugniſſe der Steppe bringt die Nacht 
zur Geltung. Auch die Nacht muß man oft zum Reifen benutzen, 
wenn fein Dorf zu erreichen iſt, und dann im freien lagern 
und mächtigen. Ein Hierzu geeigneter jandiger, von jenen 
quälenden Pflanzen freier Play am Wege, den man zieht, iſt 
endlich aufgefunden, das Reitthier entbürdet umd aefejfelt, eine 
einfache Lagerftatt errichtet, das heißt der Teppich über den 
Boden gebreitet und ein mächtiges Feuer zum Schutze gegen 
Raubthiere angezündet worden. Die Sonne geht unter, die Nacht 
lagert wenige Minuten fpäter über der Ebene; das Teuer bes 
feuchtet da® Lager und feine Umgebung. Da wird es Bier wie 
im Lager ſelbſt lebendig und rege. Angezogen durch die Strahlen 
der Flammen rennt und friecht es heran, einzeln, ſelbander, zu 
schn, zu Hundert, Zunächſt ericheinen viefige Spinnen, welde 
mit ihren acht Beinen fait ebenfo viel Raum überdeden wie ein 
Mann mit feiner gefpreizten Hand; unmittelbar darauf, unter Ume | 
ſtänden gleichzeitig mit ihnen, finden Skorpione fid) ein. Die einen 
wie die anderen laufen beinahe unheimlich raſch auf das Feuer 
zu, über Lagerteppiche und Deren hinweg, zwiſchen den zur ein 
fachen Abendmahlzeit aufgeftellten Tellern durch, ehren, jobald | 
die ftrahlende Wärme des Feuers fie zurüctreibt, wieder um, 
laſſen ſich nochmals von der Flamme anloden und vermehren da— 
durdy das bedrohliche Gewimmel; denn diefe Spinnen jind ihres 
gefährlichen oder doch ſehr fchmerzhaften Biſſes halber faum | 
weniger gefürchtet als die Sforpione, auch, wie biefe zum 
Steden, jeberzeit zum Weißen bereit. 

Unmuthig greift man zu dem zweiten Werkzeuge, welches 
einem der fundige Beleitsmann vor der Reife als ebenfalls uns 
entbehrlich aufgedrungen, zu ciner Iangjchenkeligen Feuerzange 
nämlich, padt fo viele der ungebetenen Gäſte, als man erlangen 
fan, und twirjt fie ohne Gnade in das Enijternde Feuer. Dant 
ber vereinigten Anſtrengungen aller Reifegenoffen hat binnen 
furzer Friſt der größte Theil des hölliſchen Gezüchtes feinen Tod 
in der Flamme gefunden; der Zuzug wird ſchwächer, und jo viel 
als möglid ebenfalls und in gleicher Weife überwältigt; man athmet 
auf — aber zu früh! Wiederum neue und noch unheimlichere Gäſte 
nahen dem ‚euer: Giftfchlangen, welche ebenfo wie jene Spinnen- 

iere bon dem Scheine der Flammen herbeigezogen werden. Der 
Naturforscher erkennt im ihnen, minbeftens in ber am zahlreichften 
ſich einftellenden Urt, höchſt beachtens- und theilnahmswerthe 
Thiere, denn es ift die jandgelbe Hornviper, die berühmte oder 
berüchtigte Ceraſtes der Alten, die auf vielen ägyptifchen Denk: 
mälern abgebildete Fi, diejelbe Giftjchlange, durch deren Giftzähne 
Kleobatra fid) den Tod gab; der ermüdete Neifende aber ver: 
wünjcht fie in den Abgrund der Hölle. Das ganze Lager wird. 
fcbendig, fubald ihr Name von einem der Reiſenden genannt 
wird; jeber greift, bei weitem rafcher und ängjtlicher als früher, 
zur Zange, fchreitet, wenn er des Giftwurmes anfichtig wird, 
vorfihtig an diefen heran, padt ihn Hinten im Genide, kneipt 
die Zange fejt zufammen, damit er nicht entrinne, wirft ihn mitten 
in das lodernde Feuer und verfolgt mit boshafter Freude feinen 
Untergang. An manden Stellen der Steppe lönnen dieje Schlangen 
einen in gelinde Verzweiflung verjegen. Dank ihres dem Sande 
bis auf jedes Körnchen gleichenden Schuppenkleides und ihrer | 
Gewohnheit, bei Tage oder während ihrer Nubeftunden bis auf | 
die furzen, als Fühler dienenden Hörner in den Sand fid eins | 





Zuweck und Ende tet Zerſtörung ift. 


163 2 


zuwühlen, fucht man in den Tagesftunden meift vergeblich nad) 
ihnen: ſobald aber die Nacht hereinbricht und das Lagerfeuer 
ſtrahlt, find fie zur Stelle und ſchlängeln und züngeln um einen 
herum. 

Zuweilen ericheinen fie in erichredender Anzahl und haften 
den ermübdeten Neifenden bis gegen Mitternacht wach; denn alle, 
welche im Bereiche der Strahlen des Feuers geruht haben oder 
bei *hren nächtlichen Streifzügen in jenen gelangen, ſcheinen der 
Flamme zuzufriechen. Und wenn man endlich, ermüdet und 
ſchlaftrunken, die Zange aus der Hand und fich ſelbſt zur Ruhe 
Tegt, weiß man nie, wie viele von ihnen im fpäter Nacht noch 
über einen hinwegkriechen, erfährt aber nicht allzuielten des 
Morgens beim Aufnehmen der Teppiche, daß ſolches der Fall 
gewejen, indem man eine uber ihrer mehrere unter den Falten 
de3 Teppiche verjtedt und beim Abheben desfelden in den Sand 
ſich eingraben ficht, Gerade in der Steppe war es, wo ſich mir 
die damals noch von niemand gqetheilte Ueberzeugung aufdrängte, 
daß, mit wenigen Ausnahmen, ale Gitichlangen, mindeitens alle 
Bipern und Lochottern, Nachtthiere find, 

. Mit den bisher genannten find noch feineswegs alle be— 
Täftigenben Thiere der Steppe aufgezählt. Eines von ihnen, zu 
den Heinften aller zählend, erregt zwar nicht Beſorgniß für das 
Leben, wohl aber ſolche für das Eigenthum des in der Steppe 
lebenden oder fich aufhaltenden Menſchen. Dieſes Thier iſt die 
Termite, ein unferer Ameife ähnlicher Kerf, welcher tro feiner 
geringen Größe mehr Unheil anrichtet als die gefräßige Heu: 
fchrede, deren Auftreten auch Heute noch zur Plage werden fann, 
welche empfindlicheren Schaden verurſacht als eine verwüſtend in 
die Felder einfallende Elefanienherde, denn fie gehört zu den 
allgegenwärtigen und umunterbrochen fchadenden Thieren. Was 
das Pflanzenreich erzeugt, verfällt ihrem ſcharfen Zahne, was der 
Kunſt- und Gewerbjleig des Menschen aus ihm zugänglichen 
Stoffen Schafft, nicht minder. Hoch über den Graswald der 


‚ Steppe erheben ſich ihre kegelförmigen Erdbauten, auf dem Boden 


dahin wie an den Bäumen empor verlaufen ihre Gänge und 
Berbindungsiwege. Zur Nachtzeit oder im Dunkel beginnt und 
vollendet fie ihr vernichtendes Wert. Zunächſt überzieht fie den 
Stoff, welchen fie in Angriff nimmt, mit einer alles Licht ab: 
haltenden Erdkruſte, und nunmehr geht fie an ihre Arbeit, deren 
Alle am Boden liegenden 
oder an Erbwänden hängenden Gegenjtände find am meiften ge 


‚ fährbet. Der adıtlofe Reifende legt, von der herrſchenden Schwüle 


bedrüdt, eines feiner Kleidungsſioffe neben ſich auf den ihm ala 
Lagerftätte dienenden Boden und findet am anderen Morgen, daß 
e3 fiebartig durchlöcherk, unbrauchbar gemacht, mit einem Worte 
vernichtet ift; der noch nicht mit dem Lande vertraute Natur: 


‚ forfcher birgt feine mühſam aefammelten Schäbe in einer Kifte, 


verjäumt aber, diefe auf Steine und dergleichen Gegenftände, 
welche den Boden der Kiſte von dem Erdboden entfernt haften, 
zu ſtellen, und ficht fidy nad) wenigen Tagen feiner Sammlungen 
beraubt; der Jäger hängt fein Gewehr an eine Yehmmauer und 
bemerkt zu feinem Aerger, daß das zerjtörungsfüchtige Kerbthier 
binnen kürzeſter Friſt in den Kolben bereits tiefe Rillen genagt hat. 
Der Baum, welden die Termite ſich auserficht, ift verloren, das 
Sparrivert der Wohnung, in welchem fie ſich eingeniftet, der 


' Vernichtung geweiht. Vom Boden bis zu den höchſten Biveigen 


hinauf Teitet jie an jenem ihre zum Werderben führenden Wege, 
durchfrißt Stamm, Mefte und Zweige und giebt ihn dann dem 
erften Sturme preis, welcher das ertödlete und haltlos aewordene 
Wabenwerk in alle Himmelsrichtungen zerjtäubt; an den Erd— 
wohnungen oder dem Piahlwerle der Wohnungen fteigt fie empor, 
durchlöchert alles Holzwerk und bewirkt binnen Furzem den Eins 
fturz der Behaufung; unter dem gejtampften Fußboden oder Eſtrich 
der befferen Häufer gräbt fie fid) tauſendfach verziweigte Gänge 
und bricht aus ihnen gelegentlich zu Millionen hervor, um nuns 
mehr oben verderbenbringend zu wirken. So und noch vielfach 
anders auftretend, wird fie zu einer der ärgjten Plagen Inner: 
afrikas, insbefondere der Steppe. 

Böte diefe nicht auch nod) andere, anziehendere und für die 
Wiſſenſchaft bedeutungsvolle Erſcheinungen dar: der Naturforfcher 
würde fie ebenfo gern meiden wie der hanbeltreibende Neifende, 
welcher nur ihre abftofienden, nicht aber auch ihre feſſelnden 
Seiten fennen lernt. 








nmitten des fagenum 





’ Aullurſtadt Hildest 





die ſogenaunte Chriſtus 


Aüunſtlers unter dem 
Biſchofshut“, ala einen 
maßgebenden Entwichk 
fungsfaftor jener Seit 
in Berechnung ziehen 
mitten. Das 10, und 
11, Zahrhundert kann 
han wohl mit Recht den 
Ansgangspunft unjerer 
hiſtoriſchen Entwiclelung 
im künſtleriſchet Bezie 


hung nennen, und fie 
wurde bedingt in der 
Haubiſache durch die 
bahnbrechende Thalig 
Teit des Biſchoſs und 
Furſten von Hildes heim. 
Der Boden für eine 


olche Thätigfeit war in 
diefer  niederfädhiiichen 
Aulturſtãtie allerdings 
ichon recht wirfiam vor- 
bereitet, deum unter den 
Karolingern und ſächſ 
ſchen Kaiſern nalı Hit 
desheim, wie Dito in 
ſeiner „Beichichte der 
dentichen Baukunft“ ber 
vorhebt, „als der Haupt 
ip der mannigfaltigſten 
Aultmrtbätigleit”. Durch 
eine Anzahl lunſtlieben 
der Furſten und Biſchoöſe 
waren in Hildesheim die 
Borbedingungen für eine 
ſchöpferiſche Tünftleri 
ſche Thätigkeit geichafien 
worden; aber erſt dem 
Biichof Bernward follte 
es vorbehalten bfeiben, 
jene Epoche lünſit 
leriſchen und gewerb 
thätigen Aufſchwungs zu 
ſchaffen, ala deren cha 
ralteriſtiſches Merkini 
neben den wunderbare 
qußeiſernen Frlügelthit 
ren im Don zu Hildes 
heim eben die Chriftus 
oder Bermmwarbsjänfe 
angejeben werben fan 


dei 








Bernwardus hielt ſich 
fange am kaiſerlichen 
Hofe als Erzieher des 
Bringen (Otto IIL) aus, 
er hatte Nom und die 
KRunftichape Italieus 
fennen und bewundern 
gelernt, Boll von die 


fen mannigfachen Gin 
drüden, Tehrie er in fein 
Baterland zurück und 
begann mit der Energie 


il 
cm 
Unterbau cine vierschn Fuß hobe Io 
thumliche Form und die gewindeförmig um die Säule fich hernutz 
Reliefbilder die Aufmerkinmteit des Beidın j Wir 
oder Beruward 
der Bischof Bernward von Hildesheint (; 
Wo immer die Forſchuug de 
vergangenen Geſchichtkepochen u 
tinftlerifche nad allacmein Fulturelle 








erhebt fi 














re 


ofienen Doinbofes 
h auf einem modernen ſteinernen 
le Kupferſaule, die 


ners 
ur 


Arhäolog 
5 Vaterlandes einſeßt, wird fie die 
Wirkſamkeit bes Biichofs Bernward, bes 


> Dernmwarösfäule in Ssildesheint. 


der alten niederlächiiichen attiibe Baſi 





 jogenanmie 
: Hohllehle ver 
haftende Scaft 
oben, in 


en als 


bu 





durch ihre eigen 
ebenden 
ſſelt. Wir haben hier 


vor uns, deren Schoͤpfer 





dent 


Ret 












gomiſchen 


ſteinen, Säulen, Weiler, 





Dernwardsfäule auf dem Dompfake in Hildesheim. 
Eriginalzeiditung von Gast Brote 





des Ihöpferifchen Geiſtes den Samen aeg der richte des Doms, Tief 
tragen follte, Ein damaliger Geſchichtſchreiber fagt elieffinuren Tind 
„Int Schreiben glänzie er befonders herve ıbte er Li id 
mit Feinhet, er war ausgezeichnet In der Kunſ ber id 
i iu fallen Und weiter 2 N l tienn t 
bernachlaſſigen Er u] anch an ı heit l | 
Kfayen, Die dee Toniglichen are] 
— J 1 I} l 9 
N ril I ı 
it tut 1 ; 
1 > » jel z 1 
J 1 











Leben Chr 


en find. 
empor. 


einer Beſchreibnng der © 





äule, 


der 


men newillermaf; 
uch modernen 








nugelent; 
ıt ftarren Formen des Bazar 


e ii j 
1022) ift. ır jüdiichen, heidniſchen und chriſtlichen Alt 
en und Aulturhiitorifers in |, heilige Zahl. Auf die Vorliebe 





et aus zwei flarfen Rundſtäben, die 
cher ihre ſteigt der runde, 6 nk 
Um ilm winden ſich, von unlen 
acıtmaliger Iinlänctwandter Drehung die Daritellumgen von 
„Die achtmalige Windung,* Sagt 
„Scheint nicht zufällig zu fein 





Unme war die Acht eine 


buzantiniichen, romaniſchen und 
Kuuſt ſcheint die öftere Anwendung des Achtecks bei Zauf- 
ja ganzen Kirchen hinzuweiſen.“ 


Auch die 
ihon genannten Bem 
wardin ſchen Brongelbä 
ren im Hildesheimer 
Dome haben auf jedem 
Flügel acht Scenen. Die 
Achtzahl wurde gemil 
ſermaßen als das Sum 
bol ber Vollendung und 
Volllommenheit ange 
ichen, 

Ueber die Reihenfolge 
und Bedeutung der Bil 
ber fagt die erwähnte Ve 
ſchreibung: ‚Das. Beben 
ber Erlöiten begimmt mit 
der Taufe, Schlicht mit 
dem Einzug ins him 
iſche Serufalen, Bir 
zwiſchen den Taufwai 
ſern und dem Hinmen 
der heiligen Stadt Tie 
genden Scene Bienen 
aber dem Chriſten als 
Vorbild, Ermuthigung 
Warnung und Tröftumn 
bei feinen Euporfteigen 
wm Himmel die 
Oliab von des Chriften 
Taufe iſt ſein Eingang 
ins himuliſche Jeruſa 
len.‘ Derartige Gedan 
fon mochte Bernward 
in der That bei den 
Beſchaner der Gänl 
haben wacdhrufen wollen 
Sleichzeitign wollte eı 
aber auch Chriſtus eine 
Siegesläule feßen, ahn 
lich wie den Snıperato 
ren des Alterihume Sie 
Jesſäulen geſetzt wurder 
Denn es darf als gewi 
angeſehen werden, bal 
Vermward die Borbitder 
feiner Säule in der 
nit Reliefs geichnid 
ten Trajansjäule fand 
die er in Rom Femmen 
und bewundern gelerm 
batie, 

Sämmtliche 28 Scemen 
ind ftart vom Grunde 
emporragende Relieft 
und beweifen ſowohl in 
der Wahl des Stofie 
wie in der Anuwendun 
der Ausführun 
Geiſt und Hand bes be 
wußt Ichaflenden Hünit 
lers. Die Sceuen ftehen 
ideell zweifellos. in Ber 
bindung mit den Scenet 
ber beiden Flügelthären 











td 


Ergänzungen gelten. Bir 


ati 


rob und plump, Die 
aber trogdem if 


dent Ausgangspımft eiuer 


me eine fo rudtbringende 


w 


mdernug auf fie zuräd 
ſchlag des Schaffens au 
udiren, nidt nur and 
od, um zu erlennen 
der ziebbewußten Ausge 

Alle, ſur die hochen 
malt ſuchen. Denn bat 





u it ber Lunſtwer 
fünitieriiche Ideen, bie 
A Böden. 


. Mi» 
Wie Hebt man fein Geld auf? 


Blauderei von Oskar Inflinus. 


ID“ nad) diefeer von mir aufgetvorfenen Frage. den Schluß 
ziehen wollte, daß ich viel von diefem ſchäßbaren Material 
befige, thäte mir unrecht. Die wirklich Geldbegnadeten fragen | 
nicht: „wie hebt man fein Geld auf?“ fondern: „wie legt man cs 
an?” Diefe Frage, die man oft genug aus dem Munde forgen: 
voll dreinblidender Kapitaliften hört, hat eigentlich etwas Tragis | 
tomiſches. Diefe armen Reichen erinnern mich an Midas, vor 
dejfen Berührung alles zu Gold wurde und der dabei fait ins 
Verhungern gerieth. Ich möchte ihnen in ihrer bedanernswerthen 
Berlegenheit immer zus 
rufen: ſeht nur zum fen: 
jter hinaus, dort warten 
unendlich viele, die euch 
in eurem embarras de 
richesse mit ihrem Rathe 
gern zur Seite ftehen wol⸗ 
fen. Es fchlagen ſich 
Sunderttaufende durch die 
Welt, die mit ein paar 
hundert Mark aus dem 
Sumpf beranszufommen 
und ſich eine behagliche 
Exiſtenz zu gründen ver 
möchten. Baut billige 
Wohnungen, ſchafft dem 
fleinen Mann billiges 
Geld für feinen Betrieb. 
Eind diefe Anlagen audı 
nicht pupillariſch, auf der 
Greditjeite eures Kontos 
in ber himmlischen Buch 
führung iſt euch das 
Kapital auf Heller und 
Pfennig gebucht und wird 
euch dereinft verredinet 
werden mit Zins md 
Zinſes zins. 

Doch ich will ja hier 
nur davon reden, wie 
man ſein Geld aufhebt, 
und dazu braucht man 
wirklich nicht viel zu be— 
ſitzen. Kein Menſch be— 
wahrt ſeinen Beſitz ſo 
ängſtlich wie der Junge, 
der ſein erſtes Taſchen— 
geld empfangen. Die Hand 
thut mie noch heute weh 
von dem Krampfbaften 
Fejthalten des Dreiers, 
den mir vor 44 Jahren mein Großvater mit einer großen Moral: 
predigt anläßlich meines fünften Geburtstages feierlich überreichte, 
und mit dem ich mich reicher dünkte, als Kröſus und Rothſchild 
zufammen. Ich will aber auch micht vom Schatzhauſe des 
Rhampjenit anfangen oder vom Schabe des Priamus, der jo aut 
aufgehoben war, daß ihm -erit Schliemann auffinden konnte, 
fondern wir wollen mit einem Sprunge aus dem grauen Alter: 
ihume uns Hinüber ſchwingen in das modernite Leben des 
papiernen Jahrhunderts. 

Paz papierne Jahrhundert! Ich glaube, daß die Zahl der 
Bauern, welche die blanfen Silbertbaler in einem Strumpfe auf: 
bewahren, den fie in der buntbemalten Truhe oder beim Heran— 
nahen ciner Kriensgefabr nächtlih unter einem Baum im Obſt⸗ 
garten vergraben, von Jahr zu Jahr Heiner wird, Wiclleicht mit 
Unrecht; denn ch’ wir uns deſſen veriehen, kann am politischen 
oder jozialen Horizont ein Gewitter heraufgezogen fein, bei deſſen 
Blipen die beitiundirten Altien nur nad) ihrem Tapezierwerthe 
geſchäzt und die Hundert-Mark-Banknoten mit den gebrauchten 
Pierdebahnbillets Tonkurriven werden. Ich entjinne mich noch 
der großen ledernen Geldfage, welche die Fuhrherren und Handels: 


1888 


Des Jägers Freude, 
Pretegrapbie im Berlag von Frauz Hanfiläng! ie Münden, 





Nach dem Oelgemälde von J. Deiler. 


leute um den Leib neichlungen trugen, wie die Familie Laoloon 
ihre Schlangen. Das ijt alles veraltet. Der eifernen Truhe mit 
den ſechſerlei Riegeln und Sperren und Haipen folgte der feuer: 
und diebesfihere Geldſchrank mit dem auf den dreibuchitabigen 
Namen verjtelldaren Verſchluß. Als ich in der Sage war, einen 
zu verwalten, vergab ich von einem Tage auf den andern Die 
wichtige Parole und der Schloffer kam mir nicht aus dem Haufe. 

In England ſoll ein höchit anregender Wettbetrieb im Gange 
jein zwiſchen den Geldipindiabrifanten und den Dieben des be 
treffenden Reſſorls. Mit 
einer wahren Genialität 
achen die legteren in Erfin- 
dung neuer Zerſtörungs— 
und Anbohrungsmittel vor 
ſich; aber dieſe wird 
noch übertroffen durch den 
Scharffinn der Fabrikan 
ten, welche die Bohrer 
durch gezähnte Platten 
zerfplittern und die ge 
räuſchloſe Hantirung der 
Einbrecher durch elektri- 
sche Vorrichtungen unfanit 
unterbrechen. 

Hinſichtlich der Feuer 
ſicherheit iſt das Höchſte 
ja doch wohl von jenem 
Fabrilanten geboten wor- 
den, der den Beweis für 
die Undurchläſſigkeit ber 
aſchengefüllten Doppel⸗ 
wände damit erbrachte, 
„daß er feinen Lehrjungen 
24 Stunden in einen Öeld: 
ſchrank einjperrte, den er 
die ganze Zeit inmitten 
einer wohlgenährten Feu—⸗ 
ersgluth jtehen ließ. Als 
der Brand gelöfcht und der 
Schrank geöffnet wurde, 
jtellte fich heraus, daß der 
Lehrling ſich beide Füße 
abgefroren hatte,“ Neben 
dem Geldſchrank blühte 
als transportable Spar 
fafje die rothe Brieftaſche 
— ein, wenn gefüllt, ziem— 
lich Hobiger Behälter, ähn 
Lich wie ihn die Wachtmei 
ſter zwijchen dem zweiten 
und dritten Knopfe auf ihrem treuen Buſen zu bergen pilenen. 
Bor einem Bierteljabrhundert jchien es nämlich, als beitände das 
ganze Vermögen der Menſchen in Kaſſenſcheinen und Banknoten, 
die meijtens thalerweiſe — zu hundert in ein Bündel geſchnürt — 
„ohne Gewähr, daher bei Empfang zu zählen" — die Erde 
uberſchwemmten. 

Dann kam die Zeit der „wilden Scheine” — nicht fo ge— 
heißen, weil man bei ihrem Anblick wild wurde, ſondern weil fie 
ſich nicht unter cin einheitliches Geich bändigen Tiefen — und 
die Zeit der Coupons, die, auf die unmöglichiten echten und um 
echten Brüche lautend, mit mie gehörten Zahlitätten, ein unter 
haltendes Farbenipeftwum und eine ſehr aute Uebung in der 
Geographie Deutschlands bildeten. 

Auf diefen bunten morichen, zuiammengeflidten Zetteln mit 
Wappen und Devisen, auf diejen fangen umränderten, zerriſſenen 
Streifen mit vollgefrigeltem Nüden und verwiichten Ziffern 
lagerte im friedlichen Berein der Schmuß der Märkte von Reuß 
Greiz-Lobenjtein und der neugebauten Chauſſeen der Kreislaſſe 
von Bomjt. Mit Lupe und Hilfsbüchern mußte man fich bei der 
Heinjten Zahlung Sicherheit verichaffen, ob das, was man exbielt, 


97 


ı I 
* 8* 


einen Werth hatte, ob es noch nicht fällig oder bereits verfallen oder | 
abgerufen oder herabgefett war, in welchem Theil des . feine 
Zahlſtatte Ing, und mußte Verzeichnifie, jogenannte Bordereaux 
anfertigen, um die widerhaarigen Summen zufammenzubringen. 
Wie gut hat es unſere Generation mit dem bfanfen Golde, mit 
den einfachen feiten, gleichartigen Reichsbanfnoten gegen das 
ſchmutzige übelriechende Gezeitel jener noch gar wicht fernen Zeit! 

Das ift nun alles anders geworden. Der allermodernite 
Menſch — ob arm oder reich, it im diefem Punkte gleich — 
hat überhaupt fein Geld mehr im Haufe Das Depofiten: 
und Chedweien, welches in England ſchon ſeit Jahrzehnten. 
den jchwerjälligen Gefdverkehr völlig abgelöft hat, fängt an, ſich 
auch bei uns einzubürgern. Wie die Fürften und „Hohen Herren“ 
fein Geld, jondern ihren Sefvetär, Kammerdiener, Kurier um jich 
haben, der alle Ausgaben für fie Teiftet und ihre Finanzen verwaltet, 
jo gewöhnt ſich auch hier zu Lande nach und nad der Beſitzende 
daran, eine Kaſſenführerin zu befiten: feine Bank! Zu Haufe | 
hat man nur das Allernöthigfte in Baarem — es verlohnt feinen 
Geldſchrank mehr, man hat fein Checkbuch. Die Diebe find ganz 
unglüdlich über diefe Reform. Wie ich höre, ſollen fie eine 
Petition an den Reichstag um Aufhebung des Depofiten- und 
Chedverkehrs vorbereiten und ihr Geſuch damit begründen, daß 
derjelbe fie in ihrem Gewerbebetriebe beeinträchtige. 

Die Sorge, wie man fein großes Geld aufhebt, notabene 
wenn man welches aufzuheben hat, wäre alfo aus dem Sinn; 
es erübrigt die Frage nur bezüglid) des Kleingeldes. An England 
bezahlt man ſchon ganz Heine Rechnungsbeträge durch einen Check, 
der dann auf die krümmſten Beträge fautend von Hand zu 
Hand weitergeht, bis er an die Zahlftelle gelangt und verichtwindet. 
Doch man kann ſelbſt dort das Trammvanbillet nicht mit einer 
Anweifung auf die Bank begleichen und jo ijt die Heine Münze 
für die Ausgaben der Stunde nicht ganz ausgeſchloſſen. Aber 
diefe gilt als fo nebenfächlich, daß man ſich nicht die Mühe giebt, 
einen bejonderen Behälter für fie Herzurichten. Der Engländer 
und Franzoſe träge fein Geld in der Weſten- oder Seitentafche. 
Wie Fürſt Bibinnof in der Poſſe „Die Nachbarinnen” zieht er 
die Golditüde mit einem nachläſſigen Griff des zweiten und | 
dritten Fingers heraus, Auf der Reife lann man oft die Herren | 
der Erde von jenfeits des Kanals und des Dreans beobachten, 
wie fie mit der großen Hand in die rechte Taſche des Beinkleids 
jahren und dem Wirthe oder Kaufmann eine ganze Sammlung 
von Bold, Kupfer und Silber, eine Auswahl aller Münzjorten, 
deren Vaterland fie durchflogen, in der muldenförmig achöhlten 
Rechten zur Auswahl vorhalten. Diefes dem fremdeiten Menfchen 
entgegengebradhte Bertrauen iſt fo überwältigend für einen Deutichen, 
daß e3 jicher niemals mißbraucht wird, In Wirklichkeit ift es 
nicht fo weit ber damit, denn der Engländer und Amerikaner, 
der den Kontinent bereift, ijt metitens viel reicher, als es hier zu 
Sande Sitte ift, und die Breife find fo Hein im Verhältniß zu 
denen, die er von zu Haufe gewohnt ift, daß er mit einem ge— 
wiſſen bedauernden Lächeln auf die armen Deutſchen fieht, die 
ſich forgfältig ihr Guthaben ans dem Füllhorn feines Handtellers 
bherausflauben. 

Der Deutfche hat viel zu viel Nefpelt vor dem Gelde, wm 
e3 fo umachtiamer Weife in der Tafche zu tragen. Er hält es 
für eine Verfündigung, mit ihm achtlos umzugehen, und fo führt 
er einen wenn auch nicht feuer, doch diebesiicheren Miniatur 
geldſchrank bei ſich — den Beutel, die Börfe, das Portemonnaie. | 

Der alte mit der Schnur zugebundene Lederbeutel hat 
fih, wie mande Nationaltracht und Sitte, aus den Städten 
nad dem flachen konſervativen Lande geflüchtet, aber in der 
Metamorphofe zur Lebertafche mit blanlem Stahlbügel ift er aufs 
neue zu Ehren gefommen. Die Marktfrau, der Pferdebahn: 
fontroleur, die Verkäufer am Milchwagen — fie alle haben dieje 
Batronentafhe an der Seite, deren Inhalt fo viel Heil und 
Unheil ſchon über die Welt gebracht hat. Eines aber ijt aus 
der Blüthezeit der Beutel geblieben, das praftifche Wort des un: 
praftiichen Jago: „thue Geld in deinen Beutel!” 

Dem Beutel folgte die Börfe. Sie florirte in der Zeit der 
perlengeftidten Slingelzüge und Serviettenbänder — in der Zeit, 
in der man noch nicht zu %,, angefangene Kunſtwerke vom Laden 
als „eigene“ Handarbeiten verehrte. Ste hat befanntlich wie ihre 
Schweſter „der Giftbaum“ zwei Seiten, Sie hat eine gefällige | 
behäbige Form und es dauert immer fo hübſch lange, bis man | 








fie aus der Taſche herausgezogen, die Ringe zurüdgeſchoben und 
das paffende Helditük ans dem ſchmalen Mundſtück herausgefucht 
hat. Bis ein Bettler feine Gabe erhalten, Tann er verhungert 
fein. Damals überwog auch noch das Kupfer, welches heute 
eigentlich nur in der Gejtalt von Univre poli jalonjähig ift. Der 
Dreier, der übergroße dide Vierpfennig, das goldglänzende Zwei: 
und Einpfennigjtüd — „Du alte Rupferherrlichleit, wohin bift 
du verſchwunden?“ 

Verſchwunden mit ber in ihren Formen fo feitgegründeten, 
gegen jede Neuerung argwöhniſchen Zeit, welche cher das Um: 
werfen von Thronen ins Auge fahte, als die Heinjte Abänderung 
in der eingetvohnten Hausordnung. Die neue Seit brachte das 
Portemonnaie, das in feinem gejchloffenen ſchneidigen Weſen in 


ſchnellſtem Tempo fait zur Alleinherrichaft gelangt iſt. Wenn ein 


neuer Heinrich IV. den Wunſch ausgeſprochen Hätte, daß jeder 


‚ feiner Unterthanen ein Bortemonnaie in der Tasche haben folle, ſo 


wäre diefer kühne Wunſch ihm ſchon Heute erreicht. Die Industrie 
hat ſich des Artikels in einer großartigen Weiſe bemädjtigt und 
man it in Stand geſetzt, bereits für wenige Pfennige ein 
Fabrifat aus Leder und Stahl ſich einzuthun, deſſen Schloß ge: 
wöhnfich viel zu jolide ijt für den winzigen Anhalt. Eine er: 
ftaunliche Mannigfaltigkeit herrſcht in Form und Stoff und Größe. 
Bon der großen unbiegfamen Ledertafche mit Abtheilungen für 


die verschiedenen Münzen bis zum Perlmutterichäfchen in Miniatur: 


ausgabe mit ErömeAtlasfälthen. Bon den ungerreigbaren aus 
einem Stüd bis zu denen, die in Stüde reihen, fobald man nur 
den ernjten Gedanfen hat, fie in Verwendung zu nehmen, ijt eine 
unumnterbrochene Kette, und ſowohl die Antilope von den Gfletichern 
des Atlas, wie der Alligator vom Saume des Miſſiſſippi muß 
jeine Haut zur Herjtellung des Portemonnaie zu Markte tragen. 
Aber cine neue Frage drängt ſich nun heran: wo hebt man 
fein Portemonnaie auf? Die Eitte unferer nappanliegenden 
Gewandung läßt nur Taſchen zu, welche ein jolides Portemonnaie 
bald durchzureiben das Bejtreben hat. Je voller geipidt, deſto 
ichneller geht dies vor ſich. Das Portemonnaie ijt unzer— 
reißbar — die Tafche feider nicht. Ueberall geniert es. Seit 
vielen Jahren erperimentire ich, im welcher Taſche ich e8 am 
beiten unterbringe, und bin noch zu feinem andern Ergebniß ge 
langt, als daß ich wegen jedes Nidels alle meine zwölf Seiten:, 
Innen: und Aufentafchen -— jo viel hat mander Herr im Ueber: 
zieher zu feiner Verfügung — durchftöbere, ehe ich an die richtige 
aelange. Noch ſchlimmer find aber die Damen dran. Ich Habe 
eine unbegrenzte Verehrung für alles, was das weibliche Geichlecht 
angeht. ch finde ihre ertremiten Moden entzüdend, aber wenn 
id die lrampfhaften Anftrengungen ſehe, welche eine Dame in 
vollem Staat machen muß, um zu ihrer Tafche zu gelangen, dann 
fan ich mich des ketzeriſchen Gedankens nicht entjchlagen, daß 
bier eine Verbeſſerung wicht undenkbar wäre. ch wohnte einmal 
einer meiſt aus Damen bejtehenden Trauerverfammlung bei und 
ih bin wahrhaftig fein frivoler Menſch, aber als die Nede zu 
ihrer wirkſamſten Stelle fam und ſämmtliche Damen ſich wie 
gothiſche Figuren zu krümmen und zu fclängeln begannen, um 
durch Mantel und Oberkleid nach den Tajchentüchern zu greifen, 
da hatte ich Mühe, den der Situation angemefjenen Ernjt zu bes 
wahren. In Anbetracht diefer Schwierigfeit jteden die Damen 
ihre Geldtäſchchen gewöhnlich in den Muff oder tragen e3 in der 
Hand, was mir gar nicht gefallen will. Das Händchen, in 
welchem die Gefchide der Männer ruhen, jollte nicht zu folchem 
Dienite mißbraucht werden. ch fände ftatt deifen viel Hübjcher 
die Einführung des Greichentäſchchens, das fid fo graziös an 
den Gürtel jchmiegt und aus dem fich jo milbthätig ſpenden Lät. 
Aber die Auferen Taſchen find, bei Männern und Frauen, nad 
innen getreten, wie in dem neuen Haushalt der große behäbige 
Eichenichrant ſich unfichtbar in die Wand geichoben hat. 

Und wir brauchen dieſe Wandichränte in unferen Kleidern. 
Es ift beinah tragiſch, was ein Herr comme il faut heutzutage 
alles zu tragen hat. Wir wollen einmal zählen: 

1) feine Brieftafche, 2) ein Viſitenlartenetui, 3) Bürftsjen 
und Kamm, 4) Haus: und Selretärjchlüffel, 5) fein Taſchentuch, 
6) eine Zeitung, in der Pferdebahn zu leſen, 7) ein Tajchen- 
mejjer, 8) ein Handſpiegelchen, 9) eine Cigarrentafche, 10) fein 
Pferdebahnbillet, 11), 12, 13) was er zufällig zu ſich geftett hat. 

It er aber auf der Reife, fo lommen wir auf das Doppelte. 
Da treten Hinzu: der Bädeker, das Taſchenteleſtop, ein Trink 





— Mo. — 


beher, cine Hausapotheke, ein Efbefted, ein Pedometer, ein | dabei hatte die Toga Falten jo weit, daß fie „Krieg und Frieden“ 
Migräneftift, ein Slizzenbuch, ein Gummilcagen, ein Schreib» | unter ihnen verbergen Fonnten. 
und ein Nähneceffaire — und da hätten wir bald die Hauptfache Bis heute Ächeint mir das Problem noch nicht völlig gelöft, 
vergefien — das Portemonnaie. wie man am ficherften und bequemften fein Geld bei fich führe. 
Wenn ein alter Weifer die Worte Sprechen konnte: omnia | Vieleicht wird das Bedürfniß einmal ein Gefchlecht züchten, welches 
mea mecum porto, fo ift es damals cben noch Feine Kunſt den Bentelthieren ähnlich zum Tragen feines Schages bejondere 
gewefen, „feine ganze Habe bei fich zu tragen.” Das Leben ftellte | Muskelvorrichtungen auf die Welt bringt. Dann will ich mic) 
noch nicht die Anfprüce an den Bürger wie unfere Zeit, und | gern zufrieden acben. 


Anſere fagenumrankten Steine. 
Ein Mahnwort an unſere Behörden. 


mir wanderte ich nach tagefanger Eijenbahnfahrt nıutterfeelenallein | berges geftreift hatte, in blibblanfe Golbllümpfein verwandelt. So ber 
meinem Heimathdörfchen zu, amd wieder ſchwelgie ich in glüdlichen | geheimnißreiche Mund der Vollsſage. . 
Träumen aus goldenen Tagen der Kindheit. Sage und Vollslied, Sitte Und wieder ftand ich am Marfauer Lenefenftein, der — nebenbei 
und Brauch, Kurz: Die ganze Liebe Heimath, der Hansjohenwintel der | bemerft — in Nr. 19 der „Bartenlaube* von 1882 abgebildet ift. Die 
Altmark, wurde vor meinem geitigen Auge um fo lebendiger, je weiter |, mit dem Steine verbundene Sage erzählt von Schön-Lenchen aus Bone, 
ich in Wirklichkeit wieder einmal in fie hinein Tam. i s | das den Sohn des reichen Schulzen von Markau heiratben follte und ihn 
Aber war jie denn auch wirklich noch die alte, diefe Heimath wm mich durchaus nicht wollte, weil es heimlich fich mit dem Knechte des Rachbarn 
her? Jene Kleinen altehrwürdigen, trobbedachten Bauernhäufer, wohin verſprochen hatte, Auf ber Hochzeitsfahrt erllärte fie dann an der Marlauer 
waren je doch gelommen? oderne Ywitterbauten von Stadt» und | Feldmarlgrenge, dieſe nicht überfchreiten, fondern lieber „auf der Stelle 
Sandwohnungen ftanden an ihrer Stelle und ſchauten unbehoffen neugierig | zu einem Stein“ werden zu wollen. Und indem fie vom Wagen fprang, 
um fich wie hoch aufgeichoffene Kinder, die nod nichts erlebt haben. Un 
der Wald und große Streden Geftrüppbodens, wo waren fie nur geblieben ? 
Sie waren dem Piluge des emjigen Landmannes gewichen. a, fie war 
eine andere geworden, die traute Heintath, als fie ehedem war, da id) als 
Bauernjunge hier durd Flur und Feld, durch Wald und Wieſe ftreifte; | 
ba ich Hinter dem mächtig großen Kachelofen hervor Grofmütterleins 
Spulgeſchichten und ihren Sagen lauſchte; da ich Ichlichtern mein dünnes 
Stinderftimmlein bineinmiichte im jene Weiſen, welche in der Spinnftube 
— und die ich ſeildem nimmer und nirgend wieder vernommen. 


ging ſofort ihr Wunſch in Erfüllung; fie wurde gu einem mächtigen Steine, 
an dem man mod) lange zwiſchen elf und zwölf Uhr in mondhellen Mächten 
die Brautperlen am Sale glängen fehen lonnte. 

Der Stein ftand allerdings noch an Ort und Stelle, aber feine Brüder, 
die um ih herum im Sreije gelegen hatten und die für den jpäteren Forſcher 
von fo groſſer Bedentung find, waren zerkleinert und abgefahren, „Warte 
iur, balde“ wird and) der Lenekenſtein felber verſchwunden fein. — Und das 
alles geichieht in einem Landſtriche, der, wörtlich genommen, ſteiureich ift, 
t t in dem ein erratiicher Block nur ganz verſchwindenden Werth bat, da cs 

e werben fie geblieben fein, deine Lieder ſowohl mie deine | deren in Hülle und Fülle giebt; geichieht dort unter den Mugen der Be- 
Sagen, du Land des zähen, Inorrigen Vollsſtammes wendiſch-deutſcher hörde, unter den Augen von Alterihumsfreunden. Ya, die Behörde hat 
Derbi! tröftete ich mein trauernd Gemüth, und im Üübermüthigem | fogar, jpäter jelber im eigenen Intereffe zum Ban einer Kreischauſſee 

herzen feßte ich Hinzu: „Denn wo diefe ſchweigen, da werben die Steine | von jenen Lenelenfteinen verwendet. „Wenn das geihicht am grünen 
reden“. Kante ich fie dereinſt doch alle gar gut, jene Steine, welde, von | Holz, was foll man vom bürren jagen!" — 


Bollsfagen umranft, hierorts feit uralten Heiten in Feld und Wald zer Vor zwei Kabren habe ich meine Stimme an einer Stelle, deren Ein« 
ſtreut lagen. : ‚ ‚ Hub und guten Willen id; wohl überfdhägte, tm —— Schuh ir 
Gleich rechts am Wege mußte ja ſchon einer derfelben zu finden | die färglicen Hefte fagenumranfter Steine im 53* enwintel ber preußi⸗ 


jein, der Dahrendorfer Lenelenftein, jene aus dem Bannöveriicen ins Ihen Altmark erhoben: mir ward das Loos eines Predigers in der Wülfie. 
Preufiiche herübergeholte Braut, die an dieſer Stelle für alle Emwig- | ch laſſe meine Stimme heute an biefer Stelle laut werben; möchte man 
feit in Stein verwandelt liegt. Dod was 5 eine Ewigkeit für uns | mich doch hören, ehe es gänzlich zu jpät ift. Nur die Behörde lann in 
fterbliches Gefchlecht! Die ewige Dauer de3 Leunekenſteins war wenigen | diefer Sache mit Erfolg nachhaltig wirten, und es ift Ehreupflicht jür 
Scherben gewichen, die vom E ie deſſelben das einzige, aber auch | fie, es zu thun, es endlich zu thun. Eind ja doch nicht einmal alle unjere 
das beredifte Zeugniß ablegten. — , ‚ Hnengräber vor dem Untergange gefichert worden! So ift man z. B. 
Später ftand ich dann wieder an ber Stelle, an weldjer ber Teufelftein | im Begriff, das im Jahrgang 1882 der „Bartenlaube“ (Nr. 41) abgebildete 
von Holzha lag; aber auch dieſer war vom gewinnſüchtigen Beſizer „Dünengrab“ bei Borne in der Dagdeburger Börde um 50 Pfennig die 
zerſchiagen und zum Stallbau abgefahren. Wie lange, und jene Enge Fuhre abzufahren. Freilich nügen Verfügungen, von oben her in bejter 
vom goldenen Sarge oder von der goldenen Wiege unter ihm, aus dem | Abficht erlaffen, jo lange nicht nachhaltig, bevor nicht Jahr für Jahr ihre 
heraus allnächtlich ded Teufels Bold vom Berge weithin jichtbar brannte, | Ausführung an unterften Stellen ftrengitens überwacht wird. Auch auf 
wird verflungen jein. Niemand wird dann mehr zu berichten wilfen vom | dem e ber Belehrung, namentlich durch Vreſſe und Schule liehe ſich 
Schäfer Krone, der den Schaft hob und nah Hamburg verkaufte und | bei der Yandbbevölferung ſicherlich vieles erreichen. — Wie viele Volls 
dem dafür der Gottfeibeiungd den Hals umdrehte; oder vom Pferdbehirten, | jagen in deutichen Landen noch immer an Steine anfwüpfen, davon zeugt 
der nachts um die zwölfte Stunde am Steine im Aſchenhaufen feurige | unter anderem eine Sammlung von Steinfagen, bie in der Zeitſchrift für 
Kohlen glimmen fand und darüber hinwegſtrich, um nad der Weije von | vollsthümfich-wilienfhhaftliche Kunde „Am Urdsbrunnen“ auf meine Ver— 
Leuten mit hartichwieligen Händen eine glühende Kohle zu hafchen, damit anlaflung vorgenommen worden ift, davon zeugen für die Altmark im 
die Pfeife anguzinden. Als unfer Hirt jedoch nad) einer zweiten Kohle | befondern bes hodwerbienten Temmes „Wolfsjagen aus der Altmark“. — 
fangen wollte, ertönte plößlich der warnende Zuruf, e8 bei dem einen Griffe Möchte mein Mahnruf diesmal gehört werden, nicht nur im der All⸗ 
bewenden zu laſſen. Andern Morgens aber, al3 der Pferdehirt wiederum | mark, fondern im weiten deutſchen Baterlande: das ift mein Herzens» 
zur Stelle lam, waren alle Kohlen, die ex beim Mufrühren des Aſchen- wunſch! — Wilhelm Peyer-Markan. 





— — — — 


Blätter und Blüthen. 


Früffühsausiheilung an arme Kinder in den Schulen während | die Bedürfnißfrage! Nur dort fol man helfend eingreifen, wo wirkliche 
der Wintermonate. Auf das in Halbheft 21 diejes Jahrgangs veröffent- | Armuth vorhanden ift, wo die Eltern nicht in der Lage find, den Kindern 
lichte Gedicht von Emil Nitterähaus find uns zahlreiche Bufheiften aus | ein jolhes Frühftid verabreihen zu Tonnen, wie die heranwachſende 
unferem Lejertreis (zum Theil mit VBeijügung von Geldbeträgen) zuge reg es braucht. Hat man die Zahl der unterſtütungsbedürftigen 
fonımen. Wir haben aus denfelbe zu unjerer Freude erjehen, daß das inder ermittelt, fo ift es nicht ſchwer, feftäuftellen, welche Koſten auf 
ſchöne Bebicht, wie e3 aus dem Kerzen lam, auch vielen zu Hetzen ge | bringen ſind, um die Sache ins Leben zu führen; dann ift es an der 
gangen if. Die meiften diefer Zuschriften enthalten num aber eine und | Zeit, durch Nundgänge bei ben Mitbürgern ſich Jahresbeiträge zu fihern, 
diejelbe Aeuferung: „Wir fühlen, daf da geholfen werden muß, wir wollen | damit die Einrichtung ſich dauernd als Iebensjähig erweift. EN 
von Herzen gern helfen, aber wie greifen wir die Sache am beiten an? Die Frühftüdsaustheilung muß in der Echule felbit (oder in einem 
Der einzelne fann ja wohl in jeiner allernächſten Umgebung ſich nach | berfelben nicht zu ferne liegenden geeigneten Lola) geſchehen, und zwar 
darbenden Kindern ümſehen und diefelben mit Mrühftüd verforgen; aber | eine Biertelftunde vor Beginn des Unterrichts, damit die Schulordnung 
wäre es nicht befier, wenn ſich Überdies noch Gleichgeſinnte zufammen» | nicht geitört werbe. Unſere Lehrer und ihre Angehörigen werden in 
thaten und gemeinfchaftlich in weitem Umfange zu helfen ſuchten?“ Auf menſchenfreundlichem Sinne gerne dazu die Hand bieten, und hier ift auch 
Diefe Fragen ertheilt der Verſaſſer des Gedichtes, Herr Emil Rittershans | ein Feld, wo unjere Gattinnen und Töchter ſich hilfreich zu erweiſen ver- 
in Barmer, die nachfolgende Antwort: - mögen, Wie das ſchon längft in dem Voltstüchen Brauch ift, tönen fie 

Der Bitte für arme Kinder in Dalbheit 21 der „Gartenlaube“ laſſe ich ſich hierbei betheiligen, die forgfältige Reinigung der Blechbecher bejorgen 
noch die nachſtehenden praktischen Winte folgen: Um jenes Unteruchmen laſſen und durch freundliche Worte au der rechten Etelle ſegensreich 
ins Leben zu rufen, ift 68 natürlich zuerſt notbmendig, ein Komitee zu | wirfen. Ich weiß jehr wohl, dab es viele Mühe toftet, ein foldhes Amt 
bilden, welches mit den Sculinipeltoren, Yehreen und Armenpflegern in | zu übernehmen, aber werkthätige Menfchenliebe erfordert nun einmal 
Verbindung tritt, um ſich zu vergewiſſern, daß die Gaben auch ftets an | wirtliche Opfertwilligfeit! { 
die vidnige Stelle fommten. Würbigfeit oder Unwürdigleit der Eltern Daß Mid und Brot von durchaus guter Beichaffenheit fein müſſen, 
oder Kinder fönnen nicht in Betracht gezogen werden, einzig und allein | ift ſelbſtverſtändlich. 











—⸗ 768 ⸗— 


Die Waldbere. 
Mit Allaltratien S. 789.) 
„Die Here fomımt!" Boll Schreden, bang und bleich 
Dudt fi die Schar der Kleinen ins Geiträud, 
Wenn fie im Walde naht, die finftre Alte. — 
x fennt das Hittlein an ber Nothwandipalte, 
3 wie ein morjches Neft am Abgrund ſchwebt, 
Ron Waldgerant und Tobeldunit ummebt, 
Dort baust fie, einfam wie ein Uhn haust, 
Bon Bolt gemieden. Selbjt den Förſter grauft, 
Wenn er des Nachts am Sreuzpiad ihr begennet, 
Daß er, ein Sprüclein murmelnd, fromm ſich fegnet; 
Denn fchier unhörbar, meint er, Schritt ihr Wu. — 
Wohl dreizehn Jahre hat fie Dant und Gruß 
Nicht einem mehr gegönnt; feit man im Tann 
Am Hochſtein fand erichlagen ihren Mann, 
Den Waldwart, hingeitredt in blut'ge Lache — 
Es war ein Graus! Noch ſchreit das Blue um Rache! 
Den rothen Berndt ſprach der Gerichtshof frei 
Ob mangelnder Beweile, Keck vorbei 
An ihrem Zeugenſtuhl mit Hohngelächter 
Schritt er zum Saal hinaus, der reiche Pächter. 
Feſt, aufrecht hinter ihren Gitterſtäben 
Stand fie, die Fauft geballt in Wuth und Beben, 
Den Blid gewandt nad) ihm voll Haljesflammen — 
„rei war er! Frei!” Erichöpft brach ſie zuſammen. 
Dann ſchritt jie heim, jtarr, wortlos, ohne Klage. 
Bom Leben aber wandt’ feit jenem Tage 
Ihr Herz ſich ab und schloß _der Welt die Thür — 
Bont zahlt den Fine, den Schoh fie nach Gebüle — 
Doch nie mehr ſah man fie im Kirchlein Inie'n 
Und mie hat fie den Spruch der Welt verzich'n. 
Der Plarcherr ſprach: „Die Rache ftcht bei Gott!" 
„Nein, Here!” rief fie, „hier muß er aufs Schaſott!“ 
Und als der Graf das Gnadenbrot ihr bot, 
Sprad) fie: „Hert Graf, mir thut nur eines Noth — 
So lang’ die Blutthat nicht an ihm gerächt, 
Will ich nicht Gnade, Herr — id will mein Recht!“ 
Dann ging fie. Nur das Hüttlein nahm fie au, 
Das einft aus Trümmern hier erbaut ihr Mann; 
Drin lebt fie dorffern, freundlos, winterhart, 
Bom Schnee umbant, in Grimm und Gram erftarrt. 
Der Amtmann meint, daß Wahn ihr Hirn umitridt; 
Doch wer ins ftrenge Auge ihr geblidt, 
Ru ihres Antliz' Runen las, der weiß, 
Taf hier ein Geijt noch lodert hell_und heiß. . 
Der Wald nur ift ihr Freund. Sein fronmm’ Gethier, 
Selbſt Reh und Häslein flieh'n nicht mehr vor ihr; 
Dft düntt ihr fait, als laufche er vertraut, 
Spricht fie mit ihrem Bott geheim und laut. 
Raum von der Streatur des Wald's geſchieden, 
Lebt fie dahin in jeinem Bann und Frieden, 
Verwittert jelbjt ſchon wie ein greifer Baum — 
O Ipinne mm fie deinen ftillen Traum, 
Glieb ihr ein Grab, o Wald, in Fühler Exde, 
Daß endlih Ruh’ auch diefem Herzen werde! 
Zulius Lobmeyer. 
zu ſollen wir fefen? Eine wohl aufzumerfende Frage bei ber 
Ueberfülle der alljährlich veröffentlichten Erfcheinungen des Buchhandels, 
bei der großen Menge der Zeitungen, Tages- und Blochenblätter, der 
Monats zeitſchriften. Dieſe frage zu beantworten, wenigitens im Hinblid 
auf die ım Buchhandel erichtenenen Werke, ift Schon oft verfucht worden, 
indem man Meine Kataloge der Weltlitteratur oder der neuejten vater: 
ländifchen Litteratur zufammengeftelle bat, um alles Leſenswerthe dem 
Publikum, das in Bezug auf Lektüre einen Rathgeber vermißt, Ti empfehlen. 
Dies hat auch neuerdings Anton E. Schönbady in 
Schrift „Ueber Leſen und Bildung” gethan. Natürlich find alle ber» 
artige —6 lüclenhaſt und auch in denjenigen Schoönbachs ſehlen 
namhafte Schrütjteller und Dichter, die in allen Yitteraturgeichichten der 
Gegenwart eine eingehende Würdigung gefunden. Auch wird mit einer 
ſolchen trodnen Mufzählung, welche troßdem die Geſchmadsrichtung des 
Autors ſchwerlich verleugnen kann, dem Bedürfniß des Lefepublitums 
weit weniger gedient, als grade durch jene Litteraturgeichichten, aus beiten 
ia die Leſer zugleich das Charalterbiſd der Autoren und den Juhalt ihrer 
Werke lennen lemen. Ein Spaziergang auf blumenreicher Wieſe ift jeden» 
falls dem Durblättern eines trodenen Herbariums vorzuziehen. Was 
ein ſolches Verzeichniß wie auch dasjenige von Schönbach empfichlt, mag 
sroßentheils empfehlenswertb fein, aber in den Muslaflungen liegt eine 
ſtillſchweigende Stritif, die man oft verwerfen muß, oder eine Untenntniß, 


die bei dem zu tadeln ift, welcher fich zum Führer der andern aufwirft, | 


Im übrigen enthält das Schriftchen über den Büdyerfanf in Deutſch⸗ 
land und über das Bibliothelweſen viele treffende Bemerluugen. An fich 
faufen die Deutichen nicht gern Bücher, und Leute, welche ohne Bedenten 
ein gutes Stüd Geld ihres Jahresetats dem Amüſement einräumen, 
feilſchen mit ſich jelbft um einige Pfennige, wenn fie diejelben auf ein 
Bud) wenden wollen, und entjchließen jich im lebten Augenblide amt 
liebften dazu, es jemand abzuborgen. Bei der Leltüre felbit überwiegt 
der ſtoſſartige Reiz. Wir zweifeln nicht, dab es damit von Tag zu Tag 
bejjer werben wird, und namentlich was den Ankauf von Büchern, was 
den Werth betrifit, den man auf cine Heinere oder größere Privatbibliothef 
zu Segen hat, wird ſich gewiß audı bei uns in Dentichland allmählich eine 
Wendung zum Beſſeren zeinen, jo dab wir jener Schwarzfeherei micht 
länger Recht zu geben brauchen. T 


j Ein KAünftferjubiläum. 
brechend gemwirft hat, ber ehrwürdige 


es muß auch Bei 


das Deut 








Am 4 Dftober feierte in Leipzig ein 
Künftler feinen achtzigſten —— der auf feinem Gebiete bahn 

Senior ber NAquarellmalerei, Karl 
An der Mufenftadt 


Berner, imar am 4. Dftober 1808 neboren, 


‘ ftubirte er auf der Alademie und Univeriität in Leipzig, dann in München, 
wo er hauptjädlich Landichaften mit Ardjiteftue malte. Zwanzig Nahre 
lang hielt er fich dann in Italien auf, wo feine Ktunſt fich in glei 

' Richtung fchöpferiich zeigte. Die Architeltur und Geſchichte der italieniichen 


Städte wirkten in hohem Maße anregend auf diejelbe, namentlich Venedig, 
bie Marniorftadt der Lagunen, bot ihm reiche Ausbeute; wir erwähnen 
hier nur feine großen Bilder „Venedig in feinen Ganze und feinen 
Verfall“, „Der Dogenpalaft mit einer Scene aus Shafelpenres ‚Kaufmann 
von Benedig‘", „Der Triumphzug des —* Contaxiniꝰ, und auch deu 
benachbarten Yagumenjtädten — er Vorlagen für ſeine Bilder ab, 
wie fein in Halbheft 22 unferes Blattes aufgenommenes Bild „Der Markus: 
löwe von Torcello“ beweift. Bon einer Reife nadı Spanien 1857 brachte 
er gen ihönes Bild „Der Löwenhof der Alhambra” mit, Die Haupt 
ftofiquelle für feine Mauarellinalerei bot ihm indeh der Drient, boten ihm 
die Reiſen von 1862 und 1864 nad Aegupten, Syrien und Paläftina. 
Wie viele Stätten des heiligen Landes hat er uns Iebensvoll und 
ftinmungsvoll vorgeführt! Eine Londoner Ausgabe biefes Albums umſaßt 
30 Blatt mit Text. Obſchon Werner feinen feiten Wohnfis in Leipzig ge 
nommen, fo war er doch nad wie vor häufig auf längeren Reifen abwefend; 


' 1875 in Griechenland, 1877 bis I878 im’Sudan, 1881 in Skandinavien. 


Seit 1882 belleidet er ein Lehramt an der Leipziger Alademie. 

Werner ift ein Meifter der Nauarellmalerei und hat zuerſt gezeigt, dab 
biejelbe an Kraft und Glanz der Farbe mit der Delmalerei wetteitern Tann. 
Huch in den äußern Mahen, in der Größe dieſer Mquarellbilder hat er einen 
ſolchen Werttampf nicht geichent. „Wafler thut’s freilich nicht” — fagte der 
eine Feftrebner bei der Jubiläumsfeier mit Bezug auf Luthers Ausſpruch — 
N bei dem Wajjer fein.“ Und biejen Geift hat Werner in 
allen feinen Schöpfungen bewährt. Der ausnehmend produftive, bei hohen 
Jahren noch unermüdlich jchafiende Künftler hat die deutſche Aquarell⸗ 
wmalerei der franzöſiſchen und englifchen ebenbürtig hingeftellt und über 
trifit beide noch mit Bezug auf die Bräcifion der Zeichnung. 

Wanſchen wir, daß der würdige Neftor der Kunſt nöch Tange pe 
geiftige Jugendfriſche bewahren möge! a : 

Im neue Berliner Theater. Die deutjche Reihshauptitadt nimmt 
bon Jahr zu Fahr am Umfang und Bevölterung zu, fein Wunder, dal; 


fie aud in Bezun auf das Theaterleben fich in ungeahnter Weiſe entialteı. 


Neben dem Scaujpielhanse hat ein Theater gleicher Tendenz, das Deutiche 
Theater, biöher erfreulihe Erfolge zu verzeichnen, und num ift dieſen 


beiden Bühnen eine neue doppelte Konkurrenz erwachſen: am 11. Sept. 
it das Lefjing-Thealer, amı 16. das Berliner Theater eröffnet worden; 


‚ beide wirfen mit fchaufpieleriichen Kräften erften Ranges, und wenn das 


erftere mehr ein das Konverfationsftäd pflegendes Salontheater, das leptere 


' ein Voltsthenter für die große Tragödie und das Schauftüd werden wil, 


fo treten is boch beide mit gleichen Auſprüchen neben das Hoftheater und 
be Thenter und wollen wie dieje berufener Dichtung im ernften 
und heiteren Genre ein Afyl gewähren. Daneben bejtehen zahlreiche 
Bühnen fort, welche mehr oder weniger eine Speciafität pflegen, ſei es 
die großen Ausitattungsitäde mit Ballet oder die franzöfifchen Dramen 
von der Seine, das derbere Luitipiel, den Schwank und die Operette. 
Der Theaterfinn der Berliner rg ift jo renfant, daß man 
wohl annehmen darf, dem gefteigerten Angebot werde eine geſteigerte 
Nachfrage entjprechen, Der Wetteifer der Bühnen lommt dem Publikum 
zugute, aber auch der dramatiſchen Litteratur, die bisher, an einer oder 
wei Thüren zurückgewieſen, für Berlin gleichlam todtgeſchwiegen wurde. 
Jebzt ijt für mannigfache Richtungen und Talente freier Spielraum ge- 
ſchaffen und Werke, die aus irgend welchen Rückſichten von der einen 
Bühne zurücgemwieien wurden, bei der andern wegen irgend einer Ge— 
ſchmacksverſchiedenheit der Direktion keine Annahme fanden, dürfen jedt 
darauf rechnen, an dieſer oder jener Stätte der Kunſt das Licht der 
Profceniumslampen zu erbliden. Die bejtehenden Bühnen aber werden 


ſich mehr als früher vor jeder Einfeitigleit oder Engherzigfeit hüten 
einer Neinen | 


mffen, denn die Erfolge der Konlurrenten mit abgewiejenen Dramen 
würden ihnen doch das peinliche Gefühl einer in aller Stille erlittenen 
Niederlage nicht eriparen. _ 

Das Leffing-Theater ift am 11. September mit einer Aufführung ven 
„Nathan der Meife* eröfinet worden. Ein von dem Direltor Dr. Osfar 
Blumenthal gedichteter Prolog, den Frau Klaar-Delia ſprach, hob be 
ſonders hervor, daß das gan der modernen Muſe geweiht fein ſolle. 
Die Aufführung eines Leſſingſchen Dramas galt gewiflermahen dem 
Schutzheiligen des Hauſes, welches die Pilene ter Kiaſſicität ſonſt nicht 
zu feinen Aufgaben zählt, Den „Nathan“ ipielte Herr Poſſart; er iſt 
nicht bloß die hervorragendſte künſtleriſche Kraft det Leiling- Theaters, 
er führt auch, wie lange Jahre in Münden, die Oberregie und wird 
nächſt dem Direltor die Seele des ganzen Unternehmens fein. Eine 
Salondame wie Frau Claar⸗Delia, der fir fpäter gewonnene trefflicht 
Charafterjpieler Herr Adolf Stein, der den Derwiſch in „Rathan“ mit 
länzendem Erfolg jpielte, werden nebft jüngeren Kräften die fünjtleriichen 

räger des Unternehmens fein. 

Der Thenterbait jelbft, unter der Leitung der Architelten von der Hude 
und Sennide, unter der tediniichen Leitung des Regiernngebaumeiſters 
H. Weiß entitanden, hat alle Erfordernifie und Errungenſchaſten der Nen: 
zeit auf diefem Gebiete berüdjichtigt. Das Theater liegt frei, überall 
augänglich; die Grundform ijt der des Königlichen Schanfpielhaufes nach 
ebildet; das Veftibäl enthält als Hauptzierde die Ichöne Eberleinſche 

uppe, einen Genius, die Buſte Leſſings fränzend. Die Korridore jind 
bequem, die Garderoben ebenfallt, Für je eine Gruppe von Parkett 
bänten iſt eine beſondere Thür angebracht; das Foyer macht mir feiner 
—— in weißen und matten Farben und Gold einen vornehmen 
Eindend; dasſelbe gilt von der im leichtem Rokoko gehaltenen Dekoration 





Die Waſdhere. 





Vogel, 


on Derm 


I) db 





bed Zufchauerraums in Blau, Weiß und Gold; die Wände find mit 
rörhlich-braunen Tapeten belleidet. Um das Parlett zieht ſich ein halb- 
freisförmiger jehr breiter Wandelgang. leltrifches Licht, durchſtrahlt 
alle Häume; für die Freuerficherheit find nicht nur durch einen eiſernen 
Vorhang, fondern auch durch zahlreiche höchſt bequeme Ausgänge ins 
Freie bie beiten Borlehrungen getrofien worden. j 

Doch eine Merkwürdigkeit bietet das Leffing- Theater: es hat fein 
Orcheſter, weder ein hoch”, noch ein tiefgelenenes. Es ift fo ausſchließlich 
der ufpielfunft, dem reeitirenden Drama gewidmet, daß auch alle 
mufitaliich- dramatischen Yan gm ausgeſchloſſen find. Tür das 
moderne Konverfationsftid ſoll hier eine Stätte geſchaffen werden, welche 
von Haufe aus aud) jenes höhere Drama ausihlieht, das eine pomphafte 
Infcenirung verlangt, deren Efſelt mehr oder weniger durch Orcefter 
wirfungen erhöht wird. . R Ye, 

Das „Berliner Theater”, deffen Scepter Ludwig Barnah ſchwingt, ift 
am 16, September eröfinet worden. Das frühere Walhallatheater, dem 
Dienft der heiteren Operettenmufe geweiht, ift in fat allen jeinen Theilen 
vollftändig umgebaut worden, jo daß es nach jeder Richtung hin den Eine 
druck eines prächtigen Neubaus macht. Die Bühne wurde tiefer gelegt 
und durch Anbau an den Seiten und Ausbau nach Hinten bedeutend ver 
größert, ebenjo erhöht durch —*8 eines Stodwerles. Obermaſchinen; 
meiſter Lautenichläger in Münden hat dieſelbe mit allen Einrichtungen 
verjehen, welche die meuejte Zeit erfunden und welche eine Bühne für die 
Aufführung großer Schauftüde geeignet machen. Die Faſſade ift prächtig 
und tanftert durchgeführt. Was die inneren Einrichtungen betrifft, 
fo find zunächſt die Treppen, Sorridore und Eingänge rg allen Seiten 
bin bedeutend vergrößert und verbreitert morden, s Vejtibäl iſt ger 
ihmadvoll, prächtige Fohers befinden ſich im Souterrain; dad Yogen- 
haus ift gänzlich neu gemalt und beforirt; das Parkett ift erhöht, das 
Orchefter tiefer gelegt, und wenn es geräumt werden muß, werden elegante 
Ordhefterfantenils die Stelle der Mufilerpulte einnehmen. Das Haus und 
die Bühne find durchweg eleftriidh beleuchtet. : 

Der Peiter, der am Steuerruder des nenen Bühnenſchiffs fteht, hat 
fih in Deutichland als dramatiicher Künftler einer hervorragenden 
Stellung zu erfreuen, wie ev auch als Borlämpfer der Beitrebungen des 
Schauſpielerſtaudes für die Wahrung feiner berechtigten Intereſſen in 
erfter Linie genannt wurde. Es ift Ludwig Barnay, dem die „arten> 
laube” bereits vor Jahren einen eingehenden Artifel widmete eSahrgang 
1878, Ar. 1). Sein energiihes Darftellungstalent hat er befonders in 
den großen Aufgaben der Tragödie bewährt oder in_der Darſtellung 
eigenartiger —— wie „Graf Waldemar“. So wird auch das 
von ihm geleitete Inſtitut feinen Schwerpunkt in der großen Tragödie 
ſuchen und damit eine Volksbühne im wahren Sinn des Wortes werden; 
denn was man auch hierüber fabuliren mag: wahrhaft vollsthümlich ift 
heutigen Tages das große Traueripiel Shatefpeares, illers und ihrer 
Nachfolger, wenn A. das eigentliche Thenterpublifum im engeren Einn 
ſich mehr dem leichteren Genre der Bühnendichtung zuneigt. Freilich, 
eine Dartellung mit Nervorragenden und würdigen Kräften iſt die Be- 
dingung für den Erfolg der großen Tragödie; fonft bleibt ja den Gleich⸗ 
nültigen oder denen, die gegen die Erzeugniſſe des dichteriichen Genius 
blafirt find, die willfonmene Ausrede, dak die unwürdige Daritellung bes 
Großen und Würdigen jeden Genuß verfünmere und unmöglich made. 
Daß ein Bollstheater höheren Stils auch die andern dramatiichen Gat ⸗ 
tungen pflegen wird, ift ſelbſtverſtändlich. ‚ 

Die Künftlerihar, die fih um die Fahne des neuen Bühnenleiters 
ſammelt, refrutirt ſich zum Theil aus glänzenden Namen bes neiten 
Theaters. Da ift Hlara ‚ige, die impofante, mit den Ihönften Mitteln 
ausgerüftete Heroine unjerer Bühne; da ift Friedrich Haaſe, der aus- 
gezeichnete Meiſter der Kabinetöinalerei und der großen Charalter zeichnung 
in der Tragödie; da ift Hedwig Niemann-Haabe, die vortrefilihe Schau 
ipielerin, die aus dem Fache der Naiven zu den Heldinnen bes Nübr- 
dramas übergegangen ift, und dieſe beiden legteren bürgen dafür, dab 
auch das Schauſpiel zu feinem Rechte kommen wird; da ift Stainz, der 
jugendliche Liebhaber, der durch fein Feuer zündende Wirkungen ausübt. 

Die Eröffnungsvorfiellung brachte den Sciller-Laubefhen „Deme ⸗ 
trius“; die Aufnahme war cine begeifterte; von namhaften KHünftlern, 
den jogenamtten stars, wirfte Klara Yiegler als Marfa mit. Die Hoheit 
ihrer Ericheinung, die Wodulationstäbigtei ihres Mangvollen Organs 
brachten bejonders den ſchwunghaften Monolog Schillers zu zündender 
Geltung. Die Anfcenirung von jeiten des Direltors Barnay fand die 
mwärmite Anerfenmung. — — — 

Hofſentlich nimmt die Direltions⸗ und Regiethätigkeit den Stünjtler 
Ludwig Barnay nicht jo in Anſpruch, daß er außer feinen belaunten 
GSlanzrollen auch neue einzuftubiren vermag, um dem Repertoire der 
Gegenwart nicht bloß an feinem neuen Theater eine Stätte zu bereiten, 
kubern a auch durch ſein hervorragendes fünftleriiches Talent — 

alt zu geben, 

Das @pfer einer Epidemie. Ber von und bat nicht im Herbft 
tobte Bieten an den Fenſterſcheiben beobachtet? Rings um das an der 
Glasiheibe feſtllebende Infelt jehen wir einen nebelartigen Hof, und über 
diefes Gebilde babe ich von verichiedenen Leuten gar wunderfame Er 
Härungen gehört, Nach dem einen war die fliege an VBrechdurchſall zu 
Grunde gegangen, nach dem andern war jener Hof weiter nichts als der 
eſtgewordene Fliegenathem“. a, e8 waren einmal feine Gelehrten, die 
mir jene Erklärungen gaben. Die tobte fliege an der Fenſterſcheibe ift 
ein Meines, aber intereffantes Studienobjeft, und die neuere Forſchung 
hat fich auch mit ihre befaht, Hier in aller Kürze ihr Gutachten über 
diejen Fliegentod. . 

Nicht nur die Dienfchen müſſen das unfichtbare Geſchlecht der milro- 
ſtopiſchen Spaltpilze, die man gewöhnlich Bacillen nennt, fürchten, auch 
die Inſelten werden von biefen winzigen — verfolgt. Die Seiden⸗ 
raupen werben von zwei Spaltpilgen befallen, und bie a 
fennen wohl dieſe Sranlheiten des Seidenwurms. Auch unfere Stuben» 


770 >» 











fliege, die ja mitunter anftedende Krankheiten verbreiten fol, bat unter 
den Mikroorganismen ihren befonderen Feind. Ein Schimmelpilz ift es, 
ber in ber Wiſenſchaft den Nomen Empusa Muscae führt, ein Verwandter 
des Pilzes, der das Brot in unferen Speifefammern ſchimmlig macht. 
Die Sporen der Eınpusa Muscae fallen namentlich im Herbſt auf die 
837 ſie treiben hier atzen Wurzel, jenes vielverzweigte, faden- 

rmige Vilzgebilde, das man Mycel nennt. Dieſes Mycel wächſt in ben 
Sliegenkörper hinein und ſchwächt die fliege, daß fie fich irgendwo jegt 
und zu Grunde geht. In der todten Fliege reift der Schimmelpilz und 
fendet nah aufen Sporen, welche auf der Fenſterſcheibe jenen „feitge- 
worbenen Fliegenathem“ bilden. , 

Die Frenfteriheibe wird von anderen liegen beſucht; dieſe Taufen 
über die Todten hinweg und die Sporen dringen in die Höhlungen des 
Körpers, zwiſchen die Bauchringe ꝛc. hinein; bie liege ift angejtedt und 
muß zu Grunde gehen. So entſtehen auch unter den Stubenfliegen 
mwahrbaftige Epidemien! ‚ — 

—— Sachſe · Soſmeiſter. (Mit Porträt S. 741.) Eine Sängerin in 
des Wortes echter Bedeutung ift es, deren Bild dieſe Zeilen begleiten, 
eine Sängerin von ſeltener fünftlerifcher Univerjalität, gleich; geeignet für 
Haffifche nnd moderne Mufit. , 

Anna SahferHofmeiiter wurde am 26. Juli 1852 in dem mweinbe- 
rühnten Gumpoldslirchen, einen beliebten Ausfingsorte der Wiener zur 
Yeit des gr als die Tochter des dortigen Schullehrers geboren, 
der zugleid das Amt des Regens chori in ber Kirche innehatte und 
mit Vorliebe der Pflege llaſſiſcher Mufit ng ° Beim Gottesdienite, oft 
[gen zur Frühmelle, erllang das filberbelle Stimmchen bes indes mit 
einem reinen Wohllaut vom Orgeldjor herab. Nachdem das Mädchen 
der mufitalifchen Lehre des Vaters entwachſen, forgte derfelbe für fernere 
Ausbildung, und fo trat Unna Hofmeister in die — Violinklaſſe bes 
Wiener Konfervatoriums ein. Geſangliche Studien wurden nur nebenher 
bei der Lehrerin Bafin-Cornet betrieben, bis bie fich immer mehr ent- 
widelnde ftimmliche Begabung den Sieg über die Kunftfertigfeit im 
Geigenſpiel davonirug und Hoffapellmeifter Prod mit der Ausbildung 
der vielverfprechenden Novize für die Bühne betraut wurde. Diefer 
Studiengang erklärt viele nerühmte Vorzüge der Künftlerin, insbefondere 
eine glodenreine Antonation und den wohlgebildeten und durchaus 
ichladenfreien Ton des Organes. 

Im Jahre 1871 finden wir die blutiunge Sängerin, vachdem fie als 
Leonore im „Tronbadour“ in Olmüß eine Probe ihres Talentes abgelegt, 
ala — — Mitglied am Stadttheater zu Würpburg. Die Begabung 
unferer Künftlerin wie ihre ftattliche Bühnenerfcheinung wieſen fie fo ge 
bieteriich auf die Nollen des hochdramatiſchen Faches hin, dab ſie als 
—— ſchon dieſelben Rollen wie heute als Primadonna der Berliner 

per fang. 

Ihre Lauſbahn war raſch und glänzend; nachdem fie ſchon 1871 in 
ben Verband des Stadttheater zu Frankfurt am Main getreten, hatte 
fie am Schlufje des bis 1876 verlängerten Kontraftes bereits die Wahl 
zwiſchen Dresden und Berlin. j 

Sie zog die Berliner Hofbühne vor, um dann nach zweijähriger 
Thätigfeit am Obernhauſe nach Dresden überzufiebeln, wo ihre die 
SGeneraldireltion nad ihrer Verheirathung abermals einen glänzenden 
Kontralt bot. Hier bezeichnete das Engapentent ber Frau Sache: 
Hofmeifter im Verein mit den Künſtlern Warcella Sembrih und Emil 
Höfe, welche damals in Dresden ihre erften thentraliichen Berfuche 
machten, einen Blanzpunft der Oper. Dasſelbe war in Leipzig ber 
Dal wohin die rg nach Lölung ihres Dreidener Kontrattes über 
tebelte, wo fie 1 bis 1882 im Verein mit der unvergeßlichen Frau 
Reicer-findermann das Publifum zur Begeifterung hineih. Die in dieſe 
Zeit fallende Vorführung des Nibelungenringes von Richard Wagner 
im Berliner Biltoriatheater brachte der Künſtlerin, melde bei dieſen 
Aufführungen mitwirtte, neben ihrem äußeren Erfolge als Sieglinde 
einen doppelten Triumph ein: einmal das Wieberengagement au der 
Berliner Hofoper, an Stelle der ſcheidenden Frau Mallinger, andererfeits 
aber die perſonliche Betanntſchaft mit Nichard Wagner, der fie als die 
„Sieglinde feiner Träume” bezeichnete und es Iebhaft bedauerte, baf fie 
das Anerbieten, die Sieglinde 1876 in Bayreuth zu fingen, Fraufheitshalber 
hatte ablehnen milffen, 

Anna Sadje-Hofmeiiter unfaht in ihrem Repertoire alle Rollen des 


hyochdramatiſchen Faches, von befonderer Bedeutung aber ift es, daß neben 


vollendeter Wiedergabe Wagnerſcher Geftalten wie Elſa, Elifabeth und 
Sieglinde x. ihr insbejondere auch die Rollen des llaſſiſchen Hepertoires 
und großen Stiles in vollendeter Weiſe gelingen, ohne daß fie ſich 
ichaufpielerischer oder ſtimmlicher Uebertreibungen jchuldig macht; ihre 
Dauptrollen neben den oben erwähnten: Fidelio, Eurpanthe, Rezia, 
Donna Anna, Aida 2c. werden von bauerndem Eindrud bei jedem bleiben, 
der für das Lünftleriich Schöne Maßhalten Sinn hat. 

„But Ding wit Weile haben“. Der Transport der Fiſche in Eis» 
vadung ift uns jeßt ſehr geläufig und erſcheint ganz felbftverftändlich, und 


doch ift biefe Methode, welche uns erlaubt, ſelbſt in heiber Jahreszeit friſche 


Wilde aus entfernten Gegenden zu geniehen, in Europa ziemlich neu. 
Die eriten Verſuche diefer Met wurden in dem vierziger Jahren in Amerika 
angeftellt und von dort aus brach fich diefe Neuerung Bahn durch die 
ganze civilifirte Welt. Wir verjteben darunter die Welt, welche unlerer 
europäischen Kultur unterthan it; denn in einer anderen Kulnirwelt, in 
der chineſiſchen, war jene Art des Fiſchverſandes längft belannt. Die 
„Deutiche Fiſcherei⸗Zeitung“ hat jüngit ein intereffantes Zeugniß dafür 
ausgegraben. Sie erinnert am das Buch „Der Wunderreiche Ueberzug 
unferer Nider-Belt, Nürnberg, 1680%, in welchem Erasmus Franciscus 
berichtet, daß die Öhinefen ihre Fiſche in Säden mit Eis transportiren. 
Erasınus Frauciscus ſchlug damals vor, dieſe Verfendungsmerhode in 
Europa einzuführen; aber „But Ding will Weile haben“, erft nach MM 
Jahren ift fein Gedanke zur Wirklichkeit geworben. Möge died vielen 
verlannten ndern und Projeltemachern zum ZTroft nereichen! ⸗ 


— — 


— 7111 


Winteradende in Sibirien. Die Sitte, feinen Belannten in feinem 
Haufe einen „Abend“ zu geben und ihnen, wie bei uns, bie „Salons“ 
oder mindeftens die „aute Stube* & öffnen, herrſcht in gewiſſem Sinne 
jelbft „weit hinten“ im aſiatiſchen Rußland, in Sibirien. Wenn die Zeit 
des Winters eintritt, fpielen auch in den Dörfern des weiten Gteppen- 
rei 
ee Der 

ſchlechts und es liegt der männlichen Jugend ob, bezüglich der Wahl 
bes Aufammenkunftsortes für jeden einzelnen „Abend“ genauefte Orbnung 
einzuhalten und das „Einladen“ zu bejorgen. Wenn ja bie Dunkelheit 
herniedergejentt und alles mit ihren nächtlihen Schleiern bededt hat, 
dann begeben fich ** junge Burſche, welchen dieſes Amt zugefallen 
iſt, ins Dorf, um für den Abend „einzuladen“. 

Der Trupp der „Einlader” geht der Neihe nach zu jebem Haufe, 
bleibt dor bdemfelben ftehen und Mopft ans Fenſter. Diejen Moment 
haben die jungen Mädchen in jedem 


einen der „Einlader” faum unterdrüden können. Nachdem das Klopfen 
am Fenſter aufgehört bat, fragt der Hausvater aus der Stube, bomt 
Tifhe weg, bei dem er fißt, wer draußen jei und was es gebe. Nun 
antwortet einer der jungen Leute, fo zu fagen der Anführer, mit dem 
ftereotypen Spruche: „Bott helfe den Hauswirthen!“ i 
eht ift e$ an dem Hausbater, die draußen Stehenden zu einem 
Beſfuche einzuladen, und er ruft ihmen au: a erbitte mir Euere Gnade, 
teetet bei mir ein!” worauf der Sprecher ber Heinen Deputation auf der 
Straße erwidert; „Wir danfen! Wir Fönnen nicht! Haben feine Beit! 
Aber wir bitten Euch und Euere Familie, den heutigen ‚Abend‘ bei... 
ad twird das Haus genannt, in dem ber „Your“ diesmal ftattfindet) zu 
zubringen.“ l 

Nachdem ber Hausvater noch feinen Dank für die Einladung hurz aus» 
—— und ſein Erſcheinen Zugejagt de ziehen. die Burfche zum 

achbar und die „Einladung“ wiederholt jih in der gleichen Weile. 

In jenem Haufe, in dem biesmal der „Abend“ ftattfindet, iſt mittler- 
weile der größte Wohnraum bereits leer gemacht worden und nur längs 
der Mände hat man Bänfe und Stühle aufgeitell. Die Beſucher er- 
icheinen immer zabfreidyer und bald ift das Lolal mehr als gefüllt. In 
einer Ede Haben jich die Burſchen zufammengefegt, melde mit dem 
heimatblichen Inftrument, der „Bandurla“ oder „Balalajka‘ vertraut 
find und nationale Lieder zur —— diejem Muſitinſtrument 
fingen, Daß alsbald auch ein flottes Tänzchen, wie ſie in jener 
Gegend üblich find, beginnt, in welchem die hübſchen Mädchen in ihrer 
en Haustracht ſich voll freudiger Luft im Arme der ſchmucken Burſche 
drehen, ift jelbftverftändlih. Der Hausvater läßt, je nach feiner Wohle 
habenheit und dem Grade der Gaftfreundichaft, Erfriichungen umherreichen, 
welche aus Branntwein und Taltem Fleiſch, aber auch aus Likdren, aus 
cher, To j und gewäßltem Imbiß beftehen Lönnen. Die „Bandurka“ 
oder .; jka“ ıjt eine Art Guitarre, und in ärmeren Häufern oder in 
—— | eines ſolchen regelrechten Inſtrumentes, verfertigen ſich die 
gewandten Burfchen zur Noth aus weißem flachen Holz eine folde 

Bandurfa” und ziehen bier Saiten darauf, Nach dem alten europäiichen 
Sprichworte, daß „dem Tänzer bald gepfiffen” ift, tanzt man u En 
den wenig rhythmiſchen Rängen dieſer Parodie einer echten „Balalajka“, 

Cold ein „Abend“ währt meift bis ſpät nah Mitternacht. Wenn 
ſich auch die „Mlten“ ſchon verloren haben und heimwärts ‚gegangen find, 
die jungen Leute geben fich herähaft dem Tanzvergnügen hin und 
oft erft in den Morgenftunden geleiten die Burſchen ihre Mädchen nad) 


ufe. 

Selh hohes Pflichtgefähf unferen unvergeflichen Kaiſer Wilhelm I, 
befeelte, ift noch in unjer aller friiher Erinnerung. Noch im höchſten 
Greifenalter, in welchem andere faum mehr das —— verlaſſen, ſeßte 
er ſich, unbelmmert um die Witterung, den Etrapazen der Trubpen- 
befichtigungen aus, wohnte jtundenlang zu Pferde den 
unternahm zu diefem Zwecke oft weite und anftrengende Reifen, Denjelben 
hohenzollernjhen Dienfteifer zeigte auch jein großer Ahnherr Friedrich II, 
der ebenfalls noch in feinen lehten Negierungsjahren ohne Rüdjicht auf 
Alter und Gefundbeit die Pflichten feines hohen Berufes erfüllte, 

Eines Abends im Spätherbite erflärte er, am anderen Morgen den 
lebungen der Potsdamer Garnison beimohnen zu wollen, während der 


Naht aber trat Sturm, Kälte und Schneegeftöber ein, weshalb der Leib⸗ 


arzt dem greifen Könige rieth, fich wenigftens eines _geichlofienen Wagens 
u bedienen, wenn er 
leiben wolle. 

„Wie kann Er mir fo etwas zumutben!” rief Friedrich ärgerlich, 
„Sol ich mich nicht Fieber wie ein altes Weib in einer Vortechaiſe tragen 
laflen? Wenn Krieg wäre, müßte ich doch fort, da gäb es Tein Definnen!“ 

„Eure Majeſtät fönnte ſich auch dann eines Wagens bedienen," wagte 
der Arzt zu beinerlen. 

„Das verfteht Er wicht,” verſehte der Stönig jtreng, „wenn ich fahre, 
fährt die ganze Armee!” 

Und eine Biertelftunde fpäter ſaß der greife Held zu Bierde. ML. 

Des Jägers Freude. (Mit Aluftration S. 765,) An einem jonnigen, 
minbftillen, nicht zu falten Wintertage find wir auf dem Felde zur Halen- 
iuce. Zur Linfen geht mit würdigem Schritt Nimrod, der „Terme 
Gebrauchshund. Kaum giebt e3 ein unweidmänniſcheres Jagen, als die 
Suche auf Hafen ohne einen jolden Begleiter. 

Dept find wir auf einem Sturzader, da fißt der Hafe gern. Richtig! 
Dort auf 100 Schritt, viel An weit zum Echuß, geht ſchon einer los — 
„der Burſch muß anderes v 
beſſer“ — denlt der Jäger. Nimrod bleibt fteben, hebt den Kopf höher 
und fieht ruhig Meifter Lampe nad. Diejer ftellt ſich auf die Hinter 
läufe, beficht ſich Jäger und Hund aus fiherer Entfernung, relognoscirt 


bie ſogenannten „Abende“, die „Wierzorki”, eine nicht unbedeutende | 
eibe nach verfammeln ſich nämlich in jedem geräumigen und | 
—— Hauſe auf dem Lande bie aus und alten Leute beiderlei 


ufe fchon voll Sehmjucht und im | 
Karben Ungebuld ertvartet, fo daß fie ihre freude über das endlicde Er- | 


anövern bei und 


bei dem rauhen Wetter nicht lieber ganz fern | 


etter im Kopfe haben, fonft hielte er wohl | 


e.—- 


dann das Feld vor fih und hoppelt „mit der Blume ſchnirzelnd“ (das 
‘ Schwänzden auf und ab bewegend) gemüthlic; weiter. Es iſt ein Nammler; 
| Schade, daß es zu weit war, Jeht fteht einer auf M Schritt auf — es 
‚ mallt — umd mit dreimaligem Purzelbaum tritt er feine Reiſe ins 
Jenſeits an. Noch bevor Nimrod bei ıhım ift, wird wieder einer hoch — 
aber ziemlich weit. Die Schroten jaufen ihm nm den Kopf, die Wolle 
ftiebt — aber Lampe ift jcheinbar gejund und flüchtig geht er ab. Nimrobd, 
apporte! Ber brave Hund veriteht feinen Deren — über den verendeten 
\ Hafen hinweg geht's dem franten nad. Immer näher fommt er dem» 
ſelben — nur nody wenige Schritte trennen beide — da fieht Lampe, dab 
‚ er verfolgt wird, und jeßt jtrengt jeder feine Kräfte an. Den einen treibt 
die Todesangft, den andern die Jagdleiden t — und beides find fehr 
| die X ie 3 ichai beides find feh 
Iharfe Sporen. An wilden Wettlauf geht's dem nahen Buſchwald zu. 
Schon ift Nimrod feinem Opfer faft zum Greifen nahe — ein Sprung — 
aber Lampe dude ſich — und der Hund Schicht weit über ihn hinweg. 
Wieder hat der Hafe einen Vorſprung gewonnen umd beide verſchwinden 
in den dichten Büſchen. Das find lange, erwartungsvolle Minuten — 
‘ banges Hoffen, eine der vielen fühen Foltern, die das Jagen würzen. 
| Endlich — endlich teabt er ans den Sf 
„Nimrod, bift ein braver Kerl — des 


dien — ben Hafen im Rachen — 
| ägersd Freude!” SE, Brbt. 
| Der Arfprung des Erinfgeldes, . modernen Unfuges, ber 
troß aller Dimme, die ınan ibm entgegenzu — fucht, immer mehr um 
ſich greift, läßt ſich bis in die Zeiten des liaſſiſchen Allerthumes verfolgen, 
mo diefe Gabe freilich nicht, wie leider oft heut zu Tage, in Folge einer 
mehr oder weniger offenen Vreſſion, jondern lediglich als eine Erfennt- 
lichleit_für freundliches Entgegentommen gewährt wurde. In ber Zeit 
vom 17, bis 23. Dezember feierten die alten Römer ihre Saturnalien, 
Feſte zur Erinnerung an die paradiefiiche Einfachheit, wie fie zur Beit 
der Negierung bes heibnifchen Gottes Saturn geherrſcht haben jollen. 
Während diejer Zeit ruhte alle Arbeit, Freiheit und Gleichheit herrfchte 
alferwärts, die Stlaven wurden ihrer Feſſeln entledigt und aßen mit 
ihren Herten an einem Tifche, die Tohlhabenden übten unbegrenzte Gait- 
freundſchaft und allerhand öffentliche Spiele und Schauftellungen fanden 
ftatt. Das wichtigfte aber war, dab — wie zu unferem heutigen Weih: 
nachten — Familienglieder ſowohl wie 
feitig beſchenlien, anfangs nur mit Roſen und anderen Blumen, ſpäter 
mit wertbbolleren Dingen und nicht jelten fogar mit Koftbarkeiten, Schmud ⸗ 
jachen umd jonftigen Lurusgegenftänden. Die SHaven, welche dieje &r- 
ichente überbrachten, erinelten von den Empfängern einen Trunf, einen 
Becher Wein, womit der Geber geehrt werden jollte, deffen Boten man 
gaſtfreundlich empfing. Später traten an Stelle diefes Yabetruntes Ge— 
Ichenfe anderer Art, und endlich erbielten die Weberbringer Gaben an 
Geld, damit fie ſich felbit etwas zum Trinken faufen konnten. Bon den 
Saturnalien ift die Sitte, fich zu beichenfen, auf unfere Zeit gelommen, 
aber auch die Unfitte des ZTrinkgelderunmelens, die in unferen Tagen 
leider eine Ausdehnung gewonnen hat, dab fie zu einer oft recht empfind · 
lichen Beläjtinung geworden ift. M. L. 


Keiner Brieflaften. 
(Anokume Anfranen werden nicht berüriictint.) 
Jedes Huhn, welches Däuje Kat, wird an allen Stellen, 
| gelangen Tann, bejendbert au Schultern und 
ulvertinttur, am andern mit verdanntem @lixcerin 


reunde und Bekannte jich gegen- 





beifem Wahr aut gebrũdt 
1, batın weit Tbran aubgepinpelt 
ad bieler ——— alle 
Kelca: 


n 
von Aujelten« die 
\ Bel injeln der Eipitangen ober gar Der 

aber für das Geflügel kelblt Teicht ebenfo 


Melanie W. in L. Dos Wort „Ballate* bat allerdings mit ter „Ban“ 
für eine feitli eſe dad gemein, daß beide wen dem mittellateiml ballare 
(tamzem) jeltet find, nannte man uripränglich eim Igeliches Gedicht, welches 
jur Bei des Tomzeh gelungen murbe, 

e.8.15%. Im unleren Urtifel über bad nborfi-Dentmal in Reiffe (im Haltseft 20 

bes Lauf. Syabrg.) haben Ach ein eimgelchlichen: Meifter Seger —— berener 
' Reifler, | aus e en 
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msE Kr Seafigatt Wlap, und bat die Wälte m em 
tadı ben von der Tachter des end Berfägune 
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in Bingen, Ger Torgaser Hmwei er bed allgemeimenbeutich 

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Soradvereind bi ein ee Drudblast Geraußsegeten, pr 
1600 der en gebraudten Brembmörter nebit Werbeutkhumgen tb für 
bon 10 Pirsnigen (in —— auch am Nichtmitglieder des Ber« 

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welche 

blattes bi t u Tergau. 

— ds 2 —* Wert von br. Friedrich Hofmann ift feine Gedlcht· 

ammluntgt . 17 h 

Kleben wit @o! es Dur an: Buhbanblung beziehen Lönnen. ” 
U. B. in Wor ten. Imtolze des Artifels „Dee Audud brütet“ im Halbheft 17 


deB Laufenden N der „Warzenlaube” it unE von Natwrfreanden eime „gie 8 





, Mittbeilumgen haben wit mis Intereſſe 


tt Dant, 
| ns N. in Dresden. Kür bie ſreundliche Ueberiendung von m Marl — infolge des 
Gepichtes „Eine Blite für_arme Ninker“ vom Emil Mittersbans — banfen wir Almen 
) —58 Bir haben ben Betrag an Herru Emil Ritteröbans in Barmen gelandt, der 
benjelben für bem In dem Gleticdte —— wei derwenden wird. 
| MR. Vin Leipzig, Das in Halbheft 22 unteres Wlartes entbaltene Belbilb „remer« 


wehrubunz am Theater“ wurde einer Zeidiuumg von Arthur Krüger auf Holy üter« 
tragen von Banl 3* = 
R.M in A. De Ef ricdrich der Große in Rameny* ven Rudelj ven Gott⸗ 


abraang 1886, 


MW. ur F 
fan ftest ie Nr. 33 der „Wartenlaube* 
€ Verwertung zu haben. 


v. Bir tebanern, für dad Gebicht 


—. DB +— 


Allerlei Kurzweil. 


5 Bard:Aufgaßbe Wr. 12. Berxir-Bilderrätßfel. Mäthfel-Sonett. 


Ben 3, Berger in Gray. Bol Schmerz wird Eins und Zwei eutbehren 
Ein jeder, weldyem liegt daran, 

Noch ſchneller ala mit Rob uud Bahn 

Ins there Heim zurüchzulehreu. 


Die Dritte ihuf des Mitters Ehren, 
Dod went fie jeht nocd droht zu nah'n, 
Sei Fürft er oder Unterihan, 

Sucht ihrer ſich mit Recht zu wehren. 


Das Ganze wünfd! ich deiner Serle, 
Daß es bei keinem Schmerz ihr fehle 
Und fie mit muthigem Bertrauen 


— Durch feine Kraft ſich aufwärts ſchwinge, 

Um and der Höh' die Erdendinge 

In ihren wahren Werth zu fchauen, 
mM, Paul. 


SCHWARZ 


Buclaben-Hätdfer. 


Im Kranze deuticher Städte 
Sud’ mid mit OS T; 





Im Schatten beutfher Wälder 
Weit ih mid E HB, A. Si. 
WEISS 
i Die richtige Iufammenftellung ber in dieſem Bilde Auflöfung des Bilder-Mäldfels auf S. 740: 
Weiß zieht an nnd fett im dritten Zuge matt, CaS henckaen Klaftenn — — Viele Hunde find des Haſen Tod. 
Melamorphofen. Aufföfung der Quadraf-Aufgade auf 5. 740: 
Durch Veränderung, Auslaſſung oder Dinzufügung je eines Buchſtabe ie beid h te find folgende: 
ohne Umftellung der übrigen ift mittelft je acht wilden —* un ice PIE TED ER —— 


einen bejonderen Begriff in richtiger Schreibart bilden muß, zu verwandeln: 
1. Schuld in Sühne, 2. Nübe in Lohn, 3. Born im Milde, 
4. Waller in Bein, 5. Wolf in Lamm ımd 6. Fünk in Gold. 

Beilpiel: Zobel, Hobel, Hebel, Hebe, Rebe, Nabe, Wabe, Wade, 
Wachs, Dache. 


Aufföfung des Ausfül-Proßfems auf 5. 710: 
c 





Nach Dinzufägung eined Meinen Duadrates NJ find 73 Meine vorhanden, 
ans denen die beiden nachſtehenden Quadrate gebildet werden. 










LIA wirIiniE 
G|R alzlıjr 
tT|iele|nEiR 
S|E 













Das größere hat 64, das Meinere 9 Quabratfelder, 
Die beiden nächſtfolgenden Quadrate von gleiher Beſchaſſenheit haben 


e ai j je 144 Quabratfelder. Durch Hingufügung eines Heinen Quadrates erbält 
Wagner — Rienzi. man 289 Quadrate, melde in die beiden Onadrate 225 und 64 zerlent 
werben können. In dieſent alle bilden die beiden großen Quadrau 
Aufföfung des Ming-Näthfels auf 5. 740: wiederum ein Ouadrat, dejlen Seite 17 Felder hat. 


Auflöfung ber Slat-Aufgabe Mr. 11 auf 5. 740: 
Nur Stat liegt: rD, rZ. 
Berbaxb: eD, «0, £D, cK, £9, uf, 67, rK, sD, »K, 
Nittelb.: eZ, eK, 09, «8, «7, E24, 0, aZ, 20, FO, 
1. #Ir, 80, »W, 
2. Wit rk, r0. 
Die beiten Gegner werfen ihre blanlen r ab, im der Meinung, dafı fie darasf kin 
Stich machen Könmen, und belommen nunmehr nur ned 28 Kugen in Schellen (car.). 





In dem unterzeichneten Berlage iſt erſchienen und duch die meijten Buchhandlungen zu beziehen: 


Sartenlaube-sStalender für das Jahr 1889. 


14, Bogen 8° mit zahlreihen Alnftrationen, Preis elegant gebunden 1 Marl. 

Der Garlenlaube- Kalender 1889 enthält neben zahlreichen ftatiftiichen, vollswirtſchaftlichen, hiſtoriſchen und genealogiscen 
hand, garten: und landwirtichaftlichen Notizen und Tabellen eine jtattlihe Reihe beichtender und unterhaltender Artikel, ſowie 
Grrählungen und Humpresken von W. Heimburg, M. Lilie, Oskar Juftinus, E Peſchkau, B. Ren;, 
N. v. Sottidall u. a, und eine Menge vorzüglicher Alluftrationen von 9. Defreager, ©. Hahn, R. Büttner u. a. 
Der — — iſt zum Preiſe von 1 Mark in den meiſten Buchhandlungen zu haben. Wo der Bezug auf 


Hinderniſſe ſtößt, wende man ſich direkt an die Verlagshandlung Gruſt Reit's N achfol ger in B eipzi N 








Herausgegeben nuier veramiwertlicder Aedeltien von Adolf Rrömer. Verlag von Gent Keil's Rachtelger in Lelszig, Erst von A, Wiebe in Leirgig. 








Tahrgang 1888, Erſcheint In Halbheften A 25 Pf. alle 12—14 Tage, In Heften & 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1, Tanuar bis 31. Deyember, 








Deutſche Art, freu gewaßrt. ae Rechte vorselalen, 
(Fortfegung.) Eine Hofgefhichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Aeyfer. 


ID Adatius längs einer dichten Hede dahineilte, ſchwebte 
Benigua hinter der Buchsbaumgans hervor und jperete ihm den 
Weg. „Nun, was habt Ihr mir zu vertrauen?“ flüfterte fie und ſtach, 
ſchelmiſch drohend, mit ihrem Fingerlein unter feinen Augen herum. 
Er zog es an feine Lippen. „Holde Schäferin, ich fürchte, 
Lauſcher find auf unferer 
Spur,“ erwiderte er, ohne 
den Schritt anzuhalten. 

„Wodenn? Wartet doch!“ 
tief fie und folgte ihm mit 
ausgetreten Händen nad). 

Aber nicht ex wartete auf 
fie, fondern auf ihn wartete 
im nächiten Hagedorngang 
die Sternguderin aus Ei— 
ſenach. „Wie jtcht es mil 
der Zuſammenkunft von 
Mars und Venus?“ wiſperte 
fie, neben ihm hertrippelnd. 

„Sie lann leider nicht ſtatt 
finden,“ ſchwadronirte Acha 
tius, weiter eilend; „die holde 
Venus wird allein am Him 
mel ſtehen, was das Sicherite 
iſt für eine einzelne Dame, 
wenn ſie nicht dem himm 
liſchen Klatſch verfallen will. 
Deshalbgeziemt dem feurigen 
Mars, ſo ſchnell als möglich 
am Horizonte zu verſchwin— 
den.“ 

Er jpendete einen Kniefall, 
drüdte feine ſchlanke Geſtalt 
mit Todesverachtung durch 
die dornige Dede, ſchlug die 
Zweige hinter ſich zu und — 
ſtand vor der zweiten Eiſe— 
nacherin. 

Sie ſah ihn ſo barmherzig 
an wie die heilige Eliſabeth 
ſelbſt. „Rautenblätter in 
Wein geſotten ſind das Mit 





erſt muß ich prüfen, ob Euer Herzſchlag nicht zu unruhig iſt für 
die jtarke Medizin.” 

Mit Hliegender Eile drüdte er ihre Hand an fein Herz, verfprad), 
das Tränkfein in Eifenach abzuholen, wenn fein Leiden ſich nicht beffere, 
und fehte über das Muſchelbaſſin des Neptun. Da fielen wie zwei 
Megelagerer Hinter dem aus 
Stein gehauenen Meergott 
hervor die beiden Hoburge» 
rinnen ihm in die Seite. 

„Bor wem jpielt Ahr 
Neifaus?* fragte die Eva, 
ſich ihm zugefellend, 

„Bor der Holdfeligfeit des 
Frauenzimmers,“ riefer ver 
zweifelt, 

Fürchtet Euch nicht; ic) 
führe Euch auf den vechten 
Biad,“ Liipefte der Cherub 
und flog hinter ihm her. 

„Schöne weiße Hände ha 
ben mich allezeit von ſolchem 
abgelenkt,” jtöhnte ex, ſchlug 
ſich mit der Fauft vor die 
Stirn und flüchtete in eine 
Grotte, die ihr Tuffſteinthor 
vor ihm aufthat. 

Dimmelkceuzdonnerwetter! 
Da rannte ex mit der rund- 
lichen Hofmeijterin zuſam 
men. Gr hatte ſich zu dem 
Standbild des Humen verirrt. 

„Bochehrwürdige Fran!“ 
jlehte er. 

„Was fällt Euch ein,“ 
ichalt jie empfindlich, „das; 
Ihr jo ehrerbietig thut, als 
ſei ich neunzig Jahre alt?“ 

Was half's? Er mußte 
einen Kup auf ihre Lippen 
dräden, um zu beweilen, daß 
es mit jeiner Hochachtung 
nicht allzu weit ber war. 


tel gegen cin preßhaftes Grofmätterden. Rad tem Deigemälde von I. Günther. „Mein Herzallerlicbiter 
Herz,” flüfterte ji, „Uber Dit Genehmigung der PHetograptifgen Geſeblichaſt in Berlin. Bräutigam!” jnbelte fie auf. 
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Er taumelte entjeßt rüdwärts zum Tempel hinaus. 

Da fah er ſich von der ganzen Schar der holden Schäfer: 
innen umringt. 

„Ich ernenme Euch zu meinem Schäfer Amindor!* 


| 


k folgte ihe nur mit dem Blick, wie fie ſtill dahin ſchritt. 
ie Magend war der Ton ihrer Stimme geweſen! Roc) 


ı nie hatte fie ihn einer jo fanften Nede gewürdigt, Es bünfte ihm, 


„Wollt Ihr nicht mein Thyrcis fein?“ „Mein, mein Lycidas?“ 


riefen fie durcheinander. 

Auch Käthchen Hatte fich Dazu geſellt. Den Maßliebchenſtab 
in ber Heinen feiten Hand, ſah jie ihn finjter an: „Seht mein 
Favor wieder her! Es war eine ganz neue Schleife." 

Achatius ſchaute ſich vergeblich nad) einem Ausweg um. 

Sie ftanden wie Wachtpojten mit ihren Schäferjtäben um 
ihn im Kreiſe. 

Da feufjte er tief auf und ſprach: „Der braune Abend it 
herabgejunfen und Frieden waltet auf der jtillen Flur. Tugend— 
seligfte Nymphen! Hochedelgeborene Scyäferinnen! Gebet auch 
Ihr für io Frieden. Und gejtattet, daß ich, um Euch allen zu 
dienen, den Tanz aufführe, der aus Frankreich kommt und Galliarde 
benamfet wird.“ 


Und er ſchob fie eigenhändig ein wenig zurüd, indem er | 


ihnen die zarten Finger bittend drüdte. . 
Dann warf er fein leichtes Mänlelchen aus rother Seide 


von der Schulter und jtand nun in ihrem reis, hoch, ſchlank 


und im weißen Atlas feiner Kleidung ſchillernd gleich der Silber: 
pappel drüben an der murmelnden lm. 

Mit fühem Ton fang er in das Wellenraufchen, das Flüftern 
der Blätter die Tanzweile und hob die Fünftliche Galliarde an. 
„Eine Stumde Lieben ift lange Friſt, 

Ein Augenblick genuglamb ıjt,“ 
Hang es in die Ohren der Frauen. Aber fie ließen ſich nicht 
bange machen. Es bebte etwas in der Stimme, was den leicht: 
fertigen Worten widerſprach und was jede auf ſich bezog. 
Wie zierlich waren die Pas, welche die feinen Füße des 
Tänzers auf dem Nafen ausführten! 


WBohlanftändigfeit eine Capriola darbrachte. Aber da war cr 
ſchon wieder vor der rundlichen Hofmeifterin, warf ihr einen 
kecken Kußfinger zu, und nun fang er aufmunternd vor dem 
verdrießlichen Näthchen: „Sa! ja!” 

Wem galt der Blid, der jo ſehnſüchtig hinüberflog in den 
dämmerigen Buchengang? Keine dachte mehr daran, ihn mit 
ihrem Stab einzuhegen. 

Da hob er ſich plöglich mit einem leichten Sat, flog wie 
eine Feder aus dem Kreis hinans und war im nächſten Augen- 
blick Hinter der Buchenwand verſchwunden. 

Dort wandelte Gertrud von Heilingen dem Schloß langſam 
Er eilte ihr nach. 

Diantre! 
bis in den Hals schlug. Er mußte erſt Athem ſchöpfen; ſonſt 
verfagte ihm die Stimme. Aber wie die ftille Geſtalt näher und 
näher Lam, wurde es immer toller mit dem Herzſchlag. Es 
blieb ihm nichts übrig, als fait athemlos fie zu begrüßen. 

„Wer iſt würdig genug von Euch befunden worden, um 
Ener Schäfer zu jein?* fragte er mit jiodender Stimme, und 
jeine Augen fuchten unruhig hinter allen Büjchen. 

Sie erwiderte Teile: „Ahr ſeht, daß ich feinen Schäferftab 
trage; ich achöre wicht zu den Hirtinnen und habe derohalb den 
Dienjt meiner Gefährtin Benigna übernommen, in der Apotheke 
das Magenwaſſer für die morgen wieder Abreiſenden bereit zu ſtellen.“ 

Sie gina dabei ruhig weiter; fie war blaß wie immer, nur 
die finfende Sonne hauchte eine zarte Nöthe über ihr ftilles 
Geſichtchen. Sie war alſo noch frei, und jie ſprach auch milder 
zu ihm denn ſonſt. Gr hätte ſich ihr jo gem als Schäfer an— 
getrage tz aber fie wollte feine Hirtin ſein. 

„Ach!“ rief er Tchmerzlich, „Ihr verichmäht auch dieſen an- 
mmthigen Zeitvertreib! Ihr ſeid jo kalt wie die ſteinernen Würzı 
lein in Eurem Halsband." 

Ta ſah fie zu ihm auf mit ihren großen dunklen 
Augen. „Scheltet die fteinernen Würmlein nicht,“ ſagte fie mit 
tranriger Stimme. „Zie hatten auch ein Hecht, fih im Sonnen: 
schein ihres Lebens zu freien wie Ihr. Mber ihr Schidjal 
war, abgeichlofien zu werden im durchſichtigen Kerler von allem, 
was Luſt und rende heißt. Da find fie ſtarr und kalt geworben.“ 

Sie neigte das Haupt gegen ihn, und er ſchmiegte ſich in 
die grüne Wand, daß jie ungehindert vorüber achen konnte, 


zu. 


als fei er ihre plößlich nahe gekommen. 

Ein leiter Wind flüfterte durch die Gänge. Den rofigen 
Abendhimmel, der ſich darüber ſpannte, überwallten Lichte Wöllchen 
wie Engelsflüglein. 

Ihm war fo weich, jo ſchmerzlich felig zu Muthe. init, 
da er als Jüngling durch dieje Gänge wandelte, hatte er jo ge 
fühlt. Wie lange Zeit war feitdem vergangen, wie bunt waren 
die Erlebniffe, die fie ihm ausgefüllt hatten! 

Und nun famen ihm, dem Vielerfahrenen, diefe längft ver: 
geflenen Empfindungen des jungen Pagen wieder. 

Der kühle Kopf verjant in Träumerei und vergaß, das junge 
warme Herz im Zügel zu halten. — ' 

Auch um die jhöne Schäferin Aſtrea ſpann der Matabend 
feinen Zauber, während fie die einfamen Wege an der Ilm juchte. 

Die Sonne ging zu Gnaden. Noch im Scheiden breitete 
fie ihren lichten Mantel über den Himmelsbogen aus und jtreute 
goldige Floden durd das mattgrüne Laub der Weidenbäume, 
auf die Teile dahin treibenden Wellen des Thüringer Flüfchens. 

So ringelten ſich die Bäche durch die franzöſiſche Landichaft, 
in welcher Eeladon nnd feine Aſtrea daheim waren. In folchen 
ſtill Hingleitenden Wellen beſchaute ſich der treue Schäfer und 
fang dazu auf feiner Pfeife: 

„Hört auf einmal, mir zuwider zu ſein, 
Eh dab ic) fterb', zartes Jungfräulein.” 

Aber nicht jehnfuchtsvolles Flötenfpiel ließ ſich vernehmen. 
Majeſtätiſche Klänge verhallten in ernjtem Summen über ihrem 
Haupte; die Gloden der Kirche zu St. Peter und Paul, darin 
die jungen für den evangelifhen Glauben und das Raterland 
deutſcher Nation gefallenen Herzöge fchliefen, riefen zu einer 


Beichtlirche. 
Triumphirend lächelte Benigna, als er ihr voll Zierd und 


Er Hatte ſich alſo abgehetzt, daß ihm das Herz | 


Nicht weiche Liebesklagen drangen an ihr Ohr. Vom jteinernen 

Wachthãuschen herüber ſchallte das Kriegslied: 
„Nun ſeid getroſt, Ihr frommen Knecht, 
Fürs Vaterland mir mannlich fecht!“ 

Geſtört in ihrem jühen Sinnen wandte Dorothea ſich ab 
und den ſchweigenden Tarusgängen zu, die vor ihre die dunklen 
Pforten öffneten. Der Zephyr ftrich lautlos an den hoben qlatt 
geichorenen Nadefwänden bin. Tiefe Stille umfing fie. Aber 
da, wo ein anderer Bad, lauſchiger noch als der, welchen fie 
ging, ſich abzweigte, kam es her wie ein janft erjterbender Seufzer. 
Ihr Herz ſchlug hochauf. Sie folgte dem Leilen Ton. Aber fie 
batte ſich getäuſcht. Much diefer Weg lag wie ausgeftorben vor 
ihr. Nirgends war Der zit erbliden, den fie im welichen Garten 
erwarten wollte. Sie ging immer vajcher; aber ſie fand fein 
Ende Neue Wege durchkreuzten den ihrigen. 

Wo war fie? Ueberall ſchlängelten fih dunkle Gänge in 
dämmerige Tiefen hinein. Aufs Gerathewohl eilte fie weiter, 
Eine unerklärliche Angſt überfiel fie. 

Seht — endlich trat fie auf einen freien Pla heraus. In 
der Mitte desfelben erhob ſich ein Obelist aus Thüringer Schrift 
gramit, Seine Spite war von der untergehenden Sonne roth 
angeftrahlt, während die Taruswände bereits im Schatten lagen 
und gleich einem jchwarzen Kranz ihn umgaben. Sie war in 
den Irrgarien gerathen. 

Wohin jollte fie fih wenden? Rathlos blieb fie ftehen. 

Ging da nicht jemand? Na, es war feine Täufchung. Und 
fie kannte dieſen feſten raſchen Schritt. Ahr Gerz klopfie, daß 
fie meinte, die Schläge bis in die Spigen ihrer Loden zu fühlen. 

Um die dunkle ſtarre Wand bog im nächſten Augenblid 
Herzog Albrecht. 

Sie jah ihm geipannt entgegen. Wie anders erſchien er ihr 
heute als am Tage ihrer Ankunft! Das gut gelaunte Lächeln 
war verſchwunden; ein Zug unbeugfaner Feitigkeit lag um feine 
Tippen. Die Haren braumen Augen glitten mit umvilligem Blick 
an ihrer phantaftiich geichmückten Gejtalt herab. Mit furzer, förm 
licher Reverenz begrüßte er fie. 

„Alſo es iſt wahr,” ſprach er, und feine Stimme bebte wie 
bon unterdrücdtem Horn, „die deutichen Tugendlichen haben jid) 
in franzöſiſche Schäferinnen verwandelt?” 

Es war, als fdnüre ihe eine plötzliche Furcht das Herz 


zuſammen. ber jie überwand die Schwäche, Ichnte ihr Köpfchen 


anmuthig an den Schäferftab und ſagte mit Holdfeligem Lächeln : 
„Und wir find der Dienfte unferer getreuen Schäfer gewärtig.” 
Sein Blid zuckte verächtlicd; auf den bebänderten Schäferftab 
herab. „Ah führe eine Stübe, die zuverläfiger ijt als diejes 
Spielzeug,“ entgegnete er, auf das goldene Rappier an feiner 
Seite deutend. 
Sie zwang ich zu einem fcherzhaften Ton, 
wäre ein wunderliches Attribut für einen Celadon.“ 


Für den Schwächling allerdings,” entgegnete Herzog Albrecht | 


wegwerfend. 

Das Lächeln erftarrte auf ihren Lippen. 

„Einen Schwächling,“ rief fie bonwurfsvoll, „nennen Sie 
den Schäfer, der lieber jtirbt als verſchmäht Tebt?“ 


„Ein Mann, der ſich wegen der Launen feiner Gelichten | 


ertränft, jtatt ihr diefelben abzugewwöhnen, verdient feinen andern 
Namen,“ ſprach er ſchroff. „Ein rechter Mann ftirbt für feinen 
Glauben, jein Baterland, feine Ehre, in der Erfüllung feiner 
Pflicht.” 

„Pflicht,“ wiederholte fie und zog unmuthig die Brauen 
zuſammen, „das ijt ein hartes, ungalantes Wort.“ 

„3a, hart iſt die Pflicht, 
gegnete er feſt. 
ſchreibt, zu beugen.” Und er fepte bie Spite feines Nappieres 
jo feit auf, als drüde er fein fürſtliches Siegel unter feinen 
Ausspruch. 

„Eure Liebden geben dem Geſpräch eine Wendung,” ſagte 
ſie mit bebenden Lippen, „welche ihresgleichen nicht hat in den 
Diskurſen alamoder Kavbaliere.“ 

„Ich ftehe nicht hier als alamoder Kavalier und franzöfiicher 
Schäfer, der fühliche Diskurse führt,“ entgegnete er raſch, und 
feine hohe Geftalt ſchien noch zu wachen, „sondern als deuticher 
Fürſt, als Herzog von Sachſen, der eine Fürſtin gleichen Stammes 
um eine ernſte Ausſprache gebeten hat.” 

„Und warum darf nicht auch das Ernſte in Schöne ſchmeichelnde 
Form fich Heiden?“ fragte fie, und ihre Augen begannen zu 
flammen. 

„Weil ein ſächſiſcher Herzog ihunder zu ſolchen Tändeleien 
feine Zeit hat,“ antwortete ex mit unerjchütterlicher Feſtigleit. 
„Er muß auf der Wacht ftchen, um die Unabhängigfeit deutfcher 
Fürsten zu behaupten gegen den hiſpaniſch gefinnten Kaiſer, 
ererbte heilige Sitte, finnvollen alten Brauch und die Mutter: 
ſprache rein zu bewahren, auf daß biefe werthvollſten Scäße 
einst ungefchädigt den Glüdlicheren überliefert werden, die nach 
uns fommen. Und dasjelbe Streben muß er fordern bon ber 
Gemahlin, die er feinen Erblanden als Fürſtin giebt.” Er 
hielt einen Mugenblid inne. Dann fuhr er langſam, als wäne 
er jedes Wort, mit tiefem Exnfte fort: „Das alles heijcht die 
Pilicht von ihm, und er kann einen Buchſtaben davon ablaffen, 
wenn er auch darob das Glüd, das er heiß erfchnt, verloren 
geben müßte.“ 

Dorothea richtete ſich hoch auf. 
auf ihrer Stirn. 

„Huch Wir Haben eine Hohe Meinung von Unferem fürft- 
lichen Beruf,“ entgegnete fie, den flammenden Blid zu feinen 
jtreng auf fie niederschauenden Augen erhebend, „wenn auch cine 
andere als Eure Liebden, 
Pflichten auf, an weldem alles verkümmert, was flüchtig ift wie 
der Duft, fein wie der Wether, zart wie der Schmelz. Wir 
aber gedenken, die Anmuth und die Schönheit zu pflegen. Wir 
haben Uns gerettet in das Land der Poeſie und nicht danadı 
gefragt, ob ein Deutfcher oder ein Franzofe den Weg dahin ge: 
twiejen hat.“ 

Der Herzog war unter ihren Worten erbleicht. 
ſchwieg. 

Es war todtenſtill. 

Dorotheas Augen irren unficher umher. Die Schriftzeichen 
de8 Dbelisfen Starten fie an, als habe eine Hand hier Worte 
eingegraben, die unentzifferbar für fie waren. Auf der Spite 
erloſch das letzte Roth. Mit fait erjtidter Stimme ſprach fie: 
„Es wird Zeit zur Heimkehr. Die Sonne neigt fich.* 

„Sie iſt umtergegangen,* erwiderte er leiſe. 
ſchwerer Betonung ſetzte er Hinzu: 
mag id Sie zurüdzuführen.“ 
deutete er ihe den Weg au, der aus dem Labyrinth führte, 


Aber er 


Und mit 


Sie fühlte dad Diadem | 


Sie richten ein fleiles Gerüft von | 


| 





hart wie unfere Zeit,“ ent 
„Uber wir haben uns dem Gejch, das fie vor: 





mit feinem Schühlern zu dieſem Werk zu fchreiten, 


„Aus diejen Irrgängen ver- | 
Mit dem abgezogenen Federhut | farbenen zu. 


ı 


Palmgenoſſen auf der andern. 
meinende Affektionen hatte es derben Zank gefegt. 


Zwiſchen den jchwarzen Wänden eilte das junge Paar in 
heiterer Fejttracht mit todternjten Mienen dahin. Nur das Knirſchen 
des Kieſes unter den haftigen Schritten ließ fi) vernehmen; aber 
jedes meinte, das andere müſſe das Pochen feines Herzens hören. 

Ueber den Buchen des Wobichts ſtieg der Mond empor, und 


| in Tanggezogenen Tönen hob die Nachtigall ihe Abendlied an. 
„Eine Wafſe | 


Yıma lächelte, Philomele Hagte — und am Ausgang des Arrgartens 
trennten ſich mit tiefen höfiſchen Meverenzen Albrecht und Dorothea. 

Auch über die übrige Geſellſchaft war eine Berftörung ge: 
fommen. Die Scäferinnen flanden auf der einen Seite, Die 
Statt feiner Diskurſe über wohl: 
Es gab bei 
den Damen rothgeweinte Augen und bei den Herren Zornesadern 
auf den Stimmen. 

Selbſt Herzog Wilhelm, der allezeit einen Ausgleich zu 
finden wußte, war verlegen. Er mochte jeinee Gemahlin die 
Bitte nicht aänzlic abſchlagen, als weiler Sylvander zärtliche 
Reden mit ihr zu führen, und die Damen nicht kränken, die feine 
Hofitatt mit ihrem Bejuch erfreut hatten. Aber er wollte audı 
nicht die franzöfiichen Spiele an feinem deutjchen Hof einführen. 

Die Schäferinnen riefen nad) ihrer Aſtrea, daß fie ihnen 
helfe, die widerſpenſtigen Schäfer zum Gehorfam zu bringen. 

Statt ihrer trat die blafje Frau Witwe aus einem dunklen 
Cypreſſengang hervor und ſprach mit müder Stimme: „Unjere 
Tochter hat ſich eine ftarfe Verkühlung im welichen Garten zu: 
gezogen und fich in die Roſenlammern zurücbegeben.“ 

Da verftummten die Schäferinnen erfchroden. Denn von 
der Herzogin von Koburg bis herab zum fehten Hofjungfräulein 
errieth im jelben Augenblick jede, daß Herzog Albrecht ebenfalls 
es verweigert hatte, den Celadon zu Spielen, und daß ein wohl: 
geichmiedeter Plan gefcheitert fei. 

Es wußte niemand mehr, wo ein und aus. 

Da trat der Einfchläfernde, ein alter Rath vom Schöppen- 
ftuhl in Rena, hervor und ſprach: „Nach wohl erwogenen Dingen 
nebe ich anheim, zu enlſcheiden, ob die Zeit nicht zu kurz bemeſſen 
it, um diefe hochbedenklihe Sache mit allen Diffikultäten nach 
Nothdurft zu berathen, und ſchlage vor, jelbige für jegt ad acta 
zu legen und das Urtheil auf gelegenere Zeit zu vertagen.“ 

Alles athmete auf. Wenn man die gelahrte Nede auch nicht 
gänzlich verftanden hatte, jo viel war aus felbiger hervorgegangen, 
dag die Sache auf die lange Bank geſchoben werden follte. Und 
da man im alten gemüthlichen Beiten bejchwerliche Dinge gern 
auf folcher unterbradhte, ſo zeigten ſich Schäferinnen und Palın: 
genoſſen zufriedengeftellt und begaben fid), müde von Freud und“ 
Leid, in ihre Lojamente. 

In den Nofentammern wurde eingepadt. Die Kammer: 
mägdlein der Frau Witwe twidelten beftürzt den Schäferjtab in 
undurcchjichtige Hüllen. Bärbchen, welche das Hirtentäfchchen 
berbeitrug, ſchnickte mit den Fingern, als hätte fie ſich an dem 
Hlammenden Herzen verbrannt; Wennchen, die den verwellten 
Tulpenſtrauß in den Silberflor hüllte, ſtieß einen tiefen Seufzer 
aus. Die Tautenburgiichen falteten ihre Staatsfleider zufammen. 

„Du hajt recht gehabt, Käthe,” ſprach der Schloßhauptmann, 
„es ijt in Meimar Fund getvorden, wie ein adliger Junker einer 
edlen Jungfrau gegenüber ſich benehmen muß. Nu, nu! hänge Dein 
Maulchen nur nicht zu tief herab, Du könnteſt darauf treten.” 

„Wer recht nad) Gefundheit tracht', fein Bitterniß der Arznei 
acht',* fehte die Frau Mutter Hinzu. „Aber gieb Dich zufrieden. 
Bei dem Johannisbier, wenn Du Did mit dem Junker Ug 
ichwenteft, wirit Du mehr Spaß haben.” 

„Ach der!” erwiderte Käthchen troßig, „der tanzt Kreisleſſel, 
und was eine Galliarde ift, weiß er gar nicht,“ 

Lariſari!“ entgegnete die Mutter. „Im Heiligen Ehe: 
Stande helfen ziexliche Tanzbeine nichts. Ach will niemand vathen, 
ſondern es 
wolle ſich jeglicher wohlweistich mit einem Baar tüchtigen Nägel: 
ftiefeln verſehen.“ 

Käthe biß die Zähne zufammen, damit fie nicht laut aufichrie. 

Nägelitieiel! Und vor ihren Augen wirbelten fchmale Rös 
leinſchuhe in anmuthigen Bas in der Luft herum. 

Was ein armes Mädchenherz tragen kann, ohne zu brechen! 

Wie einen Sargdedel ſchlug fie die Truhe über dem Leber: 


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Kronprinz Rudolf und feine Gemahlin zw 


Raiſer Franz Jofepf | 
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Saiferin Ehifabett. Grzherzegin Marie Valerie, 





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Erzherzogin Eliſabeth. Kaiſer Franz Joſeph I, 


d ſeine Familie, 
28. Saufe, 


Das war ein verdriehlidies Erwachen am andern Morgen. 
Die Herren ſchauten mürrijch drein, die Weiland Tugendlichen 
fahen müde und abgeipaunt aus. 

Sp iſt's nun einmal der Welt Lauf a Abichiedätagen, 
zumal in unſicheren Beitläuften, vollends nach einem luſtigen Feſt 
und in Sonderheit, wenn die Gäſte zur guten Legt in einem 
Streit auseinander gefahren find. 

An den Famitienhäufern des auswärtigen Models wurden bie 
langen Reiſelutſchen arpadt. In den Sigfäften verwahrte man 
das Balmaejchmeide; denn der Dentiche ſaß allezeit gern auf 
feinen Schäßen. Unter die Eparren des Wagens jtedten die 
Damen die bebänderten Scäferjtäbe. Der Widerſpruch der 
Männer fänftigte fih zu einem Gebrumme, als die Frauen wie 
Fonft auch mit Safran, Ingwer und Kardamom ſich verfahen. 
Es war das tröftliche Zeichen, das fte ihre Ehegeſponſen vorber: 
band verſchönen wollten mit der arünen Brunnenkreſſe, welche die 
Schäfer in ihrem Liebeslummer afen. 

Auch im Örimen Schloß wurde zur Abreife gerüſtet. 

Die fürſtlichen Säfte verſammelten ſich allmählich im Rantens 
franzgemad zum Abſchiedetruuf. 

Im Borzimmer jtand Achatius, die ſchlanle Geſtalt ein 
wenig gebudt, daß er zwiichen den andern Hofjunlern verschwand. 
Das ſonſt jo hochfahrende Geſicht trug einen beicwidenen Aus— 
druck; über die kecken Augen waren die dunkel umſäumten Lider 
ſittig niedergeſchlagen. Er ſprach nicht, bewegte ſich nicht, als 
verhoffe er, hierdurch aus dem Gedachtniß der andern ſich ſelbſt 
zu löſchen. 

Aber wie ſchmal er ſich auch machte, unſichtbar wurde er 
doch nicht. Er mar und blieb der Zielpuntt für die Mugen des 
gejammten weiblichen Hofperfonafe. 

Selbiges deutete ſich alles zum Vortheil. Jede Hofiungfrau 
meinte, daß ihn der Schmerz über ihre Abreiſe alſo danieder 
ſchlage. Und jede erachtete es als Pflicht, dem jchüchternen Hof: 
meiſter aufzuhelfen und Troſt zu Spenden. 

„Habt Ahr eine Spinne verſchluckt, Here Hofmeister?” 
lachte die Eva. „Seid Ihr mit dem linken Fuß zuerſt aufge: 
ſtanden?“ medte der Cherub. „Warum jo traurig?” fragte 
jelbftgefällig die Freundin des Mars, „Wir werden uns ja 
wiederfehen,“ tröjtete die rundliche Hofmeifterin. 

In die Enge getrieben, machte er eine allgemeine Verbeugung 
und verjchangte jich Hinter dem Schenktiich. Statt feiner nahten 
dem Frauenzimmer die Lakaien und boten auf filbernen Kredenz— 
tellern den nach großen Schmaufereien heiffam befundenen Salbei 
und Wermuthwein dar. 

Drinnen im Gemach taufchten die fürftlichen Perſonen die 
feßten Abſchiedsgrüße aus. An die Reiſeſchaube gehüllt, ſaß Anna 
Marie müde in einem Armſtuhl und harrte auf das Vorfahren 
der Kutſche. Als Chriftine ie ein Lebewohl bot, zudten ihre 
Lippen bitter. 

„Es trifft nichts mehr ein, was geweiſſagt wird," ſagte fie 
leife, „nicht das Gute, nicht das Schlimme. Leider! Ich wollte, 
die Welt wäre untergegangen, wie vor ein paar Jahren prophezeit 
wurde.” 

Chriſtine ſah jie vertwundert an. „Damit müjlen wir uns 
geduldigen bis zum Jahre 1643, wo wieder eine Konjunktion 
einflußreicher Geſtirne dem Schiffe Argo gegenüber jtattfindet. 
Da kann heichtlich Die Sintfluth anbeben.* 

„Wer weil, was wir bis dahin zu leiden Haben ,* ſeufzte 
Unna Marie „Eurer Liebden Wilfenichaft ift fonder Troſt.“ 

Christine ſchüttelte leife das Haupt. „it es kein Troſt, zu 
ichen, wie die Sterne unbeirrbar den Weg gehen, der ihnen vor- 
geſchriebeu it von Anfang? Erkennen wir nicht daraus, daß 
ſich erfüllt, was droben beſchloſſen wurde, trotz aller Zwiſchen— 
und Wechielfälle des Erdenlebens?“ 

Neben ihrer Mutter ſtand Dorothea in ſtolzer Halinng, 
aber mit blaſſen Wangen, die Zeugniß ablegten von der ſchlaflos 
verbrachten Nacht. 

Wie Nebelgejtalten gingen alle an ihr vorüber: Eleonore, 
die ihr To beilommen die Hand drüdte, Wilhelm, über deifen 
offenes Geſicht eine Teichte Röthe der Befangenheit glitt, der alte 
Hofmarſchall von Teutleben, welcher bei feiner tiefen Reverenz 
ihr ein jo unbeiwegtes Antlitz zeigte, als habe er ein unfichtbares 
Viſir herabgeſchlagen. 


zu ſtellen. 
ſeite der Kutſche genannt wurde, ſaßen die Hofſungfrauen und 
wehlen mit ihren Tüchlein, bis der Hofmeiſter ihren Blicken ent 


Mechaniſch neigte fie jich gegen die Abſchiednehmenden und 


ſprach die üblichen Worte. Ihr Blie flog veritohlen immer wieder 


hiniiber, wo Albrecht, von ihr abgewendet, in einem Kreis von 
Herren Stand. Wie feft und falt Hang ſeine Stimme! 

Da ertönte die erfte Fanfare. Es wurde zum Aufbruch 
gebfafen. 

Kutſche auf Kutiche fuhr vor. Zuerſt zog der alte Herzog 
von Keburg von damen, feine Gemahlin troß ihrer Schäferinnen- 
wiürbe unabänderlih auf dem Nüdiig, er auf dem Ehrenpla. 

Da der Wagen der Hofjungfrauen fi in Bewegung fchte, 
ließ ſich Herzzerreißendes Weinen veruchmen. Dann folgte die 
Eiſenacher Herrſchaft. Der Herzog ſchwang ſich auf das Pferd, 
Chriſtine ſtieg ein. Auf den Rückſitz wurden Pergamentrollen 
gelegt. Darauf war die Stunde der Geburt von allen denen 
verzeichnet, welche ſie darum erſucht hatten, ihnen das Horoſkop 
An dem RNarrenlaſtlein, wie der Platz an der Rüch 


ſchwunden war, 
Dorotheas Herz Hopfte zum Zeripringen unter dem Sammet⸗ 
mantel. Noch immer Hatte Albrecht fein Wort an fie gerichtet. 
Nun fuhr der Wagen mit den Engelsköpfchen var. " 
Und jegt — jegt trat er endlich heran. Er neigte ſich lief 
vor den beiden fürktlihen Damen. 
Dan — ein jäher Schreden durchjudte ihre Herz — bot 


‚ er der Frau Witwe die Band, um fie zu geleiten. 


Zu ihr trat Herzog Emit. Sie widte ihm ihre eisfalten 
Finger, Gemeſſen jchritt der junge Fürſt neben ihr Die Treppe 
hinab. Gewaltiam hielt fie ſich aufrecht. Mit hoch erhobenem 
Haupt fah fie neben ihrer Mutter. 

Diele winkte Frau von Zautenburg heran auf den Rüchkſitz 
„Fahrt mit Aus,“ ſagte ſie matt, „auf daß Wir einen Beiſtand 
bei Uns haben. Unſere Hofmeifterin ift zu geſprächſam.“ 

Die Thür wurde gefchloffen. Herzen Eruſt trat zurück. Die 
Pferde zugen an. 

Aber — Dorothea athmete auf — Herzog Albrecht ſchwang 
jich auf fein apfelgraues Rob. Ex gab ihnen wie beim Empfann 
das Geleite. Ihr Herz wollte nicht an cin Scheiden für immer 
glauben, hielt noch eine leiſe Hoffnung feit, er werde im lebten 
Augenblick eine Berföhnung anbahnen. 

Die Gefährle wankten duch die Gaſſen von Weimar davon. 
Und wieder ftürzten die Bewohner der Stadt an die Fenſter, brachen 
die Kinder in laute Ausruſe der Bewunderung aus, wo Die 
Engelstutiche vorüber kam. 

Dorothea adytete nicht darauf, Nur der Hufſchlag des Pferdes 
neben ihr drang an ihr Chr; fie harrte nur des Augenblids, da 
Albrecht ein Wort an fie richten würde. 

Da rollte die Nutfche wieder zu dem Stabtihor hinaus, 
durch welches fie jo triumphirend vor drei Tagen eingefahren 
war. Dumpf dröhnend ging es über die Zugbrüde des Grabens 
und nun langſam auf der Landſtraße gen Dornburg weiter. 

Der Morgen war trübe und feucht. Weber der Ilm qualınten 
Nebel. Die Blumen am Weg neigten die Köpfe unter dem 
Than, die Gräfer hingen vol jchwerer Tropfen. 

Schen, ſchüchtern ftreifte Dorothens Blid den ſtummen ‚Be 
gleiter. 

Aber feine Augen begegueten den ihrigen nicht mehr. Den 
Blick geradenus gerichtet, die Lippen herb geſchloſſen, ritt Albrecht 
neben dem Wagen. 

Scht waren fie an der Stelle, wo er fie begrüßt hatte. 
Und wie damals hielten Reiter und Wagen an. 

„Es iſt an der Zeit, Abdichten zu nehmen,“ ſprach er Es 
war, als verfage ihm die Stimme, Aber er zwang die Bewegung 
nieder und fuhr fort: „Noch einmal fage ich Euren Guaden im 
Namen der Gebrüder von Weimar Dank, daß Sie unter Ein: 
ladung Huldvoll gefolgt find, Mine Gottes Segen Sie heute 
und fürder auf allen Ihren Wegen begleiten!” 

Dit matter Stimme erwiderte die Frau Witwe: 

„Audı Eure Liebden follen in den Schug des Allerhöditen 
befohlen fein.“ 

Dorothea neigte ſtumm das Haupt. 

Niemand fprach das Wurt: Auf Wiederfehen! 

Tas Sechsgeſpann zog an. Den Hut in der Hand, ließ 
Albrecht den Wagen an ſich vorübergehen. 








eo 719 °— 


Uber jetzt richteten fich feine Augen auf Dorothea, und ein 
Bid voll Schmerz und Anklage traf fie und hielt fie ſeſt, bis die 
Engelsfutiche vorübergerollt war. 

Dann drüdte er den Hut über die Stirn, warf fein Pferd 
herum und jagte nach der Stadt zurüd, 

Dorothea jah ibm nad). 

Dort verfchmwand er hinter dem Feldrain, wo bie Lerdhe 


jubelnd in die Luft ſtieg. Wie mochte fie nur jo freudig fingen? | 


Langſam rollte der Wagen den jenfeitigen Abhang hinab. 
Weimar entfchwand; noch Tugte die Spike des Schloßthurmes 
hervor, Dorotheas Augen Hammerten fih daran. Nun war 
auch dieſe verſchwunden. Raſſelnd, Inadend bewegte fich ber 
Reilezug in das von Heinen Wäldern unterbrochene Higelland 
hinein. Der Schloßhauptmann ritt an der Spike und zeigte feiner 
gnädigen Herrſchaft Tümpel, Löcher und Steinblöde im Wege 
an, damit fie fih auf die Stöße vorbereiten fonnte. 


Dorothea feufzte nicht wie Anna Maria, und fie betete 


auch nicht, wie Frau von Tautenburg an befonders arfährlichen 
Stellen that. Sie ſaß in büjtres Sinnen verfunfen. 

Auch im zweiten Wagen ging es anders zu auf der Küdfahrt 
denn bei der Ankunft. 

Die rundliche Hofmeijterin war es jegt, die den Vetter Achatins 
als ihr Eigenthum in Anfpruch nahm; fie ſah fo Lange zum Fenſter 
binaus, als noch ein Nafenfpigchen von ihm zu erfchauen war. Dann 
fiel fie in einen Heinen Dämmerfchlummer. 

Käthe, die damals das große Wort geführt hatte, ſaß Hein: 
laut in ihrem Edchen. Die Hofjungfrauen zahlten ihr heim, was 
fie an Neid und Mißgunſt auf dem Herwege gelitten Hatten. 

„Ei, Käthe, Dein Better hat Dich ſehr kurz valediziret,* 
meinte die Langnaſige höhniſch. „Ach dachte, er wäre Dir qut.” 

Dabei rutichten alle fürforglich auf die rechte Seite; denn 
diefes Rad lief auf hohem Rain Hin, das andere bewegte ſich in 
einem Sclammbettlein. 

