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Full text of "Moses Mendelssohn. Sein leben und wirken"

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UNIVERSITY OF CALIFORNIA. 


THE SLOSS COLLECTION OF THE SEMITIC LIBRARY 
OF THE UNIVERSITY OF CALIFORNIA. 


GIFT OF 
LOUIS SLOSS. 


Feeruanv, 1897. 


Accession No. _ .- Class No. 





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UNIVERSITY OF CALIFORNIA. 


THE SLOSS COLLECTION OF THE SEMITIC LIBRARY 


OF THE UNIVERSITY OF CALIFORNIA. 


GIFT O1 
LOUIS SLOSS. 


FesruarY, 1897. 


Accesston No. . Class No. 











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Mofes Alendelsfohn. 


Sein Reben und Wirken. 


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M. Kayferling. 


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Mit authentiſchen Jlluftrationen und einem Facſimile. 


— Een 


Zweite vermehrte und neubearbeitete Auflage. 





Leipzig: 
Hermann Mendelsfohn. 
1888. 


Das Necht der Ueberſetzung ift vorbehalten. 


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Vorwort. 


Die Biographie Moſes Miendelsjohns, welche in ihrer 
erjten Auflage die freundlichjte Aufnahme und eine weite Ber: 
breitung fand, erjcheint jet nach einem viertel Jahrhunderte 
auf Anregung vieler Verehrer des jüdischen Sokrates, insbe— 
jondere meines gejchägten Freundes, des Herrn Dr. Adolf 
Sellinet in Wien, in neuer, erweiterter und, wie ich hoffe, ver- 
bejjerter Gejtalt. Die Liebe und Bewunderung für den edlen 
Mann, der jorwol im der Gejchichte des deutjchen Geiſteslebens 
als auch in der Eulturgejchichte der Juden eimen jo hervor- 
ragenden Pla einnimmt, hat mich über alle anderen litera— 
rischen Arbeiten von Zeit zu Zeit zu ihm und jeinen Schriften, 
jowie zu den Perjönlichkeiten, mit denen er in Beziehung ſtand, 
zurücgeführt. Es bedarf daher faum der Berficherung, daß 
das in den lebten fünfundzwanzig Jahren zugänglich gewor— 
dene Material in dieſer neuen Bearbeitung jorgfältig von mir 
benugt worden tft. Die im Anhange der eriten Auflage ge: 
jammelten und theilweiſe zum erſten male veröffentlichten Briefe 
Mendelsjohns wieder abzudruden, hielt ich für überflüflig; wo 
diejelben im dieſem Buche angeführt werden, habe ich auf die 
erite Auflage verwieſen. 


VI Vorwort. 


Mein Streben war in dieſer Auflage darauf gerichtet, 
das Buch durch eine möglichjt populäre Darjtellung recht 
vielen zugänglich zu machen und muß ich es dankbar aner- 
fennen, daß die gejchägte Verlagshandlung alles gethan hat, 
ihm eine gejchmacvolle Ausstattung zu verleihen. Das Porträt 
Mendelsſohns ijt nach dem beiten Stupferjtiche eines jeiner 
Zeitgenoſſen photographirt und das jeimer Frau die genaue 
Nachbildung eines Meintaturbildes, des einzigen dag von ihr 
exiſtirt. Hierzu kommen noch ein bisher ungedrudter fachtmi- 
lirter Brief und die Abbildung des Geburtshaufes und Ge- 
burtszimmers Moſes Mendelsjohns. 

So jet denn dieſes Buch allen denen gewidmet, welche 
an dem reichen denkwürdigen Leben und Wirken diejes unjterb- 
lichen Mannes fich erheben und an jeinen Schriften fich bilden 
und erquiden. Möge er der aufjtrebenden Jugend ein leuch- 
tendes Vorbild und ein Sporn jein, Wifjenjchaft und Religio— 
jität harmonisch in fich zu vereinen. 


Budapeft, den 13. März 1887. 
Dr. Kayjerling. 


Inhalt, 


Erstes Buch. Jugend. 












Seite 
. Kapitel. Das Baterhaus . — 1 
⸗ Der Talmudjünger.... 7 


Doctor Gumvert . > 2 2 2 2 414 





zweites Buch, Der junge Philosoph, 


5. Kapitel. Leffing . 








8. ⸗ Rouſſeau. Sendſchreiben an Leſſing... . . 45- 


Drittes Buch, Heue Studien und Versuche, 


9. Kapitel. Ricolei. > 20 er er ı ı 2 en 
10. E Das gelehrte Kaffeehaus und Mendelsfohns mathe: 






Viertes Buch, Ber Aeftbetiker, 


12. Kapitel. Die Briefe über die Empfindungen . 





15. : Mendelsjohns übrige äfthetifche Abhandlungen. . 87 
Sünftes Buch, Die Beriode der beginnenden Beife, 


16. Kapitel. Der Bu N a ee 








19, ⸗ Mendelsſohn und Friedrich der Großße... 4110 
20. — DIR 6646141611 








VIII Inhalt. 


Sechstes Buch. Bbädon, 
Entſtehung des Phädon » » > 2 2 1 136 





22. Kapitel. 





24. ⸗ Mendelsſohn über den Selbſtmord4146 


Beweis für die Unſterblichkeit 151 








Siebentes Buch. Seitgenossen. 


27. Kapitel. Mendelsſohn und Hamann. 163 


28. ⸗ Mendelsſohn und Herder 168 
29. ⸗ Mendelsſohn und Gleim, Zucht, | Knebel Fer 


Weihe, Schiller und Goethe . : 171 
Mendelsiohn und Wieland . . u u 


31. e Mendelsiohn und die fchweizeriichen S riftiteller 178 








Actes Buch, Tuvuterx. 


32. Kapitel. Erſte Befanntihaft und Belehrungsverfuhb . . 183 
33. ⸗ Mendelsſohns Erwiderun ... ee I 















35. ⸗ Kölbele und Conſorten. 2200 
36. ⸗ Die Bertbeidiaer - : on 22909 


Aeuntes Buch, Auszeichnungen, 
37T. Kapitel. Mendelsjohn und der Erbprinz von Braunſchweig 216 


38. Mendelsiohn und Leifin 


39. ⸗ Mendelsſohn und die Alabemie ae A 
Rehntes Buch, Sieben Zuhejuhre. 





40. Kapitel. Mendelsiohns Krankheit 


41. : Pyrmont. Mendelsjohn und Graf Wilhelm von 


42. Mendelsfohn in Baruth — — Er 246 
43. ⸗ nn un i ae a an 














Inhalt. IX 
Elftes Buch, Mendelssohn als Vertreter seiner 
Glaubensgenossen, 


47. Kapitel. Die politifche Lage der Juden _. 
48 =: Mendelsſohns Berwenden für die Set in — 


Schweiz, in Sachſen und in Königsberg.271 
49, >: Die Beerdigungsfrage. Jakob Emden . . . . 277 


VD. ⸗— Die Ritualgejege der Juden und der Yudeneid . 282 
Zwölftes Buch, Die Bibelüibersetzung, 


51. Kapitel. Anla und weck 








58. Das Deffauer Vhilanthropin und die Berliner 
Srelanle = 5 5 641 


Breizebntes Bud, Lessing, 
59. Kapitel. Nathan der Weije 








Charakteriſtik Leifingd . 


Bierzebntes Buch, Staat und Beligion, 


64. Kapitel. Emaneivation - : > m nn 82370 










65. : Borrede zur „Rettung » 2 2 2 4375 
; Staat und Kiche > > 2 nn nn nn. 382 





72. ⸗ Mendelsſohns Stellung im Judenthum. MT 
18. s Mendelsſohns Schüler, Jünger und — 425 


Aufklärung und wärmerei .» : 2 2 00.0. 434 — 





X Inhalt. 


Fünkzehntes Bud, Jucobi. 


75. Kapitel. Eliſe Reimarus und Sacobi -. : >: 2 2 22.439 








\ : Theodice . : ... ———— 

83. Mendelsſohns oüilofophifte Stanppunt 470 
84. Mendelsjohn und Kant .. 480 
Serhzebntes Buch, Mendelssohns letzter Kampf und Tod, 
85. Kapitel. Mendelsfohn und Spinoga . » » 2 22... 487 
86. s Die turlänbife en veunbinnen TIER ER 








Regiſter 540 





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Erites Bud). 
Ingend. 


Erjtes Kapitel. 
Das Baterhans. 


Dejjau, die Heine Hauptitadt des Fürſtenthums Anhalt, 
ftrahlt in der Reihe derjenigen Plätze Deutichlands, welche auf 
die Eultur der Juden und auf die Umgeftaltung ihrer politifchen, 
focialen und religiöfen Verhältniffe feit der Mitte des vorigen 
Jahrhunderts einen wefentlichen Einfluß übten. Einzig und 
allein den Männern, welche aus ihm hervorgegangen, den von 
ihnen gegebenen Anregungen und erftrebten Bielen verdankt 
Deffau feine Berühmtheit; es zählt nicht zu den jüdifchen Ge— 
meinden, deren Alter ji) in graue Vorzeit verliert, denn erjt 
feit wenigen Jahrzehnten hatten ſich Juden hier angefiedelt, ?) 
al3 derjenige geboren wurde, dejjen Name eine jo weitreichende 
Bedeutung für die Juden und ihre Gefchichte erlangt Hat. 

Noch iſt in der engen Aſkaniſchen Straße zu Defjau das 
unfcheinbare Häuschen vorhanden und jet durch eine Gedenk- 
tafel bezeichnet, in deſſen Hinterftübchen „Mofes Deſſau“, wie 
die Alten ihn nannten, am 6. September 1729 (12. Elul 5489) 


!) Im Jahre 1672 fanden die erften Juden in Deffau Aufnahme; 
1685 wohnten dort 26 jüdifhe Familien. Würdig, Chronik der Stadt 
Defjau (Defiau 1875), ©. 331. 
Kayferling, Mojes Mendelsfohn. 1 


— — 


das Licht der Welt erblickte.) Wahrli ein geſegnetes Jahr, 
das mit drei freien Geiftern, Leffing, Reimarus und Moſes 
Mendelsfohn, Deutichland befchenkte, drei Männer, welche, geiftig 
veriwandt, zu gemeinfamer Thätigkeit fi) die Hände reichten. 

Ueber das Jugendleben unferes Mofes find ung nur dürftige 
Nachrichten aufbewahrt worden. Ihm ſelbſt ſchienen feine Lebens— 
umftände jo bedeutungslos, daß er auch nicht das mindefte 
davon aufgezeichnet hat,)) und niemand hielt e8 der Mühe 
werth, die kleine unanfehnliche Pflanze zu berüdjichtigen und 
bis zur Zeit ihrer Blüthe zu beachten; niemand kümmerte fi) 
um die Entwidelung diefes Kindes, das mit vielen andern darin 
gleiches Schickſal theilte, armer aber ehrlicher Leute Kind zu fein. 
Die bedeutenditen Männer aller Zeiten find ja jelten aus den 
hauptftädtiichen Kreifen Hochgefteigerter Culture oder aus den 
reihen Familien hervorgegangen; fie entiproffen meijtens der 
anfpruchslofen Unmittelbarfeit des bürgerlichen Lebens. 

Bon Moſes Mutter — fie wird, wo e3 fih um Einfluß 
auf das Kind Handelt, billig zuerjt genannt — iſt faum mehr 
al3 der Name auf uns gefommen. Wir denken ung Sara, fo 
hieß die Glückliche, als eine jener tief und edel empfindenden, 


') Gegen alle Biographen und troß der eigenen Angabe Mojes 
Mendelsjohns (Gef. Schriften [Leipzig 1843—1845] V, 526) ftellte 
F. Lebreht in dem nad feinem Tode von Dr. A. Berliner heraus: 
gegebenen Schrifthen: Zum 150. Geburtstage Moſes Mendelsſohns 
(Berlin 1878), irregeleitet durch einen Schreibfehler auf dem alten Grab: 
fteine Mendelsſohns, die Behauptung auf, daß M. nicht den 6. September 
1729, fondern, entſprechend dem 12. Elul 5488, den 17. Auguft 1728 ge- 
boren ſei. M. ſ. auch Allg. Zeitung d. Judenthums, 1878, ©. 566, 650. 

2) Schr. V, 526. In den 25 Jahren jeit dem erften Erjcheinen 
diefer Biographie ift über Mendelsjohns Leben in Vorträgen und 
Heineren Schriften viel im Drud erſchienen. Bon befonderm Werthe 
ift die — aud von und mehrfach berüdfichtigte — Arbeit von Dr. 
Jakob Auerbah, Leifing und Mendelsfohn (Erfter Abjchnitt) (Frank— 
furt a. M. 1867), und deſſen: Mofes Mendelsjohn und das Judenthum, 
in Geigerd Zeitjchrift für die Gefhichte der Juden in Deutjchland 
(Braunfchweig 1886) Bd. 1, Heft 1. 


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ſtill thätigen und ſtill duldenden jüdiſchen Frauen, denen man 
nicht ſelten in den jüdiſchen Familien jener Zeit begegnet, und 
könnte überhaupt von einem höhern Einfluß, welchen ſie auf 
den Knaben übte, die Rede ſein, wie ihn z. B. Schiller und 
Göthe, Herder und Kant der Mutter verdankten, ſo dürfte die 
zarte und faſt weibliche Weichheit ſeines Gemüths, die ſcheue 
Keuſchheit ſeines Empfindens als Erbtheil mütterlicher Tugend 
betrachtet werden. Sie ſah den Liebling ihres Herzens nicht zum 
Manne reifen, indem ſie ihm früh entriſſen wurde; wenigſtens 
geſchieht der Mutter von dem Sohne nirgends Erwähnung. 

Moſes Vater, Mendel, war ein armer Mann, einer der 
ärmſten in der Gemeinde, der ſpärlich von dem lebte, was er 
ſich als Elementarlehrer und Geſetzesrollenſchreiber (Sopher) 
verdiente. Schon vermöge ſeines Berufes, ſeiner mühſamen 
und ſchlecht lohnenden Beſchäftigung ſtand er auf einer höhern 
Stufe der Bildung als die große Maſſe ſeiner Glaubens— 
genoſſen. Er erfreute ſich allgemeiner Achtung; dazu trug nicht 
wenig der Name der Familie bei, der er angehörte. Er ſtammte 
nämlich von R. Moſes Iſſerles, einem berühmten Rabbiner 
aus der zweiten Hälfte des ſechzehnten Jahrhunderts, welcher 
neben umfaſſender talmudiſcher Gelehrſamkeit ſich eingehend mit 
Philoſophie beſchäftigt, ſogar ein philoſophiſches Werk verfaßt 
und ſo viel Sinn für Geſchichte hatte, daß er zu der jüdiſchen 
Chronik des ſpaniſchen Aſtrologen Zacuto Zuſätze gemacht hat. 
Die Abſtammung von einer ſolchen gefeierten Autorität erfüllte die 
ganze Familie, zu welcher auch der Gründer der erſten hebräiſchen 
Druckerei in Deſſau, Moſes, Sohn des Sincha, zählte, mit 
einem gewiſſen Ahnenſtolze; ſowohl des letztern Sohn, der 
Buchdruckereibeſitzer Elia in Deſſau, als Mendels Sohn rühmen 
ſich ihres Stammvaters.) 


) Elia, Sohn des „angeſehenen und freigebigen“ Moſes Deſſau, 
aus deſſen Offiein u. a. der Commentar zum Jeruſal. Talmud des 
Deſſauer Rabbiners David Fränkel hervorgegangen iſt, nennt ſich Enkel 
des R. Moſes Iſſerles; ebenſo weiſt Moſes Mendelsſohn in einem 

1* 


—— 


Mendels ganzes Streben war dahin gerichtet, ſeinen Moſes, 
der ſchon früh beſondere Geiſtesanlagen zeigte, zu einem des 
großen Ahnen würdigen Manne zu erziehen. Im zarteſten 
Alter hielt er ihn zum Lernen an. Kaum fünf Jahre alt hatte 
ſich der Knabe unter der Anleitung des Vaters die nöthigen 
Vorkenntniſſe im Hebräiſchen, beſonders im Verſtändniſſe des 
Pentateuchs angeeignet. Auch mit den Regeln der hebräiſchen 
Grammatik machte er ſich früh vertraut und ſchon als zehn— 
jähriger Knabe verfertigte er hebräiſche Gedichte, welche er aber 
in reiferen Jahren wieder vernichtete. Dem Studium der Bibel 
lag er von früher Jugend und zwar mit ſolchem Fleiße ob, 
daß, wie einer ſeiner Jugendfreunde und Studiengenoſſen er— 
zählte, er ſie ſpäter Wort für Wort auswendig wußte.!) 

Sobald Mendel einfah, daß Moſes feinem Unterrichte ent- 
wachſen war, übergab er ihn der höheren Lehranftalt, wie das 
Bet-Hamidrafch füglich genannt werden kann, wo anfangs ein 
R. Hirſch, des frühern Deſſauer Rabbinats-Aſſeſſors Sohn, fein 
Lehrer war; noch in fpäteren Jahren konnte er die Frömmig— 
feit, den Fleiß und Haren Verſtand feines Schülerd nicht genug 
rühmen.?) Es ijt ein rührendes Bild, wie der zärtliche Vater 
fein ſchwächliches Kind in der Falten Winteräzeit ſchon vor 
Tagesanbruh in einen alten abgejchabten Mantel gehüllt in 
das Lehrhaus trug, um ihm den Unterricht im Talmud ange- 
deihen zu laſſen, den ein in feinem Fache berühmter Gelehrter 
dort ertheilte. 

Es war ein Glück für Mofes und entjcheidend für ‚feine 
ganze Geijtesrichtung, der Schüler eines Mannes zu werden, 


(1. Aufl. ©. 492 abgedrudten) Schreiben, in dem er 1770 den ihm ver: 
wandten damaligen Rabbiner der Gemeinde Neuwied feinem Freunde 
Elkan Herz in Leipzig empfahl, darauf Hin, daß er der Familie des 
R. Mofes Iſſerles angehöre. 

) %. Eudel, Biographie Mendelsſohns (hebräiſch), S. 20. 

2) 1. Aufl. ©. 490; Auerbach, Gejhichte der a Gemeinde 
Halberftadt (Halberftadt 1866), S. 189. 


— 5 — 


der in jener Zeit, in welcher jedes profane Wiſſen bei den Juden 
verpönt war, außer dem Talmud und den Caſuiſten viel geleſen, 
auch eine genauere Kenntniß der bedeutenderen hebräiſchen 
Werke aus der ſpaniſch-arabiſchen Epoche ſich angeeignet hatte. 
Dieſer Lehrer war R. David Hirſchel Fränkel, der damalige 
Dberrabbiner der Deffauer Gemeinde. Ex beichäftigte feinen 
fernbegierigen, frühreifen Schüler nicht blos mit dem Talmud 
und der Bibel, fondern machte ihn auch mit den Commentatoren 
derjelben befannt und Ienfte feinen jugendlichen, aber im Denken 
geübten Geiſt auf das religionsphilofophifhe Wert „More 
Nebuchim“ des Spanier Maimuni, das in fcharffinniger Weife 
die jüdiſche Lehre mit der arijtotelifchen Philofophie verföhnt. 
Der „Führer der Verirrten“, der fo viele jüdiſche Denker geijtig 
frei gemacht hat, wedte auch in Mofes „jenen philofophiichen 
Trieb und jenen ſcharf unterfcheidenden logiſchen Sinn, der ihn 
in feinen metaphyſiſchen und äfthetifchen Unterſuchungen jo aus— 
gezeichnet Hat. Er forfchte darin fo begierig, daß er in eine 
ichwere Krankheit verfiel und dauernden Schaden an feinem 
Körper litt. „Diefem Maimuni,“ ſagte er oft fcherzend, „habe 
ich es zuaufchreiben, daß ich einen fo verwachfenen Körper be- 
fommen; er allein ift die Urfache davon; aber deswegen liebe 
ich ihn doch, denn der Mann hat mir mandje trübe Stunde 
meine Lebens verfüßt, und fo auf der einen Seite mid) zehn- 
fach für das entjchädigt, um was er mich in Betracht meines 
Körpers gebracht Hat.“ 

Mittlerweile hatte Mofes das dreizehnte Jahr und fomit 
das Alter erreicht, in welchem damals und in manchen Gegen- 
den noch jet, die jüdischen Knaben, befonders die unbemittelter 
Eltern, dem Unterrichte entzogen und angehalten werden, fich 
ihren Unterhalt jelbjt zu erfchwingen. Die Wahl eines Berufes 
verſetzte Moſes ebenjowol wie die Eltern in nicht geringe 
Berlegenheit. Konnte der ſchwächliche Knabe wie die meijten 
feiner Alters- und Glaubensgenoſſen mit dem fchwerbeladenen 
Pak auf dem Rüden von Dorf zu Dorf und von Haus zu 


— — 


Haus ziehen und handeln? Der fromme ehrliebende Mendel 
mochte wol zuweilen den ſchönen Traum gehegt haben, ſeinen 
mit trefflichen Anlagen ausgeſtatteten Sohn weiter „lernen“ zu 
laſſen, um in ihm einſt einen Rabbiner, die höchſte Stufe, welche 
der Jude in jener Zeit erreichen konnte, zu erblicken; aber die 
Kränklichkeit des Kindes und die eigene Armuth machte ihm die 
ſüße Hoffnung bald zunichte. Wie hätte ſich die zärtliche 
Mutter auch von ihrem Lieblinge auf mehrere Jahre trennen 
können? Und doch war ohne Trennung vom elterlichen Hauſe 
ein ferneres „Lernen“ nicht möglich, denn der würdige Lehrer, 
R. David Fränkel, weilte nicht mehr in Deſſau. 

Das heiße Verlangen nach weiterer Ausbildung ſiegte über 
alle Schwierigkeiten. Was hatte er auch zu fürchten? An 
Mangel und Entbehrung war er von Kindheit an gewöhnt, und 
auch er mag wie ſein ſpäterer Freund Leſſing gedacht haben, 
daß es ſich „luſtiger und erbaulicher in der großen Stadt als 
in der kleinen muß hungern laſſen.“ 

Die lange widerſtrebenden Eltern gaben den dringenden 
Bitten ihres Sohnes nach; mit ſchwerem Herzen willigten ſie 
endlich ein. Sein feſter Wille beſchwichtigte den Schmerz, mit 
dem er von den geliebten Eltern, von feiner einzigen Schweſter!) 
und einem jüngern Bruder jchied. 

Mit einem einzigen Dufaten in der Tafche, den ihm ein 
junges Mädchen im Namen ihrer Eltern geſchenkt hatte,2) trat 
er den Weg nad) Berlin an. 


!) Die Schwefter, deren Name nicht genannt ift, ftarb unver: 
heirathet 1770 in Deflau. 

2) %. 4. 2. Richter, Moſes Mendelsjohn ald Menſch, Gelehrter 
und Beförderer echter Humanität (Deffau 1829), ©. 11. 


Zweites Kapitel. 
Der Talmudjünger. 


Es war im October 1743, im dritten Negierungsjahre des 
großen Friedrich, ald an dem Rofenthaler Thore, dem einzigen, das 
damals fremde Juden pafjiren durften, der vierzehnjährige ſchwäch— 
liche Mofes um Einlaß in die preußifche Hauptjtadt bat. ALS 
der jüdilche Thorjchreiber, der al3 legitimer Beamte der jüdischen 
Gemeinde die Eontrole über diefe Einwanderer führte, ihn nach 
dem Zwecke feines Aufenthaltes in Berlin fragte, antwortete er: 
„Lernen!“ Als aber der ernite Beamte auch über feine Sub- 
fiftenzmittel Auskunft haben wollte, fah ihn der Schwache Knabe 
ſcheu und verlegen an und wußte nicht? zu erwidern, als: 
„Rabbi David Fränkel.“ 

Sp trat Mofes in Berlin ein, ohne Geld, ohne Em- 
pfehlungen, ohne den Muth, ih Fremden zu nähern, ohne 
Freunde und Bekannte, bis auf den einzigen Rabbi Fränkel, 
feinen Lehrer, dem fein Commentar über den Serufalemifchen 
Talmud großen Ruhm und auch wenige Monate!) vor Mofeg’ 
Ankunft die Berufung als Oberrabbiner der damals über drei- 
hundert Mitglieder zählenden Berliner Gemeinde verfchafft hatte. 
Groß war die Anhänglichfeit und Liebe des Knaben zu diefem 
würdigen Manne. Schon vor defjen Abreife aus Deſſau foll 
er ihn gebeten haben, ihn mitzunehmen, was jener nur deshalb 
abgelehnt, weil Mofes Eränflih war und der mütterlichen Pflege 
bedurfte. Am Tage der Abreife felbjt aber erivartete er den 
Lehrer am Wege und wiederholte feine Bitten jo kläglich und 
eindringli, daß diefer endlich zufagen mußte, ihn fpäter unter 


1) Fränfel fiedelte im August 1743 nad) Berlin über, |. Landshuth, 
Toldoth ansche schem (Berlin 1884, I, 38); im Dctober, nah Schluß 
der Fefttage, folgte ihm Mendelsjohn, was mit deſſen Angabe (Schr. 
V, 526) übereinftimmt. Fränkels Commentar „Korban Haedah‘‘ er- 
wähnt Mendelsfohn im 122. Literaturbriefe (IV, 2, 136). 


OR es 


feine Talmudjünger aufzunehmen.?) Ob diefe Erzählung auf 
Wahrheit beruht, müfjen wir dahingejtellt fein laſſen; genug, 
Fränfel nahm ſich ſeines Schüler mit aller Liebe an. Bei 
einem frommen Manne, dem in der Probitgaffe mwohnenden 
Heimann Bamberger, der ein Gönner und Förderer der ftreb- 
famen Jugend war, verichaffte er ihm freie Wohnung in einem 
Dachſtübchen und einige Freitifche; er jelbit z0g ihn an Sabbat- 
und Feittagen an feinen Tifch, und da Moſes eine Schöne Hand- 
fchrift, das einzige Erbe feines Waters, hatte,?) fo übertrug er 
ihm das Abſchreiben feines von ihm zum Drud vorbereiteten 
hebräifchen Werfes, wofür er ihm wöchentlich einige Grofchen 
bezahlte. ne 

Das waren die Mittel einer Fümmerlichen Eriftenz, welche 
ſich Mofes in den erjten Jahren feines Berliner Aufenthaltes 
darboten. Reichten fie auch häufig nicht einmal aus, die 
mäßigjten Forderungen des Hungers zu befriedigen, fo fonnte 
er ſich doch nicht entichließen, die Mildthätigfeit anderer in 
Anspruch zu nehmen. Das Bewußtfein feiner Mittellofigkeit 
drücte ihn nieder und fchüchterte ihn fo ein, daß er es fogar 
nicht über fich gewinnen fonnte, jemand feine Noth zu entdeden. 
Mit welchem Rechte, fagte er fich oft felbft, dürfte ich den 
Menfchen zur Laft fallen? Wie fo viele Sünglinge meines 
Alter müßte auch ich mich ernähren; find doc die Leute wegen 
meines Hanges nad) geijtiger Ausbildung nicht verpflichtet, mid) 
zu unterftügen! Und fo legte er fich manche Nacht nieder, ohne 
feinen Hunger geftillt zu haben. Auf dem Brote, das ihm zur 


) Göckingk, Friedrih Nicolais Leben und. literarifher Nach- 
laß, 146. 

2) Ein Autograph Moſes Mendelsfohns in ſchöner jüdischer Current 
jhrift, gejchrieben vor feinem vollendeten breizehnten Jahre, den 
21. Auguft 1742, befindet fih auf dem Einfchlagblatte eines der Prager 
ifrael. Gemeinde-Bibliothef angehörenden Eremplars der Rechtsgutachten 
des Iſaak ben Scheſchet. S. Dr. N. Grün, ein Autograph M. M's., im 
Jüd. Literaturblatt, 4. Jahrg., ©. 6. 


——— 


Mahlzeit diente, bezeichnete er durch ſorgſam abgemeſſene Striche 
den Theil, den er an dem einen Tage eſſen durfte, um den 
andern Tag nicht gänzlich darben zu müſſen. 

Dieſe Noth, welche eine ſolche Höhe erreicht hatte, daß 
es ihm zuweilen ſogar an reiner Wäſche mangelte, und er ſich 
den Leuten aus Scham nicht zeigen wollte, beugte keineswegs 
den Muth ſeiner Seele nieder; ſie verlieh ihm vielmehr neue 
Schwingen, Höheres zu wollen und zu erreichen. Er widmete 
ſich nicht nur mit ungeſchwächtem Eifer dem Studium des 
Talmud, ſondern fing auch alsbald an, ſich im geheimen die 
noch ſtreng verpönte Kenntniß des Deutſch-Leſens anzueignen. 

Berlin war damals noch nicht das Berlin von heute, aber 
es ſteuerte ſchon in jener Zeit, namentlich ſeit dem Regierungs— 
antritte Friedrich I., darauf Hin, fi zur Metropole der 
Intelligenz zu erheben, und in der That galt es nächjt Leipzig 
für eine der gebildetiten Städte Deutſchlands. Wie aber überall, 
wo neue Ideen in Schwung fommen, Juden kraft ihrer leichtern 
Erregbarfeit gern mit thätig find, fo zeigte ſich unter einzelnen 
Bermögenden der preußifchen Hauptjtadt ſchon damals ein ge— 
heimes Streben nad) deutfcher Bildung und wurde in ihrer Seele 
der Keim eines neuen frifchen Lebens gewedt. Sie fingen an, 
feife zu ahnen, daß die frühere Erziehungsweije fie in zu tiefer 
Unwifjenheit gelaffen habe, daß deutiche Bildung das erite 
Erforderniß fei, um die Schranken zu durchbrechen, welche fie 
in Abdgeichloffenheit von ihren chriftlichen Mitbürgern hielten. 

Die wenigen beſſer Gebildeten unter feinen Glaubensgenoſſen 
nahm ſich Moſes zum Mufter und Borbild. Wie aber fonnte 
der arme Talmudjünger zu dem ihm unzugänglichen Wifjfensborn 
gelangen ? Durfte er ja faum feinen Wunſch laut werden laſſen, 
fih auch nur das Verſtändniß der deutfchen Sprache anzueignen. 
Deutfches Wiffen und Keberei war den damaligen Juden gleich- 
bedeutend. Die polnischen Rabbiner, die jedem Schritte zur 
Eultur und Bildung hemmend in den Weg traten, predigten gegen 
die Neuerer, wie man diejenigen nannte, welche ftatt des üblichen 


— — 


Kauderwelſchs die deutſche Sprache zu ihrer Umgangsſprache 
machen und ſich eines reinen deutſchen Ausdrucks bedienen 
wolten Mit gleicher Strenge verfuhren die von gleichem Geiſte 
beieelten Gemeinde-Aelteiten beionders gegen die Fremden, welde 
in polizeiliher Hinfiht ganz unter ihrer Botmäßigkeit jtanden. 
Wehe dem, der ſich mit einem deutih gedrudten Buche ertappen 
lieg! Sp erzählte der Großvater der Familie Bleihröder in 
Berlin: „Ich fam im Jahre 1746 als armer vierzehnjähriger 
Knabe nah Berlin und fand Moſes Mendelsiohn in der jü- 
diichen Lehranitalt. Dieier gewann mich lieb, unterrichtete mid) 
im Leſen und Schreiben und tbeilte oft mit mir jein kümmer⸗ 
fies Brot. Aus Dankbarkeit zeigte ich mich ihm durch Fleine 
Dienitleiitungen erfenntlih, und jo ſchickte er mich unter andern 
irgend wohin, um ein deutiches Buch zu holen Mit dieſem 
Bude in der Hand begegnete mir ein jüdiicher Armenvoriteher, 
der mich mit den Worten anfuhr: „Was baft du da? Wol 
gar ein deutihes Buch!“ Sogleich riß er es mir aus der Hand 
und ichleppte mid zum Vogt, dem er den Befehl ertheilte, mid) 
aus der Stadt zu weiien. Mendelsiohn, welcher Kenntniß von 
meinem Scidiale erhielt, gab fih alle Mühe, meine Rüdfehr zu 
bewirfen, allein vergeblihd. Er ſchaffte mir ipäter ein Unter: 
fommen in der damaligen Talmudichule in Halberftadt, und id) 
verdanfe ihm mein zeitiged Wohl“ !) 

Zroß dieſes Damoflesichwertes, das drobender als ſelbſt der 
Mangel über feinem Haupte hing, verfolgte Moſes die einmal 
betretene Laufbahn der deutichen, oder, beſſer gejagt, der nicht- 
jübiihen Wiſſenſchaft mit immer glühenderem Eifer und immer 
fihtbarerem Erfolge. Das Wort des römischen Dichters: 

„Schwer nur ringt fih empor das Talent, 

Dem ſchon in der Jugend Elend jperret den Weg!” 
fand in vollem Maße auch auf ihn Anwendung. Und er rang 
fih tapfer empor! Er ſcheute feine Mühe, Feine Anjtrengung; 


') Er. 1, 9. 


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noch in fpäter Nacht beim matten Lampenfchimmer las er die 
deutfchen Bücher, die er fich heimlich zu verichaffen fuchte; was 
er an deutſchen Drudichriften nur immer auftreiben konnte, 
wurde in unerfättlicher Gier von ihm verfchlungen. Es läßt 
fi denken, daß er in feiner Lectüre gerade nicht fehr 
wähleriih war. Bei einem feiner Glaubensgenofjen fand er 
Reinbecks „Betrachtungen über die Augsburgiiche Confeſſion;“ 
es war vielleicht eins der erjten deutjchen Bücher, das er über- 
haupt gelefen hat.?) Mit unaufhaltfamer Gewalt zog ihn der 
philofophiihe Theil der Betrachtungen an: er handelte von den 
Beweifen für das Dafein Gottes, demfelben Thema, über 
welches er noch gegen Ende feines Lebens ſich vernehmen Tieß. 

Die Kenntniß der deutichen Sprache, fo wie eine deutjche 
Handichrift, die uns felbjt Heute noch als ſchön erſcheint, hatte 
fih Moſes angeeignet. Er fand nun auch alsbald Gelegenheit, 
feinem Wiſſensdurſte neue Befriedigung zu verichaffen. 

Zufällig machte er die Befanntichaft eines gelehrten Rabbiners 
aus Galizien, der wegen feiner Liebe zu den Profanwiſſenſchaften 
dem Neide und der Verfolgung ſich ausgefegt jah und deshalb 
feine Heimat verlaffen mußte. Diefer Mann, Iſrael Moſes Levi, 
auch Iſrael Samosz genannt, ein philofophifcher Denker und 
guter Mathematiker, der auch poetifche Begabung Hatte, lebte 
feit 1742 in Berlin, treu der Wiſſenſchaft ergeben, unter Leiden 
und Entbehrungen, bis der reiche und wohlthätige Daniel Fig 
fich feiner annahm und ihm Aſyl bot. In dem Itzigſchen Haufe 
in der Burgftraße zu Berlin, an dejjen Stelle der geniale Hitzig, 
ein Enfel Daniel Itzigs, die prachtvolle Börſe baute, jchrieb 
Samos; feinen Commentar zum „Kufari“?) und empfing ex 
häufig die Beſuche Mofes’, der fich ihm näher anfchloß und 





1) Schr. V, 206. 

2) Diefen Commentar zum Kuſari, „Ozar Nechmad,‘ welder 1796 
zum erften male in Wien gedrudt wurde, fchrieb Mendelsjohn theil: 
weife eigenhändig ab; ein Fragment diejer Abjchrift (5. Abſchnitt) 
befindet fih im Befige des Hrn. Dr. A. Berliner in Berlin. 


von ihm den erſten Unterricht in der Mathematik erhielt. Unter 
feiner Anleitung jtudirte er den Euflid aus einer hebräifchen 
Ueberfegung, und wir werden fpäter jehen, zu welcher Boll 
fommenheit er es auf diefem Gebiete durch ununterbrochenen 
Fleiß und Eifer gebracht Hat. 

Der Umgang mit diefem interefjanten Gelehrten!) blieb 
auf die geiftige Entwidelung des jungen Mofes nicht ohne 
wejentlichen Einfluß. Mit den Werfen der jüdifchen Religions— 
philofophie innig vertraut, erging fi) Sfrael Samosz mit ihm 
in metaphyſiſchen Speculationen, welche bald ein Band der Ver— 
traulichkeit zwifchen Lehrer und Schüler bildeten. 

Die liebgewonnene Beichäftigung mit der Mathematik 
und Den züdiichen Philofophen des Meittelalter8 machte den 
Wunfh in ihm rege, aud) die claſſiſchen Sprachen zu treiben. 
Wollte er bei dem Studium der mittelalterlihen Philoſophie 
nicht jtehen bleiben, jo mußte er nothwendig Lateinisch jtudiren; 
wer die neuere Philoſophie fennen Lernen und auf den Namen 
eines Gelehrten Anspruch machen wollte, durfte der Tateinifchen 
Sprache nicht unkundig fein. Nun war es dem befcheidenen, 
anfpruchglofen Zünglinge allerdings nicht darum zu thun, den 
hochtönenden Namen „Gelehrter“ zu führen; wol aber hegte 
er den jehnlichiten Wunfch, die Sprache der Römer kennen zu 
lernen, um durch fie feinen Gefichtskreis in den Wifjenfchaften 
zu erweitern, 

Mangel an Geld, fich die nothiwendigften Bücher zu kaufen 
und fi) einen Lehrer zu Halten, gab ihm anfangs wenig 
Hoffnung, feinen neuen Studienplan in Ausführung bringen zu 


!) Meber Israel Samosz ſ. Schr. V, 204 f., Landshuth, Die Gegen- 
wart (Berlin 1867), 325. In dem ehemals jo berühmten Parfe Daniel 
Itzigs — Köpnikerftraße Nr. 168 — fand man 1865 unter andern 
Kunftwerken eine Sonnenuhr auf einer fupfernen Platte mit detaillir- 
ten Eintheilungen nad der injchriftlihen Erfindung des Rab. Israel 
Moſes vom Jahre 1762, Voſſiſche Zeitung, 1865, Nr. 103, 1. Beil. ©. 4. 
Er ftarb in Brody den 20. April 1772. 


rn. 


fönnen. Um fih Bücher anzuschaffen, fing er an zu fparen. 
Sobald er einige Grofhen, für Mofes damals ein Capital, 
zufammengebradht Hatte, fchlich er heimlich zum Antiquar; er 
erftand eine alte lateinifche Grammatik und ein jchlechtes Lerifon. 
Auch für einen Lehrer war bald geforgt. Ein junger jüdiſcher 
Arzt aus Prag, Doctor Abraham Kifch,t) der fih im Sefuiten- 
Collegium feiner Baterjtadt die Kenntniß der alten Sprachen 
erworben hatte, machte fich erbötig, ihm bei diefem Studium 
behüfflic zu fein. Mofes genoß wirklich ungefähr ein halbes 
Sahr täglich eine viertel Stunde Unterricht bei ihm, mehr aber 
als diefer förderte ihn fein eiferner Fleiß; in kurzer Zeit konnte 
er den kühnen Gedanken wagen, einige Schriften des Eicero, 
welche ihm in einem alten Bande zufällig in die Hände fielen, 
zu Iefen. Seine Neigung zu philojophiichen Materien mag 
jedoh in den Reden des römifchen Confuls feine Befriedigung 
gefunden haben; groß war daher feine Freude, al3 er bei einem 
Berfäufer alter Bücher eine alte Tateinifche Ueberſetzung von 
Lockes „Verſuch über den menfchlihen Verſtand“ erwiſchte. 
Dieſes Werk ſuchte er, wie Nicolai aus ſeinen Jugenderinne— 
rungen mittheilt, „mit unbeſchreiblicher Mühe zu entziffern; er 
ſchlug jedes Wort, das er nicht verſtand, und das waren die 
meiſten, im Lexikon nach und ſchrieb es auf, bis ein paar 
Perioden beiſammen waren. Alsdann dachte er über den Inhalt 
nach. Durch Nachdenken ſuchte er das Verſtändniß zu errathen, 
und wenn er es gefunden zu haben glaubte, verglich er es wieder, 
ſo weit ſeine Kenntniß der Sprache reichte, mit dem Wortver— 
ftande.“?) Wer möchte da nicht mit dem alten Heſiod ausrufen: 


„Bor die Thüre der Weisheit ftellten die Götter den Schweik hin.“ 








ı) Abraham Kifch, der Sohn eines Apotheferd, daher auch Rokeach 
genannt, promopvirte 1749 in Halle mit der Differtation „Theoria et 
Therapia Phtyseos pulmonalis“ und lebte dann als Arzt in Prag 
bis zu feinem, den 6. Juni 1803 erfolgtem Tode (Mittheilung des 
Hrn. Dr. N. Grün in Prag). 

2) Schr. V, 206; vergl. Göckingk, a. a. O. 147. 





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Für Mojes gab es feine Schwierigkeiten, die er nicht durch 
Fleiß und Ausdauer überwunden hätte. So viel Anftrengung 
das Erlernen des Lateinischen ihn auch anfangs koſtete, jo kam 
er dem Verſtändniß dejjelben doch alsbald nahe und er Eonnte 
in furzer Zeit den Ideenreichthum eines Plato und Ariftoteles 
aus lateinifchen Ueberfegungen in fich aufnehmen. 

Der Autodidaft bleibt nie auf halbem Wege. Sobald 
Moſes einſah, daß das Lateinifche die Bafis der neueren 
Sprachen fei, faßte er den Entichluß, auch Franzöfifch und 
Engliſch zu lernen. Wieder ließ fich ein junger Studiofus 
herbei, ihm hierin einige Anleitung zu geben, und dieſer junge 
Mann war fein anderer als der Doctor Gumpertz. 


Drittes Kapitel. 


Doctor Gumpertz. 


AS nach dem Dresdener Frieden der junge Preußen- 
fönig in den legten Tagen des Jahres 1745 feinen Triumph 
zug in feine Hauptjtadt hielt, gaben auch die Juden, wie ge 
wöhnli bei folchen Anläffen, in mannichfacher Weile ihre 
Freude fund. Sie exleuchteten ihre Synagoge aufs prächtigfte 
„von Sinnen und von Außen“ und veranftalteten einen feierlichen 
Öottesdienft. Bei diefer Gelegenheit hielt Oberrabbiner Fränkel 
die Feftrede und wurde ein von ihm eigens zu dieſer Feier 
verfertigtes hebräifches Siegeslied unter Mufifbegleitung vor- 
getragen. Die Juden wiünfchten Ddiefes Lied ins Deutſche 
überfegen zu laſſen, damit auch ihren chriftlihen Mitbürgern 
die Kundgebung ihrer Loyalität zu Gefichte käme, und be- 
trauten einen zweiundzwanzigjährigen, „der Philofophie und 


a — 
mathematifhen Wiſſenſchaft befliffenen‘ jungen Mann mit der 
Ueberfegung.?) Diefer junge Mann war der fpätere Doctor 
Aron Salomon Gumpers, auch Aron Emmerich genannt, welcher 
der Lehrer unſeres Mofes wurde. 

Gumpertz, ein Enfel jenes Elia Gumpertz aus Emmerich), 
welcher dem großen Kurfürften al3 Lieferant und Agent wefent- 
fihe Dienſte leitete, auch zu diplomatischen Unterhandlungen 
nah Holland geſchickt wurde, war ſchon in feiner früheften 
Jugend von feiner frommen Mutter zum Rabbiner beftimmt 
und erhielt demgemäß von dem Rabbiner Iſrael Samosz und 
andern Lehrern Unterricht. 2) 

Der glaubwürdigite Berichterftatter iiber feine Lebensver— 
hältniffe und feinen in jenen. Zeiten nicht ohne Schwierigkeiten 
zurücgelegten Bildungsgang ift der junge Gumperg felbft. In 
dem Alter von zweiundzwanzig Jahren fchloß ex ſich dem ge- 
waltigen Führer der damaligen Gelehrten-Republif, dem Leipziger 
Gottſched, an und bat ihn um feine hohe Protection, wie er 
denn auch fo lange mit ihm in Correfpondenz blieb, bis fein 
Ipäterer Freund Leſſing dieſes „gefürchtete Schulhaupt des ver- 
dorbenen Geſchmacks“ mit fchneidender Schärfe und durchtriebenem 
Humor angriff und glücklich aus dem Felde fchlug. 

„Ich bin,“ Heißt es in der rührenden Supplif?) des 
jüdifchen Studenten vom 8. März 1745, „feit zwanzig Jahren 
ein Mitglied der menschlichen Geſellſchaft. Den allergrößten 
Theil diefer Zeit habe ich auf die Studien gewandt, die bei 
meinen Glaubensgenoſſen in Gebrauch eingeführt find. Die 
Nebenftunden ungerechnet, die zuweilen zu der franzöfifchen 
Sprache, der Rechenkunſt und einer Uebung im Schreiben, wie- 


) König, Annalen der Juden in der Mark Brandenburg, 276. 
Das Gedicht mit einer erbärmlichen jüdiſch-deutſchen Ueberſetzung, welche 
Mendel Wolf Schwab zum Berfaffer hat, wurde ganz unnöthigerweiſe 
wieder abgedrudt von 2. Landshuih, Toldoth ansche schem, 41—48. 

2) Neber Gumperg ſ. 2. Landshuth, Die Gegenwart, 318 ff. 

3) Bei Danzel, Gottfched und feine Zeit, 333 ff. 


— 16 — 


wohl ohne Jemandes Anführung, ſondern, wie mir es der 
natürliche Eifer eingab, herhalten mußten. Wie weit ich es 
nun herin getrieben, überlaſſe ich andern jedoch unparteiiſchen 
Richtern zu beurtheilen; genug, es kann mir nicht vorgerückt 
werden, es hätten meine Lehrmeiſter ihre Mühe unnütz ver— 
ſchwendet. Die Neubegierde, welche aber in ſolcher Abſicht vor 
eine Tugend erkenne, zündete von meiner zartejten Jugend in 
meinem Herzen eine Flamme an, die nur allein durch Erfahrung 
neuer Kenntniffe genährt wird. Diefer angeborene Zug zu den 
Wiſſenſchaften und freien Künften befam allerft vor drei Jahren 
ein Licht und fand den Steg, der zu feinem Endzweck leitet. 

Man kann leicht ermefjen, daß ich weder Fleiß noch Mühe 
gejparet, jo wenig die anmuthige Sommer- al3 die tieffinnige 
Winterzeit verfließen lafjen, ohne im Nachſinnen in der Mathe: 
matif und Naturlehre, injfofern es meine Umftände und die den 
hebräischen Studien gemwidmete Zeit erlaubte, meinen Durft zu 
löſchen und mich zu ergüßen. 

Sch habe zu dem Ende und auf Anrathen der Töblichen 
Profefjoren Hiefiger Königlichen Akademie der Wiffenfchaften 
einige Zeit der lateiniſchen oder Gelehrten Mutterfprache zu- 
theilen müffen. Darin auch nächſt göttliche Hülfe! binnen ein 
halbes Jahr jo weit gerüct, daß ich der mir nöthigen Schrift- 
fteller Sinn begreifen kann. 

Sch bin keineswegs fo ruhmredig, dieſes alles mich groß 
zu machen erwähnt zu haben. Es fei ferne! Sch wiirde fo 
thöricht nicht fein, in Gegenwart eines fcharffichtigen Auges 
meine Fehler zu bemänteln. Die Selbitliebe hat ſich auch meiner 
noch nicht fo bemeijtert, daß mir bereden follte, den geringften 
Rang unter den Mufen einzunehmen. Ach bin vielmehr ver- 
gnügt durch meine unermüdeten Bemühungen erfannt zu haben, 
wie viel mir noch zu einem Gelehrten mandgle. 

Daß aber fein Baum des Verſtandes zeitige Früchte zeuge, 
oder mit dem gemeinen Manne zu reden, fein Meijter geboren 
werde, ijt eben jo ausgemacht als gewiß ift, daß mit den Jahren 


a 


auch) die Weisheit zunehme und der Geiſt aufgeklärt werde, 
Sch glaube mich alfo Feines Vergehens theilhaft zu machen, 
wenn ich Hoffe vollfommener zu werden, al3 ich bin, und mir 
indefjen den Charakter Philofoph nach feinem eigentlichen grie- 
hifchen Verjtande oder Freund der Weisheit anmaße, 

Und dieſes leßtere in Anfehung meines unerfättlichen Ver— 
langens von allen Wahrheiten deutliche und vollftändige Be- 
griffe zu erlangen, das fchwerlich in größerem Grade bemerkt 
werden mag. 

Wie fünnte ich aber dieſe meine Haupt und heilfamjte 
Abfiht erreichen, wenn ich noch feinen Lehrer al3 richtigen 
Wegweiſer gehört? Die finnreichiten Schriften find dennoch an 
vielen Orten dunfel und ohne die Erläuterung eines gejchicten 
Unterweifers unverftändlih. Jene find erblaßte Worte, diejer 
hingegen eine lebendige Schrift, und wenn der leßtere auch zu 
Zeiten den erjtern nachzufegen, jo iſt nichtsdejtoweniger das 
Licht des Monds bei heiterm Himmel ftärfer als der in Wolfen, 
Dunst und Nebel verwidelten Sonnen, 

Ew. Wohk-Edel-Geboren durchdringende Einficht wird bei 
Erwägung alles bisher Erzählten leichtlich urtheilen können, 
wie fehnlich ich gewünscht, bei einem akademischen Lehrer die 
füge Milch der Wiſſenſchaften zu ſaugen. Wo kann ich aber 
wol mein Anliegen näher juchen, als wenn eben zu Ew. Wohl- 
Edel-Geboren mid) in Unterthänigfeit wende? Sie find es, der 
den deutfchen Mufen zum theuerjten Beichüger geichaffen. Sie 
find es, deſſen unſchätzbares Verdienſt um die Wiſſenſchaften fo 
allgemein gepriefen wird. Sie find es, dem wir Deutiche fo 
verfchiedene geiftreihe Schriften zu danken Haben. Ja Sie 
find endlich derjenige Wunderftern, den die gefammte Gelehrten- 
welt mit jo großer Aufmerffamfeit bewundert. Bei einem fo 
unvergleichlichen Weltweifen, bei einem jo fürtrefflichen Redner 
und mit einem Worte bei einem Oberhaupte der Gelehrſamkeit 
muß ich billig Weisheitsichäße holen. 

Sch Habe daher unterthänigft anflehen follen, es möchte 

Kayſerling, Mojes Mendelsjohn. 2 


Br 


Ew. Wohl-Edel-Geboren gnädigjt Sich gefallen laſſen, mir zu 
erlauben zu Höchſtdenſelben nacher Leipzig mic) zu verfügen, 
um unter Dero Schußflügel weiden zu können. Ich will weder 
Mühe noch Fleiß anjehen, Ihnen nad) Vermögen gehorfamft 
aufzumarten. Ich werde mich glüdjeligit ſchätzen, wenn id) 
Ew. Wohl-Edel-Geboren, fo mit meiner Wenigfeit im Schreiben, 
Salculiren oder ſonſt dergleichen meiner Dienjtfertigfeit über- 
zeugende Proben geben fünne. Ich verlange nichts als Schuß 
und Schirm in Dero glüdjeligem Haufe. Ich will alfo unter 
nachgefeßter Aufſchrift durch einen deroſelben geringjten Lehr: 
fingen oder Bedienten VBerhaltungsbefehl Hierin erwarten und 
des Bertrauens eben, in meinem demüthigften Anfuchen Gehör 
und Gelegenheit zu finden, mich bis zu meinem Grabe in tiefjter 
Erniedrigung und Ehrfurcht zu nennen ꝛc. 2c.“ 

Gottſched, der den Grundſatz Hatte, man könne der Freunde 
nie genug haben, beantwortete den langathmigen, jchwulftigen, 
dem Geſchmacke Gotticheds und feiner Zeit entiprechenden Brief 
de3 jungen Gumpertz höchjteigenhändig und gab ihm das Ber- 
Iprechen, ihn „unter feinen Schutzflügeln meiden zu Tafjen“. 
Aus dem Plane wurde allerdings nichts. „Die bald hernach 
erfolgte Uneinigfeit zwifchen den Höfen zu Berlin und Dresden,“ 
heißt es in einem andern Schreiben vom 15. December 1747,1) 
„welche endlich in Thätlichkeiten ausgebrochen, zeigen Hinläng- 
fihen Grund an, warum ich meines jo jehnlichen Wunfches 
ohnerachtet, nicht nach Leipzig gereifet.“ Er blieb in Berlin, 
fnüpfte vermöge der Wohlhabenheit feiner Eltern Verbindungen 
mit angefehenen dortigen Gelehrten, befonders mit Maupertuis 
und dem Marquis d'Argens an; beiden diente er eine Zeit Yang 
al3 Secretär. D'Argens, der Verfaſſer der „Jüdiſchen“ und 
„Rabbaliftifchen Briefe“, fuchte die talmudifchen und vabbinifchen 
Kenntniffe des jungen Studiofus fi zu Nuße zu machen; er 
unterhielt fi) täglich mit ihm und befuchte ihn zuweilen in 





1) Bei Danzel, a. a. D. 335. 


— 25 


feinem „eigenen“ Haufe. Das war, wie Gumperb felbjt ver- 
fihert, den allerwenigjten Gelehrten in Berlin ebenfowenig 
unbefannt als daß er mit der gefeierten Doris, der treuen 
Gehülfin Gotticheds, im Briefwechſel ftand. 

Gumperg, welcher Mediein jtudirte und im März 1751 
mit der, Maupertuis gewidmeten Differtation „Ueber die Tem- 
peramente“ in Frankfurt a. DO. den Doctorhut erwarb, wurde der 
Lehrer unſeres Moſes. „Durch den Umgang mit dem nad)- 
herigen Doctor der Arzneigelartheit, Herren Aron Gumpertz,“ 
Ichreibt Mendelsfohn einige Jahre nach deſſen ZTode,!) „habe 
ih Gefchmaf an den Wiffenfchaften gewonnen, dazu ich auch 
von demjelben einige Anleitung erhielt.“ Cr war fich recht 
wohl alles deſſen bewußt, was er ihm verdankte. Bon ihm 
erhielt er Unterricht im Franzöſiſchen und Englifchen; durch ihn 
wurde er mit dem fpätern Akademiker Beaufobre und anderen 
befähigten jungen Leuten des Joachimthalſchen Gymnafiums 
befannt; durch ihn wurde fein Intereſſe für Leibniz und Wolff, 
die Häupter der neuern philojophifchen Schule, gewedt und 
feine Befanntfchaft mit Maupertuis, dem Präfidenten der Berliner 
Akademie, vermittelt. Kein anderer als Gumpertz war es, der 
den jchüchternen Moſes ſpäter auch Leſſing zuführte. 2) 

Mofes Hört nie auf, diefem feinen Wohlthäter und Förderer 
ein dankbares Andenken zu bewahren. Der frühejte Brief, 
welchen wir von ihm befigen, ift an Gumpertz gerichtet. In 
diefem Schreiben, auf welches wir noch zurüdfommen, heißt es: 
„Wer Sie näher kennt, theuerjter Freund! und Ihre Talente 
zu fchägen weiß, dem kann es gewiß an feinem Exempel fehlen, 
wie leicht fich glückliche Geifter ohne Vorbild und Erziehung 
emporſchwingen, ihre unſchätzbaren Gaben ausarbeiten, Geift 
und Herz befjern und fich zu dem Range der größten Männer 
erheben können. Ich gebe einem Jeden zu bedenfen, ob Sie, 


1) Schr. V, 5%. 
2) Schr. V, 205, 07. 





2* 


a Mi 


großmüthiger Freund! nicht die Rolle des Juden im Schaufpiel 
(der Jude von Leifing) übernommen hätten, wenn Sie auf Ihrer 
gelehrten Reife in feine Umſtände gejegt worden wären. ja 
ich würde unfere Nation erniedrigen, wenn ich fortfahren wollte, 
einzelne Erempel von edeln Gemüthern anzuführen. Nur das 
Ihrige konnte ich nicht übergehen, weil es fo jehr in die Augen 
feuchtet und weil ich es allzuoft bewundere.“!) 

Doctor Gumper& verheirathete ſich mit einer reichen Jüdin 
und lebte al3 Privatmann in Hamburg,?) wo er einen, aud) 
von Mendelsfohn rühmend erwähnten kurzen Ueberblid über alle 
Theile der Wiſſenſchaften in hebräiiher Sprache veröffentlichte.) 

Er hatte die freudige Genugtduung, von feinem Schüler 
bald philoſophiſche Schriften zu leſen. 


Viertes Kapitel. 
Der Hauslehrer. 


Eine mehr denn fiebenjährige Leidenszeit hatte Mendels— 
fohn, wie er fich ſelbſt nannte und wir ihn fortan nennen 
wollen, durchgemacht, als es ihm endlich beichieden wurde, mit 
Hoffnungsvollern Bliden in die Zukunft fchauen und einem zwei— 
ten Jakob gleich, feine Geliebte, für die er Iebte, ftrebte und 
fitt, die Wifjenichaft, mit Innigkeit umfangen zu fönnen. 

Sein beicheidenes, anfpruchslofes Weſen, feine mühſam 
errungenen Kenntniſſe hatten die Aufmerkſamkeit des Seiden- 
fabrifanten Iſaak Bernhard (Bermann Zilg) erregt; er jtellte 


) Schr. III, 479. 

2) Schweizer Briefe I, 91. 

) Maamar ha-Madah, zufammen mit einem Super-Commentar 
zu Ibn Esras Commentar zu den fünf Megilloth (Hamburg 1765), 
von Mendelsjohn erwähnt in dem Commentar zu Millotd Higajon 
(Berlin 1766), Pforte 14, Einleitung. 


Mendelsjohn den Antrag, ald Lehrer und Erzieher feiner Kin- 
der in fein Haus zu fommen. . Man denke fich), mit welcher 
Freude dieſes Anerbieten aufgenommen wurde. 

Mit dem Eintritt in das Bernhardihe Haus — e3 war 
dies im Fahre 1750 — beginnt in dem Leben des jungen 
Mannes eine neue Epoche. Er war mit einem male der 
drüdenden Sorge um feine Erijtenz überhoben und fonnte nun 
mit größerer Ruhe an feine Studien und feine eigene Fortbil- 
dung denfen. 

Neben der treuen und erfolgreichen Fürforge für die Er- 
ziehung der ihm anvertrauten Zöglinge dachte er in der That 
nur an feine wifjenfchaftlichen Studien. Daß er nie auf einer 
Univerfität gewejen, nie ein Colleg hat leſen hören, war, wie 
er jelbjt Fagt,t) „eine der größten Schwierigkeiten, die er über— 
nommen hatte“, indem er alles durch Anjtrengung und eigenen 
Fleiß erzwingen mußte und erzwang. Ye mehr fich feine äußer- 
lichen Verhältniſſe befjerten, dejto freier bewegten ſich die Schwin- 
gen feines Geiftes. Jetzt erſt entfalteten fich feine Anlagen nad) 
den verſchiedenſten Seiten, denn „es ift mit der Entwidelung des 
Geijtes wie mit dem Frühlinge des Jahres, wenn nur erſt Ein 
warmes Lüftchen weht, Eine Duelle riefelt, Eine Knospe ſchwellt, 
zudt der Frühling bald auch durch die ganze Natur, und alles, 
was keimt, erjprießt zur vollen Blüthe“. 

Mendelsfohn Hat mit jedem Autodidakten das jtolze Be- 
wußtfein, alles durch fich feldjt geworden zu fein, und infofern 
finden treffliche Anwendung auf ihn des Freundes herrliche Worte: 


„Ein Geift, den die Natur zum Muftergeift beichloß, 

Iſt was er ift, dur fih, wird ohne Regeln groß, 

Gr geht, fo Fühn er geht, aud ohne Weifer ficher, 

Er ſchöpfet aus ſich ſelbſt. Er ift fih Schul’ und Bücher.‘ 

Ohne Schule und ohne Lehrer gewann Mendelsjohn in 
den vier Jahren, welche er im Bernhardichen Haufe verbrachte, 


) Schr. V, 526. 


_— 2 — 


ein geiftiges Bildungscapital, das zu verarbeiten nur unendlid 
Wenige Kraft, Energie und Fähigkeit befeffen haben. Seine 
talmudifchen Studien jegte er fort; das Englifche trieb er fehr 
eifrig; feine bis dahin nur gering zu nennende Kenntniß des 
Lateinischen erweiterte er, ſodaß es ihm bald möglich war, fi 
an einer Dde des Horaz, welcher Dichtung und Philofophie in 
ſchönen Kränzen verflicht, zu ergötzen. 

Um Philoſophie war es Mendelsſohn hauptſächlich zu thun, 
er lebte ganz in ſpeculativen Ideen und gab ſich mit Vor— 
liebe den philofophifchen Studien Hin. Nicht nach Kenntniffen, 
welche er verwerthen wollte, jtrebte er, fondern nach Weisheit, 
und er nahm fie auf, wo er fie fand, 

Der „Führer der Verirrten“, der „Kuſari“ und die übri- 
gen jüdiſchen religionsphilofophifchen Werke haben auf feinen‘ 
Geift einen unverfennbaren Einfluß geübt; die aus ihnen ge 
Ihöpften Ideen bildeten in ihm, wie hundert Jahre früher in 
Spinoza, die erſte Bafis einer eigentlich philofophifchen An— 
Ihauung. Unwillfürlic) wurde er fo auch auf die Kabbala ge 
leitet. Schon als zwanzigjähriger junger Mann war er zu der 
Ueberzeugung gelangt, daß die Dunkelheit diejer orientalifchen 
Philofopheme theil3 aus den im Driente gewöhnlichen Bildern, 
theil3 aber auch aus der Armuth entitanden fei, welche der he 
bräifchen Sprade für Ausdrüde philofophifcher Begriffe eigen 
ift, daß fie aber, von der Hülle entfleidet, Ideen zu Tage für- 
derten, welche mit denen fpäterer Denker viele Aehnlichkeit hätten.!) 

Auch auf dem Wege, fich mit der neuern Philofophie ver- 
traut zu machen, begegneten wir ihm jchon früher. Sein deutſches 
Lefebuch führte ihn ebenfo wol in die Schule des Leibniz-Wolff- 
Ihen Dogmatismus ein, wie er durch den alten Duartanten, 
aus dem er fein Latein mühfam gelernt hatte, auf die Schar 
der engliichen Freigeifter und Deiſten hingewieſen wurde. 

Betrachten wir feinen Bildungsgang etwas näher. Mit 


ı) Nicolai, Weber meine gelehrte Bildung (Berlin 1799), 43. 


— — 


Lockes „Verſuch über den menſchlichen Verſtand“ wurde er zu— 
erſt bekannt. Wie viele ſeiner Zeitgenoſſen, nahm auch er von 
den Engländern ſeinen Ausgangspunkt und folgte ſomit der all— 
gemeinen Strömung, welche ſeit dem Ende des ſiebzehnten Jahr— 
hunderts alle Veränderungen in der Politik wie in der Literatur 
in Bewegung ſetzte. Die ſtaatlichen Umwälzungen, welche auf 
der britanniſchen Inſel das Syſtem des Mittelalters zu Grabe 
trugen, riefen einen Kampf über die Grundlagen göttlicher und 
menſchlicher Ordnung hervor, deſſen Wirkungen ſich auch alsbald 
in Frankreich, ganz beſonders aber in Deutſchland zeigten. 

Die engliſche Literatur, ſagt Danzel, iſt der Stab geweſen, 
an welchem ſich die deutſche den größten Theil des vorigen Jahr— 
hunderts hindurch emporgerankt hat, bis ſie endlich im letzten 
Viertel deſſelben hinlänglich erſtarkt war, um nicht nur allein 
ſtehen, ſondern auch der bisherigen Ernährerin friſche Lebens— 
ſäfte mittheilen zu können. Das neue Element, das von Eng— 
land her in Deutſchland eindrang, verjüngend und belebend, 
war ein Hauch friſcher Seeluft, der durch die ſchwülen Gaſſen 
einer dichtbevölkerten Stadt weht, war die Aufforderung, aus 
der Verknöcherung der Formen und conventionellen Regeln zu— 
rückzukehren zu Natur und Freiheit.) 

Locke, lange Zeit der Lieblingsſchriftſteller Mendelsſohns, 
fand mit ſeinem Senſualismus gleich beim erſten Auftreten einen 
wohlvorbereiten Boden und, einzelner Widerſprüche ungeachtet, 
eine überaus günſtige Aufnahme. Die ſyſtematiſchen Denker der 
verſchiedenen Nationen gingen von ihm aus oder kehrten zu ihm 
zurück; viele, ſelbſt die Bekämpfer ſeiner Lehre, haben von ihm 
gelernt. Leibniz, deſſen Syſtem im diametralen Widerſpruch zu 
dem des Engländers ſteht, iſt ehrlich genug zu bekennen, daß 
er „einem moraliſirenden Lord“ vieles zu danken, ja wichtige 
und weſentliche Geſichtspunkte ſeiner Theodicée in deſſen Werken 


) Danzel und Guhrauer, Gotthold Ephraim Leſſing. Sein Leben 
und feine Werfe. 2. Aufl. (Berlin 1880—81) I, 278. | 


Zu. 


vorgefunden Habe. Voltaire gab jeinem frivolen Geijte die 
Schriften eines Lode, Bope und Newton zur Nahrung. Dide- 
rot überjegte Shaftesbury und iſt entzüdt von Richardfon. 
Rouſſeau vertiefte fich in ode; fein Emile und Conträt Social 
find aus ihm hervorgegangen. 

Ein Geift wie Mendelsfohn, der fo ganz auf Lebensan- 
Ihauung und unmittelbare Erkenntniß geftellt war, mußte noth- 
wendig an dem Lockeſchen Syiteme Gefallen finden; er mußte 
jih um fo mehr zu ihm Hingezogen fühlen, als er, treu den 
Grundfägen des englifchen onftitutionalismus, der erſte war, 
der e3 wagte, unbeſchränkte Freiheit für jeden zu verlangen und 
im Namen der Gerechtigkeit jede Ausſchließung von Staatsbür- 
gern ihres religiöfen Befenntniffes wegen für ein Schandmal 
der menschlichen Gefellihaft zu erklären.!) 

Was Mendelsfohn an Lode und die Engländer, welche 
fich deſſen Theorie anfchloffen, befonders an Shaftesbury, dejjen 
geiftreiche Schriften er ebenfo wie den feiner Meinung nad) 
feichten Hutchefon früh ftudirte, jo gewaltig fejjelte, war ficher- 
fich nicht die freie religiöfe Richtung, welche fie vertreten, oder 
die erbitterte Sfepfis, für die feine gemäßigte Natur nur wenig 
geeignet war; wir müſſen vielmehr die Bewunderung, welche ex 
mit der ganzen damaligen Generation den Engländern zollte, 
auf den eigenthümlichen Geiſt beziehen, welcher fi) bei den 
engliihen Philofophen fundgab. Sie hatten ſich als Menschen 
gezeigt, welchen das zutheil geworden ift, was Göthe das 
Höchſte nennt, was dem Menjchen zutheil werden kann, daß 
er ein eigenes Herz im Bufen trage. Mendelsfohn war ein 
zu jubtiler Denker, al3 daß er dieſe Seite nicht bald hätte Her- 
ausfinden follen, und daß er es fand, gewillermaßen heraus— 
fühlte, erfahren wir aus einer Stelle in einem Briefe an Leffing, 


ı) Works, II, 259: I would not have so much as a Jew or 
Mahometan excluded from the civil rights of the common-wealth 
because of his religion. gl. Schlofier, Geſchichte des achtzehnten 
Sahrhunderts, I, 384 ff. 


ee Sa 


welche lautet: „Die Franzofen philofophiren mit dem Wiße, die 
Engländer mit der Empfindung.“1) Diefe Gefühls- und Mo— 
ralphilofophie mußte notwendig den gewinnen, der felbjt Ge— 
fühl und Herz an feinem PBhilofophiren theilnehmen ließ. Nur 
Locke, Clarke und Shaftesbury galten Mendelsfohn auch noch 
fpäter al3 „wahre Weltweife“!2) 

Ueber das Studium der englifchen Bhilofophen wurbe aber 
doch die damals fo gefeierte und mächtig anziehende deutfche 
Bhilofophie nicht vernachläffigt; es war freilich feine andere als 
die Wolffſche. Mendelsfohn befchäftigte fich eingehend mit ihr, 
las die deutfchen und lateinischen Duartanten des Meifters, ver- 
brachte ganze Nächte bei den Schriften Hanſchs, Bilfinger und 
Baumgartens und war auf dem beiten Wege, ein eingefleifchter 
Wolffianer zu werden. Diefe Liebe zu dem trodenen Dogma- 
tismus und feine Anhänglichfeit an die fogenannte Schulphilo- 
fophie, von der er fi) auch in fpätern Jahren nicht ganz los— 
zumachen vermochte, hat feinem Namen als Philoſophen nicht 
wenig gefchadet. Er ging aber ſchon in feinen erſten Studien- 
jahren über Wolff hinaus, ging vielmehr auf Leibniz al3 die 
Duelle zurücd, aus welcher diefer ſelbſt gefchöpft hatte, und war 
mit deſſen Werfen ebenfo wenig unbekannt geblieben, wie mit 
denen des Amfterdamer jüdischen Glasjchleifers Spinoza. 

So war Mendelsfohn in den vier Jahren, welche er als 
Hauslehrer verlebte, ein philofophifch gebildeter Mann geworden. 

Er fing an, fich zu fühlen, wie man zu fagen pflegt. Sm 
dem Grade, in welchem feine Bildung und feine Kenntnifje zu- 
nahmen, verlor jich feine Schüchternheit, und er erhob fich all- 
mählih, wenn auch nie gänzlich, aus dem Drude, den fein 
früheres kümmerliches Leben ihm aufgebürdet hatte. Er fuchte 
jet auch Gefellfchaften auf, Tieß ſich durch feinen Freund und 
Lehrer Gumpertz in gebildete Kreife einführen und bemühte fic 


ı) Schr. V, 150. 
2) Schr. V, 151. 


er I 


den Ton der feinern Welt fennen zu lernen. Auch dem Mar- 
quis d'Argens und Premontval, Sulzer und Maupertuiß wurde 
er vorgeftellt, diefen befannten Philofophen und Berliner Aka— 
demifern, mit welchen er fpäter häufigern Umgang pflog; die 
Herren fahen ihn gern bei fi, denn der junge Israelit, wie 
fie ihn nannten, war ein vortreffliher Kopf, ein angenehmer 
Geſellſchafter und, was freilich nicht ſchwer in die Wage fällt, 
ein guter Schadjipieler. 

Diefem Spiele verdanfte er auch die Befanntichaft des 
Mannes, deffen Name nicht ohne Ehrfurcht genannt werden 
kann: Leſſings. | 


————— — 


Bweites Bud). 
Der junge Philofoph. 


Sünftes Kapitel. 
Leſſing. 


Auf dem Nikolaikirchhofe in Berlin wohnte im Jahre 1754 
in einem hohen, ſchmalen Haufe, jegt Hintergebäude des Haufes 
Molkenmarkt 9. 10., auf einer fehr Kleinen Stube zwei Treppen 
hoch ein junger Dichter, der mit Mendelsfohn fo ziemlich von 
gleihem Alter war, der Sohn eines proteftantifchen Geijtlichen, 
ein Zeitungsfchreiber, wie der Akademiker Sulzer ihn weg- 
werfend nannte. Diefer Zeitungsfchreiber war fein anderer als 
Leffing, welcher ſchon damals bei aller Armuth einen Reich— 
thum an Wiffen befaß, mit dem fi) ein Dutzend andere recht 
gut Hätten begnügen fünnen. Ex führte während feines Aufent- 
haltes in dem Spree-Athen ein jämmerliches Literatenleben und 
war, wie noch oft nachher, darauf angewiefen, feine Zeit und 
feine Renntniffe zu verwerthen. Seine unermüdliche Thätigfeit 
hielt ihn jedoch nicht ab, eine Heine Schar von Freunden und 
guten Bekannten um fi) zu jammeln, denn fein ganzes Wefen 
war auf lebendigen Verkehr gejtellt und für Iebhafte perfünliche 
Mittheilung im höchſten Grade empfänglid. In Leipzig, wo ex 
ftudirt hatte, waren es Schaufpieler und Schaufpielerinnen, mit 


au I: Zac 


denen er verfehrte; in Berlin fchloß er fich jungen Dichtern, 
Künftlern, Schaufpielern und, was damals viel heißen wollte, 
Auden an. E3 fah oft recht bunt auf feiner Stube au! Da 
treffen wir fo manchen, der auch für uns, weil mit Mendels- 
fohn Später befreundet, nicht ohne Intereſſe ijt: den „Eleinen 
Bauzner” Naumann, Leſſings Stubengenojjen, fo leicht und 
flüchtig wie ein Schmetterling, übrigens ein gutmüthiger, heiterer 
Menfch, der recht geeignet war, andere wißig zu machen, umd 
auch verſprach, „eine Figur in der Welt zu bilden“;!) den 
Herrn von Breitenbauch, feines Zeichen? auch ein Literat und 
Kunftfreund;?) den Mufifer Kirnberger, der Mendelsfohn ſpäter 
Unterricht im Clavierfpiel ertheilte, Müchler, den Doctor Gum— 
perb u. a. Der legtere empfahl Leffing, der gern eine Partie 
machte, den jchüchternen Moſes als guten Schachipieler, in der 
wohlmeinenden Abjicht, ihm in dem Umgange mit einem fo viel- 
feitig gebildeten Geijte eine neue Bildungsquelle zu eröffnen. 
Leffing Hatte eine zu große Vorliebe für alle diejenigen, welche 
das pedantifche Gelehrtentgum von der Gemeinſchaft ausſchloß, 
für Schaufpieler, Soldaten und Juden, als daß ihm nicht die 
Bekanntfchaft mit diefem jüdischen Altersgenoſſen, der in feinem 
vaftlofen Wiſſens- und Forfchungstriebe ſich unter den aller- 
größten Entbehrungen der Mathematik, der Philofophie, dem 
Lateinischen und den neuern Sprachen gewidmet hatte, von vorn— 
herein hätte willfommen fein ſollen. Andererjeit3 fühlte fich 
Mendelssohn bald traulih in der Gefellichaft eines deutſchen 
Gelehrten, der fo viele Kenntniffe aufgefpeichert hatte und da- 
"bei fo frei von allen Vorurtheilen war, daß er es fogar ge- 
wagt, die Juden auf dem Theater vor den Augen des von 
Haß und Verachtung gegen die jüdiſche Nation erfüllten Volkes 
zu rechtfertigen: „die Juden“ find Leſſings Werk. 

Diejes Luſtſpiel, das er fchon im Jahre 1749 gejchrieben 

1) Schr. V, 14, 4, 30. 


2) M. f. das Schreiben Mendelsſohns an ihn vom 19. April 1757, 
V, 413. 


a 


hatte, bezeichnet er ſelbſt als das Ergebniß einer fehr ernit- 
haften Betrachtung über die jchimpfliche Unterdrüdung, in welcher 
ein Volk jeufzen müſſe, das doch ein Chriſt nicht ohne eine Art 
von Ehrfurcht betrachten dürfe. „Aus ihm,” fagt Leſſing, „find 
ehedem fo viele Helden und Propheten aufgejtanden, und jeßt 
zweifelt man, ob ein ehrlicher Mann unter ihm anzutreffen ſei?“ 
Leſſing, der auch bei feinen dramatifchen Arbeiten ſittliche 
Bwede verfolgte und die Bühne zur Kanzel der Humanität zu 
machen jtrebte, wollte in dem Luſtſpiele „Die Juden“, dem 
würdigen Vorläufer des „Nathan“, zeigen, wie unlogiſch und 
unfittlih e8 fei, von einer ganzen Claſſe von Menfchen, und 
namentlich) von den Juden, nur Böſes vorauszufegen, die Ber: 
gehen Einzelner oder Weniger jtet3 der Geſammtheit zur Laſt 
zu legen, die edeliten Tugenden eines Volkes unbeachtet zu 
laſſen, und die Fehler, welche vielleicht durch die Verhältnifje 
zu entichuldigen wären, aufs härteſte zu beurtheilen. Sind 
denn alle, welche über den Juden den Stab brechen, ganz frei 
von Fehlern? „O wie achtungswerth wären die Juden, wenn 
fie alle Ihnen glichen!” läßt Lefling den Baron in feinem 
Zuftipiele zu dem edelmüthigen Juden jagen. „Und wie liebens- 
würdig, d. 5. der Liebe würdig, die Chriften, wenn fie alle Ihre 
Eigenschaften befäßen!“ antwortete diefer dem gleichfall® edel- 
müthigen Manne. In Ddiefer Jugendarbeit erhob Leffing in 
Deutichland zuerjt feine mahnende Stimme fir das Volk, das 
damals felbjt in Preußen unter der Regierung des philofophi- 
ſchen Königs, felbjt in Berlin, dem Hauptquartier franzöfifcher 
Deiften, noch der erjten Menfchenrechte entbehrte, deſſen Ehe 
und Vermehrung nicht minder wie fein Broterwerb der jtreng- 
jten Beichränfung graufamer Gefege unterlag, Geſetze, welche 
jelbft den theuer erfauften „Schuß“ nur auf ein einziges Kind 
zu übertragen geftatteten, welche den herabgewürdigten Juden 
zwangen, an jedem Stadtthore, das er paffirte, feinen Leib 
einer Waare und dem Viehe gleich zu verzollen. In einer 
folhen Zeit war e3 ein fühner Gedanke des zwanzigjährigen 


= Wi 


Jünglings, einen edeldenfenden Juden auf das Theater zu 
bringen. Es war mehr ala fühn, die gewichtigen Worte aus- 
zufprechen: „Wenn ein Jude betrügt, jo Hat ihn unter neun 
malen der Chrift vielleicht fiebenmal dazu genöthigt. Sch 
zweifle, ob viele Ehrijten fich rühmen können, mit einem Juden 
aufrichtig verfahren zu fein, und fie wundern fi, wenn er 
ihnen Gleiches mit Gleichem zu vergelten fucht? Sollen Treue 
und Redlichkeit unter zwei Bölferfchaften Herrfchen, jo müſſen 
beide gleich viel dazu beitragen. Wie aber, wenn e3 bei der 
einen ein Neligionspunft, und beinah ein verdienjtliches Werk 
wäre, die andere zu verfolgen?“') Der richtige Chrijt wurde 
damal3 noch gerade fo an feinem Haſſe gegen die Juden er: 
fannt, wie der richtige Proteftant durch feine Polemik gegen die 
Katholiken. Scheute fih noch zwanzig Jahre nach Leſſings 
Luftipiel ein Schlözer nicht, den Juden eine ganz befondere 
Neigung und Anlage zum Straßenraub vorzumwerfen, was 
wunder, daß das allgemeine Berdammungsurtheil felbjt bei den 
Aufgeflärtejten damals kaum den Glauben an irgend eine Aus- 
nahme, an die Möglichkeit zu gejtatten fchien, daß ein Jude 
überhaupt ein achtungswerther Menſch fein könne. Bon diefem 
Gefichtspunfte aus beurtheilte der Ritter Michaelis, Profeffor 
der Theologie in Göttingen, das Stüc, als es im Jahre 1754 
im Drude erfhien, in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“, und 
die „Jenaer Zeitung“ ftimmte diefer Beurtheilung bei. Michaelis 
hielt es, wenn auch nicht für „unmöglich, aber doch allzu un- 
wahrjcheinlich“, daß unter einem Volke wie das jüdifche, ein 
ſolch edler Charakter ſich bilden könne, wie der Dichter im 
Reifenden ihn dargeftellt. 

Eine folche Berfennung rief in dem Kleinen Kreife der auf 
jtrebenden Juden Entrüftung hervor. Leſſing antwortete dem 
Recenfenten in der „Theatralifchen Bibliothef“,2) Yäßt aber dann 
„lieber einen andern reden“, dem dieſer Umjtand näher ans 


1) „Die Juden,‘ 3. Auftritt. 
2) Lejjings Schriften IV, 217 ff. 


ie: BE 


Herz ging, „einen aus diefer Nation felbjt“. „Ich Fenne ihn 
zu wohl,“ fügt er Hinzu, „als daß ich ihm hier das Beugniß 
eines eben fo wigigen, als gelehrten und vechtichaffenen Mannes 
verfagen könnte. Diefer andere war Mendelsfohn. In Form 
eines Briefe an Gumpertz wagte er fich mit einer Bertheidigung 
und Ehrenrettung feines Volkes in die Deffentlichkeit. 

„— Sit e8 nicht genug, daß wir den bitterften Haß der Ehrijten 
auf fo manche graufame Art empfinden müfjen; follen auch diefe 
Ungeredtigfeiten wider und durch Verleumdungen gerechtfertigt 
werden? Man fahre fort uns zu unterdrüden, man laffe ung 
beftändig mitten unter freien und glüdjeligen Bürgern einge- 
Ichränft leben, ja man fee uns ferner dem Spotte und der 
Verachtung aller Welt aus; nur die Tugend, den einzigen Troft 
bedrängter Seelen, die einzige Zuflucht der Berlafjenen, fuche 
man und nicht abzufprechen. — 

Wie aber, fol e3 unglaublich fein, daß unter einem Bolfe 
von folhen Grundfägen und Erziehung, ein fo edles und er- 
habenes Gemüth fich gleichfam ſelbſt bilden follte? Welche Be- 
Teidigung! So ijt alle unfere Sittlichfeit dahin! So regt fich 
in uns fein Trieb mehr für die Tugend! So iſt die Natur 
ftiefmütterlich gegen uns geweſen, als fie die edelite Gabe unter 
den Menſchen ausgetheilt, die natürliche Liebe zum Guten! Wie 
weit biſt Du, gütiger Vater, über folche Grauſamkeit erhaben! — 

Ueberhaupt find gewiſſe menfchliche Tugenden den Juden 
gemeiner, als den meijten Chriften. Man bedenfe den ge— 
waltigen Abfcheu, den fie für eine Mordthat haben. Kein ein- 
ziges Erempel wird man anführen fünnen, daß ein Jude einen 
Menſchen ermordet haben ſollte. Wie leicht wird es aber nicht 
manchem fonjt redlihen Chriften, feinem Nebenmenſchen für ein 
bloßes Schimpfwort das Leben zu rauben? Man fagt, es fei 
Feigheit bei den Juden. Wohl! Wenn Feigheit Menjchenblut 
verfchont, fo ift Feigheit eine Tugend. 

Wie mitleidig find fie nicht gegen alle Menfchen, wie milde 
gegen die Armen beider Nationen? — Es ift wahr, fie treiben 


SE. 


diefe beiden Tugenden faſt zu weit. Ihr Mitleiden iſt faſt zu 
empfindlich und hindert beinah die Gerechtigkeit, und ihre Milde 
it beinah Verſchwendung. Allein, wenn doch alle, die aus— 
fchweifen, auf der guten Seite ausfchweifeten.‘‘?) 

Es it das eine Abwehr, ebenfo ruhig wie nachdrücklich, 
ebenfo befcheiden wie offenmiüthig. 

Leſſings ſcharfer Blick Hatte den Freund bald durd)- 
ſchaut. Wie er nad) einer Belanntichaft von nur wenigen 
Monaten über feinen tiefen Geiſt und feine Kenntniſſe 
dachte und urtheilte, geht aus dem Briefe an Michaeli3 vom 
16. October 1754 hervor, mit welchem ex diefem die „Theatr. 
Bibliothek zufchicte. „Nur des eingerücten Briefes wegen,‘ fagte 
er, „bin ich einigermaßen in Sorgen. Wenn einige Ausdrüde 
darin vorkommen follten, die ich nicht billige, die ich aber fein 
Recht gehabt Habe zu ändern, fo bitte ih Ew. Wohlgeboren 
bejtändig auf den Verfaſſer zurüdzufehen. Es ift wirklich ein 
Jude; ein Menſch von etlichen und zwanzig Jahren, welcher, 
ohne alle Anweifung in Spracdhen, in der Mathematik, in der 
Weltweisheit, in der Poeſie eine große Stärke erlangt hat. Sch 
ſehe ihn im Voraus al3 eine Ehre feiner Nation an, wenn ihn 
anders feine eigenen Glaubensgenofjen zur Reife fommen laſſen, 
die allezeit ein unglüdlicher Verfolgungsgeijt wider Leute feines- 
gleichen getrieben hat. Seine Redlichfeit und fein philofophi- 
cher Geiſt läßt mich ihn im Voraus al3 einen zweiten Spinoza 
betrachten, dem zur völligen Gleichheit mit dem erſtern nichts 
al3 feine Irrthümer fehlen werden.‘ ?) 

Ein Urtheil aus dem Munde eines Leffing bedarf Feines 
weitern Commentard. Freundichaft hatte ihn noch nicht ge= 
blendet, al3 er diefe Worte niederfhrieb. Er wurde nun dem 
jungen jüdifchen Denker Führer und Förderer. Er war es der 


) Schr. IH, 476 ff.; als „unbekannter Brief’ Mendelsſohns ver- 
öffentliht: Populär-wiſſenſchaftl. Monatsblätter. Organ des Mendels— 
ſohn-Vereins in Frankfurt a. M., 6. Jahrg. Nr. 5 (1. Mai 1886) ©. 106 ff. 

2) Leifing Schr. XI, 27. 


— BB — 


ihn zum tiefern Studium der Philojophie anregte und durch 
feine Schriften ihm neue Grundlagen für feine Forſchungen bot, 
der ihn, um e3 mit einem Worte zu jagen, zum deutſchen 
Schriftiteller machte. 


Sechstes Kapitel. 
Erſter ſchriftſtelleriſcher Verſuch. 


Leſſing, der ſich mit Mendelsſohn gern in „ſpeculativiſchen 
Betrachtungen“ erging und oft philoſophiſche Themata mit ihm 
beſprach, gab ihm gegen Ende des Jahres 1754 eine Ab— 
handlung Schafteburys zum Leſen. Nach einiger Zeit brachte 
ihm Mendelsſohn das Buch zurück und antwortete auf die Frage, 
wie es ihm gefallen habe: „Nun ja, recht gut; aber ſo etwas 
kann ich auch machen.“ „So?“ meinte Leſſing; „nun ſo machen 
Sie doch ſo etwas.“ Mendelsſohn überreichte ihm nach wenigen 
Wochen ein Manufeript zum Durchleſen. Es währte mehrere 
Monate, ehe Leifing mit dem jungen Autor darüber ſprach, und 
als diefer ihn endlich fragte, ob er das Manufeript gelefen Habe, 
gab ihm Lefjing ein Exemplar der gedrudten Schrift; er hatte 
fie bei feinem Berleger Boß ohne fein Vorwiſſen druden laſſen. 
So fah fi) Mendelsfohn, der diefen einem Leſſing ganz ähn- 
lihen Streich feinem Sohne Joſeph) erzählte, freudig überrafcht, 
und ohne daß er es ahnte, in die literarifche Welt eingeführt. 

„Philoſophiſche Geſpräche“ iſt der Titel diefer feiner erjten, 
im Februar 1755 anonym erfchienenen Schrift, in welcher er den 
philofophiichen Standpunft vertritt, dem er zeitlebend treu ge= 
blieben ift. 

Schon in diefer Erjtlingsfchrift befennt er ſich als An— 
hänger des Leibnizifchen Syitems, deſſen Begründer ihm al3 der 
größte und behutfamfte Denker gilt; er fann den großen Namen 
nicht ausfprechen, ohne der Vorfehung zu danken, daß fie nad) 


) Schr. I, 13. 
Kayferling, Mofes Mendelsjohn. 3 


er ABl Sn 


ihm ihn Hat geboren werden lafjen,t) und treffend wendet er 
auf ihn den Sat Boltaires an, daß die Natur Jahrhunderte 
brauche, einen folchen Geiſt hervorzubringen.?) 

Nächſt Leibniz feſſelte Mendelsfohn noch ein anderer Mann, 
deſſen philofophifches Syſtem wegen des darin gewitterten Atheis- 
mus al3 gefährlich, für Staat und Religion verderblich, wie die 
Veit verabfcheut wurde. Dieſer Unglüdliche, bei Lebzeiten ver— 
feumdet, gefränft, verfolgt, nach dem Tode verwünfcht und vom 
Banne nicht gelöft, war fein Deutjcher, war, wie Mendelsfohn 
hinzufügt, fein Ehrijt, war der Mann mit der olivengrünen Ge— 
fihtsfarbe und dem fpanifchen Schnitte, wie Leibniz ihn be- 
zeichnet, der Amjterdamer Jude Spinoza.?) 

Sp gut wie jeder andere wußte Mendelsfohn, wie man 
noch damals fait achtzig Jahre nach feinem Tode über Spinoza 
dachte, und ihm am allerwenigjten war es unbekannt geblieben, 
daß ganz befonders die Juden feinen Namen als den eines Ab— 
trünnigen faum über die Lippen zu bringen wagten. Das hielt 
ihn in feiner Wahrheitsliebe jedoch nicht ab, der Perfönlichkeit 
und dem Charakter diefes tiefen Denkers die wohlverdiente An- 
erfennung freimüthig zu zollen: er gehört mit Leffing zu den 
erjten, welche für ihn und fein Syſtem offen Partei ergriffen, 
um ihn nicht länger „wie einen todten Hund“ am Wege liegen 
zu laffen. Das Unglüd dieſes Mannes, der auf den Weltgenuß 
und den Beli der gewöhnlichen Lebensgüter, auf öffentliche 
Wirkſamkeit und praftifchen Einfluß aus veiner Liebe zur Wahr- 
heit Verzicht leiſtete, das Streben und die Refignation, mit 
welchem er fich diefer Hingab, haben, wie ex felbft befennt, ihn 
jederzeit heftig bewegt. „Er lebte mäßig, eingezogen und un- 
tadelhaft; er entjagte allen menschlichen Ergögungen, widmete 
fein ganzes Leben dem Nachdenken, und fiehe! er geräth in dem 
Labyrinthe feiner Betrachtungen auf Abwege und behauptet vieles 





Schr. J, 219. 
Philoſ. Geſpräche (erſte Ausgabe) S. 67. 
3) Schr. I, 204. 


BE 


aus Jrrthum, das mit feinem fchuldlofen Lebenswandel fehr wenig 
übereinjtimmt und dag der verworfenjte Bube wünfcht, um unge- 
ftraft feinen böfen Lüften fröhnen zu können. Wie unrecht ift der 
unverföhnliche Haß. der Gelehrten wider einen folchen Unglüd- 
fihen! Diefe Leute glauben, der guten Sache der Religion feinen 
Heinen Nachdruck zu geben, wenn fie die Widerfacher derfelben mit 
Schimpf belegen und mit Läfterungen gleichjam überfchütten. Allein 
fie richten mehr Schaden an, als fie Nußen zu jtiften glauben.“!) 

Eben fo richtig wie der Charakter ift in diefer Erſtlingsſchrift 
aud der philofophifche Standpunkt Spinozas von Mendelsfohn 
beurtheilt. Er ijt ihm nicht allein der Fühne Taucher, der in dem 
grundlofen Meere der Speculation die Berle der Wahrheit gefunden 
hat, fondern er betrachtet ihn geradezu als das Verbindungsglied 
zwifchen den beiden Hauptfäulen der neuern Philofophie, zwifchen 
Cartefius und Leibniz. „Bevor der Uebergang von der Carte- 
fianifchen bis zur Leibnizifchen Philofophie gefchehen konnte, 
mußte jemand in den dazwifchen Fiegenden ungeheuren Abgrund 
ftürzen. Diefes unglüdliche Los traf Spinoza. Er war ein Opfer 
für den menfchlichen Verſtand, allein ein Opfer, das mit Blumen 
geziert zu werden verdient. Ohne ihn Hätte die Philoſophie ihre 
Grenzen nimmermehr fo weit ausdehnen können.‘ ?) 

Diefes Syitem, dem Mendelsfohn gewiſſermaßen felbjt zum 
Opfer fiel, wollte er retten. Entjchiedener Gegner des im Spinozis- 
mus wurzelnden Pantheismus, war e3 doch feine fejte Ueber— 
zeugung, daß Spinoza aus Irrthum und nicht aus Bosheit des 
Herzens manche Meinung aufgejtellt habe, welche der Begründung 
ermangele, daß aber in feinen Schriften Wahrheiten ausgefprochen 
feien, welche Leibniz adoptirt und auf welche diefer die richtigften 
Begriffe von Gott und der Welt bafirt habe. 3) 

Mendelsſohn bediente fih, um Spinoza zu Ehren zu 
bringen, des feinen Kunftgriffs, Leibniz auf Spinoza zurückzu— 


) Schr. I, 205. 
2) Schr. I, 204. 
3) Schr. I, 204. 
3% 


u BE — 


führen; er fuchte im erſten der vier „Geſpräche“ nachzuweilen, 
daß die vorherbejtimmte Harmonie, der Mittelpunkt des Leib- 
niziihen Syitems, dem Spinoza entlehnt ji. Muß nun aud 
zugeitanden werden, daß zwiſchen beiden Syitemen eine gewiſſe 
Wechſelbeziehung und Annäherung bejtehe, jo ift doch der kühne 
Verſuch Mendelsfohns ein verfehlter; er beruht auf einem Irr— 
thum, der Spinoza eben fo ſehr als Leibniz verfennt. Bei Spinoza 
ift das Berhältniß von Denken und Ausdehnung nicht Harmonie im 
eigentlichen Sinne, geichtveige denn vorherbejtimmte, und bei Leibniz 
verhält fich die Seele zum Körper ganz anders al3 bei Spinoza.!) 

Im erjten jugendlichen Feuer hielt Mendelsfohn feine An- 
ficht für unfehlbar und jedes Widerſpruchs überhoben; jtimmte 
doch Leffing mit ihm überein und das war ihm Beweis genug 
für die Haltbarfeit feiner Jdee. Erſt acht?) Jahre fpäter, ge 
raume Zeit nachdem die „Geſpräche“ zum zweiten male in den 
„Bhilofophiihen Schriften“ erjchienen waren, wurde Leffing, 
welcher fich während feines Aufenthaltes in Breslau eingehender 
mit Spinoza beichäftigt Hatte, irre an der Zurüdführung der 
vorherbeftimmten Harmonie auf Spinoza. „Ich muß Ihnen ge 
ſtehen,“ fchreibt ev am 17. April 1763, „daß ich mit Ihrem 
erften Geſpräche jeit einiger Zeit nicht mehr jo recht zufrieden 
bin. ch glaube, Sie waren damals, als Sie es fchrieben, 
auch ein Kleiner Sophijt, und ich muß mich wundern, daß ſich 
noch niemand Leibnizens gegen Sie angenommen hat“.3) Mendelö- 
fohn verfuchte allerdings auch jet noch, Gründe für feine Be 
hauptung geltend zu machen, und beharrte bei der Meinung, 
daß Spinoza, deſſen Ethif er im Texte und nicht nur im der 
Ueberjegung gelejen hatte,“ die wejentlihen Sätze der vorher: 


) Kuno Fiicher, Leibniz und feine Schule, 177. 

2, 1761. In diefer zweiten Auflage hat Mendelsjohn die „Ge— 
ſpräche““ theis erweitert, theild verändert; das dritte Gejpräd ift fait 
gänzlich umgearbeitet. 

3) Schr. V, 168, 

4) Wie Erdmann, Grundriß der Gejchichte der Philoſophie, 2. Aufl. 
(Berlin 1870) IL, 273, meint. 


—— 


beſtimmten Harmonie vor Leibniz aufgeſtellt habe; ſeine Recht— 
fertigung iſt jedoch nicht geeignet, Leſſings Einwendungen zu 
beſeitigen.) Hier hätte er von feinem beliebten Satze, daß 
die Streitigkeiten der Philofophen immer in Wortjtreitigfeiten 
bejtehen, die umgekehrte Anwendung machen follen, daß die 
Philoſophen in den Begriffen abweichen und in Worten mit- 
einander übereinjtimmen fünnen. 

Wie nun in diefem erjten fchriftitellerifchen Verſuche feine 
Anhänglichkeit an Leibniz, fein Zurüdgehen auf Spinoza, kurz, 
fein philofophiiher Standpunkt fichtbar wird, fo findet aud) 
ihon hier feine Abneigung ebenfowol gegen alle gelehrte un- 
fruchtbare Pedanterie wie gegen flache alles Geiftes bare Spe- 
eulation, wie ganz befonders fein deutſches Nationalgefühl, fein 
Widerwille gegen das wißelnde und tändelnde Treiben der 
Franzoſen, Fräftigen Ausdrud. Zu einer Zeit, da die deutfche 
Literatur noch in den Windeln lag, da Franzofen die Tonan- 
geber und Männer wie Voltaire und d’Argens Mode- und 
Lieblingsfchriftiteller waren, wagt e3 ein armer Jude, der felbjt 
erjt mit vieler Mühe die deutjche Sprache und deutfchen Sitten 
ſich angeeignet ‚hatte, über die „ſtlaviſche Nachäffung“ der 
Deutſchen, über die Seichtigfeit und Flachheit der Franzofen zu 
Hagen. „Dieſes Bolf, welches feit dem P. Malebranche feinen 
einzigen metaphyfifchen Kopf aufzumweifen Hat, ſahe wol, daß 
die Gründlichkeit fein Werk nicht fei; es machte daher die 
Artigfeit der Sitten zu feinem einzigen Augenmerfe und übte 
den fpöttifchen Witz gegen die, welche tiefjinnigen Betrachtungen 
nahhingen, und in der großen Welt nad) einer gewifjen über- 
triebenen Zärtlichkeit des Gefchmads nicht zu leben mußten. 
Die wenigen Weltweifen, die es noch hatte, fingen an, ihre 
runzelige Stirn aufzuheitern, und wurden artig. Endlich 
dachten fie auch artig. Sie fchrieben Werfe pour les dames, 
à la portee de tout le monde u. f. w., und jpotteten fehr 


) Schr. V, 168 ff. 


— Mb 


wigig der düjtern Köpfe, deren Schriften noch etwas mehr ent 
hielten, als das ſchöne Gefchlecht Iefen will. Die ehrlichen 
Deutfchen fpotteten mit. Und wie fonnten fie auch anders? 
Sie, die gerne die Hälfte ihres Verſtandes dahin geben, wenn 
ihnen die Franzofen nur zugeftehen wollen, daß fie zu leben 
wiffen. Werden denn die Deutfchen niemals ihren eigenen 


Werth erfennen? Wollen fie ewig ihr Gold für das Flitter— 


gold ihrer Nachbarn vertaufhen?“1) Und Mendelsfohn jchrieb 
diefes in Berlin, in der Refidenz des großen Königs, der, von 
der überall graffirenden Gallomanie erfaßt, auf die ſich mühfam 
aufringende Literatur ſeines Volkes mit Achjelzuden herabſah. 
Gerade hier unter den Augen der franzöfiichen Hoffophiften 
war es Mendelsjohn, der dem Beijpiele feines Freundes Leffing 
folgte und fih an den von feiner Zeit vergötterten Voltaire 
wagte. „An diefem Dichter,“ jagt er von Voltaire, „ijt man 
den Mangel an Gründlichkeit ſchon längſt gewohnt, und außer 
den Großen laſſen fi) wenige mehr das Merkzeichen der 
Weltweisheit verführen, das er aushängt.”?) D, er wagte nod 
mehr! In feinem Streben, das Leibniziihe Syftem gegen jeden 
Angriff in Schuß zu nehmen und das faft erſtickte Nationalde 
wußtlein der Deutſchen neu zu beleben, machte er mit Leffing 
Front gegen die Gefellichaft Franzöfifcher Denker, gegen das 
hohe Tribunal der Berliner Akademie. 


Siebentes Kapitel. 
Die Alademie und die Alademiler. 


AS Vorerinnerung zu dem Streiche, welchen Mendelsfohn, 
wiederum im Bunde mit Lefjing, im Jahre 1755 der Berliner 


1) Schr. I, 203. 
2) Schr. I, 228. 


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Akademie fpielte, muß das PVerhältniß betrachtet werden, in 
welchem der jechsundzwanzigjährige junge Mann zu einzelnen 
Akademikern ſtand. 

Premontval, ein Lobpreiſer der franzöſiſchen Philoſophie, 
beſtritt ſowol in ſeinen „Gedanken über die Freiheit“ als auch 
in ſeinem Buche „Vom Zufall,“ Schriften, welche heute längſt 
verſchollen ſind, die Grundbegriffe des Leibniziſchen Syſtems, 
ſo beſonders den Satz vom zureichenden Grunde, eine der Grund— 
bedingungen, um im Geiſte Leibnizens die Weltordnung zu er— 
kennen. Das konnte ihm Mendelsſohn nicht ſo hingehen laſſen. 
Nicht ohne Geſchick wies er ſeine Angriffe zurück und widerlegte 
im vierten „Geſpräche“ feine Einfälle und vagen Behauptungen.!) 
Dienftfertige Recenjenten waren jchnell bei der Hand, Mendels— 
ſohns Worte zu verdrehen und ihn bei dem Akademiker in Verruf 
zu bringen. Der Profefjor Michaelis behauptete in einer Recen- 
jion in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen‘ geradezu, Mendels- 
fohn Hätte den Herrn von Premontval einen Unbejfonnenen ge= 
nannt, und Merian äußerte gegen Sulzer, der Verfaſſer der 
„Seipräche” hätte irgendivo gefagt, Premontval müßte das Higige 
Fieber gehabt Haben.?) Voller Entrüftung teilt Mendelsfohn 
diefes Mißverſtändniß Leffing mit. „O der junge Gelehrte Liegt 
diefem Herrn noch in dem Kopfe! Sch werde ihm zufchwören, daß 
ich nur ſechsundzwanzig Jahre alt bin. Willen Sie, was ich that? 
Ich fchrieb einen franzöfifchen Brief (Gott weiß, er ward mir 
recht fauer!) an den Herrn von Premontval und betheuerte ihm, 
daß alle Menschen lügen und die Göttinger Anzeigen auch.“ ?) 

Wie fo viele andere Briefe, ift auch dieſes, vielleicht das 
erſte franzöfiiche Schreiben Mendelsfohng nicht mehr vorhanden; 
es erfüllte feinen Zwed, fühnte den beleidigten Afademifer voll- 
fommen aus und bewog ihn im herzlichen Ausdrüden zu ant- 
worten. „Ar. Moses,‘ heißt e3 in einem Briefe Premontvals 


1) Schr. I, 223 ff. 
2) Schr. V, 8. 
3) Schr. V, 8 


ne Al. 


an Michaeli3 vom 6. Januar 1756, ... . „e’est ce philosophe 
juste, auteur du Trait&e des Sensations et des Entretiens 
Philosophiques. Je le trouve homme d’esprit et de me£rite 
et je vous dois cette connaissance. Il m’eerivit il y a 
quelque tems pour se justifier de m’avoir eu en vue dans 
certaines-qualifications fort dures, ou vous n’&tiez cependant 
pas le seul, Monsieur, qui crussiez, qu'il m’en voulait. Sur 
“la cordialit& de ma r&ponse il me vint voir et nous tirämes 
amitie.“N) Diefe Freundſchaft war jedoch nicht von Dauer, 
und Mendelsfohn jtellte feine Beſuche bald wieder ein. Schon 
am 23. März 1757 fchreibt ex Leifing: „Herr Premontval ift 
eben jo parador al3 feine Schriften. Heute ift fein Umgang 
angenehm und man wiünſcht fich öfters in feiner Geſellſchaft zu 
fein, und morgen wundert man fich, daß man je an feinem Um— 
gange hat Gefchmad finden fünnen,“?) und am 29. April theilt 
er dem Freunde mit: „Bei Premontval bin ich feit langer Zeit 
nicht gewefen. Er hat wirklich mwunderliches Zeug im Kopfe, 
und man thut ihm Unrecht, wenn man glaubt, er wolle nur 
parador fcheinen. In der Metaphyſik ift auch nichts mit ihm 
auszurichten.“ ?) 

Premontval war nicht der einzige Akademiker, deffen Be- 
fanntfchaft Mendelsfohn gemacht hatte. Bei Beaufobre war er 
Thon durch Gumpertz "eingeführt worden; durch Müchler lernte 
er auch Sulzer fennen. Beſonders diefem fchloß er fich enger 
an, denn Sulzer wollte in feiner fchweizerifchen Gutmüthigfeit, 
daß jedes Talent, jedes Verdienſt in ihm mehr als einen Rath- 
geber, mehr als einen Freund, ja jtet3 einen Bertrauten finde. 
Er hatte den talentvollen jungen Mann bald erkannt und fuchte 
ihn näher an fich zu ziehen. Im November 1755 machte er 
Bodmer in Zürich Mittheilung von der neuen Befanntfchaft: 


) Literar. Briefwechſel von J. D. Michaelis, Herausgegeben von 
Buhle, I, 114. 

2) Schr. V, 83. 

3) Schr. V, W. 


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„Durch Leifing habe ich einen ebräifchen Jüngling, einen ftarf- 
denfenden Kopf, kennen lernen. Er hat die „Philofophifchen 
Geſpräche“ gefchrieben, die ich Ahnen neulich zuſchickte. Diefer 
Beichnittene foll mir Ramlern, den ich fehr felten fehe, zehnfach 
erſetzen,“) und noch ſechs Jahre fpäter gibt er dem genannten 
Landsmanne näheren Aufihluß über diefen „Juden, Leffings 
Freund, der weder ein Bruder noch ein Verwandter des Medicus 
Gumpertz it, ein feltenes Genie, der aber mit andern Leuten 
al3 mit Leffing und Nicolai umgehen follte.“?) 

Die Bekanntſchaft mit Sulzer war feine vorübergehende. 
Mendelsfohn befuchte ihn, fo oft feine Gefchäfte es ihm er- 
faubten, und felbjt zur Zeit, als er fi) von allen Bekannten 
loszumachen jtrebte, hielt er an ihn noch feit, „denn er ver- 
diente es wirflich, daß man feinen Umgang fuchte.“3) In ihm 
fand er einen lieben Gefährten und Strebegenofjen und er „be- 
hielt für diefen Weltweifen, der die Philofophie in einem fchönen 
Gewande der Welt angenehm zu machen wußte, bi8 an fein 
Ende eine vorzüglihe Hochachtung.“) 

Wie erjtaunte aber Sulzer, Premontval und alle die übrigen 
gelehrten Herren, daß der „ebräifhe Jüngling“ ſich mit dem 
„geitungsfchreiber Leffing” verbunden und eine Feine Schrift 
voller Spott und Ironie gegen ihr hochwürdiges Tribunal ge- 
fchleudert hatte. 

Maupertuis, der damalige Präfident der Akademie, ging 
Thon Yange damit um, „dem Herrn von Leibniz und feinem 
Syſteme eins zu verſetzen“; endlich faßte er den Entjchluß, wie 
Wieland in einem Briefe an Zimmermann fi) ausdrüdt, „einen 
Hauptftreih zu wagen“ Er ftellte zur Preisaufgabe für das 
Sahr 1753 eine „Unterfuhung des Popeſchen Syſtems“, welches 


) Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims 
Yiterarifhem Nachlaß, herausgegeben von W. Körte (Zürich, 1804), 255. 

2) Ebend. 349. 

3) Schr. V, 29. 

4) Hirzel, Ueber Sulzer ven Weltweifen (Züri, 1779), 210. 


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in dem Sage „all is right“ enthalten if. Schon in der 
Fragejtellung lag eine Geringfchägung der Leibnizifchen Philo- 
fophie, ein höhniſcher Seitenhieb auf die Leibnizifche Lehre von 
der „beiten Welt“, Mendelsfohn ärgerte fih, daß man der 
Schule, zu der er ſich befannte, zu Leibe wolle, und Leffing 
fam die Gelegenheit ganz erwünfcht, ſich an den hochmüthigen 
Akademikern ein wenig zu reiben; die beiden kampfluſtigen 
Freunde beichlofjen daher, fir den deutichen Philoſophen eine 
Lanze einzulegen. Nichts piquanter, als die fo entjtandene 
Schrift: „Pope ein Metaphyſiker,“) in welcher mit der königlich 
preußifchen Akademie der Wifjenfchaften ein ergöglicher Tanz 
aufgeführt wird. Es Tiegt eine wahrhaft herzerquidende Bos— 
heit darin, wenn die Verfaſſer einer ganzen Gefellichaft von 
Philofophen die Schulmeifter fpielen und ihnen erklären, was 
eigentlich ein philofophifches Syitem fei; fie treiben ihren Spott 
noch weiter, indem fie in fchlagender Weife zeigen, daß von 
einem „Syſtem“ Popes gar nicht die Rede fein könne. „Wer 
it Bope? Ein Dichter... . Ein Dichter? Was macht Saul 
unter den Propheten? Was macht ein Dichter unter den Meta— 
phyſikern?“ Seht erſt gehen fie auf die eigenliche Frage näher 
ein und jtellen das Ungereimte und Lächerliche der Aufgabe in 
der ganzen Blöße dar. Sie erinnern an die Abneigung, welche 
zwifchen Leibniz und Lord Bolingbrofe, dem Lehrer Popes, be- 
itanden, an den beißenden Spott des engliichen Diplomaten 
gegen die first philosophy des hannoverjchen Hofmannes, und 
Pope, der Dichter, der Freund und Schüler des Gegners, follte 
den Optimismus angenommen haben, follte Leibnizianer fein? 

Diefe Schrift, zu der Mendelsfohn den philofophifchen 
Apparat, wie die Baumgartenfche Erklärung eines Gedichte, 
die Zurückführung auf Malebrande, den Vergleich) Shaftes- 
burys mit Leibniz, Leifing aber Form und Einfleidung Yieferte, 
war im Februar 1755 vollendet; fie konnte jedoch al3 Preis— 


') Leſſings Schr. V, 1—36. 


=: BB 2 


Schrift nicht eingereicht werden. Leffing hielt fie „mit Fleiß‘ 
zurüd, weil, wie er ausdrücklich bemerft, Mendelsfohn zu 
befcheiden war, fi) dabei zu nennen. „Geſetzt nun,“ heißt es 
in dem Briefe Leifings an Mendelsfohn vom 18. Februar 1755, 
„Daß wir aus dieſer gelehrten Lotterie das größte Los gezogen 
hätten, was meinen Sie wol, daß alsdann gefchehen wäre? 
Sie hätten wollen verborgen bleiben, und ich hätte es müffen 
bleiben. Wenn fi alsdann niemand genannt hätte, jo hätten 
wir unfere Schrift auch nicht einmal dürfen druden laſſen, oder 
wir wären doch zulegt verrathen worden. Iſt es alfo nicht 
beſſer, daß wir den uneigennüßigen Weltweifen fpielen, und 
unfere Entdelungen der Welt ohne funfzig Ducaten überlaffen? 
Sch Hoffe binnen drei Wochen wieder in Berlin zu fein — 
Leffing hielt fic) damals zur Ausarbeitung feiner Miß Sara 
Sampfon in Potsdam auf — und ich will Ihnen nur im 
Boraus jagen, daß wir fogleich unfere Arbeiten in eben dem 
Formate wie Ihre philofophiichen Geſpräche wollen druden 
laſſen.“!) 

Unterdeſſen hatte die Berliner Akademie ihrem Präſidenten 
Maupertuis zu Gefallen, zum Aerger Sulzers, einer ſehr elenden 
Schrift des Gerichtsrathes Reinhard, welcher den Leibniziſchen 
Optimismus verdammte, den Preis zuerfannt.?) Leſſing ließ 
nun feine mit Mendelsfohn gemeinfchaftlich verfaßte vortreffliche 
Abhandlung ohne Namen bei einem Danziger Verleger druden, 
aber fie erregte keineswegs das Auffehen, welches die Verfaffer 
fi) davon versprochen hatten. „Es will niemand „Pope ein 
Metaphyſiker“ gelefen haben,“ Heißt es in dem Briefe Mendels— 
fohns an Leffing vom 19. November 1755; „Profeffor Sulzer 
fragte mich fehon mehr als einmal, ob was Gutes darin wäre? 
Sch verficherte ihm, diefe Kleine Schrift hätte mir gefallen, und 


) Schr. V, 6. 

2) Die gegen dieje Preisichrift von einem Schweizer erjchienene 
Beurtheilung, in welder Reinhard mit ungemeiner Bitterfeit ange: 
griffen wurde, hat Mendelsjohn, Schr. IV, 1. 76 ff., recenfirt. 


= — 


wenn ich nicht irre, ſo ſtieg ihm eine kleine Röthe in das Ge— 
ſicht. Er gab mir zu verſtehen, er ſei weder mit der Aufgabe 
noch mit der Preisſchrift zufrieden gewejen.“!) Es ging ihnen 
beinahe fo wie Georg, dem Sohne de3 Bicard of Wakefield. 
Er jchrieb Paradoren. Der Vater fragte: „Nun, was fagte 
die Stadt zu Deinen Paradoxen?“ Antwort: „Nichts.“?) Dem 
Publifum war das Gewebe zu fein gefponnen, die Herren von 
der Afademie aber fühlten den Stich ſehr wohl, und die beiden 
Berfaffer, welche nicht lange verfchwiegen blieben, begannen jekt- 
in den Berliner Gelehrtenkreifen geachtet und gefürchtet zu 
werden. Ganz anders begegneten die Afademifer dem jungen 
Mendelsfohn jet als früher. Sulzer jelbjt begleitete ihn zu 
dem Präfidenten Maupertuis, bei dem ihn ſchon früher Gumpert 
eingeführt hatte. Moſes war nicht wenig neugierig, was der 
Herr Präfident ihm fagen würde; „ich werde ihm wol nichts 
Tagen können,“ fchreibt er Leſſing; „Sie wiſſen, daß ich blöde 
bin.“3) Troß des aufmunternden Rathes, welchen Leffing ihm 
erteilte, „den großen Mann ja fleißig zu bejuchen‘,#) Tieß er 
fi nicht wieder bei ihm bliden; „er fcheute die aufgetreppten 
Schwellen und das feierliche Anmelden‘. ) 

Die Anerkennung, welche Mendelsjohn fi) erwarb, „die 
Ehre, welche er feiner Nation machte“, das Bewußtſein, daß 
die Nation auch ſtolz auf die Ehre fei, bereitete niemand 
größeres Vergnügen als Leffing. Herzlich freute er fi, daß 
man auch bei Hofe neugierig wurde, feinen Freund Fennen zu 
lernen; „die Weisheit jelbjt Hat durch die Neugierde ihre meijten 
Verehrer erhalten“.6) Mofes und bei Hofe! Man denke, was 
das heißen wollte im Jahre 1755. 


) She. V, 11. YV,210. 5) v, 8. 9 V, 14. »)V,9. 
°) V, 16. 


—— 


Achtes Kapitel. 
Rouſſeau. Sendſchreiben an Leſſing. 


Zu derſelben Zeit, als man bei Hofe neugierig wurde, den 
Juden kennen zu lernen, der deutſch redete und deutſch ſchrieb 
und es gewagt hatte, die Berliner Akademie anzugreifen, verſuchte 
ſich Mendelsſohn in Ueberſetzungen. Es wurde ihm anfangs recht 
ſchwer, ſich eine Gewandtheit im deutſchen Ausdrucke anzueignen, 
und es koſtete ihm unſägliche Mühe, der Sprache vollkommen 
Meiſter zu werden, in der er bereits als Schriftſteller aufgetreten 
war. So lange ſich Leſſing in Berlin aufhielt, war er es, der 
ſeine ſchriftlichen Ausarbeitungen feilte; hielt man doch die 
„Philoſophiſchen Geſpräche“ für ſein Product, „weil ſie das An— 
genehme, Scharfſinnige und Unterhaltende nebſt einigen beſondern 
Wendungen der Rede“ an ſich hatten, „dadurch ſonſt Herr Leſſing 
kenntlich mwird.”1) Nun ſiedelte dieſer Mentor Ende Januar 
1755 nad Potsdam über, und Mendelsfohn fah fich verlafjen. 
Er Hatte ſich in den ſechs Monaten ihrer Bekanntſchaft an den 
täglichen Umgang Leffings derart gewöhnt, daß er feine Ab- 
wejenheit jchmerzlich entbehrte und faum der Verfuhung wider: 
jtehen Eonnte, „mit der Journalière auf einige Stunden zu ihm 
zu fommen.” 2) 

Die Morgenftunden, welche Mendelsfohn fonft in der Ge- 
jellichaft Lejfings zuzubringen pflegte, waren jeßt der Arbeit ge- 
widmet, für welche der abwefende Freund ihn gewonnen hatte, 
nämlich der Ueberfegung einer Schrift des „Genfer Bürgers“. 

Roufjeau Hatte wenige Jahre zuvor feine Laufbahn mit 
der größten Paradorie begonnen, welche die gebildete Welt ge- 
ſehen Hat. Dieſes ganze PBaradoriengebäude, daß Bildung und 
Wiſſenſchaft ein Unglück für die Menfchheit fei und daß fie von 
der Religion und Moral gleichmäßig als folches betrachtet werden 


1) Götting. Gel. Anzeigen, 29. Mai 1755. 
2) Schr. V, 6. 


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müfje, Hatte der zweiundzwanzigjährige Lejling in einem 
einzigen Aufſatze freilih in Trümmer zerfchlagen; nicht3defto- 
weniger gejtand er, „daß er eine geheime Ehrfurcht vor dem 
Manne empfinde, welcher der Tugend gegen alle gebilligten Vor— 
urtheile das Wort rede, auch wenn er zu weit gehe”, und pries 
Frankreich glücklich, „wenn es viele dergleichen Brediger hätte“. 
Diefes Prediger neuejte gefrönte Preisfchrift: „Ueber den Ur— 
fprung der Ungleichheit unter den Menfchen“, in welcher er die 
ganze Civilifation des Menfchengefchleht3 für eine Entartung 
defjelben erklärt, empfahl Leffing feinem Freunde in einer Ueber: 
feßung dem deutfchen Publikum zugänglid” zu machen. Ein 
bejjereg Muſter hätte er dem nad) Ausdruck ringenden jungen 
Manne nicht empfehlen können, als Rouffeau mit dem „hinreißen— 
den Feuer der Beredjamfeit“. Aber bei einer bloßen Ueber- 
tragung ließ e8 Mendelsjohn nicht bewenden; er hatte Leſſing 
verfprochen, mündlich und fchriftlich,") in einem Anhange „feine 
Gedanken von den feltfamen Meinungen diefes Weltweifen bei- 
zufügen“, und hielt Wort. 

In ein „Sendichreiben an den Heren Magijter Leffing in 
Leipzig“ Eleidete er den verjiprochenen Anhang ein, damit der 
Freund, wie er ſich ausdrückte, wenigjteng feinen Anhang es | 
wenn er die Meberfegung auch nicht leſen wolle. 

Es verging beinahe ein volles Jahr bis die Ueberſehung 
fertig wurde. Am 26. December 1755 ſchrieb er Leſſing: „Die 
Ueberſetzung meines Rouſſeau iſt bald fertig. Noch drei Bogen 
ſind ungefähr zu drucken. Der Schwanz iſt nicht ſo fett, wie 
Sie aus Gefälligkeit glauben wollen. Ich kann in ſehr wenigen 
Stücken mit Rouſſeau uneins fein... .“2) Am 10. Januar 
1756 war er endlich im Stande, die Schrift?) welche ihm, 


1) Schr. I, 873; V, 8. 

2) Schr. V, 18. 

°) Sie führt den Titel: 3. 3. Rouffeaus, Bürgers zu Genf, Ab: 
handlung von dem Urjprunge der Ungleichheit unter den Menſchen und 
worauf fie fich gründet. Ins Deutſche überjegt, mit einem Schreiben 


— — 


ſeinem eigenen Geſtändniſſe nach, ſehr viel Vergnügen bereitet 
hatte, dem Freunde zuzuſchicken. Auch einen Brief Voltaires 
an Rouſſeau hat er der Schrift angehängt, ſo „elend“ er auch 
war. „Wollen doch einige gern ihre Bäuche ſchütteln, nachdem 
ſie ein wenig ernſthaft ausgeſehen haben. Laſſen Sie Voltaire 
immer die luſtige Perſon machen. Rouſſeau iſt doch tragiſch 
genug.“1) 

Mendelsſohn Hatte wahrlich feinen Grund, die auf dieſe 
Arbeit verwendete Mühe zu bereuen. Die Ueberjegung war fo 
vortrefflih, daß man faum dem Titel trauen und fie für eine 
folhe Halten wollte?) Und nun erſt das meijterhafte Send- 
‚Ichreiben! Treffend vergleicht er Rouſſeau mit feinen Baradorien, 
daß der Menfch aus der Gefelligfeit geriffen und feinem natür- 
Tihen Zujtande wieder zugeführt werden müffe, mit einem er- 
wachjenen Rinde, dem feine Pflegemutter die Geſchichte feiner- 
Kindheit erzählt. „Er hört die Beichäftigung feines fpielenden 
Alters, er hört fogar die lofen Streiche, die er nicht felten dem 
Bedienten gefpielt hat, mit Vergnügen, und ift nicht ungeneigt, 
diefen Stand der Unſchuld feinen männlichen Jahren vorzuziehen. 
Bald darauf aber erblidt ex fein eigenes Kind, ein eben jo un— 
ſchuldiges Mündel, und wünſcht es erwachfen zu fehen.“ 3) 
Mendelssohn erkannte richtig, daß Rouſſeaus Abjicht niemals 
gewejen fei, die wahre Würde der Menfchlichkeit mit Füßen zu 
treten und das undernünftige Thier über fich ſelbſt zu feßen; 
er wollte nur den wahren Urfprung der Ungleichheit unter den 
Menfchen erklären, die Greuel einer despotifchen Regierung mit 
gebührenden Farben fchildern und auf gewiſſe Mißbräuche mit 


an den Herrn Magifter Leifing und einem Briefe Voltaire an den 
Berfaffer vermehrt. 8. Berlin, Chrift. Friedrich Voß, 1756. 16 Bogen. 

Y Schr. V, 10. 

2) Vermifchte Abhandlungen und Urtheile über das Neuefte aus 
ver Gelehrjamfeit, Berlin, Voß, 1756. Vgl. die Recenfion in der 
Berliner Privil. Zeitung vom 10. Januar 1756. 

3) Schr. I, 375. 


Eu MB 


dem Finger zeigen, die ſich in die Staatsverfaffung Frankreichs 
eingefchlichen Hatten. „Der Strom feiner Einbildungsfraft Hat 
ihn fo ſehr mit fich fortgerifien, daß er nicht felten über das 
vorgejteete Ziel Hinwegrennt und uns auf die Gedanfen bringt, 
er habe mehr verheeren, als aufbauen wollen.” Er wollte ver- 
heeren, mit der ganzen Gewalt eines ftürmifchen und feurigen 
Gefühls in Staat und Erziehung, in Moral und Religion, Aber: 
glaube und Vorurtheil befämpfen, damit eine fpätere Generation 
mit verjüngter Kraft ein neues Gebäude auf den gereinigten 
Grund aufrichten könnte. 

Mendelsfohn, der es Rouffeau nicht verzeihen fonnte, daß 
er dem gefitteten Menfchen alle Moralität abſprach, zeigt, daß 
das Gefühl, das, wie jener einräumte, auch dem Wilden inne 
wohnt, das Mitleid, das fich auf Liebe gründet, der Grund der 
-Gejelligfeit, die Duelle aller Eultur und aller höhern fittlichen 
Tugenden von jeher geweſen fei. In einer dem „Sendichreiben” 
angehängten „Nachſchrift“ fügte ex einige befondere Bemerkungen 
hinzu, auf welche ex bei der Weberfegung der Schrift hie und 
da gefallen, fo feine Anfichten über den Urfprung der Sadıe, 
welche noch zwölf Jahre Später von Herder der Beachtung werth 
gefunden wurden. 

Dem „wunderlihen” Rouffeau, den Mendelsjohn feinem 
ganzen Werthe nad) fchäßte und verehrte, — „mit Begierde griff 
er zu, fobald er nur den Namen des Genfer Bürgers auf der 
Stirn eines Heinen Auffages glänzen ſah“ —,*) fam die deutjche 
Ueberjegung feiner Preisſchrift zu Geſichte. Als der Leipziger 
Weiße, ein Jugendfreund Leſſings, zu Anfang der fiebziger Jahre 
jih in Paris aufhielt, überreichte er Rouſſeau bei einem Be— 
ſuche, den er ihm abjtattete, ohne Wiffen Mendelsfohns die 
Ueberjegung jammt dem „Phädon“. „Er mußte ihm alles er— 
zählen, was er von diefem trefflichen Manne wußte“, worauf 
Roufjeau verficherte, er wiirde fich die Anmerkungen Mendels- 


1) Schr. IV, 2, 260. 


= Id ee 


obns überfegen lafjen, „denn leſe er auch font fein Buch in 
der Welt, fo wolle er diefe Anmerfungen doch Iefen, weil fie 
von Moſes kämen.” 1) 

Mehr als an dem Beifalle Rouffeaus lag Mendelsfohn an 
dem Urxtheile Leſſings. Dringend exbittet er fi) von ihm ein 
ſtrenges Urtheil ſowohl über die Ueberfegung als über das 
Sendfchreiben. „Wenn Sie alles gut heißen werden, fo werde 
ih ganz gewiß glauben, Sie haben gar nichts davon gelefen; 
und wahrlich! Sie müßten meine Gemüthsart gar nicht fennen, 
wenn Sie dieſes für ein bloßes Compliment halten follten.“ 2) 
Ihm zu gefallen und nachzueifern, feiner Freundfchaft immer 
würdiger zu werden, war fein jehnlichiter Wunſch. Wie feft die 
innigjte Freundfchaft diefe beiden, fich gewiljermaßen ergänzenden 
Männer verband, zeigt der Briefiwechjel, welchen fie mit furzen 
Unterbredjungen über fünfundzwanzig Jahre unterhielten. Wie 
jehr fie ſich aber fchon nach dem erſten Jahre ihrer Bekanntſchaft 
gegenfeitig fchäßten und wie freudig das Herz Mendelsjohns 
ſchlug, der Freund eines Leſſing zu ſein, ergiebt ſich deutlich 
aus folgender Stelle des Sendſchreibens: „Verzeihen Sie, beſter 
Freund, meine Unachtſamkeit! Welch ein Unglück, wenn Sie 
hieraus die Folge zögen, daß ich der Freundſchaft abgeſtorben 
ſei. Jedoch Sie können dieſes nicht. Mein empfindliches Herz 
iſt Ihnen allzu ſehr bekannt, und Sie wiſſen, wie weit es dem 
Gefühle der Freundſchaft offen ſteht. Sie haben allzu oft nicht 
ohne Vergnügen bemerkt, wie viel Macht ein freundſchaftlicher 
Blick von Ihnen auf mein Gemüth gehabt hat; wie er vermögend 
gewefen ift, allen Gram aus meiner Bruft zu verbannen, und 
mein Geficht plößlich mit fröhlichen Mienen zu beziehen. Sollte 
Ihre furze Abwejenheit mein Herz in einen Stein verwandelt 
haben? Nein, theuerjter Leifing! die allmäcdhtige Macht der 
Freundſchaft Hat mich in Verwirrung gefeßt.“ °) 


1) Chr. Felix Weißens Selbftbiographie (Zeipzig 1806), 71. 

2) Schr. V, 22. 

3) Schr. I, 380. 
Kayſerling, Moſes Mendelsſohn. 





— — 


Und welch wonniges Gefühl beſchlich das Herz Leſſings, 
als er den gedruckten Brief, wie er das „Sendſchreiben“ nannte, 
zum erſten male las. „Noch habe ich den gedruckten Brief nur 
zweimal geleſen,“ ſchreibt er unmittelbar nach dem Empfange 
deſſelben, am 21. Januar 1756. „Das erſte mal beſchäftigte 
mich der Freund ſo ſehr, daß ich den Philoſophen darüber ver— 
gaß. Ich empfand zu viel, um dabei denken zu können. Mehr 
ſage ich Ihnen nicht, denn ich habe es nicht gelernt, in dieſem 
Punkte ein Schwätzer zu ſein. Ich will es nicht wagen, der 
Freundſchaft, noch Ihnen eine Lobrede zu halten; ich will nichts, 
als mich von ihr hinreißen laſſen. Möchte ich Ihrer Wahl ſo 
würdig fein, als Sie der meinigen find!“ ') 

Mendelsfohn war der edeljte, aufrichtigite Freund. Offen 
und freimüthig tadelte er an feinem Freunde was ihm tadelns— 
werth fchien; ex beurtheilte ihn jtet3 nad) dem Maße, mit dem 
er felbjt gemefjen werden wollte. Breitenbauch erzählte ihm, daß 
Leffing in Leipzig „unter den Schaufpielerr” lebe; Mendelssohn 
tadelte es, weil er in feiner ftrengen Sittlichfeit fi von dem 
bejtändigen Umgang mit Leuten, „welche exit in der neuern 
Beit die Freiheit erhalten haben, auf der Schaubühne zu er: 
fcheinen“,2) nichts Gutes verſprach. Ihm mißfiel die grenzen- 
loſe Bicherfucht Leffings, der oft nur Bücher faufte, um feine 
geringe Barfchaft zufammenzuhalten, und der fie daher zu einer 
andern Zeit wieder eben fo billig verfaufte; er tadelte e8. Ihm 
mißfiel der übermüthige Kiel, mit dem Leffing den eingebildeten 
Hochgelehrten nicht wie einem Fuder Heu aus dem Wege ging, 
fondern muthwillig mit feinen Beobachtungen in den Weg trat, 
und tadelte es.) Mehr als alles mißfiel ihm das unftete 
Leben feines Freundes. „Mit euch Schwindligen iſt gar nichts 
anzufangen,“ jchreibt er ihm auf die Nachricht, daß er Winffer, 
einen jungen Leipziger Kaufmannsſohn, auf Reifen begleite. „Ihr 

ı) Schr. V, 25. 

2) Schr. V, 13. 

3) Karl Leſſing, Lejfings Leben, I, 179; Gervinus, a. a. D. IV, 296. 


a 


habt niemal3 eine bleibende Stelle, und wenn euch dann das 
Quedfilber recht herumtreibt, fo wünſcht Ihr euch noch wohl Glück 
dazu... Reifen Sie immer! Streifen Sie die Welt durd). 
Lernen Sie taufend Narren fennen, um fi) von noch größern 
Narren auslachen zu laſſen. Lernen Sie taufend Elende kennen, 
um noch Elendere zum Mitleiden zu bewegen... . Der Himmel 
weiß es, ich habe recht wenig Muße, aber viel Langeweile.“ 1) 

Mendelsjohn Ternte in der Abweſenheit feines theuerjten 
Freundes „neue Gefichter“ kennen; er ging mit Müchler und 
dem Lieutenant Jacobi um, befuchte von Zeit zu Zeit den Heinen 
Bauzner Naumann, machte mit von Breitenbaud) Spaziergänge, 
traf mit Sofeph, dem „Eleinen und dem großen“, häufig zu= 
fammen: er fand aber feinen, mit welchem ex feine Mußejtunden 
fo angenehm und fo nüglich Hätte zubringen können wie mit 
ihm; feinen Leffing vermochte ihm niemand zu erjegen. Er hatte 
ihn noch nie fo fehr geliebt als jeßt, da er fich mit dem Ge— 
danfen quälte, ihn vor feiner Reife nicht wiederzufehen; denn 
hatte Leffing auch in Ausficht gejtellt, feinen Weg vielleicht 
über Berlin zu nehmen, fo fannte Mendelssohn den Freund doc) 
zu genau und wußte, daß fein „Vielleicht“ nicht weniger iſt als 
eines andern „ganz gewiß nicht”. Er fam aud „ganz gewiß 
nicht“ nad) Berlin, und Mendelsſohn ſah ihn vor feiner Ab- 
reife nicht mehr. „Sch bat Sie, Sie follten mir beizeiten 
melden, daß Sie nicht nach Berlin fommen wiürden, fo wollte 
ich jelbjt eine Reife nach Leipzig thun, um Sie allda noch zu 
fprechen. Was war leichter, al3 in diefer Kleinigkeit nicht nach— 
läffig zu fein?“ 2) 

Gern will er den Kummer über die Trennung ertragen, 
wenn dieſer „beite Freund und treuejte Rathgeber“ nur fort 
fahren will, ihm die Verficherung zu geben, daß er ihn noch 
liebt, daß er ihn noch jo zärtlich Tiebt al3 damals, da ihm eine 
jede Unterredung mit ihm eine neue Aufmunterung war, feinen 

') Schr. V, 17. 

2) Schr. V, 28. 

4* 


u 


Berftand und fein Herz zu bejjern. „Noch eine einzige Ver— 
fiherung wünfche ich mir von Ihnen, und wenn ich diefe er- 
lange, fo will ich mid) gern in die Nothwendigfeit zu fchiden 
wiffen. Wenn Sie Ihre Reife vollendet und einmal genug die 
Welt angegafft haben werden; wenn Sie fich dereinſt entjchließen 
werden, alle Ihre neugierigen Blide auf Ihr eigenes Herz und 
auf das Herz Ihrer Freunde einzufchränfen: wollen Sie als- 
dann diefe ruhigern Tage bei uns zubringen? Wenn es Ihnen 
doch möglich wäre, hierauf mit Gewißheit Ja zu antworten.“ !) 

Drei volle Jahre wollte der unjtete Freund fern bleiben, 
wollte mit feinem Gefährten Deutjchland, Holland, Frankreich, 
bereifen; e3 waren jedoch kaum fünf Monate verflofjen, als ihn 
fein Mißgeichie wieder nach Leipzig zurüdtrieb. 

Mendelsjohn blieb feinem vor Leſſings Abreife gefaßten 
Entjchluffe treu; er ſagte fich, jo gut es fich thun Tieß, von 
allen frühern Bekannten los. Der einzige, mit dem ex jeft 
mehr al3 bloße Befanntichaft machte, mit dem es bald zur 
Freundfchaft Fam, war Nicolai.?) 


') Schr. V, 32. 
2) Schr. V, 28. 


Drittes Bud). 
Vene Studien und Verſuche. 


Neuntes Kapitel, 
Nicolai. 


Kurze Zeit vor Leſſings Ueberſiedelung von Berlin nach 
Leipzig lernte Mendelsſohn auch Friedrich Nicolai, den zweiten 
ſeiner Herzensfreunde, kennen. 

Nicolai, ein Berliner Kind, war vier Jahre jünger als 
.Maeandelsſohn und gleich ihm ein reiner Autodidakt. Er hatte 
zwar in Halle ein Öymnafium befucht und war in Berlin auf 
der Realichule gewefen, aber erſt in Frankfurt an der Oder, wo 
er den Buchhandel erlernte, entjtand in ihm ein lebendigeres 
wiffenfchaftliches Streben. Mit ungeduldiger Haft verfchlang 
er bier fürmlih alle Bücher, die er in feinem Laden fand, 
er verfchaffte fich durch „Entäußerung, Fleiß und Beharrlichkeit” 
ohne mündliche Anweifung die Kenntniß verichiedener Sprachen, 
Ihöpfte aus dem Umgange mit Profefforen und Studenten 
mancherlei Unterricht in der Mathematif und Philofophie und 
trieb mit befonderer Vorliebe das Studium der englifchen 
Literatur. Der frühe Morgen und die fpäten Stunden der 
Naht, oft jogar die wiederkehrende Morgenröthe fanden ihn 
noch bei feinen lieben Büchern. 


Durd die im Jahre 1755 erichienenen „Briefe über den 
jegigen Zuftand der fchönen Wiſſenſchaften in Deutichland,“') in 
welchen er mit überrafchender Freimüthigfeit die Einfeitigfeiten 
der beiden großen fich befehdenden Literaturparteien, der Gott 
ihedianer und Schweizer, aufzudeden fuchte, gewann er die 
Freundſchaft Leffingd und ihm verdanfte er auch die Belannt- 
ihaft des „in der höcjiten Bedeutung des Wortes edeln und 
vortrefflihen Mendelsjohn“.?) Nach wenigen Monaten waren 
Mendelsfohn und Nicolai zur großen Freude Leſſings vertraute 
Freunde. 

Allwöchentlich kamen fie wenigjtens zwei- oder dreimal zu- 
fammen. Der Umjtand, daß fie beide in der gelehrten Welt 
gar feinen Stand, feine Abfichten, Feine Berbindungen, Feine 
Ausfihten auf Beförderung hatten oder fuchten, daß fie jelbit 
in ihrer bürgerlichen Stellung ohne alle Bedeutung waren, 
ihloß fie enger an einander. Beide gehörten dem Kaufmanns- 
ftande an. Nicolai war Buchhändler, Mendelsjohn feit einem 
Jahre Buchhalter in der Fabrif des Mannes, defjen Kinder er 
unterrichtet und erzogen hatte. 

Ihre freundichaftlihen Beziehungen waren für beide nicht 
ohne wmefentliche Vortheile. Ihre Studien und Unterhaltungen 
hatten einzig und allein die Erweiterung ihrer Kenntniſſe und 
die Schärfung ihrer Beurtheilungs- und Denffraft zum Zwech. 
E3 galt bei ihnen feinerlei Autorität; von Borurtheilen Fonnte 
bei fo vorurtheilslofen Männern überhaupt nicht die Rede fein. 
Irgend ein wifjenfchaftliches Thema wurde discutirt, das Pro 
und Contra bejtändig erwogen, niemal3 aber darauf ausge 
gangen, den Einen zur Meinung des Andern fchlechterdings zu 
bereden; jeder blieb felbjtändig und ging aus dem freundfcaft- 
fihen Dispute nur vorurtheilsfreier und mit — und be 
jtimmtern Ideen nach Haufe. 


) Sonderbar, dat Mendelsjohn (Schr. V, 19) von diejen Briefen 
ſpricht, als ob er den Verfaſſer gar nicht Fenne. 
2) Nicolai, Ueber meine gelehrte Bildung (Berlin, 1799), 40. 


ae A a 


So oft fich Leffing in Berlin aufhielt, nahm er an den 
Unterhaltungen der Freunde theil; fie wurden durch ihn nod) 
lebhafter, weil, wie im Leben, jo auch im Disputiren, ex fich 
gern der ſchwächern Partei anzunehmen pflegte. Ueberhaupt 
fand zwiichen Mendelsfohn und Leſſing, wiewol verfchieden an 
Erziehung und Denfungsart, befonders darin eine hervorftechende 
Aehnlichkeit ftatt, daß fie beide gleich reinen Herzens waren, 
gleich edelmüthig, gleich frei von aller Prätenfion, gleich fcharf- 
finnig im fchnellen Entwideln, im genauen Unterfcheiden und 
deutlichen Beftimmen der Begriffe Leffing war Iebhaft beim 
Suden nad Wahrheit und bot feinen Scharfſinn nicht felten 
auf, blos um zu vertheidigen oder zu widerlegen, was etwa 
noch nicht ſtark genug vertheidigt oder widerlegt zu fein fchien; 
Mendelsfohn war bedächtiger, mit deutlicherer Nücficht auf die 
Resultate. Nicolai hatte wenigjtend die Aehnlichfeit mit ihnen, 
daß auch er von aufrichtiger Wahrheitsfiebe, von gutem Willen 
und von dem Streben befeelt war, durch Deutlichfeit der Be— 
griffe Erkenntniſſe zu erlangen.!) 

Die Freundichaft zwiichen Mendelsſohn und Nicolai, welche 
nur wenige Häufer von einander entfernt wohnten, war in der 
That eine recht innige, wie aus den Briefen beider an den 
gemeinfamen Freund Leffing hervorgeht. So fchreibt Mendels- 
john am 2. Auguft 1756: „Ich befuche Heren Nicolai jehr oft 
in feinem Garten. Ich Liebe ihn wirklich, theuerfter Freund! 
und ich glaube, daß unſere Freundfchaft noch dabei gewinnen 
muß, weil ich in ihm Ihren wahren Freund liebe. Wir lefen 
Gedichte; Herr Nicolai lieſt mir feine eigenen Ausarbeitungen 
vor; ich fie auf meinem kritischen NRichterftuhl, bewundere, lache, 
billige, tadle, bi8 der Abend hereinbricht. Dann denfen wir 
noch einmal an Sie und gehen, mit unferer heutigen Verrichtung 
zufrieden, von einander.“?) „Herr Mofes, der mir Ihre Ab- 


) Nicolais Selbftbiographie in Lowes Bildniffen jettlebender 
Gelehrten (Berlin, 1806), 16 f. 
2) Schr. V, 32. 


zu BE — 


wefenheit etwas exträglicher macht, würdigt mich feiner Freund- 
Tchaft,“ meldet Nicolai Leffing den 31. Auguft. „Sch habe 
ihm die vergnügtejten Stunden de3 vergangenen Winters und 
Sommers zu danfen, und bin, jo oft wir auch zufammen ge- 
weſen find, niemal3 von ihm gegangen, ohne entweder beffer 
oder gelehrter zu werden.“!) Er gewann durch Mendelsfohn 
an philofophifchen und mathematischen Kenntnifjen, worin er 
ihm weit überlegen war. Er hatte mit ihm fortdauernde Unter- 
haltungen über die mathematifch-philofophifchen Werke Newtons, 
„welche wol Lehrjtunden verglichen, ja vorgezogen zu erden 
verdienten, denn ich konnte durch meinen Freund, verjicherte 
Nicolai, alles was mir dunfel war, fogleid) erläutert, meine 
Zweifel fogleich aufgelöft fehen.“?) Auch über die Philoſopheme 
Shaftesburys, Humes, Spinozad und die Grundanfhauungen 
der Kabbaliften erhielt er von ihm lichtvolle Erläuterungen. 

Mendelsfohn Hingegen wurde durch ihn in den Studien 
der neuern Sprachen gefördert und vorzüglich durch ihn zur 
Erlernung des Griechifchen aufgemuntert. Was er von der 
Literatur der Hellenen wußte, das Hatte er nur aus Ueber— 
feßungen. Er hielt die Sprache diejes Volkes für fehr ſchwer 
und glaubte nicht, daß es ihm vergönnt fein werde, bis in das 
Wefen derfelben zu dringen. Sp fam er eines Tages zu Nicolai, 
al3 diefer gerade dabei bejchäftigt war, den Demofthenes in der 
Urſprache zu Iefen. „Wollte Gott, ich ſelbſt verjtände Griechifch, 
oder es wäre noc möglich, es zu lernen! Sch wiirde wahr- 
haftig alle Redner ruhig Tiegen laſſen und den Plato leſen, 
für den ich ſchon durch die Yateinifche Ueberſetzung äußerft ein- 
genommen bin.“ Nicolai verficherte ihm, er fünne mit dem ihm 
eigenen Fleiße und einer nur mäßigen Anftrengung in zwei 
Jahren es recht gut dahin bringen. Er rieth ihm, fich nur 
nicht lange mit der Grammatik zu quälen, fondern einen leichten 
Autor gleich ceurforiih mit Hülfe des Wörterbuches zu leſen. 

') Leſſings Schr. XIIL, 25. 

2) Nicolai, Gelehrte Bildung, 29. 


— — 


Aber Mendelsſohn ſchüttelte bedenklich den Kopf. „Ja,“ rief 
er, „wenn ich immer einen Mann vor mir hätte, der mir ein 
lebendiges Lexikon wäre, dann wollte ich ſchon damit fertig 
werden.“ Nicolai dachte ſogleich an Damm, den Rector des 
Köllniſchen Gymnaſiums, den er als guten Graeciſten kannte 
und beſchloß mit ihm zu ſprechen. 

Damm willigte freudig ein, die beiden jungen Männer zu 
unterrichten; auch das Honorar war bald verabredet.1) Jeden 
- Mittwoch und Sonnabend fah man zur beftimmten Stunde das 
„lebendige Lerifon‘ nad) der Schloßfreiheit wandeln, wo Nicolais 
Wohnung ſich befand und wo auch Mendelsfohn immer pimnftlich 
zur Stelle war. Sie begannen mit dem Homer. Mit Rüdjicht 
auf Mendelsſohn widmete Damm jedesmal eine Bierteljtunde 
der Grammatik; da3 war aber bald nicht mehr nöthig, da der 
fleißige Schüler ſich Leicht zutechtfand. Zwei Stunden waren 
eigentlich feitgefeßt; bei dem Eifer, mit welchem man dem Studium 
oblag, fam es jedoch nicht felten vor, daß das Zeitmaß aud) 

um das doppelte überfchritten wurde. 

| In der Regel trug Damm den griechischen Tert laut vor, 
übertrug ihn dann ins Deutjche, erklärte Schwierige Stellen, und 
beantwortete Mendelsfohns und Nicolai® Fragen. Oft aber 
laſen und überjegten auch die Teßtern ſelbſt, während er ver- 
befjerte, wenn fie fehlten. Für Mendelsfohn waren dieſe 
Uebungen höchſt fürdernd. Als Nicolai vom Sommer 1759 ab 
verhindert war, an dem Unterrichte theilzunehmen, las er mit 
Damm noch mehr al3 ein Jahr lang den Plato; und Der 
Nutzen, den er daraus 309, war fo beträchtlich, daß er ſämmt— 
liche Werfe diefes Philofophen fpäter ohne jede Beihülfe in der 
Urſprache ftudiren konnte. Dem alten unglüdlichen Rector Damm, 
feinem Lehrmeijter, bewahrte ex ftet3 danfbare Erinnerung.?) 

Mendelsfohn lebte noch immer hauptfächlic in fpeculativen 


) 1. Aufl. ©. 540. 
2) Neue Berliner Monatsſchrift, 1800, 3, 338 ff; ©. Malkewitz, 
Sonntags:Beilage zur Voſſ. Zeitung vom 29. Mai 1881. 


Ideen. Wollten ihn doch gerade in jener Zeit einige über- 
reden, die ganze Metaphyſik „nach feiner Art“ zu bearbeiten! 
Er gab diefem Wunſche jedoch nicht nah, denn er war feit 
entichloffen, ein ſolches Werk nicht früher zu unternehmen, als 
bis er das Vergnügen haben würde, mit Leffing zufammen zu 
(eben. „Die Welt wird meine Metaphyſik nicht vermifjen, wenn 
fie auch gar ausbleiben wird, und ich würde mich ſchwerlich be- 
ruhigen fönnen, wenn ich eine herausgegeben hätte, ohne einen 
freimüthigen Leſſing zum Beurtheiler gehabt zu haben.“ Er 
wollte vor allem jeine philofophifchen Begriffe zur gehörigen 
Reife gedeihen laſſen und fich ein wenig in der Mathematit 
fejtfegen.?) 


Zehntes Kapitel. 


Das gelehrte Kaffeehaus und Mendelsſohns 
mathematiiche Studien. 


Die öffentliche Gejelligfeit war damals in Berlin eine ganz 
andere al3 in unferer atomijtifchen Zeit. 

Zu Anfang des Jahres 1755 wurde auf Beranlafjung des 
Profefjiors Müchler oder, man weiß es nicht genau, des ſpätern 
Abts Reſewitz,?) der damals als Candidat in Berlin Iebte und 
mit Mendelsjohn in Briefwechfel jtand, ein Kaffeehaus für eine 
geſchloſſene Gejellihaft von hundert Perſonen, größtentheils Ge 
fehrten, angelegt. Mehrere namhafte Mathematiker, wie Euler, 
Martini, der Lieutenant Jacobi, „ein ſehr geſchickter Mann, ein 
guter Mathematikus und ein gründlicher Metaphyfifer‘,?) der 
mehrerwähnte Doctor Gumpert, Wilke, ſpäter Secretär der 
ſchwediſchen Akademie der Wifjenfchaften, Aepinus, Oberſt Möller, 





ı) Schr. V, 23. 
2) Nicolai, Meine gelehrte Bildung, 44; Schr. V, 214. 
9 Schr. V, 28. 


— 59 — 


der in der Schladht bei Roßbach fi) ausgezeichnet hat, Bam- 
berger, Nicolai u. a. waren Mitglieder diefer Gefellfhaft. Auch 
Mendelssohn, der im Rufe eines tüchtigen Mathematifers jtand 
— die feltenften mathematischen Werfe fanden fi) in feiner 
BibliothHef — wurde aufgenommen. Hier traf er mit alten 
Freunden zufammen, Fnüpfte neue Verbindungen an, unterhielt 
jich über wiſſenſchaftliche Gegenftände, und fpielte er auch wol 
jelbjt nicht, jo jah er doch zuweilen dem Spiele anderer zu. 
In diefer Gefellichaft fpielten Euler, Gumper& und der Lieutenant 
Jacobi einmal eine Partie Tarod. Sie hatten irgend ein Miß- 
verjtändniß über die gejpielten Tarode, und nahmen Mendel3- 
john, der eben in der Nähe ftand, zum Schiedsrichter. „Welches 
Wunder!” rief er aus; „drei Mathematiker fünnen nicht richtig 
einundzwanzig zählen.“ !) 

Im heitern Geſpräche fchlug man eines Abends vor, daß 
jeder der Anweſenden feine Fehler befingen folle. Mendelsfohn, 
der verwachſen war und einen jtarfen Höder hatte, außerdem 
auch jtotterte, fchrieb jchnell nieder: 


Groß nennt ihr den Demofthen, 

Den ftotternden Redner von Athen, 

Den hödrigen Aeſop haltet Ihr für weiſe — 
Triumph! Ich werd’ in Eurem Kreije 
Doppelt groß und weiſe fein, 

Denn Ihr habt bei mir im PBerein, 

Was man bei Aeſop und Demojfthen 

Hat getrennt gehört und gejeh’n.?) 


Spiel und Amüfement waren aber nicht der alleinige Zweck 
der Gejellichaft. Alle vier Wochen mußte ein Mitglied eine Ab— 
handlung mathematischen, phyfifalifchen oder philofophiichen In— 
halts vorlefen. Für diefe Gefellfchaft arbeitete auch Mendels- 
john eine mathematische Abhandlung aus; er las fie aber nicht 
jelbft vor, denn er traute fich des mündlichen Vortrages aus 


) Schr. V, 214. 
2) Aus Müchlers El. philof. Schriften; Schr. I, 37. 


— 0 — 


Aengitlichkeit und Beſcheidenheit nicht; fein Stottern mag ihn 
beſonders davon zurüdgehalten haben. Er erſuchte alfo einen 
andern, das Borlefen feiner Arbeit zu übernehmen. Ein Mit- 
lied der Gefellichaft, ein Schottländer namens Middleton, der 
ih damals in Berlin aufhielt, um die deutjche Literatur zu 
jtudiren, und auch Mendelsfohns Briefe „Ueber die Empfindungen“ 
ins Englische überjegte, trat in den Saal, als eben die Bor- 
(efung begann. Nachdem er eine Weile zugehört Hatte, ftellte 
er fih neben Mendelsjohn und fragte ihn leiſe, wer der Ber- 
faffer diefer Arbeit ſei. Mendelsfohn winkte ihm, die Vorleſung 
nicht zu unterbrechen, und zeigte auf den Vorlefer ala Verfaſſer. 
Middleton fchüttelte den Kopf, weil er dem Borlefer eine folde 
Abhandlung nicht zutrauen mochte. Er hörte ferner aufmerffam 
zu, und nachdem noch ein paar Seiten vorgelefen waren, raunte 
er feinem Nachbar Mendelsfohn ins Ohr, er fei der Verfaſſer, 
er möge es nur nicht weiter leugnen. Dieſer fchüttelte aber 
mals den Kopf und wies wiederholt auf den Borlefer. Plötzlich 
ericholl ein lautes Gelächter. Als nämlich der Vorleſer an die 
Stelle der Abhandlung fam: „Der Grad der göttlichen Präfcienz 
ji = 0 (Null),“ las er jtatt Null, o. Auf diefe® ganz um 
vermuthete, jehr vernehmlich ausgeiprochene DO! fingen die Zu: 
hörer an zu Yachen, denn es famen zwar die Buchitaben a, b, 
n, £, y vor, aber fein vo. Jetzt fragte Middleton den felbit 
fachenden Mendelsfohn wieder, ob er noch die Autorfchaft in 
Abrede jtellen wolle.) 

Mendelsjohn war in der That der Berfaller, die vor 
gelefene Arbeit eine Frucht feiner mathematischen Studien, die 
Abhandlung „Ueber die Wahrfcheinlichkeit”. Auf Leffings wie 
derholt geäußerten Wunfch Tieß er fie aus den „Vermiſchten Ab: 
handlungen und Urtheilen über das Neueſte aus der Gelehr— 
ſamkeit“,) in welchen fie zuerſt im Drude erſchien, für ihn 


’) Schr. V, 215 f. 
2) Berlin, Voß, 1756, III, 3—27. 


—— 


abſchreiben, um ſie ihm zu ſchicken. Leſſing, der von vorn— 
herein verſicherte: „Ich will gewiß keine Zero für ein O an— 
ſehen“,) las fie mit „recht großem Vergnügen“. „Wenn id) 
fie noch ein paar mal werde gelejen haben,“ heißt es in feinem 
Briefe vom 18. December 1756, „hoffe ich, fie fo weit zu ver- 
itehen, daß ich jie um einige Erläuterungen fragen fan. Wenn 
ji) von folhen Dingen jo gut ſchwatzen Tieße, wie von der 
Tragödie.” ?) 

Ohne zu neuen Auffchlüffen zu gelangen, jtellt Mendels- 
fohn in diefer Abhandlung, in welcher er von der Wolffiichen 
Definition vom Wahrfcheinlichen ausgeht, die mathematiſchen 
Unterfuhungen jener Zeit über die Wahrjcheinlichkeit ſorgfältig 
zufammen und beleuchtet Humes Kritik der Caufalität im pole- 
miihen Sinne Er will jedoch die Gültigkeit der Erfahrungs 
ichlüffe in Bezug auf Urfächlichkeit nachweifen, ohne zu bemerken, 
daß fein Gegner ihnen nicht Wahrfcheinlichfeit, jondern nur 
unbedingte Gültigkeit abgeiprochen Hatte. 

Diefer Abhandlung, aus der er das Wefentliche in den 
„Morgenftunden” wiederholt,3) widerfuhr die unerwartete Ehre, 
daß der Akademiker Profeſſor Aepinus, ein heftiger Gegner der 
Wolffiichen Philofophie, den es fchmerzte, den Sat des zureichen- 
den Grundes in Anfehung der freiwilligen Handlungen des 
Menfchen auf eine jo neue Art bewiefen zu jehen, fie zu wider— 
fegen juchte. Aepinus Tas feine Gegenfchrift in der Gefellichaft 
des gelehrten Kaffeehaufes vor, und da Mendelssohn feinerfeits 
die Antwort auch nicht ſchuldig blieb, fo entipann fich zwiſchen 
ihnen eine literarifche Fehde, welche über ein Jahr währte und 
in welcher endlich, vielleicht auf Mendelsſohns Borichlag, der 
Profeſſor Baumgarten in Frankfurt an der Oder als Schieds— 
richter angerufen wurde, #) 


1) Schr. V, 38. 
2) Schr. V, 69. 

3) Schr. II, 358 ff. 
‘) Schr. V, 60, 82. 


EIER > RE 


Baumgarten, der einflußreichite Vertreter der Wolffiſchen 
Philofophie und der Begründer der Wiſſenſchaft der Aeſthe— 
tif, war Mendelsjohn perfünlich befannt. ALS jich der Profefior 
vom December 1755 an mehrere Monate Franfheitshalber in 
Berlin aufhielt, befuchte er ihn mehrere male.) An ihn wandte 
er fich in feinem Streite mit Aepinus. Aber wie groß waı 
fein Erftaunen, al3 er fand, daß Baumgarten nicht allein ein 
Mathematiker und „itarfer Metaphyfifer“, fondern auch ein vecht 
orthodorer Mann voller Vorurtheile fei. Orthodoxie witterte eı 
gleich bei feinem erjten perfönlichen Zufammentreffen mit ihm, fo 
daß er Leffing fragte, ob Baumgarten wirklich orthodox fei, oder ob 
er fich nur fo ftelle.?) Sobald er feine Antwort in Händen Hatte, 
zweifelte er nicht mehr, „daß das Herz dieſes Mannes mit fei- 
nem Berjtande in feiner genauen Berbindung ſtehe“. Sollte 
der ejthetifer, der unter pietijtifhen Einflüffen erzogen und 
von denfelben nie ganz frei war, etwa Verfuche gemacht Haben, 
Mendelsfohn, den PBhilofophen, zu befehren? Wie fäme fonit 
das dreißigfte Kapitel der Sprüche Salomonis in ihren Brief— 
wechjel, und was fünnte Mendelsjohn mit der Frage meinen, 
die Baumgarten an ihn gerichtet und die „unmöglich Ber 
jtellung fein konnte?“ Mit Widerwillen dachte er an den von 
ihm erhaltenen Brief, deſſen tiefjinniger philofophifcher Theil 
ihm auch nicht fonderlich gefiel. „Was er darin fagt,“ fchreibt 
er im November 1757 Lefjing, dem er auch die Baumgartenſche 
Antwort ſammt feinem Schreiben fchidte, „paßt gar nicht auf 
die Frage, welche ich gethan habe, und er fcheint mir durd 
Winfelzüge entwifchen zu wollen.) Erjt nad) langem Zaudern 
entichloß er ji ihm zu antworten; die „wunderbare Frage“ 
fie er freilich ganz unerwähnt und befchränfte ſich auf die 
feine mathematifche Abhandlung betreffenden Punfte.*) 


1) Schr. V, 18, 28. 

2) Schr. V, 18. 

3) Schr. V, 137. 

4) Schr. V, 145; der Brief an Baumgarten V, 415 ff. 


ee: HAM: oo 


Der Streit mit Aepinus war beendet. Sie wechfelten noch 
einige Schriften über die Materie, wie es in dem Briefe an 
Baumgarten Heißt, und endlich hatte der Gegner die Ehre, das 
legte Wort zu behalten. 


Elftes Kapitel. 
Der Künitler und Dichter. 


Das Studium der Mathematif, welches er jahrelang, bis 
die Umjtände ihn nöthigten, diefer Wiffenfchaft zu entfagen, mit 
Liebe betrieb, Teitete ihn auch auf die mathematifche Mufif. Er 
hatte fi) mit Euler3 großem Werfe über die neue Theorie der 
Mufif längere Zeit befchäftigt und war dadurd) auf den Ge— 
danfen gefommen, fich auch praftifch etwas von der Kunjt an- 
zueignen. Es dauerte auch gar nicht lange, fo faß der Groß— 
vater des großen Tonkünftlers, deſſen Schöpfungen eine Herz 
und Seele ergreifende Wirkung hervorbringen, am Clavier. Bei 
dem Mufifer Kirnberger, der nach feiner Gefchiclichfeit in der 
Mufif ein beſſeres Schickſal verdient hätte, nahm er Unterricht. 
Kirnberger dünkte fich ein philofophifcher Mufifer zu fein. Hatte 
er auch über feine Kunft mehr nachgedacht, als viele andere 
feineggleichen, fo ging ihm doch die Deutlichfeit der Begriffe, 
bejonders aber die Gabe ab, fich andern verjtändlich zu machen. 
Mendelsſohn unterhielt fi) nun mit dem philofophifchen Mu— 
jifer über den philofophifchen Theil der Mufif, zu dem er aud) 
einen Heinen Titerarifchen Beitrag „Verſuch, eine vollfommen 
gleichſchwebende Temperatur durch die Conftruction zu finden“,?) 
geliefert Hatte; er glaubte ihn zu verjtehen, weil fein eigener 
Scharfiinn Kirnbergerd Undeutlichfeit erfegte, und der Lehrer 
ihn verficherte, daß er alles Mufikalifche trefflich fafje. Bei Be— 


1) Schr. IV, 1, 3—14. 


ur ME. 


ginn des Unterrichtes wollte Kirnberger feinem Schüler die ver- 
ihiedenen Taktarten erklären; iiber den Unterfchied von 3/, und 
6/g Takt konnten fie fi) durchaus nicht verjtändigen. Mendels- 
john fragte, wie es denn zugehe, daß 3/, nicht 6/g machen follten? 
„Weil der eine ein Tripeltaft, und der andere ein gerader Takt 
iſt,“ erwiderte Kirnberger. So oft er aber nach dem Warum 
gefragt wurde, fegte er ſich ans Clavier, ſpielte 3/, und 6/g gegen- 
einander vor und fagte belehrend: „Nicht wahr? Nun Hören 
Sie doch, daß das Erjtere Tripeltaft ift?” „Nein,“ erwiderte 
Mendelsiohn, „ich kann feinen Unterfchied hören.” Wohl auf 
fechjerlei Art fpielte er die beiden Taftarten vor; e3 blieb mit 
dem Schüler wie vorher. Endlich fagte der Fuge Meiſter un— 
geduldig: „Ich kann nicht begreifen, wie Sie ein Mathematiker 
fein und nicht 3/, abmeffen können, daß es ein Tripeltaft ift.“ 
Mendelsiohn blieb bei feiner Behauptung, daß er als Mathe- 
matifer feine 3/, kenne, die nicht auch %/, wären, „aber da Dies 
in der Muſik unterfchieden fein fol,“ fügte ex Hinzu, „jo fange 
ih an zu glauben, daß ich Fein mufifalifches Gehör Habe, um 
den Unterfchied zu empfinden.” Nach Verlauf von wenigen 
Monaten jtellte er den Mufifunterricht ein, doch trug er eine 
fleine reizende Minuet davon, die er ziemlich langſam auf dem 
Clavier jpielen konnte. „ES ift doch fonderbar,” fagte er oft 
(ächelnd, „ich kann den Tripeltaft Spielen, aber nicht Hören.” 2) 
Und dabei hatte er ein gutes mufifalifches Gehör! Ohne 
ein Inſtrument im eigentlichen Sinne des Wortes jpielen, oder 
die Töne im Singen treffen zu können, war er im Stande, alle 
Berhältniffe in der Muſik, die Verfegungen der Accorde, Die 


1) „Als ih Mufik lernen wollte,’ jchreibt Mendelsjohn noch im 
August 1764 an Abbt (V, 331) „und im Spielen jehr oft wider den 
Takt fündigte, fagte mein Eluger Meifter: Mein Gott! Wiſſen Sie 
denn nicht, daß ©, fo viel find als '?/,,? Prägen Sie ſich das doch ein: 
3/4, 9/8, "rs. Der gute Mann! Theoretiſch wußte ich es jo gut und 
wohl noch beſſer als er.‘ 

2) Schr. V, 217. 


= fh: 


verjchiedenen Combinationen dev Töne u. f. w. leicht auszu— 
rechnen. ') 

Es gab überhaupt eine Zeit, in der Mendelsfohn auf 
bejtem Wege war, ein echter Bel-Esprit zu werden: er nahm 
Clavier-Unterriht, befuchte Theater und Concerte und machte 
Gedichte. 

Hebräifche Gedichte hatte er, wie bereit3 erwähnt, fchon 
al3 zehnjähriger Knabe verfertigt, diefelben aber vernichtet und, 
weil nach feinem Dafürhalten poetifhes Talent ihm abgehe, den 
Vorſatz gefaßt, nie wieder zu dichten; fpäter verfuchte er fich in 
Heinen hebräifchen Gelegenheitsgedichten, von welchen einzelne, 
wie ein Carmen auf Michel David, deſſen Gaſt er war, fo oft 
er nad) Hannover fam, ung erhalten find. 2) 

Der Umgang mit Nicolai, der ihm zuweilen feine Gelegen⸗ 
heitsgedichte vorlas, regte eine poetiſche Ader in ihm an und er 
machte auch deutſche Verſe. „Hier iſt was!“ heißt es in der 
Nachſchrift zu einem Briefe an Leſſing vom 29. April 1757. 
„Zu Anfange des Winters hatte ich an einem Abende folgende 
Verſe gemacht. Ich habe gelogen. Ich mag wohl mehr als 
ſechs Abende darüber zugebracht haben; allein Poeten müſſen 
wacker lügen.“ Und was war das? Das Fragment eines ſelbſt— 
verfertigten didaktiſchen Gedichtes! 


Jetzt liegt der träge Schwarm, von ſteten Qualen matt, 
Nachläſſig hingeſtreckt, auf weicher Lagerſtatt. 

Das Thieriſche iſt todt. Empfindung, Sinn, Beſtreben 
Hört plötzlich auf, und nur die Pflanze hat noch Leben. 
Der rege Trieb entſchläft, der ſie durchs Leben jagt. 

Als Pflanze ruht der Menſch, als Menſch iſt er geplagt. 
Wer niemals denkt, wer ſich nur ſo wie Thiere weidet, 
Verfehlt des Schöpfers Zweck; wer immer denkt, der leidet. 
Die ſteinerne Vernunft wetzt jenen Stachel ab, 

Der uns zum Fühlen reizt, und wird der Freuden Grab. 





) Mendelsſohns Bemerkungen über Burkes philoſophiſche Unter: 
ſuchungen in K. Leſſing, Leſſings Leben II, 228. 
2) Sammler, 1784, S. 130, wieder abgedruckt Bickure Haittim 
(Wien, 1821), ©. 82 ff. 
ſtayſerling, Moſes Mendelsfohn. 5 


u. WE is 


Verſucht's, o Sterbliche! befämpft der Thorheit Gögen, 
Die Sudt nad eitlem Ruhm, den Durft nad) feilen Schäten . ..') 


Es läßt ſich denken, daß ein Leffing, der von didaktiſchen 
Gedichten überhaupt nichts wiſſen wollte, von dieſen Werfen, 
deren ähnliche der junge Dichter noch mehr Tiegen hatte, nicht 
fonderlich erbaut war. Er mag ihm auch fein Wort des Lobes 
oder Tadels darüber gejchrieben haben, und Mendelsjohn war 
einfichtsvoll genug, die Aufmunterung des Freundes: „Schreiben 
Sie, mein lieber Moſes, fo viel als Ihre geſunde Hand .nur 
immer vermag, und glauben Sie jteif und feit, daß Sie nidt 
Mittelmäßiges fchreiben können... denn ich habe es gefagt!“?) 
am allerwenigjten auf feine Verfe zu beziehen. Die Danklieder, 
welche er einige Monate fpäter, zur Feier der Schlacht bei Roß— 
bad, aus dem Hebräifchen ins Deutfche überfegte, ſchickte er 
Leffing nicht, weil fie ihm nicht wichtig genug jchienen: „fe 
haben zwar den Leuten allhier gefallen, allein wie viel Leute 
haben hier Geſchmack?“s) Leffing fand die Ode, die er durd 
Nicolai erhielt, vecht Schön, er wollte deshalb alle feine poeti— 
ſchen Arbeiten, bejonders die Fortiegung des Lehrgedichtes und 
auch die Danflieder fehen, welche er nach der fiegreihen Schladt 
Friedrich des Großen bei Leuthen aus dem Hebräifchen ins 
Deutſche überjegt hatte.) 

