Himmel und Erde.
Illustrirte naturwissenschaftliche Monatsschrift.
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Himmel und Erde,
Illustrirte -
naturwissenschaftliche Monatsschrift
Herausgegeben
von der
GESELLSCHAFT URANIA ZU BERLIN.
Redacteur: Dr. M. Wilhelm Meyer.
V. Jahrgang.
BERLIN.
Verlag von Hermann Paetel.
18»3.
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Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Uebersetzungsrecht Vorbehalten.
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Verzeichnifs der Mitarbeiter
.Himmel und Erde**.
Barnard, Prot E. E., Observator der
Lick Sternwarte, Mount Hamilton,
Californien 89.
Bebber, Prot Dr. J. W. van, Ab-
theilungsvorstand der Seewarte in
Hamburg 67.
Herold, Prof. Dr. W. von, Direktor
deg Meteorologischen Institute in
Berlin 1.
Braunmiihl, Prot Dr. von, in Mün-
chen 493, 641.
Deckert, Dr. E., in Waynesville 105.
170.
Ginzel (*), F. K., Astronom am Rechen-
inatitut der Kgl. Sternwarte in Berlin
94. 96. 143. 184. 186. 187. 200. 228.
•249. 272. 301. 365. 387. 427, 473. 517. 578.
Jaensch, Dr., in Berlin 103.
Kassner, Dr. C., Assistent am me-
teorologischen Institut in Berlin 348.
Korber (Kbr.), Oberlehrer Dr. F. in
Berlin 152. 176. 345. 442. 444. 487. 492.
Koppe (M. K.), Oberlehrer M., in
Berlin 154.
Lubarsch, Dr. in Berlin 584.
Luzi, Dr. W. in Leipzig 397. 445.
Meyer (M. W. M,), Dr. M. Wilhelm.
Direktor der Urania in Berlin 22. 43.
45. 46. 49. 81. 103. 142. 2.53. 314. 333.
380. 410. 440. 459. 505. .553.
Riccb, Prot A., Direktor des Obser-
vatoriums zu Catania 31.
Samter (Sm,), Dr. H., in Berlin 104.
17& 189. 33L 339. 388. 390. 391. 488.
529, 534. 577. 581.
Rottok, Admiralitätsrat in Berlin 205.
261.
Scheiner, Prof. Dr. J., Astronom am
Astrophysikalischen Observatorium
in Potsdam 20. 69. 131.
Schwahn (Schw.), Dr. P., Astrono-
mischer Abtheilungsvorstand der
Urania in Berlin 11.5, 244. 250. 540.
Spies (3p), P., Physikalischer Ab-
theilungsvorstand der Urania in
Berlin 147. 203. 236. 296. 346. 532.
Süring (Sg.), Dr., am Meteorolo-
gischen Observatorium in Potsdam
195. 204. 342. 530. 531.
Ule, Dr. W., Privatdozent in Halle
a. S. 157. 219.
Volkmann, Prot Dr. P., in Königs-
berg i. Pr, 849.
Witt (G. W.), O., Astronom an der
Urania in Berlin ,54. 2.51, 289. 290.
316. 317. 487. 538. .586.
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Inhalt des fünften Bandes.
Essais.
Seit«?
hie Meteorologie als Physik der Al mos |ihii r<v Von Prof Dr. W. vou Bezold
in Berlin 1
Die Astronomie dea Insiclit baren Von Prof, Dr. J. Scheiner in
, . . . . , . . . . . . „ . . . . . . . . :’Q, K'l
Parallelen. Betrachtungen über die einheitlichen Züge im Xatuigcschehen.
Von Dr, M. Wilhelm Meyer in Berlin . 39. 81
‘Die Hitze im Angast. Von Prof. Dr. \V, J. Tau Böbber in Hamburg ■ 37
‘Ueber die Wirkungen der Meeresero»ion an der atlantischen Küste Nord-
Amerikas. Von Dr. E. Deckert in Wayneoville 105, 17«)
‘Ueber die gebirgsbildenden Kräfte, Vou Dr. P. .Schwalm in Berlin . ■ 113
‘Land- and »Seeklima. Von Dr. \V. Ule in Hallo a. ri. , , 137. I 1>
‘Das Meer, seine Erforschung nnd deren Ergebnisse Von Admiralilillorath
Hottok in Berlin . . . . . 'JM'». 2(11
Wie haben unsere Voreltern gerechnet? Von F, K. Pinsel in Berlin -JH. 272
‘Kine Amerikafahrt Mita nnd 1M12. Von Dr. M. Wilhelm Mover in
Berlin . . . . . 233. 1114. 38‘>
‘Die Knlstchnng der Welt naeh den Ansichten vnn Kant bis anf die (legen-
»an. Von F. K, 1-1 1 n z '■ I in Berlin „ , , ■ 301. 3Ü5. 4-'". 473. 517, 3il3
Mafs nnd Messen. Von Prof, P, Volk mann in Königsberg i Pr. . . . 343
‘Ueber den Diamant. Von Dr, W. Luzi in Leipzig 3!>7. 443
‘Die physische Beschaffenheit des Planelen Mars naeh dem Zengnifs
seiner hervorragendsten Beobachter. Von I>r. M. Wilhelm Meyer in
Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 4R'. 13!'- ■'»(?■>, 333
‘üalileo (lolilei. Von Prof. Dr. von Braunmühl in München . . 41)3. 341
Mittheilungen.
' Photographie nnd Mondlorschung. Von G, Witt in Berlin 38
Ueber Marsbeobachlungen während der Jahre ISS.'1-ISSS. Von Dr. F. Korber
in Berlin . 41
Einige Neuigkeiten vom Mars. Von Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin . 43
Polariskopisrhe Beobachtung der VennsoberÜüche. Von Dr. M. Wilhelm
Mer er in Berlin 4>
Die astroiipinmliefl Ilmchen der Eiairit. Von .Dr.. M, w.iiheini Mntr
in Berlin ■ tfi
‘Die Schiffe des Colnmbns. Von Dr. M. Wilhelm Merer in Berlin . . 4!'
‘Der gegenwärtige Ansbrnch des Aetna Von Prof. A. Riech in Catania . 30
Noch einmal der neue Stern im Fuhrmann 3.;
Neu entdeckter Komet 3:;
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VIII
Inhalt.
Seit»
Die Kntdecknng eines fünften Jnpitemtcllitcn 53
•Das Oknlarende de» grofsen 36 zölligen Refraktor« der Lick-Sternwarte. Von
Prof. E. E. Barnard, Mount Hamilton 89
Photographin der Sonnenfaekeln, Protnberanzen and der Chromosphäre. Von
F. K. Ginzel in Berlin . . . . , . , . ■ ■ , . , . . . , , , 24
Zar Beobachtung der totalen Sonnenfinsternis am 16. April 1896. Von
F. K. Ginzel in Berlin 96
Ueher Kfiltcerteagnag nnd einige Experimente hei tiefen Temperatnren . . 97
Abermals ein nener Komet . . . . . . . . . . . . . . . Lü2
Der fünfte Jupiteraond. Von Pr, M. Wilhelm Meyer in Berlin ■ , ■ 142
Die Ursachen des nenen Sterns im Pnhrmann. Von F. K. Ginzel in Berlin llj
l'eher nenere Strahlenmessnngen. Von P. Spiee in Berlin 147
Xene Kometen . . . . . . . . . . „ . . . . . . . . . . . . , 151
'Lewis Morris Rnlherfnrd. Von llr. F. Kiirhrr in Berlin . . . . . . 116
Von der achten Sphäre. Von Dr. H. Samter in Berlin 178
Photographische F.ntdecknng von Planeten. Von F. K. Ginzel in Berlin . 18t
lieber die Verdoppelnng der Marskaniile. Von F, K. Ginzel in Berlin. , 185
•Der Komet Holmes. Von F, K. Ginzel in Berlin ■ . . . 131
*Znr Physik der Atmosphäre, Von Dr. H. Samter in Berlin 189
Die meteorologischen Aufzeichnnngen auf dem Eiffeltharme. Von Dr. Siiring
in Potsdam , , . . , , . . , . . , 125
Die Yereinigaag von Fremden der Astronomie nnd kosmischen Physik ■ . 197
'Werner von Siemens. Von P. Spie« in Berlin 236
Ohservateriiim anf dem Montblanc. Von F. K. G i n z o l in -Berlin . . 212
‘Die Katastrophe von Saint tlervais. Von Dr, P. Schwalm in Berlin . . 211
Abermals der Komet Holmes Von G. Witt in Berlin . . 282
‘Zer Selenographie. Von G. Witt in Berlin 290
Von der Pariser Akademie ertheiltc Preise 29.5
lieber die Fortpflanzungsgeschwindigkeit Hertzscher Wellen. Von P. Spiea
in Berlin . . . , . . . . . . . . . , . . . , . . . . . . 226
Sonnentlecke nnd magnetische Erscheinungen. Von Dr. H, Samter in Berlin .931
l'eber die Kingbildnng als AaHösungsprozefs. Von Dr. M. Wilhelm Meyer
in Berlin . . . , . . 533
Die Katfernnng der Fixsterne. Von Dr. H. Samter in Berlin 339
Der Wünneanstansch an der Erdoberfläche nnd in der Atmosphäre. Von Dr.
Süring in Potsdam 342
Vergriissernng des Erdschattens bei Mondfinsternissen, Von F. K. Ginzel
in Berlin , , . . , , . . . . . . . . , , . . 331
Zwei Riesenfernrohre. Von Dr. H. 8amter in Berlin , , , , . , . . 388
Vom Elmsfeuer.. Yim Dr. H. Samter in. -Berlin.. , , , , , , , , 22Ü
Heber Wasserfallelektrizität. Von Dr. H. Samter in Berlin . . ■ . . , 391
Berichtigung zu dem Artikel „lieber die Ringbildung als AuHüsangsprozefs“.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin 440
Znr Krage nach der Hotationsdaner der Venns. Von Dr. F. Korber in Berlin 412
Der Finlaysehe Komet. Von G, Witt in Berlin 487
Anfsteigendes Meteor. Von Dr. F. Korber in Berlin 187
‘ Heber die veränderlichen Sterne. Von Dr, H, Samter in Berlin .... 188
Bringt die Sonne magnetische Stürme hervor? Von Dr, H. Samter in Berlin 529
Wilternngs-Tvpen in Australien, Von Dr. Süring in Potsdam ö.W
Treibeis in südlichen Breiten. Von Dr. Süring in Potsdam 531
Neaes über den elektrischen Lichtbogen. Von P. Bpi es in Berlin . . . 332
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Inhalt.
IX
Seite
'Da« Gesetz der Transformation der Knochen. Von Dr. H. Samter in Berlin 534
l'eher E. E. Barnards Lebensgang 637
Der Lnftmangel des Monden Von Dr. H. Samter in Berlin 577
Die Srhmldtsche Sonnentheorie. Von F. K. Ginzel in Berlin 578
Die Erwärmung der Pflanzenblätter. Von Dr. H. Samter in Berlin ... 581
Bibliographisches.
Robert Stawell Ball, The story of the heavens. Besprochen von G. Witt
in Rerlin . 54
A. Peter, Wandtafeln zur Systematik, Morphologie und Biologi c der Pflanzen
flr Universitäten nnd Scholen. Besprochen von Dr. Jaensch in Berlin 103
H. Schneider. Gegen Falhs kritische Tage. Besprochen von Dr. M. Wilhelm
Meyer in Berlin 103
Adrian Balbis allgemeine Erdbesehreihnng nnd A. Hartlebens kleiner Handatlas
über alle Theile der Erde. Besprochen ron Dr. H. Samter in Berlin ■ ICH
Lamberts Photometrie. Besprochen von Dr. F. KSrher in Berlin ■ ■ , 152
Kewcomb-Engelmanns populäre Astronomie. Besprochen von Dr. F. K örber
in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
ff. Jansen. Die Kreiselbewegnng. Pntersnchnng der Rotation von KBrpern,
welche in einem Pnnkte oder garnicht unterstützt sind. Besprochen von
Dr. M. Koppe in Berlin 154
Moritz Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik. Besprochen Ton
F- K. Ginzel in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2QD
Felix Malier, Zeittafeln zur Geschichte der Mathematik, Physik nnd Astro-
nomie bis znm Jahre 1500. Besprochen von Dr. F. Korber in Berlin . 202
Gerland, Geschichte der Physik. Besprochen von Dr. F, Korber in Berlin 202
J. G. Valentin, Einleitung in das Stadium der modernen Elektrizitätslehre.
Beaprochen von P. Spies in Berlin 203
G. Pizzighelli, Die Anwendung der Photographie. Dargestellt für Amatenre
nnd Tonristen. Besprochen von Dr. Siiring in Potsdam 204
Die Forsehnngareise 8. M. S. „Gazelle“ in den Jahren 1874 bis 1877 nnter
dem Koinmaado des Kapitän znr See Freiherrn von Schleinitz. Beaprochen
von Dr. P Sch wahn ln Rcrlin . , , , . 25Ü
Mondkarte in 25 Sektionen nnd 2 Erlänternngstafeln von Wilhelm Gotthelf
Lohrmann. Beaprochen von G. Witt in Berlin 251
Brester, Theorie dn Soleil. Beaprochen von Dr. F. Korber in Berlin. . 345
Annnaire ponr l'an 1893 346
Dr. v. Zech, Aufgaben aas der theoretischen Mechanik nebst AnflSsangen.
Beaprochen von G. Witt in Berlin 346
Carl Heim, Die Einrichtung elektrischer Beleuchtungsanlagen mit Gleichstrom-
betrieb- Beaprochen von P, Spies in Berlin 348
Wilhelm Kopske, Die photographische Retonche in ihrem ganzen Umfange.
Beaprochen von G. Witt in Berlin 347
Heernes, M., Die Urgeschichte des Mensehen nach dem heutigen Stande der
Wissenschaft Beaprochen von Dr, C. Kassner in Berlin 348
Dr. R. Lepslns, Geologie von Dentschland and den angrenzenden Gebieten,
Band 1. Besprochen von G. Maas in Berlin 394
Die Scenerie der Alpen. Von Dr, Eberhard Fraas 335
Ans der Stnrm- nnd Drangpcriode der F.rde. Skizzen aus der Kntwickelungs-
geschichte unseres Planeten. Von Dr, Hippolyt Haas 31)6
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X
Inhalt
Seit«
Webers illnstrirte Katechismen. Katechismus der lieologie. Von Dr.
Hippolyt Haas 396
Meyers Konversations-Lexikon Heft 1—3. Besprochen von Dr. F. Kör hör
in Berlin 444
Mas Augenleucbten nnd die Erfindung des Augenspiegels. Dargestellt in Ab-
handlungen von v. Brücke, Cumening, v. Helmholtz und Hüte. Be-
sprochen von Dr. F. Korber in Berlin 492
Wildermann, Jahrbuch der Naturwissenschaften. Besprochen von Dr. F.
Korber in Berlin 492
Arthur Mee, Observational Astronomy. Von G. Witt in Berlin 538
F. Stolze. Photographische Bibliothek, Band I. Die photographische Ortsbe-
stimmung ohne Chronometer 539
Hammer. E., Zeitbestimmung (Uhr-Kontrole) ohne Instrumente durch Be-
nutzung der Ergebnisse einer Landesvermessung. Besprochen von Dr. P.
Sch w ahn in Berlin 540
Eder. M., Jahrbuch für Photographie nnd iieprodnktionstechnik, VII. Jahrgang.
Besprochen von Dr. Lu barsch in Berlin 584
Odegowski, A . Die Quadratur des Kreises 586
tiinzel. F. K., Untersuchungen über die Bahn des Olberschen Kometen . . . 586
Verzeichnis der vom 1. August 1892 bis I. Februar 1893 der Redaktion zur
Besprechung eingesandten Bücher 298
Verzeichnis der vom 1. Februar bis 1. August 1893 der Redaktion zur Be-
sprechung eingesandten Bücher 587
Den mit oinem * versehenen Artikeln sind erläuternde Abbildungen
beigegeben.
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Namen- und Sachregister
zum fünften Bande.
Aetna, der gegenwärtige Ausbruch
des. Von Prof. A. Ricco in Catania 50.
A merika fahrt, eine, 1402 und 1802.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer 253, 314,
380.
Annuaire pour Tan 1803. 346.
Astronomie, die, des Unsichtbaren.
Von Prof. Dr. J. Scheinor in Potsdam
20. 60. 131.
Atmosphäre, zur Physik der. Von
Dr. H. Sumter iu Berlin 180.
Augenleuchten, das, und die Er-
findung des Augenspiegels. Darge-
stellt in Abhandlungen von v. Brücke,
Cumening, v. Ilelmholtz und Rüte 492.
Bai bi s, A. Allgemeine Erdbeschrei-
bung 104.
Ball, Robert Stawell. The story of the
heavens 54.
Barnards, über E. E., Lebensgang 537.
Berichtigungzu dem Artikel: „Ueber
die Ringbildung als Auflüsungspro-
zefs*. Von Dr. M. Wilhelm Meyer
in Berlin 440.
Brester, Thöorie du Soleil 345.
Bücher, Verzeichnis der v. 1. August
1892 bis 1. Februar 1803 der Re-
daktion zur Besprechung einge-
sandten 298.
Bücher, Verzeichnis der vom 1. Fe-
bruar bis 1. August 1803 der Re-
daktion zur Besprechung einge-
sandten 587.
Cantor, Moritz. Vorlesungen über
Geschichte der Mathematik 200.
Colurabus, die Schiffe des. Von Dr.
M. Wilhelm Meyer in Berlin 40.
Diamant, über den. Von Dr. W.Luzi
in Leipzig 307, 445.
Eder, M., Jahrbuch für Photographie
5*4.
Eiffelthurm, die meteorologischen
Aufzeichnungen auf dem. Von Dr.
Süring in Potsdam 195.
Eiszeit, die astronomischen Ursachen
der. Von Dr. M. Wilhelm Meyer in
Berlin 4G.
Elmsfouer, vom. Von Dr. II. Samter
In Berlin 390.
Erdschattens, Vergrössorung des,
hei Mondfinsternissen. Von F. K.
Ginzel in Berlin 387.
Fixsterne, die Entfernung der. Von
Dr. H. Samter in Berlin 339.
Fr aas, E. Die Sccnerie der Alpen 305.
Galileo Galilei. Von Prof. Dr. von
Braunmühl in München 493, 541.
Gazelle, die Forschungsreise S. M. S.,
in den Jahren 1874 — 1877 unter dem
Kommando des Kapitän zur See
Freiherrn von Schleinitz 250.
Gebirgs bildenden Kräfte, über die.
Von Dr. P. Schwahn in Berlin 115.
Gerl and, Geschichte der Physik 202.
Ginzel, F. K., ülberscho Komet 586.
Hartlebens kloiner Handatlas über
alle Theile der Erde 104.
II aas, H. Aus der Sturm- und Drang-
periode der Erde. Skizzen aus der
Entwickelungsgeschichte unseres
Planeten 30G.
Haas, H. Katechismus der Geologie.
Webers illustrirto Katechismen. 39G.
Hammer, E. Zeitbestimmung (Uhr-
Kontrolc) ohne Instrumente durch
Benutzung der Ergebnisse einer
Landesvermessung .540.
Heim, Carl. Eie Einrichtung elek-
trischer Beleuchtungsanlagen mit
Gleichstrombetrieb 346.
Hertz sc her Wellen, über die Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit. Von P*
Spies in Berlin 296.
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XII
Inhalt.
Hitze, die, im August 1811*2. Von Prof.
Dr. van Bebber in Hamburg 57.
Hoorn es, M. Die Urgeschichte des
Menschen nach dem heutigen Stande
der Wissenschaft 348.
Jansen, W. Die Kreiselbewegung 154.
Jupitermond, der fünfte. Von Dr.
M. Wilhelm Meyer in Berlin 142.
Jupitersatelliten, die Entdeckung
eines fünften 53.
Kälteerzeugung, über, und einige
Experimente bei tiefen Temperaturen
97.
Knochen, Gesetz der Transformation
der. Von Dr. H. Samter in Berlin 534.
Komet, abermals ein neuer 10*2.
Komet Holmes, abermals der. Von
G. Witt in Berlin 289.
Komet, der Finlaysche. Von G. Witt
in Berlin 487.
Komet Holmes. Von F. K. Ginzel
in Berlin 187.
Kometen, neue 151.
Komet, neuentdeckter 53.
Kopeke, W. Die photographische
Retouche in ihrem ganzen Umfange
347.
Lamberts Photometrie 152.
Land- und Seeklima. Von Dr. W.
Ule in Halle a. S. 157, 219.
Lepsius, R. Geologie von Deutsch-
land und den angrenzenden Ge-
bieten 394.
Lichtbogen, neues über den elek-
trischen. Von P. Spies in Berlin 532.
Mafs und Messen. Von Prof. P.
Volkmann in Königsberg i. Pr. 349.
Marsbeobachtungen, ü ber, während
der Jahre 1883—1888. Von Dr. F.
Korber in Berlin 41.
Mars, einige Neuigkeiten vom. Von
Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin 43.
Marskanäle, über die Verdoppelung
der. Von F. K. Ginzel in Berlin 185.
Mars, über die physische Beschaffen-
heit des Planeten, nach dem Zeug-
nifs seiner hervorragendsten Beob-
achter. Von Dr. M. Wilhelm Meyer
in Berlin 410, 459, 505, 553.
Mee, Arthur. Observation&l Astro-
nomy 538.
Meer, das, seine Erforschung und
deren Ergebnisse. Von Admiralitäts-
rath Rottok in Berlin 205, 261.
Meereserosion, über die Wirkungen
der, an der atlantischen Küste Nord-
Amerikas. Von Dr. E. Deckert in
Wavnesville 105, 170.
Meteor, aufsteigendes. Von Dr. F.
Korber in Berlin 487.
Meteorologie, die, als Physik der
Atmosphäre. Von Prot W. von
Bezold in Berlin 1.
Meyers Konversations-Lexicon 444.
Mond karte in *25 Sektionen und zwei
Erläuterungstafeln. Von W. G. Lohr-
mann 251.
Montblanc, Observatorium auf dem.
Von F. K. Ginzel in Berlin 24*2.
Ne wcomb - Engelm an n, Populäre
Astronomie 152.
Ocularende, das, des grofsen
36 -zölligen Refraktors der Lick-
Stem warte. Von Prof. E. E. Barnard,
Mount Hamilton 89.
Ozegowski, A., Die Quadratur des
Kreises .‘>86.
Parallelen. Betrachtungen über die
einheitlichen Züge im Naturge-
schehen. Von Dr. M. Wilhelm
Meyer in Berlin 29, 81.
Peter, A. Wandtafel zur Systematik,
Morphologie und Biologie der
Pflanzen für Universitäten und
Schulen 103.
Pizzighelli, G. Die Anwendungen
der Photographie. Dargestellt für
Amateure und Touristen 204.
Planeten, photographische Ent-
deckung von. Von F. K. Ginzel in
Berlin 184.
Photographie und Mondforschung.
Von G. Witt in Berlin 38.
Preise, von der Pariser Akademie
ertheilte 295.
Riesenfernrohrc, zwei. Von Dr.
H. Samter in Berlin 3S8.
Ringbildung, über die, als Auf-
lösungsprozefs. Von Dr. M. Wilhelm
Meyer in Berlin 333.
Rutherfurd, Lewis, Morris. Von Dr.
F. Korber in Berlin 176.
Saint Gervais, die Katastropho von.
Von Dr. P. Schwahn in Berlin 244.
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Inhalt
XIII
Schneider, H. Gegen Falbs kritische
Tage 103.
Sclenographie, zur. Von G. Witt
in Berlin 290.
Siemens, Werner von. Von P. Spies
in Berlin 236.
Sonnenfackeln, Protuberanzen und
Chromosphäre, Photrographie der.
Von F. K. Ginzel in Berlin 94.
Sonuenflecke und magnetische Er-
scheinungen. Von Dr. H. Samter in
Berlin 331.
Sonnen fin ster nifs,zur Beobachtung
der totalen, am 16. April 1893. Von
F. K. Ginzel in Berlin 96.
Sphäre, von der achten. Von Dr.
H. Samter in Berlin 178.
Sterns, die Ursachen des neuen, im
Fuhrmann. Von F. K. Ginzel in
Berlin 145.
Stern, noch einmal der neue, im
Fuhrmann 53.
Sterne, über die veränderlichen. Von
Dr. H. Samter in Berlin 488.
S t o 1 z e , F. Photographische Bibliothek.
Band I. Die photographische Orts-
bestimmung ohne Chronometer 539.
Strahlenmessungen, über neuere.
Von P. Spies in Berlin 147.
Stürme, bringt die Sonne magnetische,
hervor? Von Dr. H. Samter in Berlin
529.
Treibeis in südlichen Breiten. Von
Dr. Süring in Potsdam 531.
Vereinigung, die, von Freunden der
Astronomie und kosmischen Physik
197.
Ve nus, zur Frage nach der Rotations-
dauer der. Von Dr. F. Korber in
Berlin 442.
Wärmeaustausch, der, an der Erd-
oberfläche und in der Atmosphäre.
Von Dr. Süring in Potsdam 342.
W a 1 1 e n t i n , Einleitung in das Studium
der modernen Elektrizitätslehre 203.
Wasserfallelektrizität, über. Von
Dr. H. Samter in Berlin 391.
Wie haben unsere Voreltern ge-
rechnet? Von F. K. Ginzel in
Berlin 228, 272.
Welt, die Entstehung der, nach den
Ansichten von Kant bis auf die
Gegenwart Von F. K. Ginzel in
Berlin 301, 365, 427, 473, 517, 565.
Wilderraann, Jahrbuch der Natur-
wissenschaften 492.
Witterungs-Typen in Australien
Von Dr. Süring in Potsdam 530.
Zech, von, Aufgaben aus der theore-
tischen Mechanik nebst Auflösungen
346.
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Beilage zu Himmel und Erde V. Jahrg. Heft
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Die Schiffe des Columbus. Gezeichnet von H. Harder.
Die Meteorologie als Physik der Atmosphäre.
Von Wilkelin von Bezold.*)
8is zu der Mitte unseres Jahrhunderts ruhte die Meteorologie iin
wesentlichen auf geographisch - statistischer (Grundlage, und die
Arbeiten eines Alexander von Humboldt, eines Dove und
Anderer gelten weit mehr der Erforschung des Klimas, als der eigent-
lichen Witterungskunde.
Erst als man in den fünfziger Jahren anfing, sich von der bis
dahin beinahe ausschliefslich gepflegten Betrachtung der Mittelwerthe
frei zu machen und den Zustand der Atmosphäre für bestimmte, in
gleichen Intervallen aufeinanderfolgende Zeitpunkte ins Auge zu fassen
und in den sogenannten Wetterkarten festzuhalten, konnte man das
Wetter im strengen Sinne des Wortes zum Gegenstände des Studiums
machen, und erst von dieser Zeit an trägt die Meteorologie, die früher
vorzugsweise nur Klimatologie war, ihren Namen mit vollem Recht.
Diese veränderte Auffassung wies aber mit Nothwendigkeit auf
eine eingehendere und strengere Untersuchung der atmosphärischen
Vorgänge hin, als sie früher überhaupt möglich war; sie drängte dahin,
die Sätze der allgemeinen Mechanik sowie der Thermodynamik (mecha-
nische Wärmethoorio) auf meteorologische Problemo anzuwenden.
So entwickelte sich ein neues Gebiet der Forschung, welches
in Amerika, wo diese neue Richtung, dank den bahnbrechenden Arbeiten
des erst vor einem Jahre verstorbenen hochverdienten WilliamFerrel,
ihre Heimath hatte, mit dem Namen der „dynamischen Meteorologie“
*) Nach seinem am 7. Juni 1892 auf der VI. Allgemeinen Versammlung
der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft in Braunschweig gehaltenen Vor-
trag für .Himmel und Erde“ bearbeitet.
Himmel und Erde. 1888. V. 1. 1
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2
belegt wurde, das man jedoch besser kurzweg als „theoretische Meteo-
rologie“ bezeichnen kann.
Während hierbei europäische Forscher, wie Reye, Hann,Guld-
berg, Mohn u. s. w. erst allmählich mit auf den Kampfplatz traten,
nehmen derartige Untersuchungen in den Schriften der Gegenwart von
Jahr zu Jahr breiteren Raum ein.
Dies mag zum Theil dem Umstande zuzuschreiben sein, dals das
im Jahre 1886 erschienene Lehrbuch der Meteorologie von Sprung
die bis dahin verstreuten und nur schwer zugänglichen Arbeiten der
genannten Gelehrten erst weiteren Kreisen zur Kenntnifs brachte, vor
allem aber dem allgemeinen Zuge unserer Zeit, die streng mathe-
matisch physikalische Methode auf immer weitere Kreise auszudehnen.
Mit der intensiveren Aufnahme dieser Art der Betrachtung ist aber
schon im Laufe weniger Jahre in der Meteorologie eine wesentliche
Aenderung und Klärung unserer Anschauungen eingetreten, die anderer-
seits wieder auf Reihen neuer Fragen geführt hat, deren glückliche
Lösung nur von dem Zusammenwirken des Theoretikers und des Be-
obachters zu erwarten ist.
Es möge deshalb gestattet sein, hier in Kürze die Aufgaben zu
schildern, mit welchen sich die theoretische Forschung im Augenblicke
beschäftigt, und zugleich anzudeuten, welche neuen Aufgaben aus der
hierdurch nicht unwesentlich veränderten Fragestellung der beobach-
tenden Meteorologie erwachsen.
Hier ist es nun vor allem ein Funkt, der die Aufmerksamkeit
gegenwärtig ganz besonders in Anspruch nimmt: „die Lehre von der
allgemeinen Zirkulation der Atmosphäre.“
Wie bekannt, hatte man sich von dieser allgemeinen Zirkulation
früher eine höchst einfache Vorstellung gebildet
Man glaubte das Schema von einem unteren nach dem Aequator
und einem oberen nach den Polen hinfliefsenden Strome, wie man es
in den Gebieten der tropischen Meere innerhalb der Passatregion
hatte kennen lernen, einfaoh auf die ganze Atmosphäre übertragen zu
dürfen und erblickte in der Lehre von einem Aequatorial- und einem
Polarstrome den Schlüssel zur Erklärung der gesamten Witterungser-
scheinungen.
Als man aber damit begonnen hatte, Wetterkarten zu zeichnen,
und aus ihnen ersah, dafs die sogenannte Passattheorie wenigstens für
mittlere und höhere Breiten nicht ausreichend sei, sondern dafs es
vielmehr die Entstehung und Fortbewegung von Gebieten tieferen und
höheren Luftdruckes, der sogenannten barometrischen Minima und
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Maxima seien, welche den Charakter des Wetters bedingen, da warf
man die alte Lehre beiseite und wendete sich mit aller Kraft der Er-
forschung der Vorgänge in diesen Gebilden zu.
Man erkannte, dafs die barometrischen Minitna oder Depressionen,
die man wegen der Art, wie sie von dem Winde umkreist werden,
und die im wesentlichen mit jener der eigentlichen Wirbelstürme zu-
sammenfällt, auch Cyklonen nennt, Gebiete aufsteigenden Luftstromes
seien, während man es umgekehrt in den Gebieten hohen Luftdrucks,
den sogenannten Maxima oder Anticyklonen, mit einem absteigenden
Strome zu thun hat.
Zugleich fand die Eigentümlichkeit, dafs die Depressionen die
Träger trüben, niederschlagsreichen Wetters sind, während in den
Anticyklonen der Himmel heiter und die Luft — abgesehen von den
zur kalten Tages- und Jahreszeit auftretenden Nebeln in den tiefsten
Schichten derselben — trocken ist, ihre einfache und naturgemäße
Erklärung in dem auf- oder absteigenden Strome, wie man dies duroh
die Anwendung der mechanischen Wärmetheorie auf die Föhnersohei-
nungen hatte kennen lernen.
Da sich aufserdem zeigte, dafs die Cyklonen mit Vorliebe relativ
warme Gebiete aufsuchen, während sich die barometrischen Maxima
vorzugsweise über verhältnifsmäfsig kühler Unterlage entwickeln, also
im Sommer über den Meeren, im Winter über den Festländern, ins-
besondere über dem grofsen nordasiatischen Kontinent, so lag nichts
naher als der Gedanke, den Grund dieser Erscheinungen einfach in
den lokalen Erwärmungen und Abkühlungen zu suchen.
Thatsächlich hatte es auch bis vor kurzem den Ansohein, als ob
solche lokale Erwärmung über einzelnen Theilen der Erdoberfläche im
Vereine mit reichlicher Feuchtigkeit, sowie Abkühlung an anderen
Stellen unter Mitwirkung der ablenkenden Kraft der Erdrotation voll-
kommen ausreichend seien, um die Entstehung der Cyklonen und Anti-
cyklonen zu erklären, während man in dem Nachströraen wärmerer
Luft an der einen Seite der Cyklone den Grund für die eigenartige
Fortpflanzung des ganzen Gebildes erblickte.
Dem Ausbau dieser Lehre, der sogenannten Konvektionstheorie,
war die Forschung während der letzten Jahrzehnte vorzugsweise ge-
widmet, und insbesondere waren es die Cyklonen, die man stets als
das dominirende Element betrachtete — spricht man doch in jedem
Wetterbericht vor allem von der Lage und dem Weiterschreiten der
Depressionen — , auf welche Ferrel zuerst die Hiilfsmittel der mathe-
matischen Analysis anwandte.
I*
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Freilich handelte es sich hierbei um aufserordentlich schwierige
und verwickelte Aufgaben, an deren Lösung man nur unter verein-
fachenden Voraussetzungen herantreten konnte.
Indem man aber die Cyklone als ein gegebenes Gebilde be-
trachtete und sich darauf beschränkte, die Bedingungen zu erforschen,
welche zu deren Fortbestehen beziehungsweise zu der fortgesetzten
Neubildung, sowie zu der gleichförmigen Fortbewegung erfüllt sein
müssen, indem man ferner sowohl die Bewegungsvorgänge als auch
die thermischen für sich allein betrachtete, gelang es, Reihen wich-
tiger Sätze aufzustellen.
So gab man sich noch vor wenigen Jahren der Meinung hin,
als ob man in diesem Zweige der Wissenschaft wenn auch nicht im
Einzelnen, so doch der Hauptsache nach zu einem gewissen Absohlufs
gekommen sei und es sich nur darum handle, den zu Grunde liegen-
den Gedanken mehr und mehr zu verfolgen und auszubauen.
Freilich gab es immer noch eine gewichtige Frage, auf welche
die Konvektionstheorie die Antwort schuldig blieb. Wenn sich nämlich
auch die Thatsache, dafs die Depressionen im allgemeinen ganz be-
stimmte Wege einschlagen, ungezwungen mit ihren Anschauungen ver-
einigen liefs, so blieb doch das fortgesetzte Entstehen neuer Cy klonen
nach ziemlich gleichen Zeiträumen völlig unerklärt.
Wenn dies aber auch ein Mangel war, so konnte er doch nicht
als ein Einwurf gegen die Richtigkeit der ganzen Theorie angesehen
werden, da die Möglichkeit nicht ausgeschlossen war, dafs irgend eine
neue Beobachtung oder auch ein glücklicher Einfall die Lösung des
Räthsels bringen würde.
Dagegen haben seit einigen Jahren die an den Hochstationen
gewonnenen Ergebnisse, und zwar vor allem die von Hann in Wien
meisterhaft bearbeiteten Beobachtungen vom Sonnblick in den hohen
Tauern (3100 m Meereshöhe), tatsächlich gewichtige Einwände gegen
die vollkommene Zulänglichkeit der bisher angenommenen Lehre an
den Tag gefördert.
Sollen nämlich die Luftverdünnung, wie sie sich in dem niedrigen
Stande des Barometers im Innern der Cyklone kundgiebt, oder die Luft-
verdichtung im Innorn der Anticyklono tatsächlich die ersten Ursachen
der Erscheinungen sein, die dann erst das Auf- oder Absteigen der
Luft in diesen Räumen zur Folge haben und damit die Gesamtheit
der in diesen Gebilden beobachteten Vorgänge, dann mufs unbedingt
die Luftsäule in der Cyklone eine höhere Temperatur besitzen als in
der Anticyklone.
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Ist dies aber nicht der Fall, dann mufs die Luftverdünnung im
Innern der Depression eine Folge der Wirbelbewegung sein und nicht
diese Bewegung Folge der Verdünnung, dann mufs es sich vielmehr
ähnlich verhalten wie bei einem Centrifugalgebläse, bei welchem durch
die Rotation die Luft ringsum hinausgeschleudert und dadurch im Innern
eine Verdünnung und somit ein Xachsaugen hervorgebracht wird.
So lange man nur Beobachtungen aus tiefer liegenden Schichten,
also die Beobachtungen der gewöhnlichen meteorologischen Stationen
zu Käthe zog, schienen die ersterwähnten Bedingungen erfüllt, da,
wie schon bemerkt, die Cy klonen im allgemeinen verhältnifsmäfsig
warme, die Anticyklonen kalte Stellen der Erdoberfläche aufsuchen.
Dagegen lehren die Beobachtungen der Hochstationen, und vor
allem die auf dem Sonnblick gewonnenen, dafs bei Berücksichtigung
der höheren Schichten sioh die Verhältnisse häufig in das Gegentheil
verwandeln und dafs nicht selten die ganze Luftsäule im Innern der
Anticyklone, soweit sie der Beobachtung zugänglich ist, viel wärmer
ist als im Innern der benachbarten Depressionen.
Diese Thatsachen, die überdies mit den Grundlehren der mechani-
schen Wärmetheorie im vollsten Einklänge stehen, zwingen nun unab-
weisbar dazu, die ganze bisher vorgetragene Lehre von der Entstehung
der Cyklonen und Anticyklonen einer gründlichen Revision zu unter-
ziehen.
Hierbei wird man genöthigt sein, die allgemeine Zirkulation, die man
unter der Herrschaft der alten Passattheorie als das allein maßgebende
angesehen, dann aber Jahrzehnte hindurch gänzlich beiseite gesetzt
hatte, wieder mit in den Kreis der Betrachtung zu ziehen und zu suchen,
inwiefern sich zwischen ihr und der Kouvektionstlieorie, die gewifs in
vielen Punkten das Richtige getroffen hat, eine Verbindung hersteilen läßt.
Dabei handelt es sich ebensowohl um Berichtigung, Vervoll-
ständigung und Erweiterung der Theorie, als um Beschaffung neuen
Beobachtungsmaterials.
Es ist kaum möglich, dem Fernerstellenden eine Vorstellung davon*
zu geben, in welcher Weise man bei derartigen theoretischen Unter-
suchungen zu Werke geht, und so mag nur bemerkt werden, daß man
eben zunächst möglichst vereinfachende Annahmen macht und dann
erst allmählich mehr und mehr Nebenumstände mit in Betracht zieht,
um sich so der Wahrheit schrittweise zu nähern.
So hat man z. B., wie schon bemerkt, bisher Cyklone und Anti-
cyklone als für sich bestehende Gebilde betrachtet, ohne, abgesehen
von der Reibung am Erdboden, Kräfte in Rechnung zu ziehen, welche
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von aufsen her auf sie einwirken, und doch mufs man dies, sobald
man den Einflufs der allgemeinen Zirkulation berücksichtigen will.
Desgleichen hat man bei diesen Untersuchungen nicht in Rech-
nung gezogen, dafs ein Theil der Cyklone der unteren trockenen
Luft angehört, der andere der Wolkenregion, und dafs sich beim Ein-
tritt in die letztere mit einem Sprunge ganz andere Verhältnisse geltend
machen, die auch auf die Bewegungen ihren Einflufs äufsern müssen.
Auch die Wärme-Aufnahme oder Abgabe an der oberen Grenze der
Wolken hat man bei den theoretischen Untersuchungen bis jetzt ganz
unbeachtet gelassen, obwohl es sich gerade hier um Vorgänge von
einschneidender Bedeutung handelt
Es kann freilich verwegen erscheinen, auch nur versuchen zu
wollen, sich von den bisher auferlegten Beschränkungen froi zu machen
und alle genannten Umstände zu berücksichtigen, da die Aufgaben in
solcher Allgemeinheit schwieriger und verwickelter werden als irgend
welche Probleme der theoretischen Astronomie oder der mathemati-
schen Physik, deren Lösung bis jetzt dem menschlichen Scharfsinn
gelungen ist
Trotz alledem darf man nicht daran verzweifeln, auch aui diesem
Gebiete wenigstens so weit vorzudringen, als nothwendig ist, um über
die wesentlichsten Punkte ins Klare zu kommen, und zwur dürften
gerade Betrachtungen von ganz allgemeinen Gesichtspunkten aus hier
mehr Erfolg versprechen als solche, bei denen man sich in der Fülle
der Einzelheiten vorirrt.
Gestattet doch z. B. das Prinzip von der Erhaltung der Kraft
nicht selten, Fragen von grofser Allgemeinheit stieng zu lösen und
hinsichtlich des Endergebnisses präzise zu beantworten, während man
noch lange nicht im stände ist, die Fäden zu entwirren, welche die
Einzelerscheinungen mit einander verknüpfen.
Und ähnlich verhält es sich mit anderen Sätzen der allgemeinen
Mechanik oder der Thermodynamik.
So genügen z. B. höchst einfache Betrachtungen, um nachzu-
weisen, dafs der grofse Kreislauf, oder wenn man die in der mechanischen
Wärmetheorie gebräuchliche Bezeichnung wählt, der grofse Kreispro-
zefs, wie man ihn in der allgemeinen Zirkulation vor sich hat und wie
er sich im wesentlichen innerhalb der tropischen und subtropischen
Zone abspielt, und die kleineren Kreisprozesse, wie sie in höheren
Breiten bei dem Luft-Austausche zwischen Cyklone und Anticyklone
durchlaufen werden, wesentlich verschiedener Natur sind. Bei dem
ersteren wird Wärme in Arbeit verwandelt, bei den letzteren Arbeit
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in Wärme, und eben die bei dem grofsen Kreisläufe gewonnenen Be-
wegungen sind es, welche wenigstens zum Theile die kleinen Kreis-
prozesse unterhalten.
In ähnlicher Weise lassen sich höchst wichtige Schlüsse aus der
einfachen Ueberlegung ziehen, dafs man es bei den atmosphärischen
Vorgängen, sofern man ihre Durchschnittswerthe betrachtet, im allge-
meinen mit sogenannten stationären oder strenger gesprochen mit
periodisch stationären Zuständen zu tliun hat
Man nennt nämlich einen Bewegungszustand stationär, wenn die Be-
wegungen in irgend einem Systeme von Punkten so erfolgen, dafs an die
Stelle eines jeden sich weiter bewegenden Massentheilohens immer
wieder neue treten, die sich genau in derselben Weise bewegen, so
dafs das ganze System als solches immer in dem nämlichen Zustande
verbleibt, obwohl die einzelnen Tlieilchen derselben in Bewegung sind.
Wenn sich z. B. ein Schwungrad mit stets gleich bleibender Ge-
schwindigkeit um seine Axe dreht, so ist dies ein stationärer Vor-
gang; wenn der Wasserstand in einem Flusse der gleiche bleibt, also
jederzeit ebensoviel Wasser zuströmt als abtliefst, so hat man einen
stationären Zustand vor sich, und zwar einen stationären Strom. Das
Gleiche gilt von der Bewegung des Wassers oder des Gases in Leitun-
gen, sofern W’asserlieferung und Gasproduktion sowie Konsum unver-
ändert bleiben.
In allen solchen Fällen hat man es mit einem gewissen Gleich-
gewichtszustand zu tliun, obgleich kein Gleichgewicht im engeren
Sinne des Wortes vorhanden ist, da Bewegungen vor sich gehen und
die einzelnen Theilchen nicht in Ruhe sind.
Das Schwungrad, das man sich, um das Beispiel ganz treffend
zu machen, als volle Scheibe denken kann, bietet dem Beschauer, so
lange er nicht ganz nahe kommt, den Eindruck vollkommener Ruhe,
der Flufs als solcher bleibt an seiner Stelle, obwohl die Wasser-
theilchen, welche ihn bilden, sich bewegen, sich stets erneuern.
Sind die hier geschilderten Bedingungen nicht genau erfüllt,
bleibt das System als solches nicht unverändert, kehrt es aber nach
bestimmten, gleich langen Zeitintervallen immer und immer wieder auf
gleiche Weise in denselben Zustand zurück, dann kann man den
Vorgang als einen periodisch stationären bezeichnen.
Eine Dampfmaschine, und zwar am besten eine feststehende, in
dor sich bei jedem Kolbenhübe dasselbe Spiel wiederholt, und die in
gleichen Zeiten bei gleichem Brennmaterialverbrauche stets gleiche Arbeit
leistet, bietet ein vorzügliches Bild für einen solchen periodisch statio-
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nären Zustand. Desgleichen die Vorgänge in einer Gasleitung, welche
während der Tagesstunden nur von einem schwachen Strome durch-
flossen wird, der allabendlich mit dem zunehmenden Verbrauche an
Stärke wachsen mufs, um in den Morgenstunden wieder schwächer
und schwächer zu werden.
Mit ähnlichen periodisch stationären Vorgängen hat man es nun
in der Meteorologie, sofern man die Durchschnitte ins Auge fafst, bei-
nahe allenthalben zu thun.
So erhält z. B. die Erde während eines Jahres im Durchschnitt genau
ebensoviel Wärme von der Sonne, als sie durch Ausstrahlung an den
Weltraum verliert; denn wäre dies nicht der Fall, so müfste sie fort-
gesetzt wärmer oder kälter worden, was doch nachweisbar nicht der
Fall ist, sofern man die Untersuchung auf historische Zeiträume be-
schränkt und nicht etwa nach Hunderttausenden von Jahren rechnet,
wie dies die Geologen thun. Dabei überwiegt an einzelnen Stellen
der Erde, und zu bestimmten Jahres- und Tageszeiten, die Einstrahlung,
an anderen Stellen und zu anderen Zeiten die Ausstrahlung, und so gewährt
uns der Wärmehaushalt der Erde das Bild einer periodisch statio-
nären Wärmobewegung, die zwar regelmäfsig wiederkehrenden Ver-
änderungen unterworfen ist, aber dennoch im grofsen und ganzen
einen gewissen Beharrungszustand darstellt.
Aehnlich verhält es sich mit den Strömungen der Atmosphäre,
die sich nach Abstreifen der Einzelheiten und Zufälligkeiten ebenfalls
als periodisch stationäre Vorgänge auffassen lassen.
Nun kann man aber für die stationären Bewegungen und Strömun-
gen ganz allgemeine Sätze aufstellen, die sich in ihrer Anwendung
auf die Meteorologie als aufserordentlich fruchtbar erweisen dürften.
Und ob uns auch schwindeln mag bei dem Gedanken an die ver-
schlungenen Bahnen, welche ein Lufttheilchen zurückzulegen hat, wenn
es am Aequator aufsteigend nach Ueberschreiten des Wendekreises
wieder herabsinkt, um in einen der grofsen, die Polarkalotten von
Westen nach Osten umkreisenden Wirbel hineingezogen zu werden
und schliefslich nach mehrfachem Auf- und Absteigen in Oy klonen
und Anticyklonen, nach oftmals wiederholter Wärme-Aufnahme und
Abgabe wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren, so dürfen wir
doch den Muth nicht sinken lassen und müssen es wenigstens versuchen,
dasselbe, gestützt auf die Grundlage der Physik, an der Hand streng
mathematischen Denkens auf seinen Wegen zu begleiten.
Freilich heifst es dabei vorsichtig weiterschreiten, jeden Schlufs
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sorgfältig erwägen, und mit unerbittlicher Kritik an der Hand der That-
sachen prüfen.
Und wenn wir auch in der Meteorologie nicht in der gleichen
Lage sind, wie dio Mitglieder der Aocademia del Cimento, denen wir
bekanntlich auch die ersten meteorologischen Instrumente verdanken,
und die ganz im Geiste ihres Lehrers und Vorgängers Galilei die
experimentelle Prüfung eines jeden Schlusses auf ihre Falme geschrieben
hatten, so gilt ihr Wahlspruch „provando e riprovando“ d. h. „durch
Versuohe und wiederholte Versuche* in gewissem Sinne doch auch
für uns.
Experimente anzustellen ist dem Meteorologen freilich versagt,
aber er kann wenigstens die Richtigkeit seiner Schlüsse an den Er-
scheinungen prüfen, wie sie sich eben der Beobachtung darbieten, und
wenn wir dies nur ernst und ehrlich thun, dann dürfen wir sicher
holten, wenn auch erst in ferner Zeit, so doch endlich einmal das vor-
gesteckte Ziel zu erreichen oder wenigstens die Hahn zu ebnen, die
einstmals dahin führen wird.
Freilich bedarf es hierzu verschiedener Erweiterungen des Be-
obachtungsprogrammes, mit welchen man sohon da und dort in be-
scheidenem Marse begonnen, die aber immer energischer in Angriff
genommen werden müssen, wenn man den Aufgaben gerecht werden
will, welche die Forschung heute an uns stellt.
Nach welcher Seite hin diese Erweiterung in erster Linie erfolgen
mufs, liegt auf der Hand. Die Konvektionstheorie, die wir eben als
einer Revision bedürftig haben kennen lernen, wurde im wesentlichen
auf Grundlage von Beobachtungen entwickelt, die an der Erdoberfläche
angestellt waren.
Sowie man anfing mit den Beobachtungsstationen in höhere und
höhere Schichten vorzudringen, zeigten sich Mängel, deren Beseitigung
zur Zeit noch nicht vollständig gelungen ist.
Man wird demnach ganz von selbst darauf geführt, den Be-
obachtungen in höheren Theilen der Atmosphäre mehr und mehr die
Aufmerksamkeit zu schenken.
Hierbei genügt es aber nicht, die Zahl der Bergobservatorien zu
vermehren, so wiinschenswerth dies auch an sich ist, sondern hier
gilt es vor allem mit unsern Ilülfsmitteln einzudringen in das eigent-
liche Gebiet unserer Forschung, in die freie Atmosphäre.
Die Verhältnisse an Gipfelstationen bilden nämlich immer nur
einen Uebergang von jenen der Tieflandsstationen zu jenen der
höheren Regionen, denn alle dort gewonnenen Beobachtungen stehen
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immer noch in hohem Grade in Abhängigkeit von den Einflüssen
der Erdoberfläche, die sich ja selbst bei den steilsten Gebirgen doch
immer nur allmählich zum Gipfel erhebt, wie jede gute Reliefkarte
lehrt. Erst wenn wir über Sinn und Gröfse der Unterschiede genau
unterrichtet sind, welche zwischen den im Innern des Luftmeeres und
den auf Gebirgsstationen gewonnenen Beobachtungen bestehen, erhalten
die letzteren ihren wahren Werth.
Zur Ermittelung dieser Unterschiede, zur Erforschung der Ver-
hältnisse in der freien Atmosphäre giebt es aber kein anderes Hiilfs-
mittel als den Luftballon, dem die Gebirgsstationen sowie die Wolken-
beobachtungen nur ergänzend zur Seite treten können.
Ueberdies hat der Luftballon für die Meteorologie erst in aller-
jüngster Zeit seine wuhre Bedeutung erhalten, seitdem es dem Scharf-
sinn Assmanns gelungen ist, die grofsen Schwierigkeiten zu über-
winden, welche sich der genauen Ermittelung von Temperatur und
Feuchtigkeit bei Luftfahrten bisher entgegengestellt hatten.
Es ist dem Feruerstehenden wohl kaum bekannt, dafs selbst die
einwurfsfreie Bestimmung der Lufttemperatur unter den gewöhnlichen
Verhältnissen bis vor wenigen Jahren noch ein ungelöstes Problem war,
obwohl man die Beobachtung der Temperaturen von jeher als eine der
wichtigsten Aufgaben der meteorologischen Stationen betrachtet hat.
Der Stand eines der Luft ausgesetzten Thermometers hängt nämlich
nicht allein von der Temperatur der umgebenden Luft ab, sondern auch
davon, in welchem Mafse dasselbe durch Ein- oder Ausstrahlung be-
einflufst wird. Dafs selbst benachbarte Thermometer im Sonnenschein
je nach ihrer Beschaffenheit und je nach der ihrer nächsten Umgebung
ganz verschiedene Stände zeigen können, dafs die Farbe benachbarter
Wände und unzählige andere Nebenumstande hierbei eine wesentliche
Rolle spielen, ist längst bekannt. Man hat deshalb auch schon von
jeher diese Instrumente im Schatten eines Hauses, oder unter be-
sonderen schattengebenden Vorrichtungen — Thermometerhütten —
aufgehängt
Aber selbst wenn man ein Thermometer vor der Nordwand eines
Hauses angebracht hat, und wenn dieses Haus so glücklich liegt, dafs
uuch die Morgen- und Abendsonne sogar im Hochsommer durch be-
nachbarte aber ja nicht all zu nahe gelegene Gebäude oder Häuser
abgehalten wird, so sind doch die Strahlungseinflüsse noch nicht voll-
ständig gehoben.
Denn ebenso wie das Thermometer durch Bestrahlung von der
Sonne Uber die Temperatur der umgebenden Luft erwärmt wird, ebenso
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wird es während klarer Nächte durch Ausstrahlung gegen den Welt-
raum unter diese Temperatur abgekühlt
Um diese störenden Einflüsse zu beseitigen, hat man allerhand
Schutzvorrichtungen ersonnen, Blechschirme, Jalousiegehäuse aus llolz
oder Metall, besondere Hütten u. s. w. und beinahe jedes Beobachtungs-
netz hat eigene derartige Einrichtungen, über deren Zweckmäßigkeit
die Ansichten sehr getheilt sind.
Nur das wufste man längst, dafs die Angaben je nach der Art
der Aufstellung und Schutzvorrichtung verschieden sind, und zwar
um so verschiedener je ruhiger die Luft ist; aber welche diejenigen
sind, die der Wahrheit am nächsten kommen, dies war bis vor kurzem
gänzlich unentschieden, da es eben an einer Nonnalaufstellung fehlte,
von welcher man nachweisen konnte, dafs die Strahlungseinflüsse
wirklich beseitigt seien.
Immerhin halten sich die Abweichungen, welche die verschiedenen
aufgestellten Thermometer untereinander zeigen, in verhiiltnifsmäfsig
engen Grenzen, so dafs wenigstens die Miltelwerthe im allgemeinen
nur um Bruchtheile eines Celsiusgrades differiren, während die Einzel-
ablesungen schon weit mehr auseinander gehen können, was vorzugs-
weise bei Windstille vorkommt
Nun herrscht aber im Luftballon, sofern er sich nicht in un-
mittelbarer Nähe von Wolken, besonders von Gewitterwolken, befindet,
immer vollkommene Windstille, da er selbst mit dem Winde fliegt. Des-
halb treten auch dort die Strahlungseinflüsse in allerschärfster Weise
hervor, und ist es eben darum nioht unwahrscheinlich, dafs in älteren,
bei Luftfahrten gewonnenen Temperaturangaben die Fehler manchmal
bis auf 6 Grade oder noch höher angewachsen sind.
Diese störenden Einflüsse sind nun in dem vor einigen Jahren
von Assmann erfundenen Aspirationspsychrometer — Psychrometer,
weil es neben dem trockenon Thermometer, das zur Bestimmung der
Lufttemperatur dient, noch ein befeuchtetes Thermometer enthält, um aus
der Differenz der beiderseitigen Angaben auch die Feuchtigkeit be-
rechnen zu können — vollkommen vermieden.
Dies wird dadurch erreicht, dafs die Gefäfse der Thermometer in
vernickelte, hochpolirte doppelwandige Röhren eingeschlossen sind,
die unten offen sind und durch welche vermittelst eines durch ein
Uhrwerk getriebenen, oberhalb der Instrumente angebrachten Aspi-
rators ein kräftiger Luftstrom hindurch gesogen wird.
Auf diese Weise werden die Thermometer stets von Luft umspiilt,
die noch mit keinem Körper von anderer Temperatur in Berührung
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gekommen, da die dünnwandigen Röhrchen sehr schnell die Luft-
temperatur annehmen, während die hohe Politur derselben die Strahlung
beinahe vollständig ausschliefst.
Dafs dies erreicht ist, geht daraus hervor, dafs es auch bei der
kräftigen Sonnenstrahlung, wie sie an klaren Sommertagen in den
1 lochalpen herrscht, vollkommen gleichgültig ist, ob man das Instrument
ungeschützt der Strahlung aussetzt, oder einen Schirm vor demselben
anbringt
Auch die Möglichkeit, in den Uraniasiiulen, wie sie seit einigen
Monaten in Berlin aufgestellt sind, richtige Temperaturangaben zu er-
halten, beruht auf der Anwendung des gleichen Prinzips, während
beinahe alle ältereu Wettersäulen mehr dazu bestimmt scheinen, falsche
meteorologische Vorstellungen im Publikum zu erwecken, anstatt wirk-
liche Belehrung zu bieten.
Freilich ist gerade bei den Urania-Säulen eine Aufgabe gelöst, die
noch vor wenigen Jahren jeder Fachmann als kurzweg unlösbar be-
zeichnet habeu würde.
Nachdem aber der Scharfblick und die Ausdauer des Erfinders
uns in den Bositz der Aspirations-Instrumente gesetzt hat, und nachdem er
nachgewiesen hat, mit wie bedeutenden Unsicherheiten selbst die besten
früher bei Luftfahrten gewonnenen Zahlen behaftet sind, gilt es vor
allem die Arbeiten von n6uem aufzunehmen, welche die Engländer
Welsh und Glaish er vor einigen Jahrzehnten mit ebensoviel Kühnheit
als Umsicht ausgeführt haben und die, später von französischen Luft-
schiffern fortgesetzt, der Wissenschaft so grofse Bereicherung gebracht
haben.
Gerade in Deutschland sollte man sich für diese Sache umsomehr
erwärmen, nachdem man vor kurzem, zuerst in Berlin und dann in
München damit begonnen hat, auch auf diesem Gebiete in den Wett-
bewerb mit den anderen Nationen einzutreten und nachdem es gerade
einem Deutschen gelungen ist, die gewaltigen Schwierigkeiten zu be-
siegen, welche der Gewinnung genauer Zahlenangaben bei Ballon-
fahrten bisher entgegenstanden.
Möge es hier gestattet sein, einige der Punkte hervorzuheben,
deren Klärung nur auf diesem Wege zu erwarten ist:
In erster Linie ist es die Frage nach Temperatur und Feuchtig-
keit in verschiedenen Höhen und bei verschiedener Wetterlage, d. li.
unter der Herrschaft von Cyklonen oder Anticyklonen, im Winter oder
im Sommer, bei Tag oder bei Nacht, deren genaue Beantwortung inter-
essirt, da hierdurch allein entschieden werden kann, inwieweit die
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bisher allgemein angenommene Konvektionstheorie haltbar ist und
inwiefern sie modifizirt werden mufs.
Ferner ist es von ganz besonderer Bedeutung, die Veränderung
zu ermitteln, welche das Gesetz der Temperaturabnahme mit der Höhe
erfährt, wenn man aus der nebelfreien Luft, sei sie nun trocken oder
nur von Regentropfen durchsetzt, in die Wolke selbst eintritt.
Eis darf nämlich als bewiesen gelten, dafs man die wesentlichste
Ursache der Wolken- und Niederschlagsbildung in der Abkühlung zu
suchen hat, welche die Luft beim Aufsteigen erfährt. Diese Abkülüung
läfst sich berechnen, wenn man annimmt, dafs der aufsteigenden Luft
weder Wärme zugeführt noch entzogen wird, sowie dafs ihr von der
Seite her keine andere Luft beigemischt wird, als solche, die ebenfalls
vom Erdboden aus mit in die Höhe gestiegen ist.
Diese beiden Annahmen sind aber in der freien Atmosphäre nur
ausnahmsweise zulässig, wenn sie auch bei dem Vorgänge des Föhns,
der als Ausgangspunkt für all diese E’orschungen diente, bis zu einem
gewissen Grade erfüllt sein mögen.
Im Gegentheil lehrt die Beobachtung der Wolken, insbesondere
der in Auflösung begriffenen an der Rückseite der Cyklono — beim
Aufhören schlechten Wetters — , dafs dem aufsteigenden Strome der
Cyklone in verschiedenen Höhen Luft aus der benachbarten Anticyklono
beigemischt wird, die demnach noch nioht bis zum Erdboden herab-
gesunken war.
Wie grofs dieser Antheil beigemischter Luft ist, wie bedeutend
die Erwärmung oder Abkühlung ist, welche die Luft bei diesen Vor-
gängen erleidet, über all diese Fragen müssen die eben angedeuteten
Beobachtungen und Temperaturbestimmungen unterhalb und innerhalb
der Wolken Aufschlufs geben.
Noch viel interessanter aber werden diese Untersuchungen, wenn
der Ballon die obere Begrenzung der Wolken erreicht und durch-
schneidet.
Diese Fläche spielt nämlich in gewissem Sinne dieselbe Rolle, welche
bei unbewölktem Himmel der Erdoberfläche zufällt, jedoch in eigen-
artiger, höchst mannigfaltiger Weise.
Zunächst tritt an ihr eine gewaltige Reflexion der Sonnenstrahlen
ein, die bisher wohl kaum genügend gewürdigt wurde, obwohl sie die
merkwürdigsten Folgen nach sich ziehen mufs.
Es mag z. B. nur daran erinnert werden, dafs eine Steigerung in
der Intensität der Sonnenstrahlung, wie sie wahrscheinlich innerhalb
gewisser Perioden eintritt, wenn sie auch bisher noch nicht nachg“-
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wiesen wurde, an solchen Stellen der Erde, welche die Wolkenbildung
besonders begünstigen, sogar ein Sinken der Temperatur im Gefolge
haben könnte, da die verstärkte und verbreitete Wolkendecke die
Wärmezufuhr nach der Erdoberfläche beeinträchtigen müfste.
Es wäre nicht undenkbar, dafs die merkwürdige Periodizität in
der Temperatur ganzer Zonen, welche Koppen bereits im Jahre 1873
nacbgowiesen hat, und die unleugbar auf einen engen Zusammenhang
mit den Vorgängen an der Sonnenoberfläche hindeutet, während die
Ungleiohzeitigkeit der um Jahre verschobenen Eintrittszeiten der Maxi-
mal- und Minimaltemperaturen der einzelnen Zonen das Gegentheil zu
beweisen scheint, in solchen Verhältnissen ihre Erklärung finde.
Mit dieser Reflexion an der oberen Wolkengrenze geht aber
auch eine kräftige Verdunstung Hand in Hand, die nun wieder zu
eigenthümlichen Erscheinungen Veranlassung giebt, die sich bereits
theoretisch Vorhersagen liefsen und thatsächlich auch durch Ballon-
fahrten als richtig erwiesen sind.
Nicht minder wichtig als die eben angedeuteten Fragen sind die
Aufschlüsse, welche man aus solchen Fahrten über die Höhen er-
warten darf, bis zu welchen die atmosphärischen Wirbel ihre Herr-
schaft erstrecken, und bis zu welchen die Bewegungen in gleichem
Sinne vor sich gehen.
Die Bestimmung der Höhe, in welcher das Zuströmen nach der
Depression in ein Ausströmen übergeht, und die in einzelnen Fällen
gar nicht so beträchtlich zu sein scheint, ist eine Sache von aller-
gröfster Wichtigkeit
Welch eigenthümliche Verhältnisse in dieser Hinsicht Vorkommen,
lehren die Erfahrungen über die beinahe vollkommen horizontalen
Wolkenschichten von oft nur ganz geringer Mächtigkeit, welche die
Luftschiffer schon öfters in sehr müfsigen Höhen durchschnitten haben,
und die als Grenzfläche zweier Luftströmungen wohl gröfstentheils der
Mischung ihre Entstehung verdanken.
Solche weit ausgedehnte, vollkommen horizontale Wolkenschichten
scheinen besonders im Winter sehr häufig vorzukommen, doch läfst
sich ihr Vorhandensein ohne Luftballon gar nicht erkennen, da in
einem solchen Falle eben der ganze Himmel grau überzogen ist, ohne
dafs man, wenigstens im Flachlande, im stände wäre, die Erhebung dieser
Schicht über den Boden zu messen oder gar ihre Mächtigkeit zu be-
urtheilen.
Wie aufserordentlich interessant es ist, auch aurserdem noch Auf-
schlüsse zu erhalten über die Beschaffenheit der Wolken, braucht
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wohl kaum hervorgehoben zu werden, und mag nur beispielsweise
daran erinnert werden, dafs bei Ballonfahrten schon öfters Wolken
angetroffen wurden, in denen die Temperatur weit unter dem Gefrier-
punkt lag und die trotzdem keine Eispartikelchen enthielten, sondern
nur flüssige Wassertheilchen, eine Thatsache, die höchst wiohtige
Schlüsse zu ziehen gestattet.
Dies wenige wird genügen, um eine Vorstellung davon zu er-
wecken, welch hohe Bedeutung solch wissenschaftlichen Luftfahrten
innewohnt; möchte es doch gelingen, das Interesse dafür soweit zu
entflammen, dafs den Vereinen für Luftschifffahrt die freilich nicht
unbedeutenden Geldmittel gewährt würden, welche zur Durchführung
dieser Unternehmungen erforderlich sind.
Die Betrachtung und Aufzählung der von den Luftschiffern zu
lösenden Aufgaben hat zuletzt auf Untersuchungen über die Natur der
Wolken geführt und damit auf ein Forschungsgebiet, das neben den
Beobachtungen im Ballon die bedeutendsten Aufschlüsse verspricht
über die Vorgänge in der freien Atmosphäre, und dessen Pflege mithin
unsere Aufmerksamkeit in besonders hohem Grade in Anspruch
nehmen mufs.
Thatsächlich treten auch die Beobachtungen über Form und Zug
der Wolken in den letzten Jahren mehr und mehr in den Vordergrund.
Doch dürfte es gerade hierbei von allerhöchster Wichtigkeit sein,
sich immer klar vor Augen zu halten, wohin die Entwickelung der
Wissenschaft drängt, da eben hier die Gefahr von Fehlschlüssen und
Uebereilungen aufserordentlich nahe liegt
Es sind nämlich im wesentlichen zwei Punkte, welche bei diesen
Untersuchungen im Augenblicke Berücksichtigung finden: erstens die
Beobachtungen über Zugrichtung und Geschwindigkeit der Wolken,
insbesondere der hochfliegonden feinen Cirruswolken, als Hülfsmittel
zur Bestimmung der Luftbewegung in den betreffenden Schichten, und
dann die Klassifikation der Wolken nach ihren äufseren Formen.
Dagegen will es dem Schreiber dieser Zeilen scheinen, als wende
man der Bildung und Auflösung der Wolken nicht die Aufmerksamkeit
zu, welche diese Vorgänge verdienen, und als sei deshalb zu befürchten,
dafs auch in die Behandlung der beiden anderen Aufgaben sich Irr-
thümer einschleichen, die besser vermieden würden.
Man mufs sich nämlich hüten, die Wolke als ein Gebilde zu be-
trachten, das gewissermafsen in der Luft schwimmt, und dessen Be-
wegung demnach die gleiche sem müsse wie jene der Luft.
Die Versuchung, eine solche Auffassung Platz greifen zu lassen,
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liegt sehr nahe, da man sich zu leicht der Meinung hingiebt, als habe
man in Rauchwolken ein vollkommenes Analogon der Wasser- oder
Eiswolken vor sich, wie sie in der Atmosphäre schweben.
Und doch besteht zwischen beiden ein gewaltiger Unterschied:
Rauch ist ein fremder Körper, der bald nachdem die aus dem Schorn-
stein ausgetretenen Feuergase durch Vermischung mit der kühleren
Luft ihren Auftrieb verloren haben, einfach in der Atmosphäre schwebt,
um ganz allmählich langsam herabzusinken. Der Wasserdampf hin-
gegen, aus dem die Wolken bestehen, findet sioh in gröfseren oder
geringeren Mengen überall in der Luft, wird aber nur dort sichtbar,
wo Kondensation eintritt; die Wolke ist demnach nur das Bild eines
Vorganges, und es ist durchaus nicht statthaft, aus der Bewegung der
Wolke unmittelbar auf jene der Luft zu schliefsen. Und wenn auch
dieser Schlufs in vielen Fällen zutreffen mag, so kennt man doch andere,
in welchen er geradezu falsch ist.
So weifs man aus den Erfahrungen in Gebirgsgegenden, dafs
Wolken scheinbar unbeweglich an Bergen hängen können, während
sie in Wahrheit von heftigem Sturme durchbraust sind. Solche Wolken
entstehen und vergehen fortgesetzt an denselben Stellen und bieten
dadurch das Bild scheinbarer Ruhe, ebenso wie ein Wasserfall oder
noch besser ein Flufslauf von der Ferne betrachtet, feststehende Ge-
bilde darstellen, während das Wasser, aus dem sie bestehen, fort-
während durch neues ersetzt wird.
Ja, es können sich Wolken sogar scheinbar senken, während sie
doch das Produkt eines aufsteigenden Luftstromes sind, der nur in-
folge zunehmender Feuchtigkeit oder abnehmender Temperatur in immer
geringeren Höhen den Kondensationspunkt erreicht.
Desgleichen lehren die Erfahrungen der Luftschiffer, dafs Wolken
nicht selten in horizontalem Sinne vom Ballon durchfahren werden,
während der letztere vermöge des ihm innewohnenden Auftriebes,
sowie seines Gewichtes doch nur Träger vertikal wirkender Kräfte ist.
Das merkwürdigste Beispiel aber für den grofsen Unterschied,
der zwischen Luftbewegung und scheinbarer Bewegung der Wolken
besteht, bieten die reihenweise auftretenden Wolken, denen man in den
verschiedensten Schichten der Atmosphäre begegnet und die in den
gröfsten Höhen zur Entstehung der sogenannten Schäfchen - Wolken
Veranlassung geben.
Verfolgt man die Bildung solcher Wolken genauer, so sieht man,
wie sich oft mit einem Schlage ein Theil des Himmels mit Wolken
bedeckt, die. in parallele Streifen geordnet, einen höchst regelmäfsigen
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Eindruck gewähren, und wie sie bald darauf von einem Systom anderer
paralleler Streifen durchzogen werden, so dafs sie sämtlich in kleine
Hauten zerfallen und damit in die bekannte Form der Schäfchenwolken
üliergehen.
Diese Reihenwolken entstehen, wie von Helmholtz erst vor
wenigen Jahren auf theoretischem Wege nachgewiesen hat, jederzeit,
wenn zwei Luftschichten von verschiedener Temperatur mit ungleicher
Geschwindigkeit übereinander hinweg gleiten. In einem solchen Falle
müssen sich Wellen bilden, und die 'Wolkenreihen, die hierbei auf-
treten, sind das vollkommene Gegenstück zu den Wasserwellen mit
ihren schäumenden Kämmen.
Es ist das Bild einer Brandung, das wir in einem solchem Falle
vor uns sehen, und die in die hohem Luftschichten hineingeschleuderten
Mengen der darunter liegenden Schicht sind es, welche theils durch
Mischung theils infolge der Expansionsabkühlung die Entstehung der
streifenförmig angeordneten Wolken im Gefolge haben. Hier hat man
also wieder einen Fall vor sich, wo die scheinbare Weiterbewegung
der Wolken nicht im entferntesten einen Sohlufs auf die Geschwindig-
keit der Luft gestattet, ebenso wenig, als das scheinbare Fortschreiten der
Wasserwellen auf die Geschwindigkeit des Windes oder gar auf die
Fortbewegung dos Wassers.
Dagegen lassen sich aus der Breite dieser Streifen höchst wichtige
Schlüsse ziehen, auf die jedoch hier nicht weiter eingegangen werden kann.
Auch in der Geschwindigkeit, mit welcher die Bildung solcher
Wogenwolken oder Wolkenwogen — denn so nennt sie von Helm-
holtz in unvergleichlich zutreffender Weise — sioh ausbreitet, hat
man kein Mafs für die Windgeschwindigkeit, sondern nur für die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit atmosphärischer Wellen.
Diese Wogonwolken erstrecken sioh senkrecht zu jener Richtung,
die man erhielte, wenn man die langsamer fliefsende Schicht ruhend
denkt, d. i. senkrecht zu der relativon Bewegung der beiden Schichten.
Wäre die eine derselben, etwa die untere, thatsächlich in Ruhe, so
stünden sie einfach senkrecht auf der Richtung des darüber hin-
streichenden Windes.
Im Gegensätze hierzu giebt es aber auch Streifenwolken, die so-
genannten Cirrusstreifen, deren Längsrichtung wahrscheinlich mit jener
des Windes zusammenfällt.
Dieses Beispiel ist sehr lehrreich, indem es zeigt, wie gefährlich
es ist, wenn man bei derartigen Beobachtungen nur die äufsere Er-
scheinungsform in Betracht zieht, ohne der Sache auf den Grund zu
Himmel und Erde. 1882. V. 1. 2
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■gehen. So ist erst vor kurzem eine Abhandlung erschienen über die
sogenannten Radiationspunkte der Wolken, d. b. über jene Punkte,
nach welchen parallele Wolkenstreifen perspektivisch konvergiren, die
zu einem höchst auffälligen Resultate fuhrt.
Es ist wahrscheinlich, dafs dieses Resultat nur dadurch erzielt
wurde, dafs die Streifwolken, welche senkrecht auf der Windrichtung
stehen und jene, die mit ihr zusammenfallen, zu gemeinschaftlichen
Mittoln vereinigt wurden.
Die Lehre von den Luftwogen, durch welche eine längst bekannte,
aber früher nie richtig gedeutete Erscheinung mit einem Schlage sine
einfache und naturgemäfse Erklärung fand, ist eine der gröfsten Er-
rungenschaften auf dem eben besprochenen Gebiete.
Merkwürdigerweise hat sie in den neuen Atlanten zur Klassi-
fikation der Wolken keine Beachtung gefunden, und man sucht ver-
geblich nach einer in das System passenden Bezeichnung der Wogen-
wolken, die mit mannigfaltigen Abänderungen in den verschiedensten
Luftschichten Vorkommen.
Gerade darum möchte die Warnung berechtigt sein, man möge
nicht zu rasch daran gehen, auf rein beschreibendem Boden für die
Klassifikation der Wolken ein künstliches System zu sehaffen, das
etwa dem Li nn eschen Pllanzensystem vergleichbar, auf Bildung und
Auflösung der Wolken keine Rücksicht nimmt, und deshalb nicht
geeignet ist, das Verständnifs dieser Erscheinungen zu fördern.
Desgleichen dürfte es empfehlenswerth sein, zur Betheiligung an
diesen wichtigen aber höchst schwierigen Beobachtungen nur streng
geschulte, mit den besten Hülfsmitteln ausgerüstete Kräfte heranzuziehen,
da hier, wenn irgendwo, das Wort „multura sed non multa“ am Platze ist.
Glücklicherweise kann man heutzutage diese Untersuchungen an
ausgewählten Stationen mit um so greiserer Hoffnung auf Erfolg auf-
nehmen, da die (Hilfsmittel hierzu in den letzten Jahren eine ungeahnte
Vervollkommnung erfahren haben.
Der Photographie ist es in neuester Zeit gelungen, auch jene
zarten Gebilde zu flxiren, welche der sonst gebräuchlichen Methoden der
Photographie spotteten, und insbesondere hat llr. Dr. med. Neuhauss
in Berlin hierin staunenswertes erreicht.
Zugleich gestattet die in neuester Zeit so hoch ausgebildete
Photogrammetrie oder das Mofsbildverfahren, Höhe, Gestalt und Be-
wegung der Wolken mit grörster Sicherheit zu bestimmen, wie der
schöne Erfolg bewiesen hat, den Jesse durch Anwendung dieses
Hiilfsmittels auf die leuchtenden Nachtwolken erzielt hat.
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Wenn man auf diese Weise die Abmessungen der Wolken fest-
slellt und ihre Veränderungen genau verfolgt, und wenn man die jso
erzielten Ergebnisse in Zusammenhang bringt mit den Beobachtungen
am Erdboden und mit den im Luftballon gewonnenen Aufzeichnungen,
dann mufs es auoh gelingen, aus den Formen der Wolken die Ge-
schichte ihres Werdens und Vergehens abzulesen.
Alsdann wird es auch möglich sein, Eintheilung und Bezeichnung
der Wolken auf natürlicher Grundlage zu bringen und — um mit
G. Hell mann zu sprechen — , die Lehre von den Wolkenformen von
einer rein äufserlichen Systematik gewissermafsen zu einer Physiologie
dieser Gebilde zu erheben.
Im Vorstehenden wurde versucht, einige der wichtigsten Fragen
hervorzuheben, auf deren Bearbeitung der gegenwärtige Stand der
Forschung hinweist und zwar wurden hierbei zunächst solche berück-
sichtigt, deren Lösung für das Gesamtgebiet der Meteorologie von
besonderer Bedeutung sind.
Dafs nebenher noch Reihen anderer Probleme aufgezählt werden
könnten, die den genannten an Interesse nicht nachstehen, bedarf
wohl kaum besonderer Betonung. So mag nur im Vorbeigehen daran
erinnert werden, welch grofses Arbeitsfeld die Bestrahlung der Erde
durch die Sonne, sowie die Auszahlung an den Weltraum der Forschung
noch bietet, oder es mag der Untersuchungen über die elektrischen
Erscheinungen gedacht werden, welohe in den letzten Jahren durch
F. Exner in Wien, sowie durch Elster und Geitel in Wolfenbüttel
so bedeutende Förderung erfahren haben, ganz abgesehen von dem
Ausbau und der Ergänzung des früher Gewonnenen, die doch auch
nicht vergessen werden dürfen.
Wenn man aber gerade jene Fragen ins Auge fafst, die so recht
der Gegenwart angehören, so verräth sich in ihnen trotz aller Ver-
schiedenheit im Einzelnen, doch deutlich ein gemeinsamer Zug:
Mögen es die Bewegungen des Luftmeeres sein oder der Wärme-
haushalt der Erde, seien es Fragen von höchster Allgemeinheit, die
man zum Gegenstände der Untersuchung machen will, odor ganz be-
stimmte, eng begrenzte Fälle, mag man das wechselvolle Spiel der
Wolken verfolgen oder die rätselhaften Aeufserungen der Lufteleklrizität,
immer wird das Streben darin gipfeln, nicht nur empirische Regeln
aufzustellen, sondern einzudringen in das Wesen der Erscheinungen
und so die Meteorologie mehr und mehr auf feste Grundlagen zu
bringen, und sie umzugestalten zu einer „ Physik der Atmosphäre-.
o •
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Die Astronomie des Unsichtbaren,
Von Ür. SeMntr,
Astronom am Astropbyslkalischcn Observatorium ru Potsdam.
it nur ganz wenigen Ausnahmen ist das einzige Verbindungs-
glied zwischen una und den Himmelskörpern der Lichtstrahl,
der allein im Stande ist, uns Kunde von den fernsten Gegen-
den des Weltalls zu bringen. Die Ausnahmen bilden die Meteore
und Sternschnuppen, die, in ihren Bahnen durch den Widerstand unserer
Atmosphäre aufgehalten, zur Erdoberfläche herabfallen und alsdann
den sorgfältigsten Untersuchungen unterworfen werden können. Viel-
leicht könnte man gewisse elektrische Einflüsse, welche die Sonne
auf den Erdmagnetismus auszuüben scheint, noch zu diesen Aus-
nahmen reohnen; jedenfalls aber spielt in unserer Erkenntnifs der
Aufsenwelt das Licht eine so beherrschende Holle, dafs der kurze Hin-
weis auf die Ausnahmen genügt, um im weiteren das Licht als den
einzigen Himmelsboten bezeichnen zu können. Es ist hierbei aller-
dings erforderlich, das Licht in seinem allgemeinsten Begriffe aufzu-
iassen, als Aetherschwingungeu überhaupt, sei es nun, dafs dieselben
so langsam erfolgen, dafs sie nur noch unserem Gefühle als Wärme
erkennbar und im Bolometer oder Thermometer mefsbar sind, oder
aber, dafs das Auge sie wegen ihrer schnellen Aufeinanderfolge nicht
mehr aufzufassen vermag und nur noch die photographische Platte von
ihrer Existenz Zeugnifs ablegen kann. Wir dürfen also z. B. dioThat-
sache, dafs gewisse neblige Verdichtungen in planetarischen Nebeln
dem Auge nicht direkt, sondern nur durch das Hülfsmittel der Photo-
graphie wahrnehmbar gemacht werden können, nicht in das Gebiet der
Astronomie des „Unsichtbaren“ verweisen, ebensowenig wie die Erfor-
schung des ultrarothenSonnenspektrum8,sondern wir wollen im Folgenden
bei der Besprechung dieses Zweiges der Astronomie nur die Erkennt-
nifs solcher coelestischen Objekte berühren, die überhaupt oder
wenigstens bei ihrer Erforschung unsichtbar waren. Aber auch hier-
bei müssen wir uns noch gewisse Beschränkungen auferlegen. So
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wird uns gewifs niemand widersprechen, wenn wir die Behauptung
aufstellen, dafs die uns völlig unsichtbare Rückseite des Mondes eine
konvexe Fläche sei, und dafs auf derselben auch Berge und Krater be-
findlich wären, und doch wollen wir uns dessen nicht rühmen; oder,
wenn ein Astronom mit Hülfe der Elemente eines gut berechneten
periodischen Kometen, auch zur Zeit seiner Unsichtbarkeit den Ort
desselben innerhalb unseres Sonnensystems mit einer sehr beträcht-
lichen Genauigkeit angeben kann, so wollen wir ihm deshalb nicht
die Ehre einer Entdeckung aus dem Gebiete des Unsichtbaren zu-
sprechen.
Es sollen demnach in den folgenden Zeilen nur die Entdeckun-
gen von Himmelskörpern besprochen werden, deren Existenz ohne
vorherige Betrachtung im Fernrohr erkannt worden ist. Bei der
grofsen Wichtigkeit solcher Entdeckungen sind dieselben natürlich
auch in die weitesten Kreise gedrungen, und sie werden jedem, der
einmal eine populäre Astronomie gelesen hat, bekannt sein; auch sind
die neuen Entdeckungen diesor Art bereits in diesen Blättern be-
sprochen worden; vielleicht aber dürfte eine Darstellung dieser Tri-
umphe der Astronomie, von einheitlichem Gesichtspunkte ausgehend,
doch den meisten Lesern noch einiges Interessante bieten; vielleicht
gelingt es auch dem Verfasser, zuweilen einen Gedankengang zu er-
öffnen, der dem Laien neu und lehrreioh sein könnte.
Wir haben also festgesetzt, daß es nicht der von dem betreffen-
den Körper ausgesandte Lichtstrahl sein soll, welcher zu seiner Ent-
deckung verhilft; da wir aber oben das Licht als einzigen Boten aus
dem Weltall bezeichnet haben, so mufs es also der von einem anderen
Körper uns zugesandte Lichtstrahl sein, der die Existenz des unbe-
kannten Körpers verräth; der letztere mufs also auf den ersten irgend
einen Einflufs ausüben, der seinerseits irgend eine Aenderung in dem
uns zukommenden Liehtstrahle bewirkt.
Die einzige auf unermeßliche Entfernungen erkennbare Einwirkung,
die nun ein Himmelskörper auf den anderen ausüben kann, besteht in der
Anziehung oder Gravitation, welohe eine Ortsveränderung des sichtbaren
Gestirns bewirkt. Diese Ortsveränderung ist es, welche, beobachtet und
richtig gedeutet, zur Erkenntniß des anziehenden oder „störenden“
Körpers führt, seinen Ort am Himmel kennen lehrt und eventuell auch
dann seine ^tatsächliche Entdeckungbewirkt. Während so die Gravitation
allein das Bindeglied zwischen bekannten und unbekannten Himmels-
körpern bildet, kann die durch dieselbe hervorgerufene Ortsverände-
rung auf zweierlei Weise erkennbar sein. Einmal ändert der sicht-
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bare Körper seine scheinbare Position am Himmel, dann wird die Richtung'
des von ihm ausgehenden Lichtstrahls geändert, und diese Abweichung
von der normalen, natürlichen Richtung wird beobachtet Ein anderes
Mal findet aber eine merkliche Positionsänderung nicht statt, sondern
es resultirt nur eine schnellere oder langsamere Bewegung des sicht-
baren Körpers, deren in den Visionsradius fallende Komponente als-
dann mit Hülfe des Spektroskopes unter Benutzung des Doppl ersehen
Prinzips erkannt werden kann. Beide Beobachtungsmethoden unter-
scheiden sich sehr wesentlich, indem boi der ersten nur die Richtung
des Lichtstrahls, bei der letzteren aber gleichsam das Wesen desselben
verändert wird, und so müssen wir denn auch im Folgenden die Ent-
deckungen auf dem Gebiete der Astronomie des Unsichtbaren streng
nach diesen beiden Richtungen trennen.
In dem ersten Theile unseres Aufsatzes mögen also die Entdeckungs-
geschichten des Planeten Neptun, der dunklen Begleiter von Sirius
und Prooyon, sowie des vierten Sterns in dem mehrfachen Stemsystem
J Cancri aufgeführt werden, in dem zweiten bringen wir dann die
Entdeckung des Algolbegleiters und der verwandten Systeme.
Wie schon Eingangs hervorgehoben, können wir alle diese Ent-
deckungen im allgemeinen als bekannte voraussetzen, und es wird
daher genügen, den Gang derselben so kurz als möglich zu geben,
und nur an einzelnen, zum Verstandnifs wichtigeren oder interessanten
Punkten länger zu verweilen.
Die Entdeckung des Neptun.
Der französische Astronom Bouvard hatte für die Planeten Jupiter
und Saturn Tafeln gerechnet, welche für jeden Zeitpunkt die Oerter
dieser Planeten am Himmel recht genau anzugeben vermochten, so
dafs die Bewegungen dieser beiden Himmelskörper vollständig mit der
Gravitation im Einklänge standen. Als or zu gleiohen Zwecken Tafeln
für den im Jahre 1781 von Herschel entdeckten Planeten Uranus
konstruirte, fand er, dafs es unmöglich sei, auch unter genauer Be-
rücksichtigung aller Störungen durch die übrigen grofsen Planeten,
die ganze Beobachtungsreihe mit der Theorie in Einklang zu bringen.
Ohne das Riithsel dieser Erscheinung lösen zu können, verwarf er
daher die älteren Beobachtungen (vor Herschel) und benutzte nur
diejenigen von 1781 bis 1820, an welche ein genügender Anschlufs
der Theorie gelang. Aber schon nach wenigen Jahren erwiesen sich
die Bouvardschen Tafeln als nicht ausreichend; die aus ihnen berech-
neten Uranusörter wichen 1844 bereits um 2' ab, und es war nur
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natürlich, dafs sich fast alle Astronomen der damaligen Zeit mit diesem’
abnormen Phänomen beschäftigten. Vielleicht ist es Bessel gewesen,
der zuerst den Gedanken gehübt hat, die Anomalien der Uranusbewegung
den Störungen eines noch unbekannten Planeten zuzuschreiben; er
scheint diesen ‘Gedanken zwar nicht ausdrücklich ausgesprochen zu
haben, wohl aber bemerkt er schon 1823 in einein Briefe an 0 Ibers,
dafs eine strenge Untersuchung der Uranusbewegüng zu der „schönsten
Bereicherung der Wissenschaft leiten müsse“. Auch hat er später,
1838, thutsiichlich einen seiner Schüler, Flemming, veranlafst, diese
Untersuchung xu unternehmen, doch wurde ihre Ausführung infolge
des .frühzeitigen Todes von Flemming verhindert.
Wir müssen nun den Versuch machen, dom Leser die Schwierig-
keit der Lösung der gestellten Aufgabe einigermafsen klar zu machen.
Die Aufgabe selbst lautet: Es sind Störungen eines Planeten durch
einen anderen imbekannten gegeben, es soll die Bahn des unbekann-
ten Planeten und sein Ort am Himmel zu einer gegebenen Zeit ge-
funden werden. Dies ist genau die Umkehr der in der Planeten-
theorie immer wiederkehrenden und schon vielmal mit Erfolg ge-
lösten Aufgabe, aus den bekannten Bahnen zweier Planeten ihre
Störungen zu bestimmen. Die Lösung der ersten Aufgabe ist aber
keineswegs die direkte Umkehr der Lösung der zweiten, ja ohne
bestimmte vorherige Annahme über die Balm des unbekannten Planeten
ist die Lösung überhaupt nicht durchzuführtm, und diese Annahmen
mufsten damals die folgenden sein: Der unbekannte Planet bewegt
sich in derselben Richtung und derselben Ebene wie Uranus, die
mittlere Axe seiner Balm ist, entsprechend dem damals als fast allgemein
giltig angenommenen Bod eschen Gesetze über die Planetenentfernun-
gen, die doppelte derjenigen des Uranus. Es genügte alsdann aber
immer noch nicht, die übrigen Elemente und die Masse des unbekann-
ten Planeten als Unbekannte in das Problem einzuführen, sondern
auch die Elemente der Uranusbahn mufsten gleichzeitig mit verbessert
werden, da sie ja doch unter der falschen Annahme gerechnet worden
waren, dafs die beobachteten Uranusörter nur durch die schon be-
kannten Planeten beeiullufst seien. Weiter aber war es noch erforder-
lich, zu prüfen, ob die Rechnungen Bouvards keinen Fehler enthielten,
da es noch immer denkbar war, die Anomalie der Uranusbewegung
auf unrichtig berechnete Störungen durch Jupiter etc. zurückzuflihreu.
Der Anfangs dieses Jahres verstorbene euglisohe Astronom
J. C. Adams war es, der zum ersten Mal (1843) sich an die Lösung
dieser verwickelten Aufgabe wagte und sie mit Erfolg durchfubrte.
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Schon im Oktober 1845 (heilte der damalige Cambridger Student dem
Direktor der Greenwicher Sternwarte, Airy, die hypothetischen Ele-
mente des unbekannten Planeten mit, die jedoch von letzterem etwas
skeptisch aufgenommen wurden, sodafs eine N’achsuchung nach dem
Planeten zunächst unterblieb.
Im Jahre 1845 begann auf Veranlassung Aragos der junge Pariser
Astronom Leverrier — von der Arbeit Adams' war damals nichts
bekannt — mit der Lösung des Problems und veröffentlichte seine
Resultate 184(5, 31. August, in den Comptes Rendus. Die auffallende
U Übereinstimmung in den aus den Le verri ersehen und den Adams-
sehen Elementen berechneten Oertern des hypothetischen Planeten er-
regten nunmehr doch die Aufmerksamkeit des Direktors der Cambridger
Sternwarte, Challis, und derselbe begann nunmehr eine systematische
Nachsuchung nach dem Planeten. Bei dem Mangel einer brauchbaren
Sternkarte von der betreffenden Himmelsgegend konnte das Verfahren
zur Auffindung des Planeten nur darin bestehen, alle Sterne in der
Kühe des angegebenen Ortes wiederholt zu beobachten, um bei einer
Vergleichung der Beobachtungen alsdann den Planeten an seiner Be-
wegung zu erkennen. Ein rechtes Vertrauen in die Möglichkeit der
Auffindung scheint Challis indessen doch nicht gehabt zu haben, er
würde sonst sicherlich seine anderen Arbeiten zurückgesetzt und sofort
die Reduktion der Aufsuchungsbeobachtungen vorgenommen haben, die
ihn dann etwa am 13. August wohl schon zur Entdeckung des Planeten
geführt hätten, den er bereits am 4. und 12. August thatsächlioh be-
obachtet hatte.
Am 18. September 1846 schrieb Leverrier an den damaligen
Assistenten der Berliner Sternwarte, Dr. Galle, theilte ihm seine
Resultate mit und bat ihn, nach dem Planeten zu suchen. Wie bei
den meisten wichtigen Entdeckungen, so hat sich auch an diese eine
Reihe von Legenden und Entstellungen geknüpft, so dafs sich fast in
keinem populären Werke eine richtige Darstellung derselben findet;
wir haben es daher für interessant gehalten, hier eine streng richtige
Darstellung der Sachlage zu geben, gleichzeitig unter erstmaliger
Veröffentlichung des Leverrierschen Briefes, wozu Verfasser durch
die Freundlichkeit des Herrn Geheimrath Galle in Breslau in den
Stand gesetzt worden ist.
Dr. Galle hatte im Jahre vorher, 1845, promovirt und zwar mit
einer Abhandlung über eine dreitägige Beobachtungsserie Römers
aus dem Jahre 1706, der an drei aufeinanderfolgenden Tagen mit dem
zuerst von ihm angewandten Mittagsfernrohr die Uerter der Sonne,
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des Mondes und aller damals bekannten Planeten, sowie aufserdem
noch 88 Sterne bestimmt hatte. Galle, der von den damals schon
angefangenen Arbeiten Leverriers über die Uranusstürungen nichts
wufste, dem aber wohl die frühere Arbeit Leverriers über die
Säkularstörungen der Planeten, insbesondere des Merkur, bekannt
waren, sandte seine Dissertation an Leverrier nur in der Hoffnung,
dafs die in ihr neu reduzirten, für die weit zurückliegende Zeit sehr
genauen Planetenörter für die Untersuchung Leverriers von Nutzen
sein könnten. Leverrier hat diese Oerter zwar nicht benutzt, die
Zusendung der Dissertation war aber für ihn die Veranlassung, nach
Abschlufs seiner Rechnungen über den neuen Planeten an Galle ein
Dankschreiben zu senden und ihn bei dieser Gelegenheit direkt zur Auf-
suchung des Planeten aufzufordem. Ohne diesen vorausgehenden, zu-
fälligen Umstand würde also die Entdeckungsgeschichte Neptuns eiuen
durchaus anderen Verlauf genommen haben. Der Brief Leverriers
lautet in wörtlicher Uebersetzung:
Paris, den 18. Sept. 1846.
Mein Herr!
-Ich habe mit vielem Interesse und Aufmerksamkeit die Reduktion
der Köm ersehen Beobachtungen gelesen, von welcher Sie mir gütigst
ein Exemplar zugesandt haben. Die vollendete Durchsichtigkeit Ihrer
Erklärungen und die vollständige Strengt; der Resultate, welche Sie
uns geben, stehen auf der Höhe dessen, was wir von einem so
geschickten Astronomen erwarten mufsten. Später werde ioh mir die
Erlaubnifs nehmen, auf mehrere Punkte zurückzukommen, die mich
interessirt haben, und besonders auf die Beobachtungen des Merkur,
die (in Ihrer Arbeit) enthalten sind.
Heute möchte ioh von dem unermüdlichen Beobachter verlangen,
dafs er einige Augenblicke der Durchforschung einer Region des
Himmels widmen möge, wo es einen Planeten zu entdecken geben
kann. Es ist die Theorie des Uranus, welche mich auf dieses Resultat
geführt hat. Ein Auszug meiner Untersuchungen wird in den Astron.
Nachrichten erscheinen. Ich hätte es also unterlassen können, Ihnen
hiervon zu schreiben, wenn ich nicht die Pflicht zu erfüllen gehabt
hätte, Ilinen für das interessante Werk, welches Sie mir zugesandt
haben, zu danken." ,
Es folgen jetzt Angaben über den neuen Planeten und die sioh
für denselben ergebenden Elemente, dann heifs; es w'eiter:
„Uebrigens erlaubt es die Gröfse seiner Masse, zu sohliefsen,
dafs die Gröfse seines scheinbaren Durchmessers mehr als 3" beträgt.
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Dieser Durchmesser ist also durchaus so beschaffen, dafs Pr in guten
Fernrohren von dom künstlichen Durchmesser, welchen verschiedene
Aberrationen den Sternen geben, zu unterscheiden ist.
Genehmigen Sie, mein Herr, die Versicherung der Hochachtung
Ihres ergebenen Dieners
N. J. Le Verrier.
Wollen Sie gütigst Herrn Encko, obgleich ioh nicht die Ehre
habe, ihm bekannt zu sein, die Versicherung meiner tiefsten Ver-
ehrung mittheilen.“
Diesen Brief erhielt Galle am Morgen des 23. September und
theilte ihn sofort Encke mit, der nuumehr, nachdem er sich vorher
sehr zweifelnd und ablehnend über die schon bekannt gewordene
Angelegenheit ausgesprochen hatte, der Aufsuchung des Planeten
durch Galle zustimmte.
D’Arrest, der sich damals zu seiner weiteren Ausbildung an
der Berliner Sternwarte befand, bat sich die Erlaubnis aus, der Auf-
suchung beizuwohnen, die an demselben Abende vorgenommeu wurde.
Galle versuchte zuerst den Planeten an seiner Scheibe zu erkennen,
was jedoch nicht zum Ziele führte (der Durchmesser betrug thatsiichlich
nur wenig über 2"), und so mufste an die Beschaffung einer Sternkarte
gedacht werden. D'Arrest schlug vor, einmal nachzusehen, ob unter
den noch sehr lückenhaft vorhandenen akademischen Sternkarten
vielleicht die betreffende Gegend schon fertig sei, und in der Thal
fand sich die hora 22 von Bremioker vor, die erst kürzlich vollendet
und durch den Buchhandel noch nicht verbreitet war. Mit Hülfe
dieser Karte fand Galle sehr bald einen Stern 8-ter Gröfse, der, auf
der Karte nicht vorhanden, verdächtig erschien. Bis gegen Morgen
wurden Beobachtungen dieses Sterns vorgcnommon, an denen auch
Encke theilnahm, doch gelang es nicht, eine Bewegung des Sterns mit
Sicherheit zu konstatiren, und so mufste noch der folgende Abend
ubgewartet werden, an welchem sich dann die Identität mit dem
gesuchten Planeten als zweifellos herausstellte.
Nachdem wir nun gesehen haben, dafs die Rechnungen von
Leverrier und Adams den Ort des hypothetischen Planeten so
genau geliefert hatten, dafs eine Auffindung desselben besondere
Schwierigkeiten nicht bot, wollen wir nunmehr poch kurz betrachten,
wie nahe die Elemente der Bahn, aus welchen schliefslich doch der
Ort berechnet wird, der Wahrheit entsprechen, und stellen daher
zunächst dieselben nach der Rechnung von Leverrier und Adams
mit den wahren, später gefundenen Elementen zusammen.
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Leverrier Adams
halbe grofse Axe . . . 36.15 37.25
Exzentrizität .... 0.1076 , 0.1206
Länge dog Perihels . . 285 ° 299°
Masse (Sonne = 1) . . 0.0001 0 00015
Neigung 0° 0°
wahre Elemente
30.0.i
0.0090
46°
0.00005
1.8°
Ein Blick auf diese Zahlen lehrt, dafs bei befriedigender Ueber-
einstimmung der Elemente von Leverrier und Adams untereinander,
die Abweichung von den wahren Elementen eine ganz enorme ist,
eine so grofse, dafs die berechneten Elemente geradezu als illusorische
bezeichnet worden müssen. Einigermafsen stimmt nur die Annahme,
dafs die Neigung nvdl sei, da sie thatsäehlich sehr gering ist, — und
noch nicht 2° beträgt. Dagegen ist die nach dem Bodeschen Gesetze
angenommene grofse Axe um rund 125 Millionen geographische Meilen
zu grofs, die Exzentrizität ist mehr als 10 mal zu grofs, und die
Lange des Perihels weicht von der wahren um mehr als 100° ab,
sie liegt in einem ganz falschen Quadranten. Die Masse ist um mehr
als das Doppelte zu grofs gefunden worden.
Rechnet man aber aus den Le verrierschen oder Adamsschen
Elementen die Bahn des Neptun am Himmel während der Jahre, aus
welchen die Rechnungen erhalten worden sind, so ergiebt sich eine
auffallend nahe Uebereinstimmung mit der Wahrheit, die total falschen
Elemente liefern einen fast richtigen scheinbaren Weg des Gestirns.
Und dieser Umstand darf nicht etwa Verwunderung erregen, noch
weniger darf man den beiden Rechnern einen Vorwurf machen, denn
man sieht ja eben, dafs die errechnete Bahn sehr nahe dieselben
Störungen auf Uranus ausüben würde als die wahre, und aus den
Störungen ist ja alles gerechnet. Es ist viel leichter, ein Stück einer
scheinbaren Bahn auf dem Leverrierschen Woge richtig zu finden,
als die Elemente, da man eine grofse Menge von Variationen der
letzteren angeben kann, weicht' ein kurzes Bahnstüok alle gleich gut
darstellen. Ein Beispiel wird dies noch klarer stellen. Die Entfernung
des Planeten wurde um '/s zu grofs angenommen; um dies einiger-
mafsen zu kompensiren, ergab sich eine 10 mal so grolse Exzentrizität
und gleichzeitig eine solche — falsche — Lage des Perihels, dafs für
die Zeit der Neptunentdeckung der fehlerhafte Betrag der Entfernung
des Planeten von der Sonne von 125 Millionen Meilen auf 60 Millionen
Meilen reduzirt wurde. Um diesen Betrag war er noch zu weit von
Uranus entfernt; um die richtigen, und nicht zu kleine Störungen zu
geben, mufste entsprechend seine Masse gröfser ausfallen, wie dies
in der That geschah.
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•28
Es hält eben schwer, in diesem Falle zu entscheiden, was mehr
zu bewundern ist, die Geschicklichkeit der beiden Astronomen, die
ein in Strenge unlösbares Problem mit solchem Erfolge lösten, oder
die staunenswerthe Logik der mathematischen Analyse, die selbst in
den verwickeltsten Fällen aus den in das Problem eingeführten
richtigen Daten auch die einzig richtigen Resultate liefert, wenn auch
die quasi nebensächlichen Einzelheiten verfehlt erscheinen.
Auf die Geschichte der Neptunentdeckung wird die Menschheit
immer mit Stolz zurückblicken können.
(Fortsetzung folgt.)
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Parallelen.
Betrachtungen über die einheitlichen Züge im
N aturgesc liehen.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer.
jWIan pflegt gewöhnlich zu behaupten, der Mensch erst habe es
, i verstanden, die Natur seinem Willen zu unterwerfen, sie be-
wufst zu seinem Nutzen anzuwenden. In der Thal, wenn man
dem Menschen allein einen Willen beimifst, ist das ja selbstverständ-
lich. Aber seit die neue Weltanschauung, welche unseren Horizont
durch die Entdeckungen der Kolumbus, Kopernikus, Galilei,
Newton, Darwin, Robert Mayer auf den verschiedensten Gebieten
der Naturforschung so wesentlich erweiterte, uns zugleich um ein
gutes Stück bescheidener gemacht hat, da diese Weltanschauung uns
aus dem zentralen Standpunkte, welchen der Mensoh als eine Sonder-
schöpfung, als ein Halbgott beanspruchte, verdrängt hat und ihn mitten
in das Getriebe des Naturgeschehens und von ihm als dessen Produkt
in allen Regungen abhängig, versetzte, seitdem fällt eines nach dem
anderen von jenen angemafsten Vorrechten des Menschen gegenüber den
anderen Naturgeschopfeu Und wie man auch als Philosoph über die
Frage von der Freiheit unseres Willens denken mag, so mufs man
doch heute zweifellos anerkeuncn, dafs dasjenige Agens, welches wir
unseren Willen nennen, auch bereits in anderen unter uns stehenden
thierischen Wesen in entsprechend beschränkterem Mafse auftritt Der
unfafsliche Begriff des Instinktes ist aus unserer Weltanschauung längst
verdrängt worden. Die Thiere begehen ebenso gut wie wir bewufst
zweckmäßige Handlungen.
Und sie verwenden auch bereits die Naturkräfte bewufsterweise
zu ihrem Nutzen. Allerdings ging ihre Intelligenz nicht so weit, dafs
sie im stände gewesen wären, analysirend sich aus der fast unentwirr-
baren Gesamtheit der Naturwirkungen eine besondere, sagen wir die
Wärme oder gar die Elektrizität herauszunehmen, um diese zu ihren
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besonderen Zwecken zu verwenden. Aber es ist ohne Zweifel als ein
Anfang zu dieser merkwürdigen Entwickelung zu betrachten, wenn
fertige Naturprodukte, lebende Wesen, von anderen zu ihren speziellen
Zwecken bewufst ausgenutzt werden. Bei den Ameisen begegnen wir
bekanntlich den merkwürdigsten Fällen dieser Art. Die Ameisen
halten sich ihre Milchkühe, bekanntlich Blattläuse, die sie pflegen und
regelmiifsig melken, wie wir es in unseren Milchwirthschaften thun.
Sie treiben Ackerbau, sie pflügen das Land, sie säen und ernten; das
heifst, sie nutzen die Fruchtbarkeit des Bodens durch ihren besonderen
direkten Einflufs zu ihrem Vortheil aus.
Aehnliche Beispiele liefsen sich zu Hunderten namentlich bei den
Hausthieren anftihren. Sie sollen uns hier nur beweisen, dafs die
Keime dieser merkwürdigen Entwickelung, deren glänzendste Erfolge
unser Zeitalter der Naturwissenschaften sah, bereits tief im Thierreiche
wurzeln.
Vergegenwärtigen wir uns dieser Tbatsache gegenüber, wie jung
das Menschengeschlecht im Vergleich zum Stammbaum der Thierwelt
ist, aus dem es aufwmohs — wir müssen heute annehmen, dafs die
ersten Geschöpfe, welche auf den Namen „Mensch“ Anspruch erheben
durften, zwischen einer der letztverflossenen grofsen Eiszeiten auf-
traten, die vor vermuthlich 50 — 100000 Jahren die nördlichen Gebiete
von Amerika und Europa bis zu den Berggipfeln mit starrem Eise
überzogen — vergegenwärtigen wir uns, sage ich, gegenüber der Jugend
des Menschengeschlechtes die recht langsame Entwickelung dieses
neuen Naturprinzips, nach welchem die Lebewesen selbst durch ihren
eigenen Willen an der Leitung des Fortschritts der allgemeinen Natur-
entfaltung theilnehmen, so müssen wir davon überzeugt sein, dafs
dieses ganz wunderbare Prinzip, dieser Funke göttlicher Schöpferkraft,
der in uns lebt, noch ganz ungeahnte Fortschritte zu machen bestimmt
ist und dafs die Menschengeschlechter kommender Zeitalter in einer
wahren Märchenwelt leben werden, welche sie aus ihrer eigenen Kraft
heraus sioh aufbauten.
Mögen wir die gröfsten Erfindungen unserer Edisons auch
noch so sehr anstaunen, so werden doch unsere Nachkommen,
wenn sie naoh einigen Zehnern von Jahrtausenden die Erdablagerun-
gen unserer Zeit wieder aufwühlen und darin die Modelle unserer
Dampfmaschinen oder auch die elektrischen Anlagen unserer neueren
Zeit auffinden, nur ein mitleidiges Lächeln für uns haben und es kaum
begreifen, wie doch offenbar intelligente Wesen so unpraktische Werk-
zeuge und Einrichtungen benutzen konnten, um dadurch die Natur-
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kräfte in ihren Dienst zu zwingen. Ganz gewifs werden sehr viele
Vorrichtungen kommender Zeitalter sich zu den gegenwärtigen so
verhalten, wie etwa unsere Art des Feueranzündens zu der unendlich
mühsamen Art und Weise, vermittels welcher primitive Völker der Vor-
zeit oder die heutigen Indianerstämme durch oft stundenlanges Reiben
und Bohren die Moleküle in derartige Schwingungen zu versetzen
wissen, welche den chemischen Prozefs der aufllammenden Oxydation
einleiten.
In der That kann man sich beim Anblick unserer modernen,
riesenhaften, schwerfälligen Maschinen des Eindrucks kaum erwehren,
als sei hier die menschliche Technik zur Bezwingung der Naturge-
walten auf einen durchaus unnatürlichen Abweg gerathen. Die Natur
selbst schafft ihre grofsen Thaten, gegen welche doch unsere mensch-
lichen Werke ewig Kinderspiel bleiben werden, allein nur durch
unendliche Summirung allerkleinster Effekte. So riesige Maschinen,
/
welche nur einen besonderen, einseitigen Zweck verfolgen, wie die
des Menschen, brachte die Natur nirgends hervor; oder wenn sie
wirklich einmal zu Urzeiten der Entwickelung der organischen Welt
Organismen von riosenhaften Dimensionen schuf, w’ie beispielsweise
die bis zu 30 Meter langen Saurier der Jurazeit oder die Rieson-
säugethiere des Diluvium, so mufste der Erfolg lehren, dafs hier ein
Mifsgriff vorlag, aus dem dauernd Bestandfähiges nicht hervorgehen
konnte. Auch baut die Natur gerade das, was sie am meisten bestand-
fähig machen will, nioht wie der kurzsichtige Mensch aus möglichst
hartem Material — denn der Zahn der Zeit schreckt vor dem Härtesten
nioht zurück — sondern sie sorgt von vornherein dafür, dafs die beim
Betriebe ihrer Maschinen nothwendig angegriffenen Theile durch die
Wirkung der Maschine selbst dauernd wieder ersetzt werden. Wollen
wir aber mit der Natur erfolgreich rivalisiren, so können wir nichts
Besseres thun, als sie zu kopireu versuchen. Dagegen zeigt doch
der erste Blick und nicht minder das eingehendste Studium, dafs die
Natur nirgends Maschinen konBtruirt hat, die im Prinzip den unsrigen
ähnlich wären, es sei denn etwa, dafs in ganz jüngster Zeit unsere
Ingenieure bereits in der angedeuteten Richtung begannen, die Natur
zu belauschen, wie z. B. die der Einrichtung unseres Herzens ähn-
liche Pulsometerpumpe beweist. Ferner könnte man die sich selbst
an den betreffenden Reibungsstellen mit Oel versehenden Maschinen
als ein Zeichen der zwar völlig unbewufsten Entwickelung in dem
Sinne des fortwährenden Ersatzes angegriffener Theile des Organismus
auffassen. Es ist ganz und gar nicht zweifelhaft, dafs in kommenden
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Jahrhunderten in diesem Sinne eine vollkommene Umwiilzuug unseres
Maschinenbauwesens stattfinden muß.
Die neueren, ungemein bedeutungsvollen Forschungen haben
weiter gezeigt, daß die allerwichtigste Thätigkeit der Natur, nämlich
die Umsetzung der anorganischen, toten Materie in lebendige Theile
des Pflanzenorgani8mus, ausschließlich nur in den allerfeinsten Haar-
röhrchen der Pflanzen stattfindet. Hier gehen chemische Umsetzungen
vor sich, von denen sich die Chemiker bisher nichts träumen liefsen,
welche letzteren jenen subtilsten wählerischen Bewegungen der un-
sichtbar kleinen Atome mit ihren plumpen Destillirkolben und Tiegeln
vergebens zu Leibe zu gehen versuchten. Es mufs eine ganz neue
Kapillar- oder Haarröhrchenchemie geschaffen werden, welche uns
einstmals lehren wird, wie man in toten Gefäßen von allerkleinsten
Dimensionen die Atome der vier Organogene Wasserstoff, Kohlenstoff,
Sauerstoff, Stickstoff zwingt, in derartige Verbindungen mit einander
zu treten, dafs dieselben fiir uns nahrhafte Substanzen bilden, welche
bisher nur die Pflanzen hervorzubringen vermögen Damit wird dann
mit einem Schlage die soziale Frage gelöst sein, da es an diesen vier
Organogenen nirgends in der Welt jemals fehlen kann und jedermann
also dann im Stande sein wird, seine Nahrungsmittel im eigenen Hause
unabhängig von Wind, Wetter und Jahreszeiten heranreifen zu lassen.
Alle diese und noch viele andere hier nicht angeführte Ge-
sichtspunkte müssen jedem intelligenten Menschen, welcher nur ein
wenig über den Kreis des für den Moment Allernothwondigsten hin-
ausdenkt, die hohe Wichtigkeit vor Augen fuhren, welche für uns
die Erkenntniß der Naturgewalten eben zum Zwecke ihrer Unterwerfung
besitzt Die Natur soll unser Werkzeug werden; wie wäre es möglich,
dasselbe nützlich anzuwenden, wenn wir seine Eigenschaften nicht
kennen? Und Niemand sage sich, daß er dieses Werkzeuges nicht
bedürfe und auch Niemand glaube, dafs er nicht im stände sei, durch
Studium und Beobachtung der Naturwirkungen einmal eine wuchtige
Entdeckung zu machen. Zwar viele arbeiten bereite mit fieberhafter
Erregung, den Schleier der Naturgeheimnisse zu lüften, aber die Natur
ist unendlich groß und unendlich vielseitig, und oft kommt deshalb
ein epochemachender Aufschluß über das Naturgeschehen von ganz
unerwarteter Seite her. In diesem Sinne anzuregen, vorzubilden, zu
spornen, damit Jedermann in den Stand gesetzt sei, die Thätigkeit
und die Werke der Natur mindestens kennen zu lernen, oder sogar
zu ihrer Erforschung mitzuwirken, ist das Berliner Urania - Institut
entstanden, dessen Organ die vorliegende Zeitschrift ist.
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Aber die Begründer desselben sagten sich von vornherein, dafs
es für eine lebendige Auffassung des Naturalwaltens nothwendig sei,
dasselbe möglichst in seiner Gesamtheit vorzuführen, damit dem Be-
sucher nicht nur die Theile einzeln vorgeführt würden, aus denen das
lebendige Weltbild sich zusammenflicht, sondern dafs er zugleich
auch, wenn er ein klein wenig weiter denken will, die Verbindungen
entdeckt, durch welche alle Naturwirkungen mit einander verschmelzen.
Denn die Naturwissenschaft beginnt nun endlich aus jenen Kinder-
jahren herauszuwachsen, in welchen man nur zu analysiren, d. h. das
Gewebe der tausendfältigen Wirkungen auseinander zu lösen suchte,
so etwa, wie es der neugierige Knabe mit einem Spielzeug macht,
das er zertrümmert, um zu sehen, welch geheimnifsvolle Einrichtung
sich in dessen Innern befindet. In der That aber war jene analytische
Methode eine absolut nothwendige, weil die schwache menschliche
Kraft ja nur immer ein Ding nach dem anderen zu studiren vermag.
Hatten wir erst die einzelnen Wirkungen einigermarsen verstanden, so
vermochten wir uns schliefslich wohl auch ein Gesamtbild ihres
organischen Zusammenwirkens vorzustellen; doch müssen wir stets
vor Augen behalten, dafs wir die Zertrennung des Naturganzen zum
Zweck unseres Studiums fast ohne alle Vorkenntnisse willkürlich Vor-
nahmen. Wir zerlegten eben das Naturgefüge, ehe wir dasselbe seiner
inneren Struktur nach kannten und stellten also dort Trennungslinien
nach unserem Ermessen resp. nach den empfangenen physiologischen,
d. h. also subjektiven Eindrücken her, wo solche naturgemäfs in den
meisten Fällen gewifs garnicht berechtigt sind, das heilst unsere
Systematik ist ursprünglich durchaus keine natürliche, und wir dürfen
uns deshalb ganz und garnicht darüber wundern, wie es doch so viel-
fach geschieht, dafs wir zwischen den Naturkräften allerorten Ueber-
gänge wahrnehmen, welche beispielsweise Schall, Wärme, Licht, Elek-
trizität oder physikalische mit ohemischen Erscheinungen verbinden.
Grenzen zwischen diesen Erscheinungen existiren eben in der Natur
nicht oder doch nur selten da, wo wir solche hineintrugen. Das Hilfs-
gerüst beginnt nun endlich zu schwanken; es wird einmal ganz un-
nütz werden, wenn der Bau der naturwissenschaftlichen Erkenntnifs
wenigstens in seinen äufseren Umfassungsmauern vollendet sein wird.
Alle Erscheinungen in der Natur kommen zweifellos in letzter
Linie auf Bewegungen hinaus, welche die allerkleinsten unsichtbaren
Theilchen der Materie, die Atome oder Moleküle ausführen. Nur die
Gröfse und die Eigenart der Bewegungen charakterisiren die Naturer-
scheinungen. So können beispielsweise diese Bewegungen geradlinige
Himmel und Erde. lStä. V. 1. 3
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und gleichmäfsig fortschreitende sein, oder sich allmählich beschleuni-
gende, kreisförmige oder in Wellenlinien fortschreitende oder auch
hin- und herpendelnde oder endlich rotirende, bei denen der Schwer-
punkt der Masse sich nicht von der Stelle bewegt, während die ganze
Masse sich um sich selbst dreht.
Alle diese Bewegungen kommen in der Natur zweifellos vor;
wir beobachten sie an den grofsen Massenansaminl ungen, welche wir
in physikalischen Laboratorien oder auch am Himmel vor uns sehen:
In geradlinig fortschreitender Bewegung scheinen sich die Fixsterne
und unser ganzes Sonnensystem zu befinden, so weit wir es über-
sehen können. Eine beschleunigte Bewegung führt der fallende Stein
aus, eine kreisende und rotirende Bewegung die Erde und fast alle
übrigen Himmelskörper. Was endlioh die beiden letzten Formen der
pendelnden und wellenförmigen Bewegung anbetrifft, so nehmen wir
sie zwar nicht ohne weiteres wahr, dooh zeigt der Physiker unzweifel-
haft, dars dieses sogar die weitest verbreiteten Formen der Bewegung
der Materie sind.
Präparirt inan z. B. Wasser in der Weise, dafs man die Bewegung
der einzelnen Theilchen desselben verfolgen kann, so bemerkt man,
wenn die Oberfläche wellenförmig bewegt ist, dafs die einzelnen
Theilchen des Wassers in bestimmten Intervallen regelmäßig auf- und
niederpendeln; wenn dann auf der Oberfläche die Abwechselung von
Wellenberg und Wellenthal die Täusohung einer horizontal fort-
schreitenden Bewegung des Wassers hervorruft, so ist diese doch
keineswegs vorhanden und tritt erst ein, wenn das Wasser wirklich
wie in einem Flusse sich fortbewegt; dann verwandelt sich die
pendelnde Bewegung der einzelnen Wassertheilchen in eine fort-
schreitend wellenförmige. Solche Wellenbewegungen sind es nun,
welche je nach ihrer Geschwindigkeit die Eindrücke von Schall, Wärme,
Licht, Elektrizität übermitteln. Würden wir z. B. die wogende Be-
wegung des Wassers so beschleunigen können, dafs in einer Sekunde
an einer und derselben Stelle etwa neun Wellentliäler und Wellenberge
auftreten, so würde dieses Wasser dadurch den tiefsten Tonerzeugen,
welchen unser Ohr noch als solchen wahrzunehmen vermag. Diese
Anforderung an die Bewegung der Wassertheilchen ist also keine
exorbitante; eine scharfe Grenze zwischen der Wellenbewegung des
Wassers und der des Schalles vermag garnicht gezogen zu werden.
Nur unser physiologisches Auffassungsvermögen liegt zwischen zu-
weilen recht engen Grenzen. Während das Auge nicht mehr im-
stande sein würde, jener Wellenbewegung des Wassers zu folgen,
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welche den tiefsten Ton hervorbringen könnte, da die Abwechs-
lung von Wellenthal und Wellenberg nicht mehr einzeln erkennbar
bliebe, so tritt nunmehr das Ohr in Punktion, welches erst auf
mindestens so schnelle Schwingungen reagirt, um die empfangene
Tonempfindung alsdann durch Vermittelung betreffender Nervenstränge
dem Gehirn mitzutheilen. Bei weiterer Beschleunigung der Schwin-
gungen entstehen nunmehr höhere Töne, der höchste bei ca. 49000 in
einer Sekunde. Bei noch schnelleren Schwingungen bleibt unser Ohr
wiederum unempfindlich; es theilt keinen empfangenen Eindruck mehr
mit. Man mufs die Schwingungszahl sehr wesentlich erhöhen, um
einen merklichen physiologischen Eindruok von seiten jener Nerven-
fasern zu erhalten, welche über unseren ganzen Körper vertheilt, die
Empfindung der Wärme vermitteln. Hier schien also zwischen Sohall
und Wärme eine w'eite Kluft zu existiren.
Aber in neuester Zeit hat man auch hier vermittelnde Glieder
gefunden; man hat sehr empfindliche Apparate zur Messung der Wärme
konstruirt. das Bolometer, um welches sich namentlich der amerikani-
sche Astronom Langley hüohst verdient gemacht hat. Durch dieses
Instrument ist es gelungen, selbst die Kraft der Wärmestrahlung zu
messen, das heifst, die Grösfse der Wärmeschwingungen zu konsta-
tiren, welche vom Eise ausgehen; denn das Eis ist ja keineswegs als
etwas absolut Kaltes aufzufassen. Es ist nur ganz zufällig, dafs gerade
auf unserem Weltkörper eine mittlere Temperatur herrscht, bei welcher
der in der Natur verbreitetste Stoff, das Wasser, bei einigen Schwan-
kungen dieser Temperatur seinerseits zwischen dem festen und flüssigen
Zustande schwankt. Der Vorgang des Schmelzens oder Gefrierens ist
dabei, physikalisch genommen, durchaus kein anderer, als der des
Schmelzens oder Festwerdens des Eisens oder irgend eines anderen
Metalls. Man hat bekanntlich ln der letzten Zeit höchst interessante
Versuche angestellt, welche beweisen, dafs jeder Körper, die soge-
nannten permanenten Gase nicht ausgeschlossen, bei Anwendung hoher
Kältegrade und eines entsprechenden Druckes, welcher ihre Moleküle
zwingt, sich eng aneinander zu schliefsen, in jeden beliebigen Aggro-
gatzustand zu versetzen ist. So ist es dem berühmten Genfer Physiker
Raoul Piotet, welcher seine epochemachenden Versuche gegenwärtig
in Berlin fortsetzt, gelungen, Luft bei einer Kälte von 130° unter Null
und einem Druck von hundert und einigen Atmosphären flüssig zu
machen. Es ist eine schöne blaue Flüssigkeit; nicht viel fehlt mehr
daran, diese Flüssigkeit sich kristallisiren zu lassen. Man hätte so
wirklich aus Luft Steine fabrizirt Das Hirngespinst des Immermannr
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sehen Epigonen Münchhausens wäre dann zur Wahrheit geworden;
man müfste sioh für den sprichwörtlichen Begriff der Luftschlösser
nach noch unmöglicheren Vergleichen umsehen, die in unserer Zeit,
in der Naturwissenschaft und Technik geradezu das Unmöglichste her-
vorbringen, wahrlich schwor zu finden sein werden. Bekanntlich
verwendet Raoul Pictet gegenwärtig seine grofsartige Anlage zur
Erzeugung extremer Kältegrade, um gewisse, nur bei grofser Kälte
kristallisirende Substanzen durch diese Kristallisation zu raffiniren;
namentlich geschieht dies mit dem Chloroform, welches, in voll-
kommen reinem Zustande angewendet, sehr viel vortheilhafter wirkt
und keinerlei übte Folgen zurückläfst. Dieses Raffiniren des Chloro-
forms entwickelt sich inzwischen zu einem zweifellos bedeutenden
Industriezweige, und es zeigt sich, wie hier wiederum rein theoretische
Untersuchungen auf ungeahnte Weise der Industrie nutzbar werden.
Die tiefsten Temperaturgrade, welche wir bisher erzeugen können,
(etwa 130° unter Null) entsprechen vermuthlich etwa der Kälte des
Weltraums, von welchem die Erde umgeben ist Wäre die Erde also
beispielsweise eine Kugel aus Eis, gänzlich durchkältet von einer
Temperatur von ca. 30° unter Null, so müfste sie immerhin an den
Weltraum noch so viel Wärme auBstrahlen, wie eine gleich grofse
Kugel aus siedendem Wasser an eine Umgebung von 0°; denn diese
gedachte Eiskugel wäre ja immer noch um 100° wärmer, als der
umgebende Weltraum. Man hat nun bekanntlich durch gewisse theo-
retische Untersuchungen gefunden, dafs kein Körper eine tiefere
Temperatur als 273° unter Null annehmen kann. Dieses ist der so-
genannte absolute Nullpunkt. Erst bei dieser Temperatur also be-
ginnen die Moleküle der Stoffe Schwingungen, welche wir als Wärme
auffassen, und diese ersten Wärmeschwingungen werden von den
höchsten Schallschwingungen nicht sehr verschieden sein.
Es ist nun bekannt, dafs man mit Hilfe der Spektralanalyse in den
Stand gesetzt ist, die Lichtschwingungen ebenso in einer Stufenfolge
nebeneinander zu reihen, wie die Schallschwingungen. Man fand
dabei, dafs die rothen Schwingungen die langsamsten sind, die vio-
letten dagegen die schnellsten. Es handelt sich hier nun schon um
ganz enorme Geschwindigkeiten, die dafür in allerkleinsten Räumen
vor sich gehen. Wo das rothe Ende des Spektrums aufhört, finden
dennoch unsichtbare Schwingungen statt, welche vom Bolometer als
Wärmeschwingungen erkannt werden. Es ist aber sicher, dafs es
nur von der Konstruktion des betreffenden Auges abhängt, wie weit
man hier noch die Empfindung von Licht hat, ebenso wie die ver-
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schiedenen Ohren für die Auflassung der tiefsten und höchsten Töne
verschieden veranlagt sind. Eis scheint sogar, dafs gewisse Thiere
diese sogenannten ultrarothen Strahlen noch sehr entschieden als
Licht wahrnehmen.
Auch hier sind die in so vieler Hinsicht interessanten Ameisen
merkwürdig; Jedermann weifs, wie besorgt diese geschäftigen Thierchen
um die Erhaltung der Larven ihrer Nachkommenschaft sind. Wühlt
man einen Ameisenhaufen auf, so dafs diese Larven, die sogenannten
Ameiseneier, zu Tage treten, so haben die Thierchen nichts Eiligeres
zu thun, als dieselben wieder im Dunkeln zu bergen. Macht mau
nun dieses Experiment derart, dafs diese Larven nur von ultrarothein
Lichte, welches für uns vollkommener Dunkelheit entspricht, getroffen
werden, so tragen die Ameisen auch aus den von diesem Lichte ge-
troffenen Gebieten die Larven so schnell fort, als ob sie von hellem
Lichte beschienen würden. Dies nur als ein Beispiel, wie individuell
und abhängig von unseren physiologischen Einrichtungen die Begriffe
der physikalischen Erscheinungen sich darstellen.
Durcheilt mau nun die E’arben des Spektrums, so kommt man
endlich zu unsichtbaren Strahlungen, welche durch gewisse Versuchs-
«inrichtungen, durch das Dazwischenschieben gewisser Substanzen
sichtbar gemacht werden können und sich namentlich auch ohne
weiteres durch ihre chemischen Wirkungen, z. B. auf der photographi-
schen Platte, verrathen. Wir sind hier also noch keineswegs auf
der höchsten Sprosse der Stufenleiter der Schwingungsbewegungen
angekommen, welche das Weltall durchschwirren. Uns mangelt nur
das Sinnesorgan, auf welches diese höheren Schwingungen einen Ein-
druck hervorzubringen vermögen; unsere physiologische Maschine ist
zu grob für diese feinsten Eindrücke.
(Schlufs folgt.)
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Photographie und Mondforschung.
Die verschiedentlich vermulheten und wahrscheinlich auch reellen
Neubildungen odor Veränderungen auf der Mondoberfläche haben den
Wunsch hervorgerufen, die definitive Entscheidung derartiger bedeut-
samer Fragen, welche bisher nur durch eingehendes Studium der
zahllosen wechselvollen Gestaltungen an der Hand detaillirtester
Zeichnungen, deren Herstellung aber das Mafs der Arbeitskraft des
Einzelnen weit übersteigt, zu erreichen war, auf dem bequemeren
Wege der photographischen Fixirung anzubahnen. Mehrfache frühere
Versuche in der angedeuteten Richtung sind zwar, wie es scheint,
bereits von Erfolg begleitet gewesen; da aber zur Erlangung wirklich
brauchbarer Resultate von entscheidendem Werthe relativ grofse
Instrumente erfordert werden, so haben erklärlicherweise erst in neuester
Zeit, mit der fortschreitenden photographischen Technik gleichen Schritt
haltend, die Ergebnisse diejenige Stufe der Vollendung erreicht, welche
als Mafs des zur Zeit Erreichbaren bezeichnet werden mufs. In der
ersten Reihe steht hier mit ihren Leistungen die Licksternwarte, welche
durch ihr gewaltiges Teleskop, dessen ausgezeichnete Eigenschaften
allbekannt sind, sich in den Stand gesetzt sieht, alle ähnlichen Ver-
suche in den Schatten zu stellen. ')
Für die Zwecke des Detailstudiums und der Vergleichung mit den
auf direkten Beobachtungen beruhenden kartographischen Hilfsmitteln
bedürfen die photographischen Aufnahmen der an der Lichtgrenze
liegenden Parthieen wegen ihres immer noch verhältnifsmäfsig kleinen
Mafsstabes der in geeigneter Vergröfserung hergestellten Reproduktion.
Wegen der unvermeidlichen Mängel, die mehr oder minder jedem
Reproduktionsverfahren anhaften, verlieren diese Nachbildungen nament-
lich bei stärkeren Vergröfserungen so sehr an Intensität und Bild-
') Bereits im ersten Jahrgang dieser Zeitschrift sind zwei vortreffliche
Nachbildungen von Originalaufnahmen des Mondes auf dem Lickobservatorium
erschienen, auf welche hier nur hingewiesen sein möge.
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Ein Stück Mondoberfläche, photographirt auf der Licksternwarte am 31. August 1890.
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schärfe, dafs sie in jeder Beziehung weit hinter den Originalauf-
nahmen zurückstehen. So ist denn auch die hier beigegebene ver-
gröfserte Kopie einer Mondphotographie, welche am 31. August 1890
mit dem 36-zölligen Rieseninstrument der Liokstern warte erlangt wurde
und in den Rahmen eines Mondbildes von 46 cm Durchmesser direkt
hineinpassen würde, nicht entfernt mit dem Original vergleichbar; in-
dessen stellt dieselbe doch die an der Schattengrenze gelegenen Mond-
parthieen vom mare Crisium bis zu der prachtvollen Wallebene Lan-
grenus, die selbst bei Vollmond noch deutlich sichtbar bleibt, in einer
Plastizität und Schönheit dar, die das reichhaltige Detail in der Umgebung
des mare Crisium zu voller Geltung kommen läfst und bisher anderswo
kaum erreicht sein dürfte.2)
Wie genau selbst sehr zarte Einzelheiten zur Wiedergabe gelangt
sind, wird aus einem Beispiel erhellen. Nordöstlich vom Langrenus
in nächster Nähe desselben erkennt man drei zusammenhängende
Krater; in geringem Abstande von diesen ist nach Norden zu eine
ganz kurze von Schmidt entdeckte Rille von unverkennbarem Cha-
rakter aufserordentlich scharf zur Darstellung gekommen. Etwas
weiter entfernt von der Schattengrenze werden die beiden kleinen
Krater Messier sofort ins Auge fallen, die zu Madie rs Zeiten sich
in jeder Beziehung ähnelten, während sie jetzt sowohl in der Form als
in der Gröfse so erheblich von einander verschieden sind, dars mit grofser
Wahrscheinlichkeit an ihnen eine physische Veränderung als erwiesen
angesehen werden kann. Die Formation zeichnet sich überdies durch
den eigenthümlichen, von dem östlichen Krater ausgehenden doppelten
Lichtstreifen aus, welcher mit der deutlich begrenzten, schmalen, dunk-
leren Zwisohenparthie ganz und gar den Eindruck eines Kometen-
schweifes erweckt.
Von ungleich höherer Bedeutung als die vergröfserte Reproduktion
direkter Aufnahmen ist ein von Professor We l n e k in Prag kürzlich
eingeschlagenes Verfahren, das geradezu berufen scheint, eine neue
Aera in der Mondforschung einzuleiten. Die in durchscheinendem
(künstlichem oder Tages-) Licht mit einer Lupe betrachteten Original-
aufnahmen des Lickobservatoriums werden von dem genannten Mond-
forscher in aller Treue zeichnerisch kopirt Zu diesem Zweck ist ein
eigener Apparat gebaut worden, welcher gestattet, über die fest auf-
gestellte und mit einem auf Glas eingeritzten feinen quadratischen
Liniennetze bedeckte Platte die Lupe in unveränderlicher Entfernung
*) Der Leser vergleiche auch die Darstellung derselben Mondgegend nach
einer Zeichnung von Prof. W'einek im ersten Jahrgang von H. u. E.
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von derselben in zwei zu einander senkrechten Richtungen hinzube-
wegen. Das der Orientirung dienende Liniennetz ist in der aus der
Brennweite der Lupe und der normalen Sehweite des Zeichners abge-
leiteten etwa zwanzigfachen Vergröfserung auf Zeichenpapier aufge-
tragen, so dafs die absolute Treue der Wiedergabe, die allerdings eine
vollendete künstlerische Fertigkeit voraussetzt, nach Möglichkeit ge-
sichert ist. Die jetzt durchgängig von Professor Weinek in zwanzig-
facher Vergröfserung hergestellten Mondbilder entsprechen übrigens
einer mehr als tausendfachen Okularvergröfserung, die man unter ge-
wöhnlichen Umstünden beim Monde kaum noch anwenden kann, und
würden zusammengefügt eine Darstellung der Mondoberlläohe von 2.8 m
Durchmesser ergeben.
Die geschilderte Methode ist bereits mehrfach im stände gewesen,
unbekannte Objekte von merklicher Gröfse als vorhanden nachzu-
weisen, die bisher nicht verzeichnet worden waren, in einigen Fällen
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aber schon optisch verifizirt werden konnten. Andererseits können
auf diese Weise unter Umständen für die Existenz sehr schwieriger
und zarter Details unwiderlegliche Beweise erbracht werden. Ein
solcher Fall (die Auffindung einer Rille in Form eines k mit dem
12-zölligen Refraktor der Urania) giebt Veranlassung, die Kopie eines
Theils einer von Herrn Professor Weinek bereitwilligst zur Verfügung
gestellten Zeichnung, welche unter anderem auch die neue Rille sehr
schön erkennen läfst, diesem Hefte beizufügen.3) Die Zeichnung be-
ruht auf einer Photographie vom 22. September 1891; sie stellt einen
kleinen Theil der Mondoberfiäche nördlich von dem durch eine aufser-
gewöhnlich deutliche Rille durchquerten Krater Hyginus dar und ist
wohl geeignet, einerseits die aufserordentliche Mühe, welche aufge-
wendet werden mufs, zu veranschaulichen, andererseits die überwälti-
gende Fülle der Einzelheiten allen Denjenigen vor Augen zu führen,
welche diese Gegend kennen. „Es wimmelt gleichsam von (bisher
meist unbekannten) Rillen, Gräben, Furchen und kleinen Kratern,
so dafs die dargestellte Parthie besonderes Interesse zu erwecken ge-
eignet erscheint.“
Allerdings hat die optische Prüfung des photographischen Bildes
gezeigt, dafs auch die Photographie, wie übrigens von vornherein zu
erwarten stand, nicht Alles wiederzugeben vermag, was das Fernrohr
zeigt, insofern gewisse Parthieen bei einer bestimmten Expositionsdauer
überexponirt erscheinen müssen, während besonders zartes Detail
überhaupt noch nicht zur Fixirung gekommen ist Daher ist es
durchaus nothwendig, den Mond in den wechselnden Beleuchtungs-
phasen möglichst oft mit möglichst verschiedener Expositionsdauer zu
photograph iren, um aus der Gesamtheit aller Aufnahmen ein durchaus
getreues plastisches Bild von der OberflächenbeschalTenheit unseres
Trabanten zu erlangen, das für die weiteren Forschungen als zu-
verlässige Grundlage dienen kann. G. Witt
t
lieber Marsbeobachtungen während der Jahre 1883—1888 be-
richtet Dr. Lohse in No. 28 der Publikationen des kgl. astrophysi-
kalischen Observatoriums zu Potsdam. Bei den verhältnifsmäfsig un-
günstigen, klimatischen Verhältnissen Norddeutschlands wurde von
Dr. Lohse nicht das Studium der feineren Oberflächendetails, welche
3) Dieselbe wird mit Vortheil au« gröfserer Entfernung betrachtet, da der
Eindruck des Plastischen auf diese Weise stärker hervortritt.
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durch Schiaparellis klassische Forschungen entdeckt worden sind,
als erste Aufgabe in Angriff genommen, sondern das Hauptgewicht
auf möglichst zahlreiche und genaue Messungen der Lage und Aus-
dehnung des nördlichen Polarflecks gelegt, wodurch ein Beitrag zur
genaueren Bestimmung der Stellung der Marsaxe geliefert werden sollte.
Eine bemerkenswerthe Genauigkeit erlangten Lohses Bestimmungen
des Positionswinkels des Polarflecks durch die Anwendung eines mit
dem Okular verbundenen, doppelbrechenden Kalkspatprismas, welches
so lange gedreht wurde, bis die Mittelpunkte der beiden scheinbaren
Marsscheiben und der Polflecken in eine gerade Linie fielen. Die
einzelnen Einstellungen schwankten bei dieser Methode nur um höchstens
2 bis 3 Grad. Durch die Beobachtungen konnte nun zunächst kon-
statirt werden, dafs die Mitte des nördliohen Polarflecks während der
Opposition von 1883 — 84 keinen merklichen Polabstand besafs, dafs
aber Mitte März 1886 eine starke einseitige Abschmelzung des Fleckens
eingetreten war und dafs auch im Jahre 1888 der Mittelpunkt des
Flecks einen Polabstand aufwies, der sich aus den Beobachtungen zu
fast 3° ergab. Ein interessantes Ergebnifs der Potsdamer Beobach-
tungen ist ferner die Feststellung, dafs die eben besprochenen Mes-
sungen in systematischer Weise von der Phase1) des Planeten beein-
flufst werden, so dafs man bei der Reduktion diese Fehler ermitteln
und eliminiren mufs. Am werthvollsten ist indessen das durch die
zahlreichen Messungen Lohses gewonnene Material zur Bestimmung
der Lage der Marsaxe, auf Grund dessen man später vermuthlich ein-
mal das Phaenomen der Präcessionsbewegung, das wir bei der Erdaxe
bereits kennen, auch am Mars wird nachzuweisen im Stande sein.
Das Vorhandensein einer derartigen, langsamen Schwankung der Mars-
axe erscheint nach einer uns von Herrn Dr. Lohse gewordenen Mit-
theilung sogar schon jetzt beim Vergleich der neuen Messungsreihen
mit älteren, von Herschel und später von Beseel ausgeführten, ziem-
lich bestimmt angedeutet.2)
l) Da Mars, wie alle Planeten, nur auf einer Seite von der Sonne erhellt
wird, erscheint er uns vor und nach der Opposition nicht ganz voll, jedoch ist
dieser Phasenwechsel hei den äufseren Planeten in ziemlich enge Grenzen ein-
geschlossen, während die inneren Planeten Venus und Merkur bekanntlich zu
Zeiten auch als schmale Sichel erscheinen und also einen okenso vollständigen
Phasenwechsel, wie der Mond, zeigen.
*) Lohse berechnete aus seinen und Schiaparellis Messungen die
Elemente der Marsaxe folgendermafsen:
. V 1883,0 AR = 316°.215 + 0°.064,
Deel. = 33“.310 ± 0°.238.
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Die gleichzeitig mit den eben besprochenen Messungen ausge-
führten Beobachtungen der Oberflächengebilde des Mars fiihrton auf
Grundlage von 24 Zeichnungen der Planetenscheibe zu einer kartogra-
phischen Darstellung dor nördlichen Marshemisphäre, welche mannig-
fache Einzelheiten erkennen läfst und für zahlreiche, besonders markirte
Punkte genauere Positionsbestimmungen liefert, wenn auch freilich die
Mehrzahl der feinen, von Schiaparelli entdeckten Kanäle in Potsdam
nicht gesehen werden konnte. Den Schlufs der Abhandlung bildet die
Mittheilung des Ergebnisses einer auf photographischem Wege aus-
geführten Vergleichung der Helligkeiten der chemisch wirksamen
Strahlen von Mars und Jupiter. Die südliche Hemisphäre der Jupiter-
oberfläche besafs nach dieser Messung eine etwas mehr als doppelt
so grofse Helligkeit, wie die Marsfläche, woraus für gleiche Abstände
der beiden Planeten von der Sonne für Jupiter ein 24 mal so grofser
Glanz violetten Lichtes folgen würde, als für Mars. F. Kbr.
»U
*
Einige Neuigkeiten vom Mars.
Bekanntlich steht uns Mars während der diesjährigen Opposition
so nahe, wie er uns seit 1877 nicht gekommen ist und bis 1909 nicht
wieder kommen wird. Wenn der Planet freilich auch für unsere
Breiten sich zu wenig über den Horizont erhebt, so ist dagegen zu
erhoffen, dafs die südlicher gelegenen Sternwarten neue, interessante
Dinge über unsere verwandte Nachbarwelt zu Tage fördern werden.
Wir werden nioht verfehlen, nach Absohlufs der gegenwärtigen Be-
obachtungsperiode einen zusammenfassenden Bericht über diese Be-
obachtungen zu veröffentlichen.
Aus den wenigen Neuigkeiten, welche bisher in die Oeffentlich-
keit drangen, sind vorläufig namentlich die Wahrnehmungen auf der
Lick-Sternwarte hervorzuheben, welche zunächst ein neues Ar-
gument für die Ueberzeugung bieten, dafs die weifsen Polarkappen
des Mars wirklich aus einem Etwas bestehen, das unserem Schnee
und Eis verwandt ist und nicht, wie die weifsen Gebiete der Venus,
aus Wolkenmassen. Die bisherigen Beobachtungen lassen diese
Deutung ebenso wohl, wie die von ihrer eisigen Natur zu. Um
das Gröfser- und Kleinerwerden derselben mit dem Wechsel der
Saison zu erklären, brauchte man ja nur anzunehmen, dafs die im
Winter konstante Wolkenbedeckung durch die Sonnenstrahlung und
das dadurch bewirkte allmähliche Vordringen des schönen Wetters
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nach den Polen hin verschwindet. Nun bemerkte aber Holden, dafs
mitten in den weilsen Massen dunkle Flecke auftraten, welche sich
vergrößern und vermehren, während die Lage derselben konstant
bleibt. Diese sind also als Stellen innerhalb der Eisregion aufzu-
fassen, von welchen das Eis bereits abgeschmolzen ist; wären die
weifsen Gebiete dagegen Wolkenmassen, so könnten diese dunklen
Lüoken unmöglich eine konstante Lage behalten.
Auch William H. Piokering, welcher seit einiger Zeit auf
der 2457 m hoch unter — 16° 24' Breite auf dem peruanischen Hoch-
plateau gelegenen Sternwarte bei Arequipa beobachtet, bestätigt (un-
abhängig von demselben) die Beobachtung Holdens in Betreff der
dunklen Flecke. Der Erstere schreibt hierüber Folgendes:
„Am 23. Juli erschien ein kleiner dunkler Fleck in der südliohen
Schneeregion des Mars. Später verlängerte sich dieser Fleck schnell,
und in den ersten Tagen des Juli war er bereits 1000 miles lang,
indem er den Schnee in zwei Hälften theilte.“
„Kleine, dunkle Gebiete, von Schnee umgeben, erschienen am
10. Juli, und zwei Tage später beobachtete ich zuerst eine dunkle,
gabelförmig ausgezweigte Linie vom Aussehen eines Y in der Richtung
zur See hin. Am 14. wurde diese Linie deutlicher und am 16. er-
schien auf der nördlichen Seite der Gabelung der Y-Linie ein schwarzes
Gebiet, etwa so grofs wie der Erie-See, über neuntausend Qmiles.“
„Schnell sich verändernde, zart weifslicho Gebiete wurden oft be-
merkt. Grüne Gebiete in der Nähe der Pole wurden zunächst während
mehrerer Wochen nicht gesehen, aber Spuren derselben wurden oft
vermuthet, bis am Sonntag (den 7. August) ein helles, grünes Gebiet
deutlich beobachtet wurde.“
Eine weitere wichtige Thatsache, welche man auf der Lick-
Sternwarte festgestellt hat, ist der Mangel jeder wahrnehmbaren
Verdoppelung eines Kanals. Da diese Verdoppelungen mit den
Jahreszeiten auftreten und vergehen, so konnte Schiaparelli bereits
1889 Vorhersagen, dafs während der Opposition dieses Jahres ver-
muthlich keine Verdoppelungen wahrgenommen werden würden, was
sich völlig bestätigt. Erst im kommenden Spätherbste und Winter
sind diese Verdoppelungen zu erwarten.
Bei dieser Gelegenheit möchten wir die bereits oben angedeutete
Einschränkung, dafs die weifsen Regionen auf dem Mars nicht noth wendig
als Eis, d. h. gefrorenes Wasser (Hs 0) anzusehen sei, noch einmal
deutlich hervorheben. Wir können es dort ebensowohl mit irgend
einer anderen chemischen Verbindung zu thun haben, welche bei
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anderen Temperatur- und Druckverhältnissen dort die meteorologische
Rolle des Wassers zu spielen vermag. Es lag uns in dieser Hinsicht
jüngst ein sehr interessantes Manuskript vor, in welchem es wissen-
schaftlich sehr plausibel gemacht wurde, es handele sich hier um
Kohlensäure, die ja ebensowohl, wenn auch erst bei tieferen Kältegraden,
einen weifsen Schnee erzeugt Die Entscheidung, ob wir es mit dem
einen oder dem anderen Stoffe zu thun haben, ist augenblicklich nicht
zu treffen. Es mag indefs genügen, zu sehen, dafs auf unserm
Nachbarplaneten die meteorologischen Vorgänge sich in der That mit
Hülfe dieses Stoffes ganz ähnlich wie bei uns abspielen, und es möge
auch künftighin wohl erlaubt sein, von „Schnee“ auf dem Mars zu
reden, auch wenn man dabei nicht ausschliefslich an Schnee aus H2 O
denkt M. W. M.
*
Polariskopische Beobachtung der Venusoberfläche.
In letzter Zeit sind interessante Versuche gemacht worden, Auf-
schlüsse über die Gesteinsarten zu erhalten, aus welchen sich dio festen
Oberflächen der Planeten aufbauen. Dafs uns hierüber das Spektroskop
keine Nachricht giebt, ist ja bekannt, da dasselbe nur das Licht
selbstleuchtender Massen oder von Gasen zu untersuchen im stände
ist, welche von einem Lichtstrahl durchdrungen werden. Feste oder
feuerflüssige Körper beeinflussen das Spektrum nicht. Dennoch wird
man, theoretisch genommen, keinen Augenblick darüber in Zweifel
sein, dafs die Lichtwellen, welche von einem beleuchteten Körper zurück-
strahlen, von den Eigenschaften seiner Oberfläche beeinflurst worden
müssen. Es ist ihre chemische Zusammensetzung allein, welche die
Farbe der Körper, d. h. die Gestalt deijenigen Lichtwellen bestimmt,
welche von ihm verschluckt werden oder zurückstrahlen; aufserdem
sind die von verschiedenen Mineralien reflektirten Strahlen in einer
bestimmten Ebone polarisirt, d. h. die Lichtschwingungen gehen nur
in einer bestimmten Ebene vor sich und dio Stärke dieser Polarisation
wechselt mit der Gesteinsart. Da man nun den Grad der Polarisation
stets bestimmen kann, so wird die polariskopische Untersuchung des Lichts
der Planeten uns auch Auskunft geben können über die petrographische
Beschaffenheit ihrer Oberfläche.
Von diesem Gesichtspunkte aus hat nun letzthin Länderer das
Licht der Venus untersucht und fand, wie es zu erwarten war, dafs
dasselbe überhaupt nicht von Gestein zurückgestrahlt, d. h. überhaupt
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nicht polarisirt war. Dieses negative Resultat bestätigt unsere bisherige
Vermuthung, dafs die, Venusatmosphäre beständig von dichten Wolken-
schleiern erfüllt ist.
Wenn wir hier vorläufig nur ein negatives Resultat konstatiren
konnten, so ist doch ru erhoffen, dafs diese Beobachtungsmethode auf
anderen Himmelskörpern, namentlich dem gegenwärtig günstig stehenden
Mars, wichtige Aufschlüsse zu Tage fördert.
Was die in letzter Zeit wieder häufig mit grofser Deutlichkeit
wahrgenommene weifse Polarkappe der Venus betrifft, so hält
Länderer mit Trou velot dafür, dafs dieselbe, ihrer großen Konstanz
wegen, nicht wie die übrigen Theile des Planeten aus einer Wolken-
masse bestehe, sondern wirklich dem Boden der Venus angehöre,
welcher hier an einzelnen Stellen als mächtiges Gebirge über die
Wolkendecke hervorragen soll. Wir können uns, bevor nicht be-
stimmtere Beobachtungen hierfür vorliegen, dieser Ansicht nicht an-
schliefsen, vielmehr scheint alles dafür zu sprechen, dafs in den Polar-
regionen der Venus eben diese Wolkenschleier noch dichter und be-
ständiger auftreten, wie in den übrigen Zonen derselben. M. W. M.
Die astronomischen Ursachen der Eiszeit.
Das Dunkel, welches über der Entstehung der von den Geologen
unzweifelhaft nachgewiesenen Temperaturschwankimgen in vorzeit-
lichen Entwickelungsperioden der Erde liegt, beschäftigt noch immer
auf das Lebhafteste sowohl die direkt botheiligten Geologen selbst,
als auch die Astronomen, welche wohl die allerwichtigsten Momente in
dieser Streitfrage vorzubringen wissen. Es ist allbekannt, wie seiner-
zeit der englische Geologe Groll die notorischen Schwankungen der
Sonnenbestrahlung infolge der veränderlichen Exzentrizität der Erd-
bahn und der Bewegung ihrer Apsidenlinie als die einzigen Ursachen
der Eiszeit oder besser der verschiedenen Eiszeiten ansprach. Es ist
auoh ebenso bekannt, dafs diese Cr o 1 Ische Theorie sehr vielfach an-
gefoohten worden ist In letzter Zeit nun hat der vortreffliche eng-
lische Astronom Robert S. Ball darauf aufmerksam gemacht, dafs die
ganze Crol Ische Idee auf einem mathematischen Irrthum aufgebaut
ist, welchen Cr oll, dem mathematische Untersuchungen unzugänglich
waren, von dem gleichfalls nicht in erster Linie mathematisch begab-
ten John Hersohel aus dessen „Outlines of Astronomy“ entlehnt
hatte. Croll nahm nämlich mit Herschel an, die gesamte Wärme-
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zufuhr, welche eine Halbkugel der Erde in ihrem Sommerhalbjahr
von der Sonne empfängt, ist genau gleich der Hälfte der ganzen,
uns in einem Jahre zuströmenden Wärme und zugleich auch immer
gleich derjenigen, welche der anderen Halbkugel wiederum in ihrem
Sommer zu Theil wird. Obgleich nämlich wegen der elliptischen Form
der Erdbahn unser Sommerhalbjahr gegenwärtig um 7 Tage länger
ist als das Sommerhalbjahr der südlichen Halbkugel, so belindet sich
doch die letztere während ihres kürzeren Sommers der Sonne um so
näher, da die Erde ihr Perihel gegenwärtig Anfang Januar passirt.
Diese gröfsere Nähe sollte nach der Meinung Hersohels undCrolls
die geringere Dauer der Wärmezuströmung für die Südhalbkugel
kompensiren.
Ball und vor ihm schon Wiener, Newcomb, sowie, wenn
wir nioht irren, auch Dr. Zenker, haben nun dem entgegen gezeigt,
dafs die Frage der Wärmevertheilung zwischen Sommer und Winter
von der Exzentrizität, d. h. elliptischen Gestalt der Erdbahn überhaupt
nicht abhängig ist, sondern durchaus nur von der Neigung der Erdaxe
gegen die Ekliptik. Es kommen stets einer Halbkugel in ihrem Sommer
63% der Gesamtwärmestrahlung zu, in ihrem Winter demnach 37%.
Dieses unzweifelhafte Resultat einer strengen mathematischen Rechnung
verstärkt nun merkwürdigerweise die Crollschen Schlufsfolgerungen
wesentlich, obgleich dieselben, wie oben erklärt, auf fälschen Voraus-
setzungen beruht hatten und, so laDge also diese falschen Voraussetzun-
gen bestanden, mit Recht angezweifelt werden konnten. Diese 63 %
Wärmezufuhr müssen gegenwärtig auf der südlichen Halbkugel in
einem um 7 Tage kürzeren Sommer ausgegeben w'erden, als auf der
nördlichen. Auf jeden Tag des südlichen Sommers kommt also ein
gröfserer Wärmebetrag als auf einen Sommertag der nördlichen Halb-
kugel. Bei uns sind die Sommer lang und milde, auf der südliohen
Halbkugel kurz und heifs. Mit dem Winter ist es umgekehrt; unser
Winter ist kürzer als der unserer Antipoden, und dieselbe Wärme-
menge mufs sich über den längeren Winter der südlichen Halbkugel
vertheilen; auf jeden Wintortag kommt dort weniger Wärmezufuhr als
bei uns. Die südliche Halbkugel hat also kalte, lango Winter und
kurze, heifse Sommer, wir dagegen kurze, milde Winter und lange,
milde Sommer.
Das hier abgedruckte Schema wird die Sache noch weiter ver-
sinnlichen.
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Sommer der N. Halbkugel
Ball: 63 o/o in 186 Tagen
48
Sommer der S. Halbkugel
Ball: 63% in 179 Tagen
Frühl.-
Aequin.
C roll: 50 o/0 Herbst- Croll: 50»/o FrühL-
Aequin. Aequin.
Winter der S. Halbkugel Winter der N. Halbkugel
Ball: 37% in 186 Tagen Ball: 370/0 in 179 Tagen
Die südliche Halbkugel ist die der Extreme, unsere nördliche
mehr ausgeglichen. Die Extreme werden nun immer auf derjenigen
Halbkugel stattfinden, für welche das Perihel in die Sommerzeit fällt.
Vermöge der Präzession und der Störungen der grofsen Planeten be-
wegt sich nun bekanntlich die Apsidenlinie der Erdbahn, d. h. die
Richtung des Perihels etwa in 10600 Jahren um einen Halbkreis herum,
ln gleich langen Intervallen wird also abwechselnd die nördliche und
die südliche Halbkugel die der Temperaturextreme sein, und mit diesen
Extremen könnten oder müfsten wohl ausgedehntere Vergletscherungen
eintreten, welche die geologische Thatsache der Eiszeiten zu erklären
im stände sind.
Herr Professor Penck hat in seiner vortrefflichen, in diesen
Blättern erschienenen Abhandlung über die Eiszeit die Ueberzeugung
ausgesprochen, dafs dieselbe resp. die Eiszeiten auf der nördlichen
und südlichen Halbkugel gleichzeitig, nicht altemirend, wie es hier
vorausgesetzt ist, auftreten. Es scheint uns jedoch, dafs eine Unter-
scheidung der geologischen Horizonte, welche einem Zeitunterschiede
von 10500 Jahren entsprechen, nicht gut möglich sei. Wir meinen,
dafs es sehr wohl denkbar sei, dafs mehrere auf einander folgende-
Perioden von 10600 Jahren in den Ablagerungen geologisch mit ein-
ander verschmolzen erscheinen können.
Es kommt sodann für das Auftreten und Verschwinden der Eis-
zeit noch jene Verschärfung der angeführten extremen Verhältnisse in
Betracht, welche aus der Veränderlichkeit der Exzentrizität der Erd-
bahn selbst entspringt und die, abgesehen von den durch die Präzession
hervorgerufenon Schwankungen zwischen der Nord- und Südhalbkugel,
für die ganze Erde gleichzeitig gilt. Durch diese Veränderlichkeit der
Exzentrizität, welche in Perioden von hunderttausenden von Jahren
eingeschlossen ist, verändert sich nämlich die Länge der Sommer- und
Winterhalbjahre. Während jetzt, wie oben erwähnt, unser Sommer nur
um 7 Tage länger ist als unser Winter, kann dieser Unterschied sich
im Laufe der Jahrhunderttausende bis auf 33 Tage steigern, so dafs der
Sommer einer Halbkugel 199 Tage lang sein wird, während der Winter
nur 160 Tage urafafst. Jenes Verhältnis der Strahlung von 63 °/„ und
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37 % bleibt auch dann noch dasselbe. Nun treten aber die Extreme,
wie oben des Näheren erörtert, noch stärker hervor, und wir müssen
deshalb die Perioden starker Exzentrizität der Erdbahn als die der
grofsen Eiszeiten ansprechen, in denen sehr starke Vergletscherungen
der nördlichen und der südlichen Ilalbkugol in Intervallen von 10500
Jahren mit einander abwechselten. Die gegenwärtige Epoche geringerer
Exzentrizität ist der Entwickelung einer Eiszeit ungünstig, doch müfsten
wir theoretisch augenblicklich die südliche Halbkugel als die ver-
gletscherte, in Eiszeit befindliche ansprechen. M. W. M.
f
Die Schiffe des Columbus.
Die Urania veranstaltet zum vierhundertjährigen Jubiläum der
Entdeckung Amerikas am 12. Oktober einen groteen, dekorativ aus-
gestatteten Vortrag, in dessen erstem Theile die Entdeckungsge-
schichte des neuen Erdtheils skizzirt wird. Aus diesem Theile des
neuen Vortrags, der später auszugsweise in diesen Heften erscheinen
wird, haben wir unser Titelbild ausgewählt, welches die Karavellen
des Columbus in dem Augenblicke darstellt, da sie hoffnungsvoll mit
geschwellten Segeln in die hohe See stechen, dem unbekannten Westen
muthig entgegen.
Wir konnten unserer Ansicht nach den fünften Jahrgang unserer
Zeitschrift nicht würdiger beginnen, als mit der Erinnerung an dieses
grofse Ereignifs, welches einen so tief l)edentsamen Einflufs auf die
gesamte Weltanschauung der Menschheit gewinnen mufste. Die Ueber-
zeugung von der Kugelgestalt der Erde, welche bis dahin nur im Be-
sitze weniger hervorragender Geister war und für die man sich, wie
überhaupt fiir kosmologische Fragen, allgemein gar wenig interessirte,
war nun, da sie praktisch von Werth wurde, ungemein populär
geworden. Alle Welt fabelte natürlich von dem Goldlande Indien, das
man in entgegengesetzter Richtung ebenso gut wie in der bisher ein-
gesohlagenen erreicht zu haben glaubte; denn diese Meinung war be-
kanntlich noch lange Jahre nach der ersten Entdeckungsfahrt des
Columbus die allgemeine. Nun interessirte man sich plötzlich auf das
Lebhafteste für die eigentliche Gestalt des mütterlichen Weltkörpers, und
auch die übrigen Gestirne gewannen gleichzeitig an Interesse, wenigstens
zunächst bei dem schifffahrenden Volke, das zu der transatlantischen
Reise die Führung der Gestirne mehr und mehr benöthigte. Astro-
nomische Betrachtungen bekamen praktischen Werth. So entstand,
Himmel und Erde. 1992. V. 1. 4
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namentlich in hervorragenden Geistern, ein mächtiger Anstofs zum
Nachdenken über kosmologische Dinge, und wenn auch historisch
nichts darüber nachzuweisen ist, so sind wir doch der bestimmten
Ueberzeugung, dato jene weltbewegenden Ereignisse auf das junge,
empfängliche Gemüth des damals neunzehnjährigen Kopemikus von
der einllursreiohsten Wirkung gewesen sind. Jedenfalls würde das ein
halbes Jahrhundert nach der Entdeckung Amerikas bekannt werdende
neue Weltsystem des Kopernikus kaum jemals zu einiger Popularität
gelangt sein, wenn die Menschheit nicht durch jene grofsen Ereignisse,
welche ja durch lange Jahre hin immer aufs neue Entdeckungen auf
Entdeckungen sensationellster Art häuften, überhaupt Interesse an
Fragen nach der Weltform und der Weltordnung gewonnen hätte.
Ein weiteres direktes Verdienst des Columbus um die Wissen-
schaft war bekanntlich seine Entdeckung der Variation der Magnet-
nadel, welche er auf seiner ersten Reise am 13. September 1492
machte. Wie viele hochinteressante Beobachtungen und Gedanken-
schlüsse sich an diese erste Ermittelung einer heute immer noch ge-
heimnifsvollen Thatsache reihten, läfst sich kaum noch überblicken.
Von don indirekten Wohlthaten aber, welche uns Columbus durch
diese kühne Unternehmung erwies, müssen wir ihrer erdrückenden
Fülle wegen gänzlich schweigon. Es giebt kein Gebiet menschlicher
Thätigkeit, menschlichen Denkens und Fuhlens, das nicht unschätz-
bare Reichthümer aus dem neuen Kontinonte empfangen hätte, Colum-
bus verdoppelte mit der äufseren Welt auch den Horizont des Kosmos
in uns. Wefs Standes, welcher Nation wir auch sein mögen, wir sind
diesem Manne der That zur allergröfsten Dankbarkeit verpflichtet.
, M. W. M.
t
Der gegenwärtige Ausbruch des Aetna.
Kutze Mittheil fingen von Prof. A. Riccö.
Direktor doe Observatoriums in Catania.
Das häufige Hervorbrechen grofser Rauchwolken aus dem Zen-
tralkegel des Aetna, welches sich, begleitet von einigen Aschenaus-
brüchen, im Juni d. J. zeigte, sowie zahlreiche mikroseismische Be-
wegungen bildeten die Symptome für eine erhöhte Thätigkeit der vul-
kanischen Kräfte. Dossen ungeachtet trat vom 23. Juni bis zum
8. Juli eine Periode gröfserer Ruhe ein. Am Abend dieses Tages
erfolgte gewissormafsen die Ankündigung des beginnenden Ausbruchs:
Gegen IO1/» Ubr schleuderte der Vulkan eine Säule von Rauch
und Asche bis in beträchtliche Höhe empor; in dieser ungeheuren
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Wolke, welche die charakteristische Pinienform zeigte, fanden heftige
elektrische Entladungen statt. Die Bewohner der Umgebungen des
Berges verbrachten die Nacht in größter Aufregung, da die heftigen
Erdstöfse. welche sich bis nach Catania und Mineo erstreckten, das
ganze Fundament des gewaltigen Berges zu erschüttern schienen.
Am folgenden Tage (9. August) zeigte sich um 1 '/4 Uhr Naohts die
Ausbruchsstelle zwischen Monte Nero und Montagnola, an einem Punkte,
Vom Ausbruch des Aetna im August 1892. (I.)
welcher etwa 1850 Meter über dem Meere und 2272 Kilometer nord-
nordwestlich vom Observatorium in Catania liegt. Hier zeigte das Ge-
lände eine Anzahl von Spalten, vorherrschend nordsüdlicher Richtung,
aus denen mit gewaltigem Getöse dichte Rauchwolken hervorquollen.
Gegen Abend leuchteten dieselben in röthlichem Scheine — ein Abglanz
der in dor Tiefe tobenden Gluthen. Von den verschiedenen Oeflnun-
gen dieser Art entsandten die beiden untersten bald mächtige Lava-
ströme. Der aus der westlichen Oeffnung entspringende Strom llofs
in südlicher Richtung und blieb in der Nähe des Monte Faggi stehen,
während östlich die andere Oeffnung einen noch stärkeren Strom von
ebenfalls südlicher Richtung hervorquellen liefs. Dieser theilte sich
in zwei Arme, welche westlich und östlich vom Monte Nero flössen.
Der westliche, gröfsere Zweig strömte östlich von den vulkanischen
Bergen Capriolo, Ardicazzi, Concilio, Rinazzi, und später bis zu dem
4*
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D2
Wege zwischen Monti Rossi und Monte San Leo. Der östliche Arm ging
östlich von den Krateren Gemmellaro, Pinitelli, Klici bis zutn Monte
Camercia; diese Punkte wurden auch späterhin nur wenig überschritten.
Durch das weitere Nachströmen der Lava wurde allmählich dus ganze
Gelände zwischen diesen beiden Strömen mit Luva überdeckt bis in die
Nähe von Monte Guardiola. Nur die Spitzen der Berge, des Geinmollaro
u. s. w., sowie zwei kleine Oasen, südlich von Monte Grosso und östlich
von Rinazzo, blieben frei.
Während sich zunächst viele vulkanische Oeffnungen gebildet
hatten, ging deren Zahl allmählich und bald zurück, und um die Zeit des
Vom Aubruoh des Aetna im Aogoat 1892. (II.)
20. .Juli erblickte man vier kleine Berge, von denen drei sich in nordsüd-
lioher Richtung an einander reihten. Wie die Schlote eines lang-
gestreckten unterirdischen Heerdes spieen dieselben fortwährend Rauch,
Steine und Bomben aus, während die Lava sich aus den beiden tiefer
gelegenen Oeffnungen ergofs.
Um die Zeit des 12. August nahm die vulkanische Thiitigkeit aufs
neue zu. Diesmal barst die Rinde des Berges etwu 400 Meter nörd-
lich von den früheren Oeffnungen; durch die ausgeworfenen Massen
hatte sich bald ein grofser Krater gebildet. Diesolbe Erscheinung trat
dann noch einmal am 19. August auf, diesmal zwischen dem ersten
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und zweiten Hauptkrater. Gegen die Mitte des Monats August hörte
die Lava von den südlichen Krateren zu lliefsen auf; aber mehrere
Lavaquellen südöstlich vom Fufse jener Kegel nähren noch die Lava-
ströme, auch hat die Eruption bis jetzt noch nicht aufgehört.
Die Photographie No. I veranschaulicht die Reihe der Ausbruchskegel
von einem 500 Meter nordwestlich gelegenen Punkte aus gesehen. Rechts
erblickt man auch den Beginn des einen I^avastromes, sowie den Monte Nero.
Das Bild No. II zeigt den in der Mitte gelegenen Kegel, welcher
aus drei Oeffnungen weifsen, grauen und tiefschwarzen Dampf hervor-
schleudert; zur Rechten sieht man den Krater, welcher oben Sohlacken und
Rauch ausstöfst, während unten die Lava abfliefst; zur Linken erblickt man
eine Rauchsäule, welche dem ersten Krater der erwähnten Reihe entspringt-
$
Noch einmal der neue Stern im Fuhrmann.
Telegraphisch wurde am 2. September die Nachricht verbreitet,
dafo der neue Stern im Fuhrmann wieder sichtbar geworden und
schon am 21. August von Espin als Stern neunter bis zehnter Gröfse
wahrgenommen werden konnte. Diese auffallende Thatsache ist in-
zwischen von verschiedenen Seiten bestätigt worden und mit Spannung
warten die Astronomen ab, ob sich vielleicht ein abermaliges, helles
Aufblitzen des Sterns in Bälde ereignen wird. Prof. Barnard hat
die Nova sogar, wie nachträglich bekannt wird, schon am 19. August
mit dem 36-Zöller der Lickstemwarte als kleinen Nebel mit einem
sternartigen Korn zehnter Gröfse beobuchtet.
Neu entdeckter Komet.
Am 27. August wurde von Brucks im Ktembilde des Fuhrmanns
ein neuer teleskopischer Komet entdeckt, dessen Helligkeit sich im
Zunehmen befindet, und der seinen Weg zunächst nach den Zwillingen
hin nehmen wird, so dafs er am besten in den späteren Nachtstunden
beobachtet werden kann.
Die Entdeckung eines fünften Jupitersatelliten durch Prof. Barnard
auf der Lick-Stemwarte wurde uns am 13. Sept. telegraphisch gemeldet.
Der neue Trabant soll dem Jupiter sehr nahe stehen und mit der Hellig-
keit eines Sterns 13. Gröfse leuchten. In astronomischen Kreisen hat diese
Nachricht begreiflicherweise viel Aufsehen erregt Wir kommen, sobald
Näheres bekannt wird, auf diesen Gegenstand zurück.
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Robert Stawell Ball: The story of the heavens. With eighteen coloured
plates and numorous illustrations. New and revised edition. Cassel!
and Comp. London, Paris und Melbourne 1892. XX und 556 Seiten
gr. Oktav. Preis 12 sh. 1> d.
Das Studium des vorliegenden, die neuesten Ergebnisse astronomischer
Forschung berücksichtigenden populären Werkes über Hinmiclskunde, dessen
erste Auflago vor sechs Jahren erschienen ist, kann allen denjenigen, welche
sich auf mühelose und unterhaltende Weise mit den wichtigsten Errungen-
schaften namentlich auch der neueren Zeit bekannt und vertraut machen wollen,
auf das angelegentlichste empfohlen werden. Trotz der für populäre Schriften
durchaus gebotenen und auch hier iimegehaltenon Beschränkung in der Be-
handlung des weitschichtigen Stoffes läfst der äufserst anregend geschriebene
Inhalt die wünschenswerthe Gründlichkeit und Ausführlichkeit keineswegs
verinisseu; die beigegebenen Abbildungen sind sorgfältig ausgewählt. Au
Stelle der N as in yth schon Mondbilder würde indessen wohl den Darstellungen
der Mondoberfläche nach Lickphotograplüecn oder nach Zeichnungen aus
Ncisons Atlas der Vorzug zu geben sein, und die ziemlich unvollkommene»
Abbildungen der Jupiteroberfläcbe nach Trouvolot hätten mit Vortheil durch
einige mustergültige Keol ersehe Zeichnungen ersetzt worden können. Obgleich
cs befremdlich erscheinen mufs, dafs die Erwähnung anderer als englischer rosp.
amerikanischer Forscher in einigen Kapiteln orBichtlich aufs ängstlichste ver-
mieden wird, so beeinträchtigen doch diese geringfügigen Ausstellungen keines-
wegs den Genufs, welchen dem Leser das Studium des Werkes bereiten wird,
das einige Abschnitte von fast dramatischer Lebendigkeit enthält und sich sehr
wohl auch zu einer deutschen Boarbeitung eignen würde. Der Preis des Werkes
kann als ein angemessener bezeichnet werden. ü. W.
Verlag tod Hermann Paetel lo Berlin. — Druck von Wilhelm Gronau'w Buchdrucker«! iu Berlin.
Für die Hcdaction verantwortlich: Dr. M. Willi ein» Meyer in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Ueberaetzungsrecht Vorbehalten.
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Die Hitze im August 1892.
Von Prof. Dr. W. J. van Bebber.
Sa
nyjftlio beispiellos grofse Hitze, welche vom 15. bis zum 25. August
1 "Fy 1892 in unseren Gegenden herrschte, ist nicht allein wegen der
' hohen Temperaturgrade bemerkonsworth, sondern auch ganz
besonders wegen ihrer langen Dauer und wegen der physiologischen
Wirkungen der direkten Sonnenstrahlung bei geringer Luftbewegung,
so dafs die Witterung in diesem Zeitabschnitte einen nahezu tropischen
Charakter trug.
Die Wetterkarte auf Seite 61 (Fig. 1) veranschaulicht die höchsten
Temperaturen (in Graden Celsius), weichein dem Zeitabschnitte vom 11.
bis zum 26. August an verschiedenen meteorologischen Stationen Europas
gemessen wurden. Für Rufsland (aufser St. Petersburg) sind hierfür die
höchsten Temperaturen um 1 Uhr Nachmittags, welche nicht sehr er-
heblich unter dem Temperaturmaximum liegen, eingesetzt worden. Die
gröfseren, durch fetten Druck eingeschriebenen Zahlen bedeuten die
ungefähren Eintrittszeiten der höchsten Temperaturen. Die eingezeich-
neten Linien verbinden die Orte mit gleicher höchster Temperatur.
Das Verbreitungsgebiet der abnorm hohen Temperaturmaxima ist
auf unserer Karte sehr deutlich abgegrenzt: als eine ziemlich breite
Zone erstreckt es sich von der iberischen Halbinsel nordwärts über
die Pyrenäen hinaus nach dem kontinentalen Frankreich und Deutsch-
land und von hier aus nach Oesterreich-Ungarn. Das nordwestliche!
südliche wie östliche Europa betheiligen sich hieran nicht, vielmehr
herrscht in diesen Gebieten meist eine verhältnifsmäfsig kühle Witterung.
Das verschiedenartige Verhalten von Land und Meer in Beziehung auf
die Wärmeverhältnisse ist durch die Begrenzungslinien über Nordwest-
Ilimmel und Erde. 1882. V'. 2. 5
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wie Südeuropa ziemlich gut angedeutet, so dafs hierdurch der die
Temperatur-Extreme mildernde Einflufs der See deutlich hervortritt.
An den Küsten des Nordseegebietes erreichen die Wärmeextreme 30° C.
nicht, in den südlichen Küstengebieten der Ostsee steigen sie höchstens
bis auf 32° an, während sie im Mittelmeergebiete fast überall unter
35» bleiben.
Dafs diese hohen Temperaturen in unseren Gegenden nicht in
der übermärsigen Erhitzung des nördlichen Afrikas, der Sahara, ihren
Grund hatten, dafür spricht der Umstand, dafs diese Gegenden durch-
aus kein Uebermafs, vielmehr noch einen Mangel an Wärme zeigten.
Ja die Temperatur an weit nach der Sahara vorgeschobenen Punkten,
wie Biscra (38°) wurde durch diejenige Mitteleuropas stellenweise
übertroffen, und das Temperaturmaximum von Lagouat (41°) war noch
um 1° niedriger als dasjenige zu Madrid, Biarritz und Bordeaux.
Es kann keineswegs behauptet werden, dafs im allgemeinen
starke Erwärmungen des nördlichen Afrikas eine Temperaturerhöhung
in unseren Gegenden zur Folge haben, vielmehr sind starke Er-
wärmungen in den niederen Breiten ganz geeignet, ein Hochdruckgebiet
auf dem nordatlantischen Ozean hervorzurufen, wie es so häufig in
unseren Sommern der Fall ist, welches sich sehr häufig nach der
Gegend der britischen Inseln lagert, wodurch veränderliche Witterung
mit nafsktihlen westlichen und nordwestlichen WTinden bedingt wird.
Die höchsten Temperaturen entfallon auf die zentralen Theile der
iberischen Halbinsel und den Südwesten Frankreichs, wo die Maxima
bis zu 42° lunaufgehen, dann auf das südöstliche und südliche Deutsch-
land, wo Temperaturmaxima bis zu 39" Vorkommen, und auf Ungarn,
wo stellenweise 38" C. beobachtet wurde.
Im Aprilheft 1892 dieser Zeitschrift habe ich für Europa die
Extremtemperaturen ausführlich besprochen, sowohl solche, auf welche
man sich in jedem Jahre durchschnittlich gefafst machen kann, als
auch solche, welche nur gelegentlich in den extremsten Fallen Vor-
kommen und habe 38" C. als die höchste Temperatur bezeichnet, welche
in Deutschland nur in den äufsersten Fällen erreicht wird. Soweit
mir bekannt ist, wurde diese Temperatur w'ährend der diesjährigen
Augusthitze nur an einer Station überschritten, nämlich zu Grünberg,
wo am 19. August 39° C. beobachtet wurden*). Bei allen diesen Be-
") Während des Druckes geht mir die Ucborsichtstabolle der Witterungs-
Verhältnisse in Bayern für August 1892 zu. Hiernach hatte Amberg am 18. August
ein Temperuturmaximum von 39.8“ (Erlangen 38.1“, Bamberg 38.3“).
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59
Pachtungen gilt hier selbstverständlich die Temperatur im Schatten,
und nicht unter dem unmittelbaren oder mittelbaren Einflufs der Sonnen-
strahlung.
Die folgende Tabelle enthält die Temperaturmaxima für jeden
Tag des Zeitraums vom 11. bis zum 26. August für eine Anzahl
meteorologischer Stationen in Europa sowie für einige Nachbarstationen,
und gew’ährt ein übersichtliches Bild über die Gröfse und die Ver-
breitung der Hitze. Die hinter der Station eingeklammerten Zahlen
bedeuten mittlere absolute Maxime , oder die höchsten Temperaturen,
auf welche man sich in jedem Jahr an den betreffenden Orten durch-
schnittlich gefafst machen kann.
Temperaturmaxima
in der Zeit vom 11. — 25. August 1892. °C.
11. 12.
13. 14. 15.
16.
17.18.
19. 20. 21.
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25. 26.
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20 18
Die Fortpflanzung der höohsten Wärmegrade ist aus der Tabelle
und aus dor Karte (Fig. 1) deutlich zu ersehen: am 15. traten dio
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62
höchsten Maxima ein auf der iberischen Halbinsel, am 16. über Süd-
uud Weslfrankreich, am 17. über dem westdeutschen Binnenlaude, am
18. über dem centralen Deutschland und Nordöstorroich, am 19. an
der ostdeutschen Grenze und in Ungarn, am 20. über Westrulsland,
und an den folgenden Tagen in den östlicher gelegenen Gebietstheilen.
Wir haben hier also eine deutlich erkennbare Fortpflanzung von
West nach Ost. Eine zweite Erwärmung beginnt am 21. über den
britischen Inseln, und pflanzt sich nach und nach über das südliche
Ostseegebiet ostwärts nach den rufsischen Ostseeprovinzen fort. Diese
Erwärmung streifte auch die deutschen Küstengebiete, wo Temperatur-
maxima von 29 bis 82° Grad beobachtet wurden.
Kufsland bis über Westsibirien hinaus wurde von den extremen
Wärmeerscheinungen des Westens nicht berührt, die Temperatur blieb
hier verhältnifsmiirsig niedrig, so dafs hier die Wärmemaxiraa geringer
waren, als es den durchschnittlichen Verhältnissen entspricht.
Es entstehen nun die Fragen, auf welche Weise diese aufser-
ordentlichen Wärmeerscheinungen entstanden sind, wie sie sich ent-
wickelten, und wie sie ihr Ende erreichten. Ueber diese Fragen geben
uns die täglichen Wetterkarten die beste Auskunft.
Nach unserer Wetterkarte (Fig. 2) liegt am 16. Morgens ein
Hochdruckgebiet mit ruhiger, heiterer Witterung über Centraleuropa,
AVind und AA?etter von ganz Mittel- und Südeuropa beherrschend,
während das Nord- und Ostseegebiet unter dem Einflufse einer über
Nordeuropa lagernden Depression steht. Ein barometrisches Maximum
befindet sich über Süddeutschland und wird, der Regel entsprechend,
umkreist von Winden, die der Bewegung der Uhrzeiger folgen: über
West- Frankreich haben wir südliche und südöstliche, über Nord-
deutschland westliche, über Westrufsland westliche und nordwestliche
Winde. Die starke Erwärmung, welche an diesem Tage über der
iberischen Halbinsel herrschte, breitet sich durch den Lufttransport
weiter nach Nordosten aus, während in Westrufsland die Temperatur
noch um ein Geringes herabgeht. Am 17. tritt im westdeutschen
Binnenlande fast allenthalben die gröfste Erwärmung ein. Die Wetter-
lage am 17. Morgens ist durch das kleine Nebenkärtchen (Fig. 2) dar-
ges teilt: das barometrische Maximum hat sich nach der Adria verschoben,
während die Depression im Nordwesten nach dem südlichen Nord-
seegebiet vorgedrungen ist. Ueber Deutschland und Frankreich wehen
bei heiterer Witterung schwache südwestliche Winde (Landwinde), unter
deren Einflufs die hohen Temperaturen fortdauerten und sich weiter
ausbreiteten.
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So war es in erster Linie der Lufttransport, in zweiter Linie die
Wirkung der Sonnenstrahlung, wodurch solche aufserordentliche
Wärmegrade verursacht wurden. Die aufsergewöhnlich hohen Tempe-
raturen im letztverflossenen Mai, welche noch in frischer Erinnerung sind,
hatten denselben Ursprung, wie im August, sie entstanden nämlich haupt-
sächlich durch den Lufttransport aus südlicheren Gegenden. Es ist dieses
Fig. 2. Wetterkarte vom 18. Aug. 8', Nebenkarte vom 17. Ang. 8".
Erklärungen: Die oingezciclineten Linien (Isobaren) verbinden die Orte mit
gleichem (auf da» Mecresnivcau reducirlen) Barometerstände. Die einge-
schriebenen Zahlen bezeichnen die Maximal-Temperaturen des betreffenden
Tages in ganzen Graden Celsius. Die Pfeile (liegen mit dem "Winde. Wind-
stille. l— = schwacher, tl— = massiger, uj_ — starker, uu. = stürmischer Wind,
ilui- — Sturm, -» = Zug der oberen Wolken, O klar, (3 V» bedeckt, <J 1 bedeckt,
9 3/t bedeckt, 9 bedeckt, • Regen, -)f Schnee, A Hagel, l:. Graupeln, ® Dunst,
— Nebel, -cv Tiiau, Gewitter.
auch der gewöhnliche Vorgang bei Entwicklung starkerSommerhitzo : zu-
nächst erfolgt eine starke Erwärmung durch den Lufttransport, und
diese wird noch erhöht durch die Ansammlung von Wärme durch die
wegen der grofsen Tageslängen und der kurzen Nächte überwiegende
Einstrahlung der Sonnenwärme, welche mit wachsender Breite unter
denselben Umständen zunimmt.
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04
Die andauernd kühle Witterung in Rufsland hatte darin ihren
Grund, dafs dieses Gebiet beständig auf der Ostseite des europäischen
Hochdruckgebietes lag, erst in den letzten Tagen des in Betracht
fallenden Zeitabschnittes fand daselbst eine Steigerung der Temperatur
statt, welche indessen die Durchschnittswerthe nicht erreichte.
Bemerkenswerth sind die Gewitter, welche vom 18. bis zum
23. August in Deutschland niedergingen, und welche eine vorüber-
gehende Abkühlung brachten. Sie traten auf in Begleitung von flachen
Depressionen, welche für die Entwicklung der Gowitterbildung be-
sonders günstig sind, insbesondere dann, wenn kalte, nördliche Winde
in das Gebiet starker Erwärmung einfallen. Die Wetterlagen am 19.
und 20. August bieten manches Interessante, und daher haben wir die-
selben durch Fig. 3 zur Darstellung gebracht.
Eine flache, umfangreiche Depression liegt am 19. Morgens über
dem Nordseegebiet, nördliche bis westliche Luftströmung über den
britischen Inseln und West-Frankreich erzeugend, welches Windsystem
mit der Depression langsam ostwärts fortwandelt. Daher am 19. Ab-
kühlung vorm Kanal, die sich bis zum folgenden Tage nach Frank-
reich, dem Nordseegebiete und Süddeutschland, am 21. nach Central-
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deutschland, und am 22. nach dem südöstlichen Ostseegebiet ausbreitet,
während jetzt wieder eine neue Wärmewelle ostwärts fortschreitend
über Deutschland hinweggeht Am 18. traten stellenweise Gewitter auf
im nordwestlichen Deutschland, am 19. im westlichen Deutschland, am
20. in ganz Centraleuropa und am 22. und 23. in Westdeutschland.
Der Eintritt kühleren Wetters, womit die Hitzeepoche des August
1892 beendet wurde, ist durch die Wetterkarten vom 25. und 26. August
veranschaulicht worden (Fig. 4).
Am 25. Morgens liegt ein barometrisches Minimum von mäfsiger
Tiefe zwischen den Shetlands und der norwegischen Küste, einen Aus-
läufer nach der südlichen Nordsee hin entsendend. Auf den britischen
Inseln wehen schwache westliche und nordwestliche Winde, die über
Westdeutschland in eine westliche und südwestliche Luftströmung über-
gehen. Daher ist in Ostfrankreich, sowie in Belgien und Holland Ab-
kühlung eingetreten. Bis zum folgenden Tage hat sich das Depressions-
gebiet ostwärts nach der östlichen Ostsee fortgepflanzt (siehe Nebenkarte
in Fig. 4) und die westliche Luftströmung ist in Begleitung von trüber
Witterung mit Regenfällen nach der ostdeutschen Grenze fortgerückt,
während auch die Abkühlung über das westliche und mittlere Deutsch-
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land fortgeschritten ist. An den folgenden Tagen ging die Temperatur
auch in den östlichen deutschen Gebietstheilen, dann auch in West-
rufsland erheblich herab, und hiermit war die Epoche der grorsen
Hitze beendet
Eine so anhaltende und drückende Hitze, wie sie im August
dieses Jahres vorkam, gehört jedenfalls zu den extremsten Fällen, in-
dessen stehen solch' hohe Temperaturen in diesem Jahrhundert nicht
vereinzelt da. Ich stelle vergleichend alle Temperaturmaxima von
33° C. und darüber nebeneinander und zwar für Hamburg seit 1832,
und für Breslau seit 1793.
1. Hamburg: 1832 Juli 35.0°, 1834 Juli und August 36.2°,
1838 Juli 33.8°, 1845 Juli 35.6», 1858 Juni 33.8», 1863 Juni 33.0°,
1865 Mai 33.9», 1868 August 34.2», 1869 Juli 34.5» (1892 August 31»),
2. Breslau: 1793 Juli 33.8», 1807 August 33.1“, 1819 Juli 35.0",
1834 Juli 33.2», 1838 Juli 34.5», 1841 Juli 37.2», 1842 Juli 37.8», 1843
Juli 33.1», 1845 Juli 35.6», 1848 Juni 33.9», 1855 August 33.2», 1859
Juli 33.2», 1801 August 33.1», 1862 Juli 33.6», 1865 Juli 35.1», 1867
August 34.0», 1868 Juli 33.5», 1869 August 35.6», 1873 August 34.4»,
1877 Juni 35.0», 1880 Juli 33.0», 1881 Juli 35.8», 1887 Juli 33.6»-
1890 August 33.5», 1892 August 37.0».
Man sieht, dafs solch’ hohe Temperaturen, wie sie im August
1892 vorkamen, nicht vereinzelt dastehen, aber viel seltener mag es
vorgekommen sein, dafs so hohe Wärmegrade so lange andauerten
und von einer so außerordentlichen physiologischen Wirkung waren.
Uebrigens sei bemerkt, dafs die in den Zeitungen gelegentlich ge-
gebenen Zahlen der Maximaltemperaturen mit grofser Vorsicht zu
nehmen sind, da die Aufstellung der Thermometer, die auf die An-
gaben derselben von grofsem Einfluß ist, meistens nicht bekannt ist.
Zahllose Zeitungsnachrichten berichten über die beispiellos hohen
Hitzegrade und deren Folgeerscheinungen, über Hitzschliige, Feuers-
brünste, Wassersnoth und dgl., nur einige mögen hier zur Charakteri-
sirung dieses merkwürdigen Phänomens eine Stelle finden:
Berlin, 20. August. Am 19. hat die Hitze die tropische Gluth
des Vortages noch übertroffen. Seit ibrom Bestehen sind die Apparate
der Uraniasäulen wohl noch nie so oft und so sehnsüchtig zu Rathe
gezogen worden, wie in den letzten Tagen. Zu allen Stunden des Tages
sind die zierlichen Wettcrtempelchen von einer Auskunft heischenden
Menge umlagert, die sich vergewissern möchte, wie heifs es sei und
ob sich bald ein Abfall der wahrhaft tropischen Gluth bemerklich
machen werde.
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Schon um 9 Uhr hatte, wie die Uraniasäule am Halleschen Thor
angiebt, am 19. Morgens die Hitze mit 26n die Temperatur zu gleicher
Zeit am Mittwoch um einen Grad iibertroffen, um 12 Uhr zeigte der
Apparat schon 34°, d. h. 2° mehr als am Mittwoch um 12 Uhr, um
1 Uhr war der Stift schon über die nur bis 35" reichende Scala hin-
aus und stand etwa auf 37°, stieg dann bis 2 Uhr etwa in die Gegond
von 40°. Hier aber ist das Papier zu Ende, und über die Maximal-
temperatur, die gegen 3 Uhr einzutreten pflegt, konnte die Säule am
Freitag keine Auskunft mehr geben. Auf solche Hitze sind wir eben
in unserem Klima nicht eingerichtet.
Eine merkmürdige Naturbeobachtung ist infolge des heifsen
August an den Bäumen zu machen: Laubfall im Monat August. Die
Ahorne, Ailanthus, Akazien, Kastanienbäumo etc. stehen mit fahlem, ver-
dorrtem Laub da: der Boden ist ganz bedeckt mit den staubtrockenen, unter
jedem Schritt raschelnden Blättern. Die Austrocknung derselben ist
so hochgradig, dafe sie bei jeder Berührung in Stücke zerfallen.
Geht's so fort, so werden unsere Schattenspender bald laublos wie
sonst im Spätherbst erscheinen.
ln Thüringen ist die Hitze fast unerträglich geworden, das
Thermometer zeigt jetzt öfter 36° C. im Schatten. In Jena, Apolda,
Pöfsneck, Gora und anderwärts hat die Gluth Opfer gefordert, meist
Arbeiter, die bei Bauten oder auf dem Felde beschäftigt waren. An
vielen Stellen herrscht ein bedenklicher Wassermangel. Infolgo der
Hitze haben Brände, die während der letzten Tage stattfanden, eine
grofse Ausdehnung angenommen, in Apolda brannten 4 Häuser nieder.
Aus Sachsen, den 22. August. Die Verunglückungen durch
Hitzschlag mehren sich. In zahlreichen sächsischen Orten wird die
Wassersnoth immer empfindlicher, da Brunnen und Bäche vertrocknet
sind. Der heutige amtliche „Dresdener Anzeiger“ meldet: „Aus fast
allen Orten Sachsens werden uns infolge der übergrofsen Hitze ent-
standene Krankheitsfälle, namentlich Hitzschlag gemeldet; die meisten
derselben haben einen tödtlichen Ausgang genommen.“ So schlimm,
wie die Sache hier dargestellt wird, ist dieselbe keineswegs; immerhin
sind die Verunglückungen zahlreich genug.
Infolge des heifsen Wetters haben verschiedene grofse Brände
im Erzgebirge stattgefunden. Der Wassermangel macht sich aufs em-
pfindlichste fühlbar.
Stuttgart. (Schw. Merk.) Ueber den Einflufs der Hitze auf
den Weinstock hört man leider nur schlimme Nachrichten. Die Trauben
fangen an zu braten und einzuschrumpfen, weil es an Saft, an Rogen
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fehlt. Wenn man die Winzer fragt, so kann man Antworten erhalten,
wie: „Ich konnte auf so und so viel Eimer Wein rechnen; nach den
Verheerungen seit Mittwoch kann ich mich glücklich sohätzen, wenn
ich die Hälfte bekommo. Seit dem Jahre 1877 (26. und 26. September)
ist ein ähnliches Unglück nicht mehr über unsere Weinberge gekommen.“
Damals stand alles herrlioh in den Weinbergen, zwei Nachtfröste zer-
störten plötzlich ulle Hoffnungen. Diesmal ist es der heifso, trockene
Föhn, der zu Befürchtungen Anlafs giebt.
Aus der Schweiz, den 19. August. Die gegenwärtige Hitze
treibt alles, was nur kann, in die Hochgebirge. Nach einer Zusammen-
stellung des schweizerischen Verkehrsbureaus beträgt die Zahl der
gegenwärtig in der Schweiz weilenden Touristen und Kurgäste 68000.
Da immer neuer Zuzug eintrifft, ist diese Zahl wohl schon überschritten.
Aus Hern wird berichtet, dafs infolge der übermäfsigen Hitze sich ein
starkes Schmelzen der Gletscher bemerkbar macht und die Ströme zu
steigen beginnen.
Pest, den 24. August. Auf dem Marsche nach Martonvasar
stürzten infolge der Hitze beim 32. Infanterie-Regiment 180 Mann.
Beim 24. Infanterie-Regiment fielen beim Marsche von Kaschau nach
Makroncz 250 Mann zusammen.
Triest, den 22. August. Aus dem Venetianischen liegen neue
Nachrichten über Unglücksfälle bei den Truppen infolge der Hitze vor.
Ein Tlieil des 36. Regiments wurde bei Padua arg mitgenommen; von
400 Mann kamen, wie der „Corriere dellaSera“ meldet, kaum 150 Mann
an. Die anderen waren auf dem Wege liegen geblieben und raufsten
mit Wagen abgeholt werden. Bei Nogara fielen 70 Soldaten des
61. Regiments um, 30 erlitten Hitzschläge, darunter mehrere Offiziere,
ein Hauptmann und ein Arzt. Die italienische Presse tadelt in der
heftigsten Weise die Vornahme angestrengter Märsche bei so arger Hitze.
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Die Astronomie des Unsichtbaren.
Von Dr. }. Scheiaer,
Astronom am Astrophysikifisihvn Observatorium zu Potsdam.
(Fortsetzung.)
Die Entdeckung der dunklen Begleiter von Sirius
und Prooyon.
fgs ist dem Verfasser wohl bewufst, dafs die Kürze der Darstel-
lung der Neptunentdeokung gerade in Bezug auf die Rolle, welche
die Gravitation hierbei spielt, sch werlichdem Leser ein befriedigendes
Eindringen in diesen theoretischen Theil der Astronomie des Unsicht-
baren gewährt haben wird. Für diese eigentlich unerlaubte Kürze
sind aber mehrere Gründe mafsgebend gewesen, und zwar in erster
Linie dm Unmöglichkeit, ohne Anwendung mathematischer Formeln
oder wenigstens koinpiizirter geometrischer Darstellungen diesen Ein-
blick zu verschaffen, einen Einblick, der bei dem vorliegenden Problem
der Entdeckung dunkler Fixsternbegleiter sehr viel leichter zu erlangen
ist. Es ist aufserordentlich viel einfacher, die anziehenden Wirkun-
gen zweier isolirten Körper zu betrachten als diejenigen zweier
Körper, deren Bahnen im wesentlichen durch einen weit überwiegen-
den Zentralkörper bestimmt worden. Wenn daher der Zweck des
Verfassers erreicht ist, sofern der Leser nur einen Begriff von den
enormen theoretischen Schwierigkeiten der Lösung des Neptuns-
problems gewonnen hat, so ist dies im vorliegenden Kapitel nur der
Fall, wenn auch der nicht mathematisch geschulte Leser ein völliges
Verstiindnifs der Th a (Sachen erlangt. Verfasser glaubt, dies auf keinem
besseren Wege erreichen zu können, als wenn er nur mit unbedeuten-
den Aenderungen dem Gedankengange des leider allzufrüh verstorbe-
nen Astronomen Schönfeld, des früheren Direktors der Bonner
Sternwarte, folgt, den derselbe im Jahre 1869, einem wohl kaum in
weitere Kreise gedrungenen Vortrage über die dunklen Fixsternbe-
gloiter untergelegt hat.
New'tons grofse Entdeckung der Gravitation, nach welcher alle
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Körper eines Systems sich untereinander nach demselben Gesetze an-
ziehen, konnte zunächst nur für das Sonnensystem als bewiesen be-
trachtet werden. Heute wissen wir, dafs auch der entfernteste Fix-
stern noch auf die Bahnen unserer Planeten modifizirend einwirkt,
wenn auch der Betrag der Fixsternstörung so gering ist, dafs er
niemals direkt wird erkannt werden können. Jedoch zu Newtons
Zeit waren die Fixsterne seiner Theorie noch nicht zugänglioh; denn
die Beobachtungen hatten bei ihnen noch keine Bewegungen zu er-
kennen gegeben, und es waren somit weder die Wirkungen eines
ursprünglichen Stofses, noch gegenseitiger Anziehung nachweisbar.
Erst Halley hat die Bemerkung gemacht, dafs einige helle Sterne
aufsor denjenigen Ortsveränderungen, welche nur scheinbar sind und von
den Veränderungen der Ebenen, auf welche wir die Ortsbestimmungen be-
ziehen, herrühren, auch wirkliche erlitten haben: aber alles, was man
bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts über diese sogenannten
Eigenbewegungen der Fixsterne wufste, war selbst gegenüber unseren
jetzigen, noch immer lückenhaften Kenntnissen äufserst fragmentarisch.
Erst durch Bessels Bearbeitung der Bradleyschen Beobachtungen
wurde Licht in dieses Dunkel gebracht. Bessel zeigte, dars von den
mehr als 3000 um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Greenwich
beobachteten Sternen eine grofse Zahl, mehr als 14 Prozent, Ab-
weichungen von den neueren Bestimmungen, besonders von Piazzi
zeigte, die grüfser wraren als die etwaige Unsicherheit der beiderseitigen
Sternverzeichnisse. Die Neuzeit hat diesen Sternen noch viele andere
beigefügt, so dafs man jetzt die eigene Bewegung als eine allgemeine
Eigenschaft der Fixsterne, unsere eigene Sonne mit eingeschlossen,
betrachtet, wenn auch diese Bewegungen für die meisten so klein sind,
dafs sie noch nicht haben bestimmt werden können. Dadurch erst
wurde die Stellarastronomie zu einem abgesonderten Zweige der Wissen-
schaft. Wenn früher die Anstellung der Sternbeobachtungen nur den
Zweck hatte, fixe Punkte am Himmel zu erhalten, auf welche der Ort
der beweglichen bezogen werden konnte, so liegt ihr jetzt noch aufser-
dem die Absicht zu Grunde, das Material für eine dereinstige Theorie
der Bewegungen im Fixsternsysteme in demselben Sinne zu liefern,
wie wir eine solche vom Sonnensystem besitzen.
Allein von welcher Art sind diese Bewegungen? Gilt auch für
sie das Ne w ton sehe Gravitationsgesetz? Verrathen sie eine ähnliche
Beziehung zu einem Zentralkörper, wie die Bewegungen der Planeten
und Kometen? Alle diese Fragen sind vollständig nur durch viel
weiter ausgedehnte Beobachtungen zu lösen, als wir bis jetzt besitzen.
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Denn die Bewegungen der Fixsterne erscheinen uns unvergleichlich
viel langsamer als die der Körper unseres Sonnensystems, schon des-
halb, weil die Fixsterne sehr viel weiter von uns entfernt sind, als
letztere. Indessen hat doch die Entdeckung der Bewegungen der
Doppelsterne durch W. Ilerschel uns schon dahin geführt, die
wichtigste dieser Fragen, die zweite, für einige Sterne mit Zuversicht
bejahen zu können. Die Doppelsterne sind Sternpaare, deren Kom-
ponenten in einer relativ zur Mehrzahl der Sterne sehr kleinen
Winkeldistanz nahe bei einander stehen, und es ist bekannt, dafs diese
Nähe in den bei weitem meisten Fällen keine blofs scheinbare optische,
sondern eine reelle physische ist. Solche Paare befinden sich also
ganz in dem Verhaltnifs wie Erde und Mond, und wenn sie einen
ursprünglichen Stofs erlitten haben und einer gegenseitigen Anziehung
unterworfen sind, so müssen sio eine Drehung um einander und ein
Fortschreiten des gemeinsamen Schwerpunktes zeigen. Diese Drehung
findet nun in der That bei vielen derselben statt, und noch mehrere
zeigen das gemeinsame Fortschreiten. Es bildet letzteres ihre Eigen-
bewegung oder vermischt sich wenigstens mit dieser, wenn ihr noch
andere Ursachen (wie die scheinbare Bewegung, die nur das Spiegel-
bild der Bewegung unserer Sonne ist) zu Grunde liegen. Die Be-
obachtungen haben auch schon enthüllt, dafs die Drehung ganz nach
denselben Gesetzen vor sich geht, wie die Bewegung eines Planeten
um die Sonne oder die des Mondes um die Erde; kurz, das Newton-
sche Gesetz gilt auch für die relativen Doppelsternbewegungen, und
für eine grofse Anzahl derselben hat man bereits recht sichere Elemente
der Bahnen berechnen können, durch welche man die Oerter der
Komponenten in ähnlicher Weise für jede Zeit anzugeben in der Lage
ist wie bei unseren Planeten. Es ist klar, dafs die Genauigkeit, mit
welcher diese Elemente bestimmt werden können, mit der Kürze der
Umlaufszeit wächst; wenigstens bezieht sich diese Bemerkung auf das
wichtigste Element, auf die Umlaufszeit selbst. Wir kennen heute
einige Doppelsterne, die seit ihrer Entdeckung schon mehrere Um-
läufe vollendet haben, z. B. 6 Equulei mit 1 1 '/2 Jahren, ß Delphini mit
17 Jahren Umlaufszeit An diese schliefsen sich andere mit längerer,
aber immerhin noch gut bestimmbarer Rovolutionsdauer, z. B. 42 Coinae
mit 26 Jahren, i; Coronae mit 42 Jahren, c Ursae Maj. mit 61 Jahren.
