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Full text of "Himmel und Erde"

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Himmel  und  Erde. 

Illustrirte  naturwissenschaftliche  Monatsschrift. 


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Himmel  und  Erde, 

Illustrirte  - 

naturwissenschaftliche  Monatsschrift 


Herausgegeben 

von  der 

GESELLSCHAFT  URANIA  ZU  BERLIN. 

Redacteur:  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 


V.  Jahrgang. 


BERLIN. 

Verlag  von  Hermann  Paetel. 
18»3. 


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Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Uebersetzungsrecht  Vorbehalten. 


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Verzeichnifs  der  Mitarbeiter 


.Himmel  und  Erde**. 


Barnard,  Prot  E.  E.,  Observator  der 
Lick  Sternwarte,  Mount  Hamilton, 
Californien  89. 

Bebber,  Prot  Dr.  J.  W.  van,  Ab- 
theilungsvorstand der  Seewarte  in 
Hamburg  67. 

Herold,  Prof.  Dr.  W.  von,  Direktor 
deg  Meteorologischen  Institute  in 
Berlin  1. 

Braunmiihl,  Prot  Dr.  von,  in  Mün- 
chen 493,  641. 

Deckert,  Dr.  E.,  in  Waynesville  105. 
170. 

Ginzel  (*),  F.  K.,  Astronom  am  Rechen- 
inatitut  der  Kgl.  Sternwarte  in  Berlin 
94.  96.  143.  184.  186.  187.  200.  228. 
•249. 272. 301. 365.  387. 427, 473. 517. 578. 

Jaensch,  Dr.,  in  Berlin  103. 

Kassner,  Dr.  C.,  Assistent  am  me- 
teorologischen Institut  in  Berlin  348. 

Korber  (Kbr.),  Oberlehrer  Dr.  F.  in 
Berlin  152.  176.  345.  442.  444.  487.  492. 

Koppe  (M.  K.),  Oberlehrer  M.,  in 
Berlin  154. 

Lubarsch,  Dr.  in  Berlin  584. 

Luzi,  Dr.  W.  in  Leipzig  397.  445. 

Meyer  (M.  W.  M,),  Dr.  M.  Wilhelm. 

Direktor  der  Urania  in  Berlin  22.  43. 


45.  46.  49.  81.  103.  142.  2.53.  314.  333. 
380.  410.  440.  459.  505.  .553. 

Riccb,  Prot  A.,  Direktor  des  Obser- 
vatoriums  zu  Catania  31. 

Samter  (Sm,),  Dr.  H.,  in  Berlin  104. 
17&  189.  33L  339.  388.  390.  391.  488. 
529,  534.  577.  581. 

Rottok,  Admiralitätsrat  in  Berlin  205. 
261. 

Scheiner,  Prof.  Dr.  J.,  Astronom  am 
Astrophysikalischen  Observatorium 
in  Potsdam  20.  69.  131. 

Schwahn  (Schw.),  Dr.  P.,  Astrono- 
mischer  Abtheilungsvorstand  der 
Urania  in  Berlin  11.5,  244.  250.  540. 

Spies  (3p),  P.,  Physikalischer  Ab- 
theilungsvorstand  der  Urania  in 
Berlin  147.  203.  236.  296.  346.  532. 

Süring  (Sg.),  Dr.,  am  Meteorolo- 
gischen Observatorium  in  Potsdam 
195.  204.  342.  530.  531. 

Ule,  Dr.  W.,  Privatdozent  in  Halle 
a.  S.  157.  219. 

Volkmann,  Prot  Dr.  P.,  in  Königs- 
berg i.  Pr,  849. 

Witt  (G.  W.),  O.,  Astronom  an  der 
Urania  in  Berlin  ,54.  2.51,  289.  290. 
316.  317.  487.  538.  .586. 


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Inhalt  des  fünften  Bandes. 


Essais. 

Seit«? 

hie  Meteorologie  als  Physik  der  Al  mos  |ihii  r<v  Von  Prof  Dr.  W.  vou  Bezold 

in  Berlin 1 

Die  Astronomie  dea  Insiclit  baren  Von  Prof,  Dr.  J.  Scheiner  in 

, . . . . , . . . . . . „ . . . . . . . . :’Q,  K'l 

Parallelen.  Betrachtungen  über  die  einheitlichen  Züge  im  Xatuigcschehen. 

Von  Dr,  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin . 39.  81 

‘Die  Hitze  im  Angast.  Von  Prof.  Dr.  \V,  J.  Tau  Böbber  in  Hamburg  ■ 37 

‘Ueber  die  Wirkungen  der  Meeresero»ion  an  der  atlantischen  Küste  Nord- 

Amerikas.  Von  Dr.  E.  Deckert  in  Wayneoville 105,  17«) 

‘Ueber  die  gebirgsbildenden  Kräfte,  Vou  Dr.  P.  .Schwalm  in  Berlin  . ■ 113 

‘Land-  and  »Seeklima. Von  Dr.  \V.  Ule  in  Hallo  a.  ri. , , 137.  I 1> 

‘Das  Meer,  seine  Erforschung  nnd  deren  Ergebnisse  Von  Admiralilillorath 

Hottok  in  Berlin  . . . . . 'JM'».  2(11 

Wie  haben  unsere  Voreltern  gerechnet?  Von  F,  K.  Pinsel  in  Berlin  -JH.  272 
‘Kine  Amerikafahrt  Mita  nnd  1M12.  Von  Dr.  M.  Wilhelm  Mover  in 

Berlin . . . . . 233.  1114.  38‘> 

‘Die  Knlstchnng  der  Welt  naeh  den  Ansichten  vnn  Kant  bis  anf  die  (legen- 

»an. Von  F.  K,  1-1 1 n z '■  I in  Berlin „ , , ■ 301.  3Ü5.  4-'".  473.  517,  3il3 

Mafs  nnd  Messen.  Von  Prof,  P,  Volk  mann  in  Königsberg  i Pr.  . . . 343 

‘Ueber  den  Diamant.  Von  Dr,  W.  Luzi  in  Leipzig 3!>7.  443 

‘Die  physische  Beschaffenheit  des  Planelen  Mars  naeh  dem  Zengnifs 
seiner  hervorragendsten  Beobachter.  Von  I>r.  M.  Wilhelm  Meyer  in 

Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 4R'.  13!'-  ■'»(?■>,  333 

‘üalileo  (lolilei.  Von  Prof.  Dr.  von  Braunmühl  in  München  . . 41)3.  341 


Mittheilungen. 


' Photographie  nnd  Mondlorschung.  Von  G,  Witt  in  Berlin  38 

Ueber  Marsbeobachlungen  während  der  Jahre  ISS.'1-ISSS.  Von  Dr.  F.  Korber 

in  Berlin . 41 

Einige  Neuigkeiten  vom  Mars.  Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin  . 43 

Polariskopisrhe  Beobachtung  der  VennsoberÜüche.  Von  Dr.  M.  Wilhelm 

Mer  er  in  Berlin 4> 

Die  astroiipinmliefl  Ilmchen  der  Eiairit. Von  .Dr..  M,  w.iiheini  Mntr 

in  Berlin  ■ tfi 

‘Die  Schiffe  des  Colnmbns.  Von  Dr.  M.  Wilhelm  Merer  in  Berlin  . . 4!' 

‘Der  gegenwärtige  Ansbrnch  des  Aetna  Von  Prof.  A.  Riech  in  Catania  . 30 

Noch  einmal  der  neue  Stern  im  Fuhrmann 3.; 

Neu  entdeckter  Komet 3:; 


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VIII 


Inhalt. 


Seit» 

Die  Kntdecknng  eines  fünften  Jnpitemtcllitcn 53 

•Das  Oknlarende  de»  grofsen  36  zölligen  Refraktor«  der  Lick-Sternwarte.  Von 

Prof.  E.  E.  Barnard,  Mount  Hamilton 89 

Photographin  der  Sonnenfaekeln,  Protnberanzen  and  der  Chromosphäre.  Von 

F.  K.  Ginzel  in  Berlin . . . . , . , . ■ ■ , . , . . . , , , 24 

Zar  Beobachtung  der  totalen  Sonnenfinsternis  am  16.  April  1896.  Von 

F.  K.  Ginzel  in  Berlin 96 

Ueher  Kfiltcerteagnag  nnd  einige  Experimente  hei  tiefen  Temperatnren  . . 97 

Abermals  ein  nener  Komet . . . . . . . . . . . . . . . Lü2 

Der  fünfte  Jupiteraond.  Von  Pr,  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin  ■ , ■ 142 

Die  Ursachen  des  nenen  Sterns  im  Pnhrmann.  Von  F.  K.  Ginzel  in  Berlin llj 

l'eher  nenere  Strahlenmessnngen.  Von  P.  Spiee  in  Berlin 147 

Xene  Kometen  . . . . . . . . . . „ . . . . . . . . . . . . , 151 

'Lewis  Morris  Rnlherfnrd. Von  llr.  F.  Kiirhrr  in  Berlin . . . . . . 116 

Von  der  achten  Sphäre.  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin 178 

Photographische  F.ntdecknng  von  Planeten.  Von  F.  K.  Ginzel  in  Berlin  . 18t 
lieber  die  Verdoppelnng  der  Marskaniile.  Von  F,  K.  Ginzel  in  Berlin.  , 185 

•Der  Komet  Holmes.  Von  F,  K.  Ginzel  in  Berlin ■ . . . 131 

*Znr  Physik  der  Atmosphäre,  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin 189 

Die  meteorologischen  Aufzeichnnngen  auf  dem  Eiffeltharme.  Von  Dr.  Siiring 

in  Potsdam , , . . , , . . , . . , 125 

Die  Yereinigaag  von  Fremden  der  Astronomie  nnd  kosmischen  Physik  ■ . 197 

'Werner  von  Siemens.  Von  P.  Spie«  in  Berlin 236 

Ohservateriiim  anf  dem  Montblanc. Von  F.  K.  G i n z o l in -Berlin . . 212 

‘Die  Katastrophe  von  Saint  tlervais.  Von  Dr,  P.  Schwalm  in  Berlin  . . 211 

Abermals  der  Komet  Holmes Von  G.  Witt  in  Berlin . . 282 

‘Zer  Selenographie.  Von  G.  Witt  in  Berlin 290 

Von  der  Pariser  Akademie  ertheiltc  Preise 29.5 

lieber  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  Hertzscher  Wellen.  Von  P.  Spiea 

in  Berlin . . . , . . . . . . . . . , . . . , . . . . . . 226 

Sonnentlecke  nnd  magnetische  Erscheinungen.  Von  Dr.  H,  Samter  in  Berlin  .931 
l'eber  die  Kingbildnng  als  AaHösungsprozefs.  Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer 

in  Berlin . . . , . . 533 

Die  Katfernnng  der  Fixsterne.  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin 339 

Der  Wünneanstansch  an  der  Erdoberfläche  nnd  in  der  Atmosphäre.  Von  Dr. 

Süring  in  Potsdam 342 

Vergriissernng  des  Erdschattens  bei  Mondfinsternissen,  Von  F.  K.  Ginzel 

in  Berlin  , , . . , , . . . . . . . . , , . . 331 

Zwei  Riesenfernrohre. Von  Dr.  H.  8amter  in  Berlin , , , , . , . . 388 

Vom  Elmsfeuer..  Yim  Dr.  H.  Samter  in. -Berlin.. , , , , , , , , 22Ü 

Heber  Wasserfallelektrizität.  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin  . . ■ . . , 391 

Berichtigung  zu  dem  Artikel  „lieber  die  Ringbildung  als  AuHüsangsprozefs“. 

Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin 440 

Znr  Krage  nach  der  Hotationsdaner  der  Venns.  Von  Dr.  F.  Korber  in  Berlin  412 

Der  Finlaysehe  Komet.  Von  G,  Witt  in  Berlin 487 

Anfsteigendes  Meteor.  Von  Dr.  F.  Korber  in  Berlin 187 

‘ Heber  die  veränderlichen  Sterne.  Von  Dr,  H,  Samter  in  Berlin  ....  188 
Bringt  die  Sonne  magnetische  Stürme  hervor?  Von  Dr,  H.  Samter  in  Berlin  529 

Wilternngs-Tvpen  in  Australien,  Von  Dr.  Süring  in  Potsdam ö.W 

Treibeis  in  südlichen  Breiten.  Von  Dr.  Süring  in  Potsdam 531 

Neaes  über  den  elektrischen  Lichtbogen.  Von  P.  Bpi  es  in  Berlin  . . . 332 


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Inhalt. 


IX 


Seite 

'Da«  Gesetz  der  Transformation  der  Knochen.  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin  534 

l'eher  E.  E.  Barnards  Lebensgang 637 

Der  Lnftmangel  des  Monden  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin 577 

Die  Srhmldtsche  Sonnentheorie.  Von  F.  K.  Ginzel  in  Berlin 578 

Die  Erwärmung  der  Pflanzenblätter.  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin  ...  581 

Bibliographisches. 

Robert  Stawell  Ball,  The  story  of  the  heavens.  Besprochen  von  G.  Witt 
in  Rerlin  . 54 

A.  Peter,  Wandtafeln  zur  Systematik,  Morphologie  und  Biologi c der  Pflanzen 
flr  Universitäten  nnd  Scholen.  Besprochen  von  Dr.  Jaensch  in  Berlin  103 
H.  Schneider.  Gegen  Falhs  kritische  Tage.  Besprochen  von  Dr.  M.  Wilhelm 

Meyer  in  Berlin 103 

Adrian  Balbis  allgemeine  Erdbesehreihnng  nnd  A.  Hartlebens  kleiner  Handatlas 
über  alle  Theile  der  Erde.  Besprochen  ron  Dr.  H.  Samter  in  Berlin  ■ ICH 
Lamberts  Photometrie.  Besprochen  von  Dr.  F.  KSrher  in  Berlin  ■ ■ , 152 
Kewcomb-Engelmanns  populäre  Astronomie.  Besprochen  von  Dr.  F.  K örber 
in  Berlin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 

ff.  Jansen.  Die  Kreiselbewegnng.  Pntersnchnng  der  Rotation  von  KBrpern, 
welche  in  einem  Pnnkte  oder  garnicht  unterstützt  sind.  Besprochen  von 

Dr.  M.  Koppe  in  Berlin 154 

Moritz  Cantor,  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Mathematik.  Besprochen  Ton 

F-  K.  Ginzel  in  Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2QD 

Felix  Malier,  Zeittafeln  zur  Geschichte  der  Mathematik,  Physik  nnd  Astro- 
nomie bis  znm  Jahre  1500.  Besprochen  von  Dr.  F.  Korber  in  Berlin  . 202 
Gerland,  Geschichte  der  Physik.  Besprochen  von  Dr.  F,  Korber  in  Berlin  202 
J.  G.  Valentin,  Einleitung  in  das  Stadium  der  modernen  Elektrizitätslehre. 

Beaprochen  von  P.  Spies  in  Berlin 203 

G.  Pizzighelli,  Die  Anwendung  der  Photographie.  Dargestellt  für  Amatenre 

nnd  Tonristen.  Besprochen  von  Dr.  Siiring  in  Potsdam 204 

Die  Forsehnngareise  8.  M.  S.  „Gazelle“  in  den  Jahren  1874  bis  1877  nnter 
dem  Koinmaado  des  Kapitän  znr  See  Freiherrn  von  Schleinitz.  Beaprochen 

von  Dr.  P Sch  wahn  ln  Rcrlin  . , , , . 25Ü 

Mondkarte  in  25  Sektionen  nnd  2 Erlänternngstafeln  von  Wilhelm  Gotthelf 

Lohrmann.  Beaprochen  von  G.  Witt  in  Berlin 251 

Brester,  Theorie  dn  Soleil.  Beaprochen  von  Dr.  F.  Korber  in  Berlin.  . 345 

Annnaire  ponr  l'an  1893  346 

Dr.  v.  Zech,  Aufgaben  aas  der  theoretischen  Mechanik  nebst  AnflSsangen. 

Beaprochen  von  G.  Witt  in  Berlin 346 

Carl  Heim,  Die  Einrichtung  elektrischer  Beleuchtungsanlagen  mit  Gleichstrom- 

betrieb-  Beaprochen  von  P,  Spies  in  Berlin 348 

Wilhelm  Kopske,  Die  photographische  Retonche  in  ihrem  ganzen  Umfange. 

Beaprochen  von  G.  Witt  in  Berlin 347 

Heernes,  M.,  Die  Urgeschichte  des  Mensehen  nach  dem  heutigen  Stande  der 

Wissenschaft  Beaprochen  von  Dr,  C.  Kassner  in  Berlin 348 

Dr.  R.  Lepslns,  Geologie  von  Dentschland  and  den  angrenzenden  Gebieten, 

Band  1.  Besprochen  von  G.  Maas  in  Berlin 394 

Die  Scenerie  der  Alpen.  Von  Dr,  Eberhard  Fraas 335 

Ans  der  Stnrm-  nnd  Drangpcriode  der  F.rde.  Skizzen  aus  der  Kntwickelungs- 
geschichte  unseres  Planeten.  Von  Dr,  Hippolyt  Haas 31)6 


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X 


Inhalt 


Seit« 

Webers  illnstrirte  Katechismen.  Katechismus  der  lieologie.  Von  Dr. 

Hippolyt  Haas 396 

Meyers  Konversations-Lexikon  Heft  1—3.  Besprochen  von  Dr.  F.  Kör  hör 

in  Berlin 444 

Mas  Augenleucbten  nnd  die  Erfindung  des  Augenspiegels.  Dargestellt  in  Ab- 
handlungen von  v.  Brücke,  Cumening,  v.  Helmholtz  und  Hüte.  Be- 
sprochen von  Dr.  F.  Korber  in  Berlin 492 

Wildermann,  Jahrbuch  der  Naturwissenschaften.  Besprochen  von  Dr.  F. 

Korber  in  Berlin 492 

Arthur  Mee,  Observational  Astronomy.  Von  G.  Witt  in  Berlin 538 

F.  Stolze.  Photographische  Bibliothek,  Band  I.  Die  photographische  Ortsbe- 
stimmung ohne  Chronometer 539 

Hammer.  E.,  Zeitbestimmung  (Uhr-Kontrole)  ohne  Instrumente  durch  Be- 
nutzung der  Ergebnisse  einer  Landesvermessung.  Besprochen  von  Dr.  P. 

Sch w ahn  in  Berlin 540 

Eder.  M.,  Jahrbuch  für  Photographie  nnd  iieprodnktionstechnik,  VII.  Jahrgang. 

Besprochen  von  Dr.  Lu  barsch  in  Berlin 584 

Odegowski,  A . Die  Quadratur  des  Kreises 586 

tiinzel.  F.  K.,  Untersuchungen  über  die  Bahn  des  Olberschen  Kometen  . . . 586 
Verzeichnis  der  vom  1.  August  1892  bis  I.  Februar  1893  der  Redaktion  zur 

Besprechung  eingesandten  Bücher  298 

Verzeichnis  der  vom  1.  Februar  bis  1.  August  1893  der  Redaktion  zur  Be- 
sprechung eingesandten  Bücher 587 

Den  mit  oinem  * versehenen  Artikeln  sind  erläuternde  Abbildungen 
beigegeben. 


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Namen-  und  Sachregister 

zum  fünften  Bande. 


Aetna,  der  gegenwärtige  Ausbruch 
des.  Von  Prof.  A.  Ricco  in  Catania  50. 

A merika fahrt,  eine,  1402  und  1802. 
Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  253,  314, 
380. 

Annuaire  pour  Tan  1803.  346. 

Astronomie,  die,  des  Unsichtbaren. 
Von  Prof.  Dr.  J.  Scheinor  in  Potsdam 
20.  60.  131. 

Atmosphäre,  zur  Physik  der.  Von 
Dr.  H.  Sumter  iu  Berlin  180. 

Augenleuchten,  das,  und  die  Er- 
findung des  Augenspiegels.  Darge- 
stellt in  Abhandlungen  von  v.  Brücke, 
Cumening,  v.  Ilelmholtz  und  Rüte  492. 

Bai  bi  s,  A.  Allgemeine  Erdbeschrei- 
bung 104. 

Ball,  Robert  Stawell.  The  story  of  the 
heavens  54. 

Barnards,  über  E.  E., Lebensgang 537. 

Berichtigungzu dem  Artikel:  „Ueber 
die  Ringbildung  als  Auflüsungspro- 
zefs*.  Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer 
in  Berlin  440. 

Brester,  Thöorie  du  Soleil  345. 

Bücher,  Verzeichnis  der  v.  1.  August 
1892  bis  1.  Februar  1803  der  Re- 
daktion zur  Besprechung  einge- 
sandten 298. 

Bücher,  Verzeichnis  der  vom  1.  Fe- 
bruar bis  1.  August  1803  der  Re- 
daktion zur  Besprechung  einge- 
sandten 587. 

Cantor,  Moritz.  Vorlesungen  über 
Geschichte  der  Mathematik  200. 

Colurabus,  die  Schiffe  des.  Von  Dr. 
M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin  40. 

Diamant,  über  den.  Von  Dr.  W.Luzi 
in  Leipzig  307,  445. 

Eder,  M.,  Jahrbuch  für  Photographie 
5*4. 

Eiffelthurm,  die  meteorologischen 


Aufzeichnungen  auf  dem.  Von  Dr. 
Süring  in  Potsdam  195. 

Eiszeit,  die  astronomischen  Ursachen 
der.  Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in 
Berlin  4G. 

Elmsfouer,  vom.  Von  Dr. II.  Samter 
In  Berlin  390. 

Erdschattens,  Vergrössorung  des, 
hei  Mondfinsternissen.  Von  F.  K. 
Ginzel  in  Berlin  387. 

Fixsterne,  die  Entfernung  der.  Von 
Dr.  H.  Samter  in  Berlin  339. 

Fr  aas,  E.  Die  Sccnerie  der  Alpen  305. 

Galileo  Galilei.  Von  Prof.  Dr.  von 
Braunmühl  in  München  493,  541. 

Gazelle,  die  Forschungsreise  S.  M.  S., 
in  den  Jahren  1874  — 1877  unter  dem 
Kommando  des  Kapitän  zur  See 
Freiherrn  von  Schleinitz  250. 

Gebirgs  bildenden  Kräfte,  über  die. 
Von  Dr.  P.  Schwahn  in  Berlin  115. 

Gerl  and,  Geschichte  der  Physik  202. 

Ginzel,  F.  K.,  ülberscho  Komet  586. 

Hartlebens  kloiner  Handatlas  über 
alle  Theile  der  Erde  104. 

II aas,  H.  Aus  der  Sturm-  und  Drang- 
periode der  Erde.  Skizzen  aus  der 
Entwickelungsgeschichte  unseres 
Planeten  30G. 

Haas,  H.  Katechismus  der  Geologie. 
Webers  illustrirto  Katechismen.  39G. 

Hammer,  E.  Zeitbestimmung  (Uhr- 
Kontrolc)  ohne  Instrumente  durch 
Benutzung  der  Ergebnisse  einer 
Landesvermessung  .540. 

Heim,  Carl.  Eie  Einrichtung  elek- 
trischer Beleuchtungsanlagen  mit 
Gleichstrombetrieb  346. 

Hertz  sc  her  Wellen,  über  die  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit. Von  P* 
Spies  in  Berlin  296. 


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XII 


Inhalt. 


Hitze,  die, im  August  1811*2.  Von  Prof. 
Dr.  van  Bebber  in  Hamburg  57. 

Hoorn  es,  M.  Die  Urgeschichte  des 
Menschen  nach  dem  heutigen  Stande 
der  Wissenschaft  348. 

Jansen,  W.  Die  Kreiselbewegung  154. 

Jupitermond,  der  fünfte.  Von  Dr. 
M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin  142. 

Jupitersatelliten,  die  Entdeckung 
eines  fünften  53. 

Kälteerzeugung,  über,  und  einige 
Experimente  bei  tiefen  Temperaturen 
97. 

Knochen,  Gesetz  der  Transformation 
der.  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin  534. 

Komet,  abermals  ein  neuer  10*2. 

Komet  Holmes,  abermals  der.  Von 
G.  Witt  in  Berlin  289. 

Komet,  der  Finlaysche.  Von  G.  Witt 
in  Berlin  487. 

Komet  Holmes.  Von  F.  K.  Ginzel 
in  Berlin  187. 

Kometen,  neue  151. 

Komet,  neuentdeckter  53. 

Kopeke,  W.  Die  photographische 
Retouche  in  ihrem  ganzen  Umfange 
347. 

Lamberts  Photometrie  152. 

Land-  und  Seeklima.  Von  Dr.  W. 
Ule  in  Halle  a.  S.  157,  219. 

Lepsius,  R.  Geologie  von  Deutsch- 
land und  den  angrenzenden  Ge- 
bieten 394. 

Lichtbogen,  neues  über  den  elek- 
trischen. Von  P.  Spies  in  Berlin  532. 

Mafs  und  Messen.  Von  Prof.  P. 
Volkmann  in  Königsberg  i.  Pr.  349. 

Marsbeobachtungen,  ü ber,  während 
der  Jahre  1883—1888.  Von  Dr.  F. 
Korber  in  Berlin  41. 

Mars,  einige  Neuigkeiten  vom.  Von 
Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin  43. 

Marskanäle,  über  die  Verdoppelung 
der.  Von  F.  K.  Ginzel  in  Berlin  185. 

Mars,  über  die  physische  Beschaffen- 
heit des  Planeten,  nach  dem  Zeug- 
nifs  seiner  hervorragendsten  Beob- 
achter. Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer 
in  Berlin  410,  459,  505,  553. 

Mee,  Arthur.  Observation&l  Astro- 
nomy  538. 

Meer,  das,  seine  Erforschung  und 


deren  Ergebnisse.  Von  Admiralitäts- 
rath Rottok  in  Berlin  205,  261. 

Meereserosion,  über  die  Wirkungen 
der,  an  der  atlantischen  Küste  Nord- 
Amerikas.  Von  Dr.  E.  Deckert  in 
Wavnesville  105,  170. 

Meteor,  aufsteigendes.  Von  Dr.  F. 
Korber  in  Berlin  487. 

Meteorologie,  die,  als  Physik  der 
Atmosphäre.  Von  Prot  W.  von 
Bezold  in  Berlin  1. 

Meyers  Konversations-Lexicon  444. 

Mond  karte  in  *25  Sektionen  und  zwei 
Erläuterungstafeln.  Von  W.  G.  Lohr- 
mann 251. 

Montblanc,  Observatorium  auf  dem. 
Von  F.  K.  Ginzel  in  Berlin  24*2. 

Ne  wcomb  - Engelm  an  n,  Populäre 
Astronomie  152. 

Ocularende,  das,  des  grofsen 
36 -zölligen  Refraktors  der  Lick- 
Stem warte.  Von  Prof.  E.  E.  Barnard, 
Mount  Hamilton  89. 

Ozegowski,  A.,  Die  Quadratur  des 
Kreises  .‘>86. 

Parallelen.  Betrachtungen  über  die 
einheitlichen  Züge  im  Naturge- 
schehen. Von  Dr.  M.  Wilhelm 
Meyer  in  Berlin  29,  81. 

Peter,  A.  Wandtafel  zur  Systematik, 
Morphologie  und  Biologie  der 
Pflanzen  für  Universitäten  und 
Schulen  103. 

Pizzighelli,  G.  Die  Anwendungen 
der  Photographie.  Dargestellt  für 
Amateure  und  Touristen  204. 

Planeten,  photographische  Ent- 
deckung von.  Von  F.  K.  Ginzel  in 
Berlin  184. 

Photographie  und  Mondforschung. 
Von  G.  Witt  in  Berlin  38. 

Preise,  von  der  Pariser  Akademie 
ertheilte  295. 

Riesenfernrohrc,  zwei.  Von  Dr. 
H.  Samter  in  Berlin  3S8. 

Ringbildung,  über  die,  als  Auf- 
lösungsprozefs.  Von  Dr.  M.  Wilhelm 
Meyer  in  Berlin  333. 

Rutherfurd,  Lewis,  Morris.  Von  Dr. 
F.  Korber  in  Berlin  176. 

Saint  Gervais,  die  Katastropho  von. 
Von  Dr.  P.  Schwahn  in  Berlin  244. 


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Inhalt 


XIII 


Schneider,  H.  Gegen  Falbs  kritische 
Tage  103. 

Sclenographie,  zur.  Von  G.  Witt 
in  Berlin  290. 

Siemens,  Werner  von.  Von  P.  Spies 
in  Berlin  236. 

Sonnenfackeln,  Protuberanzen  und 
Chromosphäre,  Photrographie  der. 
Von  F.  K.  Ginzel  in  Berlin  94. 

Sonuenflecke  und  magnetische  Er- 
scheinungen. Von  Dr.  H.  Samter  in 
Berlin  331. 

Sonnen  fin  ster  nifs,zur  Beobachtung 
der  totalen,  am  16.  April  1893.  Von 
F.  K.  Ginzel  in  Berlin  96. 

Sphäre,  von  der  achten.  Von  Dr. 
H.  Samter  in  Berlin  178. 

Sterns,  die  Ursachen  des  neuen,  im 
Fuhrmann.  Von  F.  K.  Ginzel  in 
Berlin  145. 

Stern,  noch  einmal  der  neue,  im 
Fuhrmann  53. 

Sterne,  über  die  veränderlichen.  Von 
Dr.  H.  Samter  in  Berlin  488. 

S t o 1 z e , F.  Photographische  Bibliothek. 
Band  I.  Die  photographische  Orts- 
bestimmung ohne  Chronometer  539. 

Strahlenmessungen,  über  neuere. 
Von  P.  Spies  in  Berlin  147. 

Stürme,  bringt  die  Sonne  magnetische, 


hervor?  Von  Dr.  H.  Samter  in  Berlin 
529. 

Treibeis  in  südlichen  Breiten.  Von 
Dr.  Süring  in  Potsdam  531. 

Vereinigung,  die,  von  Freunden  der 
Astronomie  und  kosmischen  Physik 
197. 

Ve  nus,  zur  Frage  nach  der  Rotations- 
dauer der.  Von  Dr.  F.  Korber  in 
Berlin  442. 

Wärmeaustausch,  der,  an  der  Erd- 
oberfläche und  in  der  Atmosphäre. 
Von  Dr.  Süring  in  Potsdam  342. 

W a 1 1 e n t i n , Einleitung  in  das  Studium 
der  modernen  Elektrizitätslehre  203. 

Wasserfallelektrizität,  über.  Von 
Dr.  H.  Samter  in  Berlin  391. 

Wie  haben  unsere  Voreltern  ge- 
rechnet? Von  F.  K.  Ginzel  in 
Berlin  228,  272. 

Welt,  die  Entstehung  der,  nach  den 
Ansichten  von  Kant  bis  auf  die 
Gegenwart  Von  F.  K.  Ginzel  in 
Berlin  301,  365,  427,  473,  517,  565. 

Wilderraann,  Jahrbuch  der  Natur- 
wissenschaften 492. 

Witterungs-Typen  in  Australien 
Von  Dr.  Süring  in  Potsdam  530. 

Zech,  von,  Aufgaben  aus  der  theore- 
tischen Mechanik  nebst  Auflösungen 
346. 


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Beilage  zu  Himmel  und  Erde  V.  Jahrg.  Heft 


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Die  Schiffe  des  Columbus.  Gezeichnet  von  H.  Harder. 


Die  Meteorologie  als  Physik  der  Atmosphäre. 

Von  Wilkelin  von  Bezold.*) 

8is  zu  der  Mitte  unseres  Jahrhunderts  ruhte  die  Meteorologie  iin 
wesentlichen  auf  geographisch  - statistischer  (Grundlage,  und  die 
Arbeiten  eines  Alexander  von  Humboldt,  eines  Dove  und 
Anderer  gelten  weit  mehr  der  Erforschung  des  Klimas,  als  der  eigent- 
lichen Witterungskunde. 

Erst  als  man  in  den  fünfziger  Jahren  anfing,  sich  von  der  bis 
dahin  beinahe  ausschliefslich  gepflegten  Betrachtung  der  Mittelwerthe 
frei  zu  machen  und  den  Zustand  der  Atmosphäre  für  bestimmte,  in 
gleichen  Intervallen  aufeinanderfolgende  Zeitpunkte  ins  Auge  zu  fassen 
und  in  den  sogenannten  Wetterkarten  festzuhalten,  konnte  man  das 
Wetter  im  strengen  Sinne  des  Wortes  zum  Gegenstände  des  Studiums 
machen,  und  erst  von  dieser  Zeit  an  trägt  die  Meteorologie,  die  früher 
vorzugsweise  nur  Klimatologie  war,  ihren  Namen  mit  vollem  Recht. 

Diese  veränderte  Auffassung  wies  aber  mit  Nothwendigkeit  auf 
eine  eingehendere  und  strengere  Untersuchung  der  atmosphärischen 
Vorgänge  hin,  als  sie  früher  überhaupt  möglich  war;  sie  drängte  dahin, 
die  Sätze  der  allgemeinen  Mechanik  sowie  der  Thermodynamik  (mecha- 
nische Wärmethoorio)  auf  meteorologische  Problemo  anzuwenden. 

So  entwickelte  sich  ein  neues  Gebiet  der  Forschung,  welches 
in  Amerika,  wo  diese  neue  Richtung,  dank  den  bahnbrechenden  Arbeiten 
des  erst  vor  einem  Jahre  verstorbenen  hochverdienten  WilliamFerrel, 
ihre  Heimath  hatte,  mit  dem  Namen  der  „dynamischen  Meteorologie“ 

*)  Nach  seinem  am  7.  Juni  1892  auf  der  VI.  Allgemeinen  Versammlung 
der  Deutschen  Meteorologischen  Gesellschaft  in  Braunschweig  gehaltenen  Vor- 
trag für  .Himmel  und  Erde“  bearbeitet. 

Himmel  und  Erde.  1888.  V.  1.  1 


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2 

belegt  wurde,  das  man  jedoch  besser  kurzweg  als  „theoretische  Meteo- 
rologie“ bezeichnen  kann. 

Während  hierbei  europäische  Forscher,  wie  Reye,  Hann,Guld- 
berg,  Mohn  u.  s.  w.  erst  allmählich  mit  auf  den  Kampfplatz  traten, 
nehmen  derartige  Untersuchungen  in  den  Schriften  der  Gegenwart  von 
Jahr  zu  Jahr  breiteren  Raum  ein. 

Dies  mag  zum  Theil  dem  Umstande  zuzuschreiben  sein,  dals  das 
im  Jahre  1886  erschienene  Lehrbuch  der  Meteorologie  von  Sprung 
die  bis  dahin  verstreuten  und  nur  schwer  zugänglichen  Arbeiten  der 
genannten  Gelehrten  erst  weiteren  Kreisen  zur  Kenntnifs  brachte,  vor 
allem  aber  dem  allgemeinen  Zuge  unserer  Zeit,  die  streng  mathe- 
matisch physikalische  Methode  auf  immer  weitere  Kreise  auszudehnen. 

Mit  der  intensiveren  Aufnahme  dieser  Art  der  Betrachtung  ist  aber 
schon  im  Laufe  weniger  Jahre  in  der  Meteorologie  eine  wesentliche 
Aenderung  und  Klärung  unserer  Anschauungen  eingetreten,  die  anderer- 
seits wieder  auf  Reihen  neuer  Fragen  geführt  hat,  deren  glückliche 
Lösung  nur  von  dem  Zusammenwirken  des  Theoretikers  und  des  Be- 
obachters zu  erwarten  ist. 

Es  möge  deshalb  gestattet  sein,  hier  in  Kürze  die  Aufgaben  zu 
schildern,  mit  welchen  sich  die  theoretische  Forschung  im  Augenblicke 
beschäftigt,  und  zugleich  anzudeuten,  welche  neuen  Aufgaben  aus  der 
hierdurch  nicht  unwesentlich  veränderten  Fragestellung  der  beobach- 
tenden Meteorologie  erwachsen. 

Hier  ist  es  nun  vor  allem  ein  Funkt,  der  die  Aufmerksamkeit 
gegenwärtig  ganz  besonders  in  Anspruch  nimmt:  „die  Lehre  von  der 
allgemeinen  Zirkulation  der  Atmosphäre.“ 

Wie  bekannt,  hatte  man  sich  von  dieser  allgemeinen  Zirkulation 
früher  eine  höchst  einfache  Vorstellung  gebildet 

Man  glaubte  das  Schema  von  einem  unteren  nach  dem  Aequator 
und  einem  oberen  nach  den  Polen  hinfliefsenden  Strome,  wie  man  es 
in  den  Gebieten  der  tropischen  Meere  innerhalb  der  Passatregion 
hatte  kennen  lernen,  einfaoh  auf  die  ganze  Atmosphäre  übertragen  zu 
dürfen  und  erblickte  in  der  Lehre  von  einem  Aequatorial-  und  einem 
Polarstrome  den  Schlüssel  zur  Erklärung  der  gesamten  Witterungser- 
scheinungen. 

Als  man  aber  damit  begonnen  hatte,  Wetterkarten  zu  zeichnen, 
und  aus  ihnen  ersah,  dafs  die  sogenannte  Passattheorie  wenigstens  für 
mittlere  und  höhere  Breiten  nicht  ausreichend  sei,  sondern  dafs  es 
vielmehr  die  Entstehung  und  Fortbewegung  von  Gebieten  tieferen  und 
höheren  Luftdruckes,  der  sogenannten  barometrischen  Minima  und 


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3 


Maxima  seien,  welche  den  Charakter  des  Wetters  bedingen,  da  warf 
man  die  alte  Lehre  beiseite  und  wendete  sich  mit  aller  Kraft  der  Er- 
forschung der  Vorgänge  in  diesen  Gebilden  zu. 

Man  erkannte,  dafs  die  barometrischen  Minitna  oder  Depressionen, 
die  man  wegen  der  Art,  wie  sie  von  dem  Winde  umkreist  werden, 
und  die  im  wesentlichen  mit  jener  der  eigentlichen  Wirbelstürme  zu- 
sammenfällt, auch  Cyklonen  nennt,  Gebiete  aufsteigenden  Luftstromes 
seien,  während  man  es  umgekehrt  in  den  Gebieten  hohen  Luftdrucks, 
den  sogenannten  Maxima  oder  Anticyklonen,  mit  einem  absteigenden 
Strome  zu  thun  hat. 

Zugleich  fand  die  Eigentümlichkeit,  dafs  die  Depressionen  die 
Träger  trüben,  niederschlagsreichen  Wetters  sind,  während  in  den 
Anticyklonen  der  Himmel  heiter  und  die  Luft  — abgesehen  von  den 
zur  kalten  Tages-  und  Jahreszeit  auftretenden  Nebeln  in  den  tiefsten 
Schichten  derselben  — trocken  ist,  ihre  einfache  und  naturgemäße 
Erklärung  in  dem  auf-  oder  absteigenden  Strome,  wie  man  dies  duroh 
die  Anwendung  der  mechanischen  Wärmetheorie  auf  die  Föhnersohei- 
nungen  hatte  kennen  lernen. 

Da  sich  aufserdem  zeigte,  dafs  die  Cyklonen  mit  Vorliebe  relativ 
warme  Gebiete  aufsuchen,  während  sich  die  barometrischen  Maxima 
vorzugsweise  über  verhältnifsmäfsig  kühler  Unterlage  entwickeln,  also 
im  Sommer  über  den  Meeren,  im  Winter  über  den  Festländern,  ins- 
besondere über  dem  grofsen  nordasiatischen  Kontinent,  so  lag  nichts 
naher  als  der  Gedanke,  den  Grund  dieser  Erscheinungen  einfach  in 
den  lokalen  Erwärmungen  und  Abkühlungen  zu  suchen. 

Thatsächlich  hatte  es  auch  bis  vor  kurzem  den  Ansohein,  als  ob 
solche  lokale  Erwärmung  über  einzelnen  Theilen  der  Erdoberfläche  im 
Vereine  mit  reichlicher  Feuchtigkeit,  sowie  Abkühlung  an  anderen 
Stellen  unter  Mitwirkung  der  ablenkenden  Kraft  der  Erdrotation  voll- 
kommen ausreichend  seien,  um  die  Entstehung  der  Cyklonen  und  Anti- 
cyklonen zu  erklären,  während  man  in  dem  Nachströraen  wärmerer 
Luft  an  der  einen  Seite  der  Cyklone  den  Grund  für  die  eigenartige 
Fortpflanzung  des  ganzen  Gebildes  erblickte. 

Dem  Ausbau  dieser  Lehre,  der  sogenannten  Konvektionstheorie, 
war  die  Forschung  während  der  letzten  Jahrzehnte  vorzugsweise  ge- 
widmet, und  insbesondere  waren  es  die  Cyklonen,  die  man  stets  als 
das  dominirende  Element  betrachtete  — spricht  man  doch  in  jedem 
Wetterbericht  vor  allem  von  der  Lage  und  dem  Weiterschreiten  der 
Depressionen  — , auf  welche  Ferrel  zuerst  die  Hiilfsmittel  der  mathe- 
matischen Analysis  anwandte. 

I* 


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4 


Freilich  handelte  es  sich  hierbei  um  aufserordentlich  schwierige 
und  verwickelte  Aufgaben,  an  deren  Lösung  man  nur  unter  verein- 
fachenden Voraussetzungen  herantreten  konnte. 

Indem  man  aber  die  Cyklone  als  ein  gegebenes  Gebilde  be- 
trachtete und  sich  darauf  beschränkte,  die  Bedingungen  zu  erforschen, 
welche  zu  deren  Fortbestehen  beziehungsweise  zu  der  fortgesetzten 
Neubildung,  sowie  zu  der  gleichförmigen  Fortbewegung  erfüllt  sein 
müssen,  indem  man  ferner  sowohl  die  Bewegungsvorgänge  als  auch 
die  thermischen  für  sich  allein  betrachtete,  gelang  es,  Reihen  wich- 
tiger Sätze  aufzustellen. 

So  gab  man  sich  noch  vor  wenigen  Jahren  der  Meinung  hin, 
als  ob  man  in  diesem  Zweige  der  Wissenschaft  wenn  auch  nicht  im 
Einzelnen,  so  doch  der  Hauptsache  nach  zu  einem  gewissen  Absohlufs 
gekommen  sei  und  es  sich  nur  darum  handle,  den  zu  Grunde  liegen- 
den Gedanken  mehr  und  mehr  zu  verfolgen  und  auszubauen. 

Freilich  gab  es  immer  noch  eine  gewichtige  Frage,  auf  welche 
die  Konvektionstheorie  die  Antwort  schuldig  blieb.  Wenn  sich  nämlich 
auch  die  Thatsache,  dafs  die  Depressionen  im  allgemeinen  ganz  be- 
stimmte Wege  einschlagen,  ungezwungen  mit  ihren  Anschauungen  ver- 
einigen liefs,  so  blieb  doch  das  fortgesetzte  Entstehen  neuer  Cy klonen 
nach  ziemlich  gleichen  Zeiträumen  völlig  unerklärt. 

Wenn  dies  aber  auch  ein  Mangel  war,  so  konnte  er  doch  nicht 
als  ein  Einwurf  gegen  die  Richtigkeit  der  ganzen  Theorie  angesehen 
werden,  da  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen  war,  dafs  irgend  eine 
neue  Beobachtung  oder  auch  ein  glücklicher  Einfall  die  Lösung  des 
Räthsels  bringen  würde. 

Dagegen  haben  seit  einigen  Jahren  die  an  den  Hochstationen 
gewonnenen  Ergebnisse,  und  zwar  vor  allem  die  von  Hann  in  Wien 
meisterhaft  bearbeiteten  Beobachtungen  vom  Sonnblick  in  den  hohen 
Tauern  (3100  m Meereshöhe),  tatsächlich  gewichtige  Einwände  gegen 
die  vollkommene  Zulänglichkeit  der  bisher  angenommenen  Lehre  an 
den  Tag  gefördert. 

Sollen  nämlich  die  Luftverdünnung,  wie  sie  sich  in  dem  niedrigen 
Stande  des  Barometers  im  Innern  der  Cyklone  kundgiebt,  oder  die  Luft- 
verdichtung im  Innorn  der  Anticyklono  tatsächlich  die  ersten  Ursachen 
der  Erscheinungen  sein,  die  dann  erst  das  Auf-  oder  Absteigen  der 
Luft  in  diesen  Räumen  zur  Folge  haben  und  damit  die  Gesamtheit 
der  in  diesen  Gebilden  beobachteten  Vorgänge,  dann  mufs  unbedingt 
die  Luftsäule  in  der  Cyklone  eine  höhere  Temperatur  besitzen  als  in 
der  Anticyklone. 


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5 


Ist  dies  aber  nicht  der  Fall,  dann  mufs  die  Luftverdünnung  im 
Innern  der  Depression  eine  Folge  der  Wirbelbewegung  sein  und  nicht 
diese  Bewegung  Folge  der  Verdünnung,  dann  mufs  es  sich  vielmehr 
ähnlich  verhalten  wie  bei  einem  Centrifugalgebläse,  bei  welchem  durch 
die  Rotation  die  Luft  ringsum  hinausgeschleudert  und  dadurch  im  Innern 
eine  Verdünnung  und  somit  ein  Xachsaugen  hervorgebracht  wird. 

So  lange  man  nur  Beobachtungen  aus  tiefer  liegenden  Schichten, 
also  die  Beobachtungen  der  gewöhnlichen  meteorologischen  Stationen 
zu  Käthe  zog,  schienen  die  ersterwähnten  Bedingungen  erfüllt,  da, 
wie  schon  bemerkt,  die  Cy  klonen  im  allgemeinen  verhältnifsmäfsig 
warme,  die  Anticyklonen  kalte  Stellen  der  Erdoberfläche  aufsuchen. 

Dagegen  lehren  die  Beobachtungen  der  Hochstationen,  und  vor 
allem  die  auf  dem  Sonnblick  gewonnenen,  dafs  bei  Berücksichtigung 
der  höheren  Schichten  sioh  die  Verhältnisse  häufig  in  das  Gegentheil 
verwandeln  und  dafs  nicht  selten  die  ganze  Luftsäule  im  Innern  der 
Anticyklone,  soweit  sie  der  Beobachtung  zugänglich  ist,  viel  wärmer 
ist  als  im  Innern  der  benachbarten  Depressionen. 

Diese  Thatsachen,  die  überdies  mit  den  Grundlehren  der  mechani- 
schen Wärmetheorie  im  vollsten  Einklänge  stehen,  zwingen  nun  unab- 
weisbar dazu,  die  ganze  bisher  vorgetragene  Lehre  von  der  Entstehung 
der  Cyklonen  und  Anticyklonen  einer  gründlichen  Revision  zu  unter- 
ziehen. 

Hierbei  wird  man  genöthigt  sein,  die  allgemeine  Zirkulation, die  man 
unter  der  Herrschaft  der  alten  Passattheorie  als  das  allein  maßgebende 
angesehen,  dann  aber  Jahrzehnte  hindurch  gänzlich  beiseite  gesetzt 
hatte,  wieder  mit  in  den  Kreis  der  Betrachtung  zu  ziehen  und  zu  suchen, 
inwiefern  sich  zwischen  ihr  und  der  Kouvektionstlieorie,  die  gewifs  in 
vielen  Punkten  das  Richtige  getroffen  hat,  eine  Verbindung  hersteilen  läßt. 

Dabei  handelt  es  sich  ebensowohl  um  Berichtigung,  Vervoll- 
ständigung und  Erweiterung  der  Theorie,  als  um  Beschaffung  neuen 
Beobachtungsmaterials. 

Es  ist  kaum  möglich,  dem  Fernerstellenden  eine  Vorstellung  davon* 
zu  geben,  in  welcher  Weise  man  bei  derartigen  theoretischen  Unter- 
suchungen zu  Werke  geht,  und  so  mag  nur  bemerkt  werden,  daß  man 
eben  zunächst  möglichst  vereinfachende  Annahmen  macht  und  dann 
erst  allmählich  mehr  und  mehr  Nebenumstände  mit  in  Betracht  zieht, 
um  sich  so  der  Wahrheit  schrittweise  zu  nähern. 

So  hat  man  z.  B.,  wie  schon  bemerkt,  bisher  Cyklone  und  Anti- 
cyklone als  für  sich  bestehende  Gebilde  betrachtet,  ohne,  abgesehen 
von  der  Reibung  am  Erdboden,  Kräfte  in  Rechnung  zu  ziehen,  welche 


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von  aufsen  her  auf  sie  einwirken,  und  doch  mufs  man  dies,  sobald 
man  den  Einflufs  der  allgemeinen  Zirkulation  berücksichtigen  will. 

Desgleichen  hat  man  bei  diesen  Untersuchungen  nicht  in  Rech- 
nung gezogen,  dafs  ein  Theil  der  Cyklone  der  unteren  trockenen 
Luft  angehört,  der  andere  der  Wolkenregion,  und  dafs  sich  beim  Ein- 
tritt in  die  letztere  mit  einem  Sprunge  ganz  andere  Verhältnisse  geltend 
machen,  die  auch  auf  die  Bewegungen  ihren  Einflufs  äufsern  müssen. 
Auch  die  Wärme-Aufnahme  oder  Abgabe  an  der  oberen  Grenze  der 
Wolken  hat  man  bei  den  theoretischen  Untersuchungen  bis  jetzt  ganz 
unbeachtet  gelassen,  obwohl  es  sich  gerade  hier  um  Vorgänge  von 
einschneidender  Bedeutung  handelt 

Es  kann  freilich  verwegen  erscheinen,  auch  nur  versuchen  zu 
wollen,  sich  von  den  bisher  auferlegten  Beschränkungen  froi  zu  machen 
und  alle  genannten  Umstände  zu  berücksichtigen,  da  die  Aufgaben  in 
solcher  Allgemeinheit  schwieriger  und  verwickelter  werden  als  irgend 
welche  Probleme  der  theoretischen  Astronomie  oder  der  mathemati- 
schen Physik,  deren  Lösung  bis  jetzt  dem  menschlichen  Scharfsinn 
gelungen  ist 

Trotz  alledem  darf  man  nicht  daran  verzweifeln,  auch  aui  diesem 
Gebiete  wenigstens  so  weit  vorzudringen,  als  nothwendig  ist,  um  über 
die  wesentlichsten  Punkte  ins  Klare  zu  kommen,  und  zwur  dürften 
gerade  Betrachtungen  von  ganz  allgemeinen  Gesichtspunkten  aus  hier 
mehr  Erfolg  versprechen  als  solche,  bei  denen  man  sich  in  der  Fülle 
der  Einzelheiten  vorirrt. 

Gestattet  doch  z.  B.  das  Prinzip  von  der  Erhaltung  der  Kraft 
nicht  selten,  Fragen  von  grofser  Allgemeinheit  stieng  zu  lösen  und 
hinsichtlich  des  Endergebnisses  präzise  zu  beantworten,  während  man 
noch  lange  nicht  im  stände  ist,  die  Fäden  zu  entwirren,  welche  die 
Einzelerscheinungen  mit  einander  verknüpfen. 

Und  ähnlich  verhält  es  sich  mit  anderen  Sätzen  der  allgemeinen 
Mechanik  oder  der  Thermodynamik. 

So  genügen  z.  B.  höchst  einfache  Betrachtungen,  um  nachzu- 
weisen,  dafs  der  grofse  Kreislauf,  oder  wenn  man  die  in  der  mechanischen 
Wärmetheorie  gebräuchliche  Bezeichnung  wählt,  der  grofse  Kreispro- 
zefs,  wie  man  ihn  in  der  allgemeinen  Zirkulation  vor  sich  hat  und  wie 
er  sich  im  wesentlichen  innerhalb  der  tropischen  und  subtropischen 
Zone  abspielt,  und  die  kleineren  Kreisprozesse,  wie  sie  in  höheren 
Breiten  bei  dem  Luft-Austausche  zwischen  Cyklone  und  Anticyklone 
durchlaufen  werden,  wesentlich  verschiedener  Natur  sind.  Bei  dem 
ersteren  wird  Wärme  in  Arbeit  verwandelt,  bei  den  letzteren  Arbeit 


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in  Wärme,  und  eben  die  bei  dem  grofsen  Kreisläufe  gewonnenen  Be- 
wegungen sind  es,  welche  wenigstens  zum  Theile  die  kleinen  Kreis- 
prozesse unterhalten. 

In  ähnlicher  Weise  lassen  sich  höchst  wichtige  Schlüsse  aus  der 
einfachen  Ueberlegung  ziehen,  dafs  man  es  bei  den  atmosphärischen 
Vorgängen,  sofern  man  ihre  Durchschnittswerthe  betrachtet,  im  allge- 
meinen mit  sogenannten  stationären  oder  strenger  gesprochen  mit 
periodisch  stationären  Zuständen  zu  tliun  hat 

Man  nennt  nämlich  einen  Bewegungszustand  stationär,  wenn  die  Be- 
wegungen in  irgend  einem  Systeme  von  Punkten  so  erfolgen,  dafs  an  die 
Stelle  eines  jeden  sich  weiter  bewegenden  Massentheilohens  immer 
wieder  neue  treten,  die  sich  genau  in  derselben  Weise  bewegen,  so 
dafs  das  ganze  System  als  solches  immer  in  dem  nämlichen  Zustande 
verbleibt,  obwohl  die  einzelnen  Tlieilchen  derselben  in  Bewegung  sind. 

Wenn  sich  z.  B.  ein  Schwungrad  mit  stets  gleich  bleibender  Ge- 
schwindigkeit um  seine  Axe  dreht,  so  ist  dies  ein  stationärer  Vor- 
gang; wenn  der  Wasserstand  in  einem  Flusse  der  gleiche  bleibt,  also 
jederzeit  ebensoviel  Wasser  zuströmt  als  abtliefst,  so  hat  man  einen 
stationären  Zustand  vor  sich,  und  zwar  einen  stationären  Strom.  Das 
Gleiche  gilt  von  der  Bewegung  des  Wassers  oder  des  Gases  in  Leitun- 
gen, sofern  W’asserlieferung  und  Gasproduktion  sowie  Konsum  unver- 
ändert bleiben. 

In  allen  solchen  Fällen  hat  man  es  mit  einem  gewissen  Gleich- 
gewichtszustand zu  tliun,  obgleich  kein  Gleichgewicht  im  engeren 
Sinne  des  Wortes  vorhanden  ist,  da  Bewegungen  vor  sich  gehen  und 
die  einzelnen  Theilchen  nicht  in  Ruhe  sind. 

Das  Schwungrad,  das  man  sich,  um  das  Beispiel  ganz  treffend 
zu  machen,  als  volle  Scheibe  denken  kann,  bietet  dem  Beschauer,  so 
lange  er  nicht  ganz  nahe  kommt,  den  Eindruck  vollkommener  Ruhe, 
der  Flufs  als  solcher  bleibt  an  seiner  Stelle,  obwohl  die  Wasser- 
theilchen,  welche  ihn  bilden,  sich  bewegen,  sich  stets  erneuern. 

Sind  die  hier  geschilderten  Bedingungen  nicht  genau  erfüllt, 
bleibt  das  System  als  solches  nicht  unverändert,  kehrt  es  aber  nach 
bestimmten,  gleich  langen  Zeitintervallen  immer  und  immer  wieder  auf 
gleiche  Weise  in  denselben  Zustand  zurück,  dann  kann  man  den 
Vorgang  als  einen  periodisch  stationären  bezeichnen. 

Eine  Dampfmaschine,  und  zwar  am  besten  eine  feststehende,  in 
dor  sich  bei  jedem  Kolbenhübe  dasselbe  Spiel  wiederholt,  und  die  in 
gleichen  Zeiten  bei  gleichem  Brennmaterialverbrauche  stets  gleiche  Arbeit 
leistet,  bietet  ein  vorzügliches  Bild  für  einen  solchen  periodisch  statio- 


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nären  Zustand.  Desgleichen  die  Vorgänge  in  einer  Gasleitung,  welche 
während  der  Tagesstunden  nur  von  einem  schwachen  Strome  durch- 
flossen wird,  der  allabendlich  mit  dem  zunehmenden  Verbrauche  an 
Stärke  wachsen  mufs,  um  in  den  Morgenstunden  wieder  schwächer 
und  schwächer  zu  werden. 

Mit  ähnlichen  periodisch  stationären  Vorgängen  hat  man  es  nun 
in  der  Meteorologie,  sofern  man  die  Durchschnitte  ins  Auge  fafst,  bei- 
nahe allenthalben  zu  thun. 

So  erhält  z.  B.  die  Erde  während  eines  Jahres  im  Durchschnitt  genau 
ebensoviel  Wärme  von  der  Sonne,  als  sie  durch  Ausstrahlung  an  den 
Weltraum  verliert;  denn  wäre  dies  nicht  der  Fall,  so  müfste  sie  fort- 
gesetzt wärmer  oder  kälter  worden,  was  doch  nachweisbar  nicht  der 
Fall  ist,  sofern  man  die  Untersuchung  auf  historische  Zeiträume  be- 
schränkt und  nicht  etwa  nach  Hunderttausenden  von  Jahren  rechnet, 
wie  dies  die  Geologen  thun.  Dabei  überwiegt  an  einzelnen  Stellen 
der  Erde,  und  zu  bestimmten  Jahres-  und  Tageszeiten,  die  Einstrahlung, 
an  anderen  Stellen  und  zu  anderen  Zeiten  die  Ausstrahlung,  und  so  gewährt 
uns  der  Wärmehaushalt  der  Erde  das  Bild  einer  periodisch  statio- 
nären Wärmobewegung,  die  zwar  regelmäfsig  wiederkehrenden  Ver- 
änderungen unterworfen  ist,  aber  dennoch  im  grofsen  und  ganzen 
einen  gewissen  Beharrungszustand  darstellt. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  den  Strömungen  der  Atmosphäre, 
die  sich  nach  Abstreifen  der  Einzelheiten  und  Zufälligkeiten  ebenfalls 
als  periodisch  stationäre  Vorgänge  auffassen  lassen. 

Nun  kann  man  aber  für  die  stationären  Bewegungen  und  Strömun- 
gen ganz  allgemeine  Sätze  aufstellen,  die  sich  in  ihrer  Anwendung 
auf  die  Meteorologie  als  aufserordentlich  fruchtbar  erweisen  dürften. 

Und  ob  uns  auch  schwindeln  mag  bei  dem  Gedanken  an  die  ver- 
schlungenen Bahnen,  welche  ein  Lufttheilchen  zurückzulegen  hat,  wenn 
es  am  Aequator  aufsteigend  nach  Ueberschreiten  des  Wendekreises 
wieder  herabsinkt,  um  in  einen  der  grofsen,  die  Polarkalotten  von 
Westen  nach  Osten  umkreisenden  Wirbel  hineingezogen  zu  werden 
und  schliefslich  nach  mehrfachem  Auf-  und  Absteigen  in  Oy  klonen 
und  Anticyklonen,  nach  oftmals  wiederholter  Wärme-Aufnahme  und 
Abgabe  wieder  an  den  Ausgangspunkt  zurückzukehren,  so  dürfen  wir 
doch  den  Muth  nicht  sinken  lassen  und  müssen  es  wenigstens  versuchen, 
dasselbe,  gestützt  auf  die  Grundlage  der  Physik,  an  der  Hand  streng 
mathematischen  Denkens  auf  seinen  Wegen  zu  begleiten. 

Freilich  heifst  es  dabei  vorsichtig  weiterschreiten,  jeden  Schlufs 


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sorgfältig  erwägen,  und  mit  unerbittlicher  Kritik  an  der  Hand  der  That- 
sachen  prüfen. 

Und  wenn  wir  auch  in  der  Meteorologie  nicht  in  der  gleichen 
Lage  sind,  wie  dio  Mitglieder  der  Aocademia  del  Cimento,  denen  wir 
bekanntlich  auch  die  ersten  meteorologischen  Instrumente  verdanken, 
und  die  ganz  im  Geiste  ihres  Lehrers  und  Vorgängers  Galilei  die 
experimentelle  Prüfung  eines  jeden  Schlusses  auf  ihre  Falme  geschrieben 
hatten,  so  gilt  ihr  Wahlspruch  „provando  e riprovando“  d.  h.  „durch 
Versuohe  und  wiederholte  Versuche*  in  gewissem  Sinne  doch  auch 
für  uns. 

Experimente  anzustellen  ist  dem  Meteorologen  freilich  versagt, 
aber  er  kann  wenigstens  die  Richtigkeit  seiner  Schlüsse  an  den  Er- 
scheinungen prüfen,  wie  sie  sich  eben  der  Beobachtung  darbieten,  und 
wenn  wir  dies  nur  ernst  und  ehrlich  thun,  dann  dürfen  wir  sicher 
holten,  wenn  auch  erst  in  ferner  Zeit,  so  doch  endlich  einmal  das  vor- 
gesteckte Ziel  zu  erreichen  oder  wenigstens  die  Hahn  zu  ebnen,  die 
einstmals  dahin  führen  wird. 

Freilich  bedarf  es  hierzu  verschiedener  Erweiterungen  des  Be- 
obachtungsprogrammes, mit  welchen  man  sohon  da  und  dort  in  be- 
scheidenem Marse  begonnen,  die  aber  immer  energischer  in  Angriff 
genommen  werden  müssen,  wenn  man  den  Aufgaben  gerecht  werden 
will,  welche  die  Forschung  heute  an  uns  stellt. 

Nach  welcher  Seite  hin  diese  Erweiterung  in  erster  Linie  erfolgen 
mufs,  liegt  auf  der  Hand.  Die  Konvektionstheorie,  die  wir  eben  als 
einer  Revision  bedürftig  haben  kennen  lernen,  wurde  im  wesentlichen 
auf  Grundlage  von  Beobachtungen  entwickelt,  die  an  der  Erdoberfläche 
angestellt  waren. 

Sowie  man  anfing  mit  den  Beobachtungsstationen  in  höhere  und 
höhere  Schichten  vorzudringen,  zeigten  sich  Mängel,  deren  Beseitigung 
zur  Zeit  noch  nicht  vollständig  gelungen  ist. 

Man  wird  demnach  ganz  von  selbst  darauf  geführt,  den  Be- 
obachtungen in  höheren  Theilen  der  Atmosphäre  mehr  und  mehr  die 
Aufmerksamkeit  zu  schenken. 

Hierbei  genügt  es  aber  nicht,  die  Zahl  der  Bergobservatorien  zu 
vermehren,  so  wiinschenswerth  dies  auch  an  sich  ist,  sondern  hier 
gilt  es  vor  allem  mit  unsern  Ilülfsmitteln  einzudringen  in  das  eigent- 
liche Gebiet  unserer  Forschung,  in  die  freie  Atmosphäre. 

Die  Verhältnisse  an  Gipfelstationen  bilden  nämlich  immer  nur 
einen  Uebergang  von  jenen  der  Tieflandsstationen  zu  jenen  der 
höheren  Regionen,  denn  alle  dort  gewonnenen  Beobachtungen  stehen 


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immer  noch  in  hohem  Grade  in  Abhängigkeit  von  den  Einflüssen 
der  Erdoberfläche,  die  sich  ja  selbst  bei  den  steilsten  Gebirgen  doch 
immer  nur  allmählich  zum  Gipfel  erhebt,  wie  jede  gute  Reliefkarte 
lehrt.  Erst  wenn  wir  über  Sinn  und  Gröfse  der  Unterschiede  genau 
unterrichtet  sind,  welche  zwischen  den  im  Innern  des  Luftmeeres  und 
den  auf  Gebirgsstationen  gewonnenen  Beobachtungen  bestehen,  erhalten 
die  letzteren  ihren  wahren  Werth. 

Zur  Ermittelung  dieser  Unterschiede,  zur  Erforschung  der  Ver- 
hältnisse in  der  freien  Atmosphäre  giebt  es  aber  kein  anderes  Hiilfs- 
mittel  als  den  Luftballon,  dem  die  Gebirgsstationen  sowie  die  Wolken- 
beobachtungen  nur  ergänzend  zur  Seite  treten  können. 

Ueberdies  hat  der  Luftballon  für  die  Meteorologie  erst  in  aller- 
jüngster Zeit  seine  wuhre  Bedeutung  erhalten,  seitdem  es  dem  Scharf- 
sinn Assmanns  gelungen  ist,  die  grofsen  Schwierigkeiten  zu  über- 
winden, welche  sich  der  genauen  Ermittelung  von  Temperatur  und 
Feuchtigkeit  bei  Luftfahrten  bisher  entgegengestellt  hatten. 

Es  ist  dem  Feruerstehenden  wohl  kaum  bekannt,  dafs  selbst  die 
einwurfsfreie  Bestimmung  der  Lufttemperatur  unter  den  gewöhnlichen 
Verhältnissen  bis  vor  wenigen  Jahren  noch  ein  ungelöstes  Problem  war, 
obwohl  man  die  Beobachtung  der  Temperaturen  von  jeher  als  eine  der 
wichtigsten  Aufgaben  der  meteorologischen  Stationen  betrachtet  hat. 

Der  Stand  eines  der  Luft  ausgesetzten  Thermometers  hängt  nämlich 
nicht  allein  von  der  Temperatur  der  umgebenden  Luft  ab,  sondern  auch 
davon,  in  welchem  Mafse  dasselbe  durch  Ein-  oder  Ausstrahlung  be- 
einflufst  wird.  Dafs  selbst  benachbarte  Thermometer  im  Sonnenschein 
je  nach  ihrer  Beschaffenheit  und  je  nach  der  ihrer  nächsten  Umgebung 
ganz  verschiedene  Stände  zeigen  können,  dafs  die  Farbe  benachbarter 
Wände  und  unzählige  andere  Nebenumstande  hierbei  eine  wesentliche 
Rolle  spielen,  ist  längst  bekannt.  Man  hat  deshalb  auch  schon  von 
jeher  diese  Instrumente  im  Schatten  eines  Hauses,  oder  unter  be- 
sonderen schattengebenden  Vorrichtungen  — Thermometerhütten  — 
aufgehängt 

Aber  selbst  wenn  man  ein  Thermometer  vor  der  Nordwand  eines 
Hauses  angebracht  hat,  und  wenn  dieses  Haus  so  glücklich  liegt,  dafs 
uuch  die  Morgen-  und  Abendsonne  sogar  im  Hochsommer  durch  be- 
nachbarte aber  ja  nicht  all  zu  nahe  gelegene  Gebäude  oder  Häuser 
abgehalten  wird,  so  sind  doch  die  Strahlungseinflüsse  noch  nicht  voll- 
ständig gehoben. 

Denn  ebenso  wie  das  Thermometer  durch  Bestrahlung  von  der 
Sonne  Uber  die  Temperatur  der  umgebenden  Luft  erwärmt  wird,  ebenso 


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wird  es  während  klarer  Nächte  durch  Ausstrahlung  gegen  den  Welt- 
raum unter  diese  Temperatur  abgekühlt 

Um  diese  störenden  Einflüsse  zu  beseitigen,  hat  man  allerhand 
Schutzvorrichtungen  ersonnen,  Blechschirme,  Jalousiegehäuse  aus  llolz 
oder  Metall,  besondere  Hütten  u.  s.  w.  und  beinahe  jedes  Beobachtungs- 
netz hat  eigene  derartige  Einrichtungen,  über  deren  Zweckmäßigkeit 
die  Ansichten  sehr  getheilt  sind. 

Nur  das  wufste  man  längst,  dafs  die  Angaben  je  nach  der  Art 
der  Aufstellung  und  Schutzvorrichtung  verschieden  sind,  und  zwar 
um  so  verschiedener  je  ruhiger  die  Luft  ist;  aber  welche  diejenigen 
sind,  die  der  Wahrheit  am  nächsten  kommen,  dies  war  bis  vor  kurzem 
gänzlich  unentschieden,  da  es  eben  an  einer  Nonnalaufstellung  fehlte, 
von  welcher  man  nachweisen  konnte,  dafs  die  Strahlungseinflüsse 
wirklich  beseitigt  seien. 

Immerhin  halten  sich  die  Abweichungen,  welche  die  verschiedenen 
aufgestellten  Thermometer  untereinander  zeigen,  in  verhiiltnifsmäfsig 
engen  Grenzen,  so  dafs  wenigstens  die  Miltelwerthe  im  allgemeinen 
nur  um  Bruchtheile  eines  Celsiusgrades  differiren,  während  die  Einzel- 
ablesungen schon  weit  mehr  auseinander  gehen  können,  was  vorzugs- 
weise bei  Windstille  vorkommt 

Nun  herrscht  aber  im  Luftballon,  sofern  er  sich  nicht  in  un- 
mittelbarer Nähe  von  Wolken,  besonders  von  Gewitterwolken,  befindet, 
immer  vollkommene  Windstille,  da  er  selbst  mit  dem  Winde  fliegt.  Des- 
halb treten  auch  dort  die  Strahlungseinflüsse  in  allerschärfster  Weise 
hervor,  und  ist  es  eben  darum  nioht  unwahrscheinlich,  dafs  in  älteren, 
bei  Luftfahrten  gewonnenen  Temperaturangaben  die  Fehler  manchmal 
bis  auf  6 Grade  oder  noch  höher  angewachsen  sind. 

Diese  störenden  Einflüsse  sind  nun  in  dem  vor  einigen  Jahren 
von  Assmann  erfundenen  Aspirationspsychrometer  — Psychrometer, 
weil  es  neben  dem  trockenon  Thermometer,  das  zur  Bestimmung  der 
Lufttemperatur  dient,  noch  ein  befeuchtetes  Thermometer  enthält,  um  aus 
der  Differenz  der  beiderseitigen  Angaben  auch  die  Feuchtigkeit  be- 
rechnen zu  können  — vollkommen  vermieden. 

Dies  wird  dadurch  erreicht,  dafs  die  Gefäfse  der  Thermometer  in 
vernickelte,  hochpolirte  doppelwandige  Röhren  eingeschlossen  sind, 
die  unten  offen  sind  und  durch  welche  vermittelst  eines  durch  ein 
Uhrwerk  getriebenen,  oberhalb  der  Instrumente  angebrachten  Aspi- 
rators ein  kräftiger  Luftstrom  hindurch  gesogen  wird. 

Auf  diese  Weise  werden  die  Thermometer  stets  von  Luft  umspiilt, 
die  noch  mit  keinem  Körper  von  anderer  Temperatur  in  Berührung 


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gekommen,  da  die  dünnwandigen  Röhrchen  sehr  schnell  die  Luft- 
temperatur annehmen,  während  die  hohe  Politur  derselben  die  Strahlung 
beinahe  vollständig  ausschliefst. 

Dafs  dies  erreicht  ist,  geht  daraus  hervor,  dafs  es  auch  bei  der 
kräftigen  Sonnenstrahlung,  wie  sie  an  klaren  Sommertagen  in  den 
1 lochalpen  herrscht,  vollkommen  gleichgültig  ist,  ob  man  das  Instrument 
ungeschützt  der  Strahlung  aussetzt,  oder  einen  Schirm  vor  demselben 
anbringt 

Auch  die  Möglichkeit,  in  den  Uraniasiiulen,  wie  sie  seit  einigen 
Monaten  in  Berlin  aufgestellt  sind,  richtige  Temperaturangaben  zu  er- 
halten, beruht  auf  der  Anwendung  des  gleichen  Prinzips,  während 
beinahe  alle  ältereu  Wettersäulen  mehr  dazu  bestimmt  scheinen,  falsche 
meteorologische  Vorstellungen  im  Publikum  zu  erwecken,  anstatt  wirk- 
liche Belehrung  zu  bieten. 

Freilich  ist  gerade  bei  den  Urania-Säulen  eine  Aufgabe  gelöst,  die 
noch  vor  wenigen  Jahren  jeder  Fachmann  als  kurzweg  unlösbar  be- 
zeichnet habeu  würde. 

Nachdem  aber  der  Scharfblick  und  die  Ausdauer  des  Erfinders 
uns  in  den  Bositz  der  Aspirations-Instrumente  gesetzt  hat,  und  nachdem  er 
nachgewiesen  hat,  mit  wie  bedeutenden  Unsicherheiten  selbst  die  besten 
früher  bei  Luftfahrten  gewonnenen  Zahlen  behaftet  sind,  gilt  es  vor 
allem  die  Arbeiten  von  n6uem  aufzunehmen,  welche  die  Engländer 
Welsh  und  Glaish  er  vor  einigen  Jahrzehnten  mit  ebensoviel  Kühnheit 
als  Umsicht  ausgeführt  haben  und  die,  später  von  französischen  Luft- 
schiffern  fortgesetzt,  der  Wissenschaft  so  grofse  Bereicherung  gebracht 
haben. 

Gerade  in  Deutschland  sollte  man  sich  für  diese  Sache  umsomehr 
erwärmen,  nachdem  man  vor  kurzem,  zuerst  in  Berlin  und  dann  in 
München  damit  begonnen  hat,  auch  auf  diesem  Gebiete  in  den  Wett- 
bewerb mit  den  anderen  Nationen  einzutreten  und  nachdem  es  gerade 
einem  Deutschen  gelungen  ist,  die  gewaltigen  Schwierigkeiten  zu  be- 
siegen, welche  der  Gewinnung  genauer  Zahlenangaben  bei  Ballon- 
fahrten bisher  entgegenstanden. 

Möge  es  hier  gestattet  sein,  einige  der  Punkte  hervorzuheben, 
deren  Klärung  nur  auf  diesem  Wege  zu  erwarten  ist: 

In  erster  Linie  ist  es  die  Frage  nach  Temperatur  und  Feuchtig- 
keit in  verschiedenen  Höhen  und  bei  verschiedener  Wetterlage,  d.  li. 
unter  der  Herrschaft  von  Cyklonen  oder  Anticyklonen,  im  Winter  oder 
im  Sommer,  bei  Tag  oder  bei  Nacht,  deren  genaue  Beantwortung  inter- 
essirt,  da  hierdurch  allein  entschieden  werden  kann,  inwieweit  die 


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bisher  allgemein  angenommene  Konvektionstheorie  haltbar  ist  und 
inwiefern  sie  modifizirt  werden  mufs. 

Ferner  ist  es  von  ganz  besonderer  Bedeutung,  die  Veränderung 
zu  ermitteln,  welche  das  Gesetz  der  Temperaturabnahme  mit  der  Höhe 
erfährt,  wenn  man  aus  der  nebelfreien  Luft,  sei  sie  nun  trocken  oder 
nur  von  Regentropfen  durchsetzt,  in  die  Wolke  selbst  eintritt. 

Eis  darf  nämlich  als  bewiesen  gelten,  dafs  man  die  wesentlichste 
Ursache  der  Wolken-  und  Niederschlagsbildung  in  der  Abkühlung  zu 
suchen  hat,  welche  die  Luft  beim  Aufsteigen  erfährt.  Diese  Abkülüung 
läfst  sich  berechnen,  wenn  man  annimmt,  dafs  der  aufsteigenden  Luft 
weder  Wärme  zugeführt  noch  entzogen  wird,  sowie  dafs  ihr  von  der 
Seite  her  keine  andere  Luft  beigemischt  wird,  als  solche,  die  ebenfalls 
vom  Erdboden  aus  mit  in  die  Höhe  gestiegen  ist. 

Diese  beiden  Annahmen  sind  aber  in  der  freien  Atmosphäre  nur 
ausnahmsweise  zulässig,  wenn  sie  auch  bei  dem  Vorgänge  des  Föhns, 
der  als  Ausgangspunkt  für  all  diese  E’orschungen  diente,  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  erfüllt  sein  mögen. 

Im  Gegentheil  lehrt  die  Beobachtung  der  Wolken,  insbesondere 
der  in  Auflösung  begriffenen  an  der  Rückseite  der  Cyklono  — beim 
Aufhören  schlechten  Wetters  — , dafs  dem  aufsteigenden  Strome  der 
Cyklone  in  verschiedenen  Höhen  Luft  aus  der  benachbarten  Anticyklono 
beigemischt  wird,  die  demnach  noch  nioht  bis  zum  Erdboden  herab- 
gesunken war. 

Wie  grofs  dieser  Antheil  beigemischter  Luft  ist,  wie  bedeutend 
die  Erwärmung  oder  Abkühlung  ist,  welche  die  Luft  bei  diesen  Vor- 
gängen erleidet,  über  all  diese  Fragen  müssen  die  eben  angedeuteten 
Beobachtungen  und  Temperaturbestimmungen  unterhalb  und  innerhalb 
der  Wolken  Aufschlufs  geben. 

Noch  viel  interessanter  aber  werden  diese  Untersuchungen,  wenn 
der  Ballon  die  obere  Begrenzung  der  Wolken  erreicht  und  durch- 
schneidet. 

Diese  Fläche  spielt  nämlich  in  gewissem  Sinne  dieselbe  Rolle,  welche 
bei  unbewölktem  Himmel  der  Erdoberfläche  zufällt,  jedoch  in  eigen- 
artiger, höchst  mannigfaltiger  Weise. 

Zunächst  tritt  an  ihr  eine  gewaltige  Reflexion  der  Sonnenstrahlen 
ein,  die  bisher  wohl  kaum  genügend  gewürdigt  wurde,  obwohl  sie  die 
merkwürdigsten  Folgen  nach  sich  ziehen  mufs. 

Es  mag  z.  B.  nur  daran  erinnert  werden,  dafs  eine  Steigerung  in 
der  Intensität  der  Sonnenstrahlung,  wie  sie  wahrscheinlich  innerhalb 
gewisser  Perioden  eintritt,  wenn  sie  auch  bisher  noch  nicht  nachg“- 


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wiesen  wurde,  an  solchen  Stellen  der  Erde,  welche  die  Wolkenbildung 
besonders  begünstigen,  sogar  ein  Sinken  der  Temperatur  im  Gefolge 
haben  könnte,  da  die  verstärkte  und  verbreitete  Wolkendecke  die 
Wärmezufuhr  nach  der  Erdoberfläche  beeinträchtigen  müfste. 

Es  wäre  nicht  undenkbar,  dafs  die  merkwürdige  Periodizität  in 
der  Temperatur  ganzer  Zonen,  welche  Koppen  bereits  im  Jahre  1873 
nacbgowiesen  hat,  und  die  unleugbar  auf  einen  engen  Zusammenhang 
mit  den  Vorgängen  an  der  Sonnenoberfläche  hindeutet,  während  die 
Ungleiohzeitigkeit  der  um  Jahre  verschobenen  Eintrittszeiten  der  Maxi- 
mal- und  Minimaltemperaturen  der  einzelnen  Zonen  das  Gegentheil  zu 
beweisen  scheint,  in  solchen  Verhältnissen  ihre  Erklärung  finde. 

Mit  dieser  Reflexion  an  der  oberen  Wolkengrenze  geht  aber 
auch  eine  kräftige  Verdunstung  Hand  in  Hand,  die  nun  wieder  zu 
eigenthümlichen  Erscheinungen  Veranlassung  giebt,  die  sich  bereits 
theoretisch  Vorhersagen  liefsen  und  thatsächlich  auch  durch  Ballon- 
fahrten als  richtig  erwiesen  sind. 

Nicht  minder  wichtig  als  die  eben  angedeuteten  Fragen  sind  die 
Aufschlüsse,  welche  man  aus  solchen  Fahrten  über  die  Höhen  er- 
warten darf,  bis  zu  welchen  die  atmosphärischen  Wirbel  ihre  Herr- 
schaft erstrecken,  und  bis  zu  welchen  die  Bewegungen  in  gleichem 
Sinne  vor  sich  gehen. 

Die  Bestimmung  der  Höhe,  in  welcher  das  Zuströmen  nach  der 
Depression  in  ein  Ausströmen  übergeht,  und  die  in  einzelnen  Fällen 
gar  nicht  so  beträchtlich  zu  sein  scheint,  ist  eine  Sache  von  aller- 
gröfster  Wichtigkeit 

Welch  eigenthümliche  Verhältnisse  in  dieser  Hinsicht  Vorkommen, 
lehren  die  Erfahrungen  über  die  beinahe  vollkommen  horizontalen 
Wolkenschichten  von  oft  nur  ganz  geringer  Mächtigkeit,  welche  die 
Luftschiffer  schon  öfters  in  sehr  müfsigen  Höhen  durchschnitten  haben, 
und  die  als  Grenzfläche  zweier  Luftströmungen  wohl  gröfstentheils  der 
Mischung  ihre  Entstehung  verdanken. 

Solche  weit  ausgedehnte,  vollkommen  horizontale  Wolkenschichten 
scheinen  besonders  im  Winter  sehr  häufig  vorzukommen,  doch  läfst 
sich  ihr  Vorhandensein  ohne  Luftballon  gar  nicht  erkennen,  da  in 
einem  solchen  Falle  eben  der  ganze  Himmel  grau  überzogen  ist,  ohne 
dafs  man,  wenigstens  im  Flachlande,  im  stände  wäre,  die  Erhebung  dieser 
Schicht  über  den  Boden  zu  messen  oder  gar  ihre  Mächtigkeit  zu  be- 
urtheilen. 

Wie  aufserordentlich  interessant  es  ist,  auch  aurserdem  noch  Auf- 
schlüsse zu  erhalten  über  die  Beschaffenheit  der  Wolken,  braucht 


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wohl  kaum  hervorgehoben  zu  werden,  und  mag  nur  beispielsweise 
daran  erinnert  werden,  dafs  bei  Ballonfahrten  schon  öfters  Wolken 
angetroffen  wurden,  in  denen  die  Temperatur  weit  unter  dem  Gefrier- 
punkt lag  und  die  trotzdem  keine  Eispartikelchen  enthielten,  sondern 
nur  flüssige  Wassertheilchen,  eine  Thatsache,  die  höchst  wiohtige 
Schlüsse  zu  ziehen  gestattet. 

Dies  wenige  wird  genügen,  um  eine  Vorstellung  davon  zu  er- 
wecken, welch  hohe  Bedeutung  solch  wissenschaftlichen  Luftfahrten 
innewohnt;  möchte  es  doch  gelingen,  das  Interesse  dafür  soweit  zu 
entflammen,  dafs  den  Vereinen  für  Luftschifffahrt  die  freilich  nicht 
unbedeutenden  Geldmittel  gewährt  würden,  welche  zur  Durchführung 
dieser  Unternehmungen  erforderlich  sind. 

Die  Betrachtung  und  Aufzählung  der  von  den  Luftschiffern  zu 
lösenden  Aufgaben  hat  zuletzt  auf  Untersuchungen  über  die  Natur  der 
Wolken  geführt  und  damit  auf  ein  Forschungsgebiet,  das  neben  den 
Beobachtungen  im  Ballon  die  bedeutendsten  Aufschlüsse  verspricht 
über  die  Vorgänge  in  der  freien  Atmosphäre,  und  dessen  Pflege  mithin 
unsere  Aufmerksamkeit  in  besonders  hohem  Grade  in  Anspruch 
nehmen  mufs. 

Thatsächlich  treten  auch  die  Beobachtungen  über  Form  und  Zug 
der  Wolken  in  den  letzten  Jahren  mehr  und  mehr  in  den  Vordergrund. 

Doch  dürfte  es  gerade  hierbei  von  allerhöchster  Wichtigkeit  sein, 
sich  immer  klar  vor  Augen  zu  halten,  wohin  die  Entwickelung  der 
Wissenschaft  drängt,  da  eben  hier  die  Gefahr  von  Fehlschlüssen  und 
Uebereilungen  aufserordentlich  nahe  liegt 

Es  sind  nämlich  im  wesentlichen  zwei  Punkte,  welche  bei  diesen 
Untersuchungen  im  Augenblicke  Berücksichtigung  finden:  erstens  die 
Beobachtungen  über  Zugrichtung  und  Geschwindigkeit  der  Wolken, 
insbesondere  der  hochfliegonden  feinen  Cirruswolken,  als  Hülfsmittel 
zur  Bestimmung  der  Luftbewegung  in  den  betreffenden  Schichten,  und 
dann  die  Klassifikation  der  Wolken  nach  ihren  äufseren  Formen. 

Dagegen  will  es  dem  Schreiber  dieser  Zeilen  scheinen,  als  wende 
man  der  Bildung  und  Auflösung  der  Wolken  nicht  die  Aufmerksamkeit 
zu,  welche  diese  Vorgänge  verdienen,  und  als  sei  deshalb  zu  befürchten, 
dafs  auch  in  die  Behandlung  der  beiden  anderen  Aufgaben  sich  Irr- 
thümer  einschleichen,  die  besser  vermieden  würden. 

Man  mufs  sich  nämlich  hüten,  die  Wolke  als  ein  Gebilde  zu  be- 
trachten, das  gewissermafsen  in  der  Luft  schwimmt,  und  dessen  Be- 
wegung demnach  die  gleiche  sem  müsse  wie  jene  der  Luft. 

Die  Versuchung,  eine  solche  Auffassung  Platz  greifen  zu  lassen, 


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liegt  sehr  nahe,  da  man  sich  zu  leicht  der  Meinung  hingiebt,  als  habe 
man  in  Rauchwolken  ein  vollkommenes  Analogon  der  Wasser-  oder 
Eiswolken  vor  sich,  wie  sie  in  der  Atmosphäre  schweben. 

Und  doch  besteht  zwischen  beiden  ein  gewaltiger  Unterschied: 
Rauch  ist  ein  fremder  Körper,  der  bald  nachdem  die  aus  dem  Schorn- 
stein ausgetretenen  Feuergase  durch  Vermischung  mit  der  kühleren 
Luft  ihren  Auftrieb  verloren  haben,  einfach  in  der  Atmosphäre  schwebt, 
um  ganz  allmählich  langsam  herabzusinken.  Der  Wasserdampf  hin- 
gegen, aus  dem  die  Wolken  bestehen,  findet  sioh  in  gröfseren  oder 
geringeren  Mengen  überall  in  der  Luft,  wird  aber  nur  dort  sichtbar, 
wo  Kondensation  eintritt;  die  Wolke  ist  demnach  nur  das  Bild  eines 
Vorganges,  und  es  ist  durchaus  nicht  statthaft,  aus  der  Bewegung  der 
Wolke  unmittelbar  auf  jene  der  Luft  zu  schliefsen.  Und  wenn  auch 
dieser  Schlufs  in  vielen  Fällen  zutreffen  mag,  so  kennt  man  doch  andere, 
in  welchen  er  geradezu  falsch  ist. 

So  weifs  man  aus  den  Erfahrungen  in  Gebirgsgegenden,  dafs 
Wolken  scheinbar  unbeweglich  an  Bergen  hängen  können,  während 
sie  in  Wahrheit  von  heftigem  Sturme  durchbraust  sind.  Solche  Wolken 
entstehen  und  vergehen  fortgesetzt  an  denselben  Stellen  und  bieten 
dadurch  das  Bild  scheinbarer  Ruhe,  ebenso  wie  ein  Wasserfall  oder 
noch  besser  ein  Flufslauf  von  der  Ferne  betrachtet,  feststehende  Ge- 
bilde darstellen,  während  das  Wasser,  aus  dem  sie  bestehen,  fort- 
während durch  neues  ersetzt  wird. 

Ja,  es  können  sich  Wolken  sogar  scheinbar  senken,  während  sie 
doch  das  Produkt  eines  aufsteigenden  Luftstromes  sind,  der  nur  in- 
folge zunehmender  Feuchtigkeit  oder  abnehmender  Temperatur  in  immer 
geringeren  Höhen  den  Kondensationspunkt  erreicht. 

Desgleichen  lehren  die  Erfahrungen  der  Luftschiffer,  dafs  Wolken 
nicht  selten  in  horizontalem  Sinne  vom  Ballon  durchfahren  werden, 
während  der  letztere  vermöge  des  ihm  innewohnenden  Auftriebes, 
sowie  seines  Gewichtes  doch  nur  Träger  vertikal  wirkender  Kräfte  ist. 

Das  merkwürdigste  Beispiel  aber  für  den  grofsen  Unterschied, 
der  zwischen  Luftbewegung  und  scheinbarer  Bewegung  der  Wolken 
besteht,  bieten  die  reihenweise  auftretenden  Wolken,  denen  man  in  den 
verschiedensten  Schichten  der  Atmosphäre  begegnet  und  die  in  den 
gröfsten  Höhen  zur  Entstehung  der  sogenannten  Schäfchen  - Wolken 
Veranlassung  geben. 

Verfolgt  man  die  Bildung  solcher  Wolken  genauer,  so  sieht  man, 
wie  sich  oft  mit  einem  Schlage  ein  Theil  des  Himmels  mit  Wolken 
bedeckt,  die.  in  parallele  Streifen  geordnet,  einen  höchst  regelmäfsigen 


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Eindruck  gewähren,  und  wie  sie  bald  darauf  von  einem  Systom  anderer 
paralleler  Streifen  durchzogen  werden,  so  dafs  sie  sämtlich  in  kleine 
Hauten  zerfallen  und  damit  in  die  bekannte  Form  der  Schäfchenwolken 
üliergehen. 

Diese  Reihenwolken  entstehen,  wie  von  Helmholtz  erst  vor 
wenigen  Jahren  auf  theoretischem  Wege  nachgewiesen  hat,  jederzeit, 
wenn  zwei  Luftschichten  von  verschiedener  Temperatur  mit  ungleicher 
Geschwindigkeit  übereinander  hinweg  gleiten.  In  einem  solchen  Falle 
müssen  sich  Wellen  bilden,  und  die  'Wolkenreihen,  die  hierbei  auf- 
treten,  sind  das  vollkommene  Gegenstück  zu  den  Wasserwellen  mit 
ihren  schäumenden  Kämmen. 

Es  ist  das  Bild  einer  Brandung,  das  wir  in  einem  solchem  Falle 
vor  uns  sehen,  und  die  in  die  hohem  Luftschichten  hineingeschleuderten 
Mengen  der  darunter  liegenden  Schicht  sind  es,  welche  theils  durch 
Mischung  theils  infolge  der  Expansionsabkühlung  die  Entstehung  der 
streifenförmig  angeordneten  Wolken  im  Gefolge  haben.  Hier  hat  man 
also  wieder  einen  Fall  vor  sich,  wo  die  scheinbare  Weiterbewegung 
der  Wolken  nicht  im  entferntesten  einen  Sohlufs  auf  die  Geschwindig- 
keit der  Luft  gestattet,  ebenso  wenig,  als  das  scheinbare  Fortschreiten  der 
Wasserwellen  auf  die  Geschwindigkeit  des  Windes  oder  gar  auf  die 
Fortbewegung  dos  Wassers. 

Dagegen  lassen  sich  aus  der  Breite  dieser  Streifen  höchst  wichtige 
Schlüsse  ziehen,  auf  die  jedoch  hier  nicht  weiter  eingegangen  werden  kann. 

Auch  in  der  Geschwindigkeit,  mit  welcher  die  Bildung  solcher 
Wogenwolken  oder  Wolkenwogen  — denn  so  nennt  sie  von  Helm- 
holtz in  unvergleichlich  zutreffender  Weise  — sioh  ausbreitet,  hat 
man  kein  Mafs  für  die  Windgeschwindigkeit,  sondern  nur  für  die 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  atmosphärischer  Wellen. 

Diese  Wogonwolken  erstrecken  sioh  senkrecht  zu  jener  Richtung, 
die  man  erhielte,  wenn  man  die  langsamer  fliefsende  Schicht  ruhend 
denkt,  d.  i.  senkrecht  zu  der  relativon  Bewegung  der  beiden  Schichten. 

Wäre  die  eine  derselben,  etwa  die  untere,  thatsächlich  in  Ruhe,  so 
stünden  sie  einfach  senkrecht  auf  der  Richtung  des  darüber  hin- 
streichenden  Windes. 

Im  Gegensätze  hierzu  giebt  es  aber  auch  Streifenwolken,  die  so- 
genannten Cirrusstreifen,  deren  Längsrichtung  wahrscheinlich  mit  jener 
des  Windes  zusammenfällt. 

Dieses  Beispiel  ist  sehr  lehrreich,  indem  es  zeigt,  wie  gefährlich 
es  ist,  wenn  man  bei  derartigen  Beobachtungen  nur  die  äufsere  Er- 
scheinungsform in  Betracht  zieht,  ohne  der  Sache  auf  den  Grund  zu 

Himmel  und  Erde.  1882.  V.  1.  2 


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■gehen.  So  ist  erst  vor  kurzem  eine  Abhandlung  erschienen  über  die 
sogenannten  Radiationspunkte  der  Wolken,  d.  b.  über  jene  Punkte, 
nach  welchen  parallele  Wolkenstreifen  perspektivisch  konvergiren,  die 
zu  einem  höchst  auffälligen  Resultate  fuhrt. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dafs  dieses  Resultat  nur  dadurch  erzielt 
wurde,  dafs  die  Streifwolken,  welche  senkrecht  auf  der  Windrichtung 
stehen  und  jene,  die  mit  ihr  zusammenfallen,  zu  gemeinschaftlichen 
Mittoln  vereinigt  wurden. 

Die  Lehre  von  den  Luftwogen,  durch  welche  eine  längst  bekannte, 
aber  früher  nie  richtig  gedeutete  Erscheinung  mit  einem  Schlage  sine 
einfache  und  naturgemäfse  Erklärung  fand,  ist  eine  der  gröfsten  Er- 
rungenschaften auf  dem  eben  besprochenen  Gebiete. 

Merkwürdigerweise  hat  sie  in  den  neuen  Atlanten  zur  Klassi- 
fikation der  Wolken  keine  Beachtung  gefunden,  und  man  sucht  ver- 
geblich nach  einer  in  das  System  passenden  Bezeichnung  der  Wogen- 
wolken, die  mit  mannigfaltigen  Abänderungen  in  den  verschiedensten 
Luftschichten  Vorkommen. 

Gerade  darum  möchte  die  Warnung  berechtigt  sein,  man  möge 
nicht  zu  rasch  daran  gehen,  auf  rein  beschreibendem  Boden  für  die 
Klassifikation  der  Wolken  ein  künstliches  System  zu  sehaffen,  das 
etwa  dem  Li  nn eschen  Pllanzensystem  vergleichbar,  auf  Bildung  und 
Auflösung  der  Wolken  keine  Rücksicht  nimmt,  und  deshalb  nicht 
geeignet  ist,  das  Verständnifs  dieser  Erscheinungen  zu  fördern. 

Desgleichen  dürfte  es  empfehlenswerth  sein,  zur  Betheiligung  an 
diesen  wichtigen  aber  höchst  schwierigen  Beobachtungen  nur  streng 
geschulte,  mit  den  besten  Hülfsmitteln  ausgerüstete  Kräfte  heranzuziehen, 
da  hier,  wenn  irgendwo,  das  Wort  „multura  sed  non  multa“  am  Platze  ist. 

Glücklicherweise  kann  man  heutzutage  diese  Untersuchungen  an 
ausgewählten  Stationen  mit  um  so  greiserer  Hoffnung  auf  Erfolg  auf- 
nehmen, da  die  (Hilfsmittel  hierzu  in  den  letzten  Jahren  eine  ungeahnte 
Vervollkommnung  erfahren  haben. 

Der  Photographie  ist  es  in  neuester  Zeit  gelungen,  auch  jene 
zarten  Gebilde  zu  flxiren,  welche  der  sonst  gebräuchlichen  Methoden  der 
Photographie  spotteten,  und  insbesondere  hat  llr.  Dr.  med.  Neuhauss 
in  Berlin  hierin  staunenswertes  erreicht. 

Zugleich  gestattet  die  in  neuester  Zeit  so  hoch  ausgebildete 
Photogrammetrie  oder  das  Mofsbildverfahren,  Höhe,  Gestalt  und  Be- 
wegung der  Wolken  mit  grörster  Sicherheit  zu  bestimmen,  wie  der 
schöne  Erfolg  bewiesen  hat,  den  Jesse  durch  Anwendung  dieses 
Hiilfsmittels  auf  die  leuchtenden  Nachtwolken  erzielt  hat. 


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Wenn  man  auf  diese  Weise  die  Abmessungen  der  Wolken  fest- 
slellt  und  ihre  Veränderungen  genau  verfolgt,  und  wenn  man  die  jso 
erzielten  Ergebnisse  in  Zusammenhang  bringt  mit  den  Beobachtungen 
am  Erdboden  und  mit  den  im  Luftballon  gewonnenen  Aufzeichnungen, 
dann  mufs  es  auoh  gelingen,  aus  den  Formen  der  Wolken  die  Ge- 
schichte ihres  Werdens  und  Vergehens  abzulesen. 

Alsdann  wird  es  auch  möglich  sein,  Eintheilung  und  Bezeichnung 
der  Wolken  auf  natürlicher  Grundlage  zu  bringen  und  — um  mit 
G.  Hell  mann  zu  sprechen — , die  Lehre  von  den  Wolkenformen  von 
einer  rein  äufserlichen  Systematik  gewissermafsen  zu  einer  Physiologie 
dieser  Gebilde  zu  erheben. 

Im  Vorstehenden  wurde  versucht,  einige  der  wichtigsten  Fragen 
hervorzuheben,  auf  deren  Bearbeitung  der  gegenwärtige  Stand  der 
Forschung  hinweist  und  zwar  wurden  hierbei  zunächst  solche  berück- 
sichtigt, deren  Lösung  für  das  Gesamtgebiet  der  Meteorologie  von 
besonderer  Bedeutung  sind. 

Dafs  nebenher  noch  Reihen  anderer  Probleme  aufgezählt  werden 
könnten,  die  den  genannten  an  Interesse  nicht  nachstehen,  bedarf 
wohl  kaum  besonderer  Betonung.  So  mag  nur  im  Vorbeigehen  daran 
erinnert  werden,  welch  grofses  Arbeitsfeld  die  Bestrahlung  der  Erde 
durch  die  Sonne,  sowie  die  Auszahlung  an  den  Weltraum  der  Forschung 
noch  bietet,  oder  es  mag  der  Untersuchungen  über  die  elektrischen 
Erscheinungen  gedacht  werden,  welohe  in  den  letzten  Jahren  durch 
F.  Exner  in  Wien,  sowie  durch  Elster  und  Geitel  in  Wolfenbüttel 
so  bedeutende  Förderung  erfahren  haben,  ganz  abgesehen  von  dem 
Ausbau  und  der  Ergänzung  des  früher  Gewonnenen,  die  doch  auch 
nicht  vergessen  werden  dürfen. 

Wenn  man  aber  gerade  jene  Fragen  ins  Auge  fafst,  die  so  recht 
der  Gegenwart  angehören,  so  verräth  sich  in  ihnen  trotz  aller  Ver- 
schiedenheit im  Einzelnen,  doch  deutlich  ein  gemeinsamer  Zug: 

Mögen  es  die  Bewegungen  des  Luftmeeres  sein  oder  der  Wärme- 
haushalt  der  Erde,  seien  es  Fragen  von  höchster  Allgemeinheit,  die 
man  zum  Gegenstände  der  Untersuchung  machen  will,  odor  ganz  be- 
stimmte, eng  begrenzte  Fälle,  mag  man  das  wechselvolle  Spiel  der 
Wolken  verfolgen  oder  die  rätselhaften  Aeufserungen  der  Lufteleklrizität, 
immer  wird  das  Streben  darin  gipfeln,  nicht  nur  empirische  Regeln 
aufzustellen,  sondern  einzudringen  in  das  Wesen  der  Erscheinungen 
und  so  die  Meteorologie  mehr  und  mehr  auf  feste  Grundlagen  zu 
bringen,  und  sie  umzugestalten  zu  einer  „ Physik  der  Atmosphäre-. 

o • 


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Die  Astronomie  des  Unsichtbaren, 

Von  Ür.  SeMntr, 

Astronom  am  Astropbyslkalischcn  Observatorium  ru  Potsdam. 

it  nur  ganz  wenigen  Ausnahmen  ist  das  einzige  Verbindungs- 
glied zwischen  una  und  den  Himmelskörpern  der  Lichtstrahl, 
der  allein  im  Stande  ist,  uns  Kunde  von  den  fernsten  Gegen- 
den des  Weltalls  zu  bringen.  Die  Ausnahmen  bilden  die  Meteore 
und  Sternschnuppen,  die,  in  ihren  Bahnen  durch  den  Widerstand  unserer 
Atmosphäre  aufgehalten,  zur  Erdoberfläche  herabfallen  und  alsdann 
den  sorgfältigsten  Untersuchungen  unterworfen  werden  können.  Viel- 
leicht könnte  man  gewisse  elektrische  Einflüsse,  welche  die  Sonne 
auf  den  Erdmagnetismus  auszuüben  scheint,  noch  zu  diesen  Aus- 
nahmen reohnen;  jedenfalls  aber  spielt  in  unserer  Erkenntnifs  der 
Aufsenwelt  das  Licht  eine  so  beherrschende  Holle,  dafs  der  kurze  Hin- 
weis auf  die  Ausnahmen  genügt,  um  im  weiteren  das  Licht  als  den 
einzigen  Himmelsboten  bezeichnen  zu  können.  Es  ist  hierbei  aller- 
dings erforderlich,  das  Licht  in  seinem  allgemeinsten  Begriffe  aufzu- 
iassen,  als  Aetherschwingungeu  überhaupt,  sei  es  nun,  dafs  dieselben 
so  langsam  erfolgen,  dafs  sie  nur  noch  unserem  Gefühle  als  Wärme 
erkennbar  und  im  Bolometer  oder  Thermometer  mefsbar  sind,  oder 
aber,  dafs  das  Auge  sie  wegen  ihrer  schnellen  Aufeinanderfolge  nicht 
mehr  aufzufassen  vermag  und  nur  noch  die  photographische  Platte  von 
ihrer  Existenz  Zeugnifs  ablegen  kann.  Wir  dürfen  also  z.  B.  dioThat- 
sache,  dafs  gewisse  neblige  Verdichtungen  in  planetarischen  Nebeln 
dem  Auge  nicht  direkt,  sondern  nur  durch  das  Hülfsmittel  der  Photo- 
graphie wahrnehmbar  gemacht  werden  können,  nicht  in  das  Gebiet  der 
Astronomie  des  „Unsichtbaren“  verweisen,  ebensowenig  wie  die  Erfor- 
schung des  ultrarothenSonnenspektrum8,sondern  wir  wollen  im  Folgenden 
bei  der  Besprechung  dieses  Zweiges  der  Astronomie  nur  die  Erkennt- 
nifs solcher  coelestischen  Objekte  berühren,  die  überhaupt  oder 
wenigstens  bei  ihrer  Erforschung  unsichtbar  waren.  Aber  auch  hier- 
bei müssen  wir  uns  noch  gewisse  Beschränkungen  auferlegen.  So 


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wird  uns  gewifs  niemand  widersprechen,  wenn  wir  die  Behauptung 
aufstellen,  dafs  die  uns  völlig  unsichtbare  Rückseite  des  Mondes  eine 
konvexe  Fläche  sei,  und  dafs  auf  derselben  auch  Berge  und  Krater  be- 
findlich wären,  und  doch  wollen  wir  uns  dessen  nicht  rühmen;  oder, 
wenn  ein  Astronom  mit  Hülfe  der  Elemente  eines  gut  berechneten 
periodischen  Kometen,  auch  zur  Zeit  seiner  Unsichtbarkeit  den  Ort 
desselben  innerhalb  unseres  Sonnensystems  mit  einer  sehr  beträcht- 
lichen Genauigkeit  angeben  kann,  so  wollen  wir  ihm  deshalb  nicht 
die  Ehre  einer  Entdeckung  aus  dem  Gebiete  des  Unsichtbaren  zu- 
sprechen. 

Es  sollen  demnach  in  den  folgenden  Zeilen  nur  die  Entdeckun- 
gen von  Himmelskörpern  besprochen  werden,  deren  Existenz  ohne 
vorherige  Betrachtung  im  Fernrohr  erkannt  worden  ist.  Bei  der 
grofsen  Wichtigkeit  solcher  Entdeckungen  sind  dieselben  natürlich 
auch  in  die  weitesten  Kreise  gedrungen,  und  sie  werden  jedem,  der 
einmal  eine  populäre  Astronomie  gelesen  hat,  bekannt  sein;  auch  sind 
die  neuen  Entdeckungen  diesor  Art  bereits  in  diesen  Blättern  be- 
sprochen worden;  vielleicht  aber  dürfte  eine  Darstellung  dieser  Tri- 
umphe der  Astronomie,  von  einheitlichem  Gesichtspunkte  ausgehend, 
doch  den  meisten  Lesern  noch  einiges  Interessante  bieten;  vielleicht 
gelingt  es  auch  dem  Verfasser,  zuweilen  einen  Gedankengang  zu  er- 
öffnen, der  dem  Laien  neu  und  lehrreioh  sein  könnte. 

Wir  haben  also  festgesetzt,  daß  es  nicht  der  von  dem  betreffen- 
den Körper  ausgesandte  Lichtstrahl  sein  soll,  welcher  zu  seiner  Ent- 
deckung verhilft;  da  wir  aber  oben  das  Licht  als  einzigen  Boten  aus 
dem  Weltall  bezeichnet  haben,  so  mufs  es  also  der  von  einem  anderen 
Körper  uns  zugesandte  Lichtstrahl  sein,  der  die  Existenz  des  unbe- 
kannten Körpers  verräth;  der  letztere  mufs  also  auf  den  ersten  irgend 
einen  Einflufs  ausüben,  der  seinerseits  irgend  eine  Aenderung  in  dem 
uns  zukommenden  Liehtstrahle  bewirkt. 

Die  einzige  auf  unermeßliche  Entfernungen  erkennbare  Einwirkung, 
die  nun  ein  Himmelskörper  auf  den  anderen  ausüben  kann,  besteht  in  der 
Anziehung  oder  Gravitation,  welohe  eine  Ortsveränderung  des  sichtbaren 
Gestirns  bewirkt.  Diese  Ortsveränderung  ist  es,  welche,  beobachtet  und 
richtig  gedeutet,  zur  Erkenntniß  des  anziehenden  oder  „störenden“ 
Körpers  führt,  seinen  Ort  am  Himmel  kennen  lehrt  und  eventuell  auch 
dann  seine  ^tatsächliche  Entdeckungbewirkt.  Während  so  die  Gravitation 
allein  das  Bindeglied  zwischen  bekannten  und  unbekannten  Himmels- 
körpern bildet,  kann  die  durch  dieselbe  hervorgerufene  Ortsverände- 
rung auf  zweierlei  Weise  erkennbar  sein.  Einmal  ändert  der  sicht- 


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bare  Körper  seine  scheinbare  Position  am  Himmel,  dann  wird  die  Richtung' 
des  von  ihm  ausgehenden  Lichtstrahls  geändert,  und  diese  Abweichung 
von  der  normalen,  natürlichen  Richtung  wird  beobachtet  Ein  anderes 
Mal  findet  aber  eine  merkliche  Positionsänderung  nicht  statt,  sondern 
es  resultirt  nur  eine  schnellere  oder  langsamere  Bewegung  des  sicht- 
baren Körpers,  deren  in  den  Visionsradius  fallende  Komponente  als- 
dann mit  Hülfe  des  Spektroskopes  unter  Benutzung  des  Doppl ersehen 
Prinzips  erkannt  werden  kann.  Beide  Beobachtungsmethoden  unter- 
scheiden sich  sehr  wesentlich,  indem  boi  der  ersten  nur  die  Richtung 
des  Lichtstrahls,  bei  der  letzteren  aber  gleichsam  das  Wesen  desselben 
verändert  wird,  und  so  müssen  wir  denn  auch  im  Folgenden  die  Ent- 
deckungen auf  dem  Gebiete  der  Astronomie  des  Unsichtbaren  streng 
nach  diesen  beiden  Richtungen  trennen. 

In  dem  ersten  Theile  unseres  Aufsatzes  mögen  also  die  Entdeckungs- 
geschichten des  Planeten  Neptun,  der  dunklen  Begleiter  von  Sirius 
und  Prooyon,  sowie  des  vierten  Sterns  in  dem  mehrfachen  Stemsystem 
J Cancri  aufgeführt  werden,  in  dem  zweiten  bringen  wir  dann  die 
Entdeckung  des  Algolbegleiters  und  der  verwandten  Systeme. 

Wie  schon  Eingangs  hervorgehoben,  können  wir  alle  diese  Ent- 
deckungen im  allgemeinen  als  bekannte  voraussetzen,  und  es  wird 
daher  genügen,  den  Gang  derselben  so  kurz  als  möglich  zu  geben, 
und  nur  an  einzelnen,  zum  Verstandnifs  wichtigeren  oder  interessanten 
Punkten  länger  zu  verweilen. 

Die  Entdeckung  des  Neptun. 

Der  französische  Astronom  Bouvard  hatte  für  die  Planeten  Jupiter 
und  Saturn  Tafeln  gerechnet,  welche  für  jeden  Zeitpunkt  die  Oerter 
dieser  Planeten  am  Himmel  recht  genau  anzugeben  vermochten,  so 
dafs  die  Bewegungen  dieser  beiden  Himmelskörper  vollständig  mit  der 
Gravitation  im  Einklänge  standen.  Als  or  zu  gleiohen  Zwecken  Tafeln 
für  den  im  Jahre  1781  von  Herschel  entdeckten  Planeten  Uranus 
konstruirte,  fand  er,  dafs  es  unmöglich  sei,  auch  unter  genauer  Be- 
rücksichtigung aller  Störungen  durch  die  übrigen  grofsen  Planeten, 
die  ganze  Beobachtungsreihe  mit  der  Theorie  in  Einklang  zu  bringen. 
Ohne  das  Riithsel  dieser  Erscheinung  lösen  zu  können,  verwarf  er 
daher  die  älteren  Beobachtungen  (vor  Herschel)  und  benutzte  nur 
diejenigen  von  1781  bis  1820,  an  welche  ein  genügender  Anschlufs 
der  Theorie  gelang.  Aber  schon  nach  wenigen  Jahren  erwiesen  sich 
die  Bouvardschen  Tafeln  als  nicht  ausreichend;  die  aus  ihnen  berech- 
neten Uranusörter  wichen  1844  bereits  um  2'  ab,  und  es  war  nur 


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*23 


natürlich,  dafs  sich  fast  alle  Astronomen  der  damaligen  Zeit  mit  diesem’ 
abnormen  Phänomen  beschäftigten.  Vielleicht  ist  es  Bessel  gewesen, 
der  zuerst  den  Gedanken  gehübt  hat,  die  Anomalien  der  Uranusbewegung 
den  Störungen  eines  noch  unbekannten  Planeten  zuzuschreiben;  er 
scheint  diesen  ‘Gedanken  zwar  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen  zu 
haben,  wohl  aber  bemerkt  er  schon  1823  in  einein  Briefe  an  0 Ibers, 
dafs  eine  strenge  Untersuchung  der  Uranusbewegüng  zu  der  „schönsten 
Bereicherung  der  Wissenschaft  leiten  müsse“.  Auch  hat  er  später, 
1838,  thutsiichlich  einen  seiner  Schüler,  Flemming,  veranlafst,  diese 
Untersuchung  xu  unternehmen,  doch  wurde  ihre  Ausführung  infolge 
des  .frühzeitigen  Todes  von  Flemming  verhindert. 

Wir  müssen  nun  den  Versuch  machen,  dom  Leser  die  Schwierig- 
keit der  Lösung  der  gestellten  Aufgabe  einigermafsen  klar  zu  machen. 
Die  Aufgabe  selbst  lautet:  Es  sind  Störungen  eines  Planeten  durch 
einen  anderen  imbekannten  gegeben,  es  soll  die  Bahn  des  unbekann- 
ten Planeten  und  sein  Ort  am  Himmel  zu  einer  gegebenen  Zeit  ge- 
funden werden.  Dies  ist  genau  die  Umkehr  der  in  der  Planeten- 
theorie immer  wiederkehrenden  und  schon  vielmal  mit  Erfolg  ge- 
lösten Aufgabe,  aus  den  bekannten  Bahnen  zweier  Planeten  ihre 
Störungen  zu  bestimmen.  Die  Lösung  der  ersten  Aufgabe  ist  aber 
keineswegs  die  direkte  Umkehr  der  Lösung  der  zweiten,  ja  ohne 
bestimmte  vorherige  Annahme  über  die  Balm  des  unbekannten  Planeten 
ist  die  Lösung  überhaupt  nicht  durchzuführtm,  und  diese  Annahmen 
mufsten  damals  die  folgenden  sein:  Der  unbekannte  Planet  bewegt 
sich  in  derselben  Richtung  und  derselben  Ebene  wie  Uranus,  die 
mittlere  Axe  seiner  Balm  ist,  entsprechend  dem  damals  als  fast  allgemein 
giltig  angenommenen  Bod eschen  Gesetze  über  die  Planetenentfernun- 
gen, die  doppelte  derjenigen  des  Uranus.  Es  genügte  alsdann  aber 
immer  noch  nicht,  die  übrigen  Elemente  und  die  Masse  des  unbekann- 
ten Planeten  als  Unbekannte  in  das  Problem  einzuführen,  sondern 
auch  die  Elemente  der  Uranusbahn  mufsten  gleichzeitig  mit  verbessert 
werden,  da  sie  ja  doch  unter  der  falschen  Annahme  gerechnet  worden 
waren,  dafs  die  beobachteten  Uranusörter  nur  durch  die  schon  be- 
kannten Planeten  beeiullufst  seien.  Weiter  aber  war  es  noch  erforder- 
lich, zu  prüfen,  ob  die  Rechnungen  Bouvards  keinen  Fehler  enthielten, 
da  es  noch  immer  denkbar  war,  die  Anomalie  der  Uranusbewegung 
auf  unrichtig  berechnete  Störungen  durch  Jupiter  etc.  zurückzuflihreu. 

Der  Anfangs  dieses  Jahres  verstorbene  euglisohe  Astronom 
J.  C.  Adams  war  es,  der  zum  ersten  Mal  (1843)  sich  an  die  Lösung 
dieser  verwickelten  Aufgabe  wagte  und  sie  mit  Erfolg  durchfubrte. 


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Schon  im  Oktober  1845  (heilte  der  damalige  Cambridger  Student  dem 
Direktor  der  Greenwicher  Sternwarte,  Airy,  die  hypothetischen  Ele- 
mente des  unbekannten  Planeten  mit,  die  jedoch  von  letzterem  etwas 
skeptisch  aufgenommen  wurden,  sodafs  eine  N’achsuchung  nach  dem 
Planeten  zunächst  unterblieb. 

Im  Jahre  1845  begann  auf  Veranlassung  Aragos  der  junge  Pariser 
Astronom  Leverrier  — von  der  Arbeit  Adams'  war  damals  nichts 
bekannt  — mit  der  Lösung  des  Problems  und  veröffentlichte  seine 
Resultate  184(5,  31.  August,  in  den  Comptes  Rendus.  Die  auffallende 
U Übereinstimmung  in  den  aus  den  Le verri ersehen  und  den  Adams- 
sehen  Elementen  berechneten  Oertern  des  hypothetischen  Planeten  er- 
regten nunmehr  doch  die  Aufmerksamkeit  des  Direktors  der  Cambridger 
Sternwarte,  Challis,  und  derselbe  begann  nunmehr  eine  systematische 
Nachsuchung  nach  dem  Planeten.  Bei  dem  Mangel  einer  brauchbaren 
Sternkarte  von  der  betreffenden  Himmelsgegend  konnte  das  Verfahren 
zur  Auffindung  des  Planeten  nur  darin  bestehen,  alle  Sterne  in  der 
Kühe  des  angegebenen  Ortes  wiederholt  zu  beobachten,  um  bei  einer 
Vergleichung  der  Beobachtungen  alsdann  den  Planeten  an  seiner  Be- 
wegung zu  erkennen.  Ein  rechtes  Vertrauen  in  die  Möglichkeit  der 
Auffindung  scheint  Challis  indessen  doch  nicht  gehabt  zu  haben,  er 
würde  sonst  sicherlich  seine  anderen  Arbeiten  zurückgesetzt  und  sofort 
die  Reduktion  der  Aufsuchungsbeobachtungen  vorgenommen  haben,  die 
ihn  dann  etwa  am  13.  August  wohl  schon  zur  Entdeckung  des  Planeten 
geführt  hätten,  den  er  bereits  am  4.  und  12.  August  thatsächlioh  be- 
obachtet hatte. 

Am  18.  September  1846  schrieb  Leverrier  an  den  damaligen 
Assistenten  der  Berliner  Sternwarte,  Dr.  Galle,  theilte  ihm  seine 
Resultate  mit  und  bat  ihn,  nach  dem  Planeten  zu  suchen.  Wie  bei 
den  meisten  wichtigen  Entdeckungen,  so  hat  sich  auch  an  diese  eine 
Reihe  von  Legenden  und  Entstellungen  geknüpft,  so  dafs  sich  fast  in 
keinem  populären  Werke  eine  richtige  Darstellung  derselben  findet; 
wir  haben  es  daher  für  interessant  gehalten,  hier  eine  streng  richtige 
Darstellung  der  Sachlage  zu  geben,  gleichzeitig  unter  erstmaliger 
Veröffentlichung  des  Leverrierschen  Briefes,  wozu  Verfasser  durch 
die  Freundlichkeit  des  Herrn  Geheimrath  Galle  in  Breslau  in  den 
Stand  gesetzt  worden  ist. 

Dr.  Galle  hatte  im  Jahre  vorher,  1845,  promovirt  und  zwar  mit 
einer  Abhandlung  über  eine  dreitägige  Beobachtungsserie  Römers 
aus  dem  Jahre  1706,  der  an  drei  aufeinanderfolgenden  Tagen  mit  dem 
zuerst  von  ihm  angewandten  Mittagsfernrohr  die  Uerter  der  Sonne, 


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des  Mondes  und  aller  damals  bekannten  Planeten,  sowie  aufserdem 
noch  88  Sterne  bestimmt  hatte.  Galle,  der  von  den  damals  schon 
angefangenen  Arbeiten  Leverriers  über  die  Uranusstürungen  nichts 
wufste,  dem  aber  wohl  die  frühere  Arbeit  Leverriers  über  die 
Säkularstörungen  der  Planeten,  insbesondere  des  Merkur,  bekannt 
waren,  sandte  seine  Dissertation  an  Leverrier  nur  in  der  Hoffnung, 
dafs  die  in  ihr  neu  reduzirten,  für  die  weit  zurückliegende  Zeit  sehr 
genauen  Planetenörter  für  die  Untersuchung  Leverriers  von  Nutzen 
sein  könnten.  Leverrier  hat  diese  Oerter  zwar  nicht  benutzt,  die 
Zusendung  der  Dissertation  war  aber  für  ihn  die  Veranlassung,  nach 
Abschlufs  seiner  Rechnungen  über  den  neuen  Planeten  an  Galle  ein 
Dankschreiben  zu  senden  und  ihn  bei  dieser  Gelegenheit  direkt  zur  Auf- 
suchung des  Planeten  aufzufordem.  Ohne  diesen  vorausgehenden,  zu- 
fälligen Umstand  würde  also  die  Entdeckungsgeschichte  Neptuns  eiuen 
durchaus  anderen  Verlauf  genommen  haben.  Der  Brief  Leverriers 
lautet  in  wörtlicher  Uebersetzung: 

Paris,  den  18.  Sept.  1846. 

Mein  Herr! 

-Ich  habe  mit  vielem  Interesse  und  Aufmerksamkeit  die  Reduktion 
der  Köm  ersehen  Beobachtungen  gelesen,  von  welcher  Sie  mir  gütigst 
ein  Exemplar  zugesandt  haben.  Die  vollendete  Durchsichtigkeit  Ihrer 
Erklärungen  und  die  vollständige  Strengt;  der  Resultate,  welche  Sie 
uns  geben,  stehen  auf  der  Höhe  dessen,  was  wir  von  einem  so 
geschickten  Astronomen  erwarten  mufsten.  Später  werde  ioh  mir  die 
Erlaubnifs  nehmen,  auf  mehrere  Punkte  zurückzukommen,  die  mich 
interessirt  haben,  und  besonders  auf  die  Beobachtungen  des  Merkur, 
die  (in  Ihrer  Arbeit)  enthalten  sind. 

Heute  möchte  ioh  von  dem  unermüdlichen  Beobachter  verlangen, 
dafs  er  einige  Augenblicke  der  Durchforschung  einer  Region  des 
Himmels  widmen  möge,  wo  es  einen  Planeten  zu  entdecken  geben 
kann.  Es  ist  die  Theorie  des  Uranus,  welche  mich  auf  dieses  Resultat 
geführt  hat.  Ein  Auszug  meiner  Untersuchungen  wird  in  den  Astron. 
Nachrichten  erscheinen.  Ich  hätte  es  also  unterlassen  können,  Ihnen 
hiervon  zu  schreiben,  wenn  ich  nicht  die  Pflicht  zu  erfüllen  gehabt 
hätte,  Ilinen  für  das  interessante  Werk,  welches  Sie  mir  zugesandt 
haben,  zu  danken."  , 

Es  folgen  jetzt  Angaben  über  den  neuen  Planeten  und  die  sioh 
für  denselben  ergebenden  Elemente,  dann  heifs;  es  w'eiter: 

„Uebrigens  erlaubt  es  die  Gröfse  seiner  Masse,  zu  sohliefsen, 
dafs  die  Gröfse  seines  scheinbaren  Durchmessers  mehr  als  3"  beträgt. 


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Dieser  Durchmesser  ist  also  durchaus  so  beschaffen,  dafs  Pr  in  guten 
Fernrohren  von  dom  künstlichen  Durchmesser,  welchen  verschiedene 
Aberrationen  den  Sternen  geben,  zu  unterscheiden  ist. 

Genehmigen  Sie,  mein  Herr,  die  Versicherung  der  Hochachtung 

Ihres  ergebenen  Dieners 
N.  J.  Le  Verrier. 

Wollen  Sie  gütigst  Herrn  Encko,  obgleich  ioh  nicht  die  Ehre 
habe,  ihm  bekannt  zu  sein,  die  Versicherung  meiner  tiefsten  Ver- 
ehrung mittheilen.“ 

Diesen  Brief  erhielt  Galle  am  Morgen  des  23.  September  und 
theilte  ihn  sofort  Encke  mit,  der  nuumehr,  nachdem  er  sich  vorher 
sehr  zweifelnd  und  ablehnend  über  die  schon  bekannt  gewordene 
Angelegenheit  ausgesprochen  hatte,  der  Aufsuchung  des  Planeten 
durch  Galle  zustimmte. 

D’Arrest,  der  sich  damals  zu  seiner  weiteren  Ausbildung  an 
der  Berliner  Sternwarte  befand,  bat  sich  die  Erlaubnis  aus,  der  Auf- 
suchung beizuwohnen,  die  an  demselben  Abende  vorgenommeu  wurde. 
Galle  versuchte  zuerst  den  Planeten  an  seiner  Scheibe  zu  erkennen, 
was  jedoch  nicht  zum  Ziele  führte  (der  Durchmesser  betrug  thatsiichlich 
nur  wenig  über  2"),  und  so  mufste  an  die  Beschaffung  einer  Sternkarte 
gedacht  werden.  D'Arrest  schlug  vor,  einmal  nachzusehen,  ob  unter 
den  noch  sehr  lückenhaft  vorhandenen  akademischen  Sternkarten 
vielleicht  die  betreffende  Gegend  schon  fertig  sei,  und  in  der  Thal 
fand  sich  die  hora  22  von  Bremioker  vor,  die  erst  kürzlich  vollendet 
und  durch  den  Buchhandel  noch  nicht  verbreitet  war.  Mit  Hülfe 
dieser  Karte  fand  Galle  sehr  bald  einen  Stern  8-ter  Gröfse,  der,  auf 
der  Karte  nicht  vorhanden,  verdächtig  erschien.  Bis  gegen  Morgen 
wurden  Beobachtungen  dieses  Sterns  vorgcnommon,  an  denen  auch 
Encke  theilnahm,  doch  gelang  es  nicht,  eine  Bewegung  des  Sterns  mit 
Sicherheit  zu  konstatiren,  und  so  mufste  noch  der  folgende  Abend 
ubgewartet  werden,  an  welchem  sich  dann  die  Identität  mit  dem 
gesuchten  Planeten  als  zweifellos  herausstellte. 

Nachdem  wir  nun  gesehen  haben,  dafs  die  Rechnungen  von 
Leverrier  und  Adams  den  Ort  des  hypothetischen  Planeten  so 
genau  geliefert  hatten,  dafs  eine  Auffindung  desselben  besondere 
Schwierigkeiten  nicht  bot,  wollen  wir  nunmehr  poch  kurz  betrachten, 
wie  nahe  die  Elemente  der  Bahn,  aus  welchen  schliefslich  doch  der 
Ort  berechnet  wird,  der  Wahrheit  entsprechen,  und  stellen  daher 
zunächst  dieselben  nach  der  Rechnung  von  Leverrier  und  Adams 
mit  den  wahren,  später  gefundenen  Elementen  zusammen. 


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Leverrier  Adams 

halbe  grofse  Axe  . . . 36.15  37.25 

Exzentrizität  ....  0.1076  , 0.1206 

Länge  dog  Perihels  . . 285  ° 299° 

Masse  (Sonne  = 1)  . . 0.0001  0 00015 

Neigung 0°  0° 


wahre  Elemente 

30.0.i 

0.0090 

46° 

0.00005 

1.8° 


Ein  Blick  auf  diese  Zahlen  lehrt,  dafs  bei  befriedigender  Ueber- 
einstimmung  der  Elemente  von  Leverrier  und  Adams  untereinander, 
die  Abweichung  von  den  wahren  Elementen  eine  ganz  enorme  ist, 
eine  so  grofse,  dafs  die  berechneten  Elemente  geradezu  als  illusorische 
bezeichnet  worden  müssen.  Einigermafsen  stimmt  nur  die  Annahme, 
dafs  die  Neigung  nvdl  sei,  da  sie  thatsäehlich  sehr  gering  ist,  — und 
noch  nicht  2°  beträgt.  Dagegen  ist  die  nach  dem  Bodeschen  Gesetze 
angenommene  grofse  Axe  um  rund  125  Millionen  geographische  Meilen 
zu  grofs,  die  Exzentrizität  ist  mehr  als  10  mal  zu  grofs,  und  die 
Lange  des  Perihels  weicht  von  der  wahren  um  mehr  als  100°  ab, 
sie  liegt  in  einem  ganz  falschen  Quadranten.  Die  Masse  ist  um  mehr 
als  das  Doppelte  zu  grofs  gefunden  worden. 