„Der Hofmeifter wird eine gute Partie thun,“ ſagte das 
Strohblümdjen ſchadenfroh. „Er heivathet die blonde Beniqna 
der Herzogin Eleonore. Sie ſchrieb täglich Brieſchen am ihn. 
Benigna hatte fein Geheimmi vor mir.” 
feine Eroberungen zu verzeichnen haben, brüjtete fih das Stroh: 
blümchen mit den Erfolgen anderer, 

Dabei ſchoben fie fich insgeſammt in die andere Ede des 
Wagens, da nun diefe Seite auf ein Steineiff fticg, während die 
vorher hochgehenden Räder an einem Abhang binliefen. 

„Laht Ener thörichtes Gerede," fagte die Hofmeijterin. 
„Achatius von Krombsdorff it cin Mann von Erfahrung. Er 
erkicit jich Fein grünes Früchtlein, ſondern eine fühe Pomeſine.“ 
Ste lachte ſchelmiſch in ſich hinein. 

Die Kutiche fiel mit den Vorderrädern in ein tiefes Loch, 
während die Hinterräder über einen Stein fprangen. Die Damen 
prallten gegen die Wagendede und fegten ſich dann in die Mitte 
des Gefährten, 

„Was wird der Junker Utz dazu ſagen,“ höhnte die Lang: 
najigs, „wenn ihm zu Ohren fommt, wie chrbare Mägdlein ſich 
uicht geihämt haben, dem Hofmeiſter für und fiir mit goldenem 


Bruftlap in den Weg zu laufen und am offener Tafel ihm zu | 
Leibe zu gehen? Fa, ja! Manchmal Legen fich die Hügften Leute | 


eigenhändig Schadorte.” 

Sie waren felbft an einem Schadort angelangt, Die Pierde 
des zweiten Wagens, darin die Kammermägdlein ſaßen, bekamen 
eine muthwillige Neigung zum Durchgehen. Mit Macht raunten 
fie fürbaß und ftrads auf die Kutſche der Hofjungfrauen zu. Ein 


Stop erfolgte, und die Deichſel erſchien zwiſchen den jchredens- | 


bleichen Gefichtern der Hofmeifterin und der alteſten Jungfrau. 
Ein zweiter Ruch und die Wagen neigten ſich krachend auf die 
Seite und fielen um 

Ein granenvoller Wirrwarr entſtand. Die Vorfpänner 
ſchrieen und ſchlugen auf die Pferde, Das verunglüdte Frauen- 
zimmer jammerte aus dem Wagenkaften. Die Engelskutſche hielt. 
Frau von Tautenburg bog fich heraus. 

„Dil, Himmel! Unfre Käthe!“ 

Der Schloßhauptmann trabte eiligft zurüd, fprang vom Pferde 
und zog feine Tochter heraus. 


Sie war ganz weich auf ihre Peinigerinnen gefallen. Er | 


fegte fie auf den Wegrain, 


Wie alle, die ſelbſt 


Käthe hatte num doch eine Urfache zu weinen, 
tüchtig Gebraud) davon. 
Ihr Bater wandte ſich der Hofmeifterin zu. 
„Ach, wenn Herr Achatius mich fo Liegen ſähe!“ klagte diefe. 
„Seid froh, daß es nur die Heinen Fröſche ſehen,“ ant 
| worteie Here von Tantenburg und rang ihre Reifemuße aus, die 
ſich in einem Pfuhl voll Waller geſogen hatte. 

Benignas freundin war auf den Mund gefallen und hielt 
ihn nunmehr feit zu; die andere Hofjungfrau Fühlte ſich die ge: 
ſchrammte Nafe mit einem Wegebreitbfatt, 

Der Wagen war zertrümmert. 

„Wie kommen wir nun fürbaß?* fragte der Schloßhaupt: 
mann rathlos. „Bis zum nächſten Ort nad Hilfe zu reiten, 
wird ſehr lang dauern und höchſtens ein Mijtlarren zu be 
ſchaffen fein.“ 

Da zeigte ſich auf dem Weg ein Reiter; eilig ſprengte er 
näher, gefolgt von einem Knecht. 

„Bott jei Dank, Junker Utz!“ rief der Schlofhauptmann. 

Us war im Nu an der Unglüdsftätte und vom Pferd. 
Seine Mugen ſuchten und fanden Käthchen. Die aber legte num 
vollends die Arme über das Geſicht. Er fah den Schloßhaupt 
mann augjtvoll fragend an. 

„Sie iſt nur erſchrocken,“ tröftete dieſer. 
Ahr her ?” 

„Es muß mir geahnt Haben, dab Euch ein Unfall bevor: 
ſtand,“ antwortete Ug. „Immer mußte ich an Euch denken und 
es zog mich ordentlich an den Haaren fort. Das halte der 
Teufel aus, ſagte ich, ließ die Knechle das Exrbfenfeld allein be: 
ftellen und ritt Euch entgegen. Na! und da finde ich richtig die 
Bejcherung.* 

Seine Augen mufterten dabei das ganze Häuflein Reifende 
und er athmete fichtlich auf; es war nirgends ein alamober 
Monfiene zu erfchanen. „Gott fei Dank, daß fich nichts ereignet 
hat als ein Wagenbruch.“ 

Dann wandte ex jich den in einander gefahrenen Fuhrwerlen 
zu. „Die Pferde abgejträngt!” befahl er den Kutichern. „An— 
gefaßt!" henrfchte ev den Trabanten zu. 

Er felbjt legte mit Hand an. Ein Ruck feines ftarfen Armes, 
und die Deichjel war jrei. Der Wagen der Kammerlätzchen ſtand 
bald wieder veifefertin anf feinen vier Rädern. Aber er fahte 
nicht viel mehr, als ſchon darin ſaßen. 

Da erhob Frau von Tantenburg im der Engelsfutiche ihre 
Stimme: 

„Mit Eurer fürſtlichen Gnaden Erlaubnis mache ich hier 
Maß und fteige binter meinem Eheherrn aufs Pferd. Sein 
starker Namstopf trägt uns beide. Die Frau Hofmeijterin und 
‚ eine Kungiran Fünnen meine Stelle einnehmen. Nun find nod) 
; zwei Frauenzimmer unterzubringen.” 

Junler Us ſah Käthchen an. „Auch auf meinem Rothſchimmel 
‚ wäre noch ein Platz,“ ſagte er treuherzig. „Er hat einen janiten 
‚ Bang.“ 

Käthchen ſaß unbeweglich, die Hände vor den Augen; das 
blonde Haarbũſchchen fiel dariiber. Aber die Hofjungfran mit dem 
Wegebreitbfatt auf der Nafe erhob ſich und trat zu dem Junler. 

„Ich nehme Euer Anerbieten an.“ Sie ſtieg auf einen 
Meilenjtein und mit Hilfe der Knechte hinter dem enttäufchten 
Us auf das Pierd. Der Schloßhauptmann jtopite an ihrer Stelle 
nicht allzu ſanft feine Käthe in den Wagen der Hammermägde, 
hob feine Ehegeiponfin zu fih auf den Namstopf, und nun ging 
es wieder fürbaß. 

Nachdem Fran von Tautenburg ſich zurecht geicht Halte, 
fenfzte fie: „Iſt das eine Fahrt! Alles acht in die Brüche: 
Heirathen, Wagen, Arme, Beine.“ 

Ahr Eheherr begütigte: „Nu! mu!“ 

Veſorgi jlüfterte fie ihm ins Ohr: „Dit der Utz freundlich 
mit feiner Partnerin?” 

Der Schloghauptmann Tugte aus und drüdte pfifſig ein 
Auge zu: „Er macht ein Geficht fo gleichmüthig, als habe er 
einen Haferſack aufgeladen.” 

„Spricht fie auf ihm ein?“ forſchte die Frau weiter. 

„Bei diefem Trab wird es ihre ſchier vergehen,” entgegnete 
er und jehte feinem Ramskopf ebenfalls die Sporen ein, auf daß 
auc er Ruhe befam, 


Sie machte 


„Aber wo fommt 





— 


—o 


Niedergedrüdt, zerichlagen und zerjtoßen Fehrten die Bes 
wohnerinnen der Dornburg Heim. 


780 





— 


Glücklicherweiſe rafchelten horchende Mägde vor dem Schlüfiel- 


Die Damen des Gefolges | loch herum. Bir Hausfrau mußte ihre Strafreden nadı dem 


fahen gänzlich deformirt aus, da fie aus den Kutfchen und von | Borplag verlegen. Der Schlofhauptmann aber nahm feine Tochter 


den Pferden Eletterten. Die Herzogiunen verſchwanden lautlos 
in ihren Gemächern, ohne nur einen Augenblick die tief herein: 
gezogenen Reiſemutzen zu lüften 


zu Sich auf die Fenſterbank, wo all das Unheil angerichtet worden 


| war, das die Familie jet ausefien mußte. 


„Nun ſag' einmal, Kleine,” fragte er vertraulich, „was ift 


Käthchen verschmähte das Warmbier, das ihre Mutter heute | Dir denn eigentlich wicht vecht an dem Up?“ 


wie bei allen Heimfuchungen kochte. Sie ſchloß ſich ein und 


weinte die ganze Nacht in ihr nrofies, blaugewürfeltes Kopfliſſen. 


Müde und verdrieklidh begab fich am andern Morgen die Familie 
an ihr getvohntes Tagewerf. Der Schloßhauptmann wollte auf die 
Felder veiten, feine Ehegefponfin den Wirthſchaftshof befichtigen, 
Käthe, wieder im lartelenen Röcklein, ihre Tauben füttern, 

Da ftanden auf einmal alle drei wie vom Donner gerührt. 


Wer fam dort durch) das Thor herein gejchritten, feierlih ae: | 


ihmüdt mit ſcharlachenen Wams und einem Hut, von dem dic 
Feder bolzgerade emporjtieg wie der Pappelbaum drüben neben 
feinem fchönen Herrenhaus? Junker Utz! Zwei Diener folgten 
ihm, in die Farben feines Wappens gekleidet. 

„Bott ſteh' uns beit” brummte der Schloßhauptmann für 
ſich. „Der ficht aus wie ein Freier. Zu ungelegenerer Zeit fonnte 
er ſich auch nicht aufmachen.“ 





Käthchen nejtelte fih in ihres Waters Arm wie ein halb- 
flügger Vogel unter den Flügel des Alten und vertraute ihm 
Hagend und ſchluchzend an: „Ach, Herr Bater, ich Tiebe ihn nicht.“ 

„Was verjtehit Dur Heiner Neftling davon?” flüfterte er. 

„O, das verftche ich wohl,” verficherte Käthchen; „wenn 


‚ Runter U mich anficht, geht es mir nicht duch und durch, und 


wenn er jeufzt, denke ich: gewiß ift ihm der Leibgurt zu eng. 
Ach, und ich weiß; doc, wie hübſch es ausfchen lann, wenn ein 
edler Here fchmachtende Angen macht, und wie wohl und wel 
uns ums Herz wird, wenn ev zitteınde Seufzer ausſtößt.“ Cie 
ichluchzte Taut auf. 

Aber der Herr Vater ſah nicht eine von ſchwerem Herzeleid 
heimgefuchte Jungfrau in ihr; er ftreichelte ſie wie ein auf bie 


Naſe gefallenes Kind. 


Frau von ZTautenburg faßte ſich raſch, ing dem Gait | 
freundlich entgegen und möthigte ihm zum Eintritt, während ein | 


verjtohlener Wink Käthchen gebot, ihr zu folgen. 

Diejer fiel das Herz bis in die Fußfpige. Sie Börte nod), 
wie Utz fagte: „Ich Habe, jeit Ihr verreift feid, nicht ge: 
fchlafen, und mir jchmedt fein Biffen und fein Trunk. Solcherlei 
Sorgen, wie mich quäfen, will ich mix lieber vom Halfe ſchaffen.“ 

Und er verschwand mit ihren Eltern geruhig und felbjt- 
bewußt in der Hauspforte, 

Käthchen jah ſich um gleich einem geſcheuchten Wild. Flugs 


wiſchte fie dem Taubenichlag zu, das dünne Seiterlein hinauf, | 
ſchlüpfte durch die Thür und ſaß zwiichen ihren Täubchen. Neus | 


gierig guckten die brütenden Täubinnen ans ihren Neftern auf fie 
berab, und die Tauber famen heran, vb Krumen oder Körner Für 
fie gejtreut würden. 

Wie gut hatten es die Ihierlein! Die Schopftaube, die ſich 
fo zärtlich mit dem ſchlanken Feldflüchter ſchnäbelle, durfte ſich 
paaren, Wie es ihr Herzchen befahl. Niemand zwang jie, mit 
dent diefen Kropftauber dort ein Neſt zu bauen. Er war zwar 
ein gutes Thier, der Kropflauber. 
und hatte and) cin ſchneeweißes Meibchen gefunden mit Pätichchen 
an den Füßen. — 


Gr fraß ihr and der Hand 


„Käthe, wo biſt Du?” tönte die Stimme ihrer Mutter aus | 


dem Haus, dann im Flur, dann immer näher und näher — jetzt 
auf dem Hof. 

Es half nichts; fie mußte antworten. 

„Komme jogleich herunter!“ rich die Mutter mit gebämpfter 
Stimme hinauf. „Runter Up freit um Dich.“ 

Da hub ein großes Jammern im Taubenſchlag an. „Ach, 
Frau Mutter, laßt mid in Ruhe; ich man ihn nicht.” 

Die Mutter verjuchte nachzuffettern; aber die diinnen Sprojien 
knidten ein; fie mußte davon abjtchen. „Wirſt Du herunter 
ſteigen?“ ſtieß fie Teife hervor. 

„Nein!“ kam es dennoch kläglich herab. 

Ein paar Mägde liefen herzu. Da ging die Mutter mit 
fenerrothem Geſicht wieder in das Haus. Bald darauf ſah Käthe 
von ihrem Verſteck ans den Junfer Ug aus der Thür treten. 

Ihe Vater begleitete ihn und ſprach eifrig auf ihn cin, 
„Lieber Nachbar und Freund! Bei der Bitte um Bedenfzeit muß 
es fein Verbleiben haben. Diefelbe iſt einer fürfichtigen Jungfrau 
wohlanftändig und noch von feinem Freier bemäfelt worden.“ 

Der Uß aing mit einem betvoffenen Geficht davon. 

Unter Käthchens Verſteck fanden ſich die Eltern zuſammen. 

Die Mutter bob die Hände auf. „O weh über diefen Tauben: 
ſchlag! Das it nun die fürtreffliche Einrichtung, auf die mein 
Eheherr jo große Stüde hält,” 

Der Schloßhauptmann aber fagte nemächlich: „Nur, nu!“ 
hielt feinem Tödhterlein die Leiter und führte dann beide in die 
Wohnftube. Torte begamm alsbald Frau von Tantenburg den 
dränenden Spruch anfzuſagen: „Wer verachtet der Mutter zu 
nehorchen, dem werden Die Naben die Nugen am Bade anshaden 
umd es werden ihn die jungen Adler freſſen.“ 





„Solche überirdiſche Fürſtellungen hat nur der Umgang mit 
Deinem leichtfertigen Better in Dir erwectt, welcher ein ausge— 
feimter Frauenfnecht ift. Sieht Du denn wicht ein, daß ein treues 
Herz mehr werth iſt als heuchleriiche Augenverdrehungen, daß 


‚ ein wahres Wort eine honigfühe galante Redensart aufiwiegt ?“ 


Sie ſchwieg ein Weilchen. Dann brach fie in Thränen 
aus „D je! Daß aber auch aar nichts im Leben ſich recht 
zufammenfindet! Warum Hat der Vetter Achatius nicht das treue 
Herz vom Junker Utz? Warum ficht der Junlker Utz nicht aus wie 


der Better Achatius? Ad, der alte Schloßvogt da drüben unter 


der Burglinde hat recht: Es ift eine unvolllommene Welt hienieden.” 

Und fie vergoß heiße Thränen über die mißrathene Schöpfung. 

Ihr Vater zog ſich ſeufzend auf die Ofenbank zurüd und 
zerbrad) fich den Kopf darüber, wie das Werk zu verbeflem: der 
Utz dem Achatius ähnlich zu machen fe. — 

Auch im Reſidenzhaus hob das Leben wieder feinen ge- 
wohnten Bang an, als fei niemals die Herrichaft fröhlich zu einer 
Luſtreiſe, ja zu einer Brautſahrt ausgezogen und in großer Ver: 
drichlichkeit heimgekehrt. 

Dorothea rang mit der ganzen Kraft ihrer ftolzen Seele 
gegen den Eindruck, den die erlebte Enttänjchung auf fie und 
andere hervorgebracht hatte. Wie fonjt ſaß fie an ihrem Pußtiic, 
das Spieglein in der Hand. Aber das Leibgeräth des Frauen 
zimmers warf ein Bild zurüch, das ihr nicht aefiel. Sie fuchte 
dem Mangel abzubelfen, indem fie immer neuen Schmud anlegte. 
Doch fein Juwel gab ihr das frühere heiter ſtrahlende Ausſehen 
zurück, feine Spitze vermochte die heiße Scharlachgluth zu dämpfen, 
in welche das feine Korallenroth ihrer Wangen hinüberjpielte, kein 
noch fo ſorgfältig gebranntes Lodengelränfel die Heine troßige 
Falte zu verhüllen, die zwischen ihren Augenbrauen Tag. 

Die Kammermägdlein thaten ſtumm und betreten ihren 
Dienft. Als dem unerfahrenen Aennchen einmal das Wort 
„Weimar“ entfuhr, ſah Bärbchen die Gefährten an, als habe fie 
den Gottjeibeiuns genannt. 

Auch die holde Muſika pflegte Dorothea wie früher. Sie lieh 
ſich vom furfürftlichen Kapellmeister in Torgau das Präambulum 
kommen über Melodien des nenen Singſpiels „Daphne“. Doch 
einmal jprang unter ihren unfteten Fingern eine Saite, ein ander 
mal zerfnidten die Rabenliele, mit denen dieſe geriffen wurden, 

Dann twieder befahl fie ihre Tamen unter das Dädhlein, 
um aus der „Aſtrea“ vorleien zu laſſen. Und der Schäferroman 
hatte ebenfalls feine Zauberkraft verloren. Er entrüdte fie nicht 
mehr nach den blumigen Auen am Ufer der Loire; ihre Augen 
aingen nicht mehr in die Weite hinaus. Sie blieben drunten 
an den Weinbergen haften, wo emſig gefcdhneitelt wurde, auf daß 
alle Sonnenstrahlen den Trauben zu gute famen. In den grün 
goldigen Duft, der auf den Rebſtöcken Tag, verfanf ihr Blid, und 
ohne daß fie es wußte, flüfterten ihre Lippen den Wahlſpruch 
des Unanichnlichen: „Es foll noch werben!“ 

Die Hofjungfrau hielt im Leſen inne und ſah die junge 
Herzogin fragend an, ob fie etwas au bejchlen habe. 

Dorothea erhob ſich. „Es iſt ſchwül heute,“ ſprach fie. 
„Wir wollen ein andermal forlſahren.“ 


co 


Au ihrer Mutter fand fie feinen tröftlichen Beiſtand. Die 
Frau Witive verbarg ihre Bekümmerniß nicht, daf fie zu vielen 
unerfüllten Wünfchen abermals einen folchen gelegt hatte. 

Dorothea verjuchte anfänglich, Geſpräche in alter Weiſe an— 
zufnüpfen. Aber Anna Maria blieb ernft und einfilbig, wenn 


ihre Tochter von den Fackeltänzen bei fürftlichen Hochzeiten er- 


zählte, die fie früher mitgemacht hatte. 
Dagegen bielt fie mit dem Hofprebiger, der zur Tafel ge: 
laden worden war, eine fange Zwieſprache über „Die Hochzeit des 
Lammes“, in welche vecht bald einzugehen fie erichnte. 

Dorothea meinte, ſolche Reden nicht anhören zu Lönnen. 


Sollte denn wirklich das ganze Leben abgefchloffen jein? Kam | 


denn nicht wenigitens ein Trompeter, der Nachrichten von der 


früher fo ſchreibſeligen Freundin Eleonore brachte? Jetzt hatte 


diefelbe nur einmal ein Brieflein gejendet, in demfelben aber | 
Aldrehts Namen forgfältig vermieden. 

Sie trat an das Fenfter, von dem aus man den Weg nad) 
Weimar überfhauen konnte. Aber kein ihwarzgelber Dienftrod 
Teuchtete in der fintenden Sonne; nur Landleute zogen mit Karren 


und Herden heimwärts. Dorothens Augen folgten der Landftrafe 


durch) die Kornfelder, die fhon filbern ſchimmerten, wenn ber | 


Wind über fie hinftrih. Wo der Weg am Horizont ben Mugen 
enifäjtwand, glühte das Abendroth, als fei da der Eingang zu 

Sicht und Leben. 
Ein leifer Seufzer wedte fie aus ihrer Berfunfenheit. Als 


fie ſich zurüd wandte, begegnete jie den müden Augen ihrer Mutter, 


in deren Blick gefchrieben ftand: Du Hoffft umfonit. 

Und ihr Herz zog fi frampfhaft zufammen. Es wurde 
allgemad; ſo jtill in den fürftlichen Gemächern, daß an einem 
heißen Tag die rundliche Hofmeijterin einnidte und im Traume 
von Achatius von Krombsdorff ſprach, ein glückliches Ereigniß 


für die regungslos auf ihren Schemeln ſitzenden Hofjungfrauen, | 


die einmal kichern lonnten. — 

Das waren trübfelige Tage alleweile auf dem grauen Berg: 
ſchloß. Einförmig ging die Zeit hin und geräufchlos wie der 
Schatten auf der Sonnenuhr am Thurm. 

Was war aus den Hoffnungen und Wünſchen aewerben, 
welche in den beiden jungen Mädchenherzen gefeimt hatten, als 
die grünen Halme auf der Saalwieſe fproßten? Sie waren 
gefnidt, wie drunten im Wiefengrund das Hohe faftige Gras, die 
von Schmetterlingen umflatterten rothen Kleehäupterchen, die Sankt 
Johannisfterne vor der Senfe zu Boden ſanken. 

Die Heuernte war da, Würziger Geruch erfüllte das Thal. 
Bis zur Dormburg und dem neuen Herrenhaus des Stabtqutes 
herauf tönte der röhlihe Sang der Mähber, welche die fangen 
Schwaden wendeten und endlich zu hohen Schobern thürmten. 

Danı zogen eines Tages die Rindergefpanne, welde das 


Hen einfahren follten, aus dem Gut hinab. Junler Up ritt auf 
feinem Rothſchimmel nach, um darüber zu wachen, daß die Fuder | 


richtig geladen würden, damit fie weder. in der holperigen Schlucht 


das Gleichgewicht verloren, noch unter dem Hofthor hängen | 


blieben, 

Bor den Heinen Fenſtern des Haufes, welches der Schloß· 
hauptmann bewohnte, tummelte er fein Rothroß weidlich. Aber 
fein blondes Mägdlein ließ ſich hinter den runden Scheiben bliden ; 
nur die würdige Hausfrau micdte mit ihrer emporgefträubien 
Haubenfraufel heraus. Es ftand Märlich auf feinem Geſicht zu 
leſen, daf es einen jungen Mann wenig beglüdt, wenn er fürs 
nehmlich alten würdigen Matronen wohlgefällt. 

Nachdentlich ritt er weiter. 
lange Bedenkzeit die Jungfrau Käthe brauchte, ehe fie ihre Ein 
willigung dazu gab, fich von ihm heirathen zu laſſen. Nirgend 
vermochte er ein Hinderni für die Verlobung zu eripähen. 
der Alamodegeck aus Weimar, der ihre für einen Abend den Sinn 
verjtört hatte, war nicht mehr im Wege. 
rundliche Hofmeifterin. 
geitern bei ihm anfragte, ob er fürfommenden Falles ihr jeinen 
Vorrath am feinen Flaumfedern verkaufen fönne Gr hatte cs 


abgelehnt; denn er brauchte fie ſelbſt fürlommenden Falles, Aber 


aus Freude über die gute Nachricht verehrte er ihre cinen großen 

Büfchel Pfauenfedern zu einem prängiichen Webel. 
Unter folchen Gedanlen erreichte er feine Wicfe, 

dem balfamischen Futter jtanden die mächtigen Stiere. 


Mitten in 
Er lief 


die Stränge von ihren Kochen löſen, eingedent des Bibelwortes: | 


1888 


Tal 


Es war dod wunderbar, wie 


Selbſt 


Er heirathete nun die 
Sie ſelbſt hatte es ihm vertraut, als fie | 


> 


Du ſollſt dem Ochſen, der da drifcht, dad Maul nicht verbinden; und 
er lachte nachſichtig, als die übermüthigen Mägde einen mürrifchen 
Knecht in einen Heuhaufen warfen. Fröhliche Leute arbeiten befjer 
denn verdrießliche. Mit Zufriedenheit fah er dann zu, wie die ftarfen 
Thiere an den vothgeftidten Stirnbändern ſonder Beſchwerde die 
hoc) aufgebauſchten Fuder den fteilen Weg hinauf zogen. 

Als tüchtiger Landwirth hielt er feine Gedanken auf die Arbeit 
| gerichtet, folange er zu jhaffen Hatte. Nun, da er fich zum Heim: 

weg wandte, fehrten fie zu feinem beabjichtigten Ehewerk zurüd. 
Er wollte doch einmal den Schloßhauptmann in die Seite ſtoßen, 
auf dak die Sache fürbaf ging. 

Drüben auf der herrſchaftlichen Wiefe trabte fein zukünftiger 
Schwiegervater auf feinem Ramskopf zwiſchen den Mrbeitern 
herum. Da fonnte er ihn gleich abfangen und ihm feine Meinung 
fagen über diefe unnöthige Zimperlichkeit. 

An dem Eingang zur Schlucht wartele er auf den Schloß: 
hauptmann. Dann begannen Ramskopf und Rothſchimmel neben 

| einander empor zu Himmen. 

„Sagt einmal, wie fteht es mit meiner zufünftigen Braut?“ 
fragte U ohne Umſchweife. 

Der Schloßhauptmann drehte verlegen an einem Knopf feines 
Wamſes. „Ich vertraue, daß noch alles qut wird,“ antwortete 
er. „Habt nur Geduld! Eie ift noch gar jung.” 

„Ach jung,“ murrte Up. „Meine Mutter war fechzchn 
Jahre alt, da fie ſich verehelichte. Das iſt fein Grund, mid) 
binzuhalten. Ihr und Eure Frau Eheliebfte fennt mid) genug; 
ſam; und das ift die Hauptjache.* 

Der Schlofhauptmann drehte unruhig weiter. „Das ijt 
nicht die Hauptſache,“ antwortete er. „Ach habe in Weimar ver- 
nommen, daß das Frauenzimmer insgefammt igunder verlangt, 
daß das Mannsvolk ihm zu Gefallen lebt und ihm aufwartet. 
Die jungen Herren von Adel bringen dort jeden Tag einen 
neuen Brauch auf. Heute beugen fie ein nie mit Knixen, 
morgen kuſſen fie zue Huldigung die eigenen Fingerſpitzen.“ 

Utz blickte dem Schlofhauptmann mit chrlicyem Zorn in das 
Geficht. „Dazu bringt mic) fein Menſch, daß ich einen Anix 
mache wie das Frauenzimmer. Und fein vernünftiger Mann 
verlobt fi, um die eignen Fingerfpigen zu Tüfien.” 

Der Schlofhauptmann drehte verzweifelt. „Wer weiß auch, 
wie es ausfiele! Aber gut wäre es, wenn Ahr noch ein wenig 
abgehobelt würdet. Mid, dünkt das Befte, Ahr thut eine zeit- 
lang Dienft bei der Frau Herzogin. Sie bedarf mitunter noch 
eines Hofjunfers und wird gern auf den Vorſchlag eingehen, da 
Ihr fo nahe zur Hand wohnt.“ 

„Bleibt mir mit dem Hofdienjt vom Halfe!“ Enarbelte 116 
troßig in feinen weißblonden Schnurebart. „Wozu bin ic) ein 
‚ Freiherr?“ 

Jetzt riß dem Schloßhauptmann der Knopf und der Bedulds- 
faden zugleich. „Adelig find Eure Ahnen geworden und Frei— 
‚ herren, dietweil fie durch ihre edle Art über den ungchobelten 
Pöbel empor ragten und fich frei machten von dörflicher Tölpelei. 
ı Wollt Ihr unverehelicht bleiben, jo möget Ahr auf Eurer Scholle 
‚ figen wie der Buhahn in jeinem Felſenloch. Gedenkt Ihr aber 
| ein Weib heimzuführen, müßt Ihr fernen, das Amt eines Familien 
| Hauptes würdig fürzuſtellen. Sunft wird eine adelige Jungfrau 
Euch nicht das Rränzlein reichen, fondern einen Korb aufhucken.“ 

Us ſah erſchrocken den Scloßhauptmann an. 

Bott jei Dank! Obgleich er mit feiner Nede daher polterte, 
zeigten ſich doch die Schelmenfälihen an dem einen Auge. 

Da ſeufzte Up tief auf und fagte gutmüthig: „Nun, wenn 
Ihr meint, daß es mir in den heiligen Ehejtand Hilft, fo ich 

eine Hofſchranze werde, will ich's verſuchen.“ 

Der Schloßhauptmann nidte verjöhnt. „So ift's recht. Ein 
‚ Huger Mann findet ſich in alles. Gleich morgen werdet Ihr 
zum erjten Male Dienjt thun können. Die Gräfinnen von Rudol- 
ftadt und Mansjeld wollen unfrer Frau Herzogin die Viſile 
geben, und Hochdieſelbe wird eine Mahlzeit anpräfentiven.” 

Dann ſchüttelten fie fid) die Hände, und jeder ritt in fein 
Hofthor ein. 

Nun war noch ein zweiter Sorgenitein auf das Herz des 
unters gewälzt, Die Ellbogen, müde von der Arbeit, auf den 
Tiſch geitemmt, das Haupt in die Hände geftügt, ſaß er vor 
‚ feinem Mittagstifh, und cs fchmedte ihm abermals kein Biſſen. 

Bald darauf wurde er zur Aufwartung beſohlen. Da ſchlief er 


“ 





—s 


wiederum die ganze Nacht nicht. 
Gräfin von Rudolſtadt und die Mansfeldin nicht daheim ſitzen? 
Warum wählen fie auf ihrem Zuge gerade die Dornburg zu einem 
Ruheſtündlein?“ beummte er, während er das Staatskleid anlegte. 

Trotz alles freiherrlichen Bewußtieins war jeine Beflommen 
heit jo aroß, daß cr bei dem Gang über den Schloßhof das 
Rosmarinftäudlein für Käthchen hielt und demfelben eine um— 
ſtandliche Reverenz machte. Seine erjten fräftigen Schritte in dem 
Flur des Nefidenzhanfes hallten lant in dem weiten Raume wieder, 


Unwillkürlich Hob er fich auf die Zehen. Der Gruß, den er mit | 
| feufzend, daß der Schäferbund auf der langen Bank einfchlafen 


voller Stimme dem Schloßhauptmann beim Cintritt in das Bor 
zimmer bot, erjtarb ihm auf der Zunge. Es herrſchte eine fo 
feierliche Stille dafelbjt. Was war das nur? 

Er fannte alle, die an den Wänden aufqereiht jtanden, ſogar 
recht genau. Hatte die Hofmeifterin ihm nicht ihr Herzensgeheimniß 
anvertrant? War die Hofjungfrau micht mit ihm nach Haus ge 
ritten? Und wie oft Hatte er ein Auge zugedrüdt, wenn die 
Fagen in feinen Kirfchen hauften gleich den Spaten! 

Aber — vollbrachten es die ftillen abgeſchloſſenen Räume, 
der feine Duft des Räucherwerkes, die feierliche Tracht? Sie 
jtellten fich ihm aanz anders dar als jonft: jtelj, unnahbar. 
Selbjt der gemüthliche Schloßhauptmann erichien ihm im dem 
goldgejtidten Galakleid fremd. 

Dieſer merkte feinem Schützling die Beklommenheit an und 
ſuchte ihm Mulh einzureden. „Ihr habt ein neues ſchönes Wams 
und einen alten guten Namen; damit kommt Ihr bei jedem ver— 
nünftigen HoF fort. Und wenn Ihe nicht wißt, was Ihr ſagen 
follt, macht nur eine tiefe Neverenz; die gilt allda oft mehr 
als die Hügite Antwort.” 

„Iſt das der Hoſdienſt,“ flüſterte Ug nach einem Weilchen 
hinter der vorgehaltenen Hand dem Schloßhauptmann zu, „daß 
man dajteht wie die Störche, wenn fie Nath halten?” 

„Einen Storch,“ war die ebenjo Ieife gegebene Antwort, 
„braucht Ihr Euch nicht gerade zum Mufter bei Eurer Auf: 
wartung zu nehmen.“ : 

Aber im nächſten Mugenblid wurde dem Junler Mar, was 
Hofdienft war. Trompeten jchmetterten auf dem Burgweg, die 
Pagen flogen, der Schloßhauptmann zog ihn an den Mermelpuffen 
ſich nad. 

Und nun mußte jein ſonſt fo gerader Rüden ſich unauf⸗ 
hörlich büden. Bald fchritt er mit dem Schlofhauptmann vor: 
wärts, bald rückwärts. Mn feinen Mugen ging die fremde 
Herrichaft vorüber. Er wußte nicht, wie ihm geichehen war. 
Deito beffer wußte e3 die rumdliche Hofmeifterin. Sie ftedte fich 
veritohlen die Falten des Nodes feſt, welche der Junker ihr 
abgetreten hatte. Der Gedanke an den Pfanenfederbijchel war 
ihm ein Troſt. Und wie qut war es, daß er die Pagen hatte in 
den Kirchen ſihen Lafjen, denn als er mit ausgeipreizten Ellbogen 
ein venetianifches Glas umſtieß, brachten diefe die Scherben un— 
bemerkt bei Seite. 

Es wurde ihm fiedend heiß als Vorleger beim Mahl. Was 
thut ein Manı mit geronnener Milch über Neistörnlein? Wie 
traltiet man die riefige Papierlrauſe am acbratenen Hahn? 

Als er nah gethanem Dienst mit dem väterlichen Freund 
an der Tafel der Hofleute Pat nahm, war ihm der Hunger 
gänzlich vergangen. 

„Sp iſt's recht,“ vaunte der Schloßhauptmann ihm zu, „ein 
Hofmann wird von der Gnade jatt,” 

Und welche wunderliche Geipräche wurden geführt! Zuerſt 


begriff er alles ganz qui. Die Damen unterhielten ji von der | 


Sorge, daß der Kaifer alle eingezogenen geiſtlichen Güter wieder 
zurüd verlangen wolle. Es war glaublid, daß die Frau Gräfin 
von Rudolſtadt nicht jchlafen konnte wegen des aefährdeten Kloſter 
autes Baulinzelle, und die Herzöge von Altenburg ſich wehrten, 
Heusdorf und Bürgel wieder Herzugeben. Ein wie figliger Punkt 
der Geldfaiten überall und allezeit geivejen ist, wußte Up. Auch 
was jie von der wieder näher drohenden Kriegsaefahr flüfterten, 
verjtand er. Er hatte ſchon längſt der Sache nicht mehr getraut. 
Der Plab in feinem Keller war auserjehen, wohin ex jeine bejten 
Schäße vergraben wollte, und ein Augsburger Feuerrohr von ihm 
gekauft worden, um Haus und Herd vertheidigen zu können gegen 
eindringendes Kriegsvolk. 

Aber was die Schäferei damit zu Schaffen haben jollte, blieb 
ihm unbegreiflich. Die gräflichen Gnaden erärten ganz ernfthaft, 


182 


„Warum bleiben nur die Frau | daß man nicht darauf rechnen dürfe, Schäfer zu finden in dielen 





— 


ſchlimmen Seiten. Nun ja! Es mar ja ein berantwortlid 
Dienst; die Thiere durften nicht am Stellen geführt werden, wo 
aiftiges Sefräut wuchs. Jedoch für jo hochwichtige Leute erachtete 
er die Schäfer nicht und hatte nie Mangel an foldhen verſpürt. 

Und nun vollends die Schäferinnen! 

Welch eine verwahrlofte Wirthſchaft war das, Ivo die Weiber 
hüteten! Denen gehorchte ja nimmer ein richtiger Schäferhund. 
Er vertraute nur feine Gänſe einer Hirtin an. Und welches 
Wejen machten fie davon! Die Gräfin von Mansfeld meinte 


müſſe, darauf der Rath vom Schöppenjtuhl in Nena ihn ge 
ichoben habe, 

Dummes Zeug! Der Scöppenftuhl verurteilte Heren umd 
Mörder; aber cr ſchor ſich nicht um widerſpenſtige Schäfer. 
Denen ließ ein adeliger Herr jelbft die gebührenden Hiebe aufzählen. 

Aber war der Herzogin Dorothea ein Knöchlein von den 
aebratenen Finfen in den Hals gelommen, daß fie fo purpur- 
roth wurde? Und niemand Hopfte ihr Hilfreich in den Rüden. 
Die Damen fchienen es im der Ordnung zu finden, daß das 


fürftliche Fräulein erjtidte. 
Dann brach der Beſuch wieder auf. Abermals büdte ſich 


| Sunfer Utz; wieder zog er vorwärts und rüdwärts, und wieder 


vollbradhte er eine That: er ftieh mit feiner Hutfeder die lang— 
nafige Hofjungfrau in das Auge, daß fie an dem Tag nichts 
mehr zu erichauen vermochte. 

Gottlob! Da ritten die gräflichen Gnaden ab. Das legte 
wappengeftidte Fähnlein, das die Pferde der Damen auf den 
Schweifen trugen, verſchwand in der Thonwölbung. 

Nacdıträglich ſchob Up vorſichtig mit den Fußſpitzen die fangen 
Nöde aus dem Wege, drüdte die Ellbogen an und hielt den Hut 
geſenlt. Der Schlofhauptmann nickte mohlgefällid. Das Unheil, 
das Up über andere gebracht, hatte ihm genügt. 

„Wollt Ihr bei meiner Hauschre einen Trunf auf den 
Schreden thun?“ fragte er gemüthlich, da fie entlaflen waren. 

„Sch danle Euch,“ erwiderte Up. „Aber mein erites Wert 
it, daß ich den engen Halskragen ablege. Er hätte mich traun 
erwürgen fünnen.“ Er drüdte dem Scloßhauptmann fräftig die 


| Hand und begab ſich ſpornſtreichs heim. 





und Kind feinen Biſſen hinab gebracht hatten. 


Pfiffig vor ſich hinblinzelnd, ging aucd Herr von Tauten- 
burg nach Haus. 

Die Abendtafel war gededt. In der Küche fotten Karauſchen 
aus der Saale. rau und Tochter trugen Eſſigflaſche und 
Pfefferbüchſe herbei und zeigten Gefichter, die mit dem Anhalt 
der Gefäße wetteiferten. Aber er war zu vergnügl, um fich von 
der jchlechten Laune anſteden zu laffen. Er ſchob Käthchen den 
Canarizuder in den Mund, den er wie üblich von der fürftlichen 
Tafel mitgebradht hatte, hüllte fi) in fein Hauskleid und nahm 
Platz vor feinen tellerrunden Karauſchen. 

„Run,“ plauderte er, das Fleiſch von den Gräten löfend, 
„der Utz macht ſich ganz qut als Hofjunfer. Er hat audy der 
Hofjungfrau, die fo hübjd mit ihm auf feinem Rothſchimmel fa, 
gehörig in die Augen geſtochen.“ Er lachte wie ein Kobold. 

Seiner Ehehälfte fiel die Gabel aus der Hand. Er wollte 
jie über feinen Witz aufklären — da zog Käthe feinen Blid auf jich. 

Mit offenjtchendem Miündchen und großen Augen ftarrte fie 
ihn schier entjept an. Bob Wetter! 

Mit verzweifelt pfiffigem Augenblinzeln fuhr er fort: „Schade, 
Käthe, daß Du ihn mit einem Korbe heimſchicken willit. Das 
ihöne Sprüchlein über feiner Hauspforte, das den Ein- und 
Ausgehenden Glück und aud den Borüberwandelnden Gottes 
Geleit wünfcht, wird fich anders an Dir erfüllen, als wir ver: 
bofften. Die Hofjunafrau wird die Cinziehende, Du wirt die 
Borüberwandelnde fein und zufehen, wie ſie den Kühen die 
Glocken anbängt, die Utz Deinetwegen angeichafft hat. Sie wird 
ihr ſcharfkantiges Näschen, an welchem bishero jeglicher Ehering 
vorüber gezogen iſt, hoch in die Luft reden, wenn fie aus dem 
Thurm des ftattlihen Schlößchens auf Did herabficht.“ 

Er hatte den Fiſch aufgefpeiit, unbetüimmert darum, da Frau 
Run ſprach er 
geruhig jein Tiſchgebet und fchicte fein Töchterlein mit einer Gute 
nacht zu Bett. Der Herr Vater hatte qut reden, Käthe fonnte 
nicht Schlafen. Unaufhörlich warf fie den blonden Kopf auf dem 
Kiffen hin umd ber. Zu ſchwere Gedanfen mußte er verarbeiten. 





D, wie wahr ſprach der alte Schloßvogt: es gab Feine Ges | 


vechtigfeit in ‚der Welt. Sie jollte den Belter Adatius nicht 
heirathen, und die Hejjungfran jollte den Junkler UG befommen, 


das jchöne Gut, den Hühnerhof und die weißen Kühe mit den | 


Soden. Die Hofjärtige jollte ernſen, was für fie geſät war. 
Ach, wer doch jterben könnte und in einem weißen Kleide da— 
liegen! Dann füme der Junfer U herüber mit feiner verwellten 


Ans weiter Ferne, fire immer von ihr gelvenut, lenlte der 


hochgeſinnte Mann ihren ſtrauchelnden Fuß auf den rechten Weg, 


Braut und bevente, daß er die Hochmüthige genommen, welche | 


die Meine Käthe immer über die Achſel anſah. Aber nun half 
es nichts, Käthe war mauſetodt. Und bei diejer friedlichen Vor— 
ftellung ſanken ihr die Mugen zu, und fie ichlief wie ein Rätzchen 
in die ſchwüle Nacht hinein. - 


Tiefes Dunkel umbüllte die Dornburg. Nur die Fenſter 


der Herzogin Dorothen ſchauten heil gleich chlaflofen Augen in | 


die Nacht hinaus. Nicht fehnell genug hatten die Kammermägde 


den duftigen Talatharod, die Schmudzierden abftreiien können. 


Dann winkte Dorothea ihnen ungeduldig Entlafjung. Mit vor 

Eife zitternden Fingern vafiten fie die ſchweren Bettvorhänge, 

zündeten die Kerzen auf dem Betpult an und verſchwanden. 
Dorothea beachtete die Vorbereitungen zu ihrer Abendandacht 

gar nicht. Ihre Gedanken janten durch ihr glühendes Haupt, 

während fie jonder Ruhe und Raſt im Gemach auf und ab wandelte. 
Welch ein aualvoller Taq lag hinter ihr! 


Nicht die Gleichgültigkeit, mit welcher die Bäjte das Schäfer: | 


ipiel hatten fallen Taffen wie einen Mummenſchanz, war es ges 
weien, die ihr Herz zuſchnürle. Das bedanernde Achſelzucken der 
Gräfinnen über den zu fo ungelegener Zeit geftifteten Bund, die 
bedeutungsvollen Blide ihrer Mutter ſah fie faum. Was won das 
alles gegen bie furchibare Erkenntniß, die ſich ihr aufprängte, nicht 
mehr zurüdiweiien ließ: für werthlojen Flitter, für Luftgebilde, 
inhaltlos wie bunte Seifenblafen, hatte fie ihr Lebensglück aufs 
Spiel gejegt und — verloren! 

Ach, ſchon lange dämmerte dieje Einficht in ihr. Schon damals, 
als des Kaiſers Eingriff in die Rechte der evangelifchen Fürjten wie 
ein drohender Windftoß vor dem Gemitter in die trügeriiche Ruhe 
hinein fuhr; dann bei der Nachricht, daß Gott im hohen Norden 
der lutheriſchen Sache einen Kämpen erwedt habe und leifes 
Waffenklirren an den verwandten Höfen der Botichaft antwortete. 

Die ſächſiſchen Fürſten ftanden auf der Wacht gegen den 


Papſt und den hiſpaniſch gefinnten Kaiſer. Sie waren bereit, zu. 


iterben fir Glauben und Vaterland. 

Sp hatte er gefprodyen im welichen Garten; fie meinte die 
ernfte Stimme nod) zu hören. 
Aber eine beige Gluth ftieg in ihre Wangen bei dem Gedanken, 
da die kurz geſchürzte, bebänderte Schäferin, die damals den An: 
theil an der Sorge der harten Zeit jo leichtfertig abwies — fie ge: 
weien war, die deutiche Fürftin. 

Und was half es ihr, daß fie ſich jagte, aud fie habe für 
eine qute Sache gekämpft, für einen würdigeren Platz der Frau? 
Wer hätte Zeit gehabt, über einen folden zu disputiven, während 
geiteitten werben mußte um Glaubensfreiheit und dns tägliche Brot? 

Hatte eine dev Gräfinnen danach Berlangen getragen? Sie 
bangten nur um das Leben ihrer Herren, wenn die Kriegsfurie 
wieder entfeſſelt würde; fie flehten einzig zu Gott um Erhaltung 
der Stätte, am der fie walteten: des häuslichen Herdes. 

Auf welchen Irrweg war fie von dem franzöfiichen Roman 
geführt worden! Verwöhnt und verzärtelt hatte fie die Sprache des 
jelben, daß ein aufrichtines Wort fie herriſch dünkte; eines Serbiteurs 
hatte fie begehrt, und ihr fchiwanlender Sinn bedurfte doch eines 
Führers; Mißverſtändniſſe hatte fie erichnt, von fühen Schmerzen 
geräumt — o, mun war der wirkliche Schmerz über fie ge— 
fommen, und jie erfannte, daß ex Fein ſüßer Gejpiel, jondern ein 
harter Zuchtmeijter ift. 

Ihre Thränen begannen zu fließen. Könnte fie doch ihr Leben 
für immer Schließen wie dort das unjelige Bud. Waren doch beide 
nleich verfehlt. Aber ihre Tage ſpannen fich weiter — troftlos, 
öde. Wie leere Blätter lagen fie vor ihr, feitdem der Name, den 
das Schickſal gnädig für fie hHineingezeichnet hatte, von ihrer freveln- 
den Hand ausgelöjcht worden war. 

Was vermochte die Stelle auszufüllen? 

Die Pflicht! 

Wer rief das Wort? Sie kannte den Klang der Stimme, 
So feierlich Hatte fie es ſchon einmal ſprechen hören. Ach, es war 
ihr treues Gedãchtniß gewefen. 


Jetzt verftand fie feine Strenge. | 





wie er fie damals aus dem ergarten aeführt hatte. 

Die Pflicht! 

An diefeom Wort, das fie einst hart und ungalant genannt 
hatte, richtete fie fich allmählich auf. Ja, es war in ihre Hand 
gegeben, ihr aftes Leben zu beichließen und ein neues zu beginnen. 
Sie wollte ihre Pflicht thun als dentiche Fürſtin, wie er fie that 
als deutjcher Fürft. 

Die Kerzen auf dem Betpult waren tief berabgebrannt. 
Bevor Dorothea fie Löfchte, zog fie aus den Andachtsbüdjern das 
Heine Gebetbuch ihrer Großmutter hervor. Ihr Blick fiel auf 
eine Stelle, welde die nun läugſt in Staub zerfallene Hand 
vorgeftrichen hatte: 

„Bere, ich bin der Thon, Du bift ter Töpfer und Wer’- 
meilter,“ 

Draußen graute der Tag. Der friiche Thüringer Wind, der 
jo kühl und ſpröde an den Felſen und Wäldern wird, daran ex 
ſich wnabläffig ftöht, vanichte wie mumterer Morgengruß um den 
alten Opferbaum des Donnergottes; zwilchen den Erlen am Saal 
ufer verſchwanden die Nebelgeitalten mit ihren weißen dünnen 
Nrmen und winlenden Schleiern; in Dorndorf beipannten bie 
Bauern den ſchweren deutichen Pflug, und drüben am Wiejenrain 
kroch der alte Hirt aus feiner Bucht und zog den Scafpelz über 
die Ohren. 

Als der erſte Sonnenſtrahl die Finnen der Dornburg traf, 
da wirbefte ein zartes Rauchwölkchen aus dem Schornftein über der 
Wohnung des fürſtlichen Fräuleins. Nofin angehaucht, kräuſelte 
es ſich und verwehte in der klaren Luft wie ein flüchtiger Traum. 


* * 
= 


An einem der mächiten Tage lich Frau von‘ Tautenbura 
Seife kochen. Unter ihrer Aufficht mußte Grethe im Wirthichafs 


‚ hof Aſche in den Laugenlorb fchaufeln. 


Da ſchimmerte es bunt aus dem grauen Häuflein. Sie zog 
ein Endchen vertohlte gewirkte Borte heraus, daran noch Gold: 
leder hing und das winzige Bipfelchen eines rofenfarbigen Herzens, 
das nun in Wahrheit verbrannt war. 

Frau von Tautenburg kannte die Haderlümpchen. Gewichtig 
ticte ihe würdiges Haupt. Schade, daß die Läuterungen, welche 
die Menfchen erfahren, fo jelten zu einer Zeit kommen, da jie 
diejelben zu müßen vermögen auf ihrer Erdenwallfahrt. 

Dann jchritt fie in die Stube, hielt ihrem Töchterlein den 
Fund vor die Mugen und ſprach: „Solches ift das Ende der 
Alamodenarrethei. Das kommt davon, wenn den lindern nicht 
zu vechter Zeit duch den Sinn gefahren wird.“ 

Käthe hörte es laum. Sie fand am Fenfter und lugle 
veritohlen nach dem Weg hinab, der ins Saalthal führte. 

Dort ritt Kunfer U auf feinem Rothſchimmel heran. Wie 
das Wunderthier Chamäleon jchaute fie zugleich nad) zwei ver 
ſchiedenen Seiten: nach dem Reiter und dem Fenſter der Hofjung 
frau. Da jtedte die Zudringliche wahrhaftig die Lange Naſe heraus. 

Na warte! KHäthchen zeigte ſich and). 

Der Utz traute erſt feinen Augen nicht. Daun zog er den 
Hut tief vor ihre. Sie mußte geſtehen: er halte cs ganz hübſch 
gelernt bei feiner Aufwartung als Hofjunter. 

Und fie machte ein fteifes Knixchen. 

Da ſchaute er fich noch einmal um nach ihr. 

Wie er roth geworden war! Es fiel ihm micht ein, nadı 
der dürren Hopfenftange hinzubliden. Die mochte nur das Fenſter 
zufchieben. Sie aber wollte wader aufpafien, daß der Hofjungfrau 
der Spaß verdorben würde, 

Da hatte fie viel zu than; denn nach dem Heu wurde der 
weißgelbe Roggen, dann der roftfarbige Weizen eingeheimft. Und 
der 1b fie es ich nicht nehmen, jeglichen Wagen auf dem fahr 
lichen Weg unter der Dornburg hinweg zu geleiten. 

Und über der neuen Sorge um den Junker Us entſchwand 
der alte Gram um den Vetter Achatins. Wer hätte das gedadıt? 

Ja, wer hätte das gedacht? 

Diefe Frage legte ſich jeglicher Bewohner der Dornburg jebt 
vor: die Frau Witwe, jo oft ihr Schönes Mind an dem Klavi— 
eymbel ſich niederlich und die zarten finger fo ernſte Mecorde 
fuchten; das Frauenzimmer, wenn cs mit dem fürjtlichen Fräulein 
unter dem Dädjlein ſaß, jtatt des Schäferromans die Noth-, 


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Bitte und Betthräuen Flehender las und an Stelle feidener Hirten | 


täjchlein warme Schauben und Röde für arme Untertanen nähte: 
und die Kammermägdlein, als der’ weliche ‚Händler, der beuer 
wie in jedem Herbjt die Dornburg beimfuchte, jeinen goldgewäſſerten 
Moor und die Silberipiben wieder einpaden mußte, weil das 
fürſtliche Fränlein fein Beachren danad) trug. 

Wer hätte das gedacht? fragte auch er verdriehlih. Die 
Nammermägdlein juchten ihn damit zu tröften, daß er zum Schloß— 
bauptmann bevufen ſei. 

Er aber IHagte: „D, Frau von Tantenburg! Nix Brofat, 
immer Kartek.“ 

Mißmutkhig wanderte er hinüber nach der Wohnung des 
Schloßhauptmanns und begann feinen ehrenwerthen Kartek aus: 
zubreiten. Aber diesmal rief Herr von Tautenburg: „Nie Martef! 
Legt uns Damaft und Goldpofament vor!” 

Der geſchmeidige Welſche fand ſich jofort darein. Bor den 
Augen der beiden Tautenburgerinnen entfalteten ſich Prachtſtoffe 
in allen Farben des Nogenbogens. 

Der Schloßhauptmann Tugte aus feinen zugelnifienen Augen 
Kathen an. Die ſchaule unverwandt auf einen karmoilinfarbigen 
Damaſt. Schüchtern bielt fie eine breite Silberborte darauf. Es 
war ein herrlicher Anblid. 

Ihr Bater raunte ihr zu: „Dieles Zeug würde ich Die zum 
Brautllcid erwählt haben, wenn Du den Junker Up genommen 
hätteſt. Nunmehro wird ſich die Hofjungfrau dasfelbe kaufen.” 


Nir Kartek!“ — 


‚auf die Freude und das 


u 


Käthe ſah ihn Hinterhaltig an und ging zur Thür hinaus, 

Er biinzelte pfiffig hinter ihr ber, legte nun Beſchlag ani 
den Stoff, faufte audı noch feinem Ehegemahl einen fammelnen 
Rock und einen Schürzeneinfag von Atlas, der mit goldenen 
Weſpen geitidt war. 

Der Händler zog vergnügt ab. „Ne Sammet und Seide 

Käthchen war indeſſen machdenklih zum Burathor hinaus 
in den jchattigen Hain gewandelt. Ruhe und Kühle umfing Sie, 
Das Schreien und Peitichenfnallen der Erntearbeiter tönte nur ae 
dämpft herein in die Yaubhallen, einzelne Sonnenlichter zitterten 
auf den Schon falb ſich fürbenden Waldaräjern. 

In ihre Gedanken verſtrickt, ſchritt fie weiter und ſtand 
plötzlich unter der alten Ulme, die nun Schon feit Jahrhunderten 
Leid der Menfchentinder herabjchaute 
Sie ſetzte fich zwiſchen die jtarfen bemooften Wurzeln und ſtühte 
ihr gedankenſchweres Köpfchen jorgenvoll in die Hand. 

Unter allen Yeiden der Jugend ijt eines der ſchwerſten, daß fie 
jo oft wicht weiß, was fie will. Alſo erging es auch Kathchen. Six 
wollte ja das jchöne Gut, den Hühnerhof und das farmoifine leid. 

Und aud) den Utz? 

Tas war es ja eben, was fie nicht wußte. Nur eines ftand 
feſt: Wenn die Hofjungfrau ihm Heirathete, jo war dieſes das 
größte Unglück, weldyes auf Erden geſchehen konnte. 

(Schluß folge) 


Zum vierzigjäbrigen Negierungsiubiläum des Kaiſers von Oeſterreich. 


vierzig Jahre find verfloſſen, ſeildem Kaiſer Franz Joſeph 1. 

den öſterreichiſchen Thron beſtiegen, vierzig Jahre fo ereigniß— 
reich, jo reich an wechſelvollen Geichiden, daß mandies Jahr 
hundert in der Geſchichte einzelner Neiche nicht jolhen Wandel und 
Wechſel aufweiien fan. Doch mitten in der Brandung, in den 
hochgebenden Wogen des Aufſtandes und drohender Kriegsgefahr 
lag das Steuer des Reichs feſt in des Kaiſers Hand, der mit um 
ermädlicher Kraft und Treue für das Wohl feiner Völker forgte 
und, wenn em Unglück die Wahlen feines tapferen Heeres traf 
vder des Neiches Umfang verminderte, um fo mehr den innern 


 foflte. 


Ausbau förderte und über feine weiten Gebiete die Segnungen 


der Eivikijatton md wachſende Wohlfahrt zu verbreiten fnchte. 

Als am 2. Dezember 1948 nad) der Thronentſagung feines 
Oheims, des damaligen Kaiſers Ferdinand, und der Verzichtleiftung 
jeines Waters Franz Karl auf die Nachfolge der achtzehnjährige Kaiſer 
die Zügel der Regierung ergriff, da drohte das alte, an Ehren ımd 
Siegen reiche Oeſterreich aus den Fugen zu geben; der manyariiche 
Auſſtand war noch umbezwungen, und Italien fuchte das Noch der 
Freindherrſchaft abzufchüitteln. Doch ſiegte Defterreichs quter Stern. 

Um des Reiches Zufammenhaft zu fichern, wurden alle Zu— 
gelländniffe der Verfaſſung vom 4. März 1949 wieder zurüch 
genommen: an die Stelle der Verfaſſung trat das frühere uns 
eingeichränfte Negiment. In den nächſten Jahren bereifte ber 
Kaifer alle feine Kronlande, Böhmen, Steiermark, Italien, Galizien, 
Ungarn, Kroatien, um ſich mit der Eigenthümlichkeit der Völler— 
ichaften, mit den Bedürfniſſen der Länder durch perfönliche An— 
ſchauung und Kenntniß vertraut zu maden. So ernſt erfahte der 
junge Monardı feine Aufgabe; denn wenn irgend ein Reich nicht 
bloß aus dem Kabinet des Fürjten heraus regiert werden kann, 
fo ift es das vielſprachige Defterreich, weldyes eine genaue Kennt— 
niß feiner Völkerſtämme, ihrer Sitten und Sprachen feiten® des 
Monarchen verlangt. 

Schmerzliche Erfahrungen blieben indeß dem Herrſcher diejes 
großen Reiches nicht erſpart; die Napoleoniſche Politik, welche 
Frankreichs gebietende Weltjtellung durch die Schutzherrſchaft über 
andere Völker wahren wollte, unteritügte Italien im Kampfe gegen 
Oeſterreich; die Schlachten bei Magenta und Solferino gingen 
verloren, ſo tapfer auch das Heer focht, an deſſen Spitze ſich in 
der Ichten Schlacht der Kaiſer ſelbſt geſtellt Hatte. 

Franz Joſeph kam dann mit Napoleon bei Villafranca zus 
jammen, unterzeichnete dort am 11, Juli 1859 die Präfiminarien, 
denen im November der Züricher Frieden folgte. Defterreich verlor 
die Lombardei. Um jo mehr galt es, 
Kraft zu ftärfen; hochherzig beichloß der Kaiſer, den einzelnen 


im Jnnern des Neiches | 


‚ Zändern jowohl wie auch dem ganzen Reiche eine Berfafjung zu 
geben, welche des Volkes Antheil an der Reichsgeſehzgebung fichern 
Angefündigt durch das Diplom vom 20. Oltober 1860, 
wurde die neue Berfafiumg des öfterreichiichen Kaiſerſtaals am 
26. Februar 1861 publicirt. Die Landtage traten bald daraui 
zuſammen und am 1. Mai wurde der Heichsrath eröffnet. 

In der Thronrede ſagle der Kaifer: „Ich halte feſt au der 
Ueberzeugung, daß freie Anftitutionen unter gewiſſenhafler Wahrung 
und Durchführung der Grundgeleße der Gleichberechtigung aller 
Bölfer des Reichs, der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Geſetze 
und der Theilnahme der Bolfsvertreter an der Geſetzgebung zu einer 
heilbeingenden Umgejtaltung der Geſammtmonagrchie führen werden.“ 
Und weiterhin heit es: „ch will diefes Wert, den Grundjägen 
einer offenen und freifinnigen Politik gemäß, im allen Theilen 
des Neichs einer gleichmäßigen Entwicklung entgegenführen, und 
zwar nach Recht und Billigfeit und mit Nüdjicht auf die Wer 
gangenheit der einzelnen Königreiche und Länder ſowie mit gleicher 
Liebe und Sorgfalt fiir jede der vielen edel Nationen, welche 
unter dem Scepter meines Hauſes brüderlich vereinigt find.“ 

Diefer Schönen Worte mag man am Aubeltage des Kaifers 
freudig gedenfen; es jind ftrahlende Perlen jeiner Krone. 

Die Schwierigleiten der großen Aufgabe verhehlte ſich der 
Kaiſer wicht, und in der That regte fich bald in Ungarn umd 
Kroatien der Widerſpruch; der ungariſche Landtag protejtirte in 
einer Adreſſe an den Kaiſer; er wurde aufgelöft und eine Art 
von Militärdiftatur in Ungarn eingeführt. Mehrere Jahre dauerte 
die Spannung zwiſchen den beiden Ländern; der ungelöfte Zwie 
ivalt fand exit ein Ende, als der Kaiſer im Juli 1865 die Reichs 
verfaffung filtirt, im Februar 1867 das ungariſche Staatsredht 
anerkannt hatte und am 8. Jumi 1867 als König von Ungarn feicı 
lich gekrönt worden war. Die Ausgleichsgeſetze, die der ungariſche 
Neichstag ausgearbeitet, waren von dem auf Grund der Februar 
verfaſſung wieder zufammenberufenen öfterreichiichen Reichsrath au: 
genommen worden, und jo ftand jeßt Ungarn neben Oeſterreich. 
Zwei Minifterien, zwei Parlamente, über ihnen aber ein gemeiniames 
Reichsminijterium, welches den Delegationen der beiden Reichstage 
verantwortlich war — jo beftimmten es die Staatsgrundgeiete 
vom 2. Dezember 1967. 

Das Beftreben des Kaiſers, eine Neform des Deutichen Bundes 
durch freie Vereinigung der Fürſten durchzuführen (Aug. 1865), 
jcheiterte daran, daß der wichti ſte Bundesſtaat, Preußen, ſich 
von demſelben fernhielt. Der Kaiſer ſelbſt Hatte die Berhand 
fungen des Fürftenfongreffes in Frankfurt mit parlamentarifdher 
Gewandtlheit geleitet. Der Widerſpruch Preußens gegen die von 




















Anferbfihkeit. Rach dem Delgemälde von Hermann Naulbadı. 
Metograpbie im Verlag von Fr Hanfkängı in Minden 





oe 7B6 > 


Oeſterreich geplante Bundesreform hinderte nicht, daß beide 
Staaten zuſammen ihre Heere in den Krieg gegen Dänemarf 
vum zur Befreiung des meerumſchlungenen, ſtanmnverwandten 

Scyleswig-Holjtein; doch nach erfochtenem Siege traten Irrungen 
hervor, die durch die Begegnung des Kaiſers Franz Joſeph mit 
König Wilhelm L in Salzburg im Augujt 1865 ausgeglichen zu 
fein ſchienen, aber doch zu beftigerem Ausbruche des innern Zwie 
ſpaltes zwiſchen den beiden Staaten und zuletzt zum Kriege von 
1866 führten. Die Niederlage bei Königgrätz hatte den Austritt 
Oeſterreichs aus Deutſchland und anferdem den Verluſt Venetiene 
zur Folge, troß der Siege, welche die öjterreichiiche Landmacht 
bei Cuſtozza, die Seemacht bei Liſſa über die Italiener erfochten. 
Um fo erfreufidyer war es, daß Kaiſer Franz Joſeph, nach den 
freundlichen Begegnungen mit Kaiſer Wilhelm I. in Gaſtein und 
Salzburg, die ſich jeit 1871 alljährlich wiederholten, zu dem engen 
Bündniß zwiſchen Deutichland und Deiterreihh 1879 in jtaats- 
männifcher Würdigung der großen Vedeutung desfelben feine Hand 
bot, Daß diejes Bündniß noch feit und merjchüttert dajtcht, das 
haben nod) jüngst die Katfertage in Wien bewieſen, der ebenſo 
glänzende wie herzliche Empfang, welcher dem jungen Kaiſer 
Deutſchlands, Wilhelm IL, bei feinem Beſuche in der Donauſtadt 
feitens des Hofs und der Bevölkerung zu theil geworden. Wir 
verweiien auf die Schilderung diefer bedeutungsvollen Fejttage, die 
wir in dem Artikel „Kaifer Wilhelm IL in Wien“ (Halbheft 24) 
brachten. Nach den Beftimmungen des Berliner Kongreſſes von 1878 
war Dejterreich die Verwaltung von Bosiien und der Herzegowina 
zugefallen; es hatte auf der Balfanhalbiniel fejten Fuß gefaßt und 
jo jeinen Machtbereich nach Süden wejentlich erweitert. Die deutiche 
Politik iſt Hier fürdernd den großen Intentionen des Kaiſers ent: 
gegen gefommen. 

Diejer kurze geſchichtliche Ueberblich, der nur Hervorragendes 
ſtreifen fonnte, zeigt uns, wie ereigniß- und thatenreich das Leben 
des Herrſchers war, der jebt das 58. Lebensjahr vollendet. Er hat 
durch eine weile Politik der öſterreichiſch-ungariſchen Monarchie 
au einer imponirenden Machtitellung im Herzen Europas ver: 
holfen, fie zu einer jtarfen, Bürgſchaſt des europäiſchen Friedens 
und des jiegreichen Kulturfortichrittes gemacht. Jedoch der 
raſtloſe Fleiß des pflichtgetreuen Negenten wurde, nod) mehr als 
durch Die oft drangvollen politischen Ereigniſſe, durd; die Für 
jorge für die innen Angelegenheiten, für die Wohlfahrt feiner 





Bölfer in Anſpruch aenommen Welche gewaltigen Fortſchritte 
Deſterreich unter feiner Regiernng gemacht, das wird die Kultur 
geſchichte in ihren Jahrbüchern verzeichnen: zahlreiche Schulen und 
Bildungsanftalten jeder Art, Inſtitute für Hebung des Verlehrs 
und des landwirthichaftlidien Betriebs, ein immer weiter ausge 
bautes, immer größere Länderjtveden umfajiendes Eijenbahnneg, die 
auferordentliche Vermehrung dev wirthichaftlichen Erzeugniſſe, die 
Blüthe von Handel und Gewerbe, das alles legt, wieviel audı 
der ſchöpferiſchen Wolfsfraft zugerechnet werden muß, Zeugniß ab 
für eine weile und fürforalice Regierung, welche die freie Ent: 
foltung derjelben gefördert und in die rechten Bahnen gelenkt hat. 

Vermählt ift Kaiſer Franz Joſeph I, feit dem 24. April 1854 
mit der Beinzeljin Elifabeth, der Tochter des Herzogs Marimilian 
von Bayern, die am 24. Dezember 1837 geboren wurde. Die 
anmutbige, Tchöne, vitterliche Kaiſerin von Dejterreich ift bekanntlich 
eine leidenſchaftliche Neiterin, welche vor den Gefahren einer eng: 
lichen Fuchsjagd wicht zurüchſchredt, muthig und kühn, vor- 
leuchtend den glänzenden Reiternöllern, die des Kaiſers Scepter 
beherrſcht. Aus diefer Ehe jtammen drei Kinder: Gifela, geboren 
den 12. Juli 1856, ſeit 1873 mit dem Prinzen $ Zeapelb von Babern 
vermählt, der Kronprinz Rudolf, geboren am 22. Nuquft 1858 und 
die 1868 geborene Erzberzogin Marie Valerie. Bekannt ift die 
Liebe zu den Naturwiſſenſchaften, die den öjterreichiihen Thron 
folger auszeichnet. Zeugniß dafür legt das große, unter feiner 
Yeitung herausgegebene Wert ab: „Die öfterreichtic-ungariiche 
Monarchie in Wort und Bild“, zu dem er felbjt die ſchwung— 
hafte Einleitung gefchrieben, Als gewandter Schriftiteller hat er 
jich bewährt in feinen Reifejchriften: „Eine Orientreiſe“, „Fünfzehn 
Tage auf der Donau“, „Iagdreifen in Ungarn“. Der mit der 
belgiſchen Prinzeſſin Stephanie jeit 1881 vermählte Kronprinz iſt 
eine glänzende Hoffnung für Defterreihs Zukunft; feine Ehe iſt 
mit einer Tochter gefegnet, der anmuthigen, jest fünfjährigen Erz— 
herzugin Eliſabeth. 

Am vierzigjährigen Jubeltage der faijerlichen Regierung aber 
vereinigen ſich alle Bölfer Deſterreichs, wie verjchieden auch 
ſonſt ibre Sprachen fein mögen, in der einen Spradye, die das 
Herz diktirt, in den heißen Segenswünſchen tür ihren geliebten 
Kaijer, deſſen ganzes Leben voll umabläjfiger Sorge für jeines 
Reiches Wohl war und der noch lange walten möge als bie Vor 
ſehung ſeiner Völler zu ihrem Heil, * 


Der deutſche Kaiſer in Italien. 


Von Roldemat Kaden. 


Italia, wir ſteh'n zu Dir! fo rief der junge Kaiſer — 
„Nun grüner new zu Ehr' und Hier, ihe alten Lorbeerreiler!” 

DD" Blumen und Blätter, die dem gen Rom fahrenden Kaiſer 

über den Weg gejtreut und in Sträußen und Kränzen ae: 
reicht wurden, find fängjt verwelft und verweht; verflungen find 
die Hymnen und Serenaden, das Beifallsjauchzen italienischer Be- 
geilterung, die Salutſchüſſe der Kanonen von Kaftellen und Vanzer— 
ſchiffen; die Ieuchtenden Fahnen Deutichlands und Italiens, die 
der friſche fee Herbſtwind jo luſtig ineinanderflocht und die vereint 
von den jtolzen Kriegsichifien der italienischen Marine in Neapels 
Golf flatterten, find zufammengerollt und geborgen worden; ver- 
laufen aud hat ſich nach ftürmiicher Brandung und lang nad) 
dauernder Aluthung der Strom, das Meer ter Völker, die aus 
den Gebirgen Kalabriens und der Bafılilata, aus der Tombardifchen 
und apulijchen Ebene, dem Gartenland Toskanas, von der Yetna- 
Inſel und allen andern Inseln des ſchönen Landes, gelommen 
waren, den Kaiſer zu fchauen, ihn Hand in Hand zu jehen mit 
ihrem geliebten Herricher, und, freudig überzeugt von dem Ernte, 
von der Herzlichfeit des Bundes, nun zurücdgelehrt find im ihre 
Städte und Dörfer, in Paläfte und Hütten, um den Heimge— 
biiebenen zu erzählen, daß fie mit eigenen Augen ihn exblidt, ihn, 
der Italien als Friedensfürſt ericheint. 

Auch der Kaiſer ſelbſt, nur ſchwer ſich losreißend von all 
den Lieben und Schönen, was ihm bier Fürſt und Wolf des 
Sonnenlandes entgegenbracdhten, ijt über die Alpen heimgelehrt in 
die Arme feiner Licben, empfangen als cin Gelicbter aud) vom 
gefammten germaniichen Volt. 


Auf Wiederfehen! war fein Sceidegruß in Neapel und in 
Nom. Auf Wicderfehen! rief ibm das italienische Wolf zurüd, 
dem er durch ein ſtolzes Kaiſerwort jeine thenre Kapitale für un: 
abjehbare Zeiten geſichert. . . . und wenn Dich im heimiſchen 
Norden droben der graue Tag wieder ernjt und falt empfangen 
wird, wenn Mühe und Sorge und Summer in dunklen fchleppen: 
den Gewändern wieder in Dein Gefolge treten — dann erinnere 
Did) der warmen gluthfarbenen Sonnentage in unjerem Süden, 
wo das Leben wohnt, erinnere Dich des Volles, das Dir nicht 
bloß in jlüchtigem Tagesrauſch zujubelte, das Did) Schon lange 
vorher, ſchon in Deinen Vätern liebte und ehrte umd Dich heute 
feiert in dem Bewußtfein, Dich. zur Seite ihres Königs zu eben 
mit dem Gelöbnig, Freud’ und Leid mit ihm, mit uns zu theilen, 
mit uns und ihm Eins zu fein in den hoben Aufgaben, die Eurer 
Völker warten.” .. . 

So, vder ungefähr jo dürfte der Auszug aller Anfprachen, 
Neden, Trinkſprüche, Hymnen und Gedichte lauten, die in diefen 
hohen Zeiten allüberall laut wırden. — — 

Die Chronik der jüngiten italieniichen Ereignifie zu fchreiben, 
iſt nicht Aufgabe der „Gartenlaube”, die dieſe nothwendig den 
Tagesblättern überlafien muß; nod immer aber hat dielelbe in 
ihren Annalen in großen Zügen die Thatiachen marfirt, die einer 
großen civiliſatoriſchen Idee entipringen und das Ergebniß find 
meisheitsvoller Vorbereitungen, die in einer Verbindung enden, 
durch welche ganze große Völker endlich in dem Stand geſetzt 
werden, Hindernifie, die ſich ihnen bislang als unüberwindbar auf 


ihrem zur Höhe auffchreitenden Wege entgegenitellten, zu über: 





— 0 


winden. Unendlich viel bedeutet heute ſür Jtalien die Verbindung | 
mit einer großen ftabifen Macht mit wahlverwandten Interefien; | 
und twelche Bedeutung lann jie für unfer umdrohtes Vaterland | 
nicht vielleicht ſchon in nächiten Zeiten gewinnen! 

Ein Alt der Gefchichte Hat fich abgefpielt. — 

Sympathiſch, wie dem italienischen Volke die vornehme und 
menfchenfreundliche Dynastie der Hohenzollern, ift dem Volle 
Deutichlands ſeit langem die in Italien hochverehrte, freiheitliebende 
und fördernde „Cala Savoia“. Un der Wiege beider aber ſaß 
ein gemeinfames Geſchick. Bis 1415 waren fie beide einflußlofe 
Feudalweſen; in diefem Jahre erft verlich Kaiſer Sigismund den 
Savoher den Herzogstitel, gleichzeitig dem Hohenzollern die Mark 
Brandenburg mit der Kurfürſtenwürde. In dreihundert darauf: 
folgenden Fahren fuchen Savoyer und Hohenzollern in Kraft die 


erjtien König von Preußen, und nur wenig Jahre fpäter einen 
König von Sardinien, fo daß nun beide Häufer ihren gebührenden 
Platz unter den Mächten Europas einnehmen. 

1866 verbindet das Land, dem die Eafa Savoia vorfteht, 
fih mit Deutfchland, ein erjter Schritt nach dem durch die politifche 
Einigkeit zu erreichenden Ziele. 1870 wird das große Hindernif 
der italienischen und der deutfchen Einheit, Frankreich, überwunden, 
Victor Emanuel fteigt aufs Capitol und Wilhelm ſetzt zu Ver— 
ſailles die deutjche Kaijerfrone fi) aufs Haupt. 

Bon da ab find Savoyen und Hohenzollern, find Deutſch— 
laud und Stalien geeinigt, „verbunden“, wie der junge Kaiſer 
vor dem verjanmelten Heichdtage am 25. Juni 1888 erflärt, 
„durch die gleichen qeichichtlichen Beziehungen und gleiche nationale 
Bebürfniffe der Gegenwart. Beide Länder wollen die Segnungen 
bes Friedens fejthalten, um in Ruhe der Bereftigung ihrer neu— 
getvonnenen Einheit, der Ausbildung ihrer nationalen Inſtitutionen 
umd der Förderung ihrer Wohlfahrt zu leben.“ 

Sie beide aber werden, fowie fie einig find im Bebauen der 
Felder des Friedens, aucd eine treue Waffenbrüderichaft halten, 
wenn die VBerhältniffe fie aufs Schlachtfeld drängen, und zu dieſem 
Zwecke, damit der waffenftundige Fürft, der junge deutiche Kaiſer 
die Stärke feines ſavoyiſchen Verbündeten fennen lerne, führte diejer 
ihm vor Rom, bei Eentocelle, fein herrliches Heer vor, ließ er in | 
Neapels herrlichem Golſe jeine- ftolze flotte an ihm vorüberfahren. 

Nur einmal erſt — das iR aber fchon lange her und 
jteht auf einer vergilbten Seite der Geſchichte nejchrieben — 
fanden Breußen und Piemontefen als Waffenbrüder fih zufammen 
auf dem Schlachtfelde, das war im Jahre 1706, wo Prinz 
Eugen fie nebjt den Dejterreichern (eine alte Tripelallianz!) gegen 


Grenzen ihrer Staaten zu erweitern, und 1701 giebt es fo den 
| 





die Turin belagernden 70000 Franzofen des Herzogs von Orleans 
zum Siege führte, 

Das andere Mal... .? Niemand Tüftet den Schleier, hinter 
dem hervor es blutroth jhimmert, aber der Kaiſer hat die Ueber— 
zeugung gewonnen und hat dieſer vor dem italienischen Kriegs— 
beren, vor defjen Heer: und Flottenführern lauten jreudigen Aus: 
drud gegeben: die vereinten Waffen werden unter allen Umftänden 
bewährt erfunden werden. 

Rom Hatte zum Empfange des Friedensfürſten viel geihan, 
dabei aber freilich nichts gefchaffen, was würdig geivejen wäre 
der kunſtgewandten Gegenwart und feiner großen Haffifch-künjtleris 
ichen Bergangenheit. Sein Feftapparat auf Straßen und Pläben 
entſprach durchaus nicht feiner Größe, zu welcher zwei Fahr: 
taufende Gefchichte es erhoben; — aber was aud) wäre das 
Herrlichſte, das Erhabenjte geweſen im Vergleich mit dem wogen: 
den Meere römiſcher und neapolitaniſcher Volksbegeifterung, das 
über die Dächer, über die Thürme hinaufichlug, in dem alles 
andere, Fahnen und Nanfen und Triumphbögen unterging, das 
mit feinem Braufen den Donner der Kanonen jelbjt verſchlang, 
und aus dem einzig und allein, von vielen hunderttaufend Augen 
aejucht, die leuchtende Geſtalt des Kaiſers wie eines antifen Sagen— 
helden hervorragte! 

Erſchüttert bis in des Herzens tiefſte Tiefen, bleich und 
ftumm, nahm er die Huldigungen, wie fie ein nordiſches Bolt 
nicht zu bringen vermag, entgegen; eines freien Volkes Huldigungen, 
das verftändniginnig zu ihm und dem ernftblidenden, gleichermaßen 
tief erregten König an feiner Excite emporjah. 

Und das traditionelle Wetterglüd des alten Hohenzollern war 
auch dem Enkel treu, Kente, da er zum ziveiten Male über die | 


87° — 


Alpen lam. Im legten Freühliuge, da er feinen Vater in defjen 
dunfeljten Stunden zum Teofte in San Nemo Eefuchte, lagen 
Sand und Meer im Trauergewand und Sturm und Negen waren 
feine Begleiter. 

Heute empfing ihm die Sonne taliens mit ihrem Helliten 
Schein; was fie berührte, wurde zu Gold. Der ärmite Schmuck 
in Zweig und Blatt bfitte und gliherte wie köſtliches Metall; die 
Nofen wurden zu Rubinen, die armen Fähnchen zu Seide und 
Goldbrofat. 

Aber am Herrlichkten ftrahlte das Meer. In ihm beraufchte 
die Sonne ſich und beraufcht fehrten die Blide von ihn zurüd. 
Auf diefem glänzenden Meere aber vollzog fid das glänzendfte 
Scaufpiel, das diefer Golf, den einft die Purpurſegel der Herren 
der Welt ducchfreuzten, je aejchen. 

In Eajtellamare, zwijchen dem Befuv und dem Kap der 
Minerva, eriwartete die ttalienifche Flotte, eine der fchönften und 
beitgeführten der Welt, in den anwefenden Schiffen allein 150 000 
Pferdelräfte repräfentirend, erwarteten ungezählte andere Dampfer, 
Schiffe, Yachts, Boote und Barken die vereinten, auf die ſchöne 
„Savoia“ fteigenden Herriher zur Taufe und zum darauffolgen- 
den Stapellauf de3 Kolojialpanzericifies „Umberto 11.” Alles 
vollzog Fich in größter Ordnung und höchſter Begeifterung. Aber 
fo prächtig diefes Schaufpiel auch war, übertroffen bei weitem 
ward es durch die darauffolgende Flottenſchau vor Neapel, Durch 
fie ward auc der Kaiſer zu rüdhaltlojer Bewunderung hinge— 
riſſen; durch eigene Augen überzeugte er ſich, daß Italien zu 
einer Seemacht eriten Ranges ſich emporgeichtwungen. 

Siebenundvierzig Schiffe, darunter die weltbefannten Rieſen 
Lepanto“, „Stalia”, von je 18000 Pferdekraft, der „Duitio“,. 
„Eina“, „Veſuvio“, „Stromboli”, „Tripoli“ und wie diefe See— 
ungeheuer ſonſt heifen mögen, manövrirten vor dem bdeutfchen 
Kriegsherrn, deſſen Streben es iſt, auch Deutſchlands Seemacht 
immer würdiger zu geſtalten, in bewundernswerther Weiſe. Wie 
luſtige Delphine ſchäumte die Schar der Torpedoboote durch die 
blaue Fluth und jene Kolofje bewegten fich gleich zierlichen Tänzern. 

Heer und Flotte Staliens hatten die große Probe bejtanden, 
und Italiens Name wird fortan mit Achtung, mit höchſter Achtung 
von dem Kaifer genannt, in aller Welt anerfannt werden. 

Der Gefchichtsforfcher erinnert ſich mit Lächeln der Zeit, 
nicht jener, wo ein deutfcher Kaifer im Büherhemd und barfuß 
von einem Bapjte gebemüthigt ward, fondern einer früheren, wo 
Deutſchland ungeftraft zur See befeidigt werden fonnte. 

Es war im Jahre 968. Im Palaſt des Nicephorus Pholas zu 
Konitantinopel gab es einen harten Wortjtreit. Liudprand, Biſchof 


\ von Eremona und Ubgefandter des deutjchen Kaifers Otto J. jtand 


bor dem zornmüthigen Griechenfaijer, der ihn und feinen deutſchen 
Heren in ſchroffſter, frechiter Barbarenweife befeidigte. 

„Sage Deinem Herrn, daß er in Ermangelung einer Flotte 
feine Herrjchaft auf dem Meere ausübt, ch allein Habe eine 
Flotte, ich habe Seeleute, und fommt mic) die Luſt an, jo werde 
ich mit ihmen feine Meerftädte angreifen und fie in Steinhaufen 
verwandeln...” 

Und was ift heute der Drient? — 

"Und nun kam die Abreife. Himmel und Sonne hatten ihre 
Schuldigkeit gethan und Hüllten ſich aufs neue in ihr Herbit- 
gewand. 

Es war ein ernſter, grauer, doch weicher Tag, der 19. Oltober, 
der Geburtstag feines unvergehlichen Waters, an dem der Kaiſer 
Pompeji bejuchte, um durch einen Blick in jene ſchweigende Ber- 
gangenheit das durch die überwältigende Serrlichleit der letzten 
Tage beraufchte und erregte Gemüth zu ſammeln. 

Ob er beim Anblid der in Ruinen liegenden Tempel und 
Häufer an unfere blonden Borfahren dachte, da dieje bei römischen 
Herren noch veradhtete Thürfteherdienfte verjahen und jenen Kaiſern 
als Leibwache dienten? 

Die Nachkommen der alten italiſchen Völker, der König 
Dumbert, deffen Bruder Amadeo, der Kronprinz fanden ihm zur 
Seite als Freunde, als herzlich Verbündete; hoch über ihren 
Häuptern dampjte der Veſub, ein Opferaltar, und drüben an der 
Station „Pompeji”, wo der Kaifer den Zug beiticg, um gen 
Norden zu fahren, ſchmiegten die deutfchen und italienifchen Fahnen 
ſich eng ineinander und das dichtgeicharte Volk fchrie: 

„Evrviva Ja Germania! Evviva VItalia, per sempre'“ 


Des alten Beerbanns Heilruf bei Raiſer Wilhelms II. Romfahrt. 


Wie von rothem Nordlicht glühend, 
Voll von ſagenhaſtem Glanz 

Steigt zum Simmel, Strahlen fprühend, 
od; empor der Alpen Srany. 

In den riserflarrten Lüften 
Tönt's wie kriegeriſch Geſchrei; 

Von den Firmen, aus den lüften 
Wallt es ſcharenwels herbet. | 


Kocd) auf knochenſtarken Roffen, 
In der Eifenfauft den Speer, 
Von dem Panzer feſt umfihloffen, | 
Ein verſcholl'nes Ritterheer; 
Blaue Augen, blonde Bürte, 
Deutſcher Mibelungen Rild, 
Wogt es wie auf Ariegesführte 
Zum vonkalifhen Gefild. H 





Die Alpenfee 


Wieder hallt es hart und eifern, 
Wieder ſtellt ſich Kauf bei Yauf 
Mit den alten Keldenkaifern 
Deutmlands alter Keerbann auf. 
Yundertjähr'ger Gräber Schollen 
huben fie mit freud'ger Madıt, | 
Und wie fernen Donners Rollen | 
Schallt ihr Yeilruf durch die Nacht. 


Hom in feiner Treuen Mitten, 
Einem Barbaroffa aleidı, 

Kommt ein junger Fürf geritten 
In das heil'ne röm'ſche Neich, 

Ernft und mild, ſeſt und entſchieden, 
Feder Boll ein echter Held: h 

Kaifer Wilhelm trägt den Frieden | 
In die kampfesmüde Welt, 


YHaht ein Feind dem deutſchen Volke, 
Steht, ein unbefiegter Wall, 

Seines HYeeres Wetterwolht, 
Wie die Lohe um Walyall; 

Doch dem Freund mit Inn'gem Obrüßen 
Neicht der Kaifer Hand und Mund: 

Deutfcjland und Italien ſchlieften 
Einen fehlen Völkerbund. 


Und die deutfchen Geiſterſcharen, 
Die für ihrer Kaifer Ehr’ 
Einſt gen Kom gegogen waren, 
Schwingen ihre rof'ge Wehr, 
Und, laut fehallend, in die Schilde 
Aufen fic wie Sturmgebraus 
Am ronkalifdyen Gefilde 
Ihren neuen Ualſer aus, 


R. Ey. 





Nadıbrat verboten. 
Alle Rechte vorbehalten. 


Roman von &, Werner. 
(Fortjeßung.) 


FB Reinsfeld ſaß in feiner Wohnung und ſchrieb eifrig. Es 
mußte vor der Abreiſe doch mod) jo mand)es geordnet und 
aufgezeichnet werden für den Nachfolger, der im Lauf der nächſten 
Woche eintreffen follte und mit der Wohnung auch deren Eins 
richtung übernahm. Groß war die Habe des jungen Arztes ja 
allerdings nicht, aber fein Blick ftreifte doch bisweilen mit einem 
wehmüthigen Ausdrud die einfache, faſt dürftige Umgebung. Er 
war hier jo glüdlid) und — fo unglücklich gewefen. 

Draußen fuhr ein Wagen vor und hielt gerade vor dem 
Doltorhaufe. Benno hielt mit Schreiben inne, um hinauszubliden, 
und fprang dann überrafcht auf, denn cr gewahrte die zierliche 
Seftalt der Frau Doktor Gersdorf, die fid) aus dem Sclaae 
beugte. 
jo gefürchtet hatte, war ihm in der Teßten Zeit eine fo tapfere 
Heine Freundin geworden und hatte ſich mit ſolchem Feuereifer 
feiner Liebe angenommen! Er hatte das freilich zurüdgewieſen 
und zurüdweifen müſſen; aber er war ihr doch von ganzem 
Herzen dankbar dafür. 





Die vornchme Verwandte, deren Bekanntſchaft er einft 


Mit einem frohen Willlommen auf den Lippen trat er an 


den Vagen, ſchral aber plöplic) zuſammen, denn neben der jungen 
Frau erbfidte er noch eine andere Dame, die ſich blaß und ſcheu 
in die Ede drüdte — Alice Nordheim! 

„Sa, id) fomme nicht allein," fagte Wally, die höchſt zus 
frieden war mit dem Effelt ihrer Ueberrafchung „Wie find auf 
einer Spazierfahrt begrifien und famen durch Oberſtein, da 
wollten wir doch nicht fo ohne weiteres vorbeifahren. Nun, 
Benno, freuen Sie ſich denn gar nicht über den Befuch?“ 

Reinsſeld ftand nocd immer ganz faſſungslos da, Eine 
Spazierfahrt bei dielem kallen, vegnerifchen Wetter! Und wes— 
halb fam Alice mit? Weshalb zitterte fie fo, als er ihr aus 
den Wanen half, und vermied es, ihm anzuſehen? Er bradte 
fein Wort über. die Lippen; aber das war auch wicht nöthig, 
denn Frau Doktor Gersdorf füllte die Vauſe hinreichend aus. 
Sie ſprach unaufhörlic), bi8 man im Zimmer war, und da fing 
fie erſt recht an. 

„So, nun find wir bier! Du Haft es ja gewollt, 
und nun fichtt Du aus, als ob Du am liebſten davonlaufen 





möchteit! Warum? Ich werde meinem Better doch einen Beſuch 


machen können und Du bijt ja in meiner Begleitung, unter dem 
Schutze einer verheiratheten Fran, dagegen darf ſelbſt Deine ge: 
itrenge Frau Oberhofmeifterin wichts einwenden. — Uebrigens 
braucht Ihr Euch gar nicht zu geniren, Kinder! Ach weiß alles, 
id bin vollfommen auf dee Höhe der Situation und finde es ganz 
naturlich, daß Ahr Euch ausfprechen müßt, Alfo fange nur an!“ 

Sie fehte fi) in den Armſeſſel, den der Doktor jochen ver: 
laſſen hatte, und machte Miene, der Sache in aller Feierlichkeit 


beizuwohnen; aber vorläufig trat nur eine unendlich lange Pauſe 
ein. Alice Stand auf der einen Seite des Zimmers ımd Benno auf 
der andern, feines von beiden fprad) ein Wort, und als das einige 
Minuten gedauert hatte, fing die junge Frau an, ſich zu langweilen. 

„ed fo, Ihr wollt allein fein!“ ſagte fie. „Nun meinet: 
wegen, ich werde in das Nebenzimmer gehen, um dafür zu 
forgen, dab Ihr ungeftört bleibt — wenn id) vor der Thür ftche, 
kommt ficher fein Menſch hinein." 

Ohne eine Antivort abzuwarten, lieh fie dem Wort die That 
folgen und ſchloß geräuſchlos die Thür hinter fich, hatte aber dann 
nichts Eiligeres zu thun, als ſich am Schlüſſelloch zu etabliren. 
Zu ihrem großen Mißvergnügen machte fie jedoch die Entdeckung, 
daß die alte, feitgefügte Eichenthür feinen Laut hindurch Lich, und 
aus dem, was das Schlüffelloch ihr zeigte, wurde fie auch nicht 
Hug. Die beiden da drinnen Schienen noch immer nicht anzufangen. 
Troßdem harrte Wally mit Selbjtverleugnung aus auf ihrem 
Bosten, fie hatte fich nun einmal in den Kopf geſetzt, ein Schutz 
geiſt zu fein, und wenn fie in diefer Eigenichaft den ganzen Tag 
bier ſtehen follte. 

Leider lieh fie bei diefem lobenswerthen Borlate den Um 
ſtand außer Acht, daß das Zimmer noch eine zweite Thür hatte, 
die in einen Heinen Nebenraum und bon dort in das Gärichen 
führte, umd überdies hatte fie feine Ahnung davon, dak gerade 
zu derjelben Stunde fid) Weit Gronau in Begleitung Saids und 
Djelmas dem Doktorhaufe näherte. 

Ernſt Waltenberg war geitern Abend nicht nad Heilborn 
zurüdgefehrt, obgleich er feinem Sekretär eine Unterredung zuge- 
Sagt hatte. Erſt heute morgen war cin Bote von ihm gekommen 
mit der Nachricht, daß er ſich für einige Tage in dem Heinen 
Wirthshauſe von Oberſtein einguartiert habe und dab man ihm 
die beiden Diener mit den nothwendigſten Sachen nachſchicken 
folle. Das war denn auch unverzüglich geichehen und Weit hatte 
fich gleichfalls mit auf den Weg gemadt. Da das Fahren auf 
dem jteilen und unbequemen Gebirgswege aber nicht gerade zu 


| den Annehmlichkeiten gehörte, fo hatten fie es vorgezogen, dic legte 
Alice, | 


Steede zu Fuß zu machen, während der Wagen mit dem Gepäd 
langſam nachfuhr. 

Said und Djelma waren nicht ſehr erbaut von dem Einfall 
ihres Gebieters, tage- und vielleicht wochenlang in dem kleinen 
Bergwirthshauſe zu bleiben, das nicht die mindeſte Bequemlich— 
keit bot, während man im Heilborn eine ſchöne, behagliche Woh— 
nung hatte. Sie zeigten ſehr mißvergnügte Geſichter und der 
Neger erlaubte ſich die wehmüthige Bemerkung: 

„Maſter Hronau, der Herr gar wicht mehr iſt zu begreifen!“ 

„Ganz natürlich, und er wird noch viel unbegreiflicher 
werden, wenn er erſt verheiratet iſt!“ ſagte Veit mit grimmiger 





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0 


Genugthuung. „Freut Euch nur auf die err ſchöne Gejchichte‘, 
das habt Ihr davon! 
werde wohl die längſte Zeit bei Euch geweſen ſei; jetzt ſeht zu, 
wie Ihr allein mit ihm fertig werdet.” 


700 


Nun, mich geht es nichts mehr an, ich 


Der Afrikaner und der Malaye horchten entſetzt auf bei | 


diefen Worten. So ſehr Mafter Hronau fie auch hofmeiſterte 
und gelegentlich ausichalt, fie hingen doch mit Leib und Seele 
an ihm, und der Gedanke, daß er jie verlaffen fünne, war ihnen 
unfaßbar. Sie begannen daher, mit Bitten und Magen auf ihn 
einzujtürmen, und trieben ihm mit ihren Fragen jo in die Enge, 
das Gronau heimlich feine Uebereilung verwünichte. 

Er hatte ſich längjt felbit gefagt, was Benno ihm zu be: 
denfen gab, daß es um feine Stellung bei Waltenberg aeichehen 
war, wenn er wirklich mit einer Anklage gegen den Prafidenten 
auftrat. Trotzdem hielt ev den Eniſchluß mit der ganzen Hart 
nädigfeit feines Charakters fell. Gerade weil fih der Sohn 
feines alten Freundes fo unverzeihlich Tau und zaahaft zeigte, 
hielt er es für feine Pflicht, an deſſen Stelle einzutreten. An 
fich jelbft dachte er dabei nicht im mindeften; er war es gewohnt, 
ſich von einer Lebensftellung in die andere zu werfen und micht 
viel nad) der Zukunft zu fragen, er kümmerte ſich einzig und 
allein um die Gegenwart. 

Das konnte er nun freilich den beiden Dienern nicht aus 
einanderjegen; aber ev war nicht um einen Vorwand verlegen, 
und als fie ihm wieder mit der Frage nach dem Warum zu Leibe 
gingen, erflärte ex: 

„Weil die Unbegreiflichkeit des Herrn Waltenberg immer 
toller wird! Was ijt das num wicder für ein Einfall, fich bei ſolchem 
Wetter in dem elenden Bergnefte hinzuſetzen! Wahrjcheinlich ijt 
er feiner Braut noch nicht nahe genug, oder er hat Eiferſuchts— 
mucken im Kopfe und will fie wicht aus den Augen lalfen. Das 
wird wohl überhaupt chronisch bei ihm werben, wenn er exit 
Ehemann ift, und das kann ich nicht mit anjehen.“ 

„Do, Mafter Hronau gar nicht mag die Damen,” fagte Said 
betrübt, denn er theifte keineswegs dieſe Abneigung, ſondern 
ihwärmte fiir die lünftige gnädige ran. 

„Nein, denn wo die Damen anfangen, da hört die Gemüth- 
lichkeit auf, bei den Männern wenigjtens!* grollte Weit, der 
jelten eine Gelegenheit vorbeigehen ließ, feiner Frauen: und Ehe: 
feindfchaft Suft zu machen „Wenn fie verliebt find, werden die 
Hügjten Lente verrückt.“ 

„Bere — rück!“ wiederhofte Dielma, indem er fih Mühe 
gab, das M möglichjt energisch zu ſchnarren, aber der arme Junge 
hatte fein Glück mit feinem Yermeifer; er erntete aud) diesmal 
jtatt des aehofiten Lobes nur Scheltworte, 

„Du haft eine verwünſchte Manier, Dir gerade die Worte 
zu merken, die Du nicht nachſprechen ſollſt!“ fuhr ihn Gronau an. 
„Wenn unfereins verrüdte Streiche macht, fo ijt das eben Verrüdt- 
heit; wenn Here Waltenberg fie aber macht, fo it das Genialität 
und man findet es ungehener poetiſch. — Da fommen wir endlich 
wieder auf bie Fahrſtraße! Ihr könnt dort auf den Wagen tvarten, 
ih will inzwifhen nur auf einen Mugenblid bei dem Doftor 
Neinsfeld eintreten, mit dem ich ein paar Worte zu reden habe.“ 

Der Fußweg, den fie eingeichlagen hatten, führte gerade an 
dem Gärtchen des Doltorhanjes vorüber; Gronau durchichritt 
dasselbe und öffnete die ihm wohlbefannte Hinterthür. Er war 
bei dem letzten Zufammenfein mit Benno Sehr heftig geworden, 
hatte ibm feine Zurüdhaltung in den Bitterjten Worten vorge: 
worfen, und feine Gutmüthigleit litt es nicht, daß ein folder 
Mißllang beſtehen blieb. Er kam jest, halb in der Abſicht, ſich 


e—_ 


Reinsield wußlte fi) das nicht zu deuten. Alice war ihm 
in der letzten Zeit stets fo unbefangen und zutraulich genabt. 
Seit jenem Zuſammenſein im Walde war es freilich vorbei mit 
der Unbefangenheit; aber das erklärte doch nicht dieje ſeltſame 
Veränderung, Die mit ihr vorgegangen war. Sie Ttand bleich 
und zitternd da und ſchien eine förmliche Angft vor ihm zu hegen, 
denn ſie wich zurüd, als er ihr näher trat. 

„Sie fürchten ſich — vor mir?“ fragte Benno vorwurfsvoll. 

Sie machte eine matt verneinende Bewegung. 

„Nein, nicht vor Ahnen, aber vor dem, was ich Ahnen zu 
jagen habe — es ift jo furchtbar!“ 

Reinsfeld jah jie noch immer verjtändniflos an; aber plötzlich 
fam ihm wie ein Blig die Erkenntniß der Wahrheit. 

„Um Gotteswillen, Sie willen dody nicht etwa — ?* 

Er vollendete nicht, denn Mlice hob jest zum erſten Male 
das Auge zu ibm empor, ſo trojtlos, jo verzweifelt, daß es 
feiner anderen Antivort mehr bedurite, der eine Blid jagte ihm 
alles. Er trat raſch zu ihr und fahte ihre Hand. 

„ie iſt das möglich? Wer ift fo graufam gewejen, Sie 
damit zu quälen?“ i 

„Niemand!“ verjehte das junge Mädchen mit fichtbarer An 
ſtrengung. „Ein Zufall — ich hörte eine Unterredung meines 
Vaters mit Gronau —“* 

„Und Sie glauben doch nicht, daß ich daran betheiligt bin?“ 
fiel Benno ſtürmiſch ein. „sch babe alles verſucht, Gronau 
zurüdzubalten, habe jede Theilnahme meinerfeits verweigert.“ 

Ich wei ed — um meinchwillen!“ 

„sa, um Ihretwillen, Mlice! Und deshalb brauchen Sie 
auch nichts von mir zu fürchten. Es war nicht nöthig, daß Sie 
famen, um mein Schweigen zu exbitten, ich hätte ohnehin ae 
ichwiegen.” 

Ich Fam nicht deshalb,“ ſagte Alice leiſe. „Ach wollte Sie 
um Berzeihung bitten, um Vergebung für —“ 

Ein lautes Aufſchluchzen erjtidte ihre Stimme; da fühlte fie 
ſich plöglich von Benno umfaßt. Sie war ja nicht mehr Wolf 
aangs Braut, er beaing feinen Berrath mehr an dem Freunde, 
wenn ex die Geliebte einmal wenigſtens in die Arme ſchloß; 
aber er wagte es nicht, sie zu küſſen, während fie im faſſungs— 
lojen Weinen an feiner Bruſt Ichnte, 

Gerade in dieſem Mugenblid öffnete Veit Gronau die Seiten 
thür und blieb ganz entjeht auf der Schwelle ftehen. Er hätte 
eher des Himmels Einfall erwartet als einen ſolchen Anblid; 
aber er beſaß Teider nicht das diplomatische Talent der Fran 
Doktor Gersdorf, geräufchlos zu verichwinden und zu thun, als 
habe ex nichts geiehen; die Ueberrafchung entriß ihm im Gegen 
theil ein Tangaezogenes „Ah!“ 

Die beiden fuhren erichroden auf. Alice entwand ſich in 
töblicher Verlegenheit den Armen Bennos, der nicht viel mehr 
Geiſtesgegenwart zeigte, während der Störenjried noch immer 
groß und breit auf der Schwelle jtand und in jeiner Beſtürzung 
gar feine Anstalt machte, fich zurüdzuzichen, Endlich faßte fich 
das junge Mädchen fo weit, um in das Nebenzimmer zu Wally 
zu flüchten, während der Doktor mit finfter gerungelter Stimm 
dem ungebetenen Gaſte entgegentrat. 

„Ich habe Sie wirklich nicht erwartet, Here Gronau; das 
it ja ein fürmlicher Ueberfall!” 

Seine Stimme Hana in ungewohnter Schärfe; aber Gronau 
fchien das durchaus nicht übelzunchmen. Er trat näher und ſagte 


| mit dem Wusdrud höchſter Befriedigung: 


zu entſchuldigen, und halb in der Hoffnung, den Doktor noch 
statt aller Antwort freundſchaftlich auf die Schulter, 


nadjträglich zu einer Theilnahme an feinem Vorhaben zu be: 
ſtimmen. 


Hauſes hielt, ſo Hatte er feine Ahnung von dem Damenbeſuche, 


fonst hätte er wahricheinlich davor die Flucht ergriffen. 

Frau Doktor Gersdorf jtand inzwiſchen anfopfernd auf ihrem 
Voſten am Schlüſſelloch, der ihr leider jeher wenig zu jehen und 
gar wichts zu Hören erlaubte; freilich nahm das Geſpräch da 
drinnen eine ganz andere Richtung, als fie voransfegte, 

Benno, der vergeblicd) Darauf wartete, daß Alice fprecdhen 
Sollte, nahm endlich jelbjt das Wort. 

„Sie wollten zu mir, qnädiges Fräulein — wirklich?“ 

„Sa, Here Doltor,“ war die leife, mit bebender Stimme 
gegebene Antwort, 


Da der Nordheimsche Wagen an der Worderjeite des 


„Das ift etwas anderes! Das it etwas ganz anderes!” 
„Was denn?" rief Benno gereist; aber Veit Hopfte ihm 


„Barum haben Sie mir das nicht gleich aejagt? Jehzt be 
areife ih es, warum Sie durchaus nicht gegen Nordheim auf: 


| treten wollten, und jegt finde ich das auch in der Ordnung, ganz 


Ton nur noch geiteigert wurde. 


in der Ordnung.“ 

„sc Werde auch nicht dulden, daß cin anderer es thut,“ 
erffärte Reinsfeld, deſſen Gereiziheit durch diejen gemüthlichen 
„Ich geſtehe leinem das Recht 
zu, fich Hineinzumsichen, auch Ahnen wicht, Herr Gronau.“ 

„Fällt mir auch gar nicht mehr ein!“ ſagte Gronau vuhtg. 
„But, daf ich bei Herrn Waltenberg noch feinen Lärm geſchlagen 
babe, jet bleibt die Sache natürlich unter uns. Sie haben fie 
ja viel gefcheiter angefangen als ich, Doftor, und da laſſen Sie 


— 


ſich geduldig von mir ausſchellen, ohne mir ein Wort zu ſagen? 
Ich Habe Ihnen diefe Gejcheitheit wahrhaftig wicht zugetraut.“ 

„Halten Sie mich efwa einer niedrigen Berechnung fühle?” 
fuhr Benno auf. „Ich Liebe Alice Nordheim.“ 

„Babe ich geſehen!“ bejtätigte Weit. „Und fie läßt es ſich 
gefallen — bravo! Jetzt geben wir dem Herrn Bräfidenten 
ganz anders zu Peibe, jetzt fordern wir nicht chva das geitohlene 
Kapital, jondern feine fämmtlihen Millionen mit der Hand feiner 
Tochter. Wie geſagt, Benno, Sie find unglaublich geſcheit ge: 


wejen, eine glänzendere Genugthuung Tonnten Sie fih gar 
nicht ſchafſen und damit würde aud Ihr Vater im Grabe zus 


Frieden fein.“ 
„Ja, jo sehen Sie die Sadıe an,” ſagte Reinsjeld mit 
ſchmerzlicher Bitterkeit. „Alice und ich fajfen fie ganz anders auf. 


Was Sie gejehen haben, war nur ein Abſchied, eine Trennung | 


für ewig.” 

Beit machte bei dieſer Erklärung ein Geficht, als Habe man 
ihm unverſehens eine Ohrfeige veriett. 

„Zeennung? Abſchied? Doktor, ich glaube, Sie find wicht 
recht bei Verſtande!“ 

Der junge Urzt war fonjt die Höflichleit und Geduld felbit, 
bei diejer derben Einmiichung aber in die zartejten Angelegenheiten 
feines Herzens verlor er die Geduld ſo vollftändig, daß er jogar 
einen Berfuch machte, grob zu werben, 

„sch wiederhole Ahnen, Herr Gronau, daß ich mie Ihre 
Einmifchung verbitte!“ rief er heftig. „Glauben Sie etwa, daß 
ich den Mann, der meinem Vater das angethan hat, ſelbſt Vater 
nennen könnte? Freilich, Sie lennen und verſtehen nicht ſolche 
ideale Gründe.“ 

„Mein, von dem Idealen verjtehe ich gar nichts,“ geitand 
Veit; „aber deito mehr vom Braltiichen, und hier it die Sache 
fo Har und einfach toie nur möglich. Cie haben das Mittel, 
Nordheim zur Einwilligung zu zwingen, alfo wird er gezwungen; 
Sie lieben feine Tochter, alfo wird fie geheirathet. Alles Uebrige 
ist Unſinn — Punktum!“ 

„Ganz meine Meinung!“ ſagte eine Stimme von der Thür 
her, und Frau Doltor Gersdorf, die die letzten Worte gehört 
hatte, trat ein und bemächtigte ſich mit gewohnter Entſchiedenheit 
des Gefprädes. 

„Herr Gronau Hat recht, die Sache ift fo Har und einfach 
wie nur möglich,“ wiederholte fie. „Sie twerden Alice unter 
allen Umftänden heirathen, Benno — Vunktum!“ 

Der arme Reinsfeld, der ſich jegt von zwei Seiten ange: 
ariffen jah, mochte wohl fühlen, daß er hier mit feinen idealen 
Gründen nicht durchkam. Er ermannte ſich daher zu einem 
Gewaltitreich und erklärte: 

„Ich will aber nicht! 
allein zu enticheiden.” 

„Und das will nun ein Liebhaber fein!" rief Gronau, 
indem ex in heller Verzweiflung die Hände zum Simmel empor: 
hob. Wally aber griff die Sache viel praftifcher an und zähmte 
den Miderfpenftigen in anderer Weile. 

„Benno!“ jagte fie vorwwurfsvoll; „da drinnen ſitzt die arme 
Alice und weint, als ob ihr das Herz bredien sollte! Wolfen 
Sie denn nicht weniaftens den Verſuch machen, fie zu tröſten?“ 

Das Mittel wirkte, der ganze Troß Bennos ſank zufammen. 
Er zögerte nod) eine Minute, aber nur eine einzige, dann ftürzte 
er in das Nebenzimmer. 

„So, jeht wird er vorläufig nicht wiederfommen,“ ſagte die 
junge Frau, indem fie die Thür Hinter ihm ſchloß. „Rebt wollen 
wir die Geichichte in die Hand nehmen, Herr Gronau!“ 

Beit ſah etwas betroffen aus bei diefem Worfchlage. Er 
hatte zwar nichts gegen eine Bundesgenoffenichaft einzuwenden, 


Und darüber habe ich doch wohl 


daß fie aber weiblichen Gefchlechtes war, aing gegen jeine Grund» 


ſätze. Wally lie ihm jedoch feine Zeit, Tich darüber zu beun— 
ruhigen, fondern fuhr fort: 

„Den Doktor können wir dabei nicht brauchen und Alice 
auch nicht. Er glaubt fih zur Entſagung verpflichtet, weil der 
Ehefingenieur fein Freund ift, und er wäre im Stande, fein ganzes 
Leben in Neuenfeld zu verfeufzen, während Alice als Frau Elm: 
horſt am gebrochenen Herzen fterben würde — aber daraus wird 
nichts, das leide ich wicht!“ 

Sie trat fo nachdrüdlic mit dem Fuße auf, dan Beit uns 
willtürlih auf denſelben Hinblidte, und er Fonnte nicht umhin, 


1 — 


die Bemerkung zu machen, daß es ein zierliches, allerliebſtes 

Füßſchen war, das fo energiſch den Boden ftampite Ex wußte 
nun freilich, dag die Entſagung Beunos andere Gründe hatte; 
aber da er das nicht verrathen durfte, fo zog er es vor, die 
junge Frau in ihrem Irrthum zu laſſen. 

„Ja, mnädige Frau, der Doktor iſt, was man fo einen 
Idealiſten nennt,“ fagte er, „und denen ift von der vernünjtigen 
Seite nicht beizulommen. Es find hochachtungswerthe Menſchen, 
aber etwas verrüdt find fie alle.“ 

Wally fchien derſelben Meinung zu fein, fie nidte ernithaft 
mit dem Nopfe und bemerkte mit Selbjtgefühl: 

„Ich und mein Mann, wie find gar Feine Idealiſten, Herr 
Gronau, wir find ganz vernünftige Menichen.” 

Gronau machle eine rejpeftvolle Berbeugung, welche die Ver- 
nünftigkeit von Herrn und rau Doftor Gersdorf unbedingt aner: 
fannte, und die legtere war davon fo befriedigt, daß fie ihn freund» 
ichaftlichit einlud, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, damit 
man die Angelegenheit in aller Gemüthlichkeit beſprechen lönne. 

Zeit entſehzte ſich einigermaßen bei diejer Zumuthung, aber 
abfehnen funnte er jie doch nicht. So mahm er denn auf der 
außerſten Ede Platz und ließ all die Erörterungen, Vorſchläge 
und Fragen über fich ergehen. Zu einer Antwort fam er aller: 
dings nicht; er ftaunte nur darüber, daß jemand fo unendlich 
viel ſprechen könne! Aber unangenehm war ihm das eigentlich 
wicht; im Gegenteil, ev fühlte ji) ganz behaglich in dem Meder: 
ftrome, der ihm umrauſchte und umpläticherte. Dazu geſtilulirten 
zwei Heine, vofige Hände unaufhörlich vor feinem Geſicht und ein 
zierliches Köpfchen, mit krauſen ſchwarzen Ringelloden, neigte Tich 
im Eifer des Geſpräches immer näher zu ihm. Er fing ſchließlich 
au, die Situation, ganz annehmbar zu finden, und da ihm feine 
Zeit zu einer Antwort gelaffen wurde, fo begnügte ex fich, ver: 
ichiedene Male mit dem Kopfe zu miden, und fah ſich inzwiſchen 
feine Bundesgenoffin ſehr gründlich an, wobei er die Enldeckung 
machte, daß das weibliche Gejchlecht, jo ganz in der Nähe be- 
trachtet, dod) viel von feinem Abichredfenden verlor. 

Endlich verſiegte aud) Wallys Nedeitrom, fie ſchöpfte Athen 
— forderte ihren Zuhörer auf, nun endlich auch ſeine Meinung 
zu ſagen. 

„O, ich bin einverſtanden, ganz einverſtanden!“ verſicherte 
dieſer, in der Ueberzeugung, daß ein Proteſt ihm doch nichts 
belien würde, 

„Das freut mic,” jagte die junge frau. „ES bfeibt alſo 
dabei, Sie ſetzen Benno den Kopf zurecht und ich werde den 
Chefingenieur auf midy nehmen und ihn zum Zurücktreten ver: 
anlaffen. Mein Manı hat es mir zwar verboten, aber man muß 
den Männern gegenüber immer ja’ fagen und dabei das Gegen— 
theil thun von dem, was fie wollen. Sit es einmal geicdehen, 
dann fügen fie ich aanz geduldig." 

„O, thun fie das immer?“ fragte Gronau, betroffen über 
diefen Einblid in die Behandlung der Ehemänner, 

„Immer! Und es ijt auch jtets zu ihrem Beſten. Uebrigens 
finde ich es fehe danfenswerth, daß Sie ſich jo amngelegentlich 
mit dem Güde und der Heirat) meines Betters beichäftigen. 
Warum find Sie denn eigentlich noch Junggeſell, Herr Gronau?“ 

Ich?“ Weit machte ein höchſt verblüfftes Geſicht bei diefer 
Frage, deren Zweck er vorläufig noch nicht errieth, aber er follte 
nicht fange im Untlaren darüber bleiben, denn Wally fuhr mit 
Nachdruck fort: 

„Ein Junggeſell iſt etwas Trauriges, etwas Frevelhaites 
fogar! Dieje Weenfchenforte müßte eigentlid von Staatstvegen 
verboten werden. Das habe ich Benno auseinandergeicht, gleich 
das erſte Mal, als ich ihn jah. Hier an diefer Stelle habe id) 
ihm erklärt, dab ich mich feiner annehmen und ihn möglichit 
bald verheirathen werde, und ich halte Wort.” 

Jetzt machte Gronau einen Verſuch, entiegt aufzuipringen ; 
er ſchien zu fürchten, daß „diefe Stelle* auch ihm verhängnißvoll 
werden könnte, aber Frau Doltor Gersdorf hielt ihn feſt. 

„Bitte, bleiben Sie fihen, wir find noch nicht fertig. Sie 
‚ find mir noch Antwort auf meine Frage jchuldig.“ 

Die Heine Hand zog den riejigen Mann jehr energiſch auf das 
Sofa nieder und ebenio energiſch Hang die Wiederholung der Frage: 

„Warum jind Sie Junggeſell?“ 

„Ich habe ja weder Haus noch Herd,“ ſtotterte er. „Sch 
bin jeit Jahren von Land zu Land gezogen.” 





‘ 


— 0 


„Das Hat Herr Wallenberg auch gethan, und Fräulein 
von Thuraan reicht ihm doch die Hand,“ entgegnele Wally ſchlag— 
fertig. „Wohin gehen Sie zunädyit?* 

„Nach — nadı Hinterindien!* erklärte Beit, 
Weife los ulommen Hofite. 

Die Heine Frau machte cin etwas bedenkliches Geſicht. 

„Das iſt fchr weit und da wird es ſchwer haften, Ihnen 
eine ordentliche Fran zu verfchaffen, aber ich werde jchen, was 
jich a fäßt.“ 

„Ad mein, gnädige Frau, 

Reit in wahrer Herzensangit. 

„Was meinen Sie damit, Herr Gronan? Au will doch 

nicht hofien, daß Sie eine Abneigung gegen die Franen oder 
gegen die Ehe haben?“ 


der anf dieſe 


thun Sie das lieber nicht!“ bat 


92 


Die Frage Hang ſehr ſcharf und das von Eifer des Geſpräches 


geröthete Geſichtchen nahm einen jo ftrafenden Ausdruck an, daß der 
Sünder feine Erwiderung wagte, fondern nur zerfniricht das Haupt 
ienkte. Das ftimmte Frau Doftor Gersdorf etwas quädiger. 

„Wie gejagt, ich werde mich auch Ihrer annehmen," ver: 
ficherte fie, „aber erſt muß mein Better verheirathet werden.“ 

„Ra, das iſt die Hauptiache, das muß zuerjt geichehen!“ 
rief Gronau mit einem Enthufiagmus, der die junge Fran cent 
züdte. Sie ahnte ja nicht, daß es nur der Aufichub war, der 
ihm fo ſehr begeifterte. 

„Und bis dahin find wir Bundeögenvfjen und Mitverfchtuorene,“ 
fagte fie feierlih. „Schlagen Sie ein!“ 

Dem braven Veit wirde es ganz eigen zu Muthe. Er 
Tonnte dies zierliche, rofige Händchen, das ſich ihm entgegenſtreckte, 
doch unmöglich drüden und ſchütteln und mußte gleichwohl cin 
Zeichen des Einverftändniffes geben. Einige Sekunden zögerte ex 
noch, dann aber geſchah das Unerhörte, Veit Gronau beugte ſich 
nieder und drüdte jeine Lippen auf jene roſigen Finger, etwas 
ungeſchickt zwar, aber es war doch zweifellos ein Handkuß, der mit 
Genugthuung aufgenommen wurde Waly fand, daß dieſer Bär 
anfing, menjchlic zu werden; aber während fie fid) noch darüber 
freute, jprang er plößlid) wie von der Tarantel geitochen auf. 

„D dieſe Schlingel! Dieſe gottloſen Schlingel!“ 

„Was iſt denn? Was giebt es?“ fragte die junge Frau 
erſchrocken; aber jetzt gewahrte fie auch die Veranlaſſung dieſes 
Ausbruches, ein ſchwarzes und ein braunes Geſicht, die ſich 
drangen an bie Fenſterſcheiben drüdten, fo eng, daß ihre Raſen 
ganz platt erſchienen, und vier ſchwarze Augen, die mit brennender 
Neugierde in das Zimmer ſtarrten. 


dem er wüthend nach dem Fenſter eilte, worauf die beiden Ge— 
ſichter blitzſchnell verſchwanden. 





verweilte und ihr ſchließlich die Hand küßte. Sie beharrten ſteif 
und feſt auf ihrem Glauben, daß er dieſe Dane heirathen wolle, 
und begannen die Frage zu erörtern, ob man fie gleichfalls mit 
auf die Reife nchmen werde und ob Mafter Sevsdarf damit ein: 
verftanden fein werde. 

Veit ſah endlid; die Unmöglichkeit ein, diefe afrifanijche und 
indische Begrifisverwirrung zu heben, Allerdings ging er dabcı 
and) nicht mit der gewohnten Energie zu Werle, denn er fühlte 
fih in gewiſſer Hinficht ſchuldig. Er, der abgefagte Ehejeind, 
hatte ſich mit ſchmählicher Verleugnung all feiner Grundſätze in 
ein Komplott eingelaſſen, deſſen Zweck war, den Doktor Reinsfeld 
in das Ehejoch zu zwingen! Und wenn der beſorgt und auf 
gehoben war, dann kam er ſelbſt dran, das Hatte ihm Frau 
Doltor Gersdorf ja bereits angekündigt! 

„Bott bewahre mic vor diefem Kobold!“ murmelte er 
wüthend. „Sch nlaube, wenn die Sache noch eine halbe Stunde 
länger gedauert Hätte, ich wäre in der That auf irgend eine 
Weiſe verheiratbet worden, ohne zu willen wie!” 


Im BWolfenjteiner Gebiet herrichte feit drei Tagen ein Un- 
wetter, wie es felbft hier in den Bergen für unerhört galt. Die 
Stürme, die fonft erjt im November einzutreten pflegten, waren 
diesmal einige Wochen früher losgebrochen und tobten num mit 
entfeflelteer Gewalt. Dazu ftrömte der Regen Tag und Nadıt, 
in einzelnen Thälern waren Wolfenbrüce niedergegangen, die 
Ströme und Bäche ftiegen mit reißender Macht, zerriiien ihre 
Ufer, überjlutheten die ganze Umgebung, die Verbindung mit 
Heilborn war unterbrochen, der Verkehr ſelbſt mit den nächſten 
Heinen Ortjchaften nur mit Mühe aufrecht zu erhalten und die 
Gefahr ftieg von Stunde zu Stunde. 

In der Nordheimichen Billa hatte man bereits die Vorbe— 
veitungen zur Abreiie getwofien, fie aber wieder aufgeben müflen, 
denn bei dieiem Wetter war an Reiſen nicht zu denfen, und doch 
ſehnten fich alle fortzufommen, denn es lag wie ein drüdender 
Bann auf dem ganzen Haufe. 

Alice hatte jich für unwohl erflärt und verlieh jeit mehreren 
Tagen ihre Zimmer nicht. Es war ein Borwand, um dem Zu: 
jammenfein mit dem Vater zu entgehen, den fie nach jener Ent: 
dedung ſcheute und fürdhtete; aber der Bräfident hatte jegt andere 
Sorgen im Kopfe. Er hätte vielleicht die Scheu jeines Kindes 
gar nicht bemerkt, jo wenig wie er das feltiam geipannte Ver: 


haältniß zwifchen Erna und Waltenberg bemerkte. 
„Wartet, id) werde Euch) ſpioniren lehren!“ rief Gronau, ins | hãltniß zwiſch q 


| ſchien ihm jetzt auf einmal den Rücken iu 
eine feindfelige Macht all feine Entwür 


„Sp laſſen Sie die Leute doch hereinſchauen,“ ſagte Wally 


ruhig. „Aber jept müſſen wir abbredjen, ich muß nachſehen, ob 
das Liebespaar da drinnen noch immer bei der ewigen Trennung 
iſt. Auf Wiederfehen, Herr Gronau!” 

Sie neigte graziös den Kopf und ging in das Nebenzimmer, 
während Beit durch die Hinterthür das Haus verlieh und Anftalt 
machte, den beiden Neugierigen eine derbe Strafprediqt zu halten, 


Aber es Fam nicht dazu, denn Said grinite ihm voller Freude | 


entgegen: 

„D, Mafter Hronau Hat jet auch eine Dame!“ 

„Und eine fere Schöne!” fügte Djelma ebenſo vergnügt hinzu. 

„Was? Bildet Ihr Euch etwa ein, daß die Geſchichte da 
deinnen mid) anging?“ fuhr Gronau entrüftet auf. „Ich habe 
mit der Dame ja nur Heirathapläne gemacht!” 


fchon berente, denn die Wirkung war eine fenjationelle. Said 


fuhe drei Schritt zurüd und fein Genoſſe jtand wie verfteinert | 


da, während jie beide das Wort: 
wiederholten. 

„Gleich heut?" fragte Dielma, während der Neger bedentlich 
einwarf: 

„Aber Miffis Gersdorf ja ſchon iſt verheirathet!” 

„Gereihter Himmel, jett glauben diefe beiden Schafe, 


Heirath wie aus einem Munde 


fich, ihnen Mar zu machen, daf die bejagten Pläne ja einem ganz 
anderen, einem Wildfremden gegolten hätten, aber vergebens. 
Die beiden Hatten es mit eigenen Augen gesehen, wie ihr Mentor 
eine Viertelftunde fang im vertraulichen Geipräche mit einer Dame 


dap | 
ich ſelbſt heirathen will!“ vief Veit verzweiflungsvoll und bemühte | 





Sein altes Glüd, das ihm jein Lebelang treu geblieben war, 
u kehren, es war, al& ob 
durchkreuze, jeine Pläne 
vernichte und alles, was ex unternahm, in das Gegentheil verkehre. 

Der mit jo lühner, ſorgfältiger Berechnung entworfene Blau, 
deffen Gelingen ihm einen Gewinn von Millionen verhieh, war 
geicheitert, und gerade an der Stelle geſcheitert, wo er es am 
wenigſten erivartete. Der Mann, den er unlösbar an fich und 


' feine Intereſſen gefettet zu haben glaubte, ſagte ſich im ent 


| durfte, 


icheidenden Augenblide los von ihm und machte damit die Aus 
führung unmöglid). Nordheim wußte ſehr aut, da, wenn bei 
Chefingenieur, jein Tünftiger Schwiegerſohn, jener Abſchätzung die 
Betätigung verfagte, fie überhaupt gar wicht vorgelegt werden 
Die Sache fiel unbedingt mit der Weigerung Elmhorſts 
der dem nochmaligen Verſuche, ihn umzuſtimmen, ein eiſiges Nein 
entgegengeiebt hatte, Es war cine furze, herbe Unterredung 


geweſen, fie druckte das Siegel auf die ſchon beſchloſſene Trennung. 
Das unvoriichtige Wort war faum heraus, als er es auch 


Darauf war Wolfgang zu feiner Braut gegangen und über 
eine Stunde bei ihre geblieben. Den Inhalt des Geſpräches erfuhr 
niemand, auch ber Water nicht; das junge Mädchen verweigerte 


wit ungewohnter Entſchiedenheit jede Auskunft darüber, aber die 


Trennung war hier wenigftens feine feindfelige geweien. Denn 
als Elmhorſt das Haus verlieh, um es nicht wieder zu betreten, 
winkte ihm Alice vom Fenſter aus einen Gruß nad, fo warm 
und inniq, wie fie cs nie während der ganzen Verlobung gethan 
hatte, und er grüfite ebenfo zurück. 

Nordheim war nicht der Mann, der das Scheitern eines 
jahrelang gehegten und vorbereiteten Planes gleichgültig ertrug, 
und zu dem roll darüber geiellte ſich noch die Sorge über die 
Drohung Gronaus, die er im Anfange unterfchägt hatte, Jeht 
berente er es, den Jugendgenoſſen, deſſen rückſichtsloſe Energie er 





Schwariblaitl. 


Nach dem Delgemälde von Fr. Defregger. 


Ehrtegrapbi: im Berlag ven ar Haufſtana! in Mädrn 


— 0 


fannte, wicht wenigſtens beſchwichtigt und hingehalten zu Haben. 
Wenn auch die direkten Beweiſe fehlten, cs lief ſich aus fo manchem 


eine Waffe ſchmieden, die gefährlich, ja verderblich werden Fonnie, 
anſtatt fich in ihre Arme zu werfen umd zu beichten, erwiderte 


und Beit hatte das ficher aufgeipürt. Es war ein fehler ge— 
weſen, ihn als Feind gehen zu laſſen, ein fehler, der ſich viel— 
leicht noch ſchwer rächte. 


Für den Augenblick freitich trat jelbft das in den Hintergrund | 
vor einem nahen, drohenden Verluft, der bei dem Präſidenten alle 


anderen Sorgen zurückdrängte. Die Gebirgsbahn, die in wenig 
Tagen vollendet fein follte, war durch den Ausbruch des God): 
waſſers aufs äußerſte gefährdet. Bon allen Punkten kamen be 
drohliche Meldungen, eine fchlimme Nachricht jagte die andere. Der 
Schaden war ſchon jet ein bedentender; wenn der Sturm anbielt 
und das Waſſer noch weiter ftieg, Fonnte er unabjehbar werden 
und Nordheim war mit Summen betheiligt, deren Verluſt ſelbſt 
einem Manne von feinem Neichthum verhängnißvoll werden konnte. 


Im Salon befanden fih Erna und Wally, deren Abreiſe 
Der Prozeh, der Gersdorf nad Heil | 
born führte, war mit einem Vergleich beendigt worden, deſſen 


ſich gleichfalls verzögerte. 


notarielle Feitjtellung den Rechtsanwalt noch einige Tage länger 
aufhielt. Seine Frau war entzüdt darüber, denn fie hielt in 
ihrer Eigenschaft als Schutzgeiſt ihre Anweſenheit im Nordheim: 
ſchen Haufe für unbedingt nothwendig, mußte ſich aber zu ihrer 
großen Enttäufchung bald genug überzeugen, daß es hier durchaus 
nichts zu ſchützen gab. 

Der Chefingenieur war zurückgetreten, feine Verlobung mit 
Alice aufgehoben, das war jegt auch der Familie fein Geheimniß 


mehr, aber die beiden hatten das ganz unter fih allein abge 


macht, und Alice verweigerte mit hartnädiger Berichloffenheit ſelbſt 
der Jugendfreundin jede nähere Erklärung. Benno zeigte ſich 
ebenfo unzugänglich und jchien an dem unfinnigen Gedanken einer 
Trennung feitzuhalten, und was das Schlimmite war, fein Menſch 
verlangte den Rath und die Hilfe von frau Doktor Gersdorf, die 
begreiflicherweife entrüjtet war über diefe Undankbarteit. 

„Das habe ich nun von meiner Menſchenliebe!“ fagte fie in 
der übelften Laune. „Jehtzt jige ich bier wie auf einer wüſten 
Inſel mitten im Ocean, abgejdnitten von aller Welt, getrennt 
von meinem Manne, jeden Augenblick in Gefahr, fortgeſchwemmt 
zu werden. Albert wird aus einem der wüthenden Gewäſſer 
meine Leiche auffifchen und als troftlofer Witwer nach der Stadt 
zurückehren. 
wäre entſetzlich, ich würde es ihm im Grabe nicht verzeihen; aber 
die Männer find zu allem fähig!“ 

Erna, die am Fenster jtand und in den Sturm und Regen 
binensblidte, hörte faum auf das Geplauder; fie war mit ihren 
Gedanken ganz wo anders, 

„Wir find ja hier nicht gefährdet, Wallh,“ entgegnete fie 
gepreßt. „Das Haus in feiner hohen Lage iſt ſicher; aber ich 
fürchte, in Oberſtein ficht es bedrohlich aus, dort — und auf 
der Bahn!“ 

„D, die wird ber Chefingenieur retten,“ erklärte die, junge 
Frau zuverſichtlich. „Man hört es ja von allen Seiten, daß er 
ſich wie ein Held benimmt und das beinahe Unmögliche Teiftet. 
Wir haben diefem Elmhorſt doch unrecht geihan! Er Hat Alice 
freigegeben, trogdem er mit ihrer Hand Millionen verliert, und 
jetzt jeßt er alles dran, Deinem Onfel die Bahn zu erhalten, 
obgleich fie fich feindfelig getrennt haben. Gejtehe es nur, Exna, 
Du hatteft auch ein Vorurtheil gegen ihn.“ 

„Ja — ich halte es!“ fagte Erna Teile, 

„Da fommt Dein Bräutigam!” rief Wally, die zu ihr ge: 
treten war, „Aber wie jicht er aus! 
förmlich von feinem Negenmantel, er hat wahrhaftig im dieſem 
Wetter den Weg von Oberjtein gemacht. Sch glaube, er geht 
durch Feuer und Wafler, um eine Stunde bei Dir zu fein. Aber 
das hört auf in der Ehe, mein Kind; glaube einer erfahrenen 
Frau, die ſchon vier Monate verheirathet iſt. Mein Herr und 
Gemahl figt ganz ruhig in Heilbort bei feinen Akten und wartet, 
bis der Weg zu mir frei if. Dein romantischer Ernst fcheint 
freilich aus anderem Stoffe gemacht zu fein; aber was hat er 
denn eigentlih? Zeit drei Tagen geht er herum wie eine leib— 
haftige Wetterwolfe und läßt Dich dabei nicht einen Moment aus 
den Augen, wenn er bei Dir iſt. Es ijt förmlich beängitigend, Euch 


beide anzuiehen, und es it auch irgend etwas vorgefallen zwifchen | 


Euch, das vedeft Dur mir nicht aus. So ſei doch endlich einmal 


Ob er wohl jemals wieder heirathen wird? Es 


Das Waſſer flieht ja 





7 >°-- 


offen gegen mich, Erna, fchätte Dein Herz aus, mir fannit Du 


unbedingt vertrauen, ich bin verſchwiegen wie das Grab.“ 
Sie legte betheuernd die Hand auf die Bruft, aber Erna, 


nur den Gruß ihres Bräntigams, der ſoeben vom Pferde ftieg, 
und ſagte dann abweiſend: 

„Du täuſcheſt Dich, Wallh, es ijt nichts vorgefallen, durch— 
aus nichts." 

Frau Doltor Gersdorf wandte ſich ärgerlich ab, aud hier 
brauchte man feinen Schußgeiit; dieſe Meenichen hatten eine merk: 
würdige Art, alles mit fich allein abzumaden. Die Heine rau 
begriff das nicht, ihr war die Mittheilung cin Lebensbedürfniß, 
und befeidigt über diefen Mangel an Bertrauen rauſchte fie zur 
Thür hinaus. 

Kaum war fie fort, jo trat Waltenberg ein. Er hatte Hut 
und Mantel bereits abgelegt, aber jein Anzug trug trotzdem Die 
Spuren des Wetter, gegen das Feine Hülle ſchützte. Er näherte 
ſich feiner Braut und begrüßtt fie mit der getvohnten ritterlichen 
Artigkeit; aber es lag etwas Eiſiges in diefer Begrüßung und in 
feinem ganzen Wefen, dem das Glühen der dunklen Augen jeltiam 


widerſprach. Walln hatte nicht jo unrecht, er glich in der That einer 


finjteren Wetterwolfe, die drohendes Unheil in ihrem Schoße birgt. 

Erna trat ihm mit fihtbarer Befangenheit entgegen, fie hatte 
diefe Ruhe und Kälte fürchten gelernt. 

„Nun, wie fteht es draußen?“ fragte fie haltig. 
fommit von Oberjtein ?* 

„sa, aber id) habe einen Umweg machen müſſen; denn auch 
die Bergſtraße ijt ſchon überjluthet. Oberſtein ſelbſt Scheint ziemlich 
ficher zu fein; aber die Bewohner haben vollitändig den Kopf 
verloren, alles jammert und vennt in finnlojer Angſt durch ein- 
ander. Doktor Reinsfeld thut das Mögtichite, fie zur Vernunft 
zu bringen, und Gronau unterſtützt ihn dabei nach Kräften; aber 
die Menichen gebärden fich wie die Unſinnigen, weit fie ihr bißchen 
Hab und Gut bedroht glauben.“ 

„Dies bißchen Hab und Gut iſt aber alles, was fie be- 
figen,“ warf das junge Mädchen ein. „Ihre und ihrer Familien 
ganze Erijtenz ruht darauf.“ 

Ernſt zudte gleichgültig die Achfelu. 

„Rum ja, aber was ijt das genen die ungeheuren Werlufte, 
welche die Bahn erleidet! Eben als ich in das Haus trat, famen 
wieder neue Meldungen an den Präfidenten, nichts als Hiobs- 
pojten. Es ſcheint fo ziemlich alles auf dem Spiele zu ſtehen.“ 

„Aber 68 wird ja mit Anſpannung aller Kräfte gearbeitet! 
Sollte denn das alles vergebens fein?“ 

„Sa, der Chefingenieur fämpft wie ein Verzweiſelter mit 
den Elementen,“ ſagte Emjt mit einer Art wilder Genug: 
thuung. „Er vertheidigt fein geliebies Wert auf Leben und Tod, 
aber ſolchen Kataſtrophen iſt feine Menfchenkraft gewachſen. Das 
Waſſer fteigt fortwährend, die Dämme halten nicht mehr Stand, 
auf der unteren Strede find die Brüden bereits fortgeriſſen. Die 
ganze Natur fcheint ja in Aufruhr zu fein." 

Erna ſchwieg, fie trat wieder an das Fenſter und ihr Blick 
irrte hinaus in den monenden Nebel, der jeden Ausblid hinderte. 
Auch die Bahnſtrede, die fich unterhalb der Billa hinzog, war 
heute nicht fihtbar, nur das Braufen der entfeilelten Fluth drang 
berauf. Dort unten fämpfte Wolfgang an der Spite jeiner Leute 
und kämpfte vielleicht vergebens. 

„Run, die Wolfenfteiner Felfenbrüde bleibt jedenfalls ftehen,” 
fuhr Waltenberg fort. „Herr Elmhorſt follte damit zufrieden 
fein und ich nicht jo unſinnig preisgeben, wie er es bei jeder 
Gelegenheit thut. Feig iſt er nicht, das muß man ihm laſſen, er 
acht immer mitten hinein in die Gefahr; aber es iſt eine Thor 
heit, jein Leben einzufeßen, um irgend einen bedrohten Damm zu 
reiten. Er leiſtet Tollfühnes an der Spige feiner Ingenieure 
und Arbeiter, die ihm blindlings folgen. Sie jollen ſich nur in 
Acht nehmen, da er jie nicht mit in das Berderben reißt.“ 

Es lag eine falte, beredinende Granfamleit in der Art, wie 
er feiner Braut die Gefahr des Mannes, den fie liebte, immer 
und immer wieder vor Augen führte; fie wandte fih um und 
jtreifte ihm mit einem ſchweren, vorwurfsvollen Blid, 

Ernſt!“ 

„Du beſfiehlſt?“ fragte er, ohne den Blick zu beachten. 

„Warum verweigerſt Du eine offene Ausſprache, die ich fo 
oft ſchon herbeizuführen ſuchte; Du willft ja feine Exkärung.“ 


„Du 


Rein, ich will ſie nicht — laß uns darüber ſchweigen!“ 

„Weil Du weißt, daß Dein Schtveigen mich mehr quält als 
alle Borwürfe, und weil es Die Freude macht, mich zu quälen.” 

Die Augen des Mädchens flammten; aber der leidenſchaftliche 
Ausbruch begegnete einer Kifesfälte. 

„Wie Du mich verfennft! Ach will Dir cine peinliche Nuss 
einanderſetzung erfparen.” 

„Wozu das? Ich Fühle mich nicht ſchuldig; ich Werbe Dir 
nichtö verhehlen und ableugnen —“ 

„So wenig wie bei unſerer Verlobung!” unterbrach er fie 
ſchneidend. 
auf den Ramen! Du ließeſt mich gefliſſentlich in dem Irrthum, 
den ich allerdings ſelbſt verſchuldete.“ 

„Ich fürchtele —“ 

„Für ihn — natürlich! Ich begreife das volllommen; aber 
beruhige Dich: es lommt mie wirklich nicht fo genau auf die Zeit 
am, ich lann warten.“ 


ſie ein Grauen an vor dieſem kraſſen Egoismus. 