Mit gröfser werdenden Undaufszeiten — mehr als 200 bis 300 Jahren
— gehen die Doppelsterne dann in diejenigen über, von deren Bahn-
bewegung nichts Sicheres mehr bekannt ist; für die Tausonde von
Sternpaaren, deren Perioden diese engen Grenzen überschreiten, hat
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also der volle Beweis der Gültigkeit des Newtonschen Gravitations-
gesetzes noch nicht geführt worden können. Gleichwohl ist es in hohem
Grade wahrscheinlich, dafs dies Gesetz auch in der Fixstemwelt
allgemein gilt. Die der Materie durch dasselbe zugeschriebene Eigen-
schaft scheint von ihrem Wesen unzertrennlich. Nirgends im Welt-
räume zeigen sich Erscheinungen, die diesem Gesetze geradezu wider-
sprechen, wohl aber sind viele der imerklärlichsten Phänomene durch
dasselbe erklärbar geworden. Findet aber dasselbe Gesetz allgemein
im Fixsternsystem statt, so müssen mit der Zeit auch seine Folgen an
den Fixstembewegungen zu Tage treten; es müssen sich Attraktions-
beziehungen zwischen den einzelnen Sternen zeigen, die bis jetzt nooh
nicht, oder nur sehr unvollständig zu Tage getreten sind.
Wenn wir nun die scheinbare Bewegung eines einzelnen Fix-
sterns, der kein Glied eines Doppelsternsystems ist, aus den Beobach-
tungen ableiten, so stellt sich dieselbe, soweit sie nicht durch die
Eigenschaften des Lichts (Strahlenbrechung und Aberration), durch die
Bewegung der Erde um die Sonne (Parallaxe und ein Theil der Prä-
zession und Nutation) erzeugt wird, als eine in einem gröfsten Kreise
gleichmäfsig fortschreitende heraus, oder mjt andern Worten, der Stern
scheint sich im Raume geradlinig und mit gleichförmiger Geschwin-
digkeit fortzubewegen. Eine solche Art von Bewegung ist indessen,
wenn sie allgemein stattfindet, mit der Gültigkeit des Gravitations-
gesetzes nicht vereinbar, denn die Anziehungen zeigen sich ja gerade
darin, dafs Bewegungsänderungen vor sich gehen, dafs die an-
ziehende Masse den Stern von seiner geradlinigen Bahn ablenkt und
dieser eine gegen die Richtung der Anziehung konkave Krümmung
ortheilt. Allein dieser Widerspruch ist nur in der Unvollkommenheit
unserer Beobachtungen relativ zu der Kleinheit der Bewegungen be-
gründet, und unter gleichen Umständen würden wir im Sonnensystem
in der gleichen Unsicherheit bleiben. Die schärfste Beobachtung ist
nicht im stände, aus den Beobachtungen eines Planeten, z. B. des in
88 Tagen um die Sonne laufenden Merkur, eine Ungleichmäfsigkeit
der Bewegung und ihre Abweichung vom gröfsten Kreise nachzu-
weisen, weun diese Beobachtungen nur etwa zwei Stunden fortgesetzt
sind. Gleichwohl wissen wir, dafs die Bewegung des Merkur nichts
weniger als geradlinig gleichförmig ist, ja dafs diese zwei Stunden
schon fast den tausendsten Theil seiner Umlaufszeit betragen. Einen
so grofsen Theil der Umlaufszeit im Fixsternsystem umfassen aber die
Beobachtungen noch bei keinem einzigen Fixstern; selbst bei dem
Stern 61 im Schwan beträgt der genauer beobachtete Bogen noch nicht
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12 Minuten, und wenn diese Bewegung der mittleren gleich ist, so
bildet sie den 2000. Theil des Ganzen. Zudem sind Bradleys nun-
mehr über 100 Jahre alte Beobachtungen von dem Grade der Ge-
nauigkeit, der oben bei Merkur vorausgesetzt wurde, noch weit ent-
fernt. Dafs wir also noch keine Krümmungen der grofsen Fixstern-
bahnen erkannt haben, widerspricht der Annahme gegenseitiger
Anziehungen nioht; die Beobachtungen müssen voraussichtlich noch
mehrerd Jahrhunderte lang fortgesetzt werden, ehe dies erreicht wird.
Anders jedoch verhiilt es sich mit den Doppelstemen oder zu-
sammengesetzteren Sterngruppen. Da die Komponenten derselben
neben dem etwaigen geradlinigen Fortschreiten noch eine Drehung um
einander erleiden, deren Gröfse im Verhältnifs zur gemeinsamen Be-
wegung nicht unbedeutend ist, so wird auch der Weg, den jede der-
selben an der Himmelskugel einzoln zurücklegt, kein gröfster Kreis
sein können, sondern beide müssen von diesem in entgegengesetzter
Richtung abweichen. Das Beispiel der gemeinsamen Bewegung von
Erde und Mond um die Sonne wird dies einfach darthun. Ein Be-
obachter im Mittelpunkt der Sonne sieht den Schwerpunkt zwischen
Erde und Mond in einem gröfsten Kreise fortschreiten, aber um diesen
Punkt herum drehen sich gleichzeitig in 2Tl/2 Tagen Mond und Erde
so, dafs jeder der beiden Körper ein Bild des uns sichtbaren Mond-
laufs beschreibt. Bald steht die Erde über, bald unter der imagi-
nären Linie, die den Weg des Schwerpunktes vorstellt, bald bleibt sie
hinter diesem Punkte zurück, bald eilt sie ihm voraus; immer aber
wird der Mond sich auf der entgegengesetzten Seite befinden und,
seiner kleineren Masse entsprechend, 80 mal weiter vom Schwerpunkt
entfernt sein; sonst sind sich beide Bewegungen vollkommen ähnlich.
Mit Ausnahme des Umstandes, dafs dem Beobachter in der Sonne die
ungleichmiifsige Bewegung des Schwerpunktes zwischen Erde und
Mond bald auffällig werden müfste, läfst sich alles direkt auf die
Doppolsterne anwenden. Genaue Beobachtungen, welche die absoluten
Oerter der beiden Komponenten an der Himmelskugel während eines
länger fortgesetzten Zeitraums ergeben, müssen die Drehung beider
um einander verrathen, freilich lange nicht mit der Sicherheit, wie
die unmittelbare Vergleichung beider Komponenten. Denn erstens
sind die mikrometrischen Beobachtungen bei der letzteren an sich
genauer, als die absoluten Ortsbestimmungen, und dann wird bei diesen
die Drehung erst aus der Differenz zweier beobachteter Gröfsen ge-
schlossen, während jene nur die Beobachtung einer einzigen Gröfse
(dos sog. Richtungswinkels) verlangt. Wenn aber, wie z. B. bei den
Himmel and Erde. 1892. V. 2. 6
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Sternen a im Centauren, 61 im Sehwan, p im Schlangenträger, die
Bahnbewegung unter einem hinreichend grofeen Winkel erscheint, so
ist gewifs, dafs unsere heutige Beobachtungskunst schon ausgebildet
genug ist, um auch ohne Anwendung von Mikrometern die Drehung
beider Komponenten um einander zu erkennen und den Punkt, der
nur am gleichmärsigen Fortschreiten im Raume, nicht an der Drehung
theilnimmt, den Schwerpunkt, erträglich scharf zu bestimmen.
Da nun aber die Bewegungen beider Komponenten um den
Schwerpunkt ähnliche Figuron bilden, und da beide Körper gegen
diesen Punkt eine ganz bestimmte, nämlich immer die entgegenge-
setzte Stellung einnehmen, so folgt daraus, dafs die Beobachtung eines
von beiden genügen würde, um aufser der Bahn, welche er selbst
beschreibt, auch noch die Richtung zu bestimmen, in der der andere
stehen mufs. Denn sobald die Bahnbestimmung der einen Kompo-
nente die Lage des Schwerpunktes angegeben hat, braucht man nur
durch diesen und den Stern eine gerade Linie gelegt zu denken, und
es mufs dieselbe über den Schwerpunkt hinaus verlängert, auch durch
den zweiten Stern gehen. Nur der Abstand des zweiten Steins vom
Schwerpunkt bleibt imbestimmt; dieser hängt ab von dem Verhältnifs
der Massen beider Sterne, welches durch die Beobachtung des einen
nicht bestimmt werden kann, vielmehr erst durch die Vergleichung
der beobachteten Abständo beider Sterne vom Schwerpunkte gefun-
den wird.
Man kann also auf diese Weise aus den Ortsbestimmungen eines
Sternes a, ohne seinen Begleiter b auch nur anzusehen, die Aufgabe
lösen: die Bahn, welche a um den gemeinsamen Schwerpunkt von a
und b nach dem Gravitationsgesetze beschreibt, sowie seinen jedes-
maligen Ort in der Bahn zu bestimmen, und die Richtung, in der vom
Stern a aus b erscheinen mufs, anzugeben.
Hiermit ist aber zugleich zugegeben, dafs es auf die Sichtbarkeit
von b überhaupt gar nicht ankommt. Mag seine Oberflächen - Be-
schaffenheit von der Art sein, dafs er unseren Augen nie sichtbar
wird, mag er mit der Helligkeit des Sirius glänzen: Die Massenan-
ziehung, die er auf andere Körper ausübt, wird dadurch nicht im ge-
ringsten geändert Die Helligkeit der Sterne ist überhaupt nicht pro-
portional ihren Massen; wenn letztere auch einer der vielen Faktoren
sein sollte, welche die Helligkeit bestimmen, so sind doch die anderen,
wie die chemische Beschaffenheit, der Aggregatzustand, die Temperatur
der leuchtenden Oberfläche, sodann das verschiedene Volumen und die
verschiedene Entfernung des leuchtenden Körpers, von so bedeuten-
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dem Einflurs, dafs ein Sohlufs von der Helligkeit auf die Masse durch-
aus nicht geführt werden kann. Haben wir ja doch Sterne, deren
Glanz stark veränderlich ist, soi es, da Ts nahezu gleiche Helligkeiten
in gleichen Intervallen wiederkehren, sei es, dafs sie überhaupt nur
für kurze Zeit aufstrahlen, wie die sogenannten neuen Sterne. Gleich-
wohl können wir nicht zweifeln, dafs diese Steine auoh zur Zeit ihrer
Unsichtbarkeit ebensolche Masse besitzen wie vorher. ZurUnsichtbarkeit
genügt, im Sinne der Undulationstheorie gesprochen, die Unfähigkeit
der Oberfläche des Sterns, den Lichtäther in Schwingungen von be-
stimmter Wellenlänge zu versetzen; einen Zusammenhang dieser Fähig-
keit mit der Masse des Sterns kennen wir nicht.
Hieraus geht also hervor, dafs jedor Stern, der einen hinreichend
massenhaften, unsichtbaren Begleiter hat, fortgesetzten Beobachtimgen
eine eigene Bewegung verrathen mufs, die auB zwei Theilen zusammen-
gesetzt ist; einem gleichmäfsig fortschreitenden, nämlich der Bewegung
des gemeinsamen Schwerpunktes im Welträume, und einem periodi-
schen, der, für sich aufgezeichnet, die Projektion der Kepplerschen
Ellipse darstellt, welche der Stern infolge der Anziehung des Be-
gleiters um den Schwerpunkt beider beschreibt. Die Bewegung des
Sterns mufs sich also als eine veränderliche herausstellen, und in der
That ist aus solchen veränderlichen Eigenbewegungon die Existenz
der dunkeln Begleiter erschlossen worden.
Indessen ist die Umkehrung der eben bewiesenen These zu
dem Satze:
„Wenn ein Fixstern eine in kürzeren Intervallen veränderliche
Eigenbewegung zeigt, so mufs er Glied eines Doppelstemsystems
sein, auch wenn wir die andere Komponente nicht sehen“
logisch nur dann gestattet, wenn man gleichzeitig nachweist, dafs
andere Ursachen einer solchen Veränderlichkeit nicht wohl denkbar
sind. Die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes im Fixsterngo biete zuge-
geben, ist es nun allerdings nicht möglich, dafs die Bewegungen der
Fixsterne in aller Strenge gleichförmig sind, vielmehr bedingt sowohl
ein etwaiger Zentralkörper als auch das Zusammenwirken aller Millionen
Sterne ähnliche Veränderungen im Stern laufe, wue sie bei den Planeten
stattfinden. Aber wenn dies Prinzip dio Veränderungen erklären
sollte, so müfste die Veränderlichkeit der Eigenbewegung eine allge-
meine Eigenschaft der Fixsterne sein, die sich nur zufällig bei einzel-
nen der Beobachtung entziehen könnte. Dies ist nun allerdings,
namentlich von dem englischen Astronomen Taylor, seiner Zeit be-
hauptet worden; allein die zuverlässigsten Ortsbestimmungen, welche
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wir besitzen, widersprechen einer solchen Annahme und zeigen, dafs
allen hierher gehörigen Schlüssen von Pond, üianchi, Taylor etc.
nur ein allzugrofses Vertrauen auf die Richtigkeit der absoluten Orts-
bestimmungen zu Grunde liegt Die genauesten Untersuchungen zeigen
vielmehr, dafs bei einfach gesehenen Sternen die Abweichung der
Eigeubewegung von der Gleichförmigkeit nur eine seltene, sporadische
Ausnahme ist. Und nicht nur die neueren Beobachtungen widersprechen
einer solchen allgemeinen Veränderlichkeit, sondern auch die ganz alten
von Hipparch. Diese sind freilich wenig genau, aber dafür hat sich
der Betrag der jährlichen Veränderung der Eigenbewegung seit jener
Zeit durch eine lange Reihe von Jahren angehäuft. Für Sirius z. B.
hat Bes sei nachgewiesen, dafs, wenn die Rektasconsionen von 1755,
1825 und 1843 durch eine solche säkulare Aenderung der Eigenbo-
wegung in Einklang gebracht werden sollten, der Ort des Sirius vor
2000 Jahren um 3l/a0 von demjenigen verschieden herauskommt,
welchen das Hipparchische Sternverzeichnifs ihm anweist, und dies
überschreitet denn doch bei aller Unsicherheit des letzteren bedeutend
die Grenze des Zulässigen.
So bleibt also zur Erklärung der Bewegungsänderungen nur
eine von zwei Annahmen übrig. Entweder ist der Stern selbst periodi-
schen Schwankungen um einen ihm nahe liegenden Punkt unterworfen,
oder der Standpunkt ist es, von dem aus wir ihn beobachten; d. h.
entweder ist der Stern Glied eines Doppelsternsystems, oder unsere
Sonne ist es. Allein auch die letztere Annahme ist offenbar auszu-
schliefsen. Denn nicht nur müfste dann wieder eine solche periodi-
sche Veränderlichkeit eine weit allgemeinere Eigenschaft der Stern-
bewegungen sein, sondern sie müfste sich auch bei allen in gleicher
Periode zeigen und gleich der Umlaufszeit der Sonne sein. Die Figur
der Bahnen müfste ferner eine Abhängigkeit vom Ort der Sterne am
Himmelsgewölbe zeigen, weil alle Bahnen eigentlich nur das Spiegel-
bild einer und derselben, nur verschieden projicirt, wären. Nehmen
wir noch dazu, dafs, wenn sich eine beträchtliche unbekannte Masse
in der Nähe des Sonnensystems befände, unmöglich eine solche Ueber-
einstimmung der beobachteten Planeten- und Kometenörter mit den
vorausberechneten stattfinden könnte, wie es in Wirklichkeit der Fall
ist, so werden wir nicht bezweifeln können, dafs in der That jeder
Veränderlichkeit der Eigenbewegung eines scheinbar einfachen Fix-
sterns, welche ihren Cyklus in kurzen Zeiträumen durchläuft, eine An-
ziehung zu Grunde liegen mufs, die von der unmittelbaren Nähe des
Fixsterns selbst ausgeht, d. h. dafs sie nur durch einen unsichtbaren,
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aber darum nicht weniger massenhaften Begleiter hervorgebracht
sein kann.
Das Studium der Eigenbewegungen der Fixsterne ist es also,
welches uns die Anwesenheit unsichtbarer Massen in den Fixstern-
räumen verrathen kann. Ob es uns solche verrathen wird, hängt
nun von der Genauigkeit, Zahl und Ausdehnung der Ortsbestimmungen
ab. Die Fixsternörter sind aber zu allen Zeiten ein Gegenstand der
angestrengtesten Aufmerksamkeit der Astronomen gewesen. So lange
die Fixsterne wirklich als fest galten, waren sie den Astronomen die
unverrückten Marksteine, an welche die Bewegungen der Planeten
angeknüpft und durch welche die scheinbaren Aenderungen in der Lage
des Himmelsgewölbes unmittelbar erkannt wurden. Als man die eigenen
Bewegungen fand, gestaltete sich die Aufgabe schon anders; denn nun
galt es, auch Richtung und Betrag dieser Bewegung kennen zu lernen,
um den Ort des Fixsterns jederzeit angeben zu können. Dazu genügen,
so lange dio Bewegung geradlinig und gleichförmig ist, zwei Epochen ;
ist sie aber veränderlich, so wird man, je nachdem man verschiedene
Epochenpaare vergleicht, eine andere Gröfse und Richtung der Eigen-
bewegung finden, nnd man wird den Ort des Sternes nicht eher zum
voraus angeben können, als bis das Gesetz der Veränderlichkeit er-
kannt ist So lange dies nicht geschehen ist, bleiben die vorhandenen
Beobachtungen des Sternes für die meisten Zwecke unbrauchbar, und
man erkennt daraus die Wichtigkeit des Gegenstandes für die prak-
tische Astronomie.
Im Jahre 1840 brachte Bes sei seine Beobachtungen der Funda-
mentalsteme zum Abschlüsse. Er hatte dadurch für eine Reihe der
hellsten Fixsterne äufserst genaue Positionen erlangt, und konnte nun
hoffen, durch Vergleichung derselben mit den 85 Jahre früher von
Bradley ermittelten Positionen derselben Sterne auch die gleich-
förmigen Aenderungen derselben mit grofser Genauigkeit festlegen
zu können. Dies gelang ihm auch mit Ausnahme der beiden hellen
Sterne Sirius und Procyon, deren Oerter so sehr von der Hypothese
einer gleichförmigen Bewegung abwichen, dafs Hessel es für unmög-
lich hielt, die Abweichungen durch Beobachtungsfehler erklären zu
können. Er sammelte also für diese beiden Sterne die entsprechenden
Bestimmungen der vorzüglichsten Beobachter und gelangte dadurch
zu einer Bestätigung seiner Ansichten, für Procyon nur zur Konsta-
tirung der Thatsache; für Sirius aber zeigten die Beobachtungen sohon
die Periodizität der Veränderungen an, so dafs die Umlaufszeit sich
nahe zu einem halben Jahrhundert und die gröfsten Veränderungen
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innerhalb dieses Cyklus zu etwa 5" im gröfsten Kreise herausstellten.
Dafs diese Resultate nicht alsbald allgemein anerkannt wurden,
ist nicht zu verwundern. In der That gehören diese Untersuchungen
praktisch zu den schwierigsten, und die Sicherheit ihrer Grundlage
wurde mehrfach bezweifelt. Die absoluten Ortsbestimmungen der Ge-
stirne durch unsere Meridiankreise sind Fehlern unterworfen, deren
Gesetze nur unvollständig bekannt sind. Die gröfste Sorgfalt in der
Hehandlung der Instrumente und die skrupulöseste Untersuchung
aller denkbaren Fehlerquellen hat bis jetzt nicht verhindern können,
dafs zwischen den Beobachtungen verschiedener Sternwarten Unter-
schiede Vorkommen, welche die Unsicherheit im einzelnen übersteigen.
Mögen nun diese Unterschiede in den Eigenschaften der Stoffe liegen,
die unsere Instrumente zusammensetzen, mögen sie lokal sein oder
auoh wohl physiologischer Natur oder alles dies zusammen, sie sind
eben da. Deshalb legte Bes sei seinen Untersuchungen nicht die
absoluten Oerter der Sterne zu Grunde, sondern die Differenzen gegen
benachbarte Sterne. Ein solches Verwandeln der absoluten Ortsbe-
stimmungen in Diflferenzbeobachtungen ist überall da zulässig und
nöthig, wo die gefährlichsten Fehlerquellen in der Beziehung der Be-
obachtungen auf den absoluten Nullpunkt liegen. Z. B. sind fast alle
Königsberger Deklinationen, die dem Fundamental-Katalog von 1820
zu Grunde liegen, südlicher, als die nahe gleichzeitigen Bestimmungen
von Argeiander und Struve; ein Zeichen, dafs das Königsberger
Instrument die südlichen Zenithdistanzen zu grofs gegeben hat Wenn
man also die Deklination eines Sternes, in unserem Falle des Procyon,
vergleicht, so wird man aus den verschiedenen Angaben nicht un-
mittelbar ihre Veränderung ableiten können. Vergleicht man aber
gleichzeitig mehrere Sterne, deren Oerter den Stern Procyon sym-
metrisch einschliefsen, und sieht zu, wie sich die Veränderung des
Procyonortes vom Mittel der Veränderungen der übrigen Sterne unter-
scheidet, so wird derSchlufs weit bündiger; denn eine grofse Anzahl
von Fehlerquellen wirken auf beide Parthien fast ganz gleichmäfsig
ein und verschwinden daher aus der Differenz, und der dadurch er-
langte Vortheil ist weit gröfser, als die Vergröfserung der zufälligen
Fehler und als die Wahrscheinlichkeit, durch diese Operation neue
Unsicherheiten einzuführen. Gleichwohl bleiben noch immer Fehler-
quellen übrig, die nur mit grofser Schwierigkeit zu ermitteln sind, und
die z. B. von der verschiedenen Auffassung des Fadenantrittes bei
verschieden hellen Objekten herrühren. Auch ist nicht zu leugnen,
dafs die von Bessel für Sirius benutzten Vergleichsterne von einer
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symmetrischen Lage gegen Sirius weit entfernt sind, woran die starke
südliche Deklination dieses Sternes die Schuld trägt Wie dem nun
auch sei: Bessels nur 18 Monate nach der Publikation der Arbeit
erfolgter Tod verhinderte die Fortsetzung der Untersuchungen von
seiner Seite, und das Problem ging somit an seinen Nachfolger in
einem Zustande über, der umfassende Arbeiten nöthig machte.
Wenn nach dem Vorigen eine periodische Veränderlichkeit der
Bewegung, falls sie reell ist, nur dadurch erklärt werden kann, dafs
der betreffende Stern Glied eines Doppelsternsystems ist, so bieten sich
zwei Aufgaben. Zunächst mufs alles daran gesetzt werden, von Seiten
der Beobachtung zu der genauesten Grundlage zu gelangen, um allen
Verdacht, dafs die erschlossenen Aenderungen nur durch eine sonder-
bare Anhäufung einzelner Fehler entstanden sind, auszuschliefsen. Ist
dies geschehen und sind die Daten so rein und vollständig wie möglich
gesammelt, so mufs der Versuch gemacht werden, die Bewegung mit
dem Gravitationsgesetz in Uebereinstimmung zu bringen, d. h. die Ele-
mente der Kepplerschen Ellipse, die der Stern beschreibt, zu be-
stimmen. Diese Arbeiten hat für die Rektascensionsbewegung des
Sirius Peters, damals Bessels Nachfolger zu Königsberg, mit voll-
ständigem Erfolge ausgeführt, der für Sirius eine elliptische Bahn von
etwa 50 Jahren Umlaufszeit fand.
Zur Bestimmung der Ebene, in der die Bewegung vor sich geht,
sind die Rektascensionen allein nicht hinreichend. Dazu gehört vielmehr
die Verbindung mit der zweiten Koordinate, der Deklination; diese ist
aber wegen des tiefen Standes von Sirius auf der nördlichen Halb-
kugel weit weniger sicher zu bestimmen und wurde von Peters
nicht mit untersucht.
Indem wir nun der historischen Entwickelung dieser Studien
etwas vorgreifen, kommen wir zur Untersuchung der Deklination des
Sirius. Es ist klar, dafs, wenn Sirius wirklich eine solche Ellipse
beschreibt, es ein sonderbarer Zufall wäre, wenn eich dies nur in
den Rektascensionen zeigen sollte, vielmehr mufs, aller Wahrscheinlich-
keit nach, auch die Bewegung in Deklination veränderlich sein, und
bei aller Verschiedenheit der Gröfse beider müssen in beiden doch
einigo Umstände übereinstimmen. Es mufs nämlich in beiden Be-
wegungen dieselbe Periode stattfinden, und beide müssen eine Ellipse
von gleicher Exzentrizität und dieselbe Zeit für die gröfste Nähe beider
Körper ergeben. Diese Untersuchungen sind vor allem durch Auwers
ausgeführt worden, der gezeigt hat, dafs auch die Deklinationen eine mit
der aus den Rektascensionen abgeleiteten übereinstimmende Ellipse
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ergeben, und hiermit war ein Beweis für die wirkliche Doppelstemnatur
des Sirius geliefert, der einem ernstlichen Zweifel nicht mehr unterzogen
werden konnte. Aber ähnlich wie bei Neptun, so sollte auch bei
Sirius der direkte Beweis für die Richtigkeit der Rechnungen geboten
werden. Fiir die Masse des Siriusbegleiters hatte sich aus der Unter-
suchung ein recht beträchtlicher Werth ergeben, der es unwahrschein-
lich erscheinen liefs, dafs der Begleiter wirklich ohne merkliche Licht-
wirkung sei. Sirius ist der hellste Stern des Himmels; in dem Marse
aber, wie die Helligkeit zunimmt, wird es schwer, ein benachbartes
helles Lichtpünktchen zu erkennen, und so war also gerade bei
Sirius die Schwierigkeit gröfser als bei jedem anderen Sterne.
Iu der Tliat fand im Winter 1801 — 62 der bekannte amerikani-
sche Optiker Alvan Clark bei der Prüfung eines neuen grofsen Objek-
tivs ein Sternchen in etwa 10" Abstand von Sirius, welches von da
an eifrig mit den gröfsten Fernrohren verfolgt worden ist, und dessen
Identität mit dem hypothetischen Siriusbegleiter nach einigen Jahren
auf das unzweifelhafteste aus den Beobachtungen hervorging. Damit
ist für uns der Siriusbegleiler aus dem Gebiete der Astronomie des
Unsichtbaren in das des Sichtbaren versetzt worden, und es gehört
nicht an diese Stelle, die weiteren Untersuchungen über denselben, die
in neuerer Zeit von Au wer s nunmehr auch auf die mikrometrischen
Vergleichungen der beiden Komponenten ausgedehnt worden sind, zu
verfolgen.
In ähnlicher Weise wie bei Sirius ist es Auwers und später
L. Struve gelungen, auch aus den Beobachtungen des Procyon
einen definitiven Beweis für die Existenz eines nicht sichtbaren
Begleiters herzuleiten. Procyon beschreibt einen Umlauf in etwa
39 bis 40 Jahren, doch hat bisher noch kein Riesenteleskop ver-
mocht, den Begleiter zu entdecken, und es erscheint nunmehr wirklich
fraglich, ob in diesem Falle der für den Astronomen allerdings über-
flüssige direkte Beweis durch Auffindung des Begleiters geliefert
werden wird. Und vielleicht ist es ganz gut, wenn dies nioht gelingt,
.indem dann nach wie vor der Astronom zu jeder Zeit auf eine genau
anzugebende Stelle des Himmels dicht bei Procyon hinzuweisen ver-
mag, an welcher sich mit positiver Sicherheit ein Sternchen befindet,
das ein menschliches Auge noch nioht ersohaut hat.
(Schlufs folgt.)
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9
wmmmmmm
$
SSE
■m
Parallelen.
Betrachtungen über die einheitlichen Züge im
N aturgeschehen.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer.
(Schl ufa)
«ir haben durch die vorangegangenen Betrachtungen erkannt,
wie eine einzige Art der Bewegung, das Hin- und Herpendeln
von Atomen, nur durch die Variationen ihrer Geschwindigkeit
und Ausdehnung im Stande war, die verschiedensten physikalischen Er-
scheinungen zu erklären, von der Wellenbewegung des Wassers auf-
steigend, den Schall, die Wärme, das Licht. Aber in neuerer Zeit gesellt
sich hierzu auch die bisher so geheimnifsvolle Elektrizität; auch sie beruht
auf Schwingungen, wenngleich die Elektrizitätswellen eine ungleich
gröfsere Länge als alle übrigen bekannten besitzen und eben dadurch
der Beobachtung bisher entgingen. Es handelt sich hier um Wellen-
längen von ganzen Metern, während die Lichtwellen sich innerhalb
von Millionsteln eines Millimeters bewegen. Ich kann auf diese sub-
tilen Untersuchungen leider nicht näher eingehen, auch bleibt hier
manches der Neuheit der Sache wegen unaufgeklärt.*) Es scheint
nun, dafs alle Lichtbewegungen nur spezielle Fälle der Elektrizitäts-
bewegung sind, dafs eben die Elektrizität die allgemeine Erscheinung
ist. Es ist ganz seltsam zu sehen, wie man gerade die Elektrizität
von allen anderen Naturkräften am spätesten entdeckte, während wir
heute überzeugt sind, dafs sie die verbreitetste aller Naturkräfte ist.
Elektrizität entsteht überall, wo zwei ungleichartige Körper in
Berührung gerathen. Wenn wir davon bisher nur in den seltensten
Fällen etwa« bemerkten, so liegt das nur daran, dafs die meisten uns
*) Im dritten Jahrgang S. 347 u. f. hat Herr Spies eine ausführliche Ab-
handlung über diese neueren hochinteressanten Untersuchungen veröffentlicht,
während wir im zweiten Jahrgange S. 72 u. f. den klassischen Vortrag von
H. Hertz Uber diesen Gegenstand zum Abdruck brachten.
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umgebenden Körper die Elektrizität auch zugleich fortleiten, d. h. eie
sogleich im Moment ihres Entstehens wieder verschwinden lassen.
Wir müssen daher, um eine Ansammlung von Elektrizität zu erzeugen,
den betreffenden Körper, aus welchem wir dieselbe ziehen wollen,
sehr sorgfältig mit einem jener Stoffe umgeben, durch welchen die-
selbe nicht hindurch zu strömen vermag, sodafs sie gehindert
wird, sich mit dem ungeheueren Reservoir im Erdkörper zu ver-
einigen. Thun wir dies, so nehmen wir wahr, dafs allo Körper ohne
Ausnahme durch Berührung oder Reibung elektrisch werden. Diese
Thatsache, dafs es keinen unelektrischen Körper giebt, dafs also diese
wohithätige Kraft, welche wir heutzutage bereits fast zu allen der
Wohlfahrt des Menschengeschlechtes förderlichen Diensten zu verwenden
im Stande sind, ich sage die Thatsache, dafs man diese Kraft aus
allen uns umgebenden Stoffen zu ziehen vermag, ist von verheifsungs-
vollster Bedeutung für die Zukunft unserer Kulturentwickelung. Es
ist zweifellos, dafs der Elektrotechnik eine alle anderen Zweige des
menschlichen Schaffens beherrschende Rolle zufallen wird.
Oänzlich abseits von diesen Gebieten der Schwingungserschei-
. nungen liegt das der Schwerewirkung und das weite Reich der
chemischen Vorgänge. Hier handelt es sich offenbar um Bewegungen
ganz anderer Art.
Das Wesen der Schwere, welche die Bewegungen der Himmels-
körper im Weltgebäude ordnet, ist noch immer ein tief geheimnifs-
volles geblieben; je weiter wir in der Erkenntnifs der Natur fort-
schreiten, je mehr praktische Erfahrungen wir über das Naturgeschehen
sammeln, je unbegreillicher wird uns diese wunderbare Thatsache, dafs
ein Weltkörper aus einer Entfernung von vielen Millionen Moilen
derartig auf einen anderen wirken könne, dafs er ihn durch einen
leeren Raum hindurch ohne Vermittelung irgend eines Agens anzu-
ziohen vermag.
Zwar bemerken wir Aehnliches bei der Anziehung des Eisens
durch den Magnet; bei allen diesen elektrischen und magnetischen
Erscheinungen jedoch mufs man nach den neueren Forschungen das
Vorhandensein jenes feinsten Stoffes voraussetzen, welcher der Träger
der Lichtschwingungen ist, des sogenannten Weltäthers. Schon Faraday
hatte gezeigt, dafs eine gewisse Art ausgewählter Lichtschwinguugen,
die des sogenannten polarisirten Lichtes, von einem Magneten derartig
beeinflufst werden, dafs ein Zusammenhang zwischen beiden Kräften
unzweifelhaft ist, dafs also der Magnet nicht durch den absolut leeren
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Kaum hindurch, sondern nur durch Vermittelung’ materieller, aller-
kleinster Theile seine scheinbare Fernewirkung auszuüben vermag.
Aehnlich kommt man nun bei der Gravitation oder Schwere-
wirkung in neuester Zeit mehr und mehr zu der Ueberzeugung, dafs
auch hier jener Aether die vermittelnde Rolle spielt, dafs es sich hier
aber voraussichtlich nicht um schwingende, sondern um geradlinige
und gleichmäfsig fortschreitende Bewegungen der Aothoratome handelt.
Ueberall durchschiefsen das Weltall Kugeln von allerkleinsten Dimen-
sionen mit Ungeheuern Geschwindigkeiten, die jedenfalls grüfser sind
wie die des Lichtes, welches bekanntlich 40000 geographische Meilen
in einer Sekunde zurücklegt. Dieser Kugelregen prallt von allen
Seiten her auf die das Weltall durchschwebenden Weltkörper ein;
wenn aber nun ein kleinerer Weltkörper sich in der Nähe eines
gröfseren befindet, so schützt dieser letztere den ersteren von einer
bestimmten Richtung her vor dem Anprall eines Theils dieser Aether-
atome; so treffen alsdann beispielsweise die Erde mehr Aetheratome
■fron der der Sonne entgegengesetzten Seite her, als von der ihr zuge-
wandten, und diese stofsen, schieben die Erde förmlich gegen die Sonne
hin. So ungefähr ist man also im stände, die dem gesunden Menschen-
verstände völlig unbegreifliche Femewirkung der Weltkörper auf ein-
ander sich einigermafsen vorstellig zu machen, wenngleich die genauen
Untersuchungen hierüber zu einer definitiven Erklärung noch nicht
goführt haben.
Durch eben diesen selben beständigen, dichten Kugelregen, welcher
auf sie allseitig einströmt, verdichten sich im Laufe der Jahrmillionen,
welcher die Weltbildung zu ihrer Entwicklung bedarf, die Weltkörper
mehr und mehr. Der Physiker sagt nach altem Sprachgebrauch, sie
verdichten sich durch ihre eigene Schwere vom ursprünglich gasförmigen
bis zum festen Zustande. In Wirklichkeit hat man es hier jedoch
nicht mit inneren Kräften der kleinsten Teilchen dieser Weltkörper
zu thun, welche nach diesen Erscheinungen den unbegreiflichen Drang
in sich fühlten, sich eng und immer enger an einander zu ketten,
sondern diese Verdichtung wäre nach der neuen Weltanschauung nur
eine Wirkung des ganz ungeheueren Kräftevorrats, welcher durch
die Bewegungen des Weltäthers beständig uns zufliefst
Unter diesen Gesichtspunkten ist ein Weltkörper in keiner Weise
verschieden von dem Molekül des Physikers oder auch des Chemikers.
Man weifs längst, dafs zwischen den kleinsten Theilchen, welche irgend
einen in unseren Händen befindlichen Gegenstand zusammensetzen,
sich sehr grofse leere Räume befinden. Wie wäre es auch sonst wohl
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möglich, dafs z. B. Glas von den Schwingungen des Lichtiithers, fast
ohne diese zu stören, durchdrungen werden könnte! Alle diese Gegen-
stände sind Ansammlungen kleiner Weltkörper und man könnte sich
Wesen denken, welche einen Stein, den wir durch die Luft schleudern,
für einen Sternhaufen erklären, der mit beträchtlicher Eigenbewegung
das Weltall durchfliegt; denn es ist nur eine nothwendige Folge der
im Vergleich zu der ürüfse der Atome sehr rohen Konstruktion
unserer Netzhaut im Auge, dafs wir diese Atome nicht einzeln, sondern
nur eine grofse Anzahl derselben als ein scheinbar Ganzes wabr-
zunehmen vermögen. Jeder der einige Millionen von Sehzapfen, aus
denen sich unsere Netzhaut zusammensetzt, wird, wenn er einen Licht-
eindruck empfängt, diesen mindestens so grofs voraussetzen, als er
selbst ist, d. h. kleinere Gegenstände als diese Sehzapfen werden
entweder gamicht, oder wenn ihr Lichtreiz stark genug empfunden
wird, mindestens von der Ausdehnung eines Sehzapfens wahrgenommen.
In diesem extremen Falle befinden wir uns den Fixsternen gegenüber.
Es ist kaum zweifelhaft, dafs die entferntesten Sterne Durchmesser
besitzen, deren Bild auf unserer Netzhaut kleiner ist als ein Sehzapfen.
Wir können dieses Bild durch unsere optischen Hilfsmittel noch so
stark vergröfsern, ohne dafs es gröfser erscheint. Es wird immer
nur ein Sehzapfen von dem Lichtreiz getroffen.
Es hindert uns nichts, an die auf den ersten Augenblick höchst
abenteuerliche Idee zu glauben, das dieses ganze Weltall mit seinen
Millionen und aber Millionen von Ungeheuern Sonnenkörpern in einer
höheren Ordnung von Welten durchaus nichts weiter ist, keinen
gröfseren Wert besitzt, als jener Stein, den wir durch die Luft schleudern,
und umgekehrt : es ist keineswegs ausgeschlossen, dafs die wunderbare
Verfeinerung unserer Forschungstechnik es noch dazu bringt, seinerzeit
so starke Vergröfserungen zu erzeugen, dafs bei genügend kräftiger
Beleuchtung wir in dem Stein die schwingenden, ihre kreisenden und
röhrenden Bewegungen ausführenden Atome einzeln erkennen werden
und so imstande sind, unsere astronomischen Studien, die wir am
wcltdurchdringendon Fernrohr begannen, im Mikroskop zu vollenden.
Denn wir müssen schon heute davon überzeugt sein, dafs diese
Bewegungen der Atome im Steine, durch welche er seine vielartigen
physikalischen und chemischen Eigenschaften kundthut, selbst in
eingehenderen Details den Bewegungen der Himmelskörper ähnlich
sein müssen. So kann man beispielsweise die Wärmeerscheinungen
durch genau hin- und herpendelnde Bewegungen der Atome erklären,
wie wir sie im Weltall allerdings nicht wahrnehmon; aber es giebt eben
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keinen Körper, der nur Wärmeerscheinungen zeigte; diese übrigen
Einflüsse von einwirkendem Licht, elektrischer Erregung etc. lenken
das Atom in andere Buhnen; sie stören die pendelnde Bewegung.
Dieselbe gehtdadurch nothwendig in eine elliptische oder bei verwickelten
Einflüssen in eine noch komplizirtere Bewegung über, eben wie wir
sie am Himmel wahrnehmen.
So löst sich das ganze Weltgeschehen in einander ähnliche
Bewegungen seiner kleinsten sowie seiner grüfsten Theile auf; die
lebendige Bewegung allein ist der Impuls jeder Entwickolung, die
Ruhe bedeutet den unvermeidlichen Tod; aber — und hier kommen
wir zu einem scheinbar grofsen Widerspruch — Ruhe giebt es nicht
im Weltgebäude, und so sicher es uns auch scheinen mag, dafs das
Unvermeidlichste der Tod sei, so sicher können wir deshalb trotz
alldem, wenn wir von einem höheren Standpunkt aus das Weltgeschehen
betrachten, behaupten, dafe es einen Tod nicht giebt. Tritt in der
Entwickelung der Lebewesen diese mysteriöse Erscheinung auf, welche
einen so plötzlichen Rifs in der körperlichen wie geistigen Thätigkeit
des unbedeutendsten sowie des vollkommensten lebendigen Organismus
hervorbringt, so ruht doch die Naturthiitigkeit gegenüber diesen Atomen
nicht eine Sekunde lang aus; an dem abgelebten Körper wird sofort
wieder auf das lebhafteste gearbeitet, um durch die Verwesung hindurch
seine Atome dem Leben aufs neue wieder zuzufiihren. Ein großes
Fragezeichen bleibt also nur in Bezug auf die Thätigkeit des Geistes
übrig; hierüber wollte die Natur uns keinen Aufschlufs geben. Sonst
überall in der Natur wechseln wie Tag und Nacht, wie Schlafen und
Wachen die auf- und absteigenden Kreisläufe mit einander ab, so
im kleinsten Geschehen wie im grüfsten. Tausend und abertausendfach
verschlingen sich diese Kreisläufe in einander und unterstützen sich
in der Verfolgung der allgemein emporstrebenden Entwickelung des
Weltgebäudes, und es wird uns nicht mehr allzu seltsam erscheinen,
wenn wir die gröfseren Kreisläufe den kleineren so ähnlich finden;
denn die Triebfeder zu all diesem Geschehen ist ja in letzter Linie in
den Bewegungen der Atome zu suchen, welche wir im kleinsten wie
im grofsen als einander ähnlich erkannten. Wir brauchen eben nur
das Zeit- und das Raummafs beliebig zu verändern, um die Aehnlich-
keit der Naturerscheinung sofort zu erkennen. Greifen wir eines der
interessantesten Beispiele dieser Art aus der unendlichen Fülle heraus.
Das Wasser der Ozeane umgiebt den Erdball im allgemeinen
mit einer Schicht von Wasseratomen, die eine ebene, horizontale Ober-
fläche bildet; dieses ist jedoch nur im allgemeinen der Fall, im
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speziellen zeigen sieh wesentliche Abweichungen. So ist beispielsweise
die Oberfläche der Meere in derselben Weise gegen die Pole hin
abgeplattet, wie die Oberfläche der Erdtheile. Es ist dies eine Folge
der Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde um ihre Axe, welche die
Aequatortheile durch die Zentrifugalkraft mehr nach aufsen hin
schleudert, wie die in dieser Beziehung ruhenden Theile der Pole.
Es ist nachgewiesen, dafs diese Rotation sich im Laufe der Jahrtausende
verlangsamt, so dafs also unser Tag immer länger wird. Mit dieser
Verlangsamung der Umdrehungszeit mufs sich auch dio Abplattung
verändern; die etwa drei Meilen dicke Aufwulstung des Aequators
mufs also allmählich nach den Polen hin zurückgehen. Das Wasser
führt nun diese Bewegungen ebenso gut aus wie das Erdreich; letzteres
hebt sich im Laufe der geologischen Zeitalter, wie deutlich nachgewiesen
werden kann, das heifst, es fliefst ganz ebenso wie das Wasser nach
den Polen hin, wenn auch vermöge seiner gröfseren Festigkeit ganz
ungemein viel langsamer.
Und diese Flut der Gesteinsoberfläche, nicht nur durch die
Verringerung der Abplattung allein hervorgerufen, sondern namentlich
auch durch die eindringende Kälte des Weltraumes, also gewisserraafsen
auch durch meteorologische Erscheinungen, welche ebenso die Wellen
auf der Meeresoberfläche hervorbringen — diese Flut der Gesteins-
oberfläche zeigt genau dieselben Erscheinungen wie die des Meeres.
Man nehme Momentphotographien von Wellenbewegungen des Meeres
zur Hand, um zu sehen, wie ähnlich sich diese den grofsen Gebirgs-
zügen der Erde darstellen; und diese wirklichen Gebirgszüge sind
durch nichts Anderes entstanden, als durch die Einflüsse von Wärme
und Kälte, welche auch die Stürme des Meeres und seine Wogen
erzeugen. Sehen wir dann, wie diese Meereswogen sich an den
Felsen der Küsten brechen, Umschlagen und ihre Wasseratome zurück-
stürzen in die Wellenthäler, so haben wir eine Erscheinung ganz
vergleichbar den fürchterlichen Bergstürzen in den Gebirgsstöcken,
welche wie die Alpen, noch im Entstehen begriffen sind. Auch hier
brandet das vorgedrängte Erdreich gegen uralte unbewegliche Klippen
und überschlägt sich endlich, wenn die ursprünglich wagerechten
Schichtungen, senkrecht aufragend, sich nicht mehr zu halten vermögen.
Ganz ähnlich wie der meteorologische Kreislauf des Wassers
ist auch der des Erdreichs, welcher sich durch die geologischen
Perioden hindurchflicht. Die Wärmestrahlung der Sonne löst das
Wasser der Ozeane zu Wolken auf, die Abkühlung kondensirt es
wieder zu Regen, aus der Quelle strömt es hinab zum Flusse, aus
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diesem wieder zum Meere zurück. Mit den Flüssen wird aber auch
Erdreich aufgelöst, und flüfsig, beinahe wie dieses Wasser selbst, dem
Meere zugeführt, auf dessen Grunde es sich in Schichtungen ablagert
In letzter Linie sind es nun wiederum Wärme- oder Kältewirkungen,
welche diese Schichtungen aus den Tiefen des Meeresgrundes empor-
zuheben vermögen bis zu den Regionen der Wolken, um die vereisten
Berggipfel zu bilden, welche mit dem Wasser wieder zurückgetragen
werden zum Meere.
Und noch viel weiter können wir heute, ohne den Vorwurf allzu
grofsen Phantasiereichthums auf uns zu laden, in der Vergleichung
des Naturgeschehens in seinem kleinsten und grüfsten Umfange gehen.
Man hat den Menschen oft einen Mikrokosmos genannt, aber er ist
ein Kosmos, ein Weltgebäude im vollsten Umfange, unendlich viel
schöner und vollkommener als das Weltgebäude über uns, so weit es
wenigstens unsere Kurzsiohtigkeit zu erkennen vermag. Die Milliar-
den von Atomen, aus denen unser Körper zusammengesetzt ist, werden,
ungleich dem fallenden Steine oder dem gleichtnäfsig weiterschweben-
den Sternhaufen des Himmels, von einer höheren Macht, nämlich
der des schaffenden Geistos in zielbewufste Bahnen gelenkt. In
diesem gewaltigen Kosmos bewegen sich und leben Milliarden selbst-
ständiger Wesen, deren Lebensregungen nur insoweit eingeschränkt
sind, als sie dem Wohle des Ganzen nützlich sein müssen. Weiter
aber geht unsere persönliche Freiheit auch nicht. Diese selbständi-
gen Wesen sind die Zellen, deren Arbeitstheilung eine Organisation
aufweist, wie wir sie — zwar leider nur im Keime — in der menschlichen
Gesellschaft wiederfinden. So wie nun der Stein in unserer Hand keines-
wegs ein einheitliches Einzelwesen ist, sondern aus einer Ungeheuern
Menge einzelner, für sich bestehender Atome gebildet wird, so ist auch
der Mensch durchaus kein Einzelwesen; das, was er sein Ich nennt,
ist nichts Andorcs als das Gesamtbewufstsein eines wunderbar organi-
sirteu Staates, einer Kolonie von einzelnen Lebewesen, die sich zu
gemeinschaftlichem Wollen, zu gemeinsamer Vertheidigung gegen die
Aufsonwelt zusammengefunden haben.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist ein ganz seltsam klingender
Vergleich möglich. So wie wir die Zellen des menschlichen Körpers
als selbstständige Wesen aufzufassen im stände waren, können wir
andererseits den ganzen Menschen wieder als eine einzelne Zelle be-
trachten, von denen sich Millionen und aber Millionen zusammenfinden,
um ein neues organisches Wesen von den Dimensionen eines Welt-
körpers zu bilden. Der Erdkörper ist das Skelett, der Knochenpanzer
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dieses Ungeheuern Infusionsthieres, und erst sehr langsam beginnt
sich Fleisch und Blut um diesen Ungeheuern Embryo zu bilden.
Durchaus nicht anders fanden sich einstmals die zunächst selbständig
umherschwirrenden Amöben zu einem primitiven Organismus zu-
sammen, indem sie nach und nach einen Theil ihrer Selbständigkeit
dem Gemeinwohle, der Gemeinsicherheit opferten. Und auch schon
die ersten Nervenfäden beginnen sich um das Erdinfusionsthier zu
spinnen: es sind die Telegraphendrähte, welche ganz ebenso wie die
Nervenstränge, die beispielsweise einen Korallenstock durchziehen,
sogleich die ganze Kolonie davon benachrichtigen, wenn sich in einem
, Theile derselben etwas ereignet, wodurch das Wohl des Ganzen ge-
fährdet werden könnte.
Also nicht nur der Techniker, wie wir zu Anfang unserer Be-
trachtungen sahen, sondern auch der Politiker kann und mufs von
der Natur lernen; er soll studiren, wie die Natur ihre Staatengemein-
schaften bildete, wie sie ihre sozialen und völkerrechtlichen Gesetze
schafft und regelt; denn nur das, was den Naturgesetzen nicht wider-
spricht, kann Anspruch auf Bestandlahigkeit haben; alle entgegen-
stehenden Bestrebungen führen nothwendig zu Spannungen, welche
den Anlafs zu gewaltsamen Auslösungen, also im Völkerleben zu
blutigen Revolutionen, geben müssen.
Von diesen Gesichtspunkten aus wollte ich es versuchen, einskizzen-
haftes Bild des Naturgeschehens in grofsen Zügen hier zu entwickeln;
von diesem selben Gesichtspunkte der Nothwendigkeit der Naturer-
kenntnifs für Jedermann hat man es in Berlin versucht, eine Anstalt
zu begründen, in welcher alle Theile dieses Naturgemäldes in ihrer
frappantesten, eindrucksvollsten Wirkung der grofsen Menge der
allgemein Gebildeten sowie auch des Volkes vorgeführt werden.
Unsere Urania ist in diesem Sinne in Wirklichkeit ein kleiner Kosmos,
wenngleich sie von den Naturalienkabinetten oder Museen der land-
läufigen Art, in welchen die Naturgegenstiindo todt, analysirt, aus ihrem
Zusammenhänge mit der grofsen Natur gerissen, neben einander liegen,,
von Grund aus verschieden ist.
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Das Okularende des grofsen 36 -zölligen Refraktors
der Lick-Sternwarte.
Von Prof. E. E. Barnard
Der grofse Refraktor der Lick-Sternwarte hat drei, in unserem
Holzschnitte sichtbare Sucher — kleine Fernrohre, welche an der Seite
des grofsen angebracht sind und dazu gebraucht werden, ein Objekt
in das Gesichtsfeld des grofsen Fernrohres einstellen zu helfen. Der
kleine Sucher (A, Fig. 1), welcher rechts oben über dem Okular sich
befindet, ist ein Stein hei 1 scher Kometensucher von 2,6" Durchmesser
und sehr kurzer Brennweite; er fafst ein grofses Gesichtsfeld von etwa 6°
und dient dazu, um irgend ein Objekt zunächst in einen der anderen
Sucher zu bringen. Rechts unter diesem befindet sich der gröfste Sucher
(B), welcher 6" Durchmesser hat und ein kräftiges Teleskop darstellt, so
grofs wie manche von denjenigen, welcho einige unserer vorzüglichsten
Beobachter berühmt gemacht haben. Dioser Sucher ist von Nutzen,
wenn das einzustellende Objekt lichtschwach ist. Links befindet sich
ein dritter Sucher (C); dieser hat 4" Durchmesser und wird bei der
Handhabung des grofsen Teleskopes am meisten gebraucht. Es sind
endlich auch Klammern vorhanden, durch welche unser 12-zölliges
Aequatorial mit dem grofsen Teleskop verbunden werden kann, sollte
jemals ein so kräftiger Sucher erforderlich sein.
In unserer Abbildung sieht man auch einigo Steuerrädern ähnliche
Handräder mit Speichen. Diese dienen zur Klemmung und feinen
Bewegung des Instrumentes. Die beiden tiefer stehenden auf der linken
Seite drehen lange Klemmstäbe, welche am Tubus entlang laufen bis
hinauf zur äquatorialen Montirung; sie klemmen das Teleskop in
Rektaszension (D) oder Deklination (E). Wenn das Teleskop in Rektas-
zension geklemmt ist und das Uhrwerk läuft, so bewegt es sich
aufserordentlich gleichförmig mit den Sternen westwärts. Die anderen
Räder sitzen an den Stangen für Feinbewegung: drei von ihnen
dienen zur Bewegung in Rektaszension und drei zur Verschiebung
in Deklination; die grofse Zahl dient der Bequemlichkeit, damit das
Bimmel and Erde. 1992. V. 2. 7
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«JO
eine oder das andere Bad stets der Iland erreichbar ist, gleichgültig in
welcher Stellung das Teleskop sich befinden mag. Die Räder für
Feinbewegung und Klemmung in Rektaszension haben hervorragende
Speichen, die derartig gekerbt sind, ilafs der Beobachter, da die Dekli-
Fig. 1. Du Oculareode des 36-xolligen Refractori der Lick -Sternwarte.
(Nach einer Photographie.)
nationsräder glatt sind, im Dunkeln sofort durch das Gefühl allein be-
merkt, was für ein Rad er fafst. Man kann aus unserer Zeichnung leicht
erkennen, wie die Feinbewegungsstangen gleicher Art mit einander
durch konische Zahnräder in Verbindung stehen, so dafs es gleich-
gültig ist, welches von diesen Rädern gedreht wird. Alle Bewegungen
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Die
92
des Teleskops können daher von dem Beobachter ausgeführt werden,
ohne dafs er seinen Platz vertäfst. Wenn das Fernrohr umgelegt,
d. h. von der einen Seite des Pfeilers nach der anderen geführt werden
soll, so muss dies von der kleinen Galerie aus geschehen, welche sich
nahe der Stundenaxe befindet.*)
Mehrere schmale, mit Okularen versehene Rohre, welche wir an
dem grofsen Tubus entlang laufen sehen, dienen zur Ablesung der
Rektaszensions- (F) und Deklinationskreise (GH) vom Okularende aus;
die abzulesende Stelle des Kreises wird dabei durch eine elektrische
Glühlampe erhellt.
Das grofee Fadenmikrometer mit Okular ist ein sogenanntes
Positionsmikrometer. Dasselbe hat zwei parallele Spinnfäden, die
für Messungen gebraucht werden. Diese Spinnfaden werden von
einer kleinen Oellampe erleuchtet, welche die. zartesten Helligkeits-
veränderungen gestattet, ohne die senkrecht zu denselben gestell-
ten Fäden zu beleuchten (Burnhams Methode). Die vollen Um-
drehungen der Mikrometerschraube werden auf einem kleinen Ziffer-
blatt abgelesen, das vorn auf dem Mikrometer sichtbar ist; dieses
Zifferblatt vermag 110 Schraubenumdrehungen zu zählen. Die Bruch-
tlieile der Umdrehungen werden auf der kleinen Scheibe am Ende
der Schraubenbüchse abgelesen. Eine Umdrehung der Mikrometer-
schraube ist gleich 9, "90; das grötete bei diesem Mikrometer an-
wendbare Gesichtsfeld hat 6' Durchmesser.
Unsere woitere Beschreibung wollen wir mit der Mikrometerbüchse
beginnen, in welche das Okular eingeschraubt ist. Die kreisförmige
Platte, auf welcher diese Büchse befestigt ist, ist der Positionskreis von
etwa 12 Zoll Durchmesser. Er hat die gewöhnliche Ausrüstung mit
Verniers (Nonien), Feinbewegungsschrauben etc., und ist bis auf 0,01°
ablesbar. Nahe diesem Kreise befindet sich ein mit Nickel plattirter
Metallring, welcher durch Halter an dem Mikrometer befestigt ist, und
dasselbe zu tragen hat, wenn es abgenommen oder angesetzt wird.
Dieses Mikrometer ist von South u. Co. in Washington gefertigt.
Hinter ihm befindet sich ein etwas grüfserer hölzerner zum Focus-
siren verwendeter Ring. Mit Hülfe dieses Ringes schiebt man das
Okular nach dem Objektiv hin, oder von demselben weg, der schwere
Tubus kann bis auf etwa t/soo Zoll genau eingestellt werden. Nahe
diesem Holzring ist ein ähnlicher, noch gröteerer angebracht, welcher
nur als Handhabe zur Bewegung des Teleskopes dient.
*) Man vergleiche unsere Abbildung des ganzen Refractors im ersten
Bande dieser Zeitschrift.
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93
Ueber dem Mikrometer sieht man auf dem grofsen flachen Eisen-
ring eine kleine Uhr (I), welche zur Bequemlichkeit des Beobachters
Sternzeit angiebt.
Unter dem Okularende des Fernrohrs zeigt uns die Abbildung
den grofsen beweglichen, 65 Fufs im Durchmesser haltenden Fufs-
boden, einen riesigen hydraulischen Aufzug, der gerade auf seinom
höchsten Punkte steht, in gleichem Niveau mit der oberen, die Kup-
pel umlaufenden Galerie, 1 6*/2 Fufs über seiner niedrigsten Stellung
oder dem Grunde des Teleskoppfeilers.
Die photographische Brennweite des grofsen Teleskops ist 11 Fufs
kürzer, als die optische. Unser Holzschnitt zeigt am oberen Theil
des Tubus die Thür (J), welche zu der Fassung der photographischen
Kassetten führt.
Links von der kleinen Uhr und- unter einem der Ablesungs-
Mikroskope sieht man drei runde Ansatzstücke der das Okularende
umschliefsenden Röhre (K); auf der anderen Seite des Tubus befinden
sich ähnliche Ansatzstücke; durch Oeffnungen in diesen können zwei lange
hohle Messingstäbe eingefügt werden, welche etwa 5 bis 6 Fufs über das
Okularende hervorstehen. Diese Stäbe tragen das grofse Spektro-
skop, wie es unsere zweite Abbildung veranschaulicht. Die ganze das
Okularende umkleidende Röhre, welche die Stäbe und mit ihnen das
Spektroskop trägt, kann im Positionswinkel um 360° gedreht wer-
den. Die Drehung erfolgt mit Hülfe einer der beiden Handhaben
(L, Fig. 1) nahe den Klemmen. Der Spalt des Spcktroskopes kann
so eingestellt werden, dafs er den Rand der Sonne schneidet, während
das Teleskop auf den Mittelpunkt derselben gerichtet ist; durch
Drehung kann alsdann der Spalt rings um den Sonnenumfang
herum geführt werden und auf solche Weise können die Protuberanzen
an jedem Punkte des Sonnenrandes mit Leichtigkeit schnell beobachtet
werden. Ein grofser Positionskreis am Ende der Okularröhre, nahe
dem zweiten Holzring, mifst den Positionswinkel jeder eingestellten
Protuberanz. Diese bequeme Einrichtung gestattet auch, wenn der
Mond in die Mitte des Gesichtsfeldes gebracht ist, ein Okular um dessen
ganze Peripherie herumzuführen, was z. B. bei der Beobachtung von
Sternbedeckungen nützlich ist, namentlich, wenn bei einer totalen Mond-
ünsternifs eine grofse Zahl von Sternen, die in kurzen Zwischenräumen
auf einander folgen, an verschiedenen Stellen des Mondrandes zu beob-
achten sind.
Die grofeen, oben erwähnten Spektroskopträger können auch
dazu dienen, beim Photographiren mit dem grofsen Teleskop eine
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Vergröfserungseinrichtung zu tragen. Endlich sind sie aufserordentlich
nützlich, wenn man ein Objekt in Projektion betrachten will; es wird
dann an ihnen ein Schirm befestigt, welcher das Bild auffängt, das
nun nach Belieben betrachtet werden kann. Die totale Mondfinsternifs
im Juli 1888 wurde auf solche Weise studirt, indem in jeder günstigen
Minute während der Totalität eine vollständige Zeichnung angefertigt
wurde.
Das Mikrometer kann in einem Zeitraum von B Minuten entfernt
werden; binnen 10 Minuten etwa kann die photographische Korrektions-
linse angeschraubt und so das Fernrohr aus einem optischen in ein
photographisches umgewandelt werden. Das grofse Spektroskop er-
fordert etwa eine halbe Stunde Arbeit, ehe es zur Beobachtung fertig
eingestellt ist.
Das Okularende dieses Fernrohres scheint sonach mehrere Vor-
theile gegenüber jeder anderen mir bekannten Form zu besitzen. Es ist
vollständig für mikrometrische, spektroskopische und photographische
Arbeit eingerichtet, und kann auch leicht noch zu anderweitiger
Benutzung umgestaltet werden; und diese Vielseitigkeit ist erreicht,
ohne dafs bei irgend einer der speziellen Benutzungsweisen, für welche
das grofse Fernrohr bestimmt ist, der vollkommensten Zweckmäßigkeit
Eintrag gethan w-orden wäre. Der Entwurf zu diesem Apparat wurde
von Professor Holden im Jahre 1884 auf Grund der zwischen ihm
und Professor Langley diskutirten Ideen geliefert.
t
Photographie der Sonnenfackeln, Protuberanzen und der
Chromosphäre.
In der Entscheidung wichtiger Fragen der Sonnenphysik, speziell
beim Studium der Vorgänge auf der Sonne, wie der Ermittlung jener
Beziehungen, die bei der Bildung der Fackeln, Flecken und Protube-
ranzon statthaben, war es schon lange erwünscht, Methoden ausfindig
zu machen, welche oine Gesamtübersicht des Standes der Sonnen-
thätigkeit fiir eine bestimmte Zeitepoche erreichen lassen. Unsere bis-
herigen direkten und photographischen Aufnahmen geben nur immer
theilweise Nachrichten vom Gesaratvorgange an der Sonnenoberfläche,
und die einzelnen Erscheinungsformen, wie Protuberanzen, Fackeln
u. s. w., müssen getrennt von einander studirt werden.
Vor Jahren schon sind deshalb seitens einiger Sonnenphysiker,
wie Pater Braun in Kalocsa, Dr. Lohse in Potsdam, Methoden vor-
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9h
geschlagen worden, welche darauf abzielen, die Protuberanzen bei
hellem Sonnenschein zu photographiren, desgleichen Flecken und
Fackeln gleichzeitig aufzunehmen. Diese Methoden beruhen auf dem
Verhalten gewisser Spektrallinien in verschiedenen Theilen der Sonne.
Vor einigen Jahren brachte E. Haie ein ähnliches Prinzip fiir die
Photographie der Protuberanzen in Vorschlag: Die Protuberanz wird
in einem mit einem Spektroskop armirten Fernrohre vor den beweg-
lichen Spalt des Spekfroskopes gebracht Sie verräth sioh durch die
besondere Helligkeit einiger charakteristischer Linien des Protuberanz-
Spektrums. Eine dieser Linien läfst man auf einen engen Spalt fallen,
der in dem Brennpunkte des Fernrohrs steht und nahe welchem sich
eine photographische Platte befindet. Diese Linie wird durch ent-
sprechende Bewegung der Platte festgehalten, und da die Ver-
änderungen der Helligkeit der Linio, indem man den bewegbaren
Spalt über den Sonnenrand wegfülirt, die Ausdehnung der Protube-
ranz markiren, erhält man succcsive photographisch ein Bild
von dem Umfange der letzteren. Die praktischen Schwierigkeiten
welche sich der Anwendung der Methode entgegenstellen, hat Mr. Haie
mit Hülfe der reichen, ihm am Ken wood-Observatorium in Chicago zur
Verfügung stehemien Mittel beseitigt und er ist seit Anfang laufenden
Jahres dahin gelangt, photographische Bilder der t ’hromosphäre, der
Protuberanzen, Flecken und Fackeln, und zwar unabhängig von ein-
ander, zu entwerfen, llale fand, dafs die Calciumlinien H und K in
den Protuberanzen viel heller als die Wasserstofflinien sind, und später
dafs dieselben Spektrallinien in den Fackeln viel heller aussehen, als
in den Protuberanzen. Der gegenwärtig von ihm verwendete Apparat,
den er Spektroheliograph nennt, besitzt als llaupttheile zwei bewegbare
Spalte, der eine zum Spektroskop gehörig, der andere im Fernrohre
vor der photographischen Platte. Die Spalte können durch einen da-
mit in Verbindung stehenden hydraulischen Apparat gleichzeitig schneller
oder langsamer bewegt werden; das ganze Fernrohr folgt durch ein Uhr-
werk der Fortrückung der Sonne. Um ein Bild der Chromosphäre auf-
zunehmen, dreht man das Spektroskop so, dafs die K-Linie deutlich vor
dem zweiten Spalte sichtbar wird und auf die empfindliche Platte fällt.
Die Sonnenscheibe wird durch eine Blendung bis an den Hand der
Chromosphäre unsichtbar 'gemacht und die Spalte werden über die
Scheibo hinaus fortbewegt. Bei Fackeln und Flecken verfährt man
ebenso, nur wird volles Sonnenlicht gebraucht und die Bewegung der
Spalte beschleunigt. Dabei verschwindet auf der Platte das Bild der
Chromosphäre, da die Zeit, welche sie zur Photographie bedarf, zu
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kurz bemessen ist. Mr. Haie setzt seine Aufnahmen fort, so oft der
Himmel es gestattet.
Auf sehr verwandten Prinzipien beruht ein von Deslandres
auf der Pariser Sternwarte seit einiger Zeit ausgeübtes Verfahren, die
Ausdehnung und Bewegung dor Sonnenprotuberanzen photographisch
festzustellen. Die im Mai d. J. der Pariser Akademie vorgelegten
Protuberanzen-Aufnahmen waren sehr zahlreich, und die Sternwarten-
direktion gedachte für eine derartige Verfolgung der Sonne einen be-
sonderen Dienst einzurichten. *
t
Zur Beobachtung der totalen Sonnenflnsternifs am 16. April 1893.
Nachdem die Betheiligung mehrerer von amerikanischen und
englischen Sternwarten ausgerüsteter Expeditionen behufs Beobachtung
der totalen Sonnenfinsternisse der letzten Jahre, und namentlich der
Finsternisse vom 1. Januar und 22. Dezember 1889, zu sehr erfolg-
reichen Ergebnissen geführt hat, wird auch die nächste totale Sonnen-
finsternifs, die am 16. April 1893 eintritt, wiederum zu Studien seitens
der Amerikaner und Engländer benutzt werden. Das Hauptinteresse
dabei haben wieder, wie bei den letzten beiden Finsternissen, die auf
Erklärung der Natur der Corona abziolenden Beobachtungen, also vor-
wiegend die photographischen Aufnahmen und spektroskopischen Ob-
servirungen. Das Interesse an den zu erwartenden Resultaten erhöht
sich bei der kommenden Sonnenflnsternifs besonders dadurch, dafs
dieselbe dem Maximum der Fleckenperiode näher liegen wird, während
die letzten Aufnahmen über Gestalt und Ausdehnung der Sonnen-
corona bei einem Minimum erhalten worden sind.
Die Centralitätszone der Finsternifs vom 16. April 1893 liegt
über Südamerika und reicht bis in die Wüste Sahara. Die Totalität
tritt an der peruanischen Küste nach 8 Uhr Morgens ein, läuft im
Laufe des Vormittags über Brasilien und don atlantischen Ozean, und
erreicht um l/2 8 Uhr Nachmittags dio Ortschaften des Senegalgebietes.
Die Dauer der Totalität beträgt in Peru über 3, an der Küste Brasiliens
43/i, und am Senegal über 4 Minuten. Professor Prichett schlägt
als Beobachtungsstationen folgende Punkte vor. Zunächst das Städtchen
Rosario in der Provinz Salta der Argentinischen Republik, 16 deutsche
Meilen nördlich von Tucuman, und von Buenos Ayres mittelst Eisen-
bahn leicht zu erreichen. Diese Station liegt beträchtlich hoch über
dem Meere und wird im April für die Beobachtungen, dem gewühu-
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liehen Gange der dortigen meteorologischen Verhältnisse nach zu
schliefsen, voraussichtlich günstige Bedingungen bieten. Eine zweite
Station auf der Centralkurve der Einste rnifs wäre Para Curu in der
brasilianischen Provinz Ceara, nahe der Stadt Forteleza, jedoch ist
dort der Regenfall im April sehr beträchtlich — man darf die Hälfto
des April als Regentage betrachten — so dafs diese Station weniger
günstig erscheint. Sehr gute Wetteraussichten bieten einige Orte in
Französisch-Senegambien, in der Nähe des Hafens Dakar, woselbst im
April auf meist wolkenlosen Himmel gezählt werden darf: Goree,
Portudal und Joal. Die Insel Goree ist eine bekannte französische
Militärstation, böte einer Expedition alle Vortheile eines zivilisirten
Gebietes und liegt auf der Route des regelmäfsigen Dampferverkehrs
der SchifTahrtgesellschaften von Marseille, Hamburg und London.
So viel bis jetzt bekannt geworden, wird das Lick-Observatorium
zur Beobachtung der Finsternifs eine Station in Chile errichten und
unter die Leitung des Mr. Schaeberlo stellen; das Harvard Observatory
wird in Peru stationiren, und zur Besetzung der erwähnten brasilianischen
und senegainbischen Orte hat sich ein englisches Komite, gebildet aus
den Vereinigungen der Royal Astron. Soc. und des Solar Pbys. Comittee,
entschlossen. *
t
Lieber Kälteerzeugung und einige Experimente bei tiefen
Temperaturen. Der Aufgabe, tiefe Temperaturen herzustellen, liegen
einerseits wichtige praktische Interessen zu Grunde, so, um nur ein
Beispiel anzuführen, die Bereitung künstlichen Eises, während auf der
andern Seite hauptsächlich der Zusammenhang mit der rein wissen-
schaftlichen Frage nach der Permanenz der Gase hervorzuheben ist,
der Frage, ob die Luftarten, bei denen wir eine Verflüssigung oder
gar ein Erstarren nicht wahrnehmen, wie Wasserstoff, Stickstoff, Sauer-
stoff, wirklich nur in dem luftförmigen Zustande existiren, ob also die
Natur hier thatsächlich den Sprung gemacht hat, neben die anderen
Stoffe, welche fest, flüssig und luftförmig Vorkommen, unvermittelt eine
Gruppe von ganz anders gearteten Körpern zu stellen. Andere -wissen-
schaftliche und technische Fragen schliefsen sich an, und Prof. Pictet,
von dessen im vorigen und in diesem Jahre veröffentlichten Versuchen
hier hauptsächlich die Rede sein soll, dürfte Recht haben, wenn er
meint, dafs die Eigenschaften der Körper bei tiefen Temperaturen noch
ein weites und dankbares Forschungsfeld darbieten. —
Es ist ein merkwürdiger Zufall, dafs die Mittel, welche zur Er-
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reichun^ jener klärenden Forschungsergebnisse fuhren, eigentlich recht
geeignet waren, die richtige Erkenntnis des Wesens der Wärme als
einer Bewegung aufzuhalten, weil sie in sehr nachdrücklicher Weise
den Schein erwecken, als sei die Wärme ein Stoff. Prefst man z. B.,
wie dies in dem pneumatischen Feuerzeug geschieht, Luft in einem
Cylinder mittelst eines vorgeschobenen Kolbens zusammen, so erwärmt
sic sich, zieht man den Kolben zurück, sodafö eine Wiederausdehnung
erfolgt, so kühlt sie sich ab. Mit der älteren Auffassung, dafs die
Temperatur eines Körpers von der Menge des in ihm enthaltenen
„Wärmestoffes“ abhängig sei, verträgt sich dieses Experiment offenbar
aufs beste; man würde es mit einer Konzentration jenes Wärmestoffes
zu thun haben. Ohne näher darauf einzugehen, wie sich dieser Vor-
gang durch die mechanische Wärmetheorie erklären läfst, wollen wir
darauf hinweisen, dafs er uns ein Mittel zur Kälteerzeugung an die
Hand giebt. Man braucht ja nur die bei jener „Konzentration" auf-
tretende Wärme abzuleiten, z. B. an Kühlwasser abzugebon, um bei
der nachherigen Ausdehnung der Luft eine Temperatur zu erhalten,
welche tiefer liegt als diejenige des Kühl wassers. Dieses Verfahren
liegt den Wind hausen sehen Eismaschinen zu (irunde, welche in der
neueren Zeit die älteren Apparate von Carre und Anderen mehr und
mehr verdrängt hatten, bis ihnen in der Lind eschen Eismaschine eine
mächtige Konkurrenz erwuchs. Diese Maschinen benutzen ebenso wie
jene ältesten die Erscheinung der „latenten Wärme“, und somit die-
selben Vorgänge, welche auch bei wissenschaftlichen Untersuchungen
die sehr tiefe Temperaturen nöthig machen, in Betracht kommen; es
scheint also, als fielen die Bedingungen für Herstellung der tiefsten
Kältegrade und für ökonomische Bereitung des Eises, also Herbei-
führung einer nur wenig unter dem Nullpunkte liegenden Temperatur,
zusammen. — Nennen wir, um uns bei der Klarlegung dieser Vorgänge
eines kurzen Ausdrucks bedienen zu können, die drei Aggregatzustände
des Festen, Flüssigen und Gasförmigen den niederen, mittleren und
höheren, so verstellt man bekanntlich unter der latenten (verborgenen,
mittels des Thermometers nicht nachweisbaren) Wärmemenge diejenige,
welche einem Körper zugeführt werden mufs, damit er aus einem
niedrigeren Zustande in einen höheren übergeht, also schmilzt oder
siedet. Diese Bezeichnung ist dadurch gerechtfertigt, dafs thatsächlich
bei solchen Uebergängen ein für das Thermometer nicht erkennbares
Wärmequantum aufgespeichert wird; z. B. findet trotz aller Wärme-
zufuhr bei dem Schmelzen eines Eisstücks eine Steigerung der
Temperatur über den Nullpunkt nicht statt, und erst wenn alles Eis
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geschmolzen ist, steigt die Temperatur des gebildeten Schmclzwassers.
Dieses Schmelzwasser hat also die gesamte zugeführte Wärme auf-
genommen, d. h. es besitzt trotz seiner Temperatur von 0° einen ver-
borgenen Wärmevorrath, welcher dem Eise von 0° Wärme abgeht. In
welcher Weise diese Erscheinung bei der Kälteerzeugung verwerthet
werden kann, ergiebt sich nun sehr einfach. Kann man einen Körper
ohne Wärmezufuhr veranlassen, in einen höheren Aggregatzustand
überzugehen, so mufs er sich dabei abkühlen; denn er soll ja in jenem
höheren Zustande latonto Wärme besitzen; es mufs also, wenn keine
Wärmezufuhr stattfindet, die nicht latente, die am Thermometer mefs-
bare Wärme latent werdon, d. h. es mufs, während der Aggregatzustand
steigt, die Temperatur sinken. Einen einfachen Fall dieser Temperatur-
emicdrigung haben wir vor uns, wenn wir Wasser durch einon über
seine Oberfläche hingeblasenen Luftstrom zum Verdunsten bringen. —
In der Praxis führt man die Verdunstung dadurch herbei, dafs man
nicht nur wie bei dem Blasen die an der Oberfläche lagernden Dampf-
theilchen, sondern die ganze über dem Flüssigkeitsspiegel lagernde
Atmosphäre hinwegnimmt, also die Flüssigkeit in einem luftleeren
Raume verdunsten läfst. Dabei werden offenbar diejenigen Flüssig-
keiten am meisten Wärme latent machen, welche das gröfste Bestreben
haben, sich zu verflüchtigen. Bei den Eismaschinen benutzt man von
jeher das Ammoniak, ein Oas, welches sich unter gewöhnlichem Luft-
druck erst bei 30H unter Null zu einer Flüssigkeit vordichtet, während
es bei einer Temperatur von 10° über Null eines Drucks von 10 Atmo-
sphären bedarf, um flüssig zu werden. Die in allen Lehrbüchern be-
schriebene ältere Carresche Eismaschine stellt den luftleeren Raum
mit Hülfe der eigenthiimlichen Aufnahmefähigkeit des Wassers für
Ammoniakgas her, indem sie ein mit Wasser und ein theilweiso mit
flüssigem Ammoniak gefülltes Gefiifs kommuniziren läfst. Die Auf-
nahme des über der ersteren Flüssigkeit schwebenden Ammoniakgases
erfolgt fast momentan, so dafs nunmehr die lebhafteste Verdunstung und
infolge dessen eine starke Abkühlung eintritt. Die Lind eschen
Eismaschinen benutzen denselben Stoff, erzielen aber die Druckver-
änderungen durch eine Pumpe, welche auf der einen Seite das
Ammoniakgas absaugt, also einen luft verdünnten Raum herstellt,
während es auf der anderen Seite komprimirt, und bei gleichzeitiger
Abkühlung durch Leitungswasser verflüssigt wird. Man läfst den
Raum diesseits und jenseits der Pumpe in Verbindung treten, so dafs
ein Kreislauf zustande kommt, und erhält dann da, wo beide Räume
durch eine kleine Oeffnung kommuniziren, eine lebhafte Verdunstung
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100
und Abkühlung. Das cirkulirende Ammoniak entzieht an einer Stelle
also seiner Umgebung ein Wiirmequantum, um es an einer anderen
wieder abzugeben.
Ganz ähnlich ist nun auch das Verfahren, mittels dessen man
sehr tiefe Temperaturen erzielen kann. Prof. Pictet, der bekanntlich
im Jahre 1877 gleichzeitig mit Herrn Cailletet Versuche über die
Verflüssigung der permanenten Gase veröffentlichte, hat im vorigen
Jahre eine Einrichtung beendigt, welche mit Hülfe solcher Kreis-
prozesse dauernd Temperaturen von weniger als 120n unter Null her-
zustellen gestattet. Es ist zu diesem Zwecke nöthig, die Temperatur-
erniedrigung in mehreren Stufen vorzunehmen, also mehrere Cyklen
aneinander zu reihen. Zu dem ersten Cyklus benutzt Pictet die nach
ihm benannte Flüssigkeit, ein Gemisch von schwefliger Säure und
Kohlensäure. Durch Verdampfung dieser Flüssigkeit in dem evacuirten
Theilo der Kreisleitung entsteht eine Temperaturerniedrigung von etwa
80° unter Null. Die in dieser Weise abgekühlte Flüssigkeit wird nun
gewissermafsen als Kiihlwasser für den zweiten Cyklus benutzt, bei
welchem als zu verdichtendes Gas Stickstoffoxydul — das bekannte
Lachgas — zur Anwendung kommt. Bei der Abkühlung bis auf
00 — 80° reicht zur Verdichtung ein Druck von 10 bis 12 Atmosphären
aus. Bei der Temperatur des Eispunktes würde hierzu ein Druck von
30 Atmosphären erforderlich sein. Da sich dieser bei Versuchsreihen
längerer Dauer nicht leicht erhalten läfst, so leuchtet der Vortheil einer
Zerlegung in solche Stufen unmittelbar ein. Infolge der schnellen Ver-
dampfung im Vacuum tritt eine Abkühlung bis auf 130° unter Null
ein, eine Temperatur, bei welcher ein Theil der Flüssigkeit erstarrt.
Wir haben also dieselbe merkwürdige Erscheinung vor uns, welche
an der flüssigen Kohlensäure häufig demonstrirt wird, dafs bei dem
Uebergang einer Flüssigkeit in den höheren Aggregatzustand so viel
Wärme latent wird, dafs ein Theil der Flüssigkeit in den niedrigeren
Aggregatzustand übergeht. Die Wärmeenergie, welcho sonst immer das
Bestreben zeigt, sich gleichmäfsig zu vertheilen, verschiebt sich hier so,
dafs ein starker Kontrast entsteht. Natürlich gilt das nur bei diesem
speziellen Theile des Prozesses, während aus dem gesamten Kreisläufe
eine Verschiebung von Wärme im Sinne eines gröfser werdenden Kon-
trastes nicht entstehen kann.
Von dem zweiten Cyklus aus schreitet man nun weiter fort unter
Anwendung von atmosphärischer Luft. Diese wird dem ungeheuren
Drucke von 200 Atmosphären ausgeselzt und gleichzeitig mittels des
fest gewordenen Lachgases auf — 130° abgekiihlt. Es tritt eine Ver-
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101
flüssigung ein, und wenn man den Hahn dos Behälters öffnet, ent-
weicht ein in prächtigem Blau erglänzender Strahl flüssiger Luft, deren
Temperatur infolge lebhafter Verdunstung bis auf — 200° sinkt. Dafs
besonders dieser letzte Thoil der Versuche umfangroiche experimentelle
Zurüstungen nöthig macht, leuchtet wohl ein. Z. B. ist es nur mit
Hülfe von Reservoiren, welche aus einem einzigen Stahlblock ohne
Naht gefertigt worden sind, gelungen, gröfsere Vorräthe verdichteter
Luft für Experimente zu sammeln; doch war die Einrichtung eines
ununterbrochen arbeitenden dritten Cyklus bisher nicht möglich.
In unerwarteter Weise schlofs sich an die Pictetschen Ver-
suche eine praktische Verwerthung, nämlich die auf Vorschlag von
Prof. Liebreich vorgenommene Reinigung des Chloroforms. Sie wird
in einfachster Weise dadurch ermöglicht, dafs man dieses fast immer
unrein vorkommende Anaestheticum bei etwa 100° unter Null gefrieren
läfst. Die sich abscheidenden Krystalle zeigen selbst bei den empfind-
lichsten Reaktionen keino Spuren fremder Beimengungen, und es ist
sehr wahrscheinlich, dafs die Anwendung dieses Mittels durch die
Reinigung an Gefahrlosigkeit zunehmen wird.
Ueber die Strahlung der Wärmewellen von grofser Wellenlänge
hat Pictet eigonthiimliche Beobachtungen gemacht. Es scheint, als
seien diejenigen Stoffe, welche wir wegen der in ihnen enthaltenen
Lufttheilehen als Wärmeisolatoren benutzen, wie Wolle und dergl. für
Wärmestrahlen, welche bei Temperaturen unter — 100 u erzeugt werden,
transparent, ähnlich wie beim Lichte die aus Aggregaten kleiner Bläs-
chen bestehenden Nebel am leichtesten von den Strahlen grofser
Wellenlänge, von rötlichem Lichte durchdrungen werden.
Hiermit hängt nach Pictets Ansicht ein Phänomen zusammen,
welches er in der letzten Zeit beobachtet und veröffentlicht hat.
Ein Thermometer, welches in erstarrendem Chloroform steht, zeigt eine
höhere Temperatur als ein solches in schmelzendem Chloroform,
während bekanntlich Schmelzpunkt und Gefrierpunkt sonst stets
zusammenfallen. Pictet meint, dafs die Wärme, welche in don äufseren
Schichten einer Menge flüssigen Chloroforms frei wird, wenn man
dasselbe in einen kalten Raum bringt und nun jene Schichten gefrieren,
die Flüssigkeit besser zu durchstrahlen vermöge als die Strahlen,
welche von dem wärmeren Thermometer ausgehen. Ist diese Erklärung
richtig, so werden sich offenbar eine ganze Reihe von Eigenthümlich-
keiten aus ihr ergeben, welche den Körpern bei niedrigen Temperaturen
zukommen und ganz abweichend sind von dem gewöhnlichen Ver-
halten derselben.
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Im speziellen will Pictet die Gesetze der Ausdehnung und der
elektrischen Leitungsfiihigkeit der Metalle bei niedriger Temperatur,
sowie den Einllufs hoher Kältegrade auf chemische Reaktionen und
auf die Elektrolyse untersuchen. Es ist zu hoffen, dafs sich auf diesem
bisher unerforschten Gebiete — Pictet nennt es mit einem treffenden
geographischen Vergleich das polare Gebiet der Physik — umfang-
reiche und wichtige Ergebnisse werden erzielen lassen.
*
Abermals ein neuer Komet.
Einen aufserordentlioh lichtschwachen Kometen hat Barnard auf
dem Lickobservalorium in der Nacht vom 11. zum 12. Oktober photo-
graphisch entdeckt. Das Gestirn bewegt sich ziemlich schnell nach
Südosten und steht gegenwärtig im Sternbilde des Adlers; seine
Helligkeit ändert sich nur unmerklich. \V.
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A. Peter, Professor l>r., Wandtafeln zur Systematik, Morphologie und
Biologie der Pflanzen für Universitäten und Schulen. Kassel,
Theodor Fischer, 1892. Prois pro Tafel 2 M.
Die vorliegende Lieferung I dieses neuen botanischen Bilderwerkes ent-
hält Tafel 1 („Cucurbitaceae“) und Tafel 2 („Violaceae“), beide blüthenbio-
logischen Charakters. Die Verhältnisse, auf die es ankommt, sind aufser-
ordontlich gut und klar wiedergogeben. Bestaubuugs- und Aussaateinrich-
tungon treten stark in den Vordergrund und werden bei den Kürbisgewächsen
an den getrenntgeschlechtigen Blüthcn des gemeinen Speisekürbisses (Cu-
curbita Pepo L.) und den Schleudurfrüchten der aus den tropischen Anden
stammenden, aber jetzt schon in unseren Gärten häufigen sogenannten
Springgurke (Cyelanthera explodens Naud.) erläutert; für die Veilchen-
gewächse dient das Garten-Stiefmütterchen (Viola tricolor L.) als Bei-
spiel. Wenn die weiteren Lieferungen dieser Probe entsprechen, wird sich
das Werk wohl bald einbürgern, denn die Ausführung in Hinsicht aufFnrben-
und Fernwirkung verdient ebenso hohes Lob wie die geschickte Auswahl,
die den neueren, auf das Leben gerichteten Forschungszielen in jeder Be-
ziehung gerecht wird.
In einem nebensächlichen Punkte darf vielleicht noch ein Wunsch aus-
gesprochen werden ; er betrifft die in Worten gegebenen Erklärungen. Die
Rücksicht auf die Schulen ist es wohl gewesen, dio den Herausgeber veran-
lagt hat, die althergebrachten Ausdrücke „Staubgefäfse“ und „Stempel4* (auch
„Staubgefäfsblüthe“ und „Stempolblüthe“) beizubehalten. Vielleicht entschliefst
sich der Herausgeber, diese weitgehende Nachsicht bei den folgenden Liefe-
rungen fallen zu lassen; im allgemeinen darf heutzutage wohl vorausgesetzt
werden, dafa an jeder Schule, wo ein wirklich naturwissenschaftlich gebildeter
Lehrer wirkt, die Ausdrücke „Staubblätter“ und „Fruchtblätter“ (für den
„Stempol“ im ganzen „Fruchtknospo“ oder „Fruchtblattkreis“! wohl verstan-
den werden und au vielen bereits allein üblich sind. Dasselbe gilt von der
„Staubbliitho“ und „Fruchtblüthe“ („Samenblüthe“), die übrigens unbedenklich,
selbst in Mädchenschulen, als männliche und weibliche Blüthe bezeichnet wer-
den können und auch worden.
In jedem Falle ist dem Fortgange des schönen Tafelwerkes das beste
Gedeihen zu wünschen. Dr. Jaensch.
$
H. Schneider: Gegen Falb«« kritische Tage. Berlin 1892. Düramler.
Die Schrift lehnt sich im wesentlichen an dio in dieser Zeitschrift er-
schienene Abhandlung von Prof. Pernter über denselben Gegenstand an,
giebt aber auch eigenes Beobachtungsmatcrial. Der Verfasser ist Laie, aber
gerade als solcher kann derselbe dom Publikum gegenüber viel kräftiger
wirken, als irgend jemand sonst. Das Publikum ist nun einmal von dem Vor-
urtheil nicht abzubringen, dafs die Fachgelehrten im Prinzip allemal gegen die
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Zunfllosen Vorgehen. Gerade das offene und dabei ebensowenig polemische
Auftreten, sowie die Deutlichkeit und Bescheidenheit, mit welcher der Verfasser
sich zum Laienstandpunkte bekennt, ist entscheidend für die Meinung des ge-
dankenlosen grofsen Publikums. Man wird, so paradox die Sache auch klingt,
die logischen Argumente desselben ungemein viel leichter als beweisend an-
nehmen. als wenn sie von den berufensten Gelehrten ausgehen würden. Es
hat uns deshalb auch durchaus nicht peinlich berührt, dafs wir einige schiefe
und selbst unrichtige Ansichten über Fluthwirkung in der Schrift vorfanden,
die eben den Laienstandpunkt des Verfassers um so schärfer charakterisiren.
Es liegen bekanntlich über die Ursachen der Fluthbewegung mathematische
Deduktionen strengster Art vor: aber es handelt sich hier um ein Problem, das
ungemein schwer in eine allgemein verständliche Form für den mathematischen
Laien gebracht werden kann. Referent beschäftigt sich schon seit längerer Zeit
mit der Auffindung einer solchen Form, da immer und immer wieder laienhafte
Zweifel über die Fluthwirkung auftauchen, eben weil die Wirkung selbst so
sichtbar für jedermann zu Tage tritt, während der Beweis für die Ursache so
schwer verständlich zu machen ist.
Der kleinen Schrift aber wünschen wir nichtsdestoweniger im Interesso
der endlichen Ausmerzung des so ungemein tief wurzelnden Falb sehen Irr-
glaubens den besten Erfolg. Dr. M. Wilhelm Meyer.
t
Adrian Bai bis Allgemeine Erdbeschreibung. Achte Auflage. Wien,
Post, Leipzig. Vollkommen neu bearbeitet von Dr. Franz Hoiderich.
Lieferung 1 — 9. A. Hartlebens Verlag. Vollständig in 50 Lieferungen
ä 0,75 M.
A. Hartlebens Kleiner Handatlas über alle Theile der Erde. 60 Karten-
seiten. Mit erklärendem Text von Prof. Dr. Fr. Umlauft. Derselbe
Verlag. Preis geh. 9 M.
Seit der siebenten Auflage der ersterwähnten Erdkunde sind nur wenige
Jahre verflossen, aber es ist ein für die Erforschung der Erdoberfläche nicht
unbedeutender Zeitraum gewesen. Die weifsen Flocke, welche die Landkarten
bisher aufwiesen, sind durch den Fleifs und die Kühnheit der Reisenden aus-
gefüllt worden, und die Natur bisher schon bekannter Gebiete ist durch ein-
dringendes Studium der zoologischen, klimatischen und anthropogeographischen
Verhältnisse immor genauer ergründet worden. So mufste die ältere Auflage,
wollte sie alle Fragen, welche in der modernen Erdkunde interessiren, zur
Genüge beantworten, von Grund aus neu bearbeitet worden. Man kann beim
Durch blät tern der bisher vorliegenden 9 Lieferungen, welchen neue und schöne
Abbildungen beigegeben sind, überall die Berücksichtigung des Neuen erkennen.
Dein Werke werden 25 schöne Karten boigegeben, die zum Theil die physikalische
Erdkunde betreffen, zum Theil die Länderkunde. Einige der letzteren sind
dem mit angezeigten Atlas entnommen, der sich durch eine Fülle des Details
auszeichnet und dabei doch an Klarheit nichts zn wünschen übrig läfst. Sein
geringer Preis wird ihn hoffentlich überall dort einführen lassen, wo die
üblichen Schulatlauten, trotz ihrer in den letzten Jahren sehr gesteigerten Voll-
kommenheit nicht für ausreichend befunden werden sollten. Der trotz seiner
Kürze viel wissonsworthes Material enthaltende Text von Prof. Umlauft er-
scheint uns als eine willkommene Beigabe. — r.
Verlag von Hermann Partei in Merlin. — Druck von Wilhelm Uronau'a Buchdruckerei in Berlin.
Für die Kedaction verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Ueberaetzungsrecht Vorbehalten.
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Der hängende Felsen von Newport an der atlantischen Küste Nordamerikas.
(Nach einer Photographie).
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Ueber die Wirkungen der Meereserosion an der
atlantischen Küste Nordamerikas.1)
Von Dr. Emil Deckert
Grenzlinie zwischen Land und Meer ist an der Westseite des
;lcy- Atlantischen Ozeans so wenig eine feste und unverrückbare
wie an der Ostseite, und wenn man sich einige Wochen an
einem Punkte der atlantischen Küste Nordamerikas aufhält — etwa
in einem der freundlichen „Resorts“ auf Long-Island, in New-Jersey,
bei Boston, bei Portland in Maine, oder bei St. Augustine in Florida — ,
so bietet sich reichliche Gelegenheit, die Einzelheiten des weohsel-
vollen Kampfes, in dem das nasse und das trockene Element mit ein-
ander begriffen sind, zu beobachten und darüber nachzudenken, zu
welchem Ende dieser Kampf, in dem beide Streitende so durchaus
aggressiv auftreten, wohl dereinst führen werde. Denn dafs die frag-
lichen Einzelheiten sich im Laufe der Zeiten zu gewaltigen Beträgen
summiren müssen, ist ohne weiteres klar.
Der Grundtypus, in dem sich die atlantische Küste Nordamerikas
darstellt, ist ein anderer im Norden, als im Süden. Im Norden — an
der kanadischen und neuengländischen Küste — ragen einestheils
trotzige Klippen aus archaischem und palaeozoischem Gestein der See
entgegen, an denen sioh die von dem Winde herangetriebenen Wogen
in wilder Brandung hooh aufspritzend brechen, anderentheils sind
es hohe und mächtige Wälle aus Moränenschutt, aufgehäuft von den
Riesengletsohem der amerikanischen Eiszeit, an denen das Meer seine
') Diese interessanten Schilderungen des mächtigen Kampfes zwischen
dem Festlands der nordamerikanischen Ostküste und dem Meere mögen nament-
lich als praktische Beispiele und Erweiterungen zu dem vor einiger Zeit in
dieser Zeitschrift veröffentlichten Vortrage „Das Antlitz der Erde“ von den-
jenigen Theilen, welche sich mit den ErosionBerscheinungen hier selbstver-
ständlich nur flüchtig beschäftigen konnten, dienen.
Bimmel und Erd* 1883. V. 3. 8
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Kraft zu erproben hat. Junge Alluvionen dagegen, seien es Sedimente
der mündenden Ströme, seien es vom Seewinde emporgethürmte Dünen-
reihen, finden sich nur lokal und nur in geringer Ausdehnung. Im
Süden — von der Gegend New-Yorks bis zu dem floridanischen Kap
Sable und um den ganzen Golf von Mexiko herum — gestalten sich
die Verhältnisse durchaus verschieden. Hier treten die jüngsten
Bildungen der Erdgeschichte allerwärts in den Vordergrund. — An-
schwemmungen der Flüsse, Sanddünen, Muschelbänke, Korallenbauten,
— und nur ganz sporadisch ist es ein Gebilde der Tertiärzeit, eine
miocäne Mergelbank etwa, das der See die Stirn zu bieten hat
Die Meereswellen rollen hier auf seichtem Grunde gegen ein flaches
Gestade, sie überschlagen sich in drei- oder vierfachen Schaumkämmen
weit draufsen, sie verlieren bereits fern vom Lande den gröfsten Theil
ihrer zerstörenden Wuth, und sie sind dort, wo sie die umstrittene
Grenzlinie berühren, in der Regel nur im stände, mit leichten Muscheln
und Sandkörnern zu spielen, dieselben bald hinausreifsend, bald wieder
zurückwerfend auf das Trockene, und durch ihr Spiel die Materialien
darbietend und zubereitend, aus denen der Seewind mehr odor minder
hohe Dünenwälle aufbaut, die dem Lande als Schutz dienen.
Wor die Beziehungen der beiden Elemente entlang der amerika-
nischen Küste nur in den normalen Zeiten kennen lernt, dem könnte
es vielleicht scheinen, als ob Gewinn und Verlust sich im allgemeinen
auf beiden Seiten ungefähr die Wage hielten. Im Norden unterwäsoht
die Brandung in zwur deutlich sichtbarer Weise die Felsen von Kap
Cod, Nahant, Kap Ann, Mount Desert etc., so dafs dieselben allmählich
Überhängen und schliefslich hinabbreohen;'-) der in dieser Weise der
See anheimgefallene und mehr oder minder kleingeriebene Schutt
findet aber zu einem grofsen Theile unter dem Einflüsse der Küsten-
strümungen seinen Weg hinein in die benachbarten Buchten, um die-
selben zu verseichten und zu versanden — vielfach zu sehr empfind-
lichem Nachtheile für die Schifffahrts- und Verkehrsverhältnisse der
daran gelegenen Hafenplätze, — und an dem Rande der Buchten sieht
man sogar in der Form sogenannter „beaches“ neues Land sich dar-
aus bilden. Und wenn im Süden von einem Sinken der Wagschale
zu Gunsten des einen Kämpfers die Rede sein kann, so könnte man
geneigt sein, aus dem Vorhandensein ausgedehnter Dünenstrecken und
Flufsalluvionen zu schliersen, dafs dieser Kämpfer das feste Land sei.
Die Brakwasser-Lagunen, welche sich hinter den Dünenwällen aus-
’) Siohe unser Titelbild: Der hängende Felsen von New Port.
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lor
dehnen — der Pamplico Sund, der Matanzas River, der Indian River,
der Mississippi-Sund, die Laguna della Madra etc. — kann man beim
ersten Anblick durchgängig für in fortschreitender Verlandung be-
griffene einstige Meerestheile halten.
In einem etwas veränderten Lichte erscheint der Grenzstreit
zwischen Land und Meer, wenn man Gelegenheit hat, von einem
jener furchtbaren ekstatischen Momente Zeuge zu sein, in denen das
letztere gegen das erstere mit verhundertfachter Wuth und Gewalt an-
stürmt, und unendlich gröfsero Massen als in den gewöhnlichen Zeiten
Fig. 1. Dia Külte von Long Island.
verschlingt. Genau wie in den Kriegen, welche die Völker mit ein-
ander führen, sind es ja diese ekstatischen Momente, diese Katastrophen
— die grofsen Hauptschlachten sozusagen, die die Streitenden ein-
ander liefern — die den Aussohlag geben. Auch ihre Wirkungen
summiren sich im Laufe der Zeiten, und unter dem Einflüsse der west-
indischen Orkane und Nordoststiirme wiederholen sie sich an der
amerikanischen Küste so oft, dafs wir bereits in einer sehr kurzen
Spanne der historischen Zeit — in wenigen Jahrzehnten, ja in Jahres-
frist — die Fläche des Landes sich an verschiedenen Stellen des
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Meeresrandes um ein beträchtliches vermindern sehen, ohne dafs
Hoffnung da wäre, dafs der Verlust je wieder ersetzt werden könnte.
Im Norden, wo die felsige Natur der Küste die Erosionsthätigkeit
der Meeresbrandung erschwert, und wo es auch selbst zur Zeit der
wildesten Stürme immer nur verhältnirsmäfsig kleine Bruchstücke sind,
die auf Nimmerwiedersehen in den Wogen verschwinden, sind die in
das Meer mündenden Ströme im allgemeinen nicht sehr reich an Sedi-
menten. Denn durch die Nachwirkungen der bereits erwähnten nord-
amerikanischen Eiszeit erweitern sich dieselben samt und sonders auf
ihrem Laufe vielfach zu Seen, und der Schutt, den sie aus den Bergen
fortführen, wird auf diese Weiso zum weitaus gröfsten Theile zur Aus-
füllung dieser Seen verwendet Sodann ist der vorherrschende und
im allgemeinen auch kräftigere Wind an der ganzen Nordküste der
Westwind, also der von dem Lande wehende Wind, während der Ost-
wind — der Seewind, dem die Funktion des Dünenbaues zufällt —
der seltenere und schwächere ist, abgesehen nur von den erwähn-
ten Stürmen, von denen immer nur Zerstörungen zu gewärtigen sind.
Die Dünenwälle, welche wir im Norden der New-York-Bai ge-
wahren, sind daher sowohl hinsichtlich ihrer Höhe als auch hinsichtlich
ihrer Breite und Länge unbedeutend, sie ragen nur ausnahmsweise
höher empor als fünf oder sechs Meter, sie beschränken sich auf den
schmalen Küstensaum, und von förmlichen Dünengebirgen wie auf
dem deutschen Sylt oder an der holländischen Küste, sowie von oinem
ausgedehnten „Wandern der Dünen“ ins Binnenland ist nirgends die
Rede. Auch die Vegetation auf den Dünen ist in der
fraglichen Gegend nur eine spärliche, und zur Festi-
gung der natürlichen Schutzwälle des Landes trägt sie
mit ihrem Wurzelwerke vergleichsweise nur ein Ge-
ringes bei. So kommt es, dafs die Wogen der vom
Orkane herangepeitschten Sturmfluth in den reoenten
Landbildungen auf wenig Widerstand stofsen, und
gerade diese recenten Bildungen sind es, die zu solchen
Zeiten am gründlichsten verwüstet und zerstört werden.
Einen mächtigen Verbündeton hat die sturmbewegto
See übrigens entlang der ganzen nördlichen Küste in
dem kalten und veränderlichen Winterklima, das da-
selbst herrscht, und wer die Klippen von Newport,
Nahant, Mount Desert etc. in den Monaten Januar bis
April besucht, der kann in ihren Spalten wahre Wunder
lockernder und sprengender Frostwirkung zu schauen
Fig. 2.
KüHtpnerot’iun »tu
Cip PorL
(Di® KüaUnlioie bei
Xauaet Haxbone im
Jahr« WM and 1H87.
Nach H. L. Whiting.)
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bekommen. Riesenblock auf Riesenblock bricht unter dieser Wirkung
hinab, und die Brandungswogon der Sturmfluth spielen mit ihnen und
schleudern sie gegen die stehen gebliebenen Reste der Klippe, um
endlich auch diese zum Sturze zu bringen. Die Frostwirkungen im
grofsen wie im kleinen, die in jeder zu Tag ausgehenden Spalte zu
konstatiren sind, sind neben dem Ungestüm der Stürme in erster Linie
zu bedenken, wenn man das Phänomen der fortschreitenden Meeres-
erosion an dem nördlichen Theile der atlantischen Küste Nordamerikas
begreifen will.
Im einzelnen sind die fraglichen Verhältnisse entlang dieser Küste
noch wenig in exakter Weise beobachtet worden, und betreffs des Be-
trages der Erosion ist man daher im allgemeinen nur auf ganz un-
gefähre Schätzungen angewiesen. Ueber einige wenige Punkto liegen
aber genaue Untersuchungen vor, die sich über einen längeren Zeit-
raum erstrecken, und in ihnen findet man bis zu einem gewissen
Grade das Kriterium, um jene Schätzungen auf ihren wirklichen Werth
Fig. 3.
Küstenzerstörung und Küstenwachsthum im Süden von Chappaquiddick
(Marthas Vineyard). (Nach H. L. Whiting.
zu prüfen. Sehr dankenswerth und interessant sind in dieser Beziehung
namentlich die Vermessungen und Berechnungen, welche H. L. Whiting
und H. L. Marindin im Aufträge der „U. S. Coast Survey- auf Marthas
Vineyard und Kap Cod angestellt haben.3) Der mittlere Theil der
45 m hohen Nashaquitsa-Klippenreihe auf Marthas Vineyard (vergl.
Fig. 3) wich danach in den Jahren 1846 bis 1886 um 66 m (220
amerikanische Fufs) zurück, also durchschnittlich in jedem Jahre
um 1.4 m, und auf der Halbinsel Kap Cod (vergl. Fig. 2) betrug
der absolute Verlust des Landes an die See auf der Strecke zwischen
der Pleasant-Bai und dem Nausett-Hafen in den neunzehn Jahren
von 1868 bis 1887: 2.107.831 Kubik-Yards (einer positiven Strand-
s) Vergl. die Reports der U. 8. Cosst and Geodetic Survey von 1886
(S. 263 ff.) und 1889 (S. 403 ff.).
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Verschiebung' von 48 m im ganzen, oder 2.6 m im Jahre ent-
sprechend), auf der Strecke von dem Nausett-Hafen bis zu den
Nausett- Lichtem in den einunddreifsig Jahren von 1866 bis 1887:
874.161 Kubik-Yards (entsprechend einer Strandverschiebung von
2.5 m im ganzen, oder von 0.08 m im Jahre), und auf der Strecke
von den Nausett-Lichtern bis zu dom Highland-Lichte in den neunund-
dreifsig Jahren von 1848 bis 1887: 30.231.038 Kubik-Yards (ent-
sprechend einer Strandverschiebung von 38.4 m im ganzen, oder von
0,96 m im Jahre). Das Zurückweichen der geschützt gelegenen Gay-
Ilead-Klippen im Westen von Marthas Yineyard schätzt Professor
N. Shaler auf höchstens 0.3 m im Jahresdurchschnitte,'1) die kleine
Sandinsel Skiffs Island im Südosten von der genannten gröfseren Insel
dagegen ist nach H. L. Whiting in den Jahren 1886 bis 1888 von
der See um 68 m gegen Westen verschoben und gleichzeitig auf den
dritten Theil ihrer sonstigen Gröfse reduzirt worden. 5)
An der kanadischen Küste wird die zerwaschende und reifsende
Thätigkeit der Brandung zum Theil durch eine ungeheure Höhe der
Gezeiten unterstützt — in der Fundy-Bai bisweilen 23 m — , und es
ist daher anzunehmen, dafs die Wirkungen der Meereserosion daselbst
an vielen Orten sehr bedeutende sein werden; genauere Daten darüber
sind aber nicht vorhanden.
Was den südlichen Theil der atlantischen Küste Nordamerikas
betrifft — die offene Ozeanküste zwischen New-York und der Süd-
spitze Floridas, sowie die Golfküste von dem letztgenannten Punkte
bis an die Strafse von Yukatan — so wohnt den daselbst vor-
herrschenden jungen Landbildungen natürlich an sich viel weniger
Widerstandskraft den Angriffen des Meeres gegenüber inne. Der
Sedimentreichthum der hier mündenden Flüsse ist aber durchgängig
ein sehr gewaltiger, und der gröfste derselben, der Mississippi, hat
deswegen als Erbauer neuen Landes unter den Strömen der Erde kaum
seinesgleichen. Sein Delta springt weiter als dasjenige irgend eines
anderen Stromes hinaus in das Meer, und aufser an dessen weiterem
Wachsthume arbeitet der „Vater der Gewässer“ durch seitliche Ver-
führung seiner Sedimente auch an der Verbreiterung sämtlicher
Nehrungen an der texanischen und alabamischen Küste. Sodann er-
halten die losen Sand- und Schlickmassen, welche die Ströme an der
offenen atlantischen Küste sowie an der Golfküste ablagern, auch durch
ihre Lagerungsweise und durch ihre halbflüssige Natur ein viel höheres
') Vergl. Seventh Annual Report of the U. S. Goological Survey (8. 347 ff.).
l) Vergl. Report of the U. S. Coast and Geodetic Survey 1839 (8. 459 ff.).
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Mafs von Resistenzkraft, als sie an und für sich besitzen Dadurch,
daß sich ihre Schwemmkegel zum Meeresgründe hinab ganz sanft ab-
böschen, und dafs der Schwemmkegel des einen Flusses immer mit
denjenigen seiner beiderseitigen Nachbarn auf das engste verwachsen
ist, bricht sich eben die Kraft der Wogen in der Regel bereits ferne
von dem bedrohten Strande; und gelingt es den letzteren zur Zeit
einer Sturmfluth dooh, eine tiefe Bresche in den Schwemmkegel sowie
in die Dünenküste einzureifsen, so fliefsen die breiigen Massen des
ersteren von den Seiten her infolge ihres hydrostatischen Druckes als-
bald wieder herbei, und die Bresche schliefst sich, der normale See-
wind aber thürmt von neuem Dünger auf. Dafs in den gewöhnlichen
Zeiten an allen „Inlets“, die in die Küsten-Lagunen hineinführen, die
Tendenz des Wiederzu Wachsens obwaltet, ist eine bekannte Thatsache,
und aus diesem Grunde ist beinahe kein einziger derselben dauernd
zur Durchfahrt für gröfsere Seeschiffe zu gebrauchen, wie denn der
nordamerikanische Süden im Gegensätze zu dem Norden deshalb auch
mit Seehäfen ersten Ranges sehr stiefmütterlich ausgestattet ist.
Ein weiterer Umstand, der dem Meere seine Zerstörungsarbeit
entlang der hier in Frage stehenden südlichen Küstenstrecke Nord-
amerikas wesentlich erschwert, liegt darin, dafs die Dünenbildung
daselbst in einem viel höheren Mafse erfolgt, als im Norden. Je
weiter man an der Küste südlich geht, desto mehr tritt ja der Seewind
als die vorherrschende Luftströmung auf, und besonders an der Ost-
seite von Florida sowie auch an der Ostseite von Texas und Mexiko
häuft der Passatwind Dünenwälle von bedeutender Höhe und Mächtig-
keit auf, ja er treibt den Flugsand dieser Dünen BOgar vielfach weit
hinein in das Binnenland, so dafs es kaum einem Zweifel unterliegen
kann, dafs die mexikanischen Medanos ebenso wie die mittolfloridanischen
Sandebenen und Sandhügelgegenden zu einem grofsen Theile hierdurch
entstanden sind. In Virginia stofsen wir hie und da bereits auf Dünen
von 30 m Höhe, und in Florida und Mexiko sind solche von 40 m
Höhe nicht selten.
Endlich ist unter dem Einflüsse der tropischen und halbtropischen
Regen die Strandflora an den südlichen Küsten Nordamerikas eine
außerordentlich üppige, und das tiefgehende und weitverzweigte
Wurzelwerk dieser Flora, das auf weiten Strecken ein eng ver-
flochtenes Netz bildet, hält sowohl die Flufsalluvionen als auch den
Dünensand in sehr wirksamer Weise zusammen, so dafs auch die
wildesten Wogen, welche dagegen anstürmen, immer nur vergleichs-
weise geringfügige Stücke davon loszureifsen vermögen. Wer die
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spärliohc Dünen* und Marschen Vegetation des europäischen und
amerikanischen Nordens anzuschauen gewöhnt ist, der findet sich
von den undurchdringlichen Palmetto- und Opuntiendickichten, die
auf den floridanischen Dünen wuchern, wunderbar überrascht, und
nicht minder auch von dem Wüchse der Taxodien und Mangroven in
den tiefergelegenen Küstensümpfen dieser Gegend.
Die Küstenwehr, mit welcher der nordamerikanische Süden aus-
gestattet ist, steht also bei näherer Betrachtung derjenigen des Nordens
an Stattlichkcit durchaus nicht sehr nach, und was die Aggression in
dem Kampfe zwischen Land und Meer angeht, so erscheint der Süden
dem Norden sogar weit überlegen. Die Musohelbänke, welche sich der
Küste entlang ziehen, dienen dabei als eine Art wichtiger Vorwerke.
Die Höhe der Gezeiten ist an der offenen atlantischen Küste im
Süden nicht beträchtlicher als im Norden, und an der Küste des
mexikanischen Golfes ist sie sehr viel geringer.
Betrachtet man die Wirkungen der Meereserosion an der süd-
lichen Küste im einzelnen, so ergiebt sich nichtsdestoweniger auch
für sie eine schlimme Verlustliste auf Seiten des Landes. Auf weiten
Strecken scheint die eifrige Hauthätigkeit der Ströme thatsächlich nur
dazu zu dienen, dem Meere immer neue Beute zum Versohlingen zu
liefern.
Als wahrhaft erschreckend erweist sich die fortschreitende Zer-
störung des Landes durch die See namentlich an der Küste von New
Jersey, wo in den vielbesuchten Sommerfrischen Long Brauch, Asbury
Park, Barneyat City, Atlantic City etc. beinahe kein Jahr vergeht, in
dem nicht eine ganze Anzahl von Cottages samt dem Baugrunde, auf
dem sie stehen, von den Wogen verschlungen würde, und wo die
Vergleiche älterer und neuerer Küstenaufnahmen für Long Beach ein
Zurückweichen des Landes um 5 m im Jahre, und für Kap May um
3 m ergeben. In der Gogend von Little Egg Harbour war allerdings
auch an der Küste von New Jersey ein Wachsthum des Landes in die
See zu verzeichnen, aber der betreffende Gewinn erscheint gegenüber
den weiten Strecken, die im Verlaufe weniger Jahrzehnte verloren ge-
gangen sind, als ein äufserst geringfügiger.
Aehnlich verheerend wie an der Küste von New Jersey treten
die Brandungswogen der See auch an der Küste von Westflorida,
Alabama, Mississippi, Louisiana und Texas auf, und auch hier dürfte
die phänomenale Sedimentation des Mississippi möglicherweise nicht
hinreichen, um die Verluste dos Landes quitt zu machen. Am 10. August
1856 wurde hier die Insel Last Island vor der Mississippi-Mündung
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samt der darauf befindlichen Sommerfrische und der Mehrzahl ihrer
Bewohner und Besucher in einem einzigen Anstürme von der See Ver-
sohlungen, die Insol Grand Terre und das auf ihr erbaute Fort unter-
liegt einer deutlich sichtbaren und rasch fortschreitenden Unterwasohung,
der Stadt Pasoagoula will es trotz umfassender Faschinenanlagen nicht
gelingen, ein gleiches Schicksal von sich abzuwehren, Galveston, India-
nola und zahlreiche andere Küstenplätze sehen sich fast bei jedem
„Hurricane“ auf das härteste von der Sturmlluth bedroht, Leuchtthurm-
reste und andere Bauten, die einst auf dem festen Lande errichtet
wurden, ragen heute mitten aus dem Wasser heraus, und an hundert
anderen Punkten, die praktisch weniger bedeutsam sind und daher
nicht so aufmerksam beobachtet werden, deuten untergegangene Wiesen
und Wälder die in jüngster Zeit vor sich gegangenen Zerstörungen an.
Dafs der gröfste Theil des von dem Mississippi unmittelbar vor seinen
Mündungen aufgeschütteten Schlamm- und Sandbodens ohne weiteres
von dem Meere verschlungen und in die Tiefe hinabgerissen wird, läfst
sich übrigens auch aus der schmächtigen Gestalt seines Deltas schliefsen,
sowie aus der Thatsaclie, dafs dasselbe an seiner Aufsenseite allent-
halben in Fetzen zerrissen erscheint. Und was die mehr oder minder
rechtwinkelig zu dem allgemeinen Küstenverläufe ins Land eingreifenden
Buchten betrifft — die Bucht von Galveston, von Sabine, von Mobile,
von Pensacola, von St. Marks, von Tampa, von Charlotte etc. — , so
nehmen an der Zusammensetzung der Ufer derselben keineswegs allein
recente geologische Bildungen theil, sondern an zahlreichen Punkten
stehen ältere, der Tertiärzeit angehörige Bildungen zu Tage, auf denen
jene jüngeren aufgelagert sind, und das Nagen und Wühlen der Meeres-
brandung betrifft daselbst nicht blos die alluvialen Marschen und Dünen,
sondern auch den anstehenden älteren Fels, um so mehr als derselbe
in dem halbtropischen Klima allenthalben stark verwittert ist. Die
Annahme, dafs es sich bei diesen Buchten um in Verlandung begriffene
Meerestheile handle, erweist sich also bei näherem Hinschauen als eine
durchaus irrige, und wenn irgendwo entlang der südlichen Küste, so
erscheint gerade in ihnen das nasse Element als der siegreich Vor-
dringende von den beiden Kämpfern.
Betreffs der Küstenstrecke zwischen dem Kap May und der
Mündung des St. Johns River liegen wenig exakte Beobachtungen
über die Wirkungen der Meereserosion vor, jedoch weist schon Lyell
darauf hin, dafs die Cockspur-Insel, vor der Savannah-Mündung, sowie
auch andere Theile der Küste in der Nachbarschaft, einer fortschreitenden
Zerstörung durch die See unterliegen. Im Jahre 1846 wurde hier der
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Hatteras-Inlet von der Sturraflutli in die Nehrung vor dem Pamplioo*
Sunde hineingerissen, und derselbe hat sich seither nicht wieder ge-
schlossen; vor dem Altamaha-Flusse in Georgia sowie auch vor dem
Little-River und bei der Wadmalaw-Insel in Südkarolina bemerkt man
deutliche Spuren von untergegangenen Kiefern-, Eichen- und Cypressen-
wäldern; die Pflanzer dieser Gegend klagen über immer schlimmer
werdende Salzwasser-Ueberfluthungen der auf den sogenannten Sea-
lslands gelegenen Reisfelder, und die ganze Küste der Long Bay,
zwischen Kap Fear und Kap Roman, ist im beständigen Zurückweichen
begriffen. Und was die weiten Buchten der Delaware- und Chesapeake-
Bay sowie auch den Albemarle-Sund und die inneren Theile des
Pamplico- Sundes betrifft, so gilt von ihnen dasselbe wie von den
Buchten an der nördlichen und östlichen Golfküste: der geologische
Bau ihrer Umrandung zwingt zu dem Schlüsse, dafs sie Thäler des
Festlandes sind, in welche die See erst vor verhiiltnifsmäfsig kurzer
Zeit eingedrungen ist — „ertrunkene Flüsse“, wie man nioht un-
bezeichnend gesagt hat, nicht aber durch junge Landbildungen ab-
gedämmte einstige Meerestheile.®)
Angesichts der Thatsachc, dafs auch in den innersten Winkeln
des Pamplico-Sundes die Unterwaschung der tniocänen und pliocänen
Mergelschichten durch die Gezeiten in sehr lebhafter Weise vor sich
geht,1) erscheint sogar die Frage gerechtfertigt, ob nicht die aus-
gedehnten Alluvionen der karolinischen und georgianischen Sea-Islands
und „Swamps“ im Grunde genommen ganz ephemere Bildungen seien
und ob dieselben nicht im Laufe der Zeiten mit der älteren Grundlage,
auf der sie ruhen, hinabsinken müssen in die Tiefe. Zu behaupten,
dafs der Gewinn des Landes an der betreffenden Küstenstrecke ein
unbestreitbarer und endgültiger sei, wäre wohl in jedem Falle voreilig.
*) Vergl. \V. J. Mc. Qee, Encroachments of the Sea („Forum“ 1890,
S. 442).
’) Vergl. W. C. Kerrs Report of the Geological Survey of North Carolina,
Vol. I, S. 200.
(Schiufa folgt.)
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(fef
Ueber die gebirgsbildenden Kräfte.1)
Von Dr. P. Schwalm.
- j/;wei Kräfte sind es vor allem, welche die stetigen Veränderungen
cvrjj^ der leblosen Welt bedingen, aus deren Wechselwirkung die
Gestaltung der Erdoberfläche hervorgegangen ist: das Feuer
und das Wasser.
Alle Kosmogonien sind von diesen Grundelementen ausgegangen,
aber nicht immer hat man ihre Bethätigung an dem Aufbau alles
Irdischen in gleichem Mafse gewürdigt
Die griechischen Philosophen sahen ausschliefslich in dem einen
oder andern Elemente den Urquell alles Werdens und Entstehens, und
ihre Lehren fanden einen mächtigen Wiederhall in dem grofsen wissen-
schaftlichen Streite, der zwischen den Anhängern der vulkanistischen
und neptunistischon Weltanschauung nooh im vorigen Jahrhundert
entbrannte.
Heute freilich hat die Wissenschaft diesen einseitigen Standpunkt
längst aufgegeben und schreibt jedem dieser beiden mächtigen Agentien
ein gleiches Verdienst an der Schöpfung alles Irdischen zu.
Wohl nirgends tritt uns die beständige Wechselwirkung zwischen
der schaffenden Macht des Feuers und der nicht minder rastlos thätigen,
vernichtenden Macht des rinnenden Tropfens deutlicher vor Augen, als
bei Betrachtung jener gewaltigen Gebirgsmassen, welche die Oberfläche
unseres Weltkörpers schmücken.
Einst, vor Aeonen von Jahren aus dem Schoofse der Erde ent-
sprungen, waren die Gebirge unförmliche Modellblöcke, gigantische
Schöpfungen einer erregten Unterwelt, die nichts mit der Schönheit
ihrer heutigen Gestaltung gemein hatten. Erst der rinnende Tropfen
hat sich betheiligen müssen, um die lieblichen Thäler, die schroffen
Felsschluchten und schlanken Berggipfel zu schaffen, ähnlich wie unter
dem Hammer und Meifsel des Künstlers aus dem Modellblock erst ein
Bildwerk mit anmuthigon Formen hervorgeht.
’) Aus einem im Wissenschaftlichen Theater der Urania gehaltenen Vortrag.
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Wo aber zwei gleich mächtige Naturkräfte sich entgegenarbeiten,
ihre Schöpfungen vernichten und wieder ergänzen, da war auch dom
ergründenden menschlichen Geiste kein unmittelbarer Mafsstab ge-
boten, um die Wirkungssphäre der einen oder andern Kraft abschätzen
zu können; und so erscheint es kaum ■Wunderbar, dafs man in den ersten
Zeiten der Erstehung einer wissenschaftlichen Geologie, in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts, sich von der Allmacht des Wassers
oder des Feuers bei Betrachtungen über die Aufrichtung der Gebirge
nicht losmachen konnte.
Der grofse Meister, dem die wissenschaftliche Geologie ihr Be-
stehen verdankt. Gottlob Abraham Werner, vertrat noch den Stand-
punkt, die Gebirge seien lediglich das Erzeugnis des fliefsenden
Wassers. Er mufste in strenger Konsequenz seiner neptunistischen
Lehre annehmen, dafs das Wasser in den verschiedenen Abschnitten der
Erdgeschichte in unerklärlicher Weise über die Festländer angestiegen
sei, sich darüber hinweggewälzt habe und endlich wieder gesunken sei,
und dafs alle Gebirge ihre Entstehung und Form lediglich der aus-
nagenden, ausspülenden Wirkung des Wassers verdanken, wie dies ja
auch bei den Erosionsgebirgen, z. B. der sächsischen Schweiz, dem
Heimathlande Werners, der Fall gewesen ist.
Im Gegensätze zu diesem schroffen Neptunismus Werners hatte
sich dann später eine andere, fast ebenso extreme Auffassung unter
den Erdkundigen verbreitet, welche der Eigenwärme unseres Welt-
körpers und den geschmolzenen Massen der Tiefe einen überaus weit-
gehenden Einflufs auf alle irdischen Vorgänge zuschrieb.
Die „Plutonisten“, die Anhänger dieser Richtung, sahen in dem
Empordrängen feuerflüssiger Gesteine die Ursache der Gebirgsbildung,
und es entwickelte sich, getragen von der Autorität der ersten
wissenschaftlichen Namen, die Ansicht, dafs die Gebirge durch das
Empordrängen von starren, halbstarren oder geschmolzenen Eruptiv-
massen aus den Tiefen der Erde oder selbst durch den Druck auf-
steigender Dämpfe gegen die Erdrinde gebildet worden seien.
Es war dies die Zeit, wo die Erhebungstheorie der vidkanischen
Krater, wie sie von Hutton, Leopold von Buoh, Alexander von
Humboldt und Elie de Beaumont ausgebildet wurde, im höchsten An-
sehen stand. Aehnlich wie die Kraterwälle der Vulkane infolge einer
blasen- oder kuppelförmigen Auftreibung des Erdreichs durch den Druck
empordrängeuder Gluthmassen entstanden sein sollten, so dachte man
auch, sei die Aufrichtung der Gebirgsketten durch eine von unten nach
oben vordringende Masse erfolgt. Die Kettengebirge wurden als lineare
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Erhebungen mit den Vulkanen als punktförmige Erhebungen ver-
glichen. Dem vulkanischen Schlote entsprach hiernach beim Ketten-
gebirge eine lange Spalte, die mit Graniten, Gneifsen und ähnlichen
Eruptivgesteinen ausgefüllt sein sollte, und wo derartige Eruptivmassen
nicht auffindbar waren, wio z. B. im Juragebirge, da glaubte man, dafs
sie nioht zum Durchbruch an die Oberfläche gelangt seien, siohor aber
in einiger Tiefe vorhanden wären.
Diese extreme Anwendung einer für bestimmte Fälle wohl zu-
treffenden Lehre trug selbst dazu bei, die Schatten des Zweifels über
die ganze Theorie zu werfen und die Forschung auf andere Bahnen
zu drängen. Die eingehende Untersuchung ergab wichtige Beweise
gegen die vulkanische Erhebungslehre. Der Nachweis wurde geliefert
und tausendmal bestätigt gefunden, dafs die Vulkane Aufschüttungs-
kegel seien, dafs die Eruptivmassen wohl durch Spalten empordringen,
nicht aber die Schichten der Erdrinde aufrichten können, und dars die
Hebung des Untergrundes eine Erscheinung ist, die niemals ein Gebirge
nach Art der Kettengebirge zu bilden vermag. Denn wären in der
That die Oberflächenformen unseres Weltkörpers durch eine von unten
nach oben vordringende Masse, also durch vertikale Druckkräfte er-
zeugt, so müfsten ja in dieser Weise stets symmetrisch gebaute Gebirge
entstehen, das heifst Gebirge, welcho von ihrer Mittellinie aus nach
beiden Seiten hin annähernd gleiche Schichtenfolge zeigen.
Von einer solchen Regolmäfsigkeit im Aufbau zeigen aber die
meisten großen Kettengebirge, wie die Alpen, die Apenninen, das
Juragebirge, die Alleghanies in Amerika keine Spur; sie weisen viel-
mehr deutlich darauf hin, dafs andere als vertikal wirkende Kräfte
sich an ihrer Aufrichtung bethätigt haben müssen.
Dies möge genügen, um die Gründe verständlich zu machen,
welche zur Aufgabe der alten plutonistischen Erhebungstheorie und der
Durchbruchshypothese Anlafs gaben.
Als einen grofsen Fortschritt der neueren Wissenschaft gegen-
über allen älteren Spekulationen mufs man zunächst die Sonderung
der Formgebilde unserer Erdoberfläche betrachten. Denn wenn man
auch im gewöhnlichen Sprachgebrauchs unter einem Gebirge schlecht-
weg eine Gruppe mehr oder weniger schroffer Bodenerhebungen ver-
steht, so schliefst doch eine solche Erklärung vom wissenschaftlichen
Standpunkte aus sehr verschiedene Dinge in sich, die ihrer Entstehung
nach nur sehr ■wenig oder garnichts mit einander zu thun haben.
Nach ihrer Enstehung nämlich mufs der Geologe vier wesentlich ver-
schiedene Gruppen von Erhebungsformen getrennt halten. Es sind dies :
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1. die Faltungsgebirge und Massengebirge,
2. die Schollengebirge,
3. die Vulkane und Kuppengebirge,
wozu endlioh noch
4. die Plateaugebirge
kommen.2)
Die Falten- oder Kettengebirge sind unstreitig die merkwürdigsten
und vornehmsten Oberüächenformen unseres Weltkörpers und für die
Erkenntnifs des Gebirgsbaus im allgemeinen auch die wichtigsten.
Besonders durch Beobachtungen in dem grofsen Faltensystem der Alpen
und der Ketten Nordamerikas entwickelte sich eine moderne Theorie
ihres Aufbaus, deren mechanische Grundlagen hier kurz vorgeführt
werden sollen.
Es ist hierzu nöthig, dafs zunächst eine Darstellung des inneren
Gebirgsbaues gegeben wird. Der Gebirgsbau ergiebt sich aus der sorg-
fältigen Beobachtung geologischer Aufschlüsse. Solche geologischen
Aufschlüsse gewährt jede Stelle, an der man das an der Zusammen-
setzung einer Gegend theilnehmende Gestein beobachten kann. Die
Oberfläche des Bodens, wo sie nicht aus dicker Ackerkrume besteht,
ein Graben, ein Steinbruch, die Seiten eines Flußbettes, die Runsen
und Tobel in Gebirgen, jeder anstehende Fels, und jedes an die Ober-
fläche kommende Schichtengestein, geben mehr oder weniger voll-
kommene Aufschlüsse, die uns über die innere Anordnung der Gesteins-
schichten, überVerlauf und Beschaffenheit derselben unterrichten können.
Die Mehrzahl der Gesteine, welche ein Gebirge zusammonsetzen,
z. B. die Schieferthone, Sandsteine und Kalksteine gehören bekanntlich
zu den Sedimentgesteinen, deren Wesen hauptsächlich darin besteht,
dafs sie in Schichten abgelagert worden sind. Gebildet haben sich diese
Sedimentärschichten aus den Niederschlägen der Urmeere, indem sie
auf dem Grunde derselben allmählich zu festen Gesteinsbänken er-
härteten.
Wenn man sich nun in einen Steinbruoh begiebt, um die Lagerungs-
verhältnisse der Schichten zu studiren, z. B. naoh den Rüdersdorfer
Kalksteingruben, so findet man, dafs die Schichten stellenweise wage-
recht liegen, stellenweise dagegen nach der Seite hin geschoben, aufge-
thürmt, zerknickt und zerquetscht worden sind. Ja in manchen Gegenden
*) Ein Schollengebirgo ist z. B. die Gneisplatte des Erzgebirges; ein
Kuppengebirge das Leitmeritzer Mittelgebirge in Böhmen, die Vulkano der
Auvergne uud der Eifel; ein Plateaugebirge das Quadersandstein-Gebirge
Böhmens und Sachsens, die schwäbisohe Alp u- s. w.
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findet man wohl Schichten, welche sich so aufgerichtet haben, dafs sie
auf dem Kopfo stehen, wie eino Reihe Bücher auf einem Brette.
Da sie nun aus Sedimenten bestehen, die sich nur in einer flachen
oder ganz sanft abfallenden Gegend ansammeln konnten, so erkennt man
sofort, dafs diese Schichten sich nicht ursprünglich in einer solch ver-
schobenen Lage befunden haben, sondern erst durch Kräfte, die
sioh in der Erdrinde bethätigten, in ihre jetzige Stellung gebracht
worden sind.
Aehnliche Schichtenstörungen, nur in weit großartigerem Mars-
stabe hervortretend, findet man in allen Gebirgen. Hier sind es die
Faltungen, Knickungen und Verwerfungen, welche den inneren Bau
derselben beherrschen.
Fig. 1. Einfache« Experiment nr Erklärung doi Faltenwürfe«.
Wie können nun aber die Kräfte beschaffen gewesen sein, welche
so riesige Gesteinsschichten in Falten warfen?
Um dies zu zeigen, stelle man sich für einen Augenblick
vor, die Erdrinde bestehe aus regelmäßigen Gesteinslagen, etwa wie
die Häute einer Zwiebel, wie dies ja auch bei der ursprünglichen Ab-
lagerung der Schichten der Fall gewesen sein muß.
Es werdo nun, wie die Fig. 1 es zeigt, eino Anzahl verschieden
gefärbter Tuchstoffe in viereckigen Stücken auf einon Tisch gelegt;
sie sollen die verschiedenen Schichten der Erdrindo darstellen und
ebenso wagerecht wie diese übereinander liegen. Wenn man nun
die Tuchstreifen mit Hülfe zweier Bretter oder Bücher von beiden
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Seiten zusammenpreßt, wie dies in der Figur dargestellt ist, so beob-
achtet man sofort, dafs die Streifen in regelmäßige Falten geworfen
werden. Während der Bewegrungen, durch welche die Schichten ge-
hoben worden sind, sind in den Tüchern ähnliche Faltungen ent-
standen, wie man sie in einem Steinbruch oder in einer Bergschlucht
wahrnimmt, dort wo das Wasser das Innere des Berges für das Auge
blosgelegt hat. In dieser Weise hat man die Entstehung des Falten-
wurfs durch ein einfaches Experiment klar zu legen versucht3)
Dergleichen Experimente sind natürlich auch in mehr vollkommener
Weise in den Versucbsräumen der Geologen angestellt worden. Das
Bild (Fig. 2) soll die Resultate eines hierauf bezüglichen Versuches
veranschaulichen, welcher von dem kürzlich verstorbenen Genfer
Geologen Alphonse Favre gemacht worden ist.
Favre bediente sich einer um ein Drittel ihrer Länge aus-
gezogenen Kautschukplatte (Fig. 2), auf welcher mehrere, durch versohie-
Fig. 2. ExperioenUlvennch Ton A. Favre.
dene Färbung unterscheidbare Schichten plastischen Thones ausgebreitet
waren. Nun liefs er die ausgezogene Platte sich wiederum auf ihre
ursprüngliche Form zusammenziehen. Die auflagernden Thonschichten
wurden dadurch natürlich von zwei horizontal wirkenden Druckkräften
zusammengedrängt, und eine Folge hiervon war die Aufthürmung eines
kleinen Gebirgszuges, in dessen Profilo sich ähnliche Faltungen und
Zerberstungen erkennen liefsen, wie in den mächtigen Schichtenlagen
der großen Kettengebirge unseres Erdballs.
In noch größerer Mannigfaltigkeit sind derartige Versuche von
Daubrtse, dem durch seine Experimente rühmlichst bekannten fran-
zösischen Geologen, ausgeführt worden. Daubröe bediente sich
unter anderem eines aufgeblähten Kautschukballons, der mit einer wenig
J) Den ersten Experimentalversuch Uber das wellenförmige Gebogensein
der Gebirgsschicbten machte der Engländer James Hall (vergl. Poggendorfs
Annalen, Bd. 37, 8. 273).
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elastischen Hülle erhärteter Gelatine umgeben war. Die durch die Zu-
sammenziehung des Ballons in der schrumpfenden Gelatine hervor-
gebrachten Erscheinungsformen trugen durchaus analogen Charakter
mit den in Gebirgen beobachteten Faltungen; ja noch mehr, man konnte
hinsichtlich der Vertheilung und Lage der Gebirgszüge auf einem soloh
kleinen, künstlichen Erdball einzelne interessante Gesetzmäfsigk eiten
aufdecken, die sich auf dem Erdglobus im grofsen wiederfinden.
Was durch Vorführung dieser Experimente klargelegt wurde,
das betrifft namentlich die Wirkungsweise der Kräfte, durch welche
man sich die Oberflächenformen der Erde entstanden denken mufs.
Die ältere Anschauung, der zufolge ein von unten nach oben
gerichteter Druck die Gebirge aufgethürmt haben soll, liefs eine Er-
klärung des Faltungsprozesses nicht zu; dagegen gelangt man zu einem
genügenden Verständnifs dieser Erscheinungen, wenn man in der Erd-
rinde horizontal wirkende Druckkräfte, sogenannte Schubkräfte, als
wirksam annimmt, die ein seitliches Zusammenpressen der Erdrinden-
theile, wie bei einer zwischen den Backen eines Schraubstockes ein-
gezwängten Masse, herbeiführen.
Mit der Konntnifs der Richtung dieser Kräfte wäre nun schon
etwas gewonnen; allein ist es nun auch möglich, über den Ursprung
derselben etwas Bestimmtes auszusagen?
Diese Frage soll uns sofort beschäftigen, doch sei vorher ein an-
derer Punkt berührt.
Ein Unterschied zwischen den gebogenen Tuchschichten, den
Thon- oder Gelatineschichten und den in der Natur auftretenden Gesteins-
schichten wird jedem sofort auffallcn. Die einen sind weich und bieg-
sam, während die andern hart und spröde sind. Man kennt ja kaum
eine sprödere Substanz als das harte Gestein. Nach unserer Vor-
stellung müfste dasselbe wohl in Millionen Scherben und Splitter
zermalmt worden sein, ehe es auch nur die geringste Biegung er-
litten hätte.
Man könnte wohl vermuthcn, dafs die Biegungen zu einer Zeit
vor sich gegangen seien, wo das Gestein noch unter der Macht des
Feuers gestanden hatte, wo es noch nicht ganz so fest und orhärtet
wie jetzt gewesen ist. Allein, wie wäre es unter solchen Umständen
denkbar, dafs sich im Thonschiefer gefältelte und gestreckte Versteine-
rungen zeigen? Wie könnten sich solche Versteinerungen in der
Gluthhitze erhalten haben? Diese Schwierigkeiten führten zu der erst
neuerdings, namentlich von dem Schweizer Geologen Prof. Albert
Heim ausgesprochenen Meinung, dafs die bei gewöhnlichen Verhält-
Bimrael und Erde. 1862. V. S. 9
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niasen an der Erdoberfläche starren Gesteine unter dem Druck eines
etwa 3000 m auflastenden Schichtenmaterials in einen plastischen Zu-
stand übergehen, und dann ohne Bruch gebogen werden könnten.4)
Zweifellos hat dieser Gedanke vieles für sich, was ihn richtig
und annehmbar erscheinen läfst. So fand man Stüoke von Thon-
schiefer und Jurakalk vor (Fig. 3), welohe einen zerrissenen, fast auf
das dreifache seiner ursprünglichen Länge auseinandergezerrten, ver-
steinerten Belemniten einschliefsen.
Ein sonst ganz gleichartig erscheinendes Gestein verräth also
durch diesen organischen Einsohlufs eine ganz bedeutende Streckung,
was doch wohl nur durch einen gewissen Grad von Plastizität selbst
der sprödesten Gesteinsmassen Erklärung finden dürfte.
Ueberhaupt ist man bezüglich der Plastizität und Nachgiebigkeit
selbst der festesten Materialien zu ganz erstaunlichen Ergebnissen
Fig. 11. Gestreckter Belemnit im Jurakalk.
gelangt, seit die Herstellung aufserordentlich grofser Druckkräfte dank
der vorgeschrittenen Teohnik keine Schwierigkeiten mehr macht
Es sei nur erwähnt, dafs französische und deutsche Physiker gezeigt
haben, wie unter Aufwendung von besonders starken Druokkräften
alle Metalle plastisch werden und in den Zustand des Fliefsens gc-
rathen; bei Gesteinen freilich konnte man dies noch nicht so unmittel-
bar nachweisen.5) Jedenfalls ist es aber nioht ausgeschlossen, dafs eine
*) A. Heim „Untersuchungen über den Mechanismus der Gebirgsbildung“ .
Basel 1878. Und von demselben Verfasser: „Ueber Stauung und Faltung der
Erdrinde“. Basel 1878.
fi) Die Untersuchungen von Treska und Kohlrausch über das Fliehen
der Metalle unter starkem Druck sind in allorjüngster Zeit auch von Kick
auf spröde Mineralien, wie Gips, Steinsalz, Kalk u. s. w. ausgedehnt worden.
Bei gehörig gesteigertem Druck konnten auch diese Substanzen zum Fliehen
gebracht werden, zeigten sich also vollkommen plastisch im Sinne Heims.
Das Mannesmaunsche Walz verfahren zeigt übrigens, wie es möglich ist,
Metalle allein durch Druck ohne Schmelzung bruchlos in beliebige Formen
zu bringen.
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Art Metamorphismus, eine chemisebe Umwandlung der Gesteine unter
starkem Druck eintreten kann, die alle diese merkwürdigen Er-
scheinungen erklärt.
Vielleicht spielt sich in den Tiefen des Erdbodens ein ähnlicher
Vorgang ab, wie in den Eismassen der Gletscher, die bekanntlich in
unzählig viele Theilchen durch den enormen Druck der nachdrängenden
Massen zersplittert werden, in diesem zersplitterten Zustande sich jeder
Formwandlung unterziehen können, biB sie endlich wieder durch eine
Molekulareigenschaft des Eises zur „Regelation“, d. h. zur Wiederver-
einigung zu einem kompakten Ganzen, gelangen.6)
Manches deutet auf eine solche Eigenthümlichkeit der festen
Gesteinsmassen hin.
So hat unter andern Prof. v. Gürabel Proben dor stärkst ge-
bogenen Stellen aus scheinbar ganz bruchlos gefalteten Gesteinen
unter dem Mikroskop untersucht und gefunden, dafs dieso Stücke,
welche dem freien Auge ganz unzerbrochen erscheinen, bei starker
Vergrößerung sich als zu feinem Staub zermalmt und dann wiederum
durch sekundäre Prozesse — etwa durch sinternde Wasser — ver-
kittet und ausgeheilt erweisen.
Die endgültige Entscheidung der Frage nach dem physischen
Zustande der Gesteine in grofsen Tiefen — mag diese nun auch der
Zukunft Vorbehalten bleiben — kann übrigens an der Erkenntnifs,
dafs die mächtigsten Gebirgszüge der Erde durch Faltenstauung ent-
standen seien, nicht viel ändern.
Wie immer sich noch diese auffällige Erscheinung erklären mag,
so viel ist jedenfalls durch unwiderlegliche Beobachtungen festgestellt,
dafs das sprödeste Gestein (Fig. 4) — wie Thonschiefer und Feuerstein
— der weitgehendsten Faltung unterworfen gewesen ist.
So sieht man also, dafs bei der Aufrichtung der Gebirgsketten
nur eine Zusammenschiebung der oberen Erdrindentheile im horizontalen
Sinne denkbar ist, die infolge seitlichen Drucks die Schichtmassen in
Falten zu legen vermochte. Es fragte sich nun, wo man die Quelle
solcher enormen Druckkräfte zu suchen hat?
Vor der Behandlung diesos Gegenstandes sei es gestattet, daran zu
erinnern, dafs die Erscheinungen der Gebirgsbildung, so großartig sie
•) Siehe den Aufsatz v. Dr. Stapff: „Gebogener Marmorpfoaten der Al-
hambra zu Granada“. Himmel und Erdo, Jabrg. III, S. 328. Ueber die Ver-
festigungsfähigkeit loser Körper durch Druck bat neuerdings Spring Ver-
suche angestellt. Pulver verschiedener Materialien, z. B. Wismutpulver, konnte
allein durch Druck in einen homogenen Wismutblock von reinstem Metall-
glanz umgeformt werden, ein gewifs sehr merkwürdiges Ergebnifs.
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sich auch dem Marsstabe unserer Sinne darstellen, doch in Wahrheit
iiufserst geringfügig sind im Vergleich zur Gesamtmasse der Erde.
Da der Erddurchmesser ungefähr 12 700 km beträgt, so erreicht der
höchste Berg unseres Globus, der 8840 m hohe Gaurisankar nur den
1440-sten Theil desselben, der Mont-Blano nur den 2630-sten Theil. Es
sind dies also Auftreibungen der Erdoberfläche, die noch lange nicht
so bedeutend sind, wie die Runzeln auf der Schale einer Orange.
Ferner mufs man beachten, dafs die Gebirgsfaltung ein Vorgang ist,
der nur die oberflächlichen Partien der Erdrinde betrifft.
Um nun diesen Faltungsprozefs verständlich zu machen, ist man
von der Vorstellung ausgegangen, dafs der Erdkern sich zusammen-
Fig. -1. Fältelung in einem Handstück von Dolomit
ziehe, die äufseren Rindentheile unseres Weltkörpers dagegen annähernd
ihre alte Ausdehnung behalten und sich nur infolgo ihrer Schwere dem
verminderten Volumen ihrer Unterlage anpassen müssen. 13s ist ja be-
kannt, dafs in jedem Querschnitte eines Gewölbes ein horizontaler Schub
vorhanden ist, und dafs ein mächtiger Seitendruck auf den Pfeilern
lastet, obwohl nur die senkrecht wirkende Last der Gewölbesteine
zu tragen ist. Aehnlich, nimmt man an, liege es auch bei der
Erde. Ihre Rindo mufs sich einst wie ein geschlossenes Gewölbe ver-
halten haben, und da das nach dem Mittelpunkt hin wirkende Gewicht
dieses Gewölbes in einen seitlichen Horizontaldruck umgesetzt wurde,
so mufste hierdurch an den schwächsten Rindenstcllen oin Auswärts-
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weichen in Form einer Falte eintroten, das heilst, es mufste ein
Gebirgszug geschaffen werden.
Man braucht also, um die Faltungsvorgänge zu erklären, keine
andere Kraft als die Schwere, wenn sich nur ein Grund dafür geltend
maohen läfst, dafe den oberflächlichen Partien der Erde die Unterlage
entzogen wird, kurz, dafs der Erdkern im Schwinden begriffen ist.
Als physikalische Ursache dieses Schwindens wird nun die all-
mähliche Zusammenziehung des Erdkerns infolge der Abkühlung
unseres Weltkörpers herangezogen. Unser Weltkörper stellt bekanntlich
ein grofsartiges Wärmereservoir dar, und die in seinem Innern aufge-
speicherte Wärmemenge ist wahrscheinlich eine Folge der ungeheuren
Verdichtung, welcher im Urzustände einstmals die kosmischen Nebel-
wolken unterlagen, als sie sich zu Himmelskörpern zusammenballten.
Von diesem eigenthümlichen Wärmesohatz des Erdinnem legt ja auch
die allerorten gemachte Erfahrung der stetigen Temperatursteigerung
nach der Tiefe Zeugnifs ab.
Nun ist aber unser Erdball von dem kalten Weltenraume um-
geben. Es mufs daher auch ein unablässiger Verlust von Eigenwärme
durch Ausstrahlung stattfinden. Jeder Vulkanausbruch, jede heifse
Quelle raubt einen Theil dieser Wärme, der wiederum aus den tieferen,
gliihendheifsen Lagen hergegeben werden mufs.
Unter diesen Umständen kann wohl kein Zweifel obwalten, dafs
in der Tiefe durch Verlust von Eigenwärme eine Zusammenziehung,
ein Schwinden des Erdkerns stattfindet — wie dies ja bei einem jeden
sich abkühlenden Körper der Fall ist — , während in den oberen
Regionen die Temperatur und somit auch das Volumen sich gleich bleibt.
Diese Ansicht, dafs namentlich die Zusammenziehung unseres
Weltkörpers infolge von Säkularabkühlung die Ursache der gebirgs-
bildenden Kräfte darstelle, ist in .neuerer Zeit von hervorragenden
Geologen, wie Dana, Heim, v. Mojsisovics Suefs und anderen
vertreten worden, sie hat auch erst kürzlich eine ausgezeichnete Stütze
erhalten durch die mathematische Analyse der Wärmevertheilung im
Erdball, die wir den englischen Geophysikern Thomson, Darwin
und Davison verdanken.')
’) Vorgl den Aufsatz: .Zur Thoorie der Gebirgskcltenbildung infolge
der Säcular-Abkühlung der Erde'', Himmel und Erde, Jahrg. I, S. 370. Man
möchte wohl glauben, dafs die äufscrslen Schichten des Erdballs sich stärker
abk&hlen miifstcn als der innere Kern. Allein dies ist nicht der Fall; auf
Qrund der Thomsonsehen Formel (ur die Säkularabkühlung der Erde kann
man nämlich streng beweisen, dafs die Schicht der gröfsten Abkühlung nicht
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Bis jetzt wurde nur von den Faltungen gesprochen und deren
Ursachen darzulegen versucht An den Punkten, wo die Erdrinde nur
Falten schlug, müssen die unterirdischen Kräfte verhältnifsmäfsig
ruhig gewirkt haben. Aber es giebt auch Stellen — es sind dies
vielleicht die schwächsten der Erdrinde — , wo sich die gebirgsbildenden
Krallte in großartigem Mafsstabe ausgetobt haben und neben der
Faltung noch eine andere Gruppe geologischer Erscheinungen, nämlich
die „Verwerfungen“ schufen. Man versteht hierunter einen gewaltigen
Bruch dor Erdrinde, zu dessen beiden Seiten sich die Rindentheile ver-
schoben haben, wo also die Schiohtenfolge nicht stetig, sondern ganz
plötzlich unterbrochen wird.
Man geht im Gebirge über eine solche Spalte oft unbewußt hin-
weg, weil sie, mit Humus oder mit Schutttrümmern bedeckt, sich der
Wahrnehmung entzieht Doch mag es wunderbar erscheinen, daß sich
unter dem Boden Deutschlands Brüohe vorfinden, wo die Verrückung
der beiderseitigen Erdschollen oft mehrere Kilometer erreicht Mit
Recht kann der Geologe daher behaupten, daß sich unsere Erde in
einem wahren Zustande der Zerstückelung befinde, und eine gewisse
Furcht muß uns befallen, daß wir auf einem Boden wandeln, der
allerorten das Zeugnifs seiner Sohwäche kundgiebt
Auch diese Verwerfungen sind ein sehr wesentliches Moment bei der
Aufrichtung von Gebirgen gewesen. Ihnen verdanken die sogenannten
Schollengebirge ihre Existenz, wie z. B. hier in Deutschland der Schwarz-
wald und die Vogesen. Der Schwarzwald und die Vogesen sind lediglich
stehen gebliebene Pfeiler, sogenannte Horste, die sich in ursprünglicher
Lage erhalten haben, während alles Uebrige in der Umgebung an den
Bruchstellen in die Tiefe gesunken ist
Nun aber soll eine Frage berührt werden, die vielleicht am
meisten interessiren dürfte, nämlich die Frage, ob auch jetzt noch die
Kräfte thätig sind, welche in der Vorzeit Gebirgo aufgethürmt haben.
Ueber ein derartiges Ereigniß liegen allerdings historisch ver-
bürgte Nachrichten nicht vor; keine Gebirgskette ist in naohtertiärer
Zeit entstanden. Andererseits wissen wir aber, daß unser Erdball
nooh jetzt Wärme in den kalton Weltenraum aussendet, und wo die
Ursachen fortdauern, da müssen ja auch die Wirkungen die näm-
lichen sein.
Man muß deshalb sehr wohl annehmen, daß die Faltenbildung der
Erdrinde noch jetzt im Fortgange begriffen ist, und es würden sich auch
an der Oberfläche, sondern in einer gewissen Tiefe unter derselben liegen
mufs, wie dies die Faltungstheorie verlangt.
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sicher die langsam fortschreitenden Bewegungen der Berge nachweisen
lassen, wenn man vielleicht in zahlreichen Gebieten mit grorsartigen
Mitteln etwa alle hundert Jahre ein eigens hierzu bestimmtes Präzisions-
nivellement und aufserdem Entfernungsmessungen zwischen den einzelnen
Berggipfeln der Alpen vornehmen würde.
Anzeichen solcher Aenderungen liegen bereits vor. Prof. Heim
berichtet, dafs man auf Grund von Messungen berechtigt ist, anzu-
nehmen, gewisse Berghöhen der Sohweiz hätten sioh im Verlaufe der
letzten fünfzig Jahre um einen Meter gegen einander verschoben.8)
Die dichterische Idee der „ewigen Berge“ ist demnach sicherlich
aufzugeben; wir müssen an ihre Stelle die Vorstellung wandernder
Berge setzen. Und dafs die Berge wirklich entstehen, wirklich wandern,
davon überzeugt uns ja auch ein Naturereignifs von elementarer Ge-
walt, nämlich das „Erdbeben“.
Die Erdbeben sind nach allem, was die moderne Wissenschaft
ergründen konnte, nichts anderes, als die zeitweisen Aeufserungen der
noch fortdauernden gebirgsbildenden Kräfte.
Es wird auch wohl niemand daran zweifeln, dafs die Spalten und
Sprünge im Erdreich bei Erdbeben unter der Wirkung einer gewaltigen,
die Gesteino zerreifsenden Kraft entstehen, dafs die fortschreitende
Faltung der Gesteinssohiohten mit einer Erschütterung des Bodens ver-
bunden sein mufs.
Mögen auch die gebirgsbildenden Kräfte stetige sein, so wird
sich doch eine gewisse Spannung in der Erdrinde ansammeln, bis die
Widerstände, welche momentan der weiteren Verschiebung und Fal-
tung der Erdschollen entgegenstehen, überwunden werden. Alle solche
Massenbewegungen werden demnach ruckweise vor sich gehen und
als fühlbare Spuren ihrer Thätigkeit Erdbeben erzeugen.9)
Und so ist es denn auch keine zufällige Erscheinung, dafs die
•) In einem gegen Falb gerichteten Artikel .Zur Frophezeihung der
Erdbeben“ (Vierteljahresschrift d. Nat Ges. in Zürich XXXII) berichtet Prof.
Heim, dafs die Lägern dem Rigi und Napf in dem Zeitraum von etwas über
30 Jahren, welcher zwischen der ersten genauen Messung dieses Dreiecks und
der späteren Revision derselben lag, um ca. einen Meter näher gerückt sei.
Diese Verschiebungen können in den Beobachtungs- und Rechnungsfehlem
durchaus nicht ihre Erklärung finden, sondern sind Folgen des noch fort-
dauernden Stauungsprozessee der Alpen, der sich durch zahlreiche Erdbeben-
stöfse daselbst kund giebt.
*) Bei der Auslösung bestehender Spannungen in der Erdrinde mag
immerhin die Mond- und Sonnenanziehung, namentlich wenn sie sich bei den
Sonnenfinsternissen verstärkt, eine Rolle spielen. Falb behauptet indessen
ganz etwas anderes mit seiner magmatischen Erdbebentheorie.
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Erdbeben in Italien und der Schweiz zu den häufigsten Vorkomm-
nissen gehören. Dort befinden sich eben die jüngsten Gebirgsketten
Europas, die Alpen und Apenninen, deren Entwicklung noch lange
nicht zum Absohlufs gelangt ist. Dringt man dagegen abwärts unter
die mächtige Diluvialdeoke unsere« norddeutschen Flachlandes, so
trifft man wohl auch hier auf gewaltige Gebirgsfalten, aber die
Neigung zur Fortentwicklung ist bei ihnen längst erloschen, und dies
gewährt uns hier in unserem Lande das Gefühl weitgehendster
Sicherheit
Es sei noch einmal ausdrücklich betont, dafs die Mehrzahl
aller Erdbeben sogenannte „tektonische“ Beben d. h. Begleiterschei-
nungen der Gebirgsbildung, und in dem Bau der Erdrinde begründet
sind. Wohl giebt es in der Nähe der thätigen Vulkane auch solche
Erschütterungen, die durch den Anprall glühender Laven oder hoch-
gespannter Dämpfe gegen die Erdrinde entstehen, aber das Auf-
treten dieser vulkanischen Beben ist nur vereinzelt und auf die
nächste Umgebung der Feuerberge beschränkt.
Dies möge genügen, um in die Anschauungen einzuweihen, welche
in der Geologie heutzutage bezüglich der Entstehung der Oberflächen-
gebilde unserer Erde Gültigkeit haben.
Aber noch eins bleibt zu erwähnen. Die Faltenstauung ist nur
der erste Akt in dem grofsen Drama der Gebirgsbildung. Sie Bchafft
uns nur den Modellblock zu den schlanken Bergen, deren anmuthige
Formen unser Auge erfreuen. Der Meifsel, welcher diese Formen aus-
gehöhlt hat, ist zu suchen in der furchenden und ausnagenden Thätig-
keit des Wassers, in dem Prozesse der Erosion und in demjenigen
der Verwitterung oder Denudation. Diese beiden mächtigen Agenzien
schufen erst die Einzelheiten, die Kämme, Gräten und Zinnen, sie
schufen die Thäler und Sohluchten nach eigenen Gesetzen in lang-
samer, aber rastloser Arbeit aus dem aufgestauten Rohmaterial,
das die Gewalt des Feuers aus dem Schoofse der Erde empor-
gedrängt hatte.
Wie die Gebirge sich jetzt zeigen, sind sie nur noch Ruinen.
Die Alpen sind, das kann man zuverlässig aus dem Verlauf ihrer Falten
erkennen, schon um die Hälfte ihrer ursprünglichen Höhe durch den
rinnenden Tropfen herabgeschleift worden.
Der letzte Akt der Gebirgsbildung kann nur angedeutet werden.
Er verläuft still und unvermerkt in den Niederungen der Ströme, auf
dem Grund der Binnonseeen und in den Tiefen der Meere. Dort
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schliefsen die Gipfel der stolzen Bergriesen als Sand und Schlamm
ihr Dasein, um im Laufe der Jahrtausende zu festen Gesteinsbänken
zu erhärten und vielleicht nach Jahrhunderttausenden als Festland
und mächtige Gebirge durch neue Hebung und Faltung wiederzu-
erstehen, wenn die schwindende Wärmeenergie des Erdballs noch ein-
mal so tiefgreifende Umwälzungen gestattet, wie sie im Jugendalter
unseres Weltkörpers vor sich gegangen sein müssen.
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Die Astronomie des Unsichtbaren.
Von Dr. 1. Scbelner.
Astronom am Astropbysikalischen Observatorium zu Potadam.
(Schlufe.)
Das 4-fache Sternsystem C Cancri.
Wir haben im vorigen Abschnitte die Gravitationsverhältnisse in
einem einfachen Doppelsternsysteme kennen gelernt, wo beide Kompo-
nenten, gleichgültig, ob sie sichtbar sind oder nicht, ihre Bewegung
ganz genau nach dem Kopple rächen Gesetze ausführen. Im ersten
Abschnitte hatten wir dagegen den viel komplizirteren Fall von
mehreren aufeinander einwirkenden Körpern vor uns, der indessen
dadurch wieder vereinfacht war, dafs einer der Körper, die Sonne,
eine ganz überwiegende Masse besitzt und daher die Bewegungen der
übrigen Körper im wesentlichen allein regelt, deren Anziehung unter-
einander wieder nur Bewegungen niedrigerer Ordnung, die sogenann-
ten Störungen, bewirkt Ganz anders liegt die Sache, wenn drei oder
mehr Körper von nahe gleichen Massen ein System bilden: Das Drei-
körperproblem ist bekanntlich noch nicht gelöst, und es vermag bis
jetzt noch kein Mathematiker auch nur annähernd anzugeben, in
welchen Bahnen sich die drei Körper bewegen müssen. Die Natur
hat allerdings dies Problem längst gelöst, denn es existiren am Himmel
eine ganze Reihe von drei- und mehrfachen Sternen, deren Bewegungen
um einander man bei einzelnen dieser Objekte sehr gut beobach-
ten kann.
Eines der interessantesten dieser Klasse ist das optisch dreifache
System C Cancri, besonders interessant, weil die Bewegungen inner-
halb desselben verhältnifsmäfsig schnell vor sioh gehen, so dafs in
den nächsten Jahrhunderten wenigstens eine vollständige Bewegungs-
phase sich abspielt.
Das Sternsystem C Cancri läfst drei Komponenten erkennen, A,
B und C, von nahe gleicher Helligkeit Die Distanz von A und B
beträgt im Mittel etwa 0 “ 8, sie beschreiben in ungefähr 60 Jahren
einen Umlauf um einander. Der Stern C befindet sich von den beiden
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131
in einem Abstande von S'/j“ und hat seit der 1781 durch W. Herschel
erfolgten Entdeckung des Systems erst etwa */« seines Umlaufs voll-
endet, der ungefähr 600 bis 700 Jahre dauern wird. Seeliger hat sioh
in neuerer Zeit sehr ausführlich mit diesem System beschäftigt und ist
hierbei zu mehreren sehr interessanten Resultaten gelangt Zunächst
hat sich gezeigt, dafs die Bewegungen von A und B sich noch ziemlich
gut durch eine Kepplersche Ellipse darstellen lassen, und dafs es vor-
läufig noch genügt, die Einwirkung des Sterns C auf die Bahnen von A
und B als Störungen zu betrachten und nach den übliohen, entsprechend
modifizirten Methoden zu berechnen. Dieser eigenthümliche Umstand
rührt wesentlich von dem grofsen Abstande des dritten Sternes und
seiner verhältnifsmäfsig langsamen Bewegung her, und es ist keine
Frage, dafs allmählich der Zeitpunkt kommen wird, wo die Ellipse
nicht mehr als Annäherung ausreicht, und wo die wahren Bahnen des
Dreikörperproblems alsdann zum Vorsohein kommen werden. Schwierig-
keiten anderer Art bot aber die Bewegung von C um A und B;
während sie sich im allgemeinen noch durch eine Kreisbahn dar-
stellen läfst, treten kleine Schwankungen dieser Bewegung auf,
die schon Otto Struve vor mehreren Jahren aufgefallen waren.
Struve erkannte auch schon, dafs diese Schwankungen sich durch
die Annahme darstellen liefsen, dafs der Stern C während seines Um-
laufs um A und B eine kleine Bahn in 18 Jahren um einen wenige
Zehntelsekunden abstehenden Punkt beschreibe. Die Seeliger-
schen Untersuchungen haben dieses interessante Phänomen durchaus
bestätigt und keinen Zweifel an der Realität desselben übrig gelassen.
Es konnte sich aber immer noch fragen, ob diese geometrisohe
Erklärung der Bahnabweichungen von C auoh wirklich die nahe-
liegende Deutung, dafs C ein enger Doppelstern von 18 Jahren Um-
laufszeit, und dafs dessen eine Komponente dunkel sei, erfahren dürfe.
Bei der gänzlichen Unwissenheit über die wahren Bewegungen nach
dem Dreikörperproblem läfst sich nämlich nicht ohne weiteres der
Oedanke zurückweisen, dafs die periodischen Anomalien der Bewegung
von C vielleicht durch Störungen von A und B hervorgerufen seien.
Eis ist indessen Seeliger gelungen, diese letzte Deutung mit aller
Bestimmtheit zurückweisen zu können, und so stehen wir denn vor
der Thatsache, dafs C Cancri ein vierfaches Sternsystem ist, dessen
vierter Stern sich dem Auge nur indirekt durch seine Anziehung auf
C verräth.1)
') Vergl. Himmel und Erde. III, 8. 122.
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132
Die Entdeckung des dunklen Algolbegleiters.
Der Stern Algol im Perseus wurde im Jahre 1667 von Montanari
als veränderlich erkannt, nachdem im Jahre 1596 Mira Ceti, der wunder-
bare Stern im Walfisch, von Fabriciusals erster Veränderlicher entdeckt
worden war. Es mulsten aber mehr als 100 Jahre darüber hingehen,
ehe der wesentliche Unterschied in der Art des Lichtwechsels dieser
beiden Sterne erkannt wurde; erst Ooodrioke fand im Jahre 1782,
dafs der Lichtwechsel Algols außerordentlich regelmäßig sei gegen-
über dem von Mira Ceti. Von der Zeit an sind bis heute die Ver-
änderungen der Helligkeit des Sterns äußerst sorgfältig untersuoht
worden, speziell von Argeiander und Schönfeld, und es hat sich
herausgestellt, daß die Maxjmalhelligkeit Algols 2 Tage 1 1 '/j Stunden
anhält, um dann in 4 1/a Stunden bis zu einem Minimum herabzusinken
und in weitern 4*/j Stunden wieder zur vollen Stärke anzuschwellen.
Noch mehrere andere Sterne sind im Laufe der Zeit gefunden worden,
deren Lichtwechsel dieselben typischen Eigenschaften wie Algol besitzt.
Die Zahl der Sterne vom Algoltypus beträgt jetzt 8.
Es ist klar, dafs ein so eigenthümlicher Verlauf des Licbtwechsels
zu den mannigfaltigsten Erklärungsversuchen verlocken mußte, von
denen aber nur zwei hier erwähnt werden sollen. Zunächst lag es
nahe, an eine Rotation eines Sternes zu denken, dessen Oberfläche an
einer Stelle mit dunklen Flecken, etwa analog unseren Sonnenflecken,
besetzt war. Diese Annahme bereitete indessen zunächst insofern
Schwierigkeiten, als die Kürze der Verdunkelung gegenüber der Zeit-
dauer der Lichtkonstanz nicht recht damit in Einklang zu bringen war;
sie mußte ganz fallen, als das Spektroskop zeigte, daß Algol (wie
sämtliche übrigen Sterne des Algoltypus) der ersten Spektralklasse
angehört, d. h. daß er sich noch im ersten Entwickelungsstadium
befindet, im Zustande einer ungeheuren Glühhitze, in welchem an die
Bildung von Abkühlungsprodukten, wie auf der Sonne, noch gar nicht
zu denken ist.
Als die plausibelste Annahme erschien demnach, den Algol als
engen Doppelstem aufzufassen, dessen eine Komponente dunkel sei.
Die Umlaufszeit der beiden Körper um ihren gemeinschaftlichen
Schwerpunkt mußte dann gleich der Periode des Lichtwechsels, 2 Tage
21 Stunden, sein, und ihre Bahnebene sich nahe in der Gesichtslinie
befindon, so daß beim Vorübergango des dunklen Körpers jedesmal
eine Bedeckung des hellen, eine regelrechte Verfinsterung, Btattfand.
Aus den Daten des Lichtweohsels lassen sich leicht die wichtigsten
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133
Elemente der Bahn dieses Doppelsternsystems berechnen — auf welche
Weise dies geschehen kann, werden wir später sehen — , und so hat
Pickering z. B. thatsächlich bereits vor längeren Jahren eine solche
Berechnung veröffentlicht.
Aber auch dieser Erklärung stellten sich gewaltige Schwierig-
keiten entgegen, indem sich nämlioh die Distanz der beiden Körper
als so gering ergiebt, dafs man nicht glaubte, ein solches System als
stabil betrachten zu können. So stand bis noch vor wenigen Jahren
die Frage offen, welcher Ansicht man zuneigen sollte.
Das Räthselhafte der Erscheinung duroh das Fernrohr aufzulösen,
mufste a priori als unmöglich zurückgewiesen werden, denn bei der
geringen Distanz, welche unter der Annahme eines Doppelsternsystems
für die beiden Körper resultirte, mufste, selbst wenn der , dunkle“
Körper nicht vollständig dunkel war, sondern seiner Helligkeit nach
noch hätte erblickt werden können, die scheinbare Distanz am Himmel
verschwindend klein sein. Sie konnte unter den günstigsten Umständen
nicht viel über den hundertsten Theil einer Bogensekunde betragen,
und derartige Distanzen könnon selbst in den Riesenrefraktoren der
Neuzeit noch lange nicht aufgelöst werden. Dagegen tauchte bald nach
der Anwendung des Spektroskops auf die Himmelskörper der Gedanke
auf, die Frage nach der Doppelsternnatur Algols durch Benutzung des
Dopplerschen Prinzips zu entscheiden. Wenn Algol sich um einen
aufserhalb gelegenen Schwerpunkt in einer Bahn bewegt, so mufste
im Laufe des Lichtwechsels seine Bahngeschwindigkeit in der Gesichts-
linie wechseln, und diese Aenderung der Geschwindigkeit mufste im
Spektroskope als wechselnde Verschiebung der Spektrallinie des Algol
zu Tage treten. Im Hinblick auf eine im 1. Jahrgang dieser Zeit-
schrift vom Verfasser gegebene ausführliche Darlegung dieser Methode
mufs dieselbe hier als bekannt vorausgesetzt werden, ein Nachlesen
des erwähnten Artikels wird gewifs zum Verständnifs des Folgenden
genügen.
Im Jahre 1873 hat H. C. V ogel, damals noch in Bothkamp,
thatsächlich das Spektroskop zur Lösung dieser Frage auf Algol an-
gewendet, den damaligen unzureichenden Hülfsmitteln entsprechend
jedoch ohne positive Resultate, es liefs sich nur konstatiren, dafs Algol
keine auffallend grofse Bewegung besafs. Ebenso ergebnifslos sind
die seit dieser Zeit in Greenwich angestellten Versuche geblieben.
Die aufserordentliche Vermehrung der Genauigkeit in der Messung
der Linienverschiebung, welche durch die im Jahre 1888 zum ersten
Male angewandte spektrographische Methode erzielt wurde, legte den
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Oedanken nahe, dafB nunmehr mit berechtigter Hoffnung auf Erfolg
diese Methode beim Algolprobiem in Benutzung zu nehmen sein
könnte, und die hierauf eich beziehenden Untersuchungen hatten
allerdings das Ergebnifs, dafs am 28. Novomber 1889 der Berliner
Akademie der Wissenschaften der definitive Beweis der Doppelstem-
natur Algols durch H. C. Vogel und den Verfasser dieses vorgelegt
worden konnte, nebst den Bahnelementen dieses interessanten Gestirns.
Weitere bis zum vorigen Jahre fortgesetzte Beobachtungen be-
stätigten immer mehr die Richtigkeit der gefundenen numerischen
Werthe, und heute ist die Duplizität Algols eines der am sichersten
bewiesenen, nicht direkt wahrnehmbaren himmlischen Phänomene.
Es dürfte nunmehr aber geboten sein, den Leser über die Art
der Entdeckung der Duplizität und über die Berechnung der Bahn-
elemente näher aufzuklären.
Durch die Bewegung einer Lichtquelle oder auch des Beobachters
in der Gesichtslinie, wird die Brechbarkeit des Lichtes und damit
seine Ablenkung durch das Prisma geändert, und diese Ablenkung
der Lichtstrahlen dokumentirt sich im Spektroskope durch eine Ver-
änderung der Lage der Spektrallinie, welche die betreffende Lichtquelle
(Stern) im Spektrum erzeugt, gegen die Lage der entsprechenden Linie
einer irdischen, relativ ruhenden Lichtquelle. Findet eine Annäherung
in der Gesichtslinie statt, so werden die Wellenlängen kürzer, die Brech-
barkeit stärker, die Spektrallinien verschieben sich nach violett; boi
einer Entfernung findet natürlich das Umgekehrte statt.
Betrachten wir nun einmal die nebenstehende Figur, welche das
Algolsystem schematisch darstellen möge. Die Bewegung der beiden
Körper findet natürlich um ihren gemeinschaftlichen Schwerpunkt statt;
da es aber nur auf relative Bewegung ankommt, so ist das System
der Einfachheit halber so gezeichnet, dafs der dunkle Körper als fester
Mittelpunkt angenommen ist. Die punktirte Linie möge die Richtung der
Gesichtslinie (Verbindungslinie zwischen Algol und der Erde) angeben.
Befindet sich der helle Hauptstern des Systems in 1, so ist er
durch den dunklen Begleiter zum Theil für uns verdeckt; wir sehen
ein Algolminimum. Seine Bewegungsrichtung liegt von rechts nach
links, also senkrecht zum Visionsradius, d. h. eine Linienverschiebung
kann nicht eintreten. Hat aber der Körper einen Viertelumlauf
zurückgelegt, nach 17 Stunden, und befindet sich in 2, so bewegt er
sich in voller Geschwindigkeit auf uns zu: Maximalverschiebung der
Spektrallinie naoh Violett. In 3 läuft er von links nach rechts, also
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keine Verschiebung ist vorhanden; in 4 volle Geschwindigkeit von
uns weg: Maximalverschiebung nach roth.
Das ist nun thatsächlich dasjenige, was die Potsdamer Spektral-
aufnahmen zeigen; es findet zur Zeit, wenn Algol die Lage 2 hat,
wirklich die Maximalverschiebung nach
Violett, in der Lage 4 wirklich nach roth
statt, und allein damit war schon ein de-
finitiver Beweis für die Doppelsternnatur
Algols gegeben. Es hat indessen nicht
an Stimmen gefehlt, die darauf hinge-
deutet haben, dafs auch unter voller An-
erkennung der periodisch wechselnden
Linienverschiebung, doch eine andere Er-
klärung für letztere möglich sein könne,
und man hat hierbei z. B. auf asymmetri-
sche Verbreiterungen der.Wasserstofflinie
im Stern hingewiesen. Wenngleioh bisher
solohe asymmetrische Verbreiterungen
der Stemlinien noch nicht beobachtet worden sind, so kann man doch
bei der allgemeinen Unkenntnifs derDruok- und Temperaturverhältnisse
auf den Sternen, eine solche Annahme nicht ohne weiteres zurückweisen.
Bei asymmetrischer Verbreiterung bleibt aber das Intensitätsmaximum
der Linie stets an seiner Stelle, und nur die Verwaschenheiten, die
sich an das Intensitätsmaximum anschliefsen, sind unsymmetrisch, wie
ja auch die Bezeichnung asymmetrische „Verbreiterung“ andeutet Beim
Algolspektrum ist aber mit vollster Deutlichkeit zu erkennen, dafs das
Intensitätsmaximum, auf welches allein beim Messen eingestellt wird,
stark verschoben ist Damit ist dieser Erklärungsversuch definitiv
abgewiesen, und es bedürfte kaum noch des Hinweises, dafs eine in
kurzer Periode wechselnde asymmetrische Verbreiterung physikalisch
absolut undenkbar ist So bleiben wir denn bei unserer ersten Deutung,
und die Beobachtungen in Potsdam haben dann ergeben, dafs die
Maximalgeschwindigkeit des Hauptsterns -|- 5.3 geogr. Meilen und
— 6.2 geographische Meilen beträgt d. h. dafs der Hauptstern mit
einer Geschwindigkeit von 5.7 Meilen pro Sekunde um den gemein-
schaftlichen Schwerpunkt läuft, und dafs aufserdem das ganze System
noch eine Translationsgeschwindigkeit von 0.5 Meilen auf uns zu
besitzt. Das sind die Daten, die das Spektroskop geliefert hat, und
wir wollen nun sehen, wie hieraus in Verbindung mit den Daten des
Lichtwechsels die Bahnelemente des Systems gerechnet werden können.
Fig. 1.
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Für den Lichtwechsel legen wir hierbei die Werthe zu Grunde, welche
Verfasser vor zehn Jahren aus den zahlreichen und vorzüglichen
Beobachtungen SohönfeldB abgeleitet hat.
Der Helligkeitsunterschied zwischen einem Algolminimum und
dem sogenannten vollen Lichte beträgt 1.06 Gröfsenklassen, d. h. die
Minimalhelligkeit ist gleich 0.381 der Maximalhelligkeit, oder der dunkle
Begleiter absorbirt bei seinem Vorübergange 0.619 von der Gesamt-
helligkeit Algols. Macht man nun die Annahme, dafs der Durchgang
ein naher zentraler sei, so erhält man als Verhältnifs der Durch-
messer des dunklen Begleiters zu Algol den Betrag |/0 .619 = 0.787,
d. h. der Durchmesser des ersteren ist ungefähr 3/t von dem Algols.
Bei gleicher Dichtigkeit der beiden Himmelskörper müssen sich dann
die Massen derselben wie die dritten Potenzen der Durchmesser ver-
halten, das ist wie 1 : 0.487, die Masse des Begleiters ist also die
Hälfte derjenigen Algols, und ebenso müssen sich ihre Abstände vom
Schwerpunkt verhalten und auch ihre Bahngeschwindigkeiten. Die
spektrographischen Beobachtungen hatten für die Bahngeschwindig-
keit Algols 5.7 geogr. Meilen ergeben, diejenige des Begleiters ist also
gleich 12.0 Meilen.
Die Dauer der Verfinsterung beträgt nun 9 h 45 ", so lange dauert
also der Vorübergang des Begleiters vor dem Hauptsterne, der mit der
relativen Geschwindigkeit — die Summe der beiden Bahngeschwindig-
keiten — also mit 17.7 Meilen in der Sekunde stattfindet, und hieraus
lassen sich nun einfach die Dimensionen der beiden Körper und ihre
Abstände ausrechnen; es ist aber vorher zu berücksichtigen, dafs Be-
ginn und Ende der Verfinsterung nach Ausweis der Lichtkurve Algols
eine so langsame Licht Veränderung zeigen, dafs dies unmöglich durch
die Bedeckung der Sternscheibe selbst hervorgebracht sein kann. Viel-
mehr mufs man hier an die gegenseitige Bedeckung der die Körper
jedenfalls umgebenden Atmosphären denken, und unter Berücksichtigung
dieses Umstandes erscheint es am besten, für die Dauer der eigentlichen
Verfinsterung nur 6h 30" anzunehmen. Dann erhält man folgende Daten:
Durchmesser des Hauptsterns 230000 Meilen.
Höhe seiner Atmosphäre 54000 „
Durohmesser des dunklen Begleiters .... 180000 „
Höhe seiner Atmosphäre 42000 „
Entfernung der Mittelpunkte beider Körper . . 700000 „
Massen der beiden Körper */9 und J/9 der Sonnenmasse.
Um eine bessere Vorstellung von der bisher beispiellosen Nähe
der beiden Körper zu gebon, möge die folgende Figur dienen.
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Links ist der helle Hauptstern, rechts der dunkle Begleiter, beide
mit ihrer Atmosphäre, der Schwerpunkt, um den sich beide bewegen,
ist durch S angedeutet. Würde man Algol als unsere Sonne be-
trachten, so würde sich nach den wahren Dimensionen die Erde in
2.7 Meter Entfernung befinden, ihr Durchmesser miifste gleich 0.2 Milli-
meter gesetzt werden.
Eis ist ja nun klar, dafe die obigen Dimensionen nur genäherte
Werthe darstellen können, da ja die gemachten Voraussetzungen :
zentraler Durchgang, gleiche Dichtigkeit der Massen, Höhe der Atmo-
sphäre, nicht genau den Thatsachen entsprechen werden. Es beein-
trächtigt dies aber keineswegs den Einblick in die gewonnenen Ver-
hältnisse; man sieht ja leicht, dafs eine wesentliche Aenderung dos
merkwürdigen Systems nicht eintreten würde, auch wenn die Körper
in der Zeichnung um einige Millimeter gröfser oder kleiner wären
oder ihr Abstand um einen Zentimeter anders ausgefallen wäre.
So sehen wir uns nun der Thatsacho gegenüber gestellt, dafs ein
so aufserordentlich enges Doppelstemsystem am Himmel seit unbekann-
ten Zeiten her besteht, und dafs wir uns nunmehr der Frage zuwenden
müssen, wie sich diese Thatsache mit den früher geäufserten Zweifeln
an der Möglichkeit derselben vereinigen läfst Die Lösung der E'rage
ist eine sehr einfache: Man hat eben früher nur, man möchte wohl
sagen, dem Gefühle nach gezweifelt, ohne ernstliche mathematische
Prüfung. Diese Prüfung bietet zwar grofse Schwierigkeiten; gegenüber
der Thatsache mufste sie aber unternommen werden, und so hat denn
Wilsing gozeigt, dafs ein solches System sehr gut als stabiles zu
betrachten ist; es treten allerdings infolge des abnormen Verhältnisses
von Gröfse und Nähe der Körper miiohtige Eiuthwirkungen auf; die
bewirken, dafs die Körper sich gegenseitig zuspitzen und mit ihren
grofsen Axen nahe aufeinander gerichtet sind. Diese Deformationen
sind aber nicht so stark, dafs die Stabilität des Systems hierdurch
irgendwie gefährdet w'ürde.
Dafs das Algolsystem, wie schon angedeutet, auch dem best bewaff-
neten Auge niemals direkt auflösbar sein wird, kann nach den obigen
Bimmel und Erde. 18« L V. 8. 10
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Angaben nicht zweifelhaft sein. Selbst wenn Algol eine Parallaxe von
0" 1 haben sollte, d. h. also, wenn er so weit von uns entfernt wäre, dafs
der Halbmesser der Erdbalm, von ihm aus gesehen, unter einer Winkel-
distanz von 0"1 erscheinen würde, würde umgekehrt der scheinbare
Abstand der beiden Körper, von der Erde gesehen, */:» dieses Winkels
oder 0" 003 betragen; die kühnste Phantasie kann sich kein Fernrohr
vorstellen, welche diese Distanz noch auflösen könnte. Und so führt uns
denn unsere Betrachtung in diesem Falle zum ersten Male zu einem
Probleme der Astronomie des Unsichtbaren, welches im Gegensatz zu
dem bisher Besprochenen auch nicht die entfernteste Möglichkeit littst,
dermaleinst wirklich erschaut zu werden.
Aber damit ist es noch nicht genug. Kaum hat die Entdeckung
des Algolbegleiters die Aussicht in ein bisher verschlossenes Gebiet
der Doppelstern weit eröffnet, so treten auch schon die Anzeiohen auf,
dafs damit das Algolsystem nicht erschöpfend erklärt ist, sondern
dafs dasselbe ein dreifaches Sternsystem ist, dessen dritten Begleiter
bisher auch noch Niemand erblickt hat. und dessen Existenz allerdings
vorläufig noch nicht mit der Sicherheit zu beweisen ist, wie dies bei
den anderen Objekten unserer Darstellung möglich war.
Die Periode Algols ist zwar gegenüber anderen veränderlichen
Sternen eine aufserordentlich regelmäfsige, jedoch nicht eine vollkommen
gleichförmige. Wenn die Aenderungeu derselben auch nur wenige
Sekunden betragen, so sind sie doch wegen der grofsen zur Verfügung
stehenden Zeiträume durchaus sicher zu ermitteln, und so hat bereits
Argeiander folgende Periodenlängen für Algol aufgestellt:
Jahr
Periode
1784
68 h 48m 59 “42
1793
58.74
1818
68.19
1842
55.18
1849
54.86
1858
53.15
1865
53.81
Diese Aenderungen sind identisch mit Aenderungen der Umlaufs-
zeit, und es handelt sich darum, dieselben zu erklären. Man könnte
hierbei an Einflüsse denken, welche durch die erwähnte Deformation
der Körper entstehen, wenn nämlich die Rotation der Körper von
ihrer Umlaufszcit verschieden ist. Es erscheint aber sehr fraglich,
ob solche Aenderungen von dem Betrage sein können, und so liegt
es nahe, an störende Einflüsse eines dritten Körpers zu denken.
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Wie schon früher hervorgehoben, entzieht sich die Berechnung der-
artiger Störungen vollständig unserem Können. Das Dreikörperproblem
ist noch nicht gelöst, wir haben nicht einmal ein Urtheil darüber, ob
die Störungen sich in der Form, wie sie durch die Periodenänderung
ausgesprochen ist, überhaupt äufsern können.
Es ist das Verdienst Chandlers, kürzlich darauf hingewiesen
zu haben, dafs bei der Existenz eines dritten Körpers hier gar keine
wirkliche Störung, sondern nur eine soheinbare, eine „optische“
Störung vorzuliegen braucht
Zur Erklärung einer solchen optischen Störung denken wir uns
Folgendes: Die Umlaufszeit Algols sei eine durchaus gleichförmige,
aber er möge sich mit einer gewissen Geschwindigkeit, und zwar mit
40000 Meilen (Geschwindigkeit des Lichts in einer Sekunde) während
eines Umlaufs auf uns zu bewegen. Nach Ablauf einer Periode ist er
uns dann um soweit näher gekommen, dafs das Licht zu uns hin eine
Sekunde weniger gebraucht als früher, wir sehen die Minima um eine
Sekunde früher eintreten, d. h. scheinbar hat sich die Periode Algols
um eine Sekunde verkürzt. Eine stärkere Fortbewegung von uns
würde umgekehrt eine scheinbare Verlängerung der Periode ergeben.
Die Beobachtungen zeigen nun zuerst eine Verkürzung, dann eine Ver-
längerung der Periode, und Chandler hat nun gefunden, dafs diese
Erscheinung sich vollständig deuten läfst, unter dor Annahme, dafs
das Algolsystem, wie wir es oben beschrieben haben, sich nochmals um
einen Schwerpunkt bewegt und zwar in 130 Jahren; der Durchmesser
der Bahn würde etwa gleich dem der Uranusbahn resitltiren. Eine
so grofse Bahn mufs aller auch direkt am Himmel erkennbar sein,
und in der That hat Chandler nachgewiesen, dafs die Meridianbe-
obachtungen Algols sich am besten unter der Voraussetzung einer
solchen Bahn darstellen lassen. Wie weit der dritte Stern von Algol
entfernt sein könnte, ist nicht möglich anzugeben, da dies von seiner,
bis jetzt durchaus unbekannten Masse abhängt. Ein dunkler oder
wenigstens lichtschwachcr Stern ist es jedenfalls, doch ist die Möglich-
keit, ihn einmal direkt wahrzunehmen, nicht ausgeschlossen.
So sehen wir, dafs Algol ein Beispiel aus der Astronomie des
Unsichtbaren darbietet, welches durch eine Vereinigung der beiden,
von uns eingangs getrennten Methoden erkannt wordon ist; es ist ein
wunderbares Gestirn, dessen genauere und detaillirtere Erforschung
noch für Jahrhunderte auf der Arbeitsliste der Astronomie stehen wird.
Die glückliche Lösung des Algolproblems betrifft gleichzeitig
natürlich alle Veränderliche des Algoltypus. Es wird zur Zeit Niemand
IO*
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zweifeln, dafs bei allen diesen Sternen ähnliche Verhältnisse vorliegen
wie bei Algol, wenngleich es in absehbarer Zeit nicht gelingen dürfte,
hierfür den direkten Beweis durch Spektralbeobachtungen zu liefern ;
es würden hierzu wegen der Lichtschwäche dieser Sterne ganz enorme
Hilfsmittel nüthig sein.
Man kann aber gleich noch einen Schritt weiter gehen. Damit
überhaupt bei einem Algolsystem eine wirkliche Lichtveränderung
durch mehr oder weniger vollständige Bedeckung eintreteu kann, mufs
die Bedingung erfüllt sein, dafs die Bahnebene der beiden Komponenten
ganz oder genähert in der Gesichtslinie liegt. Da nun jede Bahnlage
gleich wahrscheinlich ist, murs es der Wahrscheinlichkeit nach be-
trächtlich mehr enge Doppelsternsysteme geben, als sich uns durch
den Lichtwechsel verrathen. Diese Sohlufsfolgerung fand sehr bald
ihre Bestätigung durch die Entdeckung der binären Natur von i
Virginia durch H. C. Vogel und von ß Aurigae und ü Ursao Maj.
durch Pickering. Wir wollen uns aber in betreff dieser Systeme
nur kurz fassen und nur darauf aufmerksam machen, dafs, während
bei a Virginis ähnliche Verhältnisse vorliegen, wie bei Algol, nur mit
dem Unterschiede, dars wegen der fehlenden Verdeckung der hellen
Komponente durch die dunkle, die relative Gröfse der beiden Sterne
nicht bestimmt werden kann, die Entdeckungen von ß Aurigae und
' Ursae Maj. eigentlich nicht mehr streng in unser Thema hineinge-
hören. Bei diesen sind nämlich beide Komponenten hell, und senden
uns ihr Licht zu, und obgleich sie nicht direkt im Fernrohr trennbar
sind, so gelingt dies doch im Spektroskope. Hier sind die den einzelnen
Körpern zukommenden Linien deutlich von einander zu trennen, und es
fehlt die eingangs unseres Aufsatzes festgestellte Bedingung, dafs die
von einem unsichtbaren Körper ausgehende Einwirkung der Gravitation
auf einen sichtbaren die Rolle des Verräthers spielt
Und nun zum Schlüsse ein anderes Bild. Wir hatten uns den
Lesern als Führer aufgedrängt, sie auf einen Aussichtspunkt zu leiten
in schon eiuigermafsen bekannter Gegend. Und wenn wir unterwegs
auf zum Theil recht schwierigen und wenig verlockenden Pfaden in
irgend einem Durchblick auf ein blinkendes Gewässer hinwiesen, da
haben wir oft den Ausruf der Enttäuschung vernommen, dafs ihnen
gerade diese Stelle recht gut bekannt sei, und mancher hat sich bei
Seite gedrückt und ist still nach Hause geeilt. Nun sind wir auf der
Höhe angelangt, und der ganze Erfolg besteht nur darin, dafs wir liier
die früher hier und da isolirt erscheinenden Wasserflächen in ihrem
ganzen Zusammenhänge als einen mächtigen Strom erkennen, der seinen
141
gewundenen Lauf zu unseren Fiifsen weiter führt. Anfang und Ende
verlieren sich in nebelhaftor Ferne. Das ist der ganze Gewinn
unserer Reise, und doch würde der Führer zufrieden sein, wenn er
hie und da die Bemerkung vernehmen könnte, dafs die Aussioht,
wenn auch nicht schön, so doch interessant sei, und das nun erst
ein geordnetes Verstiindnifs der vorher nur fragmentarisch bekannten
Gegend erschlossen sei.
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Der fünfte Jupitermond.
Durch eine kurze Notiz ist in dieser Zeitschrift bereits mitge-
theilt worden, dafs Professor Rarnard am 9. September d. J. so
glücklich war, mit den gewaltigen Ilülfsmitteln lies grofsen Refraktors
der Lick-Sternwarte einen neuen Jupitertrabanten zu entdecken. Es
ist dies um so staunenerregender, als nunmehr seit beinahe drei Jahr-
hunderten die Welt des Jupiter fast alltäglich rings um den Erdball
herum von Fachastronomen sowohl wie auch Dilettanten untersucht
und bewundert worden ist, ohne dafs, seit eben Galilei mit dem ersten
Blick, den er durch sein neues Fernrohr dem Jupiter zuwandte, die
vier bekannten Jupitermonde entdeckte, sich diesem sekundären System
ein neues Glied in unserer Kenntnifs hinzugefügt hätte. Wir ver-
danken eben diese neue und ganz ungemein interessante Entdeckung
in erster Linie der durchdringenden Lichtkraft unserer modernen un-
geheueren Sehwerkzeuge. Der neue Weltkörper ist mit einiger Sicher-
heit selbst in jenem gröfsten Fernrohre der Welt nur bei Anwendung
besonderer Vorsichtsmafsregeln deutlich sichtbar. Die glänzende
Scheibe des Jupiter mufs, um ein Uoborstrahlen zu verhüten, entweder
ganz aufsorhalb des Sehfeldes liegen oder durch eine dunkle Scheibe
in demselben verdeckt werden. Dieses ist um so notliwendiger, als
das winzige Lichtpünktchen sich im höchsten Falle nur um drei Vier-
theile des Jupitordurchmessers von dem Rande des Planeten entfernen
kann. Wegen dieser Schwierigkeit ist es deshalb bisher mit vielleicht
nur einer einzigen Ausnalimo nicht gelungen, den Himmelskörper
durch andere Fernrohre sichtbar zu machen, obgleich es wohl einige
darunter giebt, welche wenigstens nahezu dem der Lick-Sternwarte
ebenbürtig sind, wie etwa der Wiener oder Pulkowaer Refraktor, oder
das von einem durchsichtigen Himmel besonders begünstigte Instrument
von Nizza. Nur der Greenwicher Astronom Turner, welcher sich
derzeit auf der Sternwarte des Professor Young in Princeton bei
New -York aufhielt, glaubt am 28. September zugleich mit einem
jüngeren Astronomen dieser Sternwarte des winzigen Lichtpünktchens
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einige Augenblicke lang ansichtig geworden zu sein. Es wird auf der
Erde also nur sehr wenige Menschen geben, welche diese neue Welt
jemals sehen werden; aber, wie bei so vielen der interessantesten
astronomischen Objekte, so sind es auch hier die Gedankenreihen,
welche sich an das blofse Faktum der Existenz dieses Wellkörpers
knüpfen, die unser hauptsächlichstes Interesse wachrufen.
Alles, was wir von demselben positiv wissen, ist neben seiner
ungemeinen Lichtschwäche nur, dafs er sich im Maximum um circa
2 V2 Halbmesser der Jupiterscheibe (genauer 2,731) vom Mittelpunkt
des Hauptplaneten entfernen kann. Zunächst geht aus der geringen
Leuchtkraft hervor, dafs der neue Mond, falls seine Oberfläche ungefähr
dasselbe Rückstrahlungsvermögen (Albedo) besitzt, wie seine Kollegen in
dem sekundären Systeme, nur wenige Zehner von Kilometern im Durch-
messer besitzen kann. Ferner kann man mit Sicherheit aus den direk-
ten Beobachtungsresultaten berechnen, dafs von ihm aus die Scheibe
des Jupiter als ein Koloss von 46*/j0 Ausdehnung am Himmel er-
scheinen müsste. Wenn also der untere Hand des Jupiter den Hori-
zont dieses Mondes berührt, reicht der obere Hand halbwegs bis zum
Zenith empor. Ist Jupiter zur Hälfte aufgegangen, so nimmt er
am Horizont den achten Theil des ganzen Gesichtskreises ein. Die
Sonne erscheint dort bekanntlich fünfmal kleiner als bei uns und des-
halb 460 — bis 470 — mal kleiner als Jupiter.
< Ibgleich nun über die Geschwindigkeit der Bewegung dieses
neuen Weltkörpers um den Hauptplaneten herum durch die Beobachtung
noch nichts Genaueres ermittelt worden ist, so kann man dieselbe doch
mit völliger Genauigkeit aus den Thatsachen der Beobachtung be-
rechnen. Es ist bekannt, dafs das dritte Keplerscho Gesotz es ge-
stattet, die Umlaufszeit eines Weltkörpers aus seinem Abstande von
seinem Gravitationszentrum zu berechnen, wenn man die Anziehungs-
kraft desselben aus einem zweiten, ihn umkreisenden Weltkörper be-
reits vorher abgeleitet hat. Ausführlicher ist hiervon in einer Reihe
vom Herausgeber verfafster, in dom ersten Jahrgänge dieser Zeitschrift
erschienener Artikel die Rede. Es ergiebt sich dann, dafs die ge-
waltige Anziehungskraft des gröfsten aller Planeten diesen winzigen
Körper zwingt, seinen Umlauf bereits in 11 Stunden 49,6 Minuten zu
vollenden, also in nahezu einem halben Tage. Die Winkelgeschwindig-
keit dieses Mondes ist also rund 60 mal gröfser als die unseres Mondes.
Er bewegt sich nur um sehr weniges langsamer herum als Jupiter
selbst sich um seine Achse dreht, was bekanntlich sehr sohnell ge-
schieht; der Jupitertag umfafst nur 9 Stunden 55.6 Minuten, infolge
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144
dessen sind etwa 5 1 Umläufe des fünften Satelliten gleich 6'/4
Jupitertagen oder innerhalb dieser Zeit geht der Mond für Jupiter
einmal auf und unter. Die wirkliche Geschwindigkeit desselben in
seiner Bahn ist aus dem Durchmesser derselben, welcher 24200 geo-
graphischen Meilen, also rund die Hälfte des Abstandes unseres Mondes
vom Erdzentrum beträgt, leicht zu berechnen und beläuft sich auf
3,6 Meilen in der Sekunde. Sie ist also beinahe so schnell wie die
Bewegung, welohe das mächtige Zentralgestim des Planetensystems
unserer Erde aufnöthigt. Durch letztere werden wir bekanntlich in jeder
Sekunde uni vier Meilen weiter durch den Weltraum getragen.
Die oben erwähnte Entfernung von 24200 Meilen ist vom Jupiter-
zentrum aus gerechnet; von der Jupiteroberfläohe befindet sich der Mond
nur 14600 Meilen entfernt; nur 8l/2 Erdkugeln an einander gereiht
würden die Verbindung zwischen Mond und Jupiter herstellen. Das
ist eine im Verhältnifs zu den übrigen Dimensionen des Jupiter-
systems ganz abnorm geringe Entfernung und eine ähnliche Vorhält-
nifszahl findet man nur beim ersten Mars- und ersten Saturnmonde
wieder.
Ganz abnorme Verhältnisse müssen hier auch in Bezug auf den
Wettstreit der Sch werewirk ungen zwischen diesem Satelliten und seinem
Hauptkörper vorliegen, denen ein Körper auf der Oberfläche dieses
Satelliten unterworfen ist. Es zeigt sich nämlich, dafs selbst bei der
unwahrscheinlichsten Annahme über die Gröfso und Dichtigkeit des
neu entdeckten Weltkörpers, es doch ganz unmöglich ist, dafs die An-
ziehungskraft, welche er auf einen Gegenstand seiner Oberfläche aus-
übt, ebenso grofs sein kann, wie die Anziehungskraft, welche ihn von
dieser Oberfläche weg dem Zentralkörpor zuzuführen strebt. Es ist
leicht zu berechnen, dafs ein frei schwebender Gegenstand in der Ent-
fernung des fünften Jupitertrabanten gegen don Planeten hin in der
ersten Sekunde 1,93 m fallen müfste. Damit er dieses selbe Bestreben
auch gegen den Satelliten hin besitzen und folglich dann auf der
Oberfläche des letzteren gewichtlos ruhen könne, müfste der Mond,
selbst wenn er aus dem dichtesten der uns bekannten Stoffe, aus
Platin bestände, einen Durchmesser von 1300 km besitzen. Sollte er
aber gar nur so dicht sein wie der ihm nächste erste Jupitertrabant,
so mürste sein Durchmesser mehr als das Zweifache von dem der Erde
betragen. In Wirklichkeit gehört er aber bekanntlich zu den kleinsten
aller Weltkörper; es ist deshalb kein Zweifel, dafe etwaige frei be-
wegliche Gegenstände auf seiner Oberfläche ein Bestreben haben
müssen, diese Oberfläche zu verlasseu und gegen den Jupiter hin zu
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145
fallen. Die ungeheure Tangentialkraft wird solche Gegenstände zwar
zunächst in der vorgesehriebenen Bahn fosthalten, aber alles, was sich
von der Oberfläche durch irgend welche physikalischen Einwirkungen
losbröckelt, mufs sich infolge dieser überwiegenden Anziehungskraft
des Jupiter längs der Bahn des Satelliten ausstreuen und der Satellit
selbst mufs ganz in derselben Weise, wie nach der Schiaparellischen
Theorie sich die Kometenkerne in Sternschnuppenschwärme auflösen,
einen Ring bilden, welcher in physischer Hinsicht mit der Konstitution
der Saturnringe absolut identisch ist. Auf die eigentümlichen Ge-
dankenreihen, welche sich hieran knüpfen, wird sich der Verfasser
erlauben, ausführlicher in einem nächsten Artikel zurückzukommen.
Hier sei nur noch hinzugefügt, dafs der merkwürdige fünfte
Satellit vorläufig noch namenlos geblieben ist, und dafs auch wegen
seiner Namengebung sich vermutlich einige Schwierigkeiten erheben
werden. Bekanntlich sind von allen permanenten Himmelskörpern
des Sonnensystems gerade nur die vier Jupitersatelliten unbenamst
geblieben; sie werden mit den römischen Ziffern I, II, Hl, IV be-
zeichnet, nach Mafsgabe ihrer Abstände. Der neue Satellit ist nun
aber in dieser Reihenfolge der erste; die Nummern der alten müfsten
also konsequenterweise um eine Einheit weiterrücken; dieses würde
aber zu den gröfsten Konfusionen Anlafs geben, ist also ganz un-
durchführbar. Es ist vorgeschlagen worden, ihn einfaoh den nullten
Satelliten zu nennen, vermutlich wird er aber wohl einen mytho-
logischen Namen erhalten und nebenher der fünfte Satellit heifsen,
ohne dafs die bisher gebräuchlichen Zahlen der anderen eine Ver-
änderung erfahren. M. W. M.
Die Ursachen des neuen Sterns im Fuhrmann. Im vorigen
Jahrgauge unserer Zeitschrift (S. 289 und 378) haben wir über das
merkwürdige Schwanken der Helligkeit dieses Sterns und über die
Eigentümlichkeiten des Spektrums berichtet, sowie der Hypotesen
gedacht, welche bisher zur Erklärung der Erscheinungen, die uns jener
interessante Weltkörper darbietet, herangezogen worden sind. Es wurde
darauf hingewiesen, dafs bei dem plötzlichen Aufleuchten des neuen
Sterns ein zweiter Körper mitgewirkt haben mufs, derart, dafs letzterer
in dem neuen Stern eine Fluthbewegung hervorrief und durch dessen
Oberflächenkruste Gasausbrüche veranlafste. Indessen sind diese sowie
andere Ansichten über die Ursachen des neuen Sterns wegen ver-
schiedener Schwierigkeiten, die sie in der Erklärung der Erscheinungen
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nicht ganz beseitigen, nur mit gewisser Reserve annehmbar. Nicht
nur die starke Verschiebung und Verbreiterung einer Anzahl von
Linien in den beiden supponirten Spektren des Sterns und die aufser-
ordontliche Geschwindigkeit, mit welcher sich die beiden Körper
entfernen (nach Vogel 120 Meilen in der Sekunde), gehören zu
den schwer erklärbaren Eigentümlichkeiten des Sterns, sondern na-
mentlich auch das nunmehr seit fast dreiviertel Jahren andauernde
Schwanken seines Lichts. In letzterer Beziehung ist schon fünfmal
das Ansteigen der Lichtkurve um einen nicht unerheblichen Be-
trag beobachtet (21. Dezember, 3. Februar, 18. Februar, 2. März,
Ende August) und mehrere Minima sind bemerkt worden. Pro-
fessor Seeliger in München hat aufserdem kürzlich durch Rechnung
gezeigt, dafs, wenn die Ursachen des Aufleuchtens in der Einwirkung
zweier Körper liegen, diese Einwirkung auf den Stern kaum mehr als
ein paar Stunden hätte dauern können, da sich die beiden Körper mit
iiberaus grofser Geschwindigkeit von einander entfernt haben müssten.
Die monatelange Dauer der Lichtschwankung stehe jener Annahme,
abgesehen von manchen andern Schwierigkeiten, entgegen. Professor
Seeliger macht darauf aufmerksam, dato sich die verschiedenen Er-
scheinungen in der Beobachtung des neuen Sterns durch die folgende
Hypothese mit einander vereinigen lassen: Es sei durch mancherlei
Beobachtungen neuerer Zeit nicht mehr zweifelhaft, dafs sich im
Weltraum zerstreute kosmische Aggregate, Ansammlungen fein ver-
dünnter Materie, die wir „kosmische Wolken“ nennen dürfen, vorfindon.