Mit der Poeſie Hatte es bald ein Ende; feine poetiſchen 
Producte befchränften fich meistens auf Webertragungen. So 
verfertigte er im Jahre 1758 für Kirnberger einen Bußpfaln, 
welchen diejer in Muſik feste, und wovon die Partitur, für vier 
Singftimmen mit Generalbaß, ſich handſchriftlich in der könig— 


1) Schr. V, 91. 

2) Schr. V, 113. 

3) Schr. V, 139. 

9 Schr. V, 140, 141. Dieſe Danklieder, welche in den Gef. Schr. 
nicht aufgenommen wurden, finden ſich in meiner Schrift: Zum Siege# 
fefte. Dankpredigt und Danklieder von Moſes Mendelsjohn. Eine 
Reliquie. (Berlin 1866), ©. 16—21. 


u 


lichen Bibliotdef zu Berlin befindet.) Er überſetzte Gedichte 
Popes, den herrlihen Monolog Hamlets, Ueberfegungen, welche 
mufterhaft zu nennen find,2) verfertigte ein „Brautlied auf die 
Bermählung der Prinzeffin Wilhelm von Preußen mit dem 
Prinzen von Dranien”, das am Laubhüttenfefte 1767 unter 
Mufikdegleitung in der Berliner Synagoge vorgetragen wurde, ?) 
ein Danklied der Judenſchaft bei Entbindung der Prinzeffin von 
Preußen”) u. a., welche fich über das Niveau gewöhnlicher 
Gelegenheitsgedichte erheben. 

Dichter im eigentlichen Sinne war Mendelsfohn nicht. „Die 
Mufen, diefe Schweitern, die oft den jungfräulichen Eigenfinn 
haben, dem Sünglinge günftig zu fein und dem Manne den 
Rücken zuzumenden, diefe Mädchen find mir nie recht gut ge— 
wejen, und wie ich glaube, aus Eiferfucht gegen ihre Schweiter 
Kritifa, der ic) manchmal die Aufwartung gemacht habe. Seit- 
dem mir aber das Höllenfind Mammon zuweilen mit eijernen 
Fingern die Ohren zupft und fragt: Was bringt es ein? feit- 
dem Haben mich Mufen und Kritif verlaffen und ich bin der 
Poeſie wie abgeftorben. Ich habe faſt Fein Gefühl mehr für 
Poeſie. Ich Löfe mir die Gedanken in fchlichte Profa auf...” 
So ſchrieb Mendelsfohn vier Jahre vor feinem Tode an den 
unglüdlihen Dichter Ephraim Mofes Kuh, einen Neffen des 
reihen Beitel Ephraim, der das Manufeript feiner Gedichte 
Mendelsfohn, mit dem er während feines mehrjährigen Aufent- 
haltes in Berlin Häufig verkehrte, auf Leſſings Empfehlung zur 
Beurtheilung überfandte. „Ich, Poeſie beurtheilen, der ich mic) 
gewöhnt, fie mehr mit der logiſchen Brille als mit dem äftheti- 
ſchen DOpernguder zu betrachten? Ich, Richter über ſchalkhafte, 
niedliche, fcherzhafte Riens (vergeben Sie! ich kann diefes nach— 
drüdliche Wort nicht überfegen); über poetifches Dragée, das 


Schr. VI, 401. 

2) Schr. VI, 391 ff., I, 322, 328. 

3) Schr. VI, 39 ff. ©. Berliner Priv. Zeitung vom 24. Dct. 1767. 
4) Schr. VI, 398 ff. 


- 


5* 


u MR 


blos den Gaumen figelt, ohne den Magen zu befriedigen? Ber- 
geben Sie, Freund Leffing! Da haben Sie unferm Freunde Kuh 
nicht den beiten Rath ertheilt, daß Sie ihn an mich gewiefen.“ 

Mit diefem Dichter, „den bald das ſchnöde Glück, bald 
auch der Schurfen Tüde genedt“ und der im Wahnfinn aus 
der Welt jchied, wurde Mendelsfohn in Mißhelligfeiten ver: 
widelt — duch eine Dde. Kuh Hatte ihm diefelbe zur Ver— 
beſſerung eingeſchickt. Mendelsfohn verbefjerte, veränderte, fügte 
einige Strophen Hinzu und theilte fie einigen Freunden als eine 
Dichtung Kuhs mit. Diefe Ode galt — man weiß nicht wie 
— don jeher für das bejte unter den Gedichten Mendelsfohns. 
Die von ihm in diefer Ode vorgenommenen Berbefjerungen find 
allerdings jo mefentlih, daß von dem urfprünglichen Gedichte 
nicht viel mehr geblieben iſt als — die Ueberfchrift.) 

Eben fo früh wie in Gedichten verfuchte ſich Mendelsfohn 
in Predigten: er iſt der erſte deutſche Jude, welcher deutſche 
Predigten zu gottesdienftlihen Zweden, wenn auch nicht ge 
halten, jo doch gefchrieben hat. Am 25. November 1757 über- 
raſchte er Leffing mit der Neuigfeit, „daß es fchon fo weit ge- 
fommen fei, daß er eine Predigt fchreibe und einen König 
{obe.?) Diefer Predigt, auf den Sieg der Preußen bei Rof- 
bach, welche der Oberrabbiner David Fränfel am 10. November 
1757 in der Synagoge zu Berlin vortrug und welche Leffing 
jehr Schön fand, folgte vier Wochen fpäter aus Beranlafjung 
der Schlacht bei Leuthen feine „Danfpredigt,“ welche unter 
David Fränfel3 Namen mit dem Zufage „Ins Deutfche über- 
ſetzt“ im Drude erfchien.d) Dann brachte er ſechs Jahre fpäter 
noch ein Homiletifches Product zur Welt: eine Friedenspredigt, 

IM. ſ. mein Der Dichter Ephraim Kuh. Ein Beitrag zur Geſchichte 
der deutſchen Literatur (Berlin, 1864). Der Brief Mendelsjohns an 
Kuh, der in den Gef. Schr. fehlt, daſ. S. 27 ff. Weber die „Ode zum 
Lobe Gottes’ (Schr. VI, 396 ff.), daf. ©. 30 f. 

2) Schr. V, 139. 


) Berlin 1757. Dieje Predigt, 100 Jahre für verloren gehalten, 
wieder veröffentlicht in: Zum GSiegesfefte, ſ. S. 66, Note 4. 


Kae ) SE 


über welche, wie e3 in einem Briefe an Leffing heißt, „Doctor 
Stop wol hätte einfchlafen und Vetter Toby fein Lillabulero 
noch zweimal jo laut pfeifen mögen.!) Diefe Predigt, zur 
Feier des Hubertburger Friedens,?) wurde Sonnabend den 
12. März 1763 in der Synagoge zu Berlin von dem Rab— 
biner Aron Mofesfohn gehalten?) und unter defjen Namen bei 
Nicolai gedrudt. Der Berfaffer, welcher auf die Ehre ver- 
zichtete, auch) als Prediger befannt zu fein, feßte aus Scherz 
auf den Titel: „Ins Deutfche überjegt von R. ©. K.““ denn, 
meinte er, „da der Rabbi Samfon Kalir ſich meine — 1761 
erichienene — hebräifche Logik zugeeignet hat, jo mag er nun 
auch meine Predigt auf ſich nehmen.“ 

Wie immer man Mendelsjohns poetifche und Homiletifche 
Berfuche befritteln und belächeln mag, Sinn für Schönheit und 
Kunft, bedeutende Begabung für äjfthetifche Kritik wird ihm 
niemand abfprechen können. Leſſings und Nicolais Freundſchaft 
brachte es dahin, daß er der grübelnden Metaphyfif, feiner ehr- 
würdigen Matrone, wie er fie nennt, einen Theil feiner Liebe 
entzog und fie auf die ſchönen Wifjenfchaften übertrug.) Er 
gehört nächſt Sulzer zu den exjten feiner Zeit, welche den 
Aufbau einer damals neuen philoſophiſchen Disciplin merklich 
förderten, und feine Arbeiten auf diefem Gebiete ficherten ihm 
den Namen und den Rang eines eleganten Wejthetifers. 


') Schr. V, 173. 

2) Sonnabend den 12. März begann die hiefige Judenfchaft das 
Friedensfeft in ihrer Synagoge, bei welcher Gelegenheit der Hiefige 
Rabbiner Aron Mofes eine „erbauliche und wohlgefaßte Rede“ hielt. 
Auch in Potsdam hielt R. Michael Hirſch eine „erbauliche Predigt, 
welche mit nädftem im Drude erjcheinen ſoll.“ Berliner Priv. Zeitung 
vom 15. und 29. März 1763. 

3, Die Friedenspredigt erichien in Berlin 1763, hebr. und deutſch 
herausgegeben von Hartog Leo, Berlin 1764; hebr., Sammler 1789, 14 ff., 
deutih, Schr. VI, 407—415. 

9 Schr. V, 32. 


——— ———— 


Viertes Bud. 
Der Aecfthetiker. 


Zwölftes Kapitel. 
Die Briefe über die Empfindungen. 


Die Aeithetif, der erſt Furz vor Mendelsſohns Auftreten 
als ſelbſtſtändige Disciplin eine Stellung in der Philofophie 
eingeräumt wurde, hat an dem fechsundzwanzigjährigen jungen 
Manne einen jehr eifrigen Förderer gefunden; nächſt Baum- 
garten, dem bereit3 genannten Begründer der Aeſthetik, nädjit 
Leifing und Sulzer, gehört er zu den Männern, welche der nod) 
jungen ®ifjenichaft den folgenreichjten Aufihwung gaben. Auf 
diefem Gebiete liegen feine werthoolliten Leiftungen, welche in 
Folge der Wechſelwirkung zwifchen ihm und Leſſing einen tief- 
gehenden Einfluß auf die ganze damalige Literaturrichtung aus- 
geübt haben.!) 

Sein frühefter VBerfuh auf diefem Gebiete waren die 
„Briefe über die Empfindungen“.?) 


) Mendelsjohn ala Aefthetifer, mit Zugrundelegung diefer Bio: 
graphie, gewürdigt in: Die Stellung Mojes Mendelsjohns in der Ge— 
ihichte der Aefthetif von G. Kanngieker (Frankfurt a. M. 1868). 

2) Berlin, Voß, 1755; Schr. I, 103—1%. TH. Abbt überjegte 
die Briefe unter dem Titel: Recherches sur les Sentiments etc. Geneve 
et Berlin 1764 (Schr. V, 277). 


“ 


u MT, 


Sie erihienen vier Monate nad) den „Philofophifchen 
Geſprächen“ und wurden ebenfall3 durch Leffing an die Deffent- 
Tichfeit gezogen, der in dem „Vorberichte“ zu denfelben Yaut 
gegen die Ehre protejtirte, daß man die „Geſpräche“ auf feine 
Rechnung gejchrieben Habe. „Folgende Unterredungen,” heißt 
e3 in dieſem charakteriftiichen Worberichte, „die die Freunde 
über die Natur des Vergnügens gewechjelt haben, fowol, als 
die Tegthin ohne Benennung des Verfaſſers herausgefommenen 
„Philoſophiſchen Gefpräche”, die in der Gefellfchaft eben diefer 
Freunde gehalten worden, find mir durch einen feltenen Zufall 
in die Hände gerathen, und ich fonnte mich nicht enthalten, die 
feine Verrätherei zu begehen, fie der Welt befannt zu machen. 
Man wollte diefes im Vorübergehen erinnern, um dem Anfuchen 
eines befannten Schriftiteller® Genüge zu leiſten, auf deſſen 
Rechnung man die „Philoſophiſchen Gefpräche“ Hin und wider 
geihrieben Hat. Er glaubt (diefes find feine eigenen Worte), 
daß man e3 ihm al3 eine plagiarifche Eitelfeit auslegen müſſe, 
wenn er diefe Vermuthung nicht von fich ablehnte.“ 1) 

Dem „bekannten Schriftiteller”, der fein anderer als der 
Profeſſor Michaelis, der Necenfent der „Geſpräche“ in den 
Göttingifchen Gelehrten Anzeigen, war, hatte Mendelsfohn anı 
7. September 1755 die „wenigen Bogen, mit denen er fid) 
wiederum in die gelehrte Welt gewagt”, direct und von einem 
bejonderen Schreiben begleitet, zugefandt. Er dankte dem Herru 
Profefjor zunächſt für das gütige Urtheil, daS er über die 
„Geſpräche“ gefällt, und erfuchte ihn in feinem Namen und in 
dem des „Herın Mag. Lejfing”, den beifolgenden wenigen 
Bogen eine müßige Stunde zu fchenfen. „Wollen Sie einen 
Unbefannten, der ſehr viel Hochachtung für Ihre Einfichten hat, 
verbinden, fo bitte ich, Iefen Sie bei müßigen Stunden diefe 
wenigen Blätter und melden Sie dem Herrn Mag. Lelfing, an 


!) Die legte Hälfte des hier aus dem Vorberichte in der Driginal: 
Ausgabe der Briefe Mitgetheilten fehlt in den Gef. Schr. I, 110. 


— ——— 
den Sie ſonſt nicht Selten zu ſchreiben pflegen, Ihr Urtheil 
darüber. Ihr Beifall wird mich erfreuen, Ihr Tadel belehren, 
und beide zu fernerem Nachdenken aufmuntern. So gewöhnlich 
und abgenutzt Ihnen dieſes Autorcompliment ſcheinen dürfte, jo 
ungeheuchelt muß es doch in dem Munde eines Juden ſein, deſſen 
zeitliche Umſtände es erfordern, Niemanden, außer ſehr wenigen 
Freunden, für etwas mehr als einen Buchhalter bekannt zu ſein.“) 
Michaelis kündigte die ihm geichidten „Briefe“ jchon am 
9. October 1755 mit wenigen Worten in den Götting. Gelehrten 
Anzeigen?) an, und erflärte fie für „eine Schrift, die einen ſehr 
nachdenfenden und philoſophiſchen Verſtand, dabei aber einen 
Schüler und PVertheidiger Leibnizens und Wolffens entdedt, einen 
von den Schülern Wolffens, der beſſer iſt als die Meiften, fo er 
erlebt hat.“ 


') Schr. V, 412. Infolge diejes Schreibens erihien von Michaelis 
am 2. October 1755 in den Gött. Gel. Anzeigen (S. 1107) folgende 
Erflärung: „Bir haben S. 586 in unjerer Vermuthung gefehlt, da 
wir die „Geſpräche“ für eine Arbeit des Herrn Mag. Leifing angejehen 
haben. Wir haben jeit der Zeit den wahren Berfafler, von dem mir 
nächſtens eine andere Schrift anzeigen werden, fennen lernen, und ob 
wir gleich noch Bedenken tragen, ihn völlig befannt zu maden, weil er 
uns jelbjt meldet, jeine zeitlihen Umftände erfordern es, Niemanden 
außer jehr wenigen Freunden für einen Schriftſteller befannt zu fein, 
jo dürfen wir doch unſern Leſern nicht verichweigen, daß er feiner äußern 
Lebensart nah gar nicht zu den Gelehrten gehört, dak man ihn auch 
nicht unter denen, die fi zum Chriſtenthum befennen, zu juchen habe, 
jondern unter den Juden. Dieje Neuigkeit hat uns fein Buch nod 
weit angenehmer gemacht, als es vorhin war, da wir blos auf Sade 
und Ausdrud jahen und nicht wuhten, aus was vor einer unerwarteten 
Feder eine jo wohl gerathene Schrift geflofjen war.’ Kanngieher, «a. 
a. D. ©. 27 und Mor. Braſch in der Einleitung zu den „Briefen über 
die Empfindungen’ in den von ihm herausgegebenen Schriften Moſes 
Mendelsjohns (Leipzig 1881) II, 4, haben dieje Etelle, in der 1. Aufl. 
©. 83 mitgetheilt, mißverftanden. Nicht die Autorjchaft der „Briefe“, 
fondern die der „Philoſ. Geſpräche“ vindicirte der Recenjent Leſſing; 
mit der „wohl gerathenen Schrift‘ find die „Geſpräche“ gemeint. 

*) Götting. Gelehrt. Anzeigen, 1755, 1127. 


— 7585 — 


Als Schüler Wolffs, oder vielmehr Baumgartens, erſcheint 
Mendelsſohn allerdings in ſeinen äſthetiſchen Abhandlungen und 
ſpeciell in den „Briefen über die Empfindungen“. 

Ohne ſich über principielle Fragen der Kunſt auszulaſſen, 
thut er unmittelbar in die Tiefen der Empfindungen einen 
ſpähenden Blick, und giebt damit deutlich zu verſtehen, daß auch 
nach ihm die Aeſthetik weſentlich auf Pſychologie beruhe. Der 
Gegenſtand ſeiner Philoſophie iſt vorzugsweiſe das menſchliche 
Subject, ein Weſen, in welchem ſich dunkle und deutliche Vor— 
ſtellungen, niedere und höhere Erkenntniſſe zu gleicher Zeit finden. 

Von zwei Freunden, dem Jüngling Euphranor und dem 
Weltweiſen Palemon oder Theokles, wie er in den ſpäteren 
Auflagen genannt wird, läßt Mendelsſohn in funfzehn Briefen 
die Theorie der Schönheit entwickeln. Die Schönheit, das 
Vergnügen, beruht nach dem Ausſpruche Wolffs und Baum— 
gartens in der dunkeln oder undeutlichen Vorſtellung einer Voll— 
kommenheit. Wir fühlen nicht mehr, ſobald wir denken. Der 
Affect verſchwindet, ſobald die Begriffe aufgeklärt werden.!) 
Dieſer einſeitigen Auffaſſung gegenüber wird von Theokles, der 
die Anſichten Mendelsſohns vertritt, geltend gemacht, daß Klar— 
heit der Vorſtellung das Vergnügen befördere. „Die Wahrheit 
ſtehet feſt: kein deutlicher, auch kein völlig dunkler Begriff ver— 
trägt ſich mit dem Gefühle der Schönheit; jener, weil unſere 
eingeſchränkte Seele keine Mannichfaltigkeit auf einmal deutlich 
zu faſſen vermag, dieſer, weil die Mannichfaltigkeit des Gegen— 
ſtandes in ſeine Dunkelheit gleichſam verhüllt und unſerer Wahr— 
nehmung entzogen wird. Alle Begriffe der Schönheit müſſen 
zwiſchen den Grenzen der Klarheit eingeſchloſſen ſein; denn je 
ausgebreitet klarer die Vorſtellung des ſchönen Gegenſtandes, 
deſto feuriger iſt das Vergnügen.“ Im Augenblicke des Genuſſes 
muß kein beſonderer Begriff deutlich bleiben wollen. Durch das 
Anſchauen des Ganzen werden die Theile ihre hellen Farben 


') Schr. I, 114. 


u. FE ae 


verlieren, oder Spuren Hinter jich Yafjen, die das Ganze auf- 
klären und das Vergnügen lebendiger machen. Diefer allgemeine 
Grundfag wird dann auf die Kunſt angewandt. Der Künftler 
darf im Augenblide des Schaffens feine Regeln nicht allzu 
deutlih vor Augen Haben; fie find Borbereitungen, follen die 
Einbildungsfraft nicht im Bügel Halten, fondern ihr nur von 
ferne den Weg zeigen, und nachrufen, wenn fie in Gefahr ift, 
ſich zu verlieren. !) 

Aber nicht nothivendig müſſen die angenehmen Empfin— 
dungen aus dunklen Begriffen entjtehen, fonjt wäre der auf- 
geflärte, höhere Geift ärmer an Freude als der niedere, und 
Weſen von höherer Art würden zu der bittern Klage gegen die 
Borfehung berechtigt fein: „Du Haft uns mit deinem Fluche 
beladen, indem du ung aufgeflärte Geifter verliehen haft; es 
fehlt uns an dunfeln Empfindungen, an der Duelle des Ber: 
gnügens, mit welcher die unteren Weſen reichlich verfehen find.“ 

Es ijt daher nicht das dunfle Gefühl Duelle des Ange 
nehmen, fondern je größere Mannichfaltigfeit ein Weſen deutlich 
faffen fann, um fo glüdlicher ift es, weil die Gegenſtände als- 
dann mit mäcdhtigerem Reize auf dafjelbe wirken fünnen.?) 

Mendelsfohn zieht nun im fünften Briefe, im Gegenfaß zu 
Baumgarten, die Grenze zwifchen Schönheit und Vollkommen— 
heit. Die Schönheit befteht in der gefälligen äußern Ber: 
fnüpfung, d. h. in der Form, die Vollkommenheit in dem ver: 
nünftigen innern Bufammenhange und der Gefegmäßigfeit. Die 
Einheit im Mannichfaltigen ift ein Eigenthum der fchönen 
Gegenftände. Sie müfjen eine Ordnung oder fonjt eine Boll 
fommenheit darbieten, die, und zwar ohne Mühe, in die Sinne 
fällt. - Die Sinne follen begeiftert fein, und von ihnen fol fic 
die Luft auf die müßige Vernunft ausbreiten. ?) 

Was folgt hieraus? „Daß das Vergnügen an der finn- 


9) &he 1,119 f. 
2) Sr. I, 1%. 
3) Schr. I, 123. 


er 


lichen Schönheit, an der Einheit im Mannichfaltigen blos unferm 
Unvermögen zuzufchreiben fe. Wir ermüden, wenn unfere 
Sinne eine allzu verwidelte Ordnung auseinanderfegen follen. 
Wefen, die mit ſchärferen Sinnen begabt find, müfjen in unferen 
Schönheiten ein efelhaftes Einerlei finden, und was uns er— 
müdet, kann ihnen Luft gewähren. Gott, der alles Mögliche 
mit einmal überjieht, muß die Einheit im Mannichfaltigen 
durchaus verwerfen; nur die äußere Geftalt der Dinge ift von 
ihm mit finnlicher Schönheit bededt. Die Schönheit der menſch— 
lichen Bildung, die annehmlichen Farben, die gewundenen Züge, 
die in feinen Mienen bezaubern, find nur der äußern Schale 
eingeprägt. Sie gehen nicht weiter als unfere Sinne reichen. 
Unter der Haut Tiegen gräßliche Geftalten verborgen. Alle 
Gefäße find ohne ſcheinbare Ordnung ineinander verfchlungen; 
die Eingeweide halten einander das Gleichgewicht, aber fein 
Ebenmaß, feine finnlihen Berhältniffe; lauter Mannichfaltigkeit, 
nirgends Einheit; lauter Befchäftigung, nirgends Leichtigfeit in 
der Beichäftigung. Wie fehr würde der Schöpfer feinen Zweck 
verfehlt haben, wenn er nichts als Schönheit geweſen wäre!“ 

Nicht Schönheit war Endzweck der Schöpfung, fondern 
„himmlische vortrefflichite Vollkommenheit“; nicht wie fie Die 
Sinne faffen, fondern wie fie die Vernunft begreift. Sie ge- 
währt Mannichfaltigkeit, aber Feine Einheit, feine Leichtigkeit in 
der Beichäftigung, aber erfordert vernünftigen Zufammenhang, 
Uebereinftimmung, Einhelligfeit. 

Diefe „himmlische Venus“ muß der Denker fich hüten mit 
der „irdiihen, der Schönheit”, zu verwechjeln. Dieſe beruht 
auf der „Einfchränfung, dem Unvermögen“; aber das Gefallen 
an der Uebereinftimmung des Mannichfaltigen gründet fich auf 
eine pöfitive Kraft unferer Seele. Wenn es Wefen, die eine 
Borftellungsfraft haben, natürlich ift, fich nach Vorjtellungen zu 
fehnen, fo ift es auch vernünftigen Weſen eigenthümlich, nach 
ſolchen Borftellungen zu ftreben, die ineinander gegründet find. 
- Berrüttete Begriffe, Mißhelligfeiten, Widerfprüche jtreiten eben- 


u, Bi ge 


jo wol wider die Natur und das urfprüngliche Bedürfniß aller 
denfenden Wejen, als der Mangel, der völlige Tod aller Vor— 
jtellungen. Hierin liegt der mächtige Reiz, mit welchem die Voll— 
fommenheit alle Geifter an fich zieht, und fo neit eine pofitive 
Kraft über ihre Einfchränfung erhaben ift, jo weit iſt das Ver— 
gnügen der verjtändlichen Vollkommenheit über das Vermögen der 
finnlichen, über das Vergnügen der Schönheit hinweg.) 

Die Quelle des Vergnügens ift eine dreifache: die Einheit 
im Mannichfaltigen oder die Schönheit, die Einhelligfeit des 
Mannichfaltigen oder die verjtändlihe Vollkommenheit, und 
endlich der verbefjerte Zuftand unferer Leibesbeichaffenheit oder 
die finnlihe Luft. Aus diefen Quellen Haben alle ſchönen 
Künfte zu Ichöpfen; fie werden ihr Ziel um fo mehr erreichen, 
je mehr fie dieſe verjchiedenen Arten harmonisch zu vereinigen 
wiſſen. Eine bejondere Art der Harmonie ift für jeden Sinn 
bejtimmt; nur die Tonkunſt allein vermag uns mit allen Arten 
der Vergnügungen, mit VBollfommenheit, Schönheit und finnlicher 
Luft zu überrafchen. Aehnliches kann für's Auge auch durch 
die Harmonie der Farben erreicht werden, wenn es ihr gelingt, 
die Linie der Schönheit oder des Reizes, die in der Malerei 
taufendfaches Vergnügen gewährt, mit der Farbenharmonie zu 
verbinden. 2) 

In feinen „Briefen über die Empfindungen“, in welchen 
er auf Leibniz zurücdgeht und über ihn Hinausgreift und die 
Leibnizifche Schule durch die Philofophie der Engländer zu 
ergänzen jucht, ſtellt Mendelsfohn mehr eine pfychologiiche 
Theorie auf, infofern er die reine äfthetifche Luft von der finn- 
fihen nicht grundſätzlich fondert; aber feine Auffafjung zeigt 
doch auch eine überrafchende Aehnlichfeit mit der fpätern 
ipeculativen Aeſthetik und bildet fomit ein wichtiges Mittelglied 
zwifchen Baumgarten und Kant. 


1) Schr. I, 14. 
2) Schr. I, 148 ff. 


u A 


Man thut überhaupt in neuerer Zeit, wo wir es „fo 
herrlich weit gebracht“ haben, den äjthetiichen Arbeiten Men— 
delsſohns entjchieden Unrecht, fie al3 veraltet und unbrauchbar 
der Bergefjenheit anheimfallen zu laſſen. Während Leffing in 
feiner Recenfion über die „Briefe“ darauf Hindeutete, daß ficd) 
wol ein ganzes Syſtem (der Aefthetif) „in dem Kopfe des 
Verfaſſers zufammenfinden ſollte“,“) und er felbjt im „Laokoon“ 
an fie anfnüpfte; während Herder,?) Schiller u. a. Mendels- 
ſohns Beiträge zur „Wifjenjchaft des Schönen“ mit Nußen ihren 
Forſchungen zu Grunde legen, wenden fich viele unferer modernen 
Kunftrichter mit jchnöder Wegwerfung von ihnen ab, zumeift 
wol deshalb, weil fie nicht begreifen, wie ein unter Drud und 
Armuth, ohne Schule und ohne Bildung aufgewachſener Jude 
gar ein jo Tebhaftes, fruchtbringendes Intereſſe für Aeſthetik 
und. äfthetifche Kritif Hatte entwickeln können. Merkwürdig 
bleibt diefe Erfcheinung immerhin. Sein Intereſſe Hatte einen 
tiefern, im gewijlen Sinne praftifchen Grund. Ex ſelbſt fagt 
in einem Schreiben an den Schweizer Sfelin: „Die Trodenheit 
zu vermeiden, erlaubt fich mein Gemüth manchen Spaziergang 
in die anmuthigen Gefilde der fchönen Wiffenfchaften, welche in 
der That mit der peculativen Weltweisheit in einer genauern 
Verbindung ftehen, al3 man insgemein zu glauben pflegt.‘‘3) 

Außer dem Bergnügen und der Erholung, welche die Be- 
handlung äjthetiicher Fragen ihm boten, maß er der praftifchen 
Anwendung derjelben große Bedeutung für das Leben bei. 
Deutlich äußert er fich hierüber in feiner Anzeige des Meierichen 
„Auszuges aus den Anfangsgründen der Schönen Wiffenfchaften“, 
in der er feine Gedanken über Aeſthetik überhaupt darlegt. 
„Man müßte auf die Erfindung diefer Wiffenfchaft neidifch fein 
oder fie nicht verjtehen, wenn man an dem Nußen oder an der 


) Sn der Berlin. Zeitung vom 4. September 1755; ſ. Leſſings 
Schr. V, 61 ff. 

2) Herders Lebensbild I, 3, 2, ©. 442 ff. 

») Schr. V, 437. 


_ ME 


Bortrefflichkeit derjelben zweifeln wollte. Die Verbejlerung des 
Geſchmacks und der unteren Kräfte der Seele überhaupt ijt für 
die Schönen Wiſſenſchaften, für die Sittenlehre und vielleicht für 
alle Wiffenfchaften von allzugroßer Wichtigkeit, al3 daß ſie nicht 
einem jeden in die Augen leuchten follte.“1) Diejes Streben 
nad) praftiiher Anwendung führte ihn, wie Sulzer, Eſchenbach 
und andere feiner Zeit zu jener Wermifchung ethifcher und 
äfthetifcher Elemente, welche al3 ein Kennzeichen der Popular— 
philofophie gilt; er trug fich fogar, wie aus einem Briefe 
Nicolais an Herder hervorgeht, mit dem Plane, „ein Werf über 
die Verbindung der fchönen Wilfenfchaften, des Naturrehts und 
der Moral zu fchreiben“.?) Eine natürliche Folge diefer Praris 
war die Erweiterung des Begriffes der Aefthetif. Sie follte, 
nach Mendelsfohns Anficht, die Wiffenfchaft der fchönen Erkennt— 
niß überhaupt, die Theorie aller ſchönen Wiffenfchaften - und 
Künfte enthalten; alle Erklärungen und Lehrfäge derjelben follten 
daher fo allgemein fein, daß fie ohne Zwang auf jede jchöne 
Kunst insbefondere angewendet werden könnten. 

In der That Hat Mendelsfohn, deſſen Theorie der Schön- 
heit ein Gemälde feiner Janften, Geräufch fliehenden Mufe ift, 
allen Theilen der Aejthetif ganz befondern Fleiß zugewandt, 

Ehe wir jedoch dieſe verjchiedenen Theile näher be— 
trachten, müffen wir bei dem äjthetifchen Briefwechiel verweilen, 
welchen Nicolai und hauptſächlich Mendelsfohn mit Leffing 
unterhielten. 


') Schr. IV, 1, 314. 
2) Ungedrudte Briefe aus Herders Nachlaß (Leipzig 1861), I, 332. 


— 78 — 


Dreizehntes Kapitel. 
Der äſthetiſche Briefwechſel. 


Zwiſchen Nicolai, Mendelsſohn und dem wieder nach Leipzig 
zurückgekehrten Leſſing hatte ſich ſeit Auguſt 1756 ein Brief— 
wechſel entſponnen, der freilich mit den Briefen, welche Schiller 
und Körner über denſelben Gegenſtand gewechſelt haben, an 
Tiefe der Auffaſſung und Neuheit der Geſichtspunkte nicht ver— 
glichen werden kann, an literarhiſtoriſcher Wichtigkeit aber ihnen 
kaum nachſtehen dürfte. Veranlaſſung zu dieſem Briefwechſel 
gab eine Abhandlung über das Trauerſpiel, mit welcher Nicolai 
feine neu begründete Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften!) 
eröffnet Hatte. Nicolai hatte den Zweck der Tragödie in die 
Erregung der Leidenschaften gefeßt, wogegen Lejfing, zu Ariftoteles 
zurücfehrend, behauptete, die einzige Leidenschaft, welche das 
Trauerfpiel erregen folle, ſei das Mitleid, indem es die Fähigkeit, 
Mitleid zu fühlen, erweitere. Raſch war Mendelsjohn bei der 
Hand, auf die von -Leffing angeregten Unterfuchungen einzu= 
gehen; Hatte er doch fchon zwei Jahre früher ihn zu gelehrten 
Disputen aufgefordert,2). ihn fogar in dem gedrudten Send- 
ichreiben wiederholt eingeladen, fich mit ihm in „jpeculativifche 
Betrachtungen“ einzulaffen. Es iſt charafteriftiich für ihn, daß 
er in diefem Streite wieder als der Philoſoph erfcheint, dem es 
um die Wurzel der verwandten Begriffe mehr zu thun iſt, als 
um die Begrenzung der Arten gegen einander, worauf bei dem 
fritifchen. Leffing Alles ankommt. Mendelsfohn greift zunächſt 
den Theil von Leffings Behauptungen Heraus, bei welchem es 
ſich um die Natur der einzelnen Empfindungen, das damalige 
Lieblingsitudium feiner Reflerionen, zu handeln fchien; er be— 
jtreitet die untergeordnete Stellung der Bewunderung und des 
Schredens zum Mitleid; jene, meint er, müſſe doch, weil jie 


) Danzel:-Gubrauer, a. a. D. I, 341, 351 ff. 
2) Schr. V, 21. 


— MO — 


Vollkommenheit zum Gegenſtande habe, ſchon an und für ſich 
und ohne Abſicht auf das Mitleid, das die bewunderte Perſon 
errege, in dem Gemüthe des Zuſchauers ein Vergnügen zu Wege 
bringen. Uebrigens verweiſt er ihn auf ſeine Gedanken von der 
Wirkung der theatraliſchen Illuſion, welche er mit Nicolai in 
Ordnung bringen will, ſobald „der ſiebenjährige Krieg die Hand— 
lung ſo ſehr zu Grunde gerichtet haben wird, daß den beiden 
Freunden einige Stunden zur Speculation übrig bleiben“.!) 

Die von Mendelsjohn Hingeworfene Bemerkung über Be- 
wunderung wird nunmehr PVeranlaffung, daß Leſſing feine 
Anficht ausführlicher entwicelt, Bewunderung von Verwunderung 
genau jcheidet und ebenjo von Mitleid trennt, injofern Be— 
wunderung vermittelt der Nacheiferung beſſert, Mitleid jedoch) 
unmittelbar, ohne Hinzuthun von unferer Seite, das Beſſer— 
werden eines Jeden, „des Mannes vom Verſtande wie des 
Dummkopfes“, bewirft.?) 

Es handelte fich für Leſſing nicht eigentlich um eine Feſt— 
jtellung der Begriffe; er wollte vielmehr feinen gleich anfangs aus— 
gefprochenen Grundfag, die Bewunderung 'müffe in dem Trauer: 
fpiele nicht3 fein al3 der Ruhepunft des Mitleids, confequent 
verfolgend, nicht nur das auf Bewunderung bafirte franzöfifche 
Trauerjpiel verwerfen, ſondern aud als das einzig wahre, 
feinem Begriffe und feinem Zwecke entiprechende dasjenige Hin- 
jtellen, welches ex felbjt cultivirt Hatte, die in jeder Scene Mit- 
leid erregende, rührende, bürgerliche Tragödie, die Gattung der 
Mit Sara Sampfon. ?) 

Bon welcher Wichtigkeit diefe Angelegenheit für Leffing 
war, zeigt die ganze Art und Weife, wie er dabei verfuhr. 
Er hatte feine Anfichten in einem Briefe enttwidelt, der dem 
„Keinen Buche“ ähnlich ſah, das er einmal fcherzweife dem mit 
Fleinen Briefen unzufriedenen Mendelsfohn al3 Brief verfprochen 

1) Schr. V, 44 f. 

2) Schr. V, 51. 

3) Danzel-Gubrauer, a. a. O. I, 355. 


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hatte. Allem Anjchein nad) hatte der Streit, der jegt nur noch 
zwiſchen Leſſing und Mendelsfohn geführt wurde, mit dem langen 
Briefe ein Ende. Mendelsfohn meldete dem Gegner, daß er in 
den Hauptpunften feiner Meinung ſei, nichtsdeſtoweniger aber 
noch einige andere jtreitige Punkte finde. Zunächſt beruft er 
ſich auf die äfthetifche Illuſion, über welche er feine Gedanken 
verfprochenermaßen zu Papier gebracht und dem Briefe beigelegt 
hatte. Die Kunſt folle auch in dem Trauerfpiele eine Nach— 
ahmerin der Natur werden; feine einzige Leidenfchaft dürfe vom 
Theater ausgefchloffen bleiben, denn fobald fie nur anfchauend 
von der PVortrefflichfeit der Nachahmung überzeugen könne, fo 
verdiene fie auf der Bühne nachgeahmt zu werden. Die Luft 
an den fchönen Gegenjtänden führt er auf die Illuſion zurück, 
weicht aber von den hergebrachten Begriffen derfelben darin ab, 
daß die Gegenjtände nicht al3 wirkliche, ſondern als dem Urbilde 
ähnliche erſcheinen. Leffing, der fich mit diefer an die Theorie 
der franzöſiſchen Dramatiker erinnernden Anficht nicht befreunden 
fonnte, war willen, jich in einem ungewöhnlich langen Briefe 
über dieſes Thema auszulaffen, wurde aber durch Unpäßlichkeit 
daran verhindert. Ganz vortrefflich fchienen ihm die zugleich 
mit dem Auffage „Ueber die Illuſion“ geſchickten Heinen Arbeiten: 
„Bon der Herrichaft über die Neigungen“, „Won der Gewohn- 
heit“, „Bon der anfchauenden Erkenntniß“, wenige Blätter voll 
anregender Ideen;) fie haben ihn, feiner eigenen Berficherung 
nad, jo überzeugt, „daß ihm auch nicht einmal ein Logifcher 
Fechterſtreich dawider übrig gelafjen war.“ ?) 

Die Correfpondenz über die äfthetifchen Fragen hörte damit 
auf, daß Mendelsfohn die jtreitigen und ausgemachten Punfte 
in einer Tabelle überfichtlich zufammenjtellte.?) Für Leffing gab 


) Schr. V, 72 ff. 

2) Diefe Eleinen Arbeiten, von welden Fragmente uns erhalten 
find (Schr. IV, 1, 38-45), entftanden nicht 1755, fondern Ende des 
Jahres 1756. 

3) Schr. V, 93—103. 

Kapyjerling, Moſes Menbelsiohn. 6 


— 82 — 


es bald neue Berwirrungen und Berlegenheiten, jodaß ihn 
feine Zeit blieb, an die „lieben Streitigkeiten“ noch zu denken; 
aber der Bortheil, welchen die Freunde aus denſelben zogen, 
war von großer Bedeutung und von den frucdhtbariten Folgen, 
fowol für Leifing als auch für Mendelsjohn. 

Schon das iſt von Widtigfeit, dag Mendelsjohn durd) 
eine Berufung auf Windelmann, mit deſſen kunſthiſtoriſchen 
Werfen er ſich eifrig beichäftigte, und durch eine gelegentliche 
Hindeutung auf „Laofoon“, „welchen Virgil poetiſch entworfen 
und ein griechiicher Künjtler (vielmehr drei) in Marmor ge 
hauen hat,“) in den Geiſt des Freundes den Anfang zu einer 
neuen und fruchtbaren Gedankenreihe legte! Wie jehr Leifing 
überhaupt Mendelsjohn als Aejthetifer verehrte und feine An- 
ſichten jchäßte, geht aus mehreren Stellen in feinen Briefen an 
ihn hervor: „Sch bitte Sie, alles zu überdenken, zu prüfen und 
zu verbefjern. Erfüllen Sie nun meine Bitte, jo ijt es eben 
das, al3 ob ich es jelbjt nochmals überdacht, geprüft und ver- 
befjert hätte. Ihre bejieren Gedanken find weiter nichts, als 
meine zweiten Gedanken.““) „Sie find mein Freund,“ heißt e3 
in einem andern Briefe vom 28. November 1756, „ich will 
meine Gedanken von Ihnen geprüft, nicht gelobt haben. Ich 
ſehe Ihren ferneren Einwürfen mit dem Vergnügen entgegen, mit 
welchem man der Belehrung entgegenjehen muß.“s) Strebte er 
doh auch in dem ontologiichen Theile des „Laofoon,“ wie 
Guhrauer aus den Berbefjerungen des Entwurfs, welcher id 
in Leſſings Nachlaß befand, nachweilt, nad) vollfommener Ueber: 
einjtimmung mit dem Freunde; mit ihm fprad) ex nad) feiner 
Rückkehr aus Breslau den philofophiichen Theil der Materie in 
mündlichen Unterredungen duch, und nußte die Bemerkungen, 
welche fein Freund ſowol über die Eintheilung der Gegenftände 


) Schr. V, 58. 
2) Schr. V, 42. 
3) Schr. V, 51. 


EIER (DRAN 


der Malerei und Poeſie, al3 über einzelne Begriffe dem erjten 
Entwurfe beigefügt Hatte!) 

Die reifite Frucht, welche Mendelsſohn aus dem äjthetifchen 
Briefwechſel erntete, ijt die Abhandlung „Bon den Quellen und 
Verbindungen der fehönen Künſte und Wifjenfchaften“, welche 
Ende Juni 1757 in der „Bibliothek erfchien und welche unter 
dem Titel „Ueber- die Hauptgrundfäge der ſchönen Künfte und 
Wiffenichaften“ den „Philofophifchen Schriften“ fpäter einver- 
leibt wurde, 


Bierzehntes Kapitel. 


Hauptgrundſätze der Ihönen Künite und 
Wiſſenſchaften. 


„Sch habe weder den Willen noch die Fähigkeit, ein ganzes 
Zehrgebäude der Kunſt aufzuführen, und bin zufrieden, wenn 
ih nur die erſten Grundlinien eines Lehrgebäudes mit einiger 
Richtigkeit gezeichnet habe,“ äußert Mendelsfohn im Anfange 
diefer Abhandlung,?) welche zu den wichtigjten a 
der vorfantifchen Aeſthetik gehört. 

Die Nahahmung der Natur, welche der Franzoje Batteur 
und fein deutfcher Ueberfeger Ramler als Grundſatz der Poeſie 
und Schönen Künſte aufgejtellt Haben, wird von Mendelsfohn 
al3 unfruchtbar und unzulänglic) verworfen. Weit entfernt, Die 
Natur blos nachzuahmen, fteht ihm die Kunft der Natur, in 
ihrer Selbitjtändigkeit und Würde gegenüber. Aehnlich wie 
Mendelsjohn gegen Baumgarten Schönheit von Bollfommenheit 
unterfchieden, unterfcheidet er gegen Batteur Kunft von Natur. 


) Danzel:Gubrauer, a. a. ©. II, 9. 

2) Schr. I, 281-305. Diefe Abhandlung erſchien in den ‚„Philo- 
ſophiſchen Schriften‘‘, und befonderd: Erlangen 1777. Carlo Ferdinandi 
überjegte fie ins Italieniſche: Principi generali delle belle lettere 
e belle arti, Losanna 1779. _ 

6* 


Schönheit, die finnlihe Erkenntniß der Vollkommenheit, ift 
der Endzweck der menſchlichen Kunjt; alles was den Sinnen 
al3 eine Vollkommenheit vorgeftellt werden kann, iſt auch ge- 
eignet, einen Gegenjtand der Schönheit abzugeben. „Das Wejen 
der fehönen Künfte bejteht alfo in einer fünjtlichen, finnlich voll- 
fommenen Borjtellung oder in einer durch die Kunſt vorgejtellten 
finnlihen Vollkommenheit.“) 

Nun führt aber jede Nachahmung, fobald fie ihr Urbild 
erreicht, an und für fi den Begriff der Vollfommenheit mit 
fih. „Der Künftler wählt ſich einen Umfang, der feinen Kräften 
angemefjen ift. Sein ganzer Endzwed ift, die Schönheiten, die 
in die menschlichen Sinne fallen, in einem eingefchränften Bezirke 
vorzuftellen. Er wird alfo den idealifchen Schönheiten näher 
fommen fönnen, als die Natur in diefem oder jenem Theile 
gefommen ift, weil ihn Feine höheren Abfichten zu Abweichungen 
veranlaffen. Was fie in verfchiedenen Gegenjtänden zexjtreut 
hat, verfammelt er in einem einzigen Gefichtspunfte, bildet ſich 
ein Ganzes daraus, und bemüht fi, es fo vorzuftellen, wie 
e3 die Natur vorgeftellt Haben würde, wenn die Schönheit dieſes 
begrenzten Gegenſtandes ihre einzige Abficht geweſen wäre. 
Der Künftler muß ſich alfo über die Natur erheben, und weil 
die Schönheit fein einziger Endzwed ijt, fo fteht es ihm frei, 
diejelbe allenthalben in feinen Werfen zu concentriren.‘?) 

Somit hat Mendelsfohn durch den Grundſatz, daß der 
Endzweck der menſchlichen Kunft die Schönheit ift, die natu- 
raliſtiſche Auffaffung durchbrochen, der Kunſt eine von der Natur 
unabhängige felbjtitändige Stellung angewiefen und ſich zu dem 
duch Windelmann begründeten Fdealismus erhoben. Seine 
Schönheit ijt Ideal, feine Kunst feine Naturnahahmung, fondern 
eine Naturvollendung. 

Nachdem er dergeitalt das Princip für die ſchönen Künſte 

1) Schr. I, 285. 

2) Schr. I, 289. 


— 85 — 


feſtgeſtellt hat, wendet er ſich zu der Eintheilung derſelben in 
ihre beſonderen Claſſen. Dieſe beruht auf dem Gegenſatze der 
natürlichen und willkürlichen Zeichen. „Natürlich ſind ſie, wenn 
die Verbindung des Zeichens mit der bezeichneten Sache in den 
Eigenſchaften des Bezeichneten ſelbſt gegründet iſt; ihrer bedient 
ſich, wer eine Gemüthsbewegung durch die ihr zukommenden 
Töne, Geberden und Bewegungen ausdrückt. Hingegen werden 
diejenigen Zeichen willkürlich genannt, welche vermöge ihrer 
Natur mit der bezeichneten Sache nichts gemein haben; von 
dieſer Art ſind die articulirten Töne aller Sprachen, die Buch— 
ſtaben, die hieroglyphiſchen Zeichen der Alten.“!) 

Hieraus fließt die erſte Haupteintheilung des ſinnlichen 
Ausdrucks in ſchöne Künſte und Wiſſenſchaften; unter den letzteren 
verſteht man Poeſie und Rhetorik. „Der Dichter kann alles 
ausdrücken, wovon ſich unſere Seele einen klaren Begriff machen 
kann. Alle Schönheiten der Natur in Farben, Figuren und 
Tönen, die ganze Herrlichkeit der Schöpfung, der Zuſammenhang 
des unermeßlichen Weltgebäudes, die Rathſchlüſſe Gottes und 
ſeine unendlichen Eigenſchaften, alle Neigungen und Leidenſchaften 
unſerer Seele, unſere ſubtilſten Gedanken, Empfindungen und 
Entſchließungen können der poetiſchen Begeiſterung zum Stoffe 
dienen.‘2) 

Anders verhält es fich mit den fchönen Künften, zu welchen 
die Mufif, die Mimik und die bildenden Künfte im engern 
Sinne, Malerei, Sculptur, Architektur, gehören; bei ihnen wird 
feine Willkür vorausgefegt, um verjtanden zu werden. Der 
Maler und der Bildhauer müfjen, weil fie die Schönheit in 
der Folge neben einander ausdrücden, den Augenblid wählen, 
der ihrer Abſicht am günftigften ift; fie müffen die ganze Hand- 
fung in einem einzigen Geſichtspunkte verfammeln und mit 
vielem Verſtande austheilen. 3) 


‘) Schr. I, 290 f. 


2) Schr. I, 292. 
3) Schr. I, 29. 


— 86 — 


Die Grenzen der Kunſt und Poeſie laufen aber, gemäß 
der Regel von der zuſammengeſetzten Schönheit, häufig inein— 
ander. Hier ſucht ſich nun Mendelsſohn durch die Allegorie, 
im Sinne Winckelmanns, auszuhelfen. „Auch die allerſubtilſten 
Gedanken, die abgezogenſten Begriffe können auf der Leinwand 
ausgedrückt und durch ſichtbare Zeichen in das Gedächtniß zurück 
gebracht werden. Nur muß fi der Künftler hüten, daß feine 
Allegorien nicht allzu jpigfindig werden,“ d. 5. die Weberein- 
itimmung des Zeichens und des Bezeichneten müfjen wir mit 
fo Leichter Mühe einfehen können, daß wir mehr an die be 
zeichnete Sache als an das Zeichen ſelbſt denfen.?) 

Auch auf die Berbindung zweier oder mehrerer Künſte 
nimmt ex gebührende Rückſicht und erklärt fie aus der Natur 
der zufammengefegten Vollkommenheiten. Als die ſchwerſte und 
faft unmögliche Verbindung der Künfte aber erfcheint es ihm, 
wenn Fünfte, welche Schönheiten in der Folge neben einander 
vorjtellen, mit folchen, welche Schönheiten in der Folge aufein- 
ander vorftellen, vereinigt werden follen. Dies Geheimniß hat 
ih allein die Natur vorbehalten; fie verbindet in ihrem uner- 
meßlichen Plane die Schönheiten der Töne, Farben, Bewegungen 
und Figuren durch unendliche Zeichen in der vollfommeniten 
Harmonie. Die menjhliche Kunft Hingegen kann die Malerei, 
Bildhauer- und Baufunft mit Mufif und Tanzkunſt nur un 
eigentlich verfnüpfen. 

„Meine Materie ift noch ungemein fruchtbar,“ ſagt Mendels- 
john am Schluſſe diefer trefflichen Abhandlung, „allein ich bin 
in die Geheimniffe der Künfte nicht eingeweiht genug, mid) 
ohne Gefahr tiefer in ihr HeiligthHum zu wagen.“?) 

Der Erfolg, welchen der bejcheidene Verfaſſer mit dieſer 


Y Schr. I, 295 ff. Die beiden fleinen Aufjäte: „Künſte“ und 
„Nachahmung“, um deren Nüdjendung er Leffing mit dem Zuſatze 
bittet (V, 109): „Ich will aus der Kleinen Uhr einen Bratenmwender 
machen,‘ find verloren gegangen oder in diejer Abhandlung enthalten. 

2) Schr. I, 305. 


Zur U 


Arbeit errungen, war ein weit größerer, al3 ex ſelbſt Hoffen 
mochte; die in ihr ausgefprochenen Ideen wurden im Wejent- 
fihen von Leffing zum „Laokoon“ benußgt, ſodaß fie als eine 
Borarbeit zu diefer epochemachenden Schöpfung betrachtet werden 
muß. Diefe Abhandlung ift nad) dem Urtheile Manfost) un- 
ftreitig die bedeutendfte Erſcheinung auf äfthetifchem Gebiete 
nah) Baumgarten und bildet „ein wichtiges Mittelglied in der 
Entwidelung der Ideen, deren reife Frucht uns im ‚Laofoon‘ 
geboten iſt“.) 

Lefiing nahm aud feinen Anjtand, fich von Mendelsfohn 
belehren zu laſſen, wie diefer es nicht verſchwieg, daß er durch 
den Freund auf neue Gefichtspunfte geführt worden ift. Un- 
verfennbar ijt Leſſings Einfluß in den folgenden äjthetifchen 
Arbeiten. 


Fünfzehntes Kapitel. 
Mendelsſohns übrige äſthetiſche Abhandlungen. 


„Hier kommt Ihr Auffat ‚Vom Erhabenen‘ wieder zurück. 
Ich müßte auch nicht das Geringite dabei zu erinnern, ob id) 
ihn gleich mehr als einmal durchgelefen habe,“ Heißt es in 
dem Briefe Leſſings an Mendelsjohn vom 13. Auguft 1757.3) 
Diefe Abhandlung „Ueber das Erhabene und Naive in den 
ihönen Wiffenfchaften“, welche zuerjt im vierten Stüde der 
„Bibliothek erſchien, ſchrieb Mendelsfohn im April 1757, Lange 
bevor er das Bud) des Engländers Burfe „Ueber den Urfprung 
unferer Ideen über das Erhabene und Schöne” Fennen lernte. 


ı) Manjo in den Nahträgen zu Sulzers allgem. Theorie der 
ihönen Künfte, VIII, 1, 173. 

2) Danzel-Guhrauer, a. a. D. IL, 25. 

3) Schr. V, 123. 


— 88 — 


In dieſer Mar und ſchön geſchriebenen Arbeit!) ſucht er 
für das Erhabene und Naive ein beſonderes Syſtem aufzuſtellen. 

Er geht von der Grenzbeſtimmung des Schönen aus, welche 
nicht überfchritten werden darf. Wenn nun die Grenzen der 
Ausdehnung immer weiter geſetzt werden, jo fönnen fie endlich 
für die Sinne ganz verjchwinden und alsdann entjteht das 
Sinnlichunermeßliche, „deſſen Nahahmung in der Kunst jchlecht- 
weg das Große genannt wird und ein angenehmes Schauern 
zu erweden im Stande ift. So wie es ein Unermeßliches der 
ausgedehnten Größe nach giebt, ebenfo giebt es ein Unermeß— 
liches der Stärke nad. Die Macht, das Genie, die Tugend 
haben ihr unausgedehntes Unermeßliche, das gleichfalls eine 
Ichauervolle Empfindung erregt, dabei aber den Vorzug hat, 
daß es nicht in Sättigung und Efel übergeht. Das intenfiv 
Große, das Starke, und das Starke in der Vollkommenheit 
nennt man das Erhabene und die durch dafjelbe Hervorgerufene 
Empfindung Bewunderung.“ ?) 

Diefe Bewunderung, fowie die durch fie vorgejtellte Voll- 
fommenheit fann in den Werfen der ſchönen Künfte und Wiffen- 
ichaften von zweierlet Gattung fein; fie bezieht fich entweder 
auf das Object felbft, oder auf den Künftler, der die Gejchidlid)- 
feit bejigt, die Eigenschaften feine® Objects „empor zu heben 
und in einem ungemeinen Lichte zu zeigen”: zu der erjten Art 
gehört das Erhabene in der Poeſie, in den Gefinnungen und 
Leidenschaften, bei welchen der Grund zur Bewunderung in dem 
Dbjecte felbft anzutreffen ift; bei der zweiten Gattung fällt die 
Bewunderung mehr auf den Kiünftler, auf fein Genie und feine 
außerordentlichen Fähigkeiten.) Durch eine Reihe treffender 
Beifpiele aus alten und neuern Dichtern, aus den Palmen 
und den Slageliedern Jeremias, aus Horaz und Birgil, aus 
Klopſtock und vor allen aus Shafefpeare, aus dejjen Hamlet = 


') Schr. I, 309-347. 
2) Schr. I, 310 f. 
3, Schr. I, 313 ff. 


— — 


einzelne Stellen meiſterhaft überſetzt, aus Leſſing und Haller 
wird jede Gattung beſonders erläutert. 

Mit dem Erhabenen in genauer Verbindung ſteht das 
Naive, für das die deutſche Sprache fein zutreffendes Wort hat., 
Wenn ein Gegenjtand edel, fchön, oder mit feinen wichtigen 
Folgen gedacht und durch ein einfältige® Zeichen angedeutet 
wird, fo Heißt die Bezeichnung naiv. Das Naive des fittlichen 
Charakters bejteht alfo in der Einfalt im Aeußerlichen, welche, ohne 
e3 zu wollen, innerliche Würde verräth, in jenem zuderfichtlichen 
Wefen, das nicht Dummheit und Mangel der Begriffe, fondern 
Edelmuth, Unſchuld, Güte des Herzens und die liebreiche Ueber- 
redung zum Grunde Hat, daß andere gegen uns nicht Schlimmer 
gefinnt fein werden, al3 wir gegen fie find. Sobald das Naive 
mit Bewußtfein verbunden wird, nimmt es den Charafter des 
Gefuchten, des Affectirten an und hört auf, naiv zu fein.*) 

Auch die „Grazie“ oder die Schönheit in der Bewegung 
ift mit dem Naiven verbunden, „da die Bewegungen des Reizen- 
den natürlich, Teichtfließend und fanft aufeinander hinweggleiten 
und ohne Vorfa und Bewußtfein zu erkennen geben, daß die 
Triebfedern der Seele, die Regungen des Herzens, aus welcher 
diefe freiwilligen Bewegungen fließen, ebenfo ungeziwungen 
ipielen, ebenſo fanft übereinjtimmen und ebenſo funjtlos fich ent- 
wideln.” Je mehr die Unfchuld zurüdtritt und die Bewegung 
mit Vorſatz und Bemwußtfein gefchieht, deſto mehr weicht fie von 
dem Naiven ab und erlangt den Charakter des Gefuchten, des 
Affectirten. 2) 

Diefe Abhandlung, ?) welche für den damaligen Stand der 
AeftHetit nicht ohne Bedeutung war, hat wol hauptlächlich 
Leffing zu dem Entſchluß gebracht, Burkes „Ueber das Schöne 


') Schr. I, 340. 

2) Schr. I, 341 ff. 

3) Van Goens überjegte fie ind Holländijche, Utrecht 1769; von 
Mendelsjohn felbft angezeigt in der Allg. Deutfchen Bibliothek, Bd. 14 
S. 230 (Schr. IV, 2, 560). 


—— 


und Erhabene“ ins Deutſche zu überſetzen. Da er dieſes für 
die Aeſthetik ſo wichtige Werk auch mit Anmerkungen verſehen 
wollte, ſo erſuchte er Mendelsſohn, „alles fein“ aufzuſchreiben, 
was er bei dem Studium deſſelben gedacht habe.) Es ſollte 
gerade mit dem Drude begonnen werden, als er auf einmal 
in eine Arbeit gerieth, in der er fi) auf feine Weife wollte 
unterbrechen laſſen, denn er mußte feine erſte Hitze zu nüßen 
fuchen, wenn er etwas zu Stande bringen wollte Er fchidte 
daher den Engländer unterdejjen zu Mendelsfohn. „Unterhalten 
Sie fi) fo lange mit ihm, bis ich mic) aus dem Wufte von 
Gelehrſamkeit, in welchen ich jebt verfunfen, wieder heraus— 
gearbeitet habe. Meine Ueberfegung fann zur Mefje nunmehr 
doch nicht fertig werden, und ich habe Sie ohnedem über ver- 
Ichiedene Punkte derfelben vorher zu Rathe zu ziehen. Ach 
erwarte von Ihnen wichtige Anmerkungen über das ganze 
Syſtem des Verfaſſers. Schreiben Sie mir alles, was Ahnen 
darüber einfällt. Ich hebe Ihre Briefe Heilig auf und werde 
alle Ihre Gedanken zu nützen fuchen, fobald ich mich der Sphäre 
der Wahrheit wieder nähern werde.) Mendelsfohn machte 
auch wirklich feine Bemerkungen, die mit den befcheidenen Worten 
Ichließen: „Es find bloße Embryonen von Gedanken, die ein 
Leffing erſt entwideln und befeelen muß. Bielleiht kann er 
auch einigen von meinen Mißgeburten eine regelmäßige Gejtalt 
geben und ein Leben einhauchen.“3) Da er merfte, daß Leffing 
die Arbeit nicht wieder aufnahm, erklärte ex fich, im Juni 1761 
bereit, da8 Werf zum Drud zu befördern. „Wenn Sie nicht 
Zeit oder nicht Luft haben,“ fchreibt er Leffing, „den Drud 


) Schr. V, 147. 

2) Schr. V, 154. 

3) Dieje „Bemerkungen über Burfes philoſophiſche Unterfuhungen‘“, 
welche uns Karl Leſſing in der Biographie des Bruderd (Schr. II, 201 
bis 232) aufbewahrt hat, und welche in den Gef. Schr. Mendelsjohns 
fehlen, jollten im Anhange zur 1. Aufl. diefer Biographie abgedrudt 
werden, daher das Citat S. 102, Note 2 ohne Angabe der Duelle. 


— 91 — 


felbjt zu bejorgen, fo ſchicken Sie mir das Manufeript und die 
Erlaubniß, e3 in Ihrem Namen zu thun. Es wäre ewig fchade, 
wenn Ihnen ein Stümper zuborfäme und das fchöne Buch fo 
tweghudelte.‘ 1) 

Diefes „Ichöne Buch“, aus dem Mendelsfohn in der 
„Bibliothek der fchönen Wiffenfchaften” einen Auszug lieferte, 2) 
führte Mendelsfohn wieder zu der Theorie der Empfindungen, 
vielmehr zu der letzten größern äfthetifchen Schrift, der 1761 
erihienenen „Rhapfodie über die Empfindungen“, in welcher 
er mande in den „Briefen“ ausgefprochene Idee theils ver- 
befjert, theil3 weiter ausführt und tiefer begründet. 

Anfnüpfend an die „Briefe über die Empfindungen“ fucht 
er die Theorie der gemifchten Empfindungen, über deren Natur 
er früher einen „leichten Begriff“ Hatte, eingehender darzulegen. 
Er unterjcheidet die Luft an der Vollfommenheit der Objecte 
von der Luft an der Entwidelung unferer Vorftellungen, die 
objective von der fubjectiven Vollkommenheit, und zeigt, wie 
Mißfallen an dem Gegenftande mit Wohlgefallen an der Bor- 
ftellung zugleich beftehen fünne. Daß wir über die Vorſtellung 
reflectiren, infofern fie eben ein Product unferer Seele ift, macht 
nad) Mendelsfohns Theorie das Wefen des Aeſthetiſchen aus. 
Wir empfinden über die Einrichtung und Beichaffenheit der 
Sache Luft oder Unluft, je nachdem wir Realitäten oder Mängel 
an derfelden wahrnehmen. In Beziehung auf das denfende 
Subject, auf die Seele Hingegen, ift das Wahrnehmen und . 
Erfennen der Merkmale, fo wie die Bezeugung des Wohl- 
gefallen und Mißfallens an denfelben, etwas Sachliches, das 
in derfelben gefegt wird, eine bejahende Beitimmung, die der 
Seele zukommt; daher muß jede Borjtellung, wenigſtens in Be- 
ziehung auf das Subject, als ein bejahendes Prädicat des 
denkenden Weſens, etwas Wohlgefallendes haben. 3) 








1) Schr. V, 167; Leſſings Schr. XIII, 226. 
2) Schr. IV, 331-8350. 
3) Schr. I, 239. 


— 92 — 


Zu dieſer von Mendelsſohn begründeten Theorie waren 
nun zwar in jener Zeit ſchon manche Elemente vorhanden. 
Er ſelbſt ſagt in der Recenſion des erwähnten Burkeſchen Buches 
„Ueber das Schöne und Erhabene“, derſelbe nehme für die 
Erklärung des letztern ſeine Zuflucht zu dem bekannten Syſteme, 
daß eine jede Beſchäftigung der Nerven, die ſie wirkſam erhalte, 
ohne ſie zu ermüden, angenehm ſei, welches man in einer 
franzöſiſchen Schrift: „Theorie der angenehmen Empfindungen“ 
ausgeführt finde; allein die geiſtigere Auffaſſung iſt das Eigen— 
thum Mendelsſohns, der von Leſſing die Anregung dazu erhielt.t) 

Hätte Mendelzfohn feine Theorie mit Confequenz verfolgt, 
jo wäre e3 ihm ein Leichtes gewwefen, zu der Lehre vom Schönen 
zu gelangen, welche Kant in der Kritif der Urtheilsfraft etwa 
dreißig Jahre fpäter aufftellte; arbeitete er doch dem Königs- 
berger Alten wie in manchem andern auch darin vor, daß er 
die Wefthetif zur Empfindungsiehre erhob, ein Verdienſt, das 
ihm der Wefthetifer Vifcher?) ſehr Hoch anſchlägt. Er Fonnte 
aber der allgemeinen Strömung der Zeit nicht völlig Wider- 
ftand Yeiften und machte, wie bereit3 erwähnt, das Aeſthetiſche der 
Beförderung der Moralität dienftbar. Unterfcheidet ex ſich nun 
allerdings eben fo vortheilhaft von den Popularäfthetifern, wie 
in der Philofophie von den Popularphilofophen, fo läßt er ſich 
doch bei feinen Unterfuchungen von moralifchen Zwecken Teiten 
und zieht die GSittenlehre mit in die fchönen Wiſſenſchaften. 
Sie find von unfchägbarem Nugen für die Moral „nicht nur 
fir gemeine Köpfe, die für die Tiefe der Demonstration zu 
feicht find, fondern fogar für den Weltweifen felbjt, wenn er 
fein Mittel verfäumen will, die todte Erkenntniß der Vernunft 
zum wahren fittlichen Leben zu erwecken.“ „Die Dichtkunft, die 
Malerei, die Bildhauerfunft, wenn fie der Künftler nicht zu 
einem unedeln Zwecke mißbraucht, zeigen uns die Regeln der 


) Schr. I, 241 ff., Danzel, Gejammelte Auffäte, 97. 
2) Aeſthetik oder Wiffenjchaft des Schönen, Reutlingen 1856, I. 


— 108. — 


Sittenlehre in erdichteten und durch die Kunſt verſchönerten Bei— 
ſpielen, wodurch die Erkenntniß belebt und jede trockene Wahrheit 
in eine feurige und ſinnliche Anſchauung verwandelt wird.‘!) 

Soweit über Mendelsſohns äfthetifche Arbeiten, an welchen 
Leffing und Herder lernten und deren Einfluß ſich bis auf Kant 
und Schiller erjtredte. Aus feiner Abhandlung „Ueber das 
Erhabene“ fchöpften Vhilofophen wie Kritifer bis zum Ende des 
Jahrhunderts Anregung und Belehrung, und noch Schiller, ob- 
gleich ex fich zu den Grundfägen Kants bekannte, nußte Mendel3- 
ſohns Darlegung. Ebenſo zog aus feiner Theorie über Die 
Empfindungen, wie er fie namentlich in der „Rhapfodie“ auf: 
jtellte, exit Kant die legten entfcheidenden Confequenzen. 

Sowol die größeren äſthetiſchen Abhandlungen Mendels- 
ſohns als auch viele Kleinere Auffäge erfchienen zuerjt in Jour— 
nalen und wurden erjt Später von ihm gefammelt. In Journalen 
und Beitjchriften entwidelte er iiberhaupt manche treffliche Idee. 
Seine Theilnahme an der Tages: und Beitliteratur bildet die 
Periode der beginnenden Reife. 


1) Schr. I, 275 f. 


——e—— 


Fünftes Bud). 
Die Periode der beginnenden Reife. 


Schzehntes Kapitel. 
Der Buchhalter. 


„Sie haben Recht,“ fchreibt Mendelsfohn dem fpätern 
Kammerrath von Breitenbauh am 19. April 1757, „mein Leben 
in dem Reiche der Gelehrjamfeit Hat eben nicht lange gedauert. 
Aber ganz todt bin ich noch nicht! Ach bin jegt vielmehr in 
meiner Berwandlung, und wenn diefe vorüber ijt, wer weiß, 
ob ich nicht gar alsdann noch Flügel haben werde.“!) Mit 
welchem Beifall feine erſten jchriftitellerifchen Verſuche auch auf- 
genommen wurden, über den engen Kreis der Berliner Freunde 
und einiger auswärtiger Bekannten trugen fie feinen Namen 
nicht. Seine „Geſpräche“ und die „Briefe über die Empfin- 
dungen“ waren anonym erichienen; ohne fich zu nennen lieferte 
er feine Beiträge zu den Sournalen, weil e3 in feiner Abficht 
lag, „niemanden, außer jehr wenigen Freunden, für etwas mehr 
al3 einen Buchhalter befannt zu fein“. ?) 

Der Philoſoph und feinjinnige Aeithetifer war feines Faches 
Buchhalter. Mit dem fpätejtens zu Anfang des Jahres 1754 


1) Schr. V, 418. 
2) Schr. V, 412. 


— — 


erfolgten Eintritte in die Bernhardſche Seidenwaarenfabrik 
war über ſeinen fernern Lebenslauf entſchieden, und der 
Plan, den er wol in früheren Jahren gehegt Hatte, Rab— 
biner zu werden, volljtändig aufgegeben. Der Gedanke, daß 
feine wiſſenſchaftlichen Bejtrebungen ihn für etwas anderes 
fönnten gelten laſſen als ex feiner innerjten Ueberzeugung 
nad war, fchredte ihn von einem rabbinifchen Amte ab und 
bewog ihn, fich „hinter feine Bücher und in fein Comptoir 
zurüdzuziehen“. | 

Bernhard Hatte allen Grund, mit Mendelsfohn, dem Buch— 
halter, eben jo zufrieden zu fein, wie er e8 mit Mendelsfohn, 
dem Hauglehrer, war. Es wurde dem jungen Manne freilich 
nicht Leicht, fi in die neue Stellung hineinzuarbeiten. Im 
Winter 1755 war er von morgen? acht bis abends neun an 
den Schreibtiih gebannt; er arbeitete daran, „jich für den 
Sommer ein wenig von den Geſchäften losreißen zu fünnen“. ?) 
In der That wurde feine Stellung bald eine angenehmere. 
Schon im März 1756 meldete er feinem Leſſing, daß er 
fünftigen Sommer in feiner Lebensart die Aenderung treffen 
werde, „zu welcher er ihm fo oft gerathen Habe. Ich arbeite 
nicht länger in dem Comptoir als ſechs Stunden, von acht Uhr 
morgens bis zwei Uhr nachmittags. Alle übrigen Stunden find 
für mid.) 

Auch feine äußeren Berhältniffe gejtalteten fich allmählich 
zum Beſſern. Im Sommer 1757 Iebte er fchon mit aller 
Bequemlichkeit in feinem Garten. „Sch Habe einen überaus 
Ihönen Garten, darin Sie logiren können,“ meldet er Leſſing den 
1. Juli 1757. „Er ift von Herrn Nicolai feinem nicht weit ab- 
gelegen, und Sie fünnen alle Bequemlichkeiten darin haben, die 
Sie nur wünfchen. Ich komme alle Abende um ſechs Uhr 
heraus und werde blos von einigen meiner Freunde begleitet, 


») Schr. V, 19. 
2) Schr. V, 29. 


un: Or 


die Sie gewiß nicht ftören werden.“!) Regelmäßig morgens 
ſechs Uhr ftellte ex fich bei Freund Nicolai zu gemeinfamen 
Studien ein.?) 

Er hatte fi) auch Schon ein Feines Sümmchen eripart und 
war im Stande, feine armen Freunde aus peinlichen Berlegen- 
heiten zu ziehen. Als Leſſing in eben diefer Zeit mit bitterer 
Noth zu kämpfen Hatte, jtand er ihm als Freund hülfreich zur 
Seite. Schulden feffelten ihn in Leipzig, was er feinem ver: 
vathen wollte, al3 feinem guten Mendelsfohn, den er um ein 
Darlehn von fechzig Thalern erſuchte. Sechzig Thaler waren 
nun allerdings für den Buchhalter Feine Feine Summe Mit 
der Freimüthigfeit wahrer Freundichaft fchrieb er ihm, daß er 
fechzig Thaler unmöglich auf einmal fchiden könne „Ich kann 
Ahnen jegt, ohne die geringjte Bejchwerlichkeit, dreißig Thaler, 
und irgend in vier Wochen noch dreißig Thaler ſchicken, wenn 
es Ahnen fo gefällt. Sch würde auch heute das Geld mit- 
geichict Haben, wenn man nicht feit geftern den Weg von hier 
nad) Leipzig für unficher hielt. Seien Sie alſo fo gütig, allda 
durch jemanden dreißig Thaler auf mich afjigniven zu Laffen, 
entweder an Heren Voß oder fonjt einen Kaufmann allhier. 
Ich zahle contant; mit den übrigen dreißig Thalern müßte es 
alsdann noch einige Wochen Anjtand haben. Sie fehen, daß 
ich Fein Bedenken trage, Ahnen dasjenige abzufchlagen, was mir 
bejchwerlih Fält.“?) Die zweite Anweiſung auf Voß blieb 
nicht aus; freilich bemerkte der Ausfteller in feinem Avis, daß 
Mendelsfohn nicht gehalten wäre, fie anzunehmen, wenn e3 
feine Umjtände nicht erlaubten. „Sie müſſen, um mir eine 
Gefälligkeit zu erweiſen, ſich nicht in Verlegenheit ſetzen. Das 
will ich durchaus nicht.““) Und als Voß die Anweiſung präſen— 
tirte, — war Mendelsſohns Kaſſe leer, aber er verſprach, die 


) Schr. V, 112. 
2) Schr. V, 117. 
3) Schr. V, 128. 
9 Schr. V, 132. 


— 97 — 


Summe binnen vierzehn Tagen gewiß zu bezahlen, ein Ver— 
fprechen, das er auch unfehlbar hielt.“ t) 

Kedenfall3 Hatten ſich die äußern Verhältnifie Mendels— 
fohns derart günstig gejtaltet, daß er ruhig und zufrieden hätte 
leben fünnen, wenn nicht fein nach Wiſſen dürjtender Geift ihm 
das Geichäftsleben verleidet hätte. Ein Gelehrter ift felten ein 
guter Gefchäftsmann. Mendelsjohn konnte es nicht verfchmerzen, 
eingeferfert zu fein in den dumpfen Räumen feine® Comptoirs; 
unaufhörlich Elagte er über Geſchäfte und wurde ob der Klagen 
eine Zeit lang nie recht froh. Welche Unzufriedenheit Tpricht 
fi) in dem Briefe an Lefjing vom 27. Februar 1758 aus. ?) 
„Ein guter Buchhalter ift gewiß ein feltenes Geſchöpf. Er 
verdient die größte Belohnung, denn er muß Berftand, Wit 
und Empfindung ablegen, ımd ein Klo werden, um richtig 
Buch zu führen Verdient ein folches Opfer zum Bejten der 
Finanzen nicht die größte Belohnung? Wie ich heute auf diefen 
Einfall fomme, fragen Sie? Sie fünnen es wol unmöglich er- 
tathen, daß mir des Herrn von Kleiſt neue Gedichte dazu Anlaß 
gegeben haben. Ich Lie fie mir des Morgens um acht Uhr 
fommen. Ich wollte unjerm lieben Nicolai eine unvermuthete 
Freude damit machen und fie mit ihm durchlefen. Allein ich 
ward verhindert — die ungejtümen Leute! Was bringt Er, 
mein Freund? und Sie, Gevattern? und Er, Gejelle? Laſſen 
Sie mid) heute, ich kann nicht. „Sie haben ja nicht irgend 
Feiertage?“ Das wol eigentlich nicht, aber ich bin krank. Es 
verichlägt Ihnen ja nichts. Kommen Sie morgen wieder, — 
Diefe Leute waren gefällig, allein mein Brincipal war e3 nicht. 
Sch befam Arbeit bis gegen Mittag. ch Tas indeffen unter 
der Arbeit Hier und da ein Fledchen; und da merfte ich es, 
wie ſchwer e3 ift, Empfindung zu haben und ein Buchhalter zu 
fein. Ich fing an, in Handlungsfachen Schön zu denken, und 


) Schr. V, 133. 
2) Schr. V, 149 f. 
Kayferling, Mofes Mendelsfohn. 7 


— 98 — 


machte in meine Bücher eine von den Schönheiten, die man 
von einer Ode zu rühmen pflegt. Ich verwünſchte meinen 
Stand, ſchickte die Gedichte unſerm Esquire (Nicolai), der 
von ſeinen Geldern lebt, ha, nicht ohne Neid! und ward ver— 
drießlich.“ 

Er beneidete den Freund wahrlich nicht um fein Vermögen, 
wol aber um die günftige Lage, welche e3 ihm möglich machte, 
ſich ungeftört den Wiljenfchaften Hingeben zu fünnen. Das war 
es gerade, was ihm fehlte und was ihm feinen Stand oft 
unerträglich machte. Wäre ihm nur mehr Muße zum Studiren 
geblieben, „er wäre glüclicher gewejen als der weile Memnon, 
bevor diefer fein Geld, feine Unschuld und feine Augen verlor.“!) 
So aber folgte er mit innerm Widerftreben der Nothwendigkeit, 
denn Notwendigkeit nannte er jede Beichäftigung, die mit den 
Neigungen ftreitet, und noch in fpätern Jahren hören wir ihn 
flagen über die „Laſt von taufend unangenehmen Gefchäften“, 
über „die vielen gedanfenlofen, ermüdenden und Dummmachenden 
Dinge“, und über den „Mangel an Zeit für feine Studien.“ ?) 
„Die Geichäfte! die läſtigen Geſchäfte!“ jammert er in einem 
Briefe an Leffing im Mat 1763,3) „ſie drücen mic) zu Boden 
und verzehren die Kräfte meiner beften Jahre. Wie ein Laft- 
eſel fchleiche ich mit beichtwertem Rüden meine Lebenszeit hin— 
durch, und zum Unglück jagt mir die Eigenliebe ins Ohr, daß 
mich die Natur vielleicht zum PBaradepferd geichaffen hat. Was 
it zu thun, mein lieber Freund? Wir wollen uns einander 
bedauern, und zufrieden fein. So Jange die Liebe zu den 
Wifjenichaften bei uns nicht erfaltet, haben wir noch eine gute 
Hoffnung.“ 

Und diefe Liebe Hatte von dem jugendlichen Feuer noch 
nichtS verloren. Die drei Freunde, Lefjing, Mendelsfohn und 
Nicolai, ftanden damals in der vollen Kraft jugendlicher Frifche, 





1) Schr. V, 270. 
2) Schr. V, 270, 346. 
3) Schr. V, 171. 


u O0 nu 


fie waren alle drei voll Wahrheitsliebe und Eifer, alle drei 
unbefangenen Geiftes und hatten feine andere Abficht, als die 
deutiche Literatur neu zu beleben und deutjches Nationalgefühl 
zu weden und zu heben. Zu diefem Zwecke verbanden fie ſich 
zu gemeinfamen Titerarifchen Unternehmungen in Zeitſchriften 
und Sournalen. 


Siebzehntes Kapitel. 
Der Journaliſt. 


Den erjten journalijtifchen Verſuch machte Mendelsjohn im 
Alter von einundzwanzig Jahren. Um feine Glaubensgenofjen 
moralifch und äjthetifch zu Yäutern, ſchritt er Schon 1750, in 
demfelben Sahre, in dem er als Hauslehrer bei Bernhard ein- 
trat, unterjtügt von Tobias Bod, einem jungen Strebegenofjen, 
zur Herausgabe einer moralifchen Wochenschrift in hebräifcher 
Sprade; er gab ihr den Titel „Der Sittenprediger“ (Kohelet 
Mufar). Sm diefen halb poetiichen, Halb philofophifchen Be— 
trachtungen, die immer an einen talmudischen Spruch anfnüpfen, 
pries er die Schönheit der Natur oder ſprach nach der Weife 
der Leibniz-Wolffiichen Philofophie über die Vollfommenheit der 
Welt, über die Nichtigkeit des Uebel3 u. dgl. m. So unver- 
fänglich der Inhalt und fo vorzüglich auch die Form war, fo 
erregte doc) das Unternehmen großen Anftoß; ſchon mit dem 
zweiten Blatte ging die Wochenfchrift wieder ein.t) 

Bald nad) diefem erjten mißglüdten Verſuch betheiligte ex 
fi) mit Fleinen Beiträgen an den Beitfchriften, welche fein Freund 
Müchler theils ſelbſt redigirte, theil3 unterjtügte. Auf befondern 
Werth fünnen diefe jugendlichen Producte feinen Anſpruch machen; 
es find moralifche Betrachtungen, welche nur zu fehr den Ge— 


) Die Auffäge find theilweife wieder abgedrudt: Sammler, 1785, 


S. 9 ff., 93 f., 103 ff. 
7% 


— 100 — 


ſchmack der Zeit verrathen, in welcher ſie entſtanden. Wol aber 
verdient der Umſtand die volle Anerkennung, daß Mendelsſohn 
ſchon damals bemüht war, die Geiſtesproducte jüdiſcher Dichter 
in deutſcher Ueberſetzung bekannt zu machen. Stücke aus Penini 
Bedraſis „Prüfung der Welt“ und die oft bewunderte Elegie 
des ſpaniſchen Dichterfürſten Jehuda Halevi, von der Goethe 
behauptet: es iſt eine Gluth der Sehnſucht in dieſer Elegie, 
wie in wenig Gedichten“1), erſchienen 1755 in einer von Müchler 
herausgegebenen Zeitichrift. 

Durch Leffing, welcher ihn zur kritiſchen Lectüre ſchön— 
wiſſenſchaftlicher Schriften anregte, wurde er auch für die Hebung 
der deutſchen Literatur gewonnen. 

Um die deutjche Literatur von den Schlafen fremdartiger 
Elemente zu fäubern, Hatte Leſſing ſchon im Jahre 1755 die 
Herausgabe der Zeitſchrift „Das Beſte aus fchlechten Büchern“ 
mit ihm verabredet; er hatte ihm dazu eine umfangreiche Be- 
ſprechung einer fchlechten Pfychologie verſprochen. „Sie follen 
in acht Tagen den erften Bogen des Journals fehen,“ Heißt es 
in dem erſten Briefe Leffingg an Mendelsfohn; „ſchicken Sie 
mir alfo Ihre Recenfion mit nächjtem. Mendelsſohn Hatte feine 
Arbeit auch eingefhicdt, wie ſich aus folgender unter den 
Papieren Leffings vorgefundenen Notiz ergiebt. „Mein Freund 
Mojes Hatte mir ein paar fchöne Beiträge aus einigen fchlechten 
Compendien der Cartefianifchen Philofophie gegeben, von welchen 
ich bedauere, daß ich fie nicht mehr zu finden weiß.“3) Die 
Zeitſchrift Fam nicht zuftande, weil Leffing vermuthete, daß ihm 
die Fortjegung zu Schwer werden würde. 

Die Begründung einer neuen Zeitfchrift war dem andern 
Freunde Mendelsjohns vorbehalten. Sm Jahre 1756 be— 
gründete Nicolai die „Bibliothef der fchönen Wiffenfchaften und 
der freien Künſte“ und forderte Mendelsfohn, der fich damals, 


) Aus Herder Nachlaß I, 130. 
2) Schr. V, 7. 
3) K. Leifing, Leſſings Leben, I, 162. 


— 11 — 


wie Leifing halb ironiſch bemerkte, „von einem Metaphyfifer in 
einen Bel-esprit ausdehnte“, ) zum Mitarbeiter auf. Mendels- 
fohn wurde nicht allein der fleißigſte Mitarbeiter der „Bibliothek“, 
welche unter Leſſings Auffiht in Leipzig gedrudt wurde, er 
nahm auch an den Redactionsarbeiten den lebhafteſten Antheil, 
Die Zuerkennung des Preifes, den Nicolai für das beſte Trauer: 
fpiel ausgefegt hatte, beichäftigte ihn nicht minder als Leifing, 
und als die „Bibliothek einen Preis für ein in Proſa auszu- 
führendes Thema auszufchreiben beichloß, entwarf er die „Vor— 
chläge zu einer Aufgabe in der Beredfamfeit”;2) er galt bald 
als die Seele des Titerarifchen Unternehmens, welches, wie 
Danzel behauptet, eins der größten Verdienſte Nicolais iſt. 
Die „Bibliothek“ war die erjte Titerarifche Zeitfchrift von Be— 
deutung, die nicht von dem allmächtigen Gottſched ausging und 
geradezu Front gegen ihn machte, und auch die erxfte, welche 
das Gebiet der Schönen Künfte in das Gebiet der allgemeinen 
Bildung 300. 

Es ift nicht zu viel behauptet, daß die „Bibliothek“, fo 
lange fie von Nicolai herausgegeben wurde, größtentheils 
Mendelsfohn ihr Beftehen verdanfte Kein Stück erfchien, das 
nicht Beiträge von ihm brachte. In diefem Journale veröffent- 
lichte ex die meiſten feiner äfthetifchen Abhandlungen; er Lieferte 
größere Recenfionen, oft von drei und vier Bogen, über neue 
englifche Erſcheinungen, wie Lowths Borlefungen über die Heilige 
Dichtkunft der Hebräer, Akenſides Ergögungen der Einbildungs- 
fraft, über die philofophifche Unterfuchung des Urſprungs unferer 
Ideen vom Erhabenen und Schönen, Bopes Schriften u. a. m.,3) 
Recenfionen, in welchen er gewilje allgemeine, aus den aner- 
fannten Meiſterwerken, zumal der Alten, abgezogene Regeln auf 
die beionderen Fälle anwandte. 


1) Schr. V, 41. 

2) Schr. IV, 1, 25 f. 

3) Die Beiträge Mendelsſohns zur Bibliothek find gejammelt, 
Schr. IV, 1, 157—4%. 


Sobald Mendelsfohn Miene machte, ji) von der „Bi- 
bliothek“ zurüdzuziehen, ließ fie der Herausgeber aud fallen. 
Sie hatte faum das erite Jahr erlebt, als Mendelsjohn ihr 
den Abfchied zu geben befchloß. „Herr Nicolai kann verfichert 
fein, daß ich die fchönen Wiffenfchaften nächſtens abdante,“ 
fündigte er Schon im November 1757 Leſſing an,!) der das 
Kournal von Anfang an nicht in feinem Sinne fand und ihn 
in feinem Worhaben beftärfte, denn er meinte, „den ſchönen 
Wiſſenſchaften follte nur ein Theil unferer Jugend gehören; wir 
haben uns in wichtigen Dingen zu üben,“?) und fo war aud) 
der Entſchluß Nicolais al3bald gefaßt, die Bibliothek fallen 
zu laſſen. 

Er traf Anftalten zu einem neuen Unternehmen, das eine 
wahrhaft revolutionäre Bewegung hervorzubringen bejtimmt war 
und dem Mendelsjohn jo wenig wie Leffing feine Hülfe verfagte. 
Diefes Unternehmen find die berühmten „Literaturbriefe‘. Sie 
wollten die neuejte deutfche Literatur einer gründlichen Prüfung 
unterwerfen; Kampf gegen alles Veraltete, Mittelmäßige und 
zumal gegen alles Geijtlofe war ihr Lofungswort. Sie beugten 
fi) vor feiner Autorität, fürchteten feinen Namen, waren auf 
niemand geftüßt al3 auf die Wahrheit der Sache und ihre eigene 
unbefangene Kritif, und nahmen im Kleinen eine Stellung ein, 
nicht unähnlich jener, welche zur felben Zeit Friedrich der Große 
auf dem großen Theater der Politif behauptete. 

Bon Mendelsfohn, der ſich damals mit der dee trug, 
philofophifche Briefe zu fchreiben, mag für die Darftellung die 
Briefform in Vorfchlag gebracht worden fein. In Briefen an 
einen im Felde verwundeten befreundeten Offizier wollte man 
die bedeutendjten literariſchen Erſcheinungen beſprechen; Leſſing 
dachte dabei an ſeinen Kleiſt, Mendelsſohn an niemand anders 
als an ſeinen beſten Freund Leſſing. „Sie müſſen alle Briefe 





— — — 


') Schr. V, 138. 
2) Schr. V, 140. 


— 13 — 


über die Literatur, welche nicht ganz leer von neuen Gedanken 
ſind, anfehen, als wenn fie an Sie gerichtet werden,“ fchreibt 
er ihm am 11. Februar 1761. „Für meinen Theil fann ich 
Sie verfihern, daß ich weder den eingebildeten Offizier, noch 
das Bublifum in den Gedanken Habe, fo oft ich nicht blos 
abjchreibe, jondern felbjt zu denfen wage. Sie find der Mann, 
den ich anrede und deſſen Urtheile ich meine unreifen Einfälle 
unterwerfe.“!) Die Briefe follten wöchentlich exfcheinen, die 
Berfafjer unbekannt bleiben; fie verbargen fi) unter Zeichen 
und Buchſtaben. Mendelsjohns Chiffre war zuerjt ein D., das 
auf Defjau, feinen Geburtsort, Hindeutete, dann auch M., FU. 
und andere willfürlich gewählte Buchſtaben. Solche Anonymität 
war damals jehr beliebt. 

Die „Literaturbriefe” find die wichtigste und folgenreichite 
Erſcheinung nicht allein der deutichen Kournaliftif, fondern auch 
der deutſchen Literatur. Im ihnen gewann die deutjche Kritik 
den männlichen Ernſt, der auf den Kern und das Wefen der 
beachtenswerthen Erjcheinungen eingeht und das Urtheil über 
diefelben nicht nach Einzelnheiten, fondern nach) dem Ganzen 
bemißt. Die Nachläffigkeit in der Behandlung der Sprache, die 
feihte WVieljchreiberei der gedanfenlofen Mittelmäßigkeit wollten 
fie aufdeden und verbannen. Sie drangen vor allem auf Gründ— 
lichfeit der Unterfuhung, auf Schönheit des Ausdruds, auf 
edle, aber einfache Schreibart. „Ich bin fo unfinnig nicht,“ 
lautet Mendelsſohns Befenntniß, „die jtrenge Methode und die 
Gründlichfeit an unfern deutichen Schriftitellern zu tadeln, oder 
zu verlangen, daß fie von diefer Strenge, der Welt zu Gefallen, 
nur das mindefte vergeben follten. Der Schriftiteller muß exit 
an die Forderung der Willenichaft, und hernach an die Bes 
quemlichkeit feiner Zefer denken. Jene gehen vor, weil der Leer 
ſelbſt verpflichtet ift, ihnen feine Bequemlichkeit aufzuopfern. ... 
Mich dünkt immer, wenn unfere Weltweilen die Schul-Etiquette 


') Schr. V, 160. 


— 14 — 


vergefien, und fich einen freiern und ungezierten Ton angewöhnen 
wollten, jo würde der allgemeine Beifall, den fie verdienen, 
nicht ausbleiben.“!) | 

Der neue Boden, auf defien Gewinnung es Mendelsfohn 
wie Leifing mit den fritifchen Literaturbriefen abgejehen hatte, 
war fein anderer, als der Boden für eine im wahren Sinne 
nationale, d. 5. eine eigenartig deutfche, aus dem innerjten 
Weſen und Leben der Nation hervorgehende Literatur. Als 
treuer Bundesgenofje an der Seite Leffings, half er den Augias- 
jtall der deutfchen Literatur gründlich reinigen. Die Kritik, die 
er im Bunde mit Leffing in die Literatur einführte, war feine 
blos reproducirende, feine blos negative, äßende und zerjeßende; 
fie war eine pofitive, jchöpferifche, entfchieden Schlechtes und 
Schädliches abweifende, die Bildung einer nationalen Literatur 
anfpornende, echt deutiche Kritif,?) Er übte fie fowol auf dem 
Gebiete der fchönen Künſte als ganz bejonders auf dem der 
Philofophie: die philofophifchen Briefe hatte er zu liefern über- 
nommen. Gleich der erjte Brief, in welchem er es mit deutlichen 
Worten ausſprach, daß die neueſten philofophiichen Schriften der 
Deutichen kaum noch Ddiefen Namen verdienten, mußten den 
Schade, Erufius, Lieberfühn und wie die armen Sünder weiter 
heißen, feinen kleinen Schred einjagen. „Sorgen Sie nicht! 
Sie jollen zeitig genug mit unfern neuen Weltweifen befannt 
werden. Sie werden zeitig genug das traurige Schaufpiel, eine 
Wiſſenſchaft in ihrem Verfall, erbliden; und eine folche Wifjen- 
ſchaft, in welcher wir vor furzem fo wichtige Progrefjen gemacht, 
in welcher Deutichland die größten Männer aufzumweifen hatte: 
eine Wiffenichaft, die dem unbeftimmten Nationalcharafter der 
Deutfchen etwas eigenthümliches zu geben fchien. Die Königin 
der Wiſſenſchaften, die fich font aus Herablafjung ihre Magd 
nannte, 1jt jegt, dem Wortverjtande nad, zu den niedrigiten 

1) Schr. IV, 2, 59 f. 


2) A. Bodef, Moſes Mendelsjohn ala deuticher Nationalfchriftfteller, 
in Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch (Leipzig 1879). 


— 105 — 


Mägden hHeruntergejtoßen worden. Die arme Matrone! jagt 
Shaftesbury; man hat fie aus der großen Welt verbannt ımd 
auf die Schulen und Collegien verwiefen. Nunmehr hat fie 
au Diejen ftaubigen Winkel räumen müffen... Der Schau- 
platz ijt ledig, und dem Anfcheine nad) wird un bald der 
Weltweife nad) der Mode werden.‘ !) 

Deutichland national zu heben, das wahre Selbftgefühl 
der Nation zu ftärken, lag ihm in feinen Rritifen befonders am 
Herzen. Er fonnte e8 dem fo Hoch von ihm verehrten Windel- 
mann nicht verzeihen, daß er fi) auf den Umgang mit Cardi- 
nälen jo kindiſch viel zu gute that und auf jeden deutjchen 
Profefjor mit ſchnöder Verachtung Herabfah.?) Er macht es 
dem deutjchen Publifum zum Vorwurf, daß es, allzu forglos 
für feine nationale Ehre, den Werth feiner großen Geifter nicht 
zu ſchätzen wiſſe. Diefen Undank der Deutfchen geißelt er, 
indem er ausruft: „Leibniz und Newton, deren unfterblicher 
Ruhm Bis in die fpäteften Zeiten dauern wird, lebten zu einerlei 
Zeit und erweiterten die Grenzen der Wifjenfchaften gleichſam 
mit vereinigten Kräften. Der große Newton ftarb; und es it 
befannt, mit welchem Pompe, mit welchen faſt königlichen Ehren- 
bezeugungen fein Zeichnam beigelegt worden fei. Der wenigſtens 
ebenfo große Leibniz verfchied, und ward nicht würdiger beerdigt, 
als der jchlechtejte Einwohner einer Stadt, defjen Verluſt man 
nicht weiter verjpürt, als an dem Tifche wo er gegeilen hat. 
Ja, was noch mehr ift, vielleicht hat der Herr von Fontenelle 
diefem großen Deutichen eine würdigere Lobrede gehalten, als 
alle feine Mitbürger, die noch dazu in gewiſſem Berjtande feine 
Lehrlinge waren.“ ?) 

Mit ſolchem Freimuthe traten in jener Zeit außer Leifing 
ſehr wenige auf. 


) Schr. IV, 1, 49. 
2) Aus Herders Nachlaß, II, 225. 
3) Schr. IV, 1, 262. 


— 106 — 


Mendelsſohn, der Heimatlofe Jude, kämpfte mit patriotifchem 
Eifer für die Wiederaufrichtung des gefunfenen deutichen National- 
gefühls, für Deutfchlandg nationale Ehre und Größe. Darum 
verurtheilte er in feiner Kritik jede Nachäfferei der Ausländer. 
Er erkannte das Gute an, wo er e3 fand, ermunterte durch 
Lob, wo er ein ehrliches Streben entdedte, tadelte am Meifter 
wie am Anfänger, ohne Anfehen der Perſon ſah er al3 uner- 
bittlicher Richter nur auf die Sache. 


Achtzehntes Kapitel. 
Der Kritiler. 


Mendelsfohn unterzog in den „Literaturbriefen‘, weniger 
in der „Allgemeinen deutjchen Bibliothek“, welche im Jahre 1765 
unter Nicolai Leitung: ihren Anfang nahm und in den erjten 
Jahren ihres Beſtehens auch ihn zu ihren Mitarbeitern zählte, 
nicht blos philoſophiſche Schriften feiner Beurtheilung, ex jtellte 
aud) die zeitgemöffifchen Meifter deuticher Poeſie vor feinen 
Richterſtuhl. 

Das bewunderte Genie des Tages war Klopſtock, der ge— 
feierte Regenerator der deutſchen Nationalliteratur. Mendels— 
ſohn verkannte die Bedeutung der „Meſſiade“ nicht; daß ihm 
der zweite Theil dieſer Dichtung nicht allenthalben gleich gefiel, 
ſchrieb er ſeiner Religion zu. Der zehnte Geſang ſchien ihm 
alle vorhergehenden zu übertreffen; einige Hymnen, einige ent- 
worfene Charaktere, und das Geſpräch Satans mit Adramelech 
waren in feinen Augen wahre Meijterjtüde. Dabei entgingen 
ihm nicht die innern Mängel und unüberwindlichen Schwierig: 
feiten, die fi) dem Dichter boten: „alle die Heiligen, die er 


— 107 — 


aus den Gräbern ruft, fünnen ja doch nichts anders thun als 
anfchauen, Heilige Hände falten und beten.‘ !) 

Einer ſehr ftrengen Kritik unterzog er das 1757 erſchienene 
Traueripiel „Der Tod Adams“, an dem er nichts fand, das 
Kopftod3 würdig fei. „Sch weiß nicht,“ fchreibt er Leſſing den 
11. August 1757, „wie Klopftod ſolch Zeug Hinfchreiben Fann, 
das weder Zufammenhang noch Handlung, weder Leidenjchaften 
no) irgend etwas anders, außer einer Fleinen Niance von 
Charakteren, hat. ch ſage meine Meinung ziemlich zuverſichtlich; 
aber ich bin gewiß, daß ein Lefjing nie ein ſolches Gewäſch 
dem Drude bejtimmt haben wiirde, gejegt, e8 wäre ihm möglich 
gewefen, fo was zu fchreiben.“?) 

Zurüdhaltender mit feinem Urtheile über diefen völlig miß- 
lungenen Berfuh war er gegen Gleim, den fchwärmerifchen 
Berehrer Klopftods. „Je öfter ich den Tod Adams leſe,“ heißt 
e3 in feinem Briefe an Gleim, „deito mehr werde ich in der 
Bermuthung bejtärkt, daß ich nicht in der gehörigen Verfaffung 
bin, dieſes Stüd zu empfinden oder zu beurtheilen. Mix fehlet 
gleichfam das ABE derjenigen Empfindungen, die der Dichter 
erregen will. ch weiß nicht, was des Todes jterben hieße,?) 
ih weiß nicht was der Fluch eines Böfewichtes fo ehr 
Scredendes habe u. j. w“. Zugleich mit dem Briefe jchidte ex 
Gleim einige Bemerkungen, welche diefer dem Dichter mittheilte 
und welche in einer jpätern Auflage des Trauerfpiel3 auch 
Berüdfihtigung fanden. Das Urtheil Mendelsſohns war aud) 
einem Klopſtock nicht gleichgültig. *) 

Noch viel Schlimmer ala der „Tod Adams“ fam das Trauer: 
fpiel „Salomo“ weg, das der Dichter ſelbſt für ein tragifches 
Meiſterſtück hielt. „Ich Habe mich gemartert, dieſes Stüd zu 


) Schr. V, 33. 

2) Schr. V, 120. 

3) Klopftod gebraucht mit Vorliebe diefen Ausdrud, jo L,3, 7; IL,1. 

9 M. ſ. mein Moſes Mendelsjohn. Ungedrudtes und Unbefanntes 
(Leipzig 1883) ©. 23. 


— 108 — 


verſtehen,“ jchreibt ex den 20. Juli 1764 an Abbt. „Ver: 
gebens! ch fchmeichle mir, Stüde des Sophofles Leichter ver- 
ftehen zu fönnen.“!) 

Geßners „Tod Abel“ wird ganz und gar verurtheilt; es 
fehlen ihm die Triebfedern der Handlung und Charaktere. Hin— 
gegen räumt er dem unnachahmlichen Zdyllendichter gern ein, 
daß feine Poefie durchgehende mohlklingend und Tieblich, oft 
fogar zu lieblich und zu ſchwulſtig ift.?) 

Die Verfuche anderer deutfcher Dichter werden von Mendels- 
fohn unparteiifch beurtheilt. Im Withof erblidt er einen Nach— 
ahmer Haller, der in feinen „Moralifchen Gedichten“, in 
einzelnen Oden, fein Vorbild noch übertrifft. Den Poeſien 
Haller und Withofs fett er einige Gedichte Duſchs an die 
Seite, obgleich er nicht verhehlt, daß der Dichter aus Klopftods 
„Meſſias“ ganze Verſe declamiren Täßt. 

Uz' Lehroden, befonder3 feine aus einer —— Auf⸗ 
faſſung der Leibniziſchen Religionsphiloſophie hervorgegangne 
„Theodicee“ find in feinen Augen fo meiſterhaft, daß er an 
allen anderen Poeſien diefes Dichters den höchſten Maßſtab 
anzulegen: fich für berechtigt hält. Diefes gilt befonder3 von 
dem Lehrgedichte „Die Kunſt fröhlich zu fein‘, das nur einige 
Stellen enthält, die Uzens nicht unwürdig find. „Wenn ich 
dag Glück Hätte,“ fchreibt der Recenfent, „ein Freund des Herrn 
U; zu fein, fo möchte ich ihm vathen, ein Feld nicht zu ver- 
faffen, auf welchem er unter den Deutichen ein Original ge 
worden, um ein anderes zu betreten, auf welchem man fchwer- 
fih mehr als Teidlicher Nachahmer werden fann.‘3) 

Eingehend beichäftigte fi) Mendelsfohn mit den Gedichten 
der Karſchin, diefer Natur: und Volksdichterin, welche eine fo. 
ungemeine Reimfertigfeit befaß, daß fie in furzer Zeit einen 


') Schr. V, 325. 
2) Schr. IV, 1, 483. 
s) Schr. IV, 2, 172. 


— 109 — 


„ganzen Band von Gedichten hingeſchrieben.“ Mendelsfohn war 
ihr nicht? weniger als gewogen und jo recht eigentlich bemüht, 
den Enthufiasmus ihrer Freunde, welche fie allen Dichtern 
gleichfchägten, herabzuftimmen. In der redfichen Abſicht fie zu 
einer guten Dichterin zu machen, ſagte er ihr derbe Wahrheiten?) 
und dabei Hat „strengen Runftrichtern die Recenſion noch viel 
zu gelinde erjchienen‘. 2) 

Für Cronegks preisgefröntes ZTrauerjpiel „Codrus“ mit 
den höchſt tugendhaften oder höchſt Lafterhaften Charakteren 
und der Einförmigfeit in den Gefinnungen der - handelnden 
Perjon Hat er ſcharfen Tadel. Weit befjer gefiel ihm defjelben 
Dichters umvollendetes Trauerfpiel „Dlint und Sophronia“, 
das viele vorzüglihe Schönheiten Hat, während das Luftipiel 
„Der Mißtrauifche” feines Erachtens kaum mehr als mittel- 
mäßig ijt.?) 

Hocgerühmt werden Joh. Elias Schlegel3 Trauerfpiele, 
obgleich er richtig herausfühlt, daß „Die Trojanerinnen“ nur 
Nachahmung ift; dem Quftfpiele „Triumph der guten Frauen“ 
weiß er wenige deutfche Luſtſpiele an die Seite zu stellen. 

Zulegt nahm ſich Mendelsſohn noch des verſchrienen Lohen— 
ftein an, in deſſen „Arminius“ er einen hiſtoriſchen Stil fand, 
den fich unſere Gejchichtsichreiber zum Mufter nehmen follten. 
„Sedrungene Kürze, runde Perioden, fernhafte Ausdrüde und 
eine Beredjamfeit, welche an das Erhabene grenzt, wird man 
in diefem Roman finden.“ 

"Das war die Teßte Recenfion, welche von ihm in den 
„Ziteraturbriefen“ erichien, und am 14. Juni 1765 konnte ex 
füglich Abbt ankündigen: „Literaturbriefe“ fchreibe ich nicht 
mehr, die „Bibliothek“ geht mich nichts an.““) 

Mendelsjohn war in feiner Kritif immer unparteiifch; er 


1) Schr. IV, 2, 420-444. 
2) Schr. V, 328. 

3) Schr. IV, 2, 299 ff. 

4) Schr. V, 350 


— 110 — 


achtete weder die Perfon des PVerfafjers no) den Rang und 
die Stellung, die er als Schriftjteller einnahm. „Ein König, 
ein Frauenzimmer, ein Jude, was thut Diefes zur Sache? Wer 
die Ehrbegierde hat, Schriftfteller zu fein, muß, alle Neben- 
betrachtungen bei Seite geſetzt, als Schriftjteller beurtheilt 
werden.) Er tadelte was ihm mittelmäßig oder fchlecht fchien, 
er tadelte ſogar Friedrich den Großen. 


Neunzehntes Kapitel. 
Mendelsjohn und Friedrid der Große. 


Zu den enthufiaftifchen Preußenfreunden und zu den blinden 
Berehrern des großen Friedrich gehörte Mendelsfohn nicht. 
Wie hätte er auch einen Monarchen Lieben können, der die 
Ausbreitung und Vermehrung der Juden in feinem Lande ge 
feglich verbot und feine Abneigung gegen die jüdifchen Unter: 
thanen fo Häufig an den Tag legte! Der ffandalöfe Proceß, 
welchen Voltaire, des Königs Liebling, mit dem Berliner Juden 
Abraham Hirsch führte, und der dem fchriftjtellerifchen Regenten 
felbjt zu einer Komödie Stoff bot, vermehrte noch Friedrichs 
Abneigung gegen die jüdiiche Nation, ſodaß er in einem Edicte 
vom 28. Auguft 1752 die in feinem Lande anfäffigen Juden 
auf eine gewiffe Anzahl Köpfe reftringirte; neue Judenfamilien 
follten fich unter feinem Vorwande einfchleihen und anfeßen. 

Es läßt fich denken, daß eine folche ſchmachvolle Unter- 
drüdung einen Mendelsfohn nicht mit Liebe für Friedrich erfüllen 
konnte. War ihm die freie Denkweife des Königs doch fonft 
zur Genüge befannt! Vorſichtig wie er war, hielt er feine 
politiiche Geſinnung jtet3 geheim. Nur gegen Leffing äußerte 


') Schr. IV, 2, 424. 


— 111 — 


er fich über den fiebenjährigen Krieg, „den wundervolliten Feld— 
zug, der unter der Anführung eines Weltweifen vielleicht je ift 
gethan mworden“,1) indem er ihm fchrieb: „Kommen Sie zu uns! 
Wir wollen in unſerm einfamen Gartenhaufe vergefjen, daß die 
Leidenschaften der Menfchen den Erdball verwüften. Wie leicht 
wird es ung fein, die nichtswürdigen Streitigkeiten der Habfucht 
zu vergefjen!“?) 

Und doc wagte es Mendelsjohn, der ausländifche, kaum 
geduldete Jude, die Gedichte des großen Königs in den „Literatur: 
briefen‘ zu tadeln! 

Als nämlich Friedrih im Jahre 1760 feine bis dahin 
nur dem Bertrauen der Freundichaft geweihten Gedichte wegen 
eines in Frankreich veranftalteten Nachdruds aller Welt über: 
laſſen mußte, gab Mendelsfohn von diefen „Poésies diverses“ 
in den Literaturbriefen eine Beurtheilung, welche ein nicht 
geringes Auffehen erregte. Man erfundigte fich nad) dem 
Recenſenten und erfuhr, daß der Deſſauer Jude es fei. Es ift 
ein Meiſterſtück von Recenfion! „Sie werden ſelten“ — fo fchrieb 
er — „bei einem Dichter fo viel Philofophie, erhabene Ge— 
finnungen, Kenntniß des menschlichen Herzens, Natur in den 
Gemälden und Gleichniffen, und fo viel Zartheit in den Em— 
pfindungen angetroffen haben als bier; und, was an einem 
Werke des Genies die größte und feltenjte Zierde ift, die reine 
Sprache des Herzens, welche ſich nie verleugnet und fich nie 
durch die Kunſt nachahmen läßt.“ Er entwarf fodann ein Bild 
des Königs, in dem frei von aller Schmeichelei, in wenigen 
Zügen der ganze Charakter defjelben, „feine große Seele, fein 
noch größeres Herz und feine Schwachheiten felbjt“, geichildert 
find. „Die Nachwelt,“ Heißt es, „wird das Vergnügen haben, 
den Helden und den Landesvater, den fie in feinen öffentlichen 
Thaten nicht genug wird bewundern können, hier in feinen 


1) Sr. IV, 1, 502. 
2) Schr. V, 70. 


— 112 — 


Ergögungen als den liebenswürdigſten Privatmann fennen zu 
lernen. Kaum ijt den Pflichten des Regenten, in ihrem weiteſten 
Umfange, Genüge gefchehen, fo legt er Krone und Scepter und 
den Zwang der Majeftät vor dem Throne der Weisheit nieder, 
und begiebt fich in den Fleinen Cirkel von Freunden, tjt ſelbſt 
der zärtlichjte Freund, der angenehmſte Gejellfchafter, der gütigſte 
Hausherr und der ftrengjte Sittenrichter; verabjcheut den 
Schmeichler, züchtigt den Wollüftling, fcherzt über den Unzu- 
friedenen, beftraft feine eigenen Fehler, und Haft niemand ala 
den Tyrannen und den Heuchler, die Feinde der menschlichen 
Glücfjeligkeit.“ ?) 

Bei aller Anerkennung, welche er dem Regenten und 
philofophifchen Dichter zollte, kann er fein Bedauern nicht unter- 
drücden, daß ein deutfcher Fürjt ſich der franzöſiſchen Spracde 
in feinen Schriften bedient: „Welcher Verluſt für unfere Mutter- 
iprache, daß ſich diefer Fürjt die franzöſiſche geläufiger gemacht! 
Sie würde einen Schatz bejigen, um den ihre Nachbarn Urfache 
hätten fie zu bemeiden.“ Streng rügte er die in den Epifteln 
an Marfchall Keith und an Maupertuis dargelegte philofophifche 
Anfchauung. Die Gründe, welche der König wider die Unfterb- 
Yichfeit der Seele vorbringt, jchienen ihm jo unerheblid und 
machten, wie ex ſich ausdrüdt, jo jchlechte Figuren, daß fie kaum 
beantwortet zu werden verdienen! Ja Mendelsfohn ging in 
feiner Aufrichtigfeit noch weiter und behauptete geradezu: „Mich 
dünkt, ein Friedrich, der an der Unfterblichfeit zweifelt, ijt eine 
bloße Chimäre, ein vieredter Zirkel, oder ein rundes Viereck!“?) 

Diefe Recenjion benußte ein charafterlofer Bielichreiber, 
von Juſti genannt, welcher jpäter wegen Unterfchleife nach der 
Feftung Küſtrin gefchict wurde und, aus der Haft zurücgefehrt, 
in den ärmlichiten Berhältniffen Lebte, fich an den Literatur- 
briefen, welche ein von ihm herausgegebenes jchlechtes Buch 
) Schr. IV, 2, 67 f. 

2) Schr. IV, 2, 70 ff. 





— 13 — 


gerecht beuriheilt hatte, zu rächen. Er fchrieb an den Staats- 
vath: „Es ericheine in Berlin eine jchändliche Schrift, Briefe 
die neuejte Literatur betreffend, worin ein Jude in einem Auf: 
fage wider den Hofprediger Cramer die Gottheit der chriftlichen 
Religion, auch durch ein. freies Urtheil über die Po&sies diverses 
die Ehrfurcht gegen des Königs allerhöchite Perſon aus den 
Augen gefegt habe“.) Es erfolgte fofort, am 18. März 1762, 
Durch den Generalfiscal von Uhden das Verbot der Literatur- 
briefe, und Mendelsfohn war auf dem beiten Wege, ein Märtyrer 
der Kritif zu werden. Er wurde aufgefordert, am. nächiten 
Vormittag vor dem Generalfiscal zu ericheinen. Die finftere 
Amt3miene, mit welcher ihm Uhden entgegentrat, ſchreckte 
ihn nicht. | | 

Einen Theil des Geſpräches, welches fich bei diefer Ge— 
legenheit zwijchen dem WBhilofophen und dem Generalfiscal 
entwidelte, hat Nicolai wörtlich wiedergegeben. So mag e3 
hier folgen: 

Oeneralfiscal: Hör’ Er, wie kann Er ſich — wider 
Chriſten zu ſchreiben? 

Mendelsſohn: Wenn ich mit Chriſten Kegel ſchiebe, ni 
werfe ich alle Neune, wenn ich kann. 

G. Unterjteht Er ſich zu ſpotten? Weiß Er wol mit wem 
Er redet? 

M.: DO ja! Ich ſtehe vor dem Hexen Geheimen Rath und 
Generalfiscal Uhden, vor einem gerechten Manne. 

G.: Ich frage Ihn noch ein mal: wer hat Ihm erlaubt, 
wider einen Ehriften und noch dazu wider einen Hofprediger 
zu ſchreiben? 

IH muß nochmals wiederholen und wahrlich ohne 
Spott: wenn ich mit einem Chrijten Kegel fchiebe, wäre es aud) 
ein Hofprediger, jo werfe ich alle Neune, wenn ich fann. Das 
Kegelſpiel ift eine Erholung für meinen Leib, wie die Schrift- 


) Preuß, Friedrich der Große, LII, 257. 
Kayferling, Moſes Mendelsfohn. 8 


— 1144 — 


itellerei eine Erholung für meinen Geift. Jeder, welcher jchreibt, 
macht es fo gut, wie er immer fan. Uebrigens wüßte ich nicht, 
daß ich je wider einen Hofprediger, noch einen andern Prediger 
geichrieben hätte. 

G.: DO ich merfe, Er will leugnen. Man wird Ihm jchon 
feine Künſte abfragen. Ex hat wider die chriftliche Religion 
geichrieben. 

M.: Wer Ahnen diefes gejagt Hat, hat Ihnen eine große 
Unwahrheit gejagt. 

G.: Leugne Er nur nicht, man weiß e3 fchon befjer. Dies 
ift wider das AJudenprivilegium, Ex hat den Schuß verwirft. 

M.: Ah, ich Habe Hier feinen Schuß zu verwirfen, ich 
habe fein Privilegium, ich bin Buchhalter beim Schußjuden 
Bernhard. 

G.: Defto fchlimmer! Die geringfte Strafe für Seinen 
Frevel wird fein, daß man ihn aus dem Lande vermweifet. 

M.: Wenn man mich gehen heißt, jo werde ich gehen. 
Sch Habe mic) nie den Geſetzen widerſetzen wollen und der 
Gewalt fann ich mich noch weniger widerfeßen. 

In Diefer Weife dauerte die Unterredung noch eine 
Weile fort.) 

Nach einer andern Berfion wurde Mendelsfohn infolge der 
Denunciation Juſtis aufgefordert, an einem Sonnabend vor dem 
Könige in Sansſouci zu erfcheinen. Bei feinem Eintritte in 
das Schloßthor fragte ihn ein Junker, fobald er hörte, daß der 
Eintretende ein Jude namens Mendelsſohn fei, wie er in aller 
Welt zu der Ehre käme, an den Hof gerufen zu werden. Worauf 
ihm der Befragte die farfaftifche Antwort gab: „Ich fpiele aus 
der Taſche“. „Das ift etwas anders,“ fagte der Junker, und 
ließ den Tafchenfpieler Mendelsfohn ohne weiteres paffiren.?) 


) G. Malfewig, Bojfifhe Zeitung, Sonntag den 23. April 1882, 
Beilage; Allg. Zeitung d. Judenthums, 1882, ©. 348 ff. 

2) Fedderjen und Wolfrath, Nachrichten von dem Leben und Ende 
qutgefinnter Menſchen (Halle 1790), 154. Mendelsjohn joll diefe Be: 


ZUR — 


Dur) Berwenden des Sohnes des ©eneralfiscald, des 
Kammergerichtsraths Uhden, der mit der neueften Literatur und 
mit den VBerdienften Mendelsſohns befannt war, wurde die 
Sache beigelegt und der fiscalifhe Proceß eingeftellt. Mit 
großer Befriedigung las ſpäter Friedrich der Große die denuncirte 
Recenfion, welche Benino, ein italienischer Kaufmann, der mit 
den Gelehrten der Hauptjtadt freundfchaftlich verkehrte und auch 
bei Hofe gut gelitten war, für ihn ins Franzöſiſche überſetzt Hatte. 

Die nächſte Folge dieſes unliebfamen Borfalles war, daß 
Mendelsfohn, der, weil fein geborener Preuße, nach dem Juden— 
Reglement von 1750 nur unter dem Schuge eines anfäffigen 
Juden fi) im Lande aufhalten durfte, um das Privilegium 
eines Schutzjuden nachſuchte. 

Als der Marquis D'Argens, der als philoſophiſcher Geſell— 
ſchafter Friedrichs in Potsdam lebte und mit Mendelsſohn ſeit 
Jahren verkehrte, von der incrimirten Recenſion hörte und zu— 
gleich erfuhr, daß fremde Juden nicht im Lande bleiben durften, 
war er nicht wenig überraſcht. „Aber,“ ſagte er, „notre cher 
Moise trifft dieſes doch nicht?“ „O ja!” war die Antwort, „er 
wird blos geduldet, weil er im Dienfte des Fabrifanten Bern- 
hard ſteht. Wenn diefer ihn Heute entläßt, und ex feinen 
andern Schußjuden findet, der ihn in Dienft nehmen will, fo 
würde die Polizei ihn zwingen, noch heute die Stadt zu ver- 
faffen.“ Der Marquis wollte nicht glauben, daß ein fo weifer 
und gelehrter Mann, den jeder Rechtichaffene hochſchätzen müßte, 
täglih in der Gefahr einer jo fchimpflichen Behandlung fein 
follte und ſprach darüber mit Mendelsfohn. Dieſer befräftigte 
es und jagte: „Sokrates bewies ja feinem Freunde Kriton, daß 

der Weife fchuldig ift zu fterben, wenn es die Gejeße des 
Staates fordern. Ich muß alſo die Gejege des Staates, in 
welchem ich lebe, noch für milde Halten, daß fie mich blos aus— 








gebenheit ſelbſt erzählt Haben. Menzel hat (deutjche Literatur I, 269) 
wolweislich Mendelsſohns Antwort verdreht und ihm andere Worte in 


den Mund gelegt. 
8* 


— 116 — 


treiben, im Falle mich in Ermangelung eines andern Schußjuden 
auch nicht ein ZTrödeljude für feinen Diener erflären will.“ 
D'Argens, der eifrigfte und dienftfertigjte Freund aller Gelehrten, 
wollte jofort darüber an den König fchreiben. Nur mit Mühe 
brachte man ihn davon ab, weil man vorausfah, daß jetzt — 
e3 war im Jahre 1762 während des Krieges — nicht die rechte 
Beit fein würde. | 

Nach erfolgtem Frieden dachte der Marquis jelbjt daran 
und verlangte, Mendelsfohn folle eine Bittfchrift auffegen, die 
ex ſelbſt übergeben wollte, obgleich ex ſich ſonſt mit dergleichen 
Dingen nicht befaßte. Dieſer wollte fi) anfangs nicht dazu 
verjtehen. Ex fagte: „Es thut mir weh, daß ich um das Recht 
der Eriftenz erjt bitten foll, welches das Necht eines jeden 
Menjchen ijt, der al3 ruhiger Bürger Iebt. Wenn aber der 
Staat überwiegende Gründe hat, Leute von meiner Nation nur 
in gewiſſer Anzahl aufzunehmen, welches Vorrecht fann ich vor 
meinen übrigen Mitbrüdern Haben, eine Ausnahme zu verlangen?“ 
Indeſſen gab Mendelsfohn der Borftellung der Freunde, daß 
er es für das Wohl feiner Familie thun müſſe, nad) und reichte 
folgende aus den Acten gezogene Bittfchrift ein: 

„Ich Habe feit meiner Kindheit bejtändig in Ew. Majeftät 
Staaten gelebt und wiünfche mic) auf immer in denjelben nieder- 
lajjen zu fünnen. Da ich aber im Auslande geboren bin und 
da3 nad dem Reglement erforderliche Vermögen nicht befite, 
jo erfühne ich mich allerunterthänigjt zu bitten, Ew. Majeſtät 
wolle allergnädigjt geruhen, mir mit meinen Nachkommen Dero 
allergnädigiten Schuß nebjt den Freiheiten, die Dero Unter- 
thanen zu genießen haben, angedeihen zu laſſen, in Betracht, 
daß ich den Abgang an Vermögen durch meine Bemühungen 
in den Wiſſenſchaften erjege, die jih Ew. Majeftät Protection 
zu erfreuen haben.‘ 

Der Marquis felbjt überreichte im April 1763 dieſe Vor- 
itellung dem Könige, aber Mendelsjohn befam Feine Antwort. 
Wir, To erzählt Nicolai, waren alle darüber betroffen, und der 


— 117 — 


fonft jo ſanfte Mann war hierüber ziemlich empfindlich und 
machte uns, die wir ihn zu dem Schritte verleitet hatten, einiger- 
maßen Vorwürfe. Die Sache blieb fo, weil Mendelsfohn 
durchaus weiter feinen Schritt thun, auch nichts darüber an 
den Marquis gelangen laſſen wollte. Diefer erfuhr zufällig, 
dag Mendelsjohns Bittfchrift feinen Erfolg gehabt und daß der 
König nicht geantwortet Habe. Er war darüber äußerſt ent- 
rüftet und al3 er denjelben Abend zum Könige fam, fing er 
ichon beim Eintritt in das Zimmer an zu fchelten. Der König, 
der nicht wußte, was er wollte, bezeigte ihm fein Befremden. 
„Ach!“ vief der Marquis aus; „Sire! Sie find doch ſonſt 
gewohnt, Wort zu Halten. Nun habe ich einmal um etwas von 
Ihnen gebeten, nicht für mich, fondern für den würdigſten, vecht- 
ichaffenften Mann, Sie verfprachen mir, e8 zu gewähren, und 
hernach thun Sie es doc nicht. Nein, das ift zu arg!“ 

Der König verficherte, Mendelsfohn Habe das Schup- 
privilegium erhalten; der Marquis aber betheuerte, er fei auf 
feine Bittichrift Jogar ohne Anttvort geblieben. Endlich fand 
e3 ih, daß ein bloßes Mißverjtändniß bei der Sade war. 
Der König behauptete, die Bittfchrift müfje durch einen unge— 
wöhnlichen Zufall verloren gegangen fein. Mofes möge nur 
noch eine Supplik einreichen, ſodann wolle. er das Privilegium 
auszufertigen befehlen. „Gut,“ fagte der Marquis, „ich werde 
Ahnen ſelbſt eine machen, verlieren Sie fie aber nicht wieder.“ 
Mendelsſohn fchrieb auf wiederholtes Verlangen des Marquis 
am 12. Juli 1763 die Bittfchrift noch einmal, und d'Argens 
fügte unter feinem eigenen Namen Hinzu: 

„Un Philosophe mauvais catholique supplie un Philosophe 
mauvais protestant de donner le privilege à un Philosophe 
mauvais jwf. Il y a.trop de Philosophie dans tout ceei 
que la raison ne soit pas du cöte de la demande.“ 

Nun erhielt Mendelsfohn am 26. Dctober 1763 das 
Privilegium. 

Die Chargencafje verlangte von ihm verordnungsmäßig 


— 183 — 


taufend Thaler, welche ihm der König im Sahre 1764 erließ; 
die Bitte jedoch, das Privilegium auf feine Nachfommen aus- 
zudehnen, ſchlug er ihm ab, wiewol er ihn als Gelehrten 
ſchätzte und bemwunderte. !) 


Zwanzigſtes Kapitel. 
Heirath. 


Eine ſchöne glüdlihe Zeit war für Mendelsfohn dahin. 
Er Hatte nun wieder das Glück gehabt, drittehalb Jahre mit 
- Leffing in der engjten Verbindung vertrautejten Umgangs und 
gemeinfamer geiftiger Interejjen zu verleben; es waren das die 
Sabre, an welche ſich die Freunde noch oft mit Entzüden 
erinnerten. 

Gegen Ende des Jahres 1760 verließ Leifing Berlin und 
ging als Secretär des Generals Tauengien nach Breslau; 
Mendelsſohn ſah ſeinen beſten Freund von ſich ſcheiden. Mitten 
in der großen Stadt lebte er nun „wie in einer Einſiedelei“, 
und was ſeinen Aufenthalt noch einſamer machte, war, daß 
auch ein anderer Freund, der als Ichthyologe ſpäter ſo berühmt 
gewordene Markus Bloch, an deſſen Geſellſchaft er ſich gewöhnt 
hatte, zur ſelben Zeit die Univerſität Frankfurt bezog.?) . 

Der Gedanke, daß er niemand angehörte, befchäftigte ihn 
Thon lange, und an Sabbat= und Felttagen mehr als fonft. 
Solche Tage, an welchen die reine Freude in den jüdifchen 
Familien in fo trauter Weiſe ſich fund giebt, boten ihm feine 
Freude. Auf den Gefichtern feiner ihn umgebenden Glaubens- 
genofjen malte ji) Frohfinn und Heiterkeit, in der Bruſt des 
alleinjtehenden Mannes aber vegten ſich fchmerzliche Gefühle, 


1) Schr. I, 49 ff. 
2) Schr. V, 159. 


— 119 — 


und in einer trüben Stunde fchrieb er feinem Leffing die oft 
gemißdeuteten Worte: „Wenn Sie wüßten, daß wir acht Feier: 
tage gehabt haben, in welchen man, wie Sie wiffen, zu nichts 
anders Luſt Hat als verdrieglich zu fein.“ ?) 

In diefer Einfamfeit fand die volle große Liebe endlich 
Eingang in fein Tiebebedürftige® Herz. Er hatte das einund- 
dreißigjte Jahr überjchritten und dachte nun ernſtlich daran, 
dem ehelofen Stande zu entjagen, ein Haus zu gründen. Er 
jehnte jich endlich auch nad) Ruhe; wußte er es doch, „daß am 
Ende e3 nur das häusliche Leben ift, in welchem der Menſch 
Glück und Beruhigung findet, daß felbjt das Unangenehme und 
Beichwerlihe des häuslichen Standes, wenn wir zu gewiffen 
Sahren gelangen, weniger Fürchterliches für uns Hat, als das 
Bacuum eines ehelofen Alters.“?) 

Sn der Wahl feiner Lebensgefährtin ſah Mendelsfohn 
nicht auf das Glänzende oder Nichtglänzende der äußeren Um: 
ſtände; jobald ich ihm der Weg zeigte, auf welchem er mit 
Ehren durchzukommen Hoffnung Hatte, jobald er für feinen 
Unterhalt geforgt zu haben glaubte, trat die Natur in das 
. Recht wieder ein, aus welchem Kleinmuth und Aengſtlichkeit fie 
verdrängt hatte. Mochte ihm auch Hin und wieder der Gedanke 
gefommen fein, eine der veichen Berlinerinnen zu heirathen, 
welche ihm verfchiedene male angetragen worden waren, fo blieb 
er dennod feinem Grundfage treu, „auf diejenige Verbindung 
zu bejtehen, welche mit feinen Neigungen am bejten über- 
einjtimmte.“ 3) 

Mendelsſohn heirathete aus Neigung. Im April 1761 
unternahm er eine Reife nah) Hamburg?) und verlobte ich: 


1) Schr. V,,89. 

2) Schr. V, 671. 

3) Schr. V, 672. 

4) In einem Briefe Abbts an Boie vom 25. April 1761 heißt es: 
„Mofes ift in Hamburg, von da er erit in vierzehn Tagen zurüd- 
fommen wird.” Deutihes Mujeum, 1778, Juli, ©. 55. 


— 120° — 


Fromet Gugenheim, „ein blauäugiges Mädchen“, die Tochter 
des Abraham Gugenheim in Hamburg, wurde feine Braut. !) 
Der glüdliche Bräutigam verblieb in der Elbjtadt über 
drei Wochen; er lernte mehrere dortige Gelehrte perſönlich 
fernen: den Doctor Pauli, bei dem der. Feine Bauzner Nau— 
mann, Leſſings Stubengenofje, eine Zeit lang wohnte und den 
ganz Hamburg, wie Leffing ſich äußert, für einen würdigen 
Sandidaten des Tollhaufes hHielt;?) Joh. Bode, Literat umd 
Buchdruder, der ein vorzüglicher Ueberfeger aus dem Englischen, 
Franzöfiichen und Italieniſchen war und dem fich Leifing ſpäter 
enger anſchloß; Moſes Weſſely, Hartwig Weſſelys Bruder, ein 
einficht3- und geichmadvoller Mann, der mit. Gelehrten und 
Staatgmännern umging und mit Schaufpielern Abendcirfel hielt, 
De Caſtro u. a. m. Mendelsfohn Tieß es ſich nicht ne” 
auch Sonathan Eibenſchütz, den hochgeachteten Hamburger X *er- 
vabbiner, zu befuchen. Eibenſchütz, ein fcharfjinniger Talmu— 
dift, der auch mathematiiche und philofophifche Kenntnifje in ſich 
aufgenommen hatte, wußte den „Mann Moſes“ feinem vollen 
Werthe nach zu ſchätzen; er unterhielt ji) mit ihm und gewann 
zu feiner Freude die Ueberzeugung, daß „Moſes Deſſau auch 
in den Talmuden wohl beivandert fei“. Um ihm ein Zeichen 
der Anerkennung zu zollen, beehrte ihn der einundfiebzigjährige 
Rabbiner, allerdings nicht mit dem Morenutitel, dem vabbinifchen 
Doctordiplom, das nach damaliger Sitte Unverheiratheten nicht er— 
theilt wurde, wol aber mit einem ſehr Schmeichelhaften Schreiben. ?) 


') Die von_Berthold Auerbach entworfene, oft gedrudte, auch in 
Zeifing » Mendelsjohn :» Gedenfbuh S. 198 aufgenommene Erzählung: 
„Wie der Weltweife Mojes Mendelsjohn jeine Frau gewann‘, ift 
nichts ald Dichtung. Auerbad) läßt Mendelsjohn den Kaufmann Gugen— 
heim in Pyrmont fennen lernen und läßt ihn auf der Reife nach 
Hamburg jeinen großen Freund Leſſing in Braunjchweig bejuchen! 
Mendelsjohn war vor 1773 nie in Pyrmont, und Leifing, welcher erſt 
1770 feine Stelle in Wolfenbüttel antrat, war 1761 noch in Breälau. 

2) Schr. V, 113. 

9) Das Schreiben (Kerem Chemed III, 224 f., Orient IX, 543) ift 
datirt vom Neumondätage des Jjar 5621 =4. Mai 1761. 


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Fromet Mendelssohn seb. Gusenheim. 


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— 121 — 


Leſſing war der erfte, dem Mendelsjohn einige Tage nad) 
feiner Rückkehr fein Herz ausfchüttete. „Unfer Briefwechſel ift 
lange genug unterbrochen geweſen,“ fchreibt er ihm im Mai 1761; 
„ih muß ihn nunmehr erneuern. Ach würde nimmermehr fo 
lange haben jchweigen können, wenn ich nicht eine Reife nach 
Hamburg gethan Hätte, die mid) in taufend Zerjtreuungen ver- 
widelt hat. Ich Habe das Theater befucht, ich habe Gelehrte 
fenrien lernen, und, was Sie nicht wenig befremden wird: ich 
habe die Thorheit begangen, mic in meinem dreißigiten!) Jahre 
zu verlieben. Sie laden? Immerhin! Wer weiß, was Ihnen 
noch begegnen kann? Vielleicht ift das dreißigſte Jahr das 
gefährlichjte, und Sie haben diefes ja noch nicht erreicht. Das 
Frauenzimmer, das ich zu heirathen willens bin, hat fein Ber- 
mögen, ift weder jchön noch gelehrt, und gleichwol bin ich ver- 
fiebter Ged fo ſehr von ihr eingenommen, daß ich glaube, 
glücklich mit ihr leben zu fünnen. An Unterhalt, Hoffe ich, joll 
es mir nicht fehlen, und an Muße zum Studiren werde ich 
miv’3 gewiß nicht fehlen laffen. Zum Hochzeitscarmen follen 
Sie noch ein ganzes Jahr Zeit haben, aber alsdann muß Ihre 
reimfaule Mufe die ftaubige Leier wieder ergreifen; denn wie 
fönnte ich unbefungen Hochzeit machen ?“ 2) 

Fromet Gugenheim befaß in der That fein Vermögen, fie 
war weder ſchön noch gelehrt, nichtsdeſtoweniger erfüllte fie fein 
Herz mit der zärtlichjten Liebe. Seine Briefe an Fromet, 
gejchrieben im jüdischer Currentſchrift und auf einer Papierjorte, 
welche man damals Pojtpapier nannte, find voll tiefer Em: 
pfindungen. Man leſe nur das folgende Schreiben, das er am 
29. Juli 1761 an die Geliebte richtete: 3) 


’) Dieje Angabe muß entweder als ein ungefährer Ausdrud oder 
ald ein Gedächtnißfehler angefehen werden, vgl. V, 423. Daß diejer 
Brief an Leifing vom Mai — nicht aber Juni — 1761 zu datiren tft, 
ergiebt fich aus der Mittheilung Abbts an Boie, ſ. S. 119, Note 4. 

2) Schr. V, 165. 

3) Weber das Driginal diefes Briefes ſ. 1. Aufl. S. 130. 


=. — 


„Allerliebjte Fromet! 

Ih Habe in Ihres Baterd Schreiben eine Entdedung 
gemacht, die mich nicht wenig vergnügt. Der gütige Mann ver: 
fichert mich, feine Tochter Fromet fei eben fo ſchön als tugend- 
haft. Was meinen Sie? Man kann das einem ehrlichen Manne 
auf fein Wort glauben? Der gute Herr Abraham Gugenheim 
muß doc wifjen, daß die Philofophen aucd gern was Schönes 
haben. Doch das mag er mir verzeihen. Sch Fenne feine 
Fromet beſſer als er. Sie iſt ſchön, aber jo Schön nicht als fie 
tugendhaft ift, jo ſchön nicht als fie zärtlich ift. Ich beneide 
Sie, liebſte Fromet! um die glückliche Art, wie Sie Ihre fanfte 
Liebe auszudrüden willen. Ihre kleinſten Briefe find voller 
Bärtlichkeit, voller Empfindungen. Die Sprache des Herzens 
ift Ihre natürliche Sprache, und Ihre edlen Gefinnungen ver- 
treten die Stelle des frojtigen Witzes, dadurd) andere ihre 
Briefe jo häßlich entftellen. Fahren Sie fort, liebjte und zärt= 
lichſte Fromet! mich mit Ihren Tiebenswürdigen Briefen zu ver= 
gnügen; ich merke, daß es mir fat unmöglich wird, einen Bojt= 
tag nicht zu fchreiben oder einen Pofttag ohne Ihre Briefe 
vergnügt zu fein, und was ijt dev Menſch, wenn er nicht ver= 
gnügt ift? Nein, jo lange wir uns getrennt ſehen müſſen, woller« 
wir uns fo oft al3 möglich Gelegenheit geben, an einander zuı 
denfen. Es macht mir fein geringes Vergnügen, wenn ich 
denken kann, jet lieſt Fromet meine Briefe, jet ſchreibt Fromet 
an mich, jest ift fie verdrießlich, daß jie gejtört wird, und jetzt 
freut fie fich, daß ihr ein Ausdrud gelungen. — Sie laden, 
mein Herr Doctor! und werfen mir vielleicht abermals vor, ic) 
fei verliebt? Nun ja, ich geitehe es. Habe ich denn nicht 
jederzeit danach gejtrebt, Ihnen nachzuahmen? 

Adieu, meine Liebe! Grüßen Sie mir Ihre Freundin, 
die mich mit einem Schreiben beehrt, das ihrer Denfungsart 
Ehre madt. 

In inniger Liebe Ihr 
Moſes Deſſau. 


— 123 — 


Meine Empfehlung an Heren De Caſtro und an den 
Herrn Bode. 

Ich wollte an den Heren Doctor mit diefer Poſt apart 
jchreiben; ich merfe aber, daß es nicht angehen wird. Haben 
Sie die Gewogenheit, mic) alfo zu entjchuldigen; ich befomme 
fo eben Gejchäfte.“ 

Die ganze „liebenswiürdige und gutmüthig-wigige Perfön- 
lichkeit·“ Mendelsſohns weht uns in dem folgenden Briefe an, 
welchen er faum vier Wochen fpäter, den 25. Auguft, an feine 
Braut jchrieb:?) 

„Liebſte Fromet! 

Sch Habe noch niemal3 gemerkt, daß in meinem Zimmer 
fein Spiegel ijt, bis Sie mir in Ihrem Teßten Schreiben be- 
fahlen, mich fogleich im Spiegel zu jehen. Sch wollte gehor- 
famen, und fiehe, e3 war fein Spiegel zu fehen. Sie fünnen 
fih alfo leichtlich vorjtellen, wie wenig ich mein Geficht kenne, 
ob e3 freundlich oder troden ausjieht. Jh muß andern Leuten 
glauben, und ich weiß nicht, welcher niedliche Herr mic) Hat 
bereden wollen, ich jehe troden aus. Nun, da Sie mid) das 
Gegentheil verfichern, bin ich ſchon wieder gut... 

Glauben Sie nicht, liebe Fromet! daß ih Entihuldigung 
fuche, Ihnen meine Schriften nicht zu fchiden. Sobald ſolche 
fertig, erfolgen drei Eremplare nad) Hamburg, für Sie, für den 
Herrn Doctor und für Herrn Bode?) Dem legtern bitte ich 
mich zu empfehlen. Ich jchide Ihnen Hiermit einen Brief von 
Herrn Herz Dejjau, meinem Verwandten; fein Sohn Saul hat 
in Hamburg gelernt, und, wie ex jchreibt, will ex die Ehre 
haben, Sie zu fennen. Den Brief belieben Sie an den Herrn 
Doctor zu überreichen. Er wird ſich wundern über dejjen Brief. 


1) Diefer Brief, datirt vom 25. Ab 5521 = 2%. Auguft 1761, 
wurde von Hrn. Dr. Ad. Jellinek zuerft mitgetheilt: Leſſing-Mendels— 
ſohn⸗-Gedenkbuch S. 200 ff. 

2) Der in den beiden Briefen erwähnte Doctor ift der Doctor Pauli. 


— 124 — 


Leben Sie wohl, meine liebſte und theuerjte Fromet! Wenn 
e3 doch möglich wäre, Sie bald wiederzufehen. Diejes iſt vor 
der Hand mein innigjter Wunfch, der zwar duch Ihre Briefe 
in etwas befriedigt wird, doch wenn Sie jo vortrefflich ſchreiben, 
wie es in Ihrem letzten Briefe gejchehen, To möcht” ich immer 
gern die Hand küſſen, die ſolche ſchöne Gedanken niederfchreiben 
fann. Leben Sie wohl und jchreiben Sie mir öfters jo natür- 
fihe und dennoch. gedanfenbolle Briefe. Ich wünſche Ahnen 
nur durch meine Briefe jo viel Vergnügen zu verurlachen, wie 
ich von den Ihrigen habe. Ich bin 

hr treuefter Verehrer und Freund 
Moſes Deſſau.“ 


An „ſeine liebe“ Brendl, der Braut Schweſter, fügte er 
dieſem Schreiben einige Zeilen Hinzu. Er machte- ihr das 
Compliment, daß ihr Tester Brief an ihn ausnahmsweife fehr 
nachläffig neichrieben war. „Ein oder zwei Einfälle, das war 
der ganze Brief, das bin ich an Ahnen nicht gewohnt.“ 

Außer dieſen beiden Briefen find uns aus dem über ein 
Jahr währenden Brautitande nur. noch drei erhalten; fie ver- 
breiten ſich über vecht Ichlichte umd alltäglide Dinge. So 
wenig wie in der Eorreipondenz zwiſchen Leifing und feiner 
Eva König findet ſich Hier etwas von jener thränenftrömenden 
Weichlichfeit, von jener künſtlich gefteigerten Heberichwenglichkeit 
des Ausdruds und von jener ſchwärmeriſchen Sentimentalität, 
welche uns in Briefen diefer Art fo oft entgegentreten, Men— 
delsſohn iſt auch im feinen Briefen an feine Braut ganz er 
ſelbſt, diefer Fröhlich ſcherzende Mann voll Wi und Laune. 
Sn dem Schreiben vom 2. October 1761 giebt er ihr eine 
Lection über die Perrüfe, der er fich von feinem dreißigſten 
Jahre bis etwa zehn Jahre vor feinem Tode jelbjt bediente, 
und fchließt mit den Worten: „Wenn ich das Glüd haben werde, 
die Ehre der Perrüfen wider Sie mündlich) zu vertheidigen, fo 


— 123 — 


Hoffe ich Ihren Beifall.) Ein anderes mal jcherzt er über 
Verzierungen, mit welchen feine Geliebte die Laubhütte ſchmückt, 
und in einem dritten Schreiben beruhigt er fie über den vor— 
jährigen Beſuch der Rufjen in Berlin. „Nur nicht fo ängitlich, 
liebes Kind! Die Furcht vor den Ruſſen ift verfchtwunden, und 
wir leben gottlob! vergmügt. Und den fchlimmften Fall voraus: 
gejegt, wenn wir auch einen feindlichen Beſuch befommen hätten, 
fo wäre ich immer ganz unerjchroden hier geblieben. Man jtellt 
fih) das Ding jchredlicher vor, als e3 in der That ift. Die 
Leute, welche flüchten wollen, leben in großer Unruhe; fie jtehen 
beftändig wie auf dem Sprung und genießen die gegenwärtige 
Stunde nicht. Indeſſen ift diefe Moral für diefes Jahr gottlob! 
nicht mehr nöthig. Und wenn ich flüchte, fagen Sie, ſoll ich Sie 
nicht im Verdacht haben, daß Sie mich aus Eigennuß dazu beredet. 
Gut gegeben! Wenn Sie dieſes Eigennuß nennen, jo muß ich leider 
geftehen, daß ich fehr eigennützig bin, denn ich werde Sie zu 
einer andern Zeit jehr injtändig bitten, ja nirgend anders als zu 
mir nach Berlin zu fommen; bedenken Sie, wie intereffirt!“?) 
Zugleich mit diefem Briefe ſchickte er ihr als Feſtgeſchenk 
die ſchon mehrere male verfprochenen, exit jet. erichienenen 
„Philoſophiſchen Schriften‘“,3) wie er die früher von uns be- 
trachteten gejammelten Gefpräde, Briefe und Abhandlungen 
betitelte, und denen er, freilich nur in fehr wenigen Eremplaren, 
ein Blättchen an Freund Lefjing hatte vordruden lafjen. Diefer 


ı) Schr. V, 419. 

2) Schr. V, 420. 

3) Philoſophiſche Schriften, 2 Bände, mit Titelfupfer und Vignette, 
Berlin 1761; 2. Aufl. ebd. 1771; 3. Aufl. ebd. 1777; ferner Carlörube, 
2 Theile in 1 Bande, 1780; Reutlingen 1783. Ins Lateinifche überſetzt 
von Joſ. Groffinger: Mos. Mend. opera philosophica, quae ex 
germania lingua in latina trad., 2 tom. Wien 1784. ©. Brander 
von Brandis. lieferte eine holländifche Ueberjegung mit Anmerkungen 
(Amfterdam 1786, 2. Theil 1789); Franc. Bizetti überjegte fie ins Ita— 
lienifhe: Opere filosofiche volgarizzate e fornite di annotazione e 
di memoria spett. alla sua vita (Venezia 1801. Vol. 2). 


— 126 — 


fah fih nämlich in Breslau plöglic) in einen „Wirbel von leeren 
gefellichaftlichen Vergnügungen hineingezaubert“; dem Spiele 
feidenfchaftlihh ergeben, verbrachte er ganze Nächte mit den 
Dffizieren am Pharaotifche. 

Niemand betrübte das mehr als feinen mit unendlid) Tiebe- 
voller Treue an ihm hängenden Mendelsjohn, der ein ge- 
ſchworener Feind jedes Spiel3 war, weil e3 „in feinen Augen 
nicht einmal das leidige Verdienjt hatte, die Zeit zu verkürzen“. 
Das zeritreute Leben ließ Leffing lange Zeit weder auf den 
Brief Mendelsfohns, ſelbſt des eigenen Waters antworten, noch 
auf die Mahnungen feiner Freunde achten. Da machte fi) 
Mendelsjohn einen Spaß, wie er feiner Fromet jchreibt, und 
richtete an den Freund, „den Herr Mojes Wefjely auch Fennt“, 
eine eigene Dedication, welche er dem für ihn bejtimmten 
Eremplare vorfeßte. Sie lautete: 

„gueignungsfchrift an einen feltfamen Menjchen“. 

Die Schriftiteller, die das Publikum anbeten, beflagen ſich, 
e3 fei eine taube Gottheit; es laſſe fich verehren und anflehen; 
man rufe von Morgen bis an den Mittag, und da wäre feine 
Stimme noch Antwort. Ich lege meine Blätter zu den Füßen 
eines Götzen, der den Eigenfinn hat, ebenſo Harthörig zu fein. 
Ich Habe gerufen und er antwortet nicht. Jetzo verflage ich 
ihn vor dem tauben Richter, dem Publico, das jehr oft gerechte 
Urtheile fällt, ohne zu hören. 

„Die Spötter jagen: Rufe laut! Er dichtet, Hat zu jchaffen, 
iſt über Feld oder jchläft vielleicht, daß er erwache! — O, nein! 
Dichten kann er, aber Leider! will ja nicht; Reifen möchte er, 
aber das kann er nicht. Zum Schlafen ift fein Geift zu munter, 
und zu Gefchäften zu faul. Sonjt war fein Ernſt das Orakel 
der Weifen, und fein Spott eine Ruthe auf dem Rücken der 
Thoren; aber jest ift das Drafel verjtummt, und die Narren 
trogen ungezüctigt. Er hat feine Geißel andern übergeben, 
aber jie jtreichen zu fanft, denn fie fürchten Blut zu ſehen. — 
Und er, 


— 127 — 


„Wenn er nicht hört, noch ſpricht, nicht fühlt, 
Noch fieht; was thut er denn? — Er ſpielt.“) 

Damit der Spaß, den er ſich dem Freunde gegenüber wol 
erlauben durfte, nicht befannt werde, erfuchte er feine Braut, 
fie möchte das Blättchen für fich behalten und nicht wegfommen 
laſſen. „Auch die Verfe, die ich Ihnen in Ihr Exemplar ein- 
gefhrieben, find nur für Sie, denn,“ fügte ex hinzu, „ich weiß, 
daß Sie mit meiner fchlechten Poefie zufrieden find.“ 2) 

Mendelsjohn blieb, feinem Vorſatze gemäß, ein volles Jahr 
verlobt; gab es ja noch jo mancherlei zu ordnen, ehe ex fein 
blauäugiges Mädchen heimführen konnte. Vor allem mußte 
X für eine ausreichende Eriftenz forgen. Widerwärtigfeiten 
derfchiedenfter Art ftörten feine Gemüthsruhe und führten ihn 
zu der bittern Klage: „Wer ein menfchliche8 Herz hat und die 
einigen mit ihrer Tugend darben fieht, zu einer Zeit, da die 
berworfenjten Buben in ihrem Weberfluffe fat eritiden; wer 
diefes jieht, und aus Mitleiden fich fehmiegen und ein Eleiner 
verächtlicher Schmeichler werden muß: mit welchen Augen kann 
ein folcher den Mufen oder der Freundfchaft unter die Augen 
treten und ihres freien und edlen Umgangs genießen?“ 3) 

Beitel Ephraim und Conforten, welche im fiebenjährigen 

Kriege im Auftrage Friedrich des Großen die Münzverfchlechte- 
rung zu beforgen hatten, machten ihm die glänzenditen Aner— 
bietungen, um ihn als Disponenten zu gewinnen, er aber wollte 
in feiner jtrengen Nechtlichfeit von dem ganzen, als Unrecht 
gehaßten Unternehmen nichts willen; das einzige was er ihnen 
zu Gefallen that, war, daß er zu ein paar Denkmünzen, welche 
- fie prägen ließen, die Idee angab.*) Er Hatte fich an feine 


— 





) Danzel:Gubrauer, a. a. D. I, 463. Ueberſchrift und Schluß 
der Zueignung find der befannten Lichtwerihen Erzählung von den 
Spielern entlehnt; vergl. Leſſings Schr. XIII, 455. 

2) Schr. V, 421. 

3) Schr. V, 245. 

9 K. Leifing, a. a. O. 1, 216; Schr. V, 173, 224. 


— 12383 — 


Beichäftigung in der Bernhardfchen Fabrik allmählich fo gewöhnt, 
daß er den Entihluß faßte, mit Bernhard feſten Contract zu 
ichließen. Das gefchah denn auch zu Ende des Jahres 1761. 

Endlich Hatte er das Ziel feiner Wünfche erreicht: im 
Juni 1762 feierte er in der Geburtsjtadt feiner Braut feine Ber: 
mählung, zu der ihm Abbt Schon am 28. April gratulixt hatte, t) 
und an eben diefen Freund richtete er als glüdlicher Gatte 
bald nach feiner Rückkehr folgende Worte: „Seit einigen Wochen 
habe ich feinen Freund gefprochen, an feinen Freund gefichrieben, 
nicht gedacht, nicht gelefen, nicht gefchrieben; nur getändelt, 
gefchmauft, heilige Gebräuche beobachtet, mic) bald Hier, bald 
da zur Schau ausftellen laſſen und unter taufend andern viel- 
bedeutenden Kleinigkeiten meine Zeit hinbringen müſſen. Denn 
die Stunde ift gefommen, mein befter Freund! welche mix die 
Mufe des Abälardi Virbii (Hamann) Tängjtens angekündigt 
Hat. Ein blauäugiges Mädchen, das ich nunmehr meine Frau 
nenne, hat das eisfalte Herz Ihres Freundes in Empfindungen 
zerlaffen und feinen Geift in taufend Zerjtreuungen verwidelt, 
aus welchen ex fich nunmehr nad) und nach wieder loszu— 
winden fucht.“2) 

Er hatte „nach feiner Denfungsart glücklich geheivathet‘ 3) 
und allen Grund, mit feiner Wahl zufrieden zu fein. - Blieb 
Fromet auch an Bildung weit Hinter ihrem Gatten zurid, wie 
fie auch an Liebenswürdigfeit ihm nicht ähnlich war, fo tritt 
fie ung doch al3 eine jener biedern und gejinnungstüchtigen 
Frauen entgegen, welche das Glück ihrer Gatten und ihrer 
Familie bildeten. Wie fchlicht und einfach fie geweſen, zeigt 
folgendes Schreiben, welches fie am Vorabende des Neujahrs- 
tages 5526 (15. Septbr. 1765) an eine Freundin in Leipzig 
richtete: *) 


) Abbts Correſpondenz 98. 

2) Schr. V, 259. 

3) Schr. V, 171. 

9 Auch Fromet bediente fich der jüdischen Currentichrift. 


— 129 — 


„Meine werthe Freundin! 

Ih bin von Ihrer Güte zu fehr überzeugt, als daß ich 
denken werde, daß Sie böfe über mich fein werden, weil ich 
Ihnen auf Ihren freundſchaftlichen Brief nicht geantwortet habe. 
Ich könnte Ihnen taufend Entihuldigungen anführen, die mic) 
daran verhindert haben, aber ich bin nicht gewohnt, etwas zu 
fügen, was nicht die Wahrheit ift, und die Wahrheit ift (ich 
muß meine Schande nur felbjt gejtehen), ich bin eine faule 
Schreiberin; ich weiß, Sie nehmen mir mein aufrichtiges Ge— 
ſtändniß nicht übel. 

Ueberbringer diefes Briefes wird Ihnen zugleich das Geld 
(6 Thlr. 15 Sgr.) für die Enveloppe zuftellen; ich) muß noch 
einmal um Entihuldigung bitten, daß ich es Ihnen nicht ender 
(eher) geihidt Habe. Mein lieber Mann Hat fehuld; er hat 
geglaubt, daß er es von dort kann auszahlen laſſen, er hat 
aber feine Gelegenheit finden fünnen. ch bitte Sie nochmals, 
mir es nicht übel zu nehmen. 

Ich muß fchließen, weil den Augenblid der Feiertag an- 
geht. Mit Wünfhung einer Tao Monm!) an Sie und Jhren 
twerthen Mann und Shre lieben Schwiegereltern, bin ich 

Ihre 
ergebene Dienerin und Freundin 
Fromet, Frau des Moſes Deſſau.“ 

„An Herrn Student Bär?) meine Empfehlung, ich werde 
ihm nächſtens ſelbſt ſchreiben.“ 

Mendelsſohn liebte ſeine Frau mit der ganzen Glut ſeiner 
Seele. Seiner Zärtlichkeit für die treue Lebensgefährtin giebt 
er in einem Briefe an Abbt vom 11. Juni 1766 Ausdruck mit 
den bedeutſamen Worten: „Ich habe beinahe die ganze Zeit 
über in der äußerſten Gemüthsruhe gelebt. Ich habe einen 


„Beſiegelung zum Guten’ iſt ein bei den Juden üblicher 
Glückswunſch. 
2) Bär gab als Studioſus der Mediein Mendelsſohns Commentar 
zur Logik des Maimonides im Jahre 1765 zum zweiten male heraus. 
Kayſerling, Moſes Mendelsſohn. 9 


— 130 — 


alten Water, ich habe ein zartes Kind von einigen Monaten 
verloren; ich bin in Gefahr geweſen, meine Frau zu verlieren, 
die ich mehr Tiebe als Vater und Kind.“ 1) | 

Wahrlich fie verdiente diefe Liebe! Wie hegte und pflegte 
fie ihn während feiner mehrjährigen Krankheit! Gab e3 für fie 
aber auch ein höheres Glück, als die Frau eines Mannes zu 
fein, deffen Name mit den Edeliten, Beiten und Weifejten ge- 
nannt wurde? 


Einundzwanzigites Kapitel. 
Die Preisaufgabe. 


Noch in den Flitterwochen, mitten. unter den taufend Zer- 
jtreuungen, welche ihn faum zu ſich jelbjt fommen ließen, war 
Mendelsfohn mit einer Arbeit beichäftigt, welche ihn zu einer 
hohen Stufe öffentlicher Geltung erhoben und feinen Namen als 
philoſophiſchen Schriftjteller eigentlich begründet hat. 

Die königliche Akademie der Wiflenichaften zu Berlin hatte 
nämlich für das Jahr 1763 als Preisaufgabe gejtellt: „Ob 
die metaphyſiſchen Wifjenfchaften einer ſolchen Evidenz fähig find 
wie die mathematischen“, ein Thema, das für Mendelsfohn das 
höchfte Intereſſe Hatte, jodaß fein Entſchluß bald gefaßt war, 
ih um den Preis zu bewerben. Mit Freuden ergriff er die 
Gelegenheit, jicd im Geifte des Leibniziichen Syſtems über die 
Grundlagen der Mathematif und Metaphyſik, der Religions- 
philofophie und Ethif einer gelehrten Gejellichaft gegenüber 


) Schr. V, 362. Mendelsſohns Vater ftarb Sonnabend, den 
10. Mai (2. Siman) 1766 in Defjau; die Aufichrift auf dem Leichen: 
fteine Mendel Sophers theilte Hr. Dr. Salfeld im Jüd. Literaturblatt 
8. Sahrg., Nr. 38 mit. Seine Mutter ftarb, wie wir vermuthen, im 
Jahre 1756. Im November 1756 fchreibt Nicolai an Leifing (Schr. 
XII, 31), dat Moſes der Aufführung der Mit Sara Sampion „wegen 
feiner Trauer‘ nicht hat beimohnen können. 


— 131 — 


einmal offen auszufprechen. „Wäre ich nicht von häuslichen 
Gefchäften unterbrochen worden, jo hätte meine Abhandlung 
ichon fertig und vielleicht in eine andere Sprache überfegt fein 
können“, heißt es in feinem Schreiben vom 4. Juli 1762 an 
denfelben mehrerwähnten Freund, mit dem er feit anderthalb 
Fahren in einem innigen Geiftesverfehre jtand, an den jungen, 
talentvollen Thomas Abbt, dejjen Freundichaft ihm einige Jahre 
feinen Leſſing erſetzte. 

Niemand außer Leſſing war ihm ſo theuer als Abbt. Sie 
waren für einander geſchaffen, ſo ähnlich waren ſie ſich in An— 
ſichten und Beſtrebungen. Wie Mendelsſohn hielt auch Abbt, 
wiewol ſelbſt Univerſitätslehrer — erſt zu Frankfurt, dann zu 
Rinteln — unendlich wenig von der akademiſchen Gelehrſamkeit 
und von der ganzen pedantiſchen Sippſchaft der damaligen 
Profeſſoren; auch er gehörte keiner Partei ausſchließlich an; 
auch er blieb bei keiner Fachwiſſenſchaft ſtehen: von der Theo— 
logie hatte er ſich zur Philoſophie hinübergewandt, zugleich 
auch Geſchichte getrieben und den ſchönen Wiſſenſchaften gehuldigt. 
Auch er Hatte ein ſehnſüchtiges Verlangen nach praktiſcher, un— 
mittelbarer Thätigfeit; in feinem vierundzwanzigjten Jahre wollte 
er noch anfangen Jura zu jtudiren, um einmal von der Univer- 
fität weg und in ein Juftizcollegium zu fommen. Erſt dreiund- 
zwanzig Jahre alt fchrieb er jein „Bom Tode für das Vaterland“, 
Als Mendelsfohn, dem er ſich während feines längern Auf- 
enthaltes in Berlin enger anſchloß, das Werfchen vor dem 
Druce gelefen hatte, erkannte er fein jchriftitelleriiches Talent 
und gewann ihn als Mitarbeiter für die Literaturbriefe, in 
welchen ex felbft die merkwürdige Schrift anzeigte.!) Er machte 
ihn auf die bedeutenderen Neuigfeiten des deutſchen Bücher-. 
marfte3 aufmerffam, feilte an feiner nicht immer correcten Diction 
und war eine Zeit lang der einzige, mit dem er fich über lite- 
rariſche Sachen unterhielt. 


) Schr. IV, 2, 284 ff. 
9* 


— 132 — 


Mendelsfohn Tiebte den fchwärmerifchen jungen Gelehrten 
mit der ganzen Glut feines empfindungsvollen Herzens, und dieſer 
war mit jeltener Treue ihm zugethan. Ihre fünf Jahre lang 
unterhaltene Correfpondenz ift das Denkmal einer echt philo- 
fophifchen Freundfchaft und verdient den trefflichiten Briefen der 
Weltweifen des Altertfums an die Seite gejeßt zu werden. 
Es wechſeln hier die tiefften Unterfuchungen mit den traulichiten 
Herzensergießungen, häusliche Angelegenheiten mit Belehrung 
und Burechtweifung. ?) 

Und mit diefem Freunde follte er um den Preis ringen! 
Edel und Hochherzig benahmen fich beide. „Als ich aus Ihrem 
Schreiben erſah,“ meldet ihm Mendelsfohn, „daß Sie um den 
Preis ſich bewerben wollen, war mein erſter Einfall, meine 
Arbeit einzuftellen und das fertige Manufeript nad Rinteln 
reifen zu laſſen. Der Gedanke, daß meine Ausarbeitung mit 
der Ihrigen ringen follte, machte mich fchüchtern. Jedoch der 
Rath unferes Freundes und meine reifere Ueberlegung bewogen 
mich, diefen Entſchluß zu ändern. Ich geitehe es, daß id) den 
Helden Fieber nicht gefannt Hätte, mit dem ich zu kämpfen Habe. 
Da er fich aber einmal zu erkennen gegeben hat, jo erfordern 
die ritterlichen Gefege, daß ich auch meinen Helm aus den 
Augen rüde, und meinen Freund vor dem Zweikampfe noch 
einmal umarme. Zu Anfange des künftigen Jahres wollen wir 
unſere Waffen vertaufchen. Ich ſchicke Ihnen meine Ausarbeitung, 
und Sie mir die Ihrige, aber nicht eher, damit wir ums ei 
ander nicht verwirren, und alsdann das — yaben, 
fehen, was für Wege wir einfchlagen, wenn wir, a 
unbefannt, über diefelbe Materie jchreiben. ıterlien: 
it e8 doch mein Freund, der den Sieg 
jehen, ich jprecde immer, als wenn ic) wilste 
den Preis eifern könnte, ald Sie und ich. 










!) Ueber Abbt j. auch P- 
Liter. Taſchenbuch, IV. 
2) Schr. V, 261 F. 


— 133 — 


Dieje Zeilen machten auf Abbt einen fo tiefen Eindrud, 
daß er in feiner Antwort nur fein Bedauern ausdrüden konnte, 
nicht diejelben Worte an Mendelsjohn gerichtet zu haben; „Sie 
haben alles gejagt, was jest in diefem Briefe jtehen follte, 
ſodaß ich mich fchäme, den Ihrigen abzufchreiben.“ Er rieth 
ihm entichieden ab, die Arbeit ind Lateinifche überfegen zu 
laffen, fie würde auch durch die Ueberſetzung unftreitig verlieren; 
er wiſſe, daß die Akademie ebenfo gern deutihe Abhand- 
lungen fehe. !) 

Beriprochenermaßen theilte Mendelsjohn dem Freunde und 
Rampfgenofjen die Abhandlung in Abfchrift mit.) Auch Leffing 
wurde fie zur Beurtheilung nad) Breslau gejhicdt, und dieſer 
Iprach ſich jo günftig darüber aus, daß der Berfaffer ihm er- 
widerte: „Sie urtheilen von meiner Abhandlung wie ein Bruder 
in Leibniz. Die Akademie wird vermuthli anderer Meinung 
fein. Indeſſen Habe ich mein Los immer eingelegt: Junge 
ſei nicht toll.“ 3) 

Mendelsfohns in deuticher Sprache eingereichte Abhandlung 
„Weber die Evidenz in metaphyſiſchen Wiſſenſchaften“ wurde 
von der Akademie in öffentlicher Sitzung gefrönt. Sonnabend, 
den 4. Juni 1763 verfündete die Berliner Zeitung: 

„Donnerſtag hielt Die Akademie ihre öffentliche Sitzung. 
Den Preis erhielt der fchon zur Genüge duch feine Schriften 
befannte hiefige Jude Moſes Mendelsjohn.“ 

Ihm, dem feinen und eleganten Effektifer, wurde der Preis, 
funfzig Dufaten, erteilt, während feinem Rampfgenofjen, defjen 
Abhandlung an Schärfe der Beweisführung die feinige weit 
übertraf, nur das Acceſſit zuerkannt wurde. Ex trug über 
feinen geringern den Sieg davon als über den Königsberger 
Philoſophen Kant. 

„Slauben Sie ja nicht, daß ich mir einbilde, gefiegt zu 

') Schr. V, 265. 


2) Schr. V, 272, 304. 
3) Schr. V, 170. 


— 134° — 


haben, weil die Afademie mir den Preis zuerfannt hat,“ jchreibt 
er in feiner Befcheidenheit den 20. November 1763 an Abbt, 
der den Termin zur Einreichung der Arbeit, vielleicht nicht ohne 
Adficht, verfäumt Hatte, „ich weiß gar wol, daß im Kriege nicht 
jelten der fchlechtere General den Sieg davon trägt. Wir 
müſſen den Streit unter uns ausmachen. Wenn ich Sie nicht 
überzeuge, jo iſt dieſes Beweiſes genug, daß meine Gründe die 
erwünfchte Evidenz nicht haben.“ 1) 

In diefer Preisichrift „Ueber die Evidenz in meinphöftfchen 
Wiſſenſchaften“, welche zufammen mit der Kantſchen gedrudt ?) 
und ins Lateinische wie ins Franzöſiſche überjegt wurde, jucht 
Mendelsfohn das Leibniz Wolffiiche Syſtem neu zu begründen 
und in feinen einzelnen Theilen weiter auszubauen, er nimmt 
darin ganz den theiftiihen Standpunkt ein, den er auch fpäter, 
bejonders in den „Morgenſtunden“, feſthält. Die Evidenz, oder 
vielmehr die Gewißheit und Faßlichkeit in den mathematifchen 
Wiſſenſchaften beruht nach ihm in den Begriffen der Quantität. 
Derfelben Gewißheit wie die mathematifchen find auch die 
metaphyjiichen Wahrheiten fähig, nicht aber derjelben Faßlichkeit, 
weil die jpeculative Philofophie immer auf die Anfangsgründe 
zurüdgehen und für jeden ihrer Schlüjfe eine Menge von 
Borausfegungen und Erklärungen zu Hülfe nehmen muß. Die 
Anwendung hiervon wird dann auf die Religionsphilojophie 
und Ethik oder natürliche Theologie und Sittenlehre, welche ex 
in „reine“ und „angewandte“ eintheilt, gemacht und des weitern 
ausgeführt. 

Faſt zu gleicher Zeit, als Mendelsfohn den Preis der 
Akademie erhielt, wurde ihm auc eine ganz befondere Aus- 
zeichnung ſeitens feiner Glaubensgenofjen zutheil. 

Den 10. April 1763 faßten die Bertreter der Berliner 
Gemeinde den ehrenvollen Beſchluß, „den würdigen Herrn 


) Schr. V, 278. 
2) Berlin 1764; 2. Aufl. 1786; Schr. II, 1—64. 


— 1355 — 


Mojes Mendelsjohn als Anerkennung und Belohnung für feine 
großen Berdienfte, bejonders für die Anfertigung und Ueber: 
fegung der Predigt und der Gefänge beim Friedensfejte, für 
immer von allen Gemeindeabgaben zu befreien“, und acht 
Sahre fpäter, den 1. April 1772, wurde von den Vertretern 
der genannten Gemeinde mit Zuftimmung des Rabbiners feit- 
gejegt, „Daß Moſes Mendelsiohn ausnahmsweile zu allen Ge- 
meindeämtern, jelbjt mit Uebergehung aller vorfchriftsmäßigen 
Abſtufungen und üblichen Befchränfungen, wählbar und berechtigt 
jei, fie jofort anzutreten und zu verwalten.“ Ausdrüdlich heißt es 
in diefem Beichluffe, daß „einem fo ausgezeichneten Manne gegen- 
über Statuten feine Anwendung finden und weichen müſſen.“!) 

Die Anerkennung, welche Mendelsfohn fand und die Aus- 
zeichnung, welche ihm durch die Löfung der Preisaufgabe zuteil 
wurde, bejtärkten ihn im Vertrauen auf feine Kräfte und Fähig— 
feiten; fie ermuthigten ihn zur Vollendung eines Werkes, das 
feinen Namen weit über Deutichlands Gauen trug: dieſes Werf 
it der „Phädon“. 