“Dur warſt ja auch damals ſehr aufrichtig — bis | 


Erna äußerte fein Wort des Vorwurjes, aber es wandelte 
Dort unten 
fegten Hunderte Kraft und Leben ein, um ein großes, kühnes 
Werk zu retlen, an dem fie jahrelang gearbeitet hatten, die un: 
geheuerſten Summen ftanden auf dem Spiele und daneben bangten 
auch die armen Aelpler noch um ihren dürſtigen Beſitz. Ernſt 
hatte auch wicht ein Wort des Bedauerns dafür, ihm mar das 
nur „hochintereffant” und neben diefem Intereſſe empfand er 
hödjitens noch Genugthuung darüber, dab die Schöpfung feines 
Feindes vernichtet wurde. 

Und dieſer Mann wollte fie an ſeine Seite zwingen für 
em ganzes langes Leben, fie jollte ihm angehören mit Yeib und 


' Seele; und wenn fie ſich aufbänmte und verfuchte, die Kette zu 


Erna zudte zufammen bei dem ſeltſamen, vieldeutigen Worte, | 


„Warten worauf? 
damit?" 

Er Tächelte mit derſelben kalten Graufamfeit wie vorhin. 

„Wie ſchreckhaft Dur geworden bit! Sonſt vflegtejt Dur 
muthiger zu fein; aber freilich, eins giebt es, das Did im be: 
ſinnungsloſe Augſt treiben fan, das habe ich geichen.“ 

„Und dies Eine läßt Dur mich täglich und ftündlich büßen! 
Das it eine unedle Rache, Ernſt, ich werde Dir feine Antwort, 
fein Belenntnig verweigern, wenn Du fragit; aber ftche mie endlich 
Nede. Du haft Wolfgang Elmhorſt geiprochen jeit jenem Borfoll?* 

Es verging eine volle Minute, che Ernſt antwortete; er 
ichien jeden Jug in ihrem Geſichte zu ſtudiren. 

„Ja!“ ſagte er endlich langſam. 

„Und was iſt geſchehen zwiſchen Euch?“ Ihre Stimme bebte in 
verhaltener Angſt, ſo jehr fie ſich auch Mühe gab, ſie zu beherrjchen. 

‚Verzeih', das acht wohl nur uns beide allein an; aber Du 
darfſt Dich durchaus nicht beunruhigen. Ich Habe bei Herrn 
Elmborit jedes nur wünfcenswerthe Entgeaenfommen gefunden, 
wir find im beiten Einvernehmen gefchieden.“ 

Er betonte jedes Wort Scharf umd hobnvoll, und dieler Hohn 
brachte Erna aufs änßerſte. Sie hatte bisher ftumm und wehrlos 
alles ertragen, um ihn nicht noch mehr gegen Wolfgang zu reizen, 
ſie wußte es ja, dab diefem allein feine Rache galt; jept aber 
richtete fie fich auf in voller Empörung. ! 

„Ernit, geb’ nicht zu weit, Du könntejt es bereuen. 
bin ich nicht Dein Weib, noch kann ich mich losreißen - 

Sie vollendete nicht, denn Wallenbergs Hand legte ſich plöhlid, 
auf die ihrige mit fo eifernem Drude, als wollte er jie zerbrechen. 

„Verſuche es!“ ziſchte er; „der Tag, an dem Du Did von 
mie trennſt, it der lebte feines Lebens.” 

Erna erbleichte, der Ausdrud feines Geſichtes erfchredte ſie 


a 


Um Gottestwillen, mas meinft Du | 


zerreißen, die fie in einem Moment der Ueberraſchung, halb willen: 
los auf ſich genommen Hatte, dann drohte er ihre mit dem Tode 
dejfen, den jie Tiebte, und machte fie wehrlos damit. Das Mittel 
war gut gewählt, all ihr Trotz, all ihre Widerſtandskraft fant 
jufammen vor diefer Angſt. 

Da hörte man im Nebenzimmer die Stimme des Rräfidenten, 
der Haftig und laut dem Diener einen Befehl gab und gleich 
darauf ſelbſt eintrat, bleich und aufgeregt, nur mit Mühe feine 
Faſſung bewahrend, Die lehten Meldungen Tiefen das Schlimmite 
befürchten, er wollte ſelbſt hinunter und jehen, wie es ftand., 
Waltenberg erklärte Sofort, fich ihm anichliegen zu wollen, und 


‚ wandte ſich dann am jeine Braut jo ruhig, als jei nicht das Ger 


ringjte zwiichen ihnen vorgefallen. 
„Willſt Du uns nicht begleiten, Emma? Wir reiten nad) ben 
am meilten bedrohten Stellen, und Du biſt ja furchtlos genug.“ 
Erna zögerle einige Sekunden, dann willigte fie haftig ein. 
Sie mußte ſehen und willen, was da unten geichah, und wenn es 
das Schlimmite war, Nur nicht länger hier oben au&harren, in 


‚ den wogenden Nebel bliden, der alles verfchleierte, und die Mel: 


Mod ı 


noch mehr als feine Drohung. Set, wo er die Mastfe der Kälte | 


und des Hohnes fallen lich, Ing etwas Tigerartiges darin, und 
in feinen Mugen jprühte es ſo wild und furchtbar, daß fie un— 


dungen hören, die von Stunde zu Stunde beängjtigender Hangen! 
Es ging nad) den am meiften bedrohten Stellen; dort war Wolf: 
gang, ſie ſah ihn wenigitens! 

Rally, die nicht begreifen konnte, wie man ſich in ſolchem 
Better in das Freie wagen könne, blickte ihnen kopfichättelnd nach, 
als fie davonritten; auc der Präſident war zu Pferde, denn auf 
dem gänzlich anfgeweichten Wege kam der Bergiwagen nicht vor: 
wärts; ſelbſt die Thiere arbeiteten fih nur mühſam durch den 
tiefen Schlamm. Die Heine Geſellſchaft ritt in drückendem Schweinen 
dahin, nur Waltenberg machte hin und Wieder eine furze Be: 
merkung, die faum beantwortet wurde. Sie nahmen ihren Weg 
zunächſt nach der Wolfenfteiner Brüde. 


Ter Wolfenjtein Hatte fein Haupt noch dichter als jonft 
verhillt; ſchwere Wetterwollen umlagerten feinen Gipfel und zogen 
am feinen Wänden bin, wilde Gletſcherbäche ſtürzten von feinen 
Eisfehdern nieder und die Stürme umtobten ihn Tag und Nacht. 


| Die Alpenfee ſchwang das Scepter über ihren Reihe, die wilde 


willtürlich zuſammenſchauerte. Sie fühlte es, er wiirde dem Worte | 


die That folgen Tasten. 
„Du bijt entieglich!” fagte jie feife „Ih — füge mich!“ 
„Das wußte ich!” rief er mit einem herben Muflachen. 
„Der Grund ift zwingend für Dich.“ 


Er gab laugſam ihre Hand frei, denn im diefem Augenblid | 
teat Wally ein, Die num ausgeſchmollt Hatte und wiſſen wollte, | 
wie es in Oberjiein ftehe, was ihr Vetter Benno made und wie | 


es drunten auf der Bahn ausfche; fie hatte wie gewöhnlich taufend 
ragen und Erkundigungen. 
Wattenberg antwortete nit voller Artigkeit; er war wieder 


eben noch eine Tigernatur verrathen hatte. 


Herricherin des Gebirges zeigte ſich in ihrer ganzen furchtbaren Macht. 
Die Herbtjtürme waren ja jo oft verhängnißvoll geworben, 
mehr als einmal hatten fie Hochwaſſer und Lawinengefahr ae 
bracht; manches Dorf, mancher einfame Berghof hatte das ſchwer 
empfinden müſſen, aber eine folche Katafirophe war feit einem 
Menſchenalter nicht eingetreten, Seltſamerweiſe verſchonte fie dies— 
mal größtentheils die Ortſchaften; die Aluthen und Stürme be: 
drobten nur die Bahn, die fi, dem Laufe des Stromes folgend, 
durch das ganze Wolkenſteiner Gebiet zog und mit ihren zahl: 
reichen Brüden und Bauten mır zu viele Angriffspunkte bot. 
Der Ehefingeniene Datte gleich beim eriten Ausbruch der 


‚ Gefahr mit gewohnter Umficht und Energie feine Maßregeln ge: 
ganz Herr feiner felbit und man fah es ihm nicht an, daß er 


„Wenn es den Damen Vergnügen macht und fie den Regen | 


richt jchenen, können wir ja hinunter reiten,“ jagte er am Schiufie | 


feines ausführlihen Berichtes. 
„Beranägen?“ vier Wally, die trog all ihres Uebermuthes 


doc ein warmes Mitgefühl für fremdes Yeid beſaß. „Wie Lünen | 


Sie im Angeſichte eines ſolchen Unglüds nur davon ſprechen!“ 

„Na, gnädige Frau, der einzelne fanı da wirklich nicht 
helfen,“ verſetzte Ernſt achſelzudend. „Aber ich verlichere Ahnen, 
der Aublick iſt hochintereſiant.“ 


troffen. Die ganzen Arbeitermaſſen wurden aufgeboten, um die 
Dahn zu ſchützen; die Ingenieure waren Tag und Nacht auf 
ihrem Voſten, Elmhorſt ſelbſt ſchien fich zu versehnfachen und 
überall zugleich zu fein. Er flog von einer bedrohten Stelle zur 
anderen; ermuthiate, befahl, feuerte an und gab dabei rückſichtslos 
jeine eigene Sicherheit preis. Sein Beifpiel riß alle fort; was 
Menſchenkräfle nur leiſten Tonnten, das wurde geleiftet, aber 
all die Menjchenfraft erwies ſich als ohnmächtig den entfeſſelten 
Elementen gegenüber. 

Seit drei Tagen und Nächten ſtrömte der Regen wolfen: 
beuchartig; all vie tauſend Waſſeradern, die jonjt jo harmlos und 


jilberhell von den Höhen niederrannen, tobten umd jtürgten wie 
Wildbäche in das Thal nieder, die Väche wurden zu reißenden 


Strömen, die durch die Wälder bradıen und Tannen und Fels— 


trümmer mit fich fortriffen, und alles ftreble dem Bergftrome 
au, deſſen Fluth ftieg und ſtieg und ihren wilden Wogenſchwall 
immer twieder von neuem gegen die VBahndämme warf. Gie 
konnten dieſem unaufhörlichen Anfturm endlich nicht mehr wider 
jtehen, hier wurden fie überfluthet, dort zerriiien; das nafje, zer: 
wühlte Erdreich hielt nirgends mehr zuſammen und riß teichend 
das Mauerwerk mit jich. 

Auch die Brüden hielten nicht mehr Stand, eine nad) der 


anderen erlag dem Anfturm dev Wogen, die man vergebens zu ' 
theilen und zu brechen verjuchte. Anfolge der unaufhörlichen Regen- 


güffe gingen überall Erd- und Felsſtürze nieder; eins der Stations» 
gebäude wurde dadurch völlig vernichtet, die anderen ſchwer be— 
ſchädigt. Dazu tobte der Sturm in den Lüften und erſchwerte 
das Arbeiten im Freien übermäßig. Wenn der Chefingenieur nicht 
an ihrer Spite geweſen wäre, die Leute hätten längſt die Arbeit 
aufgegeben und thatenlos dem Verderben zugejchaut, dem fic doch 
wicht wehren Fonnten. 

Aber Wolfgang Elmhorſt führte den Kampf duch bis aufs 
äußerſte. Schritt für Schritt, wie er fich einjt diefen Boden erobert 
hatte, veribeidigte ev ihn jeßt. Er wollte nicht unterliegen, 
wollte fein Werk nicht preisgeben; aber während er mit ver- 
zweifelter Energie Tämpfte und alles dranschte, es der Vernichtung 
zu entreißen, Hangen ihm immer wieder die letzten Worte des alten 
Freiheren von Thurgau in den Ohren: 

„Nehmt Euch in Adıt vor unferen Bergen, die Ahr jo 
hochmüthig zivingen wollt, daß ſie nicht herabſtürzen und all 
Eure Bauten und Brüden wie Spfitter entzweibrechen. Ich 
wollte, ich könnte dabei jtchen und es mit anjehen, wie das 
ganze verfluchte Werk in Trümmer acht!” 

Die düftere Prophezeiung ſchien ſich jegt zu erfüllen — nad 
Jahren. Man Hatte Wälder und Felſen durchbrochen, Ströme 
bezwungen und das ganze weite Bergesreich unter die eiferne 





Feſſel aebeugt, die es den Menfchen dienjtbar machen jollte, mau 

' hatte fich fo ſtolz gerühmt, die Alpenfee beſiegt und unterworfen 
zu haben, und jet, unmittelbar vor der Vollendung des Werkes, 
erhob jie fh von ihrem Wolfenthrone und fchüttelte zümend das 
Haupt. Jetzt lam fie hernieder in Sturm und Verderben und vor 
diefem Sturmezathem fant all das ſtolze Menſchenwerk in Trüm- 
mern zufammen. Da half fein Muth und feine Energie, fein 
Ningen der Verzweiflung; die wilde Elementargewalt zertrat in 
wenigen Tagen all die Spuren, die der Menfchengeift in jahre: 
langer, mühevoller Arbeit geſchafſen Hatte, und trieb hohnlachend 
ihr Spiel mit denen, die geglaubt hatten, ihre Herren zu fein — 
ein furchtbares, todbringendes Spiel! 

Freilich die Wolkenjteiner Brüde ſtand noch feſt und ficher, 
wo alles andere wankte und ſtürzte. Selbſt der weiße, fochende 
Giſcht, den die wild ſchäumende Ache emporſchleuderte, drang nicht 
bis zu ihr, die fi) oben in fchwindelnder Höhe hinzog. Und fv 
furchtbar es in den Lüften tobie, der Sturm brad) ſich an den 
Eifenrippen des mächtigen Baues. Auf feinem Felſeugrunde 
ruhte ex, wie für die Ewigkeit aefchaffen, und bot all den Unheils 
mächten Troß. 

Das Stationsgebäude, das der Chefingenienr einftweilen be: 
wohnte, war jeit den Ausbruch der Kataftrophe das Hauptquartier 
geweien, wohin ſich alle Berichte und Meldungen wandten, von 
wo all die Befehle und Mafregeln ausgingen. Man hatte diefen 
Theil der Bahnftrede bisher für ficher gehalten, da fie hier eins 
der ſchmalen, tief eingejchnittenen Seitenthäler Freuzte, die Wolfen: 

ſteiner Schlucht überbrüdte und ſich dann auf teilen, hohen Ab— 


‚ hängen wieder dem Bergitrome zuwandte, der an dieſer Stelle 


einen weiten Bogen machte. Das Hochwaſſer, das der unteren 
Strede jo verhängnigvoll geworden war, konnte die obere nicht 
erreichen; aber jegt waren die Wildbähe vom Wolfenftein los— 
gebrochen und die Schlamm- und Geröllmafjen, welche fie mit 
fich führten, drangen bis zur Brüde vor. Die Gefahr mußte 
auch Hier dringend fein, denn Elmhorſt jelbjt war zur Stelle und 
leitete perfönlich die Arbeiten. (Fortfegung folgt.) 


Weihnachtsgeſchenke. 


Jeitgemaße Betrachtungen von Emil Pelhkau. 


Daez ſchöne, pocheverflärte Feſt mit feinem Tanmenduft und feinem 
Lichterglanz nähert fich wieder; aber in die Mindfiche Vorfreude, die 
wir jchon empfinden, in die felige Gebeftimmung, die uns in nachdenllichen 
Stunden beſchleicht, drängen 7 auch wieder die alten Sorgen: Was 
ſchenlen wir unſeren Lieben? Was kaufen wir unferen Freunden? Wie 
bewältigen wir am beften die Pilichtgeichente, denen wir und nicht ent 
ziehen fünuen? Mancher arıne Teufel, der froh wäre, wenn er ſeinem 
tleinen Mädchen ein Paar tüchtige Schuhe auf den Weihnachtstiſch ftellen 
tönnte, wird bitter fächeln, wenn er von unleren „Sorgen“ hört und | 
doch jind es Sorgen, und wir athmen erleichtert auf, wenn wir das 
Kapitel erledigt haben. 

Freilih — wenn ich mir die Sache recht überlege, jo ſcheint es mir, 
daß wir an dielen „Sorgen” doch nur ſelber ſchuld find. Diefe Sorgen 
find eine Art Zeitfrage, und jo nebenjächlich ſie ach jcheinen mögen, 
ind fie doc in gewiſſem Sinn charakteriftiich jür die Gegenwart, Wan 
hat früher anders geichenft als jegt — man hat vor allem weniger ge 
ſchenlt! Man bat ſich darauf befchränkt, feinen nächſten en | 
eine Freude zu bereiten, man bat wenig geſchentt, aber Solides, Tüchtiges, 
man bat nicht nach dem Selriamen gejagt, nach Flitter und Tand, nad) 
blendenden Weberrafchungen, und mau bat, wo mer man ſchentte — 
ehrlich geidyenft! Deut au Tage aber wüthet ein wahrer Schenktanmel, 
wir benugen auch die Weihnachtszeit, um einander Sand in die Mugen 
zu ftreuen, die geſellſchaftliche Lüge droht ſich alles Ernſtes auch des lich» 
lichen Feſtes zu bemächtigen, das wie ein heilines Idyll unangetaitet in 
dem Sturm unjerer Tape fteht. 

Tas Weihnachtsfeit it das Feſt des Herzens, das Feit der Liebe, 
und das Schenfen foll mr ein Ausdrud diefer Liebe fein. Es nicht aber | 
Kreife, in denen das Schenfen ſchon eine Art unangenehmen Geſchäftes 
geworden ift, Immer größer wird die Anzahl derer, die man beſchenlen 
nun, und die Cherflächlichleit und Leichtfertigleit, mit der man das „Ge—⸗ 
ichäft" nun Schon beſorgt, wird endlich zur Gewohnheit und wirft auch 
auf das Gebiet jener Geichenfe zurück, die man wirklich mit Liebe giebt. 
Ich Tonne Eltern, die felbjt ihren Rindern Sand in die Mugen ftreuen — 
nicht weil es ihnen an Liebe fehlt, jondern weit ihnen das gedanlenloſe, 
oberflählihe Schenten eben zur Gewohnheit geworden ijt, weil jie feine 
Empfindung mehr baben fir die jchöne Idee des Weihnachtsgeſchenles, 
fein Berjtäudniß für die ethiſche Bedeutung desjelben, 

Es iſt recht ſchade, daß es feine ftatiftifchen Aufzeichnungen über bie 
Weihnachtsgeſchenle giebt — das wäre ebenſo lehrreich als beinftigend | 
au lefen. Das maſſenhaſte Schenken, wie es jeht Mode geworden it, | 





hat ja nicht bloß feine erufte, fondern auch feine drollige Seite. Wer 
viel Belannte befigt, lann ſich die erheiternditen Sammlungen anlegen 
und er wird mit der Reit ein ganzes Mufeum zufammenbelommen: ein 
immer für Eigarrentajchen und ein anderes für Bantoffeln, eines für 
Papiermeffer und eines für Thermometer, eines für 4 Sg und 
eines für Zundholzchenbehalter ze. Unter dem Einfluß der Mode hat jich 
eine fürmliche „Weihnachts-Induſtrie“ entwidelt, gegen die ja jo weit 
nichts einzumenden ift, als es fich um jolide, einigermaßen wüßliche Er- 
zeugniiie handelt. Aber ein ernitet Wort verdient das Auftauchen eimer 
Schundjabrifation im Großen, der Erzeugung von Geichenfgegenitänden, 
die billig find und hübich ausichen, aber ihren Dienjt verfagen ober im 
Trümmer gehen, fowie man fie verwenden will. 

Das eihnodstäpeident joll ein Ausdrud der Liebe fein — beihränten 
wir es deshalb auf diejenigen, die wir wirklich lieb haben. de 
„Bilichtgeichente" au Hinz und Kunz, da Hinz und Kunz doch N} 
qut iwiffen wie wir — mo man billigen, wertblofen Tand lauft. Und 
wenn wir unſeren Lieben etwas fehenfen, dann vergejien wir wieder nicht, 


daß das Geſchent ein Ausdruck der Liebe ift, daß es ein Werthitäd fein 


muß. Kein Werthftäd, das für hundert Mark erftanden ift, jondern ein 
Gegenſtand, der, wie geringfügig er auch jein mag, doch folid und tüchtig 
ift und für dem Beſcheulten Werth befigt. Wir beliigen uns nur felbft, 


| wenn wir glauben, mit einer blendenden Ueberraſchung Erfolg zu erzielen. 


Es iſt wenigftens ſehr wahrjcheinlich, dak auch der Beſchenlte des Pudels 
Kern ſehr bald entdeden wird und daß er cin einfaches Taſchenmeſſer, 


das er zehn Kahre lang benüßt, einer prächtig aufgetafelten Standbuhr, 


deren Wert ſchon nad) drei Tagen den Dienſt verfagt, vorsieht. 

Alſo nochmals und nochmals: Beſchenlen wir nicht jo viele umd 
ichenfen wir nicht jo vielerlei! mtheiligen wir nicht das ſchöne Feſt 
durch Lüge und Täuſchung! Geben wir mur dort, wo uns das Herz 
dazu drängt, und dann laflen wir uns von unſerem Verſtand ermitlich be- 
rathen. Dann werden die Sorgen für die Weihnachtsgeſchenle gleit viel 
geringer werben und was itbrig bleibt an Sorge, ift nur die Sorge der 
Liebe und and die iſt köſtlich. Es mag ja recht praftiich fein, feiner 
Frau ein paar Soldftiide ald Weihnachtsgeſchent auf den Tiich zu legen — 
auch das it eine Nenerung, die anfängt Verbreitung zu gewinnen — aber 
wer das thut, verräth ebenio wenig Sinn für die ideale Bedentung des 
Weihnachtsfeſtes wie jene andern, die den ſabriksmäßig erzeugten Tand 
und Flitter gefchäftsmähig verſchenlen. Das Weihnachisſeſt ift das Feſt 
der Liebe und dieje muß ns aus allem entgegenleuchten, was den Namen 
Weihnachtsgeſchenk verdienen ſoll. 











—⸗ 1 » — 
Die feierlidye Grundfleinlegung des Reichsgerichtsgebäudes in Leipzig. 





wei Jahrzehnte ift fie nun bald vorüber, die lange, kaiſerloſe Zeit! 
&) In Berfailles erhob fich der deutiche Nar zu neuem Fluge und breis 
tete jeine mächtigen Schwingen aus. Das Neich war wieder eritanden! 
Aber es war nicht das alte Reich, deilen ipottwertbe Inftitutionen alles, 
nur feine Einheit darſtellten — nein, es war ein neues, geeintes Reich, 
ein Neich voll Kraft und Energie, deſſen Krone der greife Hohenzoller 
trug!_ Unter den Einheitäbeftrebungen, die nach der Kaiferfrönumg ber- 
voriraten, jtand das Beftreben, ein einheitliches Mecht zu Ichaffen, obenan. 
Das Strafrecht und ber Strafprogeh, das Handelsrecht, der Eivilprozeh 
die Berichtsverfafiung und eine ganze Reihe jveriellerer Materien erhielten 
einheitliche Normen, und das bürgerliche Geſezbuch für das Deutiche 
Reich wird dereinit die Krone diejes einheitlichen deutichen Rechtes bilden, 
Mit der Einheit des Rechtes aber jollte die Einheit der Rechtſprechung Dand 
in Hand gehen: am 1. Oftober 1879 trat der höchſte Serichtähof des Dentichen 
Heiches, das Reichsgericht, das nach dem Geſetz vom 11. April 1877 feinen 
Sit dauernd in Leipzig hat, ins Leben. Sein Borläufer war das Neichsober 
hanbdelsgericht geweſen, das freilich nur ein Forum für Handelsfachen gebildet 
hatte, Seit den Fagen des alten Reichslammergerichtes in Weblar, wo man 
„nach des Reſchs und gemeinen Mechten, und mach ehrbaren und redlichen Ord 
nungen und Statuten“ verfuhr, dabei aber die Rechtsſtreite wie eine ewine Hrant 
beit forterben lieh, wurde zum eriten Male wieder ein hobes Tribunal errichter, 
das eine Einheit der deutihen Richterfprücde in Straf und Civiliachen, ala 
Revifions- und Beihwerdeinitang, herbeiführen und zugleich die erite und lebte 
Inſtanz in Fällen des Hoch und Yandesverrathes gegen Kaiſer oder Hei bilden 
follte, Nachdem der Reichsgeridhtshof in Leipzig vorläufig in einem zu diefem 
Amede bergerichteten jtädtiichen Bebäude Iinterkunft gefunden, wurde am 31. Oftober 
d. J. unter Anmejenheit des Dentihen Kaifers und des Königs von Sadılen 
feierlich dee Orumditein zu dem neuen Reichsgerichtsgebaude auf dem Plab an der 
Hartortſtraße gelegt. Ueber die Geichichte und ben Eharalter des Baues hat die 
„Sartenlaube" bereits im Nr, 15 des Sahrgangs 1885 eine Skizze mit einem 
Bild des p ehrönten Entwurfſes gebracht, auf die wir hier nur verweilen wollen. 
Die Feier der Brundfteinlegung war eine ebenfo wirdige wie glänzende, Leipzig 
batte ein prangendes FFeitgewand angethan. In den Straßen, durd welche der 
Kaiſer an der Seite König Alberts fuhr, bildeten das Militär, die riegervereine 
Innungen, Bejangvereine, Turnvereine und Schulen vor der begeiiterten Volls 
menge Spalier, während draußen auf den Tribiinen und um den pruntvollen 
Malſerpavillon“ ſich die auserwählten Gäſte der eier, die Hätbe des Reichs 
gerichts, die höochſten Würdenträger des Reiches und des Landes, die Vertreter 
der Sorporationen, der Stubdentenichaft ꝛc. aruppirien 
Dun bei , —— Ueberall braufte ein mächtiges Hurrah“ durch die Straßen, welche der impo 
SNDANTER 8 ſante Kaiſer⸗ und Königezug berührte, Derſelbe bewegte ſich in lachendem Sonnen 
ſchein, echtem „Kaiſerwetter“, über den Markt, wo ber Kaiſer das neu erbaute Sieges 
dentmal, an dem die Geſtalten Kaiſer Wilhelms I, und Kaifer Friedrichs mit Immortellenkränzen geſchmückt waren, in Augenſchein nahm, nach 
dem Feſtplatz, mo es von bunten, noldgeitidten Uniformen und blitenden Orden twimmelte, Bor dem Saiferzelt, in dein die beiden Majeftäten 
fih niederliehen, lag der Grundſtein, der feiner Weihe harıte. Der Sängerhor ftimmte zunächit den Hymnus „Die Himmel rühmen des Ewigen 
Ehre” an, nad deifen Beendigung der Staatäfefretär Dr, v. Schelling die vom Kaifer volläogene Urkunde für die Feier der Grundfteinlegung verlas, 
in ber es vom Neichsgericht heißt: „Zum Wohle des Volles joll es ein unabhängiger Hüter des im Dentichen Reiche geltenden Rechtes fein und 
demjelben in dem hier zu errichtenden Gebäude eine würdige Stätte bereiten,” Die Urfunde wurde hierauf mit den übrigen Schriftjtüden und 
einem vollftändigen Safe deutiher Münzen in einer Metalltapfel verlöthet und in den Grundſtein eingeiegt. Unter einer Anſprache überreichte der 
bayerifche Bırndesrathsbevollmächtigte, d, Yerchenfeld, die Kelle, der Vicepräfident des Neichstages, Dr. v. Yuhl, den Hammer, Se, Maieftät der Hailer 
that drei Hammerichläge, indem er fprach: „Der Ehre des allmächtigen Gottes, dem Nechte und feinen allzeit getreuen Dienern.“ Ihm folgte König 
Albert, der folgendes ſprach: „Bott zur Ehre, dem Reiche zum Ruhme, dem Rechte zum Schirm.“ Den beiden Majeftäten ſchloſſen fich die ſämmtlichen 
Staatswürdenträger mit Hammerſchlägen an. Gebet und eine kurze Predigt des Superintenbent Pant, fowie ein vom Neichsgerichtäpräfidenten 
Dr. v. Simfon ausgebrachtes Hoch auf den Kaifer bildeten den Schluß der wahrhaft erhebenden Freier. Au diefelbe ſchloß ſich ein Prrübftüd und ein Konzert 
im „Neuen Gewandhaus“ an, Alle Theilnehmer der Feier baben gewiß die Ueberzeugung erlangt, einem hoben, weltgeihichtlidyen Momente beigewohnt 
zu haben, einem Momente, bedentfam Für Leipzig, bedeutfam fir das Sachſenland, bedeutiam für das ganze deutiche Kaiferreich! Hermann Fl). 
1888 — — 101 





— 


© 


Karoline von Linfingen. 


98 


. 4 a 7 
* 


— 


VNachbrud verboten 
ae Mode verbegalten. 


Aus dem Seben einer [(dwergeprüften Frau. Mach ihren Briefen und Aufzeihmungen.* 
Bon Sımidt-Wrifenfels, 


m Frühjahr 1790 fchidte der König Georg IT von England 

feinen dritten Sohn, William Heinrih Herzog von Clarence, 
nach jeinem bannöverfchen Kurfürſtentihum, Damit er dort, fern 
den Berführungen des Londoner Hoflebens, eine Zeit lang jeinen 
Aufenthalt nehme. Die bejorgte Fönigliche Mutter, cine geborene 
PBrinzeffin von Medtenburg, Hatte ihrem jungen, heinblütigen 
Liebling dafür einen befonderen Hofſtaat theils harnöverſcher, 
theils englifcher Edellente ausgetwählt, deren Ergebenheit wie Treff⸗ 
lichkeit des Charakters fie geeignet ericheinen Tiepen, die Umgebung 
und Gefellichaft des Künigsjohnes zu bilden. Unter dieien Ehren— 
lavalieren genoß namentlich der Generallientenant von Linjingen, 
Chef eines hannöverfhen Fnfanterieregiments, ein oft und gem 


aejehener Gaſt des engliichen Hofes, das Vertrauen der Königin, | 


während der junge Lord Dutton durch innige Freundſchaft mit Prinz 
William verbunden war, Der eine follte bei diejem die Stellung 
eines Mentors, der andere die eines trenen Nameraden einnehmen. 

An der Stadt Hannover wurde der Sohn des Landesherrn 
mit allen ihm gebührenden Ehren von Seiten des dort lebenden 
Adels aufgenommen. Feſte itber Feſte fanden ihm zu Ehren ftatt 


und auf denfelben wurde ihm alles vorgeitellt, was zur vornehmen | 


Weit des Landes achörte, Vom Anfang feines Aufenthaltes in 
Damtover gewann ſich auch der Herzog Durch die Schönheit feiner 
Jünglingsericheinung, durch feine feurige Lebensluſt und die edle 
Art feines Benchmens die Ichhafte Verehrung dieſer Gejellichaft 
und zumal der jungen Damen, die in der gefühlvollen Weber 
ichwänglichkeit ihrer Seit Fire ihn ſchwärmten. 

Seneral von Linfingen hatte feine jehr zahlreiche Familie, 
die fonjt in Lüneburg wohnte, während feines auferordentliden 


Dienftes beim Prinzen William mac Hanunover kommen laſſen. 


Gleich nach Seiner Ankunft lieh ſich der letztere bei derfelben ein: 
führen, zumal er von feiten feiner Mutter einen Brief und eine 
brillantengeichwäcte Tuchnadel an die zweite Tochter des Daufes 
zu übergeben batte, 

Die Urſache dieſer Auszeichnung für Fräulein Karoline von 
Linfingen war zunächſt in der Freundſchaft der Königin für den 
Vater zu Fuchen und dann auch in der Theilnabme, die ſie ſeit 
Jahren gerade für diefe feine Tochter hegte, ohne fie jemals ge: 
ichen zu Haben. Aber cr Hatte ihr früher von ihren Findlichen 
Reizen und auffälligen Eigenthämlichkeiten ihres Weſens, poetiſchen 
Zügen und ſeltſam frühreifen Kundgebungen ihres Geiftes fo viel 


erzählt, daß die Königin begierig wurde, dies Mädchen zu fchen, | 


und ſie ihm das Veriprechen abmahın, cs einmal mit nach Yondon 
zu bringen. Sie drang and beharrlich auf Erfüllung desielben, 
ſeiſdem Karoline Alter getvorden war; doch der General wurde 


davon immer wieder durch jeine Frau und deren Matter abge: | 
halten, welche nicht nur die Erzichung Starolinens im adeligen | 
Fräuleinſtift erſt vollendet willen wollten, Fondern deren Natur | 


auch für zu zart hielten, um den Aufregungen eines großen Hof 
lebens ohne Beſorgniß ausgeſetzt werden zu fünnen. Die Königin 
mußte fich daher mit den daukerfüllten Briefen begnügen, welche 
das Stiitsfränlein an fie richtete, und fie fandte ihm davanf ihre 
geiftreichen und qütigen Antiworten, in denen fie dasſelbe immer 
wieder in ihre unmittelbare Nähe zu loden verſuchte. 

Karoline war inzwiſchen zweiundzwanzig Jahre alt getvorden 
und Hatte das Stift verlaflen. Ste war hochgewachſen und von 
eigenartigev Schönheit, elfenartig zart im Gliederbau und doc 
eine imponirende Erſcheinung von weichen Yinien und ſchwellenden 
Formen. Michblondes Haar umrahnte ihr feines, weißes und 
matt lenchtendes Geſicht, deſſen roſig angehauchte Wangen noch 
die ſammetweiche Rundung der Kindheit bewahrt hatten, Stirn, 
Naſe und der Mund mit begehrenden, friſchrothen Lippen waren 
von vbollendeter Regelmäßigleit; aus ihren blauen, mit langen 
Wimpern befehten Mugen blitzte es wie elektriſches Funkenſpiel. 

Prinz William ſtand ihr bei der erften Begegnung im Haufe 
und in Gegenwart ihres Vaters und ihrer Geſchwiſter mit einer 
Befangenheit qegemüber, die fonft ganz und gar nicht in feinem 
Weſen lag. Gr war blöde wie cin ungeichidter junger Mann, 


* Seransgegeben und mit eier Einleitung veriehen von « * 4 


der zum erſten Mal einer eleganten Dame in einem Salon allein 
gegenüber fteht, er, der doch gewohnt war, fidy in großen Hof: 

aejellichaften zu beivegen. Wenn er feine hellen feelenvollen Augen 

auf fie richtete, fühlle er ſich wie unter einem magiichen Bann, 
‚ und während fie, ihre erſte Schüchternheit vor dem hohen Herrn 
bemeifternd, in anmuthvoller Beicheidenheit zu ihm ſprach, brachte 
er laum einen zufammenhängenden Sab hervor. Gr war froh, 
als er wieder von ihr fich entfernen fonnte und mit feinem Freunde 
Dutton das Haus des Generals verlief. 

Draußen faßte ihn freilich ein heftiger Aerger, eine fo Hägliche 
Rolle vor einem Mädchen geſpielt zu haben, dem er doch, als es 
vor ihm erichien, die lebhafteſte Huldigung hätte erweifen mögen. 
Und ſchließlich beichäftigte ihm fein Gedanke mehr, als jobald 
; wie möglich eine Gefegenbeit zu fuchen, mit Karoline wieder zu- 

jammenzutreifen und nachzuholen, was er bei ihr verſaumt. 

Es wurde ihm leicht, ſolche Gelegenheit zu finden. Auf den 
Reften, die ihm gegeben wurden, jah er aud Karoline wieder. 

Er Sprach mit ihr, befangen, aber doch in der jelbftbetwußten Art, 
die ihm feine Stellung geitattete. Er tanzte mit ihr, wie entrüdt 
dem Boden, beraufcht von dem Duft, den er um fie jpürte Er 
hätte, als der Tanz zu Ende, ihre Heine, feine Hand nicht los 
laſſen mögen und er hielt fie im ber That, als fei er daran mit 
der jeinigen gefeilelt. Erichöpft wie mad) einer ſchweren An— 
ſtrengung fühlte er ji, als er ſich endlich aus Schidlichleit won 
ihe getrennt. Aber eine unwiderſtehliche Macht trieb ihm bald 
toieder in ihre Nähe und fie zu neuem Tanze aufzuforder, wm 
noch einmal die ungekannte Seligkeit zu durchleben, die er genofien, 
während fie im Tanz von feinen Armen umfangen war und ihe 
ichönes Haupt ſich dicht an feine Schulter geneigt hatte, Einen 
Zauber übte fie auf ihn aus, den er fich nur mit einer leiden 
ſchaftlichen Liebe zu ihr erklären fonnte, 

„Richard! Richard!” ſagte er in ſtürmiſchem Ungeſtüm zu 
dem jungen Lord Dution, indem er ihm vertraulich geitand, wo— 

von nad) dem erſten Ball fein Herz und fein Kopf voll waren. 
„Das muß wohl eine wahre Liebe jein, wie fte die Dichter ver 
herrlichen, wie fie ein Pelrarca für feine Laura fühlte, und von 
der ich noch keine Ahnung gehabt, trogdem ich ſchon mandhes 
ſchöne Mädchen zu Lieben geglaubt. Aber das war ja nichts 
Aehnliches; es waren leichte Briien gegen diefen Sturm. Es ift eine 
Raferei, Freund, md ich weiß nicht, wie Dies enden joll. Fliehen 
wäre das Beſte. Doch warum fliehen vor dem Glück? Denn es it 
trog allem ungeheuren Aufruhr in mir ein unausiprechliches Glüd.“ 

„Beruhtge Dib, William!“ antwortete ihm Dutton,_ „Es 
iind erſte Eindrüde einer allerdings merlwürdig lieblichen be: 
rüdenden Erfcheinung Wenn Dur fie öfter fiehit, wird der Zauber 
feine Macht verlieren. Eine Dere ift fie ja doch nicht.“ 

„Aber ich bin von ihr wie behert,“ 

Er brauchte fie wicht zu jchen, um dies injofern an ſich zu 
fpüren, als es ihm unmöglid war, ohne den Gedanken an fie 
und die heitigfte Sehnſucht nach ihrem Anblid einen Tag zu ver- 
leben, Ho er much ſelbſt mit der heiterſten Geſellſchaft in die 
Wälder zu wilden Jagden. Immer jie, deren Bild ihn umſchwebte, 
deren Athem er, wo er auch war, zu Fühlen vermeinte! Und wenn 
er es vermochte, ſuchte er die Begegnung von neuem mit ihr. (Es 
war auch, ats komme fie ihm entgegen, ohne doch im geringjten 
die jittige Zurückhaltung eines wohferzugenen Mädchens zu ver: 
leugnen. Aber cin Blick, den fie beide taufchten, und es entſtand 
eine Anziehungstraft des einen auf den andern, der fie nicht zu 
widerstehen vermochten. Sie flogen gleichſam zu einander, und 
es konnte in der Ghefellichaft bald nicht mehr überichen werden, 
dak der Prinz in den Banden der Leidenichaft für Fräulein von 
Linſingen jei und dieſe Yeidenichaft ihm erwidert werde. Trotzdem 
war zwiichen beiden noch fein Wort vun Liebe geiprochen worden, 
Mit einer Willenskraft, zu der er die höchſten Anſtrengungen auf- 
bot, bielt der Prinz mit dec Aeußerung deilen genen Karoline 
zuricd, was er für fie empfand. Aber was bedurfte es auch der 
More? Wenn fie fich ſahen, jo laſen fie gegenfeitig in ihrer 


(Veipzig, Dunder u. Humblot 18804 


— 0 


Seele und deren Geheimniß, daß eine die andere zu ihrer völligen 
Ergänzung erjehne, wurde ihnen bald offenbar. 

Der General hatte in feiner Ehrfurht vor dem Königsſohn 
nicht gewagt, gegen ihn Borftellungen wegen der zu erkennbaren 
Leidenichaft für feine Tochter zu erheben, und ebenfo wenig beſaß 
er die Energie, fie aus dem gefährlichen Bannkreis diejer Leiden: 
ſchaft zu entrüden. In der hohen nervöſen Erregung, die er an 
Karoline wahrnahm, befürchtete er das Schlimmite, wenn er durd) 
ihre Entfernung einen Gewaltſtreich gegen fie ausführte, der ihr 
Herz treffen mußte. In feiner Beſorgniß waudte er fich aber 
freimäthig an feine Fünigliche Freundin in London und vieth ihr, 
durch Zurückberufung des Prinzen das in ihm entiachte Feuer 
noch) rechtzeitig verglimmen zu laffen. Die Antwort der Königin 
wollte die Angelegenheit nicht als jo ernſthaft aufgefaßt haben; 
vielmehr drüdte ſie eine gewiſſe Freude darüber aus, daß ihr 
Sohn durch eine Liebe zu joldem Mädchen von Teichtjinnigen 
Verbindungen abgehalten würde. 

Linfingen fühlte dadurch ſein Gewiſſen auch beruhigt; es 
blieb wolfenlojer Himmel über den Liebenden und fie fanden um: 
behindertes Wiederſehen, das ihren Herzensbund feftigte. Reſpekt 
und Etikette ließen überall, wohin auf einem Gartenfeſt oder in 
Ballfälen der Prinz feine Schritte lenkte, freien Raum um ihn 
und, wenn er es haben wollte, um ihn und Karoline, mit der 
er Zwie orach ſuchte. Seine in die Seele bohrende, lange ſchweigende 
Leidenſchaft fonnte endlich nicht mehr in Zaum und Zügel bleiben, 
Sie brach wie eine gewaltfam zurädgehaltene Fluth deito un— 
aeftümer hervor, als die Schranke gefallen. Seine Geſtändniſſe 
und feine Schwüre überrafhten das Mädchen nicht, noch febten 
fie fie in Verwirrung, fondern fie riefen volle Erwiderung von 
ihren bebenden Lippen. Hein Bedenken aud, fein Ernüchtern 
danach, nur bei jeder Gelegenheit neu wiederholte Schwüre, daß 
fie beide Für das Leben fi) angehören wollten Der Prinz 
war auch jogleich entichlofien, feinen Schwur zu erfüllen. Bor 
feiner Begeifterung dafür verftummten Lord Duttons freundichaft 
liche Verſuche bejonnener Vorftellungen. Er felbft wurde von 
dieſer Begeilterung angefterft und empfand in der Nähe Karo— 
finens etwas von dem, was William den „unentrinnbaren Zauber” 
nannte. Ginen neuen, ihm nicht minder "zugethanen Freund Hatte 
der Brinz in dem jüngeren Bruder Karolinens, Enuft, gefunden, 
der ſeine Schweſter wie ein höheres Weſen verehrte und in ſeinem 
fenrigen Ungeſtüm entzückt über Williams Abſicht war, ſich mit 
Karoline zu vermählen. Diele jelbft gab dazu ihre Einwilligung 
in der traumhaften Seligkeit, in dev fie unter der Liebe Williams 
lebte, und ein junger fchottiicher Priejter Namens Parſons er: 
Härte fi) aus Ergebenheit für den Prinzen, in deſſen Gefolge 
er war, zur Vollziehung der Ehe bereit, Alles wurde im tichjten 
Geheimniß dazu vorbereitet und der Aufenthalt in Pyrmont, wo 
der Geburtstag Williams feitlich begangen werden follte, zur Aus: 
führung des Planes beftimmt. 

Mehr als ein Jahr war bereits verflofen, feit der Herzog 
von Elavence ih im hanndverfchen Lande befand, und im den 
heißen Auguſtiagen war es, dab er nach dem reizvollen Bade von 
Pyrmont ſich begab. Sein älterer Bruder, der Herzog von Vork, 
wollte ihn dort befuchen; große Gefellfchaften follten gegeben werden. 
William aber lebte nur der Erwartung, dort feine heimliche Ehe mit 
Karoline einzugehen. Dutton und Ernſt trafen mit Parfons alle 
Vorbereitungen dazu, und der Prinz jelber fand auf feinen Ausritten 
in die Umgebung zufällig eine einſam gelegene Waldlapelle, die ihm 
für die Trauungsfeier geeignet erichien. In der Frühe feines Beburts- 
tages, am 21. Yuguft, ehe noch die Sejellichaft von Pyrmont aus 
dem Schlafe war, follte die Vermählung vollzogen werden. 

Am Abend zuvor befuchte die ganze feine Welt des Bade— 
orts die Theatervoritellung. „Don Carlos“ wurde gegeben. Der 
Prinz William wohnte mit Karoline und all jeinem Gefolge der 
Aufführung bei. Er konnte ſich in der Aufregung, in die ihn 


die nahe Erfüllung feines fo ftürmiich erjehnten Glücks verjeßte, | 


faum beherrjchen. Seine trunkenen Blide hingen an den Augen 
der Geliebten, die "nicht minder bewegt war. Jedes bon der 
Bühne berabfallende Wort, das fie ee fih und ihr Verhältniß 
zu Williom beziehen konnte, erhöhte den Schlag ihres Herzens. 

Zum Süd waren Lord Dutton und Ernit neben ihnen, um 
fie zu vedhter Zeit in dem Selbitvergejien, das über ſie kam, da: 
durch zu beſchützen, daß jie durch eine Bewegung die Blide der 


799 ° — 


Fir den Abend war Tanz angeordnet, Karoline kehrte in 
ihre Wohnung zurüd, um dafür Toilette zu machen. Sie Heidete 
ſich ganz in Weiß; ihr einziger Schmud war ein grüner Kranz 
mit Perlen ducchflochten und das Ordenskreuz ihres Fräulein: 
ftiftes, das fie nur bei feierlichen Gelegenheiten zu tragen pflegte. 
Auf dem Balle jtellte fi) ihr der inzwiichen angefommene Herzog 
von VYork vor, der, loder in feinen Sitten und an Eroberungen 
aalanter Art gewöhnt, ihr den HoF zu machen Luft hatte, Aber 
Prinz William drängte ihn haſtig ab und jtellte ihm Karolinens 
ältere Schweiter Julchen vor, die er zum Tanz ſich aud) erfor und 
nad engliſcher Sitte für den ganzen Abend als Tänzerin behielt. 

Der Etifette gemäß führte der General feine Tochter Karoline 
dem Prinzen William zu Der ehrwürdige, gqütige Greis legte 
lächelnd, als wolle er ihnen ausdrüden, wie glücklich ex jie damit 
made, ihre Hände in einander. Sie zitterte unter dem Geheimniß, 
das fie vor ihm verbarg, und verwirrt beugte fie fich wieder, um 
ihres Waters Hand zu fühlen. 

„Du giebjt mic) ihm für das Leben!“ Hauchte fie hin und 
ihr leuchtendes blaues Auge bob fid) jo ſprechend auf ihn, daß 
er, wie ihre Gedanlen errathend, in Rührung zu ihr fagte: 

„Wären dod) Eure Wünſche zu erfüllen! Aber es geht ja nicht.“ 

Er wandte ſich ab. 

„Es geht ja nicht!” Hang es in ihren Ohren nad, und in 
ihrem Herzen antwortete es jubelnd darauf: „In wenig Stunden 
wird es fich dennoch erfüllen!” 

Und gleihwohl wirkte es traurig nah, was ihr Vater zu 
ihr geiprochen. 

Ter Prinz bemerlte den leiſen Schatten, der auf ihr Antlik 
gefallen. Karoline!“ rief er aus und preite mit Ungeftüm ihre 
Hand heimlich an fih. „Was it Dir? An Deiner Seele Tiegt 
etwas, was ich nod nicht fenme. Fühlſt Du Neue? Haft Du 
Bangen, Miftrauen, trübes Ahnen?“ 

„Nein, nein, William,“ erwiderte fie ihm. 
alles aut werben!” 

„Sa, bei Sott! Kann mein Schwur und Wille es bewirken, 
fo wirft Du nlüdlich werden, wie Du es erträumft, indem Du 
mir verirauteft. Du wirſt glücklich werden, Karoline, weil ich 
es durch Dich werde, einzig durch Dich nur werden fann.“ 

In diefem Augenblit trat der Herzog von York mit fonber- 
barem Lächeln zu dem Baare heran und jagte zu feinem Bruder: 

„Aergert Dich etwas, William? Du bift ja fo aufgerent. 
Ei, ei, id glaube, Fräulein von Linſingen ift fchulb daran! Ah, 
mein Fräulein, wie reizend find Sie! Könnte man fit) das Bild 
der Unſchuld volltommener denken ?“ 

Da bligte es wild auf in Williams Auge, und eben follte ein 
zorniges Wort den Spötter treffen, ala Narolinens Bruder zum Glück 
dazwischen fam und den Prinzen fragte, ob der Tanz beginnen folle. 

Diefer nidte und ſofort ſpielte die Muſik. York ſchwang über- 
müthig feine Dame im Reigen, und auch William ſchwebte mit 
Karoline dahin. Aber er grollte noch in hervorgejtoßenen Worten 
feinem Bruder und fie hatte Mühe, ihn io weit zu beruhigen, 
daß fein Benehmen nicht gröheres Auffehen erregte, ala bei einigen 
Ferjonen ſchon geſchehen war. 

Hort indeflen fchien es boshafterweiſe darauf abgefehen zu 
haben, ſich eiferfüchtig auf feinen Bruder wegen deſſen Tänzerin 
zu zeigen. Nach dem Tanz äußerte er fo laut, daß William und 
Karoline es hören mußten, zu Julchen: 

„Könnte man nicht wähnen, daß mein Bruder fich ftolz wie 
ein Bräutigam am Arme Ihrer Schweiter fühle? Schen Sie 
doch! Und wie verichämt fie eralüht! Ah, das ift ja reizend!“ 

Der Prinz zog, um nicht feinem Jähzorn zu verfallen, ſchnell 
die in der That tief erröthete Gelichte mit jich zu der offen ftehen: 
den Thür des Saales, welde in die Allee des Parkes hinausführte. 
Jeder Herr geleitete wohl während der langen Baufen, die zwiſchen 
den Tänzen jtattfanden, feine Dame in die witrzige und erquidende 
Luft des Parles, fo daß aud die Entfernung des Prinzen nicht 
auffallen Fonnte, Er freilich entzog fi dem Gewühl und Luft 
wandelte abjeits mit jeiner Braut; der Zorn in feiner Bruft ber 
halkte bald und das jeligjte Entzüden hielt beide umfangen. 

Ernft und Dutton bielten ſich als getreue Edarts in ihrer 
Nähe Der Prinz rief fie unter einer alten Linde heran und in 


„Es muß ja 


‚ der Heberfchwänglichkeit feiner Gefühle drüdte er fie an fein Herz 


und ließ fie jdnvören, treu in aller Weile zu ihm zu halten, zu 


Geſellſchaft auf ſich und von deu unvorfichtigen Yiebenden ableuften. | ihm und feinem Weibe. 


——0 


„O,“ rief er, „denkt immer an dieſe Stunde, wenn Ihr 


ſtraucheln folltet! Ich kann es nie im Arme diefes Engels; aber | 


Ihr beiden — wenn das furchtbare Schiefal mir einft diejes Weib 
entreißen follte, dann feid mir Bofas, und ich will Euch der dank— 
barjte Carlos fein!” 

Er fniete im Dunkel der breiten, tief hängenden Blätter: 
frone nieder und hob die fchönen, großen Augen zum Sternenheer, 
als rufe er die göttliche Macht zur Zeugin feines Eibes an. Dann 
iprang er auf, drückte die Geliebte am ſich und fchritt mit ihr im 
einen Seitenweg. 

„Wenn es möglich wäre, Theure,“ zitterte es noch aus 
feiner heißen Brujt heraus, „daß Trennung jemals uns beſchieden 
fein follte, dann ijt Kummer, Elend und Jammer unjer Los, jo 
lange wir Ieben. Glaube mir, Karoline, wir werben uns ewig 
fieben, auch dann; weil es zwiſchen Dir und mir nur eine Liebe 
giebt, die jih in einem ewig dem anderen entgegenjehnt.* 


| worben. 


Junig umfchlungen blieben fie fchweigend eine Weile ftehen. | 


Bald nachdem fie den Ballſaal wieder betreten, trennte fich 
die Sefellichaft. Als Karoline dann zu Haufe ihren Eltern „gute 
Nacht“ aefagt, fah fie den Vater in fein Bimmer gehen, um 


dort irgend etwas vor Schlafengehen noch zu beforgen. Sie eifte | 


ihm nad). 


Nach 

Der General ſchüttelte wie vorwurfsvoll ſein graues Haupt 
gegen fie. 

„Wie aufgeregt Du bijt, Karoline! Es ift nicht gut für 
Did, fo viel Feſte und Bälle mitzumadjen. Beſſer auch,“ fehte 
er feufzend Hinzu, „ber Bring wäre fort von bier. Sch Hoffe 
wenigftens, daß Du die von ihm vorgefchlagene Morgenpartie 
Deinerfeits unterlaffen wirſt.“ 

Karoline erſchrak leicht. 

„Das acht nicht, Vater; es ift feit abgefprodhen. Wie würde 
der Brinz ſich gekränlt fühlen, Täme ich nicht mit Ernſt zum 
Rendezvous!” 

Wieder feufzte der Greis, und feine Tochter beforgt betrach— 
tend, entgegnete er fanft: 


„Es wäre Dir gewiß dienlicher, wenn Du lange fchliefeft, als | 


jo früh wieder auf den Füßen zu fein, um die Sonne aufgehen zu 
jehen. Bedenke, daß morgen das Geburtsjeit des Prinzen gefeiert 
wird und ber Tag alfo auch Dir wieder viel Anftrengung foftet.” 

Sie erwiderte nichts darauf, fondern ging mit gefenttem Haupte 
in ihr Schlafzimmer, fih dem furzen Schlummer bis zu der Zeit 


zu überlaflen, da Ernſt yadı der Verabredung fie weden laſſen jollte. | 


Unter dem Vorwand, den Sonnenaufgang fehen zu wollen, ge 


dachten die Geſchwiſter, um vier Uhr fortzureiten. Zur Hochzeit! | 


Karoline fchlich wenig und hatte in unruhigen Träumen dabei 
einen Kampf mit ihrem Gewiſſen zu bejtehen. Es war bald nach 


drei Uhr, als fie emporfuhr aus diefen Aengſten und fihend auf | 
ihrem Bett fid) ſammelte und nochmals mit fich zu Mathe aing. | 


Dod) es gab fein Schwanfen mehr in ihr. Noch war draußen 
faum ein bleiher Streifen am Himmel, der den neuen Tag ans 
fündigte; aber fie jah eine glänzende Sonne ftrahlen hinter den 
aufgethanen Pforten ihrer Zukunft, welche fie an der Hand Williams 
durchſchreiten follte, 
fie wachend umfing. Sie zündete die Kerze an und Fämmte vor 
dem Heinen Spiegel ihres Waſchtiſches das Haar, das in langem 
Gewirr über ihre Schultern fiel. Sie ordnete es ſorgſam, fie 
räumte weiter und jah im Spiegel holdjeliges Lächeln ihre Züge 
verflären. 

Unten im Hof, wohin ihr Fenſter ging, hörte fie die Stimme 
des Bruders, der pünktlich auf Boten war, Er befahl, die 
Pferde zu fatteln. Sie legte die letzte Hand am ihre Kleidung, 
und als Gruft bald darauf in ihr Zimmer fam, fand er jie zu 
feiner Verwunderung reifefertig. Sie empfing ihn in fieberhafter 
Unruhe, jo daß er zärtlich jeinen Arm um ihre Schultern legte 
und fie um Faſſung und Muth bat. 

„Sa, ja,“ rang es ſich aus ihrer Bruft. 
fomme, Ernſt. Die Sonne acht auf!” 

Sie ftand wie angewurzelt troß alledem. 

Er jenkte feine leuchtenden Blide in ihre geweiteten, ftarren- 
den Augen und beuate fich nieder, einen Kuß auf ihre Lippen zu 
drüden. Da wandte fie fich zurüch und wehrte ihm mit ihrer Hand. 
Er verftand fie und lächelle. Au dieiem Tane war fie heilig; 


„sch Komme, ich 


Es war ein entzüdend ſchöner Traum, ber | 


„Vater!“ flüfterte fie bewegt ihm zu. „Noch einmal: qute , 
ti“ 





Om 


auch der Bruberfuß wäre ein Raub an dem Geliebten geiwefen, 
in deffen wartenbe Arme fie eilen wollte. Gie ftürzte über die 
Schlebpe ihres Neitrods weg förmlich die Treppe hinunter. Unten 
ſcharrten die Pferde und wieherten in die frifche, fich goldende 
Morgenluft. Georg, der treue Diener des Generals, hielt fie an 
den Bügeln. Kaum im Sattel, fprengte fie aud) im Galopp davon, 
Ernjt bald neben ihr mit feinem feurigen Nenner, Georg dahinter. 

Nad einer halben Stunde fcharfen Rittes waren fie im 
Walde zur Stelle und Karoline glitt vom Pferde in die Arme 
des ihrer ſchon harrenden Bringen. Ex führte fie in ein Bauern- 
haus, in deilen Nähe auch die Kapelle fich befand. Die Leute 
dort waren von Ernſt am Zage zuvor auf den Beſuch vorbereitet 
Parjons und Lord Dutton famen von borther dem 
Brautpaar entgegen. Der Prinz geleitete Karoline zu dem Bimmer, 
in dem fie ihre Toilette machen follte. Er kniete da vor ihr 
nieber, ſchaute fie minutenlang fprachlos an und verlieh fie darauf. 

Bald Fonnte fie in dem Gemach den Geliebten im bräutlichen 
Schmud empfangen, den er für fie hierher hatte bringen laſſen. 
Es war ein feines, blendend weißes Kleid und ein goldener, fehr 
breiter Gürtel mit Diamantenfhlof. Er umarmte fie mit Un 
geſtüm, und immer noch kam kein Wort von feinen Lippen; wort- 
los mar auch fie; weihevoll bewegt und beglüdt waren fie beide. 

Ernſt trat herein und hielt einen Kranz von friſcher, blühen: 
der Myrthe in feiner Hand, den William fogleich ergreifen wollte, 
um ihm der Braut ins Haar zu drüden. Doch der Bruder 
wollte ihm nicht hergeben. 

„Nein,“ vier er in freundſchaftlichem Streit und barg den 
Kranz Hinter fi vor dem andringenden Räuber. „Ahr hattet 
beide dies fchöne Sinnbild vergefien, ohne das feine Tochter unferes 
Haufes getraut twerden darf. Theurer Prinz, gehört ed denn mit 
ihr nicht auch Ihnen? Williom, Bruder,“ ſetzte er ganz erfchüttert 
hinzu, „Du giebit ihr heute alles, führft fie in einen Himmel voll 
Seligkeit. D, laß mid) doch etwas für das holde Wefen thun, das 
ich Dir Heute ganz übergebe, das ich mir raube, Dir anvertraue.* 

Er ſprach wie der Vertreter jeines und ihres Waters, und 
der Prinz ließ dies Mecht gelten, führte ihn zu der Braut, aus 
deren Augen Thränen der Rührung periten, und ließ ihn den 
Kranz in ihre Loden ſetzen. Sie hatte knieend biefen Schmud 
hingenommen. Der Prinz und Ernft hoben fie auf, dann gingen 
fie mit ihr aus dem Haufe hinitber nach der Kapelle, wo an dem 
würdig hergerichteten Altar der ſchottiſche Prieſter, Lord Dutton, 
Georg und des Prinzen Leibdiener Jadjon ihrer wartelen. Dort 
fniete das Brautpaar nieder und erhielt den priefterlichen Segen. 
Laut und feierlich beantwortete William die letzte Frage vor der 
Schließung des ehelichen Bundes, aber fo heftig zitternd wie fie. 
Us fein Weib nad allen Vorſchriften der fchottiichen Hochlirche 
trat fie an jeinem Arm aus der Kapelle in die von der Früh 
ſonne ducchfunfelte, einfame Waldnatur, und vor allen Zeugen, 
nachdem er ihnen gedankt, fagte er da zu ihr: 

„Unfer Bund it ewig, Wenn auch das Schidjal uns kalt 
umſchatten follte, Du bift mein, ich bin Dein treuer Gatte. Er: 


‘ halte Dich mir; mein Leben Iebt in Deinem heißgeliebten Leben.” 


Sie mußten eilen, um noch rechtzeitig und in pafjender 
Kleidung in Pyrmont zu ericheinen, wo bei der Tante des Prinzen, 
der Herzogin von Braunfchtveig, vormittags Kour ftattfinden und 
er die Glückwünſche der Geſellſchaft entgegennehmen follte. Auf 
verichiedenen Wegen begaben ſich die Neuvermählten nach der 
Badeftadt zurüd. Karoline erichien dann in dem Heinen Zuge 
ber erlejenen Gäſte, bie ſich der Herzogin vorftellten. Als fie 
William neben feinem Bruder in allem Glanze feines Standes 
ftehen ſah, zog ein Krampf ihr Herz zufammen. Sie, die fich 
fo ehrerbietig vor ihm verneigte, war jein Weib, ftand ihm auf 
ber Welt am nächſten und ihr Platz hätte neben ihm fein müfjen. 
Aber mit Wonne erfüllte fie wieder, wenn fie jelbjt vegierende Fürjten 
und Fürftinnen ihm Kuldigen ſah, der Gedanke, daß fie die Seine 
war und dermaleinjt vor aller Welt es fein würde, 

Dermaleinft! Davon Hatte fie mit ihm, er mit ihr bisher 
nicht viel gefprochen, wie das Geheimniß ihrer Ehe und wann 
es den beiderjeitigen Eltern enthüllt werden jollte; nicht mehr, 
als daß fie zuerit dem General, ihrem Water, jich entdeden 
wollten, um dann unter feiner fchügenden Fürſprache die Ver- 
zeihung des Königs und der Königin zu erringen. In Wahrheit 
flogen ihre Gedanken noch wicht über das befeligende Glück hin 
aus, ſich anzugehören, ihre Seelen durch einen Priefteripruch nun 


—ñ—N — 





vereinigt zu wiſſen, und es regte ſich fein Wünſchen in ihnen, aus 
dem zauberifchen Bannkveife ihres Geheimniſſes herauszutreten. 
Der Winter verging und es wurde wieder Sommer, ohne 
daß im ihrem Verhältniß fich etwas geändert hätte, Sie ver 
viethen in der Familie Linfingen nicht mehr, als daß ſie verliebt 
ineinander waren, und da man bier jo viel ſchon feit anderthalb 
Jahren hatte fehen oder erraten können, jo erregte es weiter 
fein Aufiehen. *Selbſt der General machte ſich feine Sorgen mehr 
darım und gönnte den jungen Leuten ein Herzensjpiel, deſſen 
Gefährlichkeit, wie er hoffte, ich vermindern würde, je länger es 
in der Ausfichtslofigfeit, in dev es ihm ericheinen mußte, währte. 





— 


en; — — 


— 
— 


Der Großvater. 
Studienlopf von &, Hadl. 


— — 
— 


— — 5* 


Um ſeinerſeits indeſſen noch dazu beizutragen, ſuchte er be 
fannten jungen Männern mehr als früher fein Haus zu öffnen 
in der jtillen Hoffnung, daß ber eine oder der andere der hübſchen 
ritterlichen Herren durch eine energiiche Werbung allen Träumereien 
Karolinens ein Ende bereiten würde. Infolge deffen waren in 
der That mehrere Herren in der Linfingenihen Familie Haus- 
freunde getvorden, von denen Franz von Alten und Werner 
v. d. Buſche unverfennbare Abfichten auf Narolinens Hand hatten. 

Sie ahnten nicht, welch Hindernif ihren Bemühungen entgegen 
ftand, und jahen das vertrauliche Benehmen des Prinzen William 
gegen Karoline nicht als eine Beeinträchtigung ihrer Hoffnungen 


—o 


an. Karoline hitete fich auch wohl, fie ihnen durch eine Erklärung 
zu nehmen, welde ihr Geheimniß bloßgeitellt haben würde, be: 
wahrte aber im übrigen ihre ftille, mädchenhafte Zurüdhaltung. 


Für fie hatte dies Umwerben etwas Komiſches, während der Prinz | 


es allmählich doc) läftig fand und eine Eiferfucht darüber in ihm 
aufitieg, die zu unterdrüden ihm häufig ſehr ſchwer wurde, 

Auch in diefem Sommer nahm der Bring feine Sommer- 
frische in dem Modebade Byrmont und mit ihm natürlich die 
Familie de& Generale. Bald jährte es jich, daß er mit Karoline 
vermählt war, und er dachte nun daran, bei günjtiger Gelegen 
heit ſich dem Vater jeiner Gemahlin endlich zu entdeden, um der 
ewigen Berftellung und der eiferfüchtigen Regungen gegen die 
jungen Freunde der Familie überhoben zu fein. 

Eines Nachmittags machte eine Gefellihaft von Herren und 
Damen dem Prinzen William zu Gefallen einen größeren Spazier: 
vitt in den fchönen Sennerwald. Auch Karoline and Yord Dutton, 
Alten und Bujche waren dabei. Ihr wurde gar feltfam zu Muth, 
als die Kavalfade den Weg einjchlug, den ſie fait ein Jahr zuvor 
zur heimlichen Trauung in der alten Kapelle zurüdgelegt. Es war 
das erjte Mal, daß fie wieder in die Nähe diejer ihr heiligen 
Stätte fam. Der Prinʒ hatte es ſeit ſeinem Aufenthalt in Pyr— 
mont vermieden, mit ihr ſich dahin zu begeben; es ſollle nach 
jeinem Wunſche erft an jeinem Geburtstage, dem Tage ihrer Trauung, 
geſchehen. Warum jagte er jetzt, allen voran, dahin? 

Kurz vor der Kapelle hielt er und ſprang vom Pferde, was 
eine Mufforderung für jeine Begleitung war, dasfelbe zu thun. Er 
leijtete Karoline den Ritterdienft, fie herabzuheben, und führte fie 
dann bis zur Thür. Da der Schlüffel fehlte, Tief er ſelbſt, ihn 
aus dem nahen Bauernhanfe zu holen. Er ſchloß haſtig auf, ftürgte 
in der Kapelle gegen den Altar und fühle in Elſtaſe die Stuie 
desjelben. Die ihm nachfolgende Gejellihaft nerieth darüber in 
hohes Erſtaunen. Karoline ihrerjeits erblaßte und fühlte fich einer 
Ohnmacht nahe. Lord Dutton ſah es, eilte zu ihr und jagte laut, 
um die Umftehenden über die Urſache ihrer Bewegung zu täufchen: 

„Nein, die müflen wir wieder ſuchen!“ 

Er zog fie dabei mit ſich zur Thür. 

„Was denn? Was denn?“ fragten ihn Alten und Buſche zus 
fammen, fichtlich erfchroden über den Anblid, den ihnen Karoline bot. 

„Hräulein von Linjingen,” log Dutton weiter, „hat unterwegs 
ihre Brillaninadel verloren.” 

„D, die müffen wir wiederfinden!“ riefen die beiden jungen 
Herren und eilten auch ſogleich hinaus, um fich auf ihre Pferde 
zu werfen und den Waldweg mit fpähenden Augen abzureiten. 

Anzwifchen war der Prinz wieder ruhiger geworden, Hatte ſich 
vom Altar fortbegeben und war zu Karoline getreten. 


„Reiten Sie nicht neben einander!” twarnte der beforgte Freund, 


der beobachtet hatte, welches Aufichen der ganze Vorgang bei den 
Zuſchauern machte. „Schon zu viel haben Sie verrathen, mein Prinz.“ 

William ließ fich bereden und trennte fi) von Karoline, die an 
Lord Duttons Seite inmitten der Kavallade heimritt, Bald trafen 
fie auf die beiden Herren, die in vollem Eifer nach der Nadel fuchten. 

„Berzeiben Sie,“ fagte Karoline, ihr Pferd anhaltend, „es 
war ein Jerthum. Ich habe die Nadel gar nicht angeftedt gehabt.” 

Nun wandten fid) die zwei zu der von ihnen Geliebten, ritten 
gleich Dutton neben ihr, ſcherzten und geriethen in einen Uebermuth, 
der Karoline höchlich verjtimmte. Bor ihrer Wohnung fprangen 
die Inftigen Herren flugs vom Pferde, um ihre beim Abjteigen zu 
helfen. Aber ihnen zuvor fam der Prinz, mit geröthetem Antlib, 
funfelnden Augen, bebend vor Zorn; er riß Staroline beinahe vom 
Pferde, indem er mit heißem Athen ihr zuflititerte: 

„D, laß heute von feiner anderen Hand Dich berühren, als 
von der meinigen!” 

Er konnie feine Leidenſchaftlichleit nicht fo beherrſchen, daß 
Alten und Buſche, die unweit von ihm ftanden, fein Gebahren nicht 
hätten auffällig finden müfjen. Sie jahen ſich fragend an, dann den 
Reinzen, dann Karoline, die vor Verlegenheit bis in die Schläfen 
erröthet war. Sie ſah, wie der Puder in den Haaren Williams, 
weil er fie beim Abſteigen ungeſtüm am fich gebrüdt, ihr dunkel: 
grünes Neitkleid mit weißen Flecken bebedt hatte, und eilte in ihr 
Dans, um dies den Mugen der übrigen zu Pferde haltenden Ge— 
jellichast jo viel als noch möglich zu verbergen. 

Wunder konnte es mach diefen Sconen nicht nehmen, daß die 
Zeugen derjelben ihre Gedanfen darüber aegenfeitiq äußerten. Es 
ging den Abend ein Gewisper und Geziſchele durch die Geſellſchaft; 


die Herren von Alten und v. d, Bufche bezähinten fogar ihren Merger 
fo wenig, daß fie als Bäfte des Generals ſelbſt vor dem Prinzen 
und Karoline ihre Gloſſen machten. Der Prinz vernahm einige 
Worte des Herm von Alten zu feinem mitleidenden Freunde, die 
ihm anzüglich erfchienen und ihn derartig in Aufregung verfebten, 
daß er zu Lord Dutton lief und mit diefem wegen einer Forderung 
an Alten ſprach. Karoline hatte es bemerkt und ahnte, was da 
im Werke. Sobald es ohne Auffchen geſchehen konnte, eilte fie zu 
dem Prinzen und Dutton, um den erfteren zu bitten, nichts zu 
übereilen, wenn ihm ihr Yeben lieb fei. Auch Dutton beſchwor 
feinen Freund, ſich zu beruhigen und von feinem Vorhaben abzu- 
itehen, um Sarolinens Ruf nicht durch einen folhen Standal zu 
fompromittiren. Dies entfchied. Er warf nur einen ftolgen, jtrafen- 
den Blick auf Deren von Alten, als diefer ihm wieder in den Weg 
fam, und der junge Mann mochte ihn zu deuten wiſſen. 

Unmöglich konnte jet mit der Enthällung des Geheimniſſes 
vor dem General noch gezögert werden, da die Gerüchte, die von 
Mund zu Mund gingen, auch zu ihm und feiner Familie ge 
drungen fein mußten. Nach einer Teidenichaftlichen Erneuerung 
ihrer Schwüre, wozu fie bei einem Ulleinfein im immer des 
Generals, der angegangen tvar, eine glückliche Gelegenheit fanden, 
entſchloß ſich der Prinz, den verhänanigvollen Schritt zu thun 
und fi) dem General zu vertrauen. 

In demfelben Moment kam diejer zufällig auch nad) Haufe. 
Er Hatte eine faft verſtörte Miene und beim Anblid der bejtürzt 
vor ihm Stehenden ſchwoll die Ader auf feiner Stirn. 

Ich treffe Eure königliche Hoheit gerade recht,“ redete er 
ihn bei aller fchuldigen Ehrerbietung mit Strenge an, „um endlid) 
aus väterlichen Pilichigefühl die Bitte an Sie zu richten, den Um 
gang mit meiner Tochter gänzlich zu vermeiden,“ 

„su ſpät,“ fiel ihm der Prinz hier ins Wort und feine Blide 
baten um Verzeihung. „Wir find vermäblt, unauflöslich.“ 

„Iſt es möglich!” jtammelte der Greis entiekt. 

Seine Tochter fiel ihm zu Füßen und hob ihre Hände flehend 
zu ihm empor, Thränen vollten über ihre bfeihen Wangen. 

„Seit einem Jahr bereits,” jegte William hinzu. 

„Prinz! Beinz! Was haben Sie gethan!“ 

„Was mir mein Herz gebot. Es wird ewig für Karoline 
fchlagen. Bernichtung droht nur allem Endlichen, meiner Liebe nicht. 
Kein König wird mich von diefem meinem Weibe reißen können.“ 

„O mein Vater!“ fehluchjte ſie. „Ich bin eins mit ihm. 
Ohne ihn müßte ich vergehen.“ 

„Nein, nein!” fuhr der General auf. „Diefe Ehe ift ungültig, 
fie muß getvennt werden, Di mußt ihr entfagen.“ 

„Dann verantworten Sie die Folgen!“ 

Mit diefen wild ausgeſtoßenen Worten jtürmte der Prinz 
aus dem Zimmer. 

„D mein Bott! Was wird gefchehen?“ jchrie fie und wollte 
hinter ihm bereilen. 

„Halt!“ gebot der Water, der todtenblaß geworden war. Er 
griff nad) feinem Hut und verlieh das Zimmer, dejjen Thür er 
abſchloß, um Karoline gefangen zu halten. 

Bon furchtbarer Ahnung erfaßt, eilte ev nach den Zimmern, 
die William in demfelben Haufe bewohnte. Die Thüren fanden 
offen; der Prinz hatte nur einen Vorfprung von einigen Minuten. 
Und hierher war er in der That geflohen. Die Ahnung des 
Generals betrog ihn auch nicht Er fand den Prinzen, wie er 
eben eine Piſtole emporrichtete, um fie auf fich abzufenern. Mit 
einem Sab fiel der Greis in den Arm des Verzmeifelten; der im 
ſelben Augenblid fradyende Schuß teaf nicht mehr den Prinzen, 
jondern abgelentt ftweifte er die rechte Hand des Retterd. Der junge 
Mann ſtand beichämt vor feinem Mentor, aus deifen Wunde das 
Blut auf den Boden tropfte. Dienerichaft brach ſchreckensbleich 
herein; die Frau des Generals ftürzte aus ihrer Wohnung herzu 
und vor ihrem Gemahl auf die nice, jammernd unter Händeringen: 

„Ein Zweifampf! Du und Prinz William! Und Du ge 
troffen!“ 

„Ruhig!“ ſagte der Greis, der ſich gefaßt hatte und die 
Piſtole in ſeiner Hand hielt. „Eine Unvorſichtigkeit meinerſeits, 
nichts weiter! Redet keinen Unſinn, das bitte ich mir aus! Am 
beſten, es wird überhaupt nicht weiter von dieſer Sache geſprochen. 
Die Piſtole iſt zufällig losgeganaen and die Schramme am meiner 
Hand iſt wicht der Rede werth.“ 

(Schluß folgt.) 


— 803 — 
Präafident Simfon. 


m Geburtstage Luthers und Schillers, am 10. November, er: 
blidie Eduard Simfon in Königsberg im Jahre 1810 das 
Licht der Welt. Ueberaus früh reifte der Huchbegabte in behaglichen 


Verhältniſſen, unter der Fürjorge und in der gejelligen Häuslich-⸗ 


leit feingebildeter Eltern. Kaum jechzehn Fahre alt, ſchied er an 
der Spike der Abiturienten vom Gymnaſium mit einer vollen: 
beten griechifchen Anſprache an den großen feierlich geladenen 
Kreis der Hörer. 
den Studenten der Rechte Simſon in den nächſten Jahren am 
meiften an fich feſſeln follte: Eduard Albrecht, damals felbit 
erit 25 Jahr alt, aber als Verfaſſer der heute noch als Haffiich 
anerlannten Schrift „Die Gewere“ bereits ordentlicher Profeſſor 
des deutichen Privat: und Staatsrechts an der Univerfität Königs: 
berg und weithin berühmt. Was ſich beide junge Männer damals, 
was fie fih 22 Sabre jpäter als Mitglieder de3 Frankfurter 
Barlamentes gegenleitig wurden und verdanften, haben beide oft 


dem Berfafjer diefer Zeilen fpäter mit rührenden Worten aus: | 


gefprochen.* 


Gerade an Albrechts jcheinbar herber Sprödigkeit, feiner | 


eigenthümlichen Gedankenihärfe und jchneidenden Kritik fand des 
jungen Simfon weiche Empfindung und feurige Begeijterung den 
geeignetſten Lchrmeifter. 

Drei Jahre lag Simfon den Studien in feiner Vaterftadt ob. 
Mit achtzchn Jahren erwarb er hier den Doktorhut beider Rechte. 
Dann fuchte er die berühmteſten Hochſchullehrer des damaligen 
Preußens auf: Savigny in Berlin und Niebuhr in Bonn. Beide 
nahmen ihn freundlich auf, befonders Niebuhr, an den er gut 
empfohlen war. 


Und ein feltfames Ereigniß brachte ihn dem aefeierten Ges | 


lehrten, dem Begründer der neuen beutichen Geſchichtswiſſenſchaft, 
befonders nahe. 
Das Winterjemefter 1829 auf 1830, das Simfon in Bonn 


verlebte, war äußerit fall. Der junge Doftor befämpfte die Kälte 
und wohl auch die Schlafluft bei feinen nächtlichen Studien mit | 


jelbit eingelauftem und eigenhändig zubereitetem Kaffee, den er 
beim Einkauf im der inneren Bruſttaſche eines langen weichen 
Sewandes barg, in das er ſich jowohl beim Ausgehen, als bei 
feinen nächtlichen Studien hüllte. In der äußeren Seitentajche 
ſteckte ſtels ein jeidenes Taſchentuch. 

An einem ſehr Falten Februarabend des Jahres 1830 hatte 
der junge Doktor eben wieder Kaffee eingelauft und jeine Studir— 


lampe angezündet, als Feuerlärm und der Auf der Sturmglode 


durch die jtille Stadt Hallte In der Richtung von Niebuhrs 
Haus war der Nachthimmel blutig geröthet. Sofort eilte Simion 
an die Brandjtätte — wirklich brannte Nicbuhrs Haus. Eben 
führte man den alten Mann, der mit 37 Jahren noch die 
Freiheitsfriege mit gefchlagen und mit Ernſt Morig Arndt der 
hereinbrechenden Reaktion muthig getrogt hatte, wie gebrochen 
die Treppe hinab, Werzweifelt und vor Kälte bebend, nur von 
einem dünnen Röckchen befleidet, ftammelte er nur: 
Manuffripte! Meine Manuffripte!” Unerkannt in der allgemeinen 
Berwirrung, warf Simfon dem verehrten Lehrer raſch den eigenen 
warmen Mantel über und verfchtwand dann, felbjt vor Sälte 
idlotternd, aus dem Brandkreis, eben als das qaitliche benachbarte 
Haus Belhmann:Hollwegs fi Niebuhr öffnete. 

Wenige Tage fpäter veröffentlichte die „Bonner Zeitung“ 
Niebuhrs rührenden Dank, in dem Simjon zu feinem Schreden 
den Worten begegnete: „. .. . in&befondere banfe ich auch dem mir 
völlig unbelannten edeln Manne, der mir in der Unglücksnacht 
den eigenen Mantel umwarf. 


* Eduard Ulbredht, neben Dahlmann der Führer und das juriftifche 
Haupt und Gewiſſen der berühmten „Göttinger Sieben“, die dem ber« 
fafjungsbrüchigen König Ernft Auguſt von Hannover Eid und Pflicht 
weigerten und deshalb von Göttingen 1837 vertrieben wurden, jand an 
der Univerſttät Yeipzig Anftellung, der er bis 1876 als eine der vor- 
nehmiten Zierden angehörte. Er hinterließ fein ſehr bedeutendes Vermögen, 
da er finderlos jta 
Der erfte Entwurf einer dentſchen Reichsverſaſſung floh im Frühiahr 1848 
aus feiner Feder, das Urbild der heutigen Reihsverfaffung noch mehr 
als der 1849 vom Frankfurter Parlament beichlojienen. Mir war der 
ehrwirdige Mann der bedeutendite Lehrer und ein wahrhaft väterlicher 
Freund! Ber Berjafjer, 


Unter diefen befand jich der Mann, welcher 


„Meine | 


Er möge mir bei Abholung des 


xb, der Univerfität Leipzig in feinfinnigiter Stiftung. 


Mantels den perfönlichen Dank ermöglichen und ſich als Eigen: 
thümer kennzeichnen duch Benennung der in den Zafchen be: 
findlichen Gegenstände.” 

Wer ſich „ald Eigenthümer“ nicht „Lennzeichnete*, war 
Simfon — das verrätherifche Pfund Kaffee in der inneren Rod: 
tafche fiel ihm jedoch mit Eentnerlajt auf die Seele. Monate blieb 
er unerfannt. Aber auf einem Frühlingsfpaziergange des Jahres 
1830 an der Seite des Sohnes Bethmann-Hollwegs wurde er 
von diefem doch plöhlich entlarvt, da aus Simfons Taſche ein 
Zwillingsbruder jenes feidenen, E. &. aezeichneten Tafchentuches 
fchaute, das in dem herrenlofen Mantel jtedte, nach dejien Eigen: 
thümer Niebuhrs Forſcherauge feit Monaten vergeblich ausjpähte. 
Sofort ward Simfon dem Meifter verrathen und diefer hielt ihn 
fortan wie dem eigenen Sohn. 

Nach Paris, wohin Simfon nach der Julirevolution des 
Jahres 1830 zog, gab ihm Niebuhr die wichtigften Empfehlungen 
an die 2ehrer der Sorbonne mit und nod) bebeutfamer waren für 
den jungen Liebling des Meifters Niebuhr fleißige Briefe. 

Am Jahre 1831, 21 Jahre alt, kehrte Simfon als Privat: 
docent der heimathlichen Hochſchule nad Königsberg zurüd. Zwei 
Jahre fpäter finden wir ihn daſelbſt ſchon ala auferordentlichen 
Profeſſor. Mit 24 Jahren ift er bereits Mitglied des Tribunals 
der Provinz Preußen. 

Wenn fein politifches Wirken feiner urfprünglichen Abſicht, 
afademifcher Lehrer zu werden, durch feine Häufige Entfernung 
von der alma mater Albertina hinderlich ward, jo hat er dod) 
dem Lehrituhl der Hochſchule erſt dann entfagt, als er 1860 
als Vicepräſident des Appellationsgerichts nach Frankfurt an der 
Oder verſetzt wurde. 

Bon dem Präfidentenftuhl diefes Gerichtöhofes ward er dann 
1879 auf den höheren des deutjchen Neichsgerichts berufen. 

Wahrlich, eine glänzende, unvergleichliche Laufbahn! 

Und dennoch it fait noch glängender und bedeuljamer die 
Rolle geweſen, die Eduard Simſon im den öffentlichen Angelegen— 
heiten feines Staates und Volles aeipielt hat. 1842 begann er 
‚ diefe öffentliche Thätigkeit befcheiden genug als Mitglied der 
Stadtverordnetenverjammlung in Königsberg — aber das war 
in jenen Jahren immerhin ſchon ein Poſten, auf den ganz Deutſch— 
land blidte, denn Königsberg war damals nächſt Berlin und 
Breslau die geiſtig regſamſte und politisch ſchneidigſte preußiiche 
Stadt. Königsberg jendet Simfon im Frühjahr 1848 ins Frank 
furter Parlament. Hier wird der noch junge Mann fofort in 
das Bureau des Hauſes gewählt, hier jteigt er allmählich zum 
Rräfidenten der Nationalverfammlung empor, von allen Parteien 
bewundert wegen der unvergleichlichen Geſchidlichteit und Gerechtig— 
feit jeiner Amtsführung. Die wichtigſten Sendungen nad der 
preußifchen Hauptjtadt werden ihm anvertraut. An der Spike 
der Kaiferdeputation verkündet er Friedrich Wilhelm IV. von 
Preußen im Frühjahr 1849 die Wahl zum Deutichen Kaiſer — 
befanntlich vergeblich! 

Unter ſchwerem törperlichen und feeliichen Leid ſah Simfon 
durch die Ablehnung der deutſchen Kaiſerkrone feitens feines 
Königs das Frankfurter Berfafiungswert ſcheitern. Aber fein 
unerichütterliches Pflichtgefühl und fein hochgemuther Idealismus 
hielten ihm treu und jet bei der nationalen Fahne aud) in Deutſch— 
fands trübften Tagen. 1849 ſchon hatte er ſich ins preußiiche 
' Abgeordnetenhaus wählen lafien und ward hier Mitglied bes 
Ausſchuſſes, weicher die preußiſche Verfaſſung berieth. 1850 lief 
er fi) auch in das Erfurter Parlament fenden, auf das die beiten 
Männer Deutſchlands die legten Hoffnungen einer deutſchen Ver— 
faſſung fegten, und auch diefes Parlament ernannte Simfon zu 
feinem Präfidenten. 

In diefer amtlichen Stellung traf er in höchſt merfwürdiger 
Weife in ſcharſer perfönlicher Begegnung zufammen mit dem 
Gewaltigiten unferer Tage — mit Bismard. 

Diefer war Echriftführer des Haufes und damals noch ganz 
befangen im feiner Augendliebe zum alten Dejterreid), die ein 
Menfchenalter ipäter in dem deutichen Bündniß mit dem ver: 
jüngten Dejterreich eine fo ſchöne reiſe Beftätigung des Sprid)- 
ı wortes erfahren hat: „Alte Liebe roftet nicht“. Ter junge, damals 
' fünfunddreißigjährige Bismard, Deihhauptmann von Schönhaufen, 








_— ce 


Schriftführer des Wollshaufes zu Erfurt, Führer der preußischen 
Junler gegen alle fträflihen Neuerungen des „tollen Jahres“ 
1848, ſonſt aber vorläufig noch nichts weiter, war höchſt er: 
grimmt gegen zwei Prefberichterjtatter der Erfurter Tribüne, welche 
Tag für Tag an einflußreihe Zeitungen ihre Berichte in fehr 
entschieden antiöfterreihiichem Sinne fandten. 

Bismard ſchrieb mun aus eigener Machtvollkommenheit, 
aber mit der Unterjchrift: „Das Schriftführeramt des Volls— 
haufes zu Erfurt, von Bismard" an die beiden Berichteritatter, 
dab diejen die Site auf der Zeitungstribüne entzogen würden, 
wenn fie nicht augenblicklich ihre verwerflichen Augriffe gegen 
Defterreich einftellten. Der eine der beiden Betroffenen, Ludwig 
von Rochau, fpäter ale Scriftitellee und Reichstagsabgeordneler 
einer der treueften Vor- und Mitfämpfer der menen Zeit, die 
Bismard heraufführte,* beant- 
wortete dieſe verlegende Zuſchrift 
Bismards in ſehr höhniſcher und 
ungehöriger Form. Der andere 
dagegen fragte einfach und höf⸗ 
lid bei Simfon au, ob der 
junge Schriftführer des Volls— 
haujes wirklich berechtigt geweien 
jei, dieſe Aufforderung amtlich 
an ihn zu erlafien. Beim Beginn 
der nächften Sitzung forderte 
Bismard mit Ungejtüm vom 
Präfidenten Simfon Satisfat- 
tion gegen Rochaus ungehörige 
Antwort. Simson fagte ihm 
diefe zu, bejtellte ihn aber auch 
wegen der dem anderen Bericht: 
erftatter zu gewährenden „Salis- 
faltion“ auf abends acht Uhr 
in das Präfidentenzinmer des 
Boltshaufes Erfurt. Bismard 
erfchien zur beftimmten Stunde 
— aber nur um jede Verbind 
lichkeit einer Satisfaltion feiner: 
jeits gegenüber dem „läftigen 
Federfuchſer“ zu beftreiten. 

„Da faßen wir denn bis zwei 
Uhr nachts,“ erzählte mir Sim: 
jon vor fait zwanzig Jahren 
von dieſer Unterredung, „und 
tauchten unfere Gedanken aus, 
daß die Wände dröhnten. Sie 
müſſen fich den gewaltigen Dann 
zwanzig Jahre jünger denken. 
Und am Ende gab Bismard 
doch Satisfaktion und ich ihm 
auch, indem id) feinem Beleidiger 
den Sit entzog. Der andere 
Berichterftatter behielt natürlich 
den feinen.“ 

Bekanntlich ift auch das Erfurter Verfaſſungswerk geiceitert. 
Die innere und äußere Reaktion gegen bürgerliche Freiheit und 
nationale Hoffnungen kam überall, und vorweg in Preußen, 
zum Durchbruch. Preußen demüthigte fich in Olmüg vor Ruß 
land, ließ Kurheſſen und Scleswig-Holftein vergewaltigen und 
die deutſche Flotte verfteigern. Der deutiche Bundestag wurde 
wieder eingefeßt, „veaktivirt”, wie der KHunftausdrud für das 
moderne Wunder hieß, das einen Todten auferwedte, der ſich im 
Frühjahr 1848 feierlich ſelbſt für todt erllärt Hatte. Es war 
die Zeit, von der Dahlmann fagte: „Das Unrecht hat alle Scham 
verloren“. In diejen Jahren war feine Stätte des Wirfens 
mehr für Simfons freiheitlichen und deutichen Sinn im preufi- 
Schen Abgeordnetenhaufe. 

Ende 1852, nach heftigen Kämpfen gegen die Politif Man— 
teuffela, entfagte er dem politischen Leben und widmete ſich nur 
feinem Amt und feinen Studenten, bis mit der Negenticaft des 
Prinzen von Preußen (des fpäteren Kaiſers Wilhelm L) und der 

Rochau ift der Erfinder des Wortes „Nealpolitit" und war ihr 


Wortführer, lange ehe die Yeitgenofien die Politik des Kanzlers mit diefem 
Worte fennzeichneten, 


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Beidhsgeridtspräfident Simfon, 
Nach einer Bbotograpgie von &, Brokejch im Leipzig. 


o— 


„liberalen Aera“ unter dem Minifterium Schwerin - Auersivald 
eine neue Zeit für Preußen und Deutichland heraufzog. Da lich 
ih Simfon 1858 von neuem ins preußiſche Abgeordnetenhaus 
wählen und war hier bis 1866 einer der vornchmften Führer der 
„Alttiberalen“, fteter Borfipender der wichtigen Juſtizkommiſſion 
des Haufes und 1860 und 1861 Präfident des preußiichen Volls 
hauſes. In diefer Eigenſchaft brachte er feinem König Wilhelm I. 
am 18. Oktober 1861 zu dejien Krönung die Glückwünſche der 
preufifchen Bollsvertretung in Königsberg dar. 

Das Jahr 1866 hatte die bis dahin vergeblichen Anftrengungen 
der Freunde der preußifchen Vormacht in Deutichland erfüllt und 
die alten Parteinamen verwiſcht. Simfon zählte ſich fortan zu 
der nationalliberalen Partei. Aber das allgemeine Vertrauen 
der zum norddeulſchen und dentichen Reichstag Erwählten ent- 
rüdte den ehrwürdigen Präfi- 
denten des Frankfurter und Er: 
furter Barlamentes und preußi⸗ 
ſchen Abgeordnetenhaufes dem 
Barteifampf, indem es ihn audı 
im deutichen Reichstag von 1867 
bis 1874 auf den Stuhl des 
Präfidenten berief. Und jo hod) 
wir von feinen Nachfolgern in 
diefer Würde denfen, jeder von 
ihnen wird doch gern in Sim- 
jons unvergleichlicher Unpartei 
lichfeit, Milde und Feſtigleit zu: 
gleich, feiner unnahahmlicden 
Kunſt, auch die bewegteſten 
Debatten würbevoll, gerecht und 
mit jtrenger Handhabung des 
Hausgefehes, der Geſchäftsord 
mung, zu leiten, feinen Meifter 
anerkennen. „Aus Gefundheits- 
rüdfichten“ — die ausnahms⸗ 
weile leider fein Vorwand wa; 
ren — legte Simfon 1974 diefes 
hohe Amt nieder und entfagte 
bald darauf dem parlamenta- 
riichen Leben für immer. 

Aber die Zeit diefes fieben- 
jährigen Wirkens im deutfchen 
Reichstag und an der Epiße 
des deutſchen Zollparlaments 
(1868 bis 1870) hat dem hoch 
verdienten Manne, der einit, 
1849, mit fajt gebrochenem 
Herzen aus dem preußiichen 
Ktönigeichloffe trat, als jein 
König die vom Frankfurter 
Parlament in heifer Arbeit ge: 
ichmiedete Kaiſerkrone ablehnte, 
doch in Fülle die ausgleichende 
Gunſt eines feinem Volle gnadi 
gen Scidjals geboten Bei jeder Gelegenheit, bei der die deutſche 
Bolksvertretung den Schirmheren des Norddeutichen Bundes und 
des Deutichen Neiches feierlich begrüßte, war Simfon der Führer 
und Sprecher, jo am 3. Dftober 1967 bei Ucberreihung der 
Adrefje des Neichstags auf der Hohenzullernburg in Sigmaringen, 
jo am 19. Juli 1870 in Berlin am Tage der franzöftichen Kriegs 
erlärung, jo endlich am 18. Dezember 1870, an der Spibe einer 
anderen, glüdlicheren Kaiferdeputation, im franzöfiichen Königs— 
ichloffe zu Verſailles. Deutlicher kann die geheimnifvolle Fügung 
der Vorſehung nicht zu Menſchen reden, als fie die deutiche Kaiſer 
frone hervorgehen ließ aus den Mauern des Auftfchlofies Lud— 
wigs NIV., des huchmüthigiten Feindes unjeres Volles! 

Und es war aud wahrlich fein Zufall, daß Simfon, der 
hodwerdiente Juriſt und Waterlandsfreund, als Präjident des 
deutichen Reichsgerichts berufen wurde, als diefes am 1. Oftober 
1879 feine Thätigfeit eröffnete. Im feiner rüdhaltlofen Würdigung 
geſchichtlicher Ereigniffe und geichichtlich bedeutfamer Menschen 
foll Bismard damals jeinem Kaiſer den einjtigen Bräfidenten 
des Frankfurter und Erfurter Parlamentes und des deutjchen 


| Reichstags als den Einzigen bezeichnet haben, der nadı feinem 


— u 


Wirken, feinen Berbieniten und feiner Bedeutung in Frage 
fommen fönne, um an der Spige des nenen höchſten Gerichts: 
hofes für das Deutjche Reich zu ftehen. Und damit hat der 


deutiche Kanzler ficherlich in diefer wichtigen Frage das Richtige | 


getroffen, denn Simjons Name an diefer hohen Stelle verhieh 
die Erfüllung aller der ftulzen Hoffnungen, welche das deutfche 


Bolt auf das höchſte Bollwerk feiner Mechtseinheit, das Reichs 


gericht jeßte — und die neun Jahre der Wirkfamfeit desſelben 
haben diejen Hoffnungen Erfüllung gegeben. Freilich, ein Ruhe— 
poften, wie ihn andere Nationen den zu Jahren gelommenen Vor: 
fümpfern ihrer nationalen Größe gönnen mögen, ift dieſes Amt nicht. 
Wie unfer neunzigjähriger Kaiſer Wilhelm noch auf feinem Sterbe- 
bett nicht die Zeit fand, müde zu jein, jo denken und handeln 
auch die Männer, die mit ihm Deutſchland zu dem machten, was 
es heute geworben ift, unter ihnen Präjident Simfon. 

Er hat am Sihe des Reichsgerichts in Leipzig den herbten 
Schmerz jeines langen Lebens erlitten duch den Tod der edlen 


Gattin, die ihm feit Zugendtagen ba3 Leben verichönte und allen 
unmbvergeßlich war, bie ihr nahten. Aber dennoch fteht er un: 
gebrochen, aufrecht und geiftesfrifch, dem jüngeren Geſchlecht ein 
Mufter treuejter Pflichterfüllung. Präfident Simfon hat aber 
aud) an dem Site des deutſchen Reichsgerichtes in Leipzig manchen 
Tag freubiger Erhebung erlebt feit jenen glänzenden Feten, welche 
die Stadt Leipzig dem in feine Mauern cinziehenden Reichsgericht 
am 1. Dktober 1979 gab. Seiner der Freuden: und Ehrentage 
jedoch, die er hier feierte, fann den 31. Oftober an Bedeutung 
erreichen, da Staifer Wilhelm IL. ſelbſt zugleich mit feinem er: 
lauchten Freunde und Bundesgenofien, dem König Albert von 
Sachſen, und umgeben von Bertretern des Bundesrathes und 
Neichstages, Leipzigs Mauern betrat, um hier den Grundftein zum 
neuen Reichögerichtsgebäude zu legen! 

Möge auch in diefem von kaiferliher Huld geweihten Haufe 
Präfident Simfon noch lange an der Spitze des beutichen Reichs: 
! gerichts ausdauern! Hans Blum. 





BBlätter und Blüthzen. 


Das Aurglhealer in bien. Mitte Oltober feierte bie öfterreichtiche 
Kaiferftadt eine Reihe denfwürdiger Thentertage. Das alte Burgtheater, 
das feit etwa 112 Jahren im Dienfte geitanden, wurde am 12, Otteber 
geichloffen, das neue 
am 14, Oftober eröff- 
net. Ein grellerer Ge · 
genfaß, ais dieſe beir 
den Schaufpielhänfer 
in einander bilden, 
äßt fich unmöglich er- 
finnen. Im alten Haufe 
nahm weder das ver 
mwitterte Gebäude, noch 
ber Zuſchauerraum, 

en einziger Shmud 
adıt einit vergoldete 
Sterne an ber rauch⸗ 
geſchwärzten Derte wa⸗ 
ren, die Aufmertiamfeit 
des Bublifums in Au⸗ 
ſpruch. Man hatte ſich 
dajelbft mit michts als 
mit dem Stüde und 
deſſen ichauipielerifcher 
Wiedergabe an beichäf: 
tigen. Da überdies auch 
auf der Bühne bis au 
Dingelftedt? Zeit von 
einer Schönen oder ftil« 
vollen Ausstattung lei⸗ 
ne Rede war, herrichte 
in dieſem Mufentempel 
das Wort mit unum⸗ 
Ichränfter Gewalt. Kür 
das Auge war nichts 
geben. diefes fand 
eine Gepenftäude für 
etwaige Schauluft. Und 
Laube, der dem Burg: 
theater feine glanz⸗ 
vollite Epoche bereitete, 
hatte keinen Sinn für 
Aeußerlichleiten. Er beging, was Möbel, Delorationen ıt. dergl. betraf, 
geradezu abjichtlih Sünden gegen den guten Geichmad, um darzuthunm, 
daß hier die dramatiiche Dichtung das Scepter führe, alle Tapezier- 
fünfte aber als überilüfjig angeſehen würden. 
Orcheſter des Burgibeaters einen verzweifelt ſchlechten Nuf, aber das war 
ihm eben recht, denn am liebiten bätte er, wie er ſich ausdrüdte, „eine 
ganz ftille Bude“ geleitet, Mir Dingelitedis chlliſchen Unternehmungen 
fam eim Auſſchwung in Beachtung von Koftümen, —— — %., 
aber nad) wie vor legte das ſchlecht beleuchtete, ſchlecht ventilirte, geſell⸗ 
ichaftlide Neigungen der Belucher ignorirende Haus ber Entfaltung wirl⸗ 
lichen Vrunles enge Schranfen auf. 


Aber gerade aus feinen Schwächen ſchöpfte das Burgtheater feine | 


beiten Eigenfcaften; jeine Gebredien murden ihm zur Quelle einer ganzen 
Reile — Erfolge. In einem großen Hauſe hätte ſich die 
intime, die Wahrheit einfach und ohne Aufdringlichteit vertretende Wiener 
Spielweife nicht jo rein entwiceln fönnen wie in dem Heinen, das fo 
viele wahrhaft bedeutende Vertreter deutſcher Bühnenlunft emporwachſen 
ließ. Ein La Node — um nur einen bon bielen zu nennen — wäre in 
einem anderen Theater einen anderen Weg gegangen. Seine Ktleinmalerei war 
in das alte Burgtheater eingefügt wie in einen felbitverftändlichen Rahmen. 

Und num das nene Haus, das freilich eine Nothwendigfeit war, weil 
das andere dem modernen Forderungen gar zu arg widerijprah! Man 
jehnte ſich — trob aller Pietät, weiche die Stätte üppigen Ruhmes zu 
ehren wußte — nad einem Thenter mit Licht und Luft; man wollte, dafs 
auch im Beimerk der gute Geſchmad ſich geltend machen dürfe, und eine 


1858 





Peutlhlands merkwürdige Bänme: Die Aönigseide Bei Prifterwig (Ateis Bblan). 
Driginalzeihnung von Felix Hampel, 


Unter Laube genoß das | 


junge Generation weiblichen Geſchlechtes winfchte ſich vielleicht auch eine 
ı Möglichteit, ſich felbft mit allen angeborenen und — angejogenen Reizen 

bemertbar zu machen, Das neue Buraiheater, dad wir in Bild umd 
Bort ſchon am Anfang 
diefes Jahres vorge» 
führt haben ſiehe Halb- 
heft 2 der „Garten- 
laube*), fommt foldyen 
Neigungen gefälligent- 
gegen. Ms Baumerf 
herrlich, fordert es ge⸗ 
radezu, daß die barau« 
itellenden Stüde nicht 
nur gut gefpielt, ſon⸗ 
dern auch eifeltvoll und 
mit einem gewiſſen 

Aufwande injcenirt 
werden, und umiere 
lieben Frauen laufen — 
Dank namentlich dem 
Maren und milden elet- 
trifchen Lichte — feine 
Gefahr, ihren natür- 
lichen Borzügen oder 
ben Meifterleiftungen 
ihrer Schneider die ge · 
bübrende Würdigung 
vorenthalten zu jehen. 

Die befagten Theft: 
tage begegneten einer 
rg Stimmung. 

an freute ſich des 
nenen Daufes, das man 
herbeigewünſcht, und 
jehnte fih doch ein 
wenig nach dem alten, 
über das man ſich Iuftig 
gemacht hatte, .. 

Der Abſchiedsabend 
in der „Bude“ brachte 
Goethes higenie 
auf Zauris“ und einen 
| Epilog aus der Feder bes Diteltionsſeltetärs Alfred Freiherrn von Berger. 

Diefer Epilog bietet eine gedrängte Rüdichau auf die Geſchichte des Yurg- 
theaterd. Aus der Schar derer, melde mit banlbarer Erinnerung ge 
nannt wurden, trat beionders ſcharf bie Geſtalt Kaiſer Joſefs 11. hervor, 
| An ihm gemahnte der Epilog: 


„Laßt uns getroft bie alıbewährte Kraft 
Verjüngen an dem Bild des großen Kaifers, 

Der einft in ahnungsvoller Morgenzeit 

Mit maãcht gem Schöpferwillen diefe Vurg 

Des Hünftlergeiftes aus dem Nichts erfchuf, 

Der, wie ein Seher, mit dem Staiferjcepter 

Aus ſcheinbar taubem Grund die Duelle fchlug, 
Die, fromm gebütet, bald ein Hain umgrünte, 
Ein beil’ger Hain von Lorbeern und von Palmen, 
In dem die Nachtigall der Didytung ſchlägt!“ 


Auch Leffing wurde gefeiert als „zweiter geift'ger Ahnberr dieſes 
Haufes”; Laube dagegen — der fid mit feinem Buche über das Burp- 
theater ein« für allemal die Gunst der officiellen Kreiſe vericherzt hatte — 
„todtgeichwiegen“, Dagegen wandte der Epilog ſich an die dahingegangenen 
bedeutenden Schaujpieler, die er als Schußgeifter anrief; dann erfolgte die 
Bitte an die Stammgäfte, in Treue zu verharren, und ſchließlich Hangen 
die Verſe in die Yuverficht aus, man werde „im neuen Haus das alte 
Burgtheater” wiederfinden. Damit war das Leichenbegangniß beendet, 
und es folgte die fröhliche Wiederauferftehung. Das neue Haus wurde 


102 





— sos ·— 


mit einen ceniſchen Brolog“ von Joſeſ Weilen eröffnet, auf welchen 
Grillparzers Fragment„Efther“ und „Walleniteins Lager“ folgten. Der 
ſeniſche Prolog“, eine echte und rechte Gelegenbeitsdichtung, führt den 
„Beiit des alten Burgtheaters“ vor, der über die Pracht des neuen er- 
ſchrigt, aber vom „Genius der Poefie" beruhigt wird, ein Veſtreben, im 
welchem dieſen Thalia und Melpomene unterftügen. 

Auch wir wollen hoffen, daß — nanıentlich nachdem das neue Hunft- 
inftitut in Dr. — Förſter einen bewährten Fachmann als Direltor 
erhalten — ber „Beifl des alten Burgtheaters" in ber That unberechtigte 
Schwarzieherei treibt, wenn er befemnt: 


„Und doch will Angit und Sorge mir nicht ſchwinden; 

Wo Iodend jo viel Heiz dem Aug! fich beut, 

Au Farbenglanz und marmornen Geftalten, 

Da ift es ſchwer, den Hörer feit zu halten; 

Man ſchaui bewundernd, doch man lauſcht zerſtreut, 

Die Stimmung ift, die heil'ge Sammlung fort, 

Leicht mit dem Außen wandelt jich das Innen — 

Ich ſoll den Kampf mit all’ der Pracht beginnen, 

Und meine einz'ge Maffe ift das Wort.“ Ferdinand Brof. 


Deuffhlands merkwürdige Bäume. Die Königseihe bei Peifer- 
wir. (Mit Illuftration S. 805.) Dalbheft 4 des Jahrg. 1887 der „Barten: 
laube“ enthält die intereffante Abbildung einer im verlaffenen Eibberie 
bei Dotzingen ausgegrabenen Riejeneiche. Bei dent Dorje Peifterwig, 
Kreis Ohlau in Schlefien, befindet ſich ein noch gewaltigerer und zwar 
lebender „Zeuge der Urwälder Deutſchlands“, eine mächtige Eiche, welche 
bis jet als die größte der noch in deutichem Boden wurzelnden Bäume 
& Diefelbe — die Königseiche genannt — ftcht am der Grenze bes 
‚sürftenmwaldes bei Ohlau, und jeit in dem leßten Nahrzehnt der weib- 
männifhe „iritenruf” im Forſte haflte und die Anweſenheit des faijer- 
lichen in verlündete, haben der Fürſtenwald und namentlich die 
erwähnte Eiche an allgemeinen: Intereſſe gewonnen. Scarenweile pilnern 
die Naturfreunde hinaus durch den prächtigen Eichen» und Buchenwald, 
um den vielgenannten Baumrielen zu bewundern. Die KHöniggeihe iſt 
23 Meter hoch, der untere Stammesumfang beträgt 10°/, Meter, der 
obere 10 Meter, die unteren Aeſte gleichen kräftigen Eichbäumen; ibr Fuh 
ift umſtanden bon einem Sranze junger Fichten. — Der befannte Natur: 
forfcher Profeſſor Böppert, chemals Direltor des botaniihen Gartens 
in Breslau, erflärte die Königseiche“ für den vollkommenſten Typus 
diefer Baumgattung. 


Fürforge für eg Auf dem im September in Karlsruhe 
abgehaltenen Kongreß des Vereins für Armenpjlege und Wohlthätigfeit 
wurde diefer Frage ein befonderes Futerefie zugewendet. Sie ift in_der 
That jeher wichtig für die Armen, da die ranfenhäufer auch der gröfiten 
Städte bei noch fo großer Ausdehnung und vortrefiliditer Einrichtung 
die Kranken nicht jo lange behalten können, bis fe ihre frühere Friſche und 
Rüftigleit wiedergewonnen haben. Auch die im Haufe behandelten Kranken 


werden oft durch die Nothwendigleit gedrängt, die Arbeit wieder aufzn- - 


nehmen, ehe fie in Vollbeſih ihrer früheren Sträfte find, 

Die Fürjorge für unbemittelte Genejende nehört deshalb zu den 
Hauptaufgaben der Armenpflege. In Dentichland iſt im Ganzen nor 
immer wenig dafür geſchehen. Minden bat eine ſolche Anftalt mit 
20 Betten und in Frankfurt am Main befindet jich beim Hoſpital zum 
heiligen Geiſt eine derartige Anftalt, die den Namen Mainfur Führt; 
in Straßburg trägt eine Filiale des Straßburger Bürgerjpitals anf 
der Ruprechtsau, welche diefe Beitimmung hat, den Namen Buchenan. 
In Berlin hat der Gewerbelrantenverein, zu welchent fich die GO Orts- 
Iranfenlafjen mit 220000 Mitgliedern vereinigt haben, die Behandlung 
Senejender mit ind Ange geſaßt. Derfelbe erbebt von feinen Mit 
liedern pro Kopf einen Jahresbeitrag von 95 Biennigen; 3 Biennige 
entfallen auf die Verwaltungsfoiten, 82 Piennige auf die Beſoldung 
von 110 Merzten, der Reſt von 10 Pfennigen wird für die Behand» 
lung @enefender verwendet, Das Kranlenhaus des ohanniterordens 
in Lichterfelde ftellt dem Verein 25 Betten zur Verfünung. Die Herr 
Ichaftsgebäude in Henmersdorf (45 Betten für Männer) und Blanfen- 
burg (40 Betten für rauen und Mädchen) find ebenfalls für dieje Zwede 
eingerichtet worden. Die Schweitern des Xiftoriabanfes Leiten Diele 
Anitalten. Vom 8, Dezember 1886 bis I. Juli 1888 find mehr als 
1000 Perfonen beiderlei Geſchlechts in ihnen untergebracht worden, Das 
Beiſbiel der Stadt Berlin möge andere Benteinden zu gleichen Borgehen 
ermuthigen; aber auch den privaten Gründungen it hier der weiteſte 
Spielraum gelajien. In England leiter die private Wohltbätigfeit bierin 
Großartiges: die Jahl derartiger Anftalten füllt dort viele Zeiten im 
Verzeihnih der Wohlthätigleitsinftitute. Die ganze Sidfüjte Englands 
ift mit ihren Stationen bederlt. Gaftbourne, zum Londoner Allerheiligen: 
Kranlenhaus gehörig, hat 500 Betten; in Woodford befinder fich eine von 
der Bemahlin Gladjtones begründete Anftalt, in welder jährlich mehr 
als 1000 Perſonen toitenfrei verpflent werden. Eine Stranfenhaus- 
behandlung findet nicht ſtatt; Kraulenſchweſtern leiten die Verwaltung. 

Vieleicht ftellt in Deutſchland der Staat diefe Pflege Genelender 
noch auf das Programm feiner forialen Neformen, Tie Vrivatwohl 
thätigleit aber wird ſich ſolcher Pilege gewih mit Gier Aumenben. 
Gegenüber dem trüben Eindrud der Kranfenhäuier, in welche täglich der 
Tod feinen Einzig bält, macht ein Aſyl für Genejende gewih; einen heitern 
hoffnungsfreudigen Eindrud, Die Schatten der Überwindenen Krankheit 
treten immer mehr in den Hintergrund zurüd; ein neues Wirlen in der 
Welt ſteht in Ausſicht; die Arbeitsfraft ſoll nicht wieder aufgezchrt werden, 
ehe fie voll eingefegt werden kann — und das gereicht dem nanzen Bolfe 
zum Seil. 

Wer würde nicht gern fein Scherflein beiſtenern, um den Ger 
nejenden den llebergang zur vollen Geſundheit und Vebensfrende er 
leihtern zu helfen! | 


‘ Stand“, verdient 


Kind, bafte did gerade! Wie ojı hört man nicht diefe Mahnung 
aus dem Munde der Eltern, deven — — Kinder gebückt einher 
nchen und dem Kopf hängen laſſen, als ob fie eine fchwere Laſt auf 
ihrem Rüden trügen! Das Sind zudt bei diefer Mahnung zuſammen, 
richtet fich empor und eine Weile iſt die Haltung wieder gut, aber nech 
wenigen Augenbliden läft die Willenskraft nach und wir haben wieder 
die nachläſſige ſchlaſſe Haltung vor Augen, welche jo unſchön ansfieht 
und zu manden Leiden den Grund legen fann. . 

Die Freiüibungen des deutſchen Tirnens bieten cine ganze Anzahl 
von Webungen, durch melde ſolche Kopfhänger in fchmude, fchlante 
Menschen umgewandelt werden lönnen, und eine namentlich, der „Heben- 
en der Einfachheit eine befondere Beachtung. 


Die Uebung wird belanntlich derart ausgeführt, daß aus dem Stande 
auf der ganzen Sohle die Ferien und damit der ganze Körper gehoben 
Sehen und Fuhballen, 


werden.‘ Der Körper ruht alsdann nur auf dem 
wie dies unfere beiftehende Abbildung an» 
deutet. Die Ferien find möglichit hoch zu 
heben, dev Körver iſt neitredt aufrecht und 
ruhig zu halten. Dies erzielt man aber am 
beiten, wenn man den lebenden ein leich- 
tes nicht zu feſt Tiegendes Kiſſen oder der» 
gleidhen auf dem Kopfe tragen läßt. 

In dem trefilihen Bude „Dausgonv 
naftit für Befunde und Krante“, von E, An- 
aerftein und ©. Edler (Berlin 1888, Berlan 
von Th. Chr. Fr. Enalin) wird in diefer 
Vezichung eine intereflante Beobachtung 
eines älteren Autors mitgetbeilt, „Ach habe 
in einem Kloſter,“ heit e3 darin, „noch ein 
anderes Mittel bei Koſtgängerinnen anwen— 
den geichen, welche den Kopf hingen, Die 
Vorfteherin desſelben lieh fie nämlich ver- 
ichiedene Arten von Spielen ſpielen und 
schlug ihmen auch, ohne fich ihre Abſicht 
merken zu laſſen, vor, einen runden Ball 
oder einen anderen leicht abrutichenden Be» 
nenitand jo auf den Nopfe Au tragen, daß 
diejenige, welche den Ball im chen fallen 
liche, den .. des Spieles zufolge ein 
and gäbe, an bat mir verfichert, daß 
diefe Methode allezeit mit einem guten Erfolg angewendet worden ei; 
denn diefe Kinder gewöhnten fih dadurch, dak fie fi in diefem Spiele 
übten, bald, den Hopf gerade au tragen,” 

Schlechte Angewohnheiten laſſen ſich am beiten durch derartige er» 
ziehliche Mittel bejeitigen, bei denen ja die Kinder fo zu fagen foielen 
und Freude empfinden, ohne eiwas von Müge und Tadel zu merlen, 

Es giebt noch eine ganze Reihe von Freiuübungen, welche gebüdte 
Daltung verhüten fönnen, und wer Jutereſſe daran bat und feinen 
Nindern und Pilenebefoblenen Abwechslung bieten möchte, dem rathen 
wir, in dem vobenerwähnten Buche „Hansgymnaftit” die betreffenden 
Aoichnitte nachzuleſen. Dasfelbe bietet eine Anweiſung für jedes Alter 
und Geſchlecht, durch einfade Leibesübungen die Bejundheit zu erhalten 
nnd zu Mrältigen, ſowie franthafte Zuftände zu bejeitigen. Die Haus— 
auınmaftit iit überhaupt ein überaus wichtiges Mittel ur Hebung unerer 
Geſundheit und wir möchten allen demjenigen, die den Turnvereinen fern 
ſtehen, empjeblen, weninitens zu Hauſe zu turen. ’ 

YUnferbiidheit. (Mit Alluftration S. 785.) Wir find im alten, 
failerlichen Rom. Durch den Sonnenglanz der Appiichen Straße folgen 
wir einer jugendlichen ſchlanlen Mädchengeitalt, die elaftiichen Schrittes 
vor uns berichreitet. In der zierlihen Hand hält fie einen Korb mit 
Blumen und ein Yämpcden aus rotem Thon; über dem weißen Ge— 
wande, das ihr in reichen Falten bis auf die Ferſen fällt, trägt fie ein 
ditunes ſchwarzes Florluch. Nun biegt fie von der breiten Etrahe feitab 
in einen ſchmalen, von Dlcanderfträuchen überichatteten Pfad, Bor einem 
Heinen, zwiſchen Marmorſäulen ſich Öffnenden Pförtdien hemmt fie den 
elaftiichen Schritt; hier ſiht auf einem Steine ein dürftig gelleidetes Kind 
mit einer bremmenden Ampel, Die fremde zündet ihr mitgebrachtes 
Lampchen an der Aınpel am, läßt eine Meine Münze im die ntageren 
Händchen des Kindes fallen und ſchreitet durch das Pförtdeen. Radı 
wenigen Schritten lommt fie zu einer fteil unter die Erde führenden 
Treppe und fteigt behutjam die Stufen hinab, Wir folgen ihr auch bier 
und ſtehen gleich darauf in einem matt von oben herab erleuchteten Raume, 
Hier find wir in einen römiſchen Golumbarium, einer jener unterirdiihen 
Hallen, welche in zahllofen Mauernichen die Urnen und Thonfiſtchen 
tragen, im welchen die Aſche der Todten aufbewahrt wird. An mandıen 
dieler Thongefähe zeigen Vlumen und Kränze, dab man vor furzem exft 
derjenigen gedacht bat, deren Aiche hier liegt. Iu größeren Mauerniſcheu 
jind auch einzelne Büſten aufgeftelle. Yu einer diejer Büften fchreitet das 
Mäddıen mit ihrer Lampe und ihren Blumen; es ift die Büſte eines 
ichönen jugendlichen Mannes. Lange ſteht fie mit gefalteten Händen vor 
den ſchweſgenden Bilde; ihre Augen werden feucht. Und zuletzt neigt ſie 
ihr edles blafies Köpfchen gegen das jteinerne Antlik vor ſich und preßt 
einen fanften Kuß auf die Talten Marmorlippen. 2 

Nun wird fie noch die Blumen, die fie mitgebracht hat, um den Fuß 
der Narmorbüjte legen, wird ihre Lampchen in die Höhe halten, daß ein 
Strahl vom lieblichen Lichte in das ftille Marmorgeſicht fällt und dasielbe 
flüdtig belebt; und dann wird fie mit ftummen Ghrufe wieder Abicied 
von dem neliebten Bilde nehmen und langſam beimmärts wandern duch 
den Sonnenschein der Appiſchen Straße, ir aber ziehen uns zurüd, 
ums diefe rührende Todtenfeier nicht zu ftören; nur flüchtig werfen wir 
noch einen Blick auf die Iuſchrift über der Vüſte. Hier fteht ein Name, 
der jeit achtzehn Jahrhunderten unvergejien geblieben ift: der Name 
„Catullus“. Dit ers wirklich, der heitere Dichter, der Liebling von 








Göttern und Menfden, der einft auf feinem pradtvollen Landfipe über 
den blauen Wellen des Gardaſees feine Lieder fang und der, faum dreißig 
Jahre alt, zu den Zodten ging, um für immer zu verftummen? Und 
ie, die ihm da in ſtiller Treue ihr Todtenopfer Taf hat — was war 
fie ihm? Schweiter — Freundin oder Geliebte 
Es ift ein ergreifendes Bild treuer Liche, welches der Münchener 
Künftler Hermann Kaulbach hier vorführt. Das ag Gentälde, das und 
diefe Todtenfeier zeigt, war eine der anmutbigiten Zierden der inter- 
nationalen Kunftansftellung des Jahres 1888; jept ift dasſelbe Einenthum 
der Mündener Staatögaterie. Der Künftler jelbft nannte fein Bild 
„Unfterblichleit“. Und ın der That — felbft wenn der Name jenes 
Todten nicht im Glanz der römischen Geſchichte lebte, Unfterblichkeit wäre 
fein Los, weil treue Liebe über das Grab hinaus währt und 2 ben 
Todten und den Lebendigen —— Herzensfaden webt. M. H. 
warzbfatiſ. (Mit Illuſtratioit S. 793.) Tirol iſt nicht nur 
wegen jeiner Berge, ſondern auch wegen feiner Menicen ein ſeltſames 
Land, An feinen einfamen Hochthälern haben Mefte veriprengter BVölfer- 
fchaften Yuflucht gefunden, wohl fchon ange, che man anfing, Geſchichte 
zur Schreiben, und auch nachher noch. Dieſe Völlerreſte ließen Erinnerungen 
in alten Oris- und Familiennamen, in ſprachlichen Wendungen und in 
den Sefichtszügen der Lebenden zurid. Ba findet man Gefichter, die an 
nicht® anderes mahnen können, als an die lehten Cimbern, die dem 
Römerichwerte des Marins entronnen, und wieber andere vom vollenbetften 
Tupus des Südländers. Eins aber iſt bier wie dort auffallend: die 
Haffische Schönheit der Mädchen. In diefem Vuntte ift Tirol ein wahr- 
haft gelegnetes Yand. : 
ine echt tiroliiche Schönheit ift e& auch, die Franz Deieen er in 
dem Bilde „‚Schwarzblattl uns vorjührt, eins von jenen ——— 
geſichtern, wie man ſie wohl in den ge Thälern an der Grenze 
von Kärnten findet; aber auch unter den Weinlauben von Meran und 
an den Gleiſcherbächen des oberen Etſchthales. Wenn fie aus ihren 
braunen Holzhütten treten oder aus der weißgetündten Thür ihrer Heinen 
Dorflirde, meint man, griedyiche Göttinnen hätten fih in Bauerntittel 
geftedt, um den Wanderer mit ihren unergeündlichen Augen zu beriden. 
So war mir's auch bei dieſem Bilde. Ich ſann und ſann, wo ich 
das „Schwarzblatti” ſchon 
wieder all die fteinigen Jochſteige und weltiremden Dorigaffen von dei 
Quellen der Drau bis zur Malfer Heide, Und endlich fiel es mie ein 
Sonnenftrahl in meine Erinnerung, und das wirlliche, lebendige „Schwarz« 
blatt!” tauchte wieder vor mir auf im Zauber feiner Fu endichöne, mit 
der räthjelhaften Melancholie feiner tiefdunklen Augen. Ich fah fie wieder 
vor mir fiben, auf der Holzbant vor dem Wirihshanſe zu Ridnaun; 
unfern von dem Gletſcherbach, der aus der blauen Eishalle des Ueblen- 
thalferners herabſchäumt, um fich in den Eifad zu ergiefen. An einem 
heißen Auguſttage war ich von —— aus hinaufgeſtiegen; ich wollte 
am mädjten Morgen höher, zu den Stubayer Fernern empor, und dann 
nach Meran hinunter, Beim Wirthe zu Ridnaun mußte ich übernachten; 
und als ich antanı, ſaß das „Schwarzblattl” auf der Hausbank und hatte 


807 >» 


| Beserengen und hörte filbernes Laden aus dem Weinlaub heraus, aber 
0 


ejehen Hätte, und burdhmanderte in Gedanfen |} 





die Haud in einer hölzernen Schüffel, welche mit einer dunklen Klüffigkeit | 


gefüllt war. Sie ſaß ganz fill und requngslos, als lauſchte fie nur auf 
den raufchenden G —— und als ich fie grüßte, dantte fie auch ſtill 
und träumeriſch. Auf alle fragen gab fie Antwort mit einem Gemiſch 
von Freundlichteit, Stolz ımd Schwermuth. 

Da erfuhr ich denn Folgendes: Das „Schtwarzblattl” war nicht aus 
dem Thale daheim, Sondern weit her gelommen, aus der Gegend von 
Innichen. Es war durch's aanze Yuftertbal, damals noch ohme Eifen- 
bahn, gereift, um den Wirth von Ridnaun aufzufuchen. Dieſer 
war damals im ganzen mittleren Tirol als bänerliher Heillünſtler 
hochangeſehen, und zur Sommerszeit weilten immer einige Patienten in 
feinem geräumigen Haufe, um fich feiner Sur zu unterwerfen. Und 
darum war aud das „Schwarzblattl” heranfgeitiegen, damit ihm der 
Wirth die frante Hand heile, die bisher allen Heilberſuchen Widerftand 
geleiitet hatte. Es zeigte mir die Hand — eine arme weihe Hand, um 
die Hälfte Heiner als die andere. Es hatte fich die Hand vor Jahren 


Schön wie das Puſterthaler Mädchen im Wirtbshaus zu Ridnaun war 
feine andere; fo viel liebliche Schwermuth, jo tiefe Empfindung fand id) 
auf feinem nilig mehr, nicht in Meran und in Bozen und im ganzen 
Tirol, Nur Meifter Defregger hat mir das Mädchen von Innichen wieder 
gezeigt. Ob fie es war oder eine andere — er hat fie getrofien! 

‚ M. Haushofer. 

Ein Jubiläum der „Hofe. Wir haben in Nr. 6 des Jahrgangs 
1872 unferes Blattes die Lejer in die Geheimniffe der „oje“ umd ihre 
Geſchichte eingeweiht. Und in der That, nicht alle Welt fennt dies Bier, 
weiches bejonders in Leipzig fanatiiche Verehrer findet; ja jehr viele, 
die zuerſt jeine Velanntichaft machen, begreifen nicht, wie dies &etränt, 
das ihnen jo ſchal und abgeftanden ſchmedt, fo leidenſchaftliche Anhänger 
finden fan. Nun, vielleicht befehren auch fie ſich mit der Zeit; denn es 
iebt ja viele Genußmittel, an die man ſich erft gewöhnen muR; die eriten 
igarren und Pfeifen legen dafür ein beredies Zeugnik ab. Wer aber 
eine behagliche Befellichaft an einem langen Tifche fiten fiebt, auf welchem 
eine Batterie der eigenthümlich geformten Bojenflafchen „in Reih und 
Glied“, wie es Sitte bei den echten Gofentrintern ift, aufgepflanzt fteht, 
der muß Vertrauen faſſen zu biefem anfangs fo ſchwer zu überwindenden 
Trant, Der Uaſſiſche Ort der Goſe ift das Leipziger Vorſtadidorf 
Eutripfh; die vielen taufend Mufenföhne, die im Laufe der Jahre die 
Leipziger Hochſchule befuchten, haben dort alle ofne Ausnahme hofpitirt, 
In Eutritzſch beablichtint man ‚Jen. das 150jährige Jubiläum der Ein⸗ 
ührung der Goſe zu feiern, die der alte Defjauer dort eingebürgert hat. 
Dies Aubelfeft würde ein groartiges werden, wenn fich alle Rreunde der 

Eutrigicher Goſe aus den leblen fünfzig Fahren daran betfeiligten. + 


Kleiner Briefkaflen. 
(Anonmme Antragen werden nicht berüdlicätiat.) 

8. F- in Köln, Seit alten Beiten iſt bei allen Aulturvoltera die Wittag« umb 

I für einen Mittelpunft bes geſes ujammenieind, body if biele Blathe 

der Stulter, wie Sie richtig vermuiben, ben den iremd. Se berichtet im. Carl 
von ber Sieinen, der eine Reife in das W:bärt ber Anblnnerflämme am Schingufluße unter 
nommen batte, baf ein dert in parabiefiicher Harmleligfert lebender Bolksftamım, die Beratri, 
«#6 für —— Berilo genen die Sitte halten, wen einer im Geſelllgaſt amberer ift. 
‚erer it dort fr fi al 18 mer Reifender in Wegenwart anderer ven einem ge- 

en 


raten afı, den man ibm braste, jenlten alle bie Abrſe und Khämten in 
—— Kari von der @urinn” ade — 
darin, die Mi n c8 anfangs mie bi 


Humbe machten, von denen feber ben Sruochen, 

den er gelunden bat. beifeite ichleppt, aus Fatcht, dal er i&m entriffen werte, las an- 
der Rotfroehr war, jei bann Melfsfitte gemer R 

bezägläd des Ariitels über 


men beftend! Bir freuen ums, 
das terielte Ihre — finder uud daß Eie cin — erfahren für die ultur 
, Da dadlelbe auch vorirere Strelfe Interehüiren wird, drugen wir 


Zopfe ne eine minzige blaue e — 
Marlitt⸗ Verehrẽ rin in London. Ele wlnfden. zu milk, wie wich won dem 
Roman . Eulendars* von E. Marlitt geichrieben if.“ Wir wollen Ihre Reugierde 


ern befriedigen: Die Fortſehung von @. Heimburg beginnt aul S. 76 mit dem 8 
Mn groben glänzenden Augen er Srrionim blidien —* zu bem Alten binüber, wie 
de eincd Kindes, vom man Märchen erzihlt.” * 

Bra. med. V. In H. Die Geſaraunzahl der Stubenten auf ben 20 deutichen Unsverlitäten 
unb der Mlabemie au Wünfter betrug km vergamgenen Sommer 29190. Davon ftubierten 
evang. Theologie 4859, Tattı, Theologie 1106, die Mexchte 6472, Heiltunde 9046; bie Übrigen 
waren bei den pöllsjophiihen Trakılkäten eingejhrieten, Die meilten Stubirenden waren in 
Berlin (4767), dann in Dtincden er) umb Yeipalg (3208), die wenigiten in Meited. 

E t. in Frantturt. Ben WMartitts „Weltelie* ift außer der billigen BoltsrAusgabe 
eine Salon-Ausaabe im reihem Pradıtbamd, mit Ilnftrationen von Paul Tbumanır, 
erschlemen uud zum Breile von 10 Mart 50 Bf. durdı bie mein Unchbanblungen am 

€. L. in Dresden. Bon Ihren gelätligen Wirtteilungen besäglich unleres Yrtitels 


' „Ans dem Geben eines nachzlebigen Geicllen” im — bes —— — 8 nehmen 
im, 


einmal verlept; jeitden war jie nicht mehr geiund geworden troß aller | 


Vemühungen des Doltors von Innichen und der Buiterthaler Kurpfuicher, 
welche wahrſcheinlich alles, was der Doktor gutgemadit hatte, wieder 
verborben hatten. Nun war der breitfchulterige Wirth von Nidnaun mit 
feinem ſchlanen jovialen Gefichte die Iehte Hoffnung des Pufterthaler 
Mädchend, Aus trodenen, ſcharf würzigen Alpenkräutern Tochte er ein 
Deilmittel; darin mußte die Patientin jeden Tag ein paar Stunden lang 
die Hand lienen laflen, Ihre Hoffnung war freilich eine fehr geringe; 
mich aber tröftete die Zuverſicht des Wirthes, der ihr ſeſt ve u 
hatte, die —— geſund zu machen. Und weil der Mann nach jeder 
anderen Nichtung bin fo viel Erfahrung und geſundes lirtheil zeigte, 
fonnte man wohl auch feinem ärztlichen Scharfblit einigermaßen ver: 
trauen. Schlimmer als mit dem Mädchen ftand es, wie der Wirt) 
felber eingeitand, mit einem anderen feiner Patienten, einem alten Berg- 
mann aus den nahnelegenen Schneeberger Gruben. „Der wird nimmer!” 
fante der Wirth, And ich glaubte es ohne weiteret, 


As ich am nächſten Morgen aufbrady, jah die ſchöne Pufterthalerin | 


ſchon wieder auf ber — und hatte die Hand in der hölzernen 
Schüffel, Die gefunde Nechte reichte fie mir zum Abjchied, und ala ich 
ir meine felenfefte Hoffnung ausdrüdte, dab fie geheilt über die 
Felſen von Kidnaun wieder binunterfteigen werde, grüßte mich ein jchwer- 
müthiger Dantesblid aus den wunderbaren Augen des Mädchens. Ich 
wanderte hinauf, viele Stunden lang, zu den erjteihen Halden des 
Schneebergs und zu den Eisfeldern zwiſchen dem Brenner und dem 
Dehthale. Als es danı wieder thalab ging durch das Paſſeier, als an 
die Stelle der Eisfelder zuerſt die Alpenwielen, dann die reifen Korn— 
felder und endlich die Kaftanien und die Mebengelände von Meran 
traten, da ſah ich wohl noch manches Schöne Mädchengejicht mit dunklen 


wir geen Bermerf. Danach fell in Sadılen. im Mittel» umb Ehiddeutihland, Me 
der Serke weniger ald Haus nduſtrie bedandelt, fondern meilt im 
ſahſtabe in Fabriten detrleben werben. Als Sauptbegränser der Korlinduitrie 


ehlıen; 


vieles Ge» 


bletes nenmen Sie Karl Lindemann in Dresden (fiema: Wm, Merdel, Raſchau um al. 
Mrigetirar geariindet 1355) umb eben die gegenwärtige Welammtzahi der Kortzeſchafie 
in Shi» umd ättelbewrichland anf etwa 200 an. 





Inbaltsperzeihnik von Heft *, VII. Band. 
Ülefantenjäger. Eryibli von Augun Riemann. Mit Originaliluie. ven C. ® 
ers. — Die Schlacht von Sempadz. Ballade ven Heli Dahn. Mit Nünite. nad 
®. Gem. von 6, Bsob. — Im Welterflein, Erzäblung aus dem batıer. Örbirge von 
Marimilian Shmidt Wit Jlufte. von E. W. Allers und FJ Boly. — 5 


Der 
als 


Bon Bieter Blätbgen und Julius Yobmener. — Das Lied vom gnten Nerbf. 

Son Frida Shaug Mit Ei ——— — Aleine Weihnargtsarbeiten aus Mohe- 

köpfen. Yon Ida Blood. M 28 te. nach Mebeisen ber Berjafl. — Keinhold Sachhol. 

der Nordpol. und Afrika-leifende, Bon Nobert Koch. Wit Borte. u. Piufir. — 

Lebensgefihichten dentfher Wörter, 2. Hrämer. Ben Walter Werner. — Eine 

kleine Vale als —— — — Gnedmandeln. Bon Mebert ?oewide. — 
Räthfel ıc. ven E. Yeo ımb D. Hübner. 


— BB · — 


Allerlei Kurz weil. 


Domino-Aufgabe. 














A jegt feinen Doppelftein aus. B, C und A ſetzen an. B fegt einen 
Doppelftein. C, A und B feßen an. C jeht einen Doppelitein, A tept 
an. B und C pafien. A jept au. B und © feben an. A fperrt die 
Partie mit einem Stein, auf dem ſich 2 Augen befinden, 

Die Summe ber Augen auf den Steinen, welche A ilbrig bleiben, 
beträgt 7, auf denen, welche B noch behält, 30, und auf denen, die C 
übrig behält, 17. 

Wie waren die Steine veriheilt? Welche Steine wurden gefept? 


Königspromenade. 





an | vor | dir | mer 










du Vier mas | im 


md | von | m 







un | fun di 


fe Im (me 





[2 Arem| im 
v.. nen | ein 


Ins | mb | te 





Bndftaden-Mäthfel. 


Was mit dem T bir nennt einen ftänd'gen Begleiter, 
Sucht mit dem B du als Landichaft nicht weit von dem Rhein. 


Auflöfung der Metamorphofen auf 5. 772: 


1. Shulb, 2 Mühe, 3. De, 4. Waſſer, 5. Wolf, 6. Bin 
Schund, müde, orn, er, Golf, inn, 
Bund, Made, Bonn, er, Gold, inn, 
Band, Ude, Bann, eſſer, hold, Kind, 
Bann, Ule, Band, ee, uld, fund, 
Bonn, Ahle, Wand, Metie, ull, Hund, 
Bonne, Ahne, Wald, Meife, u, vuld, 
Bohne, Alm, Wild, Meis, m, eld, 
Bühne, Lahn, mild, rein, amt, eld, 
Sühne Lohn Milde, Bein, amm. Gold 


Auflöfung des Mäthfel-Sonells auf 5. 772: lügelichlag. 
Aufföfung des Budhftaden-Mäthfels auf S. 772: Noftod, Rehbock. 








Bilder-Mätdfel. 








Raãihſelſ. 
Gleichlautende Wörter mit verſchiedenartiger Bedeutung.) 
1, Gern leih' ich neift'gem Schaflensdbrang mein Licht, 
Doch ungern jteht man meines Wirkens Spuren, 
In and'rem Sinne Tenmt ein alt Gedicht 
Als Flüchtling mich anf herbſtlich leeren Fluren. 


2. Da, wo's an mir gebricht, geht alles bald zu Grunde 
Im größten Reiche wie iu kleinſten Haus. 
od) mit dem Fortſchritt iſt's auf einmal aus, 
Sobald mein Auf ertönt ans machtgewohnten Munde, 


3. Wer mid) entbehrt, der kämpft fich ſchwer durch's Yeben, 
Und dann foll ich, was er nicht Tann, ihm geben. 


. Der Künftler ſucht's, es ſucht's der Krieger Schar, 
Dort macht es Freud', hier aber bringt's Gefahr, 


Ermwünfchte Ruheftätte müder Glieder, 
Tön' ich doch auch vom Yärm ber Waſſen wieber. 


Yin 


pn 


. An Serien und Frieden tritt es und entgegen, 
Dort blut'ge Saat, hier geld'ner Ernteſegen. 


I} 


. Dem Schiffer dient es, Klippen zu vermeiden, 
Dem Staate hilft's, daß er nicht Noth muß leiden. 


Einft war ich jeder Große Heinfter Theil, 
Ein König felbjt hat ſich nach mir geſchäht; 
Mein Mamensbrnder herrichet noch anjet 
Zum Tort den Einen, Andern wohl zum Seil, 
Auflöfung der Schach · Auſgabe Mr. 12 auf 5. 778: 
1,542 —b1 er 


= 


2,5bil=-eßf (4 Belter) 

83, Taır- dıober fı malt. 

J Krf2—seı 
2,5b1—eAt} KerixXhrdlt) 
3. Ldas—es(Tfı1) matt. . 

Lose» beliebig p a 
Eb1—CcI —6—7 KM 
8. 7 tt. 


. malt, 
a bat den Zwed au zeigen, bafı ber fh. A. anf f 2 verbleiben kann und dech in 
rd. 


glekder Art mattgeleht ten 
Richt gebt: 1.542 —fı Kfd—- 112, 31-3 Keı1xh? 9. ſtein matt 
Aufföfung des Berir-Bilderräthfels auf 5. 772: „Leifing“. 
Erllärung: Das L bildet den Randbeſchlag des Buches, das E eine 
Berzierung des Lüyrafodels; die beiden S werden dur die Tinfs und 
rechts an den Larven herabhängenden Bänder dargeftellt; das I bilder 
die Verzierung des Doldhgrifies; das N Liegt verftedt in der rechten Wand 
des Oyrajodels und das (+ bildet die Nandverzierung des Lyraförpers, 


In dem unterzeichneten Verlage ift joeben erfchienen und durch die meiften Buchhandlungen zu beziehen: 


In der Alpenſchutzhütte. 


Avvellenkrang von Johannes Proelf. 