Sobald ein Weltkörper in eine solche kosmische Wolke, die er auf
seinem Wege trifft, eindringt, wird er Erscheinungen darbieten, wie
solche beim Aufleuchten der Meteoriten in den höchsten, verdünnten
Schichten der Erdatmosphäre auftreten. Ebenso wie beim Eindringen
der Meteoriten in die Erdatmosphäre diese Körperchen sich erhitzen
und Lioht einittiren, kann die Erhitzung des Weltkörpers in einer
kosmischen Wolke an seiner Oberfläche so bedeutend werden, dafs
Lichterscheinungen die Folge sein müssen. Seeliger zeigt rechnerisch
durch Vergleich mit den Verhältnissen, wie sie uns die Bewegung der
Meteoriten darbieten, dafs die Geschwindigkeit des in die Wolke ein-
dringenden Körpers nur wenig durch den Widerstand der feinen Materie
verlangsamt werden kann und dafs die entwickelte Wärmemenge hin-
reichend ist, den Körper zum mindesten an seiner Oberfläche ins
Glühen zu bringen. Daraus erklärt sich, dafs der neue Stern so lange
Zeit, nämlich von dem Moment an, wo er in die Wolke eingedrungen
ist, bis jetzt wenig von seiner Bewegungsgeschwindigkeit verloren hat,
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147
und dass sich die Liohterscheinungen durch mehr als aoht Monate
haben erhalten können. Schon vor dem Eindringen des Körpers in
die Wolke wird eine Verlängerung der letzteren durch die Anziehungs-
kraft des Körpers bewirkt worden, die Theilchen der Wolke werden in
Bewegung gerathen, und schliefslioh, nach dem Eindringen, werden
die Partikeln der Wolke hyperbolische Bewegungen um den Körper
beschreiben; die Geschwindigkeit der Theilchen wird mit der Ent-
fernung vom Körper abnehmen, und die Theilchen, welche die Ober-
fläche streifen, können endlich eine so aufserordentlich schnelle Be-
wegung erlangen, wie sie beim neuen Stern konstatirt worden ist,
trotzdem deren Anfangsgeschwindigkeit vielleicht eine sehr geringe
war. Infolge der Erhitzung werden sich um den eindringenden Körper
Verdampfungsprodukte bilden, die sich zum Theil von ihm ablösen
und alsbald die Geschwindigkeit annehmen, welche die niichstbefind-
lichen Theilchen der kosmischen Wolke besitzen. Im Spektroskope
werden wir infolge dessen ein kontinuirliches Spektrum des glühenden
Sterns mit Absorptionsstreifen (der um den Stern lagernden glühenden
Gase wegen) sehen, und ein zweites Spektrum, aus meist hellen Linien
bestehend, darüber; theilweise werden die Linien stark verbreitert und
wegen der grofscn Bewegung im Visionsradius namentlich stark gegen-
einander verschoben sein — Erscheinungen, wie sie das Spektrum des
neuen Sterns thatsächlich aufgewiesen hat. Auch das langsume Auf-
und Absohwanken der Helligkeit dos neuon Sterns hat nicht viel Un-
erklärbares, wenn man sich daran erinnert, dafs auch die Meteoriten
während ihrer schnellen Bewegung durch die dünne Atmosphäre solche
Maxima und Minima ihres Lcuchtens beobachten lassen, und dafs die
Verhältnisse bei einem in einer kosmischen Wolke von verschiedener
Dichtigkeit vordringenden Körper ähnliche sein müssen, dass nämlich
verschiedene Grade der Erhitzung, je nach der Dichte des Mittels, ein-
treten werden. *
♦
lieber neuere Strahlenmessungen.
Auf Seite 197 ff. vorigen Jahrgangs haben wir über die Methoden
und Resultate der Langleyschen und Boysschen Strahlenmessungen
berichtet. Aus den dortigen Ausführungen ist wohl zur Genüge her-
vorgegangen, ein wie wichtiges Hülfsmittel für den Astrophysiker das
Bolometer bildet; hat es doch, um nur ein Ergebnifs zu erwähnen
gezeigt, dafs die Strahlen, welche die Sonne durch den Weltenraura
sendet, anders geartet sind als diejenigen, welche durch unsere Atmo-
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Sphäre wirklioh zu uns herabgelangen, dafs wir also Geschöpfen ver-
gleichbar sind, welche auf dem Grunde des Ozeans leben und sich
nur eine unvollkommene Vorstellung davon bilden können, wie die
spärlich herabdringenden Lichtstrahlen an der Oberfläche des Wassers
beschaffen sein mögen. Ein viel glänzenderes und vor allem an blauen
Strahlen reicheres Tagesgestirn würde unserem Auge erscheinen, wenn
wir uns bis zur Grenze der Atmosphäre zu erheben vermöchten.
Es ist auf dem Gebiete der Naturwissenschaften keine seltene Er-
scheinung, dafs ein Gedanke, eine Forsch ungsmethode oder ein Instrument,
welche für einen bestimmten Zweck ersonnen wurden, auf einem ganz
anderen Gebiete, etwa in Erfüllung technischer Aufgaben, wiederum eine
Neubearbeitung oder eine weitere Verwerthung finden. Das in Rede
stehende Instrument, welches, wie sein Name besagt, Strahlen, und
zwar speziell die Wärmewirkung von Strahlen messen will, ist, wie es
scheint, dazu berufen, im Beleuohtungswesen, diesem sich so leb-
haft entwickelnden Zweige der Technik, eine wichtige Rolle zu spielen.
Bekanntlich leiden die Messungen auf diesem Gebiete trotz der treff-
lichsten Photometer, welche die Helligkeit zweier Lichtquellen bis auf
Bruchtheile eines Prozentes zu vergleichen gestatten, an dem Mangel
einer wissenschaftlichen Lichteinheit, die bestimmte Beziehung zu
anderen absoluten Einheiten hätte, und leicht mit einiger Genauigkeit
dargestellt werden könnte. Der Vorschlag des französischen Physikers
Viollo, als Einheit dasjenige Licht zu nehmen, welches von einem
Quadratoentimeter der Oberfläche glühenden Platins bei der Schmelz-
temperatur ausgestrahlt wird, hat aus naheliegenden Gründen diesem
Mangel nicht abzuhelfen vermocht. Auf der technischen Reichsanstalt
zu Oharlottenburg benutzt man als praktische Vergleichslichtquellen
Glühlampen, welche durch einen Strom von konstanter Stärke gespeist
werden, und tieren bei längerem Gebrauche eintretende Veränderung
dadurch leicht kontrolirbar wird, dato man sie mit anderen, nur selten
benutzten Lampen derselben Art vergleicht. Neuerdings haben die
Herren Lummer und Kurlbaum versucht, diu Wärmewirkung
der von solchen Lampen ausgesandten Lichtstrahlen boloinetrisch zu
bestimmen; wenn dieser Versuch erfolgreich ist, so ergiebt sich offenbar
die Möglichkeit, Vergleiche mit der Strahlung einer konstanten Wärme-
quelle anzustellen und so zu einer Strahlungseinheit zu gelangen.
Wir wollen die betreffenden Ausführungen1) etwas weiter verfolgen,
einmal, weil sie als Beitrag zur Erkenntnifs der Eigenschaften des
') Wiedemann, Ann. 1892 S. 204 ff.
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Bolometers interessant sind und deshalb dein immerhin selten benutzten
Instrumente weiteren Eingang verschaffen dürften, dann aber auch
wegen der technisch überaus geschickten Herstellungsmethode, deren
sich die Verfasser bedient haben.
Erinnern wir zunäohst noch einmal daran, dafs die bolometrischo
Messung auf der Wheatstoneschen Brücke beruht: Leitet man dem
Drathviereck ADBC mittelst des Elemetes E an den Ecken A und B
Strom zu, so ist ein zwischen C und D eingeschaltetes Galvanometer
stromlos, sobald zwischen den vier Leitungswiderständen die Beziehung
bestellt Wj : W3 = W2 : W4. Bedarf dieser bekannte Satz noch einer
Versinnlichung, so könnte man an eine Wasserleitung denken, welche von
einem höher gelogenen Punkte A nach einem tiefer liegenden B
Wasser auf zwei Wegen befördert. Eine verbindende Querleitung CD
wird stromlos sein, wenn C und D gleiches Niveau haben; dafs aber
diese Bedingung analog der obigen ist, würdo sich ohne Schwierigkeit,
wenn auch nicht ganz kurz, zeigen lassen. — Beim Bolometer wird
nun eins der Drahtstüoke, z. B. W'4 erwärmt; dadurch erhöht sich dor
Leitungswidersland, und das Galvanometer wird von einem Zweigstrome
durchflossen, dessen Stärke im Verhältnifs zu der Widerstandsänderung,
also auch der Erwärmung steht. Es kam nun den Verfassern auf
zwei Eigenschaften des Galvanometerausschlags an; erstens soll selbst-
verständlich das Instrument empfindlich sein; einer geringen Bestrahlung
soll schon ein grofser Ausschlag entsprechen. Nicht minder wichtig
aber ist sodann, dafs bei wiederholten Messungen sehr nahe dasselbe
Resultat erhalten werde, dafs nicht etwa sohon bei unbestrahltein Bolo-
meter eine Bewegung der Magnetnadel
vorkomme, was aus später zu besprechen-
den Gründen bei bolometrischen Messun-
gen durchaus nichts Seltenes ist. Damit
der Ausschlag bei gegebener Bestrahlung
möglichst grofs werde, mufs zunächst der
Zweig W4 aus einem Metall bestehen,
dessen Widerstand sich mit der Tempe-
ratur sehr stark verändert. Dies ist der
Fall bei dem von Langley benutzten
Eisen und nicht minder bei dem von
den Verfassern zur Anwendung gebrachten Platin. Ferner mufs
der Widerstand des bestrahlten Theiles ein möglichst grofser sein
und gleichzeitig mufs die den Strahlen ausgesetzte Oborfiäche eine
grofse Ausdehnung haben. Beide Zwecke erreicht man, wenn man
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dem Metall die Form eines recht dünnen Blechstreifens giebt, welcher,
wenn es sich nicht um schmale Strahlungsbezirke, z. B. Spektrallinien
handelt, gitterartig angeordnet wird, und zwar so, dafs der Strom die
Stäbe des Gitters der Reihe nach durohfliefsen mufs. Durch die ge-
ringe Dicke des Gitters trägt man der ferneren Bedingung Rechnung,
dafs nur eine geringe Masse zu erwärmen ist, so dafs bereits bei
schwacher Wärmezufuhr eine beträchtliche Temperaturerhöhung ein-
tritt. Das Bolometer reagirt dann ohne grofse Trägheit auf die ein-
treffenden Strahlen. — Der Ausschlag des Galvanometers ist ferner
proportional der Stärke des benutzten Hauptstroms, und deshalb würde
diese möglichst bedeutend zu wählen sein, wenn nicht noch andere Um-
stände, eben die Ursachen jener oben erwähnten Störungen, in Betracht
kämen. Der Strom erwärmt nämlich die vier Brückenzweige und bringt
dadurch selbst Widerstandsänderungen hervor. Ist nun schon aus
anderen Gründen das Verhältuifs der Widerstände einer Briiokenkom-
bination dann für einen grofsen Ausschlag am günstigsten, wenn die
vier Zweige gleichen Widerstand haben, so wird dies in Anbetracht
des letzteren Umstandes um so mehr der Fall sein müssen; denn nur
unter dieser Voraussetzung ist die in den vier einzelnen Zweigen ent-
wickelte Wärmemenge dieselbe. Diese Widerstandsabgleichung genügt
aber nicht. Trotz derselben bemerkt man, dafs die Nadel des Galvano-
meters in Bewegung geräth, sobald man den Strom schliefst, und dafs
sie ihre Stellung ändert, wenn man eine andorr Stromstärke benutzt.
Der Grund liegt darin, dafs zwar die entwickelten Wärmemengen ein-
ander gleich sind, dafs aber die durch sie hervorgebrachteu Temperatur-
erhöhungen auch noch abhängig sind von der Masse der Drähte, welche
ja bei gleichem Widerstande noch sehr verschieden sein kann ; ferner
auch von der Form, da z. B. ein Blech die Wärme an die Luft schneller
abgiebt, als ein Draht. Die Verfasser ziehen daraus den wichtigen
Schlufs, dafs man sämtliche vier Zweige in jeder Beziehung einander
gleich gestalten müsse.
Mittelst des Langleyschen Verfahrens, dünne Bleche dadurch
herzustellen, dafs man feine Drähte flach hämmert, gelangt man zwar
zu hinlänglich geringen Dicken, aber jene wünschenswerthe Gleich-
mäfsigkeit läfst sich nicht erzielen. Deshalb haben die Verfasser ein
sinnreiches Verfahren angewendet, um dünne Platinbleche zu erhalten
und gleichzeitig in der gewünschten Gitterform zu montiren. Ein Platin-
blech wird mit einem etwa zehnmal so dicken Silberblech zusammen-
geschweifst und ausgewalzt. Aus den ursprünglichen Dimensionen
des Bleches und aus den Flächendimensionen, welche es während des
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Walzens annimmt, ist seine Dicke bekannt und kann beliebig regulirt
werden. Unter Beobachtung gewisser Vorsichtsmafsregeln läfst sioh
dies Verfahren bis zu einer Dicke der Platinsohicht von etwa 0,0003 mm
fortsetzen; die Verfasser haben eine Schicht von 0.001 mm benutzt. Das
aus den beiden Metallen bestehende Blatt wird auf Glas geklebt und mit-
tels der Theilmaschine in die betreffende gitterartige Form geschnitten.
Dann wird es auf einen kleinen Rahmen aus isolirendem Material ge-
klebt und fertig montirt, also mit Zuleitungsdrähten versehen u. s. w-
Erst jetzt löst man die Silberschicht mit Salpetersäure ab. Weitere
technische Kunstgriffe über die Behandlung des überaus dünnen
Blättchens, ferner die Schutzvorrichtungen gegen Luftzug u. s. w.
wollen wir nicht im einzelnen verfolgen. Versuche, bei welchen eine
kleine Glühlampe von ungefähr drei Kerzenstärken aus 1 Meter Ent-
fernung das Bolometer bestrahlte, ergaben grorseGalvanometerausschläge,
welche bei mehreren Versuchen sehr nahe übereinstimmten; der wahr-
scheinliche Fehler betrug nur 0.01 pCt.
Man kann nach alledem sagen, dafs die Möglichkeit, genaue
Strahlungsmessungen vorzunehmen, durch dieses zuverlässige neue
Instrument eine wichtige Bereicherung erfahren hat. Sp.
*
Neue Kometen. Am G. November wurde von Holmes in Green-
wich im Sternbilde der Andromeda ein heller Komet entdeckt. Die
Bahnelemente desselben konnten erst kürzlich sicher bestimmt werden
und es hat sich dabei herausgestellt, dafs die anfängliche Vermuthung,
seine Bahn fiele mit der dos Bit- laschen Kometen zusammen, falsch
war. Doch ist auch der Holmessche Komet ein periodischer von
7 Jahren Umlaufszeit, der sich dem Jupiter stark nähern kann. —
Am 21. November ist ferner von Brooks noch ein als holl bezeich-
netor Komet in der Jungfrau, am 24. November von Free mann ein
weiterer, schwacher Komet in den Zwillingen entdeckt worden, so dafs
zur Zeit im Ganzen fünf teleskopischo Kometen beobachtbar sind.
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Lamberts Pbotometrle. Deutsch herausgegeben von E. Anding. Nr. 31.
3*2 und 33 von Ostwald« Klassikern der exacten Wissenschaften.
Preis Mk. 2,00, 1,60 u. 2,50. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engel-
mann. 1892.
Das vorliegende Werk kann mit Fug und Recht als eine der schätz-
barsten unter den vielen werth vollen Gaben bezeichnet werden, welche uns
Ostwalds Unternehmen der Herausgabe von „Klassikern der exakten Wissen-
schaften1* bereits bescheort hat. An ding, ein Schüler Professor Seeligers,
der ersten gegenwärtigen Autorität auf dem Gebiete der Pholometrie, liefert
in dem vorliegenden Werke nicht nur eine sorgfältige deutsche Uebersetzung
des für einen wichtigen Zweig der Astrophysik und viele Fragen der Be-
leuchtungstechnik gleich bedeutsamen Canons des photometrischen Calculs,
sondern fügt dem Werke noch eine reiche, sieben Druckbogen füllende Samm-
lung von eigenen Anmerkungen hinzu, welche theils einige Weglassungen von
gröfserem Umfange begründen, theils Unklarheiten im Ausdruck des Originals
klar2ustellen suchen, vornehmlich aber das Buch durch historisch-kritische
Nachweise so weit zu vorvollständigen bestimmt sind, dafs es auch für den
Gelehrten der Gegenwart als ein Lehr- und Handbuch bei der Behandlung
photometrischer Aufgaben benutzt werden könne, ln Anbetracht dieser Be-
stimmung ist es besonders dankenswerth, dafs nicht blofs die Druckfehler und
Flüchtigkeiten, von denen das Original strotzt, richtig gestellt sind, sondern
dafs auch alle Formelentwickelungen aufs genaueste geprüft und von nicht
wenigen in ihnen enthaltenen Rechenfehlern befreit worden sind. Als recht
dringendes Desideratum, »lern vielleicht durch einen Nachtrag noch bald Ge-
nüge geleistet werden könnte, müssen wir jedoch eine Inhaltsübersicht nebst
gutem Sachregister hervorheben. Gerade bei einem so vielerlei Probleme be-
handelnden Werke ist die Erleichterung der Benutzung durch ein gutes Re-
gister ausserordentlich wünßchenswerth. Auch wäre sicherlich ein an den be-
treffenden Stellen des Textes angebrachter Hinweis auf die Anmerkungen
recht zweckmässig gewesen. Solche formale Mängel vermögen indessen natür-
lich nicht ira mindesten den hohen Werth der vorliegenden mühevollen Arbeit
zu verringern. F. Kbr.
*
N ewcom b- Engeltnanns Populäre Astronomie. Zweite vermehrte Auf-
lage, herauagegeben von Dr. H. C. Vogel, Direktor des astrophysi-
kalischon Observatoriums in Potsdam. Leipzig 1892, Verlag von
Wilhelm Engelmann. Preis M. 13, geb. M. 15.
Die zum ersten Male im Jahre 1881 in deutscher Sprache erschienene
populäre Astronomie des berühmten Amerikaners Simon Newcomb vereinigt
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unerkanntennafsen so viele und bedeutende Vorzüge in sich, daTs sie trotz der
nicht geringen Anzahl guter, zum Theil sogar musterhafter Darstellungen des-
selben Gegenstandes durch deutsche Gelehrte bei den Gebildeten unseres
Vaterlandes eine ausserordentlich günstige Aufnahme gefunden hat. Diese
Vorzüge beruhen im wesentlichen in der sonst kaum erreichten Präzision und
Klarheit der Darstellung, in der starken Betonung des «historischen Ent-
wickelungsganges der Wissenschaft und vor allem in einer trotz populären,
vielfach sogar begeisterungsvollen Ausdrucks niemals ins Phrasenhafte ver-
fallenden Wissenschaftlichkeit, welche das ganze Werk erfüllt und welche es
auch dem Fachmanne zu einem ihm stets zur Seito liegenden Kompendium
der wichtigsten Grundlehren seiner Wissenschaft werden liefs. Der Leser darf
in dem Buche keine blofs unterhaltende Nachmittagsplauderei suchen, sondern
er mufs mit dem Vorsatz an die Lektüre gehen, sich in die Gruudzüge der
Himmelswissenschaft durch intensives, eigenes Nachdenken zu vertiefen. Das
denkende Erfassen des Inhalts einer so erhabenen Wissenschaft wird ihm aber
dafür auch den höchsten geistigen Genufs verschaffen, dessen Menschen fähig
sind, und statt oberflächlicher Halbbildung wird er eine wahre. Zinsen tragende
Durchbildung soiner Weltauffassung gewinnen.
Der einzige Fehler des Werkes war der, dafs es iufolge des gewaltigen Fort-
schritts der Sternkunde im letzten Jahrzehnt jetzt bereits als theilweiso veraltet
gölten mufste. Daher begrüfsen wir es mit grofser Freude, dafs es nunmehr in
verbesserter Auflage, dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft angepafst, er-
scheint Diese Freude wird noch durch den Umstand besonders erhöht, dar» es der
Verlagshandlu ng gelungen ist, an Stelle des leider inzwischen verstorbenen, ver-
dienten Herausgebers Rud. Eiigelinann Herrn Geheimrath Vogel in Potsdam
zu gewinnen. Wer selbst einen so hervorragenden Antheil an der Förderung der
Wissenschaft genommen, wie dieser Gelehrte, kann am besten den relativen Werth
der zahlreichen neueren und neuesten Entdeckungen beurtheilen und ihnen
den gebührenden Platz in einem Werke, wie dem vorliegenden, anweiseu.
Besonders günstig für die Neugestaltung des Buches ist ferner der Umstand
gewesen, dafs dor Bearbeiter ein Astrophysiker ist, denn dadurch wurde den
astrophysikalischen Gebieten, die bei New comb, dom grofsen Meister der
Theorie, etwas zu kurz gekommen waren, die ihnen in einer populären Astro-
nomie zukommende Stellung gesichert. Letzteres Ziel konnte freilich nur durch
eine mühevolle, gänzliche Umgestaltung ganzer Abschnitte erreicht werden.
Herr Geheimrath Vogel hat es trotzdem verstanden, das Werk ohne wesent-
liche Vergröfserung seines Umfanges auf die Höhe der houtigen Wissenschaft
zu heben. Die äufsere Ausstattung ist ebenfalls wesentlich bereichert worden,
nicht blofs infolge Ersetzung zahlreicher minderwerthiger Illustrationen
durch neue, vortreffliche Holzschnitte, sondern auch durch die Hinzufügung
einer photographischen Tafel, welche vorzügliche Aufnahmen des Orion- und
Andromeda-Nebels iu direkten Original- Abzügen vor Augen fuhrt. Wünschens-
wert wäre wohl auch eine Reproduktion der epochemachenden neuen Mars-
und Merkurzeichnungen Sch iaparell i’s gewesen, zumal eine Abbildung des
letzteren Planeten gänzlich fehlt. Die Weglassung des in der früheren Auflage
als Anhang beigegebenen Literaturverzeichnisses, sowie der Sternkarte werden
viele Leser mit uns bedauern, indessen kann man freilich den dafür mafs-
gebend gewesenen Gründen nicht unbedingt widersprechen. Schliofslioh
können wir an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dafs zu den gröfsten, in
einem besonderen Verzeichnis aufgezählten Fernrohren auch der durch Ver-
sehen fortgolasBene 1*2 zöllige Refraktor der Urania in Berlin gehört. —
Dafs das vortreffliche Werk in seiner neuen Gestalt zahlreiche neue Freunde
Himmel und Erde. 1892. V. 3. 11
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in Kurzem gewinnen wird, ist uns nicht zweifelhaft: dem Herausgeber werden die
Gebildeten unserer Nation sicherlich überaus dankbar dafür sein, dafs er trotz-
seiner wichtigen Forschungsarbeiten die mühevolle Durchsicht und Neuge-
staltung der Darstellung des heutigen astronomischen Wissens auf sich ge-
nommen hat F. Kbr.
W. «langen, Hauptmann a. D.: Die Kreiselbewegung. Untersuchung der
Rotation von Kflrpern, welche in einem Punkte oder garnicht unter-
stützt sind. Mit vielen Abbildungen. Berlin, Friedrich Luckhardt.
1891.
Eine Reihe werth voller Versuche über die Bewegung des Kreisels und
über das Verhalten geschofsartiger, um ihre Längsachse rotirender Körper ist
hier anschaulich beschrieben. In den aufgestellteu Theorien und der Deutung
der Versuche können wir nicht überall mit dem Verfasser übereinstimmen.
»Steht ein rotirender Kreisel in schiefer Lage auf einer wagerechteu Platte,
so scheint anfangs, während mehrerer Umdrehungen, seine Achse ihre Richtung
unverändert beizubehalten, bei längerer Beobachtung erkennt man aber, dafs
nur ihre Neigung gegen den Horizont eine bleibende ist, während eine lang-
same seitliche Richtungsänderung stattilndet. Die Achse, die man sich weit
nach oben verlängert denken mag, scheint also jetzt einen Kegelmantel zu
beschreiben und zwar, nach dem einfachen Merkmal des Verfassers, in der-
selben Richtung, in welcher sich die Rotation des Kreisels vollzöge, wenn man
seine Achse zu senkrechter Lage aufrichtete. Hiermit ist die Bewegung noch
nicht durch alle Phasen verfolgt Der Kegelmantel wird mit der Zeit enger,
es findet also ein langsames Aufrichten der Achse statt, welches man gewöhnlich
als eine von der Reibung herrührende Unvollkommenheit betrachtet. Man ist
hierzu berechtigt, weil die mathematische Theorie des Kreisels unter Vernach-
lässigung der Reibung zu dem Resultate führt, dafs die Achse, von periodischen
Schwankungen abgesehen, eine konstante mittlere Neigung bewahrt. Die Er-
scheinungen bleiben ähnlich, wenn man die Spitze des Kreisels zwingt, in
einem festen Punkte der Platte zu verharren, nur zeigt dann der Versuch ein
allmähliches Sinken der Achse, welches jedenfalls der Reibung zuzuschreiben ist.
Der Verfasser bezweifelt den eben dargelegten Kinflufs der Reibung und
sucht durch Versuche genaueres zu ermitteln. Ein Kreisel mit schmiedeeiserner
Spitze richtete seine Achse zur Senkrechten auf. wenn er auf einer Glasplatte
lief, wurde diese mit einem Blatt Papier bedeckt so durchbohrte er dieses und
richtete sich wieder auf. Lag aber eine Schicht von vier Blättern auf der Platte,
so senkte' sich die Achse, nachdem sich die Spitze ein Lager gebohrt hatte.
Im ersten Falle sei fast gar keine Reibung vorhanden, im zweiten eine massige,
im dritten finde die Achse in dem Lager eine sehr starke zapfenartige Reibung.
Also finde bei fehlender Reibung ein Aufrichten der Achse statt, dieses werde
durch eine geringe Reibung erschwert und gehe bei starker Reibung sogar in
ein Sinken über. Diese Schlüsse sind unzulässig. Im ersten Falle ist die
Reibung durchaus nicht völlig beseitigt, im zweiten und dritten hat sie, so
lange die Papierblättor unversehrt sind, einen und denselben Werth, ist aber
erst die Papierschicht durchbohrt, so sind die mechanischen Bedingungen so
verändert, dafs man die drei Bewegungen nicht mehr nach der Gröfse der
Reibung allein vergleichen kann. In dem dritten Fall wird die Spitze des
Kreisels durch die vier Papierränder so fest gehalten, wie etwa der feste Punkt
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■der Achse eines Gyroskope«, im zweiten Fall scheint die äufserste feine Spitze
der Achse noch genug Spielraum zu ihren spiralförmigen Bewegungen gehabt
zu haben, die sich auf Glas, nicht auf Papier vollzogen.
Schliefst man sich jodoch der Auffassung des Verfassers an, so steht man
nun Tor der Frage, wie das Aufrichten der Kreiselachse ohne Einwirkung der
Reibung zu begreifen sei. Bei vollkommener Symmetrie des Kreisels hält der
Verfasser — in Uebereinstimmung mit der üblichen Ansicht — ein solches in
der That für unmöglich, er nimmt deshalb an, dafs ein wesentliches Erfordernifs
flir das Aufrichten eine praktisch immer vorhandene Asymmetrie sei. Stollte
er eine solche künstlich her, indem er leidlich symmetrische Kreiselscheiben
mit Ueberge wichten von 1, 2, 3, 4 g versah, so fand das Aufrichten etwa in
180, 00, 45, 10 Sek. statt, also desto schneller, je gröfser das Uebergewicht war.
Sollte man hiernach nicht erwarten, dafs, wenn es wirklich vor allem auf die
Asymmetrie, nicht auf die Reibung ankomme, bei einem fast unmerklichen
Uebergewicht von etwa lOOmal kleinerem Werth das Aufrichten der Achse eine
aufserordentlich lange Zeit erfordern müfste? Auch scheint es für die Wirkung
gleichgültig zu sein, ob man das Uebergewicht in diesem oder jenem Punkte des
Scheibenumfangs befestigt. Brächte man also je 1 g in vier am Umfang glcichmäfeig
vertheilten Punkten an, so sollte dadurch das Aufrichten ebenso wie durch 4 g
in einem Punkte beschleunigt werden, aber der Kreisel wäre doch dann wieder
vollkommen symmetrisch!
Wir glauben daher nicht, dafs die Versuche mit unsymmetrischen
Kreiseln wesentlich dazu beitragen können, das Aufrichten der Achse gewöhn-
licher Kreisel zu erklären. Damit soll ihnen jedoch ihr Werth für weitere
Untersuchungen nicht abgesprochen werden.
Von den vielen Versuchen über das Vorhalten geschofsartiger, in der
Luft frei rotirender Körper heben wir folgenden heraus. Aus Birkenholz war
ein Rotationskörper hergestellt, der die Gestalt eines Cylinders mit aufge setzter
konischer Spitze hatte, der Boden war mit einer Bleischeibe beschwert. Liefs
man diesen Körper ohne Rotation aus einer Höhe von 15 ra frei herahfallen,
und hatte die Achse anfangs eine horizontale Lage, so stellte sie sich nach
einigen Schwankungen vertikal in die Richtung der Bahnlinie, so dafs der be-
schwerte Boden voranging. Gab man aber durch eine besondere Vorrichtung
mittelst einer starken Spirale dem mit der Spitze nach vorn gerichteten Körper
bei Beginn der Bewegung eine starke Rotation in Richtung des Uhrzeigers um
seine horizontale Achse, in deren Verlängerung ein langes dünnes Holzstäbchen
befestigt war, so blieb die Rotationsachse anfangs sich selbst parallel, und drehte
sich bei wachsender Fallgeschwindigkeit erheblich nach rechts. Diesor lehr-
reiche Versuch läfst sich leicht wiederholen, das Federgehäuse zum „Ankreiseln"
ist als Zubehör mancher Kreisel (toupie & ressort, plus de ficelle) käuflich, die
Holzkörpor sind, um sie mittelst dieser Vorrichtung in Rotation zu versetzen,
am Boden mit einer eisernen Achse zu versehen, die einen kleinen Querstift
trägt. Läfst man denselben Körper auf der Spitze der eisernen Achse als
Kreisel laufen, so droht sich die Achse langsam in entgegengesetzter Richtung,
also nach links. Dies scheint uns leicht verständlich. Denn die Drehung der
Kreiselache um die festgehaltene Kreiselspitze rührt von der Einwirkung der im
Schwerpunkt nach unten ziehenden Schwere her, dagegen rühren die Bewegungen
des fallenden Geschosses um seinen Schwerpunkt von dem nach oben drückenden
Luftwiderstände her, dessen Angriffspunkt vor dom Schwerpunkt liegt Die
Drehungen der Achse müssen deshalb in beiden Fällen einander entgegenge-
setzt sein.
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Ebenso werden rotirende Geschosse ihre Achse um die augenblickliche
Tangente zur Flugbahn drehen. Da aber bei diesen die Rotationsachse und
die Bahntangente bei Beginn der Bewegung einander parallel sind, so wird
die Abweichung zwischen beiden nie so grofs werden, wie in dem beschriebenen
Versuche, wo die beiden Richtungen anfangs auf einander senkrecht standen.
Aufser dem Luftwiderstände und der Lage des Schwerpunkts hat auch eine
etwaige Unsymmetrie einen sehr grofsen Einilufs, den der Verfasser durch
sorgfältige Versuche zu ermitteln sucht. Wir glauben aber, dafs er mit Unrecht
diesen Einflufs auch dann noch für erheblich und ausschlaggebend hält, wenn
die Unsymmetrie selbst kaum merklich ist.
Die astronomischen Folgerungen, die sich aus einer angenommenen Asym-
metrie des Erdkörpors orgäben, dürften wohl mit den augenblicklich zur Ver-
fügung stehenden Beobachtungsmitteln noch nicht wahrnehmbar sein. M. K.
Verl »ff von Hermann I'aetel in Berlin. — Druck von Wilhelm Gronau'fl Buchdruckerei io Berlin.
Für die RedacUon verantwortlich : Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin,
rnberechligter Nachdruck »uh dem Inhalt dieser Zeitschrift untersag-t,
Uebersetstutgsrecht Vorbehalten
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Land- und Seeklima.
Von Dr Willi Ile in Hall« a. S.
re das Klima der Erde nur von der Gröfse der Sonnen-
bestrahlung abhängig, so inüfste es den mathematisch -astro-
nomischen Linien, mit denen wir unseren Planeten umziehen,
durchaus angepafst erscheinen. Durch die Wendekreise und die Polar-
kreise wären die wichtigsten klimatischen Zonen gegeben. Inders ein
solches solares Klima ist in Wirklichkeit nicht vorhanden. Dasselbe
würde eine vollständige Gleichartigkeit der Erde in Gestalt und Be-
schaffenheit voraussetzen und auch das Vorhandensein einer in ihren
Bestandteilen veränderlichen Atmosphäre ausweisen. Das Klima ist
eben keineswegs allein von der Menge der Sonnenstrahlen abhängig.
Ob Wasser oder Land, ob Vegetation oder Wüste, ob Gebirge oder
Ebenen die Oberfläche der Erde bilden, ist oft von weit gröfserer
Bedeutung Tür den klimatischen Zustand eines Ortes, als die geo-
graphische Breite desselben. Mit dem Vorwalten dieses oder jenes
Faktors ändert sich die Wirkung der Sonnenstrahlen und damit das
Klima, d. h. die Gesamtheit der meteorologischen Erscheinungen.
Dem solaren, ideellen Klima steht ein von den tellurisohen Ver-
hältnissen modifiziertes, aber reales Klima gegenüber.
Dieses sogenannte physische Klima zeigt in einer mit der Zu-
nahme des Beobachtungsmateriales sich stetig mehrenden Klarheit
zwei grofse klimatische Gruppen, von denen die eine, durch die
vertikalen Verhältnisse verursacht, als Höhen- und Thalklima, die
andere, durch die horizontale Vertheilung von Wasser und Land be-
dingt, als See- und Landklima uns entgegentritt.
Gerade die letzte Gruppe ist es, welche der Erdoberfläche in
mancherlei Hinsicht bestimmte Züge aufprägt und welche darum in
Himmel und Erd« 1866. V. <4. IS
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der Erdkunde einen der wichtigsten Faktoren ausmacht. Wenn schon
den Gelehrten des klassischen Alterthum« der klimatische Gegensatz
von Wasser und Land bekannt war, so beweist das doch gewifs. wie
«ufserordentlich hervorspringend die ganze Erscheinung ist.
Doch die uralte Kenntnifs der Thatsache hat nicht ebenso sohnell
auch zur Ergründung derselben geführt. Erst der allerjüngsten Zeit
blieb es Vorbehalten, die durch die Beobachtung erwiesene Erscheinung
auch physikalisch zu erklären. Der Grund hierfür liegt auf der Hand.
Die physikalische Erklärung konnte nicht eher gefunden werden, als
bis überhaupt die Physik der Luft in ihren wesentlichen Grundsätzen
erforscht war. Gegenwärtig ist nun, Dank der unermüdlichen Thätig-
keit der Gelehrten auf diesem Gebiete, die Kenntnifs von den Gesetzen,
welche die atmosphärischen Vorgänge beherrschen, bis zu dem Grade
fortgeschritten, dafs man ohne Bedenken an die Erklärung der
wuchtigsten klimatischen Erscheinungen herantreten kann.
Die beiden klimatischen Grundsätze Land- und Seokliina kommen
nalurgemäfs auch in deu klimatologischen Karten deutlich zum Aus-
druck. Die geographische Vertheilung der einzelnen klimatischen
Konstanten soll uns daher als erster Leitfaden für unsere Unter-
suchung dienen.
Beginnen wir unsere Betrachtung mit der Vertheilung der
Temperatur diese bildet ja die letzte Ursache aller meteorologi-
schen Erscheinungen — , so begegnen wir hier zunächst einer geradezu
endlosen Mannigfaltigkeit. Manches dem Polarkreis nahe gelegene
Land besitzt zeitweise eine höhere Temperatur, als andere Länder in
der Nähr der Tropen; manche Gegend der gemäl'sigten Zone wieder
ist brennend lu ifs im Vergleich zu Gegenden des Aeqtiatoriulgebietes;
selbst unter dem Aequator finden wir auf den höchsten Gipfeln
ewigen Schnee und Eis. Unentwirrbar würde das Netz von Linien
sein, welche die Orte gleicher Temperatur mit einander verbänden.
Um Uebersicht in diese Mannigfaltigkeit zu bringen, ist es nüthig,
der Thatsache Rechnung zu tragen, dafs die Temperatur der Luft uüt
der Erhebung abnimmt. Dies geschieht durch Reduktion der Tempe-
ratur auf ein gemeinsames Niveau, als welches man den Spiegel des
Meeres bestimmt hat. Verbindet man dann die Orte gleicher redu-
zierter Wärme mit einander, so bekommt man eine Reihe von Linien,
sogenannte Isothermen, welche zwar immer nooh vielfache Krüm-
mungen aufweisen, aber doch im allgemeinen einen übersichtlichen
Verlauf zeigen.
Die geographische Vertheilung der Temperatur ist uun während
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159
tles Jahres einem beständigen Wechsel unterworfen; dem Stande der
Sonne entsprechend ist sie eine andere im Sommer, eine andere
unter der Herrschaft des Winters. Die mittlere Jahrestemperatur wird
oft diese jahreszeitlichen Gegensätze verhüllen. Ein Ort mit aufser-
ordentlich kaltem Winter und heifsem Sommer wird im Jahresmittel
die gleiche Temperatur haben können, wie ein anderer Ort, dessen
Sommer und Winter sich in thermischer Hinsicht mir wenig von
einander unterscheiden. Für eine Untersuchung, in welcher es sich
gerade um die verschiedene Erwärmung einzelner Theile der Erde
handelt, wird sich daher die Jahrestemperatur nur wenig eignen:
hier sind zur Prüfung vielmehr die thermischen Zustände im Sommer
Fig. I. Januarisoihermen (nach Hann) and Janiiarisanomalen (nach Spitaler).
(Die schraffierten Gebiete haben positive Anomalie).
und Winter gesondert hernnznziehen, die uns die Vertheilung der
Temperatur kennen lehren sowohl zur Zeit des höchsten Standes der
Sonne, also der stärksten Erwärmung der Erde, wie zur Zeit der
geringsten Erwärmung derselben.
Wenden wir zuniiciist unseren Blick auf die Karte der Wiinne-
vertheilung auf der Erde während unseres Winters (Fig. 1), für die
man als typisch diejenige des Januar annimmt. Hier zeigen sich in
dem Verlauf der Isothermen innerhalb der mittleren und höheren
Breiten der nördlichen Hemisphäre aufserordentlich charakteristische
Erscheinungen. Die Isothermen senken sich regelmiifsig bei dem
Uebergang vom Meere zum Lande iiquatorwärts, zuweilen in dem
Mafse, dafs ihre Richtung sogar eine rein meridionale wird. Dieses
Herabsteigen der Isothermen nach niederen Breiten setzt sich dann
über den ganzen Kontinent hin fort und erst in der Nähe der ent-
gegengesetzten Küste beginnen dieselben, sich wieder nach Norden
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160
zu erheben. Ueber den Ozeanen selbst aber gehen sie weit in die nörd-
lichen Regionen hinein, von denen sie dann bei der Annäherung
zum jenseitigen Kontinent wieder zu niederen Rreiten zurückkehren.
Wenn wir daher auf einem nördlichen Parallelkreis während des
Januar die Erde umkreisen wollten, so würden wir bei dem Eintritt
in das Land stets in immer kältere Gebiete gelangen, während der
Austritt aus demselben uns umgekehrt gröfserer Wärme zuführen
müfste. Das Klima über dem Lande ist somit während des Winters
kalt, das über dem Meere verhältnifsmäfsig warm.
Allein nicht auf der ganzen Winterhemisphäre ist dies der Fall.
In den niederen Breiten zeigen die Isothermen geradezu den umge-
kehrten Verlauf. Schon die 20° — Isotherme, welche ganz der Tropen-
zone angehört, kann theilweise als Belag hierfür gelten; sie be-
schreibt über Nordafrika und Südasien deutlioh einen nach Süden
geöffneten Bogen. In den niederen Breiten, wo Winter und Sommer
keine klimatisch scharf getrennten Jahreszeiten sind, ist also im
allgemeinen während des Januar das Land das wärmere, das Meer
das kältere Gebiet.
Ein ganz anderes Bild bieten die Juliisothermen (Fig. 2), welche
die sommorliohe Temperaturvertheilung auf unserer Hemisphäre re-
präsentieren, dar. Im Juli verlaufen die Linien gleicher Temperatur
derart, dafs sie gerade bei dem Eintritt in das Land nach Norden
Ansteigen , und erst bei der Annäherung an die entgegengesetzte
Küste sich wieder nach Süden wenden. Auf den Meeren aber bilden
in dieser Jahreszeit die Isothermen im allgemeinen sanfte, nach
Norden geöffnete Bogen. Es führt uns zur Zeit des Sommers dem-
nach eine Wanderung auf dem Parallel um die Erde bei dem Ueber-
tritt vom Flüssigen zum Festen in warme, vom Festen zum Flüssigen
in kalte Gebiete. Und dieser Satz gilt sowohl fiir die höheren wie
für die niederen Breiten. Auch in den Tropen ist im Juli das Land-
klima warm, das Seeklima kalt.
Was wir hier für die Nordhemisphäre über den Verlauf der
Isothermen feststellen konnten, findet sich auch auf der südliohen
Erdhälfte bestätigt Dort freilich ist das Bild kein so klares, weil die
südhemisphärischen Landmassen gegenüber der Ausdehnung der
Ozeane verschwindend klein sind. Je weiter polwärts wir uns dort
begeben, um so mehr treffen wir ein rein ozeanisches Klima an,
in welchem die Temperatur gleichmäfsig um die ganze Erde ver-
theilt ist.
Der Gegensatz von Land- und Seeklima tritt uns recht deutlich auch
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in den von Dove zuerst entworfenen sogenannten Isanomalenkarten
entgegen. Uove berechnet*' die mittlere Temperatur eines jeden zehnten
Breitenkreises und stellte dann fest, wie weit an den einzelnen Orten
die beobachtete Wärme von der entsprechenden Breitentemperatur
abweicht. Man bezeichnet diese Abweichung als die thermisohe
Anomalie; sie gilt als positiv, wenn der Ort wärmer, als negativ,
wenn er kälter ist als die ihm zukommende Breitentemperatur. Ver-
bindet man nun die Orte gleicher Anomalie durch Linien mit ein-
ander, so erhält man durch diese Isanomalen, die jetzt von Spitaler
neu konstruirt sind, ebenfalls oin vortreffliches Bild von der Wärme-
vertheilung auf der Erde. Diese Karte der Isanomalen, sowohl die
Fig. 2. Juliitotherman (nach Hann) nnd Juliüanomalen (nach Spitaler).
(Die schraffierten Gebiete haben positive Anomalie).
für den Januar, wie die für den Juli, bestätigen ganz unsere oben
gekennzeichnete Wahrnehmung von dem thermischen Gegensatz
zwischen Land- und Seeklima. Im Januar (Fig. 1) finden wir auf
der nördlichen Hemisphäre die zu kalten Gebiete auf dem Festland,
während über dein Meere und an den Küsten fast überall ein positiver
Ueberschufs von Wärme vorhanden ist Nur in den niederen Breiten
liegen zu dieser Jahreszeit wieder die Verhältnisse zum Theil gerade
umgekehrt. Im Juli (Fig. 2) dagegen wird das Land eingenommen
von einer zu warmen Atmosphäre; die negative Anomalie fällt dann
den Meeren und Küsten zu.
Wenn nun das Klima über dem Lande im Winter kälter, im
Sommer wärmer als dasjenige Uber dem Meere ist, so [müssen wir
oothwendig daraus folgern, dafs ersteres sich durch eine grofsere jähr-
liche Wärmesohwankung auszeiohnet. Man hat auoh diese Verhält-
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msse kartographisch dargestellt, indem man die Orte gleioher jähr-
licher Wärmeschwankung mit einander verhand. (Fig. 3). Diese Karten
bestätigen in der That unseren Schlufs. Mit der Entfernung von der
Küste sehen wir überall die jährliche Wärme Schwankung zunehmen.
Die gröfsten Beträge finden wir im Inneren der Kontinente. Während
Uber den Meeren die jährliche WUrmeschwankung kaum 15° im
Maximum erreicht, besteht in Ostsibirieu zwischen Januar- und Juli-
temperatur ein Unterschied von über 60°. Die llegelmüfsigkeit in der
Zunahme der Wärmeschwankung nach dem Innern der Festländer hat
Supan dazu geführt, in die sonst so verschiedenartig charakterisierten
Fig. 3. JthrMiaothtrmen (nach II nnn) and Linien gleicher jährlicher Wirmuehwwkaiig
(nach Supan und Wild).
(Die schraffierten Gebiete besitzen kontinentales Klima mit jährlicher Temperatur-
schwankung über *20°).
Klimate der Erde ein gewisses System zu bringen. Kitt Land, in welchem
die jährliche Wärmeschwankung noch nicht 15" beträgt, rechnet er dem
Seeklima zu. Umfafst aber die Wärmeschwankung mehr als 20°. so
gilt das betreffende Gebiet in klimatischer Hinsicht als kontinental.
Der Streifen Landes, dessen extreme Monatstempcruturou um 15° bis
20° von einander abstehen, gehiirt dem Uebergangsklima an. Wo die
jährliche Wärmeschwankung jedoch gar 40° übersteigt, da spricht man
nach Supan von einem exzessiven Landklima. Dasselbe ist nur in
der Umgebung der winterlichen Kältepole der Erde — in Ostasien und
im Norden Amerikas — zu finden.
Für den Theil der Erde, wo Sommer und Winter nur astro-
nomisch vorhanden sind, d. i. für die Tropen, haben natürlich diese
Sätze keine Gültigkeit. Hier ist gleichmäfsig auf dem Wasser und
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dem Lande die jährliche Wärmeschwankung' gering; das Aequatorial-
klima deckt sich in dieser Beziehung ganz mit dem Seeklima.
Aus den Isanomalenkarten (Fig. 1 und 2) können wir weiter
noch eine andere wichtige Thatsache entnehmen. Betrachten wir
nämlich den absoluten Betrag der positiven und negativen Anomalie,
so sehen wir, dafs während unseres Winters über dem Inneren Asiens
ein Gebiet liegt, das um 24 u zu kalt ist Dieser negativen Anomalie
von 24° steht aber im Juli nur eine positive von 6° gegenüber. Das
Land ist also hier im Winter weit kälter, als es im Sommer zu warm
ist Das arithmetische Mittel mute somit auch für die Jahrestemperatur
in Ostasien einen niedrigen Betrag ergeben. Auf dem nordatlantisohen
Ozean ist das Umgekehrte der Fall. Dort finden wir die positive
Anomalie zu 24°, die negative im Sommer aber nur zu 2 bis 6°;
hier ist also die Jahrestemperatur verhältnifsmäfsig hoch. Aehnlich
erscheinen die thermischen Zustände über dem nordamerikanischen
Kontinent und dem nordpazifischen Ozean. Es ergiebt sich hieraus
der Schlufs, dafs in der Vertheilung der mittleren Jahrestemperatur
das Festland gegenüber dem Meere als das kältere hervortreten mufs.
In der That zeigen uns auch auf der Xordhemisphäre die Jahresiso-
therraen (Fig. 3) in ihrem Verlauf dasselbe Bild, das wir in den
Januarisothermen kennen lernten. Bei dem Uebergang vom Festen
zum Flüssigen senken sich die Linien nach Süden, bei dem Austritt
aus dem Festen erheben sie sich wieder uach Norden.
Wiederum aber gilt dieser Satz nur lur die mittleren Breiten.
In den Tropen ist im allgemeinen die mittlere Jahrestemperatur
über dem Ozean geringer als über dem Kontinent. Auch auf die
mittleren Breiten der Südhemisphäre läfst er sieh nicht ohne weiteres
übertragen. Dort überwiegt die Wasserfläche das Land in so hohem
Mafse, dafs das letztere in thermischer Hinsicht nicht recht zur Geltung
kommt. Vor allem fehlt hier jene winterliche Erkaltung, wie sie auf
den nordhemisphärischen Kontinenten uns entgegentritt. Daher ent-
scheidet denn auch für den Verlauf der Jahresisolhermen auf der
Südhemisphäre nör die sommerliche Erhitzung der Kontinente. Die
Jahresisothermeu schmiegen sich den Januarisothermen an, wo das
Land das wärmere Klima besitzt.
Die vorhergehenden Betrachtungen, besonders die letzte That-
sachc, drängen uns die Vermuthung auf, dafs in den mittleren Breiten-
temperaturen, wie sie Dove und Spitaler berechnet haben, die jedes-
malige Ausdehnung von Festland und Meer zum Ausdruck kommeu
müsse. Prüfen wir daraufhin die auf umstehender Figur (Fig. 4i in
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graphischer Darstellung- wiedergegebenen Resultate jener Berechnungen,
so möohten wir wohl den Schlufs wagen, dafs die Temperaturver-
theilung in der That unserer Vermuthung entspricht Und wirklich
ist es der Forschung gelungen, die mittlere Temperatur eines Breiten-
grades als eine Funktion der geographischen Breite und des Verhält-
nisses von Wasser und Land darzustellen. Die aus den Beobachtungen
ermittelten Werthe konnten auf eine allgemeine Formel gebracht
werden, welche nunmehr auch einen Schlafs auf die mittlere Breiten-
temperatur selbst klimatisch unbekannter Gebiete gestattete. Diese
Formel ist unter anderem dazu benutzt worden, die mittlere Wärme
der nördlichen und südlichen Hemisphäre, sowie die der ganzen Erde
festzustellen. Spitaler, der diese Rechnung zuletzt ausgeführt hat,
Fig 4. MiUoltemporatur der Breitenkreise und Vortheilnng von Wuaor und Land.
ist dabei zu dem interessanten Ergebnis gekommen, dafs die mittlere
Jahrestemperatur beider Erdhälften nahezu gleich ist. Dieselbe be-
trägt rund 15" C. Allein diese Temperatur vertheilt sich nicht gloioh-
mäfsig über das Jahr, sondern es hat die gesamte Erde, wie Dove
bereits vermuthete, nur einen Sommer im Juli mit einer Mitteltempe-
ratur von 17,4° und einen Winter zur Zeit des Januar mit 12,8"
N'aoh Spitaler beträgt nämlich die Mitteltemperatur
im Januar, ' im Juli
der nördlichen Erdhülfte 7,07" 22,54°
der südlichen Erdhälfte 17,54" 12,35°
Das Übergewicht der nordhemisphärischen Uandmasse tritt in
diesen Zahlen deutlich hervor. Wie ist nun der aus den Beobachtungen
sich ergebende thermische Gegensatz von Land- und Seoklima physi-
kalisch zu orklären?
Die hauptsächlichste Wärmequelle der Erde ist die Sonne. Die
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Wärmestrahlen derselben durchdringen unsere Atmosphäre und er-
wärmen den Erdboden. Dieser theilt dann die empfangene Wärme
durch Rückstrahlung und Leitung der umgebenden Luft mit. Zeigten
nun alle Körper gegenüber der Wärmestrahlung dasselbe Verhalten,
d. h. wäre das Vermögen, die zugestrahlte Wärme in sich auf/.unehmen
und die aufgenommene wieder auszustrahlen, für sämtliche Körper,
welohe die Erdoberfläche bilden, das gleiche, so mühte die geo-
graphische Vertheilung der Temperatur zweifellos eine regelmäfsige,
an die mathematischen Linien auf der Erde angepafste sein, lndefs,
die Körper verhalten sich in dieser Beziehung aufserordentlich ver-
schieden. Vor allem ist die spezifische Wärme des Wassers durch-
aus abweiohend von der des festen Landes. Das Wasser besitzt von
allen Körpern die gröfste Wärmekapazität, d. h. es braucht unter
gleichen Umständen die gröfste Wärmemenge, um eine bestimmte
Temperaturerhöhung zu erreichen.
Setzen wir die spezifische Wärme des Wassers gleich 1, so ist
dieselbe für das Land gleich 0,2 bei gleichem Gewicht beider Substanzen.
Bei gleichem Volumen, worauf es nach Hann, dessen Handbuch der
Klimatologie wir diese Zahlen entnehmen, hier allein ankommt, finden
wir dagegen für das Land die spezifische Wärme von rund 0,6. Wenn
demnach auf gleich grofse Flächen von Wasser und Land gleich
grofse Wärmemengen fallen, so ist die dadurch bewirkte Temperatur-
erhöhung auf dem I^ande fast zweimal so grofs wie die auf dem
Wasser. Umgekehrt aber hat die geringe Wärmekapazität des Landes
eine schnellere Abkühlung zur Folge. Besitzen also gleiche Flächen
von Wasser und Land gleiche Temperatur, so erkaltet das Land bei
Abgabe gleich grofser Wärmemengen fast um doppelt so viel Grade
als das Wasser.
In diesem physikalischen Verhalten der verschiedenen Bestand-
teile der Erdoberfläche ist der Gegensatz von Land- und Seeklima
begründet. Der geringere Betrag der jährlichen Temperaturschwan-
kung über dem Meere ist dadurch ohne weiteres erklärt Allein
jenes physikalische Gesetz giebt uns dooh keinen Aufschlufs über
die Ursache der niedrigeren Jahrestemperatur im Inneren der nörd-
lichen Festländer. Hier müssen zweifellos zur Erklärung noch andere
Faktoren herangezogen werden. Verfolgen wir darum noch einmal
die Wirkung der Insolation auf dem Festen und Flüssigen.
Die Strahlen der Sonne erwärmen, wenn sie den festen Boden
erreichen, zunächst nur dessen Oberfläche. Infolge des scldechten
Wärmeleitungsvermögens des Landes theilt sich diese zugestrahlte
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1KÖ
Wärme nur sehr langsam tieferen Schichten mit. Eine Schicht von
30 cm Dicke durchdringt sie im allgemeinen erst nach einem Zeit-
raum von 6 Stunden. Die Gesamtmenge der Sonnenwärme wird also
nur in der obersten Schicht des Erdbodens aufgespeichert. Diese er-
hitzt sich allerdings während der Bestrahlung ziemlich bedeutend.
Allein sie kühlt sich bei der Ausstrahlung wieder ebenso schnell und
stark ab, und es wird ihr dann aus tieferen Schichten keine Wiirtne
als Ersatz zugeführt. Ausstrahlung und Einstrahlung, so dürfen wir
hiernach schliefsen. halten sich auf dem festen Lande, gleiche Zeitdauer
für beide vorausgesetzt, ziemlich das Gleichgewicht.
Ganz anders ist das Verhalten des Wassers. Infolge der
grofsen Diathermansie desselben kommt ein Theil der Sonnenstrahlen
nicht an der Oberfläche, sondern erst in tieferen Schichten zur Wirkung.
Es wird die zugestrahlte Wärmemenge dadurch auf breitere Massen
vertheilt und in denselben aufgespeichert. Weiter setzt sich ein
anderer Theil der Sonnenwärme auch sofort in Arbeit um, indem sie
eine Verdampfung des Wassers an der Oberfläche bewirkt. Es ist
also dio grofse spezifische Wärme des Wassers nicht allein, welche
die niedrige Sommertemperatur über den Meeren verursaoht.
Dieser geringen Zunahme der Temperatur infolge der Bestrahlung
steht eine noch geringere Ausstrahlung gegenüber. Die grofse
Beweglichkeit des Wassers läfst die Temperatur an der Oberfläche
sich überhaupt kaum vermindern. Denn kühlt sich auch das Wasser
an der Oberfläche vorübergehend ab, so treten aus der Tiefe sofort
wärmere Theilchen zum Ersatz hervor. Die Abkühlung findet eben
nicht wie auf dem Lande nur an der Oberfläche, sondern stets gleich-
mäfsig in einer breiten Wasserschicht statt. Weiter verhindert dann
auch noch das Freiwerden von Wärme bei der häufigen Verdichtung
des Wasserdampfes, mit welchem die Luft über dem Meere ja fast
stets nahezu gesättigt ist, sowie bei der Bildung des Eises im Winter,
eine allzu grofse Wärmeausstrahlung. Alles das berechtigt zu dein
Schlufs, dafs auf dem Wasser die Erwärmung durch die Insolation
die Abkühlung infolge der Ausstrahlung entschieden iiberwiegt. Damit
ist der Schlüssel zu der Thalsache gegeben, dafs in den mittleren
Breiten die Jahrestemperatur im Seeklima grüfser ist, als diejenige im
Landklima auf demselben Parallel.
Das oben gekennzeichnete thermische Verhalten von Wasser und
Land verursacht zum Theil auch das kühlere Klima auf den äqua-
torialen Meeren. In den niederen Breiten steht nämlich der Zustrahlung
von Wärme nur eine nächtliche, nicht aber eine jahreszeilliche Aus-
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167
Strahlung gegenüber. Die erstere überwiegt aber letztere, die Inso-
lation giebt hier den Ausschlag für die mittlere .Jahrestemperatur.
Da nun die Erwärmung durch die Insolation auf dem Wasser geringer
ist als auf dem Lande, so mufs also in den Tropen nothwendig die
Luft über den Ozeanen im Jahresmittel kühler sein als über den Kon-
tinenten.
Die Erwärmung des Landes unter der Einwirkung der Sonnen-
strahlen ist nun nicht nur eine intensivere, sondern vor allem auch
eine weit schnellere, als diejenige auf dem Meere. Die Folge davon
ist eine Verschiebung in dem Eintritt der extremen Werthe der Tempe-
ratur während der Jahresperiode. Die höchste Sommertemperatur
fällt dort zuweilen erst auf den August, während im Kontinent unter
mittleren Breiten überall der Juli als der wärmste Monat erscheint.
Und analog fallen während der winterlichen Abkühlung der maritime
Februar und der kontinentale Januar zusammen.
Um die einzelnen Faktoren klarer in ihrer Wirkung hervor-
treten zu lassen, war bisher von dem Einflufs, welchen die Atmos-
phäre selbst auf die Intensität der Sonnenstrahlen ausübt, abgesehen
worden. Dieser Einflufs ist entsprechend dem häufig wechselnden
Zustand der Atmosphäre ein sehr mannigfaltiger. Vor allem ändert
sich die Absorptionsfähigkeit der Luft gegenüber den Wärmestrahlen
der Sonne je nach dem Wasserdampfgehalt derselben. Dieser ist
aber ein anderer über dem Meere, ein anderer über dem Laude. Zu
dem thermischen Gegensatz von Iauid- und Seeklima gesellt sich also
ein hydrometeorischer, der seinerseits wieder auf den Verlauf der
Isothermen nicht unerheblich einwirkt.
Betrachten wir zunächst die geographische Vertheilung der
Uydrometeore auf der Erde. Der Feuehtigkoitszustaud eines Klimas
findet seinen Ausdruck in der Gröfse der absoluten Feuchtigkeit, in
der Bewölkung und in den Niederschlagsverhältnisseu.
Für die geographische Vertheilung der absoluten Feuchtigkeit
liegt uns kein übersichtliches Kartenmaterial vor. Doch können wir
aus zahlreichen Beobachtungen den Schlufs ziehen, dafw im allgemeinen
die absolute Feuchtigkeit nach dem Innern der Kontinente hin ab-
nimmt. Dios stimmt auch mit der Thatsache überein, dafs der Wasser-
dampfgehalt der Luft bei gleicher Temperatur, gleichem Luftdruck und
gleicher Windgeschwindigkeit nur von der Menge des in und auf
dem Boden vorhandenen Wassers abhängt.
Die Karten, auf welchen uns Teisserenc de Bort die Be-
wölkungBverhiiltnisse der Erde zur Anschauung gebracht hat, zeigen
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entsprechend der Verminderung’ der absoluten Feuchtigkeit ebenfalls
eine Abnahme nach dem Innern der Kontinente. Heiterer Himmel
ist häufiger über dem Lande als über dem Meere anzutreffen.
Auch in der Vertheilung der Niederschläge über die Erde können
wir wohl die gleiche Wahrnehmung maohen, dafs die Küsten der
Kontinente reicher benetzt werden als das Innere derselben. Allein
die Niederschlagsverhältnisse hängen weniger von der horizontalen
Vertheilung von Wasser und Land als von der orographischen Ge-
staltung des letzteren, sowie von der Bewegung der Luft ab. Es ist
demnach rathsam, dieselben nur mit Vorsicht in die Betrachtung
hineinzuziehen. Jedenfalls erhellt aus dem Vorstehenden aber deutlich,
dafs das ozeanische Klima das feuchtere ist. Diese Thatsache ist für
die thermischen Gegensätze von Wasser und Land von greiser Be-
deutung.
Der absolute Feuchtigkeitsgehalt der Luft beeinflufst, wie
erwähnt, das Wärme-Absorptionsvermögen der Atmosphäre. Wasser-
dampfrciche Luft läfsl viel weniger Wärmestrahlen zur Erdoberfläche ge-
langen, als wasserdampfarme. Die sommerliche Erwärmung der
Wasseroberfläche wird also auch dadurch noch gemindert Weiter
kommt dann der Feuchtigkeitsgehalt der Luft bei der Wärmeaus-
strahlung dos Bodens in erheblichem Malse zur Geltung. Die
Atmosphäre liifst nämlich, wenn sie mit Wasserdampf gesättigt ist, doch
die leuchtenden Wärmestrahlen der Sonne fast unbehindert durch, ist
dagegen gegenüber den dunklen Wiirmestrahlen nur wenig diatherman.
Die von der Erdoberfläche zurückgeworfene Wärme besteht aber nur
aus dunklen Wärmestrahlen. Die Gröfse der Abkühlung der Erde
durch Wärmeausstrahlung ist demnach von dem Wasserdampfjgehalt
der Luft abhängig. In Gebieten, wo die absolute Feuchtigkeit gering,
d. i. im Innern der Kontinente, bedingt dies eine weit greisere winter-
liche Temperaturerniedrigung als in luitfeuchten Regionen . den
Küsten und Meeren. Wir erkennen hierin einen neuen Grund, wels-
halb das ozeanische Klima auch in der mittleren Jahrestemperatur
wärmer sein mufs, als das kontinentale.
Nun ist freilich mit einer greiseren absoluten Feuchtigkeit auf
den Meeren auch eine greisere Bewölkung verbunden. Bewölkung
vermindert die Stärke der Insolation beträchtlich, aber sie schützt
auch wieder in hohem Malse die unteren Luftschichten vor Ab-
kühlung durch Ausstrahlung. Es wird sich also jetzt allein darum
handeln, welcher Einflufs der greisere ist. Das Ergebnifs zahlreicher
Untersuchungen über den thermischen Einflufs der Bewölkung
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können wir nun mit Hann in folgenden Satz zusammenfassen: „Ein
geringerer Grad der Bewölkung bedeutet in höheren Breiten eine
erhebliche Erniedrigung der Wintertemperatur und eine geringe
Steigerung der Sommorwärme, das Resultat ist eine Erniedrigung der
mittleren Jahrestemperatur. In niedrigen Breiten bewirkt die Ab-
nahme der Bewölkung eine entschiedene Zunahme der mittleren
Jahreswiirme.“ Es ist uns durch diesen Satz mithin sowohl Auf-
klärung gegeben, warum trotz der stärkeren Bewölkung auf den
Meeren mittlerer Breiten die .Jahrestemperatur nicht erniedrigt er-
scheint, als auch, warum in den tropischen Regionen der Erde das
wolkenfreiere Land im Jahresmittel das wärmore ist
Auch die Niederschlagsverhältnisse dürften auf die thermischen
Gegensätze von Land- und Seekliraa einen nicht unerheblichen Ein-
flufs haben, einmal mittelbar dadurch, dafs der Regen den Boden be-
netzt und der Luft auf diesem Wege Feuchtigkeit zuführt, dann
aber gewifs auch durch den thermischen Prozefs, der sich bei der
Verdichtung des Wasserdampfes vollzieht. Bei dem Uebergang des
Wassers aus dem gasförmigen zum flüssigen Zustand wird eine be-
deutende Menge Wärme frei, welche der umgebenden Luft zu gute
kommt Doch in der Vertheilung der Niederschläge findet wie oben
bereits erwähnt infolge der Einwirkung anderer Faktoren die Aus-
dehnung von Wasser und Land keinen so deutlichen Ausdruck, dafs
dieser thermische Einflufs sich überall unwiderleglich nachweisen
liefse. Gleichwohl lehrt die Statistik, dafs in den höheren Breiten,
nördlich und südlich der subtropischen Regenzone, die Meere vor-
wiegend im Winter, die Kontinente im Sommer von Niederschlägen
getroffen werden. Es hängt diese jahreszeitliche Vertheilung des
Regenfalls eng zusammen mit den Wind- und Luftdruckverhältnissen
über Wasser und Land, die uns später noch beschäftigen sollen.
Ihre Einwirkung auf die Klimate aber besteht darin, dafs dadurch
auf den Ozeanen die winterliche Kälte, auf den Kontinenten die
sommerliche Erhitzung gemildert wird, was im Jahresmittel wiederum
eine geringere Temperatur auf dem Lande ergiebt.
(Schlafs folgt).
Ueber die Wirkungen der Meereserosion an der
atlantischen Küste Nordamerikas.
Von Dr. Emil Deckert.
(Schlufs).
X
p^inr sei i r merkwürdige Ausnahme von der allgemeinen Kogel —
.eie da fs an der offenen atlantisehen Küste sowie an der nördlichen
und östlichen Golfkiisle der Betrag der Landzerstörung wahr-
scheinlich den Betrag der Landbildung während des jüngsten Erdalters im
allgemeinen überwogen hat — macht dioOstkiiste von Florida. Hier deutet
beinahe alles darauf hin, dafs entlang der ganzen über 600 km langen
Strecke zwischen der St. Johns-River-Miindung und Kap Florida in
der quartären Zeit ein Wachslhum des Landes auf Kosten der See
slattgefunden hat. Nur durch schmale und seichte „Inlets" an einigen
wenigen Stellen durchbrochen, läuft hier eine mit hohen Dünen be-
setzte Nehrung als Grenzscheide des festen Landes von Nordnordwest
nach Südsüdost, und in gleicher Richtung damit erstreckt sich nicht
blos eine Reihe von seichten Brakwasserlagunen, sondern auch die
Sandhügelketten des ganzen ostlloridanischen Binnenlandes sowie
dessen Haupt-Flursläufe und Sumpf- und Seenkelten. Vor allen Dingen
zu der Küste Neu-Englands — wo der Verlust des Landes zweifellos
ein absoluter ist — steht die ostfloridanische Küste in dem augen-
fälligsten Gegensätze, und füglich liefse sich schon aus der ganzen
Anlage der angegebenen Bildungen schliefsen, dafs dieselben nur durch
Vorgänge entstanden sein können, welche denjenigen, die man an der
neu-engländischen Küste beobachtet, diametral gegenüber stehen. Nahe-
zu rechtwinkelig in das Land eingreifende Buchten und rechtwinkelig
in das Meer fliefsende Ströme darf man immer als Anzeichen von einem
Vordringen des Meeres betrachten, und parallel mit der Kiistenlinie
gelagerte Lagunen und Hiigel- und Thalzüge als Anzeichen von einem
Zurückweichen desselben. An der ostfloridanischen Küste verkünden
aber aufserdem auch die aus recenten Seemuscheln gebildeten Coquina-
Bänke, welche die Strandlagunen auf der Westseite ebenso wie auf
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Ost - Florida'sche Coquina- Bänke am Indian River.
171
iler Ostseite umrahmen, und weloho bis tief in das Binnenland hinein
die Grundlage der Sanddiinen bilden, den Sieg des festen Elementes
über das flüssige. Dafs die betreffenden I^agnnen in der Mehrzahl den
Namen „River“ führen — Amelia River. Matanzas River, Halifax River,
Hillsborough River, lndiau River (Fig. 4), Banana River, Jupiter River
— darf einen also nicht irre machen in der Ueberzeugung, daß die-
selben thatsächlich abgediimmte Meerestheile sind, die sich bei weiterer
Fortdauer der obwaltenden Verhältnisse durch die Zwischenstufen von
Süfswassersee und Sumpf allmählich in festes Land verwandeln win den.
Fragt man nach den Gründen, warum
Land und See in Oslflorida so ganz anders steht,
als es sonst in dem östichen Nordamerika der
Fall ist, so kann man sich nicht enthalten, in
erster Linie an den Passatwind zu denken, der
vom Atlantischen Ozeane her über die Halbinsel
hinwegstreicht, sowie an das ziemlich voll-
kommen tropische Klima, das auf derselben
herrscht. Wie bereits erwähnt, sind dadurch
die Dünenw'älle in Ostflorida ün allgemeinen
beträchtlich höher und breiter als anderweit in
Nordamerika, und ein grofser Theil des ober-
flächlichen Bodens ist Flugsandbildung, genau
wie in anderen Passatgegenden; die Vegetation
entwickelt sich aber unter den Strahlen der tro-
pischen Sonne und unter der befruchtenden Wir-
kung der tropischen Regen selbst auf dem Dünen-
sande außerordentlich üppig, so dafs derselbe
durch die mit einander verflochtenen Wurzeln in seinen tieferen Schichten
sowohl an der Küste als auch im Binnenlande einen verhältnifsmäfsig
sehr festen Zusammenhang erhält.
Das ganze Phänomen ist damit aber keineswegs erklärt.
Was bei dem Wachsthume des ostlloridanischen Küstenlandes auf
Kosten der See sehr seltsam berühren muß. ist vor allen Dingen die
Thatsache, dafs daselbst keinerlei Ströme münden, welche reich sind
an Sedimenten. Dor St. JohttB River (liefst als Seen-Strom gleich den
kanadischen und neuengliindischen Strömen klar und ungetrübt hinaus
in das Meer, und der St. Marys River führt als vielfach gewundener
Tieflandstrom ebenfalls viel weniger SinkstofT, als die georgianischen
und karolinischen Ströme. Das Vorhandensein hoher Dünen wälle ent-
der Kampf zwischen
Fig. 4. Ostfloridanischer
KtUtentypiw.
(Die Gegend des Indian
River).
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172
lang der ganzen Küste läfst sich also nur begreifen, wenn Kiisten-
strönmngen das Material zu denselben aus der Ferne herbeiführen.
Dafs der Golfstrom diese Funktion ausiibe, wird man aber nicht ohne
weiteres annehmen dürfen, denn einmal kommt derselbe nicht von
Gestaden, die besonders reich sind an Quarzsand — nicht von der
Mississippi-Mündung, wie man früher geglaubt hat, sondern von den
Westindischen Inseln und aus dem offenen Atlantischen Ozeane — ,
und sodann wäre er durch seine Natur als ein ruhiger, oberflächlicher
Strom auch wenig geeignet, auf weitere Entfernungen hin eine gröfsere
Menge Quarzkömer in suspenso zu erhalten. Sehr viel wahrschein-
licher ist es, dafs die polare Gegenströmung des Golfstromes es ist,
welohe die Dienste des Sandträgers leistet. Für die Breite des Kap
Hatteras ist diese Strömung in der Tiefe thatsächlich nachgewiesen, *)
und dafs eine Tiefenströmung im stände ist, die losen Massen, welche
an der Neuenglandküste durch Zerstörung der Küstenfelsen ent-
standen, oder welohe von den Alleghany-Strömen vor ihren Mündungen
abgelagert worden sind, vor sich her zu schieben, bezw. in dem Sinne
ihrer Richtung vorwärts zu pressen, ist ohne weiteres klar. Die be-
treffende Polarströmung dürfte auch' bei den Nehrungen vor dem
Albemarie- und Pamplico-Sunde viel unmittelbarer und in einem viel
höheren Mafse als Miterbauer thätig gewesen sein, als die Golfströmung,
der man in so vielfacher Beziehung mehr Funktionen aufgebürdet hat,
als sie auszuüben fähig ist.
Wenn die fragliche Strömung in den quartären Zeiten bei dem
Wachsthume des ostfloridanischen Landes als ein so wesentlicher
Faktor mitgewirkt hat, so mufs es freilich befremden, dafs sie sieb
nicht in der gleichen Weise auch an den nördlicher gelegenen Küsten
— besonders an der Küste von New Jersey, Massachusetts etc. — bewährt
hat. Sollte es einzig und allein der herrschende Passatwind und die
üppige Dünen- und Marschenvegetation sein, denen es zu verdanken
ist, dafs die von der Strömung herbeigetragenen Materialien in Florida
zum Aufbaue neuen Landes dienen können? Bei der Prüfung der
Verhältnisse, welche im äufsersten Süden der floridanischen Ostküste
obwalten — zwischen Kap Florida und Kap Sable — , können wir
uns eines starken Zweifels hieran nicht erwehren. Dort weht der
Passat noch beständiger, als in den übrigen Theilen der Halbinsel,
dort ist auch zugleich der Wuchs der Palmetto-Palmen und Mangroven
ein noch reicherer, und dort arbeiten obendrein unzählbare Korallen-
7) Vergl. Report of the U. S. Coaat and Geodetic Survey 1889, 8. 182 ff.
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173
thierchen emsig an dem Aufbau schützender Riffe und Inseln. Nichts-
destoweniger finden wir die Küste dort ganz ähnlich zerrissen, wie an
der Golfseite von Florida. Und an dem Strande von Texas, wo man
auch nicht von einem so unangefochtenen Wachsthume des Landes auf
Kosten der See reden kann, ist der Passatwind ebenfalls die vor-
herrschende Luftströmung, und die Strandflora trägt daselbst keinen
wesentlich anderen Charakter, als in Ostflorida.
Den Schlüssel zu dem Räthsel, und den Haupterklärungsgrund
der Thatsaohe, dafs os der sturmbewegten Brandung an nordameri-
kanischen Küstenstrecken möglich ist, ein Stück Land nach dem
anderen zu verschlingen, an der floridanisohen Ostküste aber nicht,
glauben wir in den erwähnten Coquina-Bänken zu finden. Dieses junge
Seemuschelkonglomerat, das erst in der geologischen Gegenwart ent-
standen sein kann, erhebt sich an dem Matauzas- und Indian-River
bis gegen 10 und 15 m über den Meeresspiegel, so dafs auch die
höchsten Sturmfluthwellen es heute nicht mehr zu überspülen ver-
mögen. Wie ist dies aber anders denkbar, als dars der ganze ost-
floridanische Küstenstrich sich in der quartären Zeit gehoben hat und
noch in Hebung begriffen ist, resp. <lafs der Meeresspiegel sich in
der Gegend zwischen der St. Johns-River-Mündung und dem Kap
Florida gesenkt hat und noch weiter senkt? Wir sind der Meinung,
dafs Ostflorida eine von denjenigen Erdgegenden ist, von welchen die
allerunzweifelhaftesten Beweise für eine derartige Verschiebung des
Verhältnisses zwischen Festland und Meer vorliegen. Uebrigens sind
wir aber geneigt, für die in Frage stehende Gegend eher an eine
Senkung des Meeresspiegels als an eine Hebung des Landes zu glauben;
und die zahlreichen Defekte, welche durch Zerwasohung und Unter-
höhlung der tertiären Kalksteinformation im floridanisohen Binnenland«
verursacht werden, scheinen uns eine Verminderung der Attraktion,
die die Halbinselmasse auf das Wasser des Atlantischen Ozeans aus-
Ubt, bezw. ein fortschreitendes Abfiiefsun des Wassers nach anderen
Erdgegenden zur Genüge begreiflich zu machen.
An der Westküste Floridas, sowie an der alabamischen, louisi-
anischen und texanischen Golfküste schreitet dagegen aller Wahr-
scheinlichkeit nach der Einbruch, duroh den der Mexikanische Golf
entstanden ist, weiter fort, und darin findet das siegreiche Vordringen
des brandenden Meeres, auf das so zahlreiche Indicien hindeuten, die
allerwesentlichste Unterstützung. Die erwähnten Massendefekte, welche
die Erosion im Innern von Florida, sowie auch im Innern von Alabama
bewirkt, haben aus diesem Grunde auf den Stand des Meeresspiegels
Himmel und Erde. lwaj. V. 4. 13
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OQ£
174
keinen sichtbaren Einflufs, und wenn sich der Golf ungeachtet der auf
seinem Boden stattfindenden Sedimentation fortschreitend vertiefen sollte,
so würde die Zuströmung aus dem offenen Atlantischen Ozeane in jedem
Falle hinreichen, um diese Vertiefung an der Kiiste nicht empfinden
zu lassen. Dort deuten die unterseeischen Wälder und Wiesen nur das
Mitsinken des Küstenlandes an, und was den südlichsten Theil Floridas
angeht, so ist namentlich auch noch daran zu denken, dafs die daselbst
vorhandenen Koralleninseln und Korallenriffe diese Annahme bekräftigen,
indem Koralleuinseln und Korallenriffe überall au grofse Senkungs-
felder gebunden sind.
Entlang der mexikanischen Küste sind die betreffenden Ver-
hältnisse noch mangelhafter bobachtet worden, als an der Küste der
Union, doch dürften die Chancen des Kampfes zwischen Land und
Meer daselbst kaum wesentlich anders liegen, als an der texanischen
Küste. Die Zerrissenheit der Nehrungen und das Vorhandensein
einer Anzahl aus älterem Gestein bestehender Küsteninseln deuten
darauf hin, dafs auch dort in der pnsttertiären Zeit mehr Land in der
Tiefe versunken, als durch Strom- und Windsedimentation gebildet
worden ist.
An der offenen atlantischen Küste Nordamerikas, soweit dieselbe
nördlich von der St. Johns-Iiiver-Miindung liegt, sprechen ebenfalls
verschiedene Umstände für eine Senkung des Landes. Auch hier kann
man, sowohl in Neuengland als auch in den beiden Karolinas und in
Georgia, auf versunkene Wälder hinweisen, wenngleich bereits Lyell
darauf aufmerksam macht, dafs man sich dabei ängstlich vor Irrthümern
hüten murs, indem angeschwemmte Baumstümpfe durch ihre Stellung
leicht den Eindruck machen können, als seien sie an Ort und Stelle
gewachsen. Viel schlagender dürfte die Senkung bewiesen werden
durch die „ertrunkenen Ströme“, von denen wir oben geredet haben,
denn deren eigenthiimliche Physiognomie und deren geologische Um-
gebung lärst keine andere Erklärung zu, als das Eindringen des Meeres
in ein einstiges Stromthal. Und dieses Indicium gewinnt noch erheblich
an Gewicht dadurch, dafs an dem Hange der Alleghanies — zwischen
der Flufshügel-Region dieses Gebirges und der Küstenobene — eine
grofse Verwerfimgslinie durch die östlichen Uuionsstaaten hindurch-
geht, östlich von welcher alles Land bereits seit den mesozoischen
Zeiten im Niedersinken begriffen gewesen ist.
Dafs der Prozefs gewisse Unterbrechungen erlitten hat, und dafs
zeitweise an der Kiiste von New .Jersey, Massachusetts, Maine etc. ein
Sinken des Meeresspiegels stattgefunden hat, genau wie gegenwärtig
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in Ostflorida, scheint aus alten Strandlinien hervorzugehen, die man in
diesen Gegenden gewahren kann, und die zum Theil mehr als 100 m
über der heutigen Strandlinie liegen. Auch die gegenwärtige Aera
des Sinkons der Küste dürfte also in dem atlantischen Nordamerika
füglich wieder einmal einer Aera der „Hebung“ weiohen; es versteht
sioh aber von selbst, dafs der zerstörenden Brandungswelle in der
ganzen in Frage stehenden Gegend bis auf weiteres durch die Senkung
ebenfalls bedeutender Vorschub geleistet wird.
Im allgemeinen vollzieht sich der Senkungsprozefs wohl ruhig
und für die Menschen unmerklich. Gelegentlich ist er aber mit heftigen
Erschütterungen der Erdrinde verbunden, und es ist in dieser Beziehung
namentlich auf die grofsen Erdbeben von Neu -Madrid (1811) und
Charleston (1887) hinzuweisen, deren Stöfse Monate lang andauerten,
und bei denen unbedingt grofse Dislocationen innerhalb der Schichten
der nordamerikanischen Kontinentalmasse stattgefunden haben müssen.
Unmittelbar nach dem Erdbeben von Charleston entsandte die Direktion
der U. S. Coast and Goodetic Survey eine Kommission, um die etwaigen
Wirkungen der Erdorsohütterungen auf den Hafen von Charleston und
seine Zugänge zu untersuchen. Die betreffende Kommission stellte fest,
dafs die durch das Erdbeben verursachten Veränderungen nur unbe-
deutende waren, dafs die thatsächlich vor sich gegangenen aber das
Fahrwasser verbessert hatten. Man könnte dieses Gutachten also in
dem Sinne einer mit dem Erdbeben Hand in Hand gehenden instantanen
Senkung auslegen. Ebensogut könnte es sich bei der Vertiefung des
Hafens und seiner Zugänge aber um eine blofse Verschiebung der
Sedimente handeln. Der ganze so interessante und fiir das Erdleben
so bedeutsame Prozefs läfst sich also auch selbst bei so furchtbaren
Katastrophen, wie es die grofsen Erdbeben sind, nur sehr schwer von
dem Menschengeiste erfassen und ermessen.
Lewis Morris Rutherfurd.
Am 30. Mai dieses Jahres starb Lewis Morris Rutherfurd
eine der ersten Autoritäten auf den Gebieten der coelestischen Photo-
graphie und Spektralanalyse. — Geboren am 25. November 1816 zu
Morrisania im Staate New- York, zeigte Rutherfurd früh Talent und
Vorliebe für physikalisch-chemische Studien, so dafs er schon auf dem
„College“ Assistent seines Lehrers in diesen Fächern ward. Gleichwohl
widmete er sich nach Vollendung seiner Vorbildung an der Universität
Auburn dem juristischen Fache und erlangte 1837 die Zulassung als
Advokat. Während dieser seiner praktischen Thätigkeit konnte er
natürlich nur in verhältnissmäfsig seltenen Stunden der Mufse seinen
Lieblingsstudien obliegen, und er fühlte sich daher glücklich, als er
1849, durch eine reiohe Heirath dazu in den Stand gesetzt, seine Be-
rufsgeschäfte aufgab, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen.
Nachdem er von einer zunächst unternommenen, längeren Studienreise
nach Europa zurückgekehrt war, richtete er sioh in einem Anbau
seines Hauses eine anfangs bescheidene Sternwarte ein, in welcher
bald die wichtigsten und erfolgreichsten Forschungen begannen. Als
einer der ersten baute er mit Begeisterung auf dem von Kirchhoff
und Bunsen geschaffenen Fundament der himmlischen Spektral-
analyse weiter, so dass er bereits 1863 in der Lage war, eine Arbeit
über die Spektra der Fixsterne, dos Mondes und der Planeten zu ver-
öffentlichen, in der der erste Versuch gemacht ward, die so ver-
schiedenartigen Fixsternspektra in Klassen zu gruppiren. Bald darauf
gelang es Rutherfurd nach mannigfachen vergeblichen Versuchen,
ein speziell für photographische Arbeiten bestimmtes Objektiv von
11 Zoll Durchmesser zu konstruiren, mittelst dessen er höchst werth-
volle Reihen von photographischen Aufnahmen der Sonne, des Mondes
und einiger Sternhaufen herstellte. Die Feinheiten der natürlich mit
dem nassen Collodiumverfahren gewonnenen Mondplatten war eine so
ausserordentliche, dass das kleine Brennpunktbildchen bis zu einem
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Durchmesser von mehr als einem halben Meter vergrössert werden
konnte, so dafs Positive gefertigt wurden, die nooh jetzt eine Haupt-
zierdo vieler Sternwarten, u. a. auch der Urania, bilden und erst in
jüngster Zeit durch Trookenplattenaufnahmen iibertroffen wurden. Die
gleichmässige Deutlichkeit bei der Abbildung der sehr verschieden
hellen Theile der Mondoberfläche wurde durch eine sorgfältige Ab-
messung der für die einzelnen Gebiete erforderlichen Belichtungsdauer
erzielt 1868 ward dann ein 13-zölliges Objektiv fertig gestellt, das
von nun ab an die Stelle des Elfzöllers trat, das aber der allge-
meineren Verwendbarkeit wegen aus einer gewöhnlichen, achroma-
tischen Doppellinse bestand, welche durch Vorsetzen einer dritten
Linse in ein photographisches System umgewandelt wordon konnte,
eine Einrichtung, dereu hohe Zweckmässigkeit durch die Thatsache
bewiesen wird, dafs sie beim grofsen Refraktor der Lick-Stermvarte
Nachahmung fand. Rutherfurd stellte nun nicht nur mit Hilfe dieses
Fernrohrs vorzügliche Sternaufnahmen her, sondern gab auch durch
die Konstruktion eines sinnreich eingerichteten Mikrometers zur Aus-
messung der Platten die Mittel zur wissenschaftlichen Verwerthung
des umfangreichen, durch ihn gelieferten Materials. Leider hat sich
aber diese Ausmessungsarbeit bis in die neueste Zeit hinein verzögert,
so dafs ein guter Theil derselben erst jetzt von Rees und Jacoby
Lewis Morris Butherfurd.
178
am Columbia College ausgeführt werden soll. — Im Jahre 1864 lieferte
Rutherfurd das erste, mit Hilfe von Schwefelkohlenstoffprismen er-
zeugte Photogramm des Sonnenspektrums, da6 bereits dreimal soviel
Linien erkennen liefs, als die Kirchhoff-Bunsensche Tafel. Bald
wurde diese Leistung aber noch bei weitem übertroffen durch die Be-
nutzung der vortrefflichen Interferenzgitter, welche Rutherfurd in
staunenerregender Feinheit herzustellen wusste. Sein selbstkonstru-
irter Theilungsapparat gestattete niimlich , innerhalb eines einzigen
Zolles 17000 parallele Linien in (llas zu ritzen ; derartige Gitter erzeugen
bekanntlich durch Interferenz der Lichtstrahlen Spektra, welche sich
hauptsächlich durch die für alle Wellenlängen gleioh starke Dispersion
von den durch Prismen erzeugten Spektren sehr vortheilhaft unter-
scheiden. In der Herstellung feinster Gitter ist Rutherfurd seither
nur durch Rowland, gleichfalls einen Amerikaner, übertroffen worden.
— Nach alledem ist es verständlich, dass Rutherfurd als eine der
ersten Autoritäten auf dem Gebiete der Himmelsphotographie galt.
Von praktischen Arbeiten musste er sich jedoch bereits vor einigen
Jahren zurückziehen, bei welcher Gelegenheit er sein grosses Teleskop,
sowie die sämmtlichen, kostbaren photographischen Platten in gross-
müthiger Weise dem Columbia College, zu dem er als Aufsiohtsrath-
mitglied in naher Beziehung stand, als Geschenk überwies. F. Kbr.
*
Von der achten Sphäre: Ueber den sieben Kugelflächen, welche
nach der Ansicht der Alten der Sonne, dem Monde und den bekannten
Planeten zur Anheftung dienten, wölbte sich die achte Sphäre, an
welcher die übrigen Gestirne sich drängten. In ewiger Ruhe gegen
einander sollten sie hier ein Dasein von vollendeter Schönheit ver-
bringen, unbewegt und nie gestört. Die Wissenschaft hat mit kühner
Hand den schönen Traum der Alexandriner zerstört Sie zeigte, dafs
auch dort oben Bewegungen sind, nicht langsamer im allgemeinen, als
sie auch die Körper des Sonnensystems besitzen, aber scheinbar fast
verschwindend, weil sie von so weiter Ferne aus betrachtet werden.
Seitdem die Beobachtungen den Grad der Genauigkeit erreicht haben,
der ihnen heute eignet, und das ist etwa seit den Zeiten des englischen
Astronomen Bradley im vorigen Jahrhundert, hat man bei vielen Fix-
sternen eine gröfsere oder geringere Beweglichkeit nachzuweisen ver-
mocht. In scheinbar geraden Linien bewegen sie sich unter ihren
Nachbarn und der Betrag dieser Iiigenbnwegungen kann jetzt bei
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einigen bereits in Jahresfrist uachgewiesen werden. So wandern die
Sterne der Plejaden im Laufe eines Jahrhunderts um sechs Bogen-
sekunden weiter1), ein Weg, den Bessels Schwanenstern bereits in
13 Monaten, und ein Stern im Grofsen Biiren (1830 in dem Verzeichnisse
von Groombridge) gar schon in 10 Monaten zurücklegt. Freilich ist
auch dieser Betrag kein grofser. Um einen Begriff von seiner Klein-
heit zu geben, wollen wir nebenbei bemerken, dafs ein Dampfschiff,
welches mit einer Geschwindigkeit von 6 m in der Sekunde in einer Ent-
fernung von 200 km etwa am Pik von Teneriffa vorbeifährt, von diesem
aus bereits nach Verlauf einer Zeitsekunde um jenes Mals verschoben er-
scheinen müfste. Auch ist die Gröfse der Eigenbewegung nur erst für
einen geringen Theil der Fixsterne festgestellt und schwankt hier von
den geringsten Beträgen bis zu jenem höchsten, welchen Groom bridge
1830 erreicht. Nun hat man schon lange mit Hecht darauf hinge-
wiesen, dafs die beste Probe auf die Entfernung der Sterne von
der Erde ihre scheinbare Eigenbewegung ist, nicht, als ob es nicht
auch nahe Sterne geben könnte, die mit einer geringen Eigenbewegung
behaftet erscheinen, weil sie sich gerade auf uns zu oder von uns fort
bewegen, sondern weil jeder Stern von grofser Eigenbewegung sich
vergleichsweise nahe zu uns befinden niufs, er hätte denn eine immense
Geschwindigkeit. Freilich sind diese Wege, welche die Sterne zurück-
zulegen scheinen, keineswegs eine blofse Folge der ihnen zukommenden
Geschwindigkeit. Wie die Bäume, an denen wir im Eisenbahnwagen
vorbei fahren, uns entgegengesetzte Wege zurückzu legen scheinen und
die näheren sich dabei weit schneller unserem Anblick entziehen, als
die weiter abstehenden, so müssen auch die Sterne uns ein Abbild
jener Reise liefern, die wir selbst auf der Erde als Begleiter des Tages-
gestirns durch den Weltraum ausführen. Dann müssen aber auch aus
diesem Grunde die nächsten Sterne die gröfsten Bewegungen auszu-
führen scheinen. Diese Eilsterne also sind es, die wir als unsere
nächsten Nachbarn in der Fixsternwelt anzusehen haben. Vielleicht
traten sie aus der sonst so umnefsbar weit entfernten achten Sphäre,
die eben für uns scheinbar immer noch existirt, hervor, genügend nahe
nach unserem Standpunkte hin, dafs ihre sorgfältige Vergleichung mit
anderen Sternchen Aussicht auf eine erfolgreiche Bestimmung ihrer
Abstände von uns bot. In der Thal ist der erste Fixstern , dessen
Abstand bereits vor mehr als 50 Jahren durch Bessels sorgfältige
Messungen erkannt wurde, der schon erwähnte 01. Stern im Schwan.
■) Vergl. Himmel u. la de Bd. III. S. ■!«:!,
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180
Dip neueste, mit Hülle der Photographie erlangte Bestimmung seiner
Entfernung hatte das Ergebnifs, dafs das schnei lfiifsige Licht nicht
weniger als 7l/2 Jahre braucht, um von ihm zu uns zu gelangen.
Der eilfertigste von allen Sternen ist freilich um nicht weniger als
34 Jahre Lichtzeit von uns entfernt, während der bisher als der
nächste Fixstern geltende <x im Centauren, der nur 3 ’/3 Jahre Liohtzeit
von uns absteht, nur halb so schnell seinen Weg am Himmel zieht
Alle die aufgeführten Beträge für die Eigenbewegungen sind freilich
nur Winkelgröfsen. Kennt man aber die Entfernung, so läfst sich die
diesem Winkel entsprechende Weglänge wohl linden — wie in dem
Beispiel von vorhin der Weg unseres Schiffes bei bekannter Entfernung
aus dem von Teneriffa aus gemessenen Winkel sich hätte finden lassen.
So würde der Schnellläufer Oroombridge 1830 in der Sekunde 376 km
zurücklegen, wenn sein Weg wirklich auf der Gesichtslinie senkrecht
stünde. In Wahrheit ist er wohl gegen diese geneigt, und so wird
dieser Betrag sich noch erhöhen. Für Sterne, die noch weiter entfernt
sind, kann die Geschwindigkeit natürlich noch gröfser werden, wenn
auch scheinbar die Bewegung am Himmel viel langsamer vor sich geht,
wie ja derselbe Eisenbahnzug aus weiter Feme betrachtet, sioh viel
langsamer zu bewegen scheint, als in der Nähe. So würde der Stern
erster Gröfse Arcturus nicht weniger als 600 km und |x in der Cassio-
peja fast 500 km in der Sekunde zurücklegen, wenn man den Messungen
für die Entfernung dieser Sterne Vertrauen schenkt, die, obgleich durch
genaue lleliometerbeobachtungon resp. durch Ausmessung von Photo-
grammen erlangt, noch immer mit sehr grofsen Fehlem behaftet er-
scheinen.11) Aber offenbar ist anzunehmen, dafs unter den Fixsternen
gar manche mit einer für unsere Begriffe nicht fafsbaren Geschwindig-
keit von mehreren hundert Kilometern in der Sekunde durch den
Haum sausen.
In neuerer Zeit ist es bekanntlich gelungen, auf einem von diesem
total verschiedenen Wege ein genaues Urtheil über «lie Geschwindig-
keiten, die in der achten Sphäre herrschen, zu gewinnen. Aus den
schwachen Verschiebungen, welche die Linien im Spektrum der Sterne
aufweisen, lesen die Astronomen die Geschwindigkeit, mit der sich die
Sterne gegen unsem Standpunkt hin, resp. von ihm fort bewegen.
Diese Methode hat besonders in der Verbindung der Spektral-Analyse
mit der Photographie, wie sie zu Potsdam ausgeübt wird, Ergebnisse
von unbestrittener Genauigkeit geliefert. Aber nirgends hat sich auch
Vergl. Himmel u. Erde Bil. 1. 8.312—314.
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181
nur annähernd eine den oben angeführten Werthen vergleichbare Ge-
schwindigkeit ergeben. Die höohste sicher festgestellte, wenn wir von
derjenigen eines Bestandteils des neuen Sterns im Fuhrmann absehen,
der ja vielleicht nichts als ein gasiger Ausbruch des Sternes ist (vergl.
H. & E. Hd. IV S. 290, 379), ist diejenige, mit der Aldebaran das Sonnen-
system flieht, nämlich 49 km. Wir haben dieselbe Ungleichheit, wenn
wir den durchschnittlichen Werth von 17 km in der Sekunde, welchen
die Potsdamer Messungen ergeben, mit dem aus den Eigen be wegungen
der Sterne mit Parallaxen berechneten Werthe von 68 km vergleichen.
Wir werden später versuchen, die Lösung lies Dilemmas zu geben.
Zunächst wollen wir einer Methode gedenken, die wohl zuerst
Prof. Franz in Königsberg ersonnen hat, um die mittlere Entfernung
einer gröfseren Anzahl von Sternen zu finden. Fassen wir eine Menge
beliebig über den Himmel vertheilter Sterne ins Auge, von denen wir
die verschiedenen Komponenten der Geschwindigkeit kennen, so läfst
sich kein Grund angeben, warum sie am Himmel eine gröfsere oder
geringere scheinbare durchschnittliche Schnelligkeit besitzen sollten,
als in der Richtung der Gesichtslinie. Nimmt man also gar keine
Rücksicht auf das Vorzeichen, so wird es gestattet sein, die mittlere
Geschwindigkeit, wie sie die Eigenbewegungen im Bogenmafs ergeben,
der aus den Spektralmessungen folgenden durchschnittlichen Geschwindig-
keit jener Sterne, in Kilometern gemessen, gleichzusetzen. •') Der jüngst
der Wissenschaft so früh entrissene Dr. Kloiber hat diese Rechnung
an der Hand eines allerdings noch nicht sehr reichen Materials aus-
geführt. Nur für 22 Sterne, deren Eigenbewegungen genau bestimmt
waren, lagen genaue Spektralmessungen von Vogel in Potsdam vor.
Dem mittleren Werthe von 16.5 km in der Sekunde oder von 3 1/2 Erd-
bahnhalbmessern im Jahre, welchen die letzteren ergaben, entsprachen
im Mittel 0".22 in Rektascension und 0“.25 in Deklination und hieraus
ergiebt sich als durchschnittlicher Werth für den Winkel, unter dem
der Erdbahnhalbmesser von jenen Sternen aus erscheint, oder für die
Parallaxe, etwa 0".071. Mit anderen Worten: Das Licht braucht etwa
50 Jahre durchschnittlich, um von einem dieser 22 Sterne zu uns zu
gelangen. Nioht ganz fern von diesem Resultate liegt ein anderes,
welches Elkin durch direkte Messung von Parallaxen mittelst des
Heliometers erhalten hat, ja es bestätigt das erlangte Resultat so gut,
wie man bei diesen noch immer auf verhältnifsinäfsig schwachen Fiifsen
stehenden Ergebnissen nur erwarten kann. Elk in hat nämlich für
s) Vergl. Hiimiu'l u. Erde Bd. IV S. 332. Anm.
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182
10 Sterne erster Gröfse den Durchschnittswerth der Entfernung auf
36 Jahre Lichtzeit bestimmt, während die durchschnittliche Gröfse jener
22 Sterne 1.8 ist. Immerhin bleibt zu bemerken, dufs das Ganze noch
als eine sehr vorläufige, mit nicht voll genügendem Material angestellte
Untersuchung zu gelten hat.
Die Lösung des Dilemmas, auf das wir vorhin stiefsen, wird
nicht geschehen können, ohne dafs wir diejenigen Ergebnisse der
Spektral forschung, welche sich auf die acht»- Sphäre beziehen, in die
Betrachtung ziehen. Bekanntlich lassen sich die Fixsterne, von der
Zahl nach verschwindenden Ausnahmen abgesehen, in zwei Typen
einrangiren. Die einen haben in ihrem Spektralcharakter mit dem
Sirius Aehnlichkeit, die andern theilen mit der Sonne die Hauptziige
des Spektrums. Im vorigen Jahrgang (S. 332 f.) berichteten wir über die
Forschungen, die Maunder diesen Sternen hat angedeihen lassen, und
welche zu dem Resultate führten, dafs diese Charaktere nichts als
Folgen einer bestimmten chemischen Zusammensetzung jener Himmels-
körper seien, keineswegs aber einen Rückschlufs auf ihr relatives Alter
gestatten. Die chemische Natur der Körper kann aber, obgleich dieselben
Elemente überall am Himmel in Verbindungen treten, doch in den ver-
schiedenen Regionen desselben eine immer andere sein, weil etwa hier
der Wasserstoff, dort die Metalle überwiegen können.
Nun sind die Sterne, welche eine beträchtliche Eigenbewegung
besitzen, neuerdings von Bossert katalogisirt worden. Andererseits giebt
es auch einen Katalog der Spektren, der nach den Beobachtungen der
Harvard-Sternwarte von Pickering entworfen wurde, liier findet sich
das Spektrum vieler Eilsterne verzeichnet. Aus einer Vergleichung,
die Monck ausgeführt hat, ergiebt sich, dafs auf acht Sonnensterne
unter ihnen immer nur ein einziger Siriusstern erscheint, während
doch die Zahl der Mitglieder beider Sternklassen ungefähr die gleiche
ist. Diese merkwürdige Ungleichheit, sowie die vorhin erwähnten
Betrachtungen von Maunder machen es höchst wahrscheinlich, dafs
die Sonnensterne nur scheinbar im Weltraum gleichtnäfsig vertheilt
sind, in Wnhrheit aber in den Regionen des Sonnensystems, mit dessen
Königin sie das Spektrum gemeinsam haben, sich aufhalten. Dafs sie uns
als Eilsterne erscheinen, das macht aber nicht eine ihnen selbst eigen-
thümliche Bewegung, sondern vielmehr die relative Nähe, in der sie zu
uns stehen. Bilden die Eilsterne wirklich ein zusammengehöriges
Ganze, so mul's sich das auch noch in andern Erscheinungen dokumentären.
Ist ihr Weg hauptsächlich das Abbild der Bewegung der Sonne im
Raume und nicht die Folge einer ihnen innewohnenden grofsen Ge-
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schwindiirkeit, so mufs sich das in der Richtung ihrer Bewegung zeigen.
In der That streben drei Viertel dieser Sterne nuch derjenigen Himmels-
gegend, welohe dem Zielpunkte der Sonnen bewegung entgegengesetzt ist.
Unter den Doppelsternen, die ihre Bahn in einer kurzen, sicher
festgestellten Periode durchlaufen, die also einander verhältnifsmiifsig
nahe sind, und da wir sie getrennt erblioken, auch von uns einen ver-
gleichsweise geringen Abstand haben müssen, sind 32 Sonnenstemo
gegen 1 1 Siriussterne. Fafst man dagegen die Gesamtheit aller Doppel-
sternbahnen, auch derjenigen mit langer, noch nicht festgestellter Periode
ins Auge, so zeigt sich, dafs Sterne beider Typen gleichmiifsigen An-
theil an der Bildung solcher Sternsysteme haben.
Sind die Sonnensterne physisch verbunden, so darf man erwarten,
dafs ihre Gesamtheit eine irgend wohin gerichtete gemeinsame
Bewegung aufweist. Auch das ward bestätigt. Bofs und Stumpe
haben nämlich, um die Bewegung des Sonnensystems im Raume zu
finden, oine Anzahl von Eilsternen zu Grunde gelegt, und dabei fin-
den Zielpunkt der Reise eine weniger nördliche Taige gefunden, als
ihm nach früheren Rechnungen zukommt. Damit ist gezeigt, dafs die
Gesamtheit der Sonnensterne nach Norden wandert. Das widerspricht
nicht dem, was -wir oben über die Richtungen dieser Sterne gesagt
haben; sie können eben dio Reise der Sonne mitmachen und doch im
übrigen sich unabhängig von einander bewegen.
Trotzdem wäre es übereilt, anzunehmen, dafs alle Sterne vom
zweiten Spektraltypus diesem System von Sternen, welchem auch die
Sonne angehört, sich einordnen. Die beiden Hauptsteme des Orion
z. B. haben sehr geringe Eigenbewegungen, und liegen sicherlich in
unmefsbaren Entfernungen. Auch wird man innerhalb dieses Sonnen-
sternsystems nach der Beschaffenheit des Spektrums noch Unlerthei-
lungen machen könnende nachdem die Sterne darin der Capelia oder dem
Arcturus ähneln. Die Capellasterne, obgleich im ganzen weniger zahl-
reich, als die Arcturussterne, leisten zu den Doppelsternen mit berechneten
Bahnen, also zu den uns benachbarten Doppelsonnen, einen reichlicheren
Beitrag, als alle andern Typen zusammen. Ordnet man die Sterne nach
ihren Eigenbewegungen, so sind unter allen, die im Jahrhundert
mindestens 10 Bogensekunden zurüoklegen, nicht weniger als 65 pCt.
Capellasterne, wahrend andererseits die Arcturussterne zu den eigent-
lichen Eil8ternen den gröfsten Beitrag stellen. Diese werden vielleicht
von der Theilnahme am Sonnensternsysteme ausgeschlossen sein und
für sieh ihre sohneilen Bahnen durch den Weltraum lenken , in den
Capeliasternen aber dürfen wir mit grofser Wahrscheinlichkeit die
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184
nächsten Nachbarn unseres Sonnensystems erblicken, die unserer
Tageskönigin durch Gemeinsamkeit des Ursprungs verwandt und in
ihrer Nähe geblieben sind. Offenbar schliefsen diese Ergebnisse, zu
denen Monok gelangt ist, auch die Lösung unserer Frage ein: es
erscheint uns der Lauf gewisser Sterne deshalb so eilig, weil Bie in
Wirklichkeit mit riesigen Geschwindigkeiten begabt sind, aber sie
bilden eben nur geringzühlige Ausnahmen, während die meisten durch-
aus keine überniäfsigen Winkelgeschwindigkeiten besitzen.
Dafs hier der Sonne eine so zahlreiche Genossenschaft von
Sternen als Gesellschaft zugeordnet wurde, das eröffnet einen Bliok
auf zukünftige Forschungsergebnisse in der achten Sphäre. Wir
tlürfen erwarten, dafs es durch das fortgesetzte Studium der Spektren
und der Bewegungen in der Fixsternwelt gelingen wird, diese all-
mählich in eine Reihe zusammengehöriger Systeme von gemeinsamen
Naturen und Strebungen zu gruppiren , und so die achte Sphäre in
eine Vielheit von Weltgruppen aufzulösen. Sm.
♦
Photographische Entdeckung von Planeten.
Im 9. Hefte des vorigen Jahrganges unserer Zeitschrift haben
wir der schönen Erfolge gedacht, welche Dr. Max Wolf in f leideiberg
mittelst eines Itoppclfernrolirs von kurzer Brennweite auf dom Gebiete
der Planetenontdeckung erzielt hat. Herrn Wolf gelang es, in kurzer
Zeit eine sehr ansehnliche Zahl neuer und „verloren“ gegangener
Planeten auf seinen photographischen Platten zu konstatiren. Wie sich
voraussehen liefe, mufsten sich bei einem so wichtigen Gegenstände
bald Konkurrenten einfinden. Dies ist von der Sternwarte Nizza aus
geschehen. Dor eifrige Planetenentdecker Charlois hat am 19.September
ebenfalls photographisch seinen ersten Planeten aufgefunden und dieser
„Premiere“ sind inzwischen noch vier weitere Entdeckungen derselben
Art gefolgt. Die Nizzaer Sternwarte verfügt bekanntlich über so ausge-
zeichnete optische Hilfsmittel , dafs die photographisch konstatirten
Planeten sofort auch durch direkte Beobachtungen weiter verfolgt
werden können. Aufserdem verlautet , dafs der Gründer des Obser-
vatoriums, der um die französische Astronomie durch seine Schenkungen
so verdienstvolle Baron Bischoffs heim, gegenwärtig im Plane hat,
nordwärts von Nizza, auf dem über 8000 Fufe hohen Mt. Meunier ein
Bergobservatorium zu errichten. In der klaren Luft dieser Berghöhe
wird es gelingen, auch jene Beobachtungen zu realisiren, die in Nizza
selbst wegen ungünstigen Himmels etwa fehlschlagen. *
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185
lieber die Verdoppelung der Marskanäle.
Die von Sohiaparelli den Lesern dieser Zeitschrift (I. Jahrg.
S. 93 u. f.) vorgetrageneu Beobachtungen über die Verdoppelung der
Kanäle des Mars gehören zu den merkwürdigsten, aber zugleich zu
den ain schwierigsten verfolgbaren Erscheinungen der Oberfläche
unseres Nachbarplaneten. Es ist nicht befremdend, wenn zur Er-
klärung dieses Phänomens schon mehrere Hypothesen aufgestellt
worden sind und immer neue in die OefTentlichkeit gelangen. Unseres
Erachtens ist es allerdings viel zu früh, sohon Ideen über diese Er-
scheinung auszutausohen, vielmehr scheinen sich gerade hier erst nach
vieljähriger Verfolgung einige Gesichtspunkte für eine Theorie ge-
winnen zu lassen; indessen sind wir unseren Lesern schuldig, die
neuesten zu Tage kommenden Ansichten in unserer Zeitschrift zu
registriren, ohne uns über die eine oder die andere kritisch auszu-
sprechen.
In der Pariser Akademie hat kürzlich Meunier eine duroh
ihre Einfachheit originelle Hypothese angekündigt. Meunier trug
mittelst eines schwarzen Firnis die hauptsächlichsten Linien und
Flecke der Marskarte auf eine polirte Metallflache auf (später ex-
perimentirte er auch mit sphärischen Flächen) und beleuchtete letztere
durch den Strahl einer Lichtquelle; dann hielt er über die Fläche, parallel
mit ihr und wenige Millimeter entfernt, einen mit feinem Mousselin be-
spannten Rahmen. Die Linien und Flecke waren dann auf dem Ge-
webe verdoppelt wahrnehmbar. Meunier meint nun, indem er
diesen Versuch auf die Erklärung der Verdoppelung der Marskanäle
anwendet, dafs das Luftraeer des Mars nicht immer klar, sondern bis-
weilen vielfach mit Nebel angefüllt sei, welcher sich auf grofse Ent-
fernungen hin zu einer Nebelfläche ausbreiten und, von der Erde aus
gesehen, eine feine Durchsichtigkeit, wie die Mousselindecke über
der Metallfläche, zeigen könne. Die von der Sonne kommenden
Strahlen werden von der Marsoberfläche reflektirt und die Schatten
der Kanäle werden uns auf der Nebelfläche sichtbar: wir sehen die
Kanäle doppelt Die Unregelmäfsigkeiten, welche Sohiaparelli in
den Verdoppelungsersoheinungen beobachtet hat, wie das Vorkommen
von nioht parallelen Verdoppelungen, oder das Fehlen der Ver-
doppelung auf einzelnen Strecken, lassen sich nach Meunier durch
die unregelmäfsige Begrenzung der Nebeldecke erklären. Die be-
trächtlichen Veränderungen, die man in der Verdoppelung an den-
selben Objekten zu verschiedenen Zeiten konstatirt hat, führt der Ver-
fasser auf die variirende Höhe der Nebeldecke und auf den mit der
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136
Bewegung der Erde sich ändernden Wiukel zurück, unter welchem
wir unsere Beobachtungen machen. Die Verschiebung der Lage der
Kanüle, welche Schiaparelli beobachtet hat, sei durch Refraktions-
erscheinungen in der Marsatmosphäre, bei welchen der Dampfgehalt
dieser letzteren eine Rolle spiele, veranlafst Einwürfe gegen diese
Hypothese sind die grofsen Verschiedenheiten, welche die Richtungen
der Verdoppelung auf dunklen Stellen zeigen, während sich die Ver-
doppelung bei den Kanälen innerhalb enger Grenzen bewegt, die
Durchsetzung dunkler Flächen von hellen Streifen, die Verbreiterung der
Kanäle an Kreuzungsstellen, sowie endlich der entschieden vorhandene
Zusammenhang der Gesamterscheinungen mit den Jahreszeiten des Mars.
Ganz verschieden von dieser Hypothese ist eine von A. Schmidt
im Novemberhol'te der „Deutschen Revue“ geäufserte Idee. In Ueber-
cinstimmung mit Maunder nimmt Schmidt für den Planeten Mars
eine bedeutend niedrigere Temperatur an, als für die Erde. Die
Zusammensetzung der Marsatmosphäre sei wesentlich anders als die
der irdischen Lull ihr Wassergehalt erheblich kleiner, dagegen sei sie
vornehmlich aus freier Kohlensäure, die unter hohem Drucke steht,
gebildet Aus diesen hypothetischen Voraussetzungen orgiebt sich,
dafs die Oberlliiche des Mars gänzlich vereist ist dafs sich auf der-
selben grofse Niederschlagsprozesse der Kohlensäure vollziehen und
dafs die Kanäle aus solchen Niederschlägen zusammengesetzte Wrolken
sind, deren Auftreten an bestimmte geradlinige Bodengestaltungen
gebunden ist welche sich auf grofse Strecken hin ausdehnen. In den
vielen Rissen und Spalten, welche durch die Vereisung des Planeten
erzeugt wurden, herrsche ein ununterbrochenes Ausstofsen von Kohlen-
säure und Wasserdampf, diese Gemische würden von gleiohmäfsig
wehenden Passatwinden fortgeführt. Zuerst würden sich längs den
Spalten aus dem Wasserdampf mächtige Schneewolken bilden, die
Kohlensäure könnte aber auf Kosten der Wärme des Wassers eine
höhere Temperatur annehmen und würde, da sie von den Passaten
weitergetragen wird, in gröfseror Entfernung von den Schneewolken
wieder abgekühlt und müfste als ein zweiter, dem ersten paralleler
Schnee- oder Wolkenstrich sich niederschlagen. Auf diese Weise
entstünden „Verdoppelungen.“
W7ie man sieht, ist in der zweiten Ansicht nooh viel mehr des
Hypothetischen, als in der ersten. *
*
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Komet Holmes. Dieser merkwürdige Komet, der in den Tages-
blättem viel von sich reden gemacht hat, ist in der Nacht des 6. No-
vember südwestlich vom grofsen Andromeda- Nebel von Edwin
Holmes entdeckt worden; unabhängig fand ihn Anderson am 8. No-
vember. Das Gestirn war sehr hell, zeigte sich als runde Nebelmasse von
etwa 5 Minuten Durchmesser, mit einer zentralen Verdichtung. In den
nächsten 4 — 6 Tagen schon erschien der Komet beträchtlich gröfser, bis zu
10 Minuten, und auch noch heller; die zentrale Stelle, welche man nicht
recht als „Kern“ bezeichnen konnte, hatto sich keilförmig verlängert
und im Kopfe des Kometen trat aus der Nebelmasse ein helleres
Segment deutlioh hervor. Kaum viel mehr als eine Woche nach der
Entdeckung wurde der Komet rasch lichtschwächer, obwohl er seinen
beträchtlichen Durchmesser beibehielt, um Mitte November war auch
eine Schweifspur zu erkennen. Die Beobachtungen in der ersten Zeit
mufsten, da der verschwommenen Nebelmasse ein eigentliches Zentrum,
auf das man die Messungen hätte beziehen können, fehlte, beträchtlich
unsicher sein. Hierzu kam, ilafs der Komet sich nur sehr langsam
von einem Tage zum andern weiterbewegte, kaum 30 Zeitsekunden in
Rektaszension und 5 Bogenminuten in Deklination, also die aus den
Beobachtungen der ersten Tage ermittelten Positionen nur geringe Ver-
schiebung enthielten. Da andererseits die Bahnbestimmung des Ko-
meten, um dessen Weiterbewegung im voraus kennen zu lernen, schon
bald, mit 3-tägiger Zwischenzeit, vorgenommen werden rnufste, lagen
die Verhältnisse für die Erlangung eines zuverlässigen Rechnungs-
resultates in diesem Falle viel ungünstiger, als es sonst bei ersten
Bahnbestimmungen vorzukomraen pflegt. In der That war die Sache
so unsicher, dafs sich nicht einmal aus den Beobachtungen ent-
scheiden liefs, ob der Komet sich der Erde näherte oder von ihr entfernte.
Die bedeutende Oröfse des Kometen, sowie sein rasches Hellerwerden
liefsen auf das erstere schliefsen, und da zwei Astronomen, Berberich
in Berlin und Schulhof in Paris unabhängig von einander
Bahnelemente fanden, die mit jenen des periodischen Kometen Biela
grofse Aehnlichkeit zeigten, so lag der Gedanke nahe, dafs man in
dem entdeckten Holmes sehen Kometen den Bielaschen vor sich
habe, dafs dieser eben wieder zur Erde zurückkehre und letztere
bald einholen werde. Seit dem denkwürdigen Sternsohnuppenfall
vom 27. November 1872 und der Auffindung des Bielaschen Kometen
wenige Tage nachher durch Pogson von der südlichen Erdhemi-
sphäre aus hat sich der Komet Biela (der eine Umlaufszeit von
6,7 Jahren besitzt) nicht wieder gezeigt. Obwohl nun die Störungen,
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die dieser Komet bis 18‘J- erleidet, nicht bekannt waren, wiire doch
einige Möglichkeit gewesen, dafs der Komet Ende November abermals,
wie im Jahre 1872, mit seinem Schweife die Erde hätte berühren
können. Die wenigen Worte, die über diese Möglichkeit von wissen-
schaftlicher Seite in die Oelfentliclikeit gelangten, sind von sensations-
bedürftigen Journalen, namentlich von französischen und amerikanischen
Zeitungen zu einorMenge von Artikeln und Interviews ausgebeutet worden
und der Komet hat auf diese Weise eine wahre Fluthbewegung der
Druckerschwärze hewirkt. Sobald die Beobachtungen des Kometen
Holmes bis zum 11. No-
vember reichten, konnte
sioher entschieden werden,
dafs dieser Komet nicht der
Bielasche sei, und sich
von der Erde entferne. Die
Bestimmung der ßahnele-
mente blieb indessen immer
noch zweifelhaft: Kreutz
fand aus den Beobachtun-
gen vom 9., 10., 1 1. No-
vember die Perihelzeit l Zeit
derSonnennähe) 1 6. August
den Perihclabstand=0.83t>;
Berberich und Weifs
ebendieselben Elemente
Der Komet HoLmeo, mit 19. April, resp. 1.70;
nach einer am 15. Nor. 1892 von Dr. Max Wolf Krentz und Schulhof
in Heidelberg ...(genommenen Photographie. Bahnelemente arl,
welche, ohne den Beobachtungen zu sehr zu widersprechen, Un-
sicherheiten der Perihelzeil vom März bis Juni zuliefsen. Erst nach-
dem die Zwischenzeit wesentlich erweitert werden konnte und es mög-
lich war, fehlerhafte Beobachtungen auszuscheiden, gewann die Bahn-
bestimmung an Sicherheit und es zeigte sich, dafs die bis zum 23. No-
vember gemaohten Beobachtungen auf die Balm einer Ellipse schliofsen
lassen. Nach den Rechnungen von Kreutz und jenen von Berberioh
würde der Komet 7.09 Jahre resp. 6.78 Jahre Umlaufszeit um die Sonne
haben, der Knoten der Bahn würde bei 331° liegen, die Exzentrizität
0.407, die Bahnneigung 203/4 u, die tägliche Bahnbewegung über
500 Bogensekuuden sein. Nach diesen Bahnelementen wird sich der
Holmessche Komet im Laufe des Dezember durch das Sternbild der
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Andromeda südwärts, täglich etwa 4 Bogenminuten in Deklination, be-
wegen, die Helligkeit wird langsam abnehmen, doch wird der Komet
voraussichtlich noch lange beobachtbar bleiben.
Nun läfst sioh auch der Weg mit völliger Sicherheit angeben, den
der Komet lange vor seiner Entdeckung am Himmel genommen hat. Er
mufstr Mitte Juni in den „Fischen“ gestanden haben und damals halb so
hell wie am Entdeckungstagr gewesen sein, dann bewegte er sich nord-
westlich in langsam ansteigender Kurve mit immer zunehmender Hellig-
keit über dem Kopfe des Widders hinweg duroh den Triangel und war
schon am 18. August ungefähr so hell, wie bei der Entdeckung; dann lief
er in Deklination steil aufwärts in die „Andromeda", wo er im November
von Holmes entdeckt wurde. Demnach hätte der Komet schon
3 Monate früher mit gleioher Helligkeit am Himmel gestanden, ja er
wäre der Kraft unserer Fernrohre schon ein halbes Jahr vor dem
November zugänglich gewesen und es ist eine sehr eigentümliche
Thatsache, dafs er bei der sorgfältigen' Ueberwachung des Himmels
seitens der kometensuchenden Astronomen nicht früher aufgefunden
worden ist. Sollte er dennoch damals, abweichend von der Rechnung,
sehr schwach gewesen sein? Fast möchte man bei dem Holmesschen
Kometen ein ganz abnormes Beispiel für die Entwicklung des Koineten-
lichtes vermuten, zu welcher Vermutung nicht wenig auch die schon
angeführte Thatsache leitet, dafs der Komet nach dem 9. November
innerhalb weniger Tage den doppelten Umfang und erheblich vermehrte
Helligkeit erhalten hat, trotzdem er, wie die Rechnung zeigt, sich uns
nicht genähert, vielmehr von uns schnell entfernt hat.
f
Zur Physik der Atmosphäre.
Unter den Ansichten, die zur Erklärung der elektrischen Er-
scheinungen des Luftmeeres aufgestollt worden sind, fordert eine ein
erhöhtes Interesse heraus, weil sie an die allermodemsten Erfahrungen
im Gebiete jener so räthselhaften Naturkraft anknüpft. Arrhenius
hat diese Hypothese zuerst ausgesprochen; sie lautet mit einer
für die praktische Verwerthung derselben nicht in Frage kommen-
den und nur theoretisch wichtigen Abänderung: „Die Erde ist
erfahrungsgomäfs aus Ursachen, die vorläufig sicher festzustellen
unmöglich ist, mit einer Schicht negativer Elektrizität belegt. Eine be-
sondere Gattung von Sonnenstrahlen — die ultravioletten — hat die
Eigenschaft, negativ elektrische Körper durch die blofse Einstrahlung
Himmel and Erd». 1898. V. 4. 14
UM)
ihres Gehaltes an Elektrizität zu berauben. So wird auch die Erde durch
die Sonnenstrahlen ihren Belag von negativer Elektrizität abgeben
und die Luft damit bereichern. •“ So weit die Hypothese. Zu ihrer Be-
gründung bedarf es eingehender und vielseitiger Studien. Wir sind
in der Lage, über ein umfangreiches, hierher gehöriges Material
zu belichten, welches freilich auch an sich einen bedeutenden Werth
besitzt, dem Arrheniussohen Standpunkte aber eine gewisse Festig-
keit verleiht und dabei viele, bisher noch recht im Dunkel liegende
Phänomene mit hellem Lichte übergiefst. Dieses Material ist in den
letzten drei Jahren von Elster und Geitel in Wolfenbüttel zusammen-
getragen und letzthin in den Sitzungsberichten der kais. Akademie der
Wissenschaften in Wien (März 1892) veröffentlicht worden. Eines
mufs vorangeschickt werden. Die Arrheniussche Ansicht setzt
voraus, dafs gerade diejenigen Körper, welche die flüssigen und die
starren Best&ndtheile der Erdrinde ausinachen, unter dem . Einflüsse
der Sonnenstrahlen jene merkwürdige Aenderung erleiden. Aber das
war noch keineswegs bewiesen, sondern zuerst nur für einige Metalle
bekannt, die, so lange ihnen eine blanke Oberfläche zukam, in der
That seitens der Sonnenstrahlen zur Auslieferung ihnen zugeführter
negativer Elektrizität gezwungen wurden. Es ist erst den genannten
Herren mit Hülfe eines sehr feinfühligen Verfahrens gelungen, die-
selbe Erscheinung für einige Mineralien darzuthun, so dafs also
jetzt der Theorie eine experimentelle Grundlage zuerkannt werden
mufs. Es handelt sich nun zur ferneren Begründung derselben um
Beobachtungen der elektrischen Spannung in der Luft und gleichzeitig
um Messungen der Intensität der brechbarsten Sonnenstrahlen zu den
verschiedensten Zeiten des Tages und Jahres. Beide Arten von
Messungen sind von Elster und Geitel ausgeführt und die Resultate in
der mannigfachsten Weise verwerthet worden. So zeigt Fig. 1 den
Verlauf der elektrischen Spannung während des Jahres, wie er aus
1478 Einzelmessungen an normalen, d. h. nicht durch eine Wolken-
decke oder gar durch elektrische Entladungen gestörten Tagen sich
ergiebt Das auoh sohon von früheren Beobachtern konstatirte Ab-
sinken der Spannung im Sommer wurde von Exner durch eine hypo-
thetische Abhängigkeit derselben von dem gerade herrschenden
Dampfdruck erklärt. Wenn nämlich die Spannung des atmosphärischen
Wasserdamples hoch ist — wie im Sommer — so ist zugleich die-
jenige der Elektrizität herabgedrückt und umgekehrt
Freilich sind die Abweichungen der Einzelmessungen von der
Jahreskurve — wie wir hervorheben müssen — sehr bedeutende
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wenn wir sie etwa mit den Anomalien, welchen die Temperatur für die
einzelnen Tage des Jahres unterworfen sein kann, vergleichen. Unter-
sucht man den Gang der elektrischen Spannung für einen bestimmten
Tag, so findet man schon an demselben Erdorte nur wenig Ueberein-
stimmendes, und bei einer Vergleichung der für verschiedene Erdorte
erlangten Resultate ergiebt sich leicht, dafs hier vielgestaltige
lokale Einflüsse walten (vergl. z. B. die Kurven auf S. 268 des 4. Bd.
von H. n. E.). Kur soviel liefs sich aus den Wolfenbüttler Beobachtungen
erkennen, dafs die Spannung im Laufe eines Wintertages unter starken
Schwankungen vom Morgen bis zum Abend zuzunehmen pflegt, im
Sommer dagegen viel regelmäßiger verläuft, indem sie Vormittags
ihren höohsten, am späten Nachmittag ihren tiefsten Werth erreicht,
und dafs die maximale Span-
nung desto höher ist, je nie-
driger die Sonne am Mittag
steht, das Minimum desto
tiefer, je beträchtlicher die
Mittagshöhe der Sonne ist.
Die Messungen für die
Intensität der ultravioletten
Sonnenstrahlen erstreckten
sich über einen zweijährigen
Zeitraum. Der Haupttheil der
messenden Apparate war
eine amalgamirteZinkkugel,
riKiir 1.
welcher eine gewisse nega-
tive Elektrizitätsmenge mitgetheilt wurde. Dem Einflüsse der Sonnen-
strahlen uusgesetzt, giebt diese Kugel in demselben Zeitraum desto
mehr von ihrer Elektrizität an die Luft ab, je gröfser die Intensität
der ultravioletten Strahlen ist. Wird also jener Verlust an einein
Elektrometer gemessen , so ist er auch ein Mafs für den Betrag des
zugestrahlten kurzwelligen Lichtes. Die Fig. 2 zeigt uns den jährlichen
fiang der mittäglichen Intensität am Beobaehtimgsorte. Wir erkennen,
dafs dieselbe zur Zeit des höchsten Sonnenstandes ihren gröfsten Werth
amiirnmt — einen Werth, der das winterliche Minimum um das 7b-
bis 80-fache übertrifft, und dafs sie im Frühjahr steiler aufsteigt, als
sie im Sommer abfällt — eine Eigentümlichkeit , welche bekanntlich
auch die Beobachtungen der Temperatur aufweisen. Aehnliche Schwan-
kungen erleidet die ultraviolette Strahlung auch im Verlaufe eines
)4‘
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einzelnen Tages. Wir haben dieselbe in Bd. IV. S. 222 für Wolfenbiittcl
und die Höhe des Sonnblicks verzeichnet.
Bedenkt man, dafs auch der Dampfdruck zur Zeit des höchsten
Sonnenstandes sein jährliches Maximum erreicht, dafs also Dampf-
druck und .ultraviolette Sonnenstrahlung einen parallelen Verlauf
zeigen, so wird der Gedanke nahe gelegt, den Zusammenhang dieser
beiden Gröfsen ins einzelne zu verfolgen. Das Resultat ist merk-
würdig genug. Stellt man für denselben Sonnenstand die Gröfse des
Dampfdrucks mit der gleichzeitigen Intensität der brechbarsten Sonnen-
strahlen zusammen, so ersieht man auf den ersten Blick, dafs beide
Werthe mit einander sinken und wachsen. Und somit ergiebt sich
der so einfache wie auffallende Satz, dafs die Luft, je mehr
Wasserdampf sie enthält, desto mehr ultravioletten
Strahlen den Weg öffnet. Ganz unerwartet ist dieses Resultat
freilich nicht. Für die ehemisch wirksamen Strahlen der Sonne, die
ja im wesentlichen mit den ultravioletten identisch sind, hat bereits
Roscoe eine Zunahme mit der Lufttemperatur nachgewiesen. Kister
und G eitel machen es wahrscheinlich, dafs der wechselnde Staubgehalt
der Luft es ist, auf den die sonderbare Thatsache als ihren ersten Grund
hinweist. Photometrische Beobachtungen werden nämlich nur an Tagen
angestellt, die der Wolken besonders entbehren. Um solche zu bilden,
ist aber nach den Untersuchungen von A itken und R. von Helmhol tz
(verg). H. ti. E. Bd. IV. S. 433) das Vorhandensein von Staubkernen in
der Luft erforderlich. Ist der Dämpfgehalt ein hoher und doch Wolken-
bildung nicht zu beobachten, so liifst sich das in der Thnt nur durch
den Mangel kondensirender Staubmassen erklären. An jenen klaren
dampfreichen Tagen wird infolge dessen die Durchlässigkeit der Luft
eine recht grofse sein.
Da nun der Dampfgehait der Atmosphäre andererseits in der
von Exner angegebenen Verbindung mit der elektrischen Spannung
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der Luft steht, so läfst sich hieraus schou eine Beziehung zwischen
dieser und dem Betrüge der ultravioletten Strahlung erschliefsen. Ein
Zunehmen der einen inufs ein Absinkeu der anderen zur Folge haben.
Wir zeigen in Fig. 3 den gleichzeitigen Vorlauf aller drei in Betracht
kommenden Gröfsen. Ohne weiteres erkennt mau daraus, wie dem
Maximum der Strahlung ein Minimum des Dampfdrucks und der elek-
trischen Spannung entspricht und wie selbst ilie sekundären Maxima
und Minima einander entsprechen. So ergiobt sich die elektrische
Spannung als von der ultravioletten Strahlung, und daduroh mittelbar
auch vom Dampfdruck abhängig, und manche vun den sonst so un-
erklärlichen Schwankungen derselben sind durch Aenderungen dieser
beiden Gröfsen zu erklären. Eine Bestätigung für die Wirkung
Figur 3.
des Dunstgehaltes in der Atmosphäre fanden die Beobachter auch
noch durch eine andere Art von Messungen. Sie schätzten nämlioh,
während sie die elektrischen Beobachtungen anstellten, zugleich die
Durchsichtigkeit der Luft an der Sichtbarkeit von Merkmalen, die in
gewissen Entfernungen vom Beobachtungsorte lagen, und fanden die
Spannung geringer, wenn die Luft weniger durchsichtig war. Indem
der Dunst den kurzwelligen Sonnenstrahlen den Weg zum Erdboden
abschneidet, verhindert er somit die Zerstreuung der Elektrizität in
die Lufthülle.
Es kann wunderbar erscheinen, dafs die atmosphärische Elek-
trizität nach Verlauf gewisser Perioden wieder denselben Werth an-
nimmt, da doch nach der A rrheniusschen Hypothese ein fort-
währendes Entweiohen der negativen Elektrizität in die Luft und den
Weltraum stattfinden müfste. Aber wir dürfen annehmen, dafs dem
Erdboden diejenigen Elektrizitätsmengen, die ihm untreu geworden
194
sind, etwa durch die Niederscliläge gesammelt, wieder zugeführt werden.
Und diese Rückkehr braucht dabei keineswegs nach derselben Stelle
der Erdoberfläche stattzufinden. Dabei wird der aufsteigende Strom der
Elektrizität vielleicht auch elektromagnetische Wirkungen zeitigen,
wie denn Schuster bereits vor drei Jahren gezeigt hat, dafs elek-
trische Strome in der Atmosphäre, die vom Sonnenstände beeinflufst
smd, die tägliche Variation der Magnetnadel hervorbringen können.
Die an den Orten stärkster Einstrahlung (also besonders in niedrigen
Breiten) von der Erdoberfläche in die Luft eingedrungone negative
Elektrizität wird in den höheren Schichten der Atmosphäre nach den
Stellen hinströmen, die infolge der verhältnifsmäfsig geringen Zu-
strahlung ultravioletten Lichtes besonders arm an negativer Elektrizität
sind. Diese Stellen sind die über den Polen lagernden Theile der
Lufthülle. Somit liefse sich das Polarlicht als eine diese Strömung
begleitende Lichterscheinung deuten.
Wir sohliefsen unser Referat mit einem andern Ergebnisse, wel-
ches die Beobachtungen geliefert haben, und das, wenn es auch nicht
neu, sondern auf anderem Wege bereits durch die bolometriscben
Untersuchungen Laugley s (II. u. E. Bd. IV S. 377) u. a. bekannt ist,
doch hier auf originellem Wege abgeleitet ward. Es handelt sich um
das wählerische Verhalten der Luft bei der Absorption der verschiedenen
Strahlen des Sonnenspektrums. Während sie die einen fast unge-
hindert passiren läfst, werden andere in besonders hohem Mafse ver-
schluckt, und selbst besondere Schichten der Lufthülle zeigen derselben
Strahlengattung gegenüber ein verschiedenes Verhalten. So zeigt sich,
dafs gerade den untersten Schichten der Atmosphäre eine besondere
Vorliebe für die Verzehrung kurzwelliger Strahlen eignet, so dafs auf
Bergesgipfeln diese Struhlengattung einen weit beträchtlicheren Thoil
des Sonnenlichtes ausmacht, als in der Ebene. Ganz dasselbe gelang nun
Elster und Geitel auch bei der Berechnung der in Wolfenbüttel. Kolm
Saigurn und auf dem Sonnblick angestrllten Beobachtungen zu kon-
statiren. Schon am erstgenannten Orte zeigte es sich, dafs die Mittags-
sonne, deren Strahlen einen weit geringeren Weg durch diese
untersten Schichten zu nehmen haben, einen viel höheren Betrag aa
ultravioletten Strahlen besitzt, als ihr, selbst nach der Länge dieses
Weges berechnet, zukommeu inüfste. Am auffallendsten aber wird
das Verhältnis bei der Erhebung auf die Alpenhöhe. Da zeigt sich,
dafs von allen ultravioletten Strahlen, die uns aus dem Weltenraume
zukommen, bis zur Sonnblickhöhe (3100 m) drei Fünftel, und von den
aus dem Schiffbruche geretteten, auf weitere 1500 m etwa ein Viertel,
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i»r>
in den der Erde nächsten Schichten aber, zwischen 1600 m (Kolm
Saigurn) und 90 m (Wolfenbiittel), von den noch übrigen fast die Hälfte
vernichtet werden. Der hohe Gehalt an chemisch wirksamen Strahlen,
den das Sonnenlicht im Hochgebirge aufweist, vorriith sich übrigens
— wie Referent hinzufügt — durch ihre starke Wirkung auf die
menschliche Haut. Der Tieflandbowohner ist gegen diese Srahlen
durch die Dicke und vielleicht auch den Staubgehalt der über ihm
lagernden Luftschicht geschützt. Sm.
*
Die meteorologischen Aufzeichnungen auf dem Eiffelthurme.
Auf dem zweiten internationalen Meteorologenkongrefs in Rom
im Jahre 1879 erstatteten Prof. Hann (Wien) und P. Denza (Rom)
Bericht über die Beobachtungen auf hohen Bergen und im Luftballon
und erweckten dadurch von neuem allseitiges Interesse für diese Frage.
Die Errichtung mancher schon vorher geplanten Bergobservatorien
wurde infolge dieser Anregung beschleunigt; dio regelmäfsigen Beob-
achtungen im Fesselballon, welche der Kongrefs empfohlen hatte, er-
wiesen sich dagegen praktisch schwer durchführbar, uud es sind daher
in dieser Hinsicht wenig Fortschritte zu verzeichnen. Einen uahezu
vollkommenen Ersatz für solche Beobachtungen gestattet jedoch der
Eiflelthurm. Bei seiner bedeutenden Höhe und geringen Masse giebt
er die Verhältnisse der ., freien Atmosphäre“ viel besser an, als seihst
hochgelegene Gipfelstatiouen , welche stets den störenden Einflüssen
der Erdoberfläche unterworfen sind. Die Beobachtungsergebnisse von
dem Eiffelthurme haben den an sie gestellten Anforderungen durchaus
entsprochen, so dafs aus ihnen schou nach verhältnifsmäfsig kurzer Zeit
interessante Schlüsse gezogen werden konnten, worüber namentlich
Herr Angot Mittheilungen gemacht hat.
Die instrumeutelle Ausrüstung der meteorologischen Station auf
dem Eiffelthurme ist eine vorzügliche. Zur direkten Ablesung sind
ein Quecksilberbarometer, Psychrometer und Extremtherniomeler vor-
handen; aufserdem werden oben Luftdruck, Temperatur, Feuchtigkeit
und Regen fortlaufend selbstregistrirt. Ferner sind ein Thermograph,
eine Windfahne, sowie Anemographen für horizontale und vertikale
Luftströme aufgestellt, deren Angaben mittelst elektrischer L’eber-
iragung in dem 500 m vom Fufse des Eitfelthurms entfernten meteoro-
logischen Zentralbureau abzulesen sind. Alle Registririnstrumente sind
von Richard Freres in Paris konstruirl und arbeiten mit Ausnahme
1116
iles Anemographen zur Messung' vertikaler Luftbewegung durchaus
befriedigend. Sie sind auf der obersten Plattform des Thurmes, 300 m
über dem Boden (334 m über dem Meeresniveau) aufgestellt; nur die
Barometer sind in der zweiten Etage, 280 m hoch, angebracht. Außer-
dem befinden sich noch Thermometeraufstellungen in 197 m und in
123 in Höhe. /Cum Vergleich mit den Aufzeichnungen auf dem Eiffel-
thurme dienen die Beobachtungen im meteorologischen Zentralbureau
und diejenigen des ca. zwei Stunden von Paris entfernten Observatoriums
im Parc Saint Maur.
In erster Linie erregten die Windverhältnisse auf dem Eiffelthurm
das Interesse der Meteorologen. Die Windstärke ist oben unerwartet
groß, sie ßt ungefähr dreimal so groß als im meteorologischen
Zentralbureau und übertrifft sogar noch die auf dem 2600 m hohen
Säntisgipfel. Eine gesetzmäßige Beziehung zwischen der Windstärke
oben und unten ßt wenig ausgesprochen ; vielmehr zeichnen sich
häufig gerade ruhige Perioden an der Erdoberfläche durch heftigen
Wind in der Höhe aus. Theoretisch bemerkenswerth ist der tägliche
Gang der Windstärke. Während am Erdboden der Wind am stärksten
um Mittag, am schwächsten gegen Sonnenaufgang ist, tritt auf dem
Eiffelthurme das Maximum um Mitternacht, das Minimum gpgen 10 Uhr
Morgens ein. Daß diese für hohe Berge charakteristische Umkehr der
täglichen Periode sich sohon in der Höhe von 300 m und gerade hier
besonders stark zeigt, spricht für die Richtigkeit der Koppen sehen
Theorie. Hiernach wird die Windgeschwindigkeit unten am Tage ver-
größert duroh das Herabsinken der oberen, rascheren Luflströme,
während die langsamer fließenden Winde am Erdboden aufsteigen. In
der wärmsten Tageszeit muß demnaoh der Unterschied in der Windstärke
oben und unten am kleinsten sein; in der That ist das Verhältniß der
Windstärken um Mitternacht etwa doppelt so groß, aß um Mittag.
Der Luftdruck zeigt in seinem tägliohen Gange einen Uebergang
von den Vorgängen in der Ebene zu denen auf Berggipfeln, die Haupt-
extreme erscheinen oben verspätet und sind etwas abgesohwächt im
Vergleich zum Erdboden, während die sekundären Maxima und Minima
mehr hervortreten.
Wie zu erwarten, sind die Temperatur- und Feuchtigkeits-
schwankungen auf dem Eiffelthurme viel geringer, als in Paris. Die
tägliohe Temperaturamplitude ßt fast genau so groß (5° C.), wie auf
dem 1467 m hohen Puy de Dome; wir haben also auch hier die Er-
scheinung, daß der Eiffelthurm meteorologische Verhältnisse zeigt,
welche man erst in weit größeren Höhen vermuthete. Die Temperatur
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197
ist eine ziemlich hohe, die vertikale Tempeiaturabnnhme um 7 L'lir
Morgens beträgt im dreijährigen Durchschnitt nur 0.13" C., während
als normal 0.50" gilt. Diese Gröfse variirt jedoch innerhalb sehr
weiter Grenzen; es traten Fälle ein, wo es auf der Spitze des Eififel-
thurms 8" kälter war als unten, während es zu andern Zeiten oben
um 12" wärmer war. Temperaturzunahme mit der Höhe zeigt sich hier
auffallend häufig — in 33 pC’t. aller Fälle — , besonders, wenn Paris
am Südwestrande eines Maximalgebietes liegt, wo sich auf diese Weise
schon das llerannahen einer Depression bemerkbar macht. Fs scheint
daher nicht ausgeschlossen, dafs sich aus den Eiff'elthurm-Aufzeichnungen
Nutzen für die Prognostik ziehen liifst, namentlich bei gleichzeitiger
Berücksichtigung der Anomalien in den Feuchtigkeitsverhältnissen.
Wenig erfreulich sind die Resultate der Regcnmessuugen. Bei
starkem Winde werden die in den Regenmesser fallenden Tropfen
wieder herausgeworfen, so dafs dann selbst heftige Niederschläge keine
meßbaren Mengen liefern. Es ergiobt sich daraus die Xothwondigkoit,
den Regenmesser stets gegen den Wind zu drehen, jedoch hat man bei
dem Raummangel auf der Plattform des Thurmes von solchen Vor-
richtungen einstweilen Abstand genommen.
Die werthvollen Ergebnisse, welche der Eißelthurm geliefert hat,
lassen den Wunsch nach einer Vermehrung derartiger Observatorien
durchaus berechtigt erscheinen. Ein ähnliches und wohl noch grofs-
artigeres Unternehmen dieser Art wird jetzt in Chicago vorbereitet;
mögen bald weitere uachfolgon! Sg.
Die Vereinigung von Freunden der Astronomie und kosmischen
Physik, welche vor anderthalb Jahren von einer Anzahl Fachmänner be-
gründet worden iat. um das Interesse für die besagten Wissenschaften in
grosseren Kreispn durch Anregung und Belehrung zu fordern ')• hielt am
SK. November in Berlin ihre diesjährige Hcrbstversammlung ah.
Nachdem der Vorsitzende Prof. Leb tnann-Fil lies die Versammelten
begriifst und eineu kurzeu Rückblick auf die Thäligkeit in dem letzten Jahre
gegeben hatte, theiltc er mit, dafs die Mitgliederzahl jetzt 240 betrage. Sodann
berichtet er, dafs der Vorstand höheren Ortes eine Subvention für die Vereini-
gung beantragt habe.
Prof. Foerster begründet diesen Subvenlionsautrag durch dcu Hinweis,
dafs eine Reiho wichtiger Forschungen nur durch das Zusammenwirken
mehrerer, wie dies bei der Vereinigung der Fall sei, und durch Zuwendung
‘j Statuten uml Mitgliedervorzeichuifs ,1er Vereinigung, sowie Frobebefte «ler vuu l'rut
Dr. Foerster. Direkter der Kooigl. Sternwarte zu Berlin, berousgegebenen .Mittheilungeii
der Vereinigung- können auf Wttnscb durch den Schriftführer Dr. Sebwabn Berlin, Inva.
lidenstrafse 57— 6‘J, bezogen werden.
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1B8
reicherer Mittel zu einer gedeihlichen Entwickelung gebracht Herden könnten.
Kin solches Forschungsgebiet sei die weitere Ergründung der leuchtenden
Nachtwolken. Herr Jease habe gezeigt, dafs damit wichtige kosmische
Probleme in Beziehung stehen, welche namentlich die Existenz eines inter-
planetarischen Mediums und das Vorhandensein von Gegenwirkungen
dieses Mediums auf die obersten Ktoffochichten der Erdatmosphäre betreffen»
Infolge der schrägen Stellung der Erdaxe zu der Beweguiigsrichtung der
Erde müssen besagte Gegenwirkungen Zirkulationsströmungen in den obersten
Theilen der Erdatmosphäre bewirken, dio sich in einer Verschiebung der 8t)
bis HO Kilometer hoch schwebenden leuchtenden Wolken dokumentircn und
•
sich derartig äufsern würden, dafs diese Gebilde alternirend in unseren
Sommern nach dem Nordpol, in unseren Wintern nach dem Südpol hiuwandern
müfsten. lTni nun die wichtige Frage nach dem Vorhandensein einer deu
Sternenraum uusfüllenden. äufserst zarten Materie zu Ibsen eine Krage, die
zunächst nur durch Deduktionen nahe gelegt ist, — bedarf es der Ausrüstung
einer Expedition nach den Tropengegeuden, welche daselbst das Auftreten
und die Beweguugsvorgängc der leuchtenden Nacht wölken weiter verfolgt.
Dies ist um so nothwendiger, als eine von Herrn Jesse ergangene Aufforde-
rung zur Betheiligung an derartigen Untersuchungen bei den dortigen Stern-
warten nicht das gewünschte Entgegenkommen gefunden hat. Da auch
die Akademie der Wissen schäften nicht mehr in der Lage ist. ihr© bis-
herigen Unterstützungen für diesen Zweck fortzusetzen, so liege es in der
Absicht, mit allen Kräften dahin zu wirken, dafs solche Expeditionen zu
stände kommen.
Ein weiteres Gebiet, auf dom von einzelnen Mitgliedern schon erfreuliche
Resultate erzielt worden sind und das «he Vereinigung zu kultiviren gedenkt,
ist die photographische Aufnahme grülscrer Theile des Himmels. Hort* Dr.
Wolf in Heidelberg und Herr Archenhold in Berlin haben in dieser Rich-
tung mit verhältuifsniärsig geringen instrumentellen Hülfsmitteiu ganz bedeu-
tende Resultate zu Tage gefordert. Auch auf die Fortsetzung dieser Bethäti-
gung bezieht sicli der äuhventiousautrag.
Prof. Foerster t heilte sodann der Versammlung mit, dafs eine astro-
nomische Vermuthung von höchster Tragweite, nämlich das Vorhandensein
von Schwankungen des Erdkörpers um seine Rotationsaxe, in jüngster Zeit
volle Bestätigung gefunden hat durch dio Ergebnisse »1er Polhöhenbeob-
achtungeu, welche auf Veranlassung der internationalen Erdmessung von
Herrn Dr. Marcuse und Mr. Preston auf den Hawai-Inseln, korrespon-
dirend mit entsprechenden Polhöhenbeohachtungen auf einigen mitteleuro-
päischen Sternwarten (Berlin, Prag. Strafsburg), erzielt worden sind. Es hat
sich herausgestellt, dafs die Erwartung, die Polhöhenschwankungen seien in
Honolulu das genaue Spiegelbild von denjenigen, welche im gleichen Zeitraum
auf dem Antimeridian in Mitteleuropa beobachtet worden sind, nicht getäuscht
worden ist. Damit ist erwiesen, dafs die seit einigen Jahren konstatirten
kleinen Aenderungen der Polhöhen sich nur durch eine Verschiebung der
Erdaxe im Erdkörper erklären lassen. Nach einem jüngst der Astronomen-
versammlung in Brüssel von Prof. Al brecht vorgelegten Berichte (siebe:
Astronomische Nachrichten Bd. 131 No. 3131) beträgt die Periode dieser Erd-
Schwankung etwas mehr als ein Jahr, nämlich 3K6 Tage, wahrend der Maxio^-il-
ausschlag 0,5 bis 0,0 Bogensekunden erreicht, was einer Verschiebung der
Pole auf der Erdoberfläche um nahezu *20 m entspricht. Die Ursachen dieser
Erscheinung sind noch nicht ganz sichergcstellt, doch lassen sie sich ver-
mutlich zurückführcu auf hydrologische und meteorologische Massenversetz-
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uiigeu auf der Erdoberfläche, welche mit dem jährlichen Sonnenläufe in
Beziehung stehen und durch Veränderung des polaren Hauptträgheitsinoinentea
des Erdkörpers auch kleine Ausschläge zwischen seiner momentanen Um-
dreh ungsaxe und der Hauptträgheitsaxe bewirken. Da der Gegenstand für
die Geodäsie und nicht minder für die Geophysik von der höchsten Tragweito
ist, so beabsichtigt die internationale Erdmessungskommission, einen regel-
mäfsigen Ueberwachungsdienst der Polhöhen auf passend gelegenen Stern-
warten einzu richten.
Der Vorstand der geophysikalischen Arbeitsgruppe, Kegierungsrath Di*.
We instein, forderte sodann die Mitglieder zur Beobachtung einiger bei den
Nordlichterscheinungoii wichtigen Phänomene auf, die trotz der geringen
Hülfsmittel, welche gerade hier zur Verfügung stehen, doch Erledigung finden
können. Da wir gegenwärtig wiederum einer Periode erhöhter Aktivität anf
dem Sonnenballe entgegengehen, welche sich jetzt schon durch die Aus-
bildung zahlreicher größter Fleckengruppen kund giebt, und da bekanntlich der
innige Zusammenhang zwischen den Revolutionsvorgängen auf der Sonnen-
oberfläche und den erdmagnetischen Aeufserungen nach den bisherigen Er-
fahrungen ein vollauf begründeter ist, so sei ein häufigeres Auftreten von
PoUrlichterscheinungen in mittleren Breiten für die Folgezeit wohl zu
erwarten.
Herr Regierungsb&umeister Schleyer berichtet über sehr erfreuliche
Erfolge derjenigen Gruppe, welche sich mit den Helligkeitsschwaukungen der
Sterne beschäftigt. Durch Herstellung von Orientirungskarten für die veränder-
lichen Sterne und andere geeignete Hülfsmittel der Beobachtung sei hier im
engeren Kreise von etwa 14 Mitgliedern recht rhätig gearbeitet. Ebenso günstig»
Resultate weise auch dio Gruppe auf, welche sich mit der Aufzeichnung von
Steruschnuppenbahnen befafst.
Herr Dr. Sch wahn verliest sodann eine briefliche Mittheilung des Prof.
Schiaparelli in Mailand, worin derselbe sich über eine Anzahl von Zeich-
nungen der Marsoberlläche, welche von einem Mitgliede, Herrn Hilliger in
Barcelona, unter Bonutzung eines vierzölligen Refraktors während der letzten
Oppositionszeit angefertigt worden sind, sehr anerkennend ausspricht.
Schiaparelli erwähnt darin auch, dafs der weitere Fortschritt in der Mars-
forschung wohl von Amerika zu erwarten sei, da gegenüber den Riesen-
Instrumenten dieses Landes die europäischen Sternwarten nicht mehr mit
gleichem Erfolge wirken können.
Am Schlüsse Erklärte Herr Wurtzel einen von ihm erfundenen Meteo-
rographen, welcher in sinnreicher Weise das Problem der sichersten und
schnellsten Registrirung von Winke Imcssun gen bei Ortsbestimmungen von
Sternschnuppen, Polar! ichtstrah len u. dcrgl. löst.
*f9§g**
I
Moritz Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik I. Hand:
Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1200 n. Chr. Leipzig 1880. IT. Band:
Von 1200 — 1668. Leipzig, Teubner. 1892.
Der Versuch des Verfassers, die Entwickelung des mathematischen Wissens
gegenüber den heute zum Theil veralteten Werken vonMontucla und Kästner
in einer kritischen Durchforschung neuerdings zusammen zu fassen, ist schon
vor zwölf Jahren, als der erste Band dieser im modernen Geiste gehaltenen
Bearbeitung erschien, allerseits mit grobem Beifall aiifgenommen worden. Der
lange Zeitraum, der zwischen der Publikation des ersten und des zweiten
Bandes liegt, hat dem letzteren nur zum Vortheile gereicht, denn auch er re-
präsentirt sich uns als oin Musterbild von Gründlichkeit und ausdauerndem
Fleifs. Da ist wenig, was etwa aus zweiter Hand genommen wird, überall
treten uns Selbständigkeit der Untersuchung, sorgfältiges Durcharbeiten der
zur Erörterung gelangenden Leistungen der Mathematiker, bedächtiges Ab-
wägen der Begabung der mathematischen Schriftsteller. Vorsicht und Mäfsigung
bei der Aufstellung eigener Meinungen oder der Beurtheilung gegnerischer
Hypothesen entgegen. Der Vorgänger in Darstellungen der Geschichte der
Mathematik, den Cantor noch am meisten nennt und benutzt, ist Hankel;
er hebt dessen Verdienste um die Klarstellung verschiedener geschichtlicher
Fragen hervor und sagt selbst, dafs sich betreffs einzelner Kapitel kaum besseres
geben lasse, als was Hankel in seiner Geschichte der Mathematik (1872) ge-
schrieben.
Bei einem Werke von dem Umfange des vorliegenden (beide Bände ent-
halten zusammen über 1600 Seiten) können wir auf die einzelnen Theile nicht
näher eingehen und müssen uns darauf beschränken, nur Einiges besonders
hervorzuheben. — Der erste Baud führt uns durch die antike Zeitepoche, an
den Leistungen der Egypter, Babyloner. Griechen und Römer, Inder, Araber
und Chinesen vorüber ins Mittelalter, in die Zeit der KloBtergelehrsamkeit, des
Wiederauflebens des Rechnens mit dem Abakus (dem Rechenbrett«) und de«
Gebrauchs der Apices (aus denen unsere Ziffern sich entwickelten), zeigt dann
das allinälige Ueberwiegeu der Algorithmiker (Gebrauch der indischen Null
und Verlassen des Abakus), und schliefst ab mit Leonardo Pisano (1200a. Chr.).
Der Verfasser berührt zweimal die Boethius-Frage. In einer von Boethius
(524 n. Ohr. onthauptet) angeblich herrührenden Schrift heifst es an einer
Stelle, dafs schon die Pythagoräer den Abakus gekannt und mit 9 Zeichen
gerechnet haben. Während Hankel und Friedlein glauben, dafs in der Schrift
des Boethius eine theilweise Fälschung vorliegt, nämlich eine spätere Ver-
bindung jener Schriftstelle seitens eines Unbekannten im 10. oder 11. Jahr-
hundert mit einem wirklich von Boethius selbst geschriebenen Opus, neigen
Cantor u, a. der Echtheit der Schrift zu und halten es nicht für unmöglich,
dafs die von den Neupythagoräern gebrauchten 9 Ziffern thatsächlich die Apices
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201
der späteren Zeit sein könnten. Bei Besprechung Gerbe rts (nachmaligen Pabstos
Sylvesterll, ge st. 1003), des Wiedererweckers des Abakusrechnens, unterzieht
der Verfasser den Lebenslauf und die Studien Gerberts einer sorgfältigen
Besprechung, zeigt, dafs das Columnen rechnen mit dom Abakus keinesfalls
dem Gerbe rt aus arabischen Quellen (dem maurischen Spanien) bekannt ge-
worden sein kann; dafs eher die Schrift des Boethius diese Quelle sein
konnte, in solchem Falle aber deren Echtheit nicht bestritten worden könne.
Der zweite Band beginnt mit Leonard von Pisa und seinem „über
abaci-, behandelt dann die Leistungen der Mathematiker des 13. Jahrhunderts,
der deutschen Rechenlehrer Johann von Gmunden, Peurbach, das Auf-
kommen der Rechenbücher durch Pietro Borgo und Potzensteiner, die
allmälige Einbürgerung des Rechnens „auf der Linien" und das Auftreten der
Mathematik als Lehrgegenstand an deutschen Universitäten. Die Darstellung
der Lösung cubischor Gleichungen giebt dem Verfasser Gelegenheit, auf den
bekannten Streit zwischen Tartaglia und Cardano besonders einzugohen.
Tartaglia soll die Lösung cubischer Gleichungen gefunden und dem Car-
dano auf dessen Drängen gegen ausdrückliches Versprechen derVerschwiegen-
heit in itgetheilt haben; trotzdem hat Cardano in seiner Ars magna (1545) die
Lösung veröffentlicht. Das Verhalten Cardanos, sowie seines Schülers
Ferrari bei einem ihnen später von Tartaglia angebotenen mathematischen
Turnier (bestehend in der Lösung cubischer Gleichungen), würde deren Cha-
rakter ebenfalls ein ungünstiges Zeugnifs ausstellen. Cantor behandelt die
Ansprüche der bei dem Streite Betheiligten durch drei Kapitel hindurch. Dem
Vorwurf gegen Cardano, dafs dieser 1545 den gegebenen Eid gebrochen,
stimmt er bei, dagegen findet er, indem die seitens Cardano, Ferrari und
Tartaglia erschienenen Schriften der Zcitfolge ihrer Veröffentlichung nach
auf ihren wissonschafllichen Worth analysirt worden, dafs für Cardano die
bedeutsamsten Erkenntnisse betreffs der Lösung der cubisclien Gleichungen,
nämlich dio näherungsweise Auflösung, das Vorhandensein dreier Wurzeln,
die Wegschaffung des quadratischen Gliedes u. a. m. in Anspruch genommen
werden können, ja dafs Tartaglia in seinen mathematischen Vordiensten
selbst unter Ferrari, den glaubenseifrigen Schüler Cardanos, gestellt werden
dürfe. Das klingt freilich ganz anders, als die bisherige Auffassung des Streites,
nach welcher dem Tartaglia nur schweres Unrecht geschehen ist, welcher
Ansicht Hankel seinerzeit mit den Worten Ausdruck gab: „Der Mann, dem
wir den gröfsten Fortschritt der Mathematik im Iß. Jahrhundert verdanken,
wurde vergessen und nach dom treulosen Cardano wurde die dem Tartaglia
entwendete Formel bezeichnet." — Eine ähnliche Beschuldigung geistigen Dieb-
stahls entscheidet Cantor auch betreffs des Streites Roberval-Toricelli.
Nach einer Erzählung Pascals soll Debeaugrand im Jahre lß38 gewisse
neue, von Roberval über die Cycloide gefundene mathematische Sätze an
Galilei gesendet haben, Toricelli hätte diese später für sich in Anspruch
genommen. Durch genauen Verfolg der vorhandenen Briefe kommt Cantor
zum Schlufs, dafs diese Sätze vor April 1039 nicht von Roberval gefunden
worden sind, also Toricelli 1038 jedenfalls schon selbständiger Finder der-
selben war, sein Charakter demnach ohne Makel bleibt. — Der zweite Band
legt ferner dio Errungenschaften auf dem Gebiete der Zahlentheorie dar,
geht dann zu der geometrischen Art der Auflösung gegebener Gleichungen
(Vieta, Girard) über. Dann folgt die Begründung der analytischen Geometrie
der Ebene durch Descartos (1037) und die sich hierauf aufbauenden ersten
Versuche zu Infinitesimalbetrachtungen (Cavalieri, Kepler). Vor dem
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1
202
I
Auftreten der Geistesheroen Leihnitz und Newton (1688) schliefet der
] Kund ah.
Wir können unserem kurzen Referate nur noch den Wunsch hinzufügrn,
dafs es dem verdienstvollen Forscher vergönnt sein möge, bald auch noch den
dritten Hand seines Werkes, der uns wahrscheinlich bis zu den Leistungen
am Anfang unseres .Jahrhunderts weiterführen wird, zu vollenden.
F. K. Ginzel.
Felix Müller, Zeittafeln zur Geschichte der Mathematik, Physik
und Astronomie bis zum Jahre 1500. Leipzig 1892, Verlag von
B. G. Teu bn er. Preis geh 2,40 Mk.
Im Anschluss an die obige Besprechung des grofsen mathematischen Ge-
schichtswerkes von Cantor wollen wir gleichzeitig auf die vorliegenden Zeit-
tafeln hin weisen, welche allen denjenigen, die das kostbare Werk C&ntors
vielleicht nur gelegentlich oder gar nicht zu benutzen in der Lage sind, eine
sehr nützliche Uobeniicht über die historische Entwicklung der exakten
Wissenschaften im Alterthum und Mittelalter hieton werden. Besonders ver-
dienstvoll ist es, dafs Prof Müller, ein hervorragender Kenner der mathe-
matischen LiUeratur. überall in ausführlichster Weise auf die Quellenwerke
hinweist, bei denen derjenige, der mehr zu erfahren wünscht, die möglichst
genaue Belehrung finden wird. Dadurch werden die ..Zeittafeln“ ein willkom-
mener Ersatz für eine noch nicht existirende, brauchbare mathematische Biblio-
graphie der älteren Zeit. — Möge der Verfasser seine Arbeit recht bald bis zur
Gegenwart fortsetzen, denn fast möchte uns ein ähnlicher Leitfaden durch die
Geschichte und LiUeratur der Neuzeit als ein noch dringenderes Bedürfnis
erscheinen. F. Kbr.
Gerl and, Geschichte der Physik 4. Band von Webers natur Wissenschaft-
schaftlicher Bibliothek. Leipzig 1892. J. J. Weber'® Verlag. Preis
geh. 4 Mk.
Das vorliegende, vortrefflich ausgestattete Werkchen wird für viele, die
nicht in der Lagt» sind, grofsere Geschichtswerke der physikalischen Disziplinen
benutzen zu können, eine werth volle Gabi* sein. Denn auf allen Wissensge-
bieten kann erst die historische Orientirung über die allmähliche Entwicklung
und gegenseitige Beeinflussung der Erkenntnisse zu deren vollem Verständnis
führen. Der Verfasser liefert im vorliegenden Bändchen eine zusammen-
hängende, angenehm lesbare Darstellung der Geschichte der Physik und ver-
steht es auch, über wichtige theoretische Arbeiten mit wenigen Worten ohne
Anwendung von mathematischen Formeln derart zu berichten, dafs der I*scr
einen Einblick in die prinzipiellen Fragen, um die es sieh handelt, gewinnt.
Wenn auch der letzte Abschnitt nach des Verf. eigenen Worten nicht die ge-
samte Wissenschaft der Gegenwart umfafst. da diese noch nicht Gegenstand
der Geschichte sein kann, sondern nur di«* angeknüpften Fäden verfolgt, „bis
sie sich im Glanze der Gegenwart verlieren*, so kann doch die gebührende
Beachtung auch der neuesten Forschungsergebnisse, soweit sie von historischer
Tragweite sind, als ein besonderer Vorzug des Buches hervorgehoben werden
Da. wo schwierige, durch Worte allein nicht leicht zu beschreibende Versucha-
anordnungen zu schildern waren, ist das Werkchen mit zweckmässigen, ein-
fachen Illustrationen bereichert worden. Am Schlüsse finden wir neben einem
ausführlichen Register auch eine recht brauchbare, chronologische LiUeratur-
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tabeile, bei der freilich die epochemachenden, wissenschaftlichen Werke durch
fetten Druck gegen blofse historische Untersuchungen hätten hervorgehoben
werden sollen. F. Kbr.
J. G. Wallentin, Einleitung iu da» Studium der modernen Elektrizi-
t&tslebre. Stuttgart, Verlag von F. Enke. 1892.
Das Ruch ist für diejenigen geschrieben, „welche, ausgerüstet mit den
Kenntnissen in der Elektrizitätslehre, wie sie in unsern höheren Schulen den
Schülern beigebracht werden, bestrebt sind, mit den theoretischen An-
schauungen auf diesem Gebiete, mit den wesentlichen Hülfsmitteln der ex-
perimentellen Forschung und mit den grundlegenden Methoden derselben sich
vertraut zu machen.“
Das Buch ist gut: aber es scheint uns, uls habe es seine schwachen
Seiten. Was zunächst den Stoff angoht, so ist derselbe vom Verfasser in
ziemlich vollständiger Weise zusammengestellt.
Ebenso wird man mit der Darstellung in logischer Beziehung einver-
standen sein. Die Beweise, bei denen in der Regel die mathematische Deduktion
nicht entbehrt werden konnte, sind einfach und verständlich; an einzelnen
Stellen, so in der Lehre von der Induktion, worden die Elemente der
Differential- und Integralrechnung vorausgesetzt. Es ist das natürlich viel
besser, als der Versuch, alles elementar zu beweisen.
In pädagogischer Beziehung scheint es uns. als befleifsige sich der Ver-
fasser einer Entkleidung der Vorgänge von allem, was anschaulich und prak-
tisch ist, als habe er sich Mühe gegeben, ein recht abstraktes Buch zu
schreiben. Beispielsweise wird der Begriff des elektrischen Widerstandes in der
Weise eingeführt, dafs zunächst c, der Coeflicient der elektrischen Leitungs-
fähigkeit, deßnirt wird, als die Elektrizitätsmenge, welche einen Draht, dessen
(Querschnitt die Flächeneinheit und dessen Länge die Längeneinheit ist. in der
Zeiteinheit durchfliegt, wenn die Enden eine Potentialdifferenz vom Werthe
Eins aufweisen. Die Betrachtungen werden also in bekannter Weise an die
Erscheinung des Potentialabfalls in einer Leitung angeknüpft. Der Widerstand
wird nun definirl als ' . und es wird nicht ein einziges einfaches Experiment
cq
angeführt, welches die Berechtigung der Bezeichnung „Widerstand“ darthäte.
Nur für den Einflufs des Querschnitts wird noch ein Versuch erwähnt — die
Entladung einer Leydener Batterie durcli Baumwollfäden! Warum wird denn
nicht ein galvanischer Versuch angestellt? Warum kann man aus einem
550 Seiten starken Buche über moderne Elektrizitätslehre nicht ersehen, ob
ein Eisendraht dieselbe Stromstärke zu Stande kommen läfst, wie ein Kupfer-
draht? Tabellen, z. B. eine solche über spezifische Widerstände, enthält das
Buch nicht. Soll das Werk für denjenigen empfehlenswerth sein, welcher
nur theoretische Kenntnisse gewinnen will, so könnten eine Menge von Neben-
sachen fehlen, z. B. könnten Dinge, wie die Bereitung der Bogenlichtkohlen
mit Hülfe von Syrup etc., unerwähnt geblieben sein. Andererseits pflegt ein
Leser dieser Kategorie, also etwa ein Studironder der Physik, auf Literatur-
nachweise, welche ebenfalls völlig fehlen, Werth zu legen. Auch die Elektro-
techniker dürften sich mit dem Buche nicht so befreuuden, wie der Ver-
fasser annimmt.
Der Hauptvorzug des Werkes besteht, wie gesagt, darin, dafs der Ver-
fasser das gesamte einschlägige Material, auch die neuesten Forschungsergebnisse
thunlichst in Betracht zieht. 3 p.
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*204
fc. Pi 7. zische 11 i Die Anwendungen der Photographie. Dargestellt für
Amateure und Touristen. Halle a. S. 1892. X, 49fi S. Mit 284 Ab-
bildungen. Preis 8 M.
Das vorliegende Buch ist der dritte (letzte) Band des „Handbuches
der Photographie für Amateure und Touristen1*; es bildet jedoch ein in
sich abgeschlossenes Ganze und ist Amateuren, welche genauere Kenntnifs
der in den beiden andern Bänden behandelten photographischen Apparate
und Prozesse meist erst in zweiter Linie interessirt, zunächst zum Ankäufe
zu empfehlen. Bei aufmerksamerer Durchsicht des Buches wird man über-
rascht sein über die Fiillp des Stoffes, über die zahlreichen kleinen, aber
wichtigen praktischen Winke und über die sorgfältigen Literaturnachweise.
— Die etwas bunte Anordnung des Stoffes ist mit Hilfe eines genauen Inhalts-
verzeichnisses und Sachregisters ziemlich leicht zu übersehen. Nach ein-
leitenden Bemerkungen über den allgemeinen Vorgang bei photographischen
Aufnahmen wird in den ersten Kapiteln die Aufnahme von Landschaften und
Architekturen behandelt. Dieser für den Amateur wichtigste Theil ist mit viel
Geschick bearbeitet; bei einer kurzen und präzisen Damtellungsweise scheint
doch nichts von Bedeutung zu fehlen.' die auf S. f»0 gegebenen Wetterregeln
wären wohl besser fortgeblieben. Die folgenden Kapitel, die Aufnahme von
Innenräumen, von Personen, von Kunstgegenständen, Gemälden u. dgl. be-
handelnd, sind ebenfalls sehr sorgfältig uusgefiihrt. Auch einige der dem Amateur
ferner liegenden Gebiete: die Photograinmotrie, die aeronautische Photographie,
die photographischen Aufnahmen auf Forschungsreisen, die gerichtliche Photo-
graphie und Chromophotographie sind recht gut bearbeitet. Weniger gelungen
scheinen die Abschnitte: Anwendung der Photographie in der Naturbeschreibung,
in der Physik und Meteorologie, die Mikrophotographie und die Astrophoto-
graphie. Es dürfte dies zum Theil daran liegen, dafs sich der Verfasser hier
nach dem schon etwa« veralteten Werke von Stein: „Das Licht im Dienste
wissenschaftlicher Forschung“ gerichtet hat und meist nur Beschreibungen
einiger neuer Apparat»» binzugefügt hat, ohne die bedeutsamen Resultate,
welche gerade in diesen Gebieten neuerdings erzielt sind, genügend zu be-
rücksichtigen. Der Fachmann wird hier viel vermissen; im Hinblick auf die
ira Titel enthaltene Bemerkung: „Dargestellt für Amateure und Touristen“ wird
man jedoch in diesem Punkte keine allzu strenge Kritik üben und darüber
die sonstigen mannigfachen Vorzüge des Buches nicht vergessen dürfen.
Schon allein im Interesse einer vielseitigeren Ausübung der Photographie
seitens der Amateure ist »lern Werke eine weite Verbreitung zu wünschen.
Verla* tob Hermann Paetel io Berlin. — Druck von Wilhelm Gronau'« Buchdruckerei in Berlin.
Für die RedacUon verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Muyer in Berlin,
Unberechtigter Nach druck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt,
l'ehereetitunfptrecht Vorbehalten.
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Das Meer, seine Erforschung und deren Ergebnisse.
Von Admiralitätarath Rattok in Berlin.
[h s ist naturgemäfs, uafs das Meer mit seinen wechselvollen
ejfy grofsartigen Erscheinungen, seiner elementaren Gewalt, seiner nie
ruhenden zerstörenden oder wieder auf bauenden Thätigkeit, seiner
auf die Gestaltung der Küsten und des Lebens ihrer Bewohner tief ein-
greifenden Wirkung, seinem reichen Thier- und Pflanzenloben schon
frühzeitig dio Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen, die-
selben zu tiefem Nachdenken und ernstem Studium anregen mufste.
Wenn trotzdem eine richtige und gründliche Kenntnifs der Meeres-
verhältnisse erst eine Errungenschaft der letzten Dezennien ist, so ist
der Grund in der Schwierigkeit der Forschungen und dem Mangel
an dem dazu nöthigen technischen Material und den erforderlichen
Instrumenten zu suchen.
Die Erklärungen und Vorstellungen des Alterthums waren das
Produkt rein geistiger Spekulation; sie konnten sich nicht auf thatsäch-
lichen Beobachtungen aufbauen und mufsten demgemiifs nur angenähert
die Wahrheit und oft das Unrichtige treffen. So war die Vorstellung
von den Tiefen des Ozeans, welche nach Plutarch und Kleurodes
den Erhebungen der Berge gleichkommcnd, zu 10 bis 15 Stadien
angenommen wurden, eine ganz willkürliche Schätzung. Aristoteles
beschäftigte sich bereits eingehend mit dem Problem der Meeres-
strömungen, ohne jedoch eine Erklärung für dieselben in der Strafse
von Negroponte zu finden; für den Salzgehalt des Seewassers suchte
er den Grund in einer eigenthümlichen Einwirkung der Sonne auf
die aus dem Wasser aufsteigenden Dämpfe, welche in das Meer zurück-
fallend, demselben seinen salzigen und bitteren Geschmack verliehen.
Es dauerte lange Zeit, ehe mehr Licht in die Tiefen des Meeres drang
Himmel und Erde. 1898- V. 5. 15
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206
und den über denselben liegenden geheimnifsvollen Schleier dem
menschlichen Geiste enthüllte. Das Alterthum, ja fast das ganze Mittel-
alter brachten kaum nennbare Aufklärungen und Fortschritte. Erst
mit dem Zeitalter der grofsen Erfindungen und Entdeckungen wandte
sich der allgemeine menschliche Wissensdrang mit erhöhtem Interesse
auch der Erforschung des Meeres zu, in der sich nunmehr ent-
wickelnden Schifffahrt nicht nur eine unentbehrliche Stütze, son-
dern auch einen gewaltigen Hebel und Anstoss findend, da eben die
Sicherheit der letzteren die Untersuchung der Meere dringend ver-
langte. Demgemäfs war das Augenmerk jener grofsen Entdeckungs-
reisen in erster Reihe auf die Ermittelung der Tiefen und der
Strömungen gerichtet; aus jener Zeit stammen die ersten Angaben
über auf See wirklich ausgeführte Messungen. Waren dieselben
auch noch unvollkommen infolge der dazu verwendeten mangel-
haften Geräthschaften, so gaben dieselben doch schon feste Grund-
lagen, auf welchen weitergebaut werden konnte. Eine ein wands-
freie und systematische Erforschung der Ozeane konnte erst mit
der Vervollkommnung der Technik ins Leben treten, als dieselbe
mit Einführung des Dampfes nicht nur die Schifffahr^ von Wind und
Wetter unabhängig machte, sondern auch die für die ozeanischen Be-
obachtungen nothwendigen Instrumente liefern konnte. Auch hier
übte wieder rückwirkend die Entwickelung der Schifffahrt mit ihren
sieh erweiternden Bedürfnissen einen nicht zurückzuweisenden Druck
auf die Meeresforschung aus, und gleichzeitig mit dor Schifffahrt die
durch dieselbe erblühenden Handels- und Verkehrsverhältnisse der
neueren Zeit, welchen das Bedürfnifs der unterseeischen Kabellegungen
und der hierzu nothwendigen Kenntnifs der Meerestiefen, der Be-
schaffenheit des Meeresbodens und anderer Verhältnisse des Meeres
entsprang. Ein besonderes Verdienst um die Entwickelung der
Meereskunde hat sich der Direktor des Washingtoner Xational-Ob-
servatoriums, M. F. Maury, erworben, der die gesammten Forschungen
in einheitliche systematische Bahnen lenkte. Auf Grund des von ihm
gesammelten Beobachtungsmaterials amerikanischer Seefahrer entwarf
er zuerst Karten und Schemata, welche den Schiffen mitgegebon
und auf ihren Reisen durch Eintragung neuer Beobachtungen vervoll-
ständigt wurden. Auf seine Veranlassung trat im Jahre 1863 eine
Konferenz der seefahrenden Nationen in Brüssel zusammen, durch
welche ein einheitliches Beobachtungssystem zur Einführung gelangte.
Es folgte nun eine ganze Reihe von grösseren oder kleineren Ex-
peditionen, die entweder von den Regierungen der verschiedenen
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Staaten ausgerüstet, oder durch Privatleute ins Leben gerufen, die
wissenschaftliche Erforschung der Meere sich als Hauptaufgabe, oder
neben geographischen Forschungen und anderen Zwecken als Neben-
aufgabe stellten. In letzterer Beziehung spielen namentlich die zahl-
reichen Polarfahrten eine hervorragende Rolle, die nicht nur auf
geographischem, sondern auch auf hydrographischem und ozeano-
graphischem Gebiete Vorzügliches leisteten. Weiter unterstützt und
angespornt wurden diese Bestrebungen durch die Interessen der
Fischerei, für welche die biologischen Untersuchungen der Meere,
sowohl an den Küsten der Festländer und Inseln als auch im offenere
Ozean, von besonderer Wichtigkeit sein muteten.
Epoohemachend für die Meereskunde waren die drei grossen,
von Deutschland, England und Amerika in den siebziger Jahren
entsandten wissenschaftlichen Expeditionen der Korvetten Gazelle,
Challenger und Tuscarora. Die Gazelle durchkreuzte 1874- — 1876
unter Kommando des Kapitän zur See Freiherrn von Sohleinitz den
Atlantischen Ozean auf der Route Madeira, Kap Verdesche Inseln,
Ascension, Kongo, Kapstadt, brachte von dort die deutsche Kommission
zur Beobachtung des Venusdurchganges nach den Kerguelen-Inseln,
nahm an diesen Beobachtungen theil, gleichzeitig Kreuzfahrten im
Südindischen Ozean bis zur amerikanischen Küste unternehmend,
ging mit der Kommission zurück nach Mauritius, wandte sich von
hier quer über den Indischen Ozean nach der Westküste von
Australien, weiter nach Neu -Guinea und dem jetzigen Bismarck-
Archipel, wo sehr interessante und wichtige Forschungen angestellt
wurden; dann, die Salomon-Inseln, Neu-Seeland, die Fidji-, Tonga-,
Samoa-Inseln berührend, über den Stillen Ozean, durch die Magellan-
Strafse in den Atlantischen Ozean zurück, in demselben die auf
der Ausreise gemachten Beobachtungen vervollständigend. Die
Challenger stand während ihrer langen Reise vom Ende 1872 bis
Anfang 1876 unter Kapitän Nares und später unter Kapitän Thom-
son; sie nahm eine ähnliche Route wie die Gazelle, ging jedoch von
den Kerguelen resp. dem südlichen Indischen Ozean über Australien
und den ostindischen Archipel nach der chinesischen Küste und
Japan, und führte über Honolulu, Valparaiso und die Magelianstrasse
die Rückreise aus. Die amerikanische Korvette Tuscarora machte
1873 — 74 unter Commander Belknap eine längere, erfolgreiche Ex-
pedition im Stillen Ozean, von San Francisco ausgehend über Honolulu
nördlich bis zu den Kurilen und Aleuten, und wieder zurück nach
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208
San Francisco. In den folgenden Jahren führte dasselbe Schiff kleinere
Ergiinzung-sfahrten in demselben Meere aus.
Aufser den im Interesse der Geographie und der Schifffahrt ge-
machten Aufnahmen und Vermessungen von Küsten und Inseln war
es die Aufgabe dieser Expeditionen, die Verhältnisse des Meeres in
physikalischer, chemischer und biologischer Beziehung zu erforschen,
und erstreckten sich demnach die Untersuchungen auf die Bestimmung
der Wassertiefen, der Beschaffenheit und Formation des Meeresbodens,
des spezifischen Gewichts, des Salzgehaltes, der chemischen Zusammen-
setzung, der Temperatur, Farbe und Durchsichtigkeit des Wassers, der
horizontalen und vertikalen Wasserbewegung, des Thier- und Pfianzen-
lebens der Ozeane. Nachstehend wollen wir versuchen, von den
Forschungen und den Resultaten der Expeditionen, d. h. von den Ver-
hältnissen der Meere, wie sie durch die bisherigen Untersuchungen
sich haben feststellen lassen, eine kurze Darstellung zu geben.
Obgleich die Ermittelung der Wassertiefe zu den ältesten und
einfachsten ozeanographischen Beobachtungen zählt, sind die Messungen
auf gröfseren Tiefen bis in die neue Zeit dooh wenig zuverlässig ge-
wesen; meist waren die zur Anwendung gebrachten Gewichte zu ge-
ring, um den Grund zu erreichen. Soweit bekannt, hat auf gröfseren
Tiefen zuerst John Rofs im Jahre 1818 mit seiner sechs Zentner
schweren Tiefseezange bei 1970 m Tiefe Grund erhalten. Dagegen
lotbeten noch im Jahre 1852 Kapitän Denham auf dem Herald und
Lieutenant Parker auf der Fregatte Congrefs im Südatlantischen
Ozean 14000 und 15000 m an Stollen, wo in Wirklichkeit dio Tiefe
nur ca. 5000 m betrug.
Die für den gewöhnlichen Schiffsgebrauch und auf flacherem
Wasser verwendeten Lothe, welche aus einem Bleikörper bestehend,
an einer mit Eintheilung versehenen Leine bis auf den Meeresgrund
hinabgelassen wurden (vergl. H. u. E. III. Jahrg. S. 249), genügten
bei grofsen Tiefen nicht mehr. Die grofsen Gewichte, deren An-
wendung diese bedingten, machten aufser besonderen Apparaten zur
Bedienung des Lothes, zum Fallenlassen und zum Einwinden, eine be-
sondere Vorrichtung nothwendig, welche ein Loslüsen des Lothge-
wichtes von der Leine, sobald dasselbe den Grund berührt hatte, ge-
stattete, um Arbeit und Zeit beim Aufholen zu ersparen. Auch die
Gewinnung von Grundproben auf dem bisher üblichen Wege durch
Ausfüllung der Bodenhöhlung des Lothes mit Talg liefs sich nicht
mehr aufrecht erhalten, da die am Talg haftenden Bodenbestandtheile
auf dem langen Wege vom Grunde bis zur Oberfläche wieder abge-
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waschen, wurden. Späterhin erhielt das Loth eine aus einem
Hohlcylinder bestehende, unten durch ein Schmetterlingsventil ge-
schlossene Kammer; beim Eindringen in den Meeresboden öffnet
sich das erstere und die Kammer füllt sich mit Bodenbestandtheilen;
beim Aufholen des Lothes wird das Ventil durch den Wasserdruck
von oben geschlossen gehalten. Die geforderte Detachirung der Loth-
gewichte am Grunde veranlafste eine ganze Anzahl verschiedener
Konstruktionen. Von diesen verdient das älteste Loth dieser Art, das
Brooksche Tiefloth, als Vorbild der späteren, diesen Zweck ver-
folgenden Konstruktionen, hervorgehoben zu werden. Das-
selbe besteht (Fig. 1) aus einer massiven Eisenstange, W
an welche sich unten eino Kammer zur Aufnahme von Grund- i |
proben schliefst, und einer durchlochten eisernen Kugel,
welche über die Stange gestreift wird. Die
Kugel wird mittelst einer Drahtschlinge fest-
gehalten, welche letztere mit ihren beiden
Enden über zwei, am oberen Ende der
Eisenstange bewegliche Arme gelegt wird;
an diesen Armen ist die Lothleine befestigt
und hält dieselben, wenn beim Fallenlasson
das Loth au dor Loino hängt, nach oben;
berührt jedoch das Loth den Grund, so
klappen mit dem SchlafTwerden der Leine
die Arme nach unten, die Drahtschlingu
gleitet ab und lässt die Kugel frei.
Das Tiefloth von Baillie, welches auf
den grofsen Forschungsreisen hauptsäch-
lich in Gebrauch war, ist in Fig. 2 dargestellt: es hat an Stelle
der Kugel des Brook sehen Lothes raehroro oylinder- oder kalotten-
förmige Eisenkörper e, deren Anzahl je nach der Tiefe, auf welcher
gelothet werden soll, wechselt Der Eisencylinder a, über welchen
dieselben gestreift werden, trägt oben einen Hohlkegel b, in welchem
sich eine Eisenstange auf und ab bewegen kann; über zwei Nasen d
der letzteren wird die Drahtschlinge zum Festhalten der Gewichte
gelegt und am oberen Ende derselben die Lothleine befestigt. Beim
Aufstossen auf den Grund wird die Leine lose, die Eisenstange
gleitet in den Ilohlkegel, die Oesen der Drahtschiingo streifen sioh
von den Nasen, und die Gewichte von dem Eisencylinder ab.
Ganz ähnlich wie das Baillie-Loth ist das Hydra-Loth (so
genannt nach dem britischen Kriegsschiff Hydra) eingerichtet; bei
Fig. I.
Dl
210
demselben werden die Oesen der die Lothgewichle haltenden Draht-
schlinge durch eine Feder von ihrem Befestigungszapfen gestreift, so-
bald die Gewichte auf dem Meeresboden aufliegen.
Zum Hinablassen des Lothes auf den Meeresgrund dienen Hanf-
leinen, die auf grofse Trommeln aufgerollt, sich beim Lothen bequem
und ohne grofse Reibung abwickeln. In neuerer Zeit sind die Hanf-
leinen häufig durch Klaviersaitendrähte ersetzt worden, die einerseits
billiger als die ersteren, andererseits bedeutend dünner sind, dem
Wasser geringere Reibung bieten und die Anwendung
kleinerer Lothgewichte gestatten.
Zur Ausführung von Lothungen wird das Schiff
möglichst ruhig auf einer Stelle gehalten; um Stösse
und Spannungen, welche durch die unvermeidlichen
Bewegungen des Schiffes auf die Lothleine ausgeübt
werden, möglichst abzuschwächen, wird zwischen
der letzteren und dem Schiff ein sogenannter Akku-
mulator, bestehend aus starken, zwischen zwei
Holzscheiben befestigten Kautschukbändern (Fig. 3),
eingeschaltet.
Fig. 3 zeigt ein zum Gebrauch an Bord fertiges
Loth. Beim Fallenlassen des Loths rollt sich die
Leine von der Trommel ab ; die Auslaufsgeschwindig-
keit verlangsamt sich mit zunehmender Tiefe —
bei 3000 m Tiefe gebraucht das Loth etwa 50 Minuten,
um den Grund zu erreichen — , bis ein plötzlicher
Sprung die Grundberührung des Lothes andeutet.
In diesem Moment wird an der nach Meter oder
Faden getheilten Leine festgestellt, wie viel von derselben ausgelaufen
ist, und damit die Tiefe konstatirt. Das Wiederaufwinden der Leine
geschieht mit Hülfe einer kleinen Dampfwinde.
Aufser durch direkte Abstandsmessungen mittelst Leine und Loth,
wie oben beschrieben, hat man versucht, durch andere indirekte Me-
thoden die Tiefe dos Meeres zu ermitteln, und wenn dieselben sich
auch meist in grorsen Tiefen als wenig verliirslich zeigten, und man
sioh immer wieder den ersten direkten Messungen zuwandte, so dürfen
doch einige dieser genialen Erfindungen nicht unerwähnt bleiben.
Bezüglich der Lothapparate von Thomson und Bamberg, welche auf
dem mit der Tiefe zunehmenden Wasserdruck basiren, kann auf einen
früheren, bereits oben angedeuteten Artikel dieser Zeitschrift „die Orts-
Fig. 3.
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bestimmungen und Hülfsmittel zur Führung eines Schiffes auf See“
(III. Jahrg. 1891, S. 245 u. f.) verwiesen werden.
Hopfgartnors Loth benutzt ebenfalls den hydrostatischen
Druck des Wassers zum Messen der Tiefe, unterscheidet sich in seiner
Konstruktion aber wesentlich von den beiden vorherigen. Bei dem-
selben wird der Wasserdruck auf eine Anzahl über einander ge-
lagerter Metalldosen übertragen, die, je gröfser der Druck ist, desto
mehr zusammengepresst werden, was durch einen Zeigor registrirt wird.
Eine andere Klasse von Instrumenten, wie z. B. der Tiefen-
indikator von Massey, mifst die Tiefe nach der Umdrehungsanzahl
einer auf den Grund gelassenen Schraube; dieselbe wird bei der Be-
wegung in die Tiefe durch den Druck des Wassers in Rotation ver-
setzt, und die Umdrehungen werden auf ein Zählwerk übertragen.
Der Tiefenmesser von Rousset beruht auf demselben
Prinzip, wird jedoch ohne Leine, mit einem Ballaslgewicht beschwert,
in die Tiefe versenkt; beim Aufstofsen auf den Grund fällt das Ge-
wicht ab, die bisher arretirte .Schraube wird ausgelöst und dreht sich
vermöge eines an den Apparat angebrachten Schwimmers bei der
nunmehr erfolgenden Aufwärtsbewegung dosseiben.
Ein sehr genialer Apparat zum Messen der Wassertiefen ohne Loth
und Leine, allein unter Benutzung der Schwerkraft der Erde, ist von
Siemens und Halske konstruirt Da mit der Tiefe die Entfernung
des Schiffes von der festen Erdmasse wechselt, so mufs sich auch mit
derselben die Anziehungskraft der Erde auf das Schiff resp. auf einen
Körper im Schiff, d. h, das Gewicht des letzteren ändern. Diese Ge-
wichtsänderung einer Quecksilbersäule wird durch den Siemensschen
Apparat zum Ausdruck gebracht, und dadurch die Tiefe bestimmt.
Die bisher ausgeftihrlen Tieflothungen scheinen die Annahme
der Alten, dafs die gröfsten Tiefen der Ozeane den höchsten Er-
hebungen des Landes gleichkommen, zu bestätigen, indem ilie gröfste,
bis jetzt von der Tuscarora im nordwestlichen Theil des Stillen Ozeans
gelothete Depression 8513 m beträgt, während die höchste Kuppe des
Himalaya-Gebirges sich bis -8840 m erhebt. Befrachten w'ir dem-
gegenüber jedoch die mittlere Tiefe und die ganze Gestaltung des
Meeresbodens, so finden wir sehr grofse Verschiedenheiten zwischen
Ozean und Festland. Nach den Berechnungen von Krümmel beträgt
die mittlere Tiefe des ganzen Weltmeeres 3320 m (die verhältnifs-
mäfsig flachen Mittelmeere miteingerechnet; ohne dieselben würde
ich seine mittlere Tiefe von 3700 m ergeben), die mittlere Höhe der
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gesamten, nicht vom Wasser bedeckten Landmassen dagegen nur
665 m. Noch auffallender tritt die gewaltigo Ausdehnung der Wasser-
masse gegenüber dem Festlande hervor, wenn man die Flächenräume
und Volumina beider mit einander vergleicht Bei einer Ausdehnung
des Landes von 142 Millionen Quadratkilometer und einem Volumen
von 95 Millionen Kubikkilometer, bedeckt das Meer eine Fläche von
368 Millionen Quadratkilometer und nimmt einen Kaum von 1220 Millio-
nen Kubikkilometer ein. Dabei ist das Bodenrelief des Meeres be-
deutend gleichmiifsiger und einförmiger als das des Landes; Flächen
von ausserordentlicher Ausdehnung erscheinen als vollkommene Ebene,
nur selten von kaum merklichen Erhebungen unterbrochen. Diese
eintönige, flache Form des Bodens findet sich hauptsächlich da, wo
der Grund aus weichen Sedimentär-Massen besteht, während ein harter
Fels- oder vulkanischer Boden ein etwas abwechselungsvolleres Bild
mit Höhenzügen und Hügeln von mehr oder weniger steilem Profil
gewährt So erhebt sich z. B. im Nordatlantischen Ozean auf solchem
Boden der Faraday-Hügel, dessen Profil näher untersucht ist und
Böschungswinkel bis zu 35° zeigt, ein allerdings ausnahmsweise
schroffer Abfall, der auf eine unterseeische vulkanische Eruption
deutet. Im allgemeinen fällt vom Festlandsrande an der Meeresboden
terrassenförmig in die Tiefe ab; nur vereinzelt, namentlich an der
Westküste Amerikas geschieht dies in ununterbrochener, gleichmäfsig
geneigter Ebene. — Auffallend ist es, dafs gerade die gröfsten Tiefen
vielfach in der Näho des Festlandes gefunden worden sind. So fallt
die oben angeführte Tiefe von 8513 m in die Nachbarschaft des asia-
tischen Kontinents, die gröfsten Depressionen des Atlantischen Ozeans
sind unweit der Antillen gefunden — die gröfste gelothete Tiefe von
8341 in fallt in 19° 39' N. Br. und 66° 26' W. Lg. — , hier die
sogen. Virginische Tiefe bildend. In den meisten derartigen Fällen
scheint cs sich um vulkanische Einsturzbecken zu handeln.
Wie die Gestaltung, so ist auch die Beschaffenheit des
Meeresbodens gegenüber derjenigen des Festlandes von grofser
Gleichmäfsigkeit Mit Ausnahme von verhältnifsmäfsig sehr kleinen
Strecken harten und felsigen Grundes ist der ganze Boden von
weichen, schlammigen und sandigen Ablagerungs-Massen bedeckt,
die sich nach ihrer Zusammensetzung in verschiedene Gruppen klassi-
fiziren lassen.
Nach dem Vorgang des Geologen der Challenger-Expedition,
John Murray, lassen sich zwei Hauptgruppen von Bodensedimenten
unterscheiden, die Küsten- und die Tiefsee-Sedimente. Während die
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ersteren aus dem durch die Flüsse dem Meere zugeführten Material
uud aus den durch die See losgelüsten und zerkleinerten Bestaud-
theilen der Festlandsküste sich zusammensetzen, bestehen die Tiefsee-
ablagerungen zum gröfsten Theil aus den Resten der im Meere
lebenden kleinen Organismen. Je nach dem Material, aus welchem
sie bestehen, sind die Küstenablagerungen verschieden gefärbt; in den
Küsten regionen der moisten Kontinente und gröfseren Inseln sind, oft
bis zu 1 60 Seemeilen von denselben entfernt, grüne und blaue Schlick-
massen vorherrschend, in welchen nicht selten Stücke von Holz, Theile
von Blättern, Bäumen und Früchten eingebettet liegen. In der Um-
gebung vulkanischer Inseln finden sich graue bis dunkelschieferfarbige
Sand- und Schlammmassen, gemischt mit vulkanischen Gesteinen,
Bimsstein und Lavastücken, vor, während in der Nähe von Korallen-
riffen der Boden mit feinerem oder gröberem Korallen-Sand und
Schlamm bedeckt ist — Die Tiefseeablagerungen zerfallen in Globige-
rinen-, Radiolarien-, Diatomeen-Schlainm und die Tiefseethone. Der
Globigerinen-Schlamm besteht aus den kalkigen Resten der Globige-
rinen, einer kalkschaligen Wurzelfüfslerart, die, an der Oborlläche der
Ozeane in grofsen Mengen lebend, nach ihrem Absterben langsam zu
Boden sinken. Diese Schlammart ist in allen Ozeanen weit verbreitet,
kommt jedoch selten in Tiefen über 5000 m vor; bei gröfseren Tiefen
löst sich der kohlensaure Kalk ihrer Sohalen infolge des langsamen
Hinabsinkens wahrscheinlich vollständig auf, so dafs nichts mehr zum
Niederschlag gelangt. Weniger leicht im Wasser löslich und daher
bis in die gröfsten Tiefen, jedoch in beschränkterer Ausdehnung
(hauptsächlich im westlichen und mittleren Theile des Stillen Ozeans)
vorkommend, sind die Kieselpanzer der Radiolarien, einer ebenfalls
zu den Wurzelfüfslern gehörigen Thierart, welche das Hauptmaterial
zu der zweiten, nach ihr benannten Schlammart liefert.
Der Diatomeenschlamm setzt sich aus den Kieselpanzern einer
Algenart, der Diatomeen, zusammen und bildet ein spezifisches Merk-
mal des südlichen Indischen Ozeans zwischen 53° und 63° südl. Br.
Die Tiefseethone endlich sind die in Tiefen über 3500 m am
weitesten verbreiteten Ablagerungen; sie sind grau oder roth bis
dunkelbraun gefärbt und enthalten alle aufser untergeordneten or-
ganischen Beimengungen feine Mineraltheilohen, namentlich Quarz,
Glimmer, Bimsstein, Lava und Braunstein.
Temperaturmessungen des Wassers konnten naturgemäfs
erst spät, nach Krfindung des Thermometers beginnen und mufsten
sich wegen der Unvollkommenheit der Instrumente lange Zeit auf die
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Oberfläche des Wassers beschränken. Die Bestimmung der Ober-
fläohentemperatur ist einfach, indem man entweder ein Thermometer
in das Wasser selbst hinabläfst und die Skala nach dem Aufholen
abliest, oder die Temperatur in zu diesem Zwecke geschöpftem Wasser
mifst. Die zu Messungen in greiseren Tiefen bestimmten Thermometer
müssen einestheils die Temperatur der betreffenden Tiefe flxiren, ferner
durch die davon abweichenden Temperaturen der Wasserschichten,
welche sie beim Aufholen passiren, unbeeinflufst bleiben und andererseits
gegen den in der Tiefe herrschenden hohen Wasserdruck geschützt sein,
nicht nur, um nicht durch denselben zu zerbreohen, sondern auch, um
eine Kompression der Instrumente und damit zusammenhängende falsche
Temperaturangaben zu vermeiden. Bei den ältesten Versuchen, Tiefen-
temperaturen zu bestimmen, schöpfte man entweder Wasser aus der
Tiefe, oder man versenkte die Thermometer einfach in die Tiefe; beides
gab natürlich sehr unzuverlässige und unrichtige Resultate. Dann
fing man an, die Instrumente mit schlechten Wärmeleitern zu umgeben,
und schliefslich versuchte man, die Temperatur zu flxiren. Das erste
derartige Maximum- und Minimumthermometer wurde im Jahre 1778
von Six konstruirt und von Krusenstern (1803) und Sir John
Rofs (1817) auf ihren Weltumsegelungen benutzt Aber erst 1838
wurde von Du Petit Thouars ein gegen Druck geschütztes Tiefsee-
thermometer gebraucht Wesentlich vervollkommnet und verbessert
sind die auf den Expeditionen der Gazelle und Challenger und gegen-
wärtig noch fast ausschliefslich bei allen Tiefseeforschungen angewen-
deten Tiefseethermometer von Miller-Casella und von Negretti-
Zambra.
Das erstere (Fig. 4) ist ein Maximum- und Minimumthermometer,
dessen heberförmig gebogene Röhre in der Mitte einen Quecksilber-
faden aufnimmt, und über demselben in beiden Schenkeln je ein Index-
stäbchen. Beide Schenkel laufen an ihren Enden in Erweiterungen
aus; die linke enthält eine Alkoholflüssigkeit, die rechte zum Theil
dieselbe Flüssigkeit, zum Theil Dämpfe derselben. Bei zunehmender
Temperatur dehnt sich der Alkohol im linken Schenkel aus, tritt bei
dem Indexstäbchen vorbei und schiebt den Quecksilberfaden vor sich
her; dieser nimmt den Index im rechten Schenkel mit, welcher so das
Maximum der Temperatur anzeigt. Nimmt die Temperatur ab, so tritt
die Flüssigkeit links zurück, die elastischen Dämpfe rechts drücken,
ohne den Index zu verrücken, den Quecksilberfaden nach links, dieser
verschiebt das linke Indexstäbchen, und letzteres giebt somit die
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niedrigste Temperatur an. Eine starke Glashülle und ein Rahmen von
Hartgummi schützen das Instrument vor Druck.
Das Thermometer von Negretti und Zambra (Fig. 6) ist ein
Queoksilberthermometer, dessen Röhre über dem cylindrischen Gefäfs
(bei A) verengt, S-förmig gebogen und in der Biegung wieder er-
weitert ist Wird das Instrument plötzlich umgedreht, so dals das
GefäTs nach oben kommt, so reifst der Quecksilberfaden in der Biegung
ab, fällt hinab und füllt das am oberen Ende befindliche kleine
Reservoir (E) sowie die Röhre selbst zum Theil aus. Je höher die
Fig. 4. Fig. 5.
Temperatur, desto länger ist der abgerissene Faden, und eine hiernach
graduirte Theilung läfst die im Moment des Umdrehens herrschende
Temperatur ablesen. Bei den Tiefseetemperaturmessungen läfst man
demgemäfs das Instrument in die zu beobachtende Tiefe hinab und kippt
hier dasselbe um. Die Umkehrvorrichtung besteht aus einem hölzernen
Kasten (Fig. 6 u. 7), in welchem das Thermometer befestigt ist, mit
einer ringsum laufenden Rinne, in der sich Schrotkörner von einem
Ende zum andern frei bewegen können. Der Kasten wird mittelst
eines an einem Ende desselben angebrachten Taues an der Lothleine
befestigt; beim Hinablassen in die Tiefe wird das freie Ende des
Kastens durch den Wasserdruck nach oben gehalten (Fig. 6), beim Auf-
heben nimmt er die entgegengesetzte Lage an (Fig. 7). Bei grofsen
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Tiefen tritt an Stelle des Holzkastens ein dem Wasserdruck besser
gewachsener Metallrahmen (Fig. 8), in welohem das Thermometer, um
eine Axe (H) drehbar, im labilen Gleiohgewioht hängt, aber durch
einen in seine Metallhiilse eingreifenden, an einem Schraubenflügel (C)
befestigten Stift (P) in dioser Lage festgehalten wird (Fig. 8). Fängt
man an, das Thermometer aus der Tiefe wieder in die Höhe zu holen,
so dreht sich der Schraubenflügel mit dem Stifte aus dem Thermometer
heraus, und das letztere kippt um (Fig. 9).
Aufser auf dem Grunde und an der Oberfläche des Meeres
worden die Temperaturen in der Regel bis zu einer Tiefe von etwa
3000 m (bis 1000 m Tiefe etwa alle 100 — 200 m, dann alle 300 — 600 m)
gemessen; in gröfsorcn Tiefen bis zum Grunde ändert sich die Temperatur
so wenig, dafs ein Messen nicht mehr nöthig ist. Die Thermometer
werden in den betreffenden Abständen an einer Leine befestigt und
mit dem Loth gleichzeitig versenkt.
Aus den bisherigen Messungen hat sich ergeben, dafs die Tem-
peratur des Meerwassers im allgemeinen von der Oberfläche bis zuin
Boden abnimmt, zunächst schnell, dann langsam und bis zum Grunde
immer langsamer. Je gröfser die Oberfläohentemperatur, desto sohneiler
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pflegt die Temperaturabnahme in den oberen Schichten zu sein, so
dafs von 1000 m an abwärts überall nahezu dieselbe Temperatur
herrscht Während die Oberflächentemperaturen zwischen -f- 32° in den
Tropen und — 3° in den Polargegenden schwanken, liegen die Grenzen
der Bodentemperaturen zwischen -|- 2° und — 2®. Eine direkte Ein-
wirkung der Sonnen wärme findet kaum tiefer als 160 m statt; eine
weitere Fortpflanzung der Wärme in die Tiefe erfolgt durch eine ver-
tikale Wasserzirkulation; durch die an der Oberfläche stattflndendo
Verdunstung werden die Wassertheilchen hier salzreicher, sinken in
die Tiefe und werden durch kältere, von unten aufsteigende, ersetzt.
Die konstante, überall gleiche Temperatur des Bodens in den gröfseren
Tiefen hat ihren Grund in einer ganz langsamen Bewegung der unteren
Wasserschichten von den Polen nach dem Aequator zu. Hieraus
erklärt sich auch, dafs überall dort die kälteste Bodentemperatur an-
getroffen wird, wo die freieste Kommunikation mit den Polarmeeren
stattfindet. Aus diesem Grunde Bind die südlichsten Theile der greisen
Ozeane kälter als die nördlichen, die Tiefentemperaturen im Stillen
und Indischen Ozean niedriger als im Atlantischen. Hierdurch erklärt
Bich weiter das eigenthümliche Verhalten der Binnenmeere und der-
jenigen Meerestheile, welche durch Bodenerhebungen von dem um-
gebenden freien Ozean abgeschlossen sind. In demselben nehmen
die Temperaturen zwar auch von der Oberfläche nach unten zu ab,
bleiben aber von der Tiefe ab, bis zu welcher sich die abtrennende
Bodonsohwelle vom Grunde erhebt, bis zum Grunde unverändert, und
zwar ist diese Temperatur gleich der in derselben Tiefe herrschenden
Temperatur des umgebenden Ozeans.