1) 1. Aufl. ©. 147.) Die Beichlüffe aus dem Gemeinde-Brotofolle 
mitgetheilt von Landshuth, a. a. D. 64 f. 


Sechſtes Bud. 
Dhädon. 
Zweiundzwanzigites Kapitel, 
Gntitehung des Phädon. 


Die höchfte Aufgabe, welche die Anhänger der Leibniz- 
Wolffiſchen Schule zu Löfen ſich bemühten, bejtand darin, durch 
genaue Beobachtung der menschlichen Natur das für den Men- 
ſchen erreichbare und zu feiner Glücfeligfeit nothiwendige Wiſſen 
zu gewinnen. Der Menſch an fich galt ihnen als der vorzüg- 
fichfte Gegenstand der Philofophie. In jener Zeit des Indivi— 
dualismus ging man immer auf das Sch, auf die Afjociation 
von Borjtellungen und Begriffen zurück und fuchte zu ergründen, 
ob dieſes reine Sch immer in feiner Wefenheit eriftiren werde. 
Daher die Frage nad) der Unjterblichfeit ein Hauptproblem der 
Zeit bildet: die fchottifchen Philofophen, die franzöfifchen Ency- 
Fopädiften, die Anhänger der Leibniz-Wolffiihen Philofophie 
jtellen Unterfuchungen über die Eriftenz der Seele an. 

Der allgemeinen Zeitſtrömung willig folgend, machte aud) 
Mendelsfohn die Seele und ihre Eriftenz zum Gegenftande feines 
Forſchens. War doch feine Vhilofophie in ihrem Wefen Pfycho- 
logie, und fein philofophifches Anterefje in vorderfter Reihe den 
Gegenftänden zugewandt, welche die Glücfeligfeit des Menfchen 


— 137 — 


zum Endzwed Hatten. Der Menfch mit feinen Kräften und 
Sähigkeiten, mit feinen Rechten und Obliegenheiten trat mit dem 
ganzen unermeßlichen Meere von Erkenntniffen in den Vorder— 
amd feines Denkens und es war bei ihm gewiffermaßen Grund— 
ſatz die Philoſophie müſſe bei jedem Schritte, den fie thut, einen 
Bit auf den Menfchen zurückwerfen, denn ihr letztes Ziel, auf 
das alle ihre Bemühungen Hinführen follten, fei die Glücfelig- 
feit de Menfchen.!) Sowol bei Leibniz, al3 bei allen Philo— 
fophen der Aufklärung, als deren Repräfentanten wir befonders 
Meendelsfohn in der Folge näher kennen Iernen, galt Glückſelig— 
feit al3 das abfolute Ziel alles menfchlichen Strebens und aller 
menihlichen Hoffnungen, deren Erfüllung in dem Glauben an 
Umiterblichfeit ruht. 

Eine Bearbeitung des Platonifchen Phädon gehört zu den 

Ne üheften Plänen Mendelsfohns. 

Sowol Leffing al3 dem Profefjor Baumgarten theilte er 

Shon im December 1760 fein Vorhaben mit;?) nad) der Be— 

Torgung der neuen Ausgabe ſeiner philoſophiſchen Schriften 

xvollte er ſofort an die Ausarbeitung gehen. Es verſtrichen 

Tedoch mehrere Jahre, ehe er an fein Lieblingsthema ernſtlich 
Venfen konnte. Häusliche Angelegenheiten, die Literaturbriefe, 

-welche feine Mußeftunden vollftändig ausfüllten und deren Auf- 
hören er vielleicht eben deshalb fo ſehnlichſt wünfchte,3) jo wie 
die Ausarbeitung der akademischen Preisfchrift ließen den Plan 
lange Zeit nicht zur Ausführung gelangen. 

Erft zu Anfange des Jahres 1764 wurde er durch einen 
äußern Anlaß an die Unfterblichfeitsfrage wieder erinnert. 

Der junge Abbt, der fich bejtändig mit Todesgedanfen trug, 
erbat fic), nachdem er die damals Auffehen machende Schrift 
des aufgeflärten Berliner Theologen Spalding „Ueber die Be- 
ftimmung des Menschen“ gelefen Hatte, von Mendelsfohn die 

!) Schr. IL, 72; IV, 1, 67. 


2) Schr. V, 160, 168. 
3) Schr. V, 159. 





— 133 — 


Erlaubniß, ihm, dem theueriten Freunde, feine Gedanken und 
Zweifel über die wichtigsten Dinge, „worauf endlich alles Lernen 
ih) beziehen muß“, vortragen, über die Bejtimmung des Men- 
ſchen, über die für ihn jo viele Wolfen lagen, in feinen Briefen 
ſprechen zu dürfen.) Obgleich es nun Mendelsfohns fejter 
Borfag war, fi) mit niemand außer mit Leifing, in einen Brief- 
wechjel über metaphyjiihe Materien jolcher Art einzulafien, fo 
mochte er doch dem zärtlich) von ihm geliebten Freunde die Bitte 
nicht abfchlagen. „Sch jehe Ihren Anmerkungen über die Be- 
jtimmung des Menfchen mit der äußerjten Ungeduld entgegen,“ 
antwortete er ihm am 9. Februar 1764,2) „und damit unfere 
Freiheit zu denken dejto uneingejchränfter fei, jo wünſche ich, 
daß wir in unferem Dispute die Namen zweier griechiichen 
Weltweifen annehmen möchten. Wir dürfen uns aber deswegen 
an fein Syſtem binden und können allenfall® von dem Lehrge- 
bäude der Neuern, jo viel als nöthig fein dürfte, als befannt 
vorausjegen. Auf ſolche Weife werden wir unfere Fühnjten 
Zweifel, die wir öfters uns jelbjt nicht gern offenbaren, auf 
Rechnung eines Gejtorbenen ungefcheut vorbringen können. Ich 
hoffe, daß dieſer Briefwechſel für ung beide nicht ohne Nutzen 
fein ſoll.“ 

Es entipann fi) aucd wirklich ein. Briefwechjel über dieſe 
Materie, aus welchem die Fleinen Aufläge genommen find, welche 
in dem neunzehnten Theile der Literaturbriefe?) unter dem Titel: 
„Zweifel und Orakel, die Bejtimmung des Menfchen betreffend“ 
vorkommen. Mendelsiohn Hatte das Vergnügen, über einige der 
wichtigjten Punkte feines Freundes Zuftimmung zu erhalten. 
Abbt, der, wie Herder meint, fo vecht ein Philofoph des Men— 
ſchen war, goß mit der Offenherzigkeit eines wahren Freundes 
die geheimjten Empfindungen feiner Seele, fein ganzes Herz in 


) Schr. V, 279. 

2) Schr. V, 282. 

3) Abgedrudt Schr. V, 2835—301, 305—313. 
4) Schr. II, 67; V, 344. 


— 19 — 


Mendelsjohns Buſen aus. „Seine philofophiichen Betrachtungen 
erhielten durch die janften Empfindungen des guten Herzens 
einen eigenen Schwung, ein veges Feuer, wodurch fie die Liebe 
zur Wahrheit in der Fältejten Bruft würden entzündet haben; 
und feine Zweifel felbjt unterliegen niemals neue Ausfichten zu 
entdeden, und die Wahrheit von einer noch unbemerften Seite 
zu zeigen.“ Als der Briefwechſel im beten Zuge war, wurde 
Abbt durch fein Werf „Vom Verdienſte“, das er Mendelsfohn 
vor dem Drude zur Durchficht oder eigentlich zur Eorrectur zu- 
geihikt und mit dem -diefer „ganz entſetzlich gewirthichaftet“ 
hatte, darin unterbrochen; fpäter Tieß ihn Mendelsfohn ganz 
fallen. „Da ich, wie Sie längjt wiſſen,“ fehreibt ev Abbt den 
16. Februar 1765, „ein Werfchen über die Unsterblichkeit der 
Geele unter der Feder habe, jo bin ich willens, den zweiten 
Theil dejjelben mit Betrachtungen über unfere Bejtimmung aus- 
zufüllen; und will mir alfo Zeit laffen, gehörig darüber nach— 
zudenfen. Fahren Sie fort, Liebjter Freund! mir Einwürfe zu 
machen und Zweifel zu exregen.“!) Durch Abbt3 Fragen und 
Bweifel war der Entjchluß bei ihm zur Reife gefommen, „eine 
Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele, die er vor vielen 
Fahren einmal angefangen, völlig auszuarbeiten“. „Meine Gründe 
lege ich dem Sofrates in den Mund,“ heißt es in dem Briefe 
an Abbt vom 22. Juli 1766. „Sch muß einen Heiden haben, 
um mic) auf die Offenbarung nicht einlaffen zu dürfen“.?) Die 
Schrift, im Umfange von ungefähr zehn Bogen, war bald aus- 
gearbeitet. Schon den 2. Auguft 1766 meldete Nicolai, in 
deſſen Verlag fie erichten, Johann G. Zimmermann in Hannover: 
„Rah Michaelis kommt meines Tiebjten Freundes Moſes, Phädon“ 
bei mir unter die Prefje.“3) 

Das Erſcheinen des Buches, das jo hohes Intereſſe für 
ihn hatte, erlebte Abbt nicht. 

1) Schr. V, 344. 


2) Schr. V, 366. 
3) Bodemann, Zoh. G. Zimmermann (Dannover 1878), 298. 


— 140 — 


„Es hat der Vorfehung gefallen, das aufblühende Genie 
vor der Zeit der Erde zu entziehen. Kurz und rühmlich war 
die Laufbahn, die er hienieden vollendet Hat. Sein Werk ‚Bom 
Verdienfte‘ wird den Deutfchen ein unvergeßliches Denfmal 
feiner eigenen Berdienfte bleiben; mit feinen Jahren verglichen, 
verdient diefe8 Werf die Bewunderung der Nachkommenſchaft. 
Was für Früchte konnte man nicht von einem Baume hoffen, 
deffen Blüte fo vortrefflih war? Er Hatte noch andere Werke 
unter der Feder, die an Volllommenheit, wie er an Erfahren- 
heit und Kräften des Geijtes zugenommen haben würden. Alle 
diefe Schönen Hoffnungen find dahin! Deutjchland verliert an 
ihm einen trefflichen Schriftjteller, die Menfchheit einen lieb— 
reihen Weifen, deſſen Gefühl fo edel, al3 fein Berftand auf- 
geheitert war; feine Freunde den zärtlichjten Freund, und ich 
einen Gefährten auf dem Wege zur Wahrheit, der mich vor 
Fehltritten warnte.“ !) 

Herrliche Worte, mit welchen Mendelsfohn dem in der 
Blüte der Jahre hinweggerafften Freunde, der als gräflich 
Schaumburg-Lippefcher Negierungs- und Confiftorial-Rath den 
3. November, 1766 in Büdeburg jtarb, in der Vorrede zum 
„Phädon“ ein Denfmal ſetzte. 

Sp wie dort der weile Idiot Griechenlands fi) aus Athen 
an feinen Zauberort fchli), neben einer murmelnden Duelle 
unter dem Schatten eine® Ahorns niederfanf, an der Geite 
ſeines Lieblings fein Geficht verhüllte, und Geheimmiffe der 
Schönheit ſah, und ſprach dithyrambiſche Worte: fo fehe ich 
unfern Sofrates mit gejenftem Haupte über der Aiche feines 
Freundes fißen und über die großen Worte: menjchliche Be- 
ftimmung, Unfterblichfeit der Seele, denken.?) 


) Schr. II, 68. 
2) Herder, Meber Thomas Abbts Schriften (1768), 6. 


— 141 — 


Dreiundzwanzigites Kapitel. 
Solrates. 


Um bei dem Lefer das Andenken an den Weltweifen auf: 
zufrifchen, der in den Geſprächen über die Unfterblichfeit die 
Hauptrolle hat, hielt es Mendelsfohn für zweckmäßig, eine Lebens— 
bejchreibung und Charakteriftif des Sokrates feinem „Phädon“ 
in der Einleitung vorauszufchiden; er Hatte fich fowol mit den 
Quellen als auch mit den Schriften, welche gerade in jener 
Beit über den Weifen von Athen erfchienen, wie die „Sokra— 
tiihen Denkwürdigkeiten“, Wielands „Geſpräche Sofrates und 
feiner Freunde“, Diderots „Trauerfpiel über den Tod des ee 
krates“, eingehend bejchäftigt.") 

Diefe Charakteriftif Tiegt ganz in den Feſſeln Wolffiſchee 
Denkart; alle jene äſthetiſchen und dunkeln Eigenthümlichkeiten, 
welche die hiſtoriſche Individualität des griechiſchen Philoſophen 
ausprägen, ſind in dem deutſchen Nachbilde ausgelöſcht. Als 
die Grundlage, worauf des Sokrates ſittliche Größe beruhte, 
bezeichnet Mendelsſohn „das unverletzliche Pflichtgefühl gegen 
den Schöpfer und Erhalter der Dinge, den er durch das un— 
verfälſchte Licht der Vernunft auf eine lebendige Art erkannte“. 
Darum empfiehlt auch dieſer Sokrates allen ſeinen Freunden, 
ſich in die eleuſiniſchen Geheimniſſe einweihen zu laſſen, denn, 
meint Mendelsſohn, „man hat ſehr guten Grund zu glauben, 
daß die Geheimniſſe von Eleuſis nichts anderes waren, als die 
Lehren der natürlichen Religion.“ Warum aber trug Sokrates 
ſelbſt Bedenken, in die Myſterien eingeweiht zu werden? Um 
dieſe Geheimniſſe ungeſtraft ausbreiten zu dürfen, die ihm die 
Prieſter durch die Einweihung zu entziehen ſuchten. 

Des Sokrates Liebe zum Alcibiades, dieſen philoſophiſchen 


) M. ſ. die Recenſionen Mendelsſohns in den Literaturbriefen 
(113—119), Schr. IV, 2, 99—133. 


— 142 — 


Eros, der im platonifchen „Gaſtmahl“ fo Hinreißend und wunder: 
bar gefchildert wird, nennt Mendelzjohn eine „unnatürliche 
Salanterie“, die er damit entichuldigt, daß fie „Damals Die 
Modeiprache geweſen, wie etwa der ernithaftejte Mann in un— 
feren Zeiten fich nicht entbrechen würde, wenn er an ein Frauen- 
zimmer fchreibt, wie verliebt zu thun.“ „Nichts anderes,“ ſetzt 
er unbefangen Hinzu, „beweifen die Ausdrüde Platos, fo fremd 
fie auch in unferen Ohren Fflingen.“') 

Am fremdeften aber Elang ihm, was Sofrates feinen Ge— 
nius oder feinen Dämon nannte, Weil man bei Plato ſowol 
al3 bei Xenophon „verichiedene Vorfälle findet, wo diefer Geift 
dem Sofrates Dinge vorher gejagt haben foll, die fich aus feiner 
natürlichen Kraft erklären laſſen, fo muß Sofrates, der außer: 
dem zu Entzüdungen aufgelegt war, ſelbſt Schwachheit oder 
ichwärmende Einbildungsfraft genug gehabt Haben, dieſes leb— 
hafte moralifche Gefühl, das er nicht zu erklären wußte, in einen 
„vertraulichen Geiſt“ umzufchaffen, und ihm hernach auch die— 
jenigen Ahnungen zuzuschreiben, die aus ganz anderen Quellen 
entfpringen.“ „Muß denn,“ fragt Mendelsfohn, „ein vortreff- 
liher Mann notwendig von allen Schwacheiten und Thor- 
heiten frei fein? In unferen Tagen ijt es fein Verdienſt mehr, 
Geijtereingebungen zu verjpotten! Vielleicht Hat zu den Zeiten 
des Sokrates eine Anftrengung des Genies dazu gehört, die 
er nüßlicher angewendet hat. Er war ohnedem gewohnt, jeden 
Aberglauben zu dulden, der nicht unmittelbar zur Unfittlichfeit 
führen follte.“?) 

Mendelsſohn fieht nur den moralifchen Sofrates; die äfthe- 
tifchen und dämonifchen Züge des gefchichtlichen Charakters find 
ihm gänzlich verichloffen. Jenen hohen und äfthetifchen Enthu- 
ſiasmus, welcher den Sofrates zu dem fchönften genialjten Jüng— 
ling Athens unwiderſtehlich Hinzog, verjtand er ebenfo wenig, als 


') Schr. II, 83. Bol. Kuno Fiicher, Leibniz und feine Schule 
(Mannheim 1855), 546 ff. 
2) Schr. II, 84. 


— 143 — 


das was Gellius von dem griechiichen Weifen erzählt, daß er 
zuweilen vierundswanzig Stunden auf eben der Stelle mit un— 
verwandten Bliden in Öedanfen vertieft gejtanden hätte, al3 wenn 
der Geijt von feinem Körper abweiend wäre, Mendelsiohn erklärt 
diefe „Entzüdfungen“, wie er fie nennt, für eine entfernte Anlage 
zur Schwärmerei, für eine unfchädliche Schwärmerei, die weder 
Hochmuth, noch Menſchenhaß zum Grunde hatte, und die dem 
Reifen, in der Verfaſſung, in welcher ex fich befand, anch ſehr 
nüglich gewefen fein mochte. 

Unbegreiflih war ihm auch, daß die äußere Ericheinung 
eines Sokrates, die Art und Weile feines Auftretens äjthetifche 
Mängel und Widerfprüche mit fi) führen fonnte, die einem 
Luftipieldichter das fünftleriiche Recht gaben, den Philofophen 
zu fomödiren, „Man kann fi kaum etwas Ungezogeneres 
denken!“ Ariftophanes gilt ihm als ein „feiler Komödienſchreiber“, 
„ven eine geichlofiene Partei, der fein Mittel zu Schaden zu 
niederträchtig war“, gemiethet hat, um ihren Gegner verhaßt 
und lächerlich zu machen, und in den „Wolfen“, diefer unüber- 
trefflichen Komödie, fieht er nur eine „pofjenhafte Fratze“, „Die 
ich zur Ehre des verfolgten Philofophen bis auf unfere Zeit 
erhalten hat“.t) 

Zur völligen Würdigung des Sokrates fehlte Mendelsjohn 
wie Nicolai und anderen Philofophen der Aufklärung die Be- 
rüdjichtigung der ftaatlihen und gefellichaftlichen Verhältniſſe, 
kurz der geichichtliche Sinn, welcher bei ihm noch mit dem 
Mangel. an geichichtlichem Wiffen zufammenhängt. „Was weiß 
ih von Geſchichte?“ Hagt er noch 1765 feinem Freunde Abbt. 
„Ras nur den Namen von Gefchichte hat: Naturgefchichte, Erd— 
geſchichte, Staatsgefchichte, gelehrte Geichichte, Hat mir niemals 
in den Kopf kommen wollen; und ich gähne allezeit, wenn ich 
etwas Hiftorifches Iefen muß, es müßte mich denn die Schreib- 
art aufmuntern. Ich glaube, die Gefchichte ift eines der Studien, 


1) Shr. IL, 75, 81. 


— 14 — 


welche nicht ohne Unterricht erlernt werden fünnen.“!) Er hatte 
lange Zeit gar feine Idee von ihrem Nutzen und konnte nicht 
begreifen, daß ein Mann von Leſſings feuriger Einbildungskraft 
und fchneidendem Scharfſinne fich fo viel mit Sammlung und 
Beurtheilung der Barianten alter Schriftjteller, mit Unterfuchung 
der Alterthümer, mit Collectaneen über Gelehrte und ihre 
Schriften und mit alten verlegenen Büchern befchäftigen konnte. ?) 
Unterhielt fi) Leffing mit Nicolai oder mit anderen zuweilen 
in feiner Gegenwart über hijtorifche Gegenftände, jo lachte ex 
gewöhnlich und meinte, das Ganze fei unnüßer Kram. Uniüber- 
windlihe Schwierigkeiten jtellten fi) ihm in den Weg, als 
er ih in reiferen Jahren auch etwas von diefem „unnützen 
Kram“ zu eigen machen wollte „Sagen Sie mir doc, liebſter 
Freund!“ heißt e8 am Schlufje feines letzten Briefes an Abbt, 
„wie fange ich es an, wenn ich mir von der Geſchichte der 
alten und neuern Zeit nur einigen Begriff machen will? Ich 
babe bisher die Geſchichte mehr für die Wiffenichaft des Bürgers 
al3 des Menſchen gehalten, und geglaubt, ein Menfch, der fein 
Vaterland hat, könnte fi) von der Gefchichte feinen Nutzen ver- 
Iprechen. Ich merke aber, daß die Gefchichte der bürgerlichen 
Berfaffung mit der Geſchichte der Menjchheit ineinander fließt 
und daß es unanftändig ift, in jener ganz unwiſſend zu fein. 
Uber wo fange ich an? Gehe ich zur Quelle oder begnüge 
ih mich) an den allgemeinen Welthijtorien, die feit einiger Zeit 
jo jehr im Schwange find? Und zu welcher rathen Sie mir? 
Vergeſſen Sie nicht, mir auf diefen Punkt zu antworten.‘ 3) 
Der don Mendelsfohn jelbjt angegebene Grund mag die 
Urſache gewefen fein, daß er das Studium der Gefchichte fo 
ganz vernachläſſigte. Er ging mit innerem Widerftreben an eine 
Arbeit, von der er fich feinen Nußen verfprad), weil er als 


) Schr. V 342. 
2) Gödingf, a. a. D. 19. 
3) Schr. V, 368, 






Pr 
— 145 — .! unIvERSITY 
of 
Jude fi ohne Vaterland und ohne Heimat fübtter- 
der Gefchichte erinnerte ihn an die Leiden und PVerfolgungen, 
welche fein Stamm jahrhundertelang erduldet hatte, an feine 
eigene Heimatlofigfeit. 

Man muß e3 ihm bei dem Mangel an hiſtoriſchem Sinn 
daher auch zugute Halten, daß er den Tod des Sokrates nicht 
als ein tragifches Schidfal, fondern nur als einen Juſtizmord 
auffaßt, den die Priefter, Sophijten und Redner auf ihrem Ge- 
wiſſen Haben. 

Den fterbenden Sofrates, der, wie Mendelsjohn ſelbſt im 
Anhange des „Phädon“ erklärt, „nicht der Sokrates der Ge— 
ſchichte iſt“, läßt der Anhänger der Leibniz Wolffiihen Philofo- 
phie die Gründe und Beweife für die Unfterblichfeit der Seele 
vortragen. Die Einkfleidung, Anordnung und Beredfamfeit 
Platos macht er fih zu Nuße, er behält die formalen Schön- 
heiten des Platoniſchen Dialogs bei, nimmt fogar ganze Stellen, 
welhe er, ohne der Deutlichkeit zu fchaden, hätte übergehen 
finnen, der bloßen Schönheit wegen mit auf und fucht die meta- 
phyſiſchen Beweiſe durch neue und feinen Vorgängern entlehnte 
‚seen dem Gefchmade feiner Zeit anzupafjen. Er ſetzte Lefer 
voraus, „die Feine Metaphyfifer find, aber gefunden Menfchen- 
veritand haben und nachdenken wollen“; deshalb berief er fich 
auch auf Fein befonderes Syſtem. „Wenn ich hätte Schriftiteller 
anführen mögen,“ fagt er in der Vorrede feiner Schrift, „fo 
wären die Namen PBlotin, Des Cartes, Leibniz, Wolff, Reimarus, 
Baumgarten u. a. oft vorgekommen. Allein dem bloßen Lieb- 
haber ift es einerlei, ob er einen Beweisgrund diefem oder 
jenem zu verdanken hat, und der Gelehrte weiß das Mein und 
Dein in fo wichtigen Materien doch wol zu unterfcheiden.“!) 


Dergeftalt it der aus drei Gefprächen bejtehende Mendels- 
ſohnſche „Phädon“ nach den eigenen Worten des Verfaſſers ein 





1) Schr. II, 69. 
Kahſerling, Mofes Mendelsfohn. 10 


.— 146 — 


„Mittelding zwifchen einer Ueberjegung und eigenen Ausarbei— 
tung“; es it ein deutſches Product des achtzehnten Jahrhun— 
dert3 in griechifcher Form. ') 


Vierundzwanzigites Kapitel. 
Mendelsjohn über den Selbitmord. 


Unter dem Namen des griechifchen Weltweifen hören wir 
im Gefängniffe Athens einen deutfchen Philofophen aus dem 
achtzehnten Sahrhundert einen Vortrag über Tod, Bejtimmung, 
Unfterblichfeit halten. 

Im Anfange des erjten Geſprächs folgt Mendelsfohn ge— 
nau feinem Borbilde, dem Plato. Die Schüler des zum Gift- 
becher Verurtheilten unterreden ſich von der legten Stunde ihres 
heldenmüthig jterbenden Lehrers. 

Sodann erörtert er die Frage über die Zuläffigfeit oder 
Unzuläffigfeit des Selbjtmordes, eine Frage, welche bejonders 
in der für Preußen denfwiürdigen Zeit des fiebenjährigen Krieges 
viele Köpfe bejchäftigte. 

Friedrich der Große foll fich nämlich mit dem Gedanken ge- 
tragen haben, im Falle einer ganz ungünjtigen Wendung des 
Feldzuges und einer gänzlichen Niederlage, durch einen Gift 
trank, welchen er gleich jenem Helden des Alterthums beftändig 
bei fich trug, feinem Leben ein Ende zu machen. Daß fich ein 
jolher Schritt mit der Denkungsart des großen Königs vertrug, 
iſt genugfam befannt. Wie er die Unfterblichfeit für ein Zauber— 
Ichloß hielt, welches man von ferne fehe, aber nicht betreten 
fünne, ähnlich) Heinrich Heine, der dieſe die Menfchheit be- 
glüdende Lehre mit einem Markknochen vergleicht, den Der 
) Der Mendelsjohnihe Phädon in jeinem Berhältnig zum Pla- 
toniſchen wurde neuerdings behandelt von Friedrich Kampe (Halle 1880). 


„1 —— zn n re 2 * 


— 147 — 


Fleifcher mit in den Korb unentgeltlich fchiebt,") fo vertheidigte 
er auch confequenterweife den Selbjtmord; es müſſe, meinte 
er, dem Menschen frei ftehen, aus einem Zimmer zu fliehen, in 
welhem man vom NRauche erjtidt wiirde. Den Unglauben des 
Königs theilten noch viele mit ihm, und ebendies führte die 
verſchiedenſten Denker feiner Zeit auf eine genaue Prüfung diefer 
Frage. Auch Mendelsjohn hat fich ihrer Löſung nicht entzogen. 
In den „Briefen über die Empfindungen“, in einem Schreiben 
vom 1. Mai 1756, das an Reſewitz gerichtet ift,?) und dann 
im „Phädon“ Hat er über diefe „Enotige Materie” feine An— 
fichten dargelegt. 

Der Trieb zum Guten, meint er, fann mit dem Gelbjt- 
erhaltungstrieb für Augenblide in Streit gerathen, wenn wir 
feinen Blick in unfer zufünftiges Dafein ohne Entfegen thun 
fönnen und uns jeder Moment mit Ueberdruß und innerlichem 
Aufruhre drohet. Der Trieb zum Guten behauptet fodann allein 
fein Necht, drängt auf die Abkürzung des Lebens und auf Die 
Flucht aus der überläftigen Welt. Der Tod als das Hero er- 
fcheint ung wünfchenswerth, wenn in der Vermifhung von Gut 
und Uebel nach gegenseitiger Berechnung eine negative Größe 
übrigbleibt, wenn die Stimme der Freundfchaft, des Water: 
landes, der menfchlichen Gefellichaft Fein Gewicht mehr für uns 
hat, wenn die Warnung vor Eingriffen in die göttlichen Nechte 
durch) Berufung auf die und von Gott verliehene Freiheit be- 
feitigt wird. ?) 

Geſetzt die Gründe der Religion gegen den Selbjtmord 
wären ohne alle Kraft der Ueberzeugung, und wir hielten uns 
verfichert, der Tod ſei Vernichtung des Dafeind, auch dann 
müffen wir zugejtehen, daß der geringjte Grad der Wirflich- 
feit unfere Vollkommenheit unendlich mehr befördert als Ber- 
nichtung. ' 

ı) Heine, Nomanzero, 306. 

2) Schr. IV, 1, 12—4. 


3) Schr. I, 142 ff. 
10* 


— 14 — 


Denjenigen aber, welche den Tod nicht für Vernichtung 
de3 Dafeins, fondern für einen Uebergang in eine andere Art 
von Fortdauer halten und die Verbindung zwijchen dem künf— 
tigen Zuftande und dem jetzigen fomit gelten Lafjen, zeigen fich 
noch weniger Gründe für die Zuläfjigfeit des Selbitmordes. 
Die abwechſelnden Zuftände, die jenes Leben mit dieſem ver— 
binden, müfjen ineinander gegründet fein; wer alfo diefe Welt 
anders verläßt, muß auch jene anders betreten, wer dag Ende 
der ihm in diefer Welt befchiedenen Dauer nicht abwartet, ſtürzt 
fi) in einen ganz andern Zuſtand, al3 der it, in welchen er 
nach dem Laufe der Natur verjeßt worden wäre. Nur was mit 
den Kräften, die Gott in die Natur gelegt hat, übereinftimmt, 
dad muß uns jtatt eines Drafel3 dienen, bis ein ausdrüdlicher 
Befehl oder der Ausgang der Sache uns eines Befjern belehrt. 
So lange alfo die Kräfte der Natur zur Erhaltung des Lebens 
übereinftimmen, fo lange ijt es ein Verbrechen, ſich den Ab— 
fihten Gottes zu widerfegen; fo lange iſt es eine jträfliche Em- 
pörung, die große, entziidende, wundervolle Harmonie zwiſchen 
den Handlungen de3 Endlichen und den Abfichten des Unend- 
lichen zu zerftören, bis Gott ung den ausdrüdlichen Befehl zu- 
Ihidt, das Leben zu verlaffen.) In diefer Beweisführung hat 
der deutfche mit dem griechischen PhHilofophen das gemein, daß 
er die fittliche Nothwendigfeit der Fügung in den göttlichen 
Willen betont. 

Ein Umjtand eigenthümlicher Art veranlaßte Mendelsfohn 
noch Später zu einem intereffanten Gefpräche über diefes Thema. 

Sn Berlin lebte nämlich) als Inſpector des Joachimsthal— 
ihen Gymnafiums ein Mann namens Sohann Peter Drief. 
Gleich Edelmann, „ein hölzerner Menfch, der ebenſo viel Blei 
in feinem Gehirn als Eifen an feinen Stiefeln trug“?) und, wie 
Mendelsfohn, der in der Jugend mit ihm zufammenzufommen 


1) Schr. I, 164 ff.; II, 106 ff. 
2) Schr. V, 11. 


— 149 — 


pflegte, den 29. Juli 1779 an Henning3 fchrieb, al3 „ein un— 
Ihuldiges Opfer der altdeutichen Aufrichtigfeit fiel“,1) gleich dem 
ungfüdlichen Rector Damm, huldigte auch er atheiftifchen Grund- 
fägen, welche durch den damaligen Minijter von Zedliß feine 
Entlafjung herbeiführten. Seine unbegrenzte Eitelfeit und die 
Begierde, in einer höhern Sphäre zu glänzen, ftürzten ihn 
vollends ind Verderben. Ex gerieth in die äußerjte Dürftigkeit 
und e3 blieb ihm zuleßt nicht3 weiter übrig, als ein Bett und 
ein Hemd. Mit dem Erdenleben war er überiworfen und fein 
Entſchluß war gefaßt, durch einen Selbjtmord aus der Welt zu 
fcheiden. Die Stiche, welche er ſich beibrachte, waren nicht tödt- 
lich, und nun wählte er den Hungertod. Mehrere Tage dauerte 
diefer ſchreckliche Verfuh, als fein Unternehmen ruchbar wurde. 
Mendelsfohn erfuhr e3, juchte ihn auf und fand außer einem 
Safe Waſſer auch nicht das mindelte vor, ihn felbft aber in 
einem fo gefchwächten Zuftande, daß er faum die Hoffnung hegen 
konnte, eine Antwort von ihm zu erhalten. Er gab fich für 
einen polnifchen Arzt aus, der zur Ausübung feiner Kunft nad) 
Berlin gekommen fei; allein der Kranfe wollte weder von einem 
Arzte noch von irgend einer Hülfe etwas wilfen. Endlich er: 
rieth Drieß, wer der fremde Arzt jet, und fragte ihn: Sind 
Sie nicht Mendelsfohn? Dieſer bejahte es, indem er ihm die 
Hand reichte. Der Kranke wollte über philofophifche Gegen- 
ftände disputicen, fand fi) aber zu Schwach. Diefe Gelegenheit 
benugte Mendelsfohn, indem er ihm zuredete, fich erſt durch den 
Genuß von etwas Speije jo weit zu erholen, daß er anhaltend 
reden könnte. Er ſprach ihm Troſt zu: „Warum fürchten Sie 
Armut und Elend? Warum erröthen Sie, Wohlthaten anzu- 
nehmen? 3 hat Arme gegeben, deren Zuftand ich beneide. 
Der Stoifer Epiktet war der Sklave eines Barbaren; Sokrates 
war fo arm, daß er nur einen Mantel für fich und feine Frau 
hatte. Cimon, Ariftides, Epaminondas verbanden Armuth mit 


1) 1. Aufl. ©. 143. 


— 150° — 


den größten Tugenden. Anaragoras Hatte in feinem Alter feine 
andere Zuflucht, al3 den Tod zu erwarten, und, wie Sie, legte 
er fich Hin, zu fterben; in dieſem Zuſtande fand ihn Perikles, 
fein Schüler, der im Taumel der Staatsgefchäfte feines Lehrers 
vergefjen hatte. Perikles machte ihm fanfte Vorwürfe. Freund, 
fagte ihm Anaragoras, es ijt nicht hinreichend, eine Lampe zu 
haben, man muß auch Del hineingießen. Der Beherricher Athens 
veritand ihn, führte ihn mit ſich nach Haufe und forgte für feinen 
Unterhalt. Kommen Sie mit mir, lieber Drieß, ih will Ihnen 
noch nicht vathen zu leben; Yaflen Sie uns eine Zeit lang mit- 
einander wohnen und über Ihren Borfaß uns unterhalten; wenn 
Sie nad) Verlauf von einem Jahre noch bei Shrem Vorſatze 
verharren, jo führen Sie ihn aus.“ 

Mendelsjohns fanfte Beredfamfeit drang in das Innerſte 
der Seele feines Hörers; er nahm Abſchied von ihm mit dem 
Berjprechen, ihn recht bald wieder zu befuchen. 

Eine® Tages fam unvermuthet ein vornehm gefleideter 
Herr zu Mendelsfohn, um ihm anzuzeigen, daß ex beim Prinzen 
Heinrich al3 Vorleſer angejtellt feii. E3 war Drieß. „Sch bin 
der Elende,“ redete er ihn an, „den Sie einmal Ihres Be- 
fuches gewürdigt haben. Nennen Sie es Eitelfeit, wie Sie 
wollen; genug ich fühlte, daß ich für eine größere Sphäre be- 
jtimmt war. Nun bin ich glücklich!“ 

Wie bald aber erwachte der neue Glückliche aus feinem 
Traum! Er glaubte feinen Stolz beleidigt, bildete fich ein, man 
habe Komödie mit ihm gefpielt, verfiel in Raferei und wurde 
ins Irrenhaus gebracht, wo er mit dem Kopfe gegen die Mauer 
rannte und fo feinem Leben ein Ende machte. !) 

Nachdem Mendelsfohn das Unfittlihe des Selditmordes 
dargelegt, jchreitet er, feinem griechiichen Vorbilde folgend, zu 
dem Beweife für die Unfterblichkeit. 


1) Hennings, Eittlihe Gemälde; Allg. Ardhiv des Judenthums 
(Jedidja, n. F), 2. B., 53 ff.; Leſſings Schr. XIII, 508. 








Kr KA AECh 0r RL. 


a FF 











— 1531 — 


Fünfundzwanzigſtes Kapitel. 
Beweis für die Unſterblichkeit. 


Hätte ich nicht gerechte Hoffnung, ſpricht der dem Tode ent— 
gegenlächelnde Sofrates zu feinen ihn umjtehenden, in Traurig 
feit verfunfenen Schülern, da wohin ich fomme, auch ferner noch 
unter der Fürforge des allgütigen Gottes zu ftehen und mit den 
reinen Geijtern meiner mir vorangegangenen Freunde wieder 
vereint zu werden, fo wäre es freilich Thorheit, daS Leben fo 
wenig zu achten und dem Tode jo willig in die Arme zu rennen. 

Was ift denn der Tod? Gründlicher als Plato, nach dem 
der Tod eine Trennung der Seele von dem Leibe ift, definirt 
ihn Mendelsjohn al3 eine natürliche Veränderung des menſch— 
lichen Zuftandes. Zu einer jeden natürlichen Veränderung, argu— 
mentirt Mendelsfohn weiter, ganz im Sinne der Monadologie, 
wird dreierlei erfordert: der vorhergehende Zuftand des Dinges, 
da3 verändert werden, das aufhören, ein anderer, der an feine 
Stelle treten fol, und die zwifchen beiden Tiegenden Zuftände, 
welche der Natur von dem einen auf den andern gleichjam den 
Weg bahnen, die Uebergänge, damit die Veränderung nicht plöß- 
ih, ſondern allmählich gefchehe. 

Bei der tet wirffamen Thätigfeit der Naturfräfte Tann 
aber nichts Veränderliches auch nur einen Augenblid unver: 
ändert bleiben. Wie die Zeit immer forteilt, ohne zu ruhen das 
Künftige zu dem Bergangenen fendet, fo verwandelt fich alles 
Beränderlihe. In dem Naturprocefje giebt es weder Stillitand 
noh Sprünge; er bildet eine bejtändige und ununterbrochene, 
alfo jtetige oder continuirliche Veränderung; in einer ftetigen 
ununterbrochenen Reihe folgen die Augenblide der Zeit. Es 
giebt daher ebenfo wenig zwei Zuftände, zwifchen denen nicht 
noch ein dritter anzutreffen wäre, wie es zwei Augenblicke giebt, 
die fi) einander die nächſten wären. ') 


') Schr. II, 121 ff. 


— 152 — 


Leben und Tod find Glieder einer teten Reihe von Ver— 
änderungen, welche durch ftufenweife Uebergänge auf's genauejte 
mit einander verbunden find, allmähliche Auswidelungen und 
Einwidelungen ein und defjelben Dinges, das fi) in unzähligen 
Geſtalten einhüllet und entfleidet. „Sagen wir, die Seele ftirbt, 
fo müffen wir eins von beiden feßen: entweder alle ihre Kräfte 
und Vermögen, Wirkungen und Leiden hören plöglich auf, fie 
verſchwindet gleichfam in einem Nu; oder fie leidet wie der Leib 
allmähliche Verwandlungen, unzählige Umfleidungen, die in einer 
ftetigen Reihe fortgehen, und in dieſer Reihe giebt e3 eine. 
Epoche, wo fie feine menfchliche Seele, jondern etwas anderes 
geworden ift.“?) 

Die Seele kann alfo nur plöglich oder allmählich fterben. 
Plöglih kann fie nicht untergehen, denn die Natur kann feine 
Vernichtung hervorbringen; zwifchen Sein und Nichtjein ift eine 
entfeglihe Kluft, die von der allmählich wirkenden Natur der 
Dinge nicht überfprungen werden kann. Aber follte fie nicht 
von einer üibernatürlichen Macht, von der Gottheit felbft, ver- 
nichtet werden? ine unmittelbare Hand des Wunderthäters 
haben wir nicht zu fürchten, denn der gütige Schöpfer und Er- 
halter der Dinge kennt feine Vernichtung, die der Natur wider: 
Ipriht. Aber auch allmählich kann das Dafein der Seele nicht 
aufhören, da dieſes wieder eine ewige Vernichtung vorausſetzen 
würde. Untergehen kann alfo die Seele in Ewigfeit nicht, denn 
der letzte Schritt, man mag ihn noch fo weit hinausfchieben, 
wäre immer noch vom Dafein zum Nichts, ein Sprung, der 
weder in dem Weſen eines einzelnen Dinge, noch in dem 
ganzen Zufammenhange gegründet fein kann. Gie wird alfo 
ewig fortdauern, ewig vorhanden fein, wirken, leiden und Be- 
griffe haben, denn Empfinden, Denken und Wollen jind Die 
einzigen Wirkungen und Leiden, die dem denfenden Weſen zu= 
fommen fünnen; fie wird ewig fortleben und. nach ihrer wahren 





) Schr. II, 130. 


— 1593 — 


Gfückjeligfeit, nach Weisheit, Tugend, Schönheit, Harmonie und 
Bollfommenheit jtreben, um jo allmählich dem Urquell fich zu 
nähern. !) 

Diefer Beweis für die Unjterblichfeit der Seele iſt Har 
und überzeugend, weit überzeugender al3 die Argumente Platos, 
vom welchen das eine, die Hhpotheje einer Seelentwanderung, von 
Mendelsjohn ebenjo verworfen wird, wie die Annahme des 
Zeibnizifchen Auferftehungsglaubend. „Was fir Grund haben 
wir, die Erfahrung, daß wir hier in diefem Leben niemals ohne 
finnlide Eindrüde denken können, über die Grenzen diefes Lebens 
auszudehnen und der Natur jchlechterding® abzufprechen, die 
Seele ohne diefen gegliederten Leib denken zu laſſen?“2) 

Troß dieſes Beweifes fühlte Mendelsjohn ſelbſt, daß dem— 
felben zur völligen Deutlichfeit noch verfchiedenes fehle. 

In der That wirft er im zweiten Gefpräche, in dem er 
feinen griechifchen Führer verläßt, das Bedenken auf, ob denn 
unfer Vermögen zu empfinden und zu denfen ein bejonderes 
jelbjtitändiges Wefen und daſſelbe nicht vielmehr die Eigenjchaft 
eines Fünftlich gebildeten Körpers fe. Das leitet ihn auf den 
Beweis für die Harmonie und Ammaterialität der Seele, wel— 
chen er in einer unübertroffenen Vollkommenheit Liefert. Wie 
ſehr aud) Ordnung und Entwidelung der einzelnen Beltand- 
theile eines Dinges durch ihren Zufammenhang verändert wer- 
den mögen, fo muß doch immer eine Kraft im Ganzen beftehen, 
die nicht in der Wirkfamkfeit der einzelnen Theile ihren Grund 
hat. Nun ift aber zu der Auffafjung des zufammengefegten 
Ganzen eine VBergleihung erforderlich. Diefe Vergleichung und 
Gegeneinanderhaltung ift aber nichts anderes als eine Wirkung 
des Denkvermögens und wird außer bei dem. denfenden. Wejen 
nirgends in der Natur anzutreffen fein. Da alfo ein jedes 
Ganze, fährt Mendelsfohn fort, das aus Theilen befteht, ein 


1) Schr. II, 134. 
2) Schr. II, 134. 


— 14 — 


Bufammennehmen und Bergleichen der Theile zum Boraus jeßt, 
diefe Thätigfeit aber die Verrichtung eines Vorſtellungsver— 
mögens fein muß, fo kann der Urfprung diefes Vermögens felbit 
nicht in ein Ganzes gefegt werden, das aus folchen verfchiedenen 
Theilen beſteht. Es muß alfo in unferm Körper, fo fchließt 
die Beweisführung, wenigſtens eine Subſtanz vorhanden fein, 
die nicht ausgedehnt, nicht zufammengefegt, jondern einfach ift, 
Boritellungsfraft hat, und alle unfere Begriffe, Begierden und 
Neigungen in fich vereinigt; eine Mehrheit folcher immaterieller 
Subftanzen für einen und denjelben Leib vorauszufegen, würde 
zu den größten Widerfprüchen und Ungereimtheiten führen. !) 

Dieſer Beweis für die Unförperlichkeit und Einfachheit der 
Seele aus der Einheit der Vorftellung hat Mendelsjohn bereits 
im Sabre 1760 in der, den Materialismus d’Alembert3 be— 
fämpfenden Abhandlung „Von der Unkörperlichkeit der menfch- 
lichen Seele“, welche exit nach feinem Tode im Drud erichien,?) 
furz entworfen. Hat er nun aud die Grundidee, wie er im 
Anfange des „Phädon“ ſelbſt angiebt, dem Neuplatonifer Plotin 
entlehnt, jo ijt doch die in ihrer Art fcharffinnige Ausführung, 
die Sonderung der Neben- und Hauptgründe, die Fünjtlerifche 
Bertheilung von Licht und Schatten, fein Verdienſt. 

Nachdem Mendelsjohn nun bewiefen, daß die Seele ein 
einfaches, für fich bejtehendes, untheilbares, unförperliches, un— 
vergängliches Weſen fei, berührt er im dritten Geſpräche die 
Frage, ob diejes Weſen in einem wachenden, des Gegenmwärtigen 
und Bergangenen wohl bewußten Zuftande, in Ewigkeit fort- 
dauern, oder ob es mit dem Hintritte des Körpers in einen 
dem Sclafe ähnlichen Zuftand verfinfen würde, um niemals zu 
erwachen. Aus der Vorausfegung, daß alle ähnlichen Wefen 
auch ähnliche Beitimmungen haben, daß in dem großen Plane 


'), Schr. II, 150 ff, 159, 202. 

2) Die Abhandlung erjhien zuerft in Mendelsiohns Kl. philof. 
Schriften, herausgegeben von Müchler (Berlin 1789), ©. 171—230; ab: 
gedrudt Schr. II, 207—232. 


— 15° — 


der Schöpfung alles nad) den Regeln der allervollfommeniten 
Harmonie angeordnet ijt, wird die Folge gezogen: Geifter, 
denfende und wollende Wefen, durch urfprünglichen unvertilg- 
lichen Trieb auf unbegrenzte VBervollfommnung, ind Unendliche 
fortichreitende Annäherung an das Vollkommene der Gottheit 
gerichtet, Fünnen unmöglih nad) dem Plane des allgütigen 
Schöpfers in den Abgrund zurücgeftoßen, oder auf halbem Wege 
zurücgehalten werden. Das geiftige Wefen fährt in Cwigfeit 
fort, die Abfichten Gottes in der Stufenfolge zu erfüllen, Die 
ihr in dem allgemeinen Plane angewiejfen worden. Sonft wäre 
jeder Trieb nach Bervollfommnung und DBeredlung, den wir 
überall in der Natur wahrnehmen, ein Spiel der Phantafie; 
unſer Schidfal wäre ein graufames und Gott felbjt Tieblos und 
ungerecht. „Wenn fein zufünftiges Qeben zu Hoffen ift, fo iſt 
die Vorſehung gegen den Verfolger zu rechtfertigen als gegen 
den Berfolgten.” Wie in dem Bereiche der phyſiſchen Welt 
Stürme, Ueberfchwemmungen, Erdbeben u. |. w. zur Harmonie 
des Weltall3 beitragen, jo dienen in der fittlihen Welt, auf 
dem Gebiete des gejellfchaftlichen Lebens Leiden und Mängel 
zu Mitteln fortfchreitender Berbefjerung, zu Uebungen für Die 
Erlangung der Glückſeligkeit. Bernünftige nach Vollkommen— 
heit jtrebende Wejen find nicht zu einer zeitlichen Dauer ge= 
ichaffen. !) 

Will man noch weiter dringen und wiſſen, wo die abge- 
ichiedenen Geijter fich aufhalten, womit fie ſich befchäftigen, auf 
welche Art die Tugendhaften belohnt und die Lafterhaften zur 
befjern Erfenntniß gebracht werden, fo darf man im „Phädon“ 
nad) einer Antwort nicht fuchen. Hier endigt fein Beruf; die 
Bernunft tritt befcheiden mit dem Finger auf dem Munde zurüd; 
die Offenbarung ſelbſt kann uns hierüber feine Auskunft geben. 


1) Schr. II, 171 ff, 185 f; III, 268. 


— 156 — 


Anfangs April 1767 verließ der „Phädon“ die Preſſe. 
Bald nad) dem Erfcheinen Tieß der PVerfaffer durch einen 
Schaumburgifchen Juitizrath, der ihm einige Wochen früher die 
nad) dem Tode Abbt3 erjchienene Meberfegung des Sallujt im 
Auftrage des Grafen zu Schaumburg-Lippe geſchickt hatte, diefem 
Beſchützer und Verehrer feines ihm unvergeßlichen Freundes, 
dem der „Phädon“ gewidmet werden follte, ein Eremplar über- 
reichen. ') 

An Zufchriften und Bemerkungen über das Buch fehlte e3 
nit. Einer der erjten, der fich über daſſelbe vernehmen Tief, 
war Raphael Levi in Hannover, der treuefte Schüler Leibnizens. 
Er jtellte Mendelzjohn den Antrag, an Stelle Abbt3 einen 
Briefwechfel über die Beitimmung des Menfchen mit ihm zu 
unterhalten. Diefer war nicht abgeneigt, auf den Vorſchlag ein- 
zugehen, nur fürchtete er, fie würden zu bald eins werden, „denn 
unferer beider Philoſophie ift auf einem Leiften gefchlagen“. Wie 
fi) aus feinem- Briefe an Raphael ergiebt, beabfichtigte Men— 
delsfohn, eine Abhandlung über die Unfterblichfeit der Seele 
auch in hebräifcher Sprache zu jchreiben. „Ueberjegen läßt fich 
der „Phädon“ nicht; wenigjtend würde er im Hebräifchen auf- 
hören verftändlich zu fein; deswegen möchte ich gern eine andere 
Einfleidung wählen, in welcher ich die Sachen unjeren Glaubens— 
genofjen verjtändlich machen könnte.“ 2) 

Er machte in der That einen Auszug aus dem „Phädon“ 
und jchrieb eine Abhandlung „Ueber das Commerz zwijchen 
Seele und Körper“, beides in hebräifcher Sprache, für Die- 
jenigen, welche des Deutjchen unfundig find. Dieſe Abhand- 
lungen, welche ſich unter Mendelsſohns Papieren vorfanden, 


) Schr. V, 442 ff. 

2) Schr. V, 449. Wie Auerbach, Mojes Mendelsjohn und das 
Sudenthum, a. a. D., ©. 8 richtig vermuthet, war diefer Brief M.s 
„an einen Unbekannten‘ an Raphael Levi gerichtet. 


— 157 — 


wurden 1787 von David Friedländer veröffentlicht;t) die eine 
derjelben überfegte ein H. $.,2) die andere Sal. Anfchel, „Can— 
didat der Philofophie auf der Univerfität zu Bonn“ ins Deutiche.?) 


Schsundzwanzigftes Kapitel. 
Wirkung. 


In einer Zeit, da Freidenfer wie Qamettrie, Helvetius, 
Holbah u. a. mit ihrer materialiftifchen Lehre Staat und Re— 
ligion bedrohten und alles Geiftige, befonders die Unjterblichkeit 
der Seele für Wahn erklärten, erſchien der Mendelsfohnfche 
„Phädon“ al3 ein wahrer Glaubenshort. Die Wirkung, welche 
er hatte, war eine außerordentliche; er wurde als ein epoche- 
machendes Werk gefeiert und ficherte feinem Verfaſſer einen Platz 
unter den deutfchen Claſſikern. Es war des Lobes für den 
bejcheidenen Mann fajt zu viel! So fagt er im Anhange zur 
zweiten Auflage: „Sch habe mich über feinen unbilligen Tadel 
zu befchweren, vielleicht eher iiber unbilliges Lob, davon mich 
die Selbſtkenntniß verfichert, daß es übertrieben iſt.““) 

Aus allen Gegenden liefen Zufchriften ein, in welchen das 
Bud gerühmt und der Verfaffer um weitere Erläuterungen an— 
gegangen wurde. Philipp Hensler, der fpäter Dänifcher Leib- 
arzt und Profeſſor in Kiel war, wandte fi an Nicolai mit der 


1) wa d, Berlin 1787, Brünn 1798; unter dem Titel v337 ans mai 
mit Widerlegungen und Bemerkungen über Prophetie, Vergeltung 
u. f. w., von M. Fürth, Deffau 1811. 

2) M. Mendelsfohns furze Abhandlung über die Unfterblichfeit 
der Seele, aus dem Ebräifchen. Berlin 1787; Brünn 1798; Gef. 
Schriften Mendelsjohns (Wien 1838) 364—373. 

3) Diefe Weberfegung wieder abgedrudt in den Geſ. Schriften 
(Wien 1838) 350—363. Beide Abhandlungen fehlen in den Gef. Schrif: 
ten (Leipzig). 

4) Schr. II, 191. 


— 158 — 


Bitte, einen neuen Beweis für die Unfterblichfeit von dem 
Dänifchen General, Grafen von ©., Mendelsfohn zur Beurthei- 
fung vorzulegen.) Der Herr von Platen auf Rügen, ein 
philofophirender Landedelmann, fnüpfte mit ihm über den „Phä- 
don“ eine Correfpondenz an; „denn in einem fo ſehr gepriefenen 
Buche will man gern alles verjtehen“. 2) 

Eines folchen Erfolges Hatten ſich wenige Schriften ähn- 
fihen Inhalts zu erfreuen gehabt. In den erjten drei Jahren 
nach) dem Erjcheinen wurden drei neue Auflagen davon ver: 
anftaltet — in Wien Hatte man das Buch confiscirts) — und 
zwanzig Jahre nad) dem Erfcheinen Hatte der „Phädon“ durd) 
die verfchiedenen Weberfegungen einen europäifchen Charafter 
und eine europäifche Wirffamfeit gewonnen: er wurde nicht 
allein Eigenthum der deutichen Nation, ſondern Franzojen und 
Engländer, Holländer und Staliener fprachen mit gleicher Be— 
wunderung von diefem Dialog und feinem Berfaffer. 

Der „Phädon“, welcher, außer in verfchiedenen Ausgaben 
der „Geſammelten Schriften“, funfzehn mal befonders erfchien, *) 
wurde 1769 ins Holländifche, durch den franzöfifchen Prediger 
U. Burja in Berlin 1772 und durch den Brofefjor Junker in 
Paris 1778 ins Franzöfische, durch Carlo Ferdinandi 1773 ins 
Stalienifche überfegt. J. U. Heiberg in Kopenhagen, der Bater 
des Etatsraths und Dichters, der Napoleon als Secretär nad) 
Deutichland begleitete, überjegte den „Phäadon“ 1779 ins Dä- 

') Schr. V. 449 ff. 

2) Schr. V, 460-484. 

s) Lefſings Schr. XII, 233; XIII, 185, 190. 

4) „Phädon“ oder ‚Ueber die Unfterblichfeit der Seele’, in 3 Ge— 
fpräden. Berlin 1767; 2. Aufl. ibid. 1768; 3. verb. Aufl. mit einem 
Anhange vom Berf., ibid. 1769; 4. Aufl. ibid. 1776; 5. Aufl. heraus: 
gegeben und eingeleitet von David Friedländer, ibid. 1814; 6. Aufl. 
ibid. 1821; 7. Aufl. ibid. 1856. Sonft erſchienen: Frankfurt 1776, 
Karlsruhe 1780, Reutlingen 1784, Aachen 1815; Bibliothek der deutjchen 
Nationallitertur des 18. und 19. Jahrhunderts. 28. Band mit Ein: 


leitung und Anmerf. von Arnold Bodek, Leipzig 1869; Univerjalbiblio- 
thef, 335. Bändchen. 


— 159 — 


niihe. Jeſaia Beer-Bing, ein junger jüdischer Schriftjteller aus 
dem Elſaß, veranitaltete 1787 eine hebräifche Ueberfegung, 
welhe N. H. Wefjely mit einer Vorrede verfah; fie erfchien 
1789 in neuer Auflage und wurde 1862 und fpäter nachge- | 
drudt. 1798 übertrug ihn Eullen ins Englifche und 1793 ein 
Patriot ins Ungarifche; diefer widmete feine Arbeit dem Grafen 
Telefi de Szefi, k. k. Kämmerer und Obergefpan des Ugotfer 
Comitat3; eine neue ungarifche Ueberſetzung lieferte 1884 Re- 
gina Glüf, eine Jüdin. Der „Phädon“ wurde durch Jakob 
Tugendhold 1843 ins Bolnifche, 1837 und dann 1854 (Tiflis) 
durch Mysnikow ins Auffiihe und 1866 durch Johann Hadjits, 
der al3 der größte Legislator Serbiens gilt und unter dem 
Namen Zohann Spetit3 mehrere ethifche und äfthetifche Schriften 
verfaßt Hat, ind Serbiſche überfeßt.!) 

Was ihm aber bei Gelehrten und Ungelehrten eine folche 


N Die Titel der Ueberfegungen lauten: 

Phedon of over de Onsterflykheid der Ziele, in drie t’zamen- 
spraaken, door Moses Mendelzoon, naar den tweeden verbeterden 
Druk, uit het hoogduitsch vertaald in’s Graavenhaage, Pieter van 
Cleef, 1769. 

Don Mendelsfohn ungünftig beurtheilt in Allg. D. Bibliothek, Bd. 
14, St. 1. 1771 (Schr. IV, 2, 559), vol. V, 508. 

Phedon, ou. Dialogues socratiques sur l’immortalit& de l’ame. 
Ecrit en Allemand par M. Moise, Fils de Mendel, et traduit par 
Mr. A. Burja à Berlin. En comm. chez Haude et Spener, 1772. 

Phödon, ou Entretiens sur la spiritualit et ’immortalitö de 
l’ame, par M. Moise Mendelssohn. Traduit de l’allemand par Mr. 
Junker. Paris 1778. 

Fedone. O dell’ immortalitä dell’ anima. In tre dialoghi di 
Moise Mendelssohn. Tradotto dal tedesco in italiano, da Carlo 
Ferdinandi. Coira, pr. Giacomo Otto, 1773. 

Diefe UWeberjegung ſchien Mendelsjohn „ſehr jchulmeifterhaft, 
etwa das Erereitium eines Sprachmeijterö, der, jeine Lehrlinge im 
Ueberſetzen zu üben, eine deutjche Schrift gewählt hat, welche weder er 
noch jeine Lehrlinge recht verftehen‘. Schr. V, 684. 

Pheedon, Mer om Szieleus Udödelighed i tre Samtaler af Mojes 
Mendelsfohn. Dverjat af det Tydske. Kjöbenhavn p. Chrift. Gottlob 
Proſts, 1779. 


— 160 — 


Anerkennung verfchaffte, war nicht nur die Fapßlichkeit, mit welcher 
hier ein die gefammte Menfchheit interefjirendes Problem feiner 
Löfung näher geführt wurde, nicht die Tiefe und Erhabenheit 
der entwickelten Ideen, fondern ganz beſonders die vollendete 
Form des Stil. Man fand hier eine Eleganz und Klarheit, 
eine Reinheit und Zrefflichfeit des Ausdruds, eine Leichtigkeit 
und fpielende Anmut in der Behandlungsweije, von der man 
in Deutfchland bis dahin faum eine Ahnung hatte. Hohe Mufter 
hatte Mendelsfohn fich gejtellt, Plato und Shaftesbury; !) er 
hat fie erreicht. Seine Profa fließt fo fanft, in fo jtiller Maje- 
jtät, daß wer das Handwerk nicht verjteht, glauben könnte, der 
Ausdruck habe ihm gar nicht? gefojtet. Dieſe mufterhafte Dar- 
jtelung, verbunden mit der aus dem tiefjten Innern hervor— 
ftrömenden Wärme der Ueberzeugung und dem edlen religiöfen 
Gefühl, das war e8, was diefem Werke einen fo unwiderfteh- 
lichen Reiz verlieh und Eingang in die Gemüther verfchaffte. 
„Sofrates führte die Weltweisheit unter die Menfchen, Mofes ift 
der philofophiihe Schriftjteller unferer Nation, der fie mit der 
Schönheit des Stils vermählt. Ja er iſt's, der feine Welt- 
weisheit in ein Licht der Deutlichkeit zu ftellen weiß, al3 hätte 
e3 die Mufe felbjt gejagt!” ruft der junge Herder aus,2) dem 

Eine größere Recenſion diejer Meberjegung erſchien in Kjoben— 
havnske Nue Efterretninger for A. 1779, Nr. 31 p. 481 ff. 

ya 5’ 1 AMSER NBER 1D7y7T . ... WBST MINEN "DD NM INTyB. 

Berlin 1787; 2. Aufl. Brünn 1798; Lyk 1862; Zohannisberg, o. 3. 

Phaedon, or the death of Socrates. London 1789. 

Fedon, vagy a lelek halhatatlansägär6l. Härom beszel- 
getösben, irta n&emet nyelven Mendelsohn Moses. Magyarra fordit- 
tatott egy hazafı Altal. Pesten 179. 

Phödon, vagy a lelek halhatatlansägäröl. Irta Mendelssohn 
M. Forditotta Farkas Glück Regina. Debreczen, Jfj. Csäthy 
Käroly 188t. 

Deron o 6ecmprHuoctn Ayme Hanmcao Penukc Mennencon npeBeo 
Josan Xaun&-Cverut. Y Hosom Caay, Illramnapnja Hrwara Dyeca. 

1) Schr. IV, 2, 116; V, 260. 

2) Herder, Fragmente über die neuere deutjche Literatur (1767), 
I, 154. 


— 161 — 


der „Phädon“ dadurch noch theurer wurde, daß feine Braut fo 
felige Stunden bei der Lektüre diefes Buches verbrachte; . der 
„Phädon“ xuhte in ihren Händen, als der von Liebe entbrannte 
Prediger die füß ſchwärmende Karoline Flachsland zum erſten 
male erblickte.!) 

Man könnte eine ganze Blumenlefe von Ausfprüchen zu- 
fammenftellen, in welchen diefe berühmte Schrift verherrlicht 
wird. „Ihr Philoſoph,“ Schreibt Windelmann aus Nom, „der 
Phädon von Moſes Mendelsfohn, iſt eins von den beten Büchern, 
welche ich gelefen habe; jchade, daß es ein Deutjcher ift, würde 
der Potsdamifche Held fagen.‘?) 

Der talentvolle, früh verjtorbene Meinhard, der Freund 
Leffings, las den „Phädon“ fait noch in der Todesjtunde. ?) 

Auguft von Platen fannte feinen höhern Genuß, als ſich 
mit diefem Buche zu bejchäftigen. „Mendelsfohns Phädon be- 
geiftert mich!“ Heißt es in feinem Tagebuche.%) „Mit welcher 
fteigenden Eloquenz wird man da von Beweis zu Beweis ge- 
tragen!“ 

Die erſte philofophifche Schrift, welche der junge Göthe 
las, ja ftudirte, war Mendelsfohns „Phädon“; er gab fich die 
Mühe, ihn mit dem platonifchen zu vergleichen und diefen 
Jugendverſuch in fein, „Ephemerides“ überjchriebenes Tagebud) 
zu verzeichnen. >) 

Das Lieblingsbud) der, dur den Terrorismus ihrer 


) Herders Lebensbild (Erlangen 1846), III, 50. 

2) Windelmanns Werfe (Berlin 1824), X, 205. Windelmann hat 
an Mendelsjohn als an einen von ihm hochgeſchätzten Mann einmal 
geſchrieben, aber feine Antwort erhalten (X, 360); der Brief ift wahr: 
fcheinlich verloren gegangen. 

3) Riedel, Denkmal des Herrn Koh. Nicol. Meinhard (Jena 
1768), 64. 

9 Platens Tagebud) (Stuttgart 1860), 165. 

5) Schöll, Briefe und Auffäge von Göthe aus den Jahren 1766 
bis 1786 (Weimar 1846), 89 ff. Schöll theilt die dürftige Vergleichung 
vollftändig mit. 

Kayſerling, Moſes Mendelsjohn. 11 


— 12 — 


theuerften Verwandten beraubten Marquife de Beaumont, das 
fie immer und immer wieder las und aus dem fie Troſt und 
Ueberzeugung fchöpfte, war der „Phädon“ von Mendelsfohn. ') 

Der Mendelsfohnihe „Phädon“ Hat ſich lange behauptet; 
er war der Zeit bequemer und zugänglicher al3 der Platonifche; 
e3 fchien al3 wenn ihn fein „Antiphädon“, feine „Kritif der 
reinen Vernunft“ follte verdrängen können, denn er hat in feinem 
Inhalte einen unfichtbaren Bundesgenofjen, der für ihn jtreitet 
und fiegt. Der Gefchmad hat fich mit der Zeit geändert. So 
wie von Plato bis Mendelsfohn, jo aud) von Mendelsfohn bis 
heute hat die Wiſſenſchaft neue Gefichtspunfte gewonnen, neue 
Probleme gefunden, neue Gründe und Gegengründe aufgejtellt; 
nicht die Gewißheit oder Ungewißheit der Antwort, fondern die 
Bejtimmtheit der Frage hat fi) mannichfach geändert. Aber 
jo lange, wie der Platonifche „Phädon“ eine Duelle der Be- 
lehrung und Erholung für denjenigen fein wird, der an großen 
und hohen Gedanken feine Seele bilden und fein Gemüth ver- 
edeln will, jo lange, meint der Verfaſſer des „Lebens der 
Seele“,) wird auch das Mendelsjohniche Werk den gleichen 
Werth und die gleiche Kraft befigen. 

Durch den „Phädon“ war Mendelsfohn eine deutiche Cele— 
brität geworden; als Denker, als ein Schriftjteller, der die ge- 
läutertite Philofophie auf alles anzuwenden wußte, war fein 
Ruhm über ganz Deutjchland und weit über die Grenzen 
Deutichlands verbreitet. 

Jeder rechnete e8 ſich zur Ehre, den deutſchen Plato, wie 
Mendelsfohn vorzugsweile genannt wurde, zu fprechen oder 
mit ihm in Correfpondenz zu jtehen. Aus nah und fern wandte 
man fi) an ihn, bedeutende Berfönlichkeiten traten zu ihm in 
nähere Beziehung und fchloffen ſich ihm an. 





) Allg. Zeitung des Judenthums, 1883, ©. 730. 
2) M. Lazarus, Literaturbl. zum deutichen Kunftblatt, 1857, Nr. 3, 
wieder abgedrudt: Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch 101 ff. 


Siebentes Bud). 
Beitgenoffen, 


Siebenundzwanzigites Kapitel. 
Mendelsjohn und Hamann. 


Sohann Georg Hamann in Königsberg gehört zu den 
früheiten Bekannten Mendelsſohns. 

Sein erſtes Zufammentreffen mit diefem ihm an Alter faſt 
gleichen, in Charakter und Geiftesrichtung grundverfchiedenen 
Manne fällt Schon ins Jahr 1756. Mit einem Juden, „einem 
umgänglichen und gejelligen jungen Menfchen, der in Halber- 
ſtadt zu Haufe gehörte, jtudirt hatte und auf Handel ausging“, 
reifte Hamann von Danzig aus im October 1756 nad) Berlin, 
„wo er außer Sulzer, NRamler, Merian und PBremontval den 
Juden Mofes nebjt einem andern feines Glaubens und feiner 
Fähigkeit oder Nacheiferung, vielleicht Doctor Gumpertz, fennen 
lernte.) 

Während des folgenden Jahres hat Hamann gewiß nur 
jelten des Berliner jüdischen Philofophen gedacht. Er, der Zeit 
feine3 Lebens nicht aus Nahrungsforgen herausfam, wurde 
ganz befonders in dieſem Sahre von dem Scidjale fürmlich 
gepeiticht; ex trieb fi) in London herum: „er fraß umfonjt, ex 


1) Hamanns Schriften, herausgegeben von Roth, I, 191. 
11* 


— 164 — 


foff umfonft, ex buhlte umfonjt, er rann umfonft, Völlerei und 
Nachdenken, Lehre und Büberei, Fleiß und üppiger Müffiggang 
wurden umfonjt abgewechjelt“.) In feinem Freunde erkannte 
er, nachdem die ihm anvertrauten Briefe heimlich von ihm er- 
brochen und gelefen worden waren, den fchändlichiten Verbrecher, 
und nachdem er Hundertundfunfzig Pfund Sterling durchgebracht, 
„grundtief in die Kloafe des Londoner Lebens gejchaut Hatte‘, 
ſchlug er plöglih zum Bibellefen und Beten um: er wurde 
fromm, ein eifriger Bietift. 

In feine Baterjtadt zuriüdgefehrt, warf er fich auf die 
Schriftitellerei. Seine „Sokratiſchen Denkwürdigfeiten‘ find das 
erjte Produkt, durch welches er gewiffermaßen die Aufmerffamfeit 
feiner Beitgenofjen rege machte und auch wieder in Beziehung 
zu Mendelsjohn trat. 

Die „Literaturbriefe” hatten ihm die Ehre erwieſen, die 
„Denktwürdigfeiten” zu beiprechen. Mendelsſohns fcharfer Blid 
erkannte in Hamanns Schreibart viele Nehnlichkeit mit der Windel- 
mannfchen: „denfelben fernigen aber dunklen Stil, denjelben feinen 
und edlen Spott, diefelbe vertraute Befanntfchaft mit dem Geifte 
des Mlterthums.“?) 

Die ſtrenge Kritif, welche Mendelsfohn an Rouffeaus 
„Reue Heloife” geübt Hatte, veranlaßten Hamann, an den 
„äſthetiſchen Moſes“ ein, Abälard Birbius unterzeichnetes öffent- 
liches Sendfchreiben zu richten. Der angegriffene Kritiker blieb 
die Antwort nicht chuldig: unter dem Namen Fulbert Kulmius 
erwiderte er ihm in feinem Tone und gab dadurch den Literatur- 
briefen „neue Munterfeit“.3) Die liebenswürdige Art, mit welcher 
er Hamann begegnete, bewog diefen, mit ihm in Correfpondenz 
zu treten. Am 11. Februar 1762 fchrieb er ihm: „Sie haben 
recht, mein lieber Mendelsjohn, dag Sie mich für Ihren Freund 
anjehen und der Ahndung des Herzens mehr als dem Blend- 

!) Hamanns Schriften, 1, 204. 


2) Schr. IV, 2, 99—108. 
3) Schr. IV, 2, 31233. 


— 165 — 


werte des Witzes trauen,“ und gab ihm gleichzeitig die Ver— 
fiherung, daß er ihn „bei der erjten Stunde ihrer zufälligen 
Bekanntſchaft mit einem entfcheidenden Gefchmade geliebt habe.“ ?) 

Doch wie erwiderte Mendelsfohn dieſes Geftändniß der 
Liebe und Freundfchaft? Gleich in der Ueberfchrift des Ant- 
wortfchreibens rief er ihm die fchönen Worte aus Molieres 
Mifanthrope zu: 

„Moi, votre ami? Rayez cela de vos papiers!“ 

„Unfer öffentlicher ſowol als BPrivatcharafter zeigt an— 
geborene Gramſchaft. Schriftiteller und Kunftrichter, Abälard 
und Fulbert, Hamann und ein hartnädiger Mardochai 

‘Rs oöx Earl ALovaı zul Avdoaow doxıa nord. 

Die güldenen Tage find meines Glaubens noch nicht da, 
von welchen e3 Heißt: E3 weilt der Wolf neben dem Lamme 
und der Panther lagert neben dem Bode.‘?) 

In diefem Briefe, in welchem ihm Mendelsfohn die Freund- 
ihaft von vornherein Fündigt und welchen Hamann für die 
treffendfte Antwort halten konnte, fordert der für die Literatur- 
briefe werbende Mendelsfohn ihn zugleih auf, Dienſte zu 
nehmen, d. 5. Mitarbeiter zu werden; er ging jedoch auf die 
Einladung nicht ein. Das einladende Schreiben mag ihn ab- 
geſchreckt Haben. 3) 

Somit hörte die orrefpondenz zwiſchen beiden bald 
wieder auf. Nichtsdeftowweniger nahm Hamann an allem Yeb- 
haften Antheil, was den Berliner Freund betraf. Als Die 
Stunde gefommen war, welche er ihm längſt angekündigt hatte, 
und er fi) mit feiner Fromet verheirathete, gratulirte er ihm in 
der herzlichiten Weife. „Sch Habe meine vermifchten Empfin- 
dungen über die Bermählung des Herrn Mofes nicht befjer 
auszudrüden gewußt,“ heißt es in einem feiner Briefe an einen 
Unbefannten, „als durch eine fchwärmerifche Parenthefe, und 

) Schr. V, 427 ff. 

2) Schr. V, 429. 

3) Schr. V, 433. 


— 166 — 


wünſche demfelben im Namen einer herzlichen und vedlichen 
Freundichaft bei feiner gegenwärtigen Berfaffung fo viel Zus 
friedenheit, daß aller Zorn der neun unbarmherzigen Schweitern, 
die man Mufen nennt, dadurch vereitelt werden möge.“?) 

Seine grenzenlofe Eitelkeit brachte ihn jedoch wenige 
Wochen ſpäter gegen den redlichen Freund wieder auf. Hamann, 
welcher, um mit Gervinus?) zu reden, ſich durch die un— 
wirdigiten Kleinigkeiten des Privatlebens zu Hundert Flug 
blättern zexjtreuen und zerfplittern ließ, und durch verwirrte 
Reminiscenzen aus einer confufen Belefenheit zu jenem fpringen- 
den Stil in feinen Fragmentchen verführt wurde, den er felbjt 
feinen Heufchredenftil taufte, war felbjt gegen feine Freunde 
grob, nedijch-tyrannifch und, erhielt er nicht die verlangte Ehre 
und Schmeichelei, auf3 höchjte gereizt. Man denke ſich Hamanns 
Wuth, daß Mendelsfohn e3 gewagt Hatte, wenige Wochen nad) 
Empfang des Gratulationsschreibens, das „Geſuchte und Ge— 
fünftelte, das Räthjelhafte und Geheimnißvolle feiner Schreibart“ 
zu tadeln, daß der ehrliche Jude ihn für einen Schriftiteller 
erklärte, der „vermöge feiner Eigenschaften einer der beſten hätte 
werden fönnen, durch die Begierde aber, ein Original zu fein, 
verführt, einer der tadelhaftejten geworden fei.“‘3) Durch den 
ihm von Mendelsfohn ertheilten Rath, Harer und deutlicher zu 
Ichreiben, fühlte er ſich aufs tiefite verlet und brach alle Ver— 
bindung mit ihm ab. 

An feinen „älthetiichen Moſes“ wurde er erjt durch den 
„Phädon“ wieder erinnert. Er las ihn und meinte, „daß Die 
Borrede Schöner gefchrieben als gedacht ei“, ja er zweifelte in 
einem Briefe an Herder, daß der „Phädon“ in der trefflichen 
Geſtalt verbefjert werden könne. ?) 


. ') Gildemeifter, Hamanns Leben und Schriften (Gotha 1857), 
‚372. 
2) Gervinus, Gejchichte der poetifhen Nationalliteratur der 
Deutjchen, IV, 437. 
3) Schr. IV, 2, 403 ff. 
4) Herder Lebensbild, I, 2, 243, 257. 


— 167 — 


Ob der launenhafte Hamann durch den „Phädon“ auch 
veranlaßt wurde, ſich des edlen Weifen, welcher ihm bei feiner 
zweiten Anmwefenheit in Berlin fo bereitwillig das Geld zur 
Fortfegung der Reife vorgefchoffen Hatte,!) wieder anzunehmen? 
Nicht gering mag Mendelsfohns Ueberraſchung gewejen fein, 
als er plöglic) im September 17702) einen Brief von ihm 
erhielt, der dazu noch in dem Tone der acdhtungsvolliten Ver: 
trautheit gefchrieben war: „Vergeben Sie es einem alten guten 
Freunde, der ſich ehemals um Ihre Buhljchaft befümmerte, daß 
er fi) nach fieben oder zehn Jahren ein wenig Ihrer Bater- 
Ichaft annehmen darf. Wenn Sie Ihre Kinder Tieb haben und 
für felbige noch die Plage der Blattern fürchten müfjen, fo 
tragen Sie feinen Augenblid Bedenken, fie dem gejchicdten und 
würdigen Manne, dem engliihen Arzte anzuvertrauen, den ich 
hierdurch zugleich Ihrer fympathetifchen, philofophifchen und äjt- 
hetifchen Denfungsart auf das nachdrüdlichjte empfehle. Geſetzt, 
daß Sie auch eben nicht neugierig wären, Liebjter Freund, ſich 
um meine gegenwärtige Berfaffung zu erfundigen, jo werden 
Sie es theils meinem Mangel an Welt, theild meiner Hypo— 
Hondrie zu gute halten, mich hierüber zu erklären.“ Er giebt 
ihm fleinliche Details über feine Befchäftigung, feine Häus- 
Tichfeit u. dgl. und fchließt mit den Worten: „Sch beforge nicht, 
liebfter Freund, daß Ahnen Ddiefer vertrauliche Ton efel und 
befchtwerlich fein werde. , Vergelten Sie mir bei einer müfjigen 
Stunde mit gleiher Münze und laſſen Sie mich auch etwas 
von Ihrer jegigen Lage wiſſen.“ 

Mendelsfohn antwortete nicht. Gerüchte über das Privat- 
leben Hamanns, über das Berhältniß, in welchem er zu 
feinem Bauernmädchen gejtanden, deſſen „vollblütige, blühende 
und etwas vierjchrötige, eigenfinnige, dumme Ehrlichkeit und 
Standhaftigfeit jo vielen Eindrud auf ihn gemacht hatte“, mögen 
ihn in feiner ftrengen Gittlichfeit davon abgehalten haben. 








) Hamanns Schriften, III, 300. 
2) Ebend. V,3 f. 


— 168 — 


Wie ſich der proteusartige Hamann in fpäteren Jahren 
gegen Mendelsfohn benommen, wird uns fpäter bejchäftigen; 
zunächſt wollen wir die freundfchaftlichen Beziehungen betrachten, 
welche zwijchen Herder, dem Landsmanne und Freunde Hamanng, 
und Mendelsjohn ſich bildeten. 


Ahtundzwanzigites Kapitel. 
Mendelsjohn und Herder. 


Mendelsſohns Klar eindringender Verſtand übte auf den 
noch jugendlichen Herder den lebhafteſten Eindrud; er jtand 
neben Leſſing als fcharfer Denker, gleichfam als Mufterbild 
vor der Seele des nach Tebendiger Durchbildung unermüdlich 
ringenden Jünglings. Schon früh betrachtete er ihn als den 
edlen Gehülfen des als Ideal von ihm verehrten Leifing; ex 
liebte Mendelsfohn, weil er der Freund Leſſings war; vor 
diefen beiden Männern hegte er die höchfte Verehrung, weil 
fie „hell an Geift und rein im Herzen“ die Wahrheit fuchten 
und wollten.) 

Durch die „Literaturbriefe‘, welche er für das beite 
deutfche Journal exklärte,?) war er mit dem faft funfzehn Jahre 
ältern Mendelsfohn zuerjt befannt geworden. „Bor allem 
bezeuge ich,“ heißt e8 in einem Briefe vom 19. Februar 1767 
an den gemeinfamen Freund Nicolai, „dem wiürdigen Berfafjer 
der „Literaturbriefe” an Abbts Seite meine Hochachtung: es ift 
Herr Moſes Mendelsfohn.‘3) 

Seine Zuneigung zu dem Berliner Weifen wuchs, nachdem 
er den, durch Nicolai ihm gefchidten „Phädon“,*) dieſes „Für 

1) Herder, Zerftreute Blätter, 407. 

2) Herders Lebensbild, I, 3, 2, 444. 


3) Ebend. I, 2, 223. 
‘) Ebend. I, 2, 258. 





— 169 — 


Menichheit, Gejellihaft, Staat und Philofophie fo wichtige 
Merk“, wie er es bezeichnet,!) mit Aufmerffamfeit gelefen Hatte. 
„Kein Menſch in der Welt kann Mofes’ Phädon mit näherm 
Anhalten, mit Herz und Seele gelefen haben als ich, ſelbſt 
Meinhard nicht. Mal nach mal, geſteht er Nicolai am 10. Januar 
1769, habe ich mir vorgenommen, an Herrn Mofes deshalb 
zu fchreiben, aber immer, da einer meiner Briefe verunglücte,?) 
die Feder weggenommen. Ich Habe einen Hauptzweifel, der 
mir außerordentlich wichtig fcheint, der ſich von den ältejten 
Zeiten unter mancherlei Gejtalten herab fortgepflanzt, der ſogar 
im AltertHume der Welt mehr Ohr gefunden hat, als jest, da 
ihn unfere Falte nach unferer Religion, in die wir von Jugend 
an, ohne zu wiſſen wie weit gefommen find, betäubet — be— 
täubet, aber vielleicht nicht widerlegt.“ Er hätte feine Zweifel 
längjt in einem PBrivatbriefe an Mendelsjohn vorgetragen; er 
wollte aber nicht den „Schatten von einem Zudringlichen borgen“, 
fondern lieber feine Bedenken in ein Sofratifches Gefpräch ein- 
fleiden und ihm im Manufeript einfenden. „Würde Herr Moſes,“ 
fragt er Nicolai, „wol nochmals ein Orakel werden, den Sofrates 
von den Todten erwecken wollen, um mich zu belehren?“ 3) 
Herder hielt treulih Wort. Im April 1769 richtete er 
einen Brivatbrief an den neuen Sofrates. Darin jtimmt er 
mit dem Verfaffer des „Phädon“ überein, daß die Seele als 
denfende Subſtanz unzerjtörbar iſt; unmöglih kann er aber 
annehmen, daß fie körperlos fortdauere. „Alles bleibt in der 
Natur was es iſt; meine menjchliche Subſtanz wird wieder ein 
menschliches Phänomenon, oder, wenn wir Platoniſch veden 
wollen, meine Seele baut fich wieder einen Körper.” Daß fort- 


) Herders Lebensbild II, 104. 

2) Herder hatte Mendelsſohn im Mai 1768 geſchrieben, der Brief 
ift jedoch verloren gegangen, vgl. Lebensbild I, 2, 317, 323; II, 1, 323. 

3) Ebend. I, 2, 409 f. 

4) Der Brief handfchriftlih in der MWeimarifchen Bibliothek, f. 
Haym, Herder nad) feinem Leben und feinen Werfen (Berlin, 1880) 1,296 f. 


— 170 — 


gehende Entwidelung unfere Beſtimmung fei, beweift nichts 
dawider, denn jede Kraft entwidelt ſich nur bis zu einer be— 
ftimmten Stufe und macht dann einer andern Platz. „Sch ehe,“ 
Schreibt Herder, „bei feinem Gefchöpfe ein Auffteigen, ich fehe 
ein Wechſeln, beit Ihnen fließt der Strom bergan.“ 

Mendelsfohn anmwortete am 2. Mai 1769 in einem langen 
Briefe, in dem er die Einwürfe Herders zu entkräften ſucht. 
Auch ex ift völlig überzeugt, daß fein Geift ganz ohne Körper 
fein fönne. Eine von aller Sinnlichkeit befreite Seele hält er 
mit ihm für eine bloße Chimäre. Das eine begriff er nicht, 
wie Herder der Satz befremden fonnte, daß die Ausbildung der 
Geelenfähigfeiten des Menjchen Beltimmung auf Erden fei. 
Zum Schluß bittet er, den „entfcheidenden Ton, den er zuweilen 
angenommen“, zu entjchuldigen; „er iſt das Salz des meta- 
phyſiſchen Disputs“. 1) 

Mendelsſohns Antwort hat den jungen Theologen, der in 
diefer Frage eine mittlere Stellung zwiſchen Materialismus und 
Spiritualismus einnimmt, nicht befriedigt; jie ift, wie er von 
Nantes aus einem Königsberger Freunde fchrieb, „einem Theile 
nad) unnüß, der andere zu jehr auf Stelzen eines Syſtems, auf 
das fich Herr Mofes oft zu gravitätiich ſtützt.“?) 

Die Eorrefpondenz hatte vorläufig ihr Ende erreicht, wie- 
wol Herderd Verehrung vor Mendelsfohn ſtets zunahm; er 
Ichäßte feine Aufrichtigfeit, „die fich in jedem Federzuge fchildert“, 
erachtete e8 für das höchſte Glüd, von einem ſolchen Manne 
perfönlich zu lernen und durch den lebendigen Umgang mit ihm 
gebildet und zum Streben aufgemuntert zu werden. Daß e3 zu 
feinem innigern Berhältniffe für jest fam, lag in Herders doppel- 
artiger Natur. Wie er in einem bejtändigen Schwanfen zwiſchen 
Hamann-Lavaterfchem Prophetentgum und Lefjingicher Geiftes- 
Harheit, zwifchen poetifcher Sinnigfeit und verjtändiger Kritik, 
zwiſchen äjthetifcher Vorliebe für die Offenbarungsreligion und 


1) Schr. V, 484 ff. 
2) Herders Lebenäbild, 11, 40, 54. 


— 11 — 


praftifcher Anerkennung des Humanitätsprincips fich befand, wie 
überhaupt der Dichter und Theologe in dem munderbariten 
Wechſel ſich bald befämpften, bald verjühnten, jo wandte er 
fi) bald dem einen, bald dem andern zu. Herder gehört zu 
den eigenthümlichen Naturen, deren Empfindungen in Haß oder 
Liebe beitehen. Er liebte Hamann und Lavater zu fehr, als 
daß er fi) Mendelsfohn näher hätte anfchließen können. 

E3 vergingen nun mehrere Jahre, ohne daß beide in 
nähere Beziehung zu einander traten. Die neue Ausgabe der 
„Philoſophiſchen Schriften” zog den jungen Geiftlichen, der nad) 
feiner Nüdfehr aus Franfreih als Negierungsrath und Hof- 
prediger an Abbt3 Stelle nach Büdeburg berufen war, ſehr an, 
und während der Krankheit, in welche Mendelsjohn verfiel, er— 
fundigte ex fich fehr theilnehmend nach feinem Befinden. „Wie 
geht es Herrn Moſes?“ fchreibt er im December 1771 an 
Nicolai, „und hat man nicht Hoffnung, daß er verjprochener- 
maßen feine Papiere fammeln und feine Schriften einmal bei 
befjerer Gefundheit fortfegen werde? Deutichland verliert immer 
im äfthetiihen und philofophifchen Fade an ihm den erjten 
Denter.“') 


Neunundzwanzigites Kapitel. 


Mendelsſohn und Gleim, Jacobi, Knebel und 
Weiße, Schiller und Göthe. 


Als eine der füßeften Belohnungen, welche Mendelsfohn 
für feine Bemühungen und Leiftungen in den Wiffenfchaften 
genoß, betrachtete er den Umgang mit den beiten Köpfen 
Deutichlandse. Jede neue Befanntichaft vermehrte fein Ver— 
gnügen und gewährte ihm neue Zufriedenheit.2) Und wer ihn 


1) Herders Lebensbild, III, 96. 
2) Schr. V, 440. 


— 172 — 


nur einmal geſprochen hatte, war entzüdt von feiner liebens— 
würdigen Gefelligfeit, ftaunte über die feine Urbanität, welche 
ihm eigen war, und ſchied mit der größten Hochachtung von ihm. 

Der biedere gutmüthige Gleim, früh mit Leffing befreundet, 
fuchte auch die Freundichaft Mendelsfohns zu gewinnen. 

Schon dur die „Briefe über die Empfindungen” und 
durch feine Beiträge in der „Bibliothef der fchönen Wiſſen— 
ſchaften“ war er einer feiner größten Verehrer geworden. ?) 
Gleim ſchickte Mendelsfohn die 1757 von ihm erichienenen 
„Lieder, Fabeln und Romanzen‘, welche diefer in der „Bibliothef‘ 
als muftergültig in der Erzählung preift.2) Im Jahre 1762 
machte er die perfönliche Befanntichaft des „Vaters Gleim‘, 3) 
und als diefer einige Jahre fpäter Yängere Leit in Berlin 
franf daniederlag, befuchte er ihn Häufig. ) Wie freute 
ſich Gleim, den „großen Mann Mendelsfohn” einen Abend 
bei ich zu Sehen! „Sch Hatte Mittwoch Abend den großen 
Mann Mendelsfohn bei mir,“ fchreibt er Knebel am 29. No— 
vember 1770 von Berlin aus; „ich wollte ihn nad) Haufe 
begleiten, fette mic) zu ihm in den Wagen, mein Bedienter 
wollte mitfahren, ich wollte ihm jagen, zu Haufe zu bleiben, 
und jtieß mit dem Kopf an das aufgezogene Fenfter, zer- 
brach es und machte mir dadurch eine Feine Wunde, fo 
ergiebig an Blut, daß ein Held, der die Hälfte davon für das 
Baterland vergofjen hätte, wahrlich ein großer Held geweſen 
wäre. Der arme Mendelsjohn Hatte davon einen großen 
Schreden.“5) Die Freundjchaft Gleims und des durch ihn ein- 
geführten Koh. ©. Jacobi, Bruders des Philofophen, war ans 


) Schr. V, 114. 

2) Schr. IV, 1, 350 ff. 

3) N. Berl. Monatsjchrift 1804, ©. 33. 

4) Abbts Correfpondenz 336. 

5) Knebels literariicher Nachlaß und Briefmechjel, herausgegeben 
von VBarnhagen v. Enje und Theodor Mundt (Berlin 1835), II, 59, 62; 
Leſſings Schr. XIII, 273. 


— 13 — 


fangs fo feurig, fo lebhaft, daß Mendelsſohn glaubte, fie könnten 
nicht vierundzwanzig Stunden ohne ihn vergnügt fein, und am 
Ende reiten fie ab, ohne es ihn auch nur wiſſen zu Yafjen. 
„Sch muß es in der That womit verdorben haben,“ heißt es 
in einem Briefe Mendelsſohns an Leſſing; „vielleicht, daß 
ich mid) der Sache der Kunftrichter zu ſehr annahm, denn dieſe 
find jet der Gegenjtand ihrer üblen Laune. Indeſſen Fannte 
ich diefe Leute allzu gut und fah bei der Lichtejten Flamme den 
Rauch mit ziemlicher Gewißheit vorher‘. ?) 

Durch Gleim wurde auch Knebel, Göthes intimer Freund, 
mit Mendelsfohn befannt; er bejuchte ihn häufiger und fand 
in ihm ſtets mehr „den würdigſten Weifen.‘?) 


Den Dichter Chriftian Felix Weiße lernte Mendelsfohn 
durch Leffing im Sabre 1757 kennen. Es entſpann fi aud) 
bald ein Briefwechfel zwifchen beiden, der uns nicht mehr er- 
halten ij. So viel geht aus den erhaltenen Bruchſtücken deut- 
Tich hervor, daß Mendelsjohn mit feiner gewohnten Dffenherzig- 
feit auch gegen ihn verfuhr und befonders feine iüberreiche 
Productivität Scharf tadelte; unter anderm fchreibt er ihm einmal: 
„Sie fcheinen mit gar zu großer Leichtigkeit zu dichten. Boileau 
hat den Racine gelehrt, fich die Verfe fauer werden zu lafjen. 
Sch wünſche Ihnen einen Boileau.‘3) 


AS Weiße 1769 zum erjten male Berlin und feinen 
dortigen Freund, den Probſt Teller, befuchte, fprach ex auch bei 
Mendelsfohn vor und war fehr erfreut, ihn einige Monate 
fpäter in Leipzig begrüßen zu fönnen. „Die größte Freude,‘ 
ichreibt er am 5. Mai 1769 an Herder, „hat mir der Beſuch 
des ehrlichen Moſes Mendelsfohn gemacht, der mic diefe Meile 
undermuthet überraschte.) Mendelsfohn verfehlte auch nicht, 


) Schr. V, 186. 

2) Knebels Nachlaß, IL, 26. 

3) Weißens GSelbftbiographie (Leipzig 1806), 49, 153, 168. 
4) Herders Lebensbild I, 3, 2, 531. 


— 114 — 


fo oft ex nad) Leipzig fam, den fleißigen Weiße ein Stünd— 
chen zu jtören. | 

Den Koryphäen Weimars, einem Schiller und Göthe, ftand 
Mendelsfohn fern. Schiller intereffirte er als Aejthetifer; feine 
äfthetifchen Schriften befanden fich in feiner Bibliothek und die 
in dieſelben niedergelegten neuen Ideen wurden von ihm benußt. 

Göthe ſchätzte Mendelsfohn al3 Haren eleganten Schrift: 
jteller, der bei jeinem Auftreten „allgemeine Theilnahme und Be— 
wunderung erregte”;1) er hob an ihm befonders das Bertrauen 
auf das eigene Wiffen, auf die Autodidaris, auf die Entfernung 
von der Schulphilofophie hervor, weil ex jelbjt jener Empirie 
anhing, die das Leben einfach anfchauen mochte und auf eigene 
Anſchauung eigene Philofophie gründete. Die Begeijterung, 
mit welcher Göthes „Werther“ in ganz Deutichland aufgenommen 
wurde, riß auch Mendelsfohn Hin; er las dieſes wunderbare 
Erzeugniß deutjcher Sprache und Poeſie gleich nad) dem Er— 
Icheinen mit innigem Bergnügen. Hören wir, was Augujt von 
Henning darüber berichtet. 

„In einem Sonntagmorgen des Jahres 1774 oder 1775 
befuchte id) Mendelsjohn in Berlin. Ich fand ihn bewegt. 
Haben Sie, fagte er mir, fchon unfern neuen Roman gelefen? 
(Damals waren Romane noch mehr als jebt etivag Neues.) 
Nein, ſagte ih. Nun fo waffnen Sie fi), fuhr er fort, mit 
Ueberlegung, wenn Sie ihn leſen, mich) hat er jehr angegriffen. 
Was wollen die Leute, die nichts als Glut erregen, und der 
erhitzten Phantafie feinen Führer laffen, um ficher hindurch zu 
fommen. Ich bat mir das Werk aus, es waren „Werther 
Leiden“, ich fing an zu Iefen. Wie? fagte ich und Tas weiter 
und hörte nicht auf zu leſen und las, big ich zu Ende war; 
das iſt ja die Gefchichte eines meiner vertrauteften Freunde, 
Käftner in Hannover, der als Legationg-Secretär bei der Revifion 
des Kammergerichts in Weßlar mir feine Liebe mit feiner Lotte 





) Göthes Werfe XXI, 76. 


— 15 — 


geichrieben und ihre häusliche Lage ganz jo geſchildert hat, als 
ich fie hier finde. Mir ift gejagt, erwiderte Mendelsjohn, daß 
es die Gefchichte des jungen Jerufalem ift, der fich in Regens— 
burg erjchoffen Hat, weil er, wie es hieß, in einer adelichen 
Geſellſchaft nicht zugelaffen werden konnte. Nein, es ijt Käjtner! 
rief ic) aus; ich will es Ihnen aus. feinen Briefen beweifen. 
Ich glaubte ihn in Hannover glücdlich verheirathet, und jet 
fehe ich, daß Lotte den Falten Albrecht nicht Tiebt, folglich er 
nicht glücklich fein könne.“!) 

Zu den Dichtern, welche Mendelsfohn perſönlich Fennen 
lernte, gehört außer Leifewiß, dem Verfaſſer des „Julius von 
Tarent”, den ihm Lefjing als einen „guten jungen Mann“ aufs 
wärmjte empfohlen,?) auch noch der Wiener Alringer. Diejer 
junge Poet befuchte ihn im Winter 1784 und richtete fpäter 
einige Briefe an ihn. Er gefiel ihm außerordentlich wohl. 
„Es iſt ein junger Mann von guter Gefinnung, der mehr ge— 
funden Berjtand hat, als er in feiner überjpannten Sprade 
der Empfindung zu haben fcheint. Wenn Zeit und Umgang 
feinen Enthuſiasmus hHerunterjtimmen werden, fo verjpricht er 
viel Gutes.‘ 3) 





Dreißigſtes Kapitel. 
Mendelsjohn und Wieland. 


Bu den Schriftitelleen, welche Wieland befonders ver— 
ehrte und mit welchen er in Berbindung zu treten jehnlichit 
wünſchte, gehörte, feiner eigenen Berficherung nach, außer Leffing 
und Gleim noch Moſes Mendelsfohn. Seine Verehrung für ihn 
grenzte faſt an Schwärmerei, obgleich Mendelsfohn „Johanna 
Gray“ in der „Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften“ fcharf 

) Hennings, Souvenirs de Berlin (Handidrifttl.). 


2) Schr. V, 196. 
3) Schr. V, 682, 683, 


— 1716 — 


getadelt und „Clementina von Porretta“, das „Ding, das Herr 
Wieland ein Trauerfpiel nennt“, in den „Literaturbriefen“ 
geradezu für ein verfehltes Product erklärt Hatte.!) Mit den 
bejjeren Schriften Wielands befchäftigte er jich gern und viel . 
und zollte ihnen auch bereitwillig feinen Beifall. Bon „Don 
Sylvio von Roſalva“ war er ganz entzüdt; nach feinem Dafür- 
halten machte diefer neue Don Quixote „Wielanden mehr Ehre, 
al3 fein ganzer Wuſt von Heldengedichten“.?) Noch mehr 
ergößte ihn feine ſtaats- und gefhichtsphilofophifche Erzählung 
„Der goldene Spiegel“. „Was für ein außerordentliher Mann 
iſt Shr Freund Wieland!” fchreibt er Zimmermann in Hannover 
den 25. Juni 1772: „feit vielen Jahren Hat mich fein Bud) 
fo ergößt, als der dritte Theil feines „Goldenen Spiegels“. 
Man jieht, der Mann darf nur wollen. Hier zeigen fich der 
Weltweife, der Verehrer der Gottheit, der Lehrer der Tugend 
und der unnachahmlichſte Schriftiteller in ihrem ftärkjten Lichte‘.?) 
Zimmermann madte aus diefem fchmeichelhaften Urtheile Wieland 
fein Hehl; wußte er doch, welche Freude er dem Freunde damit 
bereitete, denn nicht? war diefem angenehmer, al3 Mendelsjohn 
zu gefallen und von ihm gelobt zu werden. „E3 find mir 
wenige Geijter in Europa befannt,“ heißt es in feinem Briefe 
an Zimmermann, „deren Beifall für mich fo vielen Reiz haben 
fönnte, al3 des Heren Mendelsſohns, und wenn etwas wäre, 
das mich jtolz machen könnte, fo wäre e3 gewiß, von einem 
Mendelsfohn gelobt zu werden.) Aehnlich äußerte er fich 
gegen Riedel bald nach dem Exrfcheinen des „Agathon“: „Es joll 
mir genug fein prineipibus placuisse viris, und ich habe das 
Vergnügen, Ihnen zu jagen, daß Mendelsfohn unter diefen iſt“.*) 


1) Schr. IV, 1, 484 ff.; IV, 2, 141 ff. 

2) Schr. V, 343. 

3) Bei Bodemann, Koh. G. Zimmermann, ©. 286. 

4) Briefe von C. M. Wieland (Züri) 1825), 1I, 282, 286. 

5) Auswahl denfwürdiger Briefe von C. M. Wieland (Wien 1815), 
I, 178, 181. . 


— 17 — 


Und Mendelsjohn gehörte zu denen, die von „Agathon“ ganz 
entzüct waren. „Berfichern Sie die fchöne Metaphyfikerin (als 
welche die Piyche im „Agathon“ ihm erfchien) meiner aufrichtigen 
Hochachtung,“ Heißt es in einem Briefe an Jakob H. Obereit 
in Lindau, den Schügling Wielands; „Liebe würde ich fagen, 
wenn zwei Metaphyſiker fich Lieben könnten, bevor fie wiſſen, 
ob fie beide aus Einer Schule find.‘t) 

Gelbjtverjtändlih befand fi) unter denjenigen, welche 
Wieland zu Beiträgen für den von ihm in Verbindung mit 
Fr. H. Jacobi gegründeten „Deutfhen Merkur” aufforderte, 
auch Mendelsjohn. Um feiner Bitte noch befondern Nachdrud 
zu geben, richtete er an ihn folgendes Schreiben, das den 
beiten Beweis für die Freundfchaft Liefert, die er für ihn hegte. 
„Mich deucht,“ fo beginnt der Brief, „es würde mir um die 
Hälfte Leichter ankommen, an Moſes Mendelsfohn zu fchreiben, 
wenn wir einander nur eine Viertelſtunde gefehen hätten. Und 
gleichwol bin ich unzufrieden mit mir felbit, daß es mir ſchwerer 
werden fol, weil wir uns nie gefehen haben. Iſt es denn 
wahr, daß wir ung nie gejehen haben? Kennt nicht einer. 
des andern beiten Theil? it fein Verftändniß zwiſchen unferen 
Seelen? Keine Sympathie zwijchen unferen Herzen? Gehören 
wir nicht zu Einer Claſſe? Wo follte man Freunde auf diefem 
Erdenrund fuchen, wenn die von unferer Art es nicht wären? 
— Es iſt etwas in mir, das alle diefe Fragen beantwortet. 
Meine Schüchternheit ift fort. Ich beforge feinen Augenblid 
mehr, daß Sie, beiter Mofes, bei diefem Briefe nicht empfinden 
follten, was ich empfand, da ich ihn fchrieb. Ach grüße Sie 
mit dem heiligen Namen der Freundichaft; mein Herz jagt mir, 
daß ich die Ihrige, daß Sie die meinige verdienen. Und nun 
fage ich Ihnen nichts weiter über diefen Punkt. Sollten wir 
einander nicht fchon Lange fo gut Fennen, um ohne Dolmetjcher 
einer in de3 andern Seele zu leſen? Sch fende Ahnen die 


ı) Schr. V, 498. 
Kanferling, Moſes Mendelsſohn. 12 


— 1718 — 


Anzeige eines „Deutſchen Merkurs“, den ich unternommen habe... 
Sch wage e3 nicht, einen Moſes Mendelsfohn um Beförderung 
meine8 Vorhabens, noch weniger um Uebernahme eines fo 
mechanifchen Amtes, als das Amt eines Collector3 iſt, zu er- 
ſuchen. Er wird jenes ungebeten thun, und vielleicht auch dieſes 
feiner nicht unwiürdig halten, wenn er mein Vorhaben billigt. 
Aber wenn ic) Sie, mein vortreffliher Freund, erbitten könnte, 
nur dann und warn (denn ich kann nicht unbefcheiden fein) den 
„Deutſchen Merkur‘ mit Heinen Beiträgen zu bereichern! Wenige 
Blätter von Ihnen werden ihm einen jo viel größern Werth 
geben. Thun Sie e3, bejter Moſes, machen Sie mich jo glücklich, 
wenn e3 anders ohne Ihre Beichwerde gejchehen Fann.“ 

Die Theilnahme an dem „Merkur“ mußte Mendelssohn 
feiner Kränflichkeit wegen danfend ablehnen. 


Einunddreißigites Kapitel. 
Mendelsſohn und die ſchweizeriſchen Schriftiteller. 


„Sie fragen, welches denn die fchweizerifchen Schriftiteller 
find, die unter den Deutfchen zuerft angefangen, die Menfchen 
in der großen politifchen Geſellſchaft mit wahren philofophifchen 
Augen zu betrachten? Sch glaube Ihnen die Namen Sfelin und 
Zimmermann mehr al3 einmal genannt zu haben...... — 
So beginnt Mendelsſohn den 143. Literaturbrief, in dem er die 
1760 erſchienene verbeſſerte Auflage von Zimmermanns be— 
rühmter Schrift „Vom Nationalſtolz“ beurtheilt und dieſelbe „in 
ihrer neuen Geſtalt für eine der feinſten Ausarbeitungen hält, 
die wir im Deutſchen haben.“!) 

Zimmermann, der nad) Beendigung feiner medicinifchen 
Studien in feinem Geburtsorte Brugg, der aargauifchen „Pro— 


1) Schr. IV, 2, 224. 


— 19 — 


phetenjtadt“, als Stadtrath und Schriftiteller Tebte, bis er im 
Juli 1769 einem Rufe als k. großbritannifcher Hofrath und 
Leibarzt nad) Hannover folgte, hatte Mendelsjohn früh achten 
und ſchätzen gelernt; in feine „Hochachtung für diefen außer- 
ordentlic) großen, liebenswürdigen und tugendhaften Lehrer der 
Wahrheit und des Gejchmades miſchte ſich,“ wie es in feinem 
Briefe an Nicolai vom Juli 1765 heißt, „lo viel Zärtlichkeit, 
daß er ſogar mit danfvollem Herzen feine Ruthe küßte.“!) 

Bimmermanns „Bom Nationalftolz‘‘ wurde von Mendels- 
Tohn ſowol bei dem erjten Exrjcheinen im Jahre 1758 in der 
„Bibliothef der jchönen Wiffenfchaften“, als in der neuen Auf- 
lage in den „2Literaturbriefen” ſehr günftig beurtHeilt.2) Er 
hielt fie für eine Schrift, welche nicht nur mit Gejchmad, fondern 
auch mit Einficht, Freiheit und Beurtheilungskraft gefchrieben 
iſt und deren Verfaffer man wegen der männlichen Denkungsart 
die mangelhafte Diction leicht nachfehen kann. Gleiche populär: 
philofophifche Thätigfeit verband Mendelsfohn mit Zimmermann 
früh geijtig und ſpäter auch perfönlich. 

Iſaak Sfelin in Bafel, einer der edeliten Menfchen feines 
Sahrhunderts, den Mendelsjohn als talentvollen Schriftiteller 
innig verehrte und deſſen „PBhilofophifche und politifche Verſuche“ 
er in den „Literaturbriefen“ recenfirt hatte,?) knüpfte im Jahre 
1762 einen Briefwechfel mit ihm an. 

Mit Sal. Geßner und anderen Schweizern ftand er an 
der Spitze einer Gefellfchaft, welche das ideale Streben hatte, 
die „Slücjeligkeit der Menfchen und die derfelben geheiligte 
Wiſſenſchaft der Gefeßgebung und Moral“ zu befördern. Einer 
der eriten, auf die er, als gleiches philanthropifches Stre- 
ben verfolgend, fein Augenmerk richtete und zum Beitritt auf- 
forderte, war Mendelsfohn. So wenig der befcheidene Mann 
aud nad Ehre geizte, jo fühlte er fich doch durch diefe Aus- 


1) Bei Bodemann, a. a. D. 293. 
2) Schr. IV, 1, 439—457; IV, 2, 224—228. 
») Schr. IV, 2, 214 ff. 
12* 


— 180 — 


zeichnung nicht wenig gefchmeichel. „Das Glück, in meiner 
dunfeln Entfernung die Aufmerffamfeit eines Weltweifen, eines 
Tugendfreundes, einer Gefellfchaft mit ihm vereinigter Weltweifen 
erregt zu haben, ijt für mic) das Schmeichelhaftefte, das ich 
mir wünſchen konnte,“ heißt es in feiner Antwort an Sfelin 
vom 30. Mai 1762,1) „und ich weiß Ihnen für Ihre menfchen- 
freundliche Aufmunterung auf feine andere Weife zu danken, als 
durch die aufrichtige Verficherung, daß ich mich beftreben werde, 
das Zutrauen zu verdienen, welches Sie in meine Kräfte zu 
fegen fcheinen. Sch gejtehe es, theuerjter Menfchenfreund! ich 
befürchte, Sie machen ſich einen allzu vortheilhaften Begriff von 
meinen Talenten. Cie fcheinen mich für fähig zu halten, in 
dem Felde, das Sie beeifern und die patriotifche Gefellichaft 
mit vereinigten Kräften anzubauen Vorhabens ijt, einen Mit- 
arbeiter abzugeben, und ich habe die gegründetjte Urfache, vor— 
nehmlich in diefem Stüde in meine Fähigkeiten fein geringes 
Mißtrauen zu fegen. Geburt, Erziehung und Lebensart zeigen 
ihren Einfluß in die Denkungsart des Menfchen nie jo fehr, 
al3 wenn von diefem edlern Theile der Weltweisheit die Rede 
it... Die bürgerliche Unterdrüdung, zu welcher ung ein zu 
ſehr eingeriffene® Vorurtheil verdammt, Liegt wie eine todte 
Laſt auf den Schwingen des Geijtes und macht fie unfähig, 
den hohen Flug de3 Freigeborenen jemals zu verfuchen.“ Um 
fih Sfelin gefällig zu zeigen, Eiimdigte er den Plan der Gefell- 
ihaft in den „Literaturbriefen” an. Er machte ihn auf Sulzer, 
der, ein geborener Schweizer, „ſeinem Waterlande fo viel Ehre 
bringt“, aufmerffam, brachte ihm feinen Freund Abbt und 
Karl Fr. von Mofer, der als Schriftiteller auf dem Gebiete 
des Staats- und Völkerrechts fchon einen Namen Hatte, in 
Vorſchlag; er felbjt aber fonnte und wollte nicht Mitglied einer 
patriotifchen Gefellfchaft werden. 

Bier Jahre ſpäter wandte fich Sfelin abermal3 an Mendels- 


) Schr. V, 435 ff. 


— 1831 — 


Tohn, diefe8 mal mit dem Projecte des „Zugendbundes‘, dem 
er aus inneren Gründen nicht beipflichten fonnte, „Welch ein 
Verdienſt um die Glücfeligfeit des menschlichen Gejchlechts, 
wenn e3 möglich wäre, diefe Tugenden durch gemeinfchaftliche 
Bemühungen und öffentliche Anftalten zu befördern!“ heißt es 
in feinem Schreiben an Sfelin vom 1. Suni 1766.1) „Allein, 
ich entfage mich nicht, mein verehrungswürdiger Freund! Ihnen 
unter und zu gejtehen, daß ich die Möglichkeit Hiervon im 
Zweifel ziehe und wenigjtens den Weg, den der Stifter dieſer 
Geſellſchaft einzufchlagen gedenft, nicht für den nützlichſten und 
Hequemjten Halten fann. Man fagt: chaque société choisira 
lies moyens les plus praticables et les plus surs pour 
verifier les faits qui seront.venus à sa connaissance Wie 
ift das aber bei Privattugenden möglich zu machen? Diefe 
bejtehen felten in einzelnen entjcheidenden Handlungen, davon 
die Umftände fo Leicht zu erörtern find; nein! diefen Vorzug 
Haben die eclatanten heroifchen Tugenden, die in dem gemeinen 
Leben zwar auch vorkommen, aber doch fehr jelten, und wenn 
fie fich vereinigen, noch niemals unterlaffen haben, bemerft und 
öffentlich befannt zu werden. Das große Verdienjt der mehriten 
Privattugenden liegt in der Dauer und in dem Anhalten des 
Wohlwollend, in der Ueberwindung vieler Kleiner Hindernifje 
und Schwierigkeiten, die fi) der Beförderung des Guten in 
den Weg legen, in einer Reihe von Handlungen, deren jede 
Die Neugier wenig reizt, die aber, in ihrem ganzen Umfange 
betrachtet, eine beiwunderungswürdige Bejtändigfeit im Guten zu 
erkennen geben. Man muß von unendlich vielen Umſtänden, 
fajt von dem ganzen Leben eines Privatmannes unterrichtet fein, 
um den Werth feiner häuslichen Tugenden richtig zu ſchätzen. 
Welcher Beobachter kann feine Genauigkeit jo weit treiben? 
Und wenn er es thut, wie will er das Publikum von der 


) Diefer Brief wurde erft 1870 in den Philoſ. Monatsheften 
V, 76 ff. zuerft veröffentliht; f. auch mein: Moſes Mendelsjohn. 
Ungedrudtes und Unbekanntes von ihm und über ihn. ©. 3 ff. 


— 12 — 


Nichtigkeit feines unendlichen Details verfihern? Noch mehr? 
Selbjt diefes, daß die Tugenden de3 gemeinen Lebens in den 
Schranken eines Kleinen Cirkels bleiben, giebt ihnen eine gewiſſe 
Grazie, die ihren Werth unendlic, erhöht. Sobald ſich Gleisnerei 
und Dftentation mit in das Spiel mifchet, fo verfchwindet ein 
großer Theil von ihrer Anmuth. 

Endlich was für ein gezwungenes und ängjtliches Wefen 
bringt man in das gefellfchaftliche Leben der Menfchen, wenn 
man fich zum voraus als Kundſchafter und Nichter ihrer ge— 
heimften Neigungen und Handlungen anfündigt. Der zärtlichite 
Freund, der Vertrautefte meines Herzens, macht mic) fchüchtern 
und zurücdhaltend, fobald ich die Abficht merke, warum er mich 
jo genau beobachtet.” 

Das Andenken diefes wahren Weifen follte jedem feiner 
Beitgenoffen, der Tugend und Wahrheit werthichägt, unvergeß- 
lich jein! fchreibt Mendelsfohn ein Jahr nad) dem Tode diejes 
vortrefflihen Mannes, deſſen Briefwechlel ihm zur wahren 
Freude gereichte. 

Weit geringere Freude bereitete ihm der Beſuch eines 
andern Schweizers, de3 jungen Lavater. 


Achtes Bud). 
Lavater. 


Zweiunddreißigſtes Kapitel. 
Erſte Bekanntſchaft und Bekehrungsverſuch. 


Es war Anfang April 1763, als ein junger Geiſtlicher 
aus Zürich nach Berlin kam, um die dortigen berühmten Männer 
perſönlich kennen zu lernen. In Begleitung ſeines Landsmannes 
Sulzer und zweier anderer Freunde ſtattete er auch Mendels— 
ſohn einen Beſuch ab. Er wußte ſich Liebe und Zutrauen im 
erſten Augenblicke zu erwerben; er war fo freundlich und ſchonend, 
ſo ſegnend und erhebend, wie Göthe ſich ausdrückt; es koſtete 
dieſen jungen Propheten nichts, ſich bis zur niederträchtigſten 
Schmeichelei zu aſſimiliren, um ſeine Klauen nachher deſto ſicherer 
einſchlagen zu können.!) 

Die Unterredung, welche Mendelsſohn mit dem jungen 
Geiſtlichen und deſſen Freunden auf ſeiner Stube führte, drehte 
ſich anfangs um ganz gleichgültige Dinge; es dauerte jedoch 
nicht lange, ſo lenkte dieſer das Geſpräch auf Religionsſachen. 
Er war begierig, die Anſichten des ſeltenen Juden über eine 
Angelegenheit zu erfahren, welche „dem Herzen beſonders ſo 
wichtig iſt“. Verſicherungen wurden gegeben, daß von der Unter— 


) Briefwechjel zwifhen Schiller und Göthe, I, 225. 


— 14 — 


vedung nie öffentlich Gebrauch gemacht werden follte, und im 
Bertrauen auf Verſchwiegenheit gab Mendelsjohn endlich den 
dringenden Bitten des Fremden nah. Mit Anerkennung ſprach 
er von der Berfon des Stifters der chriftlichen Religion und 
von der Achtung, welche er vor defjen moralifchem Charakter 
begte, „wenn Jeſus von Nazareth nicht? mehr als ein tugend- 
hafter Mann hätte fein wollen“. 

Boll enthufiaftiicher Bewunderung ſchied von Mendelsfohn 
diefer zweiundzwanzigjährige Geiftliche, der fein anderer mar, 
al3 der, welchen Göthe in der Xenie „der Prophet” jo treffend 
zeichnet: | 


„Schade, daß die Natur nur Einen Menſchen aus Dir jhuf; 
Denn zum würdigen Mann war und zum Schelmen der Stoff.‘ 


Sohann Kaspar Lavater, das ift der Name des fremden 
Schweizer, war die Befanntichaft Mendelsfohns mehr werth, 
al3 viele andere, die er bereit3 auf feiner Reife gemacht Hatte. 
Freudig berichtete er am 18. April 1763 dem Kanonicug Brei- 
tinger in Zürich, daß er „den Juden Mofes, den Berfaffer der 
„Bhilofophifchen Gefpräche“ und der. „Briefe über die Empfin- 
dungen“, fennen zu lernen die Ehre gehabt hätte. „Eine Teut- 
felige, Teuchtende Seele in durchdringendem Auge und einer 
äfopifchen Hülle; fehnell in der Aussprache, doch plötzlich durch 
ein Band der Natur im Laufe gehemmt. Ein Mann von 
Icharfer Einficht, feinem Gefchmade und ausgebreiteter Wifjen- 
Ichaft. Ein großer Verehrer denfender Genies und felbjt ein 
metaphyfiicher Kopf. Ein unparteiifcher Beurtheiler der Werke 
des Geiftes und Geſchmacks; vertraulih und offenherzig im Um— 
gange, befcheidener in feinen Reden als in feinen Schriften und 
beim Lobe unverändert; ungezwungen in feinen &eberden, ent- 
fernt von ruhmbegierigen Kunftgriffen niederträchtiger Seelen, 
freigebig und dienſtfertig. Ein Bruder feiner Brüder, der Juden, 
gefällig und ehrerbietig gegen fie, auch) von ihnen geliebt und 
geehrt.‘ ?) 

1) Gefner, Lavaters Lebensbejchreibung (Winterthur 1802), I, 1917. 


— 1855 — 


Man fieht, welchen tiefen Eindrud Mendelsfohn auf ihn 
gemacht Hatte! 

Nicht der geſchickteſte Maler kann ein in den einzelnen 
Zügen treffenderes, ausgeprägtere® Bild liefern, als Lavater 
von Mendelsfohn in feiner „Phyſiognomik“ entworfen hat. „Ver— 
muthlich kennſt Du diefe Silhouette? Ich kann Dir's kaum ver- 
hehlen. Sie ift mir gar zu lieb, gar zu fprechend! ... Kannſt 
Du jagen, kannſt Du einen Augenblid anftehen, ob Du jagen 
wollteft: „Vielleicht ein Dummkopf! Eine rohe gefchmadlofe 
Seele!“ Der fo was fagen könnte, ertragen fönnte, daß ein 
anderer e3 fagte, der fchließe mein Buch zu, werf' es von ſich 
— und erlaube mir, meinen Gedanken zu verwehren, daß ic) 
nicht über ihn urtheile! Ich weide mich an diefen Umrifjen! 
Mein Blid wälzt fih von diefem herrlichen Bogen der Stirne 
auf den fcharfen Knochen des Auges herab .... In diefer 
Tiefe des Auges fit eine fofratiiche Seele! Die Beftimmtheit 
der Nafe, der herrliche Uebergang von der Nafe zur Oberlippe 
— die Höhe beider Lippen, ohne daß eine über die andere 
hervorragt. D wie alles dies zufammenjtimmt, um die gött- 
Yihe Wahrheit der Phyſiognomik fühlbar und anschaulich zu 
machen.‘ 1) 

Schwärmeriſch wie er war, liebte er ſchwärmeriſch diefen 
Mann mit dem fchön gebildeten Kopfe, aus deſſen Auge Geift 
und Liebe fprühte, diefen Moſes, den er nur einige male be- 
fucht Hatte und den er feinen Freund eigentlich gar nicht nennen 
fonnte.?) Nichts wünfchte der junge Schwärmer fehnlicher, als 
Mofes für,das Chriftentgum zu gewinnen. Der Berliner jüdifche 
Philofoph war ihm nicht aus dem Sinn gekommen; er wartete 
nur eine günftige Gelegenheit ab, um feinen chriftlichen Eifer 
entbrennen zu lafjen. Apoſtoliſche Wirkſamkeit war feine Luft; 
er dünkte fich der Stellvertreter Petri auf Erden und ließ fich 


1) Lavater, Phyſiognomiſche Fragmente (Leipzig: Winterthur 1775), 
I, 243. 
2) Leſſings Schr. XIII, 231. 


— 186 — 


zumeilen wie einen Heiligen verehren;') er wollte, wie Göthe 
von ihm rühmt, den geiftlichen, chriftlicden Kophta fpielen, fich 
am liebſten jelbjt für Chriftus halten.) Dem denfenden Wahr- 
heitöfreunde, den er in Mendelsfohn verehrte und Tiebte, glaubte 
er e3 jchuldig zu fein, feiner Unterfuhung das zu unter- 
werfen, was ihm ſelbſt das Heiligfte war, Mendelsfohn zur An- 
nahme des Chriſtenthums zu bewegen. Ein AJude, dachte er, 
der Locke, Leibniz und Wolff jtudirt, der aus den Schriften 
diefer chriſtlichen Philofophen die Heiligiten Wahrheiten gefchöpft, 
auf fie feine Gflücfeligfeit gegründet Hat; ein Jude, der deutjche 
Werke verfaßt, mit hriftlichen Gelehrten umgeht, der auch Jeſus 
Hochachtung zollt, ein folder Jude muß dem Chriſtenthume nicht 
fo gar fern jtehen. 

Der „Phädon“ war ganz geeignet, ihn in feiner beichränf- 
ten Anfiht zu beſtärken. Mendelsfohn mwollte die perfönliche 
Fortdauer des Menſchen nach dem Tode beweifen, da ſich doc) 
alles Jenſeitige nur glauben, nicht beweifen läßt, und berührte 
fo, ohne es zu willen und zu wollen, das Gebiet der Religion. 
Dur den „Phädon“ hat er zuerjt mit den Orthodoren ange- 
bunden, jie pochten und polterten auf die Unmentbehrlichkeit einer 
wunderbaren Offenbarung für den Glauben der Unjterblichkeit; 
ihnen war ein auf Vernunft beruhender Beweis für diefe Lehre 
ein Dorn im Auge. Den frommen Theologen wäre es weit 
lieber gewejen, Mendelsjohn hätte es einem Philofophen über: 
lafjen, einen „Phädon“ nad) den Grundfägen der Vernunft ab- 
zufaffen und dafür den Beweis der Unfterblichfeit aus der hei— 
ligen Schrift geführt. ?) 

Seit jenem Befuche waren ſechs Jahre vergangen, als Lavater 

1) Hegener, Beiträge zu Lavater, 224. 

2) Göthes Werke, XXVI, 296. 

3), Ein evangelijcher Prediger hielt es für Pflicht, gegen den Men— 
delsſohnſchen „Phädon“ die Unfterblichkeit der Seele aus dem A. T. zu 
beweijen in dem längjt veraeffenen Buche: Heman, über die Unfterblich: 


feit der Seele nad moſaiſchen Grundfägen in drei Gefpräden: Herrn 
M. Mendelsjohn zugeeignet. Leipzig 1773. 


— 1897 — 


feinen Borfag endlich ausführte: er überfegte die Schrift „Unter- 
fuhung der Beweife für das Chriſtenthum“ des Genfer Philo- 
fophen Bonnet au dem Franzöfifchen!) und widmete fie Men- 
delsfohn mit einem offenen Briefe, welcher folgendermaßen lautet: 

„Sch weiß die Hodhadtung, die mir Ihre fürtrefflichen 
Schriften und Ihr noch fürtrefflicherer Charakter, eines Iſrae— 
liten, in welchem fein Falſch ift, gegen Sie eingeflößt haben, 
nicht bejjer auszudrüden und das Vergnügen, das ich vor 
einigen Jahren in Ihrem Tiebenswürdigen Umgange genofjen, 
nicht beſſer zu vergelten, al3 wenn ich Ihnen die bejte philoſo— 
phifche Unterfuhung der Beweiſe für das Chriſtenthum, die mir 
befannt ijt, zueigne. 

Sch kenne Ihre tiefen Einfichten, Ihre ftandhafte Wahr- 
heitzliebe, Ihre unbejtechliche Unparteilichkeit, Ihre zärtliche 
Achtung für Philofophie überhaupt und die Bonnetfchen Schrif- 
ten bejonders, und unvergeßlich iſt mir jene fanfte Befcheiden- _ 
heit, mit welcher Sie, bei aller Ihrer Entferntheit von dem 
Chriſtenthum, dafjelbe beurteilen, und die philofophijche Ach— 
tung, die Sie in einer der glücklichſten Stunden meines Lebens 
über den moralifchen Charakter feines Stifter bezeugt haben; 
fo unvergeßlich und dabei fo wichtig, daß ich es wagen darf, 
Sie zu bitten, Sie vor dem Gotte der Wahrheit, Ihrem und 
meinem Schöpfer und Vater, zu bitten und zu beſchwören: nicht, 
diefe Schrift mit philofophifcher Unparteilichkeit zu leſen, denn 
da3 werden Sie gewiß, ohne mein Bitten, ſonſt tun, fondern 
diefelbe öffentlich zu widerlegen, wofern Sie die weſent— 
lichen Argumentationen, womit die Thatjachen des Chriſtenthums 
unterjtügt find, nicht richtig finden: dafern Sie aber diefelben 
richtig finden, zu thun, was Klugheit, Wahrheitsfiebe, Redlich- 
feit Sie thun heißen, was Sofrates gethan hätte, wenn ex dieje 
Schrift gelefen und unwiderleglich gefunden hätte.“ 

Das Werf, das „noch naß von der Preſſe war‘, begleitete 


) Zürich 1769, 


— 188 — 


er mit wenigen Worten und ſandte es am 4. September 1769 
an Mendelsſohn.) Er glaubte in feiner Schwärmerei, daß 
Mendelsfohn nicht widerlegen und fi) ohne weiteres zum 
Chriſtenthum befennen, daß dem Beifpiele des edlen Weifen 
dann auch feine Glaubensbrüder folgen würden; das taufend- 
jährige Reich, für das der Züricher Diafonus glühte, wäre 
dann duch ihn herbeigeführt. 

Lavaters Indiscretion und jeſuitiſche Schlauheit berührte 
Mendelsfohn aufs fchmerzlichite; er fand in ihr ebenfomwol eine 
Berdächtigung feines Charakters als eine Mißachtung feiner Re— 
ligion. Mehr als alles kränkte e3 ihn, daß er fich in die Noth- 
wendigfeit verfeßt ſah, die öffentlich an ihn ergangene Aufforde- 
rung auch in derjelben Weife zu beantworten. 

Bevor Mendelsfohn noch ein Wort erwidert hatte, war die 
Kunde von diefen peinlichen Vorfalle zu feinen Freunden, nah 
‚und fern, gelangt. 

An Leffing, damals noch in Hamburg, fehrieb fein Bruder 
Karl den 26. October: „Moſes hat eine fonderbare Begebenheit 
mit Zavatern, der vor einigen Jahren Hier geweſen ijt. Sie 
haben fich mit einander von Religionsfachen unterhalten. Hiervon 
nimmt der epifche Dichter des Fünftigen Lebens Gelegenheit, 
Moſes aufzufordern, entweder die Bonnetfchen Beweife für die 
Hriftlihe Religion zu widerlegen, oder fich öffentlich zur chrift- 
lichen Religion zu befennen. Diefe gedrudte Aufforderung ärgert 
den guten Moſes nicht wenig, und, wie er mir gejagt, wird er 
Lavatern aus den Bonnetichen Gründen felbjt beweifen, daß er 
nicht3 als ein Jude fei, und daß die Schwärmereien eines polnijchen 
Juden, welcher fi) vor einigen Jahren für den Meſſias aus— 
gab, ebenfo zu rechtfertigen wären; zugleich wird er ihm er- 
flären, daß er fich in Neligiongitreitigfeiten nicht einlaſſe. Ich 
dächte, ein für allemal fünnte wol Mofes ohne alle Umwege 
mit den deutlichjten Worten fein Glaubensbefenntniß ablegen... 


1) Schr. III, 81. 


— 189 — 


Wenn fi) doch die Unaufgeflärten und Aufgeflärten um das 
GSeelenheil der Menfchen, wie Moſes, unbekümmert Tiefen! 
Aber das ift num ihr Los, zu plaudern, wo andere jo gern 
fchweigen!‘“t) 

Herder erfuhr es durch Nicolat im November mit der Be- 
merfung, daß Mendelsfohn fehr befcheiden, aber freimüthig ant- 
worten würde. „Herr Lavater hat fi alle Folgen felbjt zu— 
zufchreiben. Sie wiffen, daß wer bisher in Deutfchland von 
der Religion gefchrieben, immer aus einem gewiſſen theologifchen 
Zon geſprochen hat. Mofes wird jet in die Nothiwendigfeit 
gejegt, anders zu fprechen, und diefes wird gewiß einen Erfolg 
auf die Zukunft haben. Inzwiſchen wird er feine Antwort fo 
einrichten, daß er Fünftig auf weitere Aufforderungen fein Wort 
fagen darf.“ ?) 

Nicht allein Nicolai, Leſſing und Herder, welcher Lavater 
für einen verblendeten Enthufiaften und Fanatiker erflärte, 3) 
fondern auch alle Berliner Theologen, alle, die von dem ſelt— 
famen Borfalle hörten, mißbilligten den übereilten Schritt. 
Bonnet tadelte ihn, und Lavater felbft wünſchte, daß er ihm 
mehr Ueberlegung hätte vorangehen laſſen. Er bat Mendels— 
fohn um Verzeihung, „daß er den unrechten Weg eingefchlagen 
habe, ihm zu zeigen, wie ex ihn Liebe, hochichäße, fein Glück in 
der gegenwärtigen und zufünftigen Welt innigft wünfche‘.*) 

Die Reue fam zu fpät. Mendelsfohn war es feiner inner- 
ften Weberzeugung, feiner Ehre und feinem Namen fchuldig, 
öffentlich zu erwidern. 





») Leifings Schr. XIII, 19. 

2) Herders Lebenäbild, II, 101. 
) Ebend. 106. 

9 Schr. III, 82. 


— 1% — 


Dreiunddreißigftes Kapitel 
Mendelsſohns Ermwiderung. 


Nachdem Mendelsfohn die erſte Aufregung überwunden 
hatte, unterzog ex fich der fchwierigen Aufgabe, dem öffentlichen 
Herausforderer öffentlich Rede zu jtehen. 

Man denke fi), wie dem friedfertigen Manne dabei zu 
Muthe geweien fein mag. Er war ein abgejagter Feind aller 
Streitigfeiten; feine Religion, feine Philofophie und fein Stand 
im bürgerlichen Leben gaben ihm die wichtigjten Gründe an 
die Hand, forgfältig alle Religionzjtreitigfeiten zu vermeiden. 
„Meinetwegen,‘ fagte er, „hätte das Judenthum in jedem pole- 
mifchen Lehrbuche zu Boden geftürzt und in jeder Schulübung 
im Triumph aufgeführt werden mögen, ohne daß ich mich hier- 
über jemal3 in einen Streit eingelaffen haben würde. Ohne 
den mindeften Widerfpruch von meiner Seite hätte jeder Kenner 
oder Halbfenner des Rabbinifchen aus Schartefen, die Fein ver— 
nünftiger Jude lieſt noch Fennt, ſich und feinen Leſern den 
lächerlichjten Begriff vom Judenthume machen mögen.“ Die 
verächtliche Meinung, die man damals von einem Juden Hatte, 
wünjchte er duch Tugend, nicht aber durch GStreitjchriften zu 
widerlegen.?) 

Nach diefen Grundfägen war er entfchloffen, ruhig feines 
Weges zu gehen. BPrivataufforderungen verehrungswürdiger 
Männer überging er mit Stillihweigen, und die „Zunöthigung“ 
feiner Geifter, die fich nicht fcheuten, ihn feiner Religion wegen 
öffentlich anzutaften, verachtete er; allein die feierliche Be— 
Ihwörung eines Lavater nöthigte ihn, feine Gefinnungen öffent: 
lich an den Tag zu legen, damit, wie er fich ausdrüdt, niemand 
ein zu weit getriebenes Stillſchweigen für Verachtung oder Ge- 
jtändniß halte. 2) 








1) Schr. III, 42. 
2) Schr. III, 47. 


— 191 — 


Mit Zittern ergriff er die Feder, um dem zudringlichen 
Geijtlihen zu erwidern; das mißliche der Lage, in der er ſich 
befand, fühlte er nur zu gut. Mußte er einerfeit3 mit aller 
Entichiedenheit und Offenheit die ihm gejtellte Zumuthung zurüd- 
weifen, jo nöthigten ihn andererjeit3 äußere Umftände, mit mög- 
lichſter Schonung zu verfahren. Wie immer er aber fein Ant- 
wortjchreiben einrichtete, eine Polemik gegen die chriftliche Reli- 
gion war unvermeidlich. Eben diefes machte ihn gleich anfangs 
beforgt: er fürchtete die Cenfur. Daher fragte er, bevor er 
aud noch ein Blatt dem Drude übergab, bei dem Conſiſtorium 
an, welchem der Herren Räthe er die einzelnen Blätter feiner 
Antwort an Lavater vorzulegen habe, oder ob man es ihm frei 
ftellen wolle, das Ganze nad) der Vollendung dem Gefammt- 
Eonfiftorium zur Beurtheilung zu überreichen. Er erhielt Hier- 
auf folgenden Beſcheid: 

Herr Mofes Mendelsfohn könne feine Schriften druden laſſen, 
ohne fie einzeln oder vollendet dem Conſiſtorium zur Cenſur 
vorzulegen, weil man von feiner Weisheit und Befcheidenheit 
überzeugt fei, er werde nichts jchreiben, das öffentliches Aerger— 
niß geben könnte; 
ein Beſcheid, der Hinlänglich beweilt, in welch hohem Anfehen 
Mendelsfohn bei den geijtlihen Behörden der Refidenz jtand.t) 

Aber auch nur ein Mendelsfohn war im Stande, die Ge— 
fühle tiefer Beleidigung und die Regungen perjünlicher Kränfung 
niederzuhalten und mit einer jtaunenerregenden Ruhe und Milde 
in einer fo wichtigen Angelegenheit die Feder zu führen. Sein 
Antwortjchreiben ift ein Muſter von ftoifcher Ruhe und dialee— 
tifcher Feinheit; es ift, wie der Erbprinz von Braunfchweig fich 
ausdrückt, „mit dem Glimpf und Grad der Menfchenliebe ge- 
fchrieben, welche man im voraus zu erwarten hatte von einer 
von göttlihen Wahrheiten jo durchdrungenen Seele.“?) Nicht 
genug bewundern kann man den wahrhaften Adel feiner Ge- 


) Schr. I, 20; val. V, 594. 
2) Schr. III, 188. 


— 192 — 


finnung, der jede Spur eines perfünlichen Grolls aus feiner 
Geele verdrängte und über fein Schreiben nur jene elegifche 
Stimmung verbreitete, die gewiljermaßen der Ausdruck eines 
großen Gefammtfchmerzes ift, den er über die Mißachtung feiner 
Religion und ihrer Befenner nicht unterdrücden fonnte, 

Großmüthig legt er der Aufforderung Lavaterd die beften 
Motive zu Grunde „Ich bin völlig überzeugt,“ Heißt es in 
dem eriten Schreiben an den Herrn Diakonus Lavater zu Zürich,?) 
„daß Ihre Handlungen aus einer reinen Quelle fließen, und 
fann Shnen feine andere, al3 Tiebreiche menfchenfreundliche Ab— 
fihten zufchreiben. Ich würde feines vechtichaffenen Mannes 
Achtung würdig fein, wenn ich die freundfchaftlihe Zuneigung, 
die Sie mir in Ihrer Zufchrift zu erkennen geben, nicht mit 
danfbarem Herzen erwiderte. Aber leugnen kann ich es nicht, 
diefer Schritt von Ihrer Seite hat mich außerordentlich be- 
fremdet. Sch hätte alles eher erwartet, al3 von einem Lavater 
eine öffentliche Aufforderung ..... . Was hat Sie bewegen 
fönnen, mich wider meine Neigung, die Ihnen befannt war, 
aus dem Haufen Hervorzuziehen und auf einen öffentlichen 
Rampfplag zu führen, den ich fo fehr gewünfcht, nie betreten 
zu dürfen? Und wenn Sie aud; meine Zurüdhaltung einer 
bloßen Furchtſamkeit oder Schüchternheit zugefchrieben Haben, 
verdient eine ſolche Schwachheit nicht die Nachſicht und Die 
Schonung eines jeden liebreichen Herzens ?“?) 

Was nun die Zumuthung jelbjt betrifft, jo erklärte er, daß 
er feine Religion nicht erſt feit gejtern zu unterfuchen ange- 
fangen. „Die Pflicht, meine Meinungen und Handlungen zu 
prüfen, habe ich gar frühzeitig erfannt, und wenn ich von früher 
Jugend an meine Ruhe- und Erholungsjtunden der Weltweis- 
heit und den ſchönen Wifjenfchaften gewidmet habe, jo ijt es 
einzig und allein in der Abficht gefchehen, mich zu dieſer fo 


) Berlin, Nicolai, 1770. (32 ©.); Schr. III, 37— 49; ins Hebräiſche 
überfegt und erklärt von N. 9. Weſſely (Handſchr., 13 ©., unedirt). 
2) Schr. III, 39 f. 


— 193 — 


nöthigen Prüfung vorzubereiten. Andere Bewegungsgründe kann 
ich hierzu nicht gehabt haben. In der Lage, in welcher ich 
mich befand, durfte ich von den Wiffenfchaften nicht den min- 
dejten zeitlichen WVortheil erwarten. Ich wußte gar wol, daß 
für mid) ein glüdliches Fortlommen in der Welt auf diefem 
Wege nicht zu finden fei. Und Vergnügung? O mein werth- 
geichägter Menjchenfreund! Der Stand, welcher meinen Glaubens- 
brüdern im bürgerlichen Leben angewiefen worden, ift fo weit 
von aller freien Uebung der Geiftesfräfte entfernt, daß man 
feine Zufriedenheit gewiß nicht vermehrt, wenn man die Rechte 
der Menschheit von ihrer wahren Seite fennen lernt. 

Wäre nach diefem vieljährigen Forſchen die Entſcheidung 
nicht völlig zum Vortheile meiner Religion ausgefallen, fo hätte 
fie nothwendig durch eine öffentliche Handlung befannt werden 
müfjen. Ich begreife nicht, wa mid) an eine, dem Anfehen 
nach jo überjtrenge, jo allgemein verachtete Religion feſſeln 
fönnte, wenn ich nicht im Herzen von ihrer Wahrheit überzeugt 
wäre. Das Refultat meiner Unterfuchungen mochte fein, welches 
man wollte, fobald ich die Religion meiner Väter nicht für die 
wahre erkannte, jo mußte ich jie verlaffen. Wäre ich im Herzen 
von einer andern überführet, jo wäre e3 die verworfenſte Nieder- 
trächtigfeit, der innerlichen Ueberzeugung zum Troß, die Wahr- 
heit nicht befennen zu wollen. Und was fünnte mic) zu diefer 
Niederträchtigkeit verführen? Ich Habe ſchon befannt, daß in 
diefem Falle Klugheit, Wahrheitsliebe und Redlichfeit mic) den- 
ſelben Weg führen würden. 

Wäre ich gegen beide Religionen gleichgültig und verlachte 
oder verachtete in meinem Sinne alle Offenbarung, jo wüßte 
ich gar wol, was die Klugheit räth, wenn das Gewiſſen fchweigt. 
Was könnte mich abhalten? Furcht vor meinen Glaubensge- 
nofjen? Ihre weltliche Macht ijt allzu geringe, als daß fie mir 
fürchterlich fein könnte. Eigenfinn? Trägheit? Anhänglichkeit 
an gewohnte Begriffe? Da ich den größten Theil meines Lebens 
der Unterfuchung gewidmet, jo wird man mir Ueberlegung ge— 

Kayſerling, Moſes Mendelsjohn. 13 


— 194 — 


nug zutvauen, folchen Schwachheiten nicht die Früchte meiner 
Unterfuchungen aufzuopfern. Sie fehen alfo, daß ohne auf- 
richtige Ueberzeugung von meiner Religion der Erfolg meiner 
Unterfuhung fi in einer öffentlichen Thathandlung hätte zeigen 
müffen. Da fie mid) aber in dem bejtärfte, was meiner Väter 
it, fo fonnte ich meinen Weg im Stillen fortwandeln, ohne der 
Welt von meiner Weberzeugung Rechenſchaft ablegen zu dürfen. 
... Ich bezeuge hiermit vor dem Gott der Wahrheit, Ihrem 
und meinem Schöpfer und Erhalter, bei dem Sie mid). in 
Ihrer Zufchrift befchtvoren haben, daß ich) bei meinen Grund: 
fäben bleiben werde, jo lange meine Seele nicht eine andere 
Natur annimmt.‘“!) | 

Nachdem Mendelsfohn nun dargelegt, daß das Judenthum 
eine Propaganda für die Verbreitung feiner Lehre nicht allein 
nicht gejtattet, fondern ſogar verbietet, wirft er zum Schluß 
feines Antwortfchreibend einen Blid auf die ihm Ddedicirte 
Bonnetiche Schrift felbjt. Nicht genug wundern kann er fich, 
daß Lavater diefe Schrift für Hinlänglich hielt, einen Menfchen 
von feinen Grundfäßen zu überzeugen; er befennt ihm, daß er 
fo manche Bertheidigung der chriftlichen Religion von Deutſchen 
gelefen habe, die weit grümdlicher und philojophifcher gewesen, 
daß die meiſten Hypotheſen Bonnet3 auf deutfchem Grund und 
Boden gewachſen feien, ja daß er mit denfelben Gründen, wo— 
mit Bonnet das Chriſtenthum beweift, jede Religion vertheidigen 
wolle.?) „Wenn darauf gedrungen wird,“ jo jchließt Mendels- 
fohn, „jo muß ich die Bedenklichfeiten aus den Augen een 
und mich entfchliegen, in ©egenbetrachtungen meine Gedanken 
über des Herrn Bonnet Schrift und die von ihm vertheidigte 
Sache öffentlich befannt zu machen. Sch Hoffe aber, daß Sie 
mich dieſes unangenehmen Schrittes überheben und lieber zu— 
geben werden, daß ich in die friedfame Lage zurückkehre, die 
mir fo natürlih iſt. Sch möchte nicht gerne in Verſuchung 

1) Schr. III, 40 ff. 

2) Schr. II, 47 f. 





— 195 — 


Tommen, aus den Schranken zu treten, die ich mir mit jo gutem 
Vorbedachte ſelbſt gefegt habe.“!) 

Dieſes vom 12. December 1769 datirte Schreiben, das 
Mendelsſohn am 24. December mit einigen freundlichen Zeilen 
nach Zürich ſchickte, überzeugte Lavater völlig, daß er gefehlt, 
daß das Dringende und Unbedingte ſeiner Aufforderung für 
alle Zeiten ein Fehler bleiben würde. Er fand in dieſen wenigen 
Blättern Geſinnungen, die ihm Thränen aus den Augen lockten; 
es ſchmerzte ihn, daß er dem edelſten Menſchen wider ſeine Ab— 
ſicht Verdruß verurſacht hatte, und in ſeinem Antwortſchreiben?) 
beſchwor er ihn vor der ganzen Welt, ihm das Allzudringende, 
das Fehlerhafte in ſeiner Zuſchrift zu verzeihen. Mit ſeiner 
Antwort vom 14. Februar 1770, welche er im Manuferipte 
mit einem Brivatichreiben Mendelsſohn zufchidte, damit diefer 
nad) Belieben ändern, ftreichen und Hinzufegen könnte, hoffte er 
den Vorhang vor dem Publikum fallen zu laſſen. Dieſem 
Wunfche Hatte auch Mendelsfohn noch vor Empfang der Ant- 
wort, in feinem Briefe vom 10. Februar, Ausdrud gegeben. 
„Glauben Sie mir, mein Herr,“ heißt es in diefem Briefe, „es 
iſt unfer beider unanftändig, ein Spiel der Anefdotenfrämer zu 
werden und durch öffentliche Streitfchriften dem müßigen Theil 
des Publikums einen Zeitvertreib, dem Einfältigen ein Aerger— 
niß und dem Feinde alles Guten eine boshafte Freude zu 
machen. Meine aufrichtige Meinung, mein Herzenswunſch iſt, 
wir fuchen uns, fo gut wir fünnen, aus der Schlinge zu ziehen, 
in welche wir gerathen find. Laſſen Sie die Wahrheiten, welche 
ir gemeinschaftlich erkennen, erſt ausgebreitet genug fein, als— 
dann wollen wir den Streit über die Punkte, die ung trennen, 
mit dejto größerem Eifer fortfegen.“ 3) 


1) Schr. III, 49. 

2) Antwort an den Herrn Mojes Mendelsjohn zu Berlin von 
Johann Kaspar Lavater. Nebft einer Nacderinnerung von Mojes Men: 
delsſohn. Berlin, Nicolai, 1770. (68 ©.); Schr. IL, 51—78. 

3) Schr. III, 83. 

; 13* 


— 196 — 


Durch Bermittelung des Prediger Zollilofer in Leipzig war 
die Sache zwifchen Mendelsfohn und Lavater jehr bald beige- 
legt. Jener begleitete das Antwortichreiben des Diakonus mit 
feinen „Nacherinnerungen“, die in dem feltfamen, aus zwei Geift- 
fihen, einem Buchhändler und einem Juden beftehenden Con- 
cilium verfaßt wurden, und aller Streit hatte ein Ende. Gie 
ſchieden als wahre Freunde. „Kommen Sie!” ruft Mendelsfohn 
feinem Beleidiger in dem Schreiben vom 9. März 1770 zu, 
„wir wollen uns in Gedanken umarmen! ie find ein chrift- 
ficher Prediger, und ich ein Jude! Was thut dieſes? Wenn 
wir dem Schafe und dem Seidenwurme wiedergeben, was fie 
uns geliehen haben, fo find wir beide Menſchen. Wir wollen 
uns einander aufrichtig alle Unruhe vergeben, die wir uns 
wechjelsweife gemacht haben.“?) 

„Ja herzlich, Herzlich umarme ich Sie!“ Hallt es ihm aus 
Lavaters Schreiben entgegen. „Nun von den alten Sünden 
fein Wort mehr! Aber aufs neue biete ich Ihnen alles, meine 
ganze Seele an, wenn etwas für Ihr Vergnügen, Ihre Glüd- 
feligfeit in allen meinen Befigungen außer mir und in mir vor- 
handen wäre.“?) 

„Das Heine Vorſpiel ift geendiget,‘ Konnte Mendelsjohn 
im März 1770 mit Recht behaupten; aber der eigentliche Kampf, 
die lange Reihe von Unruhen und Bekümmerniſſen, welche er 
beim Beginn vorausjah, nahm exit jebt recht eigentlich den 
Anfang. 


VBierunddreigigites Kapitel. 
Bonnet. 


Charles Bonnet, der Berfaffer der „Palingeneſie“ und die 
erite Urfache des Streites, war auch der erite, welcher fich, 


') Schr. III, 88. 
2) Schr. III, 9. 


RR. 


allerdings nicht ohne Grund, daran betheiligtee Höchſt unzu— 
frieden mit dem unflugen Schritte Zavaterd, glaubte er dem 
Gefränkten, deſſen edeln Charakter er duch Abbt und feine 
Schriften fchon früher Hatte ſchätzen lernen, e8 um fo eher 
Thuldig zu fein, ihm in einem Briefe fein Bedauern auszu— 
drüden, als er in dem Antwortfchreiben an Lavater Aeuße— 
rungen über fein Werk fand, auf die er micht ſchweigen zu 
dürfen glaubte. 

Es ſchwebte über diefen Lavater-Mendelsfohnichen Streit 
von dem erjten Beginn an etwas Dämonifches, das man ge= 
wöhnlih Unglüf nennt. Mendelsfohn war Bonnet gegemüber 
von aller Unbedachtfamkeit nicht frei geblieben. Da er nicht 
anders vermuthete, al3 daß diefer dem Ueberſetzer feine Zu— 
ftimmung zu der Aufforderung gegeben Habe, fo juchte er in 
feinem Schreiben auch den Verfaſſer der „Balingenefie” gleich- 
zeitig abzufertigen. Erſt durch einen Brief des Diafonus vom 
26. December 1769 wurde er vom Gegentheil überführt. Da 
war aber die Antwort ſchon mehr als zehn Tage auf dem 
Wege nad) Zürich und das „etwas dreiſte“ Urtheil über Bonnets 
Werk fonnte nicht mehr zurücigenommen werden. Hätte er vor- 
her gewußt, daß Bonnet die Aufforderung nicht billige, er Hätte 
gewifje Stellen, die diefen trefflichen Schriftiteller angingen, 
anders abgefaßt. Er fühlte fi) von dem Ueberſetzer ſowol wie 
von dem Verfaſſer des ihm dedicirten Buches tief verwundet 
und hatte in feinem Schmerze auch gegen den Teßtern weniger 
Rückſicht als er dem Verdienſte deffelben fchuldig war.!) 

Mendelsjohn, der fo wenig Anlage zum eigentlichen Pole- 
mifer hatte, bat Bonnet in einem ausführlichen Schreiben vom 
9. Februar 1770 inftändigit um Verzeihung. Er erklärte und 
betheuerte ihm, daß es am wenigjten feine Abficht geweſen wäre, 
durd die Aeußerung, die meijten feiner philofophiichen Säße 
ſeien deutſchen Schriftjtellern entlehnt, ihn eines Plagiat3 zu 


1) Schr. III, 83, 114. 


— 198 — 


beſchuldigen. Danfend nahm er das ihm verehrte Eremplar 
der „Balingenefie” an, verſprach, das Werk nochmals im Dri- 
ginal zu lefen, „wo ihn weder die Zueignungsichrift, noch die 
Noten des Ueberſetzers verhindern würden, den rechten Geficht3- 
punkt zu treffen.“ „Und gefegt, wir könnten am Ende über 
einige in Ihrer Unterſuchung enthaltene Betrachtungen gar nicht 
zufammenfommen, fo fenne ich Ihre unſterblichen Verdienjte aus 
anderen philofophifchen Werfen zu jehr, um jemals aufzuhören, 
Ihr fleißiger Lefer und Berwunderer zu fein.“ 

„Mit unausfprechlicher Freude,“ fo ſchließt der Brief, „nehme 
ich übrigens Ihre Freundichaft an, die Sie mir fo großmüthig 
anbieten. Sie ift das köſtlichſte Gefchenf, das ein Sterblicher 
mir machen fann, und ich kann Ihnen, ohne Ihrer Befcheiden- 
heit zu nahe zu treten, nicht ausdrüden, wie fehr ich Ahnen 
für diefe Großmuth verbunden bin. Habe ich bisher dem 
Herrn Lavater den Verdruß aufrichtig vergeben, den er mir 
verurfacht Hat, fo muß ich ihm nunmehr den verbindlichiten 
Dank dafür wiffen, denn feine Uebereilung hat mich fo glücklich 
gemacht, mich den Freund eine Bonnet3 nennen zu dürfen.“1) 

Wie benahm fich aber der neue Freund, der jo großmüthig 
die Freundichaft ihm angetragen hatte? Er fühlte fi) von dem 
liebenswürdigen Schreiben Mendelsſohns bis zu Thränen ge— 
rührt, erblictte in demjelben das treue Bild feines Geiftes und 
Herzens, verficherte, daß es in der Republik der Wiſſenſchaften 
nicht zwei Männer gebe, die der Polemik feindlicher wären als 
der neue „Phädon“ und er. Nicht mit Worten fann er dem 
Publikum ausdrüden, wie er den tugendhaften „Phädon“ Liebe,?) 
und — ohne fich etwas von dem Briefwechjel und dem ganzen 
Borfalle merken zu lafjen, fucht er in einer neuen im Juni 1770 
erichienenen Ausgabe der „Beweife für das Chriſtenthum“ Men- 
delsjohn zu wiederlegen. Er, der ausdrücklich erklärt hatte, daß 





1) Schr. II, 123. 
2) Schr. II, 124 ff. 


— 199. — 


er mit diefem Buche nie beabfichtigte, die Juden zu befehren, 
apoftrophirte fie in diefer neuen Ausgabe bei allen Gelegenheiten 
und that das, was er Lavater jo jehr verargte, in jeder An- 
merfung. Sa noch mehr! Er datirte die Vorrede derfelben jo 
früh, daß die Leſer nothwendig glauben mußten, „der Berliner 
Jude habe feine Armfeligfeiten aus den Anmerkungen des Herrn 
Bonnet ausgefchrieben“. Heißt das nicht die Waffen wider einen 
Unbewaffneten brauchen?) 

Dieſes Betragen mußte einen peinlichen Eindruf auf alle 
diejenigen machen, welche den Weifen von Genthod nur aus 
den begeijterten Schilderungen feiner Jünger, eines Matthiffon 
oder Sohannes von Müller, kannten. Mendelsjfohn brachte e3 
außer aller Faflung; weder er noch feine Freunde konnten ſich 
einen jo verjtedten Angriff und eine fo offenbare Heuchelei er- 
Hären. Nicolai mag von den Briefen gar nichts fagen. Ganz 
aufrichtig und gerade hatte der Genfer gegen Mofes nicht ge— 
handelt; er mochte gedacht haben, gegen einen Juden könne 
man fich fchon etwas erlauben.?) Mit noch größerer Entrüftung 
ſchreibt Leffing über Bonnets Benehmen, dejjen Briefe Mendels— 
fohn ihm zugefchidt Hatte.3) „Der Name Bonnet ift mir fo 
efel geworden, daß ich auch nicht einmal die Wahrheit von ihm 
lernen möchte. Ich Habe mich nicht enthalten fünnen, dem Abt 
Serufalem den Umjtand von der Antedatirung der Vorrede zu 
der neuejten Ausgabe feines Buches zu erzählen. Der Abt 
fagte zu verfchiedenen malen: das ift nicht artig. Und ich ant- 
wortete dem Abt jedesmal: es ijt mehr als nicht artig, es ift 
niederträchtig.. Sie find wahrlich verbunden, wenn Sie nicht 
gegen das andere Ertremum des Heinen Schleicher ausjchweifen 
wollen, den Umſtand befannt zu machen.‘4) 

Bor der Hand fchwieg Mendelsfohn, aber ex entichloß fich 

1) Schr. III, 9. 
2) Schr. V, 227. 
3) Schr. V, 187. 
4) Schr. V, 190. 


— 200 — 


jegt doch, jo ungern er aud) daran ging, feine Betrachtungen 
über Bonnet3 „Palingenefie” auszuarbeiten und „in das große 
Wespennejt zu ftören“.!) In verſchiedenen Briefen an Lavater, 
den Erbprinzen von Braunfchweig und andere, bejonders in 
feinen unvollendet gebliebenen „Betrachtungen über Bonnets 
Palingenefie” entwidelte er feine Anfichten über die chrijtliche 
Religion, auf die wir fpäter noch zurücdkommen Er hatte die 
feſte Abſicht, dieſe Handichrift, unter der zunächſt die „Betrach— 
tungen“ zu verſtehen ſind, niemals aus Händen zu geben, am 
allerwenigſten während des Kampfes. 

Und der eigentliche Kampf entbrannte erſt jetzt; von allen 
Seiten ſtürmte man auf Mendelsſohn los. 


Fünfunddreißigſtes Kapitel. 
Kölbele und Conſorten. 


„Mich hielten,“ ſchreibt Mendelsſohn den 30. März 1770 
an Avigdor Levi aus Glogau, der, nachdem er mehrere Jahre 
Hauslehrer in Berlin war, ſeit 1768 von Privatlectionen in Prag 
lebte, „vielfache Beſchäftigungen, und ganz beſonders der religiöſe 
Streit, in welchen ich mit einem chriſtlichen Theologen gerathen 
bin — immer habe ich dieſes gefürchtet und es iſt jetzt einge— 
troffen — vom Schreiben ab. Ich gebrauchte ſtets die größte 
Vorſicht, religiöſe und dogmatiſche Streitigkeiten zu meiden, da 
ſie ja zu nichts führen, wie wir es öfter aus ſo manchen der— 
artigen Parteikämpfen zur Genüge erſehen. . . .. Nachdem ich 
nun dem übereilten Theologen ſein Sendſchreiben öffentlich be— 
antwortet, beſtürmen mich ſeine Glaubensgenoſſen von allen 
Seiten; die Einen greifen mich in heftigen und ungeſtümen, die 
Andern in ſanften und ſchmeichleriſchen Worten an; die Einen 


) Leſſings Schr. XII, 226. 


— 201 — 


laden, die Andern fpotten, denn das ijt ihre Weife; jedenfalls 
aber beläjtigen mich ihre Worte und Träumereien, und machen 
mir viel zu ſchaffen.“) 

Eine ganze Menge neidifcher, ftreitfüchtiger Naturen freute 
fich Herzlich, endlich Gelegenheit gefunden zu Haben, mit dem 
von ganz Deutjchland‘ gefeierten Berliner Weifen einmal zu— 
ſammenſtoßen zu können. 

Die immer auf Streit und Zank lauernden Recenfenten 
und Zeitungsichreiber machten fich zuerſt über das Antwort- 
Tchreiben Mendelsfohns her. Ein Gefinnungsgenofje de3 aus 
feinen Kämpfen mit Leffing genugfam befannten Hamburger 
Hauptpaftors beurtheilte es in der „Hamburgiſchen Neuen Zei- 
tung“?) und verdrehte in der alleinigen Abficht, den Juden in 
ein faljches Licht zu ftellen, Mendelsiohns Worte in fo perfider 
Weile, daß diefer nicht Schweigen durfte. Er erließ auch wirklich 
am 10. Januar 1770 eine Erwiderung,?) auf die Zavater in 
feiner Antwort vom 14. Februar 1770 Bezug nahm.*) 

Schlimmer als alle trieb es ein vom Frankfurter Juden- 
haß genährter, gallfüchtiger Doctor beider Rechte, Johann Bal- 
thafar Kölbele mit Namen. 

Diefer ehrlofe, längſt verichollene Menjch verfolgte Men- 
delsfohn feit Yanger Zeit. Im Jahre 1765 griff er ihn im 
einem elenden Roman an, der unter dem Titel „Begebenheiten 
der Jungfer Meyern, eines jüdifchen Frauenzimmers, von ihr 
felbjt befchrieben“ erichien. In demjelben Jahre veröffentlichte 


1) Schr. VI, 444 f; vgl. III, 105. 

2) „In der neuen Zeitung No. 2 hat man Moſes Gedanken ganz 
verftellt. Mofes hat ſich deshalb bejchwert. Ich ſchicke heute feinen 
Auffag an Dumpf (den Herausgeber der Zeitung); ich hoffe doch, daß 
er ihn einrüden wird,’ jchreibt Nicolai an Leſſing. (Leſſings Schr. 
XIII, 231.) Das Datum dieſes Briefes (13. Zuli 1770) kann unmög- 
ich richtig fein, da Mendelsſohns Ermwiderung jhon in No. 11 der 
Zeitung (19. Januar 1770) eingerüdt war. 

3) 1, Aufl. S. 555 f. 

4) Schr. III, 56. 


— 202 — 


er aus Neid, daß der Jude von der Berliner Afademie den 
Preis erhalten hatte, eine flüchtige Vergleichung zwijchen der 
Weltweisheit und Meßkunde, wobei zugleich die über die Preis- 
frage von der metaphyfifchen Evidenz herausgefommenen Schrif- 
ten kurz beurtheilt wurden, und jchicte diefe Abhandlung mit 
einem franzöfiichen Briefe Mendelsfohn Zu; es war ein abge- 
ſchmackter Bekehrungsverſuch. Mendelsjfohn hielt e8 für das 
Beite, nicht zu antworten. Kaum war der „Phädon“ erichienen, 
jo verfprach Kölbele einen „Antiphädon“; der wurde aber fo bald 
nicht fertig. Jetzt drängte er fich auch in dieſe Streitigkeiten. 
Mit wahrer Gier fiel diefes „Ehrenmitglied der Königlich Groß— 
britannifchen deutjchen Gefellfchaft in Göttingen“ über Mendels- 
john und fein Schreiben an Lavater her. „Roheres und Pöbel— 
bafteres habe ich von einem kranken Chriſten, deſſen Krankheit 
notorisch ift!! noch nicht gelefen!“ verfichert Lavater, der ſich 
Freundichaft und Briefwechjel des Doctors verbat.!) Er fchimpft 
und fchmähet, beleidigt auf jeder Seite ſeines „Schreibens an 
den Herrn Mojes Mendelsfohn über die Lavateriihe und Köl— 
belifche Angelegenheiten“.?) Er weiß, freilich nicht in feinem 
Namen, nur nach der „Möglichkeit“, die fi) ein „Weltkenner“ 
vorjtellet, die zeitlichen Vortheile Herzuzählen, die Mendelsſohn 
an feine Religion feffeln: „eine gute Befoldung als Comtoir- 
ichreiber bei reichen Juden, jo manche Nebenvortheile der Com: 
toirfchreiber, und noch vielleiht ein Gewinnhaber von einer 
jüdiſchen Handlungsgefellichaft”; ev weiß, warum er von feinen 
„profefjormäßigen Wiſſenſchaften“ feinen Gebrauch madt, „denn 
was find die jährlichen kleinen Einkünfte eines Profefjors der 
Weltweisheit oder der fchönen Wiſſenſchaften gegen die Vor— 
theile eines Comtoirſchreibers?“s) Herr Kölbele fcheint über— 
haupt, wie Mendelsjohn äußert, von der Achtung gar feinen 


) Schr. III, 9. 

2) Frankfurt a. M. 1770. (48 ©) Das Schreiben ift datirt vom 
26. Hornung 1770. 

s) ©. 10 ff. 


— 203 — 


Begriff zu haben, die man dem geringjten Menfchen jchuldig 
if. Mit der äußerjten Verachtung Spricht er von den berühm- 
teften Männern der jüdischen Nation; ihm gilt Maimonides 
nicht3 gegen Eifenmenger, feinen Lieblingsautor, der allen Ver— 
nünftigen ſchon damals längſt verächtlich geworden war. 

Mendelsfohn Lächelte zu ſolchen Schmähungen; ein Kölbele 
fonnte ihm die Ruhe nicht jtören. 

„Cerberus heißeres 
Bellen ſcheuchet Dir vom Antlitz die lächelnde 
Sanftmuth nie; ſteigt ſein Odem 
Ihm vom Rachen gleich giftesvoll, 

Deinem ewigen Ruhm raubt er den Glanz doch nie“ 
ſingt der polniſche Jude Iſachar Falkenſohn Behr in ſeiner Ode 
„An Herrn Mendelsſohn“1) (den 15. April 1770) und be 
zeichnet in Ddiefen wenigen Worten treffend das Gebahren des 
Frankfurter Gegners. 

Mendelsjohn war übrigens herablafjend genug, diejen 
Kölbele, „der ein Thor ift und blos Verachtung verdient‘‘,2) 
einer furzen Antwort zu würdigen. Er verfpricht dem Doctor 
beider Rechte, daß er allenfalls hart auf ihn zuſtoßen, nie aber 
mit ihm zufammenjtoßen fönnte, und giebt feinen Leſern Die 
Verfiherung, daß er in diefem Streite nichts mehr fchreiben 
würde. „In diefer Angelegenheit mögen Aufforderungen, Bus 
muthungen, Angriffe, Widerlegungen herausfommen, von mem 
man will, fo viel man will, jo höflich oder unhöflich man will, 
ic) werde nicht eher antworten, als bis ich glauben werde, 
meine Zeit nicht nüßlicher anwenden zu können.“ ?) 

Und was für ärgerliches Gewäſch fam nicht noch mit jeder 
Meſſe heraus! Die Saite, die nur einmal ganz leife berührt 
war, „ſchwirrte, wie Mendelsfohn ſich ausdrüdt, eine Zeit lang 


) Gedichte von einem polnifhen Juden (Mitau 1772), 68. 
2) Leſſings Schr. XIII, 216. 
3) Schr. III, 78. 


— 204 — 


im Publifum nad) und wurde nun von plumpen Fingern bis 
zum Berreißen gejchlagen.“?) 

Der Paſtor Hefje zu Benedenftein am Harz trat mit 
„Anmerkungen über Mendelsfohns Schreiben an Lavater“?) her- 
vor und fandte ihm das Schriftchen nebjt einem Privatbriefe 
durch den angefehenen Daniel big. Er verherrlichte das 
Chriſtenthum; ex fchrieb nach feiner Weberzeugung. »Da er fich 
in den Schranken der Mäßigfeit hielt, jo erwiderte Mendels- 
john auf feinen Brief und hätte jogar einige der Anmerkungen 
nicht unbeantwortet gelajjen, wenn ihm diejelben einige Wochen 
früher in die Hände gefommen wäre. Er ift nicht wenig er- 
ftaunt, daß der fromme Paſtor fid) nicht entblödete, aus den un— 
erforfchlichen Wegen der Borjehung auf ihre Abfiht, von dem 
bürgerlihen Drude der Juden auf die Unwahrheit des Juden— 
thbums zu Schließen. „Das Sonderbarjte ift,“ bemerkt Men 
delsjohn in feinem Schreiben an ihn, „daß man chriftlicherfeits 
alles mögliche thut, diefe Argumentation nicht verloren gehen zu 
lafjen. Man hält uns forgfältig unter dem Drude, um uns 
dejto fiegreicher widerlegen zu Fünnen.“?) 

Wir wollen nicht alle die Schriften und Schriftchen 
einzeln vorführen, welche in dem Lavater » Mendelsfohnichen 
Streite in die Deffentlichkeit traten. Bon ihnen gilt, was ein 
ungenannter Vertheidiger Mendelsfohns in dem holprigen Vers 
ausdrüdt: 


So ftreiten unftudirte Velten 

Um Saden, die fie nicht verftehn, 

Und endigen den Streit mit Schelten. 

Die Thoren follten erft zu den gelehrten Velten 
Und Kunzen in die Schule gehn! 


1) Schr. III, 97. 

2) Schreiben des Herrn Mendelsfohn in Berlin an den Herrn 
Diafonus Lavater zu Züri; nebſt Anmerkungen über daſſelbe. 
Halle 1770. 

3) Schr. V, 513—515. 


— 205 — 


Die ftreiten dialectifch ſchön, 

Und ohne Wortfrieg, ohne Schelten, 
Um Dinge, die fie ganz verftehn, 
Und fehlen ihres Weges jelten, 
Weil fie den Weg der Schule gehn; 
Denn da läßt fich fein Srrlicht fehn. 


Da fchrieb der Eine einen Bogen voll „Gedanken über die 
Bumuthung des Herrn Lavater“,!) und wies nah, daß Men- 
delsfohn ein Jude bleiben müſſe; der Andere jtellte Betrach- 
tungen über das Schreiben Mendelsfohns an; der Dritte erging 
ſich in Reflerionen; der Vierte Fleidete feinen Judenhaß in 
Briefen ein: Alle trugen den Stempel der Gehäfligfeit an fich.?) 
Der Frankfurter Advocat aber wurde von niemand übertroffen. 








) Gedanfen über die Zumuthung des Herrn Diafonus Lavater 
an Herrn Mendelsjohn ein Chrift zu werden, in einem Schreiben eines 
guten Freundes an einen andern. Hamburg 1770. (16 ©.) 

2) Reflexions d’un &tranger de la communication catholique 
sur la lettre de Mr. Mendelssohn à Mr. Lavater. Berlin 1770. 
(16 ©.) 

Freimüthige Gedanken über Mojes Mendelsſohns Sendichreiben 
an Lavater, an einen Freund in Sadjen. O. O. u. J. 