Anhalt: 1. Eingeregnet. — 2. Wanderzanber. — 3. Hodhgefreit. — 4. Die Geſchichte der Malersiente. — 5. Der Bößler. — 
6. Im ewigen Eife. — 7. Heimkehr. — 8. Im SIonnenfcein, 


8%, Elegant broicdiert 3 Mark. Elegant gebunden 4 Darf. 


— Verlag von Ernft Steil’s 


Nachfolger in Seipzig — — 


Herautgegeben unter —— Herattien ven Adott Kröner. Verlag von Ernft Keit’d Nachfolger in Leipakg. Druf ven A. Biete in Lelpang. 


Illuſtrirtes Samilienblatt. — Besrundet von Ernft & 


Tahraang 1888, Erſcheint in Qalbheften a 25 Pf. alle 2— 14 Cage, in Heften à 50 Pf. alle 3—4 Wochen vom 1. Tanuar bis 31. Derember, 


— 





Winterſonnenwende. 


Nun geht das alte Jahr zu Ende; 
Die Zeit der Winterfonnenwende 
Hüllt Feld und Wald in lichtes Weiß. 
Die Tannen frühlinasarün nur ragen, 
Doc ihre ftolzen Häupter tragen 

Ein flimmernd Diadem von Eis: 


Es finft die Nacht; die Stunden rinnen, 
Die ihren dunkeln Mantel fpinnen; 
Kein Stern hält bente treue Wacht; 
Die Eichenmwipfel weh'n im Sturme, 
Und durch den Wald vom nahen Thurme 
Dröhnt laut es zwölfmal: — Mitternadht! 


Da regt es fich, da raunt's, da flüftert’s! 
Da jchleicht's, da fprinat es und da fniftert’s! 
Die Sonnenwende übt ihr Recht. 
Lebendig werden Buſch und Heden, 

Es fchlupft aus mandherlei Derfteden 
Der Zwerge winziges Geflecht. 


Die Grubenlampchen alübn und flimmern ; 
Den Wald, o Wunder! hat ihr Schimmern 
Derwandelt in ein Feenreid), 

Wo eben mitternähtig Duntel, 

Herrtſcht jauberhaftes Glanzgefunfel, 
Sich fpiegelnd im beeiften Teich. 

Bier fpielt's in feinen Birfenzweigen 
Die zierlidy erdenwärts ſich neigen 

Wie farbenbunter Demantalan;. 

Dort fprüht es bläulid aus dem Mloofe 
Roth, wie der Keldy der wilden Roſe 
Fflammt in dem Gras ein Purpurfranz. 


Und wißt, die 
Ich aber habe 
Und ichildert's 
Das bier’, Ihr 


Wo zad'sgen Eifes nur ein Glödchen, 
Mo weißen Schnees nur ein Flöckchen 
Bricht tanfendfacher Glanz hervor. 


‚Und horch! der Wundernächt zum Preife 


Tönt durdy den Wald die frohe Weife 
Des Awergenvölfchens muntrer Chor: 


„bei, längfte Nadyt! Bei, Sonnenwende! 
Gejfellen, rührt Euch, feid behende, 
Weihnachten naht, der Liebe Feſt! 

Ihm tönet Preis von allen Sungen, 
Zu uns audy ift herabgedrungen 

Der Jubelaruf aus Oft und Weſt! 


Schafft Tannen her zu Meitmachtsbäumen, 
Davon die jungen Herzen träumen, 
Und Beeren roth vom Staceldorn! 
Auch Moos fürs Kripplein bringt zur Stelle; 
Bald tönt Unecht Ruprechts Silberfchelle, 
Die Säumigen bedroht fein Forn! 


Chriftfindlein fett u. uns zum Meister 
Aljährlich ruft die Heinen Geifter 

Er aus verborgnem ‚Felfenneit. 

Hei, längfte Nacht! Bei, Sonnenwende! 
Gefellen, rührt Euch, feid behende — 
Weihnachten naht, der Liche Left!" — 


Das ift ein Büden, Klettern, Biegen! 
Es klingt die Art, die Späne flieaen ; 
Sie gönnen ſich nid Raft, noch Ruh, 
Und bei der Arbeit, welch Frohlocken! 
Rothkehlchen ſchauen unerfbroden 
Dem Kiebeswerf der Swerge zu. 


haben's ausgeplaudert! 
md gejaudert 

Eud m Bild und Lied, 
lieben guten Keute, 


Id Euch als Weihnadtsgabe heute 
Doc faat nicht, daß ich's Euch verricthl 


Jobanna Dalh, 


eil 1853. 











— © 


810 >» 
Deutfde Art, treu gewahrt. 





Aacht rud werbeten. 
Aue diechte vorbehalten 


Eine Hofgefchichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Zieyler, 
(Schtuf.) 


äthchens Blick lief an dem ſchwarzbraunen xiffigen Stamme | 


der alten Ulme empor zu dem hohen Wipfel, der leiſe und 
feierlich rauſchte. Einſt follten hier weife Frauen Math ertheilt 
haben. Das Bolt ſchlich noch jept nächtlicherweile herauf und 
band am feine Zweige in Leinenläppchen feine Leiden, , Und es 
aing die Rede, daß die alte Ulme immer helfe. Konnte fie nicht 
auch ihr beiſtehen? Sie verdiente ja ſonſt nichts weiter, als um— 
gehauen und zu Klaftern geichlagen zu werden. 

Der Wind rauſchte ftärfer in dem Wipfel — ein Krachen 


folgte und ein langer dürrer Mit fiel herab. Aber auch von der 
Sie | 


andern. Seite wurde ein Rauſchen und Anaden vernehmbar, 
bog ſich vor. 

Da fam ja der Junker U durch das Gebüſch geichlichen. 
Vorſichtig flieg er in feinen hohen Stiefeln über die Brombeer- 
ranfen, leiſe bog er die Haſelſtauden auseinander nnd lugte hinauf 
nach der Dornburg, to die Freniter von Käthchens Stübchen 
herabjhauten. Aber es mar dort gar nichts zu jehen Da 
wandte er fih und fam lanajam des Weges daher. Sein chr- 
liches Geficht ſah nachdenklich und traurig aus. Er ſeufzte tief auf. 
Diefer Seufzer Fam nicht vom engen Leibgurt, fondern geradeswegs 
ans dem Herzen. 

Und jebt ftand er vor ihr. Er fchraf zufammen und ſtarrte 
fie an. „Wie fommt hr hierher?“ fragte er. 

Einen Riefen zittern zu fehen, macht Kleinen Leuten alfezeit 
Vergnügen. Käthchen lächelte unter ihrem Haarbüſchchen vor 
und fagle: „Das frage ich Euch. Ich wohne ja hier — gleich 
da oben.” Sie deutete nach dem Fenfterlein, das er eben be— 
fpäht hatte. 

„Sch dachte — ich hatte — ich wollte einmal hinab und 
nad) meinen Weinbergen ſehen,“ ftotterte er, 

„Da reitet Ihr doch immer, Junker,” quälte fie ihn. 

Er jtotterle weiter: „Ich — ich habe mein Pferd vergeflen.“ 

„Da müht Ahr alfo wieder heim,” bedauerte fie ſchelmiſch. 
Sie wandten ih zur Rüdfehr. Da praffelte und rauſchte cs 
hinter ihr Her im Gras. 

„Ein langer Ulmenaſt bat fih an Euren Rod gehakt, Jung— 
frau Hatharine,” fagte Utz. „Man nennt das einen Freier. Wollt 
Ihr ihn los fein?“ 

Ach ja!” erwiderte fie. 

Er wurde roth. Doch büdte er ſich und löſte den dürren 
Ulmenziweig von Käthchens Rochſaum. Da er ſich wieder aufrichtete, 
ſchauten feine Augen fie treuherzig, aber vol tiefen Ernſtes an. 

Und fiche! der Blick ging ihr durch und durch. 

„Sagt aufrichtig,” ſprach er mit bebender Stimme, „joll 
ich Euch den langen ungefügen Freier vom Hals ſchaffen?“ 

Sie geiff zögemd nad dem Ulmenaſt. 
vielleicht einen ganz guten Stab ab,“ flüjterte fie. 





Da ſchlich Frau von Tantenburg in das Geheimftüblein 
ihres Ehegeſponſen. 

Sie holte aus feinem Schreibicrant einen Stoß Vapier 
bogen, dide, graue, mit fajerigen Rändern verfehene, und legte 
fie auf den ‚großen Tiſch, pilanzte ein mächtiges Tintenfaß auf, 
füllte es bis an den Nahd und fangte endlich ein halbes Mandel 


Federn bevor, die der Hüchenfchreiber hatte friſch ſchneiden müſſen. 
‚ Sie ftreifte die Puffärmel auf und jehte die Haube ab. Sie 


wollte Schreiben und das — fie wußte es 
tüchligen Schweih. 

„Die Stille Abendftunde, ” ſprach ſie für ſich, „Tann ich nicht 
beſſer nützen, als in m ich meinem würdigen Better den Aerger 
heimzahle, den er us eingerührt hat, und ihm für immer die 
Luft zu einem Befuch auf der Dornburg verjalze.“ 

Sie fegte fi vor das © mwälb. „Vorerſt zeige ich ihm 
die Berlobung unferer Jungfra gter am, auf daß er fieht, es 
fräht fein Hahn mehr nad) ihm. Nunmehr; "= kann e& losgehen!" 

Und die großen Buchjtaben quollen formeich aus der Feder: 

„Ich will Euch nicht verhalten, daß jich auf der Dornburg 
eine wunderbarliche Veränderung zugetragen hat. bo würde 
das fürjtliche Fräulein nicht den Namen ‚die freudige‘ küren. 
Nimmer jchallt mehr der Teichtfertige Mimi aus Hochdero Fenſter, 
fondern das Leiblied ihres in Gott ruhenden Waters: Erhalt 
ung, Herr, bei Deinem Wort. Der welſche Händler, deſſen befte 
Kundin Ihro war, hat fich diesmal an unferer Armuth erholen 
müſſen; die Hochzeitsfleider waren fein einziger Verdienst auf der 
Dornburg. Wie ein befcheidener Biol ift die junge Herzogin 
anzujchauen, und gleich diefem duftet ihr Verdienst in der Stille, 
bei Armen und Kranken, in der Schule und in dev Kirche. Sie 
hat geruht, ſich dahin zu äußern, daß ihr Sinn nach nichts mehr 
ftehe in diefer Welt, denn nad dem jtillen Plätzlein einer Wbba 
tiſſa im Stift Quedlinburg. Und als ſchickliche Vorbereitung zu 
diefer Würde Hat fie den Mlamodeteufel gründlich ausgetrieben, 
wie jolcher Ausgeburt der Hölle gebührt. Im Feuer wurden 
verbrannt der Schäferroman, das Hirtentäfchlein, der Schäferjtab. 

Darumb ijt jeglichem alamoden Monſieur zu rathen, daß er ſich 
der Dornburg fern halte, dieweil ihm bier der Prozeß gemacht, er 


— koſtete alfezeit einen 


elenbiglich zu Aſche verbrannt, und diefe in die Winde gejtäubt wird.“ 


„Er gäbe doc) | 


„Ein folder wiirde er werden,“ fagte U warm und feit. 
„Ein treuer Eteden und Stab, darauf Ihr Euch Euer Leben | 


lang ftüen dürfet.* 


„Dann ſchafft ihn nicht fort; ich will ihm Tieber behalten,“ 


fagte Käthchen leife. 

„Den Stab allein?“ fprach Utz nun lachend und bog fid) 
herab, daß er ihr in die Augen fehen konnte. 

„Nein, auch den Freier,“ hauchte fie verſchämt. 

Da gab er ihr einen herzlichen Kuß. 

Dann gingen fie nad) der Dornburg zuräd. Käthchen meinte 
ſich nicht danfend gegen die alte Ulme, die ihr helfend den langen 
Freier angehangen hatte. Die Augend Hat viel zu viel mit fich 


Sie unterschrieb und fiegelte den Brief. 

Dann überantwortete fie ihn der Botenfrau, welche zwiſchen 
Dornburg und Weimar ging, und diefe legte ihn zu dem andern 
Schreiben, das ihr die Frau Hofmeifterin an die Weimarer Hof: 
meijterin mitgab. 


Hatten die kommenden Ereiqniffe ihre Schatten auf die ftile 
Dornburg vorausgeworfen, jo jah man ihnen in Weimar jchon 
flarer in die Augen. 

Nicht mehr durften die Bewohner der Stadt des Einſpruchs 
feſtlich geihmüdter Gäſte gewärtig fein. Dagegen fprengte eines 
Morgens Herzog Bernhard mit feinem waffenklirrenden Gefolge 


ı zum Thore hinaus; er zog ab, um der Belagerung von Herzogen 


Naͤchtſtunde Huſſchläge vernommen. 


ſelbſt zu ſchaffen, als daß ſie Zeit hätte, an Erkenntlichkeit zu denlen. 


Erſt viel fpäter, wenn die Stürme des Lebens durchgelaämpft ſind, 
mahnt das Gewiſſen an mandı vergeilenes ‚Hab Dank. 

In der Dämmeritunde diefes Tages fah das Brautpaar 
feöhlih auf dem Fenſterbänkchen. Ub behing feine Braut mit 
goldenen Ketten, und diefe dachte: Die Welt ift gar ſchön, und 
wenn ber lahme Schloßvoat ſagt, fie ſei ein Jammerthal, jo iſt 
er ein ariesgrämlicher Greis. 

Auf der Ofenbank durfte endlich der Schloßhauptmann ein- 
mal ruhig ſchnarchen. 


buſch durch den Prinzen von Oranien beisuwohnen und neue 
Kriegserfahrungen zu ſammeln. Ein andermal wurden in ftiller 
Dann munftelte e8, Herzog 
Wilhelm fei fortgeritten, nur von einem Kapitän und etlichen 
Leibgardiften begleitet; es gelte geheime Rüſtungen. Die Staats 
futichen Hatten Ruhe in ihren Schuppen; fchlicht war der Wagen, 
in welchem Herzog Ernſt mit dem Superintendenten zu Kirchen 
vifitationen fuhr, auf daß die evangeliiche Lehre lauter und rein 
erhalten werde. 

Zur Zeit weilte nur Herzog Albrecht in Weimar und führte 
die Jügel der Regierung. Er empfing Botihaften und fertigte 
Kuriere ab, richtete und fchlichtete, wie es einem Fürſten ge: 
ziemle. Aber, wenn er ben getreuen Unterthanen ſich zeigte in 
der Kirche oder auf dem Bang zur Rathsjtube, meinten fie, er 
fehe fo geftreng aus wie ein Steinbild. Nie mehr fpielte der 
gute Humor um feine Lippen, feit das Ehewerk an einem ge: 


heimen : Pilödlein ſich geſtoßen hatte und nefcheitert war. 


Uber fo viel ſich auch verändert hatte, Frau von Heilingen 
war die Alte geblieben. 

„Michel!“ rief fie in die Küche hinab, wo ihre Knecht ber 
Müllerin Rüben puben half. „Es ift ein feifcher Morgen; heize 
den Dfen!“ 

Michel verihwand mit Scheiten, Gabel und Blaſebalg im 


Ofenloch, und bald that prafielnd und Inadend die alte Weide 


den lebten Dienjt ihres Erdenlebens. 
Auf dem Sorgenftuhl, dem einzigen anſehnlichen Zimmergeräth, 


das fie aus dem Zufammenbeuch fendaler Herrlichkeit gerettet hatte, | 


nahm Frau von Heilingen Plat und zog das Spinnrab heran. 
Nach einem fangen bewerten Leben iſt der Menſch nicht 
verlaffen, wenn er auch einfam ift, Die Erinnerung wacht auf 


und läßt längſt verſchollene Stimmen ertönen, längſt verblichene 
Das | 


Bilder aufleuchten. So erging es auch der jtillen rau, 
leiſe ſchnurrende Nad erzählte ihr von der Zeit, da fie die erjten 
Hemdchen darauf fpann für die Söhne, welde der Herr ihr ge 
geben und wieder genommen hatte; es eyi...exte fie daran, mit 


welcher Freude jie dereinſt das feine Garn abhaipelte, das fo ſonder⸗ 
Lich gut geraten und alsdanı de” uur das Sterbefleid ihres Ehe | 


herren geworden war. et ‚er feidigfte Flache, den fie je 
auf dem Stammgut arbaut L.ı.., am Rodenftadb. Sie jpann ein 
Stüd Leinwand fü .. Trude, das Nefthäfchen, welches ihr allein 
übrig geblieben war. Und als fie an das letzte Liebe ihr ange: 


hörende Weſen dachte, fchloß fie ihr Sinnen mit dem innigen | 


Wort: „Der Name des Heren je gelobt.“ 

Die alte Stiege knarrte. Da kam fie. Raſch eilte fie herein, 
ein feines Roth auf den Wangen. Die Mutter blidte erftaunt die 
Athemlofe an. 

Da fagte fie, eifrig bemüß., ihre Aufmerkſamleit von ſich 
abzulenken: „Ich komme zu ungewohnter Zeit, lieb Mütterlein, 
Bir haben heute in der Apothefe Bruſtkuchen gebaden, und bie 
Frau Herzogin hat mir befohlen, Euch dieſes Stüd zu bringen 
für vortommende Gebrefte.” 

„Ihro Gnade hat eine milde Hand,“ ſprach Frau von Heis 
lingen „Gott fei Dank, daß ich jetzo dergleichen nicht bedarf. Aber 
Du ſelbſt jolltejt ein Stücklein nehmen; Du bift ja ganz engbrüftig.” 

„Ach nein,” entgegnete Gertrud verlegen, „id bin nur fo 
gelaufen.” 

„War der Spig Hinter Dir her?“ fragte Frau von Heilingen. 


„Ud nein,“ erwiderte abermals Trude, während jie fich mit | 


ihrem Mantel am Ofenhaken zu ſchaffen machte. Endlich, da ihre 
Mutter fie erwartend anſah, kam es leiſe von ihren Lippen: 
„Der Hofwmeifter von Krombedorff war einmal wieder beihanden.” 

„Bor dem brauchſt Tu nicht davon zu laufen,“ jagte geruhig 


ihre Mutter, das angehaltene Rad wieder in Schwung dringend. | 
„Das iſt ein Manır nach altem Schrot und Korn, der ohne | 


Laune Ehre giebt, dem Ehre gebührt.“ 


„Mein Miütterlein tert in der großen Güte ihres Herzens,“ | 


eutgegnete Trude befiummen; „der Hofmeilter it ein alamoder 
Kavalier, Meine Gefährtin im Hofdienjt, Benigna —“ 
„La Dir von ihr nichts weismachen,“ unterbrach fie Frau 


von Heilingen. „Alle Tage läuft fie ihn Hier in den Weg. Er | 


geht oft in die Mühle; ich denfe mir, der Müller hat zu tarf 
gemetzt bei dem Mehl für den fürftlihen Haushalt. Da kommt 
fie bald aus der Stadt gejtelzt, als fei fie vom pflajtertretenden 


Spazierteufel bejefjen; bald im Hauskleid vom Badhaus-her ges | 
wippt. Aber er ift ein vechtichaffner Junker. Sch muß geftchen, | 


er weiß zu verfchtwinden wie ein echter Hoffchalt.” 

Gertrud Schüttelte kummervoll den Kopf. „Ich habe gefchen, 
welche Gederei er bei der großen Fejtivität getrieben Hat, die im 
Mai allhier jtattfand.” . 

„Zur Gederei gehören immer zwei,” entfchied ihre Mutter. 

Gertrud jeufzte: „Ach nein, es war ein halbes Dugend.“ 

Frau von Heilingen fpann qelafjen weiter. „Es giebt Männer, 
an denen das Frauenzimmer hängt wie die Müden an unferem 
Honigtopf, ehe die Kroaten die Bienenkörbe zerjtört hatten.“ 

Gertrud fchüttelte traurig den Kopf. „Ich fürchte —“ 

„Man muß nicht immer fürchten, man muß auch hoffen,“ 
jagte Frau von Heilingen getroft. 

Ein Ziſchen auf der Tfenplatte, dem ein würziger Duft 
folgte, unterbrad; fie. 


: J 
„Da mahnt es mich,” lächelte ſie und ging nach der Röhre, 


um die in derſelben bratenden Mepfel zu wenden. „Die find 


811 


> 


von dem Borftorfer Baum vor unjerem ehemaligen Haus. Der 
machte aud immer lange Wafferreifer, ftatt zu blühen. Dein 
feliger Bater wollte ihn umbauen und eine Frühbirne dahin ſetzen 
Iaffen. Aber ich ſagte: ‚Das ift die Urt diefer edlen Bäume, 
daß fie fange Fafelhänfe bleiben, che fie Früchte bringen. Dafür 
’ find es dann auch Borftorfer. Habt Geduld! Und richtig! 
Welche Prachtapfel find das! Die Sippe hat fie mir vom Gut 
‚ geichidt,“ fuhr fie ſchlau Tächelnd fort. „Seit man dort weiß, daß 
\ id ein Ohr am Hof befite, hat man immer etwas für mic übrig.“ 
Sie legte die Aepfel in ein zinnernes Mülderchen, jetste dieſes 
einladend vor Gertrud Hin und brach felbjt eine Dampfende Frucht auf. 
Mit einem faft liebevollen Blid fah Gertrud auf die ge 
bratenen Aepfel nieder. Sie ftammten von dem Baume, unter 
dem fie als Kind mit ihrer Dode geipielt hatte Sein Wipfel 
war es gewefen, der ihr am längſten nachſchaute, als fie mit 
‚ ihrem Heinen Habeigen auf dem Wägelchen fort fuhren. Bäume 
\ wachen nicht nur in die Erde, audı in das Herz. Und dem fchönen 
friſchen Apfelbaume jollte fie den Mann vergleichen, vor dem fie ſich 
immer ängftlic) hütete, je ſchwerer es ihr wurde, ihn zurüdzumeiten ? 
Noch unruhiger und beffommener, als fie gefommen tar, 
ging fie wieder, Einen ſcheuen Blid warf fie hinüber nad den 
Weiden, von welchen ber Herbſtwind die ſchmalen Blätter herab: 
wehte. Die ſchlanke Geſtalt, die vor einer Stunde dort geitanden 
hatte, war verfchwunden. Bielleicht gab er es doc endlich — 
endlich auf, ihr nachzuftellen, um ihre Liebe zu werben von früh 
‚ bis fpät, wie er jet es that. 
Wenn fie zum Dienst in die Gemächer der Herzogin Eleonore 
ſich begab, begegnete fie ihm auf dem Korridor und mußte feinen 
| ehrfurchtsvollen Morgengruß entgegennehmen. In der Kirche 
ſtand er neben ihr im Gebetjtüblein, und fie vernahm den tiefen 
‘ Seufzer, der auf dem Weg nad) den Lippen erjtidt wurde und 
\ dennoch ihr Herz beffemnte. Und wenn jie im Vorgemach ihrer 
Herrſchaft harrten, er an der Spite der Hofherren, fie als letzte 
| des Frauenzimmers, da fuchten die großen vorwurfsvollen Augen 
| fie, und das feife bittere Lächeln feiner Lippen fagte: Wie lange 





willſt Du mich noch quälen ? 
Vielleicht Iwar er dieſer Mühen überdrüfjig geworden und 

gönnte ihr endlich Ruhe. 
| Ruhe! Sie wollte aufathmen bei dem Wort. Mber fie 
\. vermochte es nicht. Ruhe follte fie finden, wenn er Hinfüro au 
ihr vorüber glitt lalt, höflich, fremd? 
| D, ihre Mutter hatte vecht gehabt: es war ihm Gewalt ge: 
| geben über alle Frauenherzen. Wie war es möglich, daß auch 
\ fie fein Bild nicht aus ihrer Seele tilgen fonnte, die doc) wußte, 
| fie reizte ihn nur, weil fie ihm Widerſtand feijtete? 

Sobald ie feinen, Künften erlegen war, würde es ihre gehen, 
wie es jegt der blonden Beuigna ging: er würde fie fliehen. 

Ein heißes Roth fürbte ihre Wangen. Dann richtete fie ſich 
auf. Nein, jo weit mußte ihre Kraft ausreichen, um diefer tiefften 
| Demüthigung zu entgehen. 
| Als fie im Grünen Schloß anlangte, tönte ihr cine kräftige 
' Kinderjtimme ſchon im Korridor entgegen. Der Heine Prinz ge 
ruhte unguädigft zu jchreien. Die Thür feiner Stube öffnete ſich; 
die Amme ftürzte mit angitrothem Kopf heraus und fah ſich nad) 
Beiſtand um. Sie winkte eilig Gertrud heran. 

Drinnen tänzelte die erjte Wärterin das SHerrlein und 
Hagte: „Der Prinz ift micht zur Vernunft zu bringen.” 

Auf dem Tiich ftand die Heine Silberſchüſſel mit der Suppe, 
lag das goldene Löffelchen, beide fo jchön geformt, als hätten 
Zwerge das Geräth für das fürſtliche Kind geichmiedet. Die 
Spur der Brühe auf dem Tiſchtuch zeigte, daß dasjelbe ſich 
kräftig geweigert hatte, jein Mahl zu verzehren. Sein groß 
blumiges grünes Wämscen ſaß ſchief, und an den goldenen Stetten, 
die ſich von der runden Schulter nad) dem guldgefticten Ledergürtel 
zogen, arbeiteten die Heinen Grübchenfäufte, um fie abzureißen. 

Die Amme fang ihm vor: „Eia popeia!* Er zauſte fie 
dafür tühtig an den langen Bändern ihrer Mütze. Die Wärterin 
holte eine funftvoll in einander gefügte Elfenbeinkugel aus einem 
Heinen Schreine, wo allerhand Spielzeug ftand. Sie jtammte von 
‚ Herzog Wilhelms eigener tunftfertiger Hand. Das Söhnlein warf 

ſonder Ehrfurcht die Kugel der aufgeregten Wärterin an den Kopf. 

Gertrud nahm den Heinen Herrn auf den Schoß, hielt janft 
die herummirtbichaftenden Händchen feſt und ſprach leiſe, be 
rubigend auf ihn ein. Er ftrampelte aus allen Kräften. 





Chriſtabend in ii 


Prigirratzeid 








ah 


a1) 3 ' 





diener Wärmſtuboe. 


sr 28. SGaufe, 


Da mußte jie plötzlich aufiehen. In der halb geöffneten 
Thür ſtand der Hofmeifter von Krombsdorff, blaß, fonder Prunf 
gekleidet wie jegt immer, und fchaute fie unvertwandt mit feinen 
düfteren Mugen an, Als er ihr fruchtlofes Bemühen mit dem Bringen 
fah, lachte er ſpöttiſch. Sie erichraf und jah weg. Im nächiten 
Augenblick war er verſchwunden. 
bemühte fich weiter, den ungebärdigen Prinzen zu befchwichtigen. 

Da hörte fie wieder den flüchtigen Schritt, und da trat er 
in das Zimmer. Er trug Eine ſchuhhohe Dode in der Hand, die 
einen Trommelmann darjlellte, Den Staub davon abblafen, ein 
Uhrwerk im Innern aufziehen und das Spielzeug vor den Prinzen 
jtellen, war das Werk eines Augenblide. 

Nun ſchnurrte der Heine Automat grimmig, biedte die Zähne, 


Sie athmete wieder auf und | 


drehte den Kopf und teommelte, während ein Heiner ſchwarzer 


Hund aus dem Kober auf: und abfprang. 

Und fiche! der Harm des kleinen Prinzen legte fih. Er 
hörte auf zu fchreien, ſchaute aufmerfiam dem Trommelmann zu 
und — lachte endlich. 

„Herzog Bernhards Spielzeug thut noch einmal feine Schuldig- 
keit," ſagte Achatius, ohne Gertrud weiter zu beachten. „Aber,“ 
fuhr ex in beichlendem Tone, zu der Umme gewendet, fort: „das 
Süppfein ift dalt und Halb verichüttet. Laßt Sofort eine Frifche 
Milch kochen! Nehmt auch den Löffel mit! Daß mir das Ge- 
ſchirr ordentlich von der Silberwäſcherin gereinigt wird! Und,” 
ſprach er zu der eriten Wärterin, „gedenket hr, den Prinzen in 
ſolch zerzauften Anzug zu der Frau Herzogin zu bringen? Suchet 
ein anderes Wämslein in der Stleiderfammer aus! Vergeßt nicht, 
ein wohlgejlärktes Kräuschen einzuheften!“ 

Beide gehockhten eiligit und eilten hinaus. 

In der gewohnten hofmäßigen Haltung trat Achatius dicht 
neben Gertrud und, ohne eine Miene zu verziehen, ſprach er mit 
leifer dur) das Trommeln verdedter Stimme: 


darauf, Jungfrau von Heilingen: alle Mittel müſſen am rechten 


„Achtet wohl 


Ort angewwendet werden, jollen fie helfen. Die Eljenbeinfchnigereien 


thaten ihre Schuldigfeit, 
der ſchönen Kaiferin verehrte. Und ich weiß ein anderes Herrlein, 
hieltet und ſauft zu ihm Tprächet.“ 

Sie mußte die Augen abwenden. Das jchmerzliche Lächeln, 
das fein ſchmales Geſicht nur matt erhellte, fchnitt ihr in die 
Seele. Aber fie fahte ſich gewaltiam. 

„Das Herrlein wird qut thun, auf ſolches Glück zu ver- 
sichten,“ ſprach fie, und ihre Stimme Fang wie eine zu hart 
angeichlagene Enite. „Der Menjd) muß gar manchem entfagen, 
was er num einmal nicht haben lann.“ 

Das Uhrwerk war abgelaufen: er zog es eilig wieder auf. 
Ihr habt Euch feit Monaten beitrebt, mir ſolches Har zu 
machen,“ entgegnete er bitter. „Und ob Ihr auch meiner lachen 
folltet, ich verhehle Euch nicht, daß mein Herz zerriffen ijt von 
Eurer ftarren Kälte. Aber jagen muß ich Euch doch: All Eure 
Eittfamfeit, Euer Stolz, Eure unnahbare Würde, fie erfcheinen 


als der junge rilterliche Herzog jelbige | 


Der Hofmeifter hatte nichts mehr in der fürſtlichen Kinderſtube 
zu ſchaffen. Er ging davon. Und nun rief ihm der alte Papagei 
aus dem Vorzimmer in gütevollem Tone nad): „Armes Papchen! 
ganz allein!“ Achatins drücdte die Hände zu Fäuften zufammen. 

Ms er aus dem Schloß trat, fand er dem Hof belebt von 
fremden Trompetern. Sie hatten Briefihaften aus Koburg und 
Eiſenach an die Herzöge von Weimar gebracht. Der Page Conz 
verihwand eben mit denfelben im Vortal. Einen Augenblick tauchte 
bei der Nennung der Namen in der Erinnerung des Hofmeiters 
eine Reihe nieblicher Schäferinnen auf, die mit ihren Stäben ihn 
einhegten. Und er mußte denfen, wie tief unter ihm die Ierihlimer 
jener Zeit Tagen. Aber er dachte nicht, daß, wer Irrthümer jäct, 
Erfahrungen erntet. 

Auch ihm überreichte ein Lalai ein großes Schreiben. Die 
Botenfrau von der Dornburg, welche es gebracht hätte, fige noch 
in der Schlofküche und thue ſich gütlich an Kalbskopf mit auf: 
gejtrentem Ingwer. Ob der Herr Hofmeifter nicht diesmal etwas 
mitzugeben habe? 

Achatius winkte Haftig abwehrend. Mißtrauiſch ſchaute er die 


Aufſchrift an. Nein, es waren nicht die flüchtigen Buchitaben der 


rundlichen Hofmeifterin. So grimmige Zeichen malte gewißlich nur 
Frau von Tantenburg. 

Er erbrad) und las die Epiſtel. Ein wehmüthiges Lächeln 
fam auf feine Lippen. Gottlob, die kleine Käthe und der Junker 
Utz hatten jich wieder zujammen gefunden. Dieſer Schuld war 


er wenigftens ledig. 


Und er hatte eine Leidensgefährtin auf der Dornburg: die 
ſchöne Dorothea. Wie er ſich einſt rühmte, den galanten Schäfer 
ipielen und jegliches Frauenzimmer küdern zu können, fo vermaß 
fie ſich in ihrem Uebermuth, den Herzog Albrecht in einen Celadon 
umzuwandeln. Ein Scäferipiel wollten ſie beide tragiven; das 
tragijche Ende war gefommen. 

„Bere Hofmeiſter!“ fchallte e$ aus dem Korridor. Conz kam 
gelaufen. „Ihr jollt Euch fogleidh zu meinem Heren verfügen.” 

Achatius folgte ihm auf dem Fuße. Geichmeidig glitt er in 


das Zimmer des Herzogs Albrecht. 
das Ahr glüdlich machen könntet, wenn Ihr feine Hand in Eurer 


mir geringe Tugenden gegen die höchſte im Diadem der Frau, 


gegen die Hingebende Liebe.“ 

„Hingebende Liebe!“ wiederholte Gertrud fait ſchrill, und da 
der Trommelmann wieder nachließ im Schnurren, zog nunmehr 
fie ihn mit fliegenden Fingern auf. „Hingebende Liebe! Wie oft 
ift es bingeworfene Liebe!‘ 

Er wurde todtenbleich. „So verächtlich erſcheine ich Euch?“ 
fragte er mit donlofer Stimme. Und leidenſchaftlich fuhr er fort: 
„Spricht michts, nichts in Eurem Herzen fir mich? Iſt nicht 
ein Pläplein in Eurer Seele, dahin ſich ein milderes Gefühl für 
mich verjtedt hat? Und wenn es auch nur ein schwacher Funke 
Mitleid it, laßt ihm mir zu gute kommen; ic) Tlche Euch an.“ 

Gr ftand vor ihr, die ſchlanke biegiame Geftalt demüthig 
gebeugt, mit den Augen in ihrem Blid ſich ſeſtſaugend. 

Und mit einem weichen zitternden Ton, twie ev ihn noch nie 
von ihr achört hatte, ſprach fie: „Laßt es genug fein der Qual! 
Auch ich flehe Euch an.“ 

Ta ſchwieg er. Der Sanfte Ton hatte eine Gewalt über ihn, 
der er nicht zu widerjtehen vermochte. 

Die Wärterinnen lamen zurück. Und jetzt geruhle das Bein ;zlein, 
feine Supye zu verzehren, indem es über den vorachaltenen Löffel 
hinweg mach dem ſchnurrenden Trommelmann ſchaute. Es fah aud) 
mit gnädigen Augen das wohl genlättete neue Wämschen an. 


Der fürſtliche Herr jtand neben feinem Schreibtiſch, auf 
welchem verjchiedene erbrochene Briefe lagen. Mit einem unmwilligen 
Bid maß er den tief fi) verbeugenden Hofmeiſter. 

„Wir hören üble Dinge von Euch,” ſprach er ſtreng. „Zum 
eriten haben wir hier einen Brief von unfrem Wetter in Eiſenach 
befommen. In der Nachſchrift jchreibt uns Seine Liebden: ‚Da 
Unjre liebe Gemahlin gem ihre Wiſſenſchaft denen zu ante 
fommen läßt, welche ihrem Schuhe anvertraut find, fo bitten 
Bir, Uns und zu thun, wann Euer Hofmeiiter von Krombsdorff 
aeboren it. Unſre Gemahlin wünscht, ihm das Horoſtop zu 
jtellen, um zu erfahren, welche Univer Hofjungfranen er zu freien 
aedenft. Denn leider jcheinen fie beide auf ihm zu lauern wie 
zwei Füchslein auf einen wohlidimedenden Trappen. Die eine 
rũhmt fich eines Kniefalls, die andre behauptet, er werde nachſtens 
ein Mittel gegen Herzensgebrejte bei ihr holen.‘“ 

Albrecht lich den Brief ſinken und ſchaute den Hofmeifter an. 

Stumm, betroffen ftand Achalius vor dem jungen Fürſten. 

Diefer ariff nah einem zweiten Schreiben. „Auch unſer 
Vetter in Koburg beflagt ſich über Euch,“ ſprach er und Tas: 
„Und müflen Wir Ener Licbden fund thun, daß durch Euren 


ı Hofmeifter von Krombsdorff eine arge Unruhe in Unfvem Frauen— 


zimmer angerichtet worden ift. Beide Hofjungfrauen behaupten, jeben 
Augenblick die Werbung des Hofmeiſters erwarten zu dürfen. Die 
eine pocht darauf, daß er fie feinen Cherub genannt, die andew, 
daß er jie zu feiner Eva erforen Habe. Und find fie alfo verzanlt, 
daß Wir fie vernünftigerwveife in die Cuſtodi bringen wollten, welche 


' gerechte Strafe Unfre Gemahlin abgewendet hat.'“ 


Abermals ſah Herzog Albrecht den Hofmeiſter fragend an. 

„Der heidniſche Gott Eupido hat fein arges Spiel getrieben,“ 
murmelte Achatius verwirrt. 

„Ihr werdet jelbigem Gott fleißig nachgeholien haben,“ 
züente Albrecht. „Was Hat es damit auf fich, daß die Hof 
meifterin von der Dornburg bei der Hofmeifterin unſrer Schwäherin 
anfeagt, wo ihre herzallerlicbiter Bräutigam, der Herr Achaltius 
von Krombsdorff, weile? Er antworte nicht auf ihre Brieflein, 
und fie habe doch den Werlobungstuß von ihm empfangen.“ 

Achatius wich voll Schreden zurüd. „Gott ſoll mich bes 
wahren!” rief ex, die höfiiche Haltung vergefiend. „Vielleicht iſt 





—o 


die ehrwürdige Frau mit "einer Schwachheit des Hauptes bes | 
haftet. Ein Schmätzlein iſt fein Eheverſprechen.“ 

„Und,“ fiel Albrecht mit hartem Tone ihm in die Mede, | 
„wie fonnte es gejchehen, daß der Hofmarichall von Teutleben 
in Euren Rechnungsbüchern ein Brieflein der Jungfrau Benigna 
fand, darin fie Euch Vorwürfe macht, daß Ihr nicht zur Buchs: 
baumgans gefommen jeid? Verantwortet Eud) ernſtlich wegen der 
Seichtiertigleiten, deren man Euch beſchuldigt, bei unfrer Ungnade.“ 

Bei jedem Buntt war Ahatius mehr zufammengelnidt. Da 
hatte er num hingebende Liebe in Fülle. Ex winfchte fie in das 
Pfefferland. Mühfam fammelte er fi. Dann fprad) er gefafit und 
ruhig: „Fürftliche Gnaden willen, daß die alamoden Bräuche an 
vielen Höfen zur Herrfchaft gefommen find. Ich bin mit ihnen | 
vertraut worden, feit ich unter Chriftian von Braunſchweig bie 
Welt kennen lernte. Ich habe gemeint, daß es feine Gefahr mit 
fich bringe, wenn diejelben bei uns eingeführt würden. Wie im 
dem Schäferroman habe ich mancherlei Diskuffionen über die Liebe 
gepflogen, gefeufzt und geſchmachtet, wie es einem Geladon zu: 
fommt, Es mag dabei mander Exceß in der angenehmen 
Redensart mit untergelaufen fein. Aber Hat das Frauenzimmer 
nicht feinen gläfernen Rath, von dem es erfahren kann, daß zus | 
weilen feine Augen mehr trübe blinzelnden Lichtlein denn Sternen 
und Vergißmeinnicht gleichen? Ich gebe zu, daß auch die Seufzer 
erheuchelt waren. Aber das Frauenzimmer weiß, daß der Schäfer 
vor den Augen der Welt einer Schäferin Huldigt, Die feinem 
Herzen gleichgültig ift, um feine wahre Liebe zu verhehlen. Alſo 
habe auch ich gethan. Hat das Frauenzimmer meine Reden 
falſch verjtanden, jo wollen fürjtlihe Gnaden einen Milderungs: 
grund darin fehen, daß ich zum Schäfer zu ungeichidt bin, und 
daß deutſche Frauen auch zu den Schäferinnen verborben find, | 
indem fie jede Disfuffion über die Liebe nur als eine Vor: 
bereitung für die Ehe betrachten. Derohalb bitte ich unterthänig | 


! 


Herzog Albrecht hatte unbewegt Per Nur bei Erwähnung 
der Schäfer war es, als zögen fich feine Brauen noch ftrenger empor. 
Dann eriwiderte er kalt: „Strafe habt Ihr allerdings zu 
gewärtigen. Es ift Fein leichtes Vergehen, die Schwachheit ver- 
teauender Frauen, die auf die ritterliche Gefinnung der Männer 
angewieſen find, auszjunugen, fie auf Irrwege zu führen und 


um gnädige Strafe.” 


an unjerem Hofe eingeführt werben. Auch find wir unjeren 
fürftlihen Verwandten Genugthuung jhuldig für die Unbill, 


welche ihrem Franenzimmer von Euch zugefügt worden ift. Ihr 


werdet den Hof zu meiden haben.” 

Achatius war zu Tode erjchroden. Aber nicht die Kränkung 
feines Stolzes und Ehrgeizes ſchlug ihm danieder. Er hatte nur den 
einen Gedanken, daß er Gertrud fürder nicht mehr jehen follte, 


| 
dann im Stich zu laſſen. Franzöſiſche Leichtfertigkeit darf nicht | 


Bar denn zu den vielen Zeufeln, welche die Welt erfüllten, | 


auch noch ein Brieftenfel gelommen? Und Hatte der Fürſt der 


Hölle denſelben gegen ihn losgelaſſen? Mit dem Schreiben der | 


Frau von Tautenburg hatte er angehoben. 
Da zudte plöglic durch den findigen Höflingsfopf eine Er- 


leuchtung. Er richtete ſich auf und ſprach: „Sa, ich gejtche es | 
offen ein, ich bin eim leichtſinniger Schelm gewefen, und ich bereue | 


es tief; denn es ijt eine große Verwandlung mit mir vorgegangen.“ 
„In fo furzer Zeit?” entgegnete Albrecht verächtlich. „Ghaubt 


liche Gnaden wollen jebe Strafe über mid) verhängen. 





nicht, uns zu erteichen, indem Ihr den renigen Sünder fpielt.“ 


Mit niedergeichlagenen Mugen antwortete Achatius: „Es find | 


nicht alle Menfchen mit feſtem Sinn begnadet; es giebt aud) 
ſchwanlende Herzen. Uber warum joll es nicht möglich jein, daß 
diefe doch ſich endlich auf den rechten Weg finden? Von meiner 
niedrigen Perſon ſehe ich ganz ab. Dod ich vermag ein er— 
habenes Beilpiel anzuführen. Fürſtliche Gnaden, auch ich habe 
einen Brief erhalten.“ 

Er zog das Schreiben der Frau von Tantenburg aus feinem 
Wams und überreichte es dem Herzog. 

Diefer nahm es eritaunt im Empfang. Als er Dornburg 
las, wandte ev ſich ab, dem Fenfter zu, daß ihn der Sammet: 
behang Halb verdedte, und begann zu leſen. 

Und er las und fas. Als längft der Anhalt des ganzen 
Schreibens ihm belaunt fein mußte, war er noch nicht über die 
erite Seite hinaus. Es waltete fo tiefe Stille im Zimmer, daß das | 
leije Kniſtern eines umgewandten Blattes dem gejpannt Taufchenden 
Ohr des Hofmeifters nicht entgangen wäre. Aber er vernahm nichts. 


815 — 


Achatius wußte, an welchen Zeilen die Augen des Herzogs 
haften geblieben waren, an den Worten: die Herzogin Dorothea 
wünſche und erhoffe nichts mehr als das jtille Plälein einer 
Abbatifja des Stiftes in Quedlinburg. 

Und je länger es till blieb in der Fenſterniſche, je Teichter 
fchlug das Herz des jungen Hofmannes. 

Endlich wendete ſich Albrecht ihm wieder zu. Doc blich 
er im Schatten. 

Aber — täuschte ſich Achalius? Lag nicht eine leiſe Möthe 
auf dem ſonſt fo erniten Antlitz? Strahlten nicht die Maren 
braunen Augen in lichtem Glanz? 

Mit einem tiefen Athemzug und feltfam veränderter milder 
Stimme fprady der Herzog: 

„Borerft müſſen wir Eure Angelegenheit zu ſchlichten ſuchen. 
Ich glaube, es ijt das Beſte, Ahr treift eine Wahl unter dem 
Frauenzimmer, das Anipruch auf Euch erhebt. Da maht Ahr 
doc) wenigftens an Einer das begangene Unrecht wieder gut.” 

Aber Mehatius erwiderte mit finfter gefalteter Stien: „Fürſt- 
Ich will 
fie als eine verdiente tragen. Aber eine von diefen bingebenden 
Nymphen zu heirathen vermag ich nicht.” 

„Ich will nicht verhoffen, daß Ahr einen Widerwillen gegen 
den heiligen Ehejtand hegt,“ faate ber Herzog. 

Stũrmiſch erwiderte Achatins: „Bei meiner Seele Seligfeit: 
nein. Gott weiß es, daß ich fein Glück erjtrebe, als das einer 
hriftlichen Ehe, nichts erjehne als die Liebe einer Frau, die ich 
liche — ad), die ich liebe mehr als mein Leben.“ E 

„Und wie heißt fie?” fragte Albrecht theilnahmsvoll. 

Ohne zu zögern, wenn auch tief erröthend, antwortete 
Adhatius: „Gertrud von Heilingen.“ 

Albrecht glaubte nicht vecht gehört zu haben. „Gertrud von 
Heilingen? Die Einzige, um die ih Euch nie herumflattern ſah?“ 

Achatius neigte ſich demüthig zuftimmend. „Die es mir nic 
geitattet hat.“ 

„Nun, jo wollen wir fie um ihre Meinung befragen,” ent: 
fchied der Herzog. 

Achatius fuhr zufammen. „Sie hat mich mit graufamer 
Strenge behandelt,” ſagte er zaahaft. 

Herzog Albrecht blickte nachdenklich. „Die Strenge ift in der 
Hand von uns fehlbaren Menſchen wie ein zweifchneidig Schwert. 
Sie verletzt den, der fie übt, oft jo ſchwer wie den, welchen fie trifft.” 

„Aber fie hatte ein Recht, mich zu verurtheilen,“ klagte Achatius. 

Der Herzog lächelte mild. „Wozu hätten wir das ſchöne 
Wort ‚Vergebung‘, wenn e3 nie geſprochen werden follte?” Dann 
fuhr er ernit fort: „Was aber Eure Entfernung vom Hofe be: 
trifft, fo befehlen wir, daß Ihr Euch für etliche Zeit nad 
Reinhardsbrunn begebt. Alldort zeigen jih Wölfe Ihr habt 
ſonſt den Schäfer gefpielt; nım möget Ihr der Hixt fein, der 
unfre geplagten Unterthanen von dem Raubzeug befreit. Die 
Antwort der Jungfrau von Heilingen werben wir Euch ſenden.“ 

Achalius war entlaſſen. Mit tiefer Verbengung zog er fich 
zurüd. Das Blut faujte ihm in den Schläfen, daß er nicht jah, 
noch hörte, während er nad) feinem Haus hinüberftürmte. 

Er, der fo viel Herzklopfen falten Blutes über Frauen ver 
hängt hatte, meinte jeßt, unter den eigenen Herzſtößen erſticken zu 
müfien. Nicht die Berbannung ängitigte ihm mehr; auch nicht — 
es war jchredlich! — die Gewiſſensbiſſe über all das Frauenzimmer, 
welches er dahin gebracht hatte, daß es ſich anhing wie Kletten. 

Aber Gertrud! Was würde fie jagen zu feiner Werbung? 
Er meinte, den Blick voll Stolz und Reinheit zu jehen, mit dem 
ſie ihn zurückwies, und glaubte in die Erde finfen zu müſſen 
vor Scham. Nie, nie konnte er fich wieder vor ihr jehen laſſen. 
Nun, Gott fei Dank! Es gab wieder Kriegsausſichten. Herzog 
Ernft dachte daran, fi) unter die Fahne Guſtav Mdolphs zu 
jtellen, wenn diefer den Evangelien zu Hilfe fommen würde. 
Dann folgte er demjelben wie einst dem Herzog Wilhelm ins Feld 
und ruhte nicht, bis er tobt gejchoffen oder geſtochen mar. 

Bei diefem Entichluß bejänitigte er ſich. Doc ftand ihm 
der Aihem ftill, als die Hausglocke ging und der Meine Conz mit 
der Beftürzung fürftlicher Dienerichaft bei hereinbrechender Ungnade 
ein Brieflein überbrachte und eilig wieder davon flog. 

Bis in die Lippen erbleichte Achatius, während er bas 
Siegel erbrach. Dann erftarrte fein Blid, Er las noch einmal 
laut fi felbft vor: „Die Jungfrau von Heilingen erwartet Euch 


— eo 816 


um fieben Uhr bei ihrer Mutter, damit Ihr bei felbiger Eure 
Werbung anbringen könnt. Sie iſt gefonnen, Euch zu ihrem 
ehelichen Gemahl zu nehmen.” 

Noch ſtand Mdhatins vegungslos. Dann wifchte er eine 
Thräne aus, den Wimpern. 
Mann, der mehr als einmal Pulver gerochen hatte, weinte wie 
ein Kind. Er faltete die Hände, jett nicht zum Staat, fondern zu 
feierlihem Gelöbnif. Er wollte es ihr vergelten, fo lange ein 
Athemzug in feiner Bruft war. 

Daun aber brach feine heißblütige, Teichtbefchwingte Natur 
wieder durch. Ein Pfiff rief die Diener herbei, die Glocke bie 
Beſchließerin. Das Angefinde cilte herein. Sie fanden ihn, wie 
er das herrliche Bild Meifter Kranachs, die Venus, die mit einem 
rothen Sammethut beffeidet war, von der Wand hob. 

„Schafft mir auf der Stelle das Weibsbild von hinnen in 
die fernfte Mumpellammer! Ja fo! Dahin kommt fie ja aud), 
wenn fie in dem faubern weißen Schürzchen ihren Umgang hält. 
Zum Haus hinaus alfo!" 

„Aber,“ entgegnete der Diener, „fie hat fo viel Geld gefoftet.“ 

„Hort!“ rief Achatius, mit beiden Händen wehren. 

„Aber —“ 

„Fort!“ fchrie fein Herr, mit dem Fuße ftampfend, „ober 
ich werfe Dich jelbft mit hinaus.“ 

Der Diener enteilte. 

„Mein Staatswams!“ befahl der Hausherr aufathmend. 
„Den Hut mit der langen Feder.“ 

Mhemlos brachte der Leibknecht das Berlangte. 

„Welcher Firkefanz hängt da noch? Zum Teufel mit den 
Favors! Frau Beſchließerin, fommt mit der Schere!” 

Die dide Beſchließerin wadelte eilig herbei und trennte 
Scleiflein und Quäftchen, den „Balanten* und den „Schäfer“ ab. 

Zehnmal ſchaute er in den Spiegel, aber nicht, um den Bart 
zu zwirbeln, fondern nur, um zu fehen, ob auch fein Alamode— 
zotten auf die Naſe fiel. Die Loden fonnte er freifich nicht aus 
feinem braunen fraufen Haar fümmen. 

Auf dem Schloßthurm ſchlug die bejtimmte Stunde. Er flo 
davon, am Rothen Schloß vorbei. Jehzt hörte er fchon neben fh 
die Ilm rauſchen, jetzt Mühlengellapper. Da ſchimmerten die 
beiden Fenſter durch die Nacht, Hinter denen er erwartet wurde. 
Mit Tachenden Lippen, mit blihenden Augen ftürmte er die Treppe 
hinauf, an der Michel mit einem Dellämpchen leuchtete. Die Thür 
wurde ihm aufgelhan, und er trat gebüdt durch die niedrige Pforte. 

Da ſtand fie vor ihm in der großen weißen Schürze; denn 
fie hatte häuslich gewaltet. Das zeigten die Weinkanne und bie 
Gläſer auf dem gedeckten Tiſch. 

Frau von Heilingens Sorgenſtuhl war zu oberſt daran ge— 
ſchoben und die Dame hatte fürnehmem Brauch gemäß zu der 
feierlichen Stunde ihr Kleid mit dem Brolatvorderblatt angelegt; 
und es paßte wieder, denn auf dem unſcheinbaren Zindel ſaß ſie. 
Würdevoll hielt fie das Fähnlein in der Hand, 

Und nun follte der redegewandte Hofmeifter ſprechen, wie 
es ſchicklich war. Und num blieb der allezeit Zungenfertige fteden. 

„Hocehrenreihe Frau!“ er ftodte ſchon. „Tugendſelige 
Jungfrau“ erichien ihm in diefem Augenblid zu geziert und „ges 
liebtes Mädchen“ zu jagen getraute er fich nicht. 

Er ſchwieg; nur die großen fprechenden Augen flehten. 

Aber wunderbar! Sein Verftummen rührte Gertrud mehr, 
als die fchönfte Rede es geihan haben würde. Ein leiſes weiches 
Lächeln, das ein liebliches Grübchen auf der jugenblich gerundeten 
Wange bildete, trat in das feine Geſicht. 

Auch die würdige Frau von Heilingen konnte feinem Blide 
nicht widerftchen; fie half ihm aus der Noth. Mild beruhigend 
fagte fie: „Unfre gnädige Herrichaft bat uns ſchon fund geihan, 
weshalb Ahr Tommt Ihr wollt um Gertruds Hand werben 
und, wenn Ihr die Zufage empfahen, um meinen Segen bitten.” 

Achatius knieete nieder. Dieſe Aeußerung tieffter Demuth 
entſprach allein der Zerknirſchung ſeines Herzens. 

Frau von Heilingen aber ließ ſich durch ſolch abſonderliches 
Gebahren nicht irremachen. Sie ſah ein, ſie mußle dem ſchüch— 
ternen Mann unter die Arme greifen, wenn er vom Fleck kommen 
jollte. Nachdem fie alfo für ihm bei fich ſelbſt angehalten hatte, 
fuhr fie in ihrer Eigenfchaft als Brautinutter fort: „Wir freuen uns, 
daß Ihr das gute Zutrauen zu uns Heget, und haben beichlofien, 
Euren Untrag anzunehmen. So reicht Euch denn die Händel“ 


Es war doch zu arg, daß ein | 


0 — 


Es war das erſte Mal, daß Achatius dieſe feine Hand berührte 
er that es fo zart, als fürchte er, ein Fingerchen zu zerbrechen. 

Bittend fchante er fie dabei an. Einen Yugenblid ſah fie 
in das fchöne ihr zugemeigte Antlitz Aber die Zeit, da Achatius, 
mit fpigen Lippen Küſſe hauchend, ala Herr waltete und Schmäps 
| fein wie Gnaden vertheilte, war vorüber. 

Gertrud ſchlug die Wimpern nieder, und Achatius küßte ihre 
Hand. Dann fahen fie beifammen und beſprachen die nächite Zeit. 

Die Mutter nahm getroft im Geifte bereits Belib von ber 
großen Stube im Erdgeſchoß des Haufes mit dem Roſenſtock und 
bilfigte ihres Schwiegerſohnes Bejtimmung, daß der treue Michel 
bei den Hausfnechten mit untergebracht werde, aber auch binfüro 
die blau und weißen Farben zu tragen habe. 

„Für jeht ache ich nadı Reinhardsbrunn und halte Wolfe: 
treiben,“ ſprach AUchatius. „Wenn aber die Weihnachtszeit fommt, 
dann will ich anfragen, ob das Chriftkind in feiner Gnade mir 
Unwürdigem eine liebe Hausehre befcheren will.” 

Gertrub jah ihm mit einem warmen Blid an: das war aus 
feinem Schäfereoman zufammengejtoppelt. 

„Und mic,“ fagte fie, „werdet Jhr bereit finden, als Euer 
getreued Weib Euch in Euer Haus zu folgen.” 

‚, Bom Schloßthurm tönte die neunte Stunde, Herrn Achatius 
viel zu früh. Aber er folgte der Mahnung. Tief neigte ex ſich 
bor der Schwiegermutter. 

Gertrud Teuchtete ihm zu der fteilen Wendeltreppe. 

Er ging. Als er fchon ein paar Stufen hinab war, fah er 
noch einmal zurüd, Halb lächelnd, halb betrübt. 

Da fepte fie das. Lämpchen auf die Erbe, fchlang beide Arıne um 
feinen Hals und flüfterte: „Gott geleite Euch, mein liebes Herze!“ 

Und nun befam Herr Acatius doch feinen Verlobungskuß. 

Unter dem funfelnden Sternenhimmel ging er heim. Mus 
den Häufern tönten fromme Weiſen. Jeglicher Hausherr fang 
mit Familie und Ingefinde den Abendfegen. Das alte Kampflied 
Luthers ftieg auf wie immer in bebrängter Zeit, 

Sp würde aud) et Hinfüro mit feinem lieben Weibe all: 
abendfich fingen: „Eine feite Burg ift unfer Gott.” Der Heilige 
Weihnachtsabend würde ihn nicht mehr als Nachtſchwärmer fehen. 
Am häuslichen Herd würde er fißen, während feine Frau bie 
Lichter an der Tanne anzündete, die er nun fo mances Jahr 
nicht gefehen Hatte. ‚ Und da er jeht an feiner Thür jtand umd 
dem guten Mond gerade ins Geficht fah, da trug er dem alten 
Freund aller Liebenden nod) einen Gruß an fein Herzgeſpiel auf. 
Denn, bei Gott! er war ein beutfher Mann! 


Es gab in der nächften Zeit viel Thränen unter dem Frauen: 
zimmer, das in Weimar fo fröhlich mit Achalius gefhäfert Hatte. 

Der Tert der Predigten, die ihm gehalten wurden, war 
berfelbe, ob fie nun aus dem Mund der fanften Eleonore, der 
brünetten Herzogin von Koburg oder der Sternenfundigen von 
Eifenady kamen, a, der Hofprediger der Dornburg, der gerufen 
werden mußte, um der Hofmeifterin den Kopf zurecht zu ſehen 
ließ ſich gleichermaßen vernehmen: „Nicht umfonft ift die Frau 
zur Hüterin der Sitte beftellt. Darum rächt fih an ihr eine 
Verlegung derjelben ftrenger denn am Manne.” 

Nachdem fie ſich ausgeweint hatten, putzten ſich die Eije: 
nacherinnen wieder für das Jagdfeſt auf der Wartburg, Die 
Koburgerinnen beredeten Kirmeßſahrten nad) benachbarten Edel: 
figen, Benigna Tugte Hinter dem jüngften fürftlichen Rath, dem 
' Sauerhaften, her, und die Hofmeijterin zählte alle unvermählten 

Junfer und alle Witwers an den Fingern zufammen, die im 
Umfreis von zwei Meilen zu erreichen waren. 

Auch die langnaſige Hofiungfrau hatte Troft gefunden in 
einem Klalſch, den fie verbreitete; in felbigem war der Frau von 
Tautenburg die Rolle der Burgkahe, dem Junker Utz die eines 
unfchuldigen weißen Mäusleins zugetbeilt. 

Denn nicht umfonft fagt der weife Salome: „Ein jeg- 
liches Ding hat feine Zeit: Weinen und Lachen, Sagen und 
Tanzen, Lieben und Haſſen.“ 








Ob die jungen Herzen jauchzten, ob fie Magten, bie Jahres: 
zeiten gingen ihren ruhigen Gang. Der Hain bei der Domburg 
\ fürbte fich roth und gelb. An den Weinbergen jchallte Fröhlicher 
| Gefang; die Knechte und Mägde trugen große Körbe voll grüner 


—* 
vn: 
; 


il 

















Bintermärden. 
Nach dem Delgemälde von W. tray. 
Peetegraphle im Berlag vor Fr. Hanlläng! in Mühen 








oe Bi8 + 


und blauer Trauben ans dem Saalthal herauf. Die Schwalben 
umſchwarmten in Scharen das graue Gebäu und lichen die Wander: 
pfeife ertönen. 

Beidem Schloßhauptmann wurde eifrig zur Hochzeit Katharinas 
mit dem Aunler von Hageneſt qerifte. Die Leinwandweben in 
der Eichenhofztrube waren. zerichnitten und mit künjtlichen ge- 


aus dem Badha 


Geberin das herablaffende Mitleid, mit welchem Bräute auf ihre 
noch unverforgten Schwejtern niederzufehen pflegen. 

Frau von Tautenburg beaugenfcheinigte die lange Neihe von 
Hochzeitsluchen, die auf den Köpfen des jämmtlichen Ingeſindes 
us in die Vorrathelammern einzogen. In ber 


Nüche Toberten helle Feuer, bereiteten Rod und Küchenmägde den 


doppelten Nähten zu allerhand Gewanden wieder zufammengefügt | 


worden. Dann verfertigte der Hoffchneider der Frau Witwe das 
farmoifine Brauifleid; und aß derjelbe im Thurmgemach auf | 
demfelben Tijch, wo vor wenigen Monden Achatius feine Bart- 
futterale ausgebreitet halle; denn alfo geht es zu auf dieſem 
Wandeljtern, der Erde benamfet iſt. 

Frau von Tautenburg hatte im diefer Zeit als den für 


| 


Schmaus für den Abend und trugen geheimnißvoll alles feit Wochen 
angelammelte jchadhafte Geſchirr herbei. 
Da kam abermals ein Kurier aus Weimar in die Uuere. 


| Gottlob! er hielt fih nicht lange auf. Eiligſt jagte er, mit einer 


| 
| 
| 


ihren Gemüthszuitand paſſendſten Abendiegen den Geſangbuchvers 


erfieft: „D, wie gar viel Gaben muß der Hnusitand haben.“ 
Und bei all der Arbeit kam der würdigen Frau auch noch 
zum öfteren fremder Einſpruch über den Hals, wie das immer 
geht, wenn der Haushalt gerade auf dem Kopfe ſteht. 
Eben jlatterte die Brautwäſche im Hof und Frau von 


Zautenburg lobte den Utz wegen des fchönen Sonnenſcheins, den 
feine Ehrbarleit herfürgezanbert hatte — da ſchallte Huffchlag 
vieltheuren Gajt empfangen zu helfen. 
mit Briefen an die fürftlihen Damen. Unter den hochgehaltenen | 


durch das Thorgewöfbe. Ein Trompeter aus Weimar ritt ein 
Leinen und dem fcheltenden Gefchnatter fämmtlicher Mägde wurde 
da3 ftaubige Pferd hinweggeführt. War fo lange fein Vote von 
dort gefommen, jo konnte er auch jetzt wegbleiben. 

Dann, als fie die neuen Betten ausgebreitet hatte, um fie 
za fonnen, fiel mitten hinein, gleich einer verftörenden Rarthaunen 
fugel, der Hofmarichall von Teutleben aus Weimar. Nun, er 
War cin geriebener Hofmann, der mit feinem Lächeln fagte, es 
fönne ihn fein befferes Vorzeichen empfangen. Sie verjland zwar 
wicht, wie er das meinte; aber Sie hatte feine Zeit, an der Spitz 
findigleit herum zu Hauben. Sie mußte ihren Eheheren rufen 
laſſen, dietweil der Hofmarſchall dringend um eine geheime Unter: 
vedung mit der Frau Witwe bat. 

Dann wurde auch noch eine jtattliche Hoftafet ſeinetwegen 
anbefohlen. 
des Herzogs, der das fürjtfiche Fräulein — man mochte es drehen 
und wenden, wie man wollte — doch hatte jigen lafien? Er hätte 
die Herzogin Dorothea gar nicht zu ſehen brauchen. Statt defien 
wurde derjelben die Qual auferlegt, mit ihm zu Tische zu ſitzen. 

Der alte Herr war ja freilid) des Lobes voll geweſen, als 
er mit heiteren Mienen aus dem Nefidenzhaus zurüdfehrie. Er 
behauptete, das fürſtliche Fraulein noch mie jo ſchön gefehen zu 
haben, wie jebt in dem violenblauen Sammetrod. Er nannte 
ihre Bläſſe fürnchm, vühmte ihre Milde — und fchien fichtlic) 
erfreut durch die gnädige Geſinnung, die fie ihm erwiejen hatte. 
Und dabei konnte er, ganz entgegen dem Vetter Achatius, gar 
nicht die Zeit erwarten, da ex wieder auf feinem Pferd ſaß, um 
ftrad3 nad) Weimar zurüdzutraben. 

Aud) Frau bon Tautenburg war froh, ala er fort war. 
Nun würde ja endlich Ruhe werden. 

Gott bewahre! Lebt lebte plölich die Frau Witwe wieder 
auf. Frau von Tautenburg gönnte ja hochderſelben alles Gute. 
Sie freute fi), daß die bedrüdte Stimmung, die immer nad) 
gejcheiterten Heirathen eintritt, allmählich fid) verzog. ber ob 
* FZertſchaſt nicht immer die Dinge am verkehrten Ende an 
aßte? 

Als das hoch zu wünſchende Ehewerk im Gang war, halte 
fie die Hände in den Schoß gelegt und jelbiges durd ihr über 
müthiges Fräulein verfahren laffen. Und num auf einmal war 
jie die Thatlvaft ſelbſt. Sie ſetzte ihren Kopf darauf, daß die 
PBrunfgemächer abaejtäubt, die Rurpurpoljter der Wandbänfe aus 
geklopft wurden. Sie lich die koſtbare Tapezerei mit dem Türken 
zug aufhängen und in allen Gaftgemächern Betten auffchlagen. 

Trob all diefes Ungefährs wurde endlich doch der Polter: 
abend glücklich erreicht. 


die blonden Haare mit Heinen filbernen Schwertern, zog den 


neuen zeifiggrünen Nod an und legte die rothe Korallenketle um- 


den Hals. Zuletzt hing fie am diefelbe das fchwere goldene Kreuz, 
das ihr die Herzogin Dorothea heute eigenhändig überreicht hatte. 


Waren fo große Umstände nöthig für den Diener | 


kurzen Antwort der Frau Witwe verfchen, wieder davon. 
Abber nun vegte es ſich auch im Reſidenzhaus. Die Bagen 
trugen Befehle vom Witwengemach hinauf in das Geſtock, two 
die Hofmeifterin und die Hofjungfrauen wohnten, und hinab in 
die Geſindeſtube. Die Lalaien mußlen die Galalivrei anziehen, 
die Damen in ihre Staatsröde ſchlüpfen. Auch der Schloßhaupt⸗ 
mann wurde zur Frau Witwe berufen. Als er heimkam, lieh er 
fein Galakleid bereit legen. Aber auf die feinen Fragen feiner 
Hausehre antwortete er nur mit einem ſchlauen Augenblinzeln. 
Der Herzogin Dorothea war von ihrer Mutter die Weifung 
geworden, ſie folle ſich bereit halten, noch am Beutigen Tage einen 


Sie fragte nicht, wer es fei. Ahr war es gleichgültig, ob 
ein Graf von Rudolſtadt oder Gleichen vorſprach. Sie fah in 
ihrem Heinen Zimmer, deſſen Fenſter, halb beicdyattet von ber 
Burglinde, im den HoF blidten, und ſchaute mit wehmüthigem 
Lächeln auf das frohe hochzeitliche Treiben. 

Wie viel Freude gab es doch in der Well! Und wie ver 
ichieden fielen die Lofe der Menschen! Der treufejte Here von 
Dagenejt vergab Kathchen, daß ihr Herz zuerit am dem leicht: 
fertigen Hofmeifter aehangen hatte. Boll Sicherheit hatte die junge 
Braut dor ihre geitanden in dem Bewußlſein, es fertig gebracht 
zu haben, daß ein edler Herr fie von früh bis ſpät als ſeine 
‘Berle und wahre Krone prices. 

Die Ölüdlihe! Wie fchwer war e3 dagegen an ihr geahndet 
worden, daß fie in übermüthiger Jugendluft für einen Schemen, 
den Geladon, geſchwärmt hatte! Sie blieb allein im Frühlinae 
des Lebens. 

Wie hatte fie noch vor wenigen Monden gelacht bei dem 
Gedanken, daß fie Abbatiſſa werden könnte! Nun jtand es vor 
ihr, dieſes Geſchick. Gleich ihrer älteften Stiefſchweſter würde fie, 
das Stifläfrenz auf der Bruſt, duch die düfteren Gänge in 
Quedlinburg fchreiten, die vor Einſamleit halten, ohne Theil an 
dem friſchen Menichenleben, das draußen Fluthete, in Wahrheit 
nun lebendig eingemanert. i 

Und es war das Beite fo. Sie verjtand die Menfchen ja 
doch nicht mehr. Nicht das Leichtlebige Bärlein da drüben, nicht 
das luſtige Völkfein drunten — nicht einmal mehr die gnädige 
Mutter. Das hatte ſich deutlich gezeigt, als vor einigen Wochen 
endlich einmal ausführliche Briefe von der Herzogin Eleonore 
anfanıen. Es war ja aud ihe Lieb gewefen, daß die fanfte 
Freundin ſich wieder näherte. Sie ſchrieb fo offen und herzlich 
wie in früherer jchöner Jeit. Auch den Herzog Albrecht nannte 
fie wieder, und Dorothea hatte eine wehmüthige Genugthuung 
empfunden, als fie las, cr fer fehr verändert; der ſonſt immer 
zu einem heitren Wort Bereite verhalte ſich jebt allezeit ernſt 
und ſchweigſam. Mber fie begriff doch wicht, daß die Frau Witwe 
über den au diejelbe gerichteten Brief, den Dorothea nicht zu leſen 
befam, ſich aljo freute, daß fie jetzt von der Hochzeit des Lammes 
nicht mehr zu fprechen beliebte. 

Und vollends unergründlich blieb ihr die Heiterkeit ihrer 
Mutter nach Teutlebens Borjprechen. Sie Hatte nicht aefragt 
und ihre Mutter nicht geäußert, um was die geheime Berathung 
ſich drehte. Wahrſcheinlich um ejnen neuen Tauſch von Gütern 


‚ der Altenburgiſchen und Weimariihen Herrihaft, denn der Hof 
marſchall Hatte von einem demnächſtigen Beſuch bei ihrem Bruder 
‚ in Altenburg geſprochen. 

In ihrem Stüblein ftand Käthe vor dem Spiegel, durchſtach 


Und während fie an dem ‚Glanz ſich freute, der von dem emiten | 


Symbol ausging, jpürte fie in ihrem Herzen gegen die erhabene 


Das Wiederfehen mit dem alten Diener, der einſt ſchon ihr 
und ihrem Gemahl aufgewwartet hatte, ſchien die Frau Witwe gänz- 
lic in die Vergangenheit zurückverſetzt zu Haben. Unermüdlich 
plauderte fie von ihren Erinnerungen; und ſie fonnte jo froh 
lächeln, wenn fie erzählte, wie Herzog Albrecht, da er noch ein 
Heines Krabbelchen war, ihr einſt einen wohliingenden Hänfling 
verehrt und mit ſolchem Geſchent ihr Herz geivonnen hatte. 


— 819 


| in einander, und die Selen fragten durch fie: Biſt Du es 
wirllich? 


Sie war ſo verſtrickt in ihre ſchöne Jugendzeit, daß ſie 
heute ſogar den Ring hervorgeſucht hatte, den ſie bei ihrem 
Verlöbniß empfing. 

Handtreue nannte man ſolche Ringe. Und während die blaſſe 
Fürſtin an dem Funkeln der Diamanten und Rubinen ſich erfreute, 
die in der Sprache der Edeljteine feurige Liebe und Beitändigkeit 
in Glüch und Leid bedeutelen, ſprach fie: „Es iſt das Beſte bei 
BVerlöbnifjen, wen alles in hergebrachter Weife verläuft. Kluge 
Menfchen Haben nicht umfonjt die Formeln gefunden, in denen 
die ernſteſten Ereigniſſe des Lebens ſich vollziehen.“ | 

Wie hatte die Mutter es nur übers Herz bringen können, | 
jo zu ihe zu reden? Ob wohl alle Menſchen fo empfanden, wen | 
fie alt wurden? Ob fie wohl auch einmal die Tulipanen hervor: 
ſuchte und darüber lächeln konnte? 

Sie fchüttelte den Kopf. Aber die Erinnerung an die Blumen 
wollte niht mehr weichen. Sie exhob fi und entnahm dem 
Geheimfach einer mit Perimutter ausgelegten Spinde ein Packchen 
Silberflor. Als fie es mit bebenden Fingern öffnete, Tag ein 
vertrodnetes Hänflein von Blumenleichen in ihrer Hand. 

Wie hatten fie in Farbenpracht neprangt, die Herzblätter 
dem Licht geöffnet, da Er fie in ihre Hand Iegte! Nun waren 
die Häupter geneigt, die Kelche für immer geſchloſſen. Sie wandten 
ſich nie wieder der Sonne zu. Sie waren verblüht, verwellt, 
ergangen wie feine Liebe. Es ſtieg heiß in ihre Augen. Durch 
den Thränenflor vermochte fie nichts mehr zu erfchauen. 

Da tönte plötzlich weither der Ruf: „Kielebuſch, wo Fommft 
Du her?” Und ein anderer antwortete näher: „Wahrhaftig, da 
it Kielebuſch.“ Und nun ſcholl es unter ihren Fenſtern: „Sei 
Kielebuſch!“ Die Nammermägde im Nebenzimmer riefen hinab: 
„Je Kiekebuſch!“ Und das Rufen ging weiter: „Das Hünd— 
lein Kielebufch ijt wieder da.” 

Dorothea fuhr auf und blidte hinab. Das Ingeſinde der 
Burg lief zufammen, und der Heine Kielebufch fprang im Kreis 
umher, am diden Rod empor, Tedte den lebten Knecht in das 
herabgebeugte Geficht und war vor Freude ſchier aufer füch. 

Draußen vor dem Thore aber tönte das Pilanzen der Helle: 
barden und eine Stimme, welche iprad: | 

„Bei Ihrer fürſtlichen Gnaden, der Frau Herzogin Anna 
Maria fragt Seine fürjtliche Gnade, der Herzog Albrecht von 
Sachſen-Weimar an, ob Hochdieſelbe ihn empfangen will.“ | 

Bitternd Sant Dorothea auf den Fenjterfig nieder. Wie durch 
einen Scyleier fah fie Yakaien, Ragen, den Schloßhauptmaun laufen. 

Dann fchmetterten Trompeten, klirrte Hufichlag. Gin alän- 
zender Zug ritt ein. Voraus blajende Trompeter, Pagen in Gala, 
der Hofmarſchall von Teutleben im Staatsfleid und — war es 
möglich? — Herzog Albrecht im noldgejtidten Wams. Hinter ihm 
ein glänzendes Gefolge; allen voran im Schwarzen jilberverbrämten 
Amtskleid ein gelahrter Ralh vom Schöpbenftuhl in Jena, dem 
ein Diener mit einem Felleiſen voll dider Folianten nachritt. 

Was konnte das bedeuten? So kamen nach deutjchem | 
Fürſtenbrauch die Freier, um zu werben. 

Sie gedachte nicht daran, wie fie dereinſt diefe Sitte mi: | 
achtet hatte; fie drüdte die Hände auf das hochaufſchlagende Herz. 
Jegt nannte fie auch den gelahrten Rath nicht mehr einen Akten: 
wurm; er war ihre cin glüdverheigendes Zeichen mehr. Es ging 
ihe plögfich ein Verſtändniß auf für alle Vorgänge der lebten 
Zeit, und fie fah diejelben im wohlgefügten Zuſammenhang, einem 
fejten Ziele zuftrebend. Aber auszudenken vermochte fie nichts. 

Der Page der Frau Witwe erfchien mit der Botſchaft, das 
fürftliche Fräulein werde in den Prunkgemächern erwartet. 

Athemlos flogen ihre Kammermägde herbei mit Perlen und | 
Demantfternen. Sie hielt geduldig ftill und vergaß, in das Spieg: | 
fein zu fchauen. Dann ging fie in dem dunklen Sammetkleid, 
auf dem das edle Geſtein gligerte wie Thautropfen auf einem Biol, 
gemeſſenen Schrittes hinüber. 

Die Borzimmer waren erfüllt mit dem Gefolge der fürftlichen 
Herrichaften. Der Page öffnete die Thür zum Staatsgemad) und 
ſchloß fie wieder hinter ihr. 

Die Frau Witwe ſaß auf dem Thronjtuhl mit gerötheten 
Wangen, janft leuchtenden Augen. Und Herzog Albrecht jtand 
vor ihre und neigte ſich lebhaft ſprechend voll Nitterlichkeit ihr zu. 

Sept erhob er das Haupt und wendete fi. Sie ftanden ein 
ander gegenüber und blidten fih an. Und die Augen Bafteten | 





‚ Einen Angenblid hielt fie inne. 


' wieder zufammen. 


War die ernfte Fürftin, die in fo ftillee beherrichter Haltung 
vor ihm jtand, die freudige Dorothea ? 

War der junge Fürft mit dem fanften Zug über den Brauen, 
dein weichen Lächeln der unbeugſame ftrenge Albrecht ? 

Und doch! Du bift's! antworteten fich felin die Augen. 

In feierlicher Haltung trat der Herzog hierauf vor und 
ſprach, zu Dorothea gewandt: 

„Aus eigenem tiefinnerjten Wunſch und mit Zuftimmung 
der beiden Häuſer von Weimar und Altenburg jtehe ich Hier und 
werbe um Eurer Gnaden Hand. Ich aelobe vor Ahnen und 
Ihrer amädigen Mutter, Sie hoch und thener zu halten als 
meinen höchſten Schatz, Sie zu ſchützen und zu ftüßen, in treuer 
Liebe Almen zu eigen zu fein, bis der Tod uns ſcheidet. Und 
bitte ich Eure Gnaden, mich mit hufdvoller Antwort zu verliehen.“ 

Dorothea verbeugte fich tief vor der Fran Witwe. Diele gab 
durch ein Neigen des Hanptes die Erlaubnif zur Antwort, Und 
mit zitternder Stimme erwiderte Dorothea: 

„Mit Einwilligung meiner qnädigen Mutter gebe ich Eurer 
fürftlichen Gnaden mein Jawort.“ 

Es dämmerte ein Leuchten in den topasfarbigen Augen auf; 


Albrecht wußte nicht, war es eine Thräne, die mühlelig zurüds 
gehalten wurde, oder das alte ſchelmiſche Lächeln, das ihm er: 


ſchien wie Duft und Schmelz, unnüg und doch unentbehrlid). 
Dann fuhr fie in innigem Tone 
fort: „Und gelobe ih, Sie als meinen Heren alfezeit hoch zu 
halten und Ahnen eine gehorjame Gemahlin zu fein.“ 

Ein gerührtes Lächeln ſpielte um feine Lippen. 

Da erhob fi die Frau Witwe, nahm aus dem feinen 
Käftchen, das meben ihr auf einem Kredenztiſch ftand, den Ring 
mit den "Rubinen und Diamanten und ſprach: „Nachdem Sie 
beiderfeits in das Verlöbniß gewilligt haben, mögen Sie zur Be 
fräftigung deſſen die Ninge gegen einander wechſeln.“ 

Sie taufchten die Handtrene aus. Mit einem warmen Drud 
umfahte feine Hand ihre Finger. 

Und num ſchwiegen b.ide. Keines fand ein Wort mehr, nicht 


| bie junge Fürſtin bei all ihrer höfiichen Kunſt, nicht der Herzog 


troß feines ſtolzen, unerſchütterlichen Herrenbewußtſeins. 

Auf ein Zeichen der Herzogin Anna Marin wurden die 
Thüren geöffnet und das Verlöbniß dem Hoſſtaat kundgethan. 

Ta war nım die Werbung vor ſich aegangen, ganz wie 
Dorothea damals unter dem Dächlein ein ſolches Ereigniß voll 
Epott geſchildert hatte. 

Ad, fie dachte nicht an jene Zeit. Selig jtand fie neben ihrem 


' Bräutigam und nahm die Bücklinge des Hofltaates in Empfang. 


Die Liebe hatte die ftarre Form belebt, 

Juchhe, Hochzeit!” tönte es vom Hof herauf. Dazwifchen 
luftiges Gelrach. Alle alten Scherben polterten zufammen. Dazu 
hoben die Stadtpfeiter von Dornburg im Hochzeitshauſe an zu 


blaſen und zu fiedeln. 


Es war micht der franzöfifche Tanı Mimi, ſondern ein 
echter deutſcher Walzer, der mit dem erſten Talt in die tieffte 
Tiefe zu tauchen ſcheint. um in den zwei folgenden Teichtfühig 
empor zu wirbeln. Da entließ die Frau Witwe lächelnd das Gefolge, 
auf daß es den deutfchen Polterabend mitzufeiern vermochte und 
das junge Baar Zeit zu einer vertraulichen Aussprache fand. 

Sie ftanden unter dem Dächlein Hand in Hand. Die Ge 
löbniſſe, die fie austauſchten, waren ernſt wie die Zeit, in der 
ihnen bejcieden war, über die Erde zu wallen. 

Und in die leifen Reden Dorotheas miſchte ſich fein franzö- 
fiiches Wörtlein mehr. So wenig im Gebet der Menſch von 
einem andern Bolt die Worte borgt, fo wenig redet wahre Liebe 
in fremder Zunge. 


Der Sonnenblid, der eine kurze Friſt dem neplagten deutichen 
Volt geleuchtet hatte, erloſch. Die finjtern Wolfen zogen ſich 
Aber in den Wettern, die herniederbraden, 
blieb die Liebe der lichte Strahl, der den jungen Paaren leuchtete, 
bis an ihnen das Wort ſich erfüllte des einzigen Dichters ihrer 
Zeit, der in die Unjterblichkeit, das heißt, in die Litteraturgejchichte 
ſich Hineindichtete, das Wort des Martin Opig: „Ein jedes Ding 
verjtäubt.“ 


0 


Karoline von Linfingen. 


820 > 








Rochd xud verbeten 
Alle Nechte vorbehalten 


Aus dem Leben einer feBiwergeprüften Frau. Nach ibren Briefen und Aufzeidnungen. 
Bon Schmidt-Weilienfels. 
(Schinf.) 


rinz William veifte nach England, Er wollte feinen Eltern 
beichten und ihre Eimwilligung zu der Ehe mit Karoline 

von Linfingen erftreiten. Siegesgewiß nahm er Abſchied von ihr, 
hundertmal betheuernd, daß er ihr feinen Schwur halten und fie 
bald als jeine Gattin öffentlich begrüßen werde. 


Trennung erfüllte fie mit düſteren Beſorgniſſen. Es war ein 
Wendepunkt ihres Lebens, fie fah jegt plöglic die Wirklichleit, 
die fie bangen madıte. j 

Der General hatte die Enticheidung dem Könige anheim— 
geſtellt. Er ſelbſt wollte nicht mit rauher Hand in das Liebes— 
glück der beiden eingreifen; aber er fürchtete im Stillen, daß feine 
Tochter ſchwer werde büßen mitjien. 

Um fie unter den obwaltenden Umftänden allen peinlichen 
Begeanungen zu entheben, weilte er mit ihr von Pyrmont ab und 
brachte fie nach dem ftillen Driburg. Sie fam als eine Kranke 
dort an, und wie der fichberhafte Zuftand, in den jie nun verfiel, 
verlanfen würde, war unberechenbar. Ein Arzt und Georg, der 
Diener, hüteten und pflegten fie, außer ihrem Water, Wildes 
Phantaſiren brach häufig bei ihr aus; aber es war nicht nur das 
einer jchwer Kranken, ſondern traumhafte Geſichtserſcheinungen in 
ihrem mannetifchen Zuſtand waren dabei. Sie fah William, die 


tönigliche Familie im Schloffe zu Windfor, Scenen darin mit | 


ihm über fie, feine Gemahlin; fie fprach gleichlam mit hinein, 
liebeglühend und doch bereit, ihm zu entfagen, weil es von ihm 
feitens des Königs gefordert wurde. Wenn fie dann aus diefem 
Zuſtand des Hellfehens erwachte, fo griff eine Erſchöpfung ihres 
Körpers und Geiftes Platz, in welcher ſie regungs- und wortlos 
mit wunderbar großen und glänzenden Augen tagelang im Bette 
lag, wie wartend, wie erichnend, daß die Vifionen von neuem 
fämen, von denen ihr nur dunkle Erinnerungen zurüdblieben. 
Was fie ſah und worüber fie derartig ſich ausließ, ſpielte ich 
aber in der That im Schloffe zu Windſor zur jelben Zeit ab. 
Prinz William hatte ſich vertrauensvoll feiner Mutter zuerſt ent⸗ 
dedt. Sie war erſchroden, doch ſie zürnte ihm nicht. Sie er— 
kannte theils ihre Mitſchuld daran, daß das Liebesſpiel ihres 
Sohnes mit Karoline, zu dem fie ja förmlich ermuntert hatte, fo 
ernjte Bedeutung und geheiligte Gebundenheit erhalten; theils 
konnte fie ihre merlwürdige Theilnahme für des Generals Tochter 


auch in diefem Fall nicht verleugnen ; fie würde daher ihren Segen | 


zu der Heirat gegeben haben. Doc) der König! Bei feinem 
halsftarrigen Charakter und feiner ſtrengen Denkart, bei jeiner 
durch Wahnfinnsanfälle geiteigerten Reizbarfeit war nicht zu er- 
warten, daß er die Thatfache einer folchen Ehe feines dritten 
Sohnes ruhig hinnehmen werde, nachdem ex eine ähnliche feines 
Erſtgeborenen vor Jahren verflucht. 


Die Hönigin übernahm es gleichwohl, für ihren William | 


beim Bater ein gutes Wort einzulegen. Aber es fam, 
vorausgejchen. 
bhärtejten Ausdrüden über feinen Sohn und auch gegen den ab: 
weſenden General von Linfingen, erMärte die Ehe für null und 
wichtig, und es war feine Art nicht, 
Nicht, daß er hierbei den geiitesgeftörten Mann zeigte, feine Gründe 
waren unwiderleglich vernünftig. Das liederliche und verſchwen— 
derijche Leben des Prinzen von Wales, feines älteften Sohnes, 
und deffen heimliche Ehe mit der Witwe Fisherbert* Hatten fo 
böjes Blut im engliichen Volke gemacht, dab man fogar forderte, 
derjelbe folfe der Nachfolge auf dem Thron fir unwürdig erklärt 
werden. Vom zweiten Sohn, dem Herzog von Vork, verſprach 
man fich ebenfalls nicht viel Gutes, wogegen Prinz William wegen 


wie fie 


feines freimütbigen Charakters und weil er im Dienft der lotte | 
das Zeug zu einem Seehelden bewielen hatte, ungemein populär | 
war. Sp war er der Liebling der Föniglichen Yamilie, jo war | 
er auch bereits der Liebling des englijchen Volles, und für die | 


Zukunft dev Dynastie rechnete man daher unter den obwaltenden | 
Umftänden fchon auf ihn. 


*Vergleiche ben Artifel „Die Frau eines Thronfolgers* in Dalbheft 1 
des Jahrgangs 1897 der „Gortenlanbe* : 


Sie glaubte ihm | 
und jeiner Liebe; aber es war doch Trauer in ihrem Herzen. Die 


Der König war außer fi), erging ſich im den 


feinen Sinn zu ändern. | 


Durch eine Mißheirath feinerfeits | 


mußle man beforgen, daß er im den Augen des Wolts ftarfe Ein: 
buße erleide und die dunaftifchen Intereſſen vollends zu Schaden 
bringe. Georg III. hatte einen ſehr begreiſſichen Ingrimm darüber, 
daß in feinem Haufe ſolche unebenbürtigen Heirathen Mode werden 
zu wollen ſchienen. Er kündigte feine Entſchließung dem Sohne 
an, aber Prinz William ſchwur, niemals in eine Scheidung zu 
willigen, lieber fih von jeinem Vater enterben und verjtoßen zu 
laſſen. Es gab die heftigiten Scenen. Die Mutter jah endlich 
‚ feinen anderen Answeg, als ſich an den General von Linfingen 
zu wenden, um jeine Tochter zu bejtimmen, ihren Rechten auf 
den Prinzen großherzig zu entfagen. 

Eo blieb die Angelegenheit in der Schtwebe, bis anfangs 
November ein Brief von Lord Dutton, der in Hannover zurüd: 
geblieben war, an William eintraf und ihm von der Erkrankung 
Narolinens und ihrem Aufenthalt in dem jtillen Städtchen Driburg 
meldete. Seht hielt es den Prinzen wicht länger bei den Seinen. 
Er fagte feiner Mutter, dat, wolle man ihn nicht zum Aeußerſten 
freiben, er zu der Geliebten zurüdtchren müſſe. Die Huge Frau, 
auch voller Mitgefühl fire ihn und Karoline, erachtete es fürs Beite, 

nachzugeben und des Königs Wideripruch gegen diefe Reife damit 
| zu beheben, daß fie als Zweck derſelben eine gütliche perſönliche 
| Auseinanderfehung ihres Sohnes mit jeiner Gemahlin wegen ihrer 
| Entfagung vorihügte, Sie verlangte dies and) ausdrüdlich von 
William und gab ihm Briefe jowohl an den General wie an 
Karoline mit, die jo ſchönend als möglich ihnen die Nothwendigkeit 
einer Trennung der Ehe zu Gemüth führen jollten, wofür Karoline 
das Opfer der Entſagung um des Glüds des Königsſohnes in 
| der Zulunft willen bringen und damit den höchſten Beweis ihrer 
| Liebe geben möge. 
} Der Prinz eilte auf den Flügeln feiner Schnfucht nach Dei: 
burg und trat mit dem General an das Bett Karolinens. In 
| diefem Wiederſehen vergaßen fie die Welt. 

William hatte die ihm mitgegebenen Briefe übergeben. Der 
\ General las das an ihn gerichtete Schreiben in der Stille feines 
' Bimmers und als er eine Gelegenheit fand, ohne des Prinzen 
Anweſenheit mit feiner Tochter zu jpeechen, wagte er, ihr den 
Inhalt mitzutheilen. Ste hörte es ruhig an und lächelte Tchmer; 
lich. Dann nahm fie ihren Brief der Königin hervor und las 

ihrem Bater folgende Stelle daraus vor: 

„Ih baue als edles Weib feit auf das der eines anderen 
edlen Weibes; ich ſchide Ihnen nod einmal meinen Sohn, ohne 
Furcht, denn ich weiß, Sie werden ihn mit Treue den mütter: 
lichen Händen, feinen Prlichten und feinem Vaterlande zurüdgeben. * 

Ihr Bater chũttelt e mit feuchtem Auge fein graues Haupt. 

„Was wirft Du thun, mein armes Kind?" fragte er fie 

dann und forfchte in ihrem durchleuchteten, bleichen Gejicht, 

„Das Rechte, mein guter Vater,“ antwortete fie ihm finnend. 
„a, das Mechte!* 

Mehr fagte jie nicht, und mit dem Prinzen ſprach fie fe 
wenig ein Wort darüber, wie er über die an fie gejtellte Zu: 
muthung feiner Eltern. Den ganzen Tag, einen nach dem andern, 
verbrachten ſie in ihrem Liebesalüd, als fei es unbedroht. Der 
General hatte nicht den Muth, fie daraus zu reißen. Oft fah er 
ihnen zu, wie fie Hand in Hand in wonnefeligen Schweigen bei 
einander waren, und ahnend, daß die Prüfung nicht ausbleiben 
tönne, feufzte er ummervoll: „Gott, gieb ihnen Kraft und Stärke!“ 

Drei Wochen blieb der Prinz in Driburg. Dann kam Lord 
Dutton aus Hannover; er hatte einen Befehl des Königs erhalten, 
William fofort zur Nüdreife zu nöthinen und ihn zu diefem Be: 
bufe bis zum englischen Kriegsſchiff zw geleiten, das ihn von 
Stade an der Elbmündung nad England bringen follte. Der 
Reinz mußte jich nun wohl von Karoline trennen, die er im der 
Schwäche einer Schwerkranten gefunden und die in der Zeit feiner 
Anweienheit von Tag zu Tag merhvärdig wieder erblüht war. Au 
all ihrer Liebliben Schönheit, die Formen wieder gerundet, mit 
ſchwellenden Lippen und rojigen Wangen fand fie vor ihm, in 
| Jüßer Scheu und mädchenhaftem Bangen. Und fo von ihr fcheiden! 

‚ Er preßte fie ſtürmiſch an ſich und fie ließ ihr Haupt an feiner 





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Der Art. 


Nach dem Delgemälde von Hans Bachmaun. 


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Bruſt ruhen. Er bat fie, Fark zu fein, ihm zu vertrauen, ihm | 


allein, durch nichts ſich beftimmen zu laſſen, ihre Einwilligung 
in eine Scheidung, wie es des Königs Wille fei, zu geben. 

Still und ohne einen Einwand hörte fie ihm zu. 

„Rein, theures Weib,“ fuhr er in flanımender Beredfamteit 
fort, „der Sturm darf uns nicht fchreden. Ich Halte das Steuer 
in feſter Hand und fo theilt unfer Lebensſchiff die braufenden 
Wogen. Wir fommen ans Hiel, in den Hafen. Und wie glück⸗ 
lich werben wir unſer Dafein geſtalien!“ 

Er jubelte feiner erträumten Zukunft entgegen, mit ihr von 
der glänzenden Höhe feines Standes in die idylliiche Friedieligfeit 
eines Privatlebens fich zu flüchten, und er ſchwor es, wenn man 
fich dem widerſeße, jedes Band zu zerreiken, das ihn an Eltern, 
Verwandte und das Vaterland nüpfte, um ſich dem Glück feiner 
Yiebe, um fich der einzig Weliebten hinzugeben fürs ganze Leben. 

Da kamen ihr Water und Dutton herein. Traurig, als fei es 
eine Todesbotichaft, meldeten fe, daſ der Wagen zur Abreife bereit 
ſtehe. Eine furchtbare Anſtrengung hielt fie aufrecht in jeinen Armen, 
Mit mühfam errimgener Faſſung erwiderle fie fein bebendes Lebe— 
wohl. Bewußtlos faft lag fie am feiner Bruft, die Augen geichloffen. 

„Maroline! Karoline!“ rief er fie Teidenfchaftlich zu ſich. 

Sie ſchlug die Augen auf und jah, daß der Schatten einer 
Ahnung in den feinigen war, einer Sucht vor dem KRommenden. 
Nur einen Moment; dann entwand er ſich ihr, beiinunnsfelig 
lächelnd, und ging. Aber er breitete noch einmal feine Arne gegen 
fie und eine unwiderſtehliche Macht trieb fie, ſich hineinzuftürzen. 
Der Stem auf feiner Bruſt drüdte ſchmerzhaft ihre Stirn dabei. 
Sie ſchreckte zurüch; fie ſtarrie anf. dirfen harten Metalljtern. 
Ein glühendes Küſſen noch, und er flog zur Thür hinaus. 

Sie war allein. Eine gräfliche Einfamtleit, in der fie ſchau 
derie. Sie hörte die Pferde ſich in ſcharſem Trabe entfernen, 
den Wagen ſchnell dahinvollen. Ihre Kraft brach und fie ſank 
auf einem Soja zufammen. 


„Borbeit“ ſchluchzte fie. „Es sit vorbei!“ 


Als ihr Vater, der dem Prinzen das Geleit bis vor das | 
Daus halte geben müfjen, wieder hereintrat, fand er fie Ichlos 


auf dem Sofa. War cs me Ohnmacht, oder wirklid der Tod? 
Der verzweilelnde Mann beugle fih über fie, 

Stein Athmen, fein Schlog ihres Herzens. Er rief nach Hilfe, 
nach dem im Hauſe wohnenden Arzte Man brachte Eſſenzen, 
Salze; der Arzt horchte an ihrer Bruſt und vernahm in Staumen 
um die Erftarrte ein unheimliches Auiftern, auch ein Buchen im 
Sofa. Er beitrich ihr laltes Antlib — und, guftlob! fie ſchlug 
die Augen auf und bewegte ſich. Eine lange Ohnmacht war cs, 
aus der fie endlich erſtand. 

Er war fort, der mit feiner Gegenwart einen magiſchen 
Zauber auf fie ausgeübt, wie fie auf ihn. Vorbei, vorbei! hatte 
fie im Herzensſchrei ausgeitoßen, als er fie verlaſſen. Das Rechte 
zu thun, hatte fie jich vorgenommen, als fie ben Brief der Königin 
an fie gelefen, und ihr Entfchluß war gefaßt unter all den Liebes— 
betheuerungen, die fie mit dem Prinzen austaufchte. Ihn Lieben, 
das war ein höheres Geſetz als ihr Wille; ihn ewig lieben, das 
war ihre Glaube, ihre Religion. Aber auf feinen irdiſchen Beſitz 
verzichten, um feinem Aufſteigen zum Throne Fein Hinderniß zu 
jein, feiner Perfon entfagen, um das höchſte Opfer für ihn zu 
bringen — Das war das Rechte, was ſie thun mußte. Ihr Ideal 
jollte er bleiben — den Menſchen, der es verförperte, wollie fie 


2 °— 


Und der junge Lord ehrte ihren Willen, fuchte er gleich, wo 
er nur konnte, ihre zu nahen und um fie zu fein. 

Derweil betrieb die Königin in London unter ihres Gemahls 
ſtrenger Aufficht die gerichtliche Scheidung. Bei: ihrer Kenntniß 
des Charalters Georgs IM. war unmöglich anders zu Handeln, 
und wenn fie die Angelegenheit in der Führung behielt, fo war 
fie wenigftens im Stande, dabei fo jchonend als möglich zu ver— 
fahren. Der König hatte einen beionberen Gerichtehuf für den 
Fall eingefeßt und demfelben die Entſagungsurkunde Karolinens 
und die Zuſtimmung ihres Waters übergeben. Das mußte ge: 
nügen, denn mit Brinz William war in feiner Weiſe über die 
Sache zu reden. Er weigerte ſich mit aller Entſchiedenheit feines 
beftigen Charakters, in die Scheidung zu willigen und durch bie 
Entlagungsurfunde Starolinens ſich bejtimmen zu laſſen. Er 
wußte, dat die Arme von feiner Mutter bedrängt worden war 
und aus Liebe zu ihm das Opfer zu bringen ſich entſchloſſen 
baben mußte, Seine Brotefte, nahm fie diefelben auch nicht an, 
erhielt er auch ale feine Briefe an fie ungeleſen zuräd, hielt er 
dafür deſto trotziger gegen feine Eltern aufrecht. Er heffle un: 
erichätterlich, zu fiegen und dem gelteblen Weibe doch die allein 
würdige Stellung an feiner Seite zu verichaffen, fobald die Ver: 
hältniſſe ſich nur günftig dafür geftalteten. Und dies Fonnte ja 
jeden Tag möglich fein. Der König litt immer wieder von Zeit 
zu Zeit an Geiſtesſtörung und feine grenzenlos ſtarrſinnige Bolitit 
erhielt mehr amd mehr Züge eines Despotismus, der in England 
verhängnißvoll werden fonnte. Man Sprach daher ſchon wicder 
von Einſetzung einer Negentichaft. Wurde diefelbe dem Prinzen 
bon Wales übertragen, fo konnte William ſicher fein, daß ihm 
fein Bruder nicht twehren würde, zu thun, was er felber gethan 
Yebte der duch noch immer, Iroß Fluch und Grimm des Baters 
darüber, in feiner Ehe mit ber Schönen Fitzherbert. Zeit getvormen, 
war alje für ihn alles gewonnen, 

Das Gericht handelte unterdeffen nad dem Gebot des Königs 
Eines Tages erhielt Prinz William das Urtheil einfach zuae 
fertigt. In feiner Wulh zerriß er das Altenftüd und warf die 
chen davon ins Feuer. Das Urtheil hatte feinen Werth für 
ihn. Aber diefe Enticheidung regte ihn fo fchr auf, daß er in 


dem Ungeftiim feines Weſens fich Durch ein wildes Genußleben 


zu betäuben juchte. Eine unglüdtiche Liebe it leicht geneigt, im 


‚ einer anderen Erſatz und wenigſtens den Troſt des Mitnefühls 


zu erjtreben. William kannte feit der Zeit, daß er wieder in 


London Icbte, die anmuthige junge Echaufpielerin Dora Jordans. 


Jetzt übertrug er feine vom Ziel gewaltfam abaelenfte Leidenschaft 
auf fie. Aber weder der König noch die Königin beunruhiglen fich 


deshalb; ein ſolches loſes Verhällniß des Prinzen hatte nicht Die 
folgenſchwere Bedentung einer Ehe, wie mit Karoline von Lin- 


fingen, und war unter Umftänden ſogar von Werth. Am liebſten 


' hätte die Königin nun audı Karoline anderweitig gebunden geſehen, 


aufgeben, feiten Sinnes, unbedingt, um alles für ihn und für ı 


fi Har zu machen. 

So erklärte fie ihrem Bater ihren Entfchluß, fo fchrieb fie 
jeldft der Königin ihre Entſagung der Rechte an den Herzog von 
Glarence, Vorbei! Jeden Brief, den fie jeit der Trennung von 
William aus London erhielt, fandte fie unerbrocden zurüd. Lord 
Qutton, der wieder nach Hannover zurüdgefehrt war und den 
der Prinz gleichſam zu feinem Geſandten bei ihr beftellt hatte, 


um die ihe dornenbvolle Angelegenheit dadurch völlig ausgetragen 
zu willen und feine Rüdichläge mehr befürchten zu brauchen. Sie 
meinte es in dieſer Hinsicht gut und aufrichtig mit der Tochler 
ihres alten Freundes und fuchte auf diefen, nachdem er von dem 
richterlichen Scheidungsiprud; unterrichtet worden, dahin einzuwirken, 
daß er eine andere Bermählung Karolinens vermittle, wofür fie jo 
zartfühlend als möglid) ihre Erfenntlichkeit in Ansficht ſtellte. 
Karoline errieth dieje Abſichten, wie edel fich ihe Water auch 
in feinen Verſuchen benahm, fie Schnell einer Wiedervermählung 
geneigt zu machen; fie ahnte, daß cr Hierbei die Wünſche ber 
Königin von England befolgt. Das Miftrauen aber, welches 
dieſe damit gegen ihre freiwillige und großherzige Entfagung ver: 
rieth, empörte fie. Sie Dachte auch nicht daran, einem der Be 


' werber um ihre Hand, deren es mod) verichiedene gab, Gehör zu 


verfuchte, ihr dann Briefe desfelben aufzunöthigen und, des | 


Schwuress in jener Auguſtnacht eingedenf, ein getreuer Poſa 
feines Carlos zu fein. Uber aud des Freundes Bermittelung 
war umfonft. Karoline wies ihn ſanft und bejtimmt zuräd, 
„Dutton,“ ſagte fie zu ihm, „erschweren Sie meine Prüfung 
nicht. Sprechen Sie feinen Namen nicht mehr aus zu mir; 
ichreiben Sie ihm, daß er feine Briefe mehr an mich richte. Ich 
erbitte e& von feiner Liebe In meinem Herzen lebt gr weiter, 
aber für die Welt ift er mir ein Todter, muß ex es fein.“ 


ſchenlen. Die beiden früheren Verehrer von ihr, Alten und von 
dem Buche, waren freilich infolge der Entdeckung des Liebes: 
verhältniſſes zwiſchen Karoline und Prinz William zurüdgetreten 
und auch wicht mehr die täglichen Säfte im Haufe des Generals, 
aber nicht minder vornehme Partien waren es, die ſich, trotz ber 
Gerüchte über ihre ungfüdliche Liebe, Karoline darboten. Lange 
glaubte man, daß Lord Dutton auch zu diefen Bewerbern achöre, 
und Saroline begünftigte fogar durch ihr Benehmen gegen den 
Mitwiller ihres Geheimniſſes diefe Täuſchung über jeine Abfichten, 
weil fie dadurd andere Freier zurüdhielt. 

War es bie Energie des Willens, welche Karoline für bie 


ı Trennung von William aufgeboten hatte, ſie erſtarkte auch förperlic 


— 828 — 


ſichtlich, während doch die jeeliſche Heimſuchung geeignet geweſen 
wäre, eine jo zarte und ſenſitive Natur völlig zu zerrütten. 

nad Jahr und Tag ergriff die till wucernde Krankheit ihrer 
Serle auch den Körper. Ein ſchleichendes Fieber zehrte an ihr. 
Somnambule Zuftände ftellten ſich dazu ein, bie ihre Umgebung 
in Erftaunen und Furcht verſehten. Immer mehr griff die 
Schwäche um fi und niemand bezweifelte, daß fie bald durch 
ben Tod erlöft fein werde. 

Nathlos ftanden die Merzte um ihe Kranlenbett. In der 
That, fie ſahen nur ihre Auflöjung vor ihren Augen fich langſam 
vollziehen. Der Athem - wurde ſchwächer und hörte dann auf, 
Bleich, vegungslos lag fie da, das rührende Wild einer edlen 
Dulderin, die ausgelitten. An ihrem Todtenbett weinten Vater 
und Mutter, die Geſchwiſter, die Freunde des Haufes. Die Anzeige 
ihres Hinfcheidens wurde an Prinz William gefandt und an ihren 
Bruder Ernſt, der zur Zeit den Feldzug in Frankreich mitmachte. 

Man bahrte fie auf und bededte ihren offenen Sarg mil 
Blumen und Krängen. Das feierliche Begrabniß follte am Mittag 
ftattfindgn. Einer der Aerzte, der junge Doktor Meinele, hatte 
fi) vorher in das Todtengemach begeben, um noch einmal die 
Verllärte zu betrachten. Seit ihrem Tode war er voller Unruhe, 
als mahne ihn jein Gewiſſen an eine Schuld, Er hatte den legten 
Blid der Sterbenden gefehen und wie über diefe großen, hellen, 
eigenthümlich anfbligenden Augen plöglic die Lider fich zum Ver: 
ichluß geſenklt. Warum, hatte er ſich nachträglich gefragt, waren 
diefe Augen nicht, wie immer bei Sterbenden, gebrochen, ehe fie 
ſich ſchloſſen? Dann erinnerte er ſich feltfamer Erſcheinungen in 
den legten Nächten vor ihrem Tode, während er allein bei ihr 
gewacht. Am Weit der Sranfen Hatte er ein Kniſtern ver: 
nommen, ein Ranſchen, während fie doch unbeweglich dalag. 
Es war dann ftill geworben; nachher aber vernahm er an der 
Wand, wo das Belt ftand, wieder ein Rauſchen und Scharren, 
ein Klopfen fogar, wie ſchwache Hammerſchläge, bis er fich mit 
feinem Geſicht über die Schlummernde ‚beugte, jein Athem un- 
wiltürtich ſie anhauchte. Dann hörte das geſpenſtiſche Geräuſch 


auf. Doch da er feine vernünftige Erklärung für das Vernommene | 
fand, jo qrübelte er nicht weiter darüber nad. Exit am Tage, der 
für die Beerdigung beftimmt war, kamen dieje Erinnerungen wieder | 
über ihn und befchäftigten ihn jo lebhaft, daß er ſich zu der Leiche | 
begab, um feine aufgeftiegenen Zweifel darüber zu beſchwichtigen, 


ob fie denn wirklich todt ſei. Und indem er fie lange aufmerfiam 
belrachtete, glaubte ev es nicht mehr. 

Er ließ die anderen Aerztie ruſen, ältere und erfahrene 
Herren, und ſprach ihnen von rl Bermuthung, daß bier ein 
Fall von Scheintod vorliegen fünne. Sie lachten ihn ans, unter: 
fuchten nochmals die Leiche und erklärten, daß fie fich überzeugt 
hielten, eine Tobte vor fich zu haben. Er wandte ſich trotzdem 
mit feinem Widerfpruch an den General, und erichroden beftimmte 
derfelbe, daß die Beerdigung unter ſolchen Umſtänden um einen 
Tag verichoben werden folle. Aber vierundzwanzig Stunden jpäter 
befand ſich die Leiche noch in dem felben Juftande. Kein Yebens 
zeichen an ihr war zu bemerfen. Doltor Meinele bat gleichwohl 
abermals wm Auſſchub des Begräbnifles. Mehr als tags zuvor 
war er im Unruhe, und es konnten feine Gedanken ſich nicht von 
dem eigenthümlichen Eindrud Toslöfen, den der letzte Bid der 
Sterbenden und jein Funkenſprühen auf ihm ausgeübt. 
er durchdringend feinen Blick auf ihre geſchloſſenen Lider heftete, 
jo war ihm, wie er einmal unter der einbrechenden Dunfelheit nod) 
bei ihr wachte, als leuchteten dieſe Funken durch die Angendeden. 

Ungläubig gegen feine fort und fort erhobenen Zweifel an 
dem wirklichen Tode Karolinens, Ihat man dod) aus Gewiſſens 
angit feinen Willen und verſchob die Beerdigung von einem Tage 
immer wieder zum andern. Alle Mittel, die man Meinefe an 
wenden ließ, eine Wiederbelebung zu ermöglichen, waren und 
blieben erfolglos. Und dennoch wurde er in jeinem Glauben nicht 
wanfend, denn fein Zeichen von Verweſung ftellte fi ein. Er 
verlieh das Zimmer, in dem der Sarg mit der blumengefhmüdtdn 
Todten fich befand, nicht Tag noch Nacht. Dft hielt er feine 
ſchauerliche Wacht allein, und dam richtele er laute Worte an 
das ſtarre, bfeihe Geficht im Sarge, wie ein Beſchwörer. Die 
Sache erregte Auffehen in Hannover; die Freunde und Bekannten 
der trauernden, in Bangen aehaltenen Familie Tiefen herzu, um 
ihre Neugier am Unblid der unentjtellt Anfgebahrten zu be 
friedigen, und die Behörde wollte endlich auf die Proteſte des 


Sa, wie 


‚ weiß, was das heißt. 


jungen Arztes nicht länger NRüdjicht genommen wiſſen. Ueber 
zwei Wochen hatte man es gethan. 

Und in dem Augenblid, wo auf ihren Sarg der Dedel ge— 
hoben werden jollte, trotz einer legten, auffällig inftändigen Bitte 
Meineles dagegen, fah er den langfamen Aufſchlag ihrer Augen, 
Mit dem frendigen Schrei „Sie lebt!“ ftürzte er auf fie zu. 

Und mit einem aus freude und Entſetzen gemiſchten Gefühle 
fahen die Anwefenden, wie ſich Glied um Glied der Todesbraut 
wieder belebte; wie fie ſich endlich, unterjtügt von dem triumphis 
renden jungen Arzt, in ihrem weißen Kleide emporrichtete und 
die Blumen dabei von ihrem Haupte niederfielen. 

„Sa, ich Lebe!” Fam es nun von ihren Lippen — „Ach 
febte, ala Ihr mich für todt hieltet, und hörte alles, was Ihr 
an meinem Sarge ſprachet. Er, er ijt mein Netter!“ Dabei 
leuchteten ihre Augen hell auf gegen den Arzt, der fie in feinen 
Armen hielt und trunfenen Blides dies von ihm dem Tode ab- 
getroßte Leben betrachtete, deifen erjter Yaut ein Dank an ihn war. 

Der Sarg wurde num Schnell mit dem Bett vertaujcht und 
Doktor Meinete behandelte die vom Tode Erftandene weiter. Er 
galt nun alles im Haufe, und Karoline jab in ihm denjenigen, 
dem fie wie ihrem Seven über Leben und Tod gehörig geworden 
fei. Sie hatte während ihrer Todtenftaree, die einem hypnotiſchen 
Zuſtande entiprach, mit vollem Bewußtjein alles gehört, was um 
fie und über fie gefprochen worden, vhne fähig zu fein, eine 
Muskel zu rühren. Es war danach nicht erjtaunlich, daß fie 
Meinefe eine willenfoje Hingebung für ihre Rettung bezeigte. Als 
nad einigen Wochen Karoline vollitändig geneien war, bat er fie 
um ihre Hand, und fie nahm feine Werbung an. Bon ihrem 
früheren Ehebunde wußte er nichts und erfuhr er auch nichts. 
Für ihn war fie nur diejenige, die vom Tode auferjtanden,. die 
er einem nenen Leben zurädgegeben, und. diefe die Seine nennen 
zu dürfen, beglüdte ihn. 

Auch fie war glüdlich durch feine Liebe und Werbung. Eine 
ftille Heiterleit Fam über ihr Gemüth und eine Freude an dem 
nengewonnenen Geben, in welchem ih der wadere bürgerliche 
Mann als ihr Führer angeboten. 

Niemals, ſeitdem die gerichtliche Scheidung ausgeſprochen, 
hatte der Prinz wieder den Verſuch erneuert, Karoline einen 
Brief von ſich zufommen zu fallen. Als er ihre Todesnachricht 
erhielt, hatte er brieflihd dem General von Linfingen feinen 
Schmerz darüber in leidenſchaftlichen Ausdrücken bezeigt. Dann 
war ihm durch Ernſt, mit dem er in freundſchaftlicher Verbindung 
geblieben, mitgeteilt worden, daß feine Schweſter nur einem 
Scheintod verfallen geweien, durch den Doktor Meineke gerettet 
worden fer und ſich nun mit ihm aus Dankbarkeit verheirathen werde. 

Der Brinz gerieth über dieje Nachricht aufer fi). Trotz feines 
dauernden Berhältniffes mit Dora Jordans, in dem er Erjab für 
die zerjtörte Berbindung mit Karoline aejucht, betrachtete er Diele 
noch immer als das ihm gehörige Weib, mit dem jich zu ver 
einigen ihm auch noch als Hoffnung vorſchwebte. Nun aber riß 
ihn die Furcht hin, fie an einen anderen verlieren zu ſollen, und 
er schrieb ihr einen Teidenfchaftlichen Brief, in dem es u. a. hieß: 

„Ich habe Antwort von Ernſt. In wenigen Worten, die 
falt dajtehen wie der Tod, und die er, den Tod erwartend, auf 
den Burpoften bei Balenciennes nur mit Eragon mir ſchreibt. 
Hoffend, meine Nachrichten wären falſch, fragte ich den treuen, 
wahren — Deinen, meinen Bruder. ‚Sie iſt, ichreibt er, ‚ent 
ichloifen, ſich nicht der Konvenienz zu opfern, ſich dem Manne zu 
geben, der ihr das Leben rettete, dem einzigen, der nach Ihrem 
Berluft ihr Herz erwärmen konnte, und der fie mit einer Leiden— 
ichaft liebt, die nur der Ihrigen nadhiteht.‘ — Sie iſt entichlojien, 
fo jagt der, der Dich nach Deinem William allein fennt. Ich 
Du liebſt nicht jenen Mann, drei Jahre 
tödten Deine Liebe nicht, Dur bijt nur danfend, willſt wicht zwei 
Unglüdliche machen und vergißt mein Elend, Kannſt Du das? 
Bedenke den Ahnenitolz der Deinen, Deiner Yandslente, laß mich 
Did fortreigen. — Mein Wort gab ich, nicht Div zu ſchreiben; 
wicht breche ich es heute, mad) mic diefen Vorwurf nicht; denn 
für das Unerhörte gab ich es wicht. — Hier Liegt Deine Ent 
Tagung, diefer furchtbare Beweis Deiner Liebe für mich; bier liegt 


' Dein Brief an meine Mutter, den Du vor drei Nahren fchriebit, 


und ich follte Div glauben, Du liebteſt heut einen andern? Weib, 
dem Fein anderes gleicht, Weib, das allein mein Herz füllte und 
ewig füllen wird, Weib mit der Feuerſeele, Du liebt für die 


— 824 


Ewigkeit, und nur William, nur Deine erſte Liebe fann Dir 
genügen. der willft Du — gräßlich, abſcheulich — es mir un— 
möglich machen, je wieder Dein zu werden? Heilig iſt das Wort, 
das ich, durch Dich verleitet, den trauernden Eltern gab; aber ich 
gab es nur bedingungsweile, Du fannjt es löſen, und noch iſt alles, 
wie es war. Die Nation liebte mich vormals, jetzt betet fie mich 
an, mein Bruder ift in meiner Hand, und diefe Inſel iſt nicht 
meine Welt, wenn fie Dich nicht vergöttert, wie ich. Noch bejier 


wie ehemals lönnen wir unfere Wünſche erreichen — unſere, 


unſere, ſage ich — denn, Weib — Jugend, ſie ſind noch 
jetzt aud die Deinigen. n Dir will ich alles hören; 
ic will Wahrheit aus Deinem Munde, Du lannſt mich nicht 
täufchen. Schreibſt Du mir nicht, fo hält, jo bindet mich nichts. 
Ad fomme und reiße Dih vom Altare — wer wird's 
wagen, mir mein Weib zu entreißen? Mein Gefühl, meine Angſt 
erſtickt mid! — — — — 

Löje Deine Bande, jei mein — vder ic) fluche der Tugend 
ſelbſt. Ich fluche Dir, der Heiligkeit unferer Liebe; ich fluche 
Deiner Gewalt über mich, ich luche mir, daß ich meine geſetz— 
mäßigen Rechte an Dich nicht geltend machte und nahm, was mein 
war, um es nie wieder verlieren zu Können, 
bin id Dein — nie nennt eine andere Deinen William den Ihren.“ 

In folternder Ungeduld erwartete er die Wirkung dieſes 
liebeftürmenden Briefes. Feſt entihloffen war er zum Aeußerften, 
wenn Karoline es wollte. Dann war Dora Jordans nichts mehr, 
ein Mond nur. gegen die Sonne, die ihre unwiderſtehliche An— 
ziehungskraft auf ihn wieder übte, Water und Mutter mußten 
dann vor feiner Liebe fich beugen, oder er gab fie und alle jeine 
Rechte an den Thron dahin. 
wichts gegolten — was fragte er nad) diefem Stüd Papier? 
Karoline war fein Weib und nun mußte fie auf die lebte große 
Frage fich entjcheiden, ob fie ihm, ob fie einem anderen gehören wollte. 

Und fie entichied, Sie fandte ihm den Brief, den er wie 
fein Urteil von ihr beachrt. 

„So mußteſt Du,* schrieb fie ihm, „das heilige Wort brechen, 
das Du ber verehrungswirdigiten Mutter gabſt — ſo mußteſt 
Du noch einmal alle Wunden meines Herzens aufteißen, im dem 
Du ewig leben wirjt! — Bier jtcht mein Bekenntniß, hier haſt 
Du die Wahrheit. Aber nun höre auch meinen feſten, meinen 


unerjchütterlicen Entſchluß, den nur der Tod, aber feine Macht | 


der Welt ändern kann. Was Dir Ernſt fchrie, it wahr, und 
indem Du dies lieit, bin id Ihon das Weib eines andern. 


Vielleicht hätte ich nicht To ſchnell gehandelt; aber Dein Brief fagt | 


mir, daß ich eilen muß. Der Mann, der mein Leben rettete und dem 
ich es nun weihe, liebt mich mit einer Leidenichaft, die der Deinigen 
gleich jein würde, wenn unſerer Liebe je etwas qleichen fünnte. 
Elend auf immer würde fein Leben fein, wenn ich mich weigerte, die 
Seine zu werden. Er ift edel, brav, aut; 
Kraft, nicht die Stärke, nicht das Feuer meines verlorenen Williams; 
er ift micht Held wie Du im Schönsten Sinne des Wortes. Ohne 
mich it er verloren, verbunden mit mir erhalte ich ihn der Welt, 
den Seinigen, der Tugend. Na, er hat mein Herz erwärmt — 
ich liebe ihn mit der innigſten Freundſchaft und ich bin bereit, 
ihm alle die KHleinigfeiten zu opfern, die die Welt Glück nennt, 
D William! 
Landsleute erinnern, wie fannft Du glauben, daß der mid) hindern 
wird, etwas zu thun, was ich als recht ertenne! 


Was opfere ich denn dem Manne, dem ich Teben will? Stand 
ich denn micht weit tiefer under Div, wie er unter mir? Und 
ich enticheide nicht, wen von uns das Schwerte trifft. Nie — 
oder jehr jpät hörft Du wieder vom mir; ich bin todt für Dich 
und will es ‚fein. Ich erleichtere Dein Scidjal, wenn Du mid) 
für unwiederbringlich verloren hältft . 

Jeht ſcheide ich von allen Anfprücen auf Süd. Ich lebe nur 
noch für andere und in ihnen. ch trete ab und bin von bente an 
todt für Did. Lebe wohl! Mann meiner einzigen, meiner ewigen 
Liebe — William, Heinrich), Bruder, Gatte, Freund — 0, v3 
niebt feinen Namen, Dich) zu nennen, wie mein Herz Dich nennt, 
William, nichts trennt unſere Seelen. 
Himmel, zum legten Mate! — fagt es Tir Deine Karoline.” 

Der Prinz hatte mit Thränen in den Augen diefe Antwort 
aelefen. Er fühlte, daß fie ihm verloren war für diefe Welt, dafı 
nun für immer alles vorbeil — — 


D Weib, Weib! Ewig 


Das Sceidungsurtheil hatte ihm | 


aber er hat nicht die | 


Wie lannſt Du mich am den Adelsſtolz meiner | 


It Div das | 
Herz und der Sinn Deiner Karoline ſchon jo fremd. neworden ? | 


Aber zum legten Dale — | 





— 


Es folgten fich viele Jahre. Unter den napoleoniſchen Kriegs: 
ftürmen eröffnete ji ein nenes Jahrhundert. Sie ftürzten den 
Kurfürſtenthron in Hannover, warten Defterreich und Breußen zu 
Boden, und England wurde von der europäiſchen Welt durch den 
Ingrimm des Eroberers abgefperrt, der es zu Tode treffen wollte. 
Die Beziehungen zwiichen dem Herzog von Clarence und Karoline 
hatten volljtändig aufgehört, und fo hätte nach menichlihem Ermeſſen 
in beiden die Gluth endlich erfterben, ihr Liebearoman ſich mehr 
und mehr in ſchwindenden Erinnerungen verflüchtigen müſſen. 

Vollends unter der Profa des Lebens für Karoline. Sie 
hatte durch ihre Verheiratgung mit Doktor Meinefe ſich aus der 
vornehmen Welt in die bürgerliche, aus dem lururidjen Leben in 
ein höchſt beicheidenes und anſpruchsloſes begeben. Der Bater 
hatte ihr bei der Menge feiner Kinder nur eine geringe Mitgift 
geben lönnen und Doktor Meineke, jo tüchtig er war im feinem 
Beruf, erjtrebte doch vergeblich in Hannover eine einträglice 
Praxis ale Arzt. Er ſiedelte deshalb, aucd um fich und feine 
junge Frau den peinlich werdenden Geſellſchaftsbeziehungen mit der 

Linſingenſchen Familie und deren vornehnem Betanntenfreife zu ent 
zichen, nach Berlin über, ohne indefien dort mehr Glück zu Haben. 
| Die unruhigen Zeiten, dann der unglüdliche Serien Preufens 
' trugen das Ihrige dazu bei, daß er mit feiner inzwiſchen durch 
zwei Kinder vermehrten Familie nicht aus den Sorgen um 
die Eriftenz hevausfam. Unter joldyen Umständen nabm er 
eine Stellung als Direktor einer nen angelegten Kohlenbrennerei 
des Grafen Salm in Blansko in Mähren an, um dort feine 
chemifchen Kenntniſſe zu verwerthen. Das Gehalt, welches er be 
zog, betrug nur 750 Gulden, aber es gab doch als ſicheres Ein 
fommen dem verzagt und mißmuthig gewordenen Mann eine 
gewiſſe Beruhigung. 

Es war nicht anders möglich, als daf Karoline ſchwer unter 
dem Opfer litt, das fie aus Dankbarkeit gegen ihren Lebensretter 
gebracht. Aus der Stille ihres Zimmers jandte fie, wenn fie 
mit ihrem Sohn Heinrich und ihrer Tochter Jettchen allein war, 
oft ihre ftummen Magen gen Himmel. Der Gegenfag zwiſchen 
dem bejeligenden Traum, in dem fie ſich einft gewiegt, und der 
nüchternen Wirklichkeit, von der fie ich fort und fort umfangen 
fah, war zu groß, und gegen die mürriſchen Launen des Gatten 
immer wieder anzufämpfen, überftieg ihre Kräfte mur zu häufig. 
Dennoch beſchäftigte diefe Sorge fie unaufhörlich, und mit dem 
‚ Ichmalen Wirthichafttgelde verjtand fie fo gut hauszuhalten, alt 

ſei fie einſt wicht allen folchen Heintichen Rechnungen entrüdt geweien. 

Niemand mehr war'auf der Welt, dem fie ihr volle$ Ber 
trauen Schenken Esnnte, als ihr Bruder Ernſt, der Mitwiſſer ihres 
Herzensgeheimniffes. In treuer Liebe hielt er nad) wie vor zu 

‚ihr. Ihre Eltern waren todt, ihre Geſchwiſter in die verichiedenften 
Lebensverhaltniſſe übergetveten und ihr meijt durch die langjährige 
Trennung entfremdet geworden. Ernſt allein, der in militäriichen 
Dienjten Englands ehrenvoll emporgeftiegen, fuchte fie, tie in 
Berlin, jo auch einmal in dem entlegenen Blansko auf. Er war 
es auch, der während feines bleibend gewordenen Aufenthaltes 
in England und bei jeinem ungetrübten Freundſchaftsverhältniß 
ı zum Prinzen William Andeutungen an ſie gelangen lieh, daß 
derjelbe ihr das lebhafteſte Andenken bewahrt habe und fein 
Liebe zu ihr noch mad mehr als einem Jahrzehnt ihn völlig er 
fülle. Es beglückte fie diefe Mitteilung, ohne fie zu übervajchen. 

Ihr Bruder hatte eine aufjallende Achnlichteit ihres zehn 
jährigen Sohnes Heinrich mit dem Prinzen William gefunden 
und wollte denfelben nad) England geſchickt haben, um für ibn 
zu jorgen. Offenbar ſteckte dahinter ein Wunsch des Prinzen, 
ebenfo wie Hinter dem brüderlichen Bedrängen Karolinens um 
das Bild des fchönen Anaben. Sie errieth dies und ſchlug deshalb 
ſowohl die eine wie die andere Bitte ab. Cie wollte ſich jtreng 
vor einer That der Pflichtverlegung bewahren. Ihre Kinder waren 
ihr außerdem der Inbegriff ihres Lebens. Heinrich zumal, eben 

wegen feiner großen Aehnlichkeit mit Krinz William, war ihr Lieb 
| Ing. Von ihm fich zu trennen, wäre ihr unmöglich geweſen. 
mindeſtens ſo lange er noch im Kindesalter ſtand. Im Sommer 
1810 ſtarb er aber und mit ihm ſenlte fie die höchſte Freude 
ins Grab, die ihr das Leben noch vergönnt hatte. 
| Ihre Sorge und ihre Liebe drängte ſich jet auf ihre Tochter 
Jetichen zusammen, die ſchon zur Jungfrau heranreifte. Bald 
| warb auch ein junger Vergverwalter in der Nähe von Blanslo, 
| Namens Teubner, um das treifliche Mädchen, und es war ein Tag 


oe 95 >* 


des Glüds im Dajein der Mutter, als die Hochzeit der beiden jungen, 
ſich Tiebenden Lente ftattfand. Aber in das heimliche Entzüden, 
mit dem fie gleihjam die Wirkungen ihres Segens zu dieſer Ber 
bindung beobachtete, miſchte fich nun auch auf einmal die Ahnung, 
daß fie nicht mehr lauge Zeugin davon fein werde. Der Tod nagte 
jühldarer in ihrer Bruſt; gefaßt jah fie, nun ſich in ihrem Leben nichts 
mehr, woran ihr lag, erfitllen könnte, der Nuhe des Grabes entgegen. 

In den Stunden, in den Nächten, im denen fie mit ihrem 
ichleichenden Leiden allein war, überließ fie fich mehr als je den 
fernen Erinnerungen ihres Liebesfebens und feierte jeden der ihr 
unvergehlich gebliebenen Gedenktage in demfelben. Bald daß jie 
in Briefen an ihren Scwiegerfohn Tenbner, bald daß fie in 
langen Ergüſſen an ihren Bruder Ernſt in England ihre Seele 
von dem befreite, was fie in auffluthenden Erinnerungen bewegte. 

Einem Antwortichreiben ihres Bruders fand fie einmal einen 
Brief beigelegt, der fie in einen wonnigen Schweden verſetzte. Auf 
den erſten Blid erfaunte fie, wer der Abjender war. Mit zitternden 
Händen hielt fie den Brief und betrachtete ihn mit ſtrahlenden Augen, 
wie einjt in jenen Tagen, da jie im Himmel ihrer Liebe, in den 
Hofinungen ihrer Jugend jchwelgte. Es war ein Brief von Prinz 
Williams Hand. Er wagte es, ihn zu fenden, und nach ſiebzehn 
Jahren! Er konnte es verſuchen, noch in die melancholiiche Idylle 
ihres Matronenlebens mit jeiner im Herzen erhaltenen Liebe zu 
ihr einzubrechen! Sie vermochte ja deutlich durch das feine Papier 


feine Schrift zu lefen, einen abgebrocdhenen Sat nur, aber welchen 


zu „Weib meiner Jugend, find wir denn ganz getrennt? 
Soll ih —“ 

Schnell legte fie den Brief aus der Hand, um nicht mehr dem 
Zauber desjelben zu verfallen. Unerbrochen fandte fie ihn ihrem 
Bruder wieder zurild, 

Prinz Willtam hatte fid) furz zuvor, im Jahr 1811, unter dem 
Drud der Vorſtellungen der Königlichen Familie und um die 
Bedingung zur Auibeſſerung feiner geringen Apanage zu erfüllen, 
von Dora Korbans endlich getrennt, und es wirft ein häßliches 
Licht auf den Charakter des jo jchwärmerischen Prinzen, daß das 
verjtoßene Weib gebrochenen Herzens nochmals auf die Bühne hatte 
zurücklehren mũſſen, um ſich und ihre Kinder zu ernähren. Das 
war das jammerwürdige Yos derjenigen geivorden, mit der er fait 
zwanzig Fahre lang ein Liebesleben geführt, das ihn Karoline ver- 
ſagt hatte, Schmählich und in Armuth geftoßen, mußte Dora es 
büßen, eines Prinzen Geliebte geworden zu fein. Wie war es 
nur möglid, daß nun der Prinz; mod) wieder diejenige zu ſich 
zuriideufen wollte, die ihm feierlich entiagt und aleichjam ihr 
zweites Leben weit weg ans feinen Streifen und in Aerm— 
lichkeit geiucht Hatte? Zudem war feine Thronfolge ihm auch 


Die Atpenfee 


wieder nähergerüdt. Man verlangte nämlich in England, da in- 
zwiſchen fein ältefter Bruder die Regentihaft für dem unbeilbar 
irrſinnig gewordenen und in Windfor eingefperrten Bater er: 
halten, das Prinz William cine ftandesgemäte Ehe eingehe. 
Aber wie fonnte er ſich dann an feine geichiedene Gattin wenden, 
die wegen ihrer Unebenbürtigkeit ihm Hatte entiagen müſſen? Es 
drängen fich Fragen auf, deren Beantwortung heute niemand mehr 
möglich iſt. In Karoline aber hatte ex mit feinem Verſuch, wieder 
mit ihr in Verbindung zu treten, die zuriidgedrängte Leidenſchaft für 
ihn in frevelgafter Weije wieder lebendig gemacht. Den Scheintod dieſer 
Leidenſchaft brad) er damit, und die mächtig wieder hervorquellenden 
Erinnerungen der Kranken an den Traum ihres Jugendfebens ums 
gaulelten fie, indeß fie körperlich mehr und mehr der Auflöfung ent⸗ 
gegenging. Das Feuer, in dem einst ihr Herz aeglüht, Toderte von 
neuem auf und verjehrte e3. In wunderbarer Weile fand ihre 
Mädchentraum, aus dem jie fo jäh im eine nüchterne Wirklichkeit 
geriffen worden, feine Fortfehung nach vielen Jahren und fein fie 
befeligendes Ende mit ihren legten Athemzügen. Das Ideal, von 
dem fie geblendet gewejen, erſchien in Lichtem Glanz wieder an 
ihrem Sterbebett. Im Traum ſah fie Williom, wie er, ermüdet 
von der Schladt, einſam am Wachtfener des Lagers jigt und ihrer 
gedenlt. . . . Sie ſah ihn ... 

Unnenunbar ſüß, in Wehmuth halb verloren, 

Umſpielt ein Läceln ſeinen ſchönen Mund; 

Verſchmähſt Du noch,' jo Hang zu meinen Ohren 

Sein Zauberlaut, ‚der treuften Liebe Bund? 

O nahe Dich, Geliebte! Hat mein Leiden 

Bewegt denn endlich Deinen ftrengen Sinn ? 

Du findejt bier mich, wo zu ftillern Freuden, 

Zu ſanften Schmerzen nun geweiht ich bin.‘ 

Sein Laut erſtarb. — Willſt Du mir ahuend winten, 

Mein dunkles Kos? Er bot mir janft die Hand; 

Ach wollte liebend an die Bruſt ihm finten — 

Da fan der Morgen und mein Traum verichwand,” 

In diefem Traum, den jie in einem Gedicht beichrieben, gab 
fie ihm die Antwort auf feine legte ungejtüme Frage: „Weib meiner 
Jugend, find wir denn ganz getrennt?“ 

Mit Schniucht nach dem Tode fragte fie zurüd: 

„Willſt Du mir ahnend winken, mein dunkles Los?" 

Und im Traum von ihm entichlummerte fie im Sommer 
1815, um nicht wieder zu erwachen. Zudt ein zweites Mal und 
wirklich todt mit 45 Jahren. Genau zum felben Zeit jtarb in 
einem Heinen Hauſe von St. Cloud, wohin fie fih aus England 
wegen Schulden geflüchtet, die arme Dora Jordans, Prinz William 
aber heivathete 1818 die Prinzeffin Adelheid von Sahjjen- Meiningen, 
beiticg 1830 als Wilhelm IV. den engliſchen Thron, und als König 
forgte er audı für die Kinder Doras. 


Nadidrut verboten 
Age Rechie vorbehalten 


Roman von &, Mlerner. 
Fernetzung. 


n ber allgemeinen Haſt und Aufregung wurde das Erſcheinen 
bes Präjidenten und feiner Begleiter kaum bemerkt, nur 
einige der Ingenieure traten heran und bejtätigten achſelzuckend 
die letzten Meldungen. Es wurde iroß des Ummwetters mit fieber- 
hajter Anstrengung gearbeitet, nanze Scharen von Arbeitern waren 
in der Nähe der Brüden beichäftigt, auch bei dem Stationsgebäude 
ſchien irgend etwas vorzugehen und dazwiſchen ſtrömte der Regen 
und brauſte der Sturm, jo daß cs oft nicht möglich war, die 
Zurufe und Befehle der Ingenieure zu veritehen. 
Nordheim war vom Pferde geitiegen und näherte fid) feinem 


ehemaligen Schwiegeriohn, der aleichfalls feinen Poſten verlieh | 


und ihm entgegenfam. Sie hatten beide geglaubt, jene Unter: 
vedung, im der fie ſich endgültig trennten, werde ihre letzte fein: 
jet jahen und ſprachen jie ſich täglich und fühlten im Drange 
der Ereignifje kaum das Peinliche diejer erneuten Begegnungen. 
Sie wußten ja am beſten, was hier zu verlieren, was theilweiſe 
ichon verloren war, und die Gefahr des Unternehmens, an dem 
fie beide gleich betheiligt waren, Fettete ihre Intereſſen wieder fo 
unlöslich zuſammen wie zu der Zeit ihrer engiten Verbindung. 

„Du bijt hier auf der oberen Strede?* fragte der Präjident 
mit angstvoller Unruhe. „Und die untere — ?" 

„Haben wir preisgeben müſſen!“ ergänzte Wolfgang. „Es 





war nicht möglich, fie länger zu halten. Die Dämme find durch: | 


1888 


beochen, die Brüden fortgeriffen. Ich habe nur die nothwendigſten 
Leute zum Schutze der Stationen gelaſſen und alle verfiigbaren 
Kräfte hier zuſammengezogen. Wir müfien die Wildbäche bändigen, 
um jeden Preis.“ 

Der unſtete Blick Nordheims flog über die Brüde und nad) dem 
Stationsgebäude hinüber, wo gleichfalls eine Anzahl von Arbeitern 
beichäftigt war. 

„Und was geſchieht dort? Du läßt das Haus räumen?“ 

„Ach laſſe wenigſtens das techniiche Bureau mit den Plänen 
und Zeichnungen in Sicherheit bringen, denn es droht Yawinen- 
gefahr vom Wolfenftein; ev hat uns jchon einige Warnungszeichen 
herabgefandt.” 

„Auch das mod!" murmelte dev Bräfident verzweiflungsvoll, 
und plöglid) fuhr ex wie von einem Gedanken ergriffen auf. 

„Um Gotteswillen, Du glaubjt doc) nicht, daR die Brüde —?“ 

„Nein!“ ſagte Wolfgang mit einem tiefen Athemzuge. „Der 
Bannwald jhügt die Schlucht und mit ihr die Brüde, den bricht 
feine Lawine nieder. Ach habe diefe Möglichkeit ſchon bei der 
Anlage vorausgejehen und ihr vorgebeugt.” 

„Es wäre auch furchtbar!” jtöhnte Nordheim. „Der Schaden 
iſt fchon jeßt unabiehbar. Wenn die Brüde fällt, iſt alles vorbei!" 

Die finjtere Stirn des Chefingenieurs furchte ſich noch tiefer 
bei diefem verzweiſelten Ausbruch. 