Die Oberflächentemperaturen sind natürlich in erster Linie von
der Temperatur der Luft abhängig und folgen den Schwankungen
derselben; sio nehmen demgemäß im allgemeinen vom Aequator nach
den Polen hin ab und wechseln mit den Tages- und Jahreszeiten.
Im tiefen Wasser mitten im Ozean sind die Tages-Schwankungen
gering, der Unterschied zwischen der Tages- und Nachttemporatur über-
schreitet selten 1°; auf flachem Wasser und in der Nähe des I^andes,
wo die Sonnenstrahlen einen gröfseren direkten Einflufs bis zum
Grunde ausüben, ist der Wechsel erheblich gröfser.
Die jahreszeitlichen Variationen sind allerdings gröfser als die
täglichen, jedoch immer noch viel geringer als diejenigen der Luft auf
dem Lande.
Von weiterer Bedeutung für die Vertheilung der Oberflächen-
temperaturen sind besonders die herrschenden Winde und Strömungen,
218
wodurch eine oft beträchtliche horizontale Verschiebung der oberen
Wasserschichten eintritt. Im Zusammenhänge hiermit steht das häufige
Vorkommen von kaltem Oberflächen wasser an den Festlandsküstenu Wo
nämlioh duroh die ablandigen Winde und Strömungen ein Abdrängen
des Wassers von der Küste stattfindet, entsteht ein Aufstoigen von
kaltem Bodenwasser, um das verdrängte Wasser zu ersetzen. Solche
vertikal aufsteigende Wasserzirkulation und dementsprechend kaltes
Oberflächenwasser finden wir in den Passatzonen, wo der Wind be-
ständig von Osten nach Westen das Wasser vor sich her treibt, an
der Luvseite des Ozeans, also an den Westküsten der Kontinente,
während in der Region der Westwinde das Umgekehrte stattfindet
(Schlufs folgt.)
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ÄfsiÄif?
Land- und Seeklima.
Von Dr. Willi Ule in Hallo a. 3.
(Schiufa.)
In den bisherigen Betrachtungen haben wir die Luft als absolut
ruhend angenommen. Ein solcher Gleichgewichtszustand ist aber in
Wirklichkeit niemals vorhanden. Jeder örtliche Temperaturunter-
schied ruft nothwendig Störungen in der Atmosphäre hervor, und
zwar veranlagt jede Temperaturerhöhung eine Auflockerung, jede
Temperaturerniedrigung eine Verdichtung der Luft. Bei der aufser-
ordentlich leichten Beweglichkeit der Lufttheilchen sind die Folgen
dieser lokalen Aenderungen des atmosphärischen Zustandes Strömungen
der Luftmasson, also Winde.
Es leuchtet uns ohne weiteres ein, dafs das verschiedene ther-
mische Verhalten von Wasser und Land auch auf die Vertheilung
des Luftdrucks, und damit auf die Richtung der atmosphärischen
Strömungen, einen Einflufs ausüben mufs. Der unmittelbarste Beweis
dafür sind die sogenannten Land- und Seewinde, die überall an den
Küsten beobachtet werden können, in den Tropen sogar, wo alle
meteorologischen Vorgänge gröfster Regelmäfsigkeit unterworfen sind, •
zu den alltäglichen Erscheinungen gehören. An diesen Küsten weht
am Tage ein Wind von der See zum Lande — Seewind, in der Nacht
vom Lande zur See — Landwind.
Die physikalische Begründung dieser eigonthümlichen Luft-
zirkulation ist wieder in dem verschiedenen Verhalten von Wasser
und Land gegenüber der Wärmezustrahlung und -Ausstrahlung zu
suchen. Was wir oben in Bezug auf die Ursachen der Vertheilung
der Temperatur während der Jahreszeiten gesagt haben, das gilt in
kleinerem Mafse auch für den Wechsel von Tag und Nacht. Am
Tag erwärmt sich der feste Erdboden weit schneller und heftiger als
das Wasser, in der Nacht dagegen kühlt sich umgekehrt auch wieder
das Land in intensiverem Mafse ab. Auf die darüberlagernde Luft
hat dies folgenden Einflufs: Am Morgen beginnt sich die Luft über
220
dem Lande verhältnifsmäfsig stark zu erhitzen, dieselbe dehnt sich
infolgedessen nach oben hin aus. Dadurch wird in den höheren
Luftschichten eine Verdichtung der Luft, mithin eine Vermehrung des
Luftdruckes bewirkt. Das geschieht aber in einer Zeit, wo auf dem
Meere die Luft noch in voller Ruhe sich befindet. Es entsteht somit
in der Höhe ein Gefälle nach der See, welches dort einen Abflufs
der Luft vom Lande zur See veranlagt. Die Folge davon ist wieder,
dafs allmählich mit der Anhäufung der Luft über dem Wasser der
Luftdruck daselbst in den unteren Schichten steigt, während derselbe
auf dem Lande noch immer bei der zunehmenden Erhitzung des
Bodens vermindert wird. Es bildet sich somit hier ein Gefälle nach
der Küste, das nun in dem Seewind zum Ausdruck kommt. Die
Richtigkeit dieser Erklärung wird trefflich durch dio Beobachtung
bestätigt, dafs man in der Thal die Seebrise zuerst draufsen auf
dem Wasser verspürt
Bis gegen Nachmittag nimmt der Seewind an Stärke zu, dann
vermindert er sich allmählich und Haut um Sonnenuntergang gänzlich
ab. An seine Stelle tritt nun der Landwind. Die Ursache der Luft-
bewegung ist dann die umgekehrte. Während der Nacht kühlt sich
der Erdboden schnell ab. An dieser Abkühlung nehmen die untersten
Luftschichten theil, die sich dabei verdichten und niedersenken. In
den oberen Luftschichten über dem Lande hat das eine Verminderung
des Luftdruckes zur Folge, wodurch ein Gefälle von der See zum
Lande entsteht. Das dadurch bewirkte Zuströmen von Luft in der
Höhe vermehrt naturgemäfs auf dem Lande den Luftdruck in den
unteren Schichten, so dafs hier bald ein dem zur See gerichteten Ge-
fälle entsprechender Luftstrom, ein Landwind sich entstellen mufs.
Die Land- und Seewinde üben auf das Klima der Küsten einen
nicht unbedeutenden Einflufs aus. Während des Tages führen sie
feuchtwarme Luft dem Lande zu, reihen also gewissermafsen das
Küstengebiet in das Seeklima ein. Freilich strömen während der
Nacht diese Luftmassen wieder zur See zurück; allein einmal weht der
Landwind weit schwächer als der Seewind, so dafs wenigstens in den
unteren Schichten die Seeluft zum Theil über dem Lande zurückbleibt;
sodann aber lehrt die Beobachtung, dafs diese Luftzirkulation doch
vollkommen ausreicht, um die Erwärmung der Luft am Tage und die
Abkühlung in der Nacht an den Küsten erheblich zu mildern. Wo
Land- und Seewind alltäglich zur Ausbildung kommen, trägt daher
das Klima des Küstengebietes durchaus ozeanischen Charakter.
Weit grofsartiger aber als jene tägliche Luftzirkulation an den
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Gestaden des Meeres ist die Bewegung der Atmosphäre, welche durch
das verschiedene thermische Verhalten der Kontinente und Ozeane
im Laufe des Jahres hervorgerufen wird. An die Stelle des Tages-
windes tritt hier ein Sommerwind, an die Stelle der nächtlichen eine
winterliche Luftströmung. Diese mit den ' Jahreszeiten wechselnden
Winde bezeichnet man als Monsune, d. i. eben Winde der Jahreszeiten.
In ausgeprägter Form gelangen diese Monsune nur an wenigen
Küsten der Kontinente zur Entwicklung. Das grofsartigste Monsun-
gebiet finden wir an der Süd- und Südostküste Asiens, wo die ganze
Erscheinung auch zuerst erkannt wurde. Indefs auch Australien,
sowie der afrikanische und amerikanische Kontinent weisen an vielen
Stellen echte Monsune auf.
Die Ursache dieser grofsen jahreszeitliohon Luftströmungen
ist im wesentlichen dieselbe wie die, welohe Land- und Seewind an
den Küsten hervorbringt. Die grüfsoro Erwärmung über dem Lande
während des Sommers bewirkt ein Zuströmen der Luft von dem
Meere — Sommermonsun, die stärkere Abkühlung im Winter einen
Abflufs zum Meere — Wintermonsun. Die Bewegung beginnt im
Sommer ebenfalls damit, dafs zunächst die unteren Luftschichten von
Tag zu Tag mehr erwärmt worden, sioh infolgedessen langsam er-
heben und dadurch den Luftdruck in der Höhe vermehren. Dabei
wird freilich die Erwärmung der Luft durch die nächtliche Aus-
strahlung immer wieder unterbrochen; indefs die nächtliche Ab-
kühlung betritft nur die untersten Luftscliiohten, die höheren bleiben
davon unberührt. Die stete Erwärmung der Luft über dem Lande
bewirkt dann schliefslich in dor Höhe ein Gefälle nach dem Meere,
was ein Abfiiefsen der Luft in diesor Richtung zur Folgo hat. Es
steigt nun der Luftdruck unmittelbar über dem Meere, während der-
selbe auf dem Lande immer noch im Sinken begriffen ist Ein Gefalle
vom Meere zum Lande ist damit in den unteren Luftschichten bedingt
und es entsteht der Sommermonsun, welcher der täglichen Seebrise
an den Küsten der Tropen entspricht
Bei normalen Verhältnissen bildet sich hiernach im Sommer-
halbjahr über dem Kontinent ein Luftdruckminiraum aus, das rings
von höherem Luftdruck umgeben ist. Die Bewegung der Luft mufs
also innerhalb diesor Depression eine cyklonale sein, indem die vom
Meere zum Innern des Kontinentes gerichteten Luftströmungen infolge
der Erdrotation von dem geraden Wege abgelenkt werden. Freilich
nur selten ist dieses cyklonale System der Winde über einem Lande
während der sommerlichen Einsetzung desselben in normaler Form
Himmel uml Erde. 1*93. V. 5. 16
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222
entwickelt; immerhin fehlt es doch nicht an Ländern, welche in der
allgemeinen Anordnung der Luftströmungen während des Sommers
die Herrsohaft einer Cyklone erkennen lassen (Fig. 5). Dieser niedere
Luftdruck im Innern der Kontinente bedingt nun einen häufigen und
ergiebigen Niederschlag, wodurch die oben erwähnte jahreszeitliche
Vertheilung des Regens ihre Erklärung findet
An die Stelle des sommerlichen Luftdruckminimums im Innern
der Festländer tritt im Winter ein Maximum mit heiterem Himmel
und geringem Niederschlag, hervorgebracht durch die starke Ab-
kühlung der Luft in dun unteren Schichten und das Zufliefsen
Fig. 5. Isothermen, Isobaron und Winde aal der iberischen Halbinsel
während des Juli.
ozeanischer Luft in der Höhe. Von diesem Gebiete hohen Luftdrucks
strömen die Winde nach allen Seiten hin ab, wobei sie ebenfalls in-
folge der Erdrotation in ihrer Richtung eine Ablenkung erfahren.
Ein Beispiel derartiger anticyklonaler Luftbewegung im Winter bietet
uns vor allem der ostasiatische Kontinent dar. Ueber den warmen
Meeren ist in dieser Jahreszeit der Luftdruok gering, was häufigere
Niederschläge verursacht, so dafs das Maximum der Regenhäufigkeit
hier eben in den Winter fällt. Deutlich geht aus diesen Betrachtungen
hervor, dafs der klimatische Gegensatz von Wasser und Land auoh
in der Luftdruokvertheilung wie in der allgemeinen atmosphärischen
Zirkulation zum Ausdruck kommt
Die mit den Jahreszeiten wechselnde Luftbewegung über den
Kontinenten übt naturgemäfs auch auf die allgemeinen klimatischen
Zustände einen erheblichen Einflufs aus. Dieselbe bewirkt vor allem
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den grofsen Unterschied dos Klimas an den West- und Ostküsten der
Festländer. Je nachdem nämlich ein Wind vom Meere oder vom
Lande weht, ist er feucht oder trocken; je nachdom er aus südlichen
oder nördlichen Regionon stammt, ist er warm oder kalt. Da nun
im Winter die Ostküsten der Kontinente von den Winden aus dem
kalten und trocknon Innern getroffen worden, so müssen sie in dieser
Jahreszeit ganz die charakteristischen Merkmale dos Kontinental-
klimas aufweisen, in das sie eben durch die Bewegung der Luft
hineingezogen werden. Die nioderen Temperaturen im Osten Asiens
und Nordamerikas während des Winters können uns als deutliche
Beweise dafür dienen. Im Sommer ziehen dagegen über die Ost-
küsten warme und feuchte Winde, die ein trübes und nassos Klima
hervorrufen, in welchem die sommerliche Temperatur eine ozeanisch
niedrige bleibt. Das Endresultat beider Luftströmungen ist demnaoh
eine geringe mittlere Jahrestemperatur, wie wir sie thatsächlioh an
den Ostküsten der nordhemisphärischen Kontinente finden.
Ganz anders gestalten sich die Verhältnisse an den Westküsten.
Diese stehen allerdings im Winter unter dem Einflufs kalter Südost-
oder Ost winde, welche im Sommer mit feuchten, jedoch nur wenig
kalten West- und Nordwestwinden tauschen. Da aber die letzteren
aus kälteren in wärmere Gebiete kommen, so vermögen sie nicht in
so erheblichem Mafse den Himmel zu trüben, als es die sommerlichen
Winde im Osten thun, welche aus warmen in kalte Regionen wehen.
Daraus ergiebt sich der Schlufs, dafs die mittlere Jahrestemperatur
an den Westküsten der Kontineute höher sein mufs, als jene an den
Ostküsten.
Dieses theoretisch abgeleitete Verhältnifs der östlichen und
westlichen Klimate findet sich nun keineswegs in so ausgesprochener
Form auf der Erde wirklich vor. Immerhin vermögen die that-
sächlichen klimatischen Zustände in Nordamerika und Europa- Asien
die Richtigkeit der Theorie zu bestätigen, wie aus umstehenden
Figuren (Fig. 6), welche die Häufigkeit der Winde und deren Einflufs
auf die Temperatur an den West- und Ostküsten veranschaulichen
sollen, wohl zu ersehen ist
Allein gerade an den Ost- und Westküsten jener grofsen Fest-
landma8son treten noch weitere Faktoren in Kraft, welche den Ein-
flufs der Jahroszeitenwinde wesentlich modifiziren. Es sind das die
grofsen Strömungen des Wassers in den Meeren. Die klimatische
Wirkung dieser ozeanischen Flüsse, die je nach ihrem Ursprung
kaltes oder warmes Wasser führen, ist eine bedeutende. Auf die
16*
224
einzelnen Strömungen der Erde selbst einzugehen, würde zu weit
führen. Nur kurz möge hier der Einflufs der warmen und kalten
Strömungen auf die benachbarten Festländer gekennzeichnet werden.
Warme Meeresströmungen erhöhen die mittlere Jahrestemperatur
und vermindern den Betrag der jährlichen Temperaturschwankung:
sie erweitern also das uzeanische Klima. Kalte Strömungen heben
dagegen den sonst wärmenden Einflufs des Meeres wieder auf, er-
Fig. 6. Häufigkeit der Winde und deren Einfiule auf die Temperatur an den Weit*
und Oitkfliten (nach Hann).
Die Länge der Radien entspricht der Häufigkeit der Winde: die schrafflrte
Fläche umfafst die kalten Winde.
niedrigen also die mittlere Jahrestemperatur, ohne allerdings dem be-
treffenden Gebiete in klimatischer Hinsicht ein kontinentales Gepräge
zu geben. Sie schallen dort nur ein verhültnifsmäfsig kaltes Klima,
wo die Nähe des Meeres ein ozeanisch mildes hätte erwarten lassen.
Ein treffliches Beispiel für diese klimatischen Wirkungen der Meeres-
strömungen bildet die Westküste Europas und Nordafrikas. Jeder-
mann weifs, dafs die milde Temperatur an den Nordwestküsten
Europas allein dem warmen Golfstrom, der diese Küsten bespült, zu
verdanken ist. Weniger bekannt dürfte freilich sein, dafs dieselbe
Strömung in ihrer Umkehr zum Aequator den Westküsten Spaniens
und Nordafrikas polare Kälte zuführt, so dars wir hier ein kühles
Klima finden.
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Selbstverständlich wirken die Meeresströmungen auch auf die
Feuchtigkeitsverhältnisse der Küstenländer ein. Warme Strömungen
bringen den Küsten, die sie berühren, wasserdampfreiche Luft und
darum reichlichen Niederschlag, kalte Strömungen dagegen zwar
relativ feuchte Luft, die aber wegen der niedrigen Temperatur nur
geringe absolute Wassenlamplinengeu euthält und somit auch nicht
zur Vermehrung des Niederschlages beitragen kann. Häufige Nebel
kennzeichnen vielfach diese Gebiete der Erde, welche gleichwohl der
Menge nach zu den regenarmsten Theilen der Erde gehören.
Da die Meeresströmungen in ihrer Richtung den vorherrschen-
den Winden folgen, so wird der klimatische Eintlufs derselben
auf die benachbarten Festländer mittelbar durch die Bewegung der
Luft über den Ozeanen bestimmt. In den äquatorialen Gebieten
wehen nun jahraus jahrein die Passutwindo, welche die grofsen von
Ost nach West gerichteten Strömungen zu beiden Seiten des Gleichere
hervorrufen. Unter dem 30. Breitengrade etwa treffen wir dann
auf die Barometermuxima der Rofsbreiten. Um diese kreist eine
Strömung von links nach rechts auf der nördlichen, von rechts nach
links auf der südlichen, warmes Wasser daher an den Ostküsten der
Kontinente polwärts, kaltes Wasser an den Westküsten äquatorwärts
führend. Aufserhalb der Rofsbreiten finden wir auf der nördlichen
Hemisphäre deutlich ausgeprägte Depressionen mit cyklonaler Luft-
bewegung,. die, besonders im Winter, weit in die Kontinente hinübor-
greift. Das Centrum dieser Cyklone wird nun entsprechend den
herrschenden Winden in der Richtung von rechts nach links vom
Wasser umströmt. Dadurch erhalten die Westküsten der Festländer
warmes Wasser vom Süden her, die Ostküsten dagegen kaltes aus
polaren Regionen stammend. Auf der ganz ozeanischen Südhemisphäre
fehlen diese Deprossionscentra; hier herrscht in den höheren Breiten
ein ewiger Westwind, der eine in gleicher Richtung strömende Trift
hervorruft, welche ebenfalls don südlichen Kontinenten ozeanisches
Klima bringt. Schematisch läfst sich unter Berücksichtigung der ge-
ringen südlichen Erstreckung der Kontinente der Verlauf der Meeres-
strömungen, sowie die dadurch bedingte Temperaturvertheilung an
der Oberfläche der Oceane und deren thermische Rückwirkung auf
das Klima der Küsten im umstehendem Diagramme (Fig. 7, nach Wild)
zur Anschauung bringen.
Im Hinblick auf die Gesetzmäfsigkeit in der Bewegung des
Wassers in den Meeren leuchtet ohne weiteres ein, wie erheblich der
Gegensatz im Klima der Ost- und Westküsten auf der ganzen Erde
226
durch die Meeresströmungen verschärft werden mute, und zwar nicht
nur in den höheren Breiten, wo wir überall den Westküsten warmes,
den Ostküsten kaltes Wasser Zuströmen sehen, sondern vielmehr auch
in den tropisohen Regionen, in denen allerdings umgekehrt die Ost-
küsten von warmen, die Westküsten hingegen von kalten Strömungen
bespült werden.
Durch die allgemeine Cirkulation der Luft über den Kontinenten
und Meeren, sowie durch die grofsen Strömungen des Wassers in
den Ozeanen wird somit das klare Bild von Land- und Seeklima
mannigfach verändert und getrübt Trotzdom tritt in der geographi-
1.
Fig. 7. SehomfLtucho DtriUUung dar KaerMStrUmnagen and der
oCMotichan TeaperatanrarthaUang.
sohen Vertheilung der klimatischen Konstanten auf der Erde der
Gegensatz von Festland und Meer in unverkennbarer Klarhoit hervor.
Gründliche Kenntnifs der physikalischen Verursachung desselben, wie
wir sie durch den vorstehenden Aufsatz zu schaffen uns bemüht
haben, mufs aber überhaupt das Verstiindnifs für die klimatischen
Erscheinungen erheblich erweitern. Denn es eröffnet dem geistigen
Auge einen tiefen Einblick in den oft so gehoimnifsvollen Mechanis-
mus der atmosphärischen Vorgänge.
Land- und Seeklima bilden in der That einen der hervor-
stechenden Züge im Antlitz der Erde; aber nicht nur, weil die Ver-
theilung von Temperatur und Feuchtigkeit, von Druck und Bewegung
der Luft durch sie bestimmt wird, sondern vielmehr, weil überhaupt
zahlreiche geographische Erscheinungen allein in diesem klimatischen
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Gegensatz ihre Erklärung finden. Denn das Klima beeinflußt -in
hohem Mafso das gesamte Landschaftsbild. Pflanzen und Thiere
schmiegen sich in ihrer Verbreitung an die klimatischen Linien der
Erde an, und auch der Mensch ist in seinem Thun und Treiben an
diese gebunden. Ja selbst im Aufbau der Länder, in der orographi-
schen Gestaltung des Bodens tritt die Wirkung solcher atmosphärischer
Gesetzmäfsigkeit, wie sie Land- und Seeklima zeigen, deutlich hervor,
da auch Erosion und Verwitterung in ihrem Betrage abhängig sind
vom Klima.
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Wie haben unsere Voreltern gerechnet?
Von P. K. liinzel.
Astronom am ItochcuinsUtut tlor Köuigl. Sternwarte zu Berlin.
jlie Forderung, rechnen zu können, stellen wir in unseren eivili-
' » _ sirten Ländern heutzutage mehr oder weniger an jeden Menschen;
die Kenntnifs des Rechnens ist für uns, gleich der des
Schreibens und Lesens, ein Qrundelement zur Erwerbung von Bildung.
Das Rechnen aus dem Leben des Einzelnen oder aus dem modernen Ver-
kehr wegzudenken, scheint uns kaum möglich. Im civilisirten Staate
rechnet ja so ziemlich jeder, sowohl der, welcher erwerben will, wie
jener, der erworben hat, manche, die viel haben und solohe, die nichts
haben, und hie und da bemerken wir Querköpfe, die nie rechnen, so
gut sie das in der Schule auch lernten. Wie streng verbunden mit
dem menschlichen Denken und Handeln wir das Rechnen ansehen.
geht daraus hervor, dafs wir das Recliuen auch mit Vorstellungen
verbinden, in denen gar keine oder nur sehr entfernte Beziehungen
von Zahlen zu einander Vorkommen, und dafs bezügliche Worte in
den Sprachgebrauch gelangt sind; wir rechnen „auf Jemand“, auf seine
Verläßlichkeit, Erkenntlichkeit, auf seinen Beistauii, auf einen Zufall,
ein Vorkomtnnifs, wir .berechnen“ mancherlei Aussichten, Vortheile,
wir wollen von einem Andern „Rechnung" fordern, oder ihm etwas
nicht „zurechnen“, wir zweifeln an seiner „Zurechnungsfähigkeit" u. s. f.
So gewohnter Weise wir also die Forderung, rechnen zu können, heute an
jeden unserer Mitmenschen, nach deren Berufe in mehr oder minder hohem
Grade, steilen und selbstverständlich finden, fällt es uns desto schwerer,
eine eivilisirte Zeitepoche zu denken, welche sich dieser uns ganz ge-
läufigen Anforderung nur sehr wenig bewufst war, welche das Rechnen
in Bezug auf National Wohlstand und Bildung als etwas Nebensächliches
angesehen hat, ein Zeitalter, das in die Schulen alles andere als Reohen-
lehrcr setzte und naiver Weise meinte, für den Unterricht im Rechnen
habe das Privatiuteresse zu sorgen. Es gab solche Zeiten, und zwar
liegen sie nicht gar so lange lünter der Gegenwart zurück. Der
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Mensch, die menschliche Gesellschaft, hat eben nur allmählich rechnen
gelernt, und erst der Aufschwung der Wissenschaften und der durch
diesen, sowie durch den zunehmenden Völkerverkehr mächtig er-
weiterte geistige Gesichtskreis der Nationen haben die Kunst des
Rechnens zum Gemeingut der civilisirten Welt gemacht.
Die Anfänge des Rechnens reichen bis auf die Anfänge des
menschlichen Denkens zurück. Erst nachdem der Urmensch die ihn
umgebenden Dinge begrifflich unterscheiden, das Gleichartige zu ver-
binden, das Ungleichartige von einander trennen gelernt hatte, konnten
die ersten Zahlenbegriffe und, nach der Entstehung einer Sprache,
auch die ersten Zahlwörter entstehen. Die Stufe der Civilisation, auf
der sich ein Volk befand, entschied den Reichthum oder den Mangel
seiner Sprache an Zahlwörtern. Noch heute giebt es eine Reihe von
Naturvölkern, welche nicht über fünf zählen können; ihre Entwicklungs-
stufe, ihre minimalen Bedürfnisse und der Mangel des Zusammenlebens
der Individuen hat sie in Zahlenbegriffen nicht weiter geführt. Wie
die alleriiltesten Zahlwörter der Menschheit gebildet worden sind,
darüber gehen die Meinungen sehr auseinander. Sicher ist, dafs sie
zugleich zu den ältesten Resten der menschlichen Sprachen ge-
hören, und dars sie nicht selten Kennzeichen an sich tragen, welche
auf den einstmaligen Zusammenhang gewisser Völkerstämme hin-
deuten. Aus diesem Grunde erfreuen sich die Zahlwörter einer be-
sonderen Aufmerksamkeit seitens der Sprachen- und Völkererforschung
und sind für diese Wegweiser, freilich auch nicht selten Irr-
lichter, welche die Wahrheit umtanzen. Möglicherweise hat der Mensch
die ersten Zahlenbegriife seinem eigenen Körper entnommen; die ver-
schiedene Zahl der Sinnesorgane und Gliedmafsen, 2 Augen, 2 Ohren,
die 5 Finger jeder Hand u. s. w. können zum ersten Zählen geführt
haben. Nachdem der Mensch das Gleichartige zu verbinden (z. B.
drei Finger der einen Hand mit drei der anderen) gelernt und für
das Resultat einen Ausdruck gefunden hatte, „rechnete" er gewisser-
mafsen auch schon, und es sind sicherlich die beiden Grundoperationen
des Rechnens, das Zusammenfassen und Trennen gleichartiger Theile
eines Ganzen, die Addition und Subtraktion, so alt wie die Zahlwörter
selbst. Bei diesen Uranfängen des Rechnens haben gewifs die Finger
der Hände eine bedeutende Rolle gespielt. Wir finden nämlich nicht
nur jetzt noch bei manchen Naturvölkern einen sehr ausgebreiteten
Gebrauch der Finger beim Rechnen, sondern wir sind durch Ueber-
lieferungen auch direkt in den Stand gesetzt, nachweiscn zu können,
dafs diese Methode boi vielen Kulturvölkern des Alterthums in An-
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Wendung gewesen ist, und wir werden später darauf zu sprechen
kommen, wie das Fingerrechnen selbst noch im Mittelalter eine sehr
erhebliche Verbreitung hatte. Die zehn Finger der Hände genügen
in der That für das Deflniren der einfachsten Zahlen; bei der Dar-
stellung gröfserer Zahlen hilft der Erfindungsgeist der Völker. Nicht
wenige halbwilde Stämme haben sich mit den sie besuchenden geo-
graphischen Expeditionen über die Zahl von zu tauschenden Gegen-
ständen sinnreich und leicht mittelst des Fingerrechnens verständigt.
Im südlichen Afrika treten beim Abzählen einer grofsen Zahl von
Dingen mehrere Individuon zusammen; der Eine macht den Anfang,
indem er die Finger seiner einen Hand, mit dem kleinen Finger der
linken beginnend, nacheinander erhebt, bis zum kleinen Finger der
anderen Hand vorwärts schreitend ; ein Zweiter, der die Zehner vor-
stellt, setzt dasselbe Verfahren fort, worauf ein Dritter vortritt, welcher
die Hunderter repräsentirt. Wie oft dabei die Zehner und Hunderter
vollendet werden, wird besonders markirt, so bei den Zulukaffern
dadurch, dafs sie beide Hände mit den noch ausgestreokten Fingern
zusammenschlagen. Dieses primitive Rechnen mit den Fingern wurde
von höher stehenden Nationen ausgebildet und von manchen bis zu
einem kunstvollen Systeme gesteigert; man gruppirte die empor-
gehobenen Finger, bog einige ein, gab ihnen verschiedene Stellungen
und legte jeder solchen Variante die Bedeutung einer Zahl bei. Sehr
wahrscheinlich war ein solch künstliches Fingerrechnen bei den
Aegyptern und Babyloniern üblich; wenigstens sprechen einige noch
erhaltene Darstellungen auf Alterthümern dafür. Von den Griechen
und Römern wissen wir aus manohon Stellen bei den Klassikern, dafs
die Fingerrechnung bei ihnen in Gebrauch war. So bezeugt Aristo-
phanes in den „ Wespen“, dafs man Rechnungen mit den Fingern
ausführte. Der römische König Numa liefe ein Standbild des doppelt -
gesichtigen Janus errichten, auf welchem die Fingerstellung die Zahl
355 (das Jahr) ausdrüokte. Mit „Wort und Fingern“ liifet Suetonius
die Goldstücke abzählen. „Die rechte Hand bringt die Rechnung
zusammen“, heifst es bei PlautuB. Bei den Arabern figurirten die
Finger der linken Hand für die Einer und Zehner, die der rechten
für die Hunderte und Tausende. Dafs sich einfache Rechnungen mit
Hilfe der Finger ausführen lassen, davon giebt eine heute noch in
der Wallachei übliche Methode Zeugnife, wo es sich darum handelt,
Produkto von Zahlen, die gröfeer als 5 sind, zu finden. Die Finger
beider Hände erhalten, vom Daumen bis zum Kleinfinger gezählt, die
Bedeutung 6 bis 10. Ist z. B. 7 mal 8 zu finden, so streckt man den
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Siebenerfinger der einen Hand und den Achter der andern vor; nach
dem Kleinfinger hin bleiben an der einen Hand 3, an der andern 2,
also deren Produkt 3X2 = 6; die vom Daumen ab in beiden Händen
noch vorhandenen addirt man, also 3 + 2 = 5, demnach das Produkt 56.
Durch das Rechnen mit den Fingern ist der Mensch wahrschein-
lich schon in Zeiten, die weit ab von der Gegenwart liegen, zu der
Gewohnheit gelangt, abgezählte Dinge in bestimmte Gruppen, nach
der Zahl der Finger, nämlich in Abtheilungen von je zehn, zusammen
zu fassen; auf diese Weise mag die Zehn die Grundzahl des Zähl-
systems vieler Völker, des Dezimalsystems, geworden sein. Manche
Völkerschaften bildeten die Zahlengruppen aber auch nach der
doppelten Fingerzahl, zwanzig (Vigesimalsystem), und andere wieder
mit Zugrundelegung der Finger nur einer Hand (Quinarsystein).
Hinweisungen auf die verschiedenen Zahlensysteme enthalten die
Sprachen sehr vieler Völker; so finden sich in den Sprachen der
Mayas (Yucatan) und Azteken besondere Worte für 20, 400, 8000.
Im Französischen stecken Reste eines keltischen Vigesimalsystems
(quatrevingt = 80), desgleichen ähnliche Spuren im Dänischen
(tresindstyve = 60 = 3 X 20, firesindstyve = 80 = 4 X 20). Wenn
man früher behauptet hat, dafs es in der Entwicklungsgeschichte der
menschlichen Sprache überhaupt keine anderen, als die drei genannten
Zahlensysteme gäbe, so ist dies durch neuere Forschungen widerlegt
worden. So trifft man unter andern in der Sprache der Neuseeländer
auf eine Reihe von Zahlwörtern, die sioh sämtlich als Vielfache der
Zahl 11 darstellen. In dem Baue der Zahlwörter ist, wie man schon
aus diesen wenigen Beispielen ersieht, ein gewisses Rechnen ver-
borgen, nämlich das Bilden von Produkten; aber auch von der Sub-
traktion und (freilich selten) von der Division macht der menschliche
Geist bei der Konstruktion von Zahlenbegriffen Gebrauch. So heifst
duodevingti im Lateinischen 2 von 20, nämlich 18; im Griechischen
ist S'jocv Äi'jvti; £$TJy.'jVTa = 58 d. i. 60, welche 2 bedürfen; im Sanskrit
bedeutet ekonaschaschta = 59, die um 1 verminderte sechzig, u. s. w.
Von überaus greiser Bedeutung für die mathematischen Wissen-
schaften ist das in seinen Anfängen bis in sehr hohe Altersepochen
geistiger Kultur zurückreichende Sexagesimalsystem (mit der Grund-
zahl 60) geworden. Die Schöpfer dieses bedeutungsvollen Zähl-
systems waren die Babylonier; der astronomischen Thiitigkeit dieses
Kulturvolkes ist es entsprungen. Die Astronomie der Babylonier
ist uralt; ganz abgesehen von Plinius, der hunderttausende von
Jahren dafür in Anspruch nimmt, wissen wir aus sicheren Quellen,
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dafe sobon um 1700 v. Chr. für den König Sargon ein astrologisches
Werk abgefafst worden ist. Von den Babyloniern wurde schon sehr
früh die Länge des .Jahres zu 360 Tagen angenommen und die Ein-
theilung des Kreises (in 360 Grade) sollte den Weg darstellen, den
die Sonne um die Erdo im Laufe eines Jahres zurücklegt. In jedem
Kreise aber war ein sechsmaliges Aufträgen des Halbmessers als
Sehne möglich, es entstand das dem Kreise eingeschriebene Sechseck
und jeder der 6 Bogen des Kreisumfänges enthielt 60 Theile. Das
Prinzip dieser Sechzigtheilung mag von den babylonisohen Geometern
dann auf verschiedene Mafse übertragen worden sein. Schwache
Gründe lassen vermuthen, dafs einst in Babylon sogar eine Sechzig-
theilung des Tages vorhanden gewesen sein dürfte, von weloher sich
Spuren in der indischen Astronomie (welche sicher von der baby-
lonischen beeinflufst worden ist), vorgefunden haben. Den eigentüm-
lichen Gebrauch des Sexagesimalsystems bei Zahlenangaben fand man
zuerst bei Entzifferung eines 1864 bei Senkereh am Euphrat ausge-
grabenen, sehr alten Thontäfelohens. Dieses ehrwürdige Zeugnifs
babylonisohen Rechnens fafst auf Vorder- und Rückseite 60 Zeilen
in Keilschrift; am Anfang und Ende jeder Zeile steht eine Zahl, da-
zwischen stehen Zeichen, von welchen eines _ibdi“ gelesen wird.
Rawlinson erkannte, dafs „ibdi“ = Quadrat bedeutet, und dafs die
Zahlen am Anfänge jeder Zeile die Quadrate der am Ende stehenden
sind. Die Anordnung von der achten Zeile aufwärts ist nämlich
folgende:
1 .
4
ist das Quadrat von
8 (d. h.
64 =
60 + 4]
1.21
» tl
« r»
9 [d. h.
81 —
60 •+ 21]
1.40
n n
» »
U. S.
10 [d. h.
, w.
100 =
60 + 40]
58.
1
n r
69 [d. h.
3481 =
60 X 58
Auf der Rückseite der Thontafel waren die Kubikzahlen von
1 bis 32 aufgotragen und in ähnlicher Weise durch das Sexagesimal-
system ausgedrückt, z. B. der Kubus von 16 durch
1. 8. 16
d. h. 163 = 4096 = 1 X 60* + 8 X 60 + 16.
An die vorstehenden Erörterungen über die Entstehung der
Zahlensysteme würde sich nun noch die Frage über die Entstehung
der Zahlenzeichen, d. h. der Ziffern, schliefsen. Allein es würde sehr
eingehende und doch schliefslich unbefriedigende Auseinandersetzungen
erfordern, wollten wir nur die hauptsächlichsten Ziffernschriften be-
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rühren. Allgemein läfst sich die Entstehung der Zeichen überhaupt
nicht beantworten. Möglicherweise kann man, wie wir heute noch
bei einigen Naturvölkern sehen, anfangs Zahlen durch Striche dar-
gestellt haben, die man in Hölzer einschnitt. Später, mit Entwicklung
der Bilderschrift, mögen bildliche Darstellungen auch für Zahlen er-
funden worden sein. Die Zahlenbihler sind vielleicht anfänglich ohne
System nebeneinander gestellt worden, bis der geistig aufstrebende
Mensch aus diesen Bildern einfachere Zeichen formte und diese in
soloher Folge hintereinander reihte, dafs das Anfangszeichen den
höchsten Werth der Zahl, das Schlufszeichen den niedrigsten be-
deutete, oder wie wir modern sagen, dafs der Mensch lernte, die
Zahlen „ihrem Stellenwerth entsprechend zu ordnen.“ Dieses „Gesetz
der Gröfsenfolge“, dafs bei allen additiv vereinigten Zahlen das Mehr
dem Minder vorangeht, zeigen die Schriften fast aller Völker, und
einige in syrischen Handschriften gefundene Varianten scheinen bis
jetzt die einzigen Ausnahmen von der Regel zu sein.
Wir treten nun der Frage näher, wie sich unsere heutige Art
zu rechnen aus den Methoden der Völker der Vorzeit entwickelt hat.
War der Mensch einmal dazu gelangt, nach einem bestimmten System
zu zählen und hatte er für die Zahlen bildliche, wenn auch noch un-
beholfene Zeichen erfunden, so konnte er auch, wie schon angedeutet
worden ist, die einfachsten Rechnuugsoperationen ausfiihren. Wurden
z. B. 20 Steine nebeneinander gelegt und dann noch 16 weitere dazu
gethan, indem man dabei von 20 ab weiter zählte, so fand man das
Additionsresultat 36; das Wegnehmen von nach und nach 24 Steinen
von dieser Summe liefs das Sublraklionsrosuttat 12 übrig; drei Haufen
von je 12 Steinen gaben 3 mal 12 Steine odor wiodor 36, und in dem
Haufen von 36 Steinen mufsten 12 Steine 3 mal enthalten sein. Ganz
nach dieser Art, also der Weise ähnlich, wie mit den Kindern in
unseren Schulen der Rechenunterricht begonnen wird, haben viele
Völker gerechnet. So rechnen heute noch die Afrikaner und Asiaten
mit Hilfe von Kaurimuscheln und Maiskörnern. Weiter entwickelte
Nationen erfanden Hilfsmittel für dieses primitive Rechnen und be-
dienten sich eines besonderen Rechenbrettes und künstlicher Rech-
nungsmarken. Man zog parallele Striche auf dem Brette, benannte
die so entstehenden Kolumnen als die Stellen der Einor, Zehner,
Hunderter der Zahlen und legto in diese Kolumnen die Marken je
nach der Zusammensetzung der Zahlen, mit denen gerechnet werden
sollte. Durch Zulegen und Wegnehmen der Marken wurde die Lösung
von Aufgaben der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division
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erreicht Bei den alten Griechen hiefs das Rechenbrett der „Abax“.
Auf dem Abax streute man Staub aus, zog mit einem Stäbchen die
Kolumnen und legte zur Rechnung Steinchen ein. Bei Poly-
bios heifst es, die Marken auf dem Abax gelten nach der Vorstellung
des Rechners bald einen Chalkus, bald ein Talent ') Auf der groben
Dariusvase in Neapel ist ein Rechner dargestellt, welcher den Tribut
der dem Darius zu entrichten war, auf einem Rechenbrette verzeichnet
Im Jahre 1846 fand man auf der Insel Salamis eine Marmortafel von
rechteckiger Form, welche möglicherweise ein im öffentlichen Verkehr
gebrauchter Abax gewesen sein kann ; sie zeigt 6 Haupt- und 4 Neben-
kolumnen; erster« dienten zur Rechnung mit je 6000, 1000, 100, 10,
1 Drachmen, die Nebenkolumnen für 1 Obolus,2) 1/2 , '/3, */, dieser
Münze. Jede der Hauptkolumnen war durch einen über die Ab-
theilungen laufenden Querstrich in zwei Hälften getheilt, deren eine
(die obere oder untere) den eingelegten Marken den fünffachen Werth
gab als die andere. Das schriftliche Rechnen der Griechen mag, da
die Komplizirtheit der Zahlenzeichen eine leichte Behandlung der
Rechnung verhindern mufste, ziemlich mühselig gewesen sein. Man stelle
sich vor, wenn Zahlen wie M,l> (= 39000), (= 1600), ozs (= 226)
und <uv (= 760) zu addiren oder gar zu multipliziren waren. Beim
Multipliziren wäre unser heutiges Verfahren kaum anwendbar ge-
wesen; in der That verfuhren die Griechen, nach dom Kommentar des
Eutokius, nach dem entgegengesetzten Wege wie wir: sie begannen
mit den höchsten Stellen und schritten dann zu den niedrigeren
fort. War z. B. 3217X2027 zu rechnen, so multiplizirte man zuerst
3000X2000, dann 3000 X 20, dann 3000X7, hierauf 200 X 2000, 200 X 20
und 200 X 7 und so fori — Auch die Römer besahen verschiedene
Rechenbretter und in den Schulen wurde das .Rechnen auf dem
Abakus“ gelehrt Die Rechenbretter wurden mit Staub bestreut und
mit Steinchen, calculi, belegt; es gab aber auch solche mit längeren
und kürzeren Einschnitten und mit darin verschiebbaren Knöpfen,
die ein schnelleres Addiren und Subtrahiren ermöglichten. Beim
Multipliziren fand das Finger- und Kopfrechnen ausgedehnte An-
wendung; wir wissen aus römischen Schriftstellern, dafs in römischen
Schulen das Kopfrechnen fleifsig geübt wurde, tlafs die Schüler das
Einmaleins gemeinsam abzusingen pflegten und dafs sie dabei auch
— geprügelt worden sind. Zur Multiplikation gröberer Zahlen hatte
0 1 Talent = 6000 Drachmen. 1 Chalkus = Ve Obolus.
*) 1 Obolus = ■/« Drachme.
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man wahrscheinlich Tabellen, welche die Produkte gegebener Zahlen
fertig lieferten, eine solche ist uns aus spätrömischer Zeit in dem
sogen. Calculus desVictorius erhalten geblieben. Es mag übrigens
bei den Körnern, wie bei den Griechen, eine gleich saure Arbeit ge-
wesen sein, mit den ungefügen Ziffern, die bei einer halbwegs gröfseren
Zahl sich zu Ungethümen zusammensetzten, zu manipuliren und es
ist begreiflich, wenn das Dividiren bereits für eine schwere Kunst galt.
Im Bruchrechnen haben es weder Griechen noch Römer weit gebracht.
Die Römer übten im Schulunterricht hauptsächlich das Rechnen mit
den „Minutien“, d. h. mit im praküschen Leben häufiger vorkommen-
den, speziell mit Rücksicht auf das Münzwesen erfundenen Brüchen,
wie *Vi2i Vgi 3U u- s- Denkt man daran, dafs diese Minutien von
den Römern keineswegs als Brüohe geschrieben, sondern sehr schwer-
fällig umschrieben wurden, z. B.
scripuli3) = sextularum duarum et triginta pars XXV,
so kann man sich das Vergnügen einer Multiplikation solcher Minutien
wohl lebhaft vorstellen.
a) Scripuli = Unterabtheilungen der Unze.
(Fortsetzung folgt).
Werner von Siemens.
Obwohl unter den Lesern unserer Zeitschrift kaum einer sein
dürfte, der den Berichten der Tagesblätter über den am 6. Dezember
des vorigen Jahres erfolgten Tod Werner von Siemens’ und ihren
Schilderungen seines thatenreichen Lebens nicht mit lebhaftestem
Interesse gefolgt wäre, so mag es uns doch vergönnt sein, im folgen-
den noch einmal das Lebensbild eines Mannes zu entwerfen, in welchem
auch die Bestrebungen unserer Gesellschaft und unserer Zeitschrift
einen warmen Freund und eifrigen Förderer verloren haben. Erst
wenige Monate sind vergangen, seit der Verstorbene selbst die letzte
Hand au die Abfassung seiner „Lebenserinnerungen“ *) legte, ein
Werk, dessen Lektüre in gleichem Grade demjenigen empfohlen
werden kann, welcher selbst Arbeiter in irgend einem Zweige der
Naturwissenschaft oder Technik ist und die wichtigen Errungen-
schaften, welche sich an den Namen Siemens knüpfen, in ihrem
allmäligen Werden erkennen will, wie demjenigen, der in allgemeinerer
Weise sein Augenmerk darauf lenkt, wie die grofsen Geister, die die
Kultur um ein beträchtliches Stück vorwärts bringen, ihre schaffens-
reiche Bahn durchlaufen.
Geboren wurde Ernst Werner Siemens am 13. September
1 8 IG zu Lenthe bei Hannover. Die Verhältnisse, aus welchen er
hervorging, waren der Entwickelung seiner besonderen Fähigkeiten
zwar nicht hinderlich, aber doch auch nicht in hohem Grade günstig.
Er war das älteste unter elf Kindern eines in dem genannten Dorfe
und später in Menzendorf bei Mecklenburg ansässigen Gutspächters.
Im elterlichen Hause erhielt er eine sorgfältige Erziehung, vornehmlich
von Seiten seines Vaters, eines geistvollen und energischen Mannes,
und seines Hauslehrers Sponhoiz, an dessen Thätigkeit er sich
noch in den letzten Jahren seines Lebens mit Dankbarkeit erinnerte.
J) Verla# von Julius Springer in Berlin.
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237
Dieser junge Kandidat der Theologie war es, welcher in den wilden
und arbeitsscheuen Knaben des Oekonomen das Gefühl der Freude
an nützlicher Arbeit und den ehrgeizigen Trieb, sie wirklich zu
leisten, erweckte. Später absolvirten die beiden ältesten Knaben
Werner und Hans das Lübecker Gymnasium, die sogenannte
Katharinenschule. Hei der grofsen Zahl von Kindern erlaubten die
Mittel der Eltern nicht, dnfs Werner, wie es seinen Wünschen ent-
sprochen haben würde, sich dem Studium des Baufachs widmete.
Werner von Siemens.
Auf den Rath eines seiner Lehrer und den Wunsch seines Vetters,
der mit klarem Blicke in dem preußischen Staate und speziell in der
preufsischen Armee den festen Mittelpunkt inmitten der eines Um-
schwungs so bedürftigen deutschen Verhältnisse erkannte, wandte
sich Werner im Jahre 1834 nach Berlin und dann nach Magdeburg,
um bei einem dortigen Artillerieregimento Aufnahme zu Anden. Das
im nächsten Jahre erfolgende Kommando zur Artillerie- und Ingenieur-
schule leitete drei überaus glückliche Lebensjahre für ihn ein. Das
kameradschaftliche Leben mit jungen Leuten gleichen Alters und
gleichen Strebens, das gemeinschaftliche Studium unter der Leitung
tüchtiger Lehrer, von denen nur der Mathematiker Ohm, der Physiker
Bimmel und Erde. 1883. T. 5. 17
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2H8
Magnus und der Chemiker Erd mann genannt werden mögen, deren
Unterricht ihm eine neue interessante Welt eröffnete, machten diese
Zeit zu einer im hohen Grade genußreichen. In das Ende dieser
Periode fallen Siemons erste wissenschaftliche Versuche, welche
durch einen recht unwissenschaftlichen Zufall, die Abbüßung einer
Festungshaft infolge der Betheiligung an einem Duell, befördert
wurden. Die gerade bekannt gewordene Erfindung der Galvano-
plastik suchte Siemens auch auf andere Metalle als das von Jacobi
benutzte Kupfer auszudehnen. Es gelang ihm, aus einer Goldsalze
enthaltenden Lösung von unterschwelligsaurem Natron auf galvanischem
Wege Gold auf einem Löffel niederzuschlagen. Dieses Vorfahren der
galvanischen Vergoldung wurde ihm bald darauf von einem englischen
Konkurrenten für 1500 Lstr. abgekauft, eine Summe, welche für die
Verhältnisse des jungen Offiziers ganz außerordentlich groß war.
Sein Bruder Wilhelm, durch dessen Vermittelung dieses Geschäft
zustande gekommen war, ließ sich von nun an in England nieder
und hat sich bekanntlich in seinem neuen Vaterlande Ehre und An-
erkennung in gleicher Weise zu erringen gewußt, wie Werner bei
uns. Ueberhaupt hat sich die Thätigkeit der Gebrüder Siemens
weit über die Grenzen des deutschen Vaterlandes ausgedelmt; außer
Werner und Wilhelm widmeten noch fünf unter den zehn Brüdern
ihre Arbeitskraft den verschiedenen Zweigen der Ingenieurwissenschaft,
und von ihnen wirkte Karl in Petersburg, als Leiter eines Zweigge-
schäftes, welcher den Bau und die Unterhaltung der gesamten russischen
Telegraphen zu leiten hatte. Der Dritte der Brüder, Friedrich, ein
hochbegabter Mann wie Werner und Wilhelm, leistete in der Ver-
werthung einer anderen Naturkraft, der Wärme, Bedeutendes. Er
führte das Prinzip der Regenerativheizung, bei der die Brennmaterialien
vorgewärmt werden und deshalb den ihnen innewohnenden Wärme-
vorrath mit größerem Nutzeffekt hergeben, aufs glücklichste duroh;
dieses Prinzip ist nicht nur für die Heizung und Beleuchtung, sondern
vor allem auch für die Fabrikation von Stahl und für die Glasindustrie
in hohem Grade wichtig geworden und hat den in England gegründeten
Siemens Steel Works und den Glasfabriken in Dresden, welche viele
Tausende von Arbeitern beschäftigen, zu einem großartigen Aufschwung
vorholfen. — Kaum dürfte die Geschichte der Kultur ein zweites Bei-
spiel eines so glücklichen Zusammenwirkens der Glieder einer Familie
aufweisen, wie wir es hier vor uns haben. Werner freilich hat
hieran, wenn auch nicht den ausschließlichen, so doch den hervor-
ragendsten Antheil. Wie er schon in seiner Kindheit als der Älteste
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für die Jüngeren zu sorgen hatte, so hat er sie auch später geistig
angeregt, ja man kann sagen, geführt. Diese Vertheilung und richtige
Verwerthung der Arbeitskräfte nach einem einheitlichen Plane, welche
gewissermafsen auch einem „getrennt Marschieren, vereint Schlagen“
verglichen werden kann, bildet ja überhaupt ein Charakteristikum der
Arbeitsweise unserer Zeit. Wie solche in der Siemensschen Familie
ihren Ausdruck fand, so habon wiederum die Siemens mit ihren
weltumspannenden Drähten dazu beigetragen, dafs dies Prinzip all-
mählich auch von der ganzen Menschheit als die richtige Grundlage
ihres Schaffens erkannt werde.
Verfolgen wir nun den Lebensgang Werners weiter. Bald
nach jener ersten Erfindung wandte er sich mehr rein wissenschaftlichen
Studien zu. Zu den bereits erwähnten Lehrern gesellten sich noch Dove
nnd Riefe, von denen namentlich der orstere einen grofsen Einflufs auf
ihn gewann. Der Verkehr mit einem Kreise von talentvollen jungen
Naturforschern, darunter du Bois-Reymond, Brücke, Helmholtz,
Clausius, W iedem an n u. A. bot gar manche bedeutsame und kräftige
wissenschaftliche Anregung. Und doch wurde Siemens immer wieder
auf den Weg technischer Verwerthung wissenschaftlicher Resultate zu-
rückgeführt Mehr und mehr befestigte sich in ihm die Ueberzeugung,
dafs „die naturwissenschaftliche Erkenntnifs und die wissenschaftliche
Forschungsmethode die Technik zu einer noch gar nicht zu über-
sehenden Leistungsfähigkeit entwickeln könnte.“ Neben den elektro-
chemischen Untersuchungen, denen Siemens bekanntlich sein Leben
lang das regste Intoresse bewahrt hat, fesselten ihn in dieser Zeit
Experimente auf dem Gebiete der Elektrotelegraphie. Die Ein-
richtungen, durch welche es ihm gelang, den damals üblichen Zeiger-
telegraphen von Wheatstone zu vervollkommnen, können an dieser
Stelle nicht wohl beschrieben werden.®) Eiuo fast noch wichtigere
Erfindung lag in der Umpressung von Leilungsdrähten mit Gutta-
percha, dem damals neu erfundenen Stoffe von vorzüglichen elektrischen
Eigenschaften, welcher auch heute noch zur Isolation unterirdischer
nnd unterseeischer Kabel benutzt wird. Im Sommer 1847 wurde die
erste längere unterirdische Leitung von Berlin nach Grofsbeeren
mit derartig isolirten Drähten von Siemens gelegt. Infolge einer
Denkschrift über die elektrischen Telegraphen und ihre zu erwarten-
den Verbesserungen, welche Siemens dom General Oetzel, dem
*) Vergl. die Abhandlung: Ueber telegraphische Leitungen und Apparate
von W. Siemens. 18.70.
17*
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240
Chef der optischen Telegraphen des preußischen Staates einreichte,
wurde er zur Dienstleistung bei der Kommission des Generalstabes
kommandirt, welche die Einführung der elektrischen Telegraphen an-
statt der optischen vorberoiten sollte. In dieser Kommission vertrat
Siemens den wichtigen Gedanken, dafs die Telegraphie nicht aus-
schliefslich in den Dienst des Staates gestellt werden dürfe, sondern
auch dem Publikum zugänglich gemacht werden müsse. Es ist uns
heut zu Tage kaum verständlich, dafs Siemens mit dieser Ansicht
fast allein dastand. In diese Zeit lallt auch die Verbindung mit dem
Mechaniker llalBke und die Einrichtung jener bescheidenen Werk-
stätte für Telegraphenbau in einem Hinterhause der Schöneberger
Strafse, aus welcher sich so schnell das weltbekannte Etablissement
von Siemens u. Halske entwickelte. Bis jetzt gehörte Siemens
noch der Armee an, und im Jahre 1848 hatte er Gelegenheit, den
Kieler Hafen mit Hülfe unterseeischer, mit elektrischer Zündung ver-
sehener Minen gegen die dänischen Kriegsschiffe zu vertheidigen.
Erst im folgenden Jahre nahm er seinen Abschied; nun begann
die Zeit seiner fast ausschliefslichen Thätigkeit auf dem Gebiete der
Elektrotechnik und damit die Periode, während deren in den Siemens-
Bohen Werkstätten eine wichtige Erfindung der anderen auf dem
Fufse folgte. Die Rolle, welche Siemens bei dem Ungeheuern Auf-
schwung der Elektrotechnik, den diese seit der Mitte des Jahrhunderts
genommen hat, spielte, war bekanntlich die, dafs er wenigstens
in Deutschland stets an der Spitze der Techniker stand; sobald die
von ihm ausgehenden Erfindungen, welche in der ersten Zeit selten
durch Patente geschützt wurden — das Zustandekommen unserer
jetzigen Patentgesetzgebung ist zum grofsen Theile erst Siemens zu
verdanken — , von anderen acceptirt und Gemeingut geworden waren,
sicherten neue Erfindungen, unterstützt durch den sich immer mehr
festigenden guten Ruf ihrer Fabrikate der Firma Siemens u. Halske
wieder einen bedeutenden Vorsprung. Siemens war der Erste, der
die Mehrfach-Telegraphie und das Gegensprechen ins Leben zu rufen
versuchte. Er vorvollkommnete die Kunst, elektrische Gröfsen zu
messen, durch die von ihm aufgestellto Widerstandseinheit, bei der
zum ersten Male ein strukturloses, nämlich ein flüssiges Metall, das
Quecksilber, benutzt wurde, sowie durch die vielen in seiner Fabrik
erdachten Mefsapparatc. Die von Faraday entdeckte Möglichkeit,
durch gegenseitige Bewegung von Drahtstücken und Magneten
elektrische Ströme zu erzielen, wurde von Siemens mit Hilfe des
nach ihm benannten Doppel-T-Ankers zur Erzeugung starker, gleich-
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gerichteter Ströme verwendet. Kurze Zeit früher als sein einziger,
ihm an Erfindungsgabe ebenbürtiger Rivale Wheatstone, entdeckte
Siemens das Dynamo-Prinzip, nach welchem durch wechselseitige
Steigerung von Ursache und Wirkung diese Ströme so stark gemacht
werden können, dals sie die elektrische Beleuchtung ermöglichen.
Der Siemenssche Anker wurde später durch den von Pacinotti
und Gramme erfundenen Ringanker und den ebenfalls in der
Siemensschen Fabrik konstruirten Trommelinduklor von Ilefner-
Alteneck in Bezug auf die Erzeugung starker Ströme verdrängt,
wird aber noch immer bei Signalapparaten u. dergl. häufig benutzt
Derselbe Siemenssche Ingenieur erfand die elektrische Differential-
lampe, welche die Theilbarkeit des elektrischen Lichtes ermöglichte
und dadurch die elektrische Beleuchtung mittels Bogenlampen wesent-
lich förderte. Diejenige Anwendung des elektrischen Stromes, welche
in der letzten Zeit im Vordergründe des öffentlichen Interesses steht,
ist wohl die Kraftübertragung. Auch an der Lösung dieser Aufgabe hat
Siemens durch die Konstruktion wirksamer Elektromotoren einen
hervorragenden Antheil. Im Jahre 1879 wurde von ihm auf der
Gewerbeausstellung zu Berlin zum ersten Male eine elektrische Eisen-
bahn vorgeführt. Drei Jahre später wurde die Linie Berlin -Lichter-
felde eröffnet.
In dem Vorstehenden sind nur einige der bedeutsamsten techni-
schen Leistungen von Siemens angefiihrt Der wissenschaftlichen
Arbeit, zu der er viel seltener, als es seinen Wünschen entsprach,
die nöthige Mufse fand, hat er sich durch bekannte theoretische und
praktische Untersuchungen gewidmet. Von letzteren erinnern wir an
seine Bestimmung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Elektrizität
in den Drähten, welche er, gleichwie die Bestimmung der Geschwindig-
keit von Geschossen, dadurch erhielt, dafs er elektrische Fun-
ken auf einen schnell röhrenden polirten Stahlcylinder schlagen liefs
und den Unterschied ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge durch die Ent-
fernung der entstehenden Brandmarken mafs. 1874 wurden diese wissen-
schaftlichen Leistungen durch seine Aufnahme in die Kgl. Akademie der
Wissenschaften in Berlin anerkannt. Sein alter Freund du Bois-Rey-
mond war es, der ihn in der bekannten Begrüfsungsrede „willkommen
hiefs in dem Kreise der Akademie, welche die Wissenschaft nur um
ihrer selbst willen betriebe.“ Auch an materiellen Erfolgen hat es
Siemens bekanntlich nicht gefehlt, und er hat sich aufs eifrigste
bemüht, dieselben zum Wohle derjenigen, welche ihm nahe standen,
seiner Angehörigen und seiner Arbeiter, sowie zur Förderung öffent-
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licher Interessen zu verwenden. Als die Gründung der Urania in
Aussicht stand, war er, der sich ja auch selbst auf dein Gebiete der
populären Darstellung bethätigt hatte,3) einer der Ersten, der eine
namhafte Summe zur Unterstützung dieses gemeinnützigen Werkes
zeichnete. Das, was den eigentlichen Kern seiner Arbeiten und Be-
strebungen ausmacht, dürfte wohl seinen besten Ausdruck in der
Gründung der Technischen Iieichsanstalt gefunden haben, zu
der er nicht nur die Anregung gab, sondern auch sehr bedeutende
Geldmittel zur Verfügung stellte. Der wissenschaftlichen Forschung
— das war seine Meinung — mufs allerdings Gelegenheit gegeben
werden, frei von allen Rücksichten auf praktische Verwerthung zu
arbeiten; aber das, was sie erreicht hat, darf dann nicht, gleich als
würde es durch Berührung mit dem Leben des Volkes profanirt, in
geheimen Kammern aufbewahrt werden. Die Praxis des Lebens mufs
vielmehr jede Gelegenheit suchen und auch finden können, durch die
Resultate der Wissenschaft befruchtet und weiter entwickelt zu werden.
Die Herrschaft des Menschen über die Naturkräfte wird, wenn sie in
dieser Weise zugleich in geistiger und materieller Beziehung fort-
schreitet, dahin führen, dafs ohne einen gewaltsamen Umsturz die
sozialen Fragen, welche die Welt gegenwärtig bewegen, ihre Lösung
finden. Mag es immerhin sein, dafs zur Erreichung eines solchen
Zustandes ein Fortschreiten in unseren moralischen, politischen und
speziell sozialpolitischen Anschauungen nöthig ist, so bildet jedenfalls
die ungestörte Entwickelung des naturwissenschaftlichen Zeitalters die
allernothwendigste Voraussetzung dafür, dafs jene Fragen mit Erfolg
in Angriff genommen werden können. P. Spies.
*
Observatorium auf dem Mont Blanc.
Im I. Jahrgange unserer Zeitschrift (Seite 492) haben wir über
die Beobachtungsresultate berichtet, welche eine von dem Spectroscopiker
Janssen auf den Mont Blanc zur Untersuchung des Sonnenspektrums
unternommene Expedition zur Folge gehabt hat, Direktor Janssen
hat weitere Kreise der wissenschaftlichen Gesellschaft und auch die
Pariser Akademie für die Errichtung eines ständigen Observatoriums
auf dem Gipfel des Mont Blanc zu interessiren gewurst, welches von
3) Die Titel zweier bekannter Vorträge von Siemens sind: Die
Elektriziät im Dienste des Lebens (1879) und: Das uaturwissen-
schaftiche Zeitalter (1886).
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Physikern, Meteorologen und Astronomen zur Ausführung verschiedener
Beobachtungen benützt werden könnte. Das unter dem Vorsitze
Janssens gebildete Comitö zählt den Baron Bischoffsheim,
Alphons von Kothschild, Prinz Roland Bonaparte, Graf
Greffulhe, Delessert als Mitglieder, Leon Say als Ehrenpräsi-
denten. Wie Direktor Janssen in einer Sitzung der Akademie
kürzlich mitgetheilt hat, sind im abgelaufenen Jahre eine Reihe Vor-
arbeiten für die Ausführung des geplanten Observatoriums vorgonommen
worden; zunächst Sondirungsarbeiten über die Dicke der Eiskruste,
welche den Berg bedeckt. Diese führten zu dem Gedanken, die müh-
selige Fundirung des Observatoriums auf Gestein zu umgehen , es
vielmehr auf den harten Schnee zu Stollen. Wie frühere Erfahrungen
lehren, finden auf der harten Schneedecke des Gipfels nur sehr ge-
ringe Bewegungen, jedenfalls nur aufserordentlich langsame Schiebungen
statt. Der Widerstand, den gefrorener Sclmee der Placirung des Baues
entgegenstellt, wurde durch Versuohe ermittelt. Nach dem Plane des
Architekten Vaudreiner wird das Observatorium die Form einer
abgekürzten Pyramide erhalten, an der Basis 10 m lang und 5 m
breit sein. Es umfafst 2 Etagen mit Terrasse und Balkon. Eine
Wendeltreppe verbindet die beiden Etagen mit der Terrasse. Die
Wohn- und Beobachtungsräume habon durchaus Doppelwände, die
Fenster hermetisch sohliefsende Liidon. Der leichte Bau ist aufser-
dem mit Einrichtungen zum schnellen Fortschaffen des etwa ge-
fallenen Schnees versehen, sowie mit Winden, um Senkungen des
Observatoriums zu begegnen. Selbstverständlich werden auch alle
Vorkehrungen für Erzeugung von Wärme und die nothwendigen Be-
quemlichkeiten getroffen werden, um den Beobachtern ein langes
Ausharren in dieser Schnee- und Eiswüste zu ermöglichen.
Die nächsten Arbeiten für die Errichtung des Observatoriums
bestehen im Bau zweier Hütten, bei den Grand-Mulets und dem
Rocher-Rouge, zur Aufnahme des Baumateriales und zum Schutz der
Arbeiter, dann im allmählichen Transport des Matorials an Ort und
Stelle. Man rechnet für jeden Arbeiter eine Belastung bis zu 30 Kg.
Das in Paris herzustellende Observatorium wird zerlegt und bis
Chamounix transportirt. In diesem Jahre gedenkt man mit der Auf-
stellung beginnen zu können.
Die Warte wird, was sehr anerkennend hervorgehoben werden
mufs, einen internationalen Charakter tragen und den Gelehrten der
verschiedensten Nationen für Anstellung von Beobachtungen zugäng-
lich gemacht werden. *
244
Die Katastrophe von Saint - Gervais.
In der Nacht des 12. Juli vorigen Jahres wurden bekanntlich
die Thiiler von Bionnassay und Bon-Nant, die Ortschaft Bionnay
und die Bäder von Saint- Gervais von einer niederstürzenden Eis-
und Sohlamm- Lawine heimgesucht, über deren verheerende Wir-
kungen boreits in den Tagesblättem ausführlich berichtet worden ist.
Bald nach der Katastrophe am 19. Juli bestieg der Direktor des Mont-
Blanc-Observatoriums, Herr Vallot, in Begleitung der Führer Gas-
pard Simon und Alphonse Payot aus Cbamounix den am Fufse
der Aiguille du GoQter gelegenen kleinen Gletscher Tete-Rousse, welchen
man als den Ausgangspunkt der Lawine erkannt hatte, um an Ort
und Stelle nach dem Anlafs des Vorfalls zu forschen. Die Ergebnisse
dieser Lokaluntersuchung hat Herr Vallot in den „Archives des
Sciences physiques et naturelles“ ') veröffentlicht und daraus Schlufs-
folgerungen über die Ursache der Katastrophe gezogen. Wir geben
in dem Folgenden einen Auszug aus diesem interessanten Bericht
Vorstehende Karte (Fig. 1) gewährt eine Uebersicht über die
Situation der betreffenden Gegend. Von den Bergkuppen des Dome
du Goüter und der Aiguille du Goüter schiebt der Bionnassay-Gletscher
seine Eismassen in das Thal des Bont-Nant, in welchem die haupt-
sächlich heimgesuchten Ortschaften, das Dorf Bionnay, die Bäder von
Saint-Gervais und ein Theil des Weilers Le Fayet gegen 720 m hoch
über dem Meeresspiegel liegen. Nördlich von dem Bionnassay-
Gletscher fliefsen zwei kleinere Eisströme, der Tete-Rousse- und der
Grya-Gletscher über ein nahezu horizontales Plateau von 3200 m Höhe.
') No. 9, 15. Sept., 1892.
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Fig. 2. Oberer Hohlraum auf dem TAte-Rousie- Gletscher.
Fig. 3. Unterer Hohlraum auf dem Ttte-Bousse* Gletscher.
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Die Expedition des Herrn Vallot begab sich nach diesem Tete-
Rousse-Oletscher; man fand auf demselben zwei mächtige, wannen-
formige Vertiefungen im Eise, welche durch einen Schneegang von
ca. 50 m Breite von einander getrennt waren. Beide Vertiefungen
sind auf der Abbildung (Fig. 2 und Fig. 3) nach Aufnahmen darge-
stellt, welche der Photograph, Herr J. Tairraz aus Chamounix, unmittel-
bar nach der Katastrophe gemacht hat. Das obere Bild zeigt die
höher liegende, das untere die tiefer liegende Eisgrube und zwischen
beiden befindet sich der erwähnte Schneegang.
Die obere Grube hatte eine Länge von 80 m bei 40 m Breite
und 35 bis 40 in Tiefe, sie war am Grunde vollständig mit zer-
trümmerten Eisblöcken angefüllt, was offenbar daraufhindeutete, dafs sie
durch den Deckeneinsturz eines im Gletscher befindlichen Hohlraumes
entstanden war. Die Wände zeigten von der Oberfläche bis zur Tiefe
von 10 m deutlich ausgeprägte Schichtflächen, welche die verschiedenen
nach einander auf den Gletscher gefallenen Schneemengen bezeich-
neten. Tiefer herab konnte man den Verlauf dieser Schichten nicht
mehr verfolgen. Zahlreiche Umstände weisen darauf hin, dafs die obere
Höhlung vor dem Deckeneinsturz mit Wasser angefüllt gewesen war.
Die aus völlig durchsichtigem Eis bestehende Wandung zeigte noch
deutlich die Grenze, bis zu welcher das Wasser auf sie eingewirkt
hatte, und in der Tiefe der Grube öffnete sich ein grofses Eisgewülbe,
auf dessen Boden ein Bach flofs. Vielleicht stand dieses Gewölbe
mit anderen höhlenartigen Verzweigungen unterhalb der Gletscher-
oberfläche in Verbindung; doch konnte man hierüber keine Gewifs-
heit erlangen, da dio Durchforschung des Hohlraumes mit grofsen
Gefahren verbunden war.
Etwa 60 m unterhalb der oberen befand sich eine zweite
Eisgrube in einer fast vertikal abfallenden Eiswand von 40 m Höhe
(Fig. 3). Obwohl die Eiswand mit frisch gefallenem Schnee bedeckt
war, so erkannte man sie doch sofort als eine Abbruchfläche des
Gletschers, der hier theilweise abgerissen und als Eislawine thalwärts
gerollt war. Man konnte durch Ergänzung der fehlenden Eismasse
das Gletscherniveau sich leicht so wiederhergestellt denken, wie es
vor Eintritt der Katastrophe gewesen war. Nach Vallots Schätzung
betrug das Volumen der niedergegangenen Eislawine mindestens
90000 Kubikmeter.
Auch die Wandflächen dieses ' unteren Hohlraumes zeigten deut-
liche Spuren der Wassereinwirkung; er war offenbar vordem Gletscher-
sturz ebenso wie der höher liegende durch einen intraglacialen
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See ausge füllt gewesen. Ueberreste dieses Sees konnte man noch
unter den eingestürzten Eismassen sehen. In geringer Entfernung
von ihrer Oeflhung verzweigte sich die Höhle in zwei Gänge, welche
sich vermuthlich unter den Gletscher fortsetzten und eine Verbindung
der unteren Grube mit der oberen vermittelten.
Auf Grund dieses Lokalbefundes giebt nun Vallot folgende
Darlegung der Verhältnisse, welche den verhänguifsvollen Gletscher-
bruch und den Sturz der Lawine herbeiführten.
In den Grundklüften des Gletschers, namentlich an den Stellen,
wo sein Ilett nach Innen gekrümmt ist, mufste in irgend einer Weise
eine Ansammlung des Abschmelzwassers stattgefunden haben. Zu-
nächst wurde dasselbe durch den schmalen Felssaum, der sich am
Gletscherende befindet, zurückgehalten, stieg aber dann bei reich-
lichem Zuflufs in den Spalten aufwärts und erfüllte die ganz vom
Eis umschlossenen Hohlräume (dieselben sind in dem Gletscherprofil,
Fig. 4, durch unterbrochene Linien hervorgehoben), welche durch
einen im Eise liegenden Kanal nach Art der kommunizirenden Röhren
mit einander in Verbindung standen. Jede der beiden Eisgruben
mag dabei aus mehreren Grundklüften entstanden sein, die durch das
Wasser vereinigt worden sind. Mit Rücksicht auf den Umfang der
Hohlräume ergiebt die Schätzung, dafs sich etwa 100 000 cbm Wasser
in ihnen angesammelt haben mufs; davon entfallen 80 000 cbm auf den
oberen, 20 000 auf den unteren Raum.
Wie sich eine solch enorme Wassermengo in den Gletscher-
248
spalten ansammeln konnte, läfst sich schwor erklären; möglich ist es
indefs, dafs eine zeitweise Verstopfung der Abllufsöffnungen den Ab-
lationsgewässern keinen Austritt gestattete. Nach Aussage einiger
Leute soll vor dem Lawinensturz das Schmelzwasser viel schwächer
geflossen sein, als nachher, ja der Gletscher soll zeitweise intermittirt
haben. Arbeiter aus Bionnay versichern, dafs der Abflufs vor dem
12. Juli fast vollständig aufgohört habe.
Am 17. August, naoh einer Reihe sehr warmer Tage, betrug der
Abflufs kaum mehr als 10 Liter in der Sekunde. Legt man dies als
normalen Betrag zu Grunde, so müfsten mindestens 3 bis 4 Monate
erforderlich gewesen sein, um den Hohlräumen 100 000 cbm Wasser
zuzuführen; diese Wasseransammlung müfste demnach zu Ende des
Winters begonnen haben.
Dafs dergleichen Ansammlungen in den Spalten selbst zur Winters-
zeit stattfinden können, hat nach Vallots Meinung nichts Auffallendes.
Man weifs eben nicht, bis zu welcher Tiefe die Winterkälte in den
Gletscher eindringt; doch sprechen mancherlei Thatsachen dafür, dafs
diese Tiefe nicht beträchtlich sein kann. So berichtet Steenstrup,
dafs er in Grünland unter 70 7j# nördlicher Breite in 600 m über dem
Meere einen Eisstrom von kaum 30 m Dicke gesehen habe, der die
ganze Winterszeit hindurch einen Wasserstrom von sich gab. Aehn-
liche Zustände sind bei anderen Gletschern, die noch nördlicher liegen,
beobachtet worden, ohne dafs mau die Existenz heifser Quellen unter
dem Eise dafür verantwortlich machen kann. Ganz so mögen die
Verhältnisse beim TSte-Rousse-Gletscher gelegen haben.
Unter den erwähnten Umständen läfst sich der Sturz in folgen-
der Weise erklären.
Am Morgen des 12. Juli fiel die Decke des oberen, mit Wasser
erfüllten Hohlraumes mit einer Wucht ein, die hinreichend war, um
das Wasser mit gewaltigem Stofs durch den Verbindungskanal hin-
durch in den unteren Raum zu drängen. Der Druck des ge-
prefsten Wassers in demselben bewirkte eine Sprengung der darüber
liegenden Eishülle, sodafs ein Theil des Gletschers in Form einer Eis-
und Wasser-Lawine thalwärts rollte. Möglicher Weise kann auch die
Sprengung der unteren Höhle durch den Wasserdruck den Anlafs zu
dem Deckeneinsturz der oberen gegeben haben.
Einmal in Freiheit gesetzt, stürzte sich die Eis- und Wasser-
Lawine auf die rechte Seitenmoräne des Bionnassay-Gletschers, belud
sich hier mit Felsblöcken, Geröll- und Schuttmassen und suohte eine
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tiefe Schlucht in der Nähe von Bionnay auf, die in ihrer ganzen Höhe,
30 bis 36 m hoch, von der wiithenden Fluth ausgefüllt wurde.
Weiter abwärts im Thal des Bon-Nant trat abermals eine Ver-
stärkung des Stromes ein, der sich unmittelbar vor Saint-Gervais durch
eine schmale Felssohlucht hindurchwinden mufste. Bei Le Fayet, wo
sich die Wassermassen in die Arve ergossen, war die Gewalt der
Lawine erschöpft.
Man schätzt das thalwärts geschobene feste Material auf 800000 cbm,
von denen mindestens 600000 bis in die Ebene von Le Fayet geschafft
wurden. Einzelne Blöcko oder richtiger ganze Felsstücke hatten
enormen Umfang; in der Nähe von St. Gervais lipgt z. B. ein solcher
von 200 cbin Inhalt, der bei der Zerstörung der Bäder eine wichtige
Rolle gespielt hat. Er stammt aus Bionnay, wie sich nachträglich
feststellen liefs. Eisenge.räthe aus den Bädern wurden Uber eine Meile
weit bis nach Sallanches geführt.
Dafs 100000 cbm Wasser 800 000 cbm feste Masse in Bewegung
setzen konnten, erscheint auffällig; indessen stehen solche Leistungen
des Wassers nicht vereinzelt da, sondern sind bei ähnlichen Anlässen
in den Alpen und Pyrenäen schon häufig beobachtet worden.
Herr Vallot bemerkt übrigens am Schlüsse des Berichtes, dafs
diese Erklärung der Katastrophe nicht allseitig in maßgebenden
Kreisen als stichhaltig anerkannt wird. Prof. Forel, eine bekannte
Autorität auf dem Gebiete der Gletscherforschung, bezweifelt die Mög-
lichkeit der Ansammlung so bedeutender Wassermassen in Hohl-
räumen unterhalb des Tfite-Rousse-Gletsohers ; er meint, dafs hier eine
einfache Eislawine vorliege, erzeugt durch den Absturz des Gletscher-
endes. Die niedergegangene Eismasse, welche er naoh Angabe eines
Gemsjägers auf 1 bis 2 Millionen Kubikmeter schätzt, soll duroh
den Fall und durch die Reibung auf der Moräne des Bionnassay-
Gletschers sich theilweise verflüssigt haben und 'in diesem Zustande
zu Thale gelangt sein. So schwer auch das Uriheil Forels ins Ge-
wicht lallt, so wenig entspricht es doch nach der Ansicht von
Vallot den bei der Lokalbesichtigung gefundenen Thatsachen.’
Schw.
Die Forschungsreise S. M. S. „Gazelle14 in den Jabren 1874 bis 1877 unter
dem Kommando des Kapitän zur See Freiherrn von Schleinitz,
herausgegoben von dem hydrographischen Amt des Reichs-Marine-
Amtes. 5 Bande. Preis 150 M. Berlin 1889. Verlag von Ernst Siegfried
Mittler und Sohn.
Der in den siebziger Jahren von den seefahrenden Nationen, namentlich
von England und Amerika ausgegangeno Gedanke einer systematischen Er-
forschung der Meere fand bekanntlich in den maßgebenden Kreisen Deutsch-
lands ein reges Entgegenkommen. Man war überzeugt, dafs der wissenschaft-
liche Geist innerhalb der noch jungen Kaiserlichen Marine durch Eintreten in
die Reihe der auf dem Gebiete oceanischor Forschungen tliätigen Nationen zum
Vortheil der Entwicklung unserer maritimen Bestrebungen geweckt werden
müsse. Außerdem wurden damals gerade in allen Kulturstaatcn Vorbereitungen
zur Beobachtung des Endo 1874 stattflndendeu Vorüberganges der Venus vor
der Sonnonscheibe getroffen. Auch Deutschland wollte sich daran durch Ent-
sendung verschiedener Expeditionen betheiligen, und sollte denselben durch die
Marine eine wesentliche Unterstützung zu theil werden. Die Admiralität stellte
8. M. S. „Gazelle“ zur Verfügung, welche dio Mitglieder der astronomischen
Expedition mit ihren Instrumenten und dein gesamten Material um das Kap der
guten Hoffnung nach ihrem Bestimmungsort, der Station auf den Kerguelen
brachte. Hier sowohl wie auf den Aucklands-Inseln, wo die Gazelle längeren
Aufenthalt nehmen mußte, bot sich den Mitgliedern der Expedition Gelegenheit,
ihre Zeit im Interesse geophvsikalischor Forschungen nach Möglichkeit auszu-
nutzen. In erster Linie war man bestrebt, Material für meteorologische und
klimatologischo Zwecke und für die erdmagnetische Forschung zu sammeln,
dann aber erstreckte sich die Thätigkeit auch auf die Ermittelung der Länge
des Sekunden -Pendels, was für die Bestimmung der Erdgostalt wichtige Bei-
trüge liefen» mußte, sowie auf die Aufzeichnung der dortigen Gezeitenverhält-
nisse mittelst selbstregistrirender Pegel, woraus man werthvolle Aufschlüsse
über dio Fortpflanzungsgesetze dor Flutlv welle auf offenem Meere erwarten
konnte. Den Offizieren dor Gazelle fiel während des Aufenthalts auf den
Kerguelen und auf der Weiterreise durch den stillen Ocean die Aufgabe zu,
sich vorzugsweise auf dem Gebiete oceanischor Forschungen zu bethätigen ,
im besondorn durch Messung der Meerestiefen, durch Beobachtung der Wässer-
tem poratur von der Oberfläche bis zum Grunde, des spezifischen Gewichtes
und des Salzgehaltes des Ocoanwassers, der Strömungen an der Oberfläche
und in verschiedenen Tiefen, durch Sammlung von Wasserproben behufs
späterer genauer Analysirung des Meereswassers, und von Grundproben zur
Feststellung der mineralisch - geologischen Beschaffenheit des Meeresbodens,
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251
sowie durch Studien über die Meeres -Organismen, über Faunen und Floren
des Oceans. J) Im Interesse der Schifffahrt und des Weltverkehrs wurden
Vermessungen und Aufnahmen der Küsten noch unbekannter Gegenden vor-
genommen, neue Seestrafsen geprüft u. s. w., und schließlich wurde durch
anthropologische und ethnologische Studien und Sammlungen auch für die
Erweiterung der geographischen Kenntnisse gesorgt.
Bald nach der Rückkehr der Gazelle machte sich das Bedürfnifs geltend,
das überaus reichhaltige und worthvolle, auf der Reise gesammelte Material in
einem einheitlichen Werke zusammenzustellen. Nachdem der Reichstag 1880
die Mittel hierzu bewilligt hatte, wurden die Vorarbeiten für die Publikation
zunächst von dem Kommandanten der Gazelle, Kontre- Admiral Freiherrn
von Schleinitz und später vom Admiralitätsrath Kapitänlieutenant a. D.
Rottok geleitet.
Der erste Band, welcher neben dein Programm und der Beschreibung
der Ausrüstungsgegenstände den eigentlichen Reisebericht der Expedition
bringt und sich durch Reichhaltigkeit der Illustrationen auszeichnet, dürfte
auch über die Kreise der Fachgelehrten hinaus Interesse beanspruchen. In
den übrigen vier Bänden sind die wissenschaftlichen Ergebnisse der Expedition
auf den Gebieten der Erdphysik, der Meereskunde, der Zoologie und Geologie
zuflawmengeslellt. Wir behalten uns vor, in unserer Zeitschrift gelegentlich
einen längeren Aufsatz über die Fahrt der Gazelle an der Hand der vorliegenden
Publikation zu veröffentlichen. Schw.
Mondkarte in 25 Sektionen und 2 Erläutert! ngstafeln von Wilhelm
Gotthelf Lobrniann. Mit Erläuterungen und stenographischen Orts-
bestimmungen unter Mitwirkung von F. W. Opelt und M. Op eit,
herausgo geben von Dr. J. F. Julius Schmidt, weiland Direktor der
Sternwarte in Athen. Neue wohlfeile Ausgabe. Mit einem Vorworte
von II. Ebert. Leipzig 1892. Verlag von Johann Ambrosius
Barth (Arthur Meiner). — Preis 25 Mk.
Die Veranstaltung einer neuen Ausgabe des, für die selenographische
Forschung epochemachenden, Loh rma mischen Kartenwerkes über den Mond
kann der Verlagshandlung, die damit einen erfreulichen Beweis ihres unver-
minderten Interesses an den seiner Zeit nur mit Ueberwindung ganz erheb-
licher Schwierigkeiten zur Veröffentlichung gelangten Beobachtungen liefert,
nicht hoch genug angerechnet tverden, zumal trotz dor enormen Herstellungs-
kosten der Preis so au fserordentlich niedrig bemessen wordeii ist. Lohr mann
selbst hat bekanntlich den Abschlufs des ganzen Werkes nicht erlebt; nur
4 Karten konnten noch unter seiner eigenen Leitung fertig gestellt und, zu-
gleich mit zwei Erläuterungstafoln, in der 1824 im gleichen Verlage erschienenen
„Topographie der sichtbaren Mondoberfläche“, di© übrigens in einer Anmerkung,
wohl infolge eines Druckfehlers, in das Jahr 1842 verlegt wird, der Oeffentlich-
keit Übergeben werden: diese 4 Blätter der von Lohrmann in 25 Sektionen
geplanten Mondkarte genügton aber vollständig, um die Vorzüge dieser Arbeit
gegenüber früheren Versuchen ähnlicher Art erkennen zu lassen und den Wunsch
nach einer beschleunigten Beendigung des ganzen Unternehmens rege zu machen.
Um so bedauerlicher war es, dafs widrige Verhältnisse tiefbetrübender Art, deren
im einzelnen bei anderer Gelegenheit (vergL Jahrgang I dieser Zeitschrift,
S. 569 ff.) eingehender gedacht worden ist, das Erscheinen der übrigen
21 Sektionen bis zum Jahre 1878 verzögerten. Es kann kein Zweifel darüber
*) Siehe den Aufsatz von Admiralitatsrath Rottok in diesem Heft.
252
bestehen, da fs infolgedessen Lohrm an ns Arbeit einen wesentlichen Theil des
Einflusses eingebüfst hat, den sie bei rechtzeitiger Bekanntgabe auf die Ent-
wickelung der Selenographie ausgeübt haben würde; ihre innere Bedeutung,
der hohe Werth, welcher ihr neidlos allseitig zuerkannt worden ist, blieb
natürlich davon unberührt, dafs inzwischen zwei nicht minder bedeutsame, die
ältere Arbeit in manchen Beziehungen überflügelnde Darstellungen der Mond-
oberfläche (die eine von Mädler, die andere von Schmidt herrührend) das
Licht der Welt erblickten.
Es kann hier nicht der Ort sein, im einzelnen auf die Vorzüge der
Lohrmannschen Mond karte cinzugeheu. Nur soviel sei erwähnt, dafs die
von Lohrmaun selbst noch vollständig für die Reproduktion mit der Feder
ausgearbeiteten Blätter außerordentlich sorgfältig in Kupfer gestochen worden
sind und sich dadurch selbst von den neueren Mondkarten, namentlich auch
bezüglich der Treue der Wiedergabe, noch immer sehr zu ihrem Vortheil
unterscheiden. Aufser diesen 25 Sektionen, welche zusammengefügt eine Karte
der sichtbaren Mondobertläehe von 3 Fufs Durchmesser darstellen würden,
enthält der Atlas die bereits erwähnten, ebenfalls in Kupfer gestochenen Er-
läuterungstafeln, welche die beiden benutzten Instrumente mit ihren Mefsein-
richtungen veranschaulichen und überdies zum Verständnifs der für die Mond-
formationen zur Anwendung gekommenen Darstellungsformen unerläßlich sind.
Daneben ist der neuen wohlfeilen Ausgabe dankenswerther Weise auch die,
noch von Julius Schmidt herrührende, eiuschliefslich der Mittheilung der
Resultate aus den Lohrmannschen Messungen von besonders wichtigen Fix-
punkten auf der Mondoberfläche etwa 50 Druckseiten gr. 4“ umfassende, kurze
Erläuterung der einzelnen Sektionen beigegeben. Nicht zu unterschätzen ist
das handliche Quartformat der einzelnen Blätter, welches den direkten Ge-
brauch am Fernrohr wesentlich erleichtert, nicht minder endlich der Umstand,
dafs das Gradnetz in der erforderlichen Deutlichkeit, ohne dabei den Gesamt-
eindruck im mindesten zu beeinträchtigen, wiedergegeben ist.
Es darf der Wunsch nicht unausgesprochen bleiben, dafs das Bestreben
der Verlagshandlung, das äufserst geschmackvoll ausgestattete Werk zu
niedrigem Preise nicht nur den Sternwarten und einzelnen Astronomen, son-
dern auch den übrigen Freunden der Mondforschung zugänglich zu machen,
allseitig die rechte Anerkennung und Würdigung erfahren möge. G. W.
Verlag von Hermann Paetel In Berlin. — Druck von Wilhelm Oronau's Buchdruckerei In Berlin-
Für die Redacllon verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Meyer In Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Uebereetzungsrecht Vorbehalten.
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Eine Amerikafahrt 1492 und 1892.
Nach seinem Vortrage im wissenschaftlichen Theater der Urania
bearbeitet von
Dr. M. Wilhelm Meyer.')
}K;ine neue Welt wurde entdeoktl Es ist uns heute ganz unvor-
stellbar, welche Aufregung sich der ganzen Menschheit bemäch-
tigen mufste, als diese märchenhafte Kunde durch die alte WTelt
ging, die alte, morsche, kleine Welt, die erst eben begann, sich aus
den dunklen Wirren mittelalterlicher Beschränktheit mühevoll empor-
zuarbeiten zu klareren, freieren Anschauungen.
Jahrtausende lang hatte die Menschheit, wo sie, beim alten Egypter-
reiohe beginnend, ihre höchste jeweilige Kulturstufe erreicht hatte, ihre
Kenntnifs von der irdischen Welt nicht über jenen, überall innig mit
einander zusammenhängenden Länderkomplex von Asien, Afrika und
Europa ausgedehnt, in dessen Mitte einstmals die Wiege der Kultur stand.
Zwar hie und da dämmerte wohl in einigen Menschen die vage
Vermuthung von unbekannten Ländern jenseits des weltumfassenden
Ozeans auf, und zur Griechenzeit redeten Geographen und Diohter
— Plato und Diodor nennt uns die Ueberlieferung — von einer
wundervollen, grofsen Insel Atlantis, die weit jenseits der Säulen des
Herkules, bekanntlich der gegenwärtigen Meerenge von Gibraltar, in
jenem unergründlich weiten Westmeere liegen sollte, in dessen Wogen
') Auf vielfach geäufserten Wunsch nach der Veröffentlichung gegen-
wärtigen Vortrags in unserer Zeitschrift, entschlofs Bich der Verfasser, gewisse
Bedenken überwindend, zu vorliegender Bearbeitung desselben. Man wird
dabei manchen Wiederholungen aus andoren Autsätzon gegenwärtiger Blätter
begegnen. Da jedoch die Darstellungsform in allen diesen Fällen eine vollkommen
verschiedene ist, wird man solche Wiederholungen im Zusammenhänge mit den
übrigen Betrachtungen wohl verzeihlich finden.
Himmel und Erde. 1893. V. G. 18
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264
der Sonnengott, allabendlich hinabtauchend, die strahlenden Rosse um-
lenkte, um jenseits der Erdscheibe anderen Tages im Osten wieder auf-
zusteigen. Die Lehre von der Kugelgestalt der Erde, welche einst
Pythagoras bereits gelehrt hatte, war ja kaum über den engsten
Kreis hervorragender Geister hinausgedrungen.
Nun aber, als etwa seit einem halben Jahrhundert die Mensch-
heit von der wunderbaren Kunst Guttenbergs profltirte und jene An-
sicht über den Bau der Welt und unseres irdischen Wohnsitzes allmählich
zum Gemeingut gebildeterer Kreise zu werden begann, nun hiefs es,
ein praktisches Beispiel, einen unumstöfsliohen Beweis von der Kugel-
gestalt der Welt zu geben; der Welt sage ich, denn die Erde war die
Welt in der Anschauung jener Zeit, um welche die Sphären der Sonne
und aller übrigen Weltkörper sich zu Nutz und Frommen dieser zen-
tralen Weltkugel zusammenschlossen. Die Lehre des Kopernikus, der
damals 19 Jahre zählte, war in dessen Geiste noch nicht geboren.
Die auf dem alten Ptolemäischen Weltsystem basirenden so-
genannten Alfonsinischen Tafeln, nach welchen die Uerter der Planeten,
Sonnen- und Mondfinsternisse vorher zu berechnen waren, wurden
1438 zuerst gedruckt und der Königin Elisabeth, der Gemahlin
Ferdinand des Katholischen, gewidmet. Die verständnifs volle Frau
nahm damals schon regen Antheil an kosmologischen Problemen und
sie war es bekanntlich, deren besonderer Initiative die Unterstützung
zu danken ist, welche schliefslich nach langen Kämpfen die ehrgeizigen
Pläne des Columbus bei der spanischen Regierung fanden. So
wurde durch die Drucklegung und Widmung der damals bereits über
zwei Jahrhunderte alten, alfonsinischen Tafeln der Boden vorbereitet,
auf welchem Columbus weiter bauen konnte.
Wie gährte es damals in der gesamten Menschheit, welche
im Begriff war, eine neue Weltanschauung zu gebären! Auf allen
Gebieten des Wissens und menschlicher Fähigkeit arbeitete und suchte
man mit fieberhafter Erregung : denn überall fühlte man, dafs die alten
Ansichten und Zustände morsch und unhaltbar geworden waren, dafs
neue an ihre Stelle treten mufsten, deren Auffindung ihren Entdeckern
unermefsliche Schätze materieller oder ideeller Art von der erlösten
Menschheit eintragen mufste. Das war eine grofse, grofse Zeit, in
vieler Hinsicht nach ihren guten und schlechten Seiten hin vergleich-
bar der unsrigen.
Wenn nun die Lehre von der Kugelgestalt der Erde richtig war,
so mufste ja zweifellos das reiche Indien, welches man bis dahin
vom Abendlande her nur glaubte erreichen zu können, indem man längs
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255
256
der Küsten Afrikas hinsegelnd, diesen Erdtheil umschiffte, auch auf
westlichem Wege zu erreichen sein, wenn man das westliche Welt-
meer durchkreuzte. Hierauf hatte schon vor Columbus der gelehrte
italienische Kosmograph Toscanelli aufmerksam gemacht und eineWelt-
karte entworfen, auf welcher der asiatische Kontinent sich ganz um
die Erde herum, den grofsen Ozean mit einschliefsend, ausdehnte und
seine Ostküste etwa an der Stelle angegeben war, wo sich in Wahr-
heit die Ostküste Amerikas befindet Toscanelli hatte auf dieser
Karte auch den Weg angegeben, auf welohem man vermuthlich am
besten dieses Indien erreichen konnte.
Columbus fand dieselbe in dem Nachlasse Beines Schwiegervaters,
eines spanischen Edelmannes, der ein guter Seemann und Geograph ge-
wesen war. Durch die 1482 stattgehabte Vermählung mit der Tochter
dieses Edclmannes, wurde er, der der Sohn eines Wollweliers in Genua
war und dort vermuthlich 1446 (es herrsoht noch immer eine Unsicher-
heit von zehn Jahren über seine Geburtszeit) geboren wurde, in
Hofkreise vortheilhaft eingeführt. Er fafste wahrscheinlich bereits
1483 den ersten Plan zu seiner Reise, mufste aber viele Abweisungen
über sich ergehen lassen, da seine Forderungen für den Fall der
glücklichen Entdeckung als allzu exorbitante angesehen wurden.
Er verlangte zunächst die Erhebung in den Adelstand, die Würde
eines Admirals des atlantischen Meeres, Macht und Titel eines Vize-
königs der zu entdeckenden Länder, den zehnten Theil aller Ein-
künfte aus denselben und endlich das Recht, sich mit dem achten Theile
an allen transatlantischen Handelsgeschäften betheiligen zu können.
Dank der unbeugsamen Energie des Columbus bewilligte ihm dennoch
am 17. April 1492 die Königin Elisabeth alle diese Forderungen,
und am 13. Mai ist er bereits in Palos mit den Vorbereitungen zur
Expedition beschäftigt. Aufser durch die Auffindung der Karte des
Toscanelli wurde Columbus auch durch die Erzählungen von See-
leuten auf das Vorhandensein gröfserer Ländermassen im Westen hin-
gewiesen, denen zufolge von Menschenhand seltsam zugeschnittene
Holzstücke, fremdländische Fichtenstämme, ja selbst Leichen einer bis
dahin unbekannten Mensohenart von jenseits der Azoren hergeschwemmt
worden seien.
Paolo Toscanelli lebte von 1397 bis 1482 in Florenz und
war eigentlich Arzt, beschäftigte sich aber mit Vorliebe mit astro-
nomischen und kosmographischen Fragen. Besonders trat er gegen
den Unfug der astrologischen Prophezeiungen auf und pflegte sich
selbst als lebendigen Beweis ihrer Unzuverläfsigkeit anzuführen, da
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ihm ein kurzes Leben vorhergesagt worden war, während er zu
hohem Alter gedieh. Sein Andenken lebt heute noch in Florenz, wo
in dem wundervollen Dome Maria dei Fiori der grofse Gnonom ge-
zeigt wird, den er dort anbringen liess.
Die genau westlich verlaufende Linie, mit welcher Toscanelli
den vermuthlichen Weg nach Indien auf seiner Karte vorgezeichnet
hatte, begann bei den kanarischen Inseln. Unzweifelhaft ist also
Toscanelli als der eigentliche geistige Entdecker Amerikas zu feiern,
denn Columbus wurde erst durch diese Karte auf den Gedanken
gebracht, diesen Weg wirklich zu gehen und hat ihn auch, so weit es
in soiner Macht stand, auf seinor ersten Entdeckungsreise verfolgt.
Ehe wir nun auf dieso denkwürdige Reise zurückblicken , sei
eine Bemerkung hier eingefiigt, welche sich auf die Tüchtigkeit des
Columbus als Seemann bezieht Man hat dieselbe bekanntlich
so stark in Zweifel gezogen, dafs man seine Entdeckung schliefslich
nur als ein aufserordentliches Glück des Zufallsspiels hinstellte.
Ganz gewifs war auch Columbus kein besonders hervorragender
Seemann, wie man ihm überhaupt außerordentliche oder geniale
Geistesgaben aufser seiner unerschütterlichen Energie nicht nachzu-
rühmen vormag. Aber zur Ausführung dieser grofsen Entdeckung
gehörte eben in erster Linie nur Thatkraft und Unerschrocken-
heit, welche vor ihm niemand in diesem Mafse besessen hatte. Die
nothwendige geistige Vorarbeit war längst geschehen. Columbus
war jedoch zweifellos im stände, geographische Breitenbestimmungen
zur See zu machen und bestimmte auch die geographische Länge aus
einer beobachteten Mondfinstemiss. Hierzu benutzte er höchst wahr-
scheinlich die 1474 oder 1476 im Drucke erschienenen astronomischen
Tafeln des Regiomontan (Johannes Müller von Königsberg), welche
für die Jahre 1475 — 1506 die Mondfinsternisse vorausberechnet ent-
hielten, und zwar waren dieselben gegen die bereits vorhin erwähnten
alfonsinisohen Tafeln, entsprechend den inzwischen aufgetretenen
Differenzen, welche sich für Mondfinsternisse damals bereits auf eine
volle Stunde beliefen, nach der Beobachtung wesentlich verbessert.
Columbus verwendete also flülfsmittel, die einem seemännisch und
•wissenschaftlich ungebildeten Menschen nicht zugänglich gewesen
wären.
Offenbar wurde er aber auch vom Glücke ganz besonders
begünstigt, wie das bei großen Entdeckungen und Erfindungen ja die
Regel zu sein pflegt. Hätte er beispielsweise den gegenwärtig
üblichen Seeweg nach Amerika gewählt, d. h. wäre er viel nördlioher
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268
gefahren, wie das ja nach der Karte des Toscanelli und namentlich
auch wegen des kleineren Umfanges der nördlicheren Parallelkreise
am praktischsten gewesen wäre, so hätte er in die Region der ver-
änderlichen Westwinde geratlien müssen, die hier im September und
Oktober wüthen. Nach der Breite geordnet ergiebt sich folgende
Uebersicht für die Herbstmonate:
26° — 30° N. haben 9 Sturmtage,
30 — 35 „22
35 — 40 „32
40 — 46 „36
46 — 50 „29
Auf dem Wege des Columbus, welcher unweit des 26. Parallel-
kreises lag, findet also im Herbst das Minimum der Stürme, auf den
gegenwärtigen Dampferwegen dagegen das Maximum statt, da dieselben
zwischen 40 und 50 Grad liegen.
Jene drei kleinen Fahrzeuge, von denen wir ein Abbild in unserm
letzten Oktoberhefte gaben, waren es, welche dem kühnen Entdecker
nach neunjährigen unermüdlichen Verhandlungen von der spanischen
Regierung überwiesen wurden, um mit ihnen das unbekannte
Weltmeer zu durchkreuzen. Ein wie kühner Entschlufs dies war,
das können wir heute garnicht mehr nachfühlen. Man bedenke, dafs
bis dahin kein Seefahrer des zivilisirten Abendlandes es gewagt hatte,
sich jemals auf mehr als ganz kurze Zeit aufser Sicht des Landes zu
begeben. Es fehlton ja noch alle Erfahrungen und zuverlässigen Hilfs-
mittel der Orientirung auf offener See. Der Kompafs war allerdings
schon bekannt und zeigte den Schiffern ihren geraden Weg; auch ver-
stand man es, duroh einfache Vorrichtungen die Geschwindigkeit des
Schiffes ungefähr zu bestimmen. Ging also die Fahrt glatt, so konnte
man, mit Hilfe des Kompasses dieselbe Richtung stets innehaltend,
duroh Aufzeichnung der zurückgelegten Meilenzahl auf einer Karte,
wohl ungefähr den Ort angeben, auf welchem man sich befinden
inufste, selbst wenn das Land einmal nicht in Sicht war. Endlich
wufste man ja selbst bereits im Alterthume, dafs der Polarstern sich
um so höher über den Horizont erhebt, je weiter man sich nach Nor-
den begiebt. Man konnte also die geographische Breite durch ein-
fache Wrinkelmessung der Polarsternhöhe in roher Weise bestimmen,
wozu meistens das primitive Astrolabium angewendot wurde. Die
Messung geschah natürlich mit freiem Auge, da bekanntlich das Fern-
rohr erst mehr als ein Jahrhundert nach der Entdeckung Amerikas
erfunden wurde. Mit diesen Hilfsmitteln waren Fehler bis zu fünf
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Breitengraden, gleich 75 geographischen oder dreihundert See-Meilen,
keine Seltenheit. Und nun gar, wenn ein Sturm das Schiff verschlug,
das mufste demselben sicheres Verderben bringen.
In diese Schrecknisse des offenen Meeres verwegenen Muthes
aus freiem Willen hineinzusteuern, wo der stets rege Aberglaube des
Seemanns volkes die abenteuerlichsten Gefahren hin verlegt hatte, Wochen,
Monate lang auf unbekannter Fährte, wohin sich keino Menschenseele
bisher gewagt hatte, einem unbekannten Lande entgegen, dazu ent-
öle Saute Marie
Tholo^raphio dos von Hahr in der Urania nach der hypothetischen Hoconatruktion
von Itafael Monleon hrrgos teilten Motlelloa.
schlossen sich diese heroischen Menschen, und ein nicht zu gering
anzuschlagender Triumph der felsenfesten Energie des Columbus mufs
es genannt werden, dafs es ihm gelang, 120 Menschen zu finden, die
mit ihm das Wagnifs unternahmen.
Auf dem gröfsten der drei Schiffe, der Santa Maria, schiffte sich
Columbus selbst ein. Die beiden anderen, die Pinta und die Nina,
wurden von den Brüdern Pinzon befehligt, gewiegten Seeleuten, die
sich ihm angeschlossen hatten.
Und nun geht es mit vollen Segeln verwegen hinaus in die
grenzenlose Wasserwüste! Was wird ihnen die Zukunft bringen?
260
Die meisten, welche sie damals hinaussogeln sahen, werden einen Strich
durch das Buch ihres Schicksals gemacht haben; denn als am 3. August
1492 diese Schiffe aus dem Hafen von Palos, welcher unweit von Cadix
liegt, hinausliefen, werden wohl nur wenige geglaubt haben, dafs man
diese kühnen Menschen jemals Wiedersehen würde.
Was nun auf offener See geschah, welche Beobachtungen dort
angestellt wurden, wie die Stimmung des Führers und der Mannschaft
wechselte, darüber hat Columbus selbst ein ausführliches Tagebuch
geschrieben, aber leider sind uns nur aus zweiter oder dritter Hand
Auszüge daraus überkommen. Das Original ist verloren gegangen.
So kommt es, dafs wir über diese wichtigste aller Entdeckungen, was
die Einzelheiten betrifft, nur Nachrichten besitzen, die fast nach allen
Seiten hin angezweifelt werden können.
Nur Folgendes läfst sich hierüber mit einiger Bestimmtheit
sagen, das uns interessiren kann.
Columbus nahm zunächst seinen Weg nach Südwesten, um die
Kanarischen Inseln zu erreichen, wo, wie schon gesagt, die Trace des
Toscanolli begann. Dort angekomraen, mufste eines der Schiffe
ausgebessert werden, das bereits auf dieser kurzen Strecke bedenk-
lichen Schaden erlitten hatte. Es wurde auch das ganze System der
Takelung umgearbeitet. Dieser Zwischenfall beunruhigte jedoch die
wagehalsigen Unternehmer nicht weiter. Sie stachen am 6. September
in See, um nun endgültig die alte Welt zu verlassen.
(Fortsetzung folgt.)
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Das Meer, seine Erforschung und deren Ergebnisse,
Von Admiralitätsrath Huttok in Berlin.
<^Mur Bestimmung des spezifischen Gewichts und der Zu-
sammensetzung des Seewassers ist es erforderlich,
Wasserproben aus verschiedenen Tiefen zu schöpfen. Die hier-
zu verwendeten Apparate müssen so eingerichtet sein, dafs das in be-
stimmter Tiefe geschöpfte Wasser sich beim Aufholen nicht mit dem
Wasser anderer Schichten mischt. Bei geringen Tiefen wird häufig eine
mit einem Kork verschlossene Flasche benutzt, die durch eine am
Korken befindliche Leine in der bestimmten Tiefe geöffnet und sodann,
nachdem sie sieh mit Wasser gefüllt, möglichst schnell aufgeholt wird.
Die älteren, für gröfsere Tiefen verwendeten Schöpfapparate be-
stehen aus einem Gefäfs mit Ventilen, die, beim Ilinablasson durch
den Wasserdruck offen gehalten, beim Wiederaufhoion sich schliefsen.
Auf den grofsen Forschungsreisen hat sich ein neuer, von Meyer
konstruirter Schöpfapparat, welcher durch die Figuren 10 bis 12
dargestellt ist, gut bewährt. Auf vier metallenen Rundstäben A gleitet
ein Messingzylinder B auf und ab. Am unteren Theil sind zwischen
den Rundstäben in entsprechender Entfernung von einander 2 Metall-
platten a mit konischen Randüüehen befestigt, welche genau in die
beiden ebenso abgeschliffenen Bodenflächen des Zylinders passen, so
dafs der letztere, wenn er über dieselben gleitet, fest abgeschlossen
ist (Fig. 1 1). Ein aus Stange und Platte bestehender Untersatz c
verhütet das zu tiefe Einsinken des Apparates in den Meeresboden
und soll das Aufstosscn auf Steine unmöglich machen. Beim Ver-
senken des Apparates mittelst der Lothleine wird der Cylinder oberhalb
der Bodenplatten nufgehängt, und zwar beim Hinablassen auf den
Grund mittelst Schnur über einem an der Leine befestigten Haken F;
beim Aufstossen auf den Meeresboden dreht sich infolge Schlaffwerdens
der Leine der Haken, die Schnur gleitet von demselben ab und der
Zylinder sinkt abwärts über die Bodenplatten, wodurch das zwischen
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262
denselben befindliche Wasser eingesohlossen wird. (Fig. 11). Soll aus
irgend einer mittleren Tiefe Wasser geschöpft werden, so wird der
Zylinder mittelst zweier Oesen an 2 Zapfen h (Fig. 12) einer an der
Leine angebrachten Platte aufgehängt; über die Zapfen greift an der
Innenseite der Oesen eine über die Leine gestreifte elastische Gabel G
mit ihren Enden; hat der Apparat die gewünschte Tiefe erreicht, so
wird ein Laufgewicht K an der Leine hinabgelassen, durch dasselbe
die Gabel auseinander gespreizt, die Oesen von den Zapfen gestreift
und der Zylinder gleitet wie vorher abwärts.
Das geschöpfte Wasser wird entweder
gleich an Bord untersucht oder behufs
späterer Prüfung in den Laboratorien an
Land in gut verschlossenen Flaschen auf-
bewahrt. Der Salzgehalt oder das spezifische
Gewicht des Wassers wird entweder mittelst
Aräometers direkt bestimmt, oder es wird
auf chemischem Wege der Chlorgehalt er-
mittelt und aus diesem, welcher zu dem Salz-
gehalt des Seewassers in einem nahezu kon-
stanten Verhältnifs steht (der Salzgehalt
beträgt das l,81faohe des Chlorgehalts l, der
letztere abgeleitet. An Bord ist erstero Me-
thode ihrer Einfachheit wegen die gebräuch-
liche.
Im Seewasser sind bis jetzt 32 chemische
Grundstoffe uachgewiesen worden. Die
Hauptbestandteile des Seesalzes, welches
dem Wasser den eigentümlich salzigbitteren
Geschmack verleiht, bilden Chlornatrium,
Chlormagnesium, .Magnesiumsulfat (Bittersalz), Calciumsulfat (Gips)
und Chlorcalcium. Der Salzgehalt ist abhängig von der Verdunstung,
der Eisbildung, den Niederschlägen und der sonstigen Süfswasserzu-
fuhr. Im offenen Ozean ist er sehr konstant und nur geringen
Schwankungen unterworfen; er beträgt hier 3,376 pCt. bis 3,764 pCt.,
das spezifische Gewicht entsprechend 1,025 bis 1,028. In Binnen-
und Küstengewässern finden sich infolge der Siifswasserzuflüsse,
stärkerer Verdunstung und anderer lokalen Einflüsse gröfsere Diffe-
renzen. Die horizontale Verteilung des Salzgehaltes ist aus ähn-
lichen Gründen in der Tiefe eine gleiohmäfsigere als an der Ober-
fläche. Im offenen Ozean ist der Salzgehalt des Oberilächenwassers
Fig. 10. Fig. 1 1 Fig. 12.
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263
am gröfsten in den Gebieten der trockenen Winde, also in den Passat-
zonen, am geringsten in den aequatori&len Kalmengebieten mit starken
Niederschlägen. Von der Oberlliiohe nach der Tiefe nimmt der Salz-
gehalt im allgemeinen ab und zwar bis zur Tiefe von 1500 — 1800 m,
um dann bis zum Meeresboden wieder zuzunehmen.
An (lasen sind hauptsächlieh Luft und Kohlensäure im Wasser
enthalten. Die Luft unterscheidet sich in ihrer Zusammensetzung
jedoch von derjenigen der Atmosphäre; während die letztere 20,9 pCt.
Sauerstoff und 79,1 pCt. Stickstoff enthält, wird die Luft des Seewassers
aus 34,9 pCt. Sauerstoff und 65,1 pCt. Stickstoff gebildet. Der Sauer-
stoffgelialt ist geringen Schwankungen unterworfen und nimmt mit der
Tiefe gewöhnlich ab, woraus auf ein reiches Thierleben daselbst ge-
schlossen worden ist.
Die Farbe des Wassers im Ozean, über welche Beobachtungen
mit Zuhilfenahme einer zusammengestellten Farbenskala stattfinden,
ist blau bis griin, während das Seewasser in kleinen Mengen und im
durchgehenden Licht wie das Süfswasser völlig klar und farblos er-
scheint. Es scheinen hiernach die blauen Lichtstrahlen vom Meer-
wasser refiektirt, die übrigen rothen und gelben absorbirl zu werden.
Die verschiedenen Nüanzirungen zwischen blau und grün sind von
dem Salzgehalt, der Temperatur, der Tiefe, der Beschaffenheit des
Meeresbodens, sowie etwaigen Beimengungen des Wassers abhängig.
Je gröfser der Salzgehalt und je höher die Temperatur, desto tiefer
blau ist es im allgemeinen gefärbt; mit der Abnahme beider erblafst
das Blau und geht in Grün über. Auch in Gewässern mit geringer
Tiefe, und besonders bei hellem, kalkigem oder sandigem Grunde ist
die grüne Farbe vorherrschend. Die schmutzig braune oder gelbe
Färbung, wie man sie hauptsächlich in und vor Flufsmiindungen und
in Häfen trifft, rührt von mechanischen Beimengungen und Verun-
reinigungen des Wassers, entweder durch die schlammigen Boden-
bestandtheile, oder durch die von den Flüssen mitgeführten Massen her.
Nicht selten giebt eine grofse Menge im Meere treibender, kleiner
thierischer oder pflanzlicher Organismen demselben auf weite Strecken
eine eigentümliche Färbung, die oft genug den Seemann Klippen
und Untiefen haben fürchten lassen. So beobachtete das deutsche
Kriegsschiff Vineta im Japanischen Meere eine eigentümlich gelbe
Färbung des Wassers, welche sich in langen Streifen weithin erstreckte,
und fand, dafs dieselbe von gelben Samenkapseln einer Pflanze her-
rührte. Montagne sah im Jahre 1845 gegenüber der Tajo-Mündung
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8 km lange-, blutrothe Streifen einer Algenart (Protocoocus Atlanticus),
in denen 40000 Individuen auf einem Quadratmillimeter sich befanden.
Ebenso ist das Me er leuchten, jene oft so grofsartige Er-
scheinung, welche das Meer in ein auf unabsehbare Flächen funkelndes
und glitzerndes Feuermeer verwandelt, und das wie durch Flammen
gleitende Sohiff mit hellem Silberschein erleuchtet, auf thierische Orga-
nismen zurückzuführen. Nachdem festgestellt ist,dafseine greisere Anzahl
von Seethieren, zum Theil von mikroskopischer Kleinheit, das Vermögen,
mit phosphoreszirendem Licht zu leuchten, besitzen, wurden alle früheren
Erklärungen, welche die Ursache des Meerleuohtens in einem spezifi-
schen Leuchtstoff, in der Insolation, Elektrizität, der Anwesenheit von
Phosphor u. a. suchten, hinfällig. Die Leuchtorgane befinden sich
bei den verschiedenen Thiercn in sehr verschiedenen Körperthoilen;
selten leuchtet das ganze Thier. Die Farbe des entsendeten Lichts
ist vorwiegend weifs und bläulich, seltener grün, gelb oder roth.
Meistens wird das Leuchten durch mechanischen Reiz auf die Thiere
hervorgerufen resp. verstärkt, daher die sohönsten Erscheinungen auf
den Wellenkämmen und im bewegten Wasser beobachtet werden : mit
dem Tode des Thieres hört das Leuchtvermögen auf.
Die Durchsichtigkeit des Meerwassers wird durch Ver-
senken von hellen Scheiben gemessen, indem man die Tiefe feststellt,
in welcher diese dem Auge verschwinden. Die Resultate, welche man
hierdurch erhalten hat, lauten sehr verschieden, und schwanken
zwischen 2 und 145 m. Die neuesten zuverlässigen Beobachtungen
ergaben als gröfste Tiefe, bis auf welche die Scheiben erkennbar
blieben, 40 — 55 m; frühere Angaben von 100 m scheinen auf optischen
Täuschungen zu beruhen. Die Verschiedenheit der Resultate findet
ihren natürlichen Grund in der Unsicherheit der angewendeten Methode.
Die Eintauchungstiefe der Scheiben bis zum Verschwinden ist nämlich
nioht nur von der Gröfse und Beschaffenheit derselben, sondern auch
von dem Auge und der Individualität des Beobachters, der Beleuchtung
und dem Stande der Sonne, dem Zustand der Atmosphäre und der
Meeresoberfläche abhängig. Durch Verunreinigung und Trübung des
Wassers wird selbstverständlich, ebenso wie durch eine bewegte Ober-
fläche, die Sichtweite beeinträchtigt. Dieser unsicheren Methode gegen-
über hat man in neuerer Zeit die Eindringungstiefe des Lichtes in
die Tiefen dos Meeres auf einem objektiveren Wege zu bestimmen
versucht, indem photographisch präparirte Platten versenkt und in der
Tiefe den Wirkungen des eindringenden Lichtes ausgesetzt wurden.
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Forel fand auf diese Weise im Genfer See ira Sommer eine Eindrin-
gungstiefe bis zu 45 m, im Winter bis zu 100 m. Fol und Sarasin
dagegen stellten um die Mittagszeit bei Nizza noch eine Lichtwirkung
in 400 m Tiefe fest, Petersen bei gröfserer Entfernung von der Küste
in 550 m. Die so gefundenen Eindringungstiefen gelten natürlich
nur für die ohemisch wirksamen, d. h. die violetten und ultravioletten
Strahlen des Lichtspektrums, während die rothen und ultrarothen
Wärmestrahlen schon in geringeren Tiefen absorbirt werden.
Die Meereswellen. Die übertriebenen Vorstellungen, welche
über die Dimensionen der Wellen vielfach herrschten und theilweise
jetzt noch nicht ganz verdrängt sind, lassen sich durch eine Reihe
an Bord angestellter Beobachtungen richtig stellen. Dieselben er-
strecken sich auf die Feststellung der Höhe, Länge, Geschwindigkeit
und Periode der Wellen. Unter Höhe versteht man den Niveauunter-
schied zwischen Wellenkaram und Wellenthal, unter Länge den hori-
zontalen Abstand von Wellenkamm zu Wellenkamm, und unter Periode
das Zeitintervall, welches verstreicht, bis ein Wellenkamm denselben
Ort erreicht wie der vorhergehende. Die Höhe der Wellen wird am
einfachsten dadurch bestimmt, dafs man, wenn sich das Schiff im Wollen-
thal befindet, am Mast emporsteigt, bis man in der Visirlinie der
nächsten Wellenkämme den Horizont sieht; die leicht festzustellende
Augeshöhe des Beobachters ist dann gleich der Wellenhöhe. — Die
Bestimmung der Wellenhöhe durch die Standdifferenzen eines sehr
empfindlichen Aneroidbarometers, wenn sich das Schiff im Thal und
auf dem Kamm der Welle befindet, hat keine besseren Resultate er-
geben als die erstere Methode.
Die Geschwindigkeit der Wellen wird ermittelt durch Beobach-
tung der Zeit, welche eine Welle zum Zurücklegen einer bestimmten,
am Schiff abgemessenen Distanz gebraucht; natürlich mufs hierbei
die Geschwindigkeit des Schiffes selbst und seine Bewegungsrichtung
berücksichtigt werden. Die Wellenlänge ergiebt sich aus der Zeit,
welche zwischen dum Passiren zweier auf einander folgenden Wellen-
kämme an ein und derselben Stelle des Schiffes verlliefst, und der
ermittelten Geschwindigkeit, ebenfalls unter Berücksichtigung der
Eigenbewegung des Schiffes. — Die Periode schliefslich ist gleich
dem Quotienten aus Länge und Geschwindigkeit.
Die mächtigsten Wellen entstehen dort, wo ein kräftiger Wind
beständig über eine weite Meereslliiche weht, wie dies namentlich in
dem Gebiete der Westwinde auf hohen südlichen Breiten der Fall ist;
die Challenger fand hier eine Maximal-IIöhe von 7 m, die Novara von
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266
9 und 11 m, Scoresby 12,2 m. Der französische Lieutenant Paris
berechnete aus 4000 Beobachtungen für das südatlantische Westwind-
gebiet im Mittel eine Höhe von 4 in, in allen übrigen Regionen des
Atlantischen, Indischen und Stillen Ozeans von 2 bis 3 m; seine
gröfste beobachtete Höhe betrug 11,5 m. — lieber die Wellenlänge
geben vereinzelte Beobachtungen 300 bis 400 m an; Lieutenant Paris
erhielt als Mittel aus seinen vielen Beobachtungen für das bezeichnete
südliche Westwindgebiet 133 m. Für dasselbe Gebiet giebt er eine
Wellengeschwindigkeit von 14 m in der Sekunde au, während sie im
Uebrigen nach seinen Beobachtungen meist zwischen 11 und 12,/2 m
liegt, demnach gröfser ist als die Geschwindigkeit der schnellsten
Postdampfer.
Die Meeresströmungen sind nicht nur für die Schifffahrt von
grofsem Interesse, sondern haben auch für die klimatischen Verhält-
nisse, die Wärmevertheilung, Nebel und Niederschläge grofser Küsten-
gebiete eine besondere Bedeutung. Schon frühzeitig mufste man sich
dieser Bedeutung bewufst werden und sich die Erforschung der
Strömungen angelegen sein lassen. Bei dem grofsen Arbeitsfelde und
dem verhältnifsmäfsig spärlichen und mangelhaften Beobachtungs-
material war diese Aufgabe keine leichte, und erst mit der Zeit konnte
durch die Gesamtheit vieler Beobachtungen ein richtiges Bild von
den grofsen Wasserbewegungen der Ozeane zusammengestellt werden.
Ebenso schwierig war es, den Zusammenhang und die LTrsachen der
mannigfachen Stromläufe zu erkennen. Lange Zeit hindurch sah
man in dem Unterschiede der Temperaturen und Dichtigkeiten des
Wassers das Hauptagens der Strömungen. Während Kepler und
Kant die Erklärung der aequatorialen Strömungen in der Axendrehung
der Erde fanden, führte bereits Leonardo da Vinci die meridio-
nalen Strömungen auf den Wiirmeuntorschied zwischen den äquatoria-
len und polaren Gewässern zurück, welcher ein Abfliefsen des leichte-
ren Oberflächenwassers vom Aequator nach den Polen zu bewirkt
und zum Ersatz dieses Wassers eine umgekehrte Bewegung in der
Tiefe von den Polen zum Aequator. Durch neuere Untersuchungen
und Studien ist jedoch der Beweis geliefert, dafs thermische und gra-
vitatorische Differenzen Bewegungen in so gewaltigem Mafsstabe nicht
erzeugen können, dafs vielmehr in den Winden in erster Linie die
Erreger und die Ursache der Strömungen zu suchen sind; gleichwohl
darf den Temperatur- und Dichtigkeitsunterschieden, ebenso wie der
Rotation der Erde ein Einflufs auf die Strömungen nicht abgesprochen
werden.
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Es kann nicht unsere Aufgabe sein, hier ein detaillirtes Bild der
Meeresströmungen zu entwerfen; nur in groben Zügen möge ihr
Verlauf skizzirt werden zur Erhärtung der letztgenannten Theorie,
In allen Ozeanen finden wir in der Aequatorialgegend infolge
der Passatwinde eine Strömung von Ost nach West (Aequatorial-
strömung), welche auf die Ostküsten der Kontinente stofsend, naoh
Norden und Süden umbiegend, diesen Küsten folgt. Durch die
Rotation der Erde tritt eine allmähliche Absobwenkung dieser nun
meridional gerichteten Wasserläufe ein, auf der nördlichen Halbkugel
nach rechts, auf der südlichen nach links, bis dieselben in die unter
dem Einflurs der Westwinde auf den höheren Breiten erzeugten, von
Westen nach Osten die Ozeane durchquerenden Strömungen zum
gröfsten Theil übergehen. Bei dem Anprall der letzteren an die
Westküsten der Kontinente findet wiederum eine Ablenkung derselben
statt und ein Theil fliefst, den Konturen des Landes folgend, wieder
dem Aequator zu. In allen Ozeanen prägt sich also ein vollkomme-
ner Kreislauf aus, der auf der nördlichen Halbkugel im Sinne der
Bewegung des Zeigers einer Uhr, auf der südlichen Hemisphäre in
entgegengesetzter Richtung stattfiudet.
Zur Bestimmung des Stromes werden in erster Reihe schwimmende
Körper verwandt, indem man dieselben von einem festen Punkte,
einem verankerten Schiff oder Boot aus mit dem Strome treiben läfst
und den während einer bestimmten Zeit von denselben zurückgelegten
Weg nach Entfernung und Richtung feststellt. Gewöhnlich wird hierzu
das zur Bestimmung der Fahrt eines Schiffes dienende Schiffslog
benutzt, aus einem Holzsektor und daran befestigter Leine bestehend,
welches bereits früher in dieser Zeitschrift (Jahrg. III S. 248 u. f.)
genauer beschrieben ist.
Ein weiteres, allerdings weniger genaues Mittel bieten Treib-
körper, die entweder durch Zufall in das Meer gelangt sind, wie Holz,
Früchte und andere Pflanzentheile, oder Flaschen, die mit Sand be-
schwert und gut verschlossen von einem Schiffe auf See über Bord
gesetzt werden. Beim Wiederauffinden der Flasche läfst der in der-
selben befindliche Zettel mit Angaben über Zeit und Ort, wo dieselbe
über Bord geworfen, den mit Hülfe der Meeresströmung von der Flasche
zurückgelegten Weg berechnen. Auch von diesen, den sogen. „Flaschen-
posten“ ist an anderer Stelle eingehender die Rede gewesen.
Auf See giebt der Unterschied zwischen dem Wege, welchen ein
Schiff nach astronomischen Ortsbestimmungen und demjenigen, welchen
es nach Kompafs und Log zurückgelegt hat, einen guten Anhalt über
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den Strom. Täglich pflegt nämlich die Position des Schiffes sowohl
astronomisch, als nach Kurs und Fahrt von dem letzten astronomisch
bestimmten Punkte ausgehend, festgelegt zu werden; findet sich zwischen
beiden ein Unterschied, so wird dieser Unterschied der Wirkung des
Stromes zugeschrieben. Es ist klar, dafs auch diese Strombestimmung
nicht einwandsfrei ist, dato ungenaues Steuern, Störungen des Kompasses,
wie sie bei eisernen Schiffen nicht ganz zu vermeiden sind, Fehler
in der Fahrtmessung odor in der astronomischen Ortsbestimmung, die
Wirkung von Wind und Seegang auf das Schiff (Abtrifft), an dem ge-
nannten Besteokunterschied, der lediglich als Stromversetzung an-
gesehen wird, einen gröfseren oder geringeren Antheil haben können.
Bei einer grofsen Anzahl von
Beobachtungen darf man je-
doch annehmen, dafs die er-
wähnten Fehler sich aus-
gleichen, und man aus allen
zusammen ein einigermafsen
zuverlässiges Resultaterhält.
Weniger einfach als an
der Oberfläche bestimmt sich
der Strom in der Tiefe. Auch
hierzu verwendet man Treib-
körper, die, in die Tiefe Ver-
sen kt, von einem an der Ober-
fläche schwimmenden Holz-
klotz oder ähnlichen Gegenstand getragen werden.
Der von dem französischen Physiker Aimö konstruirte Strom-
zeiger (Fig. 13) besteht aus einem windfahnenähnliohen Pfeil P, der
unter einem Cylinder C befestigt, horizontal in die Tiefe gelassen wird.
Im Innern des Cy lindere bewegt sich eine horizontal sohwingende Magnet-
nadel M, und Uber derselben befindet sich eine durch Führungsstange F
auf und nieder zu bewegende Platte D mit Zahneinschnitten z. Nachdem
sich der Pfeil in der Tiefe in Richtung des Stromes eingestellt, wird
die Platte mit ihren Zähnen über die Magnetnadel gestreift, die letztere
dadurch festgestellt, und somit der Winkel zwischen Pfeil und Magnet-
nadel, also die Stromrichtung, fixirt.
Auch zur Bestimmung der Stromgeschwindigkeit in der Tiefe
sind besondere Apparate konstruirt, wie der Geschwindigkeits-
messer von Amsler-Laffon und von Arwidson. Bei dem ereteren
stellt sich ein in die Tiefe versenkter Schraubenflügel mittelst eines
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auf seiner Axe befindlichen Steuers auf den Strom ein und wird durch
denselben in rotirende Bewegung gesetzt. Die Umdrohungsanzahl des-
selben, welche in bestimmtem Verhältnifs zur Stromgeschwindigkeit
steht, wird mittelst einer auf der Axe der Schraube befindlichen
Schnecke auf ein Zäldwerk übertragen; das Zählwerk steht mit einer
elektrischen Leitung in Verbindung, durch welche es nach Zuriick-
legung von je 100 Umdrehungen dem Beobachter ein Signal giebt und
denselben somit in den Stand setzt, die Stromgeschwindigkeit hiernach
zu berechnen.
Der Arwidsonsche Apparat beruht auf dem Prinzipe des
Robiusonschen Schalenkreuzes, welches in der Tiefe unter dem Ein-
flüsse des Stromes in Bewegung gesetzt und wieder arretirt werden
kann, und dessen Umdrehungen ebenfalls auf ein Zählwerk über-
tragen werden.
Das Thierleben des Meeres ist ein so reiches, sowohl nach
der Zahl der Arten als der Individuen, von den primitivsten Formen
bis zu einem hohen Entwickelungsstadium, dafs es nicht möglich ist,
hier näher darauf einzugehen. Das Gedeihen der Seethiere ist von
der Temperatur und dem Salzgehalt des Wassers, dem eindringenden
Uchte, der im Wasser vorhandenen Luft und Nahrung abhängig.
Wie für jedes organische Leben, so ist auch für die Thiero des
Meeres eine gewisse Wärme- und Luftmenge nothwendig; mit der
Zunahme beider steigt bei Erfüllung der übrigen Lebensbedingungen
der Reichthum an Thieren. Infolge dessen sind die Aequatorial-
gegenden reicher bevölkert als die höheren Breiten, die oberen Wasser-
schichten mehr als die unteren. Mit der Tiefe tritt eine schnellere
Abnahme ein, da gleichzeitig mit der Verringerung der Wärme und
der Luft die Lichtabnahme und die Vermehrung des Wasserdrucks
ungünstig auf das Leben derThiere einwirken. Die frühere Annahme,
dafs in grofsen Tiefen die Luft fehle, ist durch die neueren Unter-
suchungen widerlegt worden, welcho dargethan haben, date selbst in
den gröfsten Tiefen Luft genug vorhanden ist, um den dort allerdings
spärlich lebenden Individuen den nöthigen Sauerstoff zu liefern. Das
Licht hat, wenn zum Leben auch nicht absolut nothwendig, doch auf
dio Entwickelung der Thiere, sowie namentlich auch auf die Farbe
derselben, einen grofsen Einflufs; je weniger Licht, desto niedriger
die Entwickelung; dio Sehorgane werden verkümmert und fehlen oft
ganz. Die Färbung der Thiere ist beim Mangel von Licht matt und
wird mit der Zunahme desselben lebhafter und glänzender. In den
tropischen Zonen und an der Wasseroberfläche findet sich daher ein
Himmel und Erde 18Ö3. V. 6. 19
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greiserer Farbenreichthum als in den kälteren Regionen und in der
Tiefe. Während an der Oberfläohe des Meeres violette und blaue
Thiere Vorkommen, folgen nach der Tiefe zu die grünen und braunen,
und weiter unten die rothen und bleichen Thiere; am Meeresgrund
nehmen sie die Farbe des Bodens an.
Wie die Luft, so ist auch der Salzgehalt für fast alle Seethiere
ein Lebensbedürfnifs, daher nimmt im allgemeinen mit der Zunahme
des Salzgehaltes bis zu einer gewissen Qrenze auch die Menge der Thipre
zu, bei noch gröfserer Zunahme des ersteren dagegen wieder ab, so dafs
bei einem Salzgehalt von Uber 5 pCt nur
noch wenige Thiere exiatiren können.
Dem reichen Thierleben des Meeres
steht aber eine aufserordentlich spärliche
Pflanzenwelt gegenüber. Während
Thiere in allen Tiefen des Meeres leben,
kommen Pflanzen nur in den oberen
Schichten vor und verschwinden in etwa
400 m bereits vollständig. Da die Pflanzen
zu ihrem Gedeihen das Sonnenlicht nicht
entbehren können, so mag dies ein Be-
weis mehr sein, dafs dasselbe nicht tiefer
in das Meer cinzudringun im Stande ist
Die meisten Pflanzen des Meeres gehören
zur Klasse der Algen oder Tange und
stehen auf einer verhältnifsmäfsig niedrigen
Stufe der pflanzlichen Entwickelung, zeigen
jedoch eine grofse Mannigfaltigkeit in der
äufsoren Form und Oröfse; während
Pflanzen von mikroskopischer Kleinheit nicht selten sind, erreicht die
hauptsächlich in den höheren südlichen Breiten vorkommende Macro-
cystis eine Länge bis zu 300 m. Die Farbe der Pflanzen ist je nach
der Einwirkung des Liohtes verschieden; je stärker die letztere und
je mehr sich demgemiifs das Chlorophyll entwickeln kann, desto
grüner die Färbung; mit der Abnahme des Lichtes, also in der Tiefe,
verblafst das Grün und geht in Braun, Violett und Roth über. Sind
im allgemeinen die Küstengowässer in Bezug auf die Vegetation be-
vorzugt, so werden doch auch auf hoher See gröfsere Anhäufungen
von Pflanzen angetroffen; wir brauchen nur an das bekannte Sargasso-
Meer des Atlantischen Ozeans zu erinnern, das aus Beerentang (Sar-
ga8sum) bestehend, einer Insel oder Wiese von ungeheurer Aus-
I
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dehnung gleich, weithin die Oberfläche des Wassers bedeokt. Von
Blüthenpflanzen zählt das Meer nur gegen dreifsig Arten, die zu den
Najadeen oder Hydrooharideen gehören und in der Nähe der Küste
in flachem Wasser auf sandigem Grunde bis zur Tiefe von 9 m in
allen Gewässern Vorkommen und dort wie Rasen den Meeresboden
bedecken.
Zum Fisohen von Thieren und Pflanzen dienen Schleppsäcke
oder Schleppnetze, aus Segeltuch oder engmasohigem Netzwerk be-
stehende Säoke, die mit ihrer in einen Metall- oder Holzrahmen ein-
gespannten Oeffnung, vorne mit Gewichten beschwert, an der Wasser-
oberfläche, auf dem Meeresboden oder in mittleren Tiefen bei langsamer
Fahrt des Sohiffes hinter demselben hergeschleppt werden. Für die
Meeresoberfläche und geringe Tiefen, sowie für den Handgebrauch in
Booten werden auch sohmetterlingsnetzartige,ausMousselinoderleichtem
Zeug hergestellte Käscher verwendet Bei den Grund-Schleppsäcken
erhält der eiserne, die Mündung umfassende Rahmen soharfe, naoh
aufsen geneigte, messerartige Ränder, welohe pflugartig in den Meeres-
boden eingreifend, die aufgelockerten Bodenbestandtheile in den Saok
gleiten lassen (Fig. 14). Eine Anzahl am Sack oder an einer Eisen-
stange befestigter lookerer Hanfbündel dient zum Auffangen kleiner,
zarter Meeresorganismen, die an den Hanffasern anhaftend, sioh unver-
sehrt an die Oberfläche befördern lassen.
19'
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1
1
Wie haben unsere Voreltern gerechnet?
Von F. K. Ginzel.
Astroaom am Kecheninstitut der Ktiuigl. Sternwarte zu Berlin.
(Schlufs.)
^T^Tnter den antiken Völkern hat es selbst das alte Kulturvolk
\fjpA der Chinesen nicht Uber diese primitiven Methoden hinaus-
gebracht. Die Chinesen benutzten beim Rechnen das „Swan-
pan“, einen Rahmen mit eingespannten Drähten, welche durch einen
Querdraht in zwei Abtheilungen geschieden sind, die kleinore Ab-
theilung hat 2, die gröfsere 6 Kugeln. Das Addiren und Subtrahiren
geschah durch Verbinden und Trennen der Kugeln auf den Drähten;
die Multiplikation begann, wie bei den Griechen, mit den höchsten
Stellenwerthen, das Dividiren war ein wiederholtes Subtrahiren, wo-
bei die faktische Addition und Subtraktion auf dom Swan-pan vorge-
nommen wurde. — Viel feinere Rechner als Römer, Griechen und
Chinesen, in gewissom Sinne bereits Rechenkünstler, waren die Inder.
Das strengere mathematische Denken dieses Volkes, das uns vielfach
in dessen Literatur, namentlich in der astronomischen, entgegentritt,
erstreckte sich auch auf die Rechnungspraxis, und hier haben sich
die Inder durch das klare Erfassen des Wesens des Dezimalsystems
und durch die Erfindung der Null verdient gemacht. So einfach und
selbstverständlich es uns heute erscheint, beim Rechnen jeder ent-
stehenden Ziffer sogleich ihren Stellenwerth zu ertheilen lind das
Fehlen von Einheiten einer Stufe durch ein besonderes Zeichen, die
Null, ersichtlich zu machen, so kam doch die Menschheit einst durch
Jahrhunderte nicht über diesen Punkt hinweg, und man hat mit Recht
die ..echt indische Idee, dem Nichts einen Werth zu geben und durch
das Nichtsein erst die Vollendung des Etwas zu bewirken/ als eine
der epochemachenden Erfindungen hingestellt. In welcher Zeit die
Inder schon den Gebrauch der Null besafsen, ist unentschieden;
wahrscheinlich hatte die ältere indische Zahlenschreibung noch keine
Null, und gesichert ist das Vorkommen dieses Zeichens erst seit etwa
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400 n. Chr. Von dem klaren Denken der Inder giebt ihre Weise zu
rechnen uns Zeugnifs. Sie subtrahiren z. B. ganz wie wir es heute
thun und sagen in dem folgenden Beispiele
647 9 von 17 läfst 8
- 859 5 „ 13 „ 8
388 2 „ 5 „ 3.
Beim Multipliziren zerlegen sie beide zu multiplizirenden Zahlen dem
Dezimalsysteme gemäfs in Produkte von 10, z. B.
3516 x 839 = (6 + 10-1 + 100-5 + 1000-3) (9 + 10 -3 + 100 -8),
multipliziren diese Theilprodukte und erhalten so für jede Rangziffer
gleich die richtige Stelle; oder sie gebrauchen die „Schachbrett-
Methode“, von welcher wir hier ein Beispiel ansetzen und die als das
Vorbild für unser modernes Multipliziren angesehen werden inufs;
die dabei vorkommende Addition geschieht in der Richtung der schief
laufenden Kolumnen:
3516 X 839
Schachbrett-MultipUcation,
8
3
t
2 9 4 9 9 2 4
3 5 16
— * . A .
ß\
X
y*
x\
X]
X
3?
-7
yi
S 3
o y
y 9
&
Modern.
_35 16 X 839
28128
10548
31644
2949924
Betreff der indischen Art zu dividiren, hat man bisher nichts
gefunden, was komplementärer Division vergleichbar wäre ; die Theil-
produkte werden beim Abziehen gestrichen resp. vorhandene Ziffern
durch andere ersetzt. Die Brüche schreiben die Inder bereits in
moderner Form, Zähler über Nenner, doch noch ohne Bruchstrich, also
5 3
g , 8. Sehr viel haben die Inder mit dem Gedächtnisse gerechnet,
und hierin scheinen sie eine aufserordentliche Uebung erlangt zu
haben. Wir wissen, dafs Wettkämpfe, regelrechte Rechenturniere,
veranstaltet wurden, bei denen man Geist und Wissen auf die Probe
stellte, und Aufgaben aus altindischer Zoit haben sich bis in moderne
Zeit erhalten. Bei der Bewerbung Bodhisattvas um die Königs-
tochter Gopä werden Aufgaben in allerlei Künsten gestellt. Unter
andern fragt mau den Freier: Wie viele Urstäubchen sind in der
Länge eines Yöyana enthalten, wenn 1 YÖyana = 4 Kroya, 1 Kro?a
= 1000 Bogen, 1 Bogen = 4 Ellen, 1 Elle = 2 Spannen, 1 Spanne
= 12 Fingergelenken, 1 Fingcrgelenk sich aber aus einer Zahl von
Urstäubchen zusammensetzt, die man erhält, wenn die Zahl 7 zehnmal
mit sich selbst multiplizirt wird? Dio Antwort ist 108 470495616000
Urstäubchen.
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274
Qeiibte Rechner waren jedenfalls auch die Araber. Ihre Art zu
reohnen, erscheint uns allerdings ziemlich seltsam, da sie die Resul-
tate nicht wie wir, unter die Rechnung, sondern vielfach über
dieselbe setzen, auch die Rechnung nioht abwärts, wie es uns natur-
gemäß erscheint, sondern nach aufwärts führen. Zum Verständnisse
gehen wir einige Beispiele nach Muhammed Alchwarizmi
(9. Jahrh.) und dem maurischen Spanier Alkalsädl (15. Jahrb.).
Bei der Addition und Subtraktion soll nach arabisoher Regel mit den
höchsten Stellen angefangeu werden, der UeberBchufs und das Ge-
borgte werden atifgeschrieben und nicht im Kopfe behalten, wie wir
es gewöhnt sind. Beim Multipliziren geht das Bilden der Theil-
produkte ebenfalls nach aufwärts und der Multiplikator wird dabei
um je eine Stelle nach rechts gerückt. In ähnlichem Sinne wird beim
Dividiren der Dividend über den Divisor geschrieben, der Quotient
über den Dividend, und die Theilprodukte gehen naoh aufwärts. Mit
Hülfe dieser Bemerkungen dürften die folgenden Beispiele verständ-
licher sein.
Addition
Subtraction4)
Multiplication
Division
63 -f 88 = 151
823 -
675 = 148
86 X 49 = 4214
36343 : 218 = 166
Rest 155.
Arabische Ausführung.
151 = Summe.
148 =
Rest. 4214
= Product.
155
Rest
63
823
54
\
146-
88
1
675
11
72
24
Theilproducte
145- •
166
Quotient
32
r
36343
Dividend
J 49
= Multiplicand
218
86
= Multiplicator
218
Divisor.
86
>»
218
Die Multiplikation haben übrigens die Araber in verschiedenen
Formen fleifsig geübt, auch den indischen ähnliche Anordnungen
kommen vor. Für die Brüche '/<>, V31 7« . . . . bis */9 haben sie be-
sondere Worte und nennen diese Brüche die „aussprechbaren“, die
anderen (wie Via) und solche, die sich nicht aus jenen zusammen-
setzen, sind ihnen „stumme“ Brüche. In den Rechnungsweisen der
Westaraber sind späterhin Eigenthümlichkeiten bemerklioh, welche
auf das Eindringen nordischen Einflusses, namentlich von Gebräuchen
italienischer Kaufleute, hindeuten.
Wir gehen nun in ein Zeitalter ein, dessen geistige Bewegung
‘) Die Subtraction heilst bei den Arabern „tarh“ von taraha = wegwerfen;
hiervon abgeleitet „Tara“, die Umhüllung bei Waaren, das Ueberflüssige, Weg-
zuwerfende.
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275
wesentlich von jener der morgenländischen und südeuropäischen
Völker verschieden ist. Während diese Nationen mit der ihnen inne-
wohnenden frisohen Kraft auf den Gebieten des geistigen Lebens
immer Selbständiges, Charakteristisches schaffen, wird bis tief ins
Mittelalter hinein der geistige Born der Schriftsteller des Alterthums
ausgeschöpft und der Autoritätsglaube blüht in der Wissenschaft.
Das Feld der Mathematik, wo die kräftige Pflanze eigenen Forschens
wachsen soll, ist einsam und steril geworden. Das Rechnungswesen
zu Anfang des Mittelalters zeigt solchen Zustand. Man pflegt noch
das Fingerrechnen und schreibt die Zahlen nach der schwerfälligen
römischen Art Man rechnet noch mit den römischen Minutien, für
die eigene Namen erfunden werden, und ist vom Begriffe der Brüche
als abstrakte Zahlen ebenso weit entfernt wie das Alterthum, ln
diese trübe Zeit fällt wie ein Lichtschimmer das Aufblühen der
Klostergelehrsamkeit. So beengt durch religiöse Anschauungen auch
die geistige Thätigkeit der Mönche in den schnell auf gallischem,
fränkischem, italienischem und deutschem Boden sich ausbreitenden
Klöstern oft gewesen sein mag, so ist doch das Verdienst dieser
frommen Männer um die Pflege der Schulen nicht zu verkennen und
aus den Klöstern und den Klosterschulen ging munche tüchtige Kraft
hervor. Wir nennen nur die Namen Beda des Ehrwürdigen, des
Pädagogen Alkuin und des Gelehrten Ilrabanus Maurus. Alkuins
Name besonders leuchtet wie ein Stern auf. Karl der Grofse,
selbst mangelhaft erzogen, und darum doppelt bemüht, Bildung unter
seinen Franken zu verbreiten, lernte 780 n. Chr. Alkuin auf einer
Durchreise durch Parma kennen, trat in vielfachen Gedankenaus-
tausch mit diesem Gelehrten und nahm selbst Unterricht bei ihm.
Die weitere Folge dieser Verbindung war die Gründung der Ilof-
und Palastschulen. Hauptlehrgegenstand derselben waren die sieben
freien Künste, die späterhin an den Universitäten, bis tief ins Mittel-
alter hinein, den Grundpfeiler geistiger Bildung abgeben sollten,
nämlich Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astro-
nomie und Musik. Die Aufnahme der Astronomie und Arithmetik in
die Reihe der Künste war durch einen besonderen Umstand veranlafst.
Der niedere Klerus war ungebildet und vermochte oft nioht die Feier
christlicher Feste, von denen eine gewisse Zahl bekanntlich direkt mit
astronomischen Bestimmungen zusammenhängt, gehörig festzustellen. In
der Aachener Kapitulare von 789 wurde deshalb verlangt, dafs jeder
Geistliche in Arithmetik und Astronomie wenigstens so viel kennen
müsse, um ohne fremde Hülfe die Kirchenfeste vorausbereehnen zu
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können; es sollten also diese Wissenschaften auch an den mit geist-
lichen Stiften verbundenen Schulen gelehrt werden. Demzufolge kam
die Mathematik an den Klosterschulen nicht gar zu kurz. Begonnen
wurde mit den vier Grundrechnungsarten, die natürlich mittelst der
römischen Ziffern vorgeführt wurden, daran schlcfs sich einiges Bruoh-
reohnen, lineare Gleichungen, die wohl meist im Oediichtnife gelötet worden
sein mögen, die wichtigsten Definitionen der Geometrie und Astronomie,
und schlietelich Uebungen in mathematischen Scherzfragen. Namentlich
die Lösung der letzteren und der Gleichungen haben jedenfalls die
Rechnungsfertigkeit der Klosterzöglinge bedeutend gefördert und gar
manche Aufgaben aus jener Zeit haben sich, gleioh den indischen, bis
auf unsere Zeit erhalten und in den arithmetischen Lehrbüchern ein-
gebürgert. Den Rechen- Unterricht an den mittelalterlichen Kloster-
schulen haben rvir uns etwa so vorzustellen: ln der Mitte des Schul-
zimmers war die Kathedra aufgestellt und die Schüler sateen, ein jeder
auf Beinern Stühlchen, um dieselbe herum. Der Lehrer hielt den Vortrag
nach Texten und die Schüler suchten das Gehörte im Gedächtnife zu
behalten. Die praktischen I ebungen im Rechnen verfolgten die Schüler
mittelst Wachs- oder Staubtafeln.
Etwa von 630 n. Ohr. ab verschwindet dieses im ganzen noch*
auf römischen Grundlagen ruhende Rechnungswesen (das auch der
„Computus“ genannt wird) allmählich aus der Geschichte und an seine
Stelle tritt wieder, allerdings in anderer Form, das antike Columnen-
rechnen. Ob der berühmte Gerbert, Abt von Bobbio und später
Bischof von Rheims und Ravenna, (als l’abst Sylvester II. gestorben
1003 n. Chr.) oder Odo von Cluny als Wiedererwccker dieses
Rechnens auf dem Abakus anzusehen ist, bleibt eine noch nicht ganz
entschiedene Streitfrage. Dem gelehrten Gerbert, der unter seinen
Zeitgenossen wohl die. meisten mathematischen und astronomischen
Kenntnisse besäte, mag das Rechnen der Alten bei Gelegenheit seiner
umfassenden Studien in französischen und italienischen Klöstern be-
kannt geworden sein. Thatsache ist, dafs von ihm und seinem Schüler
Bernelin die ersten schriftlichen Regeln zum Rechnen auf dem
Abakus gegeben worden sind. „Gerbert liefe (so erzählt Richer)
durch einen Schildmacher einen Abakus, d. h. eine durch ihre
Abmessungen geeignete Tafel anfertigen. Die längere Seite war in
27 Theile abgetheilt und darauf ordnete er neun Zeichen, die jede
Zahl darstellen konnten. Ihnen ähnlich liefe er tausend Charaktere von
Horn bilden, welche abwechselnd auf den 27 Theilen des Abax die
Multiplikation und Division der Zahlen darstellen sollten.“ Nach
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Bernelin wurden auf einer mit blauem Sand bestreuten Tafel Striche
gezogen, diese durch 30 Parallelstreifen abgetlieilt: 3 waren für die
Brüche bestimmt, von den anderen 27 wurden je 3 in eine Columne
zusammengefafst, so dafs je eine don Einern, Zehnern und Hunderten
entsprach. Der Abakus hatte also etwa folgende Gestalt:
Die in den Abakus einzutragenden Zeichen sind nun die so-
genannten Apiccs. Aus diesen Apices haben sich allmiihlioh unsere
modernen Ziffern entwickelt; die Apices selbst aber entstammen den
alten, einst von den Arabern gebrauchten Gobarziffern. Die folgende
Illustration zeigt uns sowohl die letzteren, wie die hauptsächlichsten
Entwicklungsstadien der Apices:
Gobarziffern:
Apices im 11. Jahrhundert
. . 12.
„ . 13.
i
1
I
J
f
, -16. . t
9
TWH’EvSi
7 } £ 4 ö A & 9
t ; i < m n
%5+S67Z<)
Aus welcher Quelle Gerbert die Apices entnommen hal, ist noch
nicht aufgeklärt Während die einen sich auf eine Schriftstelle bei
Boethius stützen und daraus den Gebrauch der Ziffern schon für die Zeit
der Neupythagoräer(Alexandrien) ableiten, bestreiten andere die Echtheit
der Schrift des Boethius und geben verschiedene Erkliirungsarten. So
viel ist sioher, dafs es sich um keine selbständige Erfindung Gerberts
handelt und dafs bei den Arabern, welchen jene Zeichen früher eigen-
thümlich waren, sich weder eine Spur vom Abakus selbst, noch von
den Multiplikations- und Divisionsregeln, darauf zu rechnen, vorfindet.
Diese Multiplikations- und Divisionsvorschriften wollen wir jetzt kennen
lernen. Beim Multipliziren auf dem Abakus schrieb man die Theil-
produkte, ohne etwa den Ceberschufs über 10 weiter zu addiren, ganz
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an und zwar dem Stellenwerthe der Ziffern entsprechend, z. B.
24 X 14 = 33«
"c
i
4
2
4
2
1
8
4
6
3
3
6
4 X 4 = 16 «=* (IX -+ 6)
4 X 20 = 80 = 8X
10 X 4 = 40 = 4X
10 X 20 = 200 = 2C
Die besondere Ueberlegung, in welche Vertikalkolumnen ein
Theilprodukt einzureihen sei, wurde damit erleichtert, dafs man den
Multiplikand während der Multiplikation je um eine Stelle einrückte,
z. B. 8216 X 4957 = 40726712
6-7 =42 = 4 X + 2
6-50 = 300 = 3 C
6 -900 = 5400 = 5 1 -+ 4 C
6 • 4000 = 24000 = 2 X -+ 4 I
10-7 =70 = 7 X
10 - 50 = 500 = 5 C
10 - 900 = 9000 = 9 I
10-4000 = 40000 = 4X
200 - 7 = 1400 = 1 1 + 4C
u. s. f.
4 7 2 6 9 1 2 *)
Dio Division gestaltete sich, wenn Einer durch Einer oder Zehner
durch Zehner dividirt werden sollten, recht einfach; die Nebenrechnung
(das Subtrahiren der Theilprodukte) wurde im Kopfe odor auf einem
Hülfsabakus ausgeführt. Z. B.
8 : 5 600 : 400
"cT
X
i
'c'
XiL
Divisor. ....
5
1X5 = 5
4
Dividend . . .
8
8 — 5 = 3
6
Rest
3
2
Quotient ....
1
l
1 X 400 = 400
600 — 400 = 200
Viel umständlicher wird die Sache, sobald eine mehrziffrigo Zahl
durch eine einziffrige zu dividiren ist, wie in dem Beispiele 328:6
*) Null wird nicht gebraucht!
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= 54. Zunäohst wird die dekadische Zerlegung des Divisors 6 = 10 — 4
gebildet Man dividirt nun: 10 in 300 giebt 3 Zehner, bleiben 28,
3 Zehner mal 4 Einer sind 120, addirt zu 28 giebt den neuen
Dividend 148; 10 in 148 giebt 1 Zehner, Rest 48, hierzu 1 Zehner
mal 4 macht 88, welches der weitere Dividend ist u. s. f. Die Rechnung
sieht dann so aus:
328 : (10 — 4) =
— 300
28
+ 120
Dividend 148
— 100
48
+_ 40
Dividend 88
- 80
8
+_**.
Dividend 40
— 40
0
+ .J®-
Dividend 16
— 10
6
+ 4
Dividend 10
Summa 4
oder = 54
Rest ... 4
4
Differenz
6
Divisor
3 2
h r.r
, 8
Dividend
4
12
14
2. Dividend
4
8
8
8
3. Dividend
3
2
4
4. Dividend
1
0
5. Dividend
4
1
4
6. Dividend
4
Rest
1
Ti
1 1
4
Denomination
i
8
lf |
1 1
3
5
4
Quotient
Zehner, Einer
3
C XI
Boi der Division von 7228 durch 26 wird 26 ersetzt durch (30 — 4)
man dividirt also: 3 Zehner gehen in 7 Tausend 2 hundertmal, bleibt
1 Tausend Rest, hierzu 4 mal 200 = 800 zu addiren, demnach der
neue Dividend 2028 u. s. w. Der Leser versuche einmal in dieser
Weise die Division grüfserer Zahlen auf dem Abakus auszuführen und
er wird finden, wie ungelenk und sohwerfallig ein solches Rechnen
ist und wie sehr schon das damalige Zeitalter recht hatte, die
„schwitzenden Abazisten“ zu bedauern, die ein solches Dividiren
lernen mufsten.
Das Rechnen auf dem Abakus hatte im Laufe der Zeit dasselbe
Schicksal wie mehrere Jahrhunderte vorher der „Computus“, es starb
allmählich ab, je mehr die arabischen Ziffern und die Rechenbücher,
von welchen wir nooh sprechen werden, sich verbreiteten. Das älteste
Denkmal, auf welohem arabische Ziffern erscheinen, soll von 1007 her-
rühren. Zu Pforzheim und Ulm fanden sich Grabsteine von 1371
und 1388 mit arabischen Ziffern. In Urkunden gelangten die ehemaligen
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Apices erst im 16. Jahrhundert, sonst aber fanden sie beim praktischen
Rechnen seit dem 13. Jahrhundert allmählich mehr und mehr Eingang.
Die bei den Abazisten übliche Eintheilung der Zahlen in Fingerzahlen,
Gelenk- und zusammengesetzte Zahlen war damals noch üblich; bezüglich
der Brüche klebte man immer noch an der Beschränkung des Rechnens
mit 60 theiligen Brüchen, mitunter tauchen sogar noch die römischen
Minutien auf. Das Hauptbuch für Arithmetik war durch Jahrhunderte
hinduroh das von Sacrobosco,0) welches neunSpezies erläutert: Nume-
ration, Addition und Subtraktion, Duplikation und Mediation (Verdoppeln
und Ilalbiren), Multiplikation, Division, Progressionen und Wurzelaus-
ziehen. — Allmählich wurde auch die Stellung der Arithmetik als
Lehrgegenstand der eben ihren Aufschwung nehmenden Universitäten7)
eine bessere. Anfangs beherrschten an den wenigen Hochschulen die
sieben freien Künste so ziemlich alles andere, und für Arithmetik, so-
wie für Mathematik fielen in einem Semester kaum einige Wochen ab.
Die Ursache dieser Erscheinung lag nicht blos im Wesen der Zeit,
welche die aufserordentliche Bedeutung mathematischen Wissens für
die Bildung des Verstandes kaum ahnen konnte, sondern auch in dem
eigenthümlichen Usus der Fakultäten, dafs die Universitätsmagistrate
den Lehrern den Gegenstand zuwiesen, über den diese lehren sollten. s)
Hierdurch wurde verhindert, dafs die Lehrer sich einer bestimmten
Wissenschaft ganz hingeben und darin aus eigener Kraft etwas schaffen
konnten, ein Uebelstand, der speziell in den mathematischen Fächern,
wo kein Nachbeten fremden Wissens half, sondern nur eigenes Denken
weiter führte, scharf hervortreten mufste. Erst die Universität Bologna
schuf 1383 einen eigenen Lehrstuhl für Mathematik, in Deutschland
folgte ihrem Beispiele zuerstWien, wo Johann von Gmunden (um 1420)
nur Mathematik dozirte.
Sah es so mit der Pflege des Rechnens an Universitäten, diesen
Kastellen mittelalterlicher Weisheit, trübe aus, so bot das öffentliche
Schulwesen ein noch viel traurigeres Bild. Rechnen in gehöriger
wissenschaftlicher Begründung wurde bis hoch ins Mittelalter hinauf
in den Schulen der Städte überhaupt nicht gelehrt (vielleicht Trier und
Liegnitz ausgenommen). Die „Magister der freien Künste“ standen zu
•) geet. 1256.
’) In Deutschland entstanden die ersten Universitäten zu Prag (1518),
Wien (1365), Heidelberg (1388), Erfurt (1392), Leipzig (1409).
•) So lehrten in Wien die „Musica“ 1393 Nikolaus v. Neustadt, 1397
Horb, 1398 Wallsee; Petrus von Pulka las 1391 Sphaera materialis (Astro-
nomie nach Sacrobosco), 1392 Arithmetik, 1394 Latitudines | Coordinaten-
goometrie) u. s. w.
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hoch für derartige Schulmeisterarbeit, Zwar in Italien gab es Rechen-
lehrer, aber die Wanderlehrer, die in Deutschland allenthalben umher-
zogen, wurden nicht zu den Gelehrten gezählt Noch im 15. Jahr-
hundert war das städtische Sohulwesen in Deutschland nioht im stände,
den gewöhnlichen Rechenunterricht zu lehren. Sohwaben war reich
an Stadtschulen, selbst kleine Ortschaften rühmten sich ihrer Schulen,
aber Arithmetik ward nirgends gelehrt. Der Preis gebührt da nach
Günther dem oberpfälzischen Städtchen Nabburg, wo von 1480 ab „an
Feiertagen und sonstigen günstigen Gelegenheiten“ Uebungen iui
Rechnen vorgenommen wurden. Die guten Leute hatten das Rechnen in
der Woche noch nicht nöthig; für solche Sache habe jeder selbst zu
sorgen, hiefs es, und wer es sonst brauche, der möge nur auf die
„fahrenden Schulmeister“ warten, so dies lehren. Erst von 1500 ab
treffen wir in Brandenburg, Ulm, Augsburg, Nürnberg, Zwickau auf
das Rechnen als vorgeschriebones Unterrichtsfach, und die bairische
„Schuelordnungk de anno 1548“, brach gründlich mit dem Zopfe. Der
„fahrenden Schulmeister“, die das Rechnen lehren, müssen wir aber
noch besonders Erwähnung thun. Es wurde nämlich im Laufe des
14. Jahrhunderts üblich, dafs sioh in deutschen Handelsstädten, von
denen sich viele gerade damals einer besonderen Blüthe erfreuten, im
Rechnungswesen gewandte Leute niederliefsen. Die Kaufleute begriffen
schneller als die Magister, daß das Rechnen doch eine gute Sache sei,
und die Rechenlehrer wurden schliefslich vom Stadtamte förmlich
„bestellt“. Sie hiefsen anfangs „Stuhlsohreiber“, waren nioht blos
rechnungsfertige, sondern auch schreib- und rechtskundige Leute,
gewissermaßen Volksan walte, die ihren „Stuhl“ an einem frequenten
Platze der Stadt aufstellten und auf Wunsch ihrer Klienten sofort
Briefe, Kontrakte, Klagen abfaßten und Rechnungen für Kaufleute
ausführten, also typische Figuren des Volkslebens, wie sie ähnlich
heute noch in italienischen und spanischen Städten angetroffen werden.
Später nannte man diese Leute Modisten, nämlich Kenner der modernen
Schreibkunst, der mehr und mehr die alte Schrift verdrängenden Kanzlei-
schrifL Einen solchen Rechenmeister bestellt Nürnberg 1409 in der
Person Jobs Kapfers „dieweil er kint leret“; später folgten daselbst
einander eine lange Reihe von Stuhlschreibern, unter denen sehr
tüchtige Rechenmeister waren, wie Joppel (1457) und Vogel. Aus
Augsburg sind Koegel und Böschenstein, in Eger Widmann zu
erwähnen, und der heute noch im Volksmunde bekannte Adam
Riese (geb. 1492) war ein solcher öffentlicher Rechenmeister, der zu
Annaberg im Erzgebirge eine Privatschule errichtete, ln grüfseren
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Handelsstädten bildeten die Rechenmeister bald eine förmliche Gilde.
Sie fanden es bald auch für nüthig, sich nicht blos auf das mündliche
Lehren zu beschränken, sondern auch die von ihnen erworbenen Er-
fahrungen in Büohern niederzulegen. So entstanden mit der Zeit eine
Mengo von Rechenbüchern, die ganz wesentlich zur Verbreitung der
Kenntnifs des Rechnens im Volke beigetragen haben. Die ältesten
italienischen Rechenbücher sind jene von Pietro Borgo (1482) und
Luca Pacioli (1494), die frühesten in Deutschland erschienenen sind
der Nürnberger „Rechenmeister“ Ulrich Wagners (1482), von
welohem uns nur geringe Reste erhalten geblieben sind, und das Bam-
berger Rechenbuch des Heinrich Petzensteiner (1483). Von späteren
solchen Werken heben wir nur einige noch hervor: die „Behende und
hübsche Rechnung auff allen Kaufmannschaft“ von Johann Widmann
(1489), das „Enohiridion novus“ von Huswirt (1603), die „Arithmetioo
opusoula duo Theodorioi Tzwivel“ (1505); bemerkenswerth sind eine
Reihe von Büchern, die unter dem Titel „Algorithmus linealis“ 1507
bis 1625 erschienen und die „Rechenbiechlein auff den linien“.
Diese Litteratur lehrt bereits das Reohnen wesentlich anders, als
■wir es aus den früheren Auseinandersetzungen kennen gelernt haben.
Es ist ein weiteres Entwicklungsstadium, in welchem uns die praktische
Arithmetik entgegentritt. Seit dem Abakusrechnen hatten andere Ver-
hältnisse in Mitteleuropa Platz ergriffen. Vor dem Jahre 1300 finden
wir in den Aus- und Einnahmeregistern der Städte noch die un-
bequemen römischen Zahlen in Anwendung; der Kleinhandel, die
Zünfte halfen sich mit der Kerbenrechnung, bei welcher jeder Betrag
durch Striche auf einem Holze eingeschnitten und dieses Holz dann
der Länge nach gespalten wurde, wovon Gläubiger und Schuldner je
einen der zusammenpassenden Theile gewissermaßen als Deckung be-
hielten. Die Züge der Hohenstaufen über die Alpen und die sich ent-
wickelnden Handelsverbindungen des Nordens mit dem Süden zeigten
die Nothwendigkeit einer sorgsameren Pflege des Rechnens in ein-
dringlicher Weise. In Italien führte der Aufschwung des Handels nach
dem Orient und der Fortschritt der Schifffahrt zur Gründung mächtiger
llandelsrepubliken und zum Reiohthum einzelner Städte. Dort ent-
standen die Weohsler, die ersten Banken, die ersten Staatsanleihen,
dort bildeten sich im Getriebe des Handels die praktischen Vortheile
im Rechnen und mannigfachen Usanzen aus. Junge Kaufleute gingen
bald immer zahlreicher nach Italien zu ihrer Ausbildung und brachten
das Erlernte mit in die Ileimath zurück. Mitte des 16. Jahrhunderts
war die „wälsche Praktik“ bereits im deutschen Handelsstande ver-
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breitet. Andererseits waren arithmetische Fortschritte duroh die Werke
der Gelehrten Planudes, Leonardo Pisano und Sacrohosco an-
gebahnt und die Rechnungsmethoden der Araber bekannter geworden.
So bereitete sich abermals eine Epoohe des Rechnens am Ende des
Mittelalters vor, welche vielfach mit der Ueberlieferung bricht und
welche man die Periode des Algorithmus genannt hat. Ueber das
Wesen des Rechnens in dieser Zeit müssen wir zum Schlufs noch das
Nöthigste auseinandersetzon.
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam, vornehmlich in
Deutschland, Frankreich und England, das Rechnen mit Rechen-
pfennigen auf dem „Bankir“ (auch „Rechnen auff der linien“ genannt)
in Gebrauch. Auf einer Rechenbank (Bankir) sind horizontale Linien
gezogen, welche von unten nach aufwärts die Einer, Zehner, Hunderter
der Zahlen, auch Fünfziger, Fünfhunderter derselben vorstellen; auf
diese Linien legte man die „raitpfennig“ (in Frankreich jetons, in Eng-
land counters genannt); besonders bekannt sind noch die Nürnberger
und Brügger Rechenpfennige des 14. Jahrhunderts. Jede Zahl wird
auf den Linien dargestellt, indem man die Raitpfennige „legt“, das
heilst, die Zahl zerfällt; z. B. die Zahl 27683 wie folgt:
Zehntausend
Fünftausend
Tausend . . .
Fünfhundert
Hundert . . .
Fünfzig . . .
Zehn
Fünf
Eins
Ein halb . . .
Das Addiren und Subtrahiren auf solch einem Bankir besteht
eigentlich nur im Zulegen resp. Wegnehmen der Rechenpfennige.
Soll z. B. zu obiger Zahl noch 217 addirt werden, so kommen in die zweite
Linie von unten an gerechnet noch 2, in die dritte 1, in die vierte 1 und
in die sechste von unten noch 2, dann ist aber der Bankir zu ändern
und es sammeln sioh die Marken der fünf unteren Linien zu 1 Hunderter,
der in die Linie der Hunderter einrückt und mit den dort schon vor-
flndlichen 3 Hunderten die Summe 400, und mit den oberen vier von
der Rechnung unberührt bleibenden Linien das Resultat 27 900 ergiebt.
Bei der Subtraktion werden in ähnlicher Weise die Marken aus den
höheren Linien weggenommen und auf den unteren Plätzen sogleich
dem Werthe der Linien entsprechend vertheilt. Beim Multipliziren
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wird nur der Multiplikand „gelegt“, der Multiplikator im Gedächtnifs
behalten. Folgendes Beispiel wird den Leser, wenn er dem Gange
der Rechnung folgt, ohne dafs nähere Erklärungen nothwendig sind,
in eine Multiplikation einführen.
Multiplikation 857 X 62 auf dem Rankir.
Bilden der
Einträgen
in den
Corrigiren
des
Legen des Multiplicand.
Zehntausend .
Theilproducte.
2X7 =14
Bankir
Bankir
Künftiiiinnnri
2 X 50 =100
2 X 800 = 1600
Tausend .... -
-0-0-+-0 -0-0-0
~ 00 0— —
Iffin fh und Art 9
60 X 7 »420
SO V 50 — 3000
Hundert m -
Fünfzig 9
Uv »M/ -- ■■ Ou'.'O
60 X 800 = 48000
.
Zehn
- 0 0 0
Fünf 9
Eins
•— A— —
also l’roduct: 53134.
Beim Dividiren wird nur der Dividend gelegt; man dividirt die
ersten Ziffern desselben durch die ersten des Divisors um! bildet zur
Aufnahme des Quotienten einen besonderen Bankir; der jeweilig nach
Abziehen der Thoilprodukto übrig bleibende Dividend kommt in einen
anderen Bankir.
Division 207085 : 83 = 2495
Bilden der Products und Dividenden:
2000 X 85 =
166000
bleibt
41085
400 X 83 =
33200
bleibt
7885
90 X 83
7470
bleibt
415
5 X 83
415
bleibt
0
Hunderttausend
Fünfzigtausend
Zehntausend . .
Fünftausend . .
Tausend ....
Fünfhundert . .
Hundert
Fünfzig
Zehn
Fünf
Eins
Gelegter |
Dividend
Bankir des sich allmählich
verkleinernden Dividenden
Bankir des
Quotienten
# #
•
...
•
■ -
T* 1
\ *
•
l
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285
Da das „Rechnen auff der linien“, wie man wohl sieht, im
wesentlichen auf ein mechanisches Hontiren mit den Rechenpfennigen
hinausläuft, so mufste es namentlich im Volke, von dem nur der kleinste
Theil mit der Feder umzugehen wufste, sehr beliebt sein. Thatsächlich
hat es sich im Kleinhandel durch Jahrhunderte erhalten. Es ist ge-
wissermafsen ein letztes Wiederaufleben des Rechnens mit dem Abakus.
Bald gewann das „Rechnen mit der Feder“ mehr und mehr Verbreitung.
Mit diesem schriftlichen Rechnen lenkte endlich die Kunst des Rechnens
in jene Bahnen ein, in denen sie sich heute noch bewegt Nachdem
der Gebrauch der Null als Ziffer allgemeiner geworden, und die ur-
sprünglichen Apioes nach langen Metamorphosen sich in geschmeidige,
leicht schreibbare Zeichen umgebildet hatten, darf man von einem
rascheren Fortschritte sprechen. Die Methoden zu addiren und zu
subtrahiren, sind beim „Rechnen mit der Feder“ so gut wie modern,
und nur betreff der andern Spezies treffen wir noch auf manche eigen-
tümliche Weisen. Namentlich das Multipliziren wird in Anlehnung
an arabische Vorbilder nach vielfacher Art gelehrt. Es wird noch
interessiren, das Multiplikationsverfahren jener Zeit kennen zu lernen;
wir folgen der Arithmetik von Treviso (1478), Luca Paciulo (1494)
und deutschen Rechenbüchern.
1.
8 3 7
3 5 9
1
7j
5
3 ! 3 )
AJ
1
8
Jj
! 2
5
1
]
3 0 0 4 8 3
81*7 X 339 = 300483.
2.
837
359
300 X 837 = 251100
50X837 41850
9 X 837 7533
300183
3.
837
359
ra
3.
3_
S
LL
X
E
1_
1
■■ r l * i *
3 0 0
7.
8 3 7
3 3 9
300483
3 0 0483
Die erste dieser 7 Methoden heifst berioocoli, die zweite castel-
luoio, die 3. 4. 5. sind „Gitter“, die 6. ist al schaohir, die 7. per cro-
cetta. Der Leser wird bemerken, dafs die Herren Rechenmeister sich
bereits in Künsteleien gefallen; eine ganz besondere Methode, sich
etwas Leichtes schwer zu machen, soll auch noch in der Multiplikation
„in Form einer Galeere“ vorgeführt werden. 2395X4876 = 11678020
Himmel uod Erde. 1893. V. 6. 20
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286
8
7 1
* X 0
■U9
6 ^ X *
21s * i
1
'4'4,'S. 0 0 * o
W8,4 9 7#
! 3 9 3 5 3 J
2 3 9 9 9
2 3 3
I 1 6 7 S 0 2 0 ’)
Divisionsmethoden
briiuohlichsten ist durch
0
240
Dividend 868
Divisor 31
31
gab es ebenfalls verschiedene; eine der be-
folgendes Beispiel illustrirt: 868 :31 = 28
28 Quotient
2X3=6 bleibt 2
2X1=2 . 4
8 X 3 = 24 „ 0
8X1=8 . 0
Im Rechnen mit Brüchen ist man erheblich weiter gekommen.
Das „Heben“ der Brüche (Abkürzen des Zählers und Nenners) ist
eingeführt, beim Addiren und Subtrahiren derselben verfährt man noch
ziemlich unbeholfen, einen gemeinschaftlichen Nenner sucht man noch
nicht. Beim Multipliziren gemischter Brüche worden die ganzen Zahlen
für sich, dann die Ganzen mit den Brüchen, schliefslich die Brüche mit
einander multiplizirt und die Einzelprodukte addirt; entgegengesetzt
ist das Dividiren.
In den Rechenbüchern des 16. Jahrhunderts werden aufserdem
gelehrt „die gülden Regel“ (Regeldetri),1") Gewinnrechnung bei Ein-
lagen von Gesellschaftern an Geschäften, bei Waarenverkiiufen u. dg!.,
die „Goltrechnung“ (I’reis einer Goldmischung bei bekanntem Gesamt-
gewicht der Mischung, dem Feingehalt und Preis des Goldes per
Karat), die „Tolletrechnung“, ein eigenthümliches Verfahren, mittels
*) Zur Enträthselung dieser Kunstform beachte der Leser: Man fängt an
mit 4 2000 = 8000, 8 kommt über 2; 4 -300 = 1200, 8 + 1 = 9, also wird 8
gestrichen und 9 darüber gesetzt, 2 kommt rechts noben 8; 4 -90 = 360, 9200
+ 360 = 9000, also 5 über die gestrichene 2 und 6 neben 2, ferner 4 ■ 5 = 20,
somit 9300 + 20 = 9580, weshalb 6 zu streichen und darüber 8 zu setzen:
darauf rückt der Multiplicand ein und die Multiplikation mit der zweiten Ziffer
des Multiplicators, 8, beginnt.
l0) In den Proportionen des Mittelalters steht das unbekannte, zu suchende
Glied fast immer als viertes.
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287
Legen von Rochenpfennigen auf Feldern, welche die Bezeichnungen
des Münzgewichtes trugen, den Feingehalt von Gold z. B. bei Münzen
zu bestimmen. Auch das „Progredim“ (die Progressionen) und Wurzel-
ausziehen gehört im 16. Jahrhundert noch zum elementaren Rechnen.
Von den Dezimalbrüchen, eine der genialsten und fruchtbarsten
Erfindungen des menschlichen Geistes, ist erst 1685 die Rede. Stevin
setzto damals in seiner Abhandlung La Disme auseinander, welche
grofsen Vortheile es biete, wenn alle Brüche als Zehntheilo der Ein-
heiten ausgedrückt würden und wies darauf hin, dafs sich dann aller
Verkehr mit Brüchen wie mit ganzen Zahlen ausführen lassen würde.
Er verlangt von der Regierung, sie möge alles unterstützen, was ein
solches Rechnen herbeiführen könnte, namentlich die Decimaltheilung
der Münzen, Mafse und Gewichte. Stevin läfst beim Anschreibon der
zehnthoiligon Brücho den Nenner noch nicht weg, er schreibt hinter
den Zähler ein Rangzoichen der Nenner, <J) für die Zehntel, © für
die Hundertstel, also z. B. 7 7/,(„, =r 707©, ■vt/l o,, = 64 @. Bei der Aus-
führung von Rechnungen werden die Stellenanzeiger ® © & . . . .
über die betreffenden Ziffern gesetzt. Stevin sieht voraus, dafs viel-
leicht die Einführung der Decimalbrüche nicht sobald in Aussicht stehe,
doch „ein künftiges Geschlecht, wenn die Mensohennatur die gleiche
bleibe, werde sich eines so grofson Vortheiles jedenfalls nicht für
immer begeben.“ Nahe um dieselbe Zeit wie Stevin kam Jost
Bürgi auf die Erfindung der Decimalbrüche und gebrauchte Punkte
oder Halbklammern zur Abgrenzung der Decimalstellen. 1603 ver-
öffentlichte J. H. Beyer seine „Logistica deoimalis, das ist Kunst-
rochnung mit don zehntheiligen Brüchen.“ Die Decimalstellen nennt
er Skrupel, die erste, zweite . . . Skrupel, oder auch Primen, Sekunden,
II v
Terzen u. s. w. und bezeichnet z. B. 6 32/i«i — 5.32; 9326/inoooo = 9.326.
Zu den Rechnungsfortschritten des 16. Jahrhunderts gehört auch
noch die Erfindung der doppelten Buchhaltung. Schon vor dem Ende
des Mittelalters war in England und Frankreich eine schachbrett-
förmige Bücherführung bekannt. Im italienischen Handelsstando ge-
langte das Buchbaltungswesen (vielleicht heeiuflufst durch arabische
L’sanzen) ganz vornehmlich zur Vervollkommnung. Die Begründung
der doppelten Buchhaltung ist gleichfalls einem Italiener zuzuschreiben,
dem früher schon erwähnten Mathematiker Luca Paciuolo (1493).
Er kennt die Führung des „Memorials“, „Journals“, der „Strazze“, die
Aufstellung der Bilanz. In deutscher Sprache dürfte die Buchhaltung
zuerst von Grammateus (1623) gelehrt worden sein.11) Stevin
") Bei diesem he [ist das Kassabuch „Kaps“ (Kapsel).
20’
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288
endlich schlug 1605 die Einführung sogenannter unpersönlicher Conti
bei der Buchhaltung von Domainen, Genossenschaften, Städten und
Provinzen vor („Haushaltungskonto“, „Gehaltskonto“, „Marstall-Konto‘
u. dgl.).
Seit dem 16. Jahrhundert wurde der Fortschritt der Rechenkunst
eiu stetiger. Die Spielereien mit Zahlen und Methoden, mit denen sich
das Mittelalter gern abgab, die unbeholfenen Rechnungsarten ver-
schwinden mehr und mehr und machen praktischen Vortheilen Platz.
Während im 15. Jahrhundert der Mensch mit mancherlei Schwierig-
keiten im Rechnen zu kämpfen hat,12) ist er im 17. Jahrhundert schon
so weit, dafs er auf Maschinen sinnt (wie Blaise Pascal), welche die
Schnelligkeit des Reohnens erleiohtem sollen. Im 18. Jahrhundert
endlich hat das Rechnen mit der Feder die alleinige Herrschaft in
allen Ländern, wo sich der Mensch ein hochzivilisirtes Geschöpf
nennt. Die letzten zöpfischen Anhängsel sind verschwunden und das
praktische Rechnen dieser Zeit unterscheidet sich nur noch durch
wenige Aeufserlichkeiten von der Rechenpraxis, wie wir sie heute üben.
So sehen wir das Rechnen, wie es Tausende von uns in den
Schulen gelernt haben, aus mühseligen Anfängen entstehen, und wir,
die in dieser Disziplin durch einen wohlüberlegten, pädagogisch durch-
gearbeiteten Unterricht gar nicht in die Lage gekommen sind, das
Rechnen als eine besonders schwierige Sache anzusehen, ahnen heute
gur nicht, wie sehr eine halbwegs grofse Divisionsaufgabe, die wir
binnen einiger Minuten sozusagen ohne Ueberlegung abthun, unseren
Voreltern hat Kopfzerbrechen machen können. Wir wollen aber be-
scheiden sein und nicht meinen, jetzt hätten wir mit unsern Methoden
die Höhe des Witzes erklommen, denn nach uns kann leicht eine Zeit
kommen, die auch uns in den Schatten schiebt.
”) Noch in dieser Zeit hatte man keine feste Terminologie für die Be-
nennung der Zahlen, und bei grofBen Zahlen werden noch immer seltsame
Wortungeheuer erfunden.
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Abermals der Komet Holmes.
Die am Schlufs der ausführlicheren Mittheilung über diesen inter-
essanten und seltsamen Himmelskörper (cf. Heft 4 des laufenden Jahr-
ganges) ausgesprochene Vermuthung hat sehr bald eine unerwartete
Bestätigung erfahren. Bereits Anfang Dezember war der Komet so
lichtschwach geworden, dass er nur noch in mächtigeren Instrumenten
als ganz unscheinbare, schlecht definirte Nebelmasse aufgefunden
■»'erden konnte; seitdem hatte er sich kaum wesentlich verändert, und
nichts deutete darauf hin, dafs sich eine gewaltige Umwälzung in
seinem Inneren vorbereitete, die ihren Ausdruck in einer Form- und
Helligkeitsveränderung von erheblichem Betrage finden sollte. Herr
Dr. Palisa in Wien vermifste am 16. Januar an der durch die Be-
rechnung vorausbestimmten Stelle des Himmels das ihm wohlbekannte
Objekt; hingegen fiel ihm sofort ein gelber Fixstern auf, der von
einer Nebelhülle von 20 " Durchmesser umgeben war, und der sich
nach kurzer Zeit, namentlich auch durch seine deutliche Bewegung,
als mit dem gesuchten Kometen identisch erwies. Die Gesamthelligkeit
kam etwa derjenigen eines Fixsterns der 8. Größenklasse gleich;
überhaupt war in kleineren Instrumenten und bei schwächeren Ver-
gröfserungen der Komet von einem Fixstern nicht ohne weiteres zu
unterscheiden.
Inzwischen hat sich sein Aussehen schon wieder merklich
verändert. Der Kern, weloher aus mehreren einzelnen Lichtknoten
zu bestehen scheint, ist unscharfer geworden, während die ihn um-
gebende Nebelhülle an Ausdehnung zugenommen hat Man wird
demnach kaum fehlgehen, wenn man annimmt, dafs in wenigen Wochen
der Komet wieder zu einem ganz unscheinbaren Objekt herabgesunken
sein wird; neuere Beobachtungen bestätigen diese Vermuthung.
Derartige plötzliche Lichtausbriiche und Formveränderungen sind
zwar an sich nicht eben selten; in der Regel troten sie in der Zeit der
Sonnennähe, meist wenige Tage nach derselben ein. Ein bemerkens-
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werthes Beispiel dafür bot in neuerer Zeit (1888) der Komet Sawertbal.
Um so grosseres Interesse muss deshalb der Holmessche Komet er-
wecken, weil durch die oben mitgetheilte Wahrnehmung die Zahl
derjenigen Fülle, in denen mit Sicherheit plötzliche gewaltige Um-
lagerungen innerhalb der die Kometen bildenden Materie nachgewiesen
werden konnten, wieder um ein sehr augenfälliges Beispiel bereichert
worden ist, namentlich wenn in Betracht gezogen wird, dafs die be-
merkte Umgestaltung erst geraume Zeit nach der Sonnennähe (Mitte
August 1892) stattfand. Man wird es nunmehr auch kaum ver-
wunderlich finden, dass der Komet so verhältnifsrnäfsig spät, fast
5 Monate nach dem Durchgang durch das Perihel, entdeckt wurde.
Zweifellos ist man zu der Annahme berechtigt, dafs infolge eines dem
geschilderten ähnlichen Lichtausbruchs, der vielleicht wenige Tage vor
der Entdeckung stattgefunden haben wird, die Helligkeit so rapide
anstieg, dass sie die Anwesenheit des Kometen für einigo Tage sogar
dem unbewaffneten Auge verrieth.
Noch in einer anderen Richtung gestaltet sich die Erscheinung des
uns beschäftigenden Kometen zu einer besonders bemerkenswerthen.
Bekanntlich zeichnen sich die Kometen durch ein Spektrum aus, das,
in der Regel aus drei Banden bestehend, deren hellstes im Grün ge-
legen ist, in wesentlichen Punkten mit dem Spektrum des Kohlen-
wasserstoffes übereinstimmt. Gleichzeitig wird oft auch ein kontinuir-
liches Farbenband beobachtet, das um so deutlicher hervortritt, je
gröfser der Abstand des Kometen von der Sonne ist. Nun fanden
unabhängig von einander Campbell auf dem Lick-Observatorium am
8. und 9. November und Vogel in Potsdam am 13. November ein
kontinuirliches Spektrum, hingegen keine Spur des für die Kometen
charakteristischen Bandenspektrums, das nach allen früheren Er-
fahrungen jenes an Intensität erheblich zu iibertreffen pflegt. Wenn
es also überhaupt vorhanden war, so muSs seine Helligkeit doch so
unbedeutend gewesen sein, dafs es sich selbst in unseren gewaltigsten
Hilfsmitteln der Wahrnehmung entziehen konnte. G. Witt.
f
Zur Selenographie.
Die jüngste Publikation der Prager Stemw’arte •) enthält u. a.
eine interessante Zusammenstellung von Zeichnungen und Unter-
’) Astronomische Beobachtungen an der k. k. Sternwarte zu Prag in den
.Jahren IS89, 1800 und 1891, nebst Zeichnungen und Studien des Mondes. Auf
öffentliche Kosten hernusgegeben von Professor Dr. L. Weinek. — Prag 1893.
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suchungen über die Oberflächenbeschaffenheit unseres Trabanten, die
einen bleibenden Werth beanspruchen können. Auf vier Tafeln gr. Folio,
denen ausführliche Erläuterungen im Text voraufgehen, finden wir zu-
nächst, lithographisch vervielfältigt, 20 überraschend plastische, bis ins
feinste Detail sorgsam ausgearbeitete Handzeichnungen, vorläufig die
letzten dieser Art, da die wenig günstigen Beobachtungs-Verhältnisse
auf der Prager Sternwarte und die bescheidene inBtrumenteile Aus-
rüstung derselben eine erfolgreiche Thätigkeit in dieser Richtung er-
heblich erschweren. Dennoch werden die bis jetzt veröffentlichten
60 Originalzeichnungen, welche man der Thätigkeit Prof. Weineks
verdankt, stets mustergültig und in jeder Beziehung vorbildlich bleiben;
sie haben daneben wiederholt zur Auffindung von Oebilden auf dem
Monde geführt, die von keinem Selenographen bisher verzeichnet
worden waren. Nur nebenher sei eines Versuches Erwähnung gethan,
der gelegentlich der totalen Mondfinsternifs des Jahres 1888 angestellt
wurde; er zielte darauf ab, die Färbung der Mondoberfläche in einer
bestimmten Phase der Verfinsterung möglichst treu wiederzngeben, und
mufs, wie nicht anders erwartet werden konnte, als gut gelungen be-
zeichnet worden, wenn auch der Farbendruck vielleicht nicht im stände
war, alle Feinheiten des Originals wiederzugeben.
Wir haben bereits im ersten Heft dieses Jahrganges Veranlassung
genommen, darauf hinzuweisen, dafs Prof. Woinek in der letzten Zeit
einen erheblichen Theil seiner Thätigkeit einer anderen Art der Dar-
stellung der Mondoberfläche gewidmet hat. Das Zeichnen einzelner
Mondpartien in bedeutend vergrüfsertem Marsstube nach Photographien
und die nachfolgende Tuschirung eines solchen Bildes beansprucht
zwar einen erheblichen Aufwand an Zeit und Mühe; der Werth ist aber
auch ein unvergleichlich hoher, den niemand bestreiten wird. Diese
Zeichnungen sind die Veranlassung zu zahlreichen photographischen
Entdeckungen von Mondgebilden geworden, deren Oröfso und Auf-
fälligkeit es mindestens seltsam erscheinen läfst, dafs sie von unseren
hervorragenden Selenographen übersehen werden konnten.
Welche Erfolge diese Thätigkeit bisher zu verzeichnen hatte, da-
für enthält die angeführte Publikation zahlreiche interessante Beläge; die
beiden Tafeln, welche den ersten Ergebnissen dieser Arbeiten gewidmet
sind, stellen die bedeutendsten Leistungen auf dem Gebiete der Mond-
zeichnung dar. Sie sind bisher weder erreicht noch iibertroffen und
werden überhaupt für lange Zeit als Grenze des Erreichbaren zu be-
zeichnen sein. Von der Vielartigkeit des Details, aber auch von der
Schwierigkeit der Ausführung, wird man sich eine Vorstellung machen
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können, wenn man das diesem Hefte beigegebene Bild einer einzigen Ring-
ebene sorgsam studirt; der Gesamteffekt, der Eindruck des Plastischen
ergiebt sich hingegen besser bei der Betrachtung aus einiger Ent-
fernung und hat eine überraschende Aehnlichkeit mit dem Fernrohr-
bilde bei den stärksten Vergröfserungen.
Besonderer Erwähnung werth erscheint noch ein zweites Ver-
fahren , welches einer Nachbildung des Mare Crisium zu Grunde liegt
Das Original wurde derart gewonnen, dafs die betreffende Partie der
Platte viermal vergröfsert photographirt und dann in möglichst lichter
Nüancirung auf Salzpapier übertragen wurde. Die besonderen Fein-
heiten des Detail wurden dann auf dem Wege der Retouohe eingetragen,
so dafs die Arbeit einem vollständigen Neumalen fast direkt gleich kam.
Der fühlbarste Mangel dieses Verfahrens besteht jedooh darin, dafs die
Vergrößerung nicht erheblich weiter getrieben werden kann; dasselbe
steht also hinter der Herstellung einer direkt vergrößerten Zeichnung
mit nachfolgender Tuschirung in dieser Beziehung wesentlich zurück.
Einige Worte mögen der Erläuterung unserer Beilage dienen.
Das Original derselben, von welchem ein photographischer Abzug
von Herrn Professor Weinek freundlichst zur Veröffentlichung
überlassen wurde, hat etwa 120 Arbeitsstunden zur Vollendung bean-
sprucht und reiht sich in jeder Beziehung den übrigen bisher fertig-
gestellten Bildern würdig an, namentlich auch dem in der Publikation
heliographisch reproduzirten Bilde der Wallebene Petavius. Vendelinus
ist eine große, unregelmäßig gestaltete Wallebene nahe am Westrande
des Mondes, mit mäßig hohem, wonig torrassirtem Walle, der von zahl-
reichen Thälern durchbrochen wird und sieh theilweise bis zu einer Höhe
von 1800 m über das Innere erhebt Der Rand wird im Süden (oben) von
einigen kleinen Hügeln und Kratern gebildet, theilweise auch von einer
bedeutenden Ringebene, die in ihrer charakteristischen Form deutlich zu
erkennen ist, während das Innere mit tief dunklem Schatten erfüllt
erscheint. Im Norden (unten) besteht der Rand aus einer sanft an-
steigenden Höhe, die mit einigen Hügeln und kraterähnlichen Ver-
tiefungen durchsetzt ßt, während sich an denselben im Osten zwei
bedeutende Ringebonen anschließen. Eine Centralspitze fehlt, dafür
zeigt aber das Innere eine außerordentlich große Zahl von Unregel-
mäßigkeiten und niedrigen Höhenrücken, außerdem auch einen kleinen
Krater. Die eigenartigsten Gebilde aber, auf welche hier besonders hinge-
wiesen sein mög6t sind schwache, unregelmäßig gekrümmte, rillenühn-
licho Linien, die in ihrem Charakter vollständig ausgetrockneten Flufs-
betten gleichen. Obgleich es schwierig ist, die Realität dieser Gebilde mit
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Vendelinus.
Reproduction einer Tuschirung in 20-facher Vergröfserung nach der im Focus
des 36-zolligon Refractors der Lick - Sternwarte aufgenommenen Jlondphotographie
vom 31. August 1890, von Prot Dr. L. Weinek in Prag.
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293
Sicherheit nachzuweisen, hat Professor Weinek doch auf ver-
schiedenen Photographien schon übereinstimmend gewisse Züge der-
selben identiflziren können, so dafs an ihrer Existenz an sich kaum ein
Zweifel bestehen dürfte. Nichtsdestoweniger ist von verschiedenen
Seiten bereits der Einwand geltend gemacht worden, dafs man es hier
lediglich mit Fehlern in der photographischen Schicht zu thun habe.
Dem kann aber entgegengehalten werden, dafe thatsächlieh, wie es
scheint bereits mit Erfolg, in einigen Fällen auoh optisch die Identi-
fizining gelungen ist. Andererseits bietet die aufserordentliche Erfah-
rung, welche Professor Weinek zur Seite steht, eine sichere Gewähr
dafür, dafs diese rillenähnlichen Objekte nicht blofse Phantasiegebilde
vorstellen.
Einige Bemerkungen allgemeinerer Natur bezüglich der Möglich-
keit, derartige winzige Einzelnheiten auoh optisch mit Sicherheit zu
erkennen, werden indessen nicht überflüssig erscheinen. Der typische
Charakter der Mondformationen ist in der überwiegenden Zahl der
Fälle die Kreisform. Während diese charakteristische Durchschnitts-
form bei den Gebilden nahe der Mondmitte ohne weiteres erkennbar ist,
mufs eine starke perspektivische Verkürzung derselben am Mondrande
eintreten: sie erscheinen dort als schmale, langgestreckte Ellipsen.
Naturgemäfs wird hier auch alles andere Detail in ähnlicher Weise
beeinflufst werden, weil der Gesichtswinkel für eine Region von be-
stimmter Gröfse bei mehr centraler Lage erheblich gröfser sein wird,
als wenn sich dieselbe dicht am Mondrande befindet
Hierzu kommt, dafs die Mondaohse gewissermafsen um eine
mittlere Lage scheinbar unregelmäfsig hin- und herschwankt, eine
Ungleichheit, die unter dem Namen „Libration“ bekannt ist Diese
hat zur Folge, dafs beispielsweise ein Krater, der in einem bestimmten
Augenblick genau in der Mitte der scheinbaren Mondscheibe liegt, bald
in dieser, bald in jener Richtung um ein kleines Stück gegen den
Mondrand hin verschoben erscheint. So kommt es, dafs thatsächlieh
nur etwa 3/j statt der Hälfte der Monduberfläche dauernd unsichtbar
bleiben.
Es ist hiernach leicht erklärlioh, dafs die an sich sohon stark
verkürzt erscheinenden Gebilde am .Mondrande in ihren Sichtbarkeits-
Verhältnissen durch die Wirkung der Libration wesentlich beeinträchtigt
werden können, wogegen sie zu anderen Zeiten wieder die denkbar
günstigsten Verhältnisse für die Beobachtung darbieten werden, sobald
sie nämlich dem Centrum der Mondscheibe näher gerückt erscheinen.
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2!4
Für die in der Mitte derselben gelegenen Kegionen ist diese Einwirkung
naturgemäfs viel unbedeutender.
Erheblich griifser ist der Einflufs, welchen die Beleuchtung und
der Zustand der Atmosphäre aul' die jeweiligen Sichtbarkeitsverhältnisse
ausüben. Die feineren Einzelheiten beispielsweise, welche in der Nähe
von Bergziigen liegen, werden erst dann sichtbar, wenn sie aus dem
Schatten derselben herausrücken, wenn also die Sonne hinreichend
hoch steht; dann sind aber ftir dieselben die Beleuchtungsverhältnisse
an sich schon nicht mehr die günstigsten zu nennen. Dazu kommt,
dafs bei verschiedenartigem Sonnenstände ein und dasselbe Gebilde
einen ganz veränderten Anblick bietet. Auch hierfür enthält die Prager
Publikation zwei sehr interessante Beispiele. Architnedes und Arzachel,
zwei schöne Ringebenen im südlichen Theil der sichtbaren Mond-
scheibe, die in zehnfacher Vergrofserung nach Mondphotographieen vom
15. und 27. August 1888 gezeichnet sind, zeigen ilie verschiedenartigen
Beleuchtungsverhältnisse bei Sonnen -Aufgang und -Untergang und
gleichzeitig die Einwirkung der Libration auf das allerdeutlichste.
Während man sich aber von dem Einflufs der Beleuchtung und
den Librationswirkungen durch Beobachtung in verschiedenen
Lunationen vollständig frei machen kann, sind die Schwierigkeiten,
welche sich dem Erkennen der zartesten Einzelheiten infolge mangel-
haften Luftzustandes entgegenstellen, rein zufälliger Natur und insofern
schwieriger zu überwindon. Man bedenke, dafs von den erwähnten
rillenähnlichen Gebilden einige auf dem Original nur eine Breite von
etwa 0,005 mm und in der Zeichnung, welche einer etwa tausend-
fachen Okularvergröfserung entspricht, eine solche von 0,1 mm haben,
während man bei optischer Betrachtung in den weitaus meisten Fällen
mit Erfolg nur eine etwa dreihundertfache Vergrofserung anwenden
kann. Es gehören thatsiichlich außerordentlich lichtstarke Instrumente
und günstigste atmosphärische Bedingungen dazu, um die Identifizirung
dieser „Flufsläufe“ mit voller Sicherheit zu erlangen, wenn nicht gerade
die Boleuchtungswirkungen ganz ausgezeichnete sind.
Nach diesen Bemerkungen wird man es verständlich finden, dafs
die Frage bezüglich der Realität dieser rillenähnlichen Objekte in
jeder Beziehung der sorgfältigsten objektiven Prüfung nach allen Seiten
hin bedarf, und dafs es geboten erscheint, die dahin zielenden Unter-
suchungen mit vollem Eifer und unverzüglich in Angriff zu nehmen.
Q. Witt
*
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295
Von der Pariser Akademie ertheilte Preise.
Laut Bericht in No. 25 der Comptes rendus (Tome CXV) sind
am Schlufs des vorigen Jahres folgende Preise für hervorragende
Leistungen in der Astronomie zuerkannt worden.
Der Lalande-Preis wurde zweimal vertheilt, und zwar an Prof.
Barnard von der Lick-Stomwarte für seine Entdeckung des fünften
Jupitertrabanten und zahlreicher Kometen, sowie an Prof. Dr. Max Wolf
in Heidelberg für seine Entdeckungen kleiner Planeten mit Hilfe der
Photographie.
Auch der Preis Damoisoau wurde zweifach vertheilt, und zwar
zunächst an M. Radau in Paris ftir eine die Theorie der Mond-
bewogung wesentlich fordernde Preissohrift, und aufserdem an
M. Leveau zu Paris in Anerkennung seiner Arbeiten über den Ko-
meten d’Arrest und die Bewegung der Vesta.
Der Preis Valz wurde M. Puiseux in Paris zuerkannt, welcher
eine sorgfältige Theorie des neu erfundenen „Equatorial coude" ans-
gearbeitet und damit dieses von uns im zweiten Jahrgang (S. 573)
beschriebene Instrument für exakte Messungszwecke verwendbar ge-
macht hat.
Prof. Tacchini in Rom endlich wurde für seine vorwiegend
spectroskopischen Beobachtungen der Protuboranzen und für allgemeine
Verdienste um die Entwicklung der astronomischen Forschung in
Italien durch Verleihung des 1886 von M. Janssen gestifteten Preises
ausgezeichnet.
Neu ausgeschrieben wurde der Preis Damoiseau. Derselbe soll
im Jahre 1894 dem Erfinder einer abgekürzten Methode der Störungs-
rechnung Tür kleine Planeten, im Jahre 1896 aber dem Autor einer
Abhandlung zuerkannt werden , welche die Erscheinungen des
Hai ley sehen Kometen mit Berücksichtigung der Anziehung des
Neptun bis zum Jahre 1456 zurückverfolgt und auf Örund dieser
Untersuchung eine genaue Vorausberechnung der im Jahre 1910 zu
erwartenden Wiederkehr des Kometen giebt.
Die übrigen Preise werden 1893, wie alljährlich, denjenigen
Astronomen zugesprochen werden, welche die bedeutsamsten wissen-
schaftlichen Leistungen des gegenwärtigen Jahres aufzuweisen haben
werden.
f
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29G
Ueber die Fortpflanzungsgeschwindigkeit Hertzscher Wellen
haben die bekannten Genfor Physiker Sarasin und de la Rive neue
Experimente1) angestellt, welche wohl den grofsartigsten Versuch be-
deuten, jene langen Wellenzüge zu verfolgen, die, von einem elek-
trischen Funken ausgehend, den Raum mit der Geschwindigkeit des
Lichtstrahls durcheilen, ohne jedoch unserem Auge sichtbar zu sein.
Dafs ihnen diese Geschwindigkeit zukomme, ist allerdings eine Be-
hauptung, welche durch die Versuche erst erwiesen werden sollte, die
aber durch frühere Untersuchungen über die Fortpflanzung elek-
trischer Wellen längs metallischer Leiter und zum Theil auch schon
durch Versuche im freien Lufträume wahrscheinlich gemacht war.
Sollten — und hierauf kam es nunmehr an — auch längere Wellen
auf eine längere Strecke hin verfolgt werden, so war es nöthig, die
Dimensionen der spiegelnden Metallflächen, welche schon bei den
Hertz sehen Versuchen keineswegs gering waren, noch weiter zu
steigern. Die Stadt Genf stellte den beiden Forschern zu diesem
Zwecke eine geräumige, augenblicklich noch nicht benutzte Maschinen-
halle zur Verfügung. In diesem gröfsten aller physikalischen Arbeits-
räume wurde eine Wand in einer Höhe von acht Metern und einer
Breite von sechzehn Metern mit Zinkplatten bedeckt. Gegenüber der
Mitte dieses „Spiegels“, dessen kleine Unebenheiten gegenüber den
grofsen Wellenlängen durchaus nicht in Betracht kommen, wurde in
einem Abstande von 15 Metern der Schwingungserreger aufgestellt,
welcher wie gewöhnlich aus zwei einander benachbarten Motallkörpem
besteht, zwischen denen die Funken eines Rhumkorffschen Apparates
überspringen. Diese Funken repräsentiren elektrische Schwingungen,
d. h. der elektrische Ausgleich zwischen dem positiven und dem
negativen Metallkörper findet durch den Funken in der Weise statt
dafs die Elektrizität einige Male hin und her geht, ehe sie zur Ruhe
kommt. Die so entstehenden elektrischen Störungen breiten sich aus,
werden von der Metallwand reflectirt, und es entstehen in bekannter
Weise durch das Zusammenwirken der primären und der zurück-
geworfenen Störungen stehende Wellen. Recht gleichmäfsig und kräftig
waren die von den Verfassern erhaltenen Schwingungen auch infolge
des Umstandes, dafs sie die Funken nicht in der freien Luft sondern
innerhalb eines mit Oel gefüllten Gefäfses überspringen liefsen. Die
Untersuchung der stehenden Wellen erfolgte mittelst der Hertzschen
Resonatoren, kreisförmiger Drahtstücke, welche in einem Falle einen
*) Comptes Rendus. 2fi. Dozomber 1892.