Betrachtungen über dad Schreiben des Hrn. Mendelsjohn an den 
Diakonus Lavater zu Züri. Leipzig 1770, (32 ©.) 

Unter dem Titel: Lettres Juives du celebre Mendels-Sohn, 
Philosophe de Berlin, avec les Remarques et Reponses de Mr. le 
docteur Kölbele et autres savants hommes (Francfort et La Haye 
[Aux Depens de la Compagnie] 1771) (368 ©.) erſchienen in fran= 
zöſiſcher Ueberjegung: 

Mendelsjohns Schreiben an Lavater, Lavaters Antwort an Mens 
delsjohn, nebſt Nacherinnerungen. 

Bemerkungen des Paſtor Heſſe (fiehe S. 204 Note 2). 

Kölbeles erftes und zweites Schreiben an Mendelsjohn. 

Betrachtungen über das Schreiben des Herrn Mendelsjohn. 
Ferner ift in diefer Sammlung enthalten: 

Autre Lettre concernant Mr. Mendelssohn. 

Remarques Diverses sur le Judaisme Philosophique de Mr. 
Mendelssohn. 

Courte Demonstration que la Religion Chretienne est visible- 
ment divisee, 


— 206 — 


Der verächtlihe Ton, in welchem ihn Mendelsjohn in den 
„Nacherinnerungen zu Lavaters Antwort“ abgefertigt hatte, jtei- 
gerte feine Wuth aufs höchſte. Er hatte dem „wirklich geliebten 
Manne” noch vieles zu jagen und jtellte fich in einem „Zweiten 
Schreiben an Herrn Moſes Mendelsfohn, infonderheit über den 
ehemaligen Mendelsſohnſchen Deismus“1) wiederholt an den 
Pranger. Recht heimtückiſch und jefuitifch greift er jetzt aus den 
früheren Schriften Mendelsfohns, aus den „Briefen über Die 
Empfindungen”, den „Bhilofophifchen Geſprächen“, aus dem 
„Phädon“, einzelne Stellen aus dem Zufammenhange auf, aus 
denen diefer Menſch, „der als Deifte die Univerfität verließ, 
dann wieder aus wahrer Ueberzeugung zum Chriftenthum über- 
ging“,2) ſophiſtiſch herausklügelte, daß der „geliebte Jude“ ein 
Deift fei und den wahren Glauben an Offenbarung nicht kenne. 

Bon diefer Schrift, in der ſich Gehäffigkeit und Verleum— 
dungsſucht förmlich überboten, wandten ſich alle Bejjergefinnten 
mit Verachtung ab; nur die Geſinnungsgenoſſen des „Doctors 
beider Rechte und — einige frömmelnde Juden labten fi an 
diefen Schmähungen; bejonders letztere, welche ausgeſprengt 
hatten, Mendelsfohn Hätte Aussprüche der jüdischen Weifen fir 
Schartefen erklärt, freuten ji, e3 einmal „ſchwarz auf weiß“ 
zu haben, daß ihr „neumodifcher“ Glaubensgenofje als Deift 
und wie die liebenswürdigen Prädicate, die fie ihm beilegten, 
ſonſt lauten, öffentlich verfchrien fei. 

Mendelsfohn ſchwieg. „Sch würde es mir ſehr verdenfen,“ 
heißt es in einem Briefe an feinen Freund und Berwandten 
Elfan Herz in Leipzig vom 22. Juli 1771, „wenn ich mit 
Köfbele ferner Zeit verderben ſollte. Rechtſchaffene Leute find 
nicht damit zufrieden, daß ich ihm das erſte mal geantwortet 
habe. Hinjichtlich folcher Heißt es: Antworte dem Thoren nicht 
in feiner Thorheit! Seine Beihuldigungen find fo unverjchämt 
und feine Beweife jo dumm, daß ich mich ſchämen würde, darauf 





!) Frankfurt a. M. 1770 (132 ©.), datirt vom 14. Heumonat 1770. 
2) Zweite Sendichreiben ©. 46. 


— 207 — 


zu antworten. Sie jagen, viele unferer Glaubensgenofjen könn— 
ten ihm Glauben geben. Lieber Herr Elfan! Ueber die Kölbele 
unferer Glaubensgenofjen moquire ich mic) herzlich, denn ein 
vernünftiger Menſch muß die Albernheit dieſes unverftändigen 
Schwätzers gar bald einjehen. Ueberhaupt pflegen Chrijten und 
befonders Theologen leicht jemand de3 Deismus zu befchuldigen, 
weil ihre geoffenbarte Religion gar exjchredlich viel zu der 
natürlichen Hinzu zu thun Hat, das über und wider die Ver- 
nunft ift.“') 

Liegen fi) auch) mehrere Stimmen triumphirend über den 
Kölbeliihen Angriff vernehmen, jo verharrte Mendelsjohn den- 
no in einem ihn nur ehrenden Stillichweigen. „Wer die Ab- 
fiht, mich zu reizen, fo deutlich merfen läßt, der foll Mühe 
haben, fie zu erreichen.““) Er hatte „das Glüd oder den Eigen- 
finn, bei folchen Zunöthigungen gleichgültig zu bleiben.“ 

„ber was ijt denn das für ein neuer Angriff,“ fragte 
Leſſing am 9. Zanuar 1771 Mendelsfohn, „der in den Senaifchen 
Beitungen von Lavater auf Sie gefchehen? ch Iefe dieſe Zei- 
tung nicht und Habe fie auch in ganz Braunfchweig nicht auf- 
treiben fünnen. Haben Sie doch ja die Güte, mir das Blatt 
mit der erjten Poſt zu fenden.‘?) 

Diefes Zeitungsblatt hat Mendelsfohn- in der That nicht 
ohne herzlichen Verdruß Iefen können. Gerade zur Zeit, als 
die Befehrungsgefchichte jo viel Auffehen machte, hatte ein vor— 
Tchneller Menſch — man fagte, es fei Zimmermann gewefen — 
Lavater den übeln Dienjt erwiefen, aus feinem lateinischen Reife- 
berichte die Mojes Mendelsfohn betreffende Stelle, welche ihm, 
Gott weiß wie, in die Hände gefommen war, in die Jenaiſche 
gelehrte Zeitung?) einzurücden. Es kann nichts ungereimter fein 
als diefer Beriht. Lavater hatte in Mendelsſohn alles gefehen, 








1) 1. Aufl. ©. 495, 492. 
2) Schr. III, 98; V, 505. 

8) Schr. V, 189. 

*) 1770, Stüd 82; vgl. Schr. III, 98. 


— 208 — 


was er in ihm fehen wollte, fogar, daß diefer einen geiftigen 
Meifias erwarte. Allen denjenigen, die Mendelsjohns religiöfe 
Gefinnungen nur einigermaßen fannten, mußte dieſes allerdings 
lächerlich erjcheinen.) Er felbjt erkannte fi) weder in dem 
ungeheuren Zobe, das ihm gefpendet, noch in den Meinungen, 
die ihm zugefchrieben wurden. Jenes überjtieg To ſehr alle 
Grenzen, „daß wol jedermann ein Merkliches auf die Rechnung 
der Freundichaft und der Begierde eines jungen Menjchen, etwas 
Außerordentlihes auf feiner Reife geſehen zu haben, eben 
mußte”. Aber die Meinungen? „Sch erkenne fie ſchlechterdings 
nicht für die meinigen,“ fchreibt er nicht ohne Unwillen an 
Zavater den 4. December 1770, „denn fie widerjprechen theils 
meinen Religionsbegriffen und theils meinen philofophifchen 
Grundfäßen; und ich glaube im Gewiſſen verbunden zu fein, 
mir öffentlich feine Meinungen zufchreiben zu lajjen, die id) 
nicht habe. Sch erwarte nächjtens Ihre gütige Antwort und 
würde es mich unendlich freuen, wenn diefe Beichreibung ent- 
weder ganz untergejchoben oder wenigſtens zum Theil verfälfcht 
twäre, damit ich der Nothwendigfeit üiberhoben fein möge, Diele 
fo Schwierige Stelle nochmal® zu berühren.“ ?) 

Zavater lehnte die Urheberſchaft jenes Reifeberichtes ganz 
von ſich ab; er betheuerte vor dem Allwiljenden, daß er nicht 
den mindejten Antheil an der Publication Habe, auch nicht er- 
vathen fönne, wie „der Auffab auf Jena gekommen“ fei. Er 
that, was Billigfeit und Redlichkeit von ihm forderten; in der— 
ſelben Senaifchen Zeitung erklärte er: „Ich kann mein Be 
fremden über die Publication nicht lebhaft genug ausdrücden. 
Sch Hatte den Schritt gegen Herrn Mendelsjohn ſelbſt öffentlich) 
als übereilt tarirt. Beinahe hätte ich mir Vorwürfe gemacht, 
der Unterredung mit ihm auch nur in den allgemeinften und, 
wie ich glaube, unverfänglichiten Ausdrüden Erwähnung gethan 
zu haben — und jet erdreijtet fich eine fremde Hand ohne all 

) Schr. V, 227. 

2) Schr. III, 9. 





— 209 — 


mein Wiffen, einen verjährten, jugendlichen Privatauffag, der 
nicht einmal von mir, fondern von einem meiner ehemaligen 
Reifegefährten verfaßt worden ift, als meine Arbeit an das Licht 
zu fegen! ch ſehe nicht, wer das Recht hat, eines Lebenden 
Verfaſſers Manuferipte, zumal folche, die perjönliche Uxtheile, 
welche von wichtigen Folgen fein konnten, enthalten, ohne fein 
Wiſſen dem Publiftum aufzudringen.“ 1) 

Mendelsfohn, froh einer Antwort überhoben und de3 un— 
erquidlichen Streite3 endlich einmal los zu fein, beruhigte ſich 
bei diefer Erflärung zum großen Verdruß Leſſings, der erwartet 
hatte, „er würde es doch nicht wiederum nach einem jo hämi- 
ſchen Schlage mit einem verrätherifchen Streiheln Hinterher gut 
fein laſſen wollen.“?) 

WMaeandelsſohn aber war eine zu ireniſche Natur und be— 
mwahrte Ruhe und Stillfehweigen, wenn nicht die äußerjte Noth- 
wendigfeit ihn zur WVertheidigung antrieb. Wie ganz anders 
würden die Funken gefprüht haben, wenn Zavater fih an einen 
Leffing gewagt hätte? 


Sechsunddreißigſtes Kapitel. 
Die Bertheidiger. 


In diefem über ein Jahr währenden Kampfe jtand Men- 
delsfohn ganz allein. Hatten fi) auch die Befjergefinnten unter 
den chriftlichen Gelehrten gegen das Lächerliche, Anmaßende und 
Unfluge der Lavaterfchen Herausforderung ausgefprochen und 
gewünscht, Mendelsfohn hätte vom Beginne an die Rolle eines 
Voltaire gefpielt, auf die gegründeten und ungegründeten Spötte- 





1) Geßner, a. a. O. II, 32; Schr. III, 100 ff; V, 228. 
2) Leſſings Schr. XII, 289. 
Kayierling, Moſes Mendelsjohn. 14 


— 210 — 


reien geantwortet: „dieſem Manne ift nicht? Heilig“,!) fo trat 
doch niemand öffentlich für ihn in die Schranfen. 

Freilich, der Angegriffene und Gefränkte war ein Jude — 
wie fonnte man fi) auc eines Juden annehmen! Wer hätte 
es aud) wagen dürfen, in einer fo brennenden Frage feine 
Meinung zu Gunften des Juden abzugeben! Die aufgeflärten 
Theologen? Sie mußten für ihre Stellung fürchten, eine un- 
vorjichtige Yeußerung hätte fie um ihr Brot gebracht. Sie be- 
gnügten fi, und ſchon das ift nicht gering anzufchlagen, dem 
muthigen Kämpfer in Privatbriefen, gleichſam Condolation- 
fchreiben, ihre Hochachtung zu verfichern. Der Hofrath Michaelis 
in Göttingen, der bedeutendfte Theologe feiner Zeit, gab fein 
„weifes Urtheil” über den Beichluß des Streites ab, und Men- 
delsfohn dankte ihm dafür.) Der epochemachende Theologe 
Sal. Semler in Halle richtete folgendes Schreiben an ihn: 

„Hochgeſchätzter Mann! 

Ich bin zufrieden, wenn Sie bei der Erfcheinung, die ich 
verurfache, in die Verwunderung nur einige Genehmhaltung 
meiner dreijten Entjchliegung einfließen laſſen. Vielleicht ziehe 
ich einen Theil von jener Aufmerffamfeit auf mich, welche viele 
gelehrte Zufchauer in Bewegung gejeßt hat, da Lavater Ihnen 
in einer viel befjern Gemüthsart etwas zuzumuthen fcheint, 
woraus Leute einer gewiſſen Lage einen jehr mittelmäßigen 
Triumph erwarten. Wenn ich nicht andere Empfehlungen meines 
Lehrbegriffes und der daran Hangenden großen Glückſeligkeit 
hätte, als die ich alsdann ergreifen wollte, wenn Sie öffentlich 
ein Chriſt würden, fo möchte ich der chriftlichen Religion - wol 
nicht viele Dienjte Teiften fünnen. Ach habe ohne Zweifel nun 
den Unwillen einer großen Anzahl gereizt, aber ich freue mich, 
daß ich einfehe, es fei die Ehre, einem Menfchen zur vernünf- 
tigen treuen Anwendung feiner Erfenntniß, zur deutlichen Ehre 


. N) Zeffing Schr. XIII, 211, 231. 
2) Schr. V, 504. 


— 211 — 


Gottes behülflich zu fein, von mir überaus wohlfeil exfauft, 
wenn ich auch zehn theologifche Reputationen dabei verloren 
hätte.“ 1) | 

Das war von dem aufgeflärten Semler nicht wenig ge— 
wagt! Wer äußerte fi) aber auch noch in ähnlicher Weife? 
Heyne in Göttingen wünfchte, „den Herrn Lavater hinzugeben 
und den Herrn Mendelsfohn zum Profelyten zu machen, welcher 
der Religion mehr Ehre bringen würde, als jener hibige - 
Eiferer.“?) Der mit der freien Theologie fich brüftende Herder 
legte pfäffifh die Hand auf den Mund, und der apokryphiſche 
Hamann rieb fich feelensvergnügt die Hände und mar auf den 
Ausgang gefpannt, der feinen Erwartungen allerdings nicht ent- 
Iprad. „Der Erfolg Hat gezeigt,“ fchreibt er noch acht Jahre 
nad) Beendigung des Streites feinem „Herzensbruder” Lavater, 
daß „ein Mann wie Mendelsfohn, der Mofen und die Pro- 
pheten hat, Ihrem Bonnet überlegen fein mußte, und e3 mar 
daher ziemlich abzujehen, daß Sie aus dem ganzen Handel nicht 
fo rein abfommen konnten, al3 Ihr Widerfacher.“ 3) 

Weshalb ergriff aber nicht Leffing für feinen Freund 
Partei? Leffing hatte längjt gewünfcht, ihn in eine theologifche 
Fehde verwidelt zu jehen, denn er hoffte, daß fein Mofes den 
chriftlichen Theologen einmal ordentlic, die Wahrheit jagen würde. 
Als Mendelsjohn in der „Epijtel eines Layen“ fir den Verfaſſer 
des „Zweckes Jeſu und feiner Jünger“ gehalten wurde, fchrieb 
Leffing an feinen Bruder Karl: „Vielleicht wird die Beſchul— 
digung allgemeiner, und ich werde herzlich lachen, wenn Mofes 
endlich gezwungen iſt, feinen ehrlichen Namen zu retten.‘ %) 
Dringend erfuchte er ihn, Lavater und den befehrungsfüchtigen 
Theologen mit aller möglichen Freiheit und allem nur erjinn- 
lihen Nachdrude zu antworten. „Sie allein dürfen und können 


1) Schr. I, 20. 
2) Schr. I, 20. 
3) Hamanns Schr. V, 275. 
9 Leſſings Schr. XII, 512. 
14 * 


— 212 — 


in diefer Sache fo ſprechen und fchreiben und jind daher unend- 
ich glücklicher, al3 andere ehrliche Leute, die den Umſturz des 
abicheulichiten Gebäudes von Unſinn nicht anders, al3 unter 
dem Vorwande, es neu zu unterbauen, befördern können.“!) Es 
ift uns fein Geheimniß, wer die „andern ehrlichen Leute” waren. 
Der ehrliche Leſſing wetzte eben in jener Zeit das Schwert, 
um das ganze glorreiche Lavaterfche Chriſtenthum, die ganze 
heilige Orthodoxie, mit einem Streiche zu vernichten. Wie hätte 
man auch von Lefjing erwarten können, ſich mit einem Lavater 
allein einzulaſſen! 

Dergeftalt wäre Mendelsfohn fich allein überlaffen ge- 
blieben, wäre nicht ein Geiftesveriwandter des „Fragmentiften“ 
nod) gegen Ende des Kampfes herbeigeeilt, ihm Beijtand zu 
leiſten. Dieſer treue Secundant ift der anonyme Verfaſſer des 
Heinen „Dienjtfreundlichen Promemorias an die, welche den 
Herın Moſes Mendelsfohn durchaus zum Chrijten machen 
wollen, oder ſich doch wenigſtens herzlich wundern, daß er es 
noch nicht geworden ift.“?) 

„Haben Sie das Promemoria gelefen, das in der Teßten 
Mefje herausgefommen?“ fragte Mendelsfohn in einem Schreiben 
vom 15. November 1771 feinen Freund Elfan Herz in Leipzig. 
„sh kenne den Berfaffer nicht, finde aber viele geſunde Ver— 
nunft darin.“?) Wahrlich ein folcher Vertheidiger wiegt alle 
genannten Gegner auf! „Was foll das Gefchrei an allen Eden,“ 
heißt es in diefem trefflichen Schriftchen, „gleich den Weinrufern, 
die für richtige Bezahlung nach einer erlernten Formel Ab- 
nehmer anloden? Die Sade, ganz von der Nähe betrachtet, 


Schr. V, 189. 

2) Dhne Drudort, 1771. (30 ©.) Einzelnen Andeutungen nad) 
zu ſchließen, wohnte der Berfafjer in Hamburg; ©. 10 heißt es: „Nach 
9... . zu gehen, ift Mendelsfohn nicht zu rathen; dort fünnte was 
paffiren, wenn ihn ein G(oeze) an der Spike feiner Gläubigen im 
Zorne anſähe.“ 

3) 1. Aufl. ©. 498. 


— 213 — 


bewegt zum Unwillen oder zum lauten Laden. Halb Europa 
führte Krieg, aber zur Wiederherftellung des lieben Landfriedeng 
it faum fo viel geredet und gefchrieben worden, als jet über 
die ganz unmwahrfcheinliche Bekehrung eines Berlinifchen Juden. 
Wunder wäre es nicht, wenn diefer aus einem dem Menfchen 
angeborenen Hang zur Eigenliebe fich von nun al3 den Mittel- 
punkt aller gelehrten und fonderlich der theologischen Bemühungen 
anfähe. Doc folche Kleinigkeiten mögen ungerügt hingehen: 
laßt ung lieber unparteiifch prüfen, ob ein Anfchein vorhanden 
fei, daß Mofes Mendelssohn zur chrijtlichen Kirche treten werde? 
Ohne vorzügliche ftarfe Beweggründe wird er es nicht thun; 
zum Spaß ändert ein Weifer feine Meinung nicht in wichtigen 
Dingen. Die Mittel kommen hier nicht in Anschlag: man hoffe 
auf übernatürliche Wirkungen, auf den Dienjt eines Paſtors, auf 
das herzerſchütternde Gefchrei eines Autors, auf die Stärke dog— 
matifcher oder polemifcher Schriften; alles dies iſt einerlei.“t) 

Den Theologen, denen es Wonne iſt, Brofelyten zu machen, 
ruft er allen Ernſtes zu: „hr werdet unter den Ehrijten Leute 
genug finden, die in Lehre und Wandel eurer Ermahnungen be= 
dürfen, arbeitet erſt an diefen; alsdann, wenn ihr ganz mit 
ihnen fertig jeid, alsdann erjt umziehet Land und Waſſer, jchreibt, 
ruft, ermahnet, aber fchimpfet nicht, fondern überzeuget, um neue 
Mitglieder zu werben, nur hütet euch, daß ihr aus ihnen nicht 
zwiefache Kinder der Hölle machet.“?) 

Zuletzt nachdem die Waffen von allen Seiten längjt geſtreckt 
und der Friede vollends wiederhergejtellt war, bot ſich dem 
wißigen Lichtenberg in Göttingen eine erwünſchte Gelegenheit, 
auf die Lavater-Mendelsfohnfche Streitigfeit einen hämiſchen 
Blick zu werfen. 

Zwei. Juden Hatten nämlich zu Ende des Jahres 1770 
von dem frommen Lavater die Taufe empfangen. Es waren, 
wie Karl Leffing feinem Bruder meldet, Liederliche Leute, die 

) Bromemoria, 6. 

2) Bromemoria, 26. 


— 214 — 


durch nichts zu dem Neligionswechfel geführt wurden, als durd 
ihre Armuth; „einen Schwärmer, wie Lavater, zu Hintergehen, 
waren fie noch zu feine Werkzeuge gewefen.“!) Lavater fchwelgte 
in Öflücdfeligfeit; er meinte in feinem Eifer, die ganze Liebe 
Judenheit würde dem Beifpiele diefer fchändlichen, ihn betrügen- 
den Ereaturen folgen. Aus diefem feligen Traume weckte ihn 
nun Lichtenberg durch die Schrift: „Timorus, das ift Verthei— 
digung zweier Iſraeliten, die, durch die Kräftigfeit der Lavateri- 
chen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürfte bewogen, 
den wahren Glauben angenommen haben, von Konrad Photorin, 
der Theologie und Belles Lettres Candidaten“,?) in welcher 
diefer feine fatyrifchen Pfeile gegen den Diafonus richtete, „der 
fi) im Geifte die Stüße der chriftlichen Kirche und den unjterb- 
lichen Befehrer Mendelsfohns nennen hörte“. Statt ſolche Dinge 
zu unternehmen, rieth ihm Lichtenberg, „Lieber zu feiner eigenen 
höchſt nöthigen und nicht lange mehr aufzufchiebenden Eur ein 
weltliche8 Buch zu leſen,“ denn er hätte fich „Durch fein langes 
Guden in die Ewigkeit die Augen ganz für den zeitlichen Hori- 
zont berdorben.‘3) 

Diefes war, feiner Anfiht nach, das rechte Mittel, Men- 
delsfohn und andere feinesgleichen vor Lavaterfhen Zumu— 
thungen in Zukunft zu fchüßen. 

Sp ging Mendelsjohn aus dem ihm aufgedrängten Rampfe 
jiegreich und ehrenvoll hervor. 

Diefer Bekehrungsverſuch, der von allen freidenfenden Gei- 
jtern verurtheilt wurde, übte nicht allein einen wejentlichen Ein- 
fluß auf feine Gefundheit, fondern auch auf die fernere Rich— 
tung feines Denkens und öffentlichen Wirkens. Er machte id 
Vorwürfe, ſich in feiner bisherigen ſchriftſtelleriſchen Thätig- 
feit auf Philoſophie und deutſche Literatur befchränft, über fein 





') Leſſings Schr. XIL, 294; XIII, 304. 

2) Berlin, (Göttingen) 1773; vermifchte Schriften (Göttingen 1844), 
III, 79 ff. 

3) Lichtenbergs verm. Schr. III, 123. 


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— 215 — 


Verhältniß zu feiner Religion und feinen Glaubensgenofjen ganz 
geihwiegen und die jüdische Wiſſenſchaft jo ftiefmütterlich be— 
Handelt zu haben. Er hatte den „Prediger“ (Kohelet) kommen— 
tirt und eine Logik gefchrieben, eigentlich einen furzen Commen- 
tar zu der unter dem Titel „Milloth ha-Higgajon“ bekannten 
Logik Maimunis, welche er jemand fchenfte, der, wie es in 
einem Briefe an Leſſing Heißt,!) „die Schande auf fich genom- - 
men bat, fie unter feinem Namen befannt zu machen.“ Ex 
Tchenkte fie Samfon Kalir, einem armen wandernden jüdifchen 
Gelehrten aus Serufalem, damit er durch den Verkauf der 
Schrift ſich „einigen Bortheil verfchaffen möchte“. Derſelbe ließ 
das Werkchen im Sahre 1761 in Frankfurt an der Oder druden 
und gab fich Fed für den Verfaſſer aus.?) Der Undankbare! 
Während er in der VBorrede den reichen Ephraim Veitel und 
deſſen Gattin mit Lob überſchüttet, Hat ex Fein Wort des Dankes 
für den Verfaſſer und begnügte ſich mit der zweideutigen Wen- 
dung: „Gott hat mir eine Erflärung zugeführt, welche noch nie 
veröffentlicht worden: ijt.‘“ 

Noch inmitten des Lavaterichen Streites faßte Mendelsfohn 
den Entſchluß, nunmehr das Berfäumte nachzuholen, feine Kräfte 
für Juden und Judenthum zu veriwenden und mit aller Ent- 
Tchiedenheit für fie einzutreten. 


) Schr. V, 173. 

2) paon wma dy 5° o’auın) ran me ia Logica R. Mosis Mai- 
monidis cum explicatione R. Samson Kalir atque censura am- 
plissimae Facultatis Philosophicae Academiae Francofurtanae. 1761. 
Eine 2. verbefjerte und vermehrte Auflage, in der fih Mendelsjohn 
al3 Berfafler nennt, wurde durch den Studioſus Bär beforgt (Berlin 
1765; die 3. Aufl., mit Zufägen von A. Jaroslaw, erihien Berlin 
1784); die 4. mit Zufägen von Iſaak Satanow, Berlin 1795; die 5. 
Aufl. Wien 1822; die 6. mit deutfcher Ueberjegung von R. Fürftenthal, 
Breslau 1828, 


———— 


Neuntes Bud). 
Auszeichnungen, 


Siebenunddreißigites Kapitel. 


Mendelsjohn und der Grbprinz von 
Braunihweig. ' 


Der Erbprinz Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, 
ein Zögling des aufgeflärten Abtes Jerufalem, war eine Natur, 
in deren wunderbaren Mifchung ein fchranfenlofer Ehrgeiz und 
eine auf glänzende äußerliche Erfolge gerichtete Eitelkeit Hand 
in Hand gingen mit jenen philofophiich-fchöngeijtigwifjenfchaft- 
lichen Bejtrebungen, wie fie in der zweiten Hälfte des acht— 
zehnten Jahrhundert3 bei den meijten deutichen Fürften gefunden 
wurden. Er hatte den „Phädon“ gelefen und war davon fo 
entzücdt, daß er fehnlichjt wünſchte, den Verfaſſer perſönlich 
fennen zu lernen. Dieſes Verlangen brachte er auch während 
eines Aufenthaltes bei feinem föniglichen Oheim, dem großen 
Friedrich, im Herbſte 1769 in Ausführung. 

„Montag den 30. October ließ der Erbprinz von Braun- 
ichweig den ſehr berühmten Gelehrten Herrn Moſes Mendels- 
fohn zu fih aufs Schloß bitten; er unterhielt fich mit ihm über 
philofophifche und moralifhe Materien und bezeugte gegen ihn 
eine befondere Gnade und Hochadhtung“.!) 


') Berl. Priv. Zeitung von Dienftag den 31. October 1769. 


— 217 — 


Mendelsfohns Freunde jubelten über diefe Auszeichnung. 
Nicolai berichtete fofort an Herder, „daß der Erbprinz von 
Braunfchweig bei feiner letzten Anweſenheit in Berlin Herrn 
Moſes ganz ungemein gnädig begegnet, ihn der größten Hoch- 
achtung verfichert und ihm verfprochen habe, mit ihm über den 
„Phädon“ zu correfpondiren.“!) Leffing, „der fchon im Ab— 
Ichiednehmen begriffen war“, um die, zur aufrichtigen Freude 
Mendelsfohns, kurz vorher erlangte Stelle als Bibliothefar in 
Wolfenbüttel anzutreten, erhielt durch Ebert, den Freund des 
Erbprinzen, die Nachricht, daß diefer „unfern vortrefflichen Mofes 
Mendelsſohn Fennen gelernt hätte und über diefe neue Befannt- 
ſchaft jehr erfreut wäre. Mendelsfohn hätte ihm versprochen, 
ihm feine neue Edition des „Phädon“, zu fchiden, und der 
Erbprinz würde fich darauf mit ihm in eine Correfpondenz ein- 
laſſen. Er wünfchte fehr, daß es möglich wäre, „auch ihn nad) 
Braunfchweig zu ziehen. WBielleicht fünnen Sie dazu etwas bei- 
tragen.‘?) 

Um wie viel lieber ging Leffing jebt nach Wolfenbüttel, 
da fich ihm Ausficht bot, mit feinem „älteften und bejten Freunde“ 
vereint leben zu fünnen. „Sch wüßte nichts in der Welt,“ er- 
widerte er gleich nad) Empfang des Briefes an Ebert, „wodurd) 
ji der Prinz meiner ganzen Ergebenheit und Verehrung mehr 
hätte verfichern Fünnen, al3 dadurch, daß er Bekanntſchaft mit 
meinem älteften und beten Sreunde in Berlin hat machen wollen. 
Daß fie einander gefallen würden, war fein Zweifel, und mas 
wollte ich nicht drum geben, wenn es möglich wäre, daß ihn 
der Prinz aus jenem Orte ziehen fünnte, wo ich weiß, daß er 
ganz gegen feine Neigung ift.“ 3) 

Es ift wahr, das Leben in Berlin behagte Mendelsjohn 
längſt nidt. Er fühlte ſich vereinfamt; wenn er vernünftigen 
Umgang haben mollte, jo „mußte er leſen oder an Freunde 

1) Herders Lebensbild, Il, 101. 


2) Lejfingd Schr. XIII, 198, vgl. 202. 
3) Leſſings Schr. XII, 238. 


— 218 — 


Ichreiben;“!) er ſah ſich „beitändig von einem Wuft von Ge— 
Ichäften geplagt, die fo unangenehm waren, daß er feine ganze 
Philofophie zufammennehmen mußte, um das Dafein nur er- 
träglich zu finden“.2) Im feinem Unmuthe kam ihm fogar ein- 
mal der Gedanke, nach dem Kleinen Bückeburg überzufiedeln. 
Er blieb, Dank der Vorfehung, in Berlin. 

An demfelben Tage, an welchem Ebert Leſſings Brief 
erhielt, traf auch der „Phädon“, in eben erjchienener dritter 
Auflage, von einem Schreiben Mendelsjohns begleitet, bei dem 
Erbprinzen ein. „Die Huldreihen Ausdrüdungen,“ heit es in 
diefem herrlichen Schreiben, „in welchen Ew. Durchlaucht Dero 
Wohlgefallen an diefem kleinen Tractate zu erfennen zu geben 
geruhet, werden meinem Geijte jederzeit gegenwärtig bleiben, 
und mich mitten unter unvermeidlichen Zerjtreuungen aufmuntern, 
zum Dienjte der Wahrheit und Tugend ein mehreres zu wagen.‘3) 

Statt aber um den „Phädon“, drehte fich die Eorreipon- 
denz um ein anderes, den Erbprinzen mehr interefjirendes 
Thema, nämlih um den Lavaterfchen Streit. Er Hatte das 
Antwortichreiben an Lavater von dem Berfaffer jelbjt erhalten 
und infolge defjelben gewünjcht, die Betrachtungen über den 
Bonnet zu fehen, „denn nicht? kann einem unfere® Glaubens 
wichtiger fein,“ fchreibt er den 2. Januar 1770 an Mendels- 
fohn, „al3 zu bemerfen, wie ein unter dem mofaifchen Gejeße 
febender Philofoph den Hiftorifchen Beweis von Mofes führt, 
in welchem wir mit ihm einjtimmig find, und wie zugleic) 
denen hiftorifchen Beweifen ausgewichen wird, auf welchem der 
hriftlihe Glaube fich gründet, welcher ja größtentheild auf 
Beugniffen beruht, welche unter dem moſaiſchen Gefeße als gött⸗ 
Yihe Eingebung angenommen worden. Ob ich aber wünſchen 
fol, daß ferner in Sie gedrungen werde, diefe Betrachtungen 
öffentlich befannt zu machen, muß dahin gejtellt fein laſſen aus 

ı) Schr. V, 264. 

2) Schr. V, 362. 

3) Schr. III, 127. 


— 219 — 


den in dem Antwortichreiben angeführten Gründen. Glücklich 
würde ich mich jchäßen,“ fo fchließt der Erbprinz, „Denenfelben 
Proben von der wahren Hochachtung geben zu können, mit 
welcher zeitlebens verbleibe u. |. mw.“ !) 

Wer fi in die Berfaffung des ſchon von Natur ängit- 
fihen und durch die Lavaterfhe Zumuthung noch mehr ein- 
geſchüchterten Mendelsfohn verfegt, Kann Leicht ermefjen, wie 
wehe ihm zu Muthe war, mit einer fürjtlichen Perfon eine 
Eorrefpondenz über Glaubenspunfte, über die Hauptdogmen des 
EhriftenthHums, führen zu müffen. Dabei verlangte der Erb- 
prinz, um mit Nathan zu reden, „die Wahrheit jo blank, jo 
bar, al3 ob die Wahrheit Münze wäre!” E3 war ihm haupt- 
ſächlich um die Löfung zweier Fragen zu thun: welche Gründe 
Mendelsfohn Habe, die hiſtoriſchen Beweiſe des Alten Teſtaments 
anzunehmen, und die des Neuen zu veriverfen; und aus welchen 
Gründen er die Zeugniffe für den Glauben der Chriften ver- 
werfe, die in dem Alten Tejtament vorkommen und unter den 
mofaifchen Geſetzen ſelbſt al3 göttliche Eingebungen angenommen 
werden. ?) 

Mendelsjohn gehorchte. Er beantwortete die ihm vor— 
gelegten Fragen am 25. Januar 1770 mit einer Entjchieden- 
heit und Offenheit, daß er jelbjt den Prinzen erfuchte, das 
freimüthige Befenntniß niemand zu Geficht kommen zu laſſen. 
Nie Hat fi) Mendelsfohn jo kühn und unerfchroden über das 
Chriſtenthum ausgeiprochen, als in feinem Schreiben an den 
Prinzen. Nicht ohne Rührung kann man den Schluß dieſes 
Schreibens Iefen. Welche Seelengröße [pricht fi darin aus! 

„Durchlauchtigſter Prinz! Ich fürchte, meiner Feder allzu 
freien Zauf gelaffen zu haben, und würde untröjtlich fein, wenn 
id) das Unglück hätte, durch allzu große Freimüthigfeit mir 
Ew. Durchlaucht Ungnade zuzuziehen. Ach breche mit Zittern 


1) Schr. III, 128 f. 
2) Schr. III, 129, 133. 


— 20 — 


ab und erwarte mein Schidjal mit der quälendjten Ungeduld. 
Dem allgütigen Herzenskündiger ijt bekannt, daß ich die Wahr- 
heit aufrichtig fuche, und daß es mein unveränderlicher Vorſatz 
ift, niemal3 mit meinem Wifjen einer vernünftigen Seele Aerger— 
niß zu geben. Alle Gelegenheiten, jemals über diefe Punkte 
in öffentlihe oder aud in Privat-Streitigfeiten zu gerathen, 
werde ich zeitlebens forgfältig zu vermeiden fuchen. Ew. Durch— 
faucht allein habe, auf Dero gnädigjten Befehl, meine Ge— 
finnungen weder verhehlen noch verjtellen können. Sch bin von 
Dero erhabener Denkungsart verfichert, daß Sie nichts als Auf- 
vichtigfeit von mir erwarten und mir zugleich die Redlichkeit 
zutrauen, niemals ſelbſt von diefen Gefinnungen ſchädlichen Ge 
brauch zu machen. Sch verachte die Feine Denfungsart der 
ssreigeifter, die fich ein fehr fchadenfrohes Vergnügen daraus 
machen, die Unschuld in ihrer Zufriedenheit zu jtören, und mit 
dem Eiferer, der diefes aus irrendem Gewiſſen thut, kann id 
nicht ander8 als Mitleid Haben. Ach nehme mir daher die 
Kühnheit, Em. Durchlaucht unterthänigft zu bitten, Diefes 
Schreiben zu vernichten, damit es nicht dereinjt in die Hände 
eines Menfchen gerathe, der es mißbrauchen, oder der vermöge 
feines Standes fich für verbunden halten fünnte, darüber Streit 
zu erregen“, ?) 

Seine Offenheit und „allzu große Freimüthigkeit“ zogen ihm 
feineswegs die gefürcchtete Ungnade zu. Der Erbprinz wurde 
Mendelsiohns Freund. 

Diefem feinem fürftlichen Freunde ftattete er im October 
1770 einen Beſuch in feiner Refidenz in Braunfchweig ab. 
Durch die vielen Widerwärtigfeiten der legten Zeit mißmuthig 
und verjtimmt, hoffte er durch die Zerftreuungen einer Reife, 
welche er nad) Braunfchtweig und Hannover zum Theil in Ge- 
Ihäften unternahm, feine alte frohe Laune wiederzugewinnen. 

In Begleitung des zwanzigjährigen David Friedländer, 


1) Schr. III, 131 f. 


— 21 — 


der furz zuvor aus Königsberg, feinem Geburtsorte, nach Berlin 
gefommen war, trat er am 16. October die Reife an. Auch Leffings 
Bruder Karl, dem Mendelsfohn um eben diefe Zeit eine Stelle 
als Affiftent beim General-Münzdirectorium verſchafft Hatte, 
beabfichtigte anfangs, mit ihm zu reifen, wurde aber durch feine 
Stellung verhindert. ?) 

Nach einer mehrtägigen Fahrt traf er in Braunschweig ein, 
trat bei Herz Samfon, dem Bater des Gründers der Samſons— 
fchule in Wolfenbüttel, ab und begab fi) auch alsbald mit 
Herrn Friedländer, „den der Erbprinz auch fehon Fannte“, ins 
berzoglide Schloß. Mit welcher Freude wurde er von dem 
Erbprinzen empfangen! Den ganzen Abend mußte er bei ihm 
zubringen.?2) Die Herzogin-Mutter, die Schöne Philippine Ehar- 
lotte, die Schweiter Friedrich des Großen und Freundin Jeru— 
ſalems, welche die edeliten Lebensfreuden in dem Umgange geijt- 
begabter Zeitgenoſſen fuchte, gewann den feinen Juden fo 
lieb, daß „lie fein Portrait gleich unter das ihres Vaters, des 
Königs in Preußen, hing“. ?) 

Beim Abſchiede erfuchte der Erbprinz feinen Gaſt, am 
folgenden Tage nachmittags vier Uhr feinen Beſuch zu wieder: 
holen. Mehr als diefe Einladung erfreute Mendelsfohn die 
Aufmerkſamkeit des Prinzen, daß diefer Ebert auftrug, Leſſing 
die Ankunft ihres Freundes fchleunigit anzuzeigen; er hoffte, 
daß der Herr Bibliothefar „deswegen fobald als möglich von 
Wolfenbüttel herüberfommen würde‘. *) 

Leffing kam fofort und nahm den Freund mit fich nad) 
Wolfenbüttel, 


1) Leſſings Schr. XII, 249. 
2) Leſſings Schr. XIIL, 251 f. 
3) Bimmermanns Briefe an einige feiner Freunde in der Schweiz 
(Aarau 1830), 199. 
H Leſſings Schr. XIII, 251. 


— 22 — 


Achtunddreißigſtes Kapitel. 
Mendelsjohn und Lejfing. 


Ueber drei Jahre waren verfloffen, ohne daß fi die 
beiden Freunde gejehen, ja ohne daß fie einander mehr als ein 
einziges mal gejchrieben hatten. Sie fanden fich beide merklich 
verändert. Der Kummer über die jüngften Vorfälle malte fich 
auf Mendelsfohns Geficht; auch Leffing war nicht glücklich, und 
wenn auch die Liebe zu Eva König, feiner „Liebjten, bejten, einzigen 
Freundin“, tiefe Wurzeln in feinem Herzen gefchlagen hatte, fo 
war er doch mit feinem Geſchick im höchſten Grade unzufrieden. 
Mit Schmerz dachte er daran, daß noch Jahre vergehen könnten, 
ehe es ihm, dem PVierzigjährigen, vergönnt wäre, feine Geliebte 
heimführen zu können. 

Einige jener glüdlichen Stunden, welche die Freunde an 
das traulihe Zufammenteben in einer für beide längſt ge= 
Schwundenen Zeit Iebhaft erinnerten, verbrachte Mendelsfohn 
jegt in Wolfenbüttel. Es braucht kaum bemerkt zu werden, 
daß der Bibliothekar feinem Freunde auch die Bibliothek und 
alle ihre Seltenheiten zeigte, wenngleich der Bruder ihn vorher 
erfucht Hatte, „Moſes ja nicht in der Bibliothef Herumfuchen 
zu laſſen, denn er fünnte dort etwas entdeden und dann ließe 
er alles Uebrige Tiegen“.!) Der Berfaffer des „Phädon“ war 
wie von Verwunderung verfteinert und rief beim Anblid der 
Bibliothef aus: „Welche erjtaunliche Menge von Büchern, und- 
wie wenig weiß man!“ Leſſing mochte diefe Betrachtung wol 
nicht willfommener fein al3 dem Luſtwandler der Kirchhof, aber 
der Freund erfannte an folchen Yeußerungen feinen Philoſophen, 
zumal da diefer noch Hinzufügte: „Sch bin ja zu Ihnen nicht 
der Bücher wegen, fondern um Shretwillen gefommen. Nur 


) Leſſings Schr. XIII, 252. 


— 23 — 


Ihre Meinungen will ich wiffen, nicht, was in diefen ſchönen 
Särgen ruht.“ !) 

Und gerade Leffing war daran gelegen, zunächſt Mendels- 
fohns Meinung über das zu vernehmen, was ihn jebt am 
meiſten beichäftigte, über das wichtige Manufeript, das er vor 
allen Berfonen, felbjt vor dem Erbprinzen, geheimhielt, über 
die fpäter fo berühmt gewordenen „Fragmente“, 

Man war über den Verfaſſer diefer „Schußichrift für die 
vernünftigen Verehrer Gottes“ lange in Zweifel und hat einige 
Zeit fogar Mendelsfohn dafür gehalten; heute ift es allgemein 
befannt, daß der Hamburger Profejjor Hermann Samuel Reimarus 
diefes Werk als ein Fünfzigjähriger begonnen und über zwanzig 
Sahre daran gearbeitet hat. Die geiftreiche Tochter dieſes 1768 
verftorbenen Hamburger Gelehrten, Elife Reimarus, diefe Herzens— 
freundin Mendelsfohng und Leſſings, gab dem Iebtern bei feiner 
Abreife nach Wolfenbüttel einen Theil des Manufeript3 in Ab— 
fchrift mit. Ob Mendelsfohn, vielleicht durch Leſſings Bruder 
Karl, von dem Inhalte diefer den Geift der freieſten Forfchung 
ausftrömenden Fragmente wußte? Er gratulirte dem zufünftigen 
Herausgeber zu diefer Entdeckung mit der Verficherung, daß er 
ihn nicht beneide. 2) 

Leffing gab dem Freunde das Manufeript mit nad) Berlin. 
Mehr als irgendiwo zeigt fich gerade in dem Urtheile, twelches 
Mendelssohn über diefen feltenen Schat füllte, die Verfchieden- 
heit feiner Denfungsart von der Leſſings. Die Fragmente 
waren ihm „in aller Betrachtung ſehr wichtig und allein fchon 
eine Reife von dreißig Meilen werth“; allein es fchien ihm, 
„als wenn der Berfafjer zumeilen unbillig wäre“; er fei eben 
fo wider gewiffe Charaktere al3 andere für diefelben einge- 
nommen; er leite alles aus böfen, graufamen, menfchenfeind- 
lichen Abfichten her. „Den Menfchen als Menfchen zu betrachten, 


) Karl Leifing, a. a. O. I, 320. 
2) Karl Leifing, a. a. ©. I, 319. 


— 24 — 


ihn nad) den Sitten, Gewohnheiten und Kenntnifjen feiner Zeit 
und in Vergleihung mit feinen Nebenmenſchen zu beurtheilen, 
dazu muß man weder VBorurtheile haben, noch ſich aus Abfcheu 
gegen Vorurtheile zur Unbilligfeit verleiten Yaffen; dazu muß 
man das Maß der menfchlichen Kräfte kennen und feine Phan- 
tome im Kopfe haben, die uns fchiwindelig machen.) Diefe 
Anficht konnte Leffing nicht theilen, am allerwenigjten wollte er 
auf feinen Ungenannten Unbilligfeit kommen laſſen. Stimmte 
er auch darin mit Mendelsfohn überein, daß man bei Beur- 
theilung gewifjer Charaktere und Handlungen da3 Maß der 
Einfiht und des moralifchen Gefühls mit in Betracht ziehen 
müſſe, welches den Zeiten zukomme, in die fie fallen, jo gelte 
das doch nur bei foldhen Charakteren und Handlungen, Die 
weiter nicht3 fein follen al3 Charaktere und Handlungen bloßer 
Menihen. „Die Urfache, warum Ihnen ein ſolches Berfahren 
bei unferm Ungenannten aufgefallen iſt,“ heißt es in feinem 
Briefe an Mendelsfohn vom 9. Januar 1771, „muß blos darin 
liegen, daß Sie von jeher weniger gehalten gewefen, die ge- 
tadelten Handlungen in dem Lichte der Göttlichkeit zu betrachten, 
in welchem wir fie chlechterdings betrachten follen.‘?) 

Den Standpunkt der unummwundenen, rüdjichtslofen Kritik 
theilte Mendelsjohn nicht; Reimarus ging ihm unftreitig zu 
weit. Konnte ex fich ſchon mit den Philofophemen diefes von 
ihm fo hochgeſchätzten Mannes, der für die Wolffiihe Philofo- 
phie dafjelbe war, was David Strauß, fein neuejter Biograph, 
für die Hegeliche wurde, nicht einverjtanden exflären;?) um 
wie viel mehr mußte er die „Fragmente“, die von allen Glau— 
bensrüdfichten und aller Bibelautorität fich losfagten, verwerfen. 
Darum rieth er aud) den Freund aufs entjchiedenjte von der 
Beröffentlihung der „böſen“ Fragmente ab; in feiner Friedens- 
liebe verfprah er ſich davon wenig Erjprießliches für den 








) Schr. V, 185. 
2) Schr. V, 188 f. 
3) Schr. IV, 2, 176 ff.; V, 270. 


— 253 — 


Freund und, bezeichnend genug für feine Denfweife, für die 
Menschheit. 

Sonderbar bleibt es immerhin, daß der Erbprinz durch 
Mendelsjohn zuerjt von den Fragmenten Kunde erhielt. Sie 
bildeten bei dem Befuche, welchen er ihm vor der Abreife ab- 
ftattete, das Thema der Unterhaltung. Der Prinz wollte das 
Manufeript felbjt ſehen, aber Leffing entjchuldigte fich damit, 
daß es der Freund in Berlin habe. „Wenn Sie mir ant- 
worten,“ bemerft Mendelsfohn in feinem erjten Briefe nad) 
jeiner Rückkehr an Leffing, „jo melden Sie mir doch, ob die 
bemwußte Perſon noch ferner in Sie gedrungen, fie das Manufeript 
jehen zu lafjen, oder ob der Eifer nur ein fo kurzer Ueber- 
gang gewefen.“!) „Die Neugierde der bewußten Perfon nad) 
dem Manuferipte hat fich halten laſſen,“ erwiderte Leffing am 
9. Januar 1771. „Er Hat nicht eher wieder daran gedacht, 
als bis er mich vor einigen Tagen wieder zu fehen befam. 
Ich fürchte, daß fein Verlangen, die Sache ſelbſt befjer ein- 
zufehen, ebenfall® nicht weither ift; daher Habe ich ihm aud) 
nur blos die Vorrede mitgetheilt, unter dem Vorwande, daß 
Sie das übrige Manufeript bei fich hätten.“ ?) 


Nach einem mehrtägigen Aufenthalte in Braunschweig und 
Wolfenbüttel, an welchen mit vielem Vergnügen zurüdzudenfen 
er alle Urſache Hatte, fette Mendelsfohn feine Reife nad) 
Hannover fort, wojelbjt er der Gaſt des reichen Michel David) 
war; in dejjen Haufe traf er auch den philofophifch gebildeten 
Buchhalter Moſes Philippfon, der ein „Leben Spinozas“ ge- 


) Schr. V, 186. 
2) Schr. V, 189. 
3) Michel David, deffen Sohn eine noch heute in Hannover be- 
ftehende israelitiſche Freifchule gründete, wird feiner feltenen Uneigen: 
nügßigfeit wegen gerühmt von oh. G. Zimmermann (Briefe an einige 
feiner Freunde in der Schweiz, ©. 134); ſ. 1. Aufl. ©. 227. 
Kanferling, Moſes Mendelsfohn. 15 


= 2 


ſchrieben und auf Verlangen der königlich Furfürftfichen Juſtiz— 
fanzlei zu Hannover ein Gutachten „Ueber die Verbejjerung des 
Judeneides“ abgegeben hat.) Hier machte er die Befanntichaft 
verfchiedener angefehener Männer. Der Minijter von Münch— 
"haufen, „diefer große Beförderer der Wiſſenſchaften, war fo 
gnädig ihn vorzulafjen“, und Mendelsfohn war „jo glücklich, 
diefen würdigen Greis, der faum vier Wochen nachher verfchied, 
in einer Stunde zu finden, die heiter und fait jugendlich für 
ihn war“.) Den Mathematifer Raphael Levi, mit dem er in 
Gorrefpondenz ftand, und den Hofrath Zimmermann lernte ex 
jeßt perfönlich Fennen. 

Von Hannover wollte er auch noch nach Göttingen, wozu 
ihn befonder3 der Minifter Münchhaufen aufmunterte, um die 
perjönliche Befanntichaft des Profeſſors Michaelis zu machen, 
mit dem ex feit feinem erjten literarifchen Verſuche einen Brief: 
wechfel unterhielt, den er als „Schriftgelehrten, Sprachforicher und 
Weltweiſen“ hochachtete und der ihm auch einige Monate früher 
den erjten Theil feines epochemachenden „Mofaifchen Rechts“ zu— 
gefickt hatte.) Er Hätte gern noch diefe zehn Meilen zurück— 
gelegt, wenn e3 feine Geſchäfte und feine Reiſegeſellſchaft ge- 
itattet hätten. #) 

Sp trat er denn über Halberjtadt die Rücdreife an. Hier 
befuchte er den gelehrten Abraham Halberjtadt und hielt fich 
einige Stunden bei Gleim auf, dem er ein Cremplar des 
gerade exjchienenen „Berengarius“ von Leffing überbrachte. Er 
war ımerbittlih, dem Wunfche des Tiebevollen „Waters“ der 


) Neujtrelig 1797. In einem Briefe des Hofraths Ebell in 
Hannover an PBhilippjon heit es (Judeneid, 155): „unſer gemeinjchaft- 
licher verewigter Freund Mendelsjohn.‘ 

2) 1. Aufl. ©. 509. 

3) 1. Aufl. S. 508. 

9 1. Aufl. ©. 509. 


— 227 — 


deutfchen Dichter zu entiprechen und länger bei ihm zu ver- 
weilen; „er verrieth jo ſehr den zärtlichen Vater und eilte zu 
feinen Kindern‘.?) 


Neununddreißigites Kapitel. 
Pendelsjohn und die Akademie. 


Die ehrenvolle Aufnahme, welche Mendelsfohn am Braun: 
fchweiger Hofe, in Hannover und überall fand, wo er auf feiner 
Reife fich aufgehalten Hatte, that feinem gedrücten Gemüthe 
recht wohl und bot ihm einigen Erfaß für die vielen Kränkungen, 
welche er infolge des Lavaterſchen Streites erfahren Hatte, 

Die höchſte Genugthuung aber, welche ihm zu Theil wurde, 
it die zu Anfang des Jahres 1771 erfolgte Erwählung zum 
Mitgliede der Akademie der Wifjenfchaften zu Berlin. 

Sein Freund Sulzer, „an defjen Seite der Name unferes 
berühmten Mendelsfohn fo oft glänzte”, wie der Afademifer 
Formey fi) ausdrüdt,?) Hatte ihn in Borfchlag gebracht und 
ihm auch das Refultat der Wahl im Namen der Afademie am 
17. Februar 1771 in folgenden Zeilen angezeigt: 

„Mein verehrtefter Herr! 

Die Königliche Akademie Hat mir aufgetragen, Ihnen zu 
hinterbringen, daß ihr Wunsch ift, Sie als ordentliches Mitglied 
der philofophifchen Claſſe zu beſitzen. Sie wünſcht alfo und 
hoffet, daß eine folche Stelle, obwol jet vor der Hand Feine 
Penfion dabei ift, Ihnen nicht zumwiderfein möchte. In dieſem 
Fall wird der VBorfchlag an den König morgen abgehen. Geien 
Sie jo gütig, mid wiſſen zu laſſen, ob Sie damit zufrieden 


) Leſſings Schr. XIII, 255. 

2) Eloge de Mr. Sulzer. Lu dans l’assembl&e publique de 
l’acadömie royale des sciences du jeudi 3 juin par le secretaire 
perpetuel [Formey] (Berlin, 1779), 25. 

15* 


— 223 — 


find. Mir würde es befonderd angenehm fein, Sie zum Col- 
legen zu haben.“) 

Er willigte ein, und die Wahl wurde dem Könige zur Be- 
ftätigung vorgelegt. 

Mendelsfohns Freunde triumphirten; „den Vorurtheilen 
feiner Gegner war nun mit einemmale geradezu ins Geſicht ge- 
Ichlagen“. Der praftifche Nicolai dachte Schon daran, daß, „wenn 
Mofes möglicherweife Fünftig eine Penfion erhielte, ihm dies 
die Muße geben würde, die er big jegt nicht hat“. 

Die Zuftimmung des Königs ließ indeß lange auf fi 
warten. Nicolai, der Leffing in feiner Freude ſchon am 12. Fe- 
bruar die Mittheilung von feines „Moſes Wahl zum Afa- 
demiften“ gemacht hatte, fchrieb ebendemjelben im März: „Man 
vermuthet, daß jett in Potsdam Staatsgefchäfte im Werke find, 
und daß der König darüber das Schreiben der Afademie zurüc- 
gelegt hat.“,“) Den Afademifern felbjt war die Verzögerung 
der Antwort unbegreiflih. Sulzer zog bei dem SHofpojtamte 
Erfundigungen ein und fand, daß das Schreiben der Akademie 
wirklich abgegangen fei; der geheime Cabinetsrath Köper, bei 
dem alle Depefchen abgegeben wurden, wäre, meinte er, der 
einzige, der „einige Aufflärung in diefer einigermaßen unbegreif- 
lihen Sade geben könnte“. 

Das Schreiben der Akademie war allerdings an den König 
gelangt. Als er jedoch Mendelsſohns Namen auf der Lijte er— 
blidte, wurde er ärgerlich; ex erflärte den Herren Afademifern 
in einer nicht allzu höflichen Zufchrift, Fünftighin mit mehr Sorg- 
falt die Aetenjtüde anzufertigen, welche man ihm vorlege, und 
trug ihnen auf, neue Candidaten in Vorfchlag zu bringen. Auch 
auf der neu entworfenen Lifte wurde Mendelsfohns Name bei- 
behalten, vom Könige aber gejtrichen. Der Akademiker Merian, 
welcher fich nächft Sulzer am meiften bemühte, Mendelssohn 
durchzubringen, verfiel in Ungnade. 

1) Schr. I, 4. 

2) Lefſings Schr. XIII, 278, 284. 


— 229 — 


Zange war man darüber in Zweifel, aus welchem Grunde 
der König der Wahl Mendelsjohns die Zuftimmung verfagte. 
Man Eonnte fich nicht denken, daß fein Veto gegen den Juden 
gerichtet war; hatte er doc) das unjterbliche Wort geſprochen: 
„Ein Menſch, der die Wahrheit fucht und Tiebt, muß unter aller 
menschlicher Gefellfchaft werth gehalten werden.“ Einige fuchten 
den Grund in der früher von Mendelsfohn gegen die Akademie 
gerichteten Schrift „Pope ein Metaphyſiker“; man fennt ja aber 
die edle Rache, welche das beleidigte Tribunal fchon 1760 an 
dem mitbetheiligten Leffing nahm, indem es ihn zum Mitgliede 
creirte. Andere vermutheten, daß der König dem deutſchen 
Mendelsjohn die Mißachtung der franzöfifchen Philofophen und 
die Kritif feiner Gedichte nicht hätte verzeihen fünnen. Es war 
in der That der Jude, den der König zurückwies. Es wird 
behauptet, die Kaiferin Katharina II. von Rußland, die Ver: 
fafjerin einer ruſſiſchen Erzählung „Chlore Czarewitz“, hätte bei 
der damaligen Wahl aufgenommen zu werden gewünjcht, und 
es fei erflärlih, daß die philofophifche Klytämneſtra, deren 
Freundfchaft der König in der ein Jahr fpäter vorgenommenen 
Theilung Polens gar jehr bedurfte, dem armen Juden vorge— 
zogen wurde. !) 

Die Nichtaufnahme Mendelsfohns erregte den Unwillen 
aller VBorurtheilsfreien. Der Philofoph Lambert und der Prä- 
fident Formey beflagten die Afademie, daß fie eines fo fchönen 
Schmudes wie Mendelsfohn beraubt fei.?) Der geiftreiche Käjt- 
ner, der gerade nicht zu feinen Verehrern gehörte und ſogar 
den „Phädon“ dadurch Lächerlich zu machen fuchte, daß er in 
einer frohen Laune äußerte: „Abbt wäre in meinen Augen ein 
weit größerer Philoſoph, wenn er über die Unfterblichfeit der 
Seele Moſes den Sohn Amrams eher gefragt hätte als Mofes 


1) Bartholmess, Histoire philosophique de l’acad&mie de Prusse 
(Paris 1850), I, 225 ff.; Mlerander von Humboldt3 Briefwechjel mit 
Varnhagen von Enfe (Leipzig 1860), S. 120. 

2) Henning3 Souvenir de Berlin. (Handfchriftl.) 


— 230 — 


Mendelsjohn,“!) eben diefer Käftner fühlte fich bei diefer Ge- 
legenheit veranlagt, den BZurüdgefegten in dem Epigramme zu 
verherrlichen: 


„Ein neuer Dionys rief von der Seine Strande 
Sophiftenfhwärme her für feinen Unterricht; 
Ein Plato lebt in feinem Lande, 

Und diejen fennt er nidht.‘‘?) 


Welch’ edler Unwille Tiegt in diefen wenigen Zeilen! 

Mendelsfohn felbjt nahm diefe kränkende Behandlung des 
Königs mit philofophiichem Gleichmuthe auf; wunderte ex fich 
doch nicht wenig darüber, daß eine königlich preußifche Akademie 
es jih auch nur einfallen Tieß, einen Juden zum Mitgliede zu 
wählen.) - 

ALS fein Freund Herz Homberg, der Erzieher feiner Kinder, 
von dem noch fpäter die Rede fein wird, zum Correpetitor vor- 
geichlagen, vom Kaifer Joſeph aber nicht beftätigt wurde, tröftete 
er ihn mit den Worten: „Außerordentliche Männer thun felten, 
was jedermann von ihnen erwartet; denn fie find außerordent- 
lihe Männer. Was alfo die Majejtät in Shrer Sache ent— 
Ihieden Hat, ijt ganz in der Regel; uns in aller Betrachtung 
zwar unlieb, aber doch im Grunde lieber, als wenn die Maje- 
ftät Sie approbirt, die Philofophie aber Sie als untüchtig ver- 
tworfen hätte. Ich habe, wie Sie willen, ein ähnliches Schickſal 
gehabt. Die Akademie Hat mic) zum Mitgliede gewählt, des 
Königs Majejtät aber die Wahl nicht beftätig.. Warum? das 
weiß ich eben fo wenig, als Sie jet wiffen, warum Sie der 
Raifer nicht zum Correpetitor haben will. Neligionshaß iſt es 
doch ficherlich nicht. Aber müde machen follen ung ſelbſt die 
Großmächtigſten nicht! Je größere Schwierigkeiten, dejto mehr - 
Kräfte müffen wir anftrengen. Es müſſen mehrere und immer 


') Käſtners gefammelte poetifhe und projaifhe Werke (Berlin 
1841), IV, 144. 

2) J. H. Voß' Briefe (Halberftadt 1829), I, 90. 

3) Schr. III, 420. 


— 231 — 


mehrere unter uns aufftehen, die fi) ohne Geräufch hervorthun 
und Verdienfte zeigen, ohne lauten Anfprudy zu machen. Lafjen 
Sie dann nur die Excellenz menjchenfreundlich genug fein, das 
Berdienjt anzuerkennen; die Majeftät wird am Ende dennod 
der Ercellenz nachfolgen müffen.“?) 

Noch in demfelben Jahre, in welchem Friedrich der Große 
die Wahl Mendelsjohns zum Mitgliede der Akademie verwarf, 
wurde dem Philofophen die Auszeichnung zu Theil, an den 
königlich preußifchen Hof berufen zu werden. - Im Dctober 
1771?) befand fich Luife Ulrife, die verwitwete Königin von 
Schweden, die geiftuolle und energifche Schweiter Friedrich des 
Großen, in Berlin. Sie hegte den Wunſch, Mendelsfohn Fennen 
zu lernen. „Der berühmte Jude ift drittehalb Stunden lang bei 
mir gewejen, ohne daß mir die Zeit lang geworden wäre,“ 
Ichreibt fie an ihren älteften Sohn, König Guſtav den Dritten.?) 
Sie brauchte alfo nur zu fagen: „der berühmte Jude“, damit 
ihr Sohn, der Schwedenfönig, fofort wiffe, wen fie meinte. 

In folder Hochachtung ſtand Mendelsfohn jchon damals 
in ganz Europa. 








) Schr. V, 679 f. 

2) Lefjing Schr. XII, 316. In einem Briefe vom 31. Dectober 
1771 fragt Leffing feinen Bruder Karl: Was macht unjer Moſes? Iſt 
er gefund? Hat er blos Fritſchen oder auch den König noch gejproden ? 

3) €. ©. Geyer, des Königs Guftav III. nachgelafjene Papiere 
(Hamburg 1843), II, 14; vgl. Allg. Ztg. des Judenthums, 1876, S. 470. 


Zehntes Bud). 
Sieben Ruhejahre. 


Bierzigftes Kapitel 
Mendelsſohns Krankheit. 


Mendelsfohn, wiewol ſchwächlicher Conftitution, hatte ſich 
durch eine mäßige Lebensart feit feiner Jugend in ziemlicher 
Gefundheit erhalten. Außer einer Krankheit, welche ihn im 
April 1757 befiel und vierzehn Tage ans Lager feſſelte,) hören 
wir ihn nur über die „nachtheiligen Einflüffe der ungejunden 
Luft” zuweilen Flagen.?) 

Erjt die Gemüthsaufregungen der letzten Jahre und die 
Kränfungen, welche der Lavaterfche Streit ihm verurjachte, übten 
die nachtheiligjten Wirkungen auf feine Geſundheit. 

Ende Februar 1771 verfiel er in eine Nervenkrankheit, 
die für fein Leben fürchten Tief. Er fühlte heftige Bewegung 
im Kopfe und einen wallenden Lauf der Säfte von einer Stelle 
zur andern; e3 war ihm, wie ex felbjt fchildert, al$ wenn etwas 
Glühendes vom Gehirn herab den Rückgrat entlang einftrömte 
und Widerftand fände, oder als wenn jemand mit glühenden 


») Schr. V, 89. 
2) Schr. V, 143. 


— 233 — 


Ruthen ihm den Rüden geißelte.!) Bei diefen Anfällen, welche 
ihn nachts nad) dem erjten Erwachen aus einem unruhigen 
Schlafe anzumwandeln pflegten, hatte ex volles Bewußtſein; er 
war im Stande, jede. Gedanfenreihe mit Ordnung und Deut- 
fichfeit zu verfolgen, aber er war jeder willfürlichen Bewegung 
unfähig und fonnte weder ein Glied am Leibe rühren, noch 
einen Zaut von fi) geben, oder die Augen öffnen, bis der 
Nervenfaft durch eine Erfchütterung von außen in Bewegung 
gefeßt wurde. Diefe Erjtarrungen waren mit Aengjtlichkeit, 
Ohrenſauſen und Herzklopfen begleitet, zu welchen jpäter noch 
Schwindel fam. Er konnte faum eine Seite fchreiben, leſen 
oder fich vorlefen laſſen, jo befam er gleich den heftigjten 
Schwindel und nacht3 die bedrohenditen Anfälle. Doctor Markus 
Bloch, der in Frankfurt a. O. promovirte und ſich dann als 
Arzt in Berlin niederließ, hat diefe jeltene Krankheit als Freund 
und Arzt genau beobachtet und befchrieben.?) 

Nur durch eine ftrenge Diät und dauernd fortgejegte Ent- 
fagung aller Genüſſe wurde er von den heftigen Anfällen nad) 
und nad) wieder befreit. Monatelang dienten ihm Brot und 
Früchte als Speife, Waſſer mit Citronenfäure und einige Taſſen 
Thee ala Getränk. Seine Freunde [ud er mit der heiterften 
Miene zu Speifen und Getränken, von welchen ex jelbjt nichts 
zu foften wagen durfte. Das Aergſte für den fo raſtloſen 
Denfer war, daß er „leine Seele in Banden fchlagen“ und ſich 
nunmehr nicht blos von jeder Meditation, fondern auch von 
Lefen und Schreiben fern Halten mußte. Auch das ertrug er 
mit der Geduld eines wahren Weifen. „Es war eine Zeit,‘ 
berichtet der Hofrath Zimmermann, „da Mendelsfohn fi) aus 
jedem Zimmer wegbegeben mußte, wo man von WPhilofophie 
ſprach, denn er ward ohnmädtig, wenn er fich nicht entfernte. 
Lange verbot er ji darum alles Denken. In diefem Zujtande 


!) Schr. III, 438. 
2) Bloch, Medicinifche Bemerkungen (Berlin 1774), 60 ff. 


— 234 — 


fam einjt, wie diefer große und Tiebenswiürdige Philofoph mir 
jelbjt in Hannover erzählt hat, fein Arzt zu ihm und fragte: 
„„Was machen Sie denn, wenn Gie fo in Ihrer Stube find 
und nicht denken dürfen?““ „„Ich gehe ans Fenſter,““ er: 
widerte er, „„und zähle die Ziegel auf meines Nachbars 
Dache.”* Ohne Deine ruhige Weisheit, o edler Mendelsfohn, 
ohne folhe Ergebung in den Willen Gottes, gelangt aber auch 
fein Menfch zu folcher Größe.“ ?) 

Selbjt jein Studirzimmer, welches eine Etage Höher als 
fein Wohnzimmer lag und in welchem feine mäßige Bibliothef 
aufgejtellt war, mußte er monatelang meiden. Der Zufall führte 
ihn eines Tages dahin; er fand feinen Schreibtifh in Unord- 
nung, und in einige Bücherrepofitorien hatte die Frau Con— 
fituren gejtellt. Ein Schauder überfiel ihn, er glaubte, Tebendig 
todt zu fein und zu fehen, wie es nad) feinem Werfcheiden in 
feinem Studirzimmer ausfehen würde. Geſchwind fchlug er die 
Thüre zu; die Augenblide, in denen er die Treppe hinunter- 
ging, hielt er für die traurigjten feines Lebens. ?) 

Nach zwei Monaten war er jo weit wieder genefen, daß 
er einine Stunden des Tages im Gefchäfte thätig fein und 
feinen Freunden wieder ein Lebenszeichen von fich geben konnte. 
Die eriten Zeilen, die er nad) feiner Kranfheit fchrieb, waren 
an feinen LZeffing gerichtet, der feinetwegen in großer Unruhe 
lebte.3) „Ich befinde mich feit einiger Zeit fo übel,“ fchreibt 
er ihm am 9. April 1771 bei Ueberjendung der zweiten Auf- 
lage feiner „Philoſophiſchen Schriften“, „daß mir das Lejen und 
Schreiben völlig unterfagt worden if. Noch diefen ganzen 
Sommer foll ich fo muſenlos Hinbringen, und wie jener König 
der Menjchheit beraubt werden, um unter den wilden Thieren 
meine Vernunft wiederzufuchen. Leben Sie wohl, mein Freund! 


) Zimmermann, Ueber die Einfamfeit, III, 182; Bloch, a. a. D. 63. 
2) Göckingk, a. a. D. 147; Schr. I, 25. 
3) Leifings Schr. XIIL, 301. 


— 235 — 


und mäßigen Sie Ihren Eifer zu leſen und zu denfen, damit 
Sie dejto länger aushalten.“!) Tags darauf jchrieb er dem 
Profeſſor Michaelis: „Ich hatte zeither nicht fchreiben können, 
weil ich mich jchlechterdings alles Schreibens enthalten mußte. 
Sch wurde alljofort von einem Schwindel überfallen, der nicht 
ohne Gefahr geweſen, jo oft ich nur eine Seite zu leſen oder 
zu fchreiben mich unterftund. Noch bin ich nicht völlig davon 
befreit; e3 läßt fich aber nad) und nach zur Befjerung an, und 
ich) Hoffe, daß es mir nicht auf immer unterfagt fein wird, mein 
Leben zu genießen.“?) Noch ausführlicher berichtet er über 
feinen Zuftand feinem lieben Better Elfan Herz, mit dem er 
eine ununterbrochene, theils freundichaftliche, theils geichäftliche 
Eorrefpondenz unterhielt und mit dem er auch „in einen nüß- 
lichen Briefwechjel zu kommen“ wünſchte. „Sch Habe mich feit 
Purim fo übel befunden,” Eagt er diefem theilnehmenden Ver— 
wandten am 22. Juli 1771, „daß ich feinen Brief habe fchreiben 
fönnen. Sch habe auch im allgemeinen feinen Gefchäften nachgehen 
fönnen und Habe bejtändig in ärztlicher Behandlung fein müffen. 
Die Krankheit Hat im allgemeinen nachgelafjen, jo daß ich etwas 
auf dem Wege der Befjerung bin, wierol ich mich noch fehr in 
Acht zu nehmen habe. Es wird mir noch immer ſehr jauer, 
einen ordentlichen Brief zu fchreiben, fo jehr bin ich mit Schwin- 
del behaftet.‘ 3) 

Eine Wiederholung der Reife nach Braunfchweig und 
Hannover und der Befuch Göttingens, welchen ex fich für diefen 
Sommer vorgenommen und auf welchen ex fich fo fehr gefreut 
hatte, mußten unterbleiben, weil die Aerzte glaubten, daß ihm 
eine fo weite Reife fchädlich fein fünnte; „man ift elend genug 
daran, wenn man nad) diefer Herren Glauben fein Zeben ein- 
richten muß.“ Ex vertröftete fich) auf den zukünftigen Sommer, 


) Schr. V, 191. 
2) 1. Aufl. ©. 512. 
3) Daj. ©. 49. 


— 236 — 


in dem er die Heilquellen Pyrmont zu befuchen und gleid)- 
zeitig die projectirte Reife auszuführen gedachte. !) 

E3 dauerte noch lange bis Mendelsſohns Zuſtand fich 
befjerte. Dem Hofrath Zimmermann, der fich im Herbfte 1771 
in Berlin einer für fein Leben enticheidenden Operation unter: 
ziehen mußte und nad) feiner Genefung oft zu feinem jüdifchen 
Freunde, „zu feiner vortrefflichen Gattin und feinen Tiebens- 
würdigen Kindern“ Fam, auch dem, den Freund behandelnden 
Arzte kleine Winfe gab, wie er ihn zu führen habe, fchrieb 
Nicolai den 16. December 1771: „Mendelsſohn kann noch nicht 
einmal feine Handlungsgefchäfte verrichten, und faſt befürchte ich, 
daß er zu gelehrten Arbeiten fobald noch nicht Stärke befommen 
wird. Er jelbjt weiſſaget fi) dies, und wenn ich mit ihm 
allein bin, merfe ich, wie traurig ihm dieſe PVerfpective ift, und 
ic) mag und kann ihn darüber nicht tröften, weil mein Troſt 
Gift fein mwirde.“?) 

Im Frühjahr 1772 war er fo weit bergejtellt, daß er 
feinen täglichen Gejchäften ohne Störung obliegen, es aud 
wagen durfte, Leſſings neues Trauerfpiel, Emilia Galotti, ganz 
zu leſen,)) und den 25. Juni meldete er freudig dem Hofrath 
Zimmermann: „Ich bin fein Kranker mehr, der Ihrer ſchleu— 
nigen Hülfe bedarf.) Zur völligen Herjtellung feiner Gefund- 
heit wurde ihm der Beſuch Pyrmonts von den Aerzten dringend 
gerathen. Einer folchen Reife aber widerſetzten fich feine häus- 
lichen Umſtände. 

Man kann fich faum des Mitleids bei dem Gedanken er- 
wehren, daß ein Mann wie Mendelsfohn nicht einmal fo ge 
jtellt war, um die erforderlichen Koften zur Herftellung feiner 
Geſundheit beftreiten zu fünnen! Ein „reicher Iſraelit“ reiſte 


1) 1. Aufl. ©. 512. 

2) Bodemann, Joh. ©. Zimmermann. Sein Leben und bisher un: 
gedrudte Briefe an denjelben (Hannover 1878), 301. 

3) Dafelbft 301; Leſſings Schr. XIII, 370. 

4) Mein: Moſes Mendelsfohn. Ungedrudtes und Unbefanntes, 127. 





— 237 — 


diefes Jahr nicht nad) Pyrmont, und „feine eigenen Privatum- 
jtände gejtatteten jchlechterdings feine Reife von einiger Dauer; 
er mußte fait täglich an feine Arbeit, fo fie fich nicht dergeitalt 
anhäufen jollte, daß fie am Ende feine Kräfte überjtiege”.!) Was 
war zu tun? Er tröftete ſich mit der Hoffnung auf eine befjere 
Beit, diefem probaten Mittel, den Unzufriedenen in guter Laune 
zu erhalten, und — ließ feine Frau einen Brunnen trinken auf 
Herrn Iſaak Deſſaus Fabrik, die am Ufer der Spree, . dem 
Sulzerihen Garten „im Moabiterlande” gegenüber lag, wohin 
auch er fich, nachdem er feine Gefchäfte beforgt hatte,. allabend- 
lich begab. ?) 

Die unausbleibliche Folge der freilich ohne fein Verſchulden 
unterlafjenen Eur war, daß er den ganzen folgenden Winter 
nicht3 thun konnte al3 die Mufter für feine Fabrif zu zeichnen. 
Ale Beichäftigung mit der geringjten Anftrengung behagte ihm 
nicht nur nicht, fondern machte ihn auch wirklich Frank.) Nur 
die menigjten Stunden des Tages könne er gebrauchen und 
daher auch fo manchen Gelehrten, der ihn mit feinem Befuche 
beehrte, nicht genießen, Hagte er Profeffor Michaelis in Göt- 
tingen,#) als er ihm den Franzofen Francois Cacault empfahl, 
der fich einige Monate bei Leffing aufhielt, deffen Dramaturgie 
ins Franzöſiſche überfegte und Mendelsfohn für den beſten Kopf 
in ganz Berlin exflärte.5) 

Was hatte der arme Dulder noch alles zu leiden, bis er 
aud nur einen Theil feiner Kräfte wiedergewann? Im April 
1773 befiel ihn das kalte Fieber; anfangs freute man fich da— 
mit, denn die Aerzte hielten e3 für die Krifis der Krank— 
heit und gaben ich der Hoffnung Hin, daß diefelbe nunmehr 
gänzlich fchwinden werde: doch vergebens. Der Zuftand ver: 

') 1. Aufl. ©. 516. | 

2) Mein: Mojes Mendelsfohn. Ungedrudtes und Unbekanntes, 
13; 1. Aufl. 500. 

3) Leſſings Schr. XIII, 449. 

4) 1. Aufl. S. 518. 

5) Zeffings Schr. XIII, 436. 





— 233 — 


Ichlimmerte ji) von Tag zu Tag. Mendelsjfohn zehrte immer 
mehr ab, fo daß er ſich doch endlich entichließen mußte, Die 
Reife nad) Pyrmont zu unternehmen.) 

Diesmal war das Glück ihm geneigt. Zacharias Veitel 
Ephraim ftellte ſich al3 der „reiche Iſraelit“ ein, „der feine Ge— 
fundheit in Pyrmont ſuchen mußte“, jodaß der arme Mendels— 
john „ohne fonderliche Kojten” aus den Pyrmonter Quellen 
Ihöpfen konnte. 

Schon im Juni follte die Reife vor fich gehen, ein Brief- 
chen an Freund Leffing, von defjen Bruder Karl, war bereits 
in Empfang genommen. ?) Da traten neue Hindernifje ein. 
Mendelsfohns Kinder erkrankten plöglich, fie lagen jämmtlich an 
den Blattern danieder, und der zärtliche Vater, der feine Kinder 
über alles liebte, konnte fi) nicht entjchließen, fie vor der Ge- 
nefung zu verlaffen. Die Abreife mußte fomit einen vollen 
Monat verichoben werden. ?) 


Einundvierzigites Kapitel. 
Pyrmont. 


Mendelsjohn und Graf Wilhelm von Schaum— 
burg-Lippe. 


„Sp eben fommen wir bier an,“ fchreibt Mendelsfohn den 
16. Juli 1773 von Braunfchweig aus an Leſſing. „Morgen 
iſt Sonnabend, da kann ich alfo nicht zu Shnen fommen. Wenn 
mein Reiſegefährte eilt, fo reife ich den Sonntag wieder von 
hier ab, nad) Pyrmont, ohne Sie gejehen zu haben. Iſt es 





) Leſſings Schr. XIII, 457. 
2) Daſ. XIII, 459. 
3, Chr. Fel. Weißens Selbftbiographie (Leipzig 1806), 181. 





— 239 — 


Ihnen eine Möglichkeit, jo fommen Sie, der Sie feinen Sabbat 
zu feiern haben, zu mir berüber; oder weil von Möglichkeiten 
die Nede ijt: vielleicht fünnen Sie es möglich machen, daß Sie 
mit und nach Pyrmont reifen. Ich gehe mit Herrn Zacharias 
Beitel Ephraim, den Sie fennen müjjen, dahin. Wir haben 
einen jehr bequemen vierjigigen Wagen, alfo ift Raum für noch 
zwei Perſonen. Hier iſt auch ein Brief von Ihrem Bruder, 
der fich recht wohl befindet. Wenn es Ahnen bejchwerlich fein 
follte, morgen herüberzufommen, jo berede ich meinen Ephraim 
doc) wol noch, auf den Sonntag mit mir nad Wolfenbüttel 
zu reifen.“ !) 

Wer war glücdlicher al3 Leſſing! In feiner Stimmung, „den 
Kopf voller Grillen, das Herz voller Galle”, war es ihm Be- 
dürfniß, feinem beiten Freunde fein Leid zu Elagen. Nach Em: 
pfang des Briefchens eilte er zu ihm.?) Die Reife nad) Pyr— 
mont mitzumadjen, fonnte er fich nicht entjchließen, obgleich er, 
felbft Teidend, auf Wunſch feiner Braut ebenfall3 den „Pyr— 
monter“ trinken wollte. 

Nicht länger al3 vierzehn Tage konnte Mendelsjohn in 
Pyrmont bleiben; fein Reifegefährte eilte nah Haufe Schon 
am 3. Auguſt trat er die Rüdreife an. Er wollte Ephraim 
bi3 nach Hannover begleiten, von dort allein über Göttingen 
und Gafjel nah Braunfchweig fahren und dann mit feinem 
Gefährten die Reife weiter fortjegen. Allein unweit Hameln 
wurde er von einem heftigen Fieber überfallen, das ihn mehrere 
Tage das Bett zu hüten nöthigte und ihn fo entkräftete, daß 
er, ohne Göttingen, ohne feinen Freund Michaelis und andere 
‘ dortige von ihm verehrte Gelehrte zu jehen, von Hannover 
* aus, wo er von Klodenbring, dem Secretär des Staatsraths, 
für den Philoſophen Lambert eine ganze Sammlung Schriften 


Y Schr. V, 19. 
2) Leſſings Schr. XII, 397 (das Datum, 14. Juli, fann unmög- 
li richtig fein), 399. 


— 40 — 


in Empfang nahm,!) jo jchnell als möglih an die Heimkehr 
denfen mußte, um in dem Schoße feiner Yamilie fich wieder zu 
erholen. ?) 

Im Ganzen war ihm übrigens der kurze Aufenthalt in 
Pyrmont fo gut befommen, daß er glaubte, „Die Schwäche des 
Kopfes würde fi) nun bald ganz verlieren“.?) Nach Langer 
Beit befuchte er im October zum erjten male wieder die Leip- 
ziger Meſſe,“) zur großen Freude des dortigen Predigers Zolli— 
fofer, der fchmerzlich bedauerte, daß „unfere beiten philofophifchen 
Köpfe faſt alle Franf und fchwächlich wären“, und fi nun um 
fo mehr freute, vom Patienten felbft die Wirkung des „Pyr— 
monter3“ zu erfahren, über die ihm Garve feine Auskunft 
geben konnte. >) 

Auch der Winter ging leidlich vorüber, ſodaß er fogar 
Leſſings gerade erichienenen „Beiträge“ leſen fonnte; im Früh— 
jahre aber jtellten fich die alten Anfälle häufiger wieder ein, 
und „Mendelsfohn war noch immer der kränkliche Mann, der 
er zwei Jahre früher gewefen“.6) Bei aller Stärke der Geiſtes— 
fräfte konnte er den Geijt nicht gebrauchen, blos weil „der 
Körper vielleicht nur an einer einzigen Stelle zerrüttet war“. 

Noch immer war ihm felbjt das Briefichreiben eine ſchwere 
Arbeit und er mußte nicht felten ganze Monate auf eine Stunde 
warten, in welcher er dazu aufgelegt war. So lange er weder 
las, noch jchrieb, noch dachte, befand er fich phyſiſch wohl, und 
er war feſt entfchloffen, „So lange blos zu vegetiren, bis es dem 
Herrn über Leben und Tod gefallen würde, ihm neue Kräfte 
zu verleihen“. ”) 





!) Lamberts Gelehrter Briefwechjel, herausgegeben von Bernoulli 
(Berlin 1782), II, 263. 

2, 1. Aufl. ©. 518 f. 

3) Leſſings Schr. XIII, 481. 

4) Ebd. XIII, 488. 

5) Briefwechſel zwifhen Garve und Zollifofer (Brelau 1804), 95. 

6) Leſſings Schr. XIII, 508. 

7) Schr. V, 517, 527, 532. 


— 4l — 


Leſſings fchon am 1. Februar 1774 ausgeiprochener Wunfch, 
den Freund im Sommer wieder bei fich zu fehen,!) ging in Er- 
füllung, natürlich auch die Bitte, „ihn ja die Ankunft in Braun— 
ſchweig voraus wifjen zu Yaffen, damit er feinen Augenblick ver- 
fiere, worin er feiner genießen fünnte.‘2) 

Mitte Juli 1774 begab ſich Mendelsfohn wieder nad) 

Pyrmont. 
An diefen zweiten Aufenthalt in dem romantisch gelegenen 
Curorte dachte er noch lange Zeit mit inniger Freude zurüd: 
dieſesmal machte er dort die perfönliche Bekanntfchaft des großen 
Fürften eines feinen deutjchen Landes, des Grafen Wilhelm von 
Schaumburg=Lippe. 

Wahrlich ein jeltener Mann! „Die feinjte griechifche Seele 
in einem rauhen wejtphälifchen Körper“, wie Mendelsfohn ihn 
fo treffend bezeichnet.) Er hatte die Lorbern des Kriegsruhms 
in Portugal geerntet, Tiebte den Heldenmuth und die Wiſſen— 
Ihaften. Ganze Stellen aus Shafefpeare fonnte er mit der 
vollen Empfindung des Inhalts herſagen und über die wich— 
tigjten Probleme mit philofophifchem Zieffinn fprechen.*) „Ich 
habe nie,” jagt Mendelsfohn, „einen Mann mit mehr Wärme 
von den Wahrheiten der natürlichen Religion reden hören. Frei 
von allen Borurtheilen, die zu Zwieſpalt und Menfchenhaß 
führen, war er von den echten wohlthätigen Lehren der Reli— 
gion bis zur Schwärmerei durchdrungen.‘5) 

Ganz unbekannt war der Berliner Philofoph dem Grafen 
bei ihrem erjten Zufammentreffen eben nicht. Oft hatte er mit 
ihrem gemeinfchaftlihen Freunde, dem Regierungs- und Con— 
filtorialrathe Abbt, über ihn gejprochen und als ihm einmal der 
Gedanke kam, ſich in Bückeburg niederzulaffen, hatte ihm der 


N Schr. V, 19. 
2?) Schr. V, 19; vgl. Leſſings Schr. XII, 416. 
3) Schr. V, 406. 
9 Schr. V, 353. 
5) Schr. V, 406, 
Kayſerling, Mofes Mendelsjohn. 16 


— 22 — 


Fürſt bereitwilligit „Schuß“ und Wohnrecht ertheilt. Der „Phä- 
don“ war ihm von dem Verfaſſer felbft zugefchickt, wofür er ihm 
in einem eigenhändigen Schreiben feinen Danf bezeugte.!) Er 
verehrte Mendelsjohn und fchloß fich ihm an dem Orte, wo 
Stolz; und Eitelfeit ſich gewöhnlich entfalten, innig an. 

Sowol der Graf al3 auch feine Gemahlin, „eine Dame 
bon ungemeiner Schönheit und feltenen Gemüthsgaben, voll 
jugendlicher Sanftmuth und Milde“, waren während ihres 
Aufenthaltes in Pyrmont duch den Tod ihres einzigen Kindes, 
einer Tochter von drei Jahren, die fie kurz zuvor verloren 
hatten, tief gebeugt. Sie waren beide in den Willen Gottes 
ergeben, aber dieſer Geifeljtreich des Verhängniffes war zu hart, 
um fo bald verjchmerzt zu werden. Es fand fich in ihrem Ge- 
müthe der Reſt einer ſüßſchwärmenden Melandolie, die fich in 
ihre gleichgültigften Unterredungen mit einmifchte und fie für 
Mendelsfohn äußerſt interefjant machte. 2) 

Ueber Tod und Unsterblichkeit unterhielt ji) dag trauernde 
Fürftenpaar am häufigſten mit dem jüdischen Philofophen; vedet 
doch der Menfch nach fchwerer Prüfung jo gern von jenen 
Heilswahrheiten, die dem wunden Herzen Troft und Heilung ge 
währen! Al3 der Graf, in folche Gefpräche vertieft, einjt mit ihm 
auf Nebenwegen luſtwandelte, ſah er fich unvermuthet vor einem 
Graben, der mehrere Fuß breit war. Mit feinen langen Beinen 
fchritt er Leicht darüber Hin, und ging und ſprach weiter; Men— 
delsfohn aber Fonnte nicht folgen und ftand ängſtlich und ver- 
legen. Der Graf vermißte nach einer Weile feinen Gefährten. 
Schnell kehrte ex zurück, faßte den Heinen Mann in feine riefigen 
Arme, trug ihn über den Graben und jeßte dann dag Geſpräch 
ruhig fort, als fei gar nichts vorgefallen. 3) 

Was Wunder, daß das fürftliche Baar den Tiebenswürdigen 


') Schr. V, 364, 367, 445. 
2) Schr. V, 406. 
3) Varnhagen von Enje, Biographiſche Denkmale, II, 68. 





— 43 — 


Mendelsfohn, welchen es durch einen mehrmwöchentlichen Umgang 
genauer hatte fennen lernen, innig verehrte. Er war jebt ihr 
Idol; fein Bild prangte im gräflichen Cabinet mit der Unterfchrft: 

„Vir bonus et sapiens, quem vix e millibus unum 

. tulit consultus Apollo.‘ 
„Weile und gut ift der Mann, wie faum unter Taufenden Einen 
Apoll, der Erfahrene, brachte.‘ 

Frau von Ompteda, Oberhofmeifterin der nad) Celle ver- 
bannten unglüdlichen Königin von Dänemark, fol diefe Verſe 
„stante pede“ auf ihn gemacht haben, wie Herder, der fich zu 
gleicher Zeit mit Mendelsſohn in Pyrmont aufhielt, an Ha- 
mann fchreibt.!) 

Herder fah ihn hier zum erjten und legten male. 

Es verdroß diefen launenhaften eiteln Mann, daß der 
Graf, bei dem er die Stelle eines Hofpredigers, Confiftorial- 
vathe3 und Superintendenten befleidete, den Berliner Juden 
fo außerordentlich feierte. Der Aufenthalt in Pyrmont wurde 
ihm dadurch verleidet, daß der „Mardochai ein Gefolge gleich 
dem Großvezir Hatte.) „Pyrmont follte mir recht ein Theil 
des Weberirdifchen werden,“ fchreibt er Lavater, mit dem er jebt 
wieder auf gutem Fuße ftand, Ende Juli 1774, „und fiehe! es 
ward eben Berfammlungsort eine Unwetters, das mich, wie 
tief! niederwarf, daß ich alle guten Leute dafelbft, Zimmermann 
nicht ausgenommen, auf die ich mich fo freute, nur durch eine 
dide, trübe Wolfe Habe anfehen fönnen.“3) „Sch Habe auch 
Mendelsfohn kennen lernen,“ Heißt es in demfelben Briefe, „der 
klarſte, heiterjte Kopf, den ich beinahe auf einem menschlichen 
Rumpfe gefehen, ſtark ausgeprägt für fih. Ich aber habe, viel- 
leicht eben vorbemeldeter Urfache wegen, wenig oder feine Bunte 
der Anhänglichkeit an ihn gefunden, halte ihn aber an fich für 





) Hamanns Schr. V, 107. 
2) Hamanns Schr. V, 141. 
9) Aus Herders Nachlaß, Il, 111. 
16* 


— 244 — 


ſehr glücklich, obgleich, wie’3 mir fcheint, künſtlich auf einem, ich 
weiß nicht wie, ſelbſtgemachten Bolliwverfe.‘t) 

Noch vor wenigen Jahren hatte er Mendelsfohn für den 
erſten Denfer im philofophifchen und äfthetifchen Fache erklärt 
und jet ging er an ihm vorüber, al3 ob er ihn nicht gefannt 
und nie in irgend einer Beziehung zu ihm gejtanden hätte! 
Mendelsfohn Tieß ihn in feiner hochwürdigen Nervofität feines 
Weges ziehen und machte feine VBerfuche, fi ihm zu nähern; 
er meinte, Herder, der Theologe, ſcheue Mendelsfohn, den Juden, 
und glaubte in allen feinen Bliden die Bitte zu leſen: „Lieber 
Mann, ich habe jet einen Weg zu gehen, auf dem ich mir 
Ihre Begleitung verbitten muß. Je näher in Lehre, deſto ent- 
fernter im Leben. Sie fennen die Menfchen, auf die ich jegt 
wirfen muß, wenn ich meinen Endzwed erreichen will. Unfere 
Stege müfjen divergiren, wenn wir beide zur Herberge kommen 
wollen.‘ 2) 

Um wie viel freier als der rücjichtsvolle Theologe bemegte 
fich fein fürjtlicher Herr! 

Bon ihm konnte Mendelsfohn nach feiner Rückkehr aus 
dem Eurorte gar nicht aufhören zu erzählen; die in feiner Nähe 
verlebten Tage blieben ihm unvergeßlich, und der Aufenthalt in 
Pyrmont, wo er auf Zureden des fürftlichen Paares acht Tage 
länger blieb, als die Eur es erforderte, war ihm in dieſer Be- 
ziehung überaus wichtig.?) „Bon dem Gebrauche des Waſſers 
aber,“ Heißt es in feinem Briefe an den Grafen vom December 
1774, „gebe Gott, daß der Frau Gräfin Durchlaucht befjern 
Nuten verfpüren mögen, al3 ich diejegmal davon habe. Ach 
bin noch immer zu aller Anjtrengung des Geiftes unfähig und 


) Aus Herders Nachlaß, Il, 113; Lavater antwortet ihm am 
24. Auguft 1774 (II, 114): Bon Mendelsfohn — wie Du! Alles Heitre! 
aber ressort philoſophiſcher Schöpfungsfraft, anziehende, begeifternde 
Erhabenheit — nirgends. 

2) Schr. V, 585. 

3) Hennings, Souvenirs de Berlin. (Odſchr.) 


— 245 — 


muß jeder Gelegenheit zum Nachdenken mit Sorgfalt ausweichen. 
Indeſſen fo lange ich mich phyſiſch wohl befinde, verläßt mich 
die Hoffnung nicht, dereinjt wieder zu meiner Lieblingsbeichäf- 
tigung zurüdfehren zu können. Nur ijt mein fejter Vorſatz, der 
Natur feine Gewalt anzuthun, ihr auch nicht den mindejten 
Schritt abgewinnen zu können, fondern ihr mit findlichem Ge— 
horfam zu folgen, wohin fie mich leitet. Will fie mich der vor- 
maligen Gefährtin meines Lebens, der PhHilofophie, wieder zu— 
führen, jo werde ich fie mit Jubrunft, wie eine wiedergefundene 
Geliebte, umarmen. Soll ich aber meine Laufbahn in Unthätig- 
feit bejchließen, fo fei auch dafür die Vorfehung unendlich ge- 
priefen; jo Hoffe ich jenſeits des Todes den Faden wieder anzu= 
fnüpfen, wo ich ihn diejjeit3 fo plößlich Habe abreißen müfjen.‘!) 

Der Graf von Schaumburg=Lippe ſah Mendelsjohn, von 
dem er im Mai 1775 verjchiedene philojophifche Abhandlungen 
erhielt, nicht wieder. Die Freude feines Herzens, ja das ganze 
Glück feines Lebens, feine „in faſt vomanhafter Zärtlichkeit von 
ihm geliebte Gemahlin flarb an ihrem zweiunddreißigiten Ge— 
burtstage. In tiefer Einſamkeit hing er feinem Schmerze nad), 
in dem „Phädon“ fuchte er Troft und Beruhigung; er konnte 
in diefem Leben nimmer froh werden. In Kummer verfunfen, 
nahm er an Kraft täglich ab und folgte der geliebten Gefährtin 
bald nad). 

„Und diefer in aller Betrachtung wichtige Mann,“ Elagte 
Mendelsjohn noch nach Jahren, „stirbt in Deutjchland Hin, ohne 
dat man feinem Andenken ein Denkmal ftiftet, ohne daß von 
feinen ZThaten und Handlungem jonderlich gejprochen wird! 
Wenn man hierüber Deutfchland mit Necht der Gleichgültigkeit 
bejchuldigt, jo ijt e8 nicht das gemeine Publitum, das endlich) 
auch gegen Anklagen und Beichuldigungen gleichgültig wird; es 
ijt der denfende Theil defjelben, die Männer von Herz und Kopf, 
an welchen Deutjchland gottlob! feinen Mangel hat.“ ?) 

1) Schr. V, 533 f. 

2) Schr. V, 407. 


— 246 — 


Welhe Verehrung für den Fürften, welches warme Na— 
tionalgefühl fpricht fich in diefen wenigen Zeilen aus! 

Mendelsfohn ging nicht mehr nach Pyrmont; er machte 
andere Reifen. 


Hweiundvierzigites Kapitel. 
Mendelsjohn in Baruth und Dresden. 


Zu Baruth, einem Städtchen an der fächfifchen Grenze, 
lebte in den fiebziger Jahren der gräflich Solmsſche Ober— 
fürjter Jung. Es war ein biederer Mann, ohne Sculfennt- 
niffe, aber ein „richtig denfender Kopf“, wie Mendelsfohn be— 
hauptete; er las auch, zwar nicht viel, aber mit Nachdenken. 
Der „Phädon“ Hatte ihn intereffirt, und als ihn einft ein herr— 
Ihaftliher Auftrag nad) Berlin führte, fuchte er den berühmten 
Berfaffer auf und gewann dejjen Freundfchaft, wie er auch mit 
Spalding in freundfchaftlicher Verbindung jtand. Yung nahm 
Mendelsfohn das Verſprechen ab, ihn einmal im Sommer mit 
feinem Beſuche zu beehren. 

Anfangs Auguft 1776 riß Mendelsfohn ſich von feinen 
Gefchäften los und reifte in Begleitung feiner Frau zu dem 
DOberförjter, bei dem er einige Tage verweilte Der treffliche 
Jung war über diefen Beſuch Hocherfreut und zum Andenken 
an den Aufenthalt des feltenen Gaftes hatte er auf den Rajen- 
ji in feinem Garten, auf welchem Mendelsfohn des Morgens 
zu fiten und Palmen zu überfegen pflegte, einen jteinernen 
Sit zwifchen zwei Pfeilern aufmauern laſſen, mit der Inſchrift 
auf dem Mauermwerfe: 

„Sib des Herrn Mofes Mendelsfohn am 12. Auguft 1776.) 


) Neue Berliner Monatsihrift, November 1804, 379 ff.; Schr. 
V, 598. 


— HM — 


Bon Baruth unternahm Mendelsfohn eine Reife nad) 
Dresden, hauptfählich im Intereſſe des Oberförjters.?) 

E3 war am Abend des 16. August, als er in Beglei- 
tung feiner Frau und feines jungen Freundes David Fried— 
länder in Dresden anlangte. Am andern Tage früh morgens 
fam der Dresdener jüdiſche &emeindediener Löbel Scie zu 
Mendelsfohn und verlangte zwanzig Grofchen, um für ihn 
und feine Geſellſchaft einen Zoll- und Geleitbrief zu löfen, denn 
damal3 mußte der Jude, wenn er fich in einer ſächſiſchen Stadt 
auch nur einen Tag aufhalten wollte, den fogenannten Leibzoll 
entrichten, der ihn zum Vortheile der Finanzcaffe zum Thiere 
herabwürdigte. 

Mendelsſohn lachte laut auf. 

„Der Verfaſſer des „Phädon“ ſich verzollen gleich dem 
Schſen, das iſt luſtig!“ ſagte er zu ſeiner Frau; „nun ſehe ich 
erſt ein, wie gut es Lavater mit mir gemeint. Wäre ich Chriſt 
geworden, könnte ich heute zwanzig Groſchen ſparen. Doch,“ 
fuhr er ernſt und traurig fort, „Jude iſt Jude, ob er mit 
Philoſophemen oder mit alten Kleidern handle; gehorche ich den 
mofaifchen Geſetzen, muß ich auch den fächfifchen Folge Leiften.“ 
Er zahlte die zwanzig Grofchen, und Löbel Schie eilte, den 
Berfaffer des „Phädon“ und feine Begleiter zu verzollen. 

Als Schie in dem Zoll- und Geleit3-Erpeditionsbureau 
die zu verzollende Gejellihaft nannte, welche aus Berlin fam 
und über Meißen nad) Leipzig reifen wollte, jtußte der Ein- 
nehmer ein wenig, als er den Namen Mendelsjohn hörte. 

„Mendelsfohn! Mir ift, als ob ich von dem Maufchel 
ſchon etwas gehört hätte. Mendelsjohn! Hat er nicht Bücher 
geichrieben ?“ 

„Und was für Bücher!“ erwiderte Löbel Scie. 

„Ei was! Jude ift Jude!” fiel ihm der Einnehmer ins 


) Hennings, Briefe aus Dresden und Hamburg (Hdidhr.): „Um 
des Oberförfterd Jung willen hatte Mendelsjohn feine lette Reife von 
Berlin nad) Dresden unternommen.’ 


a A 


Wort. Er jchrieb Hierauf den Geleitzettel und jtrich die zwanzig 
Grofchen ein. 

Tags darauf bejuchte Mendelsfohn in Begleitung des 
jungen Hennings, der als dänischer Gejichäftsträger in Dresden 
lebte, die damals noch im Zwinger aufgeftellte furfürftliche Biblio- 
thef, um das Verzeichniß der Doubletten zu durchblättern, welche 
demnächit verkauft werden follten. 

Der Bibliothefar Daßdorf, der gerade mit der Herausgabe 
der Briefe Windelmanns beichäftigt war, Tchäßte ſich glücklich, 
den berühmten Philofophen und Freund Leſſings in feinem 
Mujentempel zu ſehen; ex exichöpfte jich in Lobeserhebungen 
über Mendelsſohns Berdienjte um die deutfche Literatur, zeigte 
ihm mit unermüdlicher Geduld die Doubletten jowie die Schäße 
der Bibliothek und fragte ihn, als er Miene machte fich zu ent- 
fernen, wie es ihm in Dresden gefalle. 

„Ihre Stadt ijt Herrlich,“ antwortete Mendelsjohn, „Ihr 
Land noch herrlicher und Ihr Kurfürft das herrlichſte, was ich 
nächjt unferem Friedrich kenne, aber —“ hier brad) er lächelnd ab. 

„Run, was mißfällt Ihnen denn bei uns?“ fragte Daf- 
dorf erſtaunt. 

„Daß die ſächſiſchen Gejege die Berliner Juden und Die 
polnischen Ochfen noch immer im Range ganz gleichjtellen.“ Und 
nun mußte Mendelsjohn die Gefchichte mit den zwanzig Groſchen 
und dem Leibzoll erzählen. 

Daßdorf ſtand dabei wie auf Kohlen. Er entjchuldigte 
den Einnehmer theil3 mit allzujtrenger Pflichterfüllung, theils 
mit Mangel an Kenntniß der Literatur und tröftete Mendels- 
john, daß der Fehler ficherlich bald gut gemacht werden wiirde, 
Diejer aber bat ihn, fein Aufhebens aus einer Sache zu machen, 
die faum der Rede werth fei, empfahl ſich und ging. 

Sobald Mendelsfohn ſich entfernt Hatte, ergriff Daßdorf, 
der für alles was Literat und Literatur hieß, enthuſiaſtiſch ein- 
genommen war, hajtig Hut und Stod, jtürzte die Zwingertreppe 
hinab, um dieſe „entjegliche Gejchichte‘ gleich bei der rechten 


— 249 — 


Behörde anzubringen; er begab fich zu dem geheimen Kammer- 
vath Freiheren von Ferber, in dejjen Haufe er einige Jahre 
Hofmeifter geweſen war. Ferber, nicht nur ein tüchtiger Staats- 
mann, fondern aud) Freund der Literatur und Verehrer Men- 
delsſohns, fand die Geſchichte ebenfalls jehr ärgerlich, theilte 
ganz die Befürchtung Daßdorfs, daß die Berliner Gelehrten 
fi) in den öffentlichen Blättern darüber luſtig machen würden, 
und begab fich jofort zum Cabinetsminifter Freiheren von Gut— 
fchmidt, um auch ihn von der „entjeglichen Geſchichte“ in Kennt: 
niß zu ſetzen. 

Schon den nächſten Morgen erhielt das Finanzcollegium 
mittel3 allerhöchſten Reſeripts den Befehl, „dem Berliner Ge- 
lehrten moſaiſcher Religion, Herrn Moſes Mendelsfohn‘, die als 
Leibzoll abgenommenen zwanzig Groſchen zurüczuftellen und ihm 
zugleich zu willen zu thun, daß er fich mit feiner Begleitung 
in Dresden aufhalten fünne, jo lange es ihm beliebe, ohne die 
mindefte Abgabe zu entrichten. 

Mendelsfohn freute ji) der Auszeichnung, welche ihm der 
Kurfürſt angedeihen ließ; er jtattete dem Freiheren von Ferber 
einen Beſuch ab, um ihn feiner Hochachtung und Ehrerbietung 
perfönlich zu verfichern,!) und jchenkte die zwanzig Groſchen mit 
einer zehnmal fo ftarfen Beilage der Stadtarmencaffe. 

Weit froher aber war Daßdorf, dem, wie er nachher oft 
erzählte, dieſe „entjeglihe Geſchichte“ eine fchlaflofe Nacht ver- 
urfacht Hatte.2) 

Dem Bibliothefar Daßdorf, der junge Leute, welche die 
edle Bahn der Kunſt betraten, durch guten Rath, Umgang und 
Empfehlung gern förderte, empfahl Mendelsjohn zuweilen Jüng— 
finge, die fich der Kunft widmeten und zur weitern Ausbil- 
dung nad) Dresden begaben. Einen von Mendelsjohn ihm 
Empfohlenen führte der dienjtfertige Daßdorf bei dem Frei— 





1) Schr. V, 543. 
) Mein: Mojes Mendelsjfohn. Ungedrudtes und Unbekanntes 
©. 56 f. 


— 250° — 


heren von Ferber ein, der dem Liebhaber der Kunjt eine Pro— 
tection verfprah, um die Mendelsjohn anzuhalten nicht kühn 
genug war.?) 


Dreiundvierzigftes Kapitel. 
Auguſt von Hennings. 


In Dresden traf Mendelsfohn auch den jungen Auguſt 
von Hennings wieder, einen feiner zärtlichjten Freunde und auf- 
richtigſten Verehrer. 

Während der zwei Jahre, welche dieſer geiſtreiche, für Frei— 
heit und Aufklärung glühende junge Mann als Legationsſecretär 
in Berlin lebte, war er faſt täglich im Mendelsſohnſchen Hauſe. 
Eine Empfehlung ſeines Schwagers, des Doctor Reimarus in 
Hamburg, hatte ihn mit dem Philoſophen bekannt gemacht; 
durch Moſes Weſſely, den Freund Leſſings, Mendelsſohns und 
der Familie Reimarus, deſſen Bruder Hartwig er von Kopen— 
hagen aus kannte, war er bei anderen angeſehenen Juden Ber— 
lins eingeführt worden. Er wurde Hausfreund des reichen 
Daniel Itzig, deſſen durch Schönheit, Talente und Geiſtesbildung 
ausgezeichnete Töchter ihm beſonders gut gefielen, und Freund 
David Friedländers, der Aerzte Bloch und Herz. Auch die 
Dame, welche Mendelsſohn in der Hamburger Zeitung in Verſen 
gefeiert hatte, ein Fräulein Meyer, lernte er kennen und fand 
ſie der Lobeserhebung vollkommen würdig. 

Der Umgang mit Mendelsſohn war für Hennings der 
füßefte Genuß in dem an Genüffen reichen Berlin. Der - ganze 
Ton, der in feinem Haufe herrichte, behagte ihm. Sein größtes 
Vergnügen beftand darin, den Philofophen auf feinen Spazier- 
gängen zu begleiten. Als er eines Tages mit ihm und Karl 

) Schr. V, 544; f. au den facjimilirten Brief an Dakdorf vom 
16. Auguft 1779. 





— 251 — 


Leſſing unter den Linden promenirte, fagten einige borüber- 
gehende Damen zu einander: „Da ift der berühmte Mendels- 
ſohn!“ Lefjing, welcher es zuerſt gehört Hatte, machte Mendels- 
john aufmerffjam. „Sch war,” fprach diefer, „in diefem Augen— 
bfide nur der Fabrifant; die Schönheit des Muſters eines 
Kleiderjtoffes erregte ihre Neugierde.“!) 

Gegen Ende des Jahres 1774 verließ Hennings Berlin 
und fehrte auf einige Zeit nad) Hamburg und Kopenhagen 
zurüd. Mendelsſohn blieb der Gegenftand feiner Verehrung 
und Nacheiferung; der mit ihm gepflogene Umgang hatte es 
bewirkt, daß er fih mit Eifer wieder den philofophifchen 
Studien zumandte, welche einige Zeit vernachläffigt zu haben er 
jich die bitterjten Vorwürfe machte. „Wenn meine Vorſtellungen 
etwas zu diefer Entichliegung beigetragen,“ heißt e8 in dem 
erjten Briefe, welchen Mendelsjohn an ihn richtete, „Jo bin ich 
itolz auf den wadern Rekruten, den ich der Philofophie zurüd- 
geführt, oder vielmehr auf den tüchtigen Ueberläufer, den ich 
ihr zuriücdgebracht habe: zu einer Zeit, da ich jelbjt nicht mehr 
für fie zu Felde ziehen fannı. Aber warum fehen Sie noch mit 
folcher Zerknirſchung auf Ihr voriges Leben zurüd? Go jehr 
haben Sie doch meines Wiffens nie wider die Philoſophie ge— 
fündigt, daß Sie nöthig hätten, mit diefem bußfertigen Ange- 
jichte vor ihrem Throne zu erjcheinen. Wo ich nicht irre, fo 
pflegt auch das philofophifche Gewiſſen feine jo tiefe Wunden 
zu Schlagen. Diefe Göttin züchtigt wie eine Mutter, nicht wie 
die gefränkte Eiferfucht. Allein ich kenne ein tyrannifches Weib, 
das eben fo derbe mit Skforpionen peitjcht: man nennt fie Lange— 
weile, und dieſe fcheint Ihnen die mehrjte Unruhe zu machen.“ 

Schon diefer Brief zeigt, wie theuer der talentvolle junge 
Mann Mendelsjohn geworden war. Er hatte ihn herzlich Tieb 
gewonnen und wünfchte ſehnlichſt, vecht oft Nachricht von ihm 
zu erhalten. „Den guten Vorſatz, mir öfters zu fchreiben,“ 


) Henning3, Souvenirs de Berlin. Gdſchr.) 





— 232 — 


heißt es am Schluſſe diefes Briefes, „laſſen Ste von langer 
Dauer fein und verichieben Sie ihn ja nicht, wie man wol ſonſt 
mit guten Vorſätzen zu thun pflegt. Ein Freund, den man 
einen Pofttag aus den Gedanken Schlägt, pflegt ſich die erſten 
Pojttage darauf nicht Leicht wieder einzuftellen; und wenn ſich 
fein Bild nachher wie ein Schemen in der Dämmerung zeigt, 
fo iſt e8 in Gefahr, kaum mehr erkannt zu werden. Wenn 
auch ‚zuweilen meine Antwort einige Zeit ausbleiben jollte, fo 
Schreiben Sie die Schuld freundfchaftlic” auf Rechnung meiner 
Ihwächlichen Gefundheit, die mir das Brieffchreiben, meine vor- 
malige Erholung, zu einer bejchwerlichen Arbeit macht.‘‘) 

Nach einer zweijährigen Trennung ſah Hennings feinen 
Mendelsfohn in Dresden zum erjten male wieder. Seine Freude 
war unbejchreiblid. Drei Tage wich er nicht von feiner Seite. 
Jedes Wort, das er ſprach, Hätte er niederichreiben mögen. 
Seine Unterredung ſchätzte er für Unterricht, fie galt ihm für 
einen lautern Quell, aus dem in der fanftejten Stille ein Strom 
von Gedanken fließt; ex beiwunderte die Wärme feines Herzens, 
die „belebend durch alle Adern rann, aber nicht mit den fieber- 
haften Aufwallungen, die zu Kopfe fteigen und den Verſtand 
betäuben.“?) | 

„Mendelsſohn ijt in Dresden!“ berichtet er freudevoll am 
21. August 1776 feiner Schwägerin Elife Reimarus. „So habe 
ich in meiner dürren Wüſte einen Labetrunf gefunden. Seit 
drei Tagen Habe ich mich mit ihm befchäftigen können. Ihnen 
alles zu fagen, was in diefem Zeitraume liegt, Ihnen alle prakt 
tiihe Philofophie, alle Zurücdführung von Fleinen Ideen, die 
gänzliche Auslöſchung der Nebenbegriffe, die Heilung jelbft der 
Wunden, die dag Bewußtſein der Kleinheit in die Seele fchlägt, 
mit wenigen Worten, Ihnen den ganzen Ueberjprung von der 
Welt zu Mendelsjohn, von der Schönheit zum Berftande zu 
ſchildern, ijt unmöglich.“ 

) Schr. V, 531 f; vgl. 1. Aufl. ©. 519. 

2) Hennings Briefe aus Dresden und Hamburg. (Hdjchr.) 


— 2593 — 


„Ich Habe ihn wenig verändert gefunden. Seine Gefund- 
heitsumftände haben ihm noch nicht wieder erlaubt, philofophifch 
zu arbeiten. Sein äußeres Anfehen hat dadurch gewonnen, daß 
ex fein eigenes Haar trägt. Sie wifjen, welch’ ein edler fanfter 
Ausdruf in feiner Phyfiognomie if. Die mancherlei Befuche, 
die vielerlei Unterredungen fcheinen ihn etwas zu ermatten, aber 
man ſieht fo deutlich, daß. diefe Abjpannung im Körper Tiegt, 
daß fein Geift immer im edeljten Gleichgewichte der Ruhe er- 
icheint. Sein Urtheil iſt jo hell und gerade, fein Ausdrud 
immer ſich ſelbſt jo gleich, daß man nirgends einen höhern 
Beweis der Unabhängigkeit, der Selbjtändigfeit und der Im— 
materialität der Seele finden kann, als in feiner Art zu denken, 
zu fein.‘ 

Auf Elifens Wunjch befragte er Mendelsjohn nach feiner 
Meinung über die Phyfiognomif, durch welche Lavater damals 
von neuem die Aufmerffamfeit auf fich gelenkt Hatte. Den größ- 
ten Theil des Werkes hielt er für „unverdaute Bhilofophie und 
Ichales empfindfames Modegewäſche“, doc) glaubte er, man fei 
Zavatern verfchiedene neue Anmerkungen in der Phyſiologie und 
befonder3 eine Bereicherung der phyfiologiichen Sprache Tchuldig. 
Borzüglich gefiel ihm der Gedanke, daß die Knochen, da fie als 
fefte Theile der Beränderung weniger unterworfen find, als die 
weichen fleifchigten Theile, die durch angenommene Gewohnheiten 
biegfam gemacht werden, immer den natürlichen Charakter rich- 
tiger andeuten als diefe, und daß in dem Contraſte der beiden 
ein Widerfpruh des natürlichen und fittlichen Charakters zu 
vermuthen fei. Sonſt machte er, gleich Leifing,!) es Lavater 
zum Borwurf, daß er die Pathognomik mit Phyfiognomif ver- 
wechlelt habe und daß es ihm mehr darum zu thun fei, Die 
Wunder Gottes in der Bildung des Menfchen zu erklären, als 
auf das Erfennen des innern Menfchen und der Phyfiognomie 


) Hennings Briefe aus Dresden und Hamburg (Sdſchr.); 
1. Aufl. ©. 520. 


— 254 — 


zu fehen. Bon der ganzen Phyſiognomik hielt Mendelsjohn 
nicht gar viel; doch konnte er es fich nicht verfagen, einige Ein— 
würfe gegen diejelbe, bejonders gegen die von Lavater behaup- 
tete „Harmonie zwischen Schönheit und Tugend“ im „Deutjchen 
Muſeum“ zu veröffentlichen.!) Der kleine Auffa erjchien ano— 
nym; Boie, der Herausgeber des „Muſeum“, verrieth dem deut- 
Ihen Dichter Gottfried Auguft Bürger das Geheimniß, erfuchte 
ihn aber dringend, den Namen de3 Verfaſſers für fic) zu be— 
halten;?) diefer blieb jedoch nicht lange unbekannt. Mendel3- 
fohn beabfichtigte mit diefem Aufſatze, den unfeligen Streit, der 
über die Lavaterſche Phyfiognomif zwifchen Lichtenberg und 
Bimmermann entbrannt war, feiner Gewohnheit nach auf einen 
bloßen Wort und Definitiongftreit zurüdzuführen. Er juchte 
Zimmermann zu befänftigen und beſchwor ihn, fich nicht auf- 
reizen zu lafjen. „Wenn vollends durch diefen Streit,“ heißt 
e3 in dem Briefe vom 12. Mai 1778, „Hallers Leben“ nur 
um einen Grad Schlechter werden oder auch nur eine Meffe 
fpäter exfcheinen follte, jo wiirde ich die Streitbegierde der 
Göttinger Gelehrten von ganzer Seele verwünfcen.‘“?) 
Hennings erzählte der Freundin noch, daß er mit Men- 
delsfohn einen Theil des Berzeichniffes der Doubletten durch— 
blättert habe, welche von der Furfürftlichen Bibliothef verkauft 
werden follten, daß er am Tage vor Mendelsfohns Abreife 
den Landsmann Palitſch bei ihm getroffen und daß Zingg das 
Bild des Philofophen in Profil fehr fauber gezeichnet Hätte. 
Diefer Bericht über Mendelsfohns Anwefenheit in Dresden 
bewirkte einen Freudentag in der Reimarusfchen Familie. Leſſing, 
der fi) gerade zum Befuche feiner Braut in Hamburg aufhielt, 
war, als Hennings Brief anfam, bei Elife und zwar allein, 


ı) März 1778, ©. 19% fi. Dieſer Aufſatz fehlt in den Gei. 
Schriften. 

2) Briefe von und an G. A. Bürger. Aus dem Nadlaffe heraus: 
gegeben von A. Strodtmann, (Berlin 1874), II, 209. 

9) Schr. V, 547 ff. 


— 2355 — 


denn fonjt konnte man, wie e8 in ihrem Briefe vom 28. Auguft 
1776 heißt, „dieſes überall belagerten Mannes nicht vecht froh 
werden, fich nicht durch und durch wärmen und muß, um von 
einem Bilde zum andern überzugehen, hart an der Duelle Durft 
leiden“. „Sie willen, lieber Hennings, was Leffing von Men- 
delsfohn Hält. ES befremdete ihn, daß er jebt in Dresden fei, 
befremdete ihn, daß er fein eigenes Haar trägt, nur Ihre 
Freude, ihn bei ſich zu jehen, befremdete ihn nicht. Ich fühle 
jo fehr, was das jagen will, Mendelsfohn bei fich zu Haben, 
daß ich gerne einen Theil meines Lebens aufgeben möchte, um 
den andern zu den Füßen dieſes Gamaliels zubringen zu können 
und aus feinem Munde und Geifte Wahrheit zu fchöpfen. 
Suchen Sie doch für fih und womöglich auch für mich einen 
Kopf von ihm zu erhalten. Ueber alle Antifen werde ich ihn 
ſetzen.“1) 

Hennings fühlte ſich bei Empfang dieſes Briefes „geiſtes— 
arm und verlaſſen“; Mendelsſohn war abgereiſt. 


Vierundvierzigſtes Kapitel. 
Ein Reiſeabenteuer. 


„Um die Ontologie iſt es etwas ganz Vortreffliches,“ er— 
zählte Mendelsſohn in einer Abendunterhaltung ſeinen Freunden, 
als das Geſpräch zufällig auf philoſophiſche Materien kam. 
„Mir hat ſie einmal ein gutes Nachtlager verſchafft, da ich ſchon 
darauf gefaßt war, die Nacht in meinem Wagen unter freiem 
Himmel zuzubringen.“ 

Alle waren ſehr neugierig, wie dieſes möglich wäre, und 
Mendelsſohn fuhr daher in feiner Erzählung fort: 





) Hennings Briefe aus Dresden und Hamburg. (Hdichr.) 


— 236 — 


„Ich war auf einer Reife im Sächſiſchen begriffen. Eines 
Abends wurde ich durch einen Umftand genöthigt, in einem 
feinen Dorfe zu übernachten, in welchem fich fein ordentlicher 
Gaſthof fand. Das Wetter war fehr unfreundlih, und da ich 
erfuhr, daß ein Prediger in diefem Dorfe wohne, jchidte ich zu 
ihm und ließ mich bei ihm al3 einen Gelehrten aus Berlin 
melden und um ein Nachtlager bitten. Der Prediger ließ fich 
zwar willig dazu finden, hatte aber doch einige Bedenken, da 
er hörte, daß der Gelehrte — ein Jude fei. Als ich auf das 
Haus zufam, ftand der Prediger, der mich erwartete, ein fehr 
ehrwirdiger Greis, vor der Thüre. Ehe mich aber diefer alte 
Mann unter fein Dach nöthigte, wollte ex erſt einige genauere 
Erfundigungen einziehen und fragte mich mit ausgeftredtem Arm 
und auf mic) gerichtetem Zeigefinger: Quid est Ontologia? 
(Was ift die Ontologie?) Ich fagte ihm die Wolffiiche Defini- 
tion in lateiniſcher Sprache, und jener fragte nun weiter big 
auf den Begriff von Gott. Da ich meine Beantwortung und 
Erflärung diefes Begriffes mit den Worten fchloß: Ens summum 
optimum maximum! (Das höchſte, gütigfte und größte Wefen!), 
fiel der Greis, gleichfam wie in eine ihm befannte Melodie 
mit Entzüden ein: Ens summum optimum maximum! Sept 
erſt bot er mir freundlich die Hand und fagte: Seien Sie mir 
herzlich willfommen, mein lieber Mendelssohn! 

Auf meiner Rückreiſe fam ich wieder durch dafjelbe Dorf. 
Sch Hatte noch einen polnischen Juden bei mir, welchen ich, da 
er nach) Haufe ging, eingeladen Hatte, eine Strede mitzufahren. 
Diefem fagte ich, ich müfje mich in dem Dorfe ein Stündchen 
aufhalten, ich) wolle dem Prediger einen Befuch abjtatten. Eben- 
den will auch ich befuchen, fagte der polnifche Jude. ch ver- 
wunderte mich darüber und noch mehr, da er mir folgende Ge— 
Ihichte erzählte: Ich Hatte ihm einmal mein ganzes Bermögen 
in Verwahrung gegeben, und al3 vor einigen Jahren fein Haus 
abbrannte, Hat er alles jtehen und Liegen lafjen, hat erſt das 
meinige gerettet und darüber das feinige felbft verloren. Wir 


— 257 — 


gingen nun beide zu dem alten Prediger, der uns freundfchaft- 
ich umarmte und ung bewirthete, fo gut er fonnte. Sein Sohn, 
welcher in Halle jtudirte und meine Schriften gelefen hatte, war 
während der Zeit von der Univerfität zurücgefehrt und hatte 
ihm jo manches von mir erzählt. Die Freude des alten Mannes 
war nun um fo größer, mich unter feinem Dache bewirthen zu 
fünnen. Er ließ fi) auf3 neue in ein eifriges Gefpräch über 
die Ontologie mit mir ein und nahm bei unferer Abreife von 
mir und dem polnischen Juden, wie von alten guten Freunden, 
aufs zärtlichjte Abſchied.“ 

Diefer Prediger wurde fpäter Mendelsfohns Freund; fo 
oft er durch das Dorf reifte, befuchte ex ihn und wurde immer 
von ihm aufs herzlichite empfangen.?) 


Sünfundvierzigites Kapitel. | 
Mendelsjohn in Königsberg. 


Im Sommer 1777 unternahm Mendelsſohn eine Gefchäfts- 
reife nad) Memel. Dort hatte er nämlich unter Leitung feines 
jpäter in Kopenhagen wohnenden Schwagers Joſeph Gugenheim 
ein Gefchäft errichtet; dafjelbe ift, wie er felbjt einige Jahre 
jpäter feinem Better Elfan Herz mittheilt, verunglüdt; „es hat 
aber, Gott behüte! niemand darunter gelitten, als wir ſelbſt!“?) 

Auf diefer Reife verweilte er ſowol auf dem Hinwege als 
auf der Rückfahrt mehrere Tage in Königsberg. Ein großer 
Kreis von Freunden und Verehrern, wie der reiche Miünzmeifter 
Joſeph Seligmann, Glieder der Familie Friedländer, die ange- 





') Fedderfen und Wolfrath, a. a. D., 150. (Schmidt) Leben und 
Meinungen Moſes Mendelsfohns in kurzem Abriffe dargeftellt. (Ham: 
burg 1787), 35. 
2) 1. Aufl. S. 504. 
Kahyſerling, Moſes Mendelsjohn. 17 


— 258 — 


fehenften der dortigen Juden, warteten feiner hier. Auch 
feinem alten Rampfgenofjen, dem Philofophen Kant, mit dem er 
feit mehreren Jahren in wifjenfchaftlichem Briefwechſel jtand, 
ftattete ex feinen Befuh ab. Er wohnte fogar feinen Bor- 
lefungen bei, wie Kant feinem Schüler, dem Hofrat Herz in 
Berlin, meldet: „Mendelsjohn that mir vorgejtern die Ehre an, 
zweien meiner Borlefungen beizumohnen, à la fortune du pot, 
wie man jagen fünnte, indem der Tifh auf einen fo anjehn- 
fihen Gaft nicht gerichtet war.) in anderer Schüler des 
Königsberger Alten, Kraus, welcher damals im Keyjerlingfchen 
Haufe Hofmeifter war und fpäter eine ordentliche Profeſſur der 
Mathematif und Philofophie an der Königsberger Univerfität 
erhielt, theilte feinem Freunde von Auerswald die Anweſenheit 
Mendelsfohns in Königsberg mit den Worten mit: „Donnerjtag 
fam Mendelsfohn an, Sonntag Tieß mich Kant zu fich rufen 
und fagte mir, Mendelsfohn fei bei ihm gewefen und habe mit 
ihm unter andern aud) von mir gefprochen, ob ich nämlich nicht 
an Maier Stelle, der Fürzlich geftorben, Profeſſor in Halle 
werden wollte Der Minifter von Zedlit habe ihm (Mendel3- 
john) aufgetragen, einen zu der Stelle vorzuschlagen, und er 
wolle e3 auf Kant ankommen Laffen.‘ ?) 

An einem Sonntag Nachmittag Sprach Mendelsfohn auch bei 
Hamann, „dem Schwer beladenen Schiffe der deutfchen Literatur, 
vor. Hören wir, wie Kraus darüber berichtet. „SonntagNachmit- 
tag ging ich zu Hamann und fand auf dem Wege nahe an dem 
„Rothen Krahn“ einen Menfchen ftehen, der durch feine Geſtalt 
und fein Geficht das roheſte Herz zum Mitleiden erweichen 
fonnte. Sch gehe zu ihm und fage: Ich Habe gewiß die Freude, 
Herren Mendelsfohn zu ſprechen. Sind Sie nicht Herr Kraus? 
eriwiderte er; wir gehen wol einen Weg. Die Juden, die 
mit ihm waren, müffen ihm vorher gefagt haben, daß ich’3 fei. 
Sp gingen wir zu Hamann, wo eine Stube voll Bekannter und 


) Kant, Gej. Werke (Roſenkranzſche Ausgabe), XI, 37. 
2) Voigt, Leben des Profefjord Kraus (Königsberg 1819), 68. 


— 259 — 


Unbekannter unferer wartete. Mendelsſohn ſetzte fi) in den 
Winfel und ich mich neben ihn, denn Hamann glaubte, wir ge 
hörten fo am meiften zufammen; wir jprachen von diefem und 
jenem mit einer Sorglofigfeit, ald wären wir miteinander er- 
zogen worden. Er flagte auch, wie ich immer gern flage. 
Gute Laune, Herr Kraus! das ijt beifer al3 alle Medicin, ant- 
twortete er mir. Er hat wirklich viele Laune und einen fchnei- 
denden talmudifchen Wiß, der unter der Direction feines jcharf- 
finnigen Verſtandes durch und durch fährt, wo er ihn anbringt. 
Man muß mit ihm etwas vorfichtig Tprechen, wie ich jebt exit 
zu meiner Lehre und Reue erfahre.‘ ?) 

Für den damals in Mißmuth und Unthätigfeit verjunfenen 
Hamann war es die „größte und einzige Freude, welche er 
während des ganzen Sommers genoß, feinen lieben Mendels- 
fohn in Preußen zu umarmen“. Er hatte „sich ein Gele ge- 
macht, ihn alle Tage, nolens volens, zur Zeit und zur Ungeit, 
zu befuchen und ihn bis zum Thor Hinaus zu begleiten‘.?) 
„Ich habe mehr als eine ſüße Stunde mit ihm zugebradt,“ 
fchreibt er Lavater, „auch feine philofophiichen Schriften bin ich 
während feines Hierſeins durchgegangen und mit erneuertem 
Bergnügen Ihren beiderfeitigen platonifchen Briefwechfel. Diefer 
Mann ift wirkfih ein Salz und Licht unter feinem Gefchlechte 
und er wiirde all fein Verdienſt und Würdigkeit verloren haben, 
wenn er unfer einer geworden wäre, wie Adam.‘ 3) 

Am 20. Auguft verließ Mendelsfohn Königsberg. Tags 
darauf ftand in der „Königsbergfchen Zeitung“ :#) „Geſtern 
Nachmittag gegen vier Uhr verließ Herr Moſes Mendelsjohn 
feinen Aufenthalt in diefer Stadt und trat die Rückreiſe nach 
Berlin an. Wir hatten ihn lange vorher al3 einen tiefdenfen- 


— —— 





Y Voigt, a. a. D. 69 ff. 
2) Hamanns Schr. V, 282. 
3) Daf. V, 275. 
4 Von Donnerftag, 21. Auguft 1777, 67. Stüd, ©. 266. 9. Jolo: 
wicz, Gejchichte der Juden in Königsberg (Pojen 1867), ©. 97. 
17* 


— 260 — 


den Philoſophen und geſchmackvollen Kenner der Werke des 
Witzes verehrt; und bewundern nun in ihm, mehr als alle 
Gelehrſamkeit, die eitel vergänglih und unnüß ift, ein gut und 
edel denfendes, der Freundichaft fähiges und für alle ihre fanf- 
ten Empfindungen offenjtehendes Herz. Er hat fich feiner Ge— 
jellfchaft, die ihn zu kennen begierig war, aus zurücdhaltendem 
Stolze entzogen, ſich aber auch feiner einzigen zugedrängt. Auf 
befondere Veranlaſſung hat er einige der größeften unferer 
Stadt, unter andern, Ihro Ercellenzen Heren Grafen von 
Keyferling und Herrn Kanzler von Korff, geiprochen, und überall 
hat man ihn weit über alle Erwartungen gefunden. Doch waren 
brillante Gefellfchaften und große Welt wol nicht das, was 
ihm am mehrjten gefiel, und er vergnügte fich weit mehr in 
einer ganz kleinen Gefellfchaft auserwählter Freunde, denn an 
der übertriebenjten Berwunderung der feinen, großen und artigen 
Welt.‘ 

Kaum zwei Monate nad) feiner Rückkehr von Königsberg, 
im October 1777, reiſte Mendelsfohn nach Hannover, wo er 
ftatt acht bis zehn Tage, wie er anfangs beabfichtigte, über ſechs 
Wochen blieb, und die Freude Hatte, mit Zimmermann, Boie,!) 
dem Mathematiker Raphael Levi u. a. m., häufig zu verfehren. 
Auf der Rückreiſe hielt er ih in Wolfenbüttel auf und verlebte 
einen glüdlichen Tag mit feinem älteften Freunde. 


Seh3undvierzigites Kapitel, 
Mendelsjohns und Leifings letztes Zujammten- 
treffen. 


„Sch bin dem Vergnügen, Sie zu fehen, fo nahe gewejen,“ 
Ichreibt Mendelsfohn am 3. November 1777 von Hannover aus 
an Leffing, „und kränke mich jebt, daß ich mich habe nach 


') Briefe von und an Bürger, II, 20. 


— 261 — 


Hannover bringen lafjen, ohne Sie gejehen zu haben. Mein 
Borfag war, mich allhier etwa acht bi zehn Tage aufzuhalten 
und meine NRüdreife über Wolfenbüttel zu nehmen. Billet von 
Muzelitofh und Brief und Blumenfhachtel nahm ich mit Be— 
dacht mit; die Papiere, um fie Ihnen perfönlich zu überreichen, 
und die Blumen, um mir bei Madame eine Empfehlung aus- 
zufparen, die fonjt ein unbekanntes bärtiges Geficht weniger 
freundlich aufgenommen haben würde. Aber wie e8 den frommen 
Wünfhen auf Erden zu gehen pflegt: wenn fie auch erfüllt 
werden follen, fo werden fie wenigjtens ſehr lange, für den 
Wünſchenden mehrentheils tödtlich lange, verjchoben. ch werde 
mich allhier, wer weiß wie lange, aufhalten und vor Langeweile 
umfommen müffen.“?) 

In der damals kleinen unfreundlichen Refidenz fchmachtete 
er in der fchredlichjten Langeweile und machte Leffing den Vor— 
Ichlag, zu ihm hHerüberzufommen und mit ihm die in dem dor— 
tigen Archive aufbewwahrten Leibnizifchen Papiere zu durchfuchen.?) 

Weiter hätte dem Freunde nichts gefehlt, als fih aus 
feinem glüclichen Hausſtande zu entfernen und die Leibnizifchen 
Papiere zu durchjtöbern! 

Leffing war jetzt der zufriedenite, heiterjte Menſch. Mit 
feiner ein Jahr früher ftattgefundenen Berheirathung hatte für 
ihn ein neues Dafein begonnen. Er pries fich glücklich an der 
Seite feiner trefflihen Frau, er ſah feine äußere Stellung ge- 
fichert, jah fich befreit von dem Drude der Schulden, die Jahre 
lang wie ein Alp auf ihm gelajtet hatten; ev war voll heiterer 
Laune und guten Humors, feine Stimmung und fein ganzes 
Weſen war ein ganz anderes geworden. Dieſe wohlthätige 
Wirkung feiner neuen Verhältnifje war Mendelsfohn, der feinem 
Herzen am nächſten jtand, nicht entgangen. Kurz vor dem 
Wiederjehen hatte er ihm gefchrieben: „Sch komme ganz unfehl- 
bar zu Ihnen nad) Wolfenbüttel. Sicherlich Toll mich fein Ge— 

) Schr. V, 197. 

2) Chr. V, 200. 





— 252 — 


Ihäft davon abhalten; denn in der That ift mir keins fo 
dringend, al3 die Begierde, Sie zu fehen und mich mit Ahnen 
zu unterhalten. Sie fcheinen mir jeßt in einer ruhigen, zus 
friedenen Lage zu fein, die mit meiner Denfungsart unendlid 
beſſer harmonirt, al3 jene geiftreiche, aber auch etwas bittere 
Laune, die ich an Ihnen vor einigen Jahren bemerft zu haben 
glaubte. Ich war nicht "stark genug, das Aufbraufen Diefer 
Laune niederzufchlagen, aber ich Habe Herzlich gewünfcht, daß es 
Zeit und Umftände und Ihre eigene Vernunft thun möchten. Mid 
dünft, und alles, was ich von Ihnen Höre und ſehe, beſtärkt 
mich in diefem angenehmen Dünfen, mich dünft, mein Wunfd 
jei nunmehr erfüllt. Ach muß Sie in diefer beffern Lage Ihres 
Gemüths nothiwendig fprechen, wäre e8 auch nur, um mid) zu 
belehren, was am meijten zu diefer Befänftigung beigetragen 
habe: die Frau oder die Freimaurerei ? beffere Vernunft oder 
reifere Jahre?“1) 

Den 22. December traf Mendelsfohn mit feiner Frau in 
Wolfenbüttel ein. 

Außer der italienischen Reife, welche Leffing ein Jahr 
früher mit dem Herzog Leopold von Braunjchweig zufammen 
gemacht und auf der er, in Livorno, einen jüdifchen Gelehrten 
fennen gelernt hatte, der über die höchſten Gegenftände des 
menschlichen Wifjens die tieffinnigjten Anfichten entwickelte,?) trat 
in der That die Freimaurerei in den Bordergrund ihrer per- 
ſönlichen Unterhaltung. 

Leſſing hatte die geiftreich durchgeführten, gehaltvollen Ge 
fpräche über die Freimaurerei, „Exrnft und Falk“, welche all den 
Tiefſinn, alle die glüdliche Mifchung von Scherz und Ernſt 
haben, die wir an den Platonischen Dialogen bewundern, Men- 
delsfohn im Manufeript geſchickt, und diefer hatte fie während 
feines Aufenthaltes in Hannover mit großem Vergnügen gelefen. 

') Schr. V, 198. 


2) Haufen, Biographie Herzog Leopolds (Frankfurt a. O. 1785), 
XXXIV. 


— 2163 — 


Seinen Vorwitz jtillten fie allerdings nicht. Er war überzeugt: 
was Menjchen Menjchen verheimlichen, ijt felten des Nach— 
forfchens werth; wol aber brachten jie ihm befjere Begriffe von 
einem Inſtitute bei, das ihm feit einiger Zeit fait verächtlich zu 
werden angefangen. Er redete ihm zu, diefe feine vortrefflichen 
Keen von der Nutzbarkeit des Freimaurer-Ordens dem PBubli- 
fum duch Thaten, nicht aber durch Wort und Schrift zu offen- 
baren. „Sie willen,“ jchreibt er ihm am 11. November 1777, 
„wie der große Haufen gejtimmt ift. Sobald man ein Ding 
bei jeinem echten Namen nennt, jo heißt.e3: je nun, wenn es 
weiter nichts ift! Das Volk drängt fich nie in größere Haufen, 
al3 wenn e3 nicht weiß, warum.“ Uebrigens war ihm die 
ganze dee jo wichtig, daß er der verjprochenen Ausführung 
mit großer Begierde entgegenfah.!) 

Als er nun nad) Wolfenbüttel kam, juchte er den Freund 
über diefe wichtige Angelegenheit zu ergründen und führte folgen- 
des Gefpräch mit ihm, das für beide charakteriftifch ift: 

„Sie find auch, wie ich gehört habe, Freimaurer gewor— 
den? At das wahr, Freund?“ 

„O ja, lieber Mofes, wol bin ich’3 geworden!” 

„Run?“ 

„Was nun? Nun foll ich offenbaren? Nicht? Aber das 
darf ich nicht, Fan ich wahrlich nicht, — ich habe gefchtworen —“ 

„Sie fcherzen, lieber Leſſing. Glauben Sie wirklich, mein 
unfchuldiges Nun, das doc) auch einen andern Sinn haben kann, 
ginge dahin, Ihnen die Geheimnifje des Ordens zu entloden? 
Das Sei fern! Aber wie? Bon früher Jugend juchen wir die 
Wahrheit, feit unferer Bekanntſchaft juchen wir fie gemeinfchaft- 
lich, mit aller Anftrengung, mit aller Treue, mit welcher fie ge- 
ſucht fein will. Und nun könnte es Wahrheiten geben, die 
Leſſing feinem fünfundzwanzigjährigen Freunde nicht zu offen- 
baren geſchworen — feierlichjt geichworen? Und ich jollte dieſe 


1) Schr. V, 199 f. 


— 264 — 


Wahrheiten zu willen nicht neugierig fein fünnen? Sind es 
aber nicht Wahrheiten, die der Orden feinen Jüngern mittheilt, 
jo werden Sie noch viel mehr geftehen, daß id — —“ 

Leſſing lachte Herzlich über feines Mofes Eifer, und fagte: 
„Hören Sie auf, lieber Moſes, da habe ich meinen Orden für 
nicht3 und wieder nichts compromittirt.‘t) 

Auch die Frau, deren ſchwer errungener Beſitz Leffing auf 
den Gipfel feines Lebensglüds gehoben hatte, fejjelte den Blick 
des theilnehmenden Freundes. Wie glüdlic) war er, feinen 
Leſſing glüdlic) und zufrieden zu fehen! Die beiden alten treuen 
Freunde jchwelgten jett einen Tag in dem reinen Glüd, nad) 
dem fie fo lange ſich gefehnt Hatten; der eine Tag von Men- 
delsſohns Anweſenheit in Wolfenbüttel gehörte zu den glücklich— 
ten Tagen in dem einen einzigen glüdlichen Jahre, welches 
der vielgeprüfte Mann in der Reihe der Lebensjahre aufzu= 
weifen hatte. 

Das Herz voller Freude reifte Mendelsfohn ab. Den 
fedigen Sit in feinem Wagen füllte er „mit einer Berfon aus, 
die feinen Leffing fo nahe anging“, mit defjen Stieffohn. Es 
war ein Abfchied, wie er nicht wärmer, zärtlicher gedacht werden 
fann. Mit Mendelsfohn hatte auch das Glüd, die Ruhe und 
Zufriedenheit fiir immer von Lefjing Abfchied genommen. 

Ehe er Berlin noch erreichte, fuhr ein Blik vom heitern 
Himmel und zerjchmetterte das Scifflein von Leſſings Glück im 
Hafen ſelbſt. Am Weihnachtsabend des Jahres 1777 gebar 
ihm die Öattin zu feiner unaussprechlichen Freude einen ges 
funden, hübfchen Knaben, Aber diefe Freude war von Furzer 
Dauer. Nach vierundzwanzig Stunden ftarb dag Kind und 
ichwebte die Mutter in Todesgefahr. Neun bis zehn Tage lag 
fie ohne Befinnung; nur ihren Gatten, der Tag und Nacht 
nicht von ihrem Bett wich, erfannte fie bei aller Geiſtesabweſen— 
heit, fodaß man ihn mit Gewalt von demfelben entfernen mußte, 


!) Karl Leſſing, a. a. O. I, 299 f. 


— 265 — 


um der Berfcheidenden den Todesfampf nicht noch zu erſchweren. 
Sie ſtarb. Am frühen Morgen des zwölften Januar 1778 fah 
Leffing fein Glück, feine theure Eva, zu Grabe tragen. Nach 
der Beſtattung fchrieb er feinem Bruder Karl: „Wenn Du fie 
gekannt hätteſt! Aber man fagt, es fei nichts als Cigenlob, 
feine Frau zu rühmen. Nun gut, ich fage nichts weiter von 
ihr. Aber wenn Du fie gekannt hätteft! Du wirt mich, fürchte 
ich, nie wieder fo jehen, als unjer Freund Mofes mich gefunden 
hat: fo ruhig, jo zufrieden in meinen vier Wänden!) 

So ruhig, fo zufrieden ſah ihn niemand mehr; der treuefte 
Freund jah ihn nimmermehr. 


!) Leſſings Schr. XII, 500. 


Elftes Buch, 


Mendelsfohn als Vertreter feiner Glaubens- 
genofen. 


Siebenundvierzigites Kapitel. 
Die politiiche Lage der Juden. 


Mendelsjohns Ansehen wuchs von Jahr zu Jahr. Sein 
Ruf drang bis nad) Franfreih und Stalien, bis nad Holland 
und Ungarn; in ganz Deutfchland zählte der „jüdifche Meta- 
phyſiker“ zu den berühmtejten PBerfönlichkeiten. Diefes Anfehen, 
welches er bei den bedeutendften und einflußreichiten Männern 
feiner Zeit genoß, machte er zunächſt zum Heil und Wohl feiner 
Glaubensgenofjeu geltend. In feiner eigenthümlichen Perfön- 
lichfeit für die Juden eine wahrhaft providentielle Erſcheinung, 
war er, ohne daß er es wußte und wollte, der würdigſte Ver: 
treter feiner Ölaubensgenofjen. Er bewährte fi) als Welt- 
bürger, Deutfcher und Jude zugleich und dies in fo harmoniſcher 
und doc energifcher Weife, wie man eine folche Vereinigung 
für unmöglich gehalten und die dennoch in ihm ganz naturs 
wüchſig exfchien. ?) 

So wenig er diefe feine Erfcheinung geltend machte, fo 
wirkte er doch, fo oft die Umſtände es erforderten, mittelbar 





y 2. Philippfon, Moſes Mendelsjohns providentielle Sendung, 
in Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch, S. 84—100. 


— 267 — 


zum Nußen feines Stammes, ald Anwalt und Bertreter der 
Juden in den Zeiten der Bedrängniß. 

Und eines Anwalts bedurften die Juden auch damals. 
Das erleuchtete Jahrhundert hatte die Spuren früherer Barbarei 
noch nicht verwiſcht, der finjtere Aberglaube des Mittelalters 
hielt feinen undurchdringlichen Schleier noch überall ausgebreitet. 
In den meiften Städten Deutfchlands durfte noch damals fein 
Jude, wenn er auch feinen Glauben verzollt hatte, am hellen 
Tage ohne Bewachung bleiben, aus Furcht, er möchte einem 
Ehriftenfinde nachitellen, ein Chrijtenfind ftehlen, oder die Brun- 
nen der Chrijten vergiften. Es ijt nicht lange her, konnte 
Mendelsfohn noch 1782 fchreiben, daß die Judenſchaft zu Pofen 
beihuldigt wurde, fie hätte ein Chrijtenfind zum Gebrauche der 
DOfterfeier ermordet.!) HBmwei fromme Rabbiner wurden als 
Häupter der Gemeinde vor Gericht gezogen, eingeferfert, nad) 
der dortigen Halsgerichtsordnung gemartert. „Und die Männer 
waren fo unfchuldig an der Ermordung des Kindes, wenn ja 
eine Mordthat begangen worden, woran noch jehr zu zweifeln 
ift — fo fchuldlos,“ fährt Mendelsfohn fort, „als ich und meine 
Lefer e3 find. Noch vor wenigen Jahren würde diefelbe Ge— 
fhichte in der Gegend von Warfchau wiederholt worden fein, 
hätten nicht der weile König von Polen und einige aufgeflärte 
Magnaten zum Glück den Lauf der dafigen Gerechtigkeit fo lange 
gehemmt, bis es den Juden gelang, die Berleumdung an den 
Tag zu bringen.“ 

Solche Anklagen und Berleumdungen hatten nun allerdings 
in den Staaten Friedrich) des Großen ihre Wirkung verloren. 
Friedrich betrachtete die Juden vom ſtaatlichen Gefichtspunfte 


») Schr. III, 185 f. Ueber den Blutprocek in Poſen (1736) ſ. 
Amude Olam (Berlin 1741) Borrede. Die beiden den Martern Er: 
legenen hießen R. Arje Löb, der Prediger, und R. Jakob, der Vorfteher 
ver Gemeinde. Die Blutanflage in Warfhau fol durch Mendelsjohns 
Verwenden vereitelt worden fein; j. Euchels Biographie Mendelsjohns 
(ed. Wien), S. 139 f. 


aus; nur infofern fie dem Staate nützlich fein fonnten, trat er 
zu ihnen in ein milderes Verhältniß; „Tonjt ftand er in feiner 
Abneigung gegen die Juden ganz auf dem Standpunfte des 
gemeinen Volkes“. Er ließ den Leibzoll bejtehen, befchränfte 
ihre Rechte, hielt fie von der Landwirthichaft fern, erhöhte ihre 
Abgaben; er dachte nur daran, fie ſyſtematiſch auszufaugen. 
Um die von ihm gegründete neue Borzellan-Manufactur zu für- 
dern, mußte jeder Nude, auch der unbemittelte, bei feiner Ver— 
heirathHung und fo oft er eine Concefjion erhielt, für dreihun- 
dert Thaler Porzellan übernehmen und, um den Namen der 
Fabrik zu verbreiten, e8 im Auslande verfaufen.) Auch Men: 
delsſohn mußte bei feiner Verheirathung das fönigliche Porzellan 
faufen; die Püppchen dienten noch feinen Enfeln als Spielzeug. 

Unter derartigen Beichränfungen hatten die Juden in Preu- 
Ben zu leiden, und doch galt der preußifche Staat ſchon in jener 
Beit für den tolerantejten in ganz Deutichland. In allen übri- 
gen Ländern laftete die bürgerliche Unterdrüdung noch weit ſchwerer 
auf ihnen. Bon allen bürgerlichen Ehren ausgefchloffen und zur 
niedrigften der Stufen herabgeftoßen, welche die Stände des ge- 
fitteten Lebens unterjcheiden, fonnten fie die ihnen von der 
Natur in jo reihem Maße verliehenen Talente und Fähigkeiten 
weder ausbilden noch anwenden, noch zum Beiten der Neben- 
menschen gebrauchen. Wo die Liebreichite Toleranz herrſchte, 
wurde fie gegen die Juden am wenigſten ausgeübt. Wo Künite 
und Wiſſenſchaften blühten, mußten fie in Barbarei zurückbleiben. 
Man juchte die Staaten zu bevölfern, fie allein wurden einges 
Ichränft, damit fie fich nicht vermehrten. Man that alles mög- 
liche, fie zu unnüßen verworfenen Menfchen zu machen. Wer 
die Zunge oder die Feder rühren fonnte, borgte fie zu ihrer 
Kränkung und Erniedrigung.?) AUllenthalben wurden fie ge— 


) T. Cohn, der Zwangsankauf von Porzellan in der jüd. Ge: 
meinde zu Potsdam unter Friedrich dem Großen, in der Zeitjichrift des 
Vereins für die Gejchichte Potsdams, N. F. 2. Theil ©. 317 ff. 

2) Schr. III, 174. 


— 269 — 


mieden und gehaßt, in den Gaſſen und auf den öffentlichen 
Plägen waren fie der Gegenſtand des Spottes und Hohns. 
Selbſt Mendelsfohn, der ſich der größten Achtung aller. edel- 
denfenden Männer erfreute, hatte fogar in dem gebildeten tole- 
ranten Berlin diefe verhöhnende fchimpfliche Behandlung mehr 
al3 einmal erfahren. So fchrieb er an den Benedictiner Win- 
fopp, der beinahe ein ganzes Jahr täglich mehrere Stunden in 
feiner Geſellſchaft zubrachte, am 28. Zuli 1780: „Allhier in 
diefem fogenannten duldfamen Lande lebe ich gleichtwol fo ein- 
geengt, durch wahre Intoleranz fo von allen Seiten befchränft, 
daß ich meinen Kindern zu Liebe mich den ganzen Tag in einer 
Seidenfabrif, jo wie Sie — fi in einem Klofter, einjperren 
muß. Ich ergehe mich zuweilen des Abends mit meiner Frau 
und meinen Rindern. Papa! fragt die Unfchuld, was ruft ung 
jener Burfche dort nah? Warum werfen jie mit Steinen hinter 
uns ber? Was haben wir ihnen gethan? — Sa, lieber Bapa! 
ſpricht ein anderes, fie verfolgen uns immer in den Straßen, 
und fchimpfen: Juden! Juden! Sit denn diejes jo ein Schimpf 
- bei den Leuten, ein Jude zu fein? Und was Hindert dieſes 
andere Leute! — Ad}! ich fchlage die Augen unter, und feufze 
mit mir felber: Menfchen! Menfchen! wohin Habt ihr es endlich 
fommen laſſen? Doch weg von diefen Betrachtungen!“ jo ſchließt 
Mendelsſohn, „fie machen mich zu unmuthig.“>) 

Mendelsfohn trat auch in der That in früheren Jahren 
von allen Berfuchen, auf die politiihe Stellung der Juden 
irgendwie einzuwirken, befcheiden zurüd. Der bloße Gedanke an 
die traurigen bürgerlichen und focialen Berhältniffe, unter denen 
die Juden zu leiden hatten, erfüllten ihn mit Schmerz; er hörte 
nicht einmal gern davon reden. Als fein Freund Abbt ihm 
jchrieb, daß er ſich mit der Frage über die Beſtimmung feiner 
Landsleute befchäftigen wolle, antwortete er ihm: „Was die Be- 
jtimmung meiner Landsleute fein wird, fragen Sie? Welcher 


1) Schr. V, 567. 





— 270 — 


Landsleute? der Dejjauer? oder der Bürger von Serufalem? Er- 
klären Ste ſich deutlicher, und fodann werde ich Ihnen mit dem 
Pancratius beim Moliere antworten: Je m’en lave les mains, 
Je n’en sais rien. Il en sera ce qu’il en pourra. Selon les 
aventures. Was mein Shyſtem nicht beunruhigt, das macht auch 
mir feinen Kummer. Bompadour, Brühl, die Sefuiten, Glaubens— 
richter, Seeräuber, Tyrannen, Giftmifcher und Landesverräther; 
was thut dag? Mit dem Kaltfinne eines deutſchen Metaphy- 
ſikers Hille ich mich in meinen fahlen Mantel, und fage wie 
Pangloß: diefe Welt ift die beſte!“1) 

Die Kühnheit feines Geiftes erſtreckte ſich blos auf fpecu- 
lative Dinge; im Praftifchen war er ftet3 in einer allzu engen 
Sphäre eingeſchränkt gewefen, als daß er, wie er ſelbſt gejteht, 
die Fertigfeit hätte erlangen können, fich zu großen Dihgen zu 
erheben und „über gemeine Schwierigkeiten Hinwegzufegen“. 
Außerdem Fannte er den Charakter feines Stammes zu gut, ala 
daß er die Verbeſſerung ihrer politifchen und focialen Lage 
hätte befördern können. „Der Drud, unter welchem wir feit 
fo vielen Sahrhunderten leben, hat unferm Geiſte alle vigueur 
benommen,“ fchrieb er den 26. Januar 1770 einem „Manne 
von Stande“, der ihm das fonderbare Project zur Gründung 
eines felbitftändigen jüdifchen Neiches vorgelegt hatte. „Es ift 
nicht unfere Schuld; allein wir können nicht leugnen, daß der 
natürlihe Trieb zur Freiheit in und alle Thätigfeit verloren 
hat. Er hat fi in eine Mönchstugend verändert und äußert 
ſich blos im Beten und Leiden, nicht im Wirfen.“?) 

Was hätte Mendelsfohn, der philofophirende Schriftiteller, 
zur Verbeſſerung der politifchen Lage feiner Glaubensgenoſſen 
auch thun können? Er lebte in dürftigen Berhältniffen, in einer 
abhängigen Stellung, war felbjt heimatlos und empfand den 
Druck noch viel fchmerzlicher als die meisten feiner Glaubens— 
genofjen. Bon den Kabineten der Großen und von allem, was 


') Schr. V, 325 f. 
2) Schr. V, 49. 





— 271 — 


auf diefelben Einfluß hat, war er allzumweit entfernt, um an 
diefem großen Geſchäfte auch nur den mindejten Antheil nehmen 
und mitwirken zu können. „Sch Habe jederzeit im Verborgenen 
gelebt, niemals Antrieb oder Beruf gehabt, mich) in die Händel 
der wirffamen Welt einzumifchen, und mein ganzer Umgang hat 
jih von jeher blos auf den Eirfel einiger Freunde eingefchränft, 
die mit mir ähnliche Wege gegangen find.“ ') 

Aus diefer dunfeln Ferne trat er aber hervor, fobald Zeit 
und Umftände e3 erforderten. So oft das Wehgefchrei feiner 
Brüder zu ihm drang, raffte der Edle fi) auf und nahm der 
Geängjtigten und Hülfsbedürftigen an fich, foweit er es vermochte. 


Achtundvierzigites Kapitel. 


Mendelsjohns Verwenden für die Juden in der 
Schweiz, in Sadjen und in Königsberg. 


Aus der Heimat Lavaters drang der erjte Hülferuf zu ihm. 

Seit dem Ende des funfzehnten Sahrhundert® war den 
Juden der Aufenthalt in der freien Schweiz unterfagt; nur in 
der Graffchaft Baden, in den beiden eine halbe Stunde von 
einander entfernten Ortfchaften Endingen und Lengnau,?) wurden 
fie gegen beträchtliche Schirmgelder geduldet. Aber auch hier 
forderten die Vögte beftändig ihre Ausweifung. Im Jahre 
1774 decretirte der Landvogt von Baden, daß die Zahl der 
im Surbthal anfäffigen Juden nicht vermehrt, mittellofe Chen 
nicht geftattet und die gegen dieſes Geſetz Berehelichten des 
Landes verwiefen werden follten. Die armen Menfchen, von 


1) Schr. III, 180. 
2) Schr. III, 106. Lengly, wie Lengnau im Volksmunde noch 
heute heißt. . 


— 272 — 


denen einige, namentlic) der Rabbiner, Jakob Schwaich, Men- 
delsfohn dem Rufe nach befannt waren, nahmen ihre Zuflucht 
zu ihm und „da fie von der gegenfeitigen Freundichaft gehört, 
deren er und Lavater ſich einander öffentlich verfichert hatten“, 
fo erfuchten fie ihn, ſich bei dem einflußreichen Geiftlichen für 
fie zu berivenden. 

Sp unangenehm es ihm auch war, mit Zavater wieder an- 
zufnüpfen, jo fam er doch dem Wunfche feiner bedrängten 
Glaubensgenoſſen nad) und richtete am 14. April 1775 an den 
„verehrungswürdigen Menfchenfreund“ ein Schreiben, das mit 
den Worten jchließt: „Sch wünſchte jehr, meine Mitbrüder ver- 
jihern zu fünnen, daß fie weder von Ihrem Einfluffe auf Ihre 
Mitbürger, noch von dem freundfchaftlichen Verhältniffe zwifchen 
ung, ji) unrichtige Vorjtellungen gemacht, und beſchwöre Sie, 
theuerfter Menfchenfreund, daß Sie fich diefer bedrängten Men- 
Ichenfinder annehmen und durch Ihr Anfehen und Ihre Ueber- 
redungskraft ihnen wenigjtens ihre alten, hergebrachten Frei- 
heiten zu erhalten ſuchen. Diefe Handlung ift Ihrer würdig 
und führte alfo ihren Danf mit ſich.“i) 

Zavater blieb mit feiner Verwendung nicht zurüd, und die 
Juden in der Schweiz priefen Mendelsjohn als ihren Retter. 

Der Hülferuf des Vorſtandes der jüdischen Gemeinde in 
Dresden erreichte ihn in Hannover. 

Die am 15. September 1772 publicirte „Judenordnung 
für die Nefidenzitadt Dresden“ hat alle Bejtimmungen mittel- 
alterlicher Intoleranz. „Ausſchaffung“ war denjenigen angedroht, 
welche es einmal verfäumten, die Perfonenjteuer am fejtgefegten 
Termine zu bezahlen.) Im Herbjte 1777 follten nun mehrere 
hunderte durch Unglücsfälle herabgefommene, arme zahlungs— 
unfähige Juden aus der Stadt vertrieben werden. In der 
eriten Beſtürzung wandte fic) der Vorfteher der dortigen Ge— 
meinde, der wohlhabende und unterrichtete Samuel Halberitadt, 

1) Schr. III, 107. 

2) Sidvori, Gefhichte der Juden in Sachſen (Leipzig 1840), 92 ff. 





— 273 — 


ein Entel des Amjterdamer Rabbiner? Abraham Berlin, mit 
der Bitte an Mendelsfohn, den Cabinetsrath Freiheren von 
Frisfche, der zur Zeit fächfifcher Gefandter in Berlin war und, 
wie jener verficherte, Mendelsjohns „Lob ftet3 im Munde führte‘, 
um Schu und Schonung für die fchwerbedrohten Glaubens- 
genofjen anzuflehen.?) 

Sofort nad) Empfang dieſes Briefes, den 19. November 
1777, vichtete Mendelsfohn, nicht an Frische, ſondern an den 
geheimen Kammerrath Freiheren von Ferber, von dem er ein 
Jahr früher Verficherungen der Werthſchätzung erhalten Hatte, 
folgendes rührend-ſchöne Schreiben: 

„sn der äußerjten Bejtürzung und Niedergefchlagenheit, 
darin ich mich befinde, wage ic) es, mit dem Findlichjten Ver— 
trauen, zu Ihnen, großmüthiger Menjchenfreund! meine Zuflucht 
zu nehmen, und mit der innigjten Wehmuth um Ihren hülf— 
reihen Beiftand zu flehen. Gnädiger Herr! ich vernehme mit 
der letzten Poſt, daß viele Hunderte meiner Mitbrüder aus 
Dresden vertrieben werden follen..... Gütiger, allmohlthätiger 
Vater! wo follen diefe Elenden mit ihren fchuldlofen Weibern 
und Kindern Hin? wo Schu und Schirm finden? wenn das 
Land, in welchem fie um ihr Vermögen gefommen find, fie aus— 
Ichleudert? Das VBertreiben ift für einen Juden die härtefte 
Strafe: mehr als bloße Landesverweifung, gleichfam Bertilgung 
von dem Erdboden Gottes, auf welchem das Borurtheil ihn 
von jeder Grenze mit gewaffneter Hand zurüdweift. Und diefe 
härtejte der Strafen follen Menfchenfinder Teiden ohne Schuld 
und Vergehung, blos weil fie andern Grundfägen zugethan und 
durch Unglüd verarmt find? Und der Sfraelit foll ehrlich fein, 
an dem Armuth fo hart al3 Unehrlichfeit bejtraft wird? Nein! 
Sch enthalte mich aller weiteren Betrachtungen, um das Herz 
des Menfchenfreundes zu fchonen, welches dadurch zu ſehr ver- 
twundet werden wirde ch habe noch Hoffnung, gegründete, 


) M. j. mein: Mojes Mendelsfohn. Ungedrudtes und Unbe— 
fanntes, ©. 58. 
Kanfjerling, Mojes Mendelsfohn. 18 


— 274 — 


und in meiner Herzensangjt mich noch tröftende Hoffnung. Unter 
der Regierung des beiten, liebevollſten Fürften, unter der Ver— 
waltung weiſer Menjchenfreunde kann unmöglich Strafe ohne 
Berbrechen zu befürchten fein; kann der fchuldlofen Armuth, in 
welcher Gejtalt, Sitte und Religion fie ſich einfindet, nicht Feuer, 
Wafler und Obdach verfagt werden. — Vergeben Sie, ver- 
ehrungswürdigfter Befchüger der Unſchuld! wenn ich nicht fo an 
Sie fchreibe, wie ih an Sie fchreiben ſollte. Mein Herz ift zu 
voll, mein Gemüth zu unruhig und feiner überlegenden Faflung 
fähig.“') 

Diefen Brief ſchickte Mendelsfohn an Samuel Halberjtadt 
mit einem furzen Begleitjchreiben, in dem es u, a. heißt: „Viel- 
leicht Habe ich die dem Herrn Baron ſchuldige Ehrerbietung 
außer Acht gelafjen; doch, ‚tomme über mich was will, ich war 
zu ſchwach es zu fallen, und das Wort zurüdhalten, wer ver- 
mag e3‘? Uebrigens weiß ich, daß diefer Herr mir vergeben 
wird, denn ex ift ein Tugendfreund und hat mich) mehreremale 
in feinen Briefen verfichert, fi) mir, wenn nöthig, gefällig zu 
zeigen.‘ ?) 

Mendelsfohn Hatte jih in feinen Erwartungen nicht ge- 
täufcht; infolge feiner Fürfprache bei Herrn von Ferber wurde 
der furfürftliche Befehl zurückgenommen. 

In demfelben Jahre nahmen auch die Juden in Königs- 
berg ihre Zuflucht zu Mendelsfohn. | 

Der Königsberger Profefjor Georg David Kypfe, der die 
ebenfo Fränfende als bejchimpfende Beauffichtigung des öffent- 
fihen Gottesdienftes in der Synagoge zu Königsberg führte, 
hatte wegen einiger ohne feine Bewilligung vorgetragenen Feſt— 
pfalmen, befonders aber wegen des „Alenu“, eines der ältejten 
und erhabenften Gebete, am 5. April 1777 bei dem Minijte- 


2) Mein: Moſes Mendelsjohn. Ungebrudtes und Unbefanntes 
©. 59 f. 


— 275 — 


fuhung, und die jüdiſche Gemeinde in Königsberg überreichte 
dem föniglichen Commifjarius das auf ihre Bitte von Mendels- 
ſohn abgefaßte Gutachten „Zufällige Gedanken über des Herrn 
Prof. Kypke Beichuldigungen der Judenfchaft zu Königsberg, und 
befonders über das Gebet Alenu.“)) Diefer Auffag war jedoch) 
wenig geeignet, den Anfläger von feiner Ruchloſigkeit zu über- 
zeugen und zum Schweigen zu bringen. Derfelbe fchrieb dagegen 
feine „Anmerkungen“, welche wieder eine Replik von Geiten 
der Juden veranlaßten. Auf ein ausführliches Gefuch der Juden 
an Friedrich den Großen wurde troß des Einipruches Kypkes 
die Beauflichtigung der Synagoge im Jahre 1778 aufgehoben.) 

Einige Jahre früher verwandte ſich Mendelsfohn für einen 
in der ſächſiſchen Landesfeftung Pirna unfhuldig inhaftirten 
jüdifchen Gelehrten. 

Der bereit3 früher genannte Avigdor Levi gerieth nämlich 
auf einer Reife duch Sachſen in den Verdacht eines Diebjtahls 
oder einer Diebshehlerei und wurde demzufolge nah Pirna 
gebracht, wo er zehn Monate in Feſſeln und Banden faß, ohne 
auch nur verhört zu werden. Endlich glüdte es ihm, einen 
kunſtvoll jtilifirten hebräifchen Brief an Mendelsfohn gelangen 
zu lafjen. Er betheuert darin feine völlige Unfchuld, meldet 
ihm, daß ein Geiftlicher, der ihn wöchentlich einigemal in feiner 
Belle befuche, mehrerer Sprachen, auch der Hebräifchen, Fundig 
und ein großer Verehrer von ihm fei, daß derfelbe feinen Kom— 
mentar zum „Prediger“ gelefen habe und zu beſitzen wünſche. 
Ferner theilt er ihm mit, daß er ſich feine Leidenszeit mit dem 
Studium der Bibel und des Talmud verfürze, auch bereit3 den 
größten Theil des Abravanel, die „Herzenspflichten” und das 
religions=philofophifche Werk „Kuſari“ einigemal gelefen Habe und 


) Mojes Mendelsjohns und Georg David Kypfes Auffäte über 
jüdifhe Gebete und Feitfeiern; aus arhivaliihen Akten herausgegeben 
von Ludwig Ernft Borowski. Königsberg 1791; Schr. VI, 418 ff. 

2) Kolowicz, Geſchichte der Juden in Königsberg i. PBr., S. 100, 
198 ff. 

18* 


— 276 — 


bittet ihn zum Schluß um die Erklärung einer in dem Tebtge- 
nannten Werfe ihm unverftändlichen Stelle!) 

Sobald Mendelsfohn diefen Brief durch Iſaak Jaffe, den 
Verwandten Avigdors, erhielt, jchrieb er ihm und zwar, in der 
richtigen Borausfegung, daß die Beamten in Pirna das Schrei- 
ben öffnen und leſen würden, den 13. Januar 1774, in deut- 
iher Sprache Folgendes: ?) 