105 


„Sale Dich!“ mahnte er Seife, aber mit vollem Nachdruck. 
„Wir werden beobachtet, alles ficht auf uns; wir müjlen das 


Beijpiel des Muthes und der Hoffnung geben, font Halten die 
ſchien ihm micht verftehen zu wollen, 
„Hoffnung!“ wiederholte der Rräfident, der jid) an das Wort | 


Leute nirgends mehr Stand.“ 


wie an einen legten Rettungsanter Hammexte. 
wirllich noch?“ 

„Nein — aber ich lämpfe bis zum feften Athemzuge!“ 

Nordheim blidte in das Geſicht des Sprechenden. Die 
bleichen, finfteren Züge waren eiſern und unbewegt, fie verriethen 
nichts von dem Sturme, der in feinem Innern wählte, und doch 
jtand aud) für ihm alles auf dem Spiele. Seit die ftolzen Träume 
von Macht und Reichthum zerronnen waren, blieb ihm nur noch 
fein Werk, auf das er eine neue Zukunft gründen konnte, wenn 
er am Leben blieb; das wenigitens eine unverwiſchbare Spur 
jeines Dafeins hinterließ, wen er von Waltenbergs Kugel fiel — 
jegt aing auch das zu Grunde! Und doc ftand er aufrecht und 
fämpfte, während der Präfident nur ein Bild haltloſer Verzweif 
lung bot, 
bemerkte, daß man von einem Manne feiner 
des Muthes erwartete, er dachte nur an die ungeheuren Verluſte, 
welche die Kataſtrophe ihm beachte, Werlufte, die ihn ſtürzen 
fonnten, wenn dem Berderben nicht ſchleunigſt Einhalt geſchah. 

„Ich muß auf meinen Pojten zurück!“ ſagle Eimhorft ab: 
brehend. „Wenn Du bleiben willit, jo wähle Deinen Standpunkt 
mit Borlicht, die Muhren und Erdjtürze gehen überall nieder, 
wie haben ſchon Unfälle genug dabei gehabt.” 


jeht, daß Nordheim micht allein gekommen war. Eine Minute 
lang ſchien ſein Fuß am Boden zu wurzelm und jein Bli flog 
zu Erna hinüber. Er ahnte, was fie herführte; er wußte es ja 
jegt, daß fie um ihm zitterte und bangte, aber ex verſuchte nicht, 
fich ihr zu nähern; denn meben ihr hielt der Mann, dem fie an— 
aehören jollte, der jie Schon jegt als fein unentreißbares Eigen- 
thum betrachtete, jhumm und unerbittlih, wie das Verhängnik 
ſelbſt. Waltenberg fah den angjtvollen Blid, der Wolfgang folgte, 
als diejer wieder zu den Arbeitern zurücklehrte und fich mitten auf 
den bedrohten Damm ftellte, und wie zufällig faßte er den Zügel 
des andern Pferdes und hielt es mit eijerner Hand feit. 

Da tauchte hinter den beiden die lange Sejtalt Gronaus auf, 
der über und über durchnäßt und Tothbeiprigt, aber mit volliter 
Gemüthsrube herantrat. 

„Da find wir!” fagte er grüßend. 
Oberſtein, jind aber allerdings mehr geſchwommen als gegangen.“ 

„Bir?“ fragte Ernſt. 


Er wandte ſich wieder den Dämmen zu und bemerkte erft 


Was fragte er danach, daß man feine Faſſungsloſigleit 
Stellung das Beifpiel | 


„Hoffſt Du denn | 








„Wir fommen Direlt von | 


„Iſt Doftor Reinsfeld mit Jhnen?“ | 


„Jawohl, wir haben mit Mühe und Noth die Oberjteiner wieder 


zu Verſtand gebracht und fie überzenat, daß ihr Nejt diesmal nicht in 
Gefahr it. Es war ein ſchweres Stüd Arbeit, aber hie ſahen es endlich 
ein, und faum waren wir fertig damit, da fam ein Bote von dem 
Chefingenieur, um den Doktor herzurufen, e8 ſeien bei den Rettungs: 
arbeiten ein paar Unglüdsfälle vorgefommen. Der qute Doktor lief 
natürlich, als ob ihm der Kopf brenne, von einem Jammer in den 
andern, und ich lief mit, denn ich dachte mir, ein Paar kräftige 
Arme find überall zu brauchen, und das war ein aefcheiter Gedanke, 
Borläufig habe ich mich dort drüben in dem Wärterhäuschen als 
Lazarethachilfe etablirt und komme nur auf einen Augenblick, um 
mid; zu melden, denn wir haben leider alle Hände voll zu thun.” 

„Es find alfo ſchon Unglüdsfälle vorgelommen — dod) feine 
ichweren ?“ fragte Erna haftia. 

Gronau zucte mit bedenllicher Miene die Achſeln. 

„Einer der Lente iſt von dem Wildbache fortgeriffen und 
halb zerichmettert wieder aufgefifcht worden; der Doktor meint, er 
würde ſchwerlich davonlommen; ein zweiter it von einem nieder: 
nebenden Exrdjturze am Kopfe getroffen, bei dem geht es gleichfalls 
auf Tod und Leben; die Verletzungen der anderen jind leichter Art.“ 

„Wenn Doftor Reinzfeld noch Hilfe brauchen jollte, ich bin 
zu jeder Dienftleiftung bereit!“ ertlärte das junge Mädchen und 
machte Miene, ihr Pferd nad) dem bezeichneten Haufe zu wenden. 

„Danke, gnädiges Fräulein, wir ſchaſſen es jchen allein,“ 
verjeßte Beit, während Waltenberg ſich umwandte und feine Braut 
erftaunt anfah. 

„Du, Emma? Dazu find doch wohl andere Hände da! 
hörſt cs ja, daß Gronau den Doktor unterjtüßt. 
diefer überflüffige Heroismus?* 


Barum aliv 


' jant er kläglich zuſammen. 





Rab > 


„Weil ich es nicht ertrage, allein müßig und theilnahmslos 
zu bfeiben, wo alles arbeitet und ringt und die letzte Kraft einfegt“ 
Es lag ein harter Vorwurf in der Antıvort, aber Emit 


„um, theilnahmelos bit Du wenigitens nicht, Du fieberſt 
ja förmlid vor Erregung,“ bemerkte er falt. „Aber es ift wahr, 
die Leute leiften in der That das Aeußerſte, trotzdem fie bei der 
Arbeit fortwährend in Geſahr jind.” 

„Weil der Chefingenienr ihnen immer voran iſt,“ ergänzte 
Veit. „Wenn er nicht überall der erſte wäre und ihnen zeigte, 
wie man die Gefahr veradhtet, fie würden ſich wohl bedenken und 
zurückbleiben; aber ſolch ein Führer reißt aud die Yaghaften 
fort. Da fteht er wieder mitten auf dem Damm, den das 
wüthende Wafjer jeden Augenblick fortreißen kann, und fomman- 


dirt, ala könne er der ganzen Bergwelt beſehlen! Seit drei Tagen 


ichlägt er ſich nun ſo mit dieſer verwünjchten Alpenfee herum, die 
diesmal einen förmlichen Wuthanfall zu haben jcheint, und ic 


‚ glaube wahrhaftig, er bringt es fertig, fie zu zwingen. — Doch 


ich muß jetzt zurüd zu dem Doktor! Gott befohlen!“ 

Er ging, und der Präfident, der jet erſt zu feinen Be: 
gleitern zurückkehrte, jah ihn nody in der Thür des Wärterhäus 
chens verſchwinden. Er zudte unmilltürlich zufammen; das Er 
ſcheinen diefes Mannes war ihm eine Unbeilsbedentung mehr an 
diefem unheilvollen Tage; c# erinnerte ihn daran, daß noch etwas 
anderes ihn bedrohte, was die jegige Kataſtrophe nur zurüdge 
drängt hatte, und dieje Kataſtrophe war ſchon furchtbar genug. 

Die kurze Unterredung mit Wolfgang hatte Nordheim den 
legten Hoffnungsfchimmer genommen. Wenn auch die obere 
Strede endlich preisgegeben werden mußte, was blieb dann noch 
von all den Bauten, die Millionen verſchlungen hatten und die 
in derjelben Weife wiederherzuftellen wenigſtens für ihn ein Ding 
der Unmöglichkeit war? Er war von Anfang an der Haupteigen 
thümer der Bahn geweſen und hatte in der legten Zeit, mit Rüd 
ficht auf den zu erhoffenden Gewinn bei der Wbtretung, noch mehr 
in jeine Hände gebracht, jebt traf ihn der ganze ungeheure Ber 
tust fait allein. Er wußte, daß jein Vermögen, das ja im viel 
fachen anderweitigen Unternehmungen ſteckte, einen ſolchen Schlag 
nicht anshalten konnte, und wenn Gronau jcht feine Drohung 
wahr machte und mit einer öffentlichen Anklage auftrat, war alles 
verloren. Der Millionär in feiner gejicherten Stellung hätte ihr 
vielleicht Trog bieten können, dem Wanfenden, Stürzenden muße 
fie verderbfich werden; Nordheim kannte die Welt, mit der er ſo 
oft laltblütig gerechnet hatte. 

Jet freilich bielten dieſe Kaltblütigteit und Energie nicht 
mehr Stand. Der Mann, den das Glück fo verwöhnt hatte 
während feiner ganzen Laufbahn, der immer nur erworben und 
gewonnen Hatte, Konnte es jet nicht faſſen, daß fein Glück ihn 
jo völlig verlieh. Er war von jeher nur eim kühner, Huger Ge 
ichäftsmann gewejen, fein Charakter; vor diefem Schidialsichlage 
In dumpfen, verzweiflungsvollen 
Brüten jtarrte er in ben Regen und auf die Arbeitenden, deven 
Leitung der Chefingenienr wieder übernommen hatte, 

Wolfgang war in der That überall, bald ftand er hoch oben 
anf den Dämmen an der am meiſten preiägegebenen Stelle, bald 
war ex mitten auf der Brüde und ftemmte fid) gegen den Sturm, 


der an dem eijengefügten Gitterwerk rüttelte, als wolle ev es zer 


brechen, bald eilte er wieder nach dem Stationshaufe und gab dort 
jeine Befehle. Sein ganzer Anzug triefte, das Waſſer rann aus feinen 


GHaaren, von ſeinem Mantel; ev ſchien es nicht zu fühlen, fchien 


Tu | 


weder Ruhe noch Erholung zu brauchen, und dod) hielt ihm nur die 
furcdhtbarjte Anfpannung aller Seelen- und Körperkräfte aufrecht in 
diefem Kampfe, der nun dreimal vierundzwanzig Stunden dauerte. 
Es waren Stunden, in denen Wolfgang Elmhorſt ſelbſt feine 
ärgſten Gegner zur Anerkennung and Bewunderung nöthiate. 
Auch jeinen Todfeind zwang er dazu! Aber deſſen Haß 
und Eiferfucht Toderten nur mod) glühender auf unter dieſem 
Zwange. Waltenberg war ja and) vertraut mit der Gefahr; er 
hatte fie oft genug herausgefordert und mit ihr geipielt, toflfühn 
und zwedlos, wie man einen Sport treibt, aber es lan doch nodı 
etwas anderes in dieſer unbezwinglichen Energie, mit dev Elm 
horſt feine Pflicht that. Er wußte, daß ex auf einem verlorenen 
Bojten jtand, die eine Hälite jeines Werkes hatte er hen preisgeben 
möüjlen, die andere war aud) nicht mehr zu retten, und doch verther 


digle er fie noch und ſchien entſchloſſen, eher zu fallen ats zu weichen. 





o 27 o 


Und während deijen Dielt Ernſt Waltendberg drüben auf 
jeinem Pferde als Zuſchauer bei dem „hocintereffanten Anblid“ ; 
aber er fühlte es jeßt doch, zu welcher Rolle er ſich felber vers 
urtheilt hatte. Es war nicht abjichtslos gewejen, daß er Erna 
veranlaßte, mit ihm nach der Bahn hinunterzureiten; diefelbe be- 


rechnende Grauſamleit, mit der er fie bisher durch Sein Schweigen | 


gefoltert hatte, biktirte auch diefen Vorſchlag. Er wußte, fie 
würde ihm nicht zurüchweifen, weil er ihr die Möglichkeit gab, 
Wolfgang noch einmal zu fehen, und fie jollte ihn ſehen, mitten 
in der Gefahr, der er ſich fo rüdfichtslos preisgab, follte zittern, 
fich zu Tode ängitigen und doch mit feiner Miene diefe Angit 
verrathen dürſen. Elmhorſt hatte recht: ſelbſt die Liebe diefes 
Mannes war Egoismus, er fragte nicht danadı, ob er ein ges 
liebtes Wefen marterte und auälte, wenn er nur jeine wilde Rad): 
fucht befriedigte. Erna follte leiden, wie er litt, er war erbar: 
mungslos gegen fie wie gegen fich felber. 

Aber ex umterfhäßte doc) die Fühne, furchtloſe Natur feiner 
Braut, wenn er glaubte, fie fönne nur zittern in diefer Gefahr. 
Wohl hingen ihre Augen unausgeſetzt an Wolfgang in angjtvoller, 
athemloſer Spannung, aber diefe Augen jlammten auch in leiden- 
ichaftlicher Bewunderung, in alühender, ſtolzer Genugthuung, als 
fie fah, wie er fämpfte, wie ex der Alpenfee in das furdıtbare 
Antlig ſchaute und mit ihr rang auf Tod und Leben. In diefem 
Kämpfen und Ningen wuchs ex ihr zum Helden empor, dem ihre 
ganze Seele zuflog. All die Schatten, die ihr To lange fein Bild 
verdunfelt hatten, zerrannen in diefem Lichte, er ſtand vor ihr, 
wie er damals vor Nordheim gejtanden Hatte, frei von all den 
Scladen, mit dem Siege feiner befjeren, feiner wahren Natur. 

Ernſt mußte es fehen, wie der Pfeil, den er fo rachfüchtig 
abgeſandt hatte, auf ihn ſelbſt zurückprallte. Er hatte Erna die 
Gefahr des Geliebten zeigen wollen, und num zeigte er ihr nur 
fein Heldenthbum. Wohl hielt er wie ein Wächter an ihrer Seite, 
entichloffen, jede Annäherung zu hindern, aber ev konnte die wort⸗ 
loſe Spradhe nicht hindern, in der die beiden miteinander redeten, 
die Blide, die ſich fuchten und fanden, durch Trennung und Ent 
fernung, durch Sturm und WBernichtungsgraus, und in dieſer 
Sprache ſagten fie fich alles. Wolfgang fühlte es, daß in diejer 
Stunde die Schranfe niederfanf, 
zwifchen ihnen aufgerichtet hatte, und mitten in der düſteren 
Hoffnungslofigfeit, mit der er feine Pflicht that, Teuchtete es auf 
wie ein heller, verflärender Sonnenſtrahl, freilich wie ein letzter 
Strabl vor dem Untergange der Sonne. 

Es war in der That, als ob von der Gegenwart, von dem 
Auge diejes einzigen Mannes das ganze Rettungswerk abhinge. 
Wo er ftand, wo er jelbft befahl und anfeuerte, rang man erfolg: 
reich mit den Elementen, denn da wid feiner zurüd, da ging 
jeder im die augenicheinlichite Gefahr. Die Leute holten ſich 
Muth und Zuverficht aus dem unbewegten Antlitz, aus der un: 
erfhütterlihen Ruhe ihres Führers; fie meinten wie Gronau, ex 
müſſe das Unheil zwingen. 

Und endlich jchienen die furchtbaren Anjtrengungen auch von 
Erfolg gekrönt zu werden. Es war gelungen, den gefährlichiten 
der Wildbäche, der unaufhörlich genen die Bahndämme anjtürmte, 
unſchädlich zu machen. Elmhorſt hatte einen tiefen Felseinſchnitt 


Die legten Worte wurden bereits verichlungen von einem 
dumpfen Rollen, das in wenigen Sekunden zum Donner anwuchs; 
aber der Warnungsruf war doch gehört worden. Die Leute jtoben 
auseinander, fie fühlten es jeßt auch, dai; irgend etwas Furchtbares 
nahte; es zu jehen und zu untericheiden, dazu blieb ihnen keine Zeit, 
fie flohen in wilder Haft den beiden Endpunften der Brüde zu. 

Nordheim und Waltenberg wurden in dieſer Flucht mitge- 


' riffen und ber eritere erreichte auch wirklic) den feften Boden, 


während Ernſt gerade bei dem Brüdenpfeiler ſtrauchelte und jtürzte. 


‚ Neben und über ihm jtürmten die anderen dahin; im Egoismus 


der Todesangſt dachte jeder nur an die eigene Rettung, während 
er, betäubt von dem Sturze, am Boden lag, eine Minute lang 
völlig unfähig, fich zu erheben, und hier handelte es ſich um Sefunden. 

Da fühlte ex plöglich, wie ein kraftvoller Arm ihn padte 
und gewaltiam emporriß; er wurde fejtgehalten, eine Strede fort: 


| geichleift, endlich losgelaſſen und umfaßte nun taumelnd den Stamm 


die feine Werbung um Alice 


eines Baumes, den er vor fich jah und der ihn aufrecht hielt. 

Da fam 08 durch die Lüfte gezugen, henlend und braufend 
wie ein Orkan, gegen den all das Stürmen der legten Tage nur 
feichtes Wehen war, und was in feinem Wege lag, das wurde 
niedergeworfen oder fortgeriſſen. Die Sturmesboten gingen der 
Alpenfee voran und ichafften ihr Bahn, und nun fam fie ſelbſt 
hernieder von ihrem Woltenibrone, Es rollte wie tauſendfacher 
Donner, auf allen Höhen, in allen Tiefen, als ſtürze die ganze 
Bergwelt zufammen; die Felſen jchienen zu beben, die Erde zu 
wanfen, als dies furchtbare Etwas weiß und geipenftig vorüber- 
braufte — das dauerte minutenlang, dann wurde es jtill— todtenftill. 

Die Lawine Hatte ihren Weg vom Gipfel des Berges direkt 
in die Schlucht genommen, einen Weg der Vernichtung. Der 
mächtige, ſchüßzende Bannwald am Fuße der Hochwand war ver 
ihwunden und der Abhang, wo er geftanden, zeigte nur ein 
wujtes, ödes Trümmerfeld. Der Lauf der Adhe war gehemmt, 
die Schlucht zur Hälfte ausgefüllt mit einer eifigen, zerklüfteten 
Majie, aus der Felstrummer und Baumftämme emporragten, und 
dort, wo die Brüde mit ihrer fühnen Wölbung ſich von Fels zu 
Fels. ſchwang, gahnte jegt eine weite Leere. Zwei der rieſigen 
Seitenpfeiler jtanden noch, die anderen waren ganz oder theilweiſe 
wiedergebrochen und an ihnen bing noch ein Iheil der Eifenrippen, 
dverbogen und zerknickt wie dünne Nohritäbe, alles andere lag da 
unten in der Tiefe. Sie hatte fid) gerächt, die wilde Alpenjee — 
wie Splitter zufammengebroden fag das jtolze Menſchenwerk zu 
ihren Füßen! 


Dem furchtbaren Elementarereigniſſe folgte eine Scene der 
unbeichreiblichiten Verwirrung. In den eriten Minuten wußte 
überhaupt niemand, was eigentlich geichehen war, und als man 
es ſich endlich Mar machte, galt cs vor allen Dingen, Hilfe zu 
bringen. Zwar hatte der Warnungsruf des Ghefingenieurs das 
Schlimmste abgewandt; im NAugenblid der Kataſtrophe hatte ſich 
niemand mehr auf der Brüde befunden, aber ein Theil der Yeute 
lag, von dem entieglichen Luftdruck niedergeworjen, betäubt am 


‚ Boden, andere hatten durch die umherjliegenden Stein: und Eis: 


benugt, um der verderblichen Fluth cine andere Bahn zu ſchaffen, 


und jie hatte wirklich dieſen Lauf genommen AU die Wafler- 
und Geröllmaſſen jtürzten nun der Wolfenfteiner Schlucht zu, wo 
fie tobend, aber unschädlich in die Tiefe miedergingen. Die nächſte 


Gefahr war beziwungen und für den Augenblick fchien auch) das | 


Unwetter nadızufafjen. Der Hegen hörte auf, dev Sturm milderte 
fich und droben am Wolfenftein begann es Lichter zu werden. 

Auch die Arbeit ruhte einige Minuten. Der Bräfident und 
Waltenberg, der gleichfalls abaeitiegen war, Schritten nad) der 
Brüde, wo ſich ein Theil der Arbeiter verjammelt hatte, um zu 
jehen, wie der bezwungene Wildbad feinen Wen in die Schlucht 
nahm. Alles athmete auf und jchöpfte neue Hoffnung. 

Nur der Chefingenieur ftand noch ſeitwärts, abaejondert von 
den übrigen. Er hörte nicht die frohen Zurufe der Leute, ſondern 
ſchien weit vorgebeugt auf irgend etwas zu laufen, was aus der 


Höhe, aus den Lüften niederflang, wie fernes, fewmes Meeres; 
brausen; er bfidte unvertvandt zu dem Gipfel des Woltenjtein 


empor und plöglich wurde Tein AUntlig fahl wie das eines Todten. 
„Hort von der Brüde!“ donnerte er den Erſchreckten zu. 
„Zurüd — rettet Euch! Es gilt Euer Leben!“ 


trümmer mehr oder weniger Berlegungen erlitten; getödtet ichien 
allerdings niemand zu fein und alles, was unverichrt geblieben 
war, jtürzte jeßt herbei. Es gab zunächſt nur ein wirves Durd)- 
einander, ein Nennen und Rufen ohne Ende. Keiner wußte, was 
er zuerjt thun follte, bis es endlich den Beionneneren gelang, fich 
Gehör zu verſchaffen. 

Um To jtiller ging es im einer Gruppe zu, die fich jeitwärts 
um einen Schwerverwundeten gelammelt hatte amd ſich zuſehende 
vergrößerte. Die Ingenieure, die Arbeiter, alles drangte heran; 
in den Mienen aller las man Beſtürzung und ein banges, halb: 
lautes Flüſtern aing wie ein Lauffener von Mund zu Mund: 
„Der Prajident?“ „Nordheim ſelbſt?“ „So ſchafft doch um 
Gotteswillen den Arzt herbei!“ 

Es war in der That Präſident Nordheim, der hier am Boden 
lag, blutend, bewußtlos, faſt ohne Lebenszeichen. Er hatte ſich 
anſcheinend bereits in Sicherheit befunden, als einer der auf 
fliegenden ſchweren Eifentheile aus dem zerjtörten Brüdenpfeiler 
ihm traf und niederwarf. Erna und Waltenberg waren um ihn 
beichäftigt und von allen Zeiten war man beftrebt, ihnen Bilie 
zu leijten, als fich jegt der Kreis öffnete und der Chefingenicur 


. mit dem Doftor Reimsfeld herantrat. 


E27» 


o RR» 


Benno war eiwas bfeicher als gewöhnlich, aber vollfommen | 
ruhig, als er niedertniete und die Wunde zu unterfuchen begann. | fteht,” ſagte er haitig. 


Der Schmerz der Berührung ſchien Nordheim wieder: zu ſich zu 
bringen, mit einem fauten Stöhnen jchlug cr die Mugen auf und 
fein ſtarrer Blick blieb au dem Antlit des Mannes hängen, der 
fich über ihm bengte. Er mochte ihn wohl nicht erkennen und 
glaubte offenbar, die Züge des einjtigen Jugendfreundes zu fchen, 
die fich in deifen Sohn wiederholten, denn fein Geficht nahm den 


Ausdruck eines unverfennbaren Entiebens an und mit einer Frampi> | 
haften Bewegung verjuchte er, ich aufzurichten und die helfende 


Hand zurückzuſtößen, aber das gelang ihm nicht. Mit einem 
zweiten qualvollen Aufitöhnen ſank er wieder zurüd und ein Steom 
von Blut ſchoß aus feinem Munde hervor. 

Die Umftehenden fahen darin nur den Ausdruck des körper 
lichen Schmerzes, Benno allein errieth die Wahrheit, er beugle ſich 
noch diefer und während er janft feine Hand unter das Haupt 
des Leidenden ſchob und es zu ftügen verſuchte, ſagte er Teile: 

„Stoßen Sie meine Hilfe nicht zurück, ich biete fic gern — 
aus vollem Herzen!“ 

Nordheim war unfähig zu ſprechen, und jene heftige Be— 
wegung hatte feine Kraft erichöpft, ev verlor von neuem das Be: 
wußtſein. Der junge Arzt unteriuchte fo ſchönend als möglich 
die Wunde in der Bruft, legte den erſten Verband an und wandte 
fich dann mit tiefernfter Miene zu Waltenberg und Elmhorſt. 

„Du haſt feine Hofinung?” fragte der Ichtere halblaut, 

„Rein, bier ijt jede Hilfe vergebens,“ verſetzte Benno in dem 
gleichen Tune. „Wir wollen verfuchen, ihn nad feinem Haufe 
zu Schaffen; wenn der Transport mit der äuferjten Vorſicht ge— 
ichieht, hält er ihn vielleicht aus. — Gnädiges Fräulein, ich möchte 
Sie bitten, vorauszugehen und die Tochter vorzubereiten, damit 
ſie das Schredliche nicht allzu jäh trifft. Wir dürfen es ihr nicht 
verhehlen, daß der Vater jterbend zurüctehrt, denn er wird die 
Nacht nicht überleben.“ 

Er trat zurück und gab die nöthigen Anweifungen. An 
helienden Händen war fein Mangel; es wurde raid) eine Trag: 
bahre hergeitellt, einige Mäntel und Deren herbeigeihafit und 
der Verwundete mit äuferiter Sorgfalt darauf gebettet, dann trat 
der traurige Zug langſam den Weg nad der Billa au. Erna 
war bereits vorausgegangen und Reinsfeld, der ſofort nachzu— 
fommen versprach, wandte jeine Sorgfalt den anderen Berlegten 
zu, bei denen es nur einer erſten Hilfeleijtung bedurfte, in Lebens- 
gefahr befand fich feiner von ihnen. 

Waltenberg war gleichfalls zurüdgeblieben, er ſtand uns 
entichloffen da umd ſchien mit fich zu fämpfen; als er aber fah, 
daß der Chefingenieur ſich nach der Woltenjteiner Schlucht wandte, 
fulgte er ihm und holte ihn mit wenigen Schritten ein. 

„Bere Elmhoͤrſt!“ 

Wolfgang blieb jtehen und wandte jih um, cs lag eine 
jtarre, unheimliche Ruhe in feinen Zügen und feine Stimme war 
völlig Hanglos, als er jagte: „Sie lommen, mic an das gegebene 
Wort zu mahnen? Ich ftehe Ahnen zur Verfügung, zu jeder 
Stunde — meine Bilichten find zu Ende.“ 

Ernſt hatte eine foldhe Mahnung in diefem Augenblide wohl 
nicht beabjichtigt, er machte eine heftig abwehrende Bewegung. 

„Ich alanbe, wir find jetzt beide nicht in der Stimmung, 
unferen Streit ausjufechten. Vor allen Dingen. find Sie es nicht.“ 

Elmhorſt fuhr mit der Hand über die Stirn; jest, wo die 
furchtbare Anſpannung feiner Nerven nachließ, fühlte er erſt, wie 
erſchopft und todesmatt cr war, 

„Sie mögen vecht haben," jante er mit dem jelben ſtarren, 
unheimlichen Ausdrud. „Es kommt von der Ueberarbeitung. Ich 
habe feit drei Nächten nicht geſchlafen, aber cin paar Stunden 
der Ruhe werden mich völlig wiederheritellen und ich wiederhole, 
daß ich Ahnen gänzlich zur Verfügung ſtehe.“ 

Ernſt beide Schweigend in das Geſicht des Mannes, dem 
der heutige Tag alles vernichtet Hatte — ihn tänichte diefe Ruhe 
nicht. Er hatte augenſcheinlich eine Entgegnung auf den Lippen, 
unterdeüdte fie aber und fein Auge log zu dem Nusgange der 
Brüde hinüber, wo er vorhin qejtürzt war bei der Flucht. Gerade 
an jener Stelle war der Seitenpfeiler niedergebrodyen und die 
Eiſentheile desselben hatten ſich tief in das Erdreich eingewühlt. 
Dort hätte auch er zerichmettert und zermalmt gelegen, wenn eine 
rettende Band ihn nicht dem Werderben entriſſen hätte, vielleicht 
war ihm diefe Hand nicht To fremd, als es den Anschein hatte. 


„sc muß hinauf und Sehen, wie es mit dem Präſidenten 
„Doktor Reinsjeld hat verfprochen, die 
Nacht über bei uns zu bleiben, wir jenden Ihnen Nachricht.” 

„Ich danke,“ jagte Wolfgang, der nur vein mechaniſch zu 
hören und zu antworten ſchien; feine Gedanken waren nicht bei 
dem Geſpräch, und als Waltenberg fih von ihm wandie, schritt 
er Sangjam weiter, dem Orte zu, wo die Wolkenſteiner Brüde 
einſt — Stand! — 

Es war cine jurchtbare Nacht, welche die Familie und Um 
aebung Nordheims durdjlebte. Der Herr des Haufes lämpfte den 
Ichten Kampf, einen langen, qualvollen Kampf, der nicht enden 
wollte. Unfähig, zu ſprechen oder fich zu regen, aber bei vollem 


Bewußtſein, fah und fühlte er es, wie der Sohu des verrathenen, 
‚ betrogenen Jugendfreundes, den er der Armuth und Entbehrung 
‚ preisgegeben hatte, während ex felbit mit dem Früchten der ge 


raubten Arbeit zu fürjtlihem Neichthum emporftieg, ſich abmühte, 


‚ feine Schmerzen zu lindern und ihm das Sterben, das er nicht 
‚ abzuwenden vermochte, wenigitens zu erleichtern. Man konnte 


nicht ichonender und aufopfernder jeine Pflicht thun, als Benno 


‚ fie hier that, und vielleicht war gerade dieſe Aufopferung die 


‘ ichwerite Strafe für den Sterbenden. 


Im Angefichte des Todes 
hielten Züge und Betrug nicht mehr Stand, da zeigte nur bie 
Wahrheit ihr unerbittliches Antlig und hier war es cin vernichtendes. 
Das ſchwere qualvolle Ringen dauerte ja nur eine einzige Nacht, 
aber in diefen wenigen Stunden drängte ſich die Qual eines 
ganzen Lebens und die Vergeltung für ein ganzes Yeben zufammen. 

Als der Morgen endlich anbrach, ein grauer, trüber Nebel 
morgen, da waren Kampf und Qual zu Ende und da war es 
Benno Reinsfelds Hand, weldye dem Todten die Augen zudrüdte. 
Dann hob er fanft die ſchluchzende Alice empor, die an der Leiche 
des Baters in die Kniee gefunfen war, und führte fie fer. 
Er jprach fein einziges Wort der Liebe oder Hoffnung zu ihr: 
das wäre ihm in diefer Stunde wie Frevel erichienen, aber bie 
Art, wie er den Arm um fie legte und fie ftüßte, zeiate, daß er 
das jegt als fein Recht in Aniprudy nahın und an feine Trennung 
mehr dadıte. Er hätte dem Manne, der jeinem Vater io Schweres 
angetban, niemals den Vaternamen geben können; das biieb ihm 
jegt eripart, auch wenn Alice fein Weib wurde, und ihre Reichthum, 
ber ſich auf jenem Betruge aufbaute, war größtentheils zer 
ronnen — jeßt jtand nichts mehr trennend zwijchen ihnen. 

Auch Erna hatte ſich, als alles vorüber war, in ihr Zimmer 
zurüdgezogen. Alice bedurfte ihrer jet nicht, Sie hatte einen 
beſſeren und mäheren Tröfter zur Seite. 

Das junge Mädchen ſaß bleich und überwacht am FFeniter 
und bfidte hinaus in den grauenden Morgen, der auch nur Nebel 
und Wolfen brachte. Wie fern ihr der Oheim auch geftanden, 
wie herb fie oft ihm und seinen Charakter beurtheilt hatte, die 
letzten ſchweren Leidensjtunden hatten das alles ausgelöſcht, e: 
war nur nod) der Bruder ihrer Mutter geweſen, den fie jterben jah. 

Ihre Gedanken teilten freilich nicht mehr bei dem Todten, 
fie ſuchten einen Lebenden, ber jeßt vielleicht im Nebelgrauen vor 
den Trümmern feines vernichteten Wertes ſtand. Sie wußte, 
was ihm dies Werk geweſen war, und fühlte den Schlag mit, der 
ihn getroffen. Erna hätte ihr Leben hingegeben für die Möglich: 
feit, jegt an feiner Seite zu fein, ihn tröjten und ermuthigen zu 
dürfen, und ‚Nat dejien mußte fie ihn allein laſſen in jeiner Ber: 
zweiflung. Die beadhtete es nicht, daß Greif ſich zu ihr geſchlichen 
hatte und bittend und ſchmeichelnd den Kopf in ihren Schoß 
legte, fondern ſtarrte vegungslos hinaus in das Nebelwogen. 

Da wurde die Thür geöffnet. Waltenberg trat ein und näherte 
fich langſam feiner Braut, die, in ihre Träumereien verſumken, ihn 
erſt gewahrte, als er vor ihr jtand und ihren Namen nannte. 

Erna zudte zuſammen, als Waltenberg auf fie zutrat, und 
wich zuräd; es war eine umwoilfürliche Bewegung des Schwedens 
und Widerwillens, die ihm nicht entgehen konnte; er lächelte, aber 
es war ein Lächeln der tiefiten Bitterkeit. 

„Fürchteſt Du meine Nähe jo ſehr? ch bedanre, fie Dir 
troßdem aufdrängen zu müſſen, denn ich habe mit Dir zu reden.“ 

„Jetzt? In diefer Stunde, wo der Tod über unſere Schwelle 
aejchritten iſt?“ fragte das junge Mädchen in müdem vorwurfs 
vollen Tone. 

„Gerade jetzt, jpäter möchte ich — den Muth verlieren.“ 

Die Worte Hangen fo ſeltſam dumpf und gepreßt. daß Erna 
betroffen anfblidte. Ihre Augen begegneten den feinigen, aber fie 


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Der Fleiß. 


Originalzeichmung von A. Brunner, 


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fanden dort nicht mehr jene lodernde Gluth, die Tie im der lebten 
Zeit fo namenlos geängftigt hatte. An diejem dunklen Blick glühte 


jeht etwas anderes, war es Haß oder Liebe, oder vielleicht beides 


zugleih — fie wußte es ſich micht zu deuten. 
„So fprich!” ſagte fie malt. „Ich höre.” 
Er ſchwieg noch immer und fah ſie unverwandt an, endlich 
jagte er mit ſchwerem Nachdruck: 
„sch komme, Div Lebewohl zu jagen.” 
„Du willit abreiien? Jetzt, noch che der Onlel zur legten 
Ruhe qebetiet iſt?“ 


„Ja — uim nicht zurückzulehren! Du mißverſtehſt mich, 


Erna wagte es nicht, ihre Bitte zu wiederholen, fie begriff. 
daß dieſe leidenſchaftliche Natur wohl entſagen, aber nicht verzeihen 
fonnte; in flummer Ergebung jentte jie das Haupt. 

„Lebe wohl!” jagte Ernſt, auch jetzt noch in dem herben, Feind: 
jeligen. Tone, den ex während der ganzen Unterredung feſtgehalten 
hatte, „Vergiß mich — es. wird Dir feicht werben an feiner Seite.“ 

Sie fah zu ihm auf mit heißen Thränen im Auge. 

„Ach werde Did) nie vergeſſen, Ernjt, niemals! Aber ich 
werde es ewig als einen Vorwurf empfinden, daß Du in Haß 


und Bitterfeit von mir gegangen bift.” 


Erna; es handelt jich hier wicht um Tage oder Wochen, das Lebe: | 


wohl gilt unferer Trennung.“ 


„Trennung?“ Das junge Mädchen ſah ihn ungläubig, halb | 
verſtändnißlos an, die Botschaft Fam zu jäh und unvermiättelt, um | 


iofort beariffen zu werden. 


„Du ſcheinſt nicht an meine Großmuth zu glauben,” fagte | 
Ernſt im herbſten Tune. „Freilich, noch geitern hätte ich Euch beide, | 


Did) und Deinen Wolfgang, cher vernichtet, als Tir die Freiheit 


zurädgeneben. Das ijt vorbei — er hat es mid) gelehrt, wie man | 


feine Gegner zwingt, Denfit Dur, ich lenne die Hand nicht, die mic) 
emporriß, als ich am Ausgange der Brüde ſtürzte? Chne dieje Hand 
hätte mich der brechende Pfeiler niedergefchmettert, zermalmt. Du haſt 
es and) aejeben, ich weiß es, und wirt ihn nun noch mehr be: 
wundern, Deinen Helden, den Du geſtern ſchon mit fo verklärten 
Blicken anichanteit. Mit dieſer That wächit ev Dir vollends zu einem 
Ideale empor — wie jtche ich dagegen da in Deinen Augen!” 


„Ja, ich ſah es!” flüjterte Erna mit gefenftem Blid, „aber ' 


ich alaubte nicht, daß Du ihm erkannt hätteft in der Betäubung 
des Sturzes, in dev Verwirrung der allgemeinen Flucht.“ 

„Seinen Todfeind erkennt man immer, jelbit wenn ev einem 
das Leben reitet! Ich wollte es ihm schen geſtern jagen, un— 
mittelbar nach der Rataftrophe, aber ich brachte es wicht über die 
Lippen; ein Dankeswort diejem Manne gegemüber hatte mich er- 
jtidt. So mag er es denn von Dir hören! Sage ihm, daß ich meine 
Forderung zurüchnehme und ihn jeines Wortes entlaſſe, Daß ich Dich 
freigegeben habe, Dann find wir quitt, mehr als quitt. Ich gebe 
ihm zehnfach fo viel, als das Leben werth it, Das er mir erhielt.” 

Erna war erbleichend aufgefahren bei der Enthüllung, die 
fie freilich langſt geahnt hatte. 


„Du haft ihm gefordert? Alſo fam es doch dahin in jener , 


Unterredung zwiſchen Euch!“ 

„Glaubſt Du, daß es meine Abſicht war, ibm ein Glüchk in 
Deinen Armen zu gönnen?“ fragte Waltenberq mit bitterem Muf: 
lachen. „Darauf iſt meine Natur nicht anaelegt. Ach hätte ihn 
niedergeichoflen ohne die geſtrige Stunde, und er gab mir jein 
Wort, ſich mir zu jtellen, fobald die Wolfenjteiner Brücke vollendet 
ſei — das Schickſal ſelbſt hat uns die Antwort darauf gegeben!” 

Der hohnvoll bittere Tum beirete Erna jetzt nicht mehr, fie 
hörte nur Die verzehrende Qual darin, fühlte nur, was dieſe 
Entjagung dem leidenjchaftlichen Manne foitete. Yeife und bittend 
legte jie die Hand auf feinen Arm. 

„Ernit, glaube mir, ich fühle das Opfer, das Du mir bringit, 
in jeiner ganzen Schwere, Dir haſt mich arenzenlos geliebt —* 

„Ja,“ ſagta er ſchneidend, „und ich war Thor genug, mir 
einzubilden, daR cine Yeidenihaft wie die meine ſich Gegenlicbe 
erzwingen müsse. Ich glaubte, wenn ich Dich nach einem andern 
Welttbeit führte, wenn ich den Dcean zwiſchen Euch fegte, dann 
würdeit Du vergeifen lernen und Dich Deinem Gatten zuwenden. 
Net iſt es mir Har geworden, daß ich veripielt habe! Ich werde 
diefe Yiebe nie aus Deinem Herzen veihen, und wenn ich ihn 
niedergeichofien hätte, fo hätteft Du den Todten noch gelicht. 
Sept, wo er im Unglüd iſt, fliegt ihm ja Deine ganze Seele 
zu — jo neh’ bin zu ihm, ich hindere Dich wicht mehr — Du 
bist frei!” 

„Laß uns zufammen gehen!” bat Erna mit aufflammender 
Innigkeit. „Biete Wolfgang die Hand zur Verſohnung, Du 
fannjt es, denn jet bilt Du der Großmüthige, der Gewährende, 
wir haben Dir nur zu danken.“ 

Er ſtieß mit einer beinahe wilden Hetigfeit ihre Hand zurüd. 

„Nein, ich will, id) kann dieſem Manne nicht mehr begegnen! 
Wenn id) ihm wiederiche, ſtehe ich für nichts; dann bäumen fich 
all die Dämonen in mir wieder auf; Du ahnſt nicht, was es mich 
aefojtet Hat, jie miederzugwingen, laß fie ruhen!“ 


„Im Haſſe?“ rief er mit auäbrechender Leidenschaft, und 
vlöglich fühlte ſich Erna von feinen Armen umſchloſſen, an jeine 
Brust geriffen. Noch einmal überjtrömte er fie mit jener wilden, 
glühenden Zärtlichleit, die nie auch nur die Teifefte Erwiderung 
aefunden hatt; aber in diefem Augenblide hatte fie etwas vom 
Wahnjinn des Schmerzes an fih. Dann riß er ſich los und 
ſtürzte fort; der furze, ſtürmiſche Liebestraum feines Lebens war 
zu Ende, war ausgeräumt für immer! — 

Draußen war inzwifchen der Tag angebrochen; jeit geſtern 
abend Hatte der Regen angehört, auch der Sturm hatte fich 
während der Nacht, wenigitens theilweife, gelegt, der wilde Auf: 
ruhr der Natur jchien ſich allmählich zu beruhigen. 

Die Nettungsarbeiten waren überall eingeftellt worden, man 
hatte nur die nöthigen Wachen an den einzelnge Punkten zurüd: 
gelaſſen. Es gab in der That faum mehr etwax-zu reiten, Seit 
die Wolfenfteiner VBrüde vernichtet war, Der ®chwerite Schlag 
war zuletzt gefallen, aber die ganze weite Bahnſtiecke hatte den 
ungeheuerjten Schaden erlitten, nur wenige der zahlreichen Bauten 
und Briten waren unverichrt geblieben, und angelicht& diefer Ver: 
heerung erſchien die Wiederheritellung fait unmöglich. Der Schöpfer 
des ganzen Unternehmens laq todt in feinem Haufe, die geplante 
Uebernahme: von feiten der Geſellſchaft fiel ſelbſtverſtändlich mit 
diefer Hataftrophe. Tb und wann jich andere fanden, die das 
halbzeritörte Wert wieder aufnahmen, mußte erſt die Zeit lehren, 

Es mochten wohl Solche Gedanken jein, die Durch die Seele 
des Mannes zogen, der jo cinfam mit verichränfkten Armen am 
Rande der Wolfenjteiner Schlucht jtand und auf die Verwüſtung 
blidte. Es war ein eiſig falter, düjterer Herbſtmorgen; in den 
Schluchten und Thälern gährten noch dichte, weihgraue Nebel: 
mafien, lange Wolfenzüge ſchwebten an den Bergen bin und ein 
neauer, Schwerer Himmel blidte wieder auf die naſſe, zerwühlte 
Erde, die noch ringsum die Spuxen dieſer Schredenstage trug. 

Ueberall entwurzelte umd a ochene Bäume, zerichmeiterte 
Frelshlöde, wüſte Schlamm: und Geröllmaſſen, überall noch die 
Spuren der Arbeiter, die jo heldenmüthig und jo vergeblich mit 
den Elementen gerungen hatten. Dazu tönte dumpf das Raujcen 


‚ der Wildbäche, die zwar nicht mehr gefahrdrohend, aber noch 


immer veigend genug von den Höhen niederitürzten, und das 
Rauicen des Windes, der den triefenden, fturmgepeitichten Wäldern 
noch immer feine Ruhe gönnte. 

Rue in der Wollenſteiner Schlucht herrſchte Die Nuhe des 
Grabes. Wie ein riefiger Gletſcher lagerte cs dort in der Tiefe, 
weis und ſtarr und dazwiſchen ein chaotiſches Gemiſch von Erd 
und Felsmaſſen. Die Lawine, die zweifellos am Gipfel des 
Wolfenjtein entitanden war, mußte furchtbar angewachſen jein 
auf ihrem Wege, denn ſie hatte den ganzen Bannwald, von dem 
man umbedingten Schub erhoffte, niedergeworfen, die Hundert: 
jährigen Tannen geknickt wie dürres Gefträuch und mit ihnen 
auch einen Theil des Bergesabhanges in die Tiefe geriſſen. Und 
dann Hatte fich dieſe ganze Malle von Eis und Schnee, von 
Felsblöcken und Banmitämmen mit einer durch die raſende 
Schnelligkeit ihres Yanfes verzehnfachten Wucht gegen die Brüde 
geworfen und fic zerichmettert. Einem ſolchen Anjturm twideritand 
freilich fein Wert von Menichenhand. 

Es war immerhin ein Troft, ſich das ſagen zu können; aber 
Wolfgang Elmhorſt schien für diefen Troſt nicht zugänglich zu 
fein. In dumpfem Brüten ftarrte er auf das cijige Grab, wo 
alt feine ſtolzen Hoffnungen und, Entwürfe ruhten, um vielleicht 
nie wieder aufzuerjtehen. Schon damals, als man den Blan 
der ganzen Bahnitrede entwarf, war die Wolfenfteiner Brücke 
beanitandet worden, der ungeheuren Nojten wegen. Man wollte 
die Schlucht überhaupt vermeiden und die Bahn auf einem Um— 
wege weiter führen, der nicht halb fo foitipielig war. Aber 
Nordheim, den das Kühne, Grokartige des Entwwurfes reizte, und 


— Bl > 


der überdies einen Glanzpunkt für feine Bahn braudyte, war mit 
allem Nachdruck für die Brücke eingetreten und hatte ſchließlich 
feinen Willen durchgeſetzt. Für die Zukunft war das micht zu 
hoffen, da fonnten nur Gründe der Spariamfeit maßgebend fein, und 
damit war das Urtheil des Werkes geiprochen, das eine jeindjelige 
Macht gerade in dem Augenblid vernichtete, wo es der Welt vor 
Augen treten und feinem Schöpfer Ruhm und Namen bringen follie. 

Da fam etwas heran, was in mächtigen Sätzen über den 
naffen, jchlammigen Erdboden Hinjagte, ein großer, löwenartiger 
Hund, der, frob, der langen Zimmerhaft entronnen zu ſein, feine 
Freude in ungeſtümer Weile fund gab, Er blieb dicht vor Elm: 
horit jichen und machte Miene, ihm in gewohnter Liebenswürdig— 
feit die Zähne- zu weilen, unterlieh das aber zum erſten Male, 
weil etwas anderes feine Aufmerkſamkeit feſſelte. Der Huge Greif 
merkte jofort, was geichehen war. Er wurde unruhig, richtete 
ipürend den Kopf nach der Tiefe, nad) der anderen Seite der 
Schlucht und wandte danı die großen, dunklen Augen wie fragend 
auf den Chefingenieur. 

Wolfgang hatte bisher immer, noch feine Faſſung behauptet, 
wenigſtens äuferlich; bei diefem unbedeutenden Zufall, vor der 
ftummen Frage des Thieres, brad) ſie zujanmen. Gr legte die 
Hand über: die Augen und ein paar Thränen, die eriten jeit feiner 
Knabenzeit, vollien heiß und bremmend über jeine Wangen. 

Da hörte er feinen Namen nennen, Teile, jchüchtern, mit 
einem Zone, wie er ihn noch nie vernommen hatte und der ihm 
gleichwohl nicht fremd war. 

„Wolfgang!“ 

Er wandte ſich um, eine vajche Bewegung mit der Hand 
tifgte die verrätberiiche Spur auf den Wangen; dann trat er, 
ſich gewaltfam zujammenraffend, der ſchlanken Gejtalt entgegen, 
die, in einen dunklen Regenmantel gehüllt, das blonde Haar 
unter einem ſchwarzen Spitzentuche geborgen, einige Schritte ent- 
fernt jtand, als wage fie es nicht, näher zu kommen, 

„Sie hier, Erna?“ fragte er haſtig. „Nach der furdibaren 
Nacht, die Sie durchlebt haben?” 

„Ja, vie war furchtbar!” jagte das junge Mädchen mit 
einem fchweren Athemzuge. „Sie haben die Nachricht von dem 
Tode des Onfels erhalten?” 

„Vor zwei Stunden. Ich hatte wicht mehr das Recht, an 
jeinem Sterbebette zu weilen; auch hätte wohl meine Anweſen— 
heit ihm nur gepeinigt, deshalb bin ich Fern geblieben. Wie 
trägt es Alice?“ 

„Sie ift für den Augenblid noch faſſungslos; aber Doktor 
Reinsfeld iſt an ihrer Seite.“ 

„Dann wird fie den Schlag überwinden, Sie lieben ſich 
ja, und wenn man das Gelichte ſchirmend und tröftend zur Seite 
hat, erträgt ſich alles, auch das Schwerite im Leben.“ 

Es ſprach eine tiefe Bitterfeit aus den Worten; Erna antivortete 
nicht, aber fie trat langſam näher und jtellte ſich an jeine Seite. 
Er blidte fie an; aber fein Antlis verbüfterte ich nur noch mehr. 


„sch weiß es, warım Sie kommen; Sie wollen mir ein, 


Wort des Troftes, der Theilnabme jagen — wozu das? Der 
Fluch, den Ahr Vater jterbend ausgeiprocen, bat ſich ja nun 
erfüllt, die Zerſtörung des alten Erbfiges der Thurgau iſt gerächt, 
und ich glaube, der Freiherr würde zufrieden fein mit dieſer Rache.“ 

„Legen Sie den Worten, welche die Verzweiflung, die Er 
regung des nahen Todes auspreßte, wirklich eine ſolche Kraft 
bei?“ fragte Erna vorwurfsvoll. „Seit wann find Sie dem 
Aberglauben zugänglich?" 

„Seit der Glaube an meine eigene Kraft darunter begraben 
liegt! Laſſen Sie mich allein, Erna! Was ſoll mic das Almoſen 
einer Theilnahme, zu dem Sie fi) heimlich hinweggeſtohlen haben, 
das Sie vielleicht büßen müfjen bei Ihrem Verlobten. Ich brauche 
fein Mitleid, auch von Ahnen nicht!" 

Mit der ganzen wilden Gereiztheit des Unglüds wandte er 
ſich ab und blidte zu dem Moffenjtein empor, deſſen Gipfel wei 
und geipenftig durch die Wolfen dämmerte. Er allein ſchien fich 
heute entjchleiern zu wollen, wo all die anderen Berge ſich in 
Nebel verhüllten. 

„Ich komme nicht heimlich und nicht mit einem Almoſen,“ 
fagte Erna, mit einer Stimme, deren Beben fie vergebens zu be- 
herrſchen verfuchte. „Ernit weiß es, daß ich Sie auffuche, und er 
hat mir eine Botſchaft mitgegeben.“ 

„Ernſt Waltenberg — an mid?” 


„An Sie, Woligang! Er läßt Ihnen jagen, daß er Sie 
Ihres Wortes entbindet und feine Forderung zurüdzieht.“ 

Elmhorſts Brauen zogen ſich finſter zufammen und ein bei- 
nahe verächtlicher Ausdruck fpielte wm feine Lippen, als er ent- 
gegnete: — „Und das hat er Ihnen mitgeteilt? Schr rüdjichtsvoll 
in der That! Sonſt pflegen dergleichen Dinge unter Männern 
als Geheimniß betrachtet zu werden. ebenfalls habe ich feine 
Bedingungen angenommen, dieſen Alt der Großmuth aber nchme 
ich nicht an — jebt am wenigſten.“* 

„And Sie gaben ihm doc) zuerit das Beifpiel der Grofmuth. 
Lengnen Sie es nicht! Er kennt die Hand, welche ihn bier an diefer 
Stelle dem Verderben entriß, wie ich jie Tanne,“ 

„Ich laſſe niemand verderben, wenn es in meiner Macht 
ftcht,, ihm zu retten, aud) meinen Feind nicht,” Tante Wolfgang 
falt. „In ſolchen Momenten wirkt nur der Anjtinkt der Menſch— 
lichkeit, wicht die Ueberlegung, und einen Dank weife ich entichieden 
zurüch. Sagen Sie das Herm Waltenberg, mein Fräulein, da 
er Sie dod nun einmal zum Boten auserwählt hat.“ 

„Weiſen Sie diejen Boten wirklich fo hart zurück?“ Die 
Stimme des Mädchens Hang in weichen, verichleierten Tone und 
die großen liefblauen Augen wandten ſich mit einem jeltfamen 
Auflenchten dem Manne zu, der jest die mühlam verhaltene 
Qual nicht länger bändigte. 

„Wozu foltern Sie mic mit diefem Bli und Ton?" rief 
er in ausbrechender Yeidenihaft. „Sie gehören einem anderen —“ 

„Den Sie verfennen, wie ic) es that! Jetzt freilich lann 
ich die ganze Größe des Opfers ermeſſen, das er mir bringt, 
denn ich weiß, wie grenzenlos er mic) geliebt bat, und mit diefer 
Liebe im Herzen gab er mir meine Freiheit zurück und fagte mir 


' ein Lebewohl für immer,“ 


Wolfgang war aufgefahren bei der unerwartelen Nachricht; 
mitten durch die Nacht dev Verzweiflung und Hoffnungsloſigkeit 


zuckte ein bfendender Strahl, der neues Licht und Leben verhieh. 


„Du bift frei, Erna?“ brach er aus. 
fommjt Du — * 

„gu Dir!“ ergänzte fie. „Du trägit allein jo ſchwer an 
Deinem Unglüd, ich fordere meinen Antheil daran!“ 

Die Worte Fangen in einfacher Innigfeit, als jet das felbit- 
verſtändlich; aber Elmborits Stirn färbte eine dunkle Röthe und 
fein Auge janf zu Boden. Er rang jchwer mit jeinem Stolze, 
der dieſe Hingebung in diefem Augenblit als eine herbe De 
mülbigung empfand, 

„Nein, mein, jeßt nicht!“ murmelte er, mit einem Verſuch 
der Abwehr. „Lak mich nur erſt wieder Muth gewinnen, mid) 
enporraffen, jest kann ich Dein Opfer nicht annehmen — es 
drüdt mich zu Boden.” 

„Wolf!“ Der alte Schmeichelname aus feiner Knabenzeit, 
den er feitdem nur noch von Benno gehört hatte, Fam jo weich 
und jü von den Lippen des Mädchens. „Wolf, jet gerade 
braucht Du mich! Du brauchſt eine Liebe, die Did) ermuthigt 
und aufrecht erhält; aicb feinem falichen Stolze Gehör. Einſt 
franteft Du mich, ob ich Div zur Seite geblieben wäre auf dem 
einfamen, vauben Wege, der zur Höhe führt, jetzt fomme ich und 
bringe Dir die Antwort. Da ſollſt ihm nicht allein gehen, ic) 
will bei Div bleiben, in Arbeit und Ringen, in Noth und Ge 
fahr. Wenn Du Deiner Kraft und Deiner Zukunft nicht mehr 


„Und num — nun 


‚ vertraut, ich alaube unerſchütterlich daran — an meinen Wolfgang!“ 


Sie blidte mit einem  ftrahlenden, ſiegesgewiſſen Yächeln 
zu ihm empor; da brach fein Widerftand, mit einer ſtürmiſchen 
Berwequng breitete er die Mrme aus und zug die Gelichte an 
jeine Bruſt. 

Greif hatte inzwiichen mit höchſter Verwunderung und deut 
lihem Meifvergnügen diefer Entwickelung der Sache zuaefchen. 
Sie war ihm zwar noch nicht ganz Hax, aber joviel begriff er doch, 
daß er den Chefingenieur, der feine junge Herrin in den Armen hielt 
und fie fühte, in Zukunft nicht mehr auknurren und ihm die Zähne 
weilen dürfe, und das befümmerte ihn aufrichtig. Er zog es vor, 
einſtweilen eine abtwartende Haltung anzunehmen, indem ev fid) 
wiederlegte und die beiden unverwandt mit feinen Hugen Augen 
anichaute. 

Droben am Wolfenjtein wallten nod immer die Nebelge 
wänder, aber immer klarer und deutlicher tauchte dev Gipfel daraus 
empor. Heut enticjleierte er fich nicht im kräumerischen Mondes 


glanze, in der duftigen, geheimnifvollen Schönheit dev Mittſommer— 


Te 


< 882 » 


nadıt. Eiſig, wei und geifterhaft jtand er da, über ihm der 


düjtere regenſchwere Himmel, vingsum Sturm und Nebelwogen und 
zu feinen Füßen die Vernichtung, die er jelbjt herabgelandt hatte, 
Und doc) feimte aus Diefer Zerſtörnug ein hohes, reines Glück empor, 
das ſich ſchwer genug durchgerungen Hatte durch all die Stürme, 

x Wolfgang lich die Gelicbie aus feinen Armen und richtete 
ſich empor, verſchwunden war Bitterfeit und Rerzweillung. Es 





war ihm ja nun zurüdgelommen, das ſonnige leuchtende Glüd, 
das er für immer entſchwunden wähnte, und mit ihm fam auch 
der alte Muth wieder, die alte unbezwingliche Energie. 
„Dun haſt recht, meine Erna!“ xief er aufflammend. „ch 
will nicht Meinmüthiq verzagen. Ich zwinge fie doch noch, die 
Unheilsmacht da oben, und hat fie mic mein Werk vernichtet — 
nun denn, ich baue es von neuem!“ (Schluß folgt.) 





Originalgeflalten in der heimischen Bogelwelt, 
Chierdaraktergeichnungen von Adolf und Karl Müller. 


I. Serrfiber: Stein und Soldadler 














ID" ebenfo gut hätten wir überſchriftlich fagen 
“ fünnen: Stein oder Goldadler, denn es find 
troß langem Dim und SHertreiien, peinlichem Auffuchen 
und Belchreiben von Abanderungen im feinen und Un 
bedeutenden bis jebt mit ſchlagendem, überzeugendem 
Erfolge noch keine durchgreifenden, endgültigen Merf 
male der Unlerſcheidung dieſer Adler in zwei Arten 
aufgeſunden worden 
Die Geſammtlänge des Adler acht bis zu 90 cm, 
und die Flugſpanuung wnfapt beinahe das Zweieinhalb 
fache dieſer Lange. Dieſe Mofe zeigen fchon, daß wir 
mit einem Mieten der Vogelwelt zu thun haben, der 
nat Ferner auſerordentlich ausgeſtalleten Wehrhaftigfeit, 
mer Kühnheit in Raub und Mordſinn die Koloſſe der 
Bogelwelt an Kraft und Bedentung weit überragt, Wie 
der Lowe Der König der Thiere überhaupt genannt 
wird, Fo sit der Adler der König der Vögel, ein Herricher 
der Ye 
Wir wollen bier in allgemeinen Umriſſen feine Cha 
ſteriſirung nach unſeren früheren Werfen geben: „Schon 
ı der Ruhe befindet die aufrechte Haltung und vor allem 
roßes, prachtiges Auge, der wahre Spiegel der 
naewölhnlide Thier. Das heflleuchtende 
Adlers Blick kinder Knhuheit und Majeftät, 








während die Federn, Die fich über den uberen vorragenden 
Angenbeinrand, die glänzende hochrothe Iris halb bededend, in 
wagerechter Linie zichen, dem Auge den Ausdruck der Verjchlagen- 
heit, Wildheit und Raubluft verleihen. Dieſes große Auge voll 
herrlichen Ganzes iſt der edelſte Sinn diefer Könige der ge: 
fiederten Welt. Auf diefen Sinn find fie, wie alle Raubvögel, 
weientfih beim Nuffinden ihrer Nahrung bingewiefen, weshalb 
er auch bedeutend entwichelt iſt.“ 

Es intereſſirt gewiß höchlich, dies ausgezeichnete Gebilde hier 
in den Örumdzügen feiner Einrichtung zum allgemeinen Berjtänd- 
niß gebracht zu ſehen, weshalb es geftattet jei, jene in Furzen 
Umriſſen zu zeigen, um jo mehr, als in den meiſten Werfen 
davon nur ganz allgemein die Nede zu fein pflegt. — Obgleich 
der Augapfel jelbft wenig oder gar nicht bewegungsfähig it, fo 
hebt diejen Mißſtand die große Wendbarkeit des Haljes auf. Die 
Form des Augapfels iſt cine kegel- oder bienförmige, nach hinten 
ſich bedeutend verbreiterude, 
ein Bortheil, welcher Raums 
und Gewichtserſparniß zur 
Folge bat. Der Kopf des 
Steinadfers ijt ja verhältnißs 
mäßig Hein, und in ihm ge: 
ftaltet fid) dennoch ein wahres 
Mufter optiiher Fähigkeit. 
Durch die plögliche Erweite— 
rung des Mugenranmes nad) 
hinten wird die Sehadhfe, das 
iſt die Linie von der Mitte der 
äußeren Haut des Augapfels, 
der „Hornhaut“ (cornea), bis 
auf den Grund des Auges 
gedacht, möglichſt Tang und 
die bildempfangende Fläche im 
Augengrunde eine bedeutend 
breite, In der unter ber Horn⸗ 
haut befindlichen „weißen“ 
oder „Lederhaut” (selerotica) 
theilen ſich zwei platte Uefte, 
die knochige, ziegelförmig in 
einander geichobene Ablage: 
rungen aufnehmen in Gejitalt 
eines Ringes, fo da hierin 
der Augapfel wie von einer 
oben und unten offenen Kapfel 
eingefaßt ift, die dem Auge 
Halt und Stüße verleiht. Eine 
Hace Wölbung zeigt die Horn⸗ 
baut, An ihrer inneren Fläche 
fißen feine Muskelfaſern, die 
durch ihre Anziehen die äußere Wölbung der Hornhaut noch mehr 
abflachen können, wodurd eine Kürzung der Sehachſe entiteht. 
Ebenſo erhält bie gr ang (Iris) durd) ausgebildete Mustel- 
einrichtungen das 

dehnen. Hierdurch kann der von ihr eingefchloffene Schraum der 
Bupille (des „Fenſters“) — wie manche Forſcher behaupten — 
jeden Hugenblid nad) Bedürfniß des Fern- oder Nahefehens er— 
weitert oder verengert Werden. 


a Hernbaut. I 
u 


fi) die „Aderhaut“ (chorioidea), nad) innen mit einem dunklen 
Farbftoffe angefüllt‘, eine natürliche camera obscura bildend, 
und der mit der Aderhaut verbundene Strahlentörper (corpus 
eiliare), ſowie endlich die Schon erwähnte Jris abjondert. Der 


Strahlenkörper umfaßt die Kapſel oder Hülle der Linfe mit einem | 


Kranze ftrahliger Musfelfafern, der Ciliarmusteln, die — mit 
Hold) zu reden — wie ein Kautſchulring das ganze Auge ums 
geben. Dieje Mustelfafern mit ihren fich verziweigenden Fort 
ſetzungen find fogenannte quergeitreifte Musleln, die im thieriſchen 
Organismus die Nolle der dem freien Willen unterworfenen Ber 
wequngen der Sinneswerkjeuge übernehmen. 

Aus der Naturlchre weiß man, daß in der fonver-fonver 
geftalteien Linje, welche im vorderen Naume des Glaskörbers 
vom Auge fich befindet, die durch die Pupille gehenden Strahlen 
eines Gegenſtandes gebrochen werden und durd den mit kryſtall— 
heller Flüffigkeit angefüllten Glaskörper bis auf die im Augen: 


1888 





Das Adferange. 
N Seite ber bg Are nad der Nase bin. 8 Seite der Augenmwölbung * beit 


derbaut. c Mnohenring. ECiliarmubtel. 1 Hasförwer. 
Regentogenbaut. v Linſt. w Hamm cber Fächer. x Schnee. = 


ermögen, ſich zufammenzuziehen und auszus 


Hinter der Hornhaut entwidelt 
ſich noch ein anderes Hautſyſtem, die „Traubenhaut“, in welcder | 


| grunde, im Brennpunkte der Linſe befindliche Membran, die „Neb- 
haut“, gehen. Hier empfängt das Bild ber Schnerv, der ſich, die 
erwähnte weiße und die Hornhaut durchbrechend, rechts und Linfs 
| bis an den Strahlenförper verzweigt und das Bild dem Schiene, 
das iſt dem Bewußtiein, mittheilt. Ueber jo mandye Einrichtungen 
| des Adlerauges find die Forſcher noch theil® im Unklaren, theils 
' getheilter Meinung. Die Annahme von Helmholtz ziehen wir fo 
| mancher anderen vor. Nach ihm erfchlafft das Band, worin die 
‚ Augenlinfe hängt, wenn fich der Strahlenkörper um die Linſe 
| zufammenzieht. Hierdurch erhält diefelde eine fonverere Form; 
neht der Steahlenkörperring wieder in den gewöhnfichen Zuſtand 
‚ über, fo ſpannt fich das Aufhängeband der Linfe und dieje wird 
| an ihren Wölbungen flacher. Diefe Musfelthätigfeit verleiht dem 
Auge die Fähigleit der Accommodation oder der dem bdeuflicheren 
' Erkennen von näheren und entfernteren Gegenftänden fid) anbe: 
quemenden Stellung des Auges. Diefe Hauptvorrichtung hat noch 
eine zweite im Gefolge, So— 
bald jich die Musfelfnfern des 
Strahlenkörpers zufammen: 
ziehen, fchieben fie mit ihren 
Verzweigungen die Aderhaut 
und mit ihr die Nekhaut nad) 
vorn, wodurd ein Drud auf 
die Flüffigkeit im Glasförper 
nach vorn entjtcht, dem auch 
die Linie folgt. Hierdurd) Nacht 
fich die letztere ab, eine Form, 
welcher fie oft in der großen 
Flughöhe des Adlers zum 
Fernſehen bedarf. 

Ka, diefes optiſche Spiel iſt 
die Folge der ſich fo schnell 
und vielfad) verändernden Ver: 
hältniffe des Auges zu den 
Gefichtsobjetten im Fluge des 
Bogeld. Was wäre der in 
den höchſten Flugregionen jo 
oft ſich beivegende Adler mit 
all feiner Wehrhaftigkeit ohne 
dieſes natürliche Fernglas? 
Erſt dies macht ihn zum Be 
herrſcher der Lüfte, verleiht 
feinem Raubweſen den groß: 
artigen Stil, die ausgedehnte 
Gewalt, vermöge welcher er 
aus dem Aether und bon 
den höchiten Bergesgipfeln die 
Heinjte Beute bemerft. 
Dem vorzüglichen Sehvermö— 
gen ftchen zwei gleich) ausgebildete Gliedmaßen zu Dienjten: die 
mächtigen Schwingen und die großen, jcharjbewehrten Füße, die 
„Fänge“. Mit jenen hebt er fi, feinem gewaltigen Drange 
zufolge, über die Schweite de3 menschlichen Blides hoch in 
die Lüfte, mit diefen padt er überwältigend und würgend die 
Beute. „Des Adlers Flug“ fagen wir im unferen 
„Thieren der Heimath“ — „it hochitrebend, majeſtätiſch, den 
nanzen Weſen des edlen Vogels angemeifen; hehr und be- 
wegungslos iſt fein Schweben, rauichend und unwiderſtehlich fein 
Herabitoßen.” 

Doch beſchäftigen wir uns mit feiner Lebensweife, um ein 
Geſammthild von ihm zu bekommen. Der Steinadler wählt 
Gegenden und Drte, die ihm Sicherheit und Nahrung bieten, 
felfige Gebirgszüge, umfallende, große Wälder. Riefenthal giebt 
als jtändige Brutorte die Gegenden von Breslau über Dels, 
Trebnis, Ohlau nad) Polen hin an, wofelbjt fich die reichen Jagd— 
gebiefe von Trachenberg, Polniſch-Wartenberg, Medzibor ze. öffnen, 
ferner die Wälder Oberſchleſiens, Dit: und Weftpreußens. Der: 
jelbe Kenner der einheimifchen Raubvögel vergleicht draftiich unferen 
Vogel mit den Großen der Erde, welder, wie diefe zum befeftigten 
Grundbeſih gehörend, feinem Standreviere und aud dem Stamm: 
fchloffe, feinem Horfte, treu bleibt. Während des Winters ver 
beffert und vergrößert ex ihn, fo daß er im Frühjahr oft wohl 
um 20 bis 30 cm höher aufgebaut evicheint. Dies iſt die auf 
Felfeneinfchnitten und Niichen erbaute mächtige, umfangreiche Brut: 

106 


Slaſen bin, 
terbant. r Aetztaut 
Fapilie („preniter”). 


834 60 


ftätte aus Holzknüppeln und Reiſern, auf welcher ſich nach Brehm daß er nur ſchwer auffliegen kann. Seine Stimme iſt der bes 
ein Menſch bequem lagern kann. Buſſards ähnlich, aber natürlich viel Durchdringender und fchärfer, 
Gewöhnlich weilt nur ein junger Adler im SHorjte, dem | und mit Entſetzen ſucht das Wild fchleunigft feine Schlupfwinkel 
anfangs der Hintere, Hachmuldige Raum am Felsgeftein, begrenzt | auf, wenn er fie auf feinen Streifzügen ertönen läßt. Aengſtlich 
nach der Tiefe von der bis 2 Meter hohen Holzichicht, ange: | ſchüchtern renut das Nudel durcheinander, da! noch cin gellender 
wieſen iſt. Pfiff, und mit angelegten Flügeln herabbrauſend, ſtößt er unter 
Zur Zeit der Paarung, von Mitte März bis Mitte April, | die verwirrte Schar und ſchleppt das Dpfer im den Klauen 
fallen wüthende Kämpfe zwiichen männlichen Adlern vor, demm | mit Gedankenſchnelle fort, Wenngleich der Steinadler nicht vers 
fein Paar dufdet ein anderes in feinem Beutbereiche. Die Kämpfe | mag, einen ſchnell fliegenden Vogel zu fchlagen, fo verfucht er 
werden in der Luft ausgeführt und enden oft blutig, ſo daß die | doch häufig mit Glück, ihn zu ermüden, bis er ſich drüdt und 
Streitenden ſich ineinander verfangen und wirbelnd zur Tiefe fallen. | ihm verfällt. Dagegen entgeht ihm fein noch fo fchnell laufendes 
Wir laſſen Riejenthal weiter jprechen: Thier. — Enten ftößt er mit großer Borliche, indem er fie von 
„Die außerordentliche Fluglraft des Adlers, feine Schnellig- | der Waſſerfläche aufgebt, wenn fie nicht fchnell genug untertauchen. 
feit und Gewandtheit, die jurchtbare Gewalt im Stoß mit Flügeln | Vögeln rupft er vor dem Ströpfen die Federn aus. Much Füchſe 
und Krallen, kurz, die ungebändigte wilde Kraft, welche aus den ſchlägt er. Micht allein mit den furchtbaren Krallen würgt er 
bligenden, im Zorn jich blutroth järbenden Augen fprüht, machen feine Opfer ab, fondern aud) feine gewaltigen Flügelſchläge be- 
den Steinadler zum furchtbariten Feinde der Thierwelt vom Reh | täuben und tüdten biefelben.” 
bis zum Kaninchen und Murmelthier, vom Schwan und der Trappe | Der Menfch, als Beherrſcher der Erde, hat ſchon feit Tanger 
bis zur Lerche hinab. Er frißt das neichlagene Thier oft ſchon | Zeit gegen diefen Schreden der Vögelfchar und der kleinen und 
an, che er fich die Mühe gegeben Hat, es vollends zu tödten; mittelgroßen Säugethiere den Vernichtungskrieg gerichtet, und 
wie beraufcht von dem dampfenden Blut des Schlachtopfers fteht | der Herrſcher der Lüfte muß allmäglih in diefem Kriege er— 
er mit gefträubtem Gefieder auf ihm und kröpft fich oſt fo voll,  Tiegen. 





Wie alt ift der Weibnahtsbaum und wo ift feine Heimath? 


Ten Alexanter Bile. 


ID“ alt ift der Weihnachtsbaum und wo ijt feine Heimath? | das 17. Jahrhundert zurüd, und wenn ihn Scheffel ! ins 10. Jahr: 
Alingt diefe Frage nicht wie eine Ketzerei angefichts der | hundert ſetzt oder Schwerdtgeburth ihn auf feinem berühmten 
Thatfache, daß am Chriftfeft, ſoweit die deutiche Zunge reicht, auf | Lutherbilde? verwendet und fein Vorkommen Somit bis ins 
jedem Weihnadhtstiiche der Lichterbaum flammt? Von Oftprenfen | 16. Jahrhundert ausdehnt, jo entbehrt das jeder thatjächlichen 
bis zum Elſaß, von Nord: und Dftiee bis über die Donau ift er | Grundlage, 

fast durchgängig der Schmud des Chriſtfeſtes. Bisweilen wird Im allgemeinen keitt der Weihnachtsbaum in Norddeutich: 
er durch die fonenannte Pyramide eriegt. Diefe bejteht aus einem . fand früher auf als im Süden. Während ihn nad) München die 
reifiqummundenen ſenkrechten Stabe, an welchem in beftimmten | Königin Karoline erſt um 1830 brachte, führten ihn die preußis- 
Abftänden wagerechte Stäbe angebradjt find, die denjelben grünen ſchen Offiziere und Beamten in Danzig® und im Münjterland 
Schmuck und dazu verguldete Aepſel und Nüſſe, Piefferkuchen und | bereits 1815 ein. Im Jahre 1799 war der Weihnachtsbaum 
Lichter tragen gleich den Zweigen des Tannenbaumes, oder fie | in Leipzig nod völlig unbefannt; denn Magifter G. A. Eberhard 
ift ein phramidenartiges feftes Holzgeftell, welches in ähnlicher Weije | erwähnt in feinem Buche über die Feſte des Jahres + fein Wort 
geſchmückt ift. Selten tritt ein angepußter Kronleuchter an ihre | davon, während er doch der Chriſtbeſcherung, des negenfeitigen 
Stelle. Durch die Herzogin Helene von Orleans hat der Weihnachts | Beſchenkens mit Wadsjtöden, der Umzüge des Knechtes Ruprecht 
baum um 1840 in Frankreich und durch den Prinzen Albert in | und einer Menge Weihnadjtsaberglaubens von Holjtein bis Nürn— 
England Eingang gefunden, wo manibn heute auch) aus Eifen herſtellt. berg ziemlich ausführlich gedenkt. Vierzehn Jahre früher, 1785, 
Nach den Niederlanden, nach Rußland, beionders nad) St. Peters: | aus welcher Zeit wir eine ziemlich ausführlihe Schilderung des 
burg und Moskau, wo er jedoch nur in den höchiten Kreiſen Leipziger WeihnachtSmarktes haben, findet fi der Tannenbaum 
üblich iſt, nach Schweden wie nad Stalien iſt er ebenfalls aus | auf dem Chrijtmarkte in dieſer Stadt noch nicht. Dagegen Toll 
Deutichland gefommen, und in Amerika, wo er immer mehr heis | ev bereits 1765 im Leipzig vorgefommen ſein. Als nämlich der 
milch wird, gilt er vielfach geradezu für cin Merkzeichen des | junge Goethe in diefem Jahre im Haufe der Großmutter des 
Deutichtfums. 1830 kam er nad Ungarn, wo er jedoch noch Dichters Theodor Körner, der Gattin des Kupferſtechers Stod 
heute nur in deutichen Bürgerfreifen und in hohen magtarifchen | zu Leipzig, Weihnachten feierte, fol er hier einen Chriftbaum auf: 
Geſchlechtern üblich if. Am Jahre 1807 fand er fich bereits | geftellt gefunden Haben ®, mit allerlei Süßigkeiten behängt, darunter 
auf dem Weihnachtsmarkte zu Dresden, Hier wurde er mit | Lamm und Krippe mit zudernem Ehriftustinde, Mutter Maria und 
glänzendem Rauſchgold, bunten Papierichnigeln, goldenen Früchten | Joſef nebſt Ochs und Gfelein, davor aber ein Tiſchchen mit 
und Kerzen verfauft. Um diejelbe Zeit war er in Norddentfc | braunem Pfefferfuchen für die Kinder Diefe Nachricht ift aber 
land ziemlich allgemein üblich. In Hamburg lommt er bereits | feineswegs ficher verbürgt. In den Briefen Goethes an feine 
im Jahre 1796? vor. Bier heißt es bei Gelegenheit einer Be: | Schweſter aus jener Zeit, welche erft neuerdings Derausgegeben 
ichreibung des Weihnachtsfeſtes im Wandebeder Schloſſe: „Hoc | worden find und in denen der Dichter fonjt fo nem Nenigteiten 
oben am Weihnachtsbaum hing ein Apfel, To ſchön, jo kunſtreich mittheitt, ift von dieſer Freier nichts erwähnt. Gleichwohl ijt fie 
vergoldet, wie fein anderer. Den holte er (Fr. Verthes) plößlich | nicht ohme weiteres bei Seite zu ſchieben; feſt ftcht, daß Goethe 
mit halsbrecheriſcher Kunſt herab und dunkel erröthend gab er | 1774 den Chrijtbaum kannte. In den „Leiden des jungen 
ihn zur nicht geringen Berwunderung der Anweienden dem ahnen: | Werther” Heißt es? von Lotte: „Sie beichäftigte ſich, einige 
den Mädchen (aroline Claudius)“ Aber nicht einmal bis in | Spielwerfe in Ordnung zu bringen, die fie ihren Heinen Ge: 
biefes Jahre können wir ben Chriſtbaum allgemein zurüd vers ſchwiſtern zum Chriftgeichenfe gemacht hatte, Er (Werther) redete 
folgen. Schon unfere älteften Leute können ſich auf eine Zeit | von dem Bergnügen, das die Kleinen haben würden, und von 
befinnen, wo ex noch nicht auf dem MWeihnachtstifche ftand. Aber | den Zeiten, da eine unerwartete Oeffnung der Thür und die 
auch die eit feines erftmaligen Auftretens und feine eigentliche 
Heimath find uns unbefannt. An vielen Orten tritt er mit einem 
Male aus dem Dunkel hervor, mit einem Schlage ift er da, und ’ Effehart. Kap. 10, 2 Luthers Abſchied von feiner Familie, 1845 


i i i i is in | entftanden. 9 Mannhardt, Baumtultus der Germanen, 1875, S. 240, 
niemand weiß, wo er hergelommen. Rachweisbat reicht er nur bis in + Mag. Gotthilf Anton Eberhard, Vrivatlehrer zu Leipzig, Geſchichte der 
- Sonn und Feittane, Erfurt, 17, S. 26 ff. * Vergl. „Kunft und Yeben 
’ Kügelgen, Jugenderinnerungen 1870, 5.79. ? Efemens Theodor , aus Friedrich Förjters Nachlaß“, 1873.  Nadr dem 20, Dez. des zweiten 
Berihes: Friedrich Perthes Leben 1863; I, 84 Jahres. 

















Erſcheinung eines aufgepußten Baumes mit Wahalichtern, Zuder: | Tannen anfzuftellen, ! 


wert und Hepfeln in paradiefiiche Entzüdung ſetzt.“ 

In einem zwei Jahre früher nefchriebenen Briefe! Goethes 
wird bei einer kurzen Beichreibung bes Frankfurter Chriftmarktes 
der Weihnachtsbaum noch nicht erwähnt. Schon einige Tage 
vorher hatte Goethe ein Packet an Keftner gefandt mit Geſchenken 


für feine „zween Heine Buben“. Dazu ſchreibt er?: „Lafits ihnen | 


den Mbend vor Chrifttag befcheeren, wie ſichs gehört. Stellt 
ihnen ein Wachsſtödgen dazu und kuſſt fie von mir.“ Kannte 


damals Goethe den Brauch des Weihnachtsbaumes noch nicht? | 
} ' Brauches aus der Nähe von Dresden. 


Oder war derjelbe nur im Keſtners Haufe nicht üblich? Noch 
in einem Briefe vom Chrijttage 1773, welcher ebenfalls an 
Keſtner gerichtet ift, erwähnt Goethe nichts davon. Hier gedentt 
er überhaupt keinerlei Weihnachtsfejtlichkeit. 

Auch Schiller fannte den Weihnachsbaum. Er fchreibt von 
ihm als einer allbefannten Sadje*. „... Donnerötag komme ich 
nach Weimar. — Daß Ihr Euch ja nicht von irgend einem heiligen 
Chriſt engagiren laßt! Ihr werdet mir hoffentlich einen grünen 
Baum im Zimmer aufrichten, weil ic) Euretivegen um ben Gries: 
bachſchen komme.“ 1790 kommt dann der Chriſtbaum in Schillers 
Haufe vor® umd 1796 bei Fran von Stein mit Lichtern und Be: 
ſcherung. 

Eine Nachricht von Jung Stilling über den Chriſtbaum aus 
dem Jahre 1793 Scheint den Chrijtbaum in Kung Stillings 
Jugend — er war 1740 zu Grund im Naffauijchen 
zurück verfehen zu wollen. Er ſagt einmald: „Mir wars bei 
diejen Worten zu Muth als wie einem Rinde bei den apokryphiſchen 
Sprüchen feiner Mutter am Tage vor dem Chriftfefte: es ahnet 
etwas Herrliches, verjteht aber nichts, bis es früh aufwacht und 
num zum hell erleuchteten Lebensbaum mit vergofdeten Nüſſen 
und zu den Schäfchen, Chriftlindchen, Puppen, Schüſſeln mit Obſt 
und Konfelt geführt wird.“ 

Aber noch weiter geht der Weihnachtsbaum zurück. Eine 
Salzburger Waldorduung vom Jahre 1755 verbietet die Bechl— 
oder Weihnachtsboſchen. In dem Namen „Bechlboſchen“ ift jeden: 
falls eine Erinnerung an Berchta zu juchen, der der 6. Januar, 
der Berchtentag, geweiht iſt. Dies deutet auf einen heidnifchen 
Uriprung des Brauches. Als Heidnijche Sitte wird der Chrift- 


geboren — 





Bei den Inſelſchweden an der ruſſiſchen 
Küfte auf Dagd und Worms war der Weihnachtsbaum damals 
üblicher als Heutzutage? Un den mit Nüfjen und Mepfeln ge 
ihmüdten Tannen ftanden immer je fünf Meine Wachslichter auf 
einem Zweige. Einer mündlichen Nachricht zufolge? fannte zu 
gleicher Zeit das Schwedische Feſtland nur folgenden Weihnachts: 
braudy: in der Weihnacht zogen die Bauern in Scharen aus und 
fuchten einen einfam im Freien ftehenden Baum. Diefen zündeten 
fie an, und dabei fand großer Feſtjubel ftatt. Weihnachten 1887 
berichtete die „Leipziger Zeitung” einen vereinzelten fall besjelben 
Unabhängig von allen 
diefen Bräuchen erſcheint der Lichterbaum im der isländiſchen 
Voltsiage.* , 

Doch zurücd nad; Deutichland! Schon 1816 war der Weihnachts: 
baum im der heutigen Reichshauptſtadt allgemein. In dem in jener 
Beit erichienenen Märchen vom Nußknader von Fouqué und Hoff 
mann jteht bereits der Baum mit feinen goldenen Aepfeln in der 
Mitte. Im Anfang unferes Jahıhunderts übte die feine Welt in 
Berlin nad) dem Borgange der franzöfiichen Emigranten diefen Braud) 
nicht, denn derſelbe galt für „ordinär“s, fondern jchmüdkte den 


Tiſch, wie uns Scyleiermader® erzählt, mit Myrthen, Amaranthen 





baum geradezu bezeichnet von dem kurſächſiſchen Rath Tengel?: | 


„Die alten Heiden ſatzten vor ihre Häufer zweene Dannen: 
Bäume cereupweiie über einander und fraßen und ſoffen 19 Tage 
lang.” 

Nadı Schweden weit uns auch eine Volksfage in Lindenau 
bei Leipzig, welche bis in das erfte Drittel unferes Jahrhunderts 
zurück zu verfolgen ijt®. Sie erzählt: im Herbſt 1632 nach der 
Schlacht bei Lügen wurde nad Lindenau ein durch die Hand ge- 
ſchoſſener ſchwediſcher Offizier gebracht, der in der dortigen prote: 
ftantifchen Gemeinde freundliche Aufnahme und gute Pfiege fand. 
Zu Weihnachten war er wieder fo weit hergejtellt, da er die 
Neife in feine Heimath antreten fonnte. Vorher wollte ex jedoch) 
der Gemeinde feinen Dank erweifen und veranftaltete daher mit 
der Erlaubniß des Pfarrers in der Kirche des Dorfes „nach der 
Sitte jeiner Heimath“ eine Weihnachtsfeier, bei welcher (zu der 
üblichen Chriſtbeſcherung) ein Tannenbaum. aufgeftellt wurde, auf 
defien Zweigen viele Lichter brannten. — Fit diefe Sage nur 
erfunden, um das plöpliche Auftauchen des Chriſtbaumes zu 
erklären, oder weilt fie uns mit Recht nad dem Norden als 
der Heimath des Chrijtbaumes? 

Die Antwort auf dieje Frage iſt noch nicht gefunden. In 
Schweden gilt der Weihnachtsbaum allgemein für eine aus Deutſch— 
land eingeführte Sitte Noch im Anfange unferes Jahrhunderts 


und Ephen. Auch Tieck erwähnt in feiner „Weihnadytänovelle* 
den Lichterbaum wicht. Dagegen berichtet der Berliner Gymnaſial— 
direftuor W. Schwarg ?, da der eberlieferung feiner Familie zu: 
folge der Ehriftbaum in das vorige Kahrhundert zurückreiche, was 
ja durch die Nachrichten von Goethe, Schiller und Jung Stilling 
erwieſen ift.” 

Am Rheine ift der Weihnachtsbaum ganz allgemein im Ge— 
brand. Bereits im Jahre 1805 erwähnt ihn Johann Peter Hebel 
in jeinen „Alemanniſchen Gedichten”, jedoch ohne den Lichter: 
ſchmuch, welcher ihm auc auf dem der fünften Auflage diefes 
Buches vom Jahre 1820 beigegebenen Kupfer fehlt, der zu Straf: 
burg geſtochen ift und das Väumchen — gleich dem Kronleuchter 
des ſächſiſchen Erzgebirges — hängend zeigt. Weiter rüdwärts 
fehlt uns am Rheine jede Stunde von diefer Sitte, bis ins fieb- 
zehnte Jahrhundert. Damals? eiferte nämlich der Straßburger 
Profeſſor Dannhaner gegen den Tannenbaum oder Weihnachtsbaum, 
den man zu Haufe aufrichtet, mit Puppen und Auder behängt 
und dann abfchütteln läßt, ohne jedoch die Lichter zu erwähnen. 
Er nennt die Chriſtbänume „Lappalien“. 

Dies ijt unfere ältefte nefchichtliche Nachricht von dem Chriſt— 
baume. Der Lichterbaum reicht jedoch weiter zurück. Ihm begegnen 
wir bereits im dreizehnten Jahrhundert, einmal in dem altjranzü- 
fiihen Romane „Durmart Te galois” und dann im „Barzival“ 
bes Wolfram v. Eſchenbach. In dem franzöfifchen Nomane erblidt 
der Held zweimal einen Baum, dejlen Ziveige von oben bis unten 
mit brennenden Kerzen bededt find. Doch noch glänzender als 
diefe ſitzt auf dem Wipfel ein feuchtendes Kind. Ex fragt den 
Papſt, was das bedeute, und erhäft zur Antwort, der Lichterbaum 
bezeichne die Menschheit, die nach oben gerichteten Lichter ſeien 
die guten, die nach unten gerichteten die jchlechten Menſchen, 
das Kind ſei Chriftus. Wolfram erzählt uns", daß cs üblich 


war, beim Empfang hoher Gäjte einen Baum mit Lichtern aufs 


zuftellen. 

Die Sage verlegt das erſte Auftreten des Chriftbaumes 
in Deutichland ins Jahr 1632. ine frühere Kunde über 
ihn giebt es nicht, wohl aber cine ſolche vom Jahre 1571, welche 
beweiit, daß er in jener Zeit wenigjtens im damaligen Kurfürſten— 
thum Sachſen noch nicht vorhanden war. Weihnachten 1571 hielt 
nämlich Herr Thomas Binita (Winzer) in Wolfenjtein in Sachen 


| eine Neihe Predigten über das Weihnachtsevangelium ob. 5, 


war er auf dem ſchwediſchen Feſtlande unbekannt, wenigitens als | 


Chriſtbaum in unſerem Sinne Doch war es dort Brauch, vor 
den Häufern und Ortſchaften Bäume und zwar Fichten oder 


BVom 26. Dezember 1772; derjelbe ift an Keftner gerichtet und 
findet jich bei A. Keftner, „Boethe und Werther,“ Stuttgart und Tübingen, 
1854, ©, 114,_? Ebenda ©. 111. ? Ebenda S. 192. * Emilie von Gleichen- 
Rußwurm, „Schiller und Lotte,” Stuttgart und Augsburg, 1856. S. 574 
am 21. Dez. 1789, ° Charlotte von Schiller, 2, 276. © Jung Stil 
lings fänmtlihe Werle, Stuttgart, 1841. 4. Bd. S. 8 im Heinweh“. 
’ Wonatliche Unterredungen einiger guter Freuude von allerhand Büchern 
und anderen annemlichen Geſchichten, Leipzig, 16%, S. 456. ® Bisher 
ungedrudt, dem Verf. mitgetheilt von Deren Brof. Dr. Rudolf Hilde: 
brand zu Leipzig. 





1 big 14.10 Darin jpricht er auch von der Beiherung und jagt: 
„Die Kindelein finden in ihren Bündlein gemeiniglich fünfferley 
Dinge. Erſtlich güldige als Gelt, viel oder wenig, nachdem ber 


Finn Maguuſen, Lexie. mythol. 1828. 5. 779. M. fügt dazu die 
Bemerkung, daß Dänen, Norweger und Deutiche dasfelbe thäten, nur 
innerhalb der Bebände = SF. Rußwurm. Gibofolfe, ITS. 6 $ 2. 
3 Der Gewährsmann ded Bert. it Here Prof. Dr. Rudolf Hildebrand 
zu Leipzig. * Wohr, Forsög til en Islandsk Naturhistorie, Kjöbenhavn 
1786, ©. 187, und Maurer, Isländiſche Sagen, Leipzig 1880, ©. 178. 
m, —— Indogermaniſcher Vollsglaube, Berlin 18%. S. 38. Hunt. 
* Weihnachtsfeier, Berlin 188. 7 Audonermanifcher Rolfsglaube, S, 33, 
Mm. # 1657 in feiner Katechismus Milch V. 649. " Parzival 82, 25 
„von kleinen kerzen manee schonp geleit üf ölbaume loup“, 1° 1572 bei 





Schwertel in Wittenberg im Drud erichienen, 


—e 886 


Haus-Chriſt vermag und reich iſt, doch fallen ich auch die armen | 
Kinderlein an einem Pfenninge oder Heller in Apffel neitedt, | 
genügen und find guter Dinge darüber. Darnach finden fie auch 
geniesliche Dinge, als Chriſtſtollen, Zuder, Pfefferkuchen und aus | 
diefen allen mancherlen Confeet und Bilde, Daneben Epfel, Birnen, | 
Nu und gar mancherley gattunge allerley beſtes. Zum dritten 
finden fie ergepliche und zu frewden gehörige Dinge als Puppen 
und mancherley Kinderwerl. Zum vierden finden fie nötige, und 
zur befleidung und zier des lebens dienstliche Dinge, gar mander: 
ley und hübjche Nleiderlein, von guten gezev mit jeiden, gold und 
jilber, und veinlicher arbeit gefertiget. Zum legten finden ſie auch, 
was zu lere, gehorlam 
und disciplin gehöret, ala 
Abetefflin, Bibeln, und 
ſchöne Bücherlein, Schreib: 
und Federgezeuge, Bapierzc, 
und die angebundene 
Chriſtrutte.“ Betrachtet 
man dieje Chriftruthe als 
elwas, das da mit „zu lere, 
gehorſam und disciplin qe- 
höret“, jo will fie fait an 
die Nuthe des Knechtes Rup⸗ 
recht gemahnen. Aber iſt 
nicht vielleicht mehr in ihr 
zu fuchen? Iſt die Chriſt⸗ 
ruthe vielleicht ein Vorläufer 
des Ehrijtbaumes ? Berührt 
ſie ſich vielleicht mit dem 
Weihnachtsboſchen“ Salz: 
burgs? Iſt vielleicht gleich 
diefen beiden Ruthen der 
Weihnachtsbaum ein Sinn- 
bild für die Ruthe aus der 
Wurzel Jeſſe oder für das 
Neid, das da entiprungen 
iſtꝰ Oder iſt ihrgemeinſames 
Urbild der Paradieſesbaum, 
auf den der 24. Dezember 
als der Tag Adam und Eva 
hinweiſt? Deutet nicht die 
Bezeichnung „Lebensbaum“” 
bei Jung Stilling auf 
den Baum des Lebens 
im Garten Eden? Noch 
wahricheinlicher wird dies 
dadurch, daß Die mittel: 
alterliche Legende bereits 
eine Beziehung zwischen die: 
jem Baume und Chriftus 
erfunden, indem fie er 
zählte, Adam habe einen 
Senfer vom Baume der 
Erlenntniß gepflanzt, da— 
raus ſei der Baum ge— 
wachſen, aus welchem ſpäter 





Weihnachlswunſch. 
Ans dem ifluftrirten Beachtalbun „Grüß Geht“ vorn Alexander Si. 
Berlag von 5. 9. Alermanı im Munchen 


0 — 


das Kreuz Chriſti gemacht wurde. Oder wurde vielleicht der 
Weihnachtsbaum aufgerichtet im Sinne des Lichterbaumes im 
„Parzival“, zum Empfange des Welterlöſers auf dieſer Erde? 

Aber erinnern uns nicht ebenſoviele Heine Züge daran, daß 
wir es hier mit einem heidniſchen Brauche zu thun haben? Tengel 
neunnt denfelben geradezu fo, und hätte ihn Dannhauer nicht fir einen 
ſolchen angejehen, fo würde er nicht dagegen geeiiert haben. Dazu 
fommt der „Bechlboſchen“ Salzburgs und die Bezeichnung des 
Weihnachtsbaumes als „Maje“ oder „Moja“ in der ſchwäbiſchen 
Mundart, welche uns geradezu zwingt, den Weihnadytsbaum mit 
den anderen Nahresbäumen an ursprünglich heidniichen Feten auf 
gleiche Stufe zu ftellen, mit 
dem „Sommer“ der Lätarc- 
gebräude, den „Maien“ 
und „Pfingſtbuſchen“ fowie 
den „Erntemaien“. 

Iſt der Weihnachtsbaum 
eine chriſtliche Sitte, ent: 
ſtanden in der Zeit der Ne 
formation, der Zeit, wo 
allenthalben ein Tebendiges 
Glaubensleben wieder rege 
wurde, oder vagt er, ein 
wraltes Sinnbild des gro 
Ben Sonnen- und Himmels: 
baumes, - aus der grauen 
Heidenzeit herüber? Das 
iſt eine Räthſelfrage, auf die 
wir heute noch keine Ant: 
wort zu geben vermögen, 
heute, wo das Material 
noch in jeder Beziehung nur 
lüdenhaft vorliegt. Daß 
aber der Zeitpunkt, wo dies 
möglich fein wird, bald 
komme, iſt gewiß; wün— 
Schenswerth, und es ergebt 
darum an alle Lejer der 
„Sartenlaube*, an Alt und 
Jung, an jeden, der ein 
Herz hat für den ſchönſten 
Schmud des deutſchen 
Chriftfeftes, die Bitte um 
Mitteilung von Nadı 
richten über den Weib: 
nachtsbaum, woher jie aud) 
fommen mögen, aus ver 
ftaubten Bänden, aus alten 
Briefen, aus der lebendigen 
Ueberlieferung des Volkes, 
oder aus dem Schafe der 
eigenen Erinnerung. Die 
Redaltion der „Garten 
laube“ iſt ger erbötig, 
derartige Sendungen ent 
gegen zu nehmen. 


Blätter und Blüthen. 


Eine Biographie Theodor Storms, cin Bild ſeines Lebens und 
Schaffens, iſt jüngit von Feodor Wehl herausgegeben worden (Altona, 
Verlag von A, E. Neher). Nicht bloß das Wild des Dichters, auch das 
des Mannes, des Patrioten, tritt ums in diefer feinfinnigen Schilderung 
lebendig entgegen. Theodor Storm war ein edhter idhleswig-bolfteinifcher und 
deuticher Patriot — und das jollte dem vorzüglichen Dichter fo ftimmungs- 
voller Yebens- und Naturbilder, welche ein jo begeifterres Publitum ge 
funden, nicht vergeſſen werden. f 

"Selten war ein Dichter fo ausſchließlich von einen Heimgthsgefühl 
beberricht, das feiner Dichtung den befeelenden Odem gab. „Schleswig 
Holſtein,“ jagt Wehl, „ſuchte ev beitändig mit der Seele und jie lebte 
und webte, getrennt von ihm, doch nur in ihm mit allem Denken md 
Schaffen. Ale feine Gejchichten jpielen anf jeinem Boden. Die Yand- 
ichaften, die Städte, die Menſchen, die darin neichildert werden, nehören 
alle nach Schleswig-Holftein; Schleswig Holftein iſt das Ein und Alles 
feiner Muſe. Sie tt fo ſchleswig holſteiniſch wie er ſelbſt oder jaft noch 
mehr, Er felbit Fonnte Schleswig-Holftein verlaffen, feine Muſe nicht. 
Sie hing am feiner Scholle und man iſt entichieden wicht im Unrecht, 


wenn man behauptet, ſie ſei es bejonders geweſen, die ihr poetiſch die 
Zunge gelöft und fie zum Sprechen gebracht hatte.“ War ja doch auch 
im Leben Theodor Storm ein echter Patriot; zwar hat er in den Tagen, 
als die Wogen der jchleswig-holiteiniichen B ung zuerſt hochgingen, 
weder die Waffen noch das große Wort in den Berfammlungen gefnrt, 
aber aus jeiner deutfchen Geſingung nie ein Hehl gemacht, Seiner frendr, 
feinem Schmerz Über die wechleluden Geſchide feines Valerlandes gab 
er in markigen and lernhaften Gedichten Ausdruck. Nach der anfang 
lichen Niederlage der Ichleswig-holfteinichen Waflen fang er ergreiiende 
Lieder der Klage, welche au Platens Polenlieder erinnern, Der Schluß 
des einen lautet: 


„Und ſchauen and vom Thurm 
und Ihore 
Ter Feinde Wappen jept herab, 
Und rilien fie die Trifolore 
Wir wüjter Fauft von Kreuz und 
tab; 


Und müſſen wir nach diefen Tagen 
Ron Herd und Heimath beitelnd 


gehn: 
Bir wollen’3 nicht zu lant beflagen, 
Mag was da muß mit und ge 
chehn.“ 








* mt 





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/ Illu 
900— —3 
RAIN 





Ein junger Kriegsheld. 


Nadı dem Gemälde von G. Ehierici. 

















— 0 


In einen andern Gedicht widmet er den gebliebenen Helden die 
Ihwunghaften Strophen: 


„Und follte diefer heiße Lebens | In eurem Grabe, wen das Schwert 


ſtreit erbricht, 
Verloren gehn wie euer Blut im | Liegt deutiche Ehre jledenlos ge 
Sande beitet; 
Und ur im Reiche der Vergan- ' Beihüßen Fonntet ihr die Heimalh 


nicht, 
Doch habt ihr fterbend fie vor 
Schmach errettet." 


genheit 
Der Name leben dieſer ſchönen 
Lande: 


Das anheimelnde Lebensbild von Wehl, welches dem Dichter, dem | 


Manne, dem Patrioten gleichmäßig gerecht wird, ſei allen Freunden des 
Schleswig⸗ Holſteinſchen Koeten aufs wärmfte empfohlen. f 


Chriſtabend in einer Diener Zärmſtube. (Mit Alnftration S. 812 | 
und 813.) Ein Schimmer des ftrahlenden Kerzenglanzes der Ehriftbäume | 


dringt am Feſte der Liebe auch in die dunfelften und verlorenften Winfel 


der Urinuth und bei Elends, und auch in den Wärmjtuben der Weltftadt, den | 


Sammelpläßen jener Nermiten der Armen, denen es an einem Obdach fehlt, 
oder die nicht bie Mittel haben, ihre eigene elende Wohnung zu heizen, bereiten 
am heiligen Abend Edelmuth und Theilnahme einen Augenblid der freude, 
Vom Glück Begünftigte begeben ſich unter die Männer und frauen, die 


reife ud Kinder, welche verſchuldetes oder unverschuldetes Unglüd in | 
Noth und Elend geführt hat, und mehr als die mitgebradhten Gaben er- | 


freuen oft die freundlichen überzeugenden Worte der Theitnahme. Die 
Mehrzahl der Unglüclichen bilden brotlofe Arbeiter, ftellenloje Dienft- 
boten, beflagenswerthe Witwen und Waifen, feltener ſucht ber Strolch 
oder ber Verbrecher die Wärmftube auf, in der er fich unter den jcharfen 
Augen des Wachmannes nicht behaglich fühlt. Vom frühen Morgen bis 
zum fpäten Abend find die Wärnftuben geöffnet, Brot und Speijemarfen 
für die Bolfstüche werden vertheilt, Karten für die Aſulhäuſer verabreicht. 
Eo gebt es den ganzen langen Winter — immer ift das Bild des Jammers 
das gleiche, gemildert nur am Weibnaditsabend! .. 

er Aryt. (Mit Jlluftration 5.821.) Eine ernste, eine fehr bedent- 
liche Miene hat der Herr Doltor heute gemacht! Ach — und wie auf- 
merlfam hatten fie feinen Befichtsausdrud beobachtet, ſehnſüchtig daraus 
eine Belebung ihrer fintenden Hoffnung ermwartend! Aber nur härteſtes 
Mißgeſchick, unabwendlihes Unheil ſteht dort zu leſen. Ja, eine tikdifche 


Krankheit iſt's, die das Haupt der Familie, den forgjanen Ernährer, er: | 


griffen, aber doc war bis heute noch die troftreiche Ausſicht vorhanden, 
daß feine kräftige Natur die ſchwere Kriſis überftehen, dab er zu nenem 


Leben nenejen werde, Heute mußte die Wendung eintreten. Bon ſchmerz⸗ 
licher Ahnung aufs tieffte niedergeichlagen, folgen Mutter und Gattin 
dem Arzte, um aus jenem Munde Gewißheit zu erhalten. Die Iehtere | 
on an der Thür von ihrem Kummer überwältigt und lehnt jich, 


wird jch 
fkampfbaft ſchluchzend, an den Thürpfoften, da fie kaum fich aufrecht zu 
erhalten —— Auch das Meine Töchterchen, das jo früh eine arme 
Waife werden ſoll, ſcheint ſchon den ſchmerzlichen Verluſt ahmend zu 
empfinden, der ihm bevorjteht. Nur die Greifin, welche ſchon jo vieles 
Harte im Leben hat ertragen müſſen, ift dem ärztlichen Mathgeber bis 
ur Strahe gefolgt, und wenn auch mit bitterem Schmerzje, fo doch mit 
afjung und Ergebung in das Unvermeidlide erfährt fie nun, daß fie 
auf das Schlimmfte vorbereitet fein miüilen, dab feine Hoffnung mehr 
vorhanden, Mit ftiller Reſignation horcht fie auf den tröitenden Zuſpruch 


bes biederen Arztes, der in der täglichen Erfikllung feines harten .. | 
nur für ı 
für die ı 


noch nicht das edle Mitgefühl eingebüßt hat, der nicht einfeiti 
die Krankheiten des Körpers ein offenes Auge, nein, der au 
Schmerzen der Seele ein offenes Herz hat. . 

dm Bachmann, der unſern Leſern ſchon durch fein vortrefiliches Bild 
Weihnachtsſingen“ (fiehe „Bartenlaube” 1887, S. 808 und 809) befannt 
ift, bewährt ſich in diefem gemüthvollen Bilde der Trauer als ein meifter 
licher Darjteller der ernſten Seiten des Lebens. Er hat den Charakter 
des Volles feiner —— Heimath in ſeiner ganzen Genuthstiefe 
ſtudirt und bringt nun ſeine unmittelbaren Aufnahmen, unverfälicht mit 
tünftleriicher Vollendung zum bildlihen Ausdrud, Das wirkungsvolle Bild 
fand auf der Berliner Hunftausitellung von 1888 ehrenvolle ahnung. 

Frifhe Alüthen zu Weihnachten. In Deutſchland iſt bier und 
dort die Sitte verbreitet, die Wohnung um bie Weihnachtszeit mit blühen« 
den zn zu ichmüden. Wir haben fchon einmal derjelben flüchtig 
gedacht; heute möchten wie einige praktische Regeln zur Erzielung diefes 
anmauthigen Bluntenflors geben. 

Nah den Barernregeln joll man die Zweige von Bäumen und 
Sträuchen, wenn fie zu Weihnachten blühen follen, an gewiſſen Tagen 
brechen und fie alsdann im warmen Zimmer in ein mit Waſſer gefülltes 
Glas ftellen. Als die geeigneten Tage werden je nady den Gegenden der 
Andreastag (0. November), St. Barbara (4. Dezember) und St. Nikolaus 
(6. Dezember) bezeichnet, Diele Bauernregel ins „Wiſſenſchaftliche“ über- 
tragen lautet, daß man die Zweige, wenn es jchon einige Male gefroren 
hat, Anfang Dezember, brechen joll. Es empfiehlt fich in der That, die- 
jelben zu brechen anftatt zu fdmeiden, weil die Bruchſläche das Aufſaugen 
des Wafjers mehr begünftigt al$ der glatte Schnitt. Die Zweige find in 
einem mit Waſſer gefüllten Gefäß möglichft ans Licht zu jepen, Täglich) 
ift friiches Wafler in das Gefaß zu gießen, damit cs immer voll bleibt, 


838 0 


und 


nämlich am früheften zur Blüthe, in der 








— * 





Selbftverftändfih muh man zu dieſem Weihnachtsſchmuck nur früh 
blühende Holzarten wählen. Die Auswahl aber ift dabei immer noch jehr 
reichhaltig. Zuvörderſt find alle Obftarten zu nennen, namentlich Kirſchen 
eptel. Apritofen, Mandeln und Pfirſiche geben gleichfalls gute Re 
fultate. Dann find aber die buftenden Fliederarien zu berüdfichtigen, und 
zwar befonder® der weihe ſpaniſche Flieder und der perſiſche (Syringa 
Bereich). Beſonders dankbar erweist fich ſchließlich unſer befaunter Wald- 
trauch Steinröschen oder Seibelbaft, der fich durch feine purpurrothen 
wie Hhaziuthen duftenden Blumen Ne: Aweige desjelben gelangen 

t ) egel ſchon nach etwa 8 Tagen. 
‚Man braucht Ko diefe interefjante und Herz und Auge erfreuende 
Treiberei nicht ausichlielich auf die Weihnachtszeit zu _beichränfen. Auch 
im fpäteren Winter Tann fie fortgefeßt werden, ja die Blüthen werden um 
fo volllommener, je jpäter man die Zweige bricht und ins Waller jept. * 

Briefkäften am Ocean. m Süden des ameritaniichen fFeitlandes, 
an der Küfte von Batagonien, welches durch die Magellanftrake vom ben 
Feuerlande getrennt wird, befindet ſich ein Poſtami, das zweifellos zu 
den brimitiviten ber ganzen Welt gehört, da es nicht einmal einen einzigen 
Beamten aufzuweiſen hat. Dicht am Strande ift ein ftarfer Balfen mit 
der Auficheift „Post oftice“ aufgerichtet und neben ibm liegt, an ftarter 
eiferner Stette befeftigt, ein Faß mit verichliefbarem Dedel, Die Schiffe, 
welche die Magellanitraße pajliren, fenden ein Boot an die Hüfte, laſſen 
diejenigen Briefe, die auf dem einzuhbaltenden Kurs befördert werden 
muſſen, herausnehmen und dafiir die eigenen Poitfachen hineinlegen, um 
eritere in dem nächſten Dafen mit regelmäßiger Boitverbindung zum 
Weiterverfand aufzugeben, In der Torresftraße auf einer zu Auſträlien 
5 Inſel befindet ſich eine ähnliche Poſtſtation, die troß ihrer Ein⸗ 
adıheit ebenfalls ihren Zwed erfülit, 

Das Dendmal der Böfkerfdifadt Bet Leipzig. Der Gedanle, den 
gewaltigen Kampf, im melden nad dreitä —— Ringen auf den blut⸗ 
geträullen Ebenen Leipzigs der franzöſiſchen Oberherrſchaft über Deutſch⸗ 
land ein Ende gemacht und der Forfiiche Eroberer zu Boden geſchmetiert 
wurde, durch ein Nationaldentmal zu verherrlihen, entſtand bereits im 
Eu 1814. Man hatte drei Entwürfe beſchafft, die dem damaligen 
Zeitgeihmad_in ausgiebiger Weile Nechnung trugen, Der erſte Entwurf 
jeigte einen Sodel mit fenfrecht darauf geitelltem Koloflalichwerte, die Spike 
nach oben gerichtet, Auf dem zweiten Entwurfe trug der Sodel, auer: 
gelegt, Schwert und Landwehrkreuz, während anf dem dritten Entwurfe 
eine ans Lanzen gebildete Säule, mit einem Kreuze als Krönung, dar 
geitellt war. Einen weiteren, wohl den beiten Vörſchlag in der Dent- 
erging machte Kopebue. Er wollte, daß die auf den Fele 
berge, unweit Reichenbach im Odenwalde, iiegende fogenannte „Nömerfäule“ 
auf dem Schlachtſelde bei Yeipzig aufgerichtet würde, ein Denkmal, ver 
fertigt von den erften Unterdrüdern Deutichlands und aufgestellt zur 
Erinnerung an den herrlichen Sieg über die legten Unterfocher der 
deutichen Bölferftänme, , 

„Daß auf den Feldern bei Leipzig,“ ſchrieb damals Arudt, „ein 
Ehrenmal erricitet werden muß, damit auch die ſpäteſten Enkel nod 
erſehen, was dajelbft in den Dftobertagen des Jahres 1813 gefcheh, 
darüber ift in ganz Deutſchland, ja wohl in der ganzen Welt, nur eine 
Stimme,” Arndt machte dazu auch einen Boriälag, aber niemand nahm 
fi) der Sadıe ernſtlich an, und fo unterblieb die Ausführung. 

Da famı das Jahr 1863 und mit ihm die großartige fünfzigiährige 
Aubelfeier der Leipziger Völlerſchlacht, wozu mehr al& zweihundert Städte 
Abgeordnete —— hatten und welder noch Hunderte von Veteranen 
aus dem Miejentämpfen jener Tage beiwohnten. Auf der Höhe bei 
Stötteri, tnfern der Stätte, von welcher aus Napoleon am 18, Oftober 
die Enticheidungsichlacht Teitete und in fpäter Mbenditunde ſich zur 
Flucht wandte, wurde in Gegenwart einer umüberiehbaren Menichen 
inenge der Grumdftein zu einem Denkmal in die Erde nefentt und dabri 
ein begeiiterter Weihealt vollzogen. Die politischen Verhältniffe der 
nächſten Zeit waren aber leider nicht dazu angethan, das Dentmalsprojekt 
weiter zu verfolgen. 

Das alles hat ſich ausgeglichen. Das deutſche Bolt steht geeinigt und 
verbrüdert in allen feinen Stämmen, und jo fonnte auch mit der fünf 
undfiebzigiten Erinnerungsjeier an die Volkerſchlacht der Gedante, auf der 
Blutftätte, wo Deutſchlands Rettung errungen wurde, ein Denkmal auf 
zurichten, neu erjtehen und begeifterte Aufnahme finden. Hatten die un 
erwarteten Ereigniiie, welche Jahr auf Jahr einander folgten, die Kämpfe 
der Gegenwart, der Dank für die Gefallenen und Kämpfer der neuen 
Schlachten, Blide und Gedanten von den faft ſagenhaft gewordenen Kämpfen 
ber Bergangenheit abgelenkt, fo einigte ji) nunmehr Alldeutſchland gu 
gemeinjanter Tilgung jener Dantesichuld, In Yeipzig bildete ſich ein 
Komitẽ zur Erriditung eines Denkmals, und alsbald meldeten ſich die 
Bertretungen von fünfzehn der bedeutenditen Städte, Augsburg, Berlin, 
Braunschweig, Bremen, Brünn, Gaffel, Dresden, Graz, Smunover, 
Karls ruhe, Königsberg, Leipzig, Oldenburg, Polen und Weimar zur 
Annahme von Gaben für das Ehrenmal. Auch von vielen anderen 
Seiten wurden der Schöpfung eines foldyen die wärmjten Sympathien 
entgegengebradit. — 

So darf man denn bofien, daß im nicht ferner Zeit das von der 
ganzen Nation dargebrachte Erinnerungsmal über den bintgetränften Br 
ſilden der Völlerſchlacht erglänzen werde, nicht allein als Zeichen ber 





Dantbarkeit, fondern auch ais Wahrzeichen denticher Kraft und deutschen 

Murhes, die vielleicht nebeugnt, aber nimmer gebrocden werben fonnten 
und feinen Feind, wäre er aud) der mächtigfte, zu fürchten brauchen. 
Dito Moier. 

Wifdermutbs Iugendgarten. Gin alter Freund der deutschen 

Jugend bittet auch in diefem Jahre um ein freundliches Wiltommen: 

der „ugendgarten”, den vor nunmehr dreizehn Jahren Dttilie Wilder: 

muth gründete und der jeit ihrem Tode von ihren Töchtern Agnes Willms und 


Das Belpripen dev Zweige mit einem Berftäuber befördert das Treiben; 

3 vermeiden ift dagegen jäher Temperaturwechſel. Sinft z. B. bie 
emperatur in dem am Tage geheizten Himmer während der Nacht um 
ein Bedentendes herab, fo gehen die Zweige zu Grunde; am zuträglichiten 
eriheint eine Temperatur von 12% bis 15" RK. H. Jäger bemerkt in feiner 
„Winterſſora“, daß bei manchen Zweigen, wie z. B. denen der Trauben- 
lirſche, die Blüthen fich vollfonmener entwideln, wenn man das Wafler 
Kalt Hält und zu diefem Bwede immer ein Stüdchen Eis in dasjelbe legt. 


- 


Adelheid Wildermuth fortgeführt wird. Wer je einen Band des „Jugend- | 


gartens“ durKhgeblättert hat, wird überraicht worden jein von der Fülle 
des mannigfachen und gediegenen Inhalts, und ber jeht voliegende neue 
Band giebt den früheren im feiner Beziehung etwas nad. Cr jorgt jo» 
wohl für Unterhaltung als für Belehrung und die Illuſtrationen erheben 
ſich in ihrer künſtleriſchen Ausführung weit über das Gewohnte. Mit 
feflelnden Erzählungen erfreuen Agnes Willms („Die Echulfreundin"), 
Elife Bate („Vergnügte jserien”), Martin Claudius („Aus ftürmiicher 
Zeit"), W. Dartels („Nieolo und Nicoletta”), Adelheid Hildermurh („Des 
Derzogs Fluch"), 3. Xoeiche („Das Märchen vom Mann ohne Schlaf“) u. a. 


Anztebende belchrende Beiträge bieten Hermann Hirſchfeld. R. G. Zub, | 


Richard Roth, C. Michael x. „Die drei Schweſtern im Walde” ift ein 
nad Quilie Wildermuths trefflicher gleichnamiger Erzählung bearbeitetes 
Schaufpiel, An Nlnftrationen enthält der Band nicht weniger als 
8 farbige und 12 Tondrudbilder, ein gewiß ungewöhnlich reicher Schmud, 
der auch am feinen Theile dazu beiträgt, den ftattlichen Band zu einer 
wirklich werthvollen Feſtgabe Fir unfere veifere Jugend — Knaben jo 
wohl ald Mädchen — zu machen Wir hoffen, der alte Freund 
in Daten ahre willlonmen! 
am 
ausgeſprochener Wunſch hat unerwartet raſch feine Erfüllung nd 
Bas wir wünschten, war ein Bud, das wir khurzweg als „Familien 
qronitꝰ bezeichneten, und heute liegt um —— vor, das ſogar faft 
denjelben Titel: „Daus- und Familienchronik“ führt und von Martin 
Gerlach Herausgegeben ift (Becken von Gerlach und Schent in Wien). 
Diefes Werk entipricht dem Zwecke einer Ehronit volllommen und die 
einzelnen Nbichnitte: Borjahren des Ebroniften, Erinnerungen aus ber 
ugendzeit, Geſchwiſter, Erinnerungen aus den Lehr (Stubien-) Jahren, 
litärzeit, Wanderjahre, Berufsleben, Gründung der Selbftändigteit, 
Socyeitdten, Aus der Jugendzeit des lichen Weibes, Kinder, Freunde, 
rohe Tage, Trübe ig Lebensabend, Letzte Binjiche — umfatien das 
ganze Leben und laſſen Taum etwas vermijien. Wohldurchdacht ift die 
ganze Anordnung der Chronik, künftleriich Ichön ihre Ausſtattung, folid 
und geichmastvoll der Einband. Möge fie fleißig _benußt werden; die nad 
folgenden Geſchlechter werden fie zu ehren wiſſen. _ + 
, Die erfle qcineſiſche Eiſenbahn. Früher hatten engliihe Jugenieure 
mit ihrem Plan, im Reiche der Mitte eine Eijenbahn zu bauen, feinen 
Erfolg; jebt find franzoſiſche Ingenieure, unterftügt von dem Bicefönig 
Li⸗Hung ⸗ Tſchang und dem General Tichent-K-Tang, glüdlicher geweien. 
Es handelt ſich aunächft nur um eine Privat» und Luxuseiſenbahn, welche 
Zientjin mit dem ſechs Kilometer entfernten Qandfige des Vicelönigs ver- 
binden fol. Land und Boll werden zunächſt davon nur geringen Nuten 


haben, doch der erfte Schritt für Ehina ift damit gethan und das Wunder ⸗ 


wert europgiſcher Kuliur, das ja jet durch die Wüſten Afritad und die 
Steppen Afiens feinen Weg gefunden, wird auch jenfeit ber chineſiſchen 
Mauer Sich alsbald einbürgern. Die Wagen diejer Bahn jind in Lyon ge» 
baut worben und haben eine bedeutende Länge (11 Meter), Unter einander 


iſt auch | 
.. 1 


euch roniſt. Einerft kürzlich in ber „Bartenlaube* (Halbheft 23) | 
Pamien ! 





find fie durch Meine Brüden mit Sicherheitägeländern verbunden. Bon | 
ben ſechs Wagen des Zugs find drei Yuruswagen; ber zweite, für den | 


Vicelönig beftinmt 
derfehen; in jeder Längswand wird das mittlere Feld durch das Taiferliche 
Wappen und den Drachen mit fünf Krallen eingenommen. Das Innere 
ift im Geſchmack Ludwigs XV, eingerichtet, der Salon mit tirihrothem 
Atlas und Pluſch und einer Dede in grauer Seide ausgeftattet. Die zwei 
andern u en find roh mit goldenen Strichen gemalt, der eine 
enthält ein Rauchzimmer mit havannafarbigem Safftan und einem großen 
für die Mandarinen beftimmten Raum in grünem Blülch und Atlas. Der 
dritte Wagen enthält einen großen, in violettem Sammet und Atlas aus 
geftatteten Theeſalon. 

BWintermärden. (Mit Alluftration S, 817.) Den Lefern wird ein 
doppelfeitiges Bild no j 
der „Bartenlaube” (5. 268 und 269) jhmüdt, „Der Frühling“ lautet der 
Titel und dasjelbe gehört zu einem Bilberenflus des Meifters Wilhelm 
Kran, welcher die vier Jahreszeiten darftellt. Heute bringen wir aus 
diefem Enllus ein zweites Bild, das „Wintermärcden“, in alleın bon dem 
erften grundverichieden. Ber „Beübling mit feinen blühenden Frauen» 
und Kindergeftalten und der im erften Blithen- und Blätterihmud prangen- 
den morgendlichen Frühlingslandicaft tritt uns realiſtiſch mäber; der Winter 


ift außen in biaw gemalt und mit Goldverzierungen 


o 


aber den Wunfch vege werden lich, ein etwas umfangreicheres Werk zu 
befigen, das, nach benfelben Grundſäten bearbeitet, eine noch größere 
Neichhaltigkeit des Stoffes darböte. Sofort ging Kürſchner an die And 
kg Mari Ghedantens, und zum heurigen Weihnachtsfeſte liegt fein 
neues Werl „Nürihners Duart-Leriton“ (Stuttgart, W. Spemann) 
vollendet vor. Der Umfang desfelben überſteigt den des „Zaicen- 
Konverjationslerifons” um das Funffache, und im gewöhnlichen Leben 
dürften fich wenige Fragen ergeben, welche das „Quart-Yeriton* nicht 
beantwortete. Wo aber der an noch im Unflaren laſſen jollte, ba helfen 
1460 Jluftrationen zur Beranihaulihung. „Kürſchners Duart-Veriton“ 
verdient eine freundliche Aufnahme und wird diefe licher finden.  ** 
.  Weißnadtswunfd. Unſere Illuſtration „Weihnachtsmunid“ iſt 
einen neuen Bilderwerl entnommen, welches in einer reizvollen Mappe 
unseren diesjährigen Weihmachtstiich zu Ichmüden berufen iſt. Grüß 
Gott!” iſt ein Gruß, der int täglichen Verkehr zunädhit in Bayer, 
Schwaben, Defterreid und in den Alpenländern zu Haufe ift, der aber 
in der ganzen Welt veritanden wird. Es liegt etwas Trauliches, Treu- 
berziges in diefem Gruße, und deshalb wird er auch mit dem hübſchen 
Brachtwert, welches der befannte Udermanniche Kunftverlag in München 
unter diefem Titel in alle Welt ſendet, überall willtommen fein. Womit 
Albert Hendichel in feinen befannten Skizzen das Menichengenrüth zu 
felfeln und zu unterhalten veritanden, das bietet Alexander Fit in biefem 
„Brüß Gott“-Album; aber nicht in bloßen Stiz zen und Kontouren, fondern 
in 20 ausgeführten Zulch eichnungen, die in einer Reihe lieblicher Kinder⸗ 
—— und aumuthiger Idyllen aus dem. Herzensleben einen wahren 
amilienichat bergen. Es wird uns oft ſchwer gemacht, aus ber reichen 
Falle von illuftrirten Prachtwerten die wirklich guten Früchte für ben 
Weihnachtsbaum herauszufchälen, bier aber können wir einmal voll ein- 
treten für ein Wert, defien Blätter berufen find, gleich Hendichels Skizzen 
ihre dauernde Wirkung am Familientiſch aus zuũüben. Feiner Humor und 
liebenstwürbdige Darftellung haben ſich hier vereinigt, daß jebes ber 
20 Blätter auch olme erllärende Unterſchrift uns eine ganze Heine Ges 
fchichte erzählt. In unferem Probebildchen aus „Grüß Gott!“ ſehen wir 
das Slindchen, wie es täglich mit wonnigen Wünfchen im Herzen am 
uppenladen in der mwinterlihen Straße ftehen bleibt. Tief liegt der 
Schnee, kalt ift die große Fenſterſcheibe des Epielmaarenhändiers , aber 
warm ijt der Huß ber Kleinen, welder dev erjehnten Weihnachtspuppe 
ilt, die hinter dem Fenſter lehnt; jogar das Hündchen jcheint an der 
Sreude ber Kleinen theil En 
Ein Herzeusgeſcheni. (Yu unferer Kunftbeilage) Der Heine Gott 
Amor verübt jeine Schaltsjtreiche, wo er nur Gelegenheit findet, und an 
diejer jehlt’s ihm mie. Hier hat er fich das Weihnachtsfeit auserjehen, 
zwei junge glüdliche Menſchen noch nlüdlicher zu machen — durch ein 
Herz, vom Konditor geholt, aber bedeutungsvoll in der Hand des jungen 
Surten. den fein Maͤdchen wohl verfteht. Gin Derjensgeichent fürs 
Leben! Gluckliche Weihnacht, ihr beiden! ee 
Eine Erinnerung. Am Weihnachtsheiligenabend 1888 find fünf 
undzwanzig Jahre verflofen, feit der erfte thatfächliche Schritt zur Los⸗ 
trenmung der Elbherzogthümer Schleswig-Holftein von Dänemart geſchah. 
An diefem Tage des Jahres 1863 zogen die auf Beſchluh des Bundestags 


dahin abgeſandten Erekutionstruppen in die damals noch dänische Stadt 


- > R . e \ Altonas, denn es erhielt als 
ch in Erinnerung fein, welches den vorigen Jahrgang | 


| 


dagegen ift eine groß; angelegte und durchgeführte Bhantafte. Nacht ift | 


‚8, bittertalte, fternenflare Winternadht. Dort jene Frauengeſtalt, welche, 
vom fahlen Mondlicht magiich überjluthet, hoch auf eisglikerndem Felſen 
enht, fie schläft den jtarren, ewigen Winterichlaf, der ein Leben nicht 
tennt. Doch zu Fühen des Felſens * man in reizender Gruppe zwei 
blühende Mädchen. Der wohlthuende 
all den Mühen und Sorgen, nad all den R 
den erichöpfenden lagen, welche Frühlin ommer und Herbſt mit fich 
brachten. Ihr iſt der Winter nicht das Eritorbenfein, fondern jene Ruhe, 
in der jich die Kräfte des Menſchen und der Natur zu neuem Schajien und 
Ringen erfolgreich ſammeln. Ein Kranz von Dauerblumen liegt dem 
anderen, von warmem Leben durchglühten Mädchen im Schohe Sie ift 
von der jengenden Gluth des Sommers und von den rauhen Stürmen 
des Herbſtes nicht ermüder, ein freundliches Geſchick hatte fie vor Gluth 
und Sturm in . genommen und ift ihe wicht minder hold inmitten 
Schnee und Eis. Doch aud fie träumt hoſſend von dem Blühen und 
Prangen, von dem fühen wirzigen Dufte, der wieder die Welt verfüngen 
wird, ſobald der Werdruf des Frühlings fiegreih durch die Yande tönt, 
Nur fie dort oben, die Braut des eisgepanzerten Nordens, wird den 
friichen jauchzenden Ruf nicht vernehmen, jondern weiterſchlafen, fie, das 
Sinnbild des falten, alles bezwingenden Todes. ”. 
8* Konverfationsferiion für 10 Mark. Nur wenige Jahre find 
verflojjen, jeit Profeſſor Joſeph Kürſchner fein Meines „Taichen-slonver: 
jationsferifon“ ericheinnen lieh, das eine große Verbreitung fand, zugleich 


| em Erwartungen und 


| 


interfchlaf umfängt die eine nach 


Altona ein, während die dänische Beſahung zum entgegengefegten Thore 
hinausmarfdirte. — Nob eine andere weniger freundlihe Erinnerung 
nüpfe fich an das Jahr 1838. Bor eindreiviertel Jahrhundert, Anno 
1713, rüdten die Schweden unter General Steenbod in Altona ein und 
ftedten die Stadt in Brand, wobei nur drei Rirchen und dreißig Käufer 
verjchont blieben, Es war dies ein Rachealt an den Dänen, welche vorher 
die Stadt Stade, die damals ſchwediſch war, eingeäjcher: hatten, Uebrigens 
war dieler Brand die Urſache * dem ſpäteren raſchen Emporblühen 

ntſchadigung von Dänemark fo ausgedehnte 
Privilegien und Freiheiten, daß es ſich ſeht bald wieder erholte und mächit 
Kopenhagen zur wichtigſten Stadt des Königreiches wurde. 


aleiner Zrieſiaſten. 
(Anonyme Anfragen werden nit berüdiidtiat.) 





tatt „Reriion" 
„Ad auftlellen“. für „Aotopiven” begleiten, 
ung aut 


v kt x. 
. in st. Eliie Pollos Artikel „Im Rinderboipitai” („bartenlaube“ 1687, ©. S64) 
\ it erfreulichermwelfe midht auf uf ven Boden gefallen, das bezeugt nicht nur Idre 
ceumblihe Hlcdrilt, Für_bie twir beftens banken, ſendern auch ein Briei, welder ber Ber- 


ei it bes Drzand em it. In Elevelanb (Nor Amerita) bat ſich ein 
— ek deſſen Iwect — eines Alnderdeſiſtale if, und bie Wetbeiligung 
utſche übrigen Audländer*, 


m und 
fein. — Die Zeugniſſe khidt man nicht km inal, ſoudern 
4 ba niemand zue Yurüdiendung berkelben verpflichtet fit. 
öbelireumd im Bentben. Die blöber eingegangenen Beiträge zum Bau eimes 
PER haar) für Friedrich Frobel baben insackammt bie Döhe bon 2439 art so Bfenzig 
erreide. Diefe Summe it gerwih banfenöwerih, reidt aber lange nicht Ein, mm die 
Bantoiten, weiche eima Vart betragen, zu been. Möchten deshalb gleich Ihnen noch 
rest viele Berehrer bes unvergehlicen Kinberfreanked tem Momitee für den Iburmbau 
dem Korfigenden bes Thlringermwalb-Bereins Trainer in Otermeifitah) größere eder 
einere Beiträge zumwelien ! 

“bonnentin in Münfterdern. Den Koman „Ein arınes Mätchen“ von W. Helms 
eg finden Sie im Jabrgang 1884 der „Wartenlanbe”. Ben bem unter dem Sammeltitel 
„Dasamal” im * vereinigten wier Novellen derſelbes Berſaſſeriu geipyia. Ermit 
Fey Radıfelger) fend_„ — im Jabra. 1890, „Im Vanu ber ea im Jabra. 
1882, „Uriufa” umd „Das Fraulein Pether dagegen wicht In unlerem erichienen. 


— 8 ⸗— 


Allerlei Kurzweil. 





Damefpiel-Aufgabe. Mälhfel-Sonett. Scerz-Bilder-Mäthfel. 
Ton Erid Fabian, Wie Stadt und Dorf in Menge weiſen {> 
SCHWARZ zu jederzeit gr * En 
Zeigt denen es fich auch ala Urt, 
ABCDEFGI Die nach dem Land der Vayern reifen, 


Das zweite pfleget hoch Au preiſen 
So mancher deutsche Yiederhort, 
Und zwar als vielgeübten Sport 
In Sänger und in Turnerlreiſen. 


Das Ganze ift eins von den Nepen, 
Turd die nach ewigen Geſchen 
Verderben Vielen wird gebradt, 


Am meisten denen, die mit Schäben, 
Mit Ehren, Gluck und hoher Macht 
Vor andern reichlich find bedadıt. 

M. Pant. 


Problem „„Der Mond, 





Aufföfung der Königspromenade auf 5. 808: 


Eiwas wünfchen und verlangen, 
Ewas bofien muß das Ders, 





wEIss Etwas au verlieren bangen 
Weiß sieht und gensinmt, Und um etwas fühlen Schmerz. 
Bsußfladen-Näthfel. Deine Luft und deine Wonne 


Obgleich feit langer Zeit mit H 
In Wirflichleit es niemand fah, 

ird es doch häufig noch genannt, 
Wenn man ift völlig abgebranmt. 
Mit 8 birgt es die Art von Bold, 
Der jeder brave Sänger hold 
Und die der Welt mehr Luft gebracht, 
Als die, aus der man Kronen madıt. 
Tod) was für dieje Erdenfrift 
Das Nöthigfte zum Leben ift, 
Das treffen Fürſt wie Unterthan 
Auf ihm mir T alltäglich an, Anfföfung des Buhfladen-Mäthfels 

Fült-Mäthfet, auf S. 808: Trabant — Brabant. 


Ei. ı DA_ BE 'Y 
Daten Dee. BRETTEN | 6 DF 3 A 


Mußt du an was immer ſehn, 
Soll vergeblich Mond und Sonne 
Nicht an dir vorüber gehn. 


Gleich von unbegrenztem Sehnen, 
Wie entfernt von träger Muh, 
Mühle fich dein Leben debnen, 
Wie ein Strom dem Meere zu! 


Nädert. 
Wortsid-Mätäfel. | 


| 








Nur ein Daudı des Windes, 

Und die Roſe füllt, 

Sollt' ein Herz wicht brechen 

An dem Sturm der Welt? L . = | 
Aufföfung der Räthlet auf 5. 808: 


1. Yampe, >, Dalt, 3. Geſchich, 4. Treffen, 5. Lager, 6. Feld, 7. Stener, 8. Zoll. 
Aufföfung der Domino-Aufgabe anf $. 808: 















Die mit einem Sterndyen verfehenen Felder find jo mit je einem 
Buchftaben auszufüllen, daß die wagerechten Reihen bekannte Wörter 
ergeben und bak die jenfrechte Mittelreibe gleich ber wagerechten lautet, 

1. Ort in Paläftina, 2. Mufe, 3. Stabt in Vorderindien, 4. Berjon 
aus Shafelpenre's „Dtbello”, 5. Deutſche Oper, 6, Feſt, 7. Holländischer 
Maler, 8. Univerfitätäftadt in Nordamerita, 9. Canton ber Schweiz. 


Kapfel-Mäthfel, 


Eine der zahlreichen Heilguellen in deutichen Bezirlen, 
Bin ich ein ſchwungvoll Gedicht, ninnnſt du mir Kopf und auch Fuß. 


Zahlen · Zathſel. 


3 





Geſeht wurden: 





Man ftelle die Jiſſein 1-64 jo im die Felder der gegebenen bier 
Duadrate, dah in jedem Quadrat die Swmme der vier Felder in ſent· 
rechter und wagerechter Richtung immer gleich 130 iſt. Zur Erleichterung 
find in jedem Quadrate die Eckzahlen angegeben. 


IE Soierzu die Aunftbeilage „Ein Gerzensgefbenk“, Weibnacdtsgrun der „Sartenlaube“ an ißre Sefer. | 
Herandgegeben unter verantwertlider Hedaktion von Adolf Aröner. Verlag ven Ertit Heil’s Aachfelger in Tripgig Deut von a. Wicde im Leirzig 











a 


N 


Llbheft 27, = 


Illuſtrirtes Familienblatt. Begründet von Ernſt Keil 1853. 








Tahrgang 1888. Erſcheint in Galbheften a 25 Pf. alle 12—H Tage, in Yeften a Pf. alle 3—Wochen vom. 1. Tannar bis 31. Dezember. 


2" dem Leipziger Bahnhoſe in Dresden wogte ein bunies 
Treiben hin und her, da im Laufe der nächſten Stunde ver: 


Die Frau Majorin. 


Von A. Oltroff. 


Schiedene Züge nad) Leipzig, Meißen und der Köhnig abgehen jollten, von Minnie zu Minute. 


Drojchken und Equipagen fuhren vor und eutluden ſich ihres 


Juhalts; Damen in 
eleganten Neifetoilet: 
ten, welchen die ge 
vlagten Diener mil 
einer Laſt von Me: 
genmänteln, Plaids, 
Kiftchen, Hutichad): 
tefn, Kiſſen und Rof- 
fen folgten, Tfigiere 
in Uniform und in 
Givif. Handelslente 
und Marktfrauen, 
alle drängten ſich 
haſtig durcheinander 
die Stufen hinauf 
dem Eingang zu, wo 
der Bortier in uner— 
ſchũtlerlicher Wurde 
und Ruhe feines Ant: 
tes waltete. 

Zur linken Seite 
des Treppenaufgan⸗ 
ges umbrandete der 
Strom eine jtand- 
hafte Apfelfinenfran, 
deren Fleiner Sram 
von Pieſſerkuchen 
männern, Spielzeug, 
Brezefn und Zuder 
dũten nur dem jüng 
ſten Theil der Reiſe 
geſellſchaft einen Blic 
des Verlangens ab 
nöthigte. Dienſtman 
ner eilten geſchäſtig 
mit Handnepäd hin 
und her oder jchlepp- 
ten metallbeichlageue 
schwere Kofler nad) 
deut Bepädburcans. 

1888 

















Hrokmutters Bid. Driginalzeidinung von E. Navel. 





beruf werboten. 
Alle te verbebalten, 


Ueberall itanden Kleinere und größere Menichengruppen, ein dichtes 
Gedränge umgab die geöffneten Billetjchalter und fteigerte fid) 


Durch das Sewüht fich durchwindend, waren zwei Damen qlüd- 


lich auf den Perron 
aelangt und näherten 
ſich langſam, Arm 
in Arm dahin ſchlen 
dernd, dem Zuge, 
welcher eine derſelben 
nadı Leipzig entfüh 
ven jollte. Die eine 
der beiden jungen 
Freundinnen war 
groß und schlank und 
hatte eines jener fri 
ſchen Gefichter, welche 
nur angenehm, nicht 
auffallend wirken; 
man ging an ihr vor 
über, ohne fie zu be: 
achten, während auf 
der anderen zierliche- 
ren Geſtalt die Blide 
unwilllũrlich haften 
blieben. 

Aus einem pilan 
ten Geſichte Schaden 
zwei  dunfelbraune 
gen bligend in die 
Welt; der brinette 
Teint zeigte feinen 
Hand) von Farbe, 
dagegen lenchteten Die 
Lippen im friſcheſten 
Roth und ließen zwei 
Reihen prachtvoller 
Zähne ſehen. Der 
Mund war vielleicht 
elwas zu groß, Die 
Nafe nicht fein genug 
geformt und dennoch 
war es ein anziehen 
des Geſicht, das man, 

107 


* 


842 


einmal geſehen, in Erinnerung behielt. 
fraufen, natürlichen Lödchen grazids hereinfielen, war von voll: 
endeter Schönheit und üppig ſchwarzes Haar quoll in ſchweren 
Flechten unter dem Reiſehütchen hervor 

„Eigentlich, Liebe Helene,“ wendete ſich die größere der 
Damen an ihre Begleiterin, „beneide ich Dich nicht um Deine 


Die Stirn, in welche die 


„Einſteigen! einſteigen!“ erlönlen die Stimmen der Schaffner, 
und uun entjtand der Topte gewöhnliche Trubel, das eilige Hin 
und Herrennen, die zu wechielnden Küſſe, Umarmungen und Hände 


‚ deüde; die Coupethüren wurden zugejchlagen, aus den Fenſtern 


heutige Reife; Du wirſt bei dieſer Hihe im dem vollgepfropften 


Tamenconpe Qualen ansjtehen und mit Wehmuth am unſer 
ichattiges Gänetehjen und Feine fühle Veranda zurüddenfen.” 