Rechnet  man  aber  aus  den  Le verrierschen  oder  Adamsschen 
Elementen  die  Bahn  des  Neptun  am  Himmel  während  der  Jahre,  aus 
welchen  die  Rechnungen  erhalten  worden  sind,  so  ergiebt  sich  eine 
auffallend  nahe  Uebereinstimmung  mit  der  Wahrheit,  die  total  falschen 
Elemente  liefern  einen  fast  richtigen  scheinbaren  Weg  des  Gestirns. 
Und  dieser  Umstand  darf  nicht  etwa  Verwunderung  erregen,  noch 
weniger  darf  man  den  beiden  Rechnern  einen  Vorwurf  machen,  denn 
man  sieht  ja  eben,  dafs  die  errechnete  Bahn  sehr  nahe  dieselben 
Störungen  auf  Uranus  ausüben  würde  als  die  wahre,  und  aus  den 
Störungen  ist  ja  alles  gerechnet.  Es  ist  viel  leichter,  ein  Stück  einer 
scheinbaren  Bahn  auf  dem  Leverrierschen  Woge  richtig  zu  finden, 
als  die  Elemente,  da  man  eine  grofse  Menge  von  Variationen  der 
letzteren  angeben  kann,  weicht'  ein  kurzes  Bahnstüok  alle  gleich  gut 
darstellen.  Ein  Beispiel  wird  dies  noch  klarer  stellen.  Die  Entfernung 
des  Planeten  wurde  um  '/s  zu  grofs  angenommen;  um  dies  einiger- 
mafsen  zu  kompensiren,  ergab  sich  eine  10  mal  so  grolse  Exzentrizität 
und  gleichzeitig  eine  solche  — falsche  — Lage  des  Perihels,  dafs  für 
die  Zeit  der  Neptunentdeckung  der  fehlerhafte  Betrag  der  Entfernung 
des  Planeten  von  der  Sonne  von  125  Millionen  Meilen  auf  60  Millionen 
Meilen  reduzirt  wurde.  Um  diesen  Betrag  war  er  noch  zu  weit  von 
Uranus  entfernt;  um  die  richtigen,  und  nicht  zu  kleine  Störungen  zu 
geben,  mufste  entsprechend  seine  Masse  gröfser  ausfallen,  wie  dies 
in  der  That  geschah. 


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•28 


Es  hält  eben  schwer,  in  diesem  Falle  zu  entscheiden,  was  mehr 
zu  bewundern  ist,  die  Geschicklichkeit  der  beiden  Astronomen,  die 
ein  in  Strenge  unlösbares  Problem  mit  solchem  Erfolge  lösten,  oder 
die  staunenswerthe  Logik  der  mathematischen  Analyse,  die  selbst  in 
den  verwickeltsten  Fällen  aus  den  in  das  Problem  eingeführten 
richtigen  Daten  auch  die  einzig  richtigen  Resultate  liefert,  wenn  auch 
die  quasi  nebensächlichen  Einzelheiten  verfehlt  erscheinen. 

Auf  die  Geschichte  der  Neptunentdeckung  wird  die  Menschheit 
immer  mit  Stolz  zurückblicken  können. 

(Fortsetzung  folgt.) 


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Parallelen. 

Betrachtungen  über  die  einheitlichen  Züge  im 
N aturgesc  liehen. 

Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 

jWIan  pflegt  gewöhnlich  zu  behaupten,  der  Mensch  erst  habe  es 
, i verstanden,  die  Natur  seinem  Willen  zu  unterwerfen,  sie  be- 
wufst  zu  seinem  Nutzen  anzuwenden.  In  der  Thal,  wenn  man 
dem  Menschen  allein  einen  Willen  beimifst,  ist  das  ja  selbstverständ- 
lich. Aber  seit  die  neue  Weltanschauung,  welche  unseren  Horizont 
durch  die  Entdeckungen  der  Kolumbus,  Kopernikus,  Galilei, 
Newton,  Darwin,  Robert  Mayer  auf  den  verschiedensten  Gebieten 
der  Naturforschung  so  wesentlich  erweiterte,  uns  zugleich  um  ein 
gutes  Stück  bescheidener  gemacht  hat,  da  diese  Weltanschauung  uns 
aus  dem  zentralen  Standpunkte,  welchen  der  Mensoh  als  eine  Sonder- 
schöpfung,  als  ein  Halbgott  beanspruchte,  verdrängt  hat  und  ihn  mitten 
in  das  Getriebe  des  Naturgeschehens  und  von  ihm  als  dessen  Produkt 
in  allen  Regungen  abhängig,  versetzte,  seitdem  fällt  eines  nach  dem 
anderen  von  jenen  angemafsten  Vorrechten  des  Menschen  gegenüber  den 
anderen  Naturgeschopfeu  Und  wie  man  auch  als  Philosoph  über  die 
Frage  von  der  Freiheit  unseres  Willens  denken  mag,  so  mufs  man 
doch  heute  zweifellos  anerkeuncn,  dafs  dasjenige  Agens,  welches  wir 
unseren  Willen  nennen,  auch  bereits  in  anderen  unter  uns  stehenden 
thierischen  Wesen  in  entsprechend  beschränkterem  Mafse  auftritt  Der 
unfafsliche  Begriff  des  Instinktes  ist  aus  unserer  Weltanschauung  längst 
verdrängt  worden.  Die  Thiere  begehen  ebenso  gut  wie  wir  bewufst 
zweckmäßige  Handlungen. 

Und  sie  verwenden  auch  bereits  die  Naturkräfte  bewufsterweise 
zu  ihrem  Nutzen.  Allerdings  ging  ihre  Intelligenz  nicht  so  weit,  dafs 
sie  im  stände  gewesen  wären,  analysirend  sich  aus  der  fast  unentwirr- 
baren Gesamtheit  der  Naturwirkungen  eine  besondere,  sagen  wir  die 
Wärme  oder  gar  die  Elektrizität  herauszunehmen,  um  diese  zu  ihren 


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besonderen  Zwecken  zu  verwenden.  Aber  es  ist  ohne  Zweifel  als  ein 
Anfang  zu  dieser  merkwürdigen  Entwickelung  zu  betrachten,  wenn 
fertige  Naturprodukte,  lebende  Wesen,  von  anderen  zu  ihren  speziellen 
Zwecken  bewufst  ausgenutzt  werden.  Bei  den  Ameisen  begegnen  wir 
bekanntlich  den  merkwürdigsten  Fällen  dieser  Art.  Die  Ameisen 
halten  sich  ihre  Milchkühe,  bekanntlich  Blattläuse,  die  sie  pflegen  und 
regelmiifsig  melken,  wie  wir  es  in  unseren  Milchwirthschaften  thun. 
Sie  treiben  Ackerbau,  sie  pflügen  das  Land,  sie  säen  und  ernten;  das 
heifst,  sie  nutzen  die  Fruchtbarkeit  des  Bodens  durch  ihren  besonderen 
direkten  Einflufs  zu  ihrem  Vortheil  aus. 

Aehnliche  Beispiele  liefsen  sich  zu  Hunderten  namentlich  bei  den 
Hausthieren  anftihren.  Sie  sollen  uns  hier  nur  beweisen,  dafs  die 
Keime  dieser  merkwürdigen  Entwickelung,  deren  glänzendste  Erfolge 
unser  Zeitalter  der  Naturwissenschaften  sah,  bereits  tief  im  Thierreiche 
wurzeln. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  dieser  Tbatsache  gegenüber,  wie  jung 
das  Menschengeschlecht  im  Vergleich  zum  Stammbaum  der  Thierwelt 
ist,  aus  dem  es  aufwmohs  — wir  müssen  heute  annehmen,  dafs  die 
ersten  Geschöpfe,  welche  auf  den  Namen  „Mensch“  Anspruch  erheben 
durften,  zwischen  einer  der  letztverflossenen  grofsen  Eiszeiten  auf- 
traten, die  vor  vermuthlich  50 — 100000  Jahren  die  nördlichen  Gebiete 
von  Amerika  und  Europa  bis  zu  den  Berggipfeln  mit  starrem  Eise 
überzogen  — vergegenwärtigen  wir  uns,  sage  ich,  gegenüber  der  Jugend 
des  Menschengeschlechtes  die  recht  langsame  Entwickelung  dieses 
neuen  Naturprinzips,  nach  welchem  die  Lebewesen  selbst  durch  ihren 
eigenen  Willen  an  der  Leitung  des  Fortschritts  der  allgemeinen  Natur- 
entfaltung theilnehmen,  so  müssen  wir  davon  überzeugt  sein,  dafs 
dieses  ganz  wunderbare  Prinzip,  dieser  Funke  göttlicher  Schöpferkraft, 
der  in  uns  lebt,  noch  ganz  ungeahnte  Fortschritte  zu  machen  bestimmt 
ist  und  dafs  die  Menschengeschlechter  kommender  Zeitalter  in  einer 
wahren  Märchenwelt  leben  werden,  welche  sie  aus  ihrer  eigenen  Kraft 
heraus  sioh  aufbauten. 

Mögen  wir  die  gröfsten  Erfindungen  unserer  Edisons  auch 
noch  so  sehr  anstaunen,  so  werden  doch  unsere  Nachkommen, 
wenn  sie  naoh  einigen  Zehnern  von  Jahrtausenden  die  Erdablagerun- 
gen unserer  Zeit  wieder  aufwühlen  und  darin  die  Modelle  unserer 
Dampfmaschinen  oder  auch  die  elektrischen  Anlagen  unserer  neueren 
Zeit  auffinden,  nur  ein  mitleidiges  Lächeln  für  uns  haben  und  es  kaum 
begreifen,  wie  doch  offenbar  intelligente  Wesen  so  unpraktische  Werk- 
zeuge und  Einrichtungen  benutzen  konnten,  um  dadurch  die  Natur- 


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31 


kräfte  in  ihren  Dienst  zu  zwingen.  Ganz  gewifs  werden  sehr  viele 
Vorrichtungen  kommender  Zeitalter  sich  zu  den  gegenwärtigen  so 
verhalten,  wie  etwa  unsere  Art  des  Feueranzündens  zu  der  unendlich 
mühsamen  Art  und  Weise,  vermittels  welcher  primitive  Völker  der  Vor- 
zeit oder  die  heutigen  Indianerstämme  durch  oft  stundenlanges  Reiben 
und  Bohren  die  Moleküle  in  derartige  Schwingungen  zu  versetzen 
wissen,  welche  den  chemischen  Prozefs  der  aufllammenden  Oxydation 
einleiten. 

In  der  That  kann  man  sich  beim  Anblick  unserer  modernen, 
riesenhaften,  schwerfälligen  Maschinen  des  Eindrucks  kaum  erwehren, 
als  sei  hier  die  menschliche  Technik  zur  Bezwingung  der  Naturge- 
walten auf  einen  durchaus  unnatürlichen  Abweg  gerathen.  Die  Natur 
selbst  schafft  ihre  grofsen  Thaten,  gegen  welche  doch  unsere  mensch- 
lichen Werke  ewig  Kinderspiel  bleiben  werden,  allein  nur  durch 

unendliche  Summirung  allerkleinster  Effekte.  So  riesige  Maschinen, 

/ 

welche  nur  einen  besonderen,  einseitigen  Zweck  verfolgen,  wie  die 
des  Menschen,  brachte  die  Natur  nirgends  hervor;  oder  wenn  sie 
wirklich  einmal  zu  Urzeiten  der  Entwickelung  der  organischen  Welt 
Organismen  von  riosenhaften  Dimensionen  schuf,  w’ie  beispielsweise 
die  bis  zu  30  Meter  langen  Saurier  der  Jurazeit  oder  die  Rieson- 
säugethiere  des  Diluvium,  so  mufste  der  Erfolg  lehren,  dafs  hier  ein 
Mifsgriff  vorlag,  aus  dem  dauernd  Bestandfähiges  nicht  hervorgehen 
konnte.  Auch  baut  die  Natur  gerade  das,  was  sie  am  meisten  bestand- 
fähig  machen  will,  nioht  wie  der  kurzsichtige  Mensch  aus  möglichst 
hartem  Material  — denn  der  Zahn  der  Zeit  schreckt  vor  dem  Härtesten 
nioht  zurück  — sondern  sie  sorgt  von  vornherein  dafür,  dafs  die  beim 
Betriebe  ihrer  Maschinen  nothwendig  angegriffenen  Theile  durch  die 
Wirkung  der  Maschine  selbst  dauernd  wieder  ersetzt  werden.  Wollen 
wir  aber  mit  der  Natur  erfolgreich  rivalisiren,  so  können  wir  nichts 
Besseres  thun,  als  sie  zu  kopireu  versuchen.  Dagegen  zeigt  doch 
der  erste  Blick  und  nicht  minder  das  eingehendste  Studium,  dafs  die 
Natur  nirgends  Maschinen  konBtruirt  hat,  die  im  Prinzip  den  unsrigen 
ähnlich  wären,  es  sei  denn  etwa,  dafs  in  ganz  jüngster  Zeit  unsere 
Ingenieure  bereits  in  der  angedeuteten  Richtung  begannen,  die  Natur 
zu  belauschen,  wie  z.  B.  die  der  Einrichtung  unseres  Herzens  ähn- 
liche Pulsometerpumpe  beweist.  Ferner  könnte  man  die  sich  selbst 
an  den  betreffenden  Reibungsstellen  mit  Oel  versehenden  Maschinen 
als  ein  Zeichen  der  zwar  völlig  unbewufsten  Entwickelung  in  dem 
Sinne  des  fortwährenden  Ersatzes  angegriffener  Theile  des  Organismus 
auffassen.  Es  ist  ganz  und  gar  nicht  zweifelhaft,  dafs  in  kommenden 


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32 


Jahrhunderten  in  diesem  Sinne  eine  vollkommene  Umwiilzuug  unseres 
Maschinenbauwesens  stattfinden  muß. 

Die  neueren,  ungemein  bedeutungsvollen  Forschungen  haben 
weiter  gezeigt,  daß  die  allerwichtigste  Thätigkeit  der  Natur,  nämlich 
die  Umsetzung  der  anorganischen,  toten  Materie  in  lebendige  Theile 
des  Pflanzenorgani8mus,  ausschließlich  nur  in  den  allerfeinsten  Haar- 
röhrchen der  Pflanzen  stattfindet.  Hier  gehen  chemische  Umsetzungen 
vor  sich,  von  denen  sich  die  Chemiker  bisher  nichts  träumen  liefsen, 
welche  letzteren  jenen  subtilsten  wählerischen  Bewegungen  der  un- 
sichtbar kleinen  Atome  mit  ihren  plumpen  Destillirkolben  und  Tiegeln 
vergebens  zu  Leibe  zu  gehen  versuchten.  Es  mufs  eine  ganz  neue 
Kapillar-  oder  Haarröhrchenchemie  geschaffen  werden,  welche  uns 
einstmals  lehren  wird,  wie  man  in  toten  Gefäßen  von  allerkleinsten 
Dimensionen  die  Atome  der  vier  Organogene  Wasserstoff,  Kohlenstoff, 
Sauerstoff,  Stickstoff  zwingt,  in  derartige  Verbindungen  mit  einander 
zu  treten,  dafs  dieselben  fiir  uns  nahrhafte  Substanzen  bilden,  welche 
bisher  nur  die  Pflanzen  hervorzubringen  vermögen  Damit  wird  dann 
mit  einem  Schlage  die  soziale  Frage  gelöst  sein,  da  es  an  diesen  vier 
Organogenen  nirgends  in  der  Welt  jemals  fehlen  kann  und  jedermann 
also  dann  im  Stande  sein  wird,  seine  Nahrungsmittel  im  eigenen  Hause 
unabhängig  von  Wind,  Wetter  und  Jahreszeiten  heranreifen  zu  lassen. 

Alle  diese  und  noch  viele  andere  hier  nicht  angeführte  Ge- 
sichtspunkte müssen  jedem  intelligenten  Menschen,  welcher  nur  ein 
wenig  über  den  Kreis  des  für  den  Moment  Allernothwondigsten  hin- 
ausdenkt, die  hohe  Wichtigkeit  vor  Augen  fuhren,  welche  für  uns 
die  Erkenntniß  der  Naturgewalten  eben  zum  Zwecke  ihrer  Unterwerfung 
besitzt  Die  Natur  soll  unser  Werkzeug  werden;  wie  wäre  es  möglich, 
dasselbe  nützlich  anzuwenden,  wenn  wir  seine  Eigenschaften  nicht 
kennen?  Und  Niemand  sage  sich,  daß  er  dieses  Werkzeuges  nicht 
bedürfe  und  auch  Niemand  glaube,  dafs  er  nicht  im  stände  sei,  durch 
Studium  und  Beobachtung  der  Naturwirkungen  einmal  eine  wuchtige 
Entdeckung  zu  machen.  Zwar  viele  arbeiten  bereite  mit  fieberhafter 
Erregung,  den  Schleier  der  Naturgeheimnisse  zu  lüften,  aber  die  Natur 
ist  unendlich  groß  und  unendlich  vielseitig,  und  oft  kommt  deshalb 
ein  epochemachender  Aufschluß  über  das  Naturgeschehen  von  ganz 
unerwarteter  Seite  her.  In  diesem  Sinne  anzuregen,  vorzubilden,  zu 
spornen,  damit  Jedermann  in  den  Stand  gesetzt  sei,  die  Thätigkeit 
und  die  Werke  der  Natur  mindestens  kennen  zu  lernen,  oder  sogar 
zu  ihrer  Erforschung  mitzuwirken,  ist  das  Berliner  Urania  - Institut 
entstanden,  dessen  Organ  die  vorliegende  Zeitschrift  ist. 


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33 


Aber  die  Begründer  desselben  sagten  sich  von  vornherein,  dafs 
es  für  eine  lebendige  Auffassung  des  Naturalwaltens  nothwendig  sei, 
dasselbe  möglichst  in  seiner  Gesamtheit  vorzuführen,  damit  dem  Be- 
sucher nicht  nur  die  Theile  einzeln  vorgeführt  würden,  aus  denen  das 
lebendige  Weltbild  sich  zusammenflicht,  sondern  dafs  er  zugleich 
auch,  wenn  er  ein  klein  wenig  weiter  denken  will,  die  Verbindungen 
entdeckt,  durch  welche  alle  Naturwirkungen  mit  einander  verschmelzen. 
Denn  die  Naturwissenschaft  beginnt  nun  endlich  aus  jenen  Kinder- 
jahren herauszuwachsen,  in  welchen  man  nur  zu  analysiren,  d.  h.  das 
Gewebe  der  tausendfältigen  Wirkungen  auseinander  zu  lösen  suchte, 
so  etwa,  wie  es  der  neugierige  Knabe  mit  einem  Spielzeug  macht, 
das  er  zertrümmert,  um  zu  sehen,  welch  geheimnifsvolle  Einrichtung 
sich  in  dessen  Innern  befindet.  In  der  That  aber  war  jene  analytische 
Methode  eine  absolut  nothwendige,  weil  die  schwache  menschliche 
Kraft  ja  nur  immer  ein  Ding  nach  dem  anderen  zu  studiren  vermag. 
Hatten  wir  erst  die  einzelnen  Wirkungen  einigermarsen  verstanden,  so 
vermochten  wir  uns  schliefslich  wohl  auch  ein  Gesamtbild  ihres 
organischen  Zusammenwirkens  vorzustellen;  doch  müssen  wir  stets 
vor  Augen  behalten,  dafs  wir  die  Zertrennung  des  Naturganzen  zum 
Zweck  unseres  Studiums  fast  ohne  alle  Vorkenntnisse  willkürlich  Vor- 
nahmen. Wir  zerlegten  eben  das  Naturgefüge,  ehe  wir  dasselbe  seiner 
inneren  Struktur  nach  kannten  und  stellten  also  dort  Trennungslinien 
nach  unserem  Ermessen  resp.  nach  den  empfangenen  physiologischen, 
d.  h.  also  subjektiven  Eindrücken  her,  wo  solche  naturgemäfs  in  den 
meisten  Fällen  gewifs  garnicht  berechtigt  sind,  das  heilst  unsere 
Systematik  ist  ursprünglich  durchaus  keine  natürliche,  und  wir  dürfen 
uns  deshalb  ganz  und  garnicht  darüber  wundern,  wie  es  doch  so  viel- 
fach geschieht,  dafs  wir  zwischen  den  Naturkräften  allerorten  Ueber- 
gänge  wahrnehmen,  welche  beispielsweise  Schall,  Wärme,  Licht,  Elek- 
trizität oder  physikalische  mit  ohemischen  Erscheinungen  verbinden. 
Grenzen  zwischen  diesen  Erscheinungen  existiren  eben  in  der  Natur 
nicht  oder  doch  nur  selten  da,  wo  wir  solche  hineintrugen.  Das  Hilfs- 
gerüst beginnt  nun  endlich  zu  schwanken;  es  wird  einmal  ganz  un- 
nütz werden,  wenn  der  Bau  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnifs 
wenigstens  in  seinen  äufseren  Umfassungsmauern  vollendet  sein  wird. 

Alle  Erscheinungen  in  der  Natur  kommen  zweifellos  in  letzter 
Linie  auf  Bewegungen  hinaus,  welche  die  allerkleinsten  unsichtbaren 
Theilchen  der  Materie,  die  Atome  oder  Moleküle  ausführen.  Nur  die 
Gröfse  und  die  Eigenart  der  Bewegungen  charakterisiren  die  Naturer- 
scheinungen. So  können  beispielsweise  diese  Bewegungen  geradlinige 
Himmel  und  Erde.  lStä.  V.  1.  3 


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34 


und  gleichmäfsig  fortschreitende  sein,  oder  sich  allmählich  beschleuni- 
gende, kreisförmige  oder  in  Wellenlinien  fortschreitende  oder  auch 
hin-  und  herpendelnde  oder  endlich  rotirende,  bei  denen  der  Schwer- 
punkt der  Masse  sich  nicht  von  der  Stelle  bewegt,  während  die  ganze 
Masse  sich  um  sich  selbst  dreht. 

Alle  diese  Bewegungen  kommen  in  der  Natur  zweifellos  vor; 
wir  beobachten  sie  an  den  grofsen  Massenansaminl ungen,  welche  wir 
in  physikalischen  Laboratorien  oder  auch  am  Himmel  vor  uns  sehen: 
In  geradlinig  fortschreitender  Bewegung  scheinen  sich  die  Fixsterne 
und  unser  ganzes  Sonnensystem  zu  befinden,  so  weit  wir  es  über- 
sehen können.  Eine  beschleunigte  Bewegung  führt  der  fallende  Stein 
aus,  eine  kreisende  und  rotirende  Bewegung  die  Erde  und  fast  alle 
übrigen  Himmelskörper.  Was  endlioh  die  beiden  letzten  Formen  der 
pendelnden  und  wellenförmigen  Bewegung  anbetrifft,  so  nehmen  wir 
sie  zwar  nicht  ohne  weiteres  wahr,  dooh  zeigt  der  Physiker  unzweifel- 
haft, dars  dieses  sogar  die  weitest  verbreiteten  Formen  der  Bewegung 
der  Materie  sind. 

Präparirt  inan  z.  B.  Wasser  in  der  Weise,  dafs  man  die  Bewegung 
der  einzelnen  Theilchen  desselben  verfolgen  kann,  so  bemerkt  man, 
wenn  die  Oberfläche  wellenförmig  bewegt  ist,  dafs  die  einzelnen 
Theilchen  des  Wassers  in  bestimmten  Intervallen  regelmäßig  auf-  und 
niederpendeln;  wenn  dann  auf  der  Oberfläche  die  Abwechselung  von 
Wellenberg  und  Wellenthal  die  Täusohung  einer  horizontal  fort- 
schreitenden Bewegung  des  Wassers  hervorruft,  so  ist  diese  doch 
keineswegs  vorhanden  und  tritt  erst  ein,  wenn  das  Wasser  wirklich 
wie  in  einem  Flusse  sich  fortbewegt;  dann  verwandelt  sich  die 
pendelnde  Bewegung  der  einzelnen  Wassertheilchen  in  eine  fort- 
schreitend wellenförmige.  Solche  Wellenbewegungen  sind  es  nun, 
welche  je  nach  ihrer  Geschwindigkeit  die  Eindrücke  von  Schall,  Wärme, 
Licht,  Elektrizität  übermitteln.  Würden  wir  z.  B.  die  wogende  Be- 
wegung des  Wassers  so  beschleunigen  können,  dafs  in  einer  Sekunde 
an  einer  und  derselben  Stelle  etwa  neun  Wellentliäler  und  Wellenberge 
auftreten,  so  würde  dieses  Wasser  dadurch  den  tiefsten  Tonerzeugen, 
welchen  unser  Ohr  noch  als  solchen  wahrzunehmen  vermag.  Diese 
Anforderung  an  die  Bewegung  der  Wassertheilchen  ist  also  keine 
exorbitante;  eine  scharfe  Grenze  zwischen  der  Wellenbewegung  des 
Wassers  und  der  des  Schalles  vermag  garnicht  gezogen  zu  werden. 
Nur  unser  physiologisches  Auffassungsvermögen  liegt  zwischen  zu- 
weilen recht  engen  Grenzen.  Während  das  Auge  nicht  mehr  im- 
stande sein  würde,  jener  Wellenbewegung  des  Wassers  zu  folgen, 


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welche  den  tiefsten  Ton  hervorbringen  könnte,  da  die  Abwechs- 
lung von  Wellenthal  und  Wellenberg  nicht  mehr  einzeln  erkennbar 
bliebe,  so  tritt  nunmehr  das  Ohr  in  Punktion,  welches  erst  auf 
mindestens  so  schnelle  Schwingungen  reagirt,  um  die  empfangene 
Tonempfindung  alsdann  durch  Vermittelung  betreffender  Nervenstränge 
dem  Gehirn  mitzutheilen.  Bei  weiterer  Beschleunigung  der  Schwin- 
gungen entstehen  nunmehr  höhere  Töne,  der  höchste  bei  ca.  49000  in 
einer  Sekunde.  Bei  noch  schnelleren  Schwingungen  bleibt  unser  Ohr 
wiederum  unempfindlich;  es  theilt  keinen  empfangenen  Eindruck  mehr 
mit.  Man  mufs  die  Schwingungszahl  sehr  wesentlich  erhöhen,  um 
einen  merklichen  physiologischen  Eindruok  von  seiten  jener  Nerven- 
fasern zu  erhalten,  welche  über  unseren  ganzen  Körper  vertheilt,  die 
Empfindung  der  Wärme  vermitteln.  Hier  schien  also  zwischen  Sohall 
und  Wärme  eine  w'eite  Kluft  zu  existiren. 

Aber  in  neuester  Zeit  hat  man  auch  hier  vermittelnde  Glieder 
gefunden;  man  hat  sehr  empfindliche  Apparate  zur  Messung  der  Wärme 
konstruirt.  das  Bolometer,  um  welches  sich  namentlich  der  amerikani- 
sche Astronom  Langley  hüohst  verdient  gemacht  hat.  Durch  dieses 
Instrument  ist  es  gelungen,  selbst  die  Kraft  der  Wärmestrahlung  zu 
messen,  das  heifst,  die  Grösfse  der  Wärmeschwingungen  zu  konsta- 
tiren,  welche  vom  Eise  ausgehen;  denn  das  Eis  ist  ja  keineswegs  als 
etwas  absolut  Kaltes  aufzufassen.  Es  ist  nur  ganz  zufällig,  dafs  gerade 
auf  unserem  Weltkörper  eine  mittlere  Temperatur  herrscht,  bei  welcher 
der  in  der  Natur  verbreitetste  Stoff,  das  Wasser,  bei  einigen  Schwan- 
kungen dieser  Temperatur  seinerseits  zwischen  dem  festen  und  flüssigen 
Zustande  schwankt.  Der  Vorgang  des  Schmelzens  oder  Gefrierens  ist 
dabei,  physikalisch  genommen,  durchaus  kein  anderer,  als  der  des 
Schmelzens  oder  Festwerdens  des  Eisens  oder  irgend  eines  anderen 
Metalls.  Man  hat  bekanntlich  ln  der  letzten  Zeit  höchst  interessante 
Versuche  angestellt,  welche  beweisen,  dafs  jeder  Körper,  die  soge- 
nannten permanenten  Gase  nicht  ausgeschlossen,  bei  Anwendung  hoher 
Kältegrade  und  eines  entsprechenden  Druckes,  welcher  ihre  Moleküle 
zwingt,  sich  eng  aneinander  zu  schliefsen,  in  jeden  beliebigen  Aggro- 
gatzustand  zu  versetzen  ist.  So  ist  es  dem  berühmten  Genfer  Physiker 
Raoul  Piotet,  welcher  seine  epochemachenden  Versuche  gegenwärtig 
in  Berlin  fortsetzt,  gelungen,  Luft  bei  einer  Kälte  von  130°  unter  Null 
und  einem  Druck  von  hundert  und  einigen  Atmosphären  flüssig  zu 
machen.  Es  ist  eine  schöne  blaue  Flüssigkeit;  nicht  viel  fehlt  mehr 
daran,  diese  Flüssigkeit  sich  kristallisiren  zu  lassen.  Man  hätte  so 
wirklich  aus  Luft  Steine  fabrizirt  Das  Hirngespinst  des  Immermannr 

3* 


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sehen  Epigonen  Münchhausens  wäre  dann  zur  Wahrheit  geworden; 
man  müfste  sioh  für  den  sprichwörtlichen  Begriff  der  Luftschlösser 
nach  noch  unmöglicheren  Vergleichen  umsehen,  die  in  unserer  Zeit, 
in  der  Naturwissenschaft  und  Technik  geradezu  das  Unmöglichste  her- 
vorbringen, wahrlich  schwor  zu  finden  sein  werden.  Bekanntlich 
verwendet  Raoul  Pictet  gegenwärtig  seine  grofsartige  Anlage  zur 
Erzeugung  extremer  Kältegrade,  um  gewisse,  nur  bei  grofser  Kälte 
kristallisirende  Substanzen  durch  diese  Kristallisation  zu  raffiniren; 
namentlich  geschieht  dies  mit  dem  Chloroform,  welches,  in  voll- 
kommen reinem  Zustande  angewendet,  sehr  viel  vortheilhafter  wirkt 
und  keinerlei  übte  Folgen  zurückläfst.  Dieses  Raffiniren  des  Chloro- 
forms entwickelt  sich  inzwischen  zu  einem  zweifellos  bedeutenden 
Industriezweige,  und  es  zeigt  sich,  wie  hier  wiederum  rein  theoretische 
Untersuchungen  auf  ungeahnte  Weise  der  Industrie  nutzbar  werden. 

Die  tiefsten  Temperaturgrade,  welche  wir  bisher  erzeugen  können, 
(etwa  130°  unter  Null)  entsprechen  vermuthlich  etwa  der  Kälte  des 
Weltraums,  von  welchem  die  Erde  umgeben  ist  Wäre  die  Erde  also 
beispielsweise  eine  Kugel  aus  Eis,  gänzlich  durchkältet  von  einer 
Temperatur  von  ca.  30°  unter  Null,  so  müfste  sie  immerhin  an  den 
Weltraum  noch  so  viel  Wärme  auBstrahlen,  wie  eine  gleich  grofse 
Kugel  aus  siedendem  Wasser  an  eine  Umgebung  von  0°;  denn  diese 
gedachte  Eiskugel  wäre  ja  immer  noch  um  100°  wärmer,  als  der 
umgebende  Weltraum.  Man  hat  nun  bekanntlich  durch  gewisse  theo- 
retische Untersuchungen  gefunden,  dafs  kein  Körper  eine  tiefere 
Temperatur  als  273°  unter  Null  annehmen  kann.  Dieses  ist  der  so- 
genannte absolute  Nullpunkt.  Erst  bei  dieser  Temperatur  also  be- 
ginnen die  Moleküle  der  Stoffe  Schwingungen,  welche  wir  als  Wärme 
auffassen,  und  diese  ersten  Wärmeschwingungen  werden  von  den 
höchsten  Schallschwingungen  nicht  sehr  verschieden  sein. 

Es  ist  nun  bekannt,  dafs  man  mit  Hilfe  der  Spektralanalyse  in  den 
Stand  gesetzt  ist,  die  Lichtschwingungen  ebenso  in  einer  Stufenfolge 
nebeneinander  zu  reihen,  wie  die  Schallschwingungen.  Man  fand 
dabei,  dafs  die  rothen  Schwingungen  die  langsamsten  sind,  die  vio- 
letten dagegen  die  schnellsten.  Es  handelt  sich  hier  nun  schon  um 
ganz  enorme  Geschwindigkeiten,  die  dafür  in  allerkleinsten  Räumen 
vor  sich  gehen.  Wo  das  rothe  Ende  des  Spektrums  aufhört,  finden 
dennoch  unsichtbare  Schwingungen  statt,  welche  vom  Bolometer  als 
Wärmeschwingungen  erkannt  werden.  Es  ist  aber  sicher,  dafs  es 
nur  von  der  Konstruktion  des  betreffenden  Auges  abhängt,  wie  weit 
man  hier  noch  die  Empfindung  von  Licht  hat,  ebenso  wie  die  ver- 


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schiedenen  Ohren  für  die  Auflassung  der  tiefsten  und  höchsten  Töne 
verschieden  veranlagt  sind.  Eis  scheint  sogar,  dafs  gewisse  Thiere 
diese  sogenannten  ultrarothen  Strahlen  noch  sehr  entschieden  als 
Licht  wahrnehmen. 

Auch  hier  sind  die  in  so  vieler  Hinsicht  interessanten  Ameisen 
merkwürdig;  Jedermann  weifs,  wie  besorgt  diese  geschäftigen  Thierchen 
um  die  Erhaltung  der  Larven  ihrer  Nachkommenschaft  sind.  Wühlt 
man  einen  Ameisenhaufen  auf,  so  dafs  diese  Larven,  die  sogenannten 
Ameiseneier,  zu  Tage  treten,  so  haben  die  Thierchen  nichts  Eiligeres 
zu  thun,  als  dieselben  wieder  im  Dunkeln  zu  bergen.  Macht  mau 
nun  dieses  Experiment  derart,  dafs  diese  Larven  nur  von  ultrarothein 
Lichte,  welches  für  uns  vollkommener  Dunkelheit  entspricht,  getroffen 
werden,  so  tragen  die  Ameisen  auch  aus  den  von  diesem  Lichte  ge- 
troffenen Gebieten  die  Larven  so  schnell  fort,  als  ob  sie  von  hellem 
Lichte  beschienen  würden.  Dies  nur  als  ein  Beispiel,  wie  individuell 
und  abhängig  von  unseren  physiologischen  Einrichtungen  die  Begriffe 
der  physikalischen  Erscheinungen  sich  darstellen. 

Durcheilt  mau  nun  die  E’arben  des  Spektrums,  so  kommt  man 
endlich  zu  unsichtbaren  Strahlungen,  welche  durch  gewisse  Versuchs- 
«inrichtungen,  durch  das  Dazwischenschieben  gewisser  Substanzen 
sichtbar  gemacht  werden  können  und  sich  namentlich  auch  ohne 
weiteres  durch  ihre  chemischen  Wirkungen,  z.  B.  auf  der  photographi- 
schen Platte,  verrathen.  Wir  sind  hier  also  noch  keineswegs  auf 
der  höchsten  Sprosse  der  Stufenleiter  der  Schwingungsbewegungen 
angekommen,  welche  das  Weltall  durchschwirren.  Uns  mangelt  nur 
das  Sinnesorgan,  auf  welches  diese  höheren  Schwingungen  einen  Ein- 
druck hervorzubringen  vermögen;  unsere  physiologische  Maschine  ist 
zu  grob  für  diese  feinsten  Eindrücke. 

(Schlufs  folgt.) 


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Photographie  und  Mondforschung. 

Die  verschiedentlich  vermulheten  und  wahrscheinlich  auch  reellen 
Neubildungen  odor  Veränderungen  auf  der  Mondoberfläche  haben  den 
Wunsch  hervorgerufen,  die  definitive  Entscheidung  derartiger  bedeut- 
samer Fragen,  welche  bisher  nur  durch  eingehendes  Studium  der 
zahllosen  wechselvollen  Gestaltungen  an  der  Hand  detaillirtester 
Zeichnungen,  deren  Herstellung  aber  das  Mafs  der  Arbeitskraft  des 
Einzelnen  weit  übersteigt,  zu  erreichen  war,  auf  dem  bequemeren 
Wege  der  photographischen  Fixirung  anzubahnen.  Mehrfache  frühere 
Versuche  in  der  angedeuteten  Richtung  sind  zwar,  wie  es  scheint, 
bereits  von  Erfolg  begleitet  gewesen;  da  aber  zur  Erlangung  wirklich 
brauchbarer  Resultate  von  entscheidendem  Werthe  relativ  grofse 
Instrumente  erfordert  werden,  so  haben  erklärlicherweise  erst  in  neuester 
Zeit,  mit  der  fortschreitenden  photographischen  Technik  gleichen  Schritt 
haltend,  die  Ergebnisse  diejenige  Stufe  der  Vollendung  erreicht,  welche 
als  Mafs  des  zur  Zeit  Erreichbaren  bezeichnet  werden  mufs.  In  der 
ersten  Reihe  steht  hier  mit  ihren  Leistungen  die  Licksternwarte,  welche 
durch  ihr  gewaltiges  Teleskop,  dessen  ausgezeichnete  Eigenschaften 
allbekannt  sind,  sich  in  den  Stand  gesetzt  sieht,  alle  ähnlichen  Ver- 
suche in  den  Schatten  zu  stellen. ') 

Für  die  Zwecke  des  Detailstudiums  und  der  Vergleichung  mit  den 
auf  direkten  Beobachtungen  beruhenden  kartographischen  Hilfsmitteln 
bedürfen  die  photographischen  Aufnahmen  der  an  der  Lichtgrenze 
liegenden  Parthieen  wegen  ihres  immer  noch  verhältnifsmäfsig  kleinen 
Mafsstabes  der  in  geeigneter  Vergröfserung  hergestellten  Reproduktion. 
Wegen  der  unvermeidlichen  Mängel,  die  mehr  oder  minder  jedem 
Reproduktionsverfahren  anhaften,  verlieren  diese  Nachbildungen  nament- 
lich bei  stärkeren  Vergröfserungen  so  sehr  an  Intensität  und  Bild- 

')  Bereits  im  ersten  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  sind  zwei  vortreffliche 
Nachbildungen  von  Originalaufnahmen  des  Mondes  auf  dem  Lickobservatorium 
erschienen,  auf  welche  hier  nur  hingewiesen  sein  möge. 


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Ein  Stück  Mondoberfläche,  photographirt  auf  der  Licksternwarte  am  31.  August  1890. 


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schärfe,  dafs  sie  in  jeder  Beziehung  weit  hinter  den  Originalauf- 
nahmen  zurückstehen.  So  ist  denn  auch  die  hier  beigegebene  ver- 
gröfserte  Kopie  einer  Mondphotographie,  welche  am  31.  August  1890 
mit  dem  36-zölligen  Rieseninstrument  der  Liokstern  warte  erlangt  wurde 
und  in  den  Rahmen  eines  Mondbildes  von  46  cm  Durchmesser  direkt 
hineinpassen  würde,  nicht  entfernt  mit  dem  Original  vergleichbar;  in- 
dessen stellt  dieselbe  doch  die  an  der  Schattengrenze  gelegenen  Mond- 
parthieen  vom  mare  Crisium  bis  zu  der  prachtvollen  Wallebene  Lan- 
grenus,  die  selbst  bei  Vollmond  noch  deutlich  sichtbar  bleibt,  in  einer 
Plastizität  und  Schönheit  dar,  die  das  reichhaltige  Detail  in  der  Umgebung 
des  mare  Crisium  zu  voller  Geltung  kommen  läfst  und  bisher  anderswo 
kaum  erreicht  sein  dürfte.2) 

Wie  genau  selbst  sehr  zarte  Einzelheiten  zur  Wiedergabe  gelangt 
sind,  wird  aus  einem  Beispiel  erhellen.  Nordöstlich  vom  Langrenus 
in  nächster  Nähe  desselben  erkennt  man  drei  zusammenhängende 
Krater;  in  geringem  Abstande  von  diesen  ist  nach  Norden  zu  eine 
ganz  kurze  von  Schmidt  entdeckte  Rille  von  unverkennbarem  Cha- 
rakter aufserordentlich  scharf  zur  Darstellung  gekommen.  Etwas 
weiter  entfernt  von  der  Schattengrenze  werden  die  beiden  kleinen 
Krater  Messier  sofort  ins  Auge  fallen,  die  zu  Madie rs  Zeiten  sich 
in  jeder  Beziehung  ähnelten,  während  sie  jetzt  sowohl  in  der  Form  als 
in  der  Gröfse  so  erheblich  von  einander  verschieden  sind,  dars  mit  grofser 
Wahrscheinlichkeit  an  ihnen  eine  physische  Veränderung  als  erwiesen 
angesehen  werden  kann.  Die  Formation  zeichnet  sich  überdies  durch 
den  eigenthümlichen,  von  dem  östlichen  Krater  ausgehenden  doppelten 
Lichtstreifen  aus,  welcher  mit  der  deutlich  begrenzten,  schmalen,  dunk- 
leren Zwisohenparthie  ganz  und  gar  den  Eindruck  eines  Kometen- 
schweifes erweckt. 

Von  ungleich  höherer  Bedeutung  als  die  vergröfserte  Reproduktion 
direkter  Aufnahmen  ist  ein  von  Professor  We  l n e k in  Prag  kürzlich 
eingeschlagenes  Verfahren,  das  geradezu  berufen  scheint,  eine  neue 
Aera  in  der  Mondforschung  einzuleiten.  Die  in  durchscheinendem 
(künstlichem  oder  Tages-)  Licht  mit  einer  Lupe  betrachteten  Original- 
aufnahmen des  Lickobservatoriums  werden  von  dem  genannten  Mond- 
forscher in  aller  Treue  zeichnerisch  kopirt  Zu  diesem  Zweck  ist  ein 
eigener  Apparat  gebaut  worden,  welcher  gestattet,  über  die  fest  auf- 
gestellte und  mit  einem  auf  Glas  eingeritzten  feinen  quadratischen 
Liniennetze  bedeckte  Platte  die  Lupe  in  unveränderlicher  Entfernung 

*)  Der  Leser  vergleiche  auch  die  Darstellung  derselben  Mondgegend  nach 
einer  Zeichnung  von  Prof.  W'einek  im  ersten  Jahrgang  von  H.  u.  E. 


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von  derselben  in  zwei  zu  einander  senkrechten  Richtungen  hinzube- 
wegen. Das  der  Orientirung  dienende  Liniennetz  ist  in  der  aus  der 
Brennweite  der  Lupe  und  der  normalen  Sehweite  des  Zeichners  abge- 
leiteten etwa  zwanzigfachen  Vergröfserung  auf  Zeichenpapier  aufge- 
tragen, so  dafs  die  absolute  Treue  der  Wiedergabe,  die  allerdings  eine 
vollendete  künstlerische  Fertigkeit  voraussetzt,  nach  Möglichkeit  ge- 


sichert ist.  Die  jetzt  durchgängig  von  Professor  Weinek  in  zwanzig- 
facher Vergröfserung  hergestellten  Mondbilder  entsprechen  übrigens 
einer  mehr  als  tausendfachen  Okularvergröfserung,  die  man  unter  ge- 
wöhnlichen Umstünden  beim  Monde  kaum  noch  anwenden  kann,  und 
würden  zusammengefügt  eine  Darstellung  der  Mondoberlläohe  von  2.8  m 
Durchmesser  ergeben. 

Die  geschilderte  Methode  ist  bereits  mehrfach  im  stände  gewesen, 
unbekannte  Objekte  von  merklicher  Gröfse  als  vorhanden  nachzu- 
weisen,  die  bisher  nicht  verzeichnet  worden  waren,  in  einigen  Fällen 


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aber  schon  optisch  verifizirt  werden  konnten.  Andererseits  können 
auf  diese  Weise  unter  Umständen  für  die  Existenz  sehr  schwieriger 
und  zarter  Details  unwiderlegliche  Beweise  erbracht  werden.  Ein 
solcher  Fall  (die  Auffindung  einer  Rille  in  Form  eines  k mit  dem 
12-zölligen  Refraktor  der  Urania)  giebt  Veranlassung,  die  Kopie  eines 
Theils  einer  von  Herrn  Professor  Weinek  bereitwilligst  zur  Verfügung 
gestellten  Zeichnung,  welche  unter  anderem  auch  die  neue  Rille  sehr 
schön  erkennen  läfst,  diesem  Hefte  beizufügen.3)  Die  Zeichnung  be- 
ruht auf  einer  Photographie  vom  22.  September  1891;  sie  stellt  einen 
kleinen  Theil  der  Mondoberfiäche  nördlich  von  dem  durch  eine  aufser- 
gewöhnlich  deutliche  Rille  durchquerten  Krater  Hyginus  dar  und  ist 
wohl  geeignet,  einerseits  die  aufserordentliche  Mühe,  welche  aufge- 
wendet werden  mufs,  zu  veranschaulichen,  andererseits  die  überwälti- 
gende Fülle  der  Einzelheiten  allen  Denjenigen  vor  Augen  zu  führen, 
welche  diese  Gegend  kennen.  „Es  wimmelt  gleichsam  von  (bisher 
meist  unbekannten)  Rillen,  Gräben,  Furchen  und  kleinen  Kratern, 
so  dafs  die  dargestellte  Parthie  besonderes  Interesse  zu  erwecken  ge- 
eignet erscheint.“ 

Allerdings  hat  die  optische  Prüfung  des  photographischen  Bildes 
gezeigt,  dafs  auch  die  Photographie,  wie  übrigens  von  vornherein  zu 
erwarten  stand,  nicht  Alles  wiederzugeben  vermag,  was  das  Fernrohr 
zeigt,  insofern  gewisse  Parthieen  bei  einer  bestimmten  Expositionsdauer 
überexponirt  erscheinen  müssen,  während  besonders  zartes  Detail 
überhaupt  noch  nicht  zur  Fixirung  gekommen  ist  Daher  ist  es 
durchaus  nothwendig,  den  Mond  in  den  wechselnden  Beleuchtungs- 
phasen möglichst  oft  mit  möglichst  verschiedener  Expositionsdauer  zu 
photograph iren,  um  aus  der  Gesamtheit  aller  Aufnahmen  ein  durchaus 
getreues  plastisches  Bild  von  der  OberflächenbeschalTenheit  unseres 
Trabanten  zu  erlangen,  das  für  die  weiteren  Forschungen  als  zu- 
verlässige Grundlage  dienen  kann.  G.  Witt 

t 

lieber  Marsbeobachtungen  während  der  Jahre  1883—1888  be- 
richtet Dr.  Lohse  in  No.  28  der  Publikationen  des  kgl.  astrophysi- 
kalischen  Observatoriums  zu  Potsdam.  Bei  den  verhältnifsmäfsig  un- 
günstigen, klimatischen  Verhältnissen  Norddeutschlands  wurde  von 
Dr.  Lohse  nicht  das  Studium  der  feineren  Oberflächendetails,  welche 

3)  Dieselbe  wird  mit  Vortheil  au«  gröfserer  Entfernung  betrachtet,  da  der 
Eindruck  des  Plastischen  auf  diese  Weise  stärker  hervortritt. 


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durch  Schiaparellis  klassische  Forschungen  entdeckt  worden  sind, 
als  erste  Aufgabe  in  Angriff  genommen,  sondern  das  Hauptgewicht 
auf  möglichst  zahlreiche  und  genaue  Messungen  der  Lage  und  Aus- 
dehnung des  nördlichen  Polarflecks  gelegt,  wodurch  ein  Beitrag  zur 
genaueren  Bestimmung  der  Stellung  der  Marsaxe  geliefert  werden  sollte. 
Eine  bemerkenswerthe  Genauigkeit  erlangten  Lohses  Bestimmungen 
des  Positionswinkels  des  Polarflecks  durch  die  Anwendung  eines  mit 
dem  Okular  verbundenen,  doppelbrechenden  Kalkspatprismas,  welches 
so  lange  gedreht  wurde,  bis  die  Mittelpunkte  der  beiden  scheinbaren 
Marsscheiben  und  der  Polflecken  in  eine  gerade  Linie  fielen.  Die 
einzelnen  Einstellungen  schwankten  bei  dieser  Methode  nur  um  höchstens 
2 bis  3 Grad.  Durch  die  Beobachtungen  konnte  nun  zunächst  kon- 
statirt  werden,  dafs  die  Mitte  des  nördliohen  Polarflecks  während  der 
Opposition  von  1883 — 84  keinen  merklichen  Polabstand  besafs,  dafs 
aber  Mitte  März  1886  eine  starke  einseitige  Abschmelzung  des  Fleckens 
eingetreten  war  und  dafs  auch  im  Jahre  1888  der  Mittelpunkt  des 
Flecks  einen  Polabstand  aufwies,  der  sich  aus  den  Beobachtungen  zu 
fast  3°  ergab.  Ein  interessantes  Ergebnifs  der  Potsdamer  Beobach- 
tungen ist  ferner  die  Feststellung,  dafs  die  eben  besprochenen  Mes- 
sungen in  systematischer  Weise  von  der  Phase1)  des  Planeten  beein- 
flufst  werden,  so  dafs  man  bei  der  Reduktion  diese  Fehler  ermitteln 
und  eliminiren  mufs.  Am  werthvollsten  ist  indessen  das  durch  die 
zahlreichen  Messungen  Lohses  gewonnene  Material  zur  Bestimmung 
der  Lage  der  Marsaxe,  auf  Grund  dessen  man  später  vermuthlich  ein- 
mal das  Phaenomen  der  Präcessionsbewegung,  das  wir  bei  der  Erdaxe 
bereits  kennen,  auch  am  Mars  wird  nachzuweisen  im  Stande  sein. 
Das  Vorhandensein  einer  derartigen,  langsamen  Schwankung  der  Mars- 
axe  erscheint  nach  einer  uns  von  Herrn  Dr.  Lohse  gewordenen  Mit- 
theilung sogar  schon  jetzt  beim  Vergleich  der  neuen  Messungsreihen 
mit  älteren,  von  Herschel  und  später  von  Beseel  ausgeführten,  ziem- 
lich bestimmt  angedeutet.2) 


l)  Da  Mars,  wie  alle  Planeten,  nur  auf  einer  Seite  von  der  Sonne  erhellt 
wird,  erscheint  er  uns  vor  und  nach  der  Opposition  nicht  ganz  voll,  jedoch  ist 
dieser  Phasenwechsel  hei  den  äufseren  Planeten  in  ziemlich  enge  Grenzen  ein- 
geschlossen, während  die  inneren  Planeten  Venus  und  Merkur  bekanntlich  zu 
Zeiten  auch  als  schmale  Sichel  erscheinen  und  also  einen  okenso  vollständigen 
Phasenwechsel,  wie  der  Mond,  zeigen. 

*)  Lohse  berechnete  aus  seinen  und  Schiaparellis  Messungen  die 
Elemente  der  Marsaxe  folgendermafsen: 

. V 1883,0  AR  = 316°.215  + 0°.064, 

Deel.  = 33“.310  ± 0°.238. 


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43 


Die  gleichzeitig  mit  den  eben  besprochenen  Messungen  ausge- 
führten Beobachtungen  der  Oberflächengebilde  des  Mars  fiihrton  auf 
Grundlage  von  24  Zeichnungen  der  Planetenscheibe  zu  einer  kartogra- 
phischen Darstellung  dor  nördlichen  Marshemisphäre,  welche  mannig- 
fache Einzelheiten  erkennen  läfst  und  für  zahlreiche,  besonders  markirte 
Punkte  genauere  Positionsbestimmungen  liefert,  wenn  auch  freilich  die 
Mehrzahl  der  feinen,  von  Schiaparelli  entdeckten  Kanäle  in  Potsdam 
nicht  gesehen  werden  konnte.  Den  Schlufs  der  Abhandlung  bildet  die 
Mittheilung  des  Ergebnisses  einer  auf  photographischem  Wege  aus- 
geführten  Vergleichung  der  Helligkeiten  der  chemisch  wirksamen 
Strahlen  von  Mars  und  Jupiter.  Die  südliche  Hemisphäre  der  Jupiter- 
oberfläche besafs  nach  dieser  Messung  eine  etwas  mehr  als  doppelt 
so  grofse  Helligkeit,  wie  die  Marsfläche,  woraus  für  gleiche  Abstände 
der  beiden  Planeten  von  der  Sonne  für  Jupiter  ein  24  mal  so  grofser 
Glanz  violetten  Lichtes  folgen  würde,  als  für  Mars.  F.  Kbr. 

»U 

* 


Einige  Neuigkeiten  vom  Mars. 

Bekanntlich  steht  uns  Mars  während  der  diesjährigen  Opposition 
so  nahe,  wie  er  uns  seit  1877  nicht  gekommen  ist  und  bis  1909  nicht 
wieder  kommen  wird.  Wenn  der  Planet  freilich  auch  für  unsere 
Breiten  sich  zu  wenig  über  den  Horizont  erhebt,  so  ist  dagegen  zu 
erhoffen,  dafs  die  südlicher  gelegenen  Sternwarten  neue,  interessante 
Dinge  über  unsere  verwandte  Nachbarwelt  zu  Tage  fördern  werden. 
Wir  werden  nioht  verfehlen,  nach  Absohlufs  der  gegenwärtigen  Be- 
obachtungsperiode einen  zusammenfassenden  Bericht  über  diese  Be- 
obachtungen zu  veröffentlichen. 

Aus  den  wenigen  Neuigkeiten,  welche  bisher  in  die  Oeffentlich- 
keit  drangen,  sind  vorläufig  namentlich  die  Wahrnehmungen  auf  der 
Lick-Sternwarte  hervorzuheben,  welche  zunächst  ein  neues  Ar- 
gument für  die  Ueberzeugung  bieten,  dafs  die  weifsen  Polarkappen 
des  Mars  wirklich  aus  einem  Etwas  bestehen,  das  unserem  Schnee 
und  Eis  verwandt  ist  und  nicht,  wie  die  weifsen  Gebiete  der  Venus, 
aus  Wolkenmassen.  Die  bisherigen  Beobachtungen  lassen  diese 
Deutung  ebenso  wohl,  wie  die  von  ihrer  eisigen  Natur  zu.  Um 
das  Gröfser-  und  Kleinerwerden  derselben  mit  dem  Wechsel  der 
Saison  zu  erklären,  brauchte  man  ja  nur  anzunehmen,  dafs  die  im 
Winter  konstante  Wolkenbedeckung  durch  die  Sonnenstrahlung  und 
das  dadurch  bewirkte  allmähliche  Vordringen  des  schönen  Wetters 


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nach  den  Polen  hin  verschwindet.  Nun  bemerkte  aber  Holden,  dafs 
mitten  in  den  weilsen  Massen  dunkle  Flecke  auftraten,  welche  sich 
vergrößern  und  vermehren,  während  die  Lage  derselben  konstant 
bleibt.  Diese  sind  also  als  Stellen  innerhalb  der  Eisregion  aufzu- 
fassen, von  welchen  das  Eis  bereits  abgeschmolzen  ist;  wären  die 
weifsen  Gebiete  dagegen  Wolkenmassen,  so  könnten  diese  dunklen 
Lüoken  unmöglich  eine  konstante  Lage  behalten. 

Auch  William  H.  Piokering,  welcher  seit  einiger  Zeit  auf 
der  2457  m hoch  unter  — 16°  24'  Breite  auf  dem  peruanischen  Hoch- 
plateau gelegenen  Sternwarte  bei  Arequipa  beobachtet,  bestätigt  (un- 
abhängig von  demselben)  die  Beobachtung  Holdens  in  Betreff  der 
dunklen  Flecke.  Der  Erstere  schreibt  hierüber  Folgendes: 

„Am  23.  Juli  erschien  ein  kleiner  dunkler  Fleck  in  der  südliohen 
Schneeregion  des  Mars.  Später  verlängerte  sich  dieser  Fleck  schnell, 
und  in  den  ersten  Tagen  des  Juli  war  er  bereits  1000  miles  lang, 
indem  er  den  Schnee  in  zwei  Hälften  theilte.“ 

„Kleine,  dunkle  Gebiete,  von  Schnee  umgeben,  erschienen  am 
10.  Juli,  und  zwei  Tage  später  beobachtete  ich  zuerst  eine  dunkle, 
gabelförmig  ausgezweigte  Linie  vom  Aussehen  eines  Y in  der  Richtung 
zur  See  hin.  Am  14.  wurde  diese  Linie  deutlicher  und  am  16.  er- 
schien auf  der  nördlichen  Seite  der  Gabelung  der  Y-Linie  ein  schwarzes 
Gebiet,  etwa  so  grofs  wie  der  Erie-See,  über  neuntausend  Qmiles.“ 
„Schnell  sich  verändernde,  zart  weifslicho  Gebiete  wurden  oft  be- 
merkt. Grüne  Gebiete  in  der  Nähe  der  Pole  wurden  zunächst  während 
mehrerer  Wochen  nicht  gesehen,  aber  Spuren  derselben  wurden  oft 
vermuthet,  bis  am  Sonntag  (den  7.  August)  ein  helles,  grünes  Gebiet 
deutlich  beobachtet  wurde.“ 

Eine  weitere  wichtige  Thatsache,  welche  man  auf  der  Lick- 
Sternwarte  festgestellt  hat,  ist  der  Mangel  jeder  wahrnehmbaren 
Verdoppelung  eines  Kanals.  Da  diese  Verdoppelungen  mit  den 
Jahreszeiten  auftreten  und  vergehen,  so  konnte  Schiaparelli  bereits 
1889  Vorhersagen,  dafs  während  der  Opposition  dieses  Jahres  ver- 
muthlich  keine  Verdoppelungen  wahrgenommen  werden  würden,  was 
sich  völlig  bestätigt.  Erst  im  kommenden  Spätherbste  und  Winter 
sind  diese  Verdoppelungen  zu  erwarten. 

Bei  dieser  Gelegenheit  möchten  wir  die  bereits  oben  angedeutete 
Einschränkung,  dafs  die  weifsen  Regionen  auf  dem  Mars  nicht  noth wendig 
als  Eis,  d.  h.  gefrorenes  Wasser  (Hs  0)  anzusehen  sei,  noch  einmal 
deutlich  hervorheben.  Wir  können  es  dort  ebensowohl  mit  irgend 
einer  anderen  chemischen  Verbindung  zu  thun  haben,  welche  bei 


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anderen  Temperatur-  und  Druckverhältnissen  dort  die  meteorologische 
Rolle  des  Wassers  zu  spielen  vermag.  Es  lag  uns  in  dieser  Hinsicht 
jüngst  ein  sehr  interessantes  Manuskript  vor,  in  welchem  es  wissen- 
schaftlich sehr  plausibel  gemacht  wurde,  es  handele  sich  hier  um 
Kohlensäure,  die  ja  ebensowohl,  wenn  auch  erst  bei  tieferen  Kältegraden, 
einen  weifsen  Schnee  erzeugt  Die  Entscheidung,  ob  wir  es  mit  dem 
einen  oder  dem  anderen  Stoffe  zu  thun  haben,  ist  augenblicklich  nicht 
zu  treffen.  Es  mag  indefs  genügen,  zu  sehen,  dafs  auf  unserm 
Nachbarplaneten  die  meteorologischen  Vorgänge  sich  in  der  That  mit 
Hülfe  dieses  Stoffes  ganz  ähnlich  wie  bei  uns  abspielen,  und  es  möge 
auch  künftighin  wohl  erlaubt  sein,  von  „Schnee“  auf  dem  Mars  zu 
reden,  auch  wenn  man  dabei  nicht  ausschliefslich  an  Schnee  aus  H2  O 
denkt  M.  W.  M. 

* 

Polariskopische  Beobachtung  der  Venusoberfläche. 

In  letzter  Zeit  sind  interessante  Versuche  gemacht  worden,  Auf- 
schlüsse über  die  Gesteinsarten  zu  erhalten,  aus  welchen  sich  dio  festen 
Oberflächen  der  Planeten  aufbauen.  Dafs  uns  hierüber  das  Spektroskop 
keine  Nachricht  giebt,  ist  ja  bekannt,  da  dasselbe  nur  das  Licht 
selbstleuchtender  Massen  oder  von  Gasen  zu  untersuchen  im  stände 
ist,  welche  von  einem  Lichtstrahl  durchdrungen  werden.  Feste  oder 
feuerflüssige  Körper  beeinflussen  das  Spektrum  nicht.  Dennoch  wird 
man,  theoretisch  genommen,  keinen  Augenblick  darüber  in  Zweifel 
sein,  dafs  die  Lichtwellen,  welche  von  einem  beleuchteten  Körper  zurück- 
strahlen, von  den  Eigenschaften  seiner  Oberfläche  beeinflurst  worden 
müssen.  Es  ist  ihre  chemische  Zusammensetzung  allein,  welche  die 
Farbe  der  Körper,  d.  h.  die  Gestalt  deijenigen  Lichtwellen  bestimmt, 
welche  von  ihm  verschluckt  werden  oder  zurückstrahlen;  aufserdem 
sind  die  von  verschiedenen  Mineralien  reflektirten  Strahlen  in  einer 
bestimmten  Ebone  polarisirt,  d.  h.  die  Lichtschwingungen  gehen  nur 
in  einer  bestimmten  Ebene  vor  sich  und  dio  Stärke  dieser  Polarisation 
wechselt  mit  der  Gesteinsart.  Da  man  nun  den  Grad  der  Polarisation 
stets  bestimmen  kann,  so  wird  die  polariskopische  Untersuchung  des  Lichts 
der  Planeten  uns  auch  Auskunft  geben  können  über  die  petrographische 
Beschaffenheit  ihrer  Oberfläche. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  hat  nun  letzthin  Länderer  das 
Licht  der  Venus  untersucht  und  fand,  wie  es  zu  erwarten  war,  dafs 
dasselbe  überhaupt  nicht  von  Gestein  zurückgestrahlt,  d.  h.  überhaupt 


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nicht  polarisirt  war.  Dieses  negative  Resultat  bestätigt  unsere  bisherige 
Vermuthung,  dafs  die, Venusatmosphäre  beständig  von  dichten  Wolken- 
schleiern erfüllt  ist. 

Wenn  wir  hier  vorläufig  nur  ein  negatives  Resultat  konstatiren 
konnten,  so  ist  doch  ru  erhoffen,  dafs  diese  Beobachtungsmethode  auf 
anderen  Himmelskörpern,  namentlich  dem  gegenwärtig  günstig  stehenden 
Mars,  wichtige  Aufschlüsse  zu  Tage  fördert. 

Was  die  in  letzter  Zeit  wieder  häufig  mit  grofser  Deutlichkeit 
wahrgenommene  weifse  Polarkappe  der  Venus  betrifft,  so  hält 
Länderer  mit  Trou  velot  dafür,  dafs  dieselbe,  ihrer  großen  Konstanz 
wegen,  nicht  wie  die  übrigen  Theile  des  Planeten  aus  einer  Wolken- 
masse bestehe,  sondern  wirklich  dem  Boden  der  Venus  angehöre, 
welcher  hier  an  einzelnen  Stellen  als  mächtiges  Gebirge  über  die 
Wolkendecke  hervorragen  soll.  Wir  können  uns,  bevor  nicht  be- 
stimmtere Beobachtungen  hierfür  vorliegen,  dieser  Ansicht  nicht  an- 
schliefsen,  vielmehr  scheint  alles  dafür  zu  sprechen,  dafs  in  den  Polar- 
regionen der  Venus  eben  diese  Wolkenschleier  noch  dichter  und  be- 
ständiger auftreten,  wie  in  den  übrigen  Zonen  derselben.  M.  W.  M. 


Die  astronomischen  Ursachen  der  Eiszeit. 

Das  Dunkel,  welches  über  der  Entstehung  der  von  den  Geologen 
unzweifelhaft  nachgewiesenen  Temperaturschwankimgen  in  vorzeit- 
lichen Entwickelungsperioden  der  Erde  liegt,  beschäftigt  noch  immer 
auf  das  Lebhafteste  sowohl  die  direkt  botheiligten  Geologen  selbst, 
als  auch  die  Astronomen,  welche  wohl  die  allerwichtigsten  Momente  in 
dieser  Streitfrage  vorzubringen  wissen.  Es  ist  allbekannt,  wie  seiner- 
zeit der  englische  Geologe  Groll  die  notorischen  Schwankungen  der 
Sonnenbestrahlung  infolge  der  veränderlichen  Exzentrizität  der  Erd- 
bahn und  der  Bewegung  ihrer  Apsidenlinie  als  die  einzigen  Ursachen 
der  Eiszeit  oder  besser  der  verschiedenen  Eiszeiten  ansprach.  Es  ist 
auoh  ebenso  bekannt,  dafs  diese  Cr o 1 Ische  Theorie  sehr  vielfach  an- 
gefoohten  worden  ist  In  letzter  Zeit  nun  hat  der  vortreffliche  eng- 
lische Astronom  Robert  S.  Ball  darauf  aufmerksam  gemacht,  dafs  die 
ganze  Crol Ische  Idee  auf  einem  mathematischen  Irrthum  aufgebaut 
ist,  welchen  Cr  oll,  dem  mathematische  Untersuchungen  unzugänglich 
waren,  von  dem  gleichfalls  nicht  in  erster  Linie  mathematisch  begab- 
ten John  Hersohel  aus  dessen  „Outlines  of  Astronomy“  entlehnt 
hatte.  Croll  nahm  nämlich  mit  Herschel  an,  die  gesamte  Wärme- 


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zufuhr,  welche  eine  Halbkugel  der  Erde  in  ihrem  Sommerhalbjahr 
von  der  Sonne  empfängt,  ist  genau  gleich  der  Hälfte  der  ganzen, 
uns  in  einem  Jahre  zuströmenden  Wärme  und  zugleich  auch  immer 
gleich  derjenigen,  welche  der  anderen  Halbkugel  wiederum  in  ihrem 
Sommer  zu  Theil  wird.  Obgleich  nämlich  wegen  der  elliptischen  Form 
der  Erdbahn  unser  Sommerhalbjahr  gegenwärtig  um  7 Tage  länger 
ist  als  das  Sommerhalbjahr  der  südlichen  Halbkugel,  so  belindet  sich 
doch  die  letztere  während  ihres  kürzeren  Sommers  der  Sonne  um  so 
näher,  da  die  Erde  ihr  Perihel  gegenwärtig  Anfang  Januar  passirt. 
Diese  gröfsere  Nähe  sollte  nach  der  Meinung  Hersohels  undCrolls 
die  geringere  Dauer  der  Wärmezuströmung  für  die  Südhalbkugel 
kompensiren. 

Ball  und  vor  ihm  schon  Wiener,  Newcomb,  sowie,  wenn 
wir  nioht  irren,  auch  Dr.  Zenker,  haben  nun  dem  entgegen  gezeigt, 
dafs  die  Frage  der  Wärmevertheilung  zwischen  Sommer  und  Winter 
von  der  Exzentrizität,  d.  h.  elliptischen  Gestalt  der  Erdbahn  überhaupt 
nicht  abhängig  ist,  sondern  durchaus  nur  von  der  Neigung  der  Erdaxe 
gegen  die  Ekliptik.  Es  kommen  stets  einer  Halbkugel  in  ihrem  Sommer 
63%  der  Gesamtwärmestrahlung  zu,  in  ihrem  Winter  demnach  37%. 
Dieses  unzweifelhafte  Resultat  einer  strengen  mathematischen  Rechnung 
verstärkt  nun  merkwürdigerweise  die  Crollschen  Schlufsfolgerungen 
wesentlich,  obgleich  dieselben,  wie  oben  erklärt,  auf  fälschen  Voraus- 
setzungen beruht  hatten  und,  so  laDge  also  diese  falschen  Voraussetzun- 
gen bestanden,  mit  Recht  angezweifelt  werden  konnten.  Diese  63  % 
Wärmezufuhr  müssen  gegenwärtig  auf  der  südlichen  Halbkugel  in 
einem  um  7 Tage  kürzeren  Sommer  ausgegeben  w'erden,  als  auf  der 
nördlichen.  Auf  jeden  Tag  des  südlichen  Sommers  kommt  also  ein 
gröfserer  Wärmebetrag  als  auf  einen  Sommertag  der  nördlichen  Halb- 
kugel. Bei  uns  sind  die  Sommer  lang  und  milde,  auf  der  südliohen 
Halbkugel  kurz  und  heifs.  Mit  dem  Winter  ist  es  umgekehrt;  unser 
Winter  ist  kürzer  als  der  unserer  Antipoden,  und  dieselbe  Wärme- 
menge mufs  sich  über  den  längeren  Winter  der  südlichen  Halbkugel 
vertheilen;  auf  jeden  Wintortag  kommt  dort  weniger  Wärmezufuhr  als 
bei  uns.  Die  südliche  Halbkugel  hat  also  kalte,  lango  Winter  und 
kurze,  heifse  Sommer,  wir  dagegen  kurze,  milde  Winter  und  lange, 
milde  Sommer. 

Das  hier  abgedruckte  Schema  wird  die  Sache  noch  weiter  ver- 
sinnlichen. 


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Sommer  der  N.  Halbkugel 
Ball:  63 o/o  in  186  Tagen 


48 


Sommer  der  S.  Halbkugel 
Ball:  63%  in  179  Tagen 


Frühl.- 

Aequin. 


C roll:  50 o/0  Herbst-  Croll:  50»/o  FrühL- 

Aequin.  Aequin. 

Winter  der  S.  Halbkugel  Winter  der  N.  Halbkugel 

Ball:  37%  in  186  Tagen  Ball:  370/0  in  179  Tagen 


Die  südliche  Halbkugel  ist  die  der  Extreme,  unsere  nördliche 
mehr  ausgeglichen.  Die  Extreme  werden  nun  immer  auf  derjenigen 
Halbkugel  stattfinden,  für  welche  das  Perihel  in  die  Sommerzeit  fällt. 
Vermöge  der  Präzession  und  der  Störungen  der  grofsen  Planeten  be- 
wegt sich  nun  bekanntlich  die  Apsidenlinie  der  Erdbahn,  d.  h.  die 
Richtung  des  Perihels  etwa  in  10600  Jahren  um  einen  Halbkreis  herum, 
ln  gleich  langen  Intervallen  wird  also  abwechselnd  die  nördliche  und 
die  südliche  Halbkugel  die  der  Temperaturextreme  sein,  und  mit  diesen 
Extremen  könnten  oder  müfsten  wohl  ausgedehntere  Vergletscherungen 
eintreten,  welche  die  geologische  Thatsache  der  Eiszeiten  zu  erklären 
im  stände  sind. 

Herr  Professor  Penck  hat  in  seiner  vortrefflichen,  in  diesen 
Blättern  erschienenen  Abhandlung  über  die  Eiszeit  die  Ueberzeugung 
ausgesprochen,  dafs  dieselbe  resp.  die  Eiszeiten  auf  der  nördlichen 
und  südlichen  Halbkugel  gleichzeitig,  nicht  altemirend,  wie  es  hier 
vorausgesetzt  ist,  auftreten.  Es  scheint  uns  jedoch,  dafs  eine  Unter- 
scheidung der  geologischen  Horizonte,  welche  einem  Zeitunterschiede 
von  10500  Jahren  entsprechen,  nicht  gut  möglich  sei.  Wir  meinen, 
dafs  es  sehr  wohl  denkbar  sei,  dafs  mehrere  auf  einander  folgende- 
Perioden  von  10600  Jahren  in  den  Ablagerungen  geologisch  mit  ein- 
ander verschmolzen  erscheinen  können. 

Es  kommt  sodann  für  das  Auftreten  und  Verschwinden  der  Eis- 
zeit noch  jene  Verschärfung  der  angeführten  extremen  Verhältnisse  in 
Betracht,  welche  aus  der  Veränderlichkeit  der  Exzentrizität  der  Erd- 
bahn selbst  entspringt  und  die,  abgesehen  von  den  durch  die  Präzession 
hervorgerufenon  Schwankungen  zwischen  der  Nord- und  Südhalbkugel, 
für  die  ganze  Erde  gleichzeitig  gilt.  Durch  diese  Veränderlichkeit  der 
Exzentrizität,  welche  in  Perioden  von  hunderttausenden  von  Jahren 
eingeschlossen  ist,  verändert  sich  nämlich  die  Länge  der  Sommer-  und 
Winterhalbjahre.  Während  jetzt,  wie  oben  erwähnt,  unser  Sommer  nur 
um  7 Tage  länger  ist  als  unser  Winter,  kann  dieser  Unterschied  sich 
im  Laufe  der  Jahrhunderttausende  bis  auf  33  Tage  steigern,  so  dafs  der 
Sommer  einer  Halbkugel  199  Tage  lang  sein  wird,  während  der  Winter 
nur  160  Tage  urafafst.  Jenes  Verhältnis  der  Strahlung  von  63  °/„  und 


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37  % bleibt  auch  dann  noch  dasselbe.  Nun  treten  aber  die  Extreme, 
wie  oben  des  Näheren  erörtert,  noch  stärker  hervor,  und  wir  müssen 
deshalb  die  Perioden  starker  Exzentrizität  der  Erdbahn  als  die  der 
grofsen  Eiszeiten  ansprechen,  in  denen  sehr  starke  Vergletscherungen 
der  nördlichen  und  der  südlichen  Ilalbkugol  in  Intervallen  von  10500 
Jahren  mit  einander  abwechselten.  Die  gegenwärtige  Epoche  geringerer 
Exzentrizität  ist  der  Entwickelung  einer  Eiszeit  ungünstig,  doch  müfsten 
wir  theoretisch  augenblicklich  die  südliche  Halbkugel  als  die  ver- 
gletscherte, in  Eiszeit  befindliche  ansprechen.  M.  W.  M. 

f 

Die  Schiffe  des  Columbus. 

Die  Urania  veranstaltet  zum  vierhundertjährigen  Jubiläum  der 
Entdeckung  Amerikas  am  12.  Oktober  einen  groteen,  dekorativ  aus- 
gestatteten Vortrag,  in  dessen  erstem  Theile  die  Entdeckungsge- 
schichte des  neuen  Erdtheils  skizzirt  wird.  Aus  diesem  Theile  des 
neuen  Vortrags,  der  später  auszugsweise  in  diesen  Heften  erscheinen 
wird,  haben  wir  unser  Titelbild  ausgewählt,  welches  die  Karavellen 
des  Columbus  in  dem  Augenblicke  darstellt,  da  sie  hoffnungsvoll  mit 
geschwellten  Segeln  in  die  hohe  See  stechen,  dem  unbekannten  Westen 
muthig  entgegen. 

Wir  konnten  unserer  Ansicht  nach  den  fünften  Jahrgang  unserer 
Zeitschrift  nicht  würdiger  beginnen,  als  mit  der  Erinnerung  an  dieses 
grofse  Ereignifs,  welches  einen  so  tief  l)edentsamen  Einflufs  auf  die 
gesamte  Weltanschauung  der  Menschheit  gewinnen  mufste.  Die  Ueber- 
zeugung  von  der  Kugelgestalt  der  Erde,  welche  bis  dahin  nur  im  Be- 
sitze weniger  hervorragender  Geister  war  und  für  die  man  sich,  wie 
überhaupt  fiir  kosmologische  Fragen,  allgemein  gar  wenig  interessirte, 
war  nun,  da  sie  praktisch  von  Werth  wurde,  ungemein  populär 
geworden.  Alle  Welt  fabelte  natürlich  von  dem  Goldlande  Indien,  das 
man  in  entgegengesetzter  Richtung  ebenso  gut  wie  in  der  bisher  ein- 
gesohlagenen  erreicht  zu  haben  glaubte;  denn  diese  Meinung  war  be- 
kanntlich noch  lange  Jahre  nach  der  ersten  Entdeckungsfahrt  des 
Columbus  die  allgemeine.  Nun  interessirte  man  sich  plötzlich  auf  das 
Lebhafteste  für  die  eigentliche  Gestalt  des  mütterlichen  Weltkörpers,  und 
auch  die  übrigen  Gestirne  gewannen  gleichzeitig  an  Interesse,  wenigstens 
zunächst  bei  dem  schifffahrenden  Volke,  das  zu  der  transatlantischen 
Reise  die  Führung  der  Gestirne  mehr  und  mehr  benöthigte.  Astro- 
nomische Betrachtungen  bekamen  praktischen  Werth.  So  entstand, 

Himmel  und  Erde.  1992.  V.  1.  4 


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namentlich  in  hervorragenden  Geistern,  ein  mächtiger  Anstofs  zum 
Nachdenken  über  kosmologische  Dinge,  und  wenn  auch  historisch 
nichts  darüber  nachzuweisen  ist,  so  sind  wir  doch  der  bestimmten 
Ueberzeugung,  dato  jene  weltbewegenden  Ereignisse  auf  das  junge, 
empfängliche  Gemüth  des  damals  neunzehnjährigen  Kopemikus  von 
der  einllursreiohsten  Wirkung  gewesen  sind.  Jedenfalls  würde  das  ein 
halbes  Jahrhundert  nach  der  Entdeckung  Amerikas  bekannt  werdende 
neue  Weltsystem  des  Kopernikus  kaum  jemals  zu  einiger  Popularität 
gelangt  sein,  wenn  die  Menschheit  nicht  durch  jene  grofsen  Ereignisse, 
welche  ja  durch  lange  Jahre  hin  immer  aufs  neue  Entdeckungen  auf 
Entdeckungen  sensationellster  Art  häuften,  überhaupt  Interesse  an 
Fragen  nach  der  Weltform  und  der  Weltordnung  gewonnen  hätte. 

Ein  weiteres  direktes  Verdienst  des  Columbus  um  die  Wissen- 
schaft war  bekanntlich  seine  Entdeckung  der  Variation  der  Magnet- 
nadel, welche  er  auf  seiner  ersten  Reise  am  13.  September  1492 
machte.  Wie  viele  hochinteressante  Beobachtungen  und  Gedanken- 
schlüsse sich  an  diese  erste  Ermittelung  einer  heute  immer  noch  ge- 
heimnifsvollen  Thatsache  reihten,  läfst  sich  kaum  noch  überblicken. 

Von  don  indirekten  Wohlthaten  aber,  welche  uns  Columbus  durch 
diese  kühne  Unternehmung  erwies,  müssen  wir  ihrer  erdrückenden 
Fülle  wegen  gänzlich  schweigon.  Es  giebt  kein  Gebiet  menschlicher 
Thätigkeit,  menschlichen  Denkens  und  Fuhlens,  das  nicht  unschätz- 
bare Reichthümer  aus  dem  neuen  Kontinonte  empfangen  hätte,  Colum- 
bus verdoppelte  mit  der  äufseren  Welt  auch  den  Horizont  des  Kosmos 
in  uns.  Wefs  Standes,  welcher  Nation  wir  auch  sein  mögen,  wir  sind 
diesem  Manne  der  That  zur  allergröfsten  Dankbarkeit  verpflichtet. 

, M.  W.  M. 

t 

Der  gegenwärtige  Ausbruch  des  Aetna. 

Kutze  Mittheil  fingen  von  Prof.  A.  Riccö. 

Direktor  doe  Observatoriums  in  Catania. 

Das  häufige  Hervorbrechen  grofser  Rauchwolken  aus  dem  Zen- 
tralkegel des  Aetna,  welches  sich,  begleitet  von  einigen  Aschenaus- 
brüchen, im  Juni  d.  J.  zeigte,  sowie  zahlreiche  mikroseismische  Be- 
wegungen bildeten  die  Symptome  für  eine  erhöhte  Thätigkeit  der  vul- 
kanischen Kräfte.  Dossen  ungeachtet  trat  vom  23.  Juni  bis  zum 
8.  Juli  eine  Periode  gröfserer  Ruhe  ein.  Am  Abend  dieses  Tages 
erfolgte  gewissormafsen  die  Ankündigung  des  beginnenden  Ausbruchs: 
Gegen  IO1/»  Ubr  schleuderte  der  Vulkan  eine  Säule  von  Rauch 
und  Asche  bis  in  beträchtliche  Höhe  empor;  in  dieser  ungeheuren 


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51 


Wolke,  welche  die  charakteristische  Pinienform  zeigte,  fanden  heftige 
elektrische  Entladungen  statt.  Die  Bewohner  der  Umgebungen  des 
Berges  verbrachten  die  Nacht  in  größter  Aufregung,  da  die  heftigen 
Erdstöfse.  welche  sich  bis  nach  Catania  und  Mineo  erstreckten,  das 
ganze  Fundament  des  gewaltigen  Berges  zu  erschüttern  schienen. 

Am  folgenden  Tage  (9.  August)  zeigte  sich  um  1 '/4  Uhr  Naohts  die 
Ausbruchsstelle  zwischen  Monte  Nero  und  Montagnola,  an  einem  Punkte, 


Vom  Ausbruch  des  Aetna  im  August  1892.  (I.) 


welcher  etwa  1850  Meter  über  dem  Meere  und  2272  Kilometer  nord- 
nordwestlich vom  Observatorium  in  Catania  liegt.  Hier  zeigte  das  Ge- 
lände eine  Anzahl  von  Spalten,  vorherrschend  nordsüdlicher  Richtung, 
aus  denen  mit  gewaltigem  Getöse  dichte  Rauchwolken  hervorquollen. 
Gegen  Abend  leuchteten  dieselben  in  röthlichem  Scheine  — ein  Abglanz 
der  in  dor  Tiefe  tobenden  Gluthen.  Von  den  verschiedenen  Oeflnun- 
gen  dieser  Art  entsandten  die  beiden  untersten  bald  mächtige  Lava- 
ströme. Der  aus  der  westlichen  Oeffnung  entspringende  Strom  llofs 
in  südlicher  Richtung  und  blieb  in  der  Nähe  des  Monte  Faggi  stehen, 
während  östlich  die  andere  Oeffnung  einen  noch  stärkeren  Strom  von 
ebenfalls  südlicher  Richtung  hervorquellen  liefs.  Dieser  theilte  sich 
in  zwei  Arme,  welche  westlich  und  östlich  vom  Monte  Nero  flössen. 
Der  westliche,  gröfsere  Zweig  strömte  östlich  von  den  vulkanischen 
Bergen  Capriolo,  Ardicazzi,  Concilio,  Rinazzi,  und  später  bis  zu  dem 

4* 


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D2 


Wege  zwischen  Monti  Rossi  und  Monte  San  Leo.  Der  östliche  Arm  ging 
östlich  von  den  Krateren  Gemmellaro,  Pinitelli,  Klici  bis  zutn  Monte 
Camercia;  diese  Punkte  wurden  auch  späterhin  nur  wenig  überschritten. 
Durch  das  weitere  Nachströmen  der  Lava  wurde  allmählich  dus  ganze 
Gelände  zwischen  diesen  beiden  Strömen  mit  Luva  überdeckt  bis  in  die 
Nähe  von  Monte  Guardiola.  Nur  die  Spitzen  der  Berge,  des  Geinmollaro 
u.  s.  w.,  sowie  zwei  kleine  Oasen,  südlich  von  Monte  Grosso  und  östlich 
von  Rinazzo,  blieben  frei. 

Während  sich  zunächst  viele  vulkanische  Oeffnungen  gebildet 
hatten,  ging  deren  Zahl  allmählich  und  bald  zurück,  und  um  die  Zeit  des 


Vom  Aubruoh  des  Aetna  im  Aogoat  1892.  (II.) 

20.  .Juli  erblickte  man  vier  kleine  Berge,  von  denen  drei  sich  in  nordsüd- 
lioher  Richtung  an  einander  reihten.  Wie  die  Schlote  eines  lang- 
gestreckten unterirdischen  Heerdes  spieen  dieselben  fortwährend  Rauch, 
Steine  und  Bomben  aus,  während  die  Lava  sich  aus  den  beiden  tiefer 
gelegenen  Oeffnungen  ergofs. 

Um  die  Zeit  des  12.  August  nahm  die  vulkanische  Thiitigkeit  aufs 
neue  zu.  Diesmal  barst  die  Rinde  des  Berges  etwu  400  Meter  nörd- 
lich von  den  früheren  Oeffnungen;  durch  die  ausgeworfenen  Massen 
hatte  sich  bald  ein  grofser  Krater  gebildet.  Diesolbe  Erscheinung  trat 
dann  noch  einmal  am  19.  August  auf,  diesmal  zwischen  dem  ersten 


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53 


und  zweiten  Hauptkrater.  Gegen  die  Mitte  des  Monats  August  hörte 
die  Lava  von  den  südlichen  Krateren  zu  lliefsen  auf;  aber  mehrere 
Lavaquellen  südöstlich  vom  Fufse  jener  Kegel  nähren  noch  die  Lava- 
ströme, auch  hat  die  Eruption  bis  jetzt  noch  nicht  aufgehört. 

Die  Photographie  No.  I veranschaulicht  die  Reihe  der  Ausbruchskegel 
von  einem  500  Meter  nordwestlich  gelegenen  Punkte  aus  gesehen.  Rechts 
erblickt  man  auch  den  Beginn  des  einen  I^avastromes,  sowie  den  Monte  Nero. 

Das  Bild  No.  II  zeigt  den  in  der  Mitte  gelegenen  Kegel,  welcher 
aus  drei  Oeffnungen  weifsen,  grauen  und  tiefschwarzen  Dampf  hervor- 
schleudert; zur  Rechten  sieht  man  den  Krater,  welcher  oben  Sohlacken  und 
Rauch  ausstöfst,  während  unten  die  Lava  abfliefst;  zur  Linken  erblickt  man 
eine  Rauchsäule,  welche  dem  ersten  Krater  der  erwähnten  Reihe  entspringt- 

$ 

Noch  einmal  der  neue  Stern  im  Fuhrmann. 

Telegraphisch  wurde  am  2.  September  die  Nachricht  verbreitet, 
dafo  der  neue  Stern  im  Fuhrmann  wieder  sichtbar  geworden  und 
schon  am  21.  August  von  Espin  als  Stern  neunter  bis  zehnter  Gröfse 
wahrgenommen  werden  konnte.  Diese  auffallende  Thatsache  ist  in- 
zwischen von  verschiedenen  Seiten  bestätigt  worden  und  mit  Spannung 
warten  die  Astronomen  ab,  ob  sich  vielleicht  ein  abermaliges,  helles 
Aufblitzen  des  Sterns  in  Bälde  ereignen  wird.  Prof.  Barnard  hat 
die  Nova  sogar,  wie  nachträglich  bekannt  wird,  schon  am  19.  August 
mit  dem  36-Zöller  der  Lickstemwarte  als  kleinen  Nebel  mit  einem 
sternartigen  Korn  zehnter  Gröfse  beobuchtet. 

Neu  entdeckter  Komet. 

Am  27.  August  wurde  von  Brucks  im  Ktembilde  des  Fuhrmanns 
ein  neuer  teleskopischer  Komet  entdeckt,  dessen  Helligkeit  sich  im 
Zunehmen  befindet,  und  der  seinen  Weg  zunächst  nach  den  Zwillingen 
hin  nehmen  wird,  so  dafs  er  am  besten  in  den  späteren  Nachtstunden 
beobachtet  werden  kann. 

Die  Entdeckung  eines  fünften  Jupitersatelliten  durch  Prof.  Barnard 
auf  der  Lick-Stemwarte  wurde  uns  am  13.  Sept.  telegraphisch  gemeldet. 
Der  neue  Trabant  soll  dem  Jupiter  sehr  nahe  stehen  und  mit  der  Hellig- 
keit eines  Sterns  13.  Gröfse  leuchten.  In  astronomischen  Kreisen  hat  diese 
Nachricht  begreiflicherweise  viel  Aufsehen  erregt  Wir  kommen,  sobald 
Näheres  bekannt  wird,  auf  diesen  Gegenstand  zurück. 


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Robert  Stawell  Ball:  The  story  of  the  heavens.  With  eighteen  coloured 
plates  and  numorous  illustrations.  New  and  revised  edition.  Cassel! 
and  Comp.  London,  Paris  und  Melbourne  1892.  XX  und  556  Seiten 
gr.  Oktav.  Preis  12  sh.  1>  d. 

Das  Studium  des  vorliegenden,  die  neuesten  Ergebnisse  astronomischer 
Forschung  berücksichtigenden  populären  Werkes  über  Hinmiclskunde,  dessen 
erste  Auflago  vor  sechs  Jahren  erschienen  ist,  kann  allen  denjenigen,  welche 
sich  auf  mühelose  und  unterhaltende  Weise  mit  den  wichtigsten  Errungen- 
schaften namentlich  auch  der  neueren  Zeit  bekannt  und  vertraut  machen  wollen, 
auf  das  angelegentlichste  empfohlen  werden.  Trotz  der  für  populäre  Schriften 
durchaus  gebotenen  und  auch  hier  iimegehaltenon  Beschränkung  in  der  Be- 
handlung des  weitschichtigen  Stoffes  läfst  der  äufserst  anregend  geschriebene 
Inhalt  die  wünschenswerthe  Gründlichkeit  und  Ausführlichkeit  keineswegs 
verinisseu;  die  beigegebenen  Abbildungen  sind  sorgfältig  ausgewählt.  Au 
Stelle  der  N as in yth schon  Mondbilder  würde  indessen  wohl  den  Darstellungen 
der  Mondoberfläche  nach  Lickphotograplüecn  oder  nach  Zeichnungen  aus 
Ncisons  Atlas  der  Vorzug  zu  geben  sein,  und  die  ziemlich  unvollkommene» 
Abbildungen  der  Jupiteroberfläcbe  nach  Trouvolot  hätten  mit  Vortheil  durch 
einige  mustergültige  Keol  ersehe  Zeichnungen  ersetzt  worden  können.  Obgleich 
cs  befremdlich  erscheinen  mufs,  dafs  die  Erwähnung  anderer  als  englischer  rosp. 
amerikanischer  Forscher  in  einigen  Kapiteln  orBichtlich  aufs  ängstlichste  ver- 
mieden wird,  so  beeinträchtigen  doch  diese  geringfügigen  Ausstellungen  keines- 
wegs den  Genufs,  welchen  dem  Leser  das  Studium  des  Werkes  bereiten  wird, 
das  einige  Abschnitte  von  fast  dramatischer  Lebendigkeit  enthält  und  sich  sehr 
wohl  auch  zu  einer  deutschen  Boarbeitung  eignen  würde.  Der  Preis  des  Werkes 
kann  als  ein  angemessener  bezeichnet  werden.  ü.  W. 


Verlag  tod  Hermann  Paetel  lo  Berlin.  — Druck  von  Wilhelm  Gronau'w  Buchdrucker«!  iu  Berlin. 
Für  die  Hcdaction  verantwortlich:  Dr.  M.  Willi  ein»  Meyer  in  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Ueberaetzungsrecht  Vorbehalten. 


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Die  Hitze  im  August  1892. 

Von  Prof.  Dr.  W.  J.  van  Bebber. 

Sa 

nyjftlio  beispiellos  grofse  Hitze,  welche  vom  15.  bis  zum  25.  August 
1 "Fy  1892  in  unseren  Gegenden  herrschte,  ist  nicht  allein  wegen  der 
' hohen  Temperaturgrade  bemerkonsworth,  sondern  auch  ganz 
besonders  wegen  ihrer  langen  Dauer  und  wegen  der  physiologischen 
Wirkungen  der  direkten  Sonnenstrahlung  bei  geringer  Luftbewegung, 
so  dafs  die  Witterung  in  diesem  Zeitabschnitte  einen  nahezu  tropischen 
Charakter  trug. 

Die  Wetterkarte  auf  Seite  61  (Fig.  1)  veranschaulicht  die  höchsten 
Temperaturen  (in  Graden  Celsius),  weichein  dem  Zeitabschnitte  vom  11. 
bis  zum  26.  August  an  verschiedenen  meteorologischen  Stationen  Europas 
gemessen  wurden.  Für  Rufsland  (aufser  St.  Petersburg)  sind  hierfür  die 
höchsten  Temperaturen  um  1 Uhr  Nachmittags,  welche  nicht  sehr  er- 
heblich unter  dem  Temperaturmaximum  liegen,  eingesetzt  worden.  Die 
gröfseren,  durch  fetten  Druck  eingeschriebenen  Zahlen  bedeuten  die 
ungefähren  Eintrittszeiten  der  höchsten  Temperaturen.  Die  eingezeich- 
neten Linien  verbinden  die  Orte  mit  gleicher  höchster  Temperatur. 

Das  Verbreitungsgebiet  der  abnorm  hohen  Temperaturmaxima  ist 
auf  unserer  Karte  sehr  deutlich  abgegrenzt:  als  eine  ziemlich  breite 
Zone  erstreckt  es  sich  von  der  iberischen  Halbinsel  nordwärts  über 
die  Pyrenäen  hinaus  nach  dem  kontinentalen  Frankreich  und  Deutsch- 
land und  von  hier  aus  nach  Oesterreich-Ungarn.  Das  nordwestliche! 
südliche  wie  östliche  Europa  betheiligen  sich  hieran  nicht,  vielmehr 
herrscht  in  diesen  Gebieten  meist  eine  verhältnifsmäfsig  kühle  Witterung. 
Das  verschiedenartige  Verhalten  von  Land  und  Meer  in  Beziehung  auf 
die  Wärmeverhältnisse  ist  durch  die  Begrenzungslinien  über  Nordwest- 

Ilimmel  und  Erde.  1882.  V'.  2.  5 


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58 


wie  Südeuropa  ziemlich  gut  angedeutet,  so  dafs  hierdurch  der  die 
Temperatur-Extreme  mildernde  Einflufs  der  See  deutlich  hervortritt. 
An  den  Küsten  des  Nordseegebietes  erreichen  die  Wärmeextreme  30°  C. 
nicht,  in  den  südlichen  Küstengebieten  der  Ostsee  steigen  sie  höchstens 
bis  auf  32°  an,  während  sie  im  Mittelmeergebiete  fast  überall  unter 
35»  bleiben. 

Dafs  diese  hohen  Temperaturen  in  unseren  Gegenden  nicht  in 
der  übermärsigen  Erhitzung  des  nördlichen  Afrikas,  der  Sahara,  ihren 
Grund  hatten,  dafür  spricht  der  Umstand,  dafs  diese  Gegenden  durch- 
aus kein  Uebermafs,  vielmehr  noch  einen  Mangel  an  Wärme  zeigten. 
Ja  die  Temperatur  an  weit  nach  der  Sahara  vorgeschobenen  Punkten, 
wie  Biscra  (38°)  wurde  durch  diejenige  Mitteleuropas  stellenweise 
übertroffen,  und  das  Temperaturmaximum  von  Lagouat  (41°)  war  noch 
um  1°  niedriger  als  dasjenige  zu  Madrid,  Biarritz  und  Bordeaux. 

Es  kann  keineswegs  behauptet  werden,  dafs  im  allgemeinen 
starke  Erwärmungen  des  nördlichen  Afrikas  eine  Temperaturerhöhung 
in  unseren  Gegenden  zur  Folge  haben,  vielmehr  sind  starke  Er- 
wärmungen in  den  niederen  Breiten  ganz  geeignet,  ein  Hochdruckgebiet 
auf  dem  nordatlantischen  Ozean  hervorzurufen,  wie  es  so  häufig  in 
unseren  Sommern  der  Fall  ist,  welches  sich  sehr  häufig  nach  der 
Gegend  der  britischen  Inseln  lagert,  wodurch  veränderliche  Witterung 
mit  nafsktihlen  westlichen  und  nordwestlichen  WTinden  bedingt  wird. 

Die  höchsten  Temperaturen  entfallon  auf  die  zentralen  Theile  der 
iberischen  Halbinsel  und  den  Südwesten  Frankreichs,  wo  die  Maxima 
bis  zu  42°  lunaufgehen,  dann  auf  das  südöstliche  und  südliche  Deutsch- 
land, wo  Temperaturmaxima  bis  zu  39"  Vorkommen,  und  auf  Ungarn, 
wo  stellenweise  38"  C.  beobachtet  wurde. 

Im  Aprilheft  1892  dieser  Zeitschrift  habe  ich  für  Europa  die 
Extremtemperaturen  ausführlich  besprochen,  sowohl  solche,  auf  welche 
man  sich  in  jedem  Jahre  durchschnittlich  gefafst  machen  kann,  als 
auch  solche,  welche  nur  gelegentlich  in  den  extremsten  Fallen  Vor- 
kommen und  habe  38"  C.  als  die  höchste  Temperatur  bezeichnet,  welche 
in  Deutschland  nur  in  den  äufsersten  Fällen  erreicht  wird.  Soweit 
mir  bekannt  ist,  wurde  diese  Temperatur  w'ährend  der  diesjährigen 
Augusthitze  nur  an  einer  Station  überschritten,  nämlich  zu  Grünberg, 
wo  am  19.  August  39°  C.  beobachtet  wurden*).  Bei  allen  diesen  Be- 

")  Während  des  Druckes  geht  mir  die  Ucborsichtstabolle  der  Witterungs- 
Verhältnisse  in  Bayern  für  August  1892  zu.  Hiernach  hatte  Amberg  am  18.  August 
ein  Temperuturmaximum  von  39.8“  (Erlangen  38.1“,  Bamberg  38.3“). 


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59 


Pachtungen  gilt  hier  selbstverständlich  die  Temperatur  im  Schatten, 
und  nicht  unter  dem  unmittelbaren  oder  mittelbaren  Einflufs  der  Sonnen- 
strahlung. 

Die  folgende  Tabelle  enthält  die  Temperaturmaxima  für  jeden 
Tag  des  Zeitraums  vom  11.  bis  zum  26.  August  für  eine  Anzahl 
meteorologischer  Stationen  in  Europa  sowie  für  einige  Nachbarstationen, 
und  gew’ährt  ein  übersichtliches  Bild  über  die  Gröfse  und  die  Ver- 
breitung der  Hitze.  Die  hinter  der  Station  eingeklammerten  Zahlen 
bedeuten  mittlere  absolute  Maxime , oder  die  höchsten  Temperaturen, 
auf  welche  man  sich  in  jedem  Jahr  an  den  betreffenden  Orten  durch- 
schnittlich gefafst  machen  kann. 


Temperaturmaxima 

in  der  Zeit  vom  11. — 25.  August  1892.  °C. 


11.  12. 

13.  14.  15. 

16. 

17.18. 

19.  20.  21. 

lü 

23.  24. 

25.  26. 

Stornoway  .... 

16  16 

16  17  : 15 

16 

14  14 

lnllö  16 

16 

18  15 

16  14 

Valentin 

19  18 

18  17  18 

17 

18  19 

181 18  19 

17 

17  17 

17  1 17 

Ci 

Scilly 

21  20 

19  22  21 

20 

18  20 

19  21  21 

21 

21  20 

18  18 

ja 

Yarmouth  .... 

17  20 

22  22  23 

19 

19  18 

18  16:  18 

19 

19 ' 20 

19  19 

o 

Shields  . . . . 

17  22 

19  19  20 

18 

16  14 

1!  20  211 

22 

19117 

20  17 

c- 

B9 

London  (31)  . . . 

22  24 

24  23  24 

21 

27  24 

18  22:  24 

26 

27  23 

21  22 

Oxford 

21  i 23 

20 1 22  22 

20 

25  20 

21  22  ; 23 

24 

23  22 

21  19 

York 

18  23 

19  20  21 

19 

18  17 

21  22  25 

24 

20  21 

18  18 

Parsonstown  . . . 

21  1!) 

20  IS  IS 

15 

IS,  19 

19  20  22 

20 

17  15 

17  17 

Bodö 

10  10 

12  13| 16 

17 

12  14 

17 1 12  13 

l:; 

10  11 

12  13 

Christiansund  . . . 

11111 

12  14  U 

15 

13  14 

15  12  14 

14 

13  13 

15  11 

a 

Skudesnaes  (22)  . . 

13  12 

15  13 i 13 

16 

14  14 

14  15  1 15 

16 

18  16 

17  14 

Christiania  .... 

17!  18 

17  18  . 

18 

IG  1 17 

IT.  17  . 

* 

19  2(1 

19  18 

- 

Kopenhagen  . . . 

17  16 

19  21  21 

20 

20  20 

21  21  20 

21 

23 125 

26  18 

B 

a 

ITaparanda  .... 

17  . 

15  14  10 

19 

19  17 

17  15  15 

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17  11 

14  15 

cc 

Stockholm  .... 

19  19 

19  19  21 

18 

20  21 

19  21  22 

24 

2G 1 26 

26  28 

17  17 

20  --'0  IS 

19 

18  Ifi 

20 1 2.3  22 

22 

20  23 

*24  28 

St  Petersburg  (29)  . 

14  17 

16  20  20 

19 

17  17 

19  19 II 19 

19 

21  22 

26  30 

St.  Mathieu  (32)  . . 

22  23 

20  20  21 

26 

25  20 

21 | 22  22 

24 

25  22 

22  1 21 

-B 

Paris  (33)  .... 

22 1 26 

31  27 1 28 

34 

34  35 

27  24  27 

29 

31  23 

21  21 

Clermont  .... 

2f25 

32  30  33 

38 

32  33 

2b  22  23 

29 

31  20 

23  2*2 

Ile  d’Aix  .... 

25  29 

28129  21 

33 

23 ' 28 

22 '24  29 

29 

26  21 

22  21 

es 

Biarritz 

24  31 

26  30  27 

42 

40  26 

23  23  26 

32 

22  19 

21  22 

Perpignan  .... 

23  30 

27  28  27 

27 

■34  34 

29  26 1 29 

30 

(30>  25 

24  27 

Nizza  (31)  .... 

25 . 27 

28  27  . 

32 

31  33 

30  27  27 

27 

29 1 28 

25  25 

6l=:  1 Brüssel 

20 1 24 

28  25  23 

27 

30  35 

27  21  24 

26 

32 1 29 1 17  20 

1 Utrecht 

19  22 

26  23  23 

24 

28  ‘27 

l 

25  22  22 

27 

29  29  20  20 

5* 


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60 


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13. 

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19. 

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22. 

23. 

24.  25. 

26. 

/Borkum  (28)  . 

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25 

29 

23 

17 

Helgoland  . . 

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16 

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19 

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19 

20 

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Hamburg  (30)  . 

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19 

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23 

23 

30 

21 

30 

24 

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31 

29 

27 

18 

Swinemünde  (80)  . 

18 

19 

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19 

21 

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31 

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25 

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28 

32 

31 

20 

Neufahrwasser  (31)  . 

20 

19 

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24 

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23 

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20 

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19 

22 

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32 

25 

Memel  (30)  . . 

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17 

18 

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18 

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22 

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Münster  i.  W. . 

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Kassel  (38)  . . 

22 

25 

27 

27 

30 

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27 

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Berlin  (»4)  . . 

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26 

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Grünberg  . . 

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Breslau  (31).  . 

20 

22 

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30 

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30 

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23 

Kaiserslautern 

21 

23 

27 

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31 

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35 

32 

24 

26 

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29 

29 

23 

19 

Karlsruhe  (32) 

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21 

23 

27 

27 

30 

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25 

28 

28 

29 

20 

23 

21 

Bamberg . . . 

21 

23 

27 

28 

30 

30 

36 

38  34  29 

30 

31 

22 

33 

27 

21 

München  (30)  . 

19 

21 

25 

28 

29 

30 

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27 

27 

28 

29 

30 

27 

19 

(Wien  (33 Vs)  . 

20 

22 

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29 

29 

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31 

29 

28 

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Prag  (SS)  . . 

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Krakau  . . . 

22 

22  24  27 

30 

28 

31 

30 

33 

35 

31 

28 

30 

39 

22 

Lemberg . . . 

19 

20 

22 

24 

27 

28 

26 

29 

26 

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31 

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28 

28 

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Pest  (33)  . . . 

25 

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29 

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Hermannstadt  (32)  . 

32 

24 

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32 

31 

29 

30 

25 

Sulina  . . . 

25 

25 

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28 

32 

27 

28 

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27 

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31 

33 

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31 

34 

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33 

30 

Constantinopel 

30 

27 

27 

27 

27 

89 

30 

29 

27 

38 

27 

26 

29 

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25 

28 

23 

23 

25 

28 

32 

32 

29 

32 

31 

29 

[Athen  (38)  . . 

30 

30 

31 

23 

29 

31 

30 

31 

29 

32 

32  31 

28 

32 

Madrid  (40) . . 

22 

37 

• 

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42 

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34 

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Lissabon  (36)  . 

31 

31 

30 

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38 

35 

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29 

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24 

26 

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Florenz  . . . 

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32  27 

29 

26 

26 

Livorno  . . . 

26 

27 

27 

28 

29 

29 

30 

34 

31 

30  27  27 

27 

34 

27 

27 

Hora  (35)  . . 

28 

29 

30 

30 

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34 

34 

34 

34 

34 

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29 

30 

30 

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Brindisi  . . . 

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31 

32  31 

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28 

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Cagliari  . . . 

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31 

31 

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32 

28 

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28 

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32 

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Malta  .... 

31 

28 

30 

28 

29 

27 

28 

29 

29 

33 

31 

31 

28 

27 

28 

31 

Nemours . . . 

28  29 

27 

28 

30 

29 

28 

29 

29 

27 

28 

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29 

27 

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26 

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Algier.  . . . 

27 

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Bistra  (45)  . . 

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36 

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Lagouat  . . . 

39 

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37 

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61 


11. 

12. 

13.  14. 

15. | 16. 

17. 

18. 

19. 

20.  21. 

22. 

23. 

24. 

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Pugde-Döme  ( 1 40’7  n) 

10 

17 

20 

20 

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Pic  d.  midi  (285$)  ■)  . 

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Sonnblick  (3100  m)  . 

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Obir  (2044  ■)  . . . 

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20 

17 

18 

15||  11 

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Schneoberg  (1400  a) 

11 

17 

18 

22 

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29 

30 

27 

30  28 

25 

26 

25 

25  15 

Semmering  (1005  m) . 

17 

12 

24 

25  25 

23 

31 

29 

29  27 

24 

27 

21 

14  17 

Um 

Uhr 

Nachmittags. 

Archangelsk  (29)  . 

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14 

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Wilna 

18 

18 

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20 

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24  25 

21 

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30  31 

Moskau  (31)  . . . 

20 

15 

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16 

16  16 

20 

17 

22 

26  28 

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Kasan  (31)  . . . . 

18 

18 

18 

17 

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15 

16 

16 

15  20 

16 

14 

13 

16  1 18 

Katherinouburg  (31 ) 

19 

21 

20 

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13 

19 

15  1 14 

13 

13 

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11  12 

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Kiew  (32)  .... 

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Astrachan  (30)  . . 

20 

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30 

25 

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30 

26 

22 

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30 

21 

23  29 

Barnaul  (32)  . . . 

25 

22 

22 

22 

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22 

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28  30 

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24 

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25 

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18 

24  27 

11 

20 

21 

20  18 

Die  Fortpflanzung  der  höohsten  Wärmegrade  ist  aus  der  Tabelle 
und  aus  dor  Karte  (Fig.  1)  deutlich  zu  ersehen:  am  15.  traten  dio 


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62 


höchsten  Maxima  ein  auf  der  iberischen  Halbinsel,  am  16.  über  Süd- 
uud  Weslfrankreich,  am  17.  über  dem  westdeutschen  Binnenlaude,  am 
18.  über  dem  centralen  Deutschland  und  Nordöstorroich,  am  19.  an 
der  ostdeutschen  Grenze  und  in  Ungarn,  am  20.  über  Westrulsland, 
und  an  den  folgenden  Tagen  in  den  östlicher  gelegenen  Gebietstheilen. 
Wir  haben  hier  also  eine  deutlich  erkennbare  Fortpflanzung  von 
West  nach  Ost.  Eine  zweite  Erwärmung  beginnt  am  21.  über  den 
britischen  Inseln,  und  pflanzt  sich  nach  und  nach  über  das  südliche 
Ostseegebiet  ostwärts  nach  den  rufsischen  Ostseeprovinzen  fort.  Diese 
Erwärmung  streifte  auch  die  deutschen  Küstengebiete,  wo  Temperatur- 
maxima  von  29  bis  82°  Grad  beobachtet  wurden. 

Kufsland  bis  über  Westsibirien  hinaus  wurde  von  den  extremen 
Wärmeerscheinungen  des  Westens  nicht  berührt,  die  Temperatur  blieb 
hier  verhältnifsmiirsig  niedrig,  so  dafs  hier  die  Wärmemaxiraa  geringer 
waren,  als  es  den  durchschnittlichen  Verhältnissen  entspricht. 

Es  entstehen  nun  die  Fragen,  auf  welche  Weise  diese  aufser- 
ordentlichen  Wärmeerscheinungen  entstanden  sind,  wie  sie  sich  ent- 
wickelten, und  wie  sie  ihr  Ende  erreichten.  Ueber  diese  Fragen  geben 
uns  die  täglichen  Wetterkarten  die  beste  Auskunft. 

Nach  unserer  Wetterkarte  (Fig.  2)  liegt  am  16.  Morgens  ein 
Hochdruckgebiet  mit  ruhiger,  heiterer  Witterung  über  Centraleuropa, 
AVind  und  AA?etter  von  ganz  Mittel-  und  Südeuropa  beherrschend, 
während  das  Nord-  und  Ostseegebiet  unter  dem  Einflufse  einer  über 
Nordeuropa  lagernden  Depression  steht.  Ein  barometrisches  Maximum 
befindet  sich  über  Süddeutschland  und  wird,  der  Regel  entsprechend, 
umkreist  von  Winden,  die  der  Bewegung  der  Uhrzeiger  folgen:  über 
West- Frankreich  haben  wir  südliche  und  südöstliche,  über  Nord- 
deutschland westliche,  über  Westrufsland  westliche  und  nordwestliche 
Winde.  Die  starke  Erwärmung,  welche  an  diesem  Tage  über  der 
iberischen  Halbinsel  herrschte,  breitet  sich  durch  den  Lufttransport 
weiter  nach  Nordosten  aus,  während  in  Westrufsland  die  Temperatur 
noch  um  ein  Geringes  herabgeht.  Am  17.  tritt  im  westdeutschen 
Binnenlande  fast  allenthalben  die  gröfste  Erwärmung  ein.  Die  Wetter- 
lage am  17.  Morgens  ist  durch  das  kleine  Nebenkärtchen  (Fig.  2)  dar- 
ges teilt:  das  barometrische  Maximum  hat  sich  nach  der  Adria  verschoben, 
während  die  Depression  im  Nordwesten  nach  dem  südlichen  Nord- 
seegebiet vorgedrungen  ist.  Ueber  Deutschland  und  Frankreich  wehen 
bei  heiterer  Witterung  schwache  südwestliche  Winde  (Landwinde),  unter 
deren  Einflufs  die  hohen  Temperaturen  fortdauerten  und  sich  weiter 
ausbreiteten. 


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63 


So  war  es  in  erster  Linie  der  Lufttransport,  in  zweiter  Linie  die 
Wirkung  der  Sonnenstrahlung,  wodurch  solche  aufserordentliche 
Wärmegrade  verursacht  wurden.  Die  aufsergewöhnlich  hohen  Tempe- 
raturen im  letztverflossenen  Mai,  welche  noch  in  frischer  Erinnerung  sind, 
hatten  denselben  Ursprung,  wie  im  August,  sie  entstanden  nämlich  haupt- 
sächlich durch  den  Lufttransport  aus  südlicheren  Gegenden.  Es  ist  dieses 


Fig.  2.  Wetterkarte  vom  18.  Aug.  8',  Nebenkarte  vom  17.  Ang.  8". 

Erklärungen:  Die  oingezciclineten  Linien  (Isobaren)  verbinden  die  Orte  mit 
gleichem  (auf  da»  Mecresnivcau  reducirlen)  Barometerstände.  Die  einge- 
schriebenen Zahlen  bezeichnen  die  Maximal-Temperaturen  des  betreffenden 
Tages  in  ganzen  Graden  Celsius.  Die  Pfeile  (liegen  mit  dem  "Winde.  Wind- 
stille. l— = schwacher,  tl—  = massiger,  uj_  — starker,  uu.  = stürmischer  Wind, 
ilui-  — Sturm,  -»  = Zug  der  oberen  Wolken,  O klar,  (3  V»  bedeckt,  <J  1 bedeckt, 
9 3/t  bedeckt,  9 bedeckt,  • Regen,  -)f  Schnee,  A Hagel,  l:.  Graupeln,  ® Dunst, 
— Nebel,  -cv  Tiiau,  Gewitter. 

auch  der  gewöhnliche  Vorgang  bei  Entwicklung  starkerSommerhitzo : zu- 
nächst erfolgt  eine  starke  Erwärmung  durch  den  Lufttransport,  und 
diese  wird  noch  erhöht  durch  die  Ansammlung  von  Wärme  durch  die 
wegen  der  grofsen  Tageslängen  und  der  kurzen  Nächte  überwiegende 
Einstrahlung  der  Sonnenwärme,  welche  mit  wachsender  Breite  unter 
denselben  Umständen  zunimmt. 


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04 


Die  andauernd  kühle  Witterung  in  Rufsland  hatte  darin  ihren 
Grund,  dafs  dieses  Gebiet  beständig  auf  der  Ostseite  des  europäischen 
Hochdruckgebietes  lag,  erst  in  den  letzten  Tagen  des  in  Betracht 
fallenden  Zeitabschnittes  fand  daselbst  eine  Steigerung  der  Temperatur 
statt,  welche  indessen  die  Durchschnittswerthe  nicht  erreichte. 

Bemerkenswerth  sind  die  Gewitter,  welche  vom  18.  bis  zum 
23.  August  in  Deutschland  niedergingen,  und  welche  eine  vorüber- 
gehende Abkühlung  brachten.  Sie  traten  auf  in  Begleitung  von  flachen 


Depressionen,  welche  für  die  Entwicklung  der  Gowitterbildung  be- 
sonders günstig  sind,  insbesondere  dann,  wenn  kalte,  nördliche  Winde 
in  das  Gebiet  starker  Erwärmung  einfallen.  Die  Wetterlagen  am  19. 
und  20.  August  bieten  manches  Interessante,  und  daher  haben  wir  die- 
selben durch  Fig.  3 zur  Darstellung  gebracht. 

Eine  flache,  umfangreiche  Depression  liegt  am  19.  Morgens  über 
dem  Nordseegebiet,  nördliche  bis  westliche  Luftströmung  über  den 
britischen  Inseln  und  West-Frankreich  erzeugend,  welches  Windsystem 
mit  der  Depression  langsam  ostwärts  fortwandelt.  Daher  am  19.  Ab- 
kühlung vorm  Kanal,  die  sich  bis  zum  folgenden  Tage  nach  Frank- 
reich, dem  Nordseegebiete  und  Süddeutschland,  am  21.  nach  Central- 


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deutschland,  und  am  22.  nach  dem  südöstlichen  Ostseegebiet  ausbreitet, 
während  jetzt  wieder  eine  neue  Wärmewelle  ostwärts  fortschreitend 
über  Deutschland  hinweggeht  Am  18.  traten  stellenweise  Gewitter  auf 
im  nordwestlichen  Deutschland,  am  19.  im  westlichen  Deutschland,  am 
20.  in  ganz  Centraleuropa  und  am  22.  und  23.  in  Westdeutschland. 

Der  Eintritt  kühleren  Wetters,  womit  die  Hitzeepoche  des  August 
1892  beendet  wurde,  ist  durch  die  Wetterkarten  vom  25.  und  26.  August 
veranschaulicht  worden  (Fig.  4). 


Am  25.  Morgens  liegt  ein  barometrisches  Minimum  von  mäfsiger 
Tiefe  zwischen  den  Shetlands  und  der  norwegischen  Küste,  einen  Aus- 
läufer nach  der  südlichen  Nordsee  hin  entsendend.  Auf  den  britischen 
Inseln  wehen  schwache  westliche  und  nordwestliche  Winde,  die  über 
Westdeutschland  in  eine  westliche  und  südwestliche  Luftströmung  über- 
gehen. Daher  ist  in  Ostfrankreich,  sowie  in  Belgien  und  Holland  Ab- 
kühlung eingetreten.  Bis  zum  folgenden  Tage  hat  sich  das  Depressions- 
gebiet ostwärts  nach  der  östlichen  Ostsee  fortgepflanzt  (siehe  Nebenkarte 
in  Fig.  4)  und  die  westliche  Luftströmung  ist  in  Begleitung  von  trüber 
Witterung  mit  Regenfällen  nach  der  ostdeutschen  Grenze  fortgerückt, 
während  auch  die  Abkühlung  über  das  westliche  und  mittlere  Deutsch- 


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land  fortgeschritten  ist.  An  den  folgenden  Tagen  ging  die  Temperatur 
auch  in  den  östlichen  deutschen  Gebietstheilen,  dann  auch  in  West- 
rufsland erheblich  herab,  und  hiermit  war  die  Epoche  der  grorsen 
Hitze  beendet 

Eine  so  anhaltende  und  drückende  Hitze,  wie  sie  im  August 
dieses  Jahres  vorkam,  gehört  jedenfalls  zu  den  extremsten  Fällen,  in- 
dessen stehen  solch'  hohe  Temperaturen  in  diesem  Jahrhundert  nicht 
vereinzelt  da.  Ich  stelle  vergleichend  alle  Temperaturmaxima  von 
33°  C.  und  darüber  nebeneinander  und  zwar  für  Hamburg  seit  1832, 
und  für  Breslau  seit  1793. 

1.  Hamburg:  1832  Juli  35.0°,  1834  Juli  und  August  36.2°, 
1838  Juli  33.8°,  1845  Juli  35.6»,  1858  Juni  33.8»,  1863  Juni  33.0°, 
1865  Mai  33.9»,  1868  August  34.2»,  1869  Juli  34.5»  (1892  August  31»), 

2.  Breslau:  1793  Juli  33.8»,  1807  August  33.1“,  1819  Juli  35.0", 
1834  Juli  33.2»,  1838  Juli  34.5»,  1841  Juli  37.2»,  1842  Juli  37.8»,  1843 
Juli  33.1»,  1845  Juli  35.6»,  1848  Juni  33.9»,  1855  August  33.2»,  1859 
Juli  33.2»,  1801  August  33.1»,  1862  Juli  33.6»,  1865  Juli  35.1»,  1867 
August  34.0»,  1868  Juli  33.5»,  1869  August  35.6»,  1873  August  34.4», 
1877  Juni  35.0»,  1880  Juli  33.0»,  1881  Juli  35.8»,  1887  Juli  33.6»- 
1890  August  33.5»,  1892  August  37.0». 

Man  sieht,  dafs  solch’  hohe  Temperaturen,  wie  sie  im  August 
1892  vorkamen,  nicht  vereinzelt  dastehen,  aber  viel  seltener  mag  es 
vorgekommen  sein,  dafs  so  hohe  Wärmegrade  so  lange  andauerten 
und  von  einer  so  außerordentlichen  physiologischen  Wirkung  waren. 
Uebrigens  sei  bemerkt,  dafs  die  in  den  Zeitungen  gelegentlich  ge- 
gebenen Zahlen  der  Maximaltemperaturen  mit  grofser  Vorsicht  zu 
nehmen  sind,  da  die  Aufstellung  der  Thermometer,  die  auf  die  An- 
gaben derselben  von  grofsem  Einfluß  ist,  meistens  nicht  bekannt  ist. 

Zahllose  Zeitungsnachrichten  berichten  über  die  beispiellos  hohen 
Hitzegrade  und  deren  Folgeerscheinungen,  über  Hitzschliige,  Feuers- 
brünste, Wassersnoth  und  dgl.,  nur  einige  mögen  hier  zur  Charakteri- 
sirung  dieses  merkwürdigen  Phänomens  eine  Stelle  finden: 

Berlin,  20.  August.  Am  19.  hat  die  Hitze  die  tropische  Gluth 
des  Vortages  noch  übertroffen.  Seit  ibrom  Bestehen  sind  die  Apparate 
der  Uraniasäulen  wohl  noch  nie  so  oft  und  so  sehnsüchtig  zu  Rathe 
gezogen  worden,  wie  in  den  letzten  Tagen.  Zu  allen  Stunden  des  Tages 
sind  die  zierlichen  Wettcrtempelchen  von  einer  Auskunft  heischenden 
Menge  umlagert,  die  sich  vergewissern  möchte,  wie  heifs  es  sei  und 
ob  sich  bald  ein  Abfall  der  wahrhaft  tropischen  Gluth  bemerklich 
machen  werde. 


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Schon  um  9 Uhr  hatte,  wie  die  Uraniasäule  am  Halleschen  Thor 
angiebt,  am  19.  Morgens  die  Hitze  mit  26n  die  Temperatur  zu  gleicher 
Zeit  am  Mittwoch  um  einen  Grad  iibertroffen,  um  12  Uhr  zeigte  der 
Apparat  schon  34°,  d.  h.  2°  mehr  als  am  Mittwoch  um  12  Uhr,  um 
1 Uhr  war  der  Stift  schon  über  die  nur  bis  35"  reichende  Scala  hin- 
aus und  stand  etwa  auf  37°,  stieg  dann  bis  2 Uhr  etwa  in  die  Gegond 
von  40°.  Hier  aber  ist  das  Papier  zu  Ende,  und  über  die  Maximal- 
temperatur, die  gegen  3 Uhr  einzutreten  pflegt,  konnte  die  Säule  am 
Freitag  keine  Auskunft  mehr  geben.  Auf  solche  Hitze  sind  wir  eben 
in  unserem  Klima  nicht  eingerichtet. 

Eine  merkmürdige  Naturbeobachtung  ist  infolge  des  heifsen 
August  an  den  Bäumen  zu  machen:  Laubfall  im  Monat  August.  Die 
Ahorne,  Ailanthus,  Akazien,  Kastanienbäumo  etc.  stehen  mit  fahlem,  ver- 
dorrtem Laub  da:  der  Boden  ist  ganz  bedeckt  mit  den  staubtrockenen,  unter 
jedem  Schritt  raschelnden  Blättern.  Die  Austrocknung  derselben  ist 
so  hochgradig,  dafe  sie  bei  jeder  Berührung  in  Stücke  zerfallen. 
Geht's  so  fort,  so  werden  unsere  Schattenspender  bald  laublos  wie 
sonst  im  Spätherbst  erscheinen. 

ln  Thüringen  ist  die  Hitze  fast  unerträglich  geworden,  das 
Thermometer  zeigt  jetzt  öfter  36°  C.  im  Schatten.  In  Jena,  Apolda, 
Pöfsneck,  Gora  und  anderwärts  hat  die  Gluth  Opfer  gefordert,  meist 
Arbeiter,  die  bei  Bauten  oder  auf  dem  Felde  beschäftigt  waren.  An 
vielen  Stellen  herrscht  ein  bedenklicher  Wassermangel.  Infolgo  der 
Hitze  haben  Brände,  die  während  der  letzten  Tage  stattfanden,  eine 
grofse  Ausdehnung  angenommen,  in  Apolda  brannten  4 Häuser  nieder. 

Aus  Sachsen,  den  22.  August.  Die  Verunglückungen  durch 
Hitzschlag  mehren  sich.  In  zahlreichen  sächsischen  Orten  wird  die 
Wassersnoth  immer  empfindlicher,  da  Brunnen  und  Bäche  vertrocknet 
sind.  Der  heutige  amtliche  „Dresdener  Anzeiger“  meldet:  „Aus  fast 
allen  Orten  Sachsens  werden  uns  infolge  der  übergrofsen  Hitze  ent- 
standene Krankheitsfälle,  namentlich  Hitzschlag  gemeldet;  die  meisten 
derselben  haben  einen  tödtlichen  Ausgang  genommen.“  So  schlimm, 
wie  die  Sache  hier  dargestellt  wird,  ist  dieselbe  keineswegs;  immerhin 
sind  die  Verunglückungen  zahlreich  genug. 

Infolge  des  heifsen  Wetters  haben  verschiedene  grofse  Brände 
im  Erzgebirge  stattgefunden.  Der  Wassermangel  macht  sich  aufs  em- 
pfindlichste fühlbar. 

Stuttgart.  (Schw.  Merk.)  Ueber  den  Einflufs  der  Hitze  auf 
den  Weinstock  hört  man  leider  nur  schlimme  Nachrichten.  Die  Trauben 
fangen  an  zu  braten  und  einzuschrumpfen,  weil  es  an  Saft,  an  Rogen 


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fehlt.  Wenn  man  die  Winzer  fragt,  so  kann  man  Antworten  erhalten, 
wie:  „Ich  konnte  auf  so  und  so  viel  Eimer  Wein  rechnen;  nach  den 
Verheerungen  seit  Mittwoch  kann  ich  mich  glücklich  sohätzen,  wenn 
ich  die  Hälfte  bekommo.  Seit  dem  Jahre  1877  (26.  und  26.  September) 
ist  ein  ähnliches  Unglück  nicht  mehr  über  unsere  Weinberge  gekommen.“ 
Damals  stand  alles  herrlioh  in  den  Weinbergen,  zwei  Nachtfröste  zer- 
störten plötzlich  ulle  Hoffnungen.  Diesmal  ist  es  der  heifso,  trockene 
Föhn,  der  zu  Befürchtungen  Anlafs  giebt. 

Aus  der  Schweiz,  den  19.  August.  Die  gegenwärtige  Hitze 
treibt  alles,  was  nur  kann,  in  die  Hochgebirge.  Nach  einer  Zusammen- 
stellung des  schweizerischen  Verkehrsbureaus  beträgt  die  Zahl  der 
gegenwärtig  in  der  Schweiz  weilenden  Touristen  und  Kurgäste  68000. 
Da  immer  neuer  Zuzug  eintrifft,  ist  diese  Zahl  wohl  schon  überschritten. 
Aus  Hern  wird  berichtet,  dafs  infolge  der  übermäfsigen  Hitze  sich  ein 
starkes  Schmelzen  der  Gletscher  bemerkbar  macht  und  die  Ströme  zu 
steigen  beginnen. 

Pest,  den  24.  August.  Auf  dem  Marsche  nach  Martonvasar 
stürzten  infolge  der  Hitze  beim  32.  Infanterie-Regiment  180  Mann. 
Beim  24.  Infanterie-Regiment  fielen  beim  Marsche  von  Kaschau  nach 
Makroncz  250  Mann  zusammen. 

Triest,  den  22.  August.  Aus  dem  Venetianischen  liegen  neue 
Nachrichten  über  Unglücksfälle  bei  den  Truppen  infolge  der  Hitze  vor. 
Ein  Tlieil  des  36.  Regiments  wurde  bei  Padua  arg  mitgenommen;  von 
400  Mann  kamen,  wie  der  „Corriere  dellaSera“  meldet,  kaum  150  Mann 
an.  Die  anderen  waren  auf  dem  Wege  liegen  geblieben  und  raufsten 
mit  Wagen  abgeholt  werden.  Bei  Nogara  fielen  70  Soldaten  des 
61.  Regiments  um,  30  erlitten  Hitzschläge,  darunter  mehrere  Offiziere, 
ein  Hauptmann  und  ein  Arzt.  Die  italienische  Presse  tadelt  in  der 
heftigsten  Weise  die  Vornahme  angestrengter  Märsche  bei  so  arger  Hitze. 


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Die  Astronomie  des  Unsichtbaren. 

Von  Dr.  }.  Scheiaer, 

Astronom  am  Astrophysikifisihvn  Observatorium  zu  Potsdam. 

(Fortsetzung.) 