„Ich Habe Ihr Schreiben richtig erhalten. Da ich Shre 
Denkungsart fenne, fo zweifle ich nicht, daß Sie gerechte Sache 
haben, ob ich gleich nicht weiß, was Ihnen eigentlich ſchuld ge- 
geben wird. Freilich wird am Ende die Unfhuld an den Tag 
fommen, und Recht doc Recht bleiben müſſen. Die Gerechtig- 
feit thut zwar zur Rettung der Unfchuld nur ſehr Tangfame 
Schritte, aber wir wollen hoffen, deſto ficherere. Da Sie übri- 
gens Ahr Trübfal mit fo vieler Ergebung in den göttlichen 
Willen ertragen, fo hoffe ich zu dem Gotte unferer Väter, daß 
der Vorfall auch für Ihre arme bedauernswerthe Familie fo 
unglücklich nicht fein wird, als es jetzt fcheint. Was ich nur 
immer dazu beitragen kann, derjelben hartes Schidfal zu er- 
leichtern, werde ich gewiß mit Vergnügen thun.“ 


Diefes Schreiben hatte den erhofften Erfolg. Die Beamten 
felbft überbrachten es dem Gefangenen und eröffneten ihm, daß, 
wenn ein Mann wie Mendelsjohn für feine Unfchuld einftehe, 
niemand ihn mehr in Verdacht halten dürfe. Am WBorabende 
des Paſſahfeſtes erlangte Avigdor feine Freiheit wieder. Aller 
Mittel entblößt, nahm fi der mit ihm verwandte Berliner 
Dberrabbiner Hirichel Levin, fowie der reihe Iſaak Deffau 
in Berlin feiner an. Von Dresden, wo er ſich während des 


) Iggerot, 10. Brief. 

2) Diefer Brief ift oft, aber immer unvollitändig abgedrudt (Neue 
Berlin. Monatsſchrift, Bd. 21, Janr. 1809, ©. 28 ff.; Sulamith III, 2, 
148 f., Schr. V, 522 f.); die Erklärung der Stelle im „Kuſari“ j. 
mein: Mojes Mendelsjohn. Ungedrudtes und Unbefanntes, S. 44 f. 





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Feſtes aufhielt, Fehrte er nach Prag zurück, und ernährte ſich 
wieder kümmerlich durch Extheilung von Privatunterricht. 

Mendelsſohn, feinem Retter und Befreier, bewahrte ex jtet3 
die größte Verehrung und Dankbarkeit. 


Neunundvierzigites Kapitel. 
Die Beerdigungsfrage. Salob Emden. 


Der alte Brauch, die Leichen jo raſch zu bejtatten, daß 
der Todte vom Scheintodten nicht unterfchieden werden konnte, 
war dor hundert Jahren bei den Juden allgemein. Dem Herzog 
Friedrich von Medlenburg- Schwerin gebührt das Verdienjt, diefem 
Unweſen zuerjt gefteuert zu haben; er erließ am 30. April 1772 
an die Juden feines Landes den Befehl, ſich der frühen Be— 
erdigung fernerhin zu enthalten und ihre Todten wenigjtens drei 
Tage unbegraben zu Laffen. ?) 

Die Juden Mecklenburgs erhoben darüber ein Jammerge— 
Schrei, al3 ob Berbannung oder Ausweifung ihnen angedrohet 
wäre, al3 ob der Landesherr fie hätte zwingen wollen, ein mo— 
ſaiſches Gefe zu übertreten. In ihrer Bejtürzung wandten ſich 
die Vertreter der Schweriner Gemeinde im Verein mit ihrem 
Rabbiner Mordechai Jaffe aus Berlin bald nah Publication 
des herzoglichen Edictes an Mendelsfohn mit der Bitte, durch 
Abfaffung einer Denkfchrift und durch Verwendung bei der Re— 
gierung dieſes Unglüf von ihnen abzuwenden; „es wäre zu 
beforgen, daß es Gott behüte! noch ein größeres nach ſich 
ziehen könne“.) 

Mendelsfohn Tieß mit der Antwort nicht lange warten. 
Zuvörderſt erflärte er der Schweriner Gemeinde-Bertretung, er 


) Sammler (Meaifef), 1785, 155. 
2) Daj. 169. Das Schreiben ift datirt vom 18. Mai 1772. 


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begreife nicht, wie fie über eine jo heilfame Verordnung ſolche 
Befümmernig und Kränfung an den Tag lege; nad feinem 
Dafürhalten involvire die Befolgung des Landesherrlichen Be- 
fehles nicht die geringſte Gefeßesübertretung. Der Brauch einer 
fofortigen Beerdigung fei durch fein Religionsgeſetz eingeführt 
und geringfügiger Urfachen wegen Häufig umgangen worden. 
Das Uebernadhten des Todten müſſe um jo mehr als Pflicht an- 
gejehen werden, wenn der entferntefte Zweifel vorhanden fei, 
daß er wieder erwachen könne. „Sit es doch fundamental bei 
uns, daß fein Geſetz ftattfindet, wenn Lebensgefahr dabei ob- 
waltet!“ Ex giebt ferner zu erwägen, daß die Juden in den 
ältejten Zeiten die Leichen in unterirdifchen Höhlen zu einer 
dreitägigen Bewachung beigefegt hätten und daß nad) den Er- 
fahrungen bewährter Aerzte Fälle von Scheintod nicht ausge 
Ichloffen jeien. Um fich jedoch der Schweriner Gemeinde ge 
fällig zu zeigen, jehiete er ihr ein von ihm ausgearbeitetes Ge— 
ſuch an den Herzog, extheilte ihr aber zugleich den Rath, falls 
derjelbe auf die „Vorſtellung“ feine Rüdficht nehmen würde, auf 
ihrem Friedhofe eine Leichenhalle zu erbauen, in welcher die 
Adgefchiedenen drei Tage lang bewacht und alsdann exit zur 
Erde bejtattet wirden. „Died zu thun, ijt meiner Meinung 
nach die Pflicht einer jeden frommen Gemeinde, nicht aber von 
jenen vernünftigen Verordnungen abzugeben. Die Rabbiner un: 
jerer Beit follten fie dazu anhalten und die Sache befördern. 
Sch weiß zwar auch,“ fügt er zum Schluffe feinem Schreiben 
hinzu, „daß Sie mir nicht folgen werden, denn die Macht der 
Gewohnheit ift jtarf, ja vielleicht werde ich Ihnen gar als ein 
Srrlehrer durch meinen Vorfchlag erfcheinen. Immerhin! Habe 
ich doch mein Gewiſſen von der Schuld befreit.‘“!) 


) Der Brief Mendelsſohns, datirt vom 9. Juni — nit Mai, 
wie 1. Aufl. S. 559 angegeben — ift abgedrudt: Sammler, 1785, 170 f., 
ind Deutjche überjegt von Jakobſon im Septemberhefte des Roftoder 
Wanderer3 vom Sahre 1772, ferner Sulamith IV, 2, 155 ff., und 
1. Aufl. ©. 557 ff. 


— 279 — 


Hätte Mendelsfohgn mit weniger Anfpruchslofigfeit und 
Ruhe feinen Befcheid abgegeben, fo hätte man ihn in der That 
damal3 für einen Irrlehrer gehalten. 

Zu feiner nicht geringen Ueberrafchung erhielt er in diejer 
Angelegenheit nach einigen Wochen ein Schreiben von dem in 
Altona als Privatmann Lebenden frommen Rabbiner Jakob 
Hirfchel oder Emden, wie er nad) dem Rabbinate, das er einige 
Jahre befleidete, genannt wurde. Hirfchel, ein Mann von um- 
fafjender Gelehrſamkeit, aber unverträglih und rückſichtslos, 
eiferte gegen jede Beichäftigung mit profanem Wiffen: Yranzö- 
ſiſch war ihm ein Greuel, und am Sabbat eine Zeitung zu leſen 
erachtete er für Sünde. Es fcheint, daß Mendelsfohn es ab- 
jichtlich vermieden hat, bei Lebzeiten des ihm perſönlich befann- 
ten Jonathan Eibenſchütz zu Hirfchel, deſſen Todfeinde, in Be— 
ziehung zu treten; exit nad) dem Tode des genannten Ham— 
burger Oberrabbiners fnüpfte er mit ihm an. Er hielt ihn für 
einen der gelehrtejten Rabbiner feiner Zeit!) und nannte ihn 
nicht anders als „Lehrer und Meiſter“, den „erleuchteten, be- 
rühmten, großen Rabbiner“, den „Lehrer des Volkes“, den „Ber: 
treter der Nation“. Hirfchel gewann auch bald die Ueberzeu- 
gung, daß der Berfaffer des „Phädon“ ein eben jo glaubeng- 
treuer Jude wie gewiegter und fcharfiinniger Talmudiſt ſei; 
diefer machte ihm allerdings fein Hehl daraus, daß, feitdem er 
zur richtigen Erfenntniß gelangt fei, die gewöhnliche Disputir- 
kunſt, wie fie vielen Rabbinern eigen ijt, ihn anwidere und er 
ſich nicht entfchließen fünne, im Studium des Talmud, dem er 
mit Liebe obliege, diefen Weg wieder zu befchreiten. 2) 

Das leidliche Verhältniß zwiſchen den beiden, an Willen 
und Richtung grundverfchiedenen Männern wurde durch die Be— 
erdigungsfrage gelodert. 

Wie an Mendelsfohn, hatten ſich die Vertreter der Schwe- 


1) Schr. III, 43. 
2) Mein: Mojes Mendelsfohn. Ungedrudtes und Unbefanntes 
von ihm und über ihn, 29 ff. 


— 280 — 


riner Gemeinde auch an Emden gewandt und feine gutachtliche 
Meinung eingeholt. Auch ex ertheilte ihnen den Rath, fich ver- 
trauensvoll an Mendelsfohn zu wenden; er fei der Ddeutjchen 
Sprache mädtig, ein Mann von Namen und Auf, und bei den 
Fürften von Einfluß. Auf vielfaches Bitten Händigte er ihnen 
auch ein in aller Eile niedergefchriebenes, einen ganzen Bogen 
umfaffendes hebräifches Gutachten ein, das fie ihm alsbald zurüd- 
zuſchicken verſprachen. Emden, welcher vermuthete, daß die 
Schweriner Gemeinde-Bertreter fein Gutachten, in dem er vom 
talmudifch-rabbinifchen Standpunkte den alten Brauch vertheidigt 
hatte, Mendelsjohn zur Einficht geſchickt Hätten, fchrieb ihm den 
26. Juni 1772 und bat ihm um die Rücjendung des Gut— 
achtens im Original oder in Abfchrift.?) 

Gleich nad) Empfang diefes Briefes, den 30. Zuni, drüdte 
Mendelsfohn dem frommen Hirfchel fein Erſtaunen über das 
fonderbare Benehmen jener „juperflugen Leute” aus, die ihm 
weder eine Denkſchrift eingefchicdt, noch überhaupt mitgetheilt, 
daß ſie fih au an ihn gewandt hätten. Was nun die An— 
gelegenheit ſelbſt betreffe, jo gebe es, meint Mendelsjohn, er- 
wiefenermaßen fein ficheres Kennzeichen eines wirklich erfolgten 
Todes. Alle Heilfundigen bezeugen, daß Puls- und Herzichlag 
fowie Athemholen bisweilen gänzlich aufhören, ohne daß der 
Tod wirklich eingetreten und daß Ohnmacht vom Tode nicht 
früher zu unterfcheiden ift, bi3 der Körper in Verweſung über- 
geht. Sehnlichjt verlange er die Gründe kennen zu lernen, 
durch welche er den Brauch der raſchen Beerdigung gerecht— 
fertigt habe. ?) 

Mit einem Aufwande von Gelehrfamfeit wies nun Emden 
in einem ausführlichen Schreiben ?) die Wichtigfeit des unter allen 
Juden verbreiteten Brauch3 der fofortigen Beerdigung nad) und 


) Sammler, 1785, 172. 

2) Das. 173. Moſes Mendelsjohn. Ungedrudes und Unbekann— 
tes, 31 f. 

3, Das. 178 ff. Das Schreiben ift datirt vom 3. Juni 1772. 


— 231 — 


fügte hinzu, daß auf die Anfichten der Aerzte in religionsgefeß- 
lihen Fragen nichts zu geben fei; außerdem ermahnte er Men— 
delsſohn, wie ein Vater feinen geliebten Sohn, fich ja nicht vom 
geraden Wege zu entfernen. Als Emden merkte, daß Mendels- 
john ſich über feinen Brief gefränft fühlte und auf feinen An— 
fichten beharre, richtete er am 8. Auguft ein zweites Schreiben 
an ihn, in dem er ihn verficherte, daß er feineswegs die Abficht 
gehabt habe, ihn zu beleidigen; umfotweniger dürfe aber auch 
er feine mwohlgemeinten Worte unbeachtet laſſen. Zu feinem 
eigenen Beſten rieth er ihm, jeden Verdacht der Ungläubigfeit 
von jich fern zu Halten, da es ihm ohnehin ſchon verargt werde, 
daß er „einen böfen Hund in feinem Haufe großziehe“, d. 5. 
daß er fich eifrig mit Philofophie befchäftige und mit Männern 
von larer Religiofität Umgang pflege.?) 

Zum völligen Bruche mit Emden Tieß es Mendelsfohn in 
feiner Friedensliebe nicht fommen; er ftand auch noch fpäter mit 
ihm im Briefwechfel. 

Die Beerdigungsfrage wurde nach mehreren Jahren durch 
die Aerzte M. 3. Mare in Hannover?) und Markus Herz in 
Berlin zur großen Freude Mendelsſohns wieder aufgenommen 
und mit der Zeit auch im Sinne Mendelsſohns gelöft. 


) Sammler, 1785, 184 ff. Die zwifchen ihm, Jakob Emden und 
der Schweriner Gemeinde: Vertretung geführte Correfpondenz übergab 
Mendelsjohn felbft den Herausgebern des ‚„„Sammlers‘ zur Veröffent— 
lihung, vgl. Sammler, 1785, 154. 

2) M. 3%. Marr (ft. 24. Januar 1789 zu Hannover) veröffentlichte 
1784 einen Auffaß über die Begräbnißfrage, infolge defjen ihm Mendels— 
john am 18. Auguft 1784 jchrieb. (Der Brief ift nicht mehr vorhanden.) 
Dal. Marr, Ueber die Beerdigung der Juden, Hannover 1788, auch als 
deutihe Zugabe zu dem Sammler, 1789. — M. Herz, Ueber die frühe 
Beerdigung der Juden. Berlin 1787; 2, Aufl. 1788. 


— 232 — 


Sünfzigites Kapitel. 
Die Ritualgeſetze der Juden und der Judeneid. 


Als eigentlicher Vertreter der Juden in Preußen erjcheint 
Mendelsfohn durch die Zufammenftellung der „Ritualgejege der 
Juden“ und durch die Yormulirung des Judeneides. 

Die Gerichtsbarkeit der Rabbiner in rituellen Angelegen- 
heiten und in Schuldfragen von Juden gegen Juden, welche fchon 
das Generalprivilegium von 1750 infofern befeitigt hatte, daß 
ed die Rechtſprechung in das Abgeben eines bloßen Gutachtens 
und zwar nur in Cheangelegenheiten, Tejtamenten u. dgl. m. 
verivandelte, wurde, theils um die Rechte der Rabbiner zu be- 
ichränfen, theils um die Gericht3einfünfte zu vermehren, im 
Jahre 1776 ganz aufgehoben und auf die Landesgerichte über: 
tragen.!) Um nun die leßteren, denen es an Kenntniß der 
desfalfigen jüdischen Bejtimmungen fehlte, in den Stand zu jeßen, 
wirklich Recht zu fprechen, erhielt im Jahre 1777 der damalige 
Berliner Oberrabiner Hirschel Lepin von dem Staatsrath den 
Auftrag, die betreffenden Ritualgefege der Juden in einen 
„veutichen Auszug zu bringen und dem Eöniglichen Juſtizdepar— 
tement zu überreichen“. 

Hirschel Levin, welcher zuerjt in London, dann in Halber- 
jtadt und eine Furze Zeit in Mannheim als Rabbiner wirkte, 
bis er im Jahre 1772 als Oberrabbiner nach) Berlin berufen 
wurde, befaß neben einem umfafjenden grimdlichen Wiſſen im 
Talmud und in der vabbinischen Literatur auch profanes Willen; 
er verfügte aber doch nicht über eine folche Fertigkeit im deut- 
ſchen Ausdrude, wie die ihm übertragene Arbeit fie erforderte. 
Mendelsjohn verehrte er wegen feiner Kenntnifje und feiner 


1) 2. Geiger, Gejhichte der Juden in Berlin (Berlin 1871) I, 72; 
II, 133 ff. 


— 283 — 


Religiofität jeit vielen Sahren;!) er war, wie der Drientalift 
Boyſen den 26. Auguft 1770 von Quedlinburg aus an Gleim 
in Halberjtadt jchrieb,?) „stolz darauf, daß der Berlinifche Sokra— 
te3 aus jeiner Nation aufgejtanden fei“. Den „Phädon“ Hatte 
er gelefen und „den Klugen in feinem Volke den Rath gegeben, 
die großen Lehren dieſes Weltweifen ins Herz zu prägen.“ 
An ihn wandte fich daher Hirfchel Levin mit der Bitte, Die 
„Ritualgeſetze in einen deutfchen Auszug zu bringen“, und diefer 
unterzog ſich bereitwillig der Aufgabe aus Freundfchaft und 
Hochachtung für den von ihm verehrten Mann. 

Die „Ritualgefege der Juden“, von Hirfchel Levin vor der 
Beröffentlihung forgfältig geprüft, erfchtenen im Jahre 17783) 
zunächſt, wie Mendelsfohn im Vorbericht bemerkt, al3 „Privat- 
bemühung eines Gelehrten”, dann aber auch zu praftifchem 
Bwede, „da man in diefem Fade noch wenig ausführliches in 
anderen al3 in rabbinifcher Sprache aufzumweifen hat und Die 
Fälle doch öfters vorkommen, da Rechte der Juden gegen Juden 
von Sachwaltern vertheidigt und von Richtern entfchieden wer— 
den, die der rabbinifchen Sprache und Gelehrfamkeit unfundig 
find“. Diefe Schrift, welche eine ſyſtematiſch und überfichtlich 
geordnete Zufammenftellung der rabbinifchen Bejtimmungen über 
Ehe- und Erbrecht nebſt Formularen jüdiſcher Contracte, als 
Ehe- und Berlobungspacten, Trau- und Chalizabrief, enthält, 
entſprach lange Zeit einem praftifchen Bedürfniffe und hat dem- 
zufolge auch mehrere Auflagen erfahren.?) 

Bon größerer Wichtigkeit ift der von Mendelsfohn formu— 
lirte Judeneid. 





Hirſchel Levin hat von Mendelsſohn, über die Vorurtheile, deren 
er im Streite mit Lavater ſeine Religion beſchuldigte, Feine Erklärung 
gefordert; im Mai 1770 war er noch gar nicht in Berlin. 

2?) Briefe von Hrn. Boyſen an Hrn. Gleim (Frankfurt u. Leipzig) 
1772), II, 221 f. 

3) Berlin, Voß, 1778; der Vorbericht ift Datirt vom 1. Febr. 1778, 

4) 2. Aufl. Berlin 1783, 3. Aufl. ibid. 1793, 4. Aufl. ibid. 1799, 
5. Au fl. ibid. 1826; Schr. VI, 5—118. 


— 234 — 


Der Aſſiſtenzrath und jpätere Profeffor Ernſt Ferd. Klein, 
welcher von Garve in Breslau an Mendelsjohn empfohlen und 
bald mit ihm befreundet wurde,!) erhielt im Jahre 1782 von 
der Regierung den Auftrag, einen Entwurf über die bei der 
jüdifchen Eidesleiſtung zu beachtenden Formalitäten einzureichen. 
Er that, wie e3 in feinem Berichte an Friedrich den Großen 
vom 7. Juni 1782 heißt, „ſich mit Mendelsfohn zufammen, der 
ihm einen Bericht beifügte, wie der Eid, dem Talmud gemäß, in 
jüdifchen Gerichten abgenommen werde.“2?) Mendelsfohn, der 
von Klein und den anderen Wedactoren des Entwurfes zum 
„Allgemeinen Landrechte“ über vechtsphilofophifche Materien oft 
zu Rathe gezogen wurde, auch dem Großfanzler auf deſſen An— 
ſuchen Gutachten abgeftattet hatte?) befand fich, ängſtlich wie er 
war, diefer Frage gegenüber in feiner geringen Verlegenheit. Er 
hatte fowol die Rabbiner und die Maſſe feiner Glaubensge- 
nofjfen, als die Borurtheile der chriftlichen Behörden zu berid- 
fihtigen und darum entwarf er jene ftrenge Eidesformel, welche 
für die Juden des preußifchen Staates bis auf die Gegenwart 
eine drüdende Lat war. Hätte er ſich nad) feiner Denkungs— 
art frei und offen erklären dürfen, fo wäre der Judeneid mit 
allen verdächtigenden und mittelalterlichen Formalitäten aus den 
preußifchen Geſetzbüchern ſchon damals gefchtwunden. 

Und doch müfjen wir ihm Dank dafür wiſſen, daß er einen 
Jargon aus den Gerichtsituben vertriöben, welcher nicht wenig 
zur Unfittlichfeit des gemeinen Mannes, wie Mendelsfohn fich 
ausdrücdt, und zur VBerhöhnung der Juden beigetragen, daß er 
die „Ermahnungsformel beim Judeneide“4) jtatt in jüdijch-deut- 
Ihem Miſchmaſch in reiner deutfcher Sprache eingeführt hat. 

) Kleins Selbftbiographie in Lowes Bildniffen jettlebender Ge- 
lehrten, ©. 53. 

2) M.3 Meinungen über den Eid nad den „Jahrbüchern für 
preuß. Geſetzgebung“ ausführlich mitgetheilt von 3. Franfel, der gericht: 
liche Beweis nad) moſaiſch-talmudiſchem Rechte (Berlin 1846), ©. 498 ff. 

») Schr. I, 28. 

9 Schr. VI, 405 f. 


— 285 — 


„sch würde es fehr ungern fehen,“ Heißt es in feinem Briefe 
an Klein vom 29. Auguft 1782,1) „wenn nad) Herrn Fränfels 
Bedenklichkeit die jürdisch-deutihe Mundart und die Vermiſchung 
des Hebräifchen mit dem Deutjchen durch die Geſetze autorifirt 
würden. ch fürchte, diefer Jargon Hat nicht wenig zur Un— 
fittlichfeit des gemeinen Mannes beigetragen, und verfpreche mir 
jehr gute Wirkung von dem unter meinen Brüdern feit einiger 
Zeit auffommenden Gebrauche der reinen deutfchen Mundart. 
Wie würde es mich Fränfen, wenn die Landesgefeße ſelbſt jenem 
Mißbrauche beider Sprachen gleichfam das Wort redeten! Lieber 
mag Herr Fränkel fi die Mühe geben, die ganze Warnung in 
reines Hebräifch zu feßen, damit fie, nad) Beichaffenheit der 
Umftände, rein deutfch, oder rein Hebräifch, oder auch in beiden 
Sprachen abgelefen werden könne. Nur feine Vermifchung der 
Sprachen!“ 


) Schr. V, 605. 


Zwölftes Bud). 
Die Bibelüberfegung. 


Einundfünfzigites Kapitel. 
Anlaß und Zweck. 


Keine Vermiſchung der Sprachen! war der Grundgedanke, 
der Mendelsſohn leitete, als er den großen Plan faßte, die 
Cultur feiner Glaubensgenoſſen zu heben und die jüdiſche Maſſe 
zu bilden. Es war ſeinem Scharfblicke nicht entgangen, daß 
der Jargon, dieſe jüdiſch-deutſche Mundart, eine weite Kluft 
zwiſchen den Juden und der übrigen Menſchenwelt bildete, daß 
ein großer Theil ihrer politiſchen Beſchränkung und ſocialen Abſon— 
derung in dem Mangel an Cultur ſeinen Grund hatte; deshalb 
war fein Streben darauf gerichtet, fie die reine deutſche Sprade - 
zu lehren und zwar inmitten ihres eigenen unantajtbaren 
Heiligthums. 

An der Hand des göttlichen Wortes ſollte die junge Genera— 
tion auch zugleich auf die Bahn der Nationalität geführt, ſollte 
der jüdiſche Geiſt mit der allgemeinen Bildung gemeinſam ge— 
nährt werden. Von dieſem Geſichtspunkte aus unternahm er 
es, eine deutſche Ueberſetzung der fünf Bücher Moſes zu be— 
arbeiten. Nie dachte er daran, Bibelherausgeber oder Ueber— 
ſetzer zu werden. „Nach dem erſten Plane meines Lebens,“ 


t 


— 28397 — 


Schreibt er Hennings den 29. Juni 1779, „fo wie ich ihn in 
meinen beſſeren Sahren entwarf, war ich weit entfernt, jemals 
ein Bibelherausgeber oder Meberjeger zu werden. Sch wollte 
mich blos darauf einfchränfen, des Tages feidene Zeuge ver- 
fertigen zu lafjen und in Nebenjtunden der Philofophie einige 
Liebfofungen abzugewinnen. Es hat aber der Vorſehung ge- 
fallen, mich einen ganz andern Weg zu führen. ch verlor, in- 
folge der Lavaterfchen Zudringlichkeit, die Fähigkeit zu meditiren 
und mit ihr anfangs den größten Theil meiner Zufriedenheit. 
Nach einiger Unterfuhung fand ich, daß der Ueberrejt meiner 
Kräfte noch Hinreichen könne, meinen Kindern und vielleicht 
einem anfehnlichen Theile meiner Nation einen guten Dienft zu 
erzeigen, wenn ich ihnen eine bejjere Ueberfegung und Erklärung 
der heiligen Bücher in die Hände gebe, als fie bisher gehabt. 
Diefes ift der erjte Schritt zur Eultur, von welcher meine Na— 
tion leider! in einer folchen Entfernung gehalten wird, daß man 
an der Möglichkeit einer Verbeſſerung beinahe verzweifeln möchte. 
Sch hielt mich indefjen für verbunden, das Wenige zu thun, 
was in meinem Vermögen fteht und das Uebrige der Vorſehung 
zu überlafjen, die fic) zur Ausführung ihres Plans mehren- 
theils mehr Zeit nimmt als wir überfehen können.“ !) 

Mendelsfohn verfaßte die Pentateuch » Ueberjegung, nicht 
etwa um dadurch) Namen und Ruhm in der Welt zu erlangen, 
ſondern zunächſt zum Gebrauche für feine Kinder. Nach diefer 
Ueberfegung in der reinen deutjchen Mutterfprache unterrichtete 
er feinen ältejten Sohn, um ihm das Verſtändniß des Urtertes 
zu vermitteln und um ihn gleichzeitig in den Geiſt der hebräi- 
ſchen Spracde, in die feinen Nüancen ihrer Redewendungen, in 
ihre Poeſie einzuführen, bis ex dereinſt felbititändig in die Tiefen 
der heiligen Urkunden einzudringen vermöge. 

Durch göttliche Fügung wurde ihm der gelehrte Salomo 
Dubno, ein ausgezeichneter Maforet und in den Schriften der 


) 1. Aufl. S. 592. 


— 2838 — 


alten Grammatifer ſehr beiwandert, zugeführt. Mendelsjohn ließ 
feinem Sohne täglich eine Stunde Unterricht in der hebräischen 
Grammatik von ihm ertheilen. 

Eines Tages zeigte er Dubno die Meberfegung; fie gefiel 
ihm fo jehr, daß er in ihn drang, fie zu Nutz und Frommen 
der ifraelitiihen Jugend dem Drude zu übergeben. Er willigte 
ein, jedoch) nur unter der Bedingung, daß Dubno jede Stelle, 
welche er gegen die Anfichten der älteren oder die aller Kom— 
mentatoren, oder welche er nad) den Regeln der hebräifchen 
Sprade und dem BZufammenhange des Sinnes überſetzt habe, 
forgfältig prüfe, und dann die Ueberſetzung mit einem Teichtfaß- 
lichen Kommentar in hebräifcher Sprache verfehe, in welchem 
von der bei der Ueberjegung befolgten Methode genau Rechen- 
Ichaft gegeben werde. 

Mendelsfohn, der auch bei dem Kommentare jeden mög- 
lichen Beistand zu leiſten verſprach, verzichtete im voraus auf 
jeden materiellen Gewinn. Mit feinem, in dürftigen Verhält- 
niffen lebenden Bruder Saul follte Dubno Druck und Eorrectur 
beforgen und gleichen Antheil am Honorare haben. Er wollte 
nicht einmal auf dem Titelblatte al3 Ueberfeger genannt werden 
und nur auf das Drängen Dubnos, der ihm vorftellte, daß fein 
Name dem Werfe Käufer und Gönner verfchaffen würde, willigte 
er endlich ein.!) Da es bei dem Unternehmen nicht auf Ge- 
winn abgefehen war, jo feßte er den Preis des ganzen Werkes, 
da3 er auf mindejtens Hundert Bogen berechnet hatte und das 
in fünf Lieferungen erfcheinen follte, niedrig genug: das Exem— 
plar auf Groß-Median 71/, fl Holländ. Courant oder 41/,; Rthlr. 
Pr. Courant und auf Groß-Royal 9 fl H. E. oder 51/, Athlr.2) 

Mit Energie nahm Dubno fofort das Werk in Angriff. 
Schon im Sommer des Jahres 1778 erichien unter dem Titel 





') Schr. VI, 447; Einleitung zum Pentateuch (ed. Prag) 13a. 
2) 1. Aufl. S. 526; Schr. V, 667; mein: Moſes Mendelsjohn. 
Ungedrudtes und Unbefanntes, ©. 52. 


— 289 — 


„Blätter zur Heilung“ eine Probe,!) bejtehend aus drei ver- 
fchiedenen Kapiteln der fünf Bücher Mofes, mit deutfcher Ueber- 
fegung in hebräifchen LZettern nebjt Tert und Kommentar, und 
der trefflichen Ueberjegung der Elegie Jehuda Halevis „An die 
Burg BZion“.?) In der, den Blättern vorangehenden Vorrede 
Dubnos werden die Grundfäße aufgeitellt, welche den Ueberfeger 
leiteten, die Kommentatoren genannt, denen ex folgte, e8 wird 
die Verſicherung gegeben, daß der Ueberſetzer, der „mweitbe- 
rühmte Gelehrte, Herr Moſes Defjau‘, jeden Vers, jeden Ab- 
fchnitt, drei bis vier mal mit den vier größten und angefehen- 
ften jüdischen Kommentatoren?) verglichen habe, damit die Ueber- 
fegung getreu und deutlich fe. Zum Schluß heißt es dant: 


„Hiermit will ich Euch nun, meine Brüder, befannt machen, 
daß ich willens bin, die fünf Bücher Mofes mit fchönen Lettern 
auf gutem Papier und nad aller Möglichkeit correct druden zu 
laſſen, nebjt der ſchönen deutſchen Ueberjegung, die ihresgleichen 
nicht hat, mit einem Auszuge aus den beiten Kritikern... . 
Ich habe auch, um dieſes Werk nüßlicher zu machen, alle Regeln 
der Grammatik kurz zufammengefaßt. . . . Der gelehrte Herr 
Saul, ein Bruder unferes gelehrten Ueberſetzers, ift mein Ge— 
hülfe bei diefer Ausgabe. Zur Probe Haben wir für jet drei 
Kapitel, nämlich das erſte vom zweiten Buche, das 23. und 24. 
vom vierten Buche Mofes, von diefem Werke abdruden laſſen. 

Was ijt nun aber auch billiger, als daß Ihr Euch, als 


1) Allim Literuphah, Amjterdam 1778. Die „Probe einer jüd.- 
deutjchen Ueberſetzung der fünf Bücher Mojes von Hrn. Mojes Men- 
delsjohn nebft rabbinifhen Erläuterungen und einer am Ende ange: 
hängten Elegie‘ wurde von dem Proſelyten Chriftian Gottlob Meyer, 
„vormals Gandidat der Theologie in Göttingen‘’, ind Deutſche über- 
fegt und mit Anmerkungen verjehen. Göttingen 1780. Die Vorrede 
ift Datirt vom 12. Auguft 1779. 

2?) Schr. VI, 429 ff. 

3) R. Salomon Jizchaki (Raſchi), R. Samuel ben Meir (Raſchbam), 
NR. Mojes den Nahman (Ramban) und R. Abraham Ibn Esra (Rabe). 

Kanfjerling, Mofes Mendelsiohn. 19 


— 20 — 


das Volk Gottes, angelegen fein laſſet, ein folches gemein- 
nütziges Werf auf alle mögliche Art zu befördern.“ 

„Die Erfcheinung ijt denkwürdig, das Vorhaben fo wichtig, 
und der Mann, der es unternimmt, fo berühmt, daß wir billig 
unfern Leſern diefe Probe befannt machen müfjfen. Uns würde 
e3 große Freude und um das Judentum ein großes Verdienſt 
fein, wenn wir das ganze Alte Tejtament auf diefe Art über 
feßt erhalten fünnten.“ Mit diefen Worten fündigte Doederleins 
„Theologische Bibliothef”1) diefe neue deutfche Ueberfegung der 
Bibel an, fügte aber auch Hinzu: „allein wir zweifeln, ob der 
Berfaffer unter feinen Glaubensgenoffen in Deutfchland viele 
antreffen wird, die feinen deutjchen Ausdruf verftehen. Wir 
haben diefe Probe verfchiedenen, nicht eben ungelehrten Juden 
vorgelegt; aber e3 war ihnen ſchwer, das Deutſche zu leſen und 
den Sinn zu finden. Noch find fehr wenige an Geift, Genie und 
Sprache jo gebildet, daß fie gute und reine Ueberſetzungen mit 
Vergnügen und mit Nugen Teen.“ 


Zweiundfünfzigites Kapitel. 


Allgemeine Theilnahme, Schwierigkeiten und 
Kämpfe. 


Der Name Mendelsfohns bürgte für das Gelingen de3 
Unternehmens. Aus allen Gegenden Deutſchlands, aus Frank: 
furt am Main und Königsberg, von Berlin und Deſſau ganz 
zu fchweigen, aus Wien und Prag, aus Holland, England und 
Frankreich, felbjt aus dem noch in tiefer Unwifjenheit fchmachten- 
den Polen liefen Beitellungen auf dag Werk ein. Auch Chriſten, 


) 1. Band, ©. 156. 


— 291 — 


Theologen und Profefjoren, pränumerirten. In Hamburg unter 
zog ich die edle Elife Reimarus der Mühe, Pränumeranten zu 
fammeln.) Bald nad) dem Erfcheinen der „Probe“ waren 
nahezu achthundert Bejtellungen auf das Werk gemad)t. 

Auch mehrere angejehene Rabbiner begrüßten die neue 
deutfche Ueberfegung als den Anfang einer neuen Epoche in der 
Eulturgefhichte ihres Volkes. Der damalige Berliner Ober- 
rabbiner Hirſchel Levin fchrieb eine für Mendelsſohn ſehr chmeichel- 
hafte Approbation und ſprach darin die Hoffnung aus, daß die 
Unbekanntſchaft der deutſchen Juden mit der deutſchen Sprache 
aufhören und dieſer „Unſtern bald ſchwinden“ würde. Das 
geſammte Berliner Rabbinat, mit dem Rabbiner von Strelitz an 
der Spite, folgte feinem Beifpiele. Sein Sohn Saul, Rabbiner 
zu Frankfurt an der Oder, richtete an Jeremias Bendit in 
Berlin, der die Commiffion und die Verfendung des Werfes 
übernommen hatte, ein Schreiben, in dem er der Weberzeugung 
Ausdruck gab, daß der, der Ueberſetzung beigefügte hebräiſche 
Kommentar die Unkundigen für die deutfche Sprache gewinnen 
werde, da es eine Schande für Sfrael fei, daß feine Schullehrer 
weder hebräifch noch deutſch verjtänden. Der Rabbiner Aron 
Horwiß, der von Hafenpoth in Kurland als Rabbinats-Aſſeſſor 
nad) Berlin berufen wurde und weithin al3 rabbiniſche Auto— 
vität galt, ertheilte in feiner Krankheit furz vor feinem Tode 
dem GSecretär der Berliner Gemeinde den Auftrag, das Werf 
in feinem Namen zu approbiren.?) Der Fromme Hartwig Wejjely 
fühlte fic) beim Anblik der Probebogen zu einem Lobgefang 
auf den Ueberſetzer begeijtert. 3) 

Es fehlte jedoch auch nicht an Männern unter den „Hoch— 
gelehrten Iſraels“, welche in vichtigem Gefühle der großen Be- 
91. Aufl. ©. 538; Schr. V, 69. 

2) Die Approbation Levins, datirt vom 4. September 1778, die 
des Berliner Rabbinats vom 26. Detober 1778 und das Schreiben 
Sauls find dem Werke vorgedrudt. 


3) Weſſelys Gedicht „Mehallel Rea’ wurde ebenfall3 dem Werke 
vorgedrudt. M. ſ. aud) Jojeph Halterns Lobgedicht, Sammler, 1785, 20. 
19* 


— 292 — 


deutung der rein deutſchen Bibelüberfegung und der aus dem 
profanen Wiffen entfpringenden Gefahr für die ftrenge Gläubig— 
feit dem edlen Streben Mendelsfohns hemmend und feindlich 
in den Weg traten. Mit einigen von ihnen hatte er es von 
vornherein dadurch verdorben, daß er nicht, der damaligen Sitte 
gemäß, fie um ihre Approbation angegangen war. Hatte er 
doch aus allzu großer Befcheidenheit fich nicht entjchließen können, 
die ihm ſchon im Herbſte 1778 extheilten Approbationen des 
Dberrabbiner® und Rabbinats zu Berlin zu veröffentlichen! 
Wozu follte er auch die „Hochgelehrten Iſraels“ um eine 
Approbation zu einer Sache angehen, die ihm nicht den gering: 
jten Gewinn brachte? „Ueberdie8 war e3 ja ein deutfches Bud 
zur Benußung für Kinder und deren Lehrer, und den Rabbinern 
unferer Zeit fam es noch nie in den Sinn, felbjt nach jüdiſch— 
deutfch gefchriebenen Büchern fich umzufehen und deren Drud 
zu approbiren oder den Unternehmern zu wehren. Sollte mit 
Gott das Glück ſchenken, einjt ein hebräifches Buch herauszu— 
geben, dann werde ich es auch nicht unterlaffen, darüber bei 
den Weifen Iſraels anzufragen, um Gutachten und Approbation 
bon ihnen pflichtmäßig einzuholen.‘ ) 

Die Rabbiner, welche die deutjche Ueberfegung des PBenta- 
teuch für eine fühne, den Glauben bedrohende Neuerung hiel— 
ten und deshalb gegen Mendelsjohn auftraten, waren zivei 
Polen: Raphael Cohen, der, nachdem er in verfchiedenen Ge 
meinden Polens und dann zwei Jahre in Poſen fungirt Hatte, 
zum Rabbiner der Gemeinden Hamburg-Altona berufen worden, 
und dejjen Schwiegerfohn, der ſcharfſinnige Hirſch Janow, mwel- 
her Nachfolger ſeines Schwiegervaters in Polen und damn 
Rabbiner in Fürth wurde?) Sie glaubten der heiligen Sache 





ı) Schr. VI, 449. 

2) Hirſch Janow ftarb nicht im Alter von 36 Jahren, wie Grät, 
Gejhihhte der Juden, XI, 587 Sal. Maimon nachſchreibt, ſondern im 
Alter von 52 Zahren, den 13. November 1785. Monatsjchrift für Ge: 
Ihichte und Wiffenfchaft des Judenthums, 1873, ©. 191. 


— 293 — 


der Religion feinen Eleinen Dienjt zu erweifen, wenn fie bald 
nach dem Erfcheinen der „Probe“ gegen den „Moſes Defjau‘, 
wie fie verächtlich ihn nannten, offen und frei mit ihren „Donner— 
feilen“ aufträten. Lebten fie doch in dem Wahne, der bejchei- 
dene Mann überhebe fich und Halte ſich für größer und gelehr- 
ter als die Rabbiner! Ohne die Ueberjegung zu fennen, ohne 
die poetifche Uebertragung in den „Blättern zur Heilung“ auch 
nur zu verſtehen, fprachen fie ein Verbot über das neue, dem 
Drud noch nicht übergebene Werk aus und thaten e3 feierlichit 
in den Bann. 

Auch Ezechiel Landau, der berühmte Oberrabbiner zu Prag, 
hatte fih in mißliebiger Weife über die deutiche Ueberfegung 
geäußert; da8 von den beiden genannten Rabbinern an ihn 
aber gejtellte Anfinnen, zu einer öffentlichen Verurtheilung des 
Unternehmens feinen Namen herzugeben, wies er mit dem Be— 
deuten zurüd, daß er in der Ueberſetzung nichts entdedt habe, 
was einen folhen Schritt rechtfertigen könnte; er nahm viel 
mehr Mendelsfohn in Schu und fuchte dejjen zornentbrannte 
Gegner zu befchtwichtigen.?) 

Das „Heine Ungewitter, welches fich über Mendelsfohn zu— 
fammengezogen hatte, verurfachte ihm anfangs nicht die mindejte 
Unruhe“. Auf Widerjtand war er gefaßt. Sobald er Dubno 
nachgegeben, feine Ueberfegung druden zu laſſen, „nahm er feine 
Seele in Händen, richtete fein Auge auf die Berge und gab 
feinen Rüden den Schlägern preis. Mögen diefe immer fluchen, 


) Unrichtig rechnet Grätz aud) Landau zu den Gegnern Mendels- 
fohns, f. dagegen: Avigdor Levi, Jggroth (Wien 1794), 10b; SJeitteles, 
Mewo Hallafhon (Prag 1813), Einl. 3a; Brüll, Jahrbücher für jüb. 
Geſchichte und Literatur, III, 210 f. S. aud) die Elegie Joſephs aus 
Troplowig auf den Tod Landaus (Mlon Bachoth [Wien 1793]), ein 
Zwiegeſpräch zwiihen Landau und Menvdelsjohn bei ihrem Zujammen: 
treffen im Jenſeits. Das dem Schriftchen vorgedrudte Bild ftellt dar, 
wie der majeftätifch impofante Landau den Heinen Mendelsjohn ums 
armt und Füßt. 


— 294 — 


ich werde gefegnet fein!“ war fein Troſt und fein Wahlfprud.?) 
„So leicht foll es feinem Zeloten gelingen,“ fchreibt er feinem 
Freunde Hennings von Strelit aus am 29. Juni 1779, „mein 
faltes Blut in Bewegung zu feßen. Sch ſehe das Spiel der 
menschlichen Leidenschaften als eine Naturerfcheinung an, die 
beobachtet zu werden verdient. Wer Lei jedem eleftrifchen 
Funken zagt und zittert, taugt nicht zum Beobachter. Ueber- 
‘ Haupt hat mein Herz wenig Neizbarfeit zum Born, Verdruß, 
Reue und dergleichen unangenehmen Affecten. Ich bin nur 
noch empfindfam gegen Liebe und Freundfchaft und auch hierin 
in einem fo gemäßigten Grade, daß mich meine Freunde jehr 
oft der Lauigfeit befchuldigen. Allein ich kann mir feine Em- 
pfindungen geben, die ich nicht habe, und lügen mag id) fie 
nicht, fo fehr die Biererei der Mode e3 zu fordern fcheint.‘“ ?) 

Wie fehr auch die Gegner polterten und über ihn her 
fuhren, Mendelsfohn blieb ruhig; das jugendliche Feuer, „das 
una öfters in der beiten Abficht von der Welt über Maß und 
Ziel hinweg zu treiben pflegt“, hatte ihn längſt verlaffen, und 
„ex hielt e3 für Thorheit, jet noch, jo nahe am Ufer, feine 
Segel jedem Ungeftüme Preis zu geben.“ Deshalb erfuchte er 
feine Freunde und Gefinnungsgenofjen, die Gegner ruhig toben 
zu laffen. Ex kannte feine Zeit und wußte nur zu gut, „wie 
viel Widerfpruh, Haß und Berfolgung die geringjte Neuerung, 
wenn fie auch wichtige Verbefferungen zur Folge Hat, jederzeit 
findet“, 

Als der Rabbi zu Altona eine Zeit lang „feine Donner: 
feile ruhen ließ“, um, wie Mendelsfohn vermuthete, fie bei einer 
günftigern Gelegenheit, wenn erſt das ganze Werf vollendet 
wäre, mit größerem Gepolter auszufenden, bat er Dringend 
feinen Freund Henning, der als däniſcher Staatsrath dahin 
wirfen wollte, daß der eifervolle unduldfame Rabbi zur Ruhe 
vertiefen werde, nichts gegen ihn zu unternehmen. Er winfchte, 





1) Schr. VI, 453. 
2) 1. Aufl. S. 521. 


— 295 — 


daß jener fich ſelbſt überlaffen bliebe, und daß von außen her 
durch nicht? auf ihn gewirkt würde, um zu fehen, was die 
Wahrheit felbjt, frei von allen andern Rüdfichten, bei feiner 
Nation auszurichten vermöge. Sobald äußere Dinge, Drohungen, 
Verbote und dergleichen mitwirkten, jo würden, meinte er, die 
Zirkel verrüdt, und die Beobachtung wäre verloren, Er war feit 
überzeugt, daß eine Feine Gährung feiner Sache recht dienlich 
wäre und nicht geftört werden dürfte!) Je mehr Widerftand 
fein Werk fand, dejto mehr hielt er fi von der Nothiwendig- 
feit de3 Unternehmens überzeugt. „Meine Anficht ift bisher 
gewejen: wenn meine Weberfegung von allen Sfraeliten ohne 
Widerrede angenommen werden follte, jo wäre fie überflüffig. 
Je mehr ſich die fogenannten Weifen der Zeit widerfegen, deſto 
nöthiger iſt ſie. Ich Habe fie anfang nur für den gemeinen 
Mann gemacht, finde aber, daß fie für Rabbiner noch viel noth- 
wendiger iſt . . . Nur gelafjen und ohne Eifer, mein guter Herr 
Avigdor!“?) 

Gelafjen und ruhig betrachtete Mendelsfohn das Treiben 
der eifervollen „Hochgelehrten Iſraels“, jo lange fie nichts an— 
deres erjtrebten al3 feinen ehrlichen Namen anzutajten und feine 
Neligiofität zu verdächtigen. Daran ließ es nun bejonders der 
Rabbi zu Altona, der rückſichtsloſeſte von allen, nicht fehlen. 
Verhielt er ſich auc eine Zeit lang jtill, jo war doc den 
ruhig ſcheinenden Gewitterwolken nicht fonderlich zu trauen, und 
Mendelsfohn war nicht ficher, daß dieſe ſich nicht in einen 
Regenguß von Verfeßerungen entladen würden. 

Er that ſeinerſeits alles, dem Streite fobald al3 möglich 
eine friedliche Wendung zu geben. Er war feiner ganzen Natur 
nad fein Mann des Streites und zumal mit Theologen. 
„Man muß, wie Lefjing, ein abgehärteter Kämpfer fein, um es 
mit ihnen auszuhalten. Ic für meinen Theil wäre eher ge— 
duldig und ftandhaft genug, einen erboften Bienenſchwarm von 


1) 1. Aufl. ©. 521 f. 
2) Schr. VI, 452. 


— 296 — 


meiner Haut abzuwehren als dieſe ftreitfüchtigen Friedensver— 
fündiger.“ „Der liebe Gott behüte Sie und mich,“ Heißt es in 
einem andern Brief an Hennings, „für allen Streit mit Keber- 
macjern. Sie haben einen gar zu ftarfen Haufen auf ihrer 
Seite. Ein Loth gefunden Menfchenverfitandes wiegt zwar den 
ganzen Klumpen auf, aber nur auf jener geiftigen Wage des 
Homers, nad) welcher die Schale der Sieger gen Olymp empor= 
jteigt, die Schale der Befiegten aber gen Orkus ſinkt. Das 
Volk aber kennt nur feine gemeine Käſewage, fagte mein alter 
Rector Damm, als er uns den Homer erklärte.““) 

Hielt es Mendelsfohn nun auch für unedel, gegen den ver- 
folgungsfüchtigen Altonaer Rabbiner etwas zu unternehmen, fo 
wünfchte er doch, daß ihm ein Wink gegeben werde, „in der 
Folge regelmäßiger zu verfahren“. In diefer Abficht bat er 
feinen Freund, den Staatsrath von Hennings, dahin zu wirken, 
daß „im Namen Sr. Majejtät des Königs von Dänemarf 
oder einiger Großen des Neid auf das Werk gezeichnet 
würde”, 2) 

Hennings, der von den Gemüthern war, „welche mehr des 
Zügels als des Sporns bedürfen“, wandte fich unverzüglich an 
den Minifter Hoegh Guldberg und fon am 19. Juli 1779 
erhielt er von diefem folgendes Schreiben: 

„Monsieur. 

Sa Majest& le Roi et Msgr. Son Frere veulent bien 
souscrire pour la traduction de M. Mendelssohn, si Vous 
&tes bien sür, M., qu’il n’y a rien contre la majeste et la 
vérité de la S. Ecriture. S. Alt. R. m’a ordonné tout ex- 
pres de Vous en assurer pour &viter les consequences, en 
cas que les Juifs d’Altona viennent apres demontrer que 
notre Philosophe tient & la Religion de Berlin. Je vous 
prie aussi en ami d’y avoir @gard, sachant, combien S. Alt. 


) 1. Aufl. ©. 528, 529. 
2) 1. Aufl. ©. 54. 


— 297 — 


R. trouverait mauvais d’avoir favorise l’impression d’un 
ouvrage scandaleux. 

Moi j'y souscrirai à tout risque et vous prie, M., d’en 
avoir soin. 

Monsieur 
votre tres humble et très obeissant serviteur. 
C. Hoegh Guldberg.‘ 
Fredensbourg, le 19 juillet 1779.) 

Die fchlichte Weberfegung der fünf Bücher Mofes ein 
ouvrage scandaleux! Freilich mußte der Minijter eine folche 
Meinung Hegen, wenn der Rabbi feines Landes ein folches 
Betergefchrei darüber erhob. „Der Ober-Landes-Rabbiner zu 
Hamburg-Altona Hatte,“ wie es im „Hamburger Correfponden=- 
ten“ vom 17. Juli 1779 Heißt, „alle diejenigen Juden in den 
Bann gethan, welche die Ueberfegung der Bücher Mofes, die 
Herr Mofes Mendelsfohn in Berlin zum Verfaſſer hat, leſen 
werden.‘?) | 

Das Schreiben des dänischen Minifters wunderte Mendels- 
ſohn durchaus nicht; die „Berliner Religion“ war damals der 
Schreden aller Frommen, Juden wie Chriften. Vom Gefund- 
brunnen bei Berlin, two ex feit einigen Wochen die Abend- und 
Morgenftunden zubrachte, richtete er an Hennings den 29. Juli 
1779. folgendes Schreiben, das den Minifter über feine Be— 
fürdtungen vollkommen beruhigen konnte: 

„Die Beichwerlichkeit, die der Staatsmann äußert, ein 
Werk zu befördern, das al3 irreligiös angeklagt worden, macht, 
ihm in meinen Augen wahre Ehre. Allein ich Hoffe, Sie wer- 
den ohne Anftand die Gewähr übernommen haben, daß hr 
Freund Mendelsfohn fein ouvrage scandaleux herauszugeben 
im Stande fei, und daß feine Ueberſetzung der Heiligen Schrift 
nicht3 weniger zur Abficht Habe, als die Majejtät und Wahrheit 


') 1. Aufl. S. 29. 
2) Bei Grüß, a. a. D. XI, 589. 


— 28 — 


derjelben herunterzufegen. Was den Ausdruck Religion de 
Berlin betrifft, jo halte ich diejes blos für ein facon de parler, 
denn wenn Ihr in der That — wie mich alles, was ich von 
ihm Höre, verfichert — edel denfender Minifter Berlin von 
innen, und mehr al3 vom Hörenfagen fennt, jo muß er wiſſen, 
daß in Berlin, wie in allen großen Städten, Glauben und Un- 
glauben, Schwärmerei und Bernunft, Enthufiasmus und Kalt 
finn u. f. w. untereinander vermengt find, und daß die Großen 
des Reichs fogar mehr zur Schwärmerei als zum. Unglauben 
hinneigen. ch fenne feinen Ort, wo man fich durch ärgerliche 
Werke weniger Anfehen geben fann, als Berlin. Man wird 
ihn vielleicht nicht verfolgen, man wird ihm erlauben, Luft zu 
ſchöpfen, Waſſer umfonjt und Brot fürs Geld zu genießen, aber 
er wird wie Edelmann, Damm und andere, vielleicht als un- 
ichuldige Opfer ihrer altdeutichen Aufrichtigfeit verfannt und 
verlaffen, unter feinen Nebenmenjchen wie Schatten herumman- 
dern und am Ende vergejjen werden. Die K. K. Bibliothek zu 
MWien und einige Große dafelbjt Haben auf das Werf voraus 
bezahlt... .“) 

Der König von Dänemarf, die Prinzen und Großen des 
Reichs fubjeribirten, und Raphael Cohen mußte dem Fortgange 
eine3 Unternehmens ruhig zufehen, das ihm ein Dorn im Auge 
war. So weit fein Arm reichte, eiferte er freilich fort. Und 
doc wünſchte er, ehe noch die verfegerte deutſche Pentateuch— 
Ueberfegung die Preſſe verlaſſen, fehnlichjt, ex hätte mit dem 
„Mofes Deſſau“ nie angebunden. Die dänische Regierung, ein 
mal aufmerffam gemacht, Hatte ein, wachſames Auge auf ihn 
und trat bei der erſten Gelegenheit gegen feine Intoleranz ent- 
Ichieden auf. Die Gelegenheit bot fih bald. Ein gewifjer 
Samuel Marcus aus Hamburg, vermuthlich ein Anhänger Men- 
delsjohns, wurde von dem Oberrabbiner aus nicht näher ange- 
gebenen Gründen unerhörterweife verfolgt, in den Unterbann 


1) 1. Aufl. ©. 525 f. 


— 200 — 


gethan und mit dem großen Banne bedroht. Mareus beſchwerte 
ſich bei der Regierung, und dieſe richtete an den Rabbi folgen— 
den Beſcheid, welchen wir als charakteriſtiſch für jene Zeit mit— 
theilen: 

„Wann ſich der Jude Samuel Marcus jun. von Hamburg 
allerhöchjten Orts darüber bejchwert, daß er von dem Ober- 
rabbiner hierjelbjt auf unerhörte Weife verfolgt werde, indem 
derjelbe nicht allein anfänglich ihn in den Unterbann fchreiben 
lafjen, fondern ihm auch nachher unter Androhung des über 
ihn zu verhängenden großen Fluchbannes eine aus folgenden 
ſechs Punkten bejtehende fchmerzlihe Buße auferlegt Habe, 
nämlid): 

1) ein ganzes Jahr lang weder morgens noch abends den 
Gottesdienst zu verfäumen; 

2) ein ganzes Jahr Montags und Donnerftags zu fajten; 

3) des Abends diefer Fafttage niemals etwas anderes als 
Milchipeife zu genießen; 

4) einen Rabbi zu bejolden, der ihn im Geſetze unterrichte; 

5) den bisher getragenen Haarbeutel abzulegen und eine 
runde Frijur zu tragen; 

6) einen Bart zu tragen; 

diefe Beichwerden aber und das despotifche Verfahren des hie- 
figen Oberrabbiners allerhöchjten Orts das äußerſte Befremden 
erwedet, jo wird Sr. Majejtät des Königs unmittelbarer Befehl 
dem hieſigen Oberrabbiner Hierdurch zu erkennen gegeben: 

1) daß er ohne den allergeringften Widerfpruch fich künftig 
eines folchen Berfolgungsgeijtes enthalten und fich nicht 
erfühnen folle, dergleichen vermeßliches Unternehmen öfter 
zu wagen; fall3 gegen ihn als einer, der fich ftrafbaren 
Eingriffen in die königliche Landesherrlihe Macht und 
Gewalt ſchuldig gemacht, nach) Vorſchrift der Geſetze ver- 
fahren werden wird, und 

2) daß es Sr. Majeftät des Königs Wille fei, daß gedachter 
Dberrabbiner den Juden Samuel Marcus jun. in Ham— 


— 300 — 


burg der ihm auferlegten aus ſechs Punkten beſtehenden 

Buße ſogleich entlaſſe und alle Arten von Verfolgung 

wider ihn und ſeine Freunde einſtellen ſoll. 

Welchem allerhöchſten königlichen Befehl der Oberrabbiner 
bei Vermeidung der ernſtlichſten Maßregeln ſogleich und ohne 
Verzug Folge zu leiſten, auch daß Solches pünktlich geſchehen 
wird, ſofort anzuzeigen hat. 

Altona, den 17. October 1781. 

(2. ©.) W. V. Gehlen.‘“!) 

Gegen diefen Befcheid ergriff der Oberrabbiner Recurs,?) 
woraufhin ihm im Namen Sr. K. Majeftät zu erfennen gegeben 
wurde: „Daß es bei der nach Allerhöchitem Befehl gefchehenen 
Aufhebung der Buße des benannten Samuel Marcus jun. als 
einer entjchiedenen und abgethanen Sache gelafjen werden folk, 
umfomehr, da dieſer feine Vergehungen mit einer ad pios usus 
erlegten Summe gebüßet, übrigens aber er, der Oberrabbiner, 
bei pflichtmäßiger Verwaltung feines Amtes fih Sr. Königl. 
Majeftät Schuges verfichert halten könne. 

Gegeben Königl. Deutiche Kanzley zu Copenhagen den 
11. May 1782 

(2. ©.) Carftens. €. ©. Schütz. 3. H. Krüd.“>) 

Raphael Cohen?) wagte e3 nicht, in der Folge gegen die 

Mendelsfohniche PVentateuch-Ueberfegung aufzutreten. 


') Sdicr. 

2) M. f. auch Schr. III, 201. 

3) Monatsſchrift, 1879, ©. 432. 

4) Raphael Cohen, der Großvater Gabriel Rießers, lebte von 
1799 bis zu feinem, den 11. November 1803 erfolgten Tode als Privat: 
mann in Hamburg. 


— 301 — 


Dreiundfünfzigites Kapitel, 
Fortgang der Ueberſetzung. Salomo Dubno. 


Der Druck des Werkes ging nicht fo fchnell von ftatten 
als Mendelsfohn und feine Mitarbeiter anfangs dachten. An 
Eifer Tießen fie es nicht fehlen; befonder8 Dubno, der fich ver- 
pflichtet hatte, den Kommentar und das „Tikun Sopherim“ zu 
Tiefern, gab ſich unfägliche Mühe; die von ihm benußten Kom— 
mentare des R. Salomon Jizchaki (Raſchi) und deſſen Enkel, 
NR. Samuel ben Meir (Rafchbam), verglich er mit einer Worm- 
fer Handfchrift, welche Mendelsfohn aus der Jablonskiſchen 
Bibliothef erworben hatte. ') 

Anfang März 1780 verließ nun das erſte Buch Mofes, 
zu dem Dubno mit Ausnahme der von Mendelsfohn ſelbſt be- 
arbeiteten erjten Kapitel, den Kommentar verfaßt hatte, die 
Preſſe. Noch vor Mitte März konnte ein Theil der für Däne- 
marf bejtimmten Eremplare an Moſes Fürft in Kopenhagen zur 
weitern Beforgung abgefandt werden. „Herr Fürſt wird Die 
Ehre haben,“ heißt es in dem Briefe an Henning3 vom 14. März, 
„Ihnen in meinem Namen die erite Ablieferung der fünf Bücher 
Mofes, aber nur drei Eremplare auf Groß-Royal für den König, 
den Erbprinzen K. M. und H., fowie aud für den Minifter zu 
überreichen. Ich habe fie nicht können binden laſſen, weil noch 
die zweite Ablieferung, welche nächſtens erfolgen foll, mit dazu 
gehört. Die übrigen Eremplare follen, die Koften zu erfparen, 
mit dem aufgehenden Waſſer beforgt werden.‘?) 

Um die Ueberfegung auch Ehriften zugänglich zu machen, ı 
ließ er eine Ausgabe in deutjchen Lettern mit einem furzen 
deutfchen Auszuge aus dem Kommentare beforgen. Diefer fchwie- 
rigen und undankbaren Arbeit hatte ſich ein gelehrter Chrift 


') Einleitung zum Bentateuc (ed. Prag) 13b. 
2) 1. Aufl. S. 528. 


— 302 — 


mit Hülfe eines gelehrten Juden unterzogen. Bon dieſer Aus- 
gabe, der auch Mendelsjohns treffliche Ueberſetzung des „Sieges- 
fiedes der Debora“!) beigegeben war, erjchien nicht mehr als 
das erſte Buch Mofes;?) vermuthlich fehlte es an Abnehmern. 

Auch das eigentlihe Werf war einmal nahe daran in 
Stoden zu gerathen. 

Schon nach Beendigung des erjten Theiles merkte Men- 
delsfohn, daß das Ganze weit umfangreicher als ex berechnet, 
und ftatt Hundert Bogen wenigitens Hundertundzwanzig umfafjen 
würde. Bei dem in dem Probehefte fejtgejegten Preiſe, den er 
unter feinen Umjtänden erhöhen wollte, verurfachte ihm der nicht 
unbedeutende Mehrbetrag der Kojten große Sorgen, denn feine 
eigenen Vermögensumſtände gejtatteten ihm nicht, Taufende bei 
diefem Unternehmen zuzujfegen. Ließ er doch das Werf auf 
eigene Koften druden und diefe überjtiegen die Höhe von weit 
über dreitaufend Thalern, ſodaß fie durch die Subferibenten 
faum zur Hälfte gededt wurden. 

Dazu fam noch, daß im Herbite des Jahres 1780 Salomo 
Dubno ihm die Freundfchaft Fündigte. Weber diefes Zerwürfnik 
Ichwebt ein Dunkel, das Mendelsjohn jelbjt als räthſelhaft und 
ihm unerklärlich bezeichnet. Er ruft Gott zum Zeugen an, daß 
er nicht Schuld daran trage,?) und verjichert in der dem Werke 
vorausgefchieftten Einleitung, daß er nicht wiffe, was dem ge 
lehrten Polen in den Sinn gekommen fei. Daß die Schwierig: 
feit der Arbeit ihn plößlich abgejchredt habe, ift zu bezweifeln; 
er hatte dem Werfe volle vier Jahre gewidmet und beſaß Aus- 
dauer und Gewifjenhaftigfeit genug, den Kommentar auch zu 
Ende zu führen. 


') Das Deboralied wieder herausgegeben von Joel Löwe (Bril), 
Sammler, 1788, S. 263—271, dann oft gebrudt in den Bibelaus: 
gaben von Prag, Wien, Karläruhe u. a., au) Schr. VI, 121—124. 
2) Die fünf Bücher Mofe, zum Gebrauch der jüdiſch-deutſchen 
Nation nad der Ueberfegung des .... M. Mendelsfohn. Erſtes Bud. 
Berlin, Nicolai 1780. 
3) Schr. VI, 451. 


— 303 — 


Allem Anfcheine nach war e3 verlegte Schriftfteller-Eitelfeit 
und übertriebener Ehrgeiz, welche ihn mit dem Ueberſetzer ent- 
zweieten. Salomo Dubno gehörte überhaupt zu den Außerft 
wenigen Polen, welche ihrer Ehre den materiellen Gewinn gern 
zum Opfer bringen wollten. Weil Mendelsfohn Bedenken trug, 
feine übermäßig lange ſprachliche Abhandlung, die Frucht voller 
zehn Monate, al3 Einleitung zum zweiten Buche Mofes, druden 
zu lafjfen, lief er, nachdem bereit vier Seiten davon gedrudt 
waren, in feiner Melancholie davon, Tieß feinen mehrjährigen 
Berdienit in Stil) und wollte von Mendelsfohn, von dem er 
jtet3 mit Hochachtung ſprach, und von dem gemeinfchaftlichen 
Unternehmen, an dem fein Herz hing, nicht? mehr wifjen.!) In 
Tpäteren Jahren ſuchte er fein fonderbares Benehmen gegen 
Mendelzjohn durch religiöfe Motive zu befchönigen. In einem 
Briefe, welchen er den 2. Juni 1789 von Amjterdam aus an 
den al3 Grammatifer und Maforet ausgezeichneten Wolf Heiden- 
heim richtete, heißt es: „Ich Habe meinem AYugendlehrer, dem 
Gaon Naphtali Herz von Dubno, zur Zeit als dieſer durch 
Berlin fam und mir Vorwürfe machte, daß ich im Bunde mit 
denen arbeite, welche, wie ihm die Rabbiner von Prag und 
Hamburg gejchrieben, darauf ausgingen, unfere Heil. Tradition 
zu entwurzeln, das Verfprechen gegeben, mit diefer Gefellfchaft 
zu brechen und mich von Berlin zu entfernen. Sch Habe feine 
Urfache zu bereuen, mitgearbeitet zu haben, auch der erjte An- 
trieb gewefen zu fein, daß Mendelsfohn feine Ueberfegung druden 
ließ. Leder Einfichtsvolle erfennt den großen Nußen für unjere 
Jugend, durch die fehöne Ueberfegung und den Kommentar die 
Herrlichkeit des göttlichen Wortes würdigen zu lernen.‘“?) 

Dubno, der ftatt fich zu entjchuldigen, in diefem Briefe ſich 
ſelbſt das Urtheil fpricht, traf im Jahre 1784 Anftalten, feinen 
Pentateuch-Kommentar und felbftverjtändlich aucd die von Men— 





1) ©. den Brief Dubnos vom Eeptbr. 1780 in Kobaks Jeſchurun 
III, 8. 
2) Auerbadh, Gejhichte der ifrael. Gemeinde Halberftadt, 179 7F. 


— 304 — 


delsfohn zurückgewieſene Einleitung auf eigene Koſten druden zu 
laſſen. Um fich die Mittel zum Drude zu verfchaffen, wanderte 
er von Stadt zu Stadt, durch ganz Deutjchland, Böhmen und 
Holland; von allen Rabbinern holte er ſich Approbationen zu— 
fammen, die ihm um fo bereitwilliger ertheilt wurden, al3 die 
Mendelsſohnſche Ueberfegung nicht beigedrudt werden follte und 
fonnte. Der Kommentar erfchien nicht.*) 

Nachdem Salomo Dubno Berlin verlaffen,?) war Mendels- 
fohn auf fich felbft angewiejen; fein Bruder Saul fonnte ihm 
wenig nüßen, er mußte fich daher entfchließen, den Kommentar 
zum zweiten Buche Mofes, zu dem ihm Dubno nur einige 
Bruchſtücke zurücdgelafjen Hatte, allein zu bearbeiten. 

Diefer zweite Theil konnte zur Leipziger Ofter-Mefje 1781 
verjandt werden. Exemplare vom Exodus, fchreibt Mendelsfohn 
an Avigdor Levi in Prag, den 5. Juni 1781,3) „hat mein 
Freund David Friedländer vergangene Leipziger Mefje nad) 
Shrem Orte beforgt, und wird der Pränumerant Herr Aron 
Beer Joſz wol nunmehr das einige erhalten haben. 

Mendelsfohn war zu ſchwach, das Werk allein fortzu- 
führen; die noch immer gehegte Hoffnung, fi mit Dubno aus- 
zuföhnen, hatte er aufgegeben; er mußte einen neuen Mitarbeiter 
fuhen und fand ihn endlich in feinem alten Freunde Hartwig 
Weſſely. 


) ©. J. Polak, Hebreeuwiſche Letteruruchten [Amfterdam 1851] 
41. Das von Polak (a. a. D. XVIII) aus dem Orient 1841, Literatur: 
blatt, ©. 236 mitgetheilte hebräiſche Räthfel (deffen Löfung von Dubno 
in einem Briefe an Mendelsſohn von 21. Elul 5537 [Auguft 1777] bei 
Polak a. a. D. 39 f.) hat nicht Mendelsfohn zum Berfafler. Von feiner 
frühesten Jugend hat er fich mit dergleichen nicht befaßt; er liebte, 
wie es in feinem Briefe an Avigdor Levi vom 30. März 1770 heißt, 
„immer feine Gedanken deutlich auäzufpredhen, und feine Meinung 
Har und hell wie die Mittagsfonne darzulegen, nicht aber, fie in Nebel 
und Dunkel zu hüllen.“ Schr. VI, 445. 

2) Dubno ftarb in Amfterdam den 23. Juni 1813. 

3) Schr. VI, 451. 


— 305 — 


Bierundfünfzigites Kapitel. 
Hartwig Weſſely. 


Diefer Mann, an Charakter und Gefinnung Mendelsfohn 
ähnlih, war auch wie er von reiner Frömmigkeit und idealem 
Streben befeelt. 

Seine Lebensgefchide?) bilden in mehrfacher Beziehung das 
Gegenbild zu denen Mendelsfohns. Diefer in Armuth geboren 
und in Wohlitand gejtorben, jener aus den glänzenditen Ver— 
hältniffen der Jugend zu einem forgenvollen Alter herabjteigend; 
diefer aus einer ausſchließlich talmudischen Jugendbildung fich 
zu einem vollendeten Meijter des deutjchen Stil3 erhebend, jener 
frühzeitig mit neuern Sprachen befannt, ſich zum mujterhaften 
Wiederheriteller der hebräiſchen Sprache emporfchwingend.?) 

Er war nur um vier Jahre älter als Mendelsjohn und 
wurde in Hamburg geboren. Hier lernten fich die beiden jungen 
Männer kennen und fchloffen einen Bund inniger Freundfchaft.3) 
Auh Weſſely war nicht eigentlich) Gelehrter von Fach, fondern 
ftand dem von Ephraim Beitel in Amjterdam errichteten Bank— 
haufe als Chef vor und etablirte nach einigen Jahren in Kopen— 
hagen ein eigenes Geſchäft. 

In feiner regen Theilnahme für das Schidfal feiner Glau— 
bensgenofjen und in der glühenden Liebe zu den Wifjenfchaften 
hatte er mit Mendelsfohn gleiches Streben; beide jtellten es ſich 
zur Zebensaufgabe, die Juden aus ihrer Lethargie zu neuem 
geiftigen Leben zu weden. Während aber Mendelsfohn fich be- 


— 





) Ueber Weſſely j. die Bioaraphie von David Friedrichsfeld 
(Amfterdam 1809) und von W. A. Meiſel (Breslau 1841). 

2) Stern a. a. D. 104. 

3) Am Detober 1761 waren fie jhon befreundet; vgl. Schr. V, 420: 
„Herr Hartwig Weſſely,“ ſchreibt Mendelsfohn feiner Braut am 16. Oeto— 
ber 1761, „wird vermuthlich bei Anlangung diefes ſchon abgereift fein, 
und id erwarte ihn zu den Feiertagen hier.‘ 

Kayſerling, Moſes Mendelsjohn. 20 


— 306 — 


mühte, fie durch deutfche Schriften für die deutfche Sprache umd 
deutfche Nationalität zu gewinnen, unternahm es Weſſely, die 
Reinheit und Erhabenheit des Hebräifchen durch feine in clafli- 
fchem Stile verfaßten Werfe wiederherzujtellen.. Dieſes gelang 
ihm zunächft durch feinen „Libanon“, deſſen zweiter Theil wenige 
Monate vor dem „Phädon“ erichien. 

Es ijt charakteriftifch für beide, gleiches Biel verfolgende 
Männer, daß Mendelsfohn einen Augenblid Anftand nahm, 
diefes eine Grundidee des Judenthums neu behandelnde Werl 
dem Freunde zu überjenden. Er fürdhtete, in feinen Augen da 
durch zu verlieren, daß er vernunftgemäße Beweife für die Un- 
jterblichfeit geliefert und überhaupt die deutſche Sprache für die 
Darjtellung gewählt Habe; er glaubte daher, fich förmlich bei 
ihm entjchuldigen zu müſſen. 

Wie wenig aber kannte Mendelsjohn feinen Wefjely. So: 
bald der deutfche „Phädon“ zu ihm gelangte, widmete er ihm 
einen ganzen Tag; er ergößte ihn fo ſehr, daß er fich nidt 
von ihm losreißen konnte. „Schlaffe Hände haft Durch Dein 
Werk Du geftärft,“ ruft er ihm zu, „wanfenden Knieen neue 
Kraft verliehn; wie Mojes erhobjt Du Deinen Stab und fchlugit 
den Felfen, es entquoll Waffer, und das Volk Töfchte feinen 
Durſt; Dich hat der Himmel mit der Gabe gefegnet, Die Herzen 
und Gemüther zu erquiden, wie Regen trieft Deine Rede, wie 
Thau fließt Dein Wort, Deine Lehre tränkt die durftigen Seelen 
und erzeugt Ideen göttlicher Wahrheit.‘t) 

MWeffely, der den „Phädon“ ins Hebräifche zu überſetzen 
beabfichtigte, hegte den ſehnlichſten Wunſch, mit dem Verfaſſer 
vereint leben zu können. 

Leider mußte diefer Wunfc durch den Verluft feines Ver— 


— — — 





) Bol. Mendelsſohns Briefe an Weſſely und Weſſelys Antwort 
an Mendelsjohn, beide in hebr. Sprade, in „Ha:Scharon‘’, Beilage zu 
der Zeitjchrift Ha-Meliz, 1. Jahrg. ©. 40; abgedrudt in: Sophre Jirael, 
Sammlung von Briefen berühmter Männer, von ©. J. Finn (Wilna 
1871), ©. 129 ff. 


— 307 — 


mögens in Erfüllung gehen. Mehrere Kopenhagener Handels- 
häufer, bei denen er ſehr interefjirt war, fallirten, und Wefjely 
ſah fich jelbjt in die Nothwendigfeit verjegt, fein Gefchäft auf- 
zulöfen. Mit Bangen dachte er an die Zukunft. Da jtellte 
ihm Sofeph Veitel den Antrag, ihn zum Führer feines Ge— 
ichäftes in Berlin zu ernennen. Voller Freude willigte Wefjely 
ein; er verließ Kopenhagen und fiedelte 1774 mit Weib und 
Kindern nad) Berlin über. 

In der Nähe feines Freundes verlebte er nun einige durd) 
Kummer und Sorge wenig getrübte Jahre. Doch bald follte 
diefer wahrhaft Fromme Mann des Schickſals Tücke in der ganzen 
Schwere erfahren. Joſeph Veitel war alt geworden und Löjte 
fein Gefchäft auf, und Weſſely ſtand plößlich in der großen 
Stadt ohne Erwerbszweig. Er hatte mit der größten Noth zu 
fümpfen. Wochenlang famen feine warmen Speifen auf den 
Tiſch des Mannes, der gewöhnt war, andere von feinem Ueber- 
fluffe zu fättigen. Er trug fein Leid tief in ſich verborgen; 
niemand, nicht einmal Mendelsfohn, erichloß er fein von Gram 
zufammengepreßtes Herz; der edle Stolz empörte ji) dagegen, 
bei anderen Mitleid zu erregen. 

In einer jo drüdenden Lage befand er ich, als Mtendels- 
john ihn erfuchte, fi) an der Bearbeitung des Pentateuch-Kom— 
mentars zu betheiligen. Obgleich) die Schwierigkeiten, welche 
gerade das ihm überwiefene dritte Buch bot, ihm nicht ent- 
gangen waren, fo unterzog ex ſich doch mit Freuden der Arbeit; 
war er dadurd) doch wenigjtens einige Monate den drückendſten 
Nahrungsforgen enthoben. In bewundernswiirdig Furzer Zeit 
war der Kommentar niedergefchrieben. Wejjely, der fonjt eben 
nicht der fleißigite Arbeiter war, aber die große Gabe befaß, „mit 
der Feder feine Gedanken Hinftrömen zu lafjen“,t) lieferte fast 
wöchentlich mehrere Bogen; er zeigte, daß die Familie Weffely, 
wie Mendelsfohn von ihr rühmt, „Federfraft in der Seele 

1) Schr. V, 674. 

20 * 


— 308 — 


habe, ihre Unternehmungen mit Nahdrud zu treiben”.!) Mit 
feltener Meifterfchaft Löjte er die Aufgabe; in dem Kommentare, 
der, wie Mendelsſohn an Herder fchreibt,2) „zu feinem Schaden 
und zu manches Leſers Langeweile viel zu gelehrt gerathen iſt,“ 
entfaltete er die ganze Fülle feiner immenfen Gelehrſamkeit. In 
der That hat fich Wefjely durch diefen, Ende Auguft 1781 im 
Drud beendeten Kommentar, eine Arbeit von monumentaler Be 
deutung, die Unfterblichkeit gefichert. Begabt mit einer Fein— 
fühligfeit für das zartefte Geäder und die feinfte Nüance der 
hebräiſchen Sprade, verjtand er e3, das Bibelwort mit der 
halachiſchen Tradition in einer Weife .zu vereinigen, bei der 
grammatifche Kenntniß, talmudische Gelehrfamkeit, Scharffinn, 
gepaart mit einer rührenden, faſt Findlichen Pietät anzuftaunen 
und zu bewundern find. 3) 

Weſſely wurde wegen feiner Gelehrſamkeit, feiner ftrengen 
Religiofität von allen, fogar von den Rabbinern Hochver- 
ehrt, welche den Bejtrebungen Mendelsfohns nicht Hold waren, 
und doch follte auch er bald nad) Beendigung des Pentateuch— 
Kommentars ähnliche bittere Erfahrungen wie fein Freund 
machen; „auch über unfern guten Bruder, den berühmten Hart- 
wig Wejjely, zogen. fih die fürchterlichiten Ungemwitter zu 
fammen.‘%) 

Der edle Kaifer Joſeph II. Hatte fein Toleranzedict er- 
laffen und taufend neue Keime der Hoffnung für die Juden 
Oeſterreichs gewedt. Bon den früheren mittelalterlichen Befchrän- 
fungen waren nur noch wenige in Kraft geblieben und aud) 
diefe follten fchwinden, ſobald fich die Juden der vollfommenen 
Sleichjtellung würdig gemacht hätten. Zu diefem Zwecke befahl 
ihnen der Kaifer, allenthalbden dem Bedürfnifje entfprechende 


1) Schr. III, 421. 

2) 1. Aufl. ©. 549. 

8, Moſes Mendelsjohn als Ueberjeger und Ereget. Eine Skizze 
von Dr. X. Goldſchmidt in Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch S. 118 f. 

9 Schr. V, 601. 


— 309 — 


Schulen einzurichten, fi) die Landesfprache anzueignen und ihre 
Kinder zu Handwerkern heranzubilden. 

Dieſes Edict, das in der Gefchichte der Juden des öfter ' 
reihischen Staates das Aufgehen einer neuen Morgenröthe be- 
zeichnet, beurtheilt Mendelsfohn mit philofophifcher Ruhe. „Geht 
die Sache von Gott aus,“ fchreibt er an Avigdor Levi in Prag, 
„und hat der erhabene Monarch in Wahrheit und Redlichkeit 
beichlofjen, unfern Zuſtand zu verbejjern, fo wird es etwas 
langſamer, aber dejto ficherer und heilfamer fommen; iſt e8 aber 
nur ein flüchtiger Einfall ohne Nachhall, oder läuft fogar, wie 
einige befürchten, eine Finanzabficht mitunter, fo wollen wir die 
Saden nicht mit Keilen treiben, die nicht viel nügen fünnen.“!) 

Ganz anders dachte Weflely über das Edict. Wie Klop- 
ftod die „Ode an den Kaifer“ dichtete, fo wurde Wefjely, der 
gleich jenem eine aus achtzehn Geſängen bejtehende unvergleich- 
Lich ſchöne „Moſeide“ in hebräifher Sprache ſchuf,“) zu einem 
Lobgefange auf Kaifer Joſeph begeiftert und richtete, fobald er 
erfuhr, daß die Frommen in Wien über den Befehl, Schulen 
zu gründen, ſich entjeßten, an die öfterreichifchen Gemeinden 
feine „Worte des Friedens und der Wahrheit“.3) Er beſchwich— 
tigte darin die Befürchtungen, welche fie wegen der Religion 
Hegten, ermunterte fie, fich die Pflege der Landesſprache ange- 
legen fein zu laſſen, und ermahnte fie, den Befehlen des Kaiſers 
unbedingten Gehorfam zu leiften und Schulen zu errichten. 

Dieſes Sendfchreiben, der Erguß echter Religiojität, machte 
auf die Einfichtspollen unter feinen Glaubensgenofjen tiefen 
Eindrud. Die Gemeinde in Trieft ging mit gutem Beifpiele 
voran. Auf den Rath des Statthalter® Grafen Zinzendorf 
wandte ſich Zofeph Galigo im Namen der Gemeinde wegen ein- 


1) Schr. VI, 452. 

2) Berlin 1789— 1802; Prag 1809—29. Den erften Gefang der 
Moſeide überjegte Prof. Hufnagel in Frankfurt a. M., den 2. Prof. 
Spalding in Berlin ind Deutſche (Berlin 1795, Hamburg 1806). 

3) Berlin 1782. 


— 310 — 


zuführender Lehrbücher an Mendelsjohn, deſſen Pentateuch-Ueber- 
fegung Wefjely in dem Sendfchreiben rühmend hervorgehoben 
hatte, und erbaten fi) ein Verzeichniß aller feiner bis dahin 
erfchienenen Schriften. Indem er ihrem Wunfche nachkam, em— 
pfahl er ihnen zugleich, als ihrem Zwecke fehr förderlich, die 
Werke feines Freundes Wefjely, und überfandte als Probe fir 
dejlen Denk- und Ausdrucksweiſe die „Worte des Friedens und 
der Wahrheit“. Der alsbald erfolgte Dankbrief der Zriefter 
Gemeinde an Mendelsfohn enthielt die Bitte um fchleunige 
Ueberfendung der Werke Weffelys.?) 

Die Freude über diefe ganz unerwartet ihm gezollte An— 
erfennung wurde jedoch jehr bald getrübt. Dieſelben Rabbiner, 
welche kurz vorher noch voll des Lobes über feine Gelehrfam- 
feit und Frömmigkeit waren, jchmähten jet feinen Namen und 
feine Ehre und erklärten ihn wie einige Jahre früher Mendels- 
fohn, für einen Abtrünnigen. Der Prager Oberrabbiner Ezechiel 
Landau war der erjte, welcher gegen ihn auftrat. Der Rabbiner 
Pinhas Horwis in Frankfurt am Main zog in einer Predigt 
gegen ihn und gegen Mendelsfohn her, gegen lettern aus feinem 
andern Grunde, al3 weil er in dem 17. Berfe des 19. Kapitels 
des dritten Buch Moſes jtatt „Du ſollſt,“ „Du kannſt“ Deinem 
Nächten Verweiſe geben, überfegt hat.) Der Rabbiner von 
Poſen, Landaus Schwiegerjohn, der von Lifja, ſowie der Fromme 
Elia Wilna, der den Profanwifjenschaften ſonſt nicht abhold war, 
gingen in ihrem Eifer jo weit, daß fie das unfchuldige Send- 
ichreiben dem’ Scheiterhaufen zu überliefern für Heilige Pflicht 
hielten. „Aus allen Gegenden Polens fuhren die Bannjtrahlen 
über Weflely zufammen, und e3 fehlte wenig, jo waren aud) 
feine deutfchen Brüder wider ihn in Harniſch.“z) War doc 
) Mefjelys drittes Sendjchreiben, S. Tb f. Kerem Chemed I, 6 
und Güdemann in der Monatsfchrift, 1870, S. 479 F, ſ. auch Gräß, eben- 
dafelbft, 1871 ©. 468 f. 

2) M. Horovig, Frankfurter Rabbiner (Frankfurt a. M. 1885), 
IV, 55 ff. 

3) Schr. V, 602. 








— 311 — 


felbft der Berliner Oberrabbiner, der tolerante Hirfchel Levin, 
aufgereizt von den Rabbinern in Glogau und Liffa, willens, 
gegen ihn einzufchreiten. Er wollte ihm dag Druden verbieten 
und ihn gar aus der Stadt treiben lafjen. Lange genug hatte 
Mendelsfohn ruhig zugefehen; bei ſolchen unerhörten Gewalts— 
maßregeln konnte er nicht mehr ruhig bleiben. Er ftattete dem 
Minifter von Zedliß, bei dem er in großem Anfehen jtand, einen 
Befuch ab. Diefer richtete au) am 30. März 1782 an den 
einflußreichen Daniel Itzig, den damaligen Borjteher der Ber- 
Yiner Gemeinde, ein Handbillet folgenden Inhalts: 

„Man erzählt mir, daß ein gewiſſer Weſſely, der eine Fleine 
Piece gefchrieben Hat, fehr verfolgt und aus der Stadt zu gehen 
bedroht it. Haben Sie doch die Güte, mein lieber Herr big, 
mich wiffen zu laſſen, was an der Sache ift, und von wem 
oder von welchem Directorio diefer Mann gedrüdt wird. Es 
wäre nicht gut, wenn man einen Mann wegen eines gut ge= 
fchriebenen Buches aus der Stadt triebe, und ich begreife nicht, 
wie fi ein Collegium in fo etwas mifchen kann.“!) 

Ob diefes Handichreiben des Minifter8 dem Vorſteher nicht 
zeitig genug zu Händen fam, oder ob Daniel Itzig die Sache 
zu lau betrieb, genug, der Berliner Oberrabbiner ließ von 
feinem Vorhaben nicht ab und „brachte die Angelegenheit 
Weſſelys bei den Vorftehern der Gemeinde an“. Es läßt ſich 
denfen, welchen tiefen Kummer Mendelsfohn darüber empfand; 
„ex wäre felbjt zum Rabbiner gegangen, wenn er nicht befürchtet 
hätte, zu weit mit ihm in den Tert zu fommen“ Er fchrieb 
daher den 17. April 1782 an David Friedländer, der, um feine 
des Hebräifchen unfundigen Glaubensgenofjen über die Be- 
jtrebungen der Zeit aufzuflären, das Sendfchreiben ind Deutſche 
überfegt hatte, und erfuchte ihn, jo wie deſſen Schwager big, 
ihrem Vater und dem Herrn Iſaak Wolff ernite Vorftellungen 

) Das Driginal diejes Billets, ſowie das des folgenden Rejripts 


an die Dber:Landes-Xelteften vom 4. Juni 1782 befand ſich im Befite 
des (den 13. März 1866 verftorbenen) Dr. 3. Rubo in Berlin. 


— 312 — 


zu machen, daß der Rabbiner nicht das Recht Habe, gegen den 
ehrlihen Wefjely das enjoramt zu üben. „Sch febe alles 
übrige bei Seite,“ Heißt es in diefem Briefe, „will gar nicht 
unterfuchen, wer in der Sache recht hat, und gebe nur diejes 
zu bedenfen: was werden Chrijten dazu jagen? Was wird man 
von uns denken, wenn wir uns folche Gewalt über die Schrift- 
jteller anmaßen und fie verhindern wollen, ihre Gedanken be- 
fannt zu machen? ... Ueberhaupt genießt jeder Seribent im 
Lande unferes gnädigen Königs alle mögliche Freiheit; be- 
fchnitten oder nicht bejchnitten, wer nur die Feder führen fann; 
und wir wollten jemand Einhalt thun, der blos unfere Lehr- 
und Erziehungsmethode tadelte? Was werden die Minijter dazu 
fagen ?“!) 

Auch dieſes Schreiben und das thatkräftige Verwenden der 
achtbariten Mitglieder der Berliner Gemeinde muß nicht den 
erwünjchten Erfolg gehabt haben, denn noch am 4. Juni 1782 
erließ der Minijter Zedlig an „die Herren Ober-Landes-Aelteſten 
und Vorſteher der Berliner Judenſchaft“ folgendes Refcript: 

„Nach einer mir zugefommenen, jedoch unbejtimmten Nad)- 
richt ſoll der Verfaffer einer Schrift: „Worte der Wahrheit und 
des Friedens“ ſehr verfolgt werden. Ach Habe mic) zwar bei 
verjchiedenen Departements diejerhalb erkundigt, Habe aber nichts 
zuverläffiges erfahren fünnen; da nun die Herren Ober-Landes- 
Aelteſten und Borjteher der Hiefigen Judenfchaft fich eines fo 
guten Mannes gewiß gern annehmen werden, fo erfuche ich die- 
jelben, mir gefälligft darüber eine Nachricht zufommen zu Lafjen, 
damit man doch einem Manne, der Aufklärung und guten Ge— 
ſchmack allgemein zu machen fucht, beijtehen kann.‘ 

Weſſely, durch feine Freunde vor Unbill geſchützt, hat 
„durch Gelaffenheit und ruhige Begegnung in furzer Zeit die 
Meiften zum Schweigen gebracht und den vernünftigern Theil 
der Nation von feiner Unschuld völlig überführt“. Weſentlich 


') Schr. V, 59. 


— 313 — 


trug dazu. das zweite, an die Gemeinde in Trieſt gerichtete 
„Sendſchreiben“1) bei, in dem er die gegen ihn erhobene Be- 
Ihuldigung in aller Ruhe zurüdwies. Die angefeheniten Rabbi- 
ner Staliend ſprachen fih nun zu feinen Gunften aus und 
nahmen offen Partei für ihn. Voller Freude über die glüd- 
lihe Wendung diefer Angelegenheit berichtete Mendelsfohn den 
1. Januar 1783 an Homberg: „Unjer Freund Hartwig Weflely 
hat durch Herrn Joſeph Galigo aus Trieft ein fehr merfwür- 
diges Gutachten von venetianifchen Rabbinern über zwei feiner 
GSendfchreiben erhalten. Wenn die übrigen Gutachten aus Ita— 
lien, die ihm veriprochen find, anfommen, fo wird ein drittes 
Sendichreiben gedrudt werden,?) wenigjtens jo groß, als die 
eriten beiden zufammen; aber was wird er bei den Sklaven 
des Vorurtheild ausrichten? Der Sklave wird u durch Worte 
gezüchtigt,‘?) 

Hier verlaffen wir Weſſely, der „jeine Zeit belehrte, daß 
nicht in Verfall und Unwifjenheit die Rechtgläubigfeit beſtehe“, 
der al3 der würdigte Genofje Mendelsſohns, ihn bei der Heraus- 
gabe des Pentateuch-Kommentars fo Fräftig unterjtüßte;, — bis 
zu dem am 3. März 1805 erfolgten Tode dieſes herrlichen 
Mannes fuhr noch jo mander Sturm über fein Haupt! — und 
wenden uns jebt dem andern Mitarbeiter, Herz Homberg, zu. 


Sünfundfünfzigites Kapitel. 
Herz Homberg. 


„Bei dem vierten und fünften Buch Moſes,“ jagt Mendels- 
fohn in der Einleitung zum Pentateuch, „wurde ich, was den 


Y Das 2. Sendſchreiben ift datirt: Mittwoch, den 10. Jjar (24. April) 
1782; dafjelbe in gleihem Formate mit einigen Beränderungen (S. 41) 
durch Sabbatai ben David aus Janow wieder gebrudt, 1785. 

2) Das 3. Sendichreiben ift datirt: Freitag, den 9. Jjar (30. April) 
1784; das 4. erſchien Ende 1784. 

9) Schr. V, 664. 


—. ii 


Kommentar betrifft, durch andere mir befreundete und mit Kennt- 
niffen ausgerüftete Männer unterjtüßt; aus allzu großer Be 
icheidenheit haben fie es mir aber nicht gejtattet, ihren Namen 
zu nennen.‘ ') 

Der eine diefer „beicheidenen“ Männer war Aron Jaros— 
law, der Kommentator de3 vierten Buches, welcher im Sommer 
1782 „einen halben Ruf nad) Breslau als Lehrer einer neu 
errichteten Primärfchule erhalten hatte“;?) Herz Homberg der 
andere. 

Homberg, im September 1749 in Lieben bei Prag ge 
boren, lag in feiner Jugend ausschließlich den talmudifchen 
Studien ob und lernte erjt in feinem achtzehnten Jahre deutſch 
fefen. Er hielt ſich einige Zeit in Prag, Preßburg, Glogau, 
Breslau, Berlin und Hamburg auf, bejtimmte fich ſodann, durch 
Rouffeaus Emil veranlaßt, für das Lehrfach, in dem er. jo raſche 
Fortfchritte machte, daß er, im Jahre 1779 nach Berlin zurüd- 
gekehrt, von Mendelsfohn als Erzieher feines Sohnes aufge 
nommen wurde. In diejer Stellung, welche er bi Oſtern 1782 
befleidete, wurde er Schüler Mendelsfohns und gewann deſſen 
Freundichaft. Beim Abſchiede von Berlin heftete ihm der Lehrer 
und Freund feinen von dem Silhouetteur Haſſe gezeichneten 
Schattenriß mit den Worten ind Stammbud): 

„Mein Freund, mein Sohn, und meines Sohnes zweiter Vater! 
„Zeigt ſich in diefem Scattenrifje des Herzens 

„Dankbarkeit nicht ganz; jo klage die Grenzen der Kunft, 
„Klage Haffens Unvermögen an, nur nicht 


Moſes Mendelsfohn.‘3) 


Mendelsfohn bewahrte ihm die Freundfchaft bis an den 
Tod. Er unterhielt mit ihm einen Tebhaften Briefwechfel und 
verfolgte mit folcher Theilnahme das fernere Geſchick des Er— 
ziehers feines Sohnes, daß er ſich jogar nad) den geringjten 


) Einleitung zum Pentateuch, 14a. 
2) Schr. V, 660. 
3) Schr. V, 654. 


— 315 — 


Umftänden erfundigte, und ihn mehreremale erfuchte, ihn über 
alles genau zu unterrichten. 

In Wien, wohin Homberg fi) zunächit begeben hatte, war 
feines Bleibens nicht. Won dem Vorhaben, nach Berlin zurück— 
zufehren, vieth ihm Mendelsfohn entfchieden ab, wenngleich er es 
im Spnterefje feiner Kinder und um feinetwillen ſehr wünſchte. 
Nach einem fechsmonatlichen Aufenthalte in der Kaiferjtadt fie 
delte Homberg im December 1782 nad) Görz in Illyrien über, 
two er bei einem alten Bekannten Mendelsfohns, dem vecht- 
fchaffenen Mofes Luzzattot), der fi) immer „auf feinen gefun- 
den Menfchenverftand berief“, die gaftlichjte Aufnahme fand, fich 
verlobte und feine Eritlingsichrift „Vertheidigung der jüdischen 
Nation gegen die in den Provinzialblättern enthaltenen Anz 
griffe” veröffentlichte?) eine „Production“, welche nad) Mendels- 
fohns Urtheil feiner nicht würdig und das theure Porto nicht 
werth war, das jener dafür zahlen mußte, 3) 

Die Ausfiht, in den öfterreichifchen Staatsdienjt treten 
und für feine Glaubensgenofjen wirken zu fünnen, führte Hom- 
berg im October 1784 nad) Wien zurüd. Nach einer glänzend 
bejtandenen Prüfung wurde er von der philofophifchen Facultät 
und vom Mintjter zum Correpetitor an der Prager Univerfität 
ernanıt. Groß war die Freude, die Mendelsjohn hierüber em— 
pfand. „Zaufend Dank für die ungemein ergößende Nachricht, 
die Sie uns mitgetheilt Haben! Ahr Vorhaben mag nunmehr 
gelingen oder von Mißgünſtigen Hintertrieben werden, jo haben 
Sie doc einen großen Schritt gethan und verdienen den Dank 
und die Hochachtung eines jeden rechtichaffenen Sfraeliten, der 


') Schr. V, 664. Diejer Mofes Luzzatto heiratete als erblin- 
deter Greis eine Tante des jel. S. D. Luzzatto in Padua, verlor aber 
die Gattin jhon wenige Tage nad) der Hochzeit; er felbft ftarb im 
Herbfte 1816 im 75. Jahre. — ©. D. Luzzatto, Nachrichten über die 
Familie Luzzatto, in Buſchs Jahrbud für Iſraeliten, VI, 110. 

2) Görz 1783. 

3) Schr. V, 666. 


— 316 — 


Kinder hat, und fie nit gern alle Trödler und Aerzte fein 
oder Trödler und Werzte hHeirathen laſſen möchte. Heil dem 
großen römischen Kaifer, der auf dem Throne einen jo menſch— 
lihen Gedanken faffen, zur Reife fommen und zum Vorſatz ge- 
deihen Yafjen Eonnte! Aber auch Heil und ewigen Segen den 
Staatsdienern und den Männern auf den Kathedern in Wien, 
den Männern, die fonft fehr engen Herzens zu fein pflegen, 
daß fie ſich mit folcher Großmuth den großen Abfichten des 
Regenten anfügen und folche mit fo vieler Bereitwilligfeit be- 
fördern helfen! Ich kann Ihnen meine Freude nicht genug be— 
fchreiben, aber auch die Ungeduld nicht, mit welcher ich den 
Ausgang erwarte. Bei gelegener Zeit erwarte ich) auch um— 
jtändliche Nachricht von der Art und Weife, wie man Sie ge- 
prüft hat. Es fcheint mir aus Ihrem Schreiben, daß Sie über 
die Ahnen vorgelegten Fragen aus dem Stegreife hätten reden 
müffen, wovon ic) mir im Grunde feinen rechten Begriff machen 
fann. . . . Leben Sie wohl, Herr Correpetitor!‘?) 

Die Freude war umfonjt; der Correpetitor wurde vom 
Raifer nicht beftätigt, Hingegen von der Regierung mit der Ober- 
auflicht über alle deutfchen Schulen der Juden in Galizien be- 
traut. Wie er in diefer Stellung und fpäter als kaiſerlicher 
. Schulrath in Prag, wo er den 24. Auguft 1841 jtarb, gewirkt 
hat, wollen wir bier nicht beurtheilen; er war bemüht, die 
Eultur unter den Juden zu befördern und die dee zu reali- 
firen, auf welche Mendelsfohn bei der Pentateuch-Ueberfegung 
es abgejehen Hatte. 

Noch im Mendelsfohnfchen Haufe betheiligte ſich Homberg 
an diefem Unternehmen; den Kommentar zum fünften Buche 
Mofes jchrieb er während feines jechsmonatlichen Aufenthaltes 
in Wien. Sein Antheil bejchränfte fich jedoch nur auf die 
mittleren zweiundzwanzig Kapitel; das Ende und aller Wahr- 


1) Schr. V, 678. 


— 317 — 


fcheinlichfeit nad) auch der Anfang des Buches wurden von 
Mendelsfohn ſelbſt bearbeitet. ?) 

Ende September 1782 war Homberg mit dem übernom= 
menen Theile des Kommentars bis auf fünf Kapitel ins Reine 
gefommen,?) und am 15. Detober befand fi) das Ganze fchon 
in den Händen Mendelsſohns, welcher mit Ddiefer, allerdings 
ſchwachen Arbeit, für die er dem Freunde ein Honorar von zehn 
Louisd’or bewilligte,3) ziemlich frei umging.*®) 

An dem Pentateuch wurde nun „frifch hintereinander weg“ 
gedrudt, und Mendelsfohn gab ſich der Hoffnung Hin, „zu 
Ditern damit zu Stande zu fein“, wie er am 1. Januar 1783 
Homberg fchrieb, dem er auch die gedrudte Einleitung>) zu dem 
ganzen Werke fchiete, nicht blos damit er fie Iefe, fondern 
„auch feine Anmerkungen Hinzufüge, vornehmlich über die Defini- 
tion der Redetheile”. „Hier habe ich feinen Freund, der dieſe 
Materie recht beherzigen will. Sie ift den mehrejten der Nation 
zu dornig, obgleich unfere Gelehrten fonjt dag Stadhelige nicht 
zu fcheuen pflegen.“ 6) 

Bor Dftern 1783 war das ganze Werk im Drude beendet 
und Mitte Mai waren die für Hamburg bejtimmten Eremplare 
bereit3 mit der Fracht abgegangen. ”) 

„Wege des Friedens“ hatte er es genannt und an die 


) Schr. V, 656, 660. 

2) Schr. V, 670 f. (Statt 4. Det. 1783 muß e3 1782 heißen [vgl. 
VI, 493].) 

3) Schr. V, 666. 

4) Schr. V, 662. 

5) Die Einleitung, „Or Lanthibah“, erfchien in einem bejondern 
Abdrude, dat. 1. Kislew 5543 — T. November 1782, in dreihundert 
Eremplaren, zuerft December 1782; die dem Pentateuch vorgebrudte 
hat das Datum: Neumondstag des Niffan 5543 — 3. April 1783. 
M. Mendelsjohns allgemeine Einleitung in die fünf Bücher Mofes 
wurde ind Deutfche überjegt von H. Jolowiez (Köslin 1847). 

6) Schr. V, 662. 

7) Schr. V, 692. 


u 3 


zanffüchtigen Friedensverfündiger zum Schluffe noch die Worte 
gerichtet: „hr Männer der Wahrheit! Ihr Freunde der Lehre 
Gottes! Prüfet nun, ob ein Unrecht in diefen Büchern ijt, und 
ſäumet nicht die etwa getroffenen Verbeſſerungen zu Papier zu 
bringen und fie mir zuzufenden, ſei es in offenem Tadel oder 
in verborgener Liebe, wie e8 Euch gut dünkt. Thut jo vor 
dem ganzen Haufe Iſrael; dann möge man zwifchen uns ent- 
fcheiden, ob ich nicht gern beiftimme den Worten des Gefchmads 
und des Verftandes, ob ich nicht mit Freuden die Wahrheit an- 
nehme, von wem fie immer fomme. Wer feine Augen verfchließt, 
in den Ölauz der Wahrheit zu fchauen, defjen Name werde mit 
Finſterniß bededt. Diejenigen aber, welche die Wahrheit fuchen, 
werden nicht jtraucheln und nicht beſchämt werden, denn fie ift 
das Siegel de3 Heiligen, gebenedeiet fei fein Name! Liebet die 
Wahrheit und den Frieden!“!) 

Die Pentateuch-Ueberfegung, obgleich eigentlih nur für 
Juden bejtimmt, erregte als eine „merkwürdige Schrift” auch in 
Hriftlichen Kreifen Auffehen. Der protejtantifche Theologe Joh. 
Chr. Doederlein, der das ganze Werf in feiner „Theologischen 
Bibliothek” anzeigte und beurtheilte, weiß nicht, „ob bisher von 
irgend einem Ehrijten eine fo edle Verſion des Pentateuchs, die 
zugleich fo treu und richtig, geliefert worden if. Al Mufter 
einer guten Ueberjegung, als eine vabbinifche Katene und als 
einen Beweis von der Vertragſamkeit der tieffinnigjten Philofo- 
phie mit dem Glauben und der Ehrerbietung für die göttliche 
Offenbarung wird, meint Doederlein, das Werf auch der Chriſt 
Ihägen. Im übrigen ift er überzeugt, daß daſſelbe für das 
Judenthum von außerordentlicher Wichtigkeit ift, daß es für das 
jüdiſche Volk „ein großes wirkſames Mittel zur Aufklärung in 
den Wiljenfchaften, in Sprachfenntnig und im Gefchmad, und 
hierdurch auch zur Veredlung ihrer Religionsbegriffe werden 
fann“. 2) 


') Einleitung 21b. 
2) Band 3, ©. 1—27. 


— 319 — 


Ehe wir nun den Einfluß betrachten, welchen die Penta- 
teuch=Ueberjfegung Mendelsfohns auf die Eultur der Juden 
geiibt Hat, müfjen wir einen Blick auf die übrigen von Men- 
delsfohn theils überfegten, theils fommentirten Bücher der Bibel 
werfen, befonder3 auf die Ueberſetzung der Palmen, welche bald 
nach dem Pentateuch erſchien. 


Scehsundfünfzigites Kapitel. 
Die Palmen. 


„Die Ueberfegung der Palmen, die in Ew. Wohlgeboren 
Namen verſprochen worden, und auf welche mir Ihre Freunde 
bald Hoffnung gemacht, erwarte ich mit der größten Ungeduld. 
Ich muß geftehen, daß ich mit allen Ueberjegungen der Palmen, 
die mir bisher zu Gefichte gefommen find, fehr wenig zufrieden 
bin, mit den poetijchen noch weniger als mit den profaifchen. 
Wo fie auch zufälligerweife den Sinn treffen, da verderben jie 
doc) durch das vecidentalifche Reimgebäude das Eigenthümliche 
der hebräifchen Dichtkunft. Allein, wie gejagt, aud) den Sinn 
treffen fie nur zufälligerweife. Ich Habe vor einiger Zeit etwa 
zwanzig Pjalmen, mworunter auch einige von den fehwerjten, in 
einem freien Silbenmaße, das dem Hebräifchen, meinem Gehöre 
nad), ziemlich nahe kömmt, ins Deutfche überfegt. Ich war ent- 
fchlofjen, fie al3 Probe der Iyrifchen Poeſie der Hebräer bekannt 
zu machen. Allein nunmehr wird es freilich jo lange unter- 
bleiben, bi3 ic) Ew. Wohlgeboren Erklärung gefehen habe. Ich 
bin verfichert, und was ich in der Ietten Zeit von Ihnen ge- 
Iefen, berechtigt mich verfichert zu fein, daß Sie die Palmen 
als Poefie behandeln werden, ohne auf das Prophetifche und 
Myſtiſche zu ſehen, das ſowol chrijtliche als jüdische Ausleger 
nur darum in den Palmen gefunden, weil fie e3 darin gefucht 


— 320 — 


haben, als wenn die Palmen in einem Kloſter von irgend 
einem bußfertigen Mönche verfertigt worden wären... Es ift 
vielleicht gefährlich, diefe eingewurzelten Borurtheile öffentlich zu 
beftreiten; allein diefen Weg müſſen wir doch endlich gehen, 
wenn die Palmen mit vernünftiger Erbauung gelefen werden 
ſollen. Man Hat uns lange genug durch myſtiſche Deuteleien 
den Haren Sinn der Schrift verdunfelt.‘!) 

In diefem den 12. November 1770 an Profefjor Michaelis 
in Göttingen gerichteten Briefe legt Mendelsfohn deutlich genug 
die Motive dar, welche ihn zu einer neuen Bearbeitung der 
Palmen bewogen. Seine Hauptabficht war, zu zeigen, daß in 
den Palmen dasjenige nicht zu finden fei, was Chriften und 
Juden bisher mit fo vieler Kritif und Gelehrſamkeit in den— 
felben gefucht hatten.?) 

Die Palmen = Ueberjegung unternahm Mendelsſohn um 
feinem eigenen innern Bedürfniffe zu genügen; er begann damit 
während feines Streites mit Lavater.d) Sein Inneres war 
getrübt, er war von der heftigjten Gemüthsbewegung ergriffen 
und befand ſich Häufig in einer Stimmung, die wol jener ähn- 
lich war, in welcher der fönigliche Sänger felbjt feine Pſalmen 
dichtete. In diefen vortrefflihen Gedichten, welche wahre 
Mufter der Lyrik find, juchte er Troſt und Beruhigung; fie 
haben ihm fo manches Leid verfüßt und manche angenehme 
Stunde bereitet; er betete und fang fie, fo oft er ein Bedürf- 
niß zu beten und zu fingen bei ſich verfpürte.*) Dergejtalt 
überfegte er die Pfalmen nicht in ihrer Ordnung, „nad ein- 
ander weg” — jahrelang trug er ein mit Papier durchſchoſſenes 
Pſalmbuch beftändig bei fi” — er wählte fich immer einen 
ſolchen Pſalm, der ihm gefiel, der gerade mit feiner Gemüths— 


1) 1. Aufl. ©. 509. vgl. Schr. V, 505 und den Brief an Joh. ©. 
Zimmermann vom November 1771, bei Bodemann, a. a. D. ©. 2877. 

2) Schr. V, 69. 

3) Leifingd Schr. XIII, 220. 

9 Schr. V, 650. 


— 321 — 


jtimmung übereintraf und ihn bald durch feine Schönheit, bald 
durch feine Schwierigfeit lockte; diefen trug er bei fo mancdherlei 
ungleichartigen Beichäftigungen im Sinne mit fi) herum, bis 
er glaubte, mit dem Geifte feine Dichter fo vertraut zu fein, 
als er es feiner Fähigkeit nad) werden fonnte, und dann war 
das Niederfchreiben eine geringe Arbeit.!) 

Erjt 1782, nachdem der Pentateuch im Drud beinahe be- 
endet war, entſchloß fi) Mendelsjohn auch die Pfalmen-Ueber- 
fegung, die Frucht einer mehr denn zehnjährigen Thätigkeit, der 
Prefie zu übergeben. Da er mehr auf hriftliche als auf jüdifche 
Lefer vechnete, denn für erſtere hatte ex fie eigentlich gejchrieben, 
fo ließ er fie auch im deutichen Typen und in gejchmadvoller 
Ausstattung ericheinen. Friedrih Maurer, einem jungen An— 
fänger, der nicht viel Vermögen hatte, aber auch noch nicht 
Buchhändler genug war, um unbillig fein zu fönnen,?) verkaufte 
er das Manufeript um fünfhundert Thaler. Scherzweife fagte 
er zuweilen: „Der König David Hat mir einen Theil deffen 
erfegt, was mic) Mofes, unfer Lehrer, gefoftet hat.“3) Die 
Plalmen widmete er feinem vieljährigen Freunde Ramler. 
Diefem kritiſchen Dichter Deutjchlands feine Poeſien Handfchrift- 
(ih vorzulegen, Hatte er, feinem eigenen Geftändniffe zufolge, 
nicht den Muth; er wußte recht gut, daß er für ihn Ddiefelbe 
Gefälligfeit gehabt Hätte, welche diefer an Feilen und Ver— 
beffern fein Bergnügen findende Mann feinem Fremden je ver- 
fagte. Und doc, kann fich die Nachwelt diefer Zaghaftigkeit nur 
freuen; Mendelsjohns Arbeit hätte an dem unnachahmlichen 
Schmelz durch Ramler ficherlic) nicht gewonnen. 

Mit diefer im April 1783 erfchienenen Ueberſetzung,“) von 


1) Schr. VI, 129. 

2) 1. Aufl. ©. 533. 

3) Eucdhel, Biographie M. Mendelsjohns, S: 4. 

4) Berlin 1783; 2. verbefferte Auflage, vermuthlihd von David 
Friedländer beforgt, ibid. 1788; aud Schr. VI, 133—354 mit bisher 
ungedrudten Anmerkungen M.s zu den Palmen. Die MHeberjegung 

Kanferling, Moſes Mendelsfohn. 21 


— 32 — 


der das „Deutfhe Muſeum“ jchon im März einzelne Proben 
brachte, Hatte ſich Mendelsfohn den Beifall aller Gebildeten 
unter Chriften und Juden erworben. Alle, welche die Pjalmen, 
diefe unvergleichlihen Dichtungen des Alterthums, nicht im Ur- 
terte leſen konnten, zog diefe „treffliche“ Weberfegung, als welche 
fie noch Mlerander von Humboldt bezeichnet,!) mächtig an; der 
bald fanft elegifche, bald feierliche und ſchwungvolle Ton, welcher 
diefe Poefien belebt, übt auf das Gemüth des Leſers noch immer 
einen mächtigen Eindrud, 

Aber auch nur ein Mann wie Mendelsfohn, der mit einer 
tiefen Kenntniß des Urtertes die große Gewalt über die Sprache 
befaß, in die er übertrug, nur ein Mann wie er, mit feinem 
philofophifchen Geifte und feinem Dichtergefühl, nur eine Seele, 
wie die feine, die ganz für Wohllaut geſchaffen war, konnte 
eine jo vorzügliche Ueberfegung liefern. Es iſt fait nicht zu 
glauben, was für Anjtrengung, Nachdenken, Fleiß und Mühe 
er auf diefe Arbeit verwandt Hat!?) Er überlegte, verglich, 
ertvog und feilte jeden Ausdrud, jede Redensart mit der größten 
Genauigkeit; er mußte vergefjen, was er bei Ueberfegern, Aus— 
legern und Paraphraſten jemal3 über die Pſalmen gehört und 
gelefen hatte: er wollte feinen eigenen Weg gehen und gab der 
Ueberjegung zuweilen den Charakter einer Paraphraſe. Ohne 
triftige Eritiihe Gründe wid) er jedoch nie von feinen Bor- 
gängern ab, er machte fich diefe vielmehr zu Nube, fo weit es 
anging, hielt fic) fogar, was die Sprache betrifft, genauer an 
Luther al3 an fpätere Ueberfeger. „Wo Luther richtig überjeßt 
bat,“ heißt es im Vorworte, „Scheint er mir auch glüdlich ver- 
deutfcht zu haben, und ich habe felbjt die hebräifchen Redens— 
arten nicht gefcheut, die er einmal in die Sprache aufgenommen, 
wurde in den verſchiedenen Bibelausgaben von Prag, Wien u. a., auch 
einzeln, oft gedrudt und in fremde Spraden — ins Ungarifhe von 
M. Rofenthal (Buda 1841) — übertragen. 

ı) Kosmos II, 119. 


2) Friedländer, Etwas über die Mendelsjohnihe Pialmenüber- 
jegung, in der Berlin. Monatsjchrift, 1786, S. 523 ff. 





— 323 — 


ob fie gleich nicht echtes Deutich fein mögen. . . . Sch glaube 
alfo von jeder meiner Abweichungen Rechenſchaft geben zu 
fönnen, und two ich dem Terte untreu geworden bin, da liegt 
der Fehler in meiner Einfiht, nicht in meinem Willen. Um 
aber feinem Urtheile vorzugreifen, Tiefere ich vorerjt die Palmen, 
jo wie fie find, ohne alle kritiiche Wehr und Waffen, ohne Streit 
mit andern Ueberjegern, ohne Anmerkungen und Erläuterungen; 
denn ich wünfche, einmal wenigſtens, ohne alle kritiſche Rückſicht 
gelejen zu werden... . . Ich glaube, ohne kritiſche Vorurtheile 
überjegt zu haben, wünſche ohne kritiſche Vorurtheile gelefen 
und beurtheilt zu werden, und veripreche, ohne Fritifchen Eigen- 
finn, Belehrung anzunehmen.”!) 

Bald nad dem Erjcheinen der Pfalmen-Ueberjegung be- 
gann ein junger Mann, Joel Löwe, mit Einwilligung. Mendels- 
ſohns, diefelbe in hebräifchen Typen und mit einem, auf die 
Heberfegung Bezug nehmenden hHebräifchen Kommentare auf 
Subjeription druden zu lafjen,?) wie Mendelsfohn den 6. März 
1784 Mofes Fiſcher aus Prag,3) der fi) in der Jugend mit 
der Philofophie und den mathematifchen Wiſſenſchaften befchäf: 
tigt und nahezu zwei Jahrzehnte die Rabbinatsfunctionen der 
damals Fleinen ifraelitifchen Gemeinde in Wien verjehen hat, und 
vier Wochen Später Avigdor Levi in Prag, lebterem mit dem 
Bemerfen mittheilte: „Sollte ee — Löwe — allenfall3 hier und 
da meinen wahren Sinn nicht erreichen, jo ijt dadurch nichts 
verfehen . . . wenn nur unfere Glaubensbrüder aufmerffam ge- 
macht und angefeuert werden, auf die Worte der Propheten und 
Hagiographen aufmerffam zu ſein.““) 


1) Schr. VI, 130. 

2) Der 1. Theil erſchien Berlin 1785, das ganze beendet 1791; 
volftändig wieder gedrudt in 2 Theilen: Wien 1800, Brag 1801, Karls- 
ruhe 1805, Fürth 1807, Wien 1809, 1817, 1832, 1846 und öfter. 

3) Mein: Moſes Mendelsjohn, Ungedrudtes und Unbekanntes, 
©. 55. 

4) Schr. VI, 446. Dad Datum des Briefes ift nicht 12. April 
1774, fondern 1784. 

21? 


— 324 — 


Die Hebertragung der Propheten und Hagtographen, welche 
er zu bearbeiten beabfichtigte,!) war ihm ebenfo wenig ver- 
gönnt, wie die „äfthetifchen und kritiſchen Gründe” für Die 
Pfalmen-Ueberfegung zu liefern; er war darauf gefaßt, daß 
hriftliche Geiftliche feine Ueberjfegung einzelner Pjalmen aus 
dogmatifchen Gründen beanjtanden wirden,?) und wollte ab- 
warten bis „Kunftrichter unter Chriften ihre gewöhnlichen Er- 
flärungen gegen ihn vertheidigten“. 

Außer der früher erwähnten Uebertragung des „Debora- 
liedes“, fchrieb er nur noch die des „Hohenliedes“; dieſelbe 
wurde in feinem Handjchriftlichen Nachlaffe drudfertig vorge- 
funden und zwei Jahre nach feinem Tode von Joel Löwe und 
Aron Halle oder Wolffohn mit einem hebräifchen Kommentare 
veröffentlicht.) 

Einer frühern Periode gehört fein Kommentar zu dem 
„Prediger“ (Kohelet) an. Seine Hauptabficht bei diefer bereits 
1768 vollendeten Arbeit war, zu zeigen, daß diefes philofo- 
phifche Buch „nach dem einfachen Wortverftande ohne Weitläufig- 
feit erklärt werden könne“.““ Nahm Mendelsfohn fich auch die 
Freiheit, ftatt der althergebrachten Kapiteleintheilung eine neue, 
wie er fie aus dem Inhalte ermittelte, anzuwenden, und gejtand 
er in der Vorrede auch ganz offen, daß er chriftliche Ausleger, 
damals etwas unerhörtes, namentlich die Paraphrafe des Göt- 
tinger Theologen Michaelis, fi) zu Nutze gemacht hätte,5) fo 
fand der hebräifche Kommentar doch den Beifall der Rabbiner. 








1) Schr. VI, 452. 

2) Einzelne Anmerkungen zu den Palmen ſ. Schr. VI, 355—366. 
M. Mendelsjohns Weberfegung des 110. Pjalms wurde beleuchtet von 
Perſchke, Berlin 1788. 

3) Berlin 1783; mit deutfchen Lettern beforgt von 3. A. Brafel, 
herausgegeben von ©. Weihe. Braunfchweig 1789. Die Ueberjegung 
wieder gedrudt in ben verſchiedenen Bibel-Ausgaben von Wien, Prag, 
Fürth u. a., auch Schr. VI, 373—350. 

9 1. Aufl. ©. 494. 

5) Schr. V, 500. 


— 325 — 


Der Berliner Rabbiner Aron Mofes und der frühere Rabbiner 
von Hafenpoth in Kurland, Aron Horwitz, verfahen ihn mit einer 
ſehr fchmeichelhaften Approbation; Teßterem gebührt überhaupt 
das Verdienst, ihn an die Deffentlichfeit gezogen zu haben, denn 
infolge feiner aufmunternden Worte entſchloß ſich Mendelsſohn, 
das Schriftchen im Herbſte 17691) anonym erfcheinen zu laſſen. 
Die Marheit und Durchfichtigfeit des Ausdruds, die philofo- 
phifche Tiefe, gepaart mit religiöfer Wärme, verliehen der Arbeit 
einen eigenthümlichen Zauber, jodaß Herder „den ehrerbietigen 
philofophifchen Ton des Kommentars, der rücfichtlich der Haren 
und fließenden Darftellung unter den hebräifchen Kommentaren 
nicht viel feinesgleihen hat, manden chrijtlichen Auslegern 
wünjcht‘“.2) 


) Schon im September 1769 fündigte Mendelsjohn jeinem Better 
Elkan Herz an, daß er ihm nächſte (Michaelis) Mefje „etwas für den 
geiftigen Geſchmack auftifchen würde‘ (1. Aufl. S. 490), und in feinem 
Briefe an Michaelis vom 13. März 1770 ſpricht er von der Schrift als 
„vor einigen Monaten überjandt” (Schr. V, 499; vgl. VI, 445). Der 
Kommentar erihien Berlin 5430 oder vielmehr Ende 1769. 

2) Herder, Theologifche Briefe I, 129. „Herr Rabe, Kaplan zu 
Anspach, hat fich die (wie Mendelsjohn meinte) vielleicht unnütze Mühe 
gegeben, den Kohelet zu überjegen‘ (1. Aufl. ©. 515). Dieſe deutjche 
Ueberjegung erjchien unter dem Titel: „Der Prediger Salomo mit einer 
furzen und zureichenden Erklärung nad) dem Wort: Berftand zum Nuten 
der Studirenden’’ von dem Verfafler des ‚„‚Phädon’. Aus dem Hebräi: 
ſchen überjett von dem 1leberjeter der Mifchnah. Anspach 1771. Der 
bebräifche Kommentar und der deutjche Ueberjeger falſch beurtheilt in 
Hirts Drientalifcher Bibliothef (Jena 1772) I, 71—99; 221—224. Auf 
wifienfhaftlidem Standpunkte fand er einen ftarfen Gegner in Mor: 
dechai Gumpel (Schnaber), auch Prof. Löwiſohn genannt, der einige 
Jahre in Upfala Profeſſor war und 1797 in Hamburg ftarb; in deffen 
zu Hamburg 1784 erfchienenen Werke Tan anzın befindet fi ein Ab: 
riß des Phädon in hebräticher Ueberſetzung. 


— 326 — 


Stebenundfünfzigites Kapitel. 
Wirkung. 


Mendelsiohns Ueberiegung des Pentateuch und der übrigen 
biblifhen Schriften war nicht allein eine Titerarifche, ſonder 
auch eine nationale That von unberechenbarer culturhiſtoriſcher 
Wirkung und übte den mädhtigften, nachhaltigſten Einfluß auf 
die gefammte Geiftesentwidlung feiner Glaubensgenofjen. Sie 
wurde die Lehrerin der deutichen Juden nit nur im Verſtänd 
niß der Schrift felbit, fondern ganz befonder auch in der reinen 
deutfchen Sprache; fie wurde die Erzieherin der jüdischen Jugen) 
und machte fie empfänglich für deutiche Bildung und deutſche 
Nationalität. Seitdem die jüdischen Sünglinge mit dem Ber 
jtändniß des heiligen Gotteswortes zugleih auch den Eindrud 
der reinen Klänge der deutichen Mutterfprahe in fich auf 
nahmen, fühlten fie fich gleichfam an der Hand der Religion in 
die Lebensatmoſphäre der vaterländifchen Sprache eingeführt un 
(ernten in derjelben mehr und mehr die Lebensiphäre ihres 
eigenen Denkens und Empfindens fennen. Die wejentlichite Be 
dingung des Eintritt3 in das nationale Geijtesleben des Vater: 
landes ftand daher mit der Religion nicht nur nicht mehr im 
Widerſpruch, fondern erjchien gleichfam im untrennbaren Bin! 
wiß mit ihr, und diefe Wirfung war für die Einführung de 
deutfchen Juden in deutfches Eultur: und Geiſtesleben von ent 
icheidender Bedeutung. !) 

Die PVermittelung zwischen Synagoge und MWeltbildung 
zwifchen Staat und Religion hatte Mendelsſohn durch die Ueber 
jegung zuerjt angebahnt. So gewaltig bei den Juden der Wider 
itand auch war, dem das Werk anfangs in Deutfchland wie not 
jpäter im Dften Europas begegnete, fo allgemein wurde fpäte 
die Verbreitung. Ueberall bejjernd und bildend, drang fie rait 























') Stern, Geſchichte des Judenthums, 85 ff. 


— 327 — 


in die verfchiedensten Schichten des Volkes ein. Jede Verdäch— 
tigung mußte vor der Anerfennung verjtummen, welche man 
dem Unternehmen zollte, und ſelbſt die heftigften Gegner Men- 
delsſohns, die es ihm nicht verzeihen fonnten, daß er für „Opfer- 
stuhl“, „Altar“ gebrauchte, fühnten ſich mit ihm aus; mußten fie 
doc wider ihren Willen eingejtehen, daß er den Anforderungen 
der ftrengften Orthodoxie vollflommen Genüge geleiftet. Mendels- 
fohn vermied mit ängftlicher Genauigkeit jedes Mißverftändniß, 
jeden Widerſpruch gegen die Tradition, nicht nur, um Anſtoß 
zu verhüten, fondern aus innerjter Heberzeugung. Die Art und 
Weife, mit welcher in feiner Zeit Kennicott, defjen Freunde und 
Anhänger mit der Heiligen Schrift eigenmächtig umgingen und fich 
„in Abficht auf diefelbe Freiheiten erlaubten, welche ſich befcheidene 
Schriftjteller nicht einmal in Abficht auf profane Schriftjteller des 
AltertHums zu erlauben pflegten‘, mwiderte ihn an. „ch weiß 
in der That nicht,“ Heißt es in feinem Briefe an einen unge- 
nannten chrijtlichen Theologen vom 16. Februar 1773, „wo es 
am Ende mit diefer Kühnheit hinaus will. Indeſſen muß man 
auch hierin der Mode ihr Spiel laffen, fo lange fie den Reiz 
der Neuheit hat. Mit der Zeit verlieren die Menfchen Ge- 
ſchmack an derfelben.“”) Er fteht mit feiner Pentateuch-Ueber- 
fegung ganz auf dem Boden der Tradition; auch die fanatiſchſten 
Gegner mußten das zugeben, nachdem fie die ausführliche Hebräifche 
Einleitung, in der er den göttlichen Urfprung, die Authentie und 
die Integrität des Pentateuch behandelt, gelefen hatten. 
Mendelsfohn hat das unfterbliche Verdienſt, durch feine 
Ueberfegung neue Bahnen für die Schrifterflärung eröffnet und 
zuerft wieder auf das aus jüdischen Kreifen beinahe völlig ver- 
drängte Studium der hebräifchen Grammatik geleitet zu haben; 
wir können den Sinn einer Bibelftelle nicht verftehen, wenn wir 
nicht auch die Regeln der hebräifchen Sprache zu Rathe ziehen. 
Das war feiner Anficht nach der eigentliche Zweck der Sprad)- 


') Schr. V, 516 f. 


— 328 — 


forſchung, in der er fubtile Unterjuchungen und Silbenjtechereien 
für nußlos und überflüffig Hielt.!) Den tödtlichjten Stoß ver 
feßte er den polnischen Lehrern, welche die Worte der Heiligen 
Schriften in abgefchmadter und lächerlicher Weife interpretirten,?) 
statt fie zu überfegen und zu erläutern. Diejen umtifjendften 
aller Idioten und roheſten aller Jugendpeiniger, welche ſich in 
die Familien der deutichen Juden einnijteten und Die vergäng 
lichen Güter derjelben für das als Gelehrſamkeit und Frömmig 
feit von ihnen ausgegebene Gaukelſpiel aufs bereitwilligfte ein 
taufchten, war durch Mendelsſohns Pentateuch der Weg ver 
fperrt. Nur wenige fuchten fie noch; jeder Deutſche, der etwas 
auf Erziehung hielt, verfchmähte es, feine Kinder Yänger in dem 
unäjthetifchen und unverjtändlichen jüdifch-deutfchen Jargon der 
polnischen Winfelfchulmeifter unterrichten zu lafjen. 

Infolge der Mendelsjohnichen Ueberfegung erhielt der ganz 
Unterricht der jüdifchen Jugend nunmehr eine neue Wendung. Die 
heranwachfende Generation, zu einem unbejtimmten WBerlangen 
nach einem neuen Ziele des Wiſſens angeregt, warf fich mit 
unerfättlicher Gier auf das Studium diejes allen unmittelbar 
zugänglichen Werfes. Man gewann ein mehr und mehr mwadı- 
ſendes Wohlgefallen an der Schönheit und Reinheit der Form, in 
welcher die trauten Erzählungen aus Iſraels Vorzeit, die jedem 
Siraeliten Heiligen Geſetze und Borjchriften hier zum exften male 


) Mein: Moſes Menvelsfohn. Ungedrudtes und Unbekanntes, 
S. 55. 

2) Bon der Unmifjenheit diefer polniſchen Jugenderzieher und der 
Mühe, welche fie fi) gaben, Mendelsjohns Weberjegung in Verruf zu 
bringen, zeugt folgende Anekdote: 

Mendelsjohn hat befanntlich poꝛd zw mit einer ‚Feier der erften 
Klaſſe“ überjegt. Denkt euch Rabbi! rief ein Bachur aus, der „Moſche 
Deſſau“ vergleicht den heiligen Sabbat mit der Klaſſen-Lotterie. Melde 
Entweihung der heiligen Thora! Und welche Dummheit! fügte ein 
anderer Bachur hinzu. Wußte er denn nicht, daß die erfte Klaſſe die 
wohlfeilfte ift? Warum jagte er nit, eine eier der vierten oder 
fünften Klaſſe? Orient, Literaturblatt, 1851, ©. 282. 


— — 


entgegentraten. Dadurch, daß die Schüler das Gotteswort in 
klarem, einfachem Verſtändniß in reiner deutſcher Sprache er— 
faßten, ſodaß befähigte Knaben einen Schatz deutſcher Wörter 
und deutſcher Redewendungen ſammelten, der bei ihrem Eintritte 
in chriſtliche Schulen ihre Lehrer zuweilen in Erſtaunen ſetzte, 
wurde der Trieb nach profanem Wiſſen immer mehr geweckt, 
aber auch der Lehrinhalt des Judenthums zum Gegenſtande des 
Nachdenkens gemacht und das Weſen deſſelben zu neuer Kennt— 
niß gebracht. 

Einen weſentlichen Umſchwung für die Cultur feiner Glau- 
bensgenofjen hatte Mendelsjohn von der Bentateuch-Ueberjegung 
erwartet; er jah fich nicht getäufcht. Das Streben nad) Bil- 
dung wurde allgemeiner, die Stellung der Juden nad) außen 
eine geachtetere; verbefjerter Jugendunterricht war bald das all- 
gemeine Lofungswort: immer mehr und mehr erwachte das 
Streben nad) Errichtung zeitgemäßer Schulen. 


Ahtundfünfzigites Kapitel. 


Das Deſſauer Philanthropin und die Berliner 
Freilchule. 


Die in Deſſau unter dem Namen Philanthropin gegrin- 
dete Erziehungsanftalt, welche die Roufjeaufchen Erziehungs- 
ideen zu verwirklichen juchte, wurde von den hervorragenden 
Männern der Aufklärung mit um jo größerer Freude begrüßt, 
als ihr Gründer, Johann Bernhard Bafedow, ein Schüler des 
Wolfenbüttler Fragmentiſten, ganz im Dienjte der Aufklärung jtand. 

Baſedow, dejjen fchon 1756 erjchienenes „Lehrbuch pro- 
faifcher und poetiſcher Wohlredenheit“ von Mendelsfohn in der 
„Bibliothek der Schönen Wiſſenſchaften“ nicht ungünstig beurtheilt 
wurde, wandte fih, als er 1768 den Plan zur Herausgabe 


— 330 — 


feines „Elementarbuchs“!) faßte und an Kaifer, Könige, Akade— 
mien, Gelehrte jchrieb, um fie für dafjelbe zu intereffiren, auch 
an Mendelsfohn mit der Bitte, unter „jeiner Nation“ Subjeri- 
benten auf das Werf zu fammeln. Mendelsjohn entiprad) feinem 
Wunfche, wenn auch nicht feinen Erwartungen, und richtete 
an den pädagogifhen Agitator das folgende beachtenswerthe 
Schreiben: 

„Ich habe Sie lange im Herzen verehrt, lange den Muth 
bewundert, mit welchem Sie die Rechte der Menfchheit und Ge— 
wifjensfreiheit vertheidigen. ... . Ach werde bei einigen meiner 
Nation, die ich für fähig und vermögend halte, an Shrem Plane 
theilzunehmen, ſuchen, Gebraud) von den Reverſen zu machen. 
Bisher habe ich nur einen Einzigen gefunden, der mir Gehör 
gegeben. Wenn ich mehr finde, fo will ich meiner Nation Glück 
wünſchen. So viel muß ich indeß zu erinnern mir Die Frei— 
heit nehmen, daß Sie von der PVerfafjung meiner Nation un— 
möglich richtige Begriffe haben können, wenn Sie glauben, Ihr 
Elementarbuch oder überhaupt Ihr Erziehungsplan könnte bei 
ung mit Nutzen eingeführt werden. Se edler Ihre Abfichten, 
je weifer Ihre Grundfäße und je richtiger Ihre Anwen- 
dungen find, dejto weniger fünnen wir Gebraud) davon machen. 
Denn, jagen Sie mir dody um des Himmels willen, wenn Sie 
Ihre Abfichten auf das vollkommenſte erreicht haben, was haben 
Sie ausgerichtet? Sie haben vernünftige Menfchen erzogen, 
welche die Rechte der Menfchheit wahren, Wahrheit und ver- 
nünftige Freiheit lieben, und dem Staate, in welchem jie leben, 
zu dienen, Willen und Fähigkeit haben. Nun eben diejfes ſoll 
der Jude nicht, kann ex nicht, wenn feine Denkungsart mit 
feiner Berfaffung übereinftimmen fol. Er foll die Rechte der 
Menſchheit wahren lernen? Wenn er in dem Stande der bürger- 
fihen Unterdrüdung nicht ganz elend fein will, fo muß er Diele 


ı) Das Elementarbudh, das mit den Kupfern 12 Thlr. koſtete, 
erfchien in 4 Bänden im Sahre 1774. 


— 331 — 


Rechte gar nicht Fennen. Er fol Wahrheit und vernünftige 
Sreiheit lieben, um vielleicht zu verzweifeln, daß alle biürger- 
lihen Einrichtungen an vielen Orten dahin abzielen, ihn von 
beiden abzuhalten? Soll er geichidt werden, dem Staate zu 
dienen? Der einzige Dienft, den der Staat von ihm annimmt, 
ift Geld. Bei eingefchränkten Mitteln des Erwerbes große Ab- 
gaben zu entrichten, diefes ift die einzige Bejtimmung, zu welcher 
fih meine Brüder gefchielt machen müſſen. Wenn Ihr Elemen- 
tarbuch dieſe Wiſſenſchaft Iehrt, jo wird es meiner Nation will- 
fommen fein, die feine andere brauchen kann. Jedoch genug 
hiervon, diefe Betrachtungen Schlagen mich zu ſehr nieder, als 
daß ich fie ohne Widerwillen verfolgen könnte.“ !) 

Mendelsfohn war erbittert über die Naivetät, mit der hier 
DOpferwilligfeit für höhere, gemeinfame Zwecke von den ausge- 
ſtoßenen Juden gefordert wurde. 

Das von Baſedow gegründete Philanthropin, das in Be- 
treff der Aufnahme von BZöglingen feinerlei religiöfen Unter- 
Ichied machte und jede confefjionelle Färbung ausfchloß, machte 
im Sabre 1776, als Johann Joachim Campe, der befannte 
pädagogische Schriftiteller und Kinderfreund, die Euratur des 
Inftitut3 übernommen, durch fein „Archiv“ befannt, daß jüdijche 
Knaben, welche im Philanthropin erzogen werden und jich aus- 
zeichnen, auch Ausficht hätten, als Lehrer an demjelben ange- 
jtellt zu werden. Man hatte darauf gerechnet, daß diefer tole- 
vante Entſchluß die Juden veranlaffen würde, dem Inſtitute 
nicht allein viele Zöglinge, fondern durch reichliche Subventionen 
auch eine Verbefjerung feiner precären financiellen Zage zu ver- 
Ichaffen. Der Kaufmann Mofes Wefjely aus Hamburg, der 
Freund Leſſings und Mendelsfohns, deſſen talentvoller Sohn 
jich bereit3 in dem Snftitute befand, Hatte Campe den 27. De- 
cember 1776 geichrieben, daß er das trefflihe Philanthropin 








) Der Brief zum erften male veröffentlicht in Leyſers Joh. J. 
Campe, ein Zebenäbild, ſ. Dr. A. Fränfel, Mendelsjohn und die Er- 
ziehungsreformatoren in: Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch ©. 173 ff. 


— 332 — 


feinen zahlreichen Freunden im In- und YAuslande empfehlen 
und ihm aus den jüdifchen Kreifen beträchtliche Unterjtügungs- 
beiträge zuführen würde Um jo umangenehmer wirkte die 
Enttäufhung: die Meldungen jüdifcher Zöglinge und die fo 
fehnlich erwarteten Zuſchüſſe blieben aus. Da fchrieb Campe, 
der mit Mendelsfohn von früher befreundet war, in einem etwas 
gereizten Tone an Mendelsfohn. Er gab ihm unter anderm 
zu bedenken, daß der Fürjt von Defjau, der edle Leopold Franz, 
der Baſedow durch feine Munificenz in den Stand gefebt hatte, 
das Philanthropin zu eröffnen, über die Theilnahmlofigfeit der 
Auden fehr ungehalten fein würde. Der jo fanfte Mendelsfohn 
Ichlägt in der Erwiderung einen Ton an, der ihm fonit fremd 
war; die feinen Ölaubensbrüdern gemachten Vorwürfe hatten 
ihn aufs empfindlichite getroffen. Der merkwürdige Brief ift 
vom März 1777 datirt und lautet:!) 

„Vorausgeſetzt, daß ſich alles wirklich nicht anders verhalte 
als fich’3 Ahr etwas ängftlicher Eifer für die qute Sache vor- 
jtellet: daß nämlich fein einziger meines Glaubens ſich das 
Anerbieten des Philanthropinums wird zu Nuße machen, und 
daß fo manche Ihres Glaubens fich dieferhalb ein fchadenfrohes 
Hohngelächter erlauben werden; diefes alles, fage ich, als un- 
gezweifelt, vorausgefegt: was folgt daraus? Daß Sie Urfadhe 
hätten, den Schritt, den Sie gethan, zu bereuen? Sicherlich 
nicht! Wol aber, daß vorderhand weder Chriften nocd Juden 
‚eine philanthropifche Erziehung gehabt, und daß ein folches 
Inſtitut dem menfchlichen Gefchlechte dejto nothwendiger fei. 

Was der Fürft, mein gnädigfter Landesvater, dazu jagen 
wird? Nach dem Begriffe, den ich von den Gefinnungen diefes 
Prinzen habe, wird er denken: die weilern Juden dürften wol 
nicht zugleich die reichjten fein, und wird fortfahren, jich der- 
jenigen väterlich anzunehmen, die nicht reich find, und durch 

) Der Brief, zum größten Theile abgedrudt Schr. III, 419 ff., 
vollftändig mitgetheilt Allg. Zeitg. d. Judentums, 1876 ©. 405 f., 
Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch, S. 178 ff. 





— 333 — 


menschliche Begegnung vielleicht weife werden Fünnen. Daß aber 
diefer Herr auf das Philanthropin diefes Vorfall3 halber einen 
minder gnädigen Blick werfen könnte, läßt fich meines Erachtens 
gar nicht von ihm denfen. 

Aber beiter Freund! War denn der Schritt wirklich jo 
außerordentlich, jo kühn, den des Philanthropin zum Beſten 
meiner Brüder gethan? Liegt es nicht Schon im Begriffe eines 
philanthropifchen Jnftituts, daß ihm der Menſch als Menſch 
erziehungswirdig und willfommen fein muß, ohne darauf zu 
fehen, ob ex einen befchnittenen oder unbefchnittenen Vater ge— 
habt? Und die Stifter und Vorſteher diefes Inſtituts haben fo 
äußerst viel gewagt, daß fie fich einer wefentlichen Bejtimmung 
dejfelben gemäß erklärt haben? Wollen befürchten, daß ein auf- 
richtiges Bekenntniß philanthropifcher Grundfäge dem philanthro- 
pifchen Erziehungswefen gefchadet, dafjelbe zu Grunde gerichtet 
babe? Ich muß geſtehen, daß ich diefem mehr als melandtoni- 
ſchen Kleinmuth mit Ihren und Baſedowſchen Grundfäßen, die 
ich jehr verehre, nicht recht zuftimmen fann. 

Ich von meiner Seite finde das Anerbieten der philan- 
thropischen Vorfteher ihrer würdig, aber nicht außerordentlich. 
Denn daß jüdiihe Schüler und Zöglinge aufgenommen werden, 
diefes gefchieht auf allen niedern und Hohen Schulen Deutjch- 
lands, und auf die Abjchaffung Kleiner pedantifcher Unterfchei- 
dungszeichen, die bei Promotionen und Streitübungen noch auf 
mancher Univerfität im Schwunge find, legt doc) wol niemand 
einen fonderlihen Werth. Und daß Sie Unchriften auch zu 
Lehrern annehmen wollen, iſt ficherlich nicht befremdender, als 
daß eine Königl. Preußifche Akademie der Wiſſenſchaften einen 
Juden zum Mitgliede erwählt habe; daß die Gefellichaft natur- 
forfchender Freunde allhier Gelehrte vom erſten Range, Geheime 
Finanzräthe und Juden zu Mitgliedern hat; daß Mendes d'Acoſta!) 


) Emanuel Mendes d'Acoſta (da Eofta), 1763 zum Bibliothefar 
der Royal Society in London befördert, ftand mit dem Naturforjcher 
Peter Ballas in Berlin in Eorrefpondenz; er ftarb c. 1769. 


— 334 — 


vor einigen Jahren Secretär der Londoner Societät geweſen, 
und daß ſelbſt in den dunkelſten Zeiten nicht felten Befchnittene 
auf den Lehrftühlen der orientalifchen Spradhen, der Medicin 
und der Aftronomie gefeffen haben. Zu Anfang dieſes Jahr— 
hunderts berief der Kurfürft von der Pfalz Spinofen zum Lehr: 
amte in der Philofophie, ohne dadurch für den Verfall der Afa- 
demie bejorgt zu fein. 

Sch Tehe alfo in Ihrer Erklärung nicht das mindejte, das 
Shnen auf irgend eine Weife Schaden oder Verachtung zuziehen 
könnte? Welcher vernüftige Menſch wird Baſedow und Ihnen 
die Tächerliche Intoleranz zutrauen, daß Sie Ihre Zöglinge 
nicht werden in der Buchhaltung von einem gefchickten Bud) 
halter unterrichten laſſen, weil er das neue Tejtament nicht an- 
nehmen zu können glaubt? 

Aber von der andern Seite ijt auch dieſes jo ausgemacht 
noch nicht, daß nicht fo manche Sfrealiten die philanthropifche 
Einladung mit dem verdienten Dank annehmen und fich zu Nuke 
machen werden. Als ich das Bergnügen hatte, vor Ihrer Ab- 
reife mit Ihnen ſelbſt und einige Zeit darauf mit Herrn Prof. 
Sinon von diefer Materie zu fprechen, machte ich mir von 
diefem Projecte überhaupt Feine jonderliche Hoffnung. Her 
Weſſely, der befjeres Zutrauen Hatte, unterzog ſich der Sache 
mit Löblichem Eifer und fährt noch immer fort, fie zu betreiben. 
Sch hoffe, feine Bemühung foll nicht ganz fruchtlos fein. Der 
Erfolg geht etwas langſam von Statten; er wird aber vielleicht 
dejto ficherer und anhaltender fein. Es liegt in den Gemüthern 
der Menfchen eine gewilje vis inertiae, die nicht immer durd 
heftigen Stoß überwunden fein will. Ein anhaltender Nach— 
drud thut zuweilen befjere Wirkung . . .“ 

Campe und Bafedow, den muthigen und geiftvollen Wer: 
jechtern der Aufflärungsideen, gegenüber erſcheint Mendelsſohn 
in diefem Briefe als der an Erfahrungen ihnen weit überlegene 
Führer auf dem Wege vorurtheilsfreier Menjchenliebe und echter 
Toleranz. 


— 335 — 


Er bittet jodann Campe noch, ja er beſchwört ihn, in der 
Wahl der Zöglinge, anfangs wenigſtens, vorfichtig zu fein. „Könnte 
ih Ihnen nur drei Kinder wie der Feine Weſſely empfehlen, 
fo würde ich Ihnen und mir Glück wünfchen.“ 

Die Juden blieben mit den Unterftüßungsbeiträgen nicht 
zurüd; von den Berlinern wurden Baſedow einmal 518 Thlr. 
geſchickt.) Auch jüdifche Zöglinge ftellten fi) bald ein; Men- 
delsſohn felbjt dachte daran, fein „Söhnlein“ dem Inſtitute zu 
übergeben. 

Mit den philanthropiniftiichen Pädagogen, mit dem „recht 
Tchaffenen“ Bafedow, den, wie es in feinem Briefe an Campe 
heißt, er vor feinem Tode noch einige Tage genießen möchte, 
mit Campe, der nad) dem Muſter des Philanthropins ein In— 
ftitut in Hamburg ins Leben rief und dort, viel mit Elife Rei: 
marus verfehrte, mit Salzmann, den er durch feinen Lands- 
mann Wolf in Deffau kennen lernte,?2) dem Gründer der be- 
rühmten Erziehungsanftalt in Schnepfenthal, jtand er auch fpäter 
noch in freundichaftlihem Verkehr. Wie bedauerte er, Herren 
und Madame Campe bei deren Anweſenheit in Berlin nicht fo 
genofjen zu haben, wie er es gemwünfcht!’) 

Dem Schul- und Erziehungswejen bewahrte der Sohn des 
armen Elementarlehrer3 fein Leben lang das wärmſte Intereſſe. 
Berbefjerung des Unterrichts und Empfehlung der deutichen 
Mutterſprache waren Mendelsjohns Lieblingsthemata.*) 

Auf feine Anregung erſtand 1781 die erſte organifirte 
jüdiſche Schule in Deutfchland, in welcher nad) dem von ihm 
entworfenen Plane außer in den Realien, in Bibel und Talmud, 
in der deutichen und franzöfiichen Sprache, in Buchhaltung und 
in der mathematischen Geographie von jüdiſchen und chriftlichen 


) Raumer, Geſchichte der Pädagogik, II, 275. 

2) Schr. V, 600, 603. 

s) Schr. V, 692. 

4) Friedländer, Mojes Mendelsjohn- Fragmente von ihm und über 
ihn (Berlin 1819), ©. 35. 


— 336 — 


Lehrern Unterricht ertheilt wurde: es war dies die jüdifche Frei- 
fchule in Berlin. Iſaak Daniel sig, dem Mendelsfohn elf 
Jahre Lehrer und Leiter war, und David Friedländer, deffen 
Schwager, ftanden ihm bei der Gründung diefer Schule treu 
zur Seite. Mit innigem Wohlbehagen wohnte er der erften 
öffentlichen Prüfung diefer Anftalt bei. Mit diefer Schule, 
welche fic) in einem von Daniel big zu Ddiefem Zwecke ge- 
ſchenkten Haufe befand und der die beiden genannten Mitgrün- 
der al3 Directoren vorjtanden, wurde 1784 aud eine „orien= 
taliſche Buchdruderei und Buchhandlung“ verbunden.!) Nach 
dem Muſter der Berliner Freifhule wurden jpäter aud in 
Breslau, Defjau, Frankfurt a. M., Seeſen, Wolfenbüttel und 
anderen Städten ähnliche Unterrichtsanftalten errichtet. 

Die in diefen organifirten Schulen herangebildeten jüdischen 
Böglinge wählten andere Berufsarten als Handel und Schadher. 
Mendelsfohn wies feine Glaubensbrüder zuerjt wieder auf Die 
Nothwendigkeit Hin, daß fie den goldenen Boden des Hand— 
werfs bebauen müßten. „Ach! wenn ich mit einer Recenſion 
funfzig Judenfinder zu Handwerfögefellen und dreißig Leibeigene 
zu Freibauern machen könnte,“ fchreibt er den 8. Juli 1779 
an Nicolai, „Jo würde id) den guten Geſchmack um Verzeihung 
bitten und auf eine Halbe Stunde ins Nebenzimmer zu gehen 
erfuchen.“?) Mehrere Jahre fpäter unterbreitete ihm der ein- 
Hußreiche Königl. Preuß. Juwelier Ephraim Beitel ein Memo- 
randum über die Zulaffung der Juden zu Handwerkern, von 
dem er glaubte, daß es auf ein billiges Gemüth von guter 
Wirkung fein müſſe.“) Jüdiſche Handwerker ſollten gebildet, 
Eultur und Wiffen unter den Juden verbreitet werden, damit 
auch fie jene® Gut beanfpruchen könnten, welches ihnen jahr- 
hundertelang vorenthalten wurde, jenes Gut der Duldung und 
Sleichjtellung, für welches damals im Bunde mit Mendelsfohn 





') Sammler, 1784, ©. 43 f. 
2) 1. Aufl. ©. 488. 
3) Schr. V, 630. 


— 337° — 


edle Geifter zu kämpfen begannen. Außer Dohm, dem philofo- 
phiſchen Staatsfundigen, war e3 befonders ein philojophifcher 
Dichter, der den großen Zweck der Vorfehung, die Beitimmung 
der Menfchen und die Gerechtfame der Menjchheit im Zuſammen— 
hange gedacht, der der deutjchen Nation, der gefammten Chriſten— 
heit e8 ans Herz gelegt hat, die Juden als Menfchen, als 
Brüder unter fich zu dulden, ihnen Menfchenrechte zu gewähren 
und Bürgerrechte zu verleihen. Mit diefer Forderung trat der 
Kämpfer für Wahrheit und Recht, trat der Bufenfreund Men 
delsfohns in feinem „Nathan“ auf. 


Kanferling, Mofes Mendelsjohn. 22 


Dreizehntes Buch). 
Leſſing. 


Neunundfünfzigſtes Kapitel. 
Nathan der Weiſe. 


In Schmerz verſunken über den Tod feiner geliebten Eva 
haben wir Leſſing verlaffen. Er mußte nad) dem nur ein ein 
ziges Jahr genofjenen Glücke wieder anfangen, feinen Weg, wie 
er fih ausdrüdt, allein fo fort zu dufeln. „Ein guter Borrath 
von Laudano literarischer und theologischer Zerſtreuungen,“ fchrieb 
er zwei Tage nach der Beerdigung feiner Frau an Efchenburg, 
„wird mir einen Tag nad) dem andern Schon ganz leidlich über 
itehen helfen!“ 

Und noch am Sterbelager feiner Frau erhielt ex die erite 
Schmähjchrift des Hamburger Zionswächters Goeze. Von dem 
Sarge fah er fi) auf den Kampfplag für Toleranz und Glau— 
bengfreiheit gerufen. Drei Jahre voll tiefen Leid und ſchweren 
Kummers harte er in Diefem mit Einfiht und Tapferkeit ge 
führten Kampfe muthig aus. 

Diefe drei Jahre, in welchen er die höchſten Triumphe auf 
dem Felde der religiöfen Aufklärung feierte, waren die bitterften 
feines freudenleeren Lebens. Was mußte er nicht noch alles 
ertragen? Das Betergeichrei der Theologen über den ‚Anti 


— 339 — 


Goeze“, die bedeutendite, bis heute unübertroffene Leiftung auf 
dem Gebiete der polemifchen Literatur, und die neuen „Frag- 
mente“ brachte ein polizeiliches Einfchreiten gegen ihn zu Wege; 
ein fürftliches Refeript, welches die Braunfchweiger Orthodoxen 
zu erfchleichen wußten, entzog ihm die Genfurfreiheit und verbot 
den fernern Drud der Streitichriften. Acht Tage jpäter erhielt 
er den Befehl, die in feinen Händen befindliche Handjchrift des 
Ungenannten nebjt den etwa davon genommenen Abjchriften aus- 
zuliefern, und wurde ihm bei Strafe unterfagt, in Religions— 
ſachen ohne höhere Genehmigung im In- oder Auslande etwas 
ericheinen zu laſſen. 

Daß es noch jo kommen würde, hatte Mendelsfohn, der 
mit Leſſings „Zänfereien“ nie zufrieden war und die „Zänke— 
reien“, wie er die Briefe an Goeze nannte, niemal® um der 
Sade willen las,!) immer prophezeiet; „er kannte die chrift- 
fihen Theologen gar zu gut aus feinen ohnmächtigen Rabbi- 
nern.“ Er ließ Leffing um eine Abichrift von dem an ihn er- 
gangenen Verbote bitten, denn er wollte darüber an ihn fchrei- 
ben und den Brief druden laſſen, damit „Leſſing und andere 
ihn befjer leſen könnten“.) „Mendelsfohn wird nächſtens,“ 
Ichreibt Elife Reimarus den 15. September 1778 an Hennings, 
„einen philofophifchen Brief über jene Art Verbot, in geiftlichen 
Sachen zu fchreiben, herausgeben; ich bin begierig, ihn zu 
fehen.“3) Mendelsfohn trug gewiß fein Bedenken, frei und offen 
feine Meinung zu jagen. Wir wiſſen, wie er über Genfurge- 
fege überhaupt dachte. Nach feinem Dafürhalten fegen die— 
jelben voraus, daß es nicht erlaubt fei, alles öffentlich zu Jagen, 
was man im Herzen für wahr hält, daß alfo manches wahr 
fei, was aus Rückſichten verjchwiegen werden müſſe. Cenfur ift 


) 1. Aufl. S. 550. 
2) Leifingd Schr. XIII, 606, 610. 
3) Wattenbachs Mittheilungen im N. Laufit. Magazin :Bd., 38, 
©. 19. 
22* 


— 340 — 


ſomit nicht3 anders al3 „die nothwendige Duldung der Unwahr- 
heit und des Borurtheils‘.?) 

Leſſing ſchickte die erbetene Abſchrift nicht, jtatt deſſen 
aber das Manufeript der „Nöthigen Antwort auf eine jehr un— 
nöthige Frage de3 Herren Hauptpajtor® Goeze“; diejelbe gefiel 
Mendelsfohn fo fehr, daß er fie auf feine Koften druden Lafjen 
wollte.) Das Schriftchen erſchien, und der Gegner verjtummte. 

Mitten in diefen Bedrängnifjen entjchloß fich Leifing, den 
Theologen mit einer „Komödie einen ärgern Poſſen zu fpielen 
al3 mit zehn Fragmenten“. Bon der Geiftlichfeit verfolgt, wollte 
er es verjuchen, „ob man ihn wenigjtens auf feiner alten Kanzel, 
auf dem Theater, noch ungeftört predigen Lafjen wolle“. 

Er hatte vor vielen Jahren ein Scaufpiel entworfen, 
dejjen Inhalt eine Art von Analogie mit feinen theologifchen 
Streitigkeiten hatte. Wenn der Bruder und Moſes e3 für gut 
fänden, jo wollte er jebt „das Ding auf Subfeription druden 
lafjen“ und nach einigen Fleinen Veränderungen des Plans dem 
Feinde damit „auf einer andern Seite in die Flanfe fallen“. 
„Ich möchte zwar nicht gern,“ heißt e3 in dem Briefe an feinen 
Bruder vom 11. Auguft 1778, „daß der eigentliche Inhalt des 
Stüds allzu früh befannt würde; aber doch, wenn Ahr, Du 
oder Mofes, ihn wiſſen wollt, fo fchlagt das Decamerone des 
Boccaccio auf: die Erzählung vom Juden Melchifedef. Ich 
glaube, eine ſehr intereffante Epifode dazu erfunden zu haben, 
daß fich alles fehr gut foll leſen Yafjen.‘3) 

Mendelsfohn billigte den Plan vollkommen; nur wünſchte 
er, daß das Stück auf die Streitigkeiten gar feinen Bezug habe, 
denn wenn darin die Thorheiten der Theologen belacht würden, 
fo hätten fie ihn dahin, wohin fie ihn haben wollten. Es ijt 
eine Komödie, würden fie jagen; er hat eine große Stärfe zu 





!) Schr. IV, 1, 133. 
2) Lejfingd Schr. XIII, 609. 
3) Zeffings Schr. XII, 509. 


— 341 — 


fpotten und lachen zu macdjen.“!) „Es wird ein fo rührendes 
Stüd, als ich nur immer gemacht Habe,“ verficherte Leffing 
feinem Bruder am 20. October, „und Herr Moſes Hat ganz 
vecht geurtheilt, daß fich Spott und Lachen zu dem Tone nicht 
ſchicken würde. . . . Er foll ſchon ſehen, daß ich meiner eigenen 
Sache durch dieſen dramatiſchen Abſprung im geringſten nicht 
ſchade.“2) 

Bereits Anfang November war das Stück im Weſentlichen 
beendet. Am 14. November begann er, wie eine Bemerkung 
auf dem erſten, jetzt im Beſitze eines Urenkels Mendelsſohns?) 
befindlichen Entwurfe zu der Dichtung von Leſſings Hand beſagt, 
die verfificirte Ausarbeitung und am 7. December ſchickte er 
feinem Bruder den erften Aufzug, in das Gewand fünfzeiliger 
Jamben gefleidet, mit dem Bemerfen: „Ramler und Heren Mofes 
kannſt Du die Verſe wol weiſen, defjen Urtheil vom Tone des 
Ganzen id) wol auch zu wiſſen begierig wäre.““) Dankbar 
nahm er mehrere Berbefferungen des alten Freundes an. Auch) 
mit dem Namen Reha war Mendelsfohn gar nicht zufrieden, 
wie David Friedländer an Zelter fchreibt; „dieſer iſt Fein hei— 
liger Name und obenein übel gewählt, denn ef heißt Teer, 
auch nichtswürdig. Er erinnerte aber nichts, weil Recha im 
Tert vorkommt und es das Metrum gejtört haben würde. Mitte 
April 1779 Eonnte das Stüd die Prefje verlaffen. 

„Rathan der Weife” nannte Leſſing diefe dramatifche Dich- 
tung, feine legte und hervorragendſte Schöpfung, welche durch 
feine theologischen Kämpfe erjtanden if. Nennt er doch felbit 
den „Nathan“ einen „Sohn feines eintretenden Alters, den die 
Polemik hat entbinden Helfen“. „Nathan“ ift, wie fchon Kant 
ihn bezeichnet, der zweite Theil oder die Fortfegung der „Juden“. 
9) 2effings Schr. XL, 612. 

2) Leſſings Schr. XII, 511. 

3) Der Entwurf, früher Eigentum des verft. Dr. 3. Rube, iſt 
jet im Befite des Hrn. Commerzienraths Ernft Mendelsjohn in Berlin. 


Danzel-Gubrauer, a. a. D. II, 457. 
‘) Reifing Schr. XII, 514. 





— 342 — 


Was Leſſing als zwanzigjähriger Jüngling in dem Quftipiele 
„Die Juden“ begonnen hat, das führte er in feiner legten Dich- 
tung, diefem „reizenden Coder religiöfer und weltlicher Moral‘, 
wie Göthe den „Nathan‘ nennt, weiter aus. Aus diefem Drama 
tritt ung die fittlihe Mahnung entgegen, daß der wahre Werth 
einer jeden Religion darin beſtehe, daß fie ihre Befenner zur 
Duldfamfeit, zur Gerechtigkeit, zur thätigen Menfchenliebe an- 
leite, daß jeder der Religion, in der er geboren, getreulich an- 
hänge, daß aber niemand fich feines Glaubens wegen überhebe, 
fein Befenntnig das andere augfchliege und verurtheile, daß 
vielmehr in allen nur das eine Wahrheit ſei: Humanität und 
Duldung. Toleranz ift die Grundidee im „Nathan“, jene Tole- 
ranz, welche nichts weiß von Befehren und Verdammen Anders- 
denfender und Andersglaubender, jene echte Toleranz, welche 
fi) auf den biblifchen Spruch der Menfchenliebe gründet. Keine 
Dihtung Hat je Herz und Gefühl fo mit Duldfamkeit und Liebe 
erfüllt als diejes heilige Vermächtniß des Kämpfers für Wahr- 
heit und Freiheit. 

Ueber fein Werk der deutichen Literatur, mit Ausnahme 
von Göthes „Fauſt“, ift aber auch fo viel gefchrieben worden, 
wie über Leffings „Nathan“.!) Man Hat die verfchiedenartigften 
Gefichtspunfte aufgeftellt, um die Zwede und Charaktere diefes 
Hohenliedes der Menichheit zu erklären und den größten Scharf: 
ſinn aufgeboten, um die von Leſſing darin gegebenen Doctrinen 
zu deuten.?) Man hat Nathan bald für eine Declamation gegen 
alle Offenbarung, bald für eine Satire auf die chrijtliche Reli- 


) Die Literatur über Leffings ‚Nathan‘, der aud) von S. Bacher 
(Wien 1866) und von A. B. Gottlober (Wien 1874) ins Hebräijche 
überfegt wurde, ift jehr groß, bier fei nur erwähnt: Kuno Filcher, 
Leifing als Reformator der deutfhen Literatur (Stuttgart 1881), Karl 
Hebler, Lejfing-Studien (Bern 1862), David Friedrih Strauß, Leſſings 
Nathan der Weije (Berlin 1864), ferner Julius Fürft, Lejfings Nathan 
der Weife (Leipzig 1881), 3. ©. Bloch, Duellen und Parallelen zu 
Leifings Nathan (Wien 1880). 

2) Philippſon, Allg. Ztg. d. Judenthums, 1878, ©. 433 ff., 449 ff., 
465 ff., 481 ff. 


— 343 — 


gion genommen, und die ganze Dichtung als Parteilichfeit gegen 
das ChriftentHum gerügt. Als ob Leſſing in diefer Tehrhaften 
Dichtung fih an die Muhamedaner oder die damald auf alle 
Weife gedrüdten und zurüdgefegten, die hochmüthig verachteten 
Suden hätte wenden jollen! Als ob es nicht wie die bitterfte 
Sronie hätte erjcheinen müfjen, wenn er die hohen Vorbilder 
reiner, vorurtheilsfreier Menschlichkeit unter den Befennern der 
chriſtlichen Religion hätte wählen wollen, unter welchen allein 
die lebendigen Vorbilder des blinden Glaubenshaſſes ſich fanden! 
Aber Leifing wählte gerade einen Juden zum Helden feines 
ZToleranzdramas, zum eigentlichen Träger der echten Religiofität, 
der wahrhaften auf Selbjtverleugnung gegründeten Menfchen- 
liebe und der Duldjamkeit! Daß ein Jude und nicht ein Türke 
zur idealen Hauptperfon gemacht oder vielmehr als ſolche aus 
der Novelle des Boccaccio beibehalten iſt, jagt Hebler, exflärt 
fich theil3 aus der Rücjicht auf das Publifum, da unter den 
Hriftlichen Borurtheilen mehr die Juden als die Türken zu 
leiden hatten, theils daraus, daß Lelfing die Erhebung zur ver- 
nünftigen Religion in gewiljer Hinficht für einen Juden am 
leichteften finden mochte, ohne darum dejjen Religion als folche 
über die beiden anderen fegen zu wollen.) Um auf Ehriften 
zu wirken, brauchte der Dichter nur diefe zu demüthigen, nur 
aus ihrer Mitte warnende Figuren aufzuftellen, während er aus 
den beiden anderen Religionen bejchämende Charaktere ihnen 
gegenüberjtellte.?) Nicht gegen das Chriſtenthum, nicht gegen 
die Befenner defjelben ijt die Dichtung gerichtet, wol aber, wie 
Stahr bemerft,?) gegen den „chriftlichen Pöbel“ aller Stände 
und Gefchlechter, den Pöbel im Batriarchengewande wie im 
Frauenkleide einer Daja, gegen den Glaubenspöbel, der fich 


) Hebler, Leſſingſtudien ©. 15. 

2) Strauß, Lejfings Nathan der Weife. M. j. den Artikel „Warum 
ift Nathan ein Jude?” Stimmen aus der Lejfing-?iteratur, zufammen: 
geftellt von Arnold Bodek. Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch, S. 350 ff. 

3) Stahr, a. a. D. II, 29. 


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fteifend auf den Beſitz einer allein ſelig machenden Kirche, aud) 
die Menschenrechte für fich allein in Anfprud” nahm. Schon 
Mendelsfohn, der Jude, hat im Nathan, wenn auch nicht eine 
Berherrlihung des Chriſtenthums, jo aber doch erfannt, daß er 
„ver Ehriftenheit zur wahren Ehre gereiche“. „Auf welcher 
hohen Stufe der Aufklärung und Bildung muß ein Volk ftehen,“ 
ruft er in den „Morgenjtunden“ aus, „in welchem jich ein 
Mann zu diefer Höhe der Gefinnungen hinauffchwingen, zu 
diefer feinen Kenntniß göttlichev und menfhliher Dinge aus- 
bilden fonnte!“ı) 

Wohl! „Nathan der Weiſe“ it fein Plaidoyer für die Juden 
und das Judenthum, ſondern ein Plaidoyer gegen alle religiöſe 
Verfolgungsſucht, gegen jeden geiſtlichen unduldſamen Hochmuth, 
für die allgemeine Toleranz und Humanität. Und doch hätte 
Leſſing ohne ſeinen vertrauten Umgang mit Mendelsſohn einen 
Nathan nicht ſchaffen können. Nathan, ein echter Sohn ſeines 
Stammes, iſt kein Gelehrter von Fach, kein Schriftgelehrter, kein 
Rabbiner, ſondern ein Kaufmann, ein tiefer Denker, wie Men— 
delsſohn. Bewußt oder unbewußt hat Leſſing in „Nathan“ 
ſeinen älteſten theuerſten Freund gezeichnet: Mendelsſohn iſt das 
Urbild des Nathan.“) Dieſelbe Sanftmuth des Charakters, die— 
ſelbe Klarheit im Denken, dieſelbe dialectiſche Gewandtheit im 
Disputiren, gepaart mit feiner ſokratiſcher Ironie, daſſelbe Wohl- 
wollen gegen jedermann ohne Rückſicht auf das religiöſe Be— 
kenntniß. 

So mild und ruhig, ſo beſcheiden und gelaſſen wie Rathan 
ſprach auch Mendelsſohn, mit tiefem Sinne, doch nie auffahrend, 
jo floß auch feine Rede Hin. 

Wie Nathan feine Recha, fo belehrte Mendelsfohn feine 
eigene Tochter. Stufenweife verfuhr er bei der Entwicelung 





') Schr. II, 367. 

2) Nach dem Erjcheinen diefer Biographie verfuchte auch Friedrich 
Albrecht in feinem Schriftchen: Moſes Mendelsjohn als Urbild von 
Leſſings Nathan dem Weifen (Alm 1864) darzuftellen. 


— 345 — 


ihrer religiöfen Ideen; ex lehrte fie als Kind ein unmittelbares 
Eingreifen der himmlischen Mächte: 
Habt Ihr, 
Ihr jelbit die Möglichkeit, daß Engel find, 
Daß Gott zum Beſten derer, die ihn lieben, 
Auch Wunder könne thun, mich nicht gelehrt ? 


Er ſuchte fierauf natürliche Begriffe und naturgemäße Erſchei— 
nungen hinzuweifen, fobald er merkte, daß Schwärmerei fich des 
jugendlichen Gemüthes bemächtigte: 
Begreifit du aber 
Wie viel andädtig ſchwärmen leichter, als 
- Gut handeln ift? Wie gern der jchlafffte Menſch 
Andähtig Ihwärmt, um nur — ift er zu Zeiten 
Sih Schon der Abficht deutlich nicht bewußt — 
Um nur gut handeln nicht zu dürfen? 