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297
Radius von 26, in einem zweiten einen solohen von 37 Centimetern
hatten. Das Mitschwingen der Elektrizität in solchen Resonatoren
wird dadurch erkennbar, dass an einer kleinen Unterbrechungsstelle
des Metallkreises ein Fünkchen auftritt, und da dieses Fünkchen am
stärksten ist, wenn der Resonator an dem Orte eines Schwingungs-
bauches steht, während es im Schwingungsknoten ganz erlischt, so
ist man im stände, den ganzen Verlauf der stehenden Welle zu unter-
suchen. Die Bahn der stärksten Wirkung, welche sich zwischen der
Spiegelmitte und dem Schwingungserreger befindet, ist nun wegen der
grofsen Dimensionen des Spiegels nicht ohne weiteres zugänglich; sie be-
findet sich in einer Höhe von vier Metern über dem Fufsboden ; es wurde
deshalb um diese optische Achse herum ein besonderer Beobachtungs-
tunnel gebaut, dessen aus Holz und Pappe bestehende Wände die
elektrischen Wellen nicht im mindesten stören, während sie durch
den völligen Ausschlufs des Tageslichtes die Beobachtung der kleinen
Fünkchen begünstigen. Gleichzeitig dient dieser Tunnel zur Aufnahme
einer Art optischen Bank, welche eine Verschiebung der Resonatoren
und eine Bestimmung ihres Abstandes vom Spiegel gestattet
Das Eigenartige dieser Versuche kommt einem besonders zum
Bewufstsein, wenn man sioh vorstellt, wie die Forscher sich in diese
Dunkelkammer hineinbegeben und dort an ihren Drahtstücken einmal
ein Fünkchen entdecken, an einem anderen Punkte das Ausbleiben des-
selben beobachten, während doch alle erregenden Apparate aufserhalb
der Kammer stehen! — Es ergab sich, dafs für beide Resonatoren
die Stärke der Einwirkung in den verschiedenen Punkten ziemlich
gut durch eine Wellenlinie dargestellt wurde, und zwar lagen für den
kleineren Resonator die Schwingungsknoten und -bäuche in Abständen
von je einem Meter; der erste Schwingungsknoten liegt immer im
Spiegel selbst Die Länge einer ganzen Welle, d. h. der doppelte
Abstand von zwei auf einander folgenden Knoten beträgt somit
vier Meter, oder das Achtfache des Kreisdurchmessers. Entsprechen-
des ergab sich auch für den grofsen Resonator. Die Wellen liefsen
sich in beiden Fällen bis zum Abstand von etwa acht Metern ver-
folgen.
Da diese Resultate in vollkommener Uebereinstimmung mit den-
jenigen stehen, welche von denselben Forschern bei den an Drähten
angestellten Versuchen erhalten worden sind, so ist die Gleichheit der
Fortpflanzungsgeschwindigkeit in dem einen und anderen Falle nach-
gewiesen, und so mit Hülfe dieser Apparate, zu deren Dimensionen
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die experimentellen Ergebnisse, äußerlich betrachtet, in einem Mifs-
verhältnifs zu stehen scheinen, ein neuer Beleg für die Richtigkeit
der von Faraday und Maxwell entwickelten und jetzt von dem
Namen Hertz getragenen Anschauungen geliefert. Sp.
Verzeichnis der vom 1. August 1892 bis 1. Februar 1893 der Redaktion
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Andr(* M. CM Relations des Phlnomenes Met^orologiques deduites de leurs
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Andr6 M. C., Travaux de i’Observatoire de Lyon, H. George, 1892.
Annuaire de l’Observatoiro Municipal de Montsouris pour les Annies 1892
bis 1893, Paris, Gauthicr-Villars et Fils.
Aschieri T., EfTemeridi del Sole e della Luna per L’Orizone di Torino e per
l’Anno 1893, Torino, C. Clausen, 1893.
Bai bis Allgemeine Erdbeschreibung, Lieferung 11 — 18, Wien, A. Hartleben, 1892.
Berzelius J., Versuch, die bestimmten und einfachen Verhältnisse aufzu 6 nden,
nach welchen die Bestandtheilo der unorganischen Natur mit einander
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Verlag von Hermann Paetel in Berlin. — Druck von Wilhelm Gronau's BuchdruckereJ in Borlin.
FUr die Redaction verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Moyer in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Ueberselxungsrccht Vorbehalten.
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Fclsenthor an der Küste der Insel Wight.
(Nach cinor Photographie.)
Die Entstehung der Welt nach den Ansichten von
Kant bis auf die Gegenwart
Von F. K. tiinzel. Astronom am Recheninstitute der Könitfl. Sternwarte zu Berlin.
h
c \l]a den folgenden Aufsätzen wird der Versuch gewagt, das überaus
; ) reichhaltige und vielfach in Zeitschriften und Werken zerstreute
^ Material von Ansichten, welche über die Entstehung der Welt
und namentlich unseres Sonnensystems seit dem Erscheinen der Kant-
schen „Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755) geäufsert
worden sind, in knapper Form zusammenzufassen und den Lesern
dieser Zeitschrift hiermit eine Uebersicht des derzeitigen Standes der
Weltbildungsfrage vorzulegen. Die älteren, vor Kant datirenden
Hypothesen sind nicht in den Hereich der Darstellung gezogen worden,
da sie unseren heutigen wissenschaftlichen Begriffen schon zu ferne
liegen und manche selbst noch ohne Kenntnifs des Gravitationsgesetzes
entstanden sind. Es ist ferner hier nicht überflüssig, hervorzuheben
und zu erinnern, wie sehr gerade auf dem hier zu behandelnden Gebiete
der astronomischen Wissenschaft, der Kosmogonie, durch Hypothesen
aller und oft zweifelhaftester Art grobe Verstiifse gegen die Prinzipien
wissenschaftlicher Arbeit begangen worden sind. In der That würde
es unmöglich sein, und nebenbei bemerkt, auch ohne wissenschaft-
lichen Gewinn an der Sache selbst, die Monge der existirenden
Theorien innerhalb des Kähmens einer Zeitschrift vollständig anzu-
geben; vielmehr verdienen nur solche Hypothesen wissenschaftliche
Berücksichtigung, deren Durchfuhrungsart die meiste Garantie für den
logischen Aufbau der Schlufsfolgerungen bietet und deren Konse-
quenzen mit unseren gegenwärtig aus den Beobachtungen gezogenen
Vorstellungen über die Beschaffenheit des Kosmos halbwegs im Ein-
klänge stehen.1)
’) Eine besonders eingehende Kritik der zur Sprache kommenden
Theorien konnte in den folgenden Aufsätzen, wo die Darstellung der Theorien
Himmel und Erde. 1693. V. 7. 21
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302
L. Charakterisirung der hauptsächlichsten
Weltbildungstheorien.
„Bei Beantwortung der F rage, wie sich die Welt aus dem Ur-
stoffe gebildet hat, handelt es sich für die Wissenschaft eigentlioh
um den Nachweis der Existenz von Grenzen für die Tragweite der
Naturgesetze, welche den Verlauf alles gegenwärtig Geschehenden
beherrschen; ob diese Gesetze auch in der Vorzeit von jeher giltig
gewesen sein können, und ob sie es auch in der Zukunft immer
werden sein können, oder ob bei Voraussetzung einer ewig gleich-
mäfsigen Gesetzmäfsigkeit der Natur unsere Rückschlüsse aus den
gegenwärtigen Zuständen auf die der Vergangenheit und Zukunft uns
nothwendig auf unmögliche Zustände und die Nothwendigkeit einer
Durchbrechung der Naturgesetze, eines Anfanges, der nicht mehr
durch die uns bekannten Vorgänge herbeigeführt sein könnte, zurück-
leiten. Die Anstellung einer solchen Untersuchung über die mögliche
oder wahrscheinliche Vorgeschichte der jetzt bestehenden Welt ist
also von Seiten der Wissenschaft keine müfsige Spekulation, sondern
eine Frage über die Grenzen ihrer Methoden und die Tragweite der
zur Zeit gefundenen Gesetze.“ (Helmholtz.)
Die Gründe für das Vorhandensein derselben Naturgesetze bei
der Bildung des Sonnensystems, die noch heute in demselben unauf-
hörlich walten, also für eine völlig gesetzmäfsige Entwickelung der
Planetenkörper, fand der grofse Königsberger Philosoph aus einer
allgemeinen Betrachtung des Baues und der Beschaffenheit der uns
umgebenden Planetenwelt. Einer solchen Betrachtung drängt sich
zunächst die Gleichsinnigkeit der Bewegung der Hauptplaneten und
ihrer Satelliten, sowohl um die Sonne wie um ihre eigenen Axen
selbst, auf, sodann die geringe Abweichung der Ebenen von einander, in
welohen sie ihre Bewegung vollziehen. Ferner leiten Beobachtungen
über die Gestalt und die physische Beschaffenheit der Planeten zu
selbst schon beträchtlichen Raum einnimmt, nicht unternommen werden. Die
emgcstreuten Bemerkungen werden indefs hinlänglich über den Werth ein-
zelner Hypothesen instruiren. Was von einem allgemeineren Standpunkte aus
über den Gegenstand zu sagen ist, wird in einem besonderen Abschnitte des
letzten Aufsatzes dargelegt worden. — Einen ähnlichen Versuch der Zusammen-
fassung der neueren kosmogonischen Theorien hat vor einigen Jahren C. Wolf
in Paris gemacht (Lee Ilypotheses cosmogoniques. Paris 1886). Der Leser
wird finden, dafs in den vorliegenden Aufsätzen noch erheblich mehr Material
verarbeitet worden ist, als in dom letzteren Werke. Wer sich mit den An-
sichten der Griechen, Römer u. s. w. über die Entstehung der Welt vertraut
machen wül, findet Näheres in der ersten Abtheilung des Buches von M. Fave:
1,'Origine du Monde. Paris 1885.
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303
•der Vermuthung, dafs die Stoffe, aus denen sie geformt sind, manche
Verwandtschaft untereinander haben müssen, und da wir in der Gegen-
wart keinen dieser Stoffe im Welträume konstatiren können, höchstens
dem Welträume eine aufserordentlich feinvertheilte Materie zuschreiben
dürfen, so gelaugen wir zu dem weiteren Schlüsse, dafs die die Planeten
bildenden Grundstoffe einstens im Welträume aufgelöst vorhanden ge-
wesen sein mögen und dafs sich aus ihnen unter der Herrschaft von An-
beginn an wirksam gewesener Kräfte die Planeten mit ihren gesetz-
mäfsigen Verhältnissen nach und nach entwickelt haben. Kant bedurfte
also für den Aufbau seiner Hypothese nur zweier Voraussetzungen:
dafs der weltbildende Stoff ursprünglich in feinster Vertheilung und
verschiedenster stofflicher Beschaffenheit den Raum erfüllt habe, und
dafs die Schwerkraft zwischen diesen zerstreuten Theilchen in Wirkung
gewesen sei. Die stoffliche Verschiedenheit der Urpartikel wird den-
selben auch eine verschiedene Dichtigkeit gegeben haben, und im
allgemeinen wird die Menge der dichteren Theilchen weniger zahlreich
und im Raume zerstreuter gewesen sein, als jene von geringer Dichte.
In einer so beschaffenen Urmaterie gehen aber vermöge der zwischen
den Theilchen auftretenden Anziehung und Abstofsung sofort Be-
wegungen vor sich. Um Elemente dichter Art sammeln sich Partikel
von minderer Schwere, diese selbst in Vereinigung mit den dichteren
Elementen konzentriren sich an Stellen, wo Partikel von noch gröfserer
Dichte bereits einen Sammelpunkt gebildet haben u. s. w. Sohliefslich
wird es einen Punkt geben, von dem aus die Anziehung stärker als
an allen anderen Orten des Raumes wirkt; der in Bewegung gerathene
Grundstoff wird sich dorthin senken, und die Bildung eines Central-
körpers ist in Vorbereitung. Andererseits bewirkt die Abstofsungs-
kraft zwischen Theilchen gleicher Dichte eine Ablenkung ihres
Falles zum Centralkörper. Es entstehen hierdurch wirbelartige Be-
wegungen, die Theilchen beschreiben unabhängig von einander krumme
Linien, und dies Spiel dauert so lange, bis die einer gemeinsamen
Bewegungsrichtung widerstrebenden Kräfte überwunden sind, die
Theilchen einander nicht mehr durchkreuzen, vielmehr langsam in
derselben Richtung parallel laufende Kreisbewegungen um das gemein-
same Centrum ausführen, d. h. der vermöge der allgemeinen Schwere
kugelförmige Centralkörper zu rotiren beginnt. In diesem Central-
körper wird der gröfste Theil jener Partikel vereinigt sein, die eich
durch grofse Schwere auszeichnen, denn diese können, weil sie
weniger schnell von ihrem Wege abgelenkt werden als die von ge-
ringer Schwere, am meisten in den Centralnebel Vordringen; die
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304
anderen werden in weiteren Entfernungen davon schweben bleiben-.
Auf diese Weise erscheinen die Planeten von desto gröfserer Dichte,
je näher der Sonne sie gebildet worden sind. Ferner werden die
Kreise, in welchen die geeinigte Bewegung um den Centralkörper
stattfindet, anfänglich in Ebenen liegen, die sehr verschieden gegen
einander geneigt sind; allmählich aber wird sich aus der Verschieden-
heit der Bewegungen eine Axe heraussteilen, gegen welche hin sich
die Partikel näher zusammendrängen, und es werden mehrere, von
einander nicht viel abweichende Ebenen entstehen, auf denen die Kreis-
bewegung der Atome um den Centralnebel vor sich geht Die
Planetenbildungen werden somit zwischen diesen Ebenen hauptsäch-
lich stattfinden. Die sich vermöge der Anziehung zusammensetzenden
Massen werden, da die allgemeine Bewegung alles Stoffes in Kreisen
um den Hauptnebel geschieht, eben in derselben Weise und in derselben
Richtung ihre Bahn um den Centralnebel verfolgen. Demnach müssen
die Bahnen der Planeten nahe kreisförmig sein und fast in einer und
derselben Ebene liegen. In ähnlicher Weise, wie sich aus dem zer-
streuten Urstoff der Centralnebel der Sonne und die Planeten sich
bildeten, enstanden die Satelliten. Denn was die Sonne mit ihren
Planeten im grofsen war, stellte ein Planet, der eine ausgedehnte An-
ziehungssphäre besafs, im kleinen dar. „Indem der sich bildende
Planet die Partikel aus dem ganzen Umfange zu seiner Bildung be-
wegt, wird er aus dieser sinkenden Bewegung Umlaufsbewegungen,
und zwar solche erzeugen, die eine gemeinschaftliche Richtung haben,
und ein Theil dieser so bewegten Partikel wird die gehörige Mäfsigung
des freien Kreislaufes bekommen und in dieser Einschränkung sich
einer gemeinsamen Fläche nahe befinden, ln dem Raume nahe um
diese Fläche werden sich Monde bilden, wenn die Attraktion sich
weit genug erstreckt“. Mondbildungen können, da viel Stoff hierzu
erforderlich ist und eine weite Sphäre der Attraktion bedingt wird,
nur bei Planeten von grofser Masse (Jupiter, Saturn vorzugsweise)
eintreten.
Dies sind die Grundgedanken der Kantschen Hypothese.
William Herschel begann 30 Jahre nach dem Erscheinen der
„Naturgeschichte und Theorie des Himmels" mit gewaltigen, von ihm
selbst gebauten Teleskopen tiefer als alle Astronomen vor ihm in die
Geheimnisse der Sternenwelt einzudringen. Die überaus merkwürdigen
und mannigfaltigen Formen der Nebelflecke, die seine Instrumente
enthüllten, leiteten auch ihn auf Ansichten über den Aufbau der
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Welt.2) Er vermuthete in den formlosen grofsen Ballungen der
helleren Nebel den Anfang von Prozessen zu werdenden Welten:
Ansammlungen leuchtender Materie, in weloher Konzentrirungen statt-
finden. Die wohl begrenzten kleineren Nebel von kugelförmiger Ge-
stalt waren ihm schon in der Kondensirung weit vorgeschrittene
Körper, die in deren Nähe oft befindlichen Sterne, vielleicht Satelliten.
Die planetarischen Nebel mit ihrem festen, vielfach abgeplattet er-
scheinenden Kerne und der feinen sie umgebenden Nebelhülle waren
nach Hersohel nahezu fertige, in der letzten Entwicklungsepoche
begriffene Weltkörper.
Einundvierzig Jahre später als Kant, und zwar ganz unab-
hängig von diesem, und vielleicht nur angeregt durch die wunder-
baren Ile rs ohe Ischen Entdeckungen, sprach der berühmte Verfasser
der „Mechanik des Himmels“, Pierre Simon Laplace in seiner
„Exposition du Systeme du Monde“ (1796) seine Ansicht über die
Entstehung des Sonnensystemes aus.3) Der Urnebel war eine, den
Nebelflecken ähnliche, elastische Gasmasse, deren Schichten sich in
Rotation befanden. Laplace setzt also einen bereits existirenden
und röhrenden Centralnebel (die Sonne) voraus und leitet nicht erst,
wie Kant, dessen Entstehung ab. Ein solcher aus heifsen, dünnen
Gasen bestehender Centralkörper wird seine Begrenzung da haben,
wo die Centrifugalkraft der Schwerkraft das Gleichgewicht hält. Der
Umschwung dieser Masse beschleunigt sich nach den Gesetzen der
Mechanik in dem Mafse, als die Abkühlung der Gase an der Ober-
fläche vorwärts schreitet, wobei die Moleküle sich mehr dem Centrum
nähern und die ursprüngliche Kugelgestalt eine erhebliche Abplattung
erhält. Während der Abkühlung und zunehmenden Rotation werden
von den Gasen, die sich bis an die Grenze ausbreiteten, wo die Cen-
trifugalkraft der Schwere nach dem Centrum gleich war, Theile sich
abgelöst haben, die frei um den Hauptkürper weitercirculirten. Es
werden sich allmählich ganze Zonen, Ringe, von der Sonne getrennt
haben, und die Reibung der darin enthaltenen Moleküle mufste die
Bewegung aller schliefslich auf dieselbe Geschwindigkeit zurückführen.
Die gegenseitige Attraktion der Moleküle zog einzelne Ringe zusammen
in eine Masse, oder die Moleküle bildeten, ohne sich zu kondensiren,
mit ihren zerstreuten Theilchen einen Ring, der mit der Abkühlung
in einen flüssigen Zustand gerieth.
’) Philosoph. Transaotions. 1811.
s) ln der ersten Ausgabe dieses Werkes Bind nur die Hauptideen der
Theorie niedergelegt und erst in den Auflagen von 1808, 1813, 183S wurden
sie weiter entwickelt.
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306
Die letztere Erscheinung ist seltener eingetreten (nur beim
Satumringe), da sie eine große Regelmäßigkeit der Vorgänge ver-
langt; zumeist erfolgte nur die Kondensirung der Ringe in viele
Massen, die mit wenig verschiedener Schnelligkeit um die Sonne
circulirten. Bald erhielten diese letzteren Massen eine sphäroidische
(abgeplattete) Form, und da ihre inneren Moleküle weniger Schnellig-
keit hatten, wie die äußeren, auoh eine mit dem Umschwung um die
Sonne gleichsinnige Rotation; es entstanden, mit einem Worte, Planeten
in heißem, dampf- oder gasförmigen Bildungszustande. Die Bahnen
dieser Urplaneten würden, wenn die Entwickelungen mit völliger
Regelmäßigkeit ihren Gang verfolgt hätten, Kreise sein, deren Ebenen,
sowie die der Aequatoren der verschiedenen Planeten, mit dem Sonnen-
äquator zusammenfallen müßten; aber die außer ordentliche Verschieden-
heit der Temperaturen und der Dichten war die Ursache, daß Ab-
weichungen vom Kreise eintraten und die Bildung in mehreren, etwas
von einander differirenden Ebenen Platz griff. Bei völliger Regel-
mäßigkeit würden die Moleküle eines jeden Ringes sämtlich zu einer
sphärischen Dampfmasse vereinigt worden sein, und wir würden in
unserem Sonnensystem nur große Planeten haben; aber die Natur
bietet uns in den vielen kleinen, zwischen Mars und Jupiter kreisen-
den Planetoiden auch den Fall einer Katastrophe, bei der ein einst vor-
handener großer Körper in viele Theile zersprungen sein mag.
Die beiden in Kürze auseinandergesetzten Weltbildungsansichten
sind in ihrer Verbindung unter dem Namen der Kant-Laplaceschen
Nebularhypothese wohl bekannt. Wenn diese Hypothese, um daraus
die heute von uns beobachteten thatsächlichon Verhältnisse des Sonnen-
systems zu erklären, auch keineswegs ganz einwurfsfrei ist, wie wir
später darlegen werden, so spricht doch eine Ueberzahl von Gründen
für die Richtigkeit ihrer Hauptzüge. Es lassen sich aus ihr nicht
blos die Gesetze der Planetenbewegung ableiten, sondern man gelangt
mit ihr im allgemeinen auch zur Bestätigung der Sohlüsse, welche
das spektralanalytische Studium der Planeten- und Steraenwelt während
der letzten dreißig Jahre zu Tage gefördert hat. „Die Vorgänge in
der Natur im weitesten Umfange scheinen uns, wenn wir sie rück-
wärts verfolgen, auf diese Hypothese allein zu führen, wie die Art
und Weise des Gehens einer Uhr uns zu dem Sohlüsse führt, daß
sie einst aufgezogen wurde.“ (Newcomb). Es ist erklärlich, wenn
gewisse Schwächen der mechanischen Seite der Nebularhypothese
schon in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderte, lange vor Begrün-
dung der Spektralanalyse, Angriffe hervorgerufen haben und wenn
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307
sie, ihres unbestreitbaren inneren Werthes wegen, gegen letztere ver-
theidigt worden ist. Einer der eifrigsten und geschicktesten ihrer
Verfechter war Friedrich Weifs;-*) dieser bemühte sich, die völlig
gesetzmäfsige Entwickelung der Planeten und Monde auf Grund der
Prinzipien der Nebularhypothese strenge nachzuweisen, daraus die
heutigen Massenwerthe der Planeten und Dichtigkeiten abzuleiten, die
Balmneigungen und Axenstellungen zu erklären, wobei ihm freilich
auch manche Kreisschlüsse unterliefen; es gebührt ihm ferner das
Verdienst, indem er seine Entwickelungen bis zur Darstellung der
Oberflächenbeschaffenheit der Planeten, namentlich des Mondes und
der Erde, verfolgt, die Nebularhypothese in ihren Konsequenzen er-
schöpfend behandelt zu haben.
Nooh verständlicher in ihrem Wesen ist uns die Kant-Lap lace-
sche Ansicht durch die Ausführungen von Helmholtz5) über das
Gesetz von der Erhaltung der Kraft geworden. Nach diesem Gesetze,
das wir später bei Betrachtung der Kosmogonie der Sonne näher aus-
einandersetzen wollen, besitzt das Weltall von Uranfang an einen ge-
wissen, der Gröfse nach für alle Zeiten unveränderlich bleibenden
Vorrath an Kraft, welcher während der Bildung des Sonnensystems
zum grofsen Theil in Wärme verwandelt worden ist. In dem Ur-
Nebelballe stiefsen nämlich die feinen Theilchen boi dessen Verdichtung
aufeinander, die lebendige Kraft ihrer Bewegung wurde in Wärme
umgesetzt, ein anderer Theil der Kraft aber blieb dem Sonnensysteme
in der Anziehung der Planeten durch die Sonne und in anderer Form
erhalten. Unter der Voraussetzung, dafs am Anfänge die Diohte des
Umebels verschwindend gering gewesen sei gegen die heutigen Dichtig-
keiten der Planeten und der Sonne, ergiebt die Rechnung, dafs
gegenwärtig nur noch der 464. Theil der ursprünglichen mechanischen
Kraft als solche existirt, und dafs das Uebrige, in Wärme umgesetzt,
genügend sein würde, eine der Masse der Sonne und Planeten zu-
sammen genommen gleiche Wassermasse um 28 Millionen Grad Cels.
zu erhitzen. Eine solche enorme Wärmemenge würde die Konden-
sirung der planetarisohen Körper auf ihro heutige Dichte nicht ge-
stattet haben, sie mufste erst gröftsentheils in den Weltraum
ausstrahlen und ging so für das Sonnensystem verloren, blieb aber
dennoch dem Weltall erhalten. Die Sonne produzirt durch ihre fort-
schreitende Verdichtung auf viele Millionen Jahre hinaus noch die jetzige
*) Die Gesetze der Satellitenbildung. Gotha 1860.
l) „Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte" und „Ueber die Er-
haltung der Kraft" (Populäre wissensch. Vorträge II. Heft. 1876).
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308
Wärme. Die anderen Glieder des Sonnensystems haben, weil die
Anziehung der zur Verdichtung herangezogenen Massen bei ihnen
geringer war, nicht zu so hohen Temperaturen gelangen können, die
Erde bis auf 9000 Grad. Letztere, sowie die kleineren Planeten und
der Mond, konnten sich schneller abkühlen und nahmen eine gröfsere
Dichte an. Die sehr grofsen Massen des Jupiter, Saturn, Uranus.
Neptun hatten wahrscheinlich hohe Temperaturen und langsame Ab-
kühlung, wie die Sonne, und zeigen darum, gleioh der letzteren, eine
geringe Dichtigkeit.
Diese Gedanken hat Xewcombc) benützt, eine allgemeinere
Ansioht über die Bildungsweise der Weltkörper zu formuliren.
Danach repräsentiren die unregelmäfsigen grofsen Nebelflecke
den primitiven Zustand der Materie, nämlich jenen, in dem infolge von
Umsetzung mechanischer Arbeit in Wärme, der Aether des Welt-
raumes durch die Bewegung der Nebeltheilchen in Schwingungen
versetzt wird, und die Nebel uns vermöge dieser Bewegungsform der
Materie sichtbar erscheinen. Die Anziehungskraft bewirkt in solchen
Nebeln mit der Zeit tegelmäfsigere Formationen, Umbildungen in
Spiral- und Ringnebel, oder durch Verdichtungen an einzelnen Centren
Kernnebel und Nebelsterne. Die fortdauernde Verdichtungsarbeit
erzeugt gröfstentheils Wärme, welche zur Verwandlung der Kernnebel-
massen in den flüssigen Zustand führt. Es sind damit Sterne ge-
schalten, d. h. Körper aus glühend-flüssigen Stoffen, deren Temperatur
eine so hohe ist, dafs die darin enthaltenen Elemente noch keine
chemische Verbindungen unter einander eingehen können (Disso-
ciation). Die weifsen Sterne befinden sich im höchsten Glühzustande,
die rothen im kühlsten, am weitesten in der Entwickelung vorge-
schrittenen Zustande. Mit der gesteigerten Ausstrahlung der Hitze
und Abkühlung der Sternoberflächen konnten chemische Verbin-
dungen und Niederschlagsprodukte entstehen. Die in Konzentration
getretenen Nebel liefern aber auch, ganz im Sinne der Kant-
Laplaceschen Hypothese, abgelöste Ringe, die entweder bestehen
bleiben oder sich zu Trabanten zusammenballen. Der tellurisohe
Zustand der Sterne tritt ein, sobald der Entwickelungsprozefs so weit
vorgeschritten ist, dafs die Abkühlungsprodukte die ganze Oberfläche
zu überdecken beginnen und eine feste Kruste sich vorbereitet. Ein
so weit ausgebildeter Stern erlischt schliefslich für unser Auge, oder
es finden auf ihm noch zeitweise Ausbrüche der glühenden Massen
') Populäre Astronomie. I. Aull. 1881.
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309
statt (sog. neue Sterne). Die schweren chemischen Verbindungen
lagern sich gegen das Centrum des Sternes, die leiohteren an der
Oberfläche, die Gase über der letzteren. Vielfache Wechselwirkungen
der die Atmosphäre zusammensetzenden Gase und der festen Stoffe
führen endlich für das werdende Gestirn die ersten Anfänge geo-
logischer Epochen herbei.
Auch Faye7) läfst die Welt aus Urstoff, der mit dem Stoffe der
heutigen Nebelflecke identisch ist, entstehen. Der Urnebel war
schwach leuchtend, von wirbelartigen Bewegungen durchzogen, wie
wir solche bisweilen in unserer Atmosphäre bemerken. Die meisten
Spiral- und Ringnebel bildeten sich irregulär, nur dort, wo die Ge-
stalt der Nebel sphärisch war, traten regelmäßige Nebelringe auf.
Die Wirbelbewegung führte zu einer Vielheit von großen Nebel-
massen; aus einer der letzteren ging unser Sonnensystem hervor.
Nur bis hierher zeigt die Fayesche Hypothese einigermaßen Aehn-
lichkeit mit der Newcombschen; ihre weiteren Ausführungen nehmen,
wie wir im nächsten Aufsatze sehen werden, Stellung gegen die
Nebularhypothese.
Während die bisher in Kürze orläuterten Theorien sämtlich von
einem äußerst dünnen Centralnebel ausgehen und für die Bildung der
Welt eine organisohe, durch Jahrtausende fortgesetzte Entwickelung
dieses Nebels, mehr oder weniger mit Beibehaltung der Kant-Laplace-
schen Ideen, annehmen, giebt es auch eine Anzahl Hypothesen, welche
auf wesentlich anderen Voraussetzungen fußen. Hierzu gehören die
Hypothesen der Zusammenstöße kosmischer Massen. Nach Crolls
Meinung*1) würde bei der Kollision zweier fester Körper von der
halben Größe unserer Sonne die durch Stoß erzeugte Wärme so be-
deutend sein, daß beide Körper in Dampf verwandelt werden müßten.
Dieser Zusammenstoß würde auf 50 Millionen Jahre hinaus Wärme
liefern, wenn man die Geschwindigkeit des Aneinanderprallens auf
200 engl. Meilen per Sekunde annähme, und für einen größeren Zeit-
raum müßte man diese hypothetische Geschwindigkeit noch beträcht-
lich erhöhen. Wird die Existenz solcher kosmischen Kollisionen und
Geschwindigkeiten zugegeben, so würde also unsere heutige Sonne und
der zum Aufbau des Sonnensystems nothwendig gewesene Umebel das
Resultat einer Katastrophe im Weltruume sein können. Allein an und
für sioh ist die Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen im Welt-
’) L’Origine du Monde, Paris 1885. Chapitre XIII.
*) On the probable origin and age of the Sun. (Quart Journ. of
Science. 1877).
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310
gebäude und insbesondere für das Sonnensystem gering, ferner über-
schreiten die geforderten Geschwindigkeiten zwar nicht die Möglichkeit,
liegen jedoch unter den wirklich beobachteten sehr hoch. Bei
eruptiven Protuberanzen der Sonne sind Geschwindigkeiten bis zu
180 engl. Meilen wahrgenommen worden, bei einigen wenigen Kometen
war die Schnelligkeit der Bewegung in der Sonnennähe beinahe der
doppelte Betrag der Protuberanz-Geschwindigkeit. Abgesehen von
alldem würde es zu einer Bildung von Planeten im Crollscben
Sinne wegen vorheriger Zerstreuung der Wärme im Raume gar
nicht gekommen sein. Die Hypothese wird ferner erweitert durch die
Behauptung, dafs auch Satelliten durch Kollisionen entstünden, dafs
die Nebelflecke durch Zusammenstöfse ihr Dasein erhalten hätten, dafs
aus einem völlig erkalteten Planetensysteme durch Zusammenstöfse
eine neue Sonne hervorgerufen werden könne.
In neuerer Zeit hat Professor Ritter9) die Möglichkeit kosmischer
Zusammenstöfse durch Rechnung darzuthun versucht. Unter gewissen
Annahmen über die Beschaffenheit von Sternhaufen zeigt derselbe,
dafs unter Umständen im Innern solcher Sternhaufen zwischen ein-
zelnen Sternen beträchtliche Bewegungsgeschwindigkeiten entstehen
können, schon bevor diese Körper in ihre gegenseitige Anziehungs-
sphäre treten. Ritter ist geneigt, den kosmischen Zusammenstüfsen
namentlich in Beziehung auf eile Bildung der Nebelflecke einen we-
sentlichen Antheil einzuräumen.
Auch K. Braun stützt in seiner „Kosmogonie vom Standpunkte
christlicher Wissenschaft“ (Münster 1889) ln) die Weltbildung auf Zu-
sammenstüfse. Nach ihm haben einst viele grofse Nebelmassen existirt
Wenn sich einige derselben, die einander verhältnifsmäfsig nahe ge-
nug waren, verdichtet hatten, konnte die gegenseitige Anziehung so
wachsen, dafs sie sich schnell einander näherten und schliefslich zu-
sammenstiefsen. Die Spiralnebel denkt sich Braun auf solche Art
entstanden. Was speziell unser Sonnensystem betrifft, so schätzt er
aus der Entfernung der nächsten Fixsterne, dafs ein ursprünglicher
*) Zehnte Abhandlung der mathematisch-physikalischen Arbeit „Ueber
die physische Konstitution gasförmiger Weltkörper* (Wiedemanns Annalen,
neue Folge, vol. XII). Auf diese sehr interessanten, neunzehn Abhandlungen
umfassenden Untersuchungen, welche die allermeisten kosmogonischen Fragen
berühren, werden wir in den späteren Aufsätzen wiederholt zurückkommen.
I0) So sehr ein „christlicher Standpunkt* bei vielen Dingen der Welt
vielleicht seine Berechtigung hat, so soll doch bei wissenschaftlichen Unter-
suchungen keinesfalls irgend eine religiöse Anschauung, sondern nur die
logische Behandlung des Gegenstandes mafsgebend sein. Im vorliegenden
Falle wird die Entschuldigung dafür leichter, da der Verfasser nicht blos
Priester, sondern zugleich ein verdienstvoller Gelehrter ist
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311
Nebelball unseres Systems solche Zusammenstöße mit Massen aus der
Entfernung von 50 Billionen Kilometer erlitten haben kann. Durch
einige derartige Kollisionen könnte die Masse der Sonne, die ur-
sprünglich klein gewesen sein mag, außerordentlich vergrößert worden
sein; eine Rotation der Sonne wurde durch Zusammenstöße nur in
Ausnahmefällen herbeigeführt, wenn die Kollision nicht central, son-
dern in excentrischer Richtung erfolgte. Namentlich von einer aus
großer Entfernung durch Störungen der Fixsterne abgelenkten Masse
konnte die Stärke und Richtung der Rotationsbewegung der Sonne
entschieden werden. Die äquatoreale Zone der Sonne erhielt die letzte
Zufuhr von Nebelmaterie aus dem Welträume und besitzt, da diese
Materie am spätesten der Sonne einverleiht worden ist, noch einen
Theil des Geschwindigkeitsuberschusses, indem sie schneller rotirt als
die polaren Zonen. In diesem rotirenden Sonnennebel bildeten sich ver-
schiedene Kondensationscentra, keine Ringe; die Laplacesche Ring-
bildung sei unriohtig. Diese Centra mögen fünfmal weiter vom Sonnen-
centrum entfernt gewesen sein, als die Planeten heute von der Sonne
abstehen, und jedem dieser Centra mag einer der großen Planeten
entsprungen sein. Jeder sich bildende Planet war aber der Wir-
kung dreier Kräfte unterworfen: der Schwerkraft gegen die Sonne,
der Fliehkraft und dem ärostatischen Auftriebe, welchen das um den
Planeten befindliche, gegen das Sonnencentrum gravitirende Gas auf
ihn ausübte. Mit zunehmender Dichte des Planetengasballes wurde
der ärostatische Auftrieb im Verhältniß zu den beiden anderen Kräften
schwächer, die Schwerkraft bekam die Ceberhand und der werdende
Planet ward näher zur Sonne herangezogen. Mit der Annäherung
nahm auch die Fliehkraft zu und zwar mehr als die Schwerkraft, die
Bewegung gegen die Sonne wurde langsamer und der Gasball hatte
Zeit, seine Masse durch Anziehung weiteren, auf seinem Wege befind-
lichen Stoffes zu vermehren. Mit der weiter wachsenden Dichte
wiederholte sich das Spiel der Bewegungen, und der Planetenball kum
so allmählich in Spirallinien der Sonne näher. Durch die Aufnahme
des größten Theils des Umebels seitens der Planeten auf ihren Wegen
zur Sonne ist gegenwärtig im Sonnensysteme nur noch ein Rest der
Nebelmaterie in der Korona - Umhüllung der Sonne vorhanden.
Schließlich hatten sich die Planeten der Sonne soweit genähort, daß
die Fliehkraft allein der Schwerkraft gleich wurde, dann folgten die
Planeten in ihrer Bewegung dem dritten Kepler sehen Gesetze. 1 ‘)
’■) Die Quadrate der Umlaufazeiten verhalten eich wie die dritten Potenzen
der mittleren Planetenentfernungen von der Sonne.
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312
Ihre Rotation um sich selbst erlangten die Planeten durch den Wider-
stand, den sie vom Centrum der Sonne aus durch den daselbst ver-
dichteten Nebelstoff erfuhren; indem sie ihre Bahn um die Sonne zu
verfolgen suchten, war dieser Widerstand grüfser auf der ihr näher
befindlichen Seite als auf der von ihr entfernten. Die daraus hervor-
gehende Hemmung soll der Antrieb zur Rotation gewesen sein.
Einige den Grundlagen der Braunschen Hypothese verwandte
Anschauungen enthalten die verschiedenen Ausführungen von F.
Kerz.12) Die Rotation des Sonnennebels wird durch einen Nebelball
von sehr grofser Masse (der 500 — lOOOfachen der Erde) bewirkt,
welcher mit der Sonne in oxoentrischer Richtung zusammengestofsen
sein soll. Die entstehende ungeheure Hitze löste den Sonnennebel
in Dampf auf und gab ihm eine Ausdehnung bis zu den Grenzen des
Sonnensystems. Das so entstandene rotirende Nebularellipsoid plattete
sich ab, seine Umdrehungsaxe verkleinerte sich, es fanden „Schal-
ablösungen“ statt, deren Nachweis sich der Verfasser durch vielfache
Rechnungen und Konjekturen zu erbringen bemüht. Solche Schalen
findet er 15, von denen 9 zur Bildung der 8 Planeten gedient haben.
Die ganze Hypothese hat, obwohl in den betreffenden Schriften das
Gegentheil versichert wird, mit der Kant-Laplaceschen Nebular-
hypothese keine Gemeinschaft mehr.
Zum Schlufs müssen wir noch einer eigenthümlichen Welt-
bildungstheorie gedenken, die der kühne Umsegler Asiens, Professor
Nordenskjöld in der dritten Abtheilung li) seiner „Studien und
Forschungen“ (Leipzig 1885) aufgestellt hat. Nordenskjöld ist durch
zahlreiche Beobachtungen in Polargegenden zu der Ueberzeugung ge-
langt, dafs der dort stellenweise die Schneefelder bedeckende Staub kos-
mischen Ursprungs sei, d. h. der Erdoberfläche im Verlaufe der Zeit aus
dem Welträume zugeführt werde. Er ist der Meinung, dafs die Zahl der
jährlich auf die Erde herabstürzenden Meteoriten und namentlich die
Quantität des fallenden kosmischen Staubes eine viel gröfsere ist, als
man sonst angenommen hat. Nach seinen Schätzungen würde die Erde
jedes Jahr eine Zufuhr von mindestens zehn Millionen Tonnen solcher
Stoffe aus dem Welträume erhalten. Obwohl wir über die Form, in
welcher der wahrscheinlich gegenwärtig noch in grofser Menge im
Welträume vorhandene, einstmals aber denselben ganz erfüllende kos-
") Die Entstehung des Sonnensystems. Darmstadt 1877. — Nachträge
1884, 1888. — Weitere Ausbildung der Laplaceschen Nebularhypothese 1890.
,s) üeber die geologische Bedeutung des Herabfallens kosmischer Stoffe
auf die Oberfläche der Erde
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313
mische Staub existirt, nichts näheres wissen, ist doch wahrscheinlich,
dafs er wolkenartige Ansammlungen bildet. Eine solche Wolke fein
vertheilter meteorischer Partikel von ungeheurer Ausdehnung stellte
anfänglich unser Sonnensystem vor. Durch Attraktion der Partikel
zog sich diese Wolke zusammen, ohne dabei zu einer besonders hohen
Temperatur zu gelangen. Es bildete sich schliefslich ein fast scheiben-
förmiger Körper, der schwach um eine Axe rotirte. In diesem Körper
konnten im Laufe der Zeit zerstreute Kerne durch Attraktion ange-
sammelten Staubes entstehen, welche sich bisweilen vereinigten und
ihre bei der Zusammenziehung entwickelte Wärme durch Ausstrah-
lung an den Weltraum verloren. Auf diese Weise sind die Pla-
neten entstanden; sie sind nichts weiter als Aggregate kalter, fester,
kosmischer Partikel. Eine Erhitzung trat erst ein, als feste Massen
vorhanden waren; dieselbe wurde aber nie so bedeutend, dafs sie
den ganzen Planeten hätte in den Schmelzungsprozefs versetzen
können. Selbst für den gegenwärtigen Zustand der Sonne braucht
man nach Nordenskjöld nicht ungeheure Temperaturen vorauszu-
setzen. Wenn angenommen würde, dafs neben den drei Aggregations-
zuständen aller Materie, dem festen, flüssigen und gasförmigen, noch
ein vierter existirt, bei welchem äufsert fein vertheilter Stoff mit dem
Weltäther verbunden ist (Nordenskjöld denkt hier an Crookes
- strahlende Materie“), so könnten die Stoffe, die wir heute mit unseren
Hilfsmitteln bei höchsten Hitzegraden nicht im stände sind zu ver-
flüchtigen, schon bei der niedrigen anfänglichen Temperatur des Ur-
nebels alle in jener Form vorhanden gewesen sein.
Die bisherigen Ausführungen unseres Artikels beschränkten sieh
darauf, eine kurze Skizzirung der hauptsächlichsten Weltbildungs-
hypothesen zu geben und sollten nur dazu dienen, den Leser vorläufig
auf dem Oebiete der Kosmogonie zu orientiren. Wir haben nun die
Konsequenzen der einzelnen Anschauungen zu verfolgen und darzu-
legen, welche Ansichten aus ihnen betreffs der Entwickelung der
Körper unseres Sonnensystems und der Sternenwelt, der Sonne, der
Planeten und Satelliten, der Kometen und Meteore, sowie auch der
Nebel und veränderlichen Sterne, hervorgehen. Zuerst wollen wir die
Einwürfe betrachten, die gegen die Kant-Laplacesche Nebular-
hypothese gemacht worden sind, und die Modifikationen, die man
diesbezüglich, namentlich über den die Ringbildung betreffenden Theil
der Hypothese, vorgeschlagen hat.
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Eine Amerikafahrt 1492 und 1892.
Nach seinem Vortrage im wissenschaftlichen Theater der Urania
bearbeitet von
Dr. M. Wilhelm Meyer.
(Fortsetzung.)
jyjan bemühte sich, nach dem Kompafs genau westlich zu steuern;
■ jv.'y gutes Wetter und günstiger Ostwind kamen dem Unternehmen
’ sehr zu statten.
Am 13. September machte nun Columbus eine bedeutungs-
volle Wahrnehmung, die den ersten Anstois zu vielseitigsten Beobach-
tungen um den ganzen Erdball herum gegeben hat. Er bemerkte
nämlich nicht nur, dafs seine Magnetnadel, welche ja Beine einzige
Führerin war, nicht genau nach Norden hinwies, sondern dafs diese
Abweichung auch eine Veränderung mit der geographischen Lage des
Schiffes erfuhr. Er entdeckte die Declination der Magnetnadel, oder besser,
die Variation der Deklination mit der geographischen Lage. Es mag
hier, um Mifsverständnisse zu vermeiden, eingefligt werden, dafs der
englische und mit ihm auch gelegentlich der deutsche Seemann die
Deklination der Magnetnadel selbst als ihre „Variation" bezeichnet,
während in der Wissenschaft dieses Wort allein nur die tägliche oder
säkulare Veränderlichkeit der Richtung der Magnetnadel, d. h. der
Deklination bedeutet. Diese Veränderlichkeit selbst scheint Columbus
jedoch erst am 17. September erkannt zu haben. Er notirte in seinem
Tagebuch 100 Leguen westlich von den Azoren eine magnetische
Deklination von 11 ". Am 30. September findet er, dafs die Dekli-
nation 0° ist, was allerdings auf einem bedeutenden Beobachtungs-
fehler beruhte; es mufste 8 0 W. heifsen. Es scheint nun, dafs
Columbus von nun an auf den Isogonen von 8° bis f)1 ■> 0 weiter
segelte.
Der Kompafs war den Chinesen bereits zu Anfang des zweiten
Jahrhunderts unserer Zeitrechnung bekannt, aber erst etwa zwei
Jahrhunderte vor der Entdeckung Amerikas gelangte derselbe, wahr-
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315
scheinlich wieder durch Vermittlung der Araber, zur Kenntnifs des
Abendlandes und wurde alsdann von den Seefahrern benutzt.
Die Entdeckung jener hochwichtigen Thatsache der Veränder-
lichkeit der Magnetnadelweisung geschah durch Anvisiren gegen die
Richtung des Polarsterns oder, wie der seemännische Ausdruck lautet,
durch Peilung. Es war von höchstem Werthe, diese Thatsache entdeckt
zu haben, und zwar vom theoretischen wie auch praktischen Stand-
punkte aus. Den Gelehrten wurde die erste Anregung gegeben, die
Geheimnisse des Erdmagnetismus näher zu erforschen; die praktischen
Seoleute erkannten hierdurch zuerst, dafs sie sich auf ihre Magnetnadel
durchaus nicht allein verlassen dürfen, da der Weg, den sie ihnen
weist, bei der nun entdeckten Veränderlichkeit ihrer Lage zum wahren
Meridian offenbar keineswegs der gerade, d. h. kürzesto Weg sein
kann ; sie wurden dadurch auf die Nothwendigkeit astronomischer Be-
obachtungen auf hoher See hingewiesen.
Uebrigens ist bekanntlich der kürzeste Weg auf der Erdkugel
nicht derjenige, welcher die Meridiane derselben unter stets gleichem
Winkel schneidet, so dafs es ein Umweg wäre, einen Kurs zu segeln,
der auf den Seekarten, die in Merkator-Projektion ausgeführt sind,
als gerade Linie erscheint. Einen solchen Weg auf der Kugel nennt
man im mathematischen Sprachgebrauch eine Loxodrome, und auf
derselben sind früher die Seeleute, indem sie der Weisung ihres
Kompasses folgten, stets gesegelt. Der kürzeste Weg auf der Kugel
ist dagegen der sogenannte gröfste Kreis.
Columbus konnte natürlich nach Entdeckung jener Abwei-
chung nicht sogleich seinen Entschluss ändern, genau nach der
Magnetnadel zu fahren. Wenn wir nun heute wüfsten, welche Ab-
weichungen von der Nordrichtung die Magnetnadel auf dem durch-
fahrenen Gebiete des Atlantischen Ozeans damals in Wirklichkeit auf-
wies, so könnten wir den Weg des Columbus und die Stelle seiner
Ankunft in Westindien nachträglich wieder ermitteln. Leider ist die
Lage der Linien gleicher magnetischer Deklination, oder fachmän-
nisch ausgedrückt, der Isogonen, mit den Jahren einer langsam fort-
schreitenden Veränderung unterworfen, welche nicht so gosetzmäfsig
ist, dafs man sie auf vier Jahrhunderte zurück berechnen könnte.
Es wird also wohl ein ewiges Geheimnifs bleiben, wo Columbus zu-
erst den Boden der neuen Welt betrat.
Gelcich (Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, XX. Jahr-
gang, S. 280 u. ff) hat sich der Mühe unterzogen, einerseits nach
Mafsgabe unserer gegenwärtigen Kenntnisse von der säkularen
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31 B
Variation der magnetischen Deklination, andererseits nach den Auf-
zeichnungen des Schiffstagebuches des Columbus, soweit dieselben
uns erhalten sind, den Kurs der „ Santa Maria“ nachträglich zu be-
stimmen. Weniger die Unsicherheit unserer Kenntnisse über die erd-
magnetischen Konstanten jener Zeit, als vielmehr die Oröfse der zur
Bestimmung der Schiffsgeschwindigkeit angewandten spanischen
Leguen legten hier unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg.
Nimmt man, wie es bis dahin üblich war, die Legue zu 3.18 See-
meilen an, so ergiebt die unter Berücksichtigung aller Umstande,
namentlich auch der Strömung, ausgeführte .Koppelung“, d. h. An-
einanderschliefsung der verschiedenen, von Columbus für die ver-
schiedenen Tage angegebenen Kurse und Schiffsgeschwindigkeiten,
als Ankunftspunkt eine Stelle auf Kuba, wo in Wirklichkeit die erste
Landung unmöglich stattgefunden haben kann. Gelcich nimmt
schliefslich die Legue nur zu 2.3 Seemeilen an und findet dann den
Landungsplatz zwischen den westindischen Inseln Turko und Mariguana.
Mit gleicher Wahrscheinlichkeit jedoch wie diese beiden können auch
noch die Inseln Cat, Watling, welcher letzteren gewöhnlich, doch ohne
besonderen Grund, der Vorzug vor den übrigen genannten eingeräumt
wird, und Samana als jenes Gtianahani oder San Salvador gelten,
welches Columbus als das zuerst betretene Land bezeichnete. Diese
fünf Inseln liegen etwa zwischen 22 0 und 24 0 nördlioher Breite.
Col umbus gab die Breite dieser Insel gleich der von Ferro (28°) an.
Es mag gleich an dieser Stelle erlaubt spin, einzufügen, dafs es gleich-
falls ganz ungewifs ist, ob Columbus überhaupt jemals den Boden
des eigentlichen amerikanischen Festlandes betreten hat. Auf der
dritten Reise, am 1. August 1498 hat er dasselbe jedenfalls entdeckt
und, es zunächst für eine Insel haltend, Tierra de Gracia genannt.
Erst am 20. August wurde es ihm und seiner Mannschaft klar, dafs
das ganze Gebiet, an dessen Küste sie bisher entlang gefahren waren,
ein einziges grofses Festland bildete. Er litt indefs damals schon so
stark an Gicht, dafs es ihm unmöglich war, das Schiff zu verlassen
und war aufserdem fast ganz erblindet. Dennoch unternahm der ge-
brochene Mann vier Jahre später bekanntlich noch eine letzte, vierte
Reise nach dem neuen Lande, diesmal hauptsächlich zu dem Zwecke,
das auf der dritten Reise gesehene Festland eingehender zu erforschen.
Das Geschwader verliefs Cadix am 11. Mai 1602. Auf dieser Reise
dürfte wahrscheinlich der greise, inzwischen längst in Mifsgunst ge-
fallene Entdecker den Boden von Central-Amerika etwa in der Gegend
der Republik Honduras oder in Nicaragua bei Gelegenheit einer noth-
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wendigen Ausbesserung seines Schiffes betreten haben. Dem offiziellen
Akte der Besitzergreifung des Landes hat er dagegen Krankheits halber
sicher nicht beigewohnt.
Auf allen diesen Reisen bewegte sich Columbus in jener Region
an der Qrenze zwischen der heifsen und gemäfsigten Zone, in welcher
zu der Jahreszeit, während welcher die erste Reise unternommen wurde,
regelmäfsig östliche Passatwinde wehen. Dieser glücklichen Wahl
ist ganz besonders der Erfolg der Expedition zu danken. Hätte er
diejenigen Qebiete des Ozeans gewählt, auf denen man heute den
kürzeren Weg durchschifft, so würde er, wie bereits vorhin erwähnt,
in das Gebiet der Herbststürme gerathen sein, welche den kleinen
Schiffen gewifs verderblich geworden wären und sie jedenfalls völlig
deroutirt hätten.
Aber gerade dieser günstige Umstand constanten Ostwindes bo-
gann nach einiger Zeit die Mannschaft der Schiffe zu beunruhigen.
Wenn hier wirklich beständig Ostwind herrschte, wie sollte man dann
jemals wieder nach der Heimath zurückkommen können? Gegen den
Wind rudernd, diese ungeheure Strecke zurückzulegen, war doch ganz
unmöglich; und das Land, das verheifsene, goldstrotzende Land, wann
sollte es endlich auftauchen? Vier Wochen lang ging es nun schon
unaufhörlich westwärts; immer weiter entfernte man sich von der Scholle,
welche für jene, das kühnste der Abenteuer unternehmende Menschen
der Inbegriff der Welt war, und immer noch wollte die schreckliche
Wasserwüste kein Ende nehmen. Wenn man nun überhaupt kein Land
finden sollte und die Erde gröfser, weit gröfser war, als man ange-
nommen hatte, so mulsten sie alle auf der nothwendigen Rückfahrt
unrettbar Hungers sterben, wenn sie nicht bald sich zur Umkehr ent-
schlossen.
Denn über die wahre Gröfse der Erde herrschten damals in der
That nur Vermuthungen. Es waren zwar im Alterthum, beispielsweise
von Eratosthenes, und später (um 827) von den Arabern, welche
bekanntlich die Vermittler der griechischen und altegyptischen Kultur-
und Wissensschätze für das Abendland, speziell für Spanien, waren,
Erdmessungen auf wissenschaftlich durchdachter Basis ausgoführt,
die auch, wie es scheint, nicht allzu falsche Werthe ergeben hatten,
aber es waren diese Untersuchungen nur wenig bekannt geworden;
auch konnten die Resultate derselben natürlich auf grofses Vertrauen
noch keinen Anspruch erheben.
Ist es nicht ganz begreifiioh, dafs das Schiffsvolk zu murren
begann? Fernando Colon, der Sohn des grofsen Entdeckers, schrieb
Himmel und Erde 1883. V. 7. 22
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hierüber folgendes: „Die Mannschaft war der Ansicht, der Admiral
setze ihr Leben und ihre Sicherheit auf das Spiel, um seinen tollen
Plänen zum Zwecke seines eigenen Vortheils nachzugehen. Sie wären
schon mehr nach Westen vorgedrungen als jemals andere, und dadurch
wähnten sie ihre Pflicht erfüllt zu haben; noch weiter jenen Weg ver-
folgen, hiefse sich selbst das örab graben, und man müsse an die Rück-
reise denken, ehe es zu spät wäre, da sonst die Lebensmittel ausgehen
könnten und auch weil die Schiffe, die sie gut kannten, schon in schlechtem
Zustande wären. Die Klagen des Admirals gegen seine Leute würden
ohnehin gegenstandslos bleiben, da er ein Fremder, ein Hergekommener
wäre, dessen Ansichten die Gelehrten und vernünftigen Männer schon
ohnehin bekämpften; ja es fanden sioh Leute, die vorsohlugen, dem
Streit durch Ueberbonl werfen des Admirals ein Ende zu machen und
dann zu sagen, er sei in die See gefallen, als er gerade beobachtete.
Niemand würde sich darum kümmern, um zu erfahren, ob dies wahr
sei.“ (Vergl. die weiter oben bereits erwähnte Schrift von Gel eich
S. 381.) Ohne Frage ging es also dem kühnen Seefahrer oftmals hart
an den Leib, wenngleich es zu der oft poetisch verwertheten Meuterei
doch nicht eigentlich gekommen ist
Am härtesten wurde Columbus am 10. Oktober von der Mann-
schaft bedrängt. Er rief die Gebrüder Pinzon, die Befehlshaber
der beiden anderen Schiffe, zur Berathung zu sich. Es gelang auch
diesmal dem Admiral, die Leute zu beschwichtigen und bis zum nächsten
Tage zu vertrösten. Abermals segelte man also weiter dem unbekannten
Westen entgegen.
Welche Kämpfe mögen zu dieser Zeit die Seele des Columbus
gefoltert haben? Setzte er nicht wirklich das Leben all dieser braven
Menschen verwegen aufs Spiel? Aber doch das eigene selbst mit!
Durfte er jemals unverrichteter Sache zurückkehren, er, dessen ehr-
geizige und von Tausenden daheim belächelte Träume seit Jahren
zwei grofse Reiche in Bewegung gesetzt hatten? Das war ganz un-
möglich! Nun und nimmer hätte er sich dem Spotte einer ganzen Welt
aussetzen dürfen. So schwebte er zwischen dieser Selbstqual und der
mehr und mehr schwindenden Hoffnung, mit einem Schlage zu den
höchsten Ehren, zu gröfstem Reichthum, zu fürstlicher Macht empor-
gehoben zu werden. Wie mögen starr Stunden und Tage lang seine
Blicke auf den westlichen Horizont gerichtet gewesen sein, wo er all
sein Glück von Tag zu Tag erhoffte aufdämmem zu sehen! Und da
endlich — war es denn möglich! — sah sein von fieberhafter Erregung
fast übermenschlich geschärftes Auge am Abend des 11. Oktober ein
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Licht am Horizonte aufdämmern. Niemand sonst erkannte es, niemand
glaubte an die Riohtigkeit der Wahrnehmung, und doch hatte der
Admiral recht gesehen. Um 2 Uhr in derselben Nacht begriifste ein
Freudenschrei den Kanonendonner, welcher von der Pinta ausging und
„Land in Sicht“ ankündigte. Ein Matrose dieses Schiffes, Roderigo
von Triaua war es, der zuerst die Küste der neuen Welt gesehen
hatte. Am dämmernden Morgen dos 12. Oktober verankerten sich die
Schiffe angesichts des neuen Landes, und die Mannschaft schiffte sich
auf den Booten aus.
Welch ein Triumph war das für die Menschheit, welch un-
berechenbare Folgen für dieselbe zog dieses Ereignifs nach sioh!
Wir alle, die wir die Früohte des Weltverkehrs der civilisirten Nationen
täglich und stündlich geniefsen, wir alle müssen dankbar zurückdenken
an die Thnt dieser kühnen Männer, welohe das Feld aller Lebens-
regungen der Menschheit verdoppelte.
Mögen wir anderen Nationen wohl zugestehen müssen, dafö An-
gehörige derselben weit vor Columbus dieses Land entdeckt und
betreten haben: So ist es beispielsweise höchst wahrscheinlich, dafs
die Chinesen bereits in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
den Orofsen Ozean durchquerten und in Centralamerika landeten, das
seither unter dem Namen Fusang ungefähr dieselbo Rolle bei ihnen
spielte wie jenes Atlantis der Grieohenzeit, und ganz siclior ist, dafs
die Normannen auf ihren kleinen Kriegs- oder Vikingerschiffen, kleinen,
kaum mit einem Segel versehenen Ruderbooten, deren oft mehrere
Hunderte zugleich auf Raubzüge ausgingen, um das Jahr 1000 herum
die Küsten von Labrador und Neuengland erreichten und dort, ganz
unweit der gegenwärtig gröfsten Yerkohrszentren der neuen Welt.
Ansiedelungen gründeten, die sie Hclluland, Markland, Vinland, d. h.
Felsen-, Wald- und Weinland nannten.
Die kühnen Seeräuber hatten bereits ganz Europa in Aufregung
versetzt, indem Bie, die Flüsse liinaufruderud, mächtige Städte, wie
Paris, überrumpelten. Bereits 8(53 entdeckten sie Island und grün-
deten dort Kolonieen, die mit dem norwegischen Mutterlande in regel-
mässigem Verkehr standen. Von hier aus ging im Jahre 982 Erioh
der Rothe nach Grönland. Ein Sturm, welcher 4 Jahre später Bjarni
Herjulfson verschlug, brachte diesen zuerst in Sicht der Küsten
des nordöstlichen Festlandes von Amerika. Sein Sohn Leif siedelte
sich hier, etwa in der Hudsongegend, also unweit des gegenwärtigen
New-York, zuerst an. Zwei bis drei Jahrhunderte lang hielt nun der
Verkehr dieser Kolonieen mit Europa resp. Island an, bis durch
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innere Kämpfe mit dem beginnenden Verfall des Normannenreiches
auch diese Ansiedelung um 1350 verlassen wurde. Runensteine,
welche die Anwesenheit nordisch-europäischer Völkerschaften aufser
Zweifel stellen, sind in Nordamerika bis zu 73 0 Breite aufgofunden
worden.
Auch waren offenbar wiederholt Eingeborene der polynesischen
Inseln auf ihren Kähnen bis an die amerikanische Westküste ver-
schlagen worden. Ethnographische und vergleichende Sprachstudien
weisen deutlich auf verwandtschaftliche Züge zwischen diesen Insu-
lanern und den mexikanischen und zentralamerikanischen Urein-
wohnern hin.
Es sei hier schliefslich noch erwähnt, dafs wahrscheinlich die
Gebrüder Zeni, berühmte Entdeckungsreisende, zwischen 1388 und
1404 von den FaVöem aus Amerika erreioht haben.
Aber die völlige Vergessenheit, in welche das Land inzwischen
gerieth, berechtigt uns zweifellos, die Verdienste nur flüchtig zu
berühren, welche jene Vorläufer um die Entdeckung Amerikas besitzen.
Columbus erst entdeckte die neue Welt für die Zivilisation, er schenkte
uns nicht nur einen neuen Erdtheil, er schuf selbst aus der alten Welt
eine neue!
Schenken wir deshalb nicht allzu willig jenen Stimmen Gehör,
welcho hie und da auftauchend, den Ruhm des grofsen Genuesen
herabzusetzen trachten! Es ist ja gewiss kein Zweifel, dafs das Gold,
welches man in dem neuen Erdtheile in so märchenhafter Fülle er-
wartet hatte, der hauptsächliche Beweggrund dieser und fast aller
Entdeckungsreisen der damaligen Zeit gewesen war, nicht etwa das
Interesse an der Erweiterung menschlicher Kenntnisse, nicht die be-
geisternde Empfindung von der unendlich hohen Aufgabe der Zivili-
sation, welche die erste Pflicht der Entdecker und Eroberer des neuen
Erdtheils gewesen wäre. Decken wir mit dem Schleier der Jahrhunderte
die Sünden zu, welche in den Wirren dieser gewaltigen Entdeckungs-
zeit geschehen sind. Nicht allzu grofee Vorwürfe dürfen wir gerechter
Weise auf jene Menschen schleudern, welchen inmitten ganz neuer Ver-
hältnisse die erdrückend schwierige Aufgabe wurde, eine neue Welt
zu organisiren. Weit entfernt sowohl von der Hülfe wie von der
Kontrolle ihrer Mutterlande, ihrer eigenen Kraft und Fähigkeit über-
lassen, sollten sie über Völkerschaften regieren, die ihnen völlig un-
bekannt waren, und welche sie in der Anmafsung abendländischer
Kultur menschlich weit unter sich stehend erachteten.
Columbus hatte sich bekanntlich das Amt eines Vizekönigs
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über die entdeckten Länder ausbedungen. In Ausübung desselben
entwickelte er jedoch offenbar wenig Geschick. Es hätte ja auch
eines ganz außerordentlich organisatorischen Genies bedurft, unter
so schwierigen und völlig neuen Verhältnissen hier ein Reich zu be-
gründen. Die Dinge wuchsen Columbus über den Kopf, ohne dafs
er begreiflicherweise seine Rechte fahren lassen wollte. So kam es,
dafs, nachdem eine lange Zeit hindurch die spanische Regierung trotz
der immer deutlicher hervortretenden Wirren auf den westindischen
Inseln, völlig korrekt und in dankbarer Anerkennung ihre vortrags-
mäfsigen Pflichten Columbus gegenüber erfüllt und ihn mit allen
erdenklichen Ehren überhäuft hatte, sie endlich zum Einschreiten sich
unumgänglich genöthigt fand, wenn sie nicht alle zukünftigen Vor-
theile durch die offenbare Mißwirtschaft vernichtet sehen wollte.
Am höchsten hatte sich der durch stets bereite Neider noch geschürte
Unwillo der Regierung gegen Co lumbus während seiner dritten Reise
gesteigert Eingefügt mag hier als Mafsstab für die Gunst, in
welcher Columbus jeweilig stand, werden, dafs er auf seiner zweiten,
am 25. September 1493 beginnenden Reise nicht weniger als 14 Kara-
rellen und 3 Lastschiffe mit 1200 Mann Besatzung mit hinüber nahm,
auf seiner dritten dagegen nur 6 Schiffe bewilligt erhielt, die am
30. Mai 1498 in See gingen. Diese verschiedenen Expeditionen hatten
inzwischen bedeutende Summen gekostet, ohne dafs entsprechende
Einkünfte aus jenem Lande einliefen, welches man von Gold förmlich
strotzend geglaubt hatte. Ferdinand der Katholische und dessen
Columbus so wohl gesinnte Gemahlin Elisabeth mussten sich
deshalb endlich überzeugt halten, dafs der Vizekönig Columbus zu
so schwierigen Regierungsgeschäften untauglich sei, und ließen ihm
dios mittheilen. Colu mbus selbst, wohl in der Ueberzeugung, seiner-
seits stets gethan zu haben, was seine Pflicht und seine geistigen wie
äufseren Mittel ihm möglich gemacht hatten, bat selbst um Einsetzung
eines unparteüsclien Richters über diese Frage. Die Wahl fiel reoht
unglücklich auf Franzisco de Bobadilla, der 1499 auf Sau
Domingo landete und dort im Uebereifer, ohne Befehl dazu zu haben,
den Vizekönig sowohl wie seine Brüder Diego und Bartolome,
welche sich mit ihm in die Regieruugsgeschäfte teilten, in Fesseln
legen liefs. So wurde der kühne Entdecker einer neuen Welt, der
es trotzig aussohlug, als man ihm auf dem Schiffe die schmach-
vollen Ketton abnehmen wollte, nach Spanien zurückgeführt. Ent-
rüstet über diese Behandlung, liefs hier der König dem Columbus
sofort 2000 Dukaten schicken, damit derselbe festlich bei Hofe erscheinen
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könne. Hieraus geht wohl zur Genüge das grofse Wohlwollen und
die objektive Stellung des Königs zu dieser peinlichen Angelegenheit
hervor. Man wählte einen gerechteren Richter in Ovando, der dem
Columbus sein konflszirtes Vermögen wieder zurückerstattete und
ihn seine westindischen Einkünfte geniefsen liefe, ohne ihm jedoch seine
früheren Hoheitsrechte wieder zu verleihen. Mit 30 Schiffen ging nun
am 13. Februar 1502 Ovando nach den neuen Kolonien ab, um dort
Ordnung zu schaffen. Ihm folgte Columbus am 9. Mai desselben
Jahres mit vier aus eigenen Mitteln ausgerüsteten Karnvellen, wurde
aber, am 29. Juni vor San Domingo ankommend, von Ovando ver-
hindert, das Land zu betreten. Der Stern des Columbus war nun
endgültig gesunken. Mit Krankheit geschlagen, zurückgestofsen von
seinen Landsleuten, die ihm jenes Land verschlossen, das erst seine
Thatkraft für die Welt erobert hatte, umherirrend auf morschen Fahr-
zeugen in unbekannten Gegenden, gerieth er endlich angesichts seiner
sinkenden Schiffe in bitterste Noth. Der 12. September sah ihn zuletzt
auf amerikanischem Boden. Anfang November kehrte er unbeachtet
von der Welt nach Spanien zurück. Seine Gönnerin Elisabeth
starb inzwischen. Seine Bemühungen, seine Rechte wieder zu erlangen,
blieben ohne Erfolg, besonders als der Vorschlag, seine westindischen
Würden gegen Besitzungen in Kastilien einzutauschen, von ihm starr-
sinnig zurückgewiesen wurde. So starb endlich der grofse Ent-
decker am 21. Mai 1506 in Valladolid so arm und unbeachtet, als er
geboren war. Mit eiserner Willenskraft hatte er sich zu königlicher
Macht und Würde emporgesehwungen, diese selbe ausartende Un-
beugsamkeit hat ihn wieder gestürzt. Auch noch im Tode hatten die
Gebeine des vielgereisten Entdeckers lange Zeit keine Rast. Sie wurden
1513 nach Sevilla, um 1560 nach San Domingo, 1795 nach Ilavana ge-
bracht, wo sie nun im dortigen Dome endlich Ruhe fanden.
Wie sehr es der spanischen Regierung daran gelegen war, eine
legitime, aber zugleich auch dauernd bestandlähige Regelung der An-
sprüche des Columbus resp. seiner Erben herbeizuführen, geht ferner
daraus hervor, dafs der König selbst nach dem Tode Christophs
dessen einzigen rechtsmäfsigen Sohn Diego aufforderte, einen Prozefs
zur Klärung dieser Verhältnisse anzustrengen und der erbenden
Familie zur Bestreitung der daraus entstandenen Kosten 4000 Gold-
dukaten bewilligte. Diego wurde 1608 als Generalgouverneur der
Kolonien anerkannt, führte aber die alte Mifswirthschaft weiter, so
dafs wiederum nach einiger Zeit die Regierung nothwendig einschreiten
musste. Der inzwischen angestrengte Prozefs, welcher von 1608 bis
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1564 geführt wurde, nahm nunmehr eine höohst merkwürdige Wendung.
Die Erben der Pinzonen, welche bekanntlich die „Pinta" und die
„Nina“ auf der ersten Entdeckungsfahrt befehligt hatten, suohten
durch eine Anzahl von Zeugen, die jedoch meist erst ein halbes Jahr-
hundert nach der bezüglichen Zeit auflraten und Erzählungen in-
zwischen verstorbener Matrosen des Columbus wiederholen mufsten,
darzuthun, letzterer sei überhaupt gar nicht der Entdecker Amerikas
gewesen. Er sei auf der Fahrt schliefslich von grofser Furcht über-
fallen worden und habe durchaus umkehren wollen, worauf sich einer
der Pinzonen zornig am 11. Oktober mit seinem Schiffe von ihm ge-
trennt und allein das erste Land entdeckt, sowie im Namen der
Regierung Resitz von domseiben ergriffen habe. Nun sei er zu den
beiden anderen Schiffen zurückgekehrt, um diese hinzuführen. Die
Beweisführung gelang nicht. Aber der Sohn des Diego, also Enkel
des Columbus, Don Luis Colon, mufste nun doch endlich auf
die Herrscherrechte in der neuen Welt verzichten. Er behielt nur
den erblichen Titel eines Admirals von Indien, ferner noch den eines
Herzogs von Jamaika, mit dom erblichen Familienbesitz der Insel
selbst und 10 000 Golddukaten jährliche Rente. Don Luis Colon
starb 1572 als Herzog von Veraguas. Vier Jahre später erlosch
überhaupt die männliche Linie der Columbus. Eine weibliche Linie,
von einer Schwester des Don Luis ausgehend, besteht heute noch
als die der Herzoge von Veraguas.
Heute hängt jene neue Welt, welche Columbus uns erschlofs,
mit Millionen geistiger Fäden auf das engste mit der alten Welt zu-
sammen, ja diese könnte ohne jene garnicht mehr bestehen. Wenn
die Ozeanfläche, welche ehedem eine Schranke bildete, die den neuen
Erdtheil Jahrtausende lang völlig abseits von allen Bewegungen un-
serer Kultur liegen liefe, sich unserem Verkehr abermals verschlösse,
so miifsten zweifellos viele Tausende von Existenzen hier zu Grunde
gehen. Freuen wir uns deshalb, dafs die Bando immer inniger
werden, welche uns mit der neuen Welt verbinden. Ein Dutzend
Kabel bilden heute die Sprachrohre, durch welche unausgesetzt Tag
und Nacht die neue Welt mit der alten sich unterhält, und tausende
von Schiffen bevölkern den Atlantischen Ozean, auf welchen ein
Strom von Menschen hin und wieder zurückwogt und unormefsliche
Schätze ausgetauscht werden. Eine einzige Schiffsgesellschaft, dio des
Norddeutschen Lloyd beispielsweise, hat in den letzton dreifsig Jahren
allein über zwei Millionen Passagiere auf ihren amerikanischen Linien
hin und her befördert.
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Nichts vermag wohl die Fortschritte und die Segnungen unserer
Kultur, welche wir der Thatkraft und dem Glücke des Columbus
verdanken, besser zu illustriren, als eine Betrachtung der gewaltigen
Fortschritte, welche das Seefahrtswesen seit den Zeiten der Entdeckung
Amerikas aufzuweisen hat. Zur 400-jährigen Jubelfeier dieser That
erschien es uns deshalb angezeigt, im wissenschaftlichen Theater un-
serer Urania im Geiste noch einmal die Fahrt nach Amerika zu unter-
nehmen, so wie sie mit den heutigen imposanten Hilfsmitteln des See-
wesens von Millionen, oft in der alltäglichsten Stimmung der Selbst-
verständlichkeit, unternommen wird.
Was von dem begleitenden Texte dieser Aufführungen für unsere
Zeitschrift geeignet erscheint, mag hier wiederholt werden.
Wir Deutschen gehen nach Amerika von Hamburg oder Bremen
aus. Die Hamburger Packctfahrt-Gesellsohaft sowohl wie der Nord-
deutsche Lloyd in Bremen verfügen über die mächtigsten und schön-
sten überseeischen Dampfer der Welt. Der rege Wettbewerb zwischen
beiden grofsen Rhedereien schafft immor vollkommnere und elegantere
Fahrzeuge. Wir wählen einen Dampfer der gröfseren dieser beiden
Gesellschaften, des Norddeutschen Lloyd.
Wir sind am frühen Morgen von Bremerhaven abgefahren und
befinden uns bereits in der freien Ausfahrt der Weser, in welche
uns das sichere Feuer des Leuchtthurms von Rother Sand geführt hat,
der hier mitten aus den Wogen emporragt, unerschütterlich alle Schiffe
mit seinem Leitstrahl begleitend, oder duroh Blitzfeuer vor gefährlicher
Abweichung von der sicheren Strafse warnend, welche hier in die ver-
heifsungsreicho Fremde oder zurück in die liebe Heimath führt.
An einem klaren Tage ist dies wohl nicht schwer. Ganz anders
aber, wenn Stürme und Nebel den Seefahrer bedrohen. Das Fahr-
wasser ist hier noch nicht tief, und es giebt deshalb nur einen ver-
hältnifsmiifsig engen Weg, den so tiefgehende Schiffe, wie unser
transatlantischer Dampfer, ohne Gefahr auf den Sand zu laufen, gehen
dürfen. Das feste Feuer des Leuchtthurmes, welches nur einen
schmalen Lichtstreifen in der Richtung des guten Fahrwassers hinaus-
wirft, wird durch die genau in Bezug auf die Kompassweisung be-
kannte Richtung dieses Leitstrahls erkannt Rechts und links von
dem erwähnten festen weifsen Leuchtfeuer geht ein blitzartig auf-
zuckendes Licht vom Thurme aus, dem Schiffer zur Warnung, dafs
er von seinem Wege abgewichen ist. Die verschiedenen Leuchtfeuer
an der Wesermündung sind im übrigen so eingerichtet, dafs immer
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eines das andere kreuzt und der Schiffer also dem nächsten Leit-
strahle bereits folgt, ehe ihn der bisher befahrene noch verlassen
hat, der ihn noch dazu durch gewisse Lichtsicnale auf die Nähe der
betreffenden Wendepunkte der Kursrichtung rechtzeitig aufmerksam
macht. Eine Karte der Wesermiindung, welche alle diese Licht-
strahle farbig und ungemein klar aufgezeichnet enthält, sollte es dem
Anschein nach beinahe jedem Laien möglich machen, ein grofses
Sohiff bei Nacht von Bremerhaven in die offene See oder umgekehrt
zu führen.
Will der Seemann sich nun mit Hülfe eines solchen Leuchtfeuers
auch auf jeder anderen Seekarte genauer orientiren, so peilt er den
Thurm zunächst an, d. h. er bestimmt die Richtung, in welcher er das
Feuer sieht, mit Hülfe der Kompafsrose, über welche hin er nach
dem Thurme visirt. Er zieht auf seiner Seekarte durch den Leucht-
thurm eine Linie in der entgegengesetzten Richtung; wenn er nun
noch die Entfernung vom Leuchtthurm kennt, so hat er damit den
Ort seines Schiffes. Diese Entfernung wird ganz leicht durch die
Messung der scheinbaren Gröfse des Leuchtthurms bestimmt. Die
wirkliche Groteo ist dem Schiffer bekannt; jo weiter er sich nun vom
Leuchtthurme entfernt befindet, je kleiner erscheint derselbe natürlich.
Die Vergleichung der scheinbaren mit der wahren Gröfse wird mit
dem Sextanten vorgenommen, einem Winkelmefsinstrument, das uns
weiterhin noch mehr beschäftigen wird und das dem Seemann unentbehr-
lich ist. Diese so gefundene Entfernung in seiner Seekarte auf die
vorhin gezogene Linie abgetragen, giebt ihm den Ort des Schiffes.
Es existirt begreiflicherweise noch eine gröfse Menge anderer
Methoden der seemänuisohen Orientirung bei Land in Sicht, die in
vorliegendem Vortrage überhaupt auch nicht andeutungsweise zur
Sprache kommen können. Nur die am meisten charakteristischen
wurden ausgewiiblt. Näheres hierüber findet man in dem Artikel des
Herrn Admiralitätsrath Rottok: „Die Ortsbestimmungen und Hülfs-
mittel zur Führung eines Schiffes auf See“; in „Himmel und Erde“,
III. Jahrgang, Seite 245, 314, 368 u. f.
Das Herannahen der englischen Küste wird zunächst durch ein
rothes Leuchtschiff, das hier verankert ist, angekündigt. Leucht-
schiffe, Seezeichen, Bojen, Tonnen machen auch hier, wie längs der
Küsten aller zivilisirten Länder, auf Untiefen oder sonstige gefährliche
Stellen aufmerksam und bezeichnen das Fahrwasser beinahe so, wie
die Chaussee-Bäume irgend einen Weg auf dem Lande. Man kann längs
den Küsten, wenn die Elemente nicht allzusehr wüthen, garnicht fehlen.
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Wehe aber dem Schiffe, das aus Unvorsichtigkeit oder durch die Gewalt
des Sturmes diesen vorgezeichneten Weg verläfst! Ganz besonders die
Gefährlichkeit dieser Gestade Englands ist ja berüchtigt.
Mehr wie je ist hier dem Schiffer nach überstandenem Sturm
oder nach einem Nebeltage Orientirung nöthig, um den Gefahren der
klippenreichen Küste auszuweichen und die enge Einfahrt zwischen
Dover und Calais richtig zu finden. Die englische Küste ist deshalb
hier besonders dicht mit Leuchtfeuern besetzt.
Nähert man sich in der Nacht bei klarem Wetter dieser Küste,
so giebt es ein sehr einfaches Mittel, mit Hülfe eines dieser Leucht-
thürme allein die Lage des Schiffes zu ermitteln. Man benutzt hierzu
die Kugelgestalt der Erde. Es läfst sich begreiflicherweise aus der
Höhe des Leuchtthurmes leicht berechnen, wo die Strahlen desselben
gerade noch die Erdoberfläche tangiren müssen, d. h. es läfst sich der
Umkreis finden, innerhalb dessen man das Leuchtfeuer überhaupt noch
sehen kann. Dieser Umkreis ist natürlich verschieden für verschieden
hohe Standpunkte des Beobachters. Der Matrose, welcher im Mastkorb,
dem „Schwalbenneste“, Auslug hält, sieht das Leuchtfeuer frühor als
der Kapitän auf der Kommandobrücke; da man aber stets weifs, wie
hoch man sich über dem Wasserspiegel befindet, d. h. fachmännisch
ausgedrückt, wie grofs die „Kimmtiefe“ des Horizontes ist, so kann
man für jeden Leuchtthurm die Entfernung bestimmen, in welcher er
für jedes Schiff zuerst auftauchen mufs. Es ist dann unmittelbar ein-
leuchtend, dafs man durch Peilung des eben am Horizonte aufglim-
menden Leuchtfeuers sofort den Ort seines Schiffes erkennt, der durch
Richtung und Entfernung von dem bekannten festen Punkte der Küste
ja gegeben ist.
Den Schiffer begleitet stets ein ungemein wichtiges Buch „Die
Leuchtfeuer der Erde“ von W. Ludolph herausgegeben, welches alle
nöthigen Angaben betreffs der Feuer- resp. auch Schallsignale sämmt-
licher Leuchtthiirme der Erde enthält. Jeder Leuchtthurm unter-
scheidet sich von seinen Naohbarn schon bei Tage durch die Gestalt,
Bauart und durch farbige Streifen, die ihn umgürten; bei Nacht, wo
er als Wegweiser seine besondere Bedeutung erhält, durch die ihm
eigene Art der Befeuerung, die ihn durch die Farbe des Lichtes
(weifs, roth oder grün, diese Farben auch abwechselnd) und durch
die Art des Lichtes mit oder ohne Verdunkelung (Blink-, Blitz-, Dreh-,
Funkei- oder festes Feuer) sofort kenntlich macht. Schon oben sahen
wir, wie die Leuchtfeuer durch besondere Einrichtungen dem Schiffer
auch ein Abweichen vom sicheren Wege kund thun; gelegentlich
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giebt das Feuer auch noch besondere Zeichen, durch welche es die
Schiffe über verschiedene wichtige Dinge, z. B. den jeweiligen Flutli-
stand unterrichtet, wo, wie im Hafen von Calais, das Befahren gewisser
Gebiete bei Ebbe für gröfsore Schiffe gefährlich werden kann. Am
Leuchtthurm von Calais kann man deshalb schon aus weiter Feme
ersehen, wieviel Meter Wassorsland zur Zeit im Hafen beobachtet
werden. — Das oben genannte Buch giebt auch die Höhe des Thurmes
sowie die Anzahl von Seemeilen an, in welcher das Leuchtfeuer zuerst
am Horizonte auftaucht oder verschwindet.
Glückt diese Beobachtung des ersten Aufleuchtens nicht, oder
nähert man sich am Tage der Küste, so kann man sich durch zwei
verschiedene, gleichzeitig sichtbare Objekte orientiren, indem man
beide zugleich peilt; der Schnittpunkt der beiden, auf der Seekarte
eingezeichneten Standlinien giebt dann den Ort des Schiffes.
Eine andere Methode kann den Ort des Schiffes selbst dann ergeben,
wenn man sich in dem Leuchtkreise nur eines Feuers befindet, auch
wenn man dasselbe nicht, wie es weiter oben dargestellt wurde, am
Horizonte beobachtet hat. Zu diesem Zwecke peilt man das Feuer
zunächst aus einem vorläufig noch unbekannten Schiffsorte und zieht
die betreffende Standlinie auf der Seekarte. Dann läuft man nach dem
Kompafs seinen Kurs eine Strecke weiter und mifst durch später noch
anzugebende Instrumente die Länge des zurückgelegten Weges bis
zu einem anderen beliebig zu wählenden Orte, von welchem aus man
noch einmal eine Peilung des Feuers vornimmt. Man zieht diese
zweite Richtungslinie auf der Seekarte durch den Leuchtthurm. Nun
befindet sich auf der letzteren stets die Kompaferose in ihrer mifs-
weisenden Lage aufgezeichnet Man bringt ein besonders konstruirtes
Lineal, das parallel zu einer beliebigen Richtung auf der Karte zu
verschieben ist, und mit welchem wir auch schon vorhin die Peil-
richtungen aufgetragen haben, nunmehr in die gewählte Fahrrichtung
zwischen den beiden Standorten, zirkelt sich auf dem Lineal die
zurückgelegtc Strecke in der Verjüngung der Seekarte ab und sieht
nun, wo diese Strecke sich in der gegebenen Richtung in die beiden
vorhin aufgezeichneten Peilungslinien des Feuers einfügen läfst. Die
so entstehenden Schnittpunkte geben die Schiffsorte für beide Peilungen.
Wir sind inzwischen glücklich in den Kanal gesteuert und eilen
Southampton zu, wo die deutschen Schiffe bekanntlich Station machen,
um die englischen Passagiere aufzunehmen. Schon vor der Einfahrt
in den Hafen von Southampton begleiteten uns linker Hand die lieb-
lichen Landschaften der wunderreichen Insel Wight, die uns einladen,
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dem auch geologisch so hochinteressanten Eilande einen kurzen Be-
such abzustatten, bevor wir uns auf die weite Ooeanfläche hinaus-
begeben.
Die Insel besteht zumeist, wie die nördlich und südlich gegen-
überliegenden Küsten von England und Frankreich, aus einem mäch-
tigen Kreidefelsen, den der durch den Kanal im gewaltigen Puls-
schlag der Fluthbewegung hin und zurück wogende Ocean noch nicht
verschluckt hat, an dem er aber beständig wühlend nagt. So ist also
die Insel Wight mit unserm heimatblichen Rügen nahe verwandt, nur
dafs hier auf Wight das Felsgeklüft nooh wilder, höher, roman-
tischer emporstrebt. Und wie überall die Bodenbesohaffenheit einen
wesentlichen Einilufs auf den landschaftlichen Charakter, ja selbst auf
die Vegetation ausübt, erkennen wir auch hier, wo in noch viel
reicherer Entfaltung, als die wundervollen hohen Buchenwälder Rügens
sie aufweisen, ein wilder Zaubergarten, von allen gröfsten Poeten
Englands vielfaoh besungen, sich über das Eiland ausbreitet.
Man findet auf demselben im Sommer wie auch im Winter eine
milde, wohlige Temperatur. Dieses insulare Klima ruft eine wunderbar
üppige Vegetation hervor und macht das Fortkommen südlicher, immer-
grüner Gewächse, wie des Lorbeer, der Myrthe, der Cypresse, der
Stechpalme möglich. Das nahe Meer, das draufsen, doch hier längst
unhörbar, an dem schönen Eiland ohne Unterlafs gefräfsig nagt, be-
kränzt das eigene Opfer mit verschwenderischer Blumenpracht, ehe
es dasselbe unrettbar verschlingt —
Wir sind, von Freshwater Bay kommend, durch diese wild para-
diesischen Gärten gewandert, um die westlichste Spitze der Insel, die
berühmten Neodles, zu erreichen. In der ganzen Welt findet man so
wunderbar kontrastreiche Landschaften auf so engem Raume nicht
wieder zusammengedrängt, als bei dieser Wanderung von kaum einer
Stunde. Schon in Freshwater Bay begegneten wir am Gestade jenen gro-
tesken Felsbildungen, welche von der Gefräfsigkeit des Meeres beäng-
stigende Kunde geben. Eines der Kalkriffe, welche aus den blauen Wogen
mit ihrem weifsen Steingeripp hervorragen, bildet ein vollständiges Thor,
deutlich an eine der Faraglioni auf Capri erinnernd. Das Titelbild
unseres vorliegenden Heftes stellt dasselbe dar. Ein anderes, spitz zu-
laufendes Riff trägt oben auf den deutlich schräg abfallenden Schichtungen
ein überall wie ein Hut vorragendes Stück Humus, Erdreich und Gras,
ganz in derselben Horizontallinie, wie der Wiesengrund des einige
Zehner von Metern entfernten Ufers. Es zeigt deutlich, wie die ehe-
mals zwischen liegende Felspartie von den Wogen hinweggerissen
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wurde. Ja, hier sieht man eine Strafse schnurstracks vom Abgrund*
der fast senkrecht ins Meer führt, abgeschnitten. Geht man oben
weiter über die Wiese nach Westen, so sieht man auf langen Strecken
des Weges breite Furchen im Erdreich, die in einigen Metern Ent-
fernung von der überall hier jäh zum Meere abfallenden Felswand*
der vielfach ausgebuchteten Uferlinie genau parallel laufen: Hier hat
sich das Meer bereits seinen nächsten Bissen abgetheilt, um ihn bei
guter Gelegenheit, wenn der Sturm unten die weifsen Köpfe der Wogen
gegen die morschen Kalkfelsen peitscht, dafs das Erdreich rings er-
dröhnt, in seinem dunklen Schlunde zu begraben. Aengstlich weichen
wir diesen Furchen aus und wagen uns nicht näher an den mehr
als hundert Meter tiefen Felsabhang, wo unten, zwischen Wasser*
Himmel und drohender Felswand, Möwen und Sturmvögel lautlos
kreisen. Geheimnisvoll, ruhelos murmelnd dringt von der weifsen
Brandungslinie her nur ein leiser Laut zu uns empor. Wir suchen einen
sicheren Pfad, um hinab zum Fufse dieser Felsen zu gelangen, wo
wir sie besser übersehen können.
Wir haben damit das Ziel unseres Ausfluges, die romantisch
zerklüftete Westspitze der Insel mit den bereits von ihr losgerissonen
Felsgruppen der sogenannten Needles, Nadeln, vor deren westlichster
warnend ein Leuchtthurm aufragt, erreicht. Von der Südseite gesehen
erscheinen sie zwar ziemlich breit, sie spitzen sich jedoch nach oben
etwa meifselförmig derartig zu, dafs sie, von Westen gesehen, in der That
wie scharfe Nadeln, vom Seemann gar sehr gefürchtet, gespenstisch
aufragen.
Kaum ein charakteristischeres Bild von der Denudation der
Meereswogen kann es geben, wie diese Needles. Die grorsen Stürme
kommen bekanntlich alle von Westen her und treiben die Wogen in
den nach Osten immer enger werdenden „Aermelkanal“, wo sie sich
dann zu ungeheurer Fluthwirkung anhäufen. Die Westseite von Wight
ist diesem Anprall zuerst ausgesetzt. Sie hat sich deshalb als Wogen-
brecher keilförmig zuspitzen müssen. So haben auch die Needles
selbst eine keilförmige Grundfläche : Nach Westen hin laufen sie ganz
spitz zu, wenden dagegen ihre langen Seiten nach Norden und Süden.
Wie unendlich verschieden sind die Gedanken, wolobe dieso
Landschaft in uns erweckt, von denen, die in unsero Seele beruhigend
einzogen, als wir auf halbem Wege zu diesem starren Klippengestado
unter dem schwanken Laubdach des Waldwegs wanderten! Dort
idyllische Ruhe einer still wirkenden Natur, die keinen Kampf, keine
Zerstörung zu kennen scheint, hier überall die Spuren des wüthendsten
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Gigantenkampfes, den die Erdscholle ewig, seit sie einst vor Urzeiten
dem dunklen Schoofse der Wogen entsprang, mit dem mütterlichen
Meere führt, das sein eigenes Kind immer und immer wieder ver-
schlingt, wenn es neugeboren abermals emporgestiegen war. Hier
sehen wir den mächtigen Pulsschlag der Ewigkeit vom weltumfas-
senden Meere her, Welle um Welle, hin und wieder rollen, und die
Schauer der Unendlichkeit wehen uns von der umflorten Grenze
zwischen Meer und Firmament geheimnifsvoll entgegen; dort, in der
Waldeinsamkeit war alles intim und lauschig eng umgrenzt, recht
wie es erquickend zum stillon Herzen sprechen konnte, und alles lebte
dort und quoll und blühte und freute sich des Daseins; hier umgeben
uns rings die schrecklichen Mächte der Zerstörung, unbeugsame,
empfindungslose Gewalten. Zwar scheint ein Leben in diesem pulsenden
Meere, es ist ein fürchterlicher Riese, der mit seinen Armen die ganze
Welt umklammert und aus gewölbter Brust nur zweimal des Tages
tief aufathmet, Fluth und Ebbe erzeugend; wir bewundern und fürchten
diesen Riesen, er ist erhaben, majestätisch zwar wie das Sternenge-
wölbe mit seinen unerreichbar weitherflimmernden Weltenschwärmen,
aber uns in seiner ebenso unfafsbaren Gröfse doch so erschreckend
nahe, ein Uebermenschliches, dem wir und die Scholle, welche uns
trägt, ohnmächtig preisgegeben sind.
Wie gebrochene Rippen eines Riesenloibes, den das Meeresunge-
heuer verschlungen hat, ragen jene Felsen auf, eine Phalanx gegen
Westen hin bildend. Aber eine nach der anderen fallen die Felsen-
nadeln dem wüthenden Elemente zum Opfer. Dort, wo heute jener
Leuchtthurm aus dem Meere uufragt, stand einstmals eine eben solche
Felsrippe wie diese beiden, welche ebenfalls dem sicheren Unter-
gänge geweiht sind.
(Schlafs folgt.)
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Sonnenflecke und magnetische Erscheinungen.
Unter den mannigfachen Räthseln der kosmischen Physik giel)
es kaum eines, das sich bisher so seiner Lösung zu entziehen ver-
mocht hätte, wie die merkwürdigen magnetischen Erscheinungon der
Erde. Wie soll man sich die täglichen Aenderungen erklären, welche
die magnetischen Konstanten, insbesondere Inklination und Deklination,
erleiden? Wie gar die jährlichen und die säkularen Schwankungen dieser
Gröfsen zum Verständnis bringen? Wie schliefslich dem Zusammen-
hang derselben mit gewissen Erscheinungen des Sonnenballs den
Charakter des Wunderbaren rauben? Der Präsident der physikalischen
Sektion der britischen Gesellschaft für die Beförderung der Wissen-
schaft, der durch seine Forschungen auf elektrischem Gebiete rühmlichst
bekannte Arthur Schuster, hat neulich auf Grund einiger durchaus
plausibler Hypothesen der AufklärungdioserRäthsel näherzu kommen ge-
sucht. Wir erwähnten bereits auf Seite 194, dafs erdie täglichen Schwan-
kungen der Magnetnadel als die Folgen elektrischer Ströme in der Luft
ansieht, die vom Sonnonstande beeinflufst und auch durch die täglichen
Schwankungen des Barometers verrathen weiden. Die Sonne selbst
ist — daran darf man nicht zweifeln — der Sitz gewaltiger elektrischer
Energieen. Die Kometenschweife sind elektrische Entladungen, die
diesen Energien ihre Entstehung verdankon, und die Sonnenfinsternisse
offenbaren uns im Aufleuchten der Korona das Ausströmen grofser
Elektrizitätsmengen aus dem Sonnenleibe. Sollte vielleicht jede grofso,
in Rotation befindliche Masse ein Magnet sein, wie unsere Erde? Dann
würde sich die Sonne auch als solcher verhalten, und damit würden
jene Ausstrahlungen in ähnlicher Weise beeinflufst werden, wie nach
Jakobi die Entladungserschoinungen in den Gei fslerschen Röhren
durch einen Magneten abgelenkt werden. Man erklärt die letzterwähnte
Thatsache bekanntlich so, dafs man annimmt, jedes Gas werde durch
eine hindurchgehende elektrische Entladung selbst zu einem Leiter;
und Versuohe von Schuster stützen diese Ansicht, da sie zeigen,
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dafs viele für leitende Flüssigkeiten bekannte Erscheinungen sich
auch bei Gasen wiederfinden, durch welche eine elektrische Entladung
geht. So hofft Schuster primäre und sekundäre Elemente aufzu-
finden, bei denen ein Gas die Stelle der leitenden Flüssigkeiten ver-
tritt. Offenbar ist es auch möglich, dafs Gase unter gewissen anderen
Bedingungen zu Leitern werden, und wahrscheinlich befinden sich die
oberen Luftschichten gerade in diesem Zustande, da sie der Sitz des
Polarlichtes sind, und — wie erwähnt — wohl auch die täglichen
magnetischen Variationen durch die in ihnen fiiefsenden Ströme be-
dingt sind.
Soll die Sonne durch den interplanetaren Raum elektrisch wirken
können, so mufs dieser Stoff genug enthalten, um zu einem Leiter zu
werden. Auch dies ist in hohem Grade wahrscheinlich, wenn auch der
elektrische Widerstand des Weltraumes ein sehr grofser sein mufs,
da die Rotationsachse der Erde in historischer Zeit gröfsere Ver-
schiebungen nicht erfahren konnte. Der innerhalb dioses Leiters
rotierende magnetische Erdkürper ist aber offenbar fähig, innerhalb
desselben Ströme zu induzieren, die ihrerseits auf den Erdmagnetis-
mus zurückwirken mufsten und seine säkularen Schwankungen her-
vorbringen konnten.
Bei der Untersuchung des Zusammenhanges der Sonnenflecke
mit dem Erdmagnetismus handelt es sioh zunächst um die Ent-
scheidung der Frage: Was ist ein Sonnenfleck? Ist es eine unseren
irdischen Cyklonen an Natur ähnliche Erscheinung, wie man allgemein
annimmt? Schuster verneint dieB, weil der Anblick der meisten
Sonnenflecke diese Ansicht keineswegs stützt und weil dann die
Mitglieder einer Fleckengruppe sich auf bestimmte Art um einander
bewegen müfsten, wie sie keineswegs von den Beobachtungen
angezeigt wird. Er glaubt vielmehr, im Anschlufs an Ilugginssche
Untersuchungen, in den Sonnenflecken eine Wirkung jener elektrischen
Entladungen suchen zu müssen, welche künstlich die Verdampfung
an der Sonnenoberfläche beschleunigen und so an den Stellen, wo
sie stark sind, eine Erkältung, einen Sonnenfleck hervorbringen.
Aber woher kommt ihre Periodizität und damit diejenige der mag-
netischen Erscheinungen? Sollte sie sich nicht auf eine periodische
Aenderung der Leitungsfähigkeit des Weltraums zurückführen lassen,
welche ihrerseits durch meteorisohe Materie, die gerade in den bekannten
elf Jahren eine Rotation um den Sonnenball ausführt, bedingt sein
könnte? Schuster schliefst seine interessanten Betrachtungen durch
einen Blick auf das eigenthiimliche Gesetz, dem die Umdrehung der
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Photosphäre folgt, bei welcher die Sonnenllecke noch ihre eigenen
Bewegungen ausführen. (Die Winkelgeschwindigkeit der Photosphäre
ist bei 75° heliographischer Breite 30 pCt geringer als am Sonnen-
äquator). Sollte hierin die Wirkung herankummender meteorischer
Materie zu suchen sein, wie W. Thomson will, oder die einer andern
Kraft? „Die Besonderheiten der Sonnenoberfläche“, das sind die End-
worte Schusters, „scheinen mir die ganze Aufmerksamkeit der Ge-
lehrten zu verdienen. Ihre Erklärung würde, wenn man sie geben
könnte, wahrscheinlich diejenige mehrerer anderer Erscheinungen mit
sich führen.“ Sm.
*
Ueber die Ringbildung als Auflösungsprozess.
In einem früheren Artikel über den fünften Jupitermond (int
gegenwärtigen Jahrgange, Seite 142 ff.) wurde bereits darauf hinge-
wiesen, dafs auf der Oberfläche des sehr kleinen und in der Nähe
des nach der Sonne mächtigsten Anziehungscentrums kreisenden
Mondes ein ganz seltsamer Wettstreit zwischen den Anziehungskräften
besteht, welche dort einen freien Körper einerseits nach dem Mittel-
punkte des Mondes selbst, andererseits zum Jupiter zu ziehen streben,
und zwar kam ich zu dem Sohlusse, dafs die nach dem Jupiter hin-
wirkende Kraft entschieden die überwiegende sein müsse. Da dieses
Resultat einen recht interessanten kosraogonischen Gesichtspunkt er-
öffnet, auf welchen ich sogleich kommen werde, so wird es zunächst
von Wichtigkeit sein, darzuthun, in wie weit das obige Resultat
hypothetisch ist.
In dieser Hinsicht erlaube ich mir, meine im ersten Jahrgange
dieser Zeitschrift erschienenen Artikel „Eine beweisführende Dar-
stellung des Weltgebäudes in elementarer Form“ in Erinnerung zu
bringen. Es wurde darin auch dem mathematischen Laien gezeigt,
dafs man theoretisch im Staude ist, mit vollkommener Sicherheit die
Schwerkraft zu bestimmen, welche auf einem beliebigen Himmels-
körper unseres Planetensystems stattfindet, unter der Voraussetzung,
dafs derselbe von einem anderen umkreist wird. Dieses Kreisen ist
eben eine direkte Folge der Anziehungskraft des centralen Körpers,
welche erwiesenermafsen im ganzen Sonnensystem mit dem Quadrato
der Entfernung vom Zentrum abnimmt. Gleichzeitig ist diese Sohwere-
wirkung von der Masse des Körpers direkt abhängig. Wenn man
Himmel und Erde. 1893. V. 7. 23
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334
in einem bestimmten Falle durch die Beobachtung findet, dafs ein
Mond nach seinem Hauptkörper hin um ein Bestimmtes schneller
fällt, als in der gleichen Entfernung ein Körper zur Erde hin fallen
würde, so beweist dies, dafs der betreffende Hauptkörper in demselben
Verhältnifs mehr Masse besitzt als die Erde.
Da Jupiter nun aufser dem neuen vier altbekannte Monde be-
sitzt, deren Bewegungen ganz genau studirt worden sind, so kann
man mit aller Bestimmtheit berechnen, welche Anziehungskraft Jupiter
nicht nur auf einen Körper an seiner Oberfläche, sondern auch in
einer ganz beliebigen Entfernung von derselben ausübt. Wenn wir
also finden, dafs in der Entfernung des ersten, d. h. des neuen Jupiter-
mondes, ein Körper in der ersten Sekunde 1.96 m gegen Jupiter
fallen würde, so war dies mit unzweifelhafter Sicherheit zu ermitteln.1)
Versetzen wir uns nun auf die Oberfläche des neuen Mondes, und
denken wir uns den Jupiter gerade über unsern Häuptern stehend,
so wird jeder Gegenstand der Oberfläche das Bestreben haben, in der
ersten Sekunde um die obon angegebene Strecke gegen Jupiter hin
zu eilen; für den letzteren hat man dies seine Fallbewegung zu
nennen, für den Mond ist es ein Eraporstreben. Es fragt sich nun,
ob diese Kraft des Hauptplaneten gröfser ist als die Anziehungskraft,
welche die Masse des Satelliten auf diesen Oberflächengegenstand
ausübt. Diese letztere Gröfse kann nun unter gewissen Voraus-
setzungen allein hypothetisch ermittelt werden, weil wir keinen Körper
sehen, auf den dieser Mond solche Anziehungskraft ausübt. Wir
müssen hypothetisohe Voraussetzungen über die Dichtigkeit der Masse
machen, aus welcher der Mond gebildet ist und zugleich auch über
seine Gröfse, d. h. seinen Durchmesser. Was nun die Dichtigkeit
anbetrifft, so haben die Anziehungswirkungeu, welche die übrigen
Mondo des Jupiter auf einander ausüben, ergeben, dafs letztere weniger
dicht sind als Jupiter selbst. Derselbe besteht nun notorisch aus
einer viermal weniger dichten Masse als unsere Erde, diese wieder
ist im Durchschnitt viel weniger dicht als viele der schwereren
Stoffe, welche auf ihr Vorkommen, z. B. übertrifft die Dichtigkeit des
Platin die der Erde um das Vierfache. Platin ist der dichteste, der
schwerste von allen bekannten Stoffen; würde die Erdo aus Platin
') Neuere Beobachtungen Barnards haben für die Entfernung und
Umlaufszeit des neuen Himmelskörpers etwas andere Werthe ergeben als die
zuerst veröffentlichten und hier benutzten. Man darf wohl um so eher die
alten Werthe zunächst beibehalten, als die neueren gleichfalls noch nicht als
definitive zu betrachten sind.
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bestehen, so mürste unser Mond viermal schneller gegen sie hinzu-
fallen streben. Kein Himmelskörper, den man daraufhin untersuchen
konnte, besitzt eine so grofse Dichtigkeit. Nehmen wir also an, der
neue Jupitermond besätes dennoch die Dichtigkeit des Platin, so haben
wir nach aller Wahrscheinlichkeit eine kaum mehr mögliche, oberste
Grenze für seine Kraftäufserungen angenommen. Unter dieser Voraus-
setzung aber können wir nun ganz genau berechnen, wie grofs der
neue Himmelskörper sein müfste, damit ein Gegenstand auf seiner
Oberfläche genau so stark nach seinem Zentrum hin angezogen wird,
wie vom Jupiter, so dafs er also, wenn für ihn der Hauptplanet im
Zenith steht, ganz ohne alle Schwere sein würde. Es zeigte sich,
dafs jener neue Mund zu diesem Ende einen Durchmesser von
1300 km haben müfste. Die wahre Grüfte dieses Mondes ist nun
allerdings nicht direkt mefsbar; er erscheint, wie bekannt, als feinstes,
durchmesserloses Lichtpünktchen, welches, soweit bekannt, bisher nur
in zwei Fernrohren sichtbar gemacht werden konnte, von denen das
eine das gröfste der Welt ist. Nun läfst sich aber wiederum mit
Bestimmtheit berechnen, dafs ein Himmelskörper von 1300 km Durch-
messer in der Entfernung des Jupiter einen Durchmesser von nahezu
einer halben Bogensekunde haben und also in unseren guten Fern-
rohren der Neuzeit wahrnehmbar sein müfste. Da dies nun nicht
der Fall ist, so ist mit Bestimmtheit zu schliefsen, dafs ein frei
beweglicher Gegenstand auf der Oberfläche des neuen Mondes so-
fort von ihm hinweg nach dem Jupiter hin fliegen mufs, sobald
sich letzterer über den Horizont erhebt Dieses Resultat ist nur
in sofern hypothetisch, als es nur dann umgestofsen werden könnte,
wenn der Satellit aus einer sehr viel dichteren Masse besteht, als
wir sie jemals auf der Erde und im ganzen, weiten Universum kennen
gelernt haben. Es sind deshalb jedenfalls viele Tausende gegen Eins
zu wetten, dafs der neue Mond frei bewegliche Gegenstände auf seiner
Oberfläche nicht zu fesseln vermag.
Es ist nun auffällig, dafs ähnliche, wenn auch meistens nicht so
eklatante Verhältnisse für alle, ihrem Hauptkörper besonders nahe
befindliche Monde vorliegen. Die beiden Marsmonde, der erste unter
den alten Jupitermonden, die ersten drei Satumsmonde, die ersten
beiden Uranusmonde befinden sich in der gleichen Lage, wenigstens
unter der Voraussetzung, dafs die Masse der Monde nicht dichter sei
als die ihrer Planeten. Die hier beigegebenen, tabellarisch geordneten
Zahlen mögen dies zoigen.
23*
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336
8
in Metern
A
D
berechnet
km.
D
Beobachtung
Phobus
0.242
Marsdichto
2 560
8.3
Deimos
0.049
«
409
7.2
5. Jupitermond 1.96
Jupiterdiohte
20 600
—
n
Platindichte
1 300
—
I Jupitermond
0.354
0.52 Jupiterdiohte
7 170
3 814
II
0.140
Jupiterdichte
1 475
3 413
Mimas
0.549
Saturn sdichte
12 090
613
Enseladus
0.333
„
7 330
635
Thetys
0.217
»»
4 790
989
Dione
0.132
2 920
941
Rhea
0.068
n
1 500
1 295
Ariel
0.080
Uranusdichte
1 020
—
Umbriel
0.041
r»
524
—
Titania
0.010
n
123
925
Neptunsmond
0.027
Neptunsdichte
229
3 163
In dieser Tabelle bedeutet g den Fallraum eines Körpers gegen
den Planeten in der Entfernung des Satelliten; unter ,A ist die an-
genommene Dichte der Satellitenmasse angegeben; die beiden letzten
Rubriken geben den unter den oben näher bezeichnoten Voraus-
setzungen errechneten und den aus photometrischen und anderen
Messungen ermittelten, wahren Durohmesser des Satelliten.
Was wird nun unter den vorhin bezeichneten Umständen auf
der Oberfläche dieser Satelliten vor sieh gehen? Dies läfst sich mit
Sicherheit rechnerisch verfolgen. Mit dem Bestreben der nicht durch
molekulare Kräfte an die Oberfläche gebundenen Körper, dem Jupiter
entgegenzufliegen, wird sich ihre Bewegung in der Bahn des Mondes
verbinden, die Körper verlassen den Mond und streuen sich längs
der Bahn hin aus, einen Ring bildend, dessen Durchmesser kleiner
als der der Mondbahn sein inufs, und welcher in jeder Beziehung
vollkommen dem duftigen, durchsichtigen Ringe gleicht, den die hellen
Saturnringe umschliefsen. Kommen mehr und mehr Gegenstände,
Staub, Gestein, das sich von dem Monde losgebröokelt hat, hinzu, so
wird der Ring immer dichter werden und sohliefslich den hellen
Saturnringen gleichen. An der äussem Grenze dieser Ringe wird der
ursprüngliche Mond kreisen und den Ring mit seinen abtrünnigen
Gegenständen weiter speisen. Es läfst sich leicht zeigen, dars es
niemals aufhöreu wird, solche abtrünnigen Gegenstände auf der
Oberiläche eines beliebigen, festen Körpers zu geben, der in unse-
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337
rem Sonnensysteme um einen anderen kreist. So lange ihn noch
Wasser und Luft umgeben, was übrigens in diesem Stadium gamicht
mehr möglioh ist, besorgt die Verwitterung die Loslösung; wirkt diese
nicht mehr, so mufs der nach Absorbirung der Atmosphäre um so
kräftiger eingreifende Wochsei zwischen der Sonnenbestrahlung und der
eindringenden Kälte des Weltraumes durch Ausdehnung und Zu-
sammonziehung der Oberllächentheile Iiisse erzeugen , wie sie ja
bereits unsere Mondoberfläche tausendfach überziehen, und endlioh
werden ganze Gesteinsschollen der Oberfläche, welohe von solohen
Rissen allseitig umgrenzt sind, sich losreifsen müssen. Dieser Zer-
bröckelungsprozefs wird zwar sehr langsam, aber auch ebenso unauf-
hörlich arbeitend, immer tiefere Schichten erreichen, sobald die oberen
losgelöst und alle Trümmer über den Ring ausgebreitet sind. Wir
können deshalb heute viele Tausende gegen eins wetten, dafs der
fünfte Jupitermond längst einen solchen Ring zu bilden
begonnen hat und also Jupiter augenblicklich ganz ebenso
wie Saturn einen Ring in der Entfernung dieses Mondes
besitzt. Wahrscheinlich aber ist derselbe allzu lichtschwach, um
jemals wahrgenommen werden zu können. Immerhin wäre es nicht
unnütz, wenn die mit den besten Fernrohren ausgerüsteten Astro-
nomen nach demselben ausschauen würden; ebenso verhält es sich
mit den anderen, oben bereits angeführten Monden der übrigen
Systeme.
Durch die vorangehenden Betrachtungen war es also möglioh,
ein neues Glied zu der immer gröfsoren Umfang gewinnenden Astro-
nomie des Unsichtbaren hinzuzufugen. Es erscheint ferner kaum
zweifelhaft, dafs die Satumringo das Produkt einer Zersetzung mehrerer
ursprünglicher Saturnmonde sind, worauf auoh der Umstand hindeutet,
dafs das Profil der Ringe sich nach aussen hin etwa birnenförmig
ausdehnt. Das dichteste Konglomerat von Trümmern mufs sich nach
unseren Betrachtungen in der Thal aufsen befinden, jedenfalls Iäfst
sioh zeigen, dafs ein kugelförmiger Haufen loser Trümmer, welohe
den Planeten in der betreffenden Entfernung umkreisen, diese Saturn-
ringe bis in alle Einzelheiten ihrer Gestalt bilden müssen. Die Saturn-
ringe sind also mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht, wie man bisher
glaubte, als ein duroh noch unbekannte Ursachen stehengebliebenos
Bildungsstadium eines Weltkörpers, sondern als ein Zerstörungsprodukt
eines solchen aufzufassen.
Setzen wir die Kant-Laplaoesohe Weltentstehungshypothese
als eine Thatsache voraus, so Iäfst sioh aus dem blofsen Vorhanden-
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338
sein des 6. Jupitermondes in der beobachteten Entfernung schließen,
dafs er seit seiner Entstehung sich um ein beträchtliches Stück dem
Hauptkörper genähert hat. Es ist nämlich unmöglich, dafs bei der
vorherrschenden Schwerkraft des Hauptkörpers in dieser Entfernung
eine Kondensirung der Materie des ursprünglichen Ringes zu einem
Satelliten stattfinden konnte, der nicht im stände ist, seine Ober-
flächentheile aus eigener Kraft festzuhalten.
Es existiren bekanntlich nooh manche anderen Gründe, welche
eine allmähliche Annäherung der sekundären Weltkörper gegen das
Zentrum ihres Systems hin höchst wahrscheinlich machen. Namentlich
ist es der überall im Weltenraume vorhandene Meteorstaub, welcher,
den Bewegungen der Himmelskörper einen beständigen Widerstand
entgegeustellend, sie zum langsamen Fallen gegen die Anziehungs-
zentren hin zwingt Wenn nun diese Voraussetzungen richtig sind,
so sieht man, wie dieses unscheinbarste und flüchtigste Agens im
Weltgebäude einer der hauptsächlichsten Faktoren für die Auflösungs-,
die Zerstörungstliätigkeit der Weltkörper bildet Er führt dieselben
zunächst bis an jene Grenze, von weloher ab die Anziehungskraft des
Hauptkörpers beginnt, Theile von ihrer Oberfläche abzulöson. Hier
setzt die Zerstörungsthätigkeit ein, und in den meisten Fällen wird wohl
weit bevor der Satellit auf seinen Planeten hätte fallen können, seine
Auflösung zum Ringe vollständig geworden sein. Alsdann hätte also
der Meteorstaub, welcher die Ursache dieser Hemmung und folglich
auch jenes verhängnisvollen Falles war, den Hauptkörper doch zu-
gleich vor der entsetzlichen Katastrophe des Niederstürzens der Satel-
litenmasse als ein Ganzes, bewahrt. Nur als ganz winzige Bruch-
stücke, Sternschnuppen, Meteoriten, stürzt im Laufe von ungezählten
Jahrtausenden die Satellitenmasse wieder auf ihren Mutterkörper
zurück.
Unser Mond, auf welchem ein Körper in der ersten Sekunde
um 0,829 m fällt, würde beginnen sioh zu einem Ringe aufzulösen in
2,43 Erdradien Entfernung vom Erdmittelpunkte. Es ist nicht un-
möglich, dafs der Schein des Zodiakallichtes von einem Ringe kleiner
Meteoriten herrührt, welche das Zerstörungsprodukt eines kleineren,
ehemals vorhandenen Erdmondes sind.
Es mag sohliefslich auf die auffällige Thatsache hingewiesen
werden, dafs alle diejenigen Satelliten unseres Planetensystems, die
sioh aller Wahrscheinlichkeit nach bereits innerhalb der Zone befinden,
in welcher die Auflösungsthätigkeit der Anziehungskraft beginnt, auf-
fallend klein sind, woraus zu vermuthen, dafs eben die Auflösung
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339
bereits wesentlich vorgeschritten ist Nur der bisher sogenannte
erste Jupiter- Satellit macht, wenn er auch der kleinste unter den vier
alten ist, hiervon eine Ausnahme. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die
angenommene Dichte gleich der Hälfte der des Jupiter, der Wirklich-
keit entspricht; sollte er noch einmal so dicht, also eben so dicht wie
Jupiter sein, so befindet sich der Satellit nooh außerhalb der Zer-
störungszone.
Endlioh geben auch die Krater unseres Mondes einen Anhalts-
punkt für dio Richtigkeit der hier vorgetragenen Ansicht. Lösen sich
nämlich wirklich die Satelliten in Staubringe auf, und stürzen aus
diesen allmählich Bruohstüoke auf die feste Oberfläche des Haupt-
körpers herab, so werden durch diesen Aufsturz Gebilde entstehen,
welche, wie das Experiment beweist, den Mondkratern täuschend ähn-
lich sehen. Der Einwand, welchen man gegen die ältere meteo-
rische Hypothese über die Mondkraterbildung erhob, dafs die grofse
Anzahl der betreffenden Gebilde auf unserem Satelliten schwerlich
von jenen sporadischen Meteoriten herrühren könne, wie sie gelegent-
lich unserer Erde begegnen, fällt hier weg. Solche Ringmeteoriten
können und müssen ja in den meisten Fällen massenhaft auftreten
und ganzo Regenschauer erzeugen, wie sie gewisse Gebiete der Mond-
oberfläche zu verrathen scheinen. Da in jüngster Zeit Herr Dr. Gilbert
in Washington (Publications of the Astronomical Society of the Pacific;
vol. IV., No. 26) eine ganz ähnliche Ansicht über die Entstehung der
Mondkrater aussprach, erlaube ich mir darauf hinzuweisen, dafs ich
in vollständiger Uebereinstimmung mit dem genannten Herrn diese
Ueberzeugung bereits in meinem populären Bucho „Die Königin des
Tages“, Seite 126 u. f. (Teschen 1886) und in dem in der Urania viel-
fach wiederholt gehaltenen Vortrage „Von der Erde bis zum Monde“
(Sammlung populärer Schriften, herausgegeben von der Gesellschaft
Urania No. 1 Seite 21 u. f.) ausgesprochen habe.
Dr. M. Wilhelm Meyer.
*
Die Entfernung der Fixsterne. Die Frage, wie weit die Sternchen,
die man als die besonders fest an den Himmel gehefteten ansah, von
uns entfernt sind, ist bekanntlich bis in unser Jahrhundert eine offene
gewesen. Das einzige Mittel, uns darüber ein Urtheil zu verschaffen,
liegt in dem Studium jener geringen Verschiebungen, welche die-
selben scheinbar erleiden, während die Erde ihre jährliche Bahn um
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340
das Tagesgestim vollendet. Ein Bild dieser Bahn ist die kleine
Ellipse, die jedes Sternchen im Laufe des Jahres am Himmel be-
schreibt. Mifst man besonders in den Endpunkten der grofsen Achse
dieser Bahn sorgfältig den Abstand des Sterns von einigen seiner
Nachbarn, die man praktisch für unendlich ferne Sterne ansehen kann,
so erhält man die Länge dor grofsen Achse jener Ellipse, deren Hälfte
man als die Parallaxe des Sternes bezeichnet. Diese sorgfältigen
Messungen konnten aber erst dann mit gehöriger Genauigkeit ausge-
führt werden, als den Astronomen das genaueste Mefsinstrument in
die Hände geliefert war. Erst einem Bes sei gelang es mit Hülfe
des Heliometers die Parallaxe seines Schwanenstemes zu eruiren.
Freilich hat sich neuerdings herausgestellt, dafs auch so alte Durch-
gangsbeobachtungen, wie die von Molyneux im dritten Jahrzehnt
des vorigen Jahrhunderts zu Kew in England angestellten, bei
welchen sich derselbe eines eigens für Parallaxen -Ermittelung be-
stimmten Instrumentes bediente, ihrem Zwecke angepafst waren;
wenigstens hat Auwers für den Zenithstern Druconis aus jenen
Messungen einen Werth der Parallaxe erhalten, der freilich mit einem
mittleren Fehler von einem Zehntel der Bogensekunde behaftet war,
während schon Bessels erste Parallaxen- Bestimmung nur einen
solchen von einem Fünfzigstel der Bogensokundo ergab. Um die-
selbe Zeit, als Bessel seine Heliometer- Beobachtungen ausführte,
hatte Ilenderson am Kap der guten Hoffnung Parallaxen -Bestim-
mungen versucht und für den Stein a Centauri eine noch geringere
Entfernung eruirt, als Bessel für seinen Schwanenstern erhielt
Aber diese Erfolge sowie einige spätere waren zu vereinzelt, um
auf den Bau des Weltalls irgend einen Schlufs zu gestatten.
Das systematische Bestimmen von Fixstern-Entfernungen hat erst
ganz neuerdings begonnen, und die dabei erreichten Resultate berech-
tigen zu kühnen Erwartungen für die Zukunft. Im wesentlichen sind
dabei drei Methoden zur Anwendung gelangt. Kapteyn hat gezeigt,
dafs jene ältore Methode der Beobachtung von Sterndurchgängen, bei
denen die Unterschiede in der Position zwischen dem fraglichen
Sterne und bekannten Nachbarsternen besonders in den äufsersten
Punkten jener scheinbaren elliptischen Bahn derselben sich ergaben,
keineswegs so erfolglos ist, als man nach den Beobachtungen vor
Bessel hätte glauben sollen. Durch zwei Jahre lang (1885 bis 1887)
fortgesetzte Durchgangsbeobachtungen am Leydener Meridiankreis
hat der geschickte Beobachter die Parallaxen von etwa 15 Sternen
von ganz verschiedenen Grofsen und sehr verschiedenen Eigen-
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341
bewegungen gefunden, und die dabei übrig gebliebenen mittleren Fehler
liegen zwischen dem dreißigsten und dem sechzehnten Theil einer
Bogensekundu. Die grofse Sicherheit, die ein gut geschulter Be-
obachter auch mit diesem Verfahren erreichen kann, ist damit gezeigt.
Das zweite Verfahren ist das Besselsche. Elkin hat mit dem
Heliometer von New Haven, das ihm von Merz in München geliefert
war, alle dort sichtbaren Sterne erster Gröfse auf ihre Parallaxe ge-
prüft, und die noch übrigen südlichen dieser hellsten Sterne waren
durch Kap -Beobachtungen, die Elkin vordem in Gemeinschaft mit
Gill ausgeführt hatte, wohl bekannt. Die Sicherheit dieser Messungen
läfst dieselben kaum um ein Dreifsigstel der Bogensekunde fehlerhaft
erscheinen. Aber die beiden oben genannten Methoden, so sicher sie
sind, erfordern eine langwierige Arbeit für jeden einzelnen Stern.
Die Messungen sind oft zu wiederholen, weil das Auge des Beob-
achters die Lichteindrücke eines Sternes nicht fortwährend genau an
derselben Stelle empfängt, dieser vielmehr schon wegen der Unruhe
der Luft auf der Netzhaut des Auges nicht so sicher seine Orte auf-
zeichnet, als im Interesse so feiner Messungen wünschenswerth wäre.
Hier tritt wieder einmal das neue Auge des Astronomen, die photo-
graphische Platte, in ihr Recht. Die verschiedenen Lichteindrücke
eines Sternes sammeln sich auf dieser zu einem Gesamtbilde, dessen
Mittelpunkt bei der späteren Ausmessung der Platte sich viel leichter
und sicherer aulfassen läfst, als der Lichtpunkt bei den direkten
Augenbeobachtungen.
Die photographische Methode ist in den letzten Jahren in Oxford
von dem verdienten Leiter der dortigen Sternwarte, dem hochbetagten
Prof. Pritchard, zu einer solchen Vollkommenheit ausgebildet worden,
dafs es ihm gelungen ist, für einige dreifsig Sterne zweiter Grosse,
die in Oxford sichtbar sind, die Parallaxe zu eruiren und zwar mit
einer nioht viel geringeren Sicherheit, als sie die Heliometerbeobach-
tungen erreichen lassen. Schon der erste Versuch, der bereits vor
sechs Jahren mit Bessels Schwanenstern angestellt wurde, hatte
einen schlagenden Erfolg gehabt. Durch Vergleich mit vier Nach-
barsternen war hier die Parallaxe mit derselben Sicherheit, wie sie
Bes sei erreicht hatte, ermittelt worden. Bei den ferneren Arbeiten
erwies es sich als völlig genügend für die Genauigkeit, wenn nur
Messungen an den äussersten Punkten der Bahnellipse, also um zwei
Zeitpunkte, die ein halbes Jahr auseinanderlagen, angestellt wurden.
Sollte wirklich diese Methode an Genauigkeit gegen die Heliometer-
Messungen zurückstehen, so ist doch ihr Vortheil, dafs sie in viel
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kürzerer Zeit eine gröfsere Anzahl von Sternen auf ihre Entfernung
prüfen läfst, zu sehr in die Augen springend, als dafs man nicht in
ihr die Methode der Zukunft erkennen sollte. Denn viele Sterne
mufs man bezüglich ihrer Entfernungen kennen, um über die Zu-
sammensetzung des Weltalls eine einigermafsen haltbare Ansicht zu
gewinnen. Was Elkins und Pritchards Messungen bisher erkennen
lassen, das hat letzterer neuerdings zusammengestellt
Nach Elkins Messungen kommt den Sternen erster Grösse eine
mittlere Parallaxe von 0", 089 zu, nach Pritchards photogramme-
trischen Bestimmungen besitzen diejenigen der zweiten Gröfse eine
mittlere Parallaxe von 0", 056. Hieraus läfst sich freilich leider
kein Schlufs auf ihre mittlere Entfernung ziehen, weil in jeder der
beiden Klassen Sterne von sehr, sehr grofsem Abstande von dem
Sonnensystem Vorkommen. (Merkwürdig ist immerhin, dars das Ver-
hältnifs jenor Zahlen [1,6] genau dasjenige ist, welches den Ent-
fernungen der Sterne zukommen müsste, wenn man annimmt, dafs
ihnen allen im Durchschnitt dieselbe Lichtintensität innewohnt.) Der
einzige Schlufs hieraus, zu dem sich Pritchard berechtigt glaubt,
ist der, dafs die Sterne erster Gröfse uns im Durchschnitte näher
liegen, als diejenigen der zweiten Gröfse. Ordnet man ferner die
durchgemessenen Sterne nach der Grösse ihrer scheinbaren Eigen-
bewegungen, so erkennt man, dafs durchschnittlich die entfernteren
auch eine geringere Eigenbewegung besitzen, und das hätte man aller-
dings voraussetzen dürfen. Man sieht ein, dafs, wenn auch die sichere
Ausbeute, die in Beziehung auf die Erkenntnifs des Universums aus
den Parallaxenbestimmungen bisher gewonnen ist, noch recht gering
ist, doch die Schritte, die in der durch die angezogenen Messungen
bestimmten Richtung fernerhin zu machen sind, uns dem bezeioh-
neten Ziele näher bringen werden. Man wird dann auch die durch-
messenen Sterne nach ihrem Spektralcharakter anordnen können, und
wir hoffen, dafs sich hieraus wichtige Aufschlüsse über den Bau de9
Weltalls ergeben werden. Sm.
ä
Der Wärmeaustausch an der Erdoberfläche und in der Atmosphäre.
Unter diesem Titel ist kürzlich in den Sitzungsberichten der
König!, preufs. Akademie der Wissenschaften eine Abhandlung des
Herrn Prof, von Bezold erschienen, in welcher eines der wichtigsten
Probleme der Thermodynamik, nämlich die Verfolgung der von der
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343
Sonne gelieferten Wärmemengen von ihrem Eintritt in die Atmosphäre
bis zu ihrem Austritt, einer ersten Lösung zugeführt werden soll.
Ueber die Gesichtspunkte, welche bei der Untersuchung dieser perio-
disch stationären Vorgänge maßgebend sind, hat Herr von Bezold
selbst in dieser Zeitschrift Mittheilimgen gemacht,1) auf welche zur
Ergänzung des Folgenden hier verwiesen sein möge.
Ein kleiner Ueberschlag über die Wärmemengen, welche bei
der Erwärmung von Wasser und Land, bei der Verdunstung, Eis-
schmelzung und dergl. verbraucht werden, zeigt unter anderem, dafs
für die Bestimmung der totalen Energie der Atmosphäre der Gehalt
an Wasserdampf mehr als bisher beachtet werden mufs, dafs dagegen
die durch die Windbewegung bedingte aktuelle Energie für die meisten
Zwecke zu vernachlässigen ist. Selbst bei Annahme einer mittleren
Windgeschwindigkeit der ganzen Atmosphäro von 20 m. p. s. würde
die plötzliche Umwandlung dieser Bewegung in Wärme eine Tem-
peraturerhöhung von nur 0°.2 hervorbringen; es sind diese Energie-
mengen verschwindend klein gegen jene, welche bei der Aenderung
des Aggregatzustandes des Wassers, insbesondere bei der Verdunstung
und Kondensation zum Austausch kommen. Vergleicht man die für
diese Zwecke verbrauchte Wärme mit den Mengen, welche innerhalb
einer gewissen Zeit von der Sonne geliefert werden, so findet man,
dafs unter der Voraussetzung einer mittleren Niederschlagshöhe der
Erde von 56 cm und des Werthes 2 . 6 für die Solarkonstante zur
Verdunstung dieser Niederschlagsmenge '/io der von der Sonne ge-
lieferten Wärme nothwendig ist und dafs den unteren Schichten der
Atmosphäre wenig mehr als >/10 der gesamten Strahlung zu gute
kommt. Man mufs daraus schlinfsen, dafs ein viel kleinerer Bruch-
theil der Gesamtstrahlung zu uns gelangt, als nach den Messungen
an wolkenlosen Tagen angenommen wurde; eine bedeutende Wärme-
menge wird von den Wolken absorbirt, eine noch gröfsere Menge an
der oberen Wolkengrenze reflektirt werden.
Als die erste der speziellen Untersuchungen über diesen Gegen-
stand wird in der genannten Arbeit der Wärmeaustausch im Erdboden
behandelt. Diese Betrachtung bietet verhältnifsmäfsig geringe Schwierig-
keiten, da die Energie hier nur in der Form von thermometrisch
mefsbarer Wärme auftritt, sofern man von den Aenderungen im
Wassergehalte des Bodens absieht. Es zeigt sich dabei, dafs man
zur Bestimmung der Energieänderungen innerhalb eines gegebenen
>) Himmel und Erde, V. Jahrgang, S. 7 ff.
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344
Zeitraumes von der Leitungsfähigkeit des Erdbodens und den Strah-
lungsverhältnissen der Oberfläche absehen kann; man braucht aufser
der Wärmekapazität des Bodens nur die Aenderung der Mittel-
tomperatur desselben von der Oberfläche bis zu der Tiefe, in welcher
die Schwankungen unmerklich werden — also bis zu mindestens
6 m Tiefe — zu kennen. Die Temperaturänderungen lassen sich sehr
übersichtlich veranschaulichen durch ein graphisches Verfahren, bei
welchem die Temperaturen als Ordinalen, die Tiefen als Abscissen dar-
gestellt sind. Ganz ähnlich wie in der Technik bei einer Indikator-
kurve die geleistete Arbeit, hat man in diesen Kurven — der Verf.
nennt sie Tautochronen — ein Mafs für die aufgenommenen bezw.
abgegebenen Wärmemengen. Man gelangt dabei zu dem überraschen-
den Ergebnirs, dafs es zur Bestimmung des jährlichen Wärmeaus-
tausches genügt, wenn man die Teinperaturvertheilung im Erdboden
zu jenen Zeiten des Jahres kennt, wo die Wärmeaufnahme in Abgabe
übergeht und umgekehrt.
Die praktische Anwendung dieser Untersuchung wird an den
Tautoohronen für München und für Nukufs am Amu Darja gezeigt,
indem aus dem Verlaufe dieser Kurven die ausgetauschten Wärme-
mengen und die Höhe der Wasserschicht, welche diese Mengen zur
Verdunstung bringen können, berechnet wird. Es ergiebt sich, dafs
durch die ausgetauschte Wärme des Erdbodens in München kaum
t/s« des jährlich fallenden Niederschlags verdunstet werden kann und
selbst in Nukufs, einem der regenärmsten Gebiete des europäisoh-
asiatischen Kontinentes, noch nicht die Hälfte. Es spielt also der
Wärmeaustausch im Erdboden eine verhältnifsmärsig geringe Rolle
im Wärmehaushalte der Atmosphäre; immerhin zeigt aber schon diese
kurze Untersuchung, einen wie viel tiefem Einblick man in das
Wesen der Sache gewinnt, sobald man an die Stelle einer rein
statistischen Betrachtung der Temperaturverhältnisse eine mehr physi-
kalische Diskussion der Energieänderungen treten läfst. Sg.
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Brester: Theorie du soleiL Aus den .Verhandelingen der Kon. Akademie
van Wetenchappen te Amsterdam“. Amsterdam 1892, Joh. Müller.
In der vorliegenden Schrift veröffentlicht Brester eine sorgfältig bis
ins Einzelne ausgearbeitete Theorie der Sonne, die von völlig neuen und den
jetzt ziemlich allgemein angenommenen Ansichten direkt entgegengesetzten
Grundlagen ausgeht. Die durch die Beobachtung der Protuberanzen und Flecken
entstandene Vorstellung, dafs auf der Oberfläche des SonneDballs beständig
sehr lebhafte Massenbewegungen vor sich gehen, hält Brester nämlich für
einen fundamentalen Irrthum. Aus der rege lraafsi gen Schichtung der ver-
schiedenen chemischen Elemente nach ihrer Schwere schliefst Verf. vielmehr,
dafs die Sonne ein in majestätischer Ruhe befindlicher Feuerball ist. Die
Flecken, Fackeln und Protuberanzen sollen da zur Erscheinung kommen, wo
vorher dissociirte oder „überdissociirte“ Stoffe sich infolge der allmählichen Ab-
kühlung und der damit verbundenen Kondensation trennender Gase plötzlich
unter Lichtentwicklung verbinden (Protuberanzen). Die bei dieser Vereinigung
hervortretende Wärme (Eruption de chaleur) führt aber zu keiner Temperatur-
erhöhung, sondern zu einer Vergasung boroits kondensirter Stoffe, so dafs an
der betreffenden Stelle eine starke Absorption des photosphärischen Lichtes,
also ein Fleck, entsteht. Die Fackeln endlich hält Brester für wellige Auf-
stauungen der Photosphäre oder Chromosphäre an den Rändern der Flecken.
Die riesigen, scheinbaren Bewegungen, welche wir bei den Protuberanzen
wahrnehmen, wären danach durch schnelle Fortpflanzung des einmal einge-
leiteten Verbindungsvorganges ohne materielle Bewegung zu erklären, ähnlich
wie die schnelle Ausbreitung der Flamme bei einer Explosion. — Die ungleiche
Rotationsdauer der verschiedenen heliographischen Breiten sucht Brester
durch die Annahme zu erklären, dafs zwar die Photosphäre fast genau kugel-
förmig, der gasförmige Sonnenkörpor aber sehr stark abgeplattet sei und wie
ein fester Körper rotire. Dadurch, dafs die sich bildenden Kondensationen in
das Niveau der Photosphäre übergehon. bewirken sio die den verschiedenen
Zonen der Photospbäro zukommende, mit der Breite veränderliche Rotations-
geschwindigkeit In der Breite von 11° stimmt nach Brester die Rotations-
dauer der Photosphäro mit dor des Gasballs überein und darin soll die Ursache
für das Maximum der Fleckenbildung in dieser Zone liegen.
Ohne auf eine Kritik von Einzelheiten uns einzulassen, müssen wir der
mit annerkennenswerther Sorgfalt durchgearbeiteten Theorie Bresters die auf
spektralanalytischem Wege festgestellte Realität der gewaltigen Massenbewe-
gungen auf der Sonne entgogenhalten. Gegenüber den Beobachtungen der
Linienverschiebung in den Protuberanzen vermag der Verfasser seinen Stand-
punkt nur dadurch aufrecht zu erhalten, dafs er an dor Richtigkeit der sich
auf das Dopple rsche Prinzip stützenden Schlüsse zweifelt. Unseres Erachtens
nach ist nun aber die Anwendbarkeit dos Doppl ersehen Prinzips auf Licht-
wellen trotz des Mangels eines mathematischen Beweises durch glänzende
Erfabrungsbestätigungen so sicher gestellt, dafs man dieses Prinzip gewifs
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nicht um einer Hypothese willen wird aufgeben dürfen. B re ster selbst stützt
«ich an anderer Stelle sogar auf das Doppl ersehe Prinzip, da er die Diskor-
danz der Ton Dunör und Crew an Linienverschiebungen gewonnenen Resultate
für die Sonnenrotation durch seine Theorie zu erklären sucht. Sonach scheint
uns der eben berührte Punkt der Felsen zu sein, an welchem die Brestersche
Theorie ihrem wesentlichen Inhalte nach scheitert, wofern es ihrem Urheber
nicht gelingt, experimentell zu beweisen, dafs Linienverschiebungen auch ent-
stehen können, wenn sich ein mit Lichtaussendung verbundener Vorgang in
ruhenden Gasen schnell über weite Strecken hin ausbreitet F. Kbr.
Annuaire pour l'an 1893, publiö par le bureau des longitudes. Paris,
Gauthier-Villars. Prix 1,50 fr.
Das diesjährige Pariser Annuaire enthält neben dem vortrefflichen astro-
nomischen Kalender und den stets beigegebenen, zahlreichen praktischen
Tabellen aus den verschiedensten Wissensgebieten noch Abhandlungen von
Janssen über das Observatorium auf dem Mont-Blanc, sowie über die Aero-
nautik, ferner eine ausführliche Darstellung der Beziehungen zwischen elektro-
statischen und elektrodynamischen Erscheinungen aus der Feder von A. Cornu,
und endlich Nachrufe für Bonnet, Mouchez und Perrier.
Dr. v. Zech, Aufgaben aus der theoretischen Mechanik nebst Auf-
lösungen. Zweite Auflage unter Mithilfe von Dr. C. Cranz. Stuttgart
1801. J B. Metzlerscher Verlag. Gr. 8°. VIII und 225 S. Preis 4,20 M.
Den einzelnen Abschnitten dieser reichhaltigen und verdienstlichen Auf-
gabensammlung sind die nothwendigaten Erläuterungen und Grundformeln
der analytischen Mechanik vorangestellt, um den Leser auf diejenigen Hilfs-
mittel hinzuweisen, deren er zur Lösung der nachfolgenden Aufgaben benöthigt.
Während aber das Endorgebnifs häufig schon im Anschluß an den Text der
Aufgabe selbst Aufnahme gefunden hat, ist die ausführlichere Lösung in der
Regel erst in einem Anhang zu dem betreffenden Kapitel wiedergegeben; Re-
ferent glaubt dies als einen besonderen Vorzug der Sammlung hervorhebenzu
sollen. Da dieselbe sich namentlich an diejenigen wendet, welche sich dem
Studium der technischen Wissenschaften widmen, so ist demzufolge auch die
Mehrzahl der gebotenen Aufgaben, deren Lösung bei einiger Uebung meist
nicht eben besondere Schwierigkeiten bieten wird, mit besonderer Rücksicht
hierauf ausgewählt. Besonders erwähnt sei noch, dafs die vorliegende zweite
Auflage um eine Anzahl von Aufgaben bereichert worden ist, welche in den
letzten Jahren in Württemberg beim realistischen Professorratsexamen gestellt
worden sind; auch ein kurzer Abschnitt über die wichtigsten Elemente der
Graphostatik (von Dr. Cranz) hat Aufnahme gefunden. Die Nachrechnung
einiger weniger Aufgaben und der dazu gegebenen Lösungen läfst erwarten,
dafs nur vereinzelt ganz unwesentliche Versehen stehen geblieben sein dürften.
An verschiedenen Stellen möchte allerdings eine etwas weniger knappe Form
des Textes erwünscht erscheinen, weil dadurch leicht das Verständnifs der
Aufgaben erschwert werden kann. G. W.
Carl Heim, Die Einrichtung elektrischer Beleuchtungsanlagen
mit Gleichstrombetrieb. Verlag von O. Leiner, Leipzig 1892. Preis 8 M.
Die Verwendung gleichgerichteter Ströme zur elektrischen Beleuchtung
hat sich seit etwa zehn Jahren, eine Zeit lang sogar fast allein, entwickelt und
in neuerer Zeit eine immer ausgedehntere Verbreitung gefunden. Erst neuer-
dings tritt der Wechselstrom mit in den Wettbewerb, und deshalb ist seine
technische Durcharbeitung bei weitem noch nicht auf dem Wege eines so ruhigen
Fortschrei tens, wie die des Gleichstroms. Aus diesem Grunde hat der Verfasser
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sein Thema in der durch den Titel seines Werkes ausgedrückten Weise
beschränkt.
Zunächst giobt der Verfasser eine kurze physikalische Einleitung. Das
Ohmsche Gesetz, die elektrischen Maafseinheiten, die Beziehungen zwischen
elektrischer und mechanischer Arbeit, das Güteverhältnifs, der Spannungsver-
lust, die verschiedenen Schaltungsarten werden kurz besprochen. Eine voll-
ständige Begründung für die aufgestellten Sätze giebt der Verfasser natürlich
nicht; wohl aber sind ihre gegenseitigen Beziehungen in einfacher und ver-
ständlicher Weise dargelegt. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der
Stromerzeugung; es werden die Hauptarten von Dynamomaschinen kurz be-
sprochen, sowie allgemeinere Betrachtungen über Spann ungsverlauf etc. an-
gestellt. (Nebenbei bemerkt, darf an den Abscissen der Diagramme des
Spannungs Verlaufs nicht die Bezeichnung „Ohm“ stehen). Es folgen Be-
schreibung und Angabe der Leistungsfähigkeit der von den bedeutendsten
Firmen hergestellten Dynamos, sowie der zugehörigen Betriebsmaschinen. Die
folgenden Kapitel seien nur kurz erwähnt Kap. II: „Ueber Aufspeicherung
der Arboit“ enthält eine treffliche Darstellung des gegenwärtigen Standes der
Akkumulatorentechnik. Kap. III behandelt die elektrischen Lampen, Kap. IV
spricht von der Leitung, Schaltung und Regulirung, Kap. V von Hülfsappa-
raten und Mefsinstrumenten, Kap. VI behandelt den Betrieb und die Betriebs-
störungen, Kap. VII die besonderen Einrichtungen, welche beim Anschlufs an
eine Zentrale nothig sind, z. B. die Elektrizitätszähler. Das letzte Kapitel
endlich enthält ausführliche Angaben über Projektirung und Kostenberechnung
einer Beleuchtungsanlage.
Es ist aus dieser Inhaltsangabe wohl ersichtlich, dafs der Gegenstand
nach allen Seiten hin gründlich besprochen worden ist. Da das Buch zudem
durchweg eine präzise, anschauliche und einfache Darstellung aufweist, dürfte
es sich im Kreise der Elektrotechniker bald einbürgern. Wir glauben aber,
dafs es auch für den Physiker interessant und lehrreich ist, einen Gegenstand,
den er in der Regel nur von der theoretischen Seite betrachtet, hier in der
allerkonkretesten Form behandelt zu sehen. Bilden z. B. die praktisch bo
wichtigen Untersuchungen übor die Gröfse der scheinbaren Verluste an Energie,
oder die Preise, die man für ein gewisses Quantum Energie je nach den be-
sonderen Umständen zu zahlen hat, nicht eine lehrreiche Nebenbetrachtung
zu dem wichtigsten physikalischen Gesetze? Sp.
Wilh. Kopeke, Die photographische Retouche in ihrem ganzen Um-
fange. I. Theil: Praktische Anleitung zum Retouchiren. II. Theil:
Die zur künstlerischen Rotouche nöthigen Wissenschaften. — Berlin
1890— 91. Verlag von Robert Oppenheim (Gustav Schmidt).
Der erste Theil behandelt auf 80 Seiten 8° zunächst die verschiedenen
Erfordernisse einer künstlerischen Retouche, giebt sodann eine genügend aus-
führliche Anweisung, sowohl für die Negativretouche als für das Ueberarbeiten
der Kopieen, die je nach dor besonderen Beschaffenheit des verwendeten
Materials eine verschiedenartige Behandlung beanspruchen, und schliefst mit
einem Abschnitt, in welchem das kiintlerische Uebermalen von Photographien
als ein Zweig der Arbeit des Retoucheurs dargestellt ist. Der Verfasser bietet
eine Reihe von praktischen Winken, durch deren Befolgung dem künstlerischen
Eindruck des photographischen Bildes wesentlich nachgeholfen werden kann,
unterläfst es dabei aber nicht, wiederholt zu betonen, dafs auch die Retouche
eine Kunst ist, dafs mit anderen Worten die künstlerische Auffassung des
Retoucheurs wohl ausgebildet, aber nicht erlernt werden kann.
Weniger befriedigen wird der zweite Theil, welcher die Perspektive,
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die ächattenlehre und endlich die Anatomie des menschlichen Körpers auf
etwa 170 Seiten abzuhandeln sucht. Manchem werden die Darlegungen des
Verfassers zu lehrhaft erscheinen, namentlich in der letzten Halite, wo man
vergeblich eine Bezugnahme oder einen Hinweis auf die Erfordernisse der
praktischen Retouche suchen wird, da in Wirklichkeit nur eine schematisirendu
Aufzählung der verschiedenen Theile des menschlichen Körpers gegeben ist,
für welche mindestens die Beifügung der lateinischen Bezeichnungen entbehr-
lich sein dürfte. Auch der Form der Darstellung können wir nicht in jeder
Beziehung unseren Beifall zollen; sie hat zweifellos manchmal auf Kosten der an
sich erstrebenswerthen Kürze gelitten. Vor allem aber steht zu befürchten, dafs
der Amateurphotograph, welcher sich über die schwierige Arbeit des Retoucheurs
zu belehren sucht, kaum den inneren Zusammenhang zwischen den beiden
Theilen des Werkes herausßnden wird. Aus diesem Grunde erscheint es uns
kaum berechtigt, den zweiten Theil als eine Ergänzung zum ersten zu bezeichnen,
wohingegen er als selbständiges Ganzes wohl bestehen könnte. G. W.
Hoernes, M., Die Urgeschichte des Menschen nach dem heutigen
Stande der Wissenschaft. Wien, Pest, Leipzig, A. Hartleben’s
Verlag 1892. Preis geh. 10 M.
Wie so manche Wissenschaft in den letzten Dezennien einen neuen,
belebenden Impuls erhalten hat, so auch die Lehre vom Menschen, die eine
unerwartete Fülle von Material und Ergebnissen gerade in den letzten Jahren
zeitigto. Recht deutlich tritt dies bei der Urgeschichte des Menschen zu Tage:
überall entstanden Museen für Alterthumskunde, und Vereine oder Gesellschaften
bildeten sich , um neues Material herbeizusch affen oder früher gefundenes zu
verarbeiten. Hierbei macht sich aber dasBedürfnifs nach einem für gebildete
Laien bestimmten Handbuch geltend, denn das einzige Buch dieser Art, im
Jahre 1880 von Friedrich von Hellwald herausgegeben, wurde diesem
Wunsche nur in beschränktem Mafse gerecht. Man kann daher das Erscheinen
des oben angezeigten Buches nur mit Genugthuung begrüfsen. Es umfafst
einen Zeitraum von der „Urquelle der menschlichen Kultur** bis in die Zeit
der Völkerwanderung, schliefst aber im allgemeinen bei jedem Lande da, wo
die historische Zeit, wenn man so sagen darf, beginnt. Wie es ja bei einem
österreichischen Verfasser, dem noch dazu die Schätze des Wiener Museums
zugänglich waren, naheliegt, werden Zentral-Europa und besonders die Alpen-
länder sehr ausführlich behandelt, aber auch der übrige Theil Europas kommt
durchaus zu seinem Rechte. Dagegen ist die Nichtberücksichtigung oder das
doch nur gelegentliche Heranziehen aufsereuropäischer, prähistorischer Kultur-
stätten ein Mangel, den Roferent gern vermieden gesehen hätte. So fehlen
die Ergebnisse der Reisen von Charnay in Mittelamerika, durch welche die
geheimnifsvollen Städte in Mexiko undYnkatan näher bekannt wurden, ferner
Berichte über die riesigen Erdbauten der Indianer im Gebiete des Mississippi,
endlich die Erwähnung der ostasiatischen Kultur. Allerdings mufs dem Ver-
fasser zugegeben werden, dals diese Gebiete noch nicht genügend durchforscht
sind, um ein fertiges Bild hiervon geben zu können, auch läfst sich über den
Umfang der Prähistorie streiten.
Immerhin ist das reich illustrirte Buch allen Interessenten durchaus zu
empfehlen; sie werden darin eine Fülle der Belehrung und Anregung finden,
sodafs vielleicht durch die vom vorliegenden Werke empfangene Hinweisung
manche hochwichtigen Funde der Vergessenheit oder Zerstörung entrissen
werden könnten. C. Kafsner.
Verlag von Hermann Paetel in Merlin. — Druck von Wilhelm Öronau's Uuchdruckerei in Berlin.
Kür dio Rcdactlou verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Uebereetzungsrecht Vorbehalten.
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Die Deutsche Seewarte in Hamburg.
Mafs und Messen.
Eine historische Studie von Prof. I*. Yolkmanu
in Königsberg i. Pr.
berühmter englischer Forscher — - Maxwell — hat einmal1)
gesagt, dass das Symbol des ganzen Systems des civilisirten
Lebens passend durch einen Mafstab, eine Reihe von Ge-
wichten und eine Uhr dargestellt werden könnte. Wenn dieser Aus-
spruch auch nicht frei von Einseitigkeiten ist, so trifft er doch in ge-
wissem Sinne zu. Bei den wilden, unkultivirten Völkerstämmen finden
wir keine Mafse, und wieder, wo wir in der Geschichto der Völker
die Anfänge einer Kultur zu verzeichnen haben, finden wir gleich-
zeitig Angaben über räumliche und zeitliche Entfernungen, über Ge-
wichte, über Raum- und Fliichen-Mafse.
Versetzen wir uns zunächst auf den Standpunkt der Naturvölker:
Die Wiederkehr von Tag und Nacht, der Wechsel dor Jahres-
zeiten drängen sich dom Menschen als Zeitmafs in so einschneidender
Weise auf, dafs wir es als ganz selbstverständlich finden müssen, dals
die Zeitbestimmungen aller Völker daran anknüpfen.
Andere Mafse für Längen, Flächen, Räume und Gewichte werden
dem unmittelbaren Bedürfnifs und der unmittelbaren Anschauung ent-
sprungen sein. Wie so häufig, so giebt auch hier die Sprache selbst
einigen Aufschlufs und Stütze für naheliegende Vermuthungen.
Gröfsere Entfernungen wurden nach Tagereisen, kleinere nach
der Länge der Glieder eines erwachsenen Menschen gemessen. Tage-
reisen hatten als Mafs den Vorzug der Anschaulichkeit ; Schritt, Fufs,
Elle den Vorzug, dafs sie überall, wo Längen gemessen wurden, zur
Verfügung standen, nämlich in der Person des Messenden.
*) Maxwell, Thoorio der Wärme, deutsche Ausgabe von F. Neesen.
Braunschweig IS78, S. Sfi.
Himmel und Erde. 1693. V. 8, 24
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350
Für Flächen gab ein Areal, welches ein Gespann Ochsen an
einem Tage umpflügt, ein bequemes FeMmafs.2) Als Rauinmafs wurde
ein Flüssigkeitsquantum genommen, welches zwei Ochsen auf einem
Wagen zu ziehen vermochten — von der verschiedenen Schwere der
Flüssigkeiten konnte in jenen glücklichen Zeiten abgesehen werden!
Auch neben einander gelegte Feldfrüchte und Getreidekörner
wurden nachweislich Längenmessungen zu Grunde gelegt, und ebenso
als Gewichtsmafs das Gewicht einer bestimmten Anzahl Getreide-
körner.
Der nächste Schritt der Entwicklung des Marsbegriffes bestand
naturgemäfs in der wirklichen, materiellen Herstellung von Mafsen;
wir finden ihn bei den alten Kulturvölkern ausgeführt.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, die verschiedenen Mafsein-
heiten aufzuzählen, welche sich bei den Völkern des Alterthums finden,
ich will auch nicht versuchen, dieselben in unseren heutigen Mafsen
auszudrücken, wozu wir in Inschriften und Angaben der Schriftsteller
in Verbindung mit den auf uns gekommenen Münzen, Bauten und
Denkmälern die Mittel haben — ich denke z. B. an die Pyramiden
Aegyptens.
Den bestimmenden Einflufs auf die Mafse des Alterthums müssen
wir nach allem, was darüber vorliegt, den alten Babyloniern zu-
schreiben. Wir verdanken die gründlichsten diesbezüglichen Unter-
suchungen dom Alterthumsforscher A. Böckh.3) Man hat lange nach
einem gemeinsamen Bande zwischen der grofsen Mannigfaltigkeit der
Marse des Alterthums gesucht, und ist dabei zu keinen allgemeinen
Resultaten gekommen, weil man immer von den Längenmarsen als
Grundmafs ausging. Böckh hat zuerst darauf aufmerksam ge-
macht, dafs sämtliche Liingenmafse des Alterthums sich unter einem
überraschond einfachen Gesichtspunkt ordnen, wenn man von einem
gegebenen Cubus Wasser als Gewichtseinheit ausgeht. Die ver-
schiedenen Längenmaafse des Alterthums lassen sich im grofsen und
ganzen als die Kantenlängen von Würfeln darstellen, deren Raum-
inhalt in einem ganz einfachen Zahlenverhältnifs zu jenem Einheits-
Cubus stand. Das Nebeneinanderbestehen des Duodezimal- und De-
zimal-Zahleusystems gab ein verschiedenes Eintheilungsprincip und
somit Veranlassung zu einem greiseren und kleineren Mais, wie es
sich bei den verschiedenen Völkern des Alterthums findet.
:) Das altrömische „Jugerum“.
s) A. Böckh. Metrologische Untersuchungen über Gewichte, Münzfufse
und Mafse des Alterthums in ihrem Zusammenhänge. Beriin 1838.
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351
Fragt man nach dem Grunde, wie es gekommen sein möchte,
dafs gerade ein Cubus Wasser den Ausgangspunkt für die Längen-
mafse und Gewichte bildete, so mag darauf hingewiesen werden, dafs
bei den Babyloniern und Aegyptem Mafs und Gewioht von der stern-
kundigen Priestersohaft geregelt wurde. Zu den astronomischen Be-
obachtungen waren einigermafsen genaue Zeitmessungen erforderlich,
und diese wurden nach uralter Methode durch den Ausflufs von Wasser
aus Gefäfsen gemacht Die aufgefangenen Wassermengen wurden aber
nicht allein durch Längenmessungen der Höhe, bis zu der das Gefäfs
gefüllt war, sondern auch durch Wägungen verglichen, und damit sind
dann die Gesichtspunkte gegeben, welche für das alte MafssyBtem
bestimmend gewesen zu sein soheinen. Es sind dieselben .Gesichts-
punkte, welche wir bei unserem heutigen metrischen System wieder-
finden.
Ein ausgebildetes Mafssystem hatte für Aegypten eine besondere
Bedeutung, wo die Abmessung des Landes den Wohlstand mitbedingte.
Die alljährlich wiederkehrenden Ueberschwemmungen des Nil machten
alle Felder und Marken unkenntlich, und es mufsten jährlich die
Felder neu abgemessen werden. Darin mag die Pflege der Geometrie
für Aegypten ihren Ursprung gehabt haben, hat man doch Aegypten
die Wiege der Geometrie genannt. Und doch dürfen wir uns keine
übertriebenen Vorstellungen von der Genauigkeit der Längen- und
Gewichtsmafse bei den alten Aegyptem bilden, schon damals galt,
was houte noch gilt:
Die mathematischen Spekulationen können zu bedeutenden Re-
sultaten führen, ohne dafs damit die physikalischen Kenntnisse und
technischen Fertigkeiten fortzuschreiten brauchen. Der Mathematiker,
auch wenn sein Ausgangspunkt ein der Wirklichkeit, der Natur ent-
nommenes Problem ist, entsagt so leicht, nachdem er einmal den Stolz
unabhängiger und von jeder objektiven Wirklichkeit freien Spekulation
gekostet hat, dieser Wirklichkeit und fühlt auch nicht das Bedürfnifs,
im weiteren Verlauf darauf zurückzukommen. Die wissenschaftliche
Berechtigung dieses Standpunktes soll damit natürlich nicht bestritten
werden.
Dieselbe Bemerkung wie bei den Aegyptem, können wir in noch
viel höherem Grade bei den alten Griechen machen. Das hohe An-
sehen, in dem die Pflege der Mathematik, insbesondere der Geometrie,
bei den Griechen stand — ich erinnere an die Inschrift4) beim Eintritt
4) Der Spruch o-iJti; tiairiu wird gewöhnlich als pythagoreisch
bezeichnet.
24*
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in Platos Akademie: „Kein der Geometrie Unkundiger gehe hinein“
— tritt in einen ziemlich scharfen Gegensatz zu der Geringschätzung,
mit der die Beschäftigung mit Mafs und Messen behandelt zu werden
pflegte; war es doch selbst Socrates, welcher der Astronomie nur
eine Bedeutung für Nachtwächter und Seefahrer abgewinnen konnte.5)
Mit dem Verfall des klassischen Alterthums ging Hand in Hand
der Verfall des Mafssystems der alten Kulturvölker. Die Herkunft
und Ableitung der verschiedenen Mafse wurde vergessen, das römische
Mafs mit grösserer oder geringerer Abweichung übernommen. Normal-
mafse wurden vielleicht von den Behörden einer Stadt aufbewahrt,
aber es lag bei dem Mangel und der Schwierigkeit der Verkehrs-
verhältnisse kein Bedürfnifs vor, die Mafse verschiedener Städte in
Uebereinstimmung zu erhalten; es führte auch keine Unbequemlichkeiten
mit sich, für eine Stadt oder für einen Landstrich die Mafse zu ändern.
Wissenschaftliche Fragen, welche genaue Mafse zur Voraussetzung
haben, existirten nicht.
Als nun die Verkehrsverhältnisse sich zu bessern anfingen, und
der Handel zunahm, zeigten sich die Unzuträglichkeiten, welche in
einer Verschiedenheit und Ungenauigkeit der Mafse lagen; wir
brauchen dabei noch gar nicht einmal an die verschiedenen Länder
und Staaten zu denken. Schon der Verkehr zwischen benachbarten
Städten und Landstrichen förderte diese Unzuträglichkeiten zu Tage.
So kam es, dafs während des Mittelalters wiederholt das Be-
dürfnifs und der Wunsch nach Einigung der Mafse wenigstens
innerhalb eines einzelnen Landes auftrat, und dafs man, um diese
Einigung annehmbar zu machen, immer an Objekte anzuknüpfen
suchte, welche der jedem zugänglichen Natur, der Wirklichkeit ent-
nommen waren. Die anorganische Welt stand dem damaligen Ge-
dankenkreis zu fern, so stellte man sich wieder auf den Standpunkt
der Naturvölker und knüpfte an die organische Welt an; nur dass
man gleichzeitig auch an die materielle Herstellung ging, die dann
dem Objekt entsprechend recht verschieden und ungenau ausfiel.
Die verschiedensten Festsetzungen und Bestimmungen suchten
theilweise über die Verschiedenheiten und Ungenauigkeiten der Mafse
hinwegzuhelfen. Hatte man früher in England das Mafs der Elle auf
die Länge des Armes eines erwachsenen Menschen gegründet, so be-
stimmte Heinrich I. von England 1101, dafs sie die Länge seines
Armes bis zur Spitze des Mittelfingers haben solle. In der Mitte des
Xenophon. Memorabilien IV. 7.
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dreizehnten Jahrhunderts wurde dann weiter in England die auf dem
Gewicht einer Anzahl Weizenkörner begründete Gewichtseinheit dahin
näher prüzisirt, dafe dieselben aus der Mitte der Aehre genommen
und wohlgetrocknet sein sollten.
In Deutschland wurde im sechzehnten Jahrhundert, um den ver-
schiedenen Marsen, welche auf die Gröfse des menschlichen Fufses
basirt waren, ein Ende zu machen, vorgeschlagen :#) rMan solle sech-
zehn Mann klein und grofs, wie sie ungefähr nacheinander aus der
Kirche gehen, einen jeden vor den anderen einen Schuh stellen lassen,
dicselbige Länge werde und solle sein ein gerecht gemein Mefsruth,
damit man das Feld mifsL“
Selbst noch im achtzehnten Jahrhundert finden sioh Vorschläge
für Naturmafso aus der organischen Welt. Die Entfernung der
Pupillen Erwachsener und die Gröfse der Bienenzellen wurden ernst-
lich in Vorschlag gebracht unter der Voraussetzung, dafs es unver-
änderliche Gröfsen wären.
Die Ursache, warum man, wo man an Naturmafse dachte, immer
an die organische Welt anknüpfte, die doch nur verhältnifsmäfsig
ungenaue Messungen zuläfst, und nicht an die anorganische Welt,
lag in der späten Entwickelung der Physik, der Wissenschaft von den
allgemeinen Sätzen der anorganischen Welt.
Das Alterthum hatte sich nur mit den Gleichgewichtszuständen
erfolgreich beschäftigt, alle Bewegungserscheinungen wurden organisch
d. h. rein menschlich aufgefafst. Warum hört der Stein auf zu fliegen,
fragt Plato, und er antwortet darauf, weil er müde wird. Durch diese
und ähnliche Auffassungen war allen Bewegungserscheinungen das
Fundament einer kausalen Erforschung entzogen, und doch mufste
jede wissenschaftliche Physik gerade an die Bewegungszustände an-
knüpfen.
Aristoteles spricht zwar von dem Fall der Körper, aber statt
sich durch den einfachen Versuch davon zu überzeugen, dass alle
Körper gleich schnell zur Erde fallen, behauptet er, dass die Körper
durch den gleichen Raum mit einer dem Verhältnis ihrer Gröfse ent-
sprechenden grösseren oder geringeren Geschwindigkeit fallen.') Das
•) Man solle den Artikel über Mafs in Gehlere physikalischem Wörter-
buch. Bd. VI. 2. Abtli. Leipzig 1836. S. 1255. Dieser Artikel sowie der betref-
fende Uber Mafs und Messen in Karstens Encyklopädie der Physik, Leipzig
1869, ist von mir vielfach benutzt.
:) Aristoteles. Physik II o. 8.
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Mittelalter staml noch vollständig unter dem Banne dieser Vorstellungen-
des Alterthums, erst Galilei unterwarf Ende des sechzehnten Jahr-
hunderts die BeweguDgszustände einer wissenschaftlichen Behandlung
und wurde dadurch der wahre Begründer der Physik.
Das siebenzehnte Jahrhundert brachte den ersten Vorschlag eines
den allgemeinen Naturgesetzen entnommenen Natnrmafses. Es war
Huygens, der berühmte holländische Physiker, der Begründer der
Anschauungen, welche wir noch heute von dem Wesen des Lichtes
haben, welcher im Anschluss an seine Forschungen über das Pendel
vorschlug, die Länge des einfachen Sekundenpendels zur Mafseinheit
zu wählen.
Man versteht unter einem einfachen Sekundenpcndel ein Pendel,
welches zu einer Schwingung eine Sekunde Zeit braucht, und welches
aus einem Faden besteht, der durch eine kleine Masse unter Wirkung
der Schwere gespannt ist; von dem Gewicht des Fadens ist dabei
ebenso wie von der Ausdehnung der angehängten Masse abzusehen.
Die Länge eines solchen Pendels ist eine der Beobachtung, wenn auch
nicht direkt, so doch indirekt zugängliche Gröfse, welche mit einer
verhältnifsmäfsig grofsen Genauigkeit angegeben werden kann.
Zwar setzte Huygens bei seinem Vorschlag die Unabhängigkeit
der Länge des einfachen Sekundenpendels von dem Beobachtungsort
auf der Erdoberfläche voraus, oder was auf dasselbe hinauskam, eine
für die ganze Erdoberfläche konstante Schwerkraft. Sehr bald ergab
sioh nun eine Abhängigkeit im allgemeinen von der geographischen
Breite, im einzelnen auch von den Orten desselben Breitengrades;
indefs konnte diese Verschiedenheit dem Vorschlag von Huygens
keinen Abbruch thun, man konnte eben die Längeneinheit definiren
durch die Länge des einfachen .Sekundenpendels für einen bestimmten
Erdort.
Dieser Vorschlag von Huygens ist denn auch am Ende des
vorigen Jahrhunderts ernstlich in Erwägung gezogen, als es sich zu
Zeiten der französischen Revolution um die materielle Herstellung
eines konsequent durchgeführten, der Natur entnommenen Mafssystems
handelte. Der Vorschlag hatte den Vorzug, dafs danach wirklich
leicht und genau zu jeder Zeit ein Längenmafs hergestellt werden
konnte; aber er drang nicht durch, weil man dagegen anführte,
dass dabei auf die Einheit des Zeitmarse?, die Sekunde zurückgegangen
würde, die Sekunde aber als ein, wenn auch erst im Laufe der Jahr-
tausende, veränderliches Mafs anzusehen wäre.
Man hoffte ein für alle Zeiten unveränderliches Längenmafs
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schaffen zu können, und darum sollte die Einheit des Längenmafses
in Beziehung zu den Dimensionen der Erde gesetzt werden. Durch
eine genaue Gradmessung zwischen Formentera und Dünkirchen sollte
die Länge des Erdquadranten abgeleitet und der zehnmillionste Theil
dieser Länge als Längeneinheit, als Meter proklamirt werden.
Stillschweigende Voraussetzung dabei war, dafs die Erde eine
Rotationsfigur wäre, für welche also alle Quadranten dieselbe Länge
hätten. Weitere Gradmessungen, welche sehr bald nach der französi-
schen Gradmessung ausgeführt wurden, haben die Unrichtigkeit dieser
Voraussetzung ergeben. Nach Bessel ist die Länge des Erdquadranten
im Mittel nicht zehn Millionen Meter, sondern noch 565 Meter mehr.
Die Definition der festgesetzten Einheit wäre also auf den Quadranten
zu beschränken gewesen, der durch Formentera und Dünkirchen geht.
Wägt man heute die Vortheile der Ableitung der Längen-
einheit aus der Länge des Sekundenpendels und aus der Grösse
des Erdquadranten gegeneinander ab, so kann wohl kein Zweifel be-
stehen, dafs der Vorschlag von Huygens den Vorzug verdient. Die
Bestimmung der Länge des einfachen Sekundenpendels ist eine so
ungleich einfachere, durch einen Beobachter auszuführende Operation,
dafs sie in gar keinem Verhältnis steht zu den Schwierigkeiten einer
Gradmessung, welche eine gröfsere Anzahl von Mitarbeitern erfordert.
Entsprechend ist die Länge des einfachen Sekundenpendels einer ge-
naueren Bestimmung fähig, als die aus der Gröfse des Erdquadranten
abgeleitete Länge des Meters. Der damalige offizielle Hinweis, dafö
es dem Besitzer eines Gutes ein Vergnügen sein würde, schnell und
leicht sich auszurechnen, welcher Bruchtheil der Erdoberfläche ihm
gehöre,6) kann wohl überhaupt nicht ernstlich in Erwägung gezogen
werden.
Die bisher für die Begründung eines Mafssystems erwähnten
und der anorganisohen Welt entnommenen Mafse haben <las Gemein-
same, dafs sie sämtlich auf terrestrische Verhältnisse zurückgehen;
damit wirft sich von selbst die Frage auf, ob uns diese terrestrischen
Verhältnisse irgend eine Garantie für ihre Unveränderlichkeit bieten.
Die Forderung unveränderlicher Mafseinheiten ist eine in erster
Linie wissenschaftliche, damit Hand in Hand geht die Entscheidung,
welche Stellung wir den vorgeschlagenen Naturmarsen gegenüber zu
nehmen haben.
Die Unveränderlichkeit der Sekunde mittlerer Sonnenzeit knüpft
*) Vergl. Dove. lieber Mals und Mcfsen. Berlin 1834. 3. 7.
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an die Unveränderlichkeit der Rotation der Erde um ihre eigene Aie
und um die Sonne. Oegen die erste sind wir eher in der Lage Gründe
anzufiihren, als gegen die zweite.
Wir haben mit zwei Momenten zu thun, welche die Rotations-
geschwindigkeit der Erde um ihre Axe ändern. Wir haben einmal
die säkulare Abkühlung der Erde, infolge deren eine Verkleinerung,
ein Zusammenschrumpfen der Erde stattfinden mufs. Nach den Grund-
sätzen der Mechanik ist damit eine Beschleunigung der Rotation un-
trennbar verbunden. Wir haben auf der anderen Seite die Reibung
der rotirenden Erde gegen die Fluthwellen, welche wir uns als be-
ständig dem Monde und der Sonne zugekehrt und abgewandt zu
denken haben. In dieser Reibung liegt ein verzögerndes Moment für
die Rotationsgeschwindigkeit der Erde.
Es ist unzweifelhaft, dafs in früheren Phasen der Entwicklung
der Erde das beschleunigende Moment überwog, und dafs wir uns
gegenwärtig am Ende eines Zeitabschnittes befinden, in welchem dem
beschleunigenden Moment durch das verzögernde das Gleichgewicht
gehalten wird. In der dritten und letzten Epoche der Entwicklung
der Erde wird das verzögernde Moment überwiegen. Wir gehen
darin einem Zustand entgegen, in dem wir schon gegenwärtig den
Mond sich befinden sehen, der uns immer dieselbe Seite zukehrt,
dessen Umlauf um die Erde also zusammenfällt mit der Umdrehung
um seine Axe.
Wenn wir noch einen Augenblick der Umlaufzeit der Erde um
die Sonne gedenken, so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dafs
durch Meteore, welohe auf die Sonne stürzen, die Masse der Sonne
vermehrt wird, wodurch eine Verkürzung der Umlaufszeit der Erde
um die Sonne bedingt sein würde.
Das Resultat von Untersuchungen, die durch solche und ähnliche
Fragen angeregt sind, ist dahin auszusprechen: Die Sekunde, wie sie
uns der Astronom aus der Umdrehung der Erde um ihre Axe und
um die Sonne berechnet und überliefert, ist zwar während unseres
Lebens und erheblich darüber hinaus eine hinreichend unveränder-
liche Mafseinheit, aber für ein absolut konstantes Mafs dürfen wir
sie trotzdem nicht halten.
Nicht anders steht es mit den Längen mafsen, welohe an den
Vorschlag von Huygens und die bezüglichen Mafsnahinen der
französischen Revolution anknüpfen. Erwägen wir, dafs infolge der
säkularen Abkühlung die Erde zusammenschrumpft, so haben wir
keine Garantie, weder für die Unveränderlichkeit der Schwerkraft an
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irgend einem Ort der Erdoberfläche, noch für die Unveränderliohkeit
der Dimensionen der Erde, also z. B. des Quadranten, der durch Frank-
reich geht.
Wollen wir ein für alle Zeit unveränderliches und konstantes
Mafs der anorganischen Welt entnehmen, dann dürfen wir nicht an ter-
restrische Verhältnisse anknüpfen, wir müssen auf allgemein physika-
lische Verhältnisse oder auf Naturgesetze zurückgehen, zu denen wir
dadurch, dafs sie eine grofse Klasse von Erscheinungen umfassen, das
Zutrauen unbeschränkter Gültigkeit haben.
Eine Fülle von optischen Erscheinungen drängt uns dazu, das
Licht als eine Wellenbewegung im Aether aufzufassen. Die Analogie
der Farben mit den Tönen pflegt in populären Aufsätzen häufig aus-
geführt zu wenien; es wird genügen hier darauf hinzuweisen.
Die Schwingungsdauer bedingt die Farbe des Lichtes und ist
eine wenn auch nicht direkt, so doch indirekt wohl mefsbare Oröfse; sie
zählt nach Billionen Theilen einer Sekunde. Alle Gründe sprechen
dafür in dieser Schwingungsdauer irgend eines homogenen Farben-
lichtes eine für alle Zeiten und alle Orte vollkommen unveränderliche
Grösse zu sehen. So hätten wir z. B. in der Schwingungsdauer des
N'atriumlichtes ein unveränderliches Zeitmafs: da dasselbe für die
meisten Verhältnisse zu klein wäre, könnte ein beliebig Vielfaches
dieser Grörse als Einheit zu Grunde gelegt worden.
Dieses Mafs wäre nicht etwa abhängig von unseren Vorstel-
lungen über das Wesen des Lichtes, von denen wir ausgingen, es
würde seine Bedeutung behalten, selbst wenn diese Vorstellungen auf-
gegeben werden müfsten; denn die Messungen, durch welche das
Mafs gewonnen worden, können unmöglich durch Vorstellungen eine
Aenderung erfahren.
Ebenso unabhängig von jeder Vorstellung ist die Gröfse, welche
wir als Geschwindigkeit des Lichtes bezeichnen. Wir müssen die-
selbe im Vakuum, also im reinen Aether, als eine konstante Gröfse
ansehen, und sie würde uns in Verbindung mit der Schwingungsdauer
des Natriumlichtes ein Mittel geben, für Längen eine Mafseinheit zu
gewinnen. Dafs die Geschwindigkeit des Liohtes einen sehr hohen
Werth hat — 42 000 Meilen in der Sekunde — ist dabei gleich-
gültig.
Andere Mittel zur Aufstellung unveränderlicher Mafseinheiten
bieten uns die Naturgesetze. Von allen Naturgesetzen haben wir
wohl das gröfste Zutrauen zu dem Newtonschen; es ist das Gesetz,
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welches dem Astronomen den Lauf der Planeten und Trabanten im
voraus zu berechnen gestattet, das Gesetz, welches Leverrier ge-
stattete, den Ort eines bis dahin noch nicht wahrgenommenen Planeten
zu berechnen — des Neptun.
Die Rechnung lehrt, dafs die Umlaufszeit eines Trabanten, der
reibungslos an der Oberfläche eine allenthalben gleich dichte Wasser-
kugel unter Einwirkung der Newtonsohen Gravitation umkreist, un-
abhängig von der Oriifse der Kugel in circa 3*/3 Stunden vor sich
gehen würde. Diese für alle Zeiten unveränderliche Umlaufszeit wäre
geeignet uns ein Zeitmafs zu liefern.
Gingen wir weiter von irgend einem Längenmafs aus, dann
könnte uns das Newtonsche Gesetz eine Massen- oder Gewichts-Ein-
heit liefern, welche als unveränderlich und stets realisirbar anzusehen
sein würde. Wir könnten eine Masseneinheit als diejenige fostsetzen,
welche in der Einheit der Entfernung eine gleich grofse Masse infolge
der Gravitation in der Einheit der Zeit um irgend einen Bruohtheil
nähern oder ihr die Einheit der Geschwindigkeit ertheilen würde.
Um eine Anschauung davon zu geben, mit was für Gröfsen Ver-
hältnissen wir es hier zu thun haben, theile ich mit, dafs nach dem
Newtonsohen Gesetz sich zwei Ein-Kilograram-Stücke bei ein Meter
Entfernung um einen Millimeter in 1 Stunde 6 Minuten nähern würden ;
oder dafs bei Zugrundelegung von Centimeter und Sekunde wir in
dem Gewicht von circa 15 Millionen Gramm ein Gewicht hätten,
welches einem gleich grofsen Gewicht in der Sekunde die Geschwindig-
keitseinheit ertheilen würde — die Gewichte in Punkten konzentrirt
gedacht.
Die vorliegenden Beispiele werden genügen zu zeigen, in welcher
Weise wir in der Natur Mafse haben, welche wirklich den Stempel
der Unveränderlichkeit in Zeit und Kaum an sich tragen. Wenn wir
aber daran weiter die Frage knüpfen, ob diese der Natur entnommenen
Mafse der Genauigkeit entsprechen, welche wir brauchen, mit der
wir messen können, müssen wir mit einem entschiedenen Nein ant-
worten.
Es wird nicht überflüssig sein, an dieser Stelle einige Bemerkungen
einzuschalten zu dem, was man unter Genauigkeit einer Messung ver-
steht, beziehungsweise verstehen mufs. Der Laie staunt in der Regel
ebenso die grofsen Zahlen an, zu denen astronomische Messungen
führen, dafs die Entfernung der Sonne von der Erde 20 Millionen
Meilen und des Mondes von der Erde 60 Tausend Meilen ist, wie er
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die kleinen Zahlen, zu denen z. B. die Optik führt, für den Superlativ
von Genauigkeit hält.
Der Laie läfst sich dabei leiten von den Messungen, die ihm das
gewöhnliche Leben veranschaulicht. Angaben von Längen bis auf
Millimeter oder von Zeiten bis auf Sekunden oder von Gewichten bis
auf Theile eines Grammes haben in der Regel keinen praktischen
Zweck mehr, und so ist man denn gar zu sehr geneigt, Angaben, die
bis auf Millimeter, Sekunden oder Theile eines Grammes gehen, für
genau zu halten. Hand in Hand damit pflegt die Vorstellung zu gehen,
dafs grofse Werthe, wie die Entfernung der Sonne von der Erde bis
auf Längen bekannt sein müfsten, wie sie durch terrestrische Verhält-
nisse gegeben sind; und das Vertrauen auf die Sicherheit astro-
nomischer Messungen pflegt einen Stofs zu bekommen, wenn darauf
hingewiesen wird, dafs die mittlere Entfernung der Sonne von der
Erde vielleicht um 200 Tausend Meilen zu grofs gerechnet sei.
Die Genauigkeit einer Messung bemisst sich nie nach der abso-
luten Gröfse des Werthes. sondern stets nach dem Verhältnis der
Genauigkeitsgrenze einer Messung zum Gesamtwerth der Messung.
Wir müssen uns des Ausdrucks bedienen, eine Messung ist bis auf
den so und sovielsten Theil des Gesamtwerthes richtig. Wenn wir in
einem Laden drei Meter Tuch kaufen, dann wird es uns nicht darauf
ankommen, ob der Kaufmann uns einen Centimeter mehr oder weniger
giebt; wir werden nur eine Genauigkeit von t/3«« in der Messung ver-
langen; das ist ein anderer Ausdruck für dieselbe Sache. Ganz ebenso
haben wir die Genauigkeit von Angaben zu beurtheilen, die uns auf
fremden Gebieten entgegentreten.
In keiner Wissenschaft, die sich mit einer äufseren Wirklichkeit
entnommenen Objekten abgiebt — ich schliefse damit die reine Mathe-
matik aus — ist das Streben nach genauen Angaben so weit ausge-
bildet, wie in der Physik und Astronomie. Ist es richtig, dafs die Ent-
fernung der Sonne von der Erde um 200 Tausend Meilen zweifelhaft
ist, dann ist die Genauigkeit der Kenntnifs dieser Entfornung '/ioo-
Wir werden analog die Genauigkeit, mit der uns bis jetzt die Licht-
geschwindigkeit bekannt ist, '/soo setzen, von gleicher Ordnung die
Genauigkeit, mit der uns die Schwingungsdauer des Natriumlichtes
bekannt ist.
Der Fernstehende wird erstaunt sein, wenn er von der verhält-
nifsmäfsig geringen Genauigkeit hört, welche für einige dor Natur ent-
nommenen Zahlenwerthe nur beansprucht werden darf, und wird die
Frage aufwerfen, wie es kommt, dafs die Genauigkeit mit einem so
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300
grofsen Aufwand von Zeit und Kraft erhaltener Werthe so sehr
zurücksteht z. B. hinter einfachen Lüngenmessungen, wie wir solche
mit einem Marsstab ausführen.
Der Grund liegt, um mich kurz auszudrücken, darin, dafs wir in.
dem einen Fall unter sehr günstigen, im andern Fall unter sehr un-
günstigen Bedingungen eine Messung ausführen. Man wird zwischen
direkten und indirekten Messungen unterscheiden kennen. Es liegt
auf der Hand, dafs direkte Messungen in der Regel einer viel gröfseren
Genauigkeit zugänglich sind, wo wir z. B. Längen durch direktes
Heranhalten eines Mafsstabes messen, als indirekte, wo wir z. B. bei
der Entfernung der Sonne von der Erde auf das direkte Anlegen eines
Mafsstabes verzichten müssen und auf die Messung kleiner Winkel
angewiesen sind, wo jeder Fehler in Bruchtheilen einer Bogensekuude
bereits einen Unterschied von Tausenden von Meilen bedingt.
Mit solchen indirekten Messungen haben wir es aber in allen
Fällen der Natur zu thun, welche wir erwähnt haben, um daraus
Mafse zu gewinnen, welche für alle Zeiten und Orte als unveränder-
lich zu betrachten sein sollen. Was hilft uns die Ueberzeugung von
der unveränderlichen Entnahme von Mafsen aus der Natur, wenn wir
diese Mafse nur in einem so ungenauen Grade hersteilen können,
dafs derselbe weit hinter der Genauigkeit zurücksteht, mit der direkte
Messungen ausgeführt werden können. Der zu erhoffende Fortschritt
der Wissenschaft wird diesem Uebelstande nicht abhelfen können,
denn in demselben Grade, in dem eine genauere Darstellung von
Naturmafsen sich al6 möglich erweisen wird, in demselben Grade wird
auch die Genauigkeitsgrenze direkter Messungen erweitert sein.
Hierin liegt der Grund, weshalb man von einer praktischen Ver-
wendung dieser Naturmafse stets abgesehen hat und noch weiter
absehen wird. Mit einer gewissen Ironie schlägt Maxwell solche
der Natur entnommenen Mafseinheiten denen vor,9) welche ihren
Schriften eine gröfsere Lebensdauer zusprechen möchten als unserem
Planeten.
Aber vielleicht genügen die den terrestrischen Verhältnissen ent-
nommenen Mafse, wie sie dem metrischen System zu Grunde liegen,
unseren Ansprüchen der Genauigkeit wenigstens für einige Jahr-
hunderte. Wenn die Sekunde schon seit Jahrtausenden als Zeitmafs
allen Ansprüchen der Genauigkeit genügt hat, dann wird es vielleicht
auch das Meter als der 10 Millionste Theil des Erdquadranten thun?
Wir werden auch diese Frage mit Nein beantworten müssen.
’) Maxwell, Electricity and Magnotism. Vol. I. pajj. 3. Oxford.
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Es lässt sich weder das Meter ans Gradmessungen so genau
ableiten, als wir Meter unter einander vergleichen können, noch lälst
sich das Kilogramm als das Gewicht eines Liters Wasser bei 4° Celsius
so genau hersteilen, als Kilogramme unter einander verglichen werden
können. Wir wissen heute z. R, dafs das Gewicht des ursprünglich
nach der Definition hergestellten Kilogramms 17 Milligramm zu schwer
ausgefallen ist. Dazu kommt, dafs die Genauigkeit, mit der Gewichte
unter einander verglichen werden können, bei weitem die Genauigkeit
übersteigt mit der Längen unter einander verglichen werden können.
Kilogramme können bei den heutigen Hülfsmitteln genauer als Vtoooooo
ihres Werthes verglichen werden.
Wollte man heute die Grundlage des metrischen Systems bis zu
ihrer äufsersten Konsequenz beibehalten, so würde jeder Fortschritt
der Mefskunst eine Aenderung der Etalons mit sich bringen, und
wenn diese Aenderungen auch nicht sehr bedeutend sind, würden sie
hinreichen, eine Verwirrung in wissenschaftlichen Mafsangabon her-
vorzurufen, die durch die Einführung des metrischen Systems ver-
mieden werden sollte.
Man hat daher die frühere Grundlage des metrischen Systems
aufgegeben. Unser Meter deflniren wir heute nicht mehr als den zehn-
millionsten Theil des Erdquadranten, es ist die Länge des in zahl-
losen Kopien vorhandenen und in Paris auf bewahrten Normal -Meter-
stabes. Ebensowenig deflniren wir heute ein Kilogramm als das
Gewicht von 1 Liter Wasser bei 4° Celsius, sondern als das Gewicht des
in zahllosen Kopien vorhandenen und in Paris aufbewahrten Normal-
Kilogrammes. Damit sind selbstverständlich die näherungsweisen
Beziehungen des Meters zu den Dimensionen der Erde und des Kilo-
gramms zu dem Gewicht eines Liters Wasser nicht aufgegeben.
Es mag mancher sich eines Gefühls der Verwunderung nicht
erwehren können, dafs das anfänglich so gepriesene Metersystem zu
diesen Konsequenzen geführt hat, und man könnte die Frage auf-
werfen, warum wir in Deutschland trotzdem das Motersystem einge-
führt, und dies, nachdem Bessel das altpreufsische Mafssystem in
einer Weise reorganisirt hatte, welche an Genauigkeit nichts zu
wünschen übrig liess. Es hat denn auch nicht an Männern gefehlt,
welche sich gegen das metrische System ausgesprochen haben, und
unter diesen zählte als der ersten einer Bessel.10)
*•) F. W. Bessel. Ueber Mafs und Gewicht im allgemeinen und da»
Preufsische Längenmats im besondern. Populäre Vorlesungen über wissen-
schaftliche Gegenstände, herausgeg. von Schumacher. Hamburg IS43. S. ‘Jiri.
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Erst seit der Einigung der deutschen Staaten 1866 datirt die
Stimmung für das metrische System in Deutschland, welche dann bald
nach dem französischen Kriege zur Einführung desselben geführt hat.
Mafsgebend war das Streben nach Einigung der Längen und Gewichts-
mafse, von denen es fast so viele gab, als deutsche Staaten existirten.
Mufsgebend war ferner das Streben, die Eintheilung der Mafseinheiten
in direkte Beziehung zu dem herrschenden Dezimalsystem zu setzen.
Nicht zu unterschätzen ist auch der für die Einführung des metrischen
Systems günstige Umstand, dass gerade Frankreich in der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts sich einer Blüthe der physikalischen
Forschung erfreute, welche sich stets des metrischen Systems be-
diente, und dafs der näherungsweise einfache Zusammenhang der
Gewichte und Längenmaafse des metrischen Systems manch unnützes
Rechnen und Kopfzerbrechen spart.
So hat man denn auch in diesen Vorzügen eine Gewähr er-
blicken zu können gemeint, dafs mit der Zeit weitere Nationen, vor allem
England und Amerika sich diesem System anschlicfsen würden. Bis
auf den heutigen Tag ist diese Hoffnung allerdings nicht erfüllt, wenn
auch Autoritäten wie Sir W. Thomson sich wiederholt über die Un-
zweckmäfsigkeit des britischen Mafssystems ausgesprochen haben.11)
Werfen wir einen Rückblick auf die Entwicklung des Mafs- und
Messwesens, so haben wir zugleich damit ein Stück Kulturgeschichte
entrollt. Unübersehbar sind die Mafse, welche bisher dem Handel
und Verkehr sowie der Wissenschaft gedient haben; Willkür und
Laune der Menschen schuf sie, ebenso wie Willkür und Laune oder
nennen wir es Gewohnheit, die Temperatur nach Reaumur, Celsius
und Fahrenheit rechnet.
Es schien das Bestreben ganz berechtigt, der Natur Mafse zu
entnehmen, um der Willkür vorzubeugen, Mafse, welche uns die
aufsere Wirklichkeit womöglich in derselben Weise aufdrängt, wie ja
thatsüchlich die Tages- und Jahreseintheilung uns aufgedrängt ist
Aber eine nähere Untersuchung führte uns, wie in so vielen Dingen,
zu einer alten Weisheit — hier war es die Weisheit der Sophisten,
dars der Mensch das Mafs aller Dinge sei. Somit blieb nichts anderes
übrig, als bei willkürlicher Festsetzung nach Einigung und einheit-
lichen Mafsen zu streben.
'•) Man sehe Sir W. Thomson. Populäre Vorträge und Reden, deutsche
Ausgabe Bd. I. Berlin 1891. S. 280. Anmerkung in dem Vortrag über die
Wärmo der Sonne.
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Wie so häufig' die Entwicklung der Dinge keinen direkten Ver-
lauf nimmt, sondern grofse Umwege macht, so auch die Entwicklung
des Mafswesens. Aber doch pflegen alle Umwege der menschlichen
Wissenschaft zu gute zu kommen.
Der Entwicklung des Mafswesens parallel lief die Entwicklung
des Genauigkeitsbegriffes. Ich habe Veranlassung genommen davor
zu warnen, die Genauigkeit der Resultate der Wissenschaft zu über-
schätzen. Ich möchte hinzufügen, was damit zusammenhängt, dafs
der Sinn für Genauigkeit in der heutigen Bildung noch wenig ent-
wickelt ist, dafs man Zahlenangaben in der Regel scheinbar weit
genauer aulgeführt findet, als es den thatsächlichen Verhältnissen
entspricht.
Diesem Mangel mag Vorschub geleistet werden dui'ch die Art
und Weise, wie das Zifferrechnen in den höheren Lehranstalten be-
trieben wird. Es mag heute anders sein, aber zu meiner Schulzeit
wurde mit der Genauigkeit im Zifferrechnen auf Kosten von Zeit und
Kraft ein- übertriebenes Spiel getrieben, welches in keiner Beziehung
zur äusseren Wirklichkeit stand.
Den der äufsoren Wirklichkeit entsprechenden Zahlen-Begriff
und den Begriff für Genauigkeit der Angaben eines Zahlenwerthes in
Ziffern auszubilden, ist nicht die reine Mathematik berufen, die ja über-
haupt mit Zifferrechnen so gut wie nichts zu thun hat, sondern insbe-
sondere die in Physik und Astronomie angewandte Mathematik. Das
Zifferrechnen mufs Hand in Hand gehen mit der Anschauung in der
Wirklichkeit gegebener Verhältnisse und mit der Ausbildung eines
der Wirklichkeit entsprechenden Genauigkeitsbegriffes.
Soweit die Angabe von Genauigkeitsgrenzen möglich ist, soweit
dürfen die Naturwissenschaften die Bezeichnung exakt in Anspruch
nehmen. Die Resultate einer exakten Wissenschaft lassen sich durch
Angabe der Genauigkeitsgrenzen in eine Form bringen, die heute wie
nach Jahrhunderten gelten wird. Sohen wir von dem Auftreten neuer
Erscheinungsgebiete ab, so ist der weitere Fortschritt überhaupt in
der Erweiterung der Genauigkeitsgrenzen zu suchen.
Man spricht so häufig den Naturwissenschaften einen tieferen
Bildungswerth insbesondere für die Jugend ab, indem man darauf
hinweist, dafs es den Naturwissenschaften z. B. völlig an ethischen
Momenten gebricht, denen für die Erziehung zum Menschen doch eine
sehr wesentliche Rolle eingeräumt werden mufs. Das in dem vor-
liegenden Aufsatz behandelte Thema giebt mir die Veranlassung,
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darauf hinzuweisen, dafs z. B. die Begriffe des Mafses und der Ge-
nauigkeit eines sittlichen Inhalts durchaus nicht entbehren.
Ueberall im Leben bedürfen wir des Mafses, zumal in dem Ver-
hältnifs zur Welt und zu unseren Mitmenschen. Täglich müssen wir
in unserem vielgeschäftigen, bewegten Leben Stellung einnehmen zu
Menschen und Dingen, die uns mehr oder weniger nahe stehen. Zum
wahren Glück des Lebens gehört nicht zum mindesten das Mafs, was
wir an unser eigenes Ich, unsere eigenen Fälligkeiten gegenüber
anderen legen.
Die Geistes Wissenschaften, welchen infolge Bevorzugung rein
menschlicher Gesichtspunkte die Superiorität in Fragen der Bildung
zugesprochen zu werden pflegt, entbehren leicht eines Mafssta-
bes: sie laufen Gefahr auf die „gemeine" Wirklichkeit verächtlich
herabzusehen und die Beziehung zur Wirklichkeit zu verlieren. Die
Naturwissenschaften haben den methodischen Vorzug durch die be-
ständige Kontrolle, welche zwischen Denken und Sein besteht, einen
Marsstab nie aus den Augen verlieren zu können.
Es ist kein Zufall, sondern in dem Wesen der Sache begründet,
dafs es unter den Naturwissenschaften eine Disciplin gjebt, welche
ganz besonders dazu berufen ist, die Begriffe des Mafses und der
Genauigkeit auszubilden, und welche daher unter allen Wissenschaften
eine besondere Stellung wohl beanspruchen darf, die Physik; ich
würde den Hauptzweck meines Aufsatzes erreicht sehen, wenn es mir
gelungen wäre, diese Thatsache weiteren Kreisen zum Bewußtsein
gebracht zu haben.
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Die Entstehung der Welt nach den Ansichten von
Kant bis auf die Gegenwart
Von F. K. (iinzel. Astronom am Recheninstitute der Königl. Sternwarte zu Berlin.
II. Die Hypothesen über Ring- und Planetenbildung.
■ INJ achi lern wir in flüchtigen Zügen das Wesen der hauptsächlichsten
1 1 Theorien der Weltentstehung angedeutet haben, können wir
nunmehr näher auf die Konsequenzen der Kant-Laplaceschen
Hypothese eingehen, nämlich zuerst auf die Frage, wie sieh die Pla-
neten unseres Sonnensystems gebildet haben.
Kant läfst die Planeten, wie wir gesehen haben, namentlich längs
einer Hauptiläche entstehen, innerhalb welcher die Atome sich in
Kreisen um die Sonne bewegen. Die dichtesten Planeten zogen sich
aus dem Urstoff in der Nähe der Sonne zusammen, da zu dieser hin
der Hauptzug der Atome gerichtet war, die leichtesten Elemente blieben
dagegen in desto gröfserer Entfernung von der Sonne schweben. Hatte
sich in einem der Kondensationscentra, aus welchen später die ein-
zelnen Planeten hervorgingen, eine sehr bedeutende Menge Stoff an-
gehäuft und war eine weite Sphäre für die Attraktion vorhanden, so
konnte es aufserdem noch zur Bildung von Satelliten kommen, welche
die Planeten umkreisten. Der ICntstehungsprozefs der Satelliten spielte
sich in ganz ähnlicher Weise ab, wie die Entwicklung der Planeten
um den Zentraikiirper. Der Planet erzeugte nämlich durch die An-
ziehung, wie die Sonne in dem sie umgebenden Urstoffe, aus der sin-
kenden Bewegung der Atome schliefslich eine in einer Hauptfläche
stattfindende Umlaufsbewegung; wenn die Masse des Stoffes hinreichend
grofs war und die Attraktion sieh weit genug erstreckte, war die Mög-
lichkeit zur Entstehung von Monden in der Nähe jener Fläche gegeben.
Es können daher nach Kant im Sonnensystem nur die Planeten von
sehr bedeutender Masse durch eine gröfsere Zahl von Trabanten aus-
gezeichnet sein (wie Jupiter und Saturn). Die bedeutendste Schwierig-
Himmel and Erde. 1308. V. & 25
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3ßß
keit schien dieser Theorie in dem Vorhandensein eines Ringes um
den Saturn zu erwachsen; allein Kant wufste sich zu helfen, und wir
haben Gelegenheit, den Scharfsinn des Königsberger Philosophen
gerade bei der Erklärung der Entstehung des Saturnringes zu be-
wundern. Saturn sei einer der wenigen Körper des Sonnensystems,
die ihre fast kreisförmige Bahn um die Sonne erst allmählich erlangt
hätten; seine Bahn möge in der Urzeit, da der Planet sehr fern von
der Sonne und aus den leichtesten Stoffen gebildet ward, bedeutend
excentrisch gewesen sein. Diese excentrische Bewegung brachte den
Planeten wiederholt in viel gröfsere Nähe zur Sonne, als es heute
möglich ist; Saturn erfuhr eine bedeutende Erhitzung, und da die
Stoffe, welche seinen Ilauptkürper bildeten, zu den leichtesten des
Sonnensystems gehörten, fanden heftige Erhebungen dieser Stoffe
auf der Saturnoberfläche statt. Je mehr sich die Satumbahn ihrer
heutigen Gestalt näherte, desto gröfser wurde die Entfernung, bis zu
welcher sich Saturn der Sonne nähern konnte, der Planet verlor all-
mählich alle empfangene Wärme, erkaltete, gleichzeitig verdichteten sich
die emporgerissenen Dämpfe und blieben schliefslich in Form eines
Ringes um den Saturn schweben. Dafs sich dieser Ring erhalten
konnte, verdankt er der Rotation des Saturns um dessen Axe. Die
schnellste Bewegung müssen nämlich die vom Aequator des Saturn
aufsteigendeu Theilchen gehabt haben. Durch ihre Schwere gelangten
diese Theilchen in verschiedene Höhe, aber nur jene konnten schweben
bleiben, deren Geschwindigkeit der ihrer Entfernung entsprechenden
Zentralkraft das Gleichgewicht hielt, die andern wurden fortgeschleudert
oder fielon auf den Saturn zurück. In der Nähe der Aequatorebene
des Saturn mufston sich die meisten Partikel anhäufen und durch
Kreisbewegung in der Schwebe erhalten. Die Ringforin dieser schwe-
benden leichtesten Partikel des Sonnensystems ward durch mechanische
Gründe nothwendig. Die Ausdehnung des Ringes wird durch die
Wirkung der Sonne und durch die Rotationsgeschwindigkeit der Saturn-
kugel bestimmt: jene begrenzt den iiufseren Rand, die andere den
inneren, indem sie noch Partikel bis dahin schweben liifst, wo Attrak-
tion und Bewegungsgeschwindigkeit einander das Gleichgewicht halten.
Auch kann der Ring nicht eine Masse bilden, sondern mufs aus ver-
schiedenen Ringen zusammengesetzt sein, wie aus den sehr verschie-
denen Graden der Geschwindigkeit der inneren und iiufseren Partikel
und dem daraus folgenden, verschieden beschleunigten Umlauf einzelner
Iiingtheile geschlossen werden kann; Kant fügt prophetisch hinzu,
dafs kräftige Fernrohre einst eine ganzo Anzahl Theilungen des Saturn-
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367
ringes erkennen lassen dürften. ') Aus den Abständen der Satelliten
vom Saturn und ihren Geschwindigkeiten schliefst Kant aufserdem auf
eine schnelle Rotation Saturns und auf eine sehr bedeutende (von den
Astronomen der Zukunft zu entdeckende) Abplattung der Saturnkugel.*)
Kant erörtert auch die Frage, warum die Erscheinung eines den Pla-
neten umgebenden Ringes im Sonnensystem ganz vereinzelt dasteht
und weshalb bei der Bildung der anderen Planeten kein Ring möglich
wurde. Er berechnet, wie weit sich die leichteren Stoffe auf anderen
Pluneten hätten erheben müssen, wenn Rotationsdauer, Gröfse der
Planeten und deren Schwere an der Oberfläche in Betracht gezogen
werden, damit eine Riugbildung aus den sich erhebenden Theilchen
resultiren könnte. Er findet, dafs beim Jupiter sich die Theilchen bis
auf die zehnfache Distanz des Halbmessers, bei der Erde bis auf das
289 fache des Erdhalbmessers hätten entfernen müssen, Dimensionen,
die sie niemals haben erreichen können.
Den Grundgedanken der Laplaceschen Vorstellungen über die
Entstehung der Planeten haben wir schon im ersten Aufsatze dar-
gelegt. Laplac« leitet aus dem rotirenden Zentralkörper die Noth-
wendigkeit von Ringbildungen ab. Mit dor sinkenden Temperatur des
Zentralkürpers und dessen beschleunigter Rotation lösten sich Mole-
küle ab, die sich durch gegenseitige Attraktion in Ringe zusammen-
zogen, welche den Hauptkörper konzentrisch umgaben und um ihn
weiter rotiren mussten. Zumeist sollen sich diese Ringe zertheilt und
schliefslich zu einzelnen Massen vereinigt haben, welche die Kerne
der heutigen Planeten bildeten. Bei der Verdichtung der Planeten
konnten an der Peripherie Massen durch die zunehmende Zentrifugal-
kraft abgetrennt werden, die sich zu Trabanten zusammenballten oder,
wie beim Saturn, als Dunstring schwebep blieben.
Die Kant - Laplacesche Xebelhypothese hat nun eine Reihe
von Gründen zur Stütze, die in dem mechanischen Aufbau des
Sonnensystems, sowie in der physischen Beschaffenheit der Haupt-
körper des letzteren und der Sternenwelt überhaupt zu suchen sind.
Zunächst ist in unserem Sonnensystem die Thatsache auffallend, dafs
•die Bahnebenen, auf welchen die Planeten ihren Umlauf um die Sonne
vollführen, nur wenig von einander abweichen. Sie liegen meist in
*) Zu Kants Zeiten war nur die Cassinisohe Theilung des Ringes bekannt;
die weiteren Theilungen und der innere Ring sind Rüde des vorigen und im Ver-
lauf des jetzigen Jahrhunderts durch Hörschel, Encke, de Vico, Bond entdeckt
worden.