Die  Entdeckung  der  dunklen  Begleiter  von  Sirius 
und  Prooyon. 

fgs  ist  dem  Verfasser  wohl  bewufst,  dafs  die  Kürze  der  Darstel- 
lung der  Neptunentdeokung  gerade  in  Bezug  auf  die  Rolle,  welche 
die  Gravitation  hierbei  spielt,  sch  werlichdem  Leser  ein  befriedigendes 
Eindringen  in  diesen  theoretischen  Theil  der  Astronomie  des  Unsicht- 
baren gewährt  haben  wird.  Für  diese  eigentlich  unerlaubte  Kürze 
sind  aber  mehrere  Gründe  mafsgebend  gewesen,  und  zwar  in  erster 
Linie  dm  Unmöglichkeit,  ohne  Anwendung  mathematischer  Formeln 
oder  wenigstens  koinpiizirter  geometrischer  Darstellungen  diesen  Ein- 
blick zu  verschaffen,  einen  Einblick,  der  bei  dem  vorliegenden  Problem 
der  Entdeckung  dunkler  Fixsternbegleiter  sehr  viel  leichter  zu  erlangen 
ist.  Es  ist  aufserordentlich  viel  einfacher,  die  anziehenden  Wirkun- 
gen zweier  isolirten  Körper  zu  betrachten  als  diejenigen  zweier 
Körper,  deren  Bahnen  im  wesentlichen  durch  einen  weit  überwiegen- 
den Zentralkörper  bestimmt  worden.  Wenn  daher  der  Zweck  des 
Verfassers  erreicht  ist,  sofern  der  Leser  nur  einen  Begriff  von  den 
enormen  theoretischen  Schwierigkeiten  der  Lösung  des  Neptuns- 
problems gewonnen  hat,  so  ist  dies  im  vorliegenden  Kapitel  nur  der 
Fall,  wenn  auch  der  nicht  mathematisch  geschulte  Leser  ein  völliges 
Verstiindnifs  der  Th  a (Sachen  erlangt.  Verfasser  glaubt,  dies  auf  keinem 
besseren  Wege  erreichen  zu  können,  als  wenn  er  nur  mit  unbedeuten- 
den Aenderungen  dem  Gedankengange  des  leider  allzufrüh  verstorbe- 
nen Astronomen  Schönfeld,  des  früheren  Direktors  der  Bonner 
Sternwarte,  folgt,  den  derselbe  im  Jahre  1869,  einem  wohl  kaum  in 
weitere  Kreise  gedrungenen  Vortrage  über  die  dunklen  Fixsternbe- 
gloiter  untergelegt  hat. 

New'tons  grofse  Entdeckung  der  Gravitation,  nach  welcher  alle 


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Körper  eines  Systems  sich  untereinander  nach  demselben  Gesetze  an- 
ziehen,  konnte  zunächst  nur  für  das  Sonnensystem  als  bewiesen  be- 
trachtet werden.  Heute  wissen  wir,  dafs  auch  der  entfernteste  Fix- 
stern noch  auf  die  Bahnen  unserer  Planeten  modifizirend  einwirkt, 
wenn  auch  der  Betrag  der  Fixsternstörung  so  gering  ist,  dafs  er 
niemals  direkt  wird  erkannt  werden  können.  Jedoch  zu  Newtons 
Zeit  waren  die  Fixsterne  seiner  Theorie  noch  nicht  zugänglioh;  denn 
die  Beobachtungen  hatten  bei  ihnen  noch  keine  Bewegungen  zu  er- 
kennen gegeben,  und  es  waren  somit  weder  die  Wirkungen  eines 
ursprünglichen  Stofses,  noch  gegenseitiger  Anziehung  nachweisbar. 
Erst  Halley  hat  die  Bemerkung  gemacht,  dafs  einige  helle  Sterne 
aufsor  denjenigen  Ortsveränderungen,  welche  nur  scheinbar  sind  und  von 
den  Veränderungen  der  Ebenen,  auf  welche  wir  die  Ortsbestimmungen  be- 
ziehen, herrühren,  auch  wirkliche  erlitten  haben:  aber  alles,  was  man 
bis  gegen  das  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  über  diese  sogenannten 
Eigenbewegungen  der  Fixsterne  wufste,  war  selbst  gegenüber  unseren 
jetzigen,  noch  immer  lückenhaften  Kenntnissen  äufserst  fragmentarisch. 
Erst  durch  Bessels  Bearbeitung  der  Bradleyschen  Beobachtungen 
wurde  Licht  in  dieses  Dunkel  gebracht.  Bessel  zeigte,  dars  von  den 
mehr  als  3000  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Greenwich 
beobachteten  Sternen  eine  grofse  Zahl,  mehr  als  14  Prozent,  Ab- 
weichungen von  den  neueren  Bestimmungen,  besonders  von  Piazzi 
zeigte,  die  grüfser  wraren  als  die  etwaige  Unsicherheit  der  beiderseitigen 
Sternverzeichnisse.  Die  Neuzeit  hat  diesen  Sternen  noch  viele  andere 
beigefügt,  so  dafs  man  jetzt  die  eigene  Bewegung  als  eine  allgemeine 
Eigenschaft  der  Fixsterne,  unsere  eigene  Sonne  mit  eingeschlossen, 
betrachtet,  wenn  auch  diese  Bewegungen  für  die  meisten  so  klein  sind, 
dafs  sie  noch  nicht  haben  bestimmt  werden  können.  Dadurch  erst 
wurde  die  Stellarastronomie  zu  einem  abgesonderten  Zweige  der  Wissen- 
schaft. Wenn  früher  die  Anstellung  der  Sternbeobachtungen  nur  den 
Zweck  hatte,  fixe  Punkte  am  Himmel  zu  erhalten,  auf  welche  der  Ort 
der  beweglichen  bezogen  werden  konnte,  so  liegt  ihr  jetzt  noch  aufser- 
dem  die  Absicht  zu  Grunde,  das  Material  für  eine  dereinstige  Theorie 
der  Bewegungen  im  Fixsternsysteme  in  demselben  Sinne  zu  liefern, 
wie  wir  eine  solche  vom  Sonnensystem  besitzen. 

Allein  von  welcher  Art  sind  diese  Bewegungen?  Gilt  auch  für 
sie  das  Ne  w ton  sehe  Gravitationsgesetz?  Verrathen  sie  eine  ähnliche 
Beziehung  zu  einem  Zentralkörper,  wie  die  Bewegungen  der  Planeten 
und  Kometen?  Alle  diese  Fragen  sind  vollständig  nur  durch  viel 
weiter  ausgedehnte  Beobachtungen  zu  lösen,  als  wir  bis  jetzt  besitzen. 


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Denn  die  Bewegungen  der  Fixsterne  erscheinen  uns  unvergleichlich 
viel  langsamer  als  die  der  Körper  unseres  Sonnensystems,  schon  des- 
halb, weil  die  Fixsterne  sehr  viel  weiter  von  uns  entfernt  sind,  als 
letztere.  Indessen  hat  doch  die  Entdeckung  der  Bewegungen  der 
Doppelsterne  durch  W.  Ilerschel  uns  schon  dahin  geführt,  die 
wichtigste  dieser  Fragen,  die  zweite,  für  einige  Sterne  mit  Zuversicht 
bejahen  zu  können.  Die  Doppelsterne  sind  Sternpaare,  deren  Kom- 
ponenten in  einer  relativ  zur  Mehrzahl  der  Sterne  sehr  kleinen 
Winkeldistanz  nahe  bei  einander  stehen,  und  es  ist  bekannt,  dafs  diese 
Nähe  in  den  bei  weitem  meisten  Fällen  keine  blofs  scheinbare  optische, 
sondern  eine  reelle  physische  ist.  Solche  Paare  befinden  sich  also 
ganz  in  dem  Verhaltnifs  wie  Erde  und  Mond,  und  wenn  sie  einen 
ursprünglichen  Stofs  erlitten  haben  und  einer  gegenseitigen  Anziehung 
unterworfen  sind,  so  müssen  sio  eine  Drehung  um  einander  und  ein 
Fortschreiten  des  gemeinsamen  Schwerpunktes  zeigen.  Diese  Drehung 
findet  nun  in  der  That  bei  vielen  derselben  statt,  und  noch  mehrere 
zeigen  das  gemeinsame  Fortschreiten.  Es  bildet  letzteres  ihre  Eigen- 
bewegung oder  vermischt  sich  wenigstens  mit  dieser,  wenn  ihr  noch 
andere  Ursachen  (wie  die  scheinbare  Bewegung,  die  nur  das  Spiegel- 
bild der  Bewegung  unserer  Sonne  ist)  zu  Grunde  liegen.  Die  Be- 
obachtungen haben  auch  schon  enthüllt,  dafs  die  Drehung  ganz  nach 
denselben  Gesetzen  vor  sich  geht,  wie  die  Bewegung  eines  Planeten 
um  die  Sonne  oder  die  des  Mondes  um  die  Erde;  kurz,  das  Newton- 
sche  Gesetz  gilt  auch  für  die  relativen  Doppelsternbewegungen,  und 
für  eine  grofse  Anzahl  derselben  hat  man  bereits  recht  sichere  Elemente 
der  Bahnen  berechnen  können,  durch  welche  man  die  Oerter  der 
Komponenten  in  ähnlicher  Weise  für  jede  Zeit  anzugeben  in  der  Lage 
ist  wie  bei  unseren  Planeten.  Es  ist  klar,  dafs  die  Genauigkeit,  mit 
welcher  diese  Elemente  bestimmt  werden  können,  mit  der  Kürze  der 
Umlaufszeit  wächst;  wenigstens  bezieht  sich  diese  Bemerkung  auf  das 
wichtigste  Element,  auf  die  Umlaufszeit  selbst.  Wir  kennen  heute 
einige  Doppelsterne,  die  seit  ihrer  Entdeckung  schon  mehrere  Um- 
läufe vollendet  haben,  z.  B.  6 Equulei  mit  1 1 '/2  Jahren,  ß Delphini  mit 
17  Jahren  Umlaufszeit  An  diese  schliefsen  sich  andere  mit  längerer, 
aber  immerhin  noch  gut  bestimmbarer  Rovolutionsdauer,  z.  B.  42  Coinae 
mit  26  Jahren,  i;  Coronae  mit  42  Jahren,  c Ursae  Maj.  mit  61  Jahren. 
Mit  gröfser  werdenden  Undaufszeiten  — mehr  als  200  bis  300  Jahren 
— gehen  die  Doppelsterne  dann  in  diejenigen  über,  von  deren  Bahn- 
bewegung nichts  Sicheres  mehr  bekannt  ist;  für  die  Tausonde  von 
Sternpaaren,  deren  Perioden  diese  engen  Grenzen  überschreiten,  hat 


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also  der  volle  Beweis  der  Gültigkeit  des  Newtonschen  Gravitations- 
gesetzes noch  nicht  geführt  worden  können.  Gleichwohl  ist  es  in  hohem 
Grade  wahrscheinlich,  dafs  dies  Gesetz  auch  in  der  Fixstemwelt 
allgemein  gilt.  Die  der  Materie  durch  dasselbe  zugeschriebene  Eigen- 
schaft scheint  von  ihrem  Wesen  unzertrennlich.  Nirgends  im  Welt- 
räume zeigen  sich  Erscheinungen,  die  diesem  Gesetze  geradezu  wider- 
sprechen, wohl  aber  sind  viele  der  imerklärlichsten  Phänomene  durch 
dasselbe  erklärbar  geworden.  Findet  aber  dasselbe  Gesetz  allgemein 
im  Fixsternsystem  statt,  so  müssen  mit  der  Zeit  auch  seine  Folgen  an 
den  Fixstembewegungen  zu  Tage  treten;  es  müssen  sich  Attraktions- 
beziehungen  zwischen  den  einzelnen  Sternen  zeigen,  die  bis  jetzt  nooh 
nicht,  oder  nur  sehr  unvollständig  zu  Tage  getreten  sind. 

Wenn  wir  nun  die  scheinbare  Bewegung  eines  einzelnen  Fix- 
sterns, der  kein  Glied  eines  Doppelsternsystems  ist,  aus  den  Beobach- 
tungen ableiten,  so  stellt  sich  dieselbe,  soweit  sie  nicht  durch  die 
Eigenschaften  des  Lichts  (Strahlenbrechung  und  Aberration),  durch  die 
Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  (Parallaxe  und  ein  Theil  der  Prä- 
zession und  Nutation)  erzeugt  wird,  als  eine  in  einem  gröfsten  Kreise 
gleichmäfsig  fortschreitende  heraus,  oder  mjt  andern  Worten,  der  Stern 
scheint  sich  im  Raume  geradlinig  und  mit  gleichförmiger  Geschwin- 
digkeit fortzubewegen.  Eine  solche  Art  von  Bewegung  ist  indessen, 
wenn  sie  allgemein  stattfindet,  mit  der  Gültigkeit  des  Gravitations- 
gesetzes nicht  vereinbar,  denn  die  Anziehungen  zeigen  sich  ja  gerade 
darin,  dafs  Bewegungsänderungen  vor  sich  gehen,  dafs  die  an- 
ziehende Masse  den  Stern  von  seiner  geradlinigen  Bahn  ablenkt  und 
dieser  eine  gegen  die  Richtung  der  Anziehung  konkave  Krümmung 
ortheilt.  Allein  dieser  Widerspruch  ist  nur  in  der  Unvollkommenheit 
unserer  Beobachtungen  relativ  zu  der  Kleinheit  der  Bewegungen  be- 
gründet, und  unter  gleichen  Umständen  würden  wir  im  Sonnensystem 
in  der  gleichen  Unsicherheit  bleiben.  Die  schärfste  Beobachtung  ist 
nicht  im  stände,  aus  den  Beobachtungen  eines  Planeten,  z.  B.  des  in 
88  Tagen  um  die  Sonne  laufenden  Merkur,  eine  Ungleichmäfsigkeit 
der  Bewegung  und  ihre  Abweichung  vom  gröfsten  Kreise  nachzu- 
weisen, weun  diese  Beobachtungen  nur  etwa  zwei  Stunden  fortgesetzt 
sind.  Gleichwohl  wissen  wir,  dafs  die  Bewegung  des  Merkur  nichts 
weniger  als  geradlinig  gleichförmig  ist,  ja  dafs  diese  zwei  Stunden 
schon  fast  den  tausendsten  Theil  seiner  Umlaufszeit  betragen.  Einen 
so  grofsen  Theil  der  Umlaufszeit  im  Fixsternsystem  umfassen  aber  die 
Beobachtungen  noch  bei  keinem  einzigen  Fixstern;  selbst  bei  dem 
Stern  61  im  Schwan  beträgt  der  genauer  beobachtete  Bogen  noch  nicht 


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12  Minuten,  und  wenn  diese  Bewegung  der  mittleren  gleich  ist,  so 
bildet  sie  den  2000.  Theil  des  Ganzen.  Zudem  sind  Bradleys  nun- 
mehr über  100  Jahre  alte  Beobachtungen  von  dem  Grade  der  Ge- 
nauigkeit, der  oben  bei  Merkur  vorausgesetzt  wurde,  noch  weit  ent- 
fernt. Dafs  wir  also  noch  keine  Krümmungen  der  grofsen  Fixstern- 
bahnen erkannt  haben,  widerspricht  der  Annahme  gegenseitiger 
Anziehungen  nioht;  die  Beobachtungen  müssen  voraussichtlich  noch 
mehrerd  Jahrhunderte  lang  fortgesetzt  werden,  ehe  dies  erreicht  wird. 

Anders  jedoch  verhiilt  es  sich  mit  den  Doppelstemen  oder  zu- 
sammengesetzteren Sterngruppen.  Da  die  Komponenten  derselben 
neben  dem  etwaigen  geradlinigen  Fortschreiten  noch  eine  Drehung  um 
einander  erleiden,  deren  Gröfse  im  Verhältnifs  zur  gemeinsamen  Be- 
wegung nicht  unbedeutend  ist,  so  wird  auch  der  Weg,  den  jede  der- 
selben an  der  Himmelskugel  einzoln  zurücklegt,  kein  gröfster  Kreis 
sein  können,  sondern  beide  müssen  von  diesem  in  entgegengesetzter 
Richtung  abweichen.  Das  Beispiel  der  gemeinsamen  Bewegung  von 
Erde  und  Mond  um  die  Sonne  wird  dies  einfach  darthun.  Ein  Be- 
obachter im  Mittelpunkt  der  Sonne  sieht  den  Schwerpunkt  zwischen 
Erde  und  Mond  in  einem  gröfsten  Kreise  fortschreiten,  aber  um  diesen 
Punkt  herum  drehen  sich  gleichzeitig  in  2Tl/2  Tagen  Mond  und  Erde 
so,  dafs  jeder  der  beiden  Körper  ein  Bild  des  uns  sichtbaren  Mond- 
laufs beschreibt.  Bald  steht  die  Erde  über,  bald  unter  der  imagi- 
nären Linie,  die  den  Weg  des  Schwerpunktes  vorstellt,  bald  bleibt  sie 
hinter  diesem  Punkte  zurück,  bald  eilt  sie  ihm  voraus;  immer  aber 
wird  der  Mond  sich  auf  der  entgegengesetzten  Seite  befinden  und, 
seiner  kleineren  Masse  entsprechend,  80  mal  weiter  vom  Schwerpunkt 
entfernt  sein;  sonst  sind  sich  beide  Bewegungen  vollkommen  ähnlich. 
Mit  Ausnahme  des  Umstandes,  dafs  dem  Beobachter  in  der  Sonne  die 
ungleichmiifsige  Bewegung  des  Schwerpunktes  zwischen  Erde  und 
Mond  bald  auffällig  werden  müfste,  läfst  sich  alles  direkt  auf  die 
Doppolsterne  anwenden.  Genaue  Beobachtungen,  welche  die  absoluten 
Oerter  der  beiden  Komponenten  an  der  Himmelskugel  während  eines 
länger  fortgesetzten  Zeitraums  ergeben,  müssen  die  Drehung  beider 
um  einander  verrathen,  freilich  lange  nicht  mit  der  Sicherheit,  wie 
die  unmittelbare  Vergleichung  beider  Komponenten.  Denn  erstens 
sind  die  mikrometrischen  Beobachtungen  bei  der  letzteren  an  sich 
genauer,  als  die  absoluten  Ortsbestimmungen,  und  dann  wird  bei  diesen 
die  Drehung  erst  aus  der  Differenz  zweier  beobachteter  Gröfsen  ge- 
schlossen, während  jene  nur  die  Beobachtung  einer  einzigen  Gröfse 
(dos  sog.  Richtungswinkels)  verlangt.  Wenn  aber,  wie  z.  B.  bei  den 

Himmel  and  Erde.  1892.  V.  2.  6 


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Sternen  a im  Centauren,  61  im  Sehwan,  p im  Schlangenträger,  die 
Bahnbewegung  unter  einem  hinreichend  grofeen  Winkel  erscheint,  so 
ist  gewifs,  dafs  unsere  heutige  Beobachtungskunst  schon  ausgebildet 
genug  ist,  um  auch  ohne  Anwendung  von  Mikrometern  die  Drehung 
beider  Komponenten  um  einander  zu  erkennen  und  den  Punkt,  der 
nur  am  gleichmärsigen  Fortschreiten  im  Raume,  nicht  an  der  Drehung 
theilnimmt,  den  Schwerpunkt,  erträglich  scharf  zu  bestimmen. 

Da  nun  aber  die  Bewegungen  beider  Komponenten  um  den 
Schwerpunkt  ähnliche  Figuron  bilden,  und  da  beide  Körper  gegen 
diesen  Punkt  eine  ganz  bestimmte,  nämlich  immer  die  entgegenge- 
setzte Stellung  einnehmen,  so  folgt  daraus,  dafs  die  Beobachtung  eines 
von  beiden  genügen  würde,  um  aufser  der  Bahn,  welche  er  selbst 
beschreibt,  auch  noch  die  Richtung  zu  bestimmen,  in  der  der  andere 
stehen  mufs.  Denn  sobald  die  Bahnbestimmung  der  einen  Kompo- 
nente die  Lage  des  Schwerpunktes  angegeben  hat,  braucht  man  nur 
durch  diesen  und  den  Stern  eine  gerade  Linie  gelegt  zu  denken,  und 
es  mufs  dieselbe  über  den  Schwerpunkt  hinaus  verlängert,  auch  durch 
den  zweiten  Stern  gehen.  Nur  der  Abstand  des  zweiten  Steins  vom 
Schwerpunkt  bleibt  imbestimmt;  dieser  hängt  ab  von  dem  Verhältnifs 
der  Massen  beider  Sterne,  welches  durch  die  Beobachtung  des  einen 
nicht  bestimmt  werden  kann,  vielmehr  erst  durch  die  Vergleichung 
der  beobachteten  Abständo  beider  Sterne  vom  Schwerpunkte  gefun- 
den wird. 

Man  kann  also  auf  diese  Weise  aus  den  Ortsbestimmungen  eines 
Sternes  a,  ohne  seinen  Begleiter  b auch  nur  anzusehen,  die  Aufgabe 
lösen:  die  Bahn,  welche  a um  den  gemeinsamen  Schwerpunkt  von  a 
und  b nach  dem  Gravitationsgesetze  beschreibt,  sowie  seinen  jedes- 
maligen Ort  in  der  Bahn  zu  bestimmen,  und  die  Richtung,  in  der  vom 
Stern  a aus  b erscheinen  mufs,  anzugeben. 

Hiermit  ist  aber  zugleich  zugegeben,  dafs  es  auf  die  Sichtbarkeit 
von  b überhaupt  gar  nicht  ankommt.  Mag  seine  Oberflächen  - Be- 
schaffenheit von  der  Art  sein,  dafs  er  unseren  Augen  nie  sichtbar 
wird,  mag  er  mit  der  Helligkeit  des  Sirius  glänzen:  Die  Massenan- 
ziehung, die  er  auf  andere  Körper  ausübt,  wird  dadurch  nicht  im  ge- 
ringsten geändert  Die  Helligkeit  der  Sterne  ist  überhaupt  nicht  pro- 
portional ihren  Massen;  wenn  letztere  auch  einer  der  vielen  Faktoren 
sein  sollte,  welche  die  Helligkeit  bestimmen,  so  sind  doch  die  anderen, 
wie  die  chemische  Beschaffenheit,  der  Aggregatzustand,  die  Temperatur 
der  leuchtenden  Oberfläche,  sodann  das  verschiedene  Volumen  und  die 
verschiedene  Entfernung  des  leuchtenden  Körpers,  von  so  bedeuten- 


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dem  Einflurs,  dafs  ein  Sohlufs  von  der  Helligkeit  auf  die  Masse  durch- 
aus nicht  geführt  werden  kann.  Haben  wir  ja  doch  Sterne,  deren 
Glanz  stark  veränderlich  ist,  soi  es,  da  Ts  nahezu  gleiche  Helligkeiten 
in  gleichen  Intervallen  wiederkehren,  sei  es,  dafs  sie  überhaupt  nur 
für  kurze  Zeit  aufstrahlen,  wie  die  sogenannten  neuen  Sterne.  Gleich- 
wohl können  wir  nicht  zweifeln,  dafs  diese  Steine  auoh  zur  Zeit  ihrer 
Unsichtbarkeit  ebensolche  Masse  besitzen  wie  vorher.  ZurUnsichtbarkeit 
genügt,  im  Sinne  der  Undulationstheorie  gesprochen,  die  Unfähigkeit 
der  Oberfläche  des  Sterns,  den  Lichtäther  in  Schwingungen  von  be- 
stimmter Wellenlänge  zu  versetzen;  einen  Zusammenhang  dieser  Fähig- 
keit mit  der  Masse  des  Sterns  kennen  wir  nicht. 

Hieraus  geht  also  hervor,  dafs  jedor  Stern,  der  einen  hinreichend 
massenhaften,  unsichtbaren  Begleiter  hat,  fortgesetzten  Beobachtimgen 
eine  eigene  Bewegung  verrathen  mufs,  die  auB  zwei  Theilen  zusammen- 
gesetzt ist;  einem  gleichmäfsig  fortschreitenden,  nämlich  der  Bewegung 
des  gemeinsamen  Schwerpunktes  im  Welträume,  und  einem  periodi- 
schen, der,  für  sich  aufgezeichnet,  die  Projektion  der  Kepplerschen 
Ellipse  darstellt,  welche  der  Stern  infolge  der  Anziehung  des  Be- 
gleiters um  den  Schwerpunkt  beider  beschreibt.  Die  Bewegung  des 
Sterns  mufs  sich  also  als  eine  veränderliche  herausstellen,  und  in  der 
That  ist  aus  solchen  veränderlichen  Eigenbewegungon  die  Existenz 
der  dunkeln  Begleiter  erschlossen  worden. 

Indessen  ist  die  Umkehrung  der  eben  bewiesenen  These  zu 
dem  Satze: 

„Wenn  ein  Fixstern  eine  in  kürzeren  Intervallen  veränderliche 

Eigenbewegung  zeigt,  so  mufs  er  Glied  eines  Doppelstemsystems 

sein,  auch  wenn  wir  die  andere  Komponente  nicht  sehen“ 
logisch  nur  dann  gestattet,  wenn  man  gleichzeitig  nachweist,  dafs 
andere  Ursachen  einer  solchen  Veränderlichkeit  nicht  wohl  denkbar 
sind.  Die  Gültigkeit  des  Gravitationsgesetzes  im  Fixsterngo  biete  zuge- 
geben, ist  es  nun  allerdings  nicht  möglich,  dafs  die  Bewegungen  der 
Fixsterne  in  aller  Strenge  gleichförmig  sind,  vielmehr  bedingt  sowohl 
ein  etwaiger  Zentralkörper  als  auch  das  Zusammenwirken  aller  Millionen 
Sterne  ähnliche  Veränderungen  im  Stern  laufe,  wue  sie  bei  den  Planeten 
stattfinden.  Aber  wenn  dies  Prinzip  dio  Veränderungen  erklären 
sollte,  so  müfste  die  Veränderlichkeit  der  Eigenbewegung  eine  allge- 
meine Eigenschaft  der  Fixsterne  sein,  die  sich  nur  zufällig  bei  einzel- 
nen der  Beobachtung  entziehen  könnte.  Dies  ist  nun  allerdings, 
namentlich  von  dem  englischen  Astronomen  Taylor,  seiner  Zeit  be- 
hauptet worden;  allein  die  zuverlässigsten  Ortsbestimmungen,  welche 

6* 


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wir  besitzen,  widersprechen  einer  solchen  Annahme  und  zeigen,  dafs 
allen  hierher  gehörigen  Schlüssen  von  Pond,  üianchi,  Taylor  etc. 
nur  ein  allzugrofses  Vertrauen  auf  die  Richtigkeit  der  absoluten  Orts- 
bestimmungen zu  Grunde  liegt  Die  genauesten  Untersuchungen  zeigen 
vielmehr,  dafs  bei  einfach  gesehenen  Sternen  die  Abweichung  der 
Eigeubewegung  von  der  Gleichförmigkeit  nur  eine  seltene,  sporadische 
Ausnahme  ist.  Und  nicht  nur  die  neueren  Beobachtungen  widersprechen 
einer  solchen  allgemeinen  Veränderlichkeit,  sondern  auch  die  ganz  alten 
von  Hipparch.  Diese  sind  freilich  wenig  genau,  aber  dafür  hat  sich 
der  Betrag  der  jährlichen  Veränderung  der  Eigenbewegung  seit  jener 
Zeit  durch  eine  lange  Reihe  von  Jahren  angehäuft.  Für  Sirius  z.  B. 
hat  Bes  sei  nachgewiesen,  dafs,  wenn  die  Rektasconsionen  von  1755, 
1825  und  1843  durch  eine  solche  säkulare  Aenderung  der  Eigenbo- 
wegung  in  Einklang  gebracht  werden  sollten,  der  Ort  des  Sirius  vor 
2000  Jahren  um  3l/a0  von  demjenigen  verschieden  herauskommt, 
welchen  das  Hipparchische  Sternverzeichnifs  ihm  anweist,  und  dies 
überschreitet  denn  doch  bei  aller  Unsicherheit  des  letzteren  bedeutend 
die  Grenze  des  Zulässigen. 

So  bleibt  also  zur  Erklärung  der  Bewegungsänderungen  nur 
eine  von  zwei  Annahmen  übrig.  Entweder  ist  der  Stern  selbst  periodi- 
schen Schwankungen  um  einen  ihm  nahe  liegenden  Punkt  unterworfen, 
oder  der  Standpunkt  ist  es,  von  dem  aus  wir  ihn  beobachten;  d.  h. 
entweder  ist  der  Stern  Glied  eines  Doppelsternsystems,  oder  unsere 
Sonne  ist  es.  Allein  auch  die  letztere  Annahme  ist  offenbar  auszu- 
schliefsen.  Denn  nicht  nur  müfste  dann  wieder  eine  solche  periodi- 
sche Veränderlichkeit  eine  weit  allgemeinere  Eigenschaft  der  Stern- 
bewegungen sein,  sondern  sie  müfste  sich  auch  bei  allen  in  gleicher 
Periode  zeigen  und  gleich  der  Umlaufszeit  der  Sonne  sein.  Die  Figur 
der  Bahnen  müfste  ferner  eine  Abhängigkeit  vom  Ort  der  Sterne  am 
Himmelsgewölbe  zeigen,  weil  alle  Bahnen  eigentlich  nur  das  Spiegel- 
bild einer  und  derselben,  nur  verschieden  projicirt,  wären.  Nehmen 
wir  noch  dazu,  dafs,  wenn  sich  eine  beträchtliche  unbekannte  Masse 
in  der  Nähe  des  Sonnensystems  befände,  unmöglich  eine  solche  Ueber- 
einstimmung  der  beobachteten  Planeten-  und  Kometenörter  mit  den 
vorausberechneten  stattfinden  könnte,  wie  es  in  Wirklichkeit  der  Fall 
ist,  so  werden  wir  nicht  bezweifeln  können,  dafs  in  der  That  jeder 
Veränderlichkeit  der  Eigenbewegung  eines  scheinbar  einfachen  Fix- 
sterns, welche  ihren  Cyklus  in  kurzen  Zeiträumen  durchläuft,  eine  An- 
ziehung zu  Grunde  liegen  mufs,  die  von  der  unmittelbaren  Nähe  des 
Fixsterns  selbst  ausgeht,  d.  h.  dafs  sie  nur  durch  einen  unsichtbaren, 


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aber  darum  nicht  weniger  massenhaften  Begleiter  hervorgebracht 
sein  kann. 

Das  Studium  der  Eigenbewegungen  der  Fixsterne  ist  es  also, 
welches  uns  die  Anwesenheit  unsichtbarer  Massen  in  den  Fixstern- 
räumen verrathen  kann.  Ob  es  uns  solche  verrathen  wird,  hängt 
nun  von  der  Genauigkeit,  Zahl  und  Ausdehnung  der  Ortsbestimmungen 
ab.  Die  Fixsternörter  sind  aber  zu  allen  Zeiten  ein  Gegenstand  der 
angestrengtesten  Aufmerksamkeit  der  Astronomen  gewesen.  So  lange 
die  Fixsterne  wirklich  als  fest  galten,  waren  sie  den  Astronomen  die 
unverrückten  Marksteine,  an  welche  die  Bewegungen  der  Planeten 
angeknüpft  und  durch  welche  die  scheinbaren  Aenderungen  in  der  Lage 
des  Himmelsgewölbes  unmittelbar  erkannt  wurden.  Als  man  die  eigenen 
Bewegungen  fand,  gestaltete  sich  die  Aufgabe  schon  anders;  denn  nun 
galt  es,  auch  Richtung  und  Betrag  dieser  Bewegung  kennen  zu  lernen, 
um  den  Ort  des  Fixsterns  jederzeit  angeben  zu  können.  Dazu  genügen, 
so  lange  dio  Bewegung  geradlinig  und  gleichförmig  ist,  zwei  Epochen ; 
ist  sie  aber  veränderlich,  so  wird  man,  je  nachdem  man  verschiedene 
Epochenpaare  vergleicht,  eine  andere  Gröfse  und  Richtung  der  Eigen- 
bewegung finden,  nnd  man  wird  den  Ort  des  Sternes  nicht  eher  zum 
voraus  angeben  können,  als  bis  das  Gesetz  der  Veränderlichkeit  er- 
kannt ist  So  lange  dies  nicht  geschehen  ist,  bleiben  die  vorhandenen 
Beobachtungen  des  Sternes  für  die  meisten  Zwecke  unbrauchbar,  und 
man  erkennt  daraus  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  für  die  prak- 
tische Astronomie. 

Im  Jahre  1840  brachte  Bes  sei  seine  Beobachtungen  der  Funda- 
mentalsteme  zum  Abschlüsse.  Er  hatte  dadurch  für  eine  Reihe  der 
hellsten  Fixsterne  äufserst  genaue  Positionen  erlangt,  und  konnte  nun 
hoffen,  durch  Vergleichung  derselben  mit  den  85  Jahre  früher  von 
Bradley  ermittelten  Positionen  derselben  Sterne  auch  die  gleich- 
förmigen Aenderungen  derselben  mit  grofser  Genauigkeit  festlegen 
zu  können.  Dies  gelang  ihm  auch  mit  Ausnahme  der  beiden  hellen 
Sterne  Sirius  und  Procyon,  deren  Oerter  so  sehr  von  der  Hypothese 
einer  gleichförmigen  Bewegung  abwichen,  dafs  Hessel  es  für  unmög- 
lich hielt,  die  Abweichungen  durch  Beobachtungsfehler  erklären  zu 
können.  Er  sammelte  also  für  diese  beiden  Sterne  die  entsprechenden 
Bestimmungen  der  vorzüglichsten  Beobachter  und  gelangte  dadurch 
zu  einer  Bestätigung  seiner  Ansichten,  für  Procyon  nur  zur  Konsta- 
tirung  der  Thatsache;  für  Sirius  aber  zeigten  die  Beobachtungen  sohon 
die  Periodizität  der  Veränderungen  an,  so  dafs  die  Umlaufszeit  sich 
nahe  zu  einem  halben  Jahrhundert  und  die  gröfsten  Veränderungen 


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innerhalb  dieses  Cyklus  zu  etwa  5"  im  gröfsten  Kreise  herausstellten. 
Dafs  diese  Resultate  nicht  alsbald  allgemein  anerkannt  wurden, 
ist  nicht  zu  verwundern.  In  der  That  gehören  diese  Untersuchungen 
praktisch  zu  den  schwierigsten,  und  die  Sicherheit  ihrer  Grundlage 
wurde  mehrfach  bezweifelt.  Die  absoluten  Ortsbestimmungen  der  Ge- 
stirne durch  unsere  Meridiankreise  sind  Fehlern  unterworfen,  deren 
Gesetze  nur  unvollständig  bekannt  sind.  Die  gröfste  Sorgfalt  in  der 
Hehandlung  der  Instrumente  und  die  skrupulöseste  Untersuchung 
aller  denkbaren  Fehlerquellen  hat  bis  jetzt  nicht  verhindern  können, 
dafs  zwischen  den  Beobachtungen  verschiedener  Sternwarten  Unter- 
schiede Vorkommen,  welche  die  Unsicherheit  im  einzelnen  übersteigen. 
Mögen  nun  diese  Unterschiede  in  den  Eigenschaften  der  Stoffe  liegen, 
die  unsere  Instrumente  zusammensetzen,  mögen  sie  lokal  sein  oder 
auoh  wohl  physiologischer  Natur  oder  alles  dies  zusammen,  sie  sind 
eben  da.  Deshalb  legte  Bes  sei  seinen  Untersuchungen  nicht  die 
absoluten  Oerter  der  Sterne  zu  Grunde,  sondern  die  Differenzen  gegen 
benachbarte  Sterne.  Ein  solches  Verwandeln  der  absoluten  Ortsbe- 
stimmungen in  Diflferenzbeobachtungen  ist  überall  da  zulässig  und 
nöthig,  wo  die  gefährlichsten  Fehlerquellen  in  der  Beziehung  der  Be- 
obachtungen auf  den  absoluten  Nullpunkt  liegen.  Z.  B.  sind  fast  alle 
Königsberger  Deklinationen,  die  dem  Fundamental-Katalog  von  1820 
zu  Grunde  liegen,  südlicher,  als  die  nahe  gleichzeitigen  Bestimmungen 
von  Argeiander  und  Struve;  ein  Zeichen,  dafs  das  Königsberger 
Instrument  die  südlichen  Zenithdistanzen  zu  grofs  gegeben  hat  Wenn 
man  also  die  Deklination  eines  Sternes,  in  unserem  Falle  des  Procyon, 
vergleicht,  so  wird  man  aus  den  verschiedenen  Angaben  nicht  un- 
mittelbar ihre  Veränderung  ableiten  können.  Vergleicht  man  aber 
gleichzeitig  mehrere  Sterne,  deren  Oerter  den  Stern  Procyon  sym- 
metrisch einschliefsen,  und  sieht  zu,  wie  sich  die  Veränderung  des 
Procyonortes  vom  Mittel  der  Veränderungen  der  übrigen  Sterne  unter- 
scheidet, so  wird  derSchlufs  weit  bündiger;  denn  eine  grofse  Anzahl 
von  Fehlerquellen  wirken  auf  beide  Parthien  fast  ganz  gleichmäfsig 
ein  und  verschwinden  daher  aus  der  Differenz,  und  der  dadurch  er- 
langte Vortheil  ist  weit  gröfser,  als  die  Vergröfserung  der  zufälligen 
Fehler  und  als  die  Wahrscheinlichkeit,  durch  diese  Operation  neue 
Unsicherheiten  einzuführen.  Gleichwohl  bleiben  noch  immer  Fehler- 
quellen übrig,  die  nur  mit  grofser  Schwierigkeit  zu  ermitteln  sind,  und 
die  z.  B.  von  der  verschiedenen  Auffassung  des  Fadenantrittes  bei 
verschieden  hellen  Objekten  herrühren.  Auch  ist  nicht  zu  leugnen, 
dafs  die  von  Bessel  für  Sirius  benutzten  Vergleichsterne  von  einer 


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symmetrischen  Lage  gegen  Sirius  weit  entfernt  sind,  woran  die  starke 
südliche  Deklination  dieses  Sternes  die  Schuld  trägt  Wie  dem  nun 
auch  sei:  Bessels  nur  18  Monate  nach  der  Publikation  der  Arbeit 
erfolgter  Tod  verhinderte  die  Fortsetzung  der  Untersuchungen  von 
seiner  Seite,  und  das  Problem  ging  somit  an  seinen  Nachfolger  in 
einem  Zustande  über,  der  umfassende  Arbeiten  nöthig  machte. 

Wenn  nach  dem  Vorigen  eine  periodische  Veränderlichkeit  der 
Bewegung,  falls  sie  reell  ist,  nur  dadurch  erklärt  werden  kann,  dafs 
der  betreffende  Stern  Glied  eines  Doppelsternsystems  ist,  so  bieten  sich 
zwei  Aufgaben.  Zunächst  mufs  alles  daran  gesetzt  werden,  von  Seiten 
der  Beobachtung  zu  der  genauesten  Grundlage  zu  gelangen,  um  allen 
Verdacht,  dafs  die  erschlossenen  Aenderungen  nur  durch  eine  sonder- 
bare Anhäufung  einzelner  Fehler  entstanden  sind,  auszuschliefsen.  Ist 
dies  geschehen  und  sind  die  Daten  so  rein  und  vollständig  wie  möglich 
gesammelt,  so  mufs  der  Versuch  gemacht  werden,  die  Bewegung  mit 
dem  Gravitationsgesetz  in  Uebereinstimmung  zu  bringen,  d.  h.  die  Ele- 
mente der  Kepplerschen  Ellipse,  die  der  Stern  beschreibt,  zu  be- 
stimmen. Diese  Arbeiten  hat  für  die  Rektascensionsbewegung  des 
Sirius  Peters,  damals  Bessels  Nachfolger  zu  Königsberg,  mit  voll- 
ständigem Erfolge  ausgeführt,  der  für  Sirius  eine  elliptische  Bahn  von 
etwa  50  Jahren  Umlaufszeit  fand. 

Zur  Bestimmung  der  Ebene,  in  der  die  Bewegung  vor  sich  geht, 
sind  die  Rektascensionen  allein  nicht  hinreichend.  Dazu  gehört  vielmehr 
die  Verbindung  mit  der  zweiten  Koordinate,  der  Deklination;  diese  ist 
aber  wegen  des  tiefen  Standes  von  Sirius  auf  der  nördlichen  Halb- 
kugel weit  weniger  sicher  zu  bestimmen  und  wurde  von  Peters 
nicht  mit  untersucht. 

Indem  wir  nun  der  historischen  Entwickelung  dieser  Studien 
etwas  vorgreifen,  kommen  wir  zur  Untersuchung  der  Deklination  des 
Sirius.  Es  ist  klar,  dafs,  wenn  Sirius  wirklich  eine  solche  Ellipse 
beschreibt,  es  ein  sonderbarer  Zufall  wäre,  wenn  eich  dies  nur  in 
den  Rektascensionen  zeigen  sollte,  vielmehr  mufs,  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach,  auch  die  Bewegung  in  Deklination  veränderlich  sein,  und 
bei  aller  Verschiedenheit  der  Gröfse  beider  müssen  in  beiden  doch 
einigo  Umstände  übereinstimmen.  Es  mufs  nämlich  in  beiden  Be- 
wegungen dieselbe  Periode  stattfinden,  und  beide  müssen  eine  Ellipse 
von  gleicher  Exzentrizität  und  dieselbe  Zeit  für  die  gröfste  Nähe  beider 
Körper  ergeben.  Diese  Untersuchungen  sind  vor  allem  durch  Auwers 
ausgeführt  worden,  der  gezeigt  hat,  dafs  auch  die  Deklinationen  eine  mit 
der  aus  den  Rektascensionen  abgeleiteten  übereinstimmende  Ellipse 


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ergeben,  und  hiermit  war  ein  Beweis  für  die  wirkliche  Doppelstemnatur 
des  Sirius  geliefert,  der  einem  ernstlichen  Zweifel  nicht  mehr  unterzogen 
werden  konnte.  Aber  ähnlich  wie  bei  Neptun,  so  sollte  auch  bei 
Sirius  der  direkte  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  Rechnungen  geboten 
werden.  Fiir  die  Masse  des  Siriusbegleiters  hatte  sich  aus  der  Unter- 
suchung ein  recht  beträchtlicher  Werth  ergeben,  der  es  unwahrschein- 
lich erscheinen  liefs,  dafs  der  Begleiter  wirklich  ohne  merkliche  Licht- 
wirkung sei.  Sirius  ist  der  hellste  Stern  des  Himmels;  in  dem  Marse 
aber,  wie  die  Helligkeit  zunimmt,  wird  es  schwer,  ein  benachbartes 
helles  Lichtpünktchen  zu  erkennen,  und  so  war  also  gerade  bei 
Sirius  die  Schwierigkeit  gröfser  als  bei  jedem  anderen  Sterne. 

Iu  der  Tliat  fand  im  Winter  1801 — 62  der  bekannte  amerikani- 
sche Optiker  Alvan  Clark  bei  der  Prüfung  eines  neuen  grofsen  Objek- 
tivs ein  Sternchen  in  etwa  10"  Abstand  von  Sirius,  welches  von  da 
an  eifrig  mit  den  gröfsten  Fernrohren  verfolgt  worden  ist,  und  dessen 
Identität  mit  dem  hypothetischen  Siriusbegleiter  nach  einigen  Jahren 
auf  das  unzweifelhafteste  aus  den  Beobachtungen  hervorging.  Damit 
ist  für  uns  der  Siriusbegleiler  aus  dem  Gebiete  der  Astronomie  des 
Unsichtbaren  in  das  des  Sichtbaren  versetzt  worden,  und  es  gehört 
nicht  an  diese  Stelle,  die  weiteren  Untersuchungen  über  denselben,  die 
in  neuerer  Zeit  von  Au  wer s nunmehr  auch  auf  die  mikrometrischen 
Vergleichungen  der  beiden  Komponenten  ausgedehnt  worden  sind,  zu 
verfolgen. 

In  ähnlicher  Weise  wie  bei  Sirius  ist  es  Auwers  und  später 
L.  Struve  gelungen,  auch  aus  den  Beobachtungen  des  Procyon 
einen  definitiven  Beweis  für  die  Existenz  eines  nicht  sichtbaren 
Begleiters  herzuleiten.  Procyon  beschreibt  einen  Umlauf  in  etwa 
39  bis  40  Jahren,  doch  hat  bisher  noch  kein  Riesenteleskop  ver- 
mocht, den  Begleiter  zu  entdecken,  und  es  erscheint  nunmehr  wirklich 
fraglich,  ob  in  diesem  Falle  der  für  den  Astronomen  allerdings  über- 
flüssige direkte  Beweis  durch  Auffindung  des  Begleiters  geliefert 
werden  wird.  Und  vielleicht  ist  es  ganz  gut,  wenn  dies  nioht  gelingt, 
.indem  dann  nach  wie  vor  der  Astronom  zu  jeder  Zeit  auf  eine  genau 
anzugebende  Stelle  des  Himmels  dicht  bei  Procyon  hinzuweisen  ver- 
mag, an  welcher  sich  mit  positiver  Sicherheit  ein  Sternchen  befindet, 
das  ein  menschliches  Auge  noch  nioht  ersohaut  hat. 

(Schlufs  folgt.) 


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9 

wmmmmmm 

$ 

SSE 

■m 

Parallelen. 

Betrachtungen  über  die  einheitlichen  Züge  im 
N aturgeschehen. 

Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 

(Schl  ufa) 

«ir  haben  durch  die  vorangegangenen  Betrachtungen  erkannt, 
wie  eine  einzige  Art  der  Bewegung,  das  Hin-  und  Herpendeln 
von  Atomen,  nur  durch  die  Variationen  ihrer  Geschwindigkeit 
und  Ausdehnung  im  Stande  war,  die  verschiedensten  physikalischen  Er- 
scheinungen zu  erklären,  von  der  Wellenbewegung  des  Wassers  auf- 
steigend, den  Schall,  die  Wärme,  das  Licht.  Aber  in  neuerer  Zeit  gesellt 
sich  hierzu  auch  die  bisher  so  geheimnifsvolle  Elektrizität;  auch  sie  beruht 
auf  Schwingungen,  wenngleich  die  Elektrizitätswellen  eine  ungleich 
gröfsere  Länge  als  alle  übrigen  bekannten  besitzen  und  eben  dadurch 
der  Beobachtung  bisher  entgingen.  Es  handelt  sich  hier  um  Wellen- 
längen von  ganzen  Metern,  während  die  Lichtwellen  sich  innerhalb 
von  Millionsteln  eines  Millimeters  bewegen.  Ich  kann  auf  diese  sub- 
tilen Untersuchungen  leider  nicht  näher  eingehen,  auch  bleibt  hier 
manches  der  Neuheit  der  Sache  wegen  unaufgeklärt.*)  Es  scheint 
nun,  dafs  alle  Lichtbewegungen  nur  spezielle  Fälle  der  Elektrizitäts- 
bewegung sind,  dafs  eben  die  Elektrizität  die  allgemeine  Erscheinung 
ist.  Es  ist  ganz  seltsam  zu  sehen,  wie  man  gerade  die  Elektrizität 
von  allen  anderen  Naturkräften  am  spätesten  entdeckte,  während  wir 
heute  überzeugt  sind,  dafs  sie  die  verbreitetste  aller  Naturkräfte  ist. 

Elektrizität  entsteht  überall,  wo  zwei  ungleichartige  Körper  in 
Berührung  gerathen.  Wenn  wir  davon  bisher  nur  in  den  seltensten 
Fällen  etwa«  bemerkten,  so  liegt  das  nur  daran,  dafs  die  meisten  uns 

*)  Im  dritten  Jahrgang  S.  347  u.  f.  hat  Herr  Spies  eine  ausführliche  Ab- 
handlung über  diese  neueren  hochinteressanten  Untersuchungen  veröffentlicht, 
während  wir  im  zweiten  Jahrgange  S.  72  u.  f.  den  klassischen  Vortrag  von 
H.  Hertz  Uber  diesen  Gegenstand  zum  Abdruck  brachten. 


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umgebenden  Körper  die  Elektrizität  auch  zugleich  fortleiten,  d.  h.  eie 
sogleich  im  Moment  ihres  Entstehens  wieder  verschwinden  lassen. 
Wir  müssen  daher,  um  eine  Ansammlung  von  Elektrizität  zu  erzeugen, 
den  betreffenden  Körper,  aus  welchem  wir  dieselbe  ziehen  wollen, 
sehr  sorgfältig  mit  einem  jener  Stoffe  umgeben,  durch  welchen  die- 
selbe nicht  hindurch  zu  strömen  vermag,  sodafs  sie  gehindert 
wird,  sich  mit  dem  ungeheueren  Reservoir  im  Erdkörper  zu  ver- 
einigen. Thun  wir  dies,  so  nehmen  wir  wahr,  dafs  allo  Körper  ohne 
Ausnahme  durch  Berührung  oder  Reibung  elektrisch  werden.  Diese 
Thatsache,  dafs  es  keinen  unelektrischen  Körper  giebt,  dafs  also  diese 
wohithätige  Kraft,  welche  wir  heutzutage  bereits  fast  zu  allen  der 
Wohlfahrt  des  Menschengeschlechtes  förderlichen  Diensten  zu  verwenden 
im  Stande  sind,  ich  sage  die  Thatsache,  dafs  man  diese  Kraft  aus 
allen  uns  umgebenden  Stoffen  zu  ziehen  vermag,  ist  von  verheifsungs- 
vollster  Bedeutung  für  die  Zukunft  unserer  Kulturentwickelung.  Es 
ist  zweifellos,  dafs  der  Elektrotechnik  eine  alle  anderen  Zweige  des 
menschlichen  Schaffens  beherrschende  Rolle  zufallen  wird. 

Oänzlich  abseits  von  diesen  Gebieten  der  Schwingungserschei- 
. nungen  liegt  das  der  Schwerewirkung  und  das  weite  Reich  der 
chemischen  Vorgänge.  Hier  handelt  es  sich  offenbar  um  Bewegungen 
ganz  anderer  Art. 

Das  Wesen  der  Schwere,  welche  die  Bewegungen  der  Himmels- 
körper im  Weltgebäude  ordnet,  ist  noch  immer  ein  tief  geheimnifs- 
volles  geblieben;  je  weiter  wir  in  der  Erkenntnifs  der  Natur  fort- 
schreiten, je  mehr  praktische  Erfahrungen  wir  über  das  Naturgeschehen 
sammeln,  je  unbegreillicher  wird  uns  diese  wunderbare  Thatsache,  dafs 
ein  Weltkörper  aus  einer  Entfernung  von  vielen  Millionen  Moilen 
derartig  auf  einen  anderen  wirken  könne,  dafs  er  ihn  durch  einen 
leeren  Raum  hindurch  ohne  Vermittelung  irgend  eines  Agens  anzu- 
ziohen  vermag. 

Zwar  bemerken  wir  Aehnliches  bei  der  Anziehung  des  Eisens 
durch  den  Magnet;  bei  allen  diesen  elektrischen  und  magnetischen 
Erscheinungen  jedoch  mufs  man  nach  den  neueren  Forschungen  das 
Vorhandensein  jenes  feinsten  Stoffes  voraussetzen,  welcher  der  Träger 
der  Lichtschwingungen  ist,  des  sogenannten  Weltäthers.  Schon  Faraday 
hatte  gezeigt,  dafs  eine  gewisse  Art  ausgewählter  Lichtschwinguugen, 
die  des  sogenannten  polarisirten  Lichtes,  von  einem  Magneten  derartig 
beeinflufst  werden,  dafs  ein  Zusammenhang  zwischen  beiden  Kräften 
unzweifelhaft  ist,  dafs  also  der  Magnet  nicht  durch  den  absolut  leeren 


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Kaum  hindurch,  sondern  nur  durch  Vermittelung’  materieller,  aller- 
kleinster Theile  seine  scheinbare  Fernewirkung  auszuüben  vermag. 

Aehnlich  kommt  man  nun  bei  der  Gravitation  oder  Schwere- 
wirkung in  neuester  Zeit  mehr  und  mehr  zu  der  Ueberzeugung,  dafs 
auch  hier  jener  Aether  die  vermittelnde  Rolle  spielt,  dafs  es  sich  hier 
aber  voraussichtlich  nicht  um  schwingende,  sondern  um  geradlinige 
und  gleichmäfsig  fortschreitende  Bewegungen  der  Aothoratome  handelt. 
Ueberall  durchschiefsen  das  Weltall  Kugeln  von  allerkleinsten  Dimen- 
sionen mit  Ungeheuern  Geschwindigkeiten,  die  jedenfalls  grüfser  sind 
wie  die  des  Lichtes,  welches  bekanntlich  40000  geographische  Meilen 
in  einer  Sekunde  zurücklegt.  Dieser  Kugelregen  prallt  von  allen 
Seiten  her  auf  die  das  Weltall  durchschwebenden  Weltkörper  ein; 
wenn  aber  nun  ein  kleinerer  Weltkörper  sich  in  der  Nähe  eines 
gröfseren  befindet,  so  schützt  dieser  letztere  den  ersteren  von  einer 
bestimmten  Richtung  her  vor  dem  Anprall  eines  Theils  dieser  Aether- 
atome;  so  treffen  alsdann  beispielsweise  die  Erde  mehr  Aetheratome 
■fron  der  der  Sonne  entgegengesetzten  Seite  her,  als  von  der  ihr  zuge- 
wandten, und  diese  stofsen,  schieben  die  Erde  förmlich  gegen  die  Sonne 
hin.  So  ungefähr  ist  man  also  im  stände,  die  dem  gesunden  Menschen- 
verstände völlig  unbegreifliche  Femewirkung  der  Weltkörper  auf  ein- 
ander sich  einigermafsen  vorstellig  zu  machen,  wenngleich  die  genauen 
Untersuchungen  hierüber  zu  einer  definitiven  Erklärung  noch  nicht 
goführt  haben. 

Durch  eben  diesen  selben  beständigen,  dichten  Kugelregen,  welcher 
auf  sie  allseitig  einströmt,  verdichten  sich  im  Laufe  der  Jahrmillionen, 
welcher  die  Weltbildung  zu  ihrer  Entwicklung  bedarf,  die  Weltkörper 
mehr  und  mehr.  Der  Physiker  sagt  nach  altem  Sprachgebrauch,  sie 
verdichten  sich  durch  ihre  eigene  Schwere  vom  ursprünglich  gasförmigen 
bis  zum  festen  Zustande.  In  Wirklichkeit  hat  man  es  hier  jedoch 
nicht  mit  inneren  Kräften  der  kleinsten  Teilchen  dieser  Weltkörper 
zu  thun,  welche  nach  diesen  Erscheinungen  den  unbegreiflichen  Drang 
in  sich  fühlten,  sich  eng  und  immer  enger  an  einander  zu  ketten, 
sondern  diese  Verdichtung  wäre  nach  der  neuen  Weltanschauung  nur 
eine  Wirkung  des  ganz  ungeheueren  Kräftevorrats,  welcher  durch 
die  Bewegungen  des  Weltäthers  beständig  uns  zufliefst 

Unter  diesen  Gesichtspunkten  ist  ein  Weltkörper  in  keiner  Weise 
verschieden  von  dem  Molekül  des  Physikers  oder  auch  des  Chemikers. 
Man  weifs  längst,  dafs  zwischen  den  kleinsten  Theilchen,  welche  irgend 
einen  in  unseren  Händen  befindlichen  Gegenstand  zusammensetzen, 
sich  sehr  grofse  leere  Räume  befinden.  Wie  wäre  es  auch  sonst  wohl 


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möglich,  dafs  z.  B.  Glas  von  den  Schwingungen  des  Lichtiithers,  fast 
ohne  diese  zu  stören,  durchdrungen  werden  könnte!  Alle  diese  Gegen- 
stände sind  Ansammlungen  kleiner  Weltkörper  und  man  könnte  sich 
Wesen  denken,  welche  einen  Stein,  den  wir  durch  die  Luft  schleudern, 
für  einen  Sternhaufen  erklären,  der  mit  beträchtlicher  Eigenbewegung 
das  Weltall  durchfliegt;  denn  es  ist  nur  eine  nothwendige  Folge  der 
im  Vergleich  zu  der  ürüfse  der  Atome  sehr  rohen  Konstruktion 
unserer  Netzhaut  im  Auge,  dafs  wir  diese  Atome  nicht  einzeln,  sondern 
nur  eine  grofse  Anzahl  derselben  als  ein  scheinbar  Ganzes  wabr- 
zunehmen  vermögen.  Jeder  der  einige  Millionen  von  Sehzapfen,  aus 
denen  sich  unsere  Netzhaut  zusammensetzt,  wird,  wenn  er  einen  Licht- 
eindruck empfängt,  diesen  mindestens  so  grofs  voraussetzen,  als  er 
selbst  ist,  d.  h.  kleinere  Gegenstände  als  diese  Sehzapfen  werden 
entweder  gamicht,  oder  wenn  ihr  Lichtreiz  stark  genug  empfunden 
wird,  mindestens  von  der  Ausdehnung  eines  Sehzapfens  wahrgenommen. 
In  diesem  extremen  Falle  befinden  wir  uns  den  Fixsternen  gegenüber. 
Es  ist  kaum  zweifelhaft,  dafs  die  entferntesten  Sterne  Durchmesser 
besitzen,  deren  Bild  auf  unserer  Netzhaut  kleiner  ist  als  ein  Sehzapfen. 
Wir  können  dieses  Bild  durch  unsere  optischen  Hilfsmittel  noch  so 
stark  vergröfsern,  ohne  dafs  es  gröfser  erscheint.  Es  wird  immer 
nur  ein  Sehzapfen  von  dem  Lichtreiz  getroffen. 

Es  hindert  uns  nichts,  an  die  auf  den  ersten  Augenblick  höchst 
abenteuerliche  Idee  zu  glauben,  das  dieses  ganze  Weltall  mit  seinen 
Millionen  und  aber  Millionen  von  Ungeheuern  Sonnenkörpern  in  einer 
höheren  Ordnung  von  Welten  durchaus  nichts  weiter  ist,  keinen 
gröfseren  Wert  besitzt,  als  jener  Stein,  den  wir  durch  die  Luft  schleudern, 
und  umgekehrt : es  ist  keineswegs  ausgeschlossen,  dafs  die  wunderbare 
Verfeinerung  unserer  Forschungstechnik  es  noch  dazu  bringt,  seinerzeit 
so  starke  Vergröfserungen  zu  erzeugen,  dafs  bei  genügend  kräftiger 
Beleuchtung  wir  in  dem  Stein  die  schwingenden,  ihre  kreisenden  und 
röhrenden  Bewegungen  ausführenden  Atome  einzeln  erkennen  werden 
und  so  imstande  sind,  unsere  astronomischen  Studien,  die  wir  am 
wcltdurchdringendon  Fernrohr  begannen,  im  Mikroskop  zu  vollenden. 

Denn  wir  müssen  schon  heute  davon  überzeugt  sein,  dafs  diese 
Bewegungen  der  Atome  im  Steine,  durch  welche  er  seine  vielartigen 
physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften  kundthut,  selbst  in 
eingehenderen  Details  den  Bewegungen  der  Himmelskörper  ähnlich 
sein  müssen.  So  kann  man  beispielsweise  die  Wärmeerscheinungen 
durch  genau  hin-  und  herpendelnde  Bewegungen  der  Atome  erklären, 
wie  wir  sie  im  Weltall  allerdings  nicht  wahrnehmon;  aber  es  giebt  eben 


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keinen  Körper,  der  nur  Wärmeerscheinungen  zeigte;  diese  übrigen 
Einflüsse  von  einwirkendem  Licht,  elektrischer  Erregung  etc.  lenken 
das  Atom  in  andere  Buhnen;  sie  stören  die  pendelnde  Bewegung. 
Dieselbe  gehtdadurch  nothwendig  in  eine  elliptische  oder  bei  verwickelten 
Einflüssen  in  eine  noch  komplizirtere  Bewegung  über,  eben  wie  wir 
sie  am  Himmel  wahrnehmen. 

So  löst  sich  das  ganze  Weltgeschehen  in  einander  ähnliche 
Bewegungen  seiner  kleinsten  sowie  seiner  grüfsten  Theile  auf;  die 
lebendige  Bewegung  allein  ist  der  Impuls  jeder  Entwickolung,  die 
Ruhe  bedeutet  den  unvermeidlichen  Tod;  aber  — und  hier  kommen 
wir  zu  einem  scheinbar  grofsen  Widerspruch  — Ruhe  giebt  es  nicht 
im  Weltgebäude,  und  so  sicher  es  uns  auch  scheinen  mag,  dafs  das 
Unvermeidlichste  der  Tod  sei,  so  sicher  können  wir  deshalb  trotz 
alldem,  wenn  wir  von  einem  höheren  Standpunkt  aus  das  Weltgeschehen 
betrachten,  behaupten,  dafe  es  einen  Tod  nicht  giebt.  Tritt  in  der 
Entwickelung  der  Lebewesen  diese  mysteriöse  Erscheinung  auf,  welche 
einen  so  plötzlichen  Rifs  in  der  körperlichen  wie  geistigen  Thätigkeit 
des  unbedeutendsten  sowie  des  vollkommensten  lebendigen  Organismus 
hervorbringt,  so  ruht  doch  die  Naturthiitigkeit  gegenüber  diesen  Atomen 
nicht  eine  Sekunde  lang  aus;  an  dem  abgelebten  Körper  wird  sofort 
wieder  auf  das  lebhafteste  gearbeitet,  um  durch  die  Verwesung  hindurch 
seine  Atome  dem  Leben  aufs  neue  wieder  zuzufiihren.  Ein  großes 
Fragezeichen  bleibt  also  nur  in  Bezug  auf  die  Thätigkeit  des  Geistes 
übrig;  hierüber  wollte  die  Natur  uns  keinen  Aufschlufs  geben.  Sonst 
überall  in  der  Natur  wechseln  wie  Tag  und  Nacht,  wie  Schlafen  und 
Wachen  die  auf-  und  absteigenden  Kreisläufe  mit  einander  ab,  so 
im  kleinsten  Geschehen  wie  im  grüfsten.  Tausend  und  abertausendfach 
verschlingen  sich  diese  Kreisläufe  in  einander  und  unterstützen  sich 
in  der  Verfolgung  der  allgemein  emporstrebenden  Entwickelung  des 
Weltgebäudes,  und  es  wird  uns  nicht  mehr  allzu  seltsam  erscheinen, 
wenn  wir  die  gröfseren  Kreisläufe  den  kleineren  so  ähnlich  finden; 
denn  die  Triebfeder  zu  all  diesem  Geschehen  ist  ja  in  letzter  Linie  in 
den  Bewegungen  der  Atome  zu  suchen,  welche  wir  im  kleinsten  wie 
im  grofsen  als  einander  ähnlich  erkannten.  Wir  brauchen  eben  nur 
das  Zeit-  und  das  Raummafs  beliebig  zu  verändern,  um  die  Aehnlich- 
keit  der  Naturerscheinung  sofort  zu  erkennen.  Greifen  wir  eines  der 
interessantesten  Beispiele  dieser  Art  aus  der  unendlichen  Fülle  heraus. 

Das  Wasser  der  Ozeane  umgiebt  den  Erdball  im  allgemeinen 
mit  einer  Schicht  von  Wasseratomen,  die  eine  ebene,  horizontale  Ober- 
fläche bildet;  dieses  ist  jedoch  nur  im  allgemeinen  der  Fall,  im 


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speziellen  zeigen  sieh  wesentliche  Abweichungen.  So  ist  beispielsweise 
die  Oberfläche  der  Meere  in  derselben  Weise  gegen  die  Pole  hin 
abgeplattet,  wie  die  Oberfläche  der  Erdtheile.  Es  ist  dies  eine  Folge 
der  Umdrehungsgeschwindigkeit  der  Erde  um  ihre  Axe,  welche  die 
Aequatortheile  durch  die  Zentrifugalkraft  mehr  nach  aufsen  hin 
schleudert,  wie  die  in  dieser  Beziehung  ruhenden  Theile  der  Pole. 
Es  ist  nachgewiesen,  dafs  diese  Rotation  sich  im  Laufe  der  Jahrtausende 
verlangsamt,  so  dafs  also  unser  Tag  immer  länger  wird.  Mit  dieser 
Verlangsamung  der  Umdrehungszeit  mufs  sich  auch  dio  Abplattung 
verändern;  die  etwa  drei  Meilen  dicke  Aufwulstung  des  Aequators 
mufs  also  allmählich  nach  den  Polen  hin  zurückgehen.  Das  Wasser 
führt  nun  diese  Bewegungen  ebenso  gut  aus  wie  das  Erdreich;  letzteres 
hebt  sich  im  Laufe  der  geologischen  Zeitalter,  wie  deutlich  nachgewiesen 
werden  kann,  das  heifst,  es  fliefst  ganz  ebenso  wie  das  Wasser  nach 
den  Polen  hin,  wenn  auch  vermöge  seiner  gröfseren  Festigkeit  ganz 
ungemein  viel  langsamer. 

Und  diese  Flut  der  Gesteinsoberfläche,  nicht  nur  durch  die 
Verringerung  der  Abplattung  allein  hervorgerufen,  sondern  namentlich 
auch  durch  die  eindringende  Kälte  des  Weltraumes,  also  gewisserraafsen 
auch  durch  meteorologische  Erscheinungen,  welche  ebenso  die  Wellen 
auf  der  Meeresoberfläche  hervorbringen  — diese  Flut  der  Gesteins- 
oberfläche zeigt  genau  dieselben  Erscheinungen  wie  die  des  Meeres. 
Man  nehme  Momentphotographien  von  Wellenbewegungen  des  Meeres 
zur  Hand,  um  zu  sehen,  wie  ähnlich  sich  diese  den  grofsen  Gebirgs- 
zügen der  Erde  darstellen;  und  diese  wirklichen  Gebirgszüge  sind 
durch  nichts  Anderes  entstanden,  als  durch  die  Einflüsse  von  Wärme 
und  Kälte,  welche  auch  die  Stürme  des  Meeres  und  seine  Wogen 
erzeugen.  Sehen  wir  dann,  wie  diese  Meereswogen  sich  an  den 
Felsen  der  Küsten  brechen,  Umschlagen  und  ihre  Wasseratome  zurück- 
stürzen in  die  Wellenthäler,  so  haben  wir  eine  Erscheinung  ganz 
vergleichbar  den  fürchterlichen  Bergstürzen  in  den  Gebirgsstöcken, 
welche  wie  die  Alpen,  noch  im  Entstehen  begriffen  sind.  Auch  hier 
brandet  das  vorgedrängte  Erdreich  gegen  uralte  unbewegliche  Klippen 
und  überschlägt  sich  endlich,  wenn  die  ursprünglich  wagerechten 
Schichtungen,  senkrecht  aufragend,  sich  nicht  mehr  zu  halten  vermögen. 

Ganz  ähnlich  wie  der  meteorologische  Kreislauf  des  Wassers 
ist  auch  der  des  Erdreichs,  welcher  sich  durch  die  geologischen 
Perioden  hindurchflicht.  Die  Wärmestrahlung  der  Sonne  löst  das 
Wasser  der  Ozeane  zu  Wolken  auf,  die  Abkühlung  kondensirt  es 
wieder  zu  Regen,  aus  der  Quelle  strömt  es  hinab  zum  Flusse,  aus 


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diesem  wieder  zum  Meere  zurück.  Mit  den  Flüssen  wird  aber  auch 
Erdreich  aufgelöst,  und  flüfsig,  beinahe  wie  dieses  Wasser  selbst,  dem 
Meere  zugeführt,  auf  dessen  Grunde  es  sich  in  Schichtungen  ablagert 
In  letzter  Linie  sind  es  nun  wiederum  Wärme-  oder  Kältewirkungen, 
welche  diese  Schichtungen  aus  den  Tiefen  des  Meeresgrundes  empor- 
zuheben vermögen  bis  zu  den  Regionen  der  Wolken,  um  die  vereisten 
Berggipfel  zu  bilden,  welche  mit  dem  Wasser  wieder  zurückgetragen 
werden  zum  Meere. 

Und  noch  viel  weiter  können  wir  heute,  ohne  den  Vorwurf  allzu 
grofsen  Phantasiereichthums  auf  uns  zu  laden,  in  der  Vergleichung 
des  Naturgeschehens  in  seinem  kleinsten  und  grüfsten  Umfange  gehen. 
Man  hat  den  Menschen  oft  einen  Mikrokosmos  genannt,  aber  er  ist 
ein  Kosmos,  ein  Weltgebäude  im  vollsten  Umfange,  unendlich  viel 
schöner  und  vollkommener  als  das  Weltgebäude  über  uns,  so  weit  es 
wenigstens  unsere  Kurzsiohtigkeit  zu  erkennen  vermag.  Die  Milliar- 
den von  Atomen,  aus  denen  unser  Körper  zusammengesetzt  ist,  werden, 
ungleich  dem  fallenden  Steine  oder  dem  gleichtnäfsig  weiterschweben- 
den Sternhaufen  des  Himmels,  von  einer  höheren  Macht,  nämlich 
der  des  schaffenden  Geistos  in  zielbewufste  Bahnen  gelenkt.  In 
diesem  gewaltigen  Kosmos  bewegen  sich  und  leben  Milliarden  selbst- 
ständiger Wesen,  deren  Lebensregungen  nur  insoweit  eingeschränkt 
sind,  als  sie  dem  Wohle  des  Ganzen  nützlich  sein  müssen.  Weiter 
aber  geht  unsere  persönliche  Freiheit  auch  nicht.  Diese  selbständi- 
gen Wesen  sind  die  Zellen,  deren  Arbeitstheilung  eine  Organisation 
aufweist,  wie  wir  sie  — zwar  leider  nur  im  Keime  — in  der  menschlichen 
Gesellschaft  wiederfinden.  So  wie  nun  der  Stein  in  unserer  Hand  keines- 
wegs ein  einheitliches  Einzelwesen  ist,  sondern  aus  einer  Ungeheuern 
Menge  einzelner,  für  sich  bestehender  Atome  gebildet  wird,  so  ist  auch 
der  Mensch  durchaus  kein  Einzelwesen;  das,  was  er  sein  Ich  nennt, 
ist  nichts  Andorcs  als  das  Gesamtbewufstsein  eines  wunderbar  organi- 
sirteu  Staates,  einer  Kolonie  von  einzelnen  Lebewesen,  die  sich  zu 
gemeinschaftlichem  Wollen,  zu  gemeinsamer  Vertheidigung  gegen  die 
Aufsonwelt  zusammengefunden  haben. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ist  ein  ganz  seltsam  klingender 
Vergleich  möglich.  So  wie  wir  die  Zellen  des  menschlichen  Körpers 
als  selbstständige  Wesen  aufzufassen  im  stände  waren,  können  wir 
andererseits  den  ganzen  Menschen  wieder  als  eine  einzelne  Zelle  be- 
trachten, von  denen  sich  Millionen  und  aber  Millionen  zusammenfinden, 
um  ein  neues  organisches  Wesen  von  den  Dimensionen  eines  Welt- 
körpers zu  bilden.  Der  Erdkörper  ist  das  Skelett,  der  Knochenpanzer 


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dieses  Ungeheuern  Infusionsthieres,  und  erst  sehr  langsam  beginnt 
sich  Fleisch  und  Blut  um  diesen  Ungeheuern  Embryo  zu  bilden. 
Durchaus  nicht  anders  fanden  sich  einstmals  die  zunächst  selbständig 
umherschwirrenden  Amöben  zu  einem  primitiven  Organismus  zu- 
sammen, indem  sie  nach  und  nach  einen  Theil  ihrer  Selbständigkeit 
dem  Gemeinwohle,  der  Gemeinsicherheit  opferten.  Und  auch  schon 
die  ersten  Nervenfäden  beginnen  sich  um  das  Erdinfusionsthier  zu 
spinnen:  es  sind  die  Telegraphendrähte,  welche  ganz  ebenso  wie  die 
Nervenstränge,  die  beispielsweise  einen  Korallenstock  durchziehen, 
sogleich  die  ganze  Kolonie  davon  benachrichtigen,  wenn  sich  in  einem 
, Theile  derselben  etwas  ereignet,  wodurch  das  Wohl  des  Ganzen  ge- 
fährdet werden  könnte. 

Also  nicht  nur  der  Techniker,  wie  wir  zu  Anfang  unserer  Be- 
trachtungen sahen,  sondern  auch  der  Politiker  kann  und  mufs  von 
der  Natur  lernen;  er  soll  studiren,  wie  die  Natur  ihre  Staatengemein- 
schaften bildete,  wie  sie  ihre  sozialen  und  völkerrechtlichen  Gesetze 
schafft  und  regelt;  denn  nur  das,  was  den  Naturgesetzen  nicht  wider- 
spricht, kann  Anspruch  auf  Bestandlahigkeit  haben;  alle  entgegen- 
stehenden Bestrebungen  führen  nothwendig  zu  Spannungen,  welche 
den  Anlafs  zu  gewaltsamen  Auslösungen,  also  im  Völkerleben  zu 
blutigen  Revolutionen,  geben  müssen. 

Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  wollte  ich  es  versuchen,  einskizzen- 
haftes Bild  des  Naturgeschehens  in  grofsen  Zügen  hier  zu  entwickeln; 
von  diesem  selben  Gesichtspunkte  der  Nothwendigkeit  der  Naturer- 
kenntnifs  für  Jedermann  hat  man  es  in  Berlin  versucht,  eine  Anstalt 
zu  begründen,  in  welcher  alle  Theile  dieses  Naturgemäldes  in  ihrer 
frappantesten,  eindrucksvollsten  Wirkung  der  grofsen  Menge  der 
allgemein  Gebildeten  sowie  auch  des  Volkes  vorgeführt  werden. 
Unsere  Urania  ist  in  diesem  Sinne  in  Wirklichkeit  ein  kleiner  Kosmos, 
wenngleich  sie  von  den  Naturalienkabinetten  oder  Museen  der  land- 
läufigen Art,  in  welchen  die  Naturgegenstiindo  todt,  analysirt,  aus  ihrem 
Zusammenhänge  mit  der  grofsen  Natur  gerissen,  neben  einander  liegen,, 
von  Grund  aus  verschieden  ist. 


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Das  Okularende  des  grofsen  36 -zölligen  Refraktors 
der  Lick-Sternwarte. 

Von  Prof.  E.  E.  Barnard 

Der  grofse  Refraktor  der  Lick-Sternwarte  hat  drei,  in  unserem 
Holzschnitte  sichtbare  Sucher  — kleine  Fernrohre,  welche  an  der  Seite 
des  grofsen  angebracht  sind  und  dazu  gebraucht  werden,  ein  Objekt 
in  das  Gesichtsfeld  des  grofsen  Fernrohres  einstellen  zu  helfen.  Der 
kleine  Sucher  (A,  Fig.  1),  welcher  rechts  oben  über  dem  Okular  sich 
befindet,  ist  ein  Stein  hei  1 scher  Kometensucher  von  2,6"  Durchmesser 
und  sehr  kurzer  Brennweite;  er  fafst  ein  grofses  Gesichtsfeld  von  etwa  6° 
und  dient  dazu,  um  irgend  ein  Objekt  zunächst  in  einen  der  anderen 
Sucher  zu  bringen.  Rechts  unter  diesem  befindet  sich  der  gröfste  Sucher 
(B),  welcher  6"  Durchmesser  hat  und  ein  kräftiges  Teleskop  darstellt,  so 
grofs  wie  manche  von  denjenigen,  welcho  einige  unserer  vorzüglichsten 
Beobachter  berühmt  gemacht  haben.  Dioser  Sucher  ist  von  Nutzen, 
wenn  das  einzustellende  Objekt  lichtschwach  ist.  Links  befindet  sich 
ein  dritter  Sucher  (C);  dieser  hat  4"  Durchmesser  und  wird  bei  der 
Handhabung  des  grofsen  Teleskopes  am  meisten  gebraucht.  Es  sind 
endlich  auch  Klammern  vorhanden,  durch  welche  unser  12-zölliges 
Aequatorial  mit  dem  grofsen  Teleskop  verbunden  werden  kann,  sollte 
jemals  ein  so  kräftiger  Sucher  erforderlich  sein. 

In  unserer  Abbildung  sieht  man  auch  einigo  Steuerrädern  ähnliche 
Handräder  mit  Speichen.  Diese  dienen  zur  Klemmung  und  feinen 
Bewegung  des  Instrumentes.  Die  beiden  tiefer  stehenden  auf  der  linken 
Seite  drehen  lange  Klemmstäbe,  welche  am  Tubus  entlang  laufen  bis 
hinauf  zur  äquatorialen  Montirung;  sie  klemmen  das  Teleskop  in 
Rektaszension  (D)  oder  Deklination  (E).  Wenn  das  Teleskop  in  Rektas- 
zension geklemmt  ist  und  das  Uhrwerk  läuft,  so  bewegt  es  sich 
aufserordentlich  gleichförmig  mit  den  Sternen  westwärts.  Die  anderen 
Räder  sitzen  an  den  Stangen  für  Feinbewegung:  drei  von  ihnen 
dienen  zur  Bewegung  in  Rektaszension  und  drei  zur  Verschiebung 
in  Deklination;  die  grofse  Zahl  dient  der  Bequemlichkeit,  damit  das 

Bimmel  and  Erde.  1992.  V.  2.  7 


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«JO 

eine  oder  das  andere  Bad  stets  der  Iland  erreichbar  ist,  gleichgültig  in 
welcher  Stellung  das  Teleskop  sich  befinden  mag.  Die  Räder  für 
Feinbewegung  und  Klemmung  in  Rektaszension  haben  hervorragende 
Speichen,  die  derartig  gekerbt  sind,  ilafs  der  Beobachter,  da  die  Dekli- 


Fig.  1.  Du  Oculareode  des  36-xolligen  Refractori  der  Lick -Sternwarte. 

(Nach  einer  Photographie.) 

nationsräder  glatt  sind,  im  Dunkeln  sofort  durch  das  Gefühl  allein  be- 
merkt, was  für  ein  Rad  er  fafst.  Man  kann  aus  unserer  Zeichnung  leicht 
erkennen,  wie  die  Feinbewegungsstangen  gleicher  Art  mit  einander 
durch  konische  Zahnräder  in  Verbindung  stehen,  so  dafs  es  gleich- 
gültig ist,  welches  von  diesen  Rädern  gedreht  wird.  Alle  Bewegungen 


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Die 


92 


des  Teleskops  können  daher  von  dem  Beobachter  ausgeführt  werden, 
ohne  dafs  er  seinen  Platz  vertäfst.  Wenn  das  Fernrohr  umgelegt, 
d.  h.  von  der  einen  Seite  des  Pfeilers  nach  der  anderen  geführt  werden 
soll,  so  muss  dies  von  der  kleinen  Galerie  aus  geschehen,  welche  sich 
nahe  der  Stundenaxe  befindet.*) 

Mehrere  schmale,  mit  Okularen  versehene  Rohre,  welche  wir  an 
dem  grofsen  Tubus  entlang  laufen  sehen,  dienen  zur  Ablesung  der 
Rektaszensions-  (F)  und  Deklinationskreise  (GH)  vom  Okularende  aus; 
die  abzulesende  Stelle  des  Kreises  wird  dabei  durch  eine  elektrische 
Glühlampe  erhellt. 

Das  grofee  Fadenmikrometer  mit  Okular  ist  ein  sogenanntes 
Positionsmikrometer.  Dasselbe  hat  zwei  parallele  Spinnfäden,  die 
für  Messungen  gebraucht  werden.  Diese  Spinnfaden  werden  von 
einer  kleinen  Oellampe  erleuchtet,  welche  die.  zartesten  Helligkeits- 
veränderungen gestattet,  ohne  die  senkrecht  zu  denselben  gestell- 
ten Fäden  zu  beleuchten  (Burnhams  Methode).  Die  vollen  Um- 
drehungen der  Mikrometerschraube  werden  auf  einem  kleinen  Ziffer- 
blatt abgelesen,  das  vorn  auf  dem  Mikrometer  sichtbar  ist;  dieses 
Zifferblatt  vermag  110  Schraubenumdrehungen  zu  zählen.  Die  Bruch- 
tlieile  der  Umdrehungen  werden  auf  der  kleinen  Scheibe  am  Ende 
der  Schraubenbüchse  abgelesen.  Eine  Umdrehung  der  Mikrometer- 
schraube ist  gleich  9, "90;  das  grötete  bei  diesem  Mikrometer  an- 
wendbare Gesichtsfeld  hat  6'  Durchmesser. 

Unsere  woitere  Beschreibung  wollen  wir  mit  der  Mikrometerbüchse 
beginnen,  in  welche  das  Okular  eingeschraubt  ist.  Die  kreisförmige 
Platte,  auf  welcher  diese  Büchse  befestigt  ist,  ist  der  Positionskreis  von 
etwa  12  Zoll  Durchmesser.  Er  hat  die  gewöhnliche  Ausrüstung  mit 
Verniers  (Nonien),  Feinbewegungsschrauben  etc.,  und  ist  bis  auf  0,01° 
ablesbar.  Nahe  diesem  Kreise  befindet  sich  ein  mit  Nickel  plattirter 
Metallring,  welcher  durch  Halter  an  dem  Mikrometer  befestigt  ist,  und 
dasselbe  zu  tragen  hat,  wenn  es  abgenommen  oder  angesetzt  wird. 
Dieses  Mikrometer  ist  von  South  u.  Co.  in  Washington  gefertigt. 
Hinter  ihm  befindet  sich  ein  etwas  grüfserer  hölzerner  zum  Focus- 
siren  verwendeter  Ring.  Mit  Hülfe  dieses  Ringes  schiebt  man  das 
Okular  nach  dem  Objektiv  hin,  oder  von  demselben  weg,  der  schwere 
Tubus  kann  bis  auf  etwa  t/soo  Zoll  genau  eingestellt  werden.  Nahe 
diesem  Holzring  ist  ein  ähnlicher,  noch  gröteerer  angebracht,  welcher 
nur  als  Handhabe  zur  Bewegung  des  Teleskopes  dient. 

*)  Man  vergleiche  unsere  Abbildung  des  ganzen  Refractors  im  ersten 
Bande  dieser  Zeitschrift. 


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93 


Ueber  dem  Mikrometer  sieht  man  auf  dem  grofsen  flachen  Eisen- 
ring eine  kleine  Uhr  (I),  welche  zur  Bequemlichkeit  des  Beobachters 
Sternzeit  angiebt. 

Unter  dem  Okularende  des  Fernrohrs  zeigt  uns  die  Abbildung 
den  grofsen  beweglichen,  65  Fufs  im  Durchmesser  haltenden  Fufs- 
boden,  einen  riesigen  hydraulischen  Aufzug,  der  gerade  auf  seinom 
höchsten  Punkte  steht,  in  gleichem  Niveau  mit  der  oberen,  die  Kup- 
pel umlaufenden  Galerie,  1 6*/2  Fufs  über  seiner  niedrigsten  Stellung 
oder  dem  Grunde  des  Teleskoppfeilers. 

Die  photographische  Brennweite  des  grofsen  Teleskops  ist  11  Fufs 
kürzer,  als  die  optische.  Unser  Holzschnitt  zeigt  am  oberen  Theil 
des  Tubus  die  Thür  (J),  welche  zu  der  Fassung  der  photographischen 
Kassetten  führt. 

Links  von  der  kleinen  Uhr  und-  unter  einem  der  Ablesungs- 
Mikroskope  sieht  man  drei  runde  Ansatzstücke  der  das  Okularende 
umschliefsenden  Röhre  (K);  auf  der  anderen  Seite  des  Tubus  befinden 
sich  ähnliche  Ansatzstücke;  durch  Oeffnungen  in  diesen  können  zwei  lange 
hohle  Messingstäbe  eingefügt  werden,  welche  etwa  5 bis  6 Fufs  über  das 
Okularende  hervorstehen.  Diese  Stäbe  tragen  das  grofse  Spektro- 
skop, wie  es  unsere  zweite  Abbildung  veranschaulicht.  Die  ganze  das 
Okularende  umkleidende  Röhre,  welche  die  Stäbe  und  mit  ihnen  das 
Spektroskop  trägt,  kann  im  Positionswinkel  um  360°  gedreht  wer- 
den. Die  Drehung  erfolgt  mit  Hülfe  einer  der  beiden  Handhaben 
(L,  Fig.  1)  nahe  den  Klemmen.  Der  Spalt  des  Spcktroskopes  kann 
so  eingestellt  werden,  dafs  er  den  Rand  der  Sonne  schneidet,  während 
das  Teleskop  auf  den  Mittelpunkt  derselben  gerichtet  ist;  durch 
Drehung  kann  alsdann  der  Spalt  rings  um  den  Sonnenumfang 
herum  geführt  werden  und  auf  solche  Weise  können  die  Protuberanzen 
an  jedem  Punkte  des  Sonnenrandes  mit  Leichtigkeit  schnell  beobachtet 
werden.  Ein  grofser  Positionskreis  am  Ende  der  Okularröhre,  nahe 
dem  zweiten  Holzring,  mifst  den  Positionswinkel  jeder  eingestellten 
Protuberanz.  Diese  bequeme  Einrichtung  gestattet  auch,  wenn  der 
Mond  in  die  Mitte  des  Gesichtsfeldes  gebracht  ist,  ein  Okular  um  dessen 
ganze  Peripherie  herumzuführen,  was  z.  B.  bei  der  Beobachtung  von 
Sternbedeckungen  nützlich  ist,  namentlich,  wenn  bei  einer  totalen  Mond- 
ünsternifs  eine  grofse  Zahl  von  Sternen,  die  in  kurzen  Zwischenräumen 
auf  einander  folgen,  an  verschiedenen  Stellen  des  Mondrandes  zu  beob- 
achten sind. 

Die  grofeen,  oben  erwähnten  Spektroskopträger  können  auch 
dazu  dienen,  beim  Photographiren  mit  dem  grofsen  Teleskop  eine 


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Vergröfserungseinrichtung  zu  tragen.  Endlich  sind  sie  aufserordentlich 
nützlich,  wenn  man  ein  Objekt  in  Projektion  betrachten  will;  es  wird 
dann  an  ihnen  ein  Schirm  befestigt,  welcher  das  Bild  auffängt,  das 
nun  nach  Belieben  betrachtet  werden  kann.  Die  totale  Mondfinsternifs 
im  Juli  1888  wurde  auf  solche  Weise  studirt,  indem  in  jeder  günstigen 
Minute  während  der  Totalität  eine  vollständige  Zeichnung  angefertigt 
wurde. 

Das  Mikrometer  kann  in  einem  Zeitraum  von  B Minuten  entfernt 
werden;  binnen  10  Minuten  etwa  kann  die  photographische  Korrektions- 
linse angeschraubt  und  so  das  Fernrohr  aus  einem  optischen  in  ein 
photographisches  umgewandelt  werden.  Das  grofse  Spektroskop  er- 
fordert etwa  eine  halbe  Stunde  Arbeit,  ehe  es  zur  Beobachtung  fertig 
eingestellt  ist. 

Das  Okularende  dieses  Fernrohres  scheint  sonach  mehrere  Vor- 
theile gegenüber  jeder  anderen  mir  bekannten  Form  zu  besitzen.  Es  ist 
vollständig  für  mikrometrische,  spektroskopische  und  photographische 
Arbeit  eingerichtet,  und  kann  auch  leicht  noch  zu  anderweitiger 
Benutzung  umgestaltet  werden;  und  diese  Vielseitigkeit  ist  erreicht, 
ohne  dafs  bei  irgend  einer  der  speziellen  Benutzungsweisen,  für  welche 
das  grofse  Fernrohr  bestimmt  ist,  der  vollkommensten  Zweckmäßigkeit 
Eintrag  gethan  w-orden  wäre.  Der  Entwurf  zu  diesem  Apparat  wurde 
von  Professor  Holden  im  Jahre  1884  auf  Grund  der  zwischen  ihm 
und  Professor  Langley  diskutirten  Ideen  geliefert. 

t 


Photographie  der  Sonnenfackeln,  Protuberanzen  und  der 
Chromosphäre. 

In  der  Entscheidung  wichtiger  Fragen  der  Sonnenphysik,  speziell 
beim  Studium  der  Vorgänge  auf  der  Sonne,  wie  der  Ermittlung  jener 
Beziehungen,  die  bei  der  Bildung  der  Fackeln,  Flecken  und  Protube- 
ranzon  statthaben,  war  es  schon  lange  erwünscht,  Methoden  ausfindig 
zu  machen,  welche  oine  Gesamtübersicht  des  Standes  der  Sonnen- 
thätigkeit  fiir  eine  bestimmte  Zeitepoche  erreichen  lassen.  Unsere  bis- 
herigen direkten  und  photographischen  Aufnahmen  geben  nur  immer 
theilweise  Nachrichten  vom  Gesaratvorgange  an  der  Sonnenoberfläche, 
und  die  einzelnen  Erscheinungsformen,  wie  Protuberanzen,  Fackeln 
u.  s.  w.,  müssen  getrennt  von  einander  studirt  werden. 

Vor  Jahren  schon  sind  deshalb  seitens  einiger  Sonnenphysiker, 
wie  Pater  Braun  in  Kalocsa,  Dr.  Lohse  in  Potsdam,  Methoden  vor- 


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9h 

geschlagen  worden,  welche  darauf  abzielen,  die  Protuberanzen  bei 
hellem  Sonnenschein  zu  photographiren,  desgleichen  Flecken  und 
Fackeln  gleichzeitig  aufzunehmen.  Diese  Methoden  beruhen  auf  dem 
Verhalten  gewisser  Spektrallinien  in  verschiedenen  Theilen  der  Sonne. 
Vor  einigen  Jahren  brachte  E.  Haie  ein  ähnliches  Prinzip  fiir  die 
Photographie  der  Protuberanzen  in  Vorschlag:  Die  Protuberanz  wird 
in  einem  mit  einem  Spektroskop  armirten  Fernrohre  vor  den  beweg- 
lichen Spalt  des  Spekfroskopes  gebracht  Sie  verräth  sioh  durch  die 
besondere  Helligkeit  einiger  charakteristischer  Linien  des  Protuberanz- 
Spektrums.  Eine  dieser  Linien  läfst  man  auf  einen  engen  Spalt  fallen, 
der  in  dem  Brennpunkte  des  Fernrohrs  steht  und  nahe  welchem  sich 
eine  photographische  Platte  befindet.  Diese  Linie  wird  durch  ent- 
sprechende Bewegung  der  Platte  festgehalten,  und  da  die  Ver- 
änderungen der  Helligkeit  der  Linio,  indem  man  den  bewegbaren 
Spalt  über  den  Sonnenrand  wegfülirt,  die  Ausdehnung  der  Protube- 
ranz markiren,  erhält  man  succcsive  photographisch  ein  Bild 
von  dem  Umfange  der  letzteren.  Die  praktischen  Schwierigkeiten 
welche  sich  der  Anwendung  der  Methode  entgegenstellen,  hat  Mr.  Haie 
mit  Hülfe  der  reichen,  ihm  am  Ken wood-Observatorium  in  Chicago  zur 
Verfügung  stehemien  Mittel  beseitigt  und  er  ist  seit  Anfang  laufenden 
Jahres  dahin  gelangt,  photographische  Bilder  der  t ’hromosphäre,  der 
Protuberanzen,  Flecken  und  Fackeln,  und  zwar  unabhängig  von  ein- 
ander, zu  entwerfen,  llale  fand,  dafs  die  Calciumlinien  H und  K in 
den  Protuberanzen  viel  heller  als  die  Wasserstofflinien  sind,  und  später 
dafs  dieselben  Spektrallinien  in  den  Fackeln  viel  heller  aussehen,  als 
in  den  Protuberanzen.  Der  gegenwärtig  von  ihm  verwendete  Apparat, 
den  er  Spektroheliograph  nennt,  besitzt  als  llaupttheile  zwei  bewegbare 
Spalte,  der  eine  zum  Spektroskop  gehörig,  der  andere  im  Fernrohre 
vor  der  photographischen  Platte.  Die  Spalte  können  durch  einen  da- 
mit in  Verbindung  stehenden  hydraulischen  Apparat  gleichzeitig  schneller 
oder  langsamer  bewegt  werden;  das  ganze  Fernrohr  folgt  durch  ein  Uhr- 
werk der  Fortrückung  der  Sonne.  Um  ein  Bild  der  Chromosphäre  auf- 
zunehmen, dreht  man  das  Spektroskop  so,  dafs  die  K-Linie  deutlich  vor 
dem  zweiten  Spalte  sichtbar  wird  und  auf  die  empfindliche  Platte  fällt. 
Die  Sonnenscheibe  wird  durch  eine  Blendung  bis  an  den  Hand  der 
Chromosphäre  unsichtbar 'gemacht  und  die  Spalte  werden  über  die 
Scheibo  hinaus  fortbewegt.  Bei  Fackeln  und  Flecken  verfährt  man 
ebenso,  nur  wird  volles  Sonnenlicht  gebraucht  und  die  Bewegung  der 
Spalte  beschleunigt.  Dabei  verschwindet  auf  der  Platte  das  Bild  der 
Chromosphäre,  da  die  Zeit,  welche  sie  zur  Photographie  bedarf,  zu 


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kurz  bemessen  ist.  Mr.  Haie  setzt  seine  Aufnahmen  fort,  so  oft  der 
Himmel  es  gestattet. 

Auf  sehr  verwandten  Prinzipien  beruht  ein  von  Deslandres 
auf  der  Pariser  Sternwarte  seit  einiger  Zeit  ausgeübtes  Verfahren,  die 
Ausdehnung  und  Bewegung  dor  Sonnenprotuberanzen  photographisch 
festzustellen.  Die  im  Mai  d.  J.  der  Pariser  Akademie  vorgelegten 
Protuberanzen-Aufnahmen  waren  sehr  zahlreich,  und  die  Sternwarten- 
direktion gedachte  für  eine  derartige  Verfolgung  der  Sonne  einen  be- 
sonderen Dienst  einzurichten.  * 


t 

Zur  Beobachtung  der  totalen  Sonnenflnsternifs  am  16.  April  1893. 

Nachdem  die  Betheiligung  mehrerer  von  amerikanischen  und 
englischen  Sternwarten  ausgerüsteter  Expeditionen  behufs  Beobachtung 
der  totalen  Sonnenfinsternisse  der  letzten  Jahre,  und  namentlich  der 
Finsternisse  vom  1.  Januar  und  22.  Dezember  1889,  zu  sehr  erfolg- 
reichen Ergebnissen  geführt  hat,  wird  auch  die  nächste  totale  Sonnen- 
finsternifs,  die  am  16.  April  1893  eintritt,  wiederum  zu  Studien  seitens 
der  Amerikaner  und  Engländer  benutzt  werden.  Das  Hauptinteresse 
dabei  haben  wieder,  wie  bei  den  letzten  beiden  Finsternissen,  die  auf 
Erklärung  der  Natur  der  Corona  abziolenden  Beobachtungen,  also  vor- 
wiegend die  photographischen  Aufnahmen  und  spektroskopischen  Ob- 
servirungen.  Das  Interesse  an  den  zu  erwartenden  Resultaten  erhöht 
sich  bei  der  kommenden  Sonnenflnsternifs  besonders  dadurch,  dafs 
dieselbe  dem  Maximum  der  Fleckenperiode  näher  liegen  wird,  während 
die  letzten  Aufnahmen  über  Gestalt  und  Ausdehnung  der  Sonnen- 
corona bei  einem  Minimum  erhalten  worden  sind. 

Die  Centralitätszone  der  Finsternifs  vom  16.  April  1893  liegt 
über  Südamerika  und  reicht  bis  in  die  Wüste  Sahara.  Die  Totalität 
tritt  an  der  peruanischen  Küste  nach  8 Uhr  Morgens  ein,  läuft  im 
Laufe  des  Vormittags  über  Brasilien  und  don  atlantischen  Ozean,  und 
erreicht  um  l/2 8 Uhr  Nachmittags  dio  Ortschaften  des  Senegalgebietes. 
Die  Dauer  der  Totalität  beträgt  in  Peru  über  3,  an  der  Küste  Brasiliens 
43/i,  und  am  Senegal  über  4 Minuten.  Professor  Prichett  schlägt 
als  Beobachtungsstationen  folgende  Punkte  vor.  Zunächst  das  Städtchen 
Rosario  in  der  Provinz  Salta  der  Argentinischen  Republik,  16  deutsche 
Meilen  nördlich  von  Tucuman,  und  von  Buenos  Ayres  mittelst  Eisen- 
bahn leicht  zu  erreichen.  Diese  Station  liegt  beträchtlich  hoch  über 
dem  Meere  und  wird  im  April  für  die  Beobachtungen,  dem  gewühu- 


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liehen  Gange  der  dortigen  meteorologischen  Verhältnisse  nach  zu 
schliefsen,  voraussichtlich  günstige  Bedingungen  bieten.  Eine  zweite 
Station  auf  der  Centralkurve  der  Einste rnifs  wäre  Para  Curu  in  der 
brasilianischen  Provinz  Ceara,  nahe  der  Stadt  Forteleza,  jedoch  ist 
dort  der  Regenfall  im  April  sehr  beträchtlich  — man  darf  die  Hälfto 
des  April  als  Regentage  betrachten  — so  dafs  diese  Station  weniger 
günstig  erscheint.  Sehr  gute  Wetteraussichten  bieten  einige  Orte  in 
Französisch-Senegambien,  in  der  Nähe  des  Hafens  Dakar,  woselbst  im 
April  auf  meist  wolkenlosen  Himmel  gezählt  werden  darf:  Goree, 
Portudal  und  Joal.  Die  Insel  Goree  ist  eine  bekannte  französische 
Militärstation,  böte  einer  Expedition  alle  Vortheile  eines  zivilisirten 
Gebietes  und  liegt  auf  der  Route  des  regelmäfsigen  Dampferverkehrs 
der  SchifTahrtgesellschaften  von  Marseille,  Hamburg  und  London. 

So  viel  bis  jetzt  bekannt  geworden,  wird  das  Lick-Observatorium 
zur  Beobachtung  der  Finsternifs  eine  Station  in  Chile  errichten  und 
unter  die  Leitung  des  Mr.  Schaeberlo  stellen;  das  Harvard  Observatory 
wird  in  Peru  stationiren,  und  zur  Besetzung  der  erwähnten  brasilianischen 
und  senegainbischen  Orte  hat  sich  ein  englisches  Komite,  gebildet  aus 
den  Vereinigungen  der  Royal  Astron.  Soc.  und  des  Solar  Pbys.  Comittee, 
entschlossen.  * 

t 

Lieber  Kälteerzeugung  und  einige  Experimente  bei  tiefen 
Temperaturen.  Der  Aufgabe,  tiefe  Temperaturen  herzustellen,  liegen 
einerseits  wichtige  praktische  Interessen  zu  Grunde,  so,  um  nur  ein 
Beispiel  anzuführen,  die  Bereitung  künstlichen  Eises,  während  auf  der 
andern  Seite  hauptsächlich  der  Zusammenhang  mit  der  rein  wissen- 
schaftlichen Frage  nach  der  Permanenz  der  Gase  hervorzuheben  ist, 
der  Frage,  ob  die  Luftarten,  bei  denen  wir  eine  Verflüssigung  oder 
gar  ein  Erstarren  nicht  wahrnehmen,  wie  Wasserstoff,  Stickstoff,  Sauer- 
stoff, wirklich  nur  in  dem  luftförmigen  Zustande  existiren,  ob  also  die 
Natur  hier  thatsächlich  den  Sprung  gemacht  hat,  neben  die  anderen 
Stoffe,  welche  fest,  flüssig  und  luftförmig  Vorkommen,  unvermittelt  eine 
Gruppe  von  ganz  anders  gearteten  Körpern  zu  stellen.  Andere  -wissen- 
schaftliche und  technische  Fragen  schliefsen  sich  an,  und  Prof.  Pictet, 
von  dessen  im  vorigen  und  in  diesem  Jahre  veröffentlichten  Versuchen 
hier  hauptsächlich  die  Rede  sein  soll,  dürfte  Recht  haben,  wenn  er 
meint,  dafs  die  Eigenschaften  der  Körper  bei  tiefen  Temperaturen  noch 
ein  weites  und  dankbares  Forschungsfeld  darbieten.  — 

Es  ist  ein  merkwürdiger  Zufall,  dafs  die  Mittel,  welche  zur  Er- 


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reichun^  jener  klärenden  Forschungsergebnisse  fuhren,  eigentlich  recht 
geeignet  waren,  die  richtige  Erkenntnis  des  Wesens  der  Wärme  als 
einer  Bewegung  aufzuhalten,  weil  sie  in  sehr  nachdrücklicher  Weise 
den  Schein  erwecken,  als  sei  die  Wärme  ein  Stoff.  Prefst  man  z.  B., 
wie  dies  in  dem  pneumatischen  Feuerzeug  geschieht,  Luft  in  einem 
Cylinder  mittelst  eines  vorgeschobenen  Kolbens  zusammen,  so  erwärmt 
sic  sich,  zieht  man  den  Kolben  zurück,  sodafö  eine  Wiederausdehnung 
erfolgt,  so  kühlt  sie  sich  ab.  Mit  der  älteren  Auffassung,  dafs  die 
Temperatur  eines  Körpers  von  der  Menge  des  in  ihm  enthaltenen 
„Wärmestoffes“  abhängig  sei,  verträgt  sich  dieses  Experiment  offenbar 
aufs  beste;  man  würde  es  mit  einer  Konzentration  jenes  Wärmestoffes 
zu  thun  haben.  Ohne  näher  darauf  einzugehen,  wie  sich  dieser  Vor- 
gang durch  die  mechanische  Wärmetheorie  erklären  läfst,  wollen  wir 
darauf  hinweisen,  dafs  er  uns  ein  Mittel  zur  Kälteerzeugung  an  die 
Hand  giebt.  Man  braucht  ja  nur  die  bei  jener  „Konzentration"  auf- 
tretende Wärme  abzuleiten,  z.  B.  an  Kühlwasser  abzugebon,  um  bei 
der  nachherigen  Ausdehnung  der  Luft  eine  Temperatur  zu  erhalten, 
welche  tiefer  liegt  als  diejenige  des  Kühl wassers.  Dieses  Verfahren 
liegt  den  Wind  hausen  sehen  Eismaschinen  zu  (irunde,  welche  in  der 
neueren  Zeit  die  älteren  Apparate  von  Carre  und  Anderen  mehr  und 
mehr  verdrängt  hatten,  bis  ihnen  in  der  Lind  eschen  Eismaschine  eine 
mächtige  Konkurrenz  erwuchs.  Diese  Maschinen  benutzen  ebenso  wie 
jene  ältesten  die  Erscheinung  der  „latenten  Wärme“,  und  somit  die- 
selben Vorgänge,  welche  auch  bei  wissenschaftlichen  Untersuchungen 
die  sehr  tiefe  Temperaturen  nöthig  machen,  in  Betracht  kommen;  es 
scheint  also,  als  fielen  die  Bedingungen  für  Herstellung  der  tiefsten 
Kältegrade  und  für  ökonomische  Bereitung  des  Eises,  also  Herbei- 
führung einer  nur  wenig  unter  dem  Nullpunkte  liegenden  Temperatur, 
zusammen.  — Nennen  wir,  um  uns  bei  der  Klarlegung  dieser  Vorgänge 
eines  kurzen  Ausdrucks  bedienen  zu  können,  die  drei  Aggregatzustände 
des  Festen,  Flüssigen  und  Gasförmigen  den  niederen,  mittleren  und 
höheren,  so  verstellt  man  bekanntlich  unter  der  latenten  (verborgenen, 
mittels  des  Thermometers  nicht  nachweisbaren)  Wärmemenge  diejenige, 
welche  einem  Körper  zugeführt  werden  mufs,  damit  er  aus  einem 
niedrigeren  Zustande  in  einen  höheren  übergeht,  also  schmilzt  oder 
siedet.  Diese  Bezeichnung  ist  dadurch  gerechtfertigt,  dafs  thatsächlich 
bei  solchen  Uebergängen  ein  für  das  Thermometer  nicht  erkennbares 
Wärmequantum  aufgespeichert  wird;  z.  B.  findet  trotz  aller  Wärme- 
zufuhr bei  dem  Schmelzen  eines  Eisstücks  eine  Steigerung  der 
Temperatur  über  den  Nullpunkt  nicht  statt,  und  erst  wenn  alles  Eis 


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geschmolzen  ist,  steigt  die  Temperatur  des  gebildeten  Schmclzwassers. 
Dieses  Schmelzwasser  hat  also  die  gesamte  zugeführte  Wärme  auf- 
genommen,  d.  h.  es  besitzt  trotz  seiner  Temperatur  von  0°  einen  ver- 
borgenen Wärmevorrath,  welcher  dem  Eise  von  0°  Wärme  abgeht.  In 
welcher  Weise  diese  Erscheinung  bei  der  Kälteerzeugung  verwerthet 
werden  kann,  ergiebt  sich  nun  sehr  einfach.  Kann  man  einen  Körper 
ohne  Wärmezufuhr  veranlassen,  in  einen  höheren  Aggregatzustand 
überzugehen,  so  mufs  er  sich  dabei  abkühlen;  denn  er  soll  ja  in  jenem 
höheren  Zustande  latonto  Wärme  besitzen;  es  mufs  also,  wenn  keine 
Wärmezufuhr  stattfindet,  die  nicht  latente,  die  am  Thermometer  mefs- 
bare  Wärme  latent  werdon,  d.  h.  es  mufs,  während  der  Aggregatzustand 
steigt,  die  Temperatur  sinken.  Einen  einfachen  Fall  dieser  Temperatur- 
emicdrigung  haben  wir  vor  uns,  wenn  wir  Wasser  durch  einon  über 
seine  Oberfläche  hingeblasenen  Luftstrom  zum  Verdunsten  bringen.  — 
In  der  Praxis  führt  man  die  Verdunstung  dadurch  herbei,  dafs  man 
nicht  nur  wie  bei  dem  Blasen  die  an  der  Oberfläche  lagernden  Dampf- 
theilchen,  sondern  die  ganze  über  dem  Flüssigkeitsspiegel  lagernde 
Atmosphäre  hinwegnimmt,  also  die  Flüssigkeit  in  einem  luftleeren 
Raume  verdunsten  läfst.  Dabei  werden  offenbar  diejenigen  Flüssig- 
keiten am  meisten  Wärme  latent  machen,  welche  das  gröfste  Bestreben 
haben,  sich  zu  verflüchtigen.  Bei  den  Eismaschinen  benutzt  man  von 
jeher  das  Ammoniak,  ein  Oas,  welches  sich  unter  gewöhnlichem  Luft- 
druck erst  bei  30H  unter  Null  zu  einer  Flüssigkeit  vordichtet,  während 
es  bei  einer  Temperatur  von  10°  über  Null  eines  Drucks  von  10  Atmo- 
sphären bedarf,  um  flüssig  zu  werden.  Die  in  allen  Lehrbüchern  be- 
schriebene ältere  Carresche  Eismaschine  stellt  den  luftleeren  Raum 
mit  Hülfe  der  eigenthiimlichen  Aufnahmefähigkeit  des  Wassers  für 
Ammoniakgas  her,  indem  sie  ein  mit  Wasser  und  ein  theilweiso  mit 
flüssigem  Ammoniak  gefülltes  Gefiifs  kommuniziren  läfst.  Die  Auf- 
nahme des  über  der  ersteren  Flüssigkeit  schwebenden  Ammoniakgases 
erfolgt  fast  momentan,  so  dafs  nunmehr  die  lebhafteste  Verdunstung  und 
infolge  dessen  eine  starke  Abkühlung  eintritt.  Die  Lind  eschen 
Eismaschinen  benutzen  denselben  Stoff,  erzielen  aber  die  Druckver- 
änderungen durch  eine  Pumpe,  welche  auf  der  einen  Seite  das 
Ammoniakgas  absaugt,  also  einen  luft verdünnten  Raum  herstellt, 
während  es  auf  der  anderen  Seite  komprimirt,  und  bei  gleichzeitiger 
Abkühlung  durch  Leitungswasser  verflüssigt  wird.  Man  läfst  den 
Raum  diesseits  und  jenseits  der  Pumpe  in  Verbindung  treten,  so  dafs 
ein  Kreislauf  zustande  kommt,  und  erhält  dann  da,  wo  beide  Räume 
durch  eine  kleine  Oeffnung  kommuniziren,  eine  lebhafte  Verdunstung 


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100 


und  Abkühlung.  Das  cirkulirende  Ammoniak  entzieht  an  einer  Stelle 
also  seiner  Umgebung  ein  Wiirmequantum,  um  es  an  einer  anderen 
wieder  abzugeben. 

Ganz  ähnlich  ist  nun  auch  das  Verfahren,  mittels  dessen  man 
sehr  tiefe  Temperaturen  erzielen  kann.  Prof.  Pictet,  der  bekanntlich 
im  Jahre  1877  gleichzeitig  mit  Herrn  Cailletet  Versuche  über  die 
Verflüssigung  der  permanenten  Gase  veröffentlichte,  hat  im  vorigen 
Jahre  eine  Einrichtung  beendigt,  welche  mit  Hülfe  solcher  Kreis- 
prozesse dauernd  Temperaturen  von  weniger  als  120n  unter  Null  her- 
zustellen gestattet.  Es  ist  zu  diesem  Zwecke  nöthig,  die  Temperatur- 
erniedrigung in  mehreren  Stufen  vorzunehmen,  also  mehrere  Cyklen 
aneinander  zu  reihen.  Zu  dem  ersten  Cyklus  benutzt  Pictet  die  nach 
ihm  benannte  Flüssigkeit,  ein  Gemisch  von  schwefliger  Säure  und 
Kohlensäure.  Durch  Verdampfung  dieser  Flüssigkeit  in  dem  evacuirten 
Theilo  der  Kreisleitung  entsteht  eine  Temperaturerniedrigung  von  etwa 
80°  unter  Null.  Die  in  dieser  Weise  abgekühlte  Flüssigkeit  wird  nun 
gewissermafsen  als  Kiihlwasser  für  den  zweiten  Cyklus  benutzt,  bei 
welchem  als  zu  verdichtendes  Gas  Stickstoffoxydul  — das  bekannte 
Lachgas  — zur  Anwendung  kommt.  Bei  der  Abkühlung  bis  auf 
00 — 80°  reicht  zur  Verdichtung  ein  Druck  von  10  bis  12  Atmosphären 
aus.  Bei  der  Temperatur  des  Eispunktes  würde  hierzu  ein  Druck  von 
30  Atmosphären  erforderlich  sein.  Da  sich  dieser  bei  Versuchsreihen 
längerer  Dauer  nicht  leicht  erhalten  läfst,  so  leuchtet  der  Vortheil  einer 
Zerlegung  in  solche  Stufen  unmittelbar  ein.  Infolge  der  schnellen  Ver- 
dampfung im  Vacuum  tritt  eine  Abkühlung  bis  auf  130°  unter  Null 
ein,  eine  Temperatur,  bei  welcher  ein  Theil  der  Flüssigkeit  erstarrt. 
Wir  haben  also  dieselbe  merkwürdige  Erscheinung  vor  uns,  welche 
an  der  flüssigen  Kohlensäure  häufig  demonstrirt  wird,  dafs  bei  dem 
Uebergang  einer  Flüssigkeit  in  den  höheren  Aggregatzustand  so  viel 
Wärme  latent  wird,  dafs  ein  Theil  der  Flüssigkeit  in  den  niedrigeren 
Aggregatzustand  übergeht.  Die  Wärmeenergie,  welcho  sonst  immer  das 
Bestreben  zeigt,  sich  gleichmäfsig  zu  vertheilen,  verschiebt  sich  hier  so, 
dafs  ein  starker  Kontrast  entsteht.  Natürlich  gilt  das  nur  bei  diesem 
speziellen  Theile  des  Prozesses,  während  aus  dem  gesamten  Kreisläufe 
eine  Verschiebung  von  Wärme  im  Sinne  eines  gröfser  werdenden  Kon- 
trastes nicht  entstehen  kann. 

Von  dem  zweiten  Cyklus  aus  schreitet  man  nun  weiter  fort  unter 
Anwendung  von  atmosphärischer  Luft.  Diese  wird  dem  ungeheuren 
Drucke  von  200  Atmosphären  ausgeselzt  und  gleichzeitig  mittels  des 
fest  gewordenen  Lachgases  auf  — 130°  abgekiihlt.  Es  tritt  eine  Ver- 


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101 


flüssigung  ein,  und  wenn  man  den  Hahn  dos  Behälters  öffnet,  ent- 
weicht ein  in  prächtigem  Blau  erglänzender  Strahl  flüssiger  Luft,  deren 
Temperatur  infolge  lebhafter  Verdunstung  bis  auf  — 200°  sinkt.  Dafs 
besonders  dieser  letzte  Thoil  der  Versuche  umfangroiche  experimentelle 
Zurüstungen  nöthig  macht,  leuchtet  wohl  ein.  Z.  B.  ist  es  nur  mit 
Hülfe  von  Reservoiren,  welche  aus  einem  einzigen  Stahlblock  ohne 
Naht  gefertigt  worden  sind,  gelungen,  gröfsere  Vorräthe  verdichteter 
Luft  für  Experimente  zu  sammeln;  doch  war  die  Einrichtung  eines 
ununterbrochen  arbeitenden  dritten  Cyklus  bisher  nicht  möglich. 

In  unerwarteter  Weise  schlofs  sich  an  die  Pictetschen  Ver- 
suche eine  praktische  Verwerthung,  nämlich  die  auf  Vorschlag  von 
Prof.  Liebreich  vorgenommene  Reinigung  des  Chloroforms.  Sie  wird 
in  einfachster  Weise  dadurch  ermöglicht,  dafs  man  dieses  fast  immer 
unrein  vorkommende  Anaestheticum  bei  etwa  100°  unter  Null  gefrieren 
läfst.  Die  sich  abscheidenden  Krystalle  zeigen  selbst  bei  den  empfind- 
lichsten Reaktionen  keino  Spuren  fremder  Beimengungen,  und  es  ist 
sehr  wahrscheinlich,  dafs  die  Anwendung  dieses  Mittels  durch  die 
Reinigung  an  Gefahrlosigkeit  zunehmen  wird. 

Ueber  die  Strahlung  der  Wärmewellen  von  grofser  Wellenlänge 
hat  Pictet  eigonthiimliche  Beobachtungen  gemacht.  Es  scheint,  als 
seien  diejenigen  Stoffe,  welche  wir  wegen  der  in  ihnen  enthaltenen 
Lufttheilehen  als  Wärmeisolatoren  benutzen,  wie  Wolle  und  dergl.  für 
Wärmestrahlen,  welche  bei  Temperaturen  unter  — 100 u erzeugt  werden, 
transparent,  ähnlich  wie  beim  Lichte  die  aus  Aggregaten  kleiner  Bläs- 
chen bestehenden  Nebel  am  leichtesten  von  den  Strahlen  grofser 
Wellenlänge,  von  rötlichem  Lichte  durchdrungen  werden. 

Hiermit  hängt  nach  Pictets  Ansicht  ein  Phänomen  zusammen, 
welches  er  in  der  letzten  Zeit  beobachtet  und  veröffentlicht  hat. 
Ein  Thermometer,  welches  in  erstarrendem  Chloroform  steht,  zeigt  eine 
höhere  Temperatur  als  ein  solches  in  schmelzendem  Chloroform, 
während  bekanntlich  Schmelzpunkt  und  Gefrierpunkt  sonst  stets 
zusammenfallen.  Pictet  meint,  dafs  die  Wärme,  welche  in  don  äufseren 
Schichten  einer  Menge  flüssigen  Chloroforms  frei  wird,  wenn  man 
dasselbe  in  einen  kalten  Raum  bringt  und  nun  jene  Schichten  gefrieren, 
die  Flüssigkeit  besser  zu  durchstrahlen  vermöge  als  die  Strahlen, 
welche  von  dem  wärmeren  Thermometer  ausgehen.  Ist  diese  Erklärung 
richtig,  so  werden  sich  offenbar  eine  ganze  Reihe  von  Eigenthümlich- 
keiten  aus  ihr  ergeben,  welche  den  Körpern  bei  niedrigen  Temperaturen 
zukommen  und  ganz  abweichend  sind  von  dem  gewöhnlichen  Ver- 
halten derselben. 


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Im  speziellen  will  Pictet  die  Gesetze  der  Ausdehnung  und  der 
elektrischen  Leitungsfiihigkeit  der  Metalle  bei  niedriger  Temperatur, 
sowie  den  Einllufs  hoher  Kältegrade  auf  chemische  Reaktionen  und 
auf  die  Elektrolyse  untersuchen.  Es  ist  zu  hoffen,  dafs  sich  auf  diesem 
bisher  unerforschten  Gebiete  — Pictet  nennt  es  mit  einem  treffenden 
geographischen  Vergleich  das  polare  Gebiet  der  Physik  — umfang- 
reiche und  wichtige  Ergebnisse  werden  erzielen  lassen. 

* 


Abermals  ein  neuer  Komet. 

Einen  aufserordentlioh  lichtschwachen  Kometen  hat  Barnard  auf 
dem  Lickobservalorium  in  der  Nacht  vom  11.  zum  12.  Oktober  photo- 
graphisch entdeckt.  Das  Gestirn  bewegt  sich  ziemlich  schnell  nach 
Südosten  und  steht  gegenwärtig  im  Sternbilde  des  Adlers;  seine 
Helligkeit  ändert  sich  nur  unmerklich.  \V. 


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A.  Peter,  Professor  l>r.,  Wandtafeln  zur  Systematik,  Morphologie  und 
Biologie  der  Pflanzen  für  Universitäten  und  Schulen.  Kassel, 
Theodor  Fischer,  1892.  Prois  pro  Tafel  2 M. 

Die  vorliegende  Lieferung  I dieses  neuen  botanischen  Bilderwerkes  ent- 
hält Tafel  1 („Cucurbitaceae“)  und  Tafel  2 („Violaceae“),  beide  blüthenbio- 
logischen  Charakters.  Die  Verhältnisse,  auf  die  es  ankommt,  sind  aufser- 
ordontlich  gut  und  klar  wiedergogeben.  Bestaubuugs-  und  Aussaateinrich- 
tungon treten  stark  in  den  Vordergrund  und  werden  bei  den  Kürbisgewächsen 
an  den  getrenntgeschlechtigen  Blüthcn  des  gemeinen  Speisekürbisses  (Cu- 
curbita Pepo  L.)  und  den  Schleudurfrüchten  der  aus  den  tropischen  Anden 
stammenden,  aber  jetzt  schon  in  unseren  Gärten  häufigen  sogenannten 
Springgurke  (Cyelanthera  explodens  Naud.)  erläutert;  für  die  Veilchen- 
gewächse dient  das  Garten-Stiefmütterchen  (Viola  tricolor  L.)  als  Bei- 
spiel. Wenn  die  weiteren  Lieferungen  dieser  Probe  entsprechen,  wird  sich 
das  Werk  wohl  bald  einbürgern,  denn  die  Ausführung  in  Hinsicht  aufFnrben- 
und  Fernwirkung  verdient  ebenso  hohes  Lob  wie  die  geschickte  Auswahl, 
die  den  neueren,  auf  das  Leben  gerichteten  Forschungszielen  in  jeder  Be- 
ziehung gerecht  wird. 

In  einem  nebensächlichen  Punkte  darf  vielleicht  noch  ein  Wunsch  aus- 
gesprochen werden ; er  betrifft  die  in  Worten  gegebenen  Erklärungen.  Die 
Rücksicht  auf  die  Schulen  ist  es  wohl  gewesen,  dio  den  Herausgeber  veran- 
lagt hat,  die  althergebrachten  Ausdrücke  „Staubgefäfse“  und  „Stempel4*  (auch 
„Staubgefäfsblüthe“  und  „Stempolblüthe“)  beizubehalten.  Vielleicht  entschliefst 
sich  der  Herausgeber,  diese  weitgehende  Nachsicht  bei  den  folgenden  Liefe- 
rungen fallen  zu  lassen;  im  allgemeinen  darf  heutzutage  wohl  vorausgesetzt 
werden,  dafa  an  jeder  Schule,  wo  ein  wirklich  naturwissenschaftlich  gebildeter 
Lehrer  wirkt,  die  Ausdrücke  „Staubblätter“  und  „Fruchtblätter“  (für  den 
„Stempol“  im  ganzen  „Fruchtknospo“  oder  „Fruchtblattkreis“!  wohl  verstan- 
den werden  und  au  vielen  bereits  allein  üblich  sind.  Dasselbe  gilt  von  der 
„Staubbliitho“  und  „Fruchtblüthe“  („Samenblüthe“),  die  übrigens  unbedenklich, 
selbst  in  Mädchenschulen,  als  männliche  und  weibliche  Blüthe  bezeichnet  wer- 
den können  und  auch  worden. 

In  jedem  Falle  ist  dem  Fortgange  des  schönen  Tafelwerkes  das  beste 
Gedeihen  zu  wünschen.  Dr.  Jaensch. 

$ 

H.  Schneider:  Gegen  Falb««  kritische  Tage.  Berlin  1892.  Düramler. 

Die  Schrift  lehnt  sich  im  wesentlichen  an  dio  in  dieser  Zeitschrift  er- 
schienene Abhandlung  von  Prof.  Pernter  über  denselben  Gegenstand  an, 
giebt  aber  auch  eigenes  Beobachtungsmatcrial.  Der  Verfasser  ist  Laie,  aber 
gerade  als  solcher  kann  derselbe  dom  Publikum  gegenüber  viel  kräftiger 
wirken,  als  irgend  jemand  sonst.  Das  Publikum  ist  nun  einmal  von  dem  Vor- 
urtheil  nicht  abzubringen,  dafs  die  Fachgelehrten  im  Prinzip  allemal  gegen  die 


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104 


Zunfllosen  Vorgehen.  Gerade  das  offene  und  dabei  ebensowenig  polemische 
Auftreten,  sowie  die  Deutlichkeit  und  Bescheidenheit,  mit  welcher  der  Verfasser 
sich  zum  Laienstandpunkte  bekennt,  ist  entscheidend  für  die  Meinung  des  ge- 
dankenlosen grofsen  Publikums.  Man  wird,  so  paradox  die  Sache  auch  klingt, 
die  logischen  Argumente  desselben  ungemein  viel  leichter  als  beweisend  an- 
nehmen. als  wenn  sie  von  den  berufensten  Gelehrten  ausgehen  würden.  Es 
hat  uns  deshalb  auch  durchaus  nicht  peinlich  berührt,  dafs  wir  einige  schiefe 
und  selbst  unrichtige  Ansichten  über  Fluthwirkung  in  der  Schrift  vorfanden, 
die  eben  den  Laienstandpunkt  des  Verfassers  um  so  schärfer  charakterisiren. 
Es  liegen  bekanntlich  über  die  Ursachen  der  Fluthbewegung  mathematische 
Deduktionen  strengster  Art  vor:  aber  es  handelt  sich  hier  um  ein  Problem,  das 
ungemein  schwer  in  eine  allgemein  verständliche  Form  für  den  mathematischen 
Laien  gebracht  werden  kann.  Referent  beschäftigt  sich  schon  seit  längerer  Zeit 
mit  der  Auffindung  einer  solchen  Form,  da  immer  und  immer  wieder  laienhafte 
Zweifel  über  die  Fluthwirkung  auftauchen,  eben  weil  die  Wirkung  selbst  so 
sichtbar  für  jedermann  zu  Tage  tritt,  während  der  Beweis  für  die  Ursache  so 
schwer  verständlich  zu  machen  ist. 

Der  kleinen  Schrift  aber  wünschen  wir  nichtsdestoweniger  im  Interesso 
der  endlichen  Ausmerzung  des  so  ungemein  tief  wurzelnden  Falb  sehen  Irr- 
glaubens den  besten  Erfolg.  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 

t 

Adrian  Bai  bis  Allgemeine  Erdbeschreibung.  Achte  Auflage.  Wien, 
Post,  Leipzig.  Vollkommen  neu  bearbeitet  von  Dr.  Franz  Hoiderich. 
Lieferung  1 — 9.  A.  Hartlebens  Verlag.  Vollständig  in  50  Lieferungen 
ä 0,75  M. 

A.  Hartlebens  Kleiner  Handatlas  über  alle  Theile  der  Erde.  60  Karten- 
seiten. Mit  erklärendem  Text  von  Prof.  Dr.  Fr.  Umlauft.  Derselbe 
Verlag.  Preis  geh.  9 M. 

Seit  der  siebenten  Auflage  der  ersterwähnten  Erdkunde  sind  nur  wenige 
Jahre  verflossen,  aber  es  ist  ein  für  die  Erforschung  der  Erdoberfläche  nicht 
unbedeutender  Zeitraum  gewesen.  Die  weifsen  Flocke,  welche  die  Landkarten 
bisher  aufwiesen,  sind  durch  den  Fleifs  und  die  Kühnheit  der  Reisenden  aus- 
gefüllt  worden,  und  die  Natur  bisher  schon  bekannter  Gebiete  ist  durch  ein- 
dringendes Studium  der  zoologischen,  klimatischen  und  anthropogeographischen 
Verhältnisse  immor  genauer  ergründet  worden.  So  mufste  die  ältere  Auflage, 
wollte  sie  alle  Fragen,  welche  in  der  modernen  Erdkunde  interessiren,  zur 
Genüge  beantworten,  von  Grund  aus  neu  bearbeitet  worden.  Man  kann  beim 
Durch  blät  tern  der  bisher  vorliegenden  9 Lieferungen,  welchen  neue  und  schöne 
Abbildungen  beigegeben  sind,  überall  die  Berücksichtigung  des  Neuen  erkennen. 
Dein  Werke  werden  25  schöne  Karten  boigegeben,  die  zum  Theil  die  physikalische 
Erdkunde  betreffen,  zum  Theil  die  Länderkunde.  Einige  der  letzteren  sind 
dem  mit  angezeigten  Atlas  entnommen,  der  sich  durch  eine  Fülle  des  Details 
auszeichnet  und  dabei  doch  an  Klarheit  nichts  zn  wünschen  übrig  läfst.  Sein 
geringer  Preis  wird  ihn  hoffentlich  überall  dort  einführen  lassen,  wo  die 
üblichen  Schulatlauten,  trotz  ihrer  in  den  letzten  Jahren  sehr  gesteigerten  Voll- 
kommenheit nicht  für  ausreichend  befunden  werden  sollten.  Der  trotz  seiner 
Kürze  viel  wissonsworthes  Material  enthaltende  Text  von  Prof.  Umlauft  er- 
scheint uns  als  eine  willkommene  Beigabe.  — r. 

Verlag  von  Hermann  Partei  in  Merlin.  — Druck  von  Wilhelm  Uronau'a  Buchdruckerei  in  Berlin. 

Für  die  Kedaction  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 

Ueberaetzungsrecht  Vorbehalten. 


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Der  hängende  Felsen  von  Newport  an  der  atlantischen  Küste  Nordamerikas. 

(Nach  einer  Photographie). 