„Alles zu * Zeit, liebſte Emma,“ erwiderte Helene leb⸗ 
haft; „dns lange Schattenfigen weckt einem die Luft, auch einmal 
in ber Bitte Ipäzieren zu fahren; ich fürchte mich gar nicht davor 
und bin Sicher, friſch und vollfommen lebendig in Leipzig eins 
zutrefſen.“ 

Dieſe Anffaſſung ſcheinen andere Leute auch zu theilen, es 
wimmelt ja von Menſchen auf dem Bahnhofe; allein ich bleibe 
dabei, daß die tolle Idee zu diefer Reiſe eben nur in Deinem 
Kopfe entſpringen konnte; Du dentſt Dir beſonders gern ſolche 
extravagante Geſchichten aus.“ 

„Emma, Emma, Div geht es wie dem Fuchs mit deu 
Trauben; fönnteit Du mit mir reifen, dann wäre alles gut; 
toll ijt meine Jdee gar nicht, wohl aber Halte ich dielelbe für 
äußerjt gelungen. Es ift doc prachtvoll, daß ich heute abend 
bei Hanfens jo ganz unvorbereitet eintreffe. Bei ihrem jedenfalls 
brillanien Gartenfejte mit den gewünichten Berkleidungen taude 


ertönten noch Abſchiederuſe und Mahnungen zu den Zurüchk— 
bleibenden heraus. 

Auch Helene lehnte fich ertuartungsvoll aus dem Fenſter, den 
versprochenen auten Einfall ihrer Freundin zit vernehmen: von 
dem Fremden Herru, welcher ſich bei ihrem Einſteigen höflich ver 


nieigle, hatte fie feine Notiz genommen und wicht bemerkt, daß er 


ich plöglich als Zigennerin auf und laſſe nicht ab, zu intriguiren | 


und die Ponte zu myſtifiziren. Niemand kann fich denken, wer 


es ift, der ihnen ſolche Wahrheiten fagt, ihnen die Vergangenheit | 


anfdedt und Fühn die Zukunft prophezeit. Ehe man zu entdeden 
vermag, daß id) es bin, der alljährlich wiederkehrende Zugvogel, 
verſchwinde ich und morgen abend fchre ich hierher zurück. Auch 
das finde ich Herrlich, dak niemand außer Div und zufällig Deinem 
DOnfel etwas von meiner Reife weiß, daß Dein Bapa gerade ab- 
weſend iſt und ic) fo auf eigene Faust, ohne Wiſſen meiner Eltern 
diefen Ausflug unternehme, um einmal für zwei Tage völlig ver: 
Toren zu gehen. Es liegt darin wenigſtens der Schein eines 
Abenteners und Du weißt, Was ich darum gäbe, einmal, wur 
ein einziges Mal cin joldies zu erleben.“ 

„um, Dur Heine Phantaſtin,“ meinte Emma ladend, „an 
Ubentenern Wird es ja bei diefem Gartenfeſte nicht fchlen, Herzen 
lannſt Dur auch erobern, denn Dein füdlicer Teint und Deine 
feurigen Augen müſſen ja im Zigeunerkoſtüm doppelt wirken... 
Aber ich glaube wahrhaftig, der Zug wird nächſteus abgehen; 
komm, wir wollen ein Coupé ſuchen.“ 

Raſcher weitergehend, ſpähten die beiden Freundinnen aufs 
merkſam in die Wagen hinein und blieben einen Augenblick vor 
dem fait vollitändig befegten Damencoupe ftehen. 

„Wie ijt es, Helene,“ fragte Emma Tädyelud, „willſt Du wicht 
dieje Schönheitsgalerie vollzählig machen?“ 


„Um Gotteswillen!” fuhr Helene voll Entjeben anf, „nur 


ſah ſchnell zum Feuſter hinaus und ahnte wicht, 


nicht da hinein, es wäre das reinſte Dampfbad, dann Fönntejt ı 
Dur jchlieglic mit Deinen böfen Prophezeiungen recht behalten; | 


nein, laſſe uns lieber auf ein Conpéè für Nichtraucher fahnden, 
es müſſen doch ein paar im Zuge fein.“ 

Jenes dort,“ entgegnete Emma, „it ebenfalls ſchon aiemlich 
beſetzt, allein ehwas weiter vorn ſah id) vorhin mod) eines, ſiehſt 
Du, eben jteigt ein Herr hinein.“ 

Helene eilte der offenen Thür zu, wandte fich jedoch ſchnell 
um und zu ihrer Gefährtin zuräd. „Aber Emma,“ flüfterte fie, 
„cs ſitzt nur dieſer eine Here darin, und mit dieſem kann ich doc) 
nicht mmtterjeelenallein davonfahren!* 

„Ah, alfo fo ficht es mit Deiner Luft nach Abenteuern ?* 
ipottete Emma. „Sobald ſich nur eines von ferne zeigt, ergreifit 
Du das Hafenpanier. Uebrigens,“ fuhr fie nach einem weiteren 


aufgejtanden war und über ihre zierliche Geſtalt hinweg auf den 
Verron ſchaute. Emma dagegen fah ihn; flüchtig ſtreiften ihre 
Blide das ausdrucksvolle Männerantlig, dann xief fie, heiter 
lachend, ihrer Freundin zu: 

„Adien, liebe Helene, grüße Deinen Gatten, den geſtrengen 
Heren Major, vielmals von mie und er foll Dich bald wieder 
zu ms ſchicken; adien Scaß, leb' wohl und glüdliche Reife!” 

Ein ſchriller Pfiff ertönte, langſam ſetzte fich der Zug in Bewegung, 
lebhaft winfte Helene mit dem Tafchentuche zum Fenſter hinaus, 
und exit als fie die Freundin nicht mehr zu erbliden vermochte, 
lien fie ſich, mit aller Anstrengung das laute Lachen zurüdhaltend, 
anf ihren Sig nieder. Welch ein toller Einfall von Emma — 
wie lann man nur auf einen ſolchen Unfinn gerathen! ber 
föftlich war es doch und vor allen Dingen jehr praktiſch, denn 
die unverhoffte neue Würde mußte fie vor jeder umberufenen 
Annäherung ſchützen; ja felbft wenn der fremde Herr eine Unter: 
haltung beginnen follte, konnte ſie getroft darauf eingehen, galt 
fie doch in feinen Mugen für eine verheirathete Frau. 

Helene mußte wieder krampfhaft das Lachen verbeißen; fie 
daß ihre Reiſe 
aefährte fie lächelnd betrachtete und ſich im Stillen frug, was 
wohl die außerordentliche Heiterkeit der jungen Dame veranlaft 
haben könnte, 

Endlich ſchaute Helene ſich um, und als fie den forſchenden 
Bliden des Fremden begegnete, iprang fie verlegen auf und ber 
juchte das andere, mod) geſchloſſene Fenſter zu öffnen, was ihr, 
troß aller Bemühungen, wicht gelingen wollte. 

„Darf ich mir erlauben, quädige Fran?“ extönte hinter ihr 
eine tiefe, angenehme Stimme. 

Wirklich: „gnädige Frau” Hatte er fie genannt, die Liſt war 
alſo geglüdt. Einen Augenhlick noch zögerte Helene, dann drehte 
fie fich witrdig und ernfthaft, wie es der Gattin eines Majors 
zufommt, nach ihm um; allein das Vergnügen, nun endlich ein 
ordentliches, Heines Abentener zu erleben, ftrahlte unverkennbar 
aus ihren Augen, als fie die gemeſſenen Worte jprad): 

„Wen Sie fo qut jein wollen, mein Herr, es iſt erftidend 
heiß bier drinnen,“ 

Der Fremde, cine Fräftige, hohe Männergejtalt, Iruq einen 
üppigen Bollbart; diejer und ein phänomenaler Haarwuchs, der 
jeder Dreſſur zu ſpotten ſchien, umgaben ein Geficht, deſſen Züge 
auf beiondere Schönheit feinen Anfpruch machen konnten. Aber 
die fejte Stirn, dev Ausdrud der ducchdringenden, duntelbfauen 
Augen verriethen cine lebhafte Antelligenz; man Hatte dieſem 


' Manne gegenüber den Eindruck einer jicheren und bedeutenden 


Blid in den Wagen fort, „ſieht diejer Herr ſehr anftändig und | 
zuberläffig aus; ich glaube, Dir kannſt ruhig einfteigen und das | 
ſaãumte dabei aber wicht, die weibliche Kunſt der geſchicten Fragen 


fürchterliche Unternehmen wagen.“ 

„sa, Du haſt gut jpotten, allein gerade weil ich dieje Reiſe 
jo auf eigene Fauſt ausführe, möchte ich nichts thun, was mir 
Ungannehmlichleiten bereiten Fönnte.“ 

„Halt, jet hab’ ich's,“ rief Emma trimmphirend aus, „iteine 


gelben Sumpfniederungen des Flachlandes, 


nur ruhig eim, mir iſt ein föftlicher Einfall gelommen, der Did | 


ſchützen und Div vielleicht mod) einen bejonderen Spaß bereiten 
wird; nur raſch ins Coupe, es ijt feine Zeit mehr zu verlieren.“ 


Berfönlichkeit. 

Im Bahncoupe kommt es nur auf die Einleitung zum Ge: 
ſpräch an. Das geöffnete Fenſter und der Dank dafiir wurden 
zum Ausgangspunkt einer Unterhaltung, die jchr bald Helenens 
lebhafteftes Intereſſe erregte. Sie hatte ſich über die „tropiiche 
Hige* beflagt; der Fremde gab ihr zum Troft eine Heine Schil 
derung dev Leiden einer afrikaniſchen Mittagsſtunde mit ihrer 
vernichtenden Gluth, ja ſelbſt ſchon des indiſchen Hochſommers, 
der die Europäer in die waldlkühlen Himalayaſchluchten treibt, 
wenn fie micht in der Hige halb vder ganz zu Grunde gehen 
wollen. Alles, was diefer Mann fagte, Hang jo anſchanlich, als 
ſpreche ex aus eigener Erfahrung; Helene lauſchte geſpannt, ver: 


zu üben, und fodte ihn fo weiter amd weiter, Er lich vor ihren 


Augen die Städte des Oſtens eritchen, Delhi und Singapore, - 


das vieliprachige Shanghai, das kaiſerliche Peking, die endloſen 
die chineſiſchen Berg: 
Fetten mit den ungausſprechlichen Namen, zuletzt ſprach er von 
der zauberhaften Schönheit einer Morgenfrübe auf dem weiten 


| Indiſchen Deren. 


< Mb > 


„Sie haben das alles jelbjt gejehen ?* fragte Helene geſpannt. 

„Ach war einige Jahre in Oſtaſien.“ 

„Zu Ihrem Beranügen?* Sie bereule fofort die indiskrele 
Frage. Aber fie hätte doch gar zu gern gewußt, wer er eigentlich 
ſei. Nach einen Kaufmann fah er nicht aus, 

„Unmittelbar wohl nicht,“ erwiderte er Tachend. „Ein Ver— 
augen kann man vieles nicht nennen, was dort vom Reifen un: 
zertrennlich iſt. Und andererſeits geht der ungeheure Lebens: 
reichthum, den man in ſolchen Jahren erwirbt, weit über das 
Wort Vergnügen hinaus. — Ich war dort, um geologiihe Auf- 
nahmen zu machen,” jeßte ev kurz hinzu, als ihr Blick fragend 
auf ihn aerichtet bfieb, 

Alſo ein Gelehrter. Helene fand das ungemein inlereſſant, 
fie Hätte ſchon lauge gem einen berühmten Profeffor kennen 
lernen mögen. BVielleicht war das. einer? Nur jah er dazu 
eigentlich nicht alt umd würdig genug aus. Und feine Augen 
ruhten mit einem jo merhvirdigen Ausdruck auf ihrer Heinen 
Berfon — es waren fchöne, tiefe Augen; auch die Stimme hatte 
einen fonoren Klang, der die mufitalische Helene angenehm ducchbebie. 

„Wie haben die Männer es doch qut in der Welt!” ſagte 
das junge Mädchen, indem fie träumeriich anf die vorbeifliegende 
Landſchaft fah. „Sie können reifen und alles Wirkliche des 
Lebens fidy zu eigen machen, während wir ein bien im Kunſt 


lennen lernen, wenn wir in ‚Paradies und die Bert’ mitfingen,” 
jegte fie Schon twieder lachend Hinzu. 


„Niemand fühlt tiefer als cin Fachgelehrler, wie einfeitig unſere 
Bildung ift. Glauben Sie mir, ich habe ſchon oft eine wahre 
Sehnfucht empfunden nach den Gebieten, die wir vernachläffigen 
müſſen und die mie Fo recht als Domäne für begabte, feinfühline 
Frauen vorlommen. Geſtern noch in Ihrer herrlichen Galerie fühlte 
ich mic) als armer Fremdling unter diefen Wundern der Kunſt!“ 

Nun war Helene in ihrem Fahrwaſſer. Kunſt, Mufik, Litte: 
ratur — alles was ihr junges Herz ansfüllte und beacifterte, 
lam jeßt eins ums andere während der nächften Stunden au die 
Neihe; jie ſah veizend aus in ihrer Tebhaften und ſelbſtvergeſſenen 
Sprechweiie, und ihe Gegenüber gerieth immer tiefer in Die be— 


Alle diefe Gedanken und Euwägungen kreuzlen ſich mit Blitzes 
ſchnelle in Helenens Kopfe; allein während der Kane, die feiner 
Vorſtellung folgte, dachte auch der Profeſſor nach und beobadhtete. 

Das kurze Ja! gefolgt von einem plötzlichen verlegenen 
Nachſinnen der noch eben fo heiteren Frau Majorin, fiel ihm anf, 
Was mochte wohl der Grund davon fein und weshalb fehlte au 
der Band der verheivatheten Fran der qlatte, bedeutungsvolle Reif? 

Helene hatte nämlich im Eifer der Unterhaltung die Hand: 
ſchuhe abgeftreift, und mit Entzücen betrachtete dev Profeſſor ihre 
ichlanfen weißen Hände, die ohne jeden Schmuck nachläſſig in 


ihrem Schoß rubten. 


Weshalb fehlte der Ring? Weshalb nannte fie ihren Namen 
nicht? Er war fich bewußt, einentlich nicht danadı forichen zu 
dürfen, da fie offenbar abſichtlich ihm denjelben verichweigen 
wollte, und im Grunde genommen Hatte er nichts davon, wenn 
er wußte, wie diejenige hieß, die er nie wiederſehen würde. 
Woher kam nur das lebhafte Bedauern, welches ihn bei diefer 
Borjtellung durdhzudte? Es erichien ihm unmöglich, ſich für 
immer bon ihr zu trennen; es war ihm, als mühe ex ſpäter ein— 
mal diefe wundervollen, braunen Augen, diefe zierliche, ebenmäßige 
Geſtalt wiederichen, als müſſe er einmal, einmal nur diefe Heine 
Hand Kiffen, die eben in dem jchwarzen, krauſen Haar lag und 


ſich bfendend davon abhob. Wllein er fuchte die Empfindung 
und dergleichen herumpfuichen — und Indien zum Beifpiel nur | 


raſch abzuſchütteln, fie Tief feinem ftrengen Ehrgefühl entgegen. 
Freilich Fonnte er nicht umbin, ganz im allgemeinen cin paar 


Augenblicke darüber nachzudenken, welche Scligfeit es doch fein 
„D, ſchellen Sie das Frauenlos nicht,“ erwiderte er eifrig. | 


wundernde Betrachlung ihrer großen ftrahlenden braunen Augen 


hinein. Plöglich aber kam ihm die Erinnerung, daß es die Frau 
eines andern var, mit der ex hier veifte, er ſchwieg eine Zeitlang, 
fuhr nachdenklich mit der Hand über Die Stimm und ſagte dann: 

„Bnädige Fran, nach einer jo intereffanten Unterhaltung, 
wie ich das Süd Hatte, fie hier bei Ahnen zu finden, iſt der 
Wunſch beareiflich, nicht als abjolut Fremder jeheiden zu wollen. 
Beftatten Sie mir, mich Ahnen vorzuftellen: Profeſſor Rodihz 
aus Halle.“ 

„Profeſſor Roditz!“ rief Helene jubelnd aus. Ju ihrer 
Herzensfreude ergriff fie ohne weitere Weberlegung feine Hand 
mit lebbajtem Druck. „D, wie mic das beglüdt! Wie oft 
wünschte ich ſehnlich, Sie einmal zu ſehen — las ich doc) immer 
mit jo großer Begeiſternug Ihre wundervollen Reiſebriefe!“ 

Der Profeſſor verneigte ſich lächelnd. „Damit faßt man einen 
Antor an der ſchwachen Seite. Es iſt cin ſehr angenehmes Gefühl, 
in der Ferne verjtanden und günstig beurtheilt zu werden. Sie lajen 
meine Berichte wohl gemeinsam mit Ihrem Herrn Gemahl?“ 

Helene überhörte das leiſe Weh in dem Ton der Frage, 
weil dieje ſelbſt wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf fie hevein- 


fiel. Das hatte jie ja in der Lebhaftigkeit der Unterhaltung ganz 
vergefjen. Die dumme ammöthige Lüge! Und was jegt jagen, 


wenn er auch ihren Namen wiſſen wollte? Etwa belennen: „ch 
fürdhtete mich, allein mit Ahnen zu fahren, deshalb gab meine 
Freundin mich für eine verheiratbete Fran aus!“ Dder: „Ent: 
ichuldigen Sie, wie haben uns nur einen Heinen Scherz exlaubt.* 
Rein — nein, das war unmöglich, wozu auch? jie würde ihn 
ja wohl niemals wiederfcehen. Aber antivorten, wenn er fragte, 
mußte fie ohne Zögern. Sie mußte ſich einen fomiichen, a: 
glaublich Hingenden Namen ansdenfen, den es in Wirklichkeit ſicher 
wicht gab. Eigentlich wurde das Abentener ja immer Inftiger. Wären 
nur nicht jene Mugen und das eigenthümliche Gefühl in ihrer Bruft 
geweſen! Biel, viel Lieber hätte fie ihrem Neifegefährten die Hand 
gereicht und ihm geſagt: „Reh heiße Helene Elden und hoffe auf 
ein Wiederſehen.“ Wie kindiſch, wie albern müßte diejes Be- 
lenniniſ fie vor dem eruſten Manne erſcheinen Laffen! — — 


müſſe, ein ſolches Weib fein zu nennen — die Sefährtin des 
Geistes zugleich mit der Geliebten des Herzens. Wie anders 
würden die vier Wände feiner Gelchrienjtube ſich ansnehmen, 
wenn eine folche Heine Fre darin waltete! Es wurde ihm ſchwül, 
er erhob ich und jah aus dem Fenſter, dann wendele er ſich 
wieder Helene zu, die, in ihre eigenen Gedanken vertieft und 
bang die möglichen Fragen des Heren Brofeflors fürchtend, die 
Unterbrechung des Geſprächs nicht auffällig nefunden hatte. 

In ihrem Geficht zeigten ſich widerjtreitende Empfindungen; 
offenbar war 03 ihr gelungen, einen Namen hevanszufinden, deſſen 
Abſonderlichleit ihre Mundwinlel voll Schelmerei zuden machte; 
es ſprach fich darin ſowie in dem Blißen ihrer Mugen noch immer 
etwas von ſtiller Befriedigung an ihrem Abentener aus; allein 
die Heiterkeit gelangte diefes Mat nicht zum Durchbruch, denn 
als fie endlich aufſchaute und die Blide des Profeffors feit auf 
ſich gerichtet ſah, durchſchanerte fie abermals das feltiame Gefühl 
md eine glühende Möthe bededte ihre Wangen. 

Jedoch Roditz nahm entichloffen das Geſpräch wieder auf: 

„Das Endziel Ihrer Reife iſt Leipzig, gnädige rau; ich 


ſelbſt werde mic diefes Mal dort nicht aufhalten, fondern gleich 


weiterfahren nad Halle und,“ ſehte ex aufjenfzend Hinzu, „Später 
wohl wieder eine weite Reife antreten. Wenn ich dann auf dem 
Schiffsverdeck oder in den Heinafiatiichen Bergſchluchten an die 
dentjche Heimath denke, dann werde ich mich and Ihrer erinnern 
jowie diefer gemeinſamen, unvergeßlichen Fahrt, und jo möchte 
id) denn wien, au wen ich denfen darf; wollen Sie es nicht 
für unbeicheiden hatten, wenn ich bitte, mir auch Ihren Namen 
zu nennen?“ 

„Helene,“ flüjterte das junge Mädchen fo leife, da ev Mühe 
hatte, fie zu verftchen. 

„Helene!“ wiederholte er mit dem tiefen Tonfall feiner Stimme. 
„Der Name ijt mir theuer. Es ijt der meiner Mutter.“ 

Sie fah ihn theilnahmsvoll an: 

„Und Ihre Frau Mentter lebt mit Ahnen zufammen ?* 

„Nein, fie ift todt, ich ſtehe allein auf dev Welt und wahr: 
ſcheinlich für immer,” erwiderte der Profeffor ernſt. „Man hat 
ja in der Jugend auch jeine Träume achabt von einer fpäteren 
lichten Zukunft, von einem Heim voll Liebe, Trene und Sonnen: 
ichein; allein ſolche Träume erfüllen ich nicht immer — vder 
können ſich auch wicht erfüllen,“ jeßte er mit einer ſeltſamen Br 
tonung hinzu. 

Helene ftocte in der Erwiderung, denn fie begann den Sinn 
jeiner Rede zu ahnen. Ihr Herz zog ſich krampfhaft zuſammen; 
hätte fie doch mie dieſes thörichte Spiel getrieben, wäre Emma 
nie auf dieſe Idee gekommen! 

Der Profeſſor bemerkte ihre Verwirrung, und von feinem 
vorigen Verlangen beherricht, benußte er die abermalige Vauſe 


‚ zu einer weiteren Frage. 


in 


844 >» - 


„Sie naunten mir Ihren Vornamen, der mir über afles | 
Ihener iſt; allein Ihren anderen Namen, denjenigen Ahres Gatten | 
möchte ich noch wiſſen, ich möchte, ſelbſt wenn ich Sie arie wieder 
schen follte, wenigitens Ihren Lebensweg aus der Ferne verfolgen!“ 

Helene ſchrak zuſammen, mun war er da, der Neliicchtete 
Moment, amd die Minen des Profeſſors ſahen bittend, mit bes 
redtem Ausdrud zu ihr berüber; follte fie die Lüge wirklich aus 
iprechen, das Zutrauen dieſes Mannes tänicen? Und dennoch —® 
jie konnte jich zu dem in mehr als einer Hinſicht ſchwierigen Ge— 
ſtändniß nicht entichliefen, fie mußte ihre Nolle feithalten und 
den Namen nennen, den ſie ſich ausgedacht. Was fchadete es 
übrigens? Etwas wie Trog wollte ſich in ihr regen gegen das 
jeltfame Gefühl, das jie zu umſtricken drohte, Cie ſah ja den 
Profeſſor doch nie wieder, was kam's denn darauf an, ob ev unter 
diefem oder jenem Familiennamen ihrer gedadıte? 

„Nie wieder” — es war ihr, als vermöne fie Dielen Ges 
danken nicht zu ertragen, ein ſolches Weh ſchnürlte ihr plöglich 
die Bruſt zufammen. Doch was follte Profeſſor Nodig von ihr 
deuten? Sie mußte antworten, koſte es was es wolle. Hätte 
ſie nur ihre alte Heiterkeit hervorrufen können, ihren ſonſt mie 
verfagenden Uebermuth; aber diefer war untergegangen in den 
noch unverſtandenen Empfindungen, die ihr Herz bewventen. 

Sie vaffte fid) auf, und wie mit Purpur übergoffen, die langen 
Wimpern tief geſenkt, Hlüfterte jie: „Schnitzel, Major von Schnitzel.“ 

Der Profeſſor verbeugte ſich artig. „Ich danke Ahnen, 
anädige Fran! Und wohnen Sie ſchon lange in Leipzig? Leben 
Sie ſehr geſellig dort?“ 

„Bottlob,” athmete Helene inmerlich auf, dieſe Tebte Frage 
lieh ſich wenigftens im allgemeinen beantworten: „Nein, wir jind 
erſt Seit kurzem dahin übergefiedelt und eigentlich geſellig, im 
Sinne der arofen Welt, Teben wir nicht,“ ertwiderte ſie, dabei au 
ihr väterliches Haus, ihre Eftern, ihre fünf jüngeren Geſchwiſter 
denfend. „Wir haben einen jeher netten, Heinen Kreis,” fuhr jie 
fort, „im welchem wir unter einander einen äußerſt angenehmen 
Bericht pflenen; wir lefen, muſiciren, veramnjtalten Heine Auf⸗ 
führungen, tanzen mad unternehmen Ausflüge, allein all dies ge— 
ſchieht wicht in übertriebener Weife, nur um das alltägliche Yeben 
zu würzen, um ab und zu geiſtige, jowie erheiternde Anregung 
zu empfangen. Sonſt widme ich mich meinen Büchern, meinen 
Arbeiten, meinen Mufifftudien und hauptſächlich meinen häuslichen 
Pflichten, welche mir das höchſte Vergnügen gewähren“ — und 
wieder dachte Helene nur an die Geſchwiſter, wie fie an ihr 
hingen, wie jie mit ihnen lernte und Spiele, fie behütete und 
umforgte, wie fie ihre Mutter unterſtützte, So viel fie nur konnte, 

„Ich vermag Sie mir jo aut vorzuftellen, ſchaltend und 
waltend in Ihrer Häuslichkeit,“ bemerkte der Profeſſor, „Glück 
fpendend und Glück empfangend, alles verklärend mit Ihrem 
harmonischen Wefen, Ihrem gebildeten Geiſte, Ahrem veidhen Ge— 
müũthe: Sie beiten doch jicher Kinder?“ 

„Rinder!“ — Helene war wie vom Schlage gerührt und 
ſtarrte ihm entießt ins Geſicht; Diele Frage hatte fie für unmöglich 
aehalten, gar nicht am dieſelbe gedacht. „Kinder!" — fie, die 
nicht einmal verheirathet war! O dieje fürchterliche Frage — 
allein ihr geſchah ſchon vecht, weshalb hatte fie ſich von ihrer 
Abentenerkuft hinreigen laſſen zu diefer Komödie! 

Jetzt hatte fie cin Abentener in aller Form, wie fie cs ſich 
ichon unzählige Male gewünſcht, aber freilich was für eins! 

Kinder! Sie und Kinder! 

„sa, nein, das heißt, o mein Gott!“ ſtammelte fie und brach, 
das Geſicht mit den Händen bededend, in Thränen aus. 

Der Profeffor war ſichtlich bejtürzt: „Es betrübt mich ernſt⸗ 
lich und tief, wie es ſcheint, fehmerzliche Verhältniſſe berührt zu 
haben, anädige Frau, bitte, verzeihen Sie mir!” 

Raſch gaben Helenens Hände ihr Geſicht frei, und ihre Thränen 
niederfämpfend, jah fie auf. Schmerzliche Berhältniſſe — wie 
sollte fie dieie neue Wendung auffallen, was meinte der Profeſſor 
damit? hielt er fie fiir unglücklich verheirathe? Es war zum 
Berzweifein; o diefe Emma! — Sie wollte jich mie wieder ein 
Abentener wünschen, nein, wiemals mehr — allein wie jellte fie 
ſich aus dem jebinen bevausfinden? 

„Herr Proſeſſor,“ beganı fie ſtockend — da ertünte ein Krach, 
begleitet von einem heftigen Stoße, der Wagen ſchwantte, Helenens 
Sinne ichwanden, fie fühlte noch einen jähen Schmerz und dann 
war fie bewußtlos. 


An der Bromenade in Leipzig jteht ein ſtallliches Haus, defien 
weitgeöffnete Fenster an jenem Morgen den Geruch der in den nahen 
Anlagen blühenden Kasminftränder voll einftrömen lichen. 

In einem einfach möblirten Zimmer des Erdgeſchoſſes, deſſen 
Wände mit Waffen und Landkarten bedet waren, lan der An 
wohner in einem amerifanifchen Stuhle ausgeſtreckt am Fenſter, 
ſah in das Grün der Bänme embor und lieh das feine Aroma 
einer echten Havannacigarre ſich mit dem hereindeingenden Blüthen 
durfte vermiſchen. Es war eine Fräftige Männergeftalt, wohl 
näher den Bierzigen als den Dreißigen, mit einem friſchen und 
autmäthigen Seficht. Gr genoß den ſchönen Morgen und befand 
ſich augenscheinlich im der behaglichiten Stimmung. 

Da wurde plöglich die Thüre anfgerifien und eine bier 
ſchrötige Geitalt itolperte herein: „Herr Major, Here Major, 
ſchon wieder eine Depeſche!“ 

An der Wiege dieſes Männerkoloſſes hatten die Grazien ficher 
nicht geftanden: ein Baar waſſerblauer Kugelaugen jtarıte glotzend 
ans feinem breiten Geficht und brandrothes Bürſtenhaar ftrebte nadı 
allen Seiten feines unförmlichen Schädels wie Inelitacheln hervor. 

ber ein ſehr aquter Werl war Chriſtian, der treue Diener feines 
Herrn, der geſchworene Freund aller Kinder und Hunde der Rad) 
durchiett, jeine Trene und Ehrlichkeit über jeden Verdacht erhaben, 
ſomit erfreute fich Ehriftian einer wohlverdienten Beliebtheit in hohen 
und niederen Kreiſen, troß feiner wenig einladenden Außenſeite. 

Als der Major das ganzlid verftörte Geficht feines Dieners fah, 
jagte er, inden er ibm die Depejche abnahm, mit wohlwollendem 
Ernite: „Du bleibſt doc) immer der qleiche Ejel, Chriftian. Sollte 
man nicht meinen, das Ding verbrenne Dir die Finger? Gieb her!” 

Christian ri feine Anaen auf: „Ach, wenn die Depejche nur 
fein Unglück bedeutet, denn mir hat heute nacht von der feligen Frau 
Multer geträumt und: ‚Spinne am Morgen, Kummer und Soracır; 
der Here Major willen ja —“ er hielt inne aus Bejtürzung über 
den Anblick feines Herrn, der mittlerweile Die Deveſche entfaltet Hatte. 

Der Major jtand, das Papier in der Sand, pfeilgerade auf 
gerichtet und ftarıte, wie getitesabweiend, hinein. 

„Zum Senfer,* vief er jegt aus, „das iſt doch der heilloſeſte 
Unſinn, ter mir je vor Augen Fam. Schon wieder die Frau 
Gemahlin‘! Es iſt ja rein zum Tollwerden. Chriſtian, komm 
ber, ſieh mich an und ſage mie — bin ich verheirathet?” 

Die Augen des Majors funkelten jo bedrohlich, daß Chriſtian 
Zeit brauchte, ſich zu fallen. 

„Eigentlich wicht, Here Major," jtammelte der qute Burſche 
dann im rathloſer Berlegenheit. 

„Uneigentlich auch nicht, Du Schafskopf!“ ſchleuderte ibm 
der Major wüthend ins Geficht und begann dan, im Stumm 
fchritt das Zimmer auf- und abzulaufen. Plöbtzlich innchaltend, 
faßte er wieder nach der Depeſche. „Es könnte doch eine Ber 
wechstung jein! — Aber mein, da fteht mein Name groß und 
deutlich: Major von Schnitzel; ich bin ja der einzige Menſch in 
der ganzen Stadt, der fo heit — es iſt cine boshafte Myſti 
fifation,“ fchrie er wieder, „ein infamer Bubenſtreich. Aber ic 
werde die Urheber finden, ich werde —“ 

Und fein dichtes Haar mit der einen Hand zerwühlend, in der 
andern das Unglücksblatt, vaste er von nenen in dem Zimmer bin 
und ber, dicht auf feinen Ferſen der gänzlich verblüffte Ehrijtian, 
der, in der Unmöglichkeit, eine jo unerklärliche Situation zu ver 
jtehen, ſich nur bemühte, das Rauchtiichchen, den Vogelläfig, alles, 
was wicht niet- umd magelfeft war, vor den Gewaltbewegungen 
feines Heren zu fchüßen. 

Mitten in diefer jeltfamen und für einen Unbetheiligten gewiß 
höchſt delnftigenden Jagd öffnete fih die Thür und ein Dffizier 
trat ein, der nach ein paar Sekunden arenzenlofen Erſtaunens 
jich in den nächſten Seſſel warf und lachte, fo unaufhaltfam und 
unbändig lachte, daß der Major endlich feinen Schnelllanf unter 
brach und ſtirnrunzelnd vor ihn Hintrat, 

„Bit Dur jegt bald fertig mit Deinem geiſtreichen Gelächter?“ 
fragte er bitterböfe, als Chriftian ſich anf feinen Winf entfernt hatte. 
„Ich bin nicht in der Stimmung fie Späße, Das Tage ich Dir aleich!“ 

„Na aber, erlaube mir,“ erwiderte zu Sich kommend ſein 
Freund, Hanptmann Nichter, „Das geht ja doch über die Mög 
lichkeit. Ich Fomme ber, Dich zu einem Spazierritt abzuholen, 
wie geftern ausgemacht, und Du vafeft mit Tigerfäßen in Deiner 
Stube herum, Hinter Tir das arme Schaf, Ber Chriſtian, wit 











* 
[a mise Fener: E74 


Von Sullus Vocppuer 


W. Shalejpeare, 


überſeht von U. W. v. Schlegel. 


Eifania und Zeltel. 
„Kin Semmernachtstraum“ von 


Aus dem illuſtrirten Prachtwerle 
ag von Thee. Streeſer in Rauqen 


* 








» B46 >» 


Zittern und Händeringen, und laum wirft Du meines Anblides 


theilhaftig, jo” wirft Du mir Redensarten ins Weficht, die ich 


blutig ahnden müßte, wenn wir nicht jo gute Freunde wären.“ 

„Eigentlich haft Du ja recht!” ſeufzte plöglich ganz herab- 
geſtimmt der Major. „Du mußt entjchuldigen . . . aber wenn 
es einem geht wie mir heute, fann der Sanftmüthigite aus dem 
Häuschen kommen. Da! lies dieſen unerhörten Unſinn —“ er 
ſchob ihm zwei Papiere hin —- 
ich es nod) einmal höre, und dann jage mir, ob id) verrüdt bin, 
oder was es font iſt!“ 

Er warf fih reſignirk in einen Seffel. 
entfaltete das erſte der Blätter und las mit einer Stimme, 
grenzenlofes Erſtaunen ausdrüdte: 

„Major von Schnitzel, Leipzig. 
Frau Gemahlin verlegt, fommen Sie ſofort. 

Hauptmann Nichter lich das Blatt finken. 

„Nun, da Haft Du natürlich zurüdtelegraphirt, daß cin Irr— 
thum vorwalten müſſe — * 

„Gewiß, ich telegraphirte: Nachricht von Verlegung ſcheint 
irrthümlich am meine Mdrefje nejandt.‘ Darauf erhielt ich aber 
vorhin dieſes zweite Telegramm." Ex reichte dem Hauptmann 
die jüngite Depeſche, welche lautele: 
Frau Gemahlin ſelbſt Ihre Adreſſe angegeben." 

„Das iſt allerdings ſtart,“ ſtieß jegt der Hauptmann hervor. 

„Siehſt Du,“ fuhr der Major auf, „es ergeht Dir genau 
wie mir; es iſt zum Tollwerden! Wer giebt ſich für meine Frau 
aus? wer iſt dieſer Profeſſor Roditz? Ich kenne ihn nicht; das 
heißt, fo ganz dunkel ſchwebt es mir vor, als hätte ich feinen 
Namen jchon in der Zeitung geleſen. Wie in aller Welt gelangt 
der Dann aber zu der Annahme, ich jei verheiratet? Wie fommt 
er dazu, mit folder Hartnädigkeit von mir zu verlangen, ich folle 
zu meiner angeblich verwundeten Fran eilen? Es ift dorh die ver- 
rũckteſte Geſchichte, die mir je vorgekommen!“ 

„Ja, unbegreiflich iſt fie allerdings — 


bie 


Eiſenbahnunglück, Ihre 
Profeſſor Roditz“ 


ſage mir offen und 


ehrlich, Hans, ſpielt nicht da etwas aus früherer Zeit? iſt es 


nicht möglich, daß irgend eine Dame, die einmal zu Dir in Be— 
ziehungen geſtanden hat, Deinen Namen mißbraucht, ſei es aus 
Rache oder in irgend einem Falle der Noth?“ 

„Nein, das lann es nicht fein; Du weißt, ich verheimliche Dir 
nichts; ich habe wohl da und dort einmal achuldigt und mir auch 
einſt eine Abweiſung geholt, an welcher ich lange und jchwer ge 
tragen, aber ein Leichtjertiges Verhältniß habe ich niemals achabt." 

„So telegraphire einfach am diefen Profeſſor zurück: ich bin 
unverheirathet und komme nicht.“ 

„Daran dachte ic) zuerſt auch, allein bei genauer Ueberlegung 
geht dies nicht. Ich muß felbjt hin; Du hörſt, daß eine bei dem 
Eifenbahnunglüd verwundete, vielleicht mit dem Tode ringende 
Dame meine Adreſſe angegeben, daß ein Profeſſor Rodig fie für 
meine Frau hält und bei diefer Meinung troß meines Telegramms, 
dag ein Irrlhum vorwalten müſſe, beharrt. 
ſcheint mir denn doch ausgeſchloſſen, was bedeutet alſo dieſe 
räthjelhafte Geſchichte? Wer giebt ſich für meine Frau aus? 


Wie lommt diefer Profeffor dazu, mir im Namen der Verwundeten | 


zu telegraphiren? Dem Räthjel muß ich auf den Grund fommen 
und zwar möglichit raſch, an Ort und Stelle.” 

„Du Haft recht,” meinte Hauptmann Richter nachdenklich); 
„vielleicht findet Du eine Unglüdliche, die, von einem ſchweren 
Geſchick betroffen, Grund hat, ihren Namen zu verheimlichen, Dich) 
von früher her kennt und ſich im ihrer Page wicht anders zu 
helfen weiß.” 

„Möglich, obgleich es dod ein ſtarles Stüd wäre,” verjeßte 
gereizt der Major. „Um die Folgen, die das für mic) haben kanu, 
fümmert fich das Frauenzimmer natürlich nicht — ich bin Offizier, 
bin unverheivatbet und werde da jo ohne weiteres zum Ehemann 
befördert, vielleicht handelt es ſich gar um einen meinen Namen 
fompromittirenden Schwindel — das Wäre dann eine wieder: 
trächtige Nomödie, der ſchlennigſt ein Ende gemacht werden müßte, 
Es iſt Far, ic muß bin, Wenn ich nur den nöthigen Urlanb 
rasch genug belomme!“ 

„Num, gerade da ich Dich aufſuchen wollte, ſah ich den 
Oberſten in die Kaſerne gehen, 
und Deine Urlaubsangelegenheit erledigen; in einer Stunde geht 
der Zug ab umd im dreiviertel Stunden bift Du an Ort und | 
Stoffe, aljo: Glück auf!“ 


„dies zuerſt — Ties laut, damit 


Hauptmann Nichter 


„Irrthum ausgeichloflen, da | 


Eine Mojtifitation | 


Du kannſt alſo dort vorfahren | 


Chriftion, welchen jein Herr nunmehr mit einer wahren 
Donnerftinme hereinvief, um ihm die nöthigen Anftruktionen zu 
ertheifen, erfannte aus wohlbelannten Zeichen, daß hier Feine 
weitere Frage am Plage fei. Freilich fonnte er nur unter ſtarkem 
Kopfſchũtleln nach dem befohlenen Wagen Taufen; denn was follie 
daraus Werden, wenn der Major anfing, mic nichts, die nichts, 
ohne Chriftian in die Melt zu fahren? Mber zehn Minuten 
jpäter fand dies wirklich ftatt — und EBEN hatte nicht einmal 
erfahren, wohin die Reife King! 

Der umweit einer einen Station ftattgehabte Eiſenbahn⸗ 
unfall hatte glücklicherweiſe Feine große Ausdehnung angenommen; 
es war fein Menfchenleben zu bellagen; jedoch; hatten mehrere der 
Balfagiere Berlepungen davongelragen. Die beiden Merzie des 

Städichens waren gleich zur Stelle und während der jüngere, 
unverheirathete derfelben fi) in dem unmittelbar am Bahnhof ge 
legenen Bajthofe den meist leichter Verwundeten widmete, Tieß der 
ältere, Doktor Velden, Helene, die bewußtlos dalag und ernſtlich 
verlegt ſchien, in feine Wohnung jchaffen. 

In einem Heinen Kabinett, wmmittelbar an den Raum au 
ſtoßend, in den man Helene gebracht hatte, qing Profeſſor Rodik 
im der heftigſten Erregung auf und nieder. Ex adhtete nicht der 
eigenen Schmerzen, der geichundenen Glieder, der Kontufionen, 
die er davongelragen, ex fah nur das Teichenblaffe Frauenantlig 
vor fich, die lebloſe Gejtalt, wie fie nach der Kataſtrophe, che die 
\ Hilfe lam, in feinen Armen gerubt hatte. 

Was würde die nächte Stunde bringen? Hatte Helene — 
er war bereit3 fo weit, fie nur mod) Helene zu nennen --- eine 
ernſte Verletzung davongetragen, oder würde ſie geretlet werden, 
gerellet für Wen? Für einen rohen, widerwärligen Menſchen 
ohne Zweifel, der das ſüße Geſchöpf mit Eiferſucht oder ſonſtwie 
quãlle — der Profeſſor verſank immer tiefer in die unerfreulichſten 
‚ Möglichkeiten und Wahrjcheinlichkeiten, jo daß er nicht beachtete, 
wie ji) die Thür öffnete. Erſt als cine Hand anf feinen Arm 
aclegt wurde, fuhr er auf. 
| „ah, Sie find es, Here Doltor; wie ſteht es mit unferer 

Kranken?“ Es Tag eine fo angjtvolle Spammung in feinem 
jicht, da der Doktor voll Theilnahme ihm die Hand drüdte und 
ermunterud jagte: 

„Nur Muth, mein Herr; es iſt nicht nur don Feiner Gefahr 
die Nede, jondern auch nicht einmal eine bedenfliche Verlegung 
zu finden. Die tiefe Ohnmacht rührie offenbar von dem plöß- 
lichen Schreden und dev Blutung ber. Die junge Dame erwachte 
unter meinen Bemühungen, allem id) ließ fie nicht ſprechen, 
fondern flößte ihr Fofort einen berubigenden Trank ein, deſſen 
Wirkung fid) in einem wohlthätigen Schlafe zeigt, ans welchem 
jie faum vor ein bi! zwei Stunden erwachen wird. Die Wunde 
am Kopfe ift mit. einem nalen Umſchlage verſehen, den meine 
Frau von Zeit zu Zeit vorfichtig erneuern wird, und jo bin ich 
überzeugt, daß Ihr Schübling ſchon morgen die Weiterreife unter 
nehmen ann.” 

„Bott fei Dauf, Dank aus tiefiter Seele für diefen Mus 
ſpruch, Here Doktor,“ rief Profeſſor Roditz lebhaft aus, und eine 
joldy überwältigende rende verffärte fein Geſicht, daß der Doktor 
überrafcht erwiderte: 

„Ah, alio fo steht es, Herr Brofefjor? Das junge Mädchen 
iſt wohl Ihre Braut? Na, aratulive, aratulive von Herzen, 
haben ſich eine allerliebfte Zukünftige erwählt.” 

„Sie irren ſich, Herr Doklor, ich ftehe zu dieſer Dame in 
feinerlei Beziehungen, ich ſah diefelbe Heute zum erjten Male, 
lernte fie erſt im Coupe kennen; allerdings erſchien fie mir be 
jonders Tiebenswärdig und aumuthig, Dies it aber auch alles. 
Sie iſt verheirathet, hat Kinder und während ihres Trausportes 
hierher telearaphirte ich nach Leipzig an ihren Mann, einen Major 
von Schnitzel, den wir mit dem wächiten Zuge, etwa im zwei 
Stunden, erwarten können.“ 

„Scmigel, ein drolliger Name,“ lachte der Doktor; „hätte 
übrigens nicht geglaubt, daß ein jo alter Praktikus wie ich ſich 
fo irren Könnte; ich hätte daranf geichtvoren, ein junges Mädchen 
vor mir zu haben. Bis zur Ankunft des Herrn Majors bin id) 
wieder zuvüd, jetzt muß ich nach meinem Kollegen und den anderen 
—— ſehen.“ 

„Herr Doktor, od) eins: 


ſchlaſe ſeſt; 


Sie ſagten, die gnädige Fran 
hätten Sie ein Bedenken dagegen, mir für wenige 


o 


Augenblide den Eintritt zu gejtatten? Ich möchte nad) dieſer 
schweren Stunde fie nur einen Moment fehen mit der” Ueber: 
zeugung, fie dem Leben erhalten zu wiflen.‘ 

„Treten Sie ruhig ein, aber verhalten Sie fih ſtill und 


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bfeiben Sie nur kurze Zeit drinnen, aufwachen dark fie nicht. Adien!“ 
‚ hat, find derartige Berichte nicht ausgeſchloſſen, kenne das genug: 


Der Doktor nahm feinen Hut und brummte im Fortgehen 
vor ſich Hin: „Keinerlei Beziehungen — ausgezeichnet! Am Ende 
erleben wir noch die ſchönſte Eiferfuchtsfcene mit dem Seren Ge; 
mahl; das kann nett werden! Denn dab dieſer da gehörig ver: 
fiebt in das Schöne Frauchen ift, das fteht doch ein Binder!“ 

Profeſſor Rodig aber trat leiſe im das neben dem Heinen 
Kabinett befindliche Zimmer ein, tvo Helene auf einem Sofa forg: 
faltig Hingebettet Tag. Mit andächtigee Scheu richteten ſich feine 
Augen auf die Schlummernde, deren feines blaſſes Profil ſich von 
dem dunklen Hintergrund der Sofalehne abhob; Teile ging der 
Athem über die bereits wieder rothen Lippen aus und ein, das 
reiche dunlle Haar floß gelöft über die Kiffen herab, fie jchien 
tief und ſüß zu fchlafen. Ueber der Stimm lag eine naſſe Kom: 
prejje gebreitet und dedte die Augen. 

Roditz fand fange in den Anblid verſunken; er jagte ſich 
inmerfich wieder und wieder, daß fie das Weib eines andern fei, 
daR er nicht an fie denfen dürfe. Und eine innere Stimme ant- 
wortele; Mit diefer wirdeft Du glücklich werden! 

Endlich that er einen Schritt vorwärts, drückte einen leifen Kuß 


Erſchien es denkbar, 


| beiden Herren — 





— 


„Inwiefern mein Erſcheinen bie Kranle aufregen wird, ber: 
mag ich micht zur beurtheilen, aber beunruhigende Häusliche Mit: 
theilungen wird die guädige frau durch mich ſicher wicht erhalten, 
Herr Doltor.“ 

„Nun,“ erwiderte dev Doktor gereizt,” „wein man Kinder 


fam aus eigener Erfahrung.“ 

Der Major blieb einen Angenbiid ſprachlos vor Staunen. 
„Kinder,“ Hatte der Doktor gefagt, --- die Sache wurde immer befler. 
daß die Grembe jelbjt dies beftätigt halte, 
oder ſpielten Hier die unglaublichſten Qufälle? Vorderhand mußle 
er ſich jedenfalls möglichſt pafiiv verhalten; einmal mußte die 
Wahrheit an den Tag lommen, und fchen wollte er fie wenig: 
tens — die Fran Majorin! 

„And find Sie* — wandte ſich dee Major wieder au die 
deſſen vollfommen ficher, daß jene Dame bie 
Frau Majorin von Schnigel iſt? Bat fie ſelbſt ſich diefen Namen 


' beigelegt und von ihren Kindern erzählt?" 


„Gewiß,“ erwiderte der Profeſſor, ärgerlich Über den ironi— 
ſchen Ton des Majors, der ſich abermals eines Lächelns nicht 


‚ erwehren fonnte und ſich jet artig verbeugte mit den Morten: 


„Ich Fereiche die Segel; da die Dame ſelbſt fih als Frau von 


' Schnigel prälentirt Hat, jo muß es wohl wahr fein; jedenfalls,“ 


auf ihre Hand und riß fich gewallſam los, um die Zeit bis zur Ans | 


kunft des Leipziger Jugs mit einem Gang ins Freie auszufüllen. 

Als er nah zwei Stunden zurüdfchtie, 
Belden einen Offizier voraus in das Zimmer eintreten, und ſofort 
wußle er, dies müfle der Major fein. Jetzt galt es, fich zufammen 
zu nehmen und ſcharf zu beobachten. Sich froftig verbeugend, 
aing der Profeffor anf den Fremden zu: „Ich habe wohl die 
Ehre, Herrn Major von Schnitzel vor mir zu jehen?” 

Seinerfeit3 betrachtete der Major ji den Mann, welcher 
ihn bierher gefprengt Halte, mit feinen freumdlicheren Gefühlen. 
Ein ironifches Lächeln umfpielte feinen Mund, als er Teichthin 
erwiderte: „Ganz vichlig, und in Ahnen lerne ich wohl Herrn 
Profeſſor Roditz lennen, der mir telegraphirte?" 

„Ja, ic). erlaubte mir dies, da ich nicht willen Tonne, wie 
der Ausſpruch des Arztes lauten würde; Gefahr it, Gott ſei 
Dan, Feine vorhanden; allein es iſt Ahnen, Here Major, gewiß 
fehr erwünſcht, 
nach Leipzig geleilen zu können.“ 

Ohne dem Proſeſſor zu antworten, wendele ſich Major vun 
Schnihel ruhig an den Arzt mit der kurzen, bündigen, weder 
Freude noch die neringite Erregung verralhenden Frage: „Alſo 
Gefahr iſt feine vorhanden? Sie iſt nicht bewußllos oder durch 
den Schreck — geiſtig geſtört?“ 


ließ eben Doktor 


Ihre Frau Gemahlin nad) dieſem Unfalle ſelbſt 


„Nein, Here Major,“ entgegnete, umwillig ber ſolche Herzens: | 


bärte, Doktor Velden; „Ihre Frau Gemahlin trug eine Kopf: 
wunde davon, Die zwar jtarf biutete, aber ganz ungefährlich iſt 


und raſch heiten wird; fie Liegt Schlafend Hier nebenan, kann ins ı 


deſſen jeden Augendlid erwachen, und daun steht Ihrer gegen: 


Eindrutl 


ſeiligen Begrüßung nichts im Wege; nur möchte ich Aufregungen, 


beunruhigende häusliche Mittheilungen vermieden willen.” 


Benjamin 
s war im Juli dieſes Jahres. Wenige Wochen nach dei 
Demolraten waren die Republikaner zu dem großen Pariei— 
fonvente in Chicago zuſammengetrelen, auf welchem dic Nbgefandten 
der Partei aus allen Staaten der nordamerifaniichen Union ihrer: 
jeits der Nation den Kandidaten nennen wollten, den fie für den 
kommenden Praſidentſchaftstermin zu präſentiren hatten. Heiß 
wogte der Kampf drei Tage hin und her. 
keit hielten die Freunde Blaines, der ſeit fünfzehn Jahren ber 
Auserkorene eines ſehr jtarten Bruchtgeils der Nepublifaner it, 
an ihm feit, befämpften ihn die unter ſich in viele Fraktionen 
gefpaltenen und nur in ihrer Gequerfchaft gegen Blainc einigen 
Feinde desielben. Bald war es 
werber unterliegen würde, weil die gemeinichaftlic gegen ihn 
auftretenden Schwächeren nicht wanklen. 
Unter den lehzieren befanden fih Männer, die einen Namen 
von Klaug Hatten: der Frühere Finanzminiſter Sherman, der 


\ Velden endlich rathlos ſchwieg. 


Mit gleicher Zähig: 


far, daß der jtärkfte aller Bes | 
ſei von Anbeginn am entichieben. 


fügte ev heiter Hinzu, „wünſche ich fie jet endlich einmal zu ſehen.“ 

„Bitte“ — des Doltors Antivort Hang ſchroff, während cr 
in das Nebenzimmer voranſchritt. 

Soeben war Helene von ihrem Schlafe erwacht, und raſch näherte 
ſich ihr Doktor Velden: „Hier, guädige Fra, bringe ich Ihren Herm 
Gemahl, welder auf unſere Depeſche bin ſogleich herbeieilte.” 

Bis jebt Hatte Helene mar zu Doktor Velden nufgeichen, 
der ſich zu ihr niedergebengt. 

„Nein Mann — o Gott” — flüfterte fie zitternd, während 
ber Doktor’ mit der Hand einladend zurädwinkie, wo des Majors 
behäbiges Geſicht unter der Thür erichien. In demfelben Augen: 
blick Stich Helene einen furdhtbaren Schrei aus; fie ſtreckle, wie 
ſinulos vor Augſt, abwehrend die Hände aus und ftähnte in faſt 
unartitulirten Lauten: „ext, fort, um Gottestwillen, nur fort!“ 

Bejtinzt wid der Major zurüd, nicht ohne einen Blid 
wärnfter Theilnahme auf das blaſſe, interefjante jugendliche Ge» 
ſicht geworfen zu haben; feltfam, es zug wie ein warmer Hauch 
durch fein Herz — cin ſolches Weibchen hätte er ſich ſchon ge 
fallen laſſen können! 

Zu einer weiteren Ueberlegung gelangte er nicht, denn ſchon 
fühlte ex ſich rauh am Arme zurüdgerifien in das Heine Kabinett, und 
blitzenden Auges ſtand ihm Profeſſor Rodip gegenüber, während dev 
Doltor bei Helene zurückblieb und alles aufbot, um fie zu beruhigen. 

„Gnädige Frau, Sie dürfen ſich nicht fo aufregen, denken 
Sie weniaftens an Ihre Kinder; der Here Major lann ſofort 
wieder abreifen, wenn feine Anweſenheit Sie ängftigt; außerdem 
wache ich über Sie und laſſe Ihnen nichts geichehen.” 

Seine tröftlichen Worte machten indeſſen feinen berubigenden 
- Helenens Aufregung fteigerle ſich dadurch nur noch 
mehr, ſie jchluchzte, als wolfe ihr das Herz brechen, fo daß Doftor 
(Schluß folgt) 


Harriſon. 


Oberrichter Gresham von Illinvis. Aber wie es erſahrungs 
mäßig ſtels bei den amerilaniſchen Konventen zu gehen pflegt 
wenn nicht cin Name im Sturmlauf des Triumphes gleich; beim 
erſten Anſatze gewinnt, dann pllegt ein verhältwißmäßig unbe 
launnter Mann den Sieg zu erreichen. So and in Chicago. 
Blaine, der Unterlegene, welder damals in Europa weilte und 
durch den clelteifchen Draht von Biertelftunde zu Biertelftunde 
von dem Verlauf des Konbentes unterrichtet tvard, wies feine 
Freunde an, ihre Stimme auf Benjamin Harrifon zu übertragen. 
So ward er zum Kandidaten der Republilaner exloven. 

Als das Nejultat in der Union befammt ward, war die 
öffentliche Meinung mit ſich darüber im Reinen: der Wahllampf 
Auf der einen Seite Cleve— 
land, der Amtsinhaber mit der ganzen Gewalt, die ihm das 
Amt in die Hand giebt, ein Mann, dev im Großen und Ganzen 
die Erwartungen erfüllt battle, die am feine Adminiſtration 


_—o 


aelnäpjt waren, perſönlich beliebt, der ohne Wideriprud) Erforene 
der Seiammipartei. Auf der anderen Seite Benjamin Harrison, 
uripränglich der ſchwächſte Kandidat innerhalb feiner Partei, ein 
Mann, der es über eine Lokalberühmtheit kaum hinausgebracht 
hatte, dem man nachjagte, daß er von gewiſſen amerifaniichen 
Schrullen micht jvei jet, wie dem Temperenzzwang, und day; 
er arijtofratische Neigungen befige, die der großen demokratifchen 
Mehrheit unigmpathiich ſeien. Harriſon gegen Clebeland — es 
ſchien lächerlich, die Frage des Sieges überhaupt aufzuwerfen. 
Der Neuling gegen den Bewährten, der Unbedentende gegen den 
Erprobten! 

Vier Monate fpäter, am 6. November, bei der Wahl jelber, 
erfuhr die Nation, daß es in der Politik nichts Gefährlicheres 
giebt, als mit der Stimmung der Maſſen zu rechnen und ſich auf 
fie zu verlaflen. Benjamin Har 
riſon hat den Gegner mit einer 
Mehrheit geſchlagen, die ſelbſt 
jeine Anhänger in Erſtannen 
geſetzt hat. 

Das ganze Borleben Benja- 
min Harriſons it dazu ange 
than, ihn als einen Man er— 
ſcheinen zu laſſen. der überall 
da, wo er hingeftellt wird, feine 
Pflicht in volliten Maße thut, 
ohne ſich jedoch in leuchtender 
Meile auszuzeichnen. Er iſt 
von Beruf Ndvofat, ohne zu 
den mantaftbaren Mutoritäten 
des Landes zu nehören; er 
führte im Seceſſionskriege ein 
Regiment, ohne Gelegenheit zu 
finden, ſich beionders hervor: 
zuthun, und er hat als Politifer 
in feinem Staate ftets in der 
Rorderreihe der Führer geitan- 
den, ohne daß der Erfolg ihm 
mehr als vorüberachend tren 
geweſen. Aus gewöhnlichem 
Holze iſt der Mann alſo nicht 
geſchnitzi, der in allen Dingen 
doch verjtanden hat, die große 
Zahl der Mitbewerber in dem 
Kampfe ums Dafein zu über 
ragen. Aber es bedurfte dod) 
noch eines beſonderen Umſtandes, 
um gerade ihn unter den an: 
deren Präjidentichaftsfandidaten 
zum Auserwahlien feiner Partei 
zu machen. 

Diejer bejondere Umſtand iſt 
in dem Namen zu finden, deu 
er trägt. In dem demofra 
tiichen Amerifa giebt es zwar 
feine Ariftofratie dev Gebet; das Berufen auf die Ahnen soll 
im einem jo jungen Lande schwer fallen. Das Entſcheidende bleibt 
bei der Beurtheilung de3 Mannes fein eigen Thum und Laſſen. 
Trotzdem läßt ſich wicht verfennen, daß bei fonst gleichen Ver— 
hältnifjen das Gewicht eines verdienten Namens ſchwer in die 
Wage füllt. Zahlreich find die Träger des Namens Waſhburne, 
die e3 in der Union zu Rang und Ehren gebracht haben. In den 
Nen:Englandftaaten birgt der Name Kohn Quiney Adams die 
Gewähr in ſich, daß fein Träner hoch in der Gunft der öffent: 
lien Meinung ſteht. Robert Yincole, der in verhälinißmäßig 
jungem Alter ſchon vor vier Jahren von einer ftarfen Partei 
als Präfidentihaftsfandidat in Ausſicht genommen war, wide 
ſchwerlich diefer Ehre theilbaitig geworden fein, wenn er nicht der 
Sohn des undergehlichen Abraham Lincoln wäre, und der jebt 
erwählte Praſident der Vereinigten Staaten, Benjamin Harriſon, 
fan darauf verweijen, daß fein Grofvater, Williom Heury, bereits 
dieſes Amt innehatte und daß fein Urgroßbater Benjamin, nach 
welchen ex genannt worden, zu den Unterzeichnern der Unabhängig— 
teitserklärung nehörte, des amerikanischen Schibofcths, daß er ein 
direkter Abkomme eines der „Väter des Vaterlandes“ if. 


— —¶ 5 


sw >» - 


Die Berdienfte feiner Väter haben ihm im Leben theilweiſe 
den Weg geebnet. Trotzdem iſt ev aud ein „sell-marde man‘, 
der ſich chrlich und muthvoll durch qute und böje Tage Hat hin 
durch ringen müflen. Er ift heute 55 Jahre aft, beträchtlich 
jünger als fein Großvater war, als er an die Spitze der Union 
berufen ward, der damals 67 Jahre war, oder gar als Sam. 
Tilden, den die Demofraten vor 12 Kahren in feinem achtzigiten 
Sabre zum Kandidaten proffamirten. Obwohl fein Großvater 


| bereits in Indiang Gonverneur geweſen, wanderte fein Vater nadı 


‚ einem Bororte der Stadt Cincinnali, geboren wurde. 





Präfident Benjamin Harrifon, 
Eriginalpeimmg von €. Helk. 


Ohio ans, wo Benjamin am 20, Auquſt 1833 in South:Bend, 
Die 
Dijtriftsichnle des Ortes, etwa unſeren höheren Knabenſchulen 
entiprediend, nahm ihm zuerſt auf. Als er fie mit feinem Fünf 
schnten Jahre verlieh, beſaß er Vorbildung genug, um in die Miami 
Umiverjität zu Orford im Staate 
Ohio einzutreten, in der ex feine 
weitere Ausbildung erhielt und 
die, etwa auf dem Standpunft 
unserer Gymnaſien ftebend, ihn 
nad drei Jahren mit Ehren 
entlasjen fonnte. Vor die Frage 
der Wahl eines Lebensberufs 
geſtellt, entichied ſich der jetzt 
Adhtzehnjährige für die Juris 
pruden;. 

Nicht in langem Studium, 
fondern in jofortiger vraltiſcher 
Arbeit, die dem Rechtebeſliſſenen 
als „Lehrling“ in einem Au 
waltsburean fich bietet, gewann 
auch Harrijon die Grundlage, 
um ſich jelbftändig zu machen. 
Er war noch nicht 21 Jahre 
alt, als er fich „etablirte“. Meit 
Kugem Blid wählte cr India 
napolis im Staate Indiana als 
feine neue Heimalh, die Stadt, 
in twelcher fein Großvater da 
mals noch in lebendigiter Er 
innerung ſiaud. Er hat den 
Staat dann nit mehr ver 
laſſen. In demfelben Jahre 
heirathete er. 

Derarlige junge Ehen haben 
in der Union ebenſo wenig Be 
fremdliches wie in England. Als 
er im Jahre 1854 fein Stimm 
recht zum erjten Male — 21 
Jahre alt — ausübte, war er 
bereits Familienvater. 

Yanafamı nur entwidelte jid) 
die Praris des jungen Advo 
faten. Dev Ausbruch des Bürger 
frieges ſah ihn ſofort in den 
Neihen der Kämpfer. Huf Veranlaſſung des Gouverneurs des 
Staates, Morton, hatte er eine Kompagnie geworben und avancirte 
schnell Dis zum Oberſt des Regiments. Exit kurz vor dem Friedeus 
fchluß, am 25. Jannar 1865, wurde feinen Negimente, dem 10. die 
Gelegenheit, ſich im einem Gefecht auszuzeichnen, und fo fonmnte 
denn Harriion, zum Brigadier befördert, mit höherem militärischen 
Range beim Friedensfchluß in das Privatleben zuriidtreten. 

Mit großer Energie warf er ſich nun auf die Politik. 
Wie cr vor dem Kriege ſchon für Fremont und Lincoln gewirkt 
hatte, fo blieb er der republifaniichen Partei tren, — treu ohne 
jedes „wenn“ amd „aber“. Den Beriuchen der hervorragenden 
Männer gegenüber, die unter der Führung von Summer und 
Marl Schurz zuerſt ſchon unter der Präfidentichaft Grant! die 
republitaniſche Vartei in ſich zu reformiren fuchten, blieb er das, 
was man einen „Maschinen: Bolitifer“ nennt. Er blieb bei der 
Fahne, auch wenn der Fahnenträger weidlich Angriffspunkte bot. 
Er blieb ihr jtandhaft treu, als die Zahl der mit ihrer Partei 
unzufriedenen Republilaner fo anwuchs, dab fie im Nahre 1854 
dem Demokraten Gleveland zum Siege verhalfen. Gr „biicb bei 
der Stange“, and) als er bei der Gouverneurswahl im Jahre 


— 89 


1876 unterlon und als fein Staat, der ſtets ein ſchwanlender 
geweſen, ihn im Jahre 1886 wieder fallen ließ, nachdem er ihn 


im Jahre 1880 in den Senat gefchidt hatte. Im Senat achörte | 
er dem Ausichuffe für auswärtige Angelegenheiten an. Er befand | 


ſich durchaus in Nebereinftimmung mit der überwiegenden Mehr— 


heit der gefammten Bevölkerung der Union, als er gegen die | 
Ehinefeneimvanderung wirkte. So oft er als Nedner auftrat, er: | 
wies er fich als ein jcharfer Dialektifer und gewandter Sprecher. | 

Auf eines aber darf Harrifon mit Recht ftolz fein. „Wenn | 
Du wiſſen willſt, welch ein fchlechter Kerl Du biſt, jo laſſe Dich | 


für ein Amt in Vorſchlag bringen“ — das ijt ein Sat, der in 
der amerifanifchen Union mehr als ein Scherzwort if. Tauſende 
haben feine erbarmungsloje Wahrheit an fich erfahren. Je höher 
der Preis, nad) welchem man die Hand ausftredt, dejto eindring: 
licher, fpähender wird das Durchforichen des Worlebens des 
Kandidaten. Rüdfichtslos wird in dasjelbe Hineingeleuchtet. Der 


Parteifanatigmus macht nicht Halt an der geheiligten Schwelle 


des Privatlebens. Das Familienleben wird durchſtöbert, und wo 
das grell Hineinfallende Licht den leiſeſten Schatten zu finden 
glaubt, wird der Meinfte Anhaltspunkt benußt, um einen gleich. 
gültigen Zufall zu einem Verbrechen aufzubanfchen. Zwar die 
Regelmäßigfeit diefer Verfolgung benimmt ihr ein gut Theil ihrer 
Härte, aber überaus jelten find die Fälle, in denen davon Ab— 
ftand genommen werden mußte, den Gegner zu berunglimpfen, 
weil er eben in feiner Berfönlichkeit feinen Angeifjspunft bot. 
Und einer diefer feltenen Fälle Tiegt hier vor. Genen die perfön: 
liche Ehrenhaftigfeit und Unantaftbarkeit Harriſons ift niemals ein 
Wort laut geworden. 

Zu feinem Siege aber hat die Unantaftbarkeit jeines Charal: 
ters nichts beigetragen. In dieſem Kampfe Hat es fich wieder im der 
Umion nicht um Männer, jondern um Prineipien gebandelt. Hätte 


der Mann den Ausſchlag gegeben, fo würde die Wahl wohl auf | 
Cleveland gefallen fein, dem felbft die Gegner wicht perfönliche Achs 


o — 


| tung verſagen und deſſen liebenswürdiges Weſen ihm außerordenllich 
viele Freunde gewonnen hat. Harriſon andererſeits gilt, wie ſchon 
angedeutet, als ein zugelnöpfter Mann, dem das „Gemein-Machen“ 
nit der breiten Maſſe nicht willfommen it. Nicht alfo der Mann 
hat gejiegt, jondern die Sache. Der in allen Aulturftaaten immer 
wieder auftanchende Streit zwiichen Schubzoll und Freihandel iſt 
von dem noch im Amt befindlichen Präfidenten Cleveland wieder 
entfacht worden. Er hat vor Jahresfriſt in einer Botfchaft an 
den Kongreß fich, entgegen der bisherigen Politif des Schuhzolles, 
anf den Boden des Freihandels aejtellt. Zwar wurde die Frage 
nicht in diefer Nadtheit aufgeworfen, aber immerhin bahnte der 
Präfident einen Uebergang zu großer Ermäßigung der Eingangs: 
zölfe an. Und diefer Streitruf wurde von den Republikanern 
aufgenommen. Zwar find die Parteien in Bezug auf twirthfchajt: 
liche Fragen aud in der Union nicht aeichlofien. Es giebt demo— 
fratiiche Schußzöllner und republilaniſche Freihändfer, aber die 
ungeheure Mafje der ausſchlaggebenden Anterefienten in den 
indufteiellen Diftriften wurde von den republifanischen Rednern 
überzeugt, daß der Freihandel den Ruin der Induſtrie, den Nüd- 
aang der Löhne, den Beginn des MArbeiterelends bedeute. Es 
iſt nicht unsere Mufgabe, zu prüfen, wie viel oder wie wenig 
Berechtigung diefe Anfiafjung hat. Daß fie von den Stimmgebern 
der Union getheilt wird, beweiſt die Wahl Harrifons. 

Am 4. März 1989 wird er in das Weihe Haus zu Walhington 
einziehen. Was man von ihm hoffen darf? Das wird von der 
Wahl feiner Rathgeber abhängen. Wenn er Blaine zum Leiter 
de3 auswärtigen Amtes macht, dann iſt nicht ausgeichloflen, daß 
während feiner Amtszeit die nicht überall glatten auswärtigen 
Beziehungen eine Verſchärſung erhalten. Und es giebt viele, die 
da glauben, daß die Dankbarkeit gegen den Mann, deſſen Wunſch 
der neue Präfident die Ernennung zum Kandidaten und deſſen Ein: 
treten für ihn während des Wahlfampfes er feinen Sieg verdantt, 
ihn zu diefer Ernennung zwingen wird. Dar Horwit,. 





Aus der deutſchen Reichshauptſtadt. 


5. 


Pas galtliche Berlin. 


Von Pauf Lindenberg, Mit Zlnftrationen von B. Bauer, O. Getlach und Fr. Slahl. 








Im Workslaffechaus. 


(3 Berlin nach den gewaltigen politifchen Umwälzungen, 

welche der deutjch = franzöfifche Krieg zu Stande nebradt, 
plötzlich aus der preußiſchen Reſidenz zur deutichen Kaiſerſtadt 
erhoben worden war, bemerkten vielleicht zuerſt die jeltjame und 
überrafcende Metamorphoie, die ſich für Berlin mit den er— 
wähnten Exeigniffen verband, die zahllojen Fremdenicharen, welche 
berbeieilten, um die von Nuhm und Sieg umftrahlte Stadt in 
ihrem neuen, verjüngenden Lichte zu Schauen. Eher als die ſpree— 
getauften Einwohner jelbjt ſahen fie, welche bedeutenden und nief 

1888 


einjchneidenden Veränderungen ſich theils Schon vollzogen hatten, 
theils erſt vorbereiteten, wie ſich die Stadt in ihrem JInnern 
ſowohl wie auch nach aufen Hin vedte und ftredte, wie fie 
ſich im lürzeſter Friſt verſchönte und den Naug, der ihr um: 
verſehens zuertheilt worden war, vollauf in Anfprud nehmen und 
ausfüllen wollte. 

Der Ruf davon verbreitete ſich jchnell; Hatte bisher Berlin 
fait abjeits von der großen fontinentalen Fremdenlinie gelegen, 
hatten nur wenige gewagt, es mit Baris und London, ja and) 
we mit Wien in einen Vergleich zu ftellen, jo änderte fich dies 
in fürzejter Beit, Nicht mur, daß die durch gemeinjam vergoffenes 
Blut jo eng mit dem leitenden Staat vereinigten Bundesgenoflen 
viel häufiger wie jemals zuvor die Neichshauptftadt auffuchten und 
dort zu ihrer Frende nicht mehr das ſpecifiſch „preußische Berlin“ 
vorfanden ; auch von fernber lenkten fich die Fremdenſtröme mehr 
und mehr der neu emporblühenden MWeltitadt zu und fchenkten 
ihe diefelbe Aufmerlſamkeit wie den biäher begünftigten Kolleginnen 
an der Seine, der Themfe und Donau. Waren früher Rufen, 
Engländer, Italiener, Amerifaner ꝛc. nur vereinzelte Gäfte in 
Berlin geweſen, jo traten fie jet in wachſender Zahl auf, fehr 
viele von ihnen gründeten ſich hier ein fejtes Heim, andere wieder 
fchrten regelmäßig biecher zurüch, fast immer in Gefolgichaft neuer 
Landsleute. Bald jchen konnte man von feitacgliederten engliſchen, 
amerikanischen, italienifchen, ruſſiſchen ꝛc. Kolonien ſprechen, und 
zu diefen Yändern gelellten fid neben anderen Japan und Siam, 
wie auch der zuerſt jo viefangejtaunte Ehinefe in langem Seiden: 
rock und mit ſanber geilodytenem Zopf raſch eine typiſche Er 
ſcheinung auf den Straßen Berlins wurde, die heute wiemand 
mehr auffällig berührt. Sicherlich dürfte es nicht zu hoch ge: 
ariffen ſein, wenn wie die Zahl der jegt jährlich die Hauptſtadt 
befuchenden renden auf etwa cine halbe Million ſchätzen, und 
diefe Ziffer dürfte jich in fortwährendem Steigen befinden, ohne 
dad ein Rüchſchlag zu befürchten wäre. 

108 





Die wach 
ſenden 
Fremden 
ſcharen be 
dingten für 
\ Berlin eine 
neue Pflicht: 
für ihre gemügende und bequeme Unterkunft zu forgen. Freilich 
nab es genug ausgezeichnete Hötels, die an Komfort das Mög— 
lichſte Teifteten, aber ihre Räumlichkeiten veichten bald nicht mehr 
ans und cine Ueberfüllung war oft unansbfeidlih. Da trat 
nun Für Berlin eine nene Phafe ein; es entjtanden die Rieſen— 
Hötels, welche mehrere hundert Perfonen zugleich, beherbergen 
tönen, nicht bon einzelnen begründet, ſondern von Tapitals- 
fähigen Altiengejellichaften. Der „Haiferhof" madte 1875 den 
Anfang; in bejter Lage, unmittelbar am Wilhelmsplatz, cent- 
jtand das Foloflale, quadratifche Gebäude, bald nadı feiner Voll: 
endung tbeilweiie von den Flammen verzehrt, um allerdings bald 
darauf wieder den Gäften zugänglich zu werden, und ſich bis 
heutigen Tags feines vornehmen Rufes erfrenend. Fünf Jahre 
fpäter, nach Fertigſtellung der Stadtbahn und direct an deren 
Centralbahuhof gelegen, folgte das gewaltige, einen Heinen Stadt: 
(heil einnehmende „Central-Hötel“, und in ſchnelleren Zeitfpannen 
ſchloſſen fih das „Grand Hötel“ am Aleranderplag, ſowie das 
„Hötel Continental“, zwiſchen Stadibahn und „Linden“, ai, 
womit die Heihe nicht erſchöpft bfeiben wird, da man bereits 
von nenen, ähnlichen großartigen Plänen vernimmt. 

Es iſt eine umfangreiche, hundertfältin gegliederte Maſchinerie, 
welche den vegelmäßigen Gang in dieien Rieſen-Gaſthäuſern auf 
recht erhält und ihn aufs genaueſte bis in die gerinafte Kleinig 
feit hinein beftimmt, ohne daß begründete Klagen laut werden 
dürten. Bon Inlereſſe ift es, einen Ginblid in den Betrich 
eines derartigen rieſenhaften Inſtitnis zu gewinnen; greifen wir 
einmal auf aut Süd das „Central-Hötel“ Herans, ohne da 
mit andenten zu wollen, daß die anderen ähnlich großen Hötels 





Im „Kafe Iofin‘*. 







minder betrachtenswerth find: fie werden ſich ſämmtlich wenig von 
einander unterfcheiden. Die Erbanung des angeführten Hötels, 
welches, vier Stodwerfe hoch, neuntaufend Quadratmeter bebedt, 
foftete rund zwölf Millionen Mark; neben einem eigenen Poſt-, 
Telegraphen- und Reiſebureau befinden ſich Ferniprechfabinets nicht 
nur fir Berlin darin, fondern auch für die mit letzterem ver— 
bundenen Städte Hannover, Hamburg, Breslau, Leipzig, Stettin, 
Dresden ꝛc. Schshundert Yimmer ımd Salons, welde ſämmtlich 
eleftriiche Beleuchtung anfweiſen, fünnen jiebenhundert Säfte be- 
herbergen; in den Leſeſälen forgen mehrere hundert Zeitichriften 
für Unterhaltung und an zweihundert Adreßbücher der wichtigften 
Städte auf der ganzen Erde für Auskunft, Der Wintergarien 
ijt ein mächtiger Raum für ſich, der mit feinen Nebenjälen bequem 
tweit über dreitaufend Perſonen Aufenthalt gewährt; in ihm finden 
während der lebhafteren Sailon täglich Aufführungen herumziehender 
Künſtler, ferner die großen, nanz Berlin veriammelnden Bälle 
jtatt, unter denen toiederum die vom Künſtler“- und „Vreſſe— 
Verein“ veranftalteten den erſten Plag einnehmen. Für die Be 
dienung der im vergangenen Jahre eingefehrten etwa 185000 
Fremden forgten an zweibundert thätige Hausgeifter. 

Ingleich mit den großen Hötels famen auch die glänzenden 
Wiener Cafes auf, die vor allen anderen Lokalen fo recht den 
Sammelpunft der Fremden bilden. Caſe Baner madyte hier den 
Anfang und ijt, obwohl es im jedem, jelbjt dem entjerntejten 
Stadttheile Nachahmungen gefunden Hat, troß aller Konkurrenz 
doch das erite und beſuchteſte geblieben. Seine überaus günftige 
Lage an einem der Hauptverfchrspuntte, feine Toftbare Ausftattung, 
zu der die meilterhaften A. v. Wernerichen und Chr. Wilbergichen 
Wandgemälde gehören, der wohlbegründete Auf find freifich nicht 
fo leicht zu übertroffen. Ein unterhaltfames Stück Berliner Leben 
ſpielt ſich hier Tag für Tag ab, ftets giebt cs elwas Neues, etwas 
Eigenartiges zu ſehen, fei es im Sommer, wenn draußen unter 
den „Linden“ die Menſchenwogen in abwecslungsvollem Gewühl 
vorüberfluthen, fei es im Winter, wenn aus den Kryſtalllronen 
die Gluhlichtſlämmchen ftrahlen und in fpäter Nacht vder früher 
Morgenjtunde dichtgedrängte Beſucherſcharen hereinſtrömen, hier 
an der Seite ihrer eleganten Herren mit tadellofem Frack und 
ichneeweißer Kravatte Damen in rauſchender Gefellichaftstoifette, 
dort ein Trupp phantaftifcher Masten in buntem Durcheinander, 
von einem luſtigen Künſtlerfeſt fommend, da, in dichtem Knäuel. 


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Brinbierfinbe von Elanfing. 


die Angehörigen einer ſtudenliſchen 


Berbindung, die Heinen Mügchen | 


ſchief anf deu biergerötheten und ſchmißreichen Gefichteru, die Füchie 





eifrig für die alten Herren troß des Abwehrens der Kellner die | 
Marmortiſchchen zuſammenrückend and Stühle heranholend. Mitten | 


aber in der Lebensluſt, in al dem Uebermuth, dem Glanz und 
Echein fehlt auch nicht das Laſter und oft ſogar das Werbredien, 
lehzteres allerdings Weniger von qußſen zu erlennen wie eriteres, 

Die Wiener Cafes mit ihren luftigen weiten Ränmlichkeiten 
und ihrer ausgefuchten Eleganz, mit ihren plätfchernden Spring: 
brunnen amd kunſtvollen Stronleuchtern, mit ihrem Heer dienft: 
barer Ganymeds und ihrem unterhaftianen  ummmterbrochenen 
Verkehr haben die alten Berliner Konditoreien faſt gänzlich ver: 
drängt oder doch wenigſtens ihrer angeichenen Stellung beraubt. 
Berlin vor dreißig, vierzig Jahren ohne feine berühmten, ver: 
räucherten, engen Konditoreien, das ift cin undenkbarer Begriff! 

Die befanntejten unter ihnen waren die von Stehely, Kranzler, 
Sparguapani; fie jpielten eine bedeutſame Rolle im öffentlichen 


Leben der preußiicher. Nejidenz; die Litterarifchen, die politiichen, | 
die künſtleriſchen Elemente verfammelten ſich bier zu beftimmmten | 


Stunden, und trob aller Spötteleien in den Mipbfättern mag an 
dieſen Stellen mancher ante Gedanle zur That gexeift fein. Boll: 


ftändig find fie auch heute noch wicht verſchwunden, dieſe alt | 


renemmirten Firmen und ihre Nachfolger; da iſt noch Kranzler 


an feiner wohlbelaunten Ede mit der niedrigen, ſchmalen Terraſſe 


wach den „Linden“ zu, die bei jchönem Wetter gedrängt voll be: 


jegt iſt; da finden twir noch d'Heureuſe und Schilling mit ihren 


Heinen, aber gemüthlichen Räumlichkeiten, und mit feiner Glas: 
halle und feinem Gärtchen vor derſelben blidt ums vertraut am 
Potsbamerplage Joſth entgegen. 

Mie gemüthlich fitt es ſich Hier im Freien bei ſchönem 
Wetter; Vogelgezwitſcher fchallt aus dem dichten Kronen der die 





Bellebueſtraße einfäumendenstaftanien, dem 
nahen Thiergarlen eilen die eleganten Equi⸗ 
pagen, die Droſchken und leichten Kabrio— 
lets zu, Damen in hellen Sommergewän: 
dern und fachende Kinder, welche an dün— 
nem Faden vergnügt die rothen Ballons 
in der Luft flallern laſſen, promeniren 
vorbei, und vor uns und um uns hevefcht 
das cmfige, unermübliche Leben einer Welt- 
ſtadt. Na, fie haben noch immer ihr Gutes, 
diefe Berliner Konditoreien, went and) 
wicht mehr in ihnen hohe Politik getrieben 
und der Pegaſus zu kühnem Fluge ange: 
ſpornt wird! 

Aehnlich wie den Konditoreien iſt es 
den „erſten“ Berliner Reftaurants ergan- 
gen. Wo find fie Hin, dieſe Lofale, in 
denen ſich einft unjere Aliwordern fo be: 
haglich fühlten, mit ihren rauchgeſchwarzten 
Deden, am denen die ölgefüllte Ampel 
hing, mit ihren vergilbten Wänden und 
dem ſandbeſtreuten weißgefchenerten Fuß 
boden, mit den hohen Bänfen und ſtei— 
fen Stühfen, mit den wachstuchbezugenen 
Zifhen, auf denen die „Spenerjce” und 
„Voſſiſche Zeitung“ Tagen und, wenn es 
hoch kam, einige Blätter des „Vollsfreund“ 
und „Beobachter an der Spree”, Die vollauf genügten, den Stamm: 
iijchgäiten Unterhaltung für den ganzen Abend zu gewähren! Sie 
Ind, mit wenigen Ausnahmen, auf Nimmerwiederſehen ver 
ſchwunden; au die Stelle der beicheidenen Bierlokale traten die 
anſpruchsbollen Bierpaläjte, für viele Hunderllauſende Mark erbaut 
md in untrüglichſtem Rengiſſance- oder Rokoko⸗ oder jonft einem 
Stile innen ansgejtattet, mit ſchwerſter Holztäfelung, mit jchön- 
geſchnitztem Meublement, mit elektriicher Beleuchtung und Wand: 
oder Dedenmalereien der modernſten Meeifter. 

Sie bilden gegenwärtig wicht die geringfte Seheuswürdigleit 
in Berlin, dieſe neuen, dem Gambrinus geweihten Tempel; wer 
ie andy häufig im ihrem baulichen Gewande einen baroden Ge— 
ſchmack anfweiſen, fo iſt dod der Uufenthalt in ihnen zumeift ein 
angenehmer amd eriräglicher, ficdher faft immer ein unterhaltiamer, 
denn ſtets neue durſtige Scharen fteömen durch die weitgeöffneten 
Portale herein, Greiſe und Kinder. Männlein und Weiblein, denn 
auch letztere veritchen jetzt, was früher jo ſtreng verpönt tvar, 
den Humpen tüchtig zu ſchwingen. 

Es Scheint Feine Einbildung zu fein, daß mit der wachen: 
den Einwohnerzahl in Berlin auch der Durſt in ftetem Steigen 
begriffen iſt — anders könnte man ſich die Tabelhafte Ber: 
mehrung der Nneipftätten nicht erklären. Namentlich das Münche 
ner Bier hat ſich mit raſchem Erfolge ein großes Terrain er: 
tworben, und jegt ſchon ijt die Zahl der „Bräns”, welche uns 
unter allen möglicden Namen und Schusbeiligen entgegentyeten, 
eine Legion. Die Berliner Brauereien zwar, etwa achtzig an 
Zahl, Haben muthig. den Kampf mit den fremden Einbringlingen 
aufgenommen, vermochten fie aber bisher wicht zurückzuſchlagen 
und konnten auch mich die jährliche Einfuhr von etwa ziveis 
hunderttaujend Hektolitern fremden Bieres verringern. Jedenſalls 
aber machen fie trozdem ante Geichäfte, und man begreift das, 
wenn man vermimmt, daß auf 450 Mann in Berlin cine Neftau 
ration und auf jeden Kopf der Bevölterung im Jahr 170 Liter 
Bier Fommen. 

Stürmen fie aber auch von allen Seiten heran, die Münchener, 
Nürnberger, Pfungjtädter, Kulmbacher, Pilſener ꝛc. Biere, eine 
Hochburg des Berliner Bieres haben fie bisher nicht zu ſtürzen 
vermocht md werden es and fürberhim nicht Können; die Hoch 
burg des Berliner Weißbiers. Troh aller Veränderungen, 1rot 
aller Seichmadsrichtungen und Umwälzuugen im Branereiweien 
hat es ſich rein amd unverfälicht erhalten, jo wie es einſt vor 
zweihundert Jahren die Refugies in die Mefidenz des Großen 
Kurfürſten, ihres ivenen Beichügers, eingeführt. Und ud die 
Lolale, in denen es ausgeſchentt wird, haben zum bedeutenden 
Theil ihr früheres Gewand nicht abgelegt; fie haben noch ettwas 
Thilifterhaftes, aber höchſt Gemüthliches an ſich, und auch von 
igren Beſuchern iſt dasselbe zu jagen, es find zum größeren 


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Im Jöintergarten. 





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Theile „geborene“ Berliner, eine * 
Species von Menſchen, die durch 
aus nicht fo häufig, wie man glaubt, 
in Berlin zu finden iſt.“ Da thront 
fie dann füniglih auf dem Tiſch, 
die Schäumende „Blonde“, in einem 
Behältnig, welches man für alles 
andere als gerade für ein Biergefäß 
halten lann, und als gehorſame 
Trabanten umgeben die perlende 
mit einer folgen Haube geziert 
Herrſcherin die Heinen beicheidenen 
„Strippen”, niedrige Gläschen mit 


Nordhäufer oder Korn gefüllt, fo unzertrenntich von der Weihen | 


wie einft der Ibis von den Krolodilen des Nils. — Einzelne 
der Weißbierjtuben haben ſich einen Ruf weit über das Weichbild 
des Bären hinaus erworben; die Namen Clauſing, Haaſe, Päpfe, 
um nur einige twenige anzuführen, nennt nicht nur der Spree: 
Athener mit einer gewifien Achtung; auch fo mancher Fremde hat 
dort jeine durch dem vorangegangenen Abend verſchuldete lahen 
jämmerlide Stimmung fchnell verloren und vergejien. 

Weit mehr als die NReftaurationen haben ſich die Berliner 
Weinhandfungen ihren patriardhaliichen Charakter zu bewahren 
gewußt, natürlich nur die Firmen, welche mit dem einjtigen Berlin 
ſchon verwachfen waren; fie haben ein feſtes Stammpublikum zum 
Früh: wie zum Abendichoppen und wachen ehrgeizig über einen 
„guten Tropfen“, den es ſtets bei ihnen und für nicht zu theuren 
Kreis giebt. Im diefer Beziehung, was Efjen und Trinfen an 
belangt, dürfle überhaupt Berlin cine der billigjten Weltjtädte 
fein; die Auswahl ist ſehr reich und nicht nur für jeden Ge 
ſchmach, jondern auch für jeden Geldbentel ift geforat. Einzelne 
der befannten Berliner Weinhandlungen beanfpruchen ein Fultur- 
hiſtoriſches Inlereſſe; in dem Maurerſchen Weinleller in der Brüder 
ſtraße, der nun auch verſchwunden, hatten oft genug bei vollen 
Gläſern Leffing und Namler mit quten Gejellen gefejfen, und wenn 
fie erzählen könnten, die Wände des noch heute blühenden Wein 
aejchäftes von Futter und Wegener, dicht am Scanfpielhaufe, fie 
würden von mancher ausgelaffenen Stunde berichten, die hier 
einst Ludwig Devrient und Th. Amad. Hoffmann in großem 
Freundeskreife, zu dem auch der junge Döring gehörte, zugebradht. 


* Nadı der neueften Statiftit ift die Bahl der geborenen Berliner 
wiederum zurüdgenangen; fie beträgt 42!/,% der Gefammtbevdlferung, 
aljo nicht einmal die Hälfte der Einwohner ift „mit Spreewaſſer getauft!” 









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Das Eentraf-Hötel, 


Ganz anders, vornehmer, zuridhaltender, jchauen uns die 
von der Geburts: und Geldariftofratie bevorzugten Rejtaurants 
der „Linden“ fowie der benadbarten Straßen an. Was zum 
verwöhnteften Luxus gehört, Hier ſcheint es noch überboten zu 
fein im jeglicher Beziehung; der raffinirteſte Geſchmack wird be 
friedigt in diefer jtimmungsvollen Zuſammenſetzung von Gold und 
Farben, von Pracht und Reichthum, die namentlich abends, wenn 
ein Meer von Licht aut den Sronlenchtern hevabftrömt, zur 
volljiten Geltung gelangt. Aber auch zur vollften Beachtung, denn 
wenn die Theater aus find, wenn der lebte Geigenftrich im 
Konzert verflungen, wenn im Cirkus der Klown feinen Abſchieds— 
purzelbaum geſchoſſen, dann füllen ſich bei Hiller, Dreſſel, Uhl, 
Borhardt und wie jonjt die bevorzugten Berliner Priejter des 
Lucullus heißen, die Salons und Habinets, und während draußen der 
Schnee in dichten Floclen herniederwirbelt, ſerviren lautlos drinnen 
die geſchmeidigen Kellner die mit dem friſcheſten und Tojtbarjten 
Gemüje angefüllten Schüfleln, denn der Einfluß der Jahreszeit 
auf den Küchenzettel, er fpricht in dieſen Lokalen niemals mit! — 

Nirgends berühren jich die Gegenſähe aber fo fehr wie in 
einer großen Stadt. Der arme Teufel, der mit begierigen Augen 
und fchnalzender Zunge durch die hohen Spiegelfeniter, die trog 
der vorgejtellten Rahmen und blühenden Topfgewächſe einen Aus 
aud laſſen, eben geſehen hat, wie den behaglich am perlenden 
Set fchlürfenden Gäſten der Tedere Braten herumaereicht wird, 
und der num hungrig amd frierend tweitertrottet, er findet auch 
feinen Unterfchlupf, wenn er um die Ede biegt und dem freund- 
lichen Wink der vothen Laterne folgt. Wie Wegweiſer für hun 
gernde und duritende Seelen ziehen fich durch die ganze Stadt 
diefe Heinen Stellerfneipen und Dejtillationen, niemals leer, fast 
immer angelüllt mit einer jchwagenden, lachenden, kartenfpielenden, 


—⸗ 85 


jedenfalls aber trinfenden Menge, unter der fi) fo mancher be: 


findet, welcher einft von einem befferen Teller gegeifen und ein | 
' Auf ein zwanzigjähriges Beitehen können die Volksfüchen bereits 
‘ zurüdbliden, von Jahr zu Jahr wurde ihre Thätigkeit eine um: 


feineres Glas zum Mund geführt. In diejen Lolalen, wo ber 
Drofchfenkuiicher in feinem weiten Nabmantel neben dem Dienjt- 
mann und dem rußgefchwärzten Arbeiter jitt, wird nod) das 
echtefte und unverfälfchtefte Berlinifch gefprochen und oft genug 
ein derber Spaß audgefonnen, ben ber davon Betroffene felten 
übelnimmt, Allerdings, find erſt die Gemüther erregt und haben der 


Branntwein twie das Bier die Mienen der Zecher mit fammender | 


Röthe bededt, dann ſihen auch häufig die Hände loſe und der Spel⸗ 
tafel einer tüchtigen Prügelei fallt bis auf die Strafe hinaus und 
fodt Schnell den Ruheſtifter in Geſtalt des Schupmannes heran. 
Unfer Thema wäre nicht volftändig, wenn wir nicht noch ber 
Vollsküchen Erwähnung thäten, einer der ſegensreichſten und unent- 
behrlichften Einrichtungen der Weltftadt, welche bisher unendlich 
viel Noth und Elend geftiflt Hat. 


eine nahrhafte, Fättigende Koſt —- die halbe Portion 15, die 
ganze 25 Pfennig — verabreicht wird. Dichtgebrängt fihen fie 
dann am den Tijchen, auf denen das dampfende Mahl fteht, alle 
diejenigen, für welche nichts vom Reichthum und Glanz der Nefi: 
denz abgefallen iſt, welche glüdlich find, wenn der nurrende 
Magen befriedigt iſt — Männer und Frauen und Kinder, alles 


Jeder Stadtteil Hat mehrere | 
diefer Küchen aufzuweijen, in denen von mittags zwölf Uhr an | 


bunt durcheinander, eine herbe, lebende Illuſtration zur Kehrſeite 
ber nad außen bin mit fo vielem Prunk fchillernden Wellſtadt. 


fangreihere, jo daß fie jeht jährlich weit über zwei Millionen 


| Mittags und 80 000 Abendportionen austheilen, womit troß der 
großen Zahlen doch noch nicht alle Darbenden gefättigt werden. 


Bon dem Bürgerfinn und dem Bürgerwohlitand der Berliner 
Einwohnerſchaft darf man erwarten, daß auch fernerhin alles ge: 
Schicht, um das Elend möglichſt zu Tindern. In diejem Sinne 
find auch neuerdings Vollslaffeehäufer eingerichtet worden, in 
denen zu billigiten Preifen Kaffee, Thee, Chofolade, Milch, 
auc Bier (aber fein Branntwein), jowie mancherlei Eßwaaren 
verabreicht werden. Die Räumlichleiten find im Winter behaglich 
erwärmt; neben verichiebenen, zur freien Benußung ſtehenden 
Spielen Liegen illuftrirte Blätter und Tageszeitungen aus, und 
es Steht wohl zu erwarten, daß dieſe neue Einrichtung ſich in 
den Sreifen der Handwerker und Arbeiter bald großer Beliebt: 
heit erfreuen wird. 

Möchte Berlin auf der mit Erfolg betretenen Bahn auch 
unentwegt wweiterfchreiten und den anderen Hauptjtäbten das 
ihöne Vorbild zeigen, dak in feinen Mauern nicht nur für den 
Reichen, fondern auch für den Armen geforgt ift! 


Aus dem alten Burgtbeater. 


Erinnerungen von Rudolf v. Gollſchall. 


— Theater am Michaelerplatze in Wien hat ſeine Pforten für 
immer geſchloſſen; gewiß werden eingehende Memoiren diejes 
chriwürdigen Theaters geſchrieben werden, für cine längere Spanne 
feiner Geſchichte hat ja ſchon Heinrich Laube vorgearbeitet. Wiener 
Berichterftatter, welche die Chronik bdesfelben von Tag zu Tag 
miterlebten, werden genauere Aufzeichnungen daraus veröffent— 
lichen Fönnen als der Fremde, der nur hin umd wieder und zwar 
nad) längeren Zwiſchenräumen die Burg beſuchte; aber ganz 
werthlos werden auch die flüchtigen Blätter der Erinnerung nicht 
fein, die er ihr widmet, denn der fremde ijt eindrudsfähiger für 
alles, was ſich gewandelt hat im Laufe der Zeit. 

Als ih das erjte Mal im Jahre 1863 nah Wien Fam, 
hatte Laube bereits lange fein vielfach gefeiertes und vielfach an: 
gegriffenes Regiment geführt; ich kam zumächit in einige Kreiſe, 
in denen man gerade nicht für ihm ſchwärmte. Da war die geiit- 
volle Frau Mettich, die noch der älteren Wiener Schule angehörte, 
Ihre Hausfreund war Friedrich Halm, der Dichter der „Griſeldis“, 


der ja mac Laubes Abgang Antendant des Hoftheaters wurde. 
Halm gehörte zu den Mifvergnügten; der hochgewachſene Herr | 
war weder mit Laube noch mit dem Publilum bejonders zufrieden. 
Der Thefpiskarren ſchien ihm aus dem Neiche der Dichtung allzu: 


ſehr Hinausgefchoben in das Geleis des alltäglichen Lebens. Halm, 


den ich auch öfters auf der Univerfitätsbibliothel iprach, deren | 
Borftand er war, fah übrigens durchaus nicht wie ein idealiftiicher | 


Dichter aus; ex hatte etwas Verdroſſenes in feinem faltenveichen 
Geficht und feine Augen verſchwanden fait unter den in die Höhe 
gezogenen Falten, 
er etwas auf; doch feine Urtheile über den Machthaber des Burg: 
theater3 hatten immer einen diplomatischen Rückhalt. 

Ebenſo verjtedten Widerfpruch gegen Laubes Bühnenleitung 
fand ich bei Friedrich Hebbel, zu dem ich mich durch die 
Wolfe der Vergötterung, die ihn umſchwebte, hindurchzukämpfen 


juchte; es war das theils Selbftvergötterung, theils die Ber | 


götterung einer fanatiihen Nüngerfchaft, die alles, was er 
jprach, bebeutend fand. Und er bat ja des Bedeutenden genug 
geſprochen und gedichtet; aber beim perſönlichen Verkehr ftörte 
doch etwas der Gedanke, alles, was er fagte, bewundern zu müſſen; 
man wurde gleichjam daraufhin angefehen, bis zu welcher Höhe 
ber Bewunderung man ſich zu erheben vermochte. Es wurde 


einem etwas cifig dabei zu Muthe, wie beim Monolog der auf ı 


ihrer, Norblandäinfel fagenhaft eingefrorenen Brunhilde. Hebbel 
mar gewohnt, als Drafel zu „pofen”, ſich als Meifter unter lauter 
Jüngern zu bewegen. So aab es feine Unterhaltung mit ihm, 
fondern man hatte nur das Recht, ihm auzuhören. Er war von 
Bejtalt fein Rieſe, immerhin aber ziemlich groß und kräftig und 


Bei den Abendihees der Fran Rettich thaute | 





er Hatte etwas vom nordiſcher Medenhaftigfeit, etwas Kühles, 
Feſtes, ja Starres und dabei Genieblige wie Gewitter im Winter. 

Es war nicht lange nachher, daß id) in den Kreis der be: 
geifterten Anhänger Laubes gerieth, zu denen im erfter „Linie die 
von ihm engagirten Darjteller der Burg gehörten. Añlaß dazu 
gab die Aufführung meines Lujtipiels „Pitt und For“ am Burg: 
theater, zu welcher fich Laube exit entfchloß, als cr in Sonnenthal 
einen für den For geeigneten Darfteller gefunden zu haben glaubte. 
Das Stüd war fon zehn Jahre vorher über die meiften deutfchen 
Bühnen gegangen. Nun trat id) in das Laubeſche Atelier. Zu— 
nächſt die Lefeprobe. Da ſaß der Direktor in der Mitte der Seinen, 
die er entdeckt umd gefördert hatte; er war nicht bloß Direktor, 
er war der Hahn im Korbe. Jede jeiner Meußerungen fand Be: 
achtung und Beifall; es war ein volles Behagen über diefen Kreis 
ausgebreitet. Laube hatte zwei Heine luſtige Auftritte zu dem Stüd 
hinzugedichtet; er Tas fie jelbit vor und jeder Wit wurde mit jtür: 
miſchem Gelächter belohnt. Dann folgten die Thenterproben. Da 
war er ganz in jeinem Element; er lümmerte fi wenig um das Drum 
und Dran der Bühne, der Dialog war ihm alles; er ſprach einzelne 
Stellen vor mit feinem nicht ſehr bejtechenden, barjchen Organ; 
aber die Schaujpieler wußten fogleich, wie fie geſprochen werben 
müſſen. Er hatte aud) für das Spiel allerfei gute Einfälle, droffige 
Nuancen. Bei den Proben auf der Bühne war er in feinem Element 
und unantaftbar fein Princip, ein Thenter müſſe nit vom Bureau 
aus, jondern von der Bühne aus geleitet werden; da fah er, wie die 
Stüde Leben gewannen und wo er nachhelfen mußte für den Erfolg; 
da fah er, wie die darſtellenden Kräfte ſich bewährten, wo ihre 
Adhillesferje war, für welche Rollen fie pahten nach ihrer ganzen 
Perjönlichkeit — und da griff er durch trotz Laune und Proteit. 

Ich fand unter den Mitgliedern des Burgtheater manche 
alte Bekannte: Fran Gabillon, die ich von der Alſterſtadt 
ber fannte, wo fie als Fräulein Zerline Würzburg zuſammen 
mit Marie Seebach bei Frau Glasbrennersferroni Stunden in 
der Vorkragskunſt hatte und neben jenem Muftergreichen auf der 
Bühne durch pifanten Geiſt und einen leidenſchaftlichen Zug 
interefirte; Sonnenthal, den id) zuerit auf der Königsberger 


' Bühne gefchen, als dort Arıhur Woltersborff noch fein Scepter 


führte; er jpielte damals den König in meinen „Diplomaten“ 
mit Grazie und Feinheit; fchon war er auf dem Wege nad) der 
Donau, wo er nad) anfänglichen Schwanfungen des Erfolges bald 
ein Liebling des Publikums werden follte Er half durch Dar- 
itellung des „For“ an der Burg diefem Luftipiel die dauernde 
Stätte im Nepertoire des Wiener Hoftheaters fihern; es war 
eine Glanzleiſtung in Bezug auf Jovialität, und dabei bewahrte 
er cine ſtaatsmänniſche Haltung, welche dem Charakter das nöthige 


— 


geſchichtliche Relief gab. Viele feiner Meifterleiitungen auf dem 
Gebiete des Konveriationsſtückes habe ich fpäter bewundert, Kine 
feiner zündeudſten Leiftungen it der ältere Mister in dem Dandet— 
ſchen Drama; die Umwandlung des ruhigen Mannes in den von 
ſtürmiſcher Leidenfchaftlicheit Ergriffenen ijt von wahrhaft überwäl: 
tigender Wirkung. Im Verkehr iſt Sonnenthal durchaus ljebeus— 
würdig; ich traf ihn beim Grafen Wimpfen und in anderen har 
Areiſen, wo er überall den Rang feiner Kunſt einnahm. 


Ten | 


Kunſtlerlreiſe der Burg gehörten als hervorragende Mitglieder | 


auc der überaus ſtrebſame, feinfinnige Lewinskh an und Auguſt 
Förſter, Laubes rechte Hand, ein Mann von großer dramaturgiſcher 
Einſicht und tiefer litterariſcher Bildung, der jetzt als Direftor der 
Burg diefelbe Stellung einnimmt, wie Yaube ſie beffeidet Hatte. 
Doch noch eine Säule des Burgtheaters muß ih erwähnen. 


In Gemeinſchaft mit dem Dichter des „Schutt“, dem Grafen 


Huersperg, firchle ich den alten Grillparzer auf, dem merhvärdiger- 
weile der jungdeutiche Laube die allergrößten Sympathien ent 


gegenbrachte und den er durd Aufführung feiner Stile dem neuen | 


Wien wieder näher brachte, wie er denn fpäter vorzugsweiie das 
große Grillparzerfeſt inicenirie, au weldem ganz Wien ſich be- 
Iheiligte. Der oͤſterreichiſche Klaſſiler, von Laube mit Schiller und 
Goethe in eine Linie geftellt, wohnte in einem ziemlich hohen 
Stodwerke, und wenn man ihn dort hinler jeinem Bulle ſitzen 
ſah, machte er anfangs den Eindruck eines Subalternbeamten. Er 
börte wicht gut mad befuchte deshalb das Theater nicht mehr; er 
ließ fich über dasſelbe nur berichten von feinen Beſuchern oder wenn 
er im benachbarten Matfchaterhof fein beicheidenes Mlittagejien cin 
nahm. Nener erſte Eindruck verichwand indeh bald Hinter dem geiſtig 
Bedeutenden des alten Herrn, der keineswegs in fpanifcher Lyrit 
anfaing, Sondern aucd recht Schlagende und beißende Bemerkungen 
zu machen wußte, wie ja auch feine Aufzeichnungen beweifen. 
Das waren die Eindrüde, Die ich zur Zeit der Laubeſchen 
Direltion, von dieſem Theater erhielt. Inzwiſchen waren Jahre 
ins Land gegangen; die Direktion Hatte unter Halms Intendanz 
der Negiffene Wolff geführt, ein gewaudter und gebildeter Mann, 
aber gegenüber den Größen des Burgtheaters ohne den Nimbus 
einer überlegenen Bedeutung. Dann aber war Franz Tingelitedt, 
der ſich ale Direftor der Oper zuerſt in Wien eingeführt, an die 


836 5 — 


jorlaftiichen Zuge, Diefe weltmänniſche Gewandtheit — wie ſtachen 
fie ab gegen die ſchlichte Derbheit Des Meinen Laube, feinen 
bafbafiatiichen Gefichtsansdrud, fein ſchroffes, kurzangebundenes 
Weſen! Dingelſtedt fam von der Inriichen Dichtung ber md 
hatte daher Sinn für die Lyrik der Bühne, die Pracht der 
Scem. Dos war für Laube ehwas ſehr GHleichgültiges; die 
Lyrik lag ihm fern; andere Verſe als in feinen Dramen Hat er 
nie gefindigt, und dieje waren in der That holpria genug. Bei 
den Proben, die ich mit amlah, war Tingefitedt nicht wie Laube 
auf der Bühne, fondern im Parkett oder in einer Proiceniums 
Tone; von dort tönte dann gelegentlich fein fonores Organ zur 
Bine Hinanf, galt es auch nur einen Regiſſeur zur Ordnung 
zu rufen, weil die Teppiche in der Farbe nicht zu den Möbeln 
ſtimmten. Bisweilen befleifigte ev ſich auch einer etwas auf- 
fälligen Unaufmerkiamfeit, wenn die Dinge, die oben vorgingen, 
ihn wicht ſonderlich intereifirten, oder er machte irgend eine 
fpöttiiche Bemerkung, zum Beifpiel über die Teilen kölniſchen 
Diafeltanflänge feiner großen Tragödin, vor der er übrigens den 
größten Reſpekt Hatte und die er fchen grüßte, wenn er fie mur 
von jern um die Straßenecke biegen jah. 

In Weimar Hatte ich Dingelitedt feine Hiftorien in Scene 
jehen jehen. Da war er ein geharniſchter Regiſſeur von Kopf zu 
Fuß und ſtand ihätig und eifrig unter den Seinen auf der Bühne. 
Das neue Burgtheater . , . das hätte fein Regietalent begeistert 
Das alte bot ihm nicht Raum aenug für feine großen theatrali 
ſchen Anichanungen; es eraing ihm damit faſt wie in dem engen 


' Korridoren des Zuſchauerraums, ex ſtieß au die Dede derfelben, 


Burg übergeitcdelt, in einen feinem Talent und feinen früheren | 


Leiſtungen entiprechenden Wirkungskreis. 


As Operndirecktor ber | 


ſchränkte er ji auf glänzende Arrangements und war fche ent- 


rüſtel, wenn ſich ein Maetglied in mafifaliichen Angelegenheiten 
an ihn wendete; ev ſetzte bei feinen Mitgliedern fo viel Bekannt— 
ichaft mit ben Verhällniſſen vorane, daß fie wiſſen mußten, ex 
verftehe nichts davon, und wies ſte an den Kapellmeiſter. An 
der Burg aber war dies natürlich anders; doch der Ton feiner 
Bühnenleitung war weientlih von Dem der Laubeſchen vericdheden. 

Ich war zweimal in Wien, während Dingeljtedt das Scopter 
führte; er war in jeder Hinſicht das Gegenbild von Laube. 
Tiefe hohe ſchlanle Geſtalt, dies geijtweiche Gejicht mit dem 


Die Alpenfee. 


wenn ex den Gylinder nicht abnahm. Seine langen, ſchon von 
Heine befungenen Fortichrittsbeitte irugen ihn au immer höheren 
geſellſchaftlichen Zielen, und doch blieb jein Hauptwunſch, unter 
feiner Antendanz Hofburg und Hofoper zu vereinigen, unerfüllt. 
Gr war ein Mann von Geift und ein echler Dichter; doch tet 
feine Ruhmesliebe hinter feinem Ehrgeiz zurück. Der Schalt und 
dev Peſſimiſt lanerten bei ihm jtets im Hintergrunde, und bisweilen 
war cr weltſchmerzlich und bühnenichmerzlich genug geſtimmt, daß 
ihm die ganze Bühne wie einem Hamlet die Welt als ein kahles 
Borgebirge erſchien. Rach einem ſchönen Erfotg konnte er indeß auch 
warn werden; ich begleitete ihn bisweilen nach dem Schluß der Stüde 
auf die Bühne, wo cr die Träger des Dramas ans Herz ſchloß 
und den Trägerinnen den direktorinlen Ruß des Dankes ertheilte, 

Seitdem das Burgtheater unter Leitung des feinfühligen liebens- 
würdigen Dichters Wilbrandt ftand, hatte ıch dasselbe wicht wieder: 
geſehen. Jedenfalls trug es wiederum eine andere Phyſiognomie 
jur Schau; es war cin Aſyl der Wettlitteratur geworden und bie 
griechiſche Dichtung bürgerte ſich dert ein neben der Tpanifchen, 

Kur flüchtig Fonmte ich einige Schatten ans der jeht ge— 
fchlofienen Gruft des alten Burgtheaters Hier vorüberziehen 
laffen; mögen andere im Zufammenhange von diefer Bühne er 
zählen, die ja in der deutſchen Thentergefchichte eine jo hervor 
ragende Stellung einnimmt. 


Rachdrud verbeten. 
Alle Rechte verbehalten 


Roman von &, Werner. 
(Edind.) 


n der Nordheimſchen Billa war es fill amd öde geworden. Man 

hatte die Yeiche des Präfidenten nad) dem Erbbegrabniß in 

der Reſidenz gebracht md Tochter und Nichte hatten ſie begleitet. 

Tie Dienerihaft war ihnen ſchon in den nächſten Tagen gefolgt 
und das Daus lag jebt wie ausgeftorben da, 

Auch der Chefingeniene weilte augenblicklich in ber Stadt, 
um mit der Öejellichaft, welche wenigſtens iheilweiſe Eigenlhümerin 
der Bahn war, zu verhandeln und Die Angelegenheiten des ver: 
ſtorbenen Präſidenten überhaupt zu ordnen. Er hatte dies unter 
den obwaltenden Verhälmiſſen ſehr ſchwierige Hat übernommen 
und noch fand ihm die Autorität des Sohnes, des Einftigen 
Batten der Erbin zur Seite, denn noch wußte die Welt nichts 
von der Aufhebung jener Verbindung. Sie follie es erſt nach 
Ablauf der Tranerzeit erfahren, wenn Alice feines Vertreters mehr 
bedurfte. Man wollte gevade jeht die inneren Angelegenheiten ber 
Familie nicht der Neugier und Klatſchiucht preisgeben, und die 
Hataiteophe, welche mit dem Leben auch das Vermögen Mord 


heims getroffen hatte, forderte cine ſtarke Hand, um noch das 
Möglichſte zu vetten. 

Ernſt Waltenberg befand ſich od in Heilborn. Er Hatte 
ſeit dem Tage, an dem er ſich von ſeiner Braut getreunt, das 
Wolkenſteiner Gebiet allerdings nicht wieder betreten, aber irgend 
etwas ſchien ihm in der Nähe Feftzubalten. Der Spätherbit war 
nun völlig und mit winterlicher Strenge in die Berge eingezogen 
und der arofie Kurort ſelbſtverſtändlich ganz leer, nur der fremde 
Herr, mit feinem Sekretär und den beiden farbigen Dienern, weilte 
noch hier und machte auch noch Feine Anſtalt, abzureiſen, 

Im Salon der großen und bebaglichen Wohnung, Die Walten 
berg innehatte, ging Veit Gronau mit unruhiger, beforgter Miene 
auf und nieder und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf die 
Ihür zu dem Arbeitszimmer Ernſté, die feit geſchloſſen war. 

„Wenn ich nur wüßte, was aus der Geſchichte eigentlid 
werden Fol!" brummte er. „Da Schicht er fih nun Tan für 
Tag ein und hat Seit eher Mode feinen Fuß in das Freie 





Ein Eirofer Jäger. Bon Franz v. Defeegger. 
„Aus Studienmappen deutſcher Meifter“, herausgegeben von Julius Lohmener, Berlag von C. T. Wistlott in Breslau 


—o 


nefeßt, er, der wicht leben konnte, wenn er wicht täglich ein paar 
Stunden im Sattel ſaß. Mit einem Arzte darf man ihm ja 
nicht kommen! Wenn wenigſtens noch der Doltor Neinsjeld er— 
reichbar wäre, aber der mit feiner unbeguemen Gewiſſenhaftigkeit 
ſitzt natürlich ſchon in Neuenfeld, obgleich ex viel geiceiter thäte, 
bei feiner Brant zu bleiben; er Hatte die Stellung einmal an: 
genommen und nun hielt ihm michts mehr, als der Termin da 
war. Hoffentlich ſorgt er dort ſchleunigſt für einen Nachfolger, 
denn fo viel wird von den Nordheimichen Millionen wohl übria 
bleiben, daß die ärztliche Braris an den. Nagel gehängt werden 
kann. — Nun, da biſt Du ja endlid, Said! Was hajt Du 
ausgerichtet ?* 

„Der Here laßt Mafter Hronqu jagen, zu ſpeiſen allein, * 
berichtete Said, der aus dem Zimmer Waltenbergs kam. 
nicht hat Luſt zu eſſen.“ 

„Schon wieder nicht!“ murmelte Grongan, „und ſchlafen thut 
er auch nicht mehr. Ich ſage cs ja, er bringt die verwünſchte 
Geſchichte nicht aus dem Kopfe!“ 

„Der Here gar nicht hat ſchlimme Laune,“ ſagte der Neger 
wichtig. „Wir haben heut morgen fallen laſſen die große Base, 
welche ſerr viel Geld gekoſtet bat, er hat zugeſehen ud nur ge— 
zuckt die Achſeln.“ 

„Ich wollte, er hätte den Stud genommen und Euch beide 
durchgeprügelt,“ erflärte Beit naqhdrüdlich. 

„O — o!“ proteſtirle Said, mit entrüſteter Miene, 
Gronau fuhr unbeirrt fort: 

„Nun, geſchadet hätte es Euch nichts und ihm wäre die Be— 


aber 


r 


theilen. 
Er 


B8 > 


„Möglich, aber bier fünnte es doc) verlangen, denn das alte 
Kindermärhen hat einen fehr vealen Hintergrund, das haben wir 
geſehen. Die Lawinenataſtrophe ſteht bei den Leuten noch in zu 
friſchem Andenken; was bat ſie nicht alles vernichtet!“ 

Ja— fie hat viel vernichtet — Schr viel!“ ſagte Ernft langiam 
und träumeriich, ohne das Auge von den Bergen abzuwenden. 

„Und deshalb laſſen Sie den Wolfenjtein für diesmal in 
Ruhe,“ ergänzte Veit. „Die Schneeverhältniſſe find gerade jet Schr 
ungünitig und das Wetter hält fich nicht, darauf gebe ich Ahnen 
mein Wort. Jetzt Fönnen wir das Wagniß nicht umernehmen.“ 

Ernst zuckte nur die Achſeln bei dieſen Borftellungen. 

„Ich habe Sie ja noch micht aufgefordert, cs mit mir zu 
Bleiben Sie zurüd, wenn Sie ſich fürchten, Gronau.“ 
lleber Beits braunes Geficht flog ein Ausdrud des Unwillens, 


‚ aber ex bezwang ſich. 


„Ich dächte, wir hätten ſchon fo manche Gefahr zuſammen be: 
ſtanden, Herr Waltenberg, daß Sie über meine Furchtiamfeit berubint 
fein Fönnten. Ich gehe mit bis an die Grenze des Möglichen, 
aber ich fürchte, Sie gehen darüber hinaus und — Ahre Stimmung 


iſt wirklich ‚nicht danach, der Gefahr Faltblütig entgegenzutreten.“ 


j „Da irren Sie ſich, meine Stimmung iſt vortrefflich und 
ich will mm einmal hinanf! Weit oder ohne Führer, im Noth— 


\ fall gehe ich allein!“ 


Gronau kannte dieſen Ton und wußte aus Erfahrung, daß 
dagegen nicht aufzukommen war, trohzdem machte er noch einen 
letzten Verſuch. Er wußte, es würde einen Sturm geben, wenn 


‚ er dieſen Punkt berührte, aber ex beſchloß, es daranfhin zu wagen. 


wegung Schr heilſam geweſen, aber ich glaube, man könnte vor | 


ſeinen Mugen jet alles furz und Hein ſchlagen, er rührte ich wicht. 
Tas fann nicht jo weiter gehen, ich muß verjuchen, ihn zu ſprechen.“ 


Er ging ſehr entſchieden auf das Arbeitszimmer zu, da öfjnete 


ji die Thür desselben und Waltenberg jeldit trat heraus. 


„Sie find noch bier, Gronau?“ fragte er mit einem Teichten 


Stirurunzeln, denn er hatte wohl genlaubt, 
finden. „Ich Lich Sie doch bitten, allein zu ſpeiſen.“ 


Appetit,” verfeßle Veit ruhig. 
„So beitelle das Diner ab, Said — ach!“ 
Said gehorchte und verlieh das immer, während Gronan, 


den Salon leer zu 


„Es geht mir wie Ihnen, Herr Waltenberg, ich habe feinen 


„Denken Sie an Ihr Verſprechen!“ mahnte er halblant. 
„Sie gaben Baronch Thurgau Ahr Wort, den Wolfenstein zumeiden.” 

Ernſt zudte zufammen, fein Erbfeichen, fein jähes, drohendes 
Auffahren verrieth, wie die Wunde noch bIutete bei der Berührung; 
aber das dauerte nur einen Moment, dann hüllte ex ſich Wieder 
in Die eilige, unzugängliche Nube, die jede fernere Bitte und 
Mahnung ausſchloß. 

„Die Verhältniſſ⸗ e, nuter denen ich jenes Wort gab, exiſtiren 
wicht mehr, das willen Sie ja, Gronau,“ ſagte er lalt. „Uebrigens 
winfche ich nicht, daß jene Beziehungen im meiner Gegenwart 


"wieder berührt werden — ich bitte cin für alfemal darum.“ 


der ſehr gut merkte, daß feine Entfernung gleichfalls gewünſcht 


wurde, wicht die geringite Notiz davon nahm, ſondern hartuädig 
feinen Platz behauptete. 

Ernſt war am das Fenfter getreten, 
bi auf die ferne Gebirgsfette gewährte. 
die jeit der Hochwaſſerkataſtrophe verleiten waren, hatte ſich das 
Wetter nicht aufgehellt, es war trübe und ſtürmiſch geblieben und 
die Berge trugen Tag für Tag ihre Wolfenichleter. Heut zum 
erſten Male zeigten ſie ſich wieder in voller Klarheil. 

„Es heilt ſich auf — endlich!” ſagte Waltenberg, mehr zu 
ſich jelber als zu feinem Gefährten, der zweiſelnd den Hopf fchüttelte. 

„Das wird nicht lange dauern. Wenn die Linien der Berge 
ſich fo ſcharf abheben und die Gipfel fo nahe ericheinen, Hält das 
Netter nicht.” 

Ernſt antwortete nicht, er blickte unverwandt hinüber nadı 
der blauen Alpenkette, aber nach Berlauf von einigen Minuten 
wandte er fich plötzlich um. 

„Ich Fahre. morgen nad) Oberftein, laſſen Sie den Wangen 
beſtellen.“ 

Gronaun ſah ihm betroffen an. 

„Nach Oberſtein? Haben Sie eine Bergpartie vor?” 

„Ja — ich will auf den Wolkenjtein.“ 

„Auf — das heit doch nur bis zur Hochwand?“ 

„Nein, auf den Gipfel!“ 


das einen vollen Aus— 


„seht? In dieier Jahreszeit? Das it unmöglich, Herr 
Waltenberg. Sie willen ja, daß der Gipfel überhaupt für un 


eriteiglic gilt.“ 

„Eben deshalb reizt er mich! Ich bin eigens deswegen in 
Heilborn geblieben, aber bei dem fortiwährenden Nebelwetter war ja 
nichts zu unternehmen. Sorgen Sie fiir ein paar tüchtige Führer —“ 

„Die werden wie wicht befommen, hir dieje Partie wicht!” 
unterbrach ihn Gronan ernſt. 

„Weshalb nicht? Etwa wegen des alten Rindermärcheus? 
Man wird den Leuten eine größere Summe bieten, das iſt ein 
unfchldares Mittel gegen den Aberglauben.“ 


Er wandte ſich um und ing nach feinem Zimmer, blieb 
aber “a der Schwelle noch einmal jtehen. 
„Alle morgen früh um adıt Uhr den Wagen nad) Oberjtein, 


| e8 bleibt dabei!” 


In den acht Tagen, | 


* 
* 


Auf einem Schneefeld, oberhalb der Hochwand des Wolfen 
ſtein, lagerte die kleine Gruppe der fühnen Bergfahrer, die nun 
in der That das Wagniß unternommen amd es zum größten 


Theil auch ausgeführt halte, die beiden Führer, kraftvolle, wetter 


fejte Geitalten, und Bert Gronau. Sie waren mit Seilen, (is 
baden und allen Hilfsmitteln einer Alpenfahrt ausgerüftet und 
hielten bier offenbar eine längere Raſi. 

Man war gejtern von Tberitein aufgebrochen und bis zum 


| Ausgang des Feljenmeeres geitiegen, wo ſich eine nothdürftige 


‚ geändert, 


Unterkunft für die Nacht fand, und hatte dann mit dem erſten 
Grauen des Morgens den Weg auf die fire unerſteiglich gehaltene 
Hochwand angetreten. Net war fie erftiegen, mit unendlicher Mlübe, 
mit unjaglicher Anſtrengung und vüdjichtstofer Verachtung der Ge 
fahr, die bei jedem Schritte drohte, aber zum erſten Male erftienen! 

Dies Bewußtjein war freilich der einzige Lohn des fühnen 
Unternehmens, denn das Wetter, das geftern ımd heute morgen 
noch ziemlich Har geweſen war, hatte jich in den fchten Stunden 
Jehzt lagerte dichter Nebel in den Ihälern, der jeden 
Ausblick hemmte, und von den umliegenden Bergen waren nur 
die Spigen ſichtbar. Auch der eigentliche Gipfel des Wolkenftein, 
eine mächtige Eispyramide, die unmittelbar über der Hochwand 
emporftien, begann ſich allmählich zu umſchleiern. Bon der Tiefe 
aus geſehen ſchien fie eins zu fein mit der Hochwand, während 
in Wirklichkeit ein breites Gletſcherfeld dazwiſchen lagerte. 

Es war immerhin ein großer, ſchwer errungener Erfolg, die 
unzugänglie Hochwand befieat zu haben, aber die frendige Ge— 
ungthuung darüber ſchien den drei Männern zu fehlen. Grenan 
hielt jein Fernglas unverwandt auf die Eispyramide gerichtet und 
die beiden anderen tauchten mur kurze, einitlbine Bemerkungen aus, 
während ihre ernſten Mienen eine unverlennbare Beſorgniß verriethen. 


— 


unsre Ir. 


-—o 


ſinken ließ. „Die Nebel ziehen jest auch um die Spitze, es it 
unmöglich, noch etwas zu unterfcheiden.” 

„Und es ift Schnee, was dort heranzicht!* ergänzte einer 
der Führer, ein Älterer Mann mit grauen Haaren. „Ich habe 
es den Herrn vorbergejagt, aber er wollte ja nicht hören.“ 


„Ja, es war ein Wahnſinn, unter diefen Umftänden noch 


die Spitze erzwingen zu wollen!” murmelte Gronau. „Ich dächte. 
wir hätten ſchon genug geleijtet mit dem Erſteigen diejer Hoch 
wand, Das war eine Klelterei anf Leben und Tod, die macht 
uns fo leicht feiner nach und vor uns hat fie aud feiner gemacht.“ 

Der andere, jüngere Führer hatte inzwiichen nach allen Seiten 
hin jcharien Ausblick achalten; jegt trat er heran und fagte: 

„Es geht wicht länger an mit dem Warten — wir müfjen 
zurüd, Herr!“ 

„Ohne Seren Baltenbera? Auf keinen Fall!” fuhr Gronau auf. 

Der Mann zudte die Achſeln. 

„Nur bis zum Schneelaar, da haben wir Schub am den Felſen, 
wenn es zum Aergſten kommt. Hier oben halten wir fein Schnee— 
treiben aus, und wir müffen den ſchlimmſten Theil der Hochwand 
noch vorher pafliren, ſouſt kommt feiner lebendig davon. Es iſt ja 
auch ausgemacht. daß wir beim Schneckaar auf den Gern warten.” 

Das war allerdings verabredet worden, als Waltenberg fid) 
von feinen Beqlertern trennte. Die Führer, die man durch das 
Dreifache des gewöhnlichen Lohnes endlich zum Mitgehen beivog, 
hatten die beiden Fremden auch glücklich bis auf die Hochwand 
gebracht. Da aber weigerten fie ſich entfchieden, weiter zu gehen, 
nicht weil es ihnen an Muth fehlte — der Gipfel, der unmittelbar 
vor ihnen lag, bot verhältnißmäßig weniger Gefahr als die fait 
ſenkrecht ſteile Hochwand — aber die Fundigen Männer wußten, 
was dies weißgraue Gewöll bedeutete, das ſich, anfangs noch fu 
leicht wie jchmebender Dunſt, zu ſammeln begann. Sie mahnten 
zu Ichleuniger Rückfehr, und Gronau unteritügte ihre Bitten und 
Warnungen aufs nachdrücklichſte, aber vergebens. 

Ernſt ſah den fo heiß erichnten Gipfel in unmittelbarer Nähe 
vor ſich aufiteigen, und nun hielt ihn keine Warnung mehr zurüd. 


EEE rn ERTEILT u a a Ar AT a rn a a a a a — m 


0 · — 


„Ich sehe nichts suche!” jagte Weit, indem er das Glas | 


Und es war ſchön, dies Mutlig! Aber von einer unheim— 
fichen, geiſterhaften Schönheit, die feine Spur des Irdiſchen mehr 
trug und das Auge des kühnen Berajahrers fast ſchmerzhaft blen- 
dete, Wings um ihn ber und zu feinen Füßen nur Eis und 
Schuee, ſtarre, weiße Gletſchermaſſen, wild zerklüftet und zerriſſen 
und doch leuchtend in ſelſſamer, märchenhafter Pracht. Am den 
Eisllüften ſcimmerte es bald grünlich, bald tiefblau wie Meeres 
wogen und von dem blendenden Weiß des Schneemantels, den 
all dieſe Zacken und Spitzen trugen, Tprübte es in tauſend Funken 
zurüd. Und darüber wölbte ſich der Himmel in jo Teuchtender 


Klarheit, in jo ſtrahlendem Blau, als wolle ev all feine Lichtfülle 


ausgießen auf den alten Saaenthron des Gebirges, auf den kry— 
ftallenen Eispalaſt der Alpenfee. 

Ernſt athmete tief, tief auf; zum erften Male wich der 
ſchwere Drud, der jo lange anf ihm nelaitet hatte; die Welt mit 
all ihrem Lieben und Haſſen, ihrem Stürmen und Ringen lag 


‚ fo fern da unten, fie verſchwand in Dem Nebelmeer, das Die ganze 


Mit dem ganzen Starcfinn feines Charakters, der das eigene Leben 


fo wenig wie das fremde adjiete, beftand er auf der Vollendung 
des Wagniſſes. Dede Borftellung glitt ab an dieſem Starriinn, 


das drohende Wetter lümmerte ihm wicht und die Weigerung der | 
Führer entflammtde feinen Troß nur noch mehr, Mit einem berben | 


Spott über die „Vorſichtigen“, die im Angeſicht des Zieles ums 
fehrten, war er gegangen und man mußte ihn gewähren laſſen. 

Gronau hatte Wort gehalten, ev war mitgegangen bis an 
die Grenze des Möglichen; als diefe Grenze aber erreicht war, 
als das Wagniß zum Wahnſinn wurde, zu einer troßigen Heraus— 
forderung des Aeußerſten, da war auch ev zumüdgeblieben, und 
doc drädte ihn das wie ein Borwurf. Der Aufiteigende war 
noch eine Weile auf der Firnkante ſichtbar geblieben, bis unmittel: 
bar unter die Spitze hatte man feiner Spur mit dem Fernalafe 


folgen fünnen, dann zonem aud bier Die Nebel hevan umd bins | 


berten jede fernere Beobachtung. 

„Bir müſſen hinunter!” mahnte jett auch der ältere Führer 
mit vollem Nachdrud. „Wenn der Here überhaupt zurückkommt, 
io findet ee uns nnd beim Schneelaar. Unſer Beiden mist ihm 
wicht und wir risfiren das Yeben mit jeder weiteren Biertelftunde, 

Gronau ſah die Nichtigkeit dev Borftellnng ein, mit einen 
Seufzer ſchob er das Glas zuſammen. 


” 3 
* 


Die gährenden Nebelmaſſen waren dichter und dunkler ge 
worden, fie ftiegen ans allen Thälern, quollen aus allen Schluchten 
und hüllten Wälder und Matten in ihren feuchten Mantel. Die 
Abhänge des Wollenjtein, dev ganze rieſige Felsabſturz der Hoch— 
wand verſchwanden in dieſem gährenden Dunft, nur die Eispyramide 
des Gipfel heb ſich in volljter Klarheit daraus empor. 

Und hoch oben auf dieſem Gipfel ſtand einſam der Manu, 
dev es nun doch erzwungen hatte, das Scheinbar Unmögliche. Sein 
Anzug trug die Spuren der fuchtbaren Wanderung, ſeine Hände 
Ulnteten von den ſcharfen Eisfanten, an denen er fih emporae 
hoffen hatte, aber er ſtand aufrecht anf dem Boden, den vor ihm 
vod; feines Menichen Fuß betreten hatte. Er hatte es gewagt, den 
Woltenthron der Alpenfee zu eriteigen, ihren Schleier zu heben 
und der Herrſcherin diejes eiſigen Reiches in das Autlitz zu ſchauen. 


Tiefe ausfüllte, wie die Erde mit all ihren Thälern, Wäldern 
und Menſchenwohnungen darin verſchwand. Nur die Vergſpitzen 
ichauten einſam daraus hervor, wie Inſeln auf einem weiten 
Dcean, hier ein paar zadige dunkle Felshäupter, dort ein bleu— 
dend weißer Schneegipfel, dort ein ferner Höhenzug. Aber das 
altes ſchien Förperlos, ſchemenhaft zu ſchwimmen und zu ſchweben 
in dieſer Fluth, Die leiſe wallend und wogend immer höher ſtieg. 
Und dazu ringsum das Schweigen des Todes — hier im ewigen 
Eue regte ſich lein Leben mehr. 

Und doch ſchlug ein heißes, ſtürmiſches Menſchenherz in 
dieſer Dede, das der Welt und ihrem Weh hatte entrinnen wollen, 
das Vergeſſenheit fuchte hier oben, und das doch nur fen Weh 
mit ſich heraufgelragen hatte. So lange die Gefahr noch alle 
Nerven anjpannte, fo lange das Ziel noch Todte und winfte, 
ſchwieg auch der auälende Schmerz im Innern. Der alte Zauber 
trank, den Ernſt jo oft erprobt halte, that auch jeht feine Wir- 
fung, Gefahr und Genuß unlösbar verbunden, Die Gewalt einer 
mächtigen Naturfcenerie und die jchrantenlofe Freiheit, der er wm 
zurückgegeben war, Er fühlte wieder die berauſchende Meadıt 
dieſes Tranles, und ınitten im der Eiswüſte ergriff ihn eine bren 
nende Schnfucht nadı jenen Ländern der Sonne und des Lichtes, die 
von jeher feine eigentliche Heimath geweſen waren. Dort konnte er 
vergeilen und genefen, dort konnte ex wieder feben und glücklich fein. 

Das Nebelmeer ftieg umd jtieg, langſam, lantlos, aber un 
auihaltiam, ein Gipfel nach dem andern verjanf, eine Spite nadı 
ber anderen tauchte under in dieſer grauen geheimnißvollen Fluth, 
die wie eine Sintfluth alles verſchlang, was der Erbe angehörte. 
Nur die Eispyramide des Wolkenftein wagte noch einiam daraus 
hervor, aber ihre leuchtende Pracht war erfoichen mit dem Sonnen- 
licht, das ſie wicht mehr traf. 

Der einfame Träumer ſchanerte plößlich zuſammen unter 
einem Hauch, der ihn fchneidend und eisfalt berührte Er fuhr 
auf; der blaue Himmel über ihm war verſchwunden, dort wallte 
jet weißer Dunjt und auch neben ihm und um ihn begann es, 
ſich zu verſchleiern. 

Ernſt war durch die Führer hinreichend gewarnt, er kannte 
dieſe Anzeichen; aber mit der Gefahr lehrle auch ſeine Spaun 
fraft zurück, cs war die höchſte Zeit zur Rücklehr. Gr begann 
den Nbitieg, laugſam, vorfichtig, jeden Schritt prüfend, wie ev es 
beim Aufitien gethan; aber der Nebel verlegte ihm überall den 
Weg und durchſchauerte ihn mit feiner Eiſeskälte bis ins Mart 
hinein. Trotzdem ang es unaufhaltſam abwärts, die Spuren, 
die er vorhin im Schnee zurückgelaſſen, Teiteten ibn, aber er mußte 
fie mühſam fuchen, mehr als einmal irrte er ab Davon, und jet 
begannen fidy auch Die Folgen der Heberanftrengung geltend zu machen. 

Waltenbergs Alben ging ſchwer and keuchend, der Schweiß Irat 
ihm anf die Stirn und fein fonit fo Sicherer Blid begann fich 
zu trüben. Er fühlte das und vaffte ſich nur um jo trofiger 
empor. Wie er and) die Gefahr berausgefordert hatte, hier und 
jetzt wollte er ihr nicht erliegen, das alte Ammenmärchen follte 
nicht recht behalten, und jeine aufs äußerſte angeipannte Willens 
kraft, jeine ſtählerunen Schuen und Musleln krugen auch wirklich den 
Sieg davon. Er bezwang den furcdtbaren Weg zum zweiten Male, 
feuchend, halb eritarrt, zu Tode erſchöpft, erreichte er endlid, den 
Fuß der Pyramide, er Fand auf dem Gletſcherfelde der Hochwand. 

Ein tiefer, erleichternder Athemzug entrang ſich feiner Bruſt, 
jeht war das Schwerſte überſtanden. Zwar galt es noch, den 


— 


S60 >» 


oberjten, jähen Abfturz der Hochwand zu überwinden, aber dort | 


hatte man jchon beim Emporllimmen Stufen in das Eis gehauen | 


und an den jchlimmften Stellen Seile zuriidaelafien, um den Ab 
ſtieg zu erleichtern. Ernſt wußte, daß er diefe Hilfsmittel finden 
werde, fie mußten ih troß des Nebels zum Scneckaar führen, 
wo die Gefährten ihn erwarteten. 

Da fam e3 aus dem Nebel herangezogen, weiß, feucht und 
ihimmernd, gleich wehenden Schleier, Die fic ihm auf Stirn 
und Wangen legten, anfangs nur leicht und lind, wie Tofend und” 
jchmeichelnd — das Schneetreiben begann. Und ſchon mac) wenigen 
Minuten wurde dies Kofen und Schmeicheln zu einer beffemmen- 
den, eritidenden Umarmung, der er vergebens zu entrinnen vers 
juchte. Er ftrebte vorwärts, wandte fich zurück, aber überall 
waren dieſe eiligen Arme, die ihm den Alhem vanbten und das 
Blut in feinen Adern erjtarren ließen. Noch ein furger, ver: 


ſonſt ganz der Alte geblieben zu fein. 


zweifelter Nampf, dann hielten fie ihn unlösbar umklammert — | 


er ſank zu Boden, 

Aber mit dem Kampfe endete auch die Qual. Es war fo 
jüh, dies Entichlummern, dieſe tödliche Maltigkeit, wo ſich Traum 
und Wirklichkeit einten. Er jtand wieder oben auf dem Gipfel 
im Sonnenglanz, er schaute den tryſtallenen Eispalaſt in feiner 
Märcdhenpracht und blidte der Alpenfee in das entichleierte Antlig, 
deſſen tödliche Schönheit Tein Sterblicher ertrug. Aber fremd 
war es ihm nicht; er kannte dieſe Zige, dieſe Augen mit ihrem 
leuchtenden, tiefen Blau, und jegt ſtrahlten und lächelten fie ihm, 
wie fie ihm wie im Leben gelächelt. Das Bild des einzigen 
Weſens, das er fo wild, jo uamenlos geliebt hatte, ließ ihn ſelbſt 
jest an der Schwelle des Todes nicht los, es jtahl ſich in den 
legten Schimmer jeines Bewußtſeins. 

Aber dann wallte die Nedelfluth wieder heran und ſtieg und 
stieg, langſam, unaufbaltiam, Dis alles darin veriant. Nur das 
geliebte Antlib dämmerte noch fern und traumhaft durch ben 
grauen Schleier, endlich verſchwand es aucd und der Tränmende 
ward fortgetragen von diejem Nebelmeer, das ſich endlos, uferlos 
ausdehnte, er ſteuerte hinaus in unermefliche Fernen, hinaus in 
die Ewigleit! — 

Ueber den Wollenjtein hin brauſte der Schneeſturm. Hoch 
auf flatterten die weißen Schleier und janfen danı nieder auf den 
Scyläfer, der zu Fühen des eritienenen, des bejiwungenen Gipfels 
lag. Der Mann, deſſen ganzes Wefen nur Gluth und Leiden» 
ſchaft geweſen war, der nur hatte athmen können in den Ländern 
der Sonne und des Lichtes, ruhte jetzt in falten ſtarren Armen. 
Er hatte ſie ertwoßt, dieje Umarmung, aber das Leben des Fühnen 
Sterblichen erlofch in dem Eiſeskuſſe der Alpenfee! 