,J) Die Rotation Saturns betrügt 10 Stunden 29 Min. (nach Herschel);
Kant berechnet <1 h. 24 m. Die Abplattung der Saturnkugel ist etwa */e-
25-
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der Richtung der Erdbahn, nur Merkur und Venus sowie einzelne Indi-
viduen aus der Gruppe der sogenannten kleinen Planeten weichen
stärker ab. Auch die Aequatorialebenen der Planeten differiren nicht
sehr weit von einander (die gröfsten Abweichungen haben Mars, Erde
u. e. a.). Ferner zeigen die Bahnebenen der Trabanten einzelner Pla-
neten ganz bemerkenswerthe Uebereinstimmung; die einzige Ausnahme
sind hier die Monde des Uranus, deren Bahn fast rechtwinklig gegen
die Bahnebenen der grofsen Planeten steht Aufserdem ist die Ex-
zentricität der Bahnen, namentlich der Hauptplaneten, in sehr mäfsige
Grenzen eingeschlossen (nur Merkur hat eine mehr exzentrisohe Bahn),
die Bewegung um die Sonne geht durchaus in demselben Sinne vor
sich, und ebenso auch die Rotation um die Planetenaxen, nämlich wie
bei der Erde von West nach Ost Diese, den mechanischen Aufbau des
Sonnensystems charakterisirenden Merkmale können nicht zufällige
sein, im Gegentheil weisen sie auf eine gewisse gesetzmäfsige Ent-
wicklung des ganzen Systems, und damit auf zu Grunde liegende
gemeinsame Ursachen. Die anderen, unser System belebenden Körper,
wie Meteore und Kometen, können wir nach unsern heutigen Kennt-
nissen über die Natur dieser Körper kaum mit den allgemeinen
Bildungsgesetzen, aus denen die Planeten hervorgingen, in Verbindung
bringen, müssen denselben vielmehr, wie wir spater sehen werden,
eine gewisse kosmogonische Ausnahmestellung einräumen.
Auch mit den Ergebnissen, welche die Fernrohre über die phy-
sische Beschaffenheit der Himmelskörper zu Tage gefördert haben,
und mit den Schlüssen, die wir uns aus der spektralanalytischen Er-
forschung des Wesens der fernen Welten gestatten dürfen, steht die
Kant-Laplaoesche Hypothese in Uebereinstimmung. Aus diesen Theilen
der Himmelsforschung wird zur Gewifsheit, dafs Fortbildungen und
Umbildungen auch gegenwärtig noch in den Tiefen des Himmels sich
vollziehen. Das Fernrohr wie das Spektroskop zeigen uns in der Welt
der Nebelflecke den Anfangszustand von Weltbildungen, glühende
Gasmassen, Ansammlungen fester Körper in Form von kugeligen
Haufen, Uebergangsformen aller Art vom gasigen zum festen Zustande.
Die Sterne selber sind für uns werdende Welten in verschiedenen
Stadien der Entwicklung. Die weifsen Sterne befinden sich im Zu-
stande der höchsten Erhitzung, nachdem sie sich aus Nebelflecken
konstituirt haben. Die rothen Sterne haben den höchsten Glühzustand
schon überschritten, Niederschlagsprodukte sammeln sich auf ihrer
Oberfläche; wenn diese Produkte eine feste Kruste bilden, werden die
Sterne allmählich erlöschen. Heftige Eruptionen der Massen des Innern
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durchbrechen bei den „neuen“ Sternen die schwache Kruste und lassen
diese Körper neuerdings aufflammen. So sind alle diese Weltbildungen,
die leuchtenden und erloschenen Sonnen, Glieder einer Kette von Er-
scheinungen, deren Grundursache von einem gemeinsamen Prinzip
ausgeht. Als solch gemeinsames Prinzip können die Hauptgedanken
der Kant-Laplaceschen Nebelhypothese sehr wohl betrachtet werden,
da diese eine allmähliche Entwicklung der Weltkörper aus Urnebein
betonen und das Durchlaufen einer Reihe von Epochen verlangen.
So erweist sich die Kant-Laplace'scho Hypothese „als einer der glück-
lichen Griffe in der Wissenschaft, die uns anfangs durch ihre Kühn-
heit erstaunen machen, sich dann nach allen Seiten hin mit anderen
Entdeckungen in Wechselbeziehungen setzen und in ihren Folgerungen
bestätigen, bis sie uns vertraut werden.“ (Hehnholtz.)
Diesem letzten Satze stimmen im allgemeinen auch die Gegner der
Hypothese bei. Die Einwendungen derselben richten sich nämlich weit
weniger gegen die Grundlagen, als vielmehr gegen die Durchfiihrungsart
gewisser Theile der Theorie.
Bevor wir diese Einwendungen vorführen, wollen wir jedoch
noch vorher eine wesentliche Stützung der Kant-Laplaceschen Hypothese
kennen lernen.
Bei den Laplaceschen Auseinandersetzungen blieben nament-
lich zwei Punkte sehr kritisirbar: die von Laplace nicht hinreichend
vertiefte Art und Weise, wie sich die Ringe abgelöst und aus ihnen
Planeten gebildet haben, und ferner, wie die Planeten und Satelliten
zu einer Rotation gelangt sind. Einigen Ersatz für die fehlende kon-
sequente Durchführung der Theorie bot nur Plateaus Experiment, an
den Umformungen eines in Drehung versetzten Oeltropfens die Bildung
von frei sich bewegenden Kugeln, also gewissermafsen die Entstehung
eines Sonnensystems im kleinen, nachzu weisen.3 * * * * * 9) Diese Stützung der
3) Plateau brachte eine Mischung von Wasser und Weingeist, deren
spez. Gewicht er jenem des Olivenöls gleich machte, in ein Geräts, in dessen
Mitte sich eine Kurbel betand, an deren Drehungsaxe im Mittelpunkt des Ge-
fätses eine kleine metallene Scheibe angebracht war. Er gots in die Mischung
eine Quantität Olivenöl derartig, dats sich die Theilchen desselben infolge der
Adhäsion um die metallene Scheibe sammelten und eine Kugel bildeten.
Darauf wurde die Kurbel in Drehung gesetzt, die Oelkugel erhielt alsbald eine
polare Abplattung und nahm dio Gestalt eines Ellipsoides an, welches sich bei
fortgesetztem Drehen zu einer linsenförmigen Scheibe ausbreitete. Bei einer
bestimmten Rotationsgeschwindigkeit trennt« sich sofort der Rand der Scheibe in
Ringe ab, während das Oeltröpfchen wieder kugelförmig wurde. Bei starker
Rotation schleuderte die Oelscheibe Theilchen weg, die selbständige, rotirende
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Nebelhypothese, nämlich eine logische Ableitung der gesetzmäfsigea
Vorgänge, nach welchen die Ringbildung erfolgt ist, suchte der schon
im ersten Aufsatze erwähnte Friedrich Weifs in seinen „Gesetzen
der Satellitenbildung“ zu erbringen. Konform mit Laplace läfst er
die mit der Abkühlung des Zentralkörpers in der Aequatorebene nieder-
schlagenden Massen sich in eine Dunstscheibe ausbreiten, welche
sich mehr und mehr abplattet. Aus dieser Scheibe bilden sich Nebel-
ringe, sobald die Anziehung von der Rotationsgeschwindigkeit der
Partikel übertroffen wird, denn dann werden die Theilchen durch die
Zentrifugalkraft vom Zentrum auf weite Entfernungen fortgerissen und
es tritt eine Trennung der Scheibe vom Zentralkern ein. Diese
Bildungen erfolgen in allen Systemen, sowohl Planeten- wie Trabanten-
systemen, mit völliger Regelmäfsigkeit, so dafs die ursprünglichen
Dichten der gebildeten Körpor, ihre Entfernungen vom Zentralkörper
und ihre Umlaufsgeschwindigkeiten gewisse geometrische Reihen dar-
stellen, welche Reihen Weifs thatsächlioh an den bestehenden Ver-
hältnissen unseres Sonnensystems nachweisen zu können glaubt Die
Mittelpunkte der Nebelringe werden schon in den ersten Stadien des
Entstehens etwas exzentrisch gegen die Zentralkörper versohoben ge-
wesen sein, oder, wenn dies nicht der Fall und das System ein kreis-
förmiges war, können Störungen mannigfacher £xt solche exzentrische
Stellungen mit der Zeit bewirkt haben. Wenn die Lage eines Ringes
zum Zentralkörper besonders exzentrisch war, wurde an den Stellen
der gröfsten Entfernung vom Zentrum die Schnelligkeit des Umlaufs
der Dunstmassen verzögert, und da dies bei jedem Umschwünge ein-
trat und eine Ausgleichung des an jenen Stellen sich zusammen-
drängenden Stoffes nicht alsbald möglich war, häuften sich die Partikel
schliefslich und bildeten einen Kern, der unbehindert mit dem Ringe
um den Zentralkörper weiter rotirte. Aus solchen Kernen in den
ursprünglichen Aphelien (Sonnenfernen) der Bahnen sind die nach-
maligen Planeten hervorgegangen, desgleichen die Satelliten aus Kernen,
die sich in den gröfsten Distanzen von den ursprünglichen Planetenkernen
befanden. Die auf diese Art entstehenden Kerne waren für jedes System
anfänglich von gleicher Masse; die Kerne der äuföeren Ringe besafsen
jedoch eine geringere zentrifugale Geschwindigkeit als die der inneren,
ihre Anziehungskraft konnte gröfser worden als die der inneren Kerne,
und sie vermochten deshalb bisweilen mehr Stoff um sich zu sammeln
Kugeln bildeten, welche ihren Umlauf um den früheren Mittelpunkt fortsetzten.
Die ganze Erscheinung stellt die Formation von Planeten durch Rotation eines
Zentralkörpers im kleinen dar.
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und sich zu vergrößern; in diese ursprünglich ganz regelmäßigen
Vorgänge haben zerstreute Massen der äußeren Ringe, die sich nicht
mit den Kernen vereinigten, Störungen hineingetragen und die früher
geometrischen Massenverhältnisse der Planeten und Satelliten erheblich
modifizirt. Das Ringsystem des Saturn ist in ähnlicher Weise durch
Anhäufung von Materie an bestimmten Stellen der ursprünglichen, um
den Saturnkern röhrenden Nebelscheibo gebildet. Dadurch aber, daß
Satelliten sehr nahe dem Saturn enßtanden, trafen einzelne Stellen
dos Ringes zu bestimmten Zeiten mit einzelnen Satelliten zusammen
und die Anziehung dieser und der Umstand, daß der Ring einen
flüssigen Zustand (Weifs mußte noch die Peircesche Vorstellung
eines flüssigen Ringes adoptiren) besitzt, bewirkt die Aufhebung
etwaiger Kernbildungen im Ringo und die Verhütung von Störungen
seiner Exzentrizität; ohne die Mondo und namentlich ohne gewisse
kommensurable Verhältnisse der Umlaufszeiten derselben4) würden ge-
fährliche Exzentrizitäßveränderungon Platz greifen und die Erhaltung
eines frei schwebenden Ringes unmöglich sein. — Der Asteroidenring
(die kleinen Planeten zwischen Mars und Jupiter) enßtand vornehm-
lich unter der Einwirkung dos mächtigsten der großen Planeten,
Jupiters. Dieser Planet wurde aus einer der äußersten Ringzonon
des Sonnensystems gebildet (alle Bildungen begannen nach Weifs in
den äußeren Ringen) und übte durch seine Masse eine bedeutende
Störung auf den Astoroidenring aus, indem er es dort nicht zu großen
Kernbildungen koramon ließ; es enßtanden daselbst nur eine sehr
große Zahl kleiner Ballungen. Einzelne starke Neigungen der Bahnen
der Asteroiden, und übrigens auch einzelner großer Planeton, sind
das Resulßt von Bewegungen in den ursprünglichen Nebelscheiben,
indem diese während verschiedener Epochen keineswegs ihre Lage
unverändert gegen die Sonne beibehielten, sondern Schwankungen
durchliefen. Die Enßtehung der Rotation der Planeten und Satelliten
denkt sich Weifs folgenderweise; Die Satelliten- und Planetenkerno
hatten so lange keine Drehbewegung, als sie sich nur duroh Ver-
einigung mit den gemeinsam mit ihnen laufenden Partikeln ver-
größerten. Als aber Massen aus den äusseren Dunstringzonen in den
Anziehungsbereioh der Kerne geriethen, entstanden seitliche Be-
wegungen ; die sich nähernden äusseren Massen steigerten ihro Ura-
*) Weifs machte besonders auf das folgende kommensurable Gesetz auf-
merksam, dafs die Rotationsdauer des Ringes gleich ist der Differenz der
Rotationen des ersten und zweiten Satelliten, und gleich der halben Differenz
des dritten und vierton.
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laufsbewegung, eilten an den Satellitenkemen voraus, und während
diese sioh allmählich vergrößerten, erhielten sie durch die Falllinien
nach und nach eine Drehbewegung im nämlichen Sinne, wie die Um-
laufsbewegung der voraneilenden Theilchen und die Kernmasse hatte.
Wenn auch die Weifsschen Ausführungen zum Theil unklar
und anfechtbar sind (wie die Entstehungsart der Rotation), so gebührt
ihnen doch das Verdienst, in der Hauptsaohe eine wesentliche Stützung
der Nebelhypothese erreicht zu haben. Mit ihnen haben auch die
Vorstellungen eine Verwandtschaft, welche Newcomb in neuerer
Zeit über die Ringbildungsansicht von Laplace ausgesprochen hat.
Auch nach Newcomb hat sich der ursprünglich kugelförmige Kern
des Sonnensystems durch Verdichtung und die Wirkung der Zentri-
fugalkraft immer mehr und mehr abgeplattet, bis die ganze Masse in
eine flache Scheibe ausgebreitet war. Diese Scheibe löste sich bei
weiterer Erkaltung und Dichtezunahme in Ringe auf, und zwar waren
die inneren, dem Zentrum nahe gelegenen viel weniger ausgedehnt als
die entfernten äufseren, die die Peripherie unseres Sonnensystems dar-
stellten. Ein sich auflösender, um einen Kern sich zusammenziehender
Ring bildete nach und nach wieder eine Nebelscheibe im kleineren
M ifsstabe, das Spiel der Kräfte begann von neuem, und aus der Zer-
theilung der Nebelscheibe in Ringe gingen Satelliten hervor, während
der Kem zum Planeten wurde.
Wir wollen nun auf die Einwendungen gegen die Nebelhypotheso
näher eingehen. Der erste Punkt, gegen den sich eine gemeinsame
Aktion vieler Gegner wendet, ist die von Laplace vertretene Entwicklung
der Planeten aus den Ringen, welche sioh von dem Hauptkörper konzen-
trisch abgelöst haben sollen, Kirkwood, Faye, haben bezweifelt, dafs
unter den von Laplace gemachten Voraussetzungen der ursprüngliche
Zentralkörper durch Konzentrirung und vermehrte- Rotation habe Ringe
abgeben können. Es würden sich um die Sonne höchstens eine Menge
sohr kleiner Weltkörper gebildet haben. Deshalb gewinnen die
mathematischen Untersuchungen von Roohe5) ein grofses Interesse,
welche das Verhalten des Laplaceschen Nebular-Ellipsoides zu ver-
folgen suohen. Diese Ermittelungen zeigen, dafs die Ringbildung zwar
stattfindet, aber keine ununterbrochene ist, es tritt vielmehr ein ge-
wisses Wechselspiel zwischen jeder Ringablüsung und der Konden-
sation des Ellipsoides ein. Durch die Zusammenziehung wird Materie
gegen das Zentrum gefällt, ein elliptischer Streifen löst sich ab, das
4) Essai sur la Constitution du Systeme solaire Montpellier 1873.
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Gleichgewicht stellt sich durch Verminderung des Aequatordurch-
messers wieder her und die Ringbildung hört eine Zeit lang auf,
durch weitere Abkühlung der Oberfläche tritt eine abermalige Zu-
sammenziehung ein und eine neuerliche Streifenbildung ist die Folge
u. s. f. Die Ringbildung ist also thatsächlich möglich. Trowbridge6)
hat aber eingewendet, dafs unter Festhaltung der Laplacesohen An-
sicht bei der Ringabgabe die Masse des Urstoffes nicht gleichmäfsig
auf das ganze Sonnensystem vertheilt werden konnte, dafs im Gegen-
theil die äufseren entfernten Ringe eine aufserordentlich dünne Be-
schaffenheit hätten annehmen müssen; die Hauptmasse des Stoffes
hätte sich nach der Sonne hin, wahrscheinlich schon innerhalb der Erd-
bahn, konzentrirt. Demnach wäre zwar die Sonne ein aufserordent-
lich grofser Körper geworden, aber in den entfernten dünnen Zonen
hätte das Material nicht zugereioht, um enorme Planeten wie Jupiter
und Saturn zu schaffen.
Roche7) untersuchte auch mathematisch die Existenzbedingungen
einer gleichförmig dichten, flüssigen Masse, weloho rotirt und der
Attraktion eines Zentralkörpers unterworfen ist. Er fand gewisse
Dichteverhältnisse, bei welchen das Gleichgewicht einer solchen
flüssigen Masse aufhören würde zu existiren, bei welchen also eine
derart beschaffene Planetenmasse sich als Sphäroid nicht weiter halten
könnte. Dafs die entfernteren der grofsen Planeten, Jupiter, Saturn,
Uranus und Neptun bei sehr grofsen Massen geringe Dichte besitzen,
die inneren kleineren Planeten aber erheblich dichter sind, deutet auf
Dichtestörungen während der Ringbildungszeit. Eine solche Verände-
rung der Materie, aus welcher der Asteroidenring entstanden ist,
konnte bewirken, dafs sich ein einst dort befindlicher Körper als
Sphäroid nicht halten konnte und in eine grofse Zahl kleiner Planeten
auflöste. Ein weiterer Dichtewechsel hätte aber auch noch nach der
Entstehung der kleinen Planeten die vier äufsersten grofsen Pianeten-
körper zu Wege bringen können. —
Aus den losgelösten Ringen sollen sich nach Laplace kleine
sphäroidische Kerne bilden, die sich dann vereinigen und so zu Pla-
neten werden. Gegen diese Vereinigung hat Kirkwood8) geltend
gemacht, dafs 9ie eine aufserordentlich lange Zeit in Anspruch nehmen
mufs. Nach seiner Rechnung würde es hunderte Millionen Jahre
*) On the Ncbular-Hypothesis. (Sillim. Americ. Journ. 2 Serie t. 38; 1864.)
1 Memoiro sur la tlgure d une masso iluido soumiae k l'attraction d'un
point dloignö. — (Mein, da l'Acad. de Montpellier. I. XL 1849 — 51.)
•) Proceedings of the Amer. Phil. Soc. 1880.
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374
dauern, bevor die Partikel eines einzigen Ringes zu einer Planeten-
masse vereint sein könnten. Nachdem man es aber mit sehr vielen
Ringen zu thun hat, von denen nur einer nach dem andern aufgelöst
worden sein kann, so würde man schon für die blofsen Urbildungen
unseres Sonnensystems so ungeheure Zeiträume voraussetzen müssen, dafs
sie im vorhinein unwahrscheinlich sind. Zudem würde bei einer so lang-
samen Transformation der Xebelringe fast keine Hitze entwickelt
werden, die doch bei dem Eintritt der geologischen Epochen der meisten
Planeten höchst wahrscheinlich in hohem Grade vorhanden gewesen ist.
Faye9) hat gegen Laplace einzuwenden versucht, dafs beider
Entstehung der Planeten aus Ringen die Planeten sich zwar alle in
demselben Sinne um die Sonne bewegen müfsten, dafs aber ihre
Rotation um die Axen und auch die Rotation der Satelliten eine ent-
gegengesetzte sein würde. Hirn10) hat aber nachgewiesen, dafs selbst
wenn ein aus einem Ringe sich formender Planetennebel eine retro-
grade Bewegung gehabt hätte, sich diese nicht würde haben halten
können. Für die Urzeit sei die Wirkung mächtiger Gezeiten (Fluth-
bewegungen) auf in Bildung begriffeno Nebel seitens der Sonne nicht
unwahrscheinlich. Eine solche Gezeitenwirkung wird den planetari-
schen Nebel verlängert und allmählich eine Gleichheit seiner Rotation
und seines Umlaufs um die Sonne herbeigeführt haben. Darauf ge-
wann, da die Bahngeschwindigkeit der äufseren Parthien gröfser als
jene der innem war, die äufsere Bewegung das Uebergewicht und die
Rotation ordnete sich der allgemeinen Bewegung unter, geschah also
im gleichen Sinne wie der Umschwung um die Sonne.
Naoh der Ringbildungstheorie kann weiter in den Satelliten-
systemen die Entfernung eines Satelliten vom Zentralkörper nicht ein
gewisses Mafs überschreiten, da nach Laplace vorausgesetzt wird,
dafs die Monde mit dem Planeten einst ein Sphäroid bildeten und sich
aus den von letzterem abgelösten Ringen entwickelt haben; ferner
kann vermöge dieser Bildungsart der Umschwung der Monde um den
Planeten des betreffenden Satellitensystems nicht schneller sein, als
die Rotation des Planeten um seine Axe erfolgt Nun bemerken wir,
dafs der Mond der Erde in einer respektablen Entfernung (384 000
Kilometer) von dieser sich bewegt, und es fällt uns schwer, die heutige
kleine Erde in der Urzeit bis zu solchen Dimensionen ausgedehnt,
oder auch nur mit einem so aufserordentlichen Dunstkreise umgeben
•) Bullet, de l’Assoc. scientlf. de Franco. 2. Serio VIII.
,0) Mfinoire sur leg conditions d’öquilibre et sur la nature probable des
anneaux de Saturne.
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375
zu denken. Andererseits vollzieht sich der Umschwung des innem
der beiden Marssatelliten (Phobos) in 7 Stunden 39 Minuten, wahrend
Mars selbst 24 Stunden 37 Minuten zur Rotation um seine Axe braucht;
und der innere Ring des Saturn bewegt sich schneller, als Saturn
selbst. Diese Einwendungen gegen die Nebelhypothese haben sowohl
Roche als Hirn in mehreren Arbeiten berührt. Nach Roche gehört
zur Satellitenbildung schon eine gewisse Dichte des Planeten; die Wir-
kung der Sonnen-Gezeiten hinderte die Entstehung von Monden, und
erst wenn diese infolge des Wachsens des Kernes nicht mehr über-
wiegen konnte, wurde der Ringablösung weniger Schwierigkeiten
bereitet. Bei den sonnennahen Planeten, wie Merkur, Venus, Erde,
deren Kerne der Sonnengezeit besonders unterworfen waren, sind be-
deutende Ausdehnungen der Nebelhüllen nothwendig gewesen, ehe es
zur Bildung von Monden kommen konnte. Es kann also auch das
Erdellipsoid eine Erstreckung auf grofse Distanz hin erfahren haben.
Wurde an den äufsersten Grenzen dieses verlängerten Ellipsoides eine
Nebelmasse mit geringer Geschwindigkeit abgegeben, so kann sich
deren Dichte in dem Mafse vergröfsert haben, als bei der Verkleine-
rung des gestreckten Nebels durch Verminderung der Gezeiten sich
die Materie um jene Nebelmasse verdünnte, schliefslich kann eine
völlige Lostrennung erfolgt sein, und der entstandene Mond vermochte
auf diese Weise seinen Umlauf in sehr beträchtlicher Distanz von der
Erde auszuführen. Wir werden später hören, zu welchen Resultaten
der Mathematiker G. H. Darw’in über die Mondentstehung gelangt
ist. — Betreffe des Marssatelliten Phobos läfst sich annehmen, dafs er
sich in dem Marssystem zuletzt und zwar aus dem Marskörper bei
dessen Kontraktion gebildet hat. — In Beziehung auf den Saturnring
hat Roche darauf hingewiesen, dafs die ursprüngliche Nebelatmo-
sphäre des Saturn mindestens doppelt so grofs gewesen sein mufs als
heute. Haben sich die Saturnringe zu dieser Zeit gebildet, so mufsten
sie eine die heutigen Dimensionen weit übertrefTende Ausdehnung be-
sitzen, aber es wäre möglich, dafs später eine Zusammenziehung der-
selben erfolgt ist. Nach Hirn wäre dies durchaus nicht unmöglich,
vielleicht sogar eine Konsequenz bei der Abkühlung des flüssigen
Ringes. (Hirn hat nachgewiesen, dafs gasförmige oder lliissige Ringe
sich verengen mufsten, bis sie auf den Planeten fielen.) Der Ring
konnte, wenn er sich erhielt, so seine eigene Rotation selbständig er-
langen. Freilich ist heutzutage durch Maxwell s Untersuchungen
die Vorstellung einer flüssigen Beschaffenheit der Saturnringe ab-
gethan.
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376
Man hat auoh die Abweichungen in der Lage der Bahnebenen
der Planeten") gegen einander als Einwurf der Nebularhypothese
benützt Wir haben erörtert, wie F. Weifs diese Abweichungen aus
Schwankungen der Nebelscheiben um den Zentralkörper zu erklären
gesucht hat. Die Schwankungen sollen mit dem fortschreitenden Ab-
lösen von Ringen, also Abnahmen des Durchmessers der Scheiben,
ihrer zunehmenden Verdichtung und gesteigerten Rotation allmählich
zur Ruhe gebracht worden sein. Man geht wohl am richtigsten, wenn
man die Verschiedenheit der Bahnneigungen der Planeten durch Stö-
rungen erklärt, woloho nicht gestatteten, dafs die Bahnen sämtlich in
einer und derselben Hauptebene verblieben. In diesem Sinne hat
sich Leverrier ausgesprochen. Nach ihm existiren im Sonnensystem
Stellen, wo vorhandene kleine Massen durch die Störungen zweier
grofser Planeten ganz bedeutende Veränderungen in der Bahnebene
erleiden können. So können die beträchtlichen Neigungen der Bahn
des Merkur durch Venus und Erde, diejenigen mehrerer Asteroiden
durch die Störungen seitens Jupiter und Saturn hervorgebraoht worden
sein. Die Wichtigkeit der Rolle, welche Jupiter durch seinen stören-
den Einflufs bei der Bildung der Asteroiden zugefallen sein mag, hat
auch Kirkwood hervorgehoben. Der Ring der Asteroiden zeigt ge-
wisse Kommensurabilitätsverhältnisse in der Umlaufszoit der einzelnen
kleinen Planeten, welche zu permanenten Störungen durch Jupiter
an denselben Orten der Bahnen führten und Exzentricitäten sowie
Neigungen dieser Bahnen erheblich verändern muteten. — In Ver-
bindung mit der Frage nach der Entstehungsweise der Bahnneigungen
steht die Schwierigkeit, aus der Nebularhypothese die sehr ver-
schiedene Axenstellung gegen die Bahnen der Satelliten12) richtig zu
erklären und die der allgemeinen Rotation entgegengesetzte Bewegung
der Monde des Uranus und des Neptun zu deuten. Eigentlich müteten
die Rotationsaxen aller Planeten auf den Bahnebenen senkrecht stehen.
Indete finden wir dies kaum wo anders als bei Jupiter. Kant war
der Ansicht, date die Umdrehungsaxen der Planeten in den frühesten
") Die gröfsto Bahnneigung unter den grofscn Planeten hat Merkur
(7 Grad) ; unter den kleinen Planeten haben Pallas (34 Grad), Euphrosyne (26),
Aethra (25), Gallia (25), Istria (26) sehr bedeutende Bahnschiefen.
**) Mindestens die beiden äufsersten der 4 Uranusmonde sind rückläufig:
alle vier haben die im Sonnensystem einzig stehende Eigentümlichkeit, dafs
ihre Bahnen senkrecht zur Ekliptik sind. Der Mond des Neptun lauft gleich-
falls retrograd, die Bahnneigung beträgt 145 Grad. Die Bahnneigungen der
Jupitermonde sind sehr mäfsig (bis zu 2 Grad), die des Saturn schwanken
zwischen 18 bis 28 Grad, die beiden Marsmonde haben etwa 26 Grad.
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377
Zeiten sich nicht viel von den entsprechenden Bahnebenen entfernt
haben. Erst viel später, als die sich weiter ausbildenden Himmels-
körper den flüssigen Zustand erlangten, oder schon dem festen zu-
strebten, sei das Gleichgewicht des Umschwunges durch diese Wand-
lungen gestört und die Lage der Axen geändert worden. Bei diesen
ersten Formationen entstunden nämlich mannigfache Unregelmäßig-
keiten, Höhlungen im Innern der Körper durch unvollständige Sen-
kung schwerer Stoffe, einseitige Anhäufung großer Massen, nament-
lich an den Aequatoren der Planetenkugeln u. dergl. ; Störungen
solcher Art hätten durch Verschiebung des Gleichgewichtes der roti-
renden Körper zu Axenversohiebungen geführt. Auch Weifs hält
dafür, dafs die Axenstellung erst in vorgerückteren Stadien der Welt-
bildung Platz gegriffen hat, wenigstens bei mehreren der inneren
Planeten; diese sollen während der Kontraktionsepochen vermöge
ihrer geringen Abplattung, langsameren Rotation und beträchtlichen
Schwere an ihrer Oberfläche, leichter den inneren Störungen ausge-
setzt gewesen sein und die etwa vorhandenen schiefen Axenstellungen
zur Zeit der ersten geologischen Bildungen erhalten haben; die großen
äußeren Planeten hätten die Stellung ihrer Axen schon in der Epoche
der Dunstballbildung angenommen und seien vor weiteren Katastro-
phen durch ihre geringe Schwere, starke Abplattung und schnelle
Rotation geschützt worden. Zur Erklärung der Rückläufigkeit der
Uranusmonde berechnet F. Weifs, daß nach den heutigen Dichtig-
keits- und Massenverhältnissen der vier äußeren Planeten Jupiter,
Saturn, Uranus und Neptun, die Dunstringe dieser Planeten zum
Zwecke der Zusammenballung in Planetenkugeln durchaus nioht ganz,
sondern nur zum geringem Theil der Masse aufgebraucht worden
seien; Jupiter habe die grüßte Menge seiner Dunstscheibe in sich
aufgenommen. Die übrig gobliebenen Reste der Nebelscheiben, die
immer noch eine sehr bedeutende Masse Materie in sich vereinigten,
können Hemmungen in der Bewegung benachbarter Nebelscheiben
bewirkt haben, also namentlich der Uranusscheibe, die schon weiter
kondensirt war. Diese Hemmungen werden ihren Angriffspunkt im
äußeren Gebiete des Uranussystems gehabt haben und konnten hier
die Bewegungsrichtung der im Enßtehen begriffenen Satelliten wesent-
lich modifiziren.
Die letzteren Versuche, um retrograde Bewegungen im Sonnen-
system noch durch die Kant-Laplacesche Nebelhypothese erklären zu
können, sind schon sehr gewagter Art Faye hat deshalb, wie im
ersten Aufsatze kurz bemerkt worden ist, die Laplacesche Entwick-
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378
liingsmethode ganz verworfen und durch ein neues System ersetzt.
Er nimmt an, dafs die äufseren Planeten Uranus und Neptun sich unter
anderen Umständen und viel später gebildet haben als die inneren
zwischen der Sonne und Saturn. Anfänglich bildete der Zentralkörper
des Sonnensystem eine bis zum Saturn reichende homogeno, sphärische
Neheimasse, in welcher die Geschwindigkeit des Umschwunges vom
Zentrum nach der Peripherie mit der Entfernung zunahm. Nebelringe
trennten sich hier ab und ballten sich zu Planeten mit rechtläufiger
Bewegung zusammen. Nun konzentrirte sich aber auch die Sonne,
gewann bald eine erhebliche Dichte und eine überwiegende Masse.
Damit änderte sich aber auch das bisherige Schweregesetz, und vari-
irte nicht mehr direkt nach der Distanz vom Zentrum, sondern umge-
kehrt nach dem Quadrate der Entfernung; während also die Geschwindig-
keit des Umschwunges früher vom Zentrum nach aufsen zunahm, ver-
minderte sie sich jetzt; die Richtung der dann erzeugten Körper war
mithin denen der früher entstandenen Planeten entgegengesetzt, nämlich
retrograd. Durch die Annahme, dafs die Planeten vom Merkur bis
zum Saturn entstanden, als noch die erste Form des Schweregesetzes
Geltung hatte, und dafs die Schaffung des Uranus und Neptun erst ia
einem höheren Alter des Sonnensystems, nach der Kondensation der
Sonne, als die zweite Form des Schweregesetzes auftrat, erfolgte, ge-
lingt es Faye, die rückläufige Bewegung für Uranus und Neptun zu
gewinnen. Für die Erzeugung der Satelliten bedarf Faye der Ring-
bildung, wio Laplaoe. Faye muthmafst aber, dafs die Entfernungen
der Satelliten von ihren Zontralkörpem (wie übrigens auch die Distan-
zen der grofsen Planeten von der Sonne) ursprünglich bedeutend
gröfser gewesen sein müssen, als heute. Die Ausdehnung des ganzen
Sonnensystems mag bei weitem erheblicher gewesen sein und erst in
der Folge der Zeiten schritt die Zusainmenziehung (weniger durch
Abkühlung als durch dio Gravitation) vorwärts. Die Ballungen zu
Satelliten vollzogen sich schon während dieser Zusammenziehung, und
bei der Lostrennung gelangten die Satelliten in jene Entfernungen
von ihren Zentralkörpern, die sie heute einnehmen.
Wir haben zum Sohlufs noch einige Momente der im ersten Auf-
sätze skizzirten kosmogonischen Theorie des Pater Braun zu erwähnen.
Bei dieser Theorie scheint die Verschiedenheit der Bahnneigungen der
einzelnen Planeten leichter erklärlich, als nach der Nebularhypothese;
dadurch, dafs der Antrieb der Sonne zu einer Rotation von aufsen her,
durch Zuwachs von Nebelmassen aus den Stemsystemen, erfolgte, also
durch Streifung oder Stofs derselben, ist die Erzeugung der Rotation des
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379
Zentralkorpers nicht an eine bestimmte Hauptebene und die Entstehung
von Planeten ebenfalls nicht an diese Ebene gebunden, sondern dio
Planeten konnten an verschiedenen Stellen des Zentralnebels geschaffen
werden. In je früherer Zeit eine Nebelmasse eindrang, desto mehr
musste sie auf die Uahnneigung und die Rotationsebene des duroh sie
hervorgerufenen Planeten von Einflufs sein. Schon sehr dünne Massen
würden hingereicht haben, beträchtliche Verschiedenheiten in der Lage
der Bahn zu bewirken. —
Die bisherigen Auseinandersetzungen führten uns nur duroh den
allgemeinen Theil der Kosmogonie, nämlich nur bis zu den ersten
Epochen des Werdens der Welten; wir haben nun noch die Aufgabe,
die weitere Entwicklung der Gestirne darzustellen und beginnen zu
diesem Ende mit der Allherrscherin unseres Systems, der Sonne.
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Eine Amerikafahrt 1492 und 1892.
Nach seinem Vortrage im wissenschaftlichen Theater der Urania
bearbeitet von
Br. M. Wilhelm Meyer.
(Schilift.)
che enormen Werthe schwimmen durch jene enge Wasser-
strafst) des Solent beständig hin und zurück! Wenn irgend
ein Anblick den Geist des Columbus mit triumphirendem
Stolze erfüllen könnte, so wäre es dieser! Wo vor vierhundert Jahren
sich nur kleine, von den Launen der trügerischen Witterung abhängige
Nufsschaalen ängstlich längs der Küstensäume hinschliohen, da stechen
jetzt, unbekümmert um alle Elemente, prunkende Paläste mit rasender
Geschwindigkeit unerschrocken in die hohe See, ihre weite Fahrt in
sechs bis sieben Tagen mit einer so sioheren Innehaltung der Fahrzeit
ausführend, beinahe als gelte es eine Reise auf festem Lande.
Der letzte Leuchtthurm ist uns inzwischen aus den Augen ver-
schwunden. Wir befinden uns bereits auf hoher See. Der mächtige
Dampfer trägt uns mit Windeseile über einer weiten, wundervollen
Welt hin, wie etwa ein Luftballon über Feld und Wald; über
einer Welt, die fast dreimal so grofs ist, wie die wenigen Erd-
schollen, welche aus dem meerumflossenen Planeten auftauchen. Wie
schade, dafs schon in wenigen Zehnern von Metern das Meerwasser
für unser Auge undurchsichtig wird! Welche Fülle wunderbarster
Eindrücke würden wir auf einer Oceanfahrt gewinnen können, wenn
wir, dem Luftschiffer ähnlich, die reiche Welt hier unter uns, die
Mysterien des Meeresgrundes belauschen könnten?
Die Bevölkerung der Wasseratmosphäre theiit sich ganz ebenso
wie die des Luftmeeres in Stufen, so dafs gewisse Tbiere nur in ge-
wissen Meerestiefen fortkommen können. Dies ist hier auch noch
begreiflicher wie in unserer Atmosphäre wegen der so ganz verschie-
denen Lebensbedingungen, welche die verschiedenen Meerestiefen auf-
weisen. Das Maximum der Entfaltung liegt hier natürlich an der
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381
Meeresoberfläche und nimmt ab mit gröfserer Tiefe, also in umge-
kehrter Richtung wie in der Luft So weit das Licht noch seine
chemische Wirkung auszuüben vermag, können noch einige Pflanzen-
arten, Algen, fortkoxnmen, welche bekanntlich im atlantischen Ocean
ungeheuer weite Strecken, das sogenannte Sargassomeer, oberflächlich
anfüllen. Die Reise des Columbus führte durch dieses Gestrüpp, das
ihm viel Sorgen machte; unser Kurs geht dagegen weit nördlioh von
demselben. Frei schwimmende mikroskopische Algen, Diatomeen,
sind in jedem Tropfen Meerwassers zu finden, lebend, wenn man den
Tropfen aus geringeren Tiefen nimmt, ihre todten Kalkpanzer dagegen
in der Tiefe. Sie regnen mit den Schalen anderer mikroskopisch kleiner
Geschöpfe in Ungeheuern Mengen beständig auf den Meeresgrund hinab,
wo sie die Kreideberge bilden, welche die Geologen kommender
Schöpfungsperioden für unsere Entwicklungsepoche der irdischen Natur
charakteristisch finden werden.
Die Meereswelt, welche wir aus den Aquarien oder landläufigen
Schilderungen zu kennen pflegen, bevölkert nur den Meeresgrund bis
zu verhältnifsmäfsig geringen Tiefen. Korallenwälder und die bunte
Welt der übrigen, mit Millionen geschäftiger Arme Beute jagenden
Pflanzenthiere, der Meerrosen, Aktinien aller Art, trifft man meistens
nur bis zu etwa hundert Metern Tiefe an. Dann vereinsamt sich mehr
und mehr der finstere Grund und nur hie und da besucht ihn eine
oder die andere jener bekannteren Fischarten des Meeres. In den
grofsen Tiefen dagegen, über welche augenblicklich unser Schiff hin-
eilt, wird es immer öder und öder. Gleich nach dem ersten Tage
unserer Fahrt von Southampton aus haben wir Tiefen von 2000 bis
2700 Metern unter uns. Dann fahren wir über einen unterseeischen
Gebirgsrücken hin, der sich von Norden nach Süden durch den ganzen
atlantischen Ocoan erstreckt und dessen höchste Bergspitzen als die
Inselgruppe der Azoren sich bis über die Wogen erheben. Auf unserem
Wege dagegen ist er immer noch mindestens 1600 Meter unter uns. Die
gröfsten Meerestiefen weist bekanntlich der pacifische Ocean auf, die
bis zu 8500 Metern oder so tief herabsteigen, wie sich umgekehrt die
höchsten Berge in die Lüfte erheben.
In diesen Meerestiefen herrscht neben dem ganz ungeheuren
Druck der überlagernden Wassermassen, die unsera Leib sofort zu-
sammendrücken würden, eine constante Temperatur, die vom Gefrier-
punkt nur unbedeutend differirt.
Die Temperatur des Meerwassers sinkt mit der Tiefe bekannt-
lich in allen Breiten sehr schnoll und erreicht selbst in der heifsen
Himmel und Erde 1SÖ8. V. 8. 26
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382
Zone da, wo der Meeresboden nach den Polargegenden hin eine freie
Zirkulation des Wassers gestattet, schon bei wenigen hundert Metern
Tiefe den Nullpunkt, unter welchen es bei gröfseren Tiefen noch bis
auf — 0°.G herabsinken kann. Der Grund hiervon ist einerseits die
gröfsore Schwere des kalten Wassers, welche sein beständiges Nieder-
sinken bedingt, andererseits eine beständige Strömung desselben auf
dem Meeresboden, welche von den Polen nach dem Aequator gerichtet
ist Wo diese Strömung durch unterseeische Barrieren gehemmt ist
wie beispielsweise eine solche zwischen England und Grönland vor-
handen ist und dem kalten Strome des Polarmeeres den Zugang in
den atlantischen Ocean erschwert, bleibt die Temperatur noch in
gröfseren Tiefen auf derjenigen Höhe, welche auf der Kuppe jenes
trennenden Bergrückens unter dem Meere herrscht. Dadurch wurde
der atlantische Ocean ein Wärmereservoir von grofser Bedeutung für
unsere klimatischen Verhältnisse. Währond dort beispielsweise bei
1000 m Tiefe noch etwa 6° Wärme angetroffen werden, sinkt dieselbe
im grofsen Ocean selbst unter dem Aequator oft bei 50 m Tiefe schon
um mehr als 10 0 unter die Temperatur der Oberfläche und beträgt
oft in mittleren Breiten bei 100 m Tiefe nur noch 1 0 C. Sehr inter-
essant verhält sich in dieser Hinsicht das mittelländische Meer, welches
von der Wasserzirkulation des atlantischen Oceans durch die nur
360 m tiefe Meerenge von Gibraltar getrennt ist. Die Temperatur des
Mittelmeeres sinkt deshalb niemals unter die, welche man in der ge-
nannten Tiefe des atlantischen Oceans findet, also 14°, obgleich das
Becken natürlich stellenweise ganz bedeutend gröfsere Tiefen aufweist,
die im benachbarten Ocean beträchtlich niedrigere Temperaturen besitzen.
Diesem Umstande verdankt das Mittelmeer seine eigenartige, üppige
und reiche Thierwelt.
Man stelle sich diese Umstände vor: Ein Druck von vielen
hundert Atmosphären, völlige Finstemifs, eisige Kälte, um zu be-
greifen, dafs hier, wenn es denn überhaupt hier noch Leben giebt,
was erst die neuesten Tiefseeforschungen erwiesen haben, eine fremd-
artige Welt mit fremdartigen Geschöpfen sich uns aufthun würde,
die mit unserer sonnigen Welt des Landes kaum einen Zug gemein
haben kann. Abenteuerliche Formen von Fischen und Gethier aller
Art, die meist einige selbstleuchtende Stellen, wie Laternen, die
ihnen den Weg durch diese Finstemifs weisen oder vielleicht auch
nur zur Anlockung der Beute dienen sollen, am Körper, gewöhnlich aber
ungeheuere Mäuler haben, in welche die Beute einfach hineinschwimmen
mufste, hat man aus diesen unwirklichen Tiefen ans Licht gezogen.
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383
Kehren auch wir nach dieser kleinen Gedankenexkursion wieder
zurück zum heiteren Tage.
Seit mehreren Tagen schon haben wir kein Land mehr gesehen.
Wie wird nun das Sohiff sicher durch die scheinbar endlose Wasser-
wüste geführt, wo kein Leuchtthurm, kein Seezeichen den Weg mehr
bezeichnen kann? Ueberall dasselbe Wasser, derselbe Himmel, und
man hat nun den Eindruck, überhaupt nicht mehr von der Stelle zu
kommen, weil man eben nicht die geringste Veränderung der Scenerie
wahrnimmt. Höchstens finden wir, dafs die Meeresfläche von immer
längeren, ausgedehnteren Wogenreihen durchzogen wird, immer majestä-
tischer und feierlicher pulst, dass die Wassermassen unter uns eine
immer tiefer blaue, ja beinahe schwarze Färbung annehmen; sie machen
einen schwereren, gewaltigen Eindruck. Es schoint kaum nooh Wasser
zu sein, welches das Schiff rastlos hastend durcheilt Wir erkennen,
dass wir Mitte-Ocean erreicht haben, gleich weit entfernt von den beiden
Welten, schwimmend auf wogender Fläche.
Wie werden wir in den sicheren Hafen gelangen?
Der treueste Begleiter des Seemanns ist auch hier noch, wie zu
Zeiten des Columbus, der Kompafs. Aber wie unendlich hat sich der-
selbe seitdem vervollkommnen Man hat die Abweichung der Magnet-
nadel für alle befahrenen Breiten und Längen der Erde von der ge-
nauen Nord - Südrichtung ermittelt. Diese sogenannte „Mifsweisung“
beträgt beispielsweise gegenwärtig in Bremen 13° W, in New-York da-
gegen 7° W, während sie auf unserer Fahrt zwischen Europa und
Amerika bis auf 30° W angewachsen war. Ihre jährliche Aenderung
wird selbstverständlich gleichfalls berücksichtigt. Ferner wird der
Kompafs wegen der magnetischen Einwirkung der Eisentheile und der
elektrischen Lichtmaschinen compensirt und endlich auch das Ueber-
liegen des Schiffs nach rechts oder links, die sogenannte „Krängung“,
gebührend berücksichtigt.
Da der Einflufs des Erdmagnetismus auf die Lage der mag-
netischen Pole des Schiffes mit dem Winkel, welche das letztere zum
magnetischen Meridian bildet und mit der Gröfse der erdmagnetischen
Kraft überhaupt sich ändern mttfs, so ist die Berücksichtigung des-
selben für den Kurs des Sohiffes durchaus keine einfache. Es ntufs
eine sorgfältige Untersuchung des Kompasses, zunächst im Hafen,
dann aber auch eine dauernde Kontrolle während der Fahrt durch
Peilung der Sonne oder anderer geeigneter Gestirne, deren Lage zum
wahren Meridian man jederzeit genau kennt, stattfinden.
26*
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Mit all diesen Kenntnissen ausgestattet, steuert der Seemann zu-
nächst seinen vorgeschriebenen Kurs weiter und trägt ihn auf seiner
Karte als Linie ein. Um den auf dieser Linie wirklich zurückgelegten
Weg zu bestimmen, dient einerseits das Log, oder die Zählung der
Umdrehungen der Schiffsschraube.
Das Log ist ein Stückchen Holz, das, an eine Leine gebunden,
über Bord geworfen wird. Das Brettchen stellt sich senkrecht zur
Wasserfläche und bleibt defshalb auf derselben Stelle, auf welche
es hinabgeworfen war. Die Länge der Leine, die sich in einer
bestimmten Zeit abrollt, während das Schiff weiterfährt, giebt dann
offenbar die Geschwindigkeit des letzteren, beispielsweise in einer
Minute ad, und man kann daraus auf die ganze, bisher zurückgelegte
Strecke schliefsen.
Das Loggen ist in dieser Weise jedoch bei den ungemein schnell-
fahrenden, modernen Dampfern nicht mehr mit genügender Sicher-
heit auszuführen. Bei diesen zählt die Maschine die ausgeführten
Schraubenumdrehungen. Jede Umdrehung bringt das Schiff um ein
Bestimmtes weiter. Die ganze Anzahl der Umdrehungen, deren die
20 bis 25 Fufs messenden Flügel der gewaltigen Schraube 70 in der
Minute ausführen, giebt demnach den zurückgelegten Weg an. Natür-
lich mufs dabei der hemmondo Einflufs des Seeganges, des Windes und
der Strömung, theils nach bestimmten Regeln, theils mehr nach der
Empfindung des erfahrenen Seemanns berücksichtigt werden.
Etwas Mifsliches besitzt natürlich diese „Schiffsbesteckrechnung“
allemal, und namentlich nach einem tüchtigen Sturme wird man der-
selben nicht mehr recht trauen, ehe sie nicht durch die unerschütter-
lich sicheren Weisungen der Sonne und der Sterne controllirt worden
ist, was selbstverständlich so oft als irgend möglich geschieht.
Wie dies möglich ist, kann in populärer Weise, ohne Anwendung
mathematischer Formen, nur angedeutet werden. Ausführlicheres für
Leser, welche der Trigonometrie mächtig sind, findet man in der schon
früher erwähnten Abhandlung des Herrn Admiralitätsrath Rottok in
diesen Blättern.
Gehen wir von der allbekannten Thatsache aus, dafs in den ver-
schiedenen Gegenden der Erde die Tage sehr verschieden lang sind.
Während die Sonne unter dem Aequator Jahr aus Jahr ein um 6 Uhr
früh auf- und abends zu derselben Stunde untorgeht, kann sie in den
Polargegenden Monate lang überhaupt über dem Horizonte bleiben
oder gar nicht aufgehen. Dafs hierin eine bestimmte Gesetzlichkeit
obwaltet, so dafs man für eine bestimmte geographische Breite die
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Tageslänge für jeden Tag des Jahres genau vorher ausrechnen kann,
begreift man gleichfalls ohne weiteres. Gesetzt also, wir hätten irgendwo
Auf- und Untergang der Sonne beobachtet und daraus die Tageslänge
bestimmt, so wüfsten wir offenbar auch zugleich, unter welcher Breite
wir uns befinden. Dieses Prinzip wird vom Seemann verwendet. Nur
wartet er nicht auf den Sonnenauf- und Untergang, sondern er bestimmt
durch den Sextanten, ein Winkelmefsinstrument, das er in freier Hand
hält, wie hoch sich das Tagesgestim noch über dem Horizonte befindet,
woraus er gewissermafsen auf die Zeit seines Unterganges schliefst.
Dies ist jedoch offenbar nur möglich, wenn er zweimal zu ver-
schiedenen Zeiten die sich verändernde Höhe der Sonne mifst. Denn
da bekanntlich die Kreise, welche die Sonne scheinbar um den Himmel
beschreibt, sehr verschieden gegen den Horizont geneigt sind, so kann
in verschiedenen Breiten die Sonne sehr verschiedene Zeiträume ge-
brauchen, um von einer bestimmten Höhe bis zum Horizonte herab
zu sinken. Hat man aber zwei verschiedene Höhen gemessen und
kann zugleich das Zeitintervall angeben, welches zwischen den beiden
Messungen liegt, so begreift man wohl, dafs es eine Methode giebt,
durch welche man aus der beobachteten Höhenveränderung entweder
auf die Zeit des Unterganges, oder die des höchsten Standes der
Sonne, d. h. auf den Ortsmittag schliefsen kann. Diese beiden Höhen-
messungen geben also auch vereint beide gewünschten geographischen
Coordinaten, die Breite und die Länge. Die ermittelte Tageslänge
liefs die Breite finden. Der Schiffschronometer zeigt nun stets die
Zeit von Greenwich an. Der Zeitunterschied aber zwischen dem aus
den beiden Sonnenhöhen errechnten Schiffsmittag ist gleich dem Unter-
schiede der geographischen Längen jener Sternwarte und des augen-
blicklichen Schiffsortes. Für den Seemann tritt hier noch die Schwierig-
keit hinzu, dafs zwischen Breiten- und Längenbestimmung, d. h. zwischen
den beiden Sonnenhöhenmessungen, oft mohrere Stunden Zeit vergehen,
während welcher das Schiff seinen Ort verändert. Der Weg des
Schiffes, durch die mechanischen Methoden mit Kompafs und Geschwin-
digkeitsmessung bestimmt, intifs dann gleichfalls in Rechnung gezogen
werden.
Der Chronometer, dessen Angaben gewissermafsen das Fundament
bilden, auf welchem alle Sohlüsse des Seemanns über den Ort seines
Schiffes und also die ganze Sicherheit desselben aufgebaut sind, wird
defshalb von ihm gehütet wie sein Augapfel. Eine besondere Art der
Aufhängung schützt ihn vor den Stöfsen des Schiffes, ein doppelter,
fest beschlagener Kasten vor der Einwirkung der feuchten Luft. Es
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ist auch das erste Stüok, welches nach glücklicher Ankunft ans Land
kommt, um unausgesetzt der genauesten Prüfung unterworfen zu
werden.
Wir sind inzwischen an den Neufundlandbänken vorüber geeilt.
Allein schon die empfindlich kühler werdende Temperatur, die hier
zu herrschen pflegt, hätte uns dies verrathen können.
Unser Führer durch die Wasserwüste hat natürlich sicherere An-
zeichen, an denen er diese weitausgedehnten Versandungen des Meeres-
bodens erkennt, die der mächtige Ausflufs der grofsen Seen des nord-
amerikanischen Festlandes, der St. Lorenzstrom, hier gebildet hat
All das Felsgeklüft und das Erdreich, welches der Niagarafall vielleicht
seit Jahrhunderttausenden unter seinen brausenden Fluthen zermalmte,
liegt hier am Grunde des Meeres, eine neue geologische Formation
bildend. Der Seemann erkennt ihre Annäherung zunächst an der
rapiden Abnahme der Meerestiefe, welche er namentlich jetzt, gegen
Ende der Fahrt, besonders häufig durch das Loth bestimmt, dann aber
auch an der besonderen Art des Erdreichs, welches das Loth mit
heraufbringt
Das Lothen ist überhaupt eine sehr wichtige Art der Orientirung
des Seemannes geworden. Die Meerestiefen auf allen vielbefahrenen
Linien sind heute fast ebenso gut bekannt, wie etwa die Höhen der
Bergspitzen auf dem civilisirten Lande, und so wie wir diese letzteren
benutzen, um uns zu orientiren, so findet der Seemann seinen Weg,
indem er sein geistiges Auge hinabsenkt in die Tiefen dieses umge-
kehrten Gebirges unter dem Meeresspiegel. Ebenso, wie zu Lande
verschiedenes Erdreich die charakteristische Verschiedenheit der Land-
schaften ausmacht, zeigt auch der Meeresboden so wesentliche Unter-
schiede seiner Zusammensetzung, dafs dies gleichfalls ein Merkmal
für den Ort des Schiffes werden kann, wenn eben das launische
Wetter die sicherste Art der Orientirung, die an der Sonne und den
übrigen Gestirnen, für längere Zeit unmöglich gemacht hatte.
Wir sind inzwischen an den ersten Anzeichen des amerikanischen
Landes bereits vorüber gefahren. Zur Rechten der Fahrtrichtung er-
schienen schon gestern niedrige Landstreifen über dem Wasser. Das
war die Insel Long-Island, und das erste Leuchtfeuer, das von Nave-
sinsk, winkte uns vom Festland herüber. Für den Seemann bedeutet
das, festen Fufs gefafst zu haben; seine schwer verantwortliche Aufgabe
ist erfüllt. Auch unsere Betrachtungen mögen damit an dieser Stelle
abbrechen. —
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Vergrößerung des Erdschattens bei Mondfinsternissen.
Bekanntlich erscheint bei Mondfinsternissen der Kernschatten
der Erde, welcher bei diesen Himmelserscheinungen über den Mond
wegzieht, um etwas gröfser, als er der Rechnung nach sein sollte.
Man hat deshalb bei den Berechnungen der Finsternisse schon seit
langem eine Korrektion für diese Vergröfserung eingeführt. Für
diesen „Vergrüsserungs-Coefficienten“ sind von Tobias Mayer,
Cassini, Lambert, Miidler u. A. sehr von einander abweichende
Zahlen angegeben worden, und es ist ein verdienstliches Unternehmen
gewesen, dafs vor einigen Jahren die Herren Brosinsky und
Hartmann den Versuch gemacht haben, den Betrag der Vergröße-
rung aus einer Reihe beobachteter Mondfinsternisse abzuleiten. Die
Resultate, welche aus den einzelnen Finsternissen gezogen werden
konnten, differiren indessen beträchtlich von einander, so dafs es den
Anschein hat, als existire bei jeder Finsternifs eine besondere Ver-
gröfserung des Erdschattens. Beide Astronomen (dio übrigens ihre
Arbeiten vollkommen unabhängig von einander und mit verschiedenem
Beobachtungsmaterial durchgeführt haben) neigen deshalb zu der auch
schon von anderen betonten Ansicht, dafs die Ursache in unserer
Erdatmosphäre liege und diese den Erdschatten gröfser auf dem Monde
erscheinen lasse, indem entweder jeweilige meteorologische Bedingungen
oder eine besondere äußere Form des Luftmeeres dabei mit in
Wirkung treten. In einem Referate über die beiden erwähnten
Arbeiten nimmt nun Professor Seeliger den Anlaß, zu zeigen, dafs
von einem Einflüsse unserer Atmosphäre bei dem Gegenstände gar
keine Rede sein könne, und daß sich etwa so weit gehende Hoff-
nungen, wie aus Beobachtungen des Erdschattens zu Schlüssen über
die Form der oberen Luftschichten der Erde gelangen zu können,
nicht erfüllen würden. Er beweist durch eine mathematische Unter-
suchung, daß eine Vergröfserung des Radius des Kernschattens nicht
erfolgt, auch wenn die Erdatmosphäre nicht vorhanden wäre. Der
Grund ist im Gegentheil ein physiologischer und liegt, wie auch aus
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einigen Experimenten mit Lichtquellen und kreisförmigen Schirmen,
die von Prof. Seeliger vorgenomraen worden sind, hervorgeht, viel-
mehr darin, dafs das Auge die geometrische Grenze des Kernschattens
überhaupt nicht wahmehmen kann. Jeder Beobachter ist geneigt,
diese Grenze um etwas in den Halbschatten hinein zu verlegen.
Nachdem er dies auch bei der Beobachtung der Mondfinsternifs thut,
wo die Zeit angegeben werden soll, bei welcher einzelne Mondkrater
vom Kernschatten berührt werden, mufs die halbe Durchgangszeit der
Krater durch den Sohatten zu grofs, mithin auch der Radius des
Sohattendurchschnittes gröfser als nach der Rechnung gefunden werden.
•
*
Zwei Riesenfernröhre.
Wie auf S. 44 erwähnt wurde, beobachtete Herr Pickering,
der Sohn des verdienstvollen Leiters der Harvard-Sternwarte, im
vorigen Jahre längere Zeit in einer auf der peruanischen Hochebene
gelegenen Sternwarte, und er hat dort meteorologische Bedingungen
vorgefunden, die diese Gegend als ein wahres Paradies der Astro-
nomen erscheinen lassen. Einen grofsen Thoil des Jahres hindurch
ist der Himmel fast wolkenlos. Man hatte einen dreizehnziilligen
Refraktor dort aufgestellt, weloher eine merkwürdige Klarheit der
Luft anzeigte, und zwar Nacht für Nacht, wie sie anderswo nur sehr
selten vorkommt. Doppelsterne, deren Komponenten viel weniger
als eine Bogensekunde von einander entfernt sind, wurden sofort
getrennt, und beständig kann mau Vergröfserungen an wenden, die
sich wo anders von selbst ausschliefsen. Bei vielen Untersuchungen
ist der Erfolg hier oben so grofs, als wenn man in der Ebene
die OefTnung des Instruments verdoppelte. Pickering richtet sich
nun an das gerade in seiner Heimath von Privatleuten oft schon
bewiesene Interesse für die Himmelskunde und hofft, dafs die Stern-
warte von Arequipa durch eine reiche Schenkung mit einem Riesen-
fernrohr wird ausgestattet werden können. Dieses würde dann gegen
alle bisherigen in seiner Aufstellung gewaltige Vorzüge bieten.
Denn die meisten grofsen Fernröhre sind in der Nähe der Haupt-
städte oder grofser Universitätsstädte errichtet worden ohne Rücksicht
auf die Gunst oder Ungunst der klimatischen Verhältnisse. Nun
eignet sich gerade das Klima, welches die Gröfse eines Landes oder
einer Stadt mit bedingt, oft am wenigsten für die Arbeit der Himmels-
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forscher: so sind gerade Westeuropa und die östlichen Vereinigten
Staaten, die Striche, in denen die gröfsten Sternwarten liegen, klimatisch
unzureichend. Um einen viel gröfseren Fortschritt in der Himmels-
kunde zu garantiren, wird man zur Aufstellung eines neuen grofsen
Fernrohrs eine ganz andere Gegend auswählen müssen. Das
Arequipa-Observatorium hat den grofsen Vortheil, nur 16 Grade süd-
lich vom Aequator zu liegen, wo alle südlichen Sterne sichtbar sind.
Während die allermeisten grofsen Fernrohre jetzt nördlich vom
35. nördlichen Parallelkreise sich auf etwa einem Fünftel der Erd-
oberfläche zusammengestellt finden, gehört keines von den 17 gröfsten
und nur eines von den 53 gröfseren der südlichen Halbkugel an, ja
von den 74 Fernrohren von 10 Zoll aufwärts sind nur vier südlich
vom 35. nördlichen Parallelkreis zu finden. So kommt es, dafs un-
gefähr ein Viertel des Himmels überhaupt nicht im Beobachtungs-
gebiete grofser Fernrohre liegt Die Magellanschen Wolken, die
grofsen Sternhaufen im Centauren, Tukan und Schwertfisch, der ver-
änderliche Stern r, Argus und die dichten Theile der Milchstrafse im
Skorpion, der Argo und dem Kreuz liegen innerhalb des vernach-
lässigten Gebietes. Dazu kommt, dafs der Planet Mars bei seiner
Erdnähe immer weit im Süden sich befindet, so dafs seine Oberfläche
gerade hier besonders leicht wird studirt werden können.
Man sieht, es ist hier der Ort, wo ein grofses Fernrohr sich zu
guten Diensten geeignet erweisen wird — man mag es direkt oder für
photographische Zwecke benutzen. Für 200 000 Dollar hofft Picke ring,
der Arequipa-Sternwarte eiuen Vierzigzöller bester Qualität von der
Firma Alwin Clark und Söhne in Boston beschaffen zu können.
Hoffen wir, dafs diese Summe bald zusammen sein wird, um die gewaltigen
Aufgaben, dio des projektirton Riesenfernrohrs harren, nicht zu lange
aufser Angriff zu lassen. In Pickerings Händen stellt es beim
günstigsten Klima der Welt Ergebnisse von solcher Wichtigkeit in
Aussicht, wie kein anderes.
Soll dieses Fernrohr ein Refraktor sein, so ist für die im Jahre
1900 in Paris stattfindende Ausstellung ein Riesenspiegel von ver-
silbertem Glas projoktirt, der nicht weniger als zehn Fufs Durch-
messer haben soll, mehr als doppelt soviel wie Commons zur Zeit
grörstes derartiges Instrument. Ebenso ist die Brennweite von
140 Fufs beispiellos; aber mit den Hilfsmitteln der modernen Technik
wird es hoffentlich gelingen, der gewaltigen Schwierigkeiten, welche
die Herstellung und die Montirung eines solchen Kolosses darbieten,
Herr zu werden, und wer immer um die Wende des Jahrhunderts
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der Technik in Paris weilen wird, dem wird auch ein Blick durch
diesen dann gewaltigsten astronomischen Apparat gestattet sein.
Dieses Rohr soll in der That nicht in erster Linie wissenschaftlicher
Forschung, sondern zunächst der Belehrung des Publikums dienen.
Sm.
*
Vom Elmsfeuer. Während man bis vor wenigen Jahren noch
die elektrischen Entladungen, welche in der Atmosphäre in Gestalt
des Elmsfeuers auftreten, für selten hielt, haben jetzt die Beobachtungen
der Sonnblickwarte ihr häufiges Vorkommen erwiesen. Wir haben
bereits (Himmel und Erde Bd. IV. S. 274) auf die günstige Lage hinge-
wiesen, welche das genannte Observatorium für diese Art von Be-
obachtungen besitzt und haben angezeigt, dafs der dortige Beobachter
Peter Lechner im Aufträge von Elster und Geitel in Wolfen-
büttel, dieselben systematisch aufzeichnet. Dabei ist es seine Sorge,
das Zeichen des Elmsfeuers von 5 zu 5 oder von 10 zu 10 Minuten
mit Hülfe eines Bohnenbergerscheri Elektroskops festzustellen, die
Stärke des Phänomens abz.ischätzen und endlich die Begleit-
erscheinungen, als Schneefall, Blitze, Windrichtung und -stärke zu
notiren. Lechner hat in den letzten zwei Jahren ein zahlreiches
Material zusammengetragen, das sich auf 35 Tage vertheilt und 670
Einzelbeobachtungen umfafst. Dieses Material haben Elster und
Geitel zu ähnlichen Diagrammen, wie Fig. 6 a. a. O. zusammen-
gestellt, und sie sind dadurch zu übersichtlichen Betrachtungen über
diese Erscheinung gelangt, die Interesse genug besitzen. Dies sind
die Ergebnisse: Elmsfeuer werden nicht blos als ständige Begleiter
von Gewittern beobachtet, sondern auch selbständig, selbst im Winter
nicht selten, wahrgenommen. Immer sind sie an das Erscheinen von
Niederschlägen gebunden und finden meist gleichzeitig mit diesen,
manchmal auch vor oder nach denselben, nie aber bei heiterem
Himmel statt. Meist wechselt die ausströmende Elektrizität während
des Elmsfeuers ihr Zeichen, besonders bei Gewittern. Im Winter ist
negatives Elmsfeuer viel häufiger als positives und zeigt sich dabei
an das Erscheinen von Staubschnee gebunden, während der grofs-
flockige Schnee, der im Sommer überwiegt, fast nur positives Elms-
feuer in seiner Begleitung hat Windrichtung und -stärke beeinflussen die
Erscheinung nicht. Der a. a. O. bereits angedeutete Zusammenhang mit
der Farbe der Blitze, wonach bei negativem Elmsfeuer diese bläulich, bei
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positivem röthlich erscheinen, und die dort ausgesprochene Vermuthung,
dafs die Blitze röthlich erscheinen, wenn die Erde den positiven, bläulich,
wenn sie den negativen Pol der elektrischen Entladung bildet, wurde
von Elster und Geitel experimentell begründet Sie mufsten dazu
die beiden Pole, den Fels, der einen besseren Leiter von Spitzenform
darstellt, und die Wolkenschicht, die nicht leitend zusammenhiingt
und ausgedehnter ist durch eine Metallspitze und eine Wasserober-
fläche nachahmen, zwischen denen die Funken eines Ruhmkorff über-
sprangen. War die Spitze der positive Pol, so waren die Funken
röthlich gefärbt stark verzweigt und von einem schwachen Prasseln
begleitet, im andern Falle waren sie bläulichweifs, fast geradlinig und
laut schallend. Will man die Häufigkeit des Elmsfeuers gerade auf
Bergeshöhen erklären, so wird man neben der gröfsoren Dichtigkeit
der Elektrizität als mögliche Ursache an die verminderte Dichtigkeit
der Luft dort oben zu denkeu haben, die in Sonnblickhöhe nur noch
zwei Drittel von der hier unten herrschenden beträgt. Dafs die Ent-
ladungen in verdünnter Luft leichter vor sich gehen, das zeigen schon
die Erscheinungen der Geifslerschen Röhren an. Elster und
Geitel aber konnten beim allmählichen Verdünnen der Luft in einem
Glasrezipienten das deutliche Anwachsen des positiven Büschellichtes
bereits bei einem Grade der Verdünnung erkennen, welcher dem
durchschnittlichen Barometerstände (von 520 mm) auf der Sonnblick-
spitze entsprach. Sm.
f
Ueber Wasserfallelektrizität. Durch frühere Untersuchungen
ist festgestellt, dafs die Zerstäubung des Wassers in Sturzbächen eine
reichlich fliefsende Elektrizitätsquelle ist. Stets wird dabei, wie Hoppe
am Lauterbrunner Staubbach, Elster und Geitel an den Wasserfällen
am Fufse des Sonnblick beobachteten1), und auch Exner am Lido von
Venedig und am Strande von Ceylon bei hohem Wellengänge nach-
weisen konnte, die Luft mit negativer Elektrizität geschwängert, deren
Spannung bei Annäherung an den Wasserfall natürlich bedeutend
wächst. Die Ursache dieser Erscheinung ward bisher in der elektrischen
Vertheilung gesucht, durch welche die negativ geladene Erdoberfläche
in den umherspritzenden Wassertheilchen eine hohe negative Spannung
erregt, während die normale positive Luftelektrizität durch die fallenden
grorsen Tropfen dem Erdboden zugeführt wird. Sollte diese Ansicht
>) H. u. E. Bd. IV S. 257.
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richtig- sein, so mufste an Wasserstürzen, die nicht in dem elektrischen
Felde der Erde lagen, mangels der Ursache auch die Wirkung fort-
bleiben. Erfahrungsgemiifs liegen bereits Hohlwege von 7 m Tiefe
aufserhalb des elektrischen Feldes der Erde. An Wasserfällen in
ebenso tiefen oder noch tieferen Schluchten hätten also keine negativen
Spannungen wahrgenommen werden dürfen. Nun ist aber von Lenard
bei Gelegenheit einer Alpenreise an dergleichen Fällen die Erscheinung
auch beobachtet worden. Mit Hülfe eines Exn ersehen Elektroskopes,
mit dem eine kleine Petroleumflamme als Kollektor verbunden war,
stieg die beobachtetete negative Spannung in der Nähe wasserreicher,
tosender Flüsse so hoch, dafs das Elektroskop zur Messung nicht aus-
reichte; aber selbst an schwach geneigten plätschernden Bächen war
das Phänomen noch erkennbar. Elster und G eitel hatten dieselbe
Erscheinung im Sommer 1891 in der Kitzlochklamm bei Rauris wahr-
genommen, und sie hatten ihre Zweifel an der Richtigkeit der älteren
Erklärung damit bekämpft, dafs dieser Wasserlauf in seinem oberen
Theile noch der Einwirkung der Erdelektrizität ausgesetzt ist, und die
Weiterführung der elektrischen Massen beim Weitersturze des Wassers
nicht ausgeschlossen war. Aber in diesem Jahre haben sie das
Elektroskop an die vollständig unterirdisch fliefsenden Wasserläufe,
welche die Fülle der Reka in den Höhlen von St. Canzian bei Triest
darstellen, getragen und ihre Resultate sind gegen die ältere Ansicht
entscheidend. Vor dem Eingänge zu den Höhlen ergab sich nämlich
an dem Oblasserfalle das Vorhandensein negativer Elektrizität, die
aber nicht duroh irgend welche Strömungen weiter getragen wurde,
so dafs im Svettinadom, wo das Wasser ruhig dahinfliefst, keine
Spannung auffindbar war; dagegen zeigte sich der stark spritzende
sechste Wasserfall, der 200 m vom Eingänge entfernt liegt, als neue
Quelle hochgespannter negativer Elektrizität, während der achte, viel
weniger bewegte Fall weit geringere Spannungen hervorbrachte.
Hieraus folgt nun — was Lenard bereits erschlossen hatte5) — dafs
das Abroifsen von Wasser oder das Wiederauffallen der Tropfen die
Ursache dieser elektrischen Erregung sein, und diese ganz unabhängig
von einer etwa vorhandenen Elektrizität der Umgebung sein müsse.
In der That hat Lenard durch eine Reihe von Laboratoriumsver-
suchen es schlagend bewiesen, dafs der Fall von Wassertropfen auf
Wasserflächen oder von Wasser benetzte Gegenstände eine Quelle
negativer Elektrizität für die verspritzenden Theilchen ist, und zwar
-') Vergl. das Heferat von Börnstein in Met. Zeitgehr. Okt 1892.
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eine um so kräftiger fließende, je heftiger da6 Auffallen der Theilohen
und demnach ihr Zerstieben ist. Auch das Verspritzen der zur nassen
Erdoberfläche gelangenden Regentropfen mufs demnach der Luft
negative Elektrizität Zufuhren, und zwar nach einer von Lenard an-
gestellton Rechnung eine so ungeheure Menge, dafs die bei Nieder-
schlägen statt lindende Umkehr des Zeichens der Luftelektrizität hier-
durch erklärt werden kann. Ueberhaupt sind diese neuen Beobachtungen
im stände, die Ansichten über die anomale Luftelektrizität — wie sie
bei bedecktem Himmel, bei Niederschlägen und Gewittern beobachtet
wird — vielfach abzuändern. Ihre Erklärung findet die neue Beob-
achtung, wenn man annimmt, dafs bei der Berührung von Flüssig-
keiten und Gasen — wie Wasser und Luft — eine Spannung zwischen
beiden entsteht. Die äufserste Wasserschicht wird positiv, die ango-
grenzte Luftschicht negativ geladen sein. Ein auffallender Wasser-
tropfen wird bei langsamem Fallen vielleicht nur die beiden Elektrizi-
täten zum Ausgleiche bringen, bei heftigerem dagegen die Luft aus
seiner Nachbarschaft so schnell bei Seite drängen, dafs die negative
Elektrizität weit fortgedrängt wird, und die neue Oberfläche des
Wassers wird der Ort einer neuen Kontaktwirkung sein. Sm.
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Dr. Richard Lepsius, Geologie von Deutschland und den angrenzen-
den Gebieten. Band I: Das westliche und südliche Deutschland.
Stuttgart, Verlag von J. Engelhorn. 1887 — 1892.
Da» Werk entsprang dem Bedürfnis, dem Fachgeologeu einen zusammen*
fassenden Ueberblick, dem Freunde der Geologie einen ausführlichen und doch
möglichst kurzen Leitfaden der Geologie Deutschlands zu schaffen. Denn
seitdem durch Abraham Gottlob Werner eine selbständige geologische
Wissenschaft begründet worden, seitdem man erkannte, eine wie höhe Be-
deutung die wissenschaftliche Bodenuntersuchung für die Praxis dea mensch-
lichen Lebens besitzt, besonders für den Bergbau, den Strafsen- und Wasser-
bau und für die Landwirtschaft, seit dieser Zeit, also Beit dom Endo des
vorigen Jahrhunderts, erschien eine schier unendliche Zahl wissenschaftlicher
Arbeiten über gröfsero und kleinere Gebiete Deutschlands, theils in selb-
ständigen Werken, theils in fachwissenschaftlichen Zeitschriften. Dieser Reich-
thum der Litteratur machte es nun dem Freunde der Geologie fast unmöglich,
auch dem Fachgcologen zuweilen sehr schwer, einen Gesamtüberblick über
die geologischen Verhältnisse eines gröfseren Gebietes zu gewinnen. Um
diesem Mangel abzuhelfen, unternahm cs der Direktor der geologischen Landes-
anstalt zu Darmstadt, Prof. Dr. R. Lepsius, in möglichster Kürze das zu-
sammenzustollen, was von der Bodenkunde Deutschlands das Wissens wertheste
ist. Der erste Theil seines Werkes, welches gleichzeitig den ersten Band der
von der Gontralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutsch-
land herausgegebenen Handbücher zur deutschen Landes- und Volkskunde
bildet, ist nunmehr vollständig erschienen. In demselben behandelt der Ver-
fasser die geologischen Verhältnisse des westlichen und südlichen Deutsch-
lands, im wesentlichen also das ober- und niederrheinische Gebirgsaystem.
Man kann wohl sagen, für diesen Theil der Geologie Deutschlands konnte kein
besserer Bearbeiter gefunden werden als Lepsius; denn einerseits sind durch
die goologische Landesanstalt zu Darmstadt, deren Direktor er ist, die ein-
gehendsten Untersuchungen in den betreffenden Gebieten angestellt worden,
andererseits kennt der Verfasser die bezüglichen Verhältnisse selbst aus
zwanzigjährigen Studien. Infolge dessen entspricht der erste Band vollkommen
den Ansprüchen, welche ein Geologe von Fach an eine wissenschaftliche
Uebersicht der Geologie Deutschlands stellen kann. Aber auch jeder Laie
wird aus demselben Nutzen ziehen, der sich nur einigermafsen für diese Ver-
hältnisse interessirt Zwar dürfte der Letztere an den langen Aufzählungen
der in den einzelnen Formationen vorkomniondon Fossilien wenig Anziehendes
finden; aber es mag gleich hinzugefügt werden, dafs der Verfasser sich hierin
auf das beschränkt hat, was zur Charakterisirung der einzelnen Schichten un-
bedingt noth wendig ist. Aber abgesehen hiervon, enthält das Werk des
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Anziehenden soviel, dafs es jeder Laie, auch wenn er sich nicht für die Ver-
steinerungskunde erwärmen kann, doch nicht ohne Befriedigung lesen wird*
Durch eine grofse Anzahl farbiger und schwarzer Profile werden die be-
deutendsten Erscheinungen in dem Aufbau der Erdrinde erläutert, soweit sie das
Rheiugebiet betreffen; es geht aus vielen derselben die oft auf das äufserste
knmplizirte Lagerung der Schichten hervor, so dafs sich jeder der Schwierig-
keiten bewufst wird, welche diese dem Bergbau auferlegt. In klarer, über-
sichtlicher Weise werden die gesamten Erscheinungen des Gebirgsbaues, des
Vulkanismus, der Erdbeben und der erodirenden Thätigkeit des Wassers dar-
gestellt Zwar werden nicht die Ursachen der Gebirgsbildung und der mit
ihr eng verknüpften Erscheinungen, des Vulkanismus und der Erdbeben, aus-
führlich behandelt; aber das würde auch über den Rahmen oiner Geologie
Deutschlands weit hinausgehen. Bei der Bearbeitung des umfassenden Materials
ging der Verfasser von dem Gedanken aus, dafs er erst das zu untersuchende
Gebiet genauer bestimmen müsse. Die Eintheilung ist demnach die folgende:
zuerst erhält der Leser eine orographische IJebersicht des betreffenden Ge-
bietes, dann folgt eine Beschreibung der in demselben vorkommenden
Schichtsysteme vom ältesten bis zum jüngsten, und schlicfslich werden die
gleichsam als Fremdlinge auftretenden Eruptivgesteine behandelt; innerhalb
der einzelnen Formationen werden dann wiederum geographische Scheidungen
vorgenommen, beispielsweise wie folgt: Oberkarbon: a) in Belgien und Nord-
frankreich, b) dio Aachener Kohlenreviere, c) das Steinkohlengebirge an der
Ruhr, d) die Steinkohlen an der Saar und Nahe. Bei der Besprechung der
jüngsten Ablagerungen wird noch besonders der zahlreichen Flufsbettver-
legungen gedacht, die durch mehrere Kartenskizzen und Profile dargestellt
werden. Ausführlicher auf den reichhaltigen, des Interessanten so viel bieten-
den Inhalt einzugehen, gestattet der Kaum eines Referates nicht. Mancher
Leser wird vielleicht durch das Werk zu eingehenderen Studien angeregt
werden. Auch für ihn ist gesorgt. In zahlreichen Anmerkungen giebt der
Verfasser einen ausführlichen Ueberblick über die wichtigsten, die Geologie
des Rheingebietes behandelnden Schriften. ms.
Die Scenerie der Alpen, von Dr. Eberhard Fraas. Mit über 120 Ab-
bildungen im Text und auf eingehefteten Tafeln sowie einer Ueber-
sichtskarte der Alpen. Leipzig, 1892. F. O. Weigel Nachfolger (Chr.
Herrn. Tauchnitz). Preis geheftet 10,00 Mk., elegant gebunden 12,00 Mk.
Wer nicht als Bergfex seine Befriedigung in dem waghalsigen Erklimmen
der höchsten Alpengipfel findet, wer ferner nicht im geistigen Phlegma die
ihm von Bädeker vorgeschriebene Reiseroute abraacht, sondern neben Aus-
sichten auch Einsichten zu erlangen sucht, den wird dio Großartigkeit der
Alpenwelt mit überwältigender Kraft ergreifen und zur Naturbetrachtung hin-
leiten. Indefs wie der Genufs eines Gemäldes durch das Verständnis bedingt
wird, so ist es auch mit den vielen tausenden von Landschaftsgemälden, welche
die grofse Gebirgswelt der Alpen uns zur Entzifferung vorlegt; sollen dieselben
empfunden und im Geiste fixirt werden, so bedarf es hierzu eines gewissen
Maises von Einsicht in Komposition und Technik. Fehlt dieses Mafs natur-
wissenschaftlicher Bildung, so wird bei den meisten Alpenfreunden ein Gefühl
des Unbefriedigtseins Zurückbleiben, sie werden beim Verlassen der Berge ge-
wöhnlich nur die Ansicht mitnehmen, dafs sie hier vor einer Fülle ungelöster
und nicht löslicher Räthsel der Natur stehen. Dieser Kreis von Alpenreisenden
ist es. welchen Fraas mit dem vorliegenden Werke einen Leitfaden in die
Hand geben will, damit sie eine kurze gedrungene Uebersicht über die bis
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jetzt gemachten Erfahrungen und Beobachtungen bekommen und so einen An-
schluß für eigene Untersuchungen finden möchten.
Da das Werk in erster Linie für den Alpenfreund, nicht für den Fach-
kundigen, bestimmt ist, so mußten der speziellen Alpengeologie natürlich die-
jenigen Kapitel der dynamischen Geologie vorausgeschickt werden, welche die
Fallungatheorie zum Gegenstände haben und die verschiedenen tektonischen
Schichtenstörungen behandeln, die dem Beobachter in dem Alpensysteme
auf Schritt und Tritt entgegentreten. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit
dem Verhalten der Gesteine unter der Einwirkung der gebirgsbildenden Kräfte,
mit dor Plastizität und Streckung, dor Schichtung und Schieferung und der
mechanischen Umwandlung der Struktur durch Druck. Der weitaus größte
Theil des Buches behandelt die spezielle Alpengeologie, die hier nach Mafs-
gäbe der einzelnen Formationsgruppen vorgeführt wird. Hierin zugleich ent-
rollt der Verfasser ein Bild der Alpenscenerien von dem Dunkel der Urwelt
an bis in die letzte geologische Periode.
Möge das Werk dazu beitragen, die wunderbare Natur des schönsten
aller Gebirge klarer zu stellen und jedem, der auch nur flüchtig das Alpen-
land kennt, dasselbe näher zu bringen und heimischer zu machen.
Aus der Sturm- uud Drangperiode der Erde. Skizzen aus der Ent-
wickelungsgeschichte unseres Planeten von Dr. Hippolyt Haas,
Prof. a. d. Hochschule zu Kiel. I. Bd. Mit 55 Abbildungen im Text.
Berlin, Verlag des Vereins für Bücherfreunde. 1892.
Das Werkchen enthalt ein© Reihe geologischer Bilder ui ansprechender
und unterhaltender Form für das größere Publikum geschildert. Zunächst
lernt der Leser die Ansichten über die Entstehung des Weltalls und den Zu-
stand des Erdinnern kennen und im Anschluß hieran die plutonisohen Kräfte.
Die Feuerberge Europas und ihre geschichtlich bemerkenswerten Paroxismcn
sind ausführlich beschrieben. Im zweiten Abschnitt wird das Baumaterial
unserer Erde lind die Kräfte, welche dasselbe bilden und wieder zerstören,
und endlich die Wirksamkeit des Wassers als geologischer Arbeiter geschildert.
Die Illustrationsbeilagen, die zahlreich den Text begleiten, sind meistens nach
neueren Onginalphotographien hergestellt
Webers illustrirte Katechismen. Katechismus der Geologie, von Dr.
Hippolyt Haas, Prof. a. d. Universität Kiel. Fünfte vermehrte und
verbesserte Auflage. Mit 149 in den Text gedruckten Abbildungen,
einer Tafel und einer Tabelle. Leipzig. Verlagsbuchhandlung von
J. J. Weber. 1893. Preis 3,00 Mk.
In der vorliegenden fünften Auflage des „Katechismus der Geologie-, bei
dessen Bearbeitung Creduers treffliches Werk: „Die Elemente der Geologie*
zum Vorbilde gedient haben, sind in erster Linie die paläozoischen Systeme
einer Neugestaltung unterzogen worden. Man wird dem kleinen, inhaltsreichen
Buche das gleiche Wohlwollen entgegenbringen, mit dem die früheren Auf-
lagen entgegeugenommen worden sind.
6*t
Verlag von Hermann Haetel io Derliu. — Druck von Wilhelm Gronau'» Buchdruckerei in Berlin.
Kür die Kedaclion verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Meyer ln Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
L'ebersetzungereeht Vorbehalten.
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Ueber den Diamant.
Von Dr. W. I.uzi in Leipzig.
O/JRJas kostbare Produkt des Mineralreiches, der Diamant, wird zu
iT^y verschiedenen Zwecken benutzt. Abgesehen von seiner Ver-
wendung als Edelstein findet er zum Olasscbneiden, zum Be-
setzen von Gesteinsbohrern und Steinschneidescheiben, zum Abdrehen
von harten Metallgegenständen und dergl. Anwendung. Vor allem in
der Gesteinsbohrtechnik ist er jetzt ein unschätzbares Material; die
gröfsten Tunnels in den härtesten Felsarten werden mit Diamanten
gebohrt. Es würde dieses Mineral infolge seiner Eigenschaft, der
härteste aller Körper zu sein, in der Technik noch eine weit ausge-
dehntere Anwendung finden, wenn dem nicht der zu hohe Preis des
Diamanten entgegenstände. Die Kostbarkeit liegt darin begründet,
dafs er auf unserer Erde nur an sehr wenigen Stellen und auch da
nur in relativ geringen Mengen vorkommt, und dafs er künstlich nur
mit beträchtlichen Schwierigkeiten in mikroskopisch kleinen Körnchen
hergestellt werden kann. Ohne Zweifel würde die Technik von der
fabrikmäfsigen Herstellung dos Diamanten einen kolossalen Nutzen
haben, manche Gebiete dürften dadurch einen neuen Aufschwung
nehmen. Aber nicht nur aus praktischen, sondern vor allem aus wissen-
schaftlichen Gründen ist das Bestreben, den Diamanten darzustellen, ge-
rechtfertigt. Dafs dieser Körper reiner Kohlenstoff ist, das ist violfach be-
wiesen — aber wir stehen hier vor der in der Chemie nicht häufigen
Thatsache, dafs die Analyse einer Substanz noch nicht in befriedi-
gender und genügender Weise durch deren künstliche Herstellung
ergänzt werden konnte. Und das ist etwas, was immer zum Forschen
reizt. Weifs man, woraus ein in der Natur entstandener Körper be-
steht, so ist es eine wissenschaftliche Pflicht, zu versuchen, ob er sich
Himmel und Erde. 1898. V. 9. 2?
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auch im Laboratorium, unter bekannten Redingungen, hervorbringen
läfst. Wir wissen, dafe der Diamant aus Kohlenstoff besteht; dieses
Element tritt noch in mehreren Modifikationen auf, und nun handelt
es sich um die Frage, ob sich dieselben auf irgend welchen Wegen
oder Umwegen in die Diamantmodifikation umwandeln lassen. Ein
solcher Weg ist nun ganz neuerdings gefunden worden. Wenn auch
die auf demselben erzeugten Diamanten fast aussehliefslich schwarz
und von einer solchen winzigen Kleinheit sind, dafs an Verwendung
derselben — wenigstens vorläufig — nicht zu denken ist, so zeigt
uns diese Darstellung doch eine Möglichkeit der Umwandlung von ge-
wöhnlichem Kohlenstoff in Diamantkohlenstoff. Da es nun aber
fraglich ist, ob die natürlichen irdischen, grofsen, farblosen
Diamanten auf eine dieser aufgefundenen künstlichen Herstellungs-
methode analogen Weise entstanden sind, so ist diese ganze Frage
noch nicht als abgeschlossen zu betrachten. Nach wie vor ist die
Herstellung verwendbarer, d. h. gröfserer und auch farbloser Dia-
manten, sowie die Aufklärung der Entstehungsweise derselben auf
unserer Erde, das zu erstrebende Ziel. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, dafs man an Versuche, den Diamant in verwerthbarer Be-
schaffenheit, also in der Beschaffenheit, wie er sich auf den natür-
lichen Fundstätten findet, herzustellen, nur dann mit einiger Aussicht
auf Erfolg gehen kann, wenn die Eigenschaften dieses Körpers und
sein Verhalten den verschiedensten Einflüssen gegenüber möglichst
genau bekannt sind. Zahlreiche vergebliche Experimente vieler
Forscher haben dies bewiesen. Durch blofses Probiren mit der Hoff-
nung auf einen günstigen Zufall wird man hier sicherlich nicht weiter
kommen. Ein Haupthindernifs für Versuche, Diamant hervorzubringen,
liegt eben darin, dafs wir uns noch in Unkenntnifs über seine natür-
liche Bildungsweise befinden. Wäre diese aufgeklärt, wäre dies Ge-
heimnifs der Natur abgelauscht, so würde man mit viel mehr Hoffnung
an Laboratoriumsversuche herantreten können.
Ueber die Eigenschaften und das Verhalten des Diamanten ver-
schiedenen Agentien gegenüber besitzen wir, dank den im Laufe
der Zeit angestellten mannigfaltigen Untersuchungen, beträchtliche
Kenntnisse.
Im nachstehenden Aufsatze sollen nun die wichtigsten und inter-
essantesten Resultate der Forschung über das Verhalten, die Eigen-
schaften und das Vorkommen des Diamanten, sowie die Schlüsse, die
man daraus bezüglich seiner Entstehung gezogen hat, erörtert werden.
Das meiste dürfte denen, die sich nicht gerade speziell mit der Kohl enstoff-
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litteratur beschäftigt haben, unbekannt sein. Man wird ersehen, dafs
man von einer Lösung der Frage, wie ist der Diamant in der Natur
entstanden, noch entfernt ist. Dementsprechend sind auch die ausge-
sprochenen Hypothesen Uber seine Bildung recht verschiedenartig.
Zur Orientirung mag noch kurz vorausgeschickt werden, dafs
der Diamant, wie mit aller Sicherheit festgestellt ist, eine, und
zwar in der tetraedrisch-hemiedrischen Abtheilung des regulären
Systems krystallisirende Zustandsforra des Elementes Kohlenstoff ist
Dieses Element tritt noch in mehreren anderen Modifikationen, die als
, gewöhnlicher amorpher Kohlenstoff", als „Graphit" und als „Graphitit“
unterschieden werden, auf. Eine Charakteristik der letztgenannten
Zustandsformen des Kohlenstoffes, welche neben dem Diamant existiren,
kann hier nicht gegeben werden; bemerkt sei nur noch, dafs der
Graphitit erst in den letzten Jahren von W. Luzi entdeokt wor-
den ist
Die chemische Natur des Diamanten wurde am Ende des vorigen
und zu Anfang dieses Jahrhunderts aufgeklärt, also zu einer Zeit, in
welcher dank den Arbeiten hervorragender Chemiker, wie Bergmann,
V auquelin, Klaproth, Proust, Lampadius, viele Mineralien ihrem
wahren Wesen nach erkannt wurden.
Die Zerstörbarkeit des Diamanten durch hohe Temperaturen
wurde schon in den Jahren 1694 und 1695 zu Florenz beobachtet.
Daselbst liefs der Grofsherzog von Toskana, Cosmus III., duroh
Averami und Targioni Versuche über das Verhalten von Edel-
steinen in dem Focus eines Brennspiegels anstellen. Man benutzte zu
diesen Experimenten einen grofsen Tschirahausischen Spiegel und
fand, dafs der Diamant unter Einwirkung der konzentrirten Sonnen-
strahlen Risse bekam und unter Funkensprühen immer kleiner wurde,
um schliefslich ganz zu verschwinden. Die Experimente wurden auch
in der Weise wiederholt, dafs man die Sonnenstrahlen von Zeit zu
Zeit abblendete und den Diamant untersuchte; dabei zeigte sich eine
Abnahme der Masse desselben in der Weise, dafs er zwar immer
kleiner wurde, aber dabei seine ursprüngliche Form beibehielt. Ferner
wurde konstatirt, dafs nie eine Schmelzung des Diamanten eingetreten
war. Eine Bestätigung der in Florenz gewonnenen Resultate wurde
dann zunächst wieder um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erbracht.
Zu dioser Zeit beschäftigten sich der nachmalige deutsche Kaiser
Franz I. (der damals Herzog von Lothringen war) in Wien und
dessen Bruder, der Erzherzog Karl in Brüssel, mit Versuchen über
den Diamant. Es scheint, dafs beide Fürsten damit den Zweck verfolgten,
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400
aus kleineren Diamanten gröfsere zusammenzuschmelzen. Es war
wohl das kostspieligste chemische Experiment, das je ausgefiihrt worden
ist, als der Herzog von Lothringen für ungefähr 6000 Qulden Dia-
manten und Rubino auf einmal in Arbeit nahm. Die Diamanten wurden
in irdenen Schmelztiegeln 24 Stunden lang dem stärksten Ofenfeuer
preisgegeben. Es mag sich das Bewufstsein von der häufigen Unzu*
länglichkeit menschlicher Voraussetzungen dem Herzog sehr deutlich
aufgedrängt haben, als er nach Beendigung der Operation statt der
erhofften grofsen Diamanten nichts in den Tiegeln fand.
Bald darauf, iin Jahre 1766, veröffentlichte der französische
Forscher d’Arcet Beobachtungen über das Verhalten des Diamanten
in der Hitze eines Porzellanofens. D’ Are et fand, dafs er sich bei
diesen Temperaturen „verflüchtigte“ und zwar ebensowohl, wenn er
in durchlöcherten, als auch, wenn er in verschlossenen Tiegeln erhitzt
wurde. Später stellte er jedoch fest, dafs die Diamanten nicht ver-
schwanden, wenn sie voll kommen luftdicht eingepackt wurden. Ueber
die Ursache des unter bestimmten Bedingungen eintretenden Ver-
schwindens war man völlig im unklaren. Daher fingen nun eine
grofse Zahl der geschicktesten Chemiker an, sich mit diesem räthsel-
haften Verhalten des Diamanten zu beschäftigen. 1771 wurde von den
französischen Gelehrten Maoquer, Rouelle und d’Arcet zum ersten
Male beobachtet, dafs der auf einem Probirscherben unter der Muffel
erhitzte Diamant eine Flamme erzeugte. Das Interesse an demselben
wurde nun immer allgemeiner. Eine zahlreiche Gesellschaft, zum
Theil sehr hochgestellter Personen, wohnte den wenig später von
Rouelle, d’Arcet, Lavoisier undMacquer angestellten Versuchen
bei. Zunächst zeigte sich wieder, dafs die Diamanten in der Hitze auf
räthselhafte Weise aus der Muffel, resp. den Tiegeln, verschwanden.
Diese Ergebnisse standen aber nicht im Einklänge mit den Behaup-
tungen von Pariser Juwelieren, welche die Experimente mit Aufmerk-
samkeit verfolgten. Diese Leute erklärten, dafs sie oft Diamanten, auf
bestimmte Weise eingepackt, heftig geglüht hätten. Dabei seien diese
niemals verschwunden, nur gewisse, dieselben verunzierende Flecke
seien dadurch entfernt worden. Einer dergröfsten Juweliere, Le Blanc,
erbot sich, den Beweis für diese Angaben zu erbringen. In Gegen-
wart verschiedener Chemiker packte er einen Diamant in ein Gemenge
von Kreide und Kohlenpulver in einen Tiegel und sezte denselben
drei Stunden lang einem heftigen Feuer aus. Als darnach der Tiegel-
inhalt untersucht wurde, war der Diamant zur Genugtuung der
Chemiker verschwunden. Die Juweliere waren zunächst verwirrt, hielten
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401
Bich aber nicht Tür geschlagen. Ein anderer von ihnen, Maillard,
gab sofort drei Diamanten dem Feuer preis. Er hatte sie zunächst
sorgfältigst in Kohlenpulver in einem irdenen Pfeifenkopfe verpackt
und diesen wieder in einen mit Sand gefüllten und mit Kreidepulver
umgebenen Tiegel eingeschlossen. Nachdem man vier Stunden lang
stärkstes Feuer gegeben, wurde der Tiegel geöffnet. Maoquer rief
dabei Maillard zu, er möge seine Diamanten lieber im Rufse der
Esse suchen. Aber diesmal triumphirten die Juweliere, denn alle drei
Diamanten fanden sich unversehrt im Tiegel vor. Man wiederholte
die Versuche mit der gleichen Verpackung und erhielt nun immer die
gleichen Resultate. Jetzt galt für die meisten Chemiker als feststehend!
dafs der Diamant nur beim Glühen unter Luftzutritt zerstört wird, und
dafs es sich dabei um einen Verbrennungsprozefs handelt. Was bei
dieser Verbrennung entsteht, wufste man natürlich noch nicht. Um
dies aufzuklären, verbrannte Lavoisier den Diamant vermittelst der
durch Brennspiegel konzentrirten Sonnenstrahlen unter einer mit Luft
gefüllten, durch Wasser abgesperrten Glocke. Dabei bildete sich
Kohlensäure, und man bemerkte ein schwaches Aufwallen auf der Ober-
fläche des Diamanten, auch setzte sich oft eine kohleartige Materie auf
derselben an. Man schlofs aus alledem, dafs der Diamant Kohlenstoff
enthalten müsse. Dasselbe ergab sich aus späteren Versuchen
Smithson Tennants, welcher Diamant und Kohle vermittelst Sal-
peter bei Rothgluth verbrannte. Gleiche Gewichtstheile Kohle und
Diamant lieferten dabei ungefähr gleiche Gewichtstheile Kohlensäure.
Wenig später wurden von Guyton de Morveau interessante Experi-
mente angestellt. Zunächst setzte er Diamant in reinem Sauerstoff der
Wirkung konzentrirter Sonnenstrahlen aus. Dabei entwickelte der
Diamant anfänglich ein purpurfarbenes Lioht und zeigte an der Ecke,
wo ihn die Strahlen unmittelbar trafen, einen schwarzen Punkt; darauf
wurde er ganz schwarz und kohlig, sodann nahm seine Oberfläche
Graphitglanz an und schliefslich wurde er gänzlich aufgezehrt Es hatte
sich bei der Verbrennung Kohlensäure gebildet Einen weiteren Auf-
schlufs über die Natur des Diamanten gab Guyton de Morveau
dann (1799) dadurch, dafs er Schmiedeeisen durch Behandlung mit
Diamant in Stahl verwandelte.
Der gröfste Theil der Naturforscher hielt nun auf Grund aller
dieser Experimente den Diamant — ungeachtet seines eigenartigen
Aeufsern — doch nur für eine sehr verdichtete Kohle. Guyton de
Morveau wies aber darauf hin, dafs nicht nur die physikalischen,
sondern auch die chemischen Eigenschaften beider Substanzen doch
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402
so verschieden seien, dafs man nicht annehmen könne, sie seien gleich
zusammengesetzt. So hinterlasse die Kohle bei ihrer Verbrennung
stets einen Rückstand von Asche, der Diamant nie; der letztere er-
fordere ferner zu seiner Verbrennung eine beträchtlich gröfsere Menge
Sauerstoff als die Kohle und erzeuge dabei viel mehr Kohlensäure als
diese etc. Morveau glaubte daher, dafs der Diamant aus ganz reinem
Kohlenstoff bestehe, während die Kohle einen schon in hohem Grade
oxydirten Kohlenstoff enthalte. Es zeugt von grofsem Scharfsinn,
dafs Guyton de Morveau um jene Zeit (1799) die Natur der beiden
Körper Diamant und Kohle schon fast vollständig richtig erkannte;
denn in «len Kohlen ist Kohlenstoff als solcher überhaupt nicht ent-
halten, sondern diese sind ein Gemenge von Verbindungen, die im
wesentlichen aus sehr viel Kohlenstoff, ferner Sauerstoff, Wasserstoff,
auch Stickstoff und Schwefel bestehen. Die Kohlen enthalten also
thatsächlich Kohlenstoff in einem theilweise oxydirten Stadium. —
Guy ton machte auch darauf aufmerksam, dafs der Diamant zu seiner
Entzündung eine 14 mal höhere Temperatur nöthig habe als die Kohle,
und dafs die letztere, einmal entzündet, die zu ihrer weiteren Ver-
brennung nöthige Temperatur selbst unterhalte, während beim Diamanten
die zu seiner Verbrennung erforderliche Hitze sogleich aufhöre, wenn
man das durch konzentrirtes Sonnenlicht hervorgebrachte Feuer unter-
breche.
Nachdem so durch zahlreiche Experimente und scharfsinnige
Interpretirung derselben die Natur des Diamanten bereits richtig er-
kannt worden war, wurde durch den französischen Mathematiker Biot,
welcher theoretischen Ansichten und Spekulationen gröfsere Wichtig-
keit beimafs als denVersuchen, wieder Verwirrung in die Anschauungen
gebracht. Biot behauptete, dafs die Strahlenbrechung des Diamanten
weit stärker sei als die, welche die Brechung der Kohlensäure, des
Alkohols, Aethers und anderer Kohlenstoffverbindungen für Kohlenstoff
anzeige, und dafs daher der Diamant nicht nur aus diesem Körper be-
stehe, sondern dafs wenigstens ein Viertel seiner Masse Wasserstoff
sei. Trotzdem nun bald darauf (1808) die englischen Chemiker A llen
und Pepy s eine Abhandlung „lieber die Verhältnifsmenge des Kohlen-
stoffs in der Kohlensäure und über die Natur des Diamants“ ver-
öffentlichten, worin wiederum experimentell bewiesen wurde, dafs der
Diamant nur aus Kohlenstoff bestehe und keine Spur Wasserstoff ent-
halte, so hielten doch viele, zumal deutsche Mineralogen, die Zu-
sammensetzung für immer noch nicht sicher festgestellt. Die Speku-
lationen Biots gaben sogar zu der Anschauung Anlafs, dafs der Dia-
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403
mant Wasserstoff enthalte, dafs es aber fraglich sei, ob sich derselbe
überhaupt durch Verbrennung nachweisen lasse. Und dies zu einer
Zeit, wo doch die Thatsache, dafs der Wasserstoff bei der Verbrennung
Wasser liefert und durch die Bildung desselben nachgewiesen wird,
ganz fest stand. Sogar Guyton de Morveau liefe sich beeinflussen
und war nioht ganz abgeneigt, im Diamant eine — wenn auch nur
aufserordentlich geringe, ja vielleicht gar nicht mehr wahmehmbaro
— Menge Wasserstoff anzunehmen.
Im Jahre 1808 legte der englische Chemiker Davy, der be-
kanntlich einer der grellsten Experimentatoren war, den die chemische
Wissenschaft aufzuweisen hat, der Royal Society of London eine Ab-
handlung, betitelt „Neue zerlegende Untersuchungen über die Natur
einiger Körper“ vor. In derselben beschrieb er auch „Versuche über die
Zustünde, in welchen sich der Kohlenstoff im Reifsblei, in der Kohle und
in den Diamanten befindet.“ Er hatte Diamanten mit Kalium zusammen
erhitzt und glaubte gefunden zu haben, dafe das Kalium dabei den Dia-
manten Sauerstoff entziehe. Davy schreibt schliefölich, dafe die Versuche
mit dem Diamant es sehr wahrscheinlich machen, dafe er Sauerstoff
enthält. Zwar könnte die Menge desselben nur sehr gering sein, doch
reichte sie wahrscheinlich aus, um die Verbindung zum Nichtleiter
(der Elektrizität) zu machen. Der englische Forscher halte auch den
Graphit und die Kohle auf analoge Weise untersucht und war dazu
gekommen, den ersteren für eine Verbindung von Kohlenstoff mit
ungefähr ein Zwanzigstel Eisen und die Kohle als einen Körper,
welcher hauptsächlich aus reinem Kohlenstoff bestehe, mit welchem
aber eine kleine Menge Wasserstoff verbunden sei, anzusehen. Auf
diese Abweichungen in der Elementarzusammensetzung der drei Sub-
stanzen Kohle, Graphit und Diamant schob Davy die Verschieden-
heit der Eigenschaften derselben.
Alle diese fälschlichen Auffassungen der Natur des Diamanten
wurden nun endgültig durch spätere genaue Untersuchungen widerlegt.
Nachdem J ustus Lieb ig die Methode der Analyse organischer Körper
so aufserordentlich vereinfacht und sie zu einer so exakten gemacht hatte,
wurde der Diamant oft auf diese Weise untersucht, wobei immer festge-
stellt wurde, dafe er reiner Kohlenstoff ist. Nur aufserordentlich geringe
(wechselnde) Mengen von mineralischen Substanzen pflegt er noch beige-
mengt zu enthalten, welche beim Verbrennen als Asche hinterbleiben.
So fanden Dumas und Stafs gelegentlich ihrer Untersuchungen über
das Atomgewicht des Kohlenstoffes (1841), bei welchen sie zahlreiche
Diamanten verbrannten, dafe diese alle ein Residuum hinterliefeen.
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404
Diese Asche bestand bald aus einem schwammigen, röthlich -gelben
Gefüge, bald aus strohgelben krystallinen Brocken, bald aus farblosen,
aber auch krystallinen Fragmenten. Also auch die Zusammensetzung
der Asche ist offenbar verschieden. Die geringste Menge Rückstand,
welche sich in einem der untersuchten Diamanten fand, betrug ein
Zweitausendstel von seinem Gewicht, bisweilen stieg der Aschen-
gehalt aber auch auf ein Fünfhundertstel der Diamantsubstanz. Dumas
und Stafs glauben, dafs die allerreinsten Diamanten, deren Farbe und
Durchsichtigkeit niohts zu wünschen übrig lasse, überhaupt ohne
Rückstand verbrennen können. — Die beiden Forscher knüpfen nun
an diese Beimengungen des Diamanten folgende sehr richtige Be-
trachtung: „Diese mineralischen Stoffe gehören dem Krystall selbst
zu; sie sind zwischen den Blättchen desselben im Augenblick seiner
Bildung gleiohsam gefangen worden, und aus ihrer genauen Be-
stimmung geht als unvermeidliche Folge eine sichere Kenntnifs der geo-
logischen Situation des Muttergesteines der Diamanten >) hervor, indem
die Natur selbst in die Krystalle dieses schönen Körpers das Zertifikat
seines so sehr und so vergeblich gesuchten Ursprungs gelegt hat.“
Diese mineralischen Einschlüsse, welche die Diamanten öfter
führen, sind nur wenig untersucht, einmal erwiesen sie sich als
Rutil, d. i. krystallisirte Titansäure. Jüngst angestellte Analysen von
II. Moissan ergaben in allen untersuchten Diamanten, welche aus Süd-
afrika stammten, Beimengungen von Eisen und Silicium; brasilianische
Vorkommnisse enthielten ebenfalls alle Kieselsäure und fast alle Eisen.
Ferner fand sich in den meisten Diamanten auch Calcium. —
Ein weiterer Beweis für die Kohlenstoffnatur des Diamanten
wurde ganz neuerdings von A. Krause erbracht. Derselbe stellte
nämlich aus der durch Oxydation des Diamanten erhaltenen Kohlen-
säure- Soda, also kohlensaures Natrium dar, und untersuchte deren
Löslichkeit sowie ihre Kiwstallform, ferner ihre Leitfähigkeit für den
elektrischen Strom, ihren Wassergehalt und Schmelzpunkt. Dabei
stellte sich, wie ja auch zu erwarten war, heraus, dafs alle diese
Eigenschaften vollkommen mit denen der gewöhnlichen Soda überein-
stimmten.
Wir wollen jetzt zu den Untersuchungen übergehen, welche an-
gestellt wurden, um das Verhalten des Diamanten unter verschiedenen
Bedingungen, wie unter dem Einflüsse hoher Temperaturen otc., kennen
zu lernen.
*) d. h. des Alters und der Zusammensetzung des Muttergesteines.
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405
Was die Einwirkung1 starker Hitzegrade auf den Diamant be-
trifft, so hat man da zwischen seinem Verhalten bei Abschlufs von
Luft, bei Gegenwart von Luft resp. Sauerstoff und sohliefslioh bei
Gegenwart anderer, chemisch auf ihn wirkender Substanzen zu unter-
scheiden. Es sind zunächst verschiedene Experimente hervorzuheben,
welche über die Eigenschaften unseres Minerals beim Erhitzen unter
Luftabschlufs Auskunft geben, nämlich die Untersuchungen, welche
1871 von Professor Schrötter in Wien und 1872 von dem verdienst-
vollen Mineralogen Gustav Rose in Berlin veröffentlicht wurden.
Der erstere Forscher legte einen Diamant in einen kleinen hessischen
Tiegel, der halb mit fest eingeprefster Magnesia gefüllt war und
füllte nun denselben völlig mit diesem Material aus. Hierauf wurde
er mit einem Porzellandeckel gut verschlossen und in einen zweiten
hessischen Tiegel, welcher Graphit enthielt, so eingestellt, dafs er mit
einer, etwa ein Centimeter starken Schicht von Graphit umgeben,
diesen äufsern Tiegel nirgends berührte. Letzterer wurde ebenfalls
gut verschlossen. (Die Einpackung in Graphit hatte den Zweck, der
etwa hinzutreteuden Luft den Sauerstoff zu entziehen; bei sehr hohen
Temperaturen verbinden sich nämlich Graphit und Sauerstoff zu Kohlen-
säure.) Das Ganze wurde hierauf dem Starkbrande des Porzellan-
ofens an der heifsesten Stelle ausgesetzt. Als nach dem Erkalten die
Umhüllungen geöffnet wurden, zeigte sich, dafs der Diamant nur an
seiner Oberfläche etwas matt geworden war ohne die geringste
Schwärzung oder Trübung im Innern. Aus diesem Versuche schliefst
Schrötter, dafs der Diamant die höchsten Temperaturen, die wir in
unseren Oefen erzeugen können, auch bei langer Dauer derselben er-
trägt, ohne eine merkliche Veränderung zu erleiden. G. Rose stellte
folgende Experimente an. Zu dem einen Versuche wurde zur Er-
zeugung der nöthigen Hitze ein greiser dynamo-elektrischer Apparat
benutzt. Der Diamant wurde in einen starken gläsernen Zylinder, in
welchen die als Pole dienenden Kohlenspitzen luftdicht eingesetzt
waren, gebracht, und zwar in eine der letzteren selber. Nachdem
der Zylinder luftleer gemacht, wurde der Apparat in Gang gesetzt
Bald zersprang der Diamant mit heftiger Detonation in greisere und
kleinere Stücke, die alle stark geschwärzt erschienen. Dasselbe trat
bei einem zweiten Versuche ein. Die Schwärzung beschränkte sich
nur auf die Oberfläche und bildete eine dünne, haarstarke Rinde, die
von der inneren, unverändert und durchsichtig gebliebenen Masse
scharf abschnitt Dieser Ueberzug färbte ab, und man konnte mit
ihm auf Papier schreiben; nach Roses Ansicht bestand er aus
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40G
Graphit. Um das Zerspringen des Diamanten, das offenbar von der
zu plötzlichen Erhitzung herrührte, zu vermeiden, stellte dieser Forscher
ein drittes lehrreiches Experiment auf folgende Weise an. In einen
kleinen, aus sehr fester Gasretortenkohle geschnittenen Würfel wurde
ein Loch von der Gröfse des hineinzulegenden Diamanten gebohrt
und, nachdem letzterer oingobracht, mit einem Stöpsel aus demselben
Stoffe möglichst luftdicht verschlossen. Dieser Würfel wurde in die Mitte
eines mit Holzkohlenpulver angefüllten Graphittiegels gestellt und das
Ganze darauf wohl verschlossen in einem der von Siemens kon-
struirten Regenerativöfen eine halbe Stunde lang einer Hitze ausge-
setzt, bei welcher Roheisen schmilzt. (Die Verpackung des Diamanten
in Kohle diente, wie bei dem vorhin beschriebenen Sohrötterschen
Versuche die Einstellung in Graphit, zur Abhaltung, resp. durch Ent-
ziehung des Sauerstoffes zur Unschädlichmachung auch der geringsten
Spur von Luft.) Als nun nach dem Erkalten der Tiegel aus dem
Ofen genommen und geöffnet wurde, zeigte sich, dafs der Diamant
völlig unverändert war. Von einer Schwärzung, d. h. also einem
Uebergang in eine andere Kohlenstoffmodifikation, war nicht das
mindeste wahrzunehmen. Rose wiederholte nun den Versuch in der
Weise, dafs er einen Diamanten wieder genau so, wie eben beschrieben,
verpackte, ihn aber diesmal einer noch höheren Hitze, nämlich einer
Temperatur, bei welcher Stabeisen schmilzt, aussetzte. Obgleich er
nur 10 Minuten in dieser Hitze verblieb, so war dieses Mal doch eine
grofse Veränderung mit ihm vorgegangen; er war nämlich vollkommen
schwarz und undurchsichtig geworden und hatte starken metallischen
Glanz angenommen. Die Schwärzung hatte, wie bei dem ersten Rose-
schen Experimente, nur an der Oberfläche stattgefunden, indem die
schwarze Masse eine sehr dünne, an der unveränderten Diamant-
substanz scharf abschneidende Schicht bildete. — Es war also eine
theilweise Umwandlung der Diamantmodifikation in eine andere Zu-
standsform des Kohlenstoffes eingetreten. — G. Rose gelangt unter
Berücksichtigung des Ergebnisses des vorhin beschriebenen Schrötter-
schen sowie seiner eigenen Versuche zu folgender Auffassung. Wenn
der Diamant vor dem Zutritte der Luft geschützt, einer Temperatur,
bei welcher Roheisen schmilzt, oder der heftigtsen Hitze, die sich
in Porzellanöfen erzeugen läfst, ausgesetzt wird, so verändert er sich
nicht. Wird er aber (ebenfalls unter Luftabschlufs) einer noch höheren
Temperatur preisgegeben, z. B. der, bei welcher Stabeisen schmilzt,
so beginnt er, unter Beibehaltung der Form, in Graphit überzu-
gehen. —
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407
Es ist also die den Diamanten repriisentirende Modifikation des
Kohlenstoffes bei sehr hohen Temperaturen nicht existenzfähig, sondern
es treten dann — wohl innerhalb der Moleküle — Umsetzungen ein,
indem eine andere, auch bei sehr starker Hitze beständige Zustands-
form dieses Elementes entsteht. Für die Erforschung der Oenesis
des Diamanten ist die Kcnntnifs dieser Thatsache ohne Zweifel sehr
wichtig, denn dieselbe deutet darauf hin, dafs er nicht bei diesen
sehr hohen Temperaturen entstanden ist. Allerdings ist es ja aber
auch möglich, dafs, wenn vielleicht neben sehr starker Hitze gleichzeitig
ein mächtiger Druck wirkt, dann doch die Diamantmodifikation existenz-
fähig wird und somit ihre Entstehung unter diesen Bedingungen
stattgefunden haben kann.
Wie nun G. Rose glaubte, war die bei den hohen Temperaturen
aus dem Diamant entstehende KohlenstolTmodifikation Graphit. Dem-
entgegen stellte Luzi fest, dafs die schwärzlich-graue, undurchsichtige
und wie es schien krystalline Substanz, in welche sich der Diamant
bei sehr starkem Erhitzen (auf circa 1770° C.) unter Luftabschlufs
umwandelt, Graphit nicht sein kann. Dio betreffende Masse gab näm-
lich eino Reaktion (die von Luzi entdeckte sog. „Salpetersäurereaktion
des Graphites“, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann),
welche nur dem Graphit und sonst keiner andern Modifikation des
Kohlenstoffes eigen ist, nicht. Es mufs also hier eine andere Zustauds-
form desselben vorliegen, wahrscheinlich der sog. Graphitit. —
Ganz anderer Art sind die Erscheinungen, welche beim Erhitzen
des Diamanten unter Zutritt von Luft stattfinden. Wie wir schon
vorhin sahen, als wir die geschichtliche Entwickelung der Erkenntnifs
von der chemischen Zusammensetzung des Diamanten betrachteten,
verbrennt er ja dabei, aber es geschieht dies unter sehr bemerkens-
werthen Begleiterscheinungen.
Zunächst sei hervorgehoben, dafs er, an der Luft entzündet, nun
nicht ohne weiteres zu brennen oder zu glimmen fortfährt. Um ihn unter
diesen Umständen zu verbrennen, bedarf es vielmehr einer fortgesetzten,
starken Zufuhr von Wärme. Wenn man pulverisirten Diamant z. B. auf
ein dünnes Platinblech bringt und dieses über einem Gebläse erhitzt, so
entzündet er sich und verbrennt, aber nur, so lauge man fortfährt,
die Unterlage im Glühen zu erhalten. Anders ist es, wenn man den
Diamant in reinem Sauerstoffgase entzündet; darin fährt er von selbst
fort zu brennen und wird schnell und vollständig verzehrt, ohne dafs
es einer weiteren Erhitzung bedürfte. Seine Entzündungstemperatur
(an der Luft) liegt ungefähr beim Schmelzpunkte des Silbers, also
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408
bei circa 1000° C. Nach jüngst erfolgton Angaben von Moissan
soll die Temperatur, bei welcher Diamanten in reinem Sauerstoff ver-
brennen, zwischen 760° und 875° schwanken. Die Feuererscheinung,
welche das Verbrennen des Diamanten begleitet, ist eine intensive.
Es sei übrigens nebenbei bemerkt, dafs nicht, wie vielfach geglaubt
wird, der Diamant die am schwierigsten verbrennbare Modifikation
des Kohlenstoffes ist, sondern dies ist der Graphit So verbrennt z. B.
Graphit von Ceylon oder von Ticonderoga selbst beim Glühen in einem
schnellen Sauerstoffstrome nur, wenn er sehr fein pulverisirt ist. Ist er
dies nicht, so verbrennen so geringe Mengen, wie 0,1 bis 0,2 g., selbst bei
zweistündigem, starkem Glühen im Sauerstoffstrome nur zum TheiL
Graphit ist also viel schwerer verbrennlich als Diamant Der Diamant
ist somit bei hohen Temperaturen weder existenzfähig, wenn er sich
unter Luftabschlufs, und noch viel weniger, wenn er sich an der Luft
befindet. Graphit und Graphitit sind in dieser Hinsicht ungleich viel
beständigere Anordnungen der Kohlenstoffatome; entsteht doch z. B.
letzterer unter dem Einflüsse des elektrischen Bogenlichtes aus den
als Pole oder Elektroden dienenden Kohlenstiften, also bei einer
Temperatur, welche man ganz neuerdings zwecks Ausführung gewisser
chemischer Operationen auf circa 3000° C. gesteigert hat.
G. Ro se beobachtete zuerst, dafs sich der Diamant beim Verbrennen
auf seiner Oberfläche mit regelmäfsigen, dreiflächigen Eindrücken be-
deckt Dieselben stellen negative Pyramiden, also Tetraeder, dar.
Es sind dies Aetzfiguren, wie man sie an den Krystallen vieler Sub-
stanzen beobachten kann, wenn eine chemische, losende Einwirkung
auf dieselben stattfindet. Diese Aetzfiguren stehen stets, also auch beim
Diamant, in gewissen gesetzmäfsigen Beziehungen zu der Krystallform;
sie liegen nicht wirr und regellos durcheinander, sondorn sind immer
in bestimmten Richtungen angeordnet.
Fig. 1 (nach G. Rose) zeigt eiue mit solchen dreiflächigen Ein-
drücken bedeckte Fläche (Oktaederfläche) eines Diamantkrystalles,
wie sie beim Verbrennen desselben entstehen.
Fig. 2 (nach G. Rose) stellt den letzten Rest eines fast voll-
ständig verbrannten Diamanten dar.
Eine Folge der regelmäfsigen Lage der Eindrücke ist es, dafs
dieselben bei längerer Einwirkung der Hitze zu Furchen, zwischen
denen sich scharfe Kämme erheben, zusammentreten (siehe Fig. 2).
Uebergang in eine andere Kohlenstoffmodifikation ist beim Erhitzen des
Diamanten an der Luft nicht zu beobachten, er zeigt sich, wann immer
man ihn auch aus dem Feuer nehmen mag, stets farblos resp. weifs.
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Wie schon erwähnt, leuchtet der Diamant beim Verbrennen stark,
ohne dafs dabei aber wirkliche Flammen erschienen, oder dafs etwa
Funkensprühen und ähnliche Erscheinungen aufträten. Auch von einer
Schmelzung ist normaler Weise nichts wahrzunehmen. Indessen mag
hier eingeschaltet werden, dafs manche diesbezüglichen Experimente
auch etwas andere als die eben beschriebenen Resultate ergaben; es
herrscht zwischen den Ergebnissen, welche zumal ältere Beobachter
bei Erhitzungsversuchen unter Luftzutritt erhielten, keine volle Ueber-
einstimmung. Bei Experimenten, die im Jahre 1751 von Franz I. an-
gestellt wurden, zeigte sich z. B., dafs ein vollkommen reiner, ge-
schliffener Stein, nachdem er mit Hülfe eines grofsen Brennspiegels
theilweise verbrannt worden, dabei durch und durch geschwärzt
worden war. Dieser Diamant wurde aufbewahrt und befindet sich
im Besitze des k. k. Mineralienkabinets in Wien. — Wie schon
Seite 401 erörtert wurde, nahm auch Morveau bei der Einwirkung
konzentrirter Sonnenstrahlen auf einen im Sauerstoff befindlichen Dia-
manten einen Uebergang desselben in Kohle oder Graphit wahr.
Derlei Beobachtungen wurden noch von manchen andern Chemikern
gemacht. Eine ebenfalls abnorme Erscheinung bot sich dem ameri-
kanischen Forscher Sill im an dar, als er Diamanten vor das sog.
Haru'sche zusammengesetzte Löthrohr brachte; dieselben zeigten näm-
lich Spuren einer angefangenen Schmelzung. Es waren geschliffene
Diamanten; ihre Ecken wurden beim Verbrennen jederzeit abgerundet
und meistens ganz verwischt. Es schien, als wären sie auf der Ober-
fläche orweicht — ein zufällig abgesprungenes Stückchen zeigte einen
muscheligen Bruch und verglastes Ansehen. —
Star_
a, b, c dreiflächige Corrosiousßguren.
Fig. 2. Sehr stark vergröfsert.
(Schlufs folgt).
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’V’-
&
Die physische Beschaffenheit des Planeten Mars nach
dem Zeugnifs seiner hervorragendsten Beobachter.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer.
c- i.-
cj. geit Herschel vor nunmehr bereits 110 Jahren über den Pla-
neten Mars die Meinung ausgesprochen hatte, „seine Bewohner
erfreuen sich wahrscheinlich einer in vieler Hinsicht ähnlichen
Situation wie wir*, begann dieser merkwürdige Planet immer mehr
das Interesse zuerst der beobachtenden Astronomen, dann der Freunde
der Himmelskunde und endlich des grolsen Publikums in Anspruch
zu nehmen, und heute hat der für das b lotse Auge durchmesserlose
Wandelstern, auf welchem nur die besten Fernrohre seltsame Details
zu erkennen vermögen, selbst dem Monde an allgemeiner Popularität
den Rang abgewonnen. Namentlich seit der Laie dem Astronomen
allmählich zu glauben beginnt, dafs es Menschen oder überhaupt
lebende Wesen auf dem Monde nicht geben kann, ist er ihm um ein
gutes Stück gleichgültiger geworden. Für Mars aber stand von vorn-
herein der Wahrscheinlichkeit, dafs es dort lebende Wesen geben
könne, kein unumstofslicher Grund entgegen, und als nun gar
Sch iaparell i seit dem Jahre 1877 sogenannte Kanäle dort entdeckte,
deren Entstehung allein durch die todten Naturkräfte, ohne die Ein-
wirkung intelligenter Wesen nach unseren irdischen Erfahrungen
jedenfalls bedeutende Erklärungsschwierigkeiten bot, mufste begreif-
licherweise dieses Interesse einen sehr hohen Grad erreichen, da man
in unseren Tagen ja aufserdem in immer stärkerem Maafse sich ganz
im allgemeinen für die Dinge außerhalb der Erde interessirt. Nun
kam bekanntlich im vergangenen Jahre der Planet uns aufsergewiihn-
J ich nahe, so nahe, wie er seit dem denkwürdigen Entdeckungs-
fahrt; der Kanäle. 1877, uns nicht wieder gestanden hat Alle Welt
— nur nicht die Astronomen — war nun davon überzeugt, dafs der
Planet auf diesem Besuche uns eine grofse Menge neuer Wunder
verrathon würde. Es war au sich ein gewifs erfreuliches Zeichen
für den Fortschritt der immer allgemeiner werdenden Freude an der
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411
Beobachtung himmlischer Welten, dafs im vorigen Jahre, nament-
lich um die betreffende Oppositionszeit zu Anfang August herum,
alle Zeitungen der zivilisirten Welt erfüllt waren von allerhand
Mittheilungen über dieses wunderbare Gestirn. Ja, der New- York
Herald ging so weit, ihm geradezu die Ehre eines königlichen Gastes
angedeihen zu lassen, dem er ein ganzes Heer von Interviewern ent-
gegensandte. Am Tage nach der Opposition, am 5. August, erschien
je ein Korrespondent des New-York Herald bei jedem nur einiger-
mafsen namhaften Astronomen der ganzen Welt, um ihn zu befragen,
was er neues an dem Planeten gesehen habe, und alle diese Mit-
theilungen wurden nach New-York telegraphirt und in einer langen
Reihe von Artikeln reproduzirt. Nun, ich brauche unseren Lesern
von „Himmel und Erde“ nicht ausführlich zu erklären, dafs diese
sonderbare Idee des etwas sensationssüchtigen Blattes eine recht grobe
Unkenntnifs des einschlägigen Gegenstandes verräth. Einmal unter-
schieden sich ja natürlich die Verhältnisse am Tage der Opposition
astronomisch fast garnicht von denen mehrere Wochen vor und nachher,
und dann weifs man, dafs es erst nach vollendeter Oppositionsperiode
möglich ist, aus der Gesamtheit so ungemein subtiler Beobachtungen
einen einigermafsen werthvollen Schlufs zu ziehen. Endlich fand be-
kanntlich die vorjährige Opposition wegen des niedrigen Standes des
Planeten für alle Sternwarten der nördlichen Erdhälfte unter so un-
günstigen Umständen statt, dafs sehr viel Neues von dieser Zusammen-
kunft von vornherein kaum zu erwarten war. Von den südlich ge-
legenen Sternwarten kam aber kaum mehr als eine — die provi-
sorische Station bei Arequipa auf dem peruanischen Hochplateau —
in Betracht, welche sich besonders für Marsstudien gerüstet hatte.
Das Jahr 1892 ist nun aber in anderer Hinsicht für das Studium
des erdnahen Planeten von Bedeutung gewesen, und zwar durch das
Erscheinen eines umfangreichen Werkes, welches alle seit der Erfin-
dung des Fernrohrs aufgezeichneten Studien über den Planeten sorgfältig
neben einander geordnet enthält. Das grofäe Werk rührt von dem
allbekannten französischen Astronomen Camille Flamraarion her,
dessen Weltberühmtheit er seiner wunderbaren Gabe eleganter und
begeisterter populärer Darstellung astronomischer Kenntnisse verdankt.
Nach deutschem Geschmack und dem Geschmack der reinen Fach-
gelehrten so ziemlich der ganzen Welt ist ja allerdings die Schreib-
weise Flammarions nicht. Der Flug seiner begeisterten Phantasie
mag sich wohl hier und da etwas zu weit über die festen und un-
zweifelhaften Grundlagen des verbürgten Wissens erhoben haben;
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412
aber ich werde es mir an dieser Stelle wohl versagen müssen, mich
irgendwie kritisch über den Werth oder Unwerth solcher gelegent-
lichen Gedankenausflüge, welche, von wissenschaftlich durcbgebildeten
Geistern ausgehend, schon sehr häutig pfadfindend geworden sind,
auszulassen; ich würde allzu leicht in den Verdacht kommen, pro domo
zu reden.
Wie man nun aber auch über den grofsen Pariser Popular-
Astronomen denken mag, sein Buch „La Planete Mars et ses Con-
ditions d'Habitabilite“ bildet eine ganz vortreffliche und höchst sorg-
fältige Zusammenstellung alles dessen, was über die Oberfläche des
Mars jemals an Untersuchungen und Zeichnungen bekannt geworden
ist, und es mufs hier besonders hervorgehoben werden, dafs die hypo-
thetischen Ausblicke sich auf einen sehr kleinen Bruchtheil des
608 Grofsoktavseiten umfassenden Werkes beschränken, welches
671 Facsimile-Wiedergaben von Marszeichnungen enthält. Ich will
es versuchen, an der Hand dieses Werkes und hauptsächlich aus dem-
selben excerpirend, einen Ueberblick der Studien zu geben, welche
sich bisher mit unserer jedenfalls sehr eigenartigen Nachbarwelt
befafst haben, um dann schliefslich das hinzuzufügen, was die letzte
Opposition, die in dem Werke noch keine Aufnahme finden konnte,
etwa noch ergeben hat.
Die Beobachtungen des Mars sind in dem Fla mm arion sehen
Werke in drei Perioden zerlegt, deren Grenzen einmal durch den
Beginn der Beobachtungen überhaupt, dann durch die Beobachtungen
von Beer und Mädler (1830) und durch Schiaparelli (1877) ge-
steckt sind.
Die erste Marszeichnung rührt von Fontana her und ist 1636
ausgeführt Durch ein Fernrohr gesehen ist Mars natürlich bereits
seit dem Jahre 1610, als Galilei ein solches zuerst auf ihn richtete.
Der Letztere glaubte auch bereits eine Spur seiner Phase zu bemerken.
Fontana zeichnet einen runden Fleck in der Mitte des Mars, der
aber, da er später die Form der Phase annimmt und auch bei seinen
Zeiclmungen der Venus wieder auftritt, offenbar nur ein falsches
Spiegelbild seines Fernrohrs ist. Es folgen dann Bemerkungen über
Marsbeobachtungen von Riccioli, Hirtzgarter, Iiheita, Hevelius
und Iluygens. Letzterer giebt 1636 einen dunkeln Gürtel an, wel-
cher die Marsscheibe von einem zum anderen Rande durchzieht, und
am 28. November 1669 zeichnet er etwas auf, das wohl bereits jenem
charakteristischen Gebilde der Marsoberfläche einigermafsen ähnlich
sieht, das Schiaparelli Syrtis Major genannt hat, für welches
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413
Flammarion aber die alte Nomenklatur beibehält und es das Sand-
uhrmeer nennt (Mer du Sablier). Die Beobachtungen von Cassini
werden dann reproduzirt, der 1666 deutlich die weifsen Polarflecke
aufzeichnet, aber merkwürdiger Weise gelegentlich deren vier sieht,
dann weiter die von Salvatore Serra, Hooke, von Huygens aus
den Jahren 1672 und 1683, Beobachtungen und Zeichnungen von Flam-
sted, Fontanelle, Maraldi, Bianchini, Cassini II., Messier,
Lalande, William Herschel. Erst die Zeichnungen dieses Letz-
teren weisen etwas greifbarere Details namentlich in der zweiten Pe-
riode von 1781 und 82 auf, von denen man hier und da wohl eine
Kontur mit heute bekannten aerographischen Gebilden identiliziren
könnte. Nach B a i 1 1 v folgt dann der grofse Planetenbeobachter
Schröter, der von 1785 bis 1803 eine gröfsere Anzahl bereits reoht
interessanter Marszeichnungen anfertigte, die in dem Flammarion-
schen Werke wiedergegeben sind. Es werden überall Auszüge des
Beobachtungsjournals gegeben und Versuche gemacht, die Details der
alten Zeichnungen mit den uns heute bekannten zu identißziren. Es
passiren dann noch Revue die Beobachtungen von Hahn, Flauger-
gues, Fritsch, Huth, Gruithuisen, Arago, Kunowsky und
endlich Harding (1824), womit die erste Periode abschliefst
Man begreift, dafs man aus diesen, mit noch sehr unvollkomme-
nen Instrumenten gewonnenen Beobachtungen und Zeichnungen kein
auch nur einigermafsen klares Bild der Oberfliichenverhältnisse auf
dem Mars zusammenstellen konnte. Flammarion schliefst deshalb
seine Zusammenstellung der Resultate dieser ersten Periode mit den
Worten:
.Besitzt dieser Planet eine feste, geographisch gegliederte Ober-
fläche wie diejenige der Weltkugel, welche wir bewohnen? Es wäre
unmöglich, dieses aus den vorangehenden Beobachtungen zu schliefsen.
Vielleicht werden die Fortschritte der Optik und der astronomischen
Wissenschaft es uns erlauben, diese wichtige Frage in der nächsten
Periode zu entscheiden. Wir treten deshalb in der That nunmehr
in eine neue Phase der Marsstudien ein, welche man die geographische
nennen könnte.“1)
Die zweite Periode 1830—1877 beginnt, wie bereits erwähnt, mit
den epochemachenden Beobachtungen von Beer und Mädler. Die
Zeichnungen werden immer gestaltreicher, und die genannten Astro-
nomen konnten im Jahre 1840 bereits einen Planiglobus der Welt
') Bei den in den gegenwärtigen Aufsatz oingeflochtonen L'ehersotzungen
wolle man mir erlauben, dem Geiste, nicht dem Worte getreu zu bleiben.
Himmel und Erd». 1 81*3. V. 9. 28
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des Mars entwerfen, auf
welchem in grofsen Zügen
die uns heute bekannte
Konfiguration wieder zu
erkennen ist. Wirerlauben
uns diese Karte hier zu
reproduziren.
Es folgen Zeichnungen
von John H ersehet von
1830, Galle 1839, Julius
Schmidt, Warren de
la Rue, Brodie, Webb
und Secchi. Letzterer
bezeichnet abermals einen
bedeutenden Fortschritt,
was die zunehmende Fülle
der Details betrifft. Die
Zeichnungen Secchi s be-
ziehen sich auf die Oppo-
sitionen von 1858 und 1802.
Wir kommen nun zu sehr
sorgfältigen und schönen
Mars -Zeichnungen von
Lockyer, gleichfalls von
1 802, ferner von P h i 1 1 i p s ,
Lord Rosse, Lasseil,
Knott und Kaiser aus
demselben Jahre. Da wes,
weicherden Planeten 1864
und 05 zeichnet, ist sich
schon damals darüber klar,
dafs die Lage und Aus-
dehnung der dunkleren
und helleren Flecke auf
dem Planeten Veränderun-
gen unterworfen ist, welche
nicht allein der Undeutlich-
keit des Sehens zugeschrie-
ben werden können. Nun
folgen Zeichnungen von
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Xankart« von Bear und Midier ans dam Jahre 1840.
416
Franzenau, Terby, Williams und dann die hier reproduzirte
Uebersiehtskarte von Proctor. Sohliefolich finden wir nach einigen
gelegentlichen Beobachtern die ganz vortrefflichen Marszeichnungen
von Green und Trouvelot, dann solche von Lohse und Holden
(Washington 1875).
Als Resultat dieser zweiten Periode resumirt Flammariou
Seite 242 ff.:
„Die Geographie des Planeten Mars ist in ihren hauptsächlichsten
Zügen skizzirt. Mehrere Karten sind entworfen: zunächst von Beer und
Mädler 1840, dann von Kaiser 1864, von Phillips in demselben
Jahre, von Proctor 1867 und Green 1873. Diesen geographischen
Proctore Uebor«ietat»karw dei Kart atu dem Jahre 1867.
Grundzügen mag man noch unseren eigenen, 1864 veröffentlichten
Versuch, die bestbekanute Halbkugel des Planeten darzusteüen, hinzu-
fügen, worin sich das Sanduhrmeer im Zentrum befindet. Die haupt-
sächlichen dunklen Flocken sind permanent, und es ist nicht mehr
möglich, mit Schröter anzunehmen, dafs sie atmosphärischer Natur
seien. Dennoch ist unser früherer Schlufs beizubehalten: Die Form
und das Aussehen dieser Flecke ist veränderlich.
„200 neue Ansichten des Mars sind in dieser zweiten Periode vor
unseren Augen vorübergezogen; verbunden mit den 191 ersten
ropräsentiren diese Ansichten 391 verschiedene Zeichnungen des Pla-
neten, wie ihn alle Beobachter nach einander oder zugleich gesehen
haben. Ihr vergleichendes Studium zeigt, dafs jeder Beobachter ver-
schieden sieht, je nach der Beschaffenheit seiner Augen, seiner Ge-
schicklichkeit, seiner Instrumente, und dafs er wiederum nach seiner
besonderen betreffenden Anlage das Gesehene verschieden aufzeichnet.
„Es g-iebt also für jede Zeichnung eine Art von persönlicher
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417
Gleichung, von individueller Auslegung, und da die Details auf einer
Weltkugel, welche man aus der Entfernung des Mars durch zwei At-
mosphären betrachtet, immer mehr oder weniger vage und nur äufserst
delikate sein können, ja meistens sich an der Grenze der Sichtbar-
keit befinden, so giebt es vielleicht unter allen diesen Zeichnungen
keine einzige, welohe wirklich genau das wiedergiebt, was ein Be-
obachter sehen würde, der sich sehr nahe über der Oberfläche des
Mars befinden würde.
„Nichtsdestoweniger läfst sich ein fester Kern aus allen diesen
Beobachtungen herausschälen , welchen wir in der Generalkarte von
Flammarion auf Seite 424 wiedergogebon haben. Andererseits kann
die mangelnde Uebereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtern
gewisse Verschiedenheiten nicht erklären, welohe als wirkliche Ver-
änderungen anzusehen sind. So ändert das Sanduhrmeer zweifellos
seine Ausdehnung und seine Färbung. Sein linkes Ufer scheint
namentlich nach oben, nach der Halbinsel Hind zu, Gebiete zu be-
sitzen, welohe zu Zeiten trocken liegen, zu anderen überschwemmt
werden. Das kreisförmige Meer Terby wird rings, namentlich unten,
von Gebieten umgrenzt, die oft hell, oft dunkel erscheinen. Das Meer
Flammarion ist oft von einer Art Sandbank durchzogen; die
Meridianbucht erscheint zu Zeiten rund, dann wieder viereckig
oder auch länglich und gabelförmig.
„Diese Erscheinungen und Veränderungen bestätigen die Erklärung
derselben, wio wir sie bereits während der ersten Beobachtungs-
periode gaben, nämlich, dafs die dunklen Flecke ausgedehnte Flüssig-
keitsgebiete, Meere, Seen sind, die hellen Fleoke dagegen feste Ge-
biete, Kontinente, Inseln.
„Die Veränderungen der polaren Schneegebiete bekräftigen diese
Annahme des Vorhandenseins von Wasser, welches dieselben Eigen-
schaften wio das unseres Planeten hat, d. h. sioh in Schnee, Eis und
Wolken verwandeln kann.
„Die während dieser zweiten Periode entdeckte spektralanalytische
Untersuchungsmethode zeigt, dafs dieses Wasser auch in seiner
chemischen Zusammensetzung dem unseren vergleichbar ist.
„Trotzdem müssen diese Wasseransammlungen sich in einem
anderen physischen Zustande als unsere Meere befinden; sie sind
vielleicht weniger dicht, weniger flüssig, treten vielleicht nur als
schwere Nebelmassen auf.
„Die Atmosphäre ist weniger bewogt als die unsrige, weniger
von Wolken und Nebeln durchsetzt, erzeugt weniger Regen, ist ver-
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418
dünnter und durchsichtiger. Das Wasser mufs sich darin leichter
verflüchtigen und leichter niederschlagen als bei uns. Man be-
obachtet darin keine Wirbelstürme, wie es Secchi früher geglaubt
hatte, aber man bemerkt gelegentlich sehr ausgedehnte Schneefelder,
selbst in ziemlich grofser Entfernung vom Pol, namentlich auf dem
mit Lockver benannten Festlande, welches man gelegentlich für den
Pol angesehen hat.
„Es giebt weniger Wasser auf dem Mars als auf der Erde, und
zwar ist nicht nur seine Oberflächenausdehnung eine geringere, inso-
fern es auf Mars nur ein Drittel, auf der Erde drei Viertel der Oesamt-
oberflache einnimmt, sondern die Meeresbecken sind vermuthlich auch
weniger tief. Die Veränderungen der Färbung der Meere können
nämlich dadurch erklärt werden, dafs zu Zeiten ihr Grund sichtbar
wird. Aufserdem scheinen ausgedehnte Ueberschwemmungen die l'fer-
gebiete zu überziehen, welche als sehr flach anzusehen sind.
„Die südliche Halbkugel des Mars ist hauptsächlich als die
wasserreiche, die nördliche als die Landhalbkugel zu betrachten; der
Boden dieser letzteren befindet sich also auf einem durchschnittlich
höheren Niveau als der der ersteren. Die geologischen Ursachen, welche
die Oberfläche dieses Planeten formten, hoben also die nördliche und
senkten die südliche Halbkugel. Es ist interessant zu bemerken, dafs
ungefähr das Gleiche auf der Erde stattfand. Die grofsen Kontinente,
Asien, Europa, Nordamerika, die Hälfte von Afrika nehmen die nörd-
liche Halbkugel ein; die südliche besitzt nur Südafrika, Südamerika
und Australien, deren Oberfläche viel kleiner ist
„Diese Verschiedenheit kann von der Wirkung der Sonnen-
attraktion auf die während einer halben Umlaufsperiodo der Apsiden-
linie der Sonne näher befindlichen Marshalbkugel zu der Zeit her-
kommen, als sich um die betreffende kritische Zeit die feste Rinde
des Planeten bildete. Diese Anziehung hätte dann die nördliche
Halbkugel in etwas seitlicher Richtung gehoben. Der Mittelpunkt der
Landmassen scheint im Kontinent Huygens bei 160° Länge und 120°
Breite zu liegen, der Mittelpunkt der Meeresgebiete ungofähr ihm
gegenüber im Dawesmeer bei 330° Länge und 30° Breite. Für die
Erde sind diese selben Punkte ungefähr die Karpathen und deren
antipodisch gelegener Punkt.
„Es mufs auf der Oberfläche des Mars Flüsse geben, weil es
dort Meere, Wolken und Regen giebt. Die Meridianbucht scheint die
Mündung zweier grofsen Flüsse zu sein.
„Obgleich die Weltkugel des Mars vermuthlich weniger unregel-
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4in_
mäfsig ist als die der Erde, was deren Gebirgsrelief anbetrifft, so
scheint es doch, dafs einige recht hohe Gebirge und Hochplateaus
existiren. So sind die beiden auf unserer Karte (S. 424) auf dem 47. und
297. Längengrade verzeichnten Inseln oft sichtbar und verschwinden
wieder; es sind zweifellos Berge, welche gelegentlich von Schnee be-
deckt werden. Es scheint auch, dafs sich in der Nähe des Aequators
rechts vom Sanduhrmeer ein ausgedehntes Hochplateau befindet, und
noch ein anderes bei der Kreuzung des 185. Längen- und 65. nörd-
lichen Breitengrades.
„Im grofsen und ganzen bestätigt sich durch diese neuen Be-
obachtungsreihen wieder die Aehnlichkeit jener Welt mit der unsrigen.
Die klimatischen Verhältnisse scheinen sogar den unsrigen merkwürdig
ähnlich, sei es nun, weil sich die Temperatur ungefähr auf demselben
Grade erhält wie bei uns, sei es, dafs die physischen Bedingungen
des atmosphärischen Druckes, der Dichte, der Schwere ähnliche
Effekte bei einer verschiedenen Temperatur hervorbringen.“
Wir treten nun in die dritte und letzte Beobachtungsperiode ein,
welche mit den berühmten Untersuchungen Sch iap arel 1 i s beginnt.
Die Resultate dieser letzteren sind in gegenwärtiger Zeitschrift, so
weit sie von dem Mailänder Forscher bis 1888 erhalten wurden, von
ihm gelbst ausführlich resumirt worden, und der in den ersten drei
Heften unserer Zeitschrift erschienenen Abhandlung wurden bekannt-
lich zwei Planigloben des Mars, von Schiaparelli gezeichnet, bei-
gefügt, welche inzwischen sehr vielfach reproduzirt worden sind.
Auch das Flammarionsche Werk giebt diese Karten, von den in
unserem Besitz befindlichen Steinen abgezogen, wieder, wie auch dort
der gröfste Theil der vorhin erwähnten Abhandlung Schiaparellis
in französischer Sprache reproduzirt wurde. Wir müssen deshalb,
um nicht in Wiederholungen zu verfallen, auf diese Abhandlung zu-
rückverweisen.
Die Anzahl der Beobachtungen des Planeten Mars wird nun
eine so bedeutende, dafs es nicht angezeigt erscheint, die damit ver-
knüpften Namen hier wieder zu geben; ich möchte nur, um die General-
karten, welche von dem Planeten gezeichnet worden sind, hier neben-
einander stellen und dadurch dem Leser selbst ein vergleichendes
Studium ermöglichen zu können, die Karten von Green (1877), Lohse
(1879), Dreyer (1879), Knobel (1884), Perrotin und Thollon (1886)
und Lohse (1883/84) anführen, denen schliefslich noch die, alle die
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Karte des Mars von Green aus dem Jahre 1877.
420
vorangehenden zu-
sammenfassende
Generalkarte von
Flammarion fol-
gen möge.
In dem zweiten
Theile seines
Buches stellt nun
Flammarion die
Resultate aus dem
Vorangegangenen
übersichtlich zu-
sammen. DasWerk
behandelt nicht nur
die Oberflächen-
beschafffenheit des
Planeten, welche ich
hier in den Vorder-
grund der Betrach-
tung stellte, son-
dern giebt im ersten
Kapitel des zweiten
Theiles die Zusam-
•
menstellung über
die Untersuchungen
der Bahn des Mars
und die über die
Neigung der Pla-
netenaxe.
Das zweite Kapitel
handelt von den
Dimensionen und
das dritte von der
Rotationsdauer des
Planeten; im vierten
kommt der Autor
ausführlich auf die
Geographie des
Mars zurück. Dieses
Kapitel beginnt fol-
gendermafsen :
421
„Alle in diesem Werke vereinigten Beobachtungen zeigen, dafs
die Weltkugel des Mars von dunklen und hellen Flecken bedeckt ist,
die eine feste Lage inne halten; hierüber besitzen wir seit zwei Jahr-
hunderten übereinstimmende Beobachtungen. Mars ist deshalb der
Karte dos Han von Lohte am dem Jahre 1879.
einzige Planet unseres Systems, dessen Geographie wir studiren
können; Venus, Jupiter und Saturn sind fortwährend durch Wolken
verhüllt, die anderen zeigen überhaupt nichts Bestimmtes.
Karte dei Mari tos Dreyer aal dem Jahre 1879
„Wenn man die Gebiete des Planeten im allgemeinen betrachtet,
so kann man sie in zwei Klassen eintheilen; die eine umfafst die
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422
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SUD
Karte des Mars von Lohse ans den Jahren 1883—1884.
hellen Gegenden, die gewöhnlich dunkelgelb oder orangefarben sind,
aber oft je nach der Lokalität schnell nach einander alle Nüancen
des Gelb bis zum hellsten Weifs oder andererseits vom Orangeroth bis
zu dem bräunlichen Dunkelroth stark gebrannter Ziegel oder besser
von altem Leder aufweisen. Die zweite Klasse ist die der dunklen
Gebiete oder der eigentlichen Flecken. Ihre Grundfarbe scheint eine
Kart« de» Man von Perrotin and Ttiollon au» dem Jahre 1886.
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Art von Eisengrau, etwas ins Grüne hinüberspielend, zu sein; sie
weist alle Abstufungen vom Schwarz bis zum Aschgrau auf. Ge-
wöhnlich sind die Gebiete der zweiten Klasse dunkler als die der
ersten, aber es kommt doch vor, dafs bei den Farbenveränderungen,
welchen gewisse Gebiete des Planeten unterworfen sind, die Flecken
der ersten Kategorie eine dunkelrothe Färbung annehmen, während
die der zweiten sich heller färben. Man kann also nicht sagen,
welches die helleren oder die dunkleren sind; mit einem Worte, es
handelt sich stets mehr um Farbenunterschiede als um Helligkeits-
verschiedenheiten. Uebrigens sind im allgemeinen, abgesehen von
gewissen Ausnahmefällen, die beiden Arten von Gebieten deutlich von
einander getrennt zu halten.
„Die säkulare Unveränderlichkeit der Marsflecken darf jedoch
nicht in so absolutem Sinne genommen werden wie die auf dem
Monde. Die fortgesetzte Beobachtung hat gezeigt, dafs verschiedene
Gegenden auf der Oberfläche des Planeten innerhalb gewisser Grenzen
ihre Färbung verändern und die Sonnenstrahlen verschieden intensiv
zurückwerfen. Ferner können die Umrisse der dunklen Flecken Ver-
schiebungen erleiden, die, im Vergleich zu den Dimensionen des Pla-
neten und dieser Flecken selbst, zwar recht gering genannt werden
müssen, die aber nichtsdestoweniger doch unzweifelhaft sind. Dann
ist ferner die Schärfe der Umrisse oft gröfser, oft geringer; manche
feinen Details sind zu gewissen Zeiten leichter sichtbar, als zu anderen,
abgesehen von dem Einflurs der äufseren Beobachtungsumstände.
Diese Details können relativ bedeutenden Veränderungen ihres Aus-
sehens unterliegen, die jedoch die Identität des Objektes selbst nicht
in Frage stellen. Endlich besitzt Mars eine Atmosphäre, in welcher
sich eine Gesamtheit von Vorgängen abspielt, die man aus Analogie-
gründen mit den ähnlichen Vorgängen auf der Erde meteorologisch
nennen mufs, wenngleioh sie von diesen wahrscheinlich doch sehr
verschieden sind.
„Diese Veränderungen verleihen dem Studium des Mars ein viel
gröfsercs Interesse, als wenn alles unveränderlich und fest auf seiner
Oberfläche wäre. So schreibt Schiaparelli hierüber: „„Dieser Planet
ist keine Wüste aus starren Felsen, er lebt. Die fortgesetzte Entwickelung
seines planetarischen Lebens dokumentirt sich in einem ganzen System
sehr komplizirter Transformationen, von denen einige eine Ausdehnung
annehmen, die grofs genug ist, um von den Bewohnern der Erde ge-
sehen zu werden. Da liegt eine ganze Welt von neuen Dingen vor
uns, die unsere Neugierde herausfordern und den Entdeckern eine
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426
Fülle von Arbeit an ihren Fernrohren fiir eine grofee Zahl von
Jahren bieten. Diese Phänomene sind in der That so verschieden-
artig, und sie weisen so viele Details auf, dafs man erst nach einer
langen Reihe ernster und ausgedehnter Studien erkennen wird, was
sich hier Regelmiifsiges wiederfindet. Dies ist das einzige Mittel, um
sichere und einigermafsen wahrscheinliche Schlufsfolgerungen über
die Ursachen dieser Veränderungen und die physische Konstitution des
Mars zu ziehen.““
„Man hat es sich nicht verhehlt, dafs solche Studien sehr grolsen
Schwierigkeiten begegnen, wenn sie exakt und vollständig sein sollen.
Einige dieser Veränderungen auf unserem Planeten Mars vollziehen
sich langsam, wie beispielsweise die periodische Vergröfserung und
Verkleinerung der leuchtenden polaren Schneegebiete. Die Phasen
dieser Veränderungen sind verhältnifsmiifsig leicht zu verfolgen, aber
es giebt noch Veränderungen anderer Art; die einen vollziehen sich
in wenigen Tagen, die anderen treten fast ganz plötzlich von einem
zum anderen Tage auf; so die räthselhafte Verdoppelung der Kanäle.
Es giebt dort auch Erscheinungen, deren Periode deutlich von der
jährlichen Cmlaufszeit des Planeten abhiingt.“
Flammarion geht nun im Folgenden zu Rathschlägen für die
Beobachtung des Mars über. Das fünfte Kapitel behandelt dann die
Atmosphäre des Mars, seine Meteorologie und Klimatologie und die
Bedingungen des Lebens auf demselben. Flammarion kommt dabei
zu dem Schlüsse: „Das Klima und die Lebensbedingungen auf dem
Planeten Mars scheinen gegenüber denen auf der Erde so geringe Ver-
schiedenheiten aufzuweisen, dafs lebende Wesen, die von den uns be-
kannten nicht allzu verschieden sind, dort leben könnten.“ Das
nächste, sechste Kapitel behandelt die Jahreszeiten auf dem Planeten und
stellt alle betreffenden Beobachtungen der Veränderungen der polaren
Schneegebiete, sowie die wichtigeren theoretischen Untersuchungen,
welche in dieser Hinsicht ausgeführt worden sind, und von denen
wir auch in diesen Blättern gelegentlich gesprochen haben, zusammen.
(Fortsetzung folgt )
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Die Entstehung der Welt nach den Ansichten von
Kant bis auf die Gegenwart
Von F. K. (Kitzel, Astronom am Recbeninstitute der Königl. Sternwarte zu Berlin.
(Fortsetzung. )
SIII. Die Sonne.
ie Sonne ist nach den Kan t-Lap laceschen Vorstellungen, wie
in den früheren beiden Aufsätzen dargelegt worden ist, der
eigentliche Urkörper, aus welchem das Sonnensystem hervor-
ging. Sie bildet das Zentrum des ursprünglichen Nebular-Eliipsoides,
dem die Planeten und Monde ihr Dasein verdanken. Aus den Nebel-
massen um den Mittelpunkt bildete sich durch Verdichtung allmählich
ein leuchtender Zentralkörper, die Sonne. Demgemäfs ist für Laplace
die Soune ein Körper, der im Uranfange jenen hellen, aus einem Kerne
und einer Nebelhülle zusammengesetzten Gebilden des Himmels ähnelte,
welche uns das Fernrohr zu Tausenden in den Tiefen der Sternenweh
erkennen läfst. In der Weise, wie dort durch Kondensirung die Kern-
nebel in Nebelsterne, d. h. in feste leuchtende Gestirne mit umfang-
reicher gasiger Atmosphäre, übergehen, hat sich auch durch Konden-
sirung aus dem Nebular-Ellipsoide die Sonne gebildet. Kant stellt
sich vor, dafs an der Formirung des Sonnenballes vornehmlich die
weniger dichten Partikel des ehemaligen, unser Sonnensystem erfüllen-
den Urstoffes theil genommen haben. Der dichtere, schwere Stoff sei
hauptsächlich, da nur dieser zum völligen periodischen Umschwung
um das Zentrum gelangen konnte, zur Bildung der Planeten aufge-
braucht worden; die leichten, flüchtigen Theile, die am ehesten geeignet
sind, einen flammenden Körper zu bilden, seien auf den Zentralkörper
gestürzt Demnach ist die Sonne ein Gestirn, welches seine Leucht-
kraft durch diese feineren Stoffe erhalten habo und vielleicht auch jetzt
noch erhalte. Es vollzieht sich also auf der Sonne ein Verbrennungs-
prozeß in Gegenwart von Luft, wie auf der Erde, nur in außer-
ordentlich grofsartigein Mafsstabe und begleitet von heftigem Empor-
steigen und Herabstürzen der Verbrennuugsprodukte. Man sieht auf
der Sonne nach Kant „weite Feuerseen, die ihre Flammen gegen den
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Himmel erheben, rasende Stürme, welche über die Ufer hinweg die
höheren Gegenden mit Feuer überschwemmen, bald ausgebrannte
Felsen, die aus den flammenden Schlünden ihre fürchterlichen Spitzen
hervorstrecken, und deren Ueberschwemmung oder Entblöfsung vom
wallenden Feuer das abwechselnde Erscheinen und Verschwinden der
Sonnenflecken verursacht, dicke Dämpfe, die das Feuer ersticken,
feurige Regengüsse u. s. f.“.
Diese alten Ansichten über die Erhaltung der Sonne mögen
heute, wo wir mittelst der Errungenschaften des Spektroskops und des
Fernrohrs alle Aeufserungen der gewaltigen Sonnenthätigkeit klar zu
übersehen im stände sind, ein Lächeln hervorrufen. Die Vorstellungen
über die fortwährende Licht- und Wärmeentwickelung der Sonne,
über ihren Selbsterhaltungsprozefs, wenn man so sagen darf, haben
sich eben erst in den letzten dreifsig Jahren, in denen die Beobachtung
der Sonno ein besonderer Zweig der Astronomie geworden ist, klarer
gebildet. Dieser Selbsterhaltungsprozefs, nämlich auf welche Weise
der Sonnenkürper ununterbrochen sein Licht und seine Wärme erzeugt,
erscheint uns heute als eine wichtige Vorfrage nach dor Entstehung
der Sonne selbst; das Wesen dieses Prozesses mufs uns klar sein,
bevor wir den Rücksehlufs, wie die Sonne entstanden sein kann, daran
knüpfen dürfen.
Würde auf der Sonne ein Verbrennungsvorgang im Sinne Kants
stattfinden, so hätte, wie eine Rechnung zeigt, die Licht- und Wärme-
entwicklung der Sonne schon nach 3000 Jahren zu Ende sein müssen.
Die von ihr ausgestrahlte Wärme ist so grofs, dafs man auf jedem
Quadratfufs ihrer Oberfläche per Stunde 1500 Pfund Kohle verbrennen
müfste, um annähernd jenes Wärmequantum erzeugen zu können.
Besteht die Sonne aus Stoffen, aus denen unsere Erde zusammengesetzt
ist, so würde infolge der fortwährenden Ausstrahlung einer solchen
Wärme die Temperatur der Sonne jährlich um 4 bis 8 Grad sinken,
das heilst, in wenigen Jahrtausenden würde dio Sonne, wenn auf keine
Weise dieser Verlust kompensirt würde, ein völlig kalter, nicht mehr
lichtspendender Körper sein. Bei Anwendung der Hauptsätze der
mechanischen Wärmetheorie wird die fragliche Kompensirung des
Wärmeverlustes der Sonne alsbald verständlicher. Zunächst leiteten
folgende Betrachtungen den Arzt Robert Mayer auf eine Quelle jener
Kompensation; Fällt ein Körper aus bedeutender Höhe auf die Erde,
so geht die Bewegung, die der Körper beim Aufschlagen auf die Erde
scheinbar verliert, auf seine Moleküle über, und die Vibration der
letzteren ist Wärmebewegung, die Bewegung ist beim Stofse in Warme
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umgesetzt worden. Derselbe Vorgang wie bei der Wirkung der
Schwerkraft auf der Erde spielt sich in den Räumen des Universums
bei den Wirkungen der Gravitationskraft ab. Nähern sich vermöge
dieser Kraft einander zwei Massen mit wachsender Bewegung, und
stofsen sie aufeinander, so wird die Bewegung duroh den Stofs auf-
gehoben, aber gleichzeitig in Wärme umgesetzt, und zwar je nach dem
Aequivalentverhältnifs von Wärme zu mechanischer Arbeit in höherem
oder minderem Betrage. Es lag nun der Gedanke nahe, die Quelle
der Wärmekompcnsirung der Sonne in den Millionen von Meteoriten
zu suchen, welche im Sonnensysteme umhersohwärmen. Da die min-
deste Geschwindigkeit, mit welcher ein Körper auf die Sonne fallen
kann, 460 Kilometer in der Sekunde beträgt, so würdo ein solcher
stürzender Körper eine aufserordentlich hohe Temperatur erlangen
müssen, und es ist erklärlich, dafs tausende, fortwährend auf die Sonne
stürzende Meteoriten eine sehr ergiebige Quelle für Licht- und Wärme-
produktion abgeben könnten, zum Ersätze dessen, was dio Sonne all-
jährlich durch Ausstrahlung verliert. Obwohl das Hineinfallen von
Meteoriten in die Sonne annehmbar ist, ja möglicherweise jetzt noch
in reichem Mafse stattfindet, läfst sich die May ersehe Theorie nach
verschiedenen Einwendungen, die von W. Thomson und anderen
erhoben worden sind, nicht halten. Die Sonne trägt in sich selbst
schon Bedingungen, unter denen sie auf Millionen Jahre hinaus
Licht und Wärme liefern kann. Wenn ein Gasball sich abkühlt und
zusammenzieht, so wird er zugleich auch dichter, und durch die dabei
stattfindende Verdichtungsarbeit wird jedesmal Wärme erzeugt. Bei
der Sonne kennt man die jährlich ausgestrahlte Wärme, damit auch
den jährlichen Kraftbetrag, und kann einen Schlufs aus dem Aequivalent
gestrahlter Wärme machen, wie grofs die Zusamraenziehung sein müfste,
um jene Wärme wieder zu produziren. Helmholtz hat nun gezeigt,
dafs die Kontraktion (Zusammenziehung) der Sonne genügt, die durch
Strahlung verloren gegangene Wärme fast ganz zu ersetzen. Die
Sonne braucht sich zu diesem Ende nur jährlich um 70 Meter im
Durchmesser zusammenzuziehen oder in einem Jahrhundert etwa um
6 Kilometer kleiner zu werden. Vor 1000 Jahren würde also die
Sonne um 60 Kilometer gröfser gewesen sein, und wenn wir in die
Zeiten zurückgehen, wo die Gaskugel der Sonne so grofs war, wie
jetzt das ganze Sonnensystem, so erhalten wir die Zeit, welche die Sonne
bis zu ihrer gegenwärtigen Kontraktion gebraucht hat, immer voraus-
gesetzt, dafs jene Kontraktion in regelmäfsiger Weise erfolgt sei. Wir
werden also schliefslich auf einen Gasball von geringer Dichte zurückgt -
Himmel und Erde. 1893. V. 9. 29
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führt, der ungeheure Räume erfüllt, das heifst, wieder auf die Grundge-
danken der Nebularhypothese. — Im ersten Aufsatzeschon ist ein
Naturgesetz, das Gesetz der Erhaltung der Kraft, genannt worden; dieses
bestimmt, dafs der in der Natur vorhandene Kraftvorrath unveränder-
lich sei und weder vermehrt noch vermindert werden könne. Die
Formen der Erscheinungen, unter welchen dieser Kraftvorrath auftrilt,
wechseln, aber das Quantum, die Energie des Weltalls, bleibt unver-
änderlich. „Alle Veränderung in der Welt besteht im Wechsel der
Erscheinungsform der Energie. Hier erscheint ein Theil derselben
als lebendige Kraft bewegter Massen, dort als regelmäfsige Oscillation
in Licht und Schall, dann wieder als Wärme; bald erscheint die
Energie in Form von Schwere zweier gegen einander gravierender
Massen, bald als Spannung und Druck elastischer Körper, als che-
mische Anziehung, elektrische Ladung oder magnetische Verkeilung.
Schwindet sie in einer Form, so erscheint sie sicher in einer anderen.“
In eben dem aufgefiihrten frühem Aufsatze haben wir nach Helm-
holtz auseinandergesetzt, dafs der gröfste Theil der ehemaligen Energie
des Sonnensystems gegenwärtig in Wärme verwandelt ist, dafs aber
ein stetiger Verlust von Wärme für unser System stattfindet, indem
ein Theil der Wärme, welcher den Körpern des Sonnensystems nicht
zu gute kommt, in den unendlichen Weltraum gestrahlt wird; und
lerner wurde hervorgehoben, wie unter der Herrschaft des Gesetzes
von der Erhaltung der Kraft in unendlich dünnen Nebelmassen durch
den Zusammenstofs kleinster Theilchen Wärme erzeugt und der Im-
puls zur Bildung von Weltkörpern gegeben worden ist. Vermöge
jenes Gesetzes wird uns also auch die Vergangenheit uud die Zukunft
der Sonne verständlicher, wenn wir auf die Folgerungen aus der
Kontraktions-Theorie Rücksicht nehmen. Allerdings entbehren die
Schlüsse in Bezug auf die Beantwortung der Frage, was aus der
Sonno einst werden soll, noch sehr der Sicherheit, da beim weiteren
Zusninmenziehen der Sonne ein Fallen oder Steigen der Temperatur
sehr von der Konstitution des Innern der Sonne abhängt, und da
wir gegenwärtig noch im Zweifel darüber sind, ob wir schon zur An-
nahme eines sich dem festen nähernden Zustandes berechtigt sein
dürfen oder an der Vorstellung eines gasförmigen, oder glühend-
tlüfsigen Souneninnern festzuhalten haben, lin allgemeinen werden
wohl die Zustandsänderungen der Sonne, die sehr wahrscheinlich von
den flüssigen zu den festen fortschreiten, eine Abnahme der Wärme
herbeiführen. Man schätzt, dufe infolge von Kontraktion die Sonne in
etwa fünf Millionen Jahren die Hälfte ihres jetzigen Volumens eiu-
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nehmen und dann wohl auch bereits der Periode dos Uebergangs in
den festen Zustand nahe gerückt sein wird. Auf mehr als zehn Mil-
lionen Jahre hinaus dürfte die Wärme der Sonne kaum mehr dazu
ausreichen, um das, was wir auf Erden Leben nennen, zu erhalten.
Es wurde schon angedeutet, dafs von der Sonnenenergie nur ein
sehr kleiner Theil der Erde zu gute kommt; thatsäohlich ist es nur
der verschwindende Betrag von einem 225-Millionstel der Sonnenstrah-
lung, welcher von den Planeten unseres Systems in Anspruch genom-
men wird, der weitaus gröfsere Theil wird in den Weltraum hinaus-
gestrahlt und geht für uns wenigstens (nicht für das Weltall) verloren.
Diese Erscheinung im Haushalte der Natur, wo sonst eine weise Aus-
nützung aller Kraft geübt wird, ist auffällig. William Siemens hielt
eine so weitgehende Verschwendung der Energie ohne regelmäfsigen
Wiederersatz in der Natur für unmöglich und meinte, die Sonne möge
wohl auf irgend eine Weise im stände sein, aus sich selbst den
schliefslich zum Bankerott führenden Verlust zu decken. Die soge-
nannte Regenerativtheorie der Sonne ‘), die er zur Erklärung vorschlug,
stützt sich darauf, dafs im Weltenraume Wasserdampf und Kohlen-
stoffverbindungen in sehr dünnem Zustande Vorkommen. Wenn nun diese
Materien vermöge der rohrenden Wirkung der Sonne von den Sonnen-
polen aus nach dem Aequator getrieben werdet), und zwar in ununter-
brochenem Kreisläufe, so werden sie ihre eigene Energie in Rostalt
von Licht und Wärme abgeben, und indem sie vom Aequator in den
Raum fortgeschleudert werden, trennen sie sich als weiter nicht ver-
brennbare Stolle von der Sonne. Kohlensäure und Wasser können
aber, wie experimentell nachgewiesen werden kann, und wie wir auch
in der Natur wahrnehmen, durch die Sonnenstrahlen zerlegt werden.
Bei der Trennung der Theilchen erlangen diese wiederum neue Energie
und werden fähig, sich unter Licht- und Wiirmeproduktion zu ver-
einigen. Auf diese Weise, durch den Einsaugungs- und Fortschleu-
derungsvorgang auf der Sonne, die damit in Verbindung stehende
Zerlegung und Wiedervereinigung der Materie, arbeitet der Sonnen-
körper in stetem Kreisläufe, etwa wie ein Regenerativofen, und ver-
längert so die Erhaltung seiner Energie in fernste Zeiten. Siemens hat
seine Theorie vielen Einwendungen von Thomson, Morris, Huut,
Hirn, Archibald, Faye gegenüber, geschickt vertheidigt, ohne
freilich damit gewichtige Bedenken definitiv aus dem Felde geschlagen
zu haben.
*) William Siemens: Ueber dio Erhaltung der Sonneucnergie. Eino
Sammlung von Schriften und Diskussionen. lSSä.
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Bei der Darlegung der verschiedenen Ansichten über die Ent-
stehung und Forterhaltung der Sonne können die zum Theil sehr
merkwürdigen Ergebnisse nicht übergangen werden, zu denen Ritter
in seinen mathematisch-physikalischen Untersuchungen über die Kon-
stitution gasförmiger Weltkörper gelangt ist. Die Ritterschen Rech-
nungen fufsen auf der Betrachtung des Verhaltens einer Gaskugel,
die sich im indifferenten Gleichgewichtszustände befindet und dem
Mariotteschen Gesetze unterworfen ist. Irgend eine Atmosphäre
eines gasförmigen Weltkörpers befindet sich im „indifferenten Gleich-
gewichtszustände“, wenn die Temperatur darin mit zunehmender Höhe
nach demselben Gesetze abnimmt, nach welchem die Temperatur eines
aufsteigenden Gastheilchens abnehmen würde; nach jeder Störung
sucht sich jenes Gleichgewicht, welches als das normale eines Gases
betrachtet werden kann, wieder herzustellen, gleichviel, in welchem
Anfangszustand es sich befunden hat. Die Grundbedingungen, welche
die Ritterschen Untersuchungen verlangen, werden allerdings bei den
Weltkürpem nur ausnahmsweise erfüllt sein, und die darauf sich
gründenden Resultate unterliegen demgemäfs verschiedenen astrono-
mischen Bedenken; der rein wissenschaftliche Werth dieser Arbeiten
bleibt indessen unbestritten. Wir haben hier von den Resultaten nur
jene hervorzuheben, die auf dio Sonne Beziehung haben. In dieser
Hinsicht hat Ritter in seiner 19. Abhandlung darauf aufmerksam ge-
macht, dafs die Meteoriten als Erhalter der Sonnenwärme (wenn auoh
zugegeben werden mufs, dafe sie für den gegen wärtigen Sonnen-
zustand nicht zureichen) in entlegenen Zeiten eine weit wichtigere
Rolle gespielt haben können, als man bisher anzunehmen geneigt war.
Für frühere Epochen ist bei der Sonne ein gasförmiger Zustand und
die näherungsweise Giltigkeit des Mariotteschen Gesetzes wahr-
scheinlich. Die Wärme, die beim Eindringen von Meteoriten in die
Erdatmosphäre entwickelt wird, stellt sich, wie Ritt er mittelst der Theorie
des Stofses aus dem Grundprinzips der mechanischen Wärmetheorie dar-
hut, viel höher, als man mit Schiaparelli annimmt. Während nach
Letzterem bei einer Anfangsgeschwindigkeit von 72 Kilometern pro
Sekunde diese Wärmezunahme etwa 40000 Grad *'strägt, findet Ritter
bei derselben Geschwindigkeit der Meteoriten Ute enorme Temperatur
von 3 700 000 Grad, und bei der Annahme hyperbolischer Bahnlinien
würde man zu noch höheren Wärmegraden gelangen. Bei der Mög-
lichkeit solcher Temperaturen gewinnt dio Voraussetzung, dafs dio
Sonne ehemals, während ihrer Ausbildungszeit, durch an und für sich
vielleicht mäfsige Meteoritenschwärme doch eine sehr wesentliche Zu-
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fuhr an Wärme erhalten habe, wieder etwas Boden. Ritter hat ferner
(in seiner 2. Abhandlung) untersucht, welche Aenderungen die Tempe-
ratur und die Gröfse eines gasförmigen Weltkörpers erleiden, wenn
von aufsen her eine Wärmezuführung oder Wärmeentziehung statt-
findet. Er findet, dafs bei einem die Sonne umkreisenden Körper der
Zustand dieses Weltkörpers ein unveränderter bleiben würde, im Falle
er während jedes Umlaufs eben so viel Wärme von der Sonne em-
pfangt, als er selbst ausstrahlt; dafs seine Temperatur aber steigen
würde, wenn die Ausstrahlung zunimmt, und dafs eine Abkühlung
eintritt, wenn die ihm von der Sonne zukommende Wärme überwiegt.
Aus den Rechnungen in Verbindung mit gewissen von Tyndall er-
haltenen Resultaten würde das eigenthümliche Ergebnifs folgen, dafs
die von der Sonne jährlich der Erde zugesandte Wärmequantität
trotz des gegenwärtig fortschreitenden Wärmeverlustes der Sonne in
stetigem Zunehmen begriffen ist, und in Bezug auf die Sonne selbst,
immer die Hypothese des indifferenten Gleichgewichtszustandes voraus-
gesetzt, dafs die Wärme des Sonneninnern nicht ab- sondern vielmehr
zunimmt. Die von der Sonne bei ihrer Zusammenziehung erzeugte
Wärme würde keineswegs, wie wir früher haben annehmen müssen,
durch Strahlung verloren gehen, sondern nur 20 Prozent gingen ver-
loren, während 80 Prozent auf die Erhöhung der Sonnentemperatur
verwendet würden. Was die Kontraktion der Sonne selbst anlangt,
so berechnet Ritter, unter Festhaltung an der Auffassung der Sonne
als einer im indifferenten Gleichgewicht befindlichen Gaskugel, die
jährliche Zusammenziehung des Sonnenhalbmessers auf 92 Meter, und
die Temperatur des Sonneninnern, wenn die Sonne ganz aus reinem
Wasserstoff bestehend gedacht wird, auf 31 Millionen Grad Celsius.
Die weitere Verfolgung des Verhaltens einer in Kontraktion be-
findlichen Gaskugel, welche isoplerisch, d. h. deren Dichtigkeit durch-
aus als gleich grors gedacht wird, leitet Ritter auf zwei verschiedene
Bewegungen, die dabei auftreten und sich gegenseitig kompensiren,
nämlich Zusammenziehung und Ausdehnung, welche an und für sich
durch die Gravitationskraft und innere Wärme hervorgebracht werden
würden. Während der Expansion nimmt die innere Wärme ab, und
die Expansion erreicht ihr Maximum, wenn die Wärme den Bedin-
gungen des Gleichgewichts der Gaskugel entspricht. Die Expansion
setzt sich dann noch, langsamer werdend, fort, und wenn sie zum
Stillstand kommt, ist die innere Warme mittlerweilo zu klein geworden,
um der Gravitation das Gleichgewicht zu halten. Es tritt nun die
Kontraktion der Gaskugel ein, anfangs beschleunigt, später verzögert.
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und das Zusammenschrumpfeu hört auf, wenn ein Ueberschufs innerer
Wärme aufzutreten beginnt; darauf steigt die Expansion wieder, und
so fort. Es folgen also Expansionen und Kontraktionen in gewissen
Perioden aufeinander, und ein solcher gasförmiger Weltkörper befindet
sich grofse Zeiträume hindurch in einer Art puisirender Bewegung,
bestehend in periodisch wechselndem Anschwellen und Zusammen-
schrumpfen des ganzen Balles. Wenn man nun annimmt, dafs der
Urzustand des Sonnensystems, wie ihn die Kant- Laplacesche
Theorie verlangt, ein äufserst dünner bis zur Neptunbahn sich aus-
dehnender Gasball war, der seinerseits durch den Zusammenstofs
mehrerer Weltkörper entstand, so war in der Urzeit jener Gasball
infolge des Zusatnmenstofses mit einem großen Ueberschusse von innerer
Wärme ausgestattet. Der Gasball begann sich deshalb rasch auszu-
dehnen, die Expansion wuchs über die Grenze hinaus, bei welcher
die allmählich kleiner gewordene innere Wanne ausreichte, um der
Gravitation das Gleichgewicht zu halten. Es trat alsbald die schon
beschriebene Pulsation ein, und die Expansionen wechselten so lange
mit Kontraktionen ab, bis sie durch die fortwährend zunehmende Dichte
schließlich zum Stillstand kamen. So entstand nach Bitter die Sonne.
Die Periode der Pulsationsdauer (von einer Expansion zur anderen)
würde bei der Sonne, wenn sie anfänglich bis zur Neptunbahn gereicht
hat, mehr als 340 Jahre betragen haben. In seinen weiteren Unter-
suchungen versucht Ritter zu zeigen (10. Abhandlung), dafs im Welt-
räume in einem Sternhaufen, der kugelförmig ist, und dessen Sterne
alle eine gleich grofse Masse besitzen, zwei gegeneinander sich be-
wegende Körper oder kosmische Wolken schon eine beträchtliche Ge-
schwindigkeit erlangen können, bevor sie in den Bereich ihrer gegen-
seitigen Attraktion treten. Besitzen solche Wolken die entsprechende
Dichte, so kann selbst eine urprünglich geringe Anfangsgeschwindig-
keit hinreichen, um beim Zusammeustofse beider Schwärme ein Wiirme-
quantum zu erzeugen, das die ganze Masse alsbald in eine auf grofse
Entfernungen hin sich ausdehneude Gaskugel verwandeln würde.
Durch zwei solche mit einer mäfsigen Anfangsgeschwindigkeit gegen
einander sich bewegende Meteoritenschwärmo oder kosmische Staub-
wolken kann man sich also den ursprünglichen Gasball der Sonne ent-
standen denken. Sollten sich mehrere Kugeln, aus unendlicher Ent-
fernung kommend, durch Zusammenstoß vereinigt haben, so mußte
das Aneinanderprallen aller gleichzeitig erfolgt sein, was an und für
sich schon unwahrscheinlich ist. Einige durch größere Zeiträume
getrennte, also nach einander erfolgende Vereinigungen hätten nur
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einen kleinen öasball schaffen können, da hiebei zu viel Wärmt)
durch die Ausstrahlung verloren gehen mufste. Der Gasball der
Sonne würde, wenn ehemals nur '/^q der Verdiohtungswiirme verloren
gegangen ist, nicht bis zur Merkurbahn sich haben ausdehnen können.
— An die Expansions- und Kontraktionsvorgiinge des «'erdenden
Sonnenballes würden sich allmählich jone Thiitigkeitserscheinungen
gereiht haben, die wir gegenwärtig zum Theil an der Sonne, nämlich auf
deren Oberfläche, wahrnehmen. Ritter leitet diese Phänomene, noth-
wendiger Weise unter weiteren theoretischen Annahmen, aus seinen
früheren Voraussetzungen ab und kommt zu hypothetischen Ergebnissen
über das Wesen der Sonnenfleckeu und Fackeln, sowie der Erschei-
nungen der Sonnenphotosphäre überhaupt. (12-, 13., 14. und 15. Ab-
handlung.) Hiernach finden heftige Strömungen von der Oberfläche
nach innen und von dem als sehr dicht vorausgesetzten Innern nach
aufsen statt. Ileifse Massen steigen empor, während kalte versinken,
und je gröfser die Temperaturdifierenz dieser in fortwährender Be-
wegung befindlichen Massen ist, desto gröfseren Helligkeitsunterschied
zeigen die uns zur Sichtbarkeit gelangenden Strömungen; es erscheinen
auf der Oberflächo dunkle und helle Flecken, und die „Granulation“
der Sonne (die bekannten „Poren”, „Lichtkörner“) ist das allgemeine
Resultat jener Bewegung. Wenn sich während eines labilen Gleich-
gewichtszustandes eine Menge Substanz vereinigt, verdichtet und, nach-
dem sie eine beträchtlichere Dichte als die umgebenden Massen er-
langt hat, abgekühlt in das Innere stürzt und infolge der allmählich
sich vollziehenden Temperaturausgleichung in bedeutendere Tiefe ge-
langt, so wird uns diese Bewegung als gröfserer Sonnenfleck sichtbar.
Ueberwiegt beispielsweise die Dichte der sinkenden Masse jene der
Umgebung um das fünffache, so würde dort, wo die Temperatur der
sinkenden Theile 6000 Grad ist, die Temperatur ihrer Umgebung
30000 Grad betragen, wodurch sich die Helligkeitsunterschiede der
Fleckon gegen die angrenzenden Gebiete erklären. Der die Flecken
vielfach umgebende „Hof“ (Penumbra) würde als Projektion der nach
oben trichterförmig sich erweiternden äufseren Bewegungsfliiche des
hinunterstürzenden Stromes zu deuten sein, die radialen Streifen der
Penumbra als die an der Grenzfläche in den Trichter mit hinab-
gerissenen Theile der umgebenden photosphärischen Masse. Wio
Ritter wahrscheinlich zu machen sucht, wird durch die auf der
Sonne stattfindende Wärmeausstrahlung eine genügende Quantität von
verdichteter Substanz erzeugt, um für die beständig sinkenden Ströme
verdichteter Massen die erforderliche Massenzufuhr zu liefern. Dio
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l’rotuberanzen sind das Resultat gewisser theilweiser Temperaturaus-
gleichungen, die in irgend welchen beschränkten Theilen der Gas-
kugel stattfinden. Wenn bei hoher Temperatur und beträchtlicher
Dichte eine Wärmeübertragung auf die iiufseren Schichten hin erfolgt,
so geschieht diese Uebertragung im allgemeinen gleichraäfsig, indem
die ganze Kugel anschwillt; sind aber die Ursachen solcher Zustands-
änderung nur auf gewisse Theile im Innern der Kugel beschränkt, so
können sehr heftige partielle Anschwellungen eintreten, und Massen
von sehr hoher Temperatur können weit emporgetrieben werden.
Ritter findet, dafs die Photosphäre und die sich uns darbietenden
Erscheinungen sich sehr wohl aus den Zuständen einer idealen Gaskugel
erklären lassen, und dafs es nicht nöthig ist, in den Flecken, Fackeln
u. s. w. verschiedenartige Kondensationsprodukte zu sehen, wie es
die neueren Sonnentheorien zumeist thun. — Die Strömungen im
Innern der Sonne haben nach Ritter übrigens eine andere Erschei-
nung zum Gefolge, über deren Erklärung gegenwärtig noch recht ver-
schiedene Meinungen herrschen: die Strömungen sind nämlich an den
Polen dor Sonne, wo die bedeutendste Ausstrahlung herrscht, am
intensivsten, weshalb dort keine Sonnenflecken erscheinen können;
zugleich aber üben diese heftigen Bewegungen dort eine verzögernde
Wirkung auf die Rotationsbewegung der Oberflächenschicht, wodurch
die beobachtete Tliatsache erklärt wird, dafs die Rotationsgeschwindig-
koit in verschiedenen Breitegraden der Sonne verschieden und gegen
die Pole hin langsamer ist, überdies wahrscheinlich mit der Ver-
theilung und jeweiligen Zahl der Flecken in einem Zusammenhänge
steht. Auch Faye führt die Ursache der Verlangsamung der Sonnen-
rotation in den höheren Breiten auf Strömungen zurück, die vom
Innern aus die Photosphäre speisen. Nach ihm bewirkt die ver-
schieden schnello Rotation der Oberflächenschicht indessen im Innern
die Abplattung einzelner Schichten und abnorme Lagerungsverhältnisse
derselben, was schliefslich zu einer Ausgleichung und Umlagerung
führt und alsbald eine regelmäfsigere Rotation zuwege bringt Das
unaufhörliche Spiel der Strömungen regulirt nun wieder die Schichten
des Innern und erzeugt abermals oine Verlangsamung der Rotation.
Demgemäfs trägt die Umdrehungsgeschwindigkeit der Sonne einen
periodischen Charakter und steht mit der Periodizität der Flecken in
unmittelbarem Zusammenhänge. Die Epoche dieser wechselnden
Strömungen ist nach Faye für die Sonne und überhaupt für jeden
werdenden Stern die Zeit des Licht- und Wärmespendens, in weloher
die Existenz einer leuchtenden Photosphäre der Gestirne an das Vor-
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handensein jener Strömungen geknüpft ist. Sind Dichte- und Tempe-
raturveränderungen in hinreichendem Mafse eingetreten, so hören die
Strömungen allmählioh auf, die Epoche der Abkühlung ist erreicht,
und das Gestirn steht an der Schwelle der ersten geologischen Phase.2)
In den Grundannahmen mit den Ritt ersehen Hypothesen ver-
wandt, in der Ausführung aber sehr von denselben abweichend, ist
die schon im ersten Aufsatze in den Hauptzügen aufgoführte Kollisions-
theorie von Pater Braun. Nach derselben ist die Sonne, respektive
der ursprüngliche Gasball des Sonnensystems ebenfalls, wie bei Ritter,
das Resultat einiger Zusammenstöße von Weltkörpern. Erfolgten
mehrere Kollisionen in excentrischer Richtung, so entwickelte sich
aus ihnen eine Rotation des Hauptballes. Das thatsächüche Vor-
handensein einer in den verschiedenen Breitenzonen der Sonne
schnelleren oder langsameren Rotation führt Braun ganz auf die Ur-
sache solcher ehemaligen Vereinigungen von Körpern verschiedener
Geschwindigkeit zurück. Braun meint, dafs die obersten Schichten
der Sonnenoberfläche wesentlich schneller rotiren als die tiefer liegen-
den, dafs, während auf eine mittlere Rotation von 25 Tagen geschlossen
werden darf, die der inneren Sonne vielleicht doppelt so groß sein
könne, und dafs wahrscheinlich allmählich eine Ausgleichung der Ver-
schiedenheit der inneren und äußeren Rotation zu stände kommen
werde. Das Produkt der kosmischen Zusammenstöße war ein Gas-
ball von hoher, von außen nach innen steigender Temperatur, der
sich in stabilem Gleichgewicht befand. Da die äußeren Gasschichten
einer starken Ausstrahlung unterlagen, und eine jähe Unterbrechung
der Temperatur statthatte, senkten sich erkaltete Schichten in das
Innere, stießen auf solche von größerer Dichte, und andere, viel
heißere stiegen aufwärts. Solchen Vorgängen war die ganze Sonne
mit ihren Gashüllen lange Zeit unterworfen, am intensivsten die Photo-
sphäre. weniger die darüber liegenden schweren Metalldampfschichten.
Bei fortwährend steigender Temperatur stellten sich die konstanten
Strömungen ein, von denen auch Ritter und Faye sprechen. Sie bilden
gegenwärtig immer noch die ..Granulation“ der Sonnenoberfläche, und
3) In neuerer Zeit hat Wilsing die Periodizität der Sonnenflecken durch
Gleichgewichtsstörungen zu erklären versucht; es treten im Sonncninnem bei
der Zusammenziehung der Sonne Massenverschiebungen ein, die periodisch
wieder ausgeglichen werden. Die Sonnenrolation ist der Rest einer ursprüng-
lichen Strömung. Der innere Kern rotirt wahrscheinlich regelmäfsig, in der
Hülle aber wechseln die Geschwindigkeiten; die bedeutende Reibung zwischen
Hülle und Kern suche die Verschiedenheit der Rotation auszugleichen; eino
völlige Gleichförmigkeit sei vor 2 Mill. Jahren nicht zu erwarten.
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zwar die aufsleigenden die hellen, die niederstürzenden die dunklen
Punkto des „Netzwerkes“ der Photosphäro. Bei einer Temperatur von
wahrscheinlich 60 000 Grad und enormem Druck gelangten die abge-
kühlten Massen bis zur Photosphäre nicht mehr als Gase, sondern
als Kondensationsprodukte von Kohlenstoff, Bor, Silicium. Die Metall-
dämpfe bildeten und bilden noch jetzt dichte Schichten, über denen
sich das leichte Wasserstoffgas lagert. Letzteres Gas befindet sich
fortwährend in heftigster Bewegung; es ist gewissermafsen der Leiter,
durch welchen die Wärme- und Lichtabgabe nach aufsen hin erfolgt.
Die Metalldämpfe können nicht selten bis in die Wasserstoffutmosphäre
hinein geschleudert werden, wodurch Theile derselben auf eine fast
doppelt hohe Temperatur erhitzt werden können und grofse Wasser-
stoff-Protuberanzen aufsteigen. Eine sehr wesentliche Rolle spielt bei
diesen Eruptionen der starke Auftrieb der Gase. Die Metalldampf-
Protuberanzen entspringen bedeutenden Tiefen und überbieten infolge
des in diesen Tiefen herrschenden enormen Druckes an Schnelligkeit
die Wasserstofferuptionen. Sie steigen bis zu aufserordentlicher Höhe,
erhalten hier eine energische Abkühlung und sinken langsam ab-
wärts, wobei sie die Photosphäre durchbrechen: es entstehen Sonnen-
flecken. Die Flecken halten sich, bis keine Metalldämpfe mehr über
die Photosphäre sich erheben. Die nachdrängende Photosphäre füllt
den Raum aus, indem sie bisweilen zahlreiche kleine Wellenberge,
die Fackeln, bildet. Haben sich unter der Photosphäre sehr umfang-
reiche überhitzte Schichten gebildet, so entstehen Hebungen der Photo-
sphäre, gröfsere Fackeln, die nach oben drängen und eine heftige
Eruption vorbereiten. In dieser Weise setzt sich gegenwärtig die
Ausbildung der Sonne fort. Ihre Temperatur nimmt, da sie das Maxi-
mum der Verdichtung noch nicht erreicht hat, immer noch zu. Braun
berechnet, dafs die Strahlung der Sonne in der gleichen Intensität
wie bisher noch 6 bis 8 Millionen Jahre anhalten dürfte. Gleichwohl
ist eine zunehmende Vermehrung der Kondensationsprodukte, ein
Fortschreiten zur Erstarrungs- und Krustenbildungsepoche sehr wahr-
scheinlich und dann ein schliefsliches Erlöschen der Sonne unver-
meidlich. Die Sonne würde darauf Revolutionen und geologische
Epochen durchmachen müssen, wie einst unsere Erde. Die Planeten
des Systems würden inzwischen, da ihnen alle Wärme entzogen ist,
völlig vereisen. Gegen jede Möglichkeit, die Thätigkeit der Sonne
auf unbegrenzte Zeiten hinaus zu verlängern, wie die Siemenssche
Regenerativhypothese, oder gegen die Du Prelsche Ansicht, welche
aus dem Zusauimenstofse der erkalteten Planeten neue Körper und
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neue Weltsysteme im ewigen Kreisläufe entstehen läfst, verwahrt sich
Pater Braun sehr heftig. Sein „christlicher“ Standpunkt verlangt die
Aufhebung alles Bestehenden.
Wir konnten in unseren Auseinandersetzungen der zahlreichen,
über die Konstitution der Sonne aufgestellten Theorien nicht ausführ-
lich gedenken, sondern mufsten uns auf jene beschränken, welche
über die Kosmogonie der Sonne selbst Ueberblicke geben. Im all-
gemeinen dürfte die Kntstehung und Ausbildung der Sonne auch
derzeit noch mit den Kan t- Laplaceschen Annahmen, sofern man
nämlich die Entwicklung aus einem Oasballe voraussetzt und die ver-
alteten Seiten der Nebularhypothese nicht in Anrechnung bringt, ver-
einbar oder doch aus ihnen ableitbar sein. Die Ansichten über die
Vergangenheit und Zukunft der Sonne von Helmholtz, Newcomb,
Faye und die von Zöllner, welche allgemeiner gehalten sind und
die Entwicklung der Gestirne überhaupt treffen (und welche wir
später noch anführen werden), haben also gegenwärtig mit mehr oder
minderen Einschränkungen immer noch Giltigkeit. Nicht mehr in Be-
tracht zu ziehen sind jene Hypothesen, welche noch den Sonnenball
als festen dunklen Körper, umgeben von einer Lichtsphäre, ansehen,
wie beispielsweise jene von Friedrich Weifs (1860), welche das
Lichtmeer der Sonne aus transversalen Schwingungen des Weltäthers
entstehen läfst, die der Aether infolge der an der Sonnenoberlläche
herrschenden grofsen Schwere auszuführen genöthigt sei. —
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Berichtigung zu dem Artikel: „Ueber die Ringbildung als
Auflösungsprozeß“.
In meine auf Seite 333 ff. dieses Jahrgangs veröffentlichten Be-
trachtungen über die Ringbildung hat sich leider ein ziemlich wesent-
licher Irrthum oder doch eine sinnverwirrende Unklarheit einge-
schlichen. Das bloße Uebergewieht der Anziehungskraft des Haupt-
körpers über die des Satelliten genügt selbstverständlich noch nicht,
um einen freien Körper dem letzteren zu entführen, was aus meinen
Darlegungen leicht hervorgehen könnte. Die Thatsache, daß der
Satellit eine geschlossene Bahn um den Hauplkörper beschreibt, be-
weist ohne weiteres, daß der Schwerkraft die Zentrifugalkraft, wie es
überall im Planetensystem der 'Fall ist, genau die Wage hält: Der
ganze Satellit, also auch jeder freie Körper auf demselben, fällt
eben bereits um den nöthigen Betrag zum Hauptkörper hin. Man
wolle in dieser Hinsicht noch einmal lesen, was ich Seite 335 schrieb:
„Ein frei beweglicher Gegenstand auf der Oberfläche des neuen Mondes
muß sofort von ihm hinweg nach dem Jupiter hin fliegen, sobald
sich letzterer über den Horizont erhebt“. Hierdurch wurde,
wenn auch bedauerlicherweise rocht unklar, ausgedrückt, daß es sich
bei dieser Erscheinung nur um die Differenz der Anziehungskräfte
handeln konnte, welche der Hauptkörper auf den entferntesten und
auf den nächsten Punkt des Satelliten ausübt, also um eine Art von
Fluthanziehung. Denn da ich später immer nur von der Bildung
eines Ringes in der Entfernung des Satelliten spreche, habe ich doch
offenbar niemals ein eigentliches Fallen, ein Näherrücken der los-
gelösten Theile eintretend gedacht. Die angezogene Stelle zeigt
ferner, daß ich eine Rotationsbewegung des Trabanten um seine Axe
als vorhanden angenommen habe, welche von seiner Revolutionszeit
verschieden ist, weil nur in diesem Falle der Hauplkörper für den
Satelliten auf- und untergehen kann. Diese für einen so nahen Körper
nicht sehr wahrscheinliche Annahme komplizirt die Frage noch weiter,
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und es ist mir zweifellos zur Last zu legen, dafs ich dieselbe nicht
eingehend genug mathematisch prüfte. Dies ist nun inzwischen in
dankenswerther Weise von den Herren Professoren Schiaparelli
und Seeliger und von unserem Herrn Dr. Schwahn geschehen.
Diese Untersuchungen führten in naher Uebereinstimmung mit einander
zu dem Resultat, dafs ein Satellit, dessen Durchmesser im Vergleich
zu dem des Hauptkörpers klein, und dessen Dichte der des ersteren
gleich ist, die Möglichkeit, als solcher zu existiren, erst verliert, wenn
sein Abstand vom Hauptkörper kleiner ist als 2,1 Halbmesser des
letzteren. Da nun der neue Mond 2,7 Jupiter-Halbmesser vou ihm
absteht, ist die kritische Entfernung hier noch nicht erreicht; der
Mond wird also infolge der Schwerkraft allein sich nicht auf-
lösen können, obgleich er sich recht nahe an der Grenze möglicher
Stabilität befindet. Die Satumringe liegen dagegen innerhalb der an-
gegebenen Zone, und die in meinem Artikel hierüber gemachten
Schlufsfolgerungen bleiben also unberührt. Was aber die Auflösung
jener am betreffenden Orte angeführten Monde anbetrifTt, so inüfste
man dafür zu kleinen Anfangsgeschwindigkeiten seine Zuflucht nehmen,
welche bei der Losreifsung durch ungleiche Erwärmung, Expausions- oder
Explosionskraft, oder auch durch Störungen der übrigen Jupitermondo
hervorgerufen werden konnten. In der That, bewegt irgend eine noch
so geringe Kraft einen freien Körper auf der Oberfläche eines solchen
nahen Mondes in einer zur Bahnebene tangentialen Richtung fort, so
mufs, da das Theilchen nur eine sehr geringe Schwere gegen den
Satelliten hin besitzt, diese Bewegung vom Nebenkörper hinweg unter
gewissen Umständen beständig andauern, das heifst aber nichts anderes,
als solche Theilchen bilden einen Ring um den Hauptplaneten. Dieser
Prozefs aber wird, weit bevor der Satellit die vorhin angegebene
kritische Entfernung erreicht hat, beginnen.
Resumiren wir also noch einmal; Ein freier Körper auf dem in
meinem ersten Aufsatze genannten Satelliten hat zwar, wie dort an-
gegeben, unter den gemachten Voraussetzungen keine Sohwere gegen
den letzteren hin, verliest denselben aber doch nicht ohne weiteres,
wie es dort angenommen wurde; er mufs vielmehr, wenigstens so
lange sein Abstand vom Hauptplaneten noch gröfser ist als 2,1 Halb-
messer des letzteren, eine Anfangsgeschwindigkeit besitzen, welche
ihn von der Oberfläche hinwegtreibt Ist dagegen die Entfernung
kleiner, als soeben angegeben, so erfolgt die Zertrümmerung ohne
weiteres durch die Anziehungskraft des Hauptkörpers allein. Der
neue Jupitermond befindet sich nur wenig außerhalb jener Grenze.
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Hätte ich frühzeitig genug übersehen, (was wohl meine Pflicht
gewesen wäre) dafs diese Frage sich so komplizirt herausstellen würde,
so hätte ich den Artikel überhaupt nicht in unserer Zeitschrift er-
scheinen lassen dürfen, da wir ja Hypothetisches niemals zu bringen
pflegen, ehe es nicht das Urtheil der Fachkreise passirt hat. Nun
war allerdings leider nichts Anderes möglich, als noch einmal darauf
zurückzukommen.
l)r. M. Wilhelm Meyer.
Zur Frage nach der Rotationsdauer der Venus, die seit
Schiaparellis von uns im zweiten Bande (S. 634) besprochener
Veröffentlichung vom Jahre 1890 noch nicht wieder zur Ruhe ge-
kommen ist, hat Trouvelot im vorigen Jahre einen höchst beaehtens-
werthen Beitrag geliefert, und Wislicenus1) unterzog kürzlich sämt-
liche von Sc hi ap arolli, Perrotin, Terby, Löschardt, Niesten
und Trouvelot während der letzten drei Jahre über diesen Gegen-
stand bekannt gewordenen Untersuchungen'2) einer gründlichen, ver-
gleichenden Kritik, durch welche die sich vielfach widersprechenden
Ansichten der genannten Forscher eine wesentliche Klärung erfahren
dürften.
Wislicenus sieht zunächst mit Löschardt das Ilauptverdienst
der Schiaparellischen Arbeit in deren kritischem Theil, der mit
alten, eingewurzelten Irrthüinern definitiv aufräumt und die Frage
nach der Rotationsdauer der Venus von neuem in den Vordergrund
des Interesses stellt. Weniger glücklich erscheint Schiaparellis
Versuch, auf Grund eigener Beobachtungen in Verbindung mit einigen
gleichzeitigen und älteren Zeichnungen anderer Forscher die frag-
liche Rotalionsdauer neu zu bestimmen. Denn Wislicenus weist,
ebenso wie Löschardt es früher getlian, überzeugend nach, dafs
Schiaparellis Begründung der Annahme einer langsamen, mit der
Umlaufszeit des Planeten nahe übereinstimmenden Periode keine
zureichende ist.
Auch der Umstand, dafs Perrotin und Terby die Ansicht
Schiaparellis durch ihre Beobachtungen bestätigt gefunden zu haben
glauben, fällt nicht schwer ins Gewicht. Denn Perrotins Beob-
achtungen, die nach dessen eigenen Worten zum Zwecke einer solchen
1 ) Vierteljahrsschrift der Astrun. Gcsellsi h. 27. Jahrg. Heft 4.
-) Vgl. Himmel und Ki'de, II, S. 2i«0; III, 2S5f.
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Bestätigung unternommen worden sind, haben den Verdacht nicht
völliger Unbefangenheit gegen sich; aufserdem steht fest, daß Per-
rotin in kurzer Zeit Veränderungen im Aussehen der Venusscheibe
wahrgenommen, die er nur nicht für reell hält. Leider macht die zu
geringe Ausführlichkeit der Nizzaer Publikation eine erschöpfende
Bourtheilung der Behauptungen Perrotins unmöglich. — Terbys
Zeichnungen hat dagegen Wislicenus einer Ausmessung unterzogen,
auf Grund deren er durch Rechnung nachweisen konnte, dafs die-
selben besser mit einer fast genau 24 Stunden dauernden, als mit
einer 200-tägigen Rotationszeit in Uebereinstimmung zu bringen sind.
Von den Schiaparelli bekämpfenden Arbeiten ist die
Löschardtsche im wesentlichen eine negative Kritik, die durch
einige Zeichnungen der Venus erhärtet wird, ohne dafs aus letzteren
eine Rotationsperiode abgeleitet würde. Wislicenus weist auch an
diesen Zeichnungen durch sein vereinfachtes Rechnungs-Verfahren
naoh, dafs sie sehr wohl einer Periode von rund 24 Stunden ent-
sprechen. — Die Arbeit von Niesten leidet an demselben Fehler,
wie die Perrotins, sie bietet nicht hinreichendes Einzelmaterial zur
eigenen Prüfung der Folgerungen des Verfassers seitens des Lesers.
Vor allem erscheint hier auch die Anwendung der sicher falschen
de Vicoschon Periode von 23 h. 20 m. zur Reduktion der Beob-
achtungen als unzweckmäßig.
Trouvelots umfangreiche Studie besitzt nach Wislicenus
zweifellos unter allen oben erwähnten die größte Bedeutung in Bezug
auf die Entscheidung der vorliegenden Frage. Der Verfasser kommt da-
bei, ebenso wie Wislicenus, zu dem Schlüsse, dafs die Umdrehungszeit
der Venus nicht viel von 24 Stunden abweicht. — Im übrigen be-
richtet Trouvelot auch über merkwürdige, von ihm gemachte Wahr-
nehmungen bezüglich des wechselnden Aussehens der Lichtgrenze und
der Venushörner, durch die alte Beobachtungen von Schröter, Beer
und Madie r wieder zu Ehren kommen würden. Zeitweilig auftretende
glänzende Lichtpunkte nahe den Hörnern führen Trouvelot nämlich
zu der Sch röterschen Vermuthung hoher Eisberge in der Nähe der
Venuspole zurück, deren Spitzen über die wolkigen Schichten der
Venusatmosphäre hinausragen sollen. Auch bestätigt Trouvelot die
schon früher von anderen gemachte Wahrnehmung, dafs sich die un-
beleuchtete Venushälfte mitunter nicht lu ll, sondern im Gegentheil
dunkel gegen den umgebenden Ilimmelsgrund abhebe. F. Kbr.
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Meyers Konversations-Lexikon. 6. gänzlich neubearbeitete und vermehrte
Auflage. Heft 1—3. Leipzig und Wien, Bibi. Institut. 1893.