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Ueber  die  Wirkungen  der  Meereserosion  an  der 
atlantischen  Küste  Nordamerikas.1) 

Von  Dr.  Emil  Deckert 

Grenzlinie  zwischen  Land  und  Meer  ist  an  der  Westseite  des 
;lcy-  Atlantischen  Ozeans  so  wenig  eine  feste  und  unverrückbare 
wie  an  der  Ostseite,  und  wenn  man  sich  einige  Wochen  an 
einem  Punkte  der  atlantischen  Küste  Nordamerikas  aufhält  — etwa 
in  einem  der  freundlichen  „Resorts“  auf  Long-Island,  in  New-Jersey, 
bei  Boston,  bei  Portland  in  Maine,  oder  bei  St.  Augustine  in  Florida  — , 
so  bietet  sich  reichliche  Gelegenheit,  die  Einzelheiten  des  weohsel- 
vollen  Kampfes,  in  dem  das  nasse  und  das  trockene  Element  mit  ein- 
ander begriffen  sind,  zu  beobachten  und  darüber  nachzudenken,  zu 
welchem  Ende  dieser  Kampf,  in  dem  beide  Streitende  so  durchaus 
aggressiv  auftreten,  wohl  dereinst  führen  werde.  Denn  dafs  die  frag- 
lichen Einzelheiten  sich  im  Laufe  der  Zeiten  zu  gewaltigen  Beträgen 
summiren  müssen,  ist  ohne  weiteres  klar. 

Der  Grundtypus,  in  dem  sich  die  atlantische  Küste  Nordamerikas 
darstellt,  ist  ein  anderer  im  Norden,  als  im  Süden.  Im  Norden  — an 
der  kanadischen  und  neuengländischen  Küste  — ragen  einestheils 
trotzige  Klippen  aus  archaischem  und  palaeozoischem  Gestein  der  See 
entgegen,  an  denen  sioh  die  von  dem  Winde  herangetriebenen  Wogen 
in  wilder  Brandung  hooh  aufspritzend  brechen,  anderentheils  sind 
es  hohe  und  mächtige  Wälle  aus  Moränenschutt,  aufgehäuft  von  den 
Riesengletsohem  der  amerikanischen  Eiszeit,  an  denen  das  Meer  seine 

')  Diese  interessanten  Schilderungen  des  mächtigen  Kampfes  zwischen 
dem  Festlands  der  nordamerikanischen  Ostküste  und  dem  Meere  mögen  nament- 
lich als  praktische  Beispiele  und  Erweiterungen  zu  dem  vor  einiger  Zeit  in 
dieser  Zeitschrift  veröffentlichten  Vortrage  „Das  Antlitz  der  Erde“  von  den- 
jenigen Theilen,  welche  sich  mit  den  ErosionBerscheinungen  hier  selbstver- 
ständlich nur  flüchtig  beschäftigen  konnten,  dienen. 

Bimmel  und  Erd*  1883.  V.  3.  8 


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106 


Kraft  zu  erproben  hat.  Junge  Alluvionen  dagegen,  seien  es  Sedimente 
der  mündenden  Ströme,  seien  es  vom  Seewinde  emporgethürmte  Dünen- 
reihen, finden  sich  nur  lokal  und  nur  in  geringer  Ausdehnung.  Im 
Süden  — von  der  Gegend  New-Yorks  bis  zu  dem  floridanischen  Kap 
Sable  und  um  den  ganzen  Golf  von  Mexiko  herum  — gestalten  sich 
die  Verhältnisse  durchaus  verschieden.  Hier  treten  die  jüngsten 
Bildungen  der  Erdgeschichte  allerwärts  in  den  Vordergrund.  — An- 
schwemmungen der  Flüsse,  Sanddünen,  Muschelbänke,  Korallenbauten, 
— und  nur  ganz  sporadisch  ist  es  ein  Gebilde  der  Tertiärzeit,  eine 
miocäne  Mergelbank  etwa,  das  der  See  die  Stirn  zu  bieten  hat 
Die  Meereswellen  rollen  hier  auf  seichtem  Grunde  gegen  ein  flaches 
Gestade,  sie  überschlagen  sich  in  drei-  oder  vierfachen  Schaumkämmen 
weit  draufsen,  sie  verlieren  bereits  fern  vom  Lande  den  gröfsten  Theil 
ihrer  zerstörenden  Wuth,  und  sie  sind  dort,  wo  sie  die  umstrittene 
Grenzlinie  berühren,  in  der  Regel  nur  im  stände,  mit  leichten  Muscheln 
und  Sandkörnern  zu  spielen,  dieselben  bald  hinausreifsend,  bald  wieder 
zurückwerfend  auf  das  Trockene,  und  durch  ihr  Spiel  die  Materialien 
darbietend  und  zubereitend,  aus  denen  der  Seewind  mehr  odor  minder 
hohe  Dünenwälle  aufbaut,  die  dem  Lande  als  Schutz  dienen. 

Wor  die  Beziehungen  der  beiden  Elemente  entlang  der  amerika- 
nischen Küste  nur  in  den  normalen  Zeiten  kennen  lernt,  dem  könnte 
es  vielleicht  scheinen,  als  ob  Gewinn  und  Verlust  sich  im  allgemeinen 
auf  beiden  Seiten  ungefähr  die  Wage  hielten.  Im  Norden  unterwäsoht 
die  Brandung  in  zwur  deutlich  sichtbarer  Weise  die  Felsen  von  Kap 
Cod,  Nahant,  Kap  Ann,  Mount  Desert  etc.,  so  dafs  dieselben  allmählich 
Überhängen  und  schliefslich  hinabbreohen;'-)  der  in  dieser  Weise  der 
See  anheimgefallene  und  mehr  oder  minder  kleingeriebene  Schutt 
findet  aber  zu  einem  grofsen  Theile  unter  dem  Einflüsse  der  Küsten- 
strümungen  seinen  Weg  hinein  in  die  benachbarten  Buchten,  um  die- 
selben zu  verseichten  und  zu  versanden  — vielfach  zu  sehr  empfind- 
lichem Nachtheile  für  die  Schifffahrts-  und  Verkehrsverhältnisse  der 
daran  gelegenen  Hafenplätze,  — und  an  dem  Rande  der  Buchten  sieht 
man  sogar  in  der  Form  sogenannter  „beaches“  neues  Land  sich  dar- 
aus bilden.  Und  wenn  im  Süden  von  einem  Sinken  der  Wagschale 
zu  Gunsten  des  einen  Kämpfers  die  Rede  sein  kann,  so  könnte  man 
geneigt  sein,  aus  dem  Vorhandensein  ausgedehnter  Dünenstrecken  und 
Flufsalluvionen  zu  schliersen,  dafs  dieser  Kämpfer  das  feste  Land  sei. 
Die  Brakwasser-Lagunen,  welche  sich  hinter  den  Dünenwällen  aus- 

’)  Siohe  unser  Titelbild:  Der  hängende  Felsen  von  New  Port. 


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lor 


dehnen  — der  Pamplico  Sund,  der  Matanzas  River,  der  Indian  River, 
der  Mississippi-Sund,  die  Laguna  della  Madra  etc.  — kann  man  beim 
ersten  Anblick  durchgängig  für  in  fortschreitender  Verlandung  be- 
griffene einstige  Meerestheile  halten. 

In  einem  etwas  veränderten  Lichte  erscheint  der  Grenzstreit 
zwischen  Land  und  Meer,  wenn  man  Gelegenheit  hat,  von  einem 
jener  furchtbaren  ekstatischen  Momente  Zeuge  zu  sein,  in  denen  das 
letztere  gegen  das  erstere  mit  verhundertfachter  Wuth  und  Gewalt  an- 
stürmt,  und  unendlich  gröfsero  Massen  als  in  den  gewöhnlichen  Zeiten 


Fig.  1.  Dia  Külte  von  Long  Island. 


verschlingt.  Genau  wie  in  den  Kriegen,  welche  die  Völker  mit  ein- 
ander führen,  sind  es  ja  diese  ekstatischen  Momente,  diese  Katastrophen 
— die  grofsen  Hauptschlachten  sozusagen,  die  die  Streitenden  ein- 
ander liefern  — die  den  Aussohlag  geben.  Auch  ihre  Wirkungen 
summiren  sich  im  Laufe  der  Zeiten,  und  unter  dem  Einflüsse  der  west- 
indischen Orkane  und  Nordoststiirme  wiederholen  sie  sich  an  der 
amerikanischen  Küste  so  oft,  dafs  wir  bereits  in  einer  sehr  kurzen 
Spanne  der  historischen  Zeit  — in  wenigen  Jahrzehnten,  ja  in  Jahres- 
frist — die  Fläche  des  Landes  sich  an  verschiedenen  Stellen  des 

8" 


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Meeresrandes  um  ein  beträchtliches  vermindern  sehen,  ohne  dafs 
Hoffnung  da  wäre,  dafs  der  Verlust  je  wieder  ersetzt  werden  könnte. 

Im  Norden,  wo  die  felsige  Natur  der  Küste  die  Erosionsthätigkeit 
der  Meeresbrandung  erschwert,  und  wo  es  auch  selbst  zur  Zeit  der 
wildesten  Stürme  immer  nur  verhältnirsmäfsig  kleine  Bruchstücke  sind, 
die  auf  Nimmerwiedersehen  in  den  Wogen  verschwinden,  sind  die  in 
das  Meer  mündenden  Ströme  im  allgemeinen  nicht  sehr  reich  an  Sedi- 
menten. Denn  durch  die  Nachwirkungen  der  bereits  erwähnten  nord- 
amerikanischen Eiszeit  erweitern  sich  dieselben  samt  und  sonders  auf 
ihrem  Laufe  vielfach  zu  Seen,  und  der  Schutt,  den  sie  aus  den  Bergen 
fortführen,  wird  auf  diese  Weiso  zum  weitaus  gröfsten  Theile  zur  Aus- 
füllung dieser  Seen  verwendet  Sodann  ist  der  vorherrschende  und 
im  allgemeinen  auch  kräftigere  Wind  an  der  ganzen  Nordküste  der 
Westwind,  also  der  von  dem  Lande  wehende  Wind,  während  der  Ost- 
wind — der  Seewind,  dem  die  Funktion  des  Dünenbaues  zufällt  — 
der  seltenere  und  schwächere  ist,  abgesehen  nur  von  den  erwähn- 
ten Stürmen,  von  denen  immer  nur  Zerstörungen  zu  gewärtigen  sind. 
Die  Dünenwälle,  welche  wir  im  Norden  der  New-York-Bai  ge- 
wahren, sind  daher  sowohl  hinsichtlich  ihrer  Höhe  als  auch  hinsichtlich 
ihrer  Breite  und  Länge  unbedeutend,  sie  ragen  nur  ausnahmsweise 
höher  empor  als  fünf  oder  sechs  Meter,  sie  beschränken  sich  auf  den 
schmalen  Küstensaum,  und  von  förmlichen  Dünengebirgen  wie  auf 
dem  deutschen  Sylt  oder  an  der  holländischen  Küste,  sowie  von  oinem 
ausgedehnten  „Wandern  der  Dünen“  ins  Binnenland  ist  nirgends  die 
Rede.  Auch  die  Vegetation  auf  den  Dünen  ist  in  der 
fraglichen  Gegend  nur  eine  spärliche,  und  zur  Festi- 
gung der  natürlichen  Schutzwälle  des  Landes  trägt  sie 
mit  ihrem  Wurzelwerke  vergleichsweise  nur  ein  Ge- 
ringes bei.  So  kommt  es,  dafs  die  Wogen  der  vom 
Orkane  herangepeitschten  Sturmfluth  in  den  reoenten 
Landbildungen  auf  wenig  Widerstand  stofsen,  und 
gerade  diese  recenten  Bildungen  sind  es,  die  zu  solchen 
Zeiten  am  gründlichsten  verwüstet  und  zerstört  werden. 
Einen  mächtigen  Verbündeton  hat  die  sturmbewegto 
See  übrigens  entlang  der  ganzen  nördlichen  Küste  in 
dem  kalten  und  veränderlichen  Winterklima,  das  da- 
selbst herrscht,  und  wer  die  Klippen  von  Newport, 
Nahant,  Mount  Desert  etc.  in  den  Monaten  Januar  bis 
April  besucht,  der  kann  in  ihren  Spalten  wahre  Wunder 
lockernder  und  sprengender  Frostwirkung  zu  schauen 


Fig.  2. 

KüHtpnerot’iun  »tu 
Cip  PorL 

(Di®  KüaUnlioie  bei 
Xauaet  Haxbone  im 
Jahr«  WM  and  1H87. 
Nach  H.  L.  Whiting.) 


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bekommen.  Riesenblock  auf  Riesenblock  bricht  unter  dieser  Wirkung 
hinab,  und  die  Brandungswogon  der  Sturmfluth  spielen  mit  ihnen  und 
schleudern  sie  gegen  die  stehen  gebliebenen  Reste  der  Klippe,  um 
endlich  auch  diese  zum  Sturze  zu  bringen.  Die  Frostwirkungen  im 
grofsen  wie  im  kleinen,  die  in  jeder  zu  Tag  ausgehenden  Spalte  zu 
konstatiren  sind,  sind  neben  dem  Ungestüm  der  Stürme  in  erster  Linie 
zu  bedenken,  wenn  man  das  Phänomen  der  fortschreitenden  Meeres- 
erosion an  dem  nördlichen  Theile  der  atlantischen  Küste  Nordamerikas 
begreifen  will. 

Im  einzelnen  sind  die  fraglichen  Verhältnisse  entlang  dieser  Küste 
noch  wenig  in  exakter  Weise  beobachtet  worden,  und  betreffs  des  Be- 
trages der  Erosion  ist  man  daher  im  allgemeinen  nur  auf  ganz  un- 
gefähre Schätzungen  angewiesen.  Ueber  einige  wenige  Punkto  liegen 
aber  genaue  Untersuchungen  vor,  die  sich  über  einen  längeren  Zeit- 
raum erstrecken,  und  in  ihnen  findet  man  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  das  Kriterium,  um  jene  Schätzungen  auf  ihren  wirklichen  Werth 


Fig.  3. 

Küstenzerstörung  und  Küstenwachsthum  im  Süden  von  Chappaquiddick 
(Marthas  Vineyard).  (Nach  H.  L.  Whiting. 


zu  prüfen.  Sehr  dankenswerth  und  interessant  sind  in  dieser  Beziehung 
namentlich  die  Vermessungen  und  Berechnungen,  welche  H.  L.  Whiting 
und  H.  L.  Marindin  im  Aufträge  der  „U.  S.  Coast  Survey-  auf  Marthas 
Vineyard  und  Kap  Cod  angestellt  haben.3)  Der  mittlere  Theil  der 
45  m hohen  Nashaquitsa-Klippenreihe  auf  Marthas  Vineyard  (vergl. 
Fig.  3)  wich  danach  in  den  Jahren  1846  bis  1886  um  66  m (220 
amerikanische  Fufs)  zurück,  also  durchschnittlich  in  jedem  Jahre 
um  1.4  m,  und  auf  der  Halbinsel  Kap  Cod  (vergl.  Fig.  2)  betrug 
der  absolute  Verlust  des  Landes  an  die  See  auf  der  Strecke  zwischen 
der  Pleasant-Bai  und  dem  Nausett-Hafen  in  den  neunzehn  Jahren 
von  1868  bis  1887:  2.107.831  Kubik-Yards  (einer  positiven  Strand- 

s)  Vergl.  die  Reports  der  U.  8.  Cosst  and  Geodetic  Survey  von  1886 
(S.  263  ff.)  und  1889  (S.  403  ff.). 


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Verschiebung'  von  48  m im  ganzen,  oder  2.6  m im  Jahre  ent- 
sprechend), auf  der  Strecke  von  dem  Nausett-Hafen  bis  zu  den 
Nausett-  Lichtem  in  den  einunddreifsig  Jahren  von  1866  bis  1887: 
874.161  Kubik-Yards  (entsprechend  einer  Strandverschiebung  von 
2.5  m im  ganzen,  oder  von  0.08  m im  Jahre),  und  auf  der  Strecke 
von  den  Nausett-Lichtern  bis  zu  dom  Highland-Lichte  in  den  neunund- 
dreifsig  Jahren  von  1848  bis  1887:  30.231.038  Kubik-Yards  (ent- 
sprechend einer  Strandverschiebung  von  38.4  m im  ganzen,  oder  von 
0,96  m im  Jahre).  Das  Zurückweichen  der  geschützt  gelegenen  Gay- 
Ilead-Klippen  im  Westen  von  Marthas  Yineyard  schätzt  Professor 
N.  Shaler  auf  höchstens  0.3  m im  Jahresdurchschnitte,'1)  die  kleine 
Sandinsel  Skiffs  Island  im  Südosten  von  der  genannten  gröfseren  Insel 
dagegen  ist  nach  H.  L.  Whiting  in  den  Jahren  1886  bis  1888  von 
der  See  um  68  m gegen  Westen  verschoben  und  gleichzeitig  auf  den 
dritten  Theil  ihrer  sonstigen  Gröfse  reduzirt  worden. 5) 

An  der  kanadischen  Küste  wird  die  zerwaschende  und  reifsende 
Thätigkeit  der  Brandung  zum  Theil  durch  eine  ungeheure  Höhe  der 
Gezeiten  unterstützt  — in  der  Fundy-Bai  bisweilen  23  m — , und  es 
ist  daher  anzunehmen,  dafs  die  Wirkungen  der  Meereserosion  daselbst 
an  vielen  Orten  sehr  bedeutende  sein  werden;  genauere  Daten  darüber 
sind  aber  nicht  vorhanden. 

Was  den  südlichen  Theil  der  atlantischen  Küste  Nordamerikas 
betrifft  — die  offene  Ozeanküste  zwischen  New-York  und  der  Süd- 
spitze Floridas,  sowie  die  Golfküste  von  dem  letztgenannten  Punkte 
bis  an  die  Strafse  von  Yukatan  — so  wohnt  den  daselbst  vor- 
herrschenden jungen  Landbildungen  natürlich  an  sich  viel  weniger 
Widerstandskraft  den  Angriffen  des  Meeres  gegenüber  inne.  Der 
Sedimentreichthum  der  hier  mündenden  Flüsse  ist  aber  durchgängig 
ein  sehr  gewaltiger,  und  der  gröfste  derselben,  der  Mississippi,  hat 
deswegen  als  Erbauer  neuen  Landes  unter  den  Strömen  der  Erde  kaum 
seinesgleichen.  Sein  Delta  springt  weiter  als  dasjenige  irgend  eines 
anderen  Stromes  hinaus  in  das  Meer,  und  aufser  an  dessen  weiterem 
Wachsthume  arbeitet  der  „Vater  der  Gewässer“  durch  seitliche  Ver- 
führung seiner  Sedimente  auch  an  der  Verbreiterung  sämtlicher 
Nehrungen  an  der  texanischen  und  alabamischen  Küste.  Sodann  er- 
halten die  losen  Sand-  und  Schlickmassen,  welche  die  Ströme  an  der 
offenen  atlantischen  Küste  sowie  an  der  Golfküste  ablagern,  auch  durch 
ihre  Lagerungsweise  und  durch  ihre  halbflüssige  Natur  ein  viel  höheres 

')  Vergl.  Seventh  Annual  Report  of  the  U.  S.  Goological  Survey  (8.  347  ff.). 

l)  Vergl.  Report  of  the  U.  S.  Coast  and  Geodetic  Survey  1839  (8.  459  ff.). 


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Mafs  von  Resistenzkraft,  als  sie  an  und  für  sich  besitzen  Dadurch, 
daß  sich  ihre  Schwemmkegel  zum  Meeresgründe  hinab  ganz  sanft  ab- 
böschen, und  dafs  der  Schwemmkegel  des  einen  Flusses  immer  mit 
denjenigen  seiner  beiderseitigen  Nachbarn  auf  das  engste  verwachsen 
ist,  bricht  sich  eben  die  Kraft  der  Wogen  in  der  Regel  bereits  ferne 
von  dem  bedrohten  Strande;  und  gelingt  es  den  letzteren  zur  Zeit 
einer  Sturmfluth  dooh,  eine  tiefe  Bresche  in  den  Schwemmkegel  sowie 
in  die  Dünenküste  einzureifsen,  so  fliefsen  die  breiigen  Massen  des 
ersteren  von  den  Seiten  her  infolge  ihres  hydrostatischen  Druckes  als- 
bald wieder  herbei,  und  die  Bresche  schliefst  sich,  der  normale  See- 
wind aber  thürmt  von  neuem  Dünger  auf.  Dafs  in  den  gewöhnlichen 
Zeiten  an  allen  „Inlets“,  die  in  die  Küsten-Lagunen  hineinführen,  die 
Tendenz  des  Wiederzu Wachsens  obwaltet,  ist  eine  bekannte  Thatsache, 
und  aus  diesem  Grunde  ist  beinahe  kein  einziger  derselben  dauernd 
zur  Durchfahrt  für  gröfsere  Seeschiffe  zu  gebrauchen,  wie  denn  der 
nordamerikanische  Süden  im  Gegensätze  zu  dem  Norden  deshalb  auch 
mit  Seehäfen  ersten  Ranges  sehr  stiefmütterlich  ausgestattet  ist. 

Ein  weiterer  Umstand,  der  dem  Meere  seine  Zerstörungsarbeit 
entlang  der  hier  in  Frage  stehenden  südlichen  Küstenstrecke  Nord- 
amerikas wesentlich  erschwert,  liegt  darin,  dafs  die  Dünenbildung 
daselbst  in  einem  viel  höheren  Mafse  erfolgt,  als  im  Norden.  Je 
weiter  man  an  der  Küste  südlich  geht,  desto  mehr  tritt  ja  der  Seewind 
als  die  vorherrschende  Luftströmung  auf,  und  besonders  an  der  Ost- 
seite von  Florida  sowie  auch  an  der  Ostseite  von  Texas  und  Mexiko 
häuft  der  Passatwind  Dünenwälle  von  bedeutender  Höhe  und  Mächtig- 
keit auf,  ja  er  treibt  den  Flugsand  dieser  Dünen  BOgar  vielfach  weit 
hinein  in  das  Binnenland,  so  dafs  es  kaum  einem  Zweifel  unterliegen 
kann,  dafs  die  mexikanischen  Medanos  ebenso  wie  die  mittolfloridanischen 
Sandebenen  und  Sandhügelgegenden  zu  einem  grofsen  Theile  hierdurch 
entstanden  sind.  In  Virginia  stofsen  wir  hie  und  da  bereits  auf  Dünen 
von  30  m Höhe,  und  in  Florida  und  Mexiko  sind  solche  von  40  m 
Höhe  nicht  selten. 

Endlich  ist  unter  dem  Einflüsse  der  tropischen  und  halbtropischen 
Regen  die  Strandflora  an  den  südlichen  Küsten  Nordamerikas  eine 
außerordentlich  üppige,  und  das  tiefgehende  und  weitverzweigte 
Wurzelwerk  dieser  Flora,  das  auf  weiten  Strecken  ein  eng  ver- 
flochtenes Netz  bildet,  hält  sowohl  die  Flufsalluvionen  als  auch  den 
Dünensand  in  sehr  wirksamer  Weise  zusammen,  so  dafs  auch  die 
wildesten  Wogen,  welche  dagegen  anstürmen,  immer  nur  vergleichs- 
weise geringfügige  Stücke  davon  loszureifsen  vermögen.  Wer  die 


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spärliohc  Dünen*  und  Marschen  Vegetation  des  europäischen  und 
amerikanischen  Nordens  anzuschauen  gewöhnt  ist,  der  findet  sich 
von  den  undurchdringlichen  Palmetto-  und  Opuntiendickichten,  die 
auf  den  floridanischen  Dünen  wuchern,  wunderbar  überrascht,  und 
nicht  minder  auch  von  dem  Wüchse  der  Taxodien  und  Mangroven  in 
den  tiefergelegenen  Küstensümpfen  dieser  Gegend. 

Die  Küstenwehr,  mit  welcher  der  nordamerikanische  Süden  aus- 
gestattet ist,  steht  also  bei  näherer  Betrachtung  derjenigen  des  Nordens 
an  Stattlichkcit  durchaus  nicht  sehr  nach,  und  was  die  Aggression  in 
dem  Kampfe  zwischen  Land  und  Meer  angeht,  so  erscheint  der  Süden 
dem  Norden  sogar  weit  überlegen.  Die  Musohelbänke,  welche  sich  der 
Küste  entlang  ziehen,  dienen  dabei  als  eine  Art  wichtiger  Vorwerke. 

Die  Höhe  der  Gezeiten  ist  an  der  offenen  atlantischen  Küste  im 
Süden  nicht  beträchtlicher  als  im  Norden,  und  an  der  Küste  des 
mexikanischen  Golfes  ist  sie  sehr  viel  geringer. 

Betrachtet  man  die  Wirkungen  der  Meereserosion  an  der  süd- 
lichen Küste  im  einzelnen,  so  ergiebt  sich  nichtsdestoweniger  auch 
für  sie  eine  schlimme  Verlustliste  auf  Seiten  des  Landes.  Auf  weiten 
Strecken  scheint  die  eifrige  Hauthätigkeit  der  Ströme  thatsächlich  nur 
dazu  zu  dienen,  dem  Meere  immer  neue  Beute  zum  Versohlingen  zu 
liefern. 

Als  wahrhaft  erschreckend  erweist  sich  die  fortschreitende  Zer- 
störung des  Landes  durch  die  See  namentlich  an  der  Küste  von  New 
Jersey,  wo  in  den  vielbesuchten  Sommerfrischen  Long  Brauch,  Asbury 
Park,  Barneyat  City,  Atlantic  City  etc.  beinahe  kein  Jahr  vergeht,  in 
dem  nicht  eine  ganze  Anzahl  von  Cottages  samt  dem  Baugrunde,  auf 
dem  sie  stehen,  von  den  Wogen  verschlungen  würde,  und  wo  die 
Vergleiche  älterer  und  neuerer  Küstenaufnahmen  für  Long  Beach  ein 
Zurückweichen  des  Landes  um  5 m im  Jahre,  und  für  Kap  May  um 
3 m ergeben.  In  der  Gogend  von  Little  Egg  Harbour  war  allerdings 
auch  an  der  Küste  von  New  Jersey  ein  Wachsthum  des  Landes  in  die 
See  zu  verzeichnen,  aber  der  betreffende  Gewinn  erscheint  gegenüber 
den  weiten  Strecken,  die  im  Verlaufe  weniger  Jahrzehnte  verloren  ge- 
gangen sind,  als  ein  äufserst  geringfügiger. 

Aehnlich  verheerend  wie  an  der  Küste  von  New  Jersey  treten 
die  Brandungswogen  der  See  auch  an  der  Küste  von  Westflorida, 
Alabama,  Mississippi,  Louisiana  und  Texas  auf,  und  auch  hier  dürfte 
die  phänomenale  Sedimentation  des  Mississippi  möglicherweise  nicht 
hinreichen,  um  die  Verluste  dos  Landes  quitt  zu  machen.  Am  10.  August 
1856  wurde  hier  die  Insel  Last  Island  vor  der  Mississippi-Mündung 


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samt  der  darauf  befindlichen  Sommerfrische  und  der  Mehrzahl  ihrer 
Bewohner  und  Besucher  in  einem  einzigen  Anstürme  von  der  See  Ver- 
sohlungen, die  Insol  Grand  Terre  und  das  auf  ihr  erbaute  Fort  unter- 
liegt einer  deutlich  sichtbaren  und  rasch  fortschreitenden  Unterwasohung, 
der  Stadt  Pasoagoula  will  es  trotz  umfassender  Faschinenanlagen  nicht 
gelingen,  ein  gleiches  Schicksal  von  sich  abzuwehren,  Galveston,  India- 
nola  und  zahlreiche  andere  Küstenplätze  sehen  sich  fast  bei  jedem 
„Hurricane“  auf  das  härteste  von  der  Sturmlluth  bedroht,  Leuchtthurm- 
reste und  andere  Bauten,  die  einst  auf  dem  festen  Lande  errichtet 
wurden,  ragen  heute  mitten  aus  dem  Wasser  heraus,  und  an  hundert 
anderen  Punkten,  die  praktisch  weniger  bedeutsam  sind  und  daher 
nicht  so  aufmerksam  beobachtet  werden,  deuten  untergegangene  Wiesen 
und  Wälder  die  in  jüngster  Zeit  vor  sich  gegangenen  Zerstörungen  an. 
Dafs  der  gröfste  Theil  des  von  dem  Mississippi  unmittelbar  vor  seinen 
Mündungen  aufgeschütteten  Schlamm-  und  Sandbodens  ohne  weiteres 
von  dem  Meere  verschlungen  und  in  die  Tiefe  hinabgerissen  wird,  läfst 
sich  übrigens  auch  aus  der  schmächtigen  Gestalt  seines  Deltas  schliefsen, 
sowie  aus  der  Thatsaclie,  dafs  dasselbe  an  seiner  Aufsenseite  allent- 
halben in  Fetzen  zerrissen  erscheint.  Und  was  die  mehr  oder  minder 
rechtwinkelig  zu  dem  allgemeinen  Küstenverläufe  ins  Land  eingreifenden 
Buchten  betrifft  — die  Bucht  von  Galveston,  von  Sabine,  von  Mobile, 
von  Pensacola,  von  St.  Marks,  von  Tampa,  von  Charlotte  etc.  — , so 
nehmen  an  der  Zusammensetzung  der  Ufer  derselben  keineswegs  allein 
recente  geologische  Bildungen  theil,  sondern  an  zahlreichen  Punkten 
stehen  ältere,  der  Tertiärzeit  angehörige  Bildungen  zu  Tage,  auf  denen 
jene  jüngeren  aufgelagert  sind,  und  das  Nagen  und  Wühlen  der  Meeres- 
brandung betrifft  daselbst  nicht  blos  die  alluvialen  Marschen  und  Dünen, 
sondern  auch  den  anstehenden  älteren  Fels,  um  so  mehr  als  derselbe 
in  dem  halbtropischen  Klima  allenthalben  stark  verwittert  ist.  Die 
Annahme,  dafs  es  sich  bei  diesen  Buchten  um  in  Verlandung  begriffene 
Meerestheile  handle,  erweist  sich  also  bei  näherem  Hinschauen  als  eine 
durchaus  irrige,  und  wenn  irgendwo  entlang  der  südlichen  Küste,  so 
erscheint  gerade  in  ihnen  das  nasse  Element  als  der  siegreich  Vor- 
dringende von  den  beiden  Kämpfern. 

Betreffs  der  Küstenstrecke  zwischen  dem  Kap  May  und  der 
Mündung  des  St.  Johns  River  liegen  wenig  exakte  Beobachtungen 
über  die  Wirkungen  der  Meereserosion  vor,  jedoch  weist  schon  Lyell 
darauf  hin,  dafs  die  Cockspur-Insel,  vor  der  Savannah-Mündung,  sowie 
auch  andere  Theile  der  Küste  in  der  Nachbarschaft,  einer  fortschreitenden 
Zerstörung  durch  die  See  unterliegen.  Im  Jahre  1846  wurde  hier  der 


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Hatteras-Inlet  von  der  Sturraflutli  in  die  Nehrung  vor  dem  Pamplioo* 
Sunde  hineingerissen,  und  derselbe  hat  sich  seither  nicht  wieder  ge- 
schlossen; vor  dem  Altamaha-Flusse  in  Georgia  sowie  auch  vor  dem 
Little-River  und  bei  der  Wadmalaw-Insel  in  Südkarolina  bemerkt  man 
deutliche  Spuren  von  untergegangenen  Kiefern-,  Eichen-  und  Cypressen- 
wäldern;  die  Pflanzer  dieser  Gegend  klagen  über  immer  schlimmer 
werdende  Salzwasser-Ueberfluthungen  der  auf  den  sogenannten  Sea- 
lslands gelegenen  Reisfelder,  und  die  ganze  Küste  der  Long  Bay, 
zwischen  Kap  Fear  und  Kap  Roman,  ist  im  beständigen  Zurückweichen 
begriffen.  Und  was  die  weiten  Buchten  der  Delaware-  und  Chesapeake- 
Bay  sowie  auch  den  Albemarle-Sund  und  die  inneren  Theile  des 
Pamplico- Sundes  betrifft,  so  gilt  von  ihnen  dasselbe  wie  von  den 
Buchten  an  der  nördlichen  und  östlichen  Golfküste:  der  geologische 
Bau  ihrer  Umrandung  zwingt  zu  dem  Schlüsse,  dafs  sie  Thäler  des 
Festlandes  sind,  in  welche  die  See  erst  vor  verhiiltnifsmäfsig  kurzer 
Zeit  eingedrungen  ist  — „ertrunkene  Flüsse“,  wie  man  nioht  un- 
bezeichnend gesagt  hat,  nicht  aber  durch  junge  Landbildungen  ab- 
gedämmte einstige  Meerestheile.®) 

Angesichts  der  Thatsachc,  dafs  auch  in  den  innersten  Winkeln 
des  Pamplico-Sundes  die  Unterwaschung  der  tniocänen  und  pliocänen 
Mergelschichten  durch  die  Gezeiten  in  sehr  lebhafter  Weise  vor  sich 
geht,1)  erscheint  sogar  die  Frage  gerechtfertigt,  ob  nicht  die  aus- 
gedehnten Alluvionen  der  karolinischen  und  georgianischen  Sea-Islands 
und  „Swamps“  im  Grunde  genommen  ganz  ephemere  Bildungen  seien 
und  ob  dieselben  nicht  im  Laufe  der  Zeiten  mit  der  älteren  Grundlage, 
auf  der  sie  ruhen,  hinabsinken  müssen  in  die  Tiefe.  Zu  behaupten, 
dafs  der  Gewinn  des  Landes  an  der  betreffenden  Küstenstrecke  ein 
unbestreitbarer  und  endgültiger  sei,  wäre  wohl  in  jedem  Falle  voreilig. 

*)  Vergl.  \V.  J.  Mc.  Qee,  Encroachments  of  the  Sea  („Forum“  1890, 
S.  442). 

’)  Vergl.  W.  C.  Kerrs  Report  of  the  Geological  Survey  of  North  Carolina, 
Vol.  I,  S.  200. 

(Schiufa  folgt.) 


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(fef 


Ueber  die  gebirgsbildenden  Kräfte.1) 

Von  Dr.  P.  Schwalm. 


- j/;wei  Kräfte  sind  es  vor  allem,  welche  die  stetigen  Veränderungen 
cvrjj^  der  leblosen  Welt  bedingen,  aus  deren  Wechselwirkung  die 
Gestaltung  der  Erdoberfläche  hervorgegangen  ist:  das  Feuer 
und  das  Wasser. 

Alle  Kosmogonien  sind  von  diesen  Grundelementen  ausgegangen, 
aber  nicht  immer  hat  man  ihre  Bethätigung  an  dem  Aufbau  alles 
Irdischen  in  gleichem  Mafse  gewürdigt 

Die  griechischen  Philosophen  sahen  ausschliefslich  in  dem  einen 
oder  andern  Elemente  den  Urquell  alles  Werdens  und  Entstehens,  und 
ihre  Lehren  fanden  einen  mächtigen  Wiederhall  in  dem  grofsen  wissen- 
schaftlichen Streite,  der  zwischen  den  Anhängern  der  vulkanistischen 
und  neptunistischon  Weltanschauung  nooh  im  vorigen  Jahrhundert 
entbrannte. 

Heute  freilich  hat  die  Wissenschaft  diesen  einseitigen  Standpunkt 
längst  aufgegeben  und  schreibt  jedem  dieser  beiden  mächtigen  Agentien 
ein  gleiches  Verdienst  an  der  Schöpfung  alles  Irdischen  zu. 

Wohl  nirgends  tritt  uns  die  beständige  Wechselwirkung  zwischen 
der  schaffenden  Macht  des  Feuers  und  der  nicht  minder  rastlos  thätigen, 
vernichtenden  Macht  des  rinnenden  Tropfens  deutlicher  vor  Augen,  als 
bei  Betrachtung  jener  gewaltigen  Gebirgsmassen,  welche  die  Oberfläche 
unseres  Weltkörpers  schmücken. 

Einst,  vor  Aeonen  von  Jahren  aus  dem  Schoofse  der  Erde  ent- 
sprungen, waren  die  Gebirge  unförmliche  Modellblöcke,  gigantische 
Schöpfungen  einer  erregten  Unterwelt,  die  nichts  mit  der  Schönheit 
ihrer  heutigen  Gestaltung  gemein  hatten.  Erst  der  rinnende  Tropfen 
hat  sich  betheiligen  müssen,  um  die  lieblichen  Thäler,  die  schroffen 
Felsschluchten  und  schlanken  Berggipfel  zu  schaffen,  ähnlich  wie  unter 
dem  Hammer  und  Meifsel  des  Künstlers  aus  dem  Modellblock  erst  ein 
Bildwerk  mit  anmuthigon  Formen  hervorgeht. 


’)  Aus  einem  im  Wissenschaftlichen  Theater  der  Urania  gehaltenen  Vortrag. 


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Wo  aber  zwei  gleich  mächtige  Naturkräfte  sich  entgegenarbeiten, 
ihre  Schöpfungen  vernichten  und  wieder  ergänzen,  da  war  auch  dom 
ergründenden  menschlichen  Geiste  kein  unmittelbarer  Mafsstab  ge- 
boten, um  die  Wirkungssphäre  der  einen  oder  andern  Kraft  abschätzen 
zu  können;  und  so  erscheint  es  kaum  ■Wunderbar,  dafs  man  in  den  ersten 
Zeiten  der  Erstehung  einer  wissenschaftlichen  Geologie,  in  der  zweiten 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts,  sich  von  der  Allmacht  des  Wassers 
oder  des  Feuers  bei  Betrachtungen  über  die  Aufrichtung  der  Gebirge 
nicht  losmachen  konnte. 

Der  grofse  Meister,  dem  die  wissenschaftliche  Geologie  ihr  Be- 
stehen verdankt.  Gottlob  Abraham  Werner,  vertrat  noch  den  Stand- 
punkt, die  Gebirge  seien  lediglich  das  Erzeugnis  des  fliefsenden 
Wassers.  Er  mufste  in  strenger  Konsequenz  seiner  neptunistischen 
Lehre  annehmen,  dafs  das  Wasser  in  den  verschiedenen  Abschnitten  der 
Erdgeschichte  in  unerklärlicher  Weise  über  die  Festländer  angestiegen 
sei,  sich  darüber  hinweggewälzt  habe  und  endlich  wieder  gesunken  sei, 
und  dafs  alle  Gebirge  ihre  Entstehung  und  Form  lediglich  der  aus- 
nagenden, ausspülenden  Wirkung  des  Wassers  verdanken,  wie  dies  ja 
auch  bei  den  Erosionsgebirgen,  z.  B.  der  sächsischen  Schweiz,  dem 
Heimathlande  Werners,  der  Fall  gewesen  ist. 

Im  Gegensätze  zu  diesem  schroffen  Neptunismus  Werners  hatte 
sich  dann  später  eine  andere,  fast  ebenso  extreme  Auffassung  unter 
den  Erdkundigen  verbreitet,  welche  der  Eigenwärme  unseres  Welt- 
körpers  und  den  geschmolzenen  Massen  der  Tiefe  einen  überaus  weit- 
gehenden Einflufs  auf  alle  irdischen  Vorgänge  zuschrieb. 

Die  „Plutonisten“,  die  Anhänger  dieser  Richtung,  sahen  in  dem 
Empordrängen  feuerflüssiger  Gesteine  die  Ursache  der  Gebirgsbildung, 
und  es  entwickelte  sich,  getragen  von  der  Autorität  der  ersten 
wissenschaftlichen  Namen,  die  Ansicht,  dafs  die  Gebirge  durch  das 
Empordrängen  von  starren,  halbstarren  oder  geschmolzenen  Eruptiv- 
massen aus  den  Tiefen  der  Erde  oder  selbst  durch  den  Druck  auf- 
steigender Dämpfe  gegen  die  Erdrinde  gebildet  worden  seien. 

Es  war  dies  die  Zeit,  wo  die  Erhebungstheorie  der  vidkanischen 
Krater,  wie  sie  von  Hutton,  Leopold  von  Buoh,  Alexander  von 
Humboldt  und  Elie  de  Beaumont  ausgebildet  wurde,  im  höchsten  An- 
sehen stand.  Aehnlich  wie  die  Kraterwälle  der  Vulkane  infolge  einer 
blasen-  oder  kuppelförmigen  Auftreibung  des  Erdreichs  durch  den  Druck 
empordrängeuder  Gluthmassen  entstanden  sein  sollten,  so  dachte  man 
auch,  sei  die  Aufrichtung  der  Gebirgsketten  durch  eine  von  unten  nach 
oben  vordringende  Masse  erfolgt.  Die  Kettengebirge  wurden  als  lineare 


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117 


Erhebungen  mit  den  Vulkanen  als  punktförmige  Erhebungen  ver- 
glichen. Dem  vulkanischen  Schlote  entsprach  hiernach  beim  Ketten- 
gebirge eine  lange  Spalte,  die  mit  Graniten,  Gneifsen  und  ähnlichen 
Eruptivgesteinen  ausgefüllt  sein  sollte,  und  wo  derartige  Eruptivmassen 
nicht  auffindbar  waren,  wio  z.  B.  im  Juragebirge,  da  glaubte  man,  dafs 
sie  nioht  zum  Durchbruch  an  die  Oberfläche  gelangt  seien,  siohor  aber 
in  einiger  Tiefe  vorhanden  wären. 

Diese  extreme  Anwendung  einer  für  bestimmte  Fälle  wohl  zu- 
treffenden Lehre  trug  selbst  dazu  bei,  die  Schatten  des  Zweifels  über 
die  ganze  Theorie  zu  werfen  und  die  Forschung  auf  andere  Bahnen 
zu  drängen.  Die  eingehende  Untersuchung  ergab  wichtige  Beweise 
gegen  die  vulkanische  Erhebungslehre.  Der  Nachweis  wurde  geliefert 
und  tausendmal  bestätigt  gefunden,  dafs  die  Vulkane  Aufschüttungs- 
kegel seien,  dafs  die  Eruptivmassen  wohl  durch  Spalten  empordringen, 
nicht  aber  die  Schichten  der  Erdrinde  aufrichten  können,  und  dars  die 
Hebung  des  Untergrundes  eine  Erscheinung  ist,  die  niemals  ein  Gebirge 
nach  Art  der  Kettengebirge  zu  bilden  vermag.  Denn  wären  in  der 
That  die  Oberflächenformen  unseres  Weltkörpers  durch  eine  von  unten 
nach  oben  vordringende  Masse,  also  durch  vertikale  Druckkräfte  er- 
zeugt, so  müfsten  ja  in  dieser  Weise  stets  symmetrisch  gebaute  Gebirge 
entstehen,  das  heifst  Gebirge,  welcho  von  ihrer  Mittellinie  aus  nach 
beiden  Seiten  hin  annähernd  gleiche  Schichtenfolge  zeigen. 

Von  einer  solchen  Regolmäfsigkeit  im  Aufbau  zeigen  aber  die 
meisten  großen  Kettengebirge,  wie  die  Alpen,  die  Apenninen,  das 
Juragebirge,  die  Alleghanies  in  Amerika  keine  Spur;  sie  weisen  viel- 
mehr deutlich  darauf  hin,  dafs  andere  als  vertikal  wirkende  Kräfte 
sich  an  ihrer  Aufrichtung  bethätigt  haben  müssen. 

Dies  möge  genügen,  um  die  Gründe  verständlich  zu  machen, 
welche  zur  Aufgabe  der  alten  plutonistischen  Erhebungstheorie  und  der 
Durchbruchshypothese  Anlafs  gaben. 

Als  einen  grofsen  Fortschritt  der  neueren  Wissenschaft  gegen- 
über allen  älteren  Spekulationen  mufs  man  zunächst  die  Sonderung 
der  Formgebilde  unserer  Erdoberfläche  betrachten.  Denn  wenn  man 
auch  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauchs  unter  einem  Gebirge  schlecht- 
weg eine  Gruppe  mehr  oder  weniger  schroffer  Bodenerhebungen  ver- 
steht, so  schliefst  doch  eine  solche  Erklärung  vom  wissenschaftlichen 
Standpunkte  aus  sehr  verschiedene  Dinge  in  sich,  die  ihrer  Entstehung 
nach  nur  sehr  ■wenig  oder  garnichts  mit  einander  zu  thun  haben. 
Nach  ihrer  Enstehung  nämlich  mufs  der  Geologe  vier  wesentlich  ver- 
schiedene Gruppen  von  Erhebungsformen  getrennt  halten.  Es  sind  dies : 


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1.  die  Faltungsgebirge  und  Massengebirge, 

2.  die  Schollengebirge, 

3.  die  Vulkane  und  Kuppengebirge, 

wozu  endlioh  noch 

4.  die  Plateaugebirge 
kommen.2) 

Die  Falten-  oder  Kettengebirge  sind  unstreitig  die  merkwürdigsten 
und  vornehmsten  Oberüächenformen  unseres  Weltkörpers  und  für  die 
Erkenntnifs  des  Gebirgsbaus  im  allgemeinen  auch  die  wichtigsten. 
Besonders  durch  Beobachtungen  in  dem  grofsen  Faltensystem  der  Alpen 
und  der  Ketten  Nordamerikas  entwickelte  sich  eine  moderne  Theorie 
ihres  Aufbaus,  deren  mechanische  Grundlagen  hier  kurz  vorgeführt 
werden  sollen. 

Es  ist  hierzu  nöthig,  dafs  zunächst  eine  Darstellung  des  inneren 
Gebirgsbaues  gegeben  wird.  Der  Gebirgsbau  ergiebt  sich  aus  der  sorg- 
fältigen Beobachtung  geologischer  Aufschlüsse.  Solche  geologischen 
Aufschlüsse  gewährt  jede  Stelle,  an  der  man  das  an  der  Zusammen- 
setzung einer  Gegend  theilnehmende  Gestein  beobachten  kann.  Die 
Oberfläche  des  Bodens,  wo  sie  nicht  aus  dicker  Ackerkrume  besteht, 
ein  Graben,  ein  Steinbruch,  die  Seiten  eines  Flußbettes,  die  Runsen 
und  Tobel  in  Gebirgen,  jeder  anstehende  Fels,  und  jedes  an  die  Ober- 
fläche kommende  Schichtengestein,  geben  mehr  oder  weniger  voll- 
kommene Aufschlüsse,  die  uns  über  die  innere  Anordnung  der  Gesteins- 
schichten, überVerlauf  und  Beschaffenheit  derselben  unterrichten  können. 

Die  Mehrzahl  der  Gesteine,  welche  ein  Gebirge  zusammonsetzen, 
z.  B.  die  Schieferthone,  Sandsteine  und  Kalksteine  gehören  bekanntlich 
zu  den  Sedimentgesteinen,  deren  Wesen  hauptsächlich  darin  besteht, 
dafs  sie  in  Schichten  abgelagert  worden  sind.  Gebildet  haben  sich  diese 
Sedimentärschichten  aus  den  Niederschlägen  der  Urmeere,  indem  sie 
auf  dem  Grunde  derselben  allmählich  zu  festen  Gesteinsbänken  er- 
härteten. 

Wenn  man  sich  nun  in  einen  Steinbruoh  begiebt,  um  die  Lagerungs- 
verhältnisse der  Schichten  zu  studiren,  z.  B.  naoh  den  Rüdersdorfer 
Kalksteingruben,  so  findet  man,  dafs  die  Schichten  stellenweise  wage- 
recht  liegen,  stellenweise  dagegen  nach  der  Seite  hin  geschoben,  aufge- 
thürmt,  zerknickt  und  zerquetscht  worden  sind.  Ja  in  manchen  Gegenden 

*)  Ein  Schollengebirgo  ist  z.  B.  die  Gneisplatte  des  Erzgebirges;  ein 
Kuppengebirge  das  Leitmeritzer  Mittelgebirge  in  Böhmen,  die  Vulkano  der 
Auvergne  uud  der  Eifel;  ein  Plateaugebirge  das  Quadersandstein-Gebirge 
Böhmens  und  Sachsens,  die  schwäbisohe  Alp  u-  s.  w. 


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119 


findet  man  wohl  Schichten,  welche  sich  so  aufgerichtet  haben,  dafs  sie 
auf  dem  Kopfo  stehen,  wie  eino  Reihe  Bücher  auf  einem  Brette. 

Da  sie  nun  aus  Sedimenten  bestehen,  die  sich  nur  in  einer  flachen 
oder  ganz  sanft  abfallenden  Gegend  ansammeln  konnten,  so  erkennt  man 
sofort,  dafs  diese  Schichten  sich  nicht  ursprünglich  in  einer  solch  ver- 
schobenen Lage  befunden  haben,  sondern  erst  durch  Kräfte,  die 
sioh  in  der  Erdrinde  bethätigten,  in  ihre  jetzige  Stellung  gebracht 
worden  sind. 

Aehnliche  Schichtenstörungen,  nur  in  weit  großartigerem  Mars- 
stabe hervortretend,  findet  man  in  allen  Gebirgen.  Hier  sind  es  die 
Faltungen,  Knickungen  und  Verwerfungen,  welche  den  inneren  Bau 
derselben  beherrschen. 


Fig.  1.  Einfache«  Experiment  nr  Erklärung  doi  Faltenwürfe«. 


Wie  können  nun  aber  die  Kräfte  beschaffen  gewesen  sein,  welche 
so  riesige  Gesteinsschichten  in  Falten  warfen? 

Um  dies  zu  zeigen,  stelle  man  sich  für  einen  Augenblick 
vor,  die  Erdrinde  bestehe  aus  regelmäßigen  Gesteinslagen,  etwa  wie 
die  Häute  einer  Zwiebel,  wie  dies  ja  auch  bei  der  ursprünglichen  Ab- 
lagerung der  Schichten  der  Fall  gewesen  sein  muß. 

Es  werdo  nun,  wie  die  Fig.  1 es  zeigt,  eino  Anzahl  verschieden 
gefärbter  Tuchstoffe  in  viereckigen  Stücken  auf  einon  Tisch  gelegt; 
sie  sollen  die  verschiedenen  Schichten  der  Erdrindo  darstellen  und 
ebenso  wagerecht  wie  diese  übereinander  liegen.  Wenn  man  nun 
die  Tuchstreifen  mit  Hülfe  zweier  Bretter  oder  Bücher  von  beiden 


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Seiten  zusammenpreßt,  wie  dies  in  der  Figur  dargestellt  ist,  so  beob- 
achtet man  sofort,  dafs  die  Streifen  in  regelmäßige  Falten  geworfen 
werden.  Während  der  Bewegrungen,  durch  welche  die  Schichten  ge- 
hoben worden  sind,  sind  in  den  Tüchern  ähnliche  Faltungen  ent- 
standen, wie  man  sie  in  einem  Steinbruch  oder  in  einer  Bergschlucht 
wahrnimmt,  dort  wo  das  Wasser  das  Innere  des  Berges  für  das  Auge 
blosgelegt  hat.  In  dieser  Weise  hat  man  die  Entstehung  des  Falten- 
wurfs durch  ein  einfaches  Experiment  klar  zu  legen  versucht3) 

Dergleichen  Experimente  sind  natürlich  auch  in  mehr  vollkommener 
Weise  in  den  Versucbsräumen  der  Geologen  angestellt  worden.  Das 
Bild  (Fig.  2)  soll  die  Resultate  eines  hierauf  bezüglichen  Versuches 
veranschaulichen,  welcher  von  dem  kürzlich  verstorbenen  Genfer 
Geologen  Alphonse  Favre  gemacht  worden  ist. 

Favre  bediente  sich  einer  um  ein  Drittel  ihrer  Länge  aus- 
gezogenen Kautschukplatte  (Fig.  2),  auf  welcher  mehrere,  durch  versohie- 


Fig.  2.  ExperioenUlvennch  Ton  A.  Favre. 

dene  Färbung  unterscheidbare  Schichten  plastischen  Thones  ausgebreitet 
waren.  Nun  liefs  er  die  ausgezogene  Platte  sich  wiederum  auf  ihre 
ursprüngliche  Form  zusammenziehen.  Die  auflagernden  Thonschichten 
wurden  dadurch  natürlich  von  zwei  horizontal  wirkenden  Druckkräften 
zusammengedrängt,  und  eine  Folge  hiervon  war  die  Aufthürmung  eines 
kleinen  Gebirgszuges,  in  dessen  Profilo  sich  ähnliche  Faltungen  und 
Zerberstungen  erkennen  liefsen,  wie  in  den  mächtigen  Schichtenlagen 
der  großen  Kettengebirge  unseres  Erdballs. 

In  noch  größerer  Mannigfaltigkeit  sind  derartige  Versuche  von 
Daubrtse,  dem  durch  seine  Experimente  rühmlichst  bekannten  fran- 
zösischen Geologen,  ausgeführt  worden.  Daubröe  bediente  sich 
unter  anderem  eines  aufgeblähten  Kautschukballons,  der  mit  einer  wenig 

J)  Den  ersten  Experimentalversuch  Uber  das  wellenförmige  Gebogensein 
der  Gebirgsschicbten  machte  der  Engländer  James  Hall  (vergl.  Poggendorfs 
Annalen,  Bd.  37,  8.  273). 


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elastischen  Hülle  erhärteter  Gelatine  umgeben  war.  Die  durch  die  Zu- 
sammenziehung des  Ballons  in  der  schrumpfenden  Gelatine  hervor- 
gebrachten Erscheinungsformen  trugen  durchaus  analogen  Charakter 
mit  den  in  Gebirgen  beobachteten  Faltungen;  ja  noch  mehr,  man  konnte 
hinsichtlich  der  Vertheilung  und  Lage  der  Gebirgszüge  auf  einem  soloh 
kleinen,  künstlichen  Erdball  einzelne  interessante  Gesetzmäfsigk eiten 
aufdecken,  die  sich  auf  dem  Erdglobus  im  grofsen  wiederfinden. 

Was  durch  Vorführung  dieser  Experimente  klargelegt  wurde, 
das  betrifft  namentlich  die  Wirkungsweise  der  Kräfte,  durch  welche 
man  sich  die  Oberflächenformen  der  Erde  entstanden  denken  mufs. 

Die  ältere  Anschauung,  der  zufolge  ein  von  unten  nach  oben 
gerichteter  Druck  die  Gebirge  aufgethürmt  haben  soll,  liefs  eine  Er- 
klärung des  Faltungsprozesses  nicht  zu;  dagegen  gelangt  man  zu  einem 
genügenden  Verständnifs  dieser  Erscheinungen,  wenn  man  in  der  Erd- 
rinde horizontal  wirkende  Druckkräfte,  sogenannte  Schubkräfte,  als 
wirksam  annimmt,  die  ein  seitliches  Zusammenpressen  der  Erdrinden- 
theile,  wie  bei  einer  zwischen  den  Backen  eines  Schraubstockes  ein- 
gezwängten Masse,  herbeiführen. 

Mit  der  Konntnifs  der  Richtung  dieser  Kräfte  wäre  nun  schon 
etwas  gewonnen;  allein  ist  es  nun  auch  möglich,  über  den  Ursprung 
derselben  etwas  Bestimmtes  auszusagen? 

Diese  Frage  soll  uns  sofort  beschäftigen,  doch  sei  vorher  ein  an- 
derer Punkt  berührt. 

Ein  Unterschied  zwischen  den  gebogenen  Tuchschichten,  den 
Thon-  oder  Gelatineschichten  und  den  in  der  Natur  auftretenden  Gesteins- 
schichten wird  jedem  sofort  auffallcn.  Die  einen  sind  weich  und  bieg- 
sam, während  die  andern  hart  und  spröde  sind.  Man  kennt  ja  kaum 
eine  sprödere  Substanz  als  das  harte  Gestein.  Nach  unserer  Vor- 
stellung müfste  dasselbe  wohl  in  Millionen  Scherben  und  Splitter 
zermalmt  worden  sein,  ehe  es  auch  nur  die  geringste  Biegung  er- 
litten hätte. 

Man  könnte  wohl  vermuthcn,  dafs  die  Biegungen  zu  einer  Zeit 
vor  sich  gegangen  seien,  wo  das  Gestein  noch  unter  der  Macht  des 
Feuers  gestanden  hatte,  wo  es  noch  nicht  ganz  so  fest  und  orhärtet 
wie  jetzt  gewesen  ist.  Allein,  wie  wäre  es  unter  solchen  Umständen 
denkbar,  dafs  sich  im  Thonschiefer  gefältelte  und  gestreckte  Versteine- 
rungen zeigen?  Wie  könnten  sich  solche  Versteinerungen  in  der 
Gluthhitze  erhalten  haben?  Diese  Schwierigkeiten  führten  zu  der  erst 
neuerdings,  namentlich  von  dem  Schweizer  Geologen  Prof.  Albert 
Heim  ausgesprochenen  Meinung,  dafs  die  bei  gewöhnlichen  Verhält- 

Bimrael  und  Erde.  1862.  V.  S.  9 


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niasen  an  der  Erdoberfläche  starren  Gesteine  unter  dem  Druck  eines 
etwa  3000  m auflastenden  Schichtenmaterials  in  einen  plastischen  Zu- 
stand übergehen,  und  dann  ohne  Bruch  gebogen  werden  könnten.4) 

Zweifellos  hat  dieser  Gedanke  vieles  für  sich,  was  ihn  richtig 
und  annehmbar  erscheinen  läfst.  So  fand  man  Stüoke  von  Thon- 
schiefer  und  Jurakalk  vor  (Fig.  3),  welohe  einen  zerrissenen,  fast  auf 
das  dreifache  seiner  ursprünglichen  Länge  auseinandergezerrten,  ver- 
steinerten Belemniten  einschliefsen. 

Ein  sonst  ganz  gleichartig  erscheinendes  Gestein  verräth  also 
durch  diesen  organischen  Einsohlufs  eine  ganz  bedeutende  Streckung, 
was  doch  wohl  nur  durch  einen  gewissen  Grad  von  Plastizität  selbst 
der  sprödesten  Gesteinsmassen  Erklärung  finden  dürfte. 

Ueberhaupt  ist  man  bezüglich  der  Plastizität  und  Nachgiebigkeit 
selbst  der  festesten  Materialien  zu  ganz  erstaunlichen  Ergebnissen 


Fig.  11.  Gestreckter  Belemnit  im  Jurakalk. 


gelangt,  seit  die  Herstellung  aufserordentlich  grofser  Druckkräfte  dank 
der  vorgeschrittenen  Teohnik  keine  Schwierigkeiten  mehr  macht 
Es  sei  nur  erwähnt,  dafs  französische  und  deutsche  Physiker  gezeigt 
haben,  wie  unter  Aufwendung  von  besonders  starken  Druokkräften 
alle  Metalle  plastisch  werden  und  in  den  Zustand  des  Fliefsens  gc- 
rathen;  bei  Gesteinen  freilich  konnte  man  dies  noch  nicht  so  unmittel- 
bar nachweisen.5)  Jedenfalls  ist  es  aber  nioht  ausgeschlossen,  dafs  eine 

*)  A.  Heim  „Untersuchungen  über  den  Mechanismus  der  Gebirgsbildung“ . 
Basel  1878.  Und  von  demselben  Verfasser:  „Ueber  Stauung  und  Faltung  der 
Erdrinde“.  Basel  1878. 

fi)  Die  Untersuchungen  von  Treska  und  Kohlrausch  über  das  Fliehen 
der  Metalle  unter  starkem  Druck  sind  in  allorjüngster  Zeit  auch  von  Kick 
auf  spröde  Mineralien,  wie  Gips,  Steinsalz,  Kalk  u.  s.  w.  ausgedehnt  worden. 
Bei  gehörig  gesteigertem  Druck  konnten  auch  diese  Substanzen  zum  Fliehen 
gebracht  werden,  zeigten  sich  also  vollkommen  plastisch  im  Sinne  Heims. 

Das  Mannesmaunsche  Walz  verfahren  zeigt  übrigens,  wie  es  möglich  ist, 
Metalle  allein  durch  Druck  ohne  Schmelzung  bruchlos  in  beliebige  Formen 
zu  bringen. 


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Art  Metamorphismus,  eine  chemisebe  Umwandlung  der  Gesteine  unter 
starkem  Druck  eintreten  kann,  die  alle  diese  merkwürdigen  Er- 
scheinungen erklärt. 

Vielleicht  spielt  sich  in  den  Tiefen  des  Erdbodens  ein  ähnlicher 
Vorgang  ab,  wie  in  den  Eismassen  der  Gletscher,  die  bekanntlich  in 
unzählig  viele  Theilchen  durch  den  enormen  Druck  der  nachdrängenden 
Massen  zersplittert  werden,  in  diesem  zersplitterten  Zustande  sich  jeder 
Formwandlung  unterziehen  können,  biB  sie  endlich  wieder  durch  eine 
Molekulareigenschaft  des  Eises  zur  „Regelation“,  d.  h.  zur  Wiederver- 
einigung zu  einem  kompakten  Ganzen,  gelangen.6) 

Manches  deutet  auf  eine  solche  Eigenthümlichkeit  der  festen 
Gesteinsmassen  hin. 

So  hat  unter  andern  Prof.  v.  Gürabel  Proben  dor  stärkst  ge- 
bogenen Stellen  aus  scheinbar  ganz  bruchlos  gefalteten  Gesteinen 
unter  dem  Mikroskop  untersucht  und  gefunden,  dafs  dieso  Stücke, 
welche  dem  freien  Auge  ganz  unzerbrochen  erscheinen,  bei  starker 
Vergrößerung  sich  als  zu  feinem  Staub  zermalmt  und  dann  wiederum 
durch  sekundäre  Prozesse  — etwa  durch  sinternde  Wasser  — ver- 
kittet und  ausgeheilt  erweisen. 

Die  endgültige  Entscheidung  der  Frage  nach  dem  physischen 
Zustande  der  Gesteine  in  grofsen  Tiefen  — mag  diese  nun  auch  der 
Zukunft  Vorbehalten  bleiben  — kann  übrigens  an  der  Erkenntnifs, 
dafs  die  mächtigsten  Gebirgszüge  der  Erde  durch  Faltenstauung  ent- 
standen seien,  nicht  viel  ändern. 

Wie  immer  sich  noch  diese  auffällige  Erscheinung  erklären  mag, 
so  viel  ist  jedenfalls  durch  unwiderlegliche  Beobachtungen  festgestellt, 
dafs  das  sprödeste  Gestein  (Fig.  4)  — wie  Thonschiefer  und  Feuerstein 
— der  weitgehendsten  Faltung  unterworfen  gewesen  ist. 

So  sieht  man  also,  dafs  bei  der  Aufrichtung  der  Gebirgsketten 
nur  eine  Zusammenschiebung  der  oberen  Erdrindentheile  im  horizontalen 
Sinne  denkbar  ist,  die  infolge  seitlichen  Drucks  die  Schichtmassen  in 
Falten  zu  legen  vermochte.  Es  fragte  sich  nun,  wo  man  die  Quelle 
solcher  enormen  Druckkräfte  zu  suchen  hat? 

Vor  der  Behandlung  diesos  Gegenstandes  sei  es  gestattet,  daran  zu 
erinnern,  dafs  die  Erscheinungen  der  Gebirgsbildung,  so  großartig  sie 

•)  Siehe  den  Aufsatz  v.  Dr.  Stapff:  „Gebogener  Marmorpfoaten  der  Al- 
hambra zu  Granada“.  Himmel  und  Erdo,  Jabrg.  III,  S.  328.  Ueber  die  Ver- 
festigungsfähigkeit loser  Körper  durch  Druck  bat  neuerdings  Spring  Ver- 
suche angestellt.  Pulver  verschiedener  Materialien,  z.  B.  Wismutpulver,  konnte 
allein  durch  Druck  in  einen  homogenen  Wismutblock  von  reinstem  Metall- 
glanz umgeformt  werden,  ein  gewifs  sehr  merkwürdiges  Ergebnifs. 

9* 


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124 


sich  auch  dem  Marsstabe  unserer  Sinne  darstellen,  doch  in  Wahrheit 
iiufserst  geringfügig  sind  im  Vergleich  zur  Gesamtmasse  der  Erde. 
Da  der  Erddurchmesser  ungefähr  12  700  km  beträgt,  so  erreicht  der 
höchste  Berg  unseres  Globus,  der  8840  m hohe  Gaurisankar  nur  den 
1440-sten  Theil  desselben,  der  Mont-Blano  nur  den  2630-sten  Theil.  Es 
sind  dies  also  Auftreibungen  der  Erdoberfläche,  die  noch  lange  nicht 
so  bedeutend  sind,  wie  die  Runzeln  auf  der  Schale  einer  Orange. 
Ferner  mufs  man  beachten,  dafs  die  Gebirgsfaltung  ein  Vorgang  ist, 
der  nur  die  oberflächlichen  Partien  der  Erdrinde  betrifft. 

Um  nun  diesen  Faltungsprozefs  verständlich  zu  machen,  ist  man 
von  der  Vorstellung  ausgegangen,  dafs  der  Erdkern  sich  zusammen- 


Fig.  -1.  Fältelung  in  einem  Handstück  von  Dolomit 


ziehe,  die  äufseren  Rindentheile  unseres  Weltkörpers  dagegen  annähernd 
ihre  alte  Ausdehnung  behalten  und  sich  nur  infolgo  ihrer  Schwere  dem 
verminderten  Volumen  ihrer  Unterlage  anpassen  müssen.  13s  ist  ja  be- 
kannt, dafs  in  jedem  Querschnitte  eines  Gewölbes  ein  horizontaler  Schub 
vorhanden  ist,  und  dafs  ein  mächtiger  Seitendruck  auf  den  Pfeilern 
lastet,  obwohl  nur  die  senkrecht  wirkende  Last  der  Gewölbesteine 
zu  tragen  ist.  Aehnlich,  nimmt  man  an,  liege  es  auch  bei  der 
Erde.  Ihre  Rindo  mufs  sich  einst  wie  ein  geschlossenes  Gewölbe  ver- 
halten haben,  und  da  das  nach  dem  Mittelpunkt  hin  wirkende  Gewicht 
dieses  Gewölbes  in  einen  seitlichen  Horizontaldruck  umgesetzt  wurde, 
so  mufste  hierdurch  an  den  schwächsten  Rindenstcllen  oin  Auswärts- 


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weichen  in  Form  einer  Falte  eintroten,  das  heilst,  es  mufste  ein 
Gebirgszug  geschaffen  werden. 

Man  braucht  also,  um  die  Faltungsvorgänge  zu  erklären,  keine 
andere  Kraft  als  die  Schwere,  wenn  sich  nur  ein  Grund  dafür  geltend 
maohen  läfst,  dafe  den  oberflächlichen  Partien  der  Erde  die  Unterlage 
entzogen  wird,  kurz,  dafs  der  Erdkern  im  Schwinden  begriffen  ist. 

Als  physikalische  Ursache  dieses  Schwindens  wird  nun  die  all- 
mähliche Zusammenziehung  des  Erdkerns  infolge  der  Abkühlung 
unseres  Weltkörpers  herangezogen.  Unser  Weltkörper  stellt  bekanntlich 
ein  grofsartiges  Wärmereservoir  dar,  und  die  in  seinem  Innern  aufge- 
speicherte Wärmemenge  ist  wahrscheinlich  eine  Folge  der  ungeheuren 
Verdichtung,  welcher  im  Urzustände  einstmals  die  kosmischen  Nebel- 
wolken unterlagen,  als  sie  sich  zu  Himmelskörpern  zusammenballten. 
Von  diesem  eigenthümlichen  Wärmesohatz  des  Erdinnem  legt  ja  auch 
die  allerorten  gemachte  Erfahrung  der  stetigen  Temperatursteigerung 
nach  der  Tiefe  Zeugnifs  ab. 

Nun  ist  aber  unser  Erdball  von  dem  kalten  Weltenraume  um- 
geben. Es  mufs  daher  auch  ein  unablässiger  Verlust  von  Eigenwärme 
durch  Ausstrahlung  stattfinden.  Jeder  Vulkanausbruch,  jede  heifse 
Quelle  raubt  einen  Theil  dieser  Wärme,  der  wiederum  aus  den  tieferen, 
gliihendheifsen  Lagen  hergegeben  werden  mufs. 

Unter  diesen  Umständen  kann  wohl  kein  Zweifel  obwalten,  dafs 
in  der  Tiefe  durch  Verlust  von  Eigenwärme  eine  Zusammenziehung, 
ein  Schwinden  des  Erdkerns  stattfindet  — wie  dies  ja  bei  einem  jeden 
sich  abkühlenden  Körper  der  Fall  ist  — , während  in  den  oberen 
Regionen  die  Temperatur  und  somit  auch  das  Volumen  sich  gleich  bleibt. 

Diese  Ansicht,  dafs  namentlich  die  Zusammenziehung  unseres 
Weltkörpers  infolge  von  Säkularabkühlung  die  Ursache  der  gebirgs- 
bildenden  Kräfte  darstelle,  ist  in  .neuerer  Zeit  von  hervorragenden 
Geologen,  wie  Dana,  Heim,  v.  Mojsisovics  Suefs  und  anderen 
vertreten  worden,  sie  hat  auch  erst  kürzlich  eine  ausgezeichnete  Stütze 
erhalten  durch  die  mathematische  Analyse  der  Wärmevertheilung  im 
Erdball,  die  wir  den  englischen  Geophysikern  Thomson,  Darwin 
und  Davison  verdanken.') 

’)  Vorgl  den  Aufsatz:  .Zur  Thoorie  der  Gebirgskcltenbildung  infolge 
der  Säcular-Abkühlung  der  Erde'',  Himmel  und  Erde,  Jahrg.  I,  S.  370.  Man 
möchte  wohl  glauben,  dafs  die  äufscrslen  Schichten  des  Erdballs  sich  stärker 
abk&hlen  miifstcn  als  der  innere  Kern.  Allein  dies  ist  nicht  der  Fall;  auf 
Qrund  der  Thomsonsehen  Formel  (ur  die  Säkularabkühlung  der  Erde  kann 
man  nämlich  streng  beweisen,  dafs  die  Schicht  der  gröfsten  Abkühlung  nicht 


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Bis  jetzt  wurde  nur  von  den  Faltungen  gesprochen  und  deren 
Ursachen  darzulegen  versucht  An  den  Punkten,  wo  die  Erdrinde  nur 
Falten  schlug,  müssen  die  unterirdischen  Kräfte  verhältnifsmäfsig 
ruhig  gewirkt  haben.  Aber  es  giebt  auch  Stellen  — es  sind  dies 
vielleicht  die  schwächsten  der  Erdrinde  — , wo  sich  die  gebirgsbildenden 
Krallte  in  großartigem  Mafsstabe  ausgetobt  haben  und  neben  der 
Faltung  noch  eine  andere  Gruppe  geologischer  Erscheinungen,  nämlich 
die  „Verwerfungen“  schufen.  Man  versteht  hierunter  einen  gewaltigen 
Bruch  dor  Erdrinde,  zu  dessen  beiden  Seiten  sich  die  Rindentheile  ver- 
schoben haben,  wo  also  die  Schiohtenfolge  nicht  stetig,  sondern  ganz 
plötzlich  unterbrochen  wird. 

Man  geht  im  Gebirge  über  eine  solche  Spalte  oft  unbewußt  hin- 
weg, weil  sie,  mit  Humus  oder  mit  Schutttrümmern  bedeckt,  sich  der 
Wahrnehmung  entzieht  Doch  mag  es  wunderbar  erscheinen,  daß  sich 
unter  dem  Boden  Deutschlands  Brüohe  vorfinden,  wo  die  Verrückung 
der  beiderseitigen  Erdschollen  oft  mehrere  Kilometer  erreicht  Mit 
Recht  kann  der  Geologe  daher  behaupten,  daß  sich  unsere  Erde  in 
einem  wahren  Zustande  der  Zerstückelung  befinde,  und  eine  gewisse 
Furcht  muß  uns  befallen,  daß  wir  auf  einem  Boden  wandeln,  der 
allerorten  das  Zeugnifs  seiner  Sohwäche  kundgiebt 

Auch  diese  Verwerfungen  sind  ein  sehr  wesentliches  Moment  bei  der 
Aufrichtung  von  Gebirgen  gewesen.  Ihnen  verdanken  die  sogenannten 
Schollengebirge  ihre  Existenz,  wie  z.  B.  hier  in  Deutschland  der  Schwarz- 
wald und  die  Vogesen.  Der  Schwarzwald  und  die  Vogesen  sind  lediglich 
stehen  gebliebene  Pfeiler,  sogenannte  Horste,  die  sich  in  ursprünglicher 
Lage  erhalten  haben,  während  alles  Uebrige  in  der  Umgebung  an  den 
Bruchstellen  in  die  Tiefe  gesunken  ist 

Nun  aber  soll  eine  Frage  berührt  werden,  die  vielleicht  am 
meisten  interessiren  dürfte,  nämlich  die  Frage,  ob  auch  jetzt  noch  die 
Kräfte  thätig  sind,  welche  in  der  Vorzeit  Gebirgo  aufgethürmt  haben. 

Ueber  ein  derartiges  Ereigniß  liegen  allerdings  historisch  ver- 
bürgte Nachrichten  nicht  vor;  keine  Gebirgskette  ist  in  naohtertiärer 
Zeit  entstanden.  Andererseits  wissen  wir  aber,  daß  unser  Erdball 
nooh  jetzt  Wärme  in  den  kalton  Weltenraum  aussendet,  und  wo  die 
Ursachen  fortdauern,  da  müssen  ja  auch  die  Wirkungen  die  näm- 
lichen sein. 

Man  muß  deshalb  sehr  wohl  annehmen,  daß  die  Faltenbildung  der 
Erdrinde  noch  jetzt  im  Fortgange  begriffen  ist,  und  es  würden  sich  auch 

an  der  Oberfläche,  sondern  in  einer  gewissen  Tiefe  unter  derselben  liegen 
mufs,  wie  dies  die  Faltungstheorie  verlangt. 


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127 

sicher  die  langsam  fortschreitenden  Bewegungen  der  Berge  nachweisen 
lassen,  wenn  man  vielleicht  in  zahlreichen  Gebieten  mit  grorsartigen 
Mitteln  etwa  alle  hundert  Jahre  ein  eigens  hierzu  bestimmtes  Präzisions- 
nivellement und  aufserdem  Entfernungsmessungen  zwischen  den  einzelnen 
Berggipfeln  der  Alpen  vornehmen  würde. 

Anzeichen  solcher  Aenderungen  liegen  bereits  vor.  Prof.  Heim 
berichtet,  dafs  man  auf  Grund  von  Messungen  berechtigt  ist,  anzu- 
nehmen, gewisse  Berghöhen  der  Sohweiz  hätten  sioh  im  Verlaufe  der 
letzten  fünfzig  Jahre  um  einen  Meter  gegen  einander  verschoben.8) 

Die  dichterische  Idee  der  „ewigen  Berge“  ist  demnach  sicherlich 
aufzugeben;  wir  müssen  an  ihre  Stelle  die  Vorstellung  wandernder 
Berge  setzen.  Und  dafs  die  Berge  wirklich  entstehen,  wirklich  wandern, 
davon  überzeugt  uns  ja  auch  ein  Naturereignifs  von  elementarer  Ge- 
walt, nämlich  das  „Erdbeben“. 

Die  Erdbeben  sind  nach  allem,  was  die  moderne  Wissenschaft 
ergründen  konnte,  nichts  anderes,  als  die  zeitweisen  Aeufserungen  der 
noch  fortdauernden  gebirgsbildenden  Kräfte. 

Es  wird  auch  wohl  niemand  daran  zweifeln,  dafs  die  Spalten  und 
Sprünge  im  Erdreich  bei  Erdbeben  unter  der  Wirkung  einer  gewaltigen, 
die  Gesteino  zerreifsenden  Kraft  entstehen,  dafs  die  fortschreitende 
Faltung  der  Gesteinssohiohten  mit  einer  Erschütterung  des  Bodens  ver- 
bunden sein  mufs. 

Mögen  auch  die  gebirgsbildenden  Kräfte  stetige  sein,  so  wird 
sich  doch  eine  gewisse  Spannung  in  der  Erdrinde  ansammeln,  bis  die 
Widerstände,  welche  momentan  der  weiteren  Verschiebung  und  Fal- 
tung der  Erdschollen  entgegenstehen,  überwunden  werden.  Alle  solche 
Massenbewegungen  werden  demnach  ruckweise  vor  sich  gehen  und 
als  fühlbare  Spuren  ihrer  Thätigkeit  Erdbeben  erzeugen.9) 

Und  so  ist  es  denn  auch  keine  zufällige  Erscheinung,  dafs  die 

•)  In  einem  gegen  Falb  gerichteten  Artikel  .Zur  Frophezeihung  der 
Erdbeben“  (Vierteljahresschrift  d.  Nat  Ges.  in  Zürich  XXXII)  berichtet  Prof. 
Heim,  dafs  die  Lägern  dem  Rigi  und  Napf  in  dem  Zeitraum  von  etwas  über 
30  Jahren,  welcher  zwischen  der  ersten  genauen  Messung  dieses  Dreiecks  und 
der  späteren  Revision  derselben  lag,  um  ca.  einen  Meter  näher  gerückt  sei. 
Diese  Verschiebungen  können  in  den  Beobachtungs-  und  Rechnungsfehlem 
durchaus  nicht  ihre  Erklärung  finden,  sondern  sind  Folgen  des  noch  fort- 
dauernden Stauungsprozessee  der  Alpen,  der  sich  durch  zahlreiche  Erdbeben- 
stöfse  daselbst  kund  giebt. 

*)  Bei  der  Auslösung  bestehender  Spannungen  in  der  Erdrinde  mag 
immerhin  die  Mond-  und  Sonnenanziehung,  namentlich  wenn  sie  sich  bei  den 
Sonnenfinsternissen  verstärkt,  eine  Rolle  spielen.  Falb  behauptet  indessen 
ganz  etwas  anderes  mit  seiner  magmatischen  Erdbebentheorie. 


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Erdbeben  in  Italien  und  der  Schweiz  zu  den  häufigsten  Vorkomm- 
nissen gehören.  Dort  befinden  sich  eben  die  jüngsten  Gebirgsketten 
Europas,  die  Alpen  und  Apenninen,  deren  Entwicklung  noch  lange 
nicht  zum  Absohlufs  gelangt  ist.  Dringt  man  dagegen  abwärts  unter 
die  mächtige  Diluvialdeoke  unsere«  norddeutschen  Flachlandes,  so 
trifft  man  wohl  auch  hier  auf  gewaltige  Gebirgsfalten,  aber  die 
Neigung  zur  Fortentwicklung  ist  bei  ihnen  längst  erloschen,  und  dies 
gewährt  uns  hier  in  unserem  Lande  das  Gefühl  weitgehendster 
Sicherheit 

Es  sei  noch  einmal  ausdrücklich  betont,  dafs  die  Mehrzahl 
aller  Erdbeben  sogenannte  „tektonische“  Beben  d.  h.  Begleiterschei- 
nungen der  Gebirgsbildung,  und  in  dem  Bau  der  Erdrinde  begründet 
sind.  Wohl  giebt  es  in  der  Nähe  der  thätigen  Vulkane  auch  solche 
Erschütterungen,  die  durch  den  Anprall  glühender  Laven  oder  hoch- 
gespannter Dämpfe  gegen  die  Erdrinde  entstehen,  aber  das  Auf- 
treten dieser  vulkanischen  Beben  ist  nur  vereinzelt  und  auf  die 
nächste  Umgebung  der  Feuerberge  beschränkt. 

Dies  möge  genügen,  um  in  die  Anschauungen  einzuweihen,  welche 
in  der  Geologie  heutzutage  bezüglich  der  Entstehung  der  Oberflächen- 
gebilde unserer  Erde  Gültigkeit  haben. 

Aber  noch  eins  bleibt  zu  erwähnen.  Die  Faltenstauung  ist  nur 
der  erste  Akt  in  dem  grofsen  Drama  der  Gebirgsbildung.  Sie  Bchafft 
uns  nur  den  Modellblock  zu  den  schlanken  Bergen,  deren  anmuthige 
Formen  unser  Auge  erfreuen.  Der  Meifsel,  welcher  diese  Formen  aus- 
gehöhlt hat,  ist  zu  suchen  in  der  furchenden  und  ausnagenden  Thätig- 
keit  des  Wassers,  in  dem  Prozesse  der  Erosion  und  in  demjenigen 
der  Verwitterung  oder  Denudation.  Diese  beiden  mächtigen  Agenzien 
schufen  erst  die  Einzelheiten,  die  Kämme,  Gräten  und  Zinnen,  sie 
schufen  die  Thäler  und  Sohluchten  nach  eigenen  Gesetzen  in  lang- 
samer, aber  rastloser  Arbeit  aus  dem  aufgestauten  Rohmaterial, 
das  die  Gewalt  des  Feuers  aus  dem  Schoofse  der  Erde  empor- 
gedrängt hatte. 

Wie  die  Gebirge  sich  jetzt  zeigen,  sind  sie  nur  noch  Ruinen. 
Die  Alpen  sind,  das  kann  man  zuverlässig  aus  dem  Verlauf  ihrer  Falten 
erkennen,  schon  um  die  Hälfte  ihrer  ursprünglichen  Höhe  durch  den 
rinnenden  Tropfen  herabgeschleift  worden. 

Der  letzte  Akt  der  Gebirgsbildung  kann  nur  angedeutet  werden. 
Er  verläuft  still  und  unvermerkt  in  den  Niederungen  der  Ströme,  auf 
dem  Grund  der  Binnonseeen  und  in  den  Tiefen  der  Meere.  Dort 


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schliefsen  die  Gipfel  der  stolzen  Bergriesen  als  Sand  und  Schlamm 
ihr  Dasein,  um  im  Laufe  der  Jahrtausende  zu  festen  Gesteinsbänken 
zu  erhärten  und  vielleicht  nach  Jahrhunderttausenden  als  Festland 
und  mächtige  Gebirge  durch  neue  Hebung  und  Faltung  wiederzu- 
erstehen, wenn  die  schwindende  Wärmeenergie  des  Erdballs  noch  ein- 
mal so  tiefgreifende  Umwälzungen  gestattet,  wie  sie  im  Jugendalter 
unseres  Weltkörpers  vor  sich  gegangen  sein  müssen. 


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Die  Astronomie  des  Unsichtbaren. 

Von  Dr.  1.  Scbelner. 

Astronom  am  Astropbysikalischen  Observatorium  zu  Potadam. 

(Schlufe.) 

Das  4-fache  Sternsystem  C Cancri. 

Wir  haben  im  vorigen  Abschnitte  die  Gravitationsverhältnisse  in 
einem  einfachen  Doppelsternsysteme  kennen  gelernt,  wo  beide  Kompo- 
nenten, gleichgültig,  ob  sie  sichtbar  sind  oder  nicht,  ihre  Bewegung 
ganz  genau  nach  dem  Kopple  rächen  Gesetze  ausführen.  Im  ersten 
Abschnitte  hatten  wir  dagegen  den  viel  komplizirteren  Fall  von 
mehreren  aufeinander  einwirkenden  Körpern  vor  uns,  der  indessen 
dadurch  wieder  vereinfacht  war,  dafs  einer  der  Körper,  die  Sonne, 
eine  ganz  überwiegende  Masse  besitzt  und  daher  die  Bewegungen  der 
übrigen  Körper  im  wesentlichen  allein  regelt,  deren  Anziehung  unter- 
einander wieder  nur  Bewegungen  niedrigerer  Ordnung,  die  sogenann- 
ten Störungen,  bewirkt  Ganz  anders  liegt  die  Sache,  wenn  drei  oder 
mehr  Körper  von  nahe  gleichen  Massen  ein  System  bilden:  Das  Drei- 
körperproblem  ist  bekanntlich  noch  nicht  gelöst,  und  es  vermag  bis 
jetzt  noch  kein  Mathematiker  auch  nur  annähernd  anzugeben,  in 
welchen  Bahnen  sich  die  drei  Körper  bewegen  müssen.  Die  Natur 
hat  allerdings  dies  Problem  längst  gelöst,  denn  es  existiren  am  Himmel 
eine  ganze  Reihe  von  drei-  und  mehrfachen  Sternen,  deren  Bewegungen 
um  einander  man  bei  einzelnen  dieser  Objekte  sehr  gut  beobach- 
ten kann. 

Eines  der  interessantesten  dieser  Klasse  ist  das  optisch  dreifache 
System  C Cancri,  besonders  interessant,  weil  die  Bewegungen  inner- 
halb desselben  verhältnifsmäfsig  schnell  vor  sioh  gehen,  so  dafs  in 
den  nächsten  Jahrhunderten  wenigstens  eine  vollständige  Bewegungs- 
phase sich  abspielt. 

Das  Sternsystem  C Cancri  läfst  drei  Komponenten  erkennen,  A, 
B und  C,  von  nahe  gleicher  Helligkeit  Die  Distanz  von  A und  B 
beträgt  im  Mittel  etwa  0 “ 8,  sie  beschreiben  in  ungefähr  60  Jahren 
einen  Umlauf  um  einander.  Der  Stern  C befindet  sich  von  den  beiden 


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in  einem  Abstande  von  S'/j“  und  hat  seit  der  1781  durch  W.  Herschel 
erfolgten  Entdeckung  des  Systems  erst  etwa  */«  seines  Umlaufs  voll- 
endet, der  ungefähr  600  bis  700  Jahre  dauern  wird.  Seeliger  hat  sioh 
in  neuerer  Zeit  sehr  ausführlich  mit  diesem  System  beschäftigt  und  ist 
hierbei  zu  mehreren  sehr  interessanten  Resultaten  gelangt  Zunächst 
hat  sich  gezeigt,  dafs  die  Bewegungen  von  A und  B sich  noch  ziemlich 
gut  durch  eine  Kepplersche  Ellipse  darstellen  lassen,  und  dafs  es  vor- 
läufig noch  genügt,  die  Einwirkung  des  Sterns  C auf  die  Bahnen  von  A 
und  B als  Störungen  zu  betrachten  und  nach  den  übliohen,  entsprechend 
modifizirten  Methoden  zu  berechnen.  Dieser  eigenthümliche  Umstand 
rührt  wesentlich  von  dem  grofsen  Abstande  des  dritten  Sternes  und 
seiner  verhältnifsmäfsig  langsamen  Bewegung  her,  und  es  ist  keine 
Frage,  dafs  allmählich  der  Zeitpunkt  kommen  wird,  wo  die  Ellipse 
nicht  mehr  als  Annäherung  ausreicht,  und  wo  die  wahren  Bahnen  des 
Dreikörperproblems  alsdann  zum  Vorsohein  kommen  werden.  Schwierig- 
keiten anderer  Art  bot  aber  die  Bewegung  von  C um  A und  B; 
während  sie  sich  im  allgemeinen  noch  durch  eine  Kreisbahn  dar- 
stellen läfst,  treten  kleine  Schwankungen  dieser  Bewegung  auf, 
die  schon  Otto  Struve  vor  mehreren  Jahren  aufgefallen  waren. 
Struve  erkannte  auch  schon,  dafs  diese  Schwankungen  sich  durch 
die  Annahme  darstellen  liefsen,  dafs  der  Stern  C während  seines  Um- 
laufs um  A und  B eine  kleine  Bahn  in  18  Jahren  um  einen  wenige 
Zehntelsekunden  abstehenden  Punkt  beschreibe.  Die  Seeliger- 
schen  Untersuchungen  haben  dieses  interessante  Phänomen  durchaus 
bestätigt  und  keinen  Zweifel  an  der  Realität  desselben  übrig  gelassen. 
Es  konnte  sich  aber  immer  noch  fragen,  ob  diese  geometrisohe 
Erklärung  der  Bahnabweichungen  von  C auoh  wirklich  die  nahe- 
liegende Deutung,  dafs  C ein  enger  Doppelstern  von  18  Jahren  Um- 
laufszeit, und  dafs  dessen  eine  Komponente  dunkel  sei,  erfahren  dürfe. 
Bei  der  gänzlichen  Unwissenheit  über  die  wahren  Bewegungen  nach 
dem  Dreikörperproblem  läfst  sich  nämlich  nicht  ohne  weiteres  der 
Oedanke  zurückweisen,  dafs  die  periodischen  Anomalien  der  Bewegung 
von  C vielleicht  durch  Störungen  von  A und  B hervorgerufen  seien. 
Eis  ist  indessen  Seeliger  gelungen,  diese  letzte  Deutung  mit  aller 
Bestimmtheit  zurückweisen  zu  können,  und  so  stehen  wir  denn  vor 
der  Thatsache,  dafs  C Cancri  ein  vierfaches  Sternsystem  ist,  dessen 
vierter  Stern  sich  dem  Auge  nur  indirekt  durch  seine  Anziehung  auf 
C verräth.1) 

')  Vergl.  Himmel  und  Erde.  III,  8.  122. 


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132 


Die  Entdeckung  des  dunklen  Algolbegleiters. 

Der  Stern  Algol  im  Perseus  wurde  im  Jahre  1667  von  Montanari 
als  veränderlich  erkannt,  nachdem  im  Jahre  1596  Mira  Ceti,  der  wunder- 
bare Stern  im  Walfisch,  von  Fabriciusals  erster  Veränderlicher  entdeckt 
worden  war.  Es  mulsten  aber  mehr  als  100  Jahre  darüber  hingehen, 
ehe  der  wesentliche  Unterschied  in  der  Art  des  Lichtwechsels  dieser 
beiden  Sterne  erkannt  wurde;  erst  Ooodrioke  fand  im  Jahre  1782, 
dafs  der  Lichtwechsel  Algols  außerordentlich  regelmäßig  sei  gegen- 
über dem  von  Mira  Ceti.  Von  der  Zeit  an  sind  bis  heute  die  Ver- 
änderungen der  Helligkeit  des  Sterns  äußerst  sorgfältig  untersuoht 
worden,  speziell  von  Argeiander  und  Schönfeld,  und  es  hat  sich 
herausgestellt,  daß  die  Maxjmalhelligkeit  Algols  2 Tage  1 1 '/j  Stunden 
anhält,  um  dann  in  4 1/a  Stunden  bis  zu  einem  Minimum  herabzusinken 
und  in  weitern  4*/j  Stunden  wieder  zur  vollen  Stärke  anzuschwellen. 
Noch  mehrere  andere  Sterne  sind  im  Laufe  der  Zeit  gefunden  worden, 
deren  Lichtwechsel  dieselben  typischen  Eigenschaften  wie  Algol  besitzt. 
Die  Zahl  der  Sterne  vom  Algoltypus  beträgt  jetzt  8. 

Es  ist  klar,  dafs  ein  so  eigenthümlicher  Verlauf  des  Licbtwechsels 
zu  den  mannigfaltigsten  Erklärungsversuchen  verlocken  mußte,  von 
denen  aber  nur  zwei  hier  erwähnt  werden  sollen.  Zunächst  lag  es 
nahe,  an  eine  Rotation  eines  Sternes  zu  denken,  dessen  Oberfläche  an 
einer  Stelle  mit  dunklen  Flecken,  etwa  analog  unseren  Sonnenflecken, 
besetzt  war.  Diese  Annahme  bereitete  indessen  zunächst  insofern 
Schwierigkeiten,  als  die  Kürze  der  Verdunkelung  gegenüber  der  Zeit- 
dauer der  Lichtkonstanz  nicht  recht  damit  in  Einklang  zu  bringen  war; 
sie  mußte  ganz  fallen,  als  das  Spektroskop  zeigte,  daß  Algol  (wie 
sämtliche  übrigen  Sterne  des  Algoltypus)  der  ersten  Spektralklasse 
angehört,  d.  h.  daß  er  sich  noch  im  ersten  Entwickelungsstadium 
befindet,  im  Zustande  einer  ungeheuren  Glühhitze,  in  welchem  an  die 
Bildung  von  Abkühlungsprodukten,  wie  auf  der  Sonne,  noch  gar  nicht 
zu  denken  ist. 

Als  die  plausibelste  Annahme  erschien  demnach,  den  Algol  als 
engen  Doppelstem  aufzufassen,  dessen  eine  Komponente  dunkel  sei. 
Die  Umlaufszeit  der  beiden  Körper  um  ihren  gemeinschaftlichen 
Schwerpunkt  mußte  dann  gleich  der  Periode  des  Lichtwechsels,  2 Tage 
21  Stunden,  sein,  und  ihre  Bahnebene  sich  nahe  in  der  Gesichtslinie 
befindon,  so  daß  beim  Vorübergango  des  dunklen  Körpers  jedesmal 
eine  Bedeckung  des  hellen,  eine  regelrechte  Verfinsterung,  Btattfand. 
Aus  den  Daten  des  Lichtweohsels  lassen  sich  leicht  die  wichtigsten 


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133 


Elemente  der  Bahn  dieses  Doppelsternsystems  berechnen  — auf  welche 
Weise  dies  geschehen  kann,  werden  wir  später  sehen  — , und  so  hat 
Pickering  z.  B.  thatsächlich  bereits  vor  längeren  Jahren  eine  solche 
Berechnung  veröffentlicht. 

Aber  auch  dieser  Erklärung  stellten  sich  gewaltige  Schwierig- 
keiten entgegen,  indem  sich  nämlioh  die  Distanz  der  beiden  Körper 
als  so  gering  ergiebt,  dafs  man  nicht  glaubte,  ein  solches  System  als 
stabil  betrachten  zu  können.  So  stand  bis  noch  vor  wenigen  Jahren 
die  Frage  offen,  welcher  Ansicht  man  zuneigen  sollte. 

Das  Räthselhafte  der  Erscheinung  duroh  das  Fernrohr  aufzulösen, 
mufste  a priori  als  unmöglich  zurückgewiesen  werden,  denn  bei  der 
geringen  Distanz,  welche  unter  der  Annahme  eines  Doppelsternsystems 
für  die  beiden  Körper  resultirte,  mufste,  selbst  wenn  der  , dunkle“ 
Körper  nicht  vollständig  dunkel  war,  sondern  seiner  Helligkeit  nach 
noch  hätte  erblickt  werden  können,  die  scheinbare  Distanz  am  Himmel 
verschwindend  klein  sein.  Sie  konnte  unter  den  günstigsten  Umständen 
nicht  viel  über  den  hundertsten  Theil  einer  Bogensekunde  betragen, 
und  derartige  Distanzen  könnon  selbst  in  den  Riesenrefraktoren  der 
Neuzeit  noch  lange  nicht  aufgelöst  werden.  Dagegen  tauchte  bald  nach 
der  Anwendung  des  Spektroskops  auf  die  Himmelskörper  der  Gedanke 
auf,  die  Frage  nach  der  Doppelsternnatur  Algols  durch  Benutzung  des 
Dopplerschen  Prinzips  zu  entscheiden.  Wenn  Algol  sich  um  einen 
aufserhalb  gelegenen  Schwerpunkt  in  einer  Bahn  bewegt,  so  mufste 
im  Laufe  des  Lichtwechsels  seine  Bahngeschwindigkeit  in  der  Gesichts- 
linie wechseln,  und  diese  Aenderung  der  Geschwindigkeit  mufste  im 
Spektroskope  als  wechselnde  Verschiebung  der  Spektrallinie  des  Algol 
zu  Tage  treten.  Im  Hinblick  auf  eine  im  1.  Jahrgang  dieser  Zeit- 
schrift vom  Verfasser  gegebene  ausführliche  Darlegung  dieser  Methode 
mufs  dieselbe  hier  als  bekannt  vorausgesetzt  werden,  ein  Nachlesen 
des  erwähnten  Artikels  wird  gewifs  zum  Verständnifs  des  Folgenden 
genügen. 

Im  Jahre  1873  hat  H.  C.  V ogel,  damals  noch  in  Bothkamp, 
thatsächlich  das  Spektroskop  zur  Lösung  dieser  Frage  auf  Algol  an- 
gewendet, den  damaligen  unzureichenden  Hülfsmitteln  entsprechend 
jedoch  ohne  positive  Resultate,  es  liefs  sich  nur  konstatiren,  dafs  Algol 
keine  auffallend  grofse  Bewegung  besafs.  Ebenso  ergebnifslos  sind 
die  seit  dieser  Zeit  in  Greenwich  angestellten  Versuche  geblieben. 

Die  aufserordentliche  Vermehrung  der  Genauigkeit  in  der  Messung 
der  Linienverschiebung,  welche  durch  die  im  Jahre  1888  zum  ersten 
Male  angewandte  spektrographische  Methode  erzielt  wurde,  legte  den 


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Oedanken  nahe,  dafB  nunmehr  mit  berechtigter  Hoffnung  auf  Erfolg 
diese  Methode  beim  Algolprobiem  in  Benutzung  zu  nehmen  sein 
könnte,  und  die  hierauf  eich  beziehenden  Untersuchungen  hatten 
allerdings  das  Ergebnifs,  dafs  am  28.  Novomber  1889  der  Berliner 
Akademie  der  Wissenschaften  der  definitive  Beweis  der  Doppelstem- 
natur  Algols  durch  H.  C.  Vogel  und  den  Verfasser  dieses  vorgelegt 
worden  konnte,  nebst  den  Bahnelementen  dieses  interessanten  Gestirns. 

Weitere  bis  zum  vorigen  Jahre  fortgesetzte  Beobachtungen  be- 
stätigten immer  mehr  die  Richtigkeit  der  gefundenen  numerischen 
Werthe,  und  heute  ist  die  Duplizität  Algols  eines  der  am  sichersten 
bewiesenen,  nicht  direkt  wahrnehmbaren  himmlischen  Phänomene. 

Es  dürfte  nunmehr  aber  geboten  sein,  den  Leser  über  die  Art 
der  Entdeckung  der  Duplizität  und  über  die  Berechnung  der  Bahn- 
elemente näher  aufzuklären. 

Durch  die  Bewegung  einer  Lichtquelle  oder  auch  des  Beobachters 
in  der  Gesichtslinie,  wird  die  Brechbarkeit  des  Lichtes  und  damit 
seine  Ablenkung  durch  das  Prisma  geändert,  und  diese  Ablenkung 
der  Lichtstrahlen  dokumentirt  sich  im  Spektroskope  durch  eine  Ver- 
änderung der  Lage  der  Spektrallinie,  welche  die  betreffende  Lichtquelle 
(Stern)  im  Spektrum  erzeugt,  gegen  die  Lage  der  entsprechenden  Linie 
einer  irdischen,  relativ  ruhenden  Lichtquelle.  Findet  eine  Annäherung 
in  der  Gesichtslinie  statt,  so  werden  die  Wellenlängen  kürzer,  die  Brech- 
barkeit stärker,  die  Spektrallinien  verschieben  sich  nach  violett;  boi 
einer  Entfernung  findet  natürlich  das  Umgekehrte  statt. 

Betrachten  wir  nun  einmal  die  nebenstehende  Figur,  welche  das 
Algolsystem  schematisch  darstellen  möge.  Die  Bewegung  der  beiden 
Körper  findet  natürlich  um  ihren  gemeinschaftlichen  Schwerpunkt  statt; 
da  es  aber  nur  auf  relative  Bewegung  ankommt,  so  ist  das  System 
der  Einfachheit  halber  so  gezeichnet,  dafs  der  dunkle  Körper  als  fester 
Mittelpunkt  angenommen  ist.  Die  punktirte  Linie  möge  die  Richtung  der 
Gesichtslinie  (Verbindungslinie  zwischen  Algol  und  der  Erde)  angeben. 

Befindet  sich  der  helle  Hauptstern  des  Systems  in  1,  so  ist  er 
durch  den  dunklen  Begleiter  zum  Theil  für  uns  verdeckt;  wir  sehen 
ein  Algolminimum.  Seine  Bewegungsrichtung  liegt  von  rechts  nach 
links,  also  senkrecht  zum  Visionsradius,  d.  h.  eine  Linienverschiebung 
kann  nicht  eintreten.  Hat  aber  der  Körper  einen  Viertelumlauf 
zurückgelegt,  nach  17  Stunden,  und  befindet  sich  in  2,  so  bewegt  er 
sich  in  voller  Geschwindigkeit  auf  uns  zu:  Maximalverschiebung  der 
Spektrallinie  naoh  Violett.  In  3 läuft  er  von  links  nach  rechts,  also 


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135 


keine  Verschiebung  ist  vorhanden;  in  4 volle  Geschwindigkeit  von 
uns  weg:  Maximalverschiebung  nach  roth. 

Das  ist  nun  thatsächlich  dasjenige,  was  die  Potsdamer  Spektral- 
aufnahmen zeigen;  es  findet  zur  Zeit,  wenn  Algol  die  Lage  2 hat, 
wirklich  die  Maximalverschiebung  nach 
Violett,  in  der  Lage  4 wirklich  nach  roth 
statt,  und  allein  damit  war  schon  ein  de- 
finitiver Beweis  für  die  Doppelsternnatur 
Algols  gegeben.  Es  hat  indessen  nicht 
an  Stimmen  gefehlt,  die  darauf  hinge- 
deutet haben,  dafs  auch  unter  voller  An- 
erkennung der  periodisch  wechselnden 
Linienverschiebung,  doch  eine  andere  Er- 
klärung für  letztere  möglich  sein  könne, 
und  man  hat  hierbei  z.  B.  auf  asymmetri- 
sche Verbreiterungen  der.Wasserstofflinie 
im  Stern  hingewiesen.  Wenngleioh  bisher 
solohe  asymmetrische  Verbreiterungen 
der  Stemlinien  noch  nicht  beobachtet  worden  sind,  so  kann  man  doch 
bei  der  allgemeinen  Unkenntnifs  derDruok-  und  Temperaturverhältnisse 
auf  den  Sternen,  eine  solche  Annahme  nicht  ohne  weiteres  zurückweisen. 
Bei  asymmetrischer  Verbreiterung  bleibt  aber  das  Intensitätsmaximum 
der  Linie  stets  an  seiner  Stelle,  und  nur  die  Verwaschenheiten,  die 
sich  an  das  Intensitätsmaximum  anschliefsen,  sind  unsymmetrisch,  wie 
ja  auch  die  Bezeichnung  asymmetrische  „Verbreiterung“  andeutet  Beim 
Algolspektrum  ist  aber  mit  vollster  Deutlichkeit  zu  erkennen,  dafs  das 
Intensitätsmaximum,  auf  welches  allein  beim  Messen  eingestellt  wird, 
stark  verschoben  ist  Damit  ist  dieser  Erklärungsversuch  definitiv 
abgewiesen,  und  es  bedürfte  kaum  noch  des  Hinweises,  dafs  eine  in 
kurzer  Periode  wechselnde  asymmetrische  Verbreiterung  physikalisch 
absolut  undenkbar  ist  So  bleiben  wir  denn  bei  unserer  ersten  Deutung, 
und  die  Beobachtungen  in  Potsdam  haben  dann  ergeben,  dafs  die 
Maximalgeschwindigkeit  des  Hauptsterns  -|-  5.3  geogr.  Meilen  und 
— 6.2  geographische  Meilen  beträgt  d.  h.  dafs  der  Hauptstern  mit 
einer  Geschwindigkeit  von  5.7  Meilen  pro  Sekunde  um  den  gemein- 
schaftlichen Schwerpunkt  läuft,  und  dafs  aufserdem  das  ganze  System 
noch  eine  Translationsgeschwindigkeit  von  0.5  Meilen  auf  uns  zu 
besitzt.  Das  sind  die  Daten,  die  das  Spektroskop  geliefert  hat,  und 
wir  wollen  nun  sehen,  wie  hieraus  in  Verbindung  mit  den  Daten  des 
Lichtwechsels  die  Bahnelemente  des  Systems  gerechnet  werden  können. 


Fig.  1. 


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136 


Für  den  Lichtwechsel  legen  wir  hierbei  die  Werthe  zu  Grunde,  welche 
Verfasser  vor  zehn  Jahren  aus  den  zahlreichen  und  vorzüglichen 
Beobachtungen  SohönfeldB  abgeleitet  hat. 

Der  Helligkeitsunterschied  zwischen  einem  Algolminimum  und 
dem  sogenannten  vollen  Lichte  beträgt  1.06  Gröfsenklassen,  d.  h.  die 
Minimalhelligkeit  ist  gleich  0.381  der  Maximalhelligkeit,  oder  der  dunkle 
Begleiter  absorbirt  bei  seinem  Vorübergange  0.619  von  der  Gesamt- 
helligkeit Algols.  Macht  man  nun  die  Annahme,  dafs  der  Durchgang 
ein  naher  zentraler  sei,  so  erhält  man  als  Verhältnifs  der  Durch- 
messer des  dunklen  Begleiters  zu  Algol  den  Betrag  |/0  .619  = 0.787, 
d.  h.  der  Durchmesser  des  ersteren  ist  ungefähr  3/t  von  dem  Algols. 
Bei  gleicher  Dichtigkeit  der  beiden  Himmelskörper  müssen  sich  dann 
die  Massen  derselben  wie  die  dritten  Potenzen  der  Durchmesser  ver- 
halten, das  ist  wie  1 : 0.487,  die  Masse  des  Begleiters  ist  also  die 
Hälfte  derjenigen  Algols,  und  ebenso  müssen  sich  ihre  Abstände  vom 
Schwerpunkt  verhalten  und  auch  ihre  Bahngeschwindigkeiten.  Die 
spektrographischen  Beobachtungen  hatten  für  die  Bahngeschwindig- 
keit Algols  5.7  geogr.  Meilen  ergeben,  diejenige  des  Begleiters  ist  also 
gleich  12.0  Meilen. 

Die  Dauer  der  Verfinsterung  beträgt  nun  9 h 45  ",  so  lange  dauert 
also  der  Vorübergang  des  Begleiters  vor  dem  Hauptsterne,  der  mit  der 
relativen  Geschwindigkeit  — die  Summe  der  beiden  Bahngeschwindig- 
keiten — also  mit  17.7  Meilen  in  der  Sekunde  stattfindet,  und  hieraus 
lassen  sich  nun  einfach  die  Dimensionen  der  beiden  Körper  und  ihre 
Abstände  ausrechnen;  es  ist  aber  vorher  zu  berücksichtigen,  dafs  Be- 
ginn und  Ende  der  Verfinsterung  nach  Ausweis  der  Lichtkurve  Algols 
eine  so  langsame  Licht  Veränderung  zeigen,  dafs  dies  unmöglich  durch 
die  Bedeckung  der  Sternscheibe  selbst  hervorgebracht  sein  kann.  Viel- 
mehr mufs  man  hier  an  die  gegenseitige  Bedeckung  der  die  Körper 
jedenfalls  umgebenden  Atmosphären  denken,  und  unter  Berücksichtigung 
dieses  Umstandes  erscheint  es  am  besten,  für  die  Dauer  der  eigentlichen 
Verfinsterung  nur  6h  30"  anzunehmen.  Dann  erhält  man  folgende  Daten: 


Durchmesser  des  Hauptsterns 230000  Meilen. 

Höhe  seiner  Atmosphäre 54000  „ 

Durohmesser  des  dunklen  Begleiters  ....  180000  „ 

Höhe  seiner  Atmosphäre 42000  „ 

Entfernung  der  Mittelpunkte  beider  Körper  . . 700000  „ 


Massen  der  beiden  Körper  */9  und  J/9  der  Sonnenmasse. 

Um  eine  bessere  Vorstellung  von  der  bisher  beispiellosen  Nähe 
der  beiden  Körper  zu  gebon,  möge  die  folgende  Figur  dienen. 


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137 


Links  ist  der  helle  Hauptstern,  rechts  der  dunkle  Begleiter,  beide 
mit  ihrer  Atmosphäre,  der  Schwerpunkt,  um  den  sich  beide  bewegen, 
ist  durch  S angedeutet.  Würde  man  Algol  als  unsere  Sonne  be- 
trachten, so  würde  sich  nach  den  wahren  Dimensionen  die  Erde  in 
2.7  Meter  Entfernung  befinden,  ihr  Durchmesser  miifste  gleich  0.2  Milli- 
meter gesetzt  werden. 


Eis  ist  ja  nun  klar,  dafe  die  obigen  Dimensionen  nur  genäherte 
Werthe  darstellen  können,  da  ja  die  gemachten  Voraussetzungen : 
zentraler  Durchgang,  gleiche  Dichtigkeit  der  Massen,  Höhe  der  Atmo- 
sphäre, nicht  genau  den  Thatsachen  entsprechen  werden.  Es  beein- 
trächtigt dies  aber  keineswegs  den  Einblick  in  die  gewonnenen  Ver- 
hältnisse; man  sieht  ja  leicht,  dafs  eine  wesentliche  Aenderung  dos 
merkwürdigen  Systems  nicht  eintreten  würde,  auch  wenn  die  Körper 
in  der  Zeichnung  um  einige  Millimeter  gröfser  oder  kleiner  wären 
oder  ihr  Abstand  um  einen  Zentimeter  anders  ausgefallen  wäre. 

So  sehen  wir  uns  nun  der  Thatsacho  gegenüber  gestellt,  dafs  ein 
so  aufserordentlich  enges  Doppelstemsystem  am  Himmel  seit  unbekann- 
ten Zeiten  her  besteht,  und  dafs  wir  uns  nunmehr  der  Frage  zuwenden 
müssen,  wie  sich  diese  Thatsache  mit  den  früher  geäufserten  Zweifeln 
an  der  Möglichkeit  derselben  vereinigen  läfst  Die  Lösung  der  E'rage 
ist  eine  sehr  einfache:  Man  hat  eben  früher  nur,  man  möchte  wohl 
sagen,  dem  Gefühle  nach  gezweifelt,  ohne  ernstliche  mathematische 
Prüfung.  Diese  Prüfung  bietet  zwar  grofse  Schwierigkeiten;  gegenüber 
der  Thatsache  mufste  sie  aber  unternommen  werden,  und  so  hat  denn 
Wilsing  gozeigt,  dafs  ein  solches  System  sehr  gut  als  stabiles  zu 
betrachten  ist;  es  treten  allerdings  infolge  des  abnormen  Verhältnisses 
von  Gröfse  und  Nähe  der  Körper  miiohtige  Eiuthwirkungen  auf;  die 
bewirken,  dafs  die  Körper  sich  gegenseitig  zuspitzen  und  mit  ihren 
grofsen  Axen  nahe  aufeinander  gerichtet  sind.  Diese  Deformationen 
sind  aber  nicht  so  stark,  dafs  die  Stabilität  des  Systems  hierdurch 
irgendwie  gefährdet  w'ürde. 

Dafs  das  Algolsystem,  wie  schon  angedeutet,  auch  dem  best  bewaff- 
neten Auge  niemals  direkt  auflösbar  sein  wird,  kann  nach  den  obigen 

Bimmel  und  Erde.  18« L V.  8.  10 


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138 


Angaben  nicht  zweifelhaft  sein.  Selbst  wenn  Algol  eine  Parallaxe  von 
0"  1 haben  sollte,  d.  h.  also,  wenn  er  so  weit  von  uns  entfernt  wäre,  dafs 
der  Halbmesser  der  Erdbalm,  von  ihm  aus  gesehen,  unter  einer  Winkel- 
distanz von  0"1  erscheinen  würde,  würde  umgekehrt  der  scheinbare 
Abstand  der  beiden  Körper,  von  der  Erde  gesehen,  */:»  dieses  Winkels 
oder  0" 003  betragen;  die  kühnste  Phantasie  kann  sich  kein  Fernrohr 
vorstellen,  welche  diese  Distanz  noch  auflösen  könnte.  Und  so  führt  uns 
denn  unsere  Betrachtung  in  diesem  Falle  zum  ersten  Male  zu  einem 
Probleme  der  Astronomie  des  Unsichtbaren,  welches  im  Gegensatz  zu 
dem  bisher  Besprochenen  auch  nicht  die  entfernteste  Möglichkeit  littst, 
dermaleinst  wirklich  erschaut  zu  werden. 

Aber  damit  ist  es  noch  nicht  genug.  Kaum  hat  die  Entdeckung 
des  Algolbegleiters  die  Aussicht  in  ein  bisher  verschlossenes  Gebiet 
der  Doppelstern  weit  eröffnet,  so  treten  auch  schon  die  Anzeiohen  auf, 
dafs  damit  das  Algolsystem  nicht  erschöpfend  erklärt  ist,  sondern 
dafs  dasselbe  ein  dreifaches  Sternsystem  ist,  dessen  dritten  Begleiter 
bisher  auch  noch  Niemand  erblickt  hat.  und  dessen  Existenz  allerdings 
vorläufig  noch  nicht  mit  der  Sicherheit  zu  beweisen  ist,  wie  dies  bei 
den  anderen  Objekten  unserer  Darstellung  möglich  war. 

Die  Periode  Algols  ist  zwar  gegenüber  anderen  veränderlichen 
Sternen  eine  aufserordentlich  regelmäfsige,  jedoch  nicht  eine  vollkommen 
gleichförmige.  Wenn  die  Aenderungeu  derselben  auch  nur  wenige 
Sekunden  betragen,  so  sind  sie  doch  wegen  der  grofsen  zur  Verfügung 
stehenden  Zeiträume  durchaus  sicher  zu  ermitteln,  und  so  hat  bereits 
Argeiander  folgende  Periodenlängen  für  Algol  aufgestellt: 


Jahr 

Periode 

1784 

68 h 48m  59 “42 

1793 

58.74 

1818 

68.19 

1842 

55.18 

1849 

54.86 

1858 

53.15 

1865 

53.81 

Diese  Aenderungen  sind  identisch  mit  Aenderungen  der  Umlaufs- 
zeit, und  es  handelt  sich  darum,  dieselben  zu  erklären.  Man  könnte 
hierbei  an  Einflüsse  denken,  welche  durch  die  erwähnte  Deformation 
der  Körper  entstehen,  wenn  nämlich  die  Rotation  der  Körper  von 
ihrer  Umlaufszcit  verschieden  ist.  Es  erscheint  aber  sehr  fraglich, 
ob  solche  Aenderungen  von  dem  Betrage  sein  können,  und  so  liegt 
es  nahe,  an  störende  Einflüsse  eines  dritten  Körpers  zu  denken. 


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139 


Wie  schon  früher  hervorgehoben,  entzieht  sich  die  Berechnung  der- 
artiger Störungen  vollständig  unserem  Können.  Das  Dreikörperproblem 
ist  noch  nicht  gelöst,  wir  haben  nicht  einmal  ein  Urtheil  darüber,  ob 
die  Störungen  sich  in  der  Form,  wie  sie  durch  die  Periodenänderung 
ausgesprochen  ist,  überhaupt  äufsern  können. 

Es  ist  das  Verdienst  Chandlers,  kürzlich  darauf  hingewiesen 
zu  haben,  dafs  bei  der  Existenz  eines  dritten  Körpers  hier  gar  keine 
wirkliche  Störung,  sondern  nur  eine  soheinbare,  eine  „optische“ 
Störung  vorzuliegen  braucht 

Zur  Erklärung  einer  solchen  optischen  Störung  denken  wir  uns 
Folgendes:  Die  Umlaufszeit  Algols  sei  eine  durchaus  gleichförmige, 
aber  er  möge  sich  mit  einer  gewissen  Geschwindigkeit,  und  zwar  mit 
40000  Meilen  (Geschwindigkeit  des  Lichts  in  einer  Sekunde)  während 
eines  Umlaufs  auf  uns  zu  bewegen.  Nach  Ablauf  einer  Periode  ist  er 
uns  dann  um  soweit  näher  gekommen,  dafs  das  Licht  zu  uns  hin  eine 
Sekunde  weniger  gebraucht  als  früher,  wir  sehen  die  Minima  um  eine 
Sekunde  früher  eintreten,  d.  h.  scheinbar  hat  sich  die  Periode  Algols 
um  eine  Sekunde  verkürzt.  Eine  stärkere  Fortbewegung  von  uns 
würde  umgekehrt  eine  scheinbare  Verlängerung  der  Periode  ergeben. 
Die  Beobachtungen  zeigen  nun  zuerst  eine  Verkürzung,  dann  eine  Ver- 
längerung der  Periode,  und  Chandler  hat  nun  gefunden,  dafs  diese 
Erscheinung  sich  vollständig  deuten  läfst,  unter  dor  Annahme,  dafs 
das  Algolsystem,  wie  wir  es  oben  beschrieben  haben,  sich  nochmals  um 
einen  Schwerpunkt  bewegt  und  zwar  in  130  Jahren;  der  Durchmesser 
der  Bahn  würde  etwa  gleich  dem  der  Uranusbahn  resitltiren.  Eine 
so  grofse  Bahn  mufs  aller  auch  direkt  am  Himmel  erkennbar  sein, 
und  in  der  That  hat  Chandler  nachgewiesen,  dafs  die  Meridianbe- 
obachtungen Algols  sich  am  besten  unter  der  Voraussetzung  einer 
solchen  Bahn  darstellen  lassen.  Wie  weit  der  dritte  Stern  von  Algol 
entfernt  sein  könnte,  ist  nicht  möglich  anzugeben,  da  dies  von  seiner, 
bis  jetzt  durchaus  unbekannten  Masse  abhängt.  Ein  dunkler  oder 
wenigstens  lichtschwachcr  Stern  ist  es  jedenfalls,  doch  ist  die  Möglich- 
keit, ihn  einmal  direkt  wahrzunehmen,  nicht  ausgeschlossen. 

So  sehen  wir,  dafs  Algol  ein  Beispiel  aus  der  Astronomie  des 
Unsichtbaren  darbietet,  welches  durch  eine  Vereinigung  der  beiden, 
von  uns  eingangs  getrennten  Methoden  erkannt  wordon  ist;  es  ist  ein 
wunderbares  Gestirn,  dessen  genauere  und  detaillirtere  Erforschung 
noch  für  Jahrhunderte  auf  der  Arbeitsliste  der  Astronomie  stehen  wird. 

Die  glückliche  Lösung  des  Algolproblems  betrifft  gleichzeitig 
natürlich  alle  Veränderliche  des  Algoltypus.  Es  wird  zur  Zeit  Niemand 

IO* 


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140 


zweifeln,  dafs  bei  allen  diesen  Sternen  ähnliche  Verhältnisse  vorliegen 
wie  bei  Algol,  wenngleich  es  in  absehbarer  Zeit  nicht  gelingen  dürfte, 
hierfür  den  direkten  Beweis  durch  Spektralbeobachtungen  zu  liefern ; 
es  würden  hierzu  wegen  der  Lichtschwäche  dieser  Sterne  ganz  enorme 
Hilfsmittel  nüthig  sein. 

Man  kann  aber  gleich  noch  einen  Schritt  weiter  gehen.  Damit 
überhaupt  bei  einem  Algolsystem  eine  wirkliche  Lichtveränderung 
durch  mehr  oder  weniger  vollständige  Bedeckung  eintreteu  kann,  mufs 
die  Bedingung  erfüllt  sein,  dafs  die  Bahnebene  der  beiden  Komponenten 
ganz  oder  genähert  in  der  Gesichtslinie  liegt.  Da  nun  jede  Bahnlage 
gleich  wahrscheinlich  ist,  murs  es  der  Wahrscheinlichkeit  nach  be- 
trächtlich mehr  enge  Doppelsternsysteme  geben,  als  sich  uns  durch 
den  Lichtwechsel  verrathen.  Diese  Sohlufsfolgerung  fand  sehr  bald 
ihre  Bestätigung  durch  die  Entdeckung  der  binären  Natur  von  i 
Virginia  durch  H.  C.  Vogel  und  von  ß Aurigae  und  ü Ursao  Maj. 
durch  Pickering.  Wir  wollen  uns  aber  in  betreff  dieser  Systeme 
nur  kurz  fassen  und  nur  darauf  aufmerksam  machen,  dafs,  während 
bei  a Virginis  ähnliche  Verhältnisse  vorliegen,  wie  bei  Algol,  nur  mit 
dem  Unterschiede,  dars  wegen  der  fehlenden  Verdeckung  der  hellen 
Komponente  durch  die  dunkle,  die  relative  Gröfse  der  beiden  Sterne 
nicht  bestimmt  werden  kann,  die  Entdeckungen  von  ß Aurigae  und 
' Ursae  Maj.  eigentlich  nicht  mehr  streng  in  unser  Thema  hineinge- 
hören. Bei  diesen  sind  nämlich  beide  Komponenten  hell,  und  senden 
uns  ihr  Licht  zu,  und  obgleich  sie  nicht  direkt  im  Fernrohr  trennbar 
sind,  so  gelingt  dies  doch  im  Spektroskope.  Hier  sind  die  den  einzelnen 
Körpern  zukommenden  Linien  deutlich  von  einander  zu  trennen,  und  es 
fehlt  die  eingangs  unseres  Aufsatzes  festgestellte  Bedingung,  dafs  die 
von  einem  unsichtbaren  Körper  ausgehende  Einwirkung  der  Gravitation 
auf  einen  sichtbaren  die  Rolle  des  Verräthers  spielt 

Und  nun  zum  Schlüsse  ein  anderes  Bild.  Wir  hatten  uns  den 
Lesern  als  Führer  aufgedrängt,  sie  auf  einen  Aussichtspunkt  zu  leiten 
in  schon  eiuigermafsen  bekannter  Gegend.  Und  wenn  wir  unterwegs 
auf  zum  Theil  recht  schwierigen  und  wenig  verlockenden  Pfaden  in 
irgend  einem  Durchblick  auf  ein  blinkendes  Gewässer  hinwiesen,  da 
haben  wir  oft  den  Ausruf  der  Enttäuschung  vernommen,  dafs  ihnen 
gerade  diese  Stelle  recht  gut  bekannt  sei,  und  mancher  hat  sich  bei 
Seite  gedrückt  und  ist  still  nach  Hause  geeilt.  Nun  sind  wir  auf  der 
Höhe  angelangt,  und  der  ganze  Erfolg  besteht  nur  darin,  dafs  wir  liier 
die  früher  hier  und  da  isolirt  erscheinenden  Wasserflächen  in  ihrem 
ganzen  Zusammenhänge  als  einen  mächtigen  Strom  erkennen,  der  seinen 


141 


gewundenen  Lauf  zu  unseren  Fiifsen  weiter  führt.  Anfang  und  Ende 
verlieren  sich  in  nebelhaftor  Ferne.  Das  ist  der  ganze  Gewinn 
unserer  Reise,  und  doch  würde  der  Führer  zufrieden  sein,  wenn  er 
hie  und  da  die  Bemerkung  vernehmen  könnte,  dafs  die  Aussioht, 
wenn  auch  nicht  schön,  so  doch  interessant  sei,  und  das  nun  erst 
ein  geordnetes  Verstiindnifs  der  vorher  nur  fragmentarisch  bekannten 
Gegend  erschlossen  sei. 


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Der  fünfte  Jupitermond. 

Durch  eine  kurze  Notiz  ist  in  dieser  Zeitschrift  bereits  mitge- 
theilt  worden,  dafs  Professor  Rarnard  am  9.  September  d.  J.  so 
glücklich  war,  mit  den  gewaltigen  Ilülfsmitteln  lies  grofsen  Refraktors 
der  Lick-Sternwarte  einen  neuen  Jupitertrabanten  zu  entdecken.  Es 
ist  dies  um  so  staunenerregender,  als  nunmehr  seit  beinahe  drei  Jahr- 
hunderten die  Welt  des  Jupiter  fast  alltäglich  rings  um  den  Erdball 
herum  von  Fachastronomen  sowohl  wie  auch  Dilettanten  untersucht 
und  bewundert  worden  ist,  ohne  dafs,  seit  eben  Galilei  mit  dem  ersten 
Blick,  den  er  durch  sein  neues  Fernrohr  dem  Jupiter  zuwandte,  die 
vier  bekannten  Jupitermonde  entdeckte,  sich  diesem  sekundären  System 
ein  neues  Glied  in  unserer  Kenntnifs  hinzugefügt  hätte.  Wir  ver- 
danken eben  diese  neue  und  ganz  ungemein  interessante  Entdeckung 
in  erster  Linie  der  durchdringenden  Lichtkraft  unserer  modernen  un- 
geheueren Sehwerkzeuge.  Der  neue  Weltkörper  ist  mit  einiger  Sicher- 
heit selbst  in  jenem  gröfsten  Fernrohre  der  Welt  nur  bei  Anwendung 
besonderer  Vorsichtsmafsregeln  deutlich  sichtbar.  Die  glänzende 
Scheibe  des  Jupiter  mufs,  um  ein  Uoborstrahlen  zu  verhüten,  entweder 
ganz  aufsorhalb  des  Sehfeldes  liegen  oder  durch  eine  dunkle  Scheibe 
in  demselben  verdeckt  werden.  Dieses  ist  um  so  notliwendiger,  als 
das  winzige  Lichtpünktchen  sich  im  höchsten  Falle  nur  um  drei  Vier- 
theile des  Jupitordurchmessers  von  dem  Rande  des  Planeten  entfernen 
kann.  Wegen  dieser  Schwierigkeit  ist  es  deshalb  bisher  mit  vielleicht 
nur  einer  einzigen  Ausnalimo  nicht  gelungen,  den  Himmelskörper 
durch  andere  Fernrohre  sichtbar  zu  machen,  obgleich  es  wohl  einige 
darunter  giebt,  welche  wenigstens  nahezu  dem  der  Lick-Sternwarte 
ebenbürtig  sind,  wie  etwa  der  Wiener  oder  Pulkowaer  Refraktor,  oder 
das  von  einem  durchsichtigen  Himmel  besonders  begünstigte  Instrument 
von  Nizza.  Nur  der  Greenwicher  Astronom  Turner,  welcher  sich 
derzeit  auf  der  Sternwarte  des  Professor  Young  in  Princeton  bei 
New -York  aufhielt,  glaubt  am  28.  September  zugleich  mit  einem 
jüngeren  Astronomen  dieser  Sternwarte  des  winzigen  Lichtpünktchens 


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143 


einige  Augenblicke  lang  ansichtig  geworden  zu  sein.  Es  wird  auf  der 
Erde  also  nur  sehr  wenige  Menschen  geben,  welche  diese  neue  Welt 
jemals  sehen  werden;  aber,  wie  bei  so  vielen  der  interessantesten 
astronomischen  Objekte,  so  sind  es  auch  hier  die  Gedankenreihen, 
welche  sich  an  das  blofse  Faktum  der  Existenz  dieses  Wellkörpers 
knüpfen,  die  unser  hauptsächlichstes  Interesse  wachrufen. 

Alles,  was  wir  von  demselben  positiv  wissen,  ist  neben  seiner 
ungemeinen  Lichtschwäche  nur,  dafs  er  sich  im  Maximum  um  circa 
2 V2  Halbmesser  der  Jupiterscheibe  (genauer  2,731)  vom  Mittelpunkt 
des  Hauptplaneten  entfernen  kann.  Zunächst  geht  aus  der  geringen 
Leuchtkraft  hervor,  dafs  der  neue  Mond,  falls  seine  Oberfläche  ungefähr 
dasselbe  Rückstrahlungsvermögen  (Albedo)  besitzt,  wie  seine  Kollegen  in 
dem  sekundären  Systeme,  nur  wenige  Zehner  von  Kilometern  im  Durch- 
messer besitzen  kann.  Ferner  kann  man  mit  Sicherheit  aus  den  direk- 
ten Beobachtungsresultaten  berechnen,  dafs  von  ihm  aus  die  Scheibe 
des  Jupiter  als  ein  Koloss  von  46*/j0  Ausdehnung  am  Himmel  er- 
scheinen müsste.  Wenn  also  der  untere  Hand  des  Jupiter  den  Hori- 
zont dieses  Mondes  berührt,  reicht  der  obere  Hand  halbwegs  bis  zum 
Zenith  empor.  Ist  Jupiter  zur  Hälfte  aufgegangen,  so  nimmt  er 
am  Horizont  den  achten  Theil  des  ganzen  Gesichtskreises  ein.  Die 
Sonne  erscheint  dort  bekanntlich  fünfmal  kleiner  als  bei  uns  und  des- 
halb 460  — bis  470  — mal  kleiner  als  Jupiter. 