Es war am Tage vor Sant Johannis und heller, goldener 
Sonnenſchein begünſtigte das Feſt, das heute das ganze Wolfen: 
fteiner Gebiet feierte, Die Eröffnung der neuen Gebirgsbahn. 
die Heinen Ortichaften, welche an der Bahnlinie lagen und nun 
zu dem Range von Stationen erhoben waren, prangten mit 
grünem Laubſchmuck und Hlatternden ahnen, und überall waren 
die Bergbetwohner in ihren Sonntagstrachten zuſammengeſtrömt, um 
den eriten Zug kommen zu fehen, dem fie mit Staunen und Neugier 
eiigegenblidten. 
auch Wohlitand und Gedeihen in ihre einfamen Thäler bringen. 

Seit jenen unheilvollen Herbittagen waren faſt drei Jahre 
vergangen, und im Anfange ſchien die Vollendung der Bahn 
ganz in Frage geitellt zu fein, wenigſtens ſoweit es die obere 
Strede, die einentliche Wolfenfteiner Gegend betraf. Die Ber: 


‚ Said mit höchſter Genuathuung. 


All 





Mitten unter der bunten, freudig erreglen Menge bemerkte 
man auch die lange Geitalt Veit Gronaus. Er fah noch etwas 
brauner und verwetterter aus als vor drei Jahren, ſchien aber 
Ernſt Waltenberg batte 
in feinem Tejtamente feinen ehemaligen Schretär jchr großmüthig 
bedacht und ihm eine durchaus mnabhängige und behagliche Zu 
funft gejichert; aber der alte Wandertrieb war zu mächtig ge: 
weſen, Beit war wieder hinausgezogen in die Welt und erft jep! 
nad) jahrelanger Abweienheit zurüdgekehrt, um ſich „das alle 
europäiſche Neſt“ einmal wieder anzufchen. An feiner Seite be: 
fanden jich Dielma, jet fein Anabe mehr, fondem ein hübſcher, 
ſchlanker Burfche von achtzehn Jahren, und Said, der enropärice 
Kleidung trug und feinen ehemaligen Vorgefeßten und Mentor 
joeben frendigjt begrüßt hatte, 

„Ich bin ferr froh, Majter Hronau wiederzuſehen,“ ver 
ficherte ev einmal über das andere „Ach jchen wußte von Doltor 
Gersdorf, daß Maſter Hronau würde lommen zu dem Feſte, aber 
wir glaubten, Maſter Hronau —“ 

„Said, thu' mir den Gefallen und höre endlich auf mit 
Zeinem Maiter Hronau!“ unterbrach ihn diefer in der alten derben 
Weiſe. „Haft Du noch nicht Deutſch gelernt? Du vadebrechit 
es noch immer in derfelben ohrenzerreißenden Weile und bijt doch 
nun drei volle Jahre in Deutichland geweſen. Da höre den 
Djelma au, der plappert jetzt wie ein Staarmaß, trobdem wir 
die gauze Zeit in Indien herumgezogen find. Das Deutſche habe 
ich ihm beigebracht; aber die Dummheit babe ich ihm noch nicht 
ganz anstreiben können, die it zu Tolide angelegt. Du wolltejt 
ia damals durchaus bier bieiben. Wie iſt es Dir denn ergangen 
in Deiner neuen Stellung bei dem Doktor Gersdorf?“ 

„DO fere gut!“ verficherte Said; „aber ich nicht bleibe dort, 
ich gehe fort, fchon in wenig Wochen.” 

„So? Wohin dein?" fragte Dielma, der das Deutfche 
jetzt in der That ganz fliehend ſprach, mit offenbarer Neunierde. 

„Nach Oberftein! Ich“ — der Neger madıte eine ſehr bes 
deutende Kunſtpauſe, ſah erit Djelma, dann Gronau an und voll 
endete endlich mit ungeheurem Selbſtbewußlſein: 

„Ich verheirathe mich!? 

„Du Unglüdsmenih, wie Tommft Du denn dazu?" Fahr 
Bronan auf. „Und wo in aller Welt haft Du denn Bier eine 
ihwarze Yandamännin aufgetrieben ?“ 

„Meine Braut iſt ganz wei und ſerr, fer hübſch,“ erklärte 
„Sie iſt die Würterin des 
lleinen Bertie, fie liebt mich ferr, und Miſſis Gersdorf Sagt, wir 
ung müßten heirathen unter allen Umständen.“ 

„Natürlich, in dem Haufe, wo die frau regiert, muß alles 
heirathen!“ brummte Beit. „Was willit Du denn aber mit Deiner 
künftigen, Dich To ſerr liebenden Gemahlin in dem Net von Ober: 
ftein anfangen?" 

„Dberftein jetzt iſt Station!” berichligte Said mit Nachdrud 
„Doktor Gersdorf hat mir verfchafit die Pacht von dem neuen 
Gaſthauſe, welches die Bahngefellicyaft gebaut hat. Wir werden 
geben zu eſſen und zu trinken all den Fremden, welche kommen 


‚ werden mit den Zügen, viele Hunderttauſende.“ 


Der nun endlich vollendete eiferne Weg follte ja | 


„Viele Hunderttaufende!” fpottete Gronau, „Das jchein 
ja ein recht ausgedehnter Gejchäftäbetrieb zu werden. Du hätteit 
gleich heute damit anfangen Fünnen, den die Herren vom Ber 
waltungsrath und Die ſonſtigen Säfte, die mit dem Juge kommen, 


. werden doch alle ejfen und trinfen wollen, und hier auf dem 


bandlungen mit der Gefellichaft hatten monatelang gedauert, bis | 


endlich die Energie und Ausdauer des Chefingenieurs fiegte und 
das halb zeritörte Werk in feinem ganzen Umſange wieder auf: 
aenommen und glüclich zu Ende geführt wurde. 

Die Station Oberjtein, Die eine ziemliche Strede von dem 
DO xte felbjt entferit, am Ausgange der Wolkenſteiner Brüde lag, 
trug einen befonders reihen Yaub- und Fahnenſchmuck. Der Zug, 
der den Chefingenieur und feine Gattin, die jänmtlichen Mit 
alieder des Werwaltungsrathes und eine Anzabl acladener Gäſte 
brachte, ſollte hier einen längeren Aufenthalt nehmen, deshalb 
war auch ein befonders feierlicher Empfang beabjichtigt. Die 
ganze Kurkavelle von Heilborn ftand auf dem Balnhofe, auf der 
nächitliegenden Anhöhe war eine Anzahl von Bollern aufgefahren 
und die Bevölkerung der Imgegend war ber zahlreicher zuſammen 
geftrömt als auf all den andern Stationen. 


Bahnhof ſehe ich noch aar feine Anftalten dazu.” 

„Nein, Doktor Reinsſeld giebt deoben in feiner Billa großes 
Diner all den Herrichaften,” erklärte Sad wichtig. 

„Door Heinsfeld in feiner Billa? Großes Diner? Ja fo“ — 
Veit lachte laut auf. „Ach bin doch neugierig, wie der qute Benno 
fich eigentlich als Millionär ausninmt. Wahrſcheinlich iſt ihm das 
ſehr unbequem, aber er wird ſich wohl in das Unglück finden 
müflen; denn eine Million ift immer noch von dem rieſigen Nord 
heimjchen Vermögen übrig geblieben, wie mir Gersdorf fchrieb.“ 

„Mafter Gronau, da kommt der Zug!” rief Djelma, dns 
Geſprach unterbrechend. Die ganze auf dem Bahnhofe harrende 
Menge gerieth in Bewegung, alles drängte heran und redte die 
Hälſe, um den erjten Zug zu jehen, der auf dem ſchmalen eifernen 
Wege aus der Tiefe emporitieg. Jetzt verjchwand er in dem 
aroßen Tunnel unterhalb Oberftein; jept fam er wieder zum Vor— 
ſchein und glitt ſtolz und ruhig heran. Die befränzte Lokomotive 





Johanna Stegen, die Heldin von Lüneburg. 


Gemälde von Ludw. Herteric, 
Rad einer Fhetegrabure im Berlag der „Bertindung für bifterifche Auf‘ 


in Berlin 


ließ ihre lange, weige Rauchtwolfe wie eine Siegesfahne dahin 
wallen, jet erreichte jie die Schlucht, und num dommerte Die 
ganze Wagenreihe über die Beide, empfangen von rauſchender 
Mufit, von jubelnden Hochrufen und Böllerichitiien, die vollend 
das Echo der Felfen ringsum weten. 


Auf dem Bahndofe entleerte fi) der Zug, aber es dauerte | 


fajt noch eine halbe Stunde, che man die Fahrt nach der Billa 
Praxis vermuthlich nur noch im der Familie ausgeübt.” 


antrat. Zunächſt wurde der Haupt und Glanzpunlt der Bahn, 
die Wollenjteiner Brüde, die ein Theil der Gäſte noch wicht lannte, 
eingehend befichtigt. Der fühne Niefenbau war twieder auferitanden 
aus der Vernichtung; ftolz und mächtig wie einſt ſchwang er ſich 
von Fels zu Fels, unter ihm in ſchwindelnder Tiefe braujte die 
Ache in ihrer alten Wildheit, und hoch über ihm hob der Wollen: 
ſtein ſein Haupt empor, das auch heut eine leichte Nebellappe 


trug. Aber auf dem Abhange, wo einſt der Bannwald neitanden | 


hatte, erhob ſich jetzt ein breites, feſtgefügtes Mauerwerk, ein Sicherer 
Schutz gegen eine mögliche Wiederholung des Lawinenſturzes. 

Der Chefingenienr mit jeiner jungen Öattin am Arme madıte 
den Führer bei der Beſichtigung. Er war jelbjtverjtändlid der 
Held des heutigen Tages, den man von allen Seiten mit Glück— 
wünschen und Ausdrüden der Bewunderung überhäufte Er nahm 
fie ohne jede Ueberhebung, mit ruhigem Ernſte hit. 

Erna dagegen ftrahlte vor Glück und freudigem Stolze, ihre 
Augen leuchteten auf bei jedem Glückwunſche, jedem Wort der 
Bewunderung, das ihrem Manne galt, der wie jie jelbjt von allen 
Seiten umdrängt und in Anſpruch genommen wurde. Jeder geizte 
danad), mit dev fchönen Gemahlin des Chefingenieurs wenigitens 
einige Worte zu Sprechen, für jeden mußte fie eine freundliche 
Erwiderung, eine Aufmerkſamleit haben. 

Allerdings mußten die beiden die Nepräjentation allein über: 
nehmen, denn Doktor Neinsfeld, der als Gemahl der Erbin des 
verstorbenen Präfidenten die zweite Hauptrolle zu jpielen hatte, kam 
diejer Pflicht nur ſehr unvolltommen nadı. Er trug nicht mehr das 
berühmte altmodiſche Staatstfeid und die fafrangelben Handichube, 
im. denen er die Bekanntschaft feiner jehigen Fran gemacht hatte, 
Sein Geſellſchaftsanzug war völlig tadellos; aber man ſah es 





freilich nicht in den Feſtjubel paffen und Gronau vericheuchte ſie 
auch raſch, indem ex ſich nadı Fran Doktor Neinsfeld erkundigte 

„DO, meine Alice blüht wie eine Nofe und nun vollends 
unfere Kleine!“ Bennos ganzes Geſicht verflärte fich, als er von 
feiner ran und feinem Kinde ſprach. „Sie willen doch —?“ 

„Daß Frau Alice Ahnen ein Aleines gejchenkt hat — ja, das 
weiß ich, Sie ſchrieben es mie ja, und nun wird die ärztliche 


„Im Gegentbeil, ich habe mehr Patienten ala je,” erllätte 
der Doftor feelenvergnigt. „Wenn wir im Sommer bier find, 
aehe ich natürlich nach wie vor zu allen Kranken meines ehe 
maligen Bezirkes, und da ich bei den Mermeren jept meine Ver 
ordnumgen auch mit den nöthigen Mitteln unterftügen fann - 

„So nugen die biederen Wollenfteiner Sie achörig aus!“ 
fiel Gronau ein. „Das kann ich mir denken! Gin Doktor, der 
ihnen nichts Koftet und noch obendrein die Kurkoſten bezahlt, das 
ift ein Mann nach ihrem Herzen. Sie machen ſich vermuthlich 
jetzt öfter das Vergnügen, krank zu werden, da es jo billia ift. —- 


| Aber nun will ich Sie Ihren geſellſchaftlichen Pilichten nicht 


länger entziehen, Benno, wir fünnen ja jpäter plaudern.“ 

Er wollte zurückttreten, aber Benno hielt ihn ſchleunigſt am 
Rodſchoße seit. 

„So bfeiben Sie doch! Wann ich mit Ihnen rede, kann ich 
jo hübſch hier in der Ede bleiben und brauche keine Nomplimente 
zu machen Wir haben ja alle möglichen Nlapazitäten eingeladen, 
Minifter und Brovinzialbehörden, Abgeordnete und Bürgermeifter 
und einen ganzen Stab von Fournaliften, und mit all den geilt 
reichen und vornehmen Herrſchaften Soll ich Sprechen und womöglich 
auch geiftreich Fein — es iſt fürchterlich!“ 

Gronan ladıte und blieb, aber die Zurüchgezogenheit ſollle 
dem Doktor wicht lange gegönnt werden, denn jeßt trat Gersdorf, 


| der als juriftiicher Vertreter der Bahngeſellſchaft gleichfalls an 


ihm doch an, daß er den heutigen Tag als eine ſchwere Aufgabe | 


beirachtete. 
Händedrücke und hielt ſich möglichſt im Hintergrunde, als ein 
hageres, fonnenverbranntes Geſicht vor ihm anftanchte und eine 
befannte Stimme fragte: 

„Habe ich noch die Ehre, von dem Seren Doktor Neinsfeld 
gelanut zu fein?“ 

„Belt Gronau!“ rief der Doltor, froh überraſcht, inden ev 
ihm die Hand Hinjtredte. „Alſo haben Sie uniere Einladung 


doc mod, verhtzeitin erhalten! Aber warım meldeten Sie ſich | 
| gegen Deine Gäſte jein, komm nur mit,“ jagte der Nechtsanwalt, 


nicht früher umd machten die Fahrt mit?" 

„Ich bin über Heilborn aelommen,“ verjehte Gronau, „und 
da war gerade noch Heit, den Empfang bier in Oberftein mit: 
zumachen. 
an dem Sie ja auch jo nahe beteiligt find.“ 

„Ja, leider - - mit einem Diner für achtzig Perſonen!“ jeufzte 
Benno. „Wolfgang meinte, es fei ſchidlich und unumgänglich, daß 


ich heute den Wirth mache, und wenn Wolf ſich eiwas im den | 


Kopf gefeht hat, muß man es jchlechterdings uhun.“ 


„In diefem Falle bat der Chefingenieur aber vet,“ ſagte 


Sronan lachend. „Sie können als Hauptaktionär und erjtes Mit 
alied des Verwaltungsrathes jchon ein Uebriges thun bei der 
Eröffnungsfeier.“ 


„Wenn ich nur nicht überall dabei fein und mit aller | 
Welt reden müßte!” Magie der arme Doktor und munmehrige 


Millionär in beweglichen Zune. „Denken Sie wir, ſogar 
die Tiſchrede jollte ich halten, dagenen habe ich mich aber 
gewehrt mit Händen und Frühen. Wolfgang bat die Bahn ge: 


Meinen Glückwunſch zu dem heutigen Tage, Benno, | 


Er beichränkte fih auf Verbeugungen und vielfadhe | 


der Eröffnungsfeier theilnahm, mit feiner Frau heran. Die legtere 
jchten ihren Grundiag, dem armen Manne jeine Dienftveifen durch 
ihre Gegenwart exiräglicher zu machen, Fonfequent feitzuhalten, 
aber jie Hatte, mit Rückſicht auf ihre jebige Stellung als Gattin 
und Mutler, eine gewiſſe feierliche Würde angenommen, die einen 
höchſt ergößlichen Kontraſt zu ihrer auediilbernen Natur bildete, 


‚ weldye bei jeder Gelegenheit durchbrach. 





baut, aljo laun ex auch das Reden beforgen. Er hat zwar heute | 
morgen fchon geſprochen, vor der Abfahrt, als er die Bahn | 
dem Verlehr übergab, und er fpradı genial, hinreißend, wir | 


waren alle entzücht und am meiſten feine eigene Frau. Sie 
fieht heut blendend ſchön aus, nicht wahr?“ 

Beit nicte jtumm und fein Geficht verdüſterte ſich, während 
jein Muge zu der jungen Frau hinüberflog. Diele Schönheit war 
es ja geweſen, die einen anderen in den Tod gejagt hatte, Ernſt 
Waltenberg hätte jeine Seligleit bingegeben für einen Blid, wie 
Erna ihn eben ihrem Gatten zuſandie. Die Erinnerung wollte 


„Stehen Sie ſchon wieder hier in der Ede, Benno!” fagte 
jie vorwurfsvoll. „Soeben hat der Minijter nad) Ihnen gefvaat, 
Sie werden ihn aufjuchen müſſen.“ 

„Um Gotteswillen, laßt mid) doch mit der Excellenz in Ruhe!“ 
tief Reinsfeld verzweiflungsvoll. „Was babe ich denn eigentlich 
mit der ganzen Geichichte zu thun? Das it Wolfgangs Sadıe." 

„a, das hilft Div nidyts, Benno, Du mußt aufmerkam 


inden ex feinen Better beim Arm ergriff und fortzog; Frau 
Doktor Gersdorf aber blieb zurück und stellte ſich dicht vor Gronau 
hin, der in dunkler Ahnung des Kommenden ſich mach ixgend 
einer Gelegenheit zum Rückzuge umfah. 

„Alſo Sie find noch immer unverheivathet, Herr Gronau?“ 
fragte fie mit ſtrafender Miene. 

„Ja, noch immer, aqnädige Fran,” gab Veit Heinlaut zu. 

„Das iſt unverantwortlich! Warum find Sie damals ſo 
fchnell abgereiſt? Ich hatte eine Yebenegefährtin für Sie in Bor 
ſchlag, eine ſehr veifelujtine Dame, die and mit nad) Indien ge 
gangen wäre. Nett ift ſie leider verheirathet.* 

„Bott ſei Dank!“ jeufzte Gronan aus Derzensarunde. 

„Den Said habe ich auch zu feinem Güde verholfen, rot 
feiner ſchwarzen Farbe,“ fnhr die junge rau fort. — „Wo ilt 
denn Djelma geblieben? Ich ſah ihn doch vorhin an Ihrer Seite.“ 

„Dijelma ift erſt achtzehn Jahr, gnädige Frau, der Tamı 
noch nicht heirathen!“ erllärte Gronau, der für ſeinen Schüßling 
das gleiche Schidjal heranziehen jah, mit großer Entichiedenheit. 
Wally ſchien das auch einzusehen und wurde jebt glücklicherweiſe 
von einigen Bekannten in Anſpruch genommen. 

„Bott bewahre uns in Gnaden!“ murmelte Weit entiept. 
„Ich glaube, die Fran ſchont nicht einmal die Kinder im der 
Wiege mit ihren Heirathsplänen!“ 

Elmhorſt gab jebt das Heichen zum Aufbruch, man bejtieg 
die bereitjtehenden Wagen und begab ſich nadı der Nordheimichen 
Billa, wo Alice, welde die Gröffnungsfahrt nicht mitgemadht 
hatte, die Gaſte empfing. Sie war noch immer eine zarte 


Erfcheimung, wenn auc jet zu vollſter Geſundheit erblüht; aber 
eine gewiſſe mäbchenhafte Schüchternheit war aud) der jungen 
Frau geblieben und machte fie nur um To anmuthiger. Die 
eigentliche Würde und Bornchmheit des Hanfes wurde durch Frau 
von Lasberg vertreten, die ihrer ehemaligen Pilegebefohlenen auch 
jeht zur Seite ftand. Sie hatte die —— Anordnungen 
für das Feſt übernommen und unter ihrer Leitung wurde denn 


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auch der Ruf des früher Nordheimſchen und nunmehr Reinsfeld- | 


ſchen Hauſes alänzend getwahrt. 
Pracht und Freierlichkeit, 


Tas Feſtmahl verlief in aller 
die zindende Nede des Chefingenieurs 


wurde mit ſtürmiſchem Beifall aufgenommen, man tonjtete auf | 


das Gedeihen der Bahn, auf deren Erbaner, ſelbſtverſtändlich auch 
anf den Feſtgeber und deſſen Gemahlin. Benno mußte jchliehlich 
doch noch eine Dankesrede halten und mit einem Toaft auf die 
Säfte antworten. Natürlich blieb er in der Mitte jteden, aber 
Wolfgang Fam ihm zu Hilfe, indem er, gerade im fritischen 
Augenblick, der Muſik ein Zeichen gab, einzufallen. 
rauſchenden Tuſch und dem allgemeinen Hochrufen gina der Zwiſchen 
fall denn auch glücklich unter. 

Nadı Verlauf von einigen Stunden bradı die Gejellichaft 


der Bahn zit fabren, von wo fie abends cin zweiter Zug zurüch 
bringen follte. Benno aber erklärte, er habe heut das Möglichſte 
geleiftet und wolle num endlich bei feiner Frau bleiben. 
mit Sersdorf und Wally, die gleichfalls zurüdgeblieben waren, 
oc im Salon, als an der Hand cines hübſchen, blonden Mädchens, 
der fo ſerr geliebten Braut Saids, der junge Herr Gersdorf er— 


ichien, der während der Eiienbahnfahrt unter dem Schube von | 


Alice geblieben war. Ahnen folgte Greif, der offenbar übler 
Laune war, weil feine Herrin ihn nicht mitgenommen hatte, und der 


Er ſtand 


‚ durch, auch wenn cs Beulen dabei niebt, 
Au dem | 
Tochterchens und ſchaute dies umd die junge Mutter, die daneben 


I 





fich, ohne von den Anweſenden weiter Notiz zu nehmen, draußen 


auf der Galerie niederlente, 


Albert der Kleine glich durchaus nicht feinem erniten, ruhigen | 


Vater. Er hatte das roſige Geſicht und die dunklen Augen der 
Mutter und über feiner Stirn Fränfelten ſich ebenſo eigenwillig 
die ſchwarzen Ringellödchen. 

Fran Wally nahm ihren Sohn auf deu Arm, aber der junge 
Herr drängte folort wieder mad) dem Boden, 
Galerie führenden Thür zu nähern. 


um ich der zur 


„Bott jei Dank, daß die Geichichte vorüber iſt!“ ſagte Benno | 


jebt vergnügt. „Es hätte beinahe noch zuleßt ein Unglüd gegeben, 
als ich in der Rede fteden blieb, aber Wolf half mir aus ber 
Roth und lieh Tufch blafen — jebt haben wir endlich Ruhe!“ 

Frau von Lasberg, die gleichfalls anweſend war und heute 
einen Tag des Triumphes aefeiert hatte, ſchüttelte bei dieſem 
Stoßſeufzer mit feierlichen Unwillen das Haupt. 





o 


ungewöhnfich begabtes Kind ist, daß er ſchon jet Charakter 
eigenfchaften zeigt, die man nur bewundern kaun. Ich zweifle 
auch durchaus nicht, daß etwas ganz Bedentendes aus ihm werden 
wird, und daß feine Zukunft — 

Die rein objettive Beurtheilung wurde hier unterbrochen, 
und zwar durch dem jungen Herrn Gersdorf felbit, der ſich um- 
bemerft auf die Galerie aefchlichen hatte und nun triumphirend 
auf Greif angeritten fam. Er ſaß fejt auf feinem „Pferdchen“ 
und Hielt ich mit den Heinen Händen an dem zoftigen Fell des 
Hundes, Greif ſchien zwar einigermaßen entrüftet über die ihm 
angefonnene Rolle, fand ſich aber darein. und trug den Meiter. 
Wally wollte entieht dazwiſchen fahren, „Er wird fid) wieder 
wie das letzte Mal eine Beule holen,“ jammerte fie, aber ihr 
Mann hielt fie zurüd und ſagte lachend: 

„Lab den Jungen! Ex iſt fonjequent und ſetzi feinen Willen 
und da Hat er recht!" 
Benno jtand richtig in der Minderftube vor der Wiege feines 


ſaß, mit ganz verflärten Bliden an. Dan jah er fich ſchüchtern 


‚ und vorfichtia um und brachte endlich ein Sträufchen von Alpen 
wieder auf, um unter Führung Elmhorſts bis zum Endpuntte | 


rofen zum Vorſchein. 

„Es iſt Johannisabend, Alice,” ſagle er teife. 
ih Dir doch das gewohnte Sträußchen bringen.” 

„Halt Du das wirklich nicht vergeſſen in dem Strudel des 
heutigen Tages?“ fragte die junge Frau lächelnd. 

„Eine Glücksprophezeiung vergißt man nicht, am wenigſten, 
wenn jie fich erfüllt hat!“ Er bot ihre das Sträußchen. 

Weiſ' meine Blumel'n 
Kimmer urück. 
Sohamnisiegen. 

Bracht' uns das Glück!“ — 

Es war bereits Abend geworden, als der Zug mit den Feſt 
theilnehmern wieder die Station Oberftein paffirte, wo er diesmal 
nur einen kurzen Aufenthalt nahm, um dann nach dem Ausgangs 
punkte der Bahn zurũckzukehren. Nur der Chefingenient und feine 


„Da muß 


" Gattin, die Säfte in der Neinsfeldichen Billa waren, und Gronau, 


der mit Dielma einige Tage in Oberitein bleiben wollte, waren 

auf dem WBabnhofe ausgejtiegen, wo fie ſich trennten. 
„Ich habe den Wagen abbejtellt,” fagte Wolfgang, 

er den Arm feiner Frau nahm. 


indem 
„sc denke, wir gehen zu Fuß, 


‚ der Abend iſt herrlich, und es iſt unſer erſtes Alleinfein an dem 


„Mir jcheint, Herr Doktor, Sie tragen Ihrer Stellung dod | 


zu wenig Rechnung,“ bemerkte ſie zurechtweiſend. „Sie legt Ahnen 
zweifellos Pflichten anf in Bezug auf die Repräfentation, und 
feinen Pflichten follte fich niemand entziehen. Ich Hofje, Sie ſehen 
das ein, Herr Doltor,“ 

Der Herr Doktor ſah das nun zwar micht cin, aber er 
machte dev majeltätiich zur Thür hinausrauſchenden Dame eine 
tiefe Verbeugung, Wally lachte laut auf. 

„Da figt nun der Herr des Hauſes und läßt fich von der 
geftrengen Frau Oberhofmeijterin den Text leſen! Sie hat Euch 
beide vollitändig unter ihrem Scepter, ich glaube, Benno, Sie 
fürchten ſich noch immer vor ihr.“ 

„Im Gegentheil,“ proteſtirte Meinsfeld. 
ein wahrer Schatz für uns. Sie hat eine förmliche Yeidenichajt 
für das Kepräfentiven, fie bejorgt das immer ganz allein und da 
können Alice und ich um To ungejtörter —“ 

„In der Kinderſtube ſitzen,“ ergänzte Wally. 
dings Eure Hauptbeſchäftigung.“ 

„Ja, ich muß wirklich nach Mlice und der einen ſehen,“ 
erllärte Benno, der ſchon lebhafte Zeichen von Unruhe gab. „Ent: 
ſchuldigt mic; nur einen Augenblick, ich komme gleich zurüd“ 

Damit verichtvand er und Frau Doktor Gersdorf ſah ihm 
mit einem mitleidigen Adjelzuden nad). 

„Bor einer halben Stunde ‚fonmt er nicht wieder! Ich 
habe nie einen Bater geichen, ber fo vernarrt im jein Kind iſt 
wie Benno. Ich weiß mid frei von diejer Schwäche, ich be» 
urtheile die Vorzüge wie die Fehler meines Sohnes in vein 
objektiver Weiſe. Allerdings muß ich zugeben, daß Bertie ein 


„Die Baronin it | 


„Das it aller: | 


| rettet aus jener Kataſtrophe, die das Vermögen meines \ 


heutigen Tage. Wir waren ja vom Morgen bis zum Abend 
unaufhörlich in Anfpruch genommen.“ 

„Und es war doc ein Tag ftolzen, Tangeriehnten Glückes!“ 
entgegnete Erna, ſich fejt an feinen Arm fchmiegend. „Uber Du 
warit jo eruſt, Wolfgang, mitten in all den Triumphen und 
Huldigungen — und Du bijt es noch!“ 

Er lächelte, aber der Ernſt Hang noch in feiner Stimme, ? 
als er erwiderte: „Ich dachte daran, wie ſchwer diefer Triumph 
erfauft werden mußte. Das willen nur wir beide allein! Du warſt 
ja meine einzige Vertraute, meine einzige Zuflucht, bei ber id) 
mie Muth und Kraft holte, wen man mich mit Intriguen und 
Kleinlichkeiten bis aufs außerſte trieb. Wärft Du nicht an meiner 
Seite geweſen — ich hätte vielleicht nicht Stand gehalten.“ 

„Ja, es war das Schwerſte, was einer Natur wie der 
Deinigen auferlegt werden konnte, fich überall gehemmt und ge 
hindert zu fehen, und Du hajt denmod) den Kampf firgreich durch— 
geführt bis an das Ende.“ 

„Aber Bono hat mir redlic dabei acholfen! Sobald Alice 
erſt feine Frau war, fobald er fie auch geſetzlich vertreten konnte, 
legte er mit unbedingtem Vertrauen alles in meine Hände — 
id) werde ihm das nie vergefien.* 

„Er dankt Dir aber noch mehr als Du ihm!" warf Emma 
„Benno mit feiner Geſchäftennkenntniß hätle ficher wichts ac 
Ontels iv 
ſchwer traf. Das erforderte eine ftarte Hand wie die Deinige. Es 
it Dein Werk allein, wenn Alice und Benno ſich noch zu den 


ein. 


Reichen zählen lönnen.“ 


„Sie machen ſich aber ſehr wenig daraus, 
halb ſcherzend. 
glücklich Fein.“ 

In diefem Augenblide verlieh der Jug den Bahnhof, die er 
leuchtete Wagenreihe donnerte wieder über die Brüde und wand 
ſich dann wie eine glühende Schlangenlinie dahin, bis ſie in der 


“ jagte Wolfgang 
„Sie würden auch im einer Hüte zufrieden und 


o 


Mündung det Tunnels verſchwand. Durch die Abendſtille Hang 
bentlich der Pfiff der Lofomotive und das Echo der Feldwände 
gab ihn leiſe verhallend zurüd. Wolfgang war ftehen geblicben, 
und während jein Muge dem verichwindenden Zuge folgte, hob 
ein ſtolzer, fvendiger Athemzug feine Bruſt. 

„Dept iſt fie befiegt, die alte Unheilsmacht da oben! Sie 
hat mir Den Sieg ſchwer genug gemacht; aber ich zwang jie doch! 
Sich nur, Emma, da weichen die legten Nebel von dem Wolfen: 
ſihe Deiner Alpenfee, fie ſcheint fich immer nur in der Somm 
wendnacht zu eutſchleiern.“ 

Ueber Ernas eben noch ſo ſtrahlendes Antlitz legte ſich ein 
Schatten, und in dem Blick, mit dent fie zu dem Wollenſtein auf 
ſah. glänzte eine Thräne, während fie Leife erwiderte: 

„Es hat fie mod) ein anderer bezwungen — aber er mußle 
mit feinem Leben dafür büßen!” 

„Für ein tolltühnes, zwedleies Unternehmen, das leinen 
müßte!" Eimhorjts Stimme hatte einen Herben Klang. „Er hat 
den Tod ja herausgeiordert, er fand nur, was er fuchte. Kannſt 
Du denn dieſen Ernſt noch nicht vergefien? Noch immer nicht?” 

Sie fchättelte verneinend das Haupt. 

„Sei nicht ungerecht, Wolf, und nicht eiſerſüchtig auf den 
Todten. Dir weißt es ja doch am beiten, bei wen meine Siebe 
von Anfang an geweſen ijt. Aber Du mit Deinem energiſchen Thaten 
drange, mit Deinen Ningen und Streben auf dem feſten Boden 
der Wirklichkeit konnteſt eine Natur wie die Ernſts nicht verftehen.* 

„Möglich, wir waren bon jeher zu ſchroſſe Gegenfäge, am 
gegen einander gerecht zu ſein. Doch heute michts mehr von 
diefer Erinnerung, Erna, heute nebört all Dein Denken und 
Fühlen unr mir allein! Die erjte ſteile Höhe iſt ja nun erſtiegen, 
mit der Vollendung der Wolfenfteinev Bahn it mein Ruf und 





S64 > 


meine Zukunſt feſt begründet — aber Teicht war der Weg wahr 
lich nicht.” 

„Und er war doch fchön, krotz Klippen und Möaränden!“ 
fagte Erna mit leuchtenden Augen, „Hatte ich wicht damals 
recht, Wolf? Es ift fo Schön, emporzuteigen aus der Tiefe; mit 


‚ jedem Schritt, den man vorwärts thut, mit jedem Hinderniß, das 


man überwindet, die einene Kraft wachfen zu ſehen und endlich 
droben zu ftehen auf der Freien Höhe, im Gefühl des jelbit 
errungenen Sieges, wie Du jebt daſtehſt!“ 

„Und mein Weib zur Seite!” ergänzte Wolfgang mit leidenſchaft 
licher Zärtlichkeit. „Du trateft ja damals zu mir in ber dunlelſten 
Stunde meines Lebens, als alles um mich wankte und ftürzte, und 
mit Dir Fam mir das verlorene Glück wieder. Seht halte ich es 
fejt, und num maq e3 weiter aufwärts achen — zu neuen ZJielen!“ — 

Langſam ſank die Nadıt nieder, die alte, heilige Dlittiommer: 
nacht mit ihrem Geiſterweben. Heute war fie nicht erfüllt von 
traumeriſchem Mondesglanze, aber ein Elarer, funfelnder Sternen 
bimmel breitete fih darüber aus, und nun begann es auch Hier 
und dort am den Bergen aufzuglühen wie leuchtende Sterne 
die Sonnwendfeuer, die überall emporſlammten, und das grüßte 
und mächtigite loderte wie damald am Abhange des Wolfenstein. 
Sie grüßten das Neich der Alpenfee, das bezwungene Neid), in 
dem der Meuſchengeiſt fih nun doch Bahn gebrochen Hatte, trotz 
alfer Schreden der Vernichtung, in dem er endlich doch Sieger 
geblieben war gegen die blinde Wuth der Elemente, Das große 
Rieſenwerk war vollbracht, Neu geichaffen und feſt aefichert ſtieg 
der eiferne Weg aus der Tiefe empor, mächtig ſchwang ſich Die 
Brüde über die Felſenſchlucht und entichleiert blidte der Wolfen 
jtein darauf nieder. Ein großes Tenchtendes Sternbild ſtand über 
feinem Gipfel, über dem Haupte der Alpenfee. 


Beethoven in der Klemme. 
Kine Fidelio-Cpifode von Ernft Yasıqud. 


5 war im Sommer des Jahres 1805. Beethoven hatte ben 
Auftrag übernommen, für das damals unter kaiſerlicher Ber: 
waltung stehende Theater an der Wien eine Over zu fomponiren, 
und war mit aller Luft, ſogar mit Begeifterung ans Werl go 
aangen, denn in dem von Bontlly verfaßten Buch der Gaveanxſchen 
Oper: „Leonore, ou l'amour conjugal“ glaubte er gefunden zu 
haben, was er ſchon jo fange geſucht: eine wirhame dramatische 
Handlung in einer Ausführung, die feinen künftleriichen Neis 
nungen zuſagle und Seinem eigenen Empfinden entſyrach. Bouillys 
Birch war von Joſeph Sonnleithner, Sekretär Des Hoftheaters, 
wörtlich, Scene für Scene überſetzt worden und Beethoven hatte 
in einer ihm im Theater an der Wien eingeränmten Wohnung 
feine Arbeit begonnen, die nad) vielen ſchweren Kämpfen und 
Wehen eines feiner Hauptwerle, jein einziges Bühnenwerf, doch 
dafür „ein Löwe” werden jollte. Im Sommer fiedelte er mit der 
begonnenen Partitur nach dem hübichen ftillen Hetzendorf über, 
dort feine „Yeonore*, denn jo, und wie das franzöſiſche Original: 
buch, ſollte die Oper heißen, zu vollenden. 


x * 
* 


An feinem Stübchen ſaß der Meifter am Klavier bei der 
Arbeit, Das Fenſter ihm zur Seite weit geöffnel. Die belle 
Woraenjonne drang in den einfachen, von Dichten grünen Neben: 
blättern und Manfen umzogenen Naum, der die Gebnrtsitätte 
eines der berrlichiten Meiſterwerle der Ipernbühne werden Follte, 
Draußen herrſchte eine feierliche Nuhe, denm es war Sonntag 
und das Haus, in dem Beothoven zwei Heine Stäbchen bewohnte, 
lag dem Park des kaiſerlichen Luſtſchloſſes nahe, im deſſen cin: 
famen Allen der Meifter fo gerne, feinen Gedanlen nachhängend, 
wandelte. Beethovens Augen Teuchtelen, deun wundervolle Me— 
lodien und Harmonien ontlodten feine Finger dem einfachen In— 
ſtrument, die ex theilweiſe aus den aufgelenten Notenblättern ab» 
zuleſen ſchien. Es Hang wie ein vielitimmiger Tubelgefang, der 
nur der neuen per „Leonore“ angehören For. .e. 

Da öfinele ſich während emer Panfe die Thür und mit 
cinem fröhlichen „Grũß Gott, Ludwig!“ trat Stephan von Breuning, 
Beethovens Jugendfreand und jetziger geduldiger Genoſſe, in die 
Stube. Beide hatten bit noch vor kurzer Zeit in dom Eſterhazyſchen 
„Rothen Haufe” zufammen gewohnt, Sich dann entzweit, bis de, 


mürriſche Beethoven fein Unrecht einaeichen und ſich reumüthig 
wieder dem Irene Freunde nenähert hatte, 

„Was haft Du da geipielt, eine Phantaſie oder gehört's zu 
Deiner Oper?” rief Brenning, der wohl draufen gehörcht Hatıe, 
mit hellem Enthuſiasmus. 

„Sehe Dich Daher, Steffen, und höre das Ichte Finale meiner 
‚Leonore‘,* entgequete Beethoven, nur mit Diefen Worten den 
Gruß des Freundes erwidernd, denn Seinen Bli Hatte er nid 
von den Noten abgeivendet und durch die Störung nichts von 
feiner begeiiterten Erregung verloren. „Ich babe den Entwuri 
jveben zu Ende gebradyt ud Du ſollſt der erite jein, der das 
ganze Finale hören wird. — In wenigen Tagen tft es inſtrumen 
tirt und Dann much bald die ganze Partitur fertig. Höre!— 


Doch unlerbrich mich wicht! Saft Du eine Bemerkung zu madıen, 


jo warte damit, bis ich zu Ende bin.“ 

Dicht wenig eriwartungswoll ließ ſich Breuning auf einen 
Stuhl in der Nahe Beethovens nieder, fo, dah er auch die Noten 
bfätter im Auge behalten konnte War des Meijters Notenichrift 
auch meiſtens hierogluphiſch, To vermochte ex ſie doch, durch lange 
Uebung dazn befähigt, wo es nur irgend arging, zu entziffer. 
Beethoven ſpielte. Ohne dem Freunde nur einen Augenblick der 
Borbereitung zu geitatten, hatte ev bei dem Chor des Volles: 
„Heil fer den Tag! Heil fei der Stunde!“ begonnen und fonder 
Unterbrechung lieh er ihn das ganze große Finale, theilweiſe 
fogar mit vollem Tert, hören, bis zu den letzten Takten des Jubel 
chors: „Wer ein ſolches Weib errungen!” Als er endlich die 
Hände ſinken Lich, Sich in den Stuhl zurücwwarf, um ven Schweiß, 
der feine mächtige Stirn bededte, abzutrodnen, da ſprang Breuning 
von Seinem Sig empor. Sein Auge flammte, feine Bruſt ſeulie 
und hob Fich vor heitiger Erregung, und feine andern Worte ver 
mochte er im erſten Augenblick zu finden ale: „Herrlich! herrlich! 
ergreifend herrlich!" Dann umarmte und fühte er den Meiiter. 

„Du bit alfo mit der Kompoſition zufrieden ?* ſagte Beet- 
hoven, der aniqejtanden war und jest, um ſich Luſt zu machen, 
die Stube zu durchwandern begann. „Haſt mir feine Bemerkung 
zu machen?“ 

„Wunderbar! Himmliſch ſchön! Der Schlußgeſang it cin 
Inbelhymnus, wie noch mie — niemals cin gleicher auf wer 
Bühne — ich mödte wohl jagen im ganzen Reich der Töne 


* — — —— —— — ———— ———— — — 


2 865 — ur 


erllungen!“ Alſo answorteie Breuning noch immer in voller Be 
geiſterung. 
ihn ſanft wider ſeine Bruſt und ſagte nun mit leiſem, 
Ton, während feine Augen naß werden wollten: 


Dann umſchlang er des Meifters Schultern, drüdte 
innigem 
„Und ein Mann | 


hat ihm mit feinem Herzen gejungen — der bis jeßt noch fein ' 


Weib gefunden, das er in gleichem S 
Armer Freund!“ 

Laß das!” fuhr Beeihoven wild, mit den Ton eines grollen— 
den Löwen auf, zugleich die Arme des Freundes, der ſich wohl 
vergeſſen hatte, von ſich abſchüttelnd. „Sage mir lieber, was Du 
ansjujeben Haft; es wäre ja ein Wunder, wenn nichts derartiges 
auf Deinem Herzen lajtete,“ 

„Nun denn, wenn Du es durchaus willſt,“ entgegnele der 
andere, 
will ich Dir eines fangen, was mir aufgefallen ift. Ich bemerkte 
eine Stelle Roccos, im Beginn des Finales, der Dur nad) meiner 
Anjicht eine wirtſamere Betonung hättejt geben fünnen, die dabei 
auch ganz beftimmt die vichtigere fein würde.” 

„Ah! das wäre! — Da liegen die Noten — zeige mir die 
falſch betonte Stelle!“ 

Breuning ſchlug die Blätter zurüch, und als er endlich ge 
funden, was er gefucht, deutete er auf die Noten und fagte: „Hier 
iſt's, ſchau nur her! Rocco jagt zu dem Minifter, als Schluß 
jeines Berichtes über den Hergang im Kerler: 

Mur euer Kommen rief ihn (den Mörder Bizarro) jort! 
Die Scanjion diefes Verſes haft Du, wie alles was ich gehört, 
richtig, oder doch regelrecht behandelt; aber mir jcheint, dag Du 
gerade an dieſer Stelle von dieſer Regelrechtigkeit hätteft ab 
ſehen müſſen. Denn beutlicher und wirlſamer wäre es auf alle 


Sinne fein eigen nennen darf. 


Fälle gewejen, wenn Du das uniheinbare Wörthen Nur‘, das 
was nad) meiner 


ji) auf das Kommen des Minifterd bezieht, 
Anficht Hier allein den Ausſchlag giebt, mehr hervorgehoben und 
deklamirt hätteft: 

Nur cuer Kommen rief ihn jort.‘“ 

„om, hm!“ brummte Beethoven gedanfenvoll vor ſich hin, 
„das wäre zu überlegen.“ Dann ſprach er haſtig, abgeriffen und 
ohne aufzubliden: „Doc laß mich jet! — Gehe einftweilen in 
den Parf, in einer halben Stunde din id) bei Dir, dann wollen 
wir eine Promenade machen. — Ich fehne mich nad) freier Luft — 
meine bier zu erjtiden.” 

Breuning, der Beethovens Eigenheiten hinlänglich kannte, 
entfernte ſich ohne viele Worte und fchritt dem Eingang des 
Faiferlihen Parles zu. Der Meifter war wieder allen. Eine 
ganze Meile blieb er brütend und unbeweglich, die Augen ſtarr 


ſoll und wird fie heißen!“ rief Beethoven, 
hyöflichen Gruß feines Dichters erwidernd. 


Sonnleithner hatte während dieſer redefertigen Begrüßung nur 
er ceremonielle Verbeugung aubringen können, nun aber jagte 

„Und ic) fomme im Auftrag meines Chefs, des kaiſerlichen Hofs 
———— Herrn Baron von Braun, mic) bei Herrn von Beet— 
hoven nad) dem Stande unferer Oper ‚Fidelio‘ zu erfundigen.” 

„Nichts ‚Fidelio‘! Leonore‘ heißt meine Dper, und jo 
recht unwirſch den 
„Und fertig iſt fie 
aud; — vder doch fo qut wie fertig. Schaut nur ber, Sons 
feithner, bier das letzte Finale! — Ah!“ vief er plöhlich vecht 
freudig, wie von einem ihn ganz bejonders interefirenden Ge— 
danken erfaßt, „Ihr kommt mic gerade gelegen und follt num 


auch ein Stück meines Finale® und einen Theil Eurer ſchönen 


durd) des Meijters rauhe Weiſe etwas abgekühlt, „io 


auf die Noten gerichtet, vor dem Klavier ſihen, kaum verſtändlich 


ein über das andere Mal vor ſich hinmurmelnd: 

„Nur euer Kommen — Nur euer Kommen — rief ihn fort!“ 
— Endlich rief er laut: „Der Satansjunge hat wahrhaftig recht! 
es klingt befjer, wirfjamer und ift dabei auch richtiger.” Zugleich 
nahm er die auf dem Slavierbedel bei der Tinte liegende Feder, 
durchkreuzte mit kräftigen Streichen die Stelle und ſchrieb jie jofort 
in der neuen Lesart in Faum zu enträthjelnden Noten und Worten 
am Rande des Blattes nieder. Dann verfanf er aufs neue in 
jein früheres Brüten! 

Die halbe Stunde — wohl eine ganze! — war vergangen 
und Beethoven Hatte Breuning und fein Berjprechen, ihm im 
Schloßpark aufzujuchen, längſt vergeijen. 
Thür, die ſich auch fofort öffnete — denn ein „Herein!“ des 
unbeweglich daſibenden Meiſters wäre nicht erfolgt! — und in 
die Stube traten ein Herr und eine Dame in geſehtem After in 
der damaligen modiſchen Tracht der bejjeren Geſellſchaftsklaſſe. 
war Joſeph Sonnleithner und Frau Nanette Streicher, die ſich 


Da klopfte es an der 


Es 


ſchon damals in ihrer frifchen, freundlichen Weife der etwas um: 


ordentlichen Junggeſellenwirthſchaft Beethovens thatkräftig ange: 
nommen halte, 

„Schönen guten Morgen, Herr von Beethoven!" rief Frau 
Streicher ſchon beim Betreten der Stube mit lachendem Geſichte 
und fröhlichen Ton. „Muß mic dod) \ wieder einmal nad) Ihnen 
umfeben, und da heute ein Heiliger Sonn- und Feſttag iſt, fo 
darf dies wohl auch geſchehen, ohne daß man beſürchten mühe, 
den Meifter in jeiner Arbeit zu ftören.“ Dabei war fie auf 
Beethoven zugetveten und hatte ihm fo fräftig und anhaltend die 
Hand gedrüdt und neichüttelt, als ob fie ihn mit Gewalt aus 
jeinem Träumen hätte anfwecken wollen. 


1885 


zu Muthe it. 


\ Schläge nachdenfen. 


Verſe hören. Merlet auf — alle beide!“ 

Seine Ichten Worte waren in ein Lachen übergegangen, das 
indefjen bedenkliche Achnfichkeit mit einem unwirſchen Brummen 
zeigte. Dann begann er zu jbielen. 

Frau Nanette hatte fi, ohne den Shawl und den gewaltigen, 
mit wallenden Federn bejegten Hut abzulegen, bequem in eine Ede 
de3 einfach Ländlichen Sofas niedergelaffen und Here Sunnleithner 
jtügte ſich auf die Rüdichne des Stuhls, auf dem Beethuven ſaß. 
Diejer hatte das Finale bei dem Chor: „Heil fei dem Tag! Heil 
fei der Stunde!” begonnen, dann fpielte er weiter bis zu der be: 
wuhten Stelle Rocco, wo cr die neue Lesart: 

„Nur euer Kommen rief ihn fort!” 
ganz bejonders, jogar mit rechtem Wohlgefallen hervorhob. 

In diefem Augenblick machte Sonnleithner eine unbehagliche 
Bewegung, wodurch der Stuhl, deffen Rücklehne feine Hand ge: 
fat hielt, ebenfalls ins Schwanfen geriet. Beethoven brach 
jein Spiel ab, wandte den Kopf nad) dem Dichter um und fragte 
in recht rauher Weiſe: 

„Ma, was iſt's, Herr von Sonnleithner? Gefällt Ihnen 
etwa meine Kompofition wicht?” 

„Ganz ausnehmend gefällt fie mir, hochverehrter Meifter,“ 
entgegnete der aljo Angejahrene äußerst Höflih. „Nur — ver— 
zeihen Sie mir, Herr von Beethoven, wenn ich c3 wage, mid) 
offen auszusprechen — nur dieſe legte Stelle jcheint mir nicht - 
ganz richtig aufaefaßt und wiedergegeben zu fein. Der Accent müßte 
doc Hier unbedingt — wie es aud die Scanfion des Verſes 
verlangt — auf dem Worte ‚euer Liegen. und nicht auf dem 
nebentonigen nur‘. Denn des Minifters Kommen allein Hat 
die Kataftrophe herbeigeführt, und da iſt es unbedingt Marer 
und nebenbei aud) richtiger, wenn es heißt und geiungen wird: 

Nur euer Kommen rief ihn jort!‘* 

„Da haben wir's!“ knirſchte Beethoven unhörbar vor ſich 
hin, um in Gebanfen Hinzuzufegen: „Run will der wieder 
recht Haben — und er hat's vielleicht auch, wie ich von allem 
Anfang am vecht hatte.“ Da fiel fein Blid auf Frau Streicher, 
und plötzlich wendete er ſich mit einem Anflug von Humor und 
der Frage an dieſe: „Und was jagt Frau Nanette dazu? Welches 
ijt ihre Meinung ?“ 

„Ich möchte faſt Heren von Sonnleithner recht geben,” 
antwortete diefe in ihrer friſchen Redeweife, „nur meine ich, daß 
es noch weit wirlſamer und auch klarer wäre, wenn Sie den 
Hauptaccent auf das Kommen' legten. Denn gerade, daß der 
Minifter zur rechten Beit gekommen it, giebt j ja den Ausschlag.” 

Da ſprang Beethoven jäh von feinem Sig empor und bradı 
in ein unbändiges Gelächter aus — während Sonnleithner er 
ichroden einige Schritte zurüdwich. Dann rief er mit einer in- 
grimmigen Biſſigkeit: 

„Ein Tauſendglück, dan Ahr nur zu ziweit gelommen jeid, 
denn wären Euer ein halbes Dugend, jo gäbe es mehr Deu- 
tungen, Lesarten und Vorſchläge, als das arme Versungeheuer 
Füße und Silben hat! — Da bin ich in eine Schöne Klemme ges 
rathen! — Wißt Ihr, wie id) mir in dieſem Augenblick vorfomme?” 
Damit jahte er Frau Nanctte, die fidh erhoben hatte, unter den 
einen Arm, padte Sonnfeithner unter den andern und fpradı 
Da acheinmigvoll zu beiden: „Geht heim und Tejet die Fabel 

Lafontaines v dem Bauer und feinem Sohne, die ihren Efel 
zum Markt führen ımd dabei auf das Gerede und den Kath der 
Yeute hören — und danach tum. Dann wiſſet She, wie mir 
Doch getrojt, Ninder, laßt mich nur ein hafbes 
Stündchen allein, mu über Eure gewiß wohlgemeinten Vor— 
Geht einitmweiten in den Park — dort werdet 


110 


o 


Ihr den Bronning finden, der bereits auf mich wartet. Bald bin ich 
bei Eud) und dann wollen wir zufammen promeniren und plaudern.“ 

Damit drängte er beide zur Etnbe hinaus und fehte ich 
wieder ans Klavier. Herr von Sommleithrer und Frau Nanette 
Streiher aingen in den Park des faiferlichen Luſtſchloſſes, doch 
fanden fie dort ebenjo wenig Herrn Stephan von Breuning wie 
nad einer vollen Stunde Wartens — Beethoven. 

Der Meifter ſaß in ernſten Gedanken veriunfen vor dem 
Entwurf jeines großen Finales und ließ die drei verichiedenen 
Lesarten des bewußten Verſes an feinem Geiſte, dann auf dem 
Klavier Revue paffiren: „Wo ftedt das Richtige?” ſagte und fragte 
er fich, ohne eine genügende Antwort finden zu können. Sein Kopf 
begann zu glühen, und je mehr ex nachdachte, je ſchwankender 
wurde er in feiner Meinung. Da rief er plöglich mit einem raſchen 
Entſchluß: „Hol's der Teufel! ich will die ſämmtlichen Les— 
arten anbringen — eine davon wird gewiß die wirfiamfte und 
fomit auch die richtige fein — das Publikum mag enticheiben.“ 


866 


Am 20. November desſelben Jahres, 1800, wurde die Oper, und 
zwar gegen den Willen Beethovens, unler dem Titel „Fidelio“ 
in dem Theater an der Wien zum eriten Male aufgeführt — ihre 
weiteren Schidfale find belaunt. — 

Und die drei Zesarien bes verhängnißvollen Verſes? 

Beethoven hat fie wahr und wahrhaftig zur Ausführung 
aebradıt. 

Der Leſer mag nur einen Klavierauszug zur Hand nehmen, 
dort findet er fie im zweiten Finale, bei Noccos Erläuterungen, 
dicht neben einander ſtehen: 


Nur eurer Kemmen, eu- er Kommen, rief ihn fort! mur 














BET +, = —— — 
— ze — —— — mmLsen 
PH = FF=F> IT >= - 
ei < er Kommen, mar eu er Kemmen, nur 


Dann begann er zu ſchreiben — Sonnleithner und die Streicher 


waren vergeſſen, wie ev früher Breuning vergeſſen hatte. — 


” * 
* 


Gegen Ende des Sommers war die Arbeit gethan und 
Meiſter Beethoven brachte die fertige Vartitur mit nach Wien. 






— — *—- — 
et » er som. men rief ihm 


Blätter und Blüthen. 


Sefheniwerhe für den Familientifh. Wenn auch die alte Klage 
über die Unluſt der Deutichen, Bücher zu faufen, im allgemeinen immer- 


hin noch berechtigt fein mag, bei feftlichen Gelegenheiten gilt jedenfalls | 


ein mwerthvolles 


ch als ebenſo pailendes wie ſchönes Geſchenl, md | 


namentlich zur Weihnachtszeit ift die Sorge vieler darauf gerichtet, den 


Fefttifch ınit dem einen oder andern guten Buche zu ſchmücken. Da aber 
die Wahl oft recht ſchwer ift. wollen wir, wie in früheren Jahren, jo 
auch jebt wieder, eine fleine Anzahl von Bejchenfwerten für den Familien- 
tiſch namhaft madyen, um denen, welche in der „Gartenlaube“ Rath juchen, 
die Auswahl zu erleichtern. 

Außer den von uns bereits an anderer Stelle empfohlenen Bract- 
werten möchten wir mir noch einige wenige nennen. Den Freunden 
der befaunten Henbſchelſchen Skizzen wird die Nachricht willlommen fein, 
daf cin neuer, dritter Band „Mus A. Heudſchels Stizzenbuch“ 
(Verlag von M. Hendfhel in Frankfurt am Main) erichienen iſt. Einer 
befonderen Empfehlung bedürfen diefe Skizzen nicht mehr; fie haben fich 


Schriften jo gemüthvoll und eindringlich der Frauenwelt die Erfüllung 
ihres Berufes ans Herz legt, im eigenen Leben ihre Ideale betbätigte, 
der wird in dem Bude „Ottilie Wildermuths Leben", Nach ihren eigenen 
Aufzeichnungen zuſammengeſtellt und ergänzt von ihren Töchtern Agnes 
Millms und Adelheid Wildermuth. (Sıuttgart, Verlag von Gebrüder 
Kröner) des Erfreuenden und Erquidenden unendlich viel finden. 

„Das erjte Jahr im neuen Hanshalt*, eine Gedichte in Briefe 
von R. Artaria (ebenda), iſt unferen Leſern durch die Veröffentlichung 
in ber „Gartenlaube“ befannt. Biele Wünfche veranlaften die Herausgabe 
der bedeutend vermehrten Brieje in Buchform und der jet vorliegende 


' elegante Band it eines der reizenditen Geſcheule für dem Feſttiſch. Wer 


ein Heimathsrecht in jeder funftliebenden deutſchen Familie erworben, 


und der dritte Band iſt nicht weniger wertgboll al feine beiden Bor- 
gänger. — „Die neue Spitweg-Mappe" (Münden, Bram und 

meider) enthält Kupferdrudreproduftionen von zwölf hervorragenden 
Gemälden des Meifters und bildet eine Sortfegung der im vorigen Jabre 
in demfelben Verlage erichienenen „Spikweg-Wappe”, iſt aber handlicher 
und billiger als dieſe. Sie wird ee >. beitragen, den jo ftime 
mungsvollen Schöpfungen des zeitlebens allzu beicheidenen Meijters auch 
in weiteren reifen Anerfennung zu verichafien. — Edwin Bormann 
legt zwei Ausgaben feines „Liederhorts” (Selbftverlag) auf den Weih- 
nachtstiſch, eine illuſtrirte Brachtausgabe und eine Tertausgabe. Vor- 
manıs Roefien find in feiner engeren Heimath, Sachen, längft geihäßt; 
die vorliegende Brachtausgabe feines „Liederhorts“ mit ihrem reichen 
Bilderſchmuck von Fedor Flinzer, Karl Gehrts, Erdmann Wagner und 
anderen namhaften Künſtlern fcheint ganz dazu angetan, feine Popu— 
larität in 33 und Fern zu erhöhen. — Au die ſchweren weltgeichicht- 
lidyen Ereianiffe des verjloffenen Jahres gemahnt uns das Prachtwerl 
„Kailer Wilhelm und feine Zeit“ von Profeffor Dr. Bernhard 
von Kugler (München 1888, Berlagsanftalt fir Kunſt und Wiſſenſchaft, 
vormals Friedrich Brudinann), Wer an ber Hand dieſer Blätter das Yeben 
Kaijer Wilhelms von feiner früheiten Jugend bis ins hohe Alter verfolgt, 
wird aufs nene überzeugend erfennen, welch eine anferordentliche und beis 


jpiellos erfolgreiche Laufbahn im März dieles Jahres mit dem Tode des | 


greifen edlen Monardyen ihren Abſchluß gefunden hat, Das unfangreiche 
Berk trögt die Berechtigung zu einem Dausbuche ebenio in feiner lebensvollen, 
hiſtoriſch treuen Darftellung wie in feinem reichen Illuſtrationsſchmucke. 
Nicht vergeilen dürfen mir, bier ein Heineres Wert zu erwähnen, 
welches ebenfalls das Leben des entichlafenen Haijers behandelt: Ernit 
Scerenbergs edenkbuc für das deutſche Bolt: „Kaifer Wilhelm I.“ 
(Leipzig, Ernjt Keil’3 Nachfolger), aus dem wir Mitte dieſes Jahres einzelne 


Abſchhutte in der „WBartenlaube* zum AUbdrud brachten. Wem das Kugler⸗ 


iche Prachtiwert zu koſtſpielig ift, der findet in Scerenbergs trefflichem 
Gedentduch um geringen Preis einen werthvollen Erfah. 
Mit beionderer Freude haben wir ein Bud) begrüßt, welches uns 


Aufzeichnungen aus dem Leben einer unvergeßlichen deutichen Frau bringt. | 


Wer keunt nicht den Ramen Ottilie Wildermuth, wer nicht ihre ge— 
mithvollen Erzählungen für Jung und Alt! 
Wildermuth gehören ohne Zweiſel noch heute zu dem Allerbeſten, was 
für die dentſche Familie und die Kinderwelt geſchrieben iſt; aus dem 
eben der Schriftitellerin aber war nır wenig befannt. Und doch, wie 
jehr verdient auch dieſes die Beachtung jeder veutichen Fran! 


Die Schriften von Dttilie | 





Es bietet | 


feine jpannenden Ereigniſſe und ungewöhnlichen Begebenheiten; aber e8 | 


entvollt Die einfache, ſchlichte Beichichte einer edeln Frau und gerade darin 
liegt fein Werth. Wer ſehen mill, wie die Erzählerin, die in ihren 


einer Braut oder einer jungen Frau zu beicheren hat, wird eine paffendere 
Wahl nicht trefien können. — Ebenfalls an die Frauenwelt wenden jich das 
Gedenlbuch „Bon 79 au Tag” von Richard Schwinger (Stuttgart, 
Friedr. Frommanns Verlag), das Perlen deuticher Dichtung enthält und 
zugleich leere Blätter zur Führung eines Tagebuches bietet, und „Sang 
und Klang“ (Leipzig, Fr. W. Grunow), ein Hausſchatz deuticher Lnrit, 
von hindiger Hand zuſammengeſtellt und geſchmackvoll ausgeitattet. 
Ueberaus reichhaltig ift die Auswahl erzählender Schriften, welde 
der Verlag von Ernit Keil's Nachſolger in Leipzig darbietet. Wir er 
wähnen zunächſt die illuſtririe Ausgabe von E. Marlitts geiammelten 
Romanen und Novellen, von welder jept zwei Bände vorliegen. 
Der erite bringt „Das Geheimniß der alten Mamſell“, der zweite „Das 
Heideprinzechen“. Hunderttauiende von Leſern haben ſich an E, Marlitts 
Romanen erfreut und diefe üben auch heute noch ihre unverminderte An» 
ziehungskraſt, wenn auch der liebenswürdigen Erzäblerin die Feder durch 
den Tod für immer entwunden iſt. Ahr letzter, als Bruchitüd Hinter: 
laffener Roman „Das Eulenbaus“, vollendet von W. Heimburg, liezt jcht 
ebenfalls in eleganter Buchausgabe vor, — Sieben Novellen von W. Deim- 
burg (Am Abgrund — Unjere Hausglode — Unier Männe — Jaſcha 
In der Webergafje — Grofmütterchen — Aus meinen vier Pjählen) tragen 
den Sammeltitel „Unter der Linde". In vorzüglicher Gefchenfaus- 
ftattung erichienen auch Fanny Lewalds „Joſias“ und Johannes 
Proelß“ anmmthiger Novellenfranz „In ber Schußhütte“. Den Leiern 
der „Gartenlaube“ ganz men sit danenen der dreibändine Noman „Das 
Logabuch des Kapitäns Eiienfinger” von Balduin Möll— 
hausen, ein wannender, groß angelegier Roman, den tanın jemand ohne 
inmerjte Befriedigung aus der Hand legen wird. .. 
Weihnachtsbüchertiſch für die Jugend. Die ungleihmähige neiftine 
Entwidelung der Kinder lüht es oft Schwer ericheinen, bei jeden Buche 
eine genaue Bronze des Alters anzugeben, für welches c$ in eriter Linie 
paſſend iſt. Wenn wir troßdem wieder eine Einteilung der Weihnachts: 
bücher nach den Alteröftuien geben, To geſchieht dies deshalb, weil cine 
annäbernde Beitimmung, bei welchem Alter hinreichendes Verſtändniß für 
das eine oder andere Buch voranszuſetzen, immerhin möglich ift und weil 
wir nur eine feine Jahl von wirklich guten Schriften anführen, denen 
fih das mehr oder minder entwickelte findliche Verſtändniß ſicher an 
ſchmiegen dürfte. Bei dem Inapp bemeſſenen Naume, der nus diesmal 
zu Gebote ſteht, müſſen wir von eingehenderen Beſprechungen abichen. 
Den Hleinften, im Alter von 5 bis 7 Jahren, bietet der Weih— 
tachtsmann cine Reihe von Bilderbücern, deren ſchöne fünitleriiche Mus 
führung nichts zu wünſchen übrig läht und bei denen auch auf die Texte 
alle Sorgfalt verwandt it. „Wenn der Frühling blüht“, mit ſtim 
mungsvollen Bildern von H. M. Bennett und Gedichten von Fanny 
Stodhanien (Münden, Th. Stroefers Verlag), und „Nugenweid und 
Derzendirend" von P. Mad und Emil Wolff (ebenda) werden das 
Enlzücken aller Kleinen bilden und ohne Zweiſel auch den erwachlenen 
samilienglievern Freude machen. Einen belchrend unterhalteuden Zwed 
verfolgt das Bilderbuh „Unterricht im Thierreiche für unſere 
Kleinen“ von Anna Lieboldt und Hans}. Schmidt (Leipzig, 


— 2 


E. Zwietmepger), cin echtes Ainderbuch, das namentlich in der Hand der 
Mutter für die Erweiterung des Andlichen Anfchanmmgstreifes eripriehlich 
werden fan, ®, 2, Mohn, der befaunte Berliner Künſtler, und 
G. Ehr. Dieffen bach legen „Reithäthens Zeitvertreib” (Bremen, 
M. Deinfins) anf den Feſttiſch, mud ein Buch, das durch dieie beiden 
bewährten Kinderſreunde eingeführt ift, empfieble fich dadurch am beiten, 
Warme Anerkennung verdient auch der „Heitvertreib für die ganz 
Heinen” (Dresden, C. €. Meinhold und Söhne), welchen E. Yimmer 
mit 46 farbigen —— — geſchmũdt bat. 
Bilderwerte aber, von Frida Shanz, mit Bilden von C. Colin, 
führt den Titel „Kleine Yente von jonft und heute" EStuttgart, 
Gebrüder Aröner). Bilder und Gedichte athmen liebenswürdigen, echten 
Humor und in den Profageichichten weiß die Verfajierin vorzüglich den 
Ton zu treffen, ben Hinder verftehen und lieben. 

An Knaben und Mädchen ine Mlter von 7 bis 10 Jahren wendet 
ſich eine neue Zupendiärif 

von Dietrih Theden: 


Eines der beiten | 





S07 >» 


für den „dunleln Welttheil“ fchaften, und mit dem vorliegenden erjten 
Bande des Lederfirumpf, „Weihbart-Weichherz“, iſt es ihm in der That 
gelungen, das Intereſſe für feinen Gegenſtand in hobem Mae anzuregen. 
Mit der Schilderung Ipannender Abenteiter verbindet er cine nicht vor⸗ 
dringlide, aber verläfliche Belchrung und bringt fo die Länder und Böller 
des noch jo wenig bekannten Erdiheils dem Berftändnih und der An 
ſchauung des jugendlichen Leſers näher. — Die Handlung feines „Sturm 
baten“ hat der Berfafier nadı jener zu Melauefien gehörigen Aufelgruppe 
verlegt, welche feit 1854 demſche Kolonie ift und von deutichen Kaiſer 
1855 den Namen Biemards⸗Archipel erhalten hat. Auch im die ein Buche 
gehen Belehrung und Schilderung ſpannender Abentener Hand in Hand. - 

„König Ealomos Schablammer“, im Innern Afritas ipielend, iſt eine 
lebertragung ans dem Engliſchen und wenn wir auch im allgemeinen 
Ueberfeßungen nicht gerade mit Vorliebe betrachten, jo nimmt doch dieies 


Buch eine Aysnahmeftellung ein, Es Mlingt nlaubbaft, daß die engliſch 





„Lahr Euch erzählen!” 
(Leipzig, E. Tivtetmener). 
in geſchmadbollſter 
Ausstattung vorliegende 
Bud) enthält Maͤrchen und 
ſchlichte Erzählungen aus 
dem Leben, beftimmt und 
irefflich gecignet, die em- 
pfängliche Serle des Stindes 
mit der Porfie ber Natur 
vertraut zu machen und fein 
Herzens und Gemüůthsleben 
u weden und zu bilden. 
en reichen Bilderſchmuck 
in Schwarz · und Buuidruchk 
lieſerten Hermann Vogel, 
R. Büttner u. a. 

Die „Blanuderftind- 
hen“, eine Feſtgabe zur 
Unterhaltung und Beleh— 
rung, herausgegeben von 
Delene BVinder Maunchen, 
Th. Stroefers Kumftverlan', 
ind ein empfehlenswerihes 
Sammelwert für Knaben 
und Mädchen von 8 bis 12 
Jahren, während die unter 
dem Titel „Aus bewegter 
Jugendzeit“ (ebenda, 
vereinigten 6 Erzählungen 
von Auguſte Meirner 
vorzugsweife für Mädchen 
dieſes Alters in Frage fonı- 
men. Manche der Bilder 
in den „Blauderjtündchen“ 
fönnen zwar ihre engliſche 
Herkunft nicht verleugnen, 
doch jind jie hübſch um 
dürften namenilich durch 
ihren Farbenteichhhum deu 
Kindern auherordentlich zu⸗ 
ſagen. — 101 neue Fa— 
bein“, mit über 80 liünſt⸗ 
leriſch ihönen Iluſtrationen 
von Fedor Flinzer, find von 
Frida Schanz im Verlage 
von Ambr. Abel in Leipzig 
herausgegeben worden. Ste 
werden ſich bald einbürgern. 

Fur die reifere Jugend empfehlen wir in erſter Yimie ein vortreji- 
liches Jugendbuch unſeres altgeſchäzten Mitarbeiters Victor Blürhgen: 
„Der Ben zum Glüd“, mit fechs Bildern in Farbendruck von Fritz 
Bergen (Stuttgart, Gebrüder Ströner). Die fünf meifterhaften Er— 
zählungen diefes Buches entjprechen auch den höchſten Anforderungen 
und verbinden mit jpannemditer Handlung wahrhait fittliche Grund» 
gedanken, deren Wirkung um jo ficherer iſt, als ſie überall als ſelbſt 
verftändlich erſcheinen, wirnends aber jih anfdrangen. — Bon Erzählungen 
hiftorijchen Inhalis jind Dakar Höders „Im Nod des Königs“, 
illuſtriri von A. von Kochler (Leipzig, Ferdinand Hirt und Sohn), „Die 
Erben von Scharfened*, Bilder aus der Zeit der Königin Luiſe, für 
das reiſere Mäddhenalter, von Brigitte Augufti (ebenda), „Ein 
Mann, ein Wort“, eine Geſchichte aus der Jeit dev Kreuzzüge von 
E. WButtfe-Biller (Veipzig, Ambr. Abel) und „Die Befreiung Ger— 
maniens vom Römerjode” von Hilbert Kleinſchmidt (Leipzig, 
Friedrich Branditetier) wertbvolle Bereicherungen der Augendlitteratur, 
gegen welche zahlreiche andere geſchichtliche Schriflen merllich zurüdtreten. 

Ms erfreuliche und für die veifere Jugend vortreiilic paliende No» 
vitäten bon Gebiete der Yänder- und Bölferfunde müſſen wir 
ſchließlich noch drei Schriften anführen, welche bald in den weitelten 
Kreiſen beimiich fein werden: „Ein afritanischer Lederftrumpf* 
von C. Falkenhorſt (Stuttgart, Gebrüder Hröner). „Sturmbafen“ 
von demjelben (Leipzig, F. A. Brodtaus) und „König Salomos 
Schaßkammer“ von H. Rider Hagard, überjept von M. Strauß 
Munchen, Th. Strorjer). Wie Nordamerifa in dem Cooperſchen „Leder: 
ſtrumpf“ einen beredten Anwalt bei der Jugend gefunden bat, jo möchte 
C. Falfenhorit durch den „Mirifantichen Lederſtrumpf“ einen Fürſprecher 





Berfperrier Weg. 
Eriginalgeichenng von Fran O’Stüdenberz. 


amerilaniſchen Ausgaben in 
hurzer Zeit in mehreren hun⸗ 
derttaufend Eremplaren ver- 
breitet wurden; die Jugend 
liebt Schilderungen unge 

wöhnlicher Abenteuer md 
folche bringt das Bud) in 
reihem Mabe, ohne dab 
die Phantaſie des Erzählers 


allzu bedenflidie Purzel- 
bäume jchlägt. 
Johanna Stegen, die 


Heſdin von Lüneburg 
(Mit Sluftration ©. 861.) 
Der zweite April des Jahres 
1813 brachte einen wichtigen 
Sieg der Berbündeten über 
das Kriegährer des fran 
zoſſſchen Erobererd in der 
Schlacht bei Lüneburg, au 
weichem ein heldenmrüthiges 
Mädden einen vollwichtigen 
Autheil Hatte: Dohanna 
Stegen, das Mädchen von 
Lüneburg. Sie reiht ſich 
jenen tapferen Frauen an, 
die in edler Begeifterung 
jur Baffe griffen, nın gegen 
den Erbfeind zu Felde zu 
sieben, oder denen jonft 
fein Opfer für die Sadıe 
des Waterlandes zu hoch 
war. Eleonore Prodasta 
und Aung Lühring dienten 
in der Luhowſchen Freiſchat 
ale Näger Nenz und Kruſe 
Magdalena Edert pflegte 
drei Jahre lang in Diijiel 
dorf umermüdlich Freund 
und Feind, Ferdinande bon 
Schmettan legte ihr pradht- 
volles Daar auf den Opfer 
altar des Baterlandes — 
nicht minder Nühmliches 
vollbrachte Johanna Stegen, 
und wie die Namen der 
erftgenannten Frauen iſt 
auch der ihre mit der Ge 
ichichte der Befreiungskriege 
unlöslicd) und ehrenvoll ver 
Mwäpft, Sie hielt es in 
dem ficheren Verſteck, in welden ſich die Ihren geflüchtet hatten, dem 
steller eines benachbarten Kaufmanné, nicht aus, als die Sturmgloden 
läuteten und die Schlacht tobte, Sie eilt hinaus, finder Käfer, mit 
Patronen gefilllt bis oben hin, umd trägt diefe, jo viel ihrer die Schürze 
nur zu fallen vermag, den mit aefällten Bajonett gegen die Frauzoſen 
anftürmenden Preußen zu, die ale Munition verſchöſſen hatten und mir 
Aubel das neie „Kraut and Loth“ begrühten, Johanna Stegen adıter 
nicht auf die Nugeln, die fie umpfeifen; furchtios und unermüdlich) eilt für 
immer wieder zu ihrem Funde und mit gefüllter Schürze fchrt fie zurid, 
bis der Sieg entichieden ift, entichieden zu Gunſten der todesmuthigen 
Preuhßen. Major von Borde, der Führer des von Johanna Stegen Mir 
Patronen verjorgten Bataillons, erhielt nad der Schlacht einen Ehrenſäbel 
und das Eiferne Kreuz zweiter Klaſſe, fo eutſcheidend war das Eingreifen 
der laum 150 Kopfe zählenden Braven und — der unerichrodenen, opfeı 
muthigen Heldin geweſen, welche ihnen das todbringende Blei durch Bulver- 
dampf und Schlachtengraus begeiftert und anfenernd augetragnen. _ ** 
Aus Studlenmappen dentſcher Meifter. (Mir Aluitration S. 857. 
Die „Sartenlaube“ bat es von jeher als eine danlbare Aufgabe ange 
ſehen, ihre Pejer mit den großen Kunſtſchöpfungen der hervorragenden 
dentſchen Meifter durch Holzichnittiwiedergaben belannt zu machen, amd 
in den verschiedenen Jahrgängen findet ſich ein wahrer Schatz von Nadı 
bildungen der befien Werle deuiſcher Malerei, Aber ihre Aufgabe war 
es zugleich, allen Meiftern in gleicher Weiſe gerecht zu werden, fie konnte 
—— nicht bei einem derſelben länger verweilen, lonute wicht eine 
größere Reihe feiner Schöpfungen bringen, wın an ihnen gemeinfam feine 
Eigenart zu veranſchaulichen. Zr Aufgabe iſt jept von anderer Seite 
aufgenonmmen, welche fie durch Zuſammenſtellung ſorgſältig ausgeführter 


* 


o 68 © 


Blätter aus den Studienmappen der Künftler zu löſen ſucht und nach | 
den erften Proben auch in dantenswercher Weile zu löſen veripricht. 
rem Studienmappen deuticher Meifter”, fo lautet der Titel zweier 


appen in großem. 
je 10 Blätter von Ludwig Knaus und Franz v. Defrenger nebſt kurzen 
tegtlichen Einleitungen von Julius Lohmener enthalten und in der That 
als eine trefiliche künftleriiche Eharalterinif in Mmappem Rahmen gelten 
Tönnen. Die zarten, mit vollendeter Sicherheit ausgeführten Bleiftiftifigzen 
von Ludwig Knaus atmen den ganzen Zauber Icbensvoller_ Anmuth 
diejes Meifters, und Franz v. Defrengers Uare und markige Delſtudien 
feſſeln cbenfo durch die treue, Ichlichte Wahrheit wie durch den hohen 
malerijchen Reis, der allen feinen Bildern eigen iſt. Wir bieten unſeren 
Lefern eine diefer Studien Defrengers, einen alten weitergebrännten Tiroler 
Jäger (Leo Dorn aus Hindelang) in frappanter Naturwahrheit_wieder: 
gebend, in gelungenen Holzichnitt und begrüßen zugleich die Samımel- 
mappen als vorzügliche Bereiherungen der Kunftihäße jür das deutiche 
Daus, weldes es auch dankbar willtommen heißen wird, daß Wappen 
weiterer Meifter wie Menzel, Beielihap, Menerheim, Werner, Ghrüßner, 
Kaulbach ıc. den bereits vorliegenden folgen follen. .. 
Ehrindaumihmud. Obwohl die Andufine im neneſter Jeit audı 
für den Schmud des Weihnachtsbaumes ſorgt und den Markt mit dent 
ichimmernden Tand überjchüttet, bleibt doch in weitciten Kreiien das Be- 
streben erhalten, den Barım mit Werfen eigener Hand zu fchmüden. Die 
Berireier und Berircterinnen jener guten alten Sitte haben jegt allerdings 
einen ſchwierigeren Stand, denn der fabrifmaähig hergeſtellte Saſmuck zeichnet 
ſich durch feine Arbeit und Mannigfaltigleit ans. Es giebt aber ein 
Mittel, dem felbitgefertigten Behaug des Baumes noch cinen befonderen 
Werth zu verleihen, und diefes finden wir in einem Hemen Büchlein, das 
unter dem Titel „Der Schuud unferes Weihnachtsbaumes“ von 3. Berg: 
meifter im Verlage der Leipziger Lehrmittelanftalt von Dr, D’sfar Schneider 
erſchienen ift. Wir erhalten in demſelben eine 5551 zur Anfertigung 
von hübſchen Gegenſtänden aus Kartenpapier, melde jich wicht nur als 
Schmud des Chriftbaumes, jondern auch zu Heinen finnigen Geſcheulen 
eignen. Die Sterne dienen } B. als Widelſterne für Stidwolle oder 
Seide, ein Bauernhäuscen ſoll nach dem Ehriftfeit feinen Zwech als 
Schachtel zum Aufbewahren von Bifitenfarten erfüllen, ein Meiner Dfen 
stellt eigentlich ein Feuerzeug mit Kerzchen dar; andere Modelle bieten 
uns Nadeltifien, Fingerhutbecher, Rinabehälter m. Mit derartinem felbft- 


Format (Breslau, Berlag von E. T. Wistort), welche | 


nefertigten Scunud kann ſich die Familie unter einander beihenfen und die 
tleinen Arbeiten tragen gewiß dazu bei, die Freitesfrende zu erhöhen.  * 
Ein Sommernadistraum,. (Mit Alluftration S. 845.) Eines der 
befannteften und phantaliereicdhiten Iugendluſtſpiele des arohen Shale 
ſpeare, der „Sommernadjtstwaum”, it in einer dentichen Vrachtausgabe 
erihienen, welde bald zu einem beliebten Geſcheule für den Bucheriiſch 
des Salons werden dürfte, Die Bollbilder diejer Ausgabe jind in reichem 
und ſtimmungsvollem Farbendrude ausgeführt und bilden eine lebens» 
volle Beranfhanlichung der Dichtung. Bir geben — ınit Einwilligung 
des Verlegers Th. Stroefer in Münden — in Dolzichnittreprobultion 
dasjenige der Bilder wieder, welches für Die ganze Dichtung am meiften 
chavakteriftiich ericheint,. Der „Sommernachtstenum" iſt im allem ein 
Begenftüc au „Romeo und Julia“, eine heitere Weripottung des menſch- 
lichen Liebeslebens im Gegenjag zu der tragiichen Verherrlichung desielben 
in der Romeodichtung. 
„Den ſchlechtſten 2 an Art und au Gehalt 
Leiht Liebe dennoch Anſehn und Geſtalt!“ 
ſpottet der Dichter und beweiſt dies durch eine Leidenſchaft, bie ſelbſt 
einen Hertel mit dem Ejelstopf zu ihrem Ideale erheben dann. 
L "sch bit" Dich, holder Sterblider, fing’ nochmals,“ 
läht er Titania_jagen, 
„Hein Ohr it ganz verlicht in Deinen Sana: 
Ach iſt mein Aug’ entzüdt von Deinem Wejen: 
Dein Tugendreiz reizet mit mächt'gem Trieb mich 
Beim eriten Blick zum Wort, zum Schwur: ich lieb" Dich.“ 
Titania, Die liebreizende Hönigin der fen, und Zettel mir deut 
Gielstopf — wirhmasvoller hätte der Dichler feine Geſtalten nicht aus- 
ſuchen lönnen! .. 
Anfer Bild Kaifer Friedrids. Die Stunitbeilage Kaiſer Wilhelm 1.” 
zu Halbheft 6 der „Bartenlaube* des laufenden Jahrgangs hat in vielen 
Abonnenten den Wunſch erregt, ein ähnliches Bildnıd auch von Kaifer 
Friedrich ala Gegenſtüd zu befigen, Heute kommen wir diefem in zahl 
reihen Briefen ausgeiprochenen Bunſche nadı und bieten zu dem Borträt 
Wilbelms 1. ein joldies Kaiſer Arriedrichs, das nad einer vorzüglichen 
VPhotographie von Reichard uud Yindner in Berlin gezeichnet ift und die 
allbefannten Zuge des edeln Todten tren wiedergiebt. Das Wild it 
ein Pendant zu dem Wilhelms 1, und bilder mit dichem einen Schönen 
und würdigen Jimmerſchmuck. 


Allerlei Kursweil. 


BWeißnahts-Möffelfprung. 


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u Sierzu die Aunftbeilage „Haifer Friedrich.“ 








Auflöfung des Proßfems: „Der Mond‘ auf 5. 540: 

Die Strahlen der Mondfichel zerfallen in + Kategorien, in ſolche 
aus ganzen Strahlen, in ſolche aus 2, 3 und 4 Theilen beitehend, 

un werden zuerſt die ganzen Strahlen, veipektive deren Buch 

ftaben, von oben nach nuten lints in der Hunde herum ber Meibe nad 
abgelefen und eben jo die Buchſtaben veipeftive Strahlen der 3 an- 
deren Strahlenforten. — Auf dieie Werte erhält man die Worte 
„Ein Freund der Verliebten.“ 


Sifben-Aälhſel. Anflöfung des Fül-Mälbfels auf 5, >40: 
Die Ziffern 
find fo 
durch je eine 
314 Silbe zu er⸗ 

ießen, daß 
12 cine Gottheit der 
alten Germanen, 1 4 
einen Fluß, 3 2 eine 
Stadt an der Donau 
und 3 4 cin Stern— 
bild bezeichnet. A. St. 


Aufföfung 
bes Scderzj- Qilder · 
Mätbfelsaufs.840: 
Heldentenor. 


Auflöfungdes Budi- 
Raben-Mätlhfels auf 
5.840: 


Heller, Meller, Teller. 


Aufföfung des 
Wortdild-Räthfels 
anf $. 840: 
Der Uebergang über „ 





.. sDys— 43 27 
die Berefina. ihz2— tar. wie verher. 
Aufſoſung des Näthfel-Honctis auf 5. 840: 
Hoffahet. 


Auflöfung des Kapfel-Mäthfels anf 5.540: 
Soden — Die. 





Herantgegeben unter verantwortlicher Netaftion von Adelſ Ardner. Serlon ven Ernit Heil’s Rachtelger in Leirzia. rat ven A. Wicde in Leipzig, 





Illuſtrirtes Samilienblatt. — »egründet von Ernft Keil 1853. 
Sahrgang 1888. Erfigeint tn Yalbyeften a * Pf. alle 2—14 ——— in Heften a —— aue 4 —— vom L Janner bis 31. Degember. 














Lin — für das 1888. 


Nur len’ did in die Gruft, du Fahr Geld Wilhelm war, dem Scynitter gleich, 
Der Shränen und Trauermweiden! Geſtorben am Erntefefte. 

An wwoeler Haifer Todtenbahr' Vom Fels zum Meer ein einzig’ Neich! 
Zu klagen uns beſchieden war God ragen fah er, Dweig an Iweig, 
In tiefen, tiefen Leiden. Des Bollernflamnmes Arche! 


Der erſte deutfche Kaifer ſchied, Held Friedrid; war der Simann nur, 
Der Große, der Uuhmesreiche. Geftorben beim Feldbeftellen — 
Aaum war verhallt das Trauerlled — Doch mit verach'n wird feine Spur! 
Da haben wir im Schmerz gekniet Was er aefüt; der Buhunft Flur 

An Gaifer Friedrichs Lelche! Scymürt’s einft in goldnen Wellen! 


So geb’ cs Gott, fo hoffen wir 

Und grüßen der Erone Erben, 

Stolz weht Germanias Panier! 

Treu find wir, Held und Balfer, Dir 

Im Leben nnd im Sterben! Emil Rittershans 





870 ° 
. Die Iran Majorin. 


Bon R. 


A⸗ehdrad verboten. 
Ale Bedhte vorbehalten. 


oltroff. 


Echluß.) 


De Doktor Velden beruhigend auf die immer heftiger 
tweinende Kranke einfprad), öffnete jich die Thür, und mit 
dem Yusrufe: „Meine Helene, meine arme Helene!” eilte eine 
Schlanke Gejtalt dem Muhebette zu, kniete neben demfelben nieder 
und umfaßte die Weinenbe. 

„Emma, meine Emma, o, nun wird alles gut!“ mit diefen 
Worten fhlang Helene den Arm um den Hals ihrer Freundin, 
als wolle fie fie nie mehr von fich Tafjen. 

„Arme Helene!” rief dieſe mittlerweile, ihr die blaffen 
Wangen ftreichelnd, „wer hätte gedacht, daß diefe Vergnügensfahrt 
fo tragisch enden würde! Ich erfuhr das Unglüd durch meinen 
Onfel, den Polizeipräfidenten, dem das Geſchehene telegraphiic) 
gemeldet wurde und welder "und das Telegramm ſogieich zu: 
ſchickte, dba er Dich) in diejem Zuge wußte. Mit dem zunächſt abgehen- 
ben fuhr ic) hierher, hörte an der Bahn, Du feilt nur ohnmächtig 
aeworden und bei Doktor Velden in befter Pflege. Und nun 
finde ich Dich in ſolcher Erichütterung! 
ift Dir? Bit Du doch ſchwerer verlept, Leideft Du Schmerzen?“ 
Sie jah nad) dem Arzt empor: „ch Heike Emma Wahren, bin 
Helenen3 vertrautefte Freundin und erfuche Sie, mir jofort die 
ganze Wahrheit zu jagen.“ 

„Die ift ſehr einfach, mein Fräulein,“ erwiderte der Doktor, 
„das Befinden der gnädigen Frau läßt nichts zu wünſchen übrig, 
und nun, da die Freundin eingetroffen ift, legt ſich hoffentlich die 
furdhtbare, unerklärliche Aufregung, in welche die Fran Majorin 
bei dem Anblide ihres Mannes gerieth, den wir felbjtverftändfic 
fofort von Leipzig fommen Tiefen.“ 


Jetzt war die Reihe des Entjegens an Emma, fie glaubte, | 


nicht recht gehört zu haben, und Hajtig, in höchſter Ueberrafchung 
ftich fie die Worte heraus: 

„Was fagen Sie da? Frau Majorin? — Der Mann 
meiner Freundin — und Sie behaupten, er wäre hier?” 


„Freilich behaupte ichs; aber jet wird mir's zu bunt,” 


polterte Doltor Velden heraus, dem endlich die Geduld rif. 
„Finden Sie es denn unmatürlich, wenn man dem Manne einer 


verunglücten Frau telegraphirt und wenn diefer dem Nufe Folge | 


leistet? Profeſſor Rodik übernahm es, den Herrn Major von 
Schnitzel in Leipzig zu benachrichtigen; derjelbe eilte, wie wir es 
nicht anders erwarteten, ſogleich herbei; weshalb verfegt Sie dieje 
natürliche Thatfache inſolch merlwürdiges Erftaunen, mein Fräulein?“ 

Ohne auf diefe Bemerhung einzugehen, fragte Emma lebhaft: 
„Woher wußten Sie diejen Namen? hat meine Freundin ſich ſelbſt 
fo genannt?“ 

„Natürlich, dem Herrn Profefior, der mit ihr reijte,* er— 
widerte Doftor Velden ungebuldig. „Uebrigens muß ic) Ihnen 
fagen, mein gnädiges Fräulein, daß mir diefer aanze Handel 
mehr als ſeltſam vorkommt. Ein ſolches MWicderfchen von Ehe: 
gatten, wenn eins davon napp dem Tode vorbeifam, dieſes beider- 
feitige Entjegen beim Erwähnen ihrer Rinder — das geht nicht 
mit rechten Dingen zu! Uebrigens geht es mich nichts an, natürs 
lich,“ jehte er ärgerlich Hinzu und machte cine halbe Wendung 
zum Hinausgehen. 

Emma amd Helene fahen ſich ein paar Augenblide unver: 
wandt in die Augen, dann verneigte fid) die erftere, ſchon wieder 
mit einem Heinen Schalt um die Mundwinlel, vor dem Arzt und fagte: 

„Darf ich Sie bitten, mid mit meiner Freundin nur furze 
Zeit allein zu laſſen? 


fönnen, Sie werden Wunder erleben.“ 
fie daS fagte, fo ſchelmiſch an, daß er ihr ſchmunzelnd die Hand 
reichte: „Nun gut, einer jo hübjchen Kollegin räume ich gern 
das Feld, alfo machen Sie Ihre Sache brav!” 


Noch eines, Herr Doktor, gehen Sie draußen ja nicht zu ftrenge | 


ins Gericht mit dem armen Heren Major, Sie dürften es fpäter bes 
reuen und möglicherveife große Abbitte leiſten müſſen,“ drohte Emma 
lächelnd mit aufgehobenem Finger; „ich fomme bald nad), bis dahin 
erſuche id Sie nur, von meinem Hierfein nichts zu erwähnen.” 


Kaum hatte ſich die Thür hinter Doftor Velden gefchloffen, 
fo fielen fid) die Freundinnen im die Arme, und unter Lachen | 


Um Gotteswillen, was | 


Ale Achtung vor Ihrer Kunft, Herr | 
Doktor, jedoch in diefem Falle glaube ich ihr befter Arzt fein zu | 
Sie jah ihn, während | 


nnd Weinen berichtete Helene alles, was ſich feit heute morgen 
 zugetragen, bie Fahrt, die herrliche Unterhaltung, ad — und 
die ſchmachvolle Lüge mit ihren fÄhredlichen Folgen. 

„Nette mid), Emma!“ ſchloß fie endlich die Lange Beichte. 
„Du Haft das ganze Unheil angeftiftet, nun fich, wie Du den 
Major wieber fortbringft, und vor allen Dingen, erkläre Herrn 
Profeſſor Roditz . ..“ fie wandte fich verwirrt zur Seite, „erkläre 
ihm alles, denn, offen gejtanden — es wäre mir unerträglich), 
von dieſem Manne verfannt zu werben.“ 

„Du, Du!” drohte Emma, „das letztere fcheint Dir ja ganz 
ungeheuer am Herzen zu liegen! Sei getroft, id werde diejem 
Manne den Sachverhalt aufklären und mic zum Sühnopfer an: 
bieten, denn das ſcheint mir doch ausgemacht, daß Du jegt den 
braven Major zum Lohn für fein ritterliches Schweigen auch 
thatſächlich mit Deiner Hand zu beglüden Haft!” 

Jetzt lachte Helene zum erften Male wieder laut und herz: 
haft auf: „Warum nicht gar! Von mir wird er vollftändig genug 
haben; aber wie wäre es, wenn Dir dieſes Amt übernähmit, 
' weile Emma, was meinjt Du?" Sie fah der Freundin muth— 
‚ willig in die Augen, dieje gab ihr einen Schlag auf die Hand: 
| „Ich meine, dag Dur nun twieder meine alte Helene bift, 
' Gott fei Dank dafür! Aber ums Himmelswillen,“ fuhr fie auf, 
„ich vergeffe über unferer Plauderei völlig, in welch fchredlicher 
Lage ich den armen Major laſſe; wie twird dem ber Profeflor 
mitfpielen und fchließlich noch der Doktor, und ich gewiſſenloſes 
Geſchöpf verfprach, gleich zu kommen!“ 

Noch einen Kuß und draußen war fie; Helene alhmete tief 
auf und legte fi in das Sofa zurüd; ihre Blicke verjenften ſich 
| träumerifch in das grüne Blättergewirr vor dem Feniter, während 
\ ein feliges Lächeln ihren Mund umſpielte. 





Während der Unterredung der beiden Freundinnen hatte fich 

ein erbitterter Wortwechſel zwiſchen Profefior Rodig und Major 

| von Schnigel entfponnen, der cben nahe daran war, in einer 
Forderung zu gipfeln. 

In den heftigſten Ausdrücken hatte der Profeffor den ver: 
meintlichen Ehemann zur Nede gejtellt wegen feiner Lieblofigkeit, 
feiner herzlojen Gleichgültigkeit gegen feine Frau. 

Das ging dem Major, wenn ſchon er den Irrthum des Heren 
bedachte, denn doc allmählich zu weit. Auch cr begann heftig zu 
werben, indem ex fich fagte, daß ja ebenfo gut alles wahr fein Fönnte, 
was jener annahm, und wieſo dann ein wildfremder Profeffor ſich 
um feine, des Majors, chelihe Differenzen zu kümmern habe? 

Seine ziemlich grobe Entgegnung: „Das geht Sie alles 
gar nichts an!” verjegte den Gelchrien aber nur in größere Auf: 
regung, die Neben flogen immer gereizter zwiichen ihnen her und 
bin, und der Major jtand eben im — ſehr unangenehm zu 
werden, als die Thür ſich öffnete und der Doktor mit Emma eintrat. 

Roditz ftürzte auf fie zu und ergriff ihre rechte Hand: „Gott 
jei Dank, daß Sie da find, nun veden Sie dem Gatten Ihrer 
armen Freundin ins Gewiſſen.“ 

„Freundin?“ rief der Major und erhajchte ihre Linke. „Jetzt 
Aufklärung um jeden Preis, oder ich Werde verrüdt bei dem 
' fürchterlichen Unſinn.“ 

Emma brad in ein fröhliches Lachen aus und jah voll 
Schelmerei von einem zum andern. 

„Here Profeſſor, Herr Major,“ begann fie dann mit zwei 
zierlichen Berbeugungen, „erlauben Sie vor allen Dingen dem 
Nettungsengel, ſich vorzuftellen als Emma Wahren, intimſte 
Freundin der ſchönen Unglüdtichen, um welche hier, wie es ſcheint, 
ſehr anzügliche Reden getauſcht werden.“ 

„Berzeihen Sie!" unterbrach) fie haftig der Profeffor, — „in 
der furdtbaren Aufregung“ — „vergaßen wir uns vorzuftellen,“ 
vollendete der Major. 

„Iſt nicht nöthig, da ich focben von Helene fomme; die 
Namen der Herren find mir demnach befannt. Der Ihrige,“ 
wendele fie ſich mit Schalfhafter Gravität an den Profeflor, „natür- 
lich fhon längſt; felbit cin fo ungelehrtes, proſaiſches Naturkind 





— BI — 


wie ic) weiß von dem berühmten Weltumfegler; der Ihrige jedoch.“ in die grünen Bäume des Gartens Hinausichauten, durch welche 
fuhr fie, den Major nedifch anlachend, fort, „tönt mit feinem wun= | foeben die letzten Sonnenftrahlen hereinfielen und die ruhende 
derbar poetiichen lange heute zum erjten Mal an mein Ohr.“ Mädchengeftalt wie mit einem Glorienſchimmer umwoben. 

„Hum erjten Male?" fiel der Profeffor, immer noch heftig Ein leichtes Geräuſch Lich Helene auffehen; mit einem Leifen 
erregt, ein; „um Ootteswillen, Fräulein, treiben Sie feinen graus | Freudenſchrei wollte fie fich erheben, allein ſchon kniete der Pro- 
jamen Scherz mit mir!” fefjor neben ihr, fie ſanft in den Sefjel niederdrüdend. 

„Braufamen Scherz," verjeßte Emma, „id denfe ja nicht „Helene, Helene” — das war alles, was die zitternden 
daran. Denn wenn auch Helene meine Freundin ift, fo folgt | Sippen des fonft jo ſtarken Mannes hervorzubringen vermochten. 
daraus noch lange nicht, daß fie die Gattin diefes armen viel- Einen Augenblick fpäter lan fie an feiner Bruft und wieder und 
geplagten Mannes fei, der Heute jo Schwere Proben überftanden hat." | wicber füßte der alüdjelige Mann Augen, Stimm und Mund 

Sie lachte fröhlich dem Major in das aufgeheiterte Geſicht; feiner Holden Braut, während draußen die Abenddämmerung ſich 
ge 'y auf ihre Hand und drüdte einen enthuſiaſtiſchen leife über die Wipfel nicderjenfte. 

uß darauf. | — 

„Ic verſtehe lein Wort,” unterbrach Roditz die Plaudernden Am Abend dieſ —— * 

— u jes ereignißreichen Tages ſaß ein Kreis froher 
unmuthig, „bie Herrſchaften ſcherzen hier harmlos, während ich Menſchen bei der trefflichen rer welche die Meine 


„Während Sie diefen guten Herm Major für einen bar: . : Fate 
bariſchen Wütherich Hielten und mic, ohne Zweifel für eine voll- grau a en ———— era un 
ig —8 Kid Wohl —— edge ' Anfang am zu erzählen, und fie that es mit ſoicher Lebhaftigkeit 
BREI /SOER. NOHDIENBE: JERCEUNGE RDEOEE 4 din, und foldh drolligem Muthwillen, ber Major ergänzte in fo lomiſcher 
richtete fie 9 —* auf: „Helene Elden, meine Freundin, Weiſe, daß die Zuhörer nicht aus dem Lachen herausfamen 
iſt — — umverheirathet!” a 5 

: je : " R „Ich konnte natürlich nicht ahnen,” ſchloß Emma ihren 

Geſi ae: — ———————— — Bericht, „daß mein Scherz fo folgenſchwer fein würde, und dennoch 
208 " h — 1° hl unfäg u ae —* bereuen, denn“ — und ohne zu vollen: 
en Se > den, fchaute fie mit vielfagenden Bliden nad Helene, deren Augen 

* — zur 45 in —— —— unbelümmert um die Anweſenden an denjenigen des neben ihr 

Jaaz Angenduce in gageugen. — eig : fipenden Profeſſors hingen, der cbenfo unbekuͤmmert ihre Hand 

„Uber, brach es endlich von feinen Lippen, „wie vermochte fet in der feinigen hielt 
es —— u Fe ——— keit Game, „um „Das iſt wieder einmal Frauenfogif: es ift gut abgelaufen, 

RT re Ar ee —— — dwichtig 8 folglich bildet man ſich noch etwas darauf ein,“ meinte ſcherzend 
nicht wieber voreilig ind Gericht gehen. wie mit dem armen Herrn noptpr Velden. „Sie find übrigens am meiften zu dlegen Herr 
Major; Helene ift unſchutdig und hat ſchwer ie unter meinem | Major, Ihnen ift übel mitgejpielt worden und an Ihrer Stelle —“ 
unhedachten Scherze gelitten; ic werde als alleinige — ee warf einen Blick über den Tiſch, „ließe id) mir den Befik 
nachher volle Beichte ablegen, doch vorerſt verjöpnen Eie Bier | ner jo lichenswärdigen, mir gewiſſermaßen zu eigen gewejenen 
Ihr bemitleidenswerthes Opfer. Frau nicht entgehen.“ 

Dit dem liebenswärdigften Entgegenfommen eilte ber Profeſſor „Wer weiß, =. geſchehen wäre,“ gab der Major zurüd, 
auf den Major zu, deſſen z. mit der dringenden ‚Bitte er⸗ „wenn nicht“ — er wurde fehr roth und väufperte fich mit einem 
greifenb: „Rica unk a. e ik —— — er aaa Bid auf Emma, der an Ausdrudsfähigkeit nichts zu wünſchen 
angetan um biejes unglüdlichen Mikverftändifies willen ? übrig ließ. Ebenfalls ſehr erröthend, wandte ſich diefe zur Site, 

„Bitte, bitte!“ wehrte biefer lachend ab, „da iſt nichts zu der Doftor aber rief fröhlich aus: 
verzeihen; aber zn un. jeht bad) un — we“ „U, alſo fo ſteht's hier! Na, ic gratulire, gratulire aller: 
id 9 —— — ei — he —— I er feits, das ift ein prächtiger Abſchluß diefer merkwürdigen Gefchichte.“ 
I gen! * ihb hd Ehe fid) an diefem Abend die Gejellichaft trennte, benüfte 
a ſlage id) nd bie —— — — en heutigen der Major einen günſtigen Moment, um ſich Emma zu nähern, 
ef a Kae — —— welche, am offenen Fenſter ſtehend, die balſamiſche Nachtluft ein— 
Fräulein Bahıen ala ber Kerr Major ausführlich erzähfen, und ‚ athmete, und ihr feife zuzuſſüſtern: „Fräulein Emma, ich fage 
fo werben wir enblid) alles erfahren.“ zaͤhlen, auf Wiederſehen, allein ich kann es nicht ertragen, bis dahın 

Der Vorſchig des Doftors wurde angenommen; während nichts von Ihnen zu hören — darf ih Ahnen zuweilen ſchreiben, 


. . f Fer wollen Sie mir antworten ?* 

diefer nun enteilte und Emma mit dem Major cin lebhaftes und „Ia,“ flüfterte Emma, mun auch ihrerſeits tief bewegt und 
luſtiges Wortgefecht begann, welches dieſen höchlich zu entzüden f , d fei fühenden Kaff icht. 

ſchien, war Vrofeſſor Roditz ftill ins Nebenzimmer eingetreten, | entzog ihre Hand feinen glühenden Küffen nich 

wo Helene im Lehnftuhl am offenen Fenſter faf. | — — 

Sie ruhte, den feinen Kopf feitwärts geneigt, an ein purpur— Sechs Wochen jpäter veröffentlichten die Zeitungen zwei 
rothes Kiffen gelehnt, von weldem ſich der zarte Kopfumriß reizend | Verlobungen: diejenige Helene Eldens mit Profeſſor Roditz und 
abhob. Ihr jetzt vollitändig aufgelöftes, ſchwarzes, gelodtes Haar | Emma Wahrens mit Major von Schnigel; und ebenſo viele 
fiel über Schultern und Bruft herab, und die weißen Hände hielten Monate fpäter fand in bem Haufe von Helenens Eltern die 
einen Strauß duftender Roſen jet, den ihr Fran Doktor Velden ; Doppelhochzeit ftatt und die Hände der jungen Paare fügten fic) 
gebracht hatte. Die langen, feidenen Wimpern lagen nicht mehr | nicht nur zufammen zu dem Bunde ziveier unendlich glüdlicher 
herabgefentt auf ihren Wangen, fondern entichleierten die braunen |; Ehen, fondern aud) zu einem treuen, unauflöslichen Freundſchaſts- 
Augen in ihrer wunderbaren Schönheit, die, voll aufgefchlagen, | bunde fürs Leben. 








Der „wilde“ Menfd. 

De Wiſſenſchaft Hat im den letzten Jahren eine Menſchen- zurückzuführen. Wir wiſſen ja, welche Wunderdinge namentlich in 

gattung zu Grabe getragen, an deren Vorhandenſein noch vor | früheren Zeiten berichtet und geglaubt wurden. Wir brauchen nur 
wenigen Jahrzehnten die größten Gelehrten glaubten, den „wilden“ | an die Menſchen mit Hundsföpfen zu erinnern, welche an den 
Menſchen, der nod) heute in der Einbildung vieler fortlebt, die feine | Ufern des Ganges wohnen follten, oder an die „Einſchenller“, 
Gelegenheit hatten, fi mit den neueren Forſchungen zu befaſſen. | welche auf ihrem einzigen Bein wunderbar ſchnell laufen und vortreft- 
j Der „wilde“ Menſch jollte ein eigenartiges Wefen darftellen, | lich fpringen konnten und welche auch „Fußſchattner“ genannt 
welches mehr dem Thiere ald dem Menschen ähnlich) war und unge | wurden, „Weil fie fich bei großer Hitze auf den Rüden fegten und 
jähe ein Zwiichenglied zwischen dem Menjchen und dem Affen bildete. | ihren großen Fuß gleich einem Sonnenſchirm über ſich ausbrei- 

Die Fabel von dem Vorhandenſein des „wilden“ Menjchen | teten“ — oder endlich an die „Schwanzmenſchen“, welde Afrikas 
ift ohne Zweifel in erfter Linie auf ungenaue Berichte der Neifenden | Urwälder und die Dſchungeln von Borneo bevöffern follten! 


| 
| 














Nleranders der 


Mad dem ®el 


gemälde 


ge 


Thotoprapbie im Werlag von 











Broken God, 
von Carl v. Yiloty. 
Hanfktäng! im München, 





— ——— — — — — 
J 


— ⸗ 


Gegenüber ſolchen Menſchenarten muß der „wilde“ Menſch 


noch als eine recht zahme Fabel erſcheinen; kein Wunder darum, 
daß man bis in die neueſte Zeit an deſſen Exiſtenz nicht zweifelte! 


Wurde doch noch vor vier Jahren an die Berliner Anthropologiſche 


Geſellſchaft ein Bericht über die Papua-Inſeln eingeſandt, in dem 
wörtlich zu leſen iſt: 

„Auf der Aru-Inſel ſoll ein Stamm vorfommen, welder bis 
zu 6 Boll lange, vom Kopfe abjtchende Ohren haben und auch 
in feiner Geſtalt ſonſt jehr abnorm fein fol. Herr Sijto, ‚ein 
achtungswerther‘ Kaufmann, hat früher einmal ein foldyes Andivi- 
duum befeffen, dasſelbe ijt aber in Furzer Zeit geitorben. Dieſer 
Stamm ſoll mit andern feinen Umgang haben. Ein anderer 
Stamm fol weiße Hautfarbe und rothbraune Haare haben und 


auch auf Bäumen wohnen, ähnlich wie auf einer der Key Inſeln. 


Auch fol ihre Sprache eine ganz thieriiche fein, und fie follen 
fi) ganz abgejfondert halten, ohne Kleidung, auf der niedrigiten 
Stufe ftchend. Wie die andern Arunejen angeben, find die Leute 


Ablömmlinge von Europäern, welche dort vor vielen Jahren ges | 


fcheitert fein ſollen.“ 

Wir führen gerade dieſen Bericht zuerft an, denn er um: 
faßt fo zu fagen die geſammte frage des „wilden“ Menichen; 
eritens wird darin behauptet, daß es „wilde* Menfchenitänme 
giebt, zweitens, daß aud) Abkömmlinge civilifirter Menfchen „ver 
wildern* oder auf die thierifche Stufe hinabjinfen fünnen. Auch 
wir werden dieje Fragen nach jenen beiden Richtungen Hin erörtern. 

Als wilde thierartige Stämme wurden namentlich die Zwerg— 
vöffer und die Buſchmänner Afrifas ausgegeben. 

Krapf, der bekannte Mifjionar und Reiſende in Ditafeita, 
erzählte nach Berichten von Sklaven von den Dofo, welche in 
einer unerforichten Gegend Abeſſiniens in dichten Bambusurwäldern 
wohnen und wicht höher als vier Fuß, von der Größe zchnjähriger 
Kinder, fein ſollten. „Sie leben,“ heißt ed von ihnen, „in einem 
durchaus thierifchen Auftande ohne Wohnung, ohne Tempel, ohne 
heilige Bäume; fie haben feinen Häuptling und feine Waffen; fie 
Hettern auf Bäume wie die Affen; der langen Nägel bedienen fie 
ſich beim Ausgraben von Wurzeln und Ameijen und zum Ber: 
reißen von Schlangen, die fie roh verichlingen.“ 

Au den Gebieten, welche augenblidtic das jo viel beiprochene 
„Neid, Emin Paſchas“* Dilden, fand fpäter Schweinfurth den Zwerg— 
ſtamm der fe, die uns an die Doko Krapfs erinnern., 

Die Mittheilungen Schweinfurths wurden in jüngjter Zeit 
durch Emin vervolljtändigt; wir wiſſen jegt, daß die Alla als 
Fäger im Lande umberzichen, in allen Scylichen und Künſten des 
Weidwerls wohl beiwandert find, daß fie das erlegte Wild an die 
aderbautreibenden Stämme verfaufen und mit den Häuptlingen 
derielben Verträge abſchließen; wir willen auch, daß fie Menſcheu— 
freſſer, äußerſt boshaft und grauſam find — aber der Gedanke, 
daß dieſe Affa näher den Thieren als dem Menſchen jtehen follen, 
ericheint uns Heute geradezu abſurd. Zwiſchen dem vohejten 
qraufamjten Alfa und einem Chimpanſen gähnt diejelbe unüber- 
brüdbare Aluft wie zwiichen dem Europäer und dem Affen. 

Eine andere Abart des „wilden“ Menſchen find die ſogenaunten 
„Aſſenmenſchen“. In der Beitfcheift der Miiatifchen Gefellichaft 
von Bengalen wurde nod) aus dem Sabre 1824 allen Ernſtes 
berichtet, daß unter Dhangur- Kulis, die auf einer Saffeeplantage 
arbeiteten, jid) zwei Berfonen, cin Mann und eine Frau, befunden 
hätten, die man Affenmenschen nannte. Durch Zeichen Hatte man 
aus ihnen herausgebracht, da ihr Stamm weit in den Gebirgen 
wohne, und man will Später in den Wäldern von Terai ſolche 
Menschen lebend und volllommen affenähnlic gefunden haben. 
Es famen immer andere Reifende, die ähnliches gejchen zu haben 
behaupteten, bis die Nachricht auftauchte, dah es auf Sumatra 
in den Wäldern einen Menſchenſtamm gäbe, der „uadt und ganz 


behaart“ ift und Drang Koobos genannt wird, und einen andern, | 


die Drang Öugur, die noch wilder feien, fajt ganz ohne Kinn, mit 
haarigem Körper, ohne Waden, aber mit langen Ferſen und nod) 
längeren Armen, zurädliegender Stirn und vorſtehenden Kinnbacken. 

Das Intereſſe au Affenmenfchen gewann durch die Darwinſche 
Theorie none Nahrung. Dieſe Gebilde waren ja unzweifelhaft die 
fehlenden Kettenglieder zwiſchen Menſch und Affe, nad) denen man 
fo eifrig forjchte, und eines Tages, vor wenigen Jahren, laſen auch 
die erftaunten Europäer in den Tagesblättern die Nachricht, daß 
ein Affenmenſch, ein Mädchen von 7—8 Jahren, in dem Walde 
bon Laos eingefangen worden jei und eine Nundreife durch) 


Europa antreten werde In der Ankündigung wurde erzählt, 
daß von diefer fonderbaren Raſſe eine ganze Familie, Water, 
Mutter und Tochter, gefangen worden fei, der Vater fei in Laos 
an der Cholera geſtorben, der Beherrſcher des Landes habe nicht 
gejtattet, die Mutter zu exportiren, und fo fei das Kind allein 
nach Europa gebradyt worden. Dieles Kind war die einem jeden 
von unfern Lejern ohne Zweifel befannte Krao, welche diefen 
| Namen darum erhielt, weil die Eltern, wenn die Kleine tweglich, 
in einem Hagenden Tone „Kra:o!* gerufen haben follten. 

Das Affenmädchen, dejien Haut in der That mit Haaren 
bededt war, wurde jedoch nicht allein von einem ftaunenden Publi 
kum angegafft, fondern auch von Gelehrten, wie Virchow und 
Bartels, unterfucht und diefe ftellten fejt, daß die Heine Krao 
eine echte Siamefin fei, bei der man die längſt befannte Erſchei— 
mung der Ueberhaarung beobachten könne, daß fie aljo den joge- 
nannten „Haarmenſchen,“ die von Zeit zu Zeit bei den ver: 
ſchiedenſten Völlern fi) vorfinden, zuzuzählen fei. 

Inzwiſchen Fam aud aus Bangkok die Kunde, daß Krao die 
Tochter eines königlichen Beamten in jener Stadt jei, daß die 
Eltern ebenfo wie jeder andere Siamefe ausfchen und das Kind 
an einen Unternehmer vermicthet hätten. 

In dem Zeitalter der Dampfſchiffe wurde der letzte Verſuch, 
den Affenmenfchen wieder aufleben zu laſſen, in kürzefter Zeit als 
Humbug erkannt. Alle anderen Berichte über ähnliche „Wilde* 
erwieſen ſich im Lichte der Forſchung als Fabel und Märchen. 
Nirgends waren ſolche Stämme aufzufinden und fie eriftirten nur 
in der Phantaſie einiger unkritifchen Reifenden, wie das einſt auch 
mit dem „bergoldeten König Dorado* der Fall war, Tarum fagt 
auch Dr. Johannes Ranke mit Recht in feinem vortrefflichen Werke 
„Der Menſch“ (Leipzig, Bibliogr. Injtitut.): „Ihierartige, wilde 
Völker oder Stämme, welche die Mittelglieder zwiſchen Menfch 
und Affe darjtellen, giebt es nicht.“ 

„Aber,“ fügt er mod; Hinzu, „es giebt auch nicht einzelne 
Individuen, welde wiſſenſchaſtlich als ſolche Mittelglieder auf: 
geftellt werden dürften.“ 

Wir gelangen hiermit zu dem zweiten Theil unferes Themas, zur 
Erörterung der Frage, ob der Menſch, wenn er von jeder Gemeinſchaft 
mit ber Gefellichaft ausgeſchloſſen und fich felbjt in der Wildniß 
überlaffen bleibt, wirklich verwildern, zu einem Thier werden fann. 

Wir willen ja, daß eine derartige Iſolirung gewaltige Ver: 
änderungen hervorruft und dem Menjchen Fähigkeiten, die er als 
Kulturmenſch ertvorben, raubt. Hatte doch der Schottländer Selkirk 
die Kenntniß der Sprache und das Vermögen, zu reden, faſt 
ganz verloren, nachdem er fünf Jahre einfam auf der Inſel Juan 
Fernandez gelebt hatte. Ein anderes Beispiel liefert uns ein fchauer- 
liches Erperiment des Mongolenfürjten Afebar, der graufamer: 
weife dreißig nocd wicht fpredjende Knaben fo einichließen ließ, 
daß fie niemand ſprechen hören Konten, indem cr willen wollte, 
wie ihe Sprechen dann werden wilrde, Seiner derjelben brachte 
es aber zu artifulirten Lauten. Was nun der Barbarenfürft 
erfahren wollte, das Hat uns mehr als einmal der Zufall geboten. 
Die Geſchichte kennt eine Neihe von „Waldmenjchen“, weld)e in 
den Wäldern Europas eingefangen wurden, die jeder Kultur bar, 
ohne Vernunft und ſtumm twaren. 

Diefe Waldinenichen veranlaßten feiner Zeit den großen 
| Naturforicher Linne, dem homo sapiens, dem Reifen, den homo 
| ferus, den Wilden, in feinem Syſtem entgegenzuftellen, dem er 

folgende Merkmale beifügte: „vierfüßig, ſtumm, behaart.“ 
Im Laufe der Zeit find 16 derartige Menſchen befannt ge- 
worden, zumeist Anaben und Mädchen; ihe Erfcheinen fällt in 
| vergangene Zeiten, wo es in Europa noch entlegene Wälder, un 
| zugängliche Moore und Simpfe gab. 

Lieft man die Lebensgeſchichten dieſer Wildlinge, welche 
neuerdings Prof. Nauber in Leipzig zuiammengeftellt hat,” jo ge- 
winnt man die Meberzeugung, da die Iſolirung des Menichen 
furchtbar in ihren Wirkungen it, und darum verdienen jene Fälle 
auch in unſerer Zeit Beachtung. Die Forſcher der Gegenwart lönnen 
diejelbe beffer deuten und erflären als die Gelehrten früherer 
Jahrhunderte. Wir wollen an diefer Stelle nur der bejonders 
charakteriftiichen Wildlinge erwähnen. 

Aus dem Jahre 1672 ftammt ein Bericht über den fogenannten 
„iriſchen Jüngling“. „Es wurde,“ heißt es darin, „ein Züngling von 











* Nauber, „ITomo sapiens ferus“. Leipzig, Denides Verlag. 


— — —— — — 


0 


16 Jahren nad) Amſterdam gebracht, welcher in Irland feinen Eltern 
entwichen tar, von frühejter Jugend an unter wilden Schafen ges 
lebt und deren Natur gleichfam angenommen hatte. Er war von ge 
Tenfigem Körber, in ununterbrochener Bewegung, von trogiger Miene, 
feftem Fleiſch, trodener fonnverbrannter Haut, ftrammen Glied— 
maßen, zurücdweichender, niedriger Stirn, gewölbtem, höderigem 
Hinterhaupt, roh, planlos, unerſchroden, jeder Menfchlichkeit bar. 

Im übrigen war er von gefunder Körperbefchaffenheit und 
erfreute ſich des beiten Wohlſeins. Er Hatte feine menſchliche 
Stimme, fondern blöfte wie ein Schaf, verweigerte unfere gewöhn— 
lichen Speifen und Getränfe, verzehrle dagegen nur Gras und 
Heu wie die Schafe. Alles mehrmals bin und herwendend und 
ſtückweiſe unterfuchend, wählte und koſtete er endlich bald dies 
bald jenes, je nachdem die Nafe oder der Gaumen es angenehmer 
fand. Er Hatte in rauhen Bergen und wilden Orten gelebt; cr 
jelbft war nicht weniger wild und ungebändigt, ein Freund von Höh— 
Ten, weglojen Gegenden, unzugänglichen Orten. Er war gewohnt, 
unter freiem Simmel zu leben, ertrug Winter und Sommer und ent 
ging fehr lange den Nachſtellungen der Jäger, bis er endlich in 
ihre Nege gerieth. Ex hatte mehr das Anſehen eines Thieres 
als eines Menfhen. Den Waldgeift hatte er nur ungern, unter 
Menfchen verweilend, erſt nach langer Zeit angezogen. Seine 
Kehle war weit und breit, die Zunge an dem Gaumen gleichſam 
angefügt. Die Gegend der Herzgrube war infolge bes vorwärts 
geneigten Ganges nach oben gerücdt.” 

Aehnliche thieriſche Gewohnheiten fand man auch bei anderen 
Wildlingen, wie z. B. bei den litauiſchen Knaben, die unter 
Bären gefangen wurden, und bei dem „Mädchen von Songi in 
der Champagne“. 

Es wird genügen, was die Knaben anbelangt, nur die Ge— 
ſchichte des im Jahre 1661 entdeckten wiederzugeben: 

„Jäger, die in den litauiſchen Wäldern ihre Beute vers 
folgten, fahen einen Trupp Bären. Unter ihnen bemerkten fie 
zwei Heine Weſen, welche menſchliche Gejtalt hatten. Sie ver- 
folgten fie mit ſolchem Eifer, daß fie eins auffingen, ungeachtet 
feines Widerftandes und Gefchreies, feines Bähnefletihens und 
feiner Verteidigung mit den Nägeln, gleich der eines jungen 
ungezähmten Bären. Man feflelte ihn und bradte ihn nad) 


Warſchau vor den König und die Königin von Polen. Der ganze | 


Adel und die ganze Stadt Tief herbei, um das Rind zu fchen, 
welches damals etwa neun Jahre alt zu fein ſchien. Seine Haut 
war extrem weiß, ebenfo feine Haare. Seine Glieder waren gut 
proportionirt und vollkräftig. Sein Gefiht war hübſch, feine 
Augen blau, alle feine Sinne aber jo verihiert, er des Ver: 


ftandes und der Vernunft fo entblößt, daß er von einem Menfchen | 
Er hatte nicht einmal | 


nichts zu haben ſchien als den Körper. 
den Gebrauch der Sprache und alle feine Neigungen waren thieris 
jher Art... .. Er konnte nie die MWildheit feines Naturells auf: 
geben, die er unter den Thieren erworben hatte. Gleichwohl 
nahm er die Gewohnheit an, auf zwei Füßen zu gehen, und er 
ging, wohin man ihn rief. Rohes und act 
ihm gleich willtommen; Kleider konnte er am Körper nicht leiden, 
ebenfo wenig Schuhe; niemals bededte er den Kopf. Bon Zeit 
zu Zeit floh er in die Wälder, wo er fich damit vergnügte, mit | 
den Nägeln Baumrinde abzureifen und ihren Saft zu faugen.“ 

Sprechen foll er niemals gelernt haben, obwohl er eine 
iehlerlofe Zunge Hatte. 


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te3 Fleiſch waren | 


| Was nun das „Mädchen von Songi* anbelangt, fo ijt ihre 
Geſchichte inſofern von Bedeutung, als ſie uns den Beweis liefert, 
daß einige der Wildlinge nach ihrer Rücklehr in die menſchliche 
Geſellſchaft Sprache und Vernunft wieder erlangt hatten. 

Rauber erzählt über diefen Fall etwa folgendes: Im Sep: 
tember 1731 trat cin Mädchen von 9 bis 10 Jahren zur 
Dämmerungszeit von Durft geplagt in dad Dorf Songi ein, 
weiches 4 oder 5 Lieues von Ehälons entfernt Liegt. Ihre 
Füße waren nadt, der Körper mit Qumpen und. yellen bes 
Eleidet, der Kopf mit einem Flaſchenkürbis ftatt der Mühe bes 
beit, die Hand mit einer hölzernen Keule bewaffnet. Als jemand 
aus dem Dorfe eine Dogge auf fie losließ, erwartete fie das 
Thier feften Fußes und verfeßte ihm, als es auf fie zuſtürzte, 
einen fo Heftigen Schlag auf den Kopf, daß das Thier todt zu 
ihren Füßen ſanl. 

Vol Freude über ihren Sieg warf fie ſich mehrmals auf 
den Körper des Hundes. Darauf ſuchte fie eine Thür zu öffnen, 
ing aber, da ihr dies nicht gelang, auf das Feld zur Seite des 
Fluſſes zurüd, bejtieg einen Baum und ſchlief Hier ruhig ein. Durch 
eine Frau wurde fie danadı vom Baume herabgelodt und gerieth 
fo in die Gefangenſchaft der Dorfbewohner. Als fie in die Küche 
eines bier befindlichen Schloffes gebracht wurde, fielen ihre Blicke 
auf einiges Geflügel, welches der Koch zubereitet. Sie warf 
fi mit Lebhaftigkeit und Begier auf dasjelbe und begann es 
fofort zu verzehren. Ein ihr mit der Haut gegebene: Kaninchen 
Rn fie ebenfalls hinunter. 

Wie fpätere Beobachtung erwies, war da3 Mädchen äußerjt 
geſchickt im Klettern auf den Bäumen; es hatte einen eigenartigen 
gleitenden Gang, war aber dabei fo behend, daß es ihm gelang, 
das Wild im Laufe zu haſchen. Ebenſo geichidt war es im 
Tauchen und im Fangen der Fiſche und Fröſche, die es roh verzehrte. 

Fräulein „Le Blanc“, wie das Mädchen fpäter gemannt 
wurde, erwies fich bildungsfähig, erlernte die franzöfiihe Sprache 
und wurde Nonne. Aber nur mit großer Mühe gelang es, ihr 
den Genuß von rohem blutigen Fleiſch, ſowie von Blättern, 
| Zweigen und Wurzeln abzugewöhnen. Noch zwei Jahre nadı 

ihrer Einfangung Hatte fie die Neigung, den Fiſch im Maffer zu 
fangen, nicht verloren. 

Bir verzichten darauf, weitere Beifpiele anzuführen. Die 
Wildlinge, von denen einige, wie z. B. der „wilde Peter von 
Hameln“, der damaligen gelehrten art Stoff zu vielfachen Unter: 
ſuchungen boten, find, wie jedermann zugeben muß, durchaus 

‚ abnorme Erfheinungen. Die Geſchichte fennt nur 16 derartige 
Fälle und dabei muß noch im Betracht gezogen werden, daß in 
diefen Schilderungen Wahrheit und Dichtung wicht mehr von 
einander zu trennen find. 

Für den Pſychologen find diefe Fälle äußerſt wichtig, aber 
fein ernfter Foricher der Gegenwart würde ſich veranlaßt finden, 
dieſe Menſchen, von denen man nicht einmal weiß, ob fie geiftes- 
frant waren, als eine Rafje oder Menſchenart Hinzuftellen. 

Der Menſch iſt nicht für die Einfamkeit geboren; löſt man 
' ihn los don dem Verbande der Gejellfchaft, fo muß er zu Grunde 
| gehen, wie eine Biene, die fi) von ihrem Schwarm getrennt Hat. 

Die heutige Wiſſenſchaft fennt feine „wilden“ Menſchen; 
ſelbſt bei den roheften Stämmen findet fie Zeichen der Kultur 

und Gefittung, die zwiſchen dem Menſchen und dem Thiere cine 
‚ tiefe Kluft wahrnehmen Iniien, 





Der Tehrer als Wächter der Gefundbeit. 
Bon Dr. med. Taube. 
IV. 


D Lehrer ſoll nicht furiren, aber er muß einen Einblid in 
das Weſen gewiſſer Kranlheitsgruppen befiten, um die be» 
ftehenden Schulgeſehe richtig zur Ausführung zu bringen. Es betrifft 
dieſes bejonders die anftedenden Hinderkrankheiten, teren Haupt: 
verbreitung durch die Schule geſchieht. Die Mehrzahl diefer Sran- 
heiten überträgt ſich ſchon in ihrem Vorſtadium, zu einer Zeit, 


in welcher die Haupterſcheinungen derſelben noch nicht zu Tage ge» | 


treten find, auf andere Kinder; nur geringe Beſchwerden find vor— 


handen, welche die Eltern jedoch nicht veranlafien, das Kind im Haufe | 


zuüdzubehalten. Zeigte ſich auch am Abende etwas Fieber, fü 


erniedrigt ſich dasſelbe am Morgen, das Kind fühlt fid) Träftiger 
und begiebt ji zur Schule. Während des Vormittags fteigert 
fi) aber das Fieber wieder, das Kind llagt über Kopfſchmerzen 
und Froſt, der Lchrer erkennt die erhöhte Eigenwärme an dem ge: 
rötheten Geficht und kann fie auch Leicht durch den eingeſchobenen 
Singer am unteren Halstheil fühlen. Der Buls, welder am 
unteren Ende der Daumenfeite des Unterarmes innen neben dem 
| Knochen leicht zu finden iſt, Schlägt Schneller als im gefunden 

Zuftande, Wenn auch die Urfache nur in einem einfachen Schnupfen 
beruhen kann, fo ift doch Vorſicht ſchon wegen der Nachbarn 


o 


geboten. Ein ficberndes Kind bat die Schule zu verlajjen; vorher 
werfe aber der Lehrer einen Blick in deſſen Hals. Er ummidele 


mit dem Bipfel des dem Kinde gehörigen Taſchentuches feinen | 


Zeigefinger und drüde die Junge im weitgeöffneten Munde nad) 
unten. Bei vielen lindern, befonders wenn fie zu Haufe qut 
angelerut find, läßt ſich ohne jedes Nicderdrüden der Zunge der 
Hals leicht überfehen. 

Im Hintergrunde des Mundes hängt der weiche Gaumen 
als ein rother Vorhang herab, in feiner Mitte befindet fich ein 
fleinee Anſatz, das Zäpfchen. 


enthalten: die Mandeln; Hinter ihnen liegt der harte Gaumen. 
Zeigen biefe Gebilde ein gleichmäßiges, ſchwach geröthetes Anfehen, 


876 


Rechts und linls theilt er fich in | 
zwei Falten, welche zwei rundliche, mit Gruben verfehene Gebilde 


| Heinen gerötheten Stippchen, zuerſt an ber Bruft und ben Ges 
lenken zu bemerken. 

Eine andere Erſcheinung bei einigen anftedenden Krankheiten 
ift der Huften. Demjelben iſt Bedeutung beizulegen, falls Mafern- 
und Keuchhuftenepidemien im Orte aufgetreten find. Während 
| der erften 8 bis 14 Tage iſt der Huflen des Keuchhuſtens rein 
fatarchalifcher Art, erſt dann beginnen ſich die befannten Anfälle 
mit langgezogenem pfeifenden Einathinen, nachfolgendem rudweifen 
Ausatdmen und fhliehlihem Herauswürgen eines zähen Schleimes 
anzufügen. Bei jedem Huften, welcher eine längere Zeitdauer in 
Anfpruch nimmt und wo die Kinder beim Huften felbft ein geröthetes 
| Geficht zeigen, ift ein Ausſchluß vom Schulbejuche berechtigt. Der 
' Huften vor dem Ausbruche der Mafern ijt em kurzer Reizhuſten 





h "er 


a ME ETTE NETTE — 


Schlemmer und Bettler. 


fo it Hier micht der Grund der Erkrankung zu fuchen Die 
Mandeln find der gewöhnliche Anfangsfig von croupöfer Mandel: 
entzändung und Diphtherie; in der größten Anzahl der Fälle iſt 
das Kind mit dem Beginne diefer Krankheiten in der Schule ge: 
weſen. Die Nöthung und Schwellung braucht feinen großen Umfang 
dabei zu erreichen; bei genanerer Betrachtung ficht man aber 
eine Anzahl der Mandelgruben weißlich gefärbt, gelb-weiße Striche 
und Flede heben fih von der rothen Unterfläche deutlich ab. Des 
Kind klagt über Halsihmerzen, das Sprechen hat einen Nafenton. 
Findet der Lehrer einen ſolchen Zuftand, dann find micht nur die 
Eltern des kranken Kindes, ſondern aud) die der nächſtſihzenden 





Nach dem Delgemälde von C. Arnold, 


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mit rauhem Beilfang; ſtarler Schnupfen und Wugenentzündung 
find neben ihm vorhanden. An dem Tage, nach welchem ſich die 
linfengroßen roten Stellen auf dem Körper entwideln, zeigt ber 


| weiche Gaumen ſchon umichriebene rothe Flecke, durch welche der 


Berdacht der fommenden Mafern verjtärkt werden kann. Unſchäd— 
liche, aber gleichfalls anſteckende Erkrankungen find die Spihpoden 


und Nötheln. Bei den Spigpoden bededen den Körper mehr oder 


Kinder zu benachrichtigen, um die Weiterverbreitung möglichit zu | 


verhindern. Es find nur Anfangseriheinungen, welde möglicher: 
weije nicht weiter führen, doch iſt bei der jehigen Verbreitung 
der Halstrankheiten Vorſicht nothwendig. 

Als Nachtrankheit von Diphtherie ericheint micht felten nad) 
Wochen eine Lähmung der Yugenmusfulatur, welche ſich in 
Doppelſehen und fchlechtem Erkennen der Buchſtaben äußert. 

Eine jtarfe Entzündung des Halfes mit hocdhgradiger Röthung 
zeigen auch die Kinder in der Entwidelung des Scharladhs, wann | 
gleichfalls die Schule oft noch beſucht wird. Auch hier ift Fieber 


und mandjmal ſchon der Beginn des Ausſchlages, bejtehend im | 


weniger zahlreiche waſſerhelle Bläschen, bei den Nötheln cin den 
Mofern, felten dem Scarlad ähnlicher Ausichlag mit fehr ge- 
ringem Fieber im Beginne. — Bon den Spigpoden vollftändig 
verichieden find die wahren Boden, deren Anfangserfheinungen, 
Kopf: und Kreuzſchmerz, hohes Fieber, Brechen, meiftens fo heftig 
auftreten, daß der Schulbefuch ſchon im Vorftadium unterbleibt; 
das Gleiche ijt mit dem in einigen Gegenden nicht felten vor 
fommenden äußerjt anjtedenden Fledtyphus der Fall. 

Schr gefahrlos und verbreitet iſt der anſteckende Ziegenpeter 
oder Mumps, die Entzündung der Ohrfpeicheldräje. Hinter und vor 
dem Ohre bildet fi) eine ſchmerzhafte nleihmäßige Anfchrwellung, 
welche dem Geſicht das befannte Lächerliche Ausſehen verleiht. 

Die Zeit, welche diefe Krankheiten von dem Momente der 
Anſtedung an bi3 zu ihrem vollftändigen Ausbruche gebrauchen, iſt 
verſchieden. Bei Diphtherie und Scharlach genügen zwei Tage, 


— — — 





Der neue grohe Dampſſtrahn auf dem Affa -Qual in Hamburg. 


Allers. 


8 
* 


tzeichnung von C. % 


Trigina 


878 


0 — 


die Maſern zeigen den feſtſtehendſten Termin: bei einem Schul- | Eindrudes auf die Mitſchüler. Das Gleiche gilt von dem Veits— 
finde, weldyes von feinen Nachbarn angeftekt wurde, ericheint | tanz, denn hier liegt bejonders bei Mäbchen die Gefahr der Nach— 
14 bis 16 Tage fpäter der Ausſchlag, nachdem mehrere Tage 
vorher die oben gefchilderten Katarrhe ſich bemerkbar machten. | 


Scharlach und Diphtherie Übertragen ſich nicht nur vor dem 
Ausbruch, fondern bis ficher ſechs Wochen nachher, während die 
Mafern befonders vor und während des Ausſchlages die Haupt: 
anftedung darbieten. Kinder, deren Haut, befonders an den Händen, 
ſich nach Scharlach noch abſchuppt, find nicht in die Schule 
zu laſſen. Die Empfänglichkeit iſt verfchieden. Die Neigung zu 
Majern ijt eine fait allgemeine, etwas weniger zu den Boden; von 


Scharlach und Diphtherie wird ſchon eine größere Anzahl Kinder nicht | 
ergriffen. Die Majern übertragen ſich faſt nur von dem franfen Rinde 


ummittelbar auf das gefunde, während bei Roden, Scharlad und 


Diphtherie Kleider und Gegenftände, mit denen der Exfrankte in 


Berührung gekommen ijt, die Weiterverbreitung vermitteln können. 

Auf diefe Verhältniffe gründen ſich die Schulgefege der 
Neuzeit zur Beſchränkung der anſteckenden Kinderkrankheiten. Die: 
felben Tauten im Auszug: „Der Schulbeſuch iſt an Mafern 
erkrankten Kindern vier Wochen, Kindern, welde von Scharlach, 
Diphiherie und Vocken befallen wurden, Sechs Wochen nicht ge— 
jtattet. Alle fchufpflichtigen Kinder aus folhen Wohnungen haben 
durch ein ärztliches Zeugniß nachzuweiſen, daß fie die Anſtedung 


nicht übertragen, ſonſt müſſen fie die gleiche Zeit die Schule 


meiden.“ Bei Mafern Hat, wie wir fahen, der Beſuch der Schule 


von Geihwiftern, wenn jie felbjt die Krankheiten überjtanden | 


haben, feine Gefahr, und mit Recht fordern aud) neuerdings einige 
Städte dann Feine ärztlichen Zeugniſſe; der größte Nachteil für 
die Schule kann aber bei Scharlady und Diphtherie ſowie Poden 
erwachſen und bei richtigen Fällen ſollten die Geſchwiſter vor 
Ablauf der geſetzlichen Frift nicht zur Schule geichidt werden. 

Die Anſtedung geihieht am feltenjten durd) das Aufhalten 
in der Wohnung des Kranken, jondern entweder dadurch, daß die 
Geſchwiſter, von ganz leichten, kaum bemerkbaren Anfällen, mit 
welchen fie ausgehen können, heimgeſucht, auf gleiche Weile wie 
ein jchwerer erfranktes Kind die Anſteckung vermitteln, oder daß 
fie Bücher oder Gegenjtände der Erfrauften aus Zufall mit in 
bie Schule bereinbringen. 

Merhvürdigerweiie hat die Mehrzahl der Schulgefeße feine 
Rückſicht auf das Verhalten der Lehrer genommen, falls in ihrer 
eigenen Familie ein derartiger Krankheitsfall ausbricht. Bei 
Mafern it auch hier nur geringere Borficht anzuwenden ; Scharladı, 
Diphtherie und Poden erfordern dagegen einen Ausſchluß aus 
der Schule während ſechs Wochen; die größte Vorficht iſt außer: 
dem nothiwendig, Beſuche von Schullindern find nicht zu geitatten, 
Bücher nicht in dem Krankenzimmer zu forrigiren. Auch jollten 
die Wohnungen der Schulwärter wegen etwa vorfommender ans 
ftedender Krankheiten in der eigenen Familie einen nicht in den 
allgemeinen Sculvorjaal mündenden Eingang befigen und die 


ahmung fehr nahe, Der Lehrer erkennt diefe Krankheit durch die 
unruhigen Bewegungen des Kindes: die Musfeln des Gefichtes 
zuden, es finden fortdauernde, nicht gewollie Bewegungen ber 
Hände und Fühe ftatt, fo daß das geforderte Stillfigen und 
:Stehen troß der größten Mühe nicht zu ermöglichen ift. 

Naſenbluten kommt faſt immer von felbit zum Stillſtand; 
bei hänfigerer Wiederholung find die Eltern davon in Kenntniß zu 
fegen, weil dann der Grund zumeit in Blutarmuth und allge: 
meiner Schwäche des Kindes zu fuchen ijt. Much der häufig auf 
tretende Kopfichmerz entjteht fait immer durch Blutarmuth des 
Gehirns, nur felten kommt er durch das Gegentheil, Blutüber: 
füllung des Kopfes, zum Vorſchein. 