Wie Nathan dem Saladin gegenübertritt, den ganzen Schat 
feiner fcharffinnigen Beredfamfeit entfaltend, befcheiden, aber 
unerfchroden und mwiürdevoll, fo veritand es auch Mendelsfohn 
Großen zu begegnen, fo ftand er vor feinen fürftlichen Gönnern, 
mit ſolchem Stolze befannte auch er: 

SH bin ein Jude. 

Wie Nathan dem Saladin auf die verfängliche Frage, 
welche unter den drei Religionen die wahre fei, die von einem 
ſpaniſchen Juden erfundene und von einem fpanifchen jüdifchen 
Chroniſten zuerſt erzählte Parabel von den drei Ringen!) vor— 
trug, fo ſuchte Mendelsfohn Religionzftreitigfeiten zu vermeiden, 





') Der erfte, der auf die im Schebet Jehuda enthaltene Erzählung 
aufmerfjam gemadt und fie alö die urjprüngliche Duelle der Parabel 
von den drei Ringen erwiejen hat, ift M. Wiener im Jahrbuch für 
Sfraeliten,, herausgegeben von 3. Wertheimer (Mien 1856) S. 171 ff., 
übrigens ſ. auch A. Sellinef im Sabbatblatt, 1846, S. 32 und der jüd. 
Stamm (Wien 1869) ©. 204; ferner Aug. Wünfche, der Urfprung der 
Parabel von den drei Ringen, in Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch 
©. 329 ff. 


— 346 — 


und gleich den inhaltsfchtweren Worten, welche Nathan dem 


Sultan zurief: 
MWohlan! 
Es eifre jeder feiner unbeftochnen 
Bon Vorurtheilen freien Liebe nad! 
Es ftrebe von Euch jeder um die Wette, 
Die Kraft des Steins in feinem Ring an Tag 
Zu legen! fomme diefer Kraft mit Sanftmuth, 
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, 
Mit innigfter Ergebenheit in Gott, 
Zu Hülf! 


fo war auch Mendelsfohng Kanon: daß „der Menjch berufen fei, 
nach Wahrheit zu forſchen, Schönheit zu Lieben, Gutes zu wollen 
und das Bejte zu thun“,') 

Aehnlich der erjten Unterredung, welche Nathan mit dem 
Tempelheren führte, muß man ſich das erſte Zufammentreffen 
Mendelsſohns mit Leffing denken. Der Tempelherr ijt ein Charal- 
ter, der, wie Mendelsfohn ſchon Hervorhebt, an den des Dichter: 
grenzt:?) derſelbe Edelmuth, diejelbe Entfernung von Eigennuß und 
Eigendünfel, derjelbe Stolz in drüdender Noth, derſelbe „gute, 
trogige Blick, derſelbe dralle Gang“. Auch er hatte die Bizarıc 
tie, ein abgefagter Feind von äußerer Höflichkeit zu fein; aber 
„die Schale war nur bitter, der Kern war’ wahrlich nicht“. 

Wie Nathan mit dem Tempelheren ſpricht, war es Men- 
delsfohns eigene Kunſt mit denen zu jprechen, welche, wie er 
wußte, gegen ihn eingenommen waren; jo gewann ex fich die 
Freundfchaft mancher im Grunde edlen Seele, die fich fonit 
einem Juden mit einigem Widerjtreben näherte. 

Der Jude nöthigt dem tolzen Ritter Achtung ab; dieſer 
erfennt in Nathan den jeltenen Mann, der mehr als Jud' um 
Chriſt, der wahrhaft Menjch fein will, jodaß er nun feine Freund: 
ſchaft als die eines Gleichgefinnten verlangt: ähnlich bildete jid 
das vertraute Verhältniß zwifchen Leffing und Mendelsjohn. 


ı) Schr. V, 389; II, 300. 
2) 1. Aufl. ©. 558. 


— 347° — 


Wir haben beide 

Uns unfer Volk nicht auserlefen. Sind 
Wir unfer Bolf? Was heißt denn Volk? 
Sind Chrift und Jude eher Chrift und Jude 
Als Menih? Ach! wenn ich einen mehr in Euch 
Gefunden hätte, dem es g’nügt, ein Menſch 
Zu beißen! 

Sa, bei Gott, das Habt Ihr, Nathan! 
Das habt Ihr! — Eure Hand! — SH ſchäme mich, 
Eud einen Augenblid verfannt zu haben. 

Nathan, ja, 

Wir müffen, müffen Freunde werden. 

Wie Leffing Mendelsfohn im Nathan zeichnete, jo hatte er 
in der Daja Lavater im Auge, welche er gerade deshalb zu der 
Witwe eine Schweizerd machte.!) Die befehrungsfüchtige Daja, 
fie ift nicht böswillig, fie 

muß aus Liebe quälen, 
Iſt eine von den Schwärmerinnen, die 
Den allgemeinen, einzig wahren Weg 
Nach Gott zu wiffen wähnen 


Und fi gedrungen fühlen, einen jeden, 
Der dieſes Weges verfehlt, darauf zu lenken. 


Charaktere wie der Patriarch, der „Dice, rothe, freundliche 
Prälat“ einer ift, find nicht Schwer zu finden und brauchte jich 
Leffing nicht gerade den Hamburger Hauptpajtor zum Vorwurfe 
gemacht zu haben; Charaktere aber wie der Derwilch find äußerſt 
felten: den Derwifch hat der Dichter nach) Abraham Wolf Rechen- 
meifter gezeichnet, den Leſſing im Haufe Mendelsfohns Fennen 
lernte. Abraham, ein Freund Eulers, war ein großer Kenner 
der Mathematif und hatte dabei eine beivundernswürdige Fertig- 
feit, auch die fchwerjten Rechnungen im Gedächniß zu rechnen. 
Er war übrigens ein cynifcher Philofoph, der nur Brot und 
Wafjer brauchte und allenfalls fein Waller aus der hohlen Hand 


') Hebler, a. a. D. ©. 14. 


— 348 — 


trank. Sein Gemüth war Findlich naiv, und dabei war er äußerft 
bieder und vedlich.!) 

Auf Abraham, der in Mendelsfohns Haufe ein Fleines 
Zimmer unentgeltlich bewohnte, hielt Leffing feines ihm ange- 
borenen Cynismus und feiner Sonderbarfeit wegen große Stüde. 
Als er nach Wolfenbüttel ging, bat ihn der arme Abraham um 
ein feltenes mathematifche® Werk. Zufällig befaß Leffing zwei 
Exemplare de3 gewünfchten Buches, und war gern bereit, ihm 
das eine taufchweife zu überlaffen. „Sie dürfen e8 ihm nur 
mit der Poſt ſchicken,“ Heißt e8 in einem Briefe Mendelsfohns 
an Leſſing, „denn er ift fo begierig, daß er feine Nacht mehr 
ruhig Schlafen fann, bis er feinen Diophant — fo hieß das 
Buch — in feinen eigenen Händen hat.“?) Und dieſes Bud), 
das er kaum erivarten fonnte, das ihm fo theuer war, brachte 
er nach einiger Zeit zu Mendelsfohn und wollte es ihm ſchenken. 
„Ihr werdet doc) das Bud nicht von Euch laſſen? Es iſt ja 
ein Andenken von Leſſing!“ „Sa wohl!“ erwiderte er ihm; „aber 
ic) brauche e3 nicht mehr; die Erempel darin find recht gut, 
doch ich verftehe fein Griechiſch.“ „Sch wette, Ihr braucht 
Geld; jagt mir, wie viel Ihr braucht!” Nein, nein! Ich habe 
Geld, ich will fein Geld!" „Nun fo geht in Gottes Namen und 
braucht Ihr was, jo wißt hr, wo ich wohne.“ 

Einmal fragte Abraham feinen Freund Mendelsfohn um 
den Beweis eines nicht leichten geometrifchen Satzes. Mendels- 
fohn zeichnete die Figur, aber noch) war er mit der Hülfslinie, 
die er zur Führung feines Beweifes nöthig Hatte, nit ganz 
fertig, fo fchrie Abraham vor Freuden auf, dankte ihm wie fir 
eine erwieſene Wohlthat und war verfchtwunden. ?) 

Ein andere3 mal kommt Abraham zu Mendelsjohn, der 
eben den Profeſſor Engel bei fich fieht, fteht ſtill und fpricht 
fein Wort. „Nun Abraham! Wie geht's?“ redet ihn Mendels- 

1) Schr. V, 226. 


2) Schr. V, 187, vol. 1%. 
3) Engels Philoſoph für die Welt (Berlin 1844), II, 107. 


— 349 — 


fohn an. „Ihr feid fo jtill; Ihr jehet mich bedeutungsvoll an; 
fehlt Euch was?” „Meine Frau?) ift von Hannover angefom- 
men, ich habe nur einen Stuhl.” Mit diefen Worten ergreift 
er einen Stuhl und geht damit zur Thür hinaus. ?) 

Mit wahrer Leidenjchaft war er dem Schachſpiele ergeben; 
er und der alte Michel galten al3 die vorzüglichiten Schach-⸗ 
[pieler in ganz Berlin. Michel hatte fich durch feine Tüchtig- 
feit im Spiel einen ſolchen Namen erworben, daß er fogar die 
Aufmerkſamkeit des großen Friedrich auf fich gelenkt Hatte. Dex 
König ließ den armen Michel, der zeitweilig in Potsdam Yebte, 
öfter zu ſich befcheiden, um mit ihm eine Partie zu machen. 
Obgleich nun Friedrich al3 ein eben fo großer Held auf dem 
Schadhbrette wie auf dem Schlachtfelde galt, jo zeigte es fich 
doch bald, daß der Jude ihm im Schach überlegen war, und 
da diejer mit den Regeln der Höflichfeit wenig vertraut war, 
jo mußte der König jedesmal unterliegen. „Wie kömmt's,“ fragte 
ihn Friedrich eines Tages, „daß ich mit Euch feine Partie ge- 
winnen kann?“ „Was weiß ich?“ erwiderte Michel barfch, „ich 
fann meinen Kopf nicht auf Eure Schultern ſetzen.“ Diefe Ant- 
wort ärgerte den König nicht wenig, und der Jude erhielt feinen 
Abſchied. Einige Wochen jpäter begegnete er dem armen Michel 
auf der Straße. „Wie geht's Michel?“ rief er dem ärmlich 
gefleideten Juden zu. Diefer zudte die Achjeln, ohne eine Silbe 
zu erwidern. „Wenn Ihr das reden nennt, jo glaube ich auch, 
daß Bileams Efelin geredet habe.” Diefer beifende Spott bot 
dem Racdjegefühle Friedrich Beruhigung; aber die kleine Pen- 
fion, welche Michel mehrere Jahre vom Könige erhalten Hatte, 
blieb ihm doch für immer entzogen. ?) 

Der alte Michel, der, ein Opfer föniglicher Eitelkeit, in 
der drüdenditen Noth lebte, fam einmal zu Mendelsfohn, als 


1) Seine Frau lebte meiſtens in Hannover bei Verwandten, weil 
ihr Mann niemals Geld hatte. 

2) Belterö Briefwechjel mit Göthe (Berlin 1833) IV, 138. 

3) Hennings, Souvenirs de Berlin (Handichr.). 


— 350 — 


diefer gerade mit Abraham eine Partie Schach jpielte. Meichel 
jieht das Spiel an. Endlich maht Abraham eine Bewegung 
mit der Rechten, um das Spiel al3 verloren umzuwerfen, umd 
erhält von Michel einen jo derben Schlag am Kopfe, daß ihm 
die lange Perrüde abfällt. Abraham hebt ruhig feine Perrüde 
auf und fpricht: „Aber bejter Michel, wie hätte ich denn ziehen 
follen ?%) 

Dieſes Driginalgenie in der Mathematik, diefer Sonder: 
ling im Leben, diefer Abraham, der zwanzig Jahre, bis zu 
feinem 1798 erfolgten Tode, im Wahnfinn verbrachte, wurde 
von Lefjing im Derwifch verewigt. „Leſen Sie die Rolle U 
Hafi's,“ heißt es in einem Geſpräche zwifchen Mendelsfohn und 
einem jungen Dichter,?) „und Sie haben meinen guten Abraham 
Wolf, der ihm wirklich zu diefer Rolle geſeſſen hat, der ganze 
Charakter, die ganze Seele; eben jo abjtrus, eben fo wil 
und leidenschaftlich im Spiele, eben jo verjenkt in feinen Ideen; 
„Wilder, Guter, Edler!“ 

Dergeftalt ift Nathan der Weife, dieſes Hohelied der Dul- 
dung und Menjchenliebe, eine bleibende Erinnerung an die 
innige Freundfchaft, welche Leſſing mit Mendelsfohn Jahrzehnte 
hindurch verknüpft Hatte. 

Und wie viele, die jih an Nathan dem Weifen erquiden, 
willen es denn, daß Leſſing, während er diejes erhabenfte Wert 
feines Genius ſchuf, mit der drüdendften Noth, mit der ge 
meinen Sorge um das tägliche Brot zu kämpfen hatte? Wie 
viele Deutfche, die, ftolz auf diefe Nativnaldichtung, dennoch in 
deutfcher Treue an alte VBorurtheile fejthalten, wiſſen es, daß 
Deutfchland den Nathan indirect einem Juden verdankt? 

Um das Werk „mit aller Gemächlichfeit“ ausarbeiten zu 
fönnen, brauchte Leffing wenigſtens dreihundert Thaler. Da er 
Borausbezahlungen von Seiten der Subferibenten auf den Na— 
than nicht annehmen wollte, jo wünfchte er diefe Summe irgend- 


!) Belterd Briefwechſel mit Göthe, IV, 137. 
2) Engels Philoſoph für die Welt (Berlin 1844) II, 107. 





— 351 — 


woher geborgt. Sein Bruder Karl pochte an verfchiedene 
Thüren, aber feine wollte fich öffnen. Endlich fand fich ein 
waderer Mann, der aus Verehrung für den Dichter fich frei- 
willig erbot, obgleich jelbjt nicht wohlhabend, ihm die dreihun- 
dert Thaler auf vier Monate vorzufchießen: es war dies der 
Hamburger Kaufmann Moſes Weſſely, der vorübergehend in 
Berlin war, ein guter Bekannter Leffings aus der Zeit von 
defjen Aufenthalt in Hamburg, ein Mann von Geift und feiner 
Bildung, der eine gute Abhandlung über die bürgerliche Ver- 
befjerung der Juden und fogar anonyme Briefe über „Emilia 
Galotti“ gefchrieben hat.!) 

Schon allein die Art und Weife, wie er dabei verfuhr, 
Ipricht für feine Herzensfeinheit. Nur einen Brief wünfchte er 
von Leffing zu haben. „Aber wenn er Jhnen nun nicht fchreibt, 
jo befommt er fein Geld?" fragte Karl Leffing, der diefe Ver— 
handlung dem Bruder völlig dramatifh in einem Briefe be- 
ſchreibt.)) „Ich werde es ihm dann ſchicken, und den Empfang 
wird er mir doc) melden,“ erwiderte der brave Wefjely. Leſſing 
zögerte auch nicht, feinen guten Freund mit einigen Beilen zu 
erfreuen. „Ich habe an Mofes Weſſely gefchrieben,“ heißt es 
in einem Briefe an Karl vom 19. December 1778, „und gebe 
Gott, daß es nicht bloßer Wille mag geweſen fein. Sollte er 
aber der pofitiven Aeußerungen ungeachtet dennoch) verhindert 
werden, Wort zu halten, fo bin ich ganz unglaublich übel 
daran.“3) Weſſely brachte den guten Willen in Ausführung. 
Im Berlaufe der Arbeit machte Leffing diefe Geldaffaire die 
größten Sorgen. Während er den legten Aft des Nathan dich- 
tete, fchrieb er feinem Bruder, daß er übel anfommen würde, 


) Moſes Weſſely wurde den 15. März 1737 in Kopenhagen ge— 
boren und ftarb den 15. März 1792 in Berlin. Seine binterlafjenen 
Schriften erjhienen zum Beſten feiner Witwe, einer geborenen Schle: 
finger aus Berlin (Berlin 1798). 

2) Leſſings Schr. XIII, 616 f. 

3) Leifings Schr. XII, 518. 


— 352 — 


wenn die Subferiptionen feines Buchhändler jene Schuld nidt 
deden follten, da er fchlechterdings nicht wifje, wie ex ſonſt den 
ihm auf den Hals fommenden Wechjel einlöfen könnte. „Du 
glaubjt nicht,“ fchließt er, „wie mich das befümmert, und es 
wäre ein Wunder, wenn man e3 meiner Arbeit nicht anmerkte, 
unter welcher Unruhe ich fie zufammenfchreibe.‘ 1) 


Sechzigſtes Kapitel. 
Leſſings letzte Jahre. 


„Nathan der Weife“, diefes „herrliche Lobgedicht auf die 
Vorſehung“, eben diefe felige Bemühung, die Wege Gottes vor 
den Menfchen zu rechtfertigen, wie theuer iſt fie nicht dem un: 
jterblichen Leffing geworden! Ach! fie hat ihm feine letzten Tage 
verbittert, wo nicht gar am Ende fein fojtbares Leben abge 
fürzt. Bei der Herausgabe der „Fragmente“ war er darauf 
gefaßt, den ganzen Schwarm von Schriftitellern über fich hei 
fallen zu fehen, die mit und ohne Beruf die „Fragmente“ wür— 
den widerlegen wollen, und ex hielt fich für ſtark genug, feinen 
Gaft wider alle ungezogenen Angriffe feiner Gegner zu ver 
theidigen. Sp mancherlei auch die Wege waren, welche feine 
Widerfacher einschlagen konnten, und, wie der Erfolg zeigte, aud 
wirklich einfchlugen, um ihn zu befämpfen, jo glaubte er doch 
allen denjenigen die Spite bieten zu können, die fich nicht durch 
Billigkeit und Liebe zur Wahrheit auszeichnen würden. Aber 
wie jehr veränderte fic) die Scene nad) dem Erjcheinen des 
Nathan! Nunmehr drang die Kabale aus den Studierjtuben 
und Buchläden in die Privathäufer feiner Freunde und Be: 





') Zeffings Schr. XII, 524. 


— 3553 — 


fannten mit ein, flüfterte jedem ins Ohr, Leffing habe das 
Chriſtenthum bejchimpft, ob er gleich nur einigen Ehrijten und 
höchſtens der Chrijtenheit einige Vorwürfe zu machen gewagt 
hatte. Jeden Borwurf des Eigendünfel3 und der einfeitigen 
Denfungsart, den er einigen feiner Glaubensbrüder machte, oder 
durch feine dramatiſchen Perfonen machen ließ, hielt ein jeder 
für perfönliche Beleidigung. Der allenthalben willfommene 
Freund und Bekannte fand nunmehr allenthalben trodene Ge- 
jichter, zurüdhaltende, frojtige Blicke, falte Bewillfommnung und 
frohe Abſchiede, ſah fi) von Freunden und Bekannten verlaffen, 
und allen Nachitellungen feiner Feinde bloßgeſtellt. Traurig 
find die Wirfungen, die dies in feinem Gemüthe hervorbrachte! 
Leſſing, der aller feiner gelehrten Arbeiten ungeachtet, immer 
noch der angenehmjte, fröhlichite Geſellſchafter geweſen, verlor 
nunmehr feine joviale Laune völlig, ward zu einer fchläfrigen, 
gefühllofen Maſchine.,) Seine Gefundheit war erjchüttert, feine 
Lebensluft gebrochen. Zunehmende, auch den Geiſt hindernde 
Kränklichkeit, der üble Auf, in welchen man ihn bei dem nie- 
dern Volke als Ketzer und gottlofen Menfchen zu bringen fuchte, 
verbitterten ihm die legten anderthalb Jahre feines der geijtigen 
Aufklärung geweihten Lebens. Die Gegner hielten Fein Mittel 
zu jchleht, um ihn, den Herausgeber der „Fragmente“, den 
Dichter des „Nathan“, zu verdächtigen. Sie fprengten aus, er 
habe von der Judenſchaft zu Amfterdam für die Herausgabe 
der „Sragmente” ein Geſchenk von taufend Dufaten erhalten 
und angenommen, eine Berdädhtigung, welche jpäter auch gegen 
Dohm wegen feiner Schrift über die bürgerliche Verbeſſerung 
der Juden erhoben wurde. Diefes Märchen hatte man in Wien, 
wo der „Nathan“ confiscirt wurde, wieder aufgetifcht. Leſſings 
eben dort anweſender Stieffohn ſchrieb gegen dieſe ebenjo bos— 
hafte al3 abgefchmadte Lüge eine Erklärung, welche er ihm zur 
Berbefferung fandte und als „Noch nähere Berichtigung des 


1) Schr. II, 366 f. 
Kayſerling, Mojes Mendelsjohn. 23 


— 354 — 


Märchen? von taufend Dufaten oder Judas Iſcharioth dem 
zweiten“ in Regensburg druden ließ. 

In diefer Beit, welche ihn jede Arbeit, zu der Frifche des 
Geijtes und ununterbrochene Thätigfeit erforderlich war, faft unmög- 
fich machte, ſchrieb er fein religiöfes Teftament: die „Erziehung des 
Menschengefchlecht3‘, von welcher bisher nur ein Theil erfchienen 
war und in welcher er in kurzen Paragraphen eine Gefchichte 
der religiöfen Entwidelung der Menjchheit entwirft. „Jede Er- 
ziehung,“ fagt Leffing, „hat ihr Biel: bei dem Gefchlechte nicht 
weniger al3 bei dem Einzelnen. Was erzogen wird, wird zu 
etwas erzogen. . . . Sie wird fommen, fie wird gewiß fommen 
die Zeit der Vollendung. Gehe deinen unmerflihen Schritt, 
ewige Vorfehung, nur laß mich diefer Unmerflichfeit wegen an 
dir nicht verzweifeln, wenn felbft deine Schritte mir en 
follten, zurüczugehen!‘“t) 

In den legten Jahren feines Lebens waren feine Nerven 
zuweilen fo herabgefpannt, daß er weder Iefen noch fehreiben 
fonnte. In einem folchen Zuftande empfing er im Sommer 
1780 den Befucd des Philofophen Fr. H. Jacobi. Sie ſprachen 
über verfchiedene philofophifche und religiöfe Dinge, über Pan- 
theismus und Spinozismus und was damit zufammenhängt, fie 
hielten Unterredungen, deren Inhalt Jacobi aus dem Gedächt⸗ 
niffe aufgezeichnet Hat, und welche für Mendelsfohn fo folgereich 
und verhängnißvoll wurden. „Leffing wollte mich überreden,“ 
Ichreibt Jacobi, „ohne ihn nach) Berlin zu reifen, und wurde alle 
Tage dringender. Sein Hauptbewegungsgrund war Mendels— 
fohn, den er unter feinen Freunden am höchſten fchäßt. Er 
wiünfchte fehnlich, daß ich ihn möchte perfönlich kennen Lernen.“ ?) 
„Moſes Mendelsfohn fchien Leffing für den helliten Kopf, den 
vortrefflichjten Philofophen und den beften Kunftrichter unferes 


1) Erziehung des Menſchengeſchlechts $ 66 f. 
2) Jacobis Werfe IV, 1 


— 355 — 


Sahrhunderts zu Halten. Ebenso urtheilt Lichtenberg,“ fchrieb 
Jacobi den 20. October 1780 an Heinſe.!) 

Mit Jacobi und feiner ihn begleitenden Schweiter fuhr 
Leffing nach Halberjtadt, um Gleim einen Beſuch abzuftatten; 
im October unternahm er eine Reife nad) Hamburg. Nad) 
feiner Rückkehr verichlimmerte fich fein Zuftand. Am 19. Decem- 
ber 1780 jchrieb er den legten Brief an feinen ältejten theuer- 
ſten Freund, der feit einigen Jahren fein Schreiben von ihm 
erhalten hatte, Diefes befremdete mich zwar nicht — es find 
das Mendelsfohns eigene Worte — denn er war, wie feinen 
Freunden befannt ift, nie der rüſtigſte Briefichreiber, auch eben 
im Beantworten nicht pünktlich, wenn es blos um Freundfchafts- 
verficherung, ohne weitern Inhalt, zu thun war. Andefjen öffnete 
ich doch dejto begieriger das Briefchen, das mir ein Unbekann— 
ter überreichte. Nun hatte fich Leffing, fo lange ich ihn Fannte, 
in fo verfchiedenen äußern Umftänden und Lagen ich ihn kannte, 
nie über Undanf feiner Zeitgenoſſen befchwert; nie beflagt, daß 
ihm nicht Gerechtigkeit widerführe, daß feine Verdienjte nicht 
belohnt würden, und dergleichen Beſchwerden, die fo mancher 
mit weit geringerm Rechte von fich Hören läßt. Die Worte 
„Ich“ und „Mein“ war ich gewohnt, aus feinem Munde fo 
jelten al3 möglich zu vernehmen. Auch waren feine Briefe alle 
zeit lebhaft, gedanfenreich. und von gediegenem Inhalt. Alle 
Arten von Laune war ich an ihm gewohnt; nur niemals Nieder: 
gefchlagenheit oder Mißmuth. Er war allezeit der tröftende, 
nie der troftfuchende Freund. 

Und nun — id kann die widrige Empfindung nicht be= 
Ichreiben, die ich hatte, als mir folgende Zeilen einen ganz 
anderen Mann zu erfennen gaben, einen gebeugten, abgehärm- 
ten, endlich unterliegenden Kämpfer, einen gleichfam müde ge= 
jagten, verfchmachtenden Hirſch, der endlich Hinfinft und fein 
edles Geweih muthlos in den Staub legt. 


NR. Zoepprig, Aus F. H. Jacobi Nachlaß (Leipzig 1869), I, 28. 
23* 


— 356 — 


„Ziebiter Freund! 

Der Reifende, den Sie mir vor einiger Zeit zufchidten,?) 
war ein neugieriger Neifender. Der, mit dem ich Ihnen jetzt 
antworte, ift ein emigrirender. Diefe Claſſe von Reiſenden 
findet fic) unter Yoriks Claſſen nun zwar nicht, und unter diefen 
wäre nur der unglüdfiche und unfchuldige Neifende, der hier 
allenfall3 paßte. Doch warum nicht lieber eine neue Claſſe ge- 
macht, als ſich mit einer beholfen, die eine fo unſchicklich Be— 
nennung hat? Denn es ift nicht wahr, daß der Unglückliche 
ganz unschuldig ift. An Klugheit hat er es wohl immer fehlen 
laſſen. 

Eigentlich Heißt er Mlerander Davefon,?) dieſer Emigrant; 
und daß ihm unfere Leute, auf Verhetzung der Shrigen, ehr 
häßlich mitgefpielt haben, das kann ich ihm bezeugen. Er will 
von Ihnen nichts, Tieber Moſes, als daß Sie ihm den kürzeſten 
und ficherften Weg nad) dem europäifchen Lande vorfchlagen, 
wo es weder Ehriften noch Juden giebt. ch verliere ihn un- 
gern; aber jobald er glücklich da angelangt ift, bin ic) der Erſte, 
der ihm folgt. 


') Dr. Flied aus Berlin, Schwiegerjohn Itzigs, ein Mann von 
großem Bermögen, der zu Göttingen zu feinem Vergnügen Mebdicin 
ftudirt hatte, beabfichtigte eine Reife nad Stalien und wurde Leffing 
von Mendelsjohn (Schr. V, 201) empfohlen. 

2) Alerander Davejon aus Braunfchweig, ein Schügling Leſſings, 
der mit Kunftfahen Handel trieb und an Herzog Karl einen guten 
Kunden hatte, ihm auch ſonſt Gefälligfeiten erwies, wurde nad) dem 
Tode des Herzogs gefänglich eingezogen. Leſſing bot alles auf, ihn zu 
feinem Rechte zu verhelfen und nahm ihn nad feiner Befreiung als 
Hausgenofjen mit nad Wolfenbüttel. Davefon begab ſich nah Eng: 
land, kehrte zehn Jahre fpäter, 1790, zurüd und fündigte unter dem 
Namen Karl Lange, den er fortan führte, in Hamburg fogen. attifche 
Unterhaltungen an; er wurde damit verlaht und ausgepfiffen. In 
der Folge nährte er fih von Schriftjtellerei; er war eine Zeit lang 
Schriftführer des Fürften Hardenberg in Anſpach und gab in den 
Jahren 1806 bis 1808 den Telegraphen heraus. Danzel-Guhrauer, 
a. a. D. II, 59. 


— 357 « 





An dem Briefchen, das mir Dr. Flies damal3 von Ihnen 
mitbrachte, faue und nutſche ih noch. Das faftige Wort ift 
hier das edelſte. Und wahrlich, Tieber Freund, ich brauche fo 
ein Briefchen von Zeit zu Zeit ſehr nöthig, wenn ich nicht ganz 
mißmuthig werden fol. Ich glaube nicht, daß Sie mid) als 
einen Menfchen Fennen, der nach Lobe Heißhungrig ift. Aber 
die Kälte, mit der die Welt gewifjen Leuten zu bezeugen pflegt, 
daß fie ihr auch gar nichts vecht machen, iſt, wenn nicht tödtend, 
doch eritarrend. Daß Ihnen nicht alles gefallen, was ich feit 
einiger Zeit gefchrieben, das wundert mid) gar nicht. Ahnen 
hätte gar nichts gefallen müfjen; denn für Sie war nichts ge- 
ſchrieben. Höchſtens Hat Sie die Zurüderinnerung an unfere 
befjern Tage noch etwa bei der und jener Seite täufchen fünnen. 
Auch ic war damals ein gefundes ſchlankes Bäumchen, und 
bin jet ein fo fauler fnorriger Stamm! Ach, lieber Freund! 
diefe Scene ift aus! Gern möchte ich Sie freilich noch einmal 
Iprechen! 

Wolfenbüttel, den 19. December 1780. Leſſing.!) 

Gern hätte ich Dir dieſen Troſt gegönnt, liebe Seele! Gern 
wollte ich mich von meinen Geſchäften und von meiner Familie 
losreißen, zu Dir hineilen und Dich noch einmal ſprechen. Aber 
leider! machte ich es, wie wir es bei ſo manchem guten Be— 
ginnen zu machen pflegen. Ich verſchob und verweilte — bis 
es zu ſpät war. Ach! es waren die letzten Worte, die ich von 
ihm vernahm!“2) 





') Schr. V, 202 f.; II, 408 f. 
2) Schr. II, 407 ff. 


— 358 — 


Einundjechzigites Kapitel. | 
Leſſings Tod. 


„Unser Leffing ift hin! Sollten wir, feine Freunde, nicht 
an den Herzog fchreiben, und um feine Papiere bitten?“ 1) 

Diefe wenigen inhaltsfchweren Worte ſchrieb Mendelsfohn 
in der bittern Stunde, in welcher die Trauerbotfchaft von dem 
am 15. Februar 1781 in Wolfenbüttel erfolgten Tode feines 
Bufenfreundes bei ihm eintraf. 

Leffing war hin! Der Mann, mit dem er nahezu dreißig 
Fahre in vertrautefter Freundfchaft gelebt, mit dem er unaufhör: 
lich nach Wahrheit geforfcht, Leffing, den er innig liebte und von 
dem er innig geliebt wurde, war plößli der Erde entrüdt, 
Deutfhland Hatte den freieften Geift, den genialften Denker, 
Mendelsfohn feinen beiten, treuejten Freund verloren. 

In Heiliger Stille ertrug er in den erjten Tagen den 
Schmerz um den erlittenen Berluft; er wollte das Andenken 
feines Freundes nicht durch Klagen entweihen; dann aber made 
er feinem gepreßten Herzen in dem föftlichen Schreiben an den 
Bruder des Dahingefchiedenen Luft, das uns wie der Nachruf 
eines echten Weifen ſchmerzlich ergreift: 


) Schr. V, 580. Mendelsjfohn, Nicolai und noch ein dritter 
wandten fich gleich nach Leſſings Tod an den Herzog, um ihre Privat: 
Gorrefpondenz heraus zu bitten. Der Herzog antwortete, daß er feinen 
Theil daran hätte, und verwies fie an denjenigen (Wefjely hatte den 
Namen des Minifterd vergefjen), der alle jeine Bapiere in Händen habe 
und fie ihnen allerdings ausliefern jolle, jchreibt Elife Reimarus an 
Henning3 den 18. Septbr. 1781 (N. Laufit. Magazin, XXXVIIL, 38). 
Leifings Nachlaß hatte nicht ein Minifter, ſondern Profeſſor Schmidt, 
ein Freund des Verftorbenen, auf Befehl des Herzogs verfiegelt. Privat: 
fchriften und Briefe von Freunden, jchreibt der Herzog, jollen durd 
Prof. Schmidt von den eigenen Manufcripten Leſſings abgefondert 
werden, wie Mendelsjohn Herder den 15. März 1781 mittheilte 
(Schr. V, 587). 


— 359 — 


„Richt ein Wort, mein Bejter! von unferem Verluſte, von 
der großen Niederlage, die unfer Herz erlitten. Das Andenken 
des Mannes, welchen wir verloren, ijt mir jeßt zu heilig, um 
es durch Klagen zu entweihen. Es erſcheint mir nunmehr in 
einem Lichte, da3 Ruhe und erquidende Heiterkeit auf die Gegen- 
ftände verbreitet. Nein! ich vechne nicht mehr, was ich durch 
feinen Hintritt verloren. Mit gerührtem Herzen danfe ich der 
Borjehung für die Wohlthat, daß fie mich fo früh in der Blüthe 
meiner Jugend hat einen Mann kennen Lafjen, der meine Seele 
gebildet hat, den ich bei jeder Handlung, welche ich vorhatte, 
bei jeder Zeile, welche ich Hinfchreiben follte, mir al3 Freund 
und Richter vorftellte, und den ich mir zu allen Zeiten noch als 
Freund und Richter vorjtellen werde, fo oft ich einen Schritt von 
Wichtigkeit zu thun Habe. Wenn fich in diefe Betrachtung noch) 
etwas Melancholifches mit einmifcht, fo iſt es vielleicht die Reue, 
daß ich feine Führung nicht gehörig benutzt habe, daß ich nicht 
geizig genug war nad) feinem Tehrreichen Umgange, daß ich 
mande Stunde vernachläffigte, in der ich mich mit ihm hätte 
unterhalten können. Ach! feine Unterhaltung war eine ergiebige 
Duelle, aus welcher man unaufhörlich neue Ideen des Guten 
und Schönen ſchöpfen fonnte, die er wie gemeines Waller von 
fich fprudelte, zu jedermanns Gebraud. Die Milde, mit welcher 
er feine Einfichten mittheilte, jeßte mich zuweilen in Gefahr, das 
Berdienft zu verfennen: denn fie ſchien ihn in feine Unkoſten zu 
feßen; und zumeilen fchob er fie den meinigen jo mit unter, daß 
ich fie nicht mehr ‚unterfcheiden fonnte. Weberhaupt war feine 
Mildthätigkeit Hierin nicht von der engherzigen Art mandjer 
Neichen, die es fühlen laſſen, daß fie Almofen ausſpenden; ſon— 
dern er fpornte den Fleiß an, und ließ verdienen, was er gab. 

Alles wohl überlegt, mein Liebfter! ift Ihr Bruder gerade 
zur rechten Zeit abgegangen; nicht nur in dem Plane des Welt- 
alla zur rechten Zeit: denn da gejchieht eigentlich nicht? zur 
Ungzeit, fondern auch in unferer engen Sphäre, die faum eine 
Spanne zum Durchmefjer hat, zur rechten Zeit. Fontenelle fagt 


— 360 — 


von Copernicus: er machte fein neues Syſtem befannt, und 
ftarb. Der Biograph Ihres Bruders wird mit eben dem An— 
Itande fagen fünnen: er fchrieb Nathan den Weifen, und ftarh. 
Von einem Werfe des Geiftes, das eben fo fehr über Nathan 
hervorragte, als diefes Stüd in meinen Augen über alles, was 
er bis dahin gejchrieben, kann ic) mir feinen Begriff machen. 
Er konnte nicht höher fteigen, ohne in eine Region zu Fommen, 
die ſich unferen finnlichen Augen völlig entzieht, und dies that 
er. Nun ftehen wir da, wie die Jünger des Propheten, und 
jtaunen den Ort an, wo er in die Höhe fuhr und verfchwant. 
Noch einige Wochen vor feinem Hintritte hatte ich Gelegenheit, 
ihm zu fchreiben: er follte fich nicht wundern, daß der große 
Haufe feiner Zeitgenoffen das Verdienſt diefes Werkes verfenne; 
eine bejjere Nachwelt werde noch funfzig Jahre nach feinem 
Tode daran lange Zeit zu fauen und zu verdauen finden. Er 
ift in der That mehr als ein Menfchenalter feinem Jahrhun— 
derte zuvorgeeilt.“!) 

Der Tod diefes Bufenfreundes, mit dem Mendelsjohn zu 
leben gleihfam gewohnt war, hatte eine tiefe Wunde feinem 
Herzen geichlagen. Sein Tod blieb noch Tange der einzige Ge 
danfe, der ihn unaufhörlich befchäftigtee Er machte ihn, wie 
e3 in dem Klagebriefe an Hennings vom 8. Mai 1781 heißt, 
„nicht traurig, nicht tiefjinnig, aber er war ihm immer gegen- 
wärtig, wie das Bild einer Geliebten. Ich fchlafe mit ihm 
ein, träume von ihm, mache mit ihm auf und danfe der Vor— 
jehung für die Wohlthat, die fie mir erzeigt hat, daß ich diefen 
Mann fo frühzeitig habe kennen lernen und daß ich feinen 
freundfchaftlichen Umgang fo Yange genofjen habe.‘?) 

Leffings Bild ſchwebte ihm vor, fo lange er lebte; er fiel 
ihm bei, jo oft er fi) nad) einem Beurtheiler feiner Arbeiten 
umjah. Leſſing blieb es, nach dejjen Beifall und Aufmunterung 
er rang, jo lange noch Odem in ihm war, „denn obgleich der 

) Schr. V, 580 ff. 

2) 1. Aufl. ©. 531. 








— 361 — 


Eifer für die Freiheit der Unterfuchung diefen Wahrheitsforfcher 
nur allzufrüh aufgerieben hat, fo wird er doch für mich nie 
todt fein, meinem Geijte immer gegenwärtig bleiben, und id) 
werde bei jeder Zeile, die ich in philofophiichen Sachen nieder: 
fchreibe, mich immer noch fragen: Würde Leffing dieſes billigen ?“?) 

Wer ftand Mendelsfohn noch fo nahe wie li Wer 
vermochte ihm feinen Leſſing zu erfegen? Ä 


Zweiundſechzigſtes Kapitel. 
Herderd Annäherung. 


Mendelsfohn fühlte ſich durch den Tod Leffings einfam 
und verlaffen; feinem der früheren Freunde konnte er fich enger 
anfchließen. 

Die Freundſchaft, welche ihn in früheren Jahren mit 
Nicolai verknüpfte, war, wenn auch nicht geradezu erloſchen, ſo 
doch gewaltig erkaltet. Von der „Allgemeinen deutſchen Biblio— 
thek“, für die er ſeit ihrem Beginne und noch Anfang der ſieb— 
ziger Jahre zuweilen Beiträge lieferte, hatte er ſich zurückge— 
zogen, ſobald ſie eine bloße Recenſiranſtalt zu werden anfing. 
Wie alle ſublunariſchen Dinge Hatte ſich auch fein Verhältniß 
zu Nicolai verändert. Er fah ihn, wie er Hennings gefteht, 
des Jahres kaum fo oft, als Theile von der Bibliothef er- 
Ichienen. „Unjere Sreundfchaft ift noch immer diefelbe, allein 
unfer Hausftand und unfere Gefchäfte haben zugenommen, und 
leßtere liegen zu weit voneinander. Unfer Gejchmad und unfere 
Neigungen, denen man in Erholungsftunden nachzugehen pflegt, 
mögen fi) auc zum Theil verfchiedentlich modificirt haben, und 


) Schr. VI, 127; II, 361. 


— 362 — 


was fonft für Heine Urfachen Hinzuzufommen pflegen, warum 
man in zwanzig, dreißig Jahren nicht immer denfelben Zeit— 
vertreib liebt. Nicolai ift ein Mann von überhäuften Gefchäften 
und die Beforgung der „Bibliothek“ iſt eine jo weitläufige und 
mühſame Arbeit geworden, daß er fie einem andern hat auf- 
tragen müſſen. Ex jelbjt bejieht die einlaufenden Recenfionen 
etiva wie ich die abgelieferten feidenen Waaren mit flüchtigem 
Auge, eine und die andere Lage, ob die Arbeit regelmäßig fei. 
Denken Sie fi) hiernächſt achtzig, neunzig Gelehrte in ganz 
Deutfchland zeritreut, jeder mit feiner HHypochondrie und Laune, 
Eigenliebe und Eitelkeit, der jich lieber einen Feben aus feinem 
beiten Sonntagsrod ausschneiden, al3 eine Zeile in feinem Ma- 
nufeript ausſtreichen läßt.“!) 

Der einzige, der Miene machte, ſich dem alten Freunde 
und Vertrauten Leſſings inniger anzuſchließen, war Herder. 
Seit ihrer Begegnung in Pyrmont konnte es zu keinem freund— 
ſchaftlichen Verhältniſſe zwiſchen ihnen kommen. Herder Hatte 
„dem rechtſchaffenen Iſraeliten, den er von Herzen hochſchätzte“, 
dem 10. October 1779 fein neu erſchienenes „Maran-Atha“ 
oder die „Offenbarung Johannis“, nicht um ihn zu befehren, 
ſondern al3 ein Zeichen der Hochachtung mit der Bitte zuge- 
fandt, ihm fein unparteiifches Urtheil darüber zu fagen;?) Men- 
delsfohn dem „verehrungswürdigen Herrn Superintendenten‘ 
acht Monate fpäter mit der erſten Lieferung feiner Bentateuch- 
Ueberjegung aufgewartet.) Wiederholt hatte Herder, der das 
Hebräifche fehr gut verjtand, Mendelsfohns Verdienſt um das 
Alte Teftament in den erjten beiden Theilen der „Theologischen 
Briefe‘. hervorgehoben, an einer Stelle des dritten Theiles 
feiner Achtung vor ihm durch die Art und Weiſe Ausdrudf ge- 
geben, in dem er dem Gerüchte widerſprach, daß Mendelsjohn 


) 1. Aufl. S. 530. 
2) Aus Herderd Nachlaß IL, 217 F.; 1. Aufl. S. 541. 
s) 1. Aufl. ©. 542. 


— 363 — 


der Verfaffer der „berühmten verfchrienen, widerlegten Frag- 
mente‘ jei.t) 

Se mehr er fi) von dem ercentrifchen Lavater entfernte 
und eine freiere vationaliftifche Richtung bei ihm zum Durch— 
bruch fam, um fo lebhafter fühlte er fich zu Mendelsfohn Hin- 
gezogen. Kaum Hatte er das Hinfcheiden Lefjings erfahren, fo 
richtete er an den ihm überlebenden Freund folgenden Brief, 
den man nicht ohne tiefe Rührung leſen kann: 

„Ohne Zweifel, lieber theurer Mendelsfohn, wiſſen Sie, fo gut 
wie ich, Leſſings Tod; ich kann aber nicht umhin, da ich mich 
ſchon feit zwei Tagen damit trage und gegen niemand mein Herz 
darüber recht ausfchütten und losmachen kann, an Sie, Tiebfter 
Mendelsfohn, zu ſchreiben, an Sie, defjen Freund er fo fehr war und 
den ich mir in meinen erjten Jahren jo gern und oft mit ihm zu= 
Tammendadte. Die Vorfehung hat auch Hierbei, wie bei allem, 
ihre weiſen, guten Zwecke und Wege: er iſt bald und frühe des 
unvollfommenen Wirrwarrs losgeworden, in und mit dem wir 
uns bier fchleppen, um nun die erjten Blicke der Wahrheit und 
fejten Seelenfreiheit thun zu können; Ihnen aber brauche ichs 
gewiß nicht zu jagen, was Deutjchland, was die Wifjenfchaften, 
was die edle, männliche Bejtrebung in den Wiffenfchaften an 
ihm verloren und lange nicht wiederfinden werden. Mir ijts 
noch) immer, jo entfernt wir von einander arbeiteten und dachten, 
fo leer zu Muth, als ob Wülte, weite Wüfte um mich wäre. 

Laſſen Sie fi), "lieber Mendelsſohn, erbitten, gewiljer- 
maßen feinen Pla in mir auszufüllen und mir etwas näher 
zu fein, als Sie es find... . Sch begehre nicht Ihre Freund: 
Tchaft, die fich nicht antragen läßt, die ich auch meiner Ge— 
müthsart nach niemand in der Welt je angetragen habe; aber 
Ihre Gutmüthigkeit, Ihr unverhohlenes Wohlwollen in Sachen, 
wo wir doc) einerlei Zmwede in großem Ganzen, wenngleich in 
fo verjchiedenen Sphären zu befördern haben, dies wünsche, dies 

Theologiſche Briefe, 1. Aufl. I, 78, 203, IL, 164 ff.; Haym, 
a. a. O. II, 153. 


— 364 — 


erbitte ich mir, da ich Sie fo innig und aufrichtig hochſchätze 
und liebe, auch mit jedem Jahre des Lebens Tieber gewinne.“ 

Welche Fülle von Freundichaft, Liebe und Hochachtung Tiegt 
in diefem Briefe des ſonſt fchroffen, hochmüthigen Weimarjchen 
Superintendenten! Und gar der Schluß! „Leben Sie wohl, 
fiebjter Mendelsfohn, und fparen Sie fih, fo viel an Ihnen 
ilt, unferer Erde. Da Leffing Hin ift, Hat Deutichland Gie, 
wenn Sie auch nur jtillwirkender Zeuge find, vor jo vielen 
anderen nöthig.“t) 

Diefe nicht wenig fchmeichelhafte, Herzinnige Eröffnung ver- 
fehlte de3 Eindruds auf Mendelsfohn nicht. Angefprochen durch 
den an Herder ihm ganz neuen Ton, nahm er die angetragene 
Freundichaft mit Freuden an. „Auch diefes, mein bejter Herder,“ 
heißt e3 in feiner Antwort vom 15. März, „it Weg der Vor— 
fehung, daß Leſſings Tod zwei Gemüther ſich einander näher 
bringen muß, die, wie jet am Tage liegt, ein leidiges Miß— 
verftändnig don einander entfernt Hatte . . . . Es ift ein 
wahres Labfal für meine Seele, daß Sie durch den Tod Leffings 
eine gleiche Lücke in Ihrem Herzen empfinden und folche durch 
die Annäherung mit dem meinigen wieder auszufüllen gedenken. 
Haben Sie herzlichen Dank dafür, daß Sie den erjten Schritt 
dazu gethan. Sie follen mich ficherlich auf halbem Wege treffen. 
Ich gehe etwas Yangfam, aber ununterbrochen. Jeder hat feine 
Weiſe, und ich habe das Zutrauen zu Ihrer Menfchenfenntniß, 
daß Sie meine Faltjcheinende Weife nicht mißfennen werden. 
Sie it in Wahrheit mehr gemäßigt al3 falt, und Sie werden 
fie Hoffentlich in der Folge der Zeit immer echter und bewähr- 
ter und Ihrer Liebe würdiger finden. . . . Sch Hoffe, es foll 
bei diefem erjten Schritte, den wir zur Freundſchaft gethan, 
nicht bleiben, und verſpreche Ihnen, allezeit jo offenherzig zu 
fein, als Sie mid) jet finden. Ich kann Ihnen auf der Lauf: 
bahn, auf welder Sie fo große Schritte thun, nicht folgen; 


) 1. Aufl. ©. 543 ff. 


— 365° — 


aber ohne Neid kann ich Ihnen meinen herzlichen Beifall nach— 
rufen, fo oft Sie ihn mir zu verdienen fcheinen. Lieben Sie 
mic), Brüderchen!“) 

Wenn man diefe Briefe Lieft, follte man glauben, zwifchen 
Herder und Mendelsfohn Hätte ſich ein Freundfhaftsband ge= 
fnüpft, da3 unauflösbar gewejen wäre, Herder hätte bei Men- 
delsfohn in der That die Lücke wenigſtens theilweife ausgefüllt, 
die der Tod Leffings in feinem Herzen zurückgelaſſen hatte. 
Herder war jedoch) Fein Leſſing. Was Mendelsfohn an letzterem 
fo hoch verehrte, war die echte Toleranz, die eben fo fehr an— 
deren Heberzeugungen gönnte, als er fie für die feine in An— 
ſpruch nahm; Herder, der Apojtel der Humanität, eiferte Leffing 
nach, erreichte ihn aber nit. Yhm war Mendelsfohn immer 
noch der Jude; er, der Freund des „Magus im Norden“, ſchloß 
den innigjten Bund mit Goethe, fühlte fich zu Jacobi immer 
mehr Hingezogen; wie fonnte er auch zugleich der Freund eines 
Mendelsfohn fein? 

Was beide noch einige Zeit verbunden hielt, war die ge- 
meinfchaftliche Verehrung für Leffing, der Herder bald in einem 
pietätsvollen Nachrufe einen fo herrlichen Ausdrud gab, ehe 
noch Mendelsjohn feinen Plan ausführte, etwas über den Charak— 
ter feines Tiebjten Freundes zu jchreiben. 


Dreiundiechzigites Kapitel. 
Charalteriſtik Leſſings. 


„Ich bin willens,“ ſchreibt Mendelsſohn an Herder den 
18. Mai 1781, „dieſen Sommer, wenn es meine Geſund— 
heitsumſtände erlauben, etwas über Leſſings Charakter zu 


1) Schr. V, 582 ff. 


— 366 — 


Schreiben.“ !) Er hielt es für heilige Pflicht, befonders dieſe 
Seite feines Freundes zu beleuchten, weil er gerade von Diefer 
Seite verfannt, ja jogar zum Theil mißfannt wurde. Wer wäre 
zu einer folchen Arbeit geeigneter gewejen, als eben der, der 
Leffing felbjt im höhern Sinne feinen Freund nannte; niemand 
fannte ihn bejjer und genauer als Mendelsfohn; niemand war 
in fein Geiftesfeben tiefer eingedrungen al® er. „Nur feine 
vertrautejten Freunde fannten ihn als einen von den feltenen 
Menſchen, die beijer find als fie fcheinen wollen. Die Gleiß— 
nerei der Modefitten und der fogenannten guten Zebensart ift 
ihnen zum Efel, daß fie in ihrem Aeußerlichen lieber daS Gegen- 
theil davon annehmen und eine Art von Ungefelligfeit zur 
Schau tragen, daran ihr Herz nicht den mindeften Antheil hat.“ 
„Die Welt kennt Leffings fchriftitelleriichen Werth, wenige aber 
fennen feinen freundfchaftlichen Werth; ja ich finde,“ heißt es 
in einem Briefe Mendelsfohns an Hennings vom 8. Mai 1781, 
„daß fein moralifcher Werth überhaupt von vielen fogar miß- 
fannt werde. Auch die Begriffe von Tugend und Gittlichkeit 
find der Mode unterworfen, und wer fi) nicht nach den Mode- 
begriffen feine® Jahrhunderts fchmiegen fann, der wird von 
feinen Beitgenofjen verfannt und verfchrien. Sp viel fcheint 
mir indefjen außer allem Zweifel zu fein: wenn irgend ein 
Menfch beſſer war, als er fich in feinen Schriften zu erkennen 
gab, fo war es Leſſing. Die am meiften wider ihn eingenommen 
waren, wußte er in einer Stunde perfönlichen Umgangs zu ge— 
winnen und gleichtwol ift ihm meines Wiſſens nie eine gefliffent- 
fihe Schmeichelei aus dem Munde gegangen, ja er hatte ſogar 
die — wie foll ich e8 nennen? — Bizarrerie, ein abgejagter 
Feind von der äußern Höflichkeit zu fein. Seine gefellichaft- 
lihen Tugenden beftanden vielmehr in echter Theilnehmung, aufs 
richtiger Dienftbefliffenheit, in der äußerjten Entfernung von 
Eigennug und Eigendünfel und in der milden Bereitwilligkeit, 


1) 1. Aufl. ©. 546 f. 


— 367 — 


einem jeden mit feinem Reichthum an Begriffen jo zuvorzu— 
fommen, daß man fich in einer Unterredung mit ihm allezeit 
Icharfjinniger glaubte, als man wirklich war, ob man gleich nicht 
unterlaffen konnte, defjen Weberlegenheit innerlich recht ſehr zu 
fühlen. Sarkaſtiſch und bitter gegen jeden Ged, der fich die 
Wahrheit allein gefunden zu haben einbildete, war er liebreich 
und befcheiden gegen jeden, der Wahrheit fuchte, und zu allen 
Beiten bereit, ihm mit feinem Vorrathe zu dienen.“ !) 

Das ift Leſſing, das ift fein Charakterbild voll Geift und 
Leben. „Das, das allein ift das echte Gefühl des Weifen!“ 
vief Leſſings treue Freundin Elife aus, als fie Mendelsfohns 
Brief an Henning3 gelefen Hatte. Ihr Wunſch war die ganze 
mitgetheilte Stelle über den theuren VBerfchiedenen als den Aus- 
zug eines Briefes ind „Muſeum“ einrüden zu lafjen. „Rein 
Menſch kann den Stempel eines Mendelsfohn darin verfennen, 
fein Menfch Leſſings Charakter feine Ehrfurcht verfagen. Auch 
Weilely Hat diefe Stelle des Briefe gejehen und noch viel 
hinzugefegt, wa3 Mendelsfohns Erfahrung aufs vollfommenfte 
bejtätigt.“ 

Elife freute fich herzlich, daß Mendelsſohn ernitlic) daran 
dachte, etwas Zufammenhängendes über Leſſings Charakter 
herauszugeben, und wünſchte nur, „daß er nicht lange zögern 
möchte, ich felbft und feinem Freunde dieſes Monument zu 
jegen.“ 2) 

Noch che Mendelsfohn zur Ausführung feines Planes 
ſchritt, überrafchte ihn Herder mit einem dem gemeinfamen 
Freunde in Wielands „Merkur“ gefegten Denfmale. Er nahm 
e3 mit inniger Freude auf und dankte dem Berfafjer mit der 
Berficherung aufrichtiger Freundfchaft. „Meine Hochachtung haben 
Sie ſchon feit vielen Jahren, aber diefer Aufſatz über Leſſing 


) 1. Aufl. ©. 531. 
2) Elife Reimarus an Hennings, 29. Mai 1781, im N. Laufig. 
Magazin, XXXVILU, 37. 





— 368 — 


macht, daß ich mich näher an Sie fchließe, daß ich Sie Tiebe 
und jehnlichit wünfche, von Ihnen wieder geliebt, Jhr Freund 
genannt zu werden; denn die Freundichaft eines ſolchen Mannes 
fann den Verluſt eines Leſſings auf den Ueberrejt meiner Tage 
erſetzen.“ 

„Wie es um meinen Aufſatz über Leſſing ſteht?“ heißt es 
am Schluſſe dieſes Briefes an Herder. „Ich warte noch immer 
auf meine Correſpondenz, die mir der Bruder aus der Ver— 
laſſenſchaft zuzuſchicken verſprochen.) Und wenn ich nun dieſe 
erhalten, werde ich auch etwas hervorbringen können, das dem 
Ihrigen an die Seite geſetzt zu werden verdient? Wir wollen 
jehen.“ ?) | 
Die Correfpondenz ließ lange auf fi) warten. Mendels- 
ſohn entwarf inzwifchen die „Hauptzüge” zur Charafteriftif des 
Freundes, welche Karl Lefjing in die Hände fielen und welche 
er von „Wort zu Wort“ der Lebensbejchreibung feines Bruders 
hinzufügte.) Dem Entwurfe gemäß follte ſich die Charakteriftif 
erjtreden über Leſſings Liebe zum Forfchen, das er für die Be- 
ſtimmung des Menfchen hielt und dem er alle übrigen Nei- 
gungen opfern Fonnte, über feine Lieblingsneigung, fich der 
Ihwächern Seite anzunehmen, über feinen mit Wiß verbundenen 
Scharffinn, über feine außerordentliche Befcheidenheit, feine un— 
begrenzte Mildthätigfeit und Unverdrofjenheit, von feinen Ein- 
jihten anderen mitzutheilen, über feinen Mangel an äußerlicher 
Höflichkeit und feine Unfähigkeit mit den Großen umzugehen. Er 
wollte feine eigene Anficht darlegen über Emilia Galotti, die 
Tragödie, die ihm ganz vortrefflich ſchien und die ihn, als er 
fie zum erften male las, jo angegriffen hatte, daß er die ganze 


) „Daß Mendelsjfohn noch nichts von Leſſings Biographie her— 
ausgiebt, daran ift Lejfingd Bruder Schuld,’ jchreibt Elife Reimarus 
an Hennings am 18. Septbr. 1781. Magazin, 38; Schr. V, 696. 

2) 1. Aufl. ©. 549. 

3) K. Leſſing, a. a. ©. II, 14 ff.; 1. Aufl. ©. 563 ff. 


— 369 — 


Nacht nicht Tchlafen konnte; nur den Prinzen hätte er anders 
und beſſer gewünſcht.!) 

Die Charakteriſtik kam über die Hauptzüge nicht hin— 
aus; Mendelsſohn wurde durch andere Arbeiten an der wei— 
tern Ausführung verhindert. Zunächſt gab er im September 
1781 ſeine „Anmerkungen zu Abbts freundſchaftlicher Correſpon— 
denz“?) heraus, zu früh für ihn ſelbſt, wie er in der „Vorerinne— 
rung“ bemerkt, da es ihm an Muße und Kraft fehlte, Diele 
Anmerkungen gehörig auszuführen und in die Form zu bringen, 
in welcher der wichtige Theil derjelben zum zweiten Theile des 
„Phädon“ gebraucht werden ſollte. Außerdem veranlaßten ihn 
gerade in jener Zeit verjchiedene dringende Umstände, feine An- 
fihten über Religion im allgemeinen und Judenthum im befon= 
dern darzulegen. 


') Leſſings Schr. XIII, 370 f. 
?) Berlin, Nicolai, 1782, aud) im 3. Theile von Th. Abbt3 ver— 
miſchten Werken (Berlin 1782); Schr. V, 370—408. 


Kanjerling, Moſes Mendelsſohn. 24 


Vierzehntes Bud). 
Jeruſalem. Staat und Religion. 


Bierundjechzigites Kapitel. 
Smaneipation. 


„Ich Habe es jederzeit mit größerm Vergnügen gefehen, 
wenn das Borurtheil der Ehriften wider die Juden von einem 
hriftlichen Schriftiteller bejtritten wird. Juden müffen fich gar 
nicht einmifchen, um die großmüthige Abjicht zu befördern. So— 
bald das geichieht, ſobald muß fie auch gemißdeutet und übel 
ausgelegt werden.“ 

So ſchrieb Mendelsjohn an den Freiherrn von Hiirſchen, 
welcher zufammen mit dem jungen Friedrih Schönemann in 
Deffau eine „Zudenbibliothef zum Beten jüdifcher und chriſt 
licher Armen“ herausgeben wollte und auch ihn zur Theilnahme 
an derfelben aufforderte. Um felbjt den Schein der Parteilid- 
feit zu vermeiden und nicht zu Mißdeutungen Anlaß zu geben, 
unterlie es Mendelsjohn, das Vorurtheil wider feine Glaubens 
genofjen, „das zu tiefe Wurzeln gejchlagen hatte als daß «& 
leicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden könnte“, in 
Schriften zu befämpfen, jo oft- er auch von Juden und vor 
urtheilsfreien Chrijten darum angegangen wurde Er wartete 


— 371 — 


ab, bis exit freie Denker unter den Chriften ihre Stimme für 
die gedrücten Juden erhoben und Bahn gebrochen hatten. ?) 

Die Gelegenheit bot fich bald. 

Die Elſäſſer Juden, deren trübe Lage durch die aufreizende 
Schrift?) eines judenfeindlicden Landrichters, des 1794 guillo— 
tinirten Hell, unerträglich” geworden war, wandten ſich durch 
ihren Bertreter, den geachteten Cerf Beer in Meb, an Mendels- 
fohn mit der Bitte, eine die Verbefjerung ihrer Lage beziwedende 
Denkichrift, welche dem franzöſiſchen Staatsrathe vorgelegt wer- 
den follte, zu entwerfen, oder vielmehr dem ihm gejchicten 
Memoire die geeignete Faflung zu geben. Mendelsjohn hatte 
mit der Pentateuch-Ueberjegung vollauf zu thun, war auch ohne- 
dies fo leidend, daß er der äußerjten Schonung bedurfte: „mein 
Gehirn ift jebt,“ heißt es in einem Briefchen an Markus Herz, 
„wie geförntes Pulver. Ein Funfen, den ein Gonjtabler wie 
Sie, hineinwirft, entzündet augenblidlih die ganze Meafje.“?) 
Da er felbjt fich der Arbeit nicht unterziehen fonnte, fo juchte 
er den ihm befreundeten Kriegsrath Chrijtian Wilhelm Dohm, 
der fich eingehend mit der Gefchichte der Juden befchäftigt hatte, 
für diefelbe zu gewinnen. Bei der Neigung dieſes damals 
faum dreißig Jahre alten talentvollen Mannes zu gemeinnüßiger, 
möglichjt weitgreifender Wirffamfeit ging er gern auf den ihm 
gejtellten Antrag ein, faßte feine Aufgabe, jedoch nicht blos mit 
Bezug auf die Stellung der franzöſiſchen Juden, fondern der 
Juden überhaupt, aus dem allgemeinen und höhern Stand 
punft der Humanität und Politif,4) und fo entitand die Schrift, 
welche nach dem Uxrtheile eines berühmten Borfechters der Eman- 
cipation, nicht nur für ihre Zeit ihren Gegenſtand vollitändig 





') Schr. V, 640. 
2) Observations d’un Alsacien sur les affaires des juifs en 
Alsace (1779). 
3) Schr. V, 555. 
+) Gronau, Chriftian Wilhelm von Dohm nad feinem Wollen 
und Handeln (Lemgo 1824), ©. 84. 
24 * 


— 372 — 


erichöpfte, jondern auch die genügenditen Widerlegungen aller 
noch in der neuejten Zeit hie und da wieder zu Tage geförder 
ten Einwendungen enthält. ?) 

Was Leffing als philofophifcher Dichter in feinem „Nathan“, 
das that Dohm als philofophiicher Staatsfundiger in feiner, im 
Auguft 1781 erjchienenen unübertroffenen Schrift „Ueber die 
bürgerliche Verbeſſerung der Juden“2): beide Haben den grofen 
Zwed der Borjehung, die Beitimmung des Menſchen und die 
Gerechtfame der Menjchheit im Zufammenhange gedacht; beide 
haben ſich über den religiöfen und confejfionellen Unterſchied 
hinweggejegt und in dem Menfchen nur den Menſchen betrachtet. 
Auch Dohm wollte eben jo wie Lefjing „weder für das Juden 
thum, noch für die Juden eine Apologie fchreiben; er führt bio: 
die Sache der Menjchheit und vertheidigt ihre Rechte. Ein 
Glück für uns,“ fagt Mendelsfohn, „wenn diefe Sache auch zu— 
gleich die unfrige wird, wenn man auf die Rechte der Menſch 
heit nicht dringen kann, ohne zugleich die unfrigen zu rec 
miren.“ Dohm gebührt das Verdienſt, zuerſt und in fo au 
gezeichneter Weife die Emancipation der Juden wifjenfchaftlih 
erörtert zu haben. 

Bor allem juchte er in feiner den Regenten der Staaten 
gewidmeten Schrift nachzuweiſen, daß die Juden durch ihre 
veligiöfen Grundfäge von der Erfüllung ihrer Pflichten gegen 
den Staat nicht abgehalten werden, denn „ihr Hauptbuch, da: 
Geſetz Mofis, wird auch von den Chriften mit Ehrfurcht ar 
nannt.“ Er fcheute fich nicht zu behaupten, daß alles, wa: 
man den Juden vorwirft, eine nothivendige und natürliche Folg 
der drüdenden Verfaſſung ift, in der fie fich feit fo vielen Jahr 
hunderten befinden, daß fie Scharfiinn, Fleiß, Betriebſamkeit 
viele Tugenden und die „biegjame Fähigkeit“ befißen, ſich ir 
alle Lagen zu verfegen, daß die Anhänglichfeit an dem uraltaı 

') Rieffer, Stellung der Belenner des mofaishen Glaubens it 


Deutjchland, S. 14; Riefjerd Gej. Schr. II, 31. 
2) Berlin, Nicolai 1781; 2. Aufl. 1783. 


— 33 — 


Glauben ihrer Väter ihrem Charakter Fejtigfeit verlieh, daß fie 
dem Staate, in dem fie leben, wenn jie nur nicht gar zu fehr 
gedrüct werden, treu ergeben find und Gut und Blut für den- 
felben opfern. 

Zur Tilgung der bisher den Juden bereiteten Unbilden 
trat er auch mit bejtimmten VBorjchlägen auf; ex forderte für fie 
von den Regierungen: Gleichheit in Rechten und Pflichten mit 
alfen übrigen Unterthanen, Zulaffung zu den Gewerben, Auf- 
munterung zu Handwerfen und Aderbau, Bejeitigung jeder Be— 
ichränfung, welche fie von wiſſenſchaftlicher und Fünftlerifcher 
Ausbildung und Thätigkeit abhält, Zulaffung zu Aemtern im 
Staatsdienft, Reform ihrer Schulen und ihres Unterrichtsweſens, 
Beförderung ihrer Bildung und Aufklärung, völlige Religions- 
freiheit und Autonomie. 

Diefe durch die elfäflischen Juden veranlaßte und durch 
Profefjor Bernoulfi bald nach dem Erfcheinen ins Franzöfiiche 
überjegte Schrift ift durch einen ſeltſamen Zufall nie zur 
Kenntnig des Staatsraths gelangt. Auf Wunfch Cerf Beers 
ſchickte Dohm ſechshundert Exemplare derfelben nach Paris; dort 
wurde aber der Bicherballen, weil er ohne vorher ertheilte 
Erlaubniß eingebracht worden war, mit Befchlag belegt. Durch 
Intervention von Lalande und andern einflußreichen Bekannten 
gelang es Dohm und feinem Freunde Nicolai binnen Jahr und 
Tag eine Entjcheidung des damaligen Groß-Siegelbewahrers 
zu bewirken, welche die feltene Begünftigung der Rückſendung 
des Ballens ertheilte. Allein al3 man bei der Chambre syn- 
dicale um deren Ausführung nachſuchte, erging die Antwort, 
der Ballen ſei bereit3 vor längerer Zeit in die Baftille gefchidt, 
pour &tre mis au pillon, d. 5. um vernichtet zu werden; die 
Bücher feien verbrannt und es könne die Entfcheidung des 
Minifters nicht mehr ausgeführt werden. t) 

In Deutfchland erregte die Dohmfche Schrift ungeheures 


') Gronau a. a. D. ©. W. 





— 37141 — 


Auffehen. Für die damals verachtete und vechtlofe Menfchen- 
clafje der Juden erhob ein al3 Gelehrter von allen gefchäßter 
Mann feine Stimme — man denfe was das heißen wollte! 
Diefelbe gehäffige Befchuldigung, welche Leffing traf, erfuhr auch 
Dohm: man fprengte aus, er habe von den Juden eine große 
Summe al3 Honorar erhalten! Die Zeichen der Anerkennung, 
welche die Juden ihm gaben, bejtanden darin, daß die Berliner 
Gemeinde ihm zum Geburtstage ein filbernes Beſteck ſchenkte, 
daß die portugiefifchen Juden in Surinam in einem fchmeichel- 
haften Schreiben ihm ihren Danf ausdrüdten und daß Die 
Juden in Halberjtadt bei feinem dortigen Aufenthalte ihm be- 
jondere Ehre erwiefen. Fing man nun in beffergefinnten 
Kreifen auch an, die Lage der Juden vom Standpunkte der 
Menjchlichkeit aus in Erwägung zu ziehen, fo fehlte es doch 
auch an Gegenfchriften nicht, welche die edlen Beftrebungen 
Dohms mit mittelalterlihen Borurtheilen zu bekämpfen fuch- 
ten. Selbjt der bereits ergraute Brofefjor Michaelis in Göttingen, 
trat wie zur Zeit als Leſſings Quftipiel „Die Juden“ erſchien, 
auch jeßt, nach Verlauf folder Jahre der Aufklärung und Be- 
rihtigung der Nationalbegriffe, „da es beinahe fein Berdienit 
mehr war, die Vorurtheile dieſer Art abgelegt zu Haben“, in 
der „Orientalifchen Bibliothek” gegen die Juden, ihren Charak 
ter, ihre Tauglichkeit zum Kriegsdienfte auf. ') 

Da konnte auch Mendelsfohn nicht länger ſchweigen. Wußte 
er auch nur zu gut, daß Vernunft und Menfchlichfeit ihre 
Stimme umfonjt erheben, „denn grau gewordene Borurtheil 
hat fein Gehör“, fo wollte er doch wenigſtens „den verjährten 
Borurtheilen die Wurzeln durchichneiden.“ 

An der Seite eines an Achtung und Anſehen ihm nicht 
ungleichen Vertreters des jüdischen Volkes aus dem fiebzehnten 
Sahrhundert erſchien ex als Vertheidiger feiner Glaubensgenofjen. 

) Mendelsjohns Anmerkungen zu des Ritters Michaeliß Beurthei— 


lung der Dohmſchen Schrift in Dohms Weber die bürgerliche Verbeſſe— 
rung der Juden, IL, 72 ff.; Schr. III, 365—867. 


— 375 — 


Die „Rettung“, welche der berühmte Amfterdamer Rabbiner 
Menafje Ben Sfrael!) in der Abficht verfaßt Hatte, um feine 
Brüder von den Beichuldigungen und Auflagen frei zu fprechen, 
welde von der englischen Geiftlichfeit gegen fie erhoben wurden, 
al3 Cromwell das Geſuch Menafjes um die Wiederaufnahme 
der Juden in England jehr Fräftig unterftüßte, ließ Mendelsfohn 
durch feinen Freund, den Doctor Markus Herz, aus dem Eng- 
liſchen ins Deutfche überfegen und begleitete fie mit einer aus— 
führlichen Vorrede. 


Sünfundjehzigftes Kapitel. 
Vorrede zur „Rettung“ 


Mendelsfohn, welcher die allgütige Vorſehung preift, „daß 
fie ihn am Ende feiner Tage noch diefen glüdlichen Zeitpunkt 
hat erleben laſſen, in welchem die Rechte der Menjchheit in 
ihrem wahren Umfange beherzigt zu werden anfingen“,?) beab- 
fichtigte in den wenigen inhaltreichen Blättern, welche er der 
„Rettung der Juden“ voranſchickte, den gehäffigen Recenfenten 
der Dohmfchen Schrift Rede zu jtehen, dann aber auch Dohm 
felbft feine Einwürfe zu machen. 

Gegenüber den böswilligen Anflagen gegen feine Glaubens- 
genofjen verließ ihn feine Sanftmuth und er raffte fich zu einer 
energifchen Abwehr auf. Wie ein lange zurüdgehaltener Schmer- 
zenzichrei tönen ung die Worte entgegen: „Merkwürdig ift eg, 
zu fehen, wie das Borurtheil die Geſtalten aller Jahrhun— 
derte annimmt, ung zu unterdrücden und unferer bürgerlichen 
Aufnahme Schwierigkeiten entgegenzufegen. In jenen aber: 


M. ſ. mein: Menaffe Ben Sfrael. Sein Leben und Wirken. 
Zugleich ein Beitrag zur Gejhichte der Juden in England. Berlin 1861. 
2) Schr. III, 179. 





— 3716 — 


gläubifchen Zeiten waren es Heiligthümer, die wir aus Muth: 
willen ſchänden; Crucifixe, die wir Ddurchjtehen und bluten 
machen; Kinder, die wir heimlich befchneiden und zur Augen 
weide zerſetzen; Chriftenblut, das wir zur Dfterfeier brauchen; 
Brunnen, die wir vergiften u. ſ. w.; Unglaube, Verſtocktheit, ge 
heime Künfte und ZTeufeleien, die und vorgeworfen, um derent- 
willen wir gemartert, unferes Vermögens beraubt, ins Elend 
gejagt, two nicht gar hingerichtet worden find. Seht Haben die 
Beiten fich geändert, die Berleumdungen machen den erwünschten 
Eindrud nicht mehr. Jetzt ift e8 gerade Aberglaube und Dumm- 
heit, die ung vorgerüdt werden, Mangel an moralifchem Ge 
fühle, Geſchmack und feinen Sitten, Unfähigfeiten zu Künſten, 
Wiſſenſchaften und nüßlichen Gewerben, hauptfächlich zu Dieniten 
des Krieges und des Staates, unüberwindliche Neigung zu Be 
trug, Wucher und Gefeglofigfeit, die an die Stelle jener gröbern 
Beichuldigungen getreten find, uns von der Anzahl nüßlicher 
Bürger auszuschließen und aus dem mütterlihem Schoße des 
Staates zu verjtoßen. Vormals gab man fih um uns alle 
erfinnlihe Mühe, und machte mancherlei Vorkehrungen, uns 
nicht zu nüßglichen Bürgern, fondern zu Ehrijten zu machen, und 
da wir fo Hartnädig und verjtocdt waren, uns nicht befehren zu 
laffen, jo war dieſes Grundes genug, uns als eine unnüte Laft 
der Erde zu betrachten und dem verivorfenen Scheufale alle 
Greuel anzudichten, die ihm dem Hafje und der Verachtung 
aller Menjchen bloßſtellen konnten. Jetzt hat der Befehrungs- 
eifer nachgelaffen. Nun werden wir vollends vernachläſſigt. 
Man fährt fort, ung von allen Künsten, Wiſſenſchaften und andern 
nüglichen Gewerben und Befchäftigungen der Menfchen zu ent- 
fernen; verfperrt uns alle Wege zur nüßlichen Verbefjerung, und 
macht den Mangel an Culture zum Grunde unferer fernern 
Unterdrüdung. Man bindet uns die Hände und macht uns 
zum Borwurfe, daß wir fie nicht gebrauchen.“ ?) 


') Schr. III, 182 f. 


u A ee 


Mit den Recenfenten, welche Befchuldigungen gegen die 
Juden „wie aus der Luft“ griffen, war Mendelsjohn bald fertig; 
er wußte, „daß alle Gegengründe fruchtlos bleiben, wenn man 
ihnen nicht die erforderliche Aufmerffamfeit zuwenden mag, wenn 
ſich Nebenabfichten der Ueberführung mwiderfegen, oder wenn das 
Gemüth von Borurtheilen befangen if. Man fann einem ver- 
jährten Vorurtheile alle Wurzeln durchichneiden, ohne ihm die 
Nahrung gänzlich zu entziehen. ES faugt folche allenfalls aus 
der Luft.“?) 

Aber aud an Dohms Schrift hatte Mendelsfohn einiges 
auszufegen. Wielleicht mit Rückſicht auf die Gefeggebung Frie- 
drih des Großen, welche die VBerminderung der Juden be- 
zweckte, hatte Dohm als königlich Preußifcher Archivar und 
Kriegsratd auf dem erjten Blatte feiner Schrift zugegeben, 
daß in einzelnen Fällen „eine Zunahme der Bevölferung 
nicht nüßlich fein. dürfte”. „Dieſes ift eine Sprade, die 
mir,“ fchreibt Mendelsfohn, „eine® Staat3mannes unwürdig zu 
fein fcheint.“ Von feinem naturrechtlichen Standpunkte gereicht 
jede Mafßregel, welche man ergreift, der Vermehrung Einhalt 
zu thun, „der Cultur der Einwohner, der Beltimmung der 
Menschen und ihrer Glücfeligfeit zu weit größerem Nachteile 
als die zu bejorgende Ueberfüllung. So oft Menfchen in irgend 
einer Verfaſſung Menfchen jchädlich werden, Tiegt es blos an 
den Geſetzen oder an ihren Verweſern.“?) 

Auch mit dem Vorſchlage Dohms, daß den Juden zur 
Handhabung ihrer firchlichen Angelegenheiten das jüdische Recht 
. und die jüdifche Jurisdietion und als Gewalts- und Zwangs— 
mittel da3 Bann und Ausſchließungsrecht gelaffen werde, fonnte 
ſich Mendelsfohn nicht einverjtanden erklären. Mit aller Kraft 
der Wahrheit und der Weberzeugung erhob er feine Stimme 
gegen eine folche Forderung. „Sch fcehweige von der Gefahr, 
die mit dem Anvertrauen eines folchen Ausschliegungsrechtes 


') Schr. III, 186. 
2) Schr. III, 188 f. 


— 3783 — 


verfnüpft, von dem Mißbrauche, der bei einem folchen Bann- 
rechte, fo mie bei jeder Kirchenzucht und Kirchenmacht unver- 
meidlich ift. Ach! das menſchliche Gefchlecht wird fich noch in 
Sahrhunderten nicht von den Geifelichlägen erholen, die ihm 
diefe Ungeheuer beigebracht haben! ch ſehe Feine Möglichkeit, 
den falfchen Religiongeifer in Zügel zu halten, fobald er diefen 
Weg vor fich offen findet, denn am Sporne wird es ihm nie- 
mals fehlen.“ ') 

Der Bann mit allen feinen Schreden und Folgen erhob 
ſich gefpenfterartig vor feinen Bliden. Er dachte an das Vor: 
gehen der eifervollen Rabbiner gegen feine Pentateuch-Ueber- 
ſetzung, an den Bann, welchen kurz vorher der Hamburg-Alto- 
naer Oberrabbiner über Samuel Marcus ausgeſprochen hatte. 
Mendelsfohn Fonnte fich die kleine Genugthuung nicht verjfagen, 
an diefen Fall, „an die Mißbräuche, welche ſich ein berühmter 
Rabbiner erlaubt haben fol“, zu erinnern. „Die Sade ijt, wie 
verlautet, vor die Landesobrigfeit gebracht worden. Dieſe wird 
unterfuchen und Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Sie mag in- 
dejjen ausfallen, wie fie wolle, fo wünfchte ich, daß der wahre 
Berlauf derfelben, wie er aus den Aecten erhellet, zur Be— 
Ihämung des allzu raſchen Richters oder feines öffentlichen An- 
Hägers befannt gemacht werde.“ ?) 

In wahrhaft herzergreifenden Worten beſchwört er am 
Schluſſe der „Vorrede“ die Rabbiner und Vorſteher auf diefes 
Ihädliche Vorrecht des Bannes und der Ausfchließung Berzicht 
zu thun. „Zu den exleuchtetften und frömmſten unter den 
Rabbinern und Aelteſten meiner Nation habe ich das Zutrauen, 
daß fie fich eines fo fchädlichen Vorrechtes gern entäußern, auf 
alle Religions- und Synagogenzucht gerne Verzicht thun, und 
ihre Mitbürger von ihrer Seite diefelbe Liebe und Duldung 
genießen laſſen werden, nach welcher fie felbjt bisher jo ſehr 
gejeufzt haben. Ach, meine Brüder! Ahr Habt das drückende 

4) Schr. III, 19. 
2) Schr. III, 201; vgl. oben ©. 300. 


— 379 — 


Jod der Intoleranz bisher allzu hart gefühlt, und vielleicht 
eine Art von Genugthuung darin zu finden geglaubt, wenn 
Euch die Macht eingeräumt würde, Euern Untergebenen ein gleich 
hartes Zoch aufzudrüden. Die Rache fucht ihren Gegenjtand, 
und wenn fie andern nicht® anhaben kann, fo nagt fie ihr 
eigenes Fleifh. Vielleicht auch Tießet Ihr Euch durch das all- 
. gemeine Beifpiel verführen. Alle Völker der Erde fchienen bis- 

ber von dem Wahne bethört zu fein, daß fi) Religion nur 
durch eiferne Macht erhalten, Lehren der Geligfeit nur durch 
unfeliges Verfolgen ausbreiten, und wahre Begriffe von Gott, 
der, nad) unfer aller Gejtändniß, die Liebe ijt, nur durch die 
Wirkung des Hafjes mittheilen laſſen. Ihr ließet Euch viel- 
leicht verleiten, ebendafjelbe zu glauben, und die Macht zu ver- 
folgen war Euch das wichtigfte Vorrecht, das Eure Verfolger 
Euch einräumen fonnten. Danket dem Gotte Eurer Bäter, 
dankfet dem Gotte, der die Liebe und Barmherzigkeit felbft ift, 
daß jener Wahn ſich nad) und nach zu verlieren fcheint. Die 
Nationen dulden und ertragen fi) einander, und laſſen auch 
gegen Euch Liebe und Berfchonung bliden, die unter dem Bei- 
ſtande desjenigen, der die Herzen der Menfchen Ienft, bis zur 
wahren Bruderliebe anwachſen kann. O meine Brüder, folget 
dem Beifpiele der Liebe, fo wie Ihr bisher dem Beifpiele des 
Haſſes gefolgt feid! Ahmet die Tugend der Nationen nad), 
deren Untugend Ihr bisher nachahmen zu müſſen geglaubt. 
Wollet Ihr gehegt, geduldet und von andern verfchont fein, fo 
heget und duldet und verfchonet Euch untereinander! Liebet, jo 
werdet Ihr geliebt werden !“t) 

Diefe vom 19. März 1782 datirte Borrede zu der „Rettung 
der Zuden“?) war von zündender Wirkung. Gegen Bann und 
Kirchenrecht aufzutreten hatte bis dahin noch niemand gewagt. 
Aufgeflärte chriftliche Theologen waren mit der Vorrede und 
deren inhalt mol zufrieden; Teller, Spalding, Zollikofer, 

1) Schr. III, 201 f. 

2) Berlin, Nicolai, 1782; Schr. III, 179— 202. 


— 380 — 


Büſching u. a. empfahlen fie bei allen Gelegenheiten; einige 
derfelben trugen fein Bedenken, feinen Gründen wider das alt 
gemein angebetete Idol des Kirchenrechtes überhaupt beizutreten 
und dem Refultate derjelben öffentlich Beifall zu geben. Moſes 
Weſſely in Hamburg jtimmte in feinen „Anmerkungen zu Dohms 
Schrift“ Mendelsjohn bei; auch er hebt die jchädlichen Folgen 
der Autonomie hervor und vermweilt auf das Altonaer Factum.') . 
Nur die Hamburger. waren fehr übel darauf zu fprechen. „Was 
unfere Leute im Grunde dawider haben, weiß ich in Wahr- 
heit nicht,“ fchreibt Mendelsfohn den 20. Juni 1782 an Hey 
Homberg; „es müßte denn Beamtenſtolz — Barnaffim — fein, 
wie Sie mit Recht bemerft Haben.” ?) 

Angriffe in Beitfchriften und Broſchüren blieben natürlich 
auch nicht aus. Ein Recenſent in den Göttinger Anzeigen 
meinte: „Dies alles ift neu und Hart. Die erſten Grundſätze 
werden weggeleugnet, und aller Streit hat ein Ende.“ Friedrich 
Traugott Hartmann, ein verbiffener Judenfeind, fpielte den Auf: 
geffärten und wandte fi) in feiner Schrift „Ob die bürgerliche 
Freiheit den Juden zu gejtatten fei?“3) fowol gegen Dohms 
Borichläge als gegen Mendelsjohns Vorrede. Den fchärfiten 
Angriff erfuhr er von dem ungenannten Berfaffer der Schrift 
„Das Forihen nad Licht und Recht, in einem Schreiben an 
Herrn Mofes Mendelsſohn“.“) Dieſer „Forfcher‘ räumt ihm 
ein, daß zwar alles was ex über Kirchenrecht und Bann vor- 
gebracht habe, ganz vernunftmäßig fei, daß e8 aber den Grund 
fägen des Judenthums ſchnurſtraks widerjpreche; ja, der „Zur 
icher” geht fo weit, ihn anzureden: „Inwiefern Können Gie, 





1) Moſes Mefjelys Anmerkungen erjchienen anonym (von L. C. 1) 
Altona 1782, dann wieder abgedrudt in deſſen hinterlaffenen Schriften 
©. 145—178. 

2) Schr. V, 655; vgl. III, 302. 

3) Berlin 1783. 

4) Berlin 1782. Für den Verf. diefer Schrift wurde der Krieg—— 
rath Cranz gehalten. 


— 381 — 


mein theurer Herr Mendelsfohn, bei dem Glauben Ihrer Väter 
beharren, und durch Wegräumung feiner Grundfteine das ganze 
Gebäude erichüttern, wenn Sie das durch Mojen gegebene, auf 
göttliche Offenbarung ſich berufende Kirchenrecht bejtreiten? ... 
Sollte der jet von Ihnen gethane merkwürdige Schritt wol 
wirklich ein Schritt von Erfüllung der ehemald an Sie er: 
gangenen Lavaterfchen Wünfche fein?“ 

Ein folder Angriff „Drang ans Herz“. Wollte er Men— 
delsſohn veranlafjen, feine Anfichten über das Judenthum aus— 
zufprechen oder ihn zur Bekämpfung des Chriſtenthums reizen?!) 
Genug, diefer Angriff des Unbekannten und des ſich nennen- 
den Herrn-Mörſchel, der die Schrift des „Forſchers“ mit einer 
Nachſchrift begleitet hatte, brachte ihn zu dem Entichluffe, das 
was er in der „Vorrede“ nur in kurzen Umriffen gezeichnet hatte, 
ausführlich zu behandeln und zu begründen, fein Syſtem über 
die Rechte der Gewifjensfreiheit darzulegen und feine Theorie 
vom Judenthum aufzuftellen. „In einer demnächit ericheinenden 
Abhandlung,“ fchreibt er im März 1783 an den Probſt Schul- 
ftein in PBrag,?) „vertheidige ich mich wider einen Angriff, der 
auf meine Örundfäge gefchehen, in einer Schrift „das Forſchen 
nah Licht und Wahrheit” betitelt, die dem Vorgeben nad) zu 
Wien abgefaßt fein fol. Eine jo öffentliche Aufforderung durfte 
nicht unbeantwortet bleiben, fo ungern ich mich auch in der- 
gleichen Erörterungen einlaffe.“ 

„Jeruſalem, oder über religiöfe Macht und Judenthum“, 
nannte Mendelsfohn das im Mai 1783 erfchienene bedeutungs- 
volle Werf, in dem ex feine Grundſätze über Staat, Religion 
und Judenthum darlegte. 





1) Euchel, Biographie Mendelsfohns ©. 54. 
2) Schr. V, 612. Das Schreiben ift vom März 1783 zu datiren. 


— 382 — 


Sechsundſechzigſtes Kapitel. 
Staat und Kirde. 


Kühn und unerfchroden trat Mendelsfohn mit einer For— 
derung auf, welche in jener Zeit allgemeines Staunen und einen 
fajt panifchen Schreden verbreitete: ex verlangte Emancipation 
des Glaubens und des Gewiſſens, Glaubens- und Gewiſſens— 
freiheit. Um eine befjere Stellung feiner Glaubensgenofjen an— 
zubahnen und die Toleranz gegen Andersglaubende zum Geſetze 
zu erheben, mußte Kirche und Religion jeder bürgerlichen Macht 
entfleidet, die Trennung der Kirche vom Staate gefordert werden. 

Wie Neimarus aus dem Gefichtspunfte des reinen Deismus 
fi) gegen Offenbarungsglaube und Bibelreligion gerichtet Hatte, 
fo richtete Mendelsfohn denfelben Gefichtspunft gegen die Kirche; 
er zeigte den Widerfpruch zwifchen Religion und Kirche, wie 
jener den zwifchen Vernunft und Dffenbarung.!) Staat und 
Kirche — bürgerliche und geiftliche Verfaſſung — weltliches 
und Firchliches Anfehen — diefe Stüßen des gejellichaftlichen 
Lebens fo gegenüberzujtellen, daß fie fih die Wage halten, 
daß fie nicht vielmehr Laſten des gejellichaftlichen Lebens wer— 
den, und den Grund defjelben ſtärker drüden, als was fie tragen 
helfen;?) dieſes Problem hat die Politif feit Zahrhunderten 
beichäftigt, ohne eine Löfung gefunden zu haben. Man Hat 
zwar dem Staate jowol wie der Kirche befondere Rechte und 
Pflichten, Gewalt und Eigentum zugejtanden, aber die viel- 
fahhen Klagen über die Eingriffe des einen auf das Gebiet des 
andern, die Uebel, welche aus den Mißverhältniffen beider noch 
immer entjtehen, zeigen, wie weit man bon einem wirklichen 
Einverftändniß entfernt ift. Weder Hobbes, der, um den Streit 
zu ſchlichten, in feiner abfolutiftifchen Rechtslehre alles Recht 


') Kuno Fiſcher, a. a. O. II, 542. 
2) Schr. III, 257. 


— 383 — 


auf Macht und alle Verbindlichkeit auf Furcht gründet, noch 
Locke, welcher die Toleranz und Gewifjenzfreiheit allerdings ge- 
wahrt mwiffen, aber nur die zeitliche Wohlfahrt der Menfchen 
befördern will, kann fi) Mendelsfohn anſchließen; Tetterem 
umſoweniger als, wie er Hinzufügt, irdifches und Himmlifches 
Wohlergehen aus einer und derjelben Quelle fließt. 

Um eine Entjcheidung diefer fchwierigen Frage herbeizu- 
führen, unterfcheidet Mendelsjohn zwifchen Verhältniffen des 
Menfchen zum Menſchen und Berhältniffen des Menfchen zu 
Gott; jene gehören für den Staat, diefe find Angelegenheiten 
der Religion. Inſofern nun beide, Staat und Religion, die 
Beförderung der menschlichen Glückſeligkeit zur Abficht haben, 
wirken beide auf Gefinnungen und Handlungen der Menfchen; 
für beides hat die Gefellfchaft foviel als möglich durch gemein- 
Ichaftlihe Bemühungen zu forgen: der Staat, der den Menfchen 
al3 unjterblichen Sohn der Erde betrachtet, durch die Regierung, 
die Religion, welche in ihm das Ebenbild feines Schöpfers 
jieht, durch die Erziehung. 

Wie Schiller fein politifches Glaubensbefenntniß in dem 
Sate formulirt, daß „das Grundprincip, worauf alle Staaten 
beruhen müfjen, einzig und allein das ift, daß Gehorfam und 
Pflichterfüllung aus Einfiht und Liebe zu den Inſtitutionen, 
und nicht aus fflavifcher Furcht‘ vor Strafe oder aus blinder 
und fchlaffer Ergebung in den Willen eines Obern entfpringen“, 
ähnlich verlangt Mendelsfohn, daß die Hauptbemühung eines 
jeden Staates darauf gerichtet fei, die Menfchen durd die Er- 
ziehung ſelbſt zu regieren, d. h. ihnen folche Sitten und Ge— 
finnungen einzuflößen, welche von felbjt zu gemeinnüßigen Hand- 
lungen führen und nicht immer durch den Sporn der Gefeße 
angetrieben zu werden brauchen. Hierin muß die Religion dem 
Staate zu Hülfe fommen und das Volk von der Wahrheit edler 
Gefinnungen und Grundfäße überführen; fie hat zu zeigen, daß 


') Schr. III, 264, 293. 


— 334 — 


„vie Pflichten gegen Menfchen auch Pflichten gegen Gott feien, 
daß dem Staate dienen ein wahrer Gottesdienit, Recht und 
Gerechtigkeit der Befehl Gottes und Wohlthun fein allerhöchjter 
Wille jei.”?) So lange e8 aber unmöglich ift, durch Gefinnungen 
zu regieren, muß der Staat durch Geſetzeszwang feine Zwecke 
erreichen. „Wenn innere Glückſeligkeit der Geſellſchaft nicht 
völlig zu erhalten jteht, jo werde wenigjtens äußere Ruhe und 
Sicherheit allenfall3 erziwungen. Der Staat begnügt fich mit 
todten Handlungen, mit Worten ohne Geift, mit Uebereinftim- 
mung im Thun ohne Webereinjtimmung in Gedanken.“ 

Ganz anders verhält es fich mit der Religion. „Sie kennt 
feine Handlung ohne Gefinnung, fein Werf ohne Geift, Feine 
Uebereinjtimmung im Thun ohne Webereinftimmung im Sinne. 
Religiöfe Handlungen ohne religiöfe Gedanken find leeres Buppen- 
jpiel, fein Gottesdienſt. Diefe müffen an und für fich felbit 
aus dem Geiſte fommen und fönnen weder durch Belohnung 
erfauft, noch durch Strafe erzivungen werden; fie fließen ent- 
weder aus freiem Antriebe der Seele oder jind ein leeres Spiel 
und dem wahren Geijte der Religion zuwider.“ „Die Religion 
weiß von feinem Zwange, wirft nur mit dem Stabe Gelinde, 
wirft nur auf Herz und Geift. Sie treibt nicht mit eifernem 
Stabe, jondern lenkt am Seile der Liebe. Sie züdt fein Rache— 
ſchwert, fpendet Fein zeitliches Gut aus, maßt fih auf fein 
irdiſches Gut ein Recht, auf fein Gemüth äufßerliche Gewalt an. 
Shre Waffen find Gründe und Ueberführung, ihre Macht die 
göttliche Kraft der Wahrheit, die Strafen, die fie androhet, find, 
wie die Belohnungen, Wirkungen der Liebe.“ Das find die 
wejentlichen Unterfchiede zwilchen Staat und Religion. ‚Der 
Staat gebietet und zwingt, die Religion belehrt und überredet; 
der Staat ertheilt Gejege, die Religion Gebote. Zwangsrecht 
hat nur der Staat; die Religion fann nur auf die Ueberzeugung 


!) Schr. III, 267. 


— 355 — 


einwirken, nur belehren und tröften; ihre Macht ijt Liebe und 
Wohlthun.“?) 

Die Richtigkeit diefer Behauptung jucht Mendelsſohn aus 
jeinem Naturrecht herzuleiten, zu dem er die Grundzüge jchon 
einige Jahre früher entworfen Hatte.?) Entjchiedener Gegner 
der Anficht, daß Pflichten und Rechte erſt durch den Gejell- 
Ichaftsvertrag entjtehen, ſchreibt er dieſem die Macht zu, un 
vollfommene oder Gewiſſenspflichten und Rechte in vollfommene 
oder Zwangsrechte und Pflichten zu verwandeln. Rechte gelten 
nur da, wo auf der andern Seite Leiftungen find, die man im 
Nothfalle auch erzwingen kann. Was fi) aber fchlechterdings 
nicht erzwingen läßt, darauf giebt es auch nimmermehr ein 
ernftliches Recht. Nun bejteht die Religion weſentlich in der 
moralifchen ©efinnung. ©efinnungen und Gedanken laſſen fich 
niemal3 erzwingen, leiden ihrer Natur nach feinen Zwang, feine 
Beitehung, und die Religion leiſtet nichts, was belohnt oder 
bejtraft werden kann. So erklärt Mendelsfohn, ähnlich wie 
Spinoza in feinem theologifch-politifchen Tractat, daß die Reli- 
gion ihrer Natur nach niemals durch eine Nechtsanftalt könne 
ausgedrüdt werden und fommt zu dem entjcheidenden Sabe, daß 
die Kirche als moralifche Perfon fein Recht auf Gut und Eigen- 
thum in Anfpruch nehme, daß es überhaupt Fein Kirchenrecht 
gebe, daß jedes Kirchenrecht dem Weſen und der Natur der 
Religion widerfpreche. 

Gefinnungen, Meinungen und Ueberzeugungen können nicht 
Dbject eines gejellichaftlichen Vertrages fein. „Grundſätze find 
frei. Weder Kirche noch Staat find berechtigt, mit Grundſätzen 
und Gefinnungen Borzüge, Rechte und Anfprüche auf Perſonen 
und Dinge zu verbinden.“ Demzufolge dürfen auch Lehrer und 
Priefter nicht auf gewiſſe Glaubenslehren verpflichtet werden. 





) Schr. ILL, 265, 268, 296. 

2) Bon volllommenen und unvollfommenen Rechten und Pflichten, 
Schr. IV, 1, 128, weiter ausgeführt Schr. III, 1% f., 269 ff.; ſ. aud) 
IV, 1, 135 ff. 

Kayſerling, Mojes Menpdelsjohn. 25 


— 386 — 


„Alles Beichwören und Abjchwören in Abfiht auf Grundſätze 
und Lehrmeinungen find unzuläffig, und wenn fie geleiftet werden, 
jo verbinden fie zu nicht® als zur Neue über den fträflich be- 
gangenen Leichtſinn.“ Er erinnert an die Profefjoren und Geift- 
lichen, an die Bilchöfe und wahrhaft großen Männer, welche in 
England Amt und Würden befleiden und den Eid auf die 39 
Artikel der anglikaniſchen Hochkirche leiften, und wies auf Die 
Gewiſſenspein hin, in welche diefelbe gerathen, wenn ihre Ueber- 
zeugung eine andere wird. ') 

Welchen Einfluß räumt nun Mendelsfohn dem Staate den 
verjchiedenen Religionen und Secten gegenüber ein? Weder 
darf er ſich in religiöfe Streitigkeiten, al3 in ein ihm fern- 
jtehendes Gebiet, unmittelbar einmifchen, noch die vorhandenen 
Lehrmeinungen durch feine Autorität befonders begünftigen. Er 
hat nur darüber zu wachen, daß feine Lehren ausgebreitet wer— 
den, welche, wie Atheismus und Epifureismus, in ihren Prin- 
cipien die ethifchen und focialen Grundlagen untergraben, denn 
derjenige, welcher Gott, Vorfehung und Fünftiges Leben Teugnet, 
fann auch die Zwecke des Staates nicht verwirklichen. „Ohne 
Gott und Borfehung und Fünftiges Leben ift Menfchenliebe eine 
angeborene Schwacdhheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine 
Geckerei, die wir uns einander einzuſchwatzen fuchen, damit der 
Thor fich plade und der Kluge ſich gütlich thun und auf jenes 
Unfoften fich luſtig machen könne.“?) 

Diefe Grundfäge über den Charakter des Staates und der 
Religion, die Objecte ihrer Thätigfeit, die Macht, die dem einen 
und dem andern zufteht, waren dem Publikum nicht unbefannt; 
Mendelsfohn hatte fie in der „Vorrede“ zur „Rettung der Juden“ 
bereits in furzen Umriffen dargeftellt und in dem erjten Ab— 
fchnitt des „Serufalem“ nur weiter ausgeführt. „Neue und Harte 
Meinungen“ blieben es immerhin. „Aller kirchlicher Zwang ift 





) Schr. III, 288, 294 ff. 
2) Schr. III, 387. 


— 3397 — 


widerrechtlih, alle äußere Macht in Religionsjachen gewaltfame 
Anmaßung“! Wer hat es damals noch gewagt, derartiges öffent- 
lich zu befennen? Mendelsfohn war, in Deutichland wenigjtens, 
der Erite, welcher für Glaubens- und Gewifjenzfreiheit, für die 
Trennung der Kirche vom Staate feine Stimme erhob; mit dem 
blanfen Schwerte der philofophiichen Kritif zerfchnitt er das 
unfinnige Band, das Jahrhunderte lang To viel Unglüd über 
die Völfer gebracht hat, das einzig und allein in den Bereinig- 
ten Staaten Nordamerifas und jet in dem republifanifchen 
Franfreich zerrifien, das ſonſt in der Gegenwart noch überall 
mit aller Zähigfeit gewaltfam zufammengehalten wird. 

Was wunder daß Mendelsfohn mit feinen Principien den 
febhaftejten Wideripruh fand. Die Juden nahmen anfangs 
wenig Notiz von feiner Schrift und fümmerten ji) nicht um 
feine Bejtrebungen und Forderungen, jo jehr fie auch in ihrem 
Intereſſe waren; deſto ärger trieben es viele chriftliche Theo— 
logen. Am fchärfiten griff ihn der anonyme Verfaſſer der uns 
mittelbar an ihn gerichteten Schrift „Das Forſchen nach Licht 
und Recht“ an; diefer behauptete, daß das Judenthum das ge- 
vade Gegentheil von dem Lehre, was Mendelsfohn im Namen 
der gefunden Bernunft verfündige, daß das moſaiſche Geſetz 
Zwang und pofitive Strafen an Nichtbeobachtung gottesdienft- 
licher Pflichten binde, ja, daß „das bewaffnete Kirchenrecht einer 
der vorzüglichiten Grundſteine der mofaifchen Religion ſei“. 
„Sollte der jegt von Ahnen gethane merkwürdige Schritt wol 
wirklich ein Schritt von Erfüllung der ehemals an Sie er- 
gangenen Lavaterfchen Wünfche fein? In wie fern können Sie, 
mein theurer Herr Mendelsfohn,“ redet ihn, wie bereits erwähnt, 
der anonyme „Forfcher” an, „bei dem Glauben Ihrer Väter be— 
harren und durch Wegräumung feiner Grundfteine das ganze 
Gebäude erjchüttern, wenn Sie das durch Mofen gegebene, auf 
göttliche Offenbarung fi) berufende Kirchenrecht bejtreiten ?“ 

Das war eine neue Herausforderung. Mendelsſohn, der 
Schon in dem Lavaterfchen Streite feine Abneigung gegen Reli— 


25* 


— 388 — 


giongftreitigfeiten zu erkennen gab, ließ fih auch von Herrn 
Mörjchel zu einer Polemik gegen das Chriſtenthum nicht reizen, 
aber ganz fchweigen wollte er auch nicht. „Wenn ich bedenke,“ 
Ichrieb er nach) dem Streite mit Zavater an feinen Vetter Elkan 
Herz, „was man zur Anerkennung der Heiligkeit unferer Reli- 
gion zu thun jchuldig ift, To begreife ich) gar nicht, wie fo 
manche unferer Glaubensgenofjen immer fchreien, ich folle um 
Himmels willen nicht mehr davon fchreiben. Auch habe ich eg, 
Gott weiß es, nicht gern gethan, daß ich mic) vom Disput los— 
gemacht habe; mein eigener Wille trat gegen den Willen anderer 
zurüd. Wäre es mir nachgegangen, fo hätte ich eine ganz an- 
dere Antivort geben wollen. Wollte Gott, ich befäme nur wie- 
der eine ſolche Gelegenheit.“ ?) 





Stebenundjechzigites Kapitel. 
Sudenthum. 


Mendelsfohn war auch jet fejt entichloffen, die chriftliche 
Religion, von der jo viele feiner Nebenmenſchen Zufriedenheit 
in dieſem Leben und unbegrenztes Glück nach demjelben er- 
warten, nicht öffentlich zu bejtreiten. Dem anonymen „Forscher“, 
der fich mit dem neuen Befehrungsverfuh an ihn heranwagte, 
antiwortete er mit feinem berühmt gewordenen Gleichniffe: „Wenn 
es wahr it, daß die Edfjteine meines Haufes austreten, und 
das Gebäude einzuftürzen droht, ift es mwohlgethan, wenn ic) 
meine Habjeligfeit aus dem unterjten Stocdwerfe in das oberite 
vette? Bin ich da ficherer? Nun ift das Chriſtenthum, wie Sie 
willen, auf dem Judenthume gebaut, und muß nothwendig, wenn 


1) 1. Aufl. ©. 493. 





— 389 — 


diejes fällt, mit ihm über einen Haufen jtürzen.“ „Beim An— 
Icheine eines Widerjpruches zwiſchen Wahrheit und Wahrheit, 
zwifchen Schrift und Vernunft, muß der Ehrijt nicht den Juden 
zum Kampfe auffordern, jondern mit ihm gemeinschaftlich den 
Ungrund des Widerfpruches zu entdeden juchen. Es geht ihrer 
beiden Sachen an.“!) Um Mißdeutungen vorzubeugen, ver- 
ficherte ex, daß die Juden zur Bekämpfung des Chriſtenthums 
feine geheimen Nachrichten, unbefannt gewordenen Actenſtücke 
‚bejien, Feine anderen Nachrichten und Aetenjtüde als die all 
gemein befannt find, daß er alfo ſeinerſeits „nichts neues wider 
den Glauben der Ehriften vorzubringen habe, was nicht fchon 
unzählige male von Juden und Naturalijten gefagt und wieder- 
holt worden fei. Es fei, meint er, „genug in der Sache re- 
plicirt und duplieirt worden” — eine feine Anfpielung auf die 
Streitfchriften zwifchen Leſſing und Goeze — es ſei einmal 
Zeit, die Acten zu jchliegen. „Allzu vieles Gerede von einer 
Sade klärt in derjelben nichts auf, und verdunfelt vielmehr 
noch den fchwachen Schein der Wahrheit.) 

Statt fih in eine Polemik einzulaffen, ſtatt zu zeigen, 
weshalb er jich nicht zum Chriſtenthum befennen fünne, mies 
er, eingedenk des Wunfches feines theuren Leſſing, lieber erſt 
nach, welche Gründe ihn von jeher beſtimmten, Jude zu bleiben; 
darum ſetzte er zunächſt feine über Religion und 
Judenthum auseinander. 

Was Mendelsſohn von Leſſing behauptet: „Seine Anhäng- 
lichkeit an der natürlichen Religion ging fo weit, daß er aus 
Eifer für diejelbe feine geoffenbarte neben ihr leiden wollte“, 3) 
das gilt in gewiffem Sinne von ihm felbit. Sein hauptſäch— 
liches Bejtreben war darauf gerichtet, die Grundwahrheiten der 
natürlichen Religion zu befeftigen und allgemein zu machen: er 
hatte vor allem den Menjchen als folchen und dann erſt den 


1) Schr. III, 309. 
2) Schr. III, 310 f., 108. 
3) Schr. II, 362. 


— 390 — 


Suden im Auge und ericheint jo als der Aufflärungsphilofoph, 
al3 der wahre Apojtel feines Jahrhunderts. 

Auf die Lehren der Vermunftreligion, welche als das Er- 
zeugniß der allen Menjchen gemeinfamen Natur, nicht einzelnen 
Völkern, Secten, Geſellſchaften zufommt, jondern allen Menfchen, 
Chrijten, Juden und Mohammedanern, als Wegweiferin durchs 
Leben dient, muß, nach Mendelsſohns Anficht, vorzüglich Rück 
jiht genommen, fie müſſen unangefochten, heilig und aufrecht er- 
halten werden, denn ohne fie Fann. fein Vertrag gefchlofien, 
Treue und Redlichkeit nicht bewahrt werden, bejteht fein Band 
der Gefelligfeit. Der Glaube an die Gottheit, Nothivendigfeit 
der Tugend, an eine belohnende oder durch Strafe befjernde 
Zukunft find ihm als Anhänger der Leibnizfchen Philoſophie 
die religiöfen Grundwahrheiten, deren Nothiwendigfeit Die Ver— 
nunft eben jo jehr verlangt, wie das dem Menfchen innewohnende 
Gefühl.!) Bon den Wahrheiten der Vernunftreligion ich zu 
überzeugen, hat der Menjch auf jeder Stufe der Aufklärung in 
jeder Lage des Lebens Vermögen, Gelegenheit und Kräfte 
genug. ?) 

In Abjiht auf Lehre und Meinung kannte Mendelsſohn 
feine andere Ueberzeugung al3 die durch Vernunftgründe. Offen 
erklärte er: „Sch erfenne feine andern ewigen Wahrheiten als 
die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, fondern durch ° 
menschliche Kraft dargethan und bewährt werden können.“ Wie 
fonnte er nun diefen rein deiftiichen Grundfag mit dem Juden— 
thume vereinen? Diefe Vernunftmäßigfeit der höchſten Lehren 
bildet, wie er jelbit fagt, einen wefentlichen Punkt der jüdifchen 
Religion und einen charakteriftiichen Unterfchied zwiſchen ihr und 
dem Chriſtenthume. „Unfere Vernunft kann ganz gemächlich von 
den erſten fichern Grundbegriffen der menschlichen Erkenntniß 
ausgehen und verfichert fein, die Religion auf dem Wege an— 
zutreffen. Im Judenthume iſt Fein Kampf zwifchen Religion 





1) Hennings, Erinnerungen an Dresden (Hdicr.). 
2) Schr. III, 15. 


— 391 — 


und Bernunft, fein Aufruhr der natürlichen Erkenntniß wider 
die unterdrüdende Gewalt des Glaubens.‘ !) 

Das Judenthum it. nach Meendelsfohn feine Religion, feine 
geoffenbarte Religion im gewöhnlichen Sinne „Das AYuden- 
tum weiß von feiner geoffenbarten Religion, in dem Verſtande, 
in welchem diejes von den Chriſten genommen wird; es hat 
göttliche Geſetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom 
Willen Gottes, aber feine Lehrmeinungen, feine Heilswahrheiten, 
feine allgemeinen Vernunftſätze. Diefe offenbart der Ewige den 
Sraeliten wie allen übrigen Menfchen allezeit durch Natur und 
Sade, nie durch Wort und Schriftzeichen.‘ 

Mit Leibniz unterfcheidet Mendelsfohn zwiſchen „ewigen 
Wahrheiten” und „zeitlichen“ oder „Geſchichtswahrheiten“. Die 
exjteren, welche der Zeit nicht untertvorfen find und in Ewig— 
feit diejelben bleiben, find nothiwendig, an und für fich ſelbſt 
underänderlich oder zufällig, fließen aber aus einer gemeinfchaft- 
lihen Quelle, aus dem Verſtande oder aus dem Willen Gottes. 
Diefe ewigen Wahrheiten, welche ji), wie alle mathematischen 
und logiſchen Beweiſe, auf Vernunft gründen: die Begriffe 
von Gott, feiner Regierung und Borjehung, ohne welche die 
Menſchen ihre Beitimmung nicht erreichen fünnen, „durften nicht 
durch unmittelbare Offenbarung eingegeben, nicht durch Wort 
und Schrift, die nur jeßt, nur hier und da, diefem oder jenem 
verjtändlich find, bekannt gemacht werden. Das allerhödjite 
Weſen hat fie allen vernünftigen Geſchöpfen durch Sache "und 
Begriff geoffenbart, mit einer Schrift in die Seele gefchrieben, 
die zu allen Zeiten und an allen Orten leſerlich und verjtänd- 
lich iſt . . . Ihre Wirkung ift jo allgemein, wie der wohlthätige 
‚Einfluß der Sonne, die, indem fie ihren Kreislauf durdheilt, 
Licht und Wärme über den ganzen Erdball verbreitet.‘ ?) 

Die Gefhichtswahrheiten Hingegen, Dinge, die fich zu einer 
Zeit zugetragen und vielleicht niemals wiederfommen, die uns 


1) Schr. II, 311, 164. 
2) Schr. III, 312 ff., 348. 


— 392 — 


erzählt werden, die wir aber felbjt nie wahrnehmen können, 
werden durch) Beobachtung erkannt, und da fie nur don den— 
jenigen vermittelt der Sinne wahrgenommen werden Fonnten, 
die zu der Zeit und an dem Orte zugegen gewejen, können jie, 
ihrer Natur nach, nicht anders als auf Glauben angenommen 
werden; „Autorität allein giebt ihnen die erforderliche Evidenz.) 
„Blos in Abficht auf Gefchichtstwahrheiten dünft mich,“ bemerft 
Mendelsjohn, „ei es der allerhöchiten Weisheit anjtändig, Die 
Menſchen auf menschliche Weiſe, d. i. durch Wort und Schrift 
zu unterrichten, und wo es zur Bewährung des Anfehens und 
der Glaubwürdigkeit erforderlich war, außerordentlihe Dinge 
und Wunder in der Natur gefchehen zu Tafjen.‘?) 

Wie Schon Saadia, einer der ältejten jüdiſchen NReligions- 
philofophen, und nad) ihm die meisten anderen, behauptet auch 
Mendelsjohn, daß die ewigen Wahrheiten, welche zur menſch— 
lichen Glückſeligkeit unentbehrlich find, nicht auf eine übernatür- 
liche Weife geoffenbart wurden. „Wenn das menschliche Ge— 
Ichleht ohne Offenbarung verderbt und elend fein müßte, warum 
hat denn der bei weiten größere Theil defjelben ohne wahre 
Dffenbarung gelebt? Warum müfjen beide Indien warten, bis 
e3 den Europäern gefällt, ihnen einige Tröjter zu fenden, die 
ihnen Botfchaften bringen, ohne welche fie, diefer Meinung nad), 
weder tugendhaft noch glücjelig eben fönnen?“?) Nach den 
Begriffen des wahren Judenthums find alle Menfchen zur Glück— 
feligfeit berufen und die Mittel derjelben fo ausgebreitet als 
die Menjchheit felbit. 

Die Nothwendigkeit der Offenbarung ewiger Wahrheiten 
wird vom Mendelsjohn jomit bejtritten; ev weiß von feiner ge- 
offenbarten Religion in dem Sinne, in welchem man dieſes 
Wort zu nehmen gewohnt ift. Ein anderes iſt geoffenbarte 
Religion, ein anderes geoffenbarte Geſetzgebung, wie fie am 





') Schr. III, 313 ff., 349. 
2) Schr. III, 315. 
») Schr. 316, 143. 


— AAR e 
or THE 
—— 


— 393 — ca: 


Sinai ſtattfand, wo nicht allgemeine Menſchenreligion, ſondern 
eine Geſchichtswahrheit, auf die ſich die Geſetzgebung grün— 
dete, und Geſetze verkündet wurden, nach welchen das Volk 
Iſrael leben ſollte. Die Geſetzgebung am Sinai betraf Ge— 
ſchichtswahrheiten, „die ihrer Natur nach auf hiſtoriſcher Evidenz 
beruhen, durch Autorität bewährt werden müſſen und durch 
Wunder bekräftigt werden können‘. t) 

Leugnete nun Mendelsjohn auch nicht, daß das göttliche Buch, 
das die Kfraeliten durch Moſes empfangen ‚haben, wiewol Geſetz— 
buch, auch „einen unergründlichen Schat von Vernunftwahrheiten 
und Religionslehren miteinfchließt, die mit den Geſetzen fo innig 
verbunden find, daß fie nur Eins ausmachen“, fo ſprach er doch 
dem Judenthume von feinem deiftiichen Standpunfte den dog- 
matifchen Inhalt ab und popularifirte fomit die Anficht, welche 
Spinoza in feinem „Zractate‘ dunkel angedeutet hatte. Iſt das 
Judenthum feine geoffenbarte Religion, fo kennt e3 folgerichtig 
auch feinen „Glauben“. „Unter allen Vorfchriften und Berord- 
nungen des mofaifchen Geſetzes lautet fein einziges: ‚Du follit 
glauben! oder nicht glauben‘, jondern alle heißen: ‚Du follit 
thun, oder nicht thun‘! Dem Glauben wird nicht befohlen; er 
nimmt feine andern Befehle an, als die den Weg der — 
zeugung zu ihm kommen.“?) 

Wie keinen Glauben kennt er im Judenthume auch keine 
Glaubensartikel, keine eigentlichen Symbole des Glaubens. Wohl 
hat Maimonides die Grundbegriffe des Judenthums in ſoge— 
nannte Glaubensartikel zuſammengefaßt, „zu Glaubensfeſſeln“, 
ſagt Mendelsſohn, „ſind ſie gottlob! noch nicht geſchmiedet wor— 
den.“s) „Das jetzige Judenthum Hat,“ ſchreibt er an feinen 
Freund und Landsmann Wolf in Deſſau, welcher wegen feiner 
1782 herausgegebenen „Srundfäße der jüdischen Religion“ von 
feinen Glaubensgenoſſen heftig angegriffen worden war, „eben 


) Er. III, 319 f. 
2) Schr. III, 321. 
3) Schr. III, 322. 


— 394 — 


jo wie das vormalige, Feine eigentlichen Symbole des Glaubens. 
Es find uns jehr wenig Grundfäge und Lehrmeinungen vorge- 
ſchrieben. Maimuni zählt derjelben dreizehn, Albo nur drei, 
und niemand wird den Albo deswegen verfegern. Und find 
Geſetze, Gebräuche, Lebensregeln, Handlungen vorgefchrieben. 
In Anfehung der Lehrmeinungen find wir frei. Wo die Mei- 
nungen der Rabbiner getheilt find, kann jeder Jude, der unge- 
lehrte jowol al3 der gelehrte, diefem oder jenem beiftimmen. . . . 
Der Geift des Judentums iſt Konformität in Handlungen und 
Freiheit in Abjicht auf Lehrmeinungen: wenige Fundamental- 
lehren ausgenommen, über welche alle unfere Lehrer ſich ver- 
einigt haben, und ohne welche die jüdische Religion jchlechter- 
dings nicht jtatthaben Fann.“!) Merkwürdigerweile verpflanzte 
Mendelsfohn fich felbjt auf den Boden diefer dreizehn Glaubens- 
artikel, welche er als Anhang zu einem „Lejebuch für jüdifche 
Kinder“,2) mehrere Jahre vor dem Erſcheinen des „Jeruſalem“, 
frei ind Deutſche überfegt hat. Da, nad) feiner Anficht, das 
Judenthum feinen „Glauben“ fennt, jo übertrug er nicht „ich 
glaube“, Sondern „ich erkenne für wahr und gewiß“, und nahm 
die geichichtlihen Wahrheiten jo an, wie fie eben überliefert 
worden. 3) 

Nach diefer Darlegung feiner Auffaſſung des geijtigen In— 
halts des Judenthums geht Mendelsfohn auf die Formen über, 
oder vielmehr auf die geoffenbarten Geſetze, das Ceremonial- 
geſetz. 

') Schr. V. 602 f. 

2) Berlin 1779; die 13 Glaubensartifel j. 1. Aufl. ©. 565 ff. 


3) M. ſ. 2. Philippſon, die Stellung Mojes Mendelsjohns in und 
zum Judenthum in Allg. Zeitg. des Judenthums, 1886, ©. 177 ff. 


— 39 — 


Achtundjechzigites Kapitel. 
Geremonialgejet;. 


Die Geſetze und Vorſchriften, welche das eigentliche Weſen 
der Offenbarung bilden, belegte Mendelsjohn, wie das von 
Simeon Duran und dem jüdischen Religionsphilofophen Joſeph 
Albo lange vor ihm gefchehen, mit dem Namen Geremonialgefeb. 

Um die reinen von aller Abgötterei entfernten Begriffe der 
natürlichen Religion bei dem jüdischen Volke durch fortdauernde 
Zeichen zu erhalten, gab Gott den aus egyptiſcher Sklaverei Ge— 
führten das Ceremonialgefeg, um fie „zu Handlungen zu treiben 
und zum Nachdenfen zu veranlaffen“, gleichſam als ein Band, 
welches Handlungen mit Betrachtungen, Lehre mit Leben jtets 
verbinden follte.!) Das Ceremonialgeſetz ift, wie Mendelsjohn 
fic) ausdrückt, „eine lebendige, Geift und Herz erquidende Art 
von Schrift, welche bedeutungspoll iſt, gediegenen tiefen Sinn 
hat, und mit der fpeculativen Erfenntniß der Religion und der 
Sittenlehre in genauejter Verbindung jteht.?) Weil es zwifchen 
Schule und Lehrer, zwifchen Foricher und Unterweiler, perjön- 
lichen Umgang, gefellige Verbindung veranlaffen und zum mind- 
fihen Unterricht führen follte, deshalb waren der gefchriebenen 
Geſetze anfangs nur wenige; das ungefchriebene Geſetz, die 
mündliche Weberlieferung jollte erflären, erweitern, näher be- 
ſtimmen, was in dem gefchriebenen Gefege abfichtlich unbeſtimmt 
geblieben war. In allen öffentlichen und Privatverhandlungen, 
an allen Thoren und Thürpfoften, wohin der Menſch Auge und 
Ohr wandte, follte er Gelegenheit zum Forfchen und Nach— 
denfen über den Geift der Gefege finden. Leben und Lehre, 
Weisheit und Thätigfeit, Speculation und Umgang follten auf 
das innigjte verfnüpft und ungertrennlich fein, jtet3 Hand in 
Hand gehen. ?) 

') Schr. III, 167. 

2) Schr. III, 324. 

3) Schr. III, 340, 350. 


— 396 — 


In der urfprünglichen Verfaffung der mofaischen Religion, 
die weder Hierofratie noch Firchliche Regierung, weder Theofratie 
noch Prieſterſtaat, fondern, einzig in ihrer Art, moſaiſche Berfaffung 
war und verichwunden ift, war Staat und Religion, wie Men- 
delsjohn erklärt, nicht vereinigt, fonders Eins, nicht verbunden, 
fondern Ebendafjelbe. Das Verhältnig der Menjchen gegen die 
GSejellichaft und das der Menfchen gegen Gott trafen auf einen 
Punkt zufammen und konnten nie in Gegenftoß gerathen; jeder 
Bürgerdienft war auch zugleich ein wahrer Gottesdienjt und 
jedes Berbrechen wider das Anfehen Gottes, als des Geſetz— 
gebers der Nation, auch ein Staatsverbrechen. Wer Gott läſterte, 
war ein Majejtätsichänder, wer den Sabbat freventlicd) enthei- 
figte, hob ein Grundgeſetz der bürgerlichen Gefellihaft auf, denn 
auf der Einjegung des Sabbat3 beruhete ein wejentlicher Theil 
der Berfafjung. Alle diefe Verbrechen fonnten, ja mußten be- 
Itraft werden, nicht aber als irrige Meinung, als Unglaube, 
ſondern als Unthaten, als Staatsverbrechen. Kirchenrecht und 
Kirchenmacht gab es nach der Verfafjung des JudenthHums nicht, 
Unglaube und Irrglaube Eonnten nad) ihr nicht mit zeitlichen 
Strafen belegt werden. „Die Religion als Religion fennt feine 
Strafen, feine andere Buße, als die der reuevolle Sünder fich 
freiwillig auferlegt.‘ ') 

Da die Geremonialgejege nur für das jüdische Volf ge 
gegeben worden jind, jo wurde die Befolgung derjelben auch 
nur von denjenigen gefordert, welche in den mofaischen Geſetzen 
geboren find. Alle übrigen Völker follen fic) an das Geſetz der 
Natur Halten und Tugend üben, um glüdjelig zu werden, dem 
jüdifchen Wolfe aber ijt es nicht erlaubt, feine Seligkeit auf 
einem andern al3 dem von Gott ihm vorgefchriebenen Wege zu 
juchen. „Nunmehr muß dieſes Volk alle Schmad), Unterdrüdung, 
Beripottung und Berfolgung, die e8 auf diefem Wege antrifft, 
mit Geduld und Ergebenheit in den göttlichen Willen ertragen, 





') Schr. III, 350 ff.; vgl. Spinoza, Tract. theol.-polit. Cap. 13 ff. 


— 397° — 


ohne einen Schritt breit davon zu weichen. Alle andern Völker 
fünnen ihre Gefege nach Zeit, Umftänden, Bedürfnifjen und An- 
nehmlichfeiten abändern; mir aber hat der Schöpfer ſelbſt Ge— 
jege vorgejchriebeu; jollte ich, ſchwaches Geſchöpf, mic) erdreiften, 
nad) meinem Dünkel diefe göttlichen Geſetze abzuändern?“!) 

„Bir wiſſen aber zum Theil ihren Nugen nicht mehr? 
Ganz vet. Wo hat aber der Gefeggeber erklärt, daß fie nicht 
länger verbindlich fein ſollen, als uns ihr Nutzen befannt fein 
wird? Und ohne diefe Erklärung, welcher Sterbliche iſt ver- 
wegen genug, ihrer Gültigkeit Grenzen zu jegen? Menfchliche 
Geſetze fünnen von Menfchen nach Zeit und Umſtänden abge- 
ändert werden, aber die göttlichen bleiben unverändert, bis eine 
völlige Ueberzeugung da it, daß Gott ihre Abänderung befannt 
gemacht habe.“ 2) 

Die eremonialgefege follten für alle Zeiten um alle im 
Judenthume Geborenen ein unauflösbares Band der Vereinigung 
bilden. Ihre Nothwendigfeit als einigende® Band hört nicht 
auf, wenn auch ihre urfprüngliche Bedeutung als Schriftart oder 
Beichenfprache ihren Nußen verloren hätte, und dieſe Bereinigung 
jelbjt wird in dem Plane der Borfehung nad) Mendelsjohns 
Anficht fo lange erhalten werden müffen, fo lange noch Poly: 
theismus, Anthropomorphismus und religiöfe Ufurpation den 
Erdball beherrfhen. „So lange diefe Plagegeifter der Vernunft 
vereinigt find, müſſen aud die echten Theiften eine Art von 
Verbindung unter fich itattfinden laffen, wenn jene nicht alles 
unter den Fuß bringen follen. Und worin ſoll diefe Verbin— 
dung beitehen? In Grundfägen und Meinungen? Da haben wir 
Glaubensartifel, Symbole, Formeln, die Vernunft in Feſſeln. 
Alſo Handlungen und zwar bedeutende Handlungen, d. i. Cere— 
monten.‘3) 


1) Schr. III, 145, 156. 
2) Schr. III, 166. 
») Schr. V, 669. 


u BE 


„Was das göttliche Geſetz gebietet, kann die nicht minder 
göttliche Vernunft nicht aufheben,“?) Tautet der Bejcheid, welchen 
Mendelsfohn allen giebt, die mit ihren Vernünfteleien die Juden 
vom Geſetze losmachen und das ganze Convolut bei Geite 
fchieben wollten. „In der That fehe ich nicht, wie diejenigen, 
die in dem Haufe Jacobs geboren find, ſich auf irgend eine ge- 
wifienhafte Weife vom Geſetze entledigen föünnen. Es ijt uns 
erlaubt, iiber das Geſetz nachzudenken, feinen Geift zu erforjchen, 
hiev und da, wo der Geſetzgeber feinen Grund angegeben, einen 
Grund zu vermuthen, der vielleicht an Zeit und Ort und 
Umftände gebunden gewefen, vielleicht mit Zeit und Ort und 
Umftänden verändert werden fann — wenn es dem allerhöchiten 
Geſetzgeber gefallen wird, uns feinen Willen darüber zu erkennen 
geben; jo laut, fo öffentlich), fo über alle Zweifel und Bedenk— 
fichfeiten hinweg zu exfennen zu geben, als er das Geſetz ſelbſt 
gegeben hat. So Lange dieſes nicht gefchieht, jo lange wir 
feine jo authentifche Befreiung vom Geſetze aufzuweifen Haben, 
fann ung unfere Vernünftelei nicht von dem ftrengen Gehorfam 
befreien, den wir dem Geſetze fchuldig find, und die Ehrfurcht 
vor Gott zieht eine Grenze zwifchen Speculation und Ausübung, 
die fein Gewifjenhafter überjchreiten darf.“ „Darf ich,“ ruft ex 
aus, „in menfchlichen Dingen mich nicht exdreiften, aus eigener 
Bermuthung und Gefegdeutelei, ohne Autorität des Geſetzgebers 
dem Geſetze zumwiderzuhandeln, um wieviel weniger in göttlichen 
Dingen? Hier heißt e3 offenbar: Was Gott gebunden, kann 
der Menſch nicht Löfen.‘?) 

Bon Leibniz und den englifchen Deiften ausgehend und 
in Uebereinjtimmung mit dem Fragmentiften, daß die moſaiſchen 
Geſetze nicht gegeben find, eine Religion zu offenbaren, ftellte 
Mendelsfohn für das Judenthum ein Syftem auf, in welchem 
er feine philofophifche Denkart, den reinen Deismus, mit dem 


1) Schr. III, 235. 
2) Schr. III, 356, 166. 


— 399 — 


unbedingten Feithalten an die geoffenbarten Gefege zu vereinen 
ſuchte: Bernunftreligion auf der einen, göttliche Offenbarung 
und zwar Offenbarung der Gefete auf der andern Seite, oder 
wie er ſich während feines Streites mit Lavater in dem Briefe 
vom 13. März 1770 an den Myſtiker Obereit ausdrücdt:t) 
„Gott hat uns das Syitem der Moral durch Natur und Ber- 
nunft, nicht durch Worte und Buchſtaben offenbaren wollen. 
Was die Menfchen als Menfchen brauchen, hat Gott allen, was 
fie als gewiſſe Menfchen brauchen, auch nur gewiſſen Menfchen 
gegeben.“ 

Mit ſolchen philofophiichen Grundfägen und einer fo ftrengen 
Släubigfeit, welche feiner innerjten Ueberzeuguug entſprach, mußte 
Mendelsfohn in diametralem Gegenfage zu den Lehren des 
Chriſtenthums stehen. 


Neunundjechzigites Kapitel. 
Shriitenthum. 


Es fam Mendelsfohn nicht in den Sinn, gegen die chrift- 
liche Religion polemifch aufzutreten; er wollte im Grunde nur 
die Differenzpunkte zwifchen JudentHum und Chriſtenthum her- 
vorheben und daraus die Eonfequenzen ziehen.?) Dies that ex 
im zweiten Theile feines „Jeruſalem“, oder vielmehr in feinen 
„Betrachtungen über Bonnet3 PBalingenefie”.?) Wie der erſte 
Theil jenes Tractats eine weitere Ausführung der „Vorrede“ 

1) Schr. V, 497. 

2) M. ſ. aud) Winkelmann, Mojes Mendelsjohns Anfichten über 
Kirche und Religion. (Programmarbeit.) Lingen 1875. 


3) Die Betrachtungen über Bonnets Balingenefie zum erften male 
gedrudt: Schr. III, 137—176. 


— 400 — 


zur „Rettung“, jo ift der zweite Theil dejjelben eine theilweife 
Bearbeitung der „Betrachtungen“, oder, genau genommen, Der 
„Handichrift über die chrijtliche Religion“, welche er, wie es in 
dem Briefe an feinen Better Elfan Her; vom 25. November 
1771 heißt, niemal® aus Händen geben und aus der er bei 
bejjerer Gefundheit „was machen“ wollte.?) 

Außer den Belennern des Judenthums, welde auf das 
geoffenbarte Geſetz verpflichtet wurden, find nach) Mendels— 
fohn in Uebereinjtimmung mit den Rabbinen alle übrigen Völker 
angewieſen, fich an das Geſetz der Natur und an die Religion 
der Patriarchen, an die fieben noachidijchen Geſetze, zu Halten, 
welche die wejentlichen Geſetze des Naturrecht3 in ſich faſſen. 
‚Die ihren Lebenswandel nach den Gejegen diefer Natur- und 
Bernunftreligion einrichten, werden, behauptet Mendelsfohn im 
Widerſpruch mit Maimonides, tugendhafte Männer anderer Na- 
tionen genannt und find „Kinder der ewigen Geligfeit“.?) Nach 
diefem Grundſatze ijt dem Judenthume aud der Bekehrungsgeiit 
zuwider, denn die Pflicht zu befehren, ijt offenbar „eine Folge 
aus dem Grundfage, daß außerhalb der Kirche des Befehrenden 
feine Seligfeit zu hoffen fei“. ?) 

Mit feiner Auffaffung des Judenthums, daß dafjelbe Feine 
geoffenbarte Religion, fondern geoffenbarte Gefeßgebung ift und 
nur Glauben an hiftorifche Wahrheiten, an Thatfachen befiehlt, 
fann er den Glauben nicht vereinen. Mit allem Nachdrudf be: 
hauptet er, daß „Wunderwerfe nach) dem Judenthume Feine 
Unterfcheidungszeichen der Wahrheit, feine Beweismittel für oder 


) 1. Aufl. S. 495. Der Brief ift vom 25., nit 15. November 
datirt. 

2) Schr. III, 43, 159. Die jhon von Spinoza befämpfte dogma: 
tiſche Anfiht Maimonides in deſſen Miſchne Thora, Bon den Königen 
Kap. 8 8 10, wurde Gegenftand einer Gontroverje zwijhen Mendels: 
john und Jakob Emden und zeigt, wie groß die Kluft zwifchen dem 
Philoſophen und dem ftarren Talmudiften war. M. ſ. mein: Mojes 
Mendelsjohn. Ungedrudtes und Unbekanntes, S. 34 f. 

3) Schr. V, 503. 


— 401 — 


wider einige Vernunftwahrheiten, feine untrügliche Quelle der 
Heberlieferung jind.“ „Wunder können nur Zeugnifjfe bewähren, 
Autoritäten unterftügen, Glaubhaftigfeit der Zeugen und Ueber- 
lieferer befräftigen; aber alle Zeugniffe und Autoritäten können 
feine ausgemachte Vernunftwahrheit umftoßen.“ Die Sendung 
Mofes beruhte auf einem weit fichererem Grunde. Da war „kein 
Ereditiv des Geſandten“ nöthig; die gefammte Nation, an welche 
die Sendung gerichtet war, hat die große öffentliche Erſcheinung 
mit Augen gefehen, und mit ihren Ohren gehört, wie Gott 
Mofes zu feinem Gejandten und Dolmeticher eingefegt hat. 
„Das iſt eine Gefchichtswahrheit und was ihr widerfpricht, it 
‚Unwahrheit.‘1) „Bei allen übrigen Erzählungen von Wundern, 
die ohne diefe großen Anjtalten nicht fo öffentlich, nicht fo augen- 
Icheinlich geichehen fein follen, umfaßt uns der Unglaube mit 
feinen ſtarken Armen, und wir fünnen uns nicht leicht heraus- 
winden. Wir wiſſen, wie leicht die Menſchen verführen und 
verführt werden können; wir willen, was Vorurtheil, Aber- 
alaube und Enthufiasmus fir Gewalt über die Menschen hat; 
wie oft fich in einem Charakter Vernunft und Enthufiasmus, 
Aberglaube und Betrug, Lift und Einfalt fo fejt verbinden, daß 
es dem Scharflihtigften ſchwer fällt, ihre Grenzen zu unter- 
Icheiden; wir willen, wie oft die Menfchen Gutes aus böfen 
Abjichten und Böſes aus guten Abfichten gethan Haben; wir 
vergleichen Erzählung mit Erzählung, feßen Zeugniß gegen 
Zeugniß, ein ganzes Meer von Zweifeln jchlägt über ung zu- 
jammen, und wir halten unfer Urtheil zurüd.‘2) 

Dem gefchichtlichen Beweiſe für das Chriſtenthum fpricht 
Mendelsiohn alle Kraft ab. Vor dem allergerechteften Richter 
der Welt betheuert er, daß er Feines der chriftlichen Dogmen 
annehmen könne. „Sie fcheinen mir ſchnurſtracks allem zuwider 


) Schr. III, 65, 121, 320. 

2) Schr. III, 158. „Ueber den Mojes Mendelsjohnihen Gedanken 
von Wunderwerfen’ richtete V. E. Möller ein Schreiben an Witten: 
berg, o. D. 1771. 

Kanferling, Mofes Mendelsfohn. 26 


— 42 — 


zu fein, was mich die gejunde Bernunft, das natürliche Nach— 
denken und die heilige Schrift gelehrt, die wir alle für göttlich 
erkennen, und meine ganze Seele müßte verändert werden, wenn 
ich jemal3 hierüber anderes Sinnes werden könne.“ „Sch kann 
den Stifter eines Glaubens fir feinen göttlichen Gefandten 
halten, der diefe Lehren verfündigt . . . . Er hat feine Sen— 
dung dur Wunder betätigt? — Was fünnen mir Wunder 
beweifen? Und wenn diefer Religionztifter vor meinen Augen 
alle Todten erwecte, die jeit Jahrhunderten gejtorben find, fo 
wirde ich jagen, der Religiongitifter Hat Todte erwedt, aber 
jeine Lehre konnte ich nicht annehmen.“ ') 

Auf die jo häufig gemachten Einwendungen, daß ſchon die 
Propheten auf das Chriſtenthum hinweiſen, bleibt Mendelssohn 
die Antwort nicht Tchuldig. „Sch danke,“ jagt er, „meinem 
Schöpfer täglich, daß er meine Glücfjeligfeit nicht hat von exe- 
getischen Unterfuchungen abhängen Lafjen. Ich würde das elendfte 
Geſchöpf auf dem Erdboden fein, wenn mich meine Religion zu 
diefer mühjfeligen Uebung verbände. Wozu wäre es auch nöthig, 
Schriftitellen zu unterfuchen, ob fie nicht eine Lehre beweisen, 
die ich nicht annehmen fann? Wenn fie diejes thäten, fo wäre 
e3 nach meiner Denkungsart mehr Beweis wider die Schrift- 
jtellen als für die Lehre.““) Noch jchärfer jpricht er ſich über 
diefe dogmatiſche Eregetif in feinem Briefe an den Erbprinzen 
von Braunfchweig aus: „Sch glaube, die Sprache des Grund: 
tertes jo gut al3 irgend ein Neuerer zu verjtehen, denn jie iſt 
gleichfam meine zweite Mutterfprache. Mir jcheinen diefe Stellen 
alle nicht die geringjte Spur eines Beweijes zu enthalten. Die 
Auslegungen der Theologen von diejen Stellen haben mir an 
vielen Orten offenbar falſch und an den übrigen höchſt ge- 
ziwungen und twillfürlich gefchienen . . . . Gott fei meiner Seele 
gnädig! ich kann mir den Grund meiner ewigen Seligfeit un- 
möglid) aus den räthjelhaften Träumen Daniel herausziffern, 


1) Schr. III, 163, 130. 
2?) Schr. III, 164. 


— 403 — 


oder aus der erhabenen Poeſie eines Propheten herauscommen- 
tiren. Diefe Schriften find "zur Erwedung des Herzens, aber 
nicht zur Belehrung des Verſtandes geſchrieben.“!) 

Bon der Erbjünde, jagt Mendelsjohn, „weiß die gejunde 
Vernunft nichts, ebenfo wenig das Alte Tejtament. Der Menſch 
ift nach dem Ebenbilde Gottes geſchaffen, aber doc als Menſch, 
ala ein Weſen, das der Sünde Hat unterworfen fein follen. 
Adam und Eva find geftorben, weil fie gefündigt haben, und 
jo ergeht es allen ihren Nachfommen; fie fündigen und fterben, 
find aber nicht durch jenen Sündenfall dem Guten abgeftorben 
und in die Macht des Satans gefommen.‘?) 

Wie feine Erbfünde, kennt Mendelsfohn auch feinen Seelen- 
tod, feine ewigen Strafen. „Rächende Strafen, Genugthuung 
der beleidigten Gottheit, Böfes thun, weil Böfes geſchah, Böfes 
um des Böfen willen, ewige willfürlihe Strafen! Auf allen 
Dächern muß wider diefe Ungeheuer gepredigt werden,” jchreibt 
Mendelsjohn an einen Freund Nicolais, von dem er erwartete, 
daß er „als Wahrheitsforfcher nicht Stimmen fammeln will, um 
fie zu zählen; fie wollen gewogen und nicht gezählt jein“.3) 
Jede Strafe ift eine Wohlthat für den Menfchen, und ſie wird 
ihm erlaſſen, fobald fie aufhört, Wohlthat fiir ihn zu fein, denn 
Gott Hat den Menfchen erichaffen zu feiner eigenen Glüdfelig- 
keit. Sollte aber jede Uebertretung ewiges Elend nad) fic 
ziehen, jo würde Gott feine Gefege zum Berderben gegeben 
haben. „Kein Individuum, das der Glüdfeligfeit fähig ift, ift 
zur Berdammniß, fein Bürger in dem Staate Gottes zum 
ewigen Elende auserjehen. Jedes wandelt feinen Weg, jedes 
durchläuft feine Reihe von Beftimmungen, und gelangt von 


') Schr. IIL, 133. 

2) Schr. III, 132, 161, 165. 

3) Mendelsjohn, Ueber Freiheit und Nothwendigkeit in der Ber: 
lin. Monatsfchrift, II, 1ff.; Schr. III, 370 ff.; über dafjelbe Thema 
Ihrieb Profeſſor Eberhard an Mendelsfohn, Berlin. Monatsfchrift II, 
276 ff. 

26 * 


— — 


Stufe zu Stufe zu dem Grade der Glückſeligkeit, der ihm an— 
gemeſſen iſt.“) Gott ſtraft den Sünder nicht nach feiner eigenen 
Unendlichkeit, ſondern nach der Hinfälligkeit des Sünders; die 
göttliche Gerechtigkeit will nur eine Züchtigung, welche dem 
Sünder ſelbſt zum beſten gereicht; iſt ſie nicht mehr zum ewigen 
Wohl des Sünders unentbehrlich, ſo wird ſie ihm erlaſſen und 
er wird begnadiget, dazu bedarf es keines Mittlers, der ihm 
die Gnade auswirket.?) 

Daß der Stifter der chriſtlichen Religion den Beruf ge— 
habt, die natürliche Religion in ihre Rechte einzuführen, daß 
„dieſer außerordentliche Menſch“ ein Prophet war, das zuzu— 
geben, trägt Mendelsſohn kein Bedenken, wenn jener nichts ge— 
lehrt, was den Worten Gottes und der Vernunft zuwider iſt 
und wenn ſein Beruf ſich nicht auch dahin erſtreckte, die jüdiſche 
Nation von ihrer Verbindlichkeit zu den moſaiſchen Geſetzen los— 
zuſprechen.) Und er hat, behauptet Mendelsſohn, niemals mit 
ausdrücklichen Worten gefagt, daß er das mofaifche Geſetz auf- 
heben und die Juden davon dispenfiren wolle, ev hat vielmehr 
das Gegentheil geſagt und gethan.. „Jeſus von Nazareth hat 
jelbjt nicht nur das Gejeg Moſes, jondern auch die Sagungen 
der Rabbinen beobachtet, und was in den von ihm aufgezeich- 
neten Reden und Handlungen dem zumider zu fein fcheint, Hat 
doch in der That nur dem erjten Anblide nach diefen Schein. 
Wenn er gekommen tft, der eingeriffenen Heuchelei und Schein- 
heiligfeit zu ſteuern, jo wird ex ficherlich nicht das erſte Bei- 
ſpiel zur Scheinheiligfeit gegeben, und ein Gefeß durch Beifpiel 
autorifirt haben, das abgeftellt und aufgehoben fein ſollte . . .. 
Haben jeine Nachfolger in jpätern Zeiten anders gedacht und 
auch die Juden, die ihre Lehre annahmen, entbinden zu fünnen 
geglaubt, fo iſt es ficherfich ohne feine Autorität gefchehen. *) 


1) Schr. II, 432. 
2) Schr. III, 131, 142 ff. — 345 ff., 166; V, 565. 
3) Schr. III, 170. 

4) Schr. IN, 357 — III, 160, 132. 


— 405° — 


‚ Demzufolge find die Juden, jelbjt wenn fie das Chriſtenthum 
annehmen, von dem moſaiſchen Geſetze nicht dispenfirt. ') 

. Der Mefftas, welchen Mendelsfohn als treuer Belenner 
des Judenthums erwartet, wird, feiner Anficht nach, fein Er— 
Löfer fein, durch den er felig zu werden hofft, fein irdiſcher 
Herrſcher, der eine Univerfalherrichaft herſtellt. „Die Menſch— 
heit müßte ihre Natur ausziehen, wenn eine allgemeine Monar- 
hie follte zu ihrem Beſten gereichen fünnen“: der Meſſias, den 
er erivartet, wird den Beruf haben, die jüdiiche Nation von 
jeder politifchen Unterdrüdfung zu befreien, daß alsdann alle 
Nationen fich vereinigen werden, den einigeeinzigen wahren Gott 
anzubeten.?) Da ift von feiner Vereinigung in Lehre und Ge— 
feß, noch weniger von einer fogenannten Glaubensvereinigung 
die Rede. 


Stebenzigites Kapitel. 
Toleranz, nicht Slaubenävereinigung. 


Toleranz iſt der Gulminationspunft, auf den Mendelsjohns 
Neligionsprincip eigentlich ausläuft; fie ift die nothiwendige Folge 
der Glaubens- und Gewifjensfreiheit. 

lehentlichjt bat er, am Schluſſe des „Jeruſalem“, jeine 
chriftlichen Brüder, den Juden nicht zu verargen, das zu thun, 
was der Stifter ihrer Religion ſelbſt gethan und durch fein 
Ansehen bewährt hat. „Ahr folltet glauben, ung nicht bürger- 
lich wieder lieben, Euch mit uns nicht bürgerlich vereinigen zu 
fönnen, jo lange wir uns durch das Ceremonialgeieg äußerlich 
unterfcheiden, nicht mit Euch ejfen, nicht von Euch heirathen, 
das, fo viel wir einfehen können, der Stifter Eurer Religion 

1) Schr. III, 357, 132. 

2) Schr. III, 104, 171. 


— 406 — 


jelbft weder gethan, noch uns erlaubt haben wirde? Wenn. 


diefes, wie wir von chrijtlich gefinnten Männern nicht vermuthen 
fönnen, Eure wahre Gefinnung fein und bleiben follte; wenn 
die bürgerliche Vereinigung unter feiner andern Bedingung zu 
erhalten, al3 wenn wir von dem Gefege abweichen, dag wir für 
uns noc für verbindlich halten, jo thut e8 uns herzlich Leid, 
was wir zu erklären für nöthig erachten; fo müfjen wir Lieber 
auf bürgerliche Vereinigung Verzicht thun. Bon dem Gefeße 
fünnen wir mit gutem Gewiſſen nicht weichen, und was nüßen 
Euch Mitbürger ohne Gewiſſen?“) 

Mendelsiohn wollte Glaubensfreiheit, aber feine Glaubens- 
vereinigung, denn diefe führt gerades Weges auf die gehäffige 
Intoleranz und hat die unfeligiten Folgen für Gewifjensfreiheit. 
Alle Verfolgungen find von jeher im Namen diefer Glaubens- 
vereinigung ausgeübt worden, und man hat diefe wie den ge— 
fährlichſten Feind des menschlichen Gefchlechtes und feiner Glück— 
jeligfeit zu vermeiden und mit aller Macht zu verhindern. Liebe 
und Haß find nicht jo jehr verfchieden, als Ausbreitung der 
Gotteserfenntniß von Glaubensvereinigung. 2) 

„Sroßen Dank für alle Toleranz, wenn man dabei noch) 
immer an Ölaubensvereinigung arbeitet!“ ruft ex feinem Freunde 
Homberg zu. So lange noch das Vereinigungsſyſtem im Hinter: 
halte lauerte, ſchien ihm diefe Toleranzgleißnerei noch gefähr- 
licher als offene Verfolgung. So fange noch diefer verkehrte 
Weg zur Bruderliebe und Bruderduldung eingefchlagen wird 
und man die Juden dur) Sanftmuth und Schmeicheleien ihren 
Geſetzen abwendig machen will, ift e8 höchſt nöthig, daß „das 
feine Häuflein derer, welche nicht befehren, auch nicht befehrt 
fein wollen, ſich zufammendränge und feſt aneinanderfchließe.‘ 3) 

Mendelsfohn Fonnte den Gedanken nicht faffen, daß man 
die Juden, weil fie treue Befenner ihrer Religion find, von 

') Schr. III, 357 f. 

2) Schr. III, 235. 

3) Schr. V, 671, 677. 


— — 


— 407. — 


den Menfchenrechten ausichliegen würde. Wegen der Verheigung 
von einem Hirten und einer Heerde, „braucht weder die ganze 
Heerde auf einer Flur zu weiden, noch durch eine Thür in 
des Herrn Haus ein- und auszugehen. Diejes ijt weder dem 
Wunſche des Hirten gemäß, noch dem Gedeihen der Heerde zu— 
täglich.“ „Brüder!“ vuft er aus, „it e8 Euch um wahre Glück— 
jeligfeit zu thun, jo laſſet uns feine Uebereinjtimmung lügen, 
wo Mannichfaltigfeit offenbar Plan und Endzwed der Vorſehung 
iſt. Keiner von uns denkt und empfindet vollflommen fo, wie 
fein Nebenmenſch; warum wollen wir denn einander durch trüg- 
liche Worte Hintergehen? Warum ung einander in den wichtig: 
iten Angelegenheiten unferes Lebens durch Mummerei unfennt- 
fi) machen, da Gott einem jeden nicht umfonft feine eigenen 
Geſichtszüge eingeprägt hat?“ ') 

Mit Worten prophetiichen Geiſtes wendet ex ſich dann an 
die „Regenten der Erde“. „Wenn es einem unbedeutenden Mit- 
bewohner vergönnt ift, feine Stimme bis zu Euch zu erheben, 
trauet den Räthen nicht, die Euch mit glatten Worten zu einem 
fo ſchädlichen Beginnen, wie Ölaubensvereinigung ijt, verleiten 
wollen. Sie find entweder ſelbſt verblendet und ſehen den 
Feind der Menfchheit nicht, der im Hinterhalte lauert, oder 
juchen Euch zu verblenden. Es ijt gethan um unſer edelites 
Kleinod, um die Freiheit zu denken, wenn Ihr ihnen Gehör 
gebet! Um Eurer und unfrer Aller Glückſeligkeit willen, Glau— 
bensvereinigung tjt nicht Toleranz, iſt der wahren Dul- 
dung gerade entgegen! . . . Bahnet einer glüdlichen Nach— 
fommenfchaft den Weg zu jener Höhe der Eultur, zu jener all- 
gemeinen Menfchenduldung, nach welcher die Vernunft noch 
immer vergebens feufzet! Belohnet und bejtrafet feine Lehre, 
(odet und bejtechet zu feiner Religionsmeinung! Wer die öffent- 
liche Glückſeligkeit nicht ftört, den laſſet jprechen, wie ex denft, 
Gott anrufen nach feiner oder feiner Väter Weile, und fein 


') Schr. III, 360 f. 


— 48 — 


ewiges Heil juchen, we er e3 zu finden glaubt. Laſſet nie- 
manden in Euren Staaten Herzenskündiger und Gedanfenrichter 
jein, niemanden ein Recht ſich anmaßen, das der Allwifjende 
jich allein vorbehalten hat! Wenn wir dem Kaijer geben, was 
des Kaifers ift, jo gebet Ihr felbit Gott was Gottes iſt! Liebet 
die Wahrheit! Liebet den Frieden!“ N) 

Es thut von Zeit zu Zeit Noth, auf jolche erhabene Worte 
wieder hinzuweiſen. Solche Worte müfjen alle diejenigen mit 
wahrem Schauder erfaffen,. welche jicd der hehren Tugend der 
Toleranz noch immer entjchlagen. 

Mendelsfohn übte Toleranz gegen Andersglaubende und 
Andersdenfende im weiteiten Sinne. In Abficht auf jich dog 
matifch im jtrengften Berjtande, hatte er, was ihn jelbjt betraf, 
in den wichtigjten Bunften der Religion und Philoſophie Bartei 
genommen, aber eben fo ffeptifch verhielt ex jich, wenn er feinen 
Nebenmenſchen beurtheilen follte.?) Er räumte einem jeden 
daffelbe Recht ein, das er für fich forderte, und war nach den 
Worten des Dichters: 

„Streng gegen ſich, nachſichtig gegen andere.‘ 


Niemand juchte er für feine Anficht zu gewinnen, niemand 
verachtete er, weil er nicht jo dachte und handelte wie er, in- 
quifitorisches Kegergeriht war ihm ein Greuel, und Berfonen, 
mit denen er Sich über Wahrheiten der Religion nie vereinen 
fonnte, waren dennoch feine bejten Freunde. „O, wer diefe Er- 
fahrung in feinem Leben gehabt hat, und noch intolerant fein, 
noch feinen Nächten haſſen fann, weil er in Religionsfachen 
nicht denft oder ſich nicht fo ausdrüdt, wie er, den möchte ich 
nie zum Freunde haben, denn er hat alle Menichheit ausge- 
zogen.‘ 3) 





1) Schr. III, 361 f. 
?) Schr. IIL, 69, 168. 
) Schr. III, 391. 





— 409 — 


Einundjtiebzigites Kapitel. 
Urtheile über „Jeruſalem“. 


Mendelsſohns „Jeruſalem“ machte weit größeres Auffehen 
ala der beicheidene Verfaſſer erwartet hatte. Ein vechtlofer 
Sude hatte es gewagt für Denf-, Glaubens- und Gewiſſens— 
freiheit, für Gleichheit aller vor dem Geſetze, für Toleranz und 
veligiöfe Duldung aufzutreten; und er that dies mit einer Frei— 
müthigfeit und Entichiedenheit, die Staunen erregte. Das Juden— 
thum war dem Staate gegenüber noch nie fo vertheidigt, das 
Berhältnig zwiichen Staat und Religion noch nie jo gefaßt und 
abgegrenzt worden! Kleines feiner Werfe hat aber auch fo viel 
„Saft und Kraft“ als „Jeruſalem“, ) das, wie der edle Graf 
Mirabeau in feiner vortrefflichen Schrift „Ueber Moſes Mtendels- 
ſohn“ behauptet,2) „in alle europäifchen Sprachen überjegt zu 
werden verdiente‘. ?) 


') Berlin, Fr. Maurer, 1783; Frankfurt a. M. 1787, Schr. III, 
258—362 und in den verfchiedenen Ausgaben der Gef. Schriften, dann 
aud in der Bibliothek der deutichen Nationalliteratur, zufammen mit 
dem „Phädon“ (Leipzig 1869). 

) Mirabeau, Sur Moses Mendelssohn et sur la reforme poli- 
tique des juifs (Leipzig 1853) ©. 29; die 1. Aufl. London 1787. 

3) Von „Jeruſalem“ erfchien eine italienifche Ueberjegung: 

Gerusalemme, o sea del poter religioso e del Giudaismo; 
Trieste 1799. Es wurde in London und in Philadelphia ind Englifche 
überjegt: 

Jerusalem, a treatise on ecclesiastical authority and judaism, 
translated from the German by M. Samuels. 2 vol. London 1838. 

Jerusalem, a treatise etc. Translated from the German by 
Isaac Leeser. Philadelphia 1852, 

Auch erichienen davon zwei hebräijche Ueberjegungen: 

SYaRdana 1y3 DMMaR "'y Saon nash pny pmin 3 men 1 man aramım 

Sitomir 1867. 
jposybans yıp v’y nd nun Inu su an y Dny 2... ara 

Wien 1876. 


=. 40 = 


Das Buch wurde mit Unwillen aufgenommen und erfuhr 
Widerlegungen von geiftlichen und weltlichen Herren. Auf un- 
getheilten Beifall hatte Mendelsfohn nicht gerechnet. Er war 
ih) bewußt, daß er es Feiner Partei recht gemaht und nur 
fehr wenige zufrieden gejtellt Habe. Er hatte fo mancherlei in 
damaliger Zeit herrfchenden Vorurtheilen und falſchen Voraus— 
feßungen fo geradezu widerfprochen, daß er auf Angriffe von 
allen Seiten gefaßt fein mußte Die Geiftlichfeit konnte ſich 
mit feinen Grundfägen nicht einverjtanden erflären, ebenfo wenig 
wie die weltliche Obrigkeit; „ihr behagt blos das Syſtem des 
Hobbes, der den Weihrauch vom Altare nimmt und ihr damit 
räuchert“. Seine Offenbarungslehre, feine Begriffe vom Juden: 
thume konnten weder Oxthodore noch Heterodore befriedigen. Und 
nun gar feine Anfichten über das Chriſtenthum! Er machte jich, 
wie er feinem Freunde Homberg jchrieb, Rechnung darauf, die 
mehrſten Gemüther wider fich eingenommen zu finden, und faßte 
daher von vornherein den Entichluß, ſich alle jchriftlichen ſowol 
als mündlichen Privaterörterungen Höflichjt zu verbitten und 
jeden, der ihm einen Entwurf machen würde, auf den Drud zu 
verweilen. Ihm lag daran, die Streitpunfte mehr in öffentliche 
Unterfuhung vor das Publitum zu bringen. So oft felbjt feine 
beiten Freunde ihm ihre Zweifel mündlich zu erfennnen gaben, 
erhielten fie feine andere Antwort als: „laffen Sie druden“. 

Kein durchlauchtiges, hochehrwürdiges oder hochgelehrtes 
Urtheil über „Serufalem“ Fonnte ihn fonderlic) befremden. „Der 
Fürft, der fi) beim Frifiren fo etwas vorlefen läßt, meinte er, 
„muß dem vorlefenden Abt die Schrift aus der Hand nehmen 
und fprechen: Mendelsfohn ijt ein Schwäger. Ein Leipziger 
Profefjor hat gejagt: Mendelsfohn iſt in dem erjten Abfchnitte 
ein Sophijt und in dem zweiten Stodjude. Zu Wittenberg ſoll 
jemand geurtheilt haben, er fei Sacrilege und Naturalift: alles 


Auszugsweije wurde Serujalem ins Hebräifche überjegt von F. 
Eudel, a. a. D. ©. 58—112. 


— 41 — 


dieles kam ihm nicht umerwartet.“!) Selbſt Kaiſer Joſeph hielt 
ihn in Folge des „Jeruſalem“ für einen Naturaliten. Als diefer 
den durch feine mannichfadhen Schidjale, vorzüglich durch fein 
Wirken als Geijtlicher und Freimaurer bekannten Fehler zum 
Genfor in Galizien ernannte und ihm die Beförderung der 
Cultur unter den Juden ans Herz legte, machte Fehler den 
Borichlag, den Raſchi-Kommentar zu ſtreichen. 

„Wie, wenn ich ihnen dieſen Raſchi ſtreiche und ſtatt deſſen 
Moſes Mendelsſohns Ueberſetzung beizudrucken befehle?“ 

„Nein, nein,“ erwiderte der Kaiſer, „das geht nicht. Men— 
delsſohn war ein Naturaliſt, und ich will nicht, daß meine Juden 
Naturaliſten werden.“?) 

Indeſſen hatte Mendelsſohn doch die Freude, daß ſich 
einige der hellſten Köpfe und beſten Menſchen in den wichtigſten 
Behauptungen völlig für ihn erklärten. 

Kant bewunderte Jeruſalem „wie ein unwiderlegbares 
Buch“s) und gab dem Verfaſſer feinen Beifall in einem Privat— 
briefe deutlich zu erfennen. „Herr PFriedländer wird Ahnen 
Tagen,“ fchrieb er ihm am 18. Auguſt 1783, „mit welcher Be- 
wunderung der Scharffinnigfeit, Feinheit und Klugheit ich Ihren 
Serufalem gelefen habe. Ach Halte diefes Buch für die Ver— 
findigung einer großen obzwar langjam bevorjtehenden und fort- 
rückenden Reform, die nicht allein Ihre Nation, fondern auch 
andere treffen wird. Sie haben Ihre Religion mit einem 
folchen Grade von Gewiffensfreiheit zu vereinigen gewußt, die 
man ihr gar nicht zugetraut Hätte und dergleichen ſich Feine 
andere rühmen fann. Sie haben zugleich die Nothwendigfeit 
einer unbefchräntten Gewifjensfreiheit zu jeder Religion jo gründ- 
lich und fo hell vorgetragen, daß auch endlich die Kirche unferer- 
ſeits darauf wird denfen müffen, wie fie alles, was das Ge- 





) Schr. V, 675 f. 

2) Fehler, Rückblicke auf feine fiebenzigjährige Pilgerihaft (Bres— 
(au 1824), 204. 

3) Kacobis Werke IV, 3, 142. 


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wiſſen beläſtigen und drücken kann, von der ihrigen abſondern, 
welches endlich die Menſchen in Anſehung der weſentlichen Re— 
ligionspunkte vereinigen muß; denn alle das Gewiſſen beläſtigende 
Religionsſätze kommen uns von der Geſchichte, wenn man den 
Glauben an deren Wahrheit zur Bedingung der Seligfeit macht.“ ') 

Auguft von Hennings, ein eifriger Kämpfer für Glaubens- 
und Gewiflensfreiheit, war der Meinung, „Jeruſalem“ fei aus 
dem Feuerjtrome geſchöpft, in den ſich ehemals feine eigene 
Seele hinabftürzte; ev Schöpfte aber blos Wärme, was Mtendels- 
john herausgenommen Habe, fei ganz Licht.?) 

Der junge ſchwärmeriſche Thomas Wizenmann, der ſich 
Ipäter in fo unmwirdiger Weile gegen Mendelsfohn benahm, 
mußte „Jeruſalem“ Gerechtigkeit widerfahren laſſen und ein- 
räumen, daß der zweite Theil des Buches vortreffliche Ideen 
enthalte. Ihm war es freilich nicht denkbar, wie ein Mann 
das Judenthum fo vein darjtellen und das Chriſtenthum leugnen 
fünne. ?) 

Auch Herder hielt mit jeinem Urtheile nicht zurück. „An 
Ihrem ‚Serufalem‘, jchreibt ev Mendelsfohn den 4. Mai 1784, 
bei Ueberfendung feiner „Ideen zur Philofophie dev Geſchichte“, 
„habe ich mit Geift und Herz viel Antheil genommen und Sie 
über die mancherlei Chifane beflagt, die man bie und da da- 
gegen erhoben. Aber, lieber Mendelsjohn, rechnen Sie nicht 
mit zwei ungleichen Größen? Den Staat jegen Sie jo voll- 
fommen, al3 ex jein jollte und — wo iſt? und zu einem folchen 
fügen Sie die Kirche. Ach gebe es zu, auch nad) Ihren reinen 
Grundfägen; fo lange aber jener, wie Sie jelbjt nicht leugnen, 
mit der äußerften Unvollkommenheit behaftet ift, io lange wird 
auch fein pflegbefohlenes Kind, als corpus betrachtet, an feinen 
ungefunden Säften Antheil nehmen. Und da mag's immer nod 


1) Kants Sämmtlihe Werke, herausgegeben von Rojenfranz und 
Schubert (Leipzig 1842), XL, 1, 17. 

2) Erinnerung an Dresden. (Hdichr.) 

) Von der Goltz, Thomas Wizenmann (Gotha 1859), IL, 55 


— 43 — 


gut fein, wenn diejes einigen Halt für ſich hat und nicht ganz 
von feiner Nahrung abhängt. Im Ferufalem droben oder im 
zufünftigen — freili da wird niemand an Ihrer Theorie 
zweifeln.“ ?) 

Die Urtheile folcher Denker boten Mendelsiohn reihen Er- 
ſatz für alle „Schale Kritik, und alles noch fchalere Lob, womit 
die gewöhnlichen Recenfenten die arme Brofchüre verfolgten‘. ?) 

Die meijten, welche über oder gegen die „arme Broſchüre“ 
ichrieben oder fie zu widerlegen fuchen, fmüpften mehr oder 
weniger an die Lavaterſche Herausforderung an; nur fehr wenige 
ließen alles Berlönliche aus dem Spiel und hielten fich jtreng 
an die Sadıe. 

Der Berliner Prediger Joh. Friedrich Zöllner, ein mehr: 
jähriger Bekannter Mendelsfohns, jchrieb ein ganzes Buch über 
„serufalem‘“,3) in welchem, wie Garve gegen Weiſſe äußerte, 
„mehrere Säße nicht immer ſehr bündig vertheidigt werden.‘ *) 
Ein anderer Berliner Prediger, Uhle, ſchickte ein noch weit- 
läufigeres Product über das Buch in die Welt.) Was Men- 
delsſohn in feiner „deutlichen und ftarf überzeugenden Sprache“ 
fagt, hält ex fir wahr und vortrefflich, nichtsdeftomweniger muß 
er dem „gründlichen Weiſen“ widerfprechen: nach feinem Dafür- 
halten iſt „Jeruſalem“ eine Mifchung von Naturalismus und 
Barticularismus, 

Am meilten Auffehen erregten die durch „Jeruſalem“ her- 
vorgerufenen „Philoſophiſchen Betrachtungen über Theologie und 
Religion überhaupt und iiber die jüdische infonderheit“.6) Die 





) 1. Aufl. S. 550. 

2) Schr. V, 616. 

3) Meber Moſes Menvdelsjohns Jerufalem. Berlin, Maurer, 1784. 

‘) Briefe von Garve an Weiffe (Berlin 1808), I, 184. 

5) Ueber Herrn Mofes Mendelsfohns Jerufalem, politisch religiöje 
Macht, Judenthum und Chriftentyum. Berlin und Leipzig. Im 
Jahre 1784. 

6) Frankfurt und Leipzig, 1784. 


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Berliner Juden waren jo begierig, dieſes Schriftchen zu leſen, 
daß jie es fich einander in der Synagoge zuftedten.") 

Die Angriffe hörten noch lange nicht auf. 

Da trat der eine mit einer Schrift unter dem pomphaften 
Titel „Offenbarung, Judenthum und Chriftentbum für Wahr: 
heitsforscher” dagegen in die Schranfen;?) ein anderer fühlte 
ſich gedrungen, über dieſe „elende Apologie” und „vabbinifche 
Philofophie“ feine Gedanfen zu eröffnen und das Chriftenthum 
zu vertheidigen,?) und ein dritter, namens Benedict Stattler, 
wurde erſt 1787 mit feinem „Wahren Ferufalem, oder über 
religiöfe Macht und Toleranz, bei Anlaß von M. Mendelsfohns 
Jeruſalem“ fertig. *) 

Und nun erſt der Troß der Recenjenten: Herr Loffius, 5) 
der Recenjent in der „Züricher Bibliothef“,6) Doederlein”) u. a. 
Doederlein gereicht e3 zum wahren Vergnügen, eine Schrift an- 
zuzeigen, welche, wie „Jeruſalem“, zwar nicht an „Eörperxlicher 
Größe, in der ſich oft geiftlofe Menfchen und Bücher brüjten, 
aber wol an innerm Gehalt, an Präcifion der Ideen und des 
Ausdruds und an Wichtigkeit und Fruchtbarfeit dev Sachen vor 
vielen den Vorzug und den Beifall des Denfers verdient‘, aber 
zufrieden kann ex doch nicht mit ihr fein. Alle behaupten, daß 
der Staat nicht ohne pofitive, ohne eine vorgejchriebene Religion 
bejtehen fünne und daß die Kirche auch Macht haben müſſe. 

Auch dem theologischen Ritter Michaelis bot „Jeruſalem“ 
eine erwünſchte Gelegenheit, feinem Judenhaß wieder Luft zu 
machen. Zufolge der im erjten Theile des „Jeruſalem“ aufge 
jtellten und gegen die Bilchöfe der anglifaniichen Hochkirche ge- 





') Hamburger Correjpondent, 1786, Nr. 24. 

2) Berlin, Nicolai, 1785. 

3») Gedanken über Mojes Mendelsjohns Jerujalem, in jo fern dieſe 
Schrift dem Chriftenthum entgegen gejegt ift. Bremen, Förfter, 1786. 

4) Augsburg 1787. 

5) Weberficht der neueften Literatur der Philoſophie, Bd. 1, St. 2. 