< Ibgleich  nun  über  die  Geschwindigkeit  der  Bewegung  dieses 
neuen  Weltkörpers  um  den  Hauptplaneten  herum  durch  die  Beobachtung 
noch  nichts  Genaueres  ermittelt  worden  ist,  so  kann  man  dieselbe  doch 
mit  völliger  Genauigkeit  aus  den  Thatsachen  der  Beobachtung  be- 
rechnen. Es  ist  bekannt,  dafs  das  dritte  Keplerscho  Gesotz  es  ge- 
stattet, die  Umlaufszeit  eines  Weltkörpers  aus  seinem  Abstande  von 
seinem  Gravitationszentrum  zu  berechnen,  wenn  man  die  Anziehungs- 
kraft desselben  aus  einem  zweiten,  ihn  umkreisenden  Weltkörper  be- 
reits vorher  abgeleitet  hat.  Ausführlicher  ist  hiervon  in  einer  Reihe 
vom  Herausgeber  verfafster,  in  dom  ersten  Jahrgänge  dieser  Zeitschrift 
erschienener  Artikel  die  Rede.  Es  ergiebt  sich  dann,  dafs  die  ge- 
waltige Anziehungskraft  des  gröfsten  aller  Planeten  diesen  winzigen 
Körper  zwingt,  seinen  Umlauf  bereits  in  11  Stunden  49,6  Minuten  zu 
vollenden,  also  in  nahezu  einem  halben  Tage.  Die  Winkelgeschwindig- 
keit dieses  Mondes  ist  also  rund  60  mal  gröfser  als  die  unseres  Mondes. 
Er  bewegt  sich  nur  um  sehr  weniges  langsamer  herum  als  Jupiter 
selbst  sich  um  seine  Achse  dreht,  was  bekanntlich  sehr  sohnell  ge- 
schieht; der  Jupitertag  umfafst  nur  9 Stunden  55.6  Minuten,  infolge 


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dessen  sind  etwa  5 1 Umläufe  des  fünften  Satelliten  gleich  6'/4 
Jupitertagen  oder  innerhalb  dieser  Zeit  geht  der  Mond  für  Jupiter 
einmal  auf  und  unter.  Die  wirkliche  Geschwindigkeit  desselben  in 
seiner  Bahn  ist  aus  dem  Durchmesser  derselben,  welcher  24200  geo- 
graphischen Meilen,  also  rund  die  Hälfte  des  Abstandes  unseres  Mondes 
vom  Erdzentrum  beträgt,  leicht  zu  berechnen  und  beläuft  sich  auf 
3,6  Meilen  in  der  Sekunde.  Sie  ist  also  beinahe  so  schnell  wie  die 
Bewegung,  welohe  das  mächtige  Zentralgestim  des  Planetensystems 
unserer  Erde  aufnöthigt.  Durch  letztere  werden  wir  bekanntlich  in  jeder 
Sekunde  uni  vier  Meilen  weiter  durch  den  Weltraum  getragen. 

Die  oben  erwähnte  Entfernung  von  24200  Meilen  ist  vom  Jupiter- 
zentrum aus  gerechnet;  von  der  Jupiteroberfläohe  befindet  sich  der  Mond 
nur  14600  Meilen  entfernt;  nur  8l/2  Erdkugeln  an  einander  gereiht 
würden  die  Verbindung  zwischen  Mond  und  Jupiter  herstellen.  Das 
ist  eine  im  Verhältnifs  zu  den  übrigen  Dimensionen  des  Jupiter- 
systems ganz  abnorm  geringe  Entfernung  und  eine  ähnliche  Vorhält- 
nifszahl  findet  man  nur  beim  ersten  Mars-  und  ersten  Saturnmonde 
wieder. 

Ganz  abnorme  Verhältnisse  müssen  hier  auch  in  Bezug  auf  den 
Wettstreit  der  Sch werewirk  ungen  zwischen  diesem  Satelliten  und  seinem 
Hauptkörper  vorliegen,  denen  ein  Körper  auf  der  Oberfläche  dieses 
Satelliten  unterworfen  ist.  Es  zeigt  sich  nämlich,  dafs  selbst  bei  der 
unwahrscheinlichsten  Annahme  über  die  Gröfso  und  Dichtigkeit  des 
neu  entdeckten  Weltkörpers,  es  doch  ganz  unmöglich  ist,  dafs  die  An- 
ziehungskraft, welche  er  auf  einen  Gegenstand  seiner  Oberfläche  aus- 
übt, ebenso  grofs  sein  kann,  wie  die  Anziehungskraft,  welche  ihn  von 
dieser  Oberfläche  weg  dem  Zentralkörpor  zuzuführen  strebt.  Es  ist 
leicht  zu  berechnen,  dafs  ein  frei  schwebender  Gegenstand  in  der  Ent- 
fernung des  fünften  Jupitertrabanten  gegen  don  Planeten  hin  in  der 
ersten  Sekunde  1,93  m fallen  müfste.  Damit  er  dieses  selbe  Bestreben 
auch  gegen  den  Satelliten  hin  besitzen  und  folglich  dann  auf  der 
Oberfläche  des  letzteren  gewichtlos  ruhen  könne,  müfste  der  Mond, 
selbst  wenn  er  aus  dem  dichtesten  der  uns  bekannten  Stoffe,  aus 
Platin  bestände,  einen  Durchmesser  von  1300  km  besitzen.  Sollte  er 
aber  gar  nur  so  dicht  sein  wie  der  ihm  nächste  erste  Jupitertrabant, 
so  mürste  sein  Durchmesser  mehr  als  das  Zweifache  von  dem  der  Erde 
betragen.  In  Wirklichkeit  gehört  er  aber  bekanntlich  zu  den  kleinsten 
aller  Weltkörper;  es  ist  deshalb  kein  Zweifel,  dafe  etwaige  frei  be- 
wegliche Gegenstände  auf  seiner  Oberfläche  ein  Bestreben  haben 
müssen,  diese  Oberfläche  zu  verlasseu  und  gegen  den  Jupiter  hin  zu 


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fallen.  Die  ungeheure  Tangentialkraft  wird  solche  Gegenstände  zwar 
zunächst  in  der  vorgesehriebenen  Bahn  fosthalten,  aber  alles,  was  sich 
von  der  Oberfläche  durch  irgend  welche  physikalischen  Einwirkungen 
losbröckelt,  mufs  sich  infolge  dieser  überwiegenden  Anziehungskraft 
des  Jupiter  längs  der  Bahn  des  Satelliten  ausstreuen  und  der  Satellit 
selbst  mufs  ganz  in  derselben  Weise,  wie  nach  der  Schiaparellischen 
Theorie  sich  die  Kometenkerne  in  Sternschnuppenschwärme  auflösen, 
einen  Ring  bilden,  welcher  in  physischer  Hinsicht  mit  der  Konstitution 
der  Saturnringe  absolut  identisch  ist.  Auf  die  eigentümlichen  Ge- 
dankenreihen, welche  sich  hieran  knüpfen,  wird  sich  der  Verfasser 
erlauben,  ausführlicher  in  einem  nächsten  Artikel  zurückzukommen. 

Hier  sei  nur  noch  hinzugefügt,  dafs  der  merkwürdige  fünfte 
Satellit  vorläufig  noch  namenlos  geblieben  ist,  und  dafs  auch  wegen 
seiner  Namengebung  sich  vermutlich  einige  Schwierigkeiten  erheben 
werden.  Bekanntlich  sind  von  allen  permanenten  Himmelskörpern 
des  Sonnensystems  gerade  nur  die  vier  Jupitersatelliten  unbenamst 
geblieben;  sie  werden  mit  den  römischen  Ziffern  I,  II,  Hl,  IV  be- 
zeichnet, nach  Mafsgabe  ihrer  Abstände.  Der  neue  Satellit  ist  nun 
aber  in  dieser  Reihenfolge  der  erste;  die  Nummern  der  alten  müfsten 
also  konsequenterweise  um  eine  Einheit  weiterrücken;  dieses  würde 
aber  zu  den  gröfsten  Konfusionen  Anlafs  geben,  ist  also  ganz  un- 
durchführbar. Es  ist  vorgeschlagen  worden,  ihn  einfaoh  den  nullten 
Satelliten  zu  nennen,  vermutlich  wird  er  aber  wohl  einen  mytho- 
logischen Namen  erhalten  und  nebenher  der  fünfte  Satellit  heifsen, 
ohne  dafs  die  bisher  gebräuchlichen  Zahlen  der  anderen  eine  Ver- 
änderung erfahren.  M.  W.  M. 


Die  Ursachen  des  neuen  Sterns  im  Fuhrmann.  Im  vorigen 
Jahrgauge  unserer  Zeitschrift  (S.  289  und  378)  haben  wir  über  das 
merkwürdige  Schwanken  der  Helligkeit  dieses  Sterns  und  über  die 
Eigentümlichkeiten  des  Spektrums  berichtet,  sowie  der  Hypotesen 
gedacht,  welche  bisher  zur  Erklärung  der  Erscheinungen,  die  uns  jener 
interessante  Weltkörper  darbietet,  herangezogen  worden  sind.  Es  wurde 
darauf  hingewiesen,  dafs  bei  dem  plötzlichen  Aufleuchten  des  neuen 
Sterns  ein  zweiter  Körper  mitgewirkt  haben  mufs,  derart,  dafs  letzterer 
in  dem  neuen  Stern  eine  Fluthbewegung  hervorrief  und  durch  dessen 
Oberflächenkruste  Gasausbrüche  veranlafste.  Indessen  sind  diese  sowie 
andere  Ansichten  über  die  Ursachen  des  neuen  Sterns  wegen  ver- 
schiedener Schwierigkeiten,  die  sie  in  der  Erklärung  der  Erscheinungen 


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nicht  ganz  beseitigen,  nur  mit  gewisser  Reserve  annehmbar.  Nicht 
nur  die  starke  Verschiebung  und  Verbreiterung  einer  Anzahl  von 
Linien  in  den  beiden  supponirten  Spektren  des  Sterns  und  die  aufser- 
ordontliche  Geschwindigkeit,  mit  welcher  sich  die  beiden  Körper 
entfernen  (nach  Vogel  120  Meilen  in  der  Sekunde),  gehören  zu 
den  schwer  erklärbaren  Eigentümlichkeiten  des  Sterns,  sondern  na- 
mentlich auch  das  nunmehr  seit  fast  dreiviertel  Jahren  andauernde 
Schwanken  seines  Lichts.  In  letzterer  Beziehung  ist  schon  fünfmal 
das  Ansteigen  der  Lichtkurve  um  einen  nicht  unerheblichen  Be- 
trag beobachtet  (21.  Dezember,  3.  Februar,  18.  Februar,  2.  März, 
Ende  August)  und  mehrere  Minima  sind  bemerkt  worden.  Pro- 
fessor Seeliger  in  München  hat  aufserdem  kürzlich  durch  Rechnung 
gezeigt,  dafs,  wenn  die  Ursachen  des  Aufleuchtens  in  der  Einwirkung 
zweier  Körper  liegen,  diese  Einwirkung  auf  den  Stern  kaum  mehr  als 
ein  paar  Stunden  hätte  dauern  können,  da  sich  die  beiden  Körper  mit 
iiberaus  grofser  Geschwindigkeit  von  einander  entfernt  haben  müssten. 
Die  monatelange  Dauer  der  Lichtschwankung  stehe  jener  Annahme, 
abgesehen  von  manchen  andern  Schwierigkeiten,  entgegen.  Professor 
Seeliger  macht  darauf  aufmerksam,  dato  sich  die  verschiedenen  Er- 
scheinungen in  der  Beobachtung  des  neuen  Sterns  durch  die  folgende 
Hypothese  mit  einander  vereinigen  lassen:  Es  sei  durch  mancherlei 
Beobachtungen  neuerer  Zeit  nicht  mehr  zweifelhaft,  dafs  sich  im 
Weltraum  zerstreute  kosmische  Aggregate,  Ansammlungen  fein  ver- 
dünnter Materie,  die  wir  „kosmische  Wolken“  nennen  dürfen,  vorfindon. 
Sobald  ein  Weltkörper  in  eine  solche  kosmische  Wolke,  die  er  auf 
seinem  Wege  trifft,  eindringt,  wird  er  Erscheinungen  darbieten,  wie 
solche  beim  Aufleuchten  der  Meteoriten  in  den  höchsten,  verdünnten 
Schichten  der  Erdatmosphäre  auftreten.  Ebenso  wie  beim  Eindringen 
der  Meteoriten  in  die  Erdatmosphäre  diese  Körperchen  sich  erhitzen 
und  Lioht  einittiren,  kann  die  Erhitzung  des  Weltkörpers  in  einer 
kosmischen  Wolke  an  seiner  Oberfläche  so  bedeutend  werden,  dafs 
Lichterscheinungen  die  Folge  sein  müssen.  Seeliger  zeigt  rechnerisch 
durch  Vergleich  mit  den  Verhältnissen,  wie  sie  uns  die  Bewegung  der 
Meteoriten  darbieten,  dafs  die  Geschwindigkeit  des  in  die  Wolke  ein- 
dringenden Körpers  nur  wenig  durch  den  Widerstand  der  feinen  Materie 
verlangsamt  werden  kann  und  dafs  die  entwickelte  Wärmemenge  hin- 
reichend ist,  den  Körper  zum  mindesten  an  seiner  Oberfläche  ins 
Glühen  zu  bringen.  Daraus  erklärt  sich,  dafs  der  neue  Stern  so  lange 
Zeit,  nämlich  von  dem  Moment  an,  wo  er  in  die  Wolke  eingedrungen 
ist,  bis  jetzt  wenig  von  seiner  Bewegungsgeschwindigkeit  verloren  hat, 


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147 


und  dass  sich  die  Liohterscheinungen  durch  mehr  als  aoht  Monate 
haben  erhalten  können.  Schon  vor  dem  Eindringen  des  Körpers  in 
die  Wolke  wird  eine  Verlängerung  der  letzteren  durch  die  Anziehungs- 
kraft des  Körpers  bewirkt  worden,  die  Theilchen  der  Wolke  werden  in 
Bewegung  gerathen,  und  schliefslioh,  nach  dem  Eindringen,  werden 
die  Partikeln  der  Wolke  hyperbolische  Bewegungen  um  den  Körper 
beschreiben;  die  Geschwindigkeit  der  Theilchen  wird  mit  der  Ent- 
fernung vom  Körper  abnehmen,  und  die  Theilchen,  welche  die  Ober- 
fläche streifen,  können  endlich  eine  so  aufserordentlich  schnelle  Be- 
wegung erlangen,  wie  sie  beim  neuen  Stern  konstatirt  worden  ist, 
trotzdem  deren  Anfangsgeschwindigkeit  vielleicht  eine  sehr  geringe 
war.  Infolge  der  Erhitzung  werden  sich  um  den  eindringenden  Körper 
Verdampfungsprodukte  bilden,  die  sich  zum  Theil  von  ihm  ablösen 
und  alsbald  die  Geschwindigkeit  annehmen,  welche  die  niichstbefind- 
lichen  Theilchen  der  kosmischen  Wolke  besitzen.  Im  Spektroskope 
werden  wir  infolge  dessen  ein  kontinuirliches  Spektrum  des  glühenden 
Sterns  mit  Absorptionsstreifen  (der  um  den  Stern  lagernden  glühenden 
Gase  wegen)  sehen,  und  ein  zweites  Spektrum,  aus  meist  hellen  Linien 
bestehend,  darüber;  theilweise  werden  die  Linien  stark  verbreitert  und 
wegen  der  grofscn  Bewegung  im  Visionsradius  namentlich  stark  gegen- 
einander verschoben  sein  — Erscheinungen,  wie  sie  das  Spektrum  des 
neuen  Sterns  thatsächlich  aufgewiesen  hat.  Auch  das  langsume  Auf- 
und  Absohwanken  der  Helligkeit  dos  neuon  Sterns  hat  nicht  viel  Un- 
erklärbares, wenn  man  sich  daran  erinnert,  dafs  auch  die  Meteoriten 
während  ihrer  schnellen  Bewegung  durch  die  dünne  Atmosphäre  solche 
Maxima  und  Minima  ihres  Lcuchtens  beobachten  lassen,  und  dafs  die 
Verhältnisse  bei  einem  in  einer  kosmischen  Wolke  von  verschiedener 
Dichtigkeit  vordringenden  Körper  ähnliche  sein  müssen,  dass  nämlich 
verschiedene  Grade  der  Erhitzung,  je  nach  der  Dichte  des  Mittels,  ein- 
treten  werden.  * 

♦ 

lieber  neuere  Strahlenmessungen. 

Auf  Seite  197  ff.  vorigen  Jahrgangs  haben  wir  über  die  Methoden 
und  Resultate  der  Langleyschen  und  Boysschen  Strahlenmessungen 
berichtet.  Aus  den  dortigen  Ausführungen  ist  wohl  zur  Genüge  her- 
vorgegangen, ein  wie  wichtiges  Hülfsmittel  für  den  Astrophysiker  das 
Bolometer  bildet;  hat  es  doch,  um  nur  ein  Ergebnifs  zu  erwähnen 
gezeigt,  dafs  die  Strahlen,  welche  die  Sonne  durch  den  Weltenraura 
sendet,  anders  geartet  sind  als  diejenigen,  welche  durch  unsere  Atmo- 


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148 


Sphäre  wirklioh  zu  uns  herabgelangen,  dafs  wir  also  Geschöpfen  ver- 
gleichbar sind,  welche  auf  dem  Grunde  des  Ozeans  leben  und  sich 
nur  eine  unvollkommene  Vorstellung  davon  bilden  können,  wie  die 
spärlich  herabdringenden  Lichtstrahlen  an  der  Oberfläche  des  Wassers 
beschaffen  sein  mögen.  Ein  viel  glänzenderes  und  vor  allem  an  blauen 
Strahlen  reicheres  Tagesgestirn  würde  unserem  Auge  erscheinen,  wenn 
wir  uns  bis  zur  Grenze  der  Atmosphäre  zu  erheben  vermöchten. 

Es  ist  auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaften  keine  seltene  Er- 
scheinung, dafs  ein  Gedanke,  eine  Forsch ungsmethode  oder  ein  Instrument, 
welche  für  einen  bestimmten  Zweck  ersonnen  wurden,  auf  einem  ganz 
anderen  Gebiete,  etwa  in  Erfüllung  technischer  Aufgaben,  wiederum  eine 
Neubearbeitung  oder  eine  weitere  Verwerthung  finden.  Das  in  Rede 
stehende  Instrument,  welches,  wie  sein  Name  besagt,  Strahlen,  und 
zwar  speziell  die  Wärmewirkung  von  Strahlen  messen  will,  ist,  wie  es 
scheint,  dazu  berufen,  im  Beleuohtungswesen,  diesem  sich  so  leb- 
haft entwickelnden  Zweige  der  Technik,  eine  wichtige  Rolle  zu  spielen. 
Bekanntlich  leiden  die  Messungen  auf  diesem  Gebiete  trotz  der  treff- 
lichsten Photometer,  welche  die  Helligkeit  zweier  Lichtquellen  bis  auf 
Bruchtheile  eines  Prozentes  zu  vergleichen  gestatten,  an  dem  Mangel 
einer  wissenschaftlichen  Lichteinheit,  die  bestimmte  Beziehung  zu 
anderen  absoluten  Einheiten  hätte,  und  leicht  mit  einiger  Genauigkeit 
dargestellt  werden  könnte.  Der  Vorschlag  des  französischen  Physikers 
Viollo,  als  Einheit  dasjenige  Licht  zu  nehmen,  welches  von  einem 
Quadratoentimeter  der  Oberfläche  glühenden  Platins  bei  der  Schmelz- 
temperatur ausgestrahlt  wird,  hat  aus  naheliegenden  Gründen  diesem 
Mangel  nicht  abzuhelfen  vermocht.  Auf  der  technischen  Reichsanstalt 
zu  Oharlottenburg  benutzt  man  als  praktische  Vergleichslichtquellen 
Glühlampen,  welche  durch  einen  Strom  von  konstanter  Stärke  gespeist 
werden,  und  tieren  bei  längerem  Gebrauche  eintretende  Veränderung 
dadurch  leicht  kontrolirbar  wird,  dato  man  sie  mit  anderen,  nur  selten 
benutzten  Lampen  derselben  Art  vergleicht.  Neuerdings  haben  die 
Herren  Lummer  und  Kurlbaum  versucht,  diu  Wärmewirkung 
der  von  solchen  Lampen  ausgesandten  Lichtstrahlen  boloinetrisch  zu 
bestimmen;  wenn  dieser  Versuch  erfolgreich  ist,  so  ergiebt  sich  offenbar 
die  Möglichkeit,  Vergleiche  mit  der  Strahlung  einer  konstanten  Wärme- 
quelle anzustellen  und  so  zu  einer  Strahlungseinheit  zu  gelangen. 
Wir  wollen  die  betreffenden  Ausführungen1)  etwas  weiter  verfolgen, 
einmal,  weil  sie  als  Beitrag  zur  Erkenntnifs  der  Eigenschaften  des 

')  Wiedemann,  Ann.  1892  S.  204  ff. 


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149 


Bolometers  interessant  sind  und  deshalb  dein  immerhin  selten  benutzten 
Instrumente  weiteren  Eingang  verschaffen  dürften,  dann  aber  auch 
wegen  der  technisch  überaus  geschickten  Herstellungsmethode,  deren 
sich  die  Verfasser  bedient  haben. 

Erinnern  wir  zunäohst  noch  einmal  daran,  dafs  die  bolometrischo 
Messung  auf  der  Wheatstoneschen  Brücke  beruht:  Leitet  man  dem 
Drathviereck  ADBC  mittelst  des  Elemetes  E an  den  Ecken  A und  B 


Strom  zu,  so  ist  ein  zwischen  C und  D eingeschaltetes  Galvanometer 
stromlos,  sobald  zwischen  den  vier  Leitungswiderständen  die  Beziehung 
bestellt  Wj  : W3  = W2  : W4.  Bedarf  dieser  bekannte  Satz  noch  einer 
Versinnlichung,  so  könnte  man  an  eine  Wasserleitung  denken,  welche  von 
einem  höher  gelogenen  Punkte  A nach  einem  tiefer  liegenden  B 
Wasser  auf  zwei  Wegen  befördert.  Eine  verbindende  Querleitung  CD 
wird  stromlos  sein,  wenn  C und  D gleiches  Niveau  haben;  dafs  aber 
diese  Bedingung  analog  der  obigen  ist,  würdo  sich  ohne  Schwierigkeit, 
wenn  auch  nicht  ganz  kurz,  zeigen  lassen.  — Beim  Bolometer  wird 
nun  eins  der  Drahtstüoke,  z.  B.  W'4  erwärmt;  dadurch  erhöht  sich  dor 
Leitungswidersland,  und  das  Galvanometer  wird  von  einem  Zweigstrome 
durchflossen,  dessen  Stärke  im  Verhältnifs  zu  der  Widerstandsänderung, 
also  auch  der  Erwärmung  steht.  Es  kam  nun  den  Verfassern  auf 
zwei  Eigenschaften  des  Galvanometerausschlags  an;  erstens  soll  selbst- 
verständlich das  Instrument  empfindlich  sein;  einer  geringen  Bestrahlung 
soll  schon  ein  grofser  Ausschlag  entsprechen.  Nicht  minder  wichtig 
aber  ist  sodann,  dafs  bei  wiederholten  Messungen  sehr  nahe  dasselbe 
Resultat  erhalten  werde,  dafs  nicht  etwa  sohon  bei  unbestrahltein  Bolo- 
meter eine  Bewegung  der  Magnetnadel 


vorkomme,  was  aus  später  zu  besprechen- 
den Gründen  bei  bolometrischen  Messun- 
gen durchaus  nichts  Seltenes  ist.  Damit 
der  Ausschlag  bei  gegebener  Bestrahlung 
möglichst  grofs  werde,  mufs  zunächst  der 
Zweig  W4  aus  einem  Metall  bestehen, 
dessen  Widerstand  sich  mit  der  Tempe- 
ratur sehr  stark  verändert.  Dies  ist  der 
Fall  bei  dem  von  Langley  benutzten 


Eisen  und  nicht  minder  bei  dem  von 


den  Verfassern  zur  Anwendung  gebrachten  Platin.  Ferner  mufs 
der  Widerstand  des  bestrahlten  Theiles  ein  möglichst  grofser  sein 
und  gleichzeitig  mufs  die  den  Strahlen  ausgesetzte  Oborfiäche  eine 
grofse  Ausdehnung  haben.  Beide  Zwecke  erreicht  man,  wenn  man 


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dem  Metall  die  Form  eines  recht  dünnen  Blechstreifens  giebt,  welcher, 
wenn  es  sich  nicht  um  schmale  Strahlungsbezirke,  z.  B.  Spektrallinien 
handelt,  gitterartig  angeordnet  wird,  und  zwar  so,  dafs  der  Strom  die 
Stäbe  des  Gitters  der  Reihe  nach  durohfliefsen  mufs.  Durch  die  ge- 
ringe Dicke  des  Gitters  trägt  man  der  ferneren  Bedingung  Rechnung, 
dafs  nur  eine  geringe  Masse  zu  erwärmen  ist,  so  dafs  bereits  bei 
schwacher  Wärmezufuhr  eine  beträchtliche  Temperaturerhöhung  ein- 
tritt.  Das  Bolometer  reagirt  dann  ohne  grofse  Trägheit  auf  die  ein- 
treffenden Strahlen.  — Der  Ausschlag  des  Galvanometers  ist  ferner 
proportional  der  Stärke  des  benutzten  Hauptstroms,  und  deshalb  würde 
diese  möglichst  bedeutend  zu  wählen  sein,  wenn  nicht  noch  andere  Um- 
stände, eben  die  Ursachen  jener  oben  erwähnten  Störungen,  in  Betracht 
kämen.  Der  Strom  erwärmt  nämlich  die  vier  Brückenzweige  und  bringt 
dadurch  selbst  Widerstandsänderungen  hervor.  Ist  nun  schon  aus 
anderen  Gründen  das  Verhältuifs  der  Widerstände  einer  Briiokenkom- 
bination  dann  für  einen  grofsen  Ausschlag  am  günstigsten,  wenn  die 
vier  Zweige  gleichen  Widerstand  haben,  so  wird  dies  in  Anbetracht 
des  letzteren  Umstandes  um  so  mehr  der  Fall  sein  müssen;  denn  nur 
unter  dieser  Voraussetzung  ist  die  in  den  vier  einzelnen  Zweigen  ent- 
wickelte Wärmemenge  dieselbe.  Diese  Widerstandsabgleichung  genügt 
aber  nicht.  Trotz  derselben  bemerkt  man,  dafs  die  Nadel  des  Galvano- 
meters in  Bewegung  geräth,  sobald  man  den  Strom  schliefst,  und  dafs 
sie  ihre  Stellung  ändert,  wenn  man  eine  andorr  Stromstärke  benutzt. 
Der  Grund  liegt  darin,  dafs  zwar  die  entwickelten  Wärmemengen  ein- 
ander gleich  sind,  dafs  aber  die  durch  sie  hervorgebrachteu  Temperatur- 
erhöhungen auch  noch  abhängig  sind  von  der  Masse  der  Drähte,  welche 
ja  bei  gleichem  Widerstande  noch  sehr  verschieden  sein  kann ; ferner 
auch  von  der  Form,  da  z.  B.  ein  Blech  die  Wärme  an  die  Luft  schneller 
abgiebt,  als  ein  Draht.  Die  Verfasser  ziehen  daraus  den  wichtigen 
Schlufs,  dafs  man  sämtliche  vier  Zweige  in  jeder  Beziehung  einander 
gleich  gestalten  müsse. 

Mittelst  des  Langleyschen  Verfahrens,  dünne  Bleche  dadurch 
herzustellen,  dafs  man  feine  Drähte  flach  hämmert,  gelangt  man  zwar 
zu  hinlänglich  geringen  Dicken,  aber  jene  wünschenswerthe  Gleich- 
mäfsigkeit  läfst  sich  nicht  erzielen.  Deshalb  haben  die  Verfasser  ein 
sinnreiches  Verfahren  angewendet,  um  dünne  Platinbleche  zu  erhalten 
und  gleichzeitig  in  der  gewünschten  Gitterform  zu  montiren.  Ein  Platin- 
blech wird  mit  einem  etwa  zehnmal  so  dicken  Silberblech  zusammen- 
geschweifst  und  ausgewalzt.  Aus  den  ursprünglichen  Dimensionen 
des  Bleches  und  aus  den  Flächendimensionen,  welche  es  während  des 


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15L 


Walzens  annimmt,  ist  seine  Dicke  bekannt  und  kann  beliebig  regulirt 
werden.  Unter  Beobachtung  gewisser  Vorsichtsmafsregeln  läfst  sioh 
dies  Verfahren  bis  zu  einer  Dicke  der  Platinsohicht  von  etwa  0,0003  mm 
fortsetzen;  die  Verfasser  haben  eine  Schicht  von  0.001  mm  benutzt.  Das 
aus  den  beiden  Metallen  bestehende  Blatt  wird  auf  Glas  geklebt  und  mit- 
tels der  Theilmaschine  in  die  betreffende  gitterartige  Form  geschnitten. 
Dann  wird  es  auf  einen  kleinen  Rahmen  aus  isolirendem  Material  ge- 
klebt und  fertig  montirt,  also  mit  Zuleitungsdrähten  versehen  u.  s.  w- 
Erst  jetzt  löst  man  die  Silberschicht  mit  Salpetersäure  ab.  Weitere 
technische  Kunstgriffe  über  die  Behandlung  des  überaus  dünnen 
Blättchens,  ferner  die  Schutzvorrichtungen  gegen  Luftzug  u.  s.  w. 
wollen  wir  nicht  im  einzelnen  verfolgen.  Versuche,  bei  welchen  eine 
kleine  Glühlampe  von  ungefähr  drei  Kerzenstärken  aus  1 Meter  Ent- 
fernung das  Bolometer  bestrahlte,  ergaben  grorseGalvanometerausschläge, 
welche  bei  mehreren  Versuchen  sehr  nahe  übereinstimmten;  der  wahr- 
scheinliche Fehler  betrug  nur  0.01  pCt. 

Man  kann  nach  alledem  sagen,  dafs  die  Möglichkeit,  genaue 
Strahlungsmessungen  vorzunehmen,  durch  dieses  zuverlässige  neue 
Instrument  eine  wichtige  Bereicherung  erfahren  hat.  Sp. 

* 

Neue  Kometen.  Am  G.  November  wurde  von  Holmes  in  Green- 
wich im  Sternbilde  der  Andromeda  ein  heller  Komet  entdeckt.  Die 
Bahnelemente  desselben  konnten  erst  kürzlich  sicher  bestimmt  werden 
und  es  hat  sich  dabei  herausgestellt,  dafs  die  anfängliche  Vermuthung, 
seine  Bahn  fiele  mit  der  dos  Bit- laschen  Kometen  zusammen,  falsch 
war.  Doch  ist  auch  der  Holmessche  Komet  ein  periodischer  von 
7 Jahren  Umlaufszeit,  der  sich  dem  Jupiter  stark  nähern  kann.  — 
Am  21.  November  ist  ferner  von  Brooks  noch  ein  als  holl  bezeich- 
netor  Komet  in  der  Jungfrau,  am  24.  November  von  Free  mann  ein 
weiterer,  schwacher  Komet  in  den  Zwillingen  entdeckt  worden,  so  dafs 
zur  Zeit  im  Ganzen  fünf  teleskopischo  Kometen  beobachtbar  sind. 


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Lamberts  Pbotometrle.  Deutsch  herausgegeben  von  E.  Anding.  Nr.  31. 
3*2  und  33  von  Ostwald«  Klassikern  der  exacten  Wissenschaften. 
Preis  Mk.  2,00,  1,60  u.  2,50.  Leipzig,  Verlag  von  Wilhelm  Engel- 
mann.  1892. 

Das  vorliegende  Werk  kann  mit  Fug  und  Recht  als  eine  der  schätz- 
barsten unter  den  vielen  werth vollen  Gaben  bezeichnet  werden,  welche  uns 
Ostwalds  Unternehmen  der  Herausgabe  von  „Klassikern  der  exakten  Wissen- 
schaften1* bereits  bescheort  hat.  An  ding,  ein  Schüler  Professor  Seeligers, 
der  ersten  gegenwärtigen  Autorität  auf  dem  Gebiete  der  Pholometrie,  liefert 
in  dem  vorliegenden  Werke  nicht  nur  eine  sorgfältige  deutsche  Uebersetzung 
des  für  einen  wichtigen  Zweig  der  Astrophysik  und  viele  Fragen  der  Be- 
leuchtungstechnik gleich  bedeutsamen  Canons  des  photometrischen  Calculs, 
sondern  fügt  dem  Werke  noch  eine  reiche,  sieben  Druckbogen  füllende  Samm- 
lung von  eigenen  Anmerkungen  hinzu,  welche  theils  einige  Weglassungen  von 
gröfserem  Umfange  begründen,  theils  Unklarheiten  im  Ausdruck  des  Originals 
klar2ustellen  suchen,  vornehmlich  aber  das  Buch  durch  historisch-kritische 
Nachweise  so  weit  zu  vorvollständigen  bestimmt  sind,  dafs  es  auch  für  den 
Gelehrten  der  Gegenwart  als  ein  Lehr-  und  Handbuch  bei  der  Behandlung 
photometrischer  Aufgaben  benutzt  werden  könne,  ln  Anbetracht  dieser  Be- 
stimmung ist  es  besonders  dankenswerth,  dafs  nicht  blofs  die  Druckfehler  und 
Flüchtigkeiten,  von  denen  das  Original  strotzt,  richtig  gestellt  sind,  sondern 
dafs  auch  alle  Formelentwickelungen  aufs  genaueste  geprüft  und  von  nicht 
wenigen  in  ihnen  enthaltenen  Rechenfehlern  befreit  worden  sind.  Als  recht 
dringendes  Desideratum,  »lern  vielleicht  durch  einen  Nachtrag  noch  bald  Ge- 
nüge geleistet  werden  könnte,  müssen  wir  jedoch  eine  Inhaltsübersicht  nebst 
gutem  Sachregister  hervorheben.  Gerade  bei  einem  so  vielerlei  Probleme  be- 
handelnden Werke  ist  die  Erleichterung  der  Benutzung  durch  ein  gutes  Re- 
gister ausserordentlich  wünßchenswerth.  Auch  wäre  sicherlich  ein  an  den  be- 
treffenden Stellen  des  Textes  angebrachter  Hinweis  auf  die  Anmerkungen 
recht  zweckmässig  gewesen.  Solche  formale  Mängel  vermögen  indessen  natür- 
lich nicht  ira  mindesten  den  hohen  Werth  der  vorliegenden  mühevollen  Arbeit 
zu  verringern.  F.  Kbr. 


* 

N ewcom b- Engeltnanns  Populäre  Astronomie.  Zweite  vermehrte  Auf- 
lage, herauagegeben  von  Dr.  H.  C.  Vogel,  Direktor  des  astrophysi- 
kalischon  Observatoriums  in  Potsdam.  Leipzig  1892,  Verlag  von 
Wilhelm  Engelmann.  Preis  M.  13,  geb.  M.  15. 

Die  zum  ersten  Male  im  Jahre  1881  in  deutscher  Sprache  erschienene 
populäre  Astronomie  des  berühmten  Amerikaners  Simon  Newcomb  vereinigt 


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153 


unerkanntennafsen  so  viele  und  bedeutende  Vorzüge  in  sich,  daTs  sie  trotz  der 
nicht  geringen  Anzahl  guter,  zum  Theil  sogar  musterhafter  Darstellungen  des- 
selben Gegenstandes  durch  deutsche  Gelehrte  bei  den  Gebildeten  unseres 
Vaterlandes  eine  ausserordentlich  günstige  Aufnahme  gefunden  hat.  Diese 
Vorzüge  beruhen  im  wesentlichen  in  der  sonst  kaum  erreichten  Präzision  und 
Klarheit  der  Darstellung,  in  der  starken  Betonung  des  «historischen  Ent- 
wickelungsganges der  Wissenschaft  und  vor  allem  in  einer  trotz  populären, 
vielfach  sogar  begeisterungsvollen  Ausdrucks  niemals  ins  Phrasenhafte  ver- 
fallenden Wissenschaftlichkeit,  welche  das  ganze  Werk  erfüllt  und  welche  es 
auch  dem  Fachmanne  zu  einem  ihm  stets  zur  Seito  liegenden  Kompendium 
der  wichtigsten  Grundlehren  seiner  Wissenschaft  werden  liefs.  Der  Leser  darf 
in  dem  Buche  keine  blofs  unterhaltende  Nachmittagsplauderei  suchen,  sondern 
er  mufs  mit  dem  Vorsatz  an  die  Lektüre  gehen,  sich  in  die  Gruudzüge  der 
Himmelswissenschaft  durch  intensives,  eigenes  Nachdenken  zu  vertiefen.  Das 
denkende  Erfassen  des  Inhalts  einer  so  erhabenen  Wissenschaft  wird  ihm  aber 
dafür  auch  den  höchsten  geistigen  Genufs  verschaffen,  dessen  Menschen  fähig 
sind,  und  statt  oberflächlicher  Halbbildung  wird  er  eine  wahre.  Zinsen  tragende 
Durchbildung  soiner  Weltauffassung  gewinnen. 

Der  einzige  Fehler  des  Werkes  war  der,  dafs  es  iufolge  des  gewaltigen  Fort- 
schritts der  Sternkunde  im  letzten  Jahrzehnt  jetzt  bereits  als  theilweiso  veraltet 
gölten  mufste.  Daher  begrüfsen  wir  es  mit  grofser  Freude,  dafs  es  nunmehr  in 
verbesserter  Auflage,  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Wissenschaft  angepafst,  er- 
scheint Diese  Freude  wird  noch  durch  den  Umstand  besonders  erhöht,  dar»  es  der 
Verlagshandlu ng  gelungen  ist,  an  Stelle  des  leider  inzwischen  verstorbenen,  ver- 
dienten Herausgebers  Rud.  Eiigelinann  Herrn  Geheimrath  Vogel  in  Potsdam 
zu  gewinnen.  Wer  selbst  einen  so  hervorragenden  Antheil  an  der  Förderung  der 
Wissenschaft  genommen,  wie  dieser  Gelehrte,  kann  am  besten  den  relativen  Werth 
der  zahlreichen  neueren  und  neuesten  Entdeckungen  beurtheilen  und  ihnen 
den  gebührenden  Platz  in  einem  Werke,  wie  dem  vorliegenden,  anweiseu. 
Besonders  günstig  für  die  Neugestaltung  des  Buches  ist  ferner  der  Umstand 
gewesen,  dafs  dor  Bearbeiter  ein  Astrophysiker  ist,  denn  dadurch  wurde  den 
astrophysikalischen  Gebieten,  die  bei  New  comb,  dom  grofsen  Meister  der 
Theorie,  etwas  zu  kurz  gekommen  waren,  die  ihnen  in  einer  populären  Astro- 
nomie zukommende  Stellung  gesichert.  Letzteres  Ziel  konnte  freilich  nur  durch 
eine  mühevolle,  gänzliche  Umgestaltung  ganzer  Abschnitte  erreicht  werden. 
Herr  Geheimrath  Vogel  hat  es  trotzdem  verstanden,  das  Werk  ohne  wesent- 
liche Vergröfserung  seines  Umfanges  auf  die  Höhe  der  houtigen  Wissenschaft 
zu  heben.  Die  äufsere  Ausstattung  ist  ebenfalls  wesentlich  bereichert  worden, 
nicht  blofs  infolge  Ersetzung  zahlreicher  minderwerthiger  Illustrationen 
durch  neue,  vortreffliche  Holzschnitte,  sondern  auch  durch  die  Hinzufügung 
einer  photographischen  Tafel,  welche  vorzügliche  Aufnahmen  des  Orion-  und 
Andromeda-Nebels  iu  direkten  Original- Abzügen  vor  Augen  fuhrt.  Wünschens- 
wert wäre  wohl  auch  eine  Reproduktion  der  epochemachenden  neuen  Mars- 
und  Merkurzeichnungen  Sch  iaparell  i’s  gewesen,  zumal  eine  Abbildung  des 
letzteren  Planeten  gänzlich  fehlt.  Die  Weglassung  des  in  der  früheren  Auflage 
als  Anhang  beigegebenen  Literaturverzeichnisses,  sowie  der  Sternkarte  werden 
viele  Leser  mit  uns  bedauern,  indessen  kann  man  freilich  den  dafür  mafs- 
gebend  gewesenen  Gründen  nicht  unbedingt  widersprechen.  Schliofslioh 
können  wir  an  dieser  Stelle  nicht  unerwähnt  lassen,  dafs  zu  den  gröfsten,  in 
einem  besonderen  Verzeichnis  aufgezählten  Fernrohren  auch  der  durch  Ver- 
sehen fortgolasBene  1*2  zöllige  Refraktor  der  Urania  in  Berlin  gehört.  — 

Dafs  das  vortreffliche  Werk  in  seiner  neuen  Gestalt  zahlreiche  neue  Freunde 
Himmel  und  Erde.  1892.  V.  3.  11 


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154 


in  Kurzem  gewinnen  wird,  ist  uns  nicht  zweifelhaft:  dem  Herausgeber  werden  die 
Gebildeten  unserer  Nation  sicherlich  überaus  dankbar  dafür  sein,  dafs  er  trotz- 
seiner  wichtigen  Forschungsarbeiten  die  mühevolle  Durchsicht  und  Neuge- 
staltung der  Darstellung  des  heutigen  astronomischen  Wissens  auf  sich  ge- 
nommen hat  F.  Kbr. 


W.  «langen,  Hauptmann  a.  D.:  Die  Kreiselbewegung.  Untersuchung  der 
Rotation  von  Kflrpern,  welche  in  einem  Punkte  oder  garnicht  unter- 
stützt sind.  Mit  vielen  Abbildungen.  Berlin,  Friedrich  Luckhardt. 
1891. 

Eine  Reihe  werth voller  Versuche  über  die  Bewegung  des  Kreisels  und 
über  das  Verhalten  geschofsartiger,  um  ihre  Längsachse  rotirender  Körper  ist 
hier  anschaulich  beschrieben.  In  den  aufgestellteu  Theorien  und  der  Deutung 
der  Versuche  können  wir  nicht  überall  mit  dem  Verfasser  übereinstimmen. 

»Steht  ein  rotirender  Kreisel  in  schiefer  Lage  auf  einer  wagerechteu  Platte, 
so  scheint  anfangs,  während  mehrerer  Umdrehungen,  seine  Achse  ihre  Richtung 
unverändert  beizubehalten,  bei  längerer  Beobachtung  erkennt  man  aber,  dafs 
nur  ihre  Neigung  gegen  den  Horizont  eine  bleibende  ist,  während  eine  lang- 
same seitliche  Richtungsänderung  stattilndet.  Die  Achse,  die  man  sich  weit 
nach  oben  verlängert  denken  mag,  scheint  also  jetzt  einen  Kegelmantel  zu 
beschreiben  und  zwar,  nach  dem  einfachen  Merkmal  des  Verfassers,  in  der- 
selben Richtung,  in  welcher  sich  die  Rotation  des  Kreisels  vollzöge,  wenn  man 
seine  Achse  zu  senkrechter  Lage  aufrichtete.  Hiermit  ist  die  Bewegung  noch 
nicht  durch  alle  Phasen  verfolgt  Der  Kegelmantel  wird  mit  der  Zeit  enger, 
es  findet  also  ein  langsames  Aufrichten  der  Achse  statt,  welches  man  gewöhnlich 
als  eine  von  der  Reibung  herrührende  Unvollkommenheit  betrachtet.  Man  ist 
hierzu  berechtigt,  weil  die  mathematische  Theorie  des  Kreisels  unter  Vernach- 
lässigung der  Reibung  zu  dem  Resultate  führt,  dafs  die  Achse,  von  periodischen 
Schwankungen  abgesehen,  eine  konstante  mittlere  Neigung  bewahrt.  Die  Er- 
scheinungen bleiben  ähnlich,  wenn  man  die  Spitze  des  Kreisels  zwingt,  in 
einem  festen  Punkte  der  Platte  zu  verharren,  nur  zeigt  dann  der  Versuch  ein 
allmähliches  Sinken  der  Achse,  welches  jedenfalls  der  Reibung  zuzuschreiben  ist. 

Der  Verfasser  bezweifelt  den  eben  dargelegten  Kinflufs  der  Reibung  und 
sucht  durch  Versuche  genaueres  zu  ermitteln.  Ein  Kreisel  mit  schmiedeeiserner 
Spitze  richtete  seine  Achse  zur  Senkrechten  auf.  wenn  er  auf  einer  Glasplatte 
lief,  wurde  diese  mit  einem  Blatt  Papier  bedeckt  so  durchbohrte  er  dieses  und 
richtete  sich  wieder  auf.  Lag  aber  eine  Schicht  von  vier  Blättern  auf  der  Platte, 
so  senkte'  sich  die  Achse,  nachdem  sich  die  Spitze  ein  Lager  gebohrt  hatte. 
Im  ersten  Falle  sei  fast  gar  keine  Reibung  vorhanden,  im  zweiten  eine  massige, 
im  dritten  finde  die  Achse  in  dem  Lager  eine  sehr  starke  zapfenartige  Reibung. 
Also  finde  bei  fehlender  Reibung  ein  Aufrichten  der  Achse  statt,  dieses  werde 
durch  eine  geringe  Reibung  erschwert  und  gehe  bei  starker  Reibung  sogar  in 
ein  Sinken  über.  Diese  Schlüsse  sind  unzulässig.  Im  ersten  Falle  ist  die 
Reibung  durchaus  nicht  völlig  beseitigt,  im  zweiten  und  dritten  hat  sie,  so 
lange  die  Papierblättor  unversehrt  sind,  einen  und  denselben  Werth,  ist  aber 
erst  die  Papierschicht  durchbohrt,  so  sind  die  mechanischen  Bedingungen  so 
verändert,  dafs  man  die  drei  Bewegungen  nicht  mehr  nach  der  Gröfse  der 
Reibung  allein  vergleichen  kann.  In  dem  dritten  Fall  wird  die  Spitze  des 
Kreisels  durch  die  vier  Papierränder  so  fest  gehalten,  wie  etwa  der  feste  Punkt 


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155 


■der  Achse  eines  Gyroskope«,  im  zweiten  Fall  scheint  die  äufserste  feine  Spitze 
der  Achse  noch  genug  Spielraum  zu  ihren  spiralförmigen  Bewegungen  gehabt 
zu  haben,  die  sich  auf  Glas,  nicht  auf  Papier  vollzogen. 

Schliefst  man  sich  jodoch  der  Auffassung  des  Verfassers  an,  so  steht  man 
nun  Tor  der  Frage,  wie  das  Aufrichten  der  Kreiselachse  ohne  Einwirkung  der 
Reibung  zu  begreifen  sei.  Bei  vollkommener  Symmetrie  des  Kreisels  hält  der 
Verfasser  — in  Uebereinstimmung  mit  der  üblichen  Ansicht  — ein  solches  in 
der  That  für  unmöglich,  er  nimmt  deshalb  an,  dafs  ein  wesentliches  Erfordernifs 
flir  das  Aufrichten  eine  praktisch  immer  vorhandene  Asymmetrie  sei.  Stollte 
er  eine  solche  künstlich  her,  indem  er  leidlich  symmetrische  Kreiselscheiben 
mit  Ueberge wichten  von  1,  2,  3,  4 g versah,  so  fand  das  Aufrichten  etwa  in 
180,  00,  45,  10  Sek.  statt,  also  desto  schneller,  je  gröfser  das  Uebergewicht  war. 
Sollte  man  hiernach  nicht  erwarten,  dafs,  wenn  es  wirklich  vor  allem  auf  die 
Asymmetrie,  nicht  auf  die  Reibung  ankomme,  bei  einem  fast  unmerklichen 
Uebergewicht  von  etwa  lOOmal  kleinerem  Werth  das  Aufrichten  der  Achse  eine 
aufserordentlich  lange  Zeit  erfordern  müfste?  Auch  scheint  es  für  die  Wirkung 
gleichgültig  zu  sein,  ob  man  das  Uebergewicht  in  diesem  oder  jenem  Punkte  des 
Scheibenumfangs  befestigt.  Brächte  man  also  je  1 g in  vier  am  Umfang  glcichmäfeig 
vertheilten  Punkten  an,  so  sollte  dadurch  das  Aufrichten  ebenso  wie  durch  4 g 
in  einem  Punkte  beschleunigt  werden,  aber  der  Kreisel  wäre  doch  dann  wieder 
vollkommen  symmetrisch! 

Wir  glauben  daher  nicht,  dafs  die  Versuche  mit  unsymmetrischen 
Kreiseln  wesentlich  dazu  beitragen  können,  das  Aufrichten  der  Achse  gewöhn- 
licher Kreisel  zu  erklären.  Damit  soll  ihnen  jedoch  ihr  Werth  für  weitere 
Untersuchungen  nicht  abgesprochen  werden. 

Von  den  vielen  Versuchen  über  das  Vorhalten  geschofsartiger,  in  der 
Luft  frei  rotirender  Körper  heben  wir  folgenden  heraus.  Aus  Birkenholz  war 
ein  Rotationskörper  hergestellt,  der  die  Gestalt  eines  Cylinders  mit  aufge  setzter 
konischer  Spitze  hatte,  der  Boden  war  mit  einer  Bleischeibe  beschwert.  Liefs 
man  diesen  Körper  ohne  Rotation  aus  einer  Höhe  von  15  ra  frei  herahfallen, 
und  hatte  die  Achse  anfangs  eine  horizontale  Lage,  so  stellte  sie  sich  nach 
einigen  Schwankungen  vertikal  in  die  Richtung  der  Bahnlinie,  so  dafs  der  be- 
schwerte Boden  voranging.  Gab  man  aber  durch  eine  besondere  Vorrichtung 
mittelst  einer  starken  Spirale  dem  mit  der  Spitze  nach  vorn  gerichteten  Körper 
bei  Beginn  der  Bewegung  eine  starke  Rotation  in  Richtung  des  Uhrzeigers  um 
seine  horizontale  Achse,  in  deren  Verlängerung  ein  langes  dünnes  Holzstäbchen 
befestigt  war,  so  blieb  die  Rotationsachse  anfangs  sich  selbst  parallel,  und  drehte 
sich  bei  wachsender  Fallgeschwindigkeit  erheblich  nach  rechts.  Diesor  lehr- 
reiche Versuch  läfst  sich  leicht  wiederholen,  das  Federgehäuse  zum  „Ankreiseln" 
ist  als  Zubehör  mancher  Kreisel  (toupie  & ressort,  plus  de  ficelle)  käuflich,  die 
Holzkörpor  sind,  um  sie  mittelst  dieser  Vorrichtung  in  Rotation  zu  versetzen, 
am  Boden  mit  einer  eisernen  Achse  zu  versehen,  die  einen  kleinen  Querstift 
trägt.  Läfst  man  denselben  Körper  auf  der  Spitze  der  eisernen  Achse  als 
Kreisel  laufen,  so  droht  sich  die  Achse  langsam  in  entgegengesetzter  Richtung, 
also  nach  links.  Dies  scheint  uns  leicht  verständlich.  Denn  die  Drehung  der 
Kreiselache  um  die  festgehaltene  Kreiselspitze  rührt  von  der  Einwirkung  der  im 
Schwerpunkt  nach  unten  ziehenden  Schwere  her,  dagegen  rühren  die  Bewegungen 
des  fallenden  Geschosses  um  seinen  Schwerpunkt  von  dem  nach  oben  drückenden 
Luftwiderstände  her,  dessen  Angriffspunkt  vor  dom  Schwerpunkt  liegt  Die 
Drehungen  der  Achse  müssen  deshalb  in  beiden  Fällen  einander  entgegenge- 
setzt sein. 

11* 


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156 


Ebenso  werden  rotirende  Geschosse  ihre  Achse  um  die  augenblickliche 
Tangente  zur  Flugbahn  drehen.  Da  aber  bei  diesen  die  Rotationsachse  und 
die  Bahntangente  bei  Beginn  der  Bewegung  einander  parallel  sind,  so  wird 
die  Abweichung  zwischen  beiden  nie  so  grofs  werden,  wie  in  dem  beschriebenen 
Versuche,  wo  die  beiden  Richtungen  anfangs  auf  einander  senkrecht  standen. 
Aufser  dem  Luftwiderstände  und  der  Lage  des  Schwerpunkts  hat  auch  eine 
etwaige  Unsymmetrie  einen  sehr  grofsen  Einilufs,  den  der  Verfasser  durch 
sorgfältige  Versuche  zu  ermitteln  sucht.  Wir  glauben  aber,  dafs  er  mit  Unrecht 
diesen  Einflufs  auch  dann  noch  für  erheblich  und  ausschlaggebend  hält,  wenn 
die  Unsymmetrie  selbst  kaum  merklich  ist. 

Die  astronomischen  Folgerungen,  die  sich  aus  einer  angenommenen  Asym- 
metrie des  Erdkörpors  orgäben,  dürften  wohl  mit  den  augenblicklich  zur  Ver- 
fügung stehenden  Beobachtungsmitteln  noch  nicht  wahrnehmbar  sein.  M.  K. 


Verl  »ff  von  Hermann  I'aetel  in  Berlin.  — Druck  von  Wilhelm  Gronau'fl  Buchdruckerei  io  Berlin. 
Für  die  RedacUon  verantwortlich : Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin, 
rnberechligter  Nachdruck  »uh  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersag-t, 
Uebersetstutgsrecht  Vorbehalten 


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Land-  und  Seeklima. 


Von  Dr  Willi  Ile  in  Hall«  a.  S. 


re  das  Klima  der  Erde  nur  von  der  Gröfse  der  Sonnen- 
bestrahlung abhängig,  so  inüfste  es  den  mathematisch -astro- 
nomischen Linien,  mit  denen  wir  unseren  Planeten  umziehen, 
durchaus  angepafst  erscheinen.  Durch  die  Wendekreise  und  die  Polar- 
kreise wären  die  wichtigsten  klimatischen  Zonen  gegeben.  Inders  ein 
solches  solares  Klima  ist  in  Wirklichkeit  nicht  vorhanden.  Dasselbe 
würde  eine  vollständige  Gleichartigkeit  der  Erde  in  Gestalt  und  Be- 
schaffenheit voraussetzen  und  auch  das  Vorhandensein  einer  in  ihren 
Bestandteilen  veränderlichen  Atmosphäre  ausweisen.  Das  Klima  ist 
eben  keineswegs  allein  von  der  Menge  der  Sonnenstrahlen  abhängig. 
Ob  Wasser  oder  Land,  ob  Vegetation  oder  Wüste,  ob  Gebirge  oder 
Ebenen  die  Oberfläche  der  Erde  bilden,  ist  oft  von  weit  gröfserer 
Bedeutung  Tür  den  klimatischen  Zustand  eines  Ortes,  als  die  geo- 
graphische Breite  desselben.  Mit  dem  Vorwalten  dieses  oder  jenes 
Faktors  ändert  sich  die  Wirkung  der  Sonnenstrahlen  und  damit  das 
Klima,  d.  h.  die  Gesamtheit  der  meteorologischen  Erscheinungen. 

Dem  solaren,  ideellen  Klima  steht  ein  von  den  tellurisohen  Ver- 
hältnissen modifiziertes,  aber  reales  Klima  gegenüber. 

Dieses  sogenannte  physische  Klima  zeigt  in  einer  mit  der  Zu- 
nahme des  Beobachtungsmateriales  sich  stetig  mehrenden  Klarheit 
zwei  grofse  klimatische  Gruppen,  von  denen  die  eine,  durch  die 
vertikalen  Verhältnisse  verursacht,  als  Höhen-  und  Thalklima,  die 
andere,  durch  die  horizontale  Vertheilung  von  Wasser  und  Land  be- 
dingt, als  See-  und  Landklima  uns  entgegentritt. 

Gerade  die  letzte  Gruppe  ist  es,  welche  der  Erdoberfläche  in 
mancherlei  Hinsicht  bestimmte  Züge  aufprägt  und  welche  darum  in 

Himmel  und  Erd«  1866.  V.  <4.  IS 


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der  Erdkunde  einen  der  wichtigsten  Faktoren  ausmacht.  Wenn  schon 
den  Gelehrten  des  klassischen  Alterthum«  der  klimatische  Gegensatz 
von  Wasser  und  Land  bekannt  war,  so  beweist  das  doch  gewifs.  wie 
«ufserordentlich  hervorspringend  die  ganze  Erscheinung  ist. 

Doch  die  uralte  Kenntnifs  der  Thatsache  hat  nicht  ebenso  sohnell 
auch  zur  Ergründung  derselben  geführt.  Erst  der  allerjüngsten  Zeit 
blieb  es  Vorbehalten,  die  durch  die  Beobachtung  erwiesene  Erscheinung 
auch  physikalisch  zu  erklären.  Der  Grund  hierfür  liegt  auf  der  Hand. 
Die  physikalische  Erklärung  konnte  nicht  eher  gefunden  werden,  als 
bis  überhaupt  die  Physik  der  Luft  in  ihren  wesentlichen  Grundsätzen 
erforscht  war.  Gegenwärtig  ist  nun,  Dank  der  unermüdlichen  Thätig- 
keit  der  Gelehrten  auf  diesem  Gebiete,  die  Kenntnifs  von  den  Gesetzen, 
welche  die  atmosphärischen  Vorgänge  beherrschen,  bis  zu  dem  Grade 
fortgeschritten,  dafs  man  ohne  Bedenken  an  die  Erklärung  der 
wuchtigsten  klimatischen  Erscheinungen  herantreten  kann. 

Die  beiden  klimatischen  Grundsätze  Land-  und  Seokliina  kommen 
nalurgemäfs  auch  in  deu  klimatologischen  Karten  deutlich  zum  Aus- 
druck. Die  geographische  Vertheilung  der  einzelnen  klimatischen 
Konstanten  soll  uns  daher  als  erster  Leitfaden  für  unsere  Unter- 
suchung dienen. 

Beginnen  wir  unsere  Betrachtung  mit  der  Vertheilung  der 
Temperatur  diese  bildet  ja  die  letzte  Ursache  aller  meteorologi- 
schen Erscheinungen  — , so  begegnen  wir  hier  zunächst  einer  geradezu 
endlosen  Mannigfaltigkeit.  Manches  dem  Polarkreis  nahe  gelegene 
Land  besitzt  zeitweise  eine  höhere  Temperatur,  als  andere  Länder  in 
der  Nähr  der  Tropen;  manche  Gegend  der  gemäl'sigten  Zone  wieder 
ist  brennend  lu  ifs  im  Vergleich  zu  Gegenden  des  Aeqtiatoriulgebietes; 
selbst  unter  dem  Aequator  finden  wir  auf  den  höchsten  Gipfeln 
ewigen  Schnee  und  Eis.  Unentwirrbar  würde  das  Netz  von  Linien 
sein,  welche  die  Orte  gleicher  Temperatur  mit  einander  verbänden. 
Um  Uebersicht  in  diese  Mannigfaltigkeit  zu  bringen,  ist  es  nüthig, 
der  Thatsache  Rechnung  zu  tragen,  dafs  die  Temperatur  der  Luft  uüt 
der  Erhebung  abnimmt.  Dies  geschieht  durch  Reduktion  der  Tempe- 
ratur auf  ein  gemeinsames  Niveau,  als  welches  man  den  Spiegel  des 
Meeres  bestimmt  hat.  Verbindet  man  dann  die  Orte  gleicher  redu- 
zierter Wärme  mit  einander,  so  bekommt  man  eine  Reihe  von  Linien, 
sogenannte  Isothermen,  welche  zwar  immer  nooh  vielfache  Krüm- 
mungen aufweisen,  aber  doch  im  allgemeinen  einen  übersichtlichen 
Verlauf  zeigen. 

Die  geographische  Vertheilung  der  Temperatur  ist  uun  während 


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tles  Jahres  einem  beständigen  Wechsel  unterworfen;  dem  Stande  der 
Sonne  entsprechend  ist  sie  eine  andere  im  Sommer,  eine  andere 
unter  der  Herrschaft  des  Winters.  Die  mittlere  Jahrestemperatur  wird 
oft  diese  jahreszeitlichen  Gegensätze  verhüllen.  Ein  Ort  mit  aufser- 
ordentlich  kaltem  Winter  und  heifsem  Sommer  wird  im  Jahresmittel 
die  gleiche  Temperatur  haben  können,  wie  ein  anderer  Ort,  dessen 
Sommer  und  Winter  sich  in  thermischer  Hinsicht  mir  wenig  von 
einander  unterscheiden.  Für  eine  Untersuchung,  in  welcher  es  sich 
gerade  um  die  verschiedene  Erwärmung  einzelner  Theile  der  Erde 
handelt,  wird  sich  daher  die  Jahrestemperatur  nur  wenig  eignen: 
hier  sind  zur  Prüfung  vielmehr  die  thermischen  Zustände  im  Sommer 


Fig.  I.  Januarisoihermen  (nach  Hann)  and  Janiiarisanomalen  (nach  Spitaler). 

(Die  schraffierten  Gebiete  haben  positive  Anomalie). 

und  Winter  gesondert  hernnznziehen,  die  uns  die  Vertheilung  der 
Temperatur  kennen  lehren  sowohl  zur  Zeit  des  höchsten  Standes  der 
Sonne,  also  der  stärksten  Erwärmung  der  Erde,  wie  zur  Zeit  der 
geringsten  Erwärmung  derselben. 

Wenden  wir  zuniiciist  unseren  Blick  auf  die  Karte  der  Wiinne- 
vertheilung  auf  der  Erde  während  unseres  Winters  (Fig.  1),  für  die 
man  als  typisch  diejenige  des  Januar  annimmt.  Hier  zeigen  sich  in 
dem  Verlauf  der  Isothermen  innerhalb  der  mittleren  und  höheren 
Breiten  der  nördlichen  Hemisphäre  aufserordentlich  charakteristische 
Erscheinungen.  Die  Isothermen  senken  sich  regelmiifsig  bei  dem 
Uebergang  vom  Meere  zum  Lande  iiquatorwärts,  zuweilen  in  dem 
Mafse,  dafs  ihre  Richtung  sogar  eine  rein  meridionale  wird.  Dieses 
Herabsteigen  der  Isothermen  nach  niederen  Breiten  setzt  sich  dann 
über  den  ganzen  Kontinent  hin  fort  und  erst  in  der  Nähe  der  ent- 
gegengesetzten Küste  beginnen  dieselben,  sich  wieder  nach  Norden 

12* 


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160 


zu  erheben.  Ueber  den  Ozeanen  selbst  aber  gehen  sie  weit  in  die  nörd- 
lichen Regionen  hinein,  von  denen  sie  dann  bei  der  Annäherung 
zum  jenseitigen  Kontinent  wieder  zu  niederen  Rreiten  zurückkehren. 
Wenn  wir  daher  auf  einem  nördlichen  Parallelkreis  während  des 
Januar  die  Erde  umkreisen  wollten,  so  würden  wir  bei  dem  Eintritt 
in  das  Land  stets  in  immer  kältere  Gebiete  gelangen,  während  der 
Austritt  aus  demselben  uns  umgekehrt  gröfserer  Wärme  zuführen 
müfste.  Das  Klima  über  dem  Lande  ist  somit  während  des  Winters 
kalt,  das  über  dem  Meere  verhältnifsmäfsig  warm. 

Allein  nicht  auf  der  ganzen  Winterhemisphäre  ist  dies  der  Fall. 
In  den  niederen  Breiten  zeigen  die  Isothermen  geradezu  den  umge- 
kehrten Verlauf.  Schon  die  20°  — Isotherme,  welche  ganz  der  Tropen- 
zone angehört,  kann  theilweise  als  Belag  hierfür  gelten;  sie  be- 
schreibt über  Nordafrika  und  Südasien  deutlioh  einen  nach  Süden 
geöffneten  Bogen.  In  den  niederen  Breiten,  wo  Winter  und  Sommer 
keine  klimatisch  scharf  getrennten  Jahreszeiten  sind,  ist  also  im 
allgemeinen  während  des  Januar  das  Land  das  wärmere,  das  Meer 
das  kältere  Gebiet. 

Ein  ganz  anderes  Bild  bieten  die  Juliisothermen  (Fig.  2),  welche 
die  sommorliohe  Temperaturvertheilung  auf  unserer  Hemisphäre  re- 
präsentieren, dar.  Im  Juli  verlaufen  die  Linien  gleicher  Temperatur 
derart,  dafs  sie  gerade  bei  dem  Eintritt  in  das  Land  nach  Norden 
Ansteigen  , und  erst  bei  der  Annäherung  an  die  entgegengesetzte 
Küste  sich  wieder  nach  Süden  wenden.  Auf  den  Meeren  aber  bilden 
in  dieser  Jahreszeit  die  Isothermen  im  allgemeinen  sanfte,  nach 
Norden  geöffnete  Bogen.  Es  führt  uns  zur  Zeit  des  Sommers  dem- 
nach eine  Wanderung  auf  dem  Parallel  um  die  Erde  bei  dem  Ueber- 
tritt  vom  Flüssigen  zum  Festen  in  warme,  vom  Festen  zum  Flüssigen 
in  kalte  Gebiete.  Und  dieser  Satz  gilt  sowohl  fiir  die  höheren  wie 
für  die  niederen  Breiten.  Auch  in  den  Tropen  ist  im  Juli  das  Land- 
klima warm,  das  Seeklima  kalt. 

Was  wir  hier  für  die  Nordhemisphäre  über  den  Verlauf  der 
Isothermen  feststellen  konnten,  findet  sich  auch  auf  der  südliohen 
Erdhälfte  bestätigt  Dort  freilich  ist  das  Bild  kein  so  klares,  weil  die 
südhemisphärischen  Landmassen  gegenüber  der  Ausdehnung  der 
Ozeane  verschwindend  klein  sind.  Je  weiter  polwärts  wir  uns  dort 
begeben,  um  so  mehr  treffen  wir  ein  rein  ozeanisches  Klima  an, 
in  welchem  die  Temperatur  gleichmäfsig  um  die  ganze  Erde  ver- 
theilt ist. 

Der  Gegensatz  von  Land-  und  Seeklima  tritt  uns  recht  deutlich  auch 


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161 


in  den  von  Dove  zuerst  entworfenen  sogenannten  Isanomalenkarten 
entgegen.  Uove  berechnet*'  die  mittlere  Temperatur  eines  jeden  zehnten 
Breitenkreises  und  stellte  dann  fest,  wie  weit  an  den  einzelnen  Orten 
die  beobachtete  Wärme  von  der  entsprechenden  Breitentemperatur 
abweicht.  Man  bezeichnet  diese  Abweichung  als  die  thermisohe 
Anomalie;  sie  gilt  als  positiv,  wenn  der  Ort  wärmer,  als  negativ, 
wenn  er  kälter  ist  als  die  ihm  zukommende  Breitentemperatur.  Ver- 
bindet man  nun  die  Orte  gleicher  Anomalie  durch  Linien  mit  ein- 
ander, so  erhält  man  durch  diese  Isanomalen,  die  jetzt  von  Spitaler 
neu  konstruirt  sind,  ebenfalls  oin  vortreffliches  Bild  von  der  Wärme- 
vertheilung  auf  der  Erde.  Diese  Karte  der  Isanomalen,  sowohl  die 


Fig.  2.  Juliitotherman  (nach  Hann)  nnd  Juliüanomalen  (nach  Spitaler). 

(Die  schraffierten  Gebiete  haben  positive  Anomalie). 

für  den  Januar,  wie  die  für  den  Juli,  bestätigen  ganz  unsere  oben 
gekennzeichnete  Wahrnehmung  von  dem  thermischen  Gegensatz 
zwischen  Land-  und  Seeklima.  Im  Januar  (Fig.  1)  finden  wir  auf 
der  nördlichen  Hemisphäre  die  zu  kalten  Gebiete  auf  dem  Festland, 
während  über  dein  Meere  und  an  den  Küsten  fast  überall  ein  positiver 
Ueberschufs  von  Wärme  vorhanden  ist  Nur  in  den  niederen  Breiten 
liegen  zu  dieser  Jahreszeit  wieder  die  Verhältnisse  zum  Theil  gerade 
umgekehrt.  Im  Juli  (Fig.  2)  dagegen  wird  das  Land  eingenommen 
von  einer  zu  warmen  Atmosphäre;  die  negative  Anomalie  fällt  dann 
den  Meeren  und  Küsten  zu. 

Wenn  nun  das  Klima  über  dem  Lande  im  Winter  kälter,  im 
Sommer  wärmer  als  dasjenige  Uber  dem  Meere  ist,  so  [müssen  wir 
oothwendig  daraus  folgern,  dafs  ersteres  sich  durch  eine  grofsere  jähr- 
liche Wärmesohwankung  auszeiohnet.  Man  hat  auoh  diese  Verhält- 


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162 


msse  kartographisch  dargestellt,  indem  man  die  Orte  gleioher  jähr- 
licher Wärmeschwankung  mit  einander  verhand.  (Fig.  3).  Diese  Karten 
bestätigen  in  der  That  unseren  Schlufs.  Mit  der  Entfernung  von  der 
Küste  sehen  wir  überall  die  jährliche  Wärme  Schwankung  zunehmen. 
Die  gröfsten  Beträge  finden  wir  im  Inneren  der  Kontinente.  Während 
Uber  den  Meeren  die  jährliche  WUrmeschwankung  kaum  15°  im 
Maximum  erreicht,  besteht  in  Ostsibirieu  zwischen  Januar-  und  Juli- 
temperatur ein  Unterschied  von  über  60°.  Die  llegelmüfsigkeit  in  der 
Zunahme  der  Wärmeschwankung  nach  dem  Innern  der  Festländer  hat 
Supan  dazu  geführt,  in  die  sonst  so  verschiedenartig  charakterisierten 


Fig.  3.  JthrMiaothtrmen  (nach  II nnn)  and  Linien  gleicher  jährlicher  Wirmuehwwkaiig 

(nach  Supan  und  Wild). 

(Die  schraffierten  Gebiete  besitzen  kontinentales  Klima  mit  jährlicher  Temperatur- 
schwankung über  *20°). 


Klimate  der  Erde  ein  gewisses  System  zu  bringen.  Kitt  Land,  in  welchem 
die  jährliche  Wärmeschwankung  noch  nicht  15"  beträgt,  rechnet  er  dem 
Seeklima  zu.  Umfafst  aber  die  Wärmeschwankung  mehr  als  20°.  so 
gilt  das  betreffende  Gebiet  in  klimatischer  Hinsicht  als  kontinental. 
Der  Streifen  Landes,  dessen  extreme  Monatstempcruturou  um  15°  bis 
20°  von  einander  abstehen,  gehiirt  dem  Uebergangsklima  an.  Wo  die 
jährliche  Wärmeschwankung  jedoch  gar  40°  übersteigt,  da  spricht  man 
nach  Supan  von  einem  exzessiven  Landklima.  Dasselbe  ist  nur  in 
der  Umgebung  der  winterlichen  Kältepole  der  Erde  — in  Ostasien  und 
im  Norden  Amerikas  — zu  finden. 

Für  den  Theil  der  Erde,  wo  Sommer  und  Winter  nur  astro- 
nomisch vorhanden  sind,  d.  i.  für  die  Tropen,  haben  natürlich  diese 
Sätze  keine  Gültigkeit.  Hier  ist  gleichmäfsig  auf  dem  Wasser  und 


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dem  Lande  die  jährliche  Wärmeschwankung'  gering;  das  Aequatorial- 
klima  deckt  sich  in  dieser  Beziehung  ganz  mit  dem  Seeklima. 

Aus  den  Isanomalenkarten  (Fig.  1 und  2)  können  wir  weiter 
noch  eine  andere  wichtige  Thatsache  entnehmen.  Betrachten  wir 
nämlich  den  absoluten  Betrag  der  positiven  und  negativen  Anomalie, 
so  sehen  wir,  dafs  während  unseres  Winters  über  dem  Inneren  Asiens 
ein  Gebiet  liegt,  das  um  24  u zu  kalt  ist  Dieser  negativen  Anomalie 
von  24°  steht  aber  im  Juli  nur  eine  positive  von  6°  gegenüber.  Das 
Land  ist  also  hier  im  Winter  weit  kälter,  als  es  im  Sommer  zu  warm 
ist  Das  arithmetische  Mittel  mute  somit  auch  für  die  Jahrestemperatur 
in  Ostasien  einen  niedrigen  Betrag  ergeben.  Auf  dem  nordatlantisohen 
Ozean  ist  das  Umgekehrte  der  Fall.  Dort  finden  wir  die  positive 
Anomalie  zu  24°,  die  negative  im  Sommer  aber  nur  zu  2 bis  6°; 
hier  ist  also  die  Jahrestemperatur  verhältnifsmäfsig  hoch.  Aehnlich 
erscheinen  die  thermischen  Zustände  über  dem  nordamerikanischen 
Kontinent  und  dem  nordpazifischen  Ozean.  Es  ergiebt  sich  hieraus 
der  Schlufs,  dafs  in  der  Vertheilung  der  mittleren  Jahrestemperatur 
das  Festland  gegenüber  dem  Meere  als  das  kältere  hervortreten  mufs. 
In  der  That  zeigen  uns  auch  auf  der  Xordhemisphäre  die  Jahresiso- 
therraen  (Fig.  3)  in  ihrem  Verlauf  dasselbe  Bild,  das  wir  in  den 
Januarisothermen  kennen  lernten.  Bei  dem  Uebergang  vom  Festen 
zum  Flüssigen  senken  sich  die  Linien  nach  Süden,  bei  dem  Austritt 
aus  dem  Festen  erheben  sie  sich  wieder  uach  Norden. 

Wiederum  aber  gilt  dieser  Satz  nur  lur  die  mittleren  Breiten. 
In  den  Tropen  ist  im  allgemeinen  die  mittlere  Jahrestemperatur 
über  dem  Ozean  geringer  als  über  dem  Kontinent.  Auch  auf  die 
mittleren  Breiten  der  Südhemisphäre  läfst  er  sieh  nicht  ohne  weiteres 
übertragen.  Dort  überwiegt  die  Wasserfläche  das  Land  in  so  hohem 
Mafse,  dafs  das  letztere  in  thermischer  Hinsicht  nicht  recht  zur  Geltung 
kommt.  Vor  allem  fehlt  hier  jene  winterliche  Erkaltung,  wie  sie  auf 
den  nordhemisphärischen  Kontinenten  uns  entgegentritt.  Daher  ent- 
scheidet denn  auch  für  den  Verlauf  der  Jahresisolhermen  auf  der 
Südhemisphäre  nör  die  sommerliche  Erhitzung  der  Kontinente.  Die 
Jahresisothermeu  schmiegen  sich  den  Januarisothermen  an,  wo  das 
Land  das  wärmere  Klima  besitzt. 

Die  vorhergehenden  Betrachtungen,  besonders  die  letzte  That- 
sachc,  drängen  uns  die  Vermuthung  auf,  dafs  in  den  mittleren  Breiten- 
temperaturen, wie  sie  Dove  und  Spitaler  berechnet  haben,  die  jedes- 
malige Ausdehnung  von  Festland  und  Meer  zum  Ausdruck  kommeu 
müsse.  Prüfen  wir  daraufhin  die  auf  umstehender  Figur  (Fig.  4i  in 


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graphischer  Darstellung-  wiedergegebenen  Resultate  jener  Berechnungen, 
so  möohten  wir  wohl  den  Schlufs  wagen,  dafs  die  Temperaturver- 
theilung  in  der  That  unserer  Vermuthung  entspricht  Und  wirklich 
ist  es  der  Forschung  gelungen,  die  mittlere  Temperatur  eines  Breiten- 
grades als  eine  Funktion  der  geographischen  Breite  und  des  Verhält- 
nisses von  Wasser  und  Land  darzustellen.  Die  aus  den  Beobachtungen 
ermittelten  Werthe  konnten  auf  eine  allgemeine  Formel  gebracht 
werden,  welche  nunmehr  auch  einen  Schlafs  auf  die  mittlere  Breiten- 
temperatur selbst  klimatisch  unbekannter  Gebiete  gestattete.  Diese 
Formel  ist  unter  anderem  dazu  benutzt  worden,  die  mittlere  Wärme 
der  nördlichen  und  südlichen  Hemisphäre,  sowie  die  der  ganzen  Erde 
festzustellen.  Spitaler,  der  diese  Rechnung  zuletzt  ausgeführt  hat, 


Fig  4.  MiUoltemporatur  der  Breitenkreise  und  Vortheilnng  von  Wuaor  und  Land. 

ist  dabei  zu  dem  interessanten  Ergebnis  gekommen,  dafs  die  mittlere 
Jahrestemperatur  beider  Erdhälften  nahezu  gleich  ist.  Dieselbe  be- 
trägt rund  15"  C.  Allein  diese  Temperatur  vertheilt  sich  nicht  gloioh- 
mäfsig  über  das  Jahr,  sondern  es  hat  die  gesamte  Erde,  wie  Dove 
bereits  vermuthete,  nur  einen  Sommer  im  Juli  mit  einer  Mitteltempe- 
ratur von  17,4°  und  einen  Winter  zur  Zeit  des  Januar  mit  12,8" 
N'aoh  Spitaler  beträgt  nämlich  die  Mitteltemperatur 

im  Januar,  ' im  Juli 
der  nördlichen  Erdhülfte  7,07"  22,54° 

der  südlichen  Erdhälfte  17,54"  12,35° 

Das  Übergewicht  der  nordhemisphärischen  Uandmasse  tritt  in 
diesen  Zahlen  deutlich  hervor.  Wie  ist  nun  der  aus  den  Beobachtungen 
sich  ergebende  thermische  Gegensatz  von  Land-  und  Seoklima  physi- 
kalisch zu  orklären? 

Die  hauptsächlichste  Wärmequelle  der  Erde  ist  die  Sonne.  Die 


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Wärmestrahlen  derselben  durchdringen  unsere  Atmosphäre  und  er- 
wärmen den  Erdboden.  Dieser  theilt  dann  die  empfangene  Wärme 
durch  Rückstrahlung  und  Leitung  der  umgebenden  Luft  mit.  Zeigten 
nun  alle  Körper  gegenüber  der  Wärmestrahlung  dasselbe  Verhalten, 
d.  h.  wäre  das  Vermögen,  die  zugestrahlte  Wärme  in  sich  auf/.unehmen 
und  die  aufgenommene  wieder  auszustrahlen,  für  sämtliche  Körper, 
welohe  die  Erdoberfläche  bilden,  das  gleiche,  so  mühte  die  geo- 
graphische Vertheilung  der  Temperatur  zweifellos  eine  regelmäfsige, 
an  die  mathematischen  Linien  auf  der  Erde  angepafste  sein,  lndefs, 
die  Körper  verhalten  sich  in  dieser  Beziehung  aufserordentlich  ver- 
schieden. Vor  allem  ist  die  spezifische  Wärme  des  Wassers  durch- 
aus abweiohend  von  der  des  festen  Landes.  Das  Wasser  besitzt  von 
allen  Körpern  die  gröfste  Wärmekapazität,  d.  h.  es  braucht  unter 
gleichen  Umständen  die  gröfste  Wärmemenge,  um  eine  bestimmte 
Temperaturerhöhung  zu  erreichen. 

Setzen  wir  die  spezifische  Wärme  des  Wassers  gleich  1,  so  ist 
dieselbe  für  das  Land  gleich  0,2  bei  gleichem  Gewicht  beider  Substanzen. 
Bei  gleichem  Volumen,  worauf  es  nach  Hann,  dessen  Handbuch  der 
Klimatologie  wir  diese  Zahlen  entnehmen,  hier  allein  ankommt,  finden 
wir  dagegen  für  das  Land  die  spezifische  Wärme  von  rund  0,6.  Wenn 
demnach  auf  gleich  grofse  Flächen  von  Wasser  und  Land  gleich 
grofse  Wärmemengen  fallen,  so  ist  die  dadurch  bewirkte  Temperatur- 
erhöhung auf  dem  I^ande  fast  zweimal  so  grofs  wie  die  auf  dem 
Wasser.  Umgekehrt  aber  hat  die  geringe  Wärmekapazität  des  Landes 
eine  schnellere  Abkühlung  zur  Folge.  Besitzen  also  gleiche  Flächen 
von  Wasser  und  Land  gleiche  Temperatur,  so  erkaltet  das  Land  bei 
Abgabe  gleich  grofser  Wärmemengen  fast  um  doppelt  so  viel  Grade 
als  das  Wasser. 

In  diesem  physikalischen  Verhalten  der  verschiedenen  Bestand- 
teile der  Erdoberfläche  ist  der  Gegensatz  von  Land-  und  Seeklima 
begründet.  Der  geringere  Betrag  der  jährlichen  Temperaturschwan- 
kung über  dem  Meere  ist  dadurch  ohne  weiteres  erklärt  Allein 
jenes  physikalische  Gesetz  giebt  uns  dooh  keinen  Aufschlufs  über 
die  Ursache  der  niedrigeren  Jahrestemperatur  im  Inneren  der  nörd- 
lichen Festländer.  Hier  müssen  zweifellos  zur  Erklärung  noch  andere 
Faktoren  herangezogen  werden.  Verfolgen  wir  darum  noch  einmal 
die  Wirkung  der  Insolation  auf  dem  Festen  und  Flüssigen. 

Die  Strahlen  der  Sonne  erwärmen,  wenn  sie  den  festen  Boden 
erreichen,  zunächst  nur  dessen  Oberfläche.  Infolge  des  scldechten 
Wärmeleitungsvermögens  des  Landes  theilt  sich  diese  zugestrahlte 


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Wärme  nur  sehr  langsam  tieferen  Schichten  mit.  Eine  Schicht  von 
30  cm  Dicke  durchdringt  sie  im  allgemeinen  erst  nach  einem  Zeit- 
raum von  6 Stunden.  Die  Gesamtmenge  der  Sonnenwärme  wird  also 
nur  in  der  obersten  Schicht  des  Erdbodens  aufgespeichert.  Diese  er- 
hitzt sich  allerdings  während  der  Bestrahlung  ziemlich  bedeutend. 
Allein  sie  kühlt  sich  bei  der  Ausstrahlung  wieder  ebenso  schnell  und 
stark  ab,  und  es  wird  ihr  dann  aus  tieferen  Schichten  keine  Wiirtne 
als  Ersatz  zugeführt.  Ausstrahlung  und  Einstrahlung,  so  dürfen  wir 
hiernach  schliefsen.  halten  sich  auf  dem  festen  Lande,  gleiche  Zeitdauer 
für  beide  vorausgesetzt,  ziemlich  das  Gleichgewicht. 

Ganz  anders  ist  das  Verhalten  des  Wassers.  Infolge  der 

grofsen  Diathermansie  desselben  kommt  ein  Theil  der  Sonnenstrahlen 
nicht  an  der  Oberfläche,  sondern  erst  in  tieferen  Schichten  zur  Wirkung. 
Es  wird  die  zugestrahlte  Wärmemenge  dadurch  auf  breitere  Massen 
vertheilt  und  in  denselben  aufgespeichert.  Weiter  setzt  sich  ein 
anderer  Theil  der  Sonnenwärme  auch  sofort  in  Arbeit  um,  indem  sie 
eine  Verdampfung  des  Wassers  an  der  Oberfläche  bewirkt.  Es  ist 
also  dio  grofse  spezifische  Wärme  des  Wassers  nicht  allein,  welche 
die  niedrige  Sommertemperatur  über  den  Meeren  verursaoht. 

Dieser  geringen  Zunahme  der  Temperatur  infolge  der  Bestrahlung 
steht  eine  noch  geringere  Ausstrahlung  gegenüber.  Die  grofse 

Beweglichkeit  des  Wassers  läfst  die  Temperatur  an  der  Oberfläche 
sich  überhaupt  kaum  vermindern.  Denn  kühlt  sich  auch  das  Wasser 
an  der  Oberfläche  vorübergehend  ab,  so  treten  aus  der  Tiefe  sofort 
wärmere  Theilchen  zum  Ersatz  hervor.  Die  Abkühlung  findet  eben 
nicht  wie  auf  dem  Lande  nur  an  der  Oberfläche,  sondern  stets  gleich- 
mäfsig  in  einer  breiten  Wasserschicht  statt.  Weiter  verhindert  dann 
auch  noch  das  Freiwerden  von  Wärme  bei  der  häufigen  Verdichtung 
des  Wasserdampfes,  mit  welchem  die  Luft  über  dem  Meere  ja  fast 
stets  nahezu  gesättigt  ist,  sowie  bei  der  Bildung  des  Eises  im  Winter, 
eine  allzu  grofse  Wärmeausstrahlung.  Alles  das  berechtigt  zu  dein 
Schlufs,  dafs  auf  dem  Wasser  die  Erwärmung  durch  die  Insolation 
die  Abkühlung  infolge  der  Ausstrahlung  entschieden  iiberwiegt.  Damit 
ist  der  Schlüssel  zu  der  Thalsache  gegeben,  dafs  in  den  mittleren 
Breiten  die  Jahrestemperatur  im  Seeklima  grüfser  ist,  als  diejenige  im 
Landklima  auf  demselben  Parallel. 

Das  oben  gekennzeichnete  thermische  Verhalten  von  Wasser  und 
Land  verursacht  zum  Theil  auch  das  kühlere  Klima  auf  den  äqua- 
torialen Meeren.  In  den  niederen  Breiten  steht  nämlich  der  Zustrahlung 
von  Wärme  nur  eine  nächtliche,  nicht  aber  eine  jahreszeilliche  Aus- 


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Strahlung  gegenüber.  Die  erstere  überwiegt  aber  letztere,  die  Inso- 
lation giebt  hier  den  Ausschlag  für  die  mittlere  .Jahrestemperatur. 
Da  nun  die  Erwärmung  durch  die  Insolation  auf  dem  Wasser  geringer 
ist  als  auf  dem  Lande,  so  mufs  also  in  den  Tropen  nothwendig  die 
Luft  über  den  Ozeanen  im  Jahresmittel  kühler  sein  als  über  den  Kon- 
tinenten. 

Die  Erwärmung  des  Landes  unter  der  Einwirkung  der  Sonnen- 
strahlen ist  nun  nicht  nur  eine  intensivere,  sondern  vor  allem  auch 
eine  weit  schnellere,  als  diejenige  auf  dem  Meere.  Die  Folge  davon 
ist  eine  Verschiebung  in  dem  Eintritt  der  extremen  Werthe  der  Tempe- 
ratur während  der  Jahresperiode.  Die  höchste  Sommertemperatur 
fällt  dort  zuweilen  erst  auf  den  August,  während  im  Kontinent  unter 
mittleren  Breiten  überall  der  Juli  als  der  wärmste  Monat  erscheint. 
Und  analog  fallen  während  der  winterlichen  Abkühlung  der  maritime 
Februar  und  der  kontinentale  Januar  zusammen. 

Um  die  einzelnen  Faktoren  klarer  in  ihrer  Wirkung  hervor- 
treten zu  lassen,  war  bisher  von  dem  Einflufs,  welchen  die  Atmos- 
phäre selbst  auf  die  Intensität  der  Sonnenstrahlen  ausübt,  abgesehen 
worden.  Dieser  Einflufs  ist  entsprechend  dem  häufig  wechselnden 
Zustand  der  Atmosphäre  ein  sehr  mannigfaltiger.  Vor  allem  ändert 
sich  die  Absorptionsfähigkeit  der  Luft  gegenüber  den  Wärmestrahlen 
der  Sonne  je  nach  dem  Wasserdampfgehalt  derselben.  Dieser  ist 
aber  ein  anderer  über  dem  Meere,  ein  anderer  über  dem  Laude.  Zu 
dem  thermischen  Gegensatz  von  Iauid-  und  Seeklima  gesellt  sich  also 
ein  hydrometeorischer,  der  seinerseits  wieder  auf  den  Verlauf  der 
Isothermen  nicht  unerheblich  einwirkt. 

Betrachten  wir  zunächst  die  geographische  Vertheilung  der 
Uydrometeore  auf  der  Erde.  Der  Feuehtigkoitszustaud  eines  Klimas 
findet  seinen  Ausdruck  in  der  Gröfse  der  absoluten  Feuchtigkeit,  in 
der  Bewölkung  und  in  den  Niederschlagsverhältnisseu. 

Für  die  geographische  Vertheilung  der  absoluten  Feuchtigkeit 
liegt  uns  kein  übersichtliches  Kartenmaterial  vor.  Doch  können  wir 
aus  zahlreichen  Beobachtungen  den  Schlufs  ziehen,  dafw  im  allgemeinen 
die  absolute  Feuchtigkeit  nach  dem  Innern  der  Kontinente  hin  ab- 
nimmt. Dios  stimmt  auch  mit  der  Thatsache  überein,  dafs  der  Wasser- 
dampfgehalt der  Luft  bei  gleicher  Temperatur,  gleichem  Luftdruck  und 
gleicher  Windgeschwindigkeit  nur  von  der  Menge  des  in  und  auf 
dem  Boden  vorhandenen  Wassers  abhängt. 

Die  Karten,  auf  welchen  uns  Teisserenc  de  Bort  die  Be- 
wölkungBverhiiltnisse  der  Erde  zur  Anschauung  gebracht  hat,  zeigen 


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168 


entsprechend  der  Verminderung’  der  absoluten  Feuchtigkeit  ebenfalls 
eine  Abnahme  nach  dem  Innern  der  Kontinente.  Heiterer  Himmel 
ist  häufiger  über  dem  Lande  als  über  dem  Meere  anzutreffen. 

Auch  in  der  Vertheilung  der  Niederschläge  über  die  Erde  können 
wir  wohl  die  gleiche  Wahrnehmung  maohen,  dafs  die  Küsten  der 
Kontinente  reicher  benetzt  werden  als  das  Innere  derselben.  Allein 
die  Niederschlagsverhältnisse  hängen  weniger  von  der  horizontalen 
Vertheilung  von  Wasser  und  Land  als  von  der  orographischen  Ge- 
staltung des  letzteren,  sowie  von  der  Bewegung  der  Luft  ab.  Es  ist 
demnach  rathsam,  dieselben  nur  mit  Vorsicht  in  die  Betrachtung 
hineinzuziehen.  Jedenfalls  erhellt  aus  dem  Vorstehenden  aber  deutlich, 
dafs  das  ozeanische  Klima  das  feuchtere  ist.  Diese  Thatsache  ist  für 
die  thermischen  Gegensätze  von  Wasser  und  Land  von  greiser  Be- 
deutung. 

Der  absolute  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luft  beeinflufst,  wie 
erwähnt,  das  Wärme-Absorptionsvermögen  der  Atmosphäre.  Wasser- 
dampfrciche  Luft  läfsl  viel  weniger  Wärmestrahlen  zur  Erdoberfläche  ge- 
langen, als  wasserdampfarme.  Die  sommerliche  Erwärmung  der 
Wasseroberfläche  wird  also  auch  dadurch  noch  gemindert  Weiter 
kommt  dann  der  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luft  bei  der  Wärmeaus- 
strahlung dos  Bodens  in  erheblichem  Malse  zur  Geltung.  Die 
Atmosphäre  liifst  nämlich,  wenn  sie  mit  Wasserdampf  gesättigt  ist,  doch 
die  leuchtenden  Wärmestrahlen  der  Sonne  fast  unbehindert  durch,  ist 
dagegen  gegenüber  den  dunklen  Wiirmestrahlen  nur  wenig  diatherman. 
Die  von  der  Erdoberfläche  zurückgeworfene  Wärme  besteht  aber  nur 
aus  dunklen  Wärmestrahlen.  Die  Gröfse  der  Abkühlung  der  Erde 
durch  Wärmeausstrahlung  ist  demnach  von  dem  Wasserdampfjgehalt 
der  Luft  abhängig.  In  Gebieten,  wo  die  absolute  Feuchtigkeit  gering, 
d.  i.  im  Innern  der  Kontinente,  bedingt  dies  eine  weit  greisere  winter- 
liche Temperaturerniedrigung  als  in  luitfeuchten  Regionen . den 
Küsten  und  Meeren.  Wir  erkennen  hierin  einen  neuen  Grund,  wels- 
halb  das  ozeanische  Klima  auch  in  der  mittleren  Jahrestemperatur 
wärmer  sein  mufs,  als  das  kontinentale. 

Nun  ist  freilich  mit  einer  greiseren  absoluten  Feuchtigkeit  auf 
den  Meeren  auch  eine  greisere  Bewölkung  verbunden.  Bewölkung 
vermindert  die  Stärke  der  Insolation  beträchtlich,  aber  sie  schützt 
auch  wieder  in  hohem  Malse  die  unteren  Luftschichten  vor  Ab- 
kühlung durch  Ausstrahlung.  Es  wird  sich  also  jetzt  allein  darum 
handeln,  welcher  Einflufs  der  greisere  ist.  Das  Ergebnifs  zahlreicher 
Untersuchungen  über  den  thermischen  Einflufs  der  Bewölkung 


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169 


können  wir  nun  mit  Hann  in  folgenden  Satz  zusammenfassen:  „Ein 
geringerer  Grad  der  Bewölkung  bedeutet  in  höheren  Breiten  eine 
erhebliche  Erniedrigung  der  Wintertemperatur  und  eine  geringe 
Steigerung  der  Sommorwärme,  das  Resultat  ist  eine  Erniedrigung  der 
mittleren  Jahrestemperatur.  In  niedrigen  Breiten  bewirkt  die  Ab- 
nahme der  Bewölkung  eine  entschiedene  Zunahme  der  mittleren 
Jahreswiirme.“  Es  ist  uns  durch  diesen  Satz  mithin  sowohl  Auf- 
klärung gegeben,  warum  trotz  der  stärkeren  Bewölkung  auf  den 
Meeren  mittlerer  Breiten  die  .Jahrestemperatur  nicht  erniedrigt  er- 
scheint, als  auch,  warum  in  den  tropischen  Regionen  der  Erde  das 
wolkenfreiere  Land  im  Jahresmittel  das  wärmore  ist 

Auch  die  Niederschlagsverhältnisse  dürften  auf  die  thermischen 
Gegensätze  von  Land-  und  Seekliraa  einen  nicht  unerheblichen  Ein- 
flufs  haben,  einmal  mittelbar  dadurch,  dafs  der  Regen  den  Boden  be- 
netzt und  der  Luft  auf  diesem  Wege  Feuchtigkeit  zuführt,  dann 
aber  gewifs  auch  durch  den  thermischen  Prozefs,  der  sich  bei  der 
Verdichtung  des  Wasserdampfes  vollzieht.  Bei  dem  Uebergang  des 
Wassers  aus  dem  gasförmigen  zum  flüssigen  Zustand  wird  eine  be- 
deutende Menge  Wärme  frei,  welche  der  umgebenden  Luft  zu  gute 
kommt  Doch  in  der  Vertheilung  der  Niederschläge  findet  wie  oben 
bereits  erwähnt  infolge  der  Einwirkung  anderer  Faktoren  die  Aus- 
dehnung von  Wasser  und  Land  keinen  so  deutlichen  Ausdruck,  dafs 
dieser  thermische  Einflufs  sich  überall  unwiderleglich  nachweisen 
liefse.  Gleichwohl  lehrt  die  Statistik,  dafs  in  den  höheren  Breiten, 
nördlich  und  südlich  der  subtropischen  Regenzone,  die  Meere  vor- 
wiegend im  Winter,  die  Kontinente  im  Sommer  von  Niederschlägen 
getroffen  werden.  Es  hängt  diese  jahreszeitliche  Vertheilung  des 
Regenfalls  eng  zusammen  mit  den  Wind-  und  Luftdruckverhältnissen 
über  Wasser  und  Land,  die  uns  später  noch  beschäftigen  sollen. 
Ihre  Einwirkung  auf  die  Klimate  aber  besteht  darin,  dafs  dadurch 
auf  den  Ozeanen  die  winterliche  Kälte,  auf  den  Kontinenten  die 
sommerliche  Erhitzung  gemildert  wird,  was  im  Jahresmittel  wiederum 
eine  geringere  Temperatur  auf  dem  Lande  ergiebt. 

(Schlafs  folgt). 


Ueber  die  Wirkungen  der  Meereserosion  an  der 
atlantischen  Küste  Nordamerikas. 

Von  Dr.  Emil  Deckert. 

(Schlufs). 

X 

p^inr  sei  i r merkwürdige  Ausnahme  von  der  allgemeinen  Kogel  — 
.eie da fs  an  der  offenen  atlantisehen  Küste  sowie  an  der  nördlichen 
und  östlichen  Golfkiisle  der  Betrag  der  Landzerstörung  wahr- 
scheinlich den  Betrag  der  Landbildung  während  des  jüngsten  Erdalters  im 
allgemeinen  überwogen  hat  — macht  dioOstkiiste  von  Florida.  Hier  deutet 
beinahe  alles  darauf  hin,  dafs  entlang  der  ganzen  über  600  km  langen 
Strecke  zwischen  der  St.  Johns-River-Miindung  und  Kap  Florida  in 
der  quartären  Zeit  ein  Wachslhum  des  Landes  auf  Kosten  der  See 
slattgefunden  hat.  Nur  durch  schmale  und  seichte  „Inlets"  an  einigen 
wenigen  Stellen  durchbrochen,  läuft  hier  eine  mit  hohen  Dünen  be- 
setzte Nehrung  als  Grenzscheide  des  festen  Landes  von  Nordnordwest 
nach  Südsüdost,  und  in  gleicher  Richtung  damit  erstreckt  sich  nicht 
blos  eine  Reihe  von  seichten  Brakwasserlagunen,  sondern  auch  die 
Sandhügelketten  des  ganzen  ostlloridanischen  Binnenlandes  sowie 
dessen  Haupt-Flursläufe  und  Sumpf-  und  Seenkelten.  Vor  allen  Dingen 
zu  der  Küste  Neu-Englands  — wo  der  Verlust  des  Landes  zweifellos 
ein  absoluter  ist  — steht  die  ostfloridanische  Küste  in  dem  augen- 
fälligsten Gegensätze,  und  füglich  liefse  sich  schon  aus  der  ganzen 
Anlage  der  angegebenen  Bildungen  schliefsen,  dafs  dieselben  nur  durch 
Vorgänge  entstanden  sein  können,  welche  denjenigen,  die  man  an  der 
neu-engländischen  Küste  beobachtet,  diametral  gegenüber  stehen.  Nahe- 
zu rechtwinkelig  in  das  Land  eingreifende  Buchten  und  rechtwinkelig 
in  das  Meer  fliefsende  Ströme  darf  man  immer  als  Anzeichen  von  einem 
Vordringen  des  Meeres  betrachten,  und  parallel  mit  der  Kiistenlinie 
gelagerte  Lagunen  und  Hiigel-  und  Thalzüge  als  Anzeichen  von  einem 
Zurückweichen  desselben.  An  der  ostfloridanischen  Küste  verkünden 
aber  aufserdem  auch  die  aus  recenten  Seemuscheln  gebildeten  Coquina- 
Bänke,  welche  die  Strandlagunen  auf  der  Westseite  ebenso  wie  auf 


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Ost  - Florida'sche  Coquina-  Bänke  am  Indian  River. 


171 


iler  Ostseite  umrahmen,  und  weloho  bis  tief  in  das  Binnenland  hinein 
die  Grundlage  der  Sanddiinen  bilden,  den  Sieg  des  festen  Elementes 
über  das  flüssige.  Dafs  die  betreffenden  I^agnnen  in  der  Mehrzahl  den 
Namen  „River“  führen  — Amelia  River.  Matanzas  River,  Halifax  River, 
Hillsborough  River,  lndiau  River  (Fig.  4),  Banana  River,  Jupiter  River 
— darf  einen  also  nicht  irre  machen  in  der  Ueberzeugung,  daß  die- 
selben thatsächlich  abgediimmte  Meerestheile  sind,  die  sich  bei  weiterer 
Fortdauer  der  obwaltenden  Verhältnisse  durch  die  Zwischenstufen  von 
Süfswassersee  und  Sumpf  allmählich  in  festes  Land  verwandeln  win  den. 


Fragt  man  nach  den  Gründen,  warum 
Land  und  See  in  Oslflorida  so  ganz  anders  steht, 
als  es  sonst  in  dem  östichen  Nordamerika  der 
Fall  ist,  so  kann  man  sich  nicht  enthalten,  in 
erster  Linie  an  den  Passatwind  zu  denken,  der 
vom  Atlantischen  Ozeane  her  über  die  Halbinsel 
hinwegstreicht,  sowie  an  das  ziemlich  voll- 
kommen tropische  Klima,  das  auf  derselben 
herrscht.  Wie  bereits  erwähnt,  sind  dadurch 
die  Dünenw'älle  in  Ostflorida  ün  allgemeinen 
beträchtlich  höher  und  breiter  als  anderweit  in 
Nordamerika,  und  ein  grofser  Theil  des  ober- 
flächlichen Bodens  ist  Flugsandbildung,  genau 
wie  in  anderen  Passatgegenden;  die  Vegetation 
entwickelt  sich  aber  unter  den  Strahlen  der  tro- 
pischen Sonne  und  unter  der  befruchtenden  Wir- 
kung der  tropischen  Regen  selbst  auf  dem  Dünen- 
sande außerordentlich  üppig,  so  dafs  derselbe 
durch  die  mit  einander  verflochtenen  Wurzeln  in  seinen  tieferen  Schichten 
sowohl  an  der  Küste  als  auch  im  Binnenlande  einen  verhältnifsmäfsig 
sehr  festen  Zusammenhang  erhält. 

Das  ganze  Phänomen  ist  damit  aber  keineswegs  erklärt. 

Was  bei  dem  Wachsthume  des  ostlloridanischen  Küstenlandes  auf 
Kosten  der  See  sehr  seltsam  berühren  muß.  ist  vor  allen  Dingen  die 
Thatsache,  dafs  daselbst  keinerlei  Ströme  münden,  welche  reich  sind 
an  Sedimenten.  Dor  St.  JohttB  River  (liefst  als  Seen-Strom  gleich  den 
kanadischen  und  neuengliindischen  Strömen  klar  und  ungetrübt  hinaus 
in  das  Meer,  und  der  St.  Marys  River  führt  als  vielfach  gewundener 
Tieflandstrom  ebenfalls  viel  weniger  SinkstofT,  als  die  georgianischen 
und  karolinischen  Ströme.  Das  Vorhandensein  hoher  Dünen  wälle  ent- 


der  Kampf  zwischen 


Fig.  4.  Ostfloridanischer 
KtUtentypiw. 

(Die  Gegend  des  Indian 
River). 


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172 


lang  der  ganzen  Küste  läfst  sich  also  nur  begreifen,  wenn  Kiisten- 
strönmngen  das  Material  zu  denselben  aus  der  Ferne  herbeiführen. 
Dafs  der  Golfstrom  diese  Funktion  ausiibe,  wird  man  aber  nicht  ohne 
weiteres  annehmen  dürfen,  denn  einmal  kommt  derselbe  nicht  von 
Gestaden,  die  besonders  reich  sind  an  Quarzsand  — nicht  von  der 
Mississippi-Mündung,  wie  man  früher  geglaubt  hat,  sondern  von  den 
Westindischen  Inseln  und  aus  dem  offenen  Atlantischen  Ozeane  — , 
und  sodann  wäre  er  durch  seine  Natur  als  ein  ruhiger,  oberflächlicher 
Strom  auch  wenig  geeignet,  auf  weitere  Entfernungen  hin  eine  gröfsere 
Menge  Quarzkömer  in  suspenso  zu  erhalten.  Sehr  viel  wahrschein- 
licher ist  es,  dafs  die  polare  Gegenströmung  des  Golfstromes  es  ist, 
welohe  die  Dienste  des  Sandträgers  leistet.  Für  die  Breite  des  Kap 
Hatteras  ist  diese  Strömung  in  der  Tiefe  thatsächlich  nachgewiesen,  *) 
und  dafs  eine  Tiefenströmung  im  stände  ist,  die  losen  Massen,  welche 
an  der  Neuenglandküste  durch  Zerstörung  der  Küstenfelsen  ent- 
standen, oder  welohe  von  den  Alleghany-Strömen  vor  ihren  Mündungen 
abgelagert  worden  sind,  vor  sich  her  zu  schieben,  bezw.  in  dem  Sinne 
ihrer  Richtung  vorwärts  zu  pressen,  ist  ohne  weiteres  klar.  Die  be- 
treffende Polarströmung  dürfte  auch'  bei  den  Nehrungen  vor  dem 
Albemarie-  und  Pamplico-Sunde  viel  unmittelbarer  und  in  einem  viel 
höheren  Mafse  als  Miterbauer  thätig  gewesen  sein,  als  die  Golfströmung, 
der  man  in  so  vielfacher  Beziehung  mehr  Funktionen  aufgebürdet  hat, 
als  sie  auszuüben  fähig  ist. 

Wenn  die  fragliche  Strömung  in  den  quartären  Zeiten  bei  dem 
Wachsthume  des  ostfloridanischen  Landes  als  ein  so  wesentlicher 
Faktor  mitgewirkt  hat,  so  mufs  es  freilich  befremden,  dafs  sie  sieb 
nicht  in  der  gleichen  Weise  auch  an  den  nördlicher  gelegenen  Küsten 
— besonders  an  der  Küste  von  New  Jersey,  Massachusetts  etc.  — bewährt 
hat.  Sollte  es  einzig  und  allein  der  herrschende  Passatwind  und  die 
üppige  Dünen-  und  Marschenvegetation  sein,  denen  es  zu  verdanken 
ist,  dafs  die  von  der  Strömung  herbeigetragenen  Materialien  in  Florida 
zum  Aufbaue  neuen  Landes  dienen  können?  Bei  der  Prüfung  der 
Verhältnisse,  welche  im  äufsersten  Süden  der  floridanischen  Ostküste 
obwalten  — zwischen  Kap  Florida  und  Kap  Sable  — , können  wir 
uns  eines  starken  Zweifels  hieran  nicht  erwehren.  Dort  weht  der 
Passat  noch  beständiger,  als  in  den  übrigen  Theilen  der  Halbinsel, 
dort  ist  auch  zugleich  der  Wuchs  der  Palmetto-Palmen  und  Mangroven 
ein  noch  reicherer,  und  dort  arbeiten  obendrein  unzählbare  Korallen- 

7)  Vergl.  Report  of  the  U.  S.  Coaat  and  Geodetic  Survey  1889,  8.  182  ff. 


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thierchen  emsig  an  dem  Aufbau  schützender  Riffe  und  Inseln.  Nichts- 
destoweniger finden  wir  die  Küste  dort  ganz  ähnlich  zerrissen,  wie  an 
der  Golfseite  von  Florida.  Und  an  dem  Strande  von  Texas,  wo  man 
auch  nicht  von  einem  so  unangefochtenen  Wachsthume  des  Landes  auf 
Kosten  der  See  reden  kann,  ist  der  Passatwind  ebenfalls  die  vor- 
herrschende Luftströmung,  und  die  Strandflora  trägt  daselbst  keinen 
wesentlich  anderen  Charakter,  als  in  Ostflorida. 

Den  Schlüssel  zu  dem  Räthsel,  und  den  Haupterklärungsgrund 
der  Thatsaohe,  dafs  os  der  sturmbewegten  Brandung  an  nordameri- 
kanischen Küstenstrecken  möglich  ist,  ein  Stück  Land  nach  dem 
anderen  zu  verschlingen,  an  der  floridanisohen  Ostküste  aber  nicht, 
glauben  wir  in  den  erwähnten  Coquina-Bänken  zu  finden.  Dieses  junge 
Seemuschelkonglomerat,  das  erst  in  der  geologischen  Gegenwart  ent- 
standen sein  kann,  erhebt  sich  an  dem  Matauzas-  und  Indian-River 
bis  gegen  10  und  15  m über  den  Meeresspiegel,  so  dafs  auch  die 
höchsten  Sturmfluthwellen  es  heute  nicht  mehr  zu  überspülen  ver- 
mögen. Wie  ist  dies  aber  anders  denkbar,  als  dars  der  ganze  ost- 
floridanische  Küstenstrich  sich  in  der  quartären  Zeit  gehoben  hat  und 
noch  in  Hebung  begriffen  ist,  resp.  <lafs  der  Meeresspiegel  sich  in 
der  Gegend  zwischen  der  St.  Johns-River-Mündung  und  dem  Kap 
Florida  gesenkt  hat  und  noch  weiter  senkt?  Wir  sind  der  Meinung, 
dafs  Ostflorida  eine  von  denjenigen  Erdgegenden  ist,  von  welchen  die 
allerunzweifelhaftesten  Beweise  für  eine  derartige  Verschiebung  des 
Verhältnisses  zwischen  Festland  und  Meer  vorliegen.  Uebrigens  sind 
wir  aber  geneigt,  für  die  in  Frage  stehende  Gegend  eher  an  eine 
Senkung  des  Meeresspiegels  als  an  eine  Hebung  des  Landes  zu  glauben; 
und  die  zahlreichen  Defekte,  welche  durch  Zerwasohung  und  Unter- 
höhlung der  tertiären  Kalksteinformation  im  floridanisohen  Binnenland« 
verursacht  werden,  scheinen  uns  eine  Verminderung  der  Attraktion, 
die  die  Halbinselmasse  auf  das  Wasser  des  Atlantischen  Ozeans  aus- 
Ubt,  bezw.  ein  fortschreitendes  Abfiiefsun  des  Wassers  nach  anderen 
Erdgegenden  zur  Genüge  begreiflich  zu  machen. 

An  der  Westküste  Floridas,  sowie  an  der  alabamischen,  louisi- 
anischen  und  texanischen  Golfküste  schreitet  dagegen  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  der  Einbruch,  duroh  den  der  Mexikanische  Golf 
entstanden  ist,  weiter  fort,  und  darin  findet  das  siegreiche  Vordringen 
des  brandenden  Meeres,  auf  das  so  zahlreiche  Indicien  hindeuten,  die 
allerwesentlichste  Unterstützung.  Die  erwähnten  Massendefekte,  welche 
die  Erosion  im  Innern  von  Florida,  sowie  auch  im  Innern  von  Alabama 
bewirkt,  haben  aus  diesem  Grunde  auf  den  Stand  des  Meeresspiegels 

Himmel  und  Erde.  lwaj.  V.  4.  13 


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OQ£ 


174 


keinen  sichtbaren  Einflufs,  und  wenn  sich  der  Golf  ungeachtet  der  auf 
seinem  Boden  stattfindenden  Sedimentation  fortschreitend  vertiefen  sollte, 
so  würde  die  Zuströmung  aus  dem  offenen  Atlantischen  Ozeane  in  jedem 
Falle  hinreichen,  um  diese  Vertiefung  an  der  Kiiste  nicht  empfinden 
zu  lassen.  Dort  deuten  die  unterseeischen  Wälder  und  Wiesen  nur  das 
Mitsinken  des  Küstenlandes  an,  und  was  den  südlichsten  Theil  Floridas 
angeht,  so  ist  namentlich  auch  noch  daran  zu  denken,  dafs  die  daselbst 
vorhandenen  Koralleninseln  und  Korallenriffe  diese  Annahme  bekräftigen, 
indem  Koralleuinseln  und  Korallenriffe  überall  au  grofse  Senkungs- 
felder gebunden  sind. 

Entlang  der  mexikanischen  Küste  sind  die  betreffenden  Ver- 
hältnisse noch  mangelhafter  bobachtet  worden,  als  an  der  Küste  der 
Union,  doch  dürften  die  Chancen  des  Kampfes  zwischen  Land  und 
Meer  daselbst  kaum  wesentlich  anders  liegen,  als  an  der  texanischen 
Küste.  Die  Zerrissenheit  der  Nehrungen  und  das  Vorhandensein 
einer  Anzahl  aus  älterem  Gestein  bestehender  Küsteninseln  deuten 
darauf  hin,  dafs  auch  dort  in  der  pnsttertiären  Zeit  mehr  Land  in  der 
Tiefe  versunken,  als  durch  Strom-  und  Windsedimentation  gebildet 
worden  ist. 

An  der  offenen  atlantischen  Küste  Nordamerikas,  soweit  dieselbe 
nördlich  von  der  St.  Johns-Iiiver-Miindung  liegt,  sprechen  ebenfalls 
verschiedene  Umstände  für  eine  Senkung  des  Landes.  Auch  hier  kann 
man,  sowohl  in  Neuengland  als  auch  in  den  beiden  Karolinas  und  in 
Georgia,  auf  versunkene  Wälder  hinweisen,  wenngleich  bereits  Lyell 
darauf  aufmerksam  macht,  dafs  man  sich  dabei  ängstlich  vor  Irrthümern 
hüten  murs,  indem  angeschwemmte  Baumstümpfe  durch  ihre  Stellung 
leicht  den  Eindruck  machen  können,  als  seien  sie  an  Ort  und  Stelle 
gewachsen.  Viel  schlagender  dürfte  die  Senkung  bewiesen  werden 
durch  die  „ertrunkenen  Ströme“,  von  denen  wir  oben  geredet  haben, 
denn  deren  eigenthiimliche  Physiognomie  und  deren  geologische  Um- 
gebung lärst  keine  andere  Erklärung  zu,  als  das  Eindringen  des  Meeres 
in  ein  einstiges  Stromthal.  Und  dieses  Indicium  gewinnt  noch  erheblich 
an  Gewicht  dadurch,  dafs  an  dem  Hange  der  Alleghanies  — zwischen 
der  Flufshügel-Region  dieses  Gebirges  und  der  Küstenobene  — eine 
grofse  Verwerfimgslinie  durch  die  östlichen  Uuionsstaaten  hindurch- 
geht, östlich  von  welcher  alles  Land  bereits  seit  den  mesozoischen 
Zeiten  im  Niedersinken  begriffen  gewesen  ist. 

Dafs  der  Prozefs  gewisse  Unterbrechungen  erlitten  hat,  und  dafs 
zeitweise  an  der  Kiiste  von  New  .Jersey,  Massachusetts,  Maine  etc.  ein 
Sinken  des  Meeresspiegels  stattgefunden  hat,  genau  wie  gegenwärtig 


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in  Ostflorida,  scheint  aus  alten  Strandlinien  hervorzugehen,  die  man  in 
diesen  Gegenden  gewahren  kann,  und  die  zum  Theil  mehr  als  100  m 
über  der  heutigen  Strandlinie  liegen.  Auch  die  gegenwärtige  Aera 
des  Sinkons  der  Küste  dürfte  also  in  dem  atlantischen  Nordamerika 
füglich  wieder  einmal  einer  Aera  der  „Hebung“  weiohen;  es  versteht 
sioh  aber  von  selbst,  dafs  der  zerstörenden  Brandungswelle  in  der 
ganzen  in  Frage  stehenden  Gegend  bis  auf  weiteres  durch  die  Senkung 
ebenfalls  bedeutender  Vorschub  geleistet  wird. 

Im  allgemeinen  vollzieht  sich  der  Senkungsprozefs  wohl  ruhig 
und  für  die  Menschen  unmerklich.  Gelegentlich  ist  er  aber  mit  heftigen 
Erschütterungen  der  Erdrinde  verbunden,  und  es  ist  in  dieser  Beziehung 
namentlich  auf  die  grofsen  Erdbeben  von  Neu -Madrid  (1811)  und 
Charleston  (1887)  hinzuweisen,  deren  Stöfse  Monate  lang  andauerten, 
und  bei  denen  unbedingt  grofse  Dislocationen  innerhalb  der  Schichten 
der  nordamerikanischen  Kontinentalmasse  stattgefunden  haben  müssen. 
Unmittelbar  nach  dem  Erdbeben  von  Charleston  entsandte  die  Direktion 
der  U.  S.  Coast  and  Goodetic  Survey  eine  Kommission,  um  die  etwaigen 
Wirkungen  der  Erdorsohütterungen  auf  den  Hafen  von  Charleston  und 
seine  Zugänge  zu  untersuchen.  Die  betreffende  Kommission  stellte  fest, 
dafs  die  durch  das  Erdbeben  verursachten  Veränderungen  nur  unbe- 
deutende waren,  dafs  die  thatsächlich  vor  sich  gegangenen  aber  das 
Fahrwasser  verbessert  hatten.  Man  könnte  dieses  Gutachten  also  in 
dem  Sinne  einer  mit  dem  Erdbeben  Hand  in  Hand  gehenden  instantanen 
Senkung  auslegen.  Ebensogut  könnte  es  sich  bei  der  Vertiefung  des 
Hafens  und  seiner  Zugänge  aber  um  eine  blofse  Verschiebung  der 
Sedimente  handeln.  Der  ganze  so  interessante  und  fiir  das  Erdleben 
so  bedeutsame  Prozefs  läfst  sich  also  auch  selbst  bei  so  furchtbaren 
Katastrophen,  wie  es  die  grofsen  Erdbeben  sind,  nur  sehr  schwer  von 
dem  Menschengeiste  erfassen  und  ermessen. 


Lewis  Morris  Rutherfurd. 

Am  30.  Mai  dieses  Jahres  starb  Lewis  Morris  Rutherfurd 
eine  der  ersten  Autoritäten  auf  den  Gebieten  der  coelestischen  Photo- 
graphie und  Spektralanalyse.  — Geboren  am  25.  November  1816  zu 
Morrisania  im  Staate  New- York,  zeigte  Rutherfurd  früh  Talent  und 
Vorliebe  für  physikalisch-chemische  Studien,  so  dafs  er  schon  auf  dem 
„College“  Assistent  seines  Lehrers  in  diesen  Fächern  ward.  Gleichwohl 
widmete  er  sich  nach  Vollendung  seiner  Vorbildung  an  der  Universität 
Auburn  dem  juristischen  Fache  und  erlangte  1837  die  Zulassung  als 
Advokat.  Während  dieser  seiner  praktischen  Thätigkeit  konnte  er 
natürlich  nur  in  verhältnissmäfsig  seltenen  Stunden  der  Mufse  seinen 
Lieblingsstudien  obliegen,  und  er  fühlte  sich  daher  glücklich,  als  er 
1849,  durch  eine  reiohe  Heirath  dazu  in  den  Stand  gesetzt,  seine  Be- 
rufsgeschäfte aufgab,  um  sich  ganz  der  Wissenschaft  zu  widmen. 
Nachdem  er  von  einer  zunächst  unternommenen,  längeren  Studienreise 
nach  Europa  zurückgekehrt  war,  richtete  er  sioh  in  einem  Anbau 
seines  Hauses  eine  anfangs  bescheidene  Sternwarte  ein,  in  welcher 
bald  die  wichtigsten  und  erfolgreichsten  Forschungen  begannen.  Als 
einer  der  ersten  baute  er  mit  Begeisterung  auf  dem  von  Kirchhoff 
und  Bunsen  geschaffenen  Fundament  der  himmlischen  Spektral- 
analyse weiter,  so  dass  er  bereits  1863  in  der  Lage  war,  eine  Arbeit 
über  die  Spektra  der  Fixsterne,  dos  Mondes  und  der  Planeten  zu  ver- 
öffentlichen, in  der  der  erste  Versuch  gemacht  ward,  die  so  ver- 
schiedenartigen Fixsternspektra  in  Klassen  zu  gruppiren.  Bald  darauf 
gelang  es  Rutherfurd  nach  mannigfachen  vergeblichen  Versuchen, 
ein  speziell  für  photographische  Arbeiten  bestimmtes  Objektiv  von 
11  Zoll  Durchmesser  zu  konstruiren,  mittelst  dessen  er  höchst  werth- 
volle  Reihen  von  photographischen  Aufnahmen  der  Sonne,  des  Mondes 
und  einiger  Sternhaufen  herstellte.  Die  Feinheiten  der  natürlich  mit 
dem  nassen  Collodiumverfahren  gewonnenen  Mondplatten  war  eine  so 
ausserordentliche,  dass  das  kleine  Brennpunktbildchen  bis  zu  einem 


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177 


Durchmesser  von  mehr  als  einem  halben  Meter  vergrössert  werden 
konnte,  so  dafs  Positive  gefertigt  wurden,  die  nooh  jetzt  eine  Haupt- 
zierdo  vieler  Sternwarten,  u.  a.  auch  der  Urania,  bilden  und  erst  in 
jüngster  Zeit  durch  Trookenplattenaufnahmen  iibertroffen  wurden.  Die 
gleichmässige  Deutlichkeit  bei  der  Abbildung  der  sehr  verschieden 
hellen  Theile  der  Mondoberfläche  wurde  durch  eine  sorgfältige  Ab- 
messung der  für  die  einzelnen  Gebiete  erforderlichen  Belichtungsdauer 
erzielt  1868  ward  dann  ein  13-zölliges  Objektiv  fertig  gestellt,  das 
von  nun  ab  an  die  Stelle  des  Elfzöllers  trat,  das  aber  der  allge- 


meineren Verwendbarkeit  wegen  aus  einer  gewöhnlichen,  achroma- 
tischen Doppellinse  bestand,  welche  durch  Vorsetzen  einer  dritten 
Linse  in  ein  photographisches  System  umgewandelt  wordon  konnte, 
eine  Einrichtung,  dereu  hohe  Zweckmässigkeit  durch  die  Thatsache 
bewiesen  wird,  dafs  sie  beim  grofsen  Refraktor  der  Lick-Stermvarte 
Nachahmung  fand.  Rutherfurd  stellte  nun  nicht  nur  mit  Hilfe  dieses 
Fernrohrs  vorzügliche  Sternaufnahmen  her,  sondern  gab  auch  durch 
die  Konstruktion  eines  sinnreich  eingerichteten  Mikrometers  zur  Aus- 
messung der  Platten  die  Mittel  zur  wissenschaftlichen  Verwerthung 
des  umfangreichen,  durch  ihn  gelieferten  Materials.  Leider  hat  sich 
aber  diese  Ausmessungsarbeit  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  verzögert, 
so  dafs  ein  guter  Theil  derselben  erst  jetzt  von  Rees  und  Jacoby 


Lewis  Morris  Butherfurd. 


178 


am  Columbia  College  ausgeführt  werden  soll.  — Im  Jahre  1864  lieferte 
Rutherfurd  das  erste,  mit  Hilfe  von  Schwefelkohlenstoffprismen  er- 
zeugte Photogramm  des  Sonnenspektrums,  da6  bereits  dreimal  soviel 
Linien  erkennen  liefs,  als  die  Kirchhoff-Bunsensche  Tafel.  Bald 
wurde  diese  Leistung  aber  noch  bei  weitem  übertroffen  durch  die  Be- 
nutzung der  vortrefflichen  Interferenzgitter,  welche  Rutherfurd  in 
staunenerregender  Feinheit  herzustellen  wusste.  Sein  selbstkonstru- 
irter  Theilungsapparat  gestattete  niimlich , innerhalb  eines  einzigen 
Zolles  17000  parallele  Linien  in  (llas  zu  ritzen ; derartige  Gitter  erzeugen 
bekanntlich  durch  Interferenz  der  Lichtstrahlen  Spektra,  welche  sich 
hauptsächlich  durch  die  für  alle  Wellenlängen  gleioh  starke  Dispersion 
von  den  durch  Prismen  erzeugten  Spektren  sehr  vortheilhaft  unter- 
scheiden. In  der  Herstellung  feinster  Gitter  ist  Rutherfurd  seither 
nur  durch  Rowland,  gleichfalls  einen  Amerikaner,  übertroffen  worden. 
— Nach  alledem  ist  es  verständlich,  dass  Rutherfurd  als  eine  der 
ersten  Autoritäten  auf  dem  Gebiete  der  Himmelsphotographie  galt. 
Von  praktischen  Arbeiten  musste  er  sich  jedoch  bereits  vor  einigen 
Jahren  zurückziehen,  bei  welcher  Gelegenheit  er  sein  grosses  Teleskop, 
sowie  die  sämmtlichen,  kostbaren  photographischen  Platten  in  gross- 
müthiger  Weise  dem  Columbia  College,  zu  dem  er  als  Aufsiohtsrath- 
mitglied  in  naher  Beziehung  stand,  als  Geschenk  überwies.  F.  Kbr. 

* 

Von  der  achten  Sphäre:  Ueber  den  sieben  Kugelflächen,  welche 
nach  der  Ansicht  der  Alten  der  Sonne,  dem  Monde  und  den  bekannten 
Planeten  zur  Anheftung  dienten,  wölbte  sich  die  achte  Sphäre,  an 
welcher  die  übrigen  Gestirne  sich  drängten.  In  ewiger  Ruhe  gegen 
einander  sollten  sie  hier  ein  Dasein  von  vollendeter  Schönheit  ver- 
bringen, unbewegt  und  nie  gestört.  Die  Wissenschaft  hat  mit  kühner 
Hand  den  schönen  Traum  der  Alexandriner  zerstört  Sie  zeigte,  dafs 
auch  dort  oben  Bewegungen  sind,  nicht  langsamer  im  allgemeinen,  als 
sie  auch  die  Körper  des  Sonnensystems  besitzen,  aber  scheinbar  fast 
verschwindend,  weil  sie  von  so  weiter  Ferne  aus  betrachtet  werden. 
Seitdem  die  Beobachtungen  den  Grad  der  Genauigkeit  erreicht  haben, 
der  ihnen  heute  eignet,  und  das  ist  etwa  seit  den  Zeiten  des  englischen 
Astronomen  Bradley  im  vorigen  Jahrhundert,  hat  man  bei  vielen  Fix- 
sternen eine  gröfsere  oder  geringere  Beweglichkeit  nachzuweisen  ver- 
mocht. In  scheinbar  geraden  Linien  bewegen  sie  sich  unter  ihren 
Nachbarn  und  der  Betrag  dieser  Iiigenbnwegungen  kann  jetzt  bei 


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179 


einigen  bereits  in  Jahresfrist  uachgewiesen  werden.  So  wandern  die 
Sterne  der  Plejaden  im  Laufe  eines  Jahrhunderts  um  sechs  Bogen- 
sekunden  weiter1),  ein  Weg,  den  Bessels  Schwanenstern  bereits  in 
13  Monaten,  und  ein  Stern  im  Grofsen  Biiren  (1830  in  dem  Verzeichnisse 
von  Groombridge)  gar  schon  in  10  Monaten  zurücklegt.  Freilich  ist 
auch  dieser  Betrag  kein  grofser.  Um  einen  Begriff  von  seiner  Klein- 
heit zu  geben,  wollen  wir  nebenbei  bemerken,  dafs  ein  Dampfschiff, 
welches  mit  einer  Geschwindigkeit  von  6 m in  der  Sekunde  in  einer  Ent- 
fernung von  200  km  etwa  am  Pik  von  Teneriffa  vorbeifährt,  von  diesem 
aus  bereits  nach  Verlauf  einer  Zeitsekunde  um  jenes  Mals  verschoben  er- 
scheinen müfste.  Auch  ist  die  Gröfse  der  Eigenbewegung  nur  erst  für 
einen  geringen  Theil  der  Fixsterne  festgestellt  und  schwankt  hier  von 
den  geringsten  Beträgen  bis  zu  jenem  höchsten,  welchen  Groom  bridge 
1830  erreicht.  Nun  hat  man  schon  lange  mit  Hecht  darauf  hinge- 
wiesen, dafs  die  beste  Probe  auf  die  Entfernung  der  Sterne  von 
der  Erde  ihre  scheinbare  Eigenbewegung  ist,  nicht,  als  ob  es  nicht 
auch  nahe  Sterne  geben  könnte,  die  mit  einer  geringen  Eigenbewegung 
behaftet  erscheinen,  weil  sie  sich  gerade  auf  uns  zu  oder  von  uns  fort 
bewegen,  sondern  weil  jeder  Stern  von  grofser  Eigenbewegung  sich 
vergleichsweise  nahe  zu  uns  befinden  niufs,  er  hätte  denn  eine  immense 
Geschwindigkeit.  Freilich  sind  diese  Wege,  welche  die  Sterne  zurück- 
zulegen scheinen,  keineswegs  eine  blofse  Folge  der  ihnen  zukommenden 
Geschwindigkeit.  Wie  die  Bäume,  an  denen  wir  im  Eisenbahnwagen 
vorbei  fahren,  uns  entgegengesetzte  Wege  zurückzu  legen  scheinen  und 
die  näheren  sich  dabei  weit  schneller  unserem  Anblick  entziehen,  als 
die  weiter  abstehenden,  so  müssen  auch  die  Sterne  uns  ein  Abbild 
jener  Reise  liefern,  die  wir  selbst  auf  der  Erde  als  Begleiter  des  Tages- 
gestirns durch  den  Weltraum  ausführen.  Dann  müssen  aber  auch  aus 
diesem  Grunde  die  nächsten  Sterne  die  gröfsten  Bewegungen  auszu- 
führen  scheinen.  Diese  Eilsterne  also  sind  es,  die  wir  als  unsere 
nächsten  Nachbarn  in  der  Fixsternwelt  anzusehen  haben.  Vielleicht 
traten  sie  aus  der  sonst  so  umnefsbar  weit  entfernten  achten  Sphäre, 
die  eben  für  uns  scheinbar  immer  noch  existirt,  hervor,  genügend  nahe 
nach  unserem  Standpunkte  hin,  dafs  ihre  sorgfältige  Vergleichung  mit 
anderen  Sternchen  Aussicht  auf  eine  erfolgreiche  Bestimmung  ihrer 
Abstände  von  uns  bot.  In  der  Thal  ist  der  erste  Fixstern , dessen 
Abstand  bereits  vor  mehr  als  50  Jahren  durch  Bessels  sorgfältige 
Messungen  erkannt  wurde,  der  schon  erwähnte  01.  Stern  im  Schwan. 

■)  Vergl.  Himmel  u.  la  de  Bd.  III.  S.  ■!«:!, 


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180 


Dip  neueste,  mit  Hülle  der  Photographie  erlangte  Bestimmung  seiner 
Entfernung  hatte  das  Ergebnifs,  dafs  das  schnei lfiifsige  Licht  nicht 
weniger  als  7l/2  Jahre  braucht,  um  von  ihm  zu  uns  zu  gelangen. 
Der  eilfertigste  von  allen  Sternen  ist  freilich  um  nicht  weniger  als 
34  Jahre  Lichtzeit  von  uns  entfernt,  während  der  bisher  als  der 
nächste  Fixstern  geltende  <x  im  Centauren,  der  nur  3 ’/3  Jahre  Liohtzeit 
von  uns  absteht,  nur  halb  so  schnell  seinen  Weg  am  Himmel  zieht 
Alle  die  aufgeführten  Beträge  für  die  Eigenbewegungen  sind  freilich 
nur  Winkelgröfsen.  Kennt  man  aber  die  Entfernung,  so  läfst  sich  die 
diesem  Winkel  entsprechende  Weglänge  wohl  linden  — wie  in  dem 
Beispiel  von  vorhin  der  Weg  unseres  Schiffes  bei  bekannter  Entfernung 
aus  dem  von  Teneriffa  aus  gemessenen  Winkel  sich  hätte  finden  lassen. 
So  würde  der  Schnellläufer  Oroombridge  1830  in  der  Sekunde  376  km 
zurücklegen,  wenn  sein  Weg  wirklich  auf  der  Gesichtslinie  senkrecht 
stünde.  In  Wahrheit  ist  er  wohl  gegen  diese  geneigt,  und  so  wird 
dieser  Betrag  sich  noch  erhöhen.  Für  Sterne,  die  noch  weiter  entfernt 
sind,  kann  die  Geschwindigkeit  natürlich  noch  gröfser  werden,  wenn 
auch  scheinbar  die  Bewegung  am  Himmel  viel  langsamer  vor  sich  geht, 
wie  ja  derselbe  Eisenbahnzug  aus  weiter  Feme  betrachtet,  sioh  viel 
langsamer  zu  bewegen  scheint,  als  in  der  Nähe.  So  würde  der  Stern 
erster  Gröfse  Arcturus  nicht  weniger  als  600  km  und  |x  in  der  Cassio- 
peja  fast  500  km  in  der  Sekunde  zurücklegen,  wenn  man  den  Messungen 
für  die  Entfernung  dieser  Sterne  Vertrauen  schenkt,  die,  obgleich  durch 
genaue  lleliometerbeobachtungon  resp.  durch  Ausmessung  von  Photo- 
grammen erlangt,  noch  immer  mit  sehr  grofsen  Fehlem  behaftet  er- 
scheinen.11) Aber  offenbar  ist  anzunehmen,  dafs  unter  den  Fixsternen 
gar  manche  mit  einer  für  unsere  Begriffe  nicht  fafsbaren  Geschwindig- 
keit von  mehreren  hundert  Kilometern  in  der  Sekunde  durch  den 
Haum  sausen. 

In  neuerer  Zeit  ist  es  bekanntlich  gelungen,  auf  einem  von  diesem 
total  verschiedenen  Wege  ein  genaues  Urtheil  über  «lie  Geschwindig- 
keiten, die  in  der  achten  Sphäre  herrschen,  zu  gewinnen.  Aus  den 
schwachen  Verschiebungen,  welche  die  Linien  im  Spektrum  der  Sterne 
aufweisen,  lesen  die  Astronomen  die  Geschwindigkeit,  mit  der  sich  die 
Sterne  gegen  unsem  Standpunkt  hin,  resp.  von  ihm  fort  bewegen. 
Diese  Methode  hat  besonders  in  der  Verbindung  der  Spektral-Analyse 
mit  der  Photographie,  wie  sie  zu  Potsdam  ausgeübt  wird,  Ergebnisse 
von  unbestrittener  Genauigkeit  geliefert.  Aber  nirgends  hat  sich  auch 

Vergl.  Himmel  u.  Erde  Bil.  1.  8.312—314. 


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181 

nur  annähernd  eine  den  oben  angeführten  Werthen  vergleichbare  Ge- 
schwindigkeit ergeben.  Die  höohste  sicher  festgestellte,  wenn  wir  von 
derjenigen  eines  Bestandteils  des  neuen  Sterns  im  Fuhrmann  absehen, 
der  ja  vielleicht  nichts  als  ein  gasiger  Ausbruch  des  Sternes  ist  (vergl. 
H.  & E.  Hd.  IV  S.  290,  379),  ist  diejenige,  mit  der  Aldebaran  das  Sonnen- 
system flieht,  nämlich  49  km.  Wir  haben  dieselbe  Ungleichheit,  wenn 
wir  den  durchschnittlichen  Werth  von  17  km  in  der  Sekunde,  welchen 
die  Potsdamer  Messungen  ergeben,  mit  dem  aus  den  Eigen be wegungen 
der  Sterne  mit  Parallaxen  berechneten  Werthe  von  68  km  vergleichen. 
Wir  werden  später  versuchen,  die  Lösung  lies  Dilemmas  zu  geben. 

Zunächst  wollen  wir  einer  Methode  gedenken,  die  wohl  zuerst 
Prof.  Franz  in  Königsberg  ersonnen  hat,  um  die  mittlere  Entfernung 
einer  gröfseren  Anzahl  von  Sternen  zu  finden.  Fassen  wir  eine  Menge 
beliebig  über  den  Himmel  vertheilter  Sterne  ins  Auge,  von  denen  wir 
die  verschiedenen  Komponenten  der  Geschwindigkeit  kennen,  so  läfst 
sich  kein  Grund  angeben,  warum  sie  am  Himmel  eine  gröfsere  oder 
geringere  scheinbare  durchschnittliche  Schnelligkeit  besitzen  sollten, 
als  in  der  Richtung  der  Gesichtslinie.  Nimmt  man  also  gar  keine 
Rücksicht  auf  das  Vorzeichen,  so  wird  es  gestattet  sein,  die  mittlere 
Geschwindigkeit,  wie  sie  die  Eigenbewegungen  im  Bogenmafs  ergeben, 
der  aus  den  Spektralmessungen  folgenden  durchschnittlichen  Geschwindig- 
keit jener  Sterne,  in  Kilometern  gemessen,  gleichzusetzen.  •')  Der  jüngst 
der  Wissenschaft  so  früh  entrissene  Dr.  Kloiber  hat  diese  Rechnung 
an  der  Hand  eines  allerdings  noch  nicht  sehr  reichen  Materials  aus- 
geführt. Nur  für  22  Sterne,  deren  Eigenbewegungen  genau  bestimmt 
waren,  lagen  genaue  Spektralmessungen  von  Vogel  in  Potsdam  vor. 
Dem  mittleren  Werthe  von  16.5  km  in  der  Sekunde  oder  von  3 1/2  Erd- 
bahnhalbmessern im  Jahre,  welchen  die  letzteren  ergaben,  entsprachen 
im  Mittel  0".22  in  Rektascension  und  0“.25  in  Deklination  und  hieraus 
ergiebt  sich  als  durchschnittlicher  Werth  für  den  Winkel,  unter  dem 
der  Erdbahnhalbmesser  von  jenen  Sternen  aus  erscheint,  oder  für  die 
Parallaxe,  etwa  0".071.  Mit  anderen  Worten:  Das  Licht  braucht  etwa 
50  Jahre  durchschnittlich,  um  von  einem  dieser  22  Sterne  zu  uns  zu 
gelangen.  Nioht  ganz  fern  von  diesem  Resultate  liegt  ein  anderes, 
welches  Elkin  durch  direkte  Messung  von  Parallaxen  mittelst  des 
Heliometers  erhalten  hat,  ja  es  bestätigt  das  erlangte  Resultat  so  gut, 
wie  man  bei  diesen  noch  immer  auf  verhältnifsinäfsig  schwachen  Fiifsen 
stehenden  Ergebnissen  nur  erwarten  kann.  Elk  in  hat  nämlich  für 

s)  Vergl.  Hiimiu'l  u.  Erde  Bd.  IV  S.  332.  Anm. 


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10  Sterne  erster  Gröfse  den  Durchschnittswerth  der  Entfernung  auf 
36  Jahre  Lichtzeit  bestimmt,  während  die  durchschnittliche  Gröfse  jener 
22  Sterne  1.8  ist.  Immerhin  bleibt  zu  bemerken,  dufs  das  Ganze  noch 
als  eine  sehr  vorläufige,  mit  nicht  voll  genügendem  Material  angestellte 
Untersuchung  zu  gelten  hat. 

Die  Lösung  des  Dilemmas,  auf  das  wir  vorhin  stiefsen,  wird 
nicht  geschehen  können,  ohne  dafs  wir  diejenigen  Ergebnisse  der 
Spektral forschung,  welche  sich  auf  die  acht»-  Sphäre  beziehen,  in  die 
Betrachtung  ziehen.  Bekanntlich  lassen  sich  die  Fixsterne,  von  der 
Zahl  nach  verschwindenden  Ausnahmen  abgesehen,  in  zwei  Typen 
einrangiren.  Die  einen  haben  in  ihrem  Spektralcharakter  mit  dem 
Sirius  Aehnlichkeit,  die  andern  theilen  mit  der  Sonne  die  Hauptziige 
des  Spektrums.  Im  vorigen  Jahrgang  (S.  332  f.)  berichteten  wir  über  die 
Forschungen,  die  Maunder  diesen  Sternen  hat  angedeihen  lassen,  und 
welche  zu  dem  Resultate  führten,  dafs  diese  Charaktere  nichts  als 
Folgen  einer  bestimmten  chemischen  Zusammensetzung  jener  Himmels- 
körper seien,  keineswegs  aber  einen  Rückschlufs  auf  ihr  relatives  Alter 
gestatten.  Die  chemische  Natur  der  Körper  kann  aber,  obgleich  dieselben 
Elemente  überall  am  Himmel  in  Verbindungen  treten,  doch  in  den  ver- 
schiedenen Regionen  desselben  eine  immer  andere  sein,  weil  etwa  hier 
der  Wasserstoff,  dort  die  Metalle  überwiegen  können. 

Nun  sind  die  Sterne,  welche  eine  beträchtliche  Eigenbewegung 
besitzen,  neuerdings  von  Bossert  katalogisirt  worden.  Andererseits  giebt 
es  auch  einen  Katalog  der  Spektren,  der  nach  den  Beobachtungen  der 
Harvard-Sternwarte  von  Pickering  entworfen  wurde,  liier  findet  sich 
das  Spektrum  vieler  Eilsterne  verzeichnet.  Aus  einer  Vergleichung, 
die  Monck  ausgeführt  hat,  ergiebt  sich,  dafs  auf  acht  Sonnensterne 
unter  ihnen  immer  nur  ein  einziger  Siriusstern  erscheint,  während 
doch  die  Zahl  der  Mitglieder  beider  Sternklassen  ungefähr  die  gleiche 
ist.  Diese  merkwürdige  Ungleichheit,  sowie  die  vorhin  erwähnten 
Betrachtungen  von  Maunder  machen  es  höchst  wahrscheinlich,  dafs 
die  Sonnensterne  nur  scheinbar  im  Weltraum  gleichtnäfsig  vertheilt 
sind,  in  Wnhrheit  aber  in  den  Regionen  des  Sonnensystems,  mit  dessen 
Königin  sie  das  Spektrum  gemeinsam  haben,  sich  aufhalten.  Dafs  sie  uns 
als  Eilsterne  erscheinen,  das  macht  aber  nicht  eine  ihnen  selbst  eigen- 
thümliche  Bewegung,  sondern  vielmehr  die  relative  Nähe,  in  der  sie  zu 
uns  stehen.  Bilden  die  Eilsterne  wirklich  ein  zusammengehöriges 
Ganze,  so  mul's  sich  das  auch  noch  in  andern  Erscheinungen  dokumentären. 
Ist  ihr  Weg  hauptsächlich  das  Abbild  der  Bewegung  der  Sonne  im 
Raume  und  nicht  die  Folge  einer  ihnen  innewohnenden  grofsen  Ge- 


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183 


schwindiirkeit,  so  mufs  sich  das  in  der  Richtung  ihrer  Bewegung  zeigen. 
In  der  That  streben  drei  Viertel  dieser  Sterne  nuch  derjenigen  Himmels- 
gegend, welohe  dem  Zielpunkte  der  Sonnen bewegung  entgegengesetzt  ist. 

Unter  den  Doppelsternen,  die  ihre  Bahn  in  einer  kurzen,  sicher 
festgestellten  Periode  durchlaufen,  die  also  einander  verhältnifsmiifsig 
nahe  sind,  und  da  wir  sie  getrennt  erblioken,  auch  von  uns  einen  ver- 
gleichsweise geringen  Abstand  haben  müssen,  sind  32  Sonnenstemo 
gegen  1 1 Siriussterne.  Fafst  man  dagegen  die  Gesamtheit  aller  Doppel- 
sternbahnen, auch  derjenigen  mit  langer,  noch  nicht  festgestellter  Periode 
ins  Auge,  so  zeigt  sich,  dafs  Sterne  beider  Typen  gleichmiifsigen  An- 
theil  an  der  Bildung  solcher  Sternsysteme  haben. 

Sind  die  Sonnensterne  physisch  verbunden,  so  darf  man  erwarten, 
dafs  ihre  Gesamtheit  eine  irgend  wohin  gerichtete  gemeinsame 
Bewegung  aufweist.  Auch  das  ward  bestätigt.  Bofs  und  Stumpe 
haben  nämlich,  um  die  Bewegung  des  Sonnensystems  im  Raume  zu 
finden,  oine  Anzahl  von  Eilsternen  zu  Grunde  gelegt,  und  dabei  fin- 
den Zielpunkt  der  Reise  eine  weniger  nördliche  Taige  gefunden,  als 
ihm  nach  früheren  Rechnungen  zukommt.  Damit  ist  gezeigt,  dafs  die 
Gesamtheit  der  Sonnensterne  nach  Norden  wandert.  Das  widerspricht 
nicht  dem,  was  -wir  oben  über  die  Richtungen  dieser  Sterne  gesagt 
haben;  sie  können  eben  dio  Reise  der  Sonne  mitmachen  und  doch  im 
übrigen  sich  unabhängig  von  einander  bewegen. 

Trotzdem  wäre  es  übereilt,  anzunehmen,  dafs  alle  Sterne  vom 
zweiten  Spektraltypus  diesem  System  von  Sternen,  welchem  auch  die 
Sonne  angehört,  sich  einordnen.  Die  beiden  Hauptsteme  des  Orion 
z.  B.  haben  sehr  geringe  Eigenbewegungen,  und  liegen  sicherlich  in 
unmefsbaren  Entfernungen.  Auch  wird  man  innerhalb  dieses  Sonnen- 
sternsystems nach  der  Beschaffenheit  des  Spektrums  noch  Unlerthei- 
lungen  machen  könnende  nachdem  die  Sterne  darin  der  Capelia  oder  dem 
Arcturus  ähneln.  Die  Capellasterne,  obgleich  im  ganzen  weniger  zahl- 
reich, als  die  Arcturussterne,  leisten  zu  den  Doppelsternen  mit  berechneten 
Bahnen,  also  zu  den  uns  benachbarten  Doppelsonnen,  einen  reichlicheren 
Beitrag,  als  alle  andern  Typen  zusammen.  Ordnet  man  die  Sterne  nach 
ihren  Eigenbewegungen,  so  sind  unter  allen,  die  im  Jahrhundert 
mindestens  10  Bogensekunden  zurüoklegen,  nicht  weniger  als  65  pCt. 
Capellasterne,  wahrend  andererseits  die  Arcturussterne  zu  den  eigent- 
lichen Eil8ternen  den  gröfsten  Beitrag  stellen.  Diese  werden  vielleicht 
von  der  Theilnahme  am  Sonnensternsysteme  ausgeschlossen  sein  und 
für  sieh  ihre  sohneilen  Bahnen  durch  den  Weltraum  lenken , in  den 
Capeliasternen  aber  dürfen  wir  mit  grofser  Wahrscheinlichkeit  die 


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1 


184 


nächsten  Nachbarn  unseres  Sonnensystems  erblicken,  die  unserer 
Tageskönigin  durch  Gemeinsamkeit  des  Ursprungs  verwandt  und  in 
ihrer  Nähe  geblieben  sind.  Offenbar  schliefsen  diese  Ergebnisse,  zu 
denen  Monok  gelangt  ist,  auch  die  Lösung  unserer  Frage  ein:  es 
erscheint  uns  der  Lauf  gewisser  Sterne  deshalb  so  eilig,  weil  Bie  in 
Wirklichkeit  mit  riesigen  Geschwindigkeiten  begabt  sind,  aber  sie 
bilden  eben  nur  geringzühlige  Ausnahmen,  während  die  meisten  durch- 
aus keine  überniäfsigen  Winkelgeschwindigkeiten  besitzen. 

Dafs  hier  der  Sonne  eine  so  zahlreiche  Genossenschaft  von 
Sternen  als  Gesellschaft  zugeordnet  wurde,  das  eröffnet  einen  Bliok 
auf  zukünftige  Forschungsergebnisse  in  der  achten  Sphäre.  Wir 
tlürfen  erwarten,  dafs  es  durch  das  fortgesetzte  Studium  der  Spektren 
und  der  Bewegungen  in  der  Fixsternwelt  gelingen  wird,  diese  all- 
mählich in  eine  Reihe  zusammengehöriger  Systeme  von  gemeinsamen 
Naturen  und  Strebungen  zu  gruppiren , und  so  die  achte  Sphäre  in 
eine  Vielheit  von  Weltgruppen  aufzulösen.  Sm. 

♦ 

Photographische  Entdeckung  von  Planeten. 

Im  9.  Hefte  des  vorigen  Jahrganges  unserer  Zeitschrift  haben 
wir  der  schönen  Erfolge  gedacht,  welche  Dr.  Max  Wolf  in  f leideiberg 
mittelst  eines  Itoppclfernrolirs  von  kurzer  Brennweite  auf  dom  Gebiete 
der  Planetenontdeckung  erzielt  hat.  Herrn  Wolf  gelang  es,  in  kurzer 
Zeit  eine  sehr  ansehnliche  Zahl  neuer  und  „verloren“  gegangener 
Planeten  auf  seinen  photographischen  Platten  zu  konstatiren.  Wie  sich 
voraussehen  liefe,  mufsten  sich  bei  einem  so  wichtigen  Gegenstände 
bald  Konkurrenten  einfinden.  Dies  ist  von  der  Sternwarte  Nizza  aus 
geschehen.  Dor  eifrige  Planetenentdecker  Charlois  hat  am  19.September 
ebenfalls  photographisch  seinen  ersten  Planeten  aufgefunden  und  dieser 
„Premiere“  sind  inzwischen  noch  vier  weitere  Entdeckungen  derselben 
Art  gefolgt.  Die  Nizzaer  Sternwarte  verfügt  bekanntlich  über  so  ausge- 
zeichnete optische  Hilfsmittel , dafs  die  photographisch  konstatirten 
Planeten  sofort  auch  durch  direkte  Beobachtungen  weiter  verfolgt 
werden  können.  Aufserdem  verlautet  , dafs  der  Gründer  des  Obser- 
vatoriums, der  um  die  französische  Astronomie  durch  seine  Schenkungen 
so  verdienstvolle  Baron  Bischoffs heim,  gegenwärtig  im  Plane  hat, 
nordwärts  von  Nizza,  auf  dem  über  8000  Fufe  hohen  Mt.  Meunier  ein 
Bergobservatorium  zu  errichten.  In  der  klaren  Luft  dieser  Berghöhe 
wird  es  gelingen,  auch  jene  Beobachtungen  zu  realisiren,  die  in  Nizza 
selbst  wegen  ungünstigen  Himmels  etwa  fehlschlagen.  * 


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lieber  die  Verdoppelung  der  Marskanäle. 

Die  von  Sohiaparelli  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  (I.  Jahrg. 
S.  93  u.  f.)  vorgetrageneu  Beobachtungen  über  die  Verdoppelung  der 
Kanäle  des  Mars  gehören  zu  den  merkwürdigsten,  aber  zugleich  zu 
den  ain  schwierigsten  verfolgbaren  Erscheinungen  der  Oberfläche 
unseres  Nachbarplaneten.  Es  ist  nicht  befremdend,  wenn  zur  Er- 
klärung dieses  Phänomens  schon  mehrere  Hypothesen  aufgestellt 
worden  sind  und  immer  neue  in  die  OefTentlichkeit  gelangen.  Unseres 
Erachtens  ist  es  allerdings  viel  zu  früh,  sohon  Ideen  über  diese  Er- 
scheinung auszutausohen,  vielmehr  scheinen  sich  gerade  hier  erst  nach 
vieljähriger  Verfolgung  einige  Gesichtspunkte  für  eine  Theorie  ge- 
winnen zu  lassen;  indessen  sind  wir  unseren  Lesern  schuldig,  die 
neuesten  zu  Tage  kommenden  Ansichten  in  unserer  Zeitschrift  zu 
registriren,  ohne  uns  über  die  eine  oder  die  andere  kritisch  auszu- 
sprechen. 

In  der  Pariser  Akademie  hat  kürzlich  Meunier  eine  duroh 
ihre  Einfachheit  originelle  Hypothese  angekündigt.  Meunier  trug 
mittelst  eines  schwarzen  Firnis  die  hauptsächlichsten  Linien  und 
Flecke  der  Marskarte  auf  eine  polirte  Metallflache  auf  (später  ex- 
perimentirte  er  auch  mit  sphärischen  Flächen)  und  beleuchtete  letztere 
durch  den  Strahl  einer  Lichtquelle;  dann  hielt  er  über  die  Fläche,  parallel 
mit  ihr  und  wenige  Millimeter  entfernt,  einen  mit  feinem  Mousselin  be- 
spannten Rahmen.  Die  Linien  und  Flecke  waren  dann  auf  dem  Ge- 
webe verdoppelt  wahrnehmbar.  Meunier  meint  nun,  indem  er 
diesen  Versuch  auf  die  Erklärung  der  Verdoppelung  der  Marskanäle 
anwendet,  dafs  das  Luftraeer  des  Mars  nicht  immer  klar,  sondern  bis- 
weilen vielfach  mit  Nebel  angefüllt  sei,  welcher  sich  auf  grofse  Ent- 
fernungen hin  zu  einer  Nebelfläche  ausbreiten  und,  von  der  Erde  aus 
gesehen,  eine  feine  Durchsichtigkeit,  wie  die  Mousselindecke  über 
der  Metallfläche,  zeigen  könne.  Die  von  der  Sonne  kommenden 
Strahlen  werden  von  der  Marsoberfläche  reflektirt  und  die  Schatten 
der  Kanäle  werden  uns  auf  der  Nebelfläche  sichtbar:  wir  sehen  die 
Kanäle  doppelt  Die  Unregelmäfsigkeiten,  welche  Sohiaparelli  in 
den  Verdoppelungsersoheinungen  beobachtet  hat,  wie  das  Vorkommen 
von  nioht  parallelen  Verdoppelungen,  oder  das  Fehlen  der  Ver- 
doppelung auf  einzelnen  Strecken,  lassen  sich  nach  Meunier  durch 
die  unregelmäfsige  Begrenzung  der  Nebeldecke  erklären.  Die  be- 
trächtlichen Veränderungen,  die  man  in  der  Verdoppelung  an  den- 
selben Objekten  zu  verschiedenen  Zeiten  konstatirt  hat,  führt  der  Ver- 
fasser auf  die  variirende  Höhe  der  Nebeldecke  und  auf  den  mit  der 


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136 


Bewegung  der  Erde  sich  ändernden  Wiukel  zurück,  unter  welchem 
wir  unsere  Beobachtungen  machen.  Die  Verschiebung  der  Lage  der 
Kanüle,  welche  Schiaparelli  beobachtet  hat,  sei  durch  Refraktions- 
erscheinungen in  der  Marsatmosphäre,  bei  welchen  der  Dampfgehalt 
dieser  letzteren  eine  Rolle  spiele,  veranlafst  Einwürfe  gegen  diese 
Hypothese  sind  die  grofsen  Verschiedenheiten,  welche  die  Richtungen 
der  Verdoppelung  auf  dunklen  Stellen  zeigen,  während  sich  die  Ver- 
doppelung bei  den  Kanälen  innerhalb  enger  Grenzen  bewegt,  die 
Durchsetzung  dunkler  Flächen  von  hellen  Streifen,  die  Verbreiterung  der 
Kanäle  an  Kreuzungsstellen,  sowie  endlich  der  entschieden  vorhandene 
Zusammenhang  der  Gesamterscheinungen  mit  den  Jahreszeiten  des  Mars. 

Ganz  verschieden  von  dieser  Hypothese  ist  eine  von  A.  Schmidt 
im  Novemberhol'te  der  „Deutschen  Revue“  geäufserte  Idee.  In  Ueber- 
cinstimmung  mit  Maunder  nimmt  Schmidt  für  den  Planeten  Mars 
eine  bedeutend  niedrigere  Temperatur  an,  als  für  die  Erde.  Die 
Zusammensetzung  der  Marsatmosphäre  sei  wesentlich  anders  als  die 
der  irdischen  Lull  ihr  Wassergehalt  erheblich  kleiner,  dagegen  sei  sie 
vornehmlich  aus  freier  Kohlensäure,  die  unter  hohem  Drucke  steht, 
gebildet  Aus  diesen  hypothetischen  Voraussetzungen  orgiebt  sich, 
dafs  die  Oberlliiche  des  Mars  gänzlich  vereist  ist  dafs  sich  auf  der- 
selben grofse  Niederschlagsprozesse  der  Kohlensäure  vollziehen  und 
dafs  die  Kanäle  aus  solchen  Niederschlägen  zusammengesetzte  Wrolken 
sind,  deren  Auftreten  an  bestimmte  geradlinige  Bodengestaltungen 
gebunden  ist  welche  sich  auf  grofse  Strecken  hin  ausdehnen.  In  den 
vielen  Rissen  und  Spalten,  welche  durch  die  Vereisung  des  Planeten 
erzeugt  wurden,  herrsche  ein  ununterbrochenes  Ausstofsen  von  Kohlen- 
säure und  Wasserdampf,  diese  Gemische  würden  von  gleiohmäfsig 
wehenden  Passatwinden  fortgeführt.  Zuerst  würden  sich  längs  den 
Spalten  aus  dem  Wasserdampf  mächtige  Schneewolken  bilden,  die 
Kohlensäure  könnte  aber  auf  Kosten  der  Wärme  des  Wassers  eine 
höhere  Temperatur  annehmen  und  würde,  da  sie  von  den  Passaten 
weitergetragen  wird,  in  gröfseror  Entfernung  von  den  Schneewolken 
wieder  abgekühlt  und  müfste  als  ein  zweiter,  dem  ersten  paralleler 
Schnee-  oder  Wolkenstrich  sich  niederschlagen.  Auf  diese  Weise 
entstünden  „Verdoppelungen.“ 

W7ie  man  sieht,  ist  in  der  zweiten  Ansicht  nooh  viel  mehr  des 
Hypothetischen,  als  in  der  ersten.  * 


* 


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187 


Komet  Holmes.  Dieser  merkwürdige  Komet,  der  in  den  Tages- 
blättem  viel  von  sich  reden  gemacht  hat,  ist  in  der  Nacht  des  6.  No- 
vember südwestlich  vom  grofsen  Andromeda- Nebel  von  Edwin 
Holmes  entdeckt  worden;  unabhängig  fand  ihn  Anderson  am  8.  No- 
vember. Das  Gestirn  war  sehr  hell,  zeigte  sich  als  runde  Nebelmasse  von 
etwa  5 Minuten  Durchmesser,  mit  einer  zentralen  Verdichtung.  In  den 
nächsten  4 — 6 Tagen  schon  erschien  der  Komet  beträchtlich  gröfser,  bis  zu 
10  Minuten,  und  auch  noch  heller;  die  zentrale  Stelle,  welche  man  nicht 
recht  als  „Kern“  bezeichnen  konnte,  hatto  sich  keilförmig  verlängert 
und  im  Kopfe  des  Kometen  trat  aus  der  Nebelmasse  ein  helleres 
Segment  deutlioh  hervor.  Kaum  viel  mehr  als  eine  Woche  nach  der 
Entdeckung  wurde  der  Komet  rasch  lichtschwächer,  obwohl  er  seinen 
beträchtlichen  Durchmesser  beibehielt,  um  Mitte  November  war  auch 
eine  Schweifspur  zu  erkennen.  Die  Beobachtungen  in  der  ersten  Zeit 
mufsten,  da  der  verschwommenen  Nebelmasse  ein  eigentliches  Zentrum, 
auf  das  man  die  Messungen  hätte  beziehen  können,  fehlte,  beträchtlich 
unsicher  sein.  Hierzu  kam,  ilafs  der  Komet  sich  nur  sehr  langsam 
von  einem  Tage  zum  andern  weiterbewegte,  kaum  30  Zeitsekunden  in 
Rektaszension  und  5 Bogenminuten  in  Deklination,  also  die  aus  den 
Beobachtungen  der  ersten  Tage  ermittelten  Positionen  nur  geringe  Ver- 
schiebung enthielten.  Da  andererseits  die  Bahnbestimmung  des  Ko- 
meten, um  dessen  Weiterbewegung  im  voraus  kennen  zu  lernen,  schon 
bald,  mit  3-tägiger  Zwischenzeit,  vorgenommen  werden  rnufste,  lagen 
die  Verhältnisse  für  die  Erlangung  eines  zuverlässigen  Rechnungs- 
resultates in  diesem  Falle  viel  ungünstiger,  als  es  sonst  bei  ersten 
Bahnbestimmungen  vorzukomraen  pflegt.  In  der  That  war  die  Sache 
so  unsicher,  dafs  sich  nicht  einmal  aus  den  Beobachtungen  ent- 
scheiden liefs,  ob  der  Komet  sich  der  Erde  näherte  oder  von  ihr  entfernte. 
Die  bedeutende  Oröfse  des  Kometen,  sowie  sein  rasches  Hellerwerden 
liefsen  auf  das  erstere  schliefsen,  und  da  zwei  Astronomen,  Berberich 
in  Berlin  und  Schulhof  in  Paris  unabhängig  von  einander 
Bahnelemente  fanden,  die  mit  jenen  des  periodischen  Kometen  Biela 
grofse  Aehnlichkeit  zeigten,  so  lag  der  Gedanke  nahe,  dafs  man  in 
dem  entdeckten  Holmes  sehen  Kometen  den  Bielaschen  vor  sich 
habe,  dafs  dieser  eben  wieder  zur  Erde  zurückkehre  und  letztere 
bald  einholen  werde.  Seit  dem  denkwürdigen  Sternsohnuppenfall 
vom  27.  November  1872  und  der  Auffindung  des  Bielaschen  Kometen 
wenige  Tage  nachher  durch  Pogson  von  der  südlichen  Erdhemi- 
sphäre aus  hat  sich  der  Komet  Biela  (der  eine  Umlaufszeit  von 
6,7  Jahren  besitzt)  nicht  wieder  gezeigt.  Obwohl  nun  die  Störungen, 


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183 

die  dieser  Komet  bis  18‘J-  erleidet,  nicht  bekannt  waren,  wiire  doch 
einige  Möglichkeit  gewesen,  dafs  der  Komet  Ende  November  abermals, 
wie  im  Jahre  1872,  mit  seinem  Schweife  die  Erde  hätte  berühren 
können.  Die  wenigen  Worte,  die  über  diese  Möglichkeit  von  wissen- 
schaftlicher Seite  in  die  Oelfentliclikeit  gelangten,  sind  von  sensations- 
bedürftigen Journalen,  namentlich  von  französischen  und  amerikanischen 
Zeitungen  zu  einorMenge  von  Artikeln  und  Interviews  ausgebeutet  worden 
und  der  Komet  hat  auf  diese  Weise  eine  wahre  Fluthbewegung  der 
Druckerschwärze  hewirkt.  Sobald  die  Beobachtungen  des  Kometen 

Holmes  bis  zum  11.  No- 
vember reichten,  konnte 
sioher  entschieden  werden, 
dafs  dieser  Komet  nicht  der 
Bielasche  sei,  und  sich 
von  der  Erde  entferne.  Die 
Bestimmung  der  ßahnele- 
mente  blieb  indessen  immer 
noch  zweifelhaft:  Kreutz 
fand  aus  den  Beobachtun- 
gen vom  9.,  10.,  1 1.  No- 
vember die  Perihelzeit  l Zeit 
derSonnennähe)  1 6.  August 
den  Perihclabstand=0.83t>; 
Berberich  und  Weifs 
ebendieselben  Elemente 
Der  Komet  HoLmeo,  mit  19.  April,  resp.  1.70; 

nach  einer  am  15.  Nor.  1892  von  Dr.  Max  Wolf  Krentz  und  Schulhof 
in  Heidelberg  ...(genommenen  Photographie.  Bahnelemente  arl, 

welche,  ohne  den  Beobachtungen  zu  sehr  zu  widersprechen,  Un- 
sicherheiten der  Perihelzeil  vom  März  bis  Juni  zuliefsen.  Erst  nach- 
dem die  Zwischenzeit  wesentlich  erweitert  werden  konnte  und  es  mög- 
lich war,  fehlerhafte  Beobachtungen  auszuscheiden,  gewann  die  Bahn- 
bestimmung  an  Sicherheit  und  es  zeigte  sich,  dafs  die  bis  zum  23.  No- 
vember gemaohten  Beobachtungen  auf  die  Balm  einer  Ellipse  schliofsen 
lassen.  Nach  den  Rechnungen  von  Kreutz  und  jenen  von  Berberioh 
würde  der  Komet  7.09  Jahre  resp.  6.78  Jahre  Umlaufszeit  um  die  Sonne 
haben,  der  Knoten  der  Bahn  würde  bei  331°  liegen,  die  Exzentrizität 
0.407,  die  Bahnneigung  203/4  u,  die  tägliche  Bahnbewegung  über 
500  Bogensekuuden  sein.  Nach  diesen  Bahnelementen  wird  sich  der 
Holmessche  Komet  im  Laufe  des  Dezember  durch  das  Sternbild  der 


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Andromeda  südwärts,  täglich  etwa  4 Bogenminuten  in  Deklination,  be- 
wegen, die  Helligkeit  wird  langsam  abnehmen,  doch  wird  der  Komet 
voraussichtlich  noch  lange  beobachtbar  bleiben. 

Nun  läfst  sioh  auch  der  Weg  mit  völliger  Sicherheit  angeben,  den 
der  Komet  lange  vor  seiner  Entdeckung  am  Himmel  genommen  hat.  Er 
mufstr  Mitte  Juni  in  den  „Fischen“  gestanden  haben  und  damals  halb  so 
hell  wie  am  Entdeckungstagr  gewesen  sein,  dann  bewegte  er  sich  nord- 
westlich in  langsam  ansteigender  Kurve  mit  immer  zunehmender  Hellig- 
keit über  dem  Kopfe  des  Widders  hinweg  duroh  den  Triangel  und  war 
schon  am  18.  August  ungefähr  so  hell,  wie  bei  der  Entdeckung;  dann  lief 
er  in  Deklination  steil  aufwärts  in  die  „Andromeda",  wo  er  im  November 
von  Holmes  entdeckt  wurde.  Demnach  hätte  der  Komet  schon 
3 Monate  früher  mit  gleioher  Helligkeit  am  Himmel  gestanden,  ja  er 
wäre  der  Kraft  unserer  Fernrohre  schon  ein  halbes  Jahr  vor  dem 
November  zugänglich  gewesen  und  es  ist  eine  sehr  eigentümliche 
Thatsache,  dafs  er  bei  der  sorgfältigen'  Ueberwachung  des  Himmels 
seitens  der  kometensuchenden  Astronomen  nicht  früher  aufgefunden 
worden  ist.  Sollte  er  dennoch  damals,  abweichend  von  der  Rechnung, 
sehr  schwach  gewesen  sein?  Fast  möchte  man  bei  dem  Holmesschen 
Kometen  ein  ganz  abnormes  Beispiel  für  die  Entwicklung  des  Koineten- 
lichtes  vermuten,  zu  welcher  Vermutung  nicht  wenig  auch  die  schon 
angeführte  Thatsache  leitet,  dafs  der  Komet  nach  dem  9.  November 
innerhalb  weniger  Tage  den  doppelten  Umfang  und  erheblich  vermehrte 
Helligkeit  erhalten  hat,  trotzdem  er,  wie  die  Rechnung  zeigt,  sich  uns 
nicht  genähert,  vielmehr  von  uns  schnell  entfernt  hat. 

f 

Zur  Physik  der  Atmosphäre. 

Unter  den  Ansichten,  die  zur  Erklärung  der  elektrischen  Er- 
scheinungen des  Luftmeeres  aufgestollt  worden  sind,  fordert  eine  ein 
erhöhtes  Interesse  heraus,  weil  sie  an  die  allermodemsten  Erfahrungen 
im  Gebiete  jener  so  räthselhaften  Naturkraft  anknüpft.  Arrhenius 
hat  diese  Hypothese  zuerst  ausgesprochen;  sie  lautet  mit  einer 
für  die  praktische  Verwerthung  derselben  nicht  in  Frage  kommen- 
den und  nur  theoretisch  wichtigen  Abänderung:  „Die  Erde  ist 

erfahrungsgomäfs  aus  Ursachen,  die  vorläufig  sicher  festzustellen 
unmöglich  ist,  mit  einer  Schicht  negativer  Elektrizität  belegt.  Eine  be- 
sondere Gattung  von  Sonnenstrahlen  — die  ultravioletten  — hat  die 
Eigenschaft,  negativ  elektrische  Körper  durch  die  blofse  Einstrahlung 

Himmel  and  Erd».  1898.  V.  4.  14 


UM) 


ihres  Gehaltes  an  Elektrizität  zu  berauben.  So  wird  auch  die  Erde  durch 
die  Sonnenstrahlen  ihren  Belag  von  negativer  Elektrizität  abgeben 
und  die  Luft  damit  bereichern.  •“  So  weit  die  Hypothese.  Zu  ihrer  Be- 
gründung bedarf  es  eingehender  und  vielseitiger  Studien.  Wir  sind 
in  der  Lage,  über  ein  umfangreiches,  hierher  gehöriges  Material 
zu  belichten,  welches  freilich  auch  an  sich  einen  bedeutenden  Werth 
besitzt,  dem  Arrheniussohen  Standpunkte  aber  eine  gewisse  Festig- 
keit verleiht  und  dabei  viele,  bisher  noch  recht  im  Dunkel  liegende 
Phänomene  mit  hellem  Lichte  übergiefst.  Dieses  Material  ist  in  den 
letzten  drei  Jahren  von  Elster  und  Geitel  in  Wolfenbüttel  zusammen- 
getragen und  letzthin  in  den  Sitzungsberichten  der  kais.  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Wien  (März  1892)  veröffentlicht  worden.  Eines 
mufs  vorangeschickt  werden.  Die  Arrheniussche  Ansicht  setzt 
voraus,  dafs  gerade  diejenigen  Körper,  welche  die  flüssigen  und  die 
starren  Best&ndtheile  der  Erdrinde  ausinachen,  unter  dem . Einflüsse 
der  Sonnenstrahlen  jene  merkwürdige  Aenderung  erleiden.  Aber  das 
war  noch  keineswegs  bewiesen,  sondern  zuerst  nur  für  einige  Metalle 
bekannt,  die,  so  lange  ihnen  eine  blanke  Oberfläche  zukam,  in  der 
That  seitens  der  Sonnenstrahlen  zur  Auslieferung  ihnen  zugeführter 
negativer  Elektrizität  gezwungen  wurden.  Es  ist  erst  den  genannten 
Herren  mit  Hülfe  eines  sehr  feinfühligen  Verfahrens  gelungen,  die- 
selbe Erscheinung  für  einige  Mineralien  darzuthun,  so  dafs  also 
jetzt  der  Theorie  eine  experimentelle  Grundlage  zuerkannt  werden 
mufs.  Es  handelt  sich  nun  zur  ferneren  Begründung  derselben  um 
Beobachtungen  der  elektrischen  Spannung  in  der  Luft  und  gleichzeitig 
um  Messungen  der  Intensität  der  brechbarsten  Sonnenstrahlen  zu  den 
verschiedensten  Zeiten  des  Tages  und  Jahres.  Beide  Arten  von 
Messungen  sind  von  Elster  und  Geitel  ausgeführt  und  die  Resultate  in 
der  mannigfachsten  Weise  verwerthet  worden.  So  zeigt  Fig.  1 den 
Verlauf  der  elektrischen  Spannung  während  des  Jahres,  wie  er  aus 
1478  Einzelmessungen  an  normalen,  d.  h.  nicht  durch  eine  Wolken- 
decke oder  gar  durch  elektrische  Entladungen  gestörten  Tagen  sich 
ergiebt  Das  auoh  sohon  von  früheren  Beobachtern  konstatirte  Ab- 
sinken der  Spannung  im  Sommer  wurde  von  Exner  durch  eine  hypo- 
thetische Abhängigkeit  derselben  von  dem  gerade  herrschenden 
Dampfdruck  erklärt.  Wenn  nämlich  die  Spannung  des  atmosphärischen 
Wasserdamples  hoch  ist  — wie  im  Sommer  — so  ist  zugleich  die- 
jenige der  Elektrizität  herabgedrückt  und  umgekehrt 

Freilich  sind  die  Abweichungen  der  Einzelmessungen  von  der 
Jahreskurve  — wie  wir  hervorheben  müssen  — sehr  bedeutende 


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191 


wenn  wir  sie  etwa  mit  den  Anomalien,  welchen  die  Temperatur  für  die 
einzelnen  Tage  des  Jahres  unterworfen  sein  kann,  vergleichen.  Unter- 
sucht man  den  Gang  der  elektrischen  Spannung  für  einen  bestimmten 
Tag,  so  findet  man  schon  an  demselben  Erdorte  nur  wenig  Ueberein- 
stimmendes,  und  bei  einer  Vergleichung  der  für  verschiedene  Erdorte 
erlangten  Resultate  ergiebt  sich  leicht,  dafs  hier  vielgestaltige 
lokale  Einflüsse  walten  (vergl.  z.  B.  die  Kurven  auf  S. 268  des  4.  Bd. 
von  H.  n.  E.).  Kur  soviel  liefs  sich  aus  den  Wolfenbüttler  Beobachtungen 
erkennen,  dafs  die  Spannung  im  Laufe  eines  Wintertages  unter  starken 
Schwankungen  vom  Morgen  bis  zum  Abend  zuzunehmen  pflegt,  im 
Sommer  dagegen  viel  regelmäßiger  verläuft,  indem  sie  Vormittags 
ihren  höohsten,  am  späten  Nachmittag  ihren  tiefsten  Werth  erreicht, 
und  dafs  die  maximale  Span- 
nung desto  höher  ist,  je  nie- 
driger die  Sonne  am  Mittag 
steht,  das  Minimum  desto 
tiefer,  je  beträchtlicher  die 
Mittagshöhe  der  Sonne  ist. 

Die  Messungen  für  die 
Intensität  der  ultravioletten 
Sonnenstrahlen  erstreckten 
sich  über  einen  zweijährigen 
Zeitraum.  Der Haupttheil der 
messenden  Apparate  war 
eine  amalgamirteZinkkugel, 

riKiir  1. 

welcher  eine  gewisse  nega- 
tive Elektrizitätsmenge  mitgetheilt  wurde.  Dem  Einflüsse  der  Sonnen- 
strahlen uusgesetzt,  giebt  diese  Kugel  in  demselben  Zeitraum  desto 
mehr  von  ihrer  Elektrizität  an  die  Luft  ab,  je  gröfser  die  Intensität 
der  ultravioletten  Strahlen  ist.  Wird  also  jener  Verlust  an  einein 
Elektrometer  gemessen , so  ist  er  auch  ein  Mafs  für  den  Betrag  des 
zugestrahlten  kurzwelligen  Lichtes.  Die  Fig.  2 zeigt  uns  den  jährlichen 
fiang  der  mittäglichen  Intensität  am  Beobaehtimgsorte.  Wir  erkennen, 
dafs  dieselbe  zur  Zeit  des  höchsten  Sonnenstandes  ihren  gröfsten  Werth 
amiirnmt  — einen  Werth,  der  das  winterliche  Minimum  um  das  7b- 
bis  80-fache  übertrifft,  und  dafs  sie  im  Frühjahr  steiler  aufsteigt,  als 
sie  im  Sommer  abfällt  — eine  Eigentümlichkeit , welche  bekanntlich 
auch  die  Beobachtungen  der  Temperatur  aufweisen.  Aehnliche  Schwan- 
kungen erleidet  die  ultraviolette  Strahlung  auch  im  Verlaufe  eines 

)4‘ 


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192 


einzelnen  Tages.  Wir  haben  dieselbe  in  Bd.  IV.  S.  222  für  Wolfenbiittcl 
und  die  Höhe  des  Sonnblicks  verzeichnet. 

Bedenkt  man,  dafs  auch  der  Dampfdruck  zur  Zeit  des  höchsten 
Sonnenstandes  sein  jährliches  Maximum  erreicht,  dafs  also  Dampf- 
druck und  .ultraviolette  Sonnenstrahlung  einen  parallelen  Verlauf 
zeigen,  so  wird  der  Gedanke  nahe  gelegt,  den  Zusammenhang  dieser 
beiden  Gröfsen  ins  einzelne  zu  verfolgen.  Das  Resultat  ist  merk- 
würdig genug.  Stellt  man  für  denselben  Sonnenstand  die  Gröfse  des 
Dampfdrucks  mit  der  gleichzeitigen  Intensität  der  brechbarsten  Sonnen- 
strahlen zusammen,  so  ersieht  man  auf  den  ersten  Blick,  dafs  beide 
Werthe  mit  einander  sinken  und  wachsen.  Und  somit  ergiebt  sich 
der  so  einfache  wie  auffallende  Satz,  dafs  die  Luft,  je  mehr 
Wasserdampf  sie  enthält,  desto  mehr  ultravioletten 


Strahlen  den  Weg  öffnet.  Ganz  unerwartet  ist  dieses  Resultat 
freilich  nicht.  Für  die  ehemisch  wirksamen  Strahlen  der  Sonne,  die 
ja  im  wesentlichen  mit  den  ultravioletten  identisch  sind,  hat  bereits 
Roscoe  eine  Zunahme  mit  der  Lufttemperatur  nachgewiesen.  Kister 
und  G eitel  machen  es  wahrscheinlich,  dafs  der  wechselnde  Staubgehalt 
der  Luft  es  ist,  auf  den  die  sonderbare  Thatsache  als  ihren  ersten  Grund 
hinweist.  Photometrische  Beobachtungen  werden  nämlich  nur  an  Tagen 
angestellt,  die  der  Wolken  besonders  entbehren.  Um  solche  zu  bilden, 
ist  aber  nach  den  Untersuchungen  von  A itken  und  R.  von  Helmhol  tz 
(verg).  H.  ti.  E.  Bd.  IV.  S.  433)  das  Vorhandensein  von  Staubkernen  in 
der  Luft  erforderlich.  Ist  der  Dämpfgehalt  ein  hoher  und  doch  Wolken- 
bildung nicht  zu  beobachten,  so  liifst  sich  das  in  der  Thnt  nur  durch 
den  Mangel  kondensirender  Staubmassen  erklären.  An  jenen  klaren 
dampfreichen  Tagen  wird  infolge  dessen  die  Durchlässigkeit  der  Luft 
eine  recht  grofse  sein. 

Da  nun  der  Dampfgehait  der  Atmosphäre  andererseits  in  der 
von  Exner  angegebenen  Verbindung  mit  der  elektrischen  Spannung 


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193 


der  Luft  steht,  so  läfst  sich  hieraus  schou  eine  Beziehung  zwischen 
dieser  und  dem  Betrüge  der  ultravioletten  Strahlung  erschliefsen.  Ein 
Zunehmen  der  einen  inufs  ein  Absinkeu  der  anderen  zur  Folge  haben. 
Wir  zeigen  in  Fig.  3 den  gleichzeitigen  Vorlauf  aller  drei  in  Betracht 
kommenden  Gröfsen.  Ohne  weiteres  erkennt  mau  daraus,  wie  dem 
Maximum  der  Strahlung  ein  Minimum  des  Dampfdrucks  und  der  elek- 
trischen Spannung  entspricht  und  wie  selbst  ilie  sekundären  Maxima 
und  Minima  einander  entsprechen.  So  ergiobt  sich  die  elektrische 
Spannung  als  von  der  ultravioletten  Strahlung,  und  daduroh  mittelbar 
auch  vom  Dampfdruck  abhängig,  und  manche  vun  den  sonst  so  un- 
erklärlichen Schwankungen  derselben  sind  durch  Aenderungen  dieser 
beiden  Gröfsen  zu  erklären.  Eine  Bestätigung  für  die  Wirkung 


Figur  3. 


des  Dunstgehaltes  in  der  Atmosphäre  fanden  die  Beobachter  auch 
noch  durch  eine  andere  Art  von  Messungen.  Sie  schätzten  nämlioh, 
während  sie  die  elektrischen  Beobachtungen  anstellten,  zugleich  die 
Durchsichtigkeit  der  Luft  an  der  Sichtbarkeit  von  Merkmalen,  die  in 
gewissen  Entfernungen  vom  Beobachtungsorte  lagen,  und  fanden  die 
Spannung  geringer,  wenn  die  Luft  weniger  durchsichtig  war.  Indem 
der  Dunst  den  kurzwelligen  Sonnenstrahlen  den  Weg  zum  Erdboden 
abschneidet,  verhindert  er  somit  die  Zerstreuung  der  Elektrizität  in 
die  Lufthülle. 

Es  kann  wunderbar  erscheinen,  dafs  die  atmosphärische  Elek- 
trizität nach  Verlauf  gewisser  Perioden  wieder  denselben  Werth  an- 
nimmt, da  doch  nach  der  A rrheniusschen  Hypothese  ein  fort- 
währendes Entweiohen  der  negativen  Elektrizität  in  die  Luft  und  den 
Weltraum  stattfinden  müfste.  Aber  wir  dürfen  annehmen,  dafs  dem 
Erdboden  diejenigen  Elektrizitätsmengen,  die  ihm  untreu  geworden 


194 


sind,  etwa  durch  die  Niederscliläge  gesammelt,  wieder  zugeführt  werden. 
Und  diese  Rückkehr  braucht  dabei  keineswegs  nach  derselben  Stelle 
der  Erdoberfläche  stattzufinden.  Dabei  wird  der  aufsteigende  Strom  der 
Elektrizität  vielleicht  auch  elektromagnetische  Wirkungen  zeitigen, 
wie  denn  Schuster  bereits  vor  drei  Jahren  gezeigt  hat,  dafs  elek- 
trische Strome  in  der  Atmosphäre,  die  vom  Sonnenstände  beeinflufst 
smd,  die  tägliche  Variation  der  Magnetnadel  hervorbringen  können. 
Die  an  den  Orten  stärkster  Einstrahlung  (also  besonders  in  niedrigen 
Breiten)  von  der  Erdoberfläche  in  die  Luft  eingedrungone  negative 
Elektrizität  wird  in  den  höheren  Schichten  der  Atmosphäre  nach  den 
Stellen  hinströmen,  die  infolge  der  verhältnifsmäfsig  geringen  Zu- 
strahlung  ultravioletten  Lichtes  besonders  arm  an  negativer  Elektrizität 
sind.  Diese  Stellen  sind  die  über  den  Polen  lagernden  Theile  der 
Lufthülle.  Somit  liefse  sich  das  Polarlicht  als  eine  diese  Strömung 
begleitende  Lichterscheinung  deuten. 

Wir  sohliefsen  unser  Referat  mit  einem  andern  Ergebnisse,  wel- 
ches die  Beobachtungen  geliefert  haben,  und  das,  wenn  es  auch  nicht 
neu,  sondern  auf  anderem  Wege  bereits  durch  die  bolometriscben 
Untersuchungen  Laugley  s (II.  u.  E.  Bd.  IV  S.  377)  u.  a.  bekannt  ist, 
doch  hier  auf  originellem  Wege  abgeleitet  ward.  Es  handelt  sich  um 
das  wählerische  Verhalten  der  Luft  bei  der  Absorption  der  verschiedenen 
Strahlen  des  Sonnenspektrums.  Während  sie  die  einen  fast  unge- 
hindert passiren  läfst,  werden  andere  in  besonders  hohem  Mafse  ver- 
schluckt, und  selbst  besondere  Schichten  der  Lufthülle  zeigen  derselben 
Strahlengattung  gegenüber  ein  verschiedenes  Verhalten.  So  zeigt  sich, 
dafs  gerade  den  untersten  Schichten  der  Atmosphäre  eine  besondere 
Vorliebe  für  die  Verzehrung  kurzwelliger  Strahlen  eignet,  so  dafs  auf 
Bergesgipfeln  diese  Struhlengattung  einen  weit  beträchtlicheren  Thoil 
des  Sonnenlichtes  ausmacht,  als  in  der  Ebene.  Ganz  dasselbe  gelang  nun 
Elster  und  Geitel  auch  bei  der  Berechnung  der  in  Wolfenbüttel.  Kolm 
Saigurn  und  auf  dem  Sonnblick  angestrllten  Beobachtungen  zu  kon- 
statiren.  Schon  am  erstgenannten  Orte  zeigte  es  sich,  dafs  die  Mittags- 
sonne, deren  Strahlen  einen  weit  geringeren  Weg  durch  diese 
untersten  Schichten  zu  nehmen  haben,  einen  viel  höheren  Betrag  aa 
ultravioletten  Strahlen  besitzt,  als  ihr,  selbst  nach  der  Länge  dieses 
Weges  berechnet,  zukommeu  inüfste.  Am  auffallendsten  aber  wird 
das  Verhältnis  bei  der  Erhebung  auf  die  Alpenhöhe.  Da  zeigt  sich, 
dafs  von  allen  ultravioletten  Strahlen,  die  uns  aus  dem  Weltenraume 
zukommen,  bis  zur  Sonnblickhöhe  (3100  m)  drei  Fünftel,  und  von  den 
aus  dem  Schiffbruche  geretteten,  auf  weitere  1500  m etwa  ein  Viertel, 


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i»r> 

in  den  der  Erde  nächsten  Schichten  aber,  zwischen  1600  m (Kolm 
Saigurn)  und  90  m (Wolfenbiittel),  von  den  noch  übrigen  fast  die  Hälfte 
vernichtet  werden.  Der  hohe  Gehalt  an  chemisch  wirksamen  Strahlen, 
den  das  Sonnenlicht  im  Hochgebirge  aufweist,  vorriith  sich  übrigens 
— wie  Referent  hinzufügt  — durch  ihre  starke  Wirkung  auf  die 
menschliche  Haut.  Der  Tieflandbowohner  ist  gegen  diese  Srahlen 
durch  die  Dicke  und  vielleicht  auch  den  Staubgehalt  der  über  ihm 
lagernden  Luftschicht  geschützt.  Sm. 

* 

Die  meteorologischen  Aufzeichnungen  auf  dem  Eiffelthurme. 

Auf  dem  zweiten  internationalen  Meteorologenkongrefs  in  Rom 
im  Jahre  1879  erstatteten  Prof.  Hann  (Wien)  und  P.  Denza  (Rom) 
Bericht  über  die  Beobachtungen  auf  hohen  Bergen  und  im  Luftballon 
und  erweckten  dadurch  von  neuem  allseitiges  Interesse  für  diese  Frage. 
Die  Errichtung  mancher  schon  vorher  geplanten  Bergobservatorien 
wurde  infolge  dieser  Anregung  beschleunigt;  dio  regelmäfsigen  Beob- 
achtungen im  Fesselballon,  welche  der  Kongrefs  empfohlen  hatte,  er- 
wiesen sich  dagegen  praktisch  schwer  durchführbar,  uud  es  sind  daher 
in  dieser  Hinsicht  wenig  Fortschritte  zu  verzeichnen.  Einen  uahezu 
vollkommenen  Ersatz  für  solche  Beobachtungen  gestattet  jedoch  der 
Eiflelthurm.  Bei  seiner  bedeutenden  Höhe  und  geringen  Masse  giebt 
er  die  Verhältnisse  der  ., freien  Atmosphäre“  viel  besser  an,  als  seihst 
hochgelegene  Gipfelstatiouen , welche  stets  den  störenden  Einflüssen 
der  Erdoberfläche  unterworfen  sind.  Die  Beobachtungsergebnisse  von 
dem  Eiffelthurme  haben  den  an  sie  gestellten  Anforderungen  durchaus 
entsprochen,  so  dafs  aus  ihnen  schou  nach  verhältnifsmäfsig  kurzer  Zeit 
interessante  Schlüsse  gezogen  werden  konnten,  worüber  namentlich 
Herr  Angot  Mittheilungen  gemacht  hat. 

Die  instrumeutelle  Ausrüstung  der  meteorologischen  Station  auf 
dem  Eiffelthurme  ist  eine  vorzügliche.  Zur  direkten  Ablesung  sind 
ein  Quecksilberbarometer,  Psychrometer  und  Extremtherniomeler  vor- 
handen; aufserdem  werden  oben  Luftdruck,  Temperatur,  Feuchtigkeit 
und  Regen  fortlaufend  selbstregistrirt.  Ferner  sind  ein  Thermograph, 
eine  Windfahne,  sowie  Anemographen  für  horizontale  und  vertikale 
Luftströme  aufgestellt,  deren  Angaben  mittelst  elektrischer  L’eber- 
iragung  in  dem  500  m vom  Fufse  des  Eitfelthurms  entfernten  meteoro- 
logischen Zentralbureau  abzulesen  sind.  Alle  Registririnstrumente  sind 
von  Richard  Freres  in  Paris  konstruirl  und  arbeiten  mit  Ausnahme 


1116 

iles  Anemographen  zur  Messung'  vertikaler  Luftbewegung  durchaus 
befriedigend.  Sie  sind  auf  der  obersten  Plattform  des  Thurmes,  300  m 
über  dem  Boden  (334  m über  dem  Meeresniveau)  aufgestellt;  nur  die 
Barometer  sind  in  der  zweiten  Etage,  280  m hoch,  angebracht.  Außer- 
dem befinden  sich  noch  Thermometeraufstellungen  in  197  m und  in 
123  in  Höhe.  /Cum  Vergleich  mit  den  Aufzeichnungen  auf  dem  Eiffel- 
thurme  dienen  die  Beobachtungen  im  meteorologischen  Zentralbureau 
und  diejenigen  des  ca.  zwei  Stunden  von  Paris  entfernten  Observatoriums 
im  Parc  Saint  Maur. 

In  erster  Linie  erregten  die  Windverhältnisse  auf  dem  Eiffelthurm 
das  Interesse  der  Meteorologen.  Die  Windstärke  ist  oben  unerwartet 
groß,  sie  ßt  ungefähr  dreimal  so  groß  als  im  meteorologischen 
Zentralbureau  und  übertrifft  sogar  noch  die  auf  dem  2600  m hohen 
Säntisgipfel.  Eine  gesetzmäßige  Beziehung  zwischen  der  Windstärke 
oben  und  unten  ßt  wenig  ausgesprochen ; vielmehr  zeichnen  sich 
häufig  gerade  ruhige  Perioden  an  der  Erdoberfläche  durch  heftigen 
Wind  in  der  Höhe  aus.  Theoretisch  bemerkenswerth  ist  der  tägliche 
Gang  der  Windstärke.  Während  am  Erdboden  der  Wind  am  stärksten 
um  Mittag,  am  schwächsten  gegen  Sonnenaufgang  ist,  tritt  auf  dem 
Eiffelthurme  das  Maximum  um  Mitternacht,  das  Minimum  gpgen  10  Uhr 
Morgens  ein.  Daß  diese  für  hohe  Berge  charakteristische  Umkehr  der 
täglichen  Periode  sich  sohon  in  der  Höhe  von  300  m und  gerade  hier 
besonders  stark  zeigt,  spricht  für  die  Richtigkeit  der  Koppen  sehen 
Theorie.  Hiernach  wird  die  Windgeschwindigkeit  unten  am  Tage  ver- 
größert duroh  das  Herabsinken  der  oberen,  rascheren  Luflströme, 
während  die  langsamer  fließenden  Winde  am  Erdboden  aufsteigen.  In 
der  wärmsten  Tageszeit  muß  demnaoh  der  Unterschied  in  der  Windstärke 
oben  und  unten  am  kleinsten  sein;  in  der  That  ist  das  Verhältniß  der 
Windstärken  um  Mitternacht  etwa  doppelt  so  groß,  aß  um  Mittag. 

Der  Luftdruck  zeigt  in  seinem  tägliohen  Gange  einen  Uebergang 
von  den  Vorgängen  in  der  Ebene  zu  denen  auf  Berggipfeln,  die  Haupt- 
extreme erscheinen  oben  verspätet  und  sind  etwas  abgesohwächt  im 
Vergleich  zum  Erdboden,  während  die  sekundären  Maxima  und  Minima 
mehr  hervortreten. 

Wie  zu  erwarten,  sind  die  Temperatur-  und  Feuchtigkeits- 
schwankungen auf  dem  Eiffelthurme  viel  geringer,  als  in  Paris.  Die 
tägliohe  Temperaturamplitude  ßt  fast  genau  so  groß  (5°  C.),  wie  auf 
dem  1467  m hohen  Puy  de  Dome;  wir  haben  also  auch  hier  die  Er- 
scheinung, daß  der  Eiffelthurm  meteorologische  Verhältnisse  zeigt, 
welche  man  erst  in  weit  größeren  Höhen  vermuthete.  Die  Temperatur 


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197 


ist  eine  ziemlich  hohe,  die  vertikale  Tempeiaturabnnhme  um  7 L'lir 
Morgens  beträgt  im  dreijährigen  Durchschnitt  nur  0.13"  C.,  während 
als  normal  0.50"  gilt.  Diese  Gröfse  variirt  jedoch  innerhalb  sehr 
weiter  Grenzen;  es  traten  Fälle  ein,  wo  es  auf  der  Spitze  des  Eififel- 
thurms  8"  kälter  war  als  unten,  während  es  zu  andern  Zeiten  oben 
um  12"  wärmer  war.  Temperaturzunahme  mit  der  Höhe  zeigt  sich  hier 
auffallend  häufig  — in  33  pC’t.  aller  Fälle  — , besonders,  wenn  Paris 
am  Südwestrande  eines  Maximalgebietes  liegt,  wo  sich  auf  diese  Weise 
schon  das  llerannahen  einer  Depression  bemerkbar  macht.  Fs  scheint 
daher  nicht  ausgeschlossen,  dafs  sich  aus  den  Eiff'elthurm-Aufzeichnungen 
Nutzen  für  die  Prognostik  ziehen  liifst,  namentlich  bei  gleichzeitiger 
Berücksichtigung  der  Anomalien  in  den  Feuchtigkeitsverhältnissen. 

Wenig  erfreulich  sind  die  Resultate  der  Regcnmessuugen.  Bei 
starkem  Winde  werden  die  in  den  Regenmesser  fallenden  Tropfen 
wieder  herausgeworfen,  so  dafs  dann  selbst  heftige  Niederschläge  keine 
meßbaren  Mengen  liefern.  Es  ergiobt  sich  daraus  die  Xothwondigkoit, 
den  Regenmesser  stets  gegen  den  Wind  zu  drehen,  jedoch  hat  man  bei 
dem  Raummangel  auf  der  Plattform  des  Thurmes  von  solchen  Vor- 
richtungen einstweilen  Abstand  genommen. 

Die  werthvollen  Ergebnisse,  welche  der  Eißelthurm  geliefert  hat, 
lassen  den  Wunsch  nach  einer  Vermehrung  derartiger  Observatorien 
durchaus  berechtigt  erscheinen.  Ein  ähnliches  und  wohl  noch  grofs- 
artigeres  Unternehmen  dieser  Art  wird  jetzt  in  Chicago  vorbereitet; 
mögen  bald  weitere  uachfolgon!  Sg. 


Die  Vereinigung  von  Freunden  der  Astronomie  und  kosmischen 
Physik,  welche  vor  anderthalb  Jahren  von  einer  Anzahl  Fachmänner  be- 
gründet worden  iat.  um  das  Interesse  für  die  besagten  Wissenschaften  in 
grosseren  Kreispn  durch  Anregung  und  Belehrung  zu  fordern  ')•  hielt  am 
SK.  November  in  Berlin  ihre  diesjährige  Hcrbstversammlung  ah. 

Nachdem  der  Vorsitzende  Prof.  Leb tnann-Fil lies  die  Versammelten 
begriifst  und  eineu  kurzeu  Rückblick  auf  die  Thäligkeit  in  dem  letzten  Jahre 
gegeben  hatte,  theiltc  er  mit,  dafs  die  Mitgliederzahl  jetzt  240  betrage.  Sodann 
berichtet  er,  dafs  der  Vorstand  höheren  Ortes  eine  Subvention  für  die  Vereini- 
gung beantragt  habe. 

Prof.  Foerster  begründet  diesen  Subvenlionsautrag  durch  dcu  Hinweis, 
dafs  eine  Reiho  wichtiger  Forschungen  nur  durch  das  Zusammenwirken 
mehrerer,  wie  dies  bei  der  Vereinigung  der  Fall  sei,  und  durch  Zuwendung 



‘j  Statuten  uml  Mitgliedervorzeichuifs  ,1er  Vereinigung,  sowie  Frobebefte  «ler  vuu  l'rut 
Dr.  Foerster.  Direkter  der  Kooigl.  Sternwarte  zu  Berlin,  berousgegebenen  .Mittheilungeii 
der  Vereinigung-  können  auf  Wttnscb  durch  den  Schriftführer  Dr.  Sebwabn  Berlin,  Inva. 
lidenstrafse  57— 6‘J,  bezogen  werden. 


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1B8 

reicherer  Mittel  zu  einer  gedeihlichen  Entwickelung  gebracht  Herden  könnten. 
Kin  solches  Forschungsgebiet  sei  die  weitere  Ergründung  der  leuchtenden 
Nachtwolken.  Herr  Jease  habe  gezeigt,  dafs  damit  wichtige  kosmische 
Probleme  in  Beziehung  stehen,  welche  namentlich  die  Existenz  eines  inter- 
planetarischen Mediums  und  das  Vorhandensein  von  Gegenwirkungen 
dieses  Mediums  auf  die  obersten  Ktoffochichten  der  Erdatmosphäre  betreffen» 
Infolge  der  schrägen  Stellung  der  Erdaxe  zu  der  Beweguiigsrichtung  der 
Erde  müssen  besagte  Gegenwirkungen  Zirkulationsströmungen  in  den  obersten 
Theilen  der  Erdatmosphäre  bewirken,  dio  sich  in  einer  Verschiebung  der  8t) 

bis  HO  Kilometer  hoch  schwebenden  leuchtenden  Wolken  dokumentircn  und 

• 

sich  derartig  äufsern  würden,  dafs  diese  Gebilde  alternirend  in  unseren 
Sommern  nach  dem  Nordpol,  in  unseren  Wintern  nach  dem  Südpol  hiuwandern 
müfsten.  lTni  nun  die  wichtige  Frage  nach  dem  Vorhandensein  einer  deu 
Sternenraum  uusfüllenden.  äufserst  zarten  Materie  zu  Ibsen  eine  Krage,  die 
zunächst  nur  durch  Deduktionen  nahe  gelegt  ist,  — bedarf  es  der  Ausrüstung 
einer  Expedition  nach  den  Tropengegeuden,  welche  daselbst  das  Auftreten 
und  die  Beweguugsvorgängc  der  leuchtenden  Nacht  wölken  weiter  verfolgt. 
Dies  ist  um  so  nothwendiger,  als  eine  von  Herrn  Jesse  ergangene  Aufforde- 
rung zur  Betheiligung  an  derartigen  Untersuchungen  bei  den  dortigen  Stern- 
warten nicht  das  gewünschte  Entgegenkommen  gefunden  hat.  Da  auch 
die  Akademie  der  Wissen  schäften  nicht  mehr  in  der  Lage  ist.  ihr©  bis- 
herigen Unterstützungen  für  diesen  Zweck  fortzusetzen,  so  liege  es  in  der 
Absicht,  mit  allen  Kräften  dahin  zu  wirken,  dafs  solche  Expeditionen  zu 
stände  kommen. 

Ein  weiteres  Gebiet,  auf  dom  von  einzelnen  Mitgliedern  schon  erfreuliche 
Resultate  erzielt  worden  sind  und  das  «he  Vereinigung  zu  kultiviren  gedenkt, 
ist  die  photographische  Aufnahme  grülscrer  Theile  des  Himmels.  Hort*  Dr. 
Wolf  in  Heidelberg  und  Herr  Archenhold  in  Berlin  haben  in  dieser  Rich- 
tung mit  verhältuifsniärsig  geringen  instrumentellen  Hülfsmitteiu  ganz  bedeu- 
tende Resultate  zu  Tage  gefordert.  Auch  auf  die  Fortsetzung  dieser  Bethäti- 
gung  bezieht  sicli  der  äuhventiousautrag. 

Prof.  Foerster  t heilte  sodann  der  Versammlung  mit,  dafs  eine  astro- 
nomische Vermuthung  von  höchster  Tragweite,  nämlich  das  Vorhandensein 
von  Schwankungen  des  Erdkörpers  um  seine  Rotationsaxe,  in  jüngster  Zeit 
volle  Bestätigung  gefunden  hat  durch  dio  Ergebnisse  »1er  Polhöhenbeob- 
achtungeu,  welche  auf  Veranlassung  der  internationalen  Erdmessung  von 
Herrn  Dr.  Marcuse  und  Mr.  Preston  auf  den  Hawai-Inseln,  korrespon- 
dirend  mit  entsprechenden  Polhöhenbeohachtungen  auf  einigen  mitteleuro- 
päischen Sternwarten  (Berlin,  Prag.  Strafsburg),  erzielt  worden  sind.  Es  hat 
sich  herausgestellt,  dafs  die  Erwartung,  die  Polhöhenschwankungen  seien  in 
Honolulu  das  genaue  Spiegelbild  von  denjenigen,  welche  im  gleichen  Zeitraum 
auf  dem  Antimeridian  in  Mitteleuropa  beobachtet  worden  sind,  nicht  getäuscht 
worden  ist.  Damit  ist  erwiesen,  dafs  die  seit  einigen  Jahren  konstatirten 
kleinen  Aenderungen  der  Polhöhen  sich  nur  durch  eine  Verschiebung  der 
Erdaxe  im  Erdkörper  erklären  lassen.  Nach  einem  jüngst  der  Astronomen- 
versammlung  in  Brüssel  von  Prof.  Al  brecht  vorgelegten  Berichte  (siebe: 
Astronomische  Nachrichten  Bd.  131  No.  3131)  beträgt  die  Periode  dieser  Erd- 
Schwankung  etwas  mehr  als  ein  Jahr,  nämlich  3K6  Tage,  wahrend  der  Maxio^-il- 
ausschlag  0,5  bis  0,0  Bogensekunden  erreicht,  was  einer  Verschiebung  der 
Pole  auf  der  Erdoberfläche  um  nahezu  *20  m entspricht.  Die  Ursachen  dieser 
Erscheinung  sind  noch  nicht  ganz  sichergcstellt,  doch  lassen  sie  sich  ver- 
mutlich zurückführcu  auf  hydrologische  und  meteorologische  Massenversetz- 


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199 


uiigeu  auf  der  Erdoberfläche,  welche  mit  dem  jährlichen  Sonnenläufe  in 
Beziehung  stehen  und  durch  Veränderung  des  polaren  Hauptträgheitsinoinentea 
des  Erdkörpers  auch  kleine  Ausschläge  zwischen  seiner  momentanen  Um- 
dreh ungsaxe  und  der  Hauptträgheitsaxe  bewirken.  Da  der  Gegenstand  für 
die  Geodäsie  und  nicht  minder  für  die  Geophysik  von  der  höchsten  Tragweito 
ist,  so  beabsichtigt  die  internationale  Erdmessungskommission,  einen  regel- 
mäfsigen  Ueberwachungsdienst  der  Polhöhen  auf  passend  gelegenen  Stern- 
warten einzu  richten. 

Der  Vorstand  der  geophysikalischen  Arbeitsgruppe,  Kegierungsrath  Di*. 
We  instein,  forderte  sodann  die  Mitglieder  zur  Beobachtung  einiger  bei  den 
Nordlichterscheinungoii  wichtigen  Phänomene  auf,  die  trotz  der  geringen 
Hülfsmittel,  welche  gerade  hier  zur  Verfügung  stehen,  doch  Erledigung  finden 
können.  Da  wir  gegenwärtig  wiederum  einer  Periode  erhöhter  Aktivität  anf 
dem  Sonnenballe  entgegengehen,  welche  sich  jetzt  schon  durch  die  Aus- 
bildung zahlreicher  größter  Fleckengruppen  kund  giebt,  und  da  bekanntlich  der 
innige  Zusammenhang  zwischen  den  Revolutionsvorgängen  auf  der  Sonnen- 
oberfläche und  den  erdmagnetischen  Aeufserungen  nach  den  bisherigen  Er- 
fahrungen ein  vollauf  begründeter  ist,  so  sei  ein  häufigeres  Auftreten  von 
PoUrlichterscheinungen  in  mittleren  Breiten  für  die  Folgezeit  wohl  zu 
erwarten. 

Herr  Regierungsb&umeister  Schleyer  berichtet  über  sehr  erfreuliche 
Erfolge  derjenigen  Gruppe,  welche  sich  mit  den  Helligkeitsschwaukungen  der 
Sterne  beschäftigt.  Durch  Herstellung  von  Orientirungskarten  für  die  veränder- 
lichen  Sterne  und  andere  geeignete  Hülfsmittel  der  Beobachtung  sei  hier  im 
engeren  Kreise  von  etwa  14  Mitgliedern  recht  rhätig  gearbeitet.  Ebenso  günstig» 
Resultate  weise  auch  dio  Gruppe  auf,  welche  sich  mit  der  Aufzeichnung  von 
Steruschnuppenbahnen  befafst. 

Herr  Dr.  Sch  wahn  verliest  sodann  eine  briefliche  Mittheilung  des  Prof. 
Schiaparelli  in  Mailand,  worin  derselbe  sich  über  eine  Anzahl  von  Zeich- 
nungen der  Marsoberlläche,  welche  von  einem  Mitgliede,  Herrn  Hilliger  in 
Barcelona,  unter  Bonutzung  eines  vierzölligen  Refraktors  während  der  letzten 
Oppositionszeit  angefertigt  worden  sind,  sehr  anerkennend  ausspricht. 
Schiaparelli  erwähnt  darin  auch,  dafs  der  weitere  Fortschritt  in  der  Mars- 
forschung wohl  von  Amerika  zu  erwarten  sei,  da  gegenüber  den  Riesen- 
Instrumenten  dieses  Landes  die  europäischen  Sternwarten  nicht  mehr  mit 
gleichem  Erfolge  wirken  können. 

Am  Schlüsse  Erklärte  Herr  Wurtzel  einen  von  ihm  erfundenen  Meteo- 
rographen, welcher  in  sinnreicher  Weise  das  Problem  der  sichersten  und 
schnellsten  Registrirung  von  Winke Imcssun gen  bei  Ortsbestimmungen  von 
Sternschnuppen,  Polar! ichtstrah len  u.  dcrgl.  löst. 


*f9§g** 


I 


Moritz  Cantor:  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Mathematik  I.  Hand: 
Von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Jahre  1200  n.  Chr.  Leipzig  1880.  IT.  Band: 
Von  1200 — 1668.  Leipzig,  Teubner.  1892. 

Der  Versuch  des  Verfassers,  die  Entwickelung  des  mathematischen  Wissens 
gegenüber  den  heute  zum  Theil  veralteten  Werken  vonMontucla  und  Kästner 
in  einer  kritischen  Durchforschung  neuerdings  zusammen  zu  fassen,  ist  schon 
vor  zwölf  Jahren,  als  der  erste  Band  dieser  im  modernen  Geiste  gehaltenen 
Bearbeitung  erschien,  allerseits  mit  grobem  Beifall  aiifgenommen  worden.  Der 
lange  Zeitraum,  der  zwischen  der  Publikation  des  ersten  und  des  zweiten 
Bandes  liegt,  hat  dem  letzteren  nur  zum  Vortheile  gereicht,  denn  auch  er  re- 
präsentirt  sich  uns  als  oin  Musterbild  von  Gründlichkeit  und  ausdauerndem 
Fleifs.  Da  ist  wenig,  was  etwa  aus  zweiter  Hand  genommen  wird,  überall 
treten  uns  Selbständigkeit  der  Untersuchung,  sorgfältiges  Durcharbeiten  der 
zur  Erörterung  gelangenden  Leistungen  der  Mathematiker,  bedächtiges  Ab- 
wägen der  Begabung  der  mathematischen  Schriftsteller.  Vorsicht  und  Mäfsigung 
bei  der  Aufstellung  eigener  Meinungen  oder  der  Beurtheilung  gegnerischer 
Hypothesen  entgegen.  Der  Vorgänger  in  Darstellungen  der  Geschichte  der 
Mathematik,  den  Cantor  noch  am  meisten  nennt  und  benutzt,  ist  Hankel; 
er  hebt  dessen  Verdienste  um  die  Klarstellung  verschiedener  geschichtlicher 
Fragen  hervor  und  sagt  selbst,  dafs  sich  betreffs  einzelner  Kapitel  kaum  besseres 
geben  lasse,  als  was  Hankel  in  seiner  Geschichte  der  Mathematik  (1872)  ge- 
schrieben. 

Bei  einem  Werke  von  dem  Umfange  des  vorliegenden  (beide  Bände  ent- 
halten zusammen  über  1600  Seiten)  können  wir  auf  die  einzelnen  Theile  nicht 
näher  eingehen  und  müssen  uns  darauf  beschränken,  nur  Einiges  besonders 
hervorzuheben.  — Der  erste  Baud  führt  uns  durch  die  antike  Zeitepoche,  an 
den  Leistungen  der  Egypter,  Babyloner.  Griechen  und  Römer,  Inder,  Araber 
und  Chinesen  vorüber  ins  Mittelalter,  in  die  Zeit  der  KloBtergelehrsamkeit,  des 
Wiederauflebens  des  Rechnens  mit  dem  Abakus  (dem  Rechenbrett«)  und  de« 
Gebrauchs  der  Apices  (aus  denen  unsere  Ziffern  sich  entwickelten),  zeigt  dann 
das  allinälige  Ueberwiegeu  der  Algorithmiker  (Gebrauch  der  indischen  Null 
und  Verlassen  des  Abakus),  und  schliefst  ab  mit  Leonardo  Pisano  (1200a.  Chr.). 
Der  Verfasser  berührt  zweimal  die  Boethius-Frage.  In  einer  von  Boethius 
(524  n.  Ohr.  onthauptet)  angeblich  herrührenden  Schrift  heifst  es  an  einer 
Stelle,  dafs  schon  die  Pythagoräer  den  Abakus  gekannt  und  mit  9 Zeichen 
gerechnet  haben.  Während  Hankel  und  Friedlein  glauben,  dafs  in  der  Schrift 
des  Boethius  eine  theilweise  Fälschung  vorliegt,  nämlich  eine  spätere  Ver- 
bindung jener  Schriftstelle  seitens  eines  Unbekannten  im  10.  oder  11.  Jahr- 
hundert mit  einem  wirklich  von  Boethius  selbst  geschriebenen  Opus,  neigen 
Cantor  u,  a.  der  Echtheit  der  Schrift  zu  und  halten  es  nicht  für  unmöglich, 
dafs  die  von  den  Neupythagoräern  gebrauchten  9 Ziffern  thatsächlich  die  Apices 


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201 


der  späteren  Zeit  sein  könnten.  Bei  Besprechung  Gerbe rts  (nachmaligen  Pabstos 
Sylvesterll,  ge  st.  1003),  des  Wiedererweckers  des  Abakusrechnens,  unterzieht 
der  Verfasser  den  Lebenslauf  und  die  Studien  Gerberts  einer  sorgfältigen 
Besprechung,  zeigt,  dafs  das  Columnen rechnen  mit  dom  Abakus  keinesfalls 
dem  Gerbe  rt  aus  arabischen  Quellen  (dem  maurischen  Spanien)  bekannt  ge- 
worden sein  kann;  dafs  eher  die  Schrift  des  Boethius  diese  Quelle  sein 
konnte,  in  solchem  Falle  aber  deren  Echtheit  nicht  bestritten  worden  könne. 

Der  zweite  Band  beginnt  mit  Leonard  von  Pisa  und  seinem  „über 
abaci-,  behandelt  dann  die  Leistungen  der  Mathematiker  des  13.  Jahrhunderts, 
der  deutschen  Rechenlehrer  Johann  von  Gmunden,  Peurbach,  das  Auf- 
kommen der  Rechenbücher  durch  Pietro  Borgo  und  Potzensteiner,  die 
allmälige  Einbürgerung  des  Rechnens  „auf  der  Linien"  und  das  Auftreten  der 
Mathematik  als  Lehrgegenstand  an  deutschen  Universitäten.  Die  Darstellung 
der  Lösung  cubischor  Gleichungen  giebt  dem  Verfasser  Gelegenheit,  auf  den 
bekannten  Streit  zwischen  Tartaglia  und  Cardano  besonders  einzugohen. 
Tartaglia  soll  die  Lösung  cubischer  Gleichungen  gefunden  und  dem  Car- 
dano auf  dessen  Drängen  gegen  ausdrückliches  Versprechen  derVerschwiegen- 
heit  in itgetheilt  haben;  trotzdem  hat  Cardano  in  seiner  Ars  magna  (1545)  die 
Lösung  veröffentlicht.  Das  Verhalten  Cardanos,  sowie  seines  Schülers 
Ferrari  bei  einem  ihnen  später  von  Tartaglia  angebotenen  mathematischen 
Turnier  (bestehend  in  der  Lösung  cubischer  Gleichungen),  würde  deren  Cha- 
rakter ebenfalls  ein  ungünstiges  Zeugnifs  ausstellen.  Cantor  behandelt  die 
Ansprüche  der  bei  dem  Streite  Betheiligten  durch  drei  Kapitel  hindurch.  Dem 
Vorwurf  gegen  Cardano,  dafs  dieser  1545  den  gegebenen  Eid  gebrochen, 
stimmt  er  bei,  dagegen  findet  er,  indem  die  seitens  Cardano,  Ferrari  und 
Tartaglia  erschienenen  Schriften  der  Zcitfolge  ihrer  Veröffentlichung  nach 
auf  ihren  wissonschafllichen  Worth  analysirt  worden,  dafs  für  Cardano  die 
bedeutsamsten  Erkenntnisse  betreffs  der  Lösung  der  cubisclien  Gleichungen, 
nämlich  dio  näherungsweise  Auflösung,  das  Vorhandensein  dreier  Wurzeln, 
die  Wegschaffung  des  quadratischen  Gliedes  u.  a.  m.  in  Anspruch  genommen 
werden  können,  ja  dafs  Tartaglia  in  seinen  mathematischen  Vordiensten 
selbst  unter  Ferrari,  den  glaubenseifrigen  Schüler  Cardanos,  gestellt  werden 
dürfe.  Das  klingt  freilich  ganz  anders,  als  die  bisherige  Auffassung  des  Streites, 
nach  welcher  dem  Tartaglia  nur  schweres  Unrecht  geschehen  ist,  welcher 
Ansicht  Hankel  seinerzeit  mit  den  Worten  Ausdruck  gab:  „Der  Mann,  dem 
wir  den  gröfsten  Fortschritt  der  Mathematik  im  Iß.  Jahrhundert  verdanken, 
wurde  vergessen  und  nach  dom  treulosen  Cardano  wurde  die  dem  Tartaglia 
entwendete  Formel  bezeichnet." — Eine  ähnliche  Beschuldigung  geistigen  Dieb- 
stahls entscheidet  Cantor  auch  betreffs  des  Streites  Roberval-Toricelli. 
Nach  einer  Erzählung  Pascals  soll  Debeaugrand  im  Jahre  lß38  gewisse 
neue,  von  Roberval  über  die  Cycloide  gefundene  mathematische  Sätze  an 
Galilei  gesendet  haben,  Toricelli  hätte  diese  später  für  sich  in  Anspruch 
genommen.  Durch  genauen  Verfolg  der  vorhandenen  Briefe  kommt  Cantor 
zum  Schlufs,  dafs  diese  Sätze  vor  April  1039  nicht  von  Roberval  gefunden 
worden  sind,  also  Toricelli  1038  jedenfalls  schon  selbständiger  Finder  der- 
selben war,  sein  Charakter  demnach  ohne  Makel  bleibt.  — Der  zweite  Band 
legt  ferner  dio  Errungenschaften  auf  dem  Gebiete  der  Zahlentheorie  dar, 
geht  dann  zu  der  geometrischen  Art  der  Auflösung  gegebener  Gleichungen 
(Vieta,  Girard)  über.  Dann  folgt  die  Begründung  der  analytischen  Geometrie 
der  Ebene  durch  Descartos  (1037)  und  die  sich  hierauf  aufbauenden  ersten 
Versuche  zu  Infinitesimalbetrachtungen  (Cavalieri,  Kepler).  Vor  dem 


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1 


202 

I 

Auftreten  der  Geistesheroen  Leihnitz  und  Newton  (1688)  schliefet  der 
] Kund  ah. 

Wir  können  unserem  kurzen  Referate  nur  noch  den  Wunsch  hinzufügrn, 
dafs  es  dem  verdienstvollen  Forscher  vergönnt  sein  möge,  bald  auch  noch  den 
dritten  Hand  seines  Werkes,  der  uns  wahrscheinlich  bis  zu  den  Leistungen 
am  Anfang  unseres  .Jahrhunderts  weiterführen  wird,  zu  vollenden. 

F.  K.  Ginzel. 

Felix  Müller,  Zeittafeln  zur  Geschichte  der  Mathematik,  Physik 
und  Astronomie  bis  zum  Jahre  1500.  Leipzig  1892,  Verlag  von 

B.  G.  Teu bn er.  Preis  geh  2,40  Mk. 

Im  Anschluss  an  die  obige  Besprechung  des  grofsen  mathematischen  Ge- 
schichtswerkes von  Cantor  wollen  wir  gleichzeitig  auf  die  vorliegenden  Zeit- 
tafeln hin  weisen,  welche  allen  denjenigen,  die  das  kostbare  Werk  C&ntors 
vielleicht  nur  gelegentlich  oder  gar  nicht  zu  benutzen  in  der  Lage  sind,  eine 
sehr  nützliche  Uobeniicht  über  die  historische  Entwicklung  der  exakten 
Wissenschaften  im  Alterthum  und  Mittelalter  hieton  werden.  Besonders  ver- 
dienstvoll ist  es,  dafs  Prof  Müller,  ein  hervorragender  Kenner  der  mathe- 
matischen LiUeratur.  überall  in  ausführlichster  Weise  auf  die  Quellenwerke 
hinweist,  bei  denen  derjenige,  der  mehr  zu  erfahren  wünscht,  die  möglichst 
genaue  Belehrung  finden  wird.  Dadurch  werden  die  ..Zeittafeln“  ein  willkom- 
mener Ersatz  für  eine  noch  nicht  existirende,  brauchbare  mathematische  Biblio- 
graphie der  älteren  Zeit.  — Möge  der  Verfasser  seine  Arbeit  recht  bald  bis  zur 
Gegenwart  fortsetzen,  denn  fast  möchte  uns  ein  ähnlicher  Leitfaden  durch  die 
Geschichte  und  LiUeratur  der  Neuzeit  als  ein  noch  dringenderes  Bedürfnis 
erscheinen.  F.  Kbr. 


Gerl  and,  Geschichte  der  Physik  4.  Band  von  Webers  natur  Wissenschaft- 
schaftlicher  Bibliothek.  Leipzig  1892.  J.  J.  Weber'®  Verlag.  Preis 
geh.  4 Mk. 

Das  vorliegende,  vortrefflich  ausgestattete  Werkchen  wird  für  viele,  die 
nicht  in  der  Lagt»  sind,  grofsere  Geschichtswerke  der  physikalischen  Disziplinen 
benutzen  zu  können,  eine  werth volle  Gabi*  sein.  Denn  auf  allen  Wissensge- 
bieten kann  erst  die  historische  Orientirung  über  die  allmähliche  Entwicklung 
und  gegenseitige  Beeinflussung  der  Erkenntnisse  zu  deren  vollem  Verständnis 
führen.  Der  Verfasser  liefert  im  vorliegenden  Bändchen  eine  zusammen- 
hängende, angenehm  lesbare  Darstellung  der  Geschichte  der  Physik  und  ver- 
steht es  auch,  über  wichtige  theoretische  Arbeiten  mit  wenigen  Worten  ohne 
Anwendung  von  mathematischen  Formeln  derart  zu  berichten,  dafs  der  I*scr 
einen  Einblick  in  die  prinzipiellen  Fragen,  um  die  es  sieh  handelt,  gewinnt. 
Wenn  auch  der  letzte  Abschnitt  nach  des  Verf.  eigenen  Worten  nicht  die  ge- 
samte Wissenschaft  der  Gegenwart  umfafst.  da  diese  noch  nicht  Gegenstand 
der  Geschichte  sein  kann,  sondern  nur  di«*  angeknüpften  Fäden  verfolgt,  „bis 
sie  sich  im  Glanze  der  Gegenwart  verlieren*,  so  kann  doch  die  gebührende 
Beachtung  auch  der  neuesten  Forschungsergebnisse,  soweit  sie  von  historischer 
Tragweite  sind,  als  ein  besonderer  Vorzug  des  Buches  hervorgehoben  werden 
Da.  wo  schwierige,  durch  Worte  allein  nicht  leicht  zu  beschreibende  Versucha- 
anordnungen  zu  schildern  waren,  ist  das  Werkchen  mit  zweckmässigen,  ein- 
fachen Illustrationen  bereichert  worden.  Am  Schlüsse  finden  wir  neben  einem 
ausführlichen  Register  auch  eine  recht  brauchbare,  chronologische  LiUeratur- 


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tabeile,  bei  der  freilich  die  epochemachenden,  wissenschaftlichen  Werke  durch 
fetten  Druck  gegen  blofse  historische  Untersuchungen  hätten  hervorgehoben 
werden  sollen.  F.  Kbr. 


J.  G.  Wallentin,  Einleitung  iu  da»  Studium  der  modernen  Elektrizi- 
t&tslebre.  Stuttgart,  Verlag  von  F.  Enke.  1892. 

Das  Ruch  ist  für  diejenigen  geschrieben,  „welche,  ausgerüstet  mit  den 
Kenntnissen  in  der  Elektrizitätslehre,  wie  sie  in  unsern  höheren  Schulen  den 
Schülern  beigebracht  werden,  bestrebt  sind,  mit  den  theoretischen  An- 
schauungen auf  diesem  Gebiete,  mit  den  wesentlichen  Hülfsmitteln  der  ex- 
perimentellen Forschung  und  mit  den  grundlegenden  Methoden  derselben  sich 
vertraut  zu  machen.“ 

Das  Buch  ist  gut:  aber  es  scheint  uns,  uls  habe  es  seine  schwachen 
Seiten.  Was  zunächst  den  Stoff  angoht,  so  ist  derselbe  vom  Verfasser  in 
ziemlich  vollständiger  Weise  zusammengestellt. 

Ebenso  wird  man  mit  der  Darstellung  in  logischer  Beziehung  einver- 
standen sein.  Die  Beweise,  bei  denen  in  der  Regel  die  mathematische  Deduktion 
nicht  entbehrt  werden  konnte,  sind  einfach  und  verständlich;  an  einzelnen 
Stellen,  so  in  der  Lehre  von  der  Induktion,  worden  die  Elemente  der 
Differential-  und  Integralrechnung  vorausgesetzt.  Es  ist  das  natürlich  viel 
besser,  als  der  Versuch,  alles  elementar  zu  beweisen. 

In  pädagogischer  Beziehung  scheint  es  uns.  als  befleifsige  sich  der  Ver- 
fasser einer  Entkleidung  der  Vorgänge  von  allem,  was  anschaulich  und  prak- 
tisch ist,  als  habe  er  sich  Mühe  gegeben,  ein  recht  abstraktes  Buch  zu 
schreiben.  Beispielsweise  wird  der  Begriff  des  elektrischen  Widerstandes  in  der 
Weise  eingeführt,  dafs  zunächst  c,  der  Coeflicient  der  elektrischen  Leitungs- 
fähigkeit,  deßnirt  wird,  als  die  Elektrizitätsmenge,  welche  einen  Draht,  dessen 
(Querschnitt  die  Flächeneinheit  und  dessen  Länge  die  Längeneinheit  ist.  in  der 
Zeiteinheit  durchfliegt,  wenn  die  Enden  eine  Potentialdifferenz  vom  Werthe 
Eins  aufweisen.  Die  Betrachtungen  werden  also  in  bekannter  Weise  an  die 
Erscheinung  des  Potentialabfalls  in  einer  Leitung  angeknüpft.  Der  Widerstand 


wird  nun  definirl  als  ' . und  es  wird  nicht  ein  einziges  einfaches  Experiment 
cq 

angeführt,  welches  die  Berechtigung  der  Bezeichnung  „Widerstand“  darthäte. 
Nur  für  den  Einflufs  des  Querschnitts  wird  noch  ein  Versuch  erwähnt  — die 
Entladung  einer  Leydener  Batterie  durcli  Baumwollfäden!  Warum  wird  denn 
nicht  ein  galvanischer  Versuch  angestellt?  Warum  kann  man  aus  einem 
550  Seiten  starken  Buche  über  moderne  Elektrizitätslehre  nicht  ersehen,  ob 
ein  Eisendraht  dieselbe  Stromstärke  zu  Stande  kommen  läfst,  wie  ein  Kupfer- 
draht? Tabellen,  z.  B.  eine  solche  über  spezifische  Widerstände,  enthält  das 
Buch  nicht.  Soll  das  Werk  für  denjenigen  empfehlenswerth  sein,  welcher 
nur  theoretische  Kenntnisse  gewinnen  will,  so  könnten  eine  Menge  von  Neben- 
sachen fehlen,  z.  B.  könnten  Dinge,  wie  die  Bereitung  der  Bogenlichtkohlen 
mit  Hülfe  von  Syrup  etc.,  unerwähnt  geblieben  sein.  Andererseits  pflegt  ein 
Leser  dieser  Kategorie,  also  etwa  ein  Studironder  der  Physik,  auf  Literatur- 
nachweise, welche  ebenfalls  völlig  fehlen,  Werth  zu  legen.  Auch  die  Elektro- 
techniker dürften  sich  mit  dem  Buche  nicht  so  befreuuden,  wie  der  Ver- 
fasser annimmt. 

Der  Hauptvorzug  des  Werkes  besteht,  wie  gesagt,  darin,  dafs  der  Ver- 
fasser das  gesamte  einschlägige  Material,  auch  die  neuesten  Forschungsergebnisse 
thunlichst  in  Betracht  zieht.  3 p. 


I 

I 

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I 


*204 


fc.  Pi 7. zische  11  i Die  Anwendungen  der  Photographie.  Dargestellt  für 
Amateure  und  Touristen.  Halle  a.  S.  1892.  X,  49fi  S.  Mit  284  Ab- 
bildungen. Preis  8 M. 

Das  vorliegende  Buch  ist  der  dritte  (letzte)  Band  des  „Handbuches 
der  Photographie  für  Amateure  und  Touristen1*;  es  bildet  jedoch  ein  in 
sich  abgeschlossenes  Ganze  und  ist  Amateuren,  welche  genauere  Kenntnifs 
der  in  den  beiden  andern  Bänden  behandelten  photographischen  Apparate 
und  Prozesse  meist  erst  in  zweiter  Linie  interessirt,  zunächst  zum  Ankäufe 
zu  empfehlen.  Bei  aufmerksamerer  Durchsicht  des  Buches  wird  man  über- 
rascht sein  über  die  Fiillp  des  Stoffes,  über  die  zahlreichen  kleinen,  aber 
wichtigen  praktischen  Winke  und  über  die  sorgfältigen  Literaturnachweise. 
— Die  etwas  bunte  Anordnung  des  Stoffes  ist  mit  Hilfe  eines  genauen  Inhalts- 
verzeichnisses und  Sachregisters  ziemlich  leicht  zu  übersehen.  Nach  ein- 
leitenden Bemerkungen  über  den  allgemeinen  Vorgang  bei  photographischen 
Aufnahmen  wird  in  den  ersten  Kapiteln  die  Aufnahme  von  Landschaften  und 
Architekturen  behandelt.  Dieser  für  den  Amateur  wichtigste  Theil  ist  mit  viel 
Geschick  bearbeitet;  bei  einer  kurzen  und  präzisen  Damtellungsweise  scheint 
doch  nichts  von  Bedeutung  zu  fehlen.'  die  auf  S.  f»0  gegebenen  Wetterregeln 
wären  wohl  besser  fortgeblieben.  Die  folgenden  Kapitel,  die  Aufnahme  von 
Innenräumen,  von  Personen,  von  Kunstgegenständen,  Gemälden  u.  dgl.  be- 
handelnd, sind  ebenfalls  sehr  sorgfältig  uusgefiihrt.  Auch  einige  der  dem  Amateur 
ferner  liegenden  Gebiete:  die  Photograinmotrie,  die  aeronautische  Photographie, 
die  photographischen  Aufnahmen  auf  Forschungsreisen,  die  gerichtliche  Photo- 
graphie und  Chromophotographie  sind  recht  gut  bearbeitet.  Weniger  gelungen 
scheinen  die  Abschnitte:  Anwendung  der  Photographie  in  der  Naturbeschreibung, 
in  der  Physik  und  Meteorologie,  die  Mikrophotographie  und  die  Astrophoto- 
graphie. Es  dürfte  dies  zum  Theil  daran  liegen,  dafs  sich  der  Verfasser  hier 
nach  dem  schon  etwa«  veralteten  Werke  von  Stein:  „Das  Licht  im  Dienste 
wissenschaftlicher  Forschung“  gerichtet  hat  und  meist  nur  Beschreibungen 
einiger  neuer  Apparat»»  binzugefügt  hat,  ohne  die  bedeutsamen  Resultate, 
welche  gerade  in  diesen  Gebieten  neuerdings  erzielt  sind,  genügend  zu  be- 
rücksichtigen. Der  Fachmann  wird  hier  viel  vermissen;  im  Hinblick  auf  die 
ira  Titel  enthaltene  Bemerkung:  „Dargestellt  für  Amateure  und  Touristen“  wird 
man  jedoch  in  diesem  Punkte  keine  allzu  strenge  Kritik  üben  und  darüber 
die  sonstigen  mannigfachen  Vorzüge  des  Buches  nicht  vergessen  dürfen. 
Schon  allein  im  Interesse  einer  vielseitigeren  Ausübung  der  Photographie 
seitens  der  Amateure  ist  »lern  Werke  eine  weite  Verbreitung  zu  wünschen. 


Verla*  tob  Hermann  Paetel  io  Berlin.  — Druck  von  Wilhelm  Gronau'«  Buchdruckerei  in  Berlin. 
Für  die  RedacUon  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Muyer  in  Berlin, 
Unberechtigter  Nach  druck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt, 
l'ehereetitunfptrecht  Vorbehalten. 


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Das  Meer,  seine  Erforschung  und  deren  Ergebnisse. 

Von  Admiralitätarath  Rattok  in  Berlin. 


[h  s ist  naturgemäfs,  uafs  das  Meer  mit  seinen  wechselvollen 
ejfy  grofsartigen  Erscheinungen,  seiner  elementaren  Gewalt,  seiner  nie 
ruhenden  zerstörenden  oder  wieder  auf  bauenden  Thätigkeit,  seiner 
auf  die  Gestaltung  der  Küsten  und  des  Lebens  ihrer  Bewohner  tief  ein- 
greifenden Wirkung,  seinem  reichen  Thier-  und  Pflanzenloben  schon 
frühzeitig  dio  Aufmerksamkeit  der  Menschen  auf  sich  ziehen,  die- 
selben zu  tiefem  Nachdenken  und  ernstem  Studium  anregen  mufste. 
Wenn  trotzdem  eine  richtige  und  gründliche  Kenntnifs  der  Meeres- 
verhältnisse erst  eine  Errungenschaft  der  letzten  Dezennien  ist,  so  ist 
der  Grund  in  der  Schwierigkeit  der  Forschungen  und  dem  Mangel 
an  dem  dazu  nöthigen  technischen  Material  und  den  erforderlichen 
Instrumenten  zu  suchen. 


Die  Erklärungen  und  Vorstellungen  des  Alterthums  waren  das 
Produkt  rein  geistiger  Spekulation;  sie  konnten  sich  nicht  auf  thatsäch- 
lichen  Beobachtungen  aufbauen  und  mufsten  demgemiifs  nur  angenähert 
die  Wahrheit  und  oft  das  Unrichtige  treffen.  So  war  die  Vorstellung 
von  den  Tiefen  des  Ozeans,  welche  nach  Plutarch  und  Kleurodes 
den  Erhebungen  der  Berge  gleichkommcnd,  zu  10  bis  15  Stadien 
angenommen  wurden,  eine  ganz  willkürliche  Schätzung.  Aristoteles 
beschäftigte  sich  bereits  eingehend  mit  dem  Problem  der  Meeres- 
strömungen, ohne  jedoch  eine  Erklärung  für  dieselben  in  der  Strafse 
von  Negroponte  zu  finden;  für  den  Salzgehalt  des  Seewassers  suchte 
er  den  Grund  in  einer  eigenthümlichen  Einwirkung  der  Sonne  auf 
die  aus  dem  Wasser  aufsteigenden  Dämpfe,  welche  in  das  Meer  zurück- 
fallend,  demselben  seinen  salzigen  und  bitteren  Geschmack  verliehen. 
Es  dauerte  lange  Zeit,  ehe  mehr  Licht  in  die  Tiefen  des  Meeres  drang 
Himmel  und  Erde.  1898-  V.  5.  15 


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206 


und  den  über  denselben  liegenden  geheimnifsvollen  Schleier  dem 
menschlichen  Geiste  enthüllte.  Das  Alterthum,  ja  fast  das  ganze  Mittel- 
alter  brachten  kaum  nennbare  Aufklärungen  und  Fortschritte.  Erst 
mit  dem  Zeitalter  der  grofsen  Erfindungen  und  Entdeckungen  wandte 
sich  der  allgemeine  menschliche  Wissensdrang  mit  erhöhtem  Interesse 
auch  der  Erforschung  des  Meeres  zu,  in  der  sich  nunmehr  ent- 
wickelnden Schifffahrt  nicht  nur  eine  unentbehrliche  Stütze,  son- 
dern auch  einen  gewaltigen  Hebel  und  Anstoss  findend,  da  eben  die 
Sicherheit  der  letzteren  die  Untersuchung  der  Meere  dringend  ver- 
langte. Demgemäfs  war  das  Augenmerk  jener  grofsen  Entdeckungs- 
reisen in  erster  Reihe  auf  die  Ermittelung  der  Tiefen  und  der 
Strömungen  gerichtet;  aus  jener  Zeit  stammen  die  ersten  Angaben 
über  auf  See  wirklich  ausgeführte  Messungen.  Waren  dieselben 
auch  noch  unvollkommen  infolge  der  dazu  verwendeten  mangel- 
haften Geräthschaften,  so  gaben  dieselben  doch  schon  feste  Grund- 
lagen, auf  welchen  weitergebaut  werden  konnte.  Eine  ein  wands- 
freie und  systematische  Erforschung  der  Ozeane  konnte  erst  mit 
der  Vervollkommnung  der  Technik  ins  Leben  treten,  als  dieselbe 
mit  Einführung  des  Dampfes  nicht  nur  die  Schifffahr^  von  Wind  und 
Wetter  unabhängig  machte,  sondern  auch  die  für  die  ozeanischen  Be- 
obachtungen nothwendigen  Instrumente  liefern  konnte.  Auch  hier 
übte  wieder  rückwirkend  die  Entwickelung  der  Schifffahrt  mit  ihren 
sieh  erweiternden  Bedürfnissen  einen  nicht  zurückzuweisenden  Druck 
auf  die  Meeresforschung  aus,  und  gleichzeitig  mit  dor  Schifffahrt  die 
durch  dieselbe  erblühenden  Handels-  und  Verkehrsverhältnisse  der 
neueren  Zeit,  welchen  das  Bedürfnifs  der  unterseeischen  Kabellegungen 
und  der  hierzu  nothwendigen  Kenntnifs  der  Meerestiefen,  der  Be- 
schaffenheit des  Meeresbodens  und  anderer  Verhältnisse  des  Meeres 
entsprang.  Ein  besonderes  Verdienst  um  die  Entwickelung  der 
Meereskunde  hat  sich  der  Direktor  des  Washingtoner  Xational-Ob- 
servatoriums,  M.  F.  Maury,  erworben,  der  die  gesammten  Forschungen 
in  einheitliche  systematische  Bahnen  lenkte.  Auf  Grund  des  von  ihm 
gesammelten  Beobachtungsmaterials  amerikanischer  Seefahrer  entwarf 
er  zuerst  Karten  und  Schemata,  welche  den  Schiffen  mitgegebon 
und  auf  ihren  Reisen  durch  Eintragung  neuer  Beobachtungen  vervoll- 
ständigt wurden.  Auf  seine  Veranlassung  trat  im  Jahre  1863  eine 
Konferenz  der  seefahrenden  Nationen  in  Brüssel  zusammen,  durch 
welche  ein  einheitliches  Beobachtungssystem  zur  Einführung  gelangte. 
Es  folgte  nun  eine  ganze  Reihe  von  grösseren  oder  kleineren  Ex- 
peditionen, die  entweder  von  den  Regierungen  der  verschiedenen 


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207 


Staaten  ausgerüstet,  oder  durch  Privatleute  ins  Leben  gerufen,  die 
wissenschaftliche  Erforschung  der  Meere  sich  als  Hauptaufgabe,  oder 
neben  geographischen  Forschungen  und  anderen  Zwecken  als  Neben- 
aufgabe stellten.  In  letzterer  Beziehung  spielen  namentlich  die  zahl- 
reichen Polarfahrten  eine  hervorragende  Rolle,  die  nicht  nur  auf 
geographischem,  sondern  auch  auf  hydrographischem  und  ozeano- 
graphischem  Gebiete  Vorzügliches  leisteten.  Weiter  unterstützt  und 
angespornt  wurden  diese  Bestrebungen  durch  die  Interessen  der 
Fischerei,  für  welche  die  biologischen  Untersuchungen  der  Meere, 
sowohl  an  den  Küsten  der  Festländer  und  Inseln  als  auch  im  offenere 
Ozean,  von  besonderer  Wichtigkeit  sein  muteten. 

Epoohemachend  für  die  Meereskunde  waren  die  drei  grossen, 
von  Deutschland,  England  und  Amerika  in  den  siebziger  Jahren 
entsandten  wissenschaftlichen  Expeditionen  der  Korvetten  Gazelle, 
Challenger  und  Tuscarora.  Die  Gazelle  durchkreuzte  1874- — 1876 
unter  Kommando  des  Kapitän  zur  See  Freiherrn  von  Sohleinitz  den 
Atlantischen  Ozean  auf  der  Route  Madeira,  Kap  Verdesche  Inseln, 
Ascension,  Kongo,  Kapstadt,  brachte  von  dort  die  deutsche  Kommission 
zur  Beobachtung  des  Venusdurchganges  nach  den  Kerguelen-Inseln, 
nahm  an  diesen  Beobachtungen  theil,  gleichzeitig  Kreuzfahrten  im 
Südindischen  Ozean  bis  zur  amerikanischen  Küste  unternehmend, 
ging  mit  der  Kommission  zurück  nach  Mauritius,  wandte  sich  von 
hier  quer  über  den  Indischen  Ozean  nach  der  Westküste  von 
Australien,  weiter  nach  Neu -Guinea  und  dem  jetzigen  Bismarck- 
Archipel,  wo  sehr  interessante  und  wichtige  Forschungen  angestellt 
wurden;  dann,  die  Salomon-Inseln,  Neu-Seeland,  die  Fidji-,  Tonga-, 
Samoa-Inseln  berührend,  über  den  Stillen  Ozean,  durch  die  Magellan- 
Strafse  in  den  Atlantischen  Ozean  zurück,  in  demselben  die  auf 
der  Ausreise  gemachten  Beobachtungen  vervollständigend.  Die 
Challenger  stand  während  ihrer  langen  Reise  vom  Ende  1872  bis 
Anfang  1876  unter  Kapitän  Nares  und  später  unter  Kapitän  Thom- 
son; sie  nahm  eine  ähnliche  Route  wie  die  Gazelle,  ging  jedoch  von 
den  Kerguelen  resp.  dem  südlichen  Indischen  Ozean  über  Australien 
und  den  ostindischen  Archipel  nach  der  chinesischen  Küste  und 
Japan,  und  führte  über  Honolulu,  Valparaiso  und  die  Magelianstrasse 
die  Rückreise  aus.  Die  amerikanische  Korvette  Tuscarora  machte 
1873 — 74  unter  Commander  Belknap  eine  längere,  erfolgreiche  Ex- 
pedition im  Stillen  Ozean,  von  San  Francisco  ausgehend  über  Honolulu 
nördlich  bis  zu  den  Kurilen  und  Aleuten,  und  wieder  zurück  nach 

15* 


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208 


San  Francisco.  In  den  folgenden  Jahren  führte  dasselbe  Schiff  kleinere 
Ergiinzung-sfahrten  in  demselben  Meere  aus. 

Aufser  den  im  Interesse  der  Geographie  und  der  Schifffahrt  ge- 
machten Aufnahmen  und  Vermessungen  von  Küsten  und  Inseln  war 
es  die  Aufgabe  dieser  Expeditionen,  die  Verhältnisse  des  Meeres  in 
physikalischer,  chemischer  und  biologischer  Beziehung  zu  erforschen, 
und  erstreckten  sich  demnach  die  Untersuchungen  auf  die  Bestimmung 
der  Wassertiefen,  der  Beschaffenheit  und  Formation  des  Meeresbodens, 
des  spezifischen  Gewichts,  des  Salzgehaltes,  der  chemischen  Zusammen- 
setzung, der  Temperatur,  Farbe  und  Durchsichtigkeit  des  Wassers,  der 
horizontalen  und  vertikalen  Wasserbewegung,  des  Thier-  und  Pfianzen- 
lebens  der  Ozeane.  Nachstehend  wollen  wir  versuchen,  von  den 
Forschungen  und  den  Resultaten  der  Expeditionen,  d.  h.  von  den  Ver- 
hältnissen der  Meere,  wie  sie  durch  die  bisherigen  Untersuchungen 
sich  haben  feststellen  lassen,  eine  kurze  Darstellung  zu  geben. 

Obgleich  die  Ermittelung  der  Wassertiefe  zu  den  ältesten  und 
einfachsten  ozeanographischen  Beobachtungen  zählt,  sind  die  Messungen 
auf  gröfseren  Tiefen  bis  in  die  neue  Zeit  dooh  wenig  zuverlässig  ge- 
wesen; meist  waren  die  zur  Anwendung  gebrachten  Gewichte  zu  ge- 
ring, um  den  Grund  zu  erreichen.  Soweit  bekannt,  hat  auf  gröfseren 
Tiefen  zuerst  John  Rofs  im  Jahre  1818  mit  seiner  sechs  Zentner 
schweren  Tiefseezange  bei  1970  m Tiefe  Grund  erhalten.  Dagegen 
lotbeten  noch  im  Jahre  1852  Kapitän  Denham  auf  dem  Herald  und 
Lieutenant  Parker  auf  der  Fregatte  Congrefs  im  Südatlantischen 
Ozean  14000  und  15000  m an  Stollen,  wo  in  Wirklichkeit  dio  Tiefe 
nur  ca.  5000  m betrug. 

Die  für  den  gewöhnlichen  Schiffsgebrauch  und  auf  flacherem 
Wasser  verwendeten  Lothe,  welche  aus  einem  Bleikörper  bestehend, 
an  einer  mit  Eintheilung  versehenen  Leine  bis  auf  den  Meeresgrund 
hinabgelassen  wurden  (vergl.  H.  u.  E.  III.  Jahrg.  S.  249),  genügten 
bei  grofsen  Tiefen  nicht  mehr.  Die  grofsen  Gewichte,  deren  An- 
wendung diese  bedingten,  machten  aufser  besonderen  Apparaten  zur 
Bedienung  des  Lothes,  zum  Fallenlassen  und  zum  Einwinden,  eine  be- 
sondere Vorrichtung  nothwendig,  welche  ein  Loslüsen  des  Lothge- 
wichtes  von  der  Leine,  sobald  dasselbe  den  Grund  berührt  hatte,  ge- 
stattete, um  Arbeit  und  Zeit  beim  Aufholen  zu  ersparen.  Auch  die 
Gewinnung  von  Grundproben  auf  dem  bisher  üblichen  Wege  durch 
Ausfüllung  der  Bodenhöhlung  des  Lothes  mit  Talg  liefs  sich  nicht 
mehr  aufrecht  erhalten,  da  die  am  Talg  haftenden  Bodenbestandtheile 
auf  dem  langen  Wege  vom  Grunde  bis  zur  Oberfläche  wieder  abge- 


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209 


waschen,  wurden.  Späterhin  erhielt  das  Loth  eine  aus  einem 
Hohlcylinder  bestehende,  unten  durch  ein  Schmetterlingsventil  ge- 
schlossene Kammer;  beim  Eindringen  in  den  Meeresboden  öffnet 
sich  das  erstere  und  die  Kammer  füllt  sich  mit  Bodenbestandtheilen; 
beim  Aufholen  des  Lothes  wird  das  Ventil  durch  den  Wasserdruck 
von  oben  geschlossen  gehalten.  Die  geforderte  Detachirung  der  Loth- 
gewichte  am  Grunde  veranlafste  eine  ganze  Anzahl  verschiedener 
Konstruktionen.  Von  diesen  verdient  das  älteste  Loth  dieser  Art,  das 
Brooksche  Tiefloth,  als  Vorbild  der  späteren,  diesen  Zweck  ver- 
folgenden Konstruktionen,  hervorgehoben  zu  werden.  Das- 
selbe besteht  (Fig.  1)  aus  einer  massiven  Eisenstange,  W 

an  welche  sich  unten  eino  Kammer  zur  Aufnahme  von  Grund-  i | 
proben  schliefst,  und  einer  durchlochten  eisernen  Kugel, 
welche  über  die  Stange  gestreift  wird.  Die 
Kugel  wird  mittelst  einer  Drahtschlinge  fest- 
gehalten, welche  letztere  mit  ihren  beiden 
Enden  über  zwei,  am  oberen  Ende  der 
Eisenstange  bewegliche  Arme  gelegt  wird; 
an  diesen  Armen  ist  die  Lothleine  befestigt 
und  hält  dieselben,  wenn  beim  Fallenlasson 
das  Loth  au  dor  Loino  hängt,  nach  oben; 
berührt  jedoch  das  Loth  den  Grund,  so 
klappen  mit  dem  SchlafTwerden  der  Leine 
die  Arme  nach  unten,  die  Drahtschlingu 
gleitet  ab  und  lässt  die  Kugel  frei. 

Das  Tiefloth  von  Baillie,  welches  auf 
den  grofsen  Forschungsreisen  hauptsäch- 
lich in  Gebrauch  war,  ist  in  Fig.  2 dargestellt:  es  hat  an  Stelle 
der  Kugel  des  Brook  sehen  Lothes  raehroro  oylinder-  oder  kalotten- 
förmige  Eisenkörper  e,  deren  Anzahl  je  nach  der  Tiefe,  auf  welcher 
gelothet  werden  soll,  wechselt  Der  Eisencylinder  a,  über  welchen 
dieselben  gestreift  werden,  trägt  oben  einen  Hohlkegel  b,  in  welchem 
sich  eine  Eisenstange  auf  und  ab  bewegen  kann;  über  zwei  Nasen  d 
der  letzteren  wird  die  Drahtschlinge  zum  Festhalten  der  Gewichte 
gelegt  und  am  oberen  Ende  derselben  die  Lothleine  befestigt.  Beim 
Aufstossen  auf  den  Grund  wird  die  Leine  lose,  die  Eisenstange 
gleitet  in  den  Ilohlkegel,  die  Oesen  der  Drahtschiingo  streifen  sioh 
von  den  Nasen,  und  die  Gewichte  von  dem  Eisencylinder  ab. 

Ganz  ähnlich  wie  das  Baillie-Loth  ist  das  Hydra-Loth  (so 
genannt  nach  dem  britischen  Kriegsschiff  Hydra)  eingerichtet;  bei 


Fig.  I. 


Dl 


210 


demselben  werden  die  Oesen  der  die  Lothgewichle  haltenden  Draht- 
schlinge durch  eine  Feder  von  ihrem  Befestigungszapfen  gestreift,  so- 
bald die  Gewichte  auf  dem  Meeresboden  aufliegen. 

Zum  Hinablassen  des  Lothes  auf  den  Meeresgrund  dienen  Hanf- 
leinen, die  auf  grofse  Trommeln  aufgerollt,  sich  beim  Lothen  bequem 
und  ohne  grofse  Reibung  abwickeln.  In  neuerer  Zeit  sind  die  Hanf- 
leinen häufig  durch  Klaviersaitendrähte  ersetzt  worden,  die  einerseits 
billiger  als  die  ersteren,  andererseits  bedeutend  dünner  sind,  dem 
Wasser  geringere  Reibung  bieten  und  die  Anwendung 
kleinerer  Lothgewichte  gestatten. 

Zur  Ausführung  von  Lothungen  wird  das  Schiff 
möglichst  ruhig  auf  einer  Stelle  gehalten;  um  Stösse 
und  Spannungen,  welche  durch  die  unvermeidlichen 
Bewegungen  des  Schiffes  auf  die  Lothleine  ausgeübt 
werden,  möglichst  abzuschwächen,  wird  zwischen 
der  letzteren  und  dem  Schiff  ein  sogenannter  Akku- 
mulator, bestehend  aus  starken,  zwischen  zwei 
Holzscheiben  befestigten  Kautschukbändern  (Fig.  3), 
eingeschaltet. 

Fig.  3 zeigt  ein  zum  Gebrauch  an  Bord  fertiges 
Loth.  Beim  Fallenlassen  des  Loths  rollt  sich  die 
Leine  von  der  Trommel  ab ; die  Auslaufsgeschwindig- 
keit verlangsamt  sich  mit  zunehmender  Tiefe  — 
bei  3000  m Tiefe  gebraucht  das  Loth  etwa  50  Minuten, 
um  den  Grund  zu  erreichen  — , bis  ein  plötzlicher 
Sprung  die  Grundberührung  des  Lothes  andeutet. 
In  diesem  Moment  wird  an  der  nach  Meter  oder 
Faden  getheilten  Leine  festgestellt,  wie  viel  von  derselben  ausgelaufen 
ist,  und  damit  die  Tiefe  konstatirt.  Das  Wiederaufwinden  der  Leine 
geschieht  mit  Hülfe  einer  kleinen  Dampfwinde. 

Aufser  durch  direkte  Abstandsmessungen  mittelst  Leine  und  Loth, 
wie  oben  beschrieben,  hat  man  versucht,  durch  andere  indirekte  Me- 
thoden die  Tiefe  dos  Meeres  zu  ermitteln,  und  wenn  dieselben  sich 
auch  meist  in  grorsen  Tiefen  als  wenig  verliirslich  zeigten,  und  man 
sioh  immer  wieder  den  ersten  direkten  Messungen  zuwandte,  so  dürfen 
doch  einige  dieser  genialen  Erfindungen  nicht  unerwähnt  bleiben. 
Bezüglich  der  Lothapparate  von  Thomson  und  Bamberg,  welche  auf 
dem  mit  der  Tiefe  zunehmenden  Wasserdruck  basiren,  kann  auf  einen 
früheren,  bereits  oben  angedeuteten  Artikel  dieser  Zeitschrift  „die  Orts- 


Fig.  3. 


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bestimmungen  und  Hülfsmittel  zur  Führung  eines  Schiffes  auf  See“ 
(III.  Jahrg.  1891,  S.  245  u.  f.)  verwiesen  werden. 

Hopfgartnors  Loth  benutzt  ebenfalls  den  hydrostatischen 
Druck  des  Wassers  zum  Messen  der  Tiefe,  unterscheidet  sich  in  seiner 
Konstruktion  aber  wesentlich  von  den  beiden  vorherigen.  Bei  dem- 
selben wird  der  Wasserdruck  auf  eine  Anzahl  über  einander  ge- 
lagerter Metalldosen  übertragen,  die,  je  gröfser  der  Druck  ist,  desto 
mehr  zusammengepresst  werden,  was  durch  einen  Zeigor  registrirt  wird. 

Eine  andere  Klasse  von  Instrumenten,  wie  z.  B.  der  Tiefen- 
indikator von  Massey,  mifst  die  Tiefe  nach  der  Umdrehungsanzahl 
einer  auf  den  Grund  gelassenen  Schraube;  dieselbe  wird  bei  der  Be- 
wegung in  die  Tiefe  durch  den  Druck  des  Wassers  in  Rotation  ver- 
setzt, und  die  Umdrehungen  werden  auf  ein  Zählwerk  übertragen. 

Der  Tiefenmesser  von  Rousset  beruht  auf  demselben 
Prinzip,  wird  jedoch  ohne  Leine,  mit  einem  Ballaslgewicht  beschwert, 
in  die  Tiefe  versenkt;  beim  Aufstofsen  auf  den  Grund  fällt  das  Ge- 
wicht ab,  die  bisher  arretirte  .Schraube  wird  ausgelöst  und  dreht  sich 
vermöge  eines  an  den  Apparat  angebrachten  Schwimmers  bei  der 
nunmehr  erfolgenden  Aufwärtsbewegung  dosseiben. 

Ein  sehr  genialer  Apparat  zum  Messen  der  Wassertiefen  ohne  Loth 
und  Leine,  allein  unter  Benutzung  der  Schwerkraft  der  Erde,  ist  von 
Siemens  und  Halske  konstruirt  Da  mit  der  Tiefe  die  Entfernung 
des  Schiffes  von  der  festen  Erdmasse  wechselt,  so  mufs  sich  auch  mit 
derselben  die  Anziehungskraft  der  Erde  auf  das  Schiff  resp.  auf  einen 
Körper  im  Schiff,  d.  h,  das  Gewicht  des  letzteren  ändern.  Diese  Ge- 
wichtsänderung einer  Quecksilbersäule  wird  durch  den  Siemensschen 
Apparat  zum  Ausdruck  gebracht,  und  dadurch  die  Tiefe  bestimmt. 

Die  bisher  ausgeftihrlen  Tieflothungen  scheinen  die  Annahme 
der  Alten,  dafs  die  gröfsten  Tiefen  der  Ozeane  den  höchsten  Er- 
hebungen des  Landes  gleichkommen,  zu  bestätigen,  indem  ilie  gröfste, 
bis  jetzt  von  der  Tuscarora  im  nordwestlichen  Theil  des  Stillen  Ozeans 
gelothete  Depression  8513  m beträgt,  während  die  höchste  Kuppe  des 
Himalaya-Gebirges  sich  bis  -8840  m erhebt.  Befrachten  w'ir  dem- 
gegenüber jedoch  die  mittlere  Tiefe  und  die  ganze  Gestaltung  des 
Meeresbodens,  so  finden  wir  sehr  grofse  Verschiedenheiten  zwischen 
Ozean  und  Festland.  Nach  den  Berechnungen  von  Krümmel  beträgt 
die  mittlere  Tiefe  des  ganzen  Weltmeeres  3320  m (die  verhältnifs- 
mäfsig  flachen  Mittelmeere  miteingerechnet;  ohne  dieselben  würde 
ich  seine  mittlere  Tiefe  von  3700  m ergeben),  die  mittlere  Höhe  der 


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gesamten,  nicht  vom  Wasser  bedeckten  Landmassen  dagegen  nur 
665  m.  Noch  auffallender  tritt  die  gewaltigo  Ausdehnung  der  Wasser- 
masse gegenüber  dem  Festlande  hervor,  wenn  man  die  Flächenräume 
und  Volumina  beider  mit  einander  vergleicht  Bei  einer  Ausdehnung 
des  Landes  von  142  Millionen  Quadratkilometer  und  einem  Volumen 
von  95  Millionen  Kubikkilometer,  bedeckt  das  Meer  eine  Fläche  von 
368  Millionen  Quadratkilometer  und  nimmt  einen  Kaum  von  1220  Millio- 
nen Kubikkilometer  ein.  Dabei  ist  das  Bodenrelief  des  Meeres  be- 
deutend gleichmiifsiger  und  einförmiger  als  das  des  Landes;  Flächen 
von  ausserordentlicher  Ausdehnung  erscheinen  als  vollkommene  Ebene, 
nur  selten  von  kaum  merklichen  Erhebungen  unterbrochen.  Diese 
eintönige,  flache  Form  des  Bodens  findet  sich  hauptsächlich  da,  wo 
der  Grund  aus  weichen  Sedimentär-Massen  besteht,  während  ein  harter 
Fels-  oder  vulkanischer  Boden  ein  etwas  abwechselungsvolleres  Bild 
mit  Höhenzügen  und  Hügeln  von  mehr  oder  weniger  steilem  Profil 
gewährt  So  erhebt  sich  z.  B.  im  Nordatlantischen  Ozean  auf  solchem 
Boden  der  Faraday-Hügel,  dessen  Profil  näher  untersucht  ist  und 
Böschungswinkel  bis  zu  35°  zeigt,  ein  allerdings  ausnahmsweise 
schroffer  Abfall,  der  auf  eine  unterseeische  vulkanische  Eruption 
deutet.  Im  allgemeinen  fällt  vom  Festlandsrande  an  der  Meeresboden 
terrassenförmig  in  die  Tiefe  ab;  nur  vereinzelt,  namentlich  an  der 
Westküste  Amerikas  geschieht  dies  in  ununterbrochener,  gleichmäfsig 
geneigter  Ebene.  — Auffallend  ist  es,  dafs  gerade  die  gröfsten  Tiefen 
vielfach  in  der  Näho  des  Festlandes  gefunden  worden  sind.  So  fallt 
die  oben  angeführte  Tiefe  von  8513  m in  die  Nachbarschaft  des  asia- 
tischen Kontinents,  die  gröfsten  Depressionen  des  Atlantischen  Ozeans 
sind  unweit  der  Antillen  gefunden  — die  gröfste  gelothete  Tiefe  von 
8341  in  fallt  in  19°  39'  N.  Br.  und  66°  26'  W.  Lg.  — , hier  die 
sogen.  Virginische  Tiefe  bildend.  In  den  meisten  derartigen  Fällen 
scheint  cs  sich  um  vulkanische  Einsturzbecken  zu  handeln. 

Wie  die  Gestaltung,  so  ist  auch  die  Beschaffenheit  des 
Meeresbodens  gegenüber  derjenigen  des  Festlandes  von  grofser 
Gleichmäfsigkeit  Mit  Ausnahme  von  verhältnifsmäfsig  sehr  kleinen 
Strecken  harten  und  felsigen  Grundes  ist  der  ganze  Boden  von 
weichen,  schlammigen  und  sandigen  Ablagerungs-Massen  bedeckt, 
die  sich  nach  ihrer  Zusammensetzung  in  verschiedene  Gruppen  klassi- 
fiziren  lassen. 

Nach  dem  Vorgang  des  Geologen  der  Challenger-Expedition, 
John  Murray,  lassen  sich  zwei  Hauptgruppen  von  Bodensedimenten 
unterscheiden,  die  Küsten-  und  die  Tiefsee-Sedimente.  Während  die 


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ersteren  aus  dem  durch  die  Flüsse  dem  Meere  zugeführten  Material 
uud  aus  den  durch  die  See  losgelüsten  und  zerkleinerten  Bestaud- 
theilen  der  Festlandsküste  sich  zusammensetzen,  bestehen  die  Tiefsee- 
ablagerungen zum  gröfsten  Theil  aus  den  Resten  der  im  Meere 
lebenden  kleinen  Organismen.  Je  nach  dem  Material,  aus  welchem 
sie  bestehen,  sind  die  Küstenablagerungen  verschieden  gefärbt;  in  den 
Küsten regionen  der  moisten  Kontinente  und  gröfseren  Inseln  sind,  oft 
bis  zu  1 60  Seemeilen  von  denselben  entfernt,  grüne  und  blaue  Schlick- 
massen vorherrschend,  in  welchen  nicht  selten  Stücke  von  Holz,  Theile 
von  Blättern,  Bäumen  und  Früchten  eingebettet  liegen.  In  der  Um- 
gebung vulkanischer  Inseln  finden  sich  graue  bis  dunkelschieferfarbige 
Sand-  und  Schlammmassen,  gemischt  mit  vulkanischen  Gesteinen, 
Bimsstein  und  Lavastücken,  vor,  während  in  der  Nähe  von  Korallen- 
riffen der  Boden  mit  feinerem  oder  gröberem  Korallen-Sand  und 
Schlamm  bedeckt  ist  — Die  Tiefseeablagerungen  zerfallen  in  Globige- 
rinen-,  Radiolarien-,  Diatomeen-Schlainm  und  die  Tiefseethone.  Der 
Globigerinen-Schlamm  besteht  aus  den  kalkigen  Resten  der  Globige- 
rinen,  einer  kalkschaligen  Wurzelfüfslerart,  die,  an  der  Oborlläche  der 
Ozeane  in  grofsen  Mengen  lebend,  nach  ihrem  Absterben  langsam  zu 
Boden  sinken.  Diese  Schlammart  ist  in  allen  Ozeanen  weit  verbreitet, 
kommt  jedoch  selten  in  Tiefen  über  5000  m vor;  bei  gröfseren  Tiefen 
löst  sich  der  kohlensaure  Kalk  ihrer  Sohalen  infolge  des  langsamen 
Hinabsinkens  wahrscheinlich  vollständig  auf,  so  dafs  nichts  mehr  zum 
Niederschlag  gelangt.  Weniger  leicht  im  Wasser  löslich  und  daher 
bis  in  die  gröfsten  Tiefen,  jedoch  in  beschränkterer  Ausdehnung 
(hauptsächlich  im  westlichen  und  mittleren  Theile  des  Stillen  Ozeans) 
vorkommend,  sind  die  Kieselpanzer  der  Radiolarien,  einer  ebenfalls 
zu  den  Wurzelfüfslern  gehörigen  Thierart,  welche  das  Hauptmaterial 
zu  der  zweiten,  nach  ihr  benannten  Schlammart  liefert. 

Der  Diatomeenschlamm  setzt  sich  aus  den  Kieselpanzern  einer 
Algenart,  der  Diatomeen,  zusammen  und  bildet  ein  spezifisches  Merk- 
mal des  südlichen  Indischen  Ozeans  zwischen  53°  und  63°  südl.  Br. 

Die  Tiefseethone  endlich  sind  die  in  Tiefen  über  3500  m am 
weitesten  verbreiteten  Ablagerungen;  sie  sind  grau  oder  roth  bis 
dunkelbraun  gefärbt  und  enthalten  alle  aufser  untergeordneten  or- 
ganischen Beimengungen  feine  Mineraltheilohen,  namentlich  Quarz, 
Glimmer,  Bimsstein,  Lava  und  Braunstein. 

Temperaturmessungen  des  Wassers  konnten  naturgemäfs 
erst  spät,  nach  Krfindung  des  Thermometers  beginnen  und  mufsten 
sich  wegen  der  Unvollkommenheit  der  Instrumente  lange  Zeit  auf  die 


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Oberfläche  des  Wassers  beschränken.  Die  Bestimmung  der  Ober- 
fläohentemperatur  ist  einfach,  indem  man  entweder  ein  Thermometer 
in  das  Wasser  selbst  hinabläfst  und  die  Skala  nach  dem  Aufholen 
abliest,  oder  die  Temperatur  in  zu  diesem  Zwecke  geschöpftem  Wasser 
mifst.  Die  zu  Messungen  in  greiseren  Tiefen  bestimmten  Thermometer 
müssen  einestheils  die  Temperatur  der  betreffenden  Tiefe  flxiren,  ferner 
durch  die  davon  abweichenden  Temperaturen  der  Wasserschichten, 
welche  sie  beim  Aufholen  passiren,  unbeeinflufst  bleiben  und  andererseits 
gegen  den  in  der  Tiefe  herrschenden  hohen  Wasserdruck  geschützt  sein, 
nicht  nur,  um  nicht  durch  denselben  zu  zerbreohen,  sondern  auch,  um 
eine  Kompression  der  Instrumente  und  damit  zusammenhängende  falsche 
Temperaturangaben  zu  vermeiden.  Bei  den  ältesten  Versuchen,  Tiefen- 
temperaturen zu  bestimmen,  schöpfte  man  entweder  Wasser  aus  der 
Tiefe,  oder  man  versenkte  die  Thermometer  einfach  in  die  Tiefe;  beides 
gab  natürlich  sehr  unzuverlässige  und  unrichtige  Resultate.  Dann 
fing  man  an,  die  Instrumente  mit  schlechten  Wärmeleitern  zu  umgeben, 
und  schliefslich  versuchte  man,  die  Temperatur  zu  flxiren.  Das  erste 
derartige  Maximum-  und  Minimumthermometer  wurde  im  Jahre  1778 
von  Six  konstruirt  und  von  Krusenstern  (1803)  und  Sir  John 
Rofs  (1817)  auf  ihren  Weltumsegelungen  benutzt  Aber  erst  1838 
wurde  von  Du  Petit  Thouars  ein  gegen  Druck  geschütztes  Tiefsee- 
thermometer gebraucht  Wesentlich  vervollkommnet  und  verbessert 
sind  die  auf  den  Expeditionen  der  Gazelle  und  Challenger  und  gegen- 
wärtig noch  fast  ausschliefslich  bei  allen  Tiefseeforschungen  angewen- 
deten Tiefseethermometer  von  Miller-Casella  und  von  Negretti- 
Zambra. 

Das  erstere  (Fig.  4)  ist  ein  Maximum-  und  Minimumthermometer, 
dessen  heberförmig  gebogene  Röhre  in  der  Mitte  einen  Quecksilber- 
faden  aufnimmt,  und  über  demselben  in  beiden  Schenkeln  je  ein  Index- 
stäbchen. Beide  Schenkel  laufen  an  ihren  Enden  in  Erweiterungen 
aus;  die  linke  enthält  eine  Alkoholflüssigkeit,  die  rechte  zum  Theil 
dieselbe  Flüssigkeit,  zum  Theil  Dämpfe  derselben.  Bei  zunehmender 
Temperatur  dehnt  sich  der  Alkohol  im  linken  Schenkel  aus,  tritt  bei 
dem  Indexstäbchen  vorbei  und  schiebt  den  Quecksilberfaden  vor  sich 
her;  dieser  nimmt  den  Index  im  rechten  Schenkel  mit,  welcher  so  das 
Maximum  der  Temperatur  anzeigt.  Nimmt  die  Temperatur  ab,  so  tritt 
die  Flüssigkeit  links  zurück,  die  elastischen  Dämpfe  rechts  drücken, 
ohne  den  Index  zu  verrücken,  den  Quecksilberfaden  nach  links,  dieser 
verschiebt  das  linke  Indexstäbchen,  und  letzteres  giebt  somit  die 


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niedrigste  Temperatur  an.  Eine  starke  Glashülle  und  ein  Rahmen  von 
Hartgummi  schützen  das  Instrument  vor  Druck. 

Das  Thermometer  von  Negretti  und  Zambra  (Fig.  6)  ist  ein 
Queoksilberthermometer,  dessen  Röhre  über  dem  cylindrischen  Gefäfs 
(bei  A)  verengt,  S-förmig  gebogen  und  in  der  Biegung  wieder  er- 
weitert ist  Wird  das  Instrument  plötzlich  umgedreht,  so  dals  das 
GefäTs  nach  oben  kommt,  so  reifst  der  Quecksilberfaden  in  der  Biegung 
ab,  fällt  hinab  und  füllt  das  am  oberen  Ende  befindliche  kleine 
Reservoir  (E)  sowie  die  Röhre  selbst  zum  Theil  aus.  Je  höher  die 


Fig.  4.  Fig.  5. 


Temperatur,  desto  länger  ist  der  abgerissene  Faden,  und  eine  hiernach 
graduirte  Theilung  läfst  die  im  Moment  des  Umdrehens  herrschende 
Temperatur  ablesen.  Bei  den  Tiefseetemperaturmessungen  läfst  man 
demgemäfs  das  Instrument  in  die  zu  beobachtende  Tiefe  hinab  und  kippt 
hier  dasselbe  um.  Die  Umkehrvorrichtung  besteht  aus  einem  hölzernen 
Kasten  (Fig.  6 u.  7),  in  welchem  das  Thermometer  befestigt  ist,  mit 
einer  ringsum  laufenden  Rinne,  in  der  sich  Schrotkörner  von  einem 
Ende  zum  andern  frei  bewegen  können.  Der  Kasten  wird  mittelst 
eines  an  einem  Ende  desselben  angebrachten  Taues  an  der  Lothleine 
befestigt;  beim  Hinablassen  in  die  Tiefe  wird  das  freie  Ende  des 
Kastens  durch  den  Wasserdruck  nach  oben  gehalten  (Fig.  6),  beim  Auf- 
heben nimmt  er  die  entgegengesetzte  Lage  an  (Fig.  7).  Bei  grofsen 


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Tiefen  tritt  an  Stelle  des  Holzkastens  ein  dem  Wasserdruck  besser 
gewachsener  Metallrahmen  (Fig.  8),  in  welohem  das  Thermometer,  um 
eine  Axe  (H)  drehbar,  im  labilen  Gleiohgewioht  hängt,  aber  durch 
einen  in  seine  Metallhiilse  eingreifenden,  an  einem  Schraubenflügel  (C) 
befestigten  Stift  (P)  in  dioser  Lage  festgehalten  wird  (Fig.  8).  Fängt 
man  an,  das  Thermometer  aus  der  Tiefe  wieder  in  die  Höhe  zu  holen, 
so  dreht  sich  der  Schraubenflügel  mit  dem  Stifte  aus  dem  Thermometer 
heraus,  und  das  letztere  kippt  um  (Fig.  9). 


Aufser  auf  dem  Grunde  und  an  der  Oberfläche  des  Meeres 
worden  die  Temperaturen  in  der  Regel  bis  zu  einer  Tiefe  von  etwa 
3000  m (bis  1000  m Tiefe  etwa  alle  100 — 200  m,  dann  alle  300 — 600  m) 
gemessen;  in  gröfsorcn  Tiefen  bis  zum  Grunde  ändert  sich  die  Temperatur 
so  wenig,  dafs  ein  Messen  nicht  mehr  nöthig  ist.  Die  Thermometer 
werden  in  den  betreffenden  Abständen  an  einer  Leine  befestigt  und 
mit  dem  Loth  gleichzeitig  versenkt. 

Aus  den  bisherigen  Messungen  hat  sich  ergeben,  dafs  die  Tem- 
peratur des  Meerwassers  im  allgemeinen  von  der  Oberfläche  bis  zuin 
Boden  abnimmt,  zunächst  schnell,  dann  langsam  und  bis  zum  Grunde 
immer  langsamer.  Je  gröfser  die  Oberfläohentemperatur,  desto  sohneiler 


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pflegt  die  Temperaturabnahme  in  den  oberen  Schichten  zu  sein,  so 
dafs  von  1000  m an  abwärts  überall  nahezu  dieselbe  Temperatur 
herrscht  Während  die  Oberflächentemperaturen  zwischen  -f-  32°  in  den 
Tropen  und  — 3°  in  den  Polargegenden  schwanken,  liegen  die  Grenzen 
der  Bodentemperaturen  zwischen  -|-  2°  und  — 2®.  Eine  direkte  Ein- 
wirkung der  Sonnen  wärme  findet  kaum  tiefer  als  160  m statt;  eine 
weitere  Fortpflanzung  der  Wärme  in  die  Tiefe  erfolgt  durch  eine  ver- 
tikale Wasserzirkulation;  durch  die  an  der  Oberfläche  stattflndendo 
Verdunstung  werden  die  Wassertheilchen  hier  salzreicher,  sinken  in 
die  Tiefe  und  werden  durch  kältere,  von  unten  aufsteigende,  ersetzt. 
Die  konstante,  überall  gleiche  Temperatur  des  Bodens  in  den  gröfseren 
Tiefen  hat  ihren  Grund  in  einer  ganz  langsamen  Bewegung  der  unteren 
Wasserschichten  von  den  Polen  nach  dem  Aequator  zu.  Hieraus 
erklärt  sich  auch,  dafs  überall  dort  die  kälteste  Bodentemperatur  an- 
getroffen wird,  wo  die  freieste  Kommunikation  mit  den  Polarmeeren 
stattfindet.  Aus  diesem  Grunde  Bind  die  südlichsten  Theile  der  greisen 
Ozeane  kälter  als  die  nördlichen,  die  Tiefentemperaturen  im  Stillen 
und  Indischen  Ozean  niedriger  als  im  Atlantischen.  Hierdurch  erklärt 
Bich  weiter  das  eigenthümliche  Verhalten  der  Binnenmeere  und  der- 
jenigen Meerestheile,  welche  durch  Bodenerhebungen  von  dem  um- 
gebenden freien  Ozean  abgeschlossen  sind.  In  demselben  nehmen 
die  Temperaturen  zwar  auch  von  der  Oberfläche  nach  unten  zu  ab, 
bleiben  aber  von  der  Tiefe  ab,  bis  zu  welcher  sich  die  abtrennende 
Bodonsohwelle  vom  Grunde  erhebt,  bis  zum  Grunde  unverändert,  und 
zwar  ist  diese  Temperatur  gleich  der  in  derselben  Tiefe  herrschenden 
Temperatur  des  umgebenden  Ozeans. 

Die  Oberflächentemperaturen  sind  natürlich  in  erster  Linie  von 
der  Temperatur  der  Luft  abhängig  und  folgen  den  Schwankungen 
derselben;  sio  nehmen  demgemäß  im  allgemeinen  vom  Aequator  nach 
den  Polen  hin  ab  und  wechseln  mit  den  Tages-  und  Jahreszeiten. 

Im  tiefen  Wasser  mitten  im  Ozean  sind  die  Tages-Schwankungen 
gering,  der  Unterschied  zwischen  der  Tages-  und  Nachttemporatur  über- 
schreitet selten  1°;  auf  flachem  Wasser  und  in  der  Nähe  des  I^andes, 
wo  die  Sonnenstrahlen  einen  gröfseren  direkten  Einflufs  bis  zum 
Grunde  ausüben,  ist  der  Wechsel  erheblich  gröfser. 

Die  jahreszeitlichen  Variationen  sind  allerdings  gröfser  als  die 
täglichen,  jedoch  immer  noch  viel  geringer  als  diejenigen  der  Luft  auf 
dem  Lande. 

Von  weiterer  Bedeutung  für  die  Vertheilung  der  Oberflächen- 
temperaturen sind  besonders  die  herrschenden  Winde  und  Strömungen, 


218 


wodurch  eine  oft  beträchtliche  horizontale  Verschiebung  der  oberen 
Wasserschichten  eintritt.  Im  Zusammenhänge  hiermit  steht  das  häufige 
Vorkommen  von  kaltem  Oberflächen  wasser  an  den  Festlandsküstenu  Wo 
nämlioh  duroh  die  ablandigen  Winde  und  Strömungen  ein  Abdrängen 
des  Wassers  von  der  Küste  stattfindet,  entsteht  ein  Aufstoigen  von 
kaltem  Bodenwasser,  um  das  verdrängte  Wasser  zu  ersetzen.  Solche 
vertikal  aufsteigende  Wasserzirkulation  und  dementsprechend  kaltes 
Oberflächenwasser  finden  wir  in  den  Passatzonen,  wo  der  Wind  be- 
ständig von  Osten  nach  Westen  das  Wasser  vor  sich  her  treibt,  an 
der  Luvseite  des  Ozeans,  also  an  den  Westküsten  der  Kontinente, 
während  in  der  Region  der  Westwinde  das  Umgekehrte  stattfindet 

(Schlufs  folgt.) 


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ÄfsiÄif? 


Land-  und  Seeklima. 

Von  Dr.  Willi  Ule  in  Hallo  a.  3. 

(Schiufa.) 

In  den  bisherigen  Betrachtungen  haben  wir  die  Luft  als  absolut 
ruhend  angenommen.  Ein  solcher  Gleichgewichtszustand  ist  aber  in 
Wirklichkeit  niemals  vorhanden.  Jeder  örtliche  Temperaturunter- 
schied ruft  nothwendig  Störungen  in  der  Atmosphäre  hervor,  und 
zwar  veranlagt  jede  Temperaturerhöhung  eine  Auflockerung,  jede 
Temperaturerniedrigung  eine  Verdichtung  der  Luft.  Bei  der  aufser- 
ordentlich  leichten  Beweglichkeit  der  Lufttheilchen  sind  die  Folgen 
dieser  lokalen  Aenderungen  des  atmosphärischen  Zustandes  Strömungen 
der  Luftmasson,  also  Winde. 

Es  leuchtet  uns  ohne  weiteres  ein,  dafs  das  verschiedene  ther- 
mische Verhalten  von  Wasser  und  Land  auch  auf  die  Vertheilung 
des  Luftdrucks,  und  damit  auf  die  Richtung  der  atmosphärischen 
Strömungen,  einen  Einflufs  ausüben  mufs.  Der  unmittelbarste  Beweis 
dafür  sind  die  sogenannten  Land-  und  Seewinde,  die  überall  an  den 
Küsten  beobachtet  werden  können,  in  den  Tropen  sogar,  wo  alle 
meteorologischen  Vorgänge  gröfster  Regelmäfsigkeit  unterworfen  sind,  • 
zu  den  alltäglichen  Erscheinungen  gehören.  An  diesen  Küsten  weht 
am  Tage  ein  Wind  von  der  See  zum  Lande  — Seewind,  in  der  Nacht 
vom  Lande  zur  See  — Landwind. 

Die  physikalische  Begründung  dieser  eigonthümlichen  Luft- 
zirkulation ist  wieder  in  dem  verschiedenen  Verhalten  von  Wasser 
und  Land  gegenüber  der  Wärmezustrahlung  und  -Ausstrahlung  zu 
suchen.  Was  wir  oben  in  Bezug  auf  die  Ursachen  der  Vertheilung 
der  Temperatur  während  der  Jahreszeiten  gesagt  haben,  das  gilt  in 
kleinerem  Mafse  auch  für  den  Wechsel  von  Tag  und  Nacht.  Am 
Tag  erwärmt  sich  der  feste  Erdboden  weit  schneller  und  heftiger  als 
das  Wasser,  in  der  Nacht  dagegen  kühlt  sich  umgekehrt  auch  wieder 
das  Land  in  intensiverem  Mafse  ab.  Auf  die  darüberlagernde  Luft 
hat  dies  folgenden  Einflufs:  Am  Morgen  beginnt  sich  die  Luft  über 


220 


dem  Lande  verhältnifsmäfsig  stark  zu  erhitzen,  dieselbe  dehnt  sich 
infolgedessen  nach  oben  hin  aus.  Dadurch  wird  in  den  höheren 
Luftschichten  eine  Verdichtung  der  Luft,  mithin  eine  Vermehrung  des 
Luftdruckes  bewirkt.  Das  geschieht  aber  in  einer  Zeit,  wo  auf  dem 
Meere  die  Luft  noch  in  voller  Ruhe  sich  befindet.  Es  entsteht  somit 
in  der  Höhe  ein  Gefälle  nach  der  See,  welches  dort  einen  Abflufs 
der  Luft  vom  Lande  zur  See  veranlagt.  Die  Folge  davon  ist  wieder, 
dafs  allmählich  mit  der  Anhäufung  der  Luft  über  dem  Wasser  der 
Luftdruck  daselbst  in  den  unteren  Schichten  steigt,  während  derselbe 
auf  dem  Lande  noch  immer  bei  der  zunehmenden  Erhitzung  des 
Bodens  vermindert  wird.  Es  bildet  sich  somit  hier  ein  Gefälle  nach 
der  Küste,  das  nun  in  dem  Seewind  zum  Ausdruck  kommt.  Die 
Richtigkeit  dieser  Erklärung  wird  trefflich  durch  dio  Beobachtung 
bestätigt,  dafs  man  in  der  Thal  die  Seebrise  zuerst  draufsen  auf 
dem  Wasser  verspürt 

Bis  gegen  Nachmittag  nimmt  der  Seewind  an  Stärke  zu,  dann 
vermindert  er  sich  allmählich  und  Haut  um  Sonnenuntergang  gänzlich 
ab.  An  seine  Stelle  tritt  nun  der  Landwind.  Die  Ursache  der  Luft- 
bewegung ist  dann  die  umgekehrte.  Während  der  Nacht  kühlt  sich 
der  Erdboden  schnell  ab.  An  dieser  Abkühlung  nehmen  die  untersten 
Luftschichten  theil,  die  sich  dabei  verdichten  und  niedersenken.  In 
den  oberen  Luftschichten  über  dem  Lande  hat  das  eine  Verminderung 
des  Luftdruckes  zur  Folge,  wodurch  ein  Gefälle  von  der  See  zum 
Lande  entsteht.  Das  dadurch  bewirkte  Zuströmen  von  Luft  in  der 
Höhe  vermehrt  naturgemäfs  auf  dem  Lande  den  Luftdruck  in  den 
unteren  Schichten,  so  dafs  hier  bald  ein  dem  zur  See  gerichteten  Ge- 
fälle entsprechender  Luftstrom,  ein  Landwind  sich  entstellen  mufs. 

Die  Land-  und  Seewinde  üben  auf  das  Klima  der  Küsten  einen 
nicht  unbedeutenden  Einflufs  aus.  Während  des  Tages  führen  sie 
feuchtwarme  Luft  dem  Lande  zu,  reihen  also  gewissermafsen  das 
Küstengebiet  in  das  Seeklima  ein.  Freilich  strömen  während  der 
Nacht  diese  Luftmassen  wieder  zur  See  zurück;  allein  einmal  weht  der 
Landwind  weit  schwächer  als  der  Seewind,  so  dafs  wenigstens  in  den 
unteren  Schichten  die  Seeluft  zum  Theil  über  dem  Lande  zurückbleibt; 
sodann  aber  lehrt  die  Beobachtung,  dafs  diese  Luftzirkulation  doch 
vollkommen  ausreicht,  um  die  Erwärmung  der  Luft  am  Tage  und  die 
Abkühlung  in  der  Nacht  an  den  Küsten  erheblich  zu  mildern.  Wo 
Land-  und  Seewind  alltäglich  zur  Ausbildung  kommen,  trägt  daher 
das  Klima  des  Küstengebietes  durchaus  ozeanischen  Charakter. 

Weit  grofsartiger  aber  als  jene  tägliche  Luftzirkulation  an  den 


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221 


Gestaden  des  Meeres  ist  die  Bewegung  der  Atmosphäre,  welche  durch 
das  verschiedene  thermische  Verhalten  der  Kontinente  und  Ozeane 
im  Laufe  des  Jahres  hervorgerufen  wird.  An  die  Stelle  des  Tages- 
windes tritt  hier  ein  Sommerwind,  an  die  Stelle  der  nächtlichen  eine 
winterliche  Luftströmung.  Diese  mit  den ' Jahreszeiten  wechselnden 
Winde  bezeichnet  man  als  Monsune,  d.  i.  eben  Winde  der  Jahreszeiten. 

In  ausgeprägter  Form  gelangen  diese  Monsune  nur  an  wenigen 
Küsten  der  Kontinente  zur  Entwicklung.  Das  grofsartigste  Monsun- 
gebiet finden  wir  an  der  Süd-  und  Südostküste  Asiens,  wo  die  ganze 
Erscheinung  auch  zuerst  erkannt  wurde.  Indefs  auch  Australien, 
sowie  der  afrikanische  und  amerikanische  Kontinent  weisen  an  vielen 
Stellen  echte  Monsune  auf. 

Die  Ursache  dieser  grofsen  jahreszeitliohon  Luftströmungen 
ist  im  wesentlichen  dieselbe  wie  die,  welohe  Land-  und  Seewind  an 
den  Küsten  hervorbringt.  Die  grüfsoro  Erwärmung  über  dem  Lande 
während  des  Sommers  bewirkt  ein  Zuströmen  der  Luft  von  dem 
Meere  — Sommermonsun,  die  stärkere  Abkühlung  im  Winter  einen 
Abflufs  zum  Meere  — Wintermonsun.  Die  Bewegung  beginnt  im 
Sommer  ebenfalls  damit,  dafs  zunächst  die  unteren  Luftschichten  von 
Tag  zu  Tag  mehr  erwärmt  worden,  sioh  infolgedessen  langsam  er- 
heben und  dadurch  den  Luftdruck  in  der  Höhe  vermehren.  Dabei 
wird  freilich  die  Erwärmung  der  Luft  durch  die  nächtliche  Aus- 
strahlung immer  wieder  unterbrochen;  indefs  die  nächtliche  Ab- 
kühlung betritft  nur  die  untersten  Luftscliiohten,  die  höheren  bleiben 
davon  unberührt.  Die  stete  Erwärmung  der  Luft  über  dem  Lande 
bewirkt  dann  schliefslich  in  dor  Höhe  ein  Gefälle  nach  dem  Meere, 
was  ein  Abfiiefsen  der  Luft  in  diesor  Richtung  zur  Folgo  hat.  Es 
steigt  nun  der  Luftdruck  unmittelbar  über  dem  Meere,  während  der- 
selbe auf  dem  Lande  immer  noch  im  Sinken  begriffen  ist  Ein  Gefalle 
vom  Meere  zum  Lande  ist  damit  in  den  unteren  Luftschichten  bedingt 
und  es  entsteht  der  Sommermonsun,  welcher  der  täglichen  Seebrise 
an  den  Küsten  der  Tropen  entspricht 

Bei  normalen  Verhältnissen  bildet  sich  hiernach  im  Sommer- 
halbjahr über  dem  Kontinent  ein  Luftdruckminiraum  aus,  das  rings 
von  höherem  Luftdruck  umgeben  ist.  Die  Bewegung  der  Luft  mufs 
also  innerhalb  diesor  Depression  eine  cyklonale  sein,  indem  die  vom 
Meere  zum  Innern  des  Kontinentes  gerichteten  Luftströmungen  infolge 
der  Erdrotation  von  dem  geraden  Wege  abgelenkt  werden.  Freilich 
nur  selten  ist  dieses  cyklonale  System  der  Winde  über  einem  Lande 
während  der  sommerlichen  Einsetzung  desselben  in  normaler  Form 

Himmel  uml  Erde.  1*93.  V.  5.  16 


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222 


entwickelt;  immerhin  fehlt  es  doch  nicht  an  Ländern,  welche  in  der 
allgemeinen  Anordnung  der  Luftströmungen  während  des  Sommers 
die  Herrsohaft  einer  Cyklone  erkennen  lassen  (Fig.  5).  Dieser  niedere 
Luftdruck  im  Innern  der  Kontinente  bedingt  nun  einen  häufigen  und 
ergiebigen  Niederschlag,  wodurch  die  oben  erwähnte  jahreszeitliche 
Vertheilung  des  Regens  ihre  Erklärung  findet 

An  die  Stelle  des  sommerlichen  Luftdruckminimums  im  Innern 
der  Festländer  tritt  im  Winter  ein  Maximum  mit  heiterem  Himmel 
und  geringem  Niederschlag,  hervorgebracht  durch  die  starke  Ab- 
kühlung der  Luft  in  dun  unteren  Schichten  und  das  Zufliefsen 


Fig.  5. Isothermen,  Isobaron  und  Winde  aal  der  iberischen  Halbinsel 

während  des  Juli. 

ozeanischer  Luft  in  der  Höhe.  Von  diesem  Gebiete  hohen  Luftdrucks 
strömen  die  Winde  nach  allen  Seiten  hin  ab,  wobei  sie  ebenfalls  in- 
folge der  Erdrotation  in  ihrer  Richtung  eine  Ablenkung  erfahren. 
Ein  Beispiel  derartiger  anticyklonaler  Luftbewegung  im  Winter  bietet 
uns  vor  allem  der  ostasiatische  Kontinent  dar.  Ueber  den  warmen 
Meeren  ist  in  dieser  Jahreszeit  der  Luftdruok  gering,  was  häufigere 
Niederschläge  verursacht,  so  dafs  das  Maximum  der  Regenhäufigkeit 
hier  eben  in  den  Winter  fällt.  Deutlich  geht  aus  diesen  Betrachtungen 
hervor,  dafs  der  klimatische  Gegensatz  von  Wasser  und  Land  auoh 
in  der  Luftdruokvertheilung  wie  in  der  allgemeinen  atmosphärischen 
Zirkulation  zum  Ausdruck  kommt 

Die  mit  den  Jahreszeiten  wechselnde  Luftbewegung  über  den 
Kontinenten  übt  naturgemäfs  auch  auf  die  allgemeinen  klimatischen 
Zustände  einen  erheblichen  Einflufs  aus.  Dieselbe  bewirkt  vor  allem 


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223 


den  grofsen  Unterschied  dos  Klimas  an  den  West-  und  Ostküsten  der 
Festländer.  Je  nachdem  nämlich  ein  Wind  vom  Meere  oder  vom 
Lande  weht,  ist  er  feucht  oder  trocken;  je  nachdom  er  aus  südlichen 
oder  nördlichen  Regionon  stammt,  ist  er  warm  oder  kalt.  Da  nun 
im  Winter  die  Ostküsten  der  Kontinente  von  den  Winden  aus  dem 
kalten  und  trocknon  Innern  getroffen  worden,  so  müssen  sie  in  dieser 
Jahreszeit  ganz  die  charakteristischen  Merkmale  dos  Kontinental- 
klimas aufweisen,  in  das  sie  eben  durch  die  Bewegung  der  Luft 
hineingezogen  werden.  Die  nioderen  Temperaturen  im  Osten  Asiens 
und  Nordamerikas  während  des  Winters  können  uns  als  deutliche 
Beweise  dafür  dienen.  Im  Sommer  ziehen  dagegen  über  die  Ost- 
küsten warme  und  feuchte  Winde,  die  ein  trübes  und  nassos  Klima 
hervorrufen,  in  welchem  die  sommerliche  Temperatur  eine  ozeanisch 
niedrige  bleibt.  Das  Endresultat  beider  Luftströmungen  ist  demnaoh 
eine  geringe  mittlere  Jahrestemperatur,  wie  wir  sie  thatsächlioh  an 
den  Ostküsten  der  nordhemisphärischen  Kontinente  finden. 

Ganz  anders  gestalten  sich  die  Verhältnisse  an  den  Westküsten. 
Diese  stehen  allerdings  im  Winter  unter  dem  Einflufs  kalter  Südost- 
oder Ost  winde,  welche  im  Sommer  mit  feuchten,  jedoch  nur  wenig 
kalten  West-  und  Nordwestwinden  tauschen.  Da  aber  die  letzteren 
aus  kälteren  in  wärmere  Gebiete  kommen,  so  vermögen  sie  nicht  in 
so  erheblichem  Mafse  den  Himmel  zu  trüben,  als  es  die  sommerlichen 
Winde  im  Osten  thun,  welche  aus  warmen  in  kalte  Regionen  wehen. 
Daraus  ergiebt  sich  der  Schlufs,  dafs  die  mittlere  Jahrestemperatur 
an  den  Westküsten  der  Kontineute  höher  sein  mufs,  als  jene  an  den 
Ostküsten. 

Dieses  theoretisch  abgeleitete  Verhältnifs  der  östlichen  und 
westlichen  Klimate  findet  sich  nun  keineswegs  in  so  ausgesprochener 
Form  auf  der  Erde  wirklich  vor.  Immerhin  vermögen  die  that- 
sächlichen  klimatischen  Zustände  in  Nordamerika  und  Europa- Asien 
die  Richtigkeit  der  Theorie  zu  bestätigen,  wie  aus  umstehenden 
Figuren  (Fig.  6),  welche  die  Häufigkeit  der  Winde  und  deren  Einflufs 
auf  die  Temperatur  an  den  West-  und  Ostküsten  veranschaulichen 
sollen,  wohl  zu  ersehen  ist 

Allein  gerade  an  den  Ost-  und  Westküsten  jener  grofsen  Fest- 
landma8son  treten  noch  weitere  Faktoren  in  Kraft,  welche  den  Ein- 
flufs der  Jahroszeitenwinde  wesentlich  modifiziren.  Es  sind  das  die 
grofsen  Strömungen  des  Wassers  in  den  Meeren.  Die  klimatische 
Wirkung  dieser  ozeanischen  Flüsse,  die  je  nach  ihrem  Ursprung 
kaltes  oder  warmes  Wasser  führen,  ist  eine  bedeutende.  Auf  die 

16* 


224 


einzelnen  Strömungen  der  Erde  selbst  einzugehen,  würde  zu  weit 
führen.  Nur  kurz  möge  hier  der  Einflufs  der  warmen  und  kalten 
Strömungen  auf  die  benachbarten  Festländer  gekennzeichnet  werden. 

Warme  Meeresströmungen  erhöhen  die  mittlere  Jahrestemperatur 
und  vermindern  den  Betrag  der  jährlichen  Temperaturschwankung: 
sie  erweitern  also  das  uzeanische  Klima.  Kalte  Strömungen  heben 
dagegen  den  sonst  wärmenden  Einflufs  des  Meeres  wieder  auf,  er- 


Fig.  6.  Häufigkeit  der  Winde  und  deren  Einfiule  auf  die  Temperatur  an  den  Weit* 
und  Oitkfliten  (nach  Hann). 

Die  Länge  der  Radien  entspricht  der  Häufigkeit  der  Winde:  die  schrafflrte 
Fläche  umfafst  die  kalten  Winde. 

niedrigen  also  die  mittlere  Jahrestemperatur,  ohne  allerdings  dem  be- 
treffenden Gebiete  in  klimatischer  Hinsicht  ein  kontinentales  Gepräge 
zu  geben.  Sie  schallen  dort  nur  ein  verhültnifsmäfsig  kaltes  Klima, 
wo  die  Nähe  des  Meeres  ein  ozeanisch  mildes  hätte  erwarten  lassen. 
Ein  treffliches  Beispiel  für  diese  klimatischen  Wirkungen  der  Meeres- 
strömungen bildet  die  Westküste  Europas  und  Nordafrikas.  Jeder- 
mann weifs,  dafs  die  milde  Temperatur  an  den  Nordwestküsten 
Europas  allein  dem  warmen  Golfstrom,  der  diese  Küsten  bespült,  zu 
verdanken  ist.  Weniger  bekannt  dürfte  freilich  sein,  dafs  dieselbe 
Strömung  in  ihrer  Umkehr  zum  Aequator  den  Westküsten  Spaniens 
und  Nordafrikas  polare  Kälte  zuführt,  so  dars  wir  hier  ein  kühles 
Klima  finden. 


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225 


Selbstverständlich  wirken  die  Meeresströmungen  auch  auf  die 
Feuchtigkeitsverhältnisse  der  Küstenländer  ein.  Warme  Strömungen 
bringen  den  Küsten,  die  sie  berühren,  wasserdampfreiche  Luft  und 
darum  reichlichen  Niederschlag,  kalte  Strömungen  dagegen  zwar 
relativ  feuchte  Luft,  die  aber  wegen  der  niedrigen  Temperatur  nur 
geringe  absolute  Wassenlamplinengeu  euthält  und  somit  auch  nicht 
zur  Vermehrung  des  Niederschlages  beitragen  kann.  Häufige  Nebel 
kennzeichnen  vielfach  diese  Gebiete  der  Erde,  welche  gleichwohl  der 
Menge  nach  zu  den  regenarmsten  Theilen  der  Erde  gehören. 

Da  die  Meeresströmungen  in  ihrer  Richtung  den  vorherrschen- 
den Winden  folgen,  so  wird  der  klimatische  Eintlufs  derselben 
auf  die  benachbarten  Festländer  mittelbar  durch  die  Bewegung  der 
Luft  über  den  Ozeanen  bestimmt.  In  den  äquatorialen  Gebieten 
wehen  nun  jahraus  jahrein  die  Passutwindo,  welche  die  grofsen  von 
Ost  nach  West  gerichteten  Strömungen  zu  beiden  Seiten  des  Gleichere 
hervorrufen.  Unter  dem  30.  Breitengrade  etwa  treffen  wir  dann 
auf  die  Barometermuxima  der  Rofsbreiten.  Um  diese  kreist  eine 
Strömung  von  links  nach  rechts  auf  der  nördlichen,  von  rechts  nach 
links  auf  der  südlichen,  warmes  Wasser  daher  an  den  Ostküsten  der 
Kontinente  polwärts,  kaltes  Wasser  an  den  Westküsten  äquatorwärts 
führend.  Aufserhalb  der  Rofsbreiten  finden  wir  auf  der  nördlichen 
Hemisphäre  deutlich  ausgeprägte  Depressionen  mit  cyklonaler  Luft- 
bewegung,. die,  besonders  im  Winter,  weit  in  die  Kontinente  hinübor- 
greift.  Das  Centrum  dieser  Cyklone  wird  nun  entsprechend  den 
herrschenden  Winden  in  der  Richtung  von  rechts  nach  links  vom 
Wasser  umströmt.  Dadurch  erhalten  die  Westküsten  der  Festländer 
warmes  Wasser  vom  Süden  her,  die  Ostküsten  dagegen  kaltes  aus 
polaren  Regionen  stammend.  Auf  der  ganz  ozeanischen  Südhemisphäre 
fehlen  diese  Deprossionscentra;  hier  herrscht  in  den  höheren  Breiten 
ein  ewiger  Westwind,  der  eine  in  gleicher  Richtung  strömende  Trift 
hervorruft,  welche  ebenfalls  don  südlichen  Kontinenten  ozeanisches 
Klima  bringt.  Schematisch  läfst  sich  unter  Berücksichtigung  der  ge- 
ringen südlichen  Erstreckung  der  Kontinente  der  Verlauf  der  Meeres- 
strömungen, sowie  die  dadurch  bedingte  Temperaturvertheilung  an 
der  Oberfläche  der  Oceane  und  deren  thermische  Rückwirkung  auf 
das  Klima  der  Küsten  im  umstehendem  Diagramme  (Fig.  7,  nach  Wild) 
zur  Anschauung  bringen. 

Im  Hinblick  auf  die  Gesetzmäfsigkeit  in  der  Bewegung  des 
Wassers  in  den  Meeren  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  wie  erheblich  der 
Gegensatz  im  Klima  der  Ost-  und  Westküsten  auf  der  ganzen  Erde 


226 


durch  die  Meeresströmungen  verschärft  werden  mute,  und  zwar  nicht 
nur  in  den  höheren  Breiten,  wo  wir  überall  den  Westküsten  warmes, 
den  Ostküsten  kaltes  Wasser  Zuströmen  sehen,  sondern  vielmehr  auch 
in  den  tropisohen  Regionen,  in  denen  allerdings  umgekehrt  die  Ost- 
küsten von  warmen,  die  Westküsten  hingegen  von  kalten  Strömungen 
bespült  werden. 

Durch  die  allgemeine  Cirkulation  der  Luft  über  den  Kontinenten 
und  Meeren,  sowie  durch  die  grofsen  Strömungen  des  Wassers  in 
den  Ozeanen  wird  somit  das  klare  Bild  von  Land-  und  Seeklima 
mannigfach  verändert  und  getrübt  Trotzdom  tritt  in  der  geographi- 
1. 


Fig.  7.  SehomfLtucho  DtriUUung  dar  KaerMStrUmnagen  and  der 
oCMotichan  TeaperatanrarthaUang. 

sohen  Vertheilung  der  klimatischen  Konstanten  auf  der  Erde  der 
Gegensatz  von  Festland  und  Meer  in  unverkennbarer  Klarhoit  hervor. 
Gründliche  Kenntnifs  der  physikalischen  Verursachung  desselben,  wie 
wir  sie  durch  den  vorstehenden  Aufsatz  zu  schaffen  uns  bemüht 
haben,  mufs  aber  überhaupt  das  Verstiindnifs  für  die  klimatischen 
Erscheinungen  erheblich  erweitern.  Denn  es  eröffnet  dem  geistigen 
Auge  einen  tiefen  Einblick  in  den  oft  so  gehoimnifsvollen  Mechanis- 
mus der  atmosphärischen  Vorgänge. 

Land-  und  Seeklima  bilden  in  der  That  einen  der  hervor- 
stechenden Züge  im  Antlitz  der  Erde;  aber  nicht  nur,  weil  die  Ver- 
theilung von  Temperatur  und  Feuchtigkeit,  von  Druck  und  Bewegung 
der  Luft  durch  sie  bestimmt  wird,  sondern  vielmehr,  weil  überhaupt 
zahlreiche  geographische  Erscheinungen  allein  in  diesem  klimatischen 


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227 


Gegensatz  ihre  Erklärung  finden.  Denn  das  Klima  beeinflußt  -in 
hohem  Mafso  das  gesamte  Landschaftsbild.  Pflanzen  und  Thiere 
schmiegen  sich  in  ihrer  Verbreitung  an  die  klimatischen  Linien  der 
Erde  an,  und  auch  der  Mensch  ist  in  seinem  Thun  und  Treiben  an 
diese  gebunden.  Ja  selbst  im  Aufbau  der  Länder,  in  der  orographi- 
schen  Gestaltung  des  Bodens  tritt  die  Wirkung  solcher  atmosphärischer 
Gesetzmäfsigkeit,  wie  sie  Land-  und  Seeklima  zeigen,  deutlich  hervor, 
da  auch  Erosion  und  Verwitterung  in  ihrem  Betrage  abhängig  sind 
vom  Klima. 


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Wie  haben  unsere  Voreltern  gerechnet? 

Von  P.  K.  liinzel. 

Astronom  am  ItochcuinsUtut  tlor  Köuigl.  Sternwarte  zu  Berlin. 


jlie  Forderung,  rechnen  zu  können,  stellen  wir  in  unseren  eivili- 
' » _ sirten  Ländern  heutzutage  mehr  oder  weniger  an  jeden  Menschen; 

die  Kenntnifs  des  Rechnens  ist  für  uns,  gleich  der  des 
Schreibens  und  Lesens,  ein  Qrundelement  zur  Erwerbung  von  Bildung. 
Das  Rechnen  aus  dem  Leben  des  Einzelnen  oder  aus  dem  modernen  Ver- 


kehr wegzudenken,  scheint  uns  kaum  möglich.  Im  civilisirten  Staate 
rechnet  ja  so  ziemlich  jeder,  sowohl  der,  welcher  erwerben  will,  wie 
jener,  der  erworben  hat,  manche,  die  viel  haben  und  solohe,  die  nichts 
haben,  und  hie  und  da  bemerken  wir  Querköpfe,  die  nie  rechnen,  so 
gut  sie  das  in  der  Schule  auch  lernten.  Wie  streng  verbunden  mit 
dem  menschlichen  Denken  und  Handeln  wir  das  Rechnen  ansehen. 


geht  daraus  hervor,  dafs  wir  das  Recliuen  auch  mit  Vorstellungen 
verbinden,  in  denen  gar  keine  oder  nur  sehr  entfernte  Beziehungen 
von  Zahlen  zu  einander  Vorkommen,  und  dafs  bezügliche  Worte  in 
den  Sprachgebrauch  gelangt  sind;  wir  rechnen  „auf  Jemand“,  auf  seine 
Verläßlichkeit,  Erkenntlichkeit,  auf  seinen  Beistauii,  auf  einen  Zufall, 
ein  Vorkomtnnifs,  wir  .berechnen“  mancherlei  Aussichten,  Vortheile, 
wir  wollen  von  einem  Andern  „Rechnung"  fordern,  oder  ihm  etwas 
nicht  „zurechnen“,  wir  zweifeln  an  seiner  „Zurechnungsfähigkeit"  u.  s.  f. 
So  gewohnter  Weise  wir  also  die  Forderung,  rechnen  zu  können,  heute  an 
jeden  unserer  Mitmenschen,  nach  deren  Berufe  in  mehr  oder  minder  hohem 
Grade,  steilen  und  selbstverständlich  finden,  fällt  es  uns  desto  schwerer, 
eine  eivilisirte  Zeitepoche  zu  denken,  welche  sich  dieser  uns  ganz  ge- 
läufigen Anforderung  nur  sehr  wenig  bewufst  war,  welche  das  Rechnen 
in  Bezug  auf  National  Wohlstand  und  Bildung  als  etwas  Nebensächliches 
angesehen  hat,  ein  Zeitalter,  das  in  die  Schulen  alles  andere  als  Reohen- 
lehrcr  setzte  und  naiver  Weise  meinte,  für  den  Unterricht  im  Rechnen 
habe  das  Privatiuteresse  zu  sorgen.  Es  gab  solche  Zeiten,  und  zwar 
liegen  sie  nicht  gar  so  lange  lünter  der  Gegenwart  zurück.  Der 


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229 


Mensch,  die  menschliche  Gesellschaft,  hat  eben  nur  allmählich  rechnen 
gelernt,  und  erst  der  Aufschwung  der  Wissenschaften  und  der  durch 
diesen,  sowie  durch  den  zunehmenden  Völkerverkehr  mächtig  er- 
weiterte geistige  Gesichtskreis  der  Nationen  haben  die  Kunst  des 
Rechnens  zum  Gemeingut  der  civilisirten  Welt  gemacht. 

Die  Anfänge  des  Rechnens  reichen  bis  auf  die  Anfänge  des 
menschlichen  Denkens  zurück.  Erst  nachdem  der  Urmensch  die  ihn 
umgebenden  Dinge  begrifflich  unterscheiden,  das  Gleichartige  zu  ver- 
binden, das  Ungleichartige  von  einander  trennen  gelernt  hatte,  konnten 
die  ersten  Zahlenbegriffe  und,  nach  der  Entstehung  einer  Sprache, 
auch  die  ersten  Zahlwörter  entstehen.  Die  Stufe  der  Civilisation,  auf 
der  sich  ein  Volk  befand,  entschied  den  Reichthum  oder  den  Mangel 
seiner  Sprache  an  Zahlwörtern.  Noch  heute  giebt  es  eine  Reihe  von 
Naturvölkern,  welche  nicht  über  fünf  zählen  können;  ihre  Entwicklungs- 
stufe, ihre  minimalen  Bedürfnisse  und  der  Mangel  des  Zusammenlebens 
der  Individuen  hat  sie  in  Zahlenbegriffen  nicht  weiter  geführt.  Wie 
die  alleriiltesten  Zahlwörter  der  Menschheit  gebildet  worden  sind, 
darüber  gehen  die  Meinungen  sehr  auseinander.  Sicher  ist,  dafs  sie 
zugleich  zu  den  ältesten  Resten  der  menschlichen  Sprachen  ge- 
hören, und  dars  sie  nicht  selten  Kennzeichen  an  sich  tragen,  welche 
auf  den  einstmaligen  Zusammenhang  gewisser  Völkerstämme  hin- 
deuten.  Aus  diesem  Grunde  erfreuen  sich  die  Zahlwörter  einer  be- 
sonderen Aufmerksamkeit  seitens  der  Sprachen-  und  Völkererforschung 
und  sind  für  diese  Wegweiser,  freilich  auch  nicht  selten  Irr- 
lichter, welche  die  Wahrheit  umtanzen.  Möglicherweise  hat  der  Mensch 
die  ersten  Zahlenbegriife  seinem  eigenen  Körper  entnommen;  die  ver- 
schiedene Zahl  der  Sinnesorgane  und  Gliedmafsen,  2 Augen,  2 Ohren, 
die  5 Finger  jeder  Hand  u.  s.  w.  können  zum  ersten  Zählen  geführt 
haben.  Nachdem  der  Mensch  das  Gleichartige  zu  verbinden  (z.  B. 
drei  Finger  der  einen  Hand  mit  drei  der  anderen)  gelernt  und  für 
das  Resultat  einen  Ausdruck  gefunden  hatte,  „rechnete"  er  gewisser- 
mafsen  auch  schon,  und  es  sind  sicherlich  die  beiden  Grundoperationen 
des  Rechnens,  das  Zusammenfassen  und  Trennen  gleichartiger  Theile 
eines  Ganzen,  die  Addition  und  Subtraktion,  so  alt  wie  die  Zahlwörter 
selbst.  Bei  diesen  Uranfängen  des  Rechnens  haben  gewifs  die  Finger 
der  Hände  eine  bedeutende  Rolle  gespielt.  Wir  finden  nämlich  nicht 
nur  jetzt  noch  bei  manchen  Naturvölkern  einen  sehr  ausgebreiteten 
Gebrauch  der  Finger  beim  Rechnen,  sondern  wir  sind  durch  Ueber- 
lieferungen  auch  direkt  in  den  Stand  gesetzt,  nachweiscn  zu  können, 
dafs  diese  Methode  boi  vielen  Kulturvölkern  des  Alterthums  in  An- 


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230 


Wendung  gewesen  ist,  und  wir  werden  später  darauf  zu  sprechen 
kommen,  wie  das  Fingerrechnen  selbst  noch  im  Mittelalter  eine  sehr 
erhebliche  Verbreitung  hatte.  Die  zehn  Finger  der  Hände  genügen 
in  der  That  für  das  Deflniren  der  einfachsten  Zahlen;  bei  der  Dar- 
stellung gröfserer  Zahlen  hilft  der  Erfindungsgeist  der  Völker.  Nicht 
wenige  halbwilde  Stämme  haben  sich  mit  den  sie  besuchenden  geo- 
graphischen Expeditionen  über  die  Zahl  von  zu  tauschenden  Gegen- 
ständen sinnreich  und  leicht  mittelst  des  Fingerrechnens  verständigt. 
Im  südlichen  Afrika  treten  beim  Abzählen  einer  grofsen  Zahl  von 
Dingen  mehrere  Individuon  zusammen;  der  Eine  macht  den  Anfang, 
indem  er  die  Finger  seiner  einen  Hand,  mit  dem  kleinen  Finger  der 
linken  beginnend,  nacheinander  erhebt,  bis  zum  kleinen  Finger  der 
anderen  Hand  vorwärts  schreitend ; ein  Zweiter,  der  die  Zehner  vor- 
stellt, setzt  dasselbe  Verfahren  fort,  worauf  ein  Dritter  vortritt,  welcher 
die  Hunderter  repräsentirt.  Wie  oft  dabei  die  Zehner  und  Hunderter 
vollendet  werden,  wird  besonders  markirt,  so  bei  den  Zulukaffern 
dadurch,  dafs  sie  beide  Hände  mit  den  noch  ausgestreokten  Fingern 
zusammenschlagen.  Dieses  primitive  Rechnen  mit  den  Fingern  wurde 
von  höher  stehenden  Nationen  ausgebildet  und  von  manchen  bis  zu 
einem  kunstvollen  Systeme  gesteigert;  man  gruppirte  die  empor- 
gehobenen Finger,  bog  einige  ein,  gab  ihnen  verschiedene  Stellungen 
und  legte  jeder  solchen  Variante  die  Bedeutung  einer  Zahl  bei.  Sehr 
wahrscheinlich  war  ein  solch  künstliches  Fingerrechnen  bei  den 
Aegyptern  und  Babyloniern  üblich;  wenigstens  sprechen  einige  noch 
erhaltene  Darstellungen  auf  Alterthümern  dafür.  Von  den  Griechen 
und  Römern  wissen  wir  aus  manohon  Stellen  bei  den  Klassikern,  dafs 
die  Fingerrechnung  bei  ihnen  in  Gebrauch  war.  So  bezeugt  Aristo- 
phanes  in  den  „ Wespen“,  dafs  man  Rechnungen  mit  den  Fingern 
ausführte.  Der  römische  König  Numa  liefe  ein  Standbild  des  doppelt  - 
gesichtigen  Janus  errichten,  auf  welchem  die  Fingerstellung  die  Zahl 
355  (das  Jahr)  ausdrüokte.  Mit  „Wort  und  Fingern“  liifet  Suetonius 
die  Goldstücke  abzählen.  „Die  rechte  Hand  bringt  die  Rechnung 
zusammen“,  heifst  es  bei  PlautuB.  Bei  den  Arabern  figurirten  die 
Finger  der  linken  Hand  für  die  Einer  und  Zehner,  die  der  rechten 
für  die  Hunderte  und  Tausende.  Dafs  sich  einfache  Rechnungen  mit 
Hilfe  der  Finger  ausführen  lassen,  davon  giebt  eine  heute  noch  in 
der  Wallachei  übliche  Methode  Zeugnife,  wo  es  sich  darum  handelt, 
Produkto  von  Zahlen,  die  gröfeer  als  5 sind,  zu  finden.  Die  Finger 
beider  Hände  erhalten,  vom  Daumen  bis  zum  Kleinfinger  gezählt,  die 
Bedeutung  6 bis  10.  Ist  z.  B.  7 mal  8 zu  finden,  so  streckt  man  den 


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231 


Siebenerfinger  der  einen  Hand  und  den  Achter  der  andern  vor;  nach 
dem  Kleinfinger  hin  bleiben  an  der  einen  Hand  3,  an  der  andern  2, 
also  deren  Produkt  3X2  = 6;  die  vom  Daumen  ab  in  beiden  Händen 
noch  vorhandenen  addirt  man,  also  3 + 2 = 5,  demnach  das  Produkt  56. 

Durch  das  Rechnen  mit  den  Fingern  ist  der  Mensch  wahrschein- 
lich schon  in  Zeiten,  die  weit  ab  von  der  Gegenwart  liegen,  zu  der 
Gewohnheit  gelangt,  abgezählte  Dinge  in  bestimmte  Gruppen,  nach 
der  Zahl  der  Finger,  nämlich  in  Abtheilungen  von  je  zehn,  zusammen 
zu  fassen;  auf  diese  Weise  mag  die  Zehn  die  Grundzahl  des  Zähl- 
systems vieler  Völker,  des  Dezimalsystems,  geworden  sein.  Manche 
Völkerschaften  bildeten  die  Zahlengruppen  aber  auch  nach  der 
doppelten  Fingerzahl,  zwanzig  (Vigesimalsystem),  und  andere  wieder 
mit  Zugrundelegung  der  Finger  nur  einer  Hand  (Quinarsystein). 
Hinweisungen  auf  die  verschiedenen  Zahlensysteme  enthalten  die 
Sprachen  sehr  vieler  Völker;  so  finden  sich  in  den  Sprachen  der 
Mayas  (Yucatan)  und  Azteken  besondere  Worte  für  20,  400,  8000. 
Im  Französischen  stecken  Reste  eines  keltischen  Vigesimalsystems 
(quatrevingt  = 80),  desgleichen  ähnliche  Spuren  im  Dänischen 
(tresindstyve  = 60  = 3 X 20,  firesindstyve  = 80  = 4 X 20).  Wenn 
man  früher  behauptet  hat,  dafs  es  in  der  Entwicklungsgeschichte  der 
menschlichen  Sprache  überhaupt  keine  anderen,  als  die  drei  genannten 
Zahlensysteme  gäbe,  so  ist  dies  durch  neuere  Forschungen  widerlegt 
worden.  So  trifft  man  unter  andern  in  der  Sprache  der  Neuseeländer 
auf  eine  Reihe  von  Zahlwörtern,  die  sioh  sämtlich  als  Vielfache  der 
Zahl  11  darstellen.  In  dem  Baue  der  Zahlwörter  ist,  wie  man  schon 
aus  diesen  wenigen  Beispielen  ersieht,  ein  gewisses  Rechnen  ver- 
borgen, nämlich  das  Bilden  von  Produkten;  aber  auch  von  der  Sub- 
traktion und  (freilich  selten)  von  der  Division  macht  der  menschliche 
Geist  bei  der  Konstruktion  von  Zahlenbegriffen  Gebrauch.  So  heifst 
duodevingti  im  Lateinischen  2 von  20,  nämlich  18;  im  Griechischen 
ist  S'jocv  Äi'jvti;  £$TJy.'jVTa  = 58  d.  i.  60,  welche  2 bedürfen;  im  Sanskrit 
bedeutet  ekonaschaschta  = 59,  die  um  1 verminderte  sechzig,  u.  s.  w. 

Von  überaus  greiser  Bedeutung  für  die  mathematischen  Wissen- 
schaften ist  das  in  seinen  Anfängen  bis  in  sehr  hohe  Altersepochen 
geistiger  Kultur  zurückreichende  Sexagesimalsystem  (mit  der  Grund- 
zahl 60)  geworden.  Die  Schöpfer  dieses  bedeutungsvollen  Zähl- 
systems waren  die  Babylonier;  der  astronomischen  Thiitigkeit  dieses 
Kulturvolkes  ist  es  entsprungen.  Die  Astronomie  der  Babylonier 
ist  uralt;  ganz  abgesehen  von  Plinius,  der  hunderttausende  von 
Jahren  dafür  in  Anspruch  nimmt,  wissen  wir  aus  sicheren  Quellen, 


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232 


dafe  sobon  um  1700  v.  Chr.  für  den  König  Sargon  ein  astrologisches 
Werk  abgefafst  worden  ist.  Von  den  Babyloniern  wurde  schon  sehr 
früh  die  Länge  des  .Jahres  zu  360  Tagen  angenommen  und  die  Ein- 
theilung  des  Kreises  (in  360  Grade)  sollte  den  Weg  darstellen,  den 
die  Sonne  um  die  Erdo  im  Laufe  eines  Jahres  zurücklegt.  In  jedem 
Kreise  aber  war  ein  sechsmaliges  Aufträgen  des  Halbmessers  als 
Sehne  möglich,  es  entstand  das  dem  Kreise  eingeschriebene  Sechseck 
und  jeder  der  6 Bogen  des  Kreisumfänges  enthielt  60  Theile.  Das 
Prinzip  dieser  Sechzigtheilung  mag  von  den  babylonisohen  Geometern 
dann  auf  verschiedene  Mafse  übertragen  worden  sein.  Schwache 
Gründe  lassen  vermuthen,  dafs  einst  in  Babylon  sogar  eine  Sechzig- 
theilung des  Tages  vorhanden  gewesen  sein  dürfte,  von  weloher  sich 
Spuren  in  der  indischen  Astronomie  (welche  sicher  von  der  baby- 
lonischen beeinflufst  worden  ist),  vorgefunden  haben.  Den  eigentüm- 
lichen Gebrauch  des  Sexagesimalsystems  bei  Zahlenangaben  fand  man 
zuerst  bei  Entzifferung  eines  1864  bei  Senkereh  am  Euphrat  ausge- 
grabenen, sehr  alten  Thontäfelohens.  Dieses  ehrwürdige  Zeugnifs 
babylonisohen  Rechnens  fafst  auf  Vorder-  und  Rückseite  60  Zeilen 
in  Keilschrift;  am  Anfang  und  Ende  jeder  Zeile  steht  eine  Zahl,  da- 
zwischen stehen  Zeichen,  von  welchen  eines  _ibdi“  gelesen  wird. 
Rawlinson  erkannte,  dafs  „ibdi“  = Quadrat  bedeutet,  und  dafs  die 
Zahlen  am  Anfänge  jeder  Zeile  die  Quadrate  der  am  Ende  stehenden 
sind.  Die  Anordnung  von  der  achten  Zeile  aufwärts  ist  nämlich 
folgende: 


1 . 

4 

ist  das  Quadrat  von 

8 (d.  h. 

64  = 

60  + 4] 

1.21 

» tl 

« r» 

9 [d.  h. 

81  — 

60  •+  21] 

1.40 

n n 

» » 
U.  S. 

10  [d.  h. 
, w. 

100  = 

60  + 40] 

58. 

1 

n r 

69  [d.  h. 

3481  = 

60  X 58 

Auf  der  Rückseite  der  Thontafel  waren  die  Kubikzahlen  von 
1 bis  32  aufgotragen  und  in  ähnlicher  Weise  durch  das  Sexagesimal- 
system  ausgedrückt,  z.  B.  der  Kubus  von  16  durch 

1.  8.  16 

d.  h.  163  = 4096  = 1 X 60*  + 8 X 60  + 16. 

An  die  vorstehenden  Erörterungen  über  die  Entstehung  der 
Zahlensysteme  würde  sich  nun  noch  die  Frage  über  die  Entstehung 
der  Zahlenzeichen,  d.  h.  der  Ziffern,  schliefsen.  Allein  es  würde  sehr 
eingehende  und  doch  schliefslich  unbefriedigende  Auseinandersetzungen 
erfordern,  wollten  wir  nur  die  hauptsächlichsten  Ziffernschriften  be- 


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233 


rühren.  Allgemein  läfst  sich  die  Entstehung  der  Zeichen  überhaupt 
nicht  beantworten.  Möglicherweise  kann  man,  wie  wir  heute  noch 
bei  einigen  Naturvölkern  sehen,  anfangs  Zahlen  durch  Striche  dar- 
gestellt haben,  die  man  in  Hölzer  einschnitt.  Später,  mit  Entwicklung 
der  Bilderschrift,  mögen  bildliche  Darstellungen  auch  für  Zahlen  er- 
funden worden  sein.  Die  Zahlenbihler  sind  vielleicht  anfänglich  ohne 
System  nebeneinander  gestellt  worden,  bis  der  geistig  aufstrebende 
Mensch  aus  diesen  Bildern  einfachere  Zeichen  formte  und  diese  in 
soloher  Folge  hintereinander  reihte,  dafs  das  Anfangszeichen  den 
höchsten  Werth  der  Zahl,  das  Schlufszeichen  den  niedrigsten  be- 
deutete, oder  wie  wir  modern  sagen,  dafs  der  Mensch  lernte,  die 
Zahlen  „ihrem  Stellenwerth  entsprechend  zu  ordnen.“  Dieses  „Gesetz 
der  Gröfsenfolge“,  dafs  bei  allen  additiv  vereinigten  Zahlen  das  Mehr 
dem  Minder  vorangeht,  zeigen  die  Schriften  fast  aller  Völker,  und 
einige  in  syrischen  Handschriften  gefundene  Varianten  scheinen  bis 
jetzt  die  einzigen  Ausnahmen  von  der  Regel  zu  sein. 

Wir  treten  nun  der  Frage  näher,  wie  sich  unsere  heutige  Art 
zu  rechnen  aus  den  Methoden  der  Völker  der  Vorzeit  entwickelt  hat. 
War  der  Mensch  einmal  dazu  gelangt,  nach  einem  bestimmten  System 
zu  zählen  und  hatte  er  für  die  Zahlen  bildliche,  wenn  auch  noch  un- 
beholfene Zeichen  erfunden,  so  konnte  er  auch,  wie  schon  angedeutet 
worden  ist,  die  einfachsten  Rechnuugsoperationen  ausfiihren.  Wurden 
z.  B.  20  Steine  nebeneinander  gelegt  und  dann  noch  16  weitere  dazu 
gethan,  indem  man  dabei  von  20  ab  weiter  zählte,  so  fand  man  das 
Additionsresultat  36;  das  Wegnehmen  von  nach  und  nach  24  Steinen 
von  dieser  Summe  liefs  das  Sublraklionsrosuttat  12  übrig;  drei  Haufen 
von  je  12  Steinen  gaben  3 mal  12  Steine  odor  wiodor  36,  und  in  dem 
Haufen  von  36  Steinen  mufsten  12  Steine  3 mal  enthalten  sein.  Ganz 
nach  dieser  Art,  also  der  Weise  ähnlich,  wie  mit  den  Kindern  in 
unseren  Schulen  der  Rechenunterricht  begonnen  wird,  haben  viele 
Völker  gerechnet.  So  rechnen  heute  noch  die  Afrikaner  und  Asiaten 
mit  Hilfe  von  Kaurimuscheln  und  Maiskörnern.  Weiter  entwickelte 
Nationen  erfanden  Hilfsmittel  für  dieses  primitive  Rechnen  und  be- 
dienten sich  eines  besonderen  Rechenbrettes  und  künstlicher  Rech- 
nungsmarken. Man  zog  parallele  Striche  auf  dem  Brette,  benannte 
die  so  entstehenden  Kolumnen  als  die  Stellen  der  Einor,  Zehner, 
Hunderter  der  Zahlen  und  legto  in  diese  Kolumnen  die  Marken  je 
nach  der  Zusammensetzung  der  Zahlen,  mit  denen  gerechnet  werden 
sollte.  Durch  Zulegen  und  Wegnehmen  der  Marken  wurde  die  Lösung 
von  Aufgaben  der  Addition,  Subtraktion,  Multiplikation  und  Division 


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234 


erreicht  Bei  den  alten  Griechen  hiefs  das  Rechenbrett  der  „Abax“. 
Auf  dem  Abax  streute  man  Staub  aus,  zog  mit  einem  Stäbchen  die 
Kolumnen  und  legte  zur  Rechnung  Steinchen  ein.  Bei  Poly- 

bios  heifst  es,  die  Marken  auf  dem  Abax  gelten  nach  der  Vorstellung 
des  Rechners  bald  einen  Chalkus,  bald  ein  Talent ')  Auf  der  groben 
Dariusvase  in  Neapel  ist  ein  Rechner  dargestellt,  welcher  den  Tribut 
der  dem  Darius  zu  entrichten  war,  auf  einem  Rechenbrette  verzeichnet 
Im  Jahre  1846  fand  man  auf  der  Insel  Salamis  eine  Marmortafel  von 
rechteckiger  Form,  welche  möglicherweise  ein  im  öffentlichen  Verkehr 
gebrauchter  Abax  gewesen  sein  kann ; sie  zeigt  6 Haupt-  und  4 Neben- 
kolumnen; erster«  dienten  zur  Rechnung  mit  je  6000,  1000,  100,  10, 
1 Drachmen,  die  Nebenkolumnen  für  1 Obolus,2)  1/2 , '/3,  */,  dieser 
Münze.  Jede  der  Hauptkolumnen  war  durch  einen  über  die  Ab- 
theilungen laufenden  Querstrich  in  zwei  Hälften  getheilt,  deren  eine 
(die  obere  oder  untere)  den  eingelegten  Marken  den  fünffachen  Werth 
gab  als  die  andere.  Das  schriftliche  Rechnen  der  Griechen  mag,  da 
die  Komplizirtheit  der  Zahlenzeichen  eine  leichte  Behandlung  der 
Rechnung  verhindern  mufste,  ziemlich  mühselig  gewesen  sein.  Man  stelle 

sich  vor,  wenn  Zahlen  wie  M,l>  (=  39000),  (=  1600),  ozs  (=  226) 

und  <uv  (=  760)  zu  addiren  oder  gar  zu  multipliziren  waren.  Beim 
Multipliziren  wäre  unser  heutiges  Verfahren  kaum  anwendbar  ge- 
wesen; in  der  That  verfuhren  die  Griechen,  nach  dom  Kommentar  des 
Eutokius,  nach  dem  entgegengesetzten  Wege  wie  wir:  sie  begannen 
mit  den  höchsten  Stellen  und  schritten  dann  zu  den  niedrigeren 
fort.  War  z.  B.  3217X2027  zu  rechnen,  so  multiplizirte  man  zuerst 
3000X2000,  dann  3000  X 20,  dann  3000X7,  hierauf  200  X 2000,  200  X 20 
und  200  X 7 und  so  fori  — Auch  die  Römer  besahen  verschiedene 
Rechenbretter  und  in  den  Schulen  wurde  das  .Rechnen  auf  dem 
Abakus“  gelehrt  Die  Rechenbretter  wurden  mit  Staub  bestreut  und 
mit  Steinchen,  calculi,  belegt;  es  gab  aber  auch  solche  mit  längeren 
und  kürzeren  Einschnitten  und  mit  darin  verschiebbaren  Knöpfen, 
die  ein  schnelleres  Addiren  und  Subtrahiren  ermöglichten.  Beim 
Multipliziren  fand  das  Finger-  und  Kopfrechnen  ausgedehnte  An- 
wendung; wir  wissen  aus  römischen  Schriftstellern,  dafs  in  römischen 
Schulen  das  Kopfrechnen  fleifsig  geübt  wurde,  tlafs  die  Schüler  das 
Einmaleins  gemeinsam  abzusingen  pflegten  und  dafs  sie  dabei  auch 
— geprügelt  worden  sind.  Zur  Multiplikation  gröberer  Zahlen  hatte 

0 1 Talent  = 6000  Drachmen.  1 Chalkus  = Ve  Obolus. 

*)  1 Obolus  = ■/«  Drachme. 


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235 


man  wahrscheinlich  Tabellen,  welche  die  Produkte  gegebener  Zahlen 
fertig  lieferten,  eine  solche  ist  uns  aus  spätrömischer  Zeit  in  dem 
sogen.  Calculus  desVictorius  erhalten  geblieben.  Es  mag  übrigens 
bei  den  Körnern,  wie  bei  den  Griechen,  eine  gleich  saure  Arbeit  ge- 
wesen sein,  mit  den  ungefügen  Ziffern,  die  bei  einer  halbwegs  gröfseren 
Zahl  sich  zu  Ungethümen  zusammensetzten,  zu  manipuliren  und  es 
ist  begreiflich,  wenn  das  Dividiren  bereits  für  eine  schwere  Kunst  galt. 
Im  Bruchrechnen  haben  es  weder  Griechen  noch  Römer  weit  gebracht. 
Die  Römer  übten  im  Schulunterricht  hauptsächlich  das  Rechnen  mit 
den  „Minutien“,  d.  h.  mit  im  praküschen  Leben  häufiger  vorkommen- 
den, speziell  mit  Rücksicht  auf  das  Münzwesen  erfundenen  Brüchen, 
wie  *Vi2i  Vgi  3U  u-  s-  Denkt  man  daran,  dafs  diese  Minutien  von 
den  Römern  keineswegs  als  Brüohe  geschrieben,  sondern  sehr  schwer- 
fällig umschrieben  wurden,  z.  B. 

scripuli3)  = sextularum  duarum  et  triginta  pars  XXV, 
so  kann  man  sich  das  Vergnügen  einer  Multiplikation  solcher  Minutien 
wohl  lebhaft  vorstellen. 

a)  Scripuli  = Unterabtheilungen  der  Unze. 

(Fortsetzung  folgt). 


Werner  von  Siemens. 

Obwohl  unter  den  Lesern  unserer  Zeitschrift  kaum  einer  sein 
dürfte,  der  den  Berichten  der  Tagesblätter  über  den  am  6.  Dezember 
des  vorigen  Jahres  erfolgten  Tod  Werner  von  Siemens’  und  ihren 
Schilderungen  seines  thatenreichen  Lebens  nicht  mit  lebhaftestem 
Interesse  gefolgt  wäre,  so  mag  es  uns  doch  vergönnt  sein,  im  folgen- 
den noch  einmal  das  Lebensbild  eines  Mannes  zu  entwerfen,  in  welchem 
auch  die  Bestrebungen  unserer  Gesellschaft  und  unserer  Zeitschrift 
einen  warmen  Freund  und  eifrigen  Förderer  verloren  haben.  Erst 
wenige  Monate  sind  vergangen,  seit  der  Verstorbene  selbst  die  letzte 
Hand  au  die  Abfassung  seiner  „Lebenserinnerungen“  *)  legte,  ein 
Werk,  dessen  Lektüre  in  gleichem  Grade  demjenigen  empfohlen 
werden  kann,  welcher  selbst  Arbeiter  in  irgend  einem  Zweige  der 
Naturwissenschaft  oder  Technik  ist  und  die  wichtigen  Errungen- 
schaften, welche  sich  an  den  Namen  Siemens  knüpfen,  in  ihrem 
allmäligen  Werden  erkennen  will,  wie  demjenigen,  der  in  allgemeinerer 
Weise  sein  Augenmerk  darauf  lenkt,  wie  die  grofsen  Geister,  die  die 
Kultur  um  ein  beträchtliches  Stück  vorwärts  bringen,  ihre  schaffens- 
reiche Bahn  durchlaufen. 

Geboren  wurde  Ernst  Werner  Siemens  am  13.  September 
1 8 IG  zu  Lenthe  bei  Hannover.  Die  Verhältnisse,  aus  welchen  er 
hervorging,  waren  der  Entwickelung  seiner  besonderen  Fähigkeiten 
zwar  nicht  hinderlich,  aber  doch  auch  nicht  in  hohem  Grade  günstig. 
Er  war  das  älteste  unter  elf  Kindern  eines  in  dem  genannten  Dorfe 
und  später  in  Menzendorf  bei  Mecklenburg  ansässigen  Gutspächters. 
Im  elterlichen  Hause  erhielt  er  eine  sorgfältige  Erziehung,  vornehmlich 
von  Seiten  seines  Vaters,  eines  geistvollen  und  energischen  Mannes, 
und  seines  Hauslehrers  Sponhoiz,  an  dessen  Thätigkeit  er  sich 
noch  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  mit  Dankbarkeit  erinnerte. 

J)  Verla#  von  Julius  Springer  in  Berlin. 


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237 


Dieser  junge  Kandidat  der  Theologie  war  es,  welcher  in  den  wilden 
und  arbeitsscheuen  Knaben  des  Oekonomen  das  Gefühl  der  Freude 
an  nützlicher  Arbeit  und  den  ehrgeizigen  Trieb,  sie  wirklich  zu 
leisten,  erweckte.  Später  absolvirten  die  beiden  ältesten  Knaben 
Werner  und  Hans  das  Lübecker  Gymnasium,  die  sogenannte 
Katharinenschule.  Hei  der  grofsen  Zahl  von  Kindern  erlaubten  die 
Mittel  der  Eltern  nicht,  dnfs  Werner,  wie  es  seinen  Wünschen  ent- 
sprochen haben  würde,  sich  dem  Studium  des  Baufachs  widmete. 


Werner  von  Siemens. 

Auf  den  Rath  eines  seiner  Lehrer  und  den  Wunsch  seines  Vetters, 
der  mit  klarem  Blicke  in  dem  preußischen  Staate  und  speziell  in  der 
preufsischen  Armee  den  festen  Mittelpunkt  inmitten  der  eines  Um- 
schwungs so  bedürftigen  deutschen  Verhältnisse  erkannte,  wandte 
sich  Werner  im  Jahre  1834  nach  Berlin  und  dann  nach  Magdeburg, 
um  bei  einem  dortigen  Artillerieregimento  Aufnahme  zu  Anden.  Das 
im  nächsten  Jahre  erfolgende  Kommando  zur  Artillerie-  und  Ingenieur- 
schule leitete  drei  überaus  glückliche  Lebensjahre  für  ihn  ein.  Das 
kameradschaftliche  Leben  mit  jungen  Leuten  gleichen  Alters  und 
gleichen  Strebens,  das  gemeinschaftliche  Studium  unter  der  Leitung 
tüchtiger  Lehrer,  von  denen  nur  der  Mathematiker  Ohm,  der  Physiker 

Bimmel  und  Erde.  1883.  T.  5.  17 


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2H8 


Magnus  und  der  Chemiker  Erd  mann  genannt  werden  mögen,  deren 
Unterricht  ihm  eine  neue  interessante  Welt  eröffnete,  machten  diese 
Zeit  zu  einer  im  hohen  Grade  genußreichen.  In  das  Ende  dieser 
Periode  fallen  Siemons  erste  wissenschaftliche  Versuche,  welche 
durch  einen  recht  unwissenschaftlichen  Zufall,  die  Abbüßung  einer 
Festungshaft  infolge  der  Betheiligung  an  einem  Duell,  befördert 
wurden.  Die  gerade  bekannt  gewordene  Erfindung  der  Galvano- 
plastik suchte  Siemens  auch  auf  andere  Metalle  als  das  von  Jacobi 
benutzte  Kupfer  auszudehnen.  Es  gelang  ihm,  aus  einer  Goldsalze 
enthaltenden  Lösung  von  unterschwelligsaurem  Natron  auf  galvanischem 
Wege  Gold  auf  einem  Löffel  niederzuschlagen.  Dieses  Vorfahren  der 
galvanischen  Vergoldung  wurde  ihm  bald  darauf  von  einem  englischen 
Konkurrenten  für  1500  Lstr.  abgekauft,  eine  Summe,  welche  für  die 
Verhältnisse  des  jungen  Offiziers  ganz  außerordentlich  groß  war. 
Sein  Bruder  Wilhelm,  durch  dessen  Vermittelung  dieses  Geschäft 
zustande  gekommen  war,  ließ  sich  von  nun  an  in  England  nieder 
und  hat  sich  bekanntlich  in  seinem  neuen  Vaterlande  Ehre  und  An- 
erkennung in  gleicher  Weise  zu  erringen  gewußt,  wie  Werner  bei 
uns.  Ueberhaupt  hat  sich  die  Thätigkeit  der  Gebrüder  Siemens 
weit  über  die  Grenzen  des  deutschen  Vaterlandes  ausgedelmt;  außer 
Werner  und  Wilhelm  widmeten  noch  fünf  unter  den  zehn  Brüdern 
ihre  Arbeitskraft  den  verschiedenen  Zweigen  der  Ingenieurwissenschaft, 
und  von  ihnen  wirkte  Karl  in  Petersburg,  als  Leiter  eines  Zweigge- 
schäftes, welcher  den  Bau  und  die  Unterhaltung  der  gesamten  russischen 
Telegraphen  zu  leiten  hatte.  Der  Dritte  der  Brüder,  Friedrich,  ein 
hochbegabter  Mann  wie  Werner  und  Wilhelm,  leistete  in  der  Ver- 
werthung  einer  anderen  Naturkraft,  der  Wärme,  Bedeutendes.  Er 
führte  das  Prinzip  der  Regenerativheizung,  bei  der  die  Brennmaterialien 
vorgewärmt  werden  und  deshalb  den  ihnen  innewohnenden  Wärme- 
vorrath  mit  größerem  Nutzeffekt  hergeben,  aufs  glücklichste  duroh; 
dieses  Prinzip  ist  nicht  nur  für  die  Heizung  und  Beleuchtung,  sondern 
vor  allem  auch  für  die  Fabrikation  von  Stahl  und  für  die  Glasindustrie 
in  hohem  Grade  wichtig  geworden  und  hat  den  in  England  gegründeten 
Siemens  Steel  Works  und  den  Glasfabriken  in  Dresden,  welche  viele 
Tausende  von  Arbeitern  beschäftigen,  zu  einem  großartigen  Aufschwung 
vorholfen.  — Kaum  dürfte  die  Geschichte  der  Kultur  ein  zweites  Bei- 
spiel eines  so  glücklichen  Zusammenwirkens  der  Glieder  einer  Familie 
aufweisen,  wie  wir  es  hier  vor  uns  haben.  Werner  freilich  hat 
hieran,  wenn  auch  nicht  den  ausschließlichen,  so  doch  den  hervor- 
ragendsten Antheil.  Wie  er  schon  in  seiner  Kindheit  als  der  Älteste 


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239 


für  die  Jüngeren  zu  sorgen  hatte,  so  hat  er  sie  auch  später  geistig 
angeregt,  ja  man  kann  sagen,  geführt.  Diese  Vertheilung  und  richtige 
Verwerthung  der  Arbeitskräfte  nach  einem  einheitlichen  Plane,  welche 
gewissermafsen  auch  einem  „getrennt  Marschieren,  vereint  Schlagen“ 
verglichen  werden  kann,  bildet  ja  überhaupt  ein  Charakteristikum  der 
Arbeitsweise  unserer  Zeit.  Wie  solche  in  der  Siemensschen  Familie 
ihren  Ausdruck  fand,  so  habon  wiederum  die  Siemens  mit  ihren 
weltumspannenden  Drähten  dazu  beigetragen,  dafs  dies  Prinzip  all- 
mählich auch  von  der  ganzen  Menschheit  als  die  richtige  Grundlage 
ihres  Schaffens  erkannt  werde. 

Verfolgen  wir  nun  den  Lebensgang  Werners  weiter.  Bald 
nach  jener  ersten  Erfindung  wandte  er  sich  mehr  rein  wissenschaftlichen 
Studien  zu.  Zu  den  bereits  erwähnten  Lehrern  gesellten  sich  noch  Dove 
nnd  Riefe,  von  denen  namentlich  der  orstere  einen  grofsen  Einflufs  auf 
ihn  gewann.  Der  Verkehr  mit  einem  Kreise  von  talentvollen  jungen 
Naturforschern,  darunter  du  Bois-Reymond,  Brücke,  Helmholtz, 
Clausius,  W iedem an  n u.  A.  bot  gar  manche  bedeutsame  und  kräftige 
wissenschaftliche  Anregung.  Und  doch  wurde  Siemens  immer  wieder 
auf  den  Weg  technischer  Verwerthung  wissenschaftlicher  Resultate  zu- 
rückgeführt Mehr  und  mehr  befestigte  sich  in  ihm  die  Ueberzeugung, 
dafs  „die  naturwissenschaftliche  Erkenntnifs  und  die  wissenschaftliche 
Forschungsmethode  die  Technik  zu  einer  noch  gar  nicht  zu  über- 
sehenden Leistungsfähigkeit  entwickeln  könnte.“  Neben  den  elektro- 
chemischen Untersuchungen,  denen  Siemens  bekanntlich  sein  Leben 
lang  das  regste  Intoresse  bewahrt  hat,  fesselten  ihn  in  dieser  Zeit 
Experimente  auf  dem  Gebiete  der  Elektrotelegraphie.  Die  Ein- 
richtungen, durch  welche  es  ihm  gelang,  den  damals  üblichen  Zeiger- 
telegraphen von  Wheatstone  zu  vervollkommnen,  können  an  dieser 
Stelle  nicht  wohl  beschrieben  werden.®)  Eiuo  fast  noch  wichtigere 
Erfindung  lag  in  der  Umpressung  von  Leilungsdrähten  mit  Gutta- 
percha, dem  damals  neu  erfundenen  Stoffe  von  vorzüglichen  elektrischen 
Eigenschaften,  welcher  auch  heute  noch  zur  Isolation  unterirdischer 
nnd  unterseeischer  Kabel  benutzt  wird.  Im  Sommer  1847  wurde  die 
erste  längere  unterirdische  Leitung  von  Berlin  nach  Grofsbeeren 
mit  derartig  isolirten  Drähten  von  Siemens  gelegt.  Infolge  einer 
Denkschrift  über  die  elektrischen  Telegraphen  und  ihre  zu  erwarten- 
den Verbesserungen,  welche  Siemens  dom  General  Oetzel,  dem 


*)  Vergl.  die  Abhandlung:  Ueber  telegraphische  Leitungen  und  Apparate 
von  W.  Siemens.  18.70. 


17* 


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240 


Chef  der  optischen  Telegraphen  des  preußischen  Staates  einreichte, 
wurde  er  zur  Dienstleistung  bei  der  Kommission  des  Generalstabes 
kommandirt,  welche  die  Einführung  der  elektrischen  Telegraphen  an- 
statt der  optischen  vorberoiten  sollte.  In  dieser  Kommission  vertrat 
Siemens  den  wichtigen  Gedanken,  dafs  die  Telegraphie  nicht  aus- 
schliefslich  in  den  Dienst  des  Staates  gestellt  werden  dürfe,  sondern 
auch  dem  Publikum  zugänglich  gemacht  werden  müsse.  Es  ist  uns 
heut  zu  Tage  kaum  verständlich,  dafs  Siemens  mit  dieser  Ansicht 
fast  allein  dastand.  In  diese  Zeit  lallt  auch  die  Verbindung  mit  dem 
Mechaniker  llalBke  und  die  Einrichtung  jener  bescheidenen  Werk- 
stätte für  Telegraphenbau  in  einem  Hinterhause  der  Schöneberger 
Strafse,  aus  welcher  sich  so  schnell  das  weltbekannte  Etablissement 
von  Siemens  u.  Halske  entwickelte.  Bis  jetzt  gehörte  Siemens 
noch  der  Armee  an,  und  im  Jahre  1848  hatte  er  Gelegenheit,  den 
Kieler  Hafen  mit  Hülfe  unterseeischer,  mit  elektrischer  Zündung  ver- 
sehener Minen  gegen  die  dänischen  Kriegsschiffe  zu  vertheidigen. 
Erst  im  folgenden  Jahre  nahm  er  seinen  Abschied;  nun  begann 
die  Zeit  seiner  fast  ausschliefslichen  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  der 
Elektrotechnik  und  damit  die  Periode,  während  deren  in  den  Siemens- 
Bohen  Werkstätten  eine  wichtige  Erfindung  der  anderen  auf  dem 
Fufse  folgte.  Die  Rolle,  welche  Siemens  bei  dem  Ungeheuern  Auf- 
schwung der  Elektrotechnik,  den  diese  seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts 
genommen  hat,  spielte,  war  bekanntlich  die,  dafs  er  wenigstens 
in  Deutschland  stets  an  der  Spitze  der  Techniker  stand;  sobald  die 
von  ihm  ausgehenden  Erfindungen,  welche  in  der  ersten  Zeit  selten 
durch  Patente  geschützt  wurden  — das  Zustandekommen  unserer 
jetzigen  Patentgesetzgebung  ist  zum  grofsen  Theile  erst  Siemens  zu 
verdanken — , von  anderen  acceptirt  und  Gemeingut  geworden  waren, 
sicherten  neue  Erfindungen,  unterstützt  durch  den  sich  immer  mehr 
festigenden  guten  Ruf  ihrer  Fabrikate  der  Firma  Siemens  u.  Halske 
wieder  einen  bedeutenden  Vorsprung.  Siemens  war  der  Erste,  der 
die  Mehrfach-Telegraphie  und  das  Gegensprechen  ins  Leben  zu  rufen 
versuchte.  Er  vorvollkommnete  die  Kunst,  elektrische  Gröfsen  zu 
messen,  durch  die  von  ihm  aufgestellto  Widerstandseinheit,  bei  der 
zum  ersten  Male  ein  strukturloses,  nämlich  ein  flüssiges  Metall,  das 
Quecksilber,  benutzt  wurde,  sowie  durch  die  vielen  in  seiner  Fabrik 
erdachten  Mefsapparatc.  Die  von  Faraday  entdeckte  Möglichkeit, 
durch  gegenseitige  Bewegung  von  Drahtstücken  und  Magneten 
elektrische  Ströme  zu  erzielen,  wurde  von  Siemens  mit  Hilfe  des 
nach  ihm  benannten  Doppel-T-Ankers  zur  Erzeugung  starker,  gleich- 


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gerichteter  Ströme  verwendet.  Kurze  Zeit  früher  als  sein  einziger, 
ihm  an  Erfindungsgabe  ebenbürtiger  Rivale  Wheatstone,  entdeckte 
Siemens  das  Dynamo-Prinzip,  nach  welchem  durch  wechselseitige 
Steigerung  von  Ursache  und  Wirkung  diese  Ströme  so  stark  gemacht 
werden  können,  dals  sie  die  elektrische  Beleuchtung  ermöglichen. 
Der  Siemenssche  Anker  wurde  später  durch  den  von  Pacinotti 
und  Gramme  erfundenen  Ringanker  und  den  ebenfalls  in  der 
Siemensschen  Fabrik  konstruirten  Trommelinduklor  von  Ilefner- 
Alteneck  in  Bezug  auf  die  Erzeugung  starker  Ströme  verdrängt, 
wird  aber  noch  immer  bei  Signalapparaten  u.  dergl.  häufig  benutzt 
Derselbe  Siemenssche  Ingenieur  erfand  die  elektrische  Differential- 
lampe, welche  die  Theilbarkeit  des  elektrischen  Lichtes  ermöglichte 
und  dadurch  die  elektrische  Beleuchtung  mittels  Bogenlampen  wesent- 
lich förderte.  Diejenige  Anwendung  des  elektrischen  Stromes,  welche 
in  der  letzten  Zeit  im  Vordergründe  des  öffentlichen  Interesses  steht, 
ist  wohl  die  Kraftübertragung.  Auch  an  der  Lösung  dieser  Aufgabe  hat 
Siemens  durch  die  Konstruktion  wirksamer  Elektromotoren  einen 
hervorragenden  Antheil.  Im  Jahre  1879  wurde  von  ihm  auf  der 
Gewerbeausstellung  zu  Berlin  zum  ersten  Male  eine  elektrische  Eisen- 
bahn vorgeführt.  Drei  Jahre  später  wurde  die  Linie  Berlin -Lichter- 
felde eröffnet. 

In  dem  Vorstehenden  sind  nur  einige  der  bedeutsamsten  techni- 
schen Leistungen  von  Siemens  angefiihrt  Der  wissenschaftlichen 
Arbeit,  zu  der  er  viel  seltener,  als  es  seinen  Wünschen  entsprach, 
die  nöthige  Mufse  fand,  hat  er  sich  durch  bekannte  theoretische  und 
praktische  Untersuchungen  gewidmet.  Von  letzteren  erinnern  wir  an 
seine  Bestimmung  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Elektrizität 
in  den  Drähten,  welche  er,  gleichwie  die  Bestimmung  der  Geschwindig- 
keit von  Geschossen,  dadurch  erhielt,  dafs  er  elektrische  Fun- 
ken auf  einen  schnell  röhrenden  polirten  Stahlcylinder  schlagen  liefs 
und  den  Unterschied  ihrer  zeitlichen  Aufeinanderfolge  durch  die  Ent- 
fernung der  entstehenden  Brandmarken  mafs.  1874  wurden  diese  wissen- 
schaftlichen Leistungen  durch  seine  Aufnahme  in  die  Kgl.  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Berlin  anerkannt.  Sein  alter  Freund  du  Bois-Rey- 
mond  war  es,  der  ihn  in  der  bekannten  Begrüfsungsrede  „willkommen 
hiefs  in  dem  Kreise  der  Akademie,  welche  die  Wissenschaft  nur  um 
ihrer  selbst  willen  betriebe.“  Auch  an  materiellen  Erfolgen  hat  es 
Siemens  bekanntlich  nicht  gefehlt,  und  er  hat  sich  aufs  eifrigste 
bemüht,  dieselben  zum  Wohle  derjenigen,  welche  ihm  nahe  standen, 
seiner  Angehörigen  und  seiner  Arbeiter,  sowie  zur  Förderung  öffent- 


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licher  Interessen  zu  verwenden.  Als  die  Gründung  der  Urania  in 
Aussicht  stand,  war  er,  der  sich  ja  auch  selbst  auf  dein  Gebiete  der 
populären  Darstellung  bethätigt  hatte,3)  einer  der  Ersten,  der  eine 
namhafte  Summe  zur  Unterstützung  dieses  gemeinnützigen  Werkes 
zeichnete.  Das,  was  den  eigentlichen  Kern  seiner  Arbeiten  und  Be- 
strebungen ausmacht,  dürfte  wohl  seinen  besten  Ausdruck  in  der 
Gründung  der  Technischen  Iieichsanstalt  gefunden  haben,  zu 
der  er  nicht  nur  die  Anregung  gab,  sondern  auch  sehr  bedeutende 
Geldmittel  zur  Verfügung  stellte.  Der  wissenschaftlichen  Forschung 
— das  war  seine  Meinung  — mufs  allerdings  Gelegenheit  gegeben 
werden,  frei  von  allen  Rücksichten  auf  praktische  Verwerthung  zu 
arbeiten;  aber  das,  was  sie  erreicht  hat,  darf  dann  nicht,  gleich  als 
würde  es  durch  Berührung  mit  dem  Leben  des  Volkes  profanirt,  in 
geheimen  Kammern  aufbewahrt  werden.  Die  Praxis  des  Lebens  mufs 
vielmehr  jede  Gelegenheit  suchen  und  auch  finden  können,  durch  die 
Resultate  der  Wissenschaft  befruchtet  und  weiter  entwickelt  zu  werden. 
Die  Herrschaft  des  Menschen  über  die  Naturkräfte  wird,  wenn  sie  in 
dieser  Weise  zugleich  in  geistiger  und  materieller  Beziehung  fort- 
schreitet, dahin  führen,  dafs  ohne  einen  gewaltsamen  Umsturz  die 
sozialen  Fragen,  welche  die  Welt  gegenwärtig  bewegen,  ihre  Lösung 
finden.  Mag  es  immerhin  sein,  dafs  zur  Erreichung  eines  solchen 
Zustandes  ein  Fortschreiten  in  unseren  moralischen,  politischen  und 
speziell  sozialpolitischen  Anschauungen  nöthig  ist,  so  bildet  jedenfalls 
die  ungestörte  Entwickelung  des  naturwissenschaftlichen  Zeitalters  die 
allernothwendigste  Voraussetzung  dafür,  dafs  jene  Fragen  mit  Erfolg 
in  Angriff  genommen  werden  können.  P.  Spies. 

* 

Observatorium  auf  dem  Mont  Blanc. 

Im  I.  Jahrgange  unserer  Zeitschrift  (Seite  492)  haben  wir  über 
die  Beobachtungsresultate  berichtet,  welche  eine  von  dem  Spectroscopiker 
Janssen  auf  den  Mont  Blanc  zur  Untersuchung  des  Sonnenspektrums 
unternommene  Expedition  zur  Folge  gehabt  hat,  Direktor  Janssen 
hat  weitere  Kreise  der  wissenschaftlichen  Gesellschaft  und  auch  die 
Pariser  Akademie  für  die  Errichtung  eines  ständigen  Observatoriums 
auf  dem  Gipfel  des  Mont  Blanc  zu  interessiren  gewurst,  welches  von 

3)  Die  Titel  zweier  bekannter  Vorträge  von  Siemens  sind:  Die 
Elektriziät  im  Dienste  des  Lebens  (1879)  und:  Das  uaturwissen- 
schaftiche  Zeitalter  (1886). 


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243 


Physikern,  Meteorologen  und  Astronomen  zur  Ausführung  verschiedener 
Beobachtungen  benützt  werden  könnte.  Das  unter  dem  Vorsitze 
Janssens  gebildete  Comitö  zählt  den  Baron  Bischoffsheim, 
Alphons  von  Kothschild,  Prinz  Roland  Bonaparte,  Graf 
Greffulhe,  Delessert  als  Mitglieder,  Leon  Say  als  Ehrenpräsi- 
denten. Wie  Direktor  Janssen  in  einer  Sitzung  der  Akademie 
kürzlich  mitgetheilt  hat,  sind  im  abgelaufenen  Jahre  eine  Reihe  Vor- 
arbeiten für  die  Ausführung  des  geplanten  Observatoriums  vorgonommen 
worden;  zunächst  Sondirungsarbeiten  über  die  Dicke  der  Eiskruste, 
welche  den  Berg  bedeckt.  Diese  führten  zu  dem  Gedanken,  die  müh- 
selige Fundirung  des  Observatoriums  auf  Gestein  zu  umgehen , es 
vielmehr  auf  den  harten  Schnee  zu  Stollen.  Wie  frühere  Erfahrungen 
lehren,  finden  auf  der  harten  Schneedecke  des  Gipfels  nur  sehr  ge- 
ringe Bewegungen,  jedenfalls  nur  aufserordentlich  langsame  Schiebungen 
statt.  Der  Widerstand,  den  gefrorener  Sclmee  der  Placirung  des  Baues 
entgegenstellt,  wurde  durch  Versuohe  ermittelt.  Nach  dem  Plane  des 
Architekten  Vaudreiner  wird  das  Observatorium  die  Form  einer 
abgekürzten  Pyramide  erhalten,  an  der  Basis  10  m lang  und  5 m 
breit  sein.  Es  umfafst  2 Etagen  mit  Terrasse  und  Balkon.  Eine 
Wendeltreppe  verbindet  die  beiden  Etagen  mit  der  Terrasse.  Die 
Wohn-  und  Beobachtungsräume  habon  durchaus  Doppelwände,  die 
Fenster  hermetisch  sohliefsende  Liidon.  Der  leichte  Bau  ist  aufser- 
dem  mit  Einrichtungen  zum  schnellen  Fortschaffen  des  etwa  ge- 
fallenen Schnees  versehen,  sowie  mit  Winden,  um  Senkungen  des 
Observatoriums  zu  begegnen.  Selbstverständlich  werden  auch  alle 
Vorkehrungen  für  Erzeugung  von  Wärme  und  die  nothwendigen  Be- 
quemlichkeiten getroffen  werden,  um  den  Beobachtern  ein  langes 
Ausharren  in  dieser  Schnee-  und  Eiswüste  zu  ermöglichen. 

Die  nächsten  Arbeiten  für  die  Errichtung  des  Observatoriums 
bestehen  im  Bau  zweier  Hütten,  bei  den  Grand-Mulets  und  dem 
Rocher-Rouge,  zur  Aufnahme  des  Baumateriales  und  zum  Schutz  der 
Arbeiter,  dann  im  allmählichen  Transport  des  Matorials  an  Ort  und 
Stelle.  Man  rechnet  für  jeden  Arbeiter  eine  Belastung  bis  zu  30  Kg. 
Das  in  Paris  herzustellende  Observatorium  wird  zerlegt  und  bis 
Chamounix  transportirt.  In  diesem  Jahre  gedenkt  man  mit  der  Auf- 
stellung beginnen  zu  können. 

Die  Warte  wird,  was  sehr  anerkennend  hervorgehoben  werden 
mufs,  einen  internationalen  Charakter  tragen  und  den  Gelehrten  der 
verschiedensten  Nationen  für  Anstellung  von  Beobachtungen  zugäng- 
lich gemacht  werden.  * 


244 


Die  Katastrophe  von  Saint  - Gervais. 

In  der  Nacht  des  12.  Juli  vorigen  Jahres  wurden  bekanntlich 
die  Thiiler  von  Bionnassay  und  Bon-Nant,  die  Ortschaft  Bionnay 
und  die  Bäder  von  Saint- Gervais  von  einer  niederstürzenden  Eis- 
und Sohlamm- Lawine  heimgesucht,  über  deren  verheerende  Wir- 
kungen boreits  in  den  Tagesblättem  ausführlich  berichtet  worden  ist. 
Bald  nach  der  Katastrophe  am  19.  Juli  bestieg  der  Direktor  des  Mont- 
Blanc-Observatoriums,  Herr  Vallot,  in  Begleitung  der  Führer  Gas- 
pard  Simon  und  Alphonse  Payot  aus  Cbamounix  den  am  Fufse 
der  Aiguille  du  GoQter  gelegenen  kleinen  Gletscher  Tete-Rousse,  welchen 
man  als  den  Ausgangspunkt  der  Lawine  erkannt  hatte,  um  an  Ort 


und  Stelle  nach  dem  Anlafs  des  Vorfalls  zu  forschen.  Die  Ergebnisse 
dieser  Lokaluntersuchung  hat  Herr  Vallot  in  den  „Archives  des 
Sciences  physiques  et  naturelles“ ')  veröffentlicht  und  daraus  Schlufs- 
folgerungen  über  die  Ursache  der  Katastrophe  gezogen.  Wir  geben 
in  dem  Folgenden  einen  Auszug  aus  diesem  interessanten  Bericht 

Vorstehende  Karte  (Fig.  1)  gewährt  eine  Uebersicht  über  die 
Situation  der  betreffenden  Gegend.  Von  den  Bergkuppen  des  Dome 
du  Goüter  und  der  Aiguille  du  Goüter  schiebt  der  Bionnassay-Gletscher 
seine  Eismassen  in  das  Thal  des  Bont-Nant,  in  welchem  die  haupt- 
sächlich heimgesuchten  Ortschaften,  das  Dorf  Bionnay,  die  Bäder  von 
Saint-Gervais  und  ein  Theil  des  Weilers  Le  Fayet  gegen  720  m hoch 
über  dem  Meeresspiegel  liegen.  Nördlich  von  dem  Bionnassay- 
Gletscher  fliefsen  zwei  kleinere  Eisströme,  der  Tete-Rousse-  und  der 
Grya-Gletscher  über  ein  nahezu  horizontales  Plateau  von  3200  m Höhe. 

')  No.  9,  15.  Sept.,  1892. 


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Fig.  2.  Oberer  Hohlraum  auf  dem  TAte-Rousie- Gletscher. 


Fig.  3.  Unterer  Hohlraum  auf  dem  Ttte-Bousse*  Gletscher. 


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246 


Die  Expedition  des  Herrn  Vallot  begab  sich  nach  diesem  Tete- 
Rousse-Oletscher;  man  fand  auf  demselben  zwei  mächtige,  wannen- 
formige  Vertiefungen  im  Eise,  welche  durch  einen  Schneegang  von 
ca.  50  m Breite  von  einander  getrennt  waren.  Beide  Vertiefungen 
sind  auf  der  Abbildung  (Fig.  2 und  Fig.  3)  nach  Aufnahmen  darge- 
stellt, welche  der  Photograph,  Herr  J.  Tairraz  aus  Chamounix,  unmittel- 
bar nach  der  Katastrophe  gemacht  hat.  Das  obere  Bild  zeigt  die 
höher  liegende,  das  untere  die  tiefer  liegende  Eisgrube  und  zwischen 
beiden  befindet  sich  der  erwähnte  Schneegang. 

Die  obere  Grube  hatte  eine  Länge  von  80  m bei  40  m Breite 
und  35  bis  40  in  Tiefe,  sie  war  am  Grunde  vollständig  mit  zer- 
trümmerten Eisblöcken  angefüllt,  was  offenbar  daraufhindeutete,  dafs  sie 
durch  den  Deckeneinsturz  eines  im  Gletscher  befindlichen  Hohlraumes 
entstanden  war.  Die  Wände  zeigten  von  der  Oberfläche  bis  zur  Tiefe 
von  10  m deutlich  ausgeprägte  Schichtflächen,  welche  die  verschiedenen 
nach  einander  auf  den  Gletscher  gefallenen  Schneemengen  bezeich- 
neten.  Tiefer  herab  konnte  man  den  Verlauf  dieser  Schichten  nicht 
mehr  verfolgen.  Zahlreiche  Umstände  weisen  darauf  hin,  dafs  die  obere 
Höhlung  vor  dem  Deckeneinsturz  mit  Wasser  angefüllt  gewesen  war. 
Die  aus  völlig  durchsichtigem  Eis  bestehende  Wandung  zeigte  noch 
deutlich  die  Grenze,  bis  zu  welcher  das  Wasser  auf  sie  eingewirkt 
hatte,  und  in  der  Tiefe  der  Grube  öffnete  sich  ein  grofses  Eisgewülbe, 
auf  dessen  Boden  ein  Bach  flofs.  Vielleicht  stand  dieses  Gewölbe 
mit  anderen  höhlenartigen  Verzweigungen  unterhalb  der  Gletscher- 
oberfläche in  Verbindung;  doch  konnte  man  hierüber  keine  Gewifs- 
heit  erlangen,  da  dio  Durchforschung  des  Hohlraumes  mit  grofsen 
Gefahren  verbunden  war. 

Etwa  60  m unterhalb  der  oberen  befand  sich  eine  zweite 
Eisgrube  in  einer  fast  vertikal  abfallenden  Eiswand  von  40  m Höhe 
(Fig.  3).  Obwohl  die  Eiswand  mit  frisch  gefallenem  Schnee  bedeckt 
war,  so  erkannte  man  sie  doch  sofort  als  eine  Abbruchfläche  des 
Gletschers,  der  hier  theilweise  abgerissen  und  als  Eislawine  thalwärts 
gerollt  war.  Man  konnte  durch  Ergänzung  der  fehlenden  Eismasse 
das  Gletscherniveau  sich  leicht  so  wiederhergestellt  denken,  wie  es 
vor  Eintritt  der  Katastrophe  gewesen  war.  Nach  Vallots  Schätzung 
betrug  das  Volumen  der  niedergegangenen  Eislawine  mindestens 
90000  Kubikmeter. 

Auch  die  Wandflächen  dieses ' unteren  Hohlraumes  zeigten  deut- 
liche Spuren  der  Wassereinwirkung;  er  war  offenbar  vordem  Gletscher- 
sturz ebenso  wie  der  höher  liegende  durch  einen  intraglacialen 


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247 


See  ausge füllt  gewesen.  Ueberreste  dieses  Sees  konnte  man  noch 
unter  den  eingestürzten  Eismassen  sehen.  In  geringer  Entfernung 
von  ihrer  Oeflhung  verzweigte  sich  die  Höhle  in  zwei  Gänge,  welche 
sich  vermuthlich  unter  den  Gletscher  fortsetzten  und  eine  Verbindung 
der  unteren  Grube  mit  der  oberen  vermittelten. 

Auf  Grund  dieses  Lokalbefundes  giebt  nun  Vallot  folgende 
Darlegung  der  Verhältnisse,  welche  den  verhänguifsvollen  Gletscher- 
bruch und  den  Sturz  der  Lawine  herbeiführten. 

In  den  Grundklüften  des  Gletschers,  namentlich  an  den  Stellen, 
wo  sein  Ilett  nach  Innen  gekrümmt  ist,  mufste  in  irgend  einer  Weise 
eine  Ansammlung  des  Abschmelzwassers  stattgefunden  haben.  Zu- 
nächst wurde  dasselbe  durch  den  schmalen  Felssaum,  der  sich  am 


Gletscherende  befindet,  zurückgehalten,  stieg  aber  dann  bei  reich- 
lichem Zuflufs  in  den  Spalten  aufwärts  und  erfüllte  die  ganz  vom 
Eis  umschlossenen  Hohlräume  (dieselben  sind  in  dem  Gletscherprofil, 
Fig.  4,  durch  unterbrochene  Linien  hervorgehoben),  welche  durch 
einen  im  Eise  liegenden  Kanal  nach  Art  der  kommunizirenden  Röhren 
mit  einander  in  Verbindung  standen.  Jede  der  beiden  Eisgruben 
mag  dabei  aus  mehreren  Grundklüften  entstanden  sein,  die  durch  das 
Wasser  vereinigt  worden  sind.  Mit  Rücksicht  auf  den  Umfang  der 
Hohlräume  ergiebt  die  Schätzung,  dafs  sich  etwa  100  000  cbm  Wasser 
in  ihnen  angesammelt  haben  mufs;  davon  entfallen  80  000  cbm  auf  den 
oberen,  20  000  auf  den  unteren  Raum. 

Wie  sich  eine  solch  enorme  Wassermengo  in  den  Gletscher- 


248 


spalten  ansammeln  konnte,  läfst  sich  schwor  erklären;  möglich  ist  es 
indefs,  dafs  eine  zeitweise  Verstopfung  der  Abllufsöffnungen  den  Ab- 
lationsgewässern keinen  Austritt  gestattete.  Nach  Aussage  einiger 
Leute  soll  vor  dem  Lawinensturz  das  Schmelzwasser  viel  schwächer 
geflossen  sein,  als  nachher,  ja  der  Gletscher  soll  zeitweise  intermittirt 
haben.  Arbeiter  aus  Bionnay  versichern,  dafs  der  Abflufs  vor  dem 
12.  Juli  fast  vollständig  aufgohört  habe. 

Am  17.  August,  naoh  einer  Reihe  sehr  warmer  Tage,  betrug  der 
Abflufs  kaum  mehr  als  10  Liter  in  der  Sekunde.  Legt  man  dies  als 
normalen  Betrag  zu  Grunde,  so  müfsten  mindestens  3 bis  4 Monate 
erforderlich  gewesen  sein,  um  den  Hohlräumen  100  000  cbm  Wasser 
zuzuführen;  diese  Wasseransammlung  müfste  demnach  zu  Ende  des 
Winters  begonnen  haben. 

Dafs  dergleichen  Ansammlungen  in  den  Spalten  selbst  zur  Winters- 
zeit stattfinden  können,  hat  nach  Vallots  Meinung  nichts  Auffallendes. 
Man  weifs  eben  nicht,  bis  zu  welcher  Tiefe  die  Winterkälte  in  den 
Gletscher  eindringt;  doch  sprechen  mancherlei  Thatsachen  dafür,  dafs 
diese  Tiefe  nicht  beträchtlich  sein  kann.  So  berichtet  Steenstrup, 
dafs  er  in  Grünland  unter  70  7j#  nördlicher  Breite  in  600  m über  dem 
Meere  einen  Eisstrom  von  kaum  30  m Dicke  gesehen  habe,  der  die 
ganze  Winterszeit  hindurch  einen  Wasserstrom  von  sich  gab.  Aehn- 
liche  Zustände  sind  bei  anderen  Gletschern,  die  noch  nördlicher  liegen, 
beobachtet  worden,  ohne  dafs  mau  die  Existenz  heifser  Quellen  unter 
dem  Eise  dafür  verantwortlich  machen  kann.  Ganz  so  mögen  die 
Verhältnisse  beim  TSte-Rousse-Gletscher  gelegen  haben. 

Unter  den  erwähnten  Umständen  läfst  sich  der  Sturz  in  folgen- 
der Weise  erklären. 

Am  Morgen  des  12.  Juli  fiel  die  Decke  des  oberen,  mit  Wasser 
erfüllten  Hohlraumes  mit  einer  Wucht  ein,  die  hinreichend  war,  um 
das  Wasser  mit  gewaltigem  Stofs  durch  den  Verbindungskanal  hin- 
durch in  den  unteren  Raum  zu  drängen.  Der  Druck  des  ge- 
prefsten  Wassers  in  demselben  bewirkte  eine  Sprengung  der  darüber 
liegenden  Eishülle,  sodafs  ein  Theil  des  Gletschers  in  Form  einer  Eis- 
und Wasser-Lawine  thalwärts  rollte.  Möglicher  Weise  kann  auch  die 
Sprengung  der  unteren  Höhle  durch  den  Wasserdruck  den  Anlafs  zu 
dem  Deckeneinsturz  der  oberen  gegeben  haben. 

Einmal  in  Freiheit  gesetzt,  stürzte  sich  die  Eis-  und  Wasser- 
Lawine  auf  die  rechte  Seitenmoräne  des  Bionnassay-Gletschers,  belud 
sich  hier  mit  Felsblöcken,  Geröll-  und  Schuttmassen  und  suohte  eine 


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tiefe  Schlucht  in  der  Nähe  von  Bionnay  auf,  die  in  ihrer  ganzen  Höhe, 
30  bis  36  m hoch,  von  der  wiithenden  Fluth  ausgefüllt  wurde. 

Weiter  abwärts  im  Thal  des  Bon-Nant  trat  abermals  eine  Ver- 
stärkung des  Stromes  ein,  der  sich  unmittelbar  vor  Saint-Gervais  durch 
eine  schmale  Felssohlucht  hindurchwinden  mufste.  Bei  Le  Fayet,  wo 
sich  die  Wassermassen  in  die  Arve  ergossen,  war  die  Gewalt  der 
Lawine  erschöpft. 

Man  schätzt  das  thalwärts  geschobene  feste  Material  auf  800000  cbm, 
von  denen  mindestens  600000  bis  in  die  Ebene  von  Le  Fayet  geschafft 
wurden.  Einzelne  Blöcko  oder  richtiger  ganze  Felsstücke  hatten 
enormen  Umfang;  in  der  Nähe  von  St.  Gervais  lipgt  z.  B.  ein  solcher 
von  200  cbin  Inhalt,  der  bei  der  Zerstörung  der  Bäder  eine  wichtige 
Rolle  gespielt  hat.  Er  stammt  aus  Bionnay,  wie  sich  nachträglich 
feststellen  liefs.  Eisenge.räthe  aus  den  Bädern  wurden  Uber  eine  Meile 
weit  bis  nach  Sallanches  geführt. 

Dafs  100000  cbm  Wasser  800  000  cbm  feste  Masse  in  Bewegung 
setzen  konnten,  erscheint  auffällig;  indessen  stehen  solche  Leistungen 
des  Wassers  nicht  vereinzelt  da,  sondern  sind  bei  ähnlichen  Anlässen 
in  den  Alpen  und  Pyrenäen  schon  häufig  beobachtet  worden. 

Herr  Vallot  bemerkt  übrigens  am  Schlüsse  des  Berichtes,  dafs 
diese  Erklärung  der  Katastrophe  nicht  allseitig  in  maßgebenden 
Kreisen  als  stichhaltig  anerkannt  wird.  Prof.  Forel,  eine  bekannte 
Autorität  auf  dem  Gebiete  der  Gletscherforschung,  bezweifelt  die  Mög- 
lichkeit der  Ansammlung  so  bedeutender  Wassermassen  in  Hohl- 
räumen unterhalb  des  Tfite-Rousse-Gletsohers ; er  meint,  dafs  hier  eine 
einfache  Eislawine  vorliege,  erzeugt  durch  den  Absturz  des  Gletscher- 
endes. Die  niedergegangene  Eismasse,  welche  er  naoh  Angabe  eines 
Gemsjägers  auf  1 bis  2 Millionen  Kubikmeter  schätzt,  soll  duroh 
den  Fall  und  durch  die  Reibung  auf  der  Moräne  des  Bionnassay- 
Gletschers  sich  theilweise  verflüssigt  haben  und  'in  diesem  Zustande 
zu  Thale  gelangt  sein.  So  schwer  auch  das  Uriheil  Forels  ins  Ge- 
wicht lallt,  so  wenig  entspricht  es  doch  nach  der  Ansicht  von 
Vallot  den  bei  der  Lokalbesichtigung  gefundenen  Thatsachen.’ 

Schw. 


Die  Forschungsreise  S.  M.  S.  „Gazelle14  in  den  Jabren  1874  bis  1877  unter 
dem  Kommando  des  Kapitän  zur  See  Freiherrn  von  Schleinitz, 

herausgegoben  von  dem  hydrographischen  Amt  des  Reichs-Marine- 
Amtes.  5 Bande.  Preis  150  M.  Berlin  1889.  Verlag  von  Ernst  Siegfried 
Mittler  und  Sohn. 

Der  in  den  siebziger  Jahren  von  den  seefahrenden  Nationen,  namentlich 
von  England  und  Amerika  ausgegangeno  Gedanke  einer  systematischen  Er- 
forschung der  Meere  fand  bekanntlich  in  den  maßgebenden  Kreisen  Deutsch- 
lands ein  reges  Entgegenkommen.  Man  war  überzeugt,  dafs  der  wissenschaft- 
liche Geist  innerhalb  der  noch  jungen  Kaiserlichen  Marine  durch  Eintreten  in 
die  Reihe  der  auf  dem  Gebiete  oceanischor  Forschungen  tliätigen  Nationen  zum 
Vortheil  der  Entwicklung  unserer  maritimen  Bestrebungen  geweckt  werden 
müsse.  Außerdem  wurden  damals  gerade  in  allen  Kulturstaatcn  Vorbereitungen 
zur  Beobachtung  des  Endo  1874  stattflndendeu  Vorüberganges  der  Venus  vor 
der  Sonnonscheibe  getroffen.  Auch  Deutschland  wollte  sich  daran  durch  Ent- 
sendung verschiedener  Expeditionen  betheiligen,  und  sollte  denselben  durch  die 
Marine  eine  wesentliche  Unterstützung  zu  theil  werden.  Die  Admiralität  stellte 
8.  M.  S.  „Gazelle“  zur  Verfügung,  welche  dio  Mitglieder  der  astronomischen 
Expedition  mit  ihren  Instrumenten  und  dein  gesamten  Material  um  das  Kap  der 
guten  Hoffnung  nach  ihrem  Bestimmungsort,  der  Station  auf  den  Kerguelen 
brachte.  Hier  sowohl  wie  auf  den  Aucklands-Inseln,  wo  die  Gazelle  längeren 
Aufenthalt  nehmen  mußte,  bot  sich  den  Mitgliedern  der  Expedition  Gelegenheit, 
ihre  Zeit  im  Interesse  geophvsikalischor  Forschungen  nach  Möglichkeit  auszu- 
nutzen.  In  erster  Linie  war  man  bestrebt,  Material  für  meteorologische  und 
klimatologischo  Zwecke  und  für  die  erdmagnetische  Forschung  zu  sammeln, 
dann  aber  erstreckte  sich  die  Thätigkeit  auch  auf  die  Ermittelung  der  Länge 
des  Sekunden -Pendels,  was  für  die  Bestimmung  der  Erdgostalt  wichtige  Bei- 
trüge liefen»  mußte,  sowie  auf  die  Aufzeichnung  der  dortigen  Gezeitenverhält- 
nisse mittelst  selbstregistrirender  Pegel,  woraus  man  werthvolle  Aufschlüsse 
über  dio  Fortpflanzungsgesetze  dor  Flutlv welle  auf  offenem  Meere  erwarten 
konnte.  Den  Offizieren  dor  Gazelle  fiel  während  des  Aufenthalts  auf  den 
Kerguelen  und  auf  der  Weiterreise  durch  den  stillen  Ocean  die  Aufgabe  zu, 
sich  vorzugsweise  auf  dem  Gebiete  oceanischor  Forschungen  zu  bethätigen , 
im  besondorn  durch  Messung  der  Meerestiefen,  durch  Beobachtung  der  Wässer- 
tem poratur  von  der  Oberfläche  bis  zum  Grunde,  des  spezifischen  Gewichtes 
und  des  Salzgehaltes  des  Ocoanwassers,  der  Strömungen  an  der  Oberfläche 
und  in  verschiedenen  Tiefen,  durch  Sammlung  von  Wasserproben  behufs 
späterer  genauer  Analysirung  des  Meereswassers,  und  von  Grundproben  zur 
Feststellung  der  mineralisch  - geologischen  Beschaffenheit  des  Meeresbodens, 


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251 


sowie  durch  Studien  über  die  Meeres -Organismen,  über  Faunen  und  Floren 
des  Oceans. J)  Im  Interesse  der  Schifffahrt  und  des  Weltverkehrs  wurden 
Vermessungen  und  Aufnahmen  der  Küsten  noch  unbekannter  Gegenden  vor- 
genommen,  neue  Seestrafsen  geprüft  u.  s.  w.,  und  schließlich  wurde  durch 
anthropologische  und  ethnologische  Studien  und  Sammlungen  auch  für  die 
Erweiterung  der  geographischen  Kenntnisse  gesorgt. 

Bald  nach  der  Rückkehr  der  Gazelle  machte  sich  das  Bedürfnifs  geltend, 
das  überaus  reichhaltige  und  worthvolle,  auf  der  Reise  gesammelte  Material  in 
einem  einheitlichen  Werke  zusammenzustellen.  Nachdem  der  Reichstag  1880 
die  Mittel  hierzu  bewilligt  hatte,  wurden  die  Vorarbeiten  für  die  Publikation 
zunächst  von  dem  Kommandanten  der  Gazelle,  Kontre- Admiral  Freiherrn 
von  Schleinitz  und  später  vom  Admiralitätsrath  Kapitänlieutenant  a.  D. 
Rottok  geleitet. 

Der  erste  Band,  welcher  neben  dein  Programm  und  der  Beschreibung 
der  Ausrüstungsgegenstände  den  eigentlichen  Reisebericht  der  Expedition 
bringt  und  sich  durch  Reichhaltigkeit  der  Illustrationen  auszeichnet,  dürfte 
auch  über  die  Kreise  der  Fachgelehrten  hinaus  Interesse  beanspruchen.  In 
den  übrigen  vier  Bänden  sind  die  wissenschaftlichen  Ergebnisse  der  Expedition 
auf  den  Gebieten  der  Erdphysik,  der  Meereskunde,  der  Zoologie  und  Geologie 
zuflawmengeslellt.  Wir  behalten  uns  vor,  in  unserer  Zeitschrift  gelegentlich 
einen  längeren  Aufsatz  über  die  Fahrt  der  Gazelle  an  der  Hand  der  vorliegenden 
Publikation  zu  veröffentlichen.  Schw. 

Mondkarte  in  25  Sektionen  und  2 Erläutert!  ngstafeln  von  Wilhelm 
Gotthelf  Lobrniann.  Mit  Erläuterungen  und  stenographischen  Orts- 
bestimmungen unter  Mitwirkung  von  F.  W.  Opelt  und  M.  Op  eit, 
herausgo geben  von  Dr.  J.  F.  Julius  Schmidt,  weiland  Direktor  der 
Sternwarte  in  Athen.  Neue  wohlfeile  Ausgabe.  Mit  einem  Vorworte 
von  II.  Ebert.  Leipzig  1892.  Verlag  von  Johann  Ambrosius 
Barth  (Arthur  Meiner).  — Preis  25  Mk. 

Die  Veranstaltung  einer  neuen  Ausgabe  des,  für  die  selenographische 
Forschung  epochemachenden,  Loh rma mischen  Kartenwerkes  über  den  Mond 
kann  der  Verlagshandlung,  die  damit  einen  erfreulichen  Beweis  ihres  unver- 
minderten Interesses  an  den  seiner  Zeit  nur  mit  Ueberwindung  ganz  erheb- 
licher Schwierigkeiten  zur  Veröffentlichung  gelangten  Beobachtungen  liefert, 
nicht  hoch  genug  angerechnet  tverden,  zumal  trotz  dor  enormen  Herstellungs- 
kosten der  Preis  so  au  fserordentlich  niedrig  bemessen  wordeii  ist.  Lohr  mann 
selbst  hat  bekanntlich  den  Abschlufs  des  ganzen  Werkes  nicht  erlebt;  nur 
4 Karten  konnten  noch  unter  seiner  eigenen  Leitung  fertig  gestellt  und,  zu- 
gleich mit  zwei  Erläuterungstafoln,  in  der  1824  im  gleichen  Verlage  erschienenen 
„Topographie  der  sichtbaren  Mondoberfläche“,  di©  übrigens  in  einer  Anmerkung, 
wohl  infolge  eines  Druckfehlers,  in  das  Jahr  1842  verlegt  wird,  der  Oeffentlich- 
keit  Übergeben  werden:  diese  4 Blätter  der  von  Lohrmann  in  25  Sektionen 
geplanten  Mondkarte  genügton  aber  vollständig,  um  die  Vorzüge  dieser  Arbeit 
gegenüber  früheren  Versuchen  ähnlicher  Art  erkennen  zu  lassen  und  den  Wunsch 
nach  einer  beschleunigten  Beendigung  des  ganzen  Unternehmens  rege  zu  machen. 
Um  so  bedauerlicher  war  es,  dafs  widrige  Verhältnisse  tiefbetrübender  Art,  deren 
im  einzelnen  bei  anderer  Gelegenheit  (vergL  Jahrgang  I dieser  Zeitschrift, 
S.  569  ff.)  eingehender  gedacht  worden  ist,  das  Erscheinen  der  übrigen 
21  Sektionen  bis  zum  Jahre  1878  verzögerten.  Es  kann  kein  Zweifel  darüber 

*)  Siehe  den  Aufsatz  von  Admiralitatsrath  Rottok  in  diesem  Heft. 


252 


bestehen,  da  fs  infolgedessen  Lohrm  an  ns  Arbeit  einen  wesentlichen  Theil  des 
Einflusses  eingebüfst  hat,  den  sie  bei  rechtzeitiger  Bekanntgabe  auf  die  Ent- 
wickelung der  Selenographie  ausgeübt  haben  würde;  ihre  innere  Bedeutung, 
der  hohe  Werth,  welcher  ihr  neidlos  allseitig  zuerkannt  worden  ist,  blieb 
natürlich  davon  unberührt,  dafs  inzwischen  zwei  nicht  minder  bedeutsame,  die 
ältere  Arbeit  in  manchen  Beziehungen  überflügelnde  Darstellungen  der  Mond- 
oberfläche (die  eine  von  Mädler,  die  andere  von  Schmidt  herrührend)  das 
Licht  der  Welt  erblickten. 

Es  kann  hier  nicht  der  Ort  sein,  im  einzelnen  auf  die  Vorzüge  der 
Lohrmannschen  Mond  karte  cinzugeheu.  Nur  soviel  sei  erwähnt,  dafs  die 
von  Lohrmaun  selbst  noch  vollständig  für  die  Reproduktion  mit  der  Feder 
ausgearbeiteten  Blätter  außerordentlich  sorgfältig  in  Kupfer  gestochen  worden 
sind  und  sich  dadurch  selbst  von  den  neueren  Mondkarten,  namentlich  auch 
bezüglich  der  Treue  der  Wiedergabe,  noch  immer  sehr  zu  ihrem  Vortheil 
unterscheiden.  Aufser  diesen  25  Sektionen,  welche  zusammengefügt  eine  Karte 
der  sichtbaren  Mondobertläehe  von  3 Fufs  Durchmesser  darstellen  würden, 
enthält  der  Atlas  die  bereits  erwähnten,  ebenfalls  in  Kupfer  gestochenen  Er- 
läuterungstafeln, welche  die  beiden  benutzten  Instrumente  mit  ihren  Mefsein- 
richtungen  veranschaulichen  und  überdies  zum  Verständnifs  der  für  die  Mond- 
formationen zur  Anwendung  gekommenen  Darstellungsformen  unerläßlich  sind. 
Daneben  ist  der  neuen  wohlfeilen  Ausgabe  dankenswerther  Weise  auch  die, 
noch  von  Julius  Schmidt  herrührende,  eiuschliefslich  der  Mittheilung  der 
Resultate  aus  den  Lohrmannschen  Messungen  von  besonders  wichtigen  Fix- 
punkten auf  der  Mondoberfläche  etwa  50  Druckseiten  gr.  4“  umfassende,  kurze 
Erläuterung  der  einzelnen  Sektionen  beigegeben.  Nicht  zu  unterschätzen  ist 
das  handliche  Quartformat  der  einzelnen  Blätter,  welches  den  direkten  Ge- 
brauch am  Fernrohr  wesentlich  erleichtert,  nicht  minder  endlich  der  Umstand, 
dafs  das  Gradnetz  in  der  erforderlichen  Deutlichkeit,  ohne  dabei  den  Gesamt- 
eindruck im  mindesten  zu  beeinträchtigen,  wiedergegeben  ist. 

Es  darf  der  Wunsch  nicht  unausgesprochen  bleiben,  dafs  das  Bestreben 
der  Verlagshandlung,  das  äufserst  geschmackvoll  ausgestattete  Werk  zu 
niedrigem  Preise  nicht  nur  den  Sternwarten  und  einzelnen  Astronomen,  son- 
dern auch  den  übrigen  Freunden  der  Mondforschung  zugänglich  zu  machen, 
allseitig  die  rechte  Anerkennung  und  Würdigung  erfahren  möge.  G.  W. 


Verlag  von  Hermann  Paetel  In  Berlin.  — Druck  von  Wilhelm  Oronau's  Buchdruckerei  In  Berlin- 
Für  die  Redacllon  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  In  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Uebereetzungsrecht  Vorbehalten. 


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Eine  Amerikafahrt  1492  und  1892. 

Nach  seinem  Vortrage  im  wissenschaftlichen  Theater  der  Urania 
bearbeitet  von 

Dr.  M.  Wilhelm  Meyer.') 

}K;ine  neue  Welt  wurde  entdeoktl  Es  ist  uns  heute  ganz  unvor- 
stellbar,  welche  Aufregung  sich  der  ganzen  Menschheit  bemäch- 
tigen mufste,  als  diese  märchenhafte  Kunde  durch  die  alte  WTelt 
ging,  die  alte,  morsche,  kleine  Welt,  die  erst  eben  begann,  sich  aus 
den  dunklen  Wirren  mittelalterlicher  Beschränktheit  mühevoll  empor- 
zuarbeiten zu  klareren,  freieren  Anschauungen. 

Jahrtausende  lang  hatte  die  Menschheit,  wo  sie,  beim  alten  Egypter- 
reiohe  beginnend,  ihre  höchste  jeweilige  Kulturstufe  erreicht  hatte,  ihre 
Kenntnifs  von  der  irdischen  Welt  nicht  über  jenen,  überall  innig  mit 
einander  zusammenhängenden  Länderkomplex  von  Asien,  Afrika  und 
Europa  ausgedehnt,  in  dessen  Mitte  einstmals  die  Wiege  der  Kultur  stand. 

Zwar  hie  und  da  dämmerte  wohl  in  einigen  Menschen  die  vage 
Vermuthung  von  unbekannten  Ländern  jenseits  des  weltumfassenden 
Ozeans  auf,  und  zur  Griechenzeit  redeten  Geographen  und  Diohter 
— Plato  und  Diodor  nennt  uns  die  Ueberlieferung  — von  einer 
wundervollen,  grofsen  Insel  Atlantis,  die  weit  jenseits  der  Säulen  des 
Herkules,  bekanntlich  der  gegenwärtigen  Meerenge  von  Gibraltar,  in 
jenem  unergründlich  weiten  Westmeere  liegen  sollte,  in  dessen  Wogen 

')  Auf  vielfach  geäufserten  Wunsch  nach  der  Veröffentlichung  gegen- 
wärtigen Vortrags  in  unserer  Zeitschrift,  entschlofs  Bich  der  Verfasser,  gewisse 
Bedenken  überwindend,  zu  vorliegender  Bearbeitung  desselben.  Man  wird 
dabei  manchen  Wiederholungen  aus  andoren  Autsätzon  gegenwärtiger  Blätter 
begegnen.  Da  jedoch  die  Darstellungsform  in  allen  diesen  Fällen  eine  vollkommen 
verschiedene  ist,  wird  man  solche  Wiederholungen  im  Zusammenhänge  mit  den 
übrigen  Betrachtungen  wohl  verzeihlich  finden. 

Himmel  und  Erde.  1893.  V.  G.  18 


Digitfed  by 


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264 


der  Sonnengott,  allabendlich  hinabtauchend,  die  strahlenden  Rosse  um- 
lenkte, um  jenseits  der  Erdscheibe  anderen  Tages  im  Osten  wieder  auf- 
zusteigen. Die  Lehre  von  der  Kugelgestalt  der  Erde,  welche  einst 
Pythagoras  bereits  gelehrt  hatte,  war  ja  kaum  über  den  engsten 
Kreis  hervorragender  Geister  hinausgedrungen. 

Nun  aber,  als  etwa  seit  einem  halben  Jahrhundert  die  Mensch- 
heit von  der  wunderbaren  Kunst  Guttenbergs  profltirte  und  jene  An- 
sicht über  den  Bau  der  Welt  und  unseres  irdischen  Wohnsitzes  allmählich 
zum  Gemeingut  gebildeterer  Kreise  zu  werden  begann,  nun  hiefs  es, 
ein  praktisches  Beispiel,  einen  unumstöfsliohen  Beweis  von  der  Kugel- 
gestalt der  Welt  zu  geben;  der  Welt  sage  ich,  denn  die  Erde  war  die 
Welt  in  der  Anschauung  jener  Zeit,  um  welche  die  Sphären  der  Sonne 
und  aller  übrigen  Weltkörper  sich  zu  Nutz  und  Frommen  dieser  zen- 
tralen Weltkugel  zusammenschlossen.  Die  Lehre  des  Kopernikus,  der 
damals  19  Jahre  zählte,  war  in  dessen  Geiste  noch  nicht  geboren. 

Die  auf  dem  alten  Ptolemäischen  Weltsystem  basirenden  so- 
genannten Alfonsinischen  Tafeln,  nach  welchen  die  Uerter  der  Planeten, 
Sonnen-  und  Mondfinsternisse  vorher  zu  berechnen  waren,  wurden 
1438  zuerst  gedruckt  und  der  Königin  Elisabeth,  der  Gemahlin 
Ferdinand  des  Katholischen,  gewidmet.  Die  verständnifs volle  Frau 
nahm  damals  schon  regen  Antheil  an  kosmologischen  Problemen  und 
sie  war  es  bekanntlich,  deren  besonderer  Initiative  die  Unterstützung 
zu  danken  ist,  welche  schliefslich  nach  langen  Kämpfen  die  ehrgeizigen 
Pläne  des  Columbus  bei  der  spanischen  Regierung  fanden.  So 
wurde  durch  die  Drucklegung  und  Widmung  der  damals  bereits  über 
zwei  Jahrhunderte  alten,  alfonsinischen  Tafeln  der  Boden  vorbereitet, 
auf  welchem  Columbus  weiter  bauen  konnte. 

Wie  gährte  es  damals  in  der  gesamten  Menschheit,  welche 
im  Begriff  war,  eine  neue  Weltanschauung  zu  gebären!  Auf  allen 
Gebieten  des  Wissens  und  menschlicher  Fähigkeit  arbeitete  und  suchte 
man  mit  fieberhafter  Erregung : denn  überall  fühlte  man,  dafs  die  alten 
Ansichten  und  Zustände  morsch  und  unhaltbar  geworden  waren,  dafs 
neue  an  ihre  Stelle  treten  mufsten,  deren  Auffindung  ihren  Entdeckern 
unermefsliche  Schätze  materieller  oder  ideeller  Art  von  der  erlösten 
Menschheit  eintragen  mufste.  Das  war  eine  grofse,  grofse  Zeit,  in 
vieler  Hinsicht  nach  ihren  guten  und  schlechten  Seiten  hin  vergleich- 
bar der  unsrigen. 

Wenn  nun  die  Lehre  von  der  Kugelgestalt  der  Erde  richtig  war, 
so  mufste  ja  zweifellos  das  reiche  Indien,  welches  man  bis  dahin 
vom  Abendlande  her  nur  glaubte  erreichen  zu  können,  indem  man  längs 


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der  Küsten  Afrikas  hinsegelnd,  diesen  Erdtheil  umschiffte,  auch  auf 
westlichem  Wege  zu  erreichen  sein,  wenn  man  das  westliche  Welt- 
meer durchkreuzte.  Hierauf  hatte  schon  vor  Columbus  der  gelehrte 
italienische Kosmograph  Toscanelli  aufmerksam  gemacht  und  eineWelt- 
karte  entworfen,  auf  welcher  der  asiatische  Kontinent  sich  ganz  um 
die  Erde  herum,  den  grofsen  Ozean  mit  einschliefsend,  ausdehnte  und 
seine  Ostküste  etwa  an  der  Stelle  angegeben  war,  wo  sich  in  Wahr- 
heit die  Ostküste  Amerikas  befindet  Toscanelli  hatte  auf  dieser 
Karte  auch  den  Weg  angegeben,  auf  welohem  man  vermuthlich  am 
besten  dieses  Indien  erreichen  konnte. 

Columbus  fand  dieselbe  in  dem  Nachlasse  Beines  Schwiegervaters, 
eines  spanischen  Edelmannes,  der  ein  guter  Seemann  und  Geograph  ge- 
wesen war.  Durch  die  1482  stattgehabte  Vermählung  mit  der  Tochter 
dieses  Edclmannes,  wurde  er,  der  der  Sohn  eines  Wollweliers  in  Genua 
war  und  dort  vermuthlich  1446  (es  herrsoht  noch  immer  eine  Unsicher- 
heit von  zehn  Jahren  über  seine  Geburtszeit)  geboren  wurde,  in 
Hofkreise  vortheilhaft  eingeführt.  Er  fafste  wahrscheinlich  bereits 
1483  den  ersten  Plan  zu  seiner  Reise,  mufste  aber  viele  Abweisungen 
über  sich  ergehen  lassen,  da  seine  Forderungen  für  den  Fall  der 
glücklichen  Entdeckung  als  allzu  exorbitante  angesehen  wurden. 
Er  verlangte  zunächst  die  Erhebung  in  den  Adelstand,  die  Würde 
eines  Admirals  des  atlantischen  Meeres,  Macht  und  Titel  eines  Vize- 
königs der  zu  entdeckenden  Länder,  den  zehnten  Theil  aller  Ein- 
künfte aus  denselben  und  endlich  das  Recht,  sich  mit  dem  achten  Theile 
an  allen  transatlantischen  Handelsgeschäften  betheiligen  zu  können. 
Dank  der  unbeugsamen  Energie  des  Columbus  bewilligte  ihm  dennoch 
am  17.  April  1492  die  Königin  Elisabeth  alle  diese  Forderungen, 
und  am  13.  Mai  ist  er  bereits  in  Palos  mit  den  Vorbereitungen  zur 
Expedition  beschäftigt.  Aufser  durch  die  Auffindung  der  Karte  des 
Toscanelli  wurde  Columbus  auch  durch  die  Erzählungen  von  See- 
leuten auf  das  Vorhandensein  gröfserer  Ländermassen  im  Westen  hin- 
gewiesen, denen  zufolge  von  Menschenhand  seltsam  zugeschnittene 
Holzstücke,  fremdländische  Fichtenstämme,  ja  selbst  Leichen  einer  bis 
dahin  unbekannten  Mensohenart  von  jenseits  der  Azoren  hergeschwemmt 
worden  seien. 

Paolo  Toscanelli  lebte  von  1397  bis  1482  in  Florenz  und 
war  eigentlich  Arzt,  beschäftigte  sich  aber  mit  Vorliebe  mit  astro- 
nomischen und  kosmographischen  Fragen.  Besonders  trat  er  gegen 
den  Unfug  der  astrologischen  Prophezeiungen  auf  und  pflegte  sich 
selbst  als  lebendigen  Beweis  ihrer  Unzuverläfsigkeit  anzuführen,  da 


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257 


ihm  ein  kurzes  Leben  vorhergesagt  worden  war,  während  er  zu 
hohem  Alter  gedieh.  Sein  Andenken  lebt  heute  noch  in  Florenz,  wo 
in  dem  wundervollen  Dome  Maria  dei  Fiori  der  grofse  Gnonom  ge- 
zeigt wird,  den  er  dort  anbringen  liess. 

Die  genau  westlich  verlaufende  Linie,  mit  welcher  Toscanelli 
den  vermuthlichen  Weg  nach  Indien  auf  seiner  Karte  vorgezeichnet 
hatte,  begann  bei  den  kanarischen  Inseln.  Unzweifelhaft  ist  also 
Toscanelli  als  der  eigentliche  geistige  Entdecker  Amerikas  zu  feiern, 
denn  Columbus  wurde  erst  durch  diese  Karte  auf  den  Gedanken 
gebracht,  diesen  Weg  wirklich  zu  gehen  und  hat  ihn  auch,  so  weit  es 
in  soiner  Macht  stand,  auf  seinor  ersten  Entdeckungsreise  verfolgt. 

Ehe  wir  nun  auf  dieso  denkwürdige  Reise  zurückblicken , sei 
eine  Bemerkung  hier  eingefiigt,  welche  sich  auf  die  Tüchtigkeit  des 
Columbus  als  Seemann  bezieht  Man  hat  dieselbe  bekanntlich 
so  stark  in  Zweifel  gezogen,  dafs  man  seine  Entdeckung  schliefslich 
nur  als  ein  aufserordentliches  Glück  des  Zufallsspiels  hinstellte. 
Ganz  gewifs  war  auch  Columbus  kein  besonders  hervorragender 
Seemann,  wie  man  ihm  überhaupt  außerordentliche  oder  geniale 
Geistesgaben  aufser  seiner  unerschütterlichen  Energie  nicht  nachzu- 
rühmen vormag.  Aber  zur  Ausführung  dieser  grofsen  Entdeckung 
gehörte  eben  in  erster  Linie  nur  Thatkraft  und  Unerschrocken- 
heit, welche  vor  ihm  niemand  in  diesem  Mafse  besessen  hatte.  Die 
nothwendige  geistige  Vorarbeit  war  längst  geschehen.  Columbus 
war  jedoch  zweifellos  im  stände,  geographische  Breitenbestimmungen 
zur  See  zu  machen  und  bestimmte  auch  die  geographische  Länge  aus 
einer  beobachteten  Mondfinstemiss.  Hierzu  benutzte  er  höchst  wahr- 
scheinlich die  1474  oder  1476  im  Drucke  erschienenen  astronomischen 
Tafeln  des  Regiomontan  (Johannes  Müller  von  Königsberg),  welche 
für  die  Jahre  1475 — 1506  die  Mondfinsternisse  vorausberechnet  ent- 
hielten, und  zwar  waren  dieselben  gegen  die  bereits  vorhin  erwähnten 
alfonsinisohen  Tafeln,  entsprechend  den  inzwischen  aufgetretenen 
Differenzen,  welche  sich  für  Mondfinsternisse  damals  bereits  auf  eine 
volle  Stunde  beliefen,  nach  der  Beobachtung  wesentlich  verbessert. 
Columbus  verwendete  also  flülfsmittel,  die  einem  seemännisch  und 
•wissenschaftlich  ungebildeten  Menschen  nicht  zugänglich  gewesen 
wären. 

Offenbar  wurde  er  aber  auch  vom  Glücke  ganz  besonders 
begünstigt,  wie  das  bei  großen  Entdeckungen  und  Erfindungen  ja  die 
Regel  zu  sein  pflegt.  Hätte  er  beispielsweise  den  gegenwärtig 
üblichen  Seeweg  nach  Amerika  gewählt,  d.  h.  wäre  er  viel  nördlioher 


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gefahren,  wie  das  ja  nach  der  Karte  des  Toscanelli  und  namentlich 
auch  wegen  des  kleineren  Umfanges  der  nördlicheren  Parallelkreise 
am  praktischsten  gewesen  wäre,  so  hätte  er  in  die  Region  der  ver- 
änderlichen Westwinde  geratlien  müssen,  die  hier  im  September  und 
Oktober  wüthen.  Nach  der  Breite  geordnet  ergiebt  sich  folgende 
Uebersicht  für  die  Herbstmonate: 

26°  — 30°  N.  haben  9 Sturmtage, 

30  — 35  „22 

35  — 40  „32 

40  — 46  „36 

46  — 50  „29 

Auf  dem  Wege  des  Columbus,  welcher  unweit  des  26.  Parallel- 
kreises lag,  findet  also  im  Herbst  das  Minimum  der  Stürme,  auf  den 
gegenwärtigen  Dampferwegen  dagegen  das  Maximum  statt,  da  dieselben 
zwischen  40  und  50  Grad  liegen. 

Jene  drei  kleinen  Fahrzeuge,  von  denen  wir  ein  Abbild  in  unserm 
letzten  Oktoberhefte  gaben,  waren  es,  welche  dem  kühnen  Entdecker 
nach  neunjährigen  unermüdlichen  Verhandlungen  von  der  spanischen 
Regierung  überwiesen  wurden,  um  mit  ihnen  das  unbekannte 
Weltmeer  zu  durchkreuzen.  Ein  wie  kühner  Entschlufs  dies  war, 
das  können  wir  heute  garnicht  mehr  nachfühlen.  Man  bedenke,  dafs 
bis  dahin  kein  Seefahrer  des  zivilisirten  Abendlandes  es  gewagt  hatte, 
sich  jemals  auf  mehr  als  ganz  kurze  Zeit  aufser  Sicht  des  Landes  zu 
begeben.  Es  fehlton  ja  noch  alle  Erfahrungen  und  zuverlässigen  Hilfs- 
mittel der  Orientirung  auf  offener  See.  Der  Kompafs  war  allerdings 
schon  bekannt  und  zeigte  den  Schiffern  ihren  geraden  Weg;  auch  ver- 
stand man  es,  duroh  einfache  Vorrichtungen  die  Geschwindigkeit  des 
Schiffes  ungefähr  zu  bestimmen.  Ging  also  die  Fahrt  glatt,  so  konnte 
man,  mit  Hilfe  des  Kompasses  dieselbe  Richtung  stets  innehaltend, 
duroh  Aufzeichnung  der  zurückgelegten  Meilenzahl  auf  einer  Karte, 
wohl  ungefähr  den  Ort  angeben,  auf  welchem  man  sich  befinden 
inufste,  selbst  wenn  das  Land  einmal  nicht  in  Sicht  war.  Endlich 
wufste  man  ja  selbst  bereits  im  Alterthume,  dafs  der  Polarstern  sich 
um  so  höher  über  den  Horizont  erhebt,  je  weiter  man  sich  nach  Nor- 
den begiebt.  Man  konnte  also  die  geographische  Breite  durch  ein- 
fache Wrinkelmessung  der  Polarsternhöhe  in  roher  Weise  bestimmen, 
wozu  meistens  das  primitive  Astrolabium  angewendot  wurde.  Die 
Messung  geschah  natürlich  mit  freiem  Auge,  da  bekanntlich  das  Fern- 
rohr erst  mehr  als  ein  Jahrhundert  nach  der  Entdeckung  Amerikas 
erfunden  wurde.  Mit  diesen  Hilfsmitteln  waren  Fehler  bis  zu  fünf 


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Breitengraden,  gleich  75  geographischen  oder  dreihundert  See-Meilen, 
keine  Seltenheit.  Und  nun  gar,  wenn  ein  Sturm  das  Schiff  verschlug, 
das  mufste  demselben  sicheres  Verderben  bringen. 

In  diese  Schrecknisse  des  offenen  Meeres  verwegenen  Muthes 
aus  freiem  Willen  hineinzusteuern,  wo  der  stets  rege  Aberglaube  des 
Seemanns  volkes  die  abenteuerlichsten  Gefahren  hin  verlegt  hatte,  Wochen, 
Monate  lang  auf  unbekannter  Fährte,  wohin  sich  keino  Menschenseele 
bisher  gewagt  hatte,  einem  unbekannten  Lande  entgegen,  dazu  ent- 


öle Saute  Marie 

Tholo^raphio  dos  von  Hahr  in  der  Urania  nach  der  hypothetischen  Hoconatruktion 
von  Itafael  Monleon  hrrgos  teilten  Motlelloa. 

schlossen  sich  diese  heroischen  Menschen,  und  ein  nicht  zu  gering 
anzuschlagender  Triumph  der  felsenfesten  Energie  des  Columbus  mufs 
es  genannt  werden,  dafs  es  ihm  gelang,  120  Menschen  zu  finden,  die 
mit  ihm  das  Wagnifs  unternahmen. 

Auf  dem  gröfsten  der  drei  Schiffe,  der  Santa  Maria,  schiffte  sich 
Columbus  selbst  ein.  Die  beiden  anderen,  die  Pinta  und  die  Nina, 
wurden  von  den  Brüdern  Pinzon  befehligt,  gewiegten  Seeleuten,  die 
sich  ihm  angeschlossen  hatten. 

Und  nun  geht  es  mit  vollen  Segeln  verwegen  hinaus  in  die 
grenzenlose  Wasserwüste!  Was  wird  ihnen  die  Zukunft  bringen? 


260 


Die  meisten,  welche  sie  damals  hinaussogeln  sahen,  werden  einen  Strich 
durch  das  Buch  ihres  Schicksals  gemacht  haben;  denn  als  am  3.  August 
1492  diese  Schiffe  aus  dem  Hafen  von  Palos,  welcher  unweit  von  Cadix 
liegt,  hinausliefen,  werden  wohl  nur  wenige  geglaubt  haben,  dafs  man 
diese  kühnen  Menschen  jemals  Wiedersehen  würde. 

Was  nun  auf  offener  See  geschah,  welche  Beobachtungen  dort 
angestellt  wurden,  wie  die  Stimmung  des  Führers  und  der  Mannschaft 
wechselte,  darüber  hat  Columbus  selbst  ein  ausführliches  Tagebuch 
geschrieben,  aber  leider  sind  uns  nur  aus  zweiter  oder  dritter  Hand 
Auszüge  daraus  überkommen.  Das  Original  ist  verloren  gegangen. 
So  kommt  es,  dafs  wir  über  diese  wichtigste  aller  Entdeckungen,  was 
die  Einzelheiten  betrifft,  nur  Nachrichten  besitzen,  die  fast  nach  allen 
Seiten  hin  angezweifelt  werden  können. 

Nur  Folgendes  läfst  sich  hierüber  mit  einiger  Bestimmtheit 
sagen,  das  uns  interessiren  kann. 

Columbus  nahm  zunächst  seinen  Weg  nach  Südwesten,  um  die 
Kanarischen  Inseln  zu  erreichen,  wo,  wie  schon  gesagt,  die  Trace  des 
Toscanolli  begann.  Dort  angekomraen,  mufste  eines  der  Schiffe 
ausgebessert  werden,  das  bereits  auf  dieser  kurzen  Strecke  bedenk- 
lichen Schaden  erlitten  hatte.  Es  wurde  auch  das  ganze  System  der 
Takelung  umgearbeitet.  Dieser  Zwischenfall  beunruhigte  jedoch  die 
wagehalsigen  Unternehmer  nicht  weiter.  Sie  stachen  am  6.  September 
in  See,  um  nun  endgültig  die  alte  Welt  zu  verlassen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


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Das  Meer,  seine  Erforschung  und  deren  Ergebnisse, 

Von  Admiralitätsrath  Huttok  in  Berlin. 


<^Mur  Bestimmung  des  spezifischen  Gewichts  und  der  Zu- 
sammensetzung des  Seewassers  ist  es  erforderlich, 
Wasserproben  aus  verschiedenen  Tiefen  zu  schöpfen.  Die  hier- 
zu verwendeten  Apparate  müssen  so  eingerichtet  sein,  dafs  das  in  be- 
stimmter Tiefe  geschöpfte  Wasser  sich  beim  Aufholen  nicht  mit  dem 
Wasser  anderer  Schichten  mischt.  Bei  geringen  Tiefen  wird  häufig  eine 
mit  einem  Kork  verschlossene  Flasche  benutzt,  die  durch  eine  am 
Korken  befindliche  Leine  in  der  bestimmten  Tiefe  geöffnet  und  sodann, 
nachdem  sie  sieh  mit  Wasser  gefüllt,  möglichst  schnell  aufgeholt  wird. 

Die  älteren,  für  gröfsere  Tiefen  verwendeten  Schöpfapparate  be- 
stehen aus  einem  Gefäfs  mit  Ventilen,  die,  beim  Ilinablasson  durch 
den  Wasserdruck  offen  gehalten,  beim  Wiederaufhoion  sich  schliefsen. 
Auf  den  grofsen  Forschungsreisen  hat  sich  ein  neuer,  von  Meyer 
konstruirter  Schöpfapparat,  welcher  durch  die  Figuren  10  bis  12 
dargestellt  ist,  gut  bewährt.  Auf  vier  metallenen  Rundstäben  A gleitet 
ein  Messingzylinder  B auf  und  ab.  Am  unteren  Theil  sind  zwischen 
den  Rundstäben  in  entsprechender  Entfernung  von  einander  2 Metall- 
platten a mit  konischen  Randüüehen  befestigt,  welche  genau  in  die 
beiden  ebenso  abgeschliffenen  Bodenflächen  des  Zylinders  passen,  so 
dafs  der  letztere,  wenn  er  über  dieselben  gleitet,  fest  abgeschlossen 
ist  (Fig.  1 1).  Ein  aus  Stange  und  Platte  bestehender  Untersatz  c 
verhütet  das  zu  tiefe  Einsinken  des  Apparates  in  den  Meeresboden 
und  soll  das  Aufstosscn  auf  Steine  unmöglich  machen.  Beim  Ver- 
senken des  Apparates  mittelst  der  Lothleine  wird  der  Cylinder  oberhalb 
der  Bodenplatten  nufgehängt,  und  zwar  beim  Hinablassen  auf  den 
Grund  mittelst  Schnur  über  einem  an  der  Leine  befestigten  Haken  F; 
beim  Aufstossen  auf  den  Meeresboden  dreht  sich  infolge  Schlaffwerdens 
der  Leine  der  Haken,  die  Schnur  gleitet  von  demselben  ab  und  der 
Zylinder  sinkt  abwärts  über  die  Bodenplatten,  wodurch  das  zwischen 


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262 


denselben  befindliche  Wasser  eingesohlossen  wird.  (Fig.  11).  Soll  aus 
irgend  einer  mittleren  Tiefe  Wasser  geschöpft  werden,  so  wird  der 
Zylinder  mittelst  zweier  Oesen  an  2 Zapfen  h (Fig.  12)  einer  an  der 
Leine  angebrachten  Platte  aufgehängt;  über  die  Zapfen  greift  an  der 
Innenseite  der  Oesen  eine  über  die  Leine  gestreifte  elastische  Gabel  G 
mit  ihren  Enden;  hat  der  Apparat  die  gewünschte  Tiefe  erreicht,  so 
wird  ein  Laufgewicht  K an  der  Leine  hinabgelassen,  durch  dasselbe 
die  Gabel  auseinander  gespreizt,  die  Oesen  von  den  Zapfen  gestreift 
und  der  Zylinder  gleitet  wie  vorher  abwärts. 


Das  geschöpfte  Wasser  wird  entweder 
gleich  an  Bord  untersucht  oder  behufs 
späterer  Prüfung  in  den  Laboratorien  an 
Land  in  gut  verschlossenen  Flaschen  auf- 
bewahrt. Der  Salzgehalt  oder  das  spezifische 
Gewicht  des  Wassers  wird  entweder  mittelst 
Aräometers  direkt  bestimmt,  oder  es  wird 
auf  chemischem  Wege  der  Chlorgehalt  er- 
mittelt und  aus  diesem,  welcher  zu  dem  Salz- 
gehalt des  Seewassers  in  einem  nahezu  kon- 
stanten Verhältnifs  steht  (der  Salzgehalt 
beträgt  das  l,81faohe  des  Chlorgehalts  l,  der 
letztere  abgeleitet.  An  Bord  ist  erstero  Me- 
thode ihrer  Einfachheit  wegen  die  gebräuch- 
liche. 

Im  Seewasser  sind  bis  jetzt  32  chemische 
Grundstoffe  uachgewiesen  worden.  Die 
Hauptbestandteile  des  Seesalzes,  welches 
dem  Wasser  den  eigentümlich  salzigbitteren 
Geschmack  verleiht,  bilden  Chlornatrium, 
Chlormagnesium,  .Magnesiumsulfat  (Bittersalz),  Calciumsulfat  (Gips) 
und  Chlorcalcium.  Der  Salzgehalt  ist  abhängig  von  der  Verdunstung, 
der  Eisbildung,  den  Niederschlägen  und  der  sonstigen  Süfswasserzu- 
fuhr.  Im  offenen  Ozean  ist  er  sehr  konstant  und  nur  geringen 
Schwankungen  unterworfen;  er  beträgt  hier  3,376  pCt.  bis  3,764  pCt., 
das  spezifische  Gewicht  entsprechend  1,025  bis  1,028.  In  Binnen- 
und  Küstengewässern  finden  sich  infolge  der  Siifswasserzuflüsse, 
stärkerer  Verdunstung  und  anderer  lokalen  Einflüsse  gröfsere  Diffe- 
renzen. Die  horizontale  Verteilung  des  Salzgehaltes  ist  aus  ähn- 
lichen Gründen  in  der  Tiefe  eine  gleiohmäfsigere  als  an  der  Ober- 
fläche. Im  offenen  Ozean  ist  der  Salzgehalt  des  Oberilächenwassers 


Fig.  10.  Fig.  1 1 Fig.  12. 


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263 

am  gröfsten  in  den  Gebieten  der  trockenen  Winde,  also  in  den  Passat- 
zonen, am  geringsten  in  den  aequatori&len  Kalmengebieten  mit  starken 
Niederschlägen.  Von  der  Oberlliiohe  nach  der  Tiefe  nimmt  der  Salz- 
gehalt im  allgemeinen  ab  und  zwar  bis  zur  Tiefe  von  1500 — 1800  m, 
um  dann  bis  zum  Meeresboden  wieder  zuzunehmen. 

An  (lasen  sind  hauptsächlieh  Luft  und  Kohlensäure  im  Wasser 
enthalten.  Die  Luft  unterscheidet  sich  in  ihrer  Zusammensetzung 
jedoch  von  derjenigen  der  Atmosphäre;  während  die  letztere  20,9  pCt. 
Sauerstoff  und  79,1  pCt.  Stickstoff  enthält,  wird  die  Luft  des  Seewassers 
aus  34,9  pCt.  Sauerstoff  und  65,1  pCt.  Stickstoff  gebildet.  Der  Sauer- 
stoffgelialt  ist  geringen  Schwankungen  unterworfen  und  nimmt  mit  der 
Tiefe  gewöhnlich  ab,  woraus  auf  ein  reiches  Thierleben  daselbst  ge- 
schlossen worden  ist. 

Die  Farbe  des  Wassers  im  Ozean,  über  welche  Beobachtungen 
mit  Zuhilfenahme  einer  zusammengestellten  Farbenskala  stattfinden, 
ist  blau  bis  griin,  während  das  Seewasser  in  kleinen  Mengen  und  im 
durchgehenden  Licht  wie  das  Süfswasser  völlig  klar  und  farblos  er- 
scheint. Es  scheinen  hiernach  die  blauen  Lichtstrahlen  vom  Meer- 
wasser refiektirt,  die  übrigen  rothen  und  gelben  absorbirl  zu  werden. 
Die  verschiedenen  Nüanzirungen  zwischen  blau  und  grün  sind  von 
dem  Salzgehalt,  der  Temperatur,  der  Tiefe,  der  Beschaffenheit  des 
Meeresbodens,  sowie  etwaigen  Beimengungen  des  Wassers  abhängig. 
Je  gröfser  der  Salzgehalt  und  je  höher  die  Temperatur,  desto  tiefer 
blau  ist  es  im  allgemeinen  gefärbt;  mit  der  Abnahme  beider  erblafst 
das  Blau  und  geht  in  Grün  über.  Auch  in  Gewässern  mit  geringer 
Tiefe,  und  besonders  bei  hellem,  kalkigem  oder  sandigem  Grunde  ist 
die  grüne  Farbe  vorherrschend.  Die  schmutzig  braune  oder  gelbe 
Färbung,  wie  man  sie  hauptsächlich  in  und  vor  Flufsmiindungen  und 
in  Häfen  trifft,  rührt  von  mechanischen  Beimengungen  und  Verun- 
reinigungen des  Wassers,  entweder  durch  die  schlammigen  Boden- 
bestandtheile,  oder  durch  die  von  den  Flüssen  mitgeführten  Massen  her. 
Nicht  selten  giebt  eine  grofse  Menge  im  Meere  treibender,  kleiner 
thierischer  oder  pflanzlicher  Organismen  demselben  auf  weite  Strecken 
eine  eigentümliche  Färbung,  die  oft  genug  den  Seemann  Klippen 
und  Untiefen  haben  fürchten  lassen.  So  beobachtete  das  deutsche 
Kriegsschiff  Vineta  im  Japanischen  Meere  eine  eigentümlich  gelbe 
Färbung  des  Wassers,  welche  sich  in  langen  Streifen  weithin  erstreckte, 
und  fand,  dafs  dieselbe  von  gelben  Samenkapseln  einer  Pflanze  her- 
rührte. Montagne  sah  im  Jahre  1845  gegenüber  der  Tajo-Mündung 


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8 km  lange-,  blutrothe  Streifen  einer  Algenart  (Protocoocus  Atlanticus), 
in  denen  40000  Individuen  auf  einem  Quadratmillimeter  sich  befanden. 

Ebenso  ist  das  Me  er  leuchten,  jene  oft  so  grofsartige  Er- 
scheinung, welche  das  Meer  in  ein  auf  unabsehbare  Flächen  funkelndes 
und  glitzerndes  Feuermeer  verwandelt,  und  das  wie  durch  Flammen 
gleitende  Sohiff  mit  hellem  Silberschein  erleuchtet,  auf  thierische  Orga- 
nismen zurückzuführen.  Nachdem  festgestellt  ist,dafseine  greisere  Anzahl 
von  Seethieren,  zum  Theil  von  mikroskopischer  Kleinheit,  das  Vermögen, 
mit  phosphoreszirendem  Licht  zu  leuchten,  besitzen,  wurden  alle  früheren 
Erklärungen,  welche  die  Ursache  des  Meerleuohtens  in  einem  spezifi- 
schen Leuchtstoff,  in  der  Insolation,  Elektrizität,  der  Anwesenheit  von 
Phosphor  u.  a.  suchten,  hinfällig.  Die  Leuchtorgane  befinden  sich 
bei  den  verschiedenen  Thiercn  in  sehr  verschiedenen  Körperthoilen; 
selten  leuchtet  das  ganze  Thier.  Die  Farbe  des  entsendeten  Lichts 
ist  vorwiegend  weifs  und  bläulich,  seltener  grün,  gelb  oder  roth. 
Meistens  wird  das  Leuchten  durch  mechanischen  Reiz  auf  die  Thiere 
hervorgerufen  resp.  verstärkt,  daher  die  sohönsten  Erscheinungen  auf 
den  Wellenkämmen  und  im  bewegten  Wasser  beobachtet  werden : mit 
dem  Tode  des  Thieres  hört  das  Leuchtvermögen  auf. 

Die  Durchsichtigkeit  des  Meerwassers  wird  durch  Ver- 
senken von  hellen  Scheiben  gemessen,  indem  man  die  Tiefe  feststellt, 
in  welcher  diese  dem  Auge  verschwinden.  Die  Resultate,  welche  man 
hierdurch  erhalten  hat,  lauten  sehr  verschieden,  und  schwanken 
zwischen  2 und  145  m.  Die  neuesten  zuverlässigen  Beobachtungen 
ergaben  als  gröfste  Tiefe,  bis  auf  welche  die  Scheiben  erkennbar 
blieben,  40 — 55  m;  frühere  Angaben  von  100  m scheinen  auf  optischen 
Täuschungen  zu  beruhen.  Die  Verschiedenheit  der  Resultate  findet 
ihren  natürlichen  Grund  in  der  Unsicherheit  der  angewendeten  Methode. 
Die  Eintauchungstiefe  der  Scheiben  bis  zum  Verschwinden  ist  nämlich 
nioht  nur  von  der  Gröfse  und  Beschaffenheit  derselben,  sondern  auch 
von  dem  Auge  und  der  Individualität  des  Beobachters,  der  Beleuchtung 
und  dem  Stande  der  Sonne,  dem  Zustand  der  Atmosphäre  und  der 
Meeresoberfläche  abhängig.  Durch  Verunreinigung  und  Trübung  des 
Wassers  wird  selbstverständlich,  ebenso  wie  durch  eine  bewegte  Ober- 
fläche, die  Sichtweite  beeinträchtigt.  Dieser  unsicheren  Methode  gegen- 
über hat  man  in  neuerer  Zeit  die  Eindringungstiefe  des  Lichtes  in 
die  Tiefen  dos  Meeres  auf  einem  objektiveren  Wege  zu  bestimmen 
versucht,  indem  photographisch  präparirte  Platten  versenkt  und  in  der 
Tiefe  den  Wirkungen  des  eindringenden  Lichtes  ausgesetzt  wurden. 


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!265 


Forel  fand  auf  diese  Weise  im  Genfer  See  ira  Sommer  eine  Eindrin- 
gungstiefe  bis  zu  45  m,  im  Winter  bis  zu  100  m.  Fol  und  Sarasin 
dagegen  stellten  um  die  Mittagszeit  bei  Nizza  noch  eine  Lichtwirkung 
in  400  m Tiefe  fest,  Petersen  bei  gröfserer  Entfernung  von  der  Küste 
in  550  m.  Die  so  gefundenen  Eindringungstiefen  gelten  natürlich 
nur  für  die  ohemisch  wirksamen,  d.  h.  die  violetten  und  ultravioletten 
Strahlen  des  Lichtspektrums,  während  die  rothen  und  ultrarothen 
Wärmestrahlen  schon  in  geringeren  Tiefen  absorbirt  werden. 

Die  Meereswellen.  Die  übertriebenen  Vorstellungen,  welche 
über  die  Dimensionen  der  Wellen  vielfach  herrschten  und  theilweise 
jetzt  noch  nicht  ganz  verdrängt  sind,  lassen  sich  durch  eine  Reihe 
an  Bord  angestellter  Beobachtungen  richtig  stellen.  Dieselben  er- 
strecken sich  auf  die  Feststellung  der  Höhe,  Länge,  Geschwindigkeit 
und  Periode  der  Wellen.  Unter  Höhe  versteht  man  den  Niveauunter- 
schied zwischen  Wellenkaram  und  Wellenthal,  unter  Länge  den  hori- 
zontalen Abstand  von  Wellenkamm  zu  Wellenkamm,  und  unter  Periode 
das  Zeitintervall,  welches  verstreicht,  bis  ein  Wellenkamm  denselben 
Ort  erreicht  wie  der  vorhergehende.  Die  Höhe  der  Wellen  wird  am 
einfachsten  dadurch  bestimmt,  dafs  man,  wenn  sich  das  Schiff  im  Wollen- 
thal befindet,  am  Mast  emporsteigt,  bis  man  in  der  Visirlinie  der 
nächsten  Wellenkämme  den  Horizont  sieht;  die  leicht  festzustellende 
Augeshöhe  des  Beobachters  ist  dann  gleich  der  Wellenhöhe.  — Die 
Bestimmung  der  Wellenhöhe  durch  die  Standdifferenzen  eines  sehr 
empfindlichen  Aneroidbarometers,  wenn  sich  das  Schiff  im  Thal  und 
auf  dem  Kamm  der  Welle  befindet,  hat  keine  besseren  Resultate  er- 
geben als  die  erstere  Methode. 

Die  Geschwindigkeit  der  Wellen  wird  ermittelt  durch  Beobach- 
tung der  Zeit,  welche  eine  Welle  zum  Zurücklegen  einer  bestimmten, 
am  Schiff  abgemessenen  Distanz  gebraucht;  natürlich  mufs  hierbei 
die  Geschwindigkeit  des  Schiffes  selbst  und  seine  Bewegungsrichtung 
berücksichtigt  werden.  Die  Wellenlänge  ergiebt  sich  aus  der  Zeit, 
welche  zwischen  dum  Passiren  zweier  auf  einander  folgenden  Wellen- 
kämme an  ein  und  derselben  Stelle  des  Schiffes  verlliefst,  und  der 
ermittelten  Geschwindigkeit,  ebenfalls  unter  Berücksichtigung  der 
Eigenbewegung  des  Schiffes.  — Die  Periode  schliefslich  ist  gleich 
dem  Quotienten  aus  Länge  und  Geschwindigkeit. 

Die  mächtigsten  Wellen  entstehen  dort,  wo  ein  kräftiger  Wind 
beständig  über  eine  weite  Meereslliiche  weht,  wie  dies  namentlich  in 
dem  Gebiete  der  Westwinde  auf  hohen  südlichen  Breiten  der  Fall  ist; 
die  Challenger  fand  hier  eine  Maximal-IIöhe  von  7 m,  die  Novara  von 


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266 


9 und  11  m,  Scoresby  12,2  m.  Der  französische  Lieutenant  Paris 
berechnete  aus  4000  Beobachtungen  für  das  südatlantische  Westwind- 
gebiet im  Mittel  eine  Höhe  von  4 in,  in  allen  übrigen  Regionen  des 
Atlantischen,  Indischen  und  Stillen  Ozeans  von  2 bis  3 m;  seine 
gröfste  beobachtete  Höhe  betrug  11,5  m.  — lieber  die  Wellenlänge 
geben  vereinzelte  Beobachtungen  300  bis  400  m an;  Lieutenant  Paris 
erhielt  als  Mittel  aus  seinen  vielen  Beobachtungen  für  das  bezeichnete 
südliche  Westwindgebiet  133  m.  Für  dasselbe  Gebiet  giebt  er  eine 
Wellengeschwindigkeit  von  14  m in  der  Sekunde  au,  während  sie  im 
Uebrigen  nach  seinen  Beobachtungen  meist  zwischen  11  und  12,/2  m 
liegt,  demnach  gröfser  ist  als  die  Geschwindigkeit  der  schnellsten 
Postdampfer. 

Die  Meeresströmungen  sind  nicht  nur  für  die  Schifffahrt  von 
grofsem  Interesse,  sondern  haben  auch  für  die  klimatischen  Verhält- 
nisse, die  Wärmevertheilung,  Nebel  und  Niederschläge  grofser  Küsten- 
gebiete eine  besondere  Bedeutung.  Schon  frühzeitig  mufste  man  sich 
dieser  Bedeutung  bewufst  werden  und  sich  die  Erforschung  der 
Strömungen  angelegen  sein  lassen.  Bei  dem  grofsen  Arbeitsfelde  und 
dem  verhältnifsmäfsig  spärlichen  und  mangelhaften  Beobachtungs- 
material  war  diese  Aufgabe  keine  leichte,  und  erst  mit  der  Zeit  konnte 
durch  die  Gesamtheit  vieler  Beobachtungen  ein  richtiges  Bild  von 
den  grofsen  Wasserbewegungen  der  Ozeane  zusammengestellt  werden. 
Ebenso  schwierig  war  es,  den  Zusammenhang  und  die  LTrsachen  der 
mannigfachen  Stromläufe  zu  erkennen.  Lange  Zeit  hindurch  sah 
man  in  dem  Unterschiede  der  Temperaturen  und  Dichtigkeiten  des 
Wassers  das  Hauptagens  der  Strömungen.  Während  Kepler  und 
Kant  die  Erklärung  der  aequatorialen  Strömungen  in  der  Axendrehung 
der  Erde  fanden,  führte  bereits  Leonardo  da  Vinci  die  meridio- 
nalen  Strömungen  auf  den  Wiirmeuntorschied  zwischen  den  äquatoria- 
len und  polaren  Gewässern  zurück,  welcher  ein  Abfliefsen  des  leichte- 
ren Oberflächenwassers  vom  Aequator  nach  den  Polen  zu  bewirkt 
und  zum  Ersatz  dieses  Wassers  eine  umgekehrte  Bewegung  in  der 
Tiefe  von  den  Polen  zum  Aequator.  Durch  neuere  Untersuchungen 
und  Studien  ist  jedoch  der  Beweis  geliefert,  dafs  thermische  und  gra- 
vitatorische  Differenzen  Bewegungen  in  so  gewaltigem  Mafsstabe  nicht 
erzeugen  können,  dafs  vielmehr  in  den  Winden  in  erster  Linie  die 
Erreger  und  die  Ursache  der  Strömungen  zu  suchen  sind;  gleichwohl 
darf  den  Temperatur-  und  Dichtigkeitsunterschieden,  ebenso  wie  der 
Rotation  der  Erde  ein  Einflufs  auf  die  Strömungen  nicht  abgesprochen 
werden. 


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267 


Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  hier  ein  detaillirtes  Bild  der 
Meeresströmungen  zu  entwerfen;  nur  in  groben  Zügen  möge  ihr 
Verlauf  skizzirt  werden  zur  Erhärtung  der  letztgenannten  Theorie, 

In  allen  Ozeanen  finden  wir  in  der  Aequatorialgegend  infolge 
der  Passatwinde  eine  Strömung  von  Ost  nach  West  (Aequatorial- 
strömung),  welche  auf  die  Ostküsten  der  Kontinente  stofsend,  naoh 
Norden  und  Süden  umbiegend,  diesen  Küsten  folgt.  Durch  die 
Rotation  der  Erde  tritt  eine  allmähliche  Absobwenkung  dieser  nun 
meridional  gerichteten  Wasserläufe  ein,  auf  der  nördlichen  Halbkugel 
nach  rechts,  auf  der  südlichen  nach  links,  bis  dieselben  in  die  unter 
dem  Einflurs  der  Westwinde  auf  den  höheren  Breiten  erzeugten,  von 
Westen  nach  Osten  die  Ozeane  durchquerenden  Strömungen  zum 
gröfsten  Theil  übergehen.  Bei  dem  Anprall  der  letzteren  an  die 
Westküsten  der  Kontinente  findet  wiederum  eine  Ablenkung  derselben 
statt  und  ein  Theil  fliefst,  den  Konturen  des  Landes  folgend,  wieder 
dem  Aequator  zu.  In  allen  Ozeanen  prägt  sich  also  ein  vollkomme- 
ner Kreislauf  aus,  der  auf  der  nördlichen  Halbkugel  im  Sinne  der 
Bewegung  des  Zeigers  einer  Uhr,  auf  der  südlichen  Hemisphäre  in 
entgegengesetzter  Richtung  stattfiudet. 

Zur  Bestimmung  des  Stromes  werden  in  erster  Reihe  schwimmende 
Körper  verwandt,  indem  man  dieselben  von  einem  festen  Punkte, 
einem  verankerten  Schiff  oder  Boot  aus  mit  dem  Strome  treiben  läfst 
und  den  während  einer  bestimmten  Zeit  von  denselben  zurückgelegten 
Weg  nach  Entfernung  und  Richtung  feststellt.  Gewöhnlich  wird  hierzu 
das  zur  Bestimmung  der  Fahrt  eines  Schiffes  dienende  Schiffslog 
benutzt,  aus  einem  Holzsektor  und  daran  befestigter  Leine  bestehend, 
welches  bereits  früher  in  dieser  Zeitschrift  (Jahrg.  III  S.  248  u.  f.) 
genauer  beschrieben  ist. 

Ein  weiteres,  allerdings  weniger  genaues  Mittel  bieten  Treib- 
körper, die  entweder  durch  Zufall  in  das  Meer  gelangt  sind,  wie  Holz, 
Früchte  und  andere  Pflanzentheile,  oder  Flaschen,  die  mit  Sand  be- 
schwert und  gut  verschlossen  von  einem  Schiffe  auf  See  über  Bord 
gesetzt  werden.  Beim  Wiederauffinden  der  Flasche  läfst  der  in  der- 
selben befindliche  Zettel  mit  Angaben  über  Zeit  und  Ort,  wo  dieselbe 
über  Bord  geworfen,  den  mit  Hülfe  der  Meeresströmung  von  der  Flasche 
zurückgelegten  Weg  berechnen.  Auch  von  diesen,  den  sogen.  „Flaschen- 
posten“ ist  an  anderer  Stelle  eingehender  die  Rede  gewesen. 

Auf  See  giebt  der  Unterschied  zwischen  dem  Wege,  welchen  ein 
Schiff  nach  astronomischen  Ortsbestimmungen  und  demjenigen,  welchen 
es  nach  Kompafs  und  Log  zurückgelegt  hat,  einen  guten  Anhalt  über 


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den  Strom.  Täglich  pflegt  nämlich  die  Position  des  Schiffes  sowohl 
astronomisch,  als  nach  Kurs  und  Fahrt  von  dem  letzten  astronomisch 
bestimmten  Punkte  ausgehend,  festgelegt  zu  werden;  findet  sich  zwischen 
beiden  ein  Unterschied,  so  wird  dieser  Unterschied  der  Wirkung  des 
Stromes  zugeschrieben.  Es  ist  klar,  dafs  auch  diese  Strombestimmung 
nicht  einwandsfrei  ist,  dato  ungenaues  Steuern,  Störungen  des  Kompasses, 
wie  sie  bei  eisernen  Schiffen  nicht  ganz  zu  vermeiden  sind,  Fehler 
in  der  Fahrtmessung  odor  in  der  astronomischen  Ortsbestimmung,  die 
Wirkung  von  Wind  und  Seegang  auf  das  Schiff  (Abtrifft),  an  dem  ge- 
nannten Besteokunterschied,  der  lediglich  als  Stromversetzung  an- 
gesehen wird,  einen  gröfseren  oder  geringeren  Antheil  haben  können. 

Bei  einer  grofsen  Anzahl  von 
Beobachtungen  darf  man  je- 
doch annehmen,  dafs  die  er- 
wähnten Fehler  sich  aus- 
gleichen,  und  man  aus  allen 
zusammen  ein  einigermafsen 
zuverlässiges  Resultaterhält. 

Weniger  einfach  als  an 
der  Oberfläche  bestimmt  sich 
der  Strom  in  der  Tiefe.  Auch 
hierzu  verwendet  man  Treib- 
körper, die,  in  die  Tiefe  Ver- 
sen kt,  von  einem  an  der  Ober- 
fläche schwimmenden  Holz- 
klotz oder  ähnlichen  Gegenstand  getragen  werden. 

Der  von  dem  französischen  Physiker  Aimö  konstruirte  Strom- 
zeiger (Fig.  13)  besteht  aus  einem  windfahnenähnliohen  Pfeil  P,  der 
unter  einem  Cylinder  C befestigt,  horizontal  in  die  Tiefe  gelassen  wird. 
Im  Innern  des  Cy lindere  bewegt  sich  eine  horizontal  sohwingende  Magnet- 
nadel M,  und  Uber  derselben  befindet  sich  eine  durch  Führungsstange  F 
auf  und  nieder  zu  bewegende  Platte  D mit  Zahneinschnitten  z.  Nachdem 
sich  der  Pfeil  in  der  Tiefe  in  Richtung  des  Stromes  eingestellt,  wird 
die  Platte  mit  ihren  Zähnen  über  die  Magnetnadel  gestreift,  die  letztere 
dadurch  festgestellt,  und  somit  der  Winkel  zwischen  Pfeil  und  Magnet- 
nadel, also  die  Stromrichtung,  fixirt. 

Auch  zur  Bestimmung  der  Stromgeschwindigkeit  in  der  Tiefe 
sind  besondere  Apparate  konstruirt,  wie  der  Geschwindigkeits- 
messer von  Amsler-Laffon  und  von  Arwidson.  Bei  dem  ereteren 
stellt  sich  ein  in  die  Tiefe  versenkter  Schraubenflügel  mittelst  eines 


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auf  seiner  Axe  befindlichen  Steuers  auf  den  Strom  ein  und  wird  durch 
denselben  in  rotirende  Bewegung  gesetzt.  Die  Umdrohungsanzahl  des- 
selben, welche  in  bestimmtem  Verhältnifs  zur  Stromgeschwindigkeit 
steht,  wird  mittelst  einer  auf  der  Axe  der  Schraube  befindlichen 
Schnecke  auf  ein  Zäldwerk  übertragen;  das  Zählwerk  steht  mit  einer 
elektrischen  Leitung  in  Verbindung,  durch  welche  es  nach  Zuriick- 
legung  von  je  100  Umdrehungen  dem  Beobachter  ein  Signal  giebt  und 
denselben  somit  in  den  Stand  setzt,  die  Stromgeschwindigkeit  hiernach 
zu  berechnen. 

Der  Arwidsonsche  Apparat  beruht  auf  dem  Prinzipe  des 
Robiusonschen  Schalenkreuzes,  welches  in  der  Tiefe  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Stromes  in  Bewegung  gesetzt  und  wieder  arretirt  werden 
kann,  und  dessen  Umdrehungen  ebenfalls  auf  ein  Zählwerk  über- 
tragen werden. 

Das  Thierleben  des  Meeres  ist  ein  so  reiches,  sowohl  nach 
der  Zahl  der  Arten  als  der  Individuen,  von  den  primitivsten  Formen 
bis  zu  einem  hohen  Entwickelungsstadium,  dafs  es  nicht  möglich  ist, 
hier  näher  darauf  einzugehen.  Das  Gedeihen  der  Seethiere  ist  von 
der  Temperatur  und  dem  Salzgehalt  des  Wassers,  dem  eindringenden 
Uchte,  der  im  Wasser  vorhandenen  Luft  und  Nahrung  abhängig. 

Wie  für  jedes  organische  Leben,  so  ist  auch  für  die  Thiero  des 
Meeres  eine  gewisse  Wärme-  und  Luftmenge  nothwendig;  mit  der 
Zunahme  beider  steigt  bei  Erfüllung  der  übrigen  Lebensbedingungen 
der  Reichthum  an  Thieren.  Infolge  dessen  sind  die  Aequatorial- 
gegenden  reicher  bevölkert  als  die  höheren  Breiten,  die  oberen  Wasser- 
schichten mehr  als  die  unteren.  Mit  der  Tiefe  tritt  eine  schnellere 
Abnahme  ein,  da  gleichzeitig  mit  der  Verringerung  der  Wärme  und 
der  Luft  die  Lichtabnahme  und  die  Vermehrung  des  Wasserdrucks 
ungünstig  auf  das  Leben  derThiere  einwirken.  Die  frühere  Annahme, 
dafs  in  grofsen  Tiefen  die  Luft  fehle,  ist  durch  die  neueren  Unter- 
suchungen widerlegt  worden,  welcho  dargethan  haben,  date  selbst  in 
den  gröfsten  Tiefen  Luft  genug  vorhanden  ist,  um  den  dort  allerdings 
spärlich  lebenden  Individuen  den  nöthigen  Sauerstoff  zu  liefern.  Das 
Licht  hat,  wenn  zum  Leben  auch  nicht  absolut  nothwendig,  doch  auf 
dio  Entwickelung  der  Thiere,  sowie  namentlich  auch  auf  die  Farbe 
derselben,  einen  grofsen  Einflufs;  je  weniger  Licht,  desto  niedriger 
die  Entwickelung;  dio  Sehorgane  werden  verkümmert  und  fehlen  oft 
ganz.  Die  Färbung  der  Thiere  ist  beim  Mangel  von  Licht  matt  und 
wird  mit  der  Zunahme  desselben  lebhafter  und  glänzender.  In  den 
tropischen  Zonen  und  an  der  Wasseroberfläche  findet  sich  daher  ein 

Himmel  und  Erde  18Ö3.  V.  6.  19 


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270 

greiserer  Farbenreichthum  als  in  den  kälteren  Regionen  und  in  der 
Tiefe.  Während  an  der  Oberfläohe  des  Meeres  violette  und  blaue 
Thiere  Vorkommen,  folgen  nach  der  Tiefe  zu  die  grünen  und  braunen, 
und  weiter  unten  die  rothen  und  bleichen  Thiere;  am  Meeresgrund 
nehmen  sie  die  Farbe  des  Bodens  an. 

Wie  die  Luft,  so  ist  auch  der  Salzgehalt  für  fast  alle  Seethiere 
ein  Lebensbedürfnifs,  daher  nimmt  im  allgemeinen  mit  der  Zunahme 
des  Salzgehaltes  bis  zu  einer  gewissen  Qrenze  auch  die  Menge  der  Thipre 
zu,  bei  noch  gröfserer  Zunahme  des  ersteren  dagegen  wieder  ab,  so  dafs 

bei  einem  Salzgehalt  von  Uber  5 pCt  nur 
noch  wenige  Thiere  exiatiren  können. 

Dem  reichen  Thierleben  des  Meeres 
steht  aber  eine  aufserordentlich  spärliche 
Pflanzenwelt  gegenüber.  Während 
Thiere  in  allen  Tiefen  des  Meeres  leben, 
kommen  Pflanzen  nur  in  den  oberen 
Schichten  vor  und  verschwinden  in  etwa 
400  m bereits  vollständig.  Da  die  Pflanzen 
zu  ihrem  Gedeihen  das  Sonnenlicht  nicht 
entbehren  können,  so  mag  dies  ein  Be- 
weis mehr  sein,  dafs  dasselbe  nicht  tiefer 
in  das  Meer  cinzudringun  im  Stande  ist 
Die  meisten  Pflanzen  des  Meeres  gehören 
zur  Klasse  der  Algen  oder  Tange  und 
stehen  auf  einer  verhältnifsmäfsig  niedrigen 
Stufe  der  pflanzlichen  Entwickelung,  zeigen 
jedoch  eine  grofse  Mannigfaltigkeit  in  der 
äufsoren  Form  und  Oröfse;  während 
Pflanzen  von  mikroskopischer  Kleinheit  nicht  selten  sind,  erreicht  die 
hauptsächlich  in  den  höheren  südlichen  Breiten  vorkommende  Macro- 
cystis  eine  Länge  bis  zu  300  m.  Die  Farbe  der  Pflanzen  ist  je  nach 
der  Einwirkung  des  Liohtes  verschieden;  je  stärker  die  letztere  und 
je  mehr  sich  demgemiifs  das  Chlorophyll  entwickeln  kann,  desto 
grüner  die  Färbung;  mit  der  Abnahme  des  Lichtes,  also  in  der  Tiefe, 
verblafst  das  Grün  und  geht  in  Braun,  Violett  und  Roth  über.  Sind 
im  allgemeinen  die  Küstengowässer  in  Bezug  auf  die  Vegetation  be- 
vorzugt, so  werden  doch  auch  auf  hoher  See  gröfsere  Anhäufungen 
von  Pflanzen  angetroffen;  wir  brauchen  nur  an  das  bekannte  Sargasso- 
Meer  des  Atlantischen  Ozeans  zu  erinnern,  das  aus  Beerentang  (Sar- 
ga8sum)  bestehend,  einer  Insel  oder  Wiese  von  ungeheurer  Aus- 

I 

! 

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271 


dehnung  gleich,  weithin  die  Oberfläche  des  Wassers  bedeokt.  Von 
Blüthenpflanzen  zählt  das  Meer  nur  gegen  dreifsig  Arten,  die  zu  den 
Najadeen  oder  Hydrooharideen  gehören  und  in  der  Nähe  der  Küste 
in  flachem  Wasser  auf  sandigem  Grunde  bis  zur  Tiefe  von  9 m in 
allen  Gewässern  Vorkommen  und  dort  wie  Rasen  den  Meeresboden 
bedecken. 

Zum  Fisohen  von  Thieren  und  Pflanzen  dienen  Schleppsäcke 
oder  Schleppnetze,  aus  Segeltuch  oder  engmasohigem  Netzwerk  be- 
stehende Säoke,  die  mit  ihrer  in  einen  Metall-  oder  Holzrahmen  ein- 
gespannten Oeffnung,  vorne  mit  Gewichten  beschwert,  an  der  Wasser- 
oberfläche, auf  dem  Meeresboden  oder  in  mittleren  Tiefen  bei  langsamer 
Fahrt  des  Sohiffes  hinter  demselben  hergeschleppt  werden.  Für  die 
Meeresoberfläche  und  geringe  Tiefen,  sowie  für  den  Handgebrauch  in 
Booten  werden  auch  sohmetterlingsnetzartige,ausMousselinoderleichtem 
Zeug  hergestellte  Käscher  verwendet  Bei  den  Grund-Schleppsäcken 
erhält  der  eiserne,  die  Mündung  umfassende  Rahmen  soharfe,  naoh 
aufsen  geneigte,  messerartige  Ränder,  welohe  pflugartig  in  den  Meeres- 
boden eingreifend,  die  aufgelockerten  Bodenbestandtheile  in  den  Saok 
gleiten  lassen  (Fig.  14).  Eine  Anzahl  am  Sack  oder  an  einer  Eisen- 
stange befestigter  lookerer  Hanfbündel  dient  zum  Auffangen  kleiner, 
zarter  Meeresorganismen,  die  an  den  Hanffasern  anhaftend,  sioh  unver- 
sehrt an  die  Oberfläche  befördern  lassen. 


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1 

Wie  haben  unsere  Voreltern  gerechnet? 

Von  F.  K.  Ginzel. 

Astroaom  am  Kecheninstitut  der  Ktiuigl.  Sternwarte  zu  Berlin. 

(Schlufs.) 

^T^Tnter  den  antiken  Völkern  hat  es  selbst  das  alte  Kulturvolk 
\fjpA  der  Chinesen  nicht  Uber  diese  primitiven  Methoden  hinaus- 
gebracht.  Die  Chinesen  benutzten  beim  Rechnen  das  „Swan- 
pan“,  einen  Rahmen  mit  eingespannten  Drähten,  welche  durch  einen 
Querdraht  in  zwei  Abtheilungen  geschieden  sind,  die  kleinore  Ab- 
theilung hat  2,  die  gröfsere  6 Kugeln.  Das  Addiren  und  Subtrahiren 
geschah  durch  Verbinden  und  Trennen  der  Kugeln  auf  den  Drähten; 
die  Multiplikation  begann,  wie  bei  den  Griechen,  mit  den  höchsten 
Stellenwerthen,  das  Dividiren  war  ein  wiederholtes  Subtrahiren,  wo- 
bei die  faktische  Addition  und  Subtraktion  auf  dom  Swan-pan  vorge- 
nommen wurde.  — Viel  feinere  Rechner  als  Römer,  Griechen  und 
Chinesen,  in  gewissom  Sinne  bereits  Rechenkünstler,  waren  die  Inder. 
Das  strengere  mathematische  Denken  dieses  Volkes,  das  uns  vielfach 
in  dessen  Literatur,  namentlich  in  der  astronomischen,  entgegentritt, 
erstreckte  sich  auch  auf  die  Rechnungspraxis,  und  hier  haben  sich 
die  Inder  durch  das  klare  Erfassen  des  Wesens  des  Dezimalsystems 
und  durch  die  Erfindung  der  Null  verdient  gemacht.  So  einfach  und 
selbstverständlich  es  uns  heute  erscheint,  beim  Rechnen  jeder  ent- 
stehenden Ziffer  sogleich  ihren  Stellenwerth  zu  ertheilen  lind  das 
Fehlen  von  Einheiten  einer  Stufe  durch  ein  besonderes  Zeichen,  die 
Null,  ersichtlich  zu  machen,  so  kam  doch  die  Menschheit  einst  durch 
Jahrhunderte  nicht  über  diesen  Punkt  hinweg,  und  man  hat  mit  Recht 
die  ..echt  indische  Idee,  dem  Nichts  einen  Werth  zu  geben  und  durch 
das  Nichtsein  erst  die  Vollendung  des  Etwas  zu  bewirken/  als  eine 
der  epochemachenden  Erfindungen  hingestellt.  In  welcher  Zeit  die 
Inder  schon  den  Gebrauch  der  Null  besafsen,  ist  unentschieden; 
wahrscheinlich  hatte  die  ältere  indische  Zahlenschreibung  noch  keine 
Null,  und  gesichert  ist  das  Vorkommen  dieses  Zeichens  erst  seit  etwa 


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273 


400  n.  Chr.  Von  dem  klaren  Denken  der  Inder  giebt  ihre  Weise  zu 
rechnen  uns  Zeugnifs.  Sie  subtrahiren  z.  B.  ganz  wie  wir  es  heute 
thun  und  sagen  in  dem  folgenden  Beispiele 
647  9 von  17  läfst  8 
- 859  5 „ 13  „ 8 
388  2 „ 5 „ 3. 

Beim  Multipliziren  zerlegen  sie  beide  zu  multiplizirenden  Zahlen  dem 
Dezimalsysteme  gemäfs  in  Produkte  von  10,  z.  B. 

3516  x 839  = (6  + 10-1  + 100-5  + 1000-3)  (9  + 10  -3  + 100  -8), 
multipliziren  diese  Theilprodukte  und  erhalten  so  für  jede  Rangziffer 
gleich  die  richtige  Stelle;  oder  sie  gebrauchen  die  „Schachbrett- 
Methode“,  von  welcher  wir  hier  ein  Beispiel  ansetzen  und  die  als  das 
Vorbild  für  unser  modernes  Multipliziren  angesehen  werden  inufs; 
die  dabei  vorkommende  Addition  geschieht  in  der  Richtung  der  schief 
laufenden  Kolumnen: 


3516  X 839 

Schachbrett-MultipUcation, 

8 
3 
t 

2 9 4 9 9 2 4 


3 5 16 

— * . A . 


ß\ 

X 

y* 

x\ 

X] 

X 

3? 

-7 

yi 

S 3 

o y 

y 9 

& 

Modern. 
_35 16  X 839 
28128 
10548 
31644 
2949924 


Betreff  der  indischen  Art  zu  dividiren,  hat  man  bisher  nichts 
gefunden,  was  komplementärer  Division  vergleichbar  wäre ; die  Theil- 
produkte werden  beim  Abziehen  gestrichen  resp.  vorhandene  Ziffern 
durch  andere  ersetzt.  Die  Brüche  schreiben  die  Inder  bereits  in 
moderner  Form,  Zähler  über  Nenner,  doch  noch  ohne  Bruchstrich,  also 
5 3 

g , 8.  Sehr  viel  haben  die  Inder  mit  dem  Gedächtnisse  gerechnet, 
und  hierin  scheinen  sie  eine  aufserordentliche  Uebung  erlangt  zu 
haben.  Wir  wissen,  dafs  Wettkämpfe,  regelrechte  Rechenturniere, 
veranstaltet  wurden,  bei  denen  man  Geist  und  Wissen  auf  die  Probe 
stellte,  und  Aufgaben  aus  altindischer  Zoit  haben  sich  bis  in  moderne 
Zeit  erhalten.  Bei  der  Bewerbung  Bodhisattvas  um  die  Königs- 
tochter Gopä  werden  Aufgaben  in  allerlei  Künsten  gestellt.  Unter 
andern  fragt  mau  den  Freier:  Wie  viele  Urstäubchen  sind  in  der 
Länge  eines  Yöyana  enthalten,  wenn  1 YÖyana  = 4 Kroya,  1 Kro?a 
= 1000  Bogen,  1 Bogen  = 4 Ellen,  1 Elle  = 2 Spannen,  1 Spanne 
= 12  Fingergelenken,  1 Fingcrgelenk  sich  aber  aus  einer  Zahl  von 
Urstäubchen  zusammensetzt,  die  man  erhält,  wenn  die  Zahl  7 zehnmal 
mit  sich  selbst  multiplizirt  wird?  Dio  Antwort  ist  108  470495616000 
Urstäubchen. 


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274 


Qeiibte  Rechner  waren  jedenfalls  auch  die  Araber.  Ihre  Art  zu 
reohnen,  erscheint  uns  allerdings  ziemlich  seltsam,  da  sie  die  Resul- 
tate nicht  wie  wir,  unter  die  Rechnung,  sondern  vielfach  über 
dieselbe  setzen,  auch  die  Rechnung  nioht  abwärts,  wie  es  uns  natur- 
gemäß erscheint,  sondern  nach  aufwärts  führen.  Zum  Verständnisse 
gehen  wir  einige  Beispiele  nach  Muhammed  Alchwarizmi 
(9.  Jahrh.)  und  dem  maurischen  Spanier  Alkalsädl  (15.  Jahrb.). 
Bei  der  Addition  und  Subtraktion  soll  nach  arabisoher  Regel  mit  den 
höchsten  Stellen  angefangeu  werden,  der  UeberBchufs  und  das  Ge- 
borgte werden  atifgeschrieben  und  nicht  im  Kopfe  behalten,  wie  wir 
es  gewöhnt  sind.  Beim  Multipliziren  geht  das  Bilden  der  Theil- 
produkte  ebenfalls  nach  aufwärts  und  der  Multiplikator  wird  dabei 
um  je  eine  Stelle  nach  rechts  gerückt.  In  ähnlichem  Sinne  wird  beim 
Dividiren  der  Dividend  über  den  Divisor  geschrieben,  der  Quotient 
über  den  Dividend,  und  die  Theilprodukte  gehen  naoh  aufwärts.  Mit 
Hülfe  dieser  Bemerkungen  dürften  die  folgenden  Beispiele  verständ- 
licher sein. 


Addition 

Subtraction4) 

Multiplication 

Division 

63  -f  88  = 151 

823  - 

675  = 148 

86  X 49  = 4214 

36343  : 218  = 166 

Rest  155. 

Arabische  Ausführung. 

151  = Summe. 

148  = 

Rest.  4214 

= Product. 

155 

Rest 

63 

823 

54 

\ 

146- 

88 

1 

675 

11 

72 

24 

Theilproducte 

145-  • 
166 

Quotient 

32 

r 

36343 

Dividend 

J 49 

= Multiplicand 

218 

86 

= Multiplicator 

218 

Divisor. 

86 

>» 

218 

Die  Multiplikation  haben  übrigens  die  Araber  in  verschiedenen 
Formen  fleifsig  geübt,  auch  den  indischen  ähnliche  Anordnungen 
kommen  vor.  Für  die  Brüche  '/<>,  V31  7«  . . . . bis  */9  haben  sie  be- 
sondere Worte  und  nennen  diese  Brüche  die  „aussprechbaren“,  die 
anderen  (wie  Via)  und  solche,  die  sich  nicht  aus  jenen  zusammen- 
setzen, sind  ihnen  „stumme“  Brüche.  In  den  Rechnungsweisen  der 
Westaraber  sind  späterhin  Eigenthümlichkeiten  bemerklioh,  welche 
auf  das  Eindringen  nordischen  Einflusses,  namentlich  von  Gebräuchen 
italienischer  Kaufleute,  hindeuten. 

Wir  gehen  nun  in  ein  Zeitalter  ein,  dessen  geistige  Bewegung 

‘)  Die  Subtraction  heilst  bei  den  Arabern  „tarh“  von  taraha  = wegwerfen; 
hiervon  abgeleitet  „Tara“,  die  Umhüllung  bei  Waaren,  das  Ueberflüssige,  Weg- 
zuwerfende. 


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275 


wesentlich  von  jener  der  morgenländischen  und  südeuropäischen 
Völker  verschieden  ist.  Während  diese  Nationen  mit  der  ihnen  inne- 
wohnenden frisohen  Kraft  auf  den  Gebieten  des  geistigen  Lebens 
immer  Selbständiges,  Charakteristisches  schaffen,  wird  bis  tief  ins 
Mittelalter  hinein  der  geistige  Born  der  Schriftsteller  des  Alterthums 
ausgeschöpft  und  der  Autoritätsglaube  blüht  in  der  Wissenschaft. 
Das  Feld  der  Mathematik,  wo  die  kräftige  Pflanze  eigenen  Forschens 
wachsen  soll,  ist  einsam  und  steril  geworden.  Das  Rechnungswesen 
zu  Anfang  des  Mittelalters  zeigt  solchen  Zustand.  Man  pflegt  noch 
das  Fingerrechnen  und  schreibt  die  Zahlen  nach  der  schwerfälligen 
römischen  Art  Man  rechnet  noch  mit  den  römischen  Minutien,  für 
die  eigene  Namen  erfunden  werden,  und  ist  vom  Begriffe  der  Brüche 
als  abstrakte  Zahlen  ebenso  weit  entfernt  wie  das  Alterthum,  ln 
diese  trübe  Zeit  fällt  wie  ein  Lichtschimmer  das  Aufblühen  der 
Klostergelehrsamkeit.  So  beengt  durch  religiöse  Anschauungen  auch 
die  geistige  Thätigkeit  der  Mönche  in  den  schnell  auf  gallischem, 
fränkischem,  italienischem  und  deutschem  Boden  sich  ausbreitenden 
Klöstern  oft  gewesen  sein  mag,  so  ist  doch  das  Verdienst  dieser 
frommen  Männer  um  die  Pflege  der  Schulen  nicht  zu  verkennen  und 
aus  den  Klöstern  und  den  Klosterschulen  ging  munche  tüchtige  Kraft 
hervor.  Wir  nennen  nur  die  Namen  Beda  des  Ehrwürdigen,  des 
Pädagogen  Alkuin  und  des  Gelehrten  Ilrabanus  Maurus.  Alkuins 
Name  besonders  leuchtet  wie  ein  Stern  auf.  Karl  der  Grofse, 
selbst  mangelhaft  erzogen,  und  darum  doppelt  bemüht,  Bildung  unter 
seinen  Franken  zu  verbreiten,  lernte  780  n.  Chr.  Alkuin  auf  einer 
Durchreise  durch  Parma  kennen,  trat  in  vielfachen  Gedankenaus- 
tausch mit  diesem  Gelehrten  und  nahm  selbst  Unterricht  bei  ihm. 
Die  weitere  Folge  dieser  Verbindung  war  die  Gründung  der  Ilof- 
und  Palastschulen.  Hauptlehrgegenstand  derselben  waren  die  sieben 
freien  Künste,  die  späterhin  an  den  Universitäten,  bis  tief  ins  Mittel- 
alter  hinein,  den  Grundpfeiler  geistiger  Bildung  abgeben  sollten, 
nämlich  Grammatik,  Rhetorik,  Dialektik,  Arithmetik,  Geometrie,  Astro- 
nomie und  Musik.  Die  Aufnahme  der  Astronomie  und  Arithmetik  in 
die  Reihe  der  Künste  war  durch  einen  besonderen  Umstand  veranlafst. 
Der  niedere  Klerus  war  ungebildet  und  vermochte  oft  nioht  die  Feier 
christlicher  Feste,  von  denen  eine  gewisse  Zahl  bekanntlich  direkt  mit 
astronomischen  Bestimmungen  zusammenhängt,  gehörig  festzustellen.  In 
der  Aachener  Kapitulare  von  789  wurde  deshalb  verlangt,  dafs  jeder 
Geistliche  in  Arithmetik  und  Astronomie  wenigstens  so  viel  kennen 
müsse,  um  ohne  fremde  Hülfe  die  Kirchenfeste  vorausbereehnen  zu 


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276 


können;  es  sollten  also  diese  Wissenschaften  auch  an  den  mit  geist- 
lichen Stiften  verbundenen  Schulen  gelehrt  werden.  Demzufolge  kam 
die  Mathematik  an  den  Klosterschulen  nicht  gar  zu  kurz.  Begonnen 
wurde  mit  den  vier  Grundrechnungsarten,  die  natürlich  mittelst  der 
römischen  Ziffern  vorgeführt  wurden,  daran  schlcfs  sich  einiges  Bruoh- 
reohnen,  lineare  Gleichungen, die  wohl  meist  im  Oediichtnife  gelötet  worden 
sein  mögen,  die  wichtigsten  Definitionen  der  Geometrie  und  Astronomie, 
und  schlietelich  Uebungen  in  mathematischen  Scherzfragen.  Namentlich 
die  Lösung  der  letzteren  und  der  Gleichungen  haben  jedenfalls  die 
Rechnungsfertigkeit  der  Klosterzöglinge  bedeutend  gefördert  und  gar 
manche  Aufgaben  aus  jener  Zeit  haben  sich,  gleioh  den  indischen,  bis 
auf  unsere  Zeit  erhalten  und  in  den  arithmetischen  Lehrbüchern  ein- 
gebürgert. Den  Rechen- Unterricht  an  den  mittelalterlichen  Kloster- 
schulen haben  rvir  uns  etwa  so  vorzustellen:  ln  der  Mitte  des  Schul- 
zimmers war  die  Kathedra  aufgestellt  und  die  Schüler  sateen,  ein  jeder 
auf  Beinern  Stühlchen,  um  dieselbe  herum.  Der  Lehrer  hielt  den  Vortrag 
nach  Texten  und  die  Schüler  suchten  das  Gehörte  im  Gedächtnife  zu 
behalten.  Die  praktischen  I ebungen  im  Rechnen  verfolgten  die  Schüler 
mittelst  Wachs-  oder  Staubtafeln. 

Etwa  von  630  n.  Ohr.  ab  verschwindet  dieses  im  ganzen  noch* 
auf  römischen  Grundlagen  ruhende  Rechnungswesen  (das  auch  der 
„Computus“  genannt  wird)  allmählich  aus  der  Geschichte  und  an  seine 
Stelle  tritt  wieder,  allerdings  in  anderer  Form,  das  antike  Columnen- 
rechnen.  Ob  der  berühmte  Gerbert,  Abt  von  Bobbio  und  später 
Bischof  von  Rheims  und  Ravenna,  (als  l’abst  Sylvester  II.  gestorben 
1003  n.  Chr.)  oder  Odo  von  Cluny  als  Wiedererwccker  dieses 
Rechnens  auf  dem  Abakus  anzusehen  ist,  bleibt  eine  noch  nicht  ganz 
entschiedene  Streitfrage.  Dem  gelehrten  Gerbert,  der  unter  seinen 
Zeitgenossen  wohl  die.  meisten  mathematischen  und  astronomischen 
Kenntnisse  besäte,  mag  das  Rechnen  der  Alten  bei  Gelegenheit  seiner 
umfassenden  Studien  in  französischen  und  italienischen  Klöstern  be- 
kannt geworden  sein.  Thatsache  ist,  dafs  von  ihm  und  seinem  Schüler 
Bernelin  die  ersten  schriftlichen  Regeln  zum  Rechnen  auf  dem 
Abakus  gegeben  worden  sind.  „Gerbert  liefe  (so  erzählt  Richer) 
durch  einen  Schildmacher  einen  Abakus,  d.  h.  eine  durch  ihre 
Abmessungen  geeignete  Tafel  anfertigen.  Die  längere  Seite  war  in 
27  Theile  abgetheilt  und  darauf  ordnete  er  neun  Zeichen,  die  jede 
Zahl  darstellen  konnten.  Ihnen  ähnlich  liefe  er  tausend  Charaktere  von 
Horn  bilden,  welche  abwechselnd  auf  den  27  Theilen  des  Abax  die 
Multiplikation  und  Division  der  Zahlen  darstellen  sollten.“  Nach 


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277 


Bernelin  wurden  auf  einer  mit  blauem  Sand  bestreuten  Tafel  Striche 
gezogen,  diese  durch  30  Parallelstreifen  abgetlieilt:  3 waren  für  die 
Brüche  bestimmt,  von  den  anderen  27  wurden  je  3 in  eine  Columne 
zusammengefafst,  so  dafs  je  eine  don  Einern,  Zehnern  und  Hunderten 
entsprach.  Der  Abakus  hatte  also  etwa  folgende  Gestalt: 


Die  in  den  Abakus  einzutragenden  Zeichen  sind  nun  die  so- 
genannten Apiccs.  Aus  diesen  Apices  haben  sich  allmiihlioh  unsere 
modernen  Ziffern  entwickelt;  die  Apices  selbst  aber  entstammen  den 
alten,  einst  von  den  Arabern  gebrauchten  Gobarziffern.  Die  folgende 
Illustration  zeigt  uns  sowohl  die  letzteren,  wie  die  hauptsächlichsten 
Entwicklungsstadien  der  Apices: 


Gobarziffern: 
Apices  im  11.  Jahrhundert 
. . 12. 

„ . 13. 


i 

1 

I 

J 


f 


, -16.  . t 


9 

TWH’EvSi 
7 } £ 4 ö A & 9 

t ; i < m n 

%5+S67Z<) 


Aus  welcher  Quelle  Gerbert  die  Apices  entnommen  hal,  ist  noch 
nicht  aufgeklärt  Während  die  einen  sich  auf  eine  Schriftstelle  bei 
Boethius  stützen  und  daraus  den  Gebrauch  der  Ziffern  schon  für  die  Zeit 
der  Neupythagoräer(Alexandrien)  ableiten,  bestreiten  andere  die  Echtheit 
der  Schrift  des  Boethius  und  geben  verschiedene  Erkliirungsarten.  So 
viel  ist  sioher,  dafs  es  sich  um  keine  selbständige  Erfindung  Gerberts 
handelt  und  dafs  bei  den  Arabern,  welchen  jene  Zeichen  früher  eigen- 
thümlich  waren,  sich  weder  eine  Spur  vom  Abakus  selbst,  noch  von 
den  Multiplikations-  und  Divisionsregeln,  darauf  zu  rechnen,  vorfindet. 
Diese  Multiplikations-  und  Divisionsvorschriften  wollen  wir  jetzt  kennen 
lernen.  Beim  Multipliziren  auf  dem  Abakus  schrieb  man  die  Theil- 
produkte,  ohne  etwa  den  Ceberschufs  über  10  weiter  zu  addiren,  ganz 


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278 


an  und  zwar  dem  Stellenwerthe  der  Ziffern  entsprechend,  z.  B. 
24  X 14  = 33« 


"c 

i 

4 

2 

4 

2 

1 

8 

4 

6 

3 

3 

6 

4 X 4 = 16  «=*  (IX  -+  6) 
4 X 20  = 80  = 8X 
10  X 4 = 40  = 4X 
10  X 20  = 200  = 2C 


Die  besondere  Ueberlegung,  in  welche  Vertikalkolumnen  ein 
Theilprodukt  einzureihen  sei,  wurde  damit  erleichtert,  dafs  man  den 
Multiplikand  während  der  Multiplikation  je  um  eine  Stelle  einrückte, 
z.  B.  8216  X 4957  = 40726712 


6-7  =42  = 4 X + 2 

6-50  = 300  = 3 C 

6 -900  = 5400  = 5 1 -+  4 C 
6 • 4000  = 24000  = 2 X -+  4 I 
10-7  =70  = 7 X 

10  - 50  = 500  = 5 C 

10  - 900  = 9000  = 9 I 
10-4000  = 40000  = 4X 
200  - 7 = 1400  = 1 1 + 4C 

u.  s.  f. 


4 7 2 6 9 1 2 *) 


Dio  Division  gestaltete  sich,  wenn  Einer  durch  Einer  oder  Zehner 
durch  Zehner  dividirt  werden  sollten,  recht  einfach;  die  Nebenrechnung 
(das  Subtrahiren  der  Theilprodukte)  wurde  im  Kopfe  odor  auf  einem 
Hülfsabakus  ausgeführt.  Z.  B. 


8 : 5 600  : 400 


"cT 

X 

i 

'c' 

XiL 

Divisor.  .... 

5 

1X5  = 5 

4 

Dividend  . . . 

8 

8 — 5 = 3 

6 

Rest 

3 

2 

Quotient .... 

1 

l 

1 X 400  = 400 
600  — 400  = 200 


Viel  umständlicher  wird  die  Sache,  sobald  eine  mehrziffrigo  Zahl 
durch  eine  einziffrige  zu  dividiren  ist,  wie  in  dem  Beispiele  328:6 


*)  Null  wird  nicht  gebraucht! 


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279 


= 54.  Zunäohst  wird  die  dekadische  Zerlegung  des  Divisors  6 = 10 — 4 
gebildet  Man  dividirt  nun:  10  in  300  giebt  3 Zehner,  bleiben  28, 
3 Zehner  mal  4 Einer  sind  120,  addirt  zu  28  giebt  den  neuen 
Dividend  148;  10  in  148  giebt  1 Zehner,  Rest  48,  hierzu  1 Zehner 
mal  4 macht  88,  welches  der  weitere  Dividend  ist  u.  s.  f.  Die  Rechnung 
sieht  dann  so  aus: 


328  : (10  — 4)  = 

— 300 

28 

+ 120 

Dividend  148 

— 100 

48 

+_  40 

Dividend  88 

- 80 
8 

+_**. 

Dividend  40 

— 40 

0 

+ .J®- 

Dividend  16 

— 10 

6 

+ 4 

Dividend  10 

Summa  4 
oder  = 54 
Rest  ...  4 


4 

Differenz 

6 

Divisor 

3 2 

h r.r 

, 8 

Dividend 

4 

12 

14 

2.  Dividend 

4 

8 

8 

8 

3.  Dividend 

3 

2 

4 

4.  Dividend 

1 

0 

5.  Dividend 

4 

1 

4 

6.  Dividend 

4 

Rest 

1 

Ti 

1 1 

4 

Denomination 

i 

8 

lf  | 

1 1 
3 

5 

4 

Quotient 

Zehner,  Einer 
3 


C XI 


Boi  der  Division  von  7228  durch  26  wird  26  ersetzt  durch  (30 — 4) 
man  dividirt  also:  3 Zehner  gehen  in  7 Tausend  2 hundertmal,  bleibt 
1 Tausend  Rest,  hierzu  4 mal  200  = 800  zu  addiren,  demnach  der 
neue  Dividend  2028  u.  s.  w.  Der  Leser  versuche  einmal  in  dieser 
Weise  die  Division  grüfserer  Zahlen  auf  dem  Abakus  auszuführen  und 
er  wird  finden,  wie  ungelenk  und  sohwerfallig  ein  solches  Rechnen 
ist  und  wie  sehr  schon  das  damalige  Zeitalter  recht  hatte,  die 
„schwitzenden  Abazisten“  zu  bedauern,  die  ein  solches  Dividiren 
lernen  mufsten. 

Das  Rechnen  auf  dem  Abakus  hatte  im  Laufe  der  Zeit  dasselbe 
Schicksal  wie  mehrere  Jahrhunderte  vorher  der  „Computus“,  es  starb 
allmählich  ab,  je  mehr  die  arabischen  Ziffern  und  die  Rechenbücher, 
von  welchen  wir  nooh  sprechen  werden,  sich  verbreiteten.  Das  älteste 
Denkmal,  auf  welohem  arabische  Ziffern  erscheinen,  soll  von  1007  her- 
rühren. Zu  Pforzheim  und  Ulm  fanden  sich  Grabsteine  von  1371 
und  1388  mit  arabischen  Ziffern.  In  Urkunden  gelangten  die  ehemaligen 


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280 


Apices  erst  im  16.  Jahrhundert,  sonst  aber  fanden  sie  beim  praktischen 
Rechnen  seit  dem  13.  Jahrhundert  allmählich  mehr  und  mehr  Eingang. 
Die  bei  den  Abazisten  übliche  Eintheilung  der  Zahlen  in  Fingerzahlen, 
Gelenk-  und  zusammengesetzte  Zahlen  war  damals  noch  üblich;  bezüglich 
der  Brüche  klebte  man  immer  noch  an  der  Beschränkung  des  Rechnens 
mit  60  theiligen  Brüchen,  mitunter  tauchen  sogar  noch  die  römischen 
Minutien  auf.  Das  Hauptbuch  für  Arithmetik  war  durch  Jahrhunderte 
hinduroh  das  von  Sacrobosco,0)  welches  neunSpezies  erläutert:  Nume- 
ration,  Addition  und  Subtraktion,  Duplikation  und  Mediation  (Verdoppeln 
und  Ilalbiren),  Multiplikation,  Division,  Progressionen  und  Wurzelaus- 
ziehen. — Allmählich  wurde  auch  die  Stellung  der  Arithmetik  als 
Lehrgegenstand  der  eben  ihren  Aufschwung  nehmenden  Universitäten7) 
eine  bessere.  Anfangs  beherrschten  an  den  wenigen  Hochschulen  die 
sieben  freien  Künste  so  ziemlich  alles  andere,  und  für  Arithmetik,  so- 
wie für  Mathematik  fielen  in  einem  Semester  kaum  einige  Wochen  ab. 
Die  Ursache  dieser  Erscheinung  lag  nicht  blos  im  Wesen  der  Zeit, 
welche  die  aufserordentliche  Bedeutung  mathematischen  Wissens  für 
die  Bildung  des  Verstandes  kaum  ahnen  konnte,  sondern  auch  in  dem 
eigenthümlichen  Usus  der  Fakultäten,  dafs  die  Universitätsmagistrate 
den  Lehrern  den  Gegenstand  zuwiesen,  über  den  diese  lehren  sollten. s) 
Hierdurch  wurde  verhindert,  dafs  die  Lehrer  sich  einer  bestimmten 
Wissenschaft  ganz  hingeben  und  darin  aus  eigener  Kraft  etwas  schaffen 
konnten,  ein  Uebelstand,  der  speziell  in  den  mathematischen  Fächern, 
wo  kein  Nachbeten  fremden  Wissens  half,  sondern  nur  eigenes  Denken 
weiter  führte,  scharf  hervortreten  mufste.  Erst  die  Universität  Bologna 
schuf  1383  einen  eigenen  Lehrstuhl  für  Mathematik,  in  Deutschland 
folgte  ihrem  Beispiele  zuerstWien,  wo  Johann  von  Gmunden  (um  1420) 
nur  Mathematik  dozirte. 

Sah  es  so  mit  der  Pflege  des  Rechnens  an  Universitäten,  diesen 
Kastellen  mittelalterlicher  Weisheit,  trübe  aus,  so  bot  das  öffentliche 
Schulwesen  ein  noch  viel  traurigeres  Bild.  Rechnen  in  gehöriger 
wissenschaftlicher  Begründung  wurde  bis  hoch  ins  Mittelalter  hinauf 
in  den  Schulen  der  Städte  überhaupt  nicht  gelehrt  (vielleicht  Trier  und 
Liegnitz  ausgenommen).  Die  „Magister  der  freien  Künste“  standen  zu 

•)  geet.  1256. 

’)  In  Deutschland  entstanden  die  ersten  Universitäten  zu  Prag  (1518), 
Wien  (1365),  Heidelberg  (1388),  Erfurt  (1392),  Leipzig  (1409). 

•)  So  lehrten  in  Wien  die  „Musica“  1393  Nikolaus  v.  Neustadt,  1397 
Horb,  1398  Wallsee;  Petrus  von  Pulka  las  1391  Sphaera  materialis  (Astro- 
nomie nach  Sacrobosco),  1392  Arithmetik,  1394  Latitudines  | Coordinaten- 
goometrie)  u.  s.  w. 


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281 


hoch  für  derartige  Schulmeisterarbeit,  Zwar  in  Italien  gab  es  Rechen- 
lehrer, aber  die  Wanderlehrer,  die  in  Deutschland  allenthalben  umher- 
zogen, wurden  nicht  zu  den  Gelehrten  gezählt  Noch  im  15.  Jahr- 
hundert war  das  städtische  Sohulwesen  in  Deutschland  nioht  im  stände, 
den  gewöhnlichen  Rechenunterricht  zu  lehren.  Sohwaben  war  reich 
an  Stadtschulen,  selbst  kleine  Ortschaften  rühmten  sich  ihrer  Schulen, 
aber  Arithmetik  ward  nirgends  gelehrt.  Der  Preis  gebührt  da  nach 
Günther  dem  oberpfälzischen  Städtchen  Nabburg,  wo  von  1480  ab  „an 
Feiertagen  und  sonstigen  günstigen  Gelegenheiten“  Uebungen  iui 
Rechnen  vorgenommen  wurden.  Die  guten  Leute  hatten  das  Rechnen  in 
der  Woche  noch  nicht  nöthig;  für  solche  Sache  habe  jeder  selbst  zu 
sorgen,  hiefs  es,  und  wer  es  sonst  brauche,  der  möge  nur  auf  die 
„fahrenden  Schulmeister“  warten,  so  dies  lehren.  Erst  von  1500  ab 
treffen  wir  in  Brandenburg,  Ulm,  Augsburg,  Nürnberg,  Zwickau  auf 
das  Rechnen  als  vorgeschriebones  Unterrichtsfach,  und  die  bairische 
„Schuelordnungk  de  anno  1548“,  brach  gründlich  mit  dem  Zopfe.  Der 
„fahrenden  Schulmeister“,  die  das  Rechnen  lehren,  müssen  wir  aber 
noch  besonders  Erwähnung  thun.  Es  wurde  nämlich  im  Laufe  des 
14.  Jahrhunderts  üblich,  dafs  sioh  in  deutschen  Handelsstädten,  von 
denen  sich  viele  gerade  damals  einer  besonderen  Blüthe  erfreuten,  im 
Rechnungswesen  gewandte  Leute  niederliefsen.  Die  Kaufleute  begriffen 
schneller  als  die  Magister,  daß  das  Rechnen  doch  eine  gute  Sache  sei, 
und  die  Rechenlehrer  wurden  schliefslich  vom  Stadtamte  förmlich 
„bestellt“.  Sie  hiefsen  anfangs  „Stuhlsohreiber“,  waren  nioht  blos 
rechnungsfertige,  sondern  auch  schreib-  und  rechtskundige  Leute, 
gewissermaßen  Volksan walte,  die  ihren  „Stuhl“  an  einem  frequenten 
Platze  der  Stadt  aufstellten  und  auf  Wunsch  ihrer  Klienten  sofort 
Briefe,  Kontrakte,  Klagen  abfaßten  und  Rechnungen  für  Kaufleute 
ausführten,  also  typische  Figuren  des  Volkslebens,  wie  sie  ähnlich 
heute  noch  in  italienischen  und  spanischen  Städten  angetroffen  werden. 
Später  nannte  man  diese  Leute  Modisten,  nämlich  Kenner  der  modernen 
Schreibkunst,  der  mehr  und  mehr  die  alte  Schrift  verdrängenden  Kanzlei- 
schrifL  Einen  solchen  Rechenmeister  bestellt  Nürnberg  1409  in  der 
Person  Jobs  Kapfers  „dieweil  er  kint  leret“;  später  folgten  daselbst 
einander  eine  lange  Reihe  von  Stuhlschreibern,  unter  denen  sehr 
tüchtige  Rechenmeister  waren,  wie  Joppel  (1457)  und  Vogel.  Aus 
Augsburg  sind  Koegel  und  Böschenstein,  in  Eger  Widmann  zu 
erwähnen,  und  der  heute  noch  im  Volksmunde  bekannte  Adam 
Riese  (geb.  1492)  war  ein  solcher  öffentlicher  Rechenmeister,  der  zu 
Annaberg  im  Erzgebirge  eine  Privatschule  errichtete,  ln  grüfseren 


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282 


Handelsstädten  bildeten  die  Rechenmeister  bald  eine  förmliche  Gilde. 
Sie  fanden  es  bald  auch  für  nüthig,  sich  nicht  blos  auf  das  mündliche 
Lehren  zu  beschränken,  sondern  auch  die  von  ihnen  erworbenen  Er- 
fahrungen in  Büohern  niederzulegen.  So  entstanden  mit  der  Zeit  eine 
Mengo  von  Rechenbüchern,  die  ganz  wesentlich  zur  Verbreitung  der 
Kenntnifs  des  Rechnens  im  Volke  beigetragen  haben.  Die  ältesten 
italienischen  Rechenbücher  sind  jene  von  Pietro  Borgo  (1482)  und 
Luca  Pacioli  (1494),  die  frühesten  in  Deutschland  erschienenen  sind 
der  Nürnberger  „Rechenmeister“  Ulrich  Wagners  (1482),  von 
welohem  uns  nur  geringe  Reste  erhalten  geblieben  sind,  und  das  Bam- 
berger  Rechenbuch  des  Heinrich  Petzensteiner  (1483).  Von  späteren 
solchen  Werken  heben  wir  nur  einige  noch  hervor:  die  „Behende  und 
hübsche  Rechnung  auff  allen  Kaufmannschaft“  von  Johann  Widmann 
(1489),  das  „Enohiridion  novus“  von  Huswirt  (1603),  die  „Arithmetioo 
opusoula  duo  Theodorioi  Tzwivel“  (1505);  bemerkenswerth  sind  eine 
Reihe  von  Büchern,  die  unter  dem  Titel  „Algorithmus  linealis“  1507 
bis  1625  erschienen  und  die  „Rechenbiechlein  auff  den  linien“. 

Diese  Litteratur  lehrt  bereits  das  Reohnen  wesentlich  anders,  als 
■wir  es  aus  den  früheren  Auseinandersetzungen  kennen  gelernt  haben. 
Es  ist  ein  weiteres  Entwicklungsstadium,  in  welchem  uns  die  praktische 
Arithmetik  entgegentritt.  Seit  dem  Abakusrechnen  hatten  andere  Ver- 
hältnisse in  Mitteleuropa  Platz  ergriffen.  Vor  dem  Jahre  1300  finden 
wir  in  den  Aus-  und  Einnahmeregistern  der  Städte  noch  die  un- 
bequemen römischen  Zahlen  in  Anwendung;  der  Kleinhandel,  die 
Zünfte  halfen  sich  mit  der  Kerbenrechnung,  bei  welcher  jeder  Betrag 
durch  Striche  auf  einem  Holze  eingeschnitten  und  dieses  Holz  dann 
der  Länge  nach  gespalten  wurde,  wovon  Gläubiger  und  Schuldner  je 
einen  der  zusammenpassenden  Theile  gewissermaßen  als  Deckung  be- 
hielten. Die  Züge  der  Hohenstaufen  über  die  Alpen  und  die  sich  ent- 
wickelnden Handelsverbindungen  des  Nordens  mit  dem  Süden  zeigten 
die  Nothwendigkeit  einer  sorgsameren  Pflege  des  Rechnens  in  ein- 
dringlicher Weise.  In  Italien  führte  der  Aufschwung  des  Handels  nach 
dem  Orient  und  der  Fortschritt  der  Schifffahrt  zur  Gründung  mächtiger 
llandelsrepubliken  und  zum  Reiohthum  einzelner  Städte.  Dort  ent- 
standen die  Weohsler,  die  ersten  Banken,  die  ersten  Staatsanleihen, 
dort  bildeten  sich  im  Getriebe  des  Handels  die  praktischen  Vortheile 
im  Rechnen  und  mannigfachen  Usanzen  aus.  Junge  Kaufleute  gingen 
bald  immer  zahlreicher  nach  Italien  zu  ihrer  Ausbildung  und  brachten 
das  Erlernte  mit  in  die  Ileimath  zurück.  Mitte  des  16.  Jahrhunderts 
war  die  „wälsche  Praktik“  bereits  im  deutschen  Handelsstande  ver- 


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283 


breitet.  Andererseits  waren  arithmetische  Fortschritte  duroh  die  Werke 
der  Gelehrten  Planudes,  Leonardo  Pisano  und  Sacrohosco  an- 
gebahnt und  die  Rechnungsmethoden  der  Araber  bekannter  geworden. 
So  bereitete  sich  abermals  eine  Epoohe  des  Rechnens  am  Ende  des 
Mittelalters  vor,  welche  vielfach  mit  der  Ueberlieferung  bricht  und 
welche  man  die  Periode  des  Algorithmus  genannt  hat.  Ueber  das 
Wesen  des  Rechnens  in  dieser  Zeit  müssen  wir  zum  Schlufs  noch  das 
Nöthigste  auseinandersetzon. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  kam,  vornehmlich  in 
Deutschland,  Frankreich  und  England,  das  Rechnen  mit  Rechen- 
pfennigen auf  dem  „Bankir“  (auch  „Rechnen  auff  der  linien“  genannt) 
in  Gebrauch.  Auf  einer  Rechenbank  (Bankir)  sind  horizontale  Linien 
gezogen,  welche  von  unten  nach  aufwärts  die  Einer,  Zehner,  Hunderter 
der  Zahlen,  auch  Fünfziger,  Fünfhunderter  derselben  vorstellen;  auf 
diese  Linien  legte  man  die  „raitpfennig“  (in  Frankreich  jetons,  in  Eng- 
land counters  genannt);  besonders  bekannt  sind  noch  die  Nürnberger 
und  Brügger  Rechenpfennige  des  14.  Jahrhunderts.  Jede  Zahl  wird 
auf  den  Linien  dargestellt,  indem  man  die  Raitpfennige  „legt“,  das 
heilst,  die  Zahl  zerfällt;  z.  B.  die  Zahl  27683  wie  folgt: 


Zehntausend 
Fünftausend 
Tausend  . . . 
Fünfhundert 
Hundert  . . . 
Fünfzig  . . . 

Zehn 

Fünf 

Eins 

Ein  halb . . . 


Das  Addiren  und  Subtrahiren  auf  solch  einem  Bankir  besteht 
eigentlich  nur  im  Zulegen  resp.  Wegnehmen  der  Rechenpfennige. 
Soll  z.  B.  zu  obiger  Zahl  noch  217  addirt  werden,  so  kommen  in  die  zweite 
Linie  von  unten  an  gerechnet  noch  2,  in  die  dritte  1,  in  die  vierte  1 und 
in  die  sechste  von  unten  noch  2,  dann  ist  aber  der  Bankir  zu  ändern 
und  es  sammeln  sioh  die  Marken  der  fünf  unteren  Linien  zu  1 Hunderter, 
der  in  die  Linie  der  Hunderter  einrückt  und  mit  den  dort  schon  vor- 
flndlichen  3 Hunderten  die  Summe  400,  und  mit  den  oberen  vier  von 
der  Rechnung  unberührt  bleibenden  Linien  das  Resultat  27  900  ergiebt. 
Bei  der  Subtraktion  werden  in  ähnlicher  Weise  die  Marken  aus  den 
höheren  Linien  weggenommen  und  auf  den  unteren  Plätzen  sogleich 
dem  Werthe  der  Linien  entsprechend  vertheilt.  Beim  Multipliziren 


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284 


wird  nur  der  Multiplikand  „gelegt“,  der  Multiplikator  im  Gedächtnifs 
behalten.  Folgendes  Beispiel  wird  den  Leser,  wenn  er  dem  Gange 
der  Rechnung  folgt,  ohne  dafs  nähere  Erklärungen  nothwendig  sind, 
in  eine  Multiplikation  einführen. 


Multiplikation  857  X 62  auf  dem  Rankir. 


Bilden  der 

Einträgen 
in  den 

Corrigiren 

des 

Legen  des  Multiplicand. 
Zehntausend  . 

Theilproducte. 
2X7  =14 

Bankir 

Bankir 

Künftiiiinnnri 

2 X 50  =100 
2 X 800  = 1600 

Tausend  ....  - 

-0-0-+-0 -0-0-0 

~ 00  0—  — 

Iffin  fh  und  Art  9 

60  X 7 »420 

SO  V 50  — 3000 

Hundert m - 

Fünfzig 9 

Uv  »M/  --  ■■  Ou'.'O 

60  X 800  = 48000 

. 

Zehn 

- 0 0 0 

Fünf 9 

Eins 

•— A— — 

also  l’roduct:  53134. 


Beim  Dividiren  wird  nur  der  Dividend  gelegt;  man  dividirt  die 
ersten  Ziffern  desselben  durch  die  ersten  des  Divisors  um!  bildet  zur 
Aufnahme  des  Quotienten  einen  besonderen  Bankir;  der  jeweilig  nach 
Abziehen  der  Thoilprodukto  übrig  bleibende  Dividend  kommt  in  einen 
anderen  Bankir. 

Division  207085  : 83  = 2495 
Bilden  der  Products  und  Dividenden: 


2000  X 85  = 

166000 

bleibt 

41085 

400  X 83  = 

33200 

bleibt 

7885 

90  X 83 

7470 

bleibt 

415 

5 X 83 

415 

bleibt 

0 

Hunderttausend 
Fünfzigtausend 
Zehntausend  . . 
Fünftausend  . . 
Tausend  .... 
Fünfhundert . . 

Hundert 

Fünfzig 

Zehn 

Fünf 

Eins 


Gelegter  | 
Dividend 

Bankir  des  sich  allmählich 
verkleinernden  Dividenden 

Bankir  des 
Quotienten 

# # 

• 

... 

• 

■ - 

T* 1 

\ * 

• 

l 

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285 


Da  das  „Rechnen  auff  der  linien“,  wie  man  wohl  sieht,  im 
wesentlichen  auf  ein  mechanisches  Hontiren  mit  den  Rechenpfennigen 
hinausläuft,  so  mufste  es  namentlich  im  Volke,  von  dem  nur  der  kleinste 
Theil  mit  der  Feder  umzugehen  wufste,  sehr  beliebt  sein.  Thatsächlich 
hat  es  sich  im  Kleinhandel  durch  Jahrhunderte  erhalten.  Es  ist  ge- 
wissermafsen  ein  letztes  Wiederaufleben  des  Rechnens  mit  dem  Abakus. 
Bald  gewann  das  „Rechnen  mit  der  Feder“  mehr  und  mehr  Verbreitung. 
Mit  diesem  schriftlichen  Rechnen  lenkte  endlich  die  Kunst  des  Rechnens 
in  jene  Bahnen  ein,  in  denen  sie  sich  heute  noch  bewegt  Nachdem 
der  Gebrauch  der  Null  als  Ziffer  allgemeiner  geworden,  und  die  ur- 
sprünglichen Apioes  nach  langen  Metamorphosen  sich  in  geschmeidige, 
leicht  schreibbare  Zeichen  umgebildet  hatten,  darf  man  von  einem 
rascheren  Fortschritte  sprechen.  Die  Methoden  zu  addiren  und  zu 
subtrahiren,  sind  beim  „Rechnen  mit  der  Feder“  so  gut  wie  modern, 
und  nur  betreff  der  andern  Spezies  treffen  wir  noch  auf  manche  eigen- 
tümliche Weisen.  Namentlich  das  Multipliziren  wird  in  Anlehnung 
an  arabische  Vorbilder  nach  vielfacher  Art  gelehrt.  Es  wird  noch 
interessiren,  das  Multiplikationsverfahren  jener  Zeit  kennen  zu  lernen; 
wir  folgen  der  Arithmetik  von  Treviso  (1478),  Luca  Paciulo  (1494) 
und  deutschen  Rechenbüchern. 


1. 

8 3 7 
3 5 9 


1 

7j 

5 

3 ! 3 ) 

AJ 

1 

8 

Jj 

! 2 

5 

1 

] 

3 0 0 4 8 3 


81*7  X 339  = 300483. 
2. 

837 

359 

300  X 837  = 251100 
50X837  41850 

9 X 837  7533 

300183 


3. 


837 

359 


ra 

3. 

3_ 

S 

LL 

X 

E 

1_ 

1 

■■  r l * i * 
3 0 0 


7. 

8 3 7 

3 3 9 

300483 


3 0 0483 


Die  erste  dieser  7 Methoden  heifst  berioocoli,  die  zweite  castel- 
luoio,  die  3.  4.  5.  sind  „Gitter“,  die  6.  ist  al  schaohir,  die  7.  per  cro- 
cetta.  Der  Leser  wird  bemerken,  dafs  die  Herren  Rechenmeister  sich 
bereits  in  Künsteleien  gefallen;  eine  ganz  besondere  Methode,  sich 
etwas  Leichtes  schwer  zu  machen,  soll  auch  noch  in  der  Multiplikation 
„in  Form  einer  Galeere“  vorgeführt  werden.  2395X4876  = 11678020 

Himmel  uod  Erde.  1893.  V.  6.  20 


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286 


8 
7 1 
* X 0 
■U9 
6 ^ X * 

21s  * i 

1 

'4'4,'S.  0 0 * o 
W8,4  9 7# 

! 3 9 3 5 3 J 

2 3 9 9 9 

2 3 3 

I 1 6 7 S 0 2 0 ’) 


Divisionsmethoden 
briiuohlichsten  ist  durch 
0 

240 

Dividend  868 
Divisor  31 
31 


gab  es  ebenfalls  verschiedene;  eine  der  be- 
folgendes Beispiel  illustrirt:  868  :31  = 28 


28  Quotient 


2X3=6  bleibt  2 

2X1=2  . 4 

8 X 3 = 24  „ 0 

8X1=8  . 0 


Im  Rechnen  mit  Brüchen  ist  man  erheblich  weiter  gekommen. 
Das  „Heben“  der  Brüche  (Abkürzen  des  Zählers  und  Nenners)  ist 
eingeführt,  beim  Addiren  und  Subtrahiren  derselben  verfährt  man  noch 
ziemlich  unbeholfen,  einen  gemeinschaftlichen  Nenner  sucht  man  noch 
nicht.  Beim  Multipliziren  gemischter  Brüche  worden  die  ganzen  Zahlen 
für  sich,  dann  die  Ganzen  mit  den  Brüchen,  schliefslich  die  Brüche  mit 
einander  multiplizirt  und  die  Einzelprodukte  addirt;  entgegengesetzt 
ist  das  Dividiren. 

In  den  Rechenbüchern  des  16.  Jahrhunderts  werden  aufserdem 
gelehrt  „die  gülden  Regel“  (Regeldetri),1")  Gewinnrechnung  bei  Ein- 
lagen von  Gesellschaftern  an  Geschäften,  bei  Waarenverkiiufen  u.  dg!., 
die  „Goltrechnung“  (I’reis  einer  Goldmischung  bei  bekanntem  Gesamt- 
gewicht der  Mischung,  dem  Feingehalt  und  Preis  des  Goldes  per 
Karat),  die  „Tolletrechnung“,  ein  eigenthümliches  Verfahren,  mittels 


*)  Zur  Enträthselung  dieser  Kunstform  beachte  der  Leser:  Man  fängt  an 
mit  4 2000  = 8000,  8 kommt  über  2;  4 -300  = 1200,  8 + 1 = 9,  also  wird  8 
gestrichen  und  9 darüber  gesetzt,  2 kommt  rechts  noben  8;  4 -90  = 360,  9200 
+ 360  = 9000,  also  5 über  die  gestrichene  2 und  6 neben  2,  ferner  4 ■ 5 = 20, 
somit  9300  + 20  = 9580,  weshalb  6 zu  streichen  und  darüber  8 zu  setzen: 
darauf  rückt  der  Multiplicand  ein  und  die  Multiplikation  mit  der  zweiten  Ziffer 
des  Multiplicators,  8,  beginnt. 

l0)  In  den  Proportionen  des  Mittelalters  steht  das  unbekannte,  zu  suchende 
Glied  fast  immer  als  viertes. 


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287 


Legen  von  Rochenpfennigen  auf  Feldern,  welche  die  Bezeichnungen 
des  Münzgewichtes  trugen,  den  Feingehalt  von  Gold  z.  B.  bei  Münzen 
zu  bestimmen.  Auch  das  „Progredim“  (die  Progressionen)  und  Wurzel- 
ausziehen gehört  im  16.  Jahrhundert  noch  zum  elementaren  Rechnen. 

Von  den  Dezimalbrüchen,  eine  der  genialsten  und  fruchtbarsten 
Erfindungen  des  menschlichen  Geistes,  ist  erst  1685  die  Rede.  Stevin 
setzto  damals  in  seiner  Abhandlung  La  Disme  auseinander,  welche 
grofsen  Vortheile  es  biete,  wenn  alle  Brüche  als  Zehntheilo  der  Ein- 
heiten ausgedrückt  würden  und  wies  darauf  hin,  dafs  sich  dann  aller 
Verkehr  mit  Brüchen  wie  mit  ganzen  Zahlen  ausführen  lassen  würde. 
Er  verlangt  von  der  Regierung,  sie  möge  alles  unterstützen,  was  ein 
solches  Rechnen  herbeiführen  könnte,  namentlich  die  Decimaltheilung 
der  Münzen,  Mafse  und  Gewichte.  Stevin  läfst  beim  Anschreibon  der 
zehnthoiligon  Brücho  den  Nenner  noch  nicht  weg,  er  schreibt  hinter 
den  Zähler  ein  Rangzoichen  der  Nenner,  <J)  für  die  Zehntel,  © für 
die  Hundertstel,  also  z.  B.  7 7/,(„,  =r  707©,  ■vt/l o,,  = 64  @.  Bei  der  Aus- 
führung von  Rechnungen  werden  die  Stellenanzeiger  ® © & . . . . 
über  die  betreffenden  Ziffern  gesetzt.  Stevin  sieht  voraus,  dafs  viel- 
leicht die  Einführung  der  Decimalbrüche  nicht  sobald  in  Aussicht  stehe, 
doch  „ein  künftiges  Geschlecht,  wenn  die  Mensohennatur  die  gleiche 
bleibe,  werde  sich  eines  so  grofson  Vortheiles  jedenfalls  nicht  für 
immer  begeben.“  Nahe  um  dieselbe  Zeit  wie  Stevin  kam  Jost 
Bürgi  auf  die  Erfindung  der  Decimalbrüche  und  gebrauchte  Punkte 
oder  Halbklammern  zur  Abgrenzung  der  Decimalstellen.  1603  ver- 
öffentlichte J.  H.  Beyer  seine  „Logistica  deoimalis,  das  ist  Kunst- 
rochnung  mit  don  zehntheiligen  Brüchen.“  Die  Decimalstellen  nennt 
er  Skrupel,  die  erste,  zweite  . . . Skrupel,  oder  auch  Primen,  Sekunden, 

II  v 

Terzen  u.  s.  w.  und  bezeichnet  z.  B.  6 32/i«i  — 5.32;  9326/inoooo  = 9.326. 

Zu  den  Rechnungsfortschritten  des  16.  Jahrhunderts  gehört  auch 
noch  die  Erfindung  der  doppelten  Buchhaltung.  Schon  vor  dem  Ende 
des  Mittelalters  war  in  England  und  Frankreich  eine  schachbrett- 
förmige Bücherführung  bekannt.  Im  italienischen  Handelsstando  ge- 
langte das  Buchbaltungswesen  (vielleicht  heeiuflufst  durch  arabische 
L’sanzen)  ganz  vornehmlich  zur  Vervollkommnung.  Die  Begründung 
der  doppelten  Buchhaltung  ist  gleichfalls  einem  Italiener  zuzuschreiben, 
dem  früher  schon  erwähnten  Mathematiker  Luca  Paciuolo  (1493). 
Er  kennt  die  Führung  des  „Memorials“,  „Journals“,  der  „Strazze“,  die 
Aufstellung  der  Bilanz.  In  deutscher  Sprache  dürfte  die  Buchhaltung 
zuerst  von  Grammateus  (1623)  gelehrt  worden  sein.11)  Stevin 

")  Bei  diesem  he  [ist  das  Kassabuch  „Kaps“  (Kapsel). 

20’ 


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288 


endlich  schlug  1605  die  Einführung  sogenannter  unpersönlicher  Conti 
bei  der  Buchhaltung  von  Domainen,  Genossenschaften,  Städten  und 
Provinzen  vor  („Haushaltungskonto“,  „Gehaltskonto“,  „Marstall-Konto‘ 
u.  dgl.). 

Seit  dem  16.  Jahrhundert  wurde  der  Fortschritt  der  Rechenkunst 
eiu  stetiger.  Die  Spielereien  mit  Zahlen  und  Methoden,  mit  denen  sich 
das  Mittelalter  gern  abgab,  die  unbeholfenen  Rechnungsarten  ver- 
schwinden mehr  und  mehr  und  machen  praktischen  Vortheilen  Platz. 
Während  im  15.  Jahrhundert  der  Mensch  mit  mancherlei  Schwierig- 
keiten im  Rechnen  zu  kämpfen  hat,12)  ist  er  im  17.  Jahrhundert  schon 
so  weit,  dafs  er  auf  Maschinen  sinnt  (wie  Blaise  Pascal),  welche  die 
Schnelligkeit  des  Reohnens  erleiohtem  sollen.  Im  18.  Jahrhundert 
endlich  hat  das  Rechnen  mit  der  Feder  die  alleinige  Herrschaft  in 
allen  Ländern,  wo  sich  der  Mensch  ein  hochzivilisirtes  Geschöpf 
nennt.  Die  letzten  zöpfischen  Anhängsel  sind  verschwunden  und  das 
praktische  Rechnen  dieser  Zeit  unterscheidet  sich  nur  noch  durch 
wenige  Aeufserlichkeiten  von  der  Rechenpraxis,  wie  wir  sie  heute  üben. 

So  sehen  wir  das  Rechnen,  wie  es  Tausende  von  uns  in  den 
Schulen  gelernt  haben,  aus  mühseligen  Anfängen  entstehen,  und  wir, 
die  in  dieser  Disziplin  durch  einen  wohlüberlegten,  pädagogisch  durch- 
gearbeiteten Unterricht  gar  nicht  in  die  Lage  gekommen  sind,  das 
Rechnen  als  eine  besonders  schwierige  Sache  anzusehen,  ahnen  heute 
gur  nicht,  wie  sehr  eine  halbwegs  grofse  Divisionsaufgabe,  die  wir 
binnen  einiger  Minuten  sozusagen  ohne  Ueberlegung  abthun,  unseren 
Voreltern  hat  Kopfzerbrechen  machen  können.  Wir  wollen  aber  be- 
scheiden sein  und  nicht  meinen,  jetzt  hätten  wir  mit  unsern  Methoden 
die  Höhe  des  Witzes  erklommen,  denn  nach  uns  kann  leicht  eine  Zeit 
kommen,  die  auch  uns  in  den  Schatten  schiebt. 

”)  Noch  in  dieser  Zeit  hatte  man  keine  feste  Terminologie  für  die  Be- 
nennung der  Zahlen,  und  bei  grofBen  Zahlen  werden  noch  immer  seltsame 
Wortungeheuer  erfunden. 


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Abermals  der  Komet  Holmes. 

Die  am  Schlufs  der  ausführlicheren  Mittheilung  über  diesen  inter- 
essanten und  seltsamen  Himmelskörper  (cf.  Heft  4 des  laufenden  Jahr- 
ganges) ausgesprochene  Vermuthung  hat  sehr  bald  eine  unerwartete 
Bestätigung  erfahren.  Bereits  Anfang  Dezember  war  der  Komet  so 
lichtschwach  geworden,  dass  er  nur  noch  in  mächtigeren  Instrumenten 
als  ganz  unscheinbare,  schlecht  definirte  Nebelmasse  aufgefunden 
■»'erden  konnte;  seitdem  hatte  er  sich  kaum  wesentlich  verändert,  und 
nichts  deutete  darauf  hin,  dafs  sich  eine  gewaltige  Umwälzung  in 
seinem  Inneren  vorbereitete,  die  ihren  Ausdruck  in  einer  Form-  und 
Helligkeitsveränderung  von  erheblichem  Betrage  finden  sollte.  Herr 
Dr.  Palisa  in  Wien  vermifste  am  16.  Januar  an  der  durch  die  Be- 
rechnung vorausbestimmten  Stelle  des  Himmels  das  ihm  wohlbekannte 
Objekt;  hingegen  fiel  ihm  sofort  ein  gelber  Fixstern  auf,  der  von 
einer  Nebelhülle  von  20 " Durchmesser  umgeben  war,  und  der  sich 
nach  kurzer  Zeit,  namentlich  auch  durch  seine  deutliche  Bewegung, 
als  mit  dem  gesuchten  Kometen  identisch  erwies.  Die  Gesamthelligkeit 
kam  etwa  derjenigen  eines  Fixsterns  der  8.  Größenklasse  gleich; 
überhaupt  war  in  kleineren  Instrumenten  und  bei  schwächeren  Ver- 
gröfserungen  der  Komet  von  einem  Fixstern  nicht  ohne  weiteres  zu 
unterscheiden. 

Inzwischen  hat  sich  sein  Aussehen  schon  wieder  merklich 
verändert.  Der  Kern,  weloher  aus  mehreren  einzelnen  Lichtknoten 
zu  bestehen  scheint,  ist  unscharfer  geworden,  während  die  ihn  um- 
gebende Nebelhülle  an  Ausdehnung  zugenommen  hat  Man  wird 
demnach  kaum  fehlgehen,  wenn  man  annimmt,  dafs  in  wenigen  Wochen 
der  Komet  wieder  zu  einem  ganz  unscheinbaren  Objekt  herabgesunken 
sein  wird;  neuere  Beobachtungen  bestätigen  diese  Vermuthung. 

Derartige  plötzliche  Lichtausbriiche  und  Formveränderungen  sind 
zwar  an  sich  nicht  eben  selten;  in  der  Regel  troten  sie  in  der  Zeit  der 
Sonnennähe,  meist  wenige  Tage  nach  derselben  ein.  Ein  bemerkens- 


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290 


werthes  Beispiel  dafür  bot  in  neuerer  Zeit  (1888)  der  Komet  Sawertbal. 
Um  so  grosseres  Interesse  muss  deshalb  der  Holmessche  Komet  er- 
wecken, weil  durch  die  oben  mitgetheilte  Wahrnehmung  die  Zahl 
derjenigen  Fülle,  in  denen  mit  Sicherheit  plötzliche  gewaltige  Um- 
lagerungen innerhalb  der  die  Kometen  bildenden  Materie  nachgewiesen 
werden  konnten,  wieder  um  ein  sehr  augenfälliges  Beispiel  bereichert 
worden  ist,  namentlich  wenn  in  Betracht  gezogen  wird,  dafs  die  be- 
merkte Umgestaltung  erst  geraume  Zeit  nach  der  Sonnennähe  (Mitte 
August  1892)  stattfand.  Man  wird  es  nunmehr  auch  kaum  ver- 
wunderlich finden,  dass  der  Komet  so  verhältnifsrnäfsig  spät,  fast 
5 Monate  nach  dem  Durchgang  durch  das  Perihel,  entdeckt  wurde. 
Zweifellos  ist  man  zu  der  Annahme  berechtigt,  dafs  infolge  eines  dem 
geschilderten  ähnlichen  Lichtausbruchs,  der  vielleicht  wenige  Tage  vor 
der  Entdeckung  stattgefunden  haben  wird,  die  Helligkeit  so  rapide 
anstieg,  dass  sie  die  Anwesenheit  des  Kometen  für  einigo  Tage  sogar 
dem  unbewaffneten  Auge  verrieth. 

Noch  in  einer  anderen  Richtung  gestaltet  sich  die  Erscheinung  des 
uns  beschäftigenden  Kometen  zu  einer  besonders  bemerkenswerthen. 
Bekanntlich  zeichnen  sich  die  Kometen  durch  ein  Spektrum  aus,  das, 
in  der  Regel  aus  drei  Banden  bestehend,  deren  hellstes  im  Grün  ge- 
legen ist,  in  wesentlichen  Punkten  mit  dem  Spektrum  des  Kohlen- 
wasserstoffes übereinstimmt.  Gleichzeitig  wird  oft  auch  ein  kontinuir- 
liches  Farbenband  beobachtet,  das  um  so  deutlicher  hervortritt,  je 
gröfser  der  Abstand  des  Kometen  von  der  Sonne  ist.  Nun  fanden 
unabhängig  von  einander  Campbell  auf  dem  Lick-Observatorium  am 
8.  und  9.  November  und  Vogel  in  Potsdam  am  13.  November  ein 
kontinuirliches  Spektrum,  hingegen  keine  Spur  des  für  die  Kometen 
charakteristischen  Bandenspektrums,  das  nach  allen  früheren  Er- 
fahrungen jenes  an  Intensität  erheblich  zu  iibertreffen  pflegt.  Wenn 
es  also  überhaupt  vorhanden  war,  so  muSs  seine  Helligkeit  doch  so 
unbedeutend  gewesen  sein,  dafs  es  sich  selbst  in  unseren  gewaltigsten 
Hilfsmitteln  der  Wahrnehmung  entziehen  konnte.  G.  Witt. 

f 

Zur  Selenographie. 

Die  jüngste  Publikation  der  Prager  Stemw’arte  •)  enthält  u.  a. 
eine  interessante  Zusammenstellung  von  Zeichnungen  und  Unter- 

’)  Astronomische  Beobachtungen  an  der  k.  k.  Sternwarte  zu  Prag  in  den 
.Jahren  IS89,  1800  und  1891,  nebst  Zeichnungen  und  Studien  des  Mondes.  Auf 
öffentliche  Kosten  hernusgegeben  von  Professor  Dr.  L.  Weinek.  — Prag  1893. 


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291 


suchungen  über  die  Oberflächenbeschaffenheit  unseres  Trabanten,  die 
einen  bleibenden  Werth  beanspruchen  können.  Auf  vier  Tafeln  gr.  Folio, 
denen  ausführliche  Erläuterungen  im  Text  voraufgehen,  finden  wir  zu- 
nächst, lithographisch  vervielfältigt,  20  überraschend  plastische,  bis  ins 
feinste  Detail  sorgsam  ausgearbeitete  Handzeichnungen,  vorläufig  die 
letzten  dieser  Art,  da  die  wenig  günstigen  Beobachtungs-Verhältnisse 
auf  der  Prager  Sternwarte  und  die  bescheidene  inBtrumenteile  Aus- 
rüstung derselben  eine  erfolgreiche  Thätigkeit  in  dieser  Richtung  er- 
heblich erschweren.  Dennoch  werden  die  bis  jetzt  veröffentlichten 
60  Originalzeichnungen,  welche  man  der  Thätigkeit  Prof.  Weineks 
verdankt,  stets  mustergültig  und  in  jeder  Beziehung  vorbildlich  bleiben; 
sie  haben  daneben  wiederholt  zur  Auffindung  von  Oebilden  auf  dem 
Monde  geführt,  die  von  keinem  Selenographen  bisher  verzeichnet 
worden  waren.  Nur  nebenher  sei  eines  Versuches  Erwähnung  gethan, 
der  gelegentlich  der  totalen  Mondfinsternifs  des  Jahres  1888  angestellt 
wurde;  er  zielte  darauf  ab,  die  Färbung  der  Mondoberfläche  in  einer 
bestimmten  Phase  der  Verfinsterung  möglichst  treu  wiederzngeben,  und 
mufs,  wie  nicht  anders  erwartet  werden  konnte,  als  gut  gelungen  be- 
zeichnet worden,  wenn  auch  der  Farbendruck  vielleicht  nicht  im  stände 
war,  alle  Feinheiten  