Auf koinem anderen Gebiete zeigen sich die segensreichen Wirkungen
der Konkurrenz so deutlich, wie auf dem der Konversationslexika, wo es sich
namentlich um den Wettkampf von Brockhaus und Meyer handelt Kaum
hat das erstgenannte Verlagsinstitut seine neueste Auflage begonnen, die das
altbewährte Brockhausscho Lexikon namentlich hinsichtlich des Reichthums
an Bildern, jenem so verführerischen Anziehungsmittel aller Bücher, dem hierin
vorausgeeilten „Meyer“ nachbringen sollte, da erscheint auch letzterer nach
nur dreijähriger Pause mit einer neuen, fünften Auflage, welche gerade in dem
beregten Punkte alles bisher Dageweseno wieder weit übertrifft. Wohl mögen
viele die Illustrationen als entbehrliches Flitter-Beiwerk geringschätzen ; für
die naturwissenschaftlichen Fächer — und von deren Gesichtspunkt aus können
wir hier das Werk nur beurtheilen — sind sie fast ebenso wichtig, wie die
Gediegenheit des Textes. Einige Zahlen mögen nun eine Anschauung davon
geben, welcher Fortschritt in dieser Beziehung mit der vorliegenden, fünften
Auflage in Aussicht steht. Dieselbe wird etwa 10 000 Textabbildungen (gegen
bisher 3600), sowie 950 Tafeln (gegen 550 der vierten Auflage) enthalten, der
Illustrationsschatz wird sonach reichlich verdoppelt sein. Für einige Facher
sei noch die Zahl der Tafeln, im Vergleich mit den (eingeklammerten) für
die vorige Auflage geltenden angeführt: Völkerkunde 32(8), Zoologie 165(95),
Botanik 105 (47), Mineralogie 40 (30), Technologie 90 (44) u. s. w\ In den
ersten drei Heften finden sich z. B. folgende vortreffliche, neue naturwissen-
schaftliche Tafeln: Farbendrucke: Arktische Fauna, Apfelsorten, Geologie der
Alpen, Aequatorial- Afrika (1:13 000 000), Goschichte Amerikas; Holzschnitte:
Antilopen, Ahorne.
In gleich durchgreifender Weise ist aber auch der Text revidirt, vervoll-
ständigt und neu bearbeitet worden. Vergleicht man z. B. den Artikel „Afrika“
der neuen Auflage mit dem der vorigen, so zeigt sich derselbe so gut wie voll-
ständig neu gestaltet. Der Mitarbeiter hat sich da nicht auf blofse Hinzufügung
neuer Forschungsergebnisse beschränkt, sondern hat andererseits die Darstellung
vielfach in übersichtlichere Form gebracht und übet flüssigo Detailangaben mit
gutem Geschick derart gekürzt, dafs das für den eigenartigen Kontinent Cha-
rakteristische noch schärfer horvortritt.
Nach alledem können wir jedem Interessenten nur rathen, bei etwaiger
Anschaffung des Moy ersehen Loxikons die neue Auflage zu wählen, wenn auch
deren Vollendung einige Jahre in Anspruch nehmen wird. F. Kbr.
Verlag von Hermann Paetel ln lierlin. — Druck von Wilhelm Gronau“« Buchdrucker©! in Berlin.
Für die Kedaction verantwortlich: Dr, M. Wilhelm ilejrer ln Berlin.
Unberechtigter Nachdruck au« dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Uebersotsungsrecht Vorbehalten.
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Ueber den Diamant.
Von I)r. W. Lnzi in Leipzig.
c\ ■> ( Schlu fs.)
X Vv'uch im elektrischen Bogenlichte hat man den Diamant auf sein
c Verhalten geprüft. Es hat sich dabei im allgemeinen folgendes
ergeben. Wird er zwischen die in Kohlestifte endenden Pole einer
äufserst kräftigen galvanischen Batterie gebracht, so glüht er mit einem
Lichte, das die Augen nicht zu ertragen im stände sind, er bläht sich
auf, zertheilt sich und ist nach dem Erkalten in eine metallglänzende
graue Masse umgewandelt, welche dem Koks aus gewissen fetten Stein-
kohlen gleicht. Im speziellen beobachteten Jacquelain, dafs er da-
bei koksartig wird, Despretz, dafs er im elektrischen Flamtnenbogen
zu kleinen Kügelchen schmilzt und sich in Graphit verwandelt (d. i.
wohl sicher Graphitit) und Gassiot, dafs er sich darin um das acht-
bis zehnfache seines ursprünglichen Volumens aufbläht, dabei glas-
artig, weifs, undurchsichtig und auch manchmal kohlearlig wird.
Ist also, wie wir sahen, der Diamant auf trocknom Wege, beim
Erhitzen unter Zutritt von Sauerstoff oder Luft, nicht allzu schwer
verbrennlich, so gelingt es auch auf nassem Wege, ihn in Kohlensäure
zu verwandeln. Wird or im pulverisirten Zustande mit chromsaurem
Kalium und Schwefelsäure auf circa 180 — 230 °C. erhitzt, so wird er durch
den von diesem Oxydationsgemische abgegebenen Sauerstoff vollständig
verbrannt. Auch noch in anderer Beziehung verdient er seinon Namen
„Diamant-*, welcher von äoauct;, unbezwingbar, abgeloitet ist, nicht. Die
Hülfsmittel der modernen Chemie haben dem „Unbezwingbaren, Ewigen"
seinen alten Nimbus genommen und gezeigt, dafs seine Substanz auf
verschiedene Weise angreifbar und umwandelbar ist. So stellte neuer-
dings W. Luzi fest, dafs es sogar eine Art Auflösungsmittel für den
Diamant giebt. Luzi fand nämlich, dafs das Gestoin, in welchem sich
Himmel und Erde. IfcKö. V. 10. 30
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in Südafrika die Diamanten finden, der berühmte sog. -blue ground“,
die Fähigkeit besitzt, im geschmolzenen Zustande den Diamant mag-
matisch zu resorbiren, d. h. zu verzehren. Die Versuche wurden in
folgender Weise angestellt. Das Oestein wurde in einem Four-
quignon-Leclercqschen Gebläseofen bei der höchst erreichbaren
Temperatur, circa 1770° C., eingoschmolzen. Sodann wurde der mit
vollkommen glatten (natürlichen) Flächen versehene Diamant in das-
selbe tief eingebracht, der Tiegel wieder vorschlosson und ungefähr 20
bis 30 Minuten stärkste Hitze gegeben. Wurde dann nach dom Er-
kalten der Diamant aus dem erstarrten Gestein hcrausgenommen, so
war derselbe auf seiner Oberfläche mit unregelmäfsig — bis länglich —
runden, oft auch halbkugelförmigen Narben oder Höhlungen von ver-
schiedener Gröfse bedeckt Einmal war ein Diamantkrystall auf einer
Seite so tief angefressen, dafs die Höhlung bis fast zur entgegen-
gesetzten Fläche reichte, d. h. dafs der Diamant fast durchlöchert war;
der Krystall hatte das Aussehen eines hohlen Zahnes bekommen.
Solche magmatisch korrodirten Krystalle gleichen in Bezug auf die
Korrosionserscheinungen magmatisch resorbirten Hornblenden, wie sie
sich so häufig in Basalten finden. — Es ist die Kenntnifs der That-
saohe, dafs der Diamant durch einen SilikatschmelzHufs von der Zu-
sammensetzung des blue ground resorbirt wird, wohl geeignet Ver-
muthungen über die Art und Weise seiner Entstehung zuzulassen.
Dafs man im Stande ist, mit Diamant Eisen zu kohlen und so in
Stahl zu verwandeln, wurde, wie bereits angeführt, schon am Ende des
vorigen Jahrhunderts von Guy ton do Morveau gezeigt Genauer
wurde dieser Vorgang 1885 von W. Hempel untersucht, welcher da-
bei das interessante Resultat feststellte, dafs Diamantpulver schon bei
einer beträchtlich niedrigeren Temperatur in das Eisen übergeht und
sich in demselben als amorphe Kohle auflöst. Während letztere erst
zwischen 1385 und 1420 0 C. anfängt, das Eisen zu kohlen, thut dies
der Diamant schon bei 1160 0 C. — Also auch hier tritt wieder eine
mindere Beständigkeit desselben gegenüber den anderen Kohlenstoff-
modifikationen zu Tage.
Hempel weist nun auf die Analogie hin, welche zwischen dem
angeführten Verhalten des Diamanten und amorphen Kohlenstoffes
einerseits und den Eigenschaften der entsprechenden Phosphormodi-
fikationen, dem farblosen und dem amorphen Phosphor andererseits,
besteht Der farblose Phosphor ist löslich in Schwefelkohlenstoff, der
amorphe nicht, der farblose Kohlenstoff des Diamants löst sich im Eisen
bei 1 160 0 C., der amorphe nicht Der amorphe Phosphor geht bei
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einer bestimmten Erhitzung in den farblosen über, der amorphe Kohlen-
stoff wird duroh Erhitzen auf 1400 0 C. löslich in Eisen, er zeigt also
dann Eigenschaften des weifsen Kohlenstoffes. — Auch Platin vermag
Diamant aufzunehmen. Schrötter stellte z. B. folgenden Versuch
an. Ein Diamant wurde in ein dünnes Platinblech eingewickelt und
sodann, in Magnesiapulver eto. luftdicht verpaokt, dem Starkbrande
des Porzellanofens ausgesetzt. Beim Oeffnen des Tiegels zeigte sich,
dafs der Diamant an seiner Oberfläche duroh eine rufsähnliche Masse
leicht geschwärzt und auch im Innern von schwarzen Streifen durch-
zogen war. Das Platin war zu einem Tropfen zusammengesohmolzen
und hatte, wie die Untersuchung ergab, Kohlenstoff aufgenommen,
während der Diamant an Gewicht verloren hatte. Was die Einwirkung
noch anderer Kcagentien auf Diamant anbotrifft, so ist darüber folgendes
anzuführen. Schwefeldampf greift den Diamant bei 1000° C. an (in-
dem sich Schwefelkohlenstoff bildet). Wird Diamant in gosohmolzenes
kohlensaures Kalium resp. Natrium, welches auf eine hohe Temperatur
erhitzt ist, eingetragen, so wird er schnell aufgezehrt, wobei er Kohlen-
oxyd liefert
Die im Vorstehenden angeführten Experimentaluntersuchungen
über das Verhalten des Diamanten waren die wichtigen und uns hier
am meisten interessirenden, da aus ihnen jedenfalls einmal Schlüsse
über die Entstehung desselben auf unserer Erde gezogen werden können.
Andere Arbeiten, welche dies wohl nicht ermöglichen, wie solche über
krystallographische und optische Eigenschaften etc., müssen wir — als
fernerstehend — übergehen. Auch von den geologischen Verhältnissen,
unter denen der Diamant auftritt, kann hier aus Mangel an Raum ausführ-
licher nioht gesprochen werden. Es sei darüber nur kurz folgendes be-
merkt. Die tellurischen Diamanten treten in verschiedenen Trümmerge-
steinen auf, so dafs man ihr eigentliches Muttergestein, d. h. dasjenige, in
welchem sie entstanden sind, noch nicht kennt. Sie finden sich in
Betten von Flüssen, im angeschwemmten Lande, in Sanden, Kiesen,
Seifen, Gerollen, in Sandsteinen und Glimmerquarziten sowie in Breccien
und Tuffen.2) Alle diese Gesteine sind, wie schon gesagt, sog. klas-
tische oder Trümmergesteine, d. h. ein Material, welches erst infolge
J) Unter Breccien versteht man Felsarten, welche aus eckigen, nicht ab-
gerollten und abgerundeten Bruchstücken von Mineralien oder Gesteinen, die
durch irgend ein Bindomittel zusammengehalten werden, bestehen; Tuffo sind
Gesteine, deren Material in Form von vulkanischen Auswurfsprodukten (als Asche,
I.apUli etc.) durch Eruptionen geliefert, oft noch durch Wasser zusammenge-
schwemmt, geschichtet und zum Theil stark zersetzt wurde.
30’
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Zerstörung anderer Felsarten entstanden ist. Es ist begreiflich, daß
eben der Umstand, dafs die Diamanten immer in klastischem Gesteins-
materiale auftreten, die Beantwortung der Frage nach dem Wo und
Wie ihrer Entstehung außerordentlich erschwert. Findet man den
Diamant z. B. in einer Kiesablagerung, nun, so ist anzunehmen, dafs
er darin nicht entstanden, sondern bei doren Absatz durch die Ge-
wässer mit hineingeschwemmt worden ist. Aber woher, aus welchen
Gesteinen stammt er denn nun eigentlich?
Es sind besonders die Untersuchungen, welche über die (im
Jahre 1867 entdeckten) Diamautlagorstätten in Südafrika angestellt
wurden, die darauf hindeuten, dafs das ursprüngliche Auftreten der
Diamanten an plutonischo Erscheinungen geknüpft ist. Für eine
künftige Klarstellung der Genesis des Diamanten in der Natur sind
ohne Zweifel als bisher am bedeutungsvollsten die Untersuchungen
zu betrachten, welche E. Cohen über die südafrikanischen Diamant-
lagerstätten angestellt hat. Dieser Forscher konstatirte folgendes.
Die Diamanten finden sich in den River Diggins, d. h. zusammen mit
den Gerollen der Flüsse und in den Dry Diggins. Diese letzteren
sind kraterförmige Löcher, welche senkrecht in die Tiefe gehen. Sie
sind mit einem Gesteine ausgefüllt, welches mau als einen um ge-
wandelten Tuff eines in der Tiefe vorhandenen Eruptiv-
gesteines anzusehen hat. Diese senkrechten Kanüle sind also wirk-
liche Krater. Aufser dem Tuffe enthalten dieselben auch Bruch-
stücke des Nebengesteins. (Das Nebengestein, also das Gestein, welches
von den Kanälen durchsetzt wird, besteht aus Schiefern, Sandsteinen
sowie einem Eruptivgestein, nämlich Lagern von Diabas.) Die Dia-
manten kommen nur in dem Tuffe vor. Ebenfalls zu der Auffassung,
dafs die Diamanten in Südafrika in einem durch vulkanische Thätigkeit
entstandenen Gesteine sitzen, leiten folgendo Angaben von Wink lohn er.
Die Felsart, in der die Diamanten sich befinden, bildet Gangmassen,
welche die triasische Karooformation durchsetzen. Die dieselben ent-
haltenden Kanäle sind oben trichterförmig erweitert, und die ersteren
ragen wie flache Hügel über das Nebengestein hinaus. Ihrer Zu-
sammensetzung nach sind diese Gänge bildenden Gesteine eine Ser-
pentinbreccie, welche jedoch viele Bruchstücke anderer Gesteine ent-
hält. Sie ist in der Nähe der Oberfläche infolge Verwitterung gelb-
braun, in grüfeeren Tiefen, also im frischeren Zustande, aber blaugrün
gefärbt. Diese tieferen Parthieen der diamantführenden Breccie sind
der berühmte „blue ground“. Es ist von großem Interesse, dafs sich
in diesem Gesteine aufser unverletzten Diamantkry stallen auch Bruch-
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stücke von solchen finden und zwar manchmal von einer Gröfse, dafs
man schließen mufs, dafs einzelne der ursprünglichen, ganzen Kri-
stalle bis 600 Karat (1 Karat = circa 206 mgr) schwer gewesen sind.
Wahrscheinlich hat man es hier mit zerdrückten, zerquetschten Dia-
mantkrystallen zu thun; der Akt der Zerdrückung, der ja die Ein-
wirkung einer gewaltigen Kraft voraussetzt, dürfte beim Emporbrechen
des Eruptivgesteines stattgefunden haben.
Weiter ist noch zu erwähnen, dafs mikroskopische Untersuchungen,
welche C. Lewis mit dem südafrikanischen diamantführenden Serpentin-
gestein vornahm, ebenfalls zu dem Resultate führten, dasselbe sei ein —
duroh Verwitterung umgewandeltes — Eruptivgestein. Der eben ge-
nannte Forscher macht nun darauf aufmerksam, dafs meist da, wo
Diamanten gefunden werden, auch Serpentin in der Nähe ist, so aufser
in Südafrika auf Borneo, in Neusüdwales, im Ural, in Nord-Carolina
und Nord-Kalifornien. Aus diesem Grunde ist nach Lewis wohl an-
zunehmen, dafs das wirkliche Muttergestein der Diamanten der Erde
Serpentin ist, welcher durch Umwandlung eruptiver Peridotito (das
sind vorwaltend aus Olivin bestehende Gesteine) entstand. Auch nach
Untersuchungen, welche von Knop angestellt wurden, ist das Mutter-
gestein der in den Diamantfeldern von Jagersfontein in Südafrika vor-
kommenden Diamanten ein Serpentintuff.
Dafs die Entstehung des Diamanten in irgend einer Weise mit
plutonischen Erscheinungen, mit Vorgängen, welche sich bei höheren
Temperaturen und hohen Drucken in den tieferen Schichten der Erde
abspielten, verknüpft ist, darauf deutet auch das in letzter Zeit kon-
statirte Vorkommen dieses Minerals in Meteoriten hin. Dieselben
mufs man als Bruchstücke grofser Himmelskörper ansehen, wobei es
wahrscheinlich ist, dafs die meisten derselben aus den tieferen
Schichten der betreffenden kosmischen Gebilde herrühren, da diese ja
den Haupttheil der Gesamtmasse ausmachten.
Es war schon seit längerer Zeit bekannt, dafs in meteorischen
Massen manchmal Graphit auftritt. So beobachtete Haidinger in
dem Meteoriten von Arva in Ungarn Graphit und zwar eigenthüm-
licher Weise in regulären Krystallformen, während doch dieses Mineral
eigentlich hexagonal ist. Auch die Meteoriten von Youndegin (West-
australien) und Cosby Creek enthielten, wie Fletcher fand, reguläre,
aus Graphit bestehende Krystalle. Fletoher glaubte, dafs dieser
Graphit gewissermafsen eine besondere Modifikation der gewöhnlichen,
hexagonal krystallisirenden darstelle, und nannte ihn „Cliftonit“. Nach
einer älteren, zuerst von Gustav Roso ausgesprochenen Anschauung
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hat man es jedoch hier mit Afterkrystallen, mit Pseudomorphosen von
Graphit nach Diamant zu thun, d. h. also, es soll sich hier um eine
Umwandlung von Diamantkrystallen in Graphitkohlenstoff handeln. In
der Abhandlung, welche letzterer Forscher 1872 in der Akademie der
Wissenschaften zu Berlin verlas, und welche die vorn beschriebenen
Versuche über das Verhalten des Diamanten beim Erhitzen zum Gegen-
stände hat, findet sich der Passus:
„Diese Form (nämlich die Krystallgestalt der Graphitpseudomor-
phosen) ist aber eine nicht ungewöhnliche beim Diamant, und so könnte
es wohl sein, dafs die Pseudomorphosen in dem Meteoreisen von Arva
aus Diamant entstanden sind; eine Hypothese, die Wahrscheinlichkeit
haben würde, wenn man in den Meteoriten schon Diamanten gefunden
hätte, was nicht der Fall ist“
Nun, Diamanten hat man jetzt in Meteoriten auch gefunden, sogar
in eben diesem von Arva haben neuere, von Brezina und Wein-
sohenk augestellte Untersuchungen das Vorkommen wirklichen Dia-
mantkohlenstoffes bewiesen. Weiter fand man in dem am 4. September
1 880 bei Nova Urei in Rufsland gefallenen Meteoriten, welcher vorwiegend
aus Nickeleisen und Magnesiasilikaten (darunter viel Olivin) besteht,
ungefähr ein Prozent eines feinen schwarzen Staubes von der Härte
und der chemischen Zusammensetzung des Diamanten. In Arizona,
bei Canon Diablo, entdeckte man 1891 eine grofso Anzahl meteorischer
Eisenmassen, zahlreiche Trümmer einer oder mehrerer Meteoriten.
Ein Bruchstück, welches durchschnitten wurde, wies im Innern einen
Hohlraum auf, in dem sich neben schwarzer, körnig-pulveriger Kohle
und einem Eisenkarburet kleine, schwarze Diamanten fanden, die
Korund mit gröfster Leichtigkeit ritzten. Durch Behandeln des Eisen-
karburetes (d. i. eine Verbindung von Eisen und Kohlenstoff) mit Säure
wurde auch ein farbloser Diamantkrystall zu Tage gebracht. Wie
Friedei in der am 9. Dezember 1892 abgehaltenen Sitzung der societe
chimique de Paris mittheilte, hat auch er in einem Meteoreisen von
Arizona Diamanten in Form kleiner schwarzer, Korund ritzender Körner
nachgewiesen. Dieselben hinterblieben als unlöslicher Rückstand bei
der Behandlung des Meteoriten mit einer Säure. Dafs man es wirklich
mit Kohlenstoff zu thun hatte, also die chemische Natur der Körner,
wurde durch Verbrennon derselben im Sauerstoffstrome ermittelt.
Schiiefslich liegt auch noch eine Untersuchung von Moissan vor,
welcher in dem (übrigens nicht homogenen, sondern aus verschiedenen
Mineralien zusammengesetzten) Meteoriten von Canon Diablo aufser
schwarzem Diamant, einer „braunen Kohle“ und Graphit, durchsichtigen
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Diamant fand. Nach einer Angabe von Friedei sind die Partikelchen
dieser durchsichtigen meteorischen Diamanten allerdings nur von
mikroskopischer Kleinheit.
Der als Experimentalgeologe allgemein bekannte französische Ge-
lehrte Daubree hat nun den Versuch gemacht, darzulegen, dafs zwischen
dem Auftreten des Diamanten in Meteoriten einerseits und der Art
des Vorkommens dieses Minerals in den vorhin besprochenen süd-
afrikanischen Fundstätten andererseits Analogien bestehen.
Auch Daubree glaubt, dafs das Muttergestein der in Südafrika ver-
kommenden Diamanten, jene an Magnesiasilikaten reiche Gesteinsbreccie,
eruptiver Natur sei. Die Begleiter des Diamanten in derselben sind die
Mineralien Granat, Glimmer, Diopsid,Enstatit,Wollastonit, Diallag, Zirkon,
Ilmenit, Chromit, Rutil, Korund, Apatit; ferner Fragmente von Gesteinen,
nämlich von Granit, Peginatit und Schiefer. Dafs der Diamant nicht
da, wo er sich jetzt findet, also in der Breccie, entstanden sein kann,
beweist das (vorhin erörterte) Vorkommen von einzelnen Krystall-
bruchstücken desselben. Daubree ist der Ansicht, dafs der Diamant
zusammen mit der ihn bergenden Eruptivbreccie dem Erdinnern ent-
stamme. Dem letzteren aber dürfte eine den Meteoriten — zum Theil
wenigstens — analoge Zusammensetzung zukommen. Der diamant-
führende Meteorit von Novo Urei besteht, wie schon angegeben, vor-
wiegend aus Nickeleisen und Olivin, sowie anderen Magnesiasilikaten;
der Meteorit von Arva enthält Enstatit, Augit, Tridymit, Nickeleisen,
Graphit und Diamant3). Wie nun der in unserer Erdrinde sonst so
verbreitete Olivin ein fast unzertrennlicher Begleiter des meteorischen
Nickeleisens ist, so nähert wiederum die Gegenwart des Diamanten in
den Meteoriten diese kosmischen Vorkommnisse mit Bezug auf Zu-
sammensetzung den terrestrischen Diamantlagern. Ein weiteres Glied
in der Kette dieser Analogieen bilden die von A. Nordenskiöld auf-
gefundenen tellurischen Nickeleisenmassen von Ovifak auf der Insel
Disko (Grönland). Dieselben linden sich, von Graphit begleitet, in
einem Dolerit, also in einor im wesentlichen aus triklinem Feldspath,
Augit, Olivin und Magnetit bestehenden eruptiven Felsart (Basalt-
varietät) eingeschlossen, die aufserdem Olivinknollen, Korund und
Spinell enthält. Der Graphit in diesem Eruptivgestein beweist nach
Daubröe das Vorkommen von Kohlenstoff im Erdinnern. (Es ist
allerdings nach manchen Mineralogen noch nicht vollständig gewifs,
■') Es sei bemerkt, dafs ganz neuerdings Moissan angiebt, auch in der
südafrikanischen Breccie Graphit gefunden zu haben.
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ob die erwähnten Xiekeleisenmassen wirklich irdisohes, durch den
Basalt aus der Tiefe mit emporgerissenes oder vielleicht auch erst aus
dem geschmolzenen Basalt ausgeschiedenes Eisen repräsentiren, oder
ob dieselben nicht vielleicht — was allerdings unwahrscheinlicher
ist — von einem während der Eruption des feurig-flüssigen Gesteins-
magmas hineingestiirzten Meteoritenschwarm herrühren.) Wenn man
nun weiter einerseits die Seltenheit der Diamant enthaltenden Ab-
lagerungen auf der Erdoberfläche, andererseits die relative Häufigkeit
desselben in den nur zufällig von uns gefundenen, aus den Himmels-
räumen niederfallenden Weltkörpertheilohen, deren Masse im Vergleich
zu der unserer Erde so überaus gering ist, berücksichtigt, so wird
man nach Daubree’s Ansicht zu dem Schlüsse hingeleitet, dafs auch
die inneren Theile unseres Planeten dieses geheimnifsvolle Mineral in
grofser Menge bergen müssen. Die Eruptivkanäle Südafrikas, welche,
obwohl im horizontalen Durchschnitt kaum 30 ha Flächenraum ein-
nehmend, so viele Millionen von Diamanlkrystallen heraufgebracht
haben, würden dann den Reichthum ahnen lassen, welcher uns wohl
stets verborgen und unzugänglich bleiben wird. —
So wären wir denn an das Gebiet der Hypothesen über die Ent-
stehung des Diamanten herangetreten, um einen Augenblick bei ihnen zu
verweilen. Dieselben können nur eine kurze Betrachtung rechtfortigen,
denn keine darf als befriedigend gelten. Sie sind zum gröfsten Theile
ohne Berücksichtigung der neueren Feststellungen über das Verhalten
und das Auftreten des Diamanten aufgestcllt. Es liegt dies daran, dafs
die meisten dieser Anschauungen nicht erst in jüngster Zeit ent-
standen sind.
Manche Forscher neigen sich der Ansicht zu, dem Diamanten einen
organischen Ursprung zu geben; so betrachtete vor allem Justus Lie-
big den Diamant als das Endprodukt einer kohligen Vermoderung or-
ganischer Substanzen. Dieselbe müfste allerdings unter ganz besonde-
ren, uns gänzlich unbekannten Bedingungen erfolgt sein. Es ist als fest-
stehend zu betrachten, dafs der Graphit das wirkliche Endprodukt des
Verkohlungsprozesses ist — der sichere Beweis dafür, dafs in der
Natur schön krystallisirter Graphit aus Kohlen resp. kohligen Sub-
stanzen entstanden ist (und zwar unter dem Einflüsse der Kontakt-
metamorphose), wurde 1891 von R. Beck und W. Luzi erbracht — ;
dafs aber jener Prozefs mit der Hervorbring-ung des Diamanten endigte,
dafür hat man auch nicht das allergeringste Anzeichen. Göppert
folgerte aus sandkornähnlichen Eindrücken, die sich an Diamanten
dann und wann finden, derselbe müsse ursprünglich weich gewesen
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sein, und ferner glaubte dieser Forscher aus manchen vereinzelt auf-
tretenden „algenartigen“ Einschlüssen den vegetabilischen Ursprung
dieses Minerals erwiesen zu haben. Göppert spricht sich in einer 1868
erschienenen Abhandlung klar dahin aus, dafs von ihm die „Bildung
des Diamanten auf nassem Wege, aus Zersetzungs- Prozessen anorga-
nischer und organischer Stoffe“ nachgewiesen sei. Der Diamant soll
sich anfänglich in einem weichen amorphen Zustande befunden haben.
Aus dieser Bildungsepoohe stamme der Ursprung der von Brewster
und von Göppert selbst beobachteten Spalten und Blasen, ferner die
sandkornähnlichen Hohldriicke auf der Oberfläche einiger Diamanten,
sowie die negativen Krystallformen oder Eindrücke auf anderen Dia-
mantkrystallen. Weiter führt Göppert als Beweis für die ursprüng-
liche Weichheit der Diamanten von ihm nachgewiesene „Diamant-
drusenbildung“ an; die unklare Beschreibung derselben verhindert
aber, zu erkennen, was eigentlich darunter zu verstehen ist. Aus
dem amorphen Zustande soll sich dann der Diamant allmählich er-
härtend krystallinisch abgesondert haben. Bei der Abscheidung der
weichen Diamantmasse konnten nun, wie Göppert meint, sehr leicht
Pflanzenreste verschiedener Art in dieselbe hineingerathen und später
von den inzwischen gebildeten Krystallen eingeschlossen werden.
So soll einst in die Diamanten pflanzliches Gewebe, welches jetzt
noch in denselben vorhanden und nachzu weisen sei, hineingelangt
sein. In einem Diamantkrystall fand Göppert z. B. eine sehr grofse
Zahl von exakt runden , gleichmäfsig grüngefärbten Körnchen von
0,0135 mm Gröfse, in einem andern ebenfalls grüne, weniger rund-
liche Körnchen, die oft kettenartig aneinander hingen eto. Er bezeichnet
diese Bildungen als „Algenformen“ resp. „niederen Algen verwandte
Formen“ und meint, dafs, wenn auch nicht überall der bestimmte Ab-
schlufs der Form so entschieden hervortrete, man sich darüber bei der
unendlich weichen Struktur dieser mikroskopischen Pflänzchen gar
nicht wundern dürfe. Beistehende, aus der diesbezüglichen Abhand-
lung von Göppert entnommene Abbildung (Fig. 3) giebt eine solche
von ihm im Diamant beobachtete „Algenform“ (bei 300facher Ver-
gröfserung) wieder.
Nach dem heutigen Stande unserer Kenntnisse über den Diamant
ist die Göppert sehe Deutung dieser Einschlüsse als organische Ge-
bilde eine irrthümliche zu nennen. Grüngefärbte Einschlüsse oder
Partieen sind in Diamanten öfters wahrgenommen. So beobachtete
Luzi in einem aus Brasilien stammenden Krystalle griingefärbte
Stellen, welche sich bei starker Vergröfserung als nicht weiter auf-
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lösbare, grüne, wolkige Partieen ohne irgend eine bestimmte Form
oder Umgrenzung erwiesen. Die übrigen Argumente, welche Göppert
für den ehemals weichen und amorphen Zustand des Diamanten und
für die Bildung desselben auf nassem Wege beibringt, sind ebenfalls
nicht beweisend, da die diesbezüglichen Erscheinungen auch anders
gedeutet werden können.
Eine der eben erläuterten ganz entgegengesetzte Ansicht über
die Entstehung des Diamanten hat Göbel ausgesprochen. Derselbe
glaubt, dafs bei hohen Temperaturen Alkalimetalle auf kohlensaure
Salze eingewirkt und diese reduzirt haben, wobei Diamantkohlenstoff
ausgeschieden worden sei. Diese Hypothese hat auch nicht die Spur von
Fig. 3.
Wahrscheinlichkeit für sich. Erstens ist die Annahme des Vorhanden-
seins freier Alkalimetalle in der Natur gänzlioh unzulässig und zweitens
wissen wir, dafs, wenn man diese Metalle mit kohlensauren Salzen
in Reaktion bringt, aus letzteren gewöhnlicher schwarzer amorpher
Kohlenstoff ausgeschieden wird. Nach der Annahme von Favre ist
der Diamant aus Chlorverbindungen des Kohlenstoffes reduzirt worden;
Rossi und Chancourtois glauben, dafs er aus Kohlenwasserstoffen
durch einen langsamen Oxydationzprozefs entstand, bei welchem sich
der Wasserstoff und ein Theil des Kohlenstoffes oxydirten, während
der übrige Kohlenstoff als Diamant krystallisirte. Simmler spraoh
die Vermuthung aus, er möge durch Krystallisation des Kohlenstoffes
aus seiner Lösung in flüssiger Kohlensäure sich gebildet haben, ohne
aber nachzuweisen, ob der Kohlenstoff überhaupt in flüssiger Kohlen-
säure löslich ist. Nach Griff iths soll der Diamant aus einer Lösung
in überhitztem VTasser unter hohem Drucke entstanden sein. Nun ist
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aber gerade der Kohlenstoff ein in Wasser vollkommen unlöslicher
Körper, und es liegt auch kein Anzeichen vor, dafs er in überhitztem
Wasser irgendwie löslich sei. R. Smit glaubt, dafs die in dem süd-
afrikanischen Diamantgestein vorhandenen Diamanten während oder
nach dessen Eruption unter der Einwirkung hoher Temperatur und
starken Druckes aus organischer Substanz entstanden sind. Nach
A. Knop kann sich der Diamant vielleicht auf folgende Weise ge-
bildet haben. Es wirkt im Innern der Erde Wasser auf kohlenstoff-
haltiges Eisen ein, wobei Eisenoxydul und Kohlenwasserstoffe ent-
stehen. Die letzteren können dann vielleicht Zersetzung in der Weise
erleiden, dafs sich dabei Kohlenstoff in Form von Diamant abscheidet
Der französische Mineraloge Friedei ist (oder war wenigstens
noch vor einigen Jahren) der Ansioht, dafs der Diamant sioh nioht bei
sehr hohen Temperaturen gebildet haben kann. Er fand nämlich, dafs
die vorhin erwähnten grüngefärbten Partieen, welche man zuweilen in
brasilianischen Diamanten beobachtet, bei der Temperatur des siedenden
Cadmiums braun werden, und kam daher zu dem Schlüsse, dafs die-
selben bei einer Temperatur entstanden sein müssen, welche unterhalb
der des siedenden Cadmiums (d. i. unterhalb 772° C.) liegt. Dem ist
aber zu entgegnen, dafs die grüne Materie sich ja auch erst nach
längst erfolgter Abkühlung der bei irgend einer hohen Temperatur
entstandenen Diamanten in denselben gebildet haben (oder vielleicht
auch in dieselben hineingelangt sein) kann, und dafs ferner nicht
ausgeschlossen sein dürfte, dafs die infolge Erhitzens der Diamanten
über 772° C. braun gewordenen Partieen im Laufe gröfserer Zeit-
räume — durch Oxydation oder Wasseraufnahme — wieder ihre
grüne Farbe annehmen. — Uebrigens ist jüngst auf künstlichem Wege
Diamantkohlenstoff, wie wir gleich sehen werden, gerade mit Hülfe
sehr hoher Temperatur hergestellt worden.
Es sind nun auch zahlreiche Versuche gemacht worden und
werden jetzt noch gemacht, den Diamanten künstlich herzustelleu.
Die in unseren Tagen dieses Problem bearbeitenden Forscher haben
ihre Bemühungen allerdings meist geheim gehalten. Verfasser hat
aber von mehreren Mineralogen erfahren, dafs sie sich mit Experi-
menten zur Diamantherstellung befassen.
Oft ist es vorgekommen, dafs dieser oder jener behauptete, den
Diamanten wirklich hergestellt zu haben; indessen hat es sich hinterher
in der Regel bald herausgestellt, dafs die betreffende Angabe auf
Irrthum beruhte. So wurde von Lionnet mitgetheilt, dafs er Kohlen-
stoff in Form von Diamant erhalten habe, als er Schwefelkohlenstoff
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dadurch zersetzte, dafs er ihn mit einem spiralförmig mit Zinnfolie
umwickelten Platinblech zusammenbrachte. Auf andere Weise wollte
Despretz künstliche diamantartige Krystalle von Kohlenstoff hergestellt
haben. Im luftleeren Raume wurde zwischen einem aus reiner Zucker-
kohle gefertigten Zylinder und einem Büschel aus Platindrähten etwa
30 Tage lang ein durch einen Induktionsstrora hervorgebrachter elek-
trischer Lichtbogen unterhalten. Darnach zeigte sich an den Platin-
drähten ein Absatz von Kohle, welcher unter dem Mikroskop stellen-
weise krystalline Beschaffenheit wie durchscheinende Oktaederfrag-
mente erkennen liefs. Künstliche Diamanten, welche Mactear her-
gestellt haben wollte, zeigten sich, wie bald darauf von N. St. Mas-
kelyno nachgewiesen wurde, als aus irgend welchen Silikaten be-
stehend. Schliefsüch möge die sich jetzt noch in Lehrbüchern herum-
treibende Angabe von J. B. Hannay erwähnt werden. Derselbe
wollte durch Einwirkung gewisser Metalle, besonders von Magnesium,
auf Kohlenwasserstoffe bei Gegenwart beständiger Stickstoffverbindun-
gen in der Rotbgluth und unter hohem Drucke Kohlenstoff in Form
von Diamant sicher erhalten haben. Indessen lag auch hier ein Irr-
thum vor. Einer der besten Kenner der synthetischen Mineralogie,
Bourgeois, schreibt in seinem mehrere Jahre später erschienenen
Werke „Reproduction artificielle des minöraux“ über diesen Gegen-
stand: „Nous citons ici cette espeoe (nämlich den Diamant) seulement
pour mömoire; eile n'a jamais etö reproduite merae ä l’ötat submicro-
scopique et les conditions de sa formation sont absolument inconnues.
Nous n'aurons donc ä enregistrer que des essais infructueux.“ „Tout
recemment M. M. Mactear et Hannay ont annonce, dans les Comptes
rendus de l’Academie des Sciences, avoir obtenu des produits cristallins
identiques au diamant en döcomposant des substances organiques en
vase clos ä haute tempörature; l’examen ultörieur n’a pas confirme les
previsions de ces experimentateurs.1-
Ganz neuerdings ist nun die Nachricht aus Paris gekommen,
dafs es in der That gelungen sei, den Diamant künstlich herzustellen,
und zwar beschreibt Moissan in den Comptes rendus hebdomadaires
des söances de l’academie des Sciences vom 6. Februar dieses Jahres
eine Darstellung von Diamant-Kohlenstoff.
Das Prinzip der Methode ist, Eisen bei sehr hohen Temperaturen
(bis 3000°) mit Kohle zu sättigen und hierauf die Erkaltung unter
Druck vor sich gehen zu lassen. Zur Erzeugung desselben benutzte
Moissan die Ausdehnung, welche das Gufseisen beim Ueber-
gange aus dem flüssigen in den festen Zustand erfährt In einen
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Zylinder aus weichem Eisen, verschliersbnr durch einen Stopfen aus
demselben Materiale, wurde gereinigte Zuckerkohle stark eingeprefst.
Hierauf wurde der Zylinder in (bei sehr hohen Temperaturen in einem
von Moissan konstruirten elektrischen Ofen) geschmolzenes weiches
Eisen eingebracht und nun der das Ganze enthaltende Tiegel aus
dem Ofen entfernt und sofort in Wasser eingetaucht. Wenn sich, was
sehr schnell erfolgte, eine feste, noch rothglühende Umhiillungssohioht
gebildet hatte, brachte man das Eisen wieder aus dem Wasser heraus
und liefe es an der Luft völlig erkalten. Beim Lösen des Metalles in
siedender Salzsäure hinterblieb etwas Graphit, eine sehr dünne Par-
tikelchen bildende kastanienbraune Kohle und endlich eine geringe
Menge einer ziemlich dichten Kohle. Aus der letzteren liefeen sich
durch vielfaches Behandeln mit Königswasser, Schwefelsäure, Flufs-
säure, chlorsaurem Kali und konzentrirter Salpetersäure und schliefe-
licher Trennung vermittelst Bromoform einige sehr kleine, theils
schwarze, theils durchsichtige Fragmente mit den Eigenschaften des
Diamanten abscheiden. Um dem Leser einen Begriff von der ge-
ringen Gröfee dieser künstlich hergestellten Diamanten zu geben,
mögen beistehende, aus der M oissanschen Abhandlung entnommene
Abbildungen dienen. Fig. 4 stellt 200mal vergrüfeerte, schwarze Dia-
manten dar. Dieselben besitzen eine narbige Oberfläche und „une
teinte d’un noir gris“, welche mit derjenigen gewisser Carbonados
identisch ist; sie ritzen Rubin, und ihr spezifisches Gewicht schwankt
zwischen 3 und 3,5.
Fig. 5 stellt eins der erhaltenen lichtdurohlässigen Diamantfrag-
mente, 500 mal vergröfeert, dar. Dieselben scheinen zerbrochen und
weisen eine Anzahl paralleler Streifen auf; manchmal zeigen sie auch
.dreieckige" Eindrücke.
Bei den vielen Versuchen, die Moissan, dieser geniale Experi-
mentator, angestellt hat, entstand nun zwar immer eine sehr harte,
schwarze -Kohlevarietät" von annähernd dem spez. Gew. 3, aber dafs
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sich auch sehr kleine durchsichtige Krystallpartikelchen mit allen
Eigenschaften des Diamanten gebildet hatten, kam nur einige Mal vor.
— Es sind diese künstlichen, durch Auskrystallisiren aus Eisen ge-
wonnenen Diamanten in ihren Eigenschaften offenbar identisch mit
den Diamanten, welche man bislang in Meteoreisen fand. Die künst-
lichen, ebenso wie die meteorischen, sind fast stets schwarz und un-
durchsichtig, nur selten findet man einmal ein durchsichtiges Fragment;
ferner sind die Diamantpartikelchen in beiden Fällen sehr klein.
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Die physische Beschaffenheit des Planeten Mars nach
dem Zeugnifs seiner hervorragendsten Beobachter.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer.
C. (Fortsetzung.)
rl
c , In dem Kapitel über die Jahreszeiten werden sämtliche Beob-
, achtungen, welche über die Ausdehnung und Lage der weifseu
Polarflecke seit Herschel (1781) gemacht worden sind, sorgfältig
zusammengestellt.
Hier gelangt der Verfasser in Bezug auf die Jahreszeiten dos
Mars zu folgenden Schlüssen:
„Die Jahreszeiten des Mars sind ungefähr ebenso intensiv wie
die unsrigen, dagegen nahezu noch einmal so lang. Die wanne .Jahres-
zeit umfafst auf der nördlichen Halbkugel 381 Tage, auf der südlichen
hat die kalte Jahreszeit dieselbe Dauer. Auf der nördlichen Halb-
kugel dauert die kalte Jahreszeit 306 Tage, auf der südlichen hat die
heifse Jahreszeit dieselbe Länge. Jede Halbkugel erhält während
ihres Sommers 68 Hundertstel der gesamten jährlichen Wärmezufuhr,
im Winter 37 Hundertstel. Die Jahreszeiten der südlichen Halbkugel
sind also extremer als die der nördlichen.
„Die polaren Schneegebiete des Planeten verändern sich mit den
Jahreszeiten; sie erreichen ihr Maximum drei bis sechs Monate nach
dem Wintersolstiz jeder Halbkugel und schrumpfen auf ihr Minimum
zusammen ebenfalls drei bis sechs Monate nach dem Sommersolstiz.
Ebenso wie auf der Erde ist dies in den verschiedenen Jahren ver-
schieden. Auf beiden Halbkugeln scheint das polare Schneegebiet
im Winter einen Durohmesser von 45 — 50° zu erreichen und sich im
Sommer auf 4 — 5° zu reduzireu.
„ Au feer diesen polaren Eisfeldern sind gelegentliche Sohneefäile
auch in den temperirten Zonen und selbst am Aequator beobachtet
worden. Auf der nördlichen Halbkugel hat man (helle) spiralförmige
Banden, vom Pol ausgehend, gesehen, welche atmosphärische Strö-
mungen andeuten , die von der Rotationsbewegung des Mars beein-
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flutet werden. (Wir fügen eine Zeichnung dieser merkwürdigen
Streifenbildungen, von Schiaparelli herrührend, nebenstehend bei.)
„Die nördliche Polarkalotte scheint mit dem Pol konzentrisch zu
sein; die südliohe ist von ihrem Pol 6,4° = 340 km in der Richtung
des 30. Meridians entfernt. Zur Zeit ihres Minimums ist also der
Südpol völlig eisfrei, das Polarmeer ist offen.“
Flammarion kommt nun auf die veraltete Crollsche Theorie
von dem Einflufe der Exzentrizität der Hahn und von der Bewegung
der Apsidenlinien zurück und zeigt, dafe sie durch die Beobach-
tungen auf dem Mars nicht bestätigt wird. Er fährt dann fort:
„Die Winterkälte auf dem Südpol des Mars mute viel gröteer
sein als die entsprechende auf unserer Erde. Die Polarnacht ist fast
noch einmal so lang als die unsrige, sie dauert 338 Tage statt 182,
und die Luft ist dort zweifellos nur halb so dicht wie die unsrige;
dennoch ist wenige Monate nach dem Sommersolstiz aller Schnee ge-
schmolzen. Diese Erscheinung kann für den Südpol dadurch erklärt
werden, dafe ihn warme Meeresströmungen, unserem Golfstrom ver-
gleichbar, bespülen. Aber diese selbe Erklärung trifft für den Nordpol
nicht zu, weil er keine ausgedehnten Meere besitzt. Wir dürfen des-
halb wohl annehmen, dafe auf dem Mars weniger Wasser und weniger
Wasserdampf existirt als auf der Erde, also auch weniger Wolken
und geringere Schneefiille, so dafe die Dicke der Eissohicht viel
geringer ist als bei uns. Vielleicht auch ist der gegen den unsrigen
um das Doppelte längere Sommer leicht im stände, allen Schnee zu
schmcdzen. Für die Bildung des Schnees giebt es Grenzen, während
die Sonne beinahe ein ganzes terrestrisches Jahr hindurch über dem
Horizonte jedes Poles verweilt.
„Zusammenfassend ist zu wiederholen, dafe aus allen Beob-
achtungen die klimatologisohe Aehnlichkeit mit der Erde ins Auge
sprängt: Das Studium des Planeten Mars wirft dadurch ganz eigen-
thümliche Lichter auf die allgemeine Kenntnifö unseres eigenen
Planeten.“
Im siebenten Kapitel seines Werkes behandelt Flammarion
die schwierige Frage von den beobachteten Veränderungen auf der
Oberfläche des Mars. Er stellt zunächst eine Anzahl von Zeichnungen
neben einander, die zu gleicher Zeit von verschiedenen Beobachtern
an verschiedenen Orten ausgeführt worden sind. Zwei derselben,
beide von vortrefflichen Beobachtern, Secchi und Lockyer, her-
rührend, mögen' auch hier neben einander Platz finden. Sie zeigen, wie
vorsichtig man über die reello Natur der beobachteten Veränderungen
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Schlüsse ziehen mufs. Ks ist, wie Flammarion zusammenstellt, zu
berücksichtigen:
Weifte Streifes auf der nördlichen Halbkugel des Mars.
(Zeichnung von Schiaparolli aus den Jahren 1879 und 1881.)
1. Das Auge des Beobachters;
2. seine Beobachlungsart;
3. die richtige Deutung des von ihm Gezeichneten ;
4. die instrumentelle Verschiedenheit;
5. die atmosphärischen Bedingungen, die Stunde der Beob-
achtung;
6. die Veränderungen der Neigung des Mars;
7. die Atmosphäre des Mars.
Nichtsdestoweniger sind, wie auch schon oben angeführt, wirk-
liche Veränderungen unzweifelhaft konstatirt; so beispielsweise in
der Umgebung des Moeris-Sees, von welcher wir drei Zeichnungen
Himmel und Erde. 1893. V. 10. 31
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von 1864, 1879 und 1888 neben einander stellen, die erste von
Dawes, die beiden anderen von Schiaparelli. Die Umgebung
dieses Moeris-Sees hat Schiaparelli Libya getauft; derselbe hat
von den beobachteten Veränderungen dieser (legend in dem früher
angezogenen Artikel (Himmel und Erde, Hand I., Seite 11 u. ff.) ge-
sprochen. Unzweifelhafte Veränderungen sind auch in dem merk-
würdigen Sonnensee (Lacus Solis) gesehen worden, der ein ver-
hältnifsmäfsig auffallendes Objekt und sehr viel beobachtet worden ist,
so dafs seine, 1890 beobachtete Zweitheilung sicher vorher wahrge-
nommen worden wäre, wenn sie eben existirt hätte.
Marneichnuog v. Üecchi (19. Okt. 1S62). Mtrueichnung v. Lockyer(18. Oct 1961).
7 h 33 m Pariser Zeit. 8 h 9 m.
Flammarion giebt folgende Erklärung der Thatsache:
.Die einfachste Hypothese würde sein, sich vorzustellen, dafs
die Oberfläche des Mars eben und sandig sei, so dafs die Seen und
Kanäle keine eigentlichen Betten besitzen, sehr wenig tief sind und
deshalb, je nach den atmosphärischen Bedingungen, Regenschauern,
Fluthbewegungen der Meere, sich leicht zurückziehen, verbrei-
tern, aus ihren Ufern treten oder selbst ihren ganzen Lauf ändern
können. Die Atmosphäre kann dünn, die Verdunstung und Konden-
sation des Wassers leicht sein. Wir würden dann also Zeugen mehr
oder weniger ausgedehnter Ueberschwemmungen von wechselnder
Dauer seiu. So könnte man die Zweithoilung des Sonnensees beispiels-
weise einer Verminderung oder Verschiebung seines Niveaus zu-
schreiben; jene Trennungslinie wäre dann als eine Sandbank aufzu-
fassen, die aus dem Wasser emportaucht.
„Diese Erklärung trägt einem Theil der beobachteten Thatsachen
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Rechnung:, aber sie genügt nicht für den speziellen Charakter dieser
Erscheinungen, für die Verdoppelung.
„Es scheint nicht, dafs während dieser Zeit weniger Wasser vor-
handen ist, denn die Abflüsse des Sees werden zahlreicher, und der links
(vom Lacus Solis) befindliche Abllufs hat die Länge eines Meeresarms.
„Ist es eine Wasserbewegung wie die unserer Gezeiten? Dann
müfste sie periodisch sein, könnte nur Stunden dauern und nicht
ganze Jahreszeiten charakterisiren.
„Müssen wir nicht vielmehr annehmen, dafs die Sandbank sich
über die Wasserfläche erhoben hat, und dafs ganz im allgemeinen
die Wasserbewegungen auf Erhebungen des Erdbodens zurückzu-
führen sind?
„Diese Deutung ist wohl schwer zu acceptiren, zunächst, weil
solche geringe Stabilität des Erdbodens etwas ganz Aufsergewöhn-
1880
Xoeris-Soe vom Jahre 1864 (Dawes), vom Jahre 1879 und 1888 (Schiaparelli).
liches wäre, und dann, weil diese Aufblähungen des Bodens ja im all-
gemeinen geradlinig sein müfsten. Endlich tritt nach mehreren Jahren
derselbe Zustand wieder ein, wie man ihn vorher gesehen hat; und
dann erklären solche Wasserverschiebungen immer noch nicht die
Hauptsache, das Charakteristische für solche Veränderungen auf dem
Mars, eben die Tendenz der Verdoppelung.
„Wir müssen uns gestehen, dafs es aufserordentlich schwierig,
um nicht zu sagen unmöglich ist, diese Veränderungen durch Natur-
kräfte zu erklären, welche wir kennen. Aber es ist hier vielleicht
der Ort, zu betonen, dafs wir eben noch längst nicht alle Naturkräfte
kennen, und dafs diese selbst in unserer nächsten Nähe oft völlig
unbekannt bleiben. Die Bewohner der Tropen, welche im Winter
zum ersten Male nach Paris kommen, und die niemals Bäume ohne
Blätter, niemals Sohnee gesehen haben, sind verblüfft über unser
Klima. Es scheint ihnen zum äufsersten seltsam, festes Wasser in
ihren Händen halten zu können, sie wundern sich über die blendende
31*
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404
Weifse des Schnees, und sie zweifeln ganz gewifs daran, dafs diese
schwarzen Baumskelette nach wenigen Monaten mit einem reichen
Blätterschmucke bedeckt sein werden. Stellen wir uns einmal einen
Bewohner der Venus vor, der niemals Schnee gesehen hat; würde er
wohl, die Erde beobachtend, jemals verstehen können, was diese weifsen
Flecke bedeuten, die unsere Pole bedecken? Ganz gewifs nicht! Wir
Bewohner der Erde aber können dies beim Mars. Dagegen können
wir uns nicht erklären die Veränderungen der Uferlinien, die Wasser-
bewegungen, die geradlinigen Kanäle und ihre Verdoppelungen,
weil wir bei uns nichts Analoges kennen.“
Das letzte Kapitel des grofsen Werkes von Flammarion be-
handelt noch einmal im speziellen „die Kanäle, die Flüsse, das
geometrische Netz der Kontinente, die Wasserzirkulation.“ Er kommt
dabei zu folgenden Schlüssen:
„Die Dinge gehen dort so zu, als ob das Wasser nicht voll-
ständig flüssig und nicht durch die Schwere in unveränderlichen
Becken festgehalten würde, als ob vielmehr seine Moleküle getrennt
wären, eine Art von dunstiger, viscoser Flüssigkeit bildend, die,
schwerer als die Luft, anderen Kräften als der Schwere unterworfen
ist. Stellen wir uns einmal vor, dafs diese Moleküle zwar das Bestre-
ben, sich gegenseitig zu nähern, haben, aber gleichzeitig anderen Ein-
flüssen gehorchen müssen, wie zum Beispiel der Elektrizität, dem plane-
tarischen Magnetismus oder anderen unbekannten Kräften. Dieses
Wasser, das vielleicht inmitten der Meeresbecken flüssig ist, dagegen
an den Ufern und über den Untiefen, ebenso längs der Flüsse oder
Kanäle sich im Dampfzustände oder dem eines dichten Gases be-
findet, kann sich ausdehnen oder zusammenziehen, je nach den atmo-
sphärischen Bedingungen, seinem Wärme- oder Elektrizitätsgehalto,
ohne bestimmte Grenzen zu haben. Diese Züge von Dampfmassen
zeigen dann ein veränderliches Aussehen, veränderliche Breite und
Dichtigkeit. Wenn unter gewissen Bedingungen die Moleküle elek-
trisch werden, können sie sich abstofsen, wie sich die verschiedenen
Elektrizitäten trennen, und dadurch die beoachteten Verdoppelungen
zeigen. Diese Kanäle, diese Seen, diese Wasseransammlungen können
ihren Platz ändern, sie werden gewissermafsen zu dichten Nebeln,
welche leicht den auf sie wirkenden Kräften gehorchen: Dem Ein-
flufs der nahen Meere, der Feuchtigkeit des Bodens, dem hygrome-
trischen Zustande der Luft, der Temperatur, der Elektrizität u. s. w.
„Man mufs dann allerdings eine sehr ruhige Atmosphäre voraus-
setzen, und es scheint, dafs dies für den Mars zutriffl.
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„Eine solche Hypothese würde die Veränderungen des Aus-
sehens und der Farbe, die Verdoppelungen, das Verschwinden und
Wiedererscheinen mit den Jahreszeiten und alle die anderen un-
zähligen Veränderungen dos Aussehens erklären, für welche eine
Deutung bei Annahme eines dom unsrigen ganz gleichen Wassers
jedenfalls sehr schwierig wäre.
„Das Wasser kann weder chemisoh noch physisch dasselbe sein
wie bei uns; dagegen wird es in vielen Punkten ihm ähnlich sein,
was aus dem Aussehen des Schnees hervorgeht, der zerschmilzt und
sich unter der Wirkung der Sonnenwärme verflüchtigt, wie wir es
auf der Erde beobachten. Diese Aehnlichkeit wird noch durch die
Absorptionsbanden im Spektrum der Marsatmosphäre erhöht, die mit
denen des irdischen Wasserdampfes übereinstimmen.
„Es ist möglich, dafs anstatt des Chlornatriums, wolohes sich in
unseren Meeren mit dem Wasserstoff und Sauerstoff gemischt hat, dort
eine ganz andere Kombination von Elementen auftritt.
„Die Dichtigkeit des Wassers ist ferner eine andere wie hier.
1 cbm irdischen Wassers wiegt 1000 kg; 1 cbm Wasser auf dem Mars
hat das Gewicht von 711 kg unter der Voraussetzung, dafs dio
Dichtigkeit dieses Wassers der mittleren Dichtigkeit des Planeten pro-
portional sei. Wenn das Marswasser dieselbe absolute Dichtigkeit
wie das unsere hätte, so würden die dasselbe zusammensotzenden
Materialien eine spezifische Schwere von 3.91 statt 5.50 haben. An-
dererseits aber ist die Verschiedenheit der Schwere noch viel gröfser,
weil 1000 irdische Kilogramm, auf die Oberfläche des Mars transportirt,
nur noch 376 kg wiegen würden.
„Die Bedingungen sind dort also völlig verschieden von den
unsrigen, und ebenso ist es mit der Atmosphäre, deren Druck eine so
wichtige Rollo für den Kreislauf des Wassers spielt. Wenn die irdische
Atmosphäre verschwände, so würde sich sofort das Wasser der Meere
verflüchtigen, um eine neue wässrige Atmosphäre zu bilden, bis deren
Druok wieder grofs genug wäre, um den Rest des Wassers flüssig zu
erhalten. Wenn nun weiter und weiter dieses Wasser verschwinden
würde, so müfsten die Meere vollständig austrocknen.
„Wenn Mars dieselbe Atmosphäre hätte wie die Erde, so würde
sie doch viel weniger dicht sein als die unserige und zwar im
Verhältnis von 375 zu 1000. Der Barometer würde, statt 760 mm am
Meeresspiegel zu zeigen, sich auf 286 einstellen, welchen Druck der Ba-
rometer auf unseren höchsten Bergspitzen bei 8000 m Höhe anzeigt
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Wir würden uns also selbst am Meeresniveau eine sehr verdünnte Luft-
schicht vorzustellen haben, und es scheint, dafs dies der Fall ist.
„Dieselbe kann aber Substanzen, Gase, Dämpfe enthalten, die bei
uns nicht Vorkommen.
„Verhehlen wir es uns jedoch nicht, dafs die gröfste Schwierig-
keit bestehen bleibt: das geradlinige, geometrische Netz der Oberfläche
scheint nicht natürlich. Je mehr wir diese Gestaltungen anschauen,
je weniger scheint es uns, dafs wir ihr Entstehen blinden Ursachen
zuschreiben kennen. Aber nochmals: vergessen wir nicht, dafs wir
weit entfernt sind, alle Naturkräfte zu kennen.
„Sind wir jedoch andererseits berechtigt, von vorn herein die Hy-
pothese einer intelligenten Einwirkung von Seiten der Bewohner,
welche diesen Planeten bewohnen könnten, zurückzu weisen?
„Die gegenwärtigen Bedingungen der Bewohnbarkeit dieser Welt-
kugel sind, wie wir weiter oben schon gesehen haben, derartige, dafs
niemand die Behauptung, sie könne von einer Menschenart bewohnt
sein, deren Intelligenz und deren Hilfsmittel die unsrigen weit über-,
treffen, zu widerlegen im stände wäre.
„Angesichts unserer absoluten Unfähigkeit, diese Dinge anders
zu erklären, ist es unwissenschaftlich, die Möglichkeit zu bestreiten,
dafs diese Wesen die ursprünglichen Flüsse regulirt hätten, als all-
mählich das Wasser rar wurde, und sich so ein Kanalsystem zu dem
Zwecke gleichmiifsiger Wasserversorgung herstellten.
„Die Hypothese der Erzeugung dieser Kanalzüge durch Einwir-
kung der Intelligenz nöthigt sich unserem Geiste von selbst auf, ohne
dafs wir ihr widerstehen könnten. So kühn dies auch ist, wir sind
doch gezwungen, sie in Betracht zu ziehen. Ganz gewifs sind ja
auch die Einwendungen dagegen zahlreich. Ist es denn wahrscheinlich,
dafs die Bewohner eines Planeten so gigantische Werke erzeugen
können, Kanäle von 100 km Breite? Darf man ernstlich daran denken,
und welchen Zwecken dienen sie?
„Doch ist es seltsam genug, dafs man, unter der Voraussetzung
eines menschlichen Ursprungs dieser Linienzüge, die Erklärung der-
selben im Zustande des Planeten selbst finden kann. Wir haben
schon gesehen, dufs die Stoffe dort weniger schwer sind als bei uns;
andererseits geben die kosmogonischen Theorieen dieser Nachbarwelt
ein weit höheres Alter als dem Planeten, welchen wir bewohnen.
Wir können daraus schliefsen, dafs sie früher bewohnt war als die
Erde, und dafs ihre Menschheit, wie sie auch sonst beschaffen sein mag,
vorgeschrittener als die unsrige ist. Während die Durchbohrung der
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Alpen, die Durchbrechung des Suez- und Panamakanals, der unter-
seeische Tunnel zwischen Frankreich und England uns als riesenhafte
Unternehmungen der Wissenschaft und Industrie unserer Epoche er-
scheinen, werden diese Dinge doch nur Kinderspiele für die Mensch-
heit der Zukunft sein. Wenn man die Fortschritte nur des letzten,
neunzehnten Jahrhunderts ins Augo fafst, die Eisenbahnen, die Tele-
graphie, die Anwendung der Elektrizität, die Photographie, das Tele-
phon u. s. w., bo fragt man sich, wie grofö unser Erstaunen sein
würde, wenn man die materiellen und sozialen Fortschritte sehen
könnte, welche das 20. und 21. Jahrhundert und spätere Zeiten der
zukünftigen Menschheit Vorbehalten. Es gehört kaum noch ein opti-
mistischer Geist dazu, um die Luftschifffahrt als den gewöhnlichen
Verkehrsmodus vorherzusehen, durch den die unnatürlichen Völker-
grenzen für immer vom Erdboden verschwinden, und die verab-
scheuungswürdige Hydra des Krieges mit der heute noch unvermeid-
lichen Thorheit der permanenten Heere, dem Ruin eines intelligenten
Sozialstaates, vernichtet werden dürften in dem glorreichen Auf-
schwünge einer erleuchteten, freien, denkenden Menschheit. Müssen
wir nicht in ganz logischer Woiso annehmen, dafs die ältere Mensch-
heit des Mars auch vollkommener sei, und dafs die fruchtbare Einig-
keit der Völker, die Arbeiten des Friedens, eine wesentlich glücklichere
Entwickelung dort erreichen konnten? —
„Wir wissen nicht, was diese langen dunklen Linienzüge, welche
die Kontinente durchkreuzen, bedeuten, wenn ihre ganze Breite wirk-
lich homogen ist, und ganz gewifs beweist nichts, dafs es mit Wasser
gefüllte Kanäle sind. Tausend verschiedene Annahmen sind dafür
möglich; man kann in ihnen Bewässerungsanlagen auf dem Planeten
sehen, auf welchem das Wasser seltener zu werden beginnt. Man
kann sich dort auch eine Art von Katastereintheilung vorstellen für
Gesamtkulturen auf einer Welt, die zu dem Zeitalter allgemeiner Har-
monie vorgeschritten ist. Man erinnert sich wohl, dafs Proctor in
einem interessanten Artikel der Times die Idee verfolgt hat, dafs die
Bewohner des Mars mit umfangreichen Feldmefsarbeiten beschäftigt
sind, da wir diese Linien in jeder Richtung so gezogen sehen, dafs
ihre Entfernungen untereinander constant und bedeutsam sind. Auch
Mr. Green, der geschickte Beobachter des Mars, kam in einer Sitzung
der Royal Astronomical Society of London auf diese Deutung zurück
und fügte hinzu, dafs er dabei keineswegs die Absicht habe, sich über
einen so wichtigen wissenschaftlichen Gegenstand lustig zu machen,
dafs vielmehr solche geographischen Erscheinungen die gröfstmügliche
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Aufmerksamkeit verdienen, und dafs es von höchstem Interesse sei,
sie zu verifiziren. Mr. Maunder von der Greenwicher Sternwarte
macht besonders auf die höchst seltsame Thatsache aufmerksam, dafs
diese Kanäle ihren Platz zu wechseln scheinen, bald sichtbar,
bald wieder unsichtbar sind. Für manche Beobachter sind es gar
keine eigentlichen Kanäle, sondern vielmehr die Begrenzungen von
mehr oder weniger dunklen Distrikten. Wie dem auch sei, jedenfalls
kann der Natur nachgeholfon worden sein. Die leicht eintretenden
und beständig drohenden Uebersckwennnungen der Kontinente, welche
durch den Zahn der Zeit nivellirt worden sind, können zu der Idee
einer rationellen Wasserregulirung geführt haben. Es scheint wirk-
lich, dafs es uns nicht leichter möglich sein wird, dieses geometrische
Netz ohne die Einwirkung des Intellekts zu erklären, als ein Bewohner
der Venus sich unser Eisenbahnnetz durch das Spiel geologischer
Kräfte zu erklären vermöchte.
„Die Weltkugel des Mars mufs durch die Arbeit der Jahr-
hunderte nahezu nivellirt worden sein, und Wasser ist dort nur noch
in geringer Quantität vorhanden. Was nach einigen Millionen Jahren
für die Erde eintreten mufs, ist für Mars bereits eingetroffen. Durch
die Thätigkeit des meteorischen Wassers (der Niederschläge) werden
langsam unsere Berge abgetragen, die Flüsse führen die Trümmer in
die Oceane, deren Grund sich mehr und mehr ausfüllt. Aber gleichzeitig
nimmt die Menge des W7assers ab, indem es in die Erdkruste ein-
dringt oder sich mit dem Felsgestein zu Hydraten verbindet. Jede
begrenzte Weltkugel nivellirt sich langsam; es ist deshalb keineswegs
überraschend, dafs auf Mars die Bestrebungen sich hauptsächlich darauf
gerichtet haben, eine fruchtbringende Vertheilung der Vrasser über die
Oberfläche der gealterten Kontinente zu schaffen.
„Diese geradlinigen, alle Meere des Mars mit einander in Ver-
bindung setzenden Linienzüge scheinen durchaus absichtlich. Fliefst
aber dort auch VTasser? Im Prinzip ist dies wohl zu bejahen; aber es
kann sich damit jene andere Form des Wassers verbinden, von welcher
wir soeben sprachen; Ueberlagemde, langgezogene Nebelstreifen, welche
die Wasserläufe in unseren Augen verbreitern und die wesentlichen
scheinbaren Veränderungen derselben verursachen.
„Vielleicht verbinden sich auch noch Vegetationserscheinungen
mit dieser Wasserzirkulation.
„Vras nun die Verdoppelungen anbetrifft, so ist wohl schwerlich
anzunehmen, dafs sich wirklich von einem Tage auf den anderen
ähnliche und mit den ursprünglichen parallel laufende Kanäle bilden.
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Wir müssen es vorziehen, anzunehmen, «late sie jenen vorhin er-
wähnten Nebeln oder vielleicht einer doppelt brechenden Wirkung der
Marsatmosphäre zuzuschreiben sind. Bei den herrschenden Tempe-
raturbedingungen (die Sonnenwärme dringt leicht in die Marsatmo-
sphäre ein und kann die Oberfläche des Planeten leicht erwärmen)
mufs die Verdampfung sehr intensiv sein, weshalb über den Wasser-
läufen eine grofse Menge Wasserdampf schnell abgekühlt werden und
dadurch zu ganz besonderen Reflektionsphänomenen Anlafs geben mufs.
Es scheint uns, dafs man solche Brechungserschoinungen nicht aufser
Acht lassen darf, namentlich wegen der Eigenthiimlichkeit, dafs oft-
mals jede Spur eines Kanals verschwindet, um zwei neuen Linien
Platz zu machen, welche sich in der Nähe des ersteren befinden.
,.Herr A. de Boe hat die Verdoppelung jenen Doppelbildern zu-
geschrieben, welche im Auge des Beobachters entstehen, wenn man
eine schwarzo Linie, die etwas diesseits oder jenseits der Grenzen
deutlicher Sichtbarkeit liegt, auf einem weifeen Grunde betrachtet. Darf
man jedoch annehmen, dafs die Beobachter der Kanäle diese Verdoppe-
lung nur sehen, wenn das Fernrohr nicht ganz scharf eingestellt ist?
„Was es aber auch für eine Bewandtnifs mit diesen ganz ge-
w’ifs noch verfrühten Erklärungsversuchen haben mag, die wir nur
als erste Hypothesen geben, so ist es doch unzweifelhaft, dafs die
ausgedehnten Veränderungen der Wassergebiete Zeugnifs ablegen von
einer ungemein energischen Lebensäufserung auf dem Planeten. Die
verschiedenen Bewegungen scheinen für uns ganz ruhig vor sioli zu
gehen eben wegen der grofsen Entfernung, die uns davon trennt.
Aber während wir gemächlich diese Kontinente und diese Meere
beobachten, wie sie durch die Umdrehung des Planeten um seine
Achse langsam an unseren Blicken vorübergeführt werden, und
während wir uns dann vielleicht fragen, an welchem der Ufer es
wohl am angenehmsten zu leben wäre, mögen in demselben Mo-
mente Stürme, Vulkanausbrüche, soziale Tumulte, der schreckliche
Kampf um das Dasein dort wüthen. Ebenso würden die Astronomen
der Venus, wenn sie, mit ähnlichen optischen Instrumenten versehen
wie wir, unsere Erde betrachten, wie sie dahinzieht in stillem Gleich-
maafs durch die Sterne des Firmaments, sicherlich nicht ahnen, dafs
über den von der Sonne vergoldeten Ländern und über den azurnen
Meeren, welche sich mit so feinen Linien in Meerbusen zertheilen,
eine wilde Interessenwirthschaft, ein ungebiindigter Ehrgeiz, die Scham-
losigkeit, die Barbarei ihre selbst heraufbeschworenen Stürme zu jenen
unvermeidlichen Katastrophen mischen, welche die unvollkommene
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Natur unseres Planeten erzeugt. Wir dürfen doch wenigstens hoffen,
dafs die ältere Welt des Mars eine vorgeschrittenere und bessere
Menschheit beherbergt, und dafs es allein Arbeiten, Bewegungen des
Friedens sind, welche seit vielen Jahrhunderten dieses nachbarliche
Vaterland erfüllen.“
Flammarion schliefst nun sein Buch mit folgenden Be-
trachtungen:
_Es giebt im Leben reizvolle Stunden, köstliche Freuden, himm-
lische Glückseligkeiten, unsagbare Wonnen. Nun ! Unter diesen wunder-
vollen Stunden giebt es wenige, die eine vollständigere Befriedigung
in unsere Seele giefsen, die uns in edlerer und höherer Weise be-
wegen könnten, als die Stunden, welche der Beobachtung der Gestal-
tungen auf dem Planeten Mars in einer reinen Sommernacht gewid-
met werden. Es ist wahrhaft beklagenswerth, dafs so wenig Menschen
diesen Eindruck empfunden haben: Vor sich eine Welt zu sehen, eine
andere Welt mit ihren Kontinenten, ihren Meeren, ihren Ufern, ihren
Meerbusen, ihren Vorgebirgen, ihren Inseln, ihren Flufsmündungen,
ihren blendenden Schneegebieten, ihren sonnenvergokleten Landschaf-
ten, ihren dunklen Gewässern, so wie sie in unsern Fernrohren vor
uns steht, und wie sie langsam sich um sich selbst dreht, Tag und
Nacht ihren verschiedenen Gebieten gebend, den Frühling auf den
Winter, den Sommer auf den Frühling folgen lassend, ein Miniatur-
bild unserer Erde im weiten Himmelsraume! Diese Betrachtung trägt
uns bis zu den höchsten Mysterien der Natur, zur Frage nach dem
universellen, dem ewigen Leben, sie stellt uns vor die Fragen nach
der letzten Wahrheit, vor den Schöpfungsgedanken. Die Erde wird
zu einer Provinz des Universums, und unsere Empfindung bevölkert
andere Vaterländer in der Unendlichkeit mit unbekannten Brüdern.
«Und dann verbindet sich mit diesen Empfindungen wohl auch
diejenige von der Schönheit und Gröfse der astronomischen Errun-
genschaften unserer Zeit; das Neue hat immer für uns eine ganz be-
sondere Anziehungskraft. Es ist das erste Mal seit dem Beginn der
Menschheit, dafs wir am Himmel eine neue Welt entdecken, die der
Erde ähnlich genug ist, um unsere Sympathie zu erwecken; es ist
das erste Mal, dafs ein Werk wie das gegenwärtige entstehen konnte;
viele Jahre werden zweifellos vergehen, bis ein ernstliches Studium
über unseren Nachbarplaneten Venus ein so vollständiges Material
gesammelt haben wird, wie dasjenige, welches wir hier über die Welt
des Mars Revue passiren lassen konnten.
«Aber manche Wunder der Wissenschaft wird die Zukunft noch
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unseren Nachfolgern Vorbehalten, und wer wird heute noch für unmög-
lich erklären dürfen, dafs eines Tages die Menschheit des Mars mit
der der Erde in Verbindung treten könne! Generationen werden ver-
gehen, und der Fortschritt wird noch lange seinen aufsteigenden Weg
fortsetzen.
„Für uns selbst (den Autor), die wir von Beginn unserer wissen-
schaftlichen und iitterarischeu Laufbahn stets die Lehre von der Mehr-
heit der Welten verfochten haben, und es uns zur Lebensaufgabe
machten, zu zeigen, dafs das Endziel der astronomischen Wissenschaft
nicht bei der Mechanik des Himmels stehen bleiben darf, dafs sie sich
vielmehr bis zu der Erkenntnifs der gegenwärtigen, vergangenen
und zukünftigen Lebensbedingungen im unendlichen Universum auf-
schwingen mufs; es ist ein Glück für uns, lange genug gelebt zu ha-
ben, um der Geburt und Entwickelung der Astrophysik beigewohnt
zu haben, mit eigenen Augen die erste Welt, deren Erforschung in
dem Himmelsraume begann, betrachten zu können und den Vorzug
zu besitzen, ihre Geschichte zu schreiben. Mögen unsere Leser diese
Genugthuung mit uns theilen, indem sie dieser Entwickelung der
Wissenschaft beiwohnen. Dio vorangegangenen Blätter sind nur ein
bescheidenes und oberflächliches Präludium zu den Entdeckungen,
welche der Fortschritt unseren Nachfolgern vorbehält.“
Es ist kein Zweifel, dafs das grofse und schöne, mit eben so viel
Wärme wie Gründlichkeit und Sorgfalt verfafste Werk dos berühmten
französischen Astronomen von den Fachleuten sowohl wie von allen
Freunden der astronomischen Wissenschaft mit Genufs gelesen werden
wird, und dafs sein Erscheinen einen für die gegenwärtige und zu-
künftige Wissenschaft höchst werthvollen Fortschritt bedouteL*)
Flammarion hat die gestellte Aufgabe, alle vorhandenen Beob-
achtungen über Mars so zusammenzustellen, dafs jedermann sich ein
eigenes Urtheil über die bisher aufgestelllen Hypothesen von der Ober-
flächenbeschafl'enheit des Mars selbst bilden kann, vortrefflich erfüllt.
Es lag im übrigen keineswegs in der Absicht des Verfassers, einen
Ueberblick über die Hypothesen selbst zu geben ; er vertritt nur
seine eigene, der Existenz intelligenter Wesen günstige Ansicht, in-
dem er nur ganz gelegentlich andere Ansichten streift.
Es darf jedoch an dieser Stelle nicht vergessen werden, dafs
*) Es möge beigefügt werden, dafs das bei Gau thier in Paris in Lexi-
konformat (608 Seiten, 580 Illustrationen und 23 Karten) erschienene Werk für
den ungemein billigen Preis von 10 Frs. erhältlich ist.
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andere gewiegte Beobachter zu ganz entgegengesetzten Ueberzeugungen
von der Beschaffenheit des Mars gekommen sind; wir wollen in
dem folgenden Artikel einige derselben anführen, indem wir zu-
gleich auch die in dem Flammarionschen Werke noch nicht berück-
sichtigten Beobachtungen der Opposition von 1892 heranziehen, um
schliefslich das Beobachtete und Gedachte zu einem Gesamtbilde zu
vereinigen, so weit dieses bei dem heutigen Stande unserer Kenntnisse
möglich ist
(Fortsetzung folgt.)
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Die Entstehung der Welt nach den Ansichten von
Kant bis auf die Gegenwart
Von F. K. (iinzei, Astronom am RecheninsUtute der König!. Sternwarte zu Berlin.
(Fortsetzung.)
IV. Die Darwinsche Gezeitentheorie und die Entwickelung
des Systems Erde-Mond.
Unter den neueren kosmogonischen Ansichten nehmen die inter-
essanten Untersuchungen eine wichtige Stelle ein, weiche der Mathe-
matiker U. II. Darwin (nicht zu verwechseln mit dem berühmten
Charles Darwin, dem Verfasser der „Entstehung der Arten1) über
den Einflurs der Reibung der Gezeiten ausgeführt hat; >) diese Ergeb-
nisse bilden wichtige Beiträge zur Erklärung mancher Eigentümlich-
keiten des Sonnensystems und des Entstehungsprozesses des Mondes,
besonders aber der Erde. Wir müssen deshalb das Nötigste hierüber
auseinandersetzen.
Bekanntlich erzeugt die Attraktionswirkung des Mondes und der
Sonne in dem flüssigen Elemente, das unsere Erde bedeckt, periodisch
wiederkehrende Bewegungen, die Flut- und Ebbeersoheinungen. Es
ist möglich, dafs diese Bewegungen, „Gezeiten11, wie man sie auch
nennt, sich nicht blofs auf das Wasser der Erdoberfläche beschränken,
sondern auch auf die derzeit etwa noch flüssigen Theile des Erd-
innere erstrecken und dort ähnliche Stauungen des flüssigen Magmas,
allerdings in weit geringeren» Grade als in den Meeren, veranlassen.
Für die Zeiten, in welchen sich die Weltkörper noch in der Aus-
bildung befanden, also noch mit keiner festen Kruste bedeckt waren,
sondern zum gröfsten Theil den flüssigen Zustand repräsentirten,
mufste wahrscheinlich die Wirkung solcher „Gezeiten“, wenn sie durch
Planeten von bedeutender Masse hervorgerufen wurden, eine viel er-
heblichere sein. Es ist nun das Verdienst G. H, Darwins, den Ein-
') In einer Reihe von Memoiren seit 1S79, die gröfstentheils in den „Philo-
sophical Traneactions“ enthalten sind.
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flute wechselseitiger Gezeiten, unter bestimmten theoretischen Vor-
aussetzungen, streng entwickelt zu haben.
Darwin betrachtet mathematisch die Gezeiten viscoser, das
heilst nicht starrer, sondern zähflüssiger und umformbarer Massen.
Es ergiebt sich, dafe durch eine mächtige Gezeit,3 * 5) die auf einem
viscosen Planeten durch ein Gestirn hervorgerufen w'ird, infolge der
Reibung die Rotationsgeschwindigkeit des Planeten allmählich verlang-
samt wird. Dieser Verlangsamung entsprechend stellt sich eine Ver-
mehrung der Bahngeschwindigkeit ein. Im System Erde-Mond würde,
von allen anderweitigen Störungen abgesehen, die Wirkung der
Gezeiten -Reibung etwa folgende sein: Wenn die Erde in einer
kürzeren Zeit um sich selbst rotirte, als die Umlaufszeit des Mondes
ist, so würde die Einwirkung der Mondgezeiten die Erdrotation zu
verlangsamen suchen. Die Reaktion auf den Mond bestände darin,
date er sich mehr von der Erde zu entfernen suchen würde, indem
sich seine Bahn erweitert Der Tag der Erde wird länger, die Um-
laufszeit des Mondes nimmt zu, und wenn schlietelich eine Gleichheit
beider Zeiten erreicht ist, würden sich Erde und Mond wie starre
Körper um ihr gemeinschaftliches Trägheitszenti-um drohen und ein-
ander dieselben Flächen zuwenden. In ähnlicher Weise sucht ein
um die Sonne kreisender Planet auf der Sonne eine Gezeit zu er-
zeugen, deren Reibung die Rotation der Sonne zu verlangsamen
strebt; dabei wird die Bahngeschwindigkeit des Planeten gesteigert,
und der letztere trachtet seine Distanz von der Sonne zu vergröfsern.
Der Effekt der Gezeiten, welchen die Sonne hervorruft, ist gegenüber
dem Effekte der Gezeiten des Planeten au teerordentlich überwiegend,
im Falle Sonne-Erde 113000 mal gröteer als die von der Erde auf
der Sonne bewirkte Gezeit. Darwin hat nun unter Betrachtung
der Verhältnisse unseres Planetensystems gezeigt, date die Rotation
der Planeten einstens aufserordentlich schneller hätte gewesen sein
müssen, damit die Wirkung der Sonnengezeiten die Abstände der
Planeten bis zu den heutigen Entfernungen vergröfsern konnte. Da
es aber wenig wahrscheinlich ist, date unsere Planeten jemals enorme
Rotationsgeschwindigkeiten besessen haben, so ist an eine erhebliche
Veränderung der Planetenabstände von der Sonne als Folge der
Gezeitenwirkung nicht zu denken. Dagegen fiel den Sonnengezeiten
3) Solche Gezeiten sind selbstverständlich nicht wie die Ebbe- und Fluth-
bewegungeu, also nur die Oberfläche eines Körpers treffend, aufzufassen, son-
dern sie beziehen sich auf die ganze Masso des Körpers.
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475
eine wichtige Rolle bei der Bildung der Satelliten zu. Wenn nämlich *»
ein im Werden befindlicher Planetennebel sich zusammenzog und
in dem Mafse, als er dichter wurde, schneller rotirte, konnte die
Sonnengezeit, welche die Rotationsgeschwindigkeit des Planetennebels
zu verlangsamen suchte, unter Umständen verhindern, dafs der Planet
Satelliten erhielt. War die Sonnengezeit in jener Kontraktionsperiode
des Planeten eine sehr schwache, so konnte bei ungehindert ge-
steigerter Rotationsgeschwindigkeit schliefslich eine Ueberschreitung
des Gleichgewichtszustandes des Nebels und eine Ablösung von
Massen eintreten; eine starke Sonnengezeit dagegen vermochte die
Rotation derart zu verändern, dafs der kritische Moment von der
drehenden Masse nicht erreicht wurde, und somit keine Satelliten-
bildung eintreten konnte. Auf diese Weise mögen durch starke
Gezeiten die der Sonne nahen Planeten Merkur und Venus an
einer Satellitenschaffung verhindert worden sein, während Jupiter,
Saturn, da sie solchen Wirkungen viel weniger ausgesetzt waren,
öfteren, vielleicht periodischen Gleichgewichtsstörungen unterlagen und
hierdurch eine Reihe von Satelliten erhielten. Die Erde bekam ihren
Mond wahrscheinlich erst in einer mehr vorgeschrittenen Bildungsepoche,
wie die im Verhältnis zur Erde sehr beträchtliche Masse des Mondes
vermuthen läfst. Der Reibung der durch die Sonne ausgeübten Gezeiten
dürfen auch einige Besonderheiten zugeschrieben werden, welche die
Bahnen der Satelliten des Jupiter, Saturn und Mars zeigen. Diese
Monde haben im Verhältnis zu ihren Zentralkörpern (namentlich
hinsichtlich Jupiter und Saturn) sehr geringe Massen; bei Jupiter und
Saturn wurde die Rotation dieser Planeten durch Sonnengezeiten, die
in Anbetracht der grofsen Sonnenentfernung nur schwach sein konnten,
nur langsam verzögert. Die Monde selbst riefen vermöge ihrer Kleinheit
kaum irgend welche Gezeiten auf Jupiter und Saturn hervor. Wenn
sie sich bei solchen Verhältnissen auf die beträchtlichen Abstände
von ihren Zentralkörpern entfernen konnten, in denen sie sich gegen-
wärtig befinden, und hierdurch eine viel langsamere Umlaufszeit er-
hielten, als die Rotationsperiodo ihrer Planeten betrug, so deutet dies
auf eine sehr frühzeitige Entstehung der Satelliten; das Mondsystem
des Jupiter und Saturn ist daher wahrscheinlich weit älter als der
Mond unserer Erde. Bei Mars war die Einwirkung der Sonnengezeiten
eine entschiedenere. Der Satellit Phobos, der sich gegenwärtig viel
schneller um den Mars bewegt, als dieser um sich selbst rotirt, produ-
zirte vermöge seiner geringen Gröfse eine nur unbedeutende Gezeit
und entfernte sich ursprünglich vom Planeten. Nachdem seine Um-
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laufsdauer gleich der Rotation des Mars geworden war, erlangte die
Wirkung der Sonnengezeiten das Uebergewicht, Mars rotirte langsamer
und der Satellit näherte sich, indem sich die Schnelligkeit seiner
Bahnbewegung steigerte, allmählich mehr dem Planeten und gelangte
schliefslich in eine Bahn, wo sein Umschwung schneller war als die
tägliche Umdrehung des Mars selbst
Wenn man den Einflufs der Gezeitenreibung bei der Bildung
der Planeten des Sonnensystems vielleicht auch etwas überschätzt so
ist der grofso Antheil, den diese Erscheinung im speziellen Falle des
Systems Erde-Mond gehabt hat dagegen zweifellos. Unser Mond be-
sitzt unter allen andern Satelliten die gröfste Masse, demgemiifs sind
die von ihm hervorgerufenen Gezeitenwirkungen sehr mächtig und
spielten jedenfalls zu Zeiten der Erschaffung des Mondes eine grofse
Rolle. Die Darwinschen Ergebnisse gestatten die Vermuthung, dafs
Mond und Erdo einst einen einzigen Körper gebildet haben mögen,
der sich mit viel gröfserer Geschwindigkeit, als heute die Erde, um
sich selbst drehte. Auf diesen zähflüssigen Körper, dessen innerer
Zusammenhang nur bei der Nichtüberschreitung einer gewissen
Rotationsgeschwindigkeit gewahrt bleiben konnte, hatten vielleicht die
Gezeiten der Sonne einen solchen Einflufs, dafs eine Trennung er-
folgte. Es waren dann zwei Massen vorhanden, die gröfsere die
Erde, die kleinere der Mond.3) Im Momente des Zerreifsens wird die
Revolutionsdauer des Mondes nahe so schnell gewesen sein wie der
Umschwung der Erde, nämlich nur wenige Stunden. Wäre dio Be-
wegung des Mondes in den ersten Tagen seiner Geburt schneller
gewesen als die Erdrotation, so hätte er, da ein solches System dy-
namisch nicht stabil bleiben kann, auf die Erde stürzen müssen.
Die Darwinschen Entwickelungen lassen die Phasen, dio ein auf
irgend eine Weise in der Nähe der Erde geschaffener Mond durch-
machen mulste, übersehen. Die anfänglich sehr bedeutenden Mond-
gezeiten strebten die Rotationsdauer der Erde zu verlängern, und als
Rückwirkung davon nahm auch die Umlaufszeit des Mondes zu. Die
Exzentrizität der Mondbahn wuchs sehr schnell, verminderte sich aber
wieder, nachdem die Dauer des Monats etwa der halben Erdrotations-
*) In welcher Weise sich der Vorgang thatsächlieh abgespielt haben
mag, läfst sich bei unserer Unkenntnifs der Stabilitätsbedingungen, welchen
die Urmasse unterworfen gewesen sein mag, nicht beantworten und dio obige
Folgerung ist nur eine theoretische. Die anfängliche Form des Mondes kann
ein Ring oder ein Schwarm kleiner Körper gewesen sein, da eine grofse, die
Erde fast berührende Masse sich nicht würde haben halten können.
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dauer gleich war. Später trat wieder ein Anwachsen der Exzentrizität
ein. Die Neigung der Mondbahn gegen die Ekliptik machte ähnliche
Schwankungen durch. Anfänglich mag die Bewegung des Mondes
fast ganz in der Ebeno der Erdbahn gelegen haben. In dem Mafse,
als sich der Mond aber von der Erde entfernte und die Sonnen-
gezeiten mehr an Herrschaft gewannen, traten Verschiebungen in der
Lage der Mondbahn auf. Wir sehen den Mond im Laufe der Zeiten
sich mehr und mehr von der Erde entfernen, welche Entfernungs-
zunahme indessen keine stetige ist, vielmehr zeitweise Abnahmen in
sich einschliefst; der Weg, den unser Trabant geht, ist dem einer
Spirallinie ähnlich. Jo näher wir der Gegenwart kommen, desto mehr
verlieren die Veränderungen in der Dauer des Monats und der Lage
der Mondbahnebene, sowie die Variationen des Erdentages an Effekt.
Schliefslich ist der Monat fast 30 mal länger als der Erdumschwung,
der Mond kehrt der Erde dieselbe Seite zu und der heutige Zustand
ist erreicht. Darwin berechnet, dafs zur Erlangung dieses Zustandes
etwa 54 Millionen Jahre nothweiidig gewesen sein dürften.
Die Gezeiten-Theorie, deren Wichtigkeit in Beziehung auf die
Bewegung des Mondes auch schon von Delaunay, Eerrel gewür-
digt worden ist, hat übrigens einen Vorläufer in Kant gehabt In
einer 1754 erschienenen Abhandlung „Ob die Erde veraltet“ zeigte
Kant, wie bedeutend der Einflufs der Erdgezeiten auf einen rohren-
den, von einer flüfsigen Hülle umgebenen Körper ist Er weist nach,
dafs sich die Erde selbst unter der Einwirkung der Sonnen- und Mond-
gezeiten wie in einem Hemmschuh bewegt, und dafs durch diese Ge-
zeiten wahrscheinlich die ehemals schnelle Rotation der Erde wesent-
lich verlangsamt worden sei, und ferner, dafs sioh die Periode der
Axendrehung des Mondes dem Umlaufe um die Erde entsprechend
anpassen musste. Die Kantschen Gedanken sind unbeachtet geblieben,
bis sie wenige Jahre vor Darwin von J. H. Sohmick wieder auf-
gegriffen wurden. Schmick entwickelte die Wichtigkeit der Ge-
zeiten'1) für die Entstehung der Weltkörper, indessen fehlte seinen
Darlegungen noch der strenge mathematische Boweis; diesen zu geben
blieb Darwin Vorbehalten. Schmick behauptet völlig richtig, dafs
mächtige Plutherscheinungen einst der Rotation des Mondes entgegen-
gewirkt und diese nach und nach zum Stillstände gebracht haben
mögen. Die anfänglich festen Bildungen an der Mondoberfläche
*) Hinsichtlich des Mondes namentlich in der Schrift „Der Mond als
glänzender Beleg für die kosmisch bewirkte säkulare Umlegung verschiebbarer
Bcstandthoile der Weltkörper.“ Leipzig 1876.
Himmel und Erde, 1808. V. 10, 32
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trugen zu einer starken Reibung der Fluthwellen viel bei und för-
derten hierdurch die Verlangsamung der Rotation. Als letztere zum
Stillstand gekommen war, mufste der Mond, der als zum Theil noch
flüssiger Körper ohne die Rotation sich nicht symmetrisch in Beziehung
auf seinen Schwerpunkt halten konnte, eine ellipsoidische Verlänge-
rung gegen die Erde hin erleiden. Da nämlich die Anziehung der
Erde auf die niichstgelegenen Oberflächentheile des Mondes eine
stärkere war als auf das Zentrum, verschoben sich die Massen, und
das geometrische Zentrum des Mondes rückte etwas in der Richtung
auf die Erde zu. Hieraus sei die von Hansen nachgewiesene That-
sache zu erklären, dafs der Schwerpunkt des Mondes um 8 Meilen
vom geometrischen Mittelpunkte entfernt liege. Infolge dieser Ver-
änderung seiner Gestalt fing der Mond an, wie ein Pendel um seinen
Aufhängepunkt, um das geometrische Zentrum hin und her zu
schwanken und zwar in der Richtungslinie zur Erde hin. Diese
Pendelbewegungen mögen tausende von Jahren angedauert haben.
Inzwischen war die Schollenbildung von den Mondpolen aus weiter
vorwärts geschritten und leistete den Fluthungen einen sehr ungleich-
mäßigen Widerstand. Durch das Zusammenwirken der pendelartigen
Bewegungen, des ungleichen Widerstandes der ersten Mondkruste
und aufserdem der Mond-Libration liefen die Fluthwellen über die
beiden Mondhälften hin und her und zertrümmerten vielfach die Ur-
bildungeu. Es fanden Aufquellungen und Senkungen der heftig be-
wegten Massen statt, die alte Mondschale versank gröfstentheils. Eine
in der nachfolgenden Epoche der Erzeugung einer neuen Schale ein-
getretene Gleichgewichtsstörung, etwa das massenhafte Ueberfliefsea
in einer zur Librationswirkung nicht parallelen Richtung, war die Ur-
sache, dafs die Mitte der Schwingungen des pendelnden Körpers sich
verschob und so der Mond um die gegen die Erde hin gerichtete
Axe gedreht wurde. Schmick hat die Wichtigkeit der Gezeiten für
die Bildung des Mondes erkannt, in den Folgerungen aber ist er über
die logischen Grenzen hinausgegangen und darum ist seine eben dar-
gelegte Theorie verworfen worden.
Wir treten nun der Frage näher, wie sich die Oberfläche des
Mondes gebildet hat, und welche Kräfte seine eigentümlichen For-
mationen, die gewaltigen Ringgebirge, die ausgedehnten Wallebenen
und tausende von kleinen Kratern, die wenigen Merkmale lang ge-
gestreckter Höhenzüge gegenüber dem ausgesprochensten Ueber-
wuohern der Kreisform, erzeugt haben, und aufserdem, welche Ursachen
hingegen der Erdoberfläche ein wesentlich antleres Gepräge zu geben
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vermochten. Zunächst knüpfen wir an die Folgeerscheinungen der
hypothetischen Pendelbewegungen an, welche Schm ick für die Zeit
der Ausbildung der Mondoberfläohe voraussetzt. Vermöge jener
Schwingungen des Mondes überflutheten die flüssigen Massen periodisoh
die ursprüngliche Mondkruste, und zwar wurden, da die Stauungen
entgegen der ost- westlichen Schwingungsrichtung stattfanden, ab-
wechselnd nach Westen und Osten hin Wellenkämme geworfen, von
denen fort und fort Reste zurückblieben, die alsbald erstarrten. Durch
diese Brandungsaufschüttungen erlangten die aufgeworfenen Massen
eine regelmäfsige Zufuhr, und es bildeten sich die Wälle der heutigen
Mondkrater, welche eine kreisförmige Gestalt zeigen, da die Durch-
bruchsstellon der sehr dünnen Mondkruste zumeist eine eben solche
Form hatten.5)
Selbstverständlich weifs Schmick auch die weiteren Einzelheiten
der Bildungsvorgänge auf der Mondoberfläche zu erklären, wie über-
haupt kaum einer der Herren Kosmologen in dieser Hinsicht eine
Verlegenheit zeigt, da sie alles für ihre Theorieen zu deuten wissen,
vorausgesetzt freilich, dafs man die Grundlagen dieser Theorieen zu-
giebt — In weit plausiblerer Weise verwendet Ebert die regel-
inäfsigen Ebbe- und Flutherscheinungen zur Erklärung der Ring-
gebirge, indem er letztere als besondere Erstarrungsvorgänge, hervor-
gerufen durch jene Gezeiten, darstellt, wie schon in vorliegender
Zeitschrift auseinandergesetzt worden ist (HI. Jahrg, Seite 179).
Wio Schmick ein Gegner aller jener Hypothesen ist, welohe zur
Entstehung der Kreisformen der Mondgebirge vulkanische oder hebende
Kräfte zu Hilfe nehmen, findet er darin einen Partner an Frie-
drich Weifs, der ebenfalls den Vulkanismus als Mondbildner nicht
gelten läfst Weifs erblickt die Ursache der Verschiedenheit der
Gebirgsformationen der Erde und des Mondes hauptsächlich in dem
Umstande, dafs die äquatoreale Rotationsgeschwindigkeit beim Monde
nahe 104 mal geringer ist als bei der Erde. Infolge dieser geringen
Axendrehung fehlten auf dem Mondo jene Strömungen, welche auf der
flüssigen Erde in der Richtung der Rotation hin auftraten, und die
Bewegungsdifferenzen zwischen Rinde und Kern. Auf der Erde kam
es infolge der schneller rotirenden Rindentheile vorzugsweise nur zur
Bildung von linearen und Parallelketten, auf dem Monde konnten die
*) Schmick stellt sich vor, dafs das Anprallen des flüssigen Magmas
an der Oberfläche Ringwcllen bildete, etwa in derselben Weise, wie in oiner
Schüssel Wasser durch Anstofsen oder in einem Teiche durch einen plötzlich
emportauchenden Fisch sich Ringwellen zeigon.
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Lagerungen der Oebilde in regelmäfsiger, langsamer und ungestörter
Weise Platz greifen, und darum mufste vorzugsweise die Kreisform Ver-
breitung gewinnen. — Aus der Zeit, wo Plutonisten und Neptunisten
einander scharf bekämpften, sei als Kuriosum die Ansicht Büttners6)
über die Entstehung des Mondes erwähnt, welche illustrirt, wohin ein
einseitiger wissenschaftlicher Standpunkt führen kann. Nach dieser
Hypothese war der Mond eine Nebeltnasse, deren Kern neben festen
Bestandtheilen und Wassermassen auch lebende Wesen enthielt. Die
Vergröfserung dieses Kernes absorbirte den grüfsten Theil des Wassers,
ein anderer Theil ging verloren, der Rest durchfurchte auf vielfache
Weise die schliefsliche feste Oberfläche und brachte so Berge und
Thiiler hervor. Von Wirkungen des Feuers sei auf dem Monde so
wenig zu sehen als auf der Erde, und die vermeintlichen vielen Krater
des Mondes seien sicherlich Täuschungen Frankland hat in
einer Abhandlung1) darauf aufmerksam gemacht, dafs auf der Mond-
oberfläche mindestens an zwei Stellen sichere Spuren alter Gletscher
vorhanden sind. Allein gegen eine selbst nur theilweise Existenz
von Eis tritt sofort die Schwierigkeit auf, dafs sämtliche astrono-
mischen Beobachtungen bisher keine Spur von Wasser auf dem
Monde haben erkennen lassen, und dafs aufserdem das Vorhandensein
einer halbwegs dichten Atmosphäre kaum wahrscheinlich ist Frank-
land wies jedoch darauf hin, dafs der Mond bei seiner kleinen Masse
vermutlilich sehr rasch erkaltet ist und dafs bei dieser schnellen Kon-
zentrirung Höhlenbildungen im Innern eine nothwendige Erscheinung
sein werden. Hätte sich die Mondmasse im selben Verhältnifs wie
der Granit zusammengezogen, so würde eine Erkaltung um 180® F.
Blasenräume von enormen Dimensionen haben schaffen können, und
die auf der Oberfläche stehenden Wassermasson würden füglich, wenn
sie nicht zum Theil vereist wären, vom Mondinnern absorbirt worden
sein. Zöllner hat später in seinen berühmten „Photometrischen
Untersuchungen“ ") dargethan, dafs die Existenz von Eis- und Schnee-
massen auf dem Monde sehr wohl auch ohne das Vorhandensein einer
Atmosphäre möglich ist wenn diese Schneemassen eine Temperatur
von minus 20° C. besitzen. Nach seinen Ausführungen würde alle
Wärme, die der Mond von der Sonne empfängt, zur Verdampfung des
*) Die Entstehung des Erdballes, Mondes und anderer grofser Welt-
körper. 1847.
’) Poggendorf. Annal. Bd. 123 S. 128.
a) IV. Abtheilung. Leber die physische Beschaffenheit der Himmels-
körper. § 84.
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Eises verwendet werden müssen, und der Wiirmetransport müfste ein
so schneller sein, dafs es zu Wolkenbildungen gar nicht kommen
könnte. Demnach wäre die Franklandsche Hypothese, dafs Eis-
bildungen an der Veränderung der Mondoberfläche einen wesentlichen
Antheil gehabt haben, nicht ganz abzuweisen. Uebrigens wird die
Ansicht, dafs das Wasser in gefrorenem Zustande derzeit noch grofse
Flächen des Mondes bedecke, auch von dem Philosophen Schopen-
hauer getheilt. In England haben Ericsson und Peal ähnliche
Ideen vertreten. — Die Franklandsche Idee der Entstehung von
Hohlräumen durch rasche Erkaltung des Mondes adoptirt auch Pater
Braun in seiner Kosmogonie. Die Ringgebirge wären nach ihm das
Resultat von gewaltigem Gewölbeschub. Die Decke, welche die
grofsen Hohlräume nach oben abschlofs, konnte sich beim Vergrüfsern
der Blasen nicht halten, stürzte ein und prefste die Seitenwände des
eingestürzten Gewölbes nach oben. Solche Einstürze, welohe meist
kreisförmige Kessel hervorbrachten, hätten auf der Erde aus dem
Grunde weit weniger Vorkommen können, weil die viel bedeutendere
Schwerkraft die Erzeugung von grofsen Höhlungen verhindert hätte.
Eine von anderen Gelehrten ausgesprochene Ansicht, welche die über-
aus zahlreichen Ringgebirgsformationen daraus erklärt, dafs in der
Bildungszeit des Mondes Kollisionen unseres Satelliten mit kosmischen
Massen vorgekommen sein könnten, und das Hineinstürzen letzterer
die -Ursache der Kesselgebirge sei, findet Pater Braun „recht kind-
lich“, mufs aber später gestehen, dafs diese Vorstellung einige Be-
rechtigung hat Und in der That ist diese Berechtigung eine ansehn-
liche geworden, seit wir aus Darwins Untersuchungen wissen, dafs
der Mond ursprünglich wahrscheinlich einen Schwarm kosmischer
Körper dargestellt hat die sich zum Theil in eine Masse vereinigt haben.
Proctor scheint der Erste gewesen zu sein, der die Idee, dafs die
hauptsächlichsten Mondformationen durch den Sturz von Meteoriten
hervorgebracht worden sein können, ausgesprochen hat In neuester
Zeit hat Gilbert9) diese Hypothese in seiner „Impakt-Theorie“ be-
sonders ausgebildet Nach derselben war der Mond ursprünglich ein
in Meteore aufgelöster Ring, wie es heute noch der Ring des Saturn
ist Diese Meteore haben sich nach und nach zusammengeballt und
einen Körper gebildet Die bei diesen Vereinigungen entwickelte
Hilze reichte, da sie zum Theil durch Ausstrahlung verloren ging,
nur zu einer theilweisen Schmelzung der Massen hin. War die
v) The moons face, a study of the origin of its features (Philosophical
Society of Washington, Bullet vol. XU, 1892.)
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Bahn des Meteorringes eine derartige, dafs sie mehr innerhalb der
Distanz Erde-Mond lag, so konnten die kosmischen Körperchen die
innere Fläche des Mondes treffen. Unter gewissen Voraussetzungen
über die Schnelligkeit der Meteoriten und ihren Fallwinkel findet
Gilbert10), dafs die meisten elliptischen Krater durch das Eiuschlagen
von solchen Meteoriten in den erweichten, partiell geschmolzenen
Boden erzeugt worden sind, deren Richtungswinkel etwa 30 Grad
gegen die Oberfläche betrug. Die tangentiale Komponente der Kraft,
mit der die Meteore gegen die Mondoberfliiche anprallten, hat wahr-
scheinlich, da sie gröfser wurde als die Umdrehungsgeschwindigkeit
des Mondes, die Rotation des letzteren allmählich geändert.
Die Hypothesen, welche für die Erklärung der Formationen der
Mondoberfläche vulkanische und hebende Kräfte in Anspruch nehmen,
sind sehr zahlreich. Bessel hatte das Aussehen der Ringgebirge
mit den Resten von Luftblasen verglichen, welche in zähflüssigen
Substanzen vor dem Erkalten aufsteigen und zerplatzen. Bernhard
Cotta baute hierauf eine Ansicht,11) nach welcher die chemische
Zusammensetzung der festen Stoffe des Mondes eine wesentlich andere
als die der Erde ist; beim Erkalten dieser ehemals geschmolzenen
Massen trat eine aufserordentliche Entwickelung von Gasen auf, welche
gewaltige Blason emportrieben; die Gase wurden beim Zerplatzen der
Blasen frei, schlugen sich während der raschen Abkühlung des
Mondes in fester Form nieder, und die emporgetriebenen Ränder der
Blasen blieben als Ringgebirge erhalten. Der Engländer Ilooke und
in neuerer Zeit Falb12) lehnen sich an ähnliche Meinungen an. Nach
Falb strebten die dünneren ersten Schollen der Mondoberfläche in-
folge der Rotation nach den Polen hin , die dichteren Massen nach
dem Aequator. Die Ebbe- und Fluthbewegungen des Mondinnem
haben wesentlich an einer Sonderung jener Massen mitgewirkt; die
älteren dichten Flächen sind „Hartboden“, die jüngeren, weniger dichten
lagerten sich höher und sind „Weichland.“ An den Rändern beider
Bildungen traten Spaltungen und infolge davon das Emporquellen
von Bergketten ein; im Weichlande durchbrachen mächtige Gasent-
wickelungen den Boden und warfen Blasen auf, deren Resto als Ring-
gebirge bestehen blieben. Beiden Hypothesen, sowohl der Co ttaschen
10) Gilbert gründet seine Auseinandersetzungen auf Experimente, die
er mit Thonkugeln, die von einem Apparate mit bestimmter Geschwindigkeit
unter gemessenen Winkeln gegen eine weiche Thonscheibe geschleudert
wurden, vorgenommen hat.
’*) Geologische Fragen.
'*) Grundzüge zu einer Theorie der Erdbeben und Vulkanausbrüche.
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wie der Falb sehen, sind eine Menge Gründe entgegen gehalten
worden, die wir zum Theil schon in den Werken von Weifs und
Schinick vorfinden. Dem Versuche, die Theorie der Erhebungs-
krater von Hopkins1®) auf die Mondoberfläche anzuwenden, ist schon
Friedrich Weifs entgegengetreten. Nach dieser Theorie konnten
kreisförmige Erhebungen nur in dem Falle erfolgen, wenn die
hebenden Kräfte sich auf einen bestimmten Punkt oder ein eng-
begrenztes Gebiet der Fläche beschränkten; erstreckten sich dagegen
die Hebungen auf ganze Zonen der Rinde, so erzeugte die Streckung
der letzteren Sprünge, welche an der Oberfläche in ziemlich regel-
mäfsiger Weise als rechtwinklig sich kreuzende Längs- und Quer-
spalten zu Tage traten. Auf der Erde steht nun die Verbreitung
von ringgebirgartigen Bildungen zu Parallelketten in einem gleich-
mäfsigen Verhältnisse. Nach F. Weifs hat man keinen Grund, den
hebenden Kräften auf dem Monde eine grüfsere Intensität zuzu-
schreiben als jenen der Erde. Die Erhebungen der Mondfläche sind
nicht bedeutender als die der Erde, dagegen besteht in den Senkungen
unter das Niveau, nämlich der Mondkrater einerseits und der Meeres-
tiefen der Erde andererseits, eine grofse Verschiedenheit, die zu den
kreisförmigen Senkungen auf beiden Weltkürpem in keinem Ver-
hältnis steht. Die Ringgebirge übertreffen an Flächeninhalt die ring-
förmigen Kessel der Erde ganz aufserordentlich , und hierin sieht
F. Weifs den wirksamsten Einwurf gegen die Anwendbarkeit der
Hopkinsschen Theorie. In neuerer Zeit haben Nasmyth und Car-
penter in ihrem Werke über den Mond14» für die Entstehungsweise
der Mondkrater und Ringgebirge die Aufschüttungstheorie von Scrope
verwendet und im 8. Kapitel des Breiteren auseinandergesetzt Diese
Theorie führt die Entstehung kreisförmiger l’mwallungen um vul-
kanische Kegelberge auf die Anhäufung der Auswurfsprodukte aus
der Eruptivspalte des Vulkans selbst zurück. Je nach der Heftig-
keit und Zahl der Ausbrüche variirt die Höhe der entstandenen Um-
wallung; es kommt zur Bildung von Doppelwällen, mitunter zu „Fort-
blasungen“ des Gipfelkegels, und nach dem Nachlassen des Spiels
der vulkanischen Kräfte zu weit reichenden Einsenkungen. Dabei
ist noch an Hansens Bemerkung zu erinnern, dafs infolge der Ver-
schiedenheit des Mondschwerpunktes vom geometrischen Zentrum
jene Kräfte auf der einen Mondhälfte vielleicht viel geringerem
Widerstande begegnet sein können als auf der entgegengesetzten
**) Researches in physical Geology | Philos. Transact.).
") The Moon, considered as a Planet, a world and a satellite. London 1874.
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Halbkugel. Damit würden auch die mitunter außerordentlichen
Dimensionen der Mondkrater nicht mehr so unerklärbar bleiben.
Man war früher geneigt, die Oberflächenphysiognomie des Mondes
als von jener der Erde vollständig verschieden zu betrachten, eine
grofsartige vulkanische Thätigkeit unseres Trabanten anzunehmen, und
die Verwischung der Uebereinstimmung beraerkenswerther Konfigu-
rationen beider Weltkörper ganz auf Reohnung der Arbeit des
Wassers und der Luft zu setzen. Dies hat sich in dem Mafse ge-
ändert, wie sich unsere Kenntnifs der Topographie der Mondoberfläche,
namentlich in den letzten zwanzig Jahren, weiter entwickelt hat. Die
Anwendung kraftvollerer Instrumente und die hierdurch ermöglichten
Detailstudien haben gezeigt, dafs sich beträchtliche Partieen, die man
sonst als Ringgebirge auffafste, nur als von Bergketten umgebene Hoch-
länder enthüllten, eine Menge Krater sich als blofse Berggipfel heraus-
stellten, schroffe Böschungen verschwanden u. s. f.; dafür tauchte eine
Menge feinen Details auf, das auch auf unserer Erde zu finden ist.
Wenn man erwägt, dafs die den Erdformationen etwa ähnlichen
Gebilde des Mondes wegen ihrer geringen Ausdehnung zu den am
schwierigsten wahrnehmbaren Gegenständen gehören, und dafs die
Erkenntnis des wahren orographischen Charakters der Mondland-
schaften schon bei den erheblichen Formationsarten, geschweige denn
bei feinen Objekten, mit zwei Hauptschwierigkeiten fort und fort
zu kämpfen hat, nämlich mit den komplizirtcn Beleuchtungs- und
Librationsverhältnissen der Mondoberfläche, so wird man die Hinder-
nisse würdigen, die in Bezug auf die Vergleichung der Oberfläohen
beider Weltkörper der Forschung hier entgegenstehen. Erst in
neuerer Zeit häuft sich brauchbares Material, welches die Entdeckung
von Analogieen im Gebirgsbau ermöglichen und einen Schlufs darüber
zulassen wird, welche Kräfte etwa auf der Erde und dem Monde in
ein und derselben Weise bildend gewesen sind. Bis jetzt ist nur
einer der gediegenen Kenner des Mondes, Julius Schmidt, auf die
Feststellung einiger Hauptlinien zu solchen Vergleichungen bedacht
gewesen,15) indem er allgemeine, charakteristische Verhältnisse in
dieser Beziehung festgestellt hat. Die Selenographen Beer und
Mädler haben in ihrem grundlegenden Werke16) in vorsichtiger
ls) Der Mond. Leipzig 1856.
'*) Der Mond nach seinen kosmisch, u. indiv. Verhältnissen. 1837. — Inter-
essenten finden dort derlei Bemerkungen über die Ringgebirge Geminus, Mene-
laus, Sulpicius Gallus, Aristoteles, Autolycus, aufsordem einige allgemeine An-
sichten Seite 403.
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Theil der Mondoberfläche. Der Vesuv und seine vulkanische Umgebung.
Gegenüberstellung vulkanischer Gegenden des Mondes und der Krdo.
(Nach Nasmyth und Cariieiiter.)
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Weise das zusammengestellt, was ihnen in Betreff auf das Wirken
vun Kräften in bestimmten Richtungen und an besonderen Merk-
malen aufgefallen ist. Der Geologe Boue hat in einer Abhand-
lung17) die terrestrischen Eigenthümlichkeiten zusammengefafst, in
denen man gegenwärtig noch die Spuren einer zerstörten oder ver-
wischten mondartigen Plastik erkennen kann. Nach ihm liegen
uralte Krater in Zentralfrankreich (Mont dor, Lozöre, Puy de Dome,
Ardeche), Nordfrankreich (Spuren zwischen den Vogesen und Ar-
dennen, der Manche und Bretagne), Spanien (das Duero-, Gra-
nada- und Madrider Becken), Rufsland (Niederungen zwischen dem
Ural und Podolien), Asien (Tianschan, Altai, Pamir, Becken von
Südchina) u. s. w. Als Theile ehemaliger Krater sind zu betrachten:
die Ebene des Po, die wallachisch-bulgarische Niederung zwischen dem
Balkan und den transsylvanischen Alpen, das spanische Becken des
Ebro und Guadalquivir. Reste ähnlicher Formationen finden sioh in
Süd westfrankreich und dem südöstlichen England. Auf den ringgebirg-
ähnlichen Bau und eine ehemals elliptische Form weisen verschiedene,
durch Flufsläufe bestimmte Bildungen hin: so bewässern Euphrat und
Tigris in Mesopotamien einen elliptischen Krater, der nach Süden
offen ist und an seinen Rändern plutonische und trachytische Eruptious-
punkte zeigt. In Hindustan läuft der untere Ganges in einer ellip-
tischen Vertiefung, die nach Südost geöffnet ist. Aehnliche solche
Spuren findet man in der Gobi, am unteren Irawaddi, in Frankreich
zwischen der Loire, Allier, Vienne und Glain u. s. f. Die Umwallungen
von Böhmen und Ungarn, Siebenbürgen, verschiedene eben solche
in Kleinasien und Persien gehören gleichfalls, ohne dafs sie als Krater
aufgefafst zu werden brauchen, zu bemerkenswertheu Parallelen der
Mondplastik. — Nasmyth und Carpenter haben nach Beer-
Mädlers Mondkarte die Ringgebirge plastisch hergestellt und photo-
graphirt. Freilich können auf solche Photographieen gegründete
Schlüsse sich leicht als Illusionen erweisen. Dafs dem Anscheine
nach Kongruenzen der Mond- und Erdformationen vorhanden sind,
deren Eindruck durch künstliche Mittel gesteigert werden kann,
während ihnen in der That nur eine sehr bescheidene Beweiskraft
zukomrat, sieht man aus dem diesem Aufsatze beigegebenen Doppel-
bilde (siehe das Titelblatt), welches dem Nasmyth-Carpentersohen
Werke entlehnt ist und eine Vergleichung der unter bestimmten Be-
") Ueber den Begriff der Beatandtheile einer Gebirgskette, sowie die
Gebirgssystemvorgleiuhung der Erd- und Mondoberfläche. (Sitzungsber. d.
Wiener Akademie d. Wissensch. Bd. 69, I. Abth. Mathem. Klasse.)
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leuchtungsverhältnissen stehenden Plastik der Umgebung von Neapel
mit den Ringgebirgen einer Mondlandschaft vorstellt.
Die Frage, welche Ursachen bei der Gestaltung der Erdober-
fläche, besonders in Hinsicht auf die Anordnung der Kontinente und
Meere, mitgewirkt haben, können wir hier nur flüchtig berühren, da
Erörterungen hierüber schon in den Bereich der Geologie gehören.
Wir wollen nur zwei Hypothesen zitiren, welche kosmische Gründe
dafür aufführen. Es ist auffällig, dafs die gröfsten Erhebungen, die
bedeutendsten Gebirge und Plateaus sich in der äquatorealen Zone
vorfinden, dafs hingegen die grofsartigsten Senkungen auf der Süd-
halbkugel, in den Meerestiefen des stillen Ozeans, der Südsee und
des atlantischen Meeres vereinigt erscheinen. Man hat diese Ver-
theilung des Festen und Flüssigen resp. der Erhebungen und Senkungen
aus einer ehemals anderen Stellung der Erdaxe gefolgert, indem durch
eine Aenderung dieser eine plötzliche Katastrophe in der Vertheilung
hervorgerufen worden sein soll. Nach F. Weifs würde nun die An-
ziehung des Mondes auf die äquatoreale Anschwellung der Erde, welche
bei der Bildung der Erde als ellipsoidischer Körper resultirte, hin-
reichend gewesen sein, um eine solche Störung der Rotationsaxe zu
bewirken und ein Uebergewicht der einen Erdhälfte über die andere
herbeizuführen. Nach anderen Meinungen bildeten sich durch un-
regelmäfsige Rücksenkungen des Festen gegen den flüssigen Erdkern
eine Reihe zusammenhängender grofser Hohlräume, welche schliefslich
geborsten sind und die mittlerweile niedergeschlagenen Wassermassen
in sich aufgenommen haben.
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Der Finlaysche Komet, dessen erstmalige Wiederkehr in diesem
Jahre erwartet wurde, ist von Finlay selbst am 17. Mai auf der Kap-
sternwarte als schwacher Nebel wieder aufgefunden Morden. Wegen
der ungünstigen Stellung des Kometen nahe bei der Sonne konnten
sich von vornherein eigentlich nur die südlicher gelegenen Obser-
vatorien von einer Nachsuchung Erfolg versprechen; aus demselben
Grunde werden auch Beobachtungen des Gestirns in unseren Breiten
vorerst noch unmöglich sein.
Finlay s Komet gehört bekanntlich zu der kleinen Gruppe von
Kometen mit kurzer Periode, da er einen Umlauf um die Sonne schon
in etwa 6,7 Jahren vollendet. Er wurde im Jahre 1886 entdeckt und
zeigte anfänglich in seinen Bewegungsverhaltnissen grofse Aehnlich-
keit mit dem 1844 entdeckten, ebenfalls periodischen, aber seither nicht
wieder aufgefundenen De Vicoschen Kometen. Die Vermuthung einer
Identität zwischen den beiden Himmelskörpern, welche sich auf die
Annahme einer beträchtlichen Störung dos Kometen von 1844 gründete,
erwies sich indessen als unzutreffend, und die nun erfolgte Auffindung
des F in lay sehen Komoten nabe an dem durch die Rechnung vorher
bestimmten Orte ist ein fernerer Beweis dafür, dafs ein innerer Zu-
sammenhang zwischen ihnen nicht besteht G. W.
f
Aufsteigendes Meteor. Die Bahnbestimmung einos am 7. Juli
1892, 8h 2m Weltzeit, über Oesterreich und Italien gezogenen Meteors
hat Prof. v. Niessl*) zu dem bemerkenswerthen Ergebnifs geführt,
dafs in diesem Falle der Meteorkörper im letzten Theile der Flugbahn
zweifellos eine aufsteigende Bewegung ausgeführt hat. Obgleich ein
derartiges Aufsteigen eines Meteors nach Erreichung der Erdnähe P
(vergl. die Figur)**) durchaus als nicht unmöglich gelten mufste, hat
•) Sitzungsber. der Akad. der Wissensch. in Wien. Math.-naturw. Klaase.
Bd. C II, Abth. II a.
**) Die Flugbahn A E des Meteors ist in der Figur geradlinig gezeichnet,
da es ein so kleiner Theil der um die Sonne beschriebenen Hyperbel ist, dafs
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doch vordem noch kein einziger Fall dieser Art mit Sicherheit fest-
gestellt werden können. In den bisher berechneten Fällen drangen
die Meteorkörper meist so tief in die Atmosphäre ein, dafs bereits vor
erreichter Erdnähe eine völlige Hemmung der Bewegung und eine
Auflösung der meteorischen Massen eintrat. Das Kriterium für eine
zuletzt wieder aufsteigende Balm liegt offenbar in der Höhe des
Radiationspunktes (unendlich fernen Punktes der Verlängerung von EA)
in Bezug auf den Horizont E II des Verlüschungspunktes E. Liegt
nämlich der Radiationspunkt unter diesem Horizont, dann war die
Meteorbahn zuletzt aufsteigend. Im vorliegenden Falle lag nun Punkt
E in der aufserordentlichen Höhe von 158 km über einer etwa 70 km
von der Tibermündung entfernten Stelle des tyrrhenischen Meeres.
Der scheinbare Radiationspunkt lag in a = 349°, 5 = -i- 8° und so-
^ £ nach 91, j° unter dem Horizont des Endpunk-
'/i. tes E, die Bahn war also in der That eine
*/y' aufsteigende. Die gesamte beobachtete, mit
A / f \ \ der rasenden Geschwindigkeit von 87 km in
/ jT’'J I '*er Sekunde durcheilte Bahnlänge A E be-
\ J läuft sich auf etwa 1100 km, und die Erd-
\ J nähe P (in der Gegend von Karakal in Ru-
N. mänien) war immer noch fi8 km von der
Erdoberfläche entfernt Entsprechend dieser
grorsen Höhe, in welcher sich die Erscheinung abspielte, war die
Helligkeit der Feuerkugel keine übermäfsige, und es wurde eine Deto-
nation nirgends gehört. Während sich mitten im Laufe wiederholt
kleinere, bald verlöschende Theile vom Hauptkörper loslösten, scheint
am Verlöschungspunkte eine mit Zerspringen verbundene Hemmung
gar nicht stattgefunden zu haben, sondern die Massen haben sich ent-
weder durch das Glühen allmählich gänzlich verzehrt, oder es haben
gar Reste desselben sohliefslich wieder unsere Atmosphäre verlassen,
um im Weltraum ihre hyperbolische Bewegung um die Sonne weiter
fortzusetzen. F. Kbr.
*
Ueber die veränderlichen Sterne, die einem bedeutenden Wechsel
ihres Glanzes, aber erst in langen Zeiträumen unterworfen sind, wie
H| o Ceti und H2y Cygni hat Townley vom Lick - Observatorium in
von der Krümmung noch nichts zu merken. Auch die Wirkung der 'Erdan-
ziehung kann wogen der schnellen Bewegung der Meteore in der Regel ganz
vernachlässigt werden.
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einem der letzten Hefte der Publ. of the Astr. Soc. of the Pacific eine
längere und zusammenfassende Arbeit veröffentlicht. Die Veränder-
lichen überhaupt werden in fünf Klassen untergebracht, von denen
die erste die neuen Sterne — wie Tychos Nova von 1572 und die
vorjährige im Fuhrmann — umfafst, die dritte solche Sterne enthält,
deren Lichtwechsel sich nach unbekannten Gesetzen und zwar stets
in engen Grenzen vollzieht, wie Beteigeuze und a Cassiopejae, die
vierte sich aus denjenigen zusammensetzt, die ihr Licht kontinuirlicb,
aber mit grofser Regelmäfsigkeit innerhalb eines Zeitraums von weniger
als einem Monat wechseln, wie ft Lyrae und 3 Cephei, die fünfte aber
die Sterne vom Algoltypus vereinigt, deren Licht mit grofser Regel-
mäfsigkeit während einer mehrtägigen Periode auf einige Stunden
stark herabgeht. Die zweite Klasse endlich bilden 132 Sterne, deren
Lichtwechsel sich in grofsen Perioden von mehrmonatlicher, selbst
Jahre langer Dauer vollzieht, die nie weniger als 65 Tage, meist mehr
Fig. 1.
als 100 Tage und in 41 pCt. aller Fälle 300 bis 400 Tage beträgt
Der Betrag des Wechsels ist dabei gewöhnlich fünf bis acht Gröfsen-
klassen, was einer Vermehrung oder Verminderung des Glanzes um
das 100- bis 1500-fache entspricht. Der allgemeine Verlauf der Licht-
änderungen ist dabei für fast alle Sterne der zweiten Klasse derselbe;
nur in Besonderheiten weicht er ab, so dafs einige Sterne flache
Helligkeitsmaxima, andere scharfe besitzen, einigen scharf ausgeprägte
Minima und flach verlaufende Maxima zukommen, und auch das Um-
gekehrte vorkommt. Fast alle aber wachsen schneller zu ihrer gröfsten
Helligkeit an, als sie zum geringsten Glanze verblassen. (Vergl. z. B.
die oben abgezeichnete Lichtkurve, Fig. 1.) Fast alle Sterne dieser
Klasse sind von rother Farbe, und hier wie bei den anderen
Klassen scheint das Gesetz zu gelten, dafs der Grad der Rothe desto
höher wird, je länger die Periode ist Dementsprechend ist auch
das Spektrum dieser Sterne vom Typus III., d. h. Roth herrscht darin
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vor, und es enthält ausgeprägte Absorptionsbanden. Nach den Ur-
sachen für die Veränderlichkeit dieser Sterne suchend, wird man
natürlich hier alle diejenigen Theorieen, durch die man auch die Natur
der anderen Variablen zu erklären versucht hat, anzuwenden haben
und dabei den verschiedenen oben bezeichneten Eigentümlichkeiten
gerecht werden müssen.
Die für die Sterne vom Algoltypus durch die Spektralmessungen
zur höchsten Wahrscheinlichkeit gebrachte Theorie, dafs ein dunkler
Trabant uns zeitweise das Licht des Sternes entzieht, kann hier aber
schon deshalb nicht angewendet werden, weil dann das Licht der
fraglichen Sterne wenigstens für die halbe Umlaufszeit des Trabanten
konstant sein müfste, während die Veränderungen hier allmählich vor
sich gehen. Man könnte ferner annehmen, dafs diese Sterne eine
Achsendrehung durchmachen, bei der sie uns Oberflächentheile von
verschiedener Albedo zeigen; bei der Gröfse der fraglichen Veränderung
ist aber selbst diese Vermuthung von der Hand zu weisen, die übrigens
auch den eigenthümlichen Gang der Aenderung nicht erklären würde.
Die von Klinkerfues aufgestellte Hypothese, die, von dem Charakter
des Spektrums ausgehend, der Atmosphäre dieser Sterne sehr ab-
sorptive Eigenschaften zumuthet und annimmt, dafs ein Trabant in der-
selben gewaltige Fluthwirkungen hervorbringt und so die Höhe der
absorbirenden Schichten zeitweise gewaltig erhöht, bietet ebenso wenig
eine Erklärung für das eigenthümliche Gesetz des Lichtwechsels, da ja
dann das Intervall vom Maximum zum Minimum der Helligkeit eben-
so oft kürzer wie länger sein müfste als das andere. Sodann liefse
sich an eine Aehnlichkeit mit dem Tagesgestirn denken, das offenbar
seine Helligkeit ändert, wenn die Zahl der Sonnenflecke ab- oder zu-
nimmt. Wenn man die Kurve für die Häufigkeit der Sonnenflecke
zeichnet und sie mit der Lichtkurve dieser Veränderlichen vergleicht,
so ist eine gewisse Aehnlichkeit in der That unverkennbar. Ebenso
entspricht das Erscheinen heller Spektrallinien, das man bei diesen
Sternen zur Zeit des höchsten Glanzes wahrgenommen hat, dem
helleren Aufleuchten der Korona zur Zeit der Sonnenfleckenmaxima.
Aber doch sind Unterschiede von solchem Range vorhanden, dafs sie
gegen diese Hypothese den Ausschlag geben. Die Sonne erreicht
nämlich ihren höchsten Glanz gerade zur Zeit ihrer höchsten Thätig-
keit, d. h. wenn die Zahl der Flecke ihr Maximum erreicht, während
man das Umgekehrte erwarten sollte. Andererseits ist die Differenz
ihrer maximalen und minimalen Helligkeit eine sehr geringe im Ver-
gleich mit derjenigen unserer Variablen. Es ist auch gar nicht zu
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verstehen, dafs der Niederschlag’ erkalteter und starr gewordener
Materie, durch die man sich ja die Fleckenbildung erklärt, je einen
so hohen Grad erreichen sollte, dafs er eine Helligkeitsänderung um das
Tausendfache erklären könnte. Schliefslioh hat auch die Sonne einen
ganz anderen Spektralcharakter als unsere Variablen. So bleibt uns nur
noch die von Lockyer aufgestellte Hypothese übrig, dafs wir in
diesen Sternen es gar nicht mit kompakten Körpern zu thun haben,
sondern dafs sie aus Massen von kleinen Himmelskörpern bestehen,
also Meteorschwärme sind. Wenn wir uns für einen Augenblick
auf den Boden dieser Theorie begeben wollen, so wird es uns in der
That gelingen, eine hinreichende Erklärung für das sonderbare Phä-
nomen zu finden. Nehmen wir dazu nur an, dafs um jenen Körper
oder besser jenen Meteorschwarm ein eben solcher in einer sehr ex-
centrischen Bahn sich herumbewegt (vgl. Fig. 2), dann wird es mög-
lich sein, dafs die Sterne zu gewissen Zeiten einander nahe genug
kommen, um die Zusommenstöfse zwischen den einzelnen Elementen
zu vervielfachen, und ein stärkeres Aufleuchten des Objekts her-
vorzubringen, während zu anderen Zeiten jenes Aufleuchten seltener
ist. Die sekundären Maxiina liefsen sich durch das Eindringen eines
zweiten Meteorschwarms in den erston wohl erklären, und so bleibt
nichts bei dieser Theorie unerklärt. Sie ist es ja auch, die mit Vor-
theil für die Erklärung des vorjährigen neuen Sternes sich anwenden
liefe; und wenn man erwägt, dafs wir in den Meteorschwärmen der
Leoniden und Andromediden, die uns seit langen Zeiten bekannt
sind, solche Meteorschwärme keimen, die trotz ihres langjährigen Be-
standes noch nicht in einen gleichmäfsig dichten Ring aufgelöst sind, so
läfst sich an dieser Erklärung in der That kaum etwas aussetzen.
Freilioh wird besonders von den Spektralforschern noch einiges ge-
schehen müssen, um die Wahrscheinlichkeit des Prinzips, das Lockyer
hier aufgestellt hat, festzustellen. Sm.
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Das Augettleuchten und die Erfindung des Augenspiegels, dargestellt in
Abhandlungen von v. Brücke, Cumening, v. Helmholtz und
Rüte. Hamburg u. Leipzig, Verl. v. Leop. Vofs. Preis geb. 2,50 M.
Das vorliegende, sehr sauber ausgestattete Büchlein bildet den ersten
Band einer Sammlung älterer Beiträge zur Physiologie der Sinnesorgane,
welche Prof. A. König herauszugeben beabsichtigt. Das Unternehmen wird
sicherlich in den Kreisen der Physiologen und Aerzte ebenso freudig begrüfst,
wie Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften in den betreffenden
Fachkreisen. Von den im vorliegenden Bande abgedruckten 6 Abhandlungen
behandeln die ersten drei von Brücke und Cumening das ohne Instrument
unter Umständen zu beobachtende Augcnleuchten, während die drei letzten
Abhandlungen von Helmholtz und Hüte die Erfindung des Augenspiegels
und den Gebrauch desselben in seiner einfachsten Gestalt zum Gegenstand
haben, F. Kbr.
Wildermann: Jahrbuch der Naturwissenschaften. 8. Jahrgang. 1892—93.
Freiburg i. B. 1893, Herderscher Verlag. Preis 6 M., geb. 7 M.
Dem von uns bei der Anzeige des vorigen Jahrgangs ausgesprochenen
Wunsche, auch auf dem Gebiet der Astronomie alle wichtigeren neuen Ent-
deckungen zu besprechen, ist von Seiten der Redaktion bereitwillig Folge
gegeben worden , was wir hiermit dankbar anerkennen. Im übrigen zeigt
auch der vorliegende Jahrgang die gleiche Reichhaltigkeit und das gleiche
Geschick in der Auswahl der wichigsten Fortschritte der gesamten Natur-
wissenschaften und der Technik, wie seine bereits früher empfohlenen Vor-
gänger. F. Kbr.
Drorkfchlerberichtigung.
In der Bezeichnung der Marskarten im letzten Hefte sind zwei Fehler
unterlaufen: Unter die Karte auf Seite 415 ist dieselbe Unterschrift gesetzt wie
unter die vorangehende; es ist statt ihrer darunter zu setzen „Karte des Mars
von Kaiser aus dem Jahre 1S64U. Unter die zweite Karte auf Seite 423 ist
zu setzen „Kanäle, beobachtet von Perrotin und Thollon im Jahre 1886“.
Diese Karte selbst ist eine Reproduction der allbekannten Zeichnung Schia-
parellis, und nur die darauf mit Buchstaben verschonen Kanäle sind von den
Nizzaer Beobachtern verifleirt worden. D. R.
Verlag tod Hermann Paetel in Berlin. — Druck von Wilhelm Qronau's Huchdruckerei in Berlin.
Kür die Hcdactmu verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser ZeiUchrifl untersagt.
UebemeUungarecht Vorbehalten.
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Galileo Galilei
Vortrag, gehalten im mathematischen Verein zu München
von Professor Or. von llranamtihl.
fm 7. Dezember des vergangenen Jahres hat die Universität
Padua unter zahlreicher Betheiligung von Gelehrten und Ge-
bildeten aller Nationen ein Fest gefeiert zum Gedächtnifs eines
Mannes, dessen Andenken nio erlöschen wird, solange die Mensch-
heit die Freiheit des Denkens und die Freiheit der wissenschaftlichen
Forschung als die höchsten idealen Güter des Lebens betrachtet.
An diesem Tage waren es nämlich 300 Jahre geworden, seit
Galileo Galilei seine Lehrthätigkeit in Padua begonnen hatte — ein
Zeitpunkt, der nicht nur von jener Stadt im Gedächtnifs behalten und
gefeiert zu werden verdient, sondern der für die ganze gebildete Welt
von Interesse und Bedeutung ist, da während Galileis Aufenthalt in
Padua einerseits seine unvergleichliche Lehrbegabung zur glänzenden
Entfaltung gelangte, und andererseits die Grundlagen zu seiner refor-
matorischen Thätigkeit im Gebiete der Naturphilosophie geschalfeu
wurden.
Es dürfte daher wohl am Platze sein, wieder einmal auf diesen
gewaltigen Mann hinzuweisen, von dessen Auftreten an eine neue Aera
der naturwissenschaftlichen Forschung datirt werden mufs, und unter
Schilderung der wichtigsten Momente seines ereignil'sreichen Lebens
vor allem die Stellung zu charakterisiren, die ihm als dem Träger
neuer bahnbrechender Ideen unter seinen Zeitgenossen zukommt.
Nach den neuesten Forschungen ist Galileo Galilei wahr-
scheinlich am 16., nicht am 18. Februar 1564 zu Pisa geboren als
Sohn des Vinoenzio di Michelangelo Galilei aus Florenz und
dessen Gattin Giulia di Cosimo Anuuananti aus Pescia. Sein
Himmel und Erde. 1898. V. 11. 33
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Vater stammte aus einer vornehmen Familie, war aber mehr mit
Kindern als mit irdischen Glücksgütern gesegnet Doch liefs er sich
die Erziehung seiner Nachkommen sehr angelegen sein und unter-
richtete, als ein Mann, der selbst in den Künsten vielfach bewandert
war, namentlich den jungen Galilei schon frühzeitig in der praktischen
und theoretischen Musik, die auch Zeit seines ganzen Lebens die Er-
holung von seinen ausgedehnten Studien blieb. Wie sich Galileo
später im Lautenspiele so hervorthat, dafs er mit den hervorragendsten
Vertretern dieser Kunst wetteiferte, so brachte er es auch im Zeichnen
und Malen so weit, dafs die bedeutendsten Künstler seiner Zeit,
wie Bronzino und Cigoli, oft seine Ansichten und seinen Rath
einholten.
Sein Vater, der selbst einen Tuchhandel betrieb, hatte ihn zuerst
für den kaufmännischen Beruf bestimmt; als er aber seine eminenten
Fortschritte im Studium der klassischen Sprachen sah, die er unter
Leitung eines sehr mittelmäfsigen Lehrers betrieb, sowie seine Ge-
schicklichkeit in der Konstruktion von Maschinen aller Art erkannte,
gab er seine Absioht auf und schickte ihn im Alter von 17 Jahren
zum Studium der Medizin, das damals sehr einträglich war, auf die
Hochschule in Pisa, wo er am 5. September 1D81 immatrikulirt wurde.
Hier studirte er neben Medizin auoh die peripatetische Philosophie,
die damals allgemein gelehrt wurde, und eignete sich die gründlichsten
Kenntnisse in dieser Wissenschaft an, um sie dann zeitlebens mit den
scharfen Waffen seines Geistes zu bekämpfen.
In diese Zeit seines Studienaufenthaltes in Pisa fallt bereits die
Entdeckung des Isochronismus der Pendelschwingungen1)
(1582) — die Geschichte von der schwingenden Lampe im Dome zu
Pisa, die ihn auf diese Entdeckung geführt haben soll, ist ja allge-
mein bekannt. — Auch soll Galilei diese Entdeckung zur Kon-
struktion eines Apparates zur Messung der Pulsschläge verwerthet
haben, doch ist uns hierüber nichts Genaueres überliefert.
Damals hatte Galilei noch nioht die mindesten mathematischen
Kenntnisse, und wir haben auoh nur Vermuthungen und märchenhafte
Erzählungen darüber, wie er zu dem Studium dieser Wissenschaft ge-
führt wurde. Nnr soviel ist sicher, dafs er von Ostilio Ricci, einem
Lehrer der Mathematik in Pisa, seinen ersten Unterricht im Euklid
genofs und bald solche Freude an der Geometrie fand, dafs er in
1 ) Man versteht darunter bekanntlich das Gesetz, dafs die Schwingungs-
zeit von der Gröfse des Ausschlagwinkels unabhängig ist.
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seinen Vater drang, ihm die Erlaubniß zum Aufgeben des medizinischen
Studiums zu ertheilen, was derselbe auch nach langem Zögern und
mit schwerem Herzen that, naohdem er sich von dem unüberwindlichen
Hange seines Sohnes zu den mathematischen Wissenschaften über-
zeugt hatte.
üa aber Vincenzio Galilei nicht die Mittel besafs, um seinen
Sohn noch länger in Pisa studiren zu lassen, und da daselbst auch
nicht besonders viel in der Mathematik zu holen war, so kehrte
Galilei nach Florenz zurück und widmete sich mit aller Energie dem
Studium der alten Geometer. Aus dieser Zeit sind uns einige Arbeiten
von ihm bekannt. Archimedes Bestimmung des Silber- und Gold-
gehaltes der Krone des Königs Hiero von Syrakus durch Wägung
veranlafste ihn zur Erfindung der hydrostatischen Waage. Außer-
dem machte er eingehende Studien über den Schwerpunkt der
Körper, um die Lücken in einem Werke des Commandinus zu er-
gänzen, bis er fand, dafs Lu ca Vaierio die Theorie des Schwer-
punktes bereits vollständig behandelt hatte. Namentlich diese letzteren
mathematischen Arbeiten, von denen erst jüngst Bruchstücke im ersten
Bande der neuen Galilei-Ausgabe publizirt wurden, machten den
Marquis Guido Ubaldo del Monte, einen hervorragenden Mathe-
matiker der damaligen Zeit, auf ihn aufmerksam und flößten ihm
solche Bewunderung ein, daß er sagte, seit Archimedes sei kein
solches Genie mehr in der Wissenschaft erschienen wie Galilei.
Dieser Guido Ubaldo und sein Bruder, der Kardinal Franoesco
Maria del Monte, nahmen sich warm des jungen Galilei an und
verschafften ihm durch ihre Empfehlung im Juli 1689 vorerst auf drei
Jahre den Lehrstuhl der Mathematik in Pisa, der durch den Tod von
Galileis erstem Lehrer Ricci erledigt war. Das Gehalt, das er hier
bezog, betrug allerdings nur 1 Frcs. täglich, aber Galilei war doch
wenigstens für den Augenblick von der drückendsten Noth befreit
Schon damals widmete er sich mit aller Energie dem Studium
der Be wegungsgosetze, die er als den Schlüssel zu einer richtigen
Erkenn tniß der Naturerscheinungen ansah.
Aber auch schon von diesem Zeitpunkte an ist der Beginn des
Kampfes zu datiren, den Galilei sein ganzes Leben hindurch gegen
die Aristotelischen Prinzipien der Naturphilosophie führte, die
mit einer jetzt gar nicht mehr zu begreifenden Gewalt damals alle
Geister beherrschte.
Wohl hatten schon vor ihm einige selbständige Köpfe, wie
Varchi (1544) und Benedetti (1663) diese Schranken zu durch-
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brechen gesucht, aber es fehlte ihnen theils die hinreifseude Macht
der Bered tsamkeit, die Galilei besafs, theils auch der Muth und die
geistige Kraft, um aus ihren Anschauungen die letzten Konsequenzen
zu ziehen. Wir besitzen aus jener Zeit von Galilei noch zwei Ab-
handlungen, in denen er die Fallgesetze behandelt; die eine mit
dem Titel „De motu“, wurde zum ersten Male im ersten Bande der
neuen Ausgabe seiner Werke veröffentlicht, während die andere:
„Sermones de motu gravium“, die etwas später entstand, seit
1854 bekannt ist. In beiden Abhandlungen greift er die Aristotelis-
sche Ansicht an, dafs es schwere und leichte Körper gebe, indem er
behauptet, dafs jeder Körper der Schwere unterworfen ist; ferner wendet
er sich gegen die Ansicht, dafs die Geschwindigkeit der fallenden
Körper ihrem Gewichte direkt und der Dichte des Mediums, in
welchem der Fall stattfindet, umgekehrt proportional sei; auch findet
er bereits das Gesetz, dafs die Geschwindigkeiten beim freien
Fall proportional der Zeit wachsen, und beweist es durch Ex-
perimente mittelst der Fallrinne; endlich wendet er sich gegen die
Anschauung, dafs bei der sogenannten gewaltsamen Bewegung,
wie z. B. beim Wurfe, die Ursache der Fortdauer der Bewegung nach
Aufhören des veranlassenden Stofses in dem bewegten Mittel — der
Luft — liege. Nach Galileis Ansicht erklärt sich dieser Umstand viel-
mehr aus der „virtus impressa“, d. h. aus einer dem bewegten Körper
durch die ursprüngliche Bewegungsursache „eingeprägten Kraft“ oder,
was dasselbe ist, aus dem Beharrungsvermögen, eine Erklärung,
die übrigens auch schon sein Vorläufer Benedetti gegeben hatte.
Allerdings sind seine Anschauungen über diese „eingeprägte
Kraft“ noch vielfach unrichtig, indem er z. B. glaubt, dieselbe nehme
mit der Fortdauer der Bewegung beständig ab, um schliefslich ganz
zu erlöschen. Auch unterscheidet Galilei in den Sermones im An-
schlufs an Aristoteles beständig zwischen natürlicher und ge-
waltsamer Bewegung und behält diese merkwürdige Auffassung, die
der Weiterentwickelung der Mechanik am meisten im Wege stand,
auch in den reifsten Sohriften der späteren Periode seines Lebens bei.
Aber wenn auch seine Ansichten damals und manchmal auch später
noch nicht überall das Richtige trafen, so hat er doch das unschätz-
bare Verdienst, dafs er überhaupt die Bewegung beobachten lehrte
und durch soine Fallversuche, die er aufser mit der schiefen Ebene
auch auf dem schiefen Thurme von Pisa anstellte, zum ersten Male
das Experiment als ein der Spekulation ebenbürtiges Mittel der
wissenschaftlichen Forschung einführte.
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Auf diese Sermones, von denen ich nur weniges mitgetheilt habe,
ist Galilei noch einmal am Ende seines Lebens zurückgokommen.
Sie bilden nämlich das Fundament seines grofsartigsten Werkes, der
„Diseorsi“, in denen er die Gesetze der gleichförmigen und der
gleichförmig beschleunigten Bewegung niederlegte und so die
Basis der Dynamik schuf. Dabei ist es wichtig, zu bemerken, dafs
Galilei viele Sätze fast wörtlich aus den Sermones in seine Diseorsi
aufnehmen konnte, weil daraus horvorgeht, dafs er schon anfangs der
zwanziger Jahre seines Lebens seine Grundgedanken fafste und sogar
deren wesentlichste Konsequenzen zog.
Obgleich die Neuheit und Schönheit seiner Experimente, vor
einem immensen Publikum ausgeführt, einerseits einen grofsen Enthu-
siasmus errregten, so riefen sie andererseits auch Neid hervor. Zu-
gleich machten ihm seine Angriffe gegen die Aristotelische Schul-
weisheit die herrschenden Peripatetiker zu Feinden, zumal er schon
damals, wie überhaupt während seines ganzen Lebens, den Streit
selten auf das absolut nöthige Mafs beschränkte, sondern ihn geradezu
aufsuchte. Doch kümmerte sich Galilei sehr wenig um den Anstofs,
den er durch seine reformatorischen Bestrebungen erregte, da er sich
durch die Gunst seines Landesherrn gesichert glaubte. So sagt er
z. B. in den Sermones einmal: „Quod hoc multorum opinioni adver-
setur, nil mea refert, dummodo rationi et experientiae congruat.“5)
Aber diese Gunst wurde durch die Einflüsterungen seiner Gegner
allmählich geschwächt und war bald ganz verscherzt, als er eine
Maschine für unbrauchbar erklärte, welche Johann von Medioi,
ein natürlicher Sohn des Fürsten Cosmo L, zur Reinigung des Hafens
von Livorno erfunden hatte. So mufste Galilei, nachdem sein Tri-
ennium vorüber war, Pisa verlassen und stand ohne Mittel und
Stellung der drückenden Aufgabe gegenüber, die zahlreiche von soinem
inzwischen verstorbenen Vater hinterlassene Familie zu erhalten. Dooh
kam ihm auch diesmal wieder sein Gönner Guido Ubaldo hilfreich
entgegen, indem er ihn an den reichen Patrizier Salviati in Florenz
empfahl, der ihn thatkräftig unterstützte und mit dem vornehmen
Venetianer Sagredo bekannt machte. Dieser verschaffte ihm zu-
nächst auf 6 Jahre den Lehrstuhl der Mathematik in Padua, der
durch den Tod Molcttis erledigt war. Die beiden genannten Männer
Salviati und Sagredo blieben zeitlebens Galileis beste Freunde,
’) Dafs dios dor Ansicht vieler widerspricht, ist mir ganz gleichgültig,
wenn es nur mit der Vernunft und der Erfahrung übereinstimmt.
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und zum Danke dafür errichtete er ihnen ein unvergängliches Denk-
mal, indem er sie in seinen unsterblichen Dialogen über die beiden
Weltsysteme wie in seinen Disoorsi als redende Personen einführte.
Am 7. Dezember 1592 also begann Galilei seine Lehrthätigk eit
in Padua, die er in einer Stadt, die unter dem Senate der Republik
Venedig stand, mit weit größerer Freiheit als in Pisa auszuüben im
Stande war. Hier hielt er Vorlesungen über Gnomonik, Mechanik,
sphärische Astronomie und Befestigungskunst, und zwar vor
so zahlreichem Publikum, dafs die gröfsten Säle, die in Padua zu
finden waren, die Menge der Zuhörer nicht fassen konnten, ein bis
dahin nie dagewesenes Ereignifs, denn die mathematischen Vorlesungen
hatten vor Galilei so wenig Zugkraft, dafs es sich für die Staaten
kaum verlohnte, einen Professor der Mathematik anzustellen. Der
Grund dieser Erscheinung war ein doppelter: Einmal wufste Galilei
jedes der ihm vorgeschriebenen Kapitel von ganz neuem Standpunkte
aus zu behandeln und durch Experimente und Demonstrationen zu
erläutern, und dann war seine Lehrbegabung eine so eminente, sein
Vortrag von solcher Klarheit und Durchsichtigkeit, seine Diktion
auf dem Katheder wie in seinen Schriften von so klassischer Schön-
heit, dafs er alle seine Zuhörer unwiderstehlich mit sich fortrifs.
Von dem Inhalt der Vorträge in Padua sind uns nur Bruch-
stücke erhalten, die theilweise noch nicht veröffentlicht wurden, doch
können wir einiges darüber anführen, und heben das Interessanteste
hervor.
Eine Vorlesung über Mechanik, die uns erhalten blieb, wurde
im Jahre 1634 von dem berühmten P. Mersenne in Paris ins Franzö-
sische übersetzt und veröffentlicht und 15 Jahre später in italienischer
Sprache von Luca Danesi herausgegeben. In derselben behandelt
Galilei die Gesetze der Statik, indem er von dor Definition
des Momentes einer Kraft ausgeht. Darunter versteht er aber nicht
die spezielle Idee, die wir heute mit diesem Begriffe in der Statik ver-
binden, sondern er fafst den Begriff viel weiter und allgemeiner, in-
dem er darunter die Wirkung, die Energie oder den „impetus“ der
Kraft versteht, welcher nöthig ist, um die Maschine in Bewegung zu
setzen, so dafs zwischen zwei Kräften dann Gleichgewicht besteht,
wenn ihre Momente, die im Stande sind, die Maschine nach entgegen-
gesetzten Richtungen zu bewegen, einander gleioh werden. Dabei
setzt er das Moment proportional der Kraft multiplizirt
mit der virtuellen, d. h. möglichen Geschwindigkeit in der
Kraftrichtung. Von diesem Prinzip der virtuellen Gesohwindig-
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keilen, das wohl von Leonardo da Vinoi erkannt und von Guido
Ubaldo auf den Hebel angewendet worden war, machte Galilei
schon damals und später in den Discorsi den ausgedehntesten Ge-
brauch, um die Gleiohgewichtsbedingungen für die sämmtlichen ein-
fachen Maschinen zu erhalten.
Nebenbei sei bemerkt, dafs spätere Schriftsteller dieses Prinzip
wieder verliefsen. Erst Johann Bernoulli wies- 1717 auf seine
Wichtigkeit hin, und Lagrange machte es dann zum Fundament
seiner analytischen Mechanik, indem er aber ausdrücklich bemerkte,
dafs schon Galilei in seinen Discorsi dasselbe als eine überall an-
wendbare Grundanschauung auffafste, in der zugleich die Vorstellung
von der wahren Ursache des Gleichgewichtes und überhaupt des gegen-
seitigen Aufwiegens der Kräfte zu suchen sei.
Aufser mit den statischen Untersuchungen, die in der ange-
führten Abhandlung enthalten sind, beschäftigte sich Galilei damals
auch mit der Ausbildung der reinen Bewegungslehre. So kannte
er schon 1602 den Satz, dafs die sämtlichen Sehnen, welche in dein
tiefsten Punkte eines vertikal stehenden Kreises zusammenlaufen, von
einem schweren Punkte in derselben Zeit durchfallen werden. Ferner
hatte er sich auch damals schon mit dem Wesen der beschleu-
nigten Bewegung insoweit vertraut gemacht, als er die Nothwen-
digkeit erkannte, dafs der sich bewegende Körper, um vom Zustande
der Ruhe ausgehend einen gewissen Geschwindigkeitsgrad zu er-
langen, alle zwischenliegenden Geschwindigkeitsstufen durchlaufen
haben müsse. Diese Nothwendigkeit betont er auch in seinen späteren
Schriften mit der gröfsten Bestimmtheit und Klarheit, weil das Ver-
ständnis gerade dieses Punktes Galileis Zeitgenossen die gröfste
Schwierigkeit bereitet zu haben scheint.
Es wird gut sein, wenn wir, an diesem Punkte angelangt, den
historischen Gang unserer Darlegung unterbrechen und eine Erörte-
rung über die schon wiederholt erwähnten Discorsi cinschalten, um
so Galileis Leistungen im Gebiete der Mechanik zusammenfassend
besprechen zu können.
Diese Discorsi oder „Gespräche und mathematische De-
monstrationen über zwei neue Wissen szweige, die Mechanik
und die Fallgesetze betreffend“, wie der vollständige Titel
lautet, sind die reifste Frucht seines schöpferischen Geistes. Schon
beim Beginne seiner wissenschaftlichen Thätigkeit erkannte Galilei,
wie erwähnt, das Studium der Gesetze der Bewegung als den Angel-
punkt der richtigen Erkenntnifs der Naturerscheinungen. Dieses
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Studium bildet die Basis aller seiner späteren physikalischen Arbeiten,
und nachdem er sich mühsam durchgerungen zu einer neuen und
durchaus selbständigen Auflassung der Bowegungserscheinungen, zu
jener Auffassung, die das Fundament unserer heutigen Mechanik
bildet, war es ihm noch gegönnt, seine unsterblichen Forschungen der
Nachwelt in diesen Gesprächen zum grofsen Theile in fertiger Form
zu überliefern.
Im Jahre 1638, als Galilei längst von der Inquisition verurtheilt
und bereits erblindet war, erschienen die Disoorsi als eine Unterredung
zwischen seinen beiden schon lange verstorbenen Freunden Salviati
und Sagredo und einem Vertreter der Aristotelischen Richtung
Simplicius. In ungezwungenem Gesprächston verkehren diese drei
Männer an 6 Tagen miteinander; Salviati ist es, der des Autors Person
vertretend, dieneuen Ideen entwickelt, d.h. alles das, was Galilei während
seines langen Lebens über die Gesetze der Statik und Dynamik Neues
gefunden hatte. Sagredo trägt durch geistreiche Einwürfe und
Fragen zur Klärung der Begriffe bei, während Simplicius, der als
echter Peripatetiker wenig von Mathematik versieht, den auf seine
Wissenschaft stolzen Zweifler darstellt, der sich übrigens oftmals
durch die klaren Deduktionen Sulviatis und Sagredos klein bei-
zugeben gezwungen sieht.
Da die Kürze der Zeit es nicht gestattet, näher auf den Inhalt
des grundlegenden Werkes einzugehen, so will ich wenigstens ver-
suchen, in kurzen Worten das zu schildern, was das Werk für die
Naohwelt unsterblich gemacht hat, nämlich die darin eingeschlagene
Forschungsmethode und die neu gewonnenen Prinzipien der
Mechanik.
Galileis Methode der Untersuchung unterscheidet sich dadurch
von der seiner Vorgänger, dafs er nicht wie diese fragt, welche Ur-
sachen es sind, die die Bewegung hervorrufen, sondern wie die
Bewegung vor sich geht; er betrachtet dieselbe in der Natur, in der
Bewegung der Thiere, im freien Fall der Körper und deducirt durch An-
wendung mathematischen Denkens die Gesetze, nach welchen die Er-
scheinungen sich zeigen. Bei ihm deckt sich daher die Aufgabe der
Mechanik vollständig mit dem Begriffe, den Kirchhoff an die Spitze
sein er Mechanik stellte, indem er sagt: „ihre Aufgabe ist es, die
in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig
und auf die einfachste Weise zu beschreiben.“ Auch ist sich
Galilei dieses Unterschiedes seinen Vorgängern gegenüber vollständig
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bewirfst, denn er sagt am Eingänge zum 3. Tage seiner „Gespräche“
wörtlich:
„Einiges von geringerer Bedeutung hört man nennen
(nämlich von Seiten seiner Vorgänger), wie z. B. dafs die natür-
liche Bewegung fallender schwerer Körper eine stetig be-
schleunigte sei. In welchem Mafse aber diese Beschleuni-
gung stattfinde, ist bisher nicht ausgesprochen worden;
denn soviel ich weifs, hat niemand bewiesen, dafs die vom
fallenden Körper in gleichen Zeiten zurückgelegten
Strecken sich zueinander verhalten, wie die ungeraden
Zahlen. Auch hat man wohl beobachtet, dafs Wurfge-
schosse eine gewisse Kurve beschreiben, dafs diese aber
eine Parabel sei, hat niemand gelehrt. Die Richtigkeit
dieser Sätze und noch vieles andere Wissenswerthe wird
von mir bewiesen werden, und es wird, was, wie ich glaube,
höher anzuschlagen ist, der Zugang zu einer höchst um-
fassenden und vorzüglichen Wissenschaft erschlossen
werden, für welche diese unsere Arbeiten die Elemonte
bilden müssen, und in welcher tiefer eindringende Geister
das Verborgenere und Entlegenere beweisen werden.“
Klarer hätte er wohl kaum die Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft seiner Wissenschaft zusammenlässen können!
Mit den dynamischen Betrachtungen verknüpft erscheinen
bei Galilei die Untersuchungen über die Gesetze der Statik, und
das sie verknüpfende Element ist das Prinzip der virtuellen Ge-
schwindigkeiten. Denn er fafste den Gleichgewichtszustand immer
als eine Grenze der möglichen Bewegungen des Systems auf.
Besonders betont hatte er dieses Gesetz bereits in seinem 1612
erschienenen Buche über die schwimmenden Körper, wo er dasselbe
auf das Gleichgewicht und die Bewegung in Flüssigkeiten anwandte.
So gelang es ihm dort zum ersten Male, die Hydrostatik als ein
Glied der allgemeinen Mechanik darzustellen, indem er in dem Prin-
zipe der virtuellen Geschwindigkeiten das passendste Mittel zur Er-
klärung der Gleichgewichtsgesetze der Flüssigkeiten erkannte.
Doch findet sich ein wesentlicher Mangel in Galileis Einsicht
in die Prinzipien der Mechanik, den er nie ganz auszugleichen ver-
standen hat; er kennt nämlich nur theilweise die Möglichkeit, eine
Kraft auf eine bestimmte Richtung zu reduziren. Denn nur
bei der Darstellung des horizontalen Wurfes bedient er sich des
Kräfteparallelogrammes, oder besser Rechteckes, das aus der verti-
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kalen Schwert* und aus der horizontalen Geschwindigkeit konstruirt
wird. Aber auch dieser Fall bietet, genau betrachtet, nur ein Beispiel
fiir die Behandlung einer Bewegungserscheinung, während es
sich beim Parallelogramm der Kräfte bekanntlich um die Zusammen-
setzung oder Zerlegung der Gröfsen derjenigen Ursachen handelt,
die diese Bewegungsphänomene veranlassen. Daraus, dafs Galilei
diesen Unterschied nicht erkennt, erklärt es sich auch, dafs für ihn
wohl die Zusammensetzung der Bewegungen eine ganz geläufige
Vorstellung ist, während er nicht im Stande ist, das Prinzip der Zu-
sammensetzung und Zerlegung bei den Betrachtungen der Statik,
z. B. bei der schiefen Ebene, in Anwendung zu bringen.
Fügen wir noch einige Worte bei über das sogenannte Be-
harrungsprinzip, indem wir die vielumstrittene Frage streifen, ob
Galilei als der Entdecker dieses Fundamentalgesetzes zu betrachten
sei. Mir scheint diese Frage in folgender Weise beantwortet werden
zu müssen. Das Beharrungsprinzip ist, w*ie Diihring in seiner
kritischen Geschichte der Prinzipien der Mechanik treffend sagt, eine
Naturth atsache, die in ihrer Ein fachheit durch Zergliede-
rung der Verfahrungsarten der Natur in den zusammenge-
setzten Hergängen nachgewiesen und herausgehoben sein
will, aber nicht als eine blofse Denknothwendigkeit ange-
sehen werden darf. Und das ist auch unzweifelhaft, wie ich glaube,
Galileis Auffassung; denn Galilei benutzt und formulirt von
diesem Prinzip immer nur gerade soviel, als bei der aktuellen Frage
in Betracht kommt.
Klar zeigt sich dies in den Dialogen über die beiden Welt-
systeme, denn dort spielt natürlich das Beharren der Bewegung die
wichtigste Rolle, weil ohne dieses das Kopernikanische System sich
mit den alltäglichen irdischen Vorgängen nicht in Uebereinstimmung
bringen läfst. Aber vergebens wird man daselbst nach einer Formu-
lirung des Prinzipes in unserm Sinne suchen; es ist dort immer nur,
wenn auch nicht immer in richtiger Weise, von jener Kreisbewegung
die Rede, welche den Körpern durch die Rotation der Erde ertheilt
wird. Daraus hat man mit Unrecht geschlossen, Galilei habe die
Beharrung in der Kreisbewegung als Naturgesetz ange-
sehen. Dagegen spricht nämlich z. B. eine Stelle am Eingang zum
4. Tage der „Gespräche“. Galilei sagt daselbst, bevor er die Wurf-
bewegung zu behandeln beginnt, wörtlich: „Wenn ein Körper ohne
allen Widerstand sich horizontal bewegt, so ist aus allem
Vorhergehenden, ausführlich Erörterten, bekannt, dafs
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diese Bewegung eine „gleiohförmige“ sei und unaufhörlich
fortbestehe auf einer unendlichen Ebene. Ist letztere hin-
gegen begrenzt und ist der Körper schwer, so wird derselbe,
am Ende der Horizontalen angelangt, sich weiterbewegen
und zu seiner gleichförmigen unzerstörbaren Bewegung
gesellt sich die durch die Schwere erzeugte, so dafs eine
zusammengesetzte Bewegung entsteht, die ioh Wurfbe-
wegung nenne.“ Hier ist also in ganz anderer Weise als in den
Dialogen diejenige Seite des Boharrungsprinzipes verwerthet, die ge-
rade für die Wurfbewegung nöthig ist; und so liefsen sich noch ver-
schiedene Stellen anführen, die für meine Behauptung sprechen, dafs
sich Qalilei der Tragweite und Bedoutung des Prinzipes vollständig
bewufst war, wenn er es auch nicht zu einem Satze formulirte. Nun
frage ich, ist derjenige, welcher eine Naturthatsache in allen ihren
Wirkungen erkennt, als ihr Entdecker zu bezeichnen oder erst der,
welcher, dieselben zusammenfassend, ihnen den Ausdruck eines Ge-
setzes verleiht? Je nachdem man diese Frage beantwortet, ist Galilei
als Entdecker des Gesetzes der Trägheit zu bezeichnen oder nicht.
„Thatsächlich genügte auch“, wie Wohl will in seinen Untersuchungen
über das Beharrungsgesetz sagt, „ein Geist vom Range Balianis,
ein klarer Kopf ohne hervorragende schöpferische Begabung, um den
Worten des Meisters zu entnehmen, was dieser unausgesprochen ge-
lassen hatte“, und die verschiedenen Momente dieses Prinzipes in der
Form eines einzigen Gesetzes zusammenzufassen. Doch kehren wir
nach dieser längeren Abschweifung über Galileis mechanische
Leistungen zu seiner weiteren Thätigkeit in Padua zurück.
Diese erschöpfte sioh nicht in seinen theoretischen Arbeiten und
in seinem Lehrberufe, sondern sie erstreckte sich auch auf die prak-
tische Anwendung. Aus diesem Umstande ging die Erfindung eines
Proportionalzirkels 1597 hervor, über den Galilei 1606 eine
eigene Schrift veröffentlichte, die noch erhalten ist. In dieser Ab-
handlung beschreibt er die Konstruktion des Proportionalzirkels und
bespricht eingehend dessen Verwendung für die Zwecke des Ingenieurs.
Wenn auch kein Zweifel besteht, dafs vor Galileis Erfindung schon
ähnliche Instrumente bestanden hatten, so hat er dieselben doch so
wesentlich verbessert, dafs ihre Verwendbarkeit in hohem Marse ge-
steigert war. Auch machte er mit dieser Erfindung damals grofses
Aufsehen und setzte eine Menge Instrumente im In- und Auslande ab.
Jetzt ist freilich dieser Proportionalzirkel durch Jobst Bürgis un-
gefähr gleichzeitig erfundenen Reduktionszirkel längst verdrängt.
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In die Zeit zwischen 1593 und 1597 fällt auch nach Angabe
Vivianis, des Biographen und letzten Schülers von Galilei, die
Erfindung eines Luftthermometers in einfachster Form. Die Neu-
heit des Gedankens bei dieser Erfindung besteht darin, die direkt nur
dem Gefühle wahrnehmbare greisere oder geringere Warme dem
Gesichtssinn zugänglich zu machen. Dafs die Ausführung des
Instrumentes noch sehr mangelhaft war, indem dasselbe namentlich
auch den Schwankungen des Luftdruckes ebenso ausgesetzt war wie
der Temperatur, schmälert nicht das Verdienst der Originalität des
Gedankens. Man hat diese Erfindung für verschiedene Zeitgenossen
Galileis in Anspruch genommen, aber mit Unrecht, denn Briefe
Sugrodos aus jener Zeit an Galilei lassen deutlich das Anrecht
desselben auf die Priorität der Erfindung erkennen.
(Sehlufs folgt.)
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Die physische Beschaffenheit des Planeten Mars nach
dem Zeugnifs seiner hervorragendsten Beobachter.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer.
(Fortsetzung.)
-GiT^Jnter den Forschern, welche die Aehnlichkeit des Planeten Mars
\Jt.v mit der Erde und seine Bewohnbarkeit in Zweifel ziehen,
nehmen der Direktor der Lick Sternwarte, Professor Holden,
und der Observator derselben Sternwarte, Professor Schaeberle, die
vornehmste Stelle ein. Die Meinungen dieser beiden Männer — denn
nur von Meinungen, keineswegs von Beweisen für oder wider kann
leider die Rede sein — fallen um so schwerer ins Gewicht, als sie
in der glücklichen Lago sind, jene merkwürdige Nachbarwelt mit dem
kräftigsten aller bis jetzt vorhandenen Sehwerkzeuge untersuchen zu
können.
Es mufs hier jedoch sogleich eingelegt werden, dafö die Gröfse
des Objektivs, d. h. die gröfsere Lichtfülle des Instruments, durchaus
keinen wesentlichen Vortheil für die Beobachtung des Mars gegen-
über kleineren Instrumenten bietet. Ja, als Schiaparelli, der seine
epochemachenden Untersuchungen bekanntlich mit einem nach heutigen
Begriffen sehr kleinen, achtzölligen Fraunhoferschen Refraktor an-
gestellt hat, einen in allen Theilen ganz vortrefflichen Achtzehnzöller,
der inzwischen gebaut worden war, auf das wohlbekannte Objekt
richtete, war er in der ersten Zeit recht enttäuscht; er bekannte oft,
dafs er zeitweise in dem alten Achtzöller mehr sehe, als in dem so
ungemein viel mächtigeren neuen Sehwerkzeuge, und erst nach und
nach gelang es, ihm bessere Resultate abzuzwingen. Dem Astronomen
sind die Ursachen, welche solche scheinbaren Anomalien hervorbringen,
sehr wohl bekannt; wir können uns jedooh hier nicht weiter darauf
einlassen. Es kommt eben nicht auf Lichtfülle an, die Mars auch für
kleinere Instrumente zur Genügo besitzt, sondern auf möglichst feine
Definition, die durch Ueberstrahlungen und andere Fehler gerade bei
grofsen Instrumenten leichter getrübt wird.
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Wie Professor Schaeberle den Mars während der letzten
1892 er Opposition in dem großen Instrumente der Lick Sternwarte
gesehen hat, zeigt die als Titelblatt beigegebene Tafel, welche nach
einer uns von Herrn Professor Holden gütigst zur Verfügung ge-
stellten Photographie der Originalzeichnung hergestellt ist.
Welche Ueberzeugungen man nun auf der Liok Sternwarte über
den Zustand des Planeten Mars besitzt, geht aus einem von Professor
Holden vor einigen Monaten in einer amerikanischen Revue unter
der Ueberschrift „What we really know about Mars“ veröffentlichten
Artikel horvor. Nachdem er in demselben zunächst die unumstöß-
lichen geometrischen Gröfsen- und Lagen Verhältnisse der Marskugel
und ihrer Hahn angegeben und kurz resumirt hat, was man seit
Galilei auf der Oberfläche des Mars beobachten konnte, stellt Order
Flammari onsohen zwei andere Hypothesen gegenüber, die derselben
nach zwei verschiedenen Richtungen hin diametral gegenüberstehen.
Die eine ist die schon 1877 von John Brett ausgesprochene,
nach welcher Mars anstatt von einer sehr durchsichtigen Atmosphäre,
welche alle übrigen Beobachter auf das bestimmteste annehmen zu müssen
glauben, mit einer ungemein dichten umgeben ist. Er leitet dies aus dem
Umstand ab, dafs die Details auf dem Planeten immer nur in der Mitte
der Scheibe deutlich hervortreten, die Randpartieen aber viel ver-
waschener erscheinen als selbst beim Jupiter. Da es nun nach-
gewiesen ist, dafs sich sehr viel Wasserdainpf in der Atmosphäre des
Mars befindet, während Wolken sich notorisch dort überhaupt nicht
oder nur äußerst selten bilden, so inüsso nothwendig die Luft beständig
so warm erhalten werden, dafs eine Kondensirung des Wasserdampfes
nicht möglich wird. Denn wenn — so schließt der Gonannto — die
weißen Flecke am Pol wirklich aus Schnee bestehen, so müßte sich
über diesen ausgedehnten Eisfeldern der Wasserdampf nothwendig zu
'Wolken kondensiren, weil er dort unter allen Umständen dann genü-
gende Abkühlung finden würde. Da dies nicht beobachtet wird, so
ist Brett überzeugt, dafs, ganz abweichend von der allgemeinen
Meinung, Mars sich noch in einem sehr jungen geologischen Stadium
befindet, nur eine sehr dünne Kruste besitzt und sehr große Wärme-
mengen an die Atmosphäre abgiebt. Die Veränderungen der bisher
sogenannten Land- und Seegebiete müßten dann also fürchterlichen
geologischen Revolutionen zugesohrieben werden. Die weißen Polar-
flecke erklärt er als Wolkengebilde in den höheren Regionen der
Atmosphäre, welche mit den Jahreszeiten kommen und sich auflüsen,
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ihre oft beobachtete schwarze Umrandung als die Schatten dieser
Wolkenkalotte.
Dieser Meinung Bretts schliefst sich die des bekannten Astro-
nomen der Liok Sternwarte Barnard am meisten an, der vom 1. Juli
vergangenen Jahres an wöchentlich einmal Gelegenheit hatte, mit dem
36-Zöller die Nachbarwelt zu prüfen. Auch er beobachtete so auf-
fällige und schnelle Veränderungen der verschieden gefärbten Re-
gionen der Marsoberfläche, dafs sie ihm zu folgendem Ausspruch Ver-
anlassung gaben:
„Diese auffälligen Veränderungen sind angethan, uns stutzig zu
machen, sodafs wir uns fragen müsson, ob das, was wir dort am
Himmel sehen, wirklich eine Veit gleiflh der unsrigen ist, mit nahezu
unveränderlichen Land- und Ozeangebieten, oder ob sie nicht vielmehr
unserer Erde in ihren jungen Tagen gleicht, als die Kontinente und
die Meere sich verschoben, ehe die Oberfläche der Erde durch den
Abkühlungsprozefs fest wurde. Ist dieses letztere der Fall, so können
wir sicher sein, dafs Mars von höheren Lebensordnungen nicht be-
völkert ist.“
Gleichfalls ganz verschieden von der allgemein adoptirten Ueber-
zeugung ist die von Professor Schaeberle. Er sagt in der bereits
früher angezogenen Revue (The Forum, November 92): „Schiapa-
relli, Flammarion und die meiston anderen Beobachter des Mars
stimmen darin überein, dafs sie die dunkleren Regionen des Mars
Wasser, die helleren Land nennen. Meine eigenen Beobachtungen
von 1890 und 1892 haben mich gerade zu der entgegengesetzten An-
sicht geführt“
Professor Holden fügt diesem Ausspruch folgendes hinzu:
.Wenn die dunkleren Flecke Wasser wären, wie könnten wir
dann die unregelmäfsige Schattirung dieser Partieen erklären, welche
nach dem Zeugnifs der Beobachtung feste Oberflächenpartieen sind?
Wenn hingegen die dunkleren Partieen sich als Land erweisen, so sind
solche Schattirungen ganz natürlicherweise zu erwarten. Licht, das von
einer sphärischen Wasseroberfläche reflektirt wird, mufs gleichförmig
vom Mittelpunkte des Planeten nach seinen Rändern hin abnehmen, wie
es bei den hellen Regionen die Beobachtung bestätigt. Sofern die dunk-
leren Regionen Wasser sind, müfsten sie am wenigsten dunkel gegen das
Zentrum hin sein; aber die Beobachtungen zeigen, dafs sie am auf-
fälligsten dunkel in der Mitte der Scheibe auftreten, und dafs die
Kontraste zwischen Licht und Schatten hier am kräftigsten sind. Zu
manchen Zeiten, die sich nicht Vorhersagen lassen, erscheinen gewisse
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begrenzte Gebiete in den hellen Regionen heller als irgend welche
anderen Theile der Scheibe, so etwa, als wenn die reflektirende Ober-
fläche sich in einem Zustande der Unruhe befände. Diese Erscheinung
gleicht der Spiegelung auf einer ruhigen resp. einer bewegten Wasser-
oberfläche. Die dunkeln Gebiete werden nicht selten von noch dunkleren
Streifen durchzogen, welche oft hunderte von Milos nahezu geradlinig
verlaufen. Die sogenannten Kanäle in den rothen Gebieten scheinen
Fortsetzungen dieser dunkeln Streifen zu sein. Die „Kanäle“ würden
dann Gebirgsketten entsprechen, welche zum gröfsten Theil im Wasser
stehen, und die Verdoppelung dieser Kanäle erklärt sich einfach aus
der Annahme von Parallelketten, für welche die Erde manches Bei-
spiel bietet Professor Schaelterle giebt mehrere andere Beispiele
von Wahrnehmungen auf dem Mars, welche zu zeigen geeignet sind,
dafs die dunklen Regionen eher als Land denn als Wasser aufgefafst
werden können, und er bezieht sich dabei auf eine auffällige That-
sache, welche man von der Höhe des Mount Hamilton stets beobachten
kann. Wir befinden uns hier 2400 Fufs über dem benachbarten
Thale, und die Bay von San Franzisco breitet sich wenige Miles von
uns aus. Zu allen Stunden des Tages und unter allen Beleuchtungs-
umständen erscheint nun die Bay heller als das Land unserer Um-
gebung. Die hellen Gebiete dieser irdischen Landschaft sind Wasser.
„Die Beobachtungen des Professor Schaeberle sind völlig unab-
hängig, und die grofso Zahl von vorzüglichen Messungen und Zeich-
nungen, die er erhielt, werden von seiner Geschicklichkeit und Ausdauer
gebührendes Zeugnifs ablegcn, sobald sie veröffentlicht sind.*) Während
diese Beobachtungen ausgefuhrt wurden, habe ich selbst alle Nächte
den Planeten examinirt und sein Aussehen mit älteren eigenen Zeich-
nungen verglichen. Mir scheint es nun, dafs zwei sehr wichtige Be-
merkungen auf seine Schlüsse hier Anwendung finden. Ich möchte
nicht so bestimmt, wie er es thut, behaupten, dafs die dunkleren Re-
gionen des Mars viel dunkler und deutlicher im Zentrum der Planeten-
scheibe sichtbar sind, und ich möchte dann ganz besonders auf einen
Punkt hinweisen, welchen Professor Schiaparelli zuerst anführte,
und der die Kanäle betrifft, nämlich, dafs alle innerhalb der hellen
Regionen auftretenden „Kanäle“ in den dunkleren Regionen, welche
man Meere oder Seen nennt, beginnen und enden, oder dafs sie sich
mit anderen Kanälen verbinden. Insoweit scheint dies ein Beweis,
•) Einen Theil derselben sind wir so glücklich, heute in der beigelegten
lithographischen Tafel (siehe Titelblatt) zuerst zu veröffentlichen.
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ItWJ Amt 94.111' 0»>± K».U
X 18 ’. ß - rr
1892 An#. '.81, 8'i 0»' l' R.t-
X W', ß 13 .
18« An#. 20, 11*> 0" P. ». t
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1892Au«7.llN>,"-l|l4A'"P...t
X 170*. ß - 12*.
1892 Au#. 27. loh 10»' p.«.l.
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1892 An«. 14, l»1 SO"' P nt.
X 120“. ß - «*.
1892 Au« 7. IS11 0“’ l'.«.l.
X 189“. ß 12*.
lM92Aa#-8.9b80,n IOl'.S"’P «.l
X 139*. ß - 12*.
1892 Juli 31. 18b 80" P.«.t
X 268*. ß 13*.
Marszeichnungen von Professor J. M. Sohaeberle
(.Kl-zfilligpr Refraktor d«r I,ick-Stemwarte.)
V As* t. - i *tl » . ko“ h»
*
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509
dafs sie Wasser enthalten. Gebirgsketten brauchen nicht diese Eigen-
tümlichkeit zu zeigen, wie sie bei Kanälen notwendig ist. Während
es ferner wohl im allgemeinen richtig ist, dafs die rothen Gebiete
heller im Zentrum der Planetenscheibe sind, so giebt es doch auffällige
Ausnahmen davon. Gewisse Inseln auf der südlichen Halbkugel
(Hellas, Argyre) habe ich öfter am hellsten gegen den Rand zu ge-
sehen, und dieselbe Erscheinung ist in Bezug auf kontinentale Gebiete
auf der nördlichen Halbkugel bemerkt worden. Diese Wahrnehmung
ist, wie gesagt, von Professor Schiaparelli zuerst gemacht worden,
und die Resultate von Professor Schaeberle, von mir selbst und,
so viel ich weifs, von allen übrigen Beobachtern auf Mount Hamilton
stimmen hiermit vollkommen überein. Während wir oben die Regel
konstatirt haben, giebt es doch, wie ich denke, so viel Ausnahmen
davon, dafs es schwer ist, zu irgend einem definitiven Unheil heute
schon zu gelangen.
_Die drei Ansichten, welche wir hier mitgetheilt haben, sind in
gewisser Weise berechtigt; alle beruhen auf ernstem Studium, und
wenigstens zwei derselben müssen Autorität beanspruchen. Flam-
marion betrachtet es als sehr wahrscheinlich, dafs die dunkeln Ge-
biete des Mars Wasser, dio hellen Land sind; Professor Schaeberle
wird durch seine Beobachtungen mil dem gröfsten Fernrohr der Welt
unter den denkbar besten Bedingungen zu absolut entgegengesetzten
Schlüssen geführt. Brett zweifelt daran, dafs überhaupt Wasser und
Land auf dem Mars existirt, und giebt gute Gründe dafür an, dafs
der Planet sich noch in einem sehr heifsen Stadium befindet, wie wir
es beispielsweise bei Jupiter voraussotzen. Teleskopische Beob-
achtungen zeigen, dafs der Planet Venus für einen entfernten Beob-
achter der Erde viel ähnlicher ist als Mars. Wenn wir an ein Studium
der Eigenthümlichkeiten auf der Oberfläche des Mars herangelien, so
finden wir eher Verschiedenheiten als Aehnlichkeiten mit gewissen
Details auf der Erde. Unter diesen Umständen, und so lange derartig
auseinandergehende Ansichten von kompetenten Beobachtern noch
verfochten werden können, scheint es mir der rechte Weg zu sein,
jedes Urtheil zu unterdrücken und zunächst noch mehr Licht über
den Gegenstand zu verbreiten. Ich bin gewifs, dafs die Lick Stern-
warte, wenn eine befriedigende Erklärung endlich erreicht worden ist,
auch ihr Theil dazu beigetragen haben wird.“
Eine andere Reihe von Ansichten über die Zustände auf dem
Mars knüpft an die gröfsere Entfernung des Planeten von der Sonne
an, mit welcher eine, nur 3/-t der irdischen betragende Sonnonbe-
Himmel und Erde. 1893. V. 11. 34
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510
Strahlung des Planeten verbunden ist. Wenn die atmosphärischen
Bedingungen auf den beiden Weltkörpera als die gleichen vorausge-
setzt werden müfsten, so wäre mit der geringeren Bestrahlung aller-
dings ein Temperaturzustand auf der Oberfläche des Mars nothwendig
verbunden, welcher das Vorhandensein von flüssigem Wasser auch
unter dem Aequator ganz unmöglich machen würde. Maunder be-
rechnet unter diesen Bedingungen die mittlere Temperatur des Mars
auf 130 — 140° unter Null. Hierauf basirt Dr. A. Schmidt (s. auch
„Himmel und Erde“, Bd. V, S. 186) in einem in der .Deutschen Revue“
erschienenen Artikel die Hypothese, dafs die Meere des Mars mit
flüssiger Kohlensäure gefüllt seien; die Kontinente seien seit undenk-
lichen Zeiten bereits völlig vereist, und über den weiten Schneeflächen
habe der Meteorstaub, weloher ja auch in unsere Atmosphäre be-
ständig eindringt, eine rostig rothe Färbung erzeugt, wie das auch
gelegentlich in unseren Polarschneogebieten beobachtet wird. Daher
riihre die Färbung der Marskontinente. Es beständen also die weifsen
Polarflocke aus Kohlensäureschnee; die Kanäle seien weit ausgedehnte
Risse in den kontinentalen Eisfeldern, in denen Evaporationen und
Kondensationen ihr Wechselspiel derartig trieben, dafs die überlagernde
Kohlensäure- Atmosphäre lange Wolkenzüge über diesen Spalten er-
zeuge, welche die Ursache der scheinbaren oder wirklichen Verdoppe-
lung wären. Leben könnte also unter diesen Umständen auf dem
Mars nicht mehr existiren.
Gegen diese Hypothese läfst sich jedoch von vornherein ein-
wenden, dafs die Voraussetzung einer ganz gleichen Atmosphäre, unter
welcher allein diese Kältegrade auf dem Mars eintreten, hier nicht
festgehalten wird. Die Atmosphäre soll aus Kohlensäure bestehen,
also grundverschieden von der unsrigen sein; welche Absorptionsver-
hältnisse in einer solchen stattfinden, ist nicht untersucht worden.
Wenn wir jedoch eine chemisch gleichartige Atmosphäre beibehalten,
so können unter gewissen modifizirten Bedingungen, die an sich ganz
plausiblen Voraussetzungen entsprechen, mittlere Temperaturen auf
der Oberfläche des Mars entstehen, die von den unsrigen wenig ver-
schieden sind. In dieser Hinsicht hat wieder Maunder darauf hin-
gewiesen, dafs etwa die Hälfte der Sonnenwärrae in der irdischen
Atmosphäre durch den Staub und die Absorption in den Wolken von
der Erdoberfläche ferngehalten wird; aus allen Beobachtungen geht
nun aber hervor, dafs die Marsatmosphäre zweifellos viel reiner und
durchsichtiger ist als die unsrige. Ferner geht wegen der dünneren
Luft dort beim Aufstieg der Luftströmungen durch die mechanische
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511
Arbeitsleistung nicht so viel Wärme verloren, und die Kondensation ist
entsprechend schwächer. Damit eine Luftmasse auf Mars ihr Volumen
verdoppelt, mufs sie um 16000 Meter steigen. Der Siedepunkt aber fällt
in viel geringerem Mafse auf Mars; bei 16000 Meter nur um 13°, bei uns
um 85° — auf der Oberfläche des Mars liegt er bei 46° — alles unter
der Voraussetzung, dafs die Dichte seiner Atmosphäre entsprechend der
Schwere auf Mars nur 2/5 der irdischen ist Die Atmosphäre des Mars
kann deshalb viel mehr Wasserdampf fassen, ohne undurchsichtig zu
werden; dagegen wird der Wasserdampf sich bei Nacht zu dichten
Schleiern schnell kondensiren, um sich bei Anbruch des Tages ebenso
schnell wieder zu verflüchtigen. Gewisse Ausbuchtungen der Lichtgrenze
und das Fehlen aller Dämmerungserscheinungen deuten darauf hin.
An dieser Stelle mag auch noch eine recht beachtenswerte Be-
merkung des Herrn J. Plassmann in WTarendorf Platz finden (Natur-
wissenschaftliche Rundschau, 8. Jahrgang, No. 12), welcher darauf
hinweist dafs namentlich für die Polargebiete, von welchen man den
Schnee so sehr viel schneller schmelzen sieht, als es auf der Erde
der Fall ist die Strahlungsverhältnisse auf dem Mars sich wesentlich
anders gestalten als auf der Erde. Es ist bekannt, dafs von einem
gewissen Sonnenstände an die Gesamtmenge der Einstrahlung von
dem Aequator nach den Polen hin eine Zunahme erfährt, so dafs in
den Sommermonaten die Gesamtmenge der zugestrahlten Wärme an
den Polen gröfser ist als am Aequator. Dieses tritt noch mehr auf
Mars als auf der Erde hervor, dessen Achse gegen seine Bahn mehr
geneigt ist als die der Erde. Plassmann berechnet dafs diese Ge-
samtmenge beim höchsten Sonnenstände unter dem Aequator 0.29, am
Pol 0.42 beträgt. Zieht man nun die zweifellos gröfsere Durchsichtig-
keit der Marsatmosphäre und die gröfsere Länge des Marsjahres in
Betracht wodurch die Sonne beinahe ein irdisches Jahr lang beständig
auf die Polarregion herabscheint, so ist es wohl erklärlich, dafs die
Schneeschmelze dort intensivor ist als bei uns.
Wir sehen aus diesen Betrachtungen und Einwendungen jeden-
falls, dafs wir über die Schwierigkeit welche die gröfsere Entfernung
des Mars von der Sonne betreffs der Temperaturverhältnisse erzeugt
durch verhältnifsmäfsig sehr geringfügige Modifikationen der Mars-
atmosphäre, wie sie für irdische Verhältnisse durchaus begreiflich und
für Mars wahrscheinlich sind, leicht hinwegkomraen können und deshalb,
da logisch zwingende Gründe für dieselbe nicht vorhanden sind, von
einer so absonderlichen Hypothese wohl absehen müssen, wie die der
Kohlensäure-Meere des Mars.
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512
Es bleiben nun noch zwei weitere Hypothesen übrig1, welche
unter der grofsen Zahl derer, die hier nicht erwähnt werden konnten,
als typische Repräsentanten auftreten. Es wird indessen, ehe wir an
eine Kritik derselben gehen, von Nutzen sein, noch die letzten, im
vergangenen Jahre angestellten Beobachtungen, welche Argumente
für oder wider darzubieten im stände sind, hier Revue passiren zu
lassen.
Unter den neueren Beobachtern des Mars nimmt die hervor-
ragendste Stelle unstreitig William H. Pickoring ein, der Sohn
des berühmten Direktors der Sternwarte von Cambridge U. S., welcher
namentlich während der letzten Opposition vor allen anderen Beo-
bachtern den ungemeinen Vorsprung besafs, auf der höchstgelegenen
aller Sternwarten und unter dem wolkenlosen Himmel der Aequatoreal-
regionen sein kräftiges Fernrohr auf die Nachbarwelt richten zu
können. Er beobachtete in der sogenannten Boydenstation bei Are-
quipa auf der peruanischen Hochebene. Der grüfste Theil des ver-
schleiernden, beunruhigenden, die Farbennuancen fälschenden Ein-
flusses unserer Atmosphäre ist hier überwunden, und die dortigen
Beobachter können nicht genug die wunderbare Ruhe und Reinheit
des Fernrohrbildes rühmen. Es ist kein Zweifel, dafs von hier aus
die tiefsten Einblicke in die Geheimnisse des Himmels einstmals ge-
schehen werden. Es gelang dem jungen Picke ring mit seinem Ge-
fährten Mr. Douglas, in der Zeit vom 9. Juli bis zum 24. September
des vergangenen Jahres 373 Zeichnungen von Oberflächentheilen des
Mars herzustellen, von denen 14 am Fernrohr kolorirt wurden.
Die Beobachter auf Arequipa haben auch ihr besonderes Augen-
merk auf die Farbennuaucen geworfen, welche die verschiedenen
Partieen des Mais zeigen. In einem Artikel, überschrieben „Colours
exhibited by the Planet Mars“ und erschienen in der amerika-
nischen Revue „Astronomy and Astrophysios " vom Juni und
August 1892, sagt Pickering, dafs das Licht des Mars lange nicht
so roth ist, wie das einer Kerze; es ist röther als elektrisches und
blauer als Kerzenlicht. Ein Ziegelsteingebäude, welches aus 2 '/2 Miles
Entfernung gesehen wird, so dafs sich also die blauen Schleier unserer
Atmosphäre darüber hinziehen, ergiebt im Fernrohr dieselbe Farbe
wie Mars. Ferner zeigte es sich, dafs der Rand des Planeten immer
gelber als die Mitte war, so dafs dort derselbe absorbirende Effekt
auftritt wie in unserer Atmosphäre. Dann giebt es auf Mars graue
und grüne Regionen, welche letzteren, wie Pickering sich über-
zeugte, keine Kontrastwirkungen sein können, ln einzelnen, wenn
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auch seltenen Fällen war Grün sogar die auffälligste Farbe. Eine
ähnliche Färbung konnte beispielsweise auf Jupiter nicht wahrge-
nommen werden. Hauptsächlich treten diese grünen Gebiete in der
Nähe der Pole auf und können gelegentlich mit Schnee verwechselt
worden sein. Es zeigte sich, dafs unsere irdische Vegetation, bei
elektrischer Beleuchtung aus der Ferne betrachtet, diese selbe blau-
grüne Färbung besitzt, wie die betreffenden Marsgebiete.
Es treten oft ganz erstaunlich schnelle Farbenveränderungen auf
dem Mars auf; manche derselben sind wohl durch den Einllufs un-
serer eigenen Atmosphäre zu erklären, andere müssen dagegen ihre
Ursachen auf dem Mars haben. Pickering beobachtete in dieser
Hinsicht, dafe, wenn man das Grün einer Landschaft von einem Berge
aus betrachtet, es viel weniger grün als in der Nähe erscheint, und
wenn der Schatten einer Wolke oder Nebel davortreten, verwandelt
es sich in ebenmäfsiges Grau. Aehnliches wird gelegentlich auf Mars
beobachtet. Der nordwestliche Theil der grofsen Syrthe erschien zu
verschiedenen Zeiten grau, grün, blau, braun und selbst violett. Wenn
dieses Gebiet um die Zeit der Herbstnachtgleichen der nördlichen
Halbkugel sich im Mittelpunkt der Scheibe befindet, so ist die öst-
liche Region deutlich grüner als dio westliche; wenn die .Jahreszeit
zu Ende geht, wird die Farbe matter, und der grüne Hauch erscheint
nur noch unmittelbar auf den Uferländom der Syrthe. Am 27. Juni 1890
11 Tage vor dem Frühlingsaequinoktium der südlichen Halbkugel,
erschien ein gelber Fleck im äufsersten Norden des Dreiecks (der
Syrthe); mit der vorrüokenden Jahreszeit nahm dieser Fleck zu,
bis er das ganze Gebiet überzog. Im Jahre 1892 erschien diesolbe
Region zuerst völlig grün; am 9. Mai, 17 Tage vor der Frühlings-
nachtgleiohe, tauchte dagegen jener gelbe oder vielleicht rothe Fleck
wieder an derselben Stelle auf wie im Jahre 1890 und konnte seitdem
weiter verfolgt werden. Entsprechend den früheren Wahrnehmungen
von 1890 mufste dann dio grüne Stelle auf Mars bald nach dem
Frühlingsaequinoktium vorschwinden; deshalb ist in der Opposition
nichts davon gesehon worden. Pickering ist überzeugt, dafs diese
Erscheinung mit der Gegenwart eines der grofsen Zweige dos organi-
schen Lebens auf dem Planeten zusammenhängt.
Hier taucht also eine ganze Reihe von neuen und hochinter-
essanten Details auf, welche abermals zeigen, wie auf diesem Planeten
alles lebt und beständigen Veränderungen unterworfen ist. Uebrigons
hatte auch früher schon Sohiaparolli auf beobachtete Farbenver-
änderungen aufmerksam gemacht.
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Im übrigen resümirt in einem, im Dezember 1892 in der früher
genannten Revue erschienenen Artikel Piokering seine Beobachtungen
folgendermafsen :
„1. Die Polarkappen sind im Aussehen sehr verschieden von
Wolkenformationen und können mit diesen nicht verwechselt werden.
2. Wolken existiren unzweifelhaft auf dem Planeten, doch sind
dieselben in mancher Hinsicht verschieden von denen der Erde, nament-
lich was ihre Dichtigkeit und Helligkeit betrifft.
3. Eis befinden sioh zwei stets dunkle Regionen auf dem Pla-
neten, welche unter günstigen Umständon blau erscheinen und wahr-
scheinlich von Wasser herrühren.
4. Andere Partieen der Oberfläche sind zweifellos allen mög-
lichen Veränderungen der Farbe unterworfen, welche nicht durch
Wolken zu erklären sind.
6. Mit Ausnahme der beiden oben erwähnten dunklen Regionen
nehmen alle übrigen dunkleren Partieen zu Zeiten eine grünliche
Färbung an, zu anderen Zeiten erscheinen sie völlig farblos; deut-
lich grüne Gebiete sind zuweilen in der Nähe der Pole gesehen
worden.
G. Zahlreiche ausgedehnte Kanäle existiren auf dem Planeten,
so wie sie hauptsächlich von Professor Schiaparelli gezeichnet
worden sind; einige derselben sind nur wenige Miles breit. Auffällige
Verdoppelungen sind während der Opposition von 1892 nicht ge-
sehen worden.
7. Durch die dunkleren Regionen laufen gewisse gebogene und
verzweigte dunkle Linien; sie sind zu ausgedehnt für Flüsse, aber
sie mögen ihren Lauf angebon.
Eine grofse Anzahl von feinen schwarzen Flecken fanden wir
über die Oberfläche des Planeten ausgestreut, namentlich auf der den
beiden Meeren gegenüberliegenden Seite. Sie treten fast ausnahmslos
bei den Verbindungen der Kanäle mit einander und mit den dunk-
leren Partieen des Planeten auf. Sie haben 30 bis 100 Miles Durch-
messer und sind bisweilen kleiner als die Kanäle, bei denen sie sich
befinden. Wir entdeckten deren über 40 und nannten sie vorläufig
Seen.“
Noch einige, ganz besonders eigenartige Beobachtungen mögen
hier erwähnt werden. Pickering schreibt:
„Als der schmelzende Schnee sich zu den Polen zurüokzog, sah
man eine schmale, nahezu geradlinige Region, wo er länger verweilte
als sonstwo. Ende September war das Schneegebiet in zwei Theile
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getrennt, von denen der eine lang und schmal, der andere von un-
regelmäßiger Gestalt und etwas fleckig war. Es hatte den Anschein,
als ob dies von einer Gebirgskette und andererseits von einem Ge-
biete mit unregelmäfsigen Erhöhungen, zwischen denen ein Thal liegt,
herrühre. Von diesem Thale ging im Juli eine dunkle Linie aus,
welche es mit dem Nordmeer verband
Wegen des sohmelzonden Schnees war die Marsatmosphäre von
Wolken erfüllt, so dafs sie sich erst Ende August aufklärte, als die
Opposition längst vorüber war.“
Dieso dunklen Stellen und Streifen in den weifsen Polargebieten,
von denen Pickering spricht, und die auch gelegentlich Schiapa-
relli bei früheren Oppositionen gesehen hat, sind 1892 auch von
Young, Swift und auf der Lick Sternwarte beobachtet worden. Sie
erklären sich wohl am einfachsten eben durch Thalsenkungen, in
denen der Schnee zuerst schmolz. Jedenfalls werden diese Wahr-
nehmungen vernichtend für die zweifellos als veraltet zu betrachtende
Hypothese, welche die weifsen Polargebiete für Wolkenbildungen hält.
Genauere Messungen der wechselnden Ausdehnung dieser Polar-
kappen sind 1892 von üarnard und Comstook (Washburn Obser-
vatory) ausgeführt worden. Von Ende Juni bis Anfang September
ist die Ausdehnung von 10 Sekunden auf 3 Sekunden zusammenge-
schrumpft, d. h. an Fläche auf den 19. Theil. Barnard knüpft daran
die Bemerkung, dafs, wenn dies Schnee war, die L'eberführung des
Wassers nach der anderen Halbkugel eine merkwürdige Schwankung
der Rotationsachse hätte hervorbringen müssen. Dies ist, wie wir in
einer früheren Notiz gegenwärtiger Zeitschrift bereits mittheilten, von
Lohse aus Beobachtungsresultaten wirklich vermuthet worden.
Barnard sagt ferner: „Ich glaube, dafs einmal jemand die
Meinung ausgesprochen hat, gewisse breite, dunkle Ausläufer, welche
von der Polarkappe aequatorwärts strahlen, seien Sohmelzwasser; dies
ist aber zweifellos nur Einbildung. Es giebt jedoch lange neblige
Gebiete, welche, von der Polarkappe ausgehend, aequatorwärts streben;
diese haben zu jener Idee geführt Es sind dies aber so schnell und
über ein so grofses Gebiet vorgehende Veränderungen, dafs sie schwer-
lich nur den Wirkungen der Sonne auf das Polareis zugeschrieben
werden können, wenn Eis und Sohnee nicht etwa sehr verschieden
von dem unsrigen sind.“
Auch Barnard bestätigt die von Pickering gemachte Wahr-
nehmung, dafs von Ende Juli ab die Kappe verschleiert erschien, und
nur zwei leuchtende weifse Punkte hervortraten. Auch er beobachtete
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den dunklen Kanal in der Schneemasse ebenso wie Pickering zu-
erst am 21. August Von da ab gingen schnelle Veränderungen in der
Kappe vor sich, und wenige Tage später war nur noch ein schwacher
Schein der vormals so glänzenden Kappe übrig geblieben.
Was die sogenannten Meere des Mars anbetrillt, so ist Pickering
der Ansicht, dafs mit Ausnahme der beiden früher erwähnten, stets
dunklen Regionen, welche schwache Spuren einer Polarisation mit
radialer Ebene zum Planeten zeigen, diese Gebiete wahrscheinlich keine
eigentlichen Seen bilden. Diese wie die Kanäle verdanken nach seiner
Ansicht ihre Farbe höchstens indirekt der Anwesenheit von Wasser.
Gelegentlich beobachtete Pickering auch einmal einen weifsen
Kanal, der von der Schneeregion sich nördlich fortsetzte.
Schliefslich raufs hier noch einer eigeuthümlichen Wahrnehmung
gedacht werden, welche aufser Pickering sowohl die Astronomen der
Lick Sternwarte als auch Perrotin in Nizza machten; sie sahen
nämlich, dafs gelegentlich ungeheure Wolkenbildungen sehr deutlich
über den Rand der Marsscheibe hervorragten. Da diese Erhebungen mit
einer gewissen Regelmäfsigkeit auftauchton und wieder verschwanden, so
hatte ein Pariser Feuilletonist hieran die phantastische Behauptung ge-
knüpft, es möchten Signale sein, welche die Marsbewohner uns horüber-
sandten. Es wurde in diesem Feuilleton darauf hingewiesen, dafs bereits
im Jahre 1869 ein gewisser Cros die Mittel zu einer derartigen inter-
planetarischen Lichtkorrespondenz angegeben hatte. Mau könne bei-
spielsweise durch ungeheure Reflektoren die Wolken beleuchten und
dadurch auf der Erde durch Lichtzuckungen , etwa nach dem System
der Morsetelegraphen-Zeiohen, auf weitere Strecken hin telegraphische
Mittheilungen befördern. Was nun in Wirklichkeit diese Lichtaus-
buchtungen gewesen sind, hat nicht mit Sicherheit ermittelt werden
können. Jedenfalls aber müssen wir, so lange wir noch derartige
Phänomene mit irdischen Erscheinungen, wie in diesem Falle mit
den sehr hohen leuchtenden Wolken unserer Atmosphäre zu vergleichen
vermögen, die Hypothese der Einwirkung intelligenter Wesen zurück-
weisen. Wir kommen darauf sogleich noch zurück.
Pickering giebt die Hervorragung dieser Wolken über die
Oberfläche auf 20 Miles an. Er knüpft daran die Bemerkung, dafs
der Planet mindestens um l/70 abgeplattet erschien, während er theo-
retisch nur eine Abplattung von '/soo haben dürfe; auch diese Er-
scheinung schreibt Pickering Wolkenwirkungen in Aequatorregionen
zu, welche in bedeutenden Höhen auftreten miifsten.
(Schlüte folgt.)
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ÜIMÄiM
M
Die Entstehung der Welt nach den Ansichten von
Kant bis auf die Gegenwart
Von F. K. Ginzel, Astronom am Recheniustituto dor Königl. Sternwarte zu Berlin.
(Fortsetzung.)
V. Ent wickel ungsprozefs der Weltkörper. Kosmogonie
der Kometen.
I 1: ■ beiden ersten Aufsätze unserer Darstellung lieferten eine
ji? Ucbcrschau der Meinungen betreffs des Zustandekommens der
Unbildungen des Sonnensystems, die beiden letzten Aufsätze
beschäftigten sich dagegen schon mit spezieller Kosmogonie, nämlich
mit der Ausbildung dos Sonnenkörpers und dos Systems Erde-Mond.
Im Anschlufs hieran haben wir noch einige Hypothesen vorzutragen,
welche den Gang des Entwickelungsprozesses der grüfseren Planeten
sowie der überhaupt dem festen Zustande entgegenstrebenden Gestirne
betreffen.