Dieje chroniſchen Erkrankungen des Gejammtorganismus, 
Blutarmuth, blafies Ausſehen und allgemeine Schwäde, finden 
befonders in zwei Perioden ftatt; die erfte Furz nad) dem Ein: 
tritt in die Schule ift nur von furzer Dauer umd wird bald 
überstanden. Der Lehrer bemerkt, daß das friſch und gefund in 
die Schule eingetretene Kind bläſſer und fettärmer wird, ohne 
daß dabei die Freude und Kraft zur Webeit leidet. Die Urfache 
ift in der volllommen veränderten Lebensweiſe, dem Stillfiten, 
der Klaſſenluft und der geijligen Unjtrengung zu ſuchen. Das 
Wohlbefinden der Kinder erfordert es dringend, daß ihnen in 
jeder Zwiſchenſtunde vollftändige Freiheit gelaffen und nicht, wie 
es leider manchmal geſchieht, das Verlafjen de3 Platzes verboten 
wird. — Bon größerer Wichtigkeit ijt die zweite Beriode, welche bei 
Mädchen im zwölften bis vierzehnten Jahre, bei Knaben zwifchen 
dem bierzehnien und fiebzehnten Jahre eintritt, Hier bedingen die 
Wahsthumsvorgänge die Veränderungen. Bei Mädchen tritt oft 
Bleihfuht mit Vergrößerung der Schilddrüje (Kropf) ein, bei 
Knaben äußert ſich der Zujtand weniger im Ausſehen als in der 
geiftigen Schlaffheit, welche vum Lehrer oft als Trägheit gedeutet 
wird, Die Bergleihung mit dem früheren Buftande, die größere 


geiſtige Frifche nach den Ferien, der Wechſel zwifchen qut und Schlecht 


fann den Schrer jedoch auf die richtige Urſache hinleiten, und gerade 
diefe Schüler erholen fich ſpäter vollftändig wieder und überragen 


| dann oft die ihnen früher zum Mufter vorgeftellten Mitſchüler. 


Lehrer: und Direltorialwohnungen möglichft aus dem Schulgebäube | 
entfernt werden. Grfährt der Yehrer die anftedende Krankheit eines | 


jeiner Maflenkinder, jo warne er die Kinder, ohne die Krankheit 
zu nennen, ihren Milſchüler während der nächſten Beit zu be 
ſuchen, und beobadjte die bisherigen Nachbarn des Erkranften wegen 
einer etwa jtattgefundenen Anſtechung. 

Bon fonftigen Krankheiten, die Beachtung verdienen, find 
in Kürze nur zu erwähnen die verjchiedenen anftedenden Haut: 
ausjchläge; befonders einige Flechten des behaarten Kopfes, welche 


durch einen pflanzlichen Parafiten verurfacht werden, übertragen | 


ſich in einem hohen Grade auf andere Kinder. Es ift nicht Sache 


des Lehrers, hier weitere Unterfuchungen anzuftellen, aber wegen der | 


Gefahr der Anjtedung und des Efel erregenden Ausfchlages kann 
die Fortſetzung des Schulbefuches erſt nad) der Abheilung jtattfinden. 
In diejes Gebiet wird bie Krätze mit eingejchlofen, deren fichtbare 
Zeichen nur in einem Ausichlage der Haut beruhen, weldher mit 
anderen gerade bei Kindern vorfommenden oft ſolche Aehnlichleit 
bejitt, daß der Lehrer fie nicht mit Sicherheit unterfcheiden Tann. 

Bon plöglic, auftretenden Kranlkheiten verurſachen Ohnmachten 
und Krämpfe am häufigften ein Einſchreiten jeitens bes Lehrers. 
Man lege die davon befallenen Kinder platt auf ben Boden, be- 
freie fie von beengenden Kleidungsſtücken und fprenge ihnen etwas 
tdaltes Waſſer ins Gejiht; das WUufbrechen der eingefniffenen 
Daumen ift zu unterlaffen. Defter auftretende epileptifche Krämpfe 
gebieten das Unterfaffen des Schufbefuches wegen des nachtheiligen 





Diefe frankhaften Entwidelungsvorgänge hängen mit der 
Ueberbürbungsfrage eng zufammen. Derartige Organismen find 
nicht im Stande, ihre Aufgaben in der gewöhnlichen Beit zu er: 
ledigen; jie müſſen die fpäten Abendſtunden zu Hilfe nehmen, 
wodurch der Schule Häufig der Vorwurf der Arbeitsüberhäufung 
gemacht wird. Dier ijt aber nur bie Entlaftung einzelner Schüler am 
Mage, ohne daß die Allgemeinheit viel davon berührt zu werben 
braucht. In den Volksſchulen kann von einer Ueberbürbung 
faum gefbrochen werben. In den höheren Schulen bürfte außer 
der Vermehrung der Zurnjtunden und dem geringeren Eingehen 
der Lehrer in ihre Speeialfächer eine große Abhilfe durd) die 
allgemeine Einführung eines jogenannten Stubientages für bie 
Anfertigung der häuslichen Schularbeiten, wie es ſchon an 
mehreren Schulen der Fall iſt, gefchaffen werden. Fraglich ift nur, 
ob nicht der Montag dem hierzu gewöhnlich verwendeten Sonn: 
abend vorzuziehen fei; denn es Liegt in der findlichen Natur die 
Urbeit bis auf den lebten Termin, alfo den Sonntag, zu ver 
fchieben, welcher von jeber Arbeit befreit bfeiben joll, während jie 
am Montag mit größerer Friſche die Hausarbeiten erledigen würden, 
Bon den Eltern ift zu fordern, daß jie einen ſolchen Eimblid in 
die Hausarbeiten ihrer Kinder beſitzen, um das Verſchieben der— 
felben bis zum legten Mugenblide und das dadurch hervorgerufene 
Bufammenlommen verjchiedener Arbeiten zu verhindern. 

Bon großer Bedeutung für die Schule it die Verlegung 
des Stoffes, welcher die höchſte geiſtige Thätigfeit erfordert, in die 
erjten Stunden; ich erinnere an die befannte Thatſache, dab das 
gleiche Diktat am Beginn und Schluß des Vormittags im lehteren 
Falle 25%, mehr Fehler aufwies. 

So lange es nicht möglich iſt, phyſiologiſch direlt feftzuftellen, 
tie viel Arbeit dem Gehirn in einer jeden Altersllaſſe auferlegt 
werden kann, müſſen wir den Nachtheil ins Auge fallen, welchen 
der Schulbefuh und die zu große geijtige Arbeit auf Körper und 
Gehirn ausübt, und denielben zu mindern ſuchen. Den Körper 
gefund zu erhalten, ift daher die erſte Pflicht der Schule, und der 
Lehrer Tann zur Erfüllung diejes Zwedes, wie unfere kurzen Yuss 
führungen zeigen ſollten, die fegensreichite Beihilfe entwideln. 


— 870 ⸗— 
Deutſche Städtebilder. 


Damburg. 
(Mit Illuſtrationen S. 877 und ©. 880 und 881.) 


2% der alten Freien und Hanjejtadt Hamburg ift im Monat | 


Oftober jo manches Telegramm gelommen, welches das ge- 
ſammte Deutichland intereffirte: am 15. Oftober die Nachricht vom 


Niederlagen ein wahres Grauen. Hier gilt der Spiuch: „Zeit iſt 
Geld”. Die anfommenden Seeſchiffe, namentlich die Dampfer, 


‚ müffen jo vajch twie irgend möglich entladen und wieder beladen 


vollzogenen „Zollanfchluffe”, am 18. jodann die Kunde von der Be: | 


endigung des Rachverfteuerungsgejchäftes und Herftellung des freien 
Verlehrs mit dem Zollvereinsgebiet, und endlich am 29. Oftober die 
Borfchaft von dem begeifterten Empfange, welden die Hamburger 


dem Deutfchen Kaifer bereiteten, als derjelbe unter glänzenden feier: | 


lichleiten die Schlußfteinfegung der neuen Freihafenbauten vollzog. 

„Zollanſchluß“ — diefes vor zwei Kahrzehnten in den 
Hanjeftädten gebildete Wort ift erſt im meuefter Zeit auch anders 
wo gäng und gäbe geworden. 


werden. Sofortige genaue Feitftellung des Gewichts, der Stüd- 
zahl, der Qualität ꝛc, wie ſolche die Zollämter verlangen müſſen, 
würde in vielen Fällen völlig unthunlich fein, den Wettbewerb 
mit anderen Welthandelsplätzen wie London, Antwerpen ꝛc. aufs 
bebenflichjte erichwert haben. Auch muß die Kolonialwaare oft eine 


' ganz andere Geſtalt annehmen oder ein anderes Gewand anlegen, 


Die rein ſprachliche Erklärung | 


würde lauten: „Uebergang der Stadt Hamburg aus der bisherigen | 


Freihafenitellung in die Gemeinschaft des deutichen Zollvereins— 
Inlandes, unter Beibehaltung eines Heineren, auf den Hafen und 


einige Streden am Elbufer beichränkten neuen Freihafens (Boll: 


vereind:Auslandes)“. Der Begriff aber dürfte auch jetzt noch 


wohl manchem unjerer Leſer ziemlich dunkel geblieben fein. Die | 


Geſchichte ift auch in der That verwickelt. Selbſt der deutiche 
Reichslanzler erflärte dereinft, undzwar noch lange vor dem Beginn 
des jogenannten „Zollteieges" zwiſchen der Reichsregierung einer: 
feit3 und dem Bundesſtaate Hamburg andererfeits, er habe nie 
begreifen fönnen, weshalb laut der Neichsverfaflung die Hanfeftädte 


folange in ihrer bisherigen Freibafenitellung verbleiben jollten, bis | 


fie felbjt den Anſchluß beantragen würden. 
Greifen wir die Sadje einmal vom anderen Ende an: Was 
bedeutete denn die bisherige „Freihafenſtellung“ der Hanfeftädte? 
Die Antwort Tautet: Die gefammte Wohnftadt Hamburg, 
einfchließlic des Hafens und ber Unterelbe bis ans Meer, jowie 


der Nachbarſtädte Altona und Wandsbed, bildete eine große „zoll: | 
freie Niederlage” innerhalb des Hollvereins, nach dem übrigen | 
Deutichland Hin ringsum mit Zollgrenzen umſchloſſen, aber mit | 


volljtändig freiem Berfehr (ohne jegliche zollamtliche Kontrolle) 
innerhalb diefer Schranken. Gleicher Art war die Stellung 
Bremens. Hamburg und Bremen waren, jo lautete der technifche 
Ausdruck, „Zollvereins-Ausland*. 

Aehnliche Stüde „Ausland“ giebt es freilich im Deutfchen 
Reich auch jeht noch unzählige. Alle Städte, welche überhaupt 
Handel in ausländijchen Waaren aud) mit auswärtigen Staaten 
betreiben, bedürfen hierzu der „zollfreien Niederlagen”, in welchen 
die eingebrachten Güter zunächſt unverzollt lagern, geiheilt, nad) 
Sorten geſchieden, umgepadt, oft auch bearbeitet werden fönnen, um 


dann entweder ganz zollfrei oder gegen Entrichtung eines bloßen | 


‚ fammte Wohnſtadt umfaſſenden Freihafenftellung. 





Durchgangszolles wieder ins Ausland verfendet zu werden, oder gegen 
Erlegung des Eingangszolles zum einheimiſchen Berbraud) des | 


Landes zu gelangen, bem der Freihafen ober bie „zollfreie Niederlage” 
angehört. Dieje letzteren find aber gewöhnlid) nur zur Aufnahme von 
Waaren beitimmt, faft nie dürfen fie zu Wohnzweden benutzt 


werden. In Hamburg wie in Bremen jedoch war eine ganze Wohn: | 


ſtadt in die zollfreie Niederlage mit eingejchloffen. Ein gleiches Ber: 


hältniß findet fi) Heutzutage nur nocd in Trieft und Singapore. | 


Daß 1866 auch nad) der Neuordnung der Dinge in Deutſch— 
land den Hanfeftädten diefe alte, ſozuſagen „Wohnjtadt-Freihafen- 
ſtellung“ einftweilen belaſſen und fogar dur das Grundgeſetz 
garantirt wurde, fah der Durchſchnitts-Deutſche als ein Sonder: 


recht an, welches je eher je lieber abgeſchafft werden follte: „Wes- | 


halb genieht Ihr Euren Kaffee, Euren Zucker, Euer Salz un: 
verſteuert?“ fragte er dem ihn befuchenden Hanfeaten. Diejer ant⸗ 
wortete: „Dafür zahlen wir ein Averfum an die Reichskaffe, allein für 


Hamburg etwa 5 Millionen Dark jährlich, welches ung bedeutend | 


theurer zu jtehen fommt als eine indirekte Verfteuerung unferes Be: 
darf, während die Reichslaſſe dabei noch die Erhebungskoſten erſpart.“ 

Weshalb ſchloß fih aber Hamburg nicht ſchon 1867 dem 
Zollverein an, weshalb gewährte man damals den Hamburgern 
eine fih auf die Wohnftadt erjtredende Freihafenftellung? 

Die Verhältniffe Hamburgs waren eben ganz befondere und 
eigenartige, Das „nordijche Venedig“, mitteljt der Elbarme und 
der Flüſſe Alfter und Bille von einem Kanalnetz durchzogen, an 
welchem die meijten Waarenfpeicher liegen, heate gegenüber einer 
HZollabfertigung im Hafen und einer Zollfontrolle der zollfreien 





ehe fie in das Inland verkauft wird. So z. B. ift das „Stürzen” 
(eigenartiges Sortiren) des Kaffees eine Specialität der Hamburger 
„Duartiersfeute”, einer Art Werkführer der Speicherarbeiten. 

Biel Gewicht Tegten die Hamburger aud) auf ihre umfang: 
reihe „Export⸗Induſtrie“, weldye jich in der Freihafen-Wohnftadt 
entwitlelt Hatte: Sprit-Rektififations-Anftalten, mit Hefefabrifation 
verbundene Kornbrennereien, Schmalz-Raffinerien, Reisihäfmühfen, 
Erportichlächtereien (ein einziges Etabliffement dieſer Art bringt 
in befebtefter Jahreszeit täglich taufend Schweine vom Leben zum 
Tode und verarbeitet fie weſentlich zu Schiffsproviant), und eine 
Reihe ähnlicher Betriebe lonnte ihrer befonderen Eigenart halber 
nur im Freihafen beftehen. 

Aus diefen Gründen wünſchten damals die Hamburger fo- 
wohl wie die Bremer (bei denen die Verhältniſſe jo ziemlich 
die jelben waren wie in Hamburg) die Beibehaltung der die ges 
Der Wunſch 
ward gewährt, und die beiden Städte befanden ſich im „Bollaus- 
lande“ jo wohl, daß ihrerſeits aus eigenem Antriebe wohl nie 
der Antrag auf „Zollanſchluß“ geitellt worden wäre. 

Zwar tauchten ſchon damals Zollanſchlußvorſchlage in Ham: 
burg wie in Bremen ſelbſt auf. Daß mancher in einer Freihafen: 
Bohnftadt anfäffige Induſtrielle und Handwerker von feiner 
natürlichen Kundſchaft in dem die Stadt umgebenden Lande durch 
Zollſchranken abgeiperrt wird, Tiegt auf der Hand und muß ftets 
ein erheblicher Nachtheil derartiger Ausnahmeftellungen fein. Auch 
eine Anzahl hamburgiicher Großlaufleute und Kleinhändler, welche 
zollvereinsländifche MWaaren führten und in der Umgebung ber 
Stadt ihren Kundenkreis fuchten, waren mit dem Nothbehelf der 
ihnen gewährten „Zollvereinsniederlage” (ein Stüd Bollvereins- 
inland innerhalb des Freihafens, 1871 in ber „Ghartenlaube* 
des Näheren bejchrieben) nicht völlig zufrieden. Die große Mehr- 
zahl der Benöfferung, in erjter Linie die ſehr einflußreichen 
Einfuhrhändfer und Schiffärheder, war entjchieden gegen alle 
Zollanſchlußpläne eingenommen, und felbjt die Mehrheit der 
Hamburger Handwerker ftand entfchieden auf Seite der „Freihäfler”. 

Die Minderheit, „die Zollanſchlüßler“, wandte fid) jedoch an 
den Fürften Bismard, und aud aus dem Zollvereinsinlande mahnten 
zahlreiche Stimmen den Reichslanzler doch die Hanjeftädte zur 
Beantragung des Anfchluffes zu betvegen. Deutſche Kabrifanten 
Hagten, daß Hamburg ımd Bremen „Einfallsthore der englischen 
Induſtrie“ feien. Auch ward Gewicht darauf gelegt, daß der Ein- 
tritt der Hanjeftädte in den Hollverein die Zahl der Kunden der 
deutichen Induſtrie um 800 000 Köpfe vermehren würde. Der Um: 
Schwung der deutichen Wirthichaftspofitit 1879, beziv. die Erhöhung 
der Schußzölle und die Vermehrung der Bofitionen des Zolltarifs 
ließ fodann die Lage derjenigen Einwohner der Hanfeftädte, 
welche duch die Freihafenſtellung benadhtheiligt waren, mod) 
fritifcher werden. Ihre Vorftellungen im Reichskanzleramte fanden 
Gehör, und nad verjdiedenen fanften Anſtößen erfolgte eine emit- 
liche Aufforderung des Reichskanzlers an die Hanfeftädte zum 
Eintritt in den Hollverband. Hamburg verhielt ſich entichieden 
abfehnend, der „Zollkrieg“ ward eröffnet, und es begannen die 


‚ fogenannten „Brefiionen“ feitens der Reichsregierung: die preußischen 


Städte Altona und Wandsbed follten vom „Jollauslande“ abgetrennt 
und unter Ziehung von !Zollichranten gegenüber Hamburg dem 
Zollverein angeichloflen werden; ein Gleiches beantragte Preußen 
auch beim Bundesrathe mit Bezug auf die hamburgiſche Vorjtadt 
St. Pauli, unter Iebhaftem Proteft Hamburgs. Die Unterelbe 
ward im den Sollverein gezogen, die Hauptzollämter in Hamburg 
wurden aufgehoben — das war der „Jollkrieg“, der zum Glüd 
fein Blut, wohl aber viel Tinte und Druderihwärze foftete! 








Bilder aus Dambura 


1, Sartoffelewer im Fleet. 2, Vierländerin am Jungfernſtieg. 3. Wer beim chat. 4. Yoorr 
10, Auswandererzug. 11. Fleet. 12. Nez 





Driginalzeichnung von C. W. Allers, 


hauen am Mehberg. 6. Im Millerntbor, 7, Quartiersmanı, 8, Sciffsjunge. 9, Kaffeematler, 
under, 13. Am Safen, 14. An der Niiter, 





Den Hamburgern war hierbei feineswegs wohl zu Muthe; 
fie jehnten ſich nach einem annehmbaren Friedensſchluſſe, und der 
Senat pflog eingehende Unterhandlungen mit dem Reichslanzler. 
Die Freihafenitellung in ihrem bisherigen, die Wohnſtadt ein— 
ichließenden Umfange aufzugeben, erflärte fih Hamburg bereit, ein 
für die Bedürfniſſe des Welthandelsbetriebes ausreichender Raum 


würde genügen können; freilich mußten die Koſter der Ummwälzung | 


der gejammten ftädtifchen VBerhäftniffe ungeheuer und für Hamburg 
allein unerſchwinglich fein. 

Da gab denn feinerjeits Fürſt Bismarck mit gewohnter 
Dffenheit die Erllärung ab, daß feine Freigiebigfeit Hamburg in 
Erftaumen fegen werde, und dies traf ein. Hamburg erhielt die 
Zuſage, daß der Hafen nebſt angrenzenden Gebietstheilen, im ganzen 
etwa TOO Heltaren Sand» und 300 Heltaren Waflerflähe, nad 


wie vor in völliger Freihafenſtellung ohne jegliche Zolffontrolle 


(außer ber Zollbewachung von außen) verbfeiben folle und daſelbſt 


auch die Erportinduftrie unverändert betrieben werben dürfe. Da 
aber ein nicht geringer, von etwa 19000 Menſchen bewohnter 
Theil der inneren Stadt der Abbruchshacke verfallen mußte, um 
für die anzulegenden Speicher und Kanäle des neuen Freihafens 
Raum zu ſchaffen, gewährte das Reich einen Zuſchuß der Hälfte 
der hierdurch erwachjenden Kojten, bis zum Höchſtbetrage von 


40 Millionen Darf. Hamburg war in der That erftaunt, ja jo | 
freudig überrafcht, daß in der denkwürdigen VBürgerihaftsfigung | 


vom 15. Juni 1881 die vom Senate vorgelegte Zollanfchluß: 
vereinbarung mit dem Reiche fofort angenommen wurde; die 
Mehrheit betrug 106 gegen 46 Stimmen. 

So fhritt man denn frischen Muthes an die ungeheure 
Umwälzung, für welde ein Zeitraum von fieben Fahren, aufs 
fnappfte berechnet, aewährt worden war und auch gerade ausreichte, 
obgleich fie ſich noch weit umfaſſender geftaltete, als man je geahnt 
halte. Hamburg verausgabte für die abzubrechenden Häufer, fowie 
für die Neuanlequng von Lands und Wafferftraßen, von Brüden, 
Krähnen, Zollgebäuden, Pontons, Quais ꝛc. das runde Sümmchen 
von 120 Millionen Mark, fodaß der Reichszuſchuß voll und 
ganz in Unfpruch genommen werden fonnte. 


artigjter Weije wahrhaft impojant angelegt, hat die „Freihafen- 
Lagerhaus⸗Geſellſchaft“ für eigene Rechnung erbaut. Auch eine 
nene Elbbrüde für Wagen» und Pferdebahnverfehr ward neben der 


beitehenden, welche der Venloer Eifenbahnlinie dient, über den Strom | 


geichlagen (vergl. Halbheit 1 diefes Jahrg, welches aud) eine Ab— 
bildung der Brücke enthält), Ein neuer Elbarm ward gegraben, der 
fog. „Zollkanal“, 45 bis 60 Meter breit, welcher als zollinländifcher 
Waſſerweg von der zollangeichloifenen Unterelbe um das Reſichen 
Freihafenelbe herum nach der Oberelbe führt; er erhielt, wie das 
gefammte neue Freihafenviertel nördlich der Elbe, efeftriiche Be- 
leuchtung. Durch diejen Zollkanal iſt auch der frühere Hamburger 
Segelichiifhafen, deſſen Maftenwald wohl jeder Beſucher Hamburgs 
bewundert hat, völlig verdrängt worden; er hat am jenfeitigen 
Elbufer in vergrößerter und verichönerter Art (ſechs Reihen Ser 
kolofie Liegen neben einander) fein neues Heim erhalten. Daneben 
findet man noch eine ganze Reihe neuer Häfen für afiatifche, 
amerifanische, afrifanische Dampfer, für Flußſchiffe, für Petroleum 
fahrzeuge zc., ſämmtlich umgeben von langgejtreften Quais mit 
Lagerſchuppen und Zollabfertigungsgebäuden (Hamburg, welchem 
auch die einene Hollverwaltung übertragen wurde, Hat mehrere 
taufend Zollbenmte und Zollwächter angeftellt, welche etwa 30 
Zollſtellen zugetheilt find, bezw. die Zolldampfbarkaſſen auf dem 
Strom befegen und die Landzollgrenze bewachen), ferner zahlreiche 
eiferne oder fleineme Brücken, erftere zum Theil mit Drehvor— 
richtung, um Seeſchiffe durchzulafien, eine große fombinirte hi— 
drauliſche und elektriſche Centralſtation (das Prudwajler der 
hydrauliſchen Anlagen wird nach fertiagebauter Speicheranlage 
260 Winden, 50 Aufzüge und 36 Zolllanalfrähne treiben) — 
ſodann Hocdrudhydranten zur Löſchung etwaiger Feuersbrünſte, 
wenn auch zum Schutze gegen Feuersgefahr alles Mögliche gethan 
iſt; die Speicher find fämmtlich von Eifen und Stein erbaut. 
Der neue große Dampfkrahn auf dem Aſia-Quai (f. S. 877) ift 
der größte Hebefrahn der Welt, 
und jeine Tragkraft 150 Tons, aljo 3000 Genmmer. Der als 
Gegengewicht dienende Ballaftfaften ift mit 5000 Centnern Sand 
gefüllt. Der Ktrahn dient dazu, befonders ſchwere Laſten wie 


Darin Find die | 
neuen Speicher noch gar nicht einbegriffen, denn diefe, in großes | 


Seine Höhe beträgt 32 Meter | 


Riejengeichüße, Lolomotiven ze. direft aus den Eijenbahnmagen | 


2. : 


in die Schiffe und umgelehrt zu Heben. Seine Aufſtellung er- 
‚ folgte 1887. — Doc genug der Aufzählung, welche nur einiges 
ı Hervorragende erwähnt, auf Vollſtändigkeit nicht entfernt Anspruch 
macht! Alles in allem genommen, hat jid) Hamburg „an de Water: 
‚ fant”, wie der plattdeutiche Musdrud lautet, alfo an den Elbufern, 
‚ feit 1891 derart verändert, daß es gar nicht wiederzuerfennen it. 
Die gemäß den obigen Ziffern verbleibende Belaftung der 
hamburgiſchen Staatstafje mit SO Millionen Mark bereitet freilich 
‚ den Vätern der Stadt manchmal trübe Nugenblide. Sie haben das 
' Geld auf dem Anfeihewege beichafft, und zwar zu billigen Binfen, 
troßdem der Heine Staat bereit3 vorher eine Schuldenlaſt von 200 
Millionen Mark auf dem Nücden hatte, zum Theil noch aus ber 
Franzofenzeit jtammend und vom großen Brande 1842 herrührend; 
der Kredit der alten Hanfeftadt ijt, wie man fieht, ein quier. 

Und weshalb hat das Reich den Zuſchuß von 40 Millionen 
Mart zu den Hamburger Bollanihlugbauten bewilligt? Wir 
wollen bier nicht von den nationalen Geſichtspunkten reden; ber 
Artikel der deutſchen Neichsverfaffung: „Deutichland bildet ein 
Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von gemeinihaftlicher Zoll: 
grenze*, ift jegt exit zur Wahrheit geworden. Andererjeit3 mußte 
aber auc im mwohlverjtandenen materiellen Anterejie den beiden 
‘ Hanfeftädten durch das Fortbeſtehen geräumiger Freihäfen die 
Grundlage ihrer Eriftenz erhalten bleiben. Auch Alldentichlands 
Vortheil iſt es, daß Hamburg jetzt einen Hafen befißt, der es 
mit den erften der Welt aufnehmen kann und hinſichtlich der 
Größe und der praltiſchen Einrichtung feiner faufmännifchen Ans 
‚ lage nicht vor Antwerpen und andern fremden Wettbewerbern 
zurüclzutreten braucht. Die Hanjeftädte können nunmehr in noch 
erheblicherem Umfange als bisher die Vermittler für die gefammte 
deutjche Ausfuhr nad den Abfahplägen jenfeit des Oceans 
werden. Die Hamburger Kauflente haben einſehen gelernt, 
was der deutiche Gewerbejleiß leiſten kann, und andererjeits ents 
deden die deutichen Fabrilanten nachgerade den Nußen, welden 
die Verbindung zwifchen deuticher Anduftrie und deutſchem Mus» 
fuhrhandel ihnen zu gewähren im Stande if. — — 

Die großen Beränderungen im Aeußeren und in den Ein: 
richtungen der Stadt werden fid) bald auch in dem täglichen Leben 
| und Treiben bemerfbar madıen, und wie ganze Straßen ver: 
ſchwunden und nur nody auf den alten Stadtplänen zu finden 
find, fo wird in nicht zu ferner Zeit wohl auch mande eigen: 
artige Erfheinung aus dem Verkehrs: und Straßenleben den 
ungeheuren Umwälzungen der Neuzeit zum Opfer gefallen fein 
und fortleben nur in der Erinnerung derer, welche über dem 
neuen Hamburg doch des alten nicht vergeflen fünnen. Und in 
der That bot das Leben im bisherigen Hamburg des Anziehenden 
jo unendlich viel, geftaltete es ſich jo eigenartig, daß es lohnend er= 
icheint, dabei zu verweilen und noch einmal das ganze interefjante 
Bild feitzuhalten, che es von einer neuen Generation verwiſcht 
oder doch bis zur Unfenntlichleit umgejtaltet wird. 

Mit Pindars Wort, dat Waſſer das Beſte jei, befindet ſich 
bie große Mehrzahl der Hamburger in unbewußter Ueberein- 
ftimmung, freilich nicht foweit das Trinfen der aus der Efbe 
geichöpften ſchmutzig Ichmgelben Flüſſigleit, weiche die ſtädtiſche 
„Waſſerkunſt“ Liefert, in Frage fonımt; jelbe fann nach der jejten 
Ueberzeugung zahlreicher ihrer Konjumenten überhaupt nicht ge— 
noſſen werden, ehe fie nicht durch HYulag von Rum und Buder 
die liebliche Form „Grog” angenommen hat, Nein, das fo- 
genannte feuchte Element hat eine andere Beftimmung, und diefe 
dem Hamburger Kar werden zu fallen, bedarf es feiner Handels: 
ichufen, welche Inſtitute es auch, nebenbei gejagt, jehr bezeichnender- 
weile in Hamburg gar nicht giebt, wofelbjt die Unterweifung im 
Merfursdienfte auf jo mannigfache Art praktiich vor ſich acht, 
daß die Theorie fait gänzlich verſchmäht zu werden pflegt. „Der 
Waſſerweg dient der Waarenbeförderung auf billigere Weile als 
der Laundweg.“ Die Folgerung hieraus weiß nicht nur der Huge 
Groffaufmann zu ziehen; aud die einfachite Frau aus dem 
Bolfe in der beicheidenen Arbeiterwobnung der Hanfeftadt hordht 
hoch auf, wenn früh morgens vor ihrem Fenſier eine gewaltige 
Stimme erſchallt, welche die Ankunft eines Kartoffelewers 
im Fleet anfündigt. Wir wollen einen derartigen Ruf wörtlich 
berfegen, um zugleich unferen Leſern ein Bröbchen des hamburgiſchen 
Platideutſch zu geben: „Heurt, Lüud! — Bi de Stamatjen- 
Brügg — liggt en Schipper — heit goode Kantüffeln fiew 
Liter wintig Penn — ook witten Kohl, Zippeln, geele Wotteln — 





® o 


friſche Woar!“ Hochdeutſch: „Hört, Leute, bei der Slamatjenbrüde 
liegt ein Schiffer, hat gute Kartoffeln, fünf Liter 20 Pfennig, aud 
weißen Kohl, Zwiebeln, gelbe Wurzeln (Mohrrüben), frifche Waare!“ 

Tiefer billige Schiffer iſt der gefürchtete Konkurrent des 
„Hölers“ (Kleinhändlers), der feine Gemüfenorräthe per Achſe 


bezichen muß; die Transportvertheuerung prägt fi im Preife | 


aus, und die Arbeiterfrau legt mit Vergnügen den etwas weiteren 
Weg bis zur Landungsftelle zurück, wenn dadurch etliche Nidel 
gefpart werden können. Freilich ift der Steg zum Ewer, den auf 
unferem Bildchen (1) foeben eine dralle „Lüttmaid“ (Kleinmädchen, 
Jungemagd) überfchreitet, fo fchmal wie der Weg zur Tugend, 
und das zur Seite gejpannte dünne Tau gewährt nur eine ber 
moralifchen Beruhigung dienende Schranke. Indeſſen ein Ham— 


burger Kind fällt nicht fo Leicht ins Fleet, würde ſich aud) wenig | 


daraus machen; cine fchnelle Rettung dürfte in dieſem alle der 


daneben auf den Kaffeeſäcken figende, fein Pfeifchen anzündende 


Jüngling mittelft feines Scifferhalens bewerfjtelligen. 

Es ift ein „Ewerführer“; fo wird er genannt, obgleich er 
feine „Ewer* führt, wie der mit Kartoffeln handelnde Schiffer, 
fondern eine „Schute”, ein breites Fahrzeug mit flachem Boden, 
welches im Hafen die Waare aus dem Seeichiffe aufnimmt und 
fie alsdann nad) den an den Fleeten liegenden Speichern bringt. 
Die Fortbewegung der Schute geſchieht mittelft des vorhin er: 
wähnten Hafens („Peelhalen“), einer 18 bis 20 Fuß langen 
Stange, die der Ewerführer auf den Grund des Flußbettes an« 
fegt, um fodann, fich mit der Bruft gegen das mit einer Srüde 
verjehene andere Ende ftennmend, die Schute mit den Beinen vor: 
wärts zu fchieben. Auf diefe Weife vermag, falls nicht gerade 
die Fluth: oder Ebbejtrömung jehr ungünftig, ein einziger fräftiger 


Mann die vielleicht aus nahe an 100 Sad Kaffee bejtchende | 


Schuienladung an den Beitimmungsort zu bringen. Es ijt die 
hierdurch; begründete Billigfeit der Transportfoften ein außerordent: 
licher Vortheil, weldyen die Fleete dem Hamburger Kaufmann ge: 


währen, und beshalb wird ihnen die Eigenſchaft, zur Ebbezeit | 


nicht juft Roſenduft zu verbreiten, gern verzichen. 

Der Führer des „Peelhalens“ wird ſich der zum Schmauden 
de3 Pfeiſchens dienenden Baufe nicht lange erfreuen, denn ſchon gudt 
aus der Lule des Speichers der „Duartiersmann“ (7) heraus, 
ein jtämmiger Kumpan, als Kleid feines Standes die ſchwarze 
Jade mit jilbernen Knöpfen tragend, in ber einen Hand ben 
„Marlputt”, ein mit Farbe gefülltes Holzgefäß, zum Bezeichnen 


der Säde dienend, im der andern bie Brieftajhe mit Fradıts | 


briefen, Connofiementen und andern faufmännifchen Papieren. 


Quartiersleute, fo genannt, weil fie Genofienfhaften zu vieren | 
bilden, find Vermittler zwijchen den eigentlichen Speicherarbeitern 
und den Kaufleuten und übernehmen zu vereinbarten Sägen das | 
Löſchen“ (Entladen), Lagern, Sortiren, Verſenden ze. der ganzen | 


Ladungen und jonjtiger größerer Waarenpojten. Wer fid) als 
Theilhaber in ein Quartier einkaufen will, muß ein anſehnliches 
Stüd Geld dran wenden, außerdem mannigfache Kenntniſſe und 


Erfahrungen Hinfihtlih der Behandlung der Waare mitbringen, | 


denn e3 handelt fid) um eine Vertrauensftellung mit großer Vers 
antwortlicjfeit. Unter den Hamburger Quartiersleuten finden 
ſich zu Dugenden Gejtalten des Schlages, wie ihn Guſtav Freytag 
im Mufterroman „Soll und Haben“ als Auflader Sturm trefflich 


zeichnete, Von Wichtigkeit ift unter anderm das ſachgemäße Ent: | 
nehmen der Durchfchnittsproben aus den Waarenpartien. Hat ein | 


tüchtiger Quartiersmann dies bejchafft, jo iſt Verla auf die Reellität 


des Mufters, und im guten Glauben nimmt vom Smporteur der | 


Kaffeemakler die aus violettblauem ftarfen Papier gefertigten 


großen Düten entgegen, deren Inhalt er dem „Kommiffionär”, | 


ber „zweiten Hand“, das heißt dem nad) dem Inlande arbeitenden 
Kaufmanne, vorzulegen bejliffen iſt; in treueſter Lebenswahrheit 
hat unjer Zeichner einen ſolchen Vorgang (9) veranihaulicht. 
Der Makler it ein geplagter Mann. Treppauf treppab 
muß er laufen und rennen, den glühenden Sommerfonnenbrand 
und das winterliche Glatteis nicht ſcheuen, um die fünf Sechötel 
Prozent Courtage zu verdienen, und fo mande Probe ift nur 
„für den Hausjtand gut”, wie er fich bei Nichtanbringung ber 
Partie philofophiich tröftet, Und auch er war, als Jüngling mit 
lodigem Haac fid) dem Kaufmannsſtande widmend, wahrſcheinlich 


von dem Gedanken begeijtert, dereinft als Börfenmatador einen | 


Palajt am Blanfenefer Elbſtrand oder mindeftens eine Prachtvilla 
an ber Alfter zu befigen, als Rheder feine „Hausflagge* auf 


883 >» 


| Dugenden von Seeſchiffen hiſſen zu laſſen, mebenbei auch zum 
| Senator gewählt zu werden — jegt ift er „till auf gerettetem 
‚ Boot” in den ruhigen Hafen des Vermittlerthums getrieben und 
‚ trägt möglichenfalls gar Bedenken, auf einen Plah im erſten 
‚ Range des Stadtiheaterd zu abonniren, aud wenn er nod) fo 
viel Geld verdient (mandjer Makler ftcht fich befier als der Durch» 
ichnitt der Eigenhändler), denn „die Herren Kaufleute könnten 
das übelnchmen“, tro aller repubfifanifchen Freiheit und Gleichheit. 

Sa, ja, zu Millionären find wenige auserwählt, aber viele 
| fühlen fid) berufen — fidherlich plant auch der junge Mann, 
‚ welcher auf unferem Bildchen der Bierländerin am Jungfern- 
ſtieg (2) ein Rofennöfplein für die fonnläglic) gepußte Ladenmamfell 
‚ abkauft, welche er zum Balle auf „Mühlenfamp“ führen will, bie 
demnächſtige Erwerbung goldener Berge. Einftweilen muß er 
ſich mit fehr, ſehr beicheidenem Commisgehalt begnügen, denn die 
Zahl der aus allen Punkten der Windrofe nad) dem vermeintlichen 
Dorado der Hanfeftadt ftrebenden Handlungsgehilfen ift Legion, was 
' ein die Saläranfprüde mächtig drüdendes Sachverhältniß bedingt. 
Vielleicht verdient der junge „Gentleman“ (ein ſehr beliebter Aus: 
druck in Hamburg) beim Wakturaausftellen und Korreſpondiren 
weniger als die Tochter der Vierfande mit ihrem Blumenhandel, 
benn biefe Nachkommen der einſt von Herzog Alba vertriebenen, 
von Hamburg freundlich aufgenommenen holländiſchen Proteſtanten 
haben nicht nur ihre nationale Tracht, fondern auch ein gut Theil 
faufmännifchen Geiftes aus den Niederlanden mitgebradt und 
beides getreu zu bewahren gewußt; fie verjtehen es trefflich, für 
ihre allerdings ausgezeichnet ſchönen Blumen, Gemüfe und Früchte 
die höchſten Preife zu erzielen. Für ſolche Waare ift die reiche 
Welthanbelsftadt immer die willige Abnehmerin; aus der ganzen 
Umgegend ift das Befte für fie gerade qut genug, und baher fteht 
fie auch auf freundfchaftlichftem Fuße mit „Schleswig-Holſtein 
meerumf&hlungen“, welches ihr zweierlei VWorzüglichkeiten Liefert, 
Auftern und brauchbare Dienjtmädchen. 

Auch fie ift mit hochgefpannten Erwartungen gen Hamburg 
gepilgert, die ſchmucke Maid „aus den Herzogthümern*. Sie hat 
das ſchwalbenneſtartige Käppchen am Hinterhaupt der dortigen 
Landbewohnerinnen gern mit dem ſchmalen Tüllftreifchen vertaujcht, 
weldes auf dem Scheitel der weiblichen Dienftboten Hamburgs 
paradirt und ſeltſamerweiſe eine „Müte” genannt wird. Sie 
hat gewöhnlich zuerſt alles herrlich gefunden: hohen Lohn, leichte 

Arbeit, freundliche Behandlung, gar nicht zu vergleichen mit 
den Berhältniffen des Landftädtcdhens. Und fie brauchte nicht 
‚ lange nad) Schägen zu fuchen, fie fand fon an „ihrem“ erften 
Sonntag einen foldhen, oder „Er“ fand an ihr den „Schaf“. 
Das Dämden auf unferem Bilde (3) hat dabei nody befonderes 
Süd gehabt, denn ihre Anbeter trägt „zweierlei Tuch“, und 
dieſe hochgeſchätzte Eigenfchaft eines Köcinnenbräutigams ift vers 
hältnigmäßig felten in Hamburg, weldies nur zwei Bataillone 
Garnifon beißt. Der „Tber beim Shah“ iſt ſich ſicherlich 
feines Werthes aud voll bewußt, er darf die höchſten Uns 
ſprüche an den Speifefhranf der Herrſchaft jtellen, und letztere 
wird ſich ficherlich fo leicht nicht mit der Küchenfee erzürnen, 
| falls fie die hier als „national“ geltenden Speifen Noajtbeef, 
Beefſteak ıc., ferner „Walfuppe”, „rothe Grüße“ u. dal. m. 
ſchmachhaft zu bereiten verjtcht und dafür einen Lohn von 
300 Mark nebſt brillantem Weihnachtsgeſchenk ꝛc. nicht nur vers 
langt, nein, auch unſchwer erhält. 

„Ach, das Leben ijt theuer in Hamburg,“ fo feufzi die Heine, 
wohl aus dem „Binnenlande* ftammende Hausfrau, welche auf 
unferer Jluftration (5) in Begleitung ihres dienjtbaren Geiſtes vor 
den Körben der Fifchfrauen am Meßberg jtcht und mit innerem 
Entjegen die Breife vernimmt, welche die behäbige Händlerin für 
ihre Schelfiiche und Schollen fordert. Zum Glück läßt ſich diefer 
Preisanfag durd Dingen und Feilfchen um 30 bis 40 Prozent 
ermäßigen, was aber jelbjtverjtändfich mit höchſter Vorficht ans 
gedreht werden muß, da in Hamburg wie in andern Großſtädten 
die Fifchfrauen weniger reizender als veizbarer Natur zu fein 
pflegen. „Weshalb foll denn die Käuferin wahrſcheinlich nicht 
aus Hamburg fein?“ höre ich im Geiſte einige Leferinnen fragen. 
| Nun, aus dem einfachen Grunde, weil eine fo gut geffeibete ge— 
| borene Hamburgerin, abgefehen von ganz feltenen Ausnahmen, 
ı auf dem Markte feine Einkäufe macht. Ihr wird, wenn fie der 
gutſituirten Minderheit angehört, „alles ins Haus gebracht“, und 
| der mittlere Bürgerftand findet alles vor dem Haufe, denn ein 








Schwarm von Zwiichenhändfern kauft auf dem Markte in größeren | 


Voſten ein und fährt auf Karren oder trägt in Hörben die Waare 
durch die ganze Stadt, Art und Preis laut ausrufend. Das iſt 
bequem, aber auch etwas Loitipieliger für den Käufer; indeilen 
der Hamburger meint „Zeit it Geld“, und diejer Grundiag führt 
zum Blühen des ausgedehnteiten Zwiſchenhandels 

Auch die Fiſchfrau, die felbitveritändfich nicht etwa eine | 


Fiſchersfrau ift, kauft nicht einmal direkt vom Fiſcher. Den | 


Ewern aus Blanfenefe, Finkenwärder, Helgoland x., welche ihren 
Fang verwerthen wollen, fährt ſchon auf der Unterelbe der „Reiſen— 
köper“ (Meijefäufer) entgegen, 
ab und vertheilt Solche unter feine Kundinnen, die Fiichfrauen, fo daß 
ber Fiſcher Sofort wieder an das Auswerfen der Netze achen kann. 

Doch hat er Zeit übrig und will fein Fahrzeug, fei es nun 


eine moderne „Smad” oder eine altmodiſche „Kuff”, nad) dem : 


Hafen (13) jegeln laſſen, etwa zu Rroviantirungszweden, fo bietet ſich 


ihm ein buntes Kaleidoſtkop, eine Fülle ſtels wechielnder Bilder. Da | 


liegt ein New: Morkt: Dampfer (12) vor Anker (in Wirklichkeit „am 
Ponton vertaut“), ein ſchwimmendes Hötel, in deſſen Folofialen 
Räumen aufer der Waarenladung noch 1200 Paſſagiere Plat 


haben, die Mannichaft von einem halben Hundert Köpfen unge: | 
„lebendigen Fracht“ naht ſich dort längs | 


rechnet. Ein Theil der 
des Quais; der Auswandererzug (10), aus Bolen, Ruthenen, 
Litauern oder jonftigen langrödigen Leuten vom Djten beſtehend, 
ftrebt dem Dampfer zu, der diefe Europamüden hinüberbefördern 


wird, dorthin, wo Milch und Honig fliehen Toll, wo es nad der | 
BVerfiherung der Auswandererngenten viel billiges Sand und alle 
Tage Fleiſch geben fol. Es muß verlodende Melodei Haben, | 


dies alte Lied, denn gegenwärtig ſtrömen wieder jo viele Taniende 
nach dem fernen Wejten, daß die Hamburger Badetfahrtaciellichaft 
zu ihrer ftattlichen Flotte noch Schiffe hinzuchartern muß, um 
dem Andrang zu genügen. 


es ſelbſt Unfreiwillige giebt, Gerade wie auf unferem Bildchen 
am Millernthor (6) der Hamburger „Ronitabler” (Schugmann) 
den angeblidy Arbeit juchenden, in Wahrheit nur der edlen Fecht— 
kunjt beilifienen Stromer an dem die Handgelenfe umichlingenden 
Strick binausführt über die Grenze bis zum „Ausland“, nämlid) 


ber preußiichen Nachbarjtadt Altona, gerade jo übt jegt die nord- | 


amerifaniiche Union jtrenge Polizei und weiſt unerbitilic jämmts 
lie drüben landende „paupers“, Mittelloſe und Erwerbs— 
unfähige, zurück, fo daß die hiervon wenig erbauten Schiffäfapitäne 
fie gratis zurüdbefördern müſſen zum Elend der Heimath. 


nimmt ihnen die ganze Ladung | 


Aber aud) immer größer wird gegenz | 
über jenem Strom das Bächlern der „Nüdwanderer“, unter denen 


Doch wenden wir den Biid ab von dieſem trüben Bild; be: 
trachten wir lieber das anmutbige Rabinettftüdchen, für welches 
des Zeichner: Stift den kartoffelſchälenden Schiffsjungen (8) zu 
Vorwurf genommen hat. Ad behaupte Fühn, das trog aller 
‚ realijtiihen Auffaſſung eine tiefe Poeſie in demijelben jtedt, und 
| könnte die ſchnurrende ſchwarzweiße Geſellſchafterin des Burſchen 
zum Anknüpfungspunkte benugen, eine Phantaſie nach dem be— 
rühmten Muſter des zum Lordmayor gewählten Whittington und 
feiner Katze zu entwerfen. Nicht doch! Dieſer angehende „Jan 
Magt“ denkt ſicherlich nicht daran, Bürgermeifter von Hamburg 
zu werden, der Theergeruch feiner Umgebung it hochfahrenden 
' Plänen nicht günftig. Fall er aber, bereits ein „ſeebefahrener 
Menſch“, jetzt mach mehrjähriger Meife aus fernen Zonen heim: 
' gefehrt iſt und nad) fo langem ſteten Genuß von Salzfleiſch und 
Schiffszwiebad zum erjten Male wieder die geliebten heimiſchen 
‚ Kartoffeln ſchält, da mag er wicht nur im Worgefühl des jchönen 
‚ Augenblids ſchwelgen, in welchem der Koch zum „Bolt“ (Schiffs: 
‚ mannfchaft) den üblihen Ruf erlaflen wird: „Neil up tom 
Schaffen, innen un baben!* (Kommt her zum Eſſen, aus dem 
Schiffsraum und aus den Maften!) — da mag er aud) des 
Mütterleins gedenken, das ihn daheim erwartet, und da könnten 
feine Wimpern feucht werden. Weiter ſchweift das geiftige Auge 
des jungen Menjcen wohl kaum. Auch würde es unglaublic 
ichwer für einen hamburgiichen —— halten, in der Freien 
Stadt zum Dogenfite emporzuffimmen, ba zu gehört mehr ala Geld, 
dazu gehört „Familie“. Selbjt zum Beſitze einer Vergnügungs; 
yadht, in welcher er auf dem prächtigen Spiegel der Alfter (14) 
pfeilichnell dahinfliegen lann, wird er es ſchwerlich bringen. Er kann 
zufrieden fein, wenn ihm am Nachmittage des Lebens cin Pöſtchen 
als Lotſe (4) wintt; da darf er das jegt vor dem Steuermann 
ſorglich verborgen gehaltene Pfeifchen in Ruhe paffen und noch 
Tabak dazu fauen, in jeder Bade ein „Primchen“, und in den 
Mufepaufen des Dienjtes kann er vor dem andächtigen Publikum 
der „Jungleute“ fein „Sam ſpinnen“ von den Erlebnijfen auf 
der „langen Fabıt“. 

Dies beicheidene Los genügt ihm, auch hierfür ijt ex der 
Vaterſtadt dankbar, und deshalb ſetzt er wohl zum Schluß der Er- 
zählung den Wahlſpruch jo mancher feiner Mitbürger hinzu, der, 
aus dem urwüchſigen Platt ins Hochdentſche übertragen, lautet: 
„Kinder, das iſt gewiß, es giebt nur ein Hamburg!” — und 
\ welch waderer Deuticher er auch ift, des „Seemannslatein“ kann 
er nicht entrathen und jchliegt mit dem beliebten Worte: „Old 
Hamborg for ever!” Suftan Kopat. 





Baldemars 






Heinen Orte ange: 
fommen, hungrig, müde, 
hatte ſich Waldemar 


imbiß und deögleichen 
Trunt ſogleich zu Bett 
gelegt und die ganze 
Nacht geſund durch 
ichlaien. Dennoch war 
es ein eigenthümliches 
Gefühl, mit welchem er 
erwachte, früher, als es 
‚ zu jeinem Zwecke nöthig 
— war. Denn Befuche 
fonnte man noch nicht machen 
und zu einem Spaziergang 
auf, dem entlaublen Wall 
rings um das Städtchen war 
weder der Morgen, noch die 
Promenade“ mit der Aus: 
ſicht auf den wohlbefannten 
„Nreautberg“ einladend genug. 
Sa, er kannte jeden Höder auf dem bis obenhin in Feldquadrate cin: 
getheillen Hügelrücken, der durch Die weißbehängten Fenfterchen zu 


pät abends in dem ' 


nach einem guten Abend: | 


Brautfaßrt. ide Medte vorbehalten 


Novelleite von Infie Ludwig. 


ihm herein ſah; das narrende Hofthor wedte ihm Erinnerungen und 
' auf der Treppe, die in den Unterjtodf des Gaſthauſes „Zum weißen 
Hirſchen“ führte, wußte er genau die eine ausgetretene Stufe zu ver- 
meiden. Ihn ſelbſt fchien niemand zu erlennen, weder der grau und 
griesgrämig gewordene Wirth, noch der jung und grün gebliebene 
' Kellner. Auch fein Name, der freilich nicht zu den ungewöhnlichen 
gehörte, den er aber trogdem mit einer gewiſſen Sorgfalt in das 
Fremdenbuch eintrug, erregte feinerlei Berwunderung in den beiden 
gleihmithig daranf niederblidenden Gefichtern. Man hielt ihn 
offenbar für einen Handlungsreifenden, wie fic mitunter in das 
Städtchen kamen, um Geſchäfte mit den Meinen Kaufleuten zu 
machen, und zwar, der „Promptbeit“ der Bedienung nad, für 
einen „aus jolidem, gutem Hauſe“. 

„Um fo beijer!* dachte Waldemar, ſtrich fich durch den weichen 
Künſtlerbart und vedte feine lange, etwas läſſige Geſtalt unwilllürlich 
ſtrammer in die Höhe, Er bejahl das Frühſtück in die Fenſterniſche, 
aus welcer man die Ausjicht auf den Marftplag hatte, und warf 
fich in den tiefen und bequemen Armftuhl, der feine hundert Jahre 
und darüber in derjelben Ede ſtehen mochte. Während die Zeit 
da draußen Throne jtürzte und neue, niemals dagewejene errichtete, 
bejtand hier jedes alte Möbelitüd auf feinem angejtammten Sit 
und Erbe, Freilich: hätte man es gerüdt, jo wär's zerfallen. 

Das Schienen auch die alten Häuser auf dem Markt zu wilfen. 
Windſchief und budlig und ſich gegenfeitig aneinander haltend, wie 
fie den ziemlich großen Platz umfäumten, fo hatten fie gejtanden, 


—⸗ 885 
Nur zwei Oebäude | 


feit Waldemar fich ihrer zu entfinnen wußte. 
machten eine ftattfiche Ananahme: der Kaufladen „Zum goldnen 


Engel“ und das Haus des regierenden Herren Bürgermeijters. Bon 


einem diefer altehriwürdigen Batrizierhäufer zum andern wanderten 
die Augen Waldemar mit einem Ausdrud, der feltfam zwiſchen 
Laden, Spott und Wehmuth wechſelte. 

Ja, da fa er wirklich wieder in dem „nottverlafj'nen Nefte* 
und es war eim juft fo grämlicher Dezembermorgen, wie er ihn 


oft und oft zur heimlichen Verzweiflung und ſchließlich, vor zwölf 


Fahren, zum Davonlaufen gebradt. O Goldner Engel! Deine 
immer offene Ladenthür, deine nafien Dielen, die Erbſchaft jeder 
bäueriichen Befchuhung, dein Gemiſch von Düften — — ba 
ftehe einer mit dem Drang des Göttlichen in feiner Brujt, in 
dünnem Rod mit vorgebund'ner Schürze, und zapfe Del und wiege 
Käſe ab oder fiſche mit den verflammten Fingern einen Hering aus 
der durchaus micht „göttlichen Salzfluth“! Nachdentlich blickte 
Waldemar auf feine Hände, die weiß und ſchlank mit wohlge 
pilegten Fingernägeln nichts mehr von ihrer einftigen Mißhandlung 
verriethen; dann warf er mit dem ihm eignen kurzen Ruck den 
Kopf zurüd, als ob er damit alles Unlichfame von fich ichititelte, 
und lächelte von neuem vor ſich hin. 

Denn trotz alledem: es hatte dod) auch hier im Reich der 
Spich: und Aderbürger in jeden Lenz einmal gebuftet und ge- 
blüht, und cr war jung aewejen hier — troß alledem! Ohne 
Eltern und Gejchwifter, die er nie gefannt, dod) aber Mündel 
des Herrn Bürgermeijters und Lehrling, fpäter gar „Komimnis“ 
im erſten Materiahvaarengeichäft der Stadt, wie hätte er ſich 
nicht manchmal „fühlen“ follen? Bejonders an den freien Sonn» 
tagsnachmiltagen, wenn er den leeren Ladentiih zum Malen mit 





den ſchönen feldftgemachten Farben und ala Modell die blonde | 


Elsbeth hatte? Kaum zehn, elf Fahre zählend, blidte des ſtreugen 
Bormunds holdieliges Tüchterlein ſchon recht verftändig aus den 
biauen Augen und zierlich drehte jie den feinen Kopf, das weiße 
Hälschen hier« und dorthin, wie er es verlangte; ja! fie erröthete 
ſchier jungfräulich, wenn er ihr verficherte, fie fei allerliebſt und 
fie müſſe einft fein Bräutchen werden, 

Waldemar hatte ſich eine Cigarre angezündet, doch fie war 
falt geworden vor dem Gedankengang, der warm in ihm herauf: 
ſtieg. Ein Neifender „in Zuder und Kaffee“, der nebenbei ein 
Scwärmer für die Kunſt war, Hatte feine „Studien“ geſehen 
umd ein „bielveriprechendes Talent“ darin entdedt. Er vieth ihm, 
feine Zeit mehr zu verfäumen und auf eine Kunftafademie zu 
gehen. Da war's, was Waldemar in feinem dunflen Drang er: 
ſehnt, da war der Name für das Unausgeiprochene, was ihn 
aeauält: Kunſtalademie und Maler werden! Er wußte, wo ber 
Weg zu feinem Himmel war — und jollte ihn wicht gehen! Es 
half fein Vorſtellen, fein Bitten, Flehen; Vormund und Lehrherr 
fannten ihre „Pflicht“. 
davonzulaufen? mit Hinterlaffung feines Heinen Batererbtheils 
und, was ſchwerer won, der blonden Elsbeth! 

Eie war die einzige Bertraute feiner Flucht geweien, ja fie 
hatte ihm mit einer Schlauheit und Geſchicklichkeit dabei geholfen, 
die ihn jeßt, nach mancherfei Erfahrung in der Welt, noch wunderte. 

Wenn ich reich und berühmt geworden bin, komm’ id) und Hol’ 
Dich,” Hatte er gejagt. Er hörte noch ihr Finderhelles Lachen. 

Reich und berühmt? War er es geworden? Was gab 
ihm, nad) fu langer Zeit, das Recht, hierher zu fommen? Waldemar, 
nachdem er umgeblidt und ſich verfichert hatte, daß niemand außer 
ihm im Bimmer war, öffnete ein elegantes Tajchenbuch und nahm 


Was blieb dem Aermſten übrig, als 


eine Photographie heraus, die das Bruftbild einer ganz entzüdenden | 


jungen Dame zeigte. Eläbeth! Das Kärtchen hatte der lebten Zinfen= | 


fendung feines Bormunds beigelegen, ohne jede weitere Bemerkung, 
als die er aus dem hergebrachten Schluſſe des alljährlichen Begleit 
Ichreibeus: „rau und Tochter laſſen grüßen”, fid) heraus las. 

Es war eine Mahnung zu rechter Zeit gewejen, das hätte jeder 
in dem Blice leſen können, den Waldemar nach einer Fängeren andäd)- 
tigen Verfenfung in das Bildchen an die Zimmerdecke und dann, den 
Irrthum mertend, durch das Fenfter nach dem Simmel jandte, Durch 
den feinen Negen, der draußen unabläffig niederftäubte, flimmerte es 
weiplih. Es waren leichte Federchen und Flödchen, die auf den 
Steinen wieder auseinanderflojien, gleich verfrühten Hoffnungen der 

Menſchen. Waldemar fah nur den Schnee. Fa, fomm’ nur, Winter! 
dachte er vergnügt: „Zunggefellens Weihnacht — giebt’s wicht mehr.” 


1888 


Wer den ſtillen, menſchenleeren, feuchtumſchleierten RPlaß ar 
dieſem teübfeligen Dezembervormitlag Für den Marllplatz einer 
längjtverfunfenen Stadt gehalten hätte, der würde, wenn nicht 
früher, mit dem Schlage elf feinen Irrthum eingefehen haben. 
Denn kaum verzitierte der legte Ton der Glocke, als ſich das 
„Hauptportal“ zum „Weißen Hirſchen“ aufthat und ein moderner 
Herr in Handſchuhen, mit Hut umd elegantem Negenichirm heraus⸗ 
trat, Alsbald befebten ſich ringsum die todten Häufer, Fenſter 
fnartten und neugierige Gejichter tauchten auf, um bligartig wieder 
zu verſchwinden, ſowie der Fremde unter jeinem Schirmdad in die 
Höhe blidte. Ei guten Morgen, wertbefter Herr Kreisgerichtsamts⸗ 
aftuarius! Ahr Diener, hochverehrteſte Frau Stadtiyndifus! hätte 
Waldemar gewiß zu jeder andern Zeit mit Tandesüblicher Höflichkeit 
aegräßt. Sept kam ihm wohl der flüchtige Gedanke, wie gut ſich all 
die alten Leutchen hier gehalten hatten, aber fein Herz war nicht 
dabei, das flog den feinen Laditiefeln voraus, die Mühe hatten, fid) 
zwißchen den zahllojen Waſſeradern und Lagunen diejes Sein: 
Venedigs einen Schimmer ihres großſtadtiſchen Glanzes zu bewahren. 
Bon Schritt zu Schritt, das heißt von einem See zum anderen, 
verfolgten ihn weitaufgeriffene Nugen und Hälje, die ſich faft gefahr: 
| drohend verlängerten. Ein fremder, der nicht einmal um den Weg 
fragt! Woher er kommt? Wohin, zu wen er will? Aha! zum 
jungen Dittmann in ben Golden Engel! Nicht doch — er geht zu 
Bürgermeiiters!! Waldemar war wirklih einen Angenblid vor 
dem wohlbefannten Laden ftehen geblieben und Hatte zu dem frisch 
vergoldeten Genoſſen feiner „ſchönen Jugendjahre“ aufgejchen, Erſt 
jetzt bemerkte er, daß auch das alte Schaufenſter beſeitigt und eine 
große Spiegelſcheibe dafür eingelaſſen war. Demnach war fein 
iparfamer Prinzipal nicht mehr am Leben, Richtig! vom Pult des 
Alten, der feinen fejten Platz am Fenfter hatte, erhob ſich cine 
weitaus jüngere Geſtalt: Karl Dittmann. „Karlchen!“ hätte er fait 
laut gerufen, fo jehe erfreute ihn das Wiederſehen des runden 
jommerfprofjigen Gefichtes, der peinlicd, angefämmten jemmelblonden 
Haare und de? verlegenen Hilflojen Zuges um den Mund des quten 
Jungen, den er und Elsbeth oft achänfelt hatten. Aber der Bier: 
' zehmjährige von damals war zu einem großen, jtarfen Mann er: 
wachjen und die ſonſt fo freundlich helfen Augen hefteten fid) nach—⸗ 
denktich, ja fait finfter auf den fremden, der erſt im Weiterichreiten 
jeinen Hut zug. Was war das? Hatte ihn der junge Manu er: 
fannt? Und warum fo feindlih? Er hatte feine Zeit, darüber 
nachzudenken, denn vor ihm lag das Haus des Bürgermeijters. 
Es war fajt das einzige am ganzen Markte, an deifen Fenjtern 
lich fein Kopf gezeigt, aus dem Grunde, weil die Familie noch 
in der Tiefe der ge— - 
ränmigen Wohnjtube 
beim zweiten Früh: 
ſtück ſaß. Waldemar 
gelangte ungeſehen in 
den Hausgang, wo cr 
| fein Schuhwerk auf 
‚ einer Binjenmatte reis 
\ nigte, die ihm dieſelbe 
ſchien, auf der er jeine 
Erftlingsftiefel abge | 


— 
un 


Fi 


frapt, und feinen Ve 
Schirm ineinen Stän⸗ 2,09 * 
der ftellte, dem er mit Er  \ 
Stolz einjt feinen 4 i 
Konfirmationsregen: # 
Schirm anvertraut hat- * 

te. In der Küche hörte ee 

er dieMagd mit Koch⸗ 


E 


geſchirr hantieren und 
aus dem Bimmer 
ſchallten Stimmen, 
unter denen er die 
fette heiſere feines 
einstigen Vormundes 
unterſchied. Es war 
ihm doch ein wenin 





‚ wunderlich zu Muthe, als er an ber — Thür antlopjte, 


vielmehr Hopfen wollte. Denn in den nämlichen Moment ward fie 
aeöffnet und Kopf an Kopf, beinah zuſammenſtoßend, ftand er vor 
einer ſchlauken weiblichen Gejtalt, von welcher er zuerſt nichts 


113 


fah, als Augen — Augen, jo groß und jo erichroden in die 
feinen ftarrend und von einem fo tiefen, weichen Sammetbraun, 
wie er ſich nicht erinnerte, fie je nejehen zu haben, | 

War das — doch nein! wie hätten fich die himmliſchen 
Vergigmeinnicht in dem bewußien rojigen Geſichtchen ſo verändern 
fönnen? Ein leiſer Schrei, vielleicht nur ſeinem aufgeregten Sin ı 
vernehmbar, gab feinem Bli die Richtung in das Zimmer, und 
er fah noch eben, wie ein Köpfchen, von einer Art von Glorien⸗ 
ſchein umgeben, hinter der zunächſt gelegenen Thür verichwand. 
Das war Elsbeth. So trug fie Schon als Kind des Morgens | 
ihr in Wickeln aufgevolltes Goldhaar, das nadymittags in Locken 
niederwallte. Bor ihm aber lag ein fremdes junges Mädchen | 
anf den Knieen nnd jammelte, hochroth vor Beſchämuug, ver: | 
schiedene Gegenftände wieder in ihr Körbchen, die ihre bei dem 
merwarteten Zuſammenſtoß entfallen waren. Waldemar verinchte 
ihr zu helfen, als fie aud) ſchon aufiprang, dankte und mit einer | 
einladenden Handbewegung nach dem Zimmer flüchtig wie ein 
Reh an ihm vorüberglitt. Ein halb ärgerlihet: „Ma aber, 
Hilde!" von eimer scharfen Franenftimme nadaernfen, verjiehlte | 
ieines Zweckes, fie zu treffen, 

So blitzſchnell hatte fich die Heine Scene abgeſpielt, daß das 
behäbige Ehepaar am Tische erſt jetzt Meſſer und Gabel auf die 
Seite legte und die Häupter, die ja zugleich die Oberhänpter der 
Stadt bedenteten, majeftätiich in der Richtung nach dem offenen 
Eingang wandte. Ihr Umville, denn wenn der Hausherr über 
haupt nicht Störung Tiebte, jo am wenigiten beim Eſſen, ber- 
wandelte ſich J die äußerſte Verwunderung. Ein Fremder! Faſt 
hatte es den Anſchein, als ob die Mutter dem Beiſpiel der 
Tochter folgen und entichlüpfen wollte, denn fie war ebenfalls 
noch „unfriſirt“, doch befann fie ſich und blieb würdig figen im 
Bewußtfein ihrer tadellos „getollten“ Morgenhaube, während 
Waldemar, fid) leicht verneigend, lächelnd und mit ausgeftredten 
Händen auf die beiden zutrat. 

Die große Wiederfchens: und Erkennungsjcene — er mußte 
freilich dreimal feinen Namen nennen, ehe man ihm alaubte — | 
war vorüber und das Bürgermeijterpaar ſchien aufrichtig er: 
freut, in dem jtatllichen Meanne mit dem offenen und doch 
jo ſicher weltmänniichen Benehmen ihren einftigen Pflege: und 
Sorgenjohn zu begrüßen. Die Verzeihung für jeinen eigens 
willigen Schritt von damals war brieflich Längst erbeten und 
bewilligt, und da Waldemar jo klug (oder fo nachläſſig) ge— 
wefen war, das feine, durch Erziehungs, Lehr- und Pflege: 
gelder zufammengeidimolzene Kapital auch nach ſeiner Mündig— 
werdung — vorher hätte cr es nic herausbeldmmen — in der 
Verwallung feines Vormunds zu belaſſen, To fiel damit die einſtige 
Befürchtung, er Fünne als ein Bettler wiederfommen, im nichts 
jufammen. Sein qutes Ausichen, jeinz „noble* Kleidung — er 
hatte fi) zu dem Beſuche „Fein“ gemadyt — die Unterbrechung 
des gewohnten Einerlei, nod) dazu an einem To langweilig trüben 
Regentage, that das Uebrige: kurz! er hatte einen über Erwarten 
freundlichen Empfang. 

„Mas wird Elsbeth Tagen! Mo ijt Elsbeth?“ 
doch noch eben hier geleffen! Man rief, man ſuchte. Endlich 
fam fie, und mit ihr fam das Licht, die Sonne, cin ganzer | 
Frühlingshimmel in die düftere Stube, Selbſt der Vater machte | 
große Augen, fo intenfiv Teuchtete das wundervolle Blond der 
Yoden, die im Naden leicht zurüdgebunden waren, über dem | 
zartblauen Feſtgewand der Tochter. Er fchüttelte den Kopf und 
ihüttelte ihn and dann noch fort, als ihm die Auge Bürger: 
meifterin zuflüfterte: „Du weißt doch, welchen Mittagegaft wir 
nod) envarten.“ 

Für Waldemar bedurfte es feiner Erklärung. Er war auf: 
geſprungen. Mit der naiven Bewunderung des Naturmenſchen, 
der er geblieben, und mit der Begeifterung des echten Künſtlers, 
welcher er geworden war, trat er auf fie zu, indem er ſich faſt 
ehrfurchtsvoll vor ihr verneigte. Sie aber gab ihm erſt die eine, 





Sie hatte | 


dann auch noch die andere Hand mit einem Lächeln, das ihn | 


um feinen Net von Faſſung brachte, 

„Elsbeih! Sie find ja noch viel jchöner, als —“ 

„Als auf Ihrem Bilde,“ hatte er jagen wollen, da, feltfam! 
legte fie den Finger flüchtig an die Lippen und biinzelte unter 
den langen Wimpern fo ſchallhaft und doc; wieder ängſtlich bittend 





zu ihm auf, daß er erröthend wie ein Schulfnabe verftummte. | 
Im nächjten Migenblide twandte fie fih mit einem Scherziworte | 


BB 


an die Eltern, behauptend, daß fie Waldemar ſogleich erfannt, 
und zwar an feiner alten Art des Kopfaufwerfeus. 
wußte, wer das Bildchen in den väterlichen Brief gefchmuggelt 


Gr aber 


hatte. 


Slüdielig lachte er in ſich hinein. 
ein: 


O Eva! Eva! 

Auch Hilde ward gerufen und ihm vorneftellt: als feine 
Nachfolgerin im Amt, als Mündel. Als armes, fehle Waldemar 
für ſich hinzu, denn teoß feiner Aufregung entaing ihm nicht, in 
welcher mehr dienenden als töchterlichen Stellung das hübfche 
Mädchen fid) im Haus bewegte — anmuthig genug, wie er ſich 
ſagte, in ihrem ſchlichten grauen Hauskleid mit der vorgeftedten 
blülhenweißen Schürze! Sie war die Waiſe eines jung vers 
ftorbenen Arztes, deſſen edler äußerer Erſcheinung er ſich noch 
wohl erinnerte und von dem er wußte, daß fein Bildungsgrad 
hoch über dem der hieſigen „Hondratiorenwelt“ geftanden hatte. 
Blitzartig glaubte er auch einen Zug von geiftiger Aehnlichkeit 
in dem runden, blühenden Geficht der Tochter zu eriennen, dod) 
überwog der erſte Eindend des Sanften, Scelenvollen ı in den 
Augen Wenn fie ſich nur einmal wieder jo doll und groß 
hätten öffnen wollen, wie im Momente jener erften gegenjeitigen 
Ueberraſchung! 

Warum er dieſes fo hartnädig wünſchte mitten in der Ver: 
zauberung, die vom feiner holden Jugendliebe ausging? Ja, 
Elsbeth war eine wirkliche Schöndeit geworden, die Auffchen 
machen mußte und machen wurde, ſelbſt auf einem der berühmten 
Künftlerfefte in D. Immer entzüdter hing fein Malerange 
au diefer zu ihrer höchſten glüdlichiten Entfaltung gelangten 
Menfchenblume, und im Geiſte zug er ſchon die Linien der tadel: 
fofen Kopfform, des Profils, des stolz geichweiften Nadens, der 
aanzen herrlichen Geitalt auf Leinwand. Am liebſten hätte ex 
Schön:Elsbeth in den Arm genommen, um augenblicklich mit ihr 
zu entfliehen aus diefer ganz und gar unkünſtleriſchen Umgebung, 
diefem armjeligen Vhitifternefte, diefem — da blidte er, aus 
feinem ftürmifchen Gedankengang aufihauend, in das zu einem 
höchſt bedenklichen Fragezeichen verlängerte Geficht der Hausfrau, 
auf das „Oho!“ der hochgezogenen Augenbrauen feines künftigen 
Herrn Schwiegervaters, und er begann „fein bürgerlich“ zu 
werben, das heißt, feine „Verhältniſſe“ vor dem jpiehbürgerlichen 
Elternpaare klar zu legen. 

Dazu bedurfte es, um micht mit ber Thür ins Haus zu 
faffen, einer „diplomatifchen” Einleitung, Was war natürlicher, 
als daß er, an eine Frage feines einftigen Bormundes anfnüpfend, 
die Geſchichte des verlorenen Sohnes vom Tage feines Fortgangs 
an erzählte? Er that es, zu des Bürgermeiſters ſichtlicher Er: 
feichterung,, in durchaus humoriſtiſcher Weiſe. Man jaf hier fo 
gemüthlich um den quoßen runden Familientiſch; der Wein, ber 
einjtweilen jtatt des fetten Kalbes für ihm aufgetragen wurde, 
floß jo goldhell in die blanken Glaͤſer, und aus der Küche drang 
eine jo vielverheihiende Muſil von dumpfem Klopfen, Mörfer- 
Hivren, Pfannenſchieben, daß man gewiß nicht gern an einen ge» 
wiſſen jungen Hungerleider erinnert worden wäre So ging dem 
der ehemalige Freiſchüler ber Alademie zu D. gleichſam im 
Giertanzichritt über die fait unmenfchlichen Eutbehrungen feiner 
eriten Studienzeit hinüber, bis er nad einer feinen Panie, 
während welcher ex nachdenklich in fein volles Glas gefehen, mit 
einem unwillkürlich tiefen Athemzuge fortfuhe: „Bon da an hab’ 
ich nie mehr Noth gelitten, — der Amerikaner iſt nod jet 
nein ‚beiter Kunde.” 

Der Bürgermeijter Ichmte ſich in_jeinen Stuhl zurüd und 
ſchloß die Augen bis auf eine Heine Spalte — ein Zeichen, daß 
fein Geiſt „arbeitete”. Plöglich fuhr er auf: „Wan bat doch 
Auslagen für — rechnen wir einmal: für Leinwand, Pinſel, 
Farben —“ 

„Und Del und Terpentin,“ beſtätigte Waldemar, über deſſen 
ernſt gewordene Züge wieder ein beluſtigtes Lächeln flog. 

Weiter“ — der Bürgermeiſter zählte an den Fingern — 
„das Atelier, ein bloßer Bodenraum, nach der Beſchreibung, koſtet —“ 

Waldemar nannte cine Summe, auf die der Frager ganz 
entrüftet in die Höhe blickte. Doc ſah er wohl, dag Waldemar 
nicht log. „Für das — vermiethete ich hier mein ganzes Haus, 
Und nun: was wird für fo ein Bild gezahlt? Was zahlte da- 
mals der Herr Amerikaner?“ 

„Aweihundert Mark,” fante Waldemar erröthend, Er wollte 
etwas hinzujegen, erläutern, unterlieh es aber nad) einem Kleinen 


Erit jpäter fiel ihm 


—_ 883 


Seitenblick auf Elabeth, die an ihrem goldenen Armband nejtelte. 
‚Welch dies, häßliches, unfünjtleriiches Armband!” dachte er. 

„Mit dem Rahmen ?* 

„Mit dem Rahmen,” 

„Hm — und wie viel verfauft man jährlich folcher Bilder ?* 

Waldemar blieb ernſt, fo ſeltſam es auch um feine Augen 
und unter feinem diden Barte zwinlerte und zudte. „In einem 
Jahre mehr, im andern weniger, manchmal — gar keins,“ 
wortete ex leichthin, 

Aber ſieh'! was war das? Statt des nehofften Tächelnden 
Entaegentommens dieſer fchönen Mugen fah er jie einen Blid 
mit ihrer Mutter taufchen, der ihn ftugen machte, als ob ex einen 
innerlichen Schlag befommen hätte So raſch ſich auch die zarten 
Lider wieder jenkten, er hatte genug gejehen, wm mehr noch zu 
errathen. D Eva! Üvastochter! quoll es im ihm auf, Zum 
eritenmale fam ihm der Gedanke, wie ähnlich fich die beiden 
Frauen ſahen. Auch die Bürgermeijterin war in ihrer Jugend, 
wie man ihm oft erzählt, eine Schönheit exiten Ranges geweſen 
nnd — war eben die Frau Bürgermeijterin geworden. hr 
halbes Adyielzuden ſchien zu jagen: Armer Schluder! wird id 
doc) nicht etwa gar einbilden, daß — und das halbe Kopfſchütteln 
der Tochter Ächien zu antworten — Was? blicb vor der Hand 


nod; unenticjieden, denn wie fein Blid im Fluge vergleichend 


zwiſchen den beiden Frauenköpfen hin und her ging, traf er un 


ant⸗ 
wobei er ſchallhaft Elsbeths Augen ſuchte. 


vermuthet auf den dritten und gerade in cin jammtbrannes | 


Hugenpaar hinein, das mit dem Ausdrud eines tiefgefühlten Mit— 
leids auf ihm ruhte. Natürlich war es ſchon im nächiten Augen: 
bfid verſchwunden, Fräulein Hilde hatte mehr zu fhun, als bier 
zu Sichen und einem zuzuhören, der feiue Sache jo verfchrt an- 
fing; ihm aber blieb ein Nachnlanz, wie von etwas Himmliſchem, 
was er gefchen, eine Nachempfindung, wie von etwas Niegefanntem, 
Weichen, Warmem, das über ihn dahinſtrich wie mit Mutter: 


händen — ja, fo mußten Mutter- oder die Hände einer liebevollen 


Gattin wohlthun mitten in dem falichen Gaufeljpiel des Lebens. 

Faſt jchmerzhaft wedte ihn die Stimme des Bürgermeijters. 
„Hm“ — meinte er mit dem vergeblichen Berjuch zu fcherzen, 
„Iheint mir denn doc eine etwas allzu ideale Eriftenz zu 
fein, die man ſich ſtatt des chrenwerthen Handelsſtandes da er 
wählt hat. Hängt im der Luft, hat feinen feiten Boden. Wie 


6 — 


ergreifen und zu leulen wußte, um die Gejellichait nach und. nad) 
auf den Ton der höchiten Heiterkeit zu Stimmen! Nein! nein! das 
war nicht mehr der vulfaniich glühende Verehrer von vorhin, dieſer 
von Witz, Humor, ja Uebermuth ſprühende Genoſſe. Der Bürger 
meifter lachte Thränen, feldjt die Hausfrau lächelte voll Würde, 
und was der allgemeine Frohfinn und der gute Wein aus 
„Karlchen“ machte — es war ‚unerträglich! 

Nur eine blieb fcheinbar im ihrer Ruhe. Hilde waltete ſtill 
ihres Amtes. Ihre Augen hoben ſich nicht einmal mad) dent 
fremden Gaſte. Sie hatt: auf Seryftall und Porzellan, auf Braten, 
Sauce und Pudding zu achten, der plumpen Magd die Schüſſeln 
abzunehmen und Kerumzureichen — kaum, dab fie nur einmal 
zum Sigen fam, um mit dem Vormund auf die neue Kochmaſchine 
oder mit Karl Dittmanı anf fernere getrene — Kundſchat 
anzuftopen. Denn die Toaſte wurden immer ausgefuchter, und ver, 
außer einem, welcher noch dazu cin Fremder war, hatte eine 
Ahnung. wie viel am Poeſie und dunkler Sehnſucht hinter dieler 
reinen Mädchenſtirn verfümmeric? Waldemar Tag freilich der 
Vergleich mit feinem eigenen Jugendloſe auch am nächſten. Aber 
weldyer Unterſchied zwiichen dem, wie er es einft ertragen oder 
vielmehr nicht ertragen hatte, und der Art, wie diefes Kind mr 
ftets am feine nächſten Pflichten dachte! 

As man vom Tiſch aufitand, hatte ſich Waldemar die völlige 
Aufriedenheit der Hansfrau, das vergmügte Wohlwollen bes 
Bürgermeifters und die dankbare Freundichaft von Karl Dittmaun 
gewonnen. Wie hatte der junge, wohlfituirte Inhaber des Goldenen 
Engels ſich dieien Teichten, frohgemuthen Künſtler überhaupt als 
ernfthaften Rivalen denken fünnen? Noch niemals Hatte Elsbeih 
feine Händedrüde inniger erwidert, noch niemals Hatten ihre 
blauen Augen foldhe Flammen in fein Herz geworfen, die weder 
Wein, noch der zuleßt aufgetvagene Champagner löſchen wollten. 
Da mufte etwas anderes geſchehen, etwas großes, chvas, zu 
welchem er bei feiner angeborenen Bebächtigfeit noch nicht ge— 
fommen war — — 

Draußen neigte ſich der trübe Regentag zum Ende, drinnen 
wurden Lampen und Lichter angezündet — es ward Abend. Wer 


| lobungsabend! fagte ſich Waldemar und wunderte fid) feloft, wie 


anders, komm' ich zu dem jungen Dittmann drüben, der fchlägt | 


die Bücher auf: hier Soll, hier Haben, hier die jährliche Bilanz! 
Alles Mipp und Mar! Beiläufig: 
der Gegend.” 


wandte ſich Waldemar an feine ſchöne Nachbarin, die vor dem 
eigenthümlich feften Blick erröthete. " 

„Bah, Karlchen!“ achte fie und ſchwieg erichroden, 
in demfelben Angenblide Hopfte. 

Herein!“ 

„Ei, der Herr Nachbar!“ rief der Bürgermeiſter, und es 
war hübſch zu jehen, wie elaftiich der Heine runde Herr aus dem 
maſſiven Sorgenftuhl auffprang, mit weldiem er bis jebt ver- 
wachien ſchien. Auch die Hausfrau ging dem neuen Ankömmling 
entgegen, Nur Elsbeth blieb in Sichtlicher Unschlüffigkeit noch 
fiten. Karl Dittmanns Mugen überflogen unruhig die Scene. 
„Wenn ich ſtöre,“ ſagte er wie zögernd. 


da 08 


iſt der reichſte Mann jetzt in 


zufrieden cr das ſagke. Nur dabei ſein mochte er nicht gerade. 
Hatte er fchen vorher die wirklich herzlihe Einladung abac- 
ſchlagen, im Bürgermeifterhaufe zu logiren, fo widerftand er jeht 
den Bitten um längeres Bleiben nnd empfahl fich, indem cr 
Müdigkeit — nicht bloß vorſchützte. In gewiſſem Sinne war er 


wirklich müde. 
„Und ein ganz hübfcher, ftattlicher dazu, wie ich geſehen,“ 


„Das wäre!” polterte der Bürgermeifter — „ein geladener | 


Gaſt!“ 

Waldemar trat vor. „Wenn einer gehen müßte, wär's der 
ungeladene; doch hoffe ich, daß wir uns vertragen werden,“ ſcherzte 
er, indem er ſich dem Sohne feines ehemaligen Prinzipals in aller 
Form vorſtellte und ihm aufs Herzlichite die Hände jchüttelte. 
Es lag etwas im feiner ganzen Art und Were, was den jungen 
aufheren ungemein beruhigte, während Elsbeth mit ſeltſamen 
Empfindungen auf den Mann fab, der fich jo Leicht — zu leicht, 
fagte fie ſich zornig — in die veränderte Situation hinein fand. 
Der dedte dieſer Schein von Gleichmuth nur die innere Dual 
der Eiferiucht? 

Elsbeth ſchaule dem Treiben ihres einjtigen Vertranten mit 
wachjendem Umwillen zu. We cilig er cs hatte, die er treu— 
loſe Waldemar, der Hausfrau feinen Arm zu bieten, als man 
ſich an die Heine Feſtiafel im Nebenraum begab! Wie unbefangen 
er fie, Elsbeth, als jein vis-A-vis am Tiſch begrüßte! Und mit 


welch weltmänniicher Gewandtheit er den Faden des Geſpräches zu Stubenthür. 


Händchen einer Königin gehörten. 


„Hilde, leuchten!“ befahl der Bürgermeiiter, ald Waldemar, 
nochmals nach allen Seiten grüßend, anf die Thür zutrat. Da — 
war es nicht, als ob Elsbeth an Stelle der Geruſenen das Licht 
ergreifen und den ugendfreund geleiten wolle? Im nächiten 
Angenblicke faq die Hand — ob fie zurüidgezogen worden war? 
ob ie fich jelbit zurückgezogen hatte? — wieder vofig zart und 
lilienweiß, wie fie vorher gelegen, auf dem dunklen Boljterarm 
ihres Seſſels, Karl Dittmann flüfterte ihr etwas in das Ohr und 
beide riefen ihm ein freundliches „Auf Wiederfehen!* nad). 

„Darf ic) wiederfommen, Fräulein Hildegard ?“" fragte Walde 
mar, als beide draußen in dem langen, dunklen, nur von der 
ſchwachen Lichtflamme erhellten Hausflur ftanden. 

—— ſah ſie zu ihm auf: „Ich ſoll es Ihnen fagen, ich?“ 

„sa: Sie — allein!" Er mußte wohl ſehr deutlich, mehr 
mit dem Ton und feinem ganzen Weſen, als mit dem bloßen 
Wort geſprochen haben, denn da hatte ev, was er vorhin gewollt, 
zum dritten Mal: den vollen Augenaufſchlag Hildes. Aber wie 
verſtanden dieſe ſanften braunen Sterne auch das Lodern und 
Blißen! Die Hand, mitſammt dem Leuchter und der ganzen 
weichen, biegſamen Gejtalt des Mädchens zitterte vor innerer Er 
regung: „Herr — Herr” — fie fam in Eife nicht auf feinen 
Namen — „wie können Sie fo raſch vergeffen — und ver 
leugnen — was —“ 

„Was mid) hergeführt? Ein Bild — ein Trugbild!" unter 
brad) er fie tiefernft. „Aber Gott jei Dank! es giebt noch Echtes.” 
Und che ſie noch daran deuten fonnte, es zu hindern, hatte er 
ſchon ihrer freien Linfen fi) bemächtigt und füßte fie fo zart und 
ehrfurchtsvoll, als ob die ſchlanken, feften Arbeitsfinger dem 
In diefem Augenblick erloſch 
die Kerze. Dafür ſloß heller Lichtſchein aus der haſtig aufgeriſſenen 
„Hilde!“ rief es ungeduldig: „Leinwand! Waſſer!“ 


— 8— 


Drinnen im Zimmer war elwas geſchehen. Elsbeth hatle 
nicht allein ihr Glas zerbrochen, ſondern ſich auch noch die 
zarten Fingerchen daran verletzt. Waldemar ſchritt unbelümmert 
um das „Unglück“ mitten durch die Ueberſchwemmung auf dem 
Marktplatz nach dem „Weißen Hirſchen“. 


- 


„Das hat hart gehalten. Hilde, liebe Hilde! wie haft Du 
Dich fo lang bejinnen können?” 

„Lang? — o Du Spötter! Uber — mußte ich nicht denfen, 
dag — daß Du mid nur gewollt — aus — 

„Aus Rache?“ Tachte Waldemar hellauf: „Und zum Rache: 
engel wollteit Du nicht genommen fein, während ich es ſchon 
zufrieden war, wenn Du mich überhaupt nur nahmſt. Denn 
efteh' es nur, es war allein das Mitleid mit dem armen Maler 
und ditto abaebligten Freier, aus 
dem das bißchen Liebe zu mir 
aufwuchs?* 


„Das bißchen — o! Und 
wenn Du alles wüßteſt —“ 

„Was alles?" 

„Nichts.“ 

„Und die Alten! Hab’ id 


fämpfen müſſen! Am Ende hätte 
ich die eigne Tochter leichter nodı 
befommen —“ 

» Hilde lachte, wurde wieder 
ernſt: „Die Armen! fie würden 
fie in einer Art aud) weniger ver: 
miffen. Elsbeth ijt jo verwöhnt.” 

„Durd Dich. Nun, Dittmanıı 
janior wird aud dies Geſchaft 
fortſetzen.“ 

Hilde ſchüttelte den Kopf: „Er 
iſt nicht mehr jo arglos, wie er 
war. Du, Waldemar! id) glaube, 
daß fie mich beneidet — trog —* 

Troßz des ‚unfichten Künſtler— 
brotes‘, das mir Dein gewwifienhaf- 
ter Vormund fo lange vorhielt —“ 

„Bis Du mir Dein väterliches 
Kapital verichriebjt! Ich weiß es,“ 
jagte Hilde, nachträglich noch vor 
Scham und Umvillen erröthend. 

„Er hatte recht. Du haft Dein 
Ja doch ſchließlich noch recht Leicht: 
jinnig verhandelt — Liebling!” 

„Nun ſieh', da lachſt Du mic fchon wieder aus, Du Böfer, 
Lieber, Guter, Allerbefter!” Hilde verbarg ihr glühendes Geſicht 
an feiner Bruft, riß ſich aber augenblicklich wieder los und blidte 
ſcheu umher, denn der Ort, an dem fie ſich befanden, war cin 
Wartejaal und ringsum faßen oder ftanden einzeln und in Gruppen 
eine Menge Menſchen, Reiſende gleich ihnen und die meijten mit 
dem Ausdruck ungeduldigfter Erwartung. Einige Hatten es fid) 
auf Stühlen oder Sofas bequem gemacht und ihre Sachen um 
ſich her gebreitet, als ob fie hier zu übernachten dächten. Es 
waren die Nefignirten der Gefellichaft, die hier eingeſchneit dem 
Weihnachtsabend auf der einfamen Station entgegenfah, jtatt ihn 
daheim oder im Kreiſe lieber Freunde zu erwarten. 

Um jo freudiger war der Tumult, als der Bahnhofsinſpeltor 
in den Saal trat und verkündete, die Bahn jei frei und wenn nicht 
neue Schneewehungen einträten, könne der Zug heute nodı bis D. 
gelangen. „So telegraphir' ich doch noch, daß wir fommen,“ rief 
Waldemar erfreut und wollte raſch nach dem betreffenden Bureau 
abbiegen, als ihn Hilde nod) am Arm zucädhielt. „Wozu die 
alte Frau — es iſt doch eine alte,“ frug fie jchelmifch, „die Dein 
Heine Hausweſen beforgt? — fo ſpät und am Ende doch umfonit | 
bemühen! Ein Feuerchen ift bald geſchürt und hier“ — fie iwies | 
auf die gebaufchte Reiſetaſche — „it für das erjte Nöthige gejorgt. 
Wart nur, ich will Dir's bald gemüthlich machen in Deinem — 
unserem Daheim,“ verbefferte fie raſch. „Sagteit Du etwas?" 

Er hatte etwas fagen wollen, that es aber nicht, fondern 
wandte nur fein zudendes Geficht zur Seite, in welchem cin ſaſt | 
fnabenhafter Uebermuth mit einer niegefaunten Weichheit kämpfte. 





„Milde, lewilten!" 


Sie blickte ängstlich zu ihm auf: „Was fehlt Dir?“ - 

„Die — nichts! Im Gegeutheil es iſt zu viel — das 
Glück! Das Glück, daß ich Dich Habe, Dich!“ jubelte es jegt 
voll aus ihm heraus. Er prefte Hildes Arm fejt in den feinen 
und fchien nicht übel Luſt zu haben, fie mitfammt der Scheren 
Reiſetaſche, den Schirmen, Plaids und allem, was er fonjt zu tragen 


\ hatte, wie ein verliebter Kirmeßburſche feine Tänzerin, ein wenig in 


die Luft zu heben. „Nimm' Dich in acht mit Deinen Augen, Hilde! 
Ich weiß wahrhaftig ſonſt nicht, was id) thue,“ drohte er. 


„Waldemar!“ — Welch köſtliche Standrede in dem einen 
Worte! Er Hätte fie dafür todtküffen mögen. 


Ka, das Glück, das war es, was fie einſam zu zweien 
machte mitten in der Menge, die ungeduldig nach den Wagen 
drängte; es ſaß mit ihnen in dem überfüllten dunftigen Coupe 
und legte Roſenwollen um jie her mitten in der Schneewildniß, 
die fie durchfuhren. Dazwiſchen 
tauchten Lichter auf, verſchwanden 
wieder, Chriitbäume leuchteten im 
Fluge aus der Fenſterreihe eines 
Städtchens; an jedem Bahnhof gab 
es Willtommsfcenen zwiichen ſehn⸗ 
jüchtig Erwarteten und Warten: 
den — ſchließlich ſaßen die beiden 
faſt allein im Wagen. 

Endlich war D. erreicht. Sie 
itiegen aus und wandelten aus der 
mit blauem Mondlicht zauberhaft 
erfüllten Bahnhofshalle durch men 
ichenfeere, mitternädhtige Straßen, 
zwiſchen Gärten, Anlagen und über 
läge; fie umgingen ein Gewirr 
von Hänjern, Mauern und Fabri: 
fon, bis fich das weite, weiße Feld 
vor ihnen aufthat und die neue 
Billenvorjtadt wie ein jchöner, ſtiller 
Wintertraum, ein Märchen, gegen 
Berg und Wald hinan lag. Ein 
Weihnachtsmärcen! dachte Hilde; 
fie lauſchte auf den ſchönen GHeich: 
Hang ihrer Tritte durch das tiefe 
feierliche Schweigen und erſchral, 
al3 füme nun das Ende, ba 
Waldemar mit einmal ftehen blieb, 
in jeine Taſche fahte und ein Hei- 
nes Schlüffelbund herauszog. 

Doch es wurde nur noch 
märchenhafter. Sie ſtanden vor 
einem reichverzierten Gitlerthor, dahinter zwiſchen Bäumen und 


Gebñſch ein Haus mit breitem Treppenaufgang, mit Erker und 


Balkon geheimnißvoll hervortrat. In den hohen Fenſtern jviegelte 
jich der Mond, von Dad) und Simfen blinften lange Eiszapfen wie 
Franſen und alles war fo duftig, wein und weich in den jüngit- 
gefall'nen tiefen Schnee gebettet, daß Hilde kaum zu flüftern wagte: 
„Bier wohnt Du — wohnen wir? Dort oben — ad! wir 
ſchön!“ Cie hatte im Giebel em nroßes halbrundes Fenfter, der 
Beichreibung nach zu einem Atelier gehörig, und rechts und links 
davon zwei kleinere entdeckt. Zwei Stübchen! vechnete fie raſch — 
das war genügend; die Küche mochte nach dem Walde liegen — 
fühl und lauſchig, ihr zulünftiges Atelier! 

Yautlos ſchloß Waldemar das ſchwere Thor auf und lautlos 
jehritten fie auf einem breiten, von weißvermummten Strauchwert 
eingefaßten Wege nad) dem jtillen Haufe, deſſen Thür ein zweiter, 
feiner Schlüſſel öffnete. ine milde Wärme ſchlug den beiden 
aus der Froſtnacht Nommenden entgegen und im Sceine eines 
Keinen Wachslichtes, das Waldemar entzündete, jah Hilde weißen 
Marmor am den Wänden glipern, von dem fich dunlle Säulen: 
bogen hoben. Auf einer breiten, ſchöngeſchwung'nen Treppe mit 
Burpurlänfern ftiegen fie nach oben, „vorjichtig, daß fie niemand 
exweckten“, wie Hilde ſich gleich ausbedungen Hatte. Dann fam 


| ein Korridor mit buntbemaltem Fenſter, dem das ſchwache Lichtchen 


glühende Reflere an den Metallbeichlägen einer alterthümlich reich— 
gejcnigten Thür entlodte, Sie führe zu den Wohnzimmern der 
Herrſchaft, ſagte Waldemar, indem ex vor derſelben ftchen bfieb, 
| wie zögernd. „Die find wohl jehr ſchön?“ fragte Hilde schüchtern 


o 


noch widerſprechen oder fragen konnte, ob denn die Leute wicht 
zu Haufe jeien, hatte er auch dieſe Thür geöffnet umd zog fie 
“mit fid) in einen Borcaum, in welchem es nad) friichen Blumen 
duftete und die Umriſſe von weißen Statuen aus Pflanzengruppen 
dämmerten. Muthiger — er mußte wiflen, was er wagen konnte — 
und mit mehr und mehr erwachter Neugier folgte fie dem Gatten 
in die fremden und fie doch jofort anheimelnden Räume. 

Das —— war erloſchen, aber der Schein, der durch 
die halbgeſchlo 
gemacht, um die wohn⸗ 
liche geſchmackvolle 
Einrichtung halb zu 
zeigen, halb mit dem 
Reize des Geheimniß⸗ 
vollen zu umjchleiern. 

Da war als erjtes 
rechts das Speife- 
zimmer Bis zur 
halben Höhe holza«- 
täfelt, fchien es von 
da au bis zur Deden- 
wölbung eine kunſt⸗ 
voll gemalte Wein- 
und Mofenlaube vor- 
zujtellen. Hochlehnige, 
aus dunflem Hol; 
geſchnitzte Stühle, die 
um den fejten Eichen 
tiich standen, ein 
riefiges Büffet, von 
weldem Silber und 
Kryſtall aufblinkte, 
und ein Kamin, auf 
deſſen Bronzegitter 
ein verirrter Mond— 
ſtrahl zitterte, voll: 
endeten die einfache, 
doch, wie Hilde dünkte, 
hochpoetiſche Einrid)- 
tung. Dann fam der 
Salon mit einem 
Teppich, in ben ihr 
Füßchen tief einfanf, 
Sofas und Seſſel 
waren aufstraulichjte 
gruppiert, als ob ſich 
eben eine Heitere Ge: 
ſellſchaft da erhoben 
hätte; bie hohen 
Spiegel unddas Gold 
derBilderrahmen und 
Gaslkronen durch— 
leuchteten die Däm- 
merung des Raumes. 
Ein zweites, drittes 
Nebenzimmer folgte, 
alles gleich behaglich 
eingerichtet — zufeßt betraten fie ein Kabinett mit Bücher 
ichränfen und einem breiten Feniterfite nad) dem Walde. „Hier 
ergänzt ein glüdliches Baar die Lüden jeiner Bildung, denn fie 
hatten beide eine fchtvere Jugend,“ erllärte Waldemar. „Und 
hier” — er fchob wie zönernd einen ſchweren Plüſchvorhang zur 
Seite — „hier ijt das Heifigthum der jungen Hausfrau — Liebe, 
liebe Hilde!” — 

Weiter kam er nicht, denn Hilde Hatte ſich jchon von ihm 
losgerijfen und ftand mit einem Ausruf des Entzüdens in dem 
halbrunden, mäßig großen Raum, durch deſſen nur mit Spihen- 
twolfen leicht drapirte Bogenfeniter der volle Mond fait tageshell 
hereinfchien. Die ſchönſten Rofen, jammetartig glühend, schienen 
aus der Fichten Wand Hervorzubrechen, diejelben Teuchteten zu ihren 
üben auf dem Teppich, blühten und dufteten Tebendig in den 
föftlichiten Gefäßen. Dazu zierlich gedrehte leichte Möbel, Seſſelchen 
und Sofa, Schreib: und Nähtifch, Spiegel mit Konjolen, Ampeln 


— 


889 
Er lächelte. „Willſt Du ſie ſehen, Liebling?“ Und ehe ſie 


enen Gardinen von außen einfiel, war eben wie 





„Ein Weihnachtomarchen!“ date Hilde, Originalzeihmmg ver eig Vergen. 


o 


mit zartem, ‚grünem, fuftigem Geranke — es war cin Früh: 
lingstraum mitten im Winter. 

„Gefällt Dir’s, Liebling?” fragte Waldemar jehr leiſe. Es 
war, als jchnüre ihm etwas die Kehle zu; doc aud ihr erſtarb 
das Wort im Munde — vor Schreden. Sie hörte Thüren 
| gehen — Schritte — in dem ftillen Haufe wurde es lebendig — 
Dean fam — man fam hierher! Und fie, als Eindringlinge! 
Es war gräßlid. Schamvoll flüchtete fic an die Bruft des Mannes, 
der fie Hierher geführt und der jegt jelbft ein wenig zu erichreden 
fchien. „Ich Hätte Dir es cher fagen follen, ih —“ 

Da fluthete auch 
ſchon ein greller Licht 
ſchein um ſie her und 
unter der zurückge— 
ihlagenen Bortiere, 
den Urmleuchter weit 
in das Zimmer hal 
tend, ftand ein weiß⸗ 
bärtiger, verwitterter 
Geſell in Tangem 
Dienerrof, Hinter 
dem zwei weibliche 
Geftalten, eine ältere 
und eine jüngere, in 
weißen Kücenjcür 
zen ſichtbar wurden. 
„Da haben wire: 
der Herr Brofeflor!“ 
rief er ihnen zu. 
„Und die junge, gnä- 
dige Frau !* jlüfterten 
die Mädchen, die 
fnirend und verlegen 
näher famen. 

„Und Fein Em 
pfang und feine Bor: 
bereitung!” ergänzte 
der entlarbte „Herr 
Profeſſor“. „Nicht 
wahr, die Kränze und 
Guirlanden  Tiegen 
noh im Seller?“ 
lachte er. 

„Ta wohl! Und 
wir, da ſitzen wir 
tief Hinten in der 
Küche und warten 
auf das Telegramm, 

und während: 
deſſen —" 

„Nicht "mal den 
Wagen Hat "man 
rollen hören.“ 

„Weil er nicht ge 
rollt hat,” tröſtete 
Waldemar. „Und 
telegraphiren — ging 
nicht,“ log er luſtig. 
„Die böjen Schneevertvehungen! Ahr wißt —” 

Ja, fie wußten, fie Hatten im den Zeitungen geleſen und 
ſchrechlich Angſt gehabt um ihren Herrn Profeſſor und um die 
junge gnädige Frau. Und wenn jie nur geahnt, daß fie dodı 
heute, am Ehrijtabend, noch fämen, jo wäre eine gute Mahlzeit 
hergerichtet, jammerte die Köchin. 

„Die große Weihnadhtstanne hätte brennen und der Name überm 
Eingang hätte leuchten müſſen,“ brummte Schmidt, der als ehemaliger 
„Maldiener* die großen Künftlerfejte hatte „arrangiren“ Helfen. 

„Schad' um Ahr großes Transparent da draußen auf der 
Treppe!” bemerkte das freundliche Hausmädchen. 

Schmidt war verföhnt: „So reden wir es! Mit Erlaubnif;: 
‚&3 lebe unser hochberühmter Meifter und fein junges Hansglüd! 
Hoch!““ rief er mit einem Meifterftüde von Berbeugung gegen Hilde, 
die in ihrer Berwirrtheit und Verſtummtheit unausiprechlich Lieblid) 
ausſah — — 





— 


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20 > — 





Eudlich waren fie allein. „Ser mir nicht böfe, liche, Tiebe 
Hilde!” bat Waldemar, indem er zärtlich vor ihr niederfniete. 

Sie fchüttelte den Kopf: „Es war doch eine Täufhung, 
wenn aud) — wenn auch —“ 

„Eine furchtbar nette, willft Du Tagen?“ 

Da fiche! ftand das Lachen und die Freude und die große, 
große Liebe wie eine Sonne wieder hinter ihren Thränen. Er 
füßte ihr die fehten aus den Augen. 

„Nur eine Weihnachtsũberraſchnng!“ rief ex fröhlid. „Mein 
erſtes Ehriftgeichent an meine Fran. Das Häuschen, wenn es 
Dir gefällt, ift Dein. Billa Hildegard jteht überm Eingang 
Doch mußt Du mich darin mit wohnen laſſen. Mein Atelier 
it oben. Willſt Du's ſehen?“ 

„Ja, Liebſter! morgen!“ 

„Dann weihe ich Dich ein in meine Kunſt, Du Meine Hinter: 
wäldlerin !" 

„D Du! Ah bin mehr eingeweiht, als Du wohl denzft. 
Deine Erjtlingspilder — ich fand fie ganz und gar veritanbt 
"mal auf dem Boden — ſchmückten jahrelang mein ftilles Stübdjen. 
Ich Habe fie mit eingepadt. Willſt Du fie ſehen?“ 

Waldemar fuhr ſich mit allen Zeichen eines fomifhen Ent 
jepens durch die Haare: 

„Ja, Liebjte! morgen.” 

D diefes „morgen“ mit feiner Perſpeltive reinſter Freuden 
im Glanz und Güde eines neuen Dafeins! 


Blätter und Blüthen. 


Alexanders des Großen Tod. (Mit Illuſtration S. 872 und 873.) 
Unter den großen Figuren der Weltgeſchichte ftebt wie ein hellleuchten 
de3 Sternbild der junge SHeldenfönig, der in feinen lurzen eben die 
hochſten wenichlihen Güter genichen, die höchsten Leiftungen vollbringen, 
und auf dem Gipfel von Glanz md Glüd ſcheiden durfte — wahrlich ein 
beneidenswerthes Los! Die Augen auch der heutigen Welt noch haften 
bewundernd auf dem märdhenhaften Triumphzug, den er als Eroberer und 
Eivilifator nad dem unbelannten Dften unternahm, einem Zug, den in 
feiner Geſammtausdehnung bis heute fein Einzelner wiederholt hat, der 
aber für jene Zeit eine der erſtaunlichſten Leiſtungen war, ganz abgejehen 
davon, daß fich in der Perſon defien, der Aien als Bahnbrecher griechiicher 
Kultur durceilte, die ganze damalige Meltgeichichte fonzentrirte, Denn 
die Sonne Athens war 34 
gegaugen, und die Griechen durften ſich noch ſehr nlüdlich ſchäßen, daß 
der ſiegreiche Matedonierjüngling fein höheres Ziel fannte, als die geiſtige 
Erbichaft ihrer Deroen anzutreten, und feine größere Auszeichnung, als 
der Erjte der Athener genanut zu werden. Im Gedanlen an fie ſchlug 
er_feine Schlachten, erirug er Uebermenſchliches in den baktriichen Wild 
nilien und der furchtbaren gedroſiſchen Steinwüfte und kehrte endlich 328, 
nadı zehnjäbriger Abwefenheit mit feinen Deeresfänlen aus der Dunfel- 
heit wieder hervortauchend, nach dem unterworfenen Berfien zurück als 


Derrfcher der ganzen befannten Erde, zu welcher er die größere Hälfte | 


ſelbſt hinzugefügt hatte, In Elbatana feierte man dem nunmehr göttlich 
Verehrten nlänzende Feſte, Depntationen der Griechen famen, ihm goldene 
Lorbeerfränze zu bringen — da traf ihn als Mahnung des Schidjals 
der Tod jeines Freundes Dephäftion, der ihm voransging wie Patrollos 
dem Achilles, und ganz wie Achilles warf ſich Alexander laut ftöhnend 
und verzweillungsvoll über den Leichnam, Ihn zu beftatten, wie noch 
fein Fürſt beftatiet worden war, bradı er nach Babylon auf, trüben 
Muthes, denn feine eigene Seele war voll Todetahnung, und als feine 
Seher ihm warnten, „gegen Weſten“ (die Unterwelt) ſchauend, in die Stadt 
einzuziehen, fuchte er, den Euphrat überjchreitend, einen öſtlichen Eingang 
au newinnen, ſtieß aber anf — Sümpfe, fo daß er ummwillig den 
orſatz —3— und, dennoch nach Weften ſehend, in Nebufadnnezars Stadt ein- 
ritt, deren Burgen und Thürme damals theilweife noch wohlerbaften ftanden. 
Die brennende Qual um Sephäftion, das Gefühl der furcdhtbaren 
Dede wid; nicht mehr von dem 
überbedten Scheiterhaufen, ein architetonisches, ftatuengeichmücdtes Pracht: 
ebäude von ungehenerem Werth, errichtet und 10000 Stiere bei der 
erbrennung neopfert hatte. Mit dem Freund war der beite Theil feiner 
eigenen Krajt vernichtet; Feine der Frauen, die er fich äueignete, bat je 
feiner Seele nah geftanden, nicht die Dariustodhter Statira, nicht Roxaue, 
das wunderſchone baktriiche Fürftentind, das er auf feinen Zuge aus dem 
eroberten Felſenneſt ihres Baters nehlt. Bon ihr aber hofite er, in 
BYalde den Sohn zu erhalten, den Erben eines Weltreiches, das a re en 
der Pharaonen, Verſer⸗ und Ajinrerfönige weit übertrefien follte. = 
hafte Pläne wuchſen in feinem @eift: er wollte neue, toloffale Flotten 
bauen, Airifa damit umicifien, Karſhago erobern, ganze Bölfer don Europa 
nach Aſien verichen, und umgetehrt, feine Schranfe mehr follte ihm ge» 
Fieten, den neuerdings bie Bötter ſelbſt als einen der Sorgen anerlannt ... 
Ploplich, Aufang Juni 323, befielen ihn Fieberſchauet. Er 7— 
ihrer nicht und ſaß noch ntit feinen Generalen eine Nacht durch bein Wein. 
An andern Morgen brad) das Fieber aus. Zum Schuß vor dem glühen- 
den Sonnenbrand ließ ſich Mlerander in die fühlen Terraffengrotten der 
‚hängenden Girten“ tragen; dort bejorgte er von feinem Lager aus noch 


dem Schlachtfeld von Chäroneia blutig unter» | 





önige, auch nachdem er ihm einen gold» | 


alle Regierungsgeihäfte, badete und opferte jeden Morgen und plaudert: 
tagsüber mit feinen Freunden. Mber jeden Abend lehrten die Schauer 
wieder und feßten bald auch des Tags nicht mehr aus, Am ficbenten 
Tag lich fich der König in Rebukadnezars Burg zurücbringen, und als am 
achten früh feine Generale bei ibm eintraten, erfannte er jie wohl, Tonnte 
aber nicht mehr fprechen. Nun durchflog die Schreddenskunde: Alerander 
ſtirbt! mit Windeseile die Stadt, und das Heer, die Soldaten eilten ſchmerz 
erfüllt herbei, man konnte ihrem Andrang micht gebieten und mußie ihnen 
das Sterbegemad öffnen. So zogen jie denn, Offiziere und Strieger, Mann 
für Mann, fchweigend in tiefer Trauer an dem Todeslager ihres Königs 
vorbei. Er jah fie an und winfte einigen ſchwach mit der Hand; die er 
grauten Veteranen ſchluchzten in faſſungsloſem Jammer bei feinem Anblid, 
Diecſen Vorgang hat Piloty zu der ergreifenden Darſtellung gewählt, 
die zugleich die Iepte Arbeit feines eigenen Lebens war und nicht zu 
völliger Vollendung gedich. Aber wenn auch nur flizzirt, hebt fich doch 
des jterbenden Königs Haupt machtvoll heraus und die ſchon ſtarr wer- 
denden Anger lafien noch die Gewalt feines Blides ahnen. Am Fußende 
des Bettes ſteht Roxane in feingefälteltem Byſſosgewand mit traurig qe 
jenttem Daupte, fie hält Alexanders Linke, während feine Nechte ſtürumſch 
umfaßt und gefüßt wird von den Serienern, die, das Gtillegebot des haldäi- 
ſchen Arztes nicht achtend, von ihrem ur Sagen zu feinen Fußen 
Inieen. Andere drängen nad, herrlide Briedhenjituglinge, wildausichende 
Afinten, fie haben Lorbeerkränze mitgebracht und werden fie zu Füßen 
bes Bötterbildes niederlegen, das die erjlehte Heilung jo wenig zu be⸗ 
twirfen vermag wie der Sühltvant, welchen junge nubiſche Shaven in der 
eisumgebenen Ampbora bereiten, Die Schatten des Todes ſchweben Aber 
dem Daupte, das ſonſt fiegreich voranleuchtend im kriegeriſchen Echmud 
fein Heer von Triumph zu Triumph führte, das Heldengedidt von 
Aleranders Leben findet hier den Abſchluß, welden die Voefie für ihre 
—— Lieblinge fordert: auf ſchönſter Höhe ſchnell zu enden, ohne 
den Rügſchlag menschlicher Schitjale zu erleben. 

Daß feine Figur mit ihrer leidenſchaftlich alühenden Scele und fait 
übermenichlichen Thatfraft einen Künftler wie Piloty mächtig anzog, ift 
fehr begreiflich. Er hat ſich mit dem gewaltigen Stoff des Bildes zwanzig 
Jahre lang getragen und ihn im immer wieder neuen Entwürfen geformt, 
bis er endlich die gegenwärtige Seftalt gewann. An ihre Ausführung 
bat der bereit? Schwerfranfe jeine lebte Kraft geieht, und wo ihm ber 
Pinfel entſant, da endete zugleich fein eigenes Leben. Das folchergeftalt 
doppelt bedeutungspolle Bild befindet fich heute in der Berliner National- 
galerie, zu deren edelften Zierden es gehört. R. A. 

‚ Früßflüdisvertheilung an arme Schufkinder, Infolge des Gedichtes 
„Bitte für arme Kinder” von Emil Rittershaus in Halbheft 21 dieſes Jahr« 
panaes baben wohlgefinnte Männer und Frauen in verschiedenen Städten 
ih der Frühſtücksvertheilung an arme Schullinder in danlenswerther 
Meife angenommen. Auch zahlreihe an die Nedaltion der „Sartenlaube“ 
eingenangene Briefe beweifen, dab die Anregung auf fruchtbaren Boden 
gen Vielen diejer Briefe waren Geldbeträge beigefügt, von Meinen 

ummen in Briefmarlen au bis zu fünfhundert Mark hinauf, je nach 
den eigenen Mitteln der opferwilligen Einiender. Einen jehr erheblichen 
Betrag hat ein Stuttgarter Bürger für die Speifung armer Schulkinder, 
ohne Rüdiicht anf die Konfeliton derielben, geipendet, nämlich hundert 
taufend Mark, von denen zehn Jahre hindurch je zehntansend Mark zur 
Verwendung kommen follen, Möchten ſolche Beifpiele edlen Gemeinſinus 
auch in anderen Städten gegeben werben, zum Velten der hungernden 
Kleinen! Der Dant wird nirgends ausbleiben. 


— — — — 


— 891 — 


Die s56recmitlel einer ifrianifhen Nalter. (Mit Abbildung.) 
Im 4. Kapitel feines Wertes „Der Nusdrud der Gemüthsbewegungen 
bei dem Menſchen und den Thieren“ berichtet CH. Darwin von einer nicht 
aiftigen oftindiichen Schlange, dem Tropilonotus macrophthalmus, da 
fie, wenn fie gereizt wird, ihre Halshaut wie ihre Landesgenofiin, die Cobra 
Brillenſchlange ausbreitet und daher irrthũmlicherweiſe für dieje gehalten 
wird. „Diefe Kehnlichkeit,“ fchlieht Darwin, „dient vielleicht dem Tropi⸗ 
douotus als ein gewiſſer Schuß. Eine andere wicht giftige Schlauge, die 
Dasypeltis von Sübafrifa, bläht ſich auf, breitet ihren Hals aus und 
ziſcht und ſchießt auf jeden Eindringling zu, Viele andere Schlangen ziſchen 
unter ähnlidyen Umſtänden. Sie ſchwingen auch ihre vorgeftredten Zungen 
mit Schnelligkeit, und dies dürfte dazu dienen, das Schredtenerregende 
ihres Anſehens noch zu vermehren.” ’ 

Ein ähnliches Verhalten gegen den Angreifer beobachtete ih an einer 
Tropitonotus-Hrt, die ich in Aroßer Menge auf den Sumpfmwiejen am 
Timavo in Iſtrien antraf. Dieje, die VBipernatter Tr, viperinus hat ihren 
Nanten bon ihrer auffalenden äukerlichen Aehnlichfeit mit der Rediſchen 
Biper (Vipera aspis sive Redii); fie ift 65 bis 90 cm lang, bat 2 vordere, 
2 Hintere itenie, 7 obere Lippenichilder, von denen das 3. und 4. 
an das Auge ftoßen; die Schuppen ftehen in 21 Längsreihen; die Grund» 
farbe ift oben bald hellgran — bald geib-braun- oder grangrün, an ben | 
Seiten heiter; im Racken hat fie 2 ſchwärzliche Fleclen; dahinter jederjeits | 
auf dem Nüden eine Yängsreihe ſchwärzlicher Querflecken, melde häufig 
durch ein Yidzadband verbunden 
find; auf der Unterſeite ijt fie 
— gewürfelt. Die Exem- 
plare mit dem Jickzadband fahen 
bei grauer Grundfarbe mehr 
der Dornviper (Vipera cerastes) 
aähnlich. 

Bas erſte 45 cm fange Exem⸗ 
plar traf ich auf den Felſen des 
Meernfers3 zwischen Dino und 
St. Giovanni, und hielt es an— 
fangs für eine Rediſche Viper, 
Das Thierchen lag gar behaglich 
im Somtenfdrein — ich hielt es 
bald mit meinem Stode nieder. 
Rum blähte fih die Schlange zum 
doppelten Umfange auf, ihr Kopf 
näherte fich dm Umriſſe eimen 
gleichjeitigen Dreiede, ſie ziſchte 
laut und lange, rollte jich tellcr- 
—— zuſanimen amd ſchoß mit 
dent Kopfe ganz wie eine Gift⸗ 
ſchlange, wenn ſie beißt; nur 
fiel mir auf, daß fie dabei den 
Kader nicht öfinete, 

Sch trauie ihr aber doch nicht, 
fondern drehte ſanft drückend 
den Stock bis zu ihrem Genid, 
wobei fie wuthend aijchte und, 
io jung es nord ging, den Kopf 
emporſchnellte, jedoch immer ohne 
den Rachen zu Öfinen, Die Zunge 
blieb beim Ziſchen bis auf die 
beiden Spihen eingezogen, welche 
dabei in vibrirender Bewegung waren. Erſt als ich fie mit der 
Eincette im Genick fahte und fie genan bejah, wuhte ich, was für einen 
Geſellen ih vor mir hatte, und nahm ihn unbeforgt in die Hand, 
was er durch eine reichlihe Gabe feiner widerlich riechenden Erfremente 
belohnte; dem mein Tropidonotus hatte jehi alle Abſchreckungsverſfuche 
aufgegeben, ja ſchen jelbit in großer Augſt zu ſein. Ein Hündchen, das 
mid zunt Timavo begleitete, ſchrechte eine große Bipernatter durch ihre 
drohende Haltung derart, dal es Sofort Reiſaus nahm. Gewiß lafien 
ſich auch Fallen, Krahen und Sumpfvögel durch die Schrerfmittel und die 
ſchühende Aehnlichteit unjerer unſchuldigen Natter tänfchen. Da in diefer | 
Gegend die obgenannten Giftfchlangen häufig vortonmen, haben die 
Vögel dort wohl oft die tödliden Wirkungen des Vipernbiſſes an ihren | 
Genoſſen geliehen und fchenen daher einen Angrifi anf die verdächtige | 
Bipernatter. Daraus läht id das überaus häufige Vorlommen derfelben | 
in diefer Gegend und das ſeltene der Ringelnatter erlären, welcher dieſe 
Schredmittel nicht zur Gebolte ſtehen. Thomas Schlegel. 

Rolhe Malen. Die „rothe Naſe“ iſt ein ſcheinbar geringfügiges 
Ding, aber unter dieſer allgemein gebräuchlichen Geſammtbezeichnuug 
verbergen ſich verſchiedenartige Leiden, die and) verſchieden behandelt fein 
wollen. Der Schnupfen kann unter Umftänden vorübergehend eine Rörhung 
der Naſe hervorrufen, auch erfrorene Naſen blühen, aber nur beim Ein» 
tritt der fälteren Jahreſszeit. In diefen Fällen pflegt die Rothe mit dent 
Schnmupfen zu ſchwinden md erirorene Naſen müſſen wie erirorene Glieder 
behandelt werben. 

Es giebt aber noch eine andere Art vorher Nafen, die au den ent« 
itelfeudjten Hautkrankheiten des Wefichtes zählen, es find dies die rothen 
Nafen par excellenee, die auf einem Dantleiden, welches Kupferröthe oder 
— genannt wird, beruhen. 

Jene Heinen „Bluthchen“ ſind befannt, die jo oft das Geſicht junger 
Herren und Damen entitellen: die Geſichtefinne. Eine böfe Abart der» | 
jelben bildet die Hupierröthe, Sie befällt mit Vorliebe die Naje, kam 
ſich aber mitunter auch auf das ganze Geſicht erftreden, 

Diefe Rupferröthe ift ein beinntüsifches Leiden. Zunächſt röther ſich 
mr die Nafonfpige und ficht tänfchend ähnlich einem erfrorenen Nicch- 
organ. Bon Heit zu Zeit ſchwindet die unerwünſchte Farbe, aber eine 
ganze Reihe von Scheinbar geringfügigen Urſachen bringt fie wieder zum 





rienifde Matter, einen Angriff adwehrend, 
Ottqtue tzeiclunug von &. Mtüpel 


Vorſchein. Ein Gläschen Wein, eine lebhaſte Unterhaltung, ein Talter 
Wind verhelfen den armen Patienten zur fichtbaren Entſaltung ihres 
Leidens, In dieſem Zuſtand kaun die Serankheit lange verharren, bis fie 
allmäglich in die höheren Grade übergeht. Die fonenannten „Bfundnajen“ 
mit den schmerzhaften Hödern und erweiterten Blutgefähen bilden das 
Endjtadium jener rothen Naje. ‚ j ‚ 

Es unterliegt feinem Bweifel, daß übermäßiges Trinfen die Ent« 
ſtehzung dieſes Leidens begünftigt, ja man hat fonar die Trinkernaſen zu 
Halfificiren geſucht; und Dr. 5. E. Claſen fchreibt in feinem populären 
Buch „Die Hant und das Haar“: . 

„Der Branntwein söthet vorwiegend die Najenfpise, bei manchen freilich 
auch die ganze Naſe. Die Haut ift dabei meift glatt und troden und zeigt 
einen ftarken Stich ind Blaue. Der Weintrinfer erfreut fid) einer tebhahten, 
inehr hellen Röthe, welche ſich ſehr häufig auch über weite Strecken des Be 
ſichis erftreitt; ber —— Bezirk pflegt aber nicht glatt zu fein, ſonder un⸗ 
eben und dicht mit Sinötchen b * Für beſonders gefährlich in diefer Rich 
tung gelten namentlich jene deutſchen Weißweine, welche wegen ihrer durch 
reihlihe Weinfteinfäure bedingten Säure ofmehin ſchon einigermaken 

efürchtet find. Die frauzöſiſchen Rothweine jollen unſchuldiger jein, daß 

de aber ihre Liebhaber mii der unliebfamen Teintveränderung verichonten, 
wäre wohl zu viel behauptet. Am beiten find noch die Biertrinfer dran, 
welche verhältnigmäßig felten an der Kupferröthe leiden. Und dod) find 
fie es gerade, welche es zu den folofjaliten Dinenfionen und Verunftaltungen 
der Nafe bringen, wenn ſie ja 
einmal das Unglück haben, der 
Krantheit zu: verfallen.” + 

Man fünnte über dieje Klaſſi⸗ 
fifation ftreiten; ber Vollsmund 
ſpricht 4.8. von der „Birrgunder- 
naje“, und man farm auch mit 
Beitinmtheit jagen, daß viele, die 
weder nit Rordhauſen“ nod) 
mit „Nierjtein“ im engeren Be: 
ziehungen ftehen, doch am der 
Nupferröthe leiden. Wind und 
Wetter beyünftigen deren Aus: 
bruch felbft bei einem durchaus 
enthaltfamenDrofchtentuticherund 
auch zarte Mädchen und rauen, 
die nur Kaflee trinten, fünnen 
ihr verfallen. 

Dit diefe Kranfheit weit fort: 
geſchritten, fo ift das Heilen mit 
vielen Schwierigfeiten verbunden 
und es find fogar operative Ein- 
griffe nöthig. Darum ift es gut, 
wenn die „Kranten” frühzeitig 
einen Arzt um Rath fragen. Das 
Herumfuriven mit allerlei Haus⸗ 
mitteln oder den fogenannten 
Geheimmitteln , die pomphaft in 
den Beitungsinferaten einpfohlen 
werden, ift eine Art gewagten 
Lotteriejpield, In. diefem oder 
jenem Falle mag jo ein Mittel 
helfen, in vielen anderen aber 
2 j ruft es duch unzwednäßige Bes 
handlung nur eine Berichlimmerung des Leidens hervor. Ich habe 
oft Gelegenheit gehabt, zu hören, wie ſich Leute nad) „Specialiften für 
rothe Najen” erkundigten. Trotz aller Mrbeitstheilung auf dem Gebiete 
der Medizin find wir noch nicht jo weit fortgeichritten, dab wir derartige 
Specialärzte befifen Die „rothe Naſe“ wırd jeder prattiiche Arzt be 
handeln kommen, 

Als allgemeine VBerhaltungsmahregeln möchte ich kurz die folgenden 
bezeichnen: Man vermeide alles, was einen Blutandrang nad) dem Ge- 
fichte erzeugt, ———— feine Spirituojen oder nur wenig davon; ſehe 
ſich nicht ſtarlem BWitterungswechjel aus, meide auch große Hige und 
Kälte — das alles wird der rothen Naje gut thun und die Ausſicht auf 
Heilung befördern. ng 

Borlagen für Aquarell- und Porzefanmaferei, an weldien es 
nod) vor einigen Jahren empfindlich mangelte, giebt es jebt vielfach, aber 
die quien und brauchbaren darunter find noch immer zu zählen, weil der 
vieljtufige Farbendrud nicht billig hergejtellt werden kann, dagegen an 
den mangelhaft getünten, in der aus undentlidien für ben üler 
nichts zu lernen iſt. Unter ſolchen Verhälimiſſen erſcheint es als ein fehr 

lüdlicher Gedanke, Blumenarrangements, Pflanzenſtudien, Nandbordiren, 
Nittelftüde für Teller, Blatten nnd Käſichen nur ım Holzſchnitt, aber ſo 
meifterhaft gezeichnet und fchattirt zu Beben, daß jeder nur einigermaßen 
fortgefchrittene Dilettant die Farben ſelbſt hinzufügen und nad eigener 
Mahl zufanımen ftimmen dann, wobei er ſehr viel mehr lernt als bei dem 
ſtlaviſchen Rachmalen einer mittelmäßigen Vorlage. 

„Studien und Kombofilionen“ nennt ſich das in Paris entftandene 
Wert des Schweisers Jean Stauffadher (St. Gallen, Kreupmann), worin 
eine reiche Tänftleriihe Phantaſie, we mit dem genaneften Natur« 
ſtudium, eine Fülle von reigenden Blumenmotiven für dekorative Zwecke 
garen hat. Leicht hingeſchüttete Ranfen und Sträuße von 

ofen, Brombeeren, wilden Wein zc. find umgeben von großen und Heinen 
Feldern voll allerliebfter jtiliirter Blumenbordüren, Inseln! und Knoſpen⸗ 
motiven, Inſelten und Vögelintermezzos, alles zum Bebrand fertig, 
unr in zwei Tönen auf den Holz oder Porzellangegenftand hinzuſetzen. 
Stauffacher wendet mit bewußter Virtuofität das große Stilgeſetz an, die 
charafteriftiiche Form zur herrichenden au machen, und es iit überraichend, 
wie er durch Betonung berfelben ein Ornament aus den einfachſten Feld: 


und Wieſenblumen in gang neue, aparte ud elegante Wirkung Seht, 
indem er die große Gefahr der kutifirien Form, die Trodenheit nub 
Langweile vollftändig umgeht, im Gegentheil, in biejen ſchönen Blättern 
ein ebenfo neues wie eigenartiges Genre geſchaffen hat. . 

Den vielen Dilettanten, die nicht zur eigenen Kompofition jüsig find, 
ben Lehrern und Kunſtgewerbeſchulen ſaun das Stauffacherſche Wert aufs 
wärmfte empfohlen werden. Es bietet ihnen allen eine foftbare und in 
langer Zeit nicht zu erihöpfende Fundgrube von lauter unmittelbar brauche 
baren Formen, Der Preis (32 Mark für 4 Hefte mit je 8 Tafeln groß 
Folio) ift mäßig zu nennen im Hinblid_ auf die Fülle des Gebotenen. 
Eine redit weite Verbreitung ift diefen „Studien und Kompofitionen” aljo 
im Julereſſe des unftgewerblihen Deutschlands entichieden zu wünschen. 

Die Bimmerpflanzen im Januar 
dürfen im allgemeinen nur twenig ge 
noiien werden, das heißt nie eber, 
als bis die Oberjläche des Erdballens 
troden geworden, wobon man Sich 
zuweillen durch Anfühlen mit dem 
Finger überzeugen muß, und immer 
mit Waſſer von der Temperatur des 
Naumes, in tweldem die Bilanzen 
ſich bejinden. Kaltusarten werden 
während des ganzen Winters nidıt 
argojien mit Ausnahme des Blatt 
faltus, der im Winter jo ſchön blüht. 
Die Erdoberfläche joll man zuweilen 
mit dem Holzstift auflodern und von 
Rande nach der Mitte zu ſchieben, 
damit das Gießwaſſer meist ain Topf: 
rande, nicht in der Mitte umerſinti. 
Die Bilanzen fordern Licht, friſche 
Yuft und Abwaichen der Blätter mit 
einem weichen, ſeuchten Schwamm, — 
Es iſt jebt die beſte Beit, das 
wohlriehende Berlhen (Viola 
olorata 1.) zum Blüben im Winter 
nãchſten Jahres anzuziehen. Bu dem 
Siwede legt man auf den Boden 
einer Samenfdrale oder Einarrentifte 
eine Schicht Topfiherben („Auter 
Waflerabzug”) und darauf nahr- 
bafte, mit reingewaldienem Sande 
reichlich “gemifchte Gartenerde, auf 
der man den, mit Holzkohlenſtaub 
gemischten Samen, 3. B. der fchönen 
Sorte Lodjtedter Treibveildyen, dünn 
ansftreut, ein wenig feftprüdt und 
mit einer asicheibe bededt. Das 
äpze Stellt man an das Feuſter 
zwiſchen andere Pilangen, alio in 
vor dalbſchatten, oder Legt cin 
Blatt Papier. auf die Glasſcheibe zum 
Schuß gegen ‘die Strahlen der Mit- 
tagsienme,. Sobald die Sämlinge groß; 
genug Find, um mit den Fingern ſich 
fajfen zu laſſen, geübt man fie unit 
dem SHolzitift auf und jept jie I cm 
weit auseinander in Die Erde einer 
wie die Samenſchale vorbereiteten 
Schale oder Kigarrenkifte, indem man 
mit dem Stift ein Loch bohrt, in 
welches die Wurzeln mit demselben 
Stift fo tief eingeführt werden, daß 
die Pilanze auf der Erde auffißt; fie 
wird mit dem Stift feitgedrüdt, gleich⸗ 
zeitig mit den anderen derfelben Schale 
angegoffen, für einige Tage mit der 
GHasicheibe bededt und halbſchattig 
aufgeftelli. Wenn die Pilanzen fich 
drängen, jet man fie einzeln in 
Heine, ſpäter in wenig größere Töpfe 
mit jandiger Miftbeeterde und hält jie immer halbichattig und durch Gießen 
une mäßig feucht. DD, $ 


Kühne Studien. Die berühmte franzöfifche Malerfamilie Bernet, 





— x 


aus weldier vier bedeutende Rünftler herborgingen, laun im Jahre 1880 | 


mehrfache Gedenttage feiern. Antoine Bernet, der erſte der Familie, 
welder ſich der Kunſt widmete, ohne indeh zu befonderer Berühmtheit 


892 





Profit Menjaßr! Von Franz Stud. 
Edeteatarhie im Settag ven Grany Damfftängl im Münden 


zu gelangen, war im Fahre 1689 geboren, fein weit bedeutenderer Sohn, | 


Claude Joſebh, dagegen ftarb genau ein Jahrhundert Später, 1789, während 
deifen Entel, Horace, der berühmttefte von allen, in demſelben Jahre ge⸗ 
boren ward. Lebzterer war es, welcher durch feine Schlachtenbilder die 
Siege Napoleons l. verherrlichen half, beſonders groß aber war er in der 


Aufföfung des Weißnabts-Nöffelfprungs 


Nun jteigt vom Sternenfrange Ein Strahlenmeer von Lichter 
Herab die Wundernadt, Flamnu aus der Fenſter Reih'n, 
Still ruht in Fichten Glanze Bon Kinderangeſichtern 
Die Welt in hehrer Pracht. Nr jelner Widerſchein. 
Es tönt die Himnmelstunde Ein Lichtwald ift erjianden, 
In mächt'ger Hoden Sany, Erblüht in Märchenpradht, 

ie aus der Engel Munde Und leuchtet ob den Landen 
Dereinft der Welt erflang. Weit durch die Winternacht. 





> 


Herſtell ung geichichllicher Genreſeenen, während fein Vater Carle Bernet 
in der Darſtellung bon Pferden und Hunden, vorzüglich aber in lomiſchen 
Epijoden aus dem Bolfslcben brillirte. Der Grofvater von Horace, der 
bereits erwähnte Claude Joſeph, gilt als einer der vorzüglichften Marine: 
maler der neueren franzöſiſchen Schule und jeine Ya ten franzöfticher 
Häfen bilden hervorragende — der eg ng Loubre 
zu Paris, Seiner Kunſt zu Liebe fchredte er dor feiner Gefahr zurüd 
uud alle feine Studien —— er nach der Natur. 

Einft wurde das Schiff, auf welchen er ſich befand, von einem 
furchtbaren Unmetter überraicht, daf die Mannſchaft das Gabrzeug ber" 
loren gab. Vernet hatte fih an dem Stumpf des abgebrodyenen Maft- 
banmes fejtbinden laſſen und ſchaute mit Berzürung in das entießliche Toben 
der Wellen, während die Matrofen 
und Vaſſagiere betend umher lagen. 

Da rief der Hünftler plöplich in dem 
Aufruhr der Elemente hinein: „Welch 
ein herrlicher, überwältigender Anblid 
ift Doch das einpörte Meer! Ich will 
—— auf meinem nãchſten Bilde 
diefen großartigen Kampf zwiſchen 
Sturm und Wogen wiederzugeben!" 

Diefe taltblütig gegen die Gefahr 
aber mit Fünftlerifcher Begeifterung 
ausgeſprochenen Worte brachten die 
Berzweifelnden wieder zur Beſinnung; 
noch einmal berjuchten fie das ftener- 
lofe Schiff in ihre Gewalt zu befommen, 
es gelang — und Fahrzeug und Mann⸗ 
ſchaft war gerettet. N 

Eindanddede zur „Warten- 
fauder‘, Wie in den früberen Jah— 
ren, fo bat die Berlagsbuchhandiung 
Ernit Keil's Nachfolger in Yeipzin 
and) zum laufenden Jahrgang dei 
„artenlaube” wieder eine geichmad» 
volle, in reichen Gold⸗ und Schwarz⸗ 
drud jorgiältig ausgeführte Einband- 
dede heritellen laſſen, welche zum 
Preiſe von 1 Mark 25 —— durch 
die — Buchhandlungen bezogen 
werden lan, Wer nachträglich frühere 
Jahrgänge binden laſſen will, lann 
zu dem gleichen Vreiſe die Original» 
einbanddeden auch für dieje noch be 
sichen; namrlich ijt der Jahrgang, 
für welchen die Deore bejtimmt iit, 
genan anzugeben. - 


Kleiner Drieflaften. ü 
* de 
Anonyme et en mäct 


Mar B. in %, Wehlgetreffene Bilder 
ted Deuti Naiiers Wiltelm H. babem tor 
Iben mehrtad int der „Wartenlaube”" (ein ver 
Autaliches Meiterbild unter amberem in Salb« 
beit 16 des Laufeiben Jabtaange gebeten. Ein 

wöheres Porträt des jungen Serricert, das 

Ih zum (intrabımen worirefilich caquen amd 
einen pricitigen Yimmerjmud abgeben Burke, 
teird Halbtzejt 1 des Tommenden Jahrgangs als 
beisbere Amſibeilage brüttzen, cin Barcrot. 
das hiu achnich der Netenswahrbeit und fünlı» 
leriſcheu Austührang dem im dieſenn Nabre 
ſchen ber „Gartenlaube” beigegebenen Mailer 
bilterm nicht uachſteben weirb. 

Einer bejorgten Mutter. Bie jmen 
in dem Gartenlanbe-stalendber 1899 bie erfie 
Hilfe gegen Dipbiterie, Scharlach und Maler) 
berorgeheben warte, it Die Reiguug au Ma 
ser eine haft allaemeine, etwas weniger au 
Boden und tod) weg zu Scharlach ame 
Dipbtherie. fo deh won bei beiden ichterem 
Krankbeiten viele Stinder nicht beiallen werben 
Die Boden ſud durch die Iaufung aueacſchal⸗ 
tet, alle blelden als faft umbebimgt netvendig 
ae Die Mahern ibrig, welche ja kei einiger 
Aürlerge als eine leicht zu TMerſtedenee Er 
feanlutg tefanne find. Fur Diehe fänmeiidhen 
stinderfrantbeiten gilt nis feititchend, ba, je 
ipäter dae findliche Lebensalter it, in moeldhem fie auftwetem, defto Leichter umd fcherer ie im 
Durcjöchite zur Abbeilumg gelampen; tel Erwachſeneu treten Echarlah umb Tipbtberic 
überwiegend als umgelührliche Sultentzändungen auf. bene witz if die Mehärtung 
bes Störbers, da hierducch ber Eintridelung ven Nachtrantheiten am Äheritem vorgebeugt wire, 

SHotelbefiper 2. im W. Auf Ihre Frage „Was Felt eine Lolomotive?" Tönmen wir 
Ahnen folgente Asotunſt neten: Die erite Yolomettve in Deutihlomd, ber „Adler“ der 
Narıberg-trürtber Dat, Tamm auf 13900 fl.; der „Seuet" der Leipzig Drestener Babır 
fofsete 1955 Pfund Sterling. ine umferer beutigen Berionenzmalelemeriven soird für A8- bio 
000 eciue Wüterzugemaicine Für 31- bio 40000 „A. eime Eenderlotometive für 18- 
bis 21000 „A bergeftellt, Ein Pericwenzng mit Sclomotive, Bepäd> md acht Paflagier- 
wagen erferdert berdihmittlid Das Simmern ven 123000 „W. 

A. 0b. in Bremen. m dem Türzlic eridiemenen Revelkm Band „Unter der Linde 
ven W. —— Breie elogant gebunden „A 5,50) finden Ele auxer Jeſcha „An 


vsmwer | 


| "tanınd“. — „Untere Hankzlote”. — „Unier Männer. — „Sr der Wekergafie — 
‚Mrehmütterdhen”, — „Aus ea vier Böden“, ” 
auf 5. 868: Aufföfung 


Das Jauchzen und das Singen, 
Es ſchwillt zu mächt'gem Chor 

Und rauscht auf Engelichwingen 
Zum Sternendom empor, 

dell in die Dimmelschöre 


des Sifden-Nälbfels 
auf 5. 868: 


Stimmt er mit Jubel ein: D din 
ort in der Höh’ joll Ehre 
Und Fried’ auf Erden fein! wid der. 


8. Cohmeyer. 1 


Kerandgegeben unter verantivertliier Redaltien von Adolf Arömer. erlag vom Eruft Keil’e Nadnciget in Kespzig. Druc von 9, Biete in Leirzig 








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