6) Büricher Bibliothek, Bd. 1, St. 1 

) Theologifhe Bibliothek, Bd. 2, St. 12. 


— 45 — 


richteten Behauptung, daß alles .Beichwören von Lehrmeinungen 
unzuläffig fei, warf ihm der Ritter „einen Zanf an den Hals, 
der ihm in mancher Betrachtung gar hämiſch angelegt zu fein 
chien“.Y) Er machte ihm ohne weitere® den Borwurf, alle 
englifchen Biſchöfe als Meineidige gebrandmarft zu haben, und 
bejchuldigte in der Recenjton,?) wie bei allen Gelegenheiten, die 
züdiiche Nation der abjcheulichiten Grundfäge in Abjicht auf die 
Eide. Mendelsfohn fand es für nöthig, ſich zu vertheidigen 
und ließ die Vertheidigung, „Ueber die neununddreißig Artikel 
der engliſchen Kirche und deren Beſchwörung“, in der „Ber— 
liniſchen Monatsſchrift“ einrüden.?) Er ſtellt es nicht in Ab— 
rede, Mißbrauch und Geringihäßung der feierlihiten Betheue— 
rung den Bilchöfen des Oberhaufes, die ſelbſt am Ruder jigen, 
vorgeworfen zu haben; unbegreiflich ift ihm nur, daß ein, ihm 
fonjt jo verehrungswürdiger Mann, wie der Ritter Michaelis, fo 
leichtfertig wie der gemeine Haufe der Recenfenten ijt. „Gewiſſe 
Göttingſche Gelehrte fcheinen von jeher mit gemeinen Vorurthei— 
len wider die Juden eingenommen zu fein, und obgleich das 
aufgeflärte Publikum feitdem zu menfchlichern und tolerantern 
Gefinnungen gelangt ift, fo beharren jie noch immer bei dem 
verjährten Wahn.“ *) 

Einen ſehr warmen Bertheidiger gegen die verjchiedenen 
Angriffe fand Mendelsfohn in dem ungenannten Verfaſſer der 
Kleinen, noch heute beherzigenswerthen Schrift „Ueber kirchliche 
Gewalt. Nach Moſes Mendelsfohn“.5) Der Ungenannte, ein 
Geſinnungsgenoſſe von Diez, dem Apologeten der Duldung, dem 
Freunde Dohms und von Hennings, will er nur jenem Meiſter— 





) Schr. V, 706. 

2) DOrientalifhe Bibliothek, Theit 22, Nr. 226, 232. 

) Berl. Monatsfhrift, 1784, S. 24—41; wieder abgedrudt: 
Schr. III, 374—385. 

4) Schr. III, 384. 

°) Berlin, Mylius, 1786. Das 80 Seiten umfafjende Schriftchen 
ift dem Rentjecretär Schneider in Merfeburg zugeeignet. 


— 46 — 


jtüde, wie er „Jeruſalem“ nennt, einige nähere Beitimmungen 
und weitere Ausführungen geben, geht aber mit feinen Forde— 
rungen noch über Mendelsfohn hinaus. 

Niemand hat „Jeruſalem“ jo anhaltend beichäftigt, als den 
nordilchen Lavater Hamann. Mit tiefem Seelengroll blickte der 
Myſtiker auf diefes Glaubens- und Denkfreiheit beanfpruchende 
Verf. „Mendelsfohns „Jeruſalem“ Habe ich fait dreimal durch— 
gelefen,“ jchreibt ev am 4. Auguft 1783 an Herder, „und weiß 
immer weniger, was er jagen will. Es ijt mir zwar lieb, daß 
er ein Jude iſt, aber ich verdenfe es ihm noch mehr, einer zu 
fein.) Auf das Verſtändniß fam es einem Hamann num eben 
nicht an. Pour la rarete du fait, wie er fid) ausdrückt, ſchrieb 
er in einer Zeit, „wo er von Geſchwüren und Ausfchlägen und 
bei dem Mangel jeder Bewegung von einem jehr jtarfen Appetit 
gequält wurde“, fein „Golgatha und Scheblimini”, eine Hleine, 
drei bis vier Bogen umfafjende Schrift, mit welcher ex den 
Juden zu befämpfen und zu vernichten beabfichtigte. Wie ent- 
feglich jauer wurde ihm das Product! Nachdem er ein ganzes 
Fahr daran gearbeitet, über ein Buch Papier verfchmiert und 
immer gegen BVerftopfung und Durchfall der Gedanken und des 
Stils zu kämpfen hatte“,?) war er endlich Anfang Mai 1784 
im Stande, das Libell, „deſſen Ende auszuglätten und zu vollen: 
den er überdrüffig wurde”, dem Drude zu übergeben. Hamann 
trieb mit feinem alten Freunde ein ſchmähliches Spiel und übte 
gegen ihn die fraudulentejte Pietät. Sein „Scheblimini“ wim- 
melt von Gehäffigfeiten der gemeinften Art, und mit der größten 
Kaltblütigkeit jchleudert er feine giftigen Pfeile gegen den für 
Wahrheit und Freiheit fämpfenden Juden: er nennt ihn einen 
Heuchler und Lügner und ſtempelt ihn fchlechtweg zum Atheisten. 

Der fo Hochgepriefene, aber bei aller chriftlichen Selbit- 
demüthigung hochmüthige, geiftig-zügellofe, hegende und eifernde 


) Hamanns Schr. VI, 350. 
2) Hamanns Schr, VII, 132. 


— 47 — 


Hamann, wie ein geijtreicher Theologe ihn jo treffend bezeich— 
net,*) hatte einen würdigen Kampfgenofjen gefunden: ein an- 
derer Prediger hatte jic) aufgeworfen, der das Ding noch gröber 
gemacht als jener in der Wüſte. Der befannte oder, wie er 
in einem Briefe an Herder genannt wird, der berüchtigte „Sirach 
für Jedermann“, Schulz, hat eine philofophiiche Betrachtung zum 
Beiten des Atheismus gefchrieben”, meldet Hamann feinem 
Bufenfreunde Sacobi, „und der Iſraelit Hat feinen Wunſch er- 
reicht, wie ich meinen —; jener, einen bejtimmten und mit zus 
reichendem Grunde ausgerifteten Gegner gefunden zu haben; 
ich, abgelöjt zu fein und einen müßigen Zufchauer abgeben zu 
können.“?) 

Hatte Hamann Mendelsſohn des Atheismus beſchuldigt, ſo 
griff ihn Schulz von der entgegengeſetzten Seite an: er machte 
ihm, wie dieſes auch von dem Ritter Michaelis und von andern 
Necenfenten gefchah, den Borwurf, daß er im „Serufalem“ ein 
gar zu orthodorer Jude, ja ein Nabbinite ſei. Mendelsjohn 
itand fo zwifchen zwei Feuern und befand fi in einer nicht 
geringen Berlegenheit. 


Zweiundjiebzigites Kapitel. 
Mendelsſohns Stellung im Iudenthum. 


Auf dem Fundamente der Leibniz-Wolffiichen Philoſophie 
ftellte Mendelsfohn in feinem „Serufalem“ ein neues Syitem für 
da3 Judenthum auf. In feinem völlig felbitjtändigen Deismus 
ſprach er dem Judenthum defjen eigenjtes Eigenthum, die mono— 
theiftifche Erkenntniß, ab und befchränfte deſſen ganzes Weſen 


— — 





) Schwarz, Leſſing als Theologe (Halle 1855), 9. 
2) Hamanns Briefwechjel mit Jacobi. Herausg. von Roth, 18. 
Kapferling, Mofes Mendelsjohn. 27 


— 418 — 


auf das geoffenbarte, für ewige Zeiten bindende und unveränder- 
liche Geſetz, deſſen Befolgung die Erhaltung des Judenthums 
bedingt. Die religiöſe Handlung, die Beobachtung des Geſetzes, 
iſt nah ihm unabhängig vom Glauben und Erkennen, ſodaß 
er allen Ernſtes behauptete, „daß Spinoza feiner fpeculativen 
Lehre ungeachtet, ein orthodorer Nude hätte bleiben Fönnen, 
wenn er nicht in andern Schriften das echte Judenthum be— 
jtritten und fich dadurch dem „Geſetze“ entzogen hätte.‘ ?) 
Indem Mendelsfohn Denk- und Glaubensfreiheit einerfeits 
als Prineip des Judenthums anerkannte, das ganze Wefen des- 
jelben aber andererſeits in das Geremonialgejeg legte, war der 
jubjectiven Auffafjung der weitejte Spielraum geboten. Die ver- 
Ichiedenften veligiöfen Parteien, die Orthodoren fowol wie die 
Reformfreunde, beriefen ſich mit gleichem Rechte auf ihn. Jene 
führten ihn als ihren Gewährsmann dafür an, daß das YJuden- 
thum weſentlich Gefeb, daß Gebote und Verbote Gottes funda- 
mental feien; diefe beriefen fich auf ihn, daß man um Jude zu 
fein nicht3 zu glauben brauche. 2) Bei aller Anerkennung, welche 
den Hohen Berdienften Mendelsſohns um das Judenthum von 
allen Seiten bereitwillig gezollt wird, fand er doch wegen des 
„Jeruſalem“ befonders in neuerer Zeit unter feinen Glaubens- 
genofjen viele, zum Theil fcharfe Beurtheiler.?) Man befchul- 


) Schr. II, 5. 

2) M. j. die Schrift: Die Religion im Bunde mit dem Fortjchritte 
und die unter demjelben Titel erjchienene Gegenſchrift „von einem 
Schwarzen‘ (S. R. Hirſch). Frankfurt a. M. 1854. 

3) M. j. Sam. Holdheim, Moſes Mendelsjohn und die Denk- und 
Glaubensfreiheit im Judenthume (Berlin 1859); Steinheim, Mofes 
Mendelsjohn und jeine Schule (Hamburg 1840); M. Lazarus, Mojes 
Mendelsjohn in feinem Berhältnig zu Juden und Judenthum, in 
Deutſche Revue, 1886, Februar, S. 215—228; 2. Philippſon, Die Stel: 
lung Mojes Mendelsfohns in und zum Judenthume, in Allg. tag. d. 
Idths., 1886, Nr. 11—16. Vom Standpunkte der äußerften Reform 
beurtheilt ihn I. H. Ritter, Gefhichte der jüdischen Reformation. Erfter 
Theil. (Berlin 1858). 


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digte ihn der Feigheit und Zweideutigkeit, hielt feine Anfichten 
für ierig und hinfällig, ja Steinheim, der fi) beftändig im 
Dunftkreife der Fdeen des Judentums beivegte, von dem jüdi- 
ſchen Leben und der jüdiſchen Gemeinfchaft jich aber gänzlich 
fernhielt, und jich einredete, ein begeijterter Anhänger. des Juden- 
thums zu fein, Hatte die Vermeſſenheit, Mendelsfohn, der mit 
allen Faſern feines Herzens dem Judenthume anhing, einen 
Probalitätscaleulator zu nennen, „der vom Juden nicht mehr 
zurücfbehalten hatte al8 die Geremonien, Perrüde und Juden— 
bärtchen“. ?) 

Um „Jeruſalem“ vichtig zu beurtheilen, muß man die Zeit 
und Umjtände in Betracht ziehen, in welchen das Werf ent- 
ſtanden. Mendelsjohn Hatte jich ſelbſt gegen Befchrungsver- 
fuche zu vertheidigen, das Judenthum in feinen Örundlehren 
gegen böswillige Angriffe und dem Chriſtenthume gegenüber in 
Schuß zu nehmen, er wollte um feinen Preis, daß feine nad 
bürgerlicher Freiheit dürjtenden Glaubensgenofjen in Bezug auf 
das religiöfe Geſetz Koncefjionen machten. In feinem Syſtem 
fuchte er feine philofophifche Denkart mit unbedingter Gläubig- 
feit zu verjchmelzen; es war das der Ausdrud feiner innerjten 
Ueberzeugung. Bon einer Zweideutigfeit, von einem Schwanfen 
zwiichen Philofophie und NRabbinismus, von einem bewußten 
Zwieſpalt feiner Seele, wie, daß er fich innerlich vom Geſetze 
frei fühlte, e8 aber darum äußerlich übte, um auf feine jüdischen 
Beitgenofjen defto befjer wirken zu können, kann bei Mendels- 
john auch nicht im entfernteften die Rede fein, und wer folches 
ihm zufchreibt, wer wie Steinheim von ihm zu behaupten ic) 
erfühnt, ex fei mit dem Verſtande Heide, mit dem Leibe Iſraelit 
gewejen,?) der verfündigt fi) an feinem Schatten und an der 
Wahrheit. Daß feine Jünger andere Wege einfchlugen und in 
dem Streben nach Aufklärung und bürgerlicher Freiheit die 


) Steinheim, Die Dffenbarung nad) dem Lehrbegriffe ver Syngoge 
(Zeipzig 1863), III, 283. 
2) Steinheim, Mojes Mendelsjohn und feine Schule, 37. 
27* 





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Gläubigkeit, welche den Meiſter befeelte, verloren, daß bald nad 
feinem Tode eine Erfchlaffung der religiöfen Ueberzeugung, eine 
religiöfe Rathlofigfeit in den gebildeten Kreifen eintrat, ift den 
Zeit- und Eulturverhältniffen zuzuschreiben, nicht aber Mendels- 
fohn zur Laſt zu legen. 

Wer möchte den Lehrer für die Schiller verantwortlich 
machen ? 

Weil die Schüler den Talmud und den Rabbinismus be 
kämpften, pflegte man auch Mendelsfohn für einen Gegner des 
Rabbinismus und für einen Feind des Rabbinenthums zu hal: 
ten. Er war aber tweder das eine noch das andere. In feinen 
in hebräifcher Sprache abgefaßten Schriften, ſteht er auf rabbı- 
nishem Standpunft. Seine Einleitungen zum Bentateuh und 
zu Kohelet find fo ganz und gar rabbinifch, daß fie den Beifall 
der bedeutendjten talmudiſchen Autoritäten fanden, !) troßdem er 
fi) in der einen auf des freifinnigen Eichhorn „Einleitung in 
das Alte Tejtament” beruft und in der andern nicht verjchweigt, 
„das Gute, das er in den Kommentarien der chriftlichen Schrift 
fteller gefunden, als Hebe vor Gott herausgehoben zu haben.“ 
Dem Talmud und deſſen Auslegern zollte er fein Lebelang die 
größte Hochachtung,?) und das Studium defjelben bot ihm 
Freude und Erholung. Mendelsfohn war ein fcharflinniger 
Talmudift, das zeigt feine Correfpondenz mit Jakob Emden‘) 
und das Gutachten, welches er in einer Erbichaftsangelegenheit 
dem jehr unterrichteten und von ihm hochgefchäßten Hartog Leo 





) Sal. Herſchel, Oberrabbiner zu London, jpricht ſich über Men 
delsfohn und deſſen Pentateuch- Heberfegung fehr anerfennend aus in 
feinem Gutachten zu den von Heidenheim herausgegebenen Feftgebeten 
(MWochenfeft), Rödelheim 1811. 

2) Mendelsſohns Urtheile über den Talmud in der Ankündigung 
von Rabes Mijchna, im 35. Literaturbriefe, ſ. auch den 122. Literatur 
brief, die Recenfion der gen. Mifchna-Ueberfegung; Schr. IV, 1,59 fi, 
IV, 2, 134 ff. 

3) Emdens Gutachtenfammlung Sch’ilat Jaabez (Altona 1770) 
II, Nr. 155, 156. 


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Lipfhig, dem „Secretär, Beglaubigter und Vorbeter der Ber- 
liner &emeinde“, im Januar 1765 ertheilte.!) Jene Methode 
des Talmudjtudiums aber, welche fich in der damals tonangeben- 
den polnischen Schule gebildet hatte, „jene gewöhnliche Disputir- 
funft, wie fie vielen Rabbinern eigen ift, die ſich fehr gelehrt 
dünfen“, widerte Mendelsfohn, den geraden Denker, an. „Es 
gehört, wie Sie wiſſen,“ jchreibt er 1783 an Homberg, „eine 
ganz befondere Art des Unterricht dazu, an diefer Geijtes- 
übung Gefchmad zu finden, und wiewol wir beide diefen Unter- 
richt jelbjt genofjen haben, jo kamen wir doch darin überein, 
daß Joſeph Lieber etwas jtumpffinniger bleibe, al$ daß man 
ihn in einer jo unfruchtbaren Art des Wites übe.“‘?) Er war 
ein abgefagter Feind des Pilpuls, wie die polnifche Disputir- 
funft genannt wird. Einſt fam zu ihm ein Rabbi, da er eben 
Gefellfchaft bei fich Hatte, und forderte ihn auf, mit ihm zu 
disputiren. „Freund!“ kam ihm Mendelsfohn entgegen, „ich er- 
kläre hiermit öffentlich, daß wir mit einander in Frieden leben, 
und diefer foll nicht verlegt werden.“ Ein anderes mal empfing 
er den Beſuch des Prager Talmudiften Wolf Laſch, der ein 
weitichichtiges pilpuliftifches Gebäude vor ihm aufführte. Am 
andern Tage fam Lafch wieder, um Abjchied von ihm zu nehmen. 
Da Holte Mendelsjohn den bezüglichen Talmudtractat herbei 
und erklärte das fragliche Thema in fo klarer und grümdlicher 
Weile, daß das ganze pilpuliftiiche Gebäude Laſchs zufammen- 
jtürzte. 3) 

Sein Widerwille gegen dieſe Art von ZTalmudjtudium ſo— 
wie feine Abneigung gegen das Kauderwelſch, deſſen fich die 
Juden zu ihrer Umgangssprache bedienten, hing aufs innigjite 
mit den Beftrebungen zufammen, welche er nie aus den Augen 
verlor: die Juden in das allgemeine Eulturleben einzuführen. 





) Das Gutachten abgedrudt in einem, nicht erjchienenen Cat. 
9. ©. (Pinner?) ©. 54 ff. 

2) Schr. V, 673. 

3) Ben Chananja V, 102. 


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Eultur und Bildung war das hohe Ziel, welches ihm beftändig 
vorfchwebte, für Cultur und Bildung feine Glaubensgenofien 
empfänglic) gemacht und diefe unter ihnen verbreitet zu Haben, 
darin befteht der große reformatorifche Einfluß, den er geübt hat. 

Reformator, im herfümmlichen Sinne genommen, war Mer: 
delsfohn nit. Er trat nicht zum Kampfe gegen die Xer- 
gangenheit auf, er erklärte nicht das Beſtehende für abgejtorben 
und unhaltbar, jtellte nicht neue Glaubensſätze auf, ſchuf nicht 
neue Formen, er hob nicht alte Satungen auf und proclamitte 
fich nicht ala neuer Gefeßgeber. Aber er löſte die Feſſeln, welde 
um den Geiſt gewunden waren, er weckte eine neue Bewegung, 
ein neues Leben in den Geijtern und jtärfte den Bildungstrieb 
in ihnen.!) Gerade dadurch, daß er fi) nicht als Neformator 
geberdete, daß er Feine Reform anjtrebte, gerade dadurch iſt 
feine Bedeutung für die fpätere Entwidelung des Judenthums 
eine fo außerordentliche geiworden.?) Er, der von allen aner 
fannte, gefeierte deutſche Schriftiteller jtand in religiöfer Be 
ziehung unmwandelbar in feiner Ueberzeugung; er war mit ganzer 
Seele Jude, hielt ſich jtreng an die kleinſte Satzung und beob- 
achtete auf das gewiſſenhafteſte jeden Brauch, ohne ſich durd 
die Anweſenheit chriftlicher Bekannten daran Hindern zu laflen. 
Sp erzählt der fpätere Schulratd 3. H. Campe in Braun 
Ihweig: „Es war an einem Freitag Nachmittage, als wir, 
meine Frau und ich, mit Berliner Gelehrten bei Mendelsfohn 
zum Befuche waren und mit Kaffee bewirthet wurden. Mendel- 
fohn, immer der freundlichite Gefellichafter, ſtand etwa eine 
Stunde vor Sonnenuntergang von feinem Site auf, trat auf 
uns zu mit den Worten: ‚Meine Damen und Herren! Ich 
gehe nur in das Nebenzimmer um meinen Sabbat zu empfangen 
und bin dann gleich wieder in Ihrer Mitte; unterdei wird 
) 2, Vhilippfon, Mof. Mendelsfohn der Reformator des Juden 
thums, in Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch, ©. 89. 

2) M. A. Goldſchmidt, Feftrede bei der . .. Gedächtnißfeier No! 
Mendelsſohns (Leipzig 1861), ©. 14. 


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meine Frau Ihre Gegenwart um jo mehr genießen.“ Mit einem 
unnennbaren heiligen Gefühle begleiteten unfere Blide den Tie- 
benswirdigen Philoſophen in feine Andacht3-Stube, von wo er 
nach einer halben Stunde mit derfelben Freundlichkeit zu uns 
zurückkehrte. Indem ex fich niederjegte, jagte er zu feiner Frau: 
Jetzt bin ich wieder in meinem Amte und ich will es nun 
auch einmal verfuchen, an Deiner Stelle die Honneurs zu machen, 
da Dich Gefchäfte abrufen; unfere Freunde werden entjchuldigen.‘ 
Mendelsjohns Frau empfahl ich, ging zur Familie, weihete den 
Sabbat durch Lichtanzünden ein und fam dann zu ung zurück. 
Wir blieben nocd einige Stunden zufammen.‘?) 

„Ich freue mich,“ jchrieb er noch wenige Tage vor feinem 
Tode feiner theuern Sophie Beder, „mit jedem Religionsge- 
brauche, der nicht zu Intoleranz und Menfchenhaß führt; freue 
mich, wie meine Kinder, mit jeder Ceremonie, die etwas wahres 
und gutes zum Grunde hat; fuche das unwahre jo viel als 
möglich abzuſondern, und jchaffe nichts ab, bevor ich dejjen gute 
Wirkung nicht durch etwas befjeres zu erjegen im Stande bin.‘?) 

Neuerungen anzuftreben fam ihm nie in den Sinn, „eine 
Gemüthsart war nicht für die Neuerungen“ Damit joll nicht 
in Abrede gejtellt werden, daß er die Abſchaffung mancher Mip- 
bräuche nicht vom Herzen wünſchte. Er Teugnete es nicht, „Daß 
er bei feiner Religion menſchliche Zufäge wahrgenommen, die 
leider! ihren Glanz nur zu ſehr verdunfeln. Welcher Freund 
der Wahrheit kann ſich rühmen, feine Religion von jchädlichen 
Menfchenfagungen frei gefunden zu haben? Wir erkennen ihn 
alle, diefen vergiftenden Hauch der Heuchelei und des Aber— 
glaubens, fo viel unferer find, die wir die Wahrheit juchen, 
und wünſchen, ihn ohne Nachteil des Wahren und Guten ab- 


) 3. Heinemann, Mojes Mendelsjohn. Sammlung theils nod 
ungedructer, theils zerjtreuter Auffäte und Briefe von ihm, an und 
über ihn (Leipzig 1831), ©. 21. 

2) Schr. V, 649. 


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Ihaffen zu fönnen.“!) „Unfere Bemühungen follten deshalb 
dahin gehen, die eingeriffenen Mißbräuche abzufchaffen und den 
Geremonien echte, gediegene Bedeutung unterzulegen, die Schrift 
wieder lejerlich zu machen, die durch Heuchelei und Pfaffenliſt 
unverjtändfich geworden ift.‘“?) 

Ruhig und befonnen wie er war, unterließ ex es auf die 
Abichaffung der von ihm erfannten Mißbräuche zu dringen und 
Borurtheile zu bekämpfen; er duldete Fieber das Vorurtheil, als 
die mit ihm fo verichlungene Wahrheit zugleich mitzuvertreiben, 
hielt es jo lange für unentbehrlih, jo lange er fih zu ſchwach 
fühlte e8 auszuxotten. „Borurtheile follen nicht unterdrückt, fie 
müſſen beleuchtet werden“. 3) Erſt vermittelft der Cultur follte 
Aufklärung ſich entwideln und zur gehörigen Reife gelangen; 
aber Aufklärung follte der Eultur nicht voraneilen, um dieſe 
nicht zu hemmen. „Wenn ich es auch in meiner Macht hätte,“ 
Ichreibt er den 27. November 1784 an Hennings, den jungen 
Stürmer, „jo wiirde ich mich gleichwol jehr hüten, alle Vor— 
urtheile mit einem einzigen Federjtriche aufzudeden. Der Auf- 
klärer, der nicht unbedachtfam zufahren und Schaden anrichten 
will, hat forgfältig auf Zeit und Umftände zu fehen und den 
Vorhang nur in dem Verhältniffe aufzuziehen, in welchem das 
Licht feinem Kranken heilſam fein fann. Die Zeloten Haben 
Recht, wenn fie zumeilen die Folgen der Aufklärung für be- 
denflich halten. Der Trugichluß liegt blos darin, daß fie euch 
bereden wollen, den Fortgang derjelben zu hemmen. Aufklärung 
hemmen iſt in aller Betrachtung und unter allen Umftänden 
weit verderblicher als die unzeitigſte Aufklärung. Sie vathen 
alfo zu einem Mittel, das jchädlicher ift al3 die Krankheit. Das 
Uebel, welches zufälligerweile aus der Aufklärung entjtehen kann, 
it außerdem von der Befchaffenheit, daß es in der Folge fich ſelbſt 


') Schr. III, 41. 
2) Schr. V, 669. 
3) Schr. III, 415. 


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hebt. Laſſet die Flamme nur vecht auflodern, jo wird fie den 
Rauch ſelbſt verzehren, den fie hat aufjteigen laſſen.“!) 
Mendelsfohns unfterbliche Berdienite um das Judenthum 
und die Juden, die deutichen zunächit, beftehen hauptfächlich darin, 
daß er fie die veine deutiche Sprache gelehrt, die Pforte zu 
neuen Unterfuchungen und Discuffionen eröffnet, daß er den 
Geift von innen frei gemacht und damit die bürgerliche Gleich- 
ftellung angebahnt, daß er durch fein eigenes Leben ihnen den 
Weg gezeigt hat, auf welchem fie als treue Juden den allge 
meinen Eulturbeftrebungen fich anfchliegen und entwiceln können. 
Seine lautere Abficht wurde jedoch bald verfannt, fein religions- 
philofophifches Syſtem, den klaren und Tichtvollen Ideen zum 
Troß, vielfach mißverjtanden zunächſt von feinen Schülern. 


Dretunditiebzigites Kapitel. 
Mendelsjohns Schüler, Jünger und Freunde. 


Schüler im eigentlichen Sinne des Wortes hatte Menvdels- 
John nit. An Sabbat- und Feittagen verfammelten fich gegen 
Abend wißbegierige junge Männer in feinem Haufe mit der 
bejtimmten Abjicht, Belehrung bei ihm zu ſuchen. Dieſe jungen 
Freunde der Aufklärung, durch das von ihnen betriebene Studium 
des Talmuds gewandte Dialektifer, führten unter feiner An- 
leitung Discuffionen über von ihm gegebene oder jelbjtgewählte 
Themata. Er ſaß dann gewöhnlich als Kampfrichter auf feinem 
Armjefjel mit niedergefchlagenen Augen. Oft befeuerte er den Muth 
durch ein plößliches Aufbliden oder durch einen einjilbigen Aus- 
ruf, oft belohnte ex durch einen lächelnden Beifall; ein jchnelles 

') 1. Aufl. ©. 536; ſ. aud den Brief Mendelsjohns an Hennings 
vom 20. September 1779 in L. Geigers Zeitihrift, S. 113 f. 


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Niederjehen, ein verneinendes Kopfichütteln galt für entfchiedenen 
Tadel. Zuweilen erhob er fich auch von feinem Site, trat, 
wenn Reden und Gegenreden jich durchkreuzten, zwifchen die 
Streitenden und fchien Tiebreih um Gehör zu bitten. Sobald 
dann ein ehrerbietiges Stillichweigen erfolgte, nahm Mendels— 
john den Faden des Geſpräches auf, ftellte Sa und Gegenſatz 
mit der ihm eigenthümlichen Klarheit gegeneinander und ließ 
die Streitenden die Vergleichungspunkte jelbjt finden, ohne für 
den einen oder andern Partei zu nehmen. Das was er lehren 
wollte, juchte er in ſokratiſcher Weile zu entwideln. Hatte fich 
dann die Hige der Streitenden gelegt, jo pflegte er oft zu jagen: 
„Sehen Sie, meine Herren, e3 war ein bloßer Wortjtreit, wie 
e3 gewöhnlich der Fall ift; ich glaubte gleich, Sie würden bald 
eines Sinnes werden.“!) 

Erziehung und Unterrichtswefen, die Religion und ihre 
Grundprincipien, die jüdifche Literatur und ihre Träger boten 
in der Regel den Stoff der Unterhaltungen, an welchen junge 
Männer wie David Friedländer, Euchel, Löwe, Wolfiohn, Sata- 
now, ferner Hartwig Wefjely und H. Homberg, die Aerzte Blod) 
und Herz und mehrere andere theilnahmen. 

David Friedländer, ein geborener Königsberger, fam 1771 
nad) Berlin und wurde ein Jahr ſpäter Schwiegerfohn des an- 
gejehenen Daniel Fig, deſſen Gattin eine Berwandte und 
Landsmännin Mendelsjohns war und mit dejjen Familie Diefer 
in innigem Berfehre jtand. Fanny, eine der neun ſchönen 
Töchter feines Freundes, welche, ſcharfen Verſtand mit Fröhlicher 
Laune vereinend und fremder Sprachen wie der eigenen fundig, 
als die Gattin des in den Adeljtand erhobenen Wiener Banfiers 
Nathan Arnftein, Prinzen und Fürften, Staat3männer und Ge— 
(ehrte in ihren Salons verfammelte, fchrieb er ins Stammbud 
die charafteriftiichen Zeilen: 


') D. Friedländer, Mojed Mendelsjohn. Fragmente von ihm und 
über ihn (Berlin 1819) (aus der Zeitjchrift Zedidja und dann wieder 
in Heinemanns Mojes Mendelsjohn abgedrudt), S. 36 f. 


Die Geſchichte der Menfhenduldung. 

Auch fie entiprang wie ihre Mutter, die Weisheit, aus dem Haupte 
Aupiters, 

Aber nicht in voller Rüftung; Berlin jah fie geboren werden, jah 
fie auf 

Der Mutter Schoß kindlich tändeln und Findlich weife Thaten be- 
ginnen. 

Wien hörte aus dem Munde diejes Fremdlings nod nie gehörte liebe: 
volle 

Sprüde und erwartet nun auch bald weile Thaten: 

Ahr irdifches Bild nennt fih Fanny Arnftein und ihr irdijcher Geſchicht— 
ſchreiber 

Moſes Mendelsfohn.!) 


Eine Enkelin Itzigs, die Tochter der „ſanften“ Eliſabeth, 
heirathete ſpäter Mendelsſohns Sohn Abraham! 

Mit wahrhaft kindlicher Verehrung hing Friedländer an 
Mendelsfohn; er begleitete ihn auf feinen Reifen, bildete jich an 
feinem Umgange, wurde Freund feiner Familie, unterjtügte ihn 
in feinen @ulturbeftrebungen, jo bejonders bei der Errichtung 
der Berliner jüdiſchen Freifchule, der er auch fein erſtes Titera- 
riſches Product widmete: ein Lejebuch für jüdifche Schulen, für 
das Mendelsfohn die „Grundartifel des Judenthums nad) Mai- 
monides‘“ bearbeitete und eine „Andachtsübung“ jcehrieb.?) Nach 
dem Tode feines Lehrer und Freundes überſetzte Friedländer 
einige hebräifche Abhandlungen deffelben, wie „Ueber die Seele“, 
ins Deutjche, bejorgte auch die fünfte und ſechſte Auflage des 
„Phädon“?) und jchrieb ſonſt manches über ihn. Sein Kampf 





) 1. Aufl. S. 569. 

2) Das Lejebuh erſchien: Berlin 1779; die „Grundartikel“ ſ. 
1. Aufl. ©. 565 ff., die „Andachtsübung“, Schr. VI, 416 f. 

3) „Der alte ehrliche Friedländer hat den „Phädon“ wieder neu 
auflegen laſſen,“ jchreibt Zelter an Göthe den 25. December 1824, 
„und mir es vorigen Sonntag geſchickt. Auch Dir wird er ein Erem: 
plar zugeichicdt haben.” Briefwechſel zwiſchen Göthe und Zelter, 
IIT, 480. 


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gegen Talmud und Rabbinismus, fein ganzes ipäteres Wirken 
war nicht im Sinne des Meijters. 

Mit Friedländer innig befreundet war Iſaak Euchel aus 
Kopenhagen, ein fenntnißreicher, für Aufklärung und Fortfchritt 
glühender junger Mann, der mehrere Jahre in der Friedländer- 
Ihen Familie in Königsberg als Erzieher lebte. Als er im 
Suni 1784 zum Befuche feiner Eltern nad) Kopenhagen reiſte, 
gab ihm Mendelsfohn an feine dort wohnenden Schwäger das 
folgende humoriſtiſche Schreiben mit: 

An meine guten Brüder in Kopenhagen Herren Moſes 
Fürſt und Joſeph Gugenheim meinen briüderlichen Segen und 
Gruß zuvor. 

Brüder, liebe Getreue! 

Wenn ich Euch jemand empfehle, jo iſt es, verlaßt Eud) 
auf mein Wort, gewiß fein Mann, der Euch um Euer Geld 
oder um Euren guten Namen bringen, feiner, der in Eurem 
Haufe, oder in Eurer Küche, oder in Eurem Weinkeller (wenn 
Ihr einen habt), oder in Eurem Schlafzimmer wird den Meifter 
jpielen wollen; feiner, der Euch ein Buch verehrt, das Ihr nicht 
braucht, und Euch dafür Geld abnimmt, das Ihr gar wohl 
braucht, jondern ein Mann, der mehr Eure Thüre als Euren 
Beutel bejtändig offen zu finden winfcht, der Euch höchſtens 
ein Stindchen Zeit abfordern wird, mit der man ohnehin nicht 
ſehr karg umzugehen pflegt, und bei dem diejes Stündchen felbit 
nicht8 weniger als verloren ijt, denn feine Unterhaltungen find 
jo nüßlich und lehrreich, daß fie den Verluſt zweifach erſetzen, 
— ein folder Mann ift nun der Herr Iſaak Euchel, der Ihnen 
dieſes Handbillet oder diefen Cabinetsbefehl vorzeigt von 

Ihrem guten Bruder 
Moſes Mendelsjohn.!) 

Auf Euchels Anregung hatte ji) in Königsberg eine Ge— 

ſellſchaft hehräiſcher Literaturfreunde gebildet, welche zur Pflege 


) 1. Aufl. S. 554 f. 


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und Läuterung der Hebräifchen Sprache und zur Berbreitung 
nüglicher Kenntniffe ein eigenes Organ ſchaffte. Dieſe all- 
monatlich exjcheinende Zeitfchrift „Der Sammler“ brachte außer 
den Poeſien Hartwig Wefjelys, David Franco Mendes in Amijter- 
dam und anderer neuhebräifcher Dichter, welche das Unter: 
nehmen unterjtüßten, und den Ueberjegungen der Gedichte Hallers, 
Ramlers u. a., meijtend grammatifche, exegetifche und pädago- 
giſche Aufſätze, ſowie furze Biographien hervorragender Männer 
aus der züdifchen Gefchichte und Literatur. Der „Sammler“ 
legte auch gleih im erſten Jahre feines Beſtehens es den 
reichen Juden ans Herz, die große Oppenheimerſche Bibliothef 
anzufaufen. Mendelsſohn, an den fi) Iſaak Seligmann Kohen 
in Hamburg, der damalige Beſitzer diefes feltenen Bücher- und 
Handjchriftenfchaßes, gewandt hatte, gab die fchriftliche Erflärung 
ab, daß die Sammlung, einzig in ihrer Art, 50 bis 60000 
Thaler werth fei. Eigentlich, drüdte er ſich aus, könne er den 
äußern Werth gar nicht fchägen, aber es müßten ſich Männer 
finden, welche eine ſolche Summe dafür zahlten. Der edle 
Mendelsfohn Hätte gewiß noch mehr gegeben, hätten feine Ver— 
hältnifje ihm gejtattet, die Bibliothef zu kaufen.) 

Der „Sammler“, der in allen größern Gemeinden des In— 
und Auslandes, in Berlin, in Königsberg, wo er anfangs er: 
Ihien, in Hamburg, Prag, Breslau, Straßburg, Kopenhagen, 
beifällige Aufnahme fand, wurde von Mendelsjohn mit Bei- 
trägen verjehen: einige Stüde aus feinem von dem Frommen 
bald unterdrüdten „Sittenprediger”, feine mit Emden geführte 
Correfpondenz über die Beerdigungsfrage und einige Heine Ge— 
dichte erjchienen in diefer LZeitfchrift, deren erjter Jahrgang 
(1784) auch mit feinem Bildniffe geſchmückt wurde. 

Bon den zeitgenöffichen philofophifchen Denkern jüdischen 
Stammes jtand Marfus Herz, der Gatte der fchönen Henriette 





') ©, Friedländer bezeugt, den Brief Mendelsſohns an Iſaak Kohen 
gejehen zu haben; Sammler, 1784, ©. 80; Drient, Literaturblatt, 1844, 
Nr. 18. 


— 430 — 


de Lemos, Mendelsfohn am nächſten. Herz, von feinen armen 
Eltern zum Rabbiner bejtimmt, widmete fich Tpäter dem Studium 
der Medicin und lag in Königsberg mit bejonderer Vorliebe 
der Vhilofophie ob. Die Natur hatte viel für ihn getan. Er 
beſaß einen hellen Verſtand, ein weiches Herz, eine gemäßigte 
Einbildungskraft und eine „gewiſſe Subtilität des Geiftes, Die 
der Natur natürlich zu fein ſcheint“. „Ich Tiebe ihn aufrichtig,“ 
Schreibt Mendelsfohn den 23. December 1770 an Kant, der 
ihm feinen Lieblingsichitler empfohlen Hatte, „und Habe das 
Vergnügen, faft täglich feines ſehr unterhaltenden Umganges zu 
genießen.“1) Herz fuhr auf der unter Kants Leitung betretenen 
Bahn rühmlichſt fort. Nach feiner Rückkehr aus Königsberg 
Tchrieb er „Bhilofophifche Geſpräche“ und ſchickte fie Mendels- 
fohn zur Beurtheilung. Diefer, von feinem Nervenleiden noch 
nicht hergejtellt, fchrieb ihm: „Sch bin ein podagriiher Tänzer; 
da fie ich in meinem Lehnjtuhle und rufe den Tänzern mein 
Bravo zu. Das erjte Bravo befommen Sie.” Die Geſpräche 
blieben ungedrudt: Mendelsfohns Tadel Hatte den Berfaffer ab- 
gefchrect, fie zu überarbeiten. Auf den Scharfiinn und das 
philofophifche Urtheil des Doctor Herz legte Mendelsfohn großen 
Werth, das beweiſt ſowol die zwifchen beiden geführte Corre— 
fpondenz,?) al3 auch die Widmung, mit der er ihm die neue 
Auflage feiner „Bhilofophifchen Schriften” zufchidte: „Seinem 
Freunde Markus Herz empfiehlt folgende Aufſätze zur fernern 
Ausführung, deren er ſelbſt wol auf Erden nicht mehr fähig 
fein wird, der Verfaſſer.“ In ein Exemplar des neuaufgelegten 
„Phädon“ fchrieb er ihm: „Sn jenem Leben ein Mehreres. 
Mofes Mendelssohn.‘ 3) 

Markus Herz, vom Fürjten von Walded zum Hofrath er: 
nannt, und der erite Jude, der als Profeſſor der Bhilofophie 
in Berlin öffentliche philofophifche Worlefungen hielt, die von 


) Schr. V, 509, Kants Werfe XL, 1, 207. 
2) Schr. V, 555, 558 f., 587 f., 614. 
3) Aus Schlihtegrolls Nefrolog in Sulamith III, 2, 80 f. 


— 431 — 


Fürften und Prinzen beſucht wurden, dabei ein beliebter viel- 
beichäftigter Arzt, blieb Mendelsjohn ein treuer hingebungs- 
voller Freund; in feinen Armen hauchte er den Geijt aus. 
Als ic) einſt vor Mendelsjohns Kranfenbett ſaß, jo er- 
zählt ein Namensvetter unferes Philofophen, fam ein zerlumpter 
Pole hereingeftürzt, holte ein Convolut Schriften aus feinem 
Bufen, warf fie aufs Bett und verſchwand. Wiſſen Sie, ſprach 
Mendelsfohn, was diefe Schriften enthalten? Diejer wilde Pole 
jucht darin die zehn Sefirot durch die neuejte Philofophie zu 
erklären.) Diefer Pole ward nachher der berühmte Salomon 
Maimon. Chamifjos „Abba Gloſk Leczefa“, jener blutarme 
jüdiſche Reber, der von heißer Begierde nad) Wahrheit gejtachelt, 
von feinen unduldfamen Glaubensgenofjen verjagt, aus Lithauen 
nad) Berlin pilgert, um Mendelsfohns Rath und Unterricht 
zu genießen, aber auch in Berlin nicht geduldet wurde, Abba 
Gloſk jtellt das poetifche Seitenftüd zu Salomon Maimons wirf- 
lichen Lebensfchiefalen dar. Diefes feltene Genie, das fich durch 
eiferne Willenskraft unter den ungünftigjten Verhältniffen vom 
polnischen Talmudiften zum deutfchen Philofophen emporgearbeitet, 
dem Kant in einem Schreiben an Markus Herz zugeitanden hat, 
daß er unter allen feinen Gegnern der bedeutendjte und ſcharf— 
finnigfte wäre, fand, al3 er im Jahre 1779 zum zweiten male 
nach) Berlin fam und dort geduldet wurde, in einem Butter- 
laden Wolffs Metaphyfif, welche ex für zwei Grofchen kaufte 
und in deren Studium er fich verfenktee Er war von dem 
Buche ganz entzüdt, die Ordnung und mathematijche Methode, 
die er darin fand, „zündeten in feinem Geiſte ein neues Licht 
an“. Aber Wolffs Theologie flößte dem mit Maimunis „Führer“ 
vertrauten jungen Manne Bedenken ein; den Beweis vom Dafein 
Gottes nad) dem Sabe des zureichenden rundes konnte er nicht 
zugeben. Seine Zweifel ſetzte er in hebräifcher Sprache auf und 
überfandte die Schrift Mendelsjohn, von dem er fchon fo viel 


') Orient, Literaturblatt, 1848, S. 165, Mittheilung Mojes Men: 
veljons in Hamburg nad Erzählung feines Vaters. 


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gehört hatte. Aufgemuntert durch deſſen fofortige und aner- 
fennende Antwort, fchrieb er eine metaphyfiiche Disputation in 
hebräifcher Sprache; infolge derſelben wünſchte Mendelsſohn 
ihn perſönlich kennen zu lernen. Er war aber ſo ſchüchtern, 
daß er es kaum wagte, in ein vornehmes Haus zu treten. Als 
ich Mendelsſohns Thüre öffnete, erzählt er ſelbſt, ihn und an— 
dere vornehme Leute, die zugegen waren, erblickte, ſo bebte ich 
zurück, machte die Thüre wieder zu und wollte mich entfernen. 
Mendelsſohn aber hatte mich bemerkt, kam zu mir, redete mich 
fehr liebreich an, führte mich in fein Zimmer, jtellte fich mit 
mir ans Fenſter und machte mir über mein Schreiben viele 
Complimente. Diefer wiürdige Mann forgte auch für meinen 
Unterhalt, empfahl mid) den vornehmiten und aufgeflärteften 
Juden Berlins, die für meine Beföftigung und übrigen Bediürf- 
nifje Sorge trugen.) Maimon, der Lode und Spinoza, Homer 
und Oſſian durcheinander las und ſich für feinen bejtimmten 
Beruf erflären wollte, lernte endlich auf Zureden feiner Freunde 
drei Jahre in einer Apotheke, aber nur als theoretifcher Zu- 
Schauer, dabei führte er ein loſes Leben, ſodaß Mendelsfohn 
ihn endlich) kommen ließ und ihm den Rath ertheilte, Berlin zu 
verlaſſen. Maimon entichloß ih nad) Hamburg zu gehen. 
Mendelsfohn gab ihm ein jehr vortheilhaftes Zeugniß über feine 
Fähigkeiten und Talente mit, und war froh, ihn los zu fein. 
Als diejer „Verbeſſerer Kants“, über dejjen Schriften Schiller, 
Göthe, Körner voll des Lobes find, nach einigen Jahren wieder 
nad) Berlin zurücfehrte, war Mendelsfohn ſchon der Erde ent- 
rückt. Beſonders dankbar hat er fich nicht gegen ihn gezeigt.?) 

Auch ein fonft unbekannter Philofoph, Herz Ullmann aus 
Mainz, der ſich im Haag häuslich niedergelafjen, der die ganze 





') Salomon Maimons Lebensgeſchichte. Von ihm felbft gefchrie- 
ben und herausgegeben von K. P. Morik (Berlin 1792), IL, 156 ff. 

2) Der von Maimon an Mendelsjohn gerichtete, in der Biogra: 
phie Elia Wilnas „Alijuth Elijahu‘ (Wilna 1856) abgedrudte Brief 
und die ganze damit in Verbindung gebrachte Geſchichte ift Erfindung. 


— 433 — 


Philoſophie nach Wolffiicher Eintheilung bearbeitet, über Logik 
und Metaphufit, über Piychologie und Kosmogonie geſchrieben 
hat, wandte fih an Mendelsfohn mit einer Abhandlung über 
das Dafein Gottes, um fie in Berlin druden zu laſſen. Diefer 
gab ſich der Hoffnung Hin, die Drudfojten, welche der in dürf— 
tigen Berhältniffen Tebende Schriftjteller nicht beftreiten Fonnte, 
durch eine Sammlung bei feinen reichen Glaubensgenoſſen mit 
Leichtigkeit aufbringen zu können, ſtieß aber auf fo große 
Schwierigkeiten, daß er den Plan aufgeben und die fonft vor- 
treffliche Arbeit dem Autor zurüdichiden mußte. ') 

Bon dem Regensburger Rabbiner Iſaak Alerander, der 
in jener Beit deutfche Schriftchen mit philofophiichen Titeln er- 
fcheinen ließ und den Nicolai auf feinen Reifen durch Deutſch— 
land perfönlich fennen lernte und al3 einen merkwürdigen Mann 
bezeichnete, nahm Mendelsfohn wenig Notiz. Er hielt ihn, wie 
er Aoigdor Levi jchrieb, „für einen intereffirten Menfchen, der 
blos Eigennuß zur Abficht Hat“.?) 

Alle diefe Männer, welche mit und dur) Mendelsfohn 
dachten, waren, wie der Kantianer Lazarus Bendavid, der fich, 
von ihm aufgemuntert und unterjtüßt, zum Mathematiker erſten 
Ranges heranbildete, treffend bemerkt,3) die Kleinhändler deffen, 
was jie im Umgange mit Mendelsjfohn im ganzen einfauften: 
Cultur und Aufklärung wollten fie unter den Juden verbreiten. 
Die Aufklärung erhielt aber einen gewaltfamen Schwung und 
verlor an Kraft, was fie an Zeit zu gewinnen jchien. 

) Die Abhandlung blieb ungedrudt und ift mit andern philojo- 
phifchen Arbeiten Ullmanns noch handichriftlih vorhanden; j. Katalog 
der Michaelichen Bibliothek (Hamburg 1848), H. S. Nr. 297—299, 300, 
302, 391, 419; Steinſchneider, Cat. Cod. Hebr. Bibl. Acad. Lugduno- 
Batavae 86 ff. Der Brief Mendelsjohns an Ullmann von A. Neubauer) 
veröffentlicht in Zr. Zetterbode II, 174; m. f. mein Moſes Mendels- 
john. Ungedrudtes und Unbefanntes, ©. 36 ff. 

2) Schr. VI, 453. Ueber Alerander ſ. mein: Ein vergefjener Zeit: 
genofje Mendelsjohns, in Frankels Monatsjchrift, 1867, 161 ff. 

3) Lazarus Bendavid, Charakterijtif der Juden (Leipzig 1793), ©. 34. 


Kayſerling, Mofes Mendelsjohn. 28 





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Bierundjiebzigftes Kapitel. 
Aufllärung und Schhwärmerei. 


Die Stadt Friedrich des Großen betrachtete fi) mehr und 
mehr al3 die Metropole der Aufflärung. Zur Verbreitung nütz— 
ficher Aufklärung und zur Verbannung verderbliher Srrthümer 
war durch den Bibliothefar Bieter und den Gymnafialdirector 
Gedike im Jahre 1783 die „Berliner Monatzfchrift” gegründet; 
Mendelsfohn zählte zu ihren Mitarbeitern. Zu gleicher Zeit 
und zu ähnlichen Zwecken bildete fi) in Berlin eine gelehrte 
Gefellichaft, der alle Männer der Aufklärung, Engel, Nicolai, 
Juſtizrath Klein, Kriegsrath Dohm, der Propſt Teller, die Pre 
diger Spalding und Zöllner, Hofrath Selle, Biejter, Gedife und 
mehrere andere als Mitglieder angehörten. Auch Mendelsfohn 
wurde zum Beitritt aufgefordert. Derfelbe Grund, der ihn ver- 
hinderte, einer „Geſellſchaft der Wiſſenſchaften“ in Wien beizu- 
treten, machte e3 ihm unmöglich, der Einladung Biefters zu 
folgen: fein Teidender Zuftand, feine häuslichen Verrichtungen, 
welche, wie er dem Freiheren von Sonnenfel3 fchreibt, „viel 
Zeit und Bemühungen erfordern;“N) ein Grund, der die ab- 
ſchlägliche Antwort für jeden feiner Freunde doppelt fchmerzlich 
machte. Daraufhin fehrieb ihm Biefter: „Sebt hat die Gefell- 
ichaft einen andern Wunfc geäußert und mir aufgetragen, Sie 
um die Gewährung defjelben zu bitten. Ein in der Gefellfchaft 
gehaltener Vortrag wird nicht blos dort befprochen, fondern er 
cireufirt hernach bei allen Mitgliedern, um noch reiflicher über- 
legt zu werden und fommt mit den beigefchriebenen Votis der 
Mitglieder zurüd. Nun wünſcht man, daß man aud Ihnen, 
verehrungswerther Mann, zuweilen die Kapſel fchiden darf, um 
aud) Ihre Meinung über einen Bortrag zu hören, den man 
dazu wichtig genug hält. Wollen Sie dies erlauben und gütig 





) Schr. V, 623. 


— 45 — 


genug fein, zumeilen Ihr Botum zu geben? Sie werden auf 
diefe Weife ein Ehrenmitglied der Gejellihaft und Haben Fug 
und Recht, wenn Sie wollen oder wenn es Ihre Bequemlichkeit 
erlaubt, die Gefellichaft zu befuchen oder nicht, wie es Ihnen 
beliebt.‘ !) 

Man fieht, welch großen Werth die gelehrte Geſellſchaft 
auf Mendelsfohns Urtheil legte. Mehrere für diefelbe von ihm 
gefchriebene Vota find in der „Berliner Monatsſchrift“ erfchienen. 
In diefem Journale beantwortete er auch die Frage: „Was heißt 
Aufflären?“?) Er unterfcheidet zwifchen Cultur und Aufklärung: 
jene bezieht fich auf das Praftifche, diefe auf das Theoretifche; 
fie verhalten fich zu einander wie Theorie zur Praris, wie Er- 
fenntniß zur Sittlichkeit. „Wo beide, Cultur und Aufklärung, 
mit gleichen Schritten fortgehen, da ſind fie fich einander Die 
beiten Schußmittel gegen die Corruption. Mißbrauch der Auf- 
klärung ſchwächt das moralische Gefühl, führt zu Egoismus und 
Srreligion. Mißbrauch der Eultur erzeugt Ueppigfeit, Gleis- 
nerei, Verweichlihung und Aberglauben.“ Und in der That! 
Die mißbrauchte Aufklärung führte zur Srreligion; das Myſtiſche 
wurde Mode. Schröpfer, Caglioftro und andere Schwärmer 
traten auf und fanden Glauben. „Wir träumten von nichts 
als Aufklärung,“ Heißt es in dem Briefe Mendelsjohns an 
Zimmermann vom 1. September 1784,3) „und glaubten durch 
da3 Licht der Vernunft die Gegend fo aufgehellt zu finden, daß 
die Schwärmerei fi) gewiß nicht mehr zeigen werde. Allein 
wie wir fehen, fteiget fchon von der andern Geite des Hori- 
zont3 die Nacht mit allen ihren Gefpenftern wieder empor. Das 
Fürchterlichite dabei ift, daß das Uebel fo thätig, jo wirkſam 
ift. Die Schwärmerei thut und die Vernunft begnügt fi zu 
ſprechen.“ 

Schon beim erſten Auftreten des berüchtigten Schröpfer, 


) Schr. I, 30. 

2) Schr. TIL, 399 ff. 

3) Mein: Mofes Mendelsjohn. Ungedrucktes und Unbefanntes, S.17, 
28* 





— 456 — 


von dem fich die angefeheniten Männer jo aufßerordentlide 
Wunderdinge zu erzählen wußten, war man begierig, Mendels- 
ſohns Anfichten über diefe „Arbeiten“ zu hören. Die Grafen 
Hoym und von Lynar erfuchten ihn, feine Gedanfen darüber zu 
Papier zu bringen. Er that e3 in einem noch heute Tejens- 
werthen Auffage in der „Allgemeinen deutfchen Bibliothef.') 
Gleichzeitig bejtimmte er in einer befondern, auch dem Grafen 
zu Schaumburg=Lippe abſchriftlich geſchickten Abhandlung?) die 
Wörter: Enthufiaft, Vifionär und Fanatifer oder Schwärmer. Er 
„nennt denjenigen einen Enthufiaften, auf deſſen Gemüth minder 
kräftige Vorftellungen von einer gewiſſen bejtimmten Gattung 
(die nämlich feinem Genie entfprechen) mit ſolcher Energie wirken, 
daß fie alle feine Geiftesfräfte aufregen und zu einem Endzwede 
thätig machen. Wir find alle mehr oder weniger empfindfam 
gegen Tugend, Religion, Vaterland, Freundſchaft, ob fie gleich 
al3 allgemeine Ideen und als bloße Zeichen minder Fräftig jein 
müffen. Wenn aber das Genie eines Menjchen danach geitimmt 
und die Laune günjtig ift, jo kann bei Anhörung bloßer Worte 
ein Enthufiasmus in feiner Seele entjtehen und ihm eine Thätig 
feit verleihen, die ihm felbjt eingehaucht fcheinen wird, weil fie 
ihren fichtbaren Urſachen fo wenig entfpricht. 

Mancher ift gegen Borftellungen von einer gewiſſen at 
tung fo leichtbeweglich, daß feine Erfindungs- und Einbildung:: 
fraft durch die bloßen Zeichen derfelben in Bewegung geraten, 
die Zeichen in Bilder, und die Bilder oder Phantasmata in 
gegenwärtige Empfindungen verwandeln. Diefen nennen wir 
einen Viſionär, Erjcheinungsfeher. 

Auf den Schwärmer oder Fanatifer wirken die een, 
welche jeinem Genie analog find, mit mehr Wärme als Lid. 
Sie ſetzen die verborgenften Triebfedern feines Herzens in heftige, 
anhaltende Bewegung und Yafjen fie in wirkliche Handlungen, 


ı) Schr. IV, 2, 561 ff. 
2) Diefe Abhandlung, bereits 1775 gejchrieben, wurde zuerft ver: 
öffentlicht: Deutfches Muſeum, 1858, Nr. 33, dann 1. Aufl. 551 ff. 





— 437 — 


und zwar in ſtarke und außerordentliche Handlungen ausbrechen, 
die mehrentheil3 böſe fein werden, weil fie aus einer unreinen 
Duelle fließen, und nicht Wahrheit, fondern Wahn und Träu- 
- merei zum Grunde haben.“ 

Aberglauben und Schtwärmerei, Geijterbefchwörung und 
Rofenfreuzerei griffen immer mehr um ſich; „man wollte lieber 
von Geſpenſtern umgeben fein als in einer todten Natur zwifchen 
lauter Zeichnamen wandeln, lieber im Schlaraffenlande als länger 
ohne Gott leben.“ Diefe gefährliche Krankheit der Zeit be— 
ſchäftigte damals wie die bedeutendjten Denker auch Mendels— 
john, der ungefähr anderthalb Jahr vor feinem Tode das Mittel 
angab, „wie der einreißenden Schwärmerei entgegenzuarbeiten 
jei“.) Nicht durch Spott; „die Menfchen fünnen aus ihren 
falfchen Begriffen von Gott und der Vorſehung weder dur) 
Satyre hinausgeladht, noch durch äußere Macht und Anjehen 
hinausgefchredt werden . . . Die Duelle des Uebels fann nicht 
ander als durch Aufklärung verjtopft werden. Man helle Die 
Gegend auf, fo verichtwinden die Geſpenſter. Man ziehe ans 
Licht, was fo gerne im Finftern fchleicht; bringe alles an den 
Tag, was man von den Bemühungen, geheimen Berbindungen, 
Anjtalten und Berrichtungen der Schwärmerei in Erfahrung 
bringen fann; mit Verachtung gegen den Verführer, aber mit 
Berihonung und ohne Geifel der Satyre gegen den Verführten, 
der Mitleid, aber nicht Hohn verdient.” „Es wäre zu wün— 
ſchen,“ fchreibt Mendelsfohn an Zimmermann, „daß ein glüd- 
fiches Kind der Vorfehung mit eben folhen Waffen wider den 
Atheismus, der bald der Vorläufer, bald der Nachfolger der 
Schwärmerei ift, zu Felde züge, ein Mann, der den hohen Exnit 
der Vernunft, fowie die fanftefte Wärme der Empfindung und 
alle Mittel einer reichen, aber nicht verjchtwenderifchen Einbil- 
dungskraft in feiner Gewalt haben müßte, mit einem Worte, 
wenn ich mic das Ideal defjelben vorftellen will: ein Mann, 





) Schr. III, 418 ff. 


— 4358 — 


der das für die Sache der Gottheit thun könnte, was Windel- 
mann für das Heidenthum gethan. Diefer würde zu ihrem 
Werfe — Ueber die Einſamkeit — den Pendant fchreiben, und 
fo hätten wir dem von allen Seiten einreißenden Uebel aud) 
von allen Seiten zu fteuern geſucht. Won meiner Seite muß 
ic) e3 vor der Hand blos bei dem frommen Wunfche beivenden 
laſſen. Ich fühle mich zur Vollendung diefes erhabenen Werfes 
viel zu ſchwach. Indeſſen will ich, fo lange mir die Vorſehung 
das Leben frijtet, Materialien dazu herbeifchaffen. Vielleicht 
bedient fich derfelben einft ein glüclicherer Sterblidher, und viel- 
leicht — tröftend und herzſtärkend ift diefer Wunfch für meine 
Schwachheit — vielleicht ift diefer glücflichere mein Sohn!?) 

Ihm ſelbſt wurden die letzten Jahre feines Lebens durch 
den „Schalen nervenlofen“ Atheismus und die Glaubensſchwär— 
merei gründlich verbittert. 


) Mein: Mojes Mendelsjohn. Ungedrudtes und Unbefanntes, 
©. 17 f. 


Fünfzehntes Bud. 
Iacobi. 


Sünfundfiebzigites Kapitel. 
Eliſe Reimarus und Jacobi. 


Elife Reimarus, die trefflihe und hochgebildete Tochter des 
Hamburger Philoſophen, verehrte Mendelsfohn als die Herzens- 
freundin feines LZeffing, al3 die nahe Verwandte Hennings, und 
wurde noch weit mehr von ihr verehrt. 

Auf einer Reife, welche fie im März 1783 in Begleitung 
Campes, welcher damals einer Erziehungsanftalt in Hamburg 
vorstand, nad) Berlin machte, lernte fie den ihr fo theuern 
Mann perfönlich kennen. „Mendelsſohn, meinen lieben Mendels- 
fohn fah ich geſtern,“ fchreibt fie am 25. März von Berlin aus 
an einen Freund. „Er ift ganz, wie ich ihn mir dachte; un— 
widerjtehlid) einnehmend durch die überall aus ihm redende 
Güte des Herzens und hervorleuchtende Klarheit feines Geiftes. 
Wir haben viel über Leffing und Sie geſprochen. Leſſings nicht 
unähnliche Büfte war das erjte, was beim SHereintreten mir in 
die Augen fiel... . Mendelsfohn Hat feines Briefwechſels mit 
Leffing bis diefe Stunde noch nicht habhaft werden Fünnen; 
aber der Bruder Hat verjprochen, ihm nächſtens ein Packet 


— 40 — 


Schriften zu Schicken, worunter auch diefer Briefwechſel fein joll. 
Und alsdann verfpriht Mendelsjohn fein Wort wegen des 
‚Etwas über Leſſings Charakter‘ zu halten. Der Himmel gebe 
ihm dazu Gefundheit und Heiterkeit, fo werden wir doch einmal 
etwas über unfern Freund leſen, das des Mannes werth iſt.“) 

In den wenigen Stunden, welche Mendelsfohn diefe um 
fünf Jahre jüngere Schweiter des mit ihm in gleichem Alter 
jtehenden Hamburger Arztes und Philoſophen Johann Albert 
Reimarus zu fprechen die Freude Hatte, gewann er fie fo Lieb, 
daß er als Freund Leffings fein Recht auf ihre Freundschaft 
geltend machte; „aus ihren Reden und noch mehr aus ihrem 
bedeutenden Stillfchweigen“ ſchloß er auf Gleichheit der Ge- 
finnungen; ex nannte fie feine „theuerfte Freundin“, feine „ver— 
ehrungswürdige Schweiter“, feine „theuerjte Elife“. Sie blieb 
ihm eine theure Freundin, wie unangenehm für ihn auch die 
Folgen ihres Beſuches wurden: Elife Reimarus brachte Men— 
delsfohn zunächſt mit Jacobi zufammen. An diefen Freund war 
ihr obige Schreiben gerichtet. 

Friedrich Heinrich Jacobi, ein Schüler und Verehrer Bonnets 
und Bufenfreund Hamanns, der, infofern er den Glauben über 
die Vernunft feßt, der Glaubens- und Gefühlsphilofoph, der 
Borläufer der romantischen Schule ift, hielt fi) im Juli 1780 
einige Tage bei Leffing in Wolffenbüttel auf. Am zweiten Tage 
jeiner Anweſenheit kam Lefjing des Morgens früh zu feinem 
Gaſte, und da diefer mit Brieffchreiben bejchäftigt war, bat er 
ſich etwas zu lefen aus. Jacobi reichte ihm das Goetheſche Ge- 
dicht „Prometheus“, dag er in der Handichrift bei ſich trug, 
mit den Worten: „Sie haben jo manches Aergerniß gegeben, 
jo mögen Sie aud) einmal eins nehmen.” Zu feiner großen 
Ueberrafhung fand Leffing nicht allein das Gedicht nach Form 
und Inhalt von dem Tebendigen Geifte des Alterthums durch— 
weht, jondern fügte noch Hinzu: „der Gefichtspunft, aus welchem 


) Jacobis Werke IV, 1, 38. 


— 41 — 


das Gedicht gewonnen ift, das ift mein eigener Geſichtspunkt. 
Die orthodoren Begriffe von der Gottheit find nicht mehr für 
mich; ich kann fie nicht genießen. "Ev xal IIav! Eins und 
Alles. Ich weiß nichts anderes. Wenn ich mich) nad) jemand 
nennen foll, fo weiß ich feinen andern als Spinoza.“!) 

Leffing Spinozift! Jacobi ftauntee Im Laufe des Ge— 
fpräches fragte er ihn auch, ob er gegen Mendelsfohn, den er 
unter feinen Freunden am höchſten fchäßte, feine Anhänglichkeit 
an Spinoza nie hätte laut werden laſſen. „Nie!“ antwortete 
Leſſing. „Einmal nur fagte ich ihm ungefähr eben das, was 
Ihnen an der ‚Erziehung des Menjchengefchlechts‘ aufgefallen 
ift. Wir wurden aber nicht mit einander fertig, und ich Tieß 
es dabei.“ ?) 

Diefes Geheimniß von Leffings Spinozismus bewahrte 
Sacobi drei volle Jahre, bis er durch Elife erfuhr, daß Men- 
delsfohn ernftlich daran denfe, eine Charakteriftif Leſſings zu 
ichreiben. Erſt da hielt er e3 für geboten, der gemeinfchaft- 
lichen Freundin das Geheimniß anzuvertrauen, damit fie, wenn 
fie e3 für gut fände, e8 Mendelsfohn eröffne. 

„Sie wiſſen vielleicht,“ fchrieb er ihr am 21. Juli 1783, 
„und wenn Sie es nicht mwifjen, fo vertraue ich Ahnen unter 
der Roſe der Freundfchaft, daß Leffing in feinen legten Tagen 
ein entjchiedener Spinozijt war. Es wäre möglich, daß Leffing 
diefe Gefinnungen gegen mehrere geäußert hätte, und dann wäre 
e3 nöthig, daß Mendelsfohn in dem Ehrengedächtniffe, das er 
ihm fegen will, gewiſſen Materien entweder ganz auswiche, oder 
fie wenigstens äußerſt vorfichtig behandelte. Wielleicht hat fich 
Leffing gegen feinen lieben Mendelsfohn eben fo Har als gegen 
mich geäußert, vielleicht auch nicht, weil er ihn Yange nicht ge- 
Iprochen, und fehr ungern Briefe fchrieb. Ahnen, meine Traute, 


) Sacobis Werfe IV, 1, 52. 
2) Jacobis Werke IV, 1, 42; Schr. III, 10. 


— 42 — 


fei es hiermit anheimgejtellt, ob Sie Mendelsfohn hiervon etwas 
eröffnen wollen oder nicht.‘ ') 

Der Freundin ſchien die Sache äußerft wichtig, fie ſchrieb 
fofort an Mendelsfohn und entdedte ihm das Geheimniß. 


Sechsundſiebzigſtes Kapitel. 
Leſſing Spinpzift. 


Lefiing ein Anhänger des Spinoza! Man bedenke, daß die 
Leute damals von Spinoza noch immer wie „von einem todten 
Hunde” redeten und was ſich nicht allein Theologen, ſondern 
auch Philofophen unter einem Spinoziften vorftellten. Sehr 
überrafcht war Mendelsfohn von diefer Mittheilung nicht. Wußte 
er doch, daß Leffing fo gut wie er felbjt fih in der Jugend 
mit Spinoza befchäftigt und defjen Einheitsgedanfen in ect 
fpeculativer Weife überall folgerecht feitgehalten. Aber höchſt 
unangenehm war ihm der Antrag von Seiten Jacobis. Am 
“ Grunde Hatte er den Mann nie gefannt. Er Hatte wol ein- 
zelne Auffäße von ihm gelefen und ihn als piychologifchen 
Romanjchreiber gefchäßt; in der Philofophie hielt er ihm für 
einen Dilettanten. Daß er Leffings Freundfhaft und Vertrauen 
genofjen habe, das war ihm völlig fremd. Er hielt daher das 
ganze Geheimniß vorläufig für eine bloße Anekdote, welche ihm 
irgend ein Reifender erzählt haben mochte. Indeſſen witterte 
er bald, daß man geneigt jei, Leſſing den Proceß zu machen. 
Da er nun wirklich im Begriffe war, über Leſſings Charakter 
zu fchreiben, fo fah er gar wohl, daß ihn diefe Anekdote weit 
vom Ziele abführen würde, daß ſie Erörterungen und Unter: 





) Sacobis Werke, IV, 1, 40. 


— 43 — 


fuchungen erforderte, zu welchen ihm Stimmung und Kraft fehlten. 
Unter allen Umftänden war ihm die Entdedung Jacobis fehr 
unwillfommen, und er drang auf nähere Erflärung.!) 

Dhne zögern fchrieb er der „verehrungswürdigen Reimarus“: 
„Was heißt das: Leffing war in feinen legten Tagen ein ent— 
Ichiedener Spinozift? Wie hat fich Leffing diefes gegen Jacobi 
geäußert? Hat er mit trodenen Worten gejagt: Sch halte das 
Syitem de3 Spinoza für wahr und gegründet? und welches? 
Hat er das Syitem jo genommen, wie es Bayle mißverjtanden, 
oder wie andere es befjer erklärt Haben? Wenn Leffing im 
Stande war, fich fo fchlechtweg, ohne alle nähere Beftimmung, 
zu dem Syſtem irgend eine® Mannes zu verjtehen, jo mar 
Leſſing zu der Zeit nicht mehr bei fich felber, oder in feiner 
fonderbaren Laune, etwas paradores zu behaupten, das er in 
einer ernjthaften Stunde felbft wieder verwarf. Hat aber Leffing 
etwa gefagt: „Lieber Bruder! der fo fehr verfchrieene Spinoza 
mag wol in manden Stüden weiter gefehen haben, als alle die 
Schreier, die an ihm zu Helden geworden find. In feiner Ethik 
insbefondere find vortrefflihe Sachen enthalten, vielleicht befjere 
Sachen als in mander orthodoren Moral oder in manchem 
Eompendio der Weltweisheit. Sein Syſtem ift jo ungereimt 
nicht, al3 man glaubt.“ Hat er etwas dergleichen ſich merken 
lafjen, wie ich von meinem Freunde vermuthe; — befte Seele! 
ic) weiß nicht, wie nahe oder wie ferne der Tod Hinter mir 
fteht und mit der Hippe droht: aber ich bin zu aller Zeit be- 
reit, diefes von ganzem Herzen zu unterfchreiben, man bringe 
mich, unter welche ARubrif man wolle.“ 2) 

Da Mendelsfohn vermuthete, daß Jacobi der Mann nicht 
fei, der fih die Sachen nur Halb fagen ließe, fo erfuchte er 
Elife, den Freund zu veranlaffen, daß er ausführlich berichte, 
was, wie, bei welcher Gelegenheit und auf welche Veranlaffung 
fic) Lefjing über feinen Spinozismus geäußert habe. Sobald 

') Schr. II, 6. 

2) Schr. V, 693 ff. 


— 444 — 


Jacobi ihn hierüber befriedigt hätte, wollte er auch die legten 
Gejinnungen feines Freundes nicht verfchtweigen; auch des beiten 
Freundes Name follte für die Nachwelt nicht heller glänzen, alö 
er es verdient. 

Sobald Elife diefen Brief vom 16. Augujt 1783 exhiel, 
fam fie dem Wunſche Mendelsfohns nad) und brachte den Sr 
halt des Schreibens Jacobi zur Kenntniß. Diefer genügte der 
Aufforderung und richtete von Bempelfort aus am 4. November 
1783 „unter dem Umschlag an die Freundin unverfiegelt“ an 
Mendelsfohn ein Schreiben, in dem er ihm das Weſenkliche 
feiner Unterredung mit Leffing weitjchweifig mittheilte. Und 
doch erzählte er nur den zehnten Theil von dem was er hätte 
erzählen fünnen! „Wenn man ganze Tage und von vielen ſeht 
verfchiedenen Dingen miteinander ſpricht, muß jich die Erinne 
rung des Details verlieren.“ Die Fragen, welche Mendelsjohn 
ihm vorgelegt und, wie er ſelbſt geiteht, „vielleicht etwas zu 
lebhaft“ ausgedrüdt hatte,!) wurden gerade nicht in der zartejten 
Weife, jondern „Dürre, troden, ja wol etwas herbe‘ beantworte, 
fodaß Jacobi am Schluffe des Schreibens für jchicklich hielt, 
den „Lieben edlen Mendelsfohn“ zu bitten, „es ihm nicht zum 
böfen zu deuten. Gegen einen Mann, den ich jo wie Sie ver 
ehre, war diefer Ton der einzige, der mir geziemte.‘?) 

Das Schreiben Jacobis gab Mendelsjfohn genugjam zu 
erfennen, daß er feinen Mann nicht gekannt hatte. Er hielt 
ihn für einen Schöngeift und wurde einen Philoſophen gewahr, 
der Kraft genug befaß, „ich vom Gängelbande loszureißen und 
feinen eigenen Weg zu gehen“. Er verjtand in dem, von Jacobi 
ihm geichidten langen Briefe, der einer philofophifchen Abhand- 
fung glich, nur das wenigfte: der Gang der Ideen war ihm, 
wie er Elife und deren Bruder, dem Doctor Koh. Albert 
Reimarus den 18. November 1783 fchrieb, zu fremd, das 
Bilderreihe in den Vorftellungen zu blendend, daß er wie be 

') Schr. III, 7. 

2) Kacobis Werke, IV, 1, 9. 





——— 


si — 


— 45 — 


täubt daftand und fich nicht zu finden wußte. Indeſſen glaubte 
er aus dem „ganzen Gebäude, das ſich Jacobi auf eigene Kojten 
errichtet Hatte”, fchließen zu dürfen, daß diefer in die Subtili- 
täten des Spinozismus tiefer eingedrungen, al3 er vermuthete, 
und daß die Nachricht von Leffings Anhänglichfeit an Spinoza 
feine Anekdote, fondern das Refultat einer wirklichen Unter- 
redung Sei. 

Mendelsfohn Hatte den Ritter, den er ſelbſt zum Zwei— 
fampf aufgefordert, verfannt und war bereit, ihn fürmlid) um 
Berzeihung zu bitten, wenn der Ton, in welchem diejer ihn fein 
Unrecht Hatte empfinden laſſen, nicht Genugthuung wäre. !) 

Höchſt unangenehm und peinlich war es Mendelsfohn ſich 
mit Jacobi einzulaffen. Daß Leffing fich in den legten Tagen 
feines Leben zu den Lehren Spinoza bekannt habe, darauf 
legte er nicht viel Werth. Er machte fich überhaupt nicht viel 
aus dem, was der größte Menſch in feinen legten Stunden jagt 
oder thut; am wenigjten wenn ex die „Seitenſprünge“ fo jehr 
liebte, wie Leifing wirklich gethan; „das Neue und Auffallende 
galt bei ihm mehr ald Wahrheit und Einfalt.“ „Sobald ihn ° 
die Laune anwandelte, war feine Meinung jo ungereimt, deren 
er fich nicht, aus Liebe zum Scharfjinn, anzunehmen fähig war 
und in der Hite des Streits ſchien es ihm felbjt zuweilen ein 
Ernſt zu fein. In diefer Stunde war ihm die Gymnaſtik des 
Geijtes wichtiger als die reine Wahrheit.“?) Den Beweis für 
Leſſings Spinozismus fand Jacobi in „Prometheus“! Eine gute 
Perfiflage! meint Mendelsfohn. „Glücklicher hätte das fogenannte 
ſpinoziſtiſche Syſtem nicht gezeigt werden können. Wer durch) 
ichlechte Verſe um feine Religion kommen kann, muß ficherlich 
wenig zu verlieren haben“. 3) 

Dem leidenden ſchwächlichen Manne war die ganze Ange- 
legenheit in der Seele zuwider, weil er wußte, daß Jacobi 





1) Schr. V, 701. 
2) Schr. V, 698, 702. 
3) Schr. V, 702; III, 9. 


es 


— 446 — 


überall Spinozismus witterte, auch die Leibniz-Wolffiſche Philo— 
fophie auf Spinoza zurüdführte; fie war beängjtigend für ihn, 
weil er gleich anfangs vermuthete, daß diefer Glaubensphiloſoph, 
der bejte Freund Lavaters und Hamann, den Berfuch maden 
wolle, ihn in den Schos de3 Glaubens zu führen. Er zog, 
um dem GStreite aus dem Wege zu gehen, die Sache in die 
Länge: erjt nad) neun Monaten, den 1. Auguft 1784, antwor: 
tete er Jacobi!) und theilte ihm mit, indem er ihm feine „Er: 
innerungen“ über die Unterredung mit Leifing zufchidte, daß er 
von feinem Borhaben über Leſſings Charakter zu fchreiben ab- 
gefommen und willens jei, erjt einen Gang mit den Spinoziften 
oder „AU Einern“, wie er fie lieber heißen wollte, zu wagen. 

Der Kampf mit einem neuen Glaubenshelden war be 
gonnen. E3 war ein metaphyſiſcher Ehrenfampf, den der ſchwäch— 
lihe Mendelsfohn unter den Augen der Dame ausfechten mußte, 
die jowol von ihm als von dem Gegner Hochgefchäßt wurde. 
„Waffnen Sie fi) nur mit der lieben Geduld!“ xuft ex feiner 
Dame zu. „Ich jtehe Ihnen dafür, unfere Briefe werden in 
"die Länge immer weitläufiger, dunkler, unentjchiedener, recht 
baberifcher; aber ich hoffe, wir werden unter Ihren Augen die 
Geſetze der Beicheidenheit, die Grenzen eines ritterlichen, wohl 
erzogenen Berhaltens nie überjchreiten, und ung niemals Ihrer 
Achtung und Theilnehmung unwürdig machen.‘ 2) 





Stebenundjiebzigites Kapitel. 
Widerlegung Jacobis. 
„Wir müſſen nun hoffen, daß Mendelsſohn wirklich bald 
Hand ans Werk legt,“ ſchreibt Eliſe den 5. Juli 1784 an 


Schr. V, 707 ff. 
2) Schr. V, 709. 





— 41 — 


Jacobi. „Sie aber, lieber Jacobi, müſſen fich freuen, daß Sie 
durch Ihren Aufſatz die Beranlaffung zu einer fo nüßlichen 
Arbeit gaben, wenn e3 gleich eigentlich zu einem andern Zwecke 
dienen follte und mit der Zeit auch dienen wird.“1) 

Mendelsfohn fah die Arbeit feines ganzen Lebens bedroht, 
dad Schredbild des Pantheismus erhob fi) gefpeniterhaft vor 
feinen Augen: er durfte nicht fchweigen, mußte Jacobi Rede 
ftehen, fo ſchwer es ihm auch wurde. Mußte er doch der Philo- 
fophie, die feine treuefte Gefährtin, fein einziger Troſt in allen 
Widerwärtigfeiten des Lebens war, jebt wie einer Zodfeindin 
auf allen Wegen ausweichen. Er hatte alle Hoffnung aufge- 
geben aus Rüdfichten für feine ſchwächliche Gefundheit jemals 
zum „Ipeculativifchen Leben“ zurüczufehren und wollte „in langer 
Beit wenig oder vielleicht gar nichts Metaphyfifches mehr jchrei- 
ben“; nun mußte er fich mit einem male bis über den Kopf hin- 
weg in transcendentale Spibfindigfeiten verfenfen. Dabei verbot 
ihm die Nervenſchwäche, welche ihn feit mehr als zehn Jahren 
fo ſehr niederhielt, jede Anftrengung des Geiſtes. Er mußte 
mit 'einer „Schnedenartigen Langſamkeit“ arbeiten und fürchtete, 
daß eine Arbeit wie die Widerlegung Jacobis fein Gehirn gar 
zerfprengen würde.?) In diefem Ieidenden Zuftande follte ex 
nun wieder an die erften Begriffe gehen, ohne Efel wiederkäuen, 
was Subftanz, Wahrheit, Urfache, hauptfächlic; was objectives 
Dafein fei; „alle diefe Subtiligfeiten wieder vorzunehmen,‘ be— 
fennt er in dem Briefe an Elife vom 5. Januar 1784, „wäre 
für mich, befunders in dieſer abſcheulichen Kälte, eine tödtende 
Arbeit.‘3) 

Er hatte einen fchweren Stand; nicht blos weil er 





) Sacobis Werfe IV, 1, 100. 

2) Schr. II, 235; V, 708, 712; 1. Aufl. ©. 559. Ob Mendels: 
fohn beabfichtigte, die Ethik des Ariftoteles zu überfegen, wie Satanow 
in der Vorrede zu der hebräifchen EINE derfelben (Berlin 1790) 
verfichert, dürfte bezweifelt werden. 

3) Schr. V, 705. 


— 48 — 


e3 als alternder Fränfliher Mann mit einem jüngern und 
rüftigern Gegner zu thun Hatte, fondern vor allem, weil ihm 
diefer Gegner, den ſelbſt Kant al3 einen Herkules unter den 
Denfern rühmt, an Vertrautheit mit den Schriften und Einficht 
in die Denkweife Spinozas weit überlegen war. Nach dem 
funfzigften Jahre, Elagt er wiederholt, „will ſich unfere Geele 
nicht Leicht einen neuen Weg führen Yaffen. Wenn fie aud 
ihrem Führer eine Strede folgt, fo ift ihr doch jede Gelegen— 
beit, in ihren gewohnten Pfad auszumweichen, willlommen, und 
fie verliert ihren Vorgänger unvermerft aus den Augen.“ Er 
hatte als Widerleger, wie er ſich ausdrüdt, eine „ſiſyphiſche 
Arbeit“. 
Das Schlimmfte für ihn war, daß er Jacobi und Genofjen 
nicht3 neues, nicht? frappantes zu fagen hatte Er fand, daß 
er „zu alt und zu ſteif fei, fich fein Schibbolet abzugemwöhnen, 
daß er fich in Feine andere philofophifche Sprache mehr Hinein- 
jtudiren fünne, al3 die er fo lange gewohnt war“. Die alten 
befannten Gründe, jo fchlußrichtig und bündig fie mir auch vor- 
fommen, find den Sophiften unfere® Jahrhunderts zu Spott 
und Mähre geworden. Was nicht quer durch den Sinn fährt 
und wie ein Wetterfchlag erjchüttert, macht feinen Eindruck mehr, 
und die Arbeit der Penelope wieder ganz von neuem anzu: 
fangen, mit Yangfamen, aber fejten Tritten alle Schlupfwinfel 
und Irrgänge der Sophifterei durchzugehen und das Ungeheuer 
aufzufuchen, dazu Habe ich die Kräfte nicht mehr, wenn ich fie 
auch gehabt haben follte.“1) lehentlih bat er den Doctor 
Reimarus, der von feinem großen Vater die feltene Gabe hatte, 
die abjtrufeften Speculationen ohne Wortgepränge und Bilder- 
Ihmud dem fchlichten Menfchenfinne darftellen zu können, den 
Gang mit den „Sophijten“ zu wagen. Gern wollte er als 
treuer Gehülfe oder Schildfnappe dem Kämpfer zur Seite ftehen, 
die Pfeile fchärfen und fie dem Schleuderer darreichen. Selbſt 


') Schr. V, 708. 


— 49 — 


fonnte er nicht mit dem Gegner ringen, jo lange noch jede 
Meditation ihm fchlaflofe Nächte verurfachte und mit dem Schlag- 
fluffe drohete.?) 

Jacobi, Leſſing, Spinoza beichäftigten ihn unaufhörlich und 
ließen ihn nicht ruhen. Jacobi fchicte ihm den 5. September 
1784 von Hofgeismar aus, wo er fich bei feiner Freundin, der 
Fürftin Galizin, aufhielt, die Abjchrift eines franzöfiichen Send- 
ſchreibens an Hemfterhuis, gegen welchen er im Namen Spino- 
zas die Confequenz des Syſtems zu vertheidigen fuchte, das 
Mendelsfohn im buchjtäblichen Sinne nicht verjtanden hat. Und 
mit welch geringichägiger Miene der glaubensſtarke Mann auf 
den befcheidenen Mendelsfohn herabblicdte! Welch brüsfer Ton! 
„Daß ich ritterlih den Handſchuh Hingeworfen hätte, davon 
weiß ich nichts. Wenn er mir entfallen ift, und Sie wollen 
ihn für hingeworfen anfehen und ihn aufnehmen; gut, ic) wende 
nicht den Rüden, jfondern wehre mic) meiner Haut, jo gut ich 
fann. Daß Sie mich für einen andern halten, das fommt nicht 
von irgend einem blauen Dunjt, den ich gemacht Hatte. Kampf 
und Ausgang werden zeigen, daß ich Feiner unerlaubten Künſte 
mich bediene und auf nicht weniger bedacht bin als mich zu 
verjteen.“?) Und eine foldhe Sprache nannte Mendelsfohn in 
feiner Liebenswürdigfeit „altdeutiche Offenherzigkeit“. 

He mehr Erläuterungen Jacobi gab, dejto weniger wußte 
Mendelsjohn was er wollte. Ex merkte gar bald, daß er ſich 
mit diefem Manne, der voll NRechthaberei und Eigendünfel war 
und in eine, wie ihm fchien, „mit Fleiß angenommene Hibe zu 
gerathen“ anfing, nicht vereinigen fünne. Niemand war auf 
den Fortgang dieſes fonderbaren Kampfes mehr gejpannt als 
Herder, der damal3 mit Göthe, Knebel und Frau von Stein 
das Studium des Spinoza eifrig betrieb. „Ich fürchte,“ ſchreibt 
er Jacobi den 2. November 1784, „Ihr werdet, nicht zwar mit 


Y Schr. V, 704. 
2) Sacobis Werke IV, 1, 122. 
Kayferling, Moſes Mendelsjohn. 29 





— 50 — 


Homeriihen Göttern, aber mitunter mit Schatten ftreiten; wenig- 
ſtens hat Mendelsiohn ſchon einen guten Anfang damit gemacht, 
daß er Ti für einen Spinozijten genommen.‘1) 

Bevor Mendelsjohn fih in einen Wettfampf mit Jacobi 
einließ, wollte er, um Verwirrung zu vermeiden, in einer etwa 
zwanzig und mehrere Bogen umfaflenden Schrift erſt feine 
metaphyſiſchen Grundanſchauungen darjtellen und zugleich, ohne 
alles was Jacobi und Lefjing insbefondere angeht zu berühren, 
den Bantheismus widerlegen. Er machte fich zwar feine Red- 
nung, den Gegner durh die Schrift von feiner Meinung zu 
überführen, aber die Eontroverje hoffte er wenigjtens fejtzufegen 
und den Streit gehörig einzuleiten. „Mit unferm würdigen 
Jacobi wird mich alles dieſes nicht zufammenbringen, fo viel 
jehe ich zum voraus, Wie ich mir feinen feurigen Geift vor- 
jtelle, wird er alle meine Gründe als befanntes Schulgeſchwätz 
verwerfen und der Mühe nicht werthachten, es nochmals zu 
unterfuchen. a, er nimmt e3 mir vielleicht noch übel, daß ih 
den tieffinnigen Lehren des Spinoza meine platte Compendien- 
Weisheit entgegenfegte. Am Ende fürchte ich, wir bewirthen 
ung einander wie der Storh und der Fuchs in der Fabel. 
Sener läßt in tiefen Flaſchen, diefer auf flachen Tellern auf 
tragen.‘ ?) 

Bevor noch Mendelsfohn Jacobis Antwort auf die ihm ge 
ſchickten „Erinnerungen“ mit deſſen kurzem Briefe vom 26. April 
1785 erhalten hatte, theilte er Elife mit: ex fei feſt entichlofien, 
dert eriten Theil feiner „Morgenftunden“ herauszugeben. 





N) Aus Herders Nachlaß, II, 259. 
2) Schr. V, 717. 


— 451 — 


Ahtundfiebzigites Kapitel. 
Joſeph Mendelsſohn. 


Die „Morgenſtunden“, das metaphyſiſche Hauptwerk Men— 
delsſohns, hatte mit der Pentateuch-Ueberſetzung gleichen Zweck: 
dieſe Vorleſungen, durch den Streit mit Jacobi veranlaßt, waren 
zunächſt gehalten, um ſeinen älteſten Sohn „frühzeitig zur ver— 
nünftigen Erkenntniß Gottes anzuführen“. | 

Auf die Erziehung und Bildung feiner talentvollen Kinder, 
von denen noch Später die Rede fein wird, verivandte Men- 
delsjohn ſtets die größte Sorgfalt. „Auch ich) Habe Kinder, 
die ich erziehen fol,“ fchreibt er Herder den 20. Juni 1780. 
„gu welcher Bejtimmung? Ob im Sachen » Gothaifchen bei 
jeder Durchreife ihren jüdischen Kopf mit einem Würfelfpiel zu 
verzollen, oder irgend einem Heinen Gatrapen das Märchen 
von den nicht zu unterfcheidenden Ringen zu erzählen, weiß nur 
der, der uns all unfere Pfade vorgemejjen. Meine Pflicht ift, 
fie fo zu erziehen, daß fie in jeder Gituation fi) von ihrer 
Seite feine Schande zuziehen, und die ihnen ihre Nebenmenjchen 
underdient zumwerfen, mit Refignation zu ertragen.“1) Obgleich 
nicht veich, fcheute er doch die Koften nicht, ihnen Hauslehrer 
zu halten. Als folchen lernten wir früher Herz Homberg fennen; 
nach deſſen Abgang nahm Moſes Met, ein Elfäfjer, ein tief- 
finniger Denker und dabei voll Befcheidenheit und Herzensgüte,?) 
feine Stelle ein. 

Ganz befondere Sorgfalt verwandte er auf die Ausbildung 
feines älteften Hoffnungsvollen Sohnes Joſeph. Er Tieß ihn 
von Herz Homberg im Hebräifchen und im Talmud, von den 
tüchtigiten Männern der Stadt in Spraden und Wifjenichaften, 
in Mufit und Zeichnen unterrichten. Rector Fiſcher war fein 


1) 1. Aufl. ©. 543. 
2) Schr. I, 54. 
29* 


= 


Lehrer im Lateinifhen, bis er ins Gymnaſium eintrat.!) Engel, 
der Erzieher der beiden Humboldt, ſpäter Gouverneur Friedrid 
Wilhelms III, übernahm es aus Freundichaft für den Pater, 
ihm Anleitung im deutichen Stil zu geben. Diefer Mann eines 
„Achern Geſchmacks“ follte „dem guten gründlichen, Tebhaften 
Bortrage” des jungen Mendelsjohn die angemefjene äſthetiſche 
Form verleihen.?) Die Borlefungen, welche Hofrath Herz über 
Phyſik Hielt und welche von Prinzen und Minijtern beſucht 
wurden, hörte auch Joſeph mit gleichem Eifer wie die über 
Chemie bei dem Profeſſor Klaproth.?) Der Vater hemmte in 
feiner Weife die freie Entwidelung feines Geijtes, er Tieß ihn 
alles lernen, wozu er Luft und Trieb empfand, umſomehr „da feine 
Talente und guten Anlagen zu den gründlichen Wifjenfchaften 
berechtigten, etwa3 vorzügliches von ihm zu erwarten; er drang 
tief ein, ſchaute mit feſtem forjchenden Blicke umher, that aber 
niemal3® große Sprünge, wie junge feurige Köpfe zu thun 
pflegen.“ ) 

Sofeph war der Stolz des Vaters; das Herz lachte ihm 
vor Freude, wenn er von ihm ſprach, wenn er von diejem 
„guten Jungen“ feinen beften Freunden und Freundinnen jchrieb. 
Mit Sehnfuht erwartete er ihn, fobald er von ihm getrennt 
war; an ihn dachte er zuerjt, fo oft Schmerz oder Freude ihn 
erfüllte. Als fein Freund Reimarus einen hoffnungsvollen Sohn 
verlor, condolirte er ihm mit den füßfchwärmerifchen Worten: 
„Ach! das Herz blutete mir, al3 ich die Nachricht davon in 
öffentlichen Blättern las . . . . Ich warf einen Bli auf meinen, 
auch nicht wenig Hoffnungsvollen Sohn, und heiße Thränen ent 
fielen meinen Augen.‘“5) 

Im Alter von funfzehn Jahren unternahm Sofeph eine 


) 1. Aufl. ©. 510. 

2) Schr. V, 667. 

3) Schr. V, 680. 

9 Schr. II, 236; V, 673. 
5) Schr. V, 718. 


— 3 — 


Reife nah Hamburg und GStreliß zu Berwandten. Bei der 
hochgeachteten Familie Reimarus führte ihn der Bater durch 
folgende charafteriftifche Zeilen an feine theuerſte Elife ein: 

„Meberbringer diejes, mein Sohn Joſeph, Hat den Auftrag 
von meiner ganzen Yamilie, Sie ihrer ungetheilten Hochachtung 
und Freundichaft zu verfichern; und es gefällt mir, daß er, 
feiner anjcheinenden Kedheit ungeachtet, zu befcheiden iſt, fich 
einer Perſon, die er fo hochzufchägen gelernt hat, ohne Em- 
pfehlung zu nähern. „Sie hat dic) doch gejehen, lieber Sohn! 
und ihr ift nichts unwillkommen,“ ſprach ich, „Das aus unferm 
Haufe kommt.“ — „Mich hat fie lange wieder vergefjen,“ ant- 
wortete er, „und überhaupt macht mich nichts fo fchüchtern als 
die Hochachtung.“!) 

Auch Freund Hennings follte er auf diefer Reife kennen 
lernen, durd) ihn, den Sohn, „Sollte das Band der alten Freund- 
Ihaft von neuem befeftigt werden“. Hennings war aber gerade 
damals auf einige Zeit verreift, und Joſeph kehrte zurüd, ohne 
ihn gejehen zu haben.) 

Wie gern hätte Mendelsfohn auch feinen Joſeph für Die 
Willenichaften bejtimmt, aber er mußte einen „Knecht des Mam— 
mon“ aus ihm machen. Zur Arzneitunft hatte ex weder Lujt 
noch Genie, und was konnte er als Jude damals werden? „Arzt, 
Kaufmann oder Bettler“.3) Er mache es allerdings, wie fein 
Bater e3 hat machen müfjen, heißt e3 in einem Briefe an 
Homberg; „jtümpere fich durch, bald als Gelehrter, bald als 
Kaufmann, ob er gleich Gefahr Läuft, Feines von beiden ganz 
zu werden.‘“#) 

Sofepp wurde Kaufmann. Mit feinem jüngern Bruder 
Abraham gründete er in Berlin ein Bankhaus, das unter der 
Firma „Mendelsfohn & Comp.“ noch jegt beſteht. In feinen 





9 Schr. V, 721. 
2) 1. Aufl. S. 538. 
3) Schr. V, 722. 
4) Schr. V, 674. 


=; Z5- = 


Mufeitunden beichäftigte er fih auch Titerariih; er veröffent- 
lichte: „Berichte über Rofjetis Ideen zu einer neuen Crläute 
rung des Dante und der Dichter feiner Zeit‘ und „Ueber Zettel: 
banfen“;?) auch fchrieb er die furze den Gefammelten Schriften 
feines Vaters vorgedrudte Biographie. 

Die Liebe zu den Wiſſenſchaften hatte der Vater ihm ein- 
geflößt. Er hielt es für Pflicht, ihn frühzeitig zum Denfen an 
zuleiten und ihm philofophifche Kenntniffe beizubringen. Zu— 
vörderit ließ er ihn Ideen ſammeln, „Materie zufammentragen; 
al3 e3 dann Zeit war, Form und Regel hineinzubringen, ihm 
zum methodiichen Nachdenken über die wichtigjten Materien die 
erforderliche Anleitung zu geben, entichloß ex ſich, die wenigen 
Stunden de3 Tages, in welchen er in feinen legten Jahren nod) 
heiter zu fein pflegte, die Morgenftunden, ihm zu diefem Be 
hufe zu widmen. 

In diefen Morgenjtunden unterredete er fich mit ihm 
und andern Jünglingen „von jchägbaren Geijtesgaben und noch 
befjerm Herzen“ von den Wahrheiten der natürlichen Religion, 
oder hielt ihnen, wenn er dazu aufgelegt war, zufammenhängende 
Borlefungen über einen und den andern Punkt aus derfelben, 
aber, wie leicht zu erachten, ohne allen Schulzwang. Sie hatten 
die Freiheit, ihn zu unterbrechen, Einwürfe vorzubringen, fie 
unter ſich zu beantworten, und er brach zuweilen feinen Discurs 
abfichtlih ab, um fie unter fich ftreiten zu laffen.?) 

Es war eine muntere, lernbegierige Gefellfchaft junger 
Leute, die fih um den liebenswürdigen Alten in den frühen 
Morgenftunden verfammelten. Außer Joſeph, feiner ältern 
Schwejter, der geijtreihen Dorothea, und dem „unvergleid- 
fihen“ Simon Veit -Witenhaufen, mit dem fie den 3. April 
1783?) die Ehe eingegangen war, fanden fich regelmäßig ein: 

!) Berlin 1840, 1846. — Joſeph ftarb den 24. November 1848. 

2) Schr. II, 236. 


3) Won demjelben Tage, dem 1. Niffan = 3. April 1783, datirte 
Mendelsjohn die Einleitung zur Pentateuch-Ueberſetzung. 


— 45 — 


der auf dem Defjauer Philanthropin gebildete, junge Weflely, 
der als Kapellmeifter berühmte Neffe des alten Jugendfreundes 
Hartwig Weflely, und noch zwei andere junge Männer, Die 
beiden Humboldt. 


Neunundjiebzigites Kapitel. 
Die beiden Humboldt. 


„Seit meiner frühejten Jugend Hatte ich die Ehre, in 
Deutfchland mit den hervorragenden Männern unter Ihren 
Glaubensgenofjen, welche in der Philofophie und Mathematik 
geglänzt haben, verbunden zu jein, und einer unferer größten 
und ältejten Schriftfteller, der Freund Leſſings, Moſes Mendels— 
ſohn, hatte auf die Erziehung, welche ich und mein Bruder in 
vorfimdflutlicher Zeit genofjen, Einfluß ausgeübt,“ Heißt es in 
dem Schreiben, das Alerander von Humboldt den 12. November 
1853 an den gelehrten Rabbiner Mortara in Mantua richtete?) 
Mit wahrem Entzüden ſprach diefer Fürjt der Wifjenfchaften, 
etwa zwei Sahre vor feinem Hinfcheiden, von den „Morgen 
jtunden‘; „ich habe die Morgenjtunden ſelbſt bei Mendelsjohn 
gehört,“ waren feine eigenen Worte. ?) 


') Mortara, Comp. d. Rel. Iſr. (Mantua 1855), XV; vgl. Stein: 
fchneider, Hebr. Bibliographie (Berlin 1859), II, 38. 

2) ©. Henfel, Die Familie Mendelsfohn 1729—1847 zählte, diejer 
Biographie folgend, in der 1. Aufl. die beiden Humboldt zu den Schülern 
Mendelsjohns; in der 2. Aufl. (Berlin 1880) machte er jedoch S. 20 
in einer Note die ganz unndthige Bemerkung, dab dieje Angabe auf 
einer mündlihen Tradition beruhe. Daß dieje mündliche Tradition von 
Alerander v. Humboldt jelbit jtammt, konnte Herr Henjel natürlich 
nit wiſſen. M. f. au meine Recenfion Allg. Ztg. d. Idths., 1880, 
©. 85 f. 


— 456 — 


Mendelsfohn war in der That der eigentliche Lehrer der 
beiden Jünglinge und trug beſonders viel dazu bei, Wilhelm 
mit den Tendenzen der Berliner Aufklärung zu erfüllen. Men- 
delsfohns Freunde bildeten den täglichen Umgang der jungen 
Männer. Auf Beranlaffung Engels hielt ihnen Klein, der früher 
genannte Mitarbeiter an der großen preußischen Geſetzgebungs— 
veform, VBorlefungen über das Naturrecht; in dem von Wilhelm 
eigenhändig gejchriebenen Collegienhefte befindet fich, nebſt einem 
handfchriftlihen Briefe Mendelsfohns an Klein,t) ein Furzer 
Entwurf „Ueber die erziwungenen Verträge von Mofes Mendels- 
fohn“,2) beftehend aus folgenden Paragraphen: 

1) Der Krieg ift ein Zuftand, in welchem die Menfchen 
ihre jtreitigen Rechte nicht die Vernunft, fondern die Gewalt 
entfcheiden Lafjen. 

2) Der Sieg giebt dem Sieger die Rechte des beleidigten 
Theils. 

3) Der Sieger kann alfo Entfchädigung verlangen, Exrſatz 
für Schaden und Gefahr. 

4) Ihm allein kommt es zu, die Grenzen der Scadles- 
haltung zu bejtimmen, denn ihm allein find die Collifionsfäle 
befannt. 

5) Indeß iſt er innerlich verbunden, die wahren Grenzen 
nicht zu überjchreiten. 

6) Und wenn er diefes thut, fo beleidigt ex wiederum von 
feiner Seite, wiewol nur innerlich). 

7) Wenn e8 aber offenbar und über alle Zweifel hinweg 
it, daß er die Grenzen überjchritten und ſich mehr einräumen 
laſſen, al3 ihm Schaden und Gefahr verurfacht worden; wenn 
fein Collifionsfall zu exdenfen, der jeine Schätung der Be 


) Schr. V, 616 ff. Nach dem handſchr. Briefe heißt es ©. 618 
ſtatt „die den Zweifel erhebt‘, „die der Zweifel angeht‘‘. 

2) Das Collegienheft handſchriftlich in der Privatbibliothef ©. 
Maj. des Königs von Sadjen. 


22: BT. = 


leidigung rechtfertigen fönnte, fo hat der Befiegte ein vollkom— 
menes Recht, den Ueberfchuß zu veclamiren. 

8) Es giebt alfo Fälle, wo erziwungene Tractate aufhören, 
verbindlich zu fein und aufgehoben werden können. 

Wie Engel und Klein, fo waren alle andern Lehrer Wil- 
helms aus dem reife der Freunde Mendelsfohns: in diefen 
Kreis war, wie fein trefflicher Biograph ſich ausdrüdt, fein 
Leben und feine Bildung mitten Hineingeftelt.) Mit diefen 
Freunden, mit Männern wie Friedländer, Herz, Mori u. a. 
verfehrte er wie ein Süngerer mit Aelteren. Bei der Herz, der 
dur Schönheit und Geiſt berühmten Henriette, wurde er und 
fein Bruder Hausfreund; von ihr erlernten jie beide die hebräifche 
Eurrentfchrift. Mit Mendelsſohns Kindern, befonder3 mit Sofeph 
und Dorothea, wurden fie innig befreundet, und diefe Freund- 
Ichaft vererbte fich auch auf deren Kinder. Der greife Alerander 
feierte feinen Geburtstag am liebjten in dem engen Yamilien- 
cirfel des, den 25. October 1871 verfchiedenen, edeln Alerander 
Mendelsfohn, Joſephs ältejten Sohnes, wo denn auch der Jugend 
und des theuren Mojes oft gedacht wurde. 

Der Einfluß, welchen Mendelsfohn auf das mit feinen 
Schriften mwohlvertraute Bruderpaar übte, tritt ganz beſonders 
in Wilhelm und dejjen erjten Literarifchen Berfuchen merklich hervor. 
Ueber Gott, über die Vorfehung und Unfterblichkeit philofophirte 
er in dem ältejten Auffage, den wir überhaupt von ihm befiten 
und den er al3 neunzehnjähriger Süngling Zöllner für defjen 
„Leſebuch für alle Stände“ überließ. Er Spricht es darin feinem 
Lehrer nach, daß in den Fragen über Vorfehung und Unijterb- 
lichfeit jene wahre Philofophie enthalten fei, welche brauchbare 
Refultate für das praftifche Leben liefere. Der junge Schrift: 
jteller, jagt fein Biograph,?) jteht ganz auf dem Standpunfte 
jener maßhaltenden deutichen Popularphilofophie, welche nichts 
mit t gewagten Hhpothefen und nicht3 mit den Spibfindigfeiten 


') Haym, Wilhelm von Humboldt (Berlin a 10. 
2) Haym, a. a. D., 9. 


— 458 — 


der Dialeftif zu thun haben will und welche mit dem durch die 
Gründe des Herzens unterftüßten Beifall des unparteiiichen 
Menschenfinnes zufrieden iſt. Mit gleicher Entjchiedenheit wie 
Mendelsſohn erklärt er ſich gegen den Skepticismus und gegen 
die Schwärmerei für die echte Weisheit einer Kopf und Herz 
gleichmäßig befriedigenden Aufklärung. 

Lebhaft beſchäftigte die beiden Humboldt die ſpinoziſtiſche 
Fehde, welche Mendelsſohn mit Jacobi geführt und die „Morgen— 
ſtunden“ veranlaßt hat. 


Achtzigſtes Kapitel. 
Entſtehung der „Morgenſtunden“. 


An den „Morgenſtunden“, welche Mendelsſohn im Sommer 
1784 begonnen hat, mußte er ſeiner Nervenſchwäche wegen mit 
einer „ſchneckenartigen Langſamkeit“ arbeiten. Da er das Manu— 
feript nicht felbft ins Reine bringen fonnte, — war er dot 
faum mehr im Stande, feine freundichaftliche Correſpondenz zu 
führen, denn die Augen fingen ihm an zu verfagen!) — ſo 
ließ er es abfchreiben, um es dem Doctor Reimarus zur Cenfu 
vorzulegen; er hatte, wie er Elife bei Ueberſendung eines Theils 
des Manuferipts den 24. Mai 1785 bemerkt, „einen philofo- 
phifchen Freund, dem er mehr Freimüthigkeit, Wahrheitsliebe 
und Beurtheilungsfähigfeit, beſſern Willen und befjere Kräfte 
zutraute, ihm über feine Arbeit die Wahrheit zu fagen.“2?) Den 
28. Juni fonnte er den ganzen Rejt der „Morgenjtunden“ Rei: 
marus ſchicken und fchon den 21. Juli feiner Freundin melden, 


) 1. Aufl. ©. 537. 
2) Schr. V, 715. 


— 459 — 


daß der dritte Bogen bereitS unter der Preſſe feufze. Jacobi 
jollte die ganze Schrift erſt gedrudt zu Geficht befommen, um 
ihn nicht zu veranlaffen, noch mehrere Erklärungen abzugeben. 
Es hat den leidenfchaftlichen Glaubensphilofophen nicht wenig 
derdrofjen, von Fremden über das Erfcheinen der neuen Schrift 
früher zu hören al3 von dem Verfaſſer felbft. Der Schildträger 
Hamann Hatte ihm ſchon am 1. Juni 1785 mitgetheilt, daß er 
wegen der neuen Schrift, an welcher der Berliner Jude arbeite, 
neue und zwar verjchiedene Nachrichten erhalten Hätte; nad) 
einigen würden e8 „Morgengedanfen über Gott und Schöpfung“, 
nach andern „Gedanken über das Dafein und die Eigenfchaften 
Gottes“;) während Mendelsfohn ihm exit zwei Monate fpäter 
anzeigte, er wäre in der Streitſache nicht ganz müſſig gewefen, 
und wenn NReimarus die Arbeit nicht ganz verwerfe, fo wiirde 
der nächſte Meßcatalog ficher etwas bringen. ?) 

In den eriten Tagen des October verließen die „Morgen 
ſtunden“ die Preſſe. Die erften Eremplare fchidte er den 
4. Dctober 1785 Elife und Jacobi, leßterm mit der Bitte, Ge— 
duld zu haben und „ihn feine ganze Lection auffagen zu laſſen“. 
„Auf diefe Weife denfe ich,“ heißt e8 am Scluffe feines die 
Schrift begleitenden Briefes, „müſſen wir entweder am Ende zu— 
fammen- oder, wie Sie gar richtig fi) ausdrüden, auseinander 
fommen.‘ 3) 

Auch dem Fürften von Anhalt-Defjau, dem „durchlauchtig- 
ſten Beherricher feines Geburtslandes, dem weifen Freunde und 
Beichüger des Guten und Schönen“, wartete Mendelsfohn mit 
diefer Schrift auf;*) ebenfo feinem ehemaligen Gönner, dem Erb— 
prinzen, feit 1780 xegierender Herzog von Braunfchweig, der 
ſchon bei Empfang des „Phädon“ den Wunjc geäußert Hatte, 





) Sacobis Werfe IV, 1, 53. 
2) Schr. V, 720. 
3) Schr. V, 722. 
4) Schr. V. 638. 


— 460 — 


einen ähnlichen Tractat über das Dafein Gottes von ihm zu 
lefen,?) und als „Borlefungen über das Dafein Gottes‘‘2) kün— 
digten die „Morgenftunden‘ fi an. 


Einundadhtzigites Kapitel. 
Dajein Gottes. 


Die „Morgenftunden“, die letzte Schrift Mendelsſohns, 
welche zu feinen Lebzeiten erfchien und als fein philofophifches 
Teſtament betrachtet werden kann, befchäftigen fich in den erjten 
fieben Borlefungen mit den metaphyfiichen Grundbegriffen, den 
erfenntnißstheoretifchen Betrachtungen über Wahrheit, Schein 
und Irrthum, als Einleitung zu der „Lehre von Gott und feinen 
Eigenschaften“, 

Es war ihm Bedürfniß, ficd von den Gründen des Glau— 

bens an ein höchſtes Weſen und eine göttliche Weltregierung 
Rechenschaft zu geben; er wollte das Dafein Gottes erkennen, 
vernunftgemäß beweifen. Der Areopagus der Bernunft follte 
entfcheiden, nicht nach der Neigung, fondern nad der Strenge 
der Wahrheit die Gründe abwägen und das Urteil fällen. 
Darum verwahrte er ſich von vornherein gegen die Annahme 
einer „Ölaubenspflicht”, wie fie Baſedow in die Philofophie ein- 
') Schr. V, 636. 
2) Morgenftunden oder Borlefungen über das Dajeyn Gottes. 
Berlin 1785; mit VBermehrungen ibid. 1786, Frankfurt u. Leipzig 1786; 
Schr. 11, 235—409. Eine italienifche Ueberjegung erſchien Trieft 1843. 
Unter dem Titel no» ya wurden die ‚„‚Morgenftunden‘ ins Hebräiiche 
übertragen von of. Herzberg (Königsberg 1845) und früher von Sal. 
Maimon (handſchr.). Maimons Ueberjfegung von Brudftüden von XL, 
XII und dem größten Theil von XIII finden fi in deſſen Kommen: 
tare zum ‚More‘, I, Cap. 74. 


— 41 — 


geführt Hat; denn in der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß der Wahr- 
heit follen wir den Wünſchen und Neigungen feinen Einfluß auf 
die Heberzeugung einräumen. 

Mendelsfohn, der über das Dafein Gottes mit folcher 
Deutlichkeit Tprechen fonnte, wie über ein neues Mufter feiner 
Seidenfabrif,!) nimmt auf die verfchiedenen Beweiſe, wie fie 
von den Philofophen und Theologen geführt wurden, Rückſicht. 

Die Beweisarten, welche auf das Zeugniß der äußern und 
innern Sinne, auf das Dafein einer veränderlichen Welt oder 
eine veränderlichen denfenden Weſens beruhen, verwirft er, weil 
fie von Vorausfegungen ausgehen, die nicht von allen zugegeben 
werden; er ijt eingedenf, daß der Idealiſt das wirkliche Dafein 
einer materiellen Welt, der Egoiſt das Dafein aller Subftanzen 
außer ſich leugnet, daß der Spinozift fich ſelbſt für Fein für 
ſich beſtehendes Weſen, fondern für einen bloßen Gedanken in 
Gott Hält. 

Ebenfo wenig konnte er die Wolffiiche Faſſung des onto- 
logischen Beweijes, der feinen Ausgangspunkt von dem Begriffe 
des allerrealiten Weſens nimmt, adoptiren; er verfuchte es viel- 
mehr, denjelben auf eine neue, nod) von feinem Philoſophen be- 
rührte Weije zu führen und ihm eine größere Feitigfeit dadurch 
zu geben, daß er aus der Möglichkeit eines allervollfommenjten 
Weſens auf defjen Wirklichkeit fchließt: „Was nicht ift, muß ent- 
weder unmöglich, oder blos möglich fein. Am erſtern Falle 
müfjen ſich feine innern Bejtimmungen widerjprechen, das heißt: 
dafjelbe Prädicat von demſelben Vorwurfe zugleich bejahen und 
verneinen; im leßtern aber werden fie zwar feinen Widerjpruch 
enthalten, es wird fich aber aus denfelben nicht begreifen laſſen, 
warum das Ding vielmehr fein als nicht fein fol. Eins wird 
mit dem wefentlihen Theil deſſelben ſowol bejtehen können, 
al das andere, aus welchem Grunde das Ding möglich ge- 
nannt wird. Das Dafein eines ſolchen Dinges gehört nicht zu 


) Hildebrand, Deutſche Nationalliteratur ſeit Leſſing, S. 193. 
2) Schr. II, 35, 388 f. 


— 462 — 


feiner innern Möglichkeit, nicht zu feinem Wefen, auch nicht zu 
feinen Eigenschaften, und ijt daher eine bloße Zufälligfeit, deren 
Wirflichfeit nicht anders als aus einer andern Wirklichkeit be 
griffen werden kann. Ein folches Dafein iſt abhängig, nicht 
ſelbſtſtändig. Nun kann dem vollfommenften Wejen ein folches 
Dafein nicht zulommen; denn es wiirde feinem Weſen wider: 
fprechen, indem ein jeder einjiehet, daß ein unabhängiges Dafein 
eine größere Vollkommenheit fei, als ein abhängiges; daher 
der Sat: das allervollflommenjte Weſen hat ein zufälliges Da- 
fein, einen offenbaren Widerfprud enthält. Das allervoll 
fommenfte Weſen iſt alfo entweder wirklich, oder es enthält 
einen Widerfprud. Denn blos möglich kann es nicht fein, wie 
vorher erwiefen worden; daher bleibt für dafjelbe nichts weiter 
übrig, als die Wirklichkeit oder Unmöglichkeit.‘ ') 

So giebt Mendelsfohn dem alten ontologifchen Beweife für 
das Dafein Gottes mit feiner feinen Dialeftif und in feiner 
geiftvollen Art ein moderne® Gewand. Daß er dabei ſelbſt 
ftändig verfahren und auf Kants „einzig möglichen Beweis—— 
grund zu einer Demonftration des Daſeins Gottes“, mit dem 
ex in einzelnen Punkten zufammentrifft, feine Rücficht genommen 
hat, ergiebt fi) au8 dem Umftande, daß der neue Beweis in 
der Abhandlung „Ueber die Evidenz“ ausgearbeitet war, langt 
bevor er von Kants Schrift Kenntniß erlangt Hatte. Alles in 
diefem Beweife ift, wie Garve fagt,?) Licht und zeigt Scharf 
finn, aber er befriedigt nicht. Der Grundfehler des ontole: 
gischen Beweifes, daß er das Dafein Gottes aus einem voraus: 
gefegten Begriff über die Gottheit erichließt, während die 
Aufgabe vielmehr gerade die wäre, die Wahrheit diefer Vor— 
ausfegung zu erweiſen, wird natürlich auch durch die meue 
Wendung, welche Mendelsfohn ihm gab, nicht gehoben. ?) 


ı) Schr. II, 35, 388 f. 

2) Chr. Garve, Ueber das Dajein Gottes (Breslau 1802), ©. 4. 

3) Eduard Zeller, Geſchichte der deutichen Philojophie jeit Leibniz, 
©. 343, 





— 463 — 


Bu diefem Beweife, in welchem die Möglichkeit der Begriffe 
mit der Möglichkeit der Dinge TeichtHin zufammengenommen 
wird, fügt Mendelsfohn noch einen dritten Hinzu, welcher aber 
auf den frühern zurüdgeführt werden fann. Er geht von dem 
Sate aus, daß alles Wirfliche von irgend einem denfenden 
Weſen al3 wirklich gedacht werden müſſe. Was nicht wirklich 
ift, muß entweder unbejtimmbar oder unbeftimmt fein; das aller- 
höchite Wefen kann aber weder unbejtimmbar, noch unbejtimmt 
fein, denn es enthält feinen Widerfprucdh, und was ihm zufommen 
fann, ift durch feine innere Möglichkeit nothwendig beftimmt; 
daher ift das allerhöchſte Wefen nothwendig vorhanden.) 

Es Fam Mendelsfohn nicht in den Sinn, das Wefen 
Gottes zu erklären, er wollte das Dafein Gottes nad) den Ge— 
feten des Denkens vernunftgemäß beweifen und war zufrieden, 
wenn die Gegner ihm einräumten, daß der Menfch fich eine 
Gottheit al3 wirffic) vorhanden denfen müſſe. Er befennt ich 
zu einem philofophifchen Theismus, wie wir ihn etwa bei 
Roufjeau finden, und ift von den beiden Herrfchenden Anſchau— 
ungen, Anthropomorphismus und theologifchem Despotismug, 
gleich weit entfernt; weder auf die Güte, noch auf die Größe 
Gottes follte mehr Rüdficht genommen werden. Er wollte feinen 
perfönlichen Gott weder über die fublunarifche Welt erheben 
und ihm nur die Sorge für die Erhaltung des Ganzen mit 
völligem Verzicht auf die Schiefale der einzelnen beilegen, nod) 
ihn zu menſchlichen Schwachheiten herabwirdigen: beide Wege 
erfchienen ihm als Irrthümer, als zu Atheismus und Unglauben 
führend. 

Ueber das Weſen Gottes und feine Eigenfchaften Hat 
Mendelsfohn feine Gedanken in aller Kürze entworfen; fie waren 
für den zweiten Theil der „Morgenftunden“ beftimmt und fanden 
ſich in feinem Handfchriftlichen Nachlaß unter dem Titel „Sache 
Gottes, oder die gerettete Vorſehung“. 


1) Schr. II, 36, 48. 


— 464 — 


Zweiundachtzigſtes Kapitel. 
Theodicee. 


In dem aus 84 Paragraphen bejtehenden Bruchſtücke der 
1784 verfaßten Schrift „Sache Gottes, oder die gerettete Vor— 
fehung‘?) entwidelt Mendelsfohn feine Anſichten über das Wefen 
und die Eigenfchaften Gottes: Allmacht, Güte, Weisheit, Ge 
vechtigfeit und Heiligkeit, über deſſen Beziehungen zur Welt und 
zum Menfchen. Im feiner feiner Schriften tritt feine Anhäng— 
lichfeit an Leibniz fo prägnant hervor al® in der „Sadıe 
Gottes“, in der er die Leibniziihe Theodicee mit den Anfchau- 
ungen, wie fie fich ihm aus dem jüdiichen Schrifttfum ergaben, 
zu vereinigen fuchte. 

Länger verweilte auch ex bei der uralten, von Leibniz 
wieder angeregten Frage, warum die Welt, gerade wie fie ift, 
die beite ijt, da es doch in Gottes Rathichluß gelegen, aud 
eine oder verfchiedene andere zu Schaffen. Da Gott die höchſte 
Weisheit zur unveränderlichen Richtſchnur dient und er nur das 
vollfommenjte zur Wirklichkeit bringt, jo hat er aus allen mög- 
lichen Reihen der Dinge die allerbejte Welt gewählt und diefe 
allerbefte ift auch die wirklich eriftivende.?) Gegen die meta- 
phyſiſche Nothivendigfeit der beiten Welt werden die mächtigjten 
Einwürfe von dem Vorhandenfein der Uebel geltend gemadt, 
und eben hierin weicht der jüdiiche Philofoph vermöge feines 
religiöfen Standpunftes von Leibniz in wefentlichen Punkten ab. 

Während Leibniz in den Uebeln ein Mittel zur Herbei— 
führung eines höhern Gutes, eine Bedingung der Diesfeitigen 
und jenfeitigen Gflüdjeligfeit erkannte, findet Mendelsfohn darin 
nur das „populäre Syſtem“; er hält ſich an die „Höhere Sitten- 


) Bum erften male gedrudt: Schr. II, 411—451, ins Hebräijche 
überjegt von S. 3. Finn unter dem Titel mawnn 5y esn, Wilna 1872. 
2) Schr. II, 422 ff., 339. 


— 45 — 


Iehre der Weifen“, nad) welcher das Gute an und für fich felbit 
nicht nur Glückſeligkeit befördert, fondern auch Glückſeligkeit ift. 
Sodann berührt er auch die Frage über die ungleiche Aus- 
theilung der Güter. Wären die Glüdsgüter, meint er, nad) 
Verdienſt ausgetheilt worden, fo würde alle Tugend, zu der der 
Menſch nicht exit durch Leiden vorbereitet zu werden braucht, 
und mit ihr alle Glückſeligkeit aus dem Staate Gottes ver- 
fhwinden. „Wer von diefer Höhe auf das Schiefal der Menfchen 
herabfchaut, wer von dieſer wolkenfreien Atmofphäre Tugend 
und Lafter, Glück und Unglüd in ihren wechjelfeitigen Kämpfen 
und Umwälzungen betrachtet, und das große Schaufpiel in der 
unabjehbaren Reihe der Zukunft verfolgt, der wird hier anbeten 
und nicht murren. Träfe ihn auch das Schidfal noch fo Hart, 
fo wird er gegen die Borfehung nicht murren, jondern . mit 
inniger findlicher Ergebung fein ganzes Leben hindurch anbeten 
und wohlthun.“!) Somit fhwindet auch die Schwierigkeit, welche 
Leibniz in Abficht auf das Fünftige Leben findet. 

Ueber diefe religiög=ethifche Themata führte Mendelsjohn 
einft mit Henning3 eine Unterredung, welche ung diejer in Dia- 
logform in feinen Handfchriftlichen „Erinnerungen an Berlin‘ 
erhalten hat. Sie wurde hervorgerufen durch Roufjeaus Brief 
über die Zerſtörung Liffabons, in welchem die Gerechtigkeit der 
Borfehung gegen die Klagen der Menschen vertheidigt wird. 

Henning. — Am beiten gefiel mir die Parallele, welche 
Roufjeau zwifchen feinem eigenen Schiefale und dem Boltaires 
zieht. Diefer, glüdlih und im Wohlleben, Flagt die Vorfehung 
wegen der Uebel an, mit denen die Welt gefüllt ift; jener arm, 
frank, verfolgt, findet, daß im ganzen betrachtet alles gut fei. 

Mendelsfohn. Rouſſeau thut nicht wohl daran, fo zu 
ſprechen. Wenn er der Borfehung nicht? verdanfte als Rouſſeau 
zu fein, jo wäre fie ſchon verfchwenderifch gegen ihn gemwejen; 
denn das ijt gewiß, ihr allein verdankt er fein Genie, feine 
ftarfe Seele und feinen männlichen und durchdringenden Geift. 

1) Schr. II, 431. Ä 

Kayſerling, Mofes Mendelsfogn. 30 


— 466 — 


Henningsd Das gejteht Roufjeau ſelbſt. Sch erinnere 
mich, irgendwo in feinen Schriften gelefen zu haben, daß unfere 
Talente mit uns geboren werden und daß die Tugend allein 
unfer Werk fei; daß die Natur einen Racine, einen Guido Reni 
gebildet, daß der tugendhafte Mann feinen Werth aber durch 
feine Werfe und Thaten erſt erlange. 

Mendelsfohn. Hierin bin ich entgegengefegter Meinung. 
Wir fchulden der Vorfehung ſelbſt die Neigung zur Tugend, 
welche mit ung geboren wird. 

Hennings Wenn. Sie Gott zum Urheber unferer Tugend 
machen, jo machen Sie ihn auch zum Urheber der Lafter. Die 
Lafterhaften werden behaupten, daß fie die ihnen angeborene 
Neigung zum Böen ebenfalls von der Vorſehung empfangen 
haben. 

Mendelsfohn. Und was folgt Hieraus? 

Henningd. Daß dem Menfchen die freie Wahl zwiſchen 
Gutem und Böfem überlaffen ift, und daß es von ihm abhängt 
den Weg zu wählen, welchen er gehen will. 

Mendelsfohn Ach würde diefen Schluß nicht ziehen, 
fondern aus dem gefagten nur einen Beweiß gegen die Ewig- 
feit der Strafen bringen. 

Hennings. Könnte denn aud ein vernünftiger Menſch 
einen Augenblid an die Fabel von der Hölle glauben? Wenn 
e3 Strafen giebt, fo begreife ich darunter nur die innere Qual, 
nicht tugendhaft gewejen zu fein, wie dies Plato bewunderns— 
würdig ſchön duch die Allegorie des Tantalus erklärt. 

Mendelsfohn. Welche Schlußfolge würden Sie daraus 
ziehen? Wenn die Strafen fo wären, daß. die Schuldigen jelbit 
wünfchten, Tieber bejtraft als frei zu fein. Wenn Gott jtraft, 
fo gefchieht e8 nur um zu befjern und auf den Weg der Tugend 
zurüdzuführen. Die menſchlichen Strafen fünnen nicht immer 
fo gerecht fein. Sie haben ebenfo wol das Beilpiel als. die 
Zucht im Auge, bei den Todesstrafen erjteres ſogar ausſchließlich. 

Da diefes Thema von der Belchaffenheit derjenigen iſt, 


— 467 — 


welche ich nicht ergründen will, weil ich das Zweckloſe folcher 
Speculationen einfehe, jo begnüge ich mich mit der Annahme, 
daß die Tugend zu unferem irdiſchen Glüde nothwendig ift, ohne 
mic in Bermuthungen über das Schidjal einzulaffen, welches 
die Tugendhaften in jenem Leben zu erwarten haben. 

Ein andere mal führte Henning mit Mendelzfohn eine 
Unterredung über Belohnung. 

Als Mendelsfohn zum legten male mit Leffing zufammen- 
traf, unterhielten fie fi) in Gegenwart de3 zu Münſter ver- 
ftorbenen Hauptmann Rothmann, des Berfaffers mehrerer Theater- 
ftüde und Gedichte, auch über die damal3 viel befprochenen 
„Bhilofophifchen Unterfuchungen über die Amerikaner“ des Nie- 
dexländers Eorneille de Pauw, welcher ſich einige Monate ‚bei 
Duintus Jeilius, dem Favoriten Friedrich des Großen, aufge- 
halten Hatte und Mendelsſohn perfönlich befannt war.!) „Ein 
wahrheitsforfchender Philofoph,“ fagte diefer, „müßte nicht jo 
fehr auf Hhypothefen bauen.” Rothmann erwiderte: „Wielleicht 
fann man ihm mehr Glauben fchenfen, wenn er feinem Ber- 
fprechen gemäß über das deutjche Volk und die deutichen Sitten 
jchreiben wird.“ „So, fo!“ verjegte Hierauf Mendelsfohn, „ich 
glaubte nicht, daß Pauw von fonjt was fchriebe, als wovon er 
nichts wüßte.‘ 2) 

Bei feiner Rückkehr nach Berlin erzählte nun Mendelsfohn 
dem jungen Hennings von feinen Reifeerlebniffen und theilte 
ihm unter andern mit, daß er mit Leffing über de Baum und 
amerifanifche Zuſtände gefprochen habe. Auch dieſe Unterhal- 
tung bot Stoff zu einem Geſpräche über Belohnung, das uns 
Hennings ebenfall3 in jeinen „Erinnerungen an Berlin‘ er- 
halten hat. 

Mendelsfohn. Wie Herr Rothmann verfichert, theilen 
ſich die amerikanischen Gelehrten die Kiterarifchen Producte, welche 
ihnen aus Europa zukommen, gegenfeitig mit. Die Philofophie 

1) 1. Aufl. ©. 518. 


2) Hormayrs Archiv für Geſchichte, 1811, 472. 
30* 


— 468 — 


Baumgartens Hat fich in der neuen Welt eines ſolchen Erfolges 
zu erfreuen, daß ſogar die Jejuiten fie in ihren Schulen ein- 
geführt haben. 

Er hielt einen Augenblid inne Ein neues Feuer glänzte 
in feinen Augen. Plötzlich rief er aus: 

Es ift doch eine herrliche Welt, die Gott geichaffen hat! 
Man braudt nur das Gute im Stillen zu üben, e3 ift nie ver- 
foren; man iſt des Erfolges fiher. Baumgarten hat in Frank 
furt leben müfjen, damit feine nächtlichen Studien den Ameri- 
fanern Nuten und Aufklärung bringen, und ein anderer Erd— 
theil feine Arbeit belohne. 

Hennings. Schön ift es, den Glauben zu bewahren, daß 
feine gute Handlung nußlos if. Es ijt ein großer herrlicher 
Gedanke, daß e3 in der Tugend nicht3 geringfügiges, nichts ver- 
Torenes giebt und daß die jcheinbar unbedeutendfte Handlung 
früher oder fpäter aus ihrer Dunkelheit hervortritt, um in der 
Verkettung von Urſache und Wirkung wiederzuerfcheinen. Die 
Borjehung bedient fich ihrer gleichfam als eines Mittels, um 
zu ihren Sweden, ihren erhabenen Plänen zu gelangen. Dieſer 
Gedanke verleiht dem Leben einen neuen Werth, verwandelt die 
Ruhe in Thätigfeit, ja es giebt feinen Augenblic der Trägpeit 
mehr; das Gefühl wird wirffam: eine Geberde, eine Miene, ja 
ein einfaches Zeichen des Wohlwollens hat Einfluß auf da} 
Ganze, und wäre e3 auch in dem Sinne eines Waſſertropfens, 
der auf die ruhige Fläche des Weltmeeres fällt. 

Dennoch wünfchte ich, daß die um die Menfchheit verbdier- 
ten Männer fchon hienieden für ihre Mühen belohnt würden, 
daß jede Tugend auch ihre Belohnung fände, und daß die Welt 
nie undanfbar gegen denjenigen wäre, der fie übt. 

Mendelsfohn. Welche Größe aber, wenn man nur de 
Lohnes wegen arbeitet!!) Die Belohnung ift vorhanden, das 
muß genügen. Ob wir im Diegfeit3 oder Jenſeits die Früchte 


) Bgl. Sprüde der Väter 1, 3. 


— 49 — 


unferer Mühen genießen — begnügen wir uns mit dem Be— 
wußtfein, daß die Tugend nie ihr Ziel verfehlt. Das ift der 
wahre Reiz, der das Leben verfchönert. Der dem Anfcheine 
nad) zweifelhafte Erfolg der Tugend giebt der Seele jene Be- 
barrlichkeit, ohne welche für fie weder Tugend noch Größe vor- 
handen wäre. Wenn das Gift unter feiner natürlichen Form 
erfchiene, wenn die Heilfamften Kräuter auch die wohlſchmeckend— 
jten wären, fo hätte die Mäßigfeit feinen Anſpruch auf Ber- 
dienft, und dem Menfchen bliebe nichts zu thun übrig. 

Hennings Nicht doch! Ach wünſchte Feineswegs, daß 
die Tugend uns fo leicht würde, daß fie durchaus Feine An- 
jtrengung erforderte, aber ich wiünfchte, daß ihre Mühen und 
Qualen zu einem fichern Ziele führten. 

Mendelsfohn. Zweifeln Sie daran? Nicht darf das 
ganze Glück im Gefühle Yiegen, e3 hängt auch oft von der Ver— 
nunft ab, von der innern Ueberzeugung, Gutes vollbracht zu 
haben. Wer fich gefteht, daß er für die Tugend arbeitet, und 
wäre der Vortheil, der aus feinen Arbeiten erfpießen fann, nod) 
fo fern, er wird ſich nie unglüdlich, immer beruhigt fühlen, troß 
der Undanfbarfeit, mit der die Welt ihm begegnet. 


AUS Mendelsjohn die „Morgenjtunden“ fchrieb, hatte er 
den „Icholaftifchen Grübeleien“, die er vormals außerordentlich 
liebte, wie e3 in feinem Briefe an Hennings vom 5. November 
1785 heißt,!) beinahe völlig entfagt. Die neuern philofophifchen 
Werke Lamberts, Tetens, Platners, felbft Kants, kannte er nur 
aus unzugänglichen Berichten feiner Freunde oder aus gelehrten 
Anzeigen. Für ihn jtand die Philofophie noch auf dem Punkte, 
auf dem fie in der Mitte der fiebziger Jahre fich befand. 2) 


») 1. Aufl. &. 537. 
2) Schr. II, 235. 





> I 


Treiundadhtzigites Kapitel 
Mendelsſohns philoiophiiher Standpuntt. 


Die Leibniz Bolftihe Philoſophie, weldhe dem achtzehnten 
Jahrhundert bis auf Kant als Exbichaft zugefallen war, haben 
wir als diejenige bezeichnet, der Mendelsſohn feine philoio- 
phiſche Bildung zu verdanken hatte; die Grumdideen derfelben, 
die Monadologie und die präftabilirte Harmonie, blieben die 
Baſis jeiner philoſophiſchen Weltanſchauung ſelbſt dann nod), 
als man bereits mit Geringſchätzung auf die „Schule“ herab— 
bfidte. „Sch freue mich,“ ſchreibt er den 26. April 1785 an 
Brofefior Schwab in Stuttgart, „in Deutichland einen Philo⸗ 
ſophen zu finden, der ſich nicht ſchamt, Wolffianer zu fein. Den 
Schriften diefes Weltweiien habe ich meine erſte Bildung zur 
Bhilofophie zu verdanken; daher ich eine Art von Borliebe für 
ihn jederzeit behalte und mir ein Bergnügen machen werde, 
alles zu retten, was aus feiner Feder gefloſſen ift.“ı) Und nod 
in der Borrede zu feinem legten Werke befannte er ganz offen: 
„sh weiß, daß meine Philojophie nicht mehr die Philofophie 
der Zeiten if. Die meinige hat noch allzu ſehr den Gerud 
jener Schule, in welcher ich mich gebildet habe.“ 2) 

So fehr er aber auch Wolff verehrte, jo war er doch nie 
Volffianer im ftrengften Sinne. Er tadelte das „barbariiche 
Gewäſch des alten Mannes“,?) fuchte die Mängel des Syſtems 
aufzudedfen und Hatte das Bejtreben, über den Kreis der Schule 
hinauszugehen: er gehört zu den wenigen feiner Zeit, welche in 
den fruchtbaren Geift der Leibniziichen Philofophie ſelbſt tiefer 


) Schr. V, 631. An Schwab richtete er den 18. Juni 1784 
einen ausführlichen Brief „Ueber das fittlih und phyſiſche Gute‘; 
Schr. III, 403. 

2) Schr. II, 236. 

3) Schr. V, 316. 


— — 


eindrangen, ſie theils ergänzend weiterbildeten, theils durch die 
Art der Behandlung in größere Kreiſe einführten. 

Die Ergänzung, welche er der Leibniziſchen Philoſophie zu 
geben verſuchte, war nun allerdings eine eigenthümliche und 
unphiloſophiſche. Seine Vorliebe für den Senſualismus, deſſen 
Vertreter Locke und Shaftesbury ebenſo wie Leibniz und Wolff 
von ihm verehrt wurden, führte ihn auf den Gedanken, Leibniz 
mit Locke und den Engländern überhaupt zu verbinden!) Will 
man Mendelsfohn wegen diefer fynkretiftiichen Bejtrebung der 
Oberflächlichkeit zeihen, jo trifft der Vorwurf noch viele andere, 
denen ein wenigſtens gleich ehrenvoller Pla in den Hallen der 
Philoſophie eingeräumt wird. Schon Wolff neigt ſich dem Sen- 
fualismus hin; Beaufobre und Merian bemühen ſich, Locke mit 
Leibniz auszugleichen, und ſelbſt Lambert, der an logiſchem 
Scharfſinn, an Strenge und Folgerichtigfeit des Denkens über 
alle gleichzeitigen Philoſophen hervorragt, macht in feiner Archi— 
teftonif den Verſuch einer Bermittelung zwifchen Wolff und 
Lode. Es war Mendelsfohn hauptſächlich darum zu thun, mit 
Hülfe des englifchen Empirismus über die dogmatiſche Einfeitig- 
feit des Wolffiichen Syſtems Hinauszufommen. 

Mit Lode unterfcheidet Mendelsfohn eine dreifache Art der 
Erfenntniß: die anfchauende oder finnliche Erfenntniß, Erkennt— 
niß der äußeren und inneren Sinne, oder unmittelbares Be- 
wußtſein der Beränderungen, die in unferer Seele vorgehen, 
dann Bernunfterfenntniß, die Urtheile und Schlüfje, welche aus 
der unmittelbaren Erfenntniß gezogen werden, und endlich die 
Erfenntniß des Wirffihen außer uns.?) Er behauptet ferner, 
die anfchauende Erfenntniß, ob jie Empfindung der äußeren oder 
Wahrnehmung der inneren Sinne ift, fei immer wahr, und er- 
Yäutert ſehr gut, daß nicht die Sinne ung täufchen, fondern der 
Irrthum darin befteht, daß wir einen gegebenen jinnlichen Ein- 


) Danzel, a. a. D. I, 347. 
2) Schr. I, 259 f. 


— 472 — 


druck durch den Gedanken falſch fubfumiren. Mit diefer Er- 
färung verbindet er, bewußt oder unbewußt, Lode mit Leibniz. 

Mit den Schottiihen Philofophen Reid, Beattie u. a. und 
mit Rouffeau ftimmt Mendelsfohn in dem Zurüdgehen auf den 
gefunden Menfchenverjtand überein. Im Grunde war der ganze 
fogenannte Rationalismus, der von Leibniz an der geiftigen 
Beitbewegung fi bemächtigte, ein Eflefticismus, der auf ge 
fundem Menfchenverjtande baſirte. Richtig charafterifirt Göthe 
die ganze Zeitftrömung, wenn er fagt: „Die Philoſophie war 
ein mehr oder weniger „gefunder Menfchenverjtand“, der & 
wagte, ins allgemeine zu gehen und über innere und äußere 
Erfahrungen abzufpredden. Ein heller Scharfjinn und eine be 
fondere Mäßigkeit, indem man durchaus die Mitteljtraße und 
Billigkeit gegen alle Meinungen für das Rechte hielt, verichaff 
ten ſolchen Schriften und mündlichen Yeußerungen Ansehen und 
Zutrauen, und fo fanden fich zulegt Philofophen in allen Facul⸗ 
täten, ja in allen Ständen.“!) 

Der gefunde Menfchenveritand und die Vernunft find, wie 
Mendelsſohn auseinanderfegt, im Grunde eine und diefelbe Er- 
fenntnißkraft. Der Unterfchied befteht blos darin: „der Menſchen— 
veritand thut eilige Schritte und geht vafch vorwärts, ohne von 
der Furcht zu fallen wankend gemacht zu werden, ex eilt gleid- 
fam wie geflügelt zum Ziele; die Vernunft Hingegen geht lang 
ſam mit fchwerfälligen Elephantenfchritten, fühlt mit dem Stabe 
umber, bevor fie einen Schritt wagt; fie wankt denfelben Weg, 
zwar vorfichtiger, aber nicht ohne Furcht und Zittern.“ ?) 

An einer anderen Stelle vergleicht er den gefunden Men— 
chenverftand mit dem bon-sens, einem glüdlihen Wahrheit 
finne, und feßt diefen völlig in dafjelbe Verhältniß zur Ver 
nunft. „Bon-sens ijt eine geübte Vernunft; beide wirken nad 
ähnlichen Regeln. Dieſe Iangjamer, ſodaß wir die Verbindung 


) Göthe, Dichtung und Wahrheit, II, 95. 
2) Schr. II, 265, 283. 


— 43 — 


der Mittelbegriffe wahrnehmen, jener fo fchnell, daß wir von 
der ganzen Folge der Begriffe nichtS behalten al3 Anfang und 
Ende.) Inſofern der Wahrheitsfinn die Fertigfeit ift, das 
Wahre vom Falfchen durch undeutliche Schlüffe, unmittelbar, ohne 
Reflerion richtig zu unterjcheiden, ſoll er im praftifchen Leben 
meijtens die Vernunft vertreten, indem e3 uns an Zeit fehlt, 
die Gründe der Wahrfcheinlichfeit durch; mühfames Nachdenken 
nach deutlichen Begriffen abzumägen. ?) 

Mendelsfohn ift von der Unfehlbarfeit des gefunden Men- 
ichenverftandes jo völlig überzeugt, daß er behauptet, die Ur- 
theile und Ausfprüche dejjelben in richtige Vernunftichlüffe und 
Bernunfterkenntniffe auflöfen zu fünnen.3) Demgemäß ift aud) 
die Vernunft dem gefunden Menfchenverftande unterzuordnen. 
„So oft jene jo weit hinter diefem zuriücdbleibt, oder gar von 
ihm abjchweift und in Gefahr ift auf Irrwege zu gerathen, 
wird der Weltweije felbit feiner Vernunft nicht trauen und dem 
gemeinen Menfchenverftande widerfprechen, fondern ihr vielmehr 
ein Stillfihweigen auferlegen, wenn ihm die Bemühung nicht 
gelingt, fie in die betretene Bahn zurüdzuführen und den ge- 
ſunden Menſchenverſtand zu erreichen.‘ ?) 

Was wunder daß, wenn die „Ipröde Dame Vernunft“ unb 
der Menjchenverjtand fich entzweien, „in den meiften Fällen das 
Recht auf feiner Seite zu fein, und die Frauensperfon, wider 
die Erwartung, fich belehren zu laſſen pflegt; ja, wenn aud) 
das Recht zuweilen auf ihrer Seite ift, fo ift er, der Starr- 
föpfige, nicht zum Nachgeben zu bringen.“ ®) 

Bei der Untrüglichfeit des Menfchenverftandes nimmt ihn 
Mendelsjohn zum Kompaß und Wegweifer in der Speculation. 
„Wenn ic) Gründe genug für und wider einen philofophifchen 


1) Schr. IV, 1, 80. 

2) Schr. II, 60. 

3) Schr. II, 283; IV, 1, 80. 
4) Schr. II, 316. . 

5) Schr. II, 318. 


— 414 — 


Grundfaß gefammelt Habe, fo laſſe ich den Eindrudf, den fie 
einzeln auf mich gemacht, etwas ſchwächer werden, betrachte fie 
im Zufammenhange, und bringe folchergeftalt die Unterfuchung 
gleichfam vor den Richterſtuhl des natürlichen Meenfchenver: 
ſtandes ..... . Ihn erkenne ich in der That für den oberften 
Richter der Wahrheit an, und fein Ausipruch pflegt felten zu 
trügen.“!) So oft die Speculation Mendelsfohn zu weit von 
der Heerjtraße des Menjchenverjtandes abzuführen pflegte, ſuchte 
er fi) zu orientiven, und fie beide auf den Punkt zurückzu— 
führen, von dem fie ausgegangen. „Die Erfahrung Hat mid 
gelehrt, daß in den meiften Fällen das Recht auf Seiten des 
Gemeinfinns zu fein pflegt, und die Vernunft muß ſehr ent- 
cheidend für die Speculation fprechen, wenn ich jenen verlafjen 
und diefer folgen foll.“2) 

Philofophie des gefunden Menfchenverjtandes und Popular- 
philofophie find im Grunde genommen ein und daffelbe. Aus 
der Mifchung der verfchiedenen in der Beitphilofophie gegebenen 
Elemente entjtand in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr— 
hundert3 jene Denfweife, welche man Philofophie der deutfchen 
Aufklärung oder auch wol fchlechtweg Popularphilofophie nannte. 
AS Popularphilofophen galten alle diejenigen, welche die Form 
der zufammenhängenden wijjenfchaftlichen Unterſuchung abfichtlic 
verfchmähten und ohne Ziefe der Ideen dem großen Publikum 
zu Munde vedeten. 

Popularphilofoph in diefem Sinne war Mendelsfohn nicht, 
und wenn er in verfchiedenen Compendien der Gefchichte der 
Philofophie mit Männern wie Engel, Eberhard, Nicolai und 
andern dieſes Schlages in eine Linie gejtellt wird, fo beruht 
diefer Irrthum auf der ganz äußerlichen Thatfache, daß er zu 
einigen von ihnen in freundfchaftlicher Beziehung gejtanden 


ı) Schr. V, 564. 
2) Schr. II, 318; III, 15. 


— 45 — 


und fogar an Engel3 „Philoſoph für die Welt“ 1) mitge- 
arbeitet hat. 

Einer flachen, alles Geiftes beraubten und aller Specula- 
tion Hohn Sprechenden Philofophie tritt Mendelsfohn auf das 
entfchiedenfte entgegen. Wie er fein Bedenken trägt, ſelbſt Wolff, 
den er wol fonft den Großen nennt, über feine feichte Popu— 
Yarität Vorwürfe zu machen, fo fpricht fi auch an vielen 
Stellen feiner Schriften feine Abneigung gegen die Popular— 
philofophie aufs deutlichſte aus: „Man trägt fich heutigen 
Tages,” Heißt e3 im feinem erjten Literaturbriefe, „mit der 
Grille, alle Wiffenfchaften leicht und ad captum, wie man e3 
zu nennen beliebt, vorzutragen. Dadurch glaubt man die Wahr- 
heit unter den Menfchen auszubreiten und fie wenigſtens nad) 
allen Ausmefjungen auszudehnen, wenn man ihren innern Werth 
nicht vermehren kann . . . Um die Beweife der angenommenen 
Sätze befümmert man fi) wenig, weil man überzeugt fein 
wollte; noch weniger aber dachte man an die Schwierigkeiten, 
die durch das beliebte Syitem gehoben oder die mit demfelben 
verbunden find.“?) In gleicher Weiſe klagt er in dem Schreiben 
an 9. D. von Platen vom 29. December 1769, daß die „feich- 
ten Metaphyſiker“ jebt das große Wort hätten. „Man Fann 
es in Öffentlihen Schriften faum mehr wagen, recht metaphyfifch 
zu denfen, weil diefe Sprecher der Metaphyfif bei allen Ge— 
Yegenheiten die Zähne weiſen. Man muß diefen Herren nur 
immer eine Art von Punſch vorjegen. Wenig metaphyfifche 
Gründlichfeit mit einer Menge von wäfjerigem Geſchwätz ver- 
dünnt, erhält allgemeinen Beifall.) Ya noch in der Vorrede 
zu den „Morgenjtunden” Fagt er darüber, „daß die bejten 


)Y Engels Philoſoph für die Welt (Berlin 1844), 1. Band: 
Broben rabbiniiher Weisheit, S. 146 ff. (Schr. VI, 436—443); Hylas 
und Phylonous, 101 ff. 

2) Schr. IV, 1, 501. 

9) Schr. V, 484. 


— 416 — 


Köpfe Deutfchlands von aller Speculation mit fchnöder Weg: 
werfung ſprechen.“!) 

Solche Stellen zeigen zur Genüge, wie Mendelsfohn über 
Popularphilofophie dachte, und widerlegen die Anficht der Literar- 
hiftorifer, welche mit Gervinus?) ihn an die Spite der Phile- 
fophieverächter jtellen, und behaupten, er habe wie Hamann und 
hundert andere dem Hange nachgegeben, ſich mit nichts be 
ftimmtem zu befchäftigen, überall herumbdilettantirt und vertrete 
überhaupt eine Philofophie des Lebens im grelliten Gegenfahe 
zur Schulphilofophie. Es ift dag ein Irrthum, der ganz be 
fonder8 daher entjtand, daß Mendelsfohn Autodidaft war. Auf 
Grund diefer bejonder3 von Göthe an Mendelsfohn Hervorge 
hobenen Autodidaris glaubt Gervinus auf eine natürliche Gegner- 
Ichaft gegen ſyſtematiſche Philofophie fchließen zu dürfen; ja noch 
mehr, weil Mendelsfohn in der Borrede zur erſten Auflage 
feiner „Philoſophiſchen Schriften“) in der ihm eigenen Be 
fcheidenfcheit äußert: „Ich traute mir das Vermögen oder die 
Fertigkeit nicht zu, meine Gedanken bejtändig an eine ftrenge 
ſyſtematiſche Ordnung zu binden,“ fpricht er ihm die Fähigkeit 
eines ſyſtematiſchen Vortrags gänzlich ab. 

Noch weit ungerechter ift der Borwurf, welchen Hegel ihm 
madht,*) er Habe feine philofophifche Bedeutung überjchägt. 
Fern von aller Eitelfeit und Selbjtüberhebung dachte Mendeli 
ſohn nie daran, ein eigenes philofophifches Syſtem zu begründen. 
„Ich babe mir niemals in den Sinn kommen laſſen,“ fagt et 
im Anhang zum „PBhädon“5), „Epoche in der Weltweisheit zu 
machen, oder durch ein eigenes Syſtem berühmt zu werde 
Wo ich eine betretene Bahn vor mir fehe, da fuche ich feine 
neue zu brechen. Haben meine Vorgänger die Bedeutung ein 





) Schr. II, 237. 

2) Gejhichte der deutfchen Nationalliteratur, IV, 238 f. 

9) Schr. I, 105. 

4) Borlefungen über die Geſchichte der Philofophie III, 434. 
5) Schr. II, 191. 


— 4171 — 


Wortes feitgefegt, warum follte ich davon abweichen? Haben fie 
eine Wahrheit ans Licht gebracht, warum follte ich mich jtellen, 
al3 wüßte ich e3 nicht? Der Vorwurf der Gectirerei ſchreckt 
mich nicht ab, von andern mit dankbarem Herzen anzunehmen, 
wa3 ich bei ihnen Brauchbares und Nüsliches finde.“ Men 
delsfohn will nichts ſelbſt wiſſen, fchreibt gern alles feinen 
Vorgängern zu: unter den Männern, welche in der Wolffi- 
Then Schule gebildet, ift er, mit den jüdichen Religions— 
philofophen und den englifchen Moraliſten innig vertraut, der 
bedeutendjte unter den Philoſophen feiner Zeit, welche nicht 
jowol darauf ausgingen, ein neues Syſtem aufzujtellen, als 
vielmehr alles einer gebildeten Reflerion zu unterwerfen. Men— 
delsfohn iſt der edeljte Vertreter der deutſchen Aufklärungs— 
philofophie. „Er fchreibt nicht blos zur Förderung der wiſſen— 
ſchaftlichen Erfenntniß, fondern in erſter Reihe ift es ihm, aud) 
bei feinen philojophifchen Arbeiten, um die Beförderung der 
menſchlichen Gfüdfeligkeit, um die Vervollfommnung der Men- 
Then duch Aufklärung ihrer Gedanken zu thun; und deshalb 
will er fo fchreiben, daß ihn alle verjtehen, alle von ihm an- 
gezogen und zum Guten angeregt werden.‘t) 

Befeelt von dem Streben, die Leibniz.Wolffiiche Philojophie 
von den engen Feffeln der ſyſtematiſchen Gefchloffenheit zu 
befreien, fuchte er die von ihm behandelten Probleme durch die 
Anmuth der Darjtellung, durch die Form der gebildeten Con- 
verfation einem größeren reife zugängli zu machen. Er 
erreichte es durch feinen Leicht flüffigen eleganten Stil. 

Seine liebenswürdige Perfönlichkeit, fein edles Herz, fein 
freundlicher, durchdringender Blick treten am Flarften in feinem 
Stil hervor. Die Meiſterſchaft in dem deutſchen Ausdrude, 
der feine Gefchmad, die edle Gefinnung befähigten ihn zu 
einem echten Volksſchriftſteller. Eine ſolche Faßlichkeit im Vor- 
trage, eine jo zierliche, jo anmuthige Sprache, ein fo beicheidener 


') Zeller, Gejhichte der deutſchen Philoſophie ſeit Leibniz, S. 335. 


— 418 — 


Ton, verbunden mit einer feinen fofratifchen Ironie, eine fo 
ungefuchte, ſich ſchmiegende Beredtfamfeit des Herzens: alles dies 
vereinigt hatte man noch bei feinem philofophifchen Schrift- 
jteller Deutjchlands gefunden. Alles in feinen Schriften ift 
Licht, und dieſes Licht ift bei Problemen, welche das Herz be 
rühren, mit einer Wärme verbunden, die bisweilen bis zur 
Begeifterung ſteigt. 

Mendelsfohn hat, wie Börne fich ausdrückt, von den Rofen 
der Philofophie die Dornen weggebrocdhen; er bat für die 
Philofophie ein neues Gewand, eine Diction gefchaffen, melde 
noch heute mujftergültig ift und felbjt einem Kant umerreichbar 
ſchien. „Man foll zwar,” jagt diefer einmal, „ebenfo wenig 
allen Berfaffern Einen Stil, wie allen Bäumen Eine Rinde 
wünfchen; aber dennoch fcheint und Mendelsſohns Schreibart 
für die Philoſophie die zuträglichite zu fein. So frei von 
aller Sucht nad). blendendem Schmud und doch) ſo elegant; 
fo ſcharfſinnig und doch fo deutlich; jo wenig auf Rührung 
dem Scheine nach arbeitend und doch fo eindringend. Wenn 
ih die Mufe der Philofophie eine Sprache erkieſen follte, fo 
würde fie diefe wählen.“ ?) | 

Mit gleicher Anerkennung läßt ſich Garve, ſelbſt einer 
der beiten Brofaiften des achtzehnten Sahrhunderts, über Men- 
delsfohns Stil und deſſen Bedeutung für die deutihe Sprade 
aus. „ALS Leffings eigener philofopifcher Wi, fein fchneiden- 
der Scharffinn und feine Gedankenfülle ſich unter uns zeigten, 
war allen Befonderheiten feines Stil3 unfere Sprache fo an 
gemefjen und fie nahm die feltfamften Formen feiner Ideen 
mit folcher Gefchmeidigfeit an, als wenn nur er ein recht 
originell deutfcher Schriftiteller wäre. Und doch bot zu eben 
diefer Beit eben diefe Sprache dem ruhigen Denker Mendels— 
john, der die größte Deutlichfeit mit dem fanften Fluffe. der 
Rede ſuchte, alle Wörter und Redensarten eines rein philo- 





) Jacobis Werke IV, 3, 114, 142, 


— 479 — 


ſophiſchen Stil an!“!) „Der Mann macht alles fo Helle,“ 
Ichreibt er den 17. November 1785 an Weiffe, „was er vor— 
trägt, daß man auf eine fehr angenehme und nüßliche Weife 
während der Lejung feiner Bücher befchäftigt ijt, auc wenn 
man durch diefelben nicht neue Auffchlüffe befümmt, auch wenn 
man nicht feinen Meinungen beipflichtet.”2) 

„Wenn man Shnen auch recht geben wollte, daß Ihre 
Philofophie nicht mehr die Philofophie der Zeiten ift,“ fchreibt 
ihm Auguft von Hennings nach Empfang der „Morgenjtunden‘, 
„ſo müßte man nicht wiffen, daß Sie in Ihren Briefen 
zuerft den attiſchen Ton mit dem Tieflinn des fpeculativen 
Nachdenken? verbanden und der Schönheit und Wahrheit fo 
wie Sokrates den Grazien opferten, daß Sie in den Literatur- 
briefen Deutjchlands Gefchmad bildeten und zeigten, wie gerade 
auf dem ſchlichten Pfade der Vernunft die Blumen blühen.“ ?) 
Mendelsſohn galt, man kann wol jagen bis auf Göthe, nächſt 
Leffing für den vorzüglichſten Profaifer, den die Deutfchen den 
Ausländern entgegenzufegen hatten. Er führte die Philoſophie 
aus der Schule ind Leben, in einer Hardurchdachten, wohl- 
geordneten und gejchmadvollen Darjtellung in die gebildeten 
Kreiſe der deutfchen Nation ein. 

Mendelsſohn ift der bedeutendfte Repräfentant der Bopular- 
und Aufklärungsphilofophie, in deren Dienfte er bis zu feinem 
Tode ftand. Als „Atheismus und die albernjte Schwärmerei 
in die beten Herzen und Köpfe Deutfchlands fich einzufchleichen 
anfingen“,“) da machte er noch den legten Berfuch, die ver- 
ichobenen Balken des Syſtems der Schule in ihre Fugen 
wenigſtens noch zurechtzurüden; ex wollte „dem Nade einen 
Schwung geben, um dasjenige wieder emporzubringen, was 
durch den irfellauf der Dinge zu lange war unter die Füße 


) Garve, Sammlung einiger Abhandlungen, II, 65. 
2) Briefe von Garve an Weiſſe, I, 227. 

3) Handſchriftl. 

9 Schr. III, 415. 


— 480 — 


getreten worden;“) e3 war vergeblihe Mühe. Das ganze ehr- 
wiürdige Gebäude des Dogmatismus der Leibniz-Wolffiichen Phi— 
Iofophie war bereit3 zum Sinfen gebracht durch den Königs— 
berger Alten, den „alles zermalmenden“ Kant. 


VBierundadhtzigites Kapitel 
Mendelsfohn und Kant. 


Wie verfchieden ſich die Anfichten und Biele der beiden 
Denker in der Folge auch gejtalteten, durch die Aehnlichkeit der 
Bernunftbefchäftigungen, wie es in dem frühejten Briefe Kants 
an Mendelsfohn heißt, und die Gleichheit des Strebens fühlten 
fie fich in jüngern Jahren enger verbunden. Durch die beider- 
feitige Löſung der von der Berliner Afademie der Wiljenfchaften 
geftellten Preisaufgabe einander näher gerüdt, unterhielten fie 
feit diefer Zeit eine Correfpondenz, welche zur Genüge beweiſt, 
mit welcher Hochachtung Kant dem Verfaſſer des „Phädon“ 
begegnete. 

Es gereichte ihm zu feinem geringen Vergnügen, ihn bei 
fi in Königsberg zu fehen und wiewol gerade nicht ehrgeizig, 
ichlug er es ihm doch fehr Hoch an, daß er feinen Vorlefungen 
beiwohnte; er bedauerte, einen „jo feltenen Mann‘ nicht recht 
genießen zu können. „Ein folder Mann, -von fo fanfter Ge 
müthsart, guter Laune und hellem Kopfe in Königsberg zum 
bejtändigen und täglichen Umgange zu haben,“ Heißt es in 
einem Briefe an feinen Schüler und Freund Markus Herz in 
Berlin, „würde diejenige Nahrung der Seele fein, der ich hier 
fo gänzlich entbehren muß. Ich bitte Sie, mir die Freundichaft 


) Schr. II, 237. 


— 4831 — 


diefes würdigen Mannes ja ferner zu erhalten.“ „Grüßen Sie 
doch Herrn Mendelsfohn von mir auf das verbindlichite,“ Heißt 
e3 in einem andern Briefe an Herz von März 1778, „und 
bezeugen Sie ihm meinen Wunfh, daß er in zureichender 
Gefundheit feines von Natur fröhlichen Herzens und der Unter- 
haltungen genießen möge, welche ihm deſſen Gutartigfeit zu- 
fammt feinem jtet3 fruchtbaren Geijte verichaffen könne.“!) 

Als Mendelsfohn mit den früheften, an Geiftesbligen fo 
reihen Schriften des „Philofophen der Zukunft“ befannt worden 
war, hatte ex bereit3 einen fejten Standpunft eingenommen und 
einzelne Theile des von ihm ergriffenen Leibniz = Wolffiichen 
Syſtems auszubauen begonnen. Hätte er fie auch gefannt und 
durchdrungen, fie würden ihn, den begeifterten Anhänger der 
„Schule“, ſchwerlich bewogen haben, eine Philofophie zu ver- 
Yafjen, in deren Gängen und Formen er ich heimisch fühlte. 

Schon in den „Träumen eines Geiſterſehers“ erkannte 
er, daß Kant der dogmatischen Philofophie nicht mehr ange- 
höre. Er drüdt fein Befremden über den feltfamen Ton 
in der Schrift au und weiß nicht, wie es in feiner Furzen 
Anzeige derfelben in der „Deutjchen Bibliothek” heißt,“ ob der 
Berfaffer die Metaphyfit Hat lächerlich oder die Geifterfeherei 
glaubhaft machen wollen. Kant fteht nicht an, ihm nähern Auf- 
Ihluß zu geben; er fchreibt ihm den 8. April 1766: „Solchen 
Genied wie Jhnen, mein Herr, fommt es zu, in diefer Wiffen- 
Ichaft eine neue Epoche zu machen, die Schnur ganz aufs neue 
anzulegen und den Plan zu diefer noch immer aufs gerathe- 
wohl angebauten Disciplin mit Meifterhand zu zeichnen.“ 3) 

Beim Erjcheinen der Schrift, mit der Kant im Auguft 
1770 jeine Profeffur antrat und in der er die Grundzüge feines 


) Kants Sämmtlihe Werke, XI, 1, 37. 
2) Schr. IV, 1, 529. 
3) Kant, a. a. D. XI, 1, 53. 
Kayſerling, Moſes Mendelsfohn. 31 


— 432 — 


fpätern Syſtems darlegte,!) war Mendelsfohn wegen feines 
Nervenleidens faum im Stande etwas Speculatived von Tolchem 
Werthe „mit gehöriger Anjtrengung durchzudenfen‘; nicht3dejto- 
weniger erhob er al3 Leibnizianer Widerſpruch gegen die An- 
nahme, daß die Zeit etwas blos Subjectives ſei. Mit feinem 
Scharfblid erfannte er fofort, daß „die kleine Schrift die Frucht 
von fehr langen Meditationen und als ein Theil eines ganzen 
Lehrgebäudes anzufehen ift, das dem Berfaffer eigen und wovon 
er vor der Hand nur einige Proben zu zeigen willens ijt“.2) 


Durch die „Kritif der reinen Vernunft“ wurde auch wirkt 
lich in der deutſchen Philoſophie jene Revolution hervorgerufen, 
weiche Mendelsſohn längſt vorausgefagt Hatte Er war zu 
alt und fteif, um an einer folchen Umwälzung, an einem fo 
freien philofophifchen Gange noch Gefallen finden zu Können; 
er „verlangte Dad) und Fach für ſich und feine Familie und 
danfte der weiſen Matrone”, wie er den bauluftigen Kriticis- 
mu3 Kants nennt, „für ihren bauluftigen Vorwitz. Sie mag 
ihn an Kartenhäufern oder Zuftichlöffern verfuchen“.3) Der alte 
Mann wollte ji in dem Gebäude des Dogmatismus, in dem 
er Ruhe fand und auf deffen Grund er feine GSittenlehre auf- 
geführt Hatte, nicht mehr ftören laſſen und Iegte die „Kritik“, 
die noch dazu in einem fchweren und dunfeln Stile gefchrieben 
war, bald aus Händen, ohne fich die Mühe zu geben, ihren 
tiefen Sinn zu ergründen. „Sehr angenehm war e3 fiir mid,“ 
heißt es in dem Briefe an Elife Reimarus vom 5. Januar 
1784, „von Heren Rudolphi zu vernehmen, daß der Herr 
Bruder nicht viel von der „Kritif der reinen Vernunft“ halte. 
Ich für meinen Theil muß befennen, daß ich fie nicht ver- 
itehe ...... Es ift mir alfo lieb, daß ich nicht fonderlich viel 


) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et prineipiie. 
Regiomont. 1770. 

2) Schr. V, 510. 

3) Schr. V, 704. 


— 483 — 


entbehre, wenn ich von dannen gebe, ohne dieſes Werf zu ver- 
ſtehen.“!) 

Daß Mendelsſohn der „Kritik“ ſeine „ſcharfſinnige Auf— 
merkſamkeit“ nicht ſchenken konnte oder mochte, bedauerte nie— 
mand mehr als Kant ſelbſt. Bei dem Einfluſſe, welchen er als 
Wortführer der Aufklärungsphiloſophie übte, erwartete der da— 
mals noch ziemlich unbekannte Königsberger Profeſſor, daß der 
transcendentale Idealismus mehr Beachtung und ſchnellere Ver— 
breitung finden würde, wenn ein Mendelsſohn dafür eintrete. 
Er machte ihm daher nach dem Erſcheinen der „Prolegomenen 
zu einer jeden künftigen Metaphyſik“ den Vorſchlag, falls er ſich 
„nicht weiter mit ſchon zur Seite gelegten Sachen ſelbſt be— 
ſchäftigen wollte“, er wenigſtens ſein Anſehen und ſeinen Ein— 
fluß dazu verwenden möge, eine Prüfung der grundlegenden 
Sätze des Syſtems zu vermitteln, um beiſpielsweiſe zu unter— 
ſuchen, ob es mit der Unterſcheidung der analytiſchen und ſyn— 
thetiſchen Urtheile ſeine Richtigkeit habe, ob der Satz, daß alle 
ſpeculative Erkenntniß a priori nicht weiter reiche als auf Gegen— 
jtände einer möglichen Erfahrung u. dgl. m. Große Hoffnung 
machte er fih von der Erfüllung feines Wunfches nicht. „Men— 
delsſohn, Garve und Tetens fcheinen diefer Art von Gefchäften 
entjagt zu haben,“ heißt es in dem Briefe Kants an Mendels- 
john vom 18. Auguft 1783,?) „und wo iſt noch fonjt jemand, 
der Talent und guten Willen hat, fi) damit zu befafjen.“ 
Mendelsſohn mußte, daß er mit dem „Alles Zermalmenden” in 
den Örundfägen nicht übereinjtimme Die Schaumünze, welche 
er im November 1783 auf Kant entwarf: ein Thurm, der ein- 
zuftürzen fcheint und dennoch alle erjtaunliche Feſtigkeit hat, die 
„Kritif der reinen Vernunft“ mit der Umfchrift: „Drohet, aber 
fällt nicht“,?) ift bezeichnend für feine Auffaffung des Kriticismus. 


) Schr. V, 705 ff. 
2) Kant, a. a. D. XL 1, 37. 
3) Schr. V, 614. 
31* 


— 454 — 


Und doc it Mendelsjohn als Borläufer Kants im wahren 
Sinne des Wortes zu betrachten: in den beiden Hauptpunften der 
Philofophie, in Inhalt und Form, arbeitete er ihm wacker vor. 

Wie er die Sonderung von Gedanken und Anfchauung be 
reit3 andeutet, jo hebt er auch den Unterſchied zwifchen beitän- 
digen und unbejtändigen Erſcheinungen deutlich hervor. „Ad 
glaube, e3 werde fein Vernünftiger in Abrede ftellen, daß es 
wenigjtens zwei verfchiedene Arten von Erſcheinungen gebe, näm- 
lich bejtändige und unbejtändige. Jene haben ihren Grund in 
der innern Beichaffenheit der menschlichen Sinne überhaupt, diefe 
aber in gewiſſen äußern Bufälligfeiten.“!) Es bedarf hier nur 
einer Veränderung der Begriffe und der weitern Meotivirung, 
fo haben wir Kants Unterfcheidung zwifchen „Schein“ und „Er- 
Tcheinung“. 

Die gewöhnliche Wolffiſche Eintheilung der Seelenvermögen 
in Erfenntniß- und Begehrungsvermögen erflärte Mendelsfohn 
für unvollitändig und fügte als ein drittes noch das „Billigen“, 
den Beifall oder das Wohlgefallen hinzu al3 ein Vermögen, das 
zwar der Keim der Begierde, aber nicht die Begierde ſelbſt, 
fondern der Uebergang vom Erkennen zum Begehren, die Ber 
bindung diefer beiden Vermögen durch die feinjte Abjtufung ift.?) 
Wer vermöchte darin ein Vorbild des interefjenlofen Wohlge 
fallend Kants zu verfennen? 

Auch in der Beitreitung des dogmatiſchen Idealismus it 
Mendelsjohn mit Kant einverftanden. Durch die Leibniziide 
Philofophie gelangte er zu der Ueberzeugung, daß wir die Ob- 
jecte der materiellen Borjtellungen nicht unmittelbar exfennen, 
fondern daß wir blos auf ihr Dafein fchliegen. „Ihr fehet 
von felbjt ein, daß durch diefe Gründe blos das Dafein eines 
Objects der materiellen Borftellungen gefchloffen werden kann; 
inwieweit fich aber bei der Darſtellung materieller Beſchaffen— 
heiten das Subjective unferer ſinnlichen Erkenntniß miteinmiſcht 


') Schr. II, 19. 
2) Schr. II, 295. 


— 455 — 


und folche in „Erfcheinungen“ verwandelt, bleibt Hierdurch un— 
entfchieden. In der finnlichen Erfenntniß liegt unftreitig Wahr- 
heit. Aber diefe Wahrheit ift bei ung mit Schein, das Urbild- 
Yiche ift mit dem Perſpectiven verbunden und kann durch unfere 
Sinne nit von demfelben getrennt werden.“t) Er glaubt alfo, 
es läge Wahrheit in dem Sinnlichen, die Sinnlichkeit entdede 
Prädicate, die den Dingen an ſich zufämen. Diefen Idealis— 
mus führte Kant weiter durch, indem er die Erfenntniß der 
Dbjecte an fi) Teugnet und fie blos nad) einer nothwendigen 
Idee in uns vorausfegt; die Sinnenwelt ift, nad) ihm, fein 
Ding an fich, fondern eine bloße „Erſcheinung“. 

Trotz diefer Berührungspunfte, welche Mendelsfohn mit 
dem transcendentalen Idealismus Kants zeigt, war er doch 
von den Felleln des philofophifchen Dogmatismus zu fehr um— 
jtridt, al3 daß er dem Kantſchen Kriticismus, den er für eine 
Wiederbelebung des Humefchen Skepticismus hielt, Beifall zollen 
konnte. Bollftändige Kritif war ihm bei allem Scharffinn fremd. 
Gerieth die Vernunft mit fich felbft in Steit, fo führte er die 
Nachforſchungen auf eine gewiſſe Stufe und ftopfte dann dem 
Frager furz und gut den Mund. „Wenn ic) euch jage, was 
ein Ding wirfet oder Yeidet, jo fraget weiter nicht, was es ilt. 
Wenn ich euch fage, was ihr euch von einem Dinge für einen 
Begriff zu machen Habt, fo Hat die fernere Frage, was diejes 
Ding an und für fich felbjt fei? weiter feinen Verſtand .. .. 
Wir ftehen an der Grenze nicht nur der menschlichen Erfennt- 
niß, fondern aller Erkenntniß überhaupt, und wollen noch weiter 
hinaus, ohne zu wiffen, wohin.“2) 

Buweilen bediente er fih auch des Auswegs, den 
Streit auf eine bloße Modification des Ausdruds zurüd- 
zuführen. „Sie wiffen, wie fehr ich geneigt bin, alle Streitig- 
feiten der philofophiichen Schulen für bloße Wortjtreitigfeiten 
zu erklären, oder doch wenigſtens urſprünglich von Wortjtreitig- 

') Schr. II, 339. | 

2) Schr. I, 29. 


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feiten herzuleiten.“)) Kant ift hierin gerade entgegengefeßter 
Meinung, und behauptet, daß in den Dingen, worüber man, 
vornehmlich in der Philofophie, eine geraume Zeit geftritten hat, 
niemals eine Wortftreitigfeit zu Grunde gelegen habe, fondern 
immer eine wahrhafte Streitigfeit über Sachen; ein Verfahren, 
wie das Mendelsfohns, nennt er „den Durchbruch des Oceans 
mit einem Strohwiſch zuftopfen”. Wenn dann aber Kant dem 
fubtilen Manne das Bejtreben zufchreibt, „allenthHalben Logo: 
machie zu ergrübeln“ und „in Logodädalie zu verfallen“, fo 
fpricht er dem fonjt von ihm Hochverehrten Denker den Exnit 
der Forfhung ungerechterweife ab.?) Hätte Mendelsfohn, wie 
er e3 gewünſcht, „vor feinem ziwanzigjten Jahre einen Kant zum 
Freunde gehabt“ ,3) fo wären feine philofophifchen Leiftungen 
unftreitig von weit größerem Erfolge geweſen; andererfeits würde 
der bejtändige Umgang mit einem Manne wie Mendelsjohn für 
Kant und feine Arbeiten höchſt eriprießlich gewefen fein. Wer 
weiß, ob er nicht durch ihn von der dunfeln Schreibart abge 
bracht wäre und fich des lichtvollen Stil3 befleigigt hätte, den 
er an Mendelsfohn fo ſehr bewunderte. „Es find nur menige 
fo glücklich,“ Schreibt ev ihm am 18. Augujt 1783, „für fi 
und zugleich in der Stelle anderer denken und die ihnen allen 
angemefjene Manier im Bortrage treffen zu können. Es it 
nur ein Mendelsfohn.“?) 


) Schr. II, 341; V, 547. 

2) Kant, in den Bemerlungen zu 2%. 9. Jakobs Prüfung der 
Mendelsfohnihen Morgenftunden (Leipzig 1786), LIV, auch Sämmtl. 
Merfe I, 39%. 

3) Schr. V, 509. 

4) Kant, a. a. D. IX. 1, 42. 


Sechzehntes Bud). 
Mendelsfohns lekter Kampf und Tod, 


Fünfundachtzigites Kapitel. 
Mendelsjohn und Spinoza. 


Die Entdedung Jacobis, daß Leſſing in feinen legten Tagen 
Spinozift gewejen und der darüber entitandene Streit veran- 
laßten Mendelsjohn auf das „Eins und Alles“ Spinozas näher 
einzugehen; in feinem vorgerüdten Alter und leidenden Zuftande 
mußte er wider Willen auf das Syitem zurüdkommen, dem er 
in feinen früheſten philofophiichen Schriften zuerſt Anerkennung 
verichafft Hatte. 

Seinem Vorſatze gemäß, des eigentlichen Streite3 mit Ja— 
cobi in den „Morgenjtunden“ nicht zu erwähnen, den ganzen 
Briefwechjel erſt jpäter, in einem zweiten Theile, zu beleuchten, 
nahm er auf den jpinoziftiichen Pantheismus jet nur ganz im 
allgemeinen Rückſicht, Tuchte ihn aber gleichwol zu widerlegen. 
Zu diefem Zwede ging er von dem erjten Grundbegriffe des 
Syitems, der abjoluten Einheit des ewigen Seins, der Subjtanz, 
aus. Nah Spinvza ijt Gott die einzige Subjtanz, die ſich 
denken läßt, alles Uebrige lebt, webt und ijt nicht außer Gott; 
alle Dinge find nur Modificationen, alle Vorgänge nur Wir: 


— 488 — 


fungen diefer einen Subftanz. Gott und die Welt find ein und 
dasſelbe. Eins ift Alles und Alles ift Eins. 

Der Haupteinwurf, den Mendelsjohn gegen Spinoza führt, 
ift, daß er das Unendliche der Kraft nach mit dem Unendlichen 
der Ausbreitung nad, die intenfive mit der ertenfiven Größe, 
verwechiele, daß er den Inbegriff aller Einzelnheiten zur 
Gottheit mache oder vielmehr aus unendlich vielen endlichen 
Gedanken das Unendliche gleichfam zufammenfege;?) ein Einwurf, 
der den eigentlichen Spinozismus geradezu verfennt. 

Giebt Mendelsfohn dann auc zu, daß nicht der Begriff 
der Subjtanz Spinoza zu feinen irrigen Anfichten geführt habe, 
fo findet er doch, daß in der Erklärung des Wortes felbft eine 
Willkürlichkeit Liege. Er räumt ein, daß eine folche felbitge- 
nügende Subjtantialität allerdings blos dem unendlichen und 
nothiwendigen Wefen zufomme, unterjcheidet aber das „Selbitän- 
dige“ von dem „Fürfichbeftehenden”. „Erfteres ift unabhängig 
und bedarf feines andern Weſens zu feinem Dafein, ift unend- 
fih und nothwendig, Tebteres aber fann in feinem Dafein ab- 
hängig und dennoch als ein von dem Unendlichen abgefondertes 
Weſen vorhanden fein, d. 5. es laſſen fih Wefen denken, die 
nicht blos als Modificationen eines andern Wefens bejtehen, 
fondern ihre eigene Beftandheit Haben und felbft modificirt find.“ ?) 

Mit dieſer mehr den Ausdrud ald die Sache treffenden 
Dijtinction will Mendelsfohn Spinozas Subftanzbegriff von 
allen ihm blos äußerlich beigelegten, fich widerfprechenden Prä- 
dicaten getrennt wiſſen. Bei Spinoza ift alles bloßer Gedante, 
reiner Idealismus, feine unendliche jo angeftaunte Subftanz ift 
gewiffermaßen die Sonne, deren Strahlen nie die Erde berühren; 
e3 giebt für ihn feinen Uebergang vom Unendlichen zum End» 
fihen, von der Einheit zur PVielheit, vom Geift zur Materie; 
über die einzige Subjtanz hat er die Menfchen vergefjen. Das 


') Schr. II, 342. 
2) Schr. II, 348. 


— 489 — 


eben iſt es, was Mendelsfohn ihm beſonders zum Vorwurf 
macht, daß er das Formale, die reale Welt, der Ideen wegen 
außer Acht gelafien habe. „Spinoza hat blos die Quelle der 
Materie angewiefen. Wo follen wir aber die Quelle der Form 
fuhen? Wodurd) erhält der Körper feine Bewegung, der orga= 
nifirte Körper feine Bildung, d. i. feine planvolle und regel- 
mäßige Bewegung, und jeder andere Körper feine Figur? Wo 
fann der Ursprung hiervon anzutreffen fein? Nicht im Ganzen, 
denn das Ganze hat feine Bewegung. Das Sämmtliche aller 
Körper, in eine einzige Subjtanz vereinigt, kann den Ort nicht 
verändern und hat weder Drganifation noch Figur. Alfo in 
den Theilen. Mithin müfjen die Theile auch ihr abgetheiltes 
Dafein haben, und das Ganze ein bloßes Aggregat aus den- 
ſelben fein.“!) 

Das Mangelhafte des Syſtems zeigt ſich demnach in zweierlei 
Rückſichten. Sowol in Abficht auf die Körperwelt als auf die 
denfenden Weſen berüdfichtigt Spinoza blos das Meateriale, nicht 
aber das Formale. Eine reale für fich beftehende Welt ift bei 
Spinoza nicht zu finden, das Princip des Realismus ijt ihm 
gänzli fremd. Die Welt an fich ift nach Spinoza nichts, fie 
flieht gleichfam in Gott zurüd, wie Gott aus fich in die Welt 
flieht, oder wie Mendelsfohn ſich ausdrüdt, „Spinoza verſetzt 
bald Gott zu bildlich in die Welt, bald die Welt zu bildlich in 
Gott.“?) Beides, Gott und'die Welt, mußte, al3 für ſich be- 
jtehend, von einander gelöjt werden, und in diefem Sinne jtellte 
Mendelsfohn feinen geläuterten PBantheismus in dem jchönen 
Bilde auf: „Mein Pantheismus gleicht einer zweiföpfigen Hydra. 
Einer diefer Köpfe führt die Ueberfchrift: „Alles iſt Eins‘; der 
andere: „Eins ift Alles“. Ahr müfjet beide zugleich abjchlagen, 
wenn ihr das Ungeheuer tödten mwollt.‘“3) 


1) Schr. II, 344, m. f. hierzu den Brief Mendelsjohna an Leſ— 
fing, V, 176 f. 

2) Schr. II, 360. 

3) Schr. II, 352. 


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Spinoza fagt: Alles iſt Eins, Gott ift auch die Welt; der 
geläuterte Pantheiſt jpricht: Gott und die Welt. Das Unend- 
liche, behauptet diefer, hat alles Endliche, Eins das Viele zur 
Wirklichkeit gebracht; jener Hingegen: das Unendliche umfaft 
Alles, iſt ſelbſt Alles, it Eins und zugleich Alles; denn fo 
wenig das Viele ohne das Eine vorhanden fein fann, eben fo 
wenig kann nad) Spinoza das unendliche Eins ohne Alles 
eriftiren. Sp trennt Mendelsfohn Gott von der Natur, der 
Welt, fchreibt Gott ein außerweltliches, der Welt ein außergött- 
liches Dafein zu, und jtellt einen Pantheismus auf, der nidt 
auf Atheismus hinausläuft, der vielmehr mit der Religion und 
der Sittenlehre im Einklang jteht.!) 

Diefen geläuterten Spinozismus führt Mendelsfohn auf die 
Behauptung zurüd, daß alles, als Vorſtellung Gottes, in Gott 
jei; damit foll aber weder der Realität der Körperwelt, nod 
dem abgejonderten Selbjtbewußtjein des Menfchen, noch feiner 
endlofen "Fortdauer, noch dem Leibnizischen Sate von der vor: 
herbejtimmten Harmonie zu nahe getreten werden.) Was 
Mendelsfohn Spinozismus nennt, ift im Grunde nichts als das 
Leibnizifche Syftem mit jener Zuthat des Pantheismus, den 
man allerdings bei Lefjing findet, wie denn Mendelsfohn den 
Freund auch zum Verfechter des geläuterten Pantheismus madt 
und als Beleg dafür das „Chriſtenthum der Vernunft“, jene 
in der Jugend verfaßte Abhandlung macht, davon er ihm gleich 
zu Anfang ihrer Belanntichaft das Wefentliche vorgelejen Hatte. ?) 
Gott ift Leſſing das allervollfommenfte Wefen; er hat von Ewig— 
feit her nur fich felbjt denken können. Zwiſchen Leffing und 
Spinoza ijt, fo unverkennbar jener diefem ſich auch nähert, nod) 
immer ein großer, tiefgreifender Unterfchied. 

Bwifchen Mendelsfohn und Jacobi lag eine zu große Kluft, 
als daß ſie fich noch hätten verjtändigen können. Diefem exfchien 

1) Schr. II, 357; I, 207. 

2) €. Zeller, a. a. D., 346. 

s) Schr. II, 369 ff. 


— 491 — 


Spinoza gleich Leibniz und Wolff, jenem Leibniz und Wolff 
gleich Spinoza; diefer vertheidigte den Theismus der Vernunft, 
jener den Theismus des Gefühls; diefer wollte Glauben und 
Wiſſenſchaft in Moral, jener Moral und Wiffenfchaft in Glauben 
berivandeln. 

Durch den Jacobi-Mendelsſohnſchen Streit wurde ein gründ- 
licheres Studium des Spinoza herbeigeführt und die ganze phi- 
loſophiſche Richtung in neue Bahnen gelenft. 

Wer war froher als Mendelsjohn, als er die „Morgen- 
ſtunden“ endlich gedruckt vor jich fah. Die Arbeit Hatte ihn fo 
angegriffen, daß ex fi) gern eine Erholung günnte, 


Sechsundachzigſtes Kapitel. 
Die kurländiſchen Freundinnen. 


Die Herzogin Dorothea von Kurland, die Tochter des Reichs— 
grafen Zohann Friedrich von Meden, und ihre unglüdliche Schweiter 
Elife von der Rede, eine zur Schwärmerei geneigte und durch 
den Abenteurer Caglioftro ſchmählich betrogene Frau, Ternten 
während ihres zeitweiligen Aufenthaltes in Berlin im Herbite 
1785 duch Nicolai auch Mendelsfohn Fennen. Bald fchäßten 
fie fich glücklich, den Tiebenswiürdigen Philoſophen öfter in ihrer 
Nähe zu haben. Das Geſpräch, das ex bei feinem erften Zu- 
fammentreffen mit diefen intereffanten Frauen führte, hatte die 
Unsterblichkeit der Seele zum Gegenftande. 

Am 3. Detober 1785 machte Mendelsfohn in Begleitung 
Ramlers eine Spazierfahrt nach dem ein paar Stunden von 
Berlin entfernten Friedrichsfelde, um der dort rejidirenden Her- 
zogin den versprochenen Beſuch abzuftatten. Früher als fie 
erwartet Hatte, trafen die beiden Gelehrten am Furifchen Hofe 
ein. Die Herzogin war mit ihrer Toilette befchäftigt und gab 


— 412 — 


der gerade anweſenden Freundin und Reifebegleiterin ihrer in 
Berlin zurücdgebliebenen Schweiter den Auftrag, die willfommenen 
Säfte einftweilen im Schloßgarten umherzuführen. Sie Iuft 
wandelten in dem herrlichen Park, bis fie bei einem Platze, 
wo Prinz Ferdinand eine große Allee hatte umbauen laſſen, 
jtehen blieben. Die anmuthige Führerin, welche in der Geſell— 
ſchaft diefer geiftvollen Männer Gott und feine Welt Lebhafter 
al3 ſonſt zu fühlen glaubte, brach nicht ohne Zagen das Schwei— 
gen: „Mir, fommt das Niederhauen eine großen ſchönen Baumes 
beinahe wie ein Mord vor, ein jo wichtige Product der Natur 
fheint mir der Baum zu fein.” Ramler erinnerte fich Hierbei 
einer Idylle Geßners, welche die Gefchichte enthält, daß ein 
Schäfer dafür beforgt ift, einem Baum, dem das Waffer an die 
Wurzel greift, jo zu verwahren, daß er nicht nur gefchüst ift, 
fondern auch noch feinen Wuchs fortjegen kann, und dafiir fegnet 
ihn . die Dryade des Baumes in feiner Herde. Mendelsſohn 
war damit nicht zufrieden, daß der Dichter für die Erhaltung 
des Baumes außer der innern Belohnung durch das Bemwußtfein 
der guten That noch Wohlftand verheiße und gleichfam die 
Tugend zu einer feilen Dirne mache. 

Sophie Beder, fo hieß die Begleiterin, war die Tochter 
und Schweiter furländifcher Pfarrer, eine begabte Schriftftellerin, 
deren „Gedichte und „Briefe einer Kurländerin“ ihr Gatte, der 
Gerichtsdirector J. 2. Schwarz, nad) ihrem frühen Tode er- 
Iheinen ließ. Als Sophie im Alter von einunddreißig Jahren 
Mendelsjohn kennen lernte, befand fie ſich gerade in der Periode 
des Zweifelns. Ihre Seele war von fo mancherlei dunfeln Vor— 
jtellungen und von fo verfchiedenen Gefühlen bewegt, „daß fie 
fi) irgendwo ergießen mußte“. Mendelsſohn erſchloß fie ihr 
ganzes Herz, er wurde ihr „theuerjter Freund“, fie ihm die 
„theuerjte Sophie“. Er war der erjte, wie fie in ihrem Briefe 
an ihn verfichert,!) von dem fie glaubte, er würde fie verftehen, 


1) Schr. V, 645 f. 


— 493 — 


oder da, wo fie fich ſelbſt nicht verjteht, Licht Hinhalten können. 
Sn Betrachtungen über Menſchenſchickſal verfunfen, fühlte fie in 
ihrem Herzen eine Leere und war fich ſelbſt ein Räthſel: fie 
konnte den Gedanken „Gott“ nicht mehr faffen und nur „bei der 
Betrachtung der Natur und der mannichfaltig wirkenden Kräfte 
in derfelben bewundern, erjtaunen und verſtummen“. Ihre Ge- 
bete waren nicht mehr Worte, jondern blos noch Gefühle, die 
durch Thränen ſich ausdrücdten; für den öffentlichen Gottesdienft 
hatte fie feinen Sinn mehr. „So jieht e3 in meiner Seele aus, 
theuerfter Freund; nur Shnen lege ich fie offen dar,“ heißt e3 
in dem erwähnten Briefe. „Rathen Sie mir, auf welche Art 
ic) es anfange, meinem Herzen den Gott näher zu bringen, den 
mein Berjtand im Sandkorn wie in der Sonne anbetet.“ „Wenn 
Sie Geduld genug haben, theuerjte Sophie! meine ‚Morgen- 
ftunden‘ durchzulefen,“ antmortete er ihr, „jo werden Sie aud) 
die Stelle bemerft haben, wo id) von der Schwierigkeit handele, 
die Erhabenheit Gottes in der ftärfjten Verbindung mit deſſen 
allbarmherziger Herablaffung zu denken, und unferem Leffing ein 
großes Verdienft um diefe wichtige Wahrheit zufchreibe. Mich 
dünkt, Sie befinden fich jeßt in dem Falle, da Ihnen diefe Er- 
wägung gute Dienfte leiften fann. Mit Ihrem Kopf und Ihrem 
Herzen werden Sie feine fonderliche Anjtrengung brauchen, diefe 
Lehre in ihrem ganzen Umfang zu fallen, und wahren Troft 
und Beruhigung zu finden.‘“t) 

Mit diefer Tiebenswürdigen kurländiſchen Freundin der 
Skepſis, der die Unterhaltung mit Mendelsfohn Balfam mar 
und fie zur veifern Prüfung jtimmte, mit diefer „theuerjten 
Sophie”, welche den legten Eöjtlichen Brief, den das Herz des 
Philofophen dictirte, als ein „heiliges Depoſitum“ bemwahrte, 
durchſtrichen Mendelsfohn und Ramler den Schloßgarten, bis die 
Herzogin felbjt erſchien. Im traulichen Geſpräche vergingen die 
Morgenftunden. Als die Gäfte zum Speifen gerufen wurden, 





') Schr. V, 649. 


— 494 — 


entfernte ſich Mendelsſohn jtillichweigend. Er ging ins Wirths— 
haus, wo er fich ein frugales Mahl bejtellt Hatte, denn — es 
find das Sophiens Worte — aus einem gewiß ſehr ehrwir- 
digen Grunde läßt ſich diefer philoſophiſche Mann nie zu den 
Mahlzeiten der Chriſten laden. 

Um Mendelsſohns Gefellihaft nicht lange zu entbehren, 
hob die Herzogin die Tafel bald auf; er kehrte zu den Freun— 
dinnen zurüd, Ramler wurde aufgefordert etwas zu Iefen, und 
da gerade Nathan der Weife auf dem Tiſche lag, fo wählte er 
etwas daraus. Während die Herzogin und Sophie von den 
Wahrheiten jeiner Gedanken oder von dem trefflichen Charakter 
des Nathan zur lauten Bewunderung Hingeriffen wurden, ſaß 
Mendelsfohn mit verjchloffenem Munde da; feine Seele fdhien 
ſich blos in das Auge zurüdgezogen zu haben. 

Um die ernjte Empfindung fanfter zu ftimmen, trat endlid 
die Herzogin and Klavier und fpielte eine feelenvolle Arie. 
Am Schlufje derjelben empfahl ſich Mendelsfohn, indem er mit 
glänzenden Augen verficherte: „Sch Habe heute mit dem Geifte 
geichwelgt.“t) 

Er hatte einen glüdlichen Tag verlebt, fo glücklich, wie ihm 
nur noch wenige bejchieden waren. 

Als Sophie mit Elife von der Rede wenige Tage fpäter 
Mendelsfohn einen Beſuch abftatteten, da wurde über nichts als 
über Leffing gefprochen und zwar, wie Sophie bemerft, durd 
Beranlafjung der ganz neuerlich) angefommenen Briefe des Ge— 
heimraths Jacobi an Mendelsjohn.?) 





!) Briefe einer Kurländerin II, 172. Bor hundert Jahren. Eliſe 
von der Nedes Reifen durch Deutichland nah dem Tagebuche ihrer 
Begleiterin Sophie Beder (Stuttgart), ©. 193. 

2) Bor hundert Jahren, S. 196. 


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Siebenundacdhtzigites Kapitel. 
Mendelsjohn und Sacobi. 


Die „Morgenftunden‘ hatten Pempelfort noch nicht erreicht, 
fo war auch ſchon von Jacobi eine Schrift bei Mendelsfohn 
angelangt. Das Padet hatte fi) mit den „Rabbinifchen Vor— 
lefungen“, wie es in einem Briefe Jacobis an Goethe Heißt, ') 
gefreuzt. Ohne das Erfcheinen des Buches, das Mendelsjohn 
ihm nie in der Handfchrift, fondern nur vollendet und gedrudt 
vorlegen wollte, exit abzuwarten, Hatte er aus Furcht, der 
Gegner könne die ftreitigen Punkte unrichtig darlegen, den 
ganzen zwifchen Elife Reimarus, ihm und Mendelsfohn geführten 
Briefwechfel ohne Vorherwiſſen und Erlaubniß veröffentlicht und 
das ihm von Leffing anvertraute Geheimniß der ganzen Welt 
verrathen. 

Jacobis Schrift „Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen 
an den Herrn Moſes Mendelsfohn,“ 2?) welche fi) den 8. October 
bereit3 in des legtern Händen befanden, war eine Compofition 
der wunderlichjten Art, der ganze Jacobi wie er leibt und lebt. 
Mit den Briefen an Mendelsfohn und Elife verband er die Ge- 
Ichichte der Briefe und zugleich die Gefchichte, warum diefelben 
veröffentlich wurden. Die ihm gefchicten „Erinnerungen“ hatte 
der „delicate Mann“ wohlweiglich nicht mitabdruden laſſen. Die 
Sätze, welche er zu beweifen unternahm, waren: „Spinozismus 
iſt Atheismus.” „Die Kabaliſtiſche Philofophie ift, als Philo- 
fophie, nicht3 anderes al3 unentwidelter oder nur verworrener 
Spinozismus.“ „Die Leibniz-Wolffiihe Philofophie ift nicht 
minder fataliſtiſch als die Spinoziftifche.“ „Jeder Weg der 
Demonftration geht in Fatalismus aus.“ „Wir können nur 


) Briefwechjel zwijchen Goethe und F. H. Jacobi. Herausgegeben 
von Mar Jacobi (Leipzig 1846), 101. 
2) Breslau 1785; neue Ausgabe, ibid. 1789. 


— 419% — 


Aehnlichkeiten demonftriren, denn Demonftration ift Fortfchritt 
in identifchen Säben, und jeder Erweis ſetzt etwas ſchon Er- 
wieſenes zum Voraus, wovon das Princip Offenbarung ift.“ 
„Das Element aller menfchlichen Erkenntniß und Wirkſamkeit ift 
Glaube“. ?) 

Um die Tactlofigfeit fich felbft nicht zu gejtehen, nimmt der 
glaubengjtarfe Mann in diefer mit Sophismen und Autoritäten 
gewürzten Polemik einen anmaßenden Ton an und fchaut mit 
geringfhätiger Miene auf den Juden herab. Mendelssohn 
fürdhtete, „die Philofophie Hat ihre Schwärmer, die ebenfo un- 
geftiim verfolgen und faſt noch mehr auf das Proſelytenmachen 
jteuern al3 die Schwärmer der pofitiven Religion;“ er und Ni- 
colai fahen gleich anfangs in Ddiefem ganzen Vorgehen ein 
Complot der Lavaterfchen Partei.) Er war aufs ſchmerzlichſte 
davon ergriffen. „Was dünkt Ihnen zu dieſem fonderbaren, 
windfchiefen Betragen?“ fragt er Nicolai gleih nad) Empfang 
von Jacobis Schrift.?) Die ganze Verfahrungsart war ihm fo 
fremd, daß er ihr gar feinen Namen zu geben wußte. „Sit es 
Unbefonnenheit, Schwachheit oder böfer Wille? Will Sacobi 
heucheln oder fchwärmt er in der That? Will er den Atheismus 
oder den blinden Glauben predigen? Ach mag annehmen, was 
ich will, fo bleibt mir noch manches in feinem Betragen uner- 
Härbar.“*) „Es Tiegt fo etwas verfchobenes, fo etwas ver- 
widelte® in dem ganzen Betragen diefes Mannes,“ fchreibt er 
den 21. October 1785 der „verehrungswürdigen Freundin“, 
welche in ihrer Herzensgüte fich jelbjt einen Theil der Schuld 
aufbürdete, „darein ich mich nicht finden fann. Warum ift er 
anfangs fo vertraulich, um hernach, ohne Grund und Urfad, 
jo argwöhnifch zu fein? Sit feine Eigenliebe fo zündbar, warum 
fommt er dem Feuer fo nah? Warum ift er von der einen Seite 


) Ueber die Lehre des Spinoza, 223 ff. 

2) Schr. V, 638. Bor hundert Jahren, ©. 196. 
3) Schr. V, 634. 

9 Schr. V, 641. 


— 497° — 


fo fef, um von der andern fo furchtfam zu fein? ftößt feinen 
Nebenmenſchen ins Feuer und flieht? reißt andern die Maske 
oder wol gar die natürliche Haut vom Geficht, um feine eigene 
Larve undurddringlicher zu machen. Sch Liebe den Umgang 
mit folchen Leuten nicht und bin feſt entjchloffen, allen Privat- 
Brieftwechfel mit Herrn Jacobi von nun an aufzuheben. Was 
wir ung einander zu fagen Haben, foll öffentlich gejchehen.‘') 

Mendelsfohn war im höchſten Grade erregt. „Ach Gott! 
daß ich gerade jebt fo jehr vom Schwindel geplagt fein muß!“ 
ijt feine häufig wiederkehrende Klage. Er war feſt entjchloffen 
zu antworten; Sacobi follte die Wahrheit hören, und das An— 
denfen Leſſings mußte in Schuß genommen werden. Erſt wollte 
er jedoch reiferer Heberlegung Raum geben und fi) von ein- 
fihtsvollen und rechtichaffenen Männern „ihre Gedanken ausbitten“. 

Er fchiete die „Morgenstunden“ den 16. October 1785 an 
Profeffor Kant in Königsberg und an den Hofrath Zimmermann 
in Hannover; letzterem empfahl er die Materie der ſtrengſten 
Kritit, die Form aber der gütigen Nachſicht. „Der Verfaſſer 
des clafjichen Werkes ‚Ueber die Einfamfeit‘ muß wiſſen,“ heißt 
ed in dem Briefe, „daß das Beleden der jungen Gedanken der 
Mutter fo fauer wird al3 das Gebären. Das Ausbilden und 
Bollenden erfordert eine zweite Anjtrengung, und adj! ich bin 
faum der erjten noch fähig, die zum bloßen Berichtigen gehört.‘ ?) 
Profefjor Garve in Breslau, der die „Morgenstunden“ ebenfalls 
erhielt, erjuchte er diefelben in einer müffigen Stunde durchzu- 
leſen, dann auch Jacobis Schrift „Ueber die Lehre des Spinoza“ 
zu prüfen und ihm „feine aufrichtigen Gedanken über das Be- 
tragen dieſes Mannes“ mitzutheilen. ?) 

Ale billig denfenden, duch Freundichaft für Jacobi nicht 
geblendeten Männer erklärten fich für Mendelsfohn. 


) Schr. V, 728. 
2) ©. Mein: Mojes Mendelsjohn. Ungedrudtes und Unbekanntes, 
©. 19. 
3) Schr. V, 641. 
Kanferling, Mojes Mendelsfohn. 32 


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| „Diefe Nacht, mein Theuerjter,” jchreibt der alte Gleim 
den 13. November 1785 an Herder, „las ic) Mendelsfohns 
Morgenftunden, und freute mich Herzlich darüber, daß ich alles 
von Leſſing gejagt jo fand, wie ich es gejagt oder Hätte fagen 
mögen. Mendelsfohn ift doch ein Mann Gottes! Herder follte 
ihn jparen zur Schilderung feines nähern Freundes, wie Herder 
Leflings Freund war! Mein Leffing Atheift! Wer ſagt's? Wer 
gab’3 zu leſen? Jacobi! Gott erbarm’s! Wär’! Goeze noch 
gewefen.“ 1) 

„Unter meiner neuesten Lectüre nehmen ſich Moſes' und 
Jacobis Schriften aus,“ Heißt es in einem Briefe Garves an 
Weiſſe. „Jenes ift Licht, diefes Finſterniß. Die Metaphyfif des 
einen, wenn auch nicht immer neu, noch immer überzeugend, ijt 
immer deutlich und belehrend; die des andern, die außerordentlich 
neu fein ſoll, ift theils unverſtändlich, theils zwedlos!”2) „In 
der That iſt mir die Jacobiſche Schrift ſehr aufgefallen,“ ſchreibt 
derſelbe an Zollikofer. „Erſtlich was hat Jacobi nöthig, Leſ— 
ſingen vorzuſchieben, wenn er überhaupt den Spinozismus er— 
örtern will. Ueberdies ſollte Jacobi einen Brief, der blos zur 
Belehrung Mendelsſohns beſtimmt war, nicht drucken laſſen, 
ohne dieſen erſt deshalb zu fragen.... Was für eine ganz 
andere Wrbeit iſt Mofes feine! Das Licht, das dem Leſer aud) 
aus den abgezogenjten Speculationen entgegenjtrahlt, macht 
alles nicht nur leicht, ſondern auch interefjant. Die Bücher 
dieſes Mannes find zur Uebung des Denkens vortrefflich.‘3) 

Ganz anders Yautete das Urtheil der Freunde des ſchwär— 
merifchen Sacobis, der Glaubensliebhaber, und aller derjenigen, 
welche dem Juden die Ehre mißgönnten, die er allgemein genoß. 
Shnen ſchien Jacobi engelvein, grundehrlich; „eine Sache fo aut, 
fein Handel jo rein, fein Spiel fo groß“. 


) Bon und an Herder I, 114. 
2) Briefe von Garve an Weifje (Berlin 1808), I, 232. 
3) Briefwechjel zwiſchen Garve und Zollifofer (Berlin 1804), 373. 


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Hamann winfchte feinem Freunde „die größte Kaltblütig- 
feit gegen alle Eonföderirten und Gecundanten des Rabbi zu 
Berlin“, und bildete fic ein, der erſte gewefen zu fein, der den 
„Rabbi Mofes auf die Sprünge gebracht, mit feinen Vorlefungen 
herauszurüden“. Er ftachelte Jacobi auf, „den beiderfeitigen 
Erzfeind die ganze Lection nicht zu Ende leſen zu laſſen, und 
hoffte, über die Borlefungen die Epijtel zu Halten und den 
Metten eine etwas ſehr jtarfe WVesperlection entgegenzujegen‘. 1) 

Auf Seite Jacobi ftanden, wie fich leicht denfen läßt, alle 
feine damaligen Freunde, befonders Lavater, Herder und Goethe. 
Nahm doch jeder mehr oder weniger Intereſſe an einem Streite, 
der den von fanatiſchen Pfaffen verfegerten Leffing und den jegt 
zu neuem Leben erftandenen Spinoza betraf, und durch den, wie 
Johannes von Müller mit Recht behauptet,?) die wichtigften 
Unterfuchungen über den Spinozismus recht rege geworden waren. 


Wo war Herders Freundichaft für Mendelsfohn geblieben? 
Daß diefer die „Ideen zur Philoſophie der Gefchichte” kühl be— 
urtheilt und gegen den preußifchen Gefandten Kammerherrn von 
Sedendorff offen darüber gefprochen Hatte, das konnte der eitle 
Mann ihm nicht verzeihen. „Denk Dir, Lieber,“ berichtet Her- 
der den 25. Februar 1785 feinem Herzensbruder Lavater und 
an demfelben Tage auch Hamann, „Sedendorff kommt von Berlin, 
hat mit Mendelsjohn auch über die Ideen gefprochen und weißt 
Du, was diefer fürchtet? Daß es zuletzt auf Schwärmerei hinaus- 
gehe und oben ein Flämmchen brennen werde, das nicht für 
ung ijt.“?) 

Eigenthümlich benahm er fi) aud in diefem Streite. 
„Mendelsjohn ift zu alt,“ äußerte ex gegen Hamann, „und ein 
zu elajtifcher Philofoph der deutichen Nation und Sprache, als 
daß er fich belehren Yieße, und ein zu pfiffiger Ebräer, als daß 


') Jacobis Werte IV, 3, 42, 112. 

2) Kohannes von: Müllers Werke, B5.'38, ©. 82, 

) Hamanns Edhr., VII, 226; Aus Herders Nachlaß, II, 268. 
32* 





— —0—— 


ein ehrlicher Chriſt mit ihm auskäme. . . . Es iſt ſonderbar, 
daß in dem alten Manne der verſteckte Haß gegen die Chriſten 
von Tag zu Tag mehr hervorzutreten jcheint; denn allenthalben 
bringt er die Chriſten al3 geborene oder wiedergeborene Schwär- 
mer ins Spiel und mit diefer geheimen bitterjten Intoleranz it 
alles Disputiren am Ende. In feinen „Morgenjtunden“ hat 
er feinen Schatten von Leffing jo aus dem Gefechte zu bringen 
gefucht, daß er durch diefe Verrüdung der Sterne jchon ge 
wonnen Spiel hat.“!) Herder hatte einen giftigen Neid auf 
alles Gute und, wie gegen Kant und die neuern Philofophen, 
au gegen Mendelsjohn das größte Gift auf dem Heyzen.’) 

Und Goethe? Sein Bufenfreund Jacobi wünfchte, daß er 
thätigen Antheil an dem Streite nehme. Goethe, jet zuerſt auf 
Spinoza geführt, fchwieg; er war mit der Polemif des „lieben 
Bruders“ gar nicht zufrieden; er tadelte feine Form nicht weniger 
al3 feine Anfichten. „Wenn die Gegner,“ fchrieb er ihm, „mur 
halb Klug find, fo machen fie auf den Yanghalfigen Berfafier 
Sagd, der in unendlicher Selbftzufriedenheit aus den Büſchen 
herausfieht und im Schatten fich jeiner Superiorität über Elſtern 
und Raben erfreut, und fie haben das ganze Publikum auf 
ihrer Seite. Wenn Selbjtgefühl ji in Verachtung ambderer, 
auch des geringiten ausläßt, muß es widrig ausfallen. Ein 
feichtjinniger Menfch darf andere zum beiten haben, erniedrigen, 
wegwerfen, weil ex fich felbjt einmal preisgiebt. Wer auf ſich 
etwas hält, fcheint dem Nechte entfagt zu haben, andere gering 
zu ſchätzen. Und was find wir denn alle, daß wir uns viel 
erheben dürfen.“ ?) 

Ließe fich bei einem folchen Urtheile nicht erwarten, dab 
er auch gegen den übel mitgefpielten Mendelsfohn zum mindeften 
gerecht fei?. Aber, fein; tiefwurzelnder Judenhaß Tpricht fic in 


) Jacobis Werfe IV, 3, 145; damanns Briefwechſel mit Jacobi 
(Gotha 1868), S. 195. 

2) Briefwechfel zwiſchen Shiler und — III, 28. 

3) Briefwechjel zwiichen Goethe und Fr. H. Jacobi,. 104. 


— 501 — 


jeder Beile aus, welche ex über ihn niederfchrieb. „Was Haft 
Du zu den ‚Morgenjtunden‘ gejagt?“ fchrieb er Sacobi den 
1. December 1785. „Und zu den jüdifchen Pfiffen, mit denen 
der neue Sokrates zu Werfe geht? Wie Flug er Spinoza und 
Lefjing eingeführt Hat? D Du armer Chrifte, wie jchlimm wird 
e3 Dir ergehen! Wenn er Deine jchwirrenden Flüglein nach und 
nach umfponnen haben wird!) 

Der Jacobi-Mendelsſohnſche Streit wurde immer uner- 
quidlicher; von allen Seiten ftürmten die Gegner auf Mendel3- 
fohn und feine Schrift ein. 

Kant, welcher die „Morgenftunden“ für das „lette Ver— 
mächtniß der dogmatifirenden Metaphyfif und zugleich für das 
vollftommenste Product derfelben, für ein nie von feinen Werthe 
verlierendes Denkmal des Verfaſſers“ erklärte,?) Hatte fi an- 
fangs vorgenommen, „mit aller Kälte ſich in einen Gang mit 
Mendelsſohn einzulafjen‘‘; nad) veiflicher Ueberlegung fam er 
davon ab. Später veranlaßte er feinen Sünger, den Pro— 
fefjor Ludwig Heinrich Jakob in Halle, zu einer „Prüfung der 
Mendelsfohnichen Morgenjtunden‘3) und fchrieb eine gegen die— 
felben gerichtete Abhandlung, welche der Jakobſchen Schrift als 
Empfehlung vorgedrudt ift. 

Noch ein anderer Anhänger Kants trat gegen die in den 
„Morgenjtunden‘ aufgeftellten Ariome und den darauf geführten 
Beweis für das Dafein Gottes rückſichtslos auf: Samuel Hei- 
nife, der Begründer des Taubftummenunterrichts in Deutjchland, 
ließ ſich unwirfc über Mendelsfohn aus. *) 

Unberufen, „al Freiwilliger”, brach) Theodor Wizemann für 
feinen Freund Jacobi die Lanze und fchleuderte in feinen „Re— 
fultaten der Sacobi und Mendelsſohnſchen Philofophie” Die 


) Briefmechjel zwijchen Goethe und Fr. 9. Jacobi, 95. 

2) Jenaer Literatur-Zeitung, Januar 1786. 

3) Leipzig 1786. 

4) Nach Kantijcher Manier aufgelöfte Ariomen von Mojes Mendels: 
fohn. Göthen 1787. 


— 502 — 


giftigften Pfeile gegen den jüdischen Philoſophen. Dieſer bald 
nachher gejtorbene junge Mann, der in Gefinnung und Denk 
weife Hamann noch viel näher als Jacobi ftand, ſcheute fich 
nicht zu behaupten: Mendelsfohn erſcheint Hein, tücifch, ohn- 
mächtig-ſtolz, ängſtlich bekümmert den rechten Gefichtspunft zu 
verfehlen, Hämifch gegen Wahrheit und Chriſtenthum.“ 


Achtundachtzigſtes Kapitel. 
An die Freunde Lelfings. 


Jacobi hatte durch den unbefonnenen Streich, durch die 
indiscrete Veröffentlichung des Briefwechſels Mendelsfohn aufs 
tiefite verlegt. Mehr als das gegen ihn gehegte Mißtrauen, 
daß er ihn in den Verdacht des Atheismus bringen würde, 
fränkte ihn, daß er „Gotthold Ephraim Lefjing, den Heraus- 
geber der Fragmente, den Verfaſſer des Nathan, den großen 
beiwunderten Bertheidiger des Theismus und der Bernunftreligion 
als Spinozijten, Atheiften und Gottesläfterer angeklagt“, daß er 
feinen beiten Freund zum Heuchler gejtempelt hatte. Er war 
entrüjtet wie noch nie und raffte ji) auf zur Bertheidigung und 
Ehrenrettung feines todten Freundes. 

Troß feiner außerordentlichen Schwäche, jeiner tiefen Ab- 
neigung gegen alle Streitigkeiten entfchloß er fich zu einer öffent- 
fihen Entgegnung; er war es der Freundichaft und feinem 
Glauben ſchuldig und fo entjtand die Flugfchrift „An die Freunde 
Leſſings. Ein Anhang zu Herrn Jacobis Briefwechjel über die 
Lehre des Spinoza.“!) 

Durch die Fehde mit Jacobi war der ſonſt fo milde und 
feidenfchaftslofe Mann in eine gereizte Stimmung verjegt. Mit 


1) Berlin 1786; Schr. III, 1-36. 


— 503 — 


ungewöhnlicher Lebhaftigfeit beſprach er die Angelegenheit mit 
Engel und andern Freunden oft noch in fpäten Abenditunden; 
er war von der Sache feines Leſſings jo voll, daß er den alten 
Gleim, in deſſen Gartenhaufe jener das Ev xai zeav als den 
Snbegriff feiner PhHilofophie wenige Monate vor feinem Tode 
an die Wand gefchrieben haben foll, bei feiner Anweſenheit in 
Berlin im November 1785 dringend erfuchte, einen Abend im 
Gaſthofe für ihn zu fparen, weil fie in feinem Haufe gejtört 
würden, um fich einmal darüber auszufprechen.?) 

E3 war Mendelsjohn weniger darum zu thun, den Pan— 
theismus Spinozas zu widerlegen oder Jacobi von feiner An- 
ficht zu überzeugen, als Leſſing gegen die Beichuldigung des 
Spinozismus und Atheismus in Schuß zu nehmen. Er wollte 
die Gründe und Gegengründe vor den Augen des Publikums 
darlegen, die Gefchichte feines Briefwechjels mit Jacobi ergänzen 
und die nöthigen Anmerkungen Hinzufügen. 

Daß Leffing der Lehre des Juden Spinoza angehangen, 
hatte für Mendelsfohn nichts fonderlich Befremdliches, ihn ver: 
legte, daß Jacobi ihn als „Schalen Atheijten, nicht aus der 
Schule eines Hobbe3 oder eine Spinoza dargejtellt, jondern 
irgend eines kindiſchen Witzlings, der fich eine Freude macht, 
das mit Füßen von fich zu ftoßen, was feinen Nebenmenjchen 
jo wichtig und fo theuer ift.“2) Ihn fchmerzte, daß Jacobi in 
ftolzer, vornehmer Weberhebung das Verhältniß zwifchen ihm 
und Leſſing jo darftellte, al3 ob dieſer gar nicht fein Freund 
gewejen wäre, ihn wenigjtens nicht feines ganzen Vertrauens 
gewürdigt hätte. Jacobis Beftreben zielte in der That darauf hin, 
Mendelsfohn von diefem Ehrenplage, den er feinem irdijchen 
Geſchöpfe gönnen mochte, zu verdrängen. 

Erſt Schelling übte in feinem Gtreite mit Jacobi eine 
furchtbare Bergeltung. Dur) den biedern Meyer, den Bio- 


1) Aus Herders Nachlaß, I, 117. 
2) Schr. III, 8. 


— 504 — 


graphen Schröders, über die Wahrheit der Freundfchaft auf- 
geklärt, fchrieb er diefem aus München den 29. Auguft 1812: 
„Bas Sie mit einer Gewißheit, die feinen Zweifel verftattet, 
von Leſſings Denfart in Bezug auf Mendelsfohn mir mit- 
theilten, war mir infofern merkwürdig, als ich Jacobi'n nicht 
einmal von diefer Seite im Unrecht glaubte. Bedenfe ich, mit 
welchen Künſten, wenigjtens bei der gefammten nachgewachſenen 
Welt, jene Meinung hervorgebracht worden, die Sie beftreitem, 
fo entjteht in mir der Wunſch, den alten Mendelsfohn noch in 
das ihm gebührende Recht auf Leſſings wifjenfchaftliche Achtung 
wiedereingefeßt zu fehen, ehe die Meinung unwiderruflich auf 
ihm haftet. So wenig ich mit ihm fymphatifire, fo oft Habe ich 
mir einen Mann von feiner Klarheit zurückgewünſcht, mit dem 
e3 doch möglich war, ind Reine zu fommen; um fo mehr wünſche 
ich etwas zur Herftellung der Meinung über ihn in Anjehung 
dieſes Punktes beizutragen.“ ?) 

Bei aller von den Freunden fo —— Recht⸗ 
ſchaffenheit Jacobis ſchien deſſen ganzes Betragen Mendelsſohn 
unerklärlich. Leſſing vertraute ihm ein Geheimniß, und er ver— 
rieth es dem Publikum; er machte ihn in den letzten Tagen 
ſeines Lebens zum Vertrauten ſeiner Schwachheit und nun 
brandmarkte er damit deſſen Andenken. Leſſing geſtand ihm, 
daß er Mendelsſohn, „ſeinem ſo hochgeſchätzten Freunde, ſein 
wahres Syſtem verheimlicht hätte, um ihm nicht ſeine Ueber— 
zeugung zu rauben, mit der er ihn ſo ruhig, ſo glücklich leben 
ſah“, und gleichwol war Mendelsſohn der Erſte, dem Jacobi 
das gefährliche Geheimniß aufdrang. „Wer,“ fragt Mendelsſohn, 
„hat hier mehr thätige Religion, mehr wahre Frömmigkeit zu 
erkennen gegeben, der Atheiſt, der ſeinem geliebten Freunde die 
Ueberzeugung von der natürlichen Religion nicht entziehen will, 
oder der rechtgläubige Chriſt, der ohne Erbarmen dem Lahmen 
die Krücke aus den Händen ſchlägt.“?) 

1) Zur Erinnerung an F. L. W. Meyer, II, 140. 

2) Schr. III, 10. 


— 505° — 


Aus allem folgerte Mendelsfohn, daß Jacobi nichts anders 
beabfichtigte, al3 jeden, der fich in der Einöde der Speculation 
verloren hatte, auf den ficheren Pfad des Glaubens zurüdzu- 
führen. Leffing war fchalfhaft genug, den aufmerffamen Schüler 
‚zu Spielen, nicht zu widerfprechen, in alle mit einzujtimmen. 
Was ihm bei Leffing mißlungen war, verjfuchte er nun bei 
Mendelsfohn: während er für feine eigene PBerfon „ſich unter 
die Kanone des Glaubens zurüdzog und Rettung und Sicherheit 
in einer Bajtion des feligmachenden Lavaters fand“, bemühte 
er ſich nad Art feines Züricher Freundes, den Juden in den 
Schos der Kirche zu führen. 

Jacobis Schrift Schien ihm, wie er Kant und Zimmermann 
den 16. October 1785 fchrieb, „ein gar ſonderbares Monftrum: 
der Kopf von Goethe, der Leib von Spinoza und die Füße von 
Lavater.“?) 

Die Eur war an Mendelsjohn vergeblich angebradt. „Ich 
glaube,“ jagt er am Schlufje feiner letzten Schrift, „es ſei bei 
fo bewandten Umjtänden duch Disput wenig auszurichten, und 
aljo wohlgethan, daß wir aus einander fcheiden. Er fehre zu 
dem Glauben feiner Väter zurüd, bringe durch die fiegende Macht 
des Glaubens die ſchwermäulige Vernunft unter Gehorfam, 
ſchlage die aufjteigenden Zweifel durch Autoritäten und Macht: 
ſprüche nieder, fegne und verfiegele feine findliche Wiederkehr 
mit Worten aus dem frommen engelreinen Munde Lavaters. 
Sch von meiner Seite bleibe bei meinem jüdifchen Unglauben, 
traue feinem GSterblichen einen engelceinen Mund zu, möchte 
ſelbſt von der Autorität eines Erzengel3 nicht abhängen, 
wenn von ewigen Wahrheiten die Rede ijt, auf welche ſich des 
Menfchen Glüdfeligfeit gründet, und muß alfo fchon hierin auf 
eigenen Füßen ftehen und fallen... Bon diefem unmwanfenden 
Glauben geftärkt, fuche ich Belehrung und Ueberzeugung, imo 
ich fie finde- Und, Preis fei der feligmachenden Allgütigfeit 


) Schr. V, 638; mein Mojes Mendelsjohn. Ungedrudtes, ©. 19. 


— 506 — 


meines Schöpfers, ich glaube fie gefunden zu Haben, und glaube, 
daß jeder fie finden fönne, der mit offenen Augen fucht, und 
ſich nicht ſelbſt das Licht verjtellen will.“ ') 

„An die Freunde Leifings“ war Mendelsſohns Teftament, 
wie Gleim, Goethe u. a. diefe Schrift nannten. 

Seiner Religion und der Freundfchaft opferte er im dieler 
legten Geijtesarbeit den legten Reſt feiner Kräfte Der Denk 
ftein, den er dem aus feiner Ruhe aufgejtörten Freunde fepen 
wollte, wurde fein eigener Grabſtein. 

Die Gemüthserregung hatte fein Nervenleiden in bedent- 
fihem Grade gejteigert. 

Am Abend des Ietten December 1785 brachte er das 
Manufeript der Schrift feinem Berleger Voß. Leidend und über 
Schmerzen Hagend fehrte er nach Haufe zurück. 


Neunundachtzigites Kapitel. 


Mendelsſohns Tod. 


Als Hofratd Herz Montag den 2. Januar 1786 zufällig 
hörte, daß Mendelsjohn ſich nicht wohl befinde und das Zimmer 
hüte, eilte er zu ihm und fand ihn mit feinen Handlungsbücern 
beichäftigt. „Wie geht es, mein lieber Mofes? Sie find Frank?“ 
„Ich habe mid) erfältet,“ war feine Antwort, „als ich vorgeftern 
Abend meine Schrift in Betreff der Jacobiſchen Angelegenheit 
zu Voſſen brachte; es ijt mir lieb, daß ich diefe verdrießliche 
Sache vom Halfe habe.“ Er fagte das letzte mit einem ihm 
ungewöhnlichen Widerwillen und Mißmuth, der mir durch die 
Seele ging. „Sie glauben nicht, Lieber Herz,“ fuhr er fort, 








1) Schr. III, 35. 





— 507 — 


„wie ſchwach feit einiger Zeit mein Gedächtniß ift; mein Caffa- 
buch iſt voller Unordnung; bald fehlt es hier, bald da, und da 
muß ich nun ftehen und mic) anftrengen, um es wieder in die 
Nichte zu bringen.“ 

Mendelsfohn Hagte über Schwäche, machte aber nicht viel 
aus feiner Unpäßlichfeit; fein Pul3 war natürlich), der Athem 
frei, nur der Huften etwas feit; gegen diefen bediente er fich 
eines unbedeutenden Hausmittels und nahm öfters Zuder. 
Buder war überhaupt feine Lieblingsnäfcherei, fo oft man ihm 
denfelben auch widerrieth. Der Zuder, pflegte er zu jagen, hat 
nur den einzigen Fehler, daß man feinen Zuder dazu eſſen kann. 

Wir Sprachen Hierauf, erzählt Herz weiter,?) von dem Zu— 
ftande der Medicin, von dem er eine fehr große dee Hatte, 
und von den Erfordernijjen eines praftifchen Arztes. Hofrath 
Herz verließ ihn, ohne ihm etwas zu verordnen, weiler fchlechter- 
dings feine Arznei vertragen Fonnte. 

Dienjtag Vormittag Fam der Arzt wieder und fand ihn, 
im Pelz gehüllt, auf dem Sopha unter Leffings Büſte ſitzen, 
dem erſten Blide nad, Eränfer und ſchwächer. „Sch bin heute 
vecht Herzlich Frank, Lieber Doctor,“ fagte er. „Mein Huften 
will nicht Los, ich kann nicht effen, Habe nicht gefchlafen und 
bin ſehr entfräftet.” Dennoch unterhielt er ſich von den 
Geiftesanlagen feines jüngften Sohnes mit völliger Klarheit 
des Geiftes. Sein Puls war etwas ſchwach und in einiger 
Bewegung. Herz beredete ihn, dann und wann von einem jehr 
gelinde auflöfenden Fühlenden Trank einen Löffel voll zu nehmen. 

Dienftag Abend um fünf Uhr lag er auf dem Sopha in 
einem etwas ftarfen Fieber, wobei fein Athem aber freier und 
fein Geift heiterer al3 des Vormittag war. Um neun Uhr 
war das Fieber fait gänzlich) gewichen; nur zeigte er eine Feine 
Stelle in der Bruft, in welcher er Stiche fühlte. Herz verab- 





) Borrede zu der erften Ausgabe von Moſes Mendelsjohns „An 
die Freunde Leſſings“ XIII ff. 


eu. BOB 


redete mit dem noch zu Rathe gezogenen Doctor Bloch, auf den 
feidenden Theil warme Umfchläge zu legen und, falls fich die 
Stiche nicht bald verlören, ihm zu Ader zu laſſen. Er war im 
übrigen bei ziemlicher Heiterkeit. Als die Aerzte jagten, es 
wären zu viele Leute im Zimmer, antwortete er mit einiger 
Laune: „Nach Achards Berfuchen iſt ja diefe Luft die gefündejte,“ 
und jo wünfchten fie ihm eine gute Nacht. 

Mittwoch den 4. Januar, morgens gegen fieben Uhr, liei 
Joſef Mendelsfohn bejtürzt zu Herz und bat ihn, fogleich zu 
feinem Bater zu kommen, der jehr unruhig wäre. Herz eilte 
hin und fand ihn auf dem Sopha; Leſſings Büſte jtand ihm 
gegenüber. Seine Augen hatten nicht mehr jenes durchdringende 
Feuer, fein Geficht war eingefallen und blaß. Er empfing den 
alten Freund nach feiner liebevollen Weile mit einem Hände 
drud. „Nehmen Sie e3 nicht übel, lieber Doctor, daß ich Sie 
jo früh beunruhige, ich Habe eine elende Nacht gehabt. Die 
Stiche haben fich gleich nach den Umſchlägen verloren, aber id 
habe Beängitigung und Unruhe, ich fühle e8, daß e3 mir vom 
Unterleibe herauftreibt, meine Bruft ift ſehr voll.“ 

Sein Puls war fajt natürlih, nur etwas ſchwach, ohne 
die mindefte Unregelmäßigfeit. „Ich will mich einmal auflegen, 
vielleicht geht es beſſer,“ ſagte er nach einer Weile zu feinem 
Arzte, der in Angſt und Berlegenheit geriet. Er richtete ſich 
mit ziemlicher Kraft auf, feßte fih auf einen Stuhl, jtand nad) 
einer halben Minute wieder auf und nahm auf dem Sopha 
Platz mit den Worten: „Nun iſt es vorüber.“ Sein Ausjehen 
wurde immer mißlicher. Herz ging in das anftoßende Zimmer, 
um der Gattin und der Familie des Kranken feinen Zuſtand 
zu verfündigen. Plötzlich hörte er ein Geräuſch auf dem Sopha. 
Er jprang Hinzu, und da lag Mendelsfohn, ein wenig von dem 
Site herabgefunfen, mit dem Kopfe rüdlings, etwas Schaum vor 
dem Munde; weg war Athem, Pulsichlag und Leben. Verſchie— 
denes wurde verfucht, ihn wieder zum Bewußtfein zu bringen, 
allein vergebend. Da lag er nun ohne vorhergegangenes 


— 509 — 


Röcheln, ohne Zudung, ohne Verzerrung, mit feiner gewöhn- 
lichen Freundlichkeit auf den Lippen, als wenn ein Engel ihn 
von der Erde hinweggeküßt hätte. Sein Tod war, wie Herz 
angab, ein Schlagfluß aus Schwäche. Die Lampe exrlojch, weil 
e3 ihr an Del gebrad). 

So endete unerwartet das theure Leben, jo endete Mojes 
Mendelsſohn im 57. Zahre feines Alters. 

Tags darauf las man in den Berliner Zeitungen: 

„Geſtern früh jtarb Hier im 57. Jahre feines Alters plöß- 
fih an einem Schlagflufje Herr Moſes Mendelsjohn, aus Deffau 
gebürtig; eine Nachricht, die außer dem, der fie niederfchrieb, 
gewiß noch manchem Auge Thränen ausprefjen wird. Für die 
Welt ſowol als für feine Freunde bleibt fein Verluft unerſetzlich. 
In welchem fünftigen Jahrhundert wird ein folcher Geift in 
der Hülle eines jterblichen Körpers wieder zur Reife fommen? 
Er hat die Hülle nur abgeftreift; die Scheidewand ift gefunfen, 
die ihn nur furze Zeit von feinem verewigten Freunde trennte; 
fein verflärter Geift it nun wieder bei feinem Leſſing, dem er 
noch kurz vorher in feinen ‚Morgenjtunden‘ ein jo rührendes 
Denkmal der Freundichaft geitiftet Hat. Man fage dann: Lefjing 
itarb, da er Nathan den Weifen vollendet, die Nacht des Aber- 
glaubens verfcheucht und die Gottheit in ihrem reinjten und 
erhabenjten Lichte den Sterblichen gejchildert hatte, und fein 
Freund ftarb, nachdem er feine legten Gedanken dem erhabenften 
Gegenjtande des menfchlichen Denkens, dem Beweiſe von dem 
Dafein diefer Gottheit gewidmet Hatte, in deren näherm An— 
ſchauen nun beide glüdlich find.“ 

Der öfterreichifche Gefandte in Berlin, Fürft von Reuß, 
meldete dem Fürften Kaunig, Minifter der auswärtigen Ange— 
fegenheiten in Wien, in einer Depefche: „Borgeftern ift der be- 
rühmte jüdifche Gelehrte Moſes Mendelsfohn an einem Stüd- 
fluſſe jäh allhier verjtorben.‘t) Man fieht, welch tiefen Eindrud 


ı) Mittheilung ©. Wolfs in Wien, in Allg. Zeitg. d. Judths., 
1872, ©. 364. 





— 510 — 


der Tod des feltenen Mannes in allen reifen feiner Zeitge— 
nofjen hervorrief. 


Bierundzwanzig Stunden nach dem Berfcheiden, den 5. Ja— 
nuar um 10 Uhr morgens, wurde feine Leiche an ihre Ruhe 
jtätte gebracht. Seine aufrichtigiten Freunde, die Edelften und 
Beiten Berlins, trugen die Bahre; die ganze jüdiſche Gemeinde, 
bis auf wenige fanatifche Frömmler, die nicht würdig waren, 
einem folchen Manne die letzte Ehre zu erweilen, und viele 
Chriſten ſchloſſen ftill und trauernd dem Zuge fi) an. Einige 
Fremde, die noch wenige Tage vor feinem Tode nach Berlin 
gefommen waren, einzig und allein um ihn zu fprechen, drängten 
fih in das Reinigungshaus, um wenigſtens feine Hülle zu 
ſchauen, und benegten mit Thränen die Lippen, welche fo viel 
Weisheit und Güte ausgejtrömt Hatten. Während der ganzen 
Begräbnißzeit ruhte bei feinen Glaubensgenofjen Handel und 
Wandel und in allen Straßen, durch welche der Zug nach dem 
jüdifchen Friedhofe ſich bewegte, ſelbſt in anderen jüdifchen Ge- 
meinden, wohin die Trauerfunde gedrungen war, blieben die 
Geſchäfte den ganzen Tag gejchloffen.?) 


„Ein Schauer drang dur meine Seele, 
Als ich des Volkes Trauer: fah. 
Bon Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang 
Sah ich der Wechsler Tiſche leer, 
Der Krämer Haus verjchloffen, 
Des Handels Lauf gehemmt. 
Man trauert um den Redlichſten in Iſrael 
Als um den Oberften im Bolf, 
ALS um den AMAelteſten des Landes.’ ?) 


) Berl. Priv. Zeitung v. Dienftag d. 10. Januar 1786, und andere 
Zeitungen des In- und Auslandes, jo Kjobenhevns Tidender, Aar 
1786, No. 5. 


2) Ramler, Sulamith und Eujebia. Eine Trauercantate auf den 
Tod Mendelsfohns, in der Berliner Monatsfchrift, Juni 1786. 


— 511 — 


Auf dem, mitten in der Stadt Hinter dem Kranfenhaufe 
in der großen Hamburgerjtraße gelegenen alten jüdifchen Fried- 
hofe ruht Mendelsfohn neben feinem Lehrer David Fränfel, 
Sein Grabftein, in der dritten Örabreihe, etwa der dreizehnte 
Leichenjtein von der linken Seite ab, ijt ein Denkmal feiner 
Beicheidenheit. Die wahrfcheinlich von der Hand des demuths— 
vollen Philoſophen felbjt verfaßte hebräiſche und die jpäter Hinzu- 
gefommene deutfche Inſchrift des Grabjteines lautet: 


Bd 
NDyin VD Dann 
o'on Son a Ton 
Yopnn vaw 'n 7 Dya ED 
‚nay3n 
Moſes Mendelsſohn 

geb. zu Deſſau am 6. September 1729, 
geſt. zu Berlin am 4. Januar 1786.1) 


Neunztigites Kapitel. 


Allgemeine Theilnahme. 


Selten hat der Tod eines Gelehrten fo allgemeine Theil- 
nahme erregt al3 der Mendelsſohns; fie war in den weiteſten 
Kreifen der gebildeten Welt eine aufrichtige und allgemeine. 

Die Kunde von feinem Hinfcheiden erſchütterte alle feine 
Freunde wie ein eleftriicher Schlag; ſelbſt Fürftinnen, wie 
die Prinzeſſin Ferdinand, die Gemahlin des jüngsten Bruders 
Friedrich) des Großen, die Herzogin von Kurland und deren 
Schweſter Elife von der Rede, trauerten um den edlen Freund. 


') Zebredt, Zum 150. Geburtstage Moj. Mendelsjohns, ©. 6, 12. 


a — 


Die Herzogin, welche die Trauerkunde am Todestage früh 
morgens erhalten Hatte, jchrieb jofort der Reijebegleiterin ihrer 
Schweiter: „Unier großer, weiler Mendelsiohn ift diefen Morgen 
entichlafen.“ Die eriten Theilnehmer unjeres Schmerzes, be 
richtet Sophie Beder, waren die Herzogin, die Campe, Haupt- 
mann von Stamford, Nicolai und Parthey. „Da ſaßen wir 
und verftummten, feines konnte ſprechen. D wie laut fpraden 
unfere Thränen: ‚Er ift nicht mehr!“ Welche unerfegliche Lüde 
hat Berlin, hat die ganze Welt erhalten! Elife, deren Befinden 
ohnehin Schon jchleht war, litt viel. Keiner Hatte den Muth, 
Mendelsiohns Namen zu nennen... Nicolai war fehr con 
fternirt.“?) 

Groß und unerſetzlich war der Berluft, den feine Glaubens- 
genofjen erlitten Hatten; ihr Lehrer, Rathgeber, Führer und 
Fürfpreher war dahin. „Zalmwdijten und Kaufleute, Vorfteher 
und Lehrer, Künftler und Schriftjteller, alle Tiefen zu ihm wie 
zu einem Orafel, das felten verfehlte und nie zu beftechen war“.?) 
Wohin die Nachricht von feinem Hinfcheiden gelangte, war Klage 
und Trauer; die bejjergefinnten unter den Juden condolirten 
einander und heiße Thränen entrannen ihren Augen bei den 
Worten: „Moſes Defjau ift todt.‘3) 


Er, deſſen Blick fih jo oft im Lichte der Gottheit verlor, 

Etieg fchnell von der oberften Stufe der Menjchheit zur Vorficht empor. 
Sest blickt er aus hellem Lichte auf feines Volkes Trauer herab, 
Und Thränen der Chriften bezeichnen jein Grab.‘) 


Alle feine Bekannten, felbjt feine heftigſten Widerſacher 
empfanden einen heimlichen Schauer bei der Kunde von feinem Ende. 

1) Bor hundert Jahren, S. 232. 

2) Berliner Priv. Zeitung vom 10. Januar 1786 und danach die 
meiften deutjchen Zeitungen. 

3) M. ſ. die Nahricht aus Halberftadt in der Berl. Priv. Zeitung 
vom 21. Februar 1786. 

4) Mendelsjohns Andenken geweiht. Berl. Briv. Zeitung vom 
16. Februar 1786. 


— 513 — 


Eſchenburg in Braunfchweig, der Freund Leffings, war 
über den Verlust nicht wenig betroffen, denn „Freunde von der 
Art werden uns nicht leicht exfeßt,“ fchrieb er Nicolai den 
1. Februar. Heinrich Gottfried Bretichneider, damals in Lem- 
berg, meinte: „Mendelsfohn wird in Abrahams Schoß fiten und 
Waffer auf die Proſelytenmacher herabfprigen,“ wie er in feinem 
Briefe an Nicolai vom 1. Februar fi) ausdrückt.!) 

Der mit Mendelsfohns Töchtern fpäter innig befreundete 
junge Theologe Schleiermacher ift erjtaunt über das Auffehen, 
das der Tod des Weifen in allen gebildeten Sreifen Deutjch- 
lands machte; ex fchrieb feinem in Halle lebenden Oheim, dem 
Profefjor Stubenraudh: „Mendelsſohns Tod ift Ahnen ohnftreitig 
befannt, vielleicht haben Sie aud) das Diftichon in den Zeitungen 
gelejen: 


Es ift ein Gott: das ſagte Moſes jchon, 
Doch den Beweis gab Moſes Mendelsjohn. 


Stubenraud, ein Verwandter des gleichnamigen PBräfidenten 
in Deſſau, der ſich Mendelsfohn in einer Erbfchaftsangelegenheit 
einmal gefällig gezeigt hatte,2) erwiderte dem Neffen: „Recht 
fehr Hat mir Ahr Urtheil über Moſes Mendelsjohn gefallen 
und daß Sie das Unfchicliche in jenem Diftichon bemerkt. Nur 
iheint mir do, als ob Sie Mendelsfohn nicht Gerechtigkeit 
genug widerfahren laſſen. Mendelsfohn war mehr als Philoſoph, 
ihm hat in der That unsere Literatur, unfere Sprache jelbit, 
und die gefunde Fritif ungemein viel zu danken.‘ 3) 

Hamann hatte die Nachricht „Sehr gerührt und feine alte 
Freundichaft, die wol noch nicht Schiffbruch gelitten, von neuem 
aufgewecdt“. „Der fchleunige Tod des armen Mendelsfohn,“ 
Ichrieb er den 15. Januar an Jacobi, „ging mir den ganzen 
Donnerjtag jo im Kopfe herum, daß ich feine Ruhe hatte und 





1) 2. Geiger, Zeitfchrift für die Gefhichte der Juden, I, 129. 

2) 1. Aufl. ©. 49. 

3) Aus Schleiermachers Leben (Berlin 1858), I, 42. 
Kanferling, Mojes Mendelsjohn. 33 


— 514 — 


immer bedauerte, ihm nicht vor feinem Ende, wie ich mehr als 
einmal willens gewejen bin, gejchrieben und mich gegen ihn 
erklärt zu haben, daß mein ‚Solgatha‘ mehr die Berliner als 
ihn ſelbſt angehen follte”‘) Er quälte fi) mit dem Einfall, 
gegen den Sohn dasjenige zu thun, was er dem Bater fchuldig 
zu fein glaubte, er wollte dem Sohne und der Familie, weil er 
in feinem Haufe Höflichkeiten genofjen, fein aufrichtiges Beileid 
bezeugen; aber die Grille verging ihm, wie fie fich feiner be 
mächtigt hatte. 

Herder hatte der Tod des alten Freundes frappirt. „Du 
wirst Schon wiſſen,“ fchrieb auch ex den 15. Januar an Jacobi, 
„daß Mendelsſohn todt it. Er iſt den 4. am Schlage geftorben, 
und ich wollte, daß fein Aufjag nicht möge vollendet fein. Mit 
Todten zu jtreiten ijt immer unangenehm. Die Göttin Hat ihn 
weggerüct.“ 2) 

In Goethe waren durch die Todesnahridht die unange- 
nehmsten Empfindungen wach geworden?), und der junge Thomas 
Wizemann glaubte fein ungerechtes Benehmen gegen Mendels- 
ſohn dadurch wieder gutzumachen, daß er folgende Elegie ins 
„Muſeum“ einrücen ließ. *) 


Wer ift der Schatten, der dort im düftern Schimmer des Mondes 
Eo ruhig empormwallt? 

Wie er, in Gedanken verloren, fich hebt! Wie er aufblidt, 
AL wär’ fein Gerichtätag! 

Sieh! das iſt nicht des Feigen Blick, auch nicht bed Erob’rers. 
D nenne mir Diejen! 

Das ift des Weiſen Schatten, der vaftlos den Echimmer der Wahrheit 
Auf Erden verfolgt hat. 

Bol der Ahnung Gottes und der Unfterblichfeit Ahnung 
Boll, hat er gewandelt. 

Diejes Wandels, fich jelber bewußt, blickt auf er jo ruhig, 
Als wär’ fein Gerichtstag. 


Y Jacobis Werke IV, 3, 138, 141 f. 

2) Aus Herders Nachlaß II, 282. 

3) Briefwechjel zwiichen Goethe und Jacobi, 102. 
*) Bon der Golg, Thomas Wizemann, II, 130. 


— 515 — 


Horch, wie hinter ihm ber die Klage tönet! — ich hör’ ihn 
Beweinen mit Schmerzen. 

Hat er Waiſen zurüdgelaffen, und ringt eine Witwe 
Die Hände vorm Leichnam ? 

Eine Witwe und Waifen. Doc weit umher hallen die Seufzer 
An Deutichlands Gefilden. 

Sünglinge, edel und fühn, die im Kampf mit Irrthum und Wahrheit 
Sich feiner getröftet 

Ah! und Germaniens Töchter, die durch ihn Hoffnung gejchöpfet 
Des ewigen Lebens, 

Klagen um ihn! 


Nach feinem frühzeitigen Tode war jeder bemüht, ihm, 
feiner Berfönlichfeit und feinen hohen Verdienſten die volle An— 
erfennung zu zollen. Seinen Freunden fchien mit ihm die Fadel 
der echten, die Wahrheit juchenden Aufklärung erloſchen. „Wie 
viel die Gelehrſamkeit, die Weltweisheit, die deutiche Literatur 
an einem Mendelsfohn verloren haben, das wiſſen alle, denen 
diefe Gegenftände wichtig find; aber wie wenig reicht das Hin, 
den unerjeglichen Berluft zu ermejjen, den feine Freunde erlitten! 
Ich geitehe frei,“ klagt Profeffor Engel, „daß an dem Drte, 
two ich lebe, mid) fein Schlag empfindlicher Hätte treffen, fein 
Unfall mic) tiefer hätte verwunden fünnen, al3 der Tod dieſes 
Edeln.“!) 

Sein alter Freund Nicolai ſchrieb einen Nekrolog in der 
„Allgemeinen Deutſchen Bibliothek“, und Bieſter widmete ihm 
in der „Berlinifchen Monatsschrift“, deren Mitarbeiter er in 
den letzten Jahren feines Lebens war, einen warmen Nachruf; 
durch beide, mit dem Feuer der Empfindung gefchrieben, iſt er, 
wie Garde fich ausdrüdt, wahr geehrt worden. ?) 

Der alte Weſſely machte jeinem von Schmerz zujfammen- 
gepreßten Herzen in einer meifterhaften hebräifchen Elegie Luft ?), 
und Ramler feierte in ihm 


) An die Freunde Leſſings, Vorrede. 
2) Briefe von Garve an Weifje, S. 245. 
3) Sammler, 1786, ©. 81 ff. 
83* 


— 516 — 


„Einen Weifen wie Sofrates, 

Den Gefeten der Väter getreu, 
Unfterblichfeit lehrend, 
Unfterblih wie er.’ 


Der befannte Dichter und Wefthetifer, Karl Philipp Conz 
in Tübingen, durchdrungen von Mendelsfohns unjterblichen Ber- 
dienften als Menſch und Philoſoph, feste ihm ein ſchönes Dent- 
mal in einem, aus vier Gefängen beftehenden Iyrifch-didaktifchen 
Gedichte, in dem er „Moſes Mendelsfohn, den Weifen und den 
Menſchen“ zum Helden feines Epos machte. !) 

Simon Höchheimer, ein junger Arzt und Landsmann des 
Doctor Markus Bloch, der während feines Aufenthaltes in 
Berlin mit Mendelsfohn, deſſen Kindern und Freunden freund- 
Ichaftlich verkehrte und dem der Weile den 7. Auguſt 1785 das 
Bibelwort „Liebet Wahrheit und Frieden!“ ind? Stammbud) 
Ihrieb, gab den Empfindungen feines Herzen? „Ueber Mofes 
Mendelsſohns Tod“ in einer hebräifchen und ins Deutfche über- 
ſetzten Elegie zufammen mit einer Charafteriftif und Würdigung 
der Verdienſte des vielbetrauerten Mannes Ausdrud.?) 

Auch Kant, der freilich feinen Helden aus dem jüdifchen 
Bolfe Leiden und deswegen aud Leffings Nathan feinen Ge- 
Ihmad abgewinnen fonnte,?) wollte etwas über Mendelsfohns 
Berdienfte um die jüdiſche und chriftliche Religion veröffent- 
lichen. Bis zur Schwärmerei voll war er von feinem Original- 
genie und feine Hare leichtfaßliche Schreibart konnte er nicht 
genug bewundern.*) Wie bedauerte er, daß von dem vortreff- 
lihen Mofes feine brauchbaren Schriften in feinem Nachlaffe 
gefunden wurden!?) 


) Stuttgart 1787. Den Reinertrag beftimmte der edle Verf. für 
arme Judenfamilien. 

2) Ueber Moſes Mendelsjohns Tod. Wien und Leipzig 1786; die 
Elegie ©. 77 ff. 

3) Hamanns Schriften VI, 79. 

4) Jacobis Werke IV, 3, 202; Kants Werfe, XI, 1, 100, vgl. 1,371 ff. 

5) Kants Werfe, XI, 1, 51. 


— 517 — 


Da erichien inmitten diefer theilnahmsvollen Kundgebungen 
die letzte Schrift Mendelsſohns „An die Freunde Leſſings. Ein 
Anhang zu Heren Jacobis Briefwechjel über die Lehre des 
Spinoza“t!), und der Streit brach wieder von neuem aus. Engel, 
der Herausgeber der Schrift, Hatte nämlich in der Vorrede be- 
hauptet, daß Jacobi an dem Tode des Freundes ſchuld fei und 
ihm den Todesſtoß verjeßt habe. Das Schriftchen, das Anfang 
Februar 1786 erfchien, verurfachte große Aufregung. „Wie 
wenig wünſchte ich jet an Jacobis Stelle zu fein!“ fchreibt 
Garve den 5. Februar an Weiffe, unmittelbar nad) Empfang 
der Schrift. „Was wollte ic) darum geben, wenn Moſes 
wenigſtens den zweiten Theil feiner ‚Morgenjtunden‘ hätte heraus- 
geben können.““) Goethe war einer der erſten, der fich über 
das Schriftchen äußerte; er ftand ganz auf Jacobis Seite. Den 
20. Februar meldete er Herder und der Frau von Stein, daß 
er das „jüdifche neue Teſtament“ nicht habe ausleſen können; 
er wünschte, daß die Freundin glücklicher damit fei und fügte 
die recht gehäffig Elingende Bemerkung Hinzu: „Kann doch nicht 
einmal ein armer Jude ohne genedt zu werden aus der Welt 
gehen“.?) Bon den Berliner Freunden Mendelsfohns wurde 
die Fehde mit Heftigfeit fortgefeßt. Herz, Friedländer, Nicolai, 
Moritz, Philippfon in Hannover u. a. traten für ihn in die 
Schranken; Campe und Reimarus, auch Mirabeau nahmen Partei 
für ihn.*) Jacobi mußte es fich gefallen laſſen, mit Lavater 
und den Myſtikern zufammen abgefertigt zu werden. „Der 
Streit über den Einfluß, den Jacobis Schrift auf Mofes’ Ge— 
fundheit und Leben gehabt hat, wird wol fo lange nicht ruhen,“ 


) Berlin, Voß, 1786. 

2) Briefe von Garve an Weiſſe I, 239. 

3) Aus Herder Nachlaß I, 88 f; „Goethes Briefe an Frau von 
Stein (Weimar 1851), III, 241. 

4) Berl. Briv. Zeitung, Januar 1786 (Herz, Friedländer); Ham: 
burger Zeitung, Januar 1786 (NReicharbt); Moldenhauers Beleuchtung 
in dem Hamburger Correjpondent, St. 15, Januar 1786; beſ. abgedrudt 
Berlin 1786. 


— 518 — 


ſchreibt Garve an Weiffe den 22. März 1786,1) „bis Jacobi 
jelbft auftreten wird.“ Das that er in feiner „Rechtfertigung 
wider Mendelsfohns Beichuldigung“. Die Leidenfchaftlichfeit des 
Ausdruds gab den Gegnern gewonnene Spiel, und niemand nahm 
fi) Jacobis mehr an. Claudius, der Wandsbeder Bote, mußte 
e3 übernehmen, eine Lanze für ihn zu brechen,?) und ein Pre 
diger Schulze, „der Zopfichulze“, zu feiner Bertheidigung auf 
treten mit einer Schmähfchrift,3) die fo gemein und gehäffig 
war, daß fich jeder mit Abſcheu davon abwandte; ſelbſt ein 
Hamann empfand Efel „über den unfchlachtigen Ton“ dieſes 
„berüchtigten“ Geiftlichen. %) 

Wie fehr von den Freunden und Anhängern des Glaubens- 
philofophen gegen die Beichuldigung, den Tod Mendelssohn 
verurfacht zu haben, auch noch fpäter proteftirt wurde; fo viel 
jteht fejt: der Streit mit Jacobi hat mittelbar und unmittelbar 
zur Verkürzung feines Lebens beigetragen. Was Lavater mit 
feiner Herausforderung begonnen, hat Jacobi in trauriger Weife 
zu Ende geführt. Schrieb doch noch fech3unddreißig Jahre nad) 
Mendelsfohns Tod Goethe an Zelter: „Du erinnerft Dich wol, 
daß der gute Mendelsfohn an den Folgen einer voreiligen Publi— 
cation des ‚Prometheus‘ geftorben iſt.“*) 

Würdig und voll Begeifterung wurde Mendelsfohns An- 
denken in Berlin gefeiert. Einige Wochen nad) feinem Tode 
bildete fich dort ein Comite, bejtehend aus Engel, Biejter, Ni- 
colai, Friedländer, Herz u. a., das mit dem Plane umging, 
Leibniz, Lambert, Sulzer und Mendelsfohn auf dem Opernplatze 





)Y Briefe von Garve an Weifje, I, 244, 

2) Zwei Recenfionen in Saden der Herrn Lejfing, M. Mendels: 
fohn und Jacobi. Hamburg 1786. | 

3) Der entlarvte Moſes Mendelsjohn, oder völlige Aufklärung des 
räthjelhaften Todesverdrufjes des M. Mendelsfohn über die Bekannt: 
machung des Leffingichen Atheismus von Jacobi. Amfterdam 1786. 

4) Jacobis Werfe IV, 5, 296. 

5) Briefwechſel zwiihen Goethe und Zelter, ILL, 87. 


— 519 — 


ein Monument zu errichten. Zu dieſem Zwecke wurde Dienitag, 
den 23. Mai 1786, eine Gedächtnißfeier veranftaltet, für welche 
Ramler fein „Sulamitd und Euſebia“ dichtete, eine Cantate, 1) 
welche der Kapellmeifter Wefjely, ein Neffe Hartwig Weſſelys, 
in Mufif fete. 

An demfelben Tage fand in der Synagoge zu Königsberg 
eine Gedächtnißfeier ftatt, der auch Kant beitwohnte, 


Einundneunzigites Kapitel. 
Der hundertjährige Geburts und Todestag. 


Hundert Jahre feit der Geburt Mendelsfohns waren ver- 
floffen. Die Juden Deutjchlands erkannten in dankbarer Liebe, 
was er Großes gewirkt, und die Beten unter ihnen hielten es 
für Pflicht, feinen Hundertjährigen Geburtstag feſtlich zu be— 
gehen. Der 10. September 1829 wurde unverabredet an ver— 
Ichiedenen Orten als Fejttag begangen, theils durch Reden und 
feierliche Verfammlungen, theil3 durch eigens errichtete wohl— 
thätige Stiftungen, welche Mendelsſohns Namen trugen. ?) 

Die nächſte Beranlaffung zu einer Feier hatte Berlin, wo 
Mendelsfohn über vierzig Jahre gelebt und feine unfterblichen 
Werfe geichaffen hatte, wo feine irdischen Reſte ruheten. An 
gedachten Tage verfammelten fich feine Kinder und Enfel, feine 
Freunde und Verehrer in dem zu diefem Feſte gefchmadvoll ein- 
gerichteten Saale der „Sefellfichaft der Freunde“. Es wurden 
verfchiedene Reden gehalten. Moſes Mofer, der Jugendfreund 
Heinrich Heines, entwidelte Mendelsfohns fittliches Princip und 

') Berlin. Monatsjchrift, 1786, 481—489. 

2) Haube: und Spenerfhe Zeitung von Sonnabend, den 19. Sept. 
1829. Berf. ded Artikels ift Zunz. Zunz, Gef. Schr. (Berlin 1876), 
II, 112 ff. 


— 520 — 


Bedeutfamkeit; der Gefchichtichreiber Joſt gab einen Abriß von 
Mendelsjohng Leben, und der gelehrte Zunz ſchilderte Mendels— 
ſohns Leijtungen für Mit- und Nachwelt.) Würdige Heiterkeit 
belebte das feſtliche Mahl, bei dem viele Toaſte ausgebradt 
wurden.?) Die jüdifche Gemeinde zu Berlin befchloß, das An- 
denfen an dieſen Tag durch die Errichtung einer Stiftung zur 
Erziehung und Ausbildung armer jüdischer Waijen zu ver- 
ewigen und ihr den Namen „Mendelsjohniche Waifen-Erziehungs- 
Anstalt” beizulegen; dieſelbe wirkt in fegensreichiter Weife und 
verfügt über einen bedeutenden Yond.?) Zur Feier diefes Tages 
erichienen in Berlin auch zwei Gedichte im Drud: ein hebräiiches 
von ©. Heilberg, und ein deutjches, „Zion“, von Samuel B. Schön- 
berg, einem jungen Arzt aus Moor in Ungarn. *) 

In Defjau, dem Geburtsorte des jüdischen Sofrates, ver- 
anjtaltete David Fränfel, Director der Franzichule und Heraus: 
geber der Zeitfehrift „Sulamith“, eine Säcularfeier, bei der der 
Gymnafialdirector 3. U. 2. Richter, ein von humanſtem Geifte 
befeelter Mann, die Gedenfrede hielt.) Auch Hier wurde eine 
Mendelsjohn-Stiftung begründet, aus der arme jüdiiche Jüng— 


) Zunz, Rede gehalten bei der Feier von Moſes Mendelsjohns 
hundertjährigem Geburtätage, den 12. Elul — 10. September 1829. 
Berlin, 1829. Wieder abgedrudt: Zunz, a. a. D., II, 102 ff. 

2) Auerbach, J. L., Toaft auf das Wohl der jüdiſchen Gemeinde 
zu Berlin, ausgebracht bei dem am 10. September 1829 zur hundert: 
jährigen Feier Moſes Mendelsjohns dafelbit ftattgefundenen Mahle. 
D. D. u. J. (Berlin 1829.) 

3) Das Vermögen belief fi 1855 auf ca. 75,000 Thaler. 

9 Zion, Ermunterung für die Glaubensgenofjen Mojes Mendels— 
ſohns. An defjen Hundertjährigem Geburtstage. Bon S. B. Schönberg. 
Berlin 1829. 

Heilberg, Empfindungen bei Gelegenheit der Säcularfeier zu Ehren 
des jel. Mojes Mendelsjohn. Ein Gedicht in hebr. Sprade. Berlin 1829. 

5) Richter, J. A. L., Mojes Mendelsfohn als Menſch, Gelehrter 
und Beförderer echter Humanität. Eine Rede, gehalten bei der hundert— 
jährigen Geburtstagöfeier am 10. September 1829 im Saale der Franz- 
ihule zu Deſſau. Defiau 1829. 


— 521 — 


linge, welche ſich Künſten und Wiſſenſchaften widmeten, Unterftügung 
erhalten follten.!) Die züdifche Gemeinde in Frankfurt am 
Main jchidte zu diefer Stiftung eine bedeutende Summe ein. 
Ihr fiel auch der Ertrag des von B. Guttenſtein zu Heidelberg 
erjchienenen, „dem Andenken des Unjterblichen geweihten“ 
Schriftchens zu.?) 

In Hamburg veranjtaltete die jüdische Freifchule eine Ge— 
denffeier, bei der ©. Hahn eine Rede Hielt3) und Immanuel Wohl 
will in einem Gedichte Mendelsſohns unfterblichen Namen feierte.*) 
Der Hamburger Prediger Gotthold Salomon, welcher zu der- 
Telben Gelegenheit eine größere Schrift, „ein Denkmal zur Er— 
innerung“,?) Herausgab, nahm in feiner zwei Tage fpäter im 
Dortigen Tempel gehaltenen Predigt Bezug auf die Hundert- 
jährige Geburtstagsfeier und regte die Gründung zu einer 
Mendelsjohn-Stiftung an, aus der Jünglinge, welche fich den 
Studien widmen, unterjtüßt werden follten. 6) 

Sn vielen Gemeinden des In- und Yuslandes, in 
Dresden, wo der verdienjtuolle Bernhard Beer die Feſtrede 





) Sm Jahre 1831 wurden ftudirende Israeliten aus den Zinjen 
dieſer Stiftung unterftügt. (Lindner, Gefchichte des Landes Anhalt, 
252.) Ob diejelbe noch bejteht, wiflen wir nicht. 

2) Guttenftein, B., Mojes Mendelsſohns Verdienſte um die Bil: 
dung jeines Volkes. Dem Andenken des Unfterblichen geweiht bei 
Gelegenheit feines am 10. September 1829 gefeierten hundertjährigen 
Geburtätages. Heidelberg 1829. 

3) Hahn, ©., Rede, gehalten... zur Säcular-Gedächtniffeier der 
Geburt Moſes Menvdelsjohns, am 10. Septbr. 1829. Hamburg 1829. 

4) Zur Eäcularfeyer Mojes Mendelsjohns am 12. Elul 5589 — 
10. September 1829. Hamburg, Benjamin. 

5) Salomon, G., Denkmal zur Erinnerung an M. Mendelsjohn. 
Zu defjen Säcularfeier im September 1829. Hamburg 1829. 

6) Salomon, G., Licht und Segen, oder auf weldhem Wege fünnen 
Völker wahrhaft erleuchtet und beglüdt werden? Predigt am 14. Elul 
(12. Septbr. 1829) in Beziehung auf den Hundertjährigen Geburtstag 
des Weltweijen Moj. Mendelsjohn, gehalten in dem neuen Tempel zu 
Hamburg. Hamburg 1829. 


— 52 — 


hielt!) und den noch jest blühenden Mendelsfohn-Berein „zur 
Förderung von Handwerfen, Kiünften und Wifjenfchaften‘ mit- 
begründete, in Breslau, in Franffurt a. Main,?) Heidelberg, 3) 
Prag,?) und andern Orten) wurde der Hundertjährige Geburt3- 
tag in den Schulen und Synagogen in würdigſter Weiſe gefeiert. 





Durch Tiebevolle Verehrung Mendelsjohng zeichnete fich die 
Gemeinde Leipzig befonder8 aus. An dem Geburtstage des 
unfterblichen Weifen im Sabre 1855 wurde die dortige neuer: 
baute Synagoge eingeweiht und alljährfih an dem Sabbate 
vor oder nach deſſen Sterbetage hielt der gefeierte Wiener Pre— 
diger Adolf Jellinek, jo lange er, in Leipzig war, eine Gedenk— 
vede.6) Am Jahre 1859 wurde dort ein Mendelsfohn-Berein 
gegründet, der al3 „Verein zur Förderung geijtiger Intereſſen 
im Judenthum“ alljährli am ZTodestage Mendelsfohns eine 
würdige Gedächtnißfeier veranftaltete, wobei U. M. Goldfchmidt 
aus Leipzig, Sal. Formftecher aus Offenbach, 2. Philippfon 
aus Bonn, M. Koel aus Breslau, 2. Adler aus Caſſel, 
2. Fürſt aus Leipzig, Prof. Wuttfe aus Leipzig, Prof. R. 
Goſche aus Halle u. a. iiber Mendelsfohn oder Lefjing Reden 


) Beer, B., Rede bei der Gedächtnißfeier Moſes Mendelsſohns 
an defjen hundertjährigem Geburtätage. Dresden 1829. 

2) Weil, J., Erinnerung an Mof. Mendelsjohn bei der Feier feines 
hundertjährigen Geburtätages. Frankfurt a. M. 1829. 

3) Rehfuß, E., Wie ehren wir das Andenken an den um fein 
Bolf jehr verdienten Moſes Mendelsjfohn? Predigt, gehalten am 10. 
September 1829. (Gdſchr.) 

4) Beer, Peter, Rede gehalten am hundertjährigen Geburtstage 
Mojed Mendelsfohns. Prag 1829. 

5) Liepmannsjohn, S. L., Denfrede auf den großen israel. Welt: 
weifen Moſes Mendelsjohn, bei der am 10. September 1829 veranital: 
teten hundertjährigen Geburtstagäfeier. Hamm 1830. 

6) Zellinef, Ad., Drei Gräber. Kanzel:Vortrag am 6. Januar 
1849. Leipzig 1849. 


— 523 — 


bielten?!), und poetifche Beiträge von Morig NRappaport aus 
Lemberg, 2. U. Frankl und 2. Kompert aus Wien, Friedr. 
Friedrich u. a. zum Bortrage kamen. ?) 

Um aud ein äußere® Zeichen der Dankbarkeit für den 
edlen Weijen, den geijtigen Reformator des Judenthums, in 
Deutichland zu Schaffen, regte der Verein im Jahre 1863 die 
Idee zum Ankauf des Geburtshaufes Mendelsfohns in Deffau 
an. Diefes Haus, dad, um den Preis von 2600 Thlr. er: 
tworben, jpäter in den Bejiß des „Deutſch-Israelitiſchen Gemeinde- 
bundes“ überging, wurde durch die Stiftung des Geh. Commer- 
zienrath3 E. Mendelsfohn in Berlin zum Aufenthalt für einige 
würdige Männer der Wiſſenſchaft bejtimmt. Der Berein gründete 
im Sahre 1861 auch eine „Mendelsfohn-Stiftung“ zum Zwecke 
der Unterftügung und Förderung von Süngern der Wiſſenſchaft 
und Kunft; fie hat während der fünfundzwanzig Jahre ihres 
Beitehens nahezu 57,000 Marf verausgabt und jo manchem 
emporjtrebenden, mühſam vingenden Talente den Weg geebnet. 

Bon Ddiefem Vereine und dem „Deutjch-Fsraelitiichen Ge— 
meindebunde” ging auch die Anregung zur Feier des Hundert- 


1) Von diefen Reden und Borträgen erſchienen im Drud: 

Feitrede bei der am 3. Januar 1861... veranftalteten Gedächtnißfeier 
von A. M. Goldſchmidt. Leipzig 1861. 

Moſes Mendelsjohn ein Philoſoph auf dem Gebiete des Judenthums, 
von Sal. Formſtecher. 

Mojes Mendelsjohn der NReformator des Judenthums, von Ludw. 
Bhilippfon. 

Gedächtnißrede von Rabb. M. Joël. (1865). 

Der Sieg des fortichreitenden Menfchengeifte oder das Verfahren 
Moſes Mendelsſohns, Religion und Menſchenthum zu verjöhnen, 
von 2. Adler. Berlin 1870. 

2) Bon den Gedichten wurden gedrudt: 

Der fterbende Sklave in Egypten, von Mor. Rappaport; 

Der deutihe Jude, zur Mendelsjohnfeier, von Leopold Kompert; 

Prolog zur Mendelsjohnfeier am 4. Januar 1865, von Friedrich Friedrich. 

Diefe Reden und Gedichte find, außer den Reden von Goldſchmidt 
und Adler, enthalten in: Gedenkblätter an Moſes Mendelsfohn. Leipzig 

1863, 1865. 


— 524 — 


undfunfzigjährigen Geburtstages aus. Da das Jahr 1879 
nicht nur das Hundertundfunfzigite jeit der Geburt Mendels— 
fohns und Leffings, fondern aud) das Hundertite feit dem 
Erfcheinen des „Nathan“ war, jo beichloß der „&emeindebund“, um 
von der Dankbarkeit für das Wirken diefer Geiftesheroen Zeugniß 
abzulegen, ihr Bild neu zu beleben und durch Borführung ihrer 
Ideen und Thaten das heutige Gejchlecht zu ermuntern und zu 
jtählen, in dem noch immer nicht abgejchloffenen Kampfe gegen 
Slaubenshaß und Unduldfamkeit, als Feftfchrift ein „Leſſing— 
Mendelsſohn-Gedenkbuch“ Herauszugeben!!) Diefes geichmadvell 
ausgejtattete Buch enthält außer mehreren Originalarbeiten von 
U. Bodek, U. M. Goldſchmidt, M. Brafh, U. Fränkel, W. 
Sellinef und Emil Lehmann, zumeist fchon früher erfchienene Auf 
jäge über Mendelsjohn. Der Hundertundfunfzigjährige Geburts 
tag wurde am 30., 31. Auguft oder auch am 6. September 
1879 außer in Defjau,?) Leipzig, Berlin, Frankfurt a. M., Karls 
ruhe?) in allen größern Gemeinden Deutſchlands, aud in 
Amerika, befonders in Baltimore!) und New-York, feierlid 
begangen. 


Zu einer allgemeinen Gedächtnißfeier forderte die Wieder 
fehr des Todestages nad) einem Jahrhundert auf. 


!) LejfingeMendelsjohn-Gedenfhudh. Leipzig, Baumgärtner, 1879. 

2) Die Feier des 150. Geburtätages M. Mendelsjohns in jeiner 
Geburtäftadt Deſſau am 31. Auguft 1879. Defjau. Das Schriftchen 
enthält außer dem Bericht der ftattgehabten Feierlichkeiten die Predigt 
von ©. Salfeld und Feitlieder von W. Wolfjohn. 

3) Volles Gewicht und volles Maß. Predigt zur 150jährigen 
Geburtstagsfeier M. Mendelsjohns am 30. Auguſt 1879 von A. Schwar;. 
Karlsruhe 1879. 

4) Zu diefer 150. Geburtöfeier erjchien von Benjamin Szold 
in Baltimore eine interefiante Gedenkſchrift: Mojes Mendelsjohn, und 
der von ihm am 6. September 1879 gehaltene Gottesdienftliche Vortrag. 
Baltimore 1879. 


— 525 — 


Die eigentliche Stätte der Feier war in Deſſau, angeregt 
von der Stadt und unter der Theilnahme des Herzogs Friedrich) 
Leopold und de3 Erbprinzen Friedrich) mit Gemahlinnen, des 
gefammten Hofitaates, der Minijter, der Mitglieder des Regierungs- 
collegiums, der Geiftlichfeit und des Magiftrats. Auf Einladung 
des Bürgermeijters erjchienen Deputationen aus Berlin, Wien, 
Leipzig, Hamburg und andern Städten. 

Die Feier geftaltete jich zu einer großartigen Kundgebung 
der Berehrung. Nach einer in der Synagoge abgehaltenen 
Gedächtnißrede folgten in der Aula des Gymnaſiums die Gedenf- 
reden von Öymnafiadirector Widenhagen und Prof. M. Lazarus 
aus Berlin.?) Zur Feier des Tages wurde nach einem Fejtmahle, 
an dem mehrere hundert Perſonen theilnahmen, im herzoglichen 
Hoftheater „Onkel Mojes‘?) und nad) einem Fejtprologe „Nathan 
der Weile‘ gegeben. 

Dem Andenken de3 Philofophen wurden in den meiften in 
deuticher Sprache erfcheinenden Tagesblättern fowie in allen 
jüdifchen Journalen ausführliche Artifel gewidmet und in allen 
züdifchen Gemeinden Deutfchlands und Defterreich®, auch in vielen 
Frankreichs, Ungarns, Galiziens, felbft Rumäniens und Polens, 
fowie in den meiſten Englands und Amerikas, in Synagogen, 
Schulen und Vereinen Gedenfreden gehalten. 3) 


Zur Erinnerung an diefen Tag machte der Geh. Commer— 
zienvath Franz Mendelsfohn in Berlin, ein Urenfel des Philo- 
fophen, der Berliner Univerfität eine Stiftung von 150,000 Mark 
zu Stipendien fir deutiche Studirende der philofophifchen Fakultät 
ohne Unterfchied der Confefjion. 





1) Die Gedenfrede von Lazarus abgedrudt: Nationalzeitung 
Nr. 22 und 28. 

2) Hugo Müller, Onfel Moſes. Charakterbild in 1 At. Berlin. 

3) Gedenfreden erfhienen im Drud von: H. Baerwald (Frankfurt 
a. M.), B. Franfl (Berlin), S. Freund (Görlis), Ad. Zellinef (Wien), 
M. YoEl (Breslau), M. Stedelmader (Mannheim), $. 3. Unger (Iglau), 
M. S. Zudermandel (Trier), u. a. m. 


— 526 — 


Die Stadt Deffau ehrte das Andenken Mendelsjohns noch 


befonders dadurch, daß fie beichloß, ihm ein Standbild zu 
errichten. 


Zweiundneunzigſtes Kapitel. 
Mendelsjohn-Dentmal. 


Das fchönfte Denkmal, das der unſterbliche Mendelsiohn 
bei Lebzeiten fich errichtet hat, find feine Geiftesproducte, feine 
Were. !) 

‚Wenige Monate nad) feinem Tode war Doctor Markus 
Bloch willens, eine Gefammtausgabe der Schriften des Werfen 
zu veranftalten. Er gab den Plan jedoch bald wieder auf, denn 
die Witwe ſelbſt beabfichtigte die Herausgabe zu beforgen, wie 
aus folgendem Inſerat in der „Berl. Priv. Zeitung‘ von Don 
nerstag den 18. Mai 1786 hervorgeht: „Sch zeige einem reip. 
Publikum Hiermit nachrichtlich an, daß ich einigen Freunden 
meines jel. Mannes jowol die Herausgabe feiner ungedrudten, 
al3 die Sammlung feiner zerjtreuten bereit3 gedructen größe 
und kleinern Schriften übertragen habe. Dieje Freunde werden 
den Drud feiner fämmtlichen Werfe bei den rechtmäßigen Ver— 
fegern, die zu gehöriger Zeit befannt gemacht werden ſollen, 
veranftalten und begleitet von deſſen Biographie von der Hand 
eines allgemein beliebten Schriftjtellers beforgen. 

Berlin, April 1786. 

Mofes Mendelsjohns Witwe. 


Mochten nun die „rechtmäßigen Verleger Schwierigkeiten 
machen oder die Freunde fich der Arbeit nicht unterziehen wollen: 
genug, das Unternehmen fam nicht zur Ausführung. 


) M. ſ. meinen Artikel in: „Blätter für literarifche Unterhaltung‘, 
1886, Nr. 3. 


— 527 — 


Die erite jogen. Geſammtausgabe veranftaltete ein Buch— 
händler und Antiquar in Ofen, namens Burian, unter dem 
Titel „Mojes Mendelsſohns ſämmtliche Werke‘, welche auf 
ſchlechtem Papier und in fchlechtem Drud in Ofen (Großwardein) 
1819— 1821 erihien. Von diefer Gefammtausgabe wurde zehn 
Sahre jpäter ein Nachdruck in Rödelheim veranftaltet. 

Beſſer ausgeftattet, aber durchaus nicht vollitändiger, dabei 
voller Drudfehler ift die 1838 in Wien bejorgte Ausgabe, die 
fi) gar al3 Nationaldenfmal anfündigte: „Moſes Mendelsjohng 
fämmtliche Werke. Ausgabe in Einem Bande als National- 
Denkmal. Mit dem in Kupfer gejtochenen Bildniffe des großen 
Weltweijen“. (Wien, Mid. Schmidl3 fel. Erben und Ign. 
Klang, 1838.) 

Auch diefe Ausgabe, ein ftattlicher Band, enthält nur die 
befannten Schriften Mendelsfohns: „Phädon“, „Serufalem“, 
„Morgenjtunden“, „Philofophifche Schriften“, „Kleine philofophifch- 
äjthetiiche und vermiſchte Schriften“, „Ritualgejege der Juden“, 
„Pſalmen“, „Hohelied“, „Briefe“ (ſehr unvolljtändig) u. a. 

Zu Anfang des Jahres 1840 regte Heinrich Brodhaus in 
Leipzig bei Felix Mendelsjohn-Bartholdy, dem berühmten Enfel 
von Mofes, eine Gefammtausgabe der Schriften des Großvaters 
an. Hören wir, was Felir in einem Briefe an feinen Onkel 
Sofeph vom 20. Februar 1840 darüber fchreibt: 

„Die erſte Beranlafjung meines heutigen Briefes iſt Brod- 
haus, der mic) vorige Woche fragte, warum nicht eine ordent- 
fihe Gejammtausgabe der, Werfe des Großvaters erfcheine, da 
die wiener Ausgabe erjtlich nur ein Nahdrud in Einem Bande, 
voll Drucdfehler, und dann auch, wie er meinte, nicht ordentlich 
zufammengejtellt fei, und in Hinficht der Correfpondenz und 
namentlich der angehängten Lebensbefchreibung ehr viel zu 
wiünfchen übrig laſſe. Er meinte, e3 werde nicht ſchwer fein, 
fi) mit den rechtmäßigen Verlegern der einzelnen Werfe darüber 
zu verjtändigen. Da ich nun die nähern Verhältniffe gar nicht 
fenne, jo fagte ich ihm, ich würde Dir darüber jchreiben und 


— 5283 — 


ihm feinerzeit Deine Antwort mittheilen. Jedenfalls wird es 
Dich freuen, aus feiner Anfrage den lebhaften und gejteigerten 
Antheil zu erfehen, den die Menſchen jet an den Werfen des 
Großvater nehmen; und wenn eine ordentliche ſchöne Ausgabe 
davon, in mehrern Bänden, etwa (wie Brodfhaus Hinwarf) von 
Lachmann herausgegeben, vor allem aber recht genau und edit 
zu Stande fäme, jo wäre ed wol für uns alle ein Vergnügen. 
Wenn Du aud jo denkt, fo ſagſt Du mir wol bald Deine 
Meinung, und ic) habe noch öfter Gelegenheit, Dir darüber zu 
ſchreiben.“ 

Die Unterhandlungen, welche Joſeph Mendelsſohn mit 
F. A. Brockhaus anknüpfte, führten zum erwünſchten Ziel. Der 
Bonner Profeſſor G. B. Mendelsſohn, Joſephs älteſter Sohn, 
beſorgte mit Hülfe von H. Solowicz u. a. die Sammlung und 
Herausgabe, und fo erfchienen „Mofes Mendelsſohns gefammelte 
Schriften. Nach den Driginaldruden und Handfchriften heraus— 
gegeben von Profeſſor Dr. G. B. Mendelsfohn. In fieben (adj) 
Bänden“ (Leipzig, 3. A. Brodhaus, 1843—45). 

Diefe erſte vollftändige Ausgabe, welche, mit dem Bildnik 
Mojes Mendelsfohns nach dem Driginalbilde von Friſch ge 
Ihmüdt, außer einer „Lebensgefchichte Moſes Mendelsfohns“ 
bon dem Herausgeber, oder vielmehr von Joſeph Mendelsfohn, 
eine treffliche „Einleitung in feine philofophiichen Schriften“ von 
Profefior Ch. A. Brandis enthält, ift ein fchöne® dem Philo— 
fophen errichtetes Denkmal, und gereicht feiner Familie zum 
Ehrengedächtniß. Sie umfaßt fämmtliche philofophifche, äſthe— 
tiſche und apologetifhe Schriften Mendelsfohns, feine Kleinen 
(früher gedrudten und bisher ungedrudten) Schriften, Bemer— 
fungen und Fragmente, feine in der „Bibliothef der ſchönen 
Wiſſenſchaften“, in den „Briefen die neuefte Literatur betreffend“, 
in der „Allgemeinen Deutfchen Bibliothek“ zerftreuten Briefe, 
Kritifen und Auffäge, feinen Briefwechfel mit Leffing, Abbt, 
H. Homberg, Elife Reimarus und %. H. Jacobi, feine Briefe 
an Berichiedene und die Berfchiedener an ihn, endlich feine 


— 529 — 


Ueberjegung des PBentateuch, der Palmen, des Hohenlieds, feine 
Ritualgefege der Juden, Gedichte, Predigten u. ſ. w.!) 

„Moſes Mendelsjohns Schriften zur Philofophie, Aefthetif 
und Apologetik. Mit Einleitungen, Anmerkungen und einer 
guten biographifch-hiftoriichen Charakteriftit Mendelsfohns wurde 
herausgegeben von Dr. Mori Braſch“ (2 Bde., Leipzig, Voß, 
1880). ?) 

Obgleich Mendelsjohn durch feine Werke und fein Wirken 
in der Gefchichte des deutſchen Geiftes wie des jüdischen Stammes 
ein bleibendes Monument fich errichtet hat, fo erfcheint es doch 
nicht überflüffig, hier der Weihe feines Andenfens durch die 
bildende Kunſt zu gedenken. 3) 

Anton Graff malte Mendelsjohn, als diefer ungefähr vierzig 
Jahre alt war, und Baufe, einer der beiten Kupferjtecher feiner 
Beit, hat das Gemälde, „einen der fchönften Köpfe Graffs“,“) 
in Kupfer geftochen. 

Gelungener noch als das Bild Graffs iſt das ca. zehn 
Sahre fpäter angefertigte Gemälde Johann Friſchs, in Kupfer 
geftochen von J. ©. Müller in Stuttgart. Das Driginalgemälde 
befindet fi) im Beſitze der Familie. 

Einige Jahre vor feinem Tode ſaß Mendelsjohn dem Hof: 
bildhauer ZTafjaert, dem Lehrer Schadows, zu einer Marmor: 
büfte; fie wurde im Februar 1785 in der jüdischen Freifchule 
in Berlin aufgejtellt.?) Nach diefer Büfte, welche das Störende 


') Was in den vierzig Jahren jeit dem Erjcheinen dieſer Geſammt— 
ausgabe an Briefen von und an Mendelsjohn, noch aufgefunden wurde, 
habe ich theils im Anhange diefer Biographie 1. Aufl., theils in anderen 
in dieſer Aufl. angegebenen Schriften veröffentlicht. 

2) Bon Mori Braſch erihien auch eine Sammlung von ‚‚Licht: 
ſtrahlen“ aus Mendelsjohns Schriften und Briefen, eingeleitet durch 
einen Eſſay über „Mendelsſohn und jeine Philoſophie“ (Leipzig 1875) 

) M. j. auch S. Salfeld, Bilder und Büften Mendelsjohns in 
Populär-wiſſenſchaftl. Monatsblätter, 1886, ©. 10 f. 

*) Bibliothek der jhönen Wiſſenſchaften III, 322. 

5) Allg. Literatur-Zeitung, 1785, Nr. 49. 

Kayſerling, Moſes Mendelsjohn. 34 


— 530 — 


hat, daß der Mund geöffnet ift, Tießen die Kunjtanjtalten von 
Eichler in Berlin und Gerber in Köln Büften in Effenbein- 
Maſſe und Gips modelliven. Eine ſchöne Büfte fertigte Ernſt 
Rietſchel an. 

Auch eine jilberne Denkmünze, welche von dem jüdischen 
Medailleur Jakob Abraham angefertigt wurde, trägt das Pro— 
filbildniß Mendelsfohns. Die Umfchrift bildet der Name „Moſes 
Mendelsfohn“. Der Revers zeigt einen Schädel, auf dem ein 
Falter ruht. Darüber fteht das Wort: „Phädon“, darunter: 
„Natus MDCOXXIX “, !) 

Alle andern Bilder von Mendelsfohn, gezeichnet, gemalt, 
‚in Kupfer geftochen, in Stein gefchnitten oder in Glas abgedrüdt, 
find mehr oder weniger Zerrbilder, die vom den Zügen des 
Driginals nicht wiedergeben. ?) 

Die dee, Mendelsjohn ein Denkmal aus Stein oder Erz 
zu fegen, wurde, wie bereit erwähnt, vor Hundert Jahren zum 
eriten mal angeregt. Ws 1851 das Friedrichs-Denkmal in 
Berlin errichtet wurde, erwartete man, daß neben Kant, Leffing 
und den andern Denfern, welche dem Zeitalter des großen 
Königs das geiftige Gepräge gaben, auch Mendelsfohn, dem 
treneften Freunde und Strebensgenofjen Leffings, dem Berbreiter 
deutscher Philofophie, dem Beförderer der Eultur unter den 
deutfchen Juden, ein Pla wirde eingeräumt werden. Der an 
dem Entwurf des Monuments eifrig thätige Kriegsminiſter von 
Boyen wünſchte ihn allerdings unter den NRelieffiguren; das 
Borurtheil aber verweigerte ihm die ihm gebührende Stelle unter 
denen, welche ihn einjt mit Stolz zu den Ihrigen gezählt hatten.?) 

Unter den Porträt-Medaillon® am neuen Berliner Rath- 
haufe befindet ſich auch das Mendelsſohns. 

Anläßlich des hundertjährigen Todestages des unvergeßlichen 
Weiſen haben wieder deutſche Männer ſich vereinigt, dieſem Vor— 


) Leſſing-Mendelsſohn-Gedenkbuch, ©. 393. 
2) Schr. I, 36. Das Bild Ms. in Sammler, 1784, iſt von M. Lowe. 
3) Voſſiſche Zeitung von Sonntag, d. 31. März 1861. 


— 531 — 


fämpfer der Blüthentage deutichen Geijteslebens in feiner Ge— 
burtsſtadt Deſſau ein Denkmal zu errichten. 

Die Nation trägt eine Ehrenſchuld ab, wenn fie das Bild 
Mendelzjohng, eines der geijtig einflußreichiten deutichen Männer, 
in den Kreis der deutjchen Geifteshelden jtellt als Mufter Hoch- 

jtrebender Idealität und willensſtarken Gefinnungsadels. 


Dreiundneunzigites Kapitel. 
Der Menſch unter Menſchen. 


Mendelsfohns äußere Erjcheinung contraftirte ſehr mit feinem 
innern Wefen. Er war von Heiner Statur, ſchwächlich und ver- 
wachen. Seine ganze Erfcheinung hätte, wie Profeſſor Kraus 
verfichert, das xoheite Herz zum Mitleidven bewegen Fünnen.?) 
Im Gegenſatze zu dem übrigen Körper war der Kopf ſehr ſchön 
gebildet; die Stirn war Hoch gewölbt, in dem ganzen Schnitt 
des ausdrudsvollen Geſichts lag etwas antifes, und aus feinen 
tiefen dunfeln Augen Teuchtete fein hoher Geift und fein herr— 
liches Gemüth. 

Von Natur zur Leidenſchaft geneigt, hatte er es durch 
lange Uebung in ihrer Beherrſchung und den ſtoiſchen Tugenden 
ſehr weit gebracht. So kam einſt der junge B., in der Mei— 
nung, daß Mendelsſohn ihm Unrecht gethan habe, und ſagte 
ihm eine Grobheit über die andere. Mendelsſohn ſtand an 
einen Stuhl gelehnt, wandte kein Auge von dem jungen 
Menſchen ab und hörte alle ſeine Impertinenzen mit der größten 
Ruhe an. Erſt nachdem der junge Menſch ausgetobt hatte, 
ging er zu ihm und fagte: „Gehen Sie, Sie jehen, daß Sie 
Shren Zwed nicht erreichen, Sie fünnen mich nicht aufbringen.‘ 


) Voigt, Leben des Prof. Kraus, ©. 69. 
34* 





— 532 — 


Er hatte das bejondere Talent, ſich mit jedem, ex mode 
Theolog, Philofoph, Staatsmann, Kaufmann fein, iiber das Fach 
deffelben zu unterhalten, als wenn e8 fein eigenes wäre; er 
verjtand die Kunft, fich in die Denkungsart anderer leicht zu 
verfegen, das mangelnde in den Gedanken eines andern zu ar: 
gänzen und die Lücken auszufüllen. Die polnischen Juden, deren 
Ideengang oft verworren und deren Jargon unverjtändlid 
ift, fonnte er recht gut verjtehen, und fie fühlten fich heimiſch 
in Seiner Unterhaltung; dadurch daß er ihre Ausdrucksweiſe 
annahm, fuchte ex feine Unterhaltungsart zu der ihrigen herab- 
zuftimmen und fie zu der feinigen zu erheben.) 

In feiner Liebenswiirdigfeit wußte er die gute Seite eine 
jeden Menjchen bald ausfindig zu machen und hervorzuheben. 
Der Modeton, alle berühmten Namen mit Füßen zu treten, und 
Männer, die in Anfehen jtehen, durch Spott herunterzufegen, 
diefer armjelige Ton war ihm unerträglich. 

Gutmüthigfeit mit Verſtand verknüpft fchäßte er über alles, 
und er war im Lobe derer umnerjchöpflich, bei denen ex diele 
Eigenschaften antraf. Nicht jelten behagten ihm die Geipräde 
mit Berjonen, deren Umgang fonft gemieden wurde; nur Dumm 
heit, ZTrägheit und Stolz waren ihm aufs höchſte zumider. 
Sonſt war er gegen jedermann ſehr Höflih, fogar in einem 
gewiljen Sinne ceremoniell. Alle Aeußerlichfeiten und Titula— 
turen beobachtete er mit einer an Aengftlichfeit ftreifenden Ge 
nauigfeit, jo daß er nur feine Frau, feine Kinder und feinen 
Bruder mit „Du“ anvedete, fonft aber niemand auch nur fchledt- 
weg bei feinem Bornamen nannte, ohne „Herr“ oder deſſen 
Tonftige Titulatur vorzufeßen. 2) 

Wenn zuweilen bei ihm von auffallend guten Handlungen 
die Rede war, die man durch Lieblofe Urtheile verunglimpfen 








) Sal. Maimons Leben, IL, 171. 


2) Mittheilungen von Markus Herz, im Hamburger Correjpondent 
(Januar 1786); vgl. Der entlarnte Mojes Mendelsjohn, 63. 


— 033 — 


und ihnen unedle Motive unterlegen wollte, ſo war er ſehr 
lebhaft in der Vertheidigung ſolcher guten Handlungen gegen 
dergleichen Beſchuldigungen. Sagte man, daß ſie durch Ehr— 
ſucht veranlaßt wären, ſo erwiderte er, daß das ja ſchon etwas 
vortreffliches ſei, in guten Handlungen Ehre zu ſuchen. 

Seine Beſcheidenheit ging bis zur Selbſtverleugnung. Eitel- 
feit und Zitelfucht blieb ihm fern, Ehrenbezeigungen waren ihm 
zuwider, befonders wenn fie den Schein der Schmeichelei hatten. 
Einjt bejuchten ihn ein paar franzöfifche Edelleute und verficher- 
ten, daß jie die Reife nad) Deutfchland unternommen hätten, um 
den großen Friedrich und den Philoſophen Mendelsfohn zu fehen. 
Ohne darauf zu antworten, fragte er fie, ob fie nicht etwa auch 
nad) Weimar reifen würden, und nahm fo Gelegenheit, von 
Wieland, Goethe und Herder mit fo außerordentlichen Lobeser— 
hebungen zu fprechen, daß feine eigenen Verdienſte in Schatten 
traten. Ex lenkte das Geſpräch auf mehrere der vorzüglichiten 
Köpfe Deutfchlands und jchilderte deren Bedeutung feinen 
beiden Bewunderern fehr lebhaft, blos in der Abjicht daß jie 
ihn felbjt vergäßen.!) 

Er ſprach gern und nahm an der Unterhaltung jtet3 An— 
teil, ſobald fie nicht fade und gedanfenlos war. Durch gefchiete 
Wendungen gab er den Gefprächen, ohne fie zu unterbrechen, 
oft eine zwedmäßige Richtung?) Alle feine Gefpräche, ja jedes 
Wort von ihm war lehrreich und unterrichtend, weil ex fein 
einziges Wort überflüffig oder am unrechten Orte ſagte. Sobald 
fein Urtheil über einen Gegenstand der Unterhaltung nicht ent- 
Ichieden war, fo fchwieg er. Aber wenn er dann ſprach, waren 
Gedanken und Ausdruck abgewogen. Viele feiner Gejpräche 
würden, wie der befannte Piychologe K. P. Mori bemerft,3) 
Sofratifchen Denkwirdigfeiten an die Seite zu feßen fein. 


) (Schmidt) Leben und Meinungen Mofes Mendelsjohns, ©. 30. 
2) Maimon, a. a. D., II, 175. 
3) Schr. I, 41. 


— 534 — 


Er Hatte Hang zur Satyre und fonnte in feinen Aus: 
drüden bitter werden, bejonders da er oft öffentlicd) und auf 
eine unwürdige Weile angegriffen wurde, aber er jtricd die 
Stellen, nachdem ſich die erſte Aufwallung gelegt Hatte, entweder 
felbjt oder auf die mindefte mißbilligende Miene feiner Freunde!!) 

Er war ein Freund des Scherzes und der Laune und es 
fehlte ihm nie an fchlagfertigem Wi. Der Propſt Teller wandte 
ſich einft an ihn mit der fcherzhaften Anrede: 

An Gott den Bater glaubt ihr jchon, 
So glaubt doch aud an jeinen Sohn. 


Ihr pflegt doch jonft bei Vaters Leben 
Dem Eohne gern Credit zu geben! 


Mendelsjohn antwortete: 


Wie fönnten wir Gredit ihm geben? 
Der Bater wird ja ewig leben. ?) 


AS einmal ein junger Lieutenant ihn anfchnarrte: „Womit 
handelt er?“ fertigte er ihn mit den Worten ab: „Mit etwas 
was Sie brauchen fünnen — mit Berjtand.‘ 3) 

Humor und Laune verließen ihn auch in veifern Sahren 
nicht und mit treffenden Antworten war er ſtets bei der Hand. 
Als die Materie von der Freiheit des menschlichen Willens 
unter den Philofophen aufs neue in Anregung fam, hatte ihm 
ein junger Schriftjteller hierüber einen Auffag zum Durchleſen 
gebracht. Nach einiger Zeit kam er, um jein Urtheil über die 
Arbeit zu hören. „Sch Habe Ihren Aufſatz über die Willens 
freiheit nicht leſen können,“ ſagte Mendelsjohn. Dex junge 
Mann war hierüber betroffen, ſchob die Schuld auf feinen Aufſatz 
und verjicherte, daß es ihm leid thäte, Herrn Mendelsfohn 
damit beläftigt zu Haben. Mendelsſohn ſprach dem etwas ge 
demüthigten jungen Manne Muth zu, indem ex verficherte, die 

) Friedländer, a. a. O., 18. 

2) Schr. L, 37. 

3) Sulamith III, 2, 146. 


— 535 — 


Schuld läge gar nicht an ſeinem Aufſatze, daß er ihn nicht 
geleſen habe, ſondern er ſei durch Umſtände daran gehindert 
worden. „Wie konnten Sie aber auch,“ fuhr Mendelsſohn fort, 
„aus meinen vorigen Aeußerungen ſchließen, daß ich Ihren Auf— 
ſatz für ſchlecht hielte?“ „Weil ich glaubte, Sie hätten ihn nicht 
leſen wollen.“ „Sie machen alſo, wie ich höre, einen Unterſchied 
zwiſchen wollen und können,“ verſetzte Mendelsſohn, „dann darf 
ich ja Ihren Aufſatz über Willensfreiheit gar nicht leſen, denn 
ich höre, wir find einig.“!) 

Seltene Herzensgüte war ein Grundzug feines Charakters. 
Großmüthig unterjtügte er andere ohne Unterichied des Standes 
und des Befenntnifjes weit mehr als feine Vermögensverhältniſſe 
e3 ihm gejtatteten. Seine Mildthätigfeit war unbegrenzt. Als 
er eines Abends feinen Freund Müchler bejuchte, erzählte ihm 
diefer, daß ein gewiljer Herr von %., den Mendelsjohn dem 
Rufe nad) als einen gejcheiten und redlichen Mann fannte, von 
feinem Boften bei der Defterreichifchen Gejandtichaft verabichiedet 
und Hierdurch als Gatte und Familienvater in die äugerfte 
Bedrängniß gerathen jei. - Mendelsfohn war jichtbar gerührt. 
„Ich Habe,“ jagte er nad) einer Weile, „zweihundert Thaler 
einbefommen, die will ich dem Herrn von %. gern leihen.‘ 
„Lieber, großmüthiger Mendelsſohn!“ entgegnete Müchler; „ich 
fann nicht dafür ftehen, ob mein vedlicher Freund je wieder in 
den Umſtänden fein wird, die Summe zurücderjtatten zu können.‘ 
„Das verlange ich auch nicht,“ verjegte Mendelsfohn. „it Herr 
von %. ein ehrliher Mann, jo wird er jener Verpflichtung 
gedenken, und kann er feine Schuld nicht wieder abtragen, jo 
bin ich mit dem Lohne meines Bewußtjeins zufrieden.“ Mendels- 
ſohn Hatte ſpäter nie von der Sache geiprochen, und der ihn 
überlebende Miüchler wußte nicht, ob ihm die Summe zurüdge- 
fommen ſei. 

Ein anderes mal trat Mendelsiohn traurig und verjtimmt 





) Schr. 1, 40. 





— 536 — 


bei demjelben Freunde ein. Müchler fragte ihn, was ihm 
widerfahren jei. „Sch bin wegen einer armen Frau in folder 
Bewegung. Dieſe Frau, der ich ſchon oft Seide zum Wideln 
gegeben Hatte, fam Heute mit Thränen zu mir. „Was fehlt 
ihr, Frau? Habe ich ihr denn nicht gute Seide gegeben?“ Cs 
ift fonjt meine Gewohnheit, die gute zum Wideln Yeichtere Seide 
den bedürftigen Frauen zuzumenden, und die fchlechtere, welde 
zum Wideln mehr Zeit erfordert, für die Frauenzimmer aufzu— 
behalten, die den Verdienſt zu ihrem Buße verbrauchen. „Ich 
bin fehr zufrieden, Tieber Herr Mendelsfohn !“ antwortete die 
Frau, „und verdiene leicht fo viel, um mich und mein Kind zu 
ernähren: Aber einen Kummer habe ich, der mich ins Grab 
bringen wird. Mein verjtorbener Mann hatte mir fünfhundert 
Thaler Hinterlaffen, um fie für unfere Tochter aufzubewahren. 
Nun kam vor furzem ein dem Scheine nach redlicher Menid zu 
mir und verſprach, mich zu Heirathen, wenn ich ihm die fünf 
hundert Thaler zu feinem Gewerbe vorſchießen wollte. Ich 
thörichtes Weib willigte ein, und der Schändliche ging mit dem 
Gelde davon. Jetzt quält mich mein Gewifjen Tag und Nadt, 
daß ich mein Kind fo Leichtfinnig um das feinige gebracht habe.“ 
Mendelsjohn verſprach zu helfen und Half.!) 

Mendelsfohn war in feinem ganzen Wejen das Ideal eines 
Weifen, das Vorbild von Leijings Nathan. „Sch Habe ihn,‘ 
Schreibt Nicolai in dem ihm gemwidmeten Nachrufe,2) „Seit dreißig 
Jahren in jo vielen Borfällen des menschlichen ‚Lebens thätig 
gejehen. Ich habe die außerordentlichen Beiſpiele feines Edel 
muths, feiner unerjchütterlichen Redlichkeit,3) feiner Uneigenmüßig- 
feit, feiner Menjchenliebe, feiner Bereitwilligfeit Feinden zu ver 
geben, feiner Sanftmuth, feiner Freundfchaft geſehen.“ Die 
edeliten Züge der Menfchheit waren in ihm vereinigt. Adel der 


) Jedidja IL, 2, 237 ff. 
2) Allg. deutiche Bibliothek, Bd. 65, ©. 630. 


3) Wie edel entihied er, einen „„Gewiffensfall im Handel”! ©. 


Jedidja I, 1, 173 ff; Allg. Ztg. d. Idths. 1867, ©. 587 f. 


—. 


.s 


— 537 — 


Gefinnung und Tiefe des Gemüths mit der Klarheit und Schärfe 
des Geiftes find felten wieder in gleicher Volltommenheit an— 
getroffen; er lebte als ein Weifer, als der Sofrates feines 
Sahrhunderts. 

Wie ähnlich find fic) der Weife Athens und der Berliner 
Philoſoph im Leben und Leiden, im Wirken und Lehren? Beide 
haben ſich aus niedriger Herkunft zu einer einflußreichen Be- 
deutung unter ihren Zeitgenoſſen erhoben; beide hatten Armuth 
zu ertragen, Vorurtheile zu befämpfen, Uergernijje zu vermeiden. 
Wie Sokrates wirkte auch Mendelsfohn mehr noch al3 dur) 
feine Werfe, dur) den Adel feiner Perfönlichkeit, durch die 
Liebenswürdigfeit, der niemand widerjtehen konnte, durch den 
Zauber, der von feinem ganzen Wefen ausging. Seine Nähe 
heiligte und veredelte. In feiner Gegenwart, jagt Moriß, war 
einem wohl, man fühlte Schon durch feinen Anblid fi) gehoben 
und ermuntert, und nie ift vielleicht einer ungebefjert von ihm 
gegangen. 


Mendelsjohn Iebte in der glüdlichjten Ehe. Seine Fromet, 
die an allem was ex fprach den innigjten Antheil nahm, war 
das Mufter einer liebevollen Gattin und einer zärtlichen Mutter. 
In ihrem Haushalte richtete fie alle8 auf das genauejte ein fo 
zwar, daß fie in die auf den Tiſch zu jegenden Schalen mit 
Süßigkeiten die Rofinen und Mandeln zählte, damit nicht zu viel 
darauf gehe.) Sie ftarb den 15. März 1812 in Hamburg 
und wurde auf dem. Friedhofe der deutjchsifraelitifchen Gemeinde 
zu Altona begraben. 

Fromet befchenfte ihren Gatten mit neun Kindern. Sein 
älteftes Töchterchen jtarb, al3 es elf Monate alt war,?) ein 


1) ©. Henjel, a. a. D., I, 32. 

2) Schr. V, 315; M. f. auch in den von Avigdor Levi herausge- 
gebenen „Iggerot R. Moſche Deſſau“ (Wien 1794) den 4. Brief vom 
17. April 1780, und mein: Moſes Mendelsjohn. Ungedrudtes, ©. 46. 


— 538 — 


anderes Kind verfchied ebenfalls im zarten Alter; aud ein 
zwölfjähriger Sohn wurde ihm entriffen. Sechs Kinder über 
febten ihn und zwar drei Söhne: Joſeph, Abraham und Nathan, 
und drei Töchter: Dorothea, Reha und Henriette. 

Bon Joſeph war Schon früher die Rede. Abraham, !) der 
Bater des berühmten Tonfünftlers Felix Mendelsfohn-Bartholdy, 
begründete mit feinem Bruder Joſeph ein Bankgeſchäft. Nathan, 
der jüngjte, der, beim Tode des Waters erſt fünf Jahre alt, 
ih, wie Mendelsjfohn Herz Homberg jchrieb,2) „den Weiſen 
nannte und deſſen Weisheit darin bejtand, daß er von dem 
Mathematifer Swa LZuderbrot und von R. Samuel Breiter 
fuchen erwartete,“ widmete fich der Mechanik, verheirathete ſich 
mit einer Tochter des reichen Daniel Itzig und ftarb wie der 
Bater am Sclagfluß. 

Seine ältefte Tochter Dorothea (Brendel) verheivathet 
Mendelsjohn mit dem Bankier Simon Beit in Berlin; fie Lebt, 
anfangs wenigjtens, mit dem unvergleichlichen?) Manne in einer 
glüdlichen Ehe, wie Moſes drei Monate nad) der WBermählung 
Homberg mittheilt, „glüdlicher als wenn der Sohn des reichten 
Mannes ſich großmüthig entfchloffen, fich zu ihr herabzulaſſen.“) 
Recha (Reifel) heirathete den Sohn feines „innigftgeliebten Freun- 
des“, des Hofagenten Nathan Meyer in Streliß;5) die Ehe war 
feine glüdliche und wurde bald gelöft. Henriette, „das Tieffte 
und Sinnigite“, wie Rahel Levin fie nannte, blieb unverheivathe. 

Mendelsſohns Hausjtand verzehrte fo ziemlich fein Ein 





') Geboren am Borabende des Neumondtages Tebet — 9. De 
cember 1776; ſ. 1. Aufl. ©. 502. 

2) Schr. V, 672. 

3) Meber Nathan Mendelsſohn j. Voſſiſche Zeitung, Sonntags: 
beilage vom 7. October 1883. 

4) Schr. V, 667. Zu ihrer Hochzeit, welche den 3. April 178 
ftattfand, dichtete Joſel Rachnower ein Carmen in hebr. Sprache. Weber 
Dorothea und Henriette Mendelsjohn ſ. mein: Die jüdifchen Frauen 
in der Gedichte, Literatur und Kunft (Leipzig 1879), ©. 182 ff. 

5) Schr. V, 686, 1. Aufl. ©. 504. 


— 


— 539 — 


fommen, das als Disponent und Factor der Bernhard’ichen 
Seidenfabrif nit groß war; bei aller Sparfamfeit konnte 
er nicht viel Vermögen fammeln. Die Sorge um die Zukunft 
feiner Rinder trübte ihm die legten Tage feines Lebens. Einige 
Monate vor feinem Tode fand ihn einer feiner Freunde unter . 
dem Baume vor feinem Haufe figen und fragte ihn: „Was haben 
Sie, lieber Herr Mendelsjohn? Sie fehen ja fo beforgt aus.‘ 
„sa,“ antwortete er, „ich bin e8 auch! ich denfe daran, wie es 
meinen Kindern nad) meinem Tode ergehen wird, da ich ihnen 
nur wenig Vermögen hinterlaſſe.“ 

Und doch war er der erſte in Deutfchland, der die Schranken, 
welche den Gelehrten von der Welt trennen, durchbrach und 
ein Haus ausmachte. Morgens im Haufe am früheften wach, 
befchäftigte er fich in den Morgenstunden mit wiffenjchaftlichen 
Arbeiten; um neun Uhr ging er in feine Fabrik, wo er in der 
- Regel bis drei oder vier Uhr blieb. Den Nachmittag widmete 
ex wieder wifjenfchaftlichen Arbeiten oder der Erholung. Abends 
fanden ſich in feinem in der Spandauerftraße gelegenen Haufe, 
in dem ex „lebte und wirkte”,1) Freunde ein, mit demen ex ſich 
unterhielt; hier waren Gelehrte und Staatsmänner, Schriftiteller 
und Scaufpieler, Freunde und Eingeführte, auch ungeladen 
eines guten Empfangs ficher. 

So jteht er vor uns da, diefer einzige Mann, der durd) 
perjönliche Würde, durch wiffenfchaftlichen Eifer, durch Klarheit 
und Tiefe des Denkens die Bewunderung feiner Zeit auf ſich 
309, diefer Mann, ein wahrhaft religiöfer Jude und ein deuticher 
Schriftiteller, ald ein Hohes Mufter der Nachwelt, auf defjen 
Denkmal wir getroft die Worte fegen dürfen: 


Moſes Mendelsjohn, 
Ein Weifer wie Sofrates, 
Den Gejegen der Väter getreu, 
Unfterblichfeit lehrend, 
Unſterblich wie er 


) Das Haus Spandauerftraße Nr. 68 trägt auf einer Marmortafel 
die Inſchrift: „In diefem Haufe lebte und wirkte MojesMendelsjohn‘. 






UNIVERSITM 
Or 


nn j 5 
IA: einen 


Regiſter. 


Abba Gloſtk, 431. 

Abbt, Thomas, 64. 70. 108 f. 119. 
121. 128—134. 137—140. 143. 
156. 168. 171. 180. 197. 229. 241. 
269. 369. 528. 

Abraham, Jakob, 530. 

d'Acoſta, Em. Mendes, 333. 

Adler, 2., 5227. 

Aepinus, 58. 61—63. 

Atenfide, 101. 

Albo, Sof., 394 f. 

Albrecht, Friedrich, 344. 

D’Alembert, 154. 

Alerander, Iſaak, 433. 

Alringer, 175. 

Anſchel, Salomon, 157. 

d'Argens, Marquis, 18. 26. 37. 
115—117. 

Ariftophanes, 143. 

Arnftein, Fanny von, 426. 

Auerbad, Berthold, 120. 

—, Yafob, 2. 156. 

—, J. L., 520. 

Auerswald, von, 258. 


Bader, ©. 342. 
Bär, Stud., 129. 215. 
Baermwald, 9., 525. 
Bamberger, 59. 

—, Heimann, 8. 


Baſedow, Joh. Bernhard, 3% 


bis 335. 460. 

Batteur, 33. 

Baumgarten, Aler., Aefthetiter, 
25. 42. 61—63. 70. 73F. 76. 8. 
87. 137. 145. 468. 

Baufe, 529. 

Bayle, 443. 

Beattie, 472. 

Beaumont, Marquije de, 162. 

Beaufobre, 19. 40. 471. 

Beder,Sophie,423.492— 494.512. 

Bedraſi Benini, 100. 

Beer, Bernhard, 521f. 

— Cerf, 371. 373. 

— Peter, 522. 

Beer:Bing, Jeſaia, 159. 

Behr, Iſachar Falkenjohn, 20. 

Bendapvid, Lazarus, 433. 

Bendit, Jeremias, 291. 

Bernhard, Iſaak, 20f. 9. 9. 
114 f. 128. 539. 

Bernoulli, PBrof., 373. 

Biefter, 434. 515. 518. 

Bilfinger, 25. 

Bleichröder, 10. 

Bloch, Markus, 118. 233. DI. 
426. 508. 516. 526. 

—, J. ©., 342. 

Bod, Tobias, 99. 





Regiiter. 


Bode, Johann 3. Chrift., 120. 
123. 

Bodek, Arnold, 104. 342. 5. 

Bodmer, 40. 

Börne, 478. 

Boie, Heinr. Chrift., 119. 121. 
254. 260. 

Boileau, 173. 

Bolingbrofe, 42. 

Bonnet, 187—189. 194— 200. 211. 
399. 440. 

Boyen, von, 530. 1 

Boyjen, Prediger, 283. 

Brandis, Brander von, 125. 

—, ©. A., 528. 

Braſch, Morig, 72. 524. 529. 

Breitenbaud, Georg Aug. von, 
28. 50f. 94. 

Breitinger, 18. 

Bretfhneider, H. ©., 513. 

Brockhaus, Heinrich, 527. 

Bürger, ©. Aug., 254. 

Büſching, 380. 

Burja, 4., 158. 

Burke, Edmund, 65. 87. 89—92. 


Gacault, Franz, 237. 

Caglioftro, 435. 491. 

Campe, Joahim, 331—335. 422. 
439. 512. 517. 

Cartes, des, 145. 

Caftro, de, 120, 123. 

Glarfe, 3. 

Claudius, 518. 

Cohen, Raphael, 292— 300. 

—, Saat Seligmann, 429. 

Conz, Karl Philipp, 516. 

Cramer, Prediger, 113. 

Cranz, Kriegsrath, 380. 

Grommell, 375. 

Cronegf, Joh. Friedr. von, 109. 

Cruſius, 104. 


— 


541 


Cullen, 159. 

Damm, Rector, 57. 149. 296. 

Dante, 44. 

Danzel, Th. W., 23. 101. 

Dasdorf, Karl Wilh., 248—250. 

Danejon, Alerander, 356. 

Deſſau, Fürft von, 459. 

—, Elia, 3. 

—, Herz, 123. 

— , Iſaak, 237. 276. 

—, Mojes, 3. 

—, Saul, 123. 

Diderot, 24. 141. 

Diez, 415. 

Doederlein, Joh. Chrift., 318. 
414, 

Dohm, Chr. Wilh., 337. 353, 371 
bis 377. 380. 415. 434. 

Dorothea, Herzogin von Kurland, 
491. 493. 511f. 

Drieß, Joh. Peter, 148—150. 

Dubno, Salomo, 287—289. 293. 
301—304. 

Dumpf, 201. 

Duran, Sim., 3%. 

Duſch, Joh. 3., 108. 


Eberhard, Joh. Aug., 403. 474. 

Ebert, 217f. 221. 

Edelmann, oh. Chrift., 148f. 

Eibenſchütz, Jonathan, 120. 279. 

Eijenmenger, 203. 

Emden, Jakob, 277—280. 400. 
420. 429. 

Engel, Joh. Jakob, 348. 434. 452. 
456 f. 474. 503. 515. 517 f. 

Eihenbad, 78. 

Eihenburg, Joh. Joadim, 338. 
513. 

Euchel, Iſaak, 410. 428. 

Euler, Aftronom, 58f. 63. 347. 


542 Regiſter. 


Ferber, Freiherr von, 249f. 273f. Gedike, 434. 

Ferdinand, Prinzeſſin von Gervinus, 166. 476. 
Breußen, 511. Geßner, Sal., 108. 179. 

Ferbinandi, Carlo, 33. 158. Gleim, 107. 172 f. 175. 226. 8. 


Feßler, 411. 355. 498. 503. 506. 

Finn, ©. 3., 464. Glüd, Regina, 159. 

Fiſcher, Mofes, 323. Goen3, van, 89. 

—, Rector, 451. Goethe, 24. 100. 161. 1737. 1%. 
Flies, Doctor, 357. 186. 342. 365. 432. 440. 449,42. 
Fontenelle, 105. 495. 499 ff. 506. 514. 517.53. 
Formey, 227. Goeze, Paſtor, 212. 333-0. 
Formfteder, ©., 522. 389. 498. 

Franco Mendes, David, 429. Goldjihmidt, M. A., 308. 42. 
Frankel, 2. A. 523. 5227. 

Franfl, P., 525. Goſche, R., 522. 

Fräntel, A., 524. Gottlober, A. B., 342. 409. 
—, David 9., 3. 5—8. 14. 68. 511. | Gottſched, 15—19. 101. 

—, David, Director, 520. Graff, Anton, 529. 

Freund, ©., 525. Groſſinger, Joſ., 125. 


Friedländer, David, 157. 197. | Grün, N., 8. 13. 

220 f. 247. 250. 304. 311. 321f. | Gugenheim, Abraham, 120.12. 

336. 341. 411. 426—428. 457. | —, Brendel, 124. 

517 f. —, Fromet, 120-130. 526. 531. 
Friedrich, Friedrich, 523. —, Sojeph, 257, 428. 
Friedrich Il., der Große, 9. 66. | Guhrauer, ©. E., 82. 

102. 110—117. 127. 146. 216. | Guldberg, Hoegh, 296. 

228—231. 267 f. 275. 349. 377. | Gumpel, M. (Prof. Lömijohn), 


434. 467. 533. 325. 
—, Herzog von Medlenburg: | Gumperg, Aron Sal. 14 5 
Schwerin, 277. 20. 5. 38. 31. 40 f. 44. Bi. 
—, Leopold, Herzog von Anhalt: 163. 
Deflau, 525, Guſtav IIL., König von Schweden, 
Friſch, 528f. 1. 
Fritzſche, Freiherr von, 273. | Gutfhmidt, Freiherr von, Ni 
Fürft, Julius, 342. niſter, 249. 
— 8., 52.  Guttenftein, B., 521. 


| 
—, Mojes, 301. 428. | 
Fürftenthal, R., 215. | 


Hadjits, Johann, 159. 
Hahn, ©., 521. 

Halberftadt, Abraham, 226. 
—, Samuel, 272. 274. 
Halevi, Jehuda, 100. 289. 


Galigo, Joſeph, 309. 313. 
Garve, Chriftian, 240. 284. 413. 
462. 478. 483. 497 f. 515. 517. 








Regiſter. 


Haller, Albrecht von, 89. 108. 
254. 429. 

Hamann, oh. Georg, 128. 163 
bis 168. 170f. 211. 258. 416f. 
440. 459. 476. 499. 502. 513. 

Hartmann, Friedrih Traugott, 
380. 

Haſſe, 314. 

Hebler, Karl, 3427. 

Hegel, 476. 

Heiberg, $. A., 158. 

Heidenheim, Wolf, 303. 

Heilberg, ©., 520. 

Heine, Heinrich, 146. 519. 

Heinife, Samuel, 501. 

Heinrich, Prinzvon Preußen, 150. 

Hell, 371. 

Helvetiuß, 157. 

Hemfterhuis, 449. 

Henning3, Auguft von, 149. 174. 
248. 250—255. 287. 294—297. 
301. 339. 360f. 366. 4125. 415. 
424. 453. 465—469. 479, 

Henjel, ©., 455. 

Henäler, Bhilipp, 157. 

Herder, 3. 8. 48. 77. 93. 138. 
160f. 166—170. 173. 189, 211. 
217. 2431. 308. 325. 358. 361 
bi3 369. 412. 416f. 449. 451. 
498—500. 514. 517. 533. 

Herſchel, Sal., 420. 

Herz, Elfan, 4. 206f. 212. 235. 
257. 325. 388. 400. 

—, Henriette, 429. 457. 

— , Markus, Hofrath, 250. 258. 
281. 371. 375. 426. 429—431. 
452. 457. 480. 506—508. 517 f. 
532. 

—, Naphtali, aus Dubno, 303. 

Herzberg, Joſeph, 460. 

Heſſe, Baitor, 204. 

Heyne, Profeſſor, 211. 


543 


SDirſch, NRab., 4. 


—, Abraham, 110. 

—, Michael, Rab., 69. 

Hirſchen, Freiherr von, 370, 

Hitzig, Baurath, 11. 

Hobbes, 382. 503. 

Höchheimer, Simon, 516. 

Holbad, 157. 

Holdheim, Samuel, 418. 

Homberg, Herz, 230. 313— 317. 
380. 406. 410. 421. 426. 451. 
453. 528. 538. 

Hormwik, Aron, 291. 325. 

—, Pindas, 310. 

Hoym, Graf, 436. 

Humboldt, Mlerander von, 322. 
452. 455—458. 

— , Wilhelm von, 452. 455—458. 

Hume, 56. 61. 485. 

Hutcheſon, 24. 


Jacobi, Friedr. Heinr., 172. 177. 
354. 365. 417. 439—451. 487. 
490f. 494—507. 513. 517. 528. 

—, oh. Georg, 172f. 

— , Lieutenant, 51. 58T. 

Jaffe, Iſaak, 276. 

—, Mordedhai, Rabb., 277. 

Jakob, 2. H., 486. 501. 

Janow, Hirſch, Rabb., 292. 

Jaroslaw, Aron, 215, 314. 

Jeilius, Duintus, 467. 

Sellinet, Ad., 123. 345. 522.524. 

Serujalem, Abt, 199. 216. 221. 

—, Karl Wilhelm, 175. 

Joel, M., 522. 525. 

Solomicz, H., 317. 

Joſeph, 51. 

Joſeph Il., Kaijer, 230. 308f. 
411. 

Soft, 3. M., 520. 

Joß, Aron Beer, 314. 


544 


Iſelin, Iſaak, 77. 178-182. 
Iſſerles, Mojes, 3f. 


Itzig, Daniel, 11f. 204. 350. 311. 


336. 356. 426. 538. 
—, Iſaak Daniel, 336. 
Jung, Oberförfter, 2467. 
Junker, Brofeflor, 158. 
Juſti, von, 112. 114. 


Käftner, Abr. ©., 174f. 229f. 

Kalir, Samfon, 69. 215. 

Kampe, Friedrich, 146. 

Kanngießer, ©., 70. 72. 

Kant, 3. 76. 92f. 133f. 258. 341. 
411. 430—432. 448, 462. 469. 
478. 480. 497. 500f. 505. 516. 
519. .530. 

Karl Wilhelm Ferdinand von 
Braunfchmeig, Herzog, 191. 199. 
216f. 225. 402. 459. 

Karſchin, 108f. 

Katharina II. 
Kaiſerin, 229. 

Kaunitz, Fürſt, 509. 

Keith, Marſchall, 112. 

Kennicott, 327. 

Keyſerling, Graf, 258. 260. 

Kirnberger, 28. 63f. 66. 

Kiſch, Abraham, Arzt, 13. 

Klaproth, Profeſſor, 452. 

Klein, Ernft Ferdinand, 2847. 
434. 456. 

Kleift, Em. Ehriftian von, 97. 

- 102. 

Klodenbring, von, 239. 

Klopftod, 88. 106 ff. 309. 

Knebel, von, 172f. 449. 


von Rußland, 


Kölbele, Joh. Balth., 200—207. 


König, Eva, 124. 222. 338. 
Köper, Cabinetsrath, 228. 
Körner, 79. 432. 

Korff, von, Kanzler, 260. 


Regifter. 


| Kraus, Chriſt. Jakob, Profeſſor, 
28 f. 531. 

Kuh, Ephraim Moſes, 67f. 
Kypke, Georg David, 274f. 


Lalande, 373. 
Lambert, Joh. Heinr., 229. 239. 
469. 471. 518. 

' Zamettrie, 157. 

' Landau, Ezediel, 293. 310. 

Landshuth, 2., 7. 12. 15. 18. 

Laſch, Wolf, 421. 

Lavater, 170f. 182—201. 24 
bis 215. 218f. 227. 232. 2431. 
247. 253 ff. 259. 2717. 320. 347. 
363. 387f. 399. 413. 446. 49. 
505. 517. 

Lazarus, M., 162. 418. 525. 

Lebredt, F., 2. 

Leeſer, Iſaak, 409. 

Lehmann, Emil, 524. 

Leibniz, 19. 23. 25. 33—37. 411. 
76. 105. 137. 145. 156. 186. 261. 
391. 398. 464. 470ff. 518. 

Leifemwig, 175. 

Leo, Hartog, 69. 420. 

Leopold v. Braunfchweig, Herzog, 

ı 262. 

 —, Franz, Fürft von Defjau, 332. 

459. 








172. 188f. 


| 
516f. 523. 528. 530. 536. 





265. 295. 350f. 351. 358. 368. 


Leſſing, Gotthold Ephraim, 2. 
6. 15. 19. 24—62.65— 74.77 — 82. 
86-107. 110. 118—121. 124—127. 
130 ff. 137. 144. 161. 168. 170. 
199. 201. 207. 
209—215. 217— 226. 228—241. 
248. 253 ff. 260—265. 337 —369. 
3725. 389. 439—446. 4497. 
455. 467. 478. 497—509. 513. 


—, Karl, 9. 188. 221. 223. 2507. 


Regifter. 


Levi, Avigdor, 200. 275f. 304. 
309. 323. 433. 537. 

—, Raphael, 156. 226. 260. 

Levin, Hirfchel, 276. 282f. 291. 
311. 

—, Rabel, 538. 

—, Saul, 291. 

Lichtenberg, Georg Chriſt. 213f. 
254. 

Lieberfühn, €. ©., 104. 

Liepmannsfohn, ©. 2., 52, 

Locke, 13. 23—25. 186. 382, 432. 
471. 

Xohenftein, 109. 

2offiug, 414. 

Löwe, Joel, 323f. 426, 

Löwifohn, M.,. 325. 

Lowth, 101. 

Luiſe Ulrike, 
Schweden, 231. 

Luther, 322. 

Luzzatto, Moſes, 315. 

Lynar, Graf von, 436. 


Königin von 


Maimon, Salomon, 431f. 460. 

Maimonides, 5. 203. 393f. 
400. 427. 431. 

Malebrande, 37. 42. 

Manſo, 87. 

Marcus, Samuel, 298 ff. 378. 

Martini, 58. 

Marr, M. ©., Arzt, 281. 

Matthijjon, 19. 

Maupertuis, 18f. 26. 41—44. 
112. 

Maurer, Fr., Buchhändler, 321. 

Meden, Johann Friedrid von, 
491. 

Meinhard, Joh. Nik., 161. 169. 

Menafje ben Israel, 375. 

Mendel Sopher, 2—6. 130. 
Kanjerling, Mojes Mendelsjohn. 


— — — — —— — — — 


545 


Mendelsſohn, Abraham, 427. 
453. 538. 

—, Alerander, 457. 

—, Dorothea, 454. 457. 538. 

—, Ernft, 341. 523. 

—, Franz, 525. 

—, ©. 3., 528. 

—, Henriette, 538. 

—, Sojeph, 33. 451—455, 457. 
508. 527f. 588. 

—, Nathan, 538. 

—, Reha, 538. 

— Saul, 2881. 

Mendelsjohn« Bartholdy, 
Felir, 527. 538. 

Merian, 39. 163. 228. 471. 

Met, Mojes, 451. 

Meyer, 5. 2. W., 503f. 

—, Nathan, 538. 

Michaelis, Joh. Dav., Profefjor, 
30. 32. 39f. 71f. 163. 210. 
226. 235—239. 320. 324f. 374, 
414. 417. 

Michel, Mathematiker, 349f. 

— David, 65. 225. 

Middleton, 60. 

Mirabeau, 409. 517. 

Möller, Oberft, 58. 

—, V. €., 401. 

Morik, Karl Bh., 457. 517. 533. 
537. 

Mörſchel, 381, 388. 

Mortara, Marco, 455. 

Moſer, Karl Friedr. von, 180. 

—, Moſes, 519. 

Mofes (john), Aron, 69. 135. 
325. 

—, Sohn de3 Simda, 3f. 

Müchler, 28. 40. 51. 58. 99f. 
154. 535f. 

Müller, Johannes von, 199. 

—, J. ©., 529. 

35 


546 


Mündhaufen, von, Minifter, 
226. 
Mysnikow, 159. 


Naumann, Chr. Nikol., 28. 51. 
120. 
Newton, 24. 56. 108. 


Nicolai, Friedrich, 13. 22. 41. 
52-59. 65f. 69. 78ff. 95— 102. 
106. 112. 116. 130. 139. 143. 
158. 168f. 171. 179. 189. 199 ff. 
217. 228. 236. 336. 358ff. 373. 
403. 433f. 474. 491. 496. 512. 


515. 517f. 536. 


Dbereit, Jakob 9., 177. 399. 

DOmpteda, Frau von, 243. 

Oppenheimerſche Bibliothek, 
429, 


Pauli, Doctor, 120, 123. 
Pauw, Eorneille de, 467. 
Penini, Bedrafi, j. Bedraft. 
Berichte, 324. 
Philippſon, 2., 342. 418. 422. 
522. 
—, Mojes, 225. 517. 
Pizetti, Franc., 125. 
Platen, Auguft von, 161. 
—, 9. D. von, 158. 475. 
Blatner, 469. 


Plato, 56f. 142. 146. 151. 153. 


160. 466. 
Plotin, 145. 154. 
Pope, 24. 41-43. 67. 101. 
Prömontval, A. P., 26. 39—41. 
163. 


Nabe, Kaplan, 325. 420. 
Rachnower, Joſ., 538. 
Raeine, 173. 


Ramler, 41. 83. 163. 321. 341. 


429. 491. 493. 515. 518. 





Regiiter. 


Rappaport, Morig, 523. 

Rede, Elile von der, 491. 49. 
511f. 

Rehfuß, C. 522. 

Neid, 472. 

Reimarus, Eliſe, 223. 262ff. 
291. 335. 339. 358. 367 f.439-447. 
450. 453. 482. 495 f. 528. 

—, Herm. ©., 145. 223. 382. 

—, Johann Albert, 2. 250. 440. 
444. 448. 452. 458f. 482, 517. 

Reinbed, 11. 

Neinhard, 43. 

Reſewitz, Abt, 58. 147. 

Reuß, Fürft von, 509. 

Richardſon, 24. 

Richter, 3. A. L., 6. 520. 

Riedel, Friedr. ©., 176. 

Rießer, 371f: 

Rietſchel, Ernit, 530. 

Ritter, 3. 9. 418. 

Roſenthal, M., 322. 

Rothmann, Hauptmann, 467. 

Roufieau, 3. J., 24. 45—49. 
164. 314. 463—466. 472. 


Saadia, 39. 

Salfeld, ©., 130. 524. 529. 
Salomon, Gotthold, 521. 
Salzmann, 335. 
Samosz, Sirael, 11f. 15. 
Samjon, Herz, 221. 


Samuels, M., 409. 


Satanomw, 215. 447. 

Schade, 104. 

Schelling, 5037. 

Schie, Löbel, 247. 

Schiller, 3. 77.79. 93. 174. 383. 
432. 

Schlegel, Joh. Elias, 109. 

Säleiermader, 513. 

Schmidt, Prof., 358. 


Regifter. 


Schönberg, ©. B., 520. 
Shönemann, Friedrich, 370. 
Schröpfer, 455. 

Schulſtein, PBropft, 381. 

Schulz, Prediger, 417. 

Schulze, Prediger, 518. 

Schwab, PBrof., 470. 

Schwaich, Jakob, Rabb., 272. 

Schwarz, A. 524. 

—, 3.2. 49. 

Seligmann, Joſeph, 257. 

Sedendorff, Freiherr von, 499. 

Selle, Hofrath, 434. 

Semler, Sal., 210. 

Shaftedbury, 24f. 33. 42. 56. 
105. 160. 471. 

Shafefpeare, 88. 241. 

Simon, Brof., 334. 

Smolensfi, P., 409. 

Sofrates, 115. 139. 141—145. 
160. 537. 

Sonnenfel3, 
434. 

Spalding, 137. 246. 309. 379. 
434. 

Spinoza, 22. 25. 32—37. 56.225. 
334. 385. 393. 396. 400.418. 432. 
441—449. 487—491. 497—504. 

Stahr, Ad., 343. 

Stattler, Benedict, 414. 

Stedelmader, M., 525. 

Stein, Frau von, 449, 517. 

Steinheim, Salomon, 418f. 

Strauß, David Friedrich, 224. 
342. 

Stubenraud, 513. 

Sulzer, 26f. 39-44, 69. 78. 
163. 180ff. 227 f. 237. 518. 

Spetit3, Johann, ſ. Habdjits. 

Swa, Mathematifer, 538. 

Szold, Benjamin, 524. 

Tafiaert, 529, 


Freiherr von, 


— — — — 


— — — — — — 





547 


Tauentzien, von, General, 118. 

Deleki de Szeki, Graf, 159. 

Teller, Bropft, 173. 3. 434. 
534. 


Tetens, Koh. Nif., 469. 483. 
Tugendhold, Jakob, 159. 


Uhden, von, 113Ff. 
Uhle, Prediger, 413. 
Ullmann, Herz, 4327. 
Unger, J. J., 528. 
Us, Joh. Peter, 108. 


Weit, Simon, 454. 538. 


 Beitel, Ephraim, 127. 215. 305. 
336. 


—, Joſeph, 307. 
—, Zacharias, 238f. 
Venino, 115. 
Viſcher, Fr. Theodor, 92. 
Voltaire, 24. 34. 37f. 47. 110. 
209. 465. 
Voß, Chr. Friedr., Buchhändler, 
33. 96. 506. 


Weil, J. 522. 
Weiße, Chr. Felix, 48. 173 f. 413. 
479. 498. 57f. 


Weſſely, Hartwig, 120. 159. 192. 


250. 291. 304—313. 426. 429. 
455. 515. 519. 

—, Mojes, 120. 126. 128. 250. 331. 
334. 351. 380, 

—, Kapellmeijter, 335. 455. 519. 

Widenbagen, Gymnafialdirec: 
tor, 525. 


' Wieland, 41. 141. 175—178. 533. 


| 


| 
| 


Wiener, M., 345. 


Wilhelm, Graf von Schaumburg: 
Lippe, 156. 241—246. 436. 
Wilke, 58. 
35 * 


548 Regifter. 


Wilna, Elia, 310. 432. Wünſche, Aug. 345. 
MWindelmann, 82. 86. 105. 161. | Wuttfe, 522. 
164. 248, 
Winfelmann, K., 39. Zacuto, 3. 
Winkler, 50. Zedlig, von, Minifter, 149. 258. 
Winfopp, Benedictiner, 269. 3115. 
Withof, 108. Zeller, E., 427, 518. 
Wizemann, Thomas, 412. 5301f. Zimmermann, Joh. G., 41. 139. 
514. 176. 178. 207. 225. 233f. 236. 
Wohlwill, Immanuel, 521. 243. 254. 260. 435. 437.497. 505. 
Wolf, Abraham, 347-350. Zingg, 254. 
— in Deflau, 335. 393. Binzendorf, Graf, 309. 
Wolff, Ehr., 19. 25. 72f. 145. | Zöllner, Joh. Friedr., 413, 434. 
186. 431. 470 ff. 457. 
—, Iſaak, 311. Zollifofer, 196. 240. 379. 498. 
Wolfſohn, Aaron, 324. 426, Zudermandel, M. ©., 525. 
—, W, 524. Zunz, 519%. 


—— 





Urtheile der Prefe. 


Literarisches Gentralblatt für Deutichland. 1862. Nr. 26. 


Dr. Kayferling hat e3 unternommen, ein treue und vollftändiges 
Bild von dem Leben und Wirken des jüdifchen Weijen zu jchaffen und 
diejen jeinen Zwed in vollflommen anerfennenswerther Weije erreicht. 
Die echt jofratijche Geftalt Mendelsjohns tritt uns Flar und deutlich) 
entgegen und bringt einen ungemein mwohlthuenden Eindrud hervor. 
Der Leer, wenn er andere Gefühle für fittlihe Größe befigt und frei 
ift von religiöfen Vorurtheilen, wird durch das Buch bis ans Ende ge: 
fefjelt und fühlt fih, wenn er es aus den Händen legt, ein befjerer 
Menſch. 


Europa. 1862. Nr. 11. 


Ein neued Buch, deſſen Gegenftand der jüdiſche Sofrates des 
18. Jahrhunderts ift, hat uns mit befonderer Freude erfüllt. Kayſer— 
lings Bud) ift ded Mannes würdig, den es jchildert. Es zeigt ihn in 
feinen Anfängen, jeiner Entwidelung, jeiner vollen Ausbildung, in 
feinen Beziehungen zu Leſſing, Nicolai und den andern Trägern Ye 
deutſchen Cultur vor hundert. Jahren, Wir lernen in dem Buche den 
Menſchen ebenjo genau fennen wie den Philoſophen und werden be- 
ſonders gut über die Verdienfte unterrichtet, die er ſich gegen jeine 
Glaubensgenoſſen erworben hat. 


Hamburger Nachrichten. 1862. Nr. 17. 


An beitimmter Vollftändigfeit der Mittheilungen läßt Kayjerlings 
Arbeit kaum etwas zu wünjhen übrig und dabei ift das reiche Material 
fo überfichtlich geordnet, daß das Inhaltsverzeichniß einen fichern Führer 
zu jeder Notiz abgiebt, die und augenblidlich erwünſcht fein Fann. 


Urtheile der Breife. 


Abraham Geiger, Zeitichrift für Wiffenjchaft und Leben. 1862. 
©. 141 ff. 


Der Berf. der Biographie Mojes Mendelsſohns befriedigt gerechte 
Anfprühe. Ohne Meberjchwenglichfeit nimmt er an dem Menjchen, dem 
Schriftſteller, dem Juden warmen Antheil; die reichen Mittheilungen, 
die allmählih auch über M. in der lekten Zeit immer mehr hervor: 
getreten, find von ihm gemiffenhaft benußt, um ein vieljeitiges Bild 
jeines Wollens, Denkens und Wirfens zu liefern.... Die Darftellung 
des Verf. ift faßlih und ungezwungen, frei von Schwulft und Plattheit. 


3. Franfel, Monatsichrift für Geihichte und Wiflenichaft des 
Judenthums. 1862. ©. 279 ff. 


Wir wünjhen, dat das Buch, namentlich von der reifern jüd. 
Jugend gelejen werde, damit fie daraus erkenne, dat man ein Jude, 
ein wahrhafter Jude, und dabei doch eine Zierde der Literatur, eine 
Zierde der Wiflenfchaft, eine Zierde der ganzen Menfchheit jein Fann. 


Steinjchneider, Hebr. Bibliographie. 1862. Nr. 29. 


Ein Buch von jo unverfennbaren Eigenfchaften, dak Gegenjäte 
wie Frankels und Geigers Organe im Urtheile über die wifjenjchaft: 
lihen Berdienjte der fleifigen Arbeit fich begegnen. Es ift der popu: 
läre Stoff und die wifjenjchaftliche Verarbeitung, was die Zweckmäßig— 
feit bedingt. 


Leop. Löw, Ben Gananja. Wochenblatt für jüd. Theologie. 1862. 
Nr. 22. 


Der Verf. der vorliegenden Schrift hat ſich zur dankbaren Auf: 
gabe geftellt, mit Tiefe und Gründlichfeit die Werfe Mendelsjohns aus 
jeinem Leben, feinem Charakter und feinen Verhältniffen organiſch im 
Zujammenhange zu entwideln. In der That fann man nur jagen, 
daß der geehrte Verf. den gewaltigen Stoff aufs befte bezwungen und 
verarbeitet hat; jein Werk läßt uns nirgends die Mühe und Arbeit mit- 
empfinden, welche e3 Foften mußte, diefer weitverzweigten und mit der 
ganzen damaligen Literatur-Epocdhe eng verflochtenen Biographie Herr 
zu werden. 


Blätter für literariihe Unterhaltung. 1862. Nr. 32. 


Wir wiflen es dem Berf. herzlich Danf, daß er, geſtützt auf jeine 
fleißigen Duellenfammlungen und feine auögebreitete Kenntnif des 
Mendelsjohnihen Brifwechſels es verftanden hat, uns von dem echt 
nationalen Bewußtſein, von der ferndeutichen Gefinnung jeines Helden 


Urtheile der Preſſe. 


zu überzeugen . . . . Da Kayjerling in jeinem Mendelsjohn zu Haufe 
ift und mit den Schäten, die er uns in feinen Schriften und Briefen 
hinterlaffen, gut jchalten und walten gelernt hat, jo hat er die jchönften 
Steine herauögelejen, gejammelt und zu einer fojtbaren Mojaik ver: 
arbeitet. Das Werk ift eine danfenswerthe Bereiherung der Wiffen- 
ihaft und unſerer deutſchen Literatur inöbejondere. 


Athenaeum. 1862. Juli. 


The book of Dr. K. gives a very amusing and readable 
picture .... 


Dr. Ad. Zellinek urteilt in der Neuzeit. 1886. Nr. 7. 


Kayjerlings Bud ift das ausführlichite, gründlichſte, zuverläſſigſte 
und inhaltreichite über unjern Mojes. Seine Belejenheit in der ein- 
ſchlägigen Zeitliteratur, feine Bertrautheit mit den Perſonen, die zu 
M. Mendelsjohn in einem Rapport ftanden, jein Sammelfleiß jeste 
ihn in den Stand, dem Lefer einen reichen Inhalt zu bieten und nichts 
zu vergefien was irgendwie auf die Perjönlichkeit, den Charakter, den 
Umgang und die literariihe Thätigfeit Mendelsjohns Bezug hat. 


Prof. Dr. M. Lazarus jagt in der Deutihen Revue. 1886. 
Februarbheft. 


Unter den Biographien Mendelsjohns ragt das vortreffliche Bud) 
des Dr. M. Kayferling durch jeine Bollftändigfeit, Klarheit und wohl: 
thuende Wärme hervor. 


M. ſ. auch die ausführliden Recenfionen in: Augsburger Allg. 
Zeitung, 1862, April; Deutſches Mufeum, 1862, Nr. 26; Magazin für 
die Literatur des Auslandes, 1862, Nr. 45; Das neue Hamburg, 1862, 
Nr. 72 ff.; Godgeleerde Bijdragen, 1862, Heft 6 u. v. a. 


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