Zöllner hat1) aus der Kantschen Nebularhypothese, nämlich
unter Voraussetzung einer ursprünglich glühenden, röhrenden Gas-
masse, welche die wesentlichsten der uns bekannten Stoffe enthält,
den Schilift gezogen, dafs der vollständige Entwickelungsprozefs eines
werdenden Wehkörpers mehrere Phasen durchlaufen mufs. Man könne
etwa fünf Perioden unterscheiden. Die erste bildet der Zustand eines
glühenden Gases, in welchem sich uns gegenwärtig noch die plano-
tarischen Nebelflecke zeigen. Fortdauernde Kondensirung leitet zur
zweiten Epoche, der des glühend-flüssigen Zustandes. Die dritte ver-
bindet die sinkende Temperatur mit dem Auftreten von Kondensations-
produkten i Schlackenbildung nach Zöllner) und theilweiser Krusten-
bildung. In der vierten Periode hat der Weltkörper die Schaffung
einer festen Hülle vollendet, über Eruptionen oder Zersprengungen durch
das gluthflüssige Innere stören noch den Entwickelungsgang. Die
’J Photoraetrische Untersuchungen §Ss 72, 78.
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fünfte, letzte Epoche ist die der vollständigen Erkaltung und der vor-
geschrittenen geologischen Formationen. Diese allgemeine Entwicke-
lungsgeschichte der Gestirne läfst sich nach Zöllner mit grofser
Wahrscheinlichkeit auch auf die Körper des Sonnensystems anwenden,
welche sich aus dom glühend-gasförmigen Zentralkörper entwickelt
haben, also in Bezug auf die sie zusammensetzenden Stoffe nur quan-
titative Unterschiede, aber geringe Abweichungen hinsichtlich der
Qualität der Materien zeigen können. Die Zeit, welche die Planeten
von der ersten Epoche ab bis zu einer bestimmten Temperaturerniedri-
gung ihrer Oberflächen bedurft haben, hängt hauptsächlich von der
Masse der Planeten ab und wird, bei der thatsiichlichen grofsen Ver-
schiedenheit dieses Massenverhältnisses, für die einzelnen Planeten
sehr verschieden gewesen sein. Im allgemeinen wird die vollständige
Entwickelung desto eher beendet worden sein, je kleiner die Masse
des Planeten war. Die Abkühlung dürfte in der zweiten Epoche er-
heblich schneller stattgefunden haben als in der ersten, da der Ueber-
gang vom gasförmigen in den flüssigen Aggregatzustand an bestimmte
Temperaturen gebunden ist und sich rasch vollzieht, wobei die in den
glühend - flüssigen Zustand gerathene Masse infolge ihres stärkeren
Absorptionsvermögens für Licht und Wärme eine erhöhte Menge
Wanne und Licht ausgestrahlt haben wird. Darauf sank die Tem-
peratur schnell und ermöglichte die Bildung von Kondensationspro-
dukten; diese traten anfangs in Form von Schollen und Schlacken
auf, gewannen allmählich festeren Zusammenhang und hüllten schliefs-
lich den Planeten in eine Kruste ein. Hierdurch wurde die Wärme-
ausstrahlung des gluth-flüssigen Innern weiter beschränkt; die der
Kruste nächst gelegenen Schichten erkalteten schnell, da der Wärme-
verlust der Oberfläche bei deren geringer Leitungsfähigkeit nicht in
entsprechendem Mafse durch die Wärme des Innern ersetzt werden
konnte. Wurde dieser Verlust nicht durch die Sonne wieder kom-
pensirt, so verdichteten sich schließlich auch die die Kruste um-
gebenden Dämpfe und schlugen sich, wenn die Temperaturerniedri-
gung ohne Störung weiter dauerte, auf der Oberfläche als Schnee-
und Eisdecken nieder. Eruptionen des heifsen Innern, hervorgerufen
durch die in dieser Epoche eintretende starke Kontraktion, veranlagten
Durchbrechungen, Ueberfluthungen der Rinde ; der dabei stattfindende
Wärmeverlust des Innern gestattete abermals, und zwar leichter als
früher, eine weitere und festere Krustenbildung und vermehrte Nieder-
sohläge ; so wurde der Planet der geologischen Epoche näher geführt.
Zöllner zieht aus diesen kosmogonischen Ueberlegungen und gestützt
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auf Relationen, die sich aus Messungen der Lichtstärke der Planeten
ergeben, allgemeine Schlüsse über die Entwickelungsdauer der Pla-
neten. Danach gehören unser Mond und der Mars zu den frühzeitig
vollendeten Planeten, da ihre Kleinheit und Entfernung von der Sonne
eine frühere Erkaltung und Kondensirung ermöglicht hat. Merkur
und Venus werden zwar ihre Wärme rasch verloren haben, doch er-
hielten sie von der Sonne, da sie sich dieser viel näher befinden als
die Erde, eine sehr erhebliche Zufuhr an Wärme, so dafs ihre Ent-
wickelung langsamer wurde als jene der Erde. Die Planeten Jupiter
und Saturn, welche die Erdo an Masse bei weitem übert reifen, brauch-
ten sehr lange Zeiträume zu ihrer Kondensirung; gegenwärtig befin-
den sich beide wahrscheinlich noch in der zweiten Evolutionsepoche.
Uranus und Neptun dagegen sind vermuthlich schon lange erkaltet,
da sie viel kleiner als Jupiter und Saturn sind, und ihr Wärmeverlust
kaum mehr durch die Sonne ersetzt worden sein kann.
Zu ähnlichen Schlüssen gelangt Ritter in seinen früher schon
erwähnten Untersuchungen (18. Abhandlung). Naoh demselben lehrt
die Untersuchung des adiabatischen Gleichgewichtszustandes gas-
förmiger Weltkörper, dafs ein wesentlicher Unterschied in den Zu-
standsänderungen auftritt, je nachdem der Weltkörper von sehr grofser
oder von sehr kleiner Masse ist. Bei sehr grofsen Planeten, wie die
Sonne, rnufs die Kontraktion (Zusammenziehung) langsam stattfinden,
während sie sich bei Planeten von kleiner Masse während des Uober-
ganges vom labilen zum stabilen Gleichgewichtszustände in sehr
kurzer Zeit oder fast plötzlich vollzieht Auf diese von Ritter als
„dynamische Kontraktion“ bezeichnete Zustandsänderung folgt bei
kleinen Weltkörpem rasche Abkühlung und die Bildung von Kon-
densationsprodukten. Ritter meint, dafs bei der Formation der Pla-
neten aus den Ringen, die sich nach der Kant- Laplaceschen Theorie
vom Zentralkörper ablösten, ein beträchtlicher Energie Verlust erfolgen
und der Niederschlag von Kondensationsstoffen schon eintreten mufste,
als die Ringe sich abtrennten. Das Vorherrschen der Kondensations-
produkte kann bei längerem Anhalten der Ringform eine vollständige
Kondensirung der Ringmasse und den Uebergang derselben in einen
Schwarm kleiner fester Kugeln zur Folge gehabt haben, wie der
Planetoidenring und der Ring des Saturn beweisen. Sobald sich aus
den abgelösten Ringen Planeten von kleiner Masse zusammengezogen
hatten, befanden sich diese Planeten im Stadium der dynamischen
Kontraktion, es bildete sich bei ihnen schnell ein sehr dichtes Zen-
trum, und die ferneren Phasen des Weltkörpers standen dann unter
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den Gesetzen einer rasch fortschreitenden Abkühlung-. Bei den sehr
grofsen Planeten, wie Jupiter, war die Dichte des Kernes nach Be-
endigung der Epoche der dynamischen Kontraktion noch nicht be-
deutend; ein solcher Planet hatte darauf die Periode der „statischen“
Kontraktion durehzuinachen, während welcher die weitere Zusammen-
ziehung langsam und bei steigender Wärmeerzeugung vor sich ging.
Demgemäfs werden die kleinen Planeten Erde, Merkur, Venus und
Mars in ihrem Entwickelimgsprozefs die Sonne schnell überholt
haben. Die grofsen Massen des Jupiter und Saturn blieben aber nooh
lange in der Ausbildung ihres Dichtezustandes hinter den übrigen
Planeten zurück. Der Jupiter hat gegenwärtig nahezu die Dichtigkeit
der Sonne erreicht; hierzu wird, da die Dichte seit Beendigung der
dynamischen Kontraktion während der darauf folgenden langsamen
statischen um das Doppelte gewachsen sein mufs, ein Zeitraum von vielen
Millionen Jahren erforderlich gewesen sein. Ritter schliefst aus seinen
weiteren Betrachtungen, dafs der Planet Jupiter jetzt in einen Zustand
gelangt ist, in welchem seine Mittelpunkttemperatur einige hundert-
tausend Grad beträgt. Das Gebiet der Oberflächenschicht, innerhalb
dessen die Entstehung von Kondensationsprodukten vor sich geht,
ist sehr tief; es kann angenommen werden, dafs der Planet bis zu
300 Meilen unter seiner scheinbaren Oberfläche eine wolkenartige Be-
schaffenheit besitzt. Diese dichte Wolkendecke verhindert vielfach
die Wärmeausstrahlung, welche demzufolge als beträchtlich geringer
sich herausstellen wird, als wenn die Oberflächenschioht einen rein
gasförmigen Aggregatzustand besäfse.
Pater Braun entwirft in seiner Kosmogonie ein allgemeines
Bild von den Vorgängen, die bei der Kontraktion eines glühend-
flüssigen sphiiroidischen Planeten stattlinden. Die Stoffe, welche die
Masse zusammensetzten, lagerten sich nach ihrer Schwere gegen den
Mittelpunkt hin; der gröfste Theil blieb in Dampfform über dem
glühendflüssigen Kern schweben. Diese Atmosphäre enthielt enorme
Mengen von Kohlensäure, aufserdem Schwefel, Chlor, Jod, Zink u. s. w.
Bei der fortschreitenden Kondensirung schlugen sich die Dämpfe,
mannigfache chemische Verbindungen bildend, nebst ungeheuren Massen
von Wasserdampf auf dem Kern nieder. Letztere beförderten die
Heftigkeit der nun eintretenden Zirkulationen. In dem Mafse, als der
obersten Schicht des Kernes Wärme entzogen wurde, zogen sich aus
den festen Stoffen Schollen zusammen, die zum Theil versanken, ge-
schmolzen wurden, bei zunehmender Festigkeit aber Zusammenhang
untereinander erlangten und schliefslich eine Kruste zusammensetzten.
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Eruptionen und thermische Veränderungen der Kruste im Verein mit
den niedergeschlagenen heifsen Wässern, den „L’rmeeren", bereiteten
die ersten geologischen Epochen vor.2) Neben dieser Darstellung,
die für die meisten Planeten zutreffend sein dürfte, müssen wir eine
Eigenthiimlichkeit der Braunschen Ansichten, die speziell die Erde
betrifft, notiren. Das Gleichgewicht der Erdkruste erfordert, dafs den
gewaltigen kontinentalen Massen gegenüber von der Seite der grofsen
Senkungen her ein entsprechender Gegendruck ausgeübt wurde;
unterhalb der letzteren, das heifst der Meere, sei deshalb die Kruste
viel dicker gewesen als unter den Kontinenten. Als sich die Kruste
so weit äbgekühlt hatte, dafs die flüssige Masse unter ihr ein ge-
ringeres Volumen einnahm, bildete die Kruste zum Theil Wölbungen,
die vermöge des seitlichen Druckes einbrachen und Verwerfungen
und Verschiebungen der bereits geschaffenen Gebirge hervorriefen,
auch gewaltige Massen halbflüssigen Stoffes neuerdings emporprefsten.
Von diesen Katastrophen soll nun der Meeresboden deshalb verschont
geblieben sein, weil die Kruste unter ihm viel dicker und also wider-
standsfähiger gewesen sei. — Als kosmogonische Hypothesen können
noch einige Ansichten betrachtet werden, welche die einstmalige Ver-
eisung eines grofsen Theiles der Erdoberfläche zu erklären versuchen.
(Lieber den Antheil der „Eiszeit“ an der Veränderung der Erdrinde
sehe man den Aufsatz von Prof. Penck in dieser Zeitschrift, IV. Jahr-
gang.) James Croll3) benutzt die Variationen der Exzentrizität der
Erdbahn, welche eine Periode von ungefähr 21000 Jahren umfassen,
zur Ableitung sehr beträchtlicher Klimaschwankungen. Die Exzentrizi-
tät kann sich während jener E’eriode bis auf das Drei- selbst Vierfache
der jetzigen vergröfsem. Die Erdhalbkugel, welche bei dieser ver-
mehrten Exzentrizität ihren Winter während der Sonnenferne hatte,
war bis zu tiefen Breitegraden herab vermehrten Eis- und Schnee-
bildungen ausgesetzt Der Sommer konnte nicht zur Ausgleichung
dieser Kältezeit ausreichen, und es trat jeden Winter eine durch die
ganze Aphelperiode (Sonnenferne) wachsende Vereisung der Halb-
kugel ein. In der zweiten Hälfte der Exzentrizitätsperiode, mit Ueber-
schreitung des Aphels durch das Vorrücken der Tag- und Nacht-
gleichenpunkte, traten die entgegengesetzten Verhältnisse ein: die
früher vereiste Hemisphäre wurde die warme, die frühere warme ver-
eiste. Vielleicht nicht ohne allen Grund ist die Meinung Heers, dafs
*) Diese plutonisch-nejitunistische Auffassung finden wir für die Erde
bei Sterrey Hunt wieder.
*) Climate and Time in their geological relations. London 1875.
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522
die Erde während des Fortrückens des ganzen Sonnensystems (be-
kanntlich schreitet dieses samt der Sonne einem Punkte in der Gegend
des Sternbildes Herkules zu und macht jährlich einen Weg von vielen
Millionen Meilen) einst in einen Theil des Weltraumes gelangt sein
kann, in welchem die absolute Temperatur eine besonders niedrige
war. Braun versucht eine lange Eisperiode der Erde aus der Kos-
mogonie unseres Planeten selbst abzuleiten. Die Sonne war ursprüng-
lich sehr wenig dicht und ihren Dimensionen nach viel ausgedehnter
als gegenwärtig. (Man vergleiche den zweiten und dritten unserer
Aufsätze.) Die Zunahme der Dichte und damit auch die Temperatur-
Steigerung trat nur ganz allmählich ein. Die Erde, sowie die kleineren
Planeten überhaupt, haben sich rasch gebildet und die Sonne im Ent-
wickelungsprozefs überholt. Zur Zeit, wo die Erde bereits an der
Schwelle geologischer Epochen stand, war die von der Sonne ge-
spendete Wärme noch gering. Die Abkühlung der Erde erfolgte
dann so rasch, dafs die Sonnenwärme für den Wärmeverlust keine
Kompensation bieten konnte, und eine theilweise Vereisung war die
Folge. Nachdem aber die Energie der Sonne gewachsen und sie
schliefslich in den Glühzustand gerathen war, konnte die Eisperiode der
Erde durch die Sonnenstrahlung allmählich wieder aufgehoben werden.
Wir verlassen nun die Bildungsgeschichte der Planeten und
Satelliten des Sonnensystems und wenden uns Körpern zu, die eine
besondere Ausnahmestellung in der Kosmogonie beanspruchen. Es
sind dies die Kometen. Hier wird es sich nicht darum handeln, die
Ansichten zu besprechen, welche die Erklärung der physischen Kon-
stitution dieser Körper versuchen und die Kräfte deuten, die bei
der Entstehung der Kometen thätig sind, und wir sind in dieser Hin-
sicht der unangenehmen Pflicht enthoben, das ebenso fruchtbare wie
problematische Gebiet der Kometentheorien berühren zu müssen;
vielmehr ist hier nur die Kosmogonie der Kometen zu erörtern, d. h.
die Frage, ob die Kometen gleichzeitig mit den Planeten und Satel-
liten des Sonnensystems entstanden, also integrirende Bestandtheile
desselben sind, oder ob sie ihre Entstehung aufserhalb unseres Systems
haben.
Kant wollte die Kometen keineswegs als eine besondere Gat-
tung von Himmelskörpern angesehen wissen; sie verdanken wie die
Planeten ihren Ursprung dem ehemaligen Zentralnebel, und der Haupt-
unterschied besteht nur darin, dafs sie in den entferntesten Theilen
des Sonnensystems und aus den dünnsten Partieen des Urstofles ge-
bildet worden sind. An den Grenzen des Zentralnebels war der
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523
Grundstoff in der feinsten Verkeilung, und daselbst auch die Kraft
am schwächsten, welche eine allgemeine sinkende Bewegung der Par-
tikel zum Zentrum hin veranlafste (man vergleiche die Hauptgedanken
der Kantschen Hypothese im ersten Aufsatze). Es kam in jenen
Theilen der Materie nicht mehr zu einem gleichmäfsigen Kreisura-
schwunge um den Zentralkörper; noch ehe dieser Umschwung er-
reicht werden konnte, hatte der Urstoff vermöge der dort ganz unbe-
hinderten gegenseitigen Anziehung eine Menge kleiner Körper ge-
bildet und eine zerstreute Verkeilung angenommen. Die Bahnen
dieser Massen wurden, gemäfs dieser Entstehungsart, sehr selten
kreisförmig, sondern diese Nebelstoffe näherten sich, indem sie andere
in sich aufnahmen, auf weit gezogenen Wogen allmählich der Sonne;
die Bahnen der Kometen gestalteten sieh desto mehr exzentrisch, je
weiter ihr Ursprung von der Sonne entfernt lag. Bei den der Sonne
näher gestandenen Massen mufste der Umschwung der Kometen in
demselben Sinne, wie sich die Planeten bewegen, erfolgen (direkte
Bewegung), bei den sehr fernen konnte die Bewegung aber auch eine
ganz entgegengesetzte werden (retrograde Kometen). Die aufser-
ordentliehe Verschiedenheit des Winkels, unter welchem die Kometen-
bahnen gegen die Ekliptik geneigt sind, ist erklärlich, da die Ver-
einigung der Nebelstoffe, weit ab von der Hauptebene des Planeten-
bildungsgebietes, in allen Theilen des Himmels vor sich gehen konnte;
desgleichen seien die aufserordentlichen Veränderungen der Kometen
und die Flüchtigkeit ihrer ganzen Erscheinung nicht befremdend, da
schon sehr mäfsige Hitzegrade, wie bei den der Sonne, fern bleiben-
den Kometen, so ausnehmend feinen Stoff ganz auflösen oder doch
sehr verdünnen können.
Dieser Ansicht steht auch Faye in seiner Kosmogonie recht
nahe. Er sucht ebenfalls den Ursprung der Kometen in den sehr ent-
fernten Theilen des ursprünglichen Zentralnebels, welche der allge-
meinen Anhäufung in der Sonne entgangen sind, und zwar in den haupt-
sächlich an den Polen gelegenen Theilen der Nebeloberflächo. Diese Par-
tieen haben nach ihm weite Wurflinien beschrieben, die mit der Zeit
durch die Attraktion der Sonne in Ellipsen verwandelt wurden; die
Ellipsenbahnen wurden desto exzentrischer, je entfernter das Gebiet
lag, wo die Kometenmasse sich zusammengezogen hatte. Bei den ent-
ferntesten Kometen wurde die Dauer des Umlaufes um die Sonne auf
viele Millionen Jahre hin ausgedehnt. Auf diese Weise soll für die
parabolischen und elliptischen (periodisch zur Sonne wiederkehrenden)
Kometen ein gemeinsamer Ursprung abgeleitet werden.
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524
Während also Kant und Faye (mit denen auch Braun der
Hauptsache nach übereinstimmt) für die Bildung der Kometen das
ursprüngliche Nebularellipsoid als Ausgangspunkt gelten lassen und
diesen Körpern damit ihre kosmogonische Stellung im Sonnensysteme
zuweisen, war Laplace geneigt, in den Kometen fremde, dem Sonnen-
system nicht angehörende Körper zu sehen. Er betrachtet die Ko-
meten als kleine in den Sternsystemen umherwandernde Nebelmassen,
die aus der Verdichtung der im Welträume zerstreuten Nebelmaterie
entstanden sind. Diese Massen können in Räume gelangen, in welchen
die Anziehungskraft der Sonne vorherrscht, und können hierdurch ge-
zwungen werden, dieses Gestirn fernerhin in elliptischen oder hyper-
bolischen Bahnen zu umkreisen. Die hyperbolische Form der Bahnen
sei die ursprüngliche und beweise, dafs die Kometen an und für sich
keine Verbindung mit unserem Sonnensystem gehabt haben. Gaufs
und Lamont zeigten aber bald, dafs Kometen, welche auf solche
Weise in den Bereich der Sonnenanziehung geriethen, sich in ver-
schiedenen Arten von krummen Linien um die Sonne bewegen kön-
nen; und Lamont schtofs aus der beobachteten Thatsache, dafs im
Gegentheil nur Kometen mit parabolischer oder elliptischer Bahn
anzutreffon sind, und in den sehr seltenen Fällen einer Hyperbel diese
wahrscheinlich das Resultat einer Störung ist, auf die von Kant ver-
tretene Ansicht, welche die Kometen als zum Sonnensystem gehörend
betrachtet. Lamont versuchte zur Stützung dieser Meinung aus der
Untersuchung der Verfheilung von 178 berechneten Kometenbahnen
nachzu weisen, dafs die Lage der Perihelien der Kometen (der Punkte
ihrer gröfsten Sonnennähe) vorzugsweise auf gewisse Punkte des
Himmels falle. Er fand, dafs dio Perihelien jener Kometen, welche
eine rechtläufige Bewegung (eine direkte, im gleichen Sinne wie die
Planeten) besitzen, zahlreicher gegen den Sommersonnenwendepunkt
(bei 90° Rectaszension) gruppirt sind, bei den rückläufigen (retro-
graden) hingegen zur Richtung gegen das Wintersolstitium (bei 270°
Rectaszension) an Häufigkeit zunehmen. Ferner schien in Beziehung
auf den Neigungswinkel, welchen die Kometenbahnen mit der Ekliptik
einschliefsen, hervorzugehen, dafs dio gröfste Zahl der Bahnen sich
einem Winkel von etwa 45 Grad nähere. Der schon mehrfach er-
wähnte Friedrich Weifs machte in seinem übrigens löbliohen Be-
streben, dio Kant-Laplacesche Theorie zu stützen, den als verun-
glückt zu bezeichnenden Versuch, auf Grund jener Ergebnisse eine
Entstehung der Kometen aus den elliptischen Dunstringen des Nebular-
ellipsoides abzuleiten. Er sieht in den Lamontschen Resultaten den
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Beweis, dafs die Kometenperihelien nicht viel von der Linie ab-
weichen, in welcher die Forts chreitung des Sonnensystems im Raume
sich vollzieht. Die Kometen sollen nun infolge dieses Fortschreitens
und des Widerstandes des Welläthers aus den Zusammenballungen
der äufsersten elliptischen Dunstringe des Zentralnebels und zwar
hauptsächlich aus jenen Hälften der Ringe entstanden sein, deren
Umlaufsbewegung dem allgemeinen Fortschreiten des Sonnensystems
entgegengesetzt war. Aber abgesehen davon, dafs dieses Fortschreiten
keinen Anlafs zu besonderen Weltenbildungen in dein ehemaligen
Nebularellipsoide gehen konnte, haben sich auch die vermutheten Be-
ziehungen zwisohen der allgemeinen Lage der Kometenbahnen und
der Bewegungsrichtung des Sonnensystems als Blusionen heraus-
gestellt (durch die späteren Arbeiten von Mohn und C'arrington).
Die Resultate von Lamont, denen sich die Untersuchungen von
Brorsen. Houzeau, Svedstrup über die Anhäufung der Kometen-
perihelien an die Seite stellten, haben in neuester Zeit ihre richtige
Erklärung durch die Arbeit von Holetschek „über die Richtungen
der grofsen Axon der Kometenbahnen“ erhalten. Die Ursache des Zu-
sammenfallens der Kometenbahnen in gewissen Himmelsrichtungen liegt
in den Verhältnissen, unter welchen die Kometen für die Erde und
für die Nordhalbkugel insbesondere sichtbar werden. Die Kometen
werden desto leichter aufgefunden, je näher ihre Perilielslänge der
während des Periheldurchganges stattfindenden heliozentrischen Länge
der Erde liegt. Für die Nordhemispbäre ist die Möglichkeit, Kometen
zu entdecken, bei welchen dieser Zusammenhang besteht, im Sommer
gröfser als im Winter, woil uns die Partieen des Himmels, die von
der Sonne eine geringe Elongation haben, und in denen die Kometen
am schnellsten hell zu werden pflegen, leicht zugänglich sind. Im
Winter können wir die Kometen jedoch in sehr bedeutenden Elon-
gationen von der Sonne, selbst in der Opposition, sehen. Hierdurch
erklärt sich, warum die Perihelien der Kometen einerseits bei 270°,
andrerseits bei 90" Länge überwiegen müssen. Die Kometen mit
kleiner Poriheldistanz verhalten sich entgegengesetzt, können aber die
Zahl der einseitigen Perihelanhäufungen nicht sehr verwischen, da die
Anzahl solcher Kometen eine geringe ist Die Kometen gelangen
also aus allen möglichen Gegenden des Himmels und mit einer von
der Fortschreitung des Sonnensystems ganz unabhängigen Ge-
schwindigkeit zur Sonne. Daraus kann man schliefsen, dafs die Ko-
meten in den Sternenräumen ein besonderes System bilden, welches
uns während des gemeinsamen Fortschreitens aller Planeten und Sa-
Himmel und Erde. 1493. V. 11. 35
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626
telliten begleitet. Sie erscheinen uns somit nicht als Produkte der
Entwickelung des Nebularellipsoides, sondern gewissermafsen als los-
gerissene Bruchstücke jenes Systems.
Man kann sich nun vorstellen, dafs in dem wandernden Kometen-
heere die Kometen sich als einzelne Individuen zerstreut oder zu Gruppen
vereinigt vorlinden, welche letzteren bisweilen durch die Attraktion der
Sonne aufgelöst werden, wodurch sie in unser Sonnensystem gelangen.
Diese Idee der Existenz besonderer Kometengruppen hat namentlich
Hoek vertreten.4) Er war der Ansicht, dafs gewisse Kometen einst
in sehr grofser Entfernung von der Sonne einander nahe gestanden
und mit einander nicht zufällig verbunden gewesen seien. So hätten
die Kometen 1860 III, 1863 I und 1863 VI eine solche Gruppe ge-
bildet, desgleichen die von 1677 und 1683. Der Beweis ihres gemein-
samen Ursprungs sei durch die Gemeinsamkeit des Durchschnitts-
punktes ihrer Bahnen auf der Himmelskugel erbracht. Obwohl nämlich
die Anziehung der Sonne die ursprüngliche Bewegung der in das
Sonnensystem tretenden Kometen modiflzire, müfsten doch die Ebenen
der neuen Bahnen der Kometengruppe den Punkt gemeinsam haben,
auf welchen hin die anfängliche Bewegung gerichtet gewesen ist Die
Entstehung solcher Kometengruppen hat nach Hoek wahrscheinlich
in der Zerstreuung von grofsen Kometenmassen durch Sterne ihren
Grund. Etwa in der Art, wie Theilungen von Kometen oder Kometen-
köpfen mehrfach in unserem Sonnensysteme vor sich gegangen und
vermuthlich der Einwirkung der Sonne zuzuschreiben sind, könnte
eine mächtige Sternmasse einen Kometen in Theile aufgelöst haben,
die so lange eine Gruppe bilden mufsten, bis sie auf ihrer Wanderung
in das Sonnensystem gelangt sind. Irgend ein Planet, dem die Kometen
nahe kommen, kann dort wiederum eine abermalige Veränderung der
Bahnen bewirken und unter Umständen die Ursache sein, dafs ein
Komet, der einstmals in fernen Systemen wandelte, durch eine ellip-
tische Bahn für immer an unsere Sonne gekettet wird. — Den
Hoek sehen Ansichten der Existenz besonderer Kometengruppen ist
jedoch Hol et sch ek5) entgegen getreten. Nach dem letzteren ist der
Beweis durch die Gemeinsamkeit der Schnittpunkte ein illusorischer.
Diese Punkte fallen in die Himmelsgegend, wo die Kometenfernen
sich häufen (zwischen 90 und 270 Grad); da aber durch Holetschek
schon früher die Ursache jener Häufigkeit auf terrestrische Verhältnisse
zurückgeführt worden ist, und die Kometengruppen nur besondere
4) Archives nderlandaiscs des Sciences exactes et naturelles. IX.
*) Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. W. Bd. 98 u. 99.
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527
Fälle dieser Anhäufung darstellen, ist kein Grund vorhanden, hier
kosmische Vorgänge zu vermutben.
Muß man aus diesen und einigen anderen Gründen die Annahme
von Kometengruppen auch fallen lassen, so kann die beobachtete That-
sache der Theilung eines Kometen in mehrere nebeneinander laufende
nach Bredichin6) doch die Ursache des Ursprunges der periodischen
Kometen sein. Bredichin stellt sich vor, dafs solche Trennungen durch
explosionsähnliche Vorgänge eintreten können. In dem Falle, wo die
fortgeschleuderte Masse eines parabolischen Kometen sich im Zustande
eines gravierenden Systems erhalten kann, werden die Theilchen der-
selben sich nicht in einen Meteorschwarm auflösen, sondern die Bahn
des Schwerpunktes der Gesamtmasse verfolgen, und es wird auf diese
Weise im Sonnensystem ein periodischer Komet geschaffen sein.
Bredichin macht sogar eine Reihe periodischer Kometen namhaft,
welche er als die ehemaligen Theilungsresultate bestimmter Kometen
ansieht. Gegen die Annahme von Explosionen sprechen indessen
Seeligers Untersuchungen über die Zusammenstöße und Theilungen
planetarischer Massen.7) Danach sind bei solchen Trennungen immer
nur relativ geringfügige Kräfte im Spiel; so beim Kometen von 1882,
wo die Bewegungsdifferenz zweier sich trennender Kerne anfänglich
nur 2.6m auf 478 km Entfernung betrug. Zudem sind Rückwirkungen,
die sich bei Explosionen an einer selbstständigen Bewegung der abge-
trennten Massen zeigen müssten, bisher in keinem Falle in den Beob-
achtungen wahrnehmbar gewesen.
Die Frage der Entstehung elliptischer Kometenbahnen (also
periodisch zur Sonne zurückkehrender Kometen) aus ursprünglich
parabolischen Kurven durch die störende Kraft von Planeten ist in
neuester Zeit durch H. A. Newton, Tisserand und Callandreau
studirt worden. Ersterer8) hat gefunden, dafs von tausend Millionen
Kometen, welche sehr nahe an dem Jupiter vorübergingen, 126 Kometen
Ellipsenbahnen von weniger als sechs Jahren Umlaufszeit erhnlten
würden, und viel größer wäre die Zahl der enßtehenden elliptischen
Kometen mit größerer Umlaufszeit. Auf so umgeformten Bahnen
müßten sich der „gefangene“ Komet und der Jupiter nun öfter nach
gewissen Zeitabschnitten begegnen und einander nähern, und durch
diese Summirung der Jupiterwirkung kann die Umlaufszeit des Kometen
noch weitor verkürzt werden. Allerdings kann durch diese Einwirkung
5) Astron. Nachr. No. 2877.
') Abhandlg. d. bair. Acad. d. W. 11. CI. Bd. 17 II. Abth.
*) On the capture of Comets (American Journ. of Science, vol. 42, 1831.)
35*
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528
des Planeten Jupiter die fertige Ellipse schliefslich in eine Hyperbel
verwandelt und der Komet dadurch auch ganz aus dem Sonnensystem ent-
fernt werden. Erst wenn der ruhelos umhergetriebene Komet keinen
Katastrophen durch den Jupiter mehr ausgesetzt ist, oder etwa die Mit-
wirkung anderer Planeten eingegrifTen hat, darf man den Kometen als
ständiges Mitglied unseres Sonnensystems ansehen. Tisserand9) hat
gezeigt, dafs mindestens 15 der jetzt vorhandenen periodischen Kometen
sich durch direkte Bewegung, geringe Noigung gegen die Ekliptik und
in der Nähe der Jupiterbahn liegende Aphelien auszeichnen, und dafs
diese Kometen durch Annäherungen an den Jupiter aus ursprünglich
parabolischen Bahnen in elliptische überführt worden sein dürften.
Callandreau l0) erweitert nooh diese Untersuchungen, indem er diese
allmähliche Umbildung der Bahn in ihren einzelnen Phasen verfolgt
Der gestörte parabolische Komet kann schon, bevor er dem Jupiter
besonders nahe kommt, in einer lang gestreckten Bahn wandeln und
seine Periheldistanz erheblich verkürzt sein. Innerhalb der Wirkungs-
sphäre des Jupiters sind die Störungen so bedeutende, dafs zwei ein-
ander vorher sehr ähnliche parabolische Bahnen nach dem Durchgänge
in zwei vollständig verschiedene Ellipsen verwandelt sein können.
Wie man aus unseren Darstellungen ersieht, ist nur ein Theil
der Frage über die Kosmogonie der Kometen gegenwärtig klar gelegt,
nämlich die Art der Bahnveränderungen, die sie erleiden, sobald sie
in das Sonnensystem eingedrungen sind. Dagegen ist ihr eigentlicher
Ursprung nooh in Dunkel gehüllt. Wir dürfen höchstens vermuthen,
dafs sie unsere Sonne auf ihrer Wanderung durch den unendlichen
Weltraum begleiten und mit deren Bewegung ungefähr gleichen Schritt
halten.
*) Bulletin astronomique. 1889 Juni, Juli.
,0) Annales de l'Obisorv. de Paris, Mi'moirt's. Tome XX.
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Bringt die Sonne magnetische Stürme hervor?
Diese Frage hat bei der letzten Jahresfeier der Londoner könig-
lichen Gesellschaft Lord Kelvin (Sir William Thomson), der
Präsident der Gesellschaft, in einer Weise beantwortet, die vielen
Hypothesen den Boden entzieht. Während man die Erde selbst als
einen sehr kräftigen Magneten ansieht, nimmt man im allgemeinen an,
dafs die Aenderungen in der Richtung und Stärke desselben von
außerhalb unseres Planeten liegenden Kräften bewirkt werden. Gewisso
periodische Störungen des Erdmagnetismus, die zeitlich mit grofsen
Revolutionen in dem Sonnenballe — wie sie die Sonnenflecke an-
zeigen — zusammenfallen, haben Sir Edward Sabine vor 40 Jahren
veranlagt, diese Störungen für Wirkungen der Sonnenenergie zu halten,
und die Maxwellsche Theorie über die Ausbreitung der elektrischen
Wellen hat diese Ansicht genährt. Ueberlegen wir aber einmal, wie
grofs die von der Sonne entwickelte Energie sein inufs, welche in
der Entfernung von 150 Millionen Kilometern von ihrem Mittelpunkte
noch im stände ist, einen magnetischen Sturm auf der Erde hervor-
zubringen. Als Beispiel nimmt Lord Kelvin einen solchen von
mittlerer Gröfse, der am 25. Juni 1885 aoht Stunden lang anhielt und
von W. G. Adams beobachtet wurde. Um wirklich jenen Sturm
hervorbringen zu können, hätte die Sonne mit 364 mal so viel
Pferdestärken arbeiten müssen, als ihr gewöhnlich zukommen, oder
— mit anderen Worten -1— sie hätte in jenen acht Stunden gerade
soviel an Arbeit leisten müssen, als sie sonst in vier Monaten an
Wärme- und Lichterzeugung fertig bringen kann. Darum ist es im
hohen Grade unwahrscheinlich, dafs irgend eine dynamische Wirkung,
die von der Sonne ausgeht, sei sie direkt magnetisoh oder eine Folge
von Stürmen in ihrer Photosphäre, irdische Magnetstürme erzeugen
kann. Woher sollte auch eine solche kolossale Steigerung der
Sonnenenergie kommen? Etwa von Meteoriten, die offenbar häufig
in grofser Zahl in den Sonnenball stürzen? Lord Kelvin hat es
längst erkannt, dafs die jährlich in die Sonne stürzenden Meteoriten
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zusammen eine viel zu geringe Masse besitzen, um die von der
Sonne in Licht und Wärme ausgestrahlte Energie nähren zu können,
und hat sich Helmholtz' Ansicht zu eigen gemacht, dafs durch die
Kontraktion des Sonnenballes das fortwährend entstehende Manko
an Energie gedeckt und seit einigen Millionen .Jahren die Strah-
lung der Sonne in ihrem alten Betrage aufrecht erhalten werde. Zu
einer so gewaltigen Steigerung der Sonnenenergie aber, wie sie
ein Magnetsturm voraussetzt, ist der Opfertod solcher Meteoriten am
wenigsten fähig. Es bleibt also vorläufig nichts übrig, als anzunehmen,
dafs wir in der vermeintlichen Verbindung von Sonnenflecken und
Magnetstürmen nichts weiter als eine blofso Koinzidenz vor uns haben.
„Je wunderbarer und unerklärlicher damit die periodischen Aende-
rungen des Erdmagnetismus werden, desto mehr müssen sie die
Forscher anregen, die früher oder später ihr Werk belohnt sehen
werden. Wir haben gegenwärtig zwei gut und sicher festgestellte
Verbindungen zwischen Magnetstürmen und anderen Erscheinungen:
das Polarlicht über und die Erdströme unter der Erde arbeiten sicher
in völliger Sympathie mit Magnetstürmen.“ — r.
t
Witterungs -Typen in Australien.
Von Meteorologen ist vielfach der Wunsch nach genauerer
Kenntnifs des Witterungsverlaufes auf der südlichen Hemisphäre aus-
gesprochen. Längere Beobachtungsreihen liegen zwar von verschie-
denen Orten derselben vor, aber das Studium der synoptischen Meteo-
rologie, der gleichzeitigen Aenderungen dos Wetters auf einem gröfseren
Gebiete, war bis vor kurzem unmöglich, denn das einzige Material,
die vom meteorologischen Amto der Vereinigten Staaten herausge-
gebenen internationalen Wetterkarten für 1878 bis 1884 enthielten
nur die Angaben von durchschnittlich 5 Stationen der südlichen Halb-
kugel. Seit 1887 haben sich jedoch die Verhältnisse für Australien
wesentlich geändert. Auf Anregung des Direktors am Brisbane Obser-
vatorium, Herrn Wragge, wurden zunächst für Queensland Wetter-
karten auf Grund der Aufzeichnungen von ca. 70 Stationen aus allen
Theilen des australischen Kontinents veröffentlicht Fast gleichzeitig
wurde im Aufträge der Regierung von Neu-Süd-Wales eine ähnliche
Publikation herausgegeben, die sich mit manchen europäischen Wetter-
karten sehr wohl messen kann, wenn man davon absieht, dafs an
Sonn- und Feiertagen die Veröffentlichung unterbrochen wird.
Herr Russell, der Direktor des Sydney-Observatoriums hat die
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australischen Wetterkarten einer eingehenden Prüfung unterzogen;
naturgemäfs wurden dabei in erster Linie nicht wie bei uns die Zug-
strafsen der Depressionen, sondern das Verhalten der für Australien
typischen Hochdruckgebiete untersucht. Als bemerkenswerthestes Re-
sultat ergab sich hierbei, dafs die Anticyklonen nicht längere Zeit fast
unbeweglich über dem Kontinent liegen bleiben, sondern dafs in rascher
Reihenfolge immer neue Maxima — im Jahresdurchschnitt 42 —
Australien durziehen mit einer Geschwindigkeit von rund 64 km pro
Tag, also ungefähr ebenso rasch wie die Depressionen in unseren
Breiten. Für die Anticyklonen ist ferner charakteristisch, dafs sich
ihre Axe bei dem Erreichen der Ostküste um ca. 90° im Sinne des
Uhrzeigers dreht. Die Veränderungen im Hochdruckgebiet werden
zum grofsen Theile bestimmt durch die an der Südküste von Ost nach
West wandernden Depressionen. Diese Gebilde, welche als Theil-
depressionen des grofsen südpolaren Minimums aufzufassen sind, ent-
ziehen sich jedoch einer genaueren Untersuchung, da ihr Zentrum
selten das Festland berührt; typisch für dieselben ist, dafs ihre Ge-
schwindigkeit in der Nähe des Kontinents sich verringert, so dafs Schiffe
die von Kap Leeuwin nach der Bafsstrafse fahren, häufig diese Wind-
systeme überholen.
Untersuchungen der erwähnten Art haben nicht nur den prak-
tischen Werth, zum Verständnifs der Witterungsvorgänge in Australien
und zur Verbesserung der Prognosen daselbst beizutragen, sondern
sie gestatten auch allgemeine Schlüsse über die Beziehungen zwischen
Anticyklonen und Depressionen. Auch bei uns sind wandernde Maxima
nicht selten, jedoch gestalten sich die Verhältnisse hier so komplizirt,
dafs Versuche, Gesetzmäfsigkeiten zu erkennen, bisher nicht erfolgreich
gewesen sind. Hier können uns die gleichmäfsigeren und deshalb
einfacheren Vorgänge auf der Südhemisphäre wichtige Fingerzeige
geben. Sg.
*
Treibeis in südlichen Breiten.
Eine in seemännischen Kreisen Aufsehen erregende und nament-
lich in den „Annalen der Hydrographie“ von Herrn Kapitän Dinklage
mehrfach besprochene Naturerscheinung ist die grofse Eistrift, welche
im südatlantischen, indischen und stillen Ozean seit Ende des Jahres
1889 beobachtet wurde, sich aber erst im April 1892 in voller Mächtig-
keit zeigte und langsam mit zeitweisen Rückwärtsbewegungen nach
Ost trieb. Die Ilauptoismasse wurde Ende September zwischen 44 und
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40° S. Br. und 34 und 22° W. Lg. angetroffen; es war auf diesem ca.
250 Seemeilen breiten und 550 Seemeilen langen Streifen das Meer
mit Eisbergen und abgebröckelten Eisstücken völlig übersät. Bei
einzelnen Bergen wurde eine Höhe von 100 m über dem Wasser und
eine Länge von 1,5 Seemeilen sicher festgestellt; berücksichtigt man,
dafs ein solcher Berg höchstens mit einem Fünftel seiner ganzen
Mächtigkeit aus dem Wasser herausragt, so erhält man für diesen Kolofs
ein Gesamtvolumen von rund 4000 Millionen Kbm. Der Anblick
dieser Berge wird als ein höchst imposanter geschildert; sie erscheinen
von fern in den verschiedensten Farben, die zwischen Grau, Schwarz.
Grün und blendendem Weifs wechseln; bei stürmischem Winde rauchen
die Berge vom Gischt und Wasserdampf der sich brandenden Wogen
wie Vulkane und überschlagen sioh, wenn eine Seite zu kopfschwer
geworden ist, mit furchtbarem Getöse. Das übliche Kennzeichen für
die Annäherung an Eisberge, die Abnahme der Meerestemperatur, er-
wies sich in vielen Fällen als unzuverlässig; auch scheint die Wasser-
temperatur, welche in diesen Breiten während des Sommers ca. 14° C.
beträgt, keinen erheblichen Einflufs auf die Verminderung der Eis-
massen auszuüben. Die Trift im südatlantischen Ozean ist bei ihrer
Wanderung nach Ost Ende Oktober aus der üblichen Segelroute her-
ausgekommen, jedoch sind Anfang dieses .Jahres neue Eismassen aus
Südost bis 48° S. Br. und 47° W. Lg. vorgerückt und dürften, nach
der Gröfse der Eisberge zu schliefsen, ebenfalls längere Zeit der Schiff-
fahrt gefährlich werden.
Die aufsergewöhnlichen Treibeismengen bieten nicht allein nau-
tisches, sondern auch meteorologisches Interesse dar. Eine so bedeutende
Wärmeanomalie, wie sie diesem Phänomen entspricht, wird wahrschein-
lich nicht in den höhern südlichen Breiten allein einen Ausgleich
finden, sondern man wird auch die Witterungsvorgänge in niedem
Breiten damit in Zusammenhang bringen müssen. Für das Bestehen
eines solchen Zusammenhanges haben hervorragende Meteorologen
mehrfach sich ausgesprochen; ein direkter Nachweis ist bisher nicht
geführt, dürfte aber vielleicht bei Untersuchung der letzten Jahre mit
ihren scharf ausgeprägten Witterungsepochen Erfolg haben. Sg.
Neues über den elektrischen Lichtbogen.
Die von Davy im Jahre 1821 entdeckte und heute in so grofsem
Mafsstabe nutzbar gemachte Erscheinung des elektrischen Lichtbogens
entsteht bekanntlich in der Weise, dafs zwei Kohlenstäbe, von denen
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der oine mit dem positiven, der andere mit dem negativen Drahte
einer Leitung verbunden ist, in Kontakt gebracht und dann um eine
kleine Strecke, etwa 1 — 10 mm, von einander entfernt werden. Der
bei der Berührung zu stände kommende Strom hört nach der Tren-
nung nicht auf; vielmehr bildet sich zwischen den Kohlen ein in der
Mitte bläulich, am Rande in der Regel gelblich leuchtendes, llammen-
ähnliohes Gebilde, welches den Strom leitet. Die Bogenform tritt auf,
wenn man die Kohlen etwas weit von einander entfernt, und besonders,
wenn man sie wagerecht stellt; sie ist lediglich eine Folge des auf-
steigenden Stromes erwärmter Luft. Das hellste Licht geht indefs
nicht von diesem Flammenbogen aus, sondern von den glühenden
Kohlenspitzen, vornehmlich von der positiven Kohle. Dies die be-
kannten Tliatsachen, denen wir im Folgenden einige neuere Resultate
beifügen wollen.
I. Die Temperatur des elektrischen Flaramenbogens.
Da der Lichtbogen zu den wirksamsten Mitteln der Erzeugung hoher
Temperaturen gehört, und infolgedessen die Messung seiner Tem-
peratur grofse Schwierigkeiten darbot, erscheint es nicht verwunder-
lich, dafs man schliefslieh in übertriebene Vorstellungen von dieser
Temperatur verfiel. Man nahin an, dafs sie 4000, ja wohl gar 4500
Celsiusgrade betrage. Neuere Untersuchungen über diesen Gegenstand
sind am Schlüsse des vorigen Jahres1) von Herrn Prof. Violle in
Paris angestellt worden, und zwar nach einer geistvollen, wenngleioh
im Prinzip sehr einfachen Methode. Violle überzeugte sich zunächst
durch photometrische Messungen davon, dafs die Temperatur des hell-
sten Theiles der positiven Kohle stets dieselbe ist, gleichviel ob die
Stromstärke einen hohen oder geringen Betrag hat. Die Versuche
wurden angestellt mit Strömen, welche einer mechanischen Leistung
von 0,7—46 Pferdekräften entsprachen. Schon dieses Resultat ist sehr
auffallend und wichtig. Die Sache ist danach genau so, wie wenn
man Wasser mit Hülfe einer geringen oder einer sehr starken Wärme-
zufuhr zum Sieden bringt; es hat bekanntlich in beiden Fällen die
Temperatur denselben Werth, nämlich 100°. Violle zieht aus seiner
Beobachtungauch den entsprechenden Schlufs: In dem elektrischen
Flammenbogen kommt der Kohlenstoff zum Sieden; die
Wärmewirkung des elektrischen Stromes steigert deshalb die Tem-
peratur nicht weiter, sie macht die feste Kohle luftförmig. — Diesen
unmittelbaren Uebergang aus dem festen in den luftförmigen Zustand
') Comptes readus, Tome 115, No. 26.
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534
haben wir uns dem Verhalten des Eises unter der Luftpumpe analog
zu denken. Das etwa in kleinen Mengen gebildete Schmelzwasser
verdampft sofort, so dals man geradezu sagen kann, das Eis ver-
wandle sich unmittelbar in Wasserdampf; entsprechendes würde also
auch für den Kohlenstoff im Flammenbogen gelten.
Weiterhin kam es nun darauf an, diese Siedetemperatur zu be-
stimmen. Violle schlug ein kalorimetrisches Verfahren ein. Die
Kohle wurde nahe ihrem Ende mit einer Einschnürung versehen, so
dars sich an der Spitze ein Knopf von etwa 2 cm Durchmesser be-
fand. Sobald die Beobachtung im Pbotometer zeigte, dafs dieser
Theil gleichmäfsig glühend war, wurde er durch einen Stofs in ein
kleines Kupfergefafs, dessen Wände mit Kohlenplatten bedeckt waren,
geschleudert. Dieses Geräfs gab in der üblichen Weise seine W'ärme
an eine bestimmte Wassormenge ab, deren Temperaturerhöhung dann
gemessen wurde. Unter Annahme gewisser wahrscheinlicher Werthe
für das Wärmefassungsvermögen der Kohle ergab sich, dafs jenes ab-
gelöste Stück eine Temperatur von 3500° besessen haben müsse.
Dies ist also die Temperatur der hellsten Stelle der positiven Kohle
und gleichzeitig der Siedepunkt der Kohle.
Dieses Sieden des Kohlenstoffes ist nach Prof. Berthelot inso-
fern kein rein physikalischer Vorgang, wie etwa das Sieden des Was-
sers, als es sich gleichzeitig um einen Zerfall von Molekülgruppen
des festen Kohlenstoffes, also um einen Vorgang bandelt, den man
als einen chemischen zu bezeichnen pflegt; ein Theil der Stromenergie
wird zu dieser Trennung verbraucht.
Die Energie, welche dem gasförmigen Kohlenstoff innewohnt,
tritt wieder zu Tage in den beträchtlichen Wärmemengen, welche die
explosiblen Gemische von Kohlenwasserstoffen oder anderen gas-
förmigen Kohlenstoffverbindungen mit Sauerstoff zu erzeugen ver-
mögen. Man erhält durch solche Explosionen Temperaturen von 4«XK)°
und darüber, tvenngleich es ja seine Schwierigkeit haben würde,
diese Temperaturen nun auch einem benachbarten festen Körper mit-
zutheilen.
f
Das Gesetz der Transformation der Knochen.*) — Wenn wir
im Folgenden einmal auf die Ergebnisse im Gebiete medizinischer
Forschung zu sprechen kommen, so geschieht dies, weil unseres
*) Nach einem vom Reg.- Rath Geitel in dar polytechnischen Gesellschaft
zu Borlin am 2. März gehaltenen Vorträge (Pol. Centralbl. V, 13 und 15).
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535
Wissens in keinem Falle so klar wie in dem zu besprechenden die
Anpassung1 der Organe des lebenden Körpers an die ihnen ob-
liegenden Funktionen zu Tage tritt, weil besonders diese Anpassung
sich hier in so kurzer Zeit vollzieht, dafs sie sich während ihres Ver-
laufes verfolgen läfst, während man bisher bei der Länge der dazu
nöthigen Zeiträume auf allerdings sehr wahrscheinliche Hypothesen
angewiesen war. Wenn man, den Aufbau eines Blattes studirend, in
den Rippen die I-Träger wiedererkennt, welche dem Bau eines Hauses
Festigkeit geben, so ergiebt sich zwar als sehr wahrscheinlich die
Anpassung dieser Organe an das Festigkeitsbedürfnifs der Pflanze,
aber es ist damit nicht gesagt, in welchen Zeiträumen diese Kon-
struktionen gerade die ihnen heute eignende Form angenommen haben.
Ferner hat die Hypothese — man kann es nicht leugnen — noch
etwas Unwissenschaftliches an sich, da ja gerade die Werkzeuge der
Menschen den natürlichen Organen abgesehen sind — nach Kapp
„Organprojektionen“ darstellen — , und das verliert sich erst, sobald
von jenen Werkzeugen mit Hilfe der Mechanik bewiesen ist. dafs sio
den Gesetzen der Festigkeit und der Material -Oekonomie gerade in
der Form, in der sie angewandt werden, besonders Genüge leisten.
Die wissenschaftliche Theorie der Baukonstruktionen ist aber durch
die Erfindung der Graphostatik so gefördert und vereinfacht worden,
dafs man jetzt leicht diejenige Form eines Instrumentes, bei der es
jene Gesetze befriedigt, auffinden kann. So sind die leichten Brücken-
konstruktionen, der moderne Eisenbau der Häuser, der Eiffelthurm
möglich geworden; so ist auch der elegante Fairbairn-Krahn erfunden
worden. Zeigt es sich nun, dafs ein solchermafsen nach den Prinzipien
der Graphostatik aufgebautes Instrument mit einem thierisehen oder
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pflanzlichen Organ übereinstimmt, so ist erst der Beweis geführt, dato
auch die Natur bei der Bildung ihrer Organe dieselben jenen Gesetzen
der Festigkeit und Oekonomie anpafst. Ein sehr einfaches Beispiel
dieser Art ist der menschliche Oberschenkelknochen (Fig. 1 und 2), der
genau jenen Fairbairn-Krahn nachahmt. Schneidet man einen thierischen
Knochen der Länge nach entzwei, so erblickt man darin eine grofse
Menge kleiner Knochenfasern, die auf den ersten Blick ohne besonderes
Gesetz durcheinander laufen, die sogenannten Spongiosabiilkchen. Der
Erfinder der Graphostalik C ul man in Zürich erkannte nun zuerst,
dafs diese liälkchen im Oberschenkelknochen nicht anders verlaufen,
als auch die stützenden Querbalken in einem Fairbairn-Krahn ver-
Fig. 3.
Fig. 4.
laufen mufsten, wenn ihnen zugemuthet wurde, die gröfsto Festigkeit beim
geringsten Materialaufwand zu gewährleisten. Die Anpassung erreicht
also bereits einen an Evidenz grenzenden Grad von Wahrscheinlich-
keit Aber völlig wird sie zur Evidenz gebracht, wenn man verletzte
Knochen zur Heilung bringt. Prof. J. Wolff in Berlin hat in dieser
Hinsicht die Erfahrung mehrerer Decennien gesammelt und jetzt auf
Kosten der Berliner Akademie herausgegeben. Es zeigt sich in allen
untersuchten Fällen, dufs die Knochen während des Heilungs-
prozesses sowohl in ihrem äufseren — der Dicke der Wände — als
auch in ihrem innern Bau — in der Lage jener Spongiosabälkchen —
sich genau dem Dienste anpassen, den sie zu leisten haben. Wir
brauchen nur die beiden Figuren 3 und 4 anzusehen, welche einen
gebrochenen Oberschenkelhals kurz nach dem Bruche und nach voll-
zogener Heilung darstellen. Während zu den Seiten der Bruchstellen
neue Knoohenmasson mit neuen Spongiosabälkchen dem Organe die
Festigkeit wiedergeben, hat sich im Kopfe des Schenkels eine dem
neuen Zustande angepafste Verschiebung jener Bälkchen vollzogen.
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537
die mit der Aufzehrung des nun überflüssig gewordenen Materials bei
B verbunden war. So zeigt sich, dafs die Natur nioht blos in den
langen Zeiträumen, in welchen die Wandlungen der organischen Welt
sich sonst vollziehen, immer höhere Stufen der Anpassung erstrebt,
sondern auch in der kurzen Spanuo Zeit, die ein Knochenbruch zu
seiner Heilung erfordert, die Gesetze der Anpassung an die Erfordernisse
der Festigkeit unter strengster Material-Oekonomie befolgt. — r.
*
Ueber E. E. Barnards Lebensgang wurden am 8. März 1893
einige bemerkenswerthe Einzelheiten bekannt, als derverdiente Kometen-
jäger und Entdecker des fünften Jupitormondes von der Vanderbilt-
Universität in Nashville U. S. zum Ehrendoktor ernannt ward. Nach
den bei dieser Gelegenheit gemachten Mittheilungen war Barnard erst
ein ununterrichteter Knabe, der in einer photographischen Gallerie Be-
schäftigung fand. Dort verbrachte er seine Tage, während er Nachts
bei klarem Wetter stets auf dem Dache des Hauses zu finden war,
wo er, einer unüberwindlichen Neigung folgend, mit einem kleinen
Fernrohre den Himmel durchmusterte. Bald darauf wurde er Student
der Vanderbilt-Universität und bildete sich als solcher aufs eifrigste
nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in der Astronomie aus,
da er zur Sternwarte freien Zutritt erlangte. Nun machte er sich in
kurzer Zeit einen Namen als Kometenentdecker. Dies hatte seine Be-
rufung an die Licksternwarte zur Folge, wo er nun, einer der treuesten
Arbeiter am gröfsten Fernrohr der Welt, eine Fülle wichtiger Beob-
achtungen ausführte und durch die Entdeckung des fünften Jupiter-
mondes glücklich genug war, seinen Namen mit dem Galileis ver-
knüpfen zu können.
•u
*
Neu entdeckter Komet.
Auf dem Privatobservatorium Flammarions in Juvisy bei Paris
hat am 9. Juli Quenisset einen sehr hellen Kometen entdeckt. Der-
selbe bewegt sich mit grofser Geschwindigkeit aus dem Sternbild des
Luxes, in welchem er aufgefunden wurde, in südwestlicher Richtung und
kann nach Eintritt der Dunkelheit selbst mit ganz kleinen Instrumenten
leicht wahrgenommen werden. Einer ersten rohen Bahnberechnung
zufolge hat der Komet am 7. Juli das Perihel passirt; er entfernt sioh
schon jetzt schnell von der Erde und wird merklich schwächer. G. W.
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Arthur Mee: Observationml Astronomy, a book for beginnet«, to which
is added a bricf meraoir of the Rev. Prebendary Webb, with a specially
contributed appendix. With il lu strati o ns. — Daniel Owen and Cnm-
pagny, Cardiff 1893. VIII, 79 und VII Seiten gr. 3°. Preis 2 sh. 9 d.
Das vorliegende Buch ist in der Hauptsache bestimmt, dem astronomischen
Laien in knapper Form eine anschauliche Darlegung der neuesten Ergebnisse
auf dem Gebiete der physischen Astronomie zu vermitteln; daraus, dafs es sich
ausschliefslich an englische Leser wendet, erklärt sich manche Eigen thümlich-
keit, die der deutsche Beurtheiler im Interesse der Gerechtigkeit und gröfserer
Allgemeinheit gern vermieden gesehen hätte. Für den englischen Leserkreis
mag es ja recht interessant sein zu erfahren, was auf heimischem Boden oft
mit den bescheidensten instrumenteilen Hilfsmitteln erreicht worden ist; noth-
wendigerweiße erhält aber dadurch die ganze Anlage des Buches eine uner-
wünschte Einseitigkeit, welche in populären Schriften so wenig wie in der
Wissenschaft angebracht erscheint. Der Verfasser hätte diesen Einwürfen sehr
einfach begegnen können, wenn er dem gewählten Titel noch das Wörtchen
„English“ vorgesetzt hätte.
Die Darstellung an sich kann sowohl ihrer fesselnden Form wegen als
auch inhaltlich wohl unseren Beifall finden. Die vielen Hinweise auf andere
Publikationen, in denen der Leser gründlichere Belehrung findet, als dies in
dem knappen Abrifs möglich ist, würden indessen vollständig entbehrlich ge-
wesen sein, zumal die angeführten Quellen dem Laien im allgemeinen nicht
eben leicht zugänglich sind; eine einfache Verweisung beispielsweise auf
Newcombs «Populäre Astronomie“ oder ein ähnliches Werk wäre vollständig
hinreichend gewesen.
Alle diese Bedenken könnten indessen kaum schwor genug ins Gewicht
fallen, um von der Lektüre des Werkes, das manches treffliche Kapitel und
einen gediegenen Anhang mit Originalbeiträgen anderer Forscher enthält,
gänzlich abzuraten; was aber zu besonderen Ausstellungen Anlafs bietet, das
ist die — sagen wir es kurz — eigentümliche bildliche Ausstattung. Man
mag Elger als Mondforscher noch so hoch schätzen, — künstlerisch sind seine
Mondzeichnungen nicht, und es ist nicht gerechtfertigt, sie als Muster in popu-
lären Darstellungen zu reproduziren. Was an dieser einen speziellen Gruppe
von Abbildungen getadelt ist, das gilt — mit wenigen Ausnahmen — von allen
übrigen; es sei beispielsweise nur noch eine Reproduktion erwähnt, die dor
Unterschrift zufolge den Orion-Nobel darstellen soll. Theilweise mag die
mangelnde Sorgfalt nach der technischen Seite hin dio Schuld tragen, denn
die Illustrationen von Instrumenten beispielsweise, für welche offenbar vor-
handene Clichäs benutzt wurden, lassen nichts zu wünschen übrig; aber eine
wirkliche Entschuldigung wird darin schwerlich gefuuden werden können.
Weniger, aber besser! — würde im vorliegenden Fall nur erwünscht ge-
wesen sein G. W.
*
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F. Stolze, Photographische Bibliothek. Bd. I. Die photographische
Ortsbestimmung ohne Chronometer. Berlin 18U3, Verlag von Mayer
und Müller. Preis. Mk. 2,00.
Die vorliegende Abhandlung setzt eine sehr bedeutungsvolle, bislang
noch nicht hinreichend beachtete Anwendungsart der photographischen Me-
thode in der Wissenschaft auseinander, nämlich die Lösung der Aufgabe, dio
geographische Länge und Breite ohne Chronometer zu bestimmen. Wenn
schon an sich eine Methode der Ortsbestimmung, die das wichtigste Instru-
ment des messenden Astronomen, die Uhr, entbehrlich macht, ein hohes theo-
retisches Interesse beanspruchen darf, so erhöht sich die Bedeutung des hier
angegebenen Verfahrens besonders durch den für jeden Forschungsreisenden
eminent praktischen Werth desselben, der sich auf verschiedene Umstände
gründet. Erstens ist nämlich ein regelmäfsiger Gang eines Chronometers bei
Landreisen auf schlechten Wegen in der Mehrzahl der Fälle gar nicht zu er-
zielen, sodafs alle sich auf Zeitbestimmungen stützenden Feststellungen schon
deshalb sehr unsicher ausfallen müssen. Zweitens aber sind geographische
Forschungsreisende meist keine geübten Fachastronomen, so dafs es fiir sie eine
starke Zumuthung ist, nach vollbrachtem, mühsamem Tagesmarsch, der ihre Kräfte
nach jeder Richtung hin voll in Anspruch nahm, noch bei den vielfachen
Störungen des Lagerlebens doppelt anstrengende wissenschaftliche Beob-
achtungen auszufuhren. Die Erfahrung lehrt dementsprechend, dafs die Re-
sultate der unter solchen Umständen gewonnenen Beobachtungsdaten oft eine
so geringe Genauigkeit besitzen, dafs die auf die Reduktionsrechnungen ver-
wandte Mühe fast vergeudet erscheint. Kann nun aber an Stelle der Augo-
Ohr-Methode die rein mechanische Arbeit einer photographischen Aufnahme
treten, so wird dadurch nicht nur dom Reisenden eine wesentliche Erleichte-
rung gegeben sein, sondern auch der Astronom, dem doch schliefslich die
rechnorische Bearbeitung des Beobachtungsmaterials zufällt, wird eine wesent-
lich dankbarere Aufgabe bei der Reduktion zu erfüllen haben, da er ja auch
selbst die Ausmessung der Platte mit aller erreichbaren Genauigkeit besorgen
kann und sonach im Grunde genommen seine eigenen Beobachtungen reduzirt
Die vom Verfasser angegebene Methode besteht nun darin, dafs man zu-
nächst einen Stern (oder die Sonne) eine Zeit lang seinen Weg auf der photo-
graphischen Platte einzeichnen läfst und die Zenithdistanzen des Anfangs- und
End-Punkts der Spur, sowie die Differenz der Azimuthe dieser beiden Punkte
mifst. Alsdann führt die Rechnung auf Grund dieser Daten leicht zur Kennt-
nifs der Breite, der Zeit und der Lago des Meridians. Für die Bestimmung
der geographischen Länge jedoch ist auch hier, wie bei gewöhnlichen Orts-
bestimmungen, in der Regel Zuflucht zu nehmen zur Fixirung des Mondortes
in Bezug auf irgend welche Gestirne; aus den durch eine Parallaxenrechnung
auf den Erdmittelpunkt reduzirton „Monddistanzen“ läfst sich nämlich dann
wegen der schnellen Bewegung des Mondes leicht die zugehörige Weltzeit und
damit dio geographische Länge des Beobachtungsortes finden. — Der Verfasser
giebt nun in seiner Schrift nicht nur die Theorie seiner Methode, sondern er
läfst sich auch ausführlich über die praktische Ausführung aus, untorsucht die
erreichbare, durchaus hinreichende Genauigkeit und giebt eine bis ins Einzelne
geheude Beschreibung seines für den vorliegenden Gebrauch besonders zweck-
mäfsig konBtruirten photographischen Theodoliten, der an Stelle eines Universal-
instrumentes mit Vortheil äuge wendet werden kann.
In einem Anhang wird das Stativ, das Negativgitter und die Spiegel, so-
wie die Verpackung des Theodoliten behandelt, ferner werden Anweisungen
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für topographische Aufnahmen zur Verbindung der astronomisch bestimmten
Punkte gegeben, die Nützlichkeit telestereoskopischer Aufnahmen betont und
schliefslich noch ein neues Wegerad beschrieben. Das Büchlein bietet sonach
jedem Forschungsreisenden eine Fülle wichtiger und dankenswerter Winke
in Bezug auf die Heranziehung der allezeit dienstbereiten Photographie zur
Erleichterung und Vervollkommnung der Lösung der wichtigsten Aufgaben
der Topographie. F. Kbr.
f
Hammer, E., Prof.; Zeitbestimmung (Uhrkontrole) ohne Instrumente
durch Benutzung der Ergebnisse einer Landesvermessung. All-
gemein verständlich dargestellt Mit Tafel der Sonnendeklination und
der Zeitgleichung für 1893 bis 1896 und einer Figur. Stuttgart,
J. B. Metzler 1893.
Nach einem kurzen Ueberblick über den Werth der Zeitbestimmung ver-
mittels der populären Zeitmesser von der Sonnenuhr an bis zum Chronodeik
trägt der Verfasser sein Verfahren vor, welches als Hilfsmittel nur eines
Senkels bedarf. Im wesentlichen besteht diese Methode darin, dafs man den
Antritt der Sonnenränder an den Sonkelfaden in einem bekannten Azimuth
beobachtet. Ein solches Azimuth erhält man, wenn man als Beobachtungsort
und Zielpunkt zwei durch die Landesvermessung ihren Koordinaten nach be-
stimmte Lokalitäten wählt, was in den Kulturstaaten keine Schwierigkeiten
bieten dürfte, da selbst in der Nähe kleinerer Ortschaften genügend trigono-
metrisch festgelegto Punkte (Thurmspitzen, Fahnenstangen, Blitzableiter etc.)
zur Verfügung stehen. Aus den rechtwinkeligen Koordinaten des beobachteten
Ortes und des Visirpunktes wird dann das Azimuth der Absehenslinie, also
das Sonuenazimuth, gefunden, und hieraus ergiebt sich, da ja die Polhöhe des
Beobachtungsortes aus den Karten, die Deklination der Sonne aus dem Jahr-
buch entlehnt werden kann, in bekannter Weise der Stundenwinkel der Sonne
und mithin auch die Uhrkorrektion. Um das Jahrbuch zu ersparen, hat der
Verfasser eine Tabelle der Zeitgleichung und der Sonnendeklination für den
Zeitraum von 1893 bis 1896 beigefügt. Der Verfasser glaubt nach vielen Ver-
suchen den mittleren Fehler einer derartigen Bestimmung auf kaum über
+ 0,05 m annehmen zu dürfen. Obwohl die Telegraphenstationen täglich die
amtliche Zeit übermittelt erhalten, ist doch sicher oft eine Zeitkontrole an
kleineren Orten geboten, weil hier nicht selten eine gewöhnliche Schwarzwälder
Uhr die Rolle einer Normaluhr Übernehmen mute. Diese Kontrole kann jeder-
mann, selbst ein geübter Schüler, nach der angegebenen Art ohne instrumcntelle
Hilfsmittel leicht und schnell ausführen. Schw.
Verlag von Hermann Partei ln Berlin. — Druck von Wilhelm Qronau's Buchdruckerei in Berlin.
Flir die Redaetion verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift unterlagt.
Uebersetgunjrsrecht Vorbehalten
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Galileo Galilei.
Vortrag, gehalten im mathematischen Verein zu München
von Professor Dr. von Rranmniihl.
(Schlafe.)
rrT';
1 'Za ls im Jahre 1598 Galileis Dienstzeit in Padua abgelaufen war,
f erneuerte der Senat zunächst die Anstellung auf weitere 6 Jahre
■ ’ und später bis zum Jahro 1609 mit einer jedesmaligen Vermeh-
rung seines Gehaltes, was ihn zu neuer Thätigkeit anspornte. Fassen
wir dieselbe etwas näher ins Auge.
Wir sahen, wie Galilei durch seine dynamischen Untersuchungen
sich immer mehr in Widerspruch mit den herrschenden Ansichten
der Peripatetiker setzte. Nun bot sich ihm, der den Kampf liebte, un-
erwartet eine erwünschte Gelegenheit, sich ofTen gegen dieselben zu
erklären, als am 10. Oktober 1604 plötzlich zum Staunen und Schrecken
der Peripatetiker ein neuer Stern im Sternbilde des Schlangenträgers
erschien. Da nach Aristoteles der Himmel unzerstörbar und un-
veränderlich ist, so konnte diese augenfällige Veränderung nach An-
sicht der herrschenden Schule nur in der Sphäre zwischen Mond und
Erde vor sich gegangen sein. Galilei aber hielt im Dezember 1604
drei öffentliche Vorträge, in denen er nicht nur nachzuweisen suchte,
dafs der Stern unmöglich innerhalb der Entfernung des Mondes von
der Erde entstanden sein könne, sondern dafs sich derselbe sogar
weiter als alle Planeten von der Erde entfernt befinde, also in die
Region der Fixsterne zu versetzen sei. Gegen diese Vorträge, die
auch im Druck erschienen, aber nur mehr bruchstückweise erhalten
sind, eröffneten in der nächsten Zeit die Peripatetiker heftige Angriffe,
in denen sie, obwohl vergebens, für die bedrohten Grundlagen ihrer
Philosophie eintraten. Doch scheint sich Galilei darum wenig be-
Himmel und Erde. 18S3. V. 12 3<»
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54 2
kümmert zu haben, da ihn schon wieder andere Studien, besonders solche
über Magnetismus fesselten. Aber halten wir uns hierbei nicht
länger auf und eilen wir zu den Jahren 1609 und 1610, welche eine
Epoche in der Geschichte der Astronomie bedeuten.
1609 hatte Galilei, wie er selbst erzählt, die Nachricht erhalten,
dafs in Holland ein Instrument erfunden worden sei, mit dem man
entfernte Gegenstände näher rücken und so genauer betrachten könne.
Ob er Näheres über diese Erfindung ermittelte oder wohl gar eines
der in Holland gefertigten Fernröhre zu Gesicht bekam, läfst sich
nicht mehr feststellen; wohl aber ist sicher, dafs er in wenigen Tagen
durch Herausprobiren, wie er selbst angiebt, ein Fernrohr fertig-
gestellt hatte. Dasselbe stellte er dom Senate in Venedig durch seinen
Freund Sagred o zur Verfügung, mit einer Schrift begleitet, worin
sein Nutzen für Nautik und Astronomie auseinandergesetzt war.
Hierauf beeilte sich der Senat, unter Verdreifachung des Gehaltes
seine Professur in eine lebenslängliche zu verwandeln.
Mit dieser wichtigen Erfindung beginnt jene Periode in Galileis
lieben, in welcher er seine gröfsten Triumphe feierte. Er hatte den
glücklichen Gedanken, das neuerfundene Fernrohr, das er bis zu einer
dreifsigfachen linearen Vergröfserung verbessert hatte, gegen den ge-
stirnten Himmel zu richten, und war dadurch in die Hage versetzt,
Dinge zu schauen, die noch kein menschliches Auge vor ihm gesehen
hatte. Seine astronomischen Entdeckungen und Beobachtungen, die
er damals machte, legte er in dom im März 1710 erschienenen „Nuncius
sidereus“ oder „Sternboten“ nieder, der bei seinem Erscheinen unge-
heueres Aufsehen erregte, was wohl zu begreifen ist; denn, hatte alles
das seine Richtigkeit, was Galilei in diesem denkwürdigen Buche
mittheilte, so war das Gebäude der alten Philosophie in seinen Grund-
festen erschüttert, und es war schwer abzusehen, wo sich neue Stützen
für seine wankenden Mauern finden sollten!
Den Mond, den die Peripatetiker für eine glänzende, spiegel-
glatte Scheibe gehalten hatten, schildert Galilei in diesem Buche als
eine mit hohen Gebirgen und Thälern ausgostattete Welt gleich der
unsrigen; die Milchstrafse, die man für einen Nebel oder für
Meteore angesehen hatte, erklärt er für ein Heer unzähliger Sterne;
in den Plejaden, von denen man bisher nur 6 Sterne kannte, zählte
er deren 40, ebenso im Haupte des Orion 21 u. s. w. Aber die
wichtigste daselbst mitgetheilte Entdeckung war die der 4 Jupiters-
trabanten, denn dadurch war ad oculos demonstrirt, dafs sich ein
Zentrum von Bewegungen selbst wieder bewegen könne, was damals
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543
für undenkbar galt. Galilei weist auf diese wichtige Konsequenz
auch sofort im «Sternboten“ hin, indem er sagt, dafs damit die
Möglichkeit des Copernikanischen Systems klar be-
wiesen sei.
Am 7. Januar 1610, Nachts 1 Uhr erblickte er zum ersten Male
drei der Trabanten Jupiters und am 13. desselben Monates alle vier;
er beobachtete ihre Bewegungen während zweier Monate aufs ge-
naueste und theilte ihre Stellungen bei diesen Einzelbeobachtungen im
„Sternboten“ mit, wo er ihnen auch schon, dem Hause von Toscana
zu Ehren, den Namen Mediceische Gestirne beilegte.
Hier will ich gleich bemerken, dafs or später die Umlaufszeiten
festgestellt, sowie Tafeln berechnet hat, die ihm dazu dienen sollten,
die Verfinsterungen dieser Trabanten zur geographischen Längenbe-
stimmung zu gebrauchen. Die Methode, die er hierzu angab, wollte
er zuerst an Spanien, dann an die tleneralstaaten verkaufen, griff
aber in seinen Forderungen so hoch, dafs sich die lange Zeit durch
seinen Freund Elie Diotata in Paris geführten Unterhandlungen
wieder zerschlugen.
Durch seine astronomischen Entdeckungen war Galileis Namen
in aller Mund gekommen, und der Grofsherzog Cosimo n, der am
7. Februar 1609 unter Vormundschaft seiner Mutter die Regierung in
Toscanu übernommen hatte und ein Schüler Galileis war, drang in
ihn, Padua zu verlassen und nach Florenz überzusiedeln. Zu seinem
Unglücke gab Galilei diesem Drängen nach und verliefe die Republik
Venedig, unter deren freien Gesetzen er, geehrt vom Senate und mit
den einflufsreichsten Senatoren durch Freundschaftsbande verbunden,
seine reformatorischen Ideen ungehindert hätte entwickeln können,
und begab sich in ein Land, dessen Regierung unter direktem Ein-
flüsse Roms und der Jesuiten stand.
Am 10. Juli 1610 wurde er zum ersten Hofmathematiker des
Grofsherzogs ernannt und mit Gunstbezeugungen überhäuft, auch hatte
er keine öffentlichen Vorlesungen mehr zu halten, wahrscheinlich,
neben seiner Liebe zur Heimath, der Hauptgrund, der ihn zu diesem
Schritte veranlafst hatte, der später für ihn so unheilvoll werden sollte.
Nachdem Galilei noch in Padua die merkwürdige Gestalt
Saturns beobachtet hatte, den er bei der schwachen Vergrößerung
seiner Fernröhre für ein Drillingsgestirn hielt, machte er,
kaum in Florenz angekommen, am 11. Dezember 1610 die für ihn
viel wichtigere Entdeckung der Phasen der Venus und des
Merkurs; diese Entdeckung war für ihn deshalb von so grofser
36*
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Wichtigkeit, weil sie einmal die Dunkelheit der Planeten bewies und
dann, weil sie zeigte, dafs sich dieselben um die Sonne bewegen, wie
der Mond um unsere Erde, ein neuer Wahrscheinlichkeitsgrund für
die Richtigkeit der Copernikanischen Lehre von der zentralen Stellung
der Sonne im Planetensystem. Hiervon gab er sofort Kepler und
dem Jesuiten Clavius am Collegium Romanum Nachricht, mit dem
er schon lange in freundschaftlichem Verkehr stand, und reiste am
23. März 1611 nach Rom, um dort, in der Zentrale der Gelehrsamkeit,
seine astronomischen Entdeckungen den Gelehrten selbst zu zeigen,
da sie denselben noch grofsentheils ungläubig gegenüberstanden. Er
wurde in Rom mit grofsen Ehren aufgenommen, und es gelang ihm
auch sehr bald durch seine Demonstrationen und Vorträge, seine
Gegner vollständig zu überzeugen. Ja, auf Betreiben des dem
Jesuitenorden angehörigen Kardinals Bellarmin wurde ihm von
Clavius und drei andern Professoren des römischen Kollegs ein Gut-
achten ausgestellt, welches die Wahrheit der neuen Entdeckungen be-
zeugte. Damals wurde er auch Mitglied der Accademia dei Linoei,
die 1603 von dem Fürsten Federigo Cesi gestiftet worden war.
Ob Galilei zu dieser Zeit schon seine Ansicht über das Copernika-
nische Weltsystem rückhaltlos äufserte, ist nicht bekannt; aber bei
Freunden und Feinden stand es fest, dafs er völlig überzeugter
Copemikaner sei, und es dauerte auch nicht lange, bis er, durch seine
Erfolge in Rom kühn gemacht, mit dieser seiner Ueberzeugung öffent-
lich hervortrat. Dies geschah zum ersten Male in seinen Briefen
über die Sonnen fleck en, die im Jahre 1613 der Oeffentlichkeit
übergeben wurden.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entstehungsgeschichte
dieser Briefe. Am 12. Oktober 1611 sohrieb der Jesuit Christoph
Scheiner, Professor der Mathematik in Ingolstadt, an den Augs-
burger Patrizier Marcus Welser, der mit allen hervorragenden Ge-
lehrten seiner Zeit in Korrespondenz stand, einen Brief, in welchem
er ihm mittheilte, dafs er bereits im März 1611 Flecken auf der Sonne
entdeckt habe, und legte eine Reihe von systematischen Beobachtungen,
die er im Oktober 1611 begonnen hatte, mit Abbildungen versehen,
bei. Diesem Briefe folgten rasch noch 2 weitere, und M. Welser
beeilte sich, dieselben in Augsburg unter dem Pseudonym: Apelles
latens post tabulam drucken zu lassen, und sandte am 6. Januar 1612
ein Exemplar davon an Galilei, ihn um seine Ansicht über die da-
selbst besprochene Entdeckung ersuchend. Am 4. Mai desselben
Jahres nun antwortete Galilei in einem umfangreichen Schreiben,
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worin er sofort die Priorität der Entdeckung auch dieser Erscheinung
für sich in Anspruch nahm, indem er bemerkte, er habe schon vor
etwa 18 Monaten, also im November 1610, die Fleoken auf der Sonne
beobachtet und dieselben auch bei seinen Demonstrationen in Rom
den dortigen Gelehrten und Prälaten gezeigt. In einem in unserer
Zeit wieder aufgefundenen Privatbriefe behauptet er sogar, die Flecken
schon im Juli oder August 1610 gesehen zu haben; jedenfalls hat er
aber damals die Wichtigkeit der Erscheinung nicht erkannt, da er
nicht einmal seinen Freunden davon Mittheilung machte.
Diesem Briefe Galileis vom 4. Mai 1012 folgten dann im August
und September desselben Jahres noch 2 weitere au M. Welser nach,
die, mit dem ersten vereinigt, das genannte Buch über die Sonnen-
flecken ausmachen.
ln diesen Schriften, die viel Interessantes enthalten, griff er
Scheine rs Ansichten, der übrigens für sich die Priorität damals nicht
in Anspruch genommen hatte, an und machte denselben dadurch und
noch mehr durch seine späteren Angriffe zu seinem erbittertsten und
zugleich gefährlichsten Gegner. Auf den heftigen Kampf, der in der
Folge zwischen diesen beiden Männern entstand, kann ich nicht weiter
eingehen und will nur Galileis Anspruch auf die Priorität der Ent-
deckung feststellen. Ich habe diese Frage früher*) einmal genau
untersucht und kam zu dem Resultate, dafs man wohl Galilei wird
zugeben müssen, dafs er die Sonnenflecken zum ersteD Mal sah, dafs
dagegen, was die Daten der Beobachtungen und der Publikationen
anlangt, an erster Stelle Johann Fabricius, an zweiter Stelle
Christoph Sohoiner und eist an dritter Stelle Galilei zu nennen
ist. Doch hat er, was seine Anschauung über das Wesen der Flecken
anlangt, seinen Gegner Scheiner sofort übertroffen, indem er schon
in seinem ersten Briefe an Welser sie für wolkenartige Gebilde einer
die Sonne umgebenden Atmosphäre hielt, während Scheiner anfangs
noch glaubte, sie seien dunkle Körper, die die Sonne in nächster Nähe
umkreisen. Ueberdies lehrten Galilei seine Sonnenfleckenbeob-
achtungen, dafs die Sonne eine Rotationsbewegung besitze, und gaben
ihm so von neuem eine Waffe gegen die Aristotelische Ansicht
von der Unveränderlichkeit des Himmels in die Hand. Aufserdem
spricht er sich am Ende seines dritten Briefes hauptsächlich auf Grund
der Planeten phasen zum ersten Male unumwunden zu Gunsten des
Copernikanischen Systems aus und bot mit diesen Dingen seinen
Neidern eine längst ersehnte Gelegenheit zum Angriff.
*) Beilage zur „Allgemeinen Zeitung“ 1890 No. 107.
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Mil grorsem Geschicke lockten ihn diese auf das gefährliche Ge-
biet der theologischen Fragen, indem sie am Hofe von Toscana ein
Tischgespräch über die Nichtvereinbarkeit von Galileis Ansichten
mit der Bibel in Scene zu setzen wuTsten, bei dem Galileis intimster
Freund, der Benediktiner Castelli, anwesend war, der für seines
Meisters Lehren eifrig eintrat. Natürlich gab er auch Galilei von
diesem Gespräche und den Angriffen seiner Gegner Nachricht, und
dieser antwortete ihm am 21. Dezember 1613 in einem langen Schreiben,
worin er eine ausführliche Darlegung seiner Ansichten über die Inter-
pretation der Bibel gab und diese Anschauungen auf diejenigen Stellen
der hl. Schrift an wandte, welche der Copemikanisohen Lehre ent-
gegenstehen.
Damit war nur erreicht, was seine Gegner wünschten. Da sie
trotz aller Bemühungen das Original dieses Briefes nicht erhalten
konnten, so verschafften sie sich eine Kopie, die der Dominikanerpater
Lorini benutzte, um Galilei bei der Inquisition zu verdächtigen.
Diese hatte sich schon, unabhängig von den geschilderten Vorgängen,
seit einiger Zeit ernstlich mit der Frage beschäftigt, wie die Kirohe
sich zu der Lehre des Copernikus über die Erdbewegung zu ver-
halten habe. Denn, während 70 Jahre das Buch des letzteren nicht
nur unbeanstandet geblieben war, sondern die Kirche die Verbreitung
der Copernikanischen Lehre sogar eher gefordert als gehemmt hatte,
da man dieselbe nur für eine mathematische Hypothese hielt, erfunden
zur leichteren Berechnung der Planetenbewegung, so war jetzt die
Gefahr wesentlich gestiegen, seit Galilei für die Realität dieses
Systems eintrat. Namentlich hatte der schon genannte Kardinal
Bellarmin, so sehr er auch Galilei persönlich zugethan war und
ihn später zu schützon suchte, und so sehr er auch dessen neue Ent-
deckungen mit Interesse verfolgte, doch die Gefahr erkannt, welche in
der neuen Weltanschauung lag, die aus der Reform der astro-
nomischen Ansichten sich zu entwickeln drohte. Daher waren seine
Bemühungen darauf gerichtet, durch ein Verbot der Copernika-
nischen Lehre diesen Bestrebungen frühzeitig einen Riegel vor-
zuschieben.
So wurde denn dieses Verbot beschlossen, und es half Galilei
nichts, dafs er im Jahre 1615 selbst nach Rom reiste, um persönlich
diesen Beschlufs zu hintertreiben, dafs er all’ seine glänzende Beredt-
samkeit aufbot, um seine Gegner zu überzeugen, ja dafs er, wie Ohren-
zeugen aus jener Zeit bekunden, in seinen Disputationen die gröfsten
moralischen Erfolge erzielte.
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547
Am 5. März 1616 wurde durch ein Dekret der Indexkongregation
des Copernikus Buch solange suspendirt, bis es verbessert sei.
Aufserdem hatte das hl. Oflizium sohon am 25. Februar desselben
JahreB den Kardinal Bellarmin beauftragt, Galilei zu ermahnön,
seine Meinung aufzugeben, und wenn dieser sich zu gehorchen
weigere, so solle ihm der Kommissär der Inquisition vor
Notar und Zeugen den Befehl ertheilen, dafs er sich durch-
aus enthalte, diese Meinung zu lehren oder zu vertheidigen
oder über sie zu handeln; wenn er sich aber hierbei nicht
beruhige, so solle er eingekerkert werden.
Dafs der Kardinal Bellarmin seinen Auftrag ausführte, ist
sicher, denn er stellte Galilei über diesen Verwarnungsakt ein Zeug-
nifs aus, das noch erhalten ist, aber blofs dahin lautet, dafs er in Zu-
kunft nur noch hypothetisch über die Copernikanische Lehre
schreiben und nicht für die Wahrheit derselben eintreten dürfe. Von
einem Sonderverbot in der vorhin erwähnten Form vor
Notar und Zeugen ist aber hierin nicht die Rede; und doch
stützt sich gerade die Anklage gegen Galilei, die im Jahre
1633 zu seiner Verurthoilung führte, auf die Kxi stenz eines
solchen Sonderverbotes. Man hat daher mit Recht die Echtheit
eines in den Prozefsakten vorhandenen Blattes angezweifelt, das den
Erlafs eines solchen Verbotes unter dem 26. Februar 1616 registrirt.
Aber sei dem, wie ihm wolle, wenu auch Galilei ein solches
Verbot wirklich erhalten hat, so ist zwar das Verfahren gegen ihn iin
späteren Prozesse formell gerechtferügt, aber die ganze Handlungs-
weise wird dadurch gewifs nioht entschuldbar. —
Auf diesen betrübenden Ausgang der Verhandlungen hin gab
jetzt Galilei allerdings den sohon lange gefafsten Plan auf, ein rein
wissenschaftliches Werk „De systemate mundi“ zu veröffentlichen, aber
offenbar in dem Glauben, durch das Zeugnifs des Kardinals Bellarmin
geschützt zu sein, und dadurch ermuthigt, dafs ein Gönner von ihm,
Maffeo Barberini, als Urban VIII 1623 den päpstlichen Thron
bestieg, begann er bald, seine Gedanken und Beweise zum Copemika-
nischen System in eine andere Form umzuarbeiten, von der er glaubte,
dafs sie keinem Angriffe ausgesetzt sein werde.
Dadurch entstanden seine unsterblichen Dialoge über die beiden
Weltsystcmo (siehe das Titelbild), die nach Ueberwindung von
mancherlei Schwierigkeiten, man mufs sagen, unbegreiflicher Weise,
das Imprimatur der Zensurbehörde erhielten und im Februar 1632 im
Drucke erschienen.
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Diese Dialog« umfassen die an 4 Tagen stattiindenden Gespräche
zwischen denselben drei Personen, denen wir schon bei Besprechung der
Discorsi begegneten: Salviati, Sagredo und Simplioio. Schon in
der Form sind die Dialoge ein Kunstwerk ersten Ranges; jede der
drei Personen ist mit psychologischer Feinheit ganz individuell charak-
terisirt. Bewundemswerth ist die dramatische Kunst, die die Erwartung
aufs höchste zu steigern vermag, wenn die Lösung irgend eines
Räthsels bevorsteht, bewundemswerth auch die kunstvolle Entwirrung
der aufgestellten Paradoxa. Dabei zeigt sioh hier, wie in den Discorsi,
neben dieser dramatischen Begabung auch wieder glänzend Galileis
großartiges Lehrtalent, mit dem es ihm durch den Mund Salviatis
oftmals gelingt, dem schwachen Simplicius die schwierigsten Dinge
klarzulegen, indem er sich hierbei häufig des Mittels bedient, durch
geschickte Fragen ihm selbst die richtigen Antworten zu entlocken,
die seiner eigenen Aristotelischen Wissenschaft widersprechen.
Aber alle diese formalen Vorzüge w'erden überragt von der
Höhe des Standpunktes, zu dem sich Galilei durch seine wirk-
lich geniale Begabung über alle seine Zeitgenossen emporgehoben
hat. Nicht nur beherrscht er die ganze Wissenschaft seiner Zeit mit
souveräner Gewalt, sondern er versteht es, überall das Unnatürliche
und Geschraubte in ihren Sätzen und Beweisen aufzudecken und durch
alleinigen Anschluß an die Natur und deren Beobachtung durch die
einfachsten Gedanken und Ueberlegungen zu ersetzen. Um es mit
einem Worte zu sagen: Galilei denkt völlig modern, er denkt wie
wir, oder vielleicht richtiger gesagt, wir denken jetzt, wie er schon
damals in einer Zeit dachte, deren Art zu denken wir heute schlechter-
dings nicht mehr zu begreifen vermögen.
Darin allein liegt auch der unsterbliche Werth der Dialoge, darin
die Gewalt, die sie noch jetzt auf den Leser ausüben, und Jeder, der
einmal dieses Werk, sei es im Originale oder in der trefflichen Ueber-
setzung von Straufs, die erst vor kurzem erschienen ist, in die Hand
nimmt, wird den Zauber fühlen, der mit unwiderstehlicher Gewalt zu
fesseln vermag.
Es war Galileis Absicht nicht, in diesem Werke etwa eine ein-
gehende Darstellung davon zu geben, wie sich die einzelnen Erschei-
nungen durch die schwerfälligen Annahmen des Ptolemäus oder
durch die einfacheren des Coperniku s erklären lassen, oder ausein-
anderzusetzen, welche Vortheile durch die neuentdeckten Kepl er-
sehen Gesetze erreicht waren — nein, die letzteren werden auch nicht
mit einem Worte erwähnt; ihm war es vielmehr, wie Straufs ganz
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richtig sagt, nur darum zu thun, gegen die mehr oder weniger thörichten
Vorurtheile seiner Zeit bezüglich der Erdbewegung aufzutreteu. Von
diesen Vorurtheilen waren es aber nur die physikalischen Einwände,
welche eine ernsthafte wissenschaftliche Widerlegung forderten, und
diese linden daher fast ausschliefslich in den Dialogen ihre Behand-
lung. —
Man wird es nach dem Wenigen, was ich von dem Inhalte der
Dialoge mitgetheilt habe, begreiflich finden, dafs das Erscheinen dieses
Buches einen Sturm in der Welt der Gebildeten hervorrufen mufste,
wie er noch nie erlebt worden ist. Wenn Galilei auch in der durch die
Zensurbehörde korrigirten Vorrede sagte, „der Zweck seines Werkes
sei nur der, den fremden Kationen zu beweisen, dafs man in Italien
über diese Materie ebensoviel wisse, als nur immer die Forschung des
Auslandes darüber ermittelt haben mag“, wenn er auch im Laufe der
Dialoge wiederholt vorsichtig bemerkt, dafs alle für das Copernika-
nische System sprechenden Gründe zurücktreten müfstcn hinter den
Worten der Bibel, so vermochte er doch so wenig seine Begeisterung
für die von ihm erkannte Wahrheit zu unterdrücken, dafs jeder Leser
erkennen mufste, für welches System er das Wort ergriffen hatte und
welche Absicht er mit seinem Buche verfolgte.
Auch warben die Dialoge thatsächlioh dem Copernikanischen
System immer mehr Freunde und Anhänger, und gerade diese An-
schuldigung war es, mit der sie der Inquisition denunzirt wurden, wie
aus den jetzt veröffentlichten Prozefsakten hervorgeht. Man kann
Galilei nicht von der Schuld freispreohen, dafs er durch seine all-
zugrofse Kampflust, die er auch in den Dialogen so wenig wie in
seinen früheren Schriften zu unterdrücken vermochte, seine Gegner
zu dieser Denunziation, welche die Wiederaufnahme des Prozesses
gegen ihn veranlafste, gereizt hat. Welche Persönlichkeit es war, der
die Anzeige bei der Inquisition zur Last zu legen ist, hat sich bis
jetzt nicht feststellen lassen, da sie in den Prozefsakten nicht genannt
wird; dooh weist eine gegründete Vermuthung auf Christoph
Scheiner hin, denn gerade ihn hatte Galilei in den Dialogen wieder
neuerdings in beleidigender Weise angegriffen und ihn seiner schönsten
Entdeckungen im Gebiete der Sonnenllecken zu berauben gesucht.
Jedenfalls ist es auffallend, dafs Scheiner, obwohl er vom
Kaiser zweimal nach Deutschland zurückberufen worden war, nicht
eher von Rom fortging, als bis der Prozefs gegen Galilei sein
trauriges Ende gefunden hatte. Es ist mir vor einiger Zeit gelungen,
diesen Umstand, der bisher nicht erwiesen war, durch Auffindung einer
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Notiz in einem handschriftlichen Kodex der hiesigen Universitäts-
bibliothek unzweifelhaft festzustellen.
Doch verfolgen wir die weitere Entwickelung der Dinge! Da
Oalilei, wie wir wissen, die Druckerlaubnifs für sein Buch erhalten
hatte, so blieb seinen Feinden nur der eine Weg, ihm beizukommen,
dafs man auf jenes Sonderverbot zurückging, das ihm am 26. Fe-
bruar 1616 ertheilt worden sein sollte, und ihn beschuldigte, mit Um-
gehung desselben die Druckerlaubnifs erschlichen zu haben. Ich habe
schon erwähnt, dafs gewichtige Gründe, namentlich das Zeugnifs des
Kardinals Bellarmin, dagegen sprechen, dafs ihm überhaupt ein
solches Sonderverbot ertheilt wurde, und dafs daher gegründeter Ver-
dacht besteht, der Inhalt der in den Akten wirklich vorhandenen Auf-
zeichnung über den Erlafs eines solchen Verbotes sei mit Absicht
gefälscht worden, um juristisch ein wirklich belastendes Moment gegen
ihn in die Hand zu bekommen.
Doch fassen wir uns kurz: Der 69jährige Greis wurde vor die
Inquisition geladen und verliefe am 20. Januar 1633 Florenz, um sich
nach Rom zu begeben. Aber erst am 12. April fand das erste Verhör
gegen ihn statt, während er in der Zwischenzeit aus Rücksicht für seinen
Grofsherzog in dem Palaste des Toscanischen Gesandten Niccolini
hatte wohnen dürfen. Auf die Einzelheiten des Prozesses, wie sie uns
jetzt durch die Veröffentlichung der Prozeßakten bekannt sind, kann
ich nicht eingehen und will nur bemerken, daß er im ersten Verhör
angab, von einem gegen ihn ergangenen Verbote nichts zu wissen,
und zur Bekräftigung dieser Aussage das Zeugnifs von Bellarmin
vorlegte; in den weiteren Verhören, die am 30. April, am 10. Mai und
am 21. Juni 1033 stattländen, verleugneto er auf das entschiedenste,
jemals die Copernikanisehe Lehre für die richtige gehalten zu haben,
behauptete, er habe die Dialoge nur geschrieben, um die Gründe für
die Copernikanisehe Lehre als nicht stichhaltig zu erweisen, und gab
an, die scheinbare Bevorzugung jener Lehre in den Dialogen sei nur
aus Eitelkeit auf seine ungewöhnlich scharfsinnigen Einfälle hervor-
gegangen. — Da ihm dies die Richter natürlich nicht glaubten, so
wurde, wiedas Verurthoilungsdekret sagt, gegen ihn zum examen
rigorosum geschritten, d. h. in der Sprache der Inquisition, zur
Folter. Die Prozefsakten aber enthalten hiervon niohts; es bleibt
also auch hier wieder eine dunkle Stelle, die aufzuhellen sich nament-
lich Emil Wohlwill viel Mühe gegeben hat. Nach seinen scharf-
sinnigen Untersuchungen ist es das Wahrscheinlichste, dafs Galilei
nur die sogenannte territio durchmachen mußte, d, h. dafs er in die
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Folterkammer abgeführt und dort unter Hinweis auf die Folterwerk-
zeuge noch einmal über die Wahrheit seiner Aussagen befragt wurde,
worauf er, wie das Dekret sagt, „katholisch“ geantwortet hat.
Am 22. Juni 1633 mufste er dann im Dominikanerkloster Santa
Maria sopra Minerva in Gegenwart der Kardinale und Prälaten des
hl. Offiziums der Verlesung des Urtheils beiwohnen, das auf lebens-
länglichen Kerker lautete, und knieend vor der ganzen Versammlung
seine ketzerische Ansicht über das Copernikanische System ab-
schwören. „Mit diesem erzwungenen Meineid“, sagt Straufs, „er-
reichte die Scene ein Ende, eine der barbarischsten, welche in der
Weltgeschichte je aufgefiihrt wurden.“ —
Man hat die verschiedensten Reflexionen über das merkwürdige
Verhalten Galileis bei diesem Prozesse angestellt, indem man z. B.
hervorhob, dafs es eines solchen Geisteshelden würdiger gewesen
wäre, wenn er an seiner Ansicht festgehalten hätte, statt sie zu ver-
leugnen. Die Richtigkeit dieser Behauptung wird niemand bestreiten.
Andererseits dürfen wir es aber einem 70jährigen Greise, der durch
die Verfolgung und das harte Verfahren gegen ihn geistig und körper-
lich völlig gebrochen war, doch wohl nicht so hoch anrechnen, wenn
er sich von dem sicheren Tode auf dem Scheiterhaufen zu erretten
suchte durch Verleugnung seiner wissenschaftlichen Ueberzeugung,
für die er sein ganzes Leben hindurch gekämpft hatte. Doch sei dem,
wie ihm wolle, jedenfalls war dieser Ausgang für die Wissenschaft
ein Glück. Denn da die ihm zuerkannte lebenslängliche Kerker-
strafe durch die Gnade des Papstes in eine lebenslängliche Ver-
bannung auf sein Landhaus bei Aroetri verwandelt wurde, war es ihm
ermöglicht, jene Discorsi zu vollenden, deren hohen wissenschaftlichen
Werth wir bereits besprochen haben. Dieses Werk mufste er jedoch
im Auslande drucken lassen, da die Herausgabe irgend eines neuen
von ihm verfafsten Werkes seit 1633 in Italien verboten war, eine
Mafsregel, aus der man deutlich erkennt, dafs es seinen Feinden nicht
so sehr um die Rettung der alten Weltanschauung, als vielmehr um
die gänzliche Vernichtung ihres gefährlichsten Gegners zu thun war.
Ueberhaupt blieb Galilei bis zu seinem Lebensende in seinem
eigenen Hause ein Gefangener und streng Ueberwachter und genofs
nur im schriftlichen Verkehr mit ausländischen Freunden und Ver-
ehrern einige Freiheit. Erst als er 1637 das Augenlicht zuerst auf dem
rechten, dann auf seinem linken Auge verloren hatte und überhaupt
körperlich sehr leidend war, wurde ihm erlaubt, um bessere ärztliche
Pflege zu erhalten, in sein Haus nach Florenz zurückzukehren, aber
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auch dies erst, als der eigens zur Konstatirung seines Zustandes zu
ihm gesandte Inquisitor von Florenz, Funano, bezeugt hatte, dars er
mehr einem Todten als einem Lebenden zu vergleichen sei. Daselbst
erholte er sich jedoch etwas ganz wider Erwarten, und es war ihm,
den nie seine geistige Kraft verlassen hatte, ein grofser Trost, als im
Juli 1639 Viviani und 1641 Toricelli die Erlaubnifs erhielten, als
Schüler mit ihm zu verkehren. So war es ihm wenigstens noch ver-
gönnt, die letzten Jahre seines ereignifsreiohen Lebens, das er am
8. Januar 1642 zu Arcetri beschlofs, in einer ihm zusagenden
Umgebung und Unterhaltung zuzubringen.
Hiermit sind wir am Schlüsse unserer Betrachtung augelangt.
Ich habe es versucht, in kurzen Zügen das reiche Leben eines Mannes
zu schildern, der, wie er selbst sagt, seine Aufgabe darin sah, überall
in der Wissenschaft die Wahrheit zu suchen, der mit den grofsen
Mitteln eines genialen Geistes ausgestattet in den Kampf für die Wahr-
heit eintrat, aber in diesem Kampfe unterlag.
Doch, wenn er es auch nicht mehr selbst erlebte, die von ihm
vertretene wissenschaftliche Wahrheit hat schliefslich den Sieg er-
rungen und so die Worte des grofsen Mannes glänzend bestätigt,
„dafs es kein unfehlbares Buch als die Natur giebt, in
weloher die ganze Philosophie in mathematischen Charak-
teren verzeichnet ist.“
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Die physische Beschaffenheit des Planeten Mars nach
dem Zeugnifs seiner hervorragendsten Beobachter.
Von Dr. M. Wilhelm Meyer.
(Schlufs.)
(VT .ichfiem wir nun dir hauptsächlichsten Beobachtungen aus letzter
jTc, Zeit liier aufgeführt haben, wollen wir sehen, inwieweit die-
selben das Bild der Oberflächen beschaffenheit des Mars in
unserer Anschauung zu vervollständigen im stände sind, und welcher
der drei früher entwickelten Hypothesengruppen sie das Ü'ebergewicht
verleihen.
Zunächst kann wohl konstatirt werden , dafs unter den heutigen
maßgebenden Beobachtern Barnard allein dasteht mit Zweifeln
über die schneeige Beschaffenheit der Polarflecke, indem dieser nur
noch allein sich der alten Hypothese von Brett zuneigt. Seine Ueber-
zeugung von dem wolkigen Charakter dieser Gebilde basirt der junge
Astronom auf die Veränderlichkeit und das schnelle Verschwinden
dieser Flecke. Wir haben schon früher gesehen, wie dieses durch
die sehr veränderten Strahlungsverhältnisse auf dem Mars wohl erklärt
werden kann, und kommen noch weiter darauf zurück.
Was nun ferner die Meinung des Herrn Professor Schaeberlo
anbetrifft, dafs nämlich die helleren Stellen auf dom Mars Meere, die
dunkleren Land seien, weil einerseits auch in den dunkleren Gebieten
Schattierungen und Gestaltveränderungen vor sich gehen, und anderer-
seits von der Lick Sternwarte aus die Uay von San Franzisko stets
heller erscheint als die umgebenden Landgebiete, so wird man auch
diese Argumente gegen die allgemeinere Meinung nicht allzu
schwer beseitigen können. Die Landschaft um Mount Hamilton
mufs wohl jedenfalls dicht bewaldet sein; in diesem Falle ist es aller-
dings ganz natürlich, dafs das Land dunkler erscheint. Auch wird
die Sonne meistens vor dem Beobachter, nicht hinter demselben stehen,
so dafs der von der Meeresfläche reilekiirte Strahl ins Auge gelangt.
Bei sandigen und felsigen Uferpartieen werden diese fast immer viel
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heller erscheinen als das Wasser, unter allen Umständen dann, wenn
die Sonne hinter dem Beobachter steht. Man braucht nur irgend eine
Bildergallerie zu durchwandern, um zu erkennen, dafs man fast immer
das Wasser dunkler gesehen hat als die umgebende Landschaft. Nun
beziehen sich Schaeberle und Holden freilich hauptsächlich auf
bewegtes Wasser, dessen Wirkung mit der eines Spiegels allerdings
nicht unmittelbar verglichen werden kann. Sehen wir bewegtes Wasser
unter einem spitzen Winkel, so reflektirt die uns zugekehrte Seite
des Wogenberges stets sehr viel Licht gegen uns hin, da ihre Neigung
alle möglichen Qröfsen annehmen kann. Je höher die Wogen gehen,
d. h. je verschiedenartigere Lagen zur Horizontalen die Böschungen
der Wogenberge besitzen, desto mehr Licht wird im allgemeinen nach
allen Seiten hin reflektirt werden; zerknittertes Staniol beispiels-
weise wird, wenn die Sonnenstrahlen nicht allzu schräg auffallen,
stets als Licht rellektirende Fläche auftreten. Eben solche Verhält-
nisse denken sich die Astronomen der Lick Sternwarte auf Mars vor-
handen. Es scheint mir aber, dars wir gar keine Veranlassung haben, die
Meere des Mars als beständig in grofser Aufregung befindlich annehmen
zu müssen; ganz im Gegentheil sprechen alle Gründe dafür, dafs die
Marsatmosphäre viel ruhiger ist als die unsrige, und dafs deshalb
nicht durch unregelmäfsige Ausstrahlungen, durch Wolkenbildungen etc.,
Sturmbewegungen möglich sind. Ferner ist es völlig sicher, dars
Flutherscheinungen wie diejenigen, welche unsere Meere in beständiger
Bewegung erhalten, auf Mars garnicht oder nur in äufserst schwachem
Mafse auftreten. Wie die Atmosphäre, so müssen auch die Meere des
Mars im allgemeinen ruhig sein; ganz besonders, wenn sich die be-
treffende Region im Zentrum der Marsscheibe befindet, also die Sonnen-
strahlen ziemlich senkrecht auflallen, wird die Wirkung der Kräuse-
lung der Meeresoberfläche für uns eine minimale sein, und die Meere
müssen noth wendig, wenn sie aus Wasser bestehen, dann eine tief-
dunkelblaue Färbung annehmen wie bei uns unter denselben Bedin-
gungen. Dies beobachtet man aber in Wirklichkeit auf Mars. Jenes
besondere Argument des Herrn Professor Schaeberle kann uns
deshalb an sich nicht veranlassen, von der sonst ganz allgemein adop-
tirten Ueberzeugung, dafs die dunklen Flecke des Mars unseren
Meeren entsprechen, abzu weichen.
Aber der genannte hervorragende Astronom führt noch ein
anderes, jedenfalls viel schwerer wiegendes Argument fiir seine An-
sicht an, nämlich die von allen Marsbeobachtern wahrgenommene Er-
scheinung, dafs in den meisten sogenannten Meeren häufig Verände-
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rangen der Farbennuancen und auch topographische Details hervorlreten.
Sind es wirklich Meere wie die unsrigen, su ist dies nicht erklärlich.
Nun haben wir schon vorhin gesehen, dars Picker ing in der That
nur zwei hauptsächliche Regionen für wirkliche Meere ansieht, die
stets tief dunkel auftreteu und keinerlei Detailzeichnung aufweisen.
Die weiteren dunkleren Gebiete müssen wir also für Gegenden erklären,
welche meist überschwemmt sind und nur in solchen Zeiten den Charakter
von Meeren besitzen, oft aber auch theilweise oder ganz vom Wasser
freigelegt werden. Dann überziehen sich dieselben, wie man deut-
lich bemerken konnte, mit frischem Grün. — Dafs derartige Wasser-
bewegungen in der That sehr schnell geschehen und das Aussehen
solcher Gebiete ganz gründlich verändern können, vermögen irdische
Verhältnisse jeden Tag, wenn auch in kleinerem Mafsstabe, zu zeigen.
Am deutlichsten tritt die analoge Erscheinung bei den versandeten
Mündungen von Strömen auf, beispielsweise im Wesergebiet. Während
der Ebbe kann hier der sandige Grund auf weite Strecken sehr schnell
aus dem dunkeln Wasser hell hervortreten. Nun können zwar, wie
soeben bemerkt, solche Flutherscheinungen von kurzen Perioden auf
Mars nicht auftreten, aber es müssen dort nothwendig verhältnifsmäfsig
starke Austauschbewegungen des Wassers zwischen den beiden Halb-
kugeln um die Nachtgleichen herum stattfinden. In der That be-
obachtet man solche schnellen Veränderungen der Nuancen und Kon-
turen dieser Gebiete am häufigsten, ja wie es scheint ausschliefslich,
zu diesen Zeiten. Ebenfalls läfst sich die auf der Lick Sternwarte
gemachte Wahrnehmung, dafs man gelegentlich die Kanäle sich bis
in die Meere, und zwar als dunkle Linien, fortsetzen sieht, ohne
weiteres erklären. Besorgen diese Kanäle bei dem notorischen Mangel
eines das nördliche mit dem südlichen Meere verbindenden Ozeans
diesen halbjährlichen Wasseraustausch, so werden sie den Boden der
Meere bis auf gewisse Strecken hinaus aufwühlen, und das Wasser
wird hier in der Fortsetzung der Kanäle also dunkler erscheinen.
Haben uns nun allerdings auch die neueren Beobachtungen in
unserer Ueberzeugung nicht erschüttern können, dafs die dunklen
Gebiete meistens vom Wasser bedeckte Oberflächentheile, die hellen
Gebiete Land seien, so bleibt doch die Schwierigkeit für die Erklärung
der diese letzteren Gebiete durchziehenden geradlinigen Kanalgebilde
immer noch bestehen. Zwar scheint der beste Kenner des Mars,
Schiaparelli, mehr und mehr zu der Ueberzeugung zu kommen,
dafs eine rein geologische Erklärung dieser Kanalsysteme doch wohl
möglich sei. In einem erst ganz jüngst erschienenen vortrefflichen
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populären Aufsatze, der von der italienischen Revue „Natura ed Arte“
unter der Ueberschrift „II Planeta Marte“ gebracht wurde, sagt bei-
spielsweise der berühmte Forscher: „Das Netz der Kanäle ist wahr-
scheinlich infolge des geologischen Zustandes des Planeten iin Laufe
von Jahrhunderten gebildet. Man kann nicht annehmen, dafs hier
ein Werk intelligenter Wesen vorliegt, und trotz der fast geometrischen
Regelmäfsigkeit des Systems neigen wir uns heute der Ansicht zu, dafs
die Kanäle Produkte der Entwickelung des Planeten sind, ähnlich wie
auf der Erde der Kanal La Manche und der von Mozambique.“ An einer
anderen Stelle fügt er noch hinzu, dafs die Annahme intelligenter
Wesen den geometrischen Charakter der Verdoppelungen erklären
kann, indefs nicht unbedingt gemacht werden mufs. „Die Natur
zeigt einen solchen geometrischen Zug auch in vielen anderen Er-
scheinungen, bei welchen die Vorstellung einer künstlichen Herbei-
führung völlig ausgeschlossen ist. Die so überaus vollkommenen
Kugelformen der Himmelskörper und der Ring des Saturn sind auch
nicht auf der Drehbank gearbeitet, und Iris zeichnet ihren schönen
regelmäfsigen Bogen nicht mit dem Zirkel in die Wolken; und was
sollen wir von der unendlichen Mannigfaltigkeit schöner und sym-
metrisch gebauter Körper sagen, die uns in dem Reiche der Krystalle
entgegentreten! Und endlich in der organischen Welt, sind es da nicht
treffliche geometrischo Regeln, welche die Stellung der Blätter gewisser
Pflanzen bestimmen, welche den symmetrischen Figuren so vieler
Blumensterne zu Grunde liegen, sowie denjenigen der strahlenförmigen
Meeresthiere, und die endlich jene in schön geschwungenem Bogen
zulaufenden Gehäuse der Muscheln bauen, deren Bauplan hinter dem
der schönsten gothischen Bauwerke nicht zurücksteht?! In allen
diesen Fällen sind die geometrischen Formen nur einfache und noth-
wendige Folgen der Gesetze, welche die physikalische und physio-
logische Welt beherrschen. Dafs diese letzteren als Aeufserungen
einer höheren Intelligenz aufgefafst werden könnten, hängt mit unserer
Frage nicht zusammen.
„Entsprechend dem Prinzip, dafs man in der Erklärung der
Naturerscheinungen immer von den einfachsten Annahmen auszugehen
hat, haben die ersten Hypothesen über die Natur der Verdoppelungen
hauptsächlich auf unorganische Vorgänge Bezug genommen. Da
handelt es sich entweder um Lichteffekte in der Atmosphäre dos Mars,
oder um optische Täuschungen, die durch Dämpfe in irgend welcher
Weise hervorgerufen werden, oder um Vorgänge in den Eismassen
eines ewigen Winters, zu welchem der ganze Planet verdammt sein
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soll, oder um Risse in seiner Oberfläche, die sich verdoppeln, oder
endlich um einfache Spalten, deren Bild sich dadurch verdoppelt, dafs
aus ihnen Rauch in langen Streifen, welche vom Winde seitwärts ge-
trieben werden, heraustritt. Die Prüfung dieser sinnreichen Versuche
führt allemal zu dem Schlufs, dafs keiner unter ihnen den beobachteten
Thatsachen im ganzen und im einzelnen vollkommen entspricht
Einige unter diesen Hypothesen würden überhaupt nicht entstanden
sein, wenn ihre Autoren die Verdoppelungen mit eigenen Augen
hätten sehen können. Allerdings mufs ich bekennen, dafs auch ich,
wenn mich Jemand, der auf subjektive Beweise Wert legt, fragen
wollte, ob ich eine bessere Erklärung habe, mit einem offenen Nein
antworten müfste.
„Viel leichter kommen wir zum Ziel, wenn wir Kräfte in Betracht
ziehen, welche der organischen Natur angehüren; denn hier ist der
Spielraum plausibler Annahmen ein ungeheurer, da man sich, selbst
bei Beschränkung auf einfache und kleine Mittel, alle möglichen Kom-
binationen ersinnen kann, welcho die Beobachtungen erklären. Ein
Wechsel der Vegetation auf weiten Landstrecken, Schaaren von
gröfseren oder sogar kleineren Thieren in ungeheurer Zahl könnten
sich auf solche Entfernungen sehr wohl sichtbar machen. So würde
ein Beobachter auf dem Mond Kenntnifs gewinnen von den Jahres-
zeiten, während deren in unseren weitgestreckten Ebenen die Bestellung
der Aecker erfolgt, das Getreide grünt und geerntet wird. Ja, das
Hervorspriefsen der Gräser in den ungeheuren Steppen Europas und
Asiens müfste auch für einen Beobachter auf dem Mars durch einen
Wechsel der Farbe bemerkbar werden, und ebenso wird sicherlich
auch uns ein ähnlicher Vorgang auf diesen Gestirnen erkennbar sein.
Aber wie schwierig würde es für die Bewohner des Mondes oder des
Mars sein, die wahren Ursachen solcher Aenderungen im Aussehen
der Erde ohne eine wenigstens oberflächliche Kenntnffs der irdischen
Verhältnisse zu erkennen. So macht auch für uns, die wir so wenig
von der physikalischen Beschaffenheit des Mars und nichts von seiner
etwaigen organischen Welt kennen, der grofse Reichthum an plau-
siblen Annahmen alle Erklärungsversuche unsicher; er bildet geradezu
ein Hindernifs für die Gewinnung sicherer Erkenntnifs. Alles, was
wir hoffen können, ist, dafs sich mit der Zeit diese Unbestimmtheit
schrittweise verringern wird, zum mindesten in der Weise, dafs wir
zeigen können, was jene Verdoppelungen nicht sind. Wir müssen
auch etwas Vertrauen in das setzen, was Galilei die Höflichkeit der
Natur nannte, der zufolge sie uns von Zeit zu Zeit von ganz uner-
Himmel und Erde. 1898. V'. 12. 37
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warteter Seite her einen Lichtstrahl zusendet und uns Uber Dinge
aufklärt, welche zuvor jeder Spekulation unerreichbar schienen. Ein
schönes Beispiel hierfür bietet uns die Spektralanalyse der Himmels-
körper. Hoffen wir also und arbeiten wir weiter!“
Man wird nicht verkennen, dafs auch dem grofsen intelligenten
Forscher die Erklärung der Kanalsysteme als blofse Naturprodukte
nicht völlig gelingt, und ich möchte es wagen, entgegenzuhalten, dafs
die Anführung von regelmäfsigen Figuren, welche die Natur sonst
hervorgebracht hat, wie die Kugelgestalt der Planeten, den Ring des
Saturn, die Krystalle etc., mir an dieser Stelle nicht für Analogie-
schlüsse ausreichend erscheinen will. Die Kugelgestalt der Planeten
ist die Folge eines einfachen Naturgesetzes und als nothwendig un-
mittelbar zu begreifen. Die regelmäfsige Gestalt der Krystalle bleibt
zwar wunderbar und vorläufig noch unerklärt, aber wir könnten aus
ihr heraus es nur begreiflich machen, dafs auf anderen Weltkörpern
entstehende Krystalle ähnliche Formen besitzen. Eine Ideenverbin-
dung von diesen kleinen Gebilden zu der der Oberflächengestaltung
eines Planeten hat doch wohl einen gar zu grofsen Weg zu machen,
um als Analogieschlufs noch Geltung behalten zu dürfen. Topo-
graphische oder orographische Gestaltungen von solcher Regelmäßig-
keit auf weite Flächen hin treten auf der Erde durchaus nicht auf,
auch ist keinerlei Tendenz zu einer derartigen Ausgestaltung in der
Zukunft zu entdecken. Auf dem Monde zwar kommen regelmäfsige.
geradlinige Gestaltungen vor, die bekannten Strahlensysteme. Deren
Lagenverhältnisse sind aber aus einer einzigen Stofs- oder Druck-
wirkung völlig zu erklären, wieviel auch sonst daran noch unerklär-
lich bleiben mag. Aohnliches trifft für das Kanalsystem des Mars
nicht zu. Wir sind also nicht in der Lage, diese seltsamen Gestal-
tungen mit irdischen Verhältnissen durch Analogieschlüsse in Ver-
bindung zu bringen, wenn wir ausschließlich Naturwirkungen voraus-
setzen.
Wenn wir nicht unser völliges Unvermögen eingestehen wollen,
auch nur Wahrscheinlichkeiten über die Zustände des Mars Vorbringen
zu können, so sind wir auf die Annahme des Eingriffs intelligenter
Wesen allein angewiesen. Aber es ist völlig begreiflich, dafs ernste
und kritische Forscher sich zu einer solchen Annahme so schwer
verstehen mögen, nicht etwa, weil sie die Möglichkeit der Existenz
solcher Wesen auf anderen Himmelskörpern überhaupt für unwahr-
scheinlich erachteten, sondern weil in dieser scheinbar einheitlichen
Annahme tausend und aber tausend Hypothesen versteckt enthalten
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559
sind. Die Intelligenz, welche die Naturkräfte zu lenken gelernt hat,
vermag eben beinahe alles, wenn wir nur ihre Wirkungen bei solchen
idealen Annahmen genügend multipliziren. Man denke an den be-
rühmten Ausspruch des Archimedes,1) welchen die Menschheit sicher
sohon längst wahr gemacht hätte, wenn ihr eben dieser Standpunkt
aufserhalb der Erdo gegeben wTorden wäre. Die Arbeit des Forschers
aber sucht die Erscheinungen immer auf einfachere Ursachen zurück-
zuführen; die Annahme der Intelligenz komplizirt die Dinge, sie führt
unzählbare neue Hypothesen ein. Nicht viel besser steht es mit dem
Tröste, welchen Flammarion und Andere angesichts gelegentlicher
Probleme sich selbst geben, indem sie von unbekannten Naturkräften
die Erklärung erhoffen. Sicherlich wird es solche geben, sie aber in
unsere Betrachtungen einzuführen, hiofse eine vorliegende Hypothese
durch eine noch vagere ersetzen.
Jedenfalls müssen wir, wenn wir uns schon der Annahme intelli-
genter Einwirkungen nicht erwehren können, die allereinfachston Ein-
griffe solcher Wesen, die über unsern eigenen geistigen Horizont nioht
wesentlich hinausragen, voraussetzon, falls nicht unsere Betrachtung
ganz und gar in das Reich der Phantasie verwiesen werden soll.
Nun liegt aber die Herstellung so weit zergliederter Kanalsysteme,
wie deutlich auch die Anlage des ganzen Netzes von der Zwekmäfsig-
keit für den Verkehr intelligenter Wesen unter einander sprechon
mag. wegen der ungeheuren Breite dieser Gebilde ganz aufserhalb
des Horizontes der menschlichen Fähigkeiten, und aufserdem ist die
Nothwendigkeit einer so ungeheuren Breite für uns wieder ganz un-
erfindlich.
Man möge es mir inders am Schlüsse dieser Betrachtungen
gestatten, ein Bild davon zu entwerfen, wie unter bestimmten, hier
deutlich zu markirenden, plausiblen Voraussetzungen alle diese Er-
scheinungen wenigstens in einen leidlich abgerundeten Zusammenhang
gebracht werden können.
Die erste Voraussetzung ist, dafs Mai« als Planet vielleicht
älter, jedenfalls aber eben so alt wie die Erde ist; die zweite, dafs er
aus nahezu denselben Stoffen besteht. Bei der wohl selbstverständ-
lichen weiteren Voraussetzung, dafs dieselben Naturkräfte auf unserem
Nachbarplaneten wirken wie bei uns, folgt dann hieraus, dafs sich
auf Mai« eine Vertheilung von Land und Wasser vorlinden rnufs,
dafs aber (wie bereits nach Flammarion angeführt wurde) die Er- -
’) Pa mihi punctum extra trrram et terram movebo.
87*
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6G0
höhungen der Kontinente sieh durch die Wirkungen des nivellirenden
Wassers abgetragen und entsprechend auch die Meere verflacht haben.
Denn da Mars kleiner ist als die Erde, müssen alle die Wirkungen
der Naturkräfte, welche wir am Bau unseror Erde theilnehmen sehen,
dort gegen die Erde vorgeschrittenere Stadien bis zur gegenwärtigen
Epoche gezeitigt haben. Da wir ferner bei uns wahrnehmen, dafs
das Wasser allmählich von dem Oestein absorbirt wird, so mufs auf
Mars im Verhältnifs zur ganzen Oberfläche mehr Land und weniger
Wasser existiren als auf der Erde. Dies wird durch die Beobachtung
unter der Voraussetzung bestätigt, dafs eben jene Gebiote, die man
bisher dafür hielt, wirklich Land sind. Die Pickeringsche An-
nahme, dafs es überhaupt nur zwei eigentliche permanente Meere dort
giebt, während allo anderen Gebiete entweder dauernd oder zeitweise
aus dem Wasser hervorragen, würde sogar auf eine sehr vorge-
schrittene Wasserabsorption sohliefsen lassen. Mit der Wasser-
absorption geht auch die der Luft parallel; die Marsatmosphäre mufs
also sehr dünn sein, was sich wiederum durch eine grofse Zahl von
Beobachtungen bestätigt. Diese dünnere Atmosphäre läfst zunächst
eine weit gröfsere Menge von Sonnenstrahlen auf die Marsoberfläche
gelangen, wodurch mindestens zum Theil die wegen der gröfseren Entfer-
nung des Mars von der Sonne geringere Gesamtintensität der Strahlung
wieder ausgeglichen wird. Die Atmosphäre kann dadurch viel mehr
Wasserdampf in sich aufnehmen, ohne dafs sich derselbe zu Wolken
kondensirt. Es können höchstens leichte Schleier, cirruswolkenartige
Gebilde, wie Schiaparelli glaubt, dort tagüber auftreten. Nachts
wird dagegen sehr schnell ein Nebelschleier aufsteigen müssen, der
die Ausstrahlung der von der Oberfläche eingesogenen Wärme ver-
hindert. Wegen der notorisch geringen Wolkenbildung und der ge-
ringeren Menge Wasser überhaupt wird es also auf Mars auch in
den Polargegenden viel weniger schneien als bei uns. Die im
Winter gebildete Schneedecke ist deshulb nothwendig von bedeutend
geringerer Dicke; es entsteht vielleicht zuweilen nur eine Art von
Reifbildung, die über Nacht auftritt, dabei weite Gebiete weifs färbt
und ebenso schnell, nach einer Sonnenbestrahlung von wenigen Tagen,
wieder verschwinden kann. Die schnellen Veränderungen in der
Ausdehnung des weifsen Polarfleckes sind hierdurch ganz ungezwungen
erklärt. Immerhin aber werden, wenn sich jene Polarregionen auch
nur mit etwa einer fufsdicken Schneedecke oder Reifschicht während
des langen Winters überziehen, beträchtliche Wasserraengen sich an-
sammeln, daselbst festgehalten und der sich in ihrem Sommer beflnd-
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561
liehen Halbkugel entzogen werden. Diese Wassermengen müssen
halbjährlich von einer zur anderen Halbkugel hin wandern und er-
zeugen dadurch die ausgedehnten Ueberschwemmungen , welche ja
notorisch mit den Jahreszeiten kommen und versohwinden.
Nachdem wir uns diese Verhältnisse klar vorgestellt haben,
wollen wir nun die Hypothese machen, Mars sei einstmals, zu einer
Zeit, welche seinem schnelleren Lebenslaufe entspricht, mit intelligenten
Wesen bevölkert gewesen, die unsere Kapazitäten besessen haben.
Das ist, denke ich, eine Voraussetzung, welche man wohl machen
darf, ohne sich dem Vorwurf der Leichtfertigkeit auszusetzen. Diese
Wesen bemerkten, dars das Wasser rar zu werden begann; sie legten
deshalb zur Bewässerung der fruchtbringenden Landschaften Kanäle
an in der Ausdehnung, wie wir es thun. Diese Kanäle verbanden
die Flüsse mit einander selbst über die Wasserscheiden hinweg,
welche die Zuflüsse der südlichen und nördlichen Meere von ein-
ander trennten; die Gebirge hatten sich ja ohnedies abgeflacht.
Nun sieht man auf jeder Marskarte, dafs rings um den Aequator
herum sich ein zusammenhängender Gürtel schliefst, so dafs das Nord-
und Südmeer nur durch die gegenwärtig wahrgenommenen so un-
geheuer breiten Kanalsysteme mit einander in Verbindung stehen.
Wir nehmen an, dafs diese Verhältnisse damals, als die Marsbewohner
jene verbindenden Kanäle zwischen den Flufssystemen schufen, bereits
ähnliche waren. Der Wasseraustausch während der sommerlichen
Sohneeschmelze von einer zur anderen Halbkugel konnte also nur
durch die Flüsse und diese neu geschaffenen Verbindungskanäle statt-
finden. Vielleicht wurden sie ebon gerade in dieser Absicht gebaut,
um den überhand nehmenden Ueberschwemmungen einen Abflufs zu
schaffen. Nun aber wurden durch das halbjährliche Hin- und Iler-
wogen dieser Schmelzwasser in den Kanälen resp. Flüssen die ohnehin
seichten Ufer immer mehr ausgewaschen. Die Marsbewohner regulirten
zwar, soweit es ging, die Flufsläufe und gaben ihnen eine gerade
Richtung; aber auf die Dauer war es doch nicht möglich, den rastlos
arbeitenden Naturgewalten Einhalt zu thun; die Kanäle verbreiterten
sich mit den Jahrtausenden mehr und mehr, bis sie ihre heutige Aus-
dehnung annahmen. So bietet also die ungeheure Breite der Kanäle,
welche nach dieser Ansicht durch die Natur allein erzeugt worden
ist, unter dieser einzigen Annahme keinerlei Schwierigkeiten mehr,
dafs intelligente Wesen von unseren Kapazitäten die Naturkräfte in
die von ihnen gewünschten Bahnen gelenkt haben.
Die Verdoppelungen der Kanäle bleiben allerdings unter diesen
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562
Voraussetzungen immer noch ein Riithsel. Hätten nicht nach Schiapa-
rellis eigenen Angaben 8 bis 10 Beobachter diese Verdoppelungen
unabhängig von einander wahrgenommen, so möchte man wahrlich
an der Thatsache der Wahrnehmung selbst zweifeln. Es scheint
schliefslich, dafs ihre Ursache in gewissen eigentümlichen optischen
Erscheinungen der Marsatmosphäre zu suchen ist, wolehe nur bei
einem bestimmten meteorologischen Zustande derselben auftreten.
Wieviel wunderbare Lichterscheinungen haben nicht bei uns ihren
Ursprung in jenen höchsten Regionen unseres Luftkreises, deren Zu-
stand mit der Marsatmosphäre soviel Aehnlichkeit bietet Bekanntlich
sind die Quelle der meisten dieser Erscheinungen unsere Cirruswolken,
deren Vorhandensein man auch auf dem Mars voraussetzen mufs.
Aber alle auf ähnlichen Voraussetzungen basirenden Erklärungsver-
suche sind ungenügend geblieben.
Genug, dafs wir unter den hier noch einmal zu wiederholenden
V oraussetzungon :
1. dafs Mars als Planot in einem vorgeschritteneren Lebensstadium
sich befindet als die Erde,
2. dafs die ihn zusammensetzenden Stoffe und die dort wirkenden
Naturkräfte im allgemeinen ähnliche Resultate hervorbrachten
wie auf der Erde,
3. dafs die reine Atmosphäre des Mars insoweit eine stärkere Sonnen-
bestrahlung seiner Oberfläche zuläfst, dafs die geringere Gesamt-
menge der zufliefsenden Wärme gegenüber der Erde für die
Wirkung auf seiner Oberfläche nahezu kompensiert wird,
4. dafs intelligente Wesen von unseren Fähigkeiten zu irgend einer
vergangenen Epoche auf dem Mars gelebt haben,
alle Wahrnehmungen bis in die Details hinein, mit einstweiligem Aus-
schlufs der allerneuesten, der Verdoppelungen, die noch nicht genügend
studirt worden sind, ungezwungen erklären können. Es hängt also
vom Leser ab, ob er diese vier Voraussetzungen, welche nicht be-
wiesen werden können, acceptieren will oder nicht. Mit ihrer Annahme
lesen wir heute vom Himmel die Zeichen brüderlicher Intelligenz ab,
welche von den Naturkräften, die der Geist immer mehr und mehr
in seinen Dienst zwingt, wohlthätig so vergröfsert wurden, dafs sie
von Bruder- zu Bruderplanet hinüberwinken und uns ermuthigen zu
immer neuen und gröfseren Unternehmungen, welche der Wohlfahrt
der Allgemeinheit dienen.
Man möge es mir gestatten, diesen Artikel mit den schönen
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563
Worten Schiaparellis zu schliefsen, welche sich an solche Betrach-
tungen knüpfen:
„In Frankreich hat die durch Flammarion hervorgerufene An-
regung der Gemüther aufserordentliche Wirkungen hervorgebracht
Dort sind allen Ernstes ungeheure Summen ausgesetzt worden als Be-
lohnung für denjenigen, welcher zuerst durch unmittelbare Beobachtung
beweisen wird, dafs auf einem Gostirne sichere Zeichen des Vorhanden-
seins intelligenter Wesen existiren. In Amerika und in Frankreich
ist man mit der Konstruktion neuer Fernrohre von ungewohnter Kraft
beschäftigt, deren Kosten sich auf Millionen belaufen werden. Unter
den vielen Zeichen unserer Zeit giebt dieses wenigstens uns ein Recht,
Gutes von der Zukunft zu hoffen. Die Aengstlichkeit, mit welcher
viele in das Dunkel der Zukunft schauen, scheint mir in keiner Be-
ziehung gerechtfertigt. . . .“
.,Es ist nicht wahr, dafs dem gegenwärtigen Zeitalter mehr als
der Vergangenheit ideale Bestrebungen fehlen. Das 19. Jahrhundert
kann mit Stolz auf seine Leistungen blicken; seine Stellung in den
Annalen des menschlichen Fortschritts wird keine rühmlose sein.
Unter Aufwand heroischer Opfer und unglaublicher Anstrengungen
hat es die Erforschung der ganzen Erdoberfläche unternommen, deren
Karte nur noch wenige Lücken aufweist. Durch tieferes Eindringen
in das Innere unseres Planeten hat es die Geschichte der Umwälzungen,
denen er unterworfen war, erkannt und ungezählte Generationen, welche
ihn während Millionen von .fahren bevölkerten, aus ihrem Grabe auf-
erstehen lassen. Das Studium der Archäologie, der Ethnographie und
der Philologie hat die wahren Adelsbriefe des menschlichen Geschlechts
aufgefunden und die ersten Produkte seiner Kultur ans Tageslicht ge-
bracht. Durch Vereinigung zahlreicher geduldiger und unermüdlicher
Beobachter ist das Studium der Atmosphäre und ihrer Gesetze be-
gonnen worden, dessen Fortsetzung eine der gröfsten Aufgaben des
zwanzigsten Jahrhunderts bilden wird. Aber alles dies genügte noch
nicht. Nachdem das Studium des Himmels, der Erde und der Natur-
kräfte in der von früheren Jahrhunderten begonnenen Weise fortge-
setzt worden war, wurde die Chemie der Gestirne entdeckt, von der
auch nur zu sprechen früher wie ein Wahnsinn erscheinen mufste.
Und jetzt streben wir nach höheren Zielen und beginnen sorgfältig
umherzuspähen, ob nicht aus den Tiefen des Weltalls ein Zeichen der
Sympathie, ein Brudergrufs zu uns hernieder kommen könne. Und
um ein Anzeichen davon zu erhalten, sind wir bereit, für ein einziges
Teleskop gröfsere Summen zu opfern, als sie alle früheren Jahrhunderte
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564
zusammen zu Gunsten reiner Wissenschaft gestiftet haben. Das ist nur
einer unter so vielen grofsen, edlen und, mau könnte sagen, dichterischen
Zügen, unter welchen sich dieses Jahrhundert der unparteiischen Nach-
welt zeigen wird, — ein Jahrhundert, welches dem einseitigen Beob-
achter vorzugsweise ein Zeitalter der Prosa, des Eigennutzes, einer
rohen, materialistischen Geistesrichtung zu sein scheint Wir sind
besser, als wir zu sein glauben; gerade der Umstand, dafs wir nicht
ganz mit uns zufrieden sind, ist ein Zeichen des Fortschritts und der
Kraft.“ —
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1 '.S '15 ?Js i r- H' M ?Joi 7s IvaT^-HSIW l? W^i^s V ■? W-1’<LW$
-' • "-1 -'■■-0! Jlift-fJ/J Vtf LT-^-üj ülS'^,% f/J 3. AJ4'
I
TrywgBW ff^rw) rr ui w CTTZTüiWErw yrtry m gai
■-.'A Aebt-W. -it-.
Die Entstehung der Welt nach den Ansichten von
Kant bis auf die Gegenwart.
Von F- K. Ginzel. Astronom am Reciieninstitute der KünigL Sternwarte zu Berlin.
VI.
IC o s in o g o n i e tl er Sterne, N e b e 1, der Veränderlich e n ,
Doppelst e rne und Meteoriten. — Schlufsbemerkungen.
apWj (Schluß.)
r- rj^ii1 Ansichten, wie sich die Sterne gebildet haben mögen, sind
zum Theil schon in den Darlegungen unserer früheren fünf
Aufsätze enthalten. Wir haben schon hervorgehoben, dafs nach
den Hypothesen von Her sc hei, Newcomb und Faye die Vorstufe
der Sterne von den Nebelflecken repräsentirt wird. Die sonst gewöhn-
liche Ansicht, dafs die Nebelflecke durch den Verdichtungsprozefs des
Urstoffes fbei Faye durch wirbelartige Bewegungen) erzeugt worden
sind, theilt Ritter in seinen schon mehrfach zitirten Untersuchungen
nicht, Gemäß seinen Rechnungen würde bei dem grofsen Volumen der
Nebelflecke und der jedenfalls sehr geringen Dichte derselben ein blofser
Verdichtungsvorgang nicht ausgereicht haben, um hinreichend Wärme
bis zum Glühen der Nebel hervorbringen zu können; man müfste denn
annehmen, dafs Nebelflecke existiren, die mehr als das tausendfache
der Sonnenmasse betragen. Ritter ist deshalb geneigt, den Glüh-
zustand der Nebel durch den Zusammenstoß ausgedehnter kosmischer
Wolken zu erklären, welche beim Beginne ihrer gegenseitigen An-
näherung bereits eine gewisse interstellare Anfangsgeschwindigkeit
gehabt haben. Bei zwei Massen von der Größe unserer Sonne und
der Dünne der Luft würde ein zehutausendfaobes Wärmequantum her-
vorgerufen werden können, wenn die Anfangsgeschwindigkeit beider
<>-V, Meilen pro Sekunde betrug. Die Entstehung solcher Geschwindig-
keiten hält Ritter auf Grund seiner Untersuchungen über kugelige
Sternhaufen für möglich.1) Dieser Hypothese zufolge würden also die
>) Die Entstehung der Sanne selbst wird dureh Ritter, wie im dritten
Aufsatz.»' bemerkt wurde, auf den Zusammenstoß kosmischer Wolken zuriick-
gefuhrt.
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56ti
Nebelflecke Glasmassen sein, die eine sehr geringe Dichte und einen
grofsen Ueberschuls an Wärme besitzen. Letztere bedingt ein stetiges
Wachsen des Volumens und diese Expansion eine Abnahme der inneren
Wärme; die Leuchtkraft der Nebel müfste daher im Laufe der Zeiten
abnehmen.
Fiir die weitere Entwickelungsgeschichte der Sterne aus den
Nebeln kann man die im fünften Aufsätze auseinandergesetzten fünf
Stadien des Prozesses gelten lassen, nämlich die Zustände der gas-
förmigen und glühendflüssigen Konstitution, die Perioden der Schlacken-
bildung, der Eruptionen und der vollständigen Erkaltung. (Zöllner.)
Nach Ritter hat man aber betreffs der Dauer dieses Ausbildungspro-
zesses sehr darauf Rücksicht zu nehmen, ob es sich um die Kon-
traktion sehr grofser oder sehr kleiner Massen handelt. Im allge-
meinen ist zwar die Kontraktionsgeschwindigkeit ungefähr der Masse
des Körpers proportional, kann aber bei Fixsternen, die beträchtlich
gröfser sind als die Sonne, dementsprechend verschieden sein. Die
Abkühlungsdauer eines Fixsternes beispielsweise, dessen Masse acht-
mal so grofs ist als die Sonnenmasse, kann man auf mehr als die
doppelte Zeit veranschlagen, welche die Sonne brauoht. Ritter illu-
strirt die von ihm gefundenen physikalischen Sätze am Sirius, dessen
Masse er 13,8 mal so grofs als die Sonnenmasse annimmt. Bevor der
Stern zum Beginn der Abkühlung gelangen kann, inufs er den Kulmi-
nationspunkt der Wärmeausstrahlung erreichen. Diese Uebergangs-
periode ist für die Sonne einige Millionen Jahre, müfste sich aber für
einen Stern wie den Sirius schon in einigen hunderttausend Jahren
vollziehen. Ritter weist auch darauf hin, dafs in dieser Epoche der
Stern, von der Erde aus gesehen, eine Veränderung seiner Farbe zeigen
mufs. Alten ägyptischen Berichten nach soll der Sirius thatsäehlich im
Alterthum eine mehr röthliche Färbung gehabt haben. Ritter berechnet
die Dauer des Ueberganges von der rothen zur heutigen bliiulichweifsen
Farbe dieses Sternes auf 2040 Jahre; die Oberflächentemperatur des
Sirius wäre vor dieser Zeit um 20 pCt kleiner gewesen und hätte gegen-
wärtig dio Oberflächentemperatur der Sonne um 37 pCt überschritten;
diesen Temperaturveränderungen würde die Variation der Farbe ent-
sprechen. Nach seinen Hypothesen würde weiterhin die Intensität der
hlaucn Farbe des Siriuslichtes bedeutend zunehmen, da die Oberflächen-
temperatur gegenwärtig noch lange nicht den ihr in Anbetracht der
Masse des Sternes zukommenden Maximalwerth erreicht hat Die Sterne
also, welche eine beträchtlich gröfsere Masse besitzen als die Sonne —
und deren sind am Himmel gewifs nicht wenige — würden zur Absol-
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r>67
virung der Hauptstadien ihres Entwickelungsprozesses sehr grofse
Zeiträume beanspruchen. Haben sie das Maximum ihrer Oberflächen-
temperatur einmal erreicht, so wird die Abkiihlungsepoche, die Zeit
des Zurücksinkens von der bläulich - weifsen Strahlung zum rothen
Lichte, auf hunderte Millionen Jahre geschätzt werden dürfen. Bei
jenen Massen, welche die Sonne bei weitem übertreffen, würde die
anfängliche dynamische Kontraktion (man vergleiche hierüber unseren
fünften Aufsatz) sehr rasch erfolgen, aber bald einer langsamen Kon-
traktion Platz machen. Die ganze Erscheinungsdauer eines Fix-
sterns, welcher der Sonne an Masse gleichkommt, schätzt Ritter auf
58 Millionen Jahre, wovon etwa 16 Millionen Jahre auf die Nebel-
fleckperiode, 4 Millionen Jahre auf die zwischen deiu Kulminations-
punkte der Wärmestrahlung und jenem der Oberflächentemperatur
liegende Periode der mit Temperaturzunahme verbundenen statischen
Kontraktion, und etwa 38 Millionen Jahre auf den der Fortdauer des
Leuchtens entsprechenden Theil der Abkühlungsepoche zu rechnen
sein würden.
Diesen Betrachtungen über die Entwickelungsdauer der Sterne,
welche sich übrigens nur auf rein theoretischen Grundlagen aufbauen
und mit ITilfo einiger plausibler Annahmen abgeleitet sind, möchten
wir die Hypothesen über die veränderlichen Sterne anschliefsen.
Das Licht dieser Sterne schwankt bekanntlich innerhalb gewisser
Perioden auf und ab und bei manchen Sternen in einer sehr regel-
miifsigen Weise. Klinkerfues2) erklärte diese Veränderlichkeit des
Glanzes , indem er annahm , diese Sterne wären einander sehr nahe
stehende Doppelsterne, die uns im Fernrohre als einfach erschienen.
Die gegenseitige Anziehung erzeuge in den die Sterne umgebenden
Atmosphären bedeutende Ebbe- und Flutherscheinungen, durch welche
die Absorption der Atmosphären periodisch verändert würden, und
die Folge dieser Veränderlichkeit der Absorption sei die Variabilität
des Sternlichtes. Zöllner3) zog die bei der Bildung der Sterne auf-
tretende Periode der Sohlackenniederschläge zur Erklärung heran,
indem er sie mit der Rotation der Sterne in Verbindung brachte.
Auf einem noch glühendfliissigen Sterne würden die Schlackenschollen
infolge des Umschwunges des Sterns von den Polen aus zum Aequator
schwimmen, jedoch nicht in der Richtung eines Meridianes, sondern,
da sie dabei in Gegenden von gröfserer reeller Geschwindigkeit ge-
langen, in einer der Rotation entgegengesetzten Richtung, und würden
-} Nachrichten d. Kiinigl. Ges. d. W. Güttingen. 1865.
’) Photom. Untersuch. § 76.
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56S
sonach seitlich verschoben werden. Hierdurch käme es in den Schlacken-
feldern zu Stauungen, gröfsere Theile der Sternoberfläche blieben ganz
frei, während andere von weit hinreichenden Krusten bedeckt würden;
der Sternumschwung zeigt uns dann, je nachdem uns die dunklen
Flächen oder die schlackenfreien zugewendet sind, eine Periode des
Lichtes. Gylden4) korrigirt diese Hypothese, indem er darauf hin-
weist, dafs weniger die Rotation, als vielmehr die bei werdenden
Sternen wahrscheinlich sehr bedeutende Schwankung der Rotationsaxe
zur Trägheitsaxe die Ursache der Verschiebungen der Schlackenfelder
sein dürfte. Diese Hypothese würde auch den sehr unregelmäfsigen
Lichtwechsel mancher Veränderlichen erklären. Bei den regelmäfsig
Periodischen kann man sich nach Bruns5) mit der Vorstellung einer
ungleichen Oberflächenbeschaffenheit des Sternes, der gleichförmig
um eine feste Axe rotirt, begnügen und braucht nicht, wie Pickering,
zeitweilige Verfinsterungen des Sternes, hervorgerufen durch den Um-
lauf eines dunklen Begleiters oder Meteorschwarmes, anzunehmen.
Die plötzliche Zunahme der Helligkeit eines sonst im Lichte un-
veränderlichen Sternes oder das Auftauchen eines neuen bisher dunklen
gehört nach Zöllners Entwickelungsphasen der Sterne in die vierte
Epoche, in die der Eruptionen. Infolge einer bedeutenden Steigerung
des Druckes des flüssigen Innern gegen die diinue Kruste finden
Durchbrüche, begleitet von heftigem Emporschnellen der Oberflächen-
temperatur und damit verbundener vermehrter Lichtemission, statt.
Es können aber auch Katastrophen anderer Art, wie man aus einigen
neuestens beobachteten Fällen (dem neuen Stern im Andrumeda-Xebel
und dem Stern im „Fuhrmann“) geschlossen hat, Anlafs geben, solche
Lichterscheinungen zu erzeugen, z. B. das Zusammenstofsen von
Sternen in einem Sternhaufen oder das Eindringen eines Wcltkörpers
in eine meteoritische Staubwolke. — Im dritten Aufsatze haben wir
auf die Ergebnisse Ritters hingewiesen, nach welchen bei einer im
Gleichgewichtszustände befindlichen Gaskugel zwei verschiedene Be-
wegungsursachen, und zwar abwechselnde Kontraktion und Expansion,
eine besondere Entwickelungsphase hervorbringen können, nämlich
den Zustand der Pulsation. Ritter erachtet es für zulässig, die
Variabilität der Lichtstärke der „veränderlichen“ und „neuen" Sterne aus
jener in abwechselnden Zusammenziehungen und Ausdehnungen, also
aus der in periodischen Temperaturwechseln bestehenden Epoche, zu er-
«) Sur la theoric math£matkjue de« rhangements d'gtat des dtoiles variables
(Comptes rendus t 8t.)
l) Monatsber. d. Berliner Akad. d. W. 1881.
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5f>9
klären. Nacli dieser Hypothese würde ein Schwanken der Lichtstärke
bei Fixsternen nur in der Zeit Vorkommen können, wo dieselben noch
der Pulsation unterliegen, wo sie also noch keine grofse Dichtig-
keit erlangt haben, d. h. in dem Jugendalter der Sterne. Das plötz-
liche Auftauchen der „neuen“ Sterne würde sich aus der grofsen
Länge der Pulsationsperioden mancher Sterne erklären lassen.6) Den
Anlafs zur Bildung einer Gaskugel, aus der sich der Stern allmählich
entwickelt, können die schon früher (im 3. Aufsatze) beschriebenen
Zusammenstöfse zweier oder mehrerer Weltkörper geben. Die bei
einzelnen Veränderlichen vorkommenden grofsen Unregelmäfsigkeiten
möchte Ritter Abweichungen zuschreiben, welche durch eine un-
gleiche Aenderung der Dichte (Abirren vom isoplerischen Zustande)
hervorgerufen werden.
Ritter hat auch (19. Abhandlg.) darauf aufmerksam gemacht,
dafs den Meteoriten oder Meteorschwärmen einige Bedeutung in be-
treff des Leuchtens der Sterne und der Nobel zukommen kann, da
diese Körper viel höhere Temperaturen erreichen können, als man
bisher vorausgesetzt hat (Man vergleiche hierüber unsern dritten
Aufsatz.) Die Meteoriten können als fördernde, wie als störende Ur-
sachen der Leuchtkraft mancher Gestirne auftreten. Ritter möchte
sogar zu der Ansicht neigen, dafs ohne die Meteoritenfälle mehrere
Erscheinungen an Weltkürpern überhaupt nicht für uns sichtbar
werden würden. — Zu einer wahrhaft universellen Herrschaft hat der
berühmte Spektralanalytiker Lockyer die Meteoriten zu erheben ver-
sucht.7) Geleitet durch bekannte Uebereinstimmungen einiger Meteor-
schwärme mit der Lage von Kometenbahnen und namentlich gestützt
auf verschiedene angebliche Analogieen in den Spektren der Kometen,
Nebelflecke und Meteoriten, erklärt er die Entstehung der Nebel durch
die Kollisionen von Meteoriten; je nachdem die Bahnen, in denen
letztere um ein Gravitationszentrum laufen, mehr oder minder excen-
trisch sind, entsteht eine gleichmäfsig leuchtende Wolke (kugelförmige
Nebel), ein zusammengedrängter Haufe mit leuchtendem Kerne (Kern-
nebel, Nebelsterne) oder eine durch den Ineinandersturz zusammen-
gebackene glühende Masse (Fixsterne). Die veränderlichen Sterne
wären lose Massen, um welche Meteorschwärme kreisen und hierdurch
den Lichtwechsel hervorbringen. Die irregulären Variablen bedürfen
mehrerer solcher Schwärme, oder sie sind das Resultat des Eindringens
•) Die Pulgationsdauer unserer Sonne betrug nach Ritter 340 Jahre.
’) J. N. Lockyer: The Meteoritic Hypothesis, a Statement of the results
of a spectroscopic inquiry into the origin of cosmical Systems. — London 1890.
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570
von Meteoriten in Sternsysteme. Audi die „neuen“ Sterne bilden sich
beim Aufeinandertreflen von Meteoritenschwiinnen. Diese kühne Hypo-
these bedarf jedenfalls noch mancher Diskussion, bevor sie festen
Boden finden kann. In Beziehung auf die Mechanik kann sie, den
Bemerkungen fl. H. Darwins zufolge, zugestanden werden, und jeden-
falls mögen einige ihrer Zweige, wie verwandte Anschauungen Ritters
bekräftigen, richtig sein. Allein die weitgehende Identifizirung der
Spektren der verschiedenen Klassen der Himmelskörper seitens
Lockyers erfreu! sich keineswegs derzeit schon des allgemeinen
Beifalls der Spektralanalytiker, so da Cs die Hypothese in der Allge-
meinheit und Ausdehnung, in der sie uns dargeboten wird, nicht an-
nehmbar erscheint.
Zum Schlufs soll noch eine neue Hypothese über die Entstehung
der Doppelsterne berührt werden, welche der Amerikaner T. See8)
«'< . aufgestellt hat. Dieselbe nimmt die
V'-' ‘■■ov Darwinsche Gezeitentheorie zu Hilfe,
// '~x' \ und da wir diese im vierten Aufsatze
I A»./ ;S- „Ä— u J ; auseinandergesetzt haben, können wir
\ \ '■£' //' uns über die Hypothese kurz fassen.
— pgCv.:V.v Die mathematische Untersuchung der
f ' Gleichgewichtsflgur rohrender Flüssig-
Fig. 1. Entstehung des Apioids am keitsmassen ergiebt, dafs ein dreiachs-
einam EoutiomeUipaoid. jgefi Efljpsoid, wenn die Rotationsge-
scliwindigkeit gewisse Grenzen überschreitet, eine bimförmige Gestalt
(Apioid, Fig. 1) annimmt und sich schliefslich in zwei Körper trennt.
Solche Fälle können bei der Kontraktion der wahrscheinlich zumeist
homogenen Nebelflecke vielfach eingetreten sein. Die Spaltungen in
zwei Massen wären dann immer in gewissen komparablen Verhältnissen
erfolgt. Die Doppelnebel, von welchen die Figur 2 ein Beispiel giebt,
mögen auf diese Weise entstanden sein. Die abgelöste Masse be-
schreibt zunächst um den Mutterkörper eine kreisrunde Bahn. Wenn
die Axendrehung vermöge der Kontraktion schneller wird als der
Umlauf, beginnen die Gezeitenwellen ihren Reibungswiderstand fühl-
bar zu machen. Allmählich gewinnt die Gezeitenreibung den Ilaupt-
einflufs auf die grofse Axe der Bahn des Nebenkörpers und fahrt
fort, die Exzentrizität dieser Bahn bis auf ein Maximum zu steigern;
darauf findet ein langsamer Rückgang der Exzentrizität statt, der sein
Ende wahrscheinlich erst erreicht, wenn die beiden Körper dunkel
*) Die Entwickelung der Doppelstemsysteme. Inaugural-Dissertation.
Berlin 1893.
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r»7t
geworden sind, da dann keine Kontraktion mehr möglich ist. Dann
kehren beide Sterne einander dieselben Flächen zu und kreisen
fernerhin wie ein starr verbundenes Systorn um einander. See hat
seine mathematischen Ergebnisse auf ein fingirtes Beispiel, jedoch
unter plausiblen Prämissen, angewendet. Die umstehende Figur 3
zeigt die beiden mit einer Abplattung von 0,4 versehenen um-
einanderkreisenden Flüssigkeitssphäroiile in der Entfernung von
30 astronomischen Einheiten. Unter annehmbaren Bedingungen für
die Dichte der Körper ergiebt sich, dafs die halbe grofse Axe von
30 auf 49,388 Einheiten wächst, während die Exzentrizität sich bis
auf 0,57 steigert — in der That, ein eindringliches Beispiel der Wirkung
der Gezeitonreibung. See findet, dafs die mittlere Exzentrizität der
bisherbekannten Doppelstern bahnen
12 Mal gröfser ist als die mittlere
Exzentrizität unseres Planetensy-
stems, nämlich 0,45, was mit der
durch das erwähnte Beispiel illu-
strirten Wirkung der Gezeiten auf
die Exzentrizität der Doppelstem-
bahnen im Einklänge stände.
Wir haben in diesen Aufsätzen
eine bedeutende Zahl von kosmogo-
nischen Ansichten dargelegt und
uns bezüglich des wissenschaftlichen
Werthes derselben auf wenige kri-
tische Bemerkungen beschränkt.
Es wäre nun noch ein allgemeineres Urtheil über jene Ansichten
vorzutragen. Hierzu sind zuvor einige Erörterungen über den Fort-
schritt der astronomischen Erkenntnifs und das Wesen der Hypothesen
nöthig.
Ein halbwegs aufmerksamer Blick auf das Arbeitsfeld und die
Arbeitsmethoden der heutigen Astronomie zeigt, dafs die Zeiten, in
welchen grofse Ideen einen Fortschritt anbahnen konnten, ohne dafs
ihnen grotee zu leistende Arbeit vorhergehen mufste, vorüber sind.
Heutzutage spielen Beobachtungen, rechnerische und mathematische
Untersuchungen die Hauptrolle, die Hypothesen treten viel bescheidener
zurück als ehemals. Dies ist aus der fortschreitenden Vertiefung der
einzelnen Spezialgebiete erklärlich. Die Schwierigkeiten, die ver-
schiedenen astronomischen Erscheinungen richtig zu erklären, zwingen
uns unabänderlich, zunächst die Hauptarbeit auf möglichste Vergröfse-
Kiff. 2. Doppelnebel.
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572
rung der Zahl der Beobachtungen zu richten; erst wenn diese der-
artig gewachsen ist, dafs sich die Aussicht eröffnet, die Wahrneh-
mungen durch eine verbindende Voraussetzung gemeinsam zu deuten,
tritt irgend eine Hypothese in den Vordergrund. Diese Hypothese
leitet eine Zeit lang die Forschung, bis die unveränderlich fortgesetzte
Beobachtungsarbeit Thatsachen an derselben Erscheinung zu Tage
gefordert hat, die sich mit der Hypothese nicht mehr vertragen; die
Idee wird dann entweder modiflzirt, oder es tritt eine ganz andere an
deren Stelle. Auf diese Weise, nämlich indem eine fortwährende
Vergleichung der beobachteten Erscheinungen mit den Konsequenzen
der Hypothese stattfindet, also die
Idee als blofse Leitung benützt wird,
nähern wir uns allmählich der Wahr-
heit. Jeder Ideensprung, beispiels-
weise der Versuch, die Thatsachen
der Idee anpassen zu wollen und
nicht die Idee den Thatsachen, rächt
sich alsbald. Auf diese Weise ist
der moderne astronomische Fort-
schritt in Hinsicht auf Erklärung
der Einzelgebiete, zum Beispiel der
Matur der Kometen, des Wesens des
Sonnenkörpers, ein zwar langsamer
aber sicherer. Er ist längst nicht
mehr wie früher mit wilden Speku-
lationen in Verbindung, sondern
bewegt sich zwischen Ufern, deren Begrenzung sicher gestellt
ist. In der modernen Kosmogonie ist von einem ähnlich gestalteten
Vorgehen bei der Erforschung des Zusammenhanges der Dinge bisher
wenig zu bemerken. Man sollte im Hinblick auf die aus den anderen
astronomischen Gebieten kommende Warnung zur Vorsicht in den
Schlüssen zum mindesten erwarten dürfen, dafs das Vergleichen der
Voraussetzungen mit den faktischen im Kosmos stattlindenden Ver-
hältnissen sorgfältig durchgeführt wird, und, wo sich keine Ueberein-
stimmung findet, eine Prüfung der Hypothesen vorgenommen werde.
Thatsächlich hat aber eher das Entgegengesetzte statt: entweder
werden die aus den Hypothesen folgenden Vorgänge gewaltsam ver-
kehrt, damit sie den Beobachtungen genügen sollen, oder es werden
aus den letzteren nur solche hervorgesucht, die sich aus den Hypo-
thesen ableiten lassen, die dagegen sprechenden Beobachtungen aber
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todtgeschwiegen. Man mufs manche Kosmologen recht bei der Arbeit
sehen, z. B. bei der Beantwortung der Frage nach der Entstehung
der charakteristischen Gebilde der Mondoberfliiche, mit welchor Fixig-
keit sie da alles erklären. Nirgend sehen sie Schwierigkeiten, und
keinem kommt die Erinnerung ins Üedäehtnifs, dafs wir trotz der
Bereicherung der Topographie des Mondes durch Beer und Mädler,
Schmidt, Lohrmann und Neison in Beziehung auf eine wissen-
schaftliche Vergleichung der Erde und des Mondes, also in Beziehung auf
die Basis für jene Frage und die daraus zu ziehenden Schlüsse, derzeit
noch kaum die ersten Grundlagen gewonnen haben. Nur in dem einen
Punkte stimmen die Herren miteinander überein, dafs jeder die Theorie
des Anderen für unhaltbar erklärt Ebenso häufig ist in der modernen
Kosmogonie die Erscheinung, dafs irgend eine beobachtete Thatsache,
die an sich nur eine untergeordnete Bedeutung hat, übertrieben und
den Erklärungen zu Grunde gelegt wird, wodurch die Hypothese auf
Einseitigkeit geräth.‘J) Dies ist z. B. der Fall bei Nordenskjölds
Meteorhypothese, bei Lockyers Evolutionstheorie. Vielfach sind die
Mifsverständnisse in der Anwendung der Gesetze der Mechanik, bei-
spielsweise bei Friedrich Weifs, Kerz u. A. Am allerhäufigsten
sind rein hypothetische Voraussetzungen, auf welchen die weitgehendsten
Schlüsse gegründet werden, z. B. bei Braun die Kollisionen und
die dadurch bewirkte Rotation der Sonne; bei Schmick die Pendel-
bewegungen des Mondes u. s. w.
Verbinden sich solche zweifelhaften Grundlagen untereinander,
so kann man das darauf erbaute Gebäude trotz aller sogenannten von
den Urhebern der Hypothesen beigebrachton Beweise, Rechnungen
u. s. w. nur mit Mifstrauen betrachten. Es ist in neuerer Zeit in dieser
4 Hinsicht auf dem Gebiete der Kosmogonie entschieden besser ge-
worden, dadurch, dafs man versucht hat. einzelne Hypothesen mathe-
matisch zu behandeln. Indessen kann auch eine solche Verfolgung
’) Voreingenommener oder tendenziöser Standpunkt kann bei der Ab-
leitung der Konsequenzen einer Hypothese zu wunderlichen Schlüssen führen.
Ein Beispiel hiervon giebt Braun in seiner Kosmogonie. Da für ihn die
Uebereinstiminung der Bibel mit wissenschaftlicher Forschung eino wichtige
Sache ist, so mufs er nicht nur die Erde zu Ctrunde gehen lassen, sondern
auch das Menschengeschlecht. Um dios in möglichst sicherer Weise zu thun,
greift er zu den als Scharfrichter der bösen Menschheit längst von der Wissen-
schaft abgethanen Kometen, liifst durch den Zusammenstofs der Erde mit
einem solchen das Festland überschwemmen, die Werke des Fleifses durch
Stürme vernichten; die Menschen verbrennen und ersticken in der Hitze des
Kometen, und auf die wenigen Leute, die von diesen Schrecknissen unge-
schoren bleiben, regnet es Blausäure aus dem Kometen.
Htmmet und Erde 1863. V. 12. ;;g
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r.74
der Sache durchaus noch nicht vor verfehlten Schlüssen schützen;
denn nothwendiger Weise müssen solchen Untersuchungen bestimmte
Voraussetzungen zu Grunde gelegt werden, und wir haben keine
Garantie, dafs diese Bedingungen mit den thatsächlichen Verhältnissen
der Entwickelung zusammengetroffen sind. So konnten die Unter-
suchungen von Roche, G. H. Darwin, Ritter, Hirn, See, Saal-
schützln) nur unter gewissen Voraussetzungen ausgeführt werden und
hängen betreffs der Schlufsresultate von der Richtigkeit der letzteren
ab. Der Werth der Arbeiten dieser Mathematiker für die Kosmogonie
besteht aber in der logischen Durchführung und Ableitung der Kon-
sequenzen, die aus einem acceptirten Grundgedanken folgen. Finden
wir mit der Zeit aus Beobachtungen der Verhältnisse im Kosmos, dafs
die Grundannahme in der größeren Zahl der Fälle thatsächlich zu-
trifft, so ist die Richtigkeit der Hypothese gesichert So befremdend
manche Folgerungen Darwins aus dem Verhalten eines viskosen
Ellipsoides, oder Ritters Schlüsse aus dem adiabatischen Gleich-
gewichte einer Gaskugel erscheinen, so wäre es doch kein wissen-
schaftlicher Rückschritt zu nennen, wenn man diese Resultate späterhin
bestreiten müfste; vielmehr läge dann nur der Beweis vor, dafs die
Grundannahmen nicht zutrafen, und es wäre dies an die Wissenschaft
eine Aufforderung, nach einer wahrscheinlicheren Basis zu suchen. —
Aus dem mifslichen Umstande, dars die logische Behandlung kosmo-
gonischer Probleme meist nur ein unsicheres Resultat ergeben kann,
welches zu der Mühe der mathematischen Durcharbeitung in keinem
Verhältnisse stellt, erklärt sich auch, dafs die Mehrzahl der astronomi-
schen Fachleute dem Gebiete der Kosmogonie fern bleibt, ja dafs der
gröfste Theil derselben dieses Terrain vorsichtig vermeidet Die
Astronomen finden in den auf verbürgten Wegen sicher erlangbaren I
Resultaten der beobachtenden und rechnenden Astronomie reiche
wissenschaftliche Befriedigung und ziehen mit Recht die positive
Arbeit jeder Spekulation vor. Aber hierdurch räumen sie einer Un-
zahl von Leuten das Feld, welche sich häufig mit unzureichenden
Kenntnissen auf das so schwierige Gebiet der Kosmogonie stürzen
und es zu einem Tummelplätze ihrer Hypothesen maohen. Das der
Astronomie ferner stehende, gebildete Publikum, dem durch unsere
populäre Littoratur vornehmlich nur Resultate geboten werden, und
,0) Die mathematische Untersuchung der Kant-Laplaceschen Nebular-
hypothese von Seiten dieses Autors haben wir früher nicht besonders erwähnt;
sie beschäftigt sich mit den für diese Hypothese gegebenen Möglichkeiten itu
allgemeinen. (Königsberger Ges. d. W. Bd. 28.)
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welchem die Anforderungen an strenge wissenschaftliche Arbeit noth-
wendiger Weise nioht bekannt sind, sieht dann allzusehr in den reich-
lich auftauchenden kosmogonischen Brochuren und Essais der Gegen-
wart wirklichen Fortschritt, während diese Elaborate nur zu oft mit
jenem nichts zu thun haben.11)
Aus allen diesen Erörterungen folgt, dafs es auf dem Gebiete
der Kosmogonie viel schwieriger als in den anderen astronomischen
Spezialfächern ist, die Frage direkt zu beantworten, welche der
Theorien einen bleibenden Werth für unsere Vorstellungen über die
Entwickelung der Gestirne haben. Unsere Ansichten über den Aus-
bildungsprozefs der Weltkörper soheinen richtig zu sein, da Zöllner
und Bitter auf wesentlich verschiedenen Wegen, durch Photomotrie
und mathematisch -physikalische Betrachtung, zu im ganzen sich
deckenden Resultaten gelangen, mit welchen überdies die spektral-
analytische Forschung übereinstimmt. Zweifelhafter ist schon, ob die
Kant-Laplacesche Theorie gegenwärtig immer noch ein ausreichendes
Fundament für die Erklärungen bietet. Die Grundlagen dieser
Theorie gelten gewifs noch für lange Zeit, dagegen läfst sich nicht
behaupten, dafs die Mechanik der Nebularhypothese gegen alle Ein-
würfe gesichert ist. Die Möglichkeit der Ringbildung und der Zu-
sammenziehung der Ringe in Planeten dürfte derzeit zuzugeben sein;
es sind aber sonst doch noch, wie aus den Darlegungen unseres
zweiten Aufsatzes hervorgeht, manche Punkte der Hypothese einer
Stützung sehr bedürftig. Die Darwinschen Arbeiten haben der
Nebularhypothese weder widersprochen noch sie fester basirt. Zweifel-
haft ist die Kosmogonie der veränderlichen Sterne, auch Sees Hypo-
these über die Entstehung der Doppelsterne ist angreifbar, noch viel
mehr problematisch sind die geäufsorten Ansichten über die Ent-
stehung der Mondoberflüche, sowie die derzeitige Kosmogonie der
Kometen und Meteoriten.
Bei solcher Lage der Dinge ist Bescheidenheit vor unserem
derzeitigen kosmogonischen Wissen nur unsere eigene Pflicht. Wenn
jedoch die Kosmogonie, mehr als es bisher geschah, von astronomischen
Fachleuten gepflegt und von Mathematikern und Physikern unterstützt
wird, so dürfte bald dadurch ein Damm gegen das Uebcrwuohern der
„wilden“ Hypothesen errichtet sein; die Wissenschaft wird dann auch
n) Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat in seinem Aufsatze „lieber
populäre Wissenschaft und Halbbildung“ (II. Jahrgang) die Plage der Hypo-
thesenkrankheit, namentlich das Wuchern der „wilden“ Hypothesen in der
Astronomie, drastisch aber wahr geschildert.
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auf diesem Gebiete, allerdings wohl durch eine viel längere Reihe
von Negationen als in den anderen, positiven astronomischen Zweigen,
festen Grund gewinnen. Allen jenen aber, die den Aufbau der Welt für
eine leichte Sache halten und sich gerne in Hypothesen versuchen,
seien noch die goldenen Schlufs Worte zugerufen, welche Laplace im
4. Kapitel des fünften Buches seiner „Exposition du systfeme du monde“
niedergeschrieben hat: „Ein für den Fortschritt der Wissenschaften
wahrhaft nützlicher Philosoph ist nur jener, welcher mit einer um-
fassenden Einbildungskraft eine grofse Strenge in seinen Schlüssen
und bei seinen Beobachtungen vereinigt und zugleich auf der einen
Seite von dem Verlangen, sich zu der Ursache der Erscheinungen zu
erbeben, und auf der anderen von der Furcht, sich in Ansehung jener,
welche er ihnen beilegt, zu täuschen, beunruhigt wird.“
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Der Luftmangel des Mondes. — Uebor dieses Thema äufsert
sich der englische Astronom Sir Robert Ball in Cambridge in der
Zeitschrift Science, wie folgt:
Der Mangel an Luft, an dem der Mond leidet, ist eine nothwendige
Folge der kinetischen Gastheorie, nach welcher jedes Gas, Wasser-
stoff wie Sauerstoff, aus kleinsten Theilchen besteht, die sich mit einer
gewaltigen Geschwindigkeit bewegen. So kämen z. B. die Wasser-
stoff-Moleküle, die unter gleichen Temperaturbedingungen freilich die
gröfsten Wege zurücklegen, bei 0° in einer Sekunde um 1844 m vor-
wärts, wenn nichts sie in ihrem Laufe hemmte. Sauerstoff und Stick-
stoff haben im allgemeinen weit geringere Geschwindigkeiten. Dabei
ist aber noch zu berücksichtigen, dafs einzelne Moleküle im Verlaufe
ihrer Bewegungen häufig einen ihre durchschnittliche Geschwindigkeit
um vieles übertreffenden Weg durchmessen. Nun läfst sich zeigen,
dafs der Mond eine derartige Masse und Ausdehnung besitzt, dafs
jeder Körper, welcher von seiner Oberfläche mit einer gewissen Ge-
schwindigkeit — sagen wir von 800 in in der Sekunde — weg-
geschleudert würde, zu einer beträchtlichen Höhe aufsteigen, zuletzt
aber infolge des Ueberwiegens der Mondanziehung wieder zurück-
fallen müfsle. Wenn jedoch seine Anfangsgeschwindigkeit um soviel
gröfser wäre, dafs sie einen gewissen kritischen Betrag von ungefähr
1600 m erreichte, so würde der Körper den Bewegungsgesetzen gcmärs
von der Mondoberfläche aufsteigen und immer weiter sich von ihr
entfernen, ohne jemals durch die Mondanziehung wieder an des Mondes
Oberfläche zurückgeführt zu werden. Stellte man sich nun die Auf-
gabe, heute den Mond mit einer neuen Hülle von Sauerstoff oder
Stickstoff zu umgeben, so würden die Moleküle dieser Gase natürlich
mit den ihnen eigenthümlichen Geschwindigkeiten durcheinander
fliegen. Im allgemeinen bleiben diese freilich innerhalb solcher
Grenzen, dafs der Mond jene Moleküle in seiner Gewalt behält, aber
häufig genug werden einzelne Moleküle mit einer Geschwindigkeit
begabt sein, welche jenem kritischen Betrage von 1600 m in der Se-
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künde gleichkommt oder ihn übertrifl't. Wenn dergleichen in den
oberen Schichten der Lufthülle geschieht, so werden die Theilchen
alle miteinander den Mond verlassen, andere werden ihnen auf dem-
selben Wege folgen, und daher kommt es, dafs eine aus jenen oder
ähnlichen Gasen zusammengesetzte Lufthülle auf dem Monde nicht
dauernd sich niederlassen konnte. Auf der Erde bleibt dagegen eine
dichte Lufthülle bestehen, weil die Erde Masse genug besitzt, um jedem
Projektil, das nicht eine Geschwindigkeit von fast 10 km in der Se-
kunde besitzt, den Austritt aus ihrem Wirkungskreise zu wehren.
Aber die Sauerstoff- und Stickstofftheilchen werden diese Geschwindig-
keit weder im allgemeinen noch überhaupt jemals erreichen, und so
vermag die Erde ihre Lufthülle festzuhalten, während der Mond dazu
unfähig ist. Und was die Erde konnte, das vermochten auch Venus,
Mars und Jupiter.
Eine andere — wie uns scheint — plausiblere Hypothese für
den Luftmangel des Mondes ergiebt sich aus dem frühen Altern dieses
Körpers, dessen verwitternde Gesteine Zeit genug besafsen, um die
Atmosphäre in sich aufzusaugen. Sm.
*
Die Schmidtsche Sonnentheorie.
Wir haben bereits im vorigen Jahrgange unserer Zeitschrift
(Seite 329) unter dem Titel „Strahlenbrechung auf der Sonne“ eine
neue Ansicht von Dr. A. Schmidt über die Ursachen mancher Er-
scheinungen auf der Sonne erwähut. Nach derselben besitzt die Sonne
keine eigentliche dampfförmige oder flüssige Oberfläche, sondern ist
ein glühender Gasball, dessen Dichte von innen nach aufsen zu ganz
allmählich abnimmt, so dafs der Uebergang einer Gasscliicht in die an-
dere successive stattfindet, und die äufserste Schicht eine Konsistenz
besitzt, die wahrscheinlich viel geringer ist als die des Luftmeeres der
Erde. Es wurde auch am angeführten Orte das eigenthümliche Ver-
halten von Lichtstrahlen in Gaskugeln von grofser Dichte betont und
Schmidts Meinung dargelegt, wonach ein beträchtlicher Theil der
Sonnenerscheinungen, wie die Flecken, Protuberanzen, auf Refraktions-
phänomene der Sonnenatmosphäre wenigstens theilweise zurück-
geführt werden könnte. Schon Kummer hat die Wichtigkeit der
Strahlenbrechung für die Erklärung optischer Erscheinungen erkannt.
Zöllner hat in seinen „Photometr. Untersuchungen“ darauf aufmerk-
sam gemacht, dafs ohne Berücksichtigung der Refraktion der Sonnen-
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atmosphäre Täuschungen in Hinsicht auf die Deutung mancher Er-
scheinungen unterlaufen könnten. ')
In Anbetracht der Wichtigkeit der Schmidtschen Darlegungen,
welche, wenn sie sich bestätigen, eine ganz wesentliche Veränderung
unserer gegenwärtigen Theorieen der Sonne bewirken müssen, haben
wir den Wunsoh geäufsert, die Schmidtschen Ausführungen möchten,
da sie nur in geometrischer W'eise erläutert Vorlagen, durch eine
analytische Behandlung näher geprüft werden. Diese Erwartung ist
schneller, als wir gehofft haben, in Erfüllung gegangen. Eine Habi-
litationsschrift von Dr. 0. Knopf2) beschäftigt sich eingehender mit
der Sache, und da seine Untersuchung die Schmidtsche Anschauung
bestätigt, so wird es erwünscht sein, dafs bald auch Gegengründe von
berufener Seite geltend gemacht werden, die entweder die Hypothese
beseitigen oder auf das richtige Mafs zurückführen.
Der Verfasser der erwähnten Schrift gelungt auf mathematischem
Wege zu denselben merkwürtügen Refraktionsverhältnissen für eine
bestimmte Gattung von Himmelskörpern, wie Schmidt. Es zeigt sich,
dafs in einem glühenden Gasballe gewisse Lichtstrahlen überhaupt nicht
die Atmosphäre verlassen können, sondern zum Theil sogar um das
Zentrum herumlaufen müssen. Von der äufsereten Schicht gelangen
nur Lichtstrahlen zu uns, die aus jener Schicht stammen. Die Strahlen
der mittleren Schichten können aber einen solchen Weg nehmen, dafs
sich das Bild der mittleren Schichten auf das der innersten projizirt.
Dadurch wird in unserem Auge der Eindruck einer scharfen äufseren
Begrenzung des Gasballes hervorgerufen, während in Wirklichkeit
eine so wohl begrenzte Schicht denselben nach aufsen hin gamicht
abschliefst, vielmehr dessen Gas sich in allmählich zunehmender Dünne
') „Uebrigens glaube ich bemerken zu müssen, dafs man bei allen bisher
aufgesteliten Theorioen der Sonnenflecke den Kinflufa der Refraktion der Sonnen-
atmosphäro auf die Gestalt dor an ihrer Oberfläche wahrgenommenen Objekte
mit Unrecht vernachlässigt hat. Selbst wenn die Penumbra in gleichem
Niveau mit dem dunklen Kerne auf der Sonnenoberfläche sich befände, so
würde man lediglich durch Annahme einer hinreichend starken Refraktion im
stände sein, sowohl die Vergrößerung des dem Sonnenrande zugekehrten Theiles
der Penumbra als auch jene scheinbaren Vertiefungen zu erklären, welche sich
am Sonnenrande öfter an der Stelle zeigen, wo infolge der Rotation ein Fleck
verschwindet Dio interessanten Kummerschon Resultate scheinen mir die
Berücksichtigung der Refraktion in der Sonnenatmosphäre für jede Hypothese
über die Sonnenflecke durchaus nothwendig zu machen “ (Seite 246.)
») Die Schmidtsche Sonnentheorie und ihre Anwendung auf die Me-
thode der spektroskopischen Bestimmung der Rotationsdauer der Sonne. —
Habilitationsschrift. Jena 1893.
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580
von innen nach aufsen verliert. Jede Veränderung des Druckes wird
in einem solchen Gasballe eine Veränderung der Dichte und somit
auch des Brechungsexponenten hervorrufen. Es können folglich irgend
welche Vorgänge unserem Auge an Orten erscheinen, die in der That
an ganz anderen Stellen sich vollziehen. Bei der Auffassung der Sonne
als einen solchen glühenden Gasball könnten demnach verschiedene
Erscheinungen, wie das plötzliche Emporschiefsen von Protuberanzen
und manches andere, blofse Refraktionsresultate, erzeugt durch Dichte-
veränderungen der inneren Schichten, sein. Vermöge solcher Re-
fraktionserscheinungen unterliegt auch die Ableitung der Rotations-
dauer der Sonne aus spektralanalytischen Beobachtungen nach dem
Verfasser manchen Bedenken. Nach dieser, von Zöllner vorgeschlage-
nen Methode inffsl man die Verschiebungen, die zwischen zwei Absorp-
tionslinien tellurischen Ursprunges und zwei solchen des Sonnenspektrums
während der Umdrehung der Sonne stattlinden. Als Messungsstellen
benützt man zwei einander gegenüber liegende Punkte des Sonnen-
randes. Die Methode setzt voraus, dafs die Absorption nahe der
scheinbaren Oberfläche der Sonne stattfindet, während nach der Schmidt-
schen Hypothese die Absorptionslinien dos Sonnenspektrums in sehr
tief gelegenen Schichten der Sonne ihren Ursprung haben. Die
Messungen beziehen sich dann auf Stellen, an denen sich die Ab-
sorptionslinien des Sonnenspektrums thatsäohlich nicht befinden. Hier-
durch wird der aus spektroskopisohen Beobachtungen abgeleitete Be-
trag der Umdrehungsdauer der Sonne in Frage gestellt. Nur in den
Fällen, wo die Messungen in der Ebene des Sonnenäquators gemacht
■werden, ist das Resultat zuverlässig. Die Rotationsdauer, welche die
in der Ebene des Aequators gemachten spektroskopischen Beobach-
tungen ergeben, stimmt mit jener nahe überein, die aus der Bewe-
gung der Sonnenflecken gefunden worden ist. Dr. Knopf macht
aber darauf aufmerksam, dafs aus der spektroskopischen Beobachtung
von Absorptionsslellen des Aequators vielmehr eine geringere Rotations-
dauer erwartet werden sollte, weil unter Festhaltung der Schmidt -
schen Theorie die Absorption tief im Innern der Sonue statt hat. Da
jedoch auch diese tief gelegenen Stellen denselben Betrag des Sonnen-
umschwungs liefern, wie die anderweitigen auf die Oberfläche sich
beziehenden Beobachtungen, so sei der Sohlufs berechtigt, dafe die
Sonnenrotation von aufsen nach innen zu eine schnellere wird. »
t
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Die Erwärmung der Pflanzenblätter. — Seit einer Reihe von
.Jahren ist man stetig bestrebt, den Einfluß der klimatologischen Ver-
hältnisse auL die Entwicklung der Pflanzen bis ins Einzelne zu ver-
folgen. Die Resultate, welche auf diesem als „Phänologie1- bezeich-
neten Gebiete, besonders durch die Bemühungen Hoffmanns in
Giefsen, erzielt wurden, waren merkwürdig genug. Es gelang, die
einzelnen Momente des Pflanzenlebens auf ihre Abhängigkeit von
der Wärme, welche auf der Erde von Jahr zu Jahr und von Ort zu
Ort Schwankungen unterworfen ist, zu prüfen. Wenn auch die erlangten
zahlenmäßigen Ergebnisse rein äufserliche waren, so zeigten sie
deutlich, dafs für jeden besonderen Schritt im Wachsthum jeder
I’flanzenspezies eine ganz bestimmte Wärmemenge erfordert werde.
Freilich wie grofs diese etwa für die Keimung, das Aufblühen u. s. w.
einer bestimmten Art in Wärmeeinheiten gemessen sei, das liefs
sich auf diesem Wege noch nicht erkennen. Dazu sind beson-
dere Studien nöthig, welche eine Reihe von einzelnen Daten zu
liefern haben, und das Problem wird dadurch viel komplizirter als
dasjenige, welches die Wärmeaufnahme der Luft und des Erdbodens
betrifft. Die ersten Daten, die erforderlich sind, beziehen sich auf die.
Fähigkeit der Blätter, die ihnen zugestrahlte Wärme zu absorbiren
oder durchzulassen. Die bezüglichen Experimente sind neuerdings
von A. G. Mayer im physikalischen 'Laboratorium der Harvard-
Universität zu Cambridge (U. S.) ausgefiihrt worden. Folgendes waren
die Resultate, die durch Beobachtungen an Blättern der verschiedensten
Holz- und Krautgewächse sich ergaben, die thoils an sonnigen Stand-
orten, theils im Schatten, theils sogar im Wasser Vorkommen. Es zeigte
sich, dafs die Größe der Strahlung dieser Blätter, und zwar an ihrer
Ober- sowohl wie an ihrer Unterseite, eine kaum zu übertreffende, nämlich
dieselbe, wie die Strahlung des Lampenrufses ist, obwohl bekanntlich
gerade die Unterseite der Blätter einen besonderen Farbstoff — das
Anthokyan — enthält, den man als die Wirksamkeit der Ausstrahlung
verhindernd ansah. Nur boi den Unterseiten der Klettenblätter zeigt
sich eine Ausnahme, da sie nur 81 pCt des erwähnten Strahlungs-
betrages erreichen. Wohl mit Recht nimmt der genannte Forscher
an, dafs wir hier eine ähnliche Art von Anpassung au die Lebens-
bedingungen dieser Pflanzen haben, wie bei den Fischen, deren Ober-
seite fast ausnahmslos dunkler als die Unterseite gefärbt ist. Die
Blattrosette der Klette liegt dem Boden dicht an und empfängt auf der
Unterseite fast keine direkten Strahlen der Sonne. So müßte die
Pflanze leicht ihre Wärme verlieren, wenn die Unterseite nicht durch
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die erwähnte Eigenschaft geschützt wäre. Aehnliche schützende
Wirkungen hat für die Blätter der Thau, wie zahlreiche Versuche be-
weisen. Ein nur schwach bethautes Blatt strahlt blos .78 pCt. der-
jenigen Wärme aus, die es im trockenen Zustande emittirt, während
eine dicke Thauschicht nur 66 pCt. dieser Wärmemenge herauslärst.
Das ist um so merkwürdiger, als auf Körper von schwächerem
Strahlungsvermögen die Bethauung gerade umgekehrt wirkt. So
ergiebt sioh, dafs wir in der Natur der Blätter schlagende Bei-
spiele von Anpassung besitzen. Der Umstand, dafs ihre Oberfläche
zu den besten Wärmestrahlern und die Blätter demzufolge auch zu
den am besten absorbirenden Körpern gehören, müfste es nämlich be-
wirken, dafs während der Nacht ein guter Theil der am Tage auf-
genommenen Wärme wieder ausgestrahlt werden würde, wenn die
nächtliche Thaudecke nicht diese Ausstrahlung auf zwei Drittel ihres
sonstigen Werthes beschränken würde.
Fernere Versuche über die von den Blättern absorbirte und
durchgelassene Wärme zeigen, dafs von den dunklen Wärmestrahlen,
die man durch ein Blatt fallen läfst, etwas mehr als 80 pCt. vom Blatt
absorbirt und nur etwas weniger als 20 pCt. durchgelassen werden,
ein Verhältnis, das freilich von Individuum zu Individuum ein wenig,
von Art zu Art etwas mehr variirt, aber keineswegs von der Dicke
und Zähigkeit der Blätter direkt abhängig ist. Blumenblätter erwiesen
sich dabei etwas durchlässiger wie Laubblätter. Auch zeigten
die Blätter gegen die ihnen zugesandten Strahlen, ähnlich wie die
irdische Lufthülle den einzelnen Strahlengattungen gegenüber, ein
wählerisches Verhalten. Der Betrag von Wärmestrahlen, welchen ein
einzelnes Blatt durchgehen läfst, beläuft sich — wie erwähnt — auf
20 pCt. Gestattet man aber der durch das erste Blatt gegangenen
Wärme, auf ein zweites zu fallen, so findet man, dafs schon 78 pCt
von dieser Wärme durchgelassen werden; ein drittes läfst gar fünf
Sechstel von der Wärme hindurch, welche durch zwei Blätter gegangen
ist, und ein viertes Blatt stellt dem Durchgänge der so ausgewählten
Wärmestrahlen schon koin merkliches Hindemifs mehr entgegen.
Dabei spielt das Blattgrün keineswegs die bedeutende Rolle, die man
ihm wohl ohne die Grundlage des Experiments zugeschrieben hat.
Blätter, die man mit Alkohol ihres Chlorophyllgehaltes beraubt hatte,
erwiesen sich in nicht viel höherem Grade passirbar für dunkle
Wiirmestrahlen, als grüne Blätter. Die Rolle des Blattgrüns wird wohl
— wie frühere Forscher annehmen — diejenige sein, dafs es leuch-
tende Strahlen in erwärmende zu verwandeln vermag und so mehr
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indirekt für die Erhaltung der wärmenden Energie der Pflanzen bei-
trägt. So zeigt sich, dafs im Kampfe ums Dasein die Blätter der ver-
schiedensten Pflanzenspezies sich der geeignetesten Fähigkeit, Wärme
durchzulassen und auszustrahlen, angepafst haben, so dafs heute kein
bemerkenswertlier Unterschied zwischen ihnen besteht. Ihre Ober-
flächen sind die besten unter den bekannten Wärmeverzehrern, und
der Nachtheil, dafs sie demnach auch unter die besten Wärmestrahler
gehören, wird dadurch wieder aufgehoben, dafs der Thau, der sich
Nachts auf ihnen sammelt, sie vor zu starker Ausstrahlung schützt.
Zum Schlüsse mag auch noch darauf hingewiesen werden, dafs die
erlangten Zahlen einer künftigen Untersuchung der dem Lande zu-
gestrahlten Wärme zu Gute kommen werden, da der gröfste Theil des
Landes auf Erden mit Vegetation bedeokt ist. Sm.
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Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1893.
Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner herausgegeben von Dr. J.
M. Eder. VII. .Jahrgang. Halle o. S., W. Knapp.
Der auf dem Gebiete der Photographie als hervorragende Kraft bekannte
Herausgeber hat es iin Laufe der Jahre verstanden, einen außerordentlich
zahlreichen Kreis tüchtiger Fachmänner als Mitarbeiter für sein Jahrbuch
heranzuziehen und sich zu erhalten, so dafs auch der vorliegende 7. Jahrgang
in einer Reihe von Originalbeiträgen, welche der bekannten kurzen jährlichen
Uebersicht über die Fortschritte der Photographie in den abgelaufenen Jahren
vorangeht, eingehende und gründliche Bilder der einzelnen Zweige liefert.
Es mufs an dieser Stelle genügen, die allerwichtigsten Arbeiten ihrem Inhalte
nach kurz zu erwähnen.
Bei der grofsen und umfangreichen Rolle, welche die künstlichen Licht-
quellen in der heutigen Photographie spielen, ist eine Arbeit von Glasenapp
über das Aluminium sehr zeitgemäß (S. 6). Dieselbe ergiebt, dafs dieses
Metall, als „Bronze“, d. h, gepulvert angewendet, das Magnesium nicht nur an
Wirkung erreicht, sondern noch um eine Wenigkeit übertrifft und weniger
Rauch entwickelt. R. Schwarz (Wien) veröffentlicht S. 33 eine Anleitung
zur direkten Aufnahme lebensgrofser Porträts, welche um so wichtiger er-
scheint, da sie ganz einfache Mittel verlangt So dient z. B. als Objektiv die
achromatische Landschaftslinse oder sogar das Brillenglas, welches natürlich
beim Gebrauche, um Verzeichuuugen zu verhüten, Btark abzublenden ist;
aufserdem mufs eine Korrektion behufs Einhaltung des chemischen Fokus an-
gebracht werden, welche z. B. bei einem Glase von 95 cm Fokuswoite 5 cm
in der Richtung des Objektivs beträgt. Sehr charakteristisch ist auch die Art
und Weise, in welcher der Autor — zur Erzielung kurzer Expositionszeiten —
das Tageslicht durchweg durch einen geeigneten Magnesiuralichtapparat er-
setzt Ueber die neuen Entwickler Metol und Amidol reforirt der Heraus-
geber (S. 62 u. 65). Während der erstere zu den gewöhnlichen organischen
Entwicklern zu zahlen ist, d. h. nur in alkalischer Lösung wirkt allerdings
ohne Aetzkalien, so ist das Amidol dadurch bemerkenswert!^ dafs es bei
blofsein Zusatz von Natriumsulfit selbst in saurer Lösung energisch entwickelt.
Hierdurch dürfte gerade das Amidol eine Zukunft haben: denn jeder Praktiker
weifs, wie sehr die Alkalien die Gelatineschicht der Platten zu schädigen ver-
mögen. R. Tal bot (S. 92) hat in einer grofsen Versuchsreihe die Thomas’
und Edwards’ Diapositivplatten erprobt und giobt Rezepte für geeignete
Hydrochinonentwickler. Ref. mufs aber hierzu bemerken, dafs die erwähnten
Erzeugnisse Bromchlorsilberplatten sind und — bei gröfserer Empfindlichkeit
— mit reinen Chlorsilberplatten nicht wetteifern können; gerade für Pro-
jektionszweckc sind letztere wegen der absoluten Klarheit der Bilder bei
weitem vorzuziehen. — Von neuen Apparaten nennen wir nur An schütz’
Momentcamera mit reguürbarora Verschlufsspalt (S. 105), welche zu den
leistungsfähigsten Momentapparaten der Gegenwart gezählt werden mufs, und
Krügen ers neue Foliencamera (S. 274), an welcher das Auswechseln der
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tafelförmigen empfindlichen Celluloidfolien auf die denkbar einfachste und
sicherste Weise mittelst Herausziehens eines vielfach gefalteten, schwarzen
Papierstreifens bewirkt wird. — Bei dem regen Interesse, welches in den letzten
Jahren den Versuchen zur Herstellung farbiger Bilder entgegengebracht wird,
seien die einschlägigen Abhandlungen des Jahrbuchs besonders hervorgohoben.
Während H. W. Vogel (S. 285) aufser einigen historischen und kritischen
Bemerkungen über das angeführte Thema nichts Neues bringt, giebt Jves
(Philadelphia) eine wesentliche Verbesserung seiner schon vor vier Jahren
publizirten Methode der Aufnahme farbiger Biider an (S. 298). Das Wesent-
liche daran ist die Konstruktion des „Heliochromoskops“, eines Apparates,
welcher durch besondere Vorrichtungen die Vereinigung dreier durch ver-
schiedenfarbige Gläser gleichzeitig gemachten Aufnahmen desselben Gegen-
standes zu einem einzigen in den natürlichen Farben erscheinenden Bilde be-
wirkt. Nicht mit Unrecht setzt der Autor seinen Apparat mit dem Stereoskop
in Parallele und hofft, denselben besonders für technische und künstlerische
Zwecke in nicht zu ferner Zeit anerkannt zu sehen. Auf demselben Prinzip
beruht die Erzeugung vielfarbiger Projektionsbilder mittels Photographie ohne
Farben von Vidal (S. 302). In einer kurzen Notiz (S. 321) veröffentlicht der
Herausgeber eine briefliche Mittheilung von Lippmann, in welcher dieser
einige sein bekanntes Verfahren zur chromatischen Aufnahme des Spektrums
betreffende Anweisungen giebt. Ein gröfserer Aufsatz von Zenker (S. 114)
verbreitet sich eingehend über die Theorie der Entstehung der Lippmann-
schen Farbenaufnahmen: der Gang der Lichtstrahlen hierbei wird einer ge-
nauen Diskussion unterzogen. — Eino ganze Reihe von Beiträgen beschäftigt
sich mit der Theorie und Praxis der Astrophotographie. Besonders bemerkens-
werth ist hier eine Abhandlung von Soret (S. 247) über die allgemeinen Be-
dingungen, unter denen sich die mittelst optischer Instrumente erhaltenen
virtuellen Bilder in objektive, also photograp hirbare verwandeln lassen. In
sehr übersichtlicher Weise wird gezeigt, in wie einfacher, auf den gewöhn-
lichen Grundsätzen der Optik basirender Weise der Astronom und Mikro-
skopiker seine Instrumente für photographische Aufnahmen selbst horriebten
kann, und dafs diese Thatsacho bisher nur infolge von Unkenntnifs oder Leicht-
fertigkeit sicli der allgemeinen Benutzung entzogen hat. Die Fortschritte der
Astrophotographie im Jahre 1892 bespricht Spitaler (S. 268). Besonders er-
wähnenswerth sind die Untersuchungen Wolfs (Heidelberg) über die Anzahl
von Sternen, die bei verschieden langer Belichtung ein Bild geben. Bei
Expositionszeiten, die sich verhalten wie 1:3:13, ergab sich das Verhältnifs
der Anzahlen etwa wie 1:2:4. Der neue Stern im Fuhrmann war für die
Photographie ein besonders interessantes Objekt und hat daher als solches
rege Berücksichtigung gefunden; die Entdeckung mehrerer Nebel auf photo-
graphischem Wege ist ebenfalls zu erwähnen. Die zuerst von Weinek 1883
angegebene Methode der Planctenentdeckung durch die Photographie ist durch
Wolf (Heidelberg) in umfassender Weise zur Ausführung gebracht (s. auch
dessen Arbeit S. 310); er hat hierbei nicht nur viele verloren gegangene
Planeten wiedorgcfuuden , sondern auch nicht wenige neue den alten Ver-
zeichnissen hinzugefügt. Selbst Kometen kann mau auf diesem Wege finden,
wie die Entdeckung eines solchen durch Baruard beweist. Der Autor selbst
hat auf der Wiener Sternwarte direkte Vergröfserungeu von Mondgegenden
am Fernrohre photographirt und schöne Bilder erhalten. Weinek in Prag
hat die schönen Glasdiapositive von Mondaufnahnicn der Licksternwarte unter
starken Vergröfserungen studirt und hiernach Detailzoichnungen einzelner
Partieeu mittelst Stift und Pinsel mit virtuoser Technik und unerreichter Treue
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reproduzirt. Bei dieser Arbeit wurden bisher unbekannte Krater und Rillen
gefunden und merkwürdige feine Furchen der Mondoberfläche entdeckt. —
Sehr interessaute und besonders für den Amateur nützliche und willkommene
Winke giebt Schmidt (Karlsruhe) in seinen Randbemerkungen für die photo-
graphische Praxis (S. 192).
In der den Originalarbeiten folgenden Uebereicht über die Fortschritte
der Photographie in den Jahren 1891/92 finden wir vieles Interessante und
Neue. Was Apparate betrifft, so ist zu erwähnen, dafs infolge der Konkurrenz
der Celluloidplatten die Vorrichtungen der Rollkassetten nach Kräften ver-
vollkommnet sind (S. 357 ff.). Von neuen Platten sind Thomas' „Sandoll-
platten“ zu nennen, die mit mehreren über einander liegenden, verschieden
empfindlichen Bromsilbergelatineschichten überzogen sind. Hierdurch wird die
Bildung von Lichthöfen durch zu stark erleuchtete Partien des Objekts erfolg-
reich vermieden, überhaupt die schädliche Wirkung der Ueberexposition viel
besser korrigirt, als dies hoi einfachen Platten möglich ist (S. 378). Eine sehr
eingehende Uebersioht über die Wirkung und Anwendung der modernen Ent-
wickler (S. 405) dürfte sehr willkommen sein; dieselbe ist bis auf die neuesten
Errungenschaften durchgeführt Gleiche Uebersichten finden sich über Photo-
graphie in natürlichen Farben (S. 426), über Diapositive (S. 439), über Kopir-
verfahren (S. 451), über Ton- und Tonfixirbäder (S. 454) und diverse Verviel-
faltigungsverfahren. — Eine ganze Reihe von Kunst beilagen schliefst das
Jahrbuch und trägt, neben dem gediegenen Inhalt desselben, dazu bei, es als
die empfehlensw'ertheste Anschaffung für den Fachmann wrio den Amateur
erscheinen zu lassen. Dr. L.
Die Quadratur des Kreises. Von Dr. Andr. Ozegow'ski. Ostrowo 1893.
14 S. 8« und 1 Tafel.
Die Quadratur des Kreises ist entdeckt die mathematische Wissenschaft
mufs von Grund auf reformirt werden, so schwer es ihr auch werden mag, die
Wahrheit gegen lange verfochtene Irrthtimer einzutauschon ! Leider hat der
Verfasser — einer von den vielen Weltverbesserern und -Beglückern — sein
Opus unter den Nachdruckparagraphen gestellt, sonst w’ürden wir unseren
Lesern die neu gefundenen Wahrheiten nicht vorzuenthalten brauchen. Unter
diesen Umständen müssen wir uns aber mit der Anführung begnügen, dafs der
Autor nur mit grofsem Widerstreben „seine Arbeit, die bei Gott nicht leicht
w’ar“, den Gelehrten zur Prüfung vorlegt, aber in demselben Athemzuge ver-
sichert, dafs das Urtheil des Lesers lauten werde: „Die Sache ist ja kinder-
leicht!“ Jedenfalls ist durch vorliegende Arbeit — wenn auch nur nach An-
sicht ihres Urhebers — die Irrationalzahl r ein für alle Mal aus der Welt ge-
schafft und kann nach Belieben durch die Zahlen 3 und 5P/i ersetzt werden.
Sapienti sat! G. W.
Untersuchungen über die Bahn des O Iberischen Kometen. Von F. K. Ginzel.
I. Theil. Discussion der Erscheinung des Kometen im Jahre 18S7/88
und Störungen zwischen den Periheldurehgängen 1815 und 1987. —
Berlin 1893. Ford. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung.
Eine frühere Arbeit des Verfassers, welche die erste Erscheinung des
periodischen Olbersschen Kometen im Jahre 1815 diskutirte, wurde s. Z. von
der Holländischen Akademie der Wissenschaften preisgekrönt; die vorliegende
umfassende Untersuchung erstreckt sich auf die Wiedererscheinung im Jahre 1887
und behandelt auf das eingehendste das hierüber vorliegende Beobachtungs-
raaterial. Die ungemein mühsame und langwierige Arbeit ist leider in der
vorliegenden Publikation insofern nicht zu ihrem vollen Recht gekommen, als
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nur das, was zum Verständnifs und zur Beurtheilung der gewählten Unter-
suchungsmethode unerläfßlich schien, im Druck mitgetheilt ist. Sicherlich
wird man aber auch in dieser Form allseitig mit Interesse der weiteren Ver-
öffentlichung der zum Abschluß gebrachten Rechnungen seitens des Verfassers
entgegensehen. G. W.
t
Verzeichnif* der vom 1. Februar 1803 bis 1. August 1893
der Redaktion zur Besprechung eingesandten Bücher.
Augenleuchten, das, und die Erfindung des Augenspiegels. Dargestellt in
Abhandlungen von E. von Brücke, W. Cumming, H. von Helmhoitz und
G. C. Rueto. Mit 12 Abbildungen im Text. Hamburg, L. Voss, 1893.
Balbis Allgemeine Erdbeschreibung. Lieferung 19- -30. Vollkommen neu
bearbeitet von Dr. F. Heiderich. Wien, A. Hartleben, 1893.
Bebber, W. J. van, Katechismus der Meteorologie. 3. Auflage. Mit 63 in den
Text gedruckten Abbildungen. Leipzig, J. J. Weber, 1893.
Brewer, C. E., Katechismus der Naturlehre oder Erklärung der wichtigsten
physikalischen, meteorologischen und chemischen Erscheinungen des
täglichon Lebens. 4. Auflage. Mit 53 in den Text gedruckten Figuren-
abbildungen. Leipzig, J. J. Weber, 1893.
Das akademische Berlin, Sommerhalbjahr 1893. Mayer & Müller, Berlin, 1893.
Dun6r, N. C., Sur les ('•loments de l’6toile variable Y Cygni. Stockholm, 1893.
Eder, J. M., Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik für das
Jahr 1893. 7. Jahrgang mit 145 Holzschnitten und Zinkotypien im Texte
und 34 artistischen Tafeln. Halle a. S., W. Knapp, 1893.
Ern ecke, F., Preisliste No. 11 über physikalische Apparate. Berlin, 1893.
Faulmann, K., Im Reiche des Geistes, lllustrirto Geschichte der Wissen-
schaften. Mit 13 Tafeln, 30 Beilagen und 200 Textabbildungen. 1. Lieferung.
Wien, A. Hartleben, 1893.
Feichtinger, A. v., Praktische Tabellen für Touristen, um die Seehöhen
mittelst Barometer an Ort und Stelle ohne Berechnung zu bestimmen.
Fiume, C. Spiess, 1893.
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Verlag von Hermann Paetel ln Berlin. — Druck von Wilhelm Gronau'» Buchdruekerei in Berlin.
Für die Kedaction verantwortlich: Dr. M. Wilhelm Meyer in Berlin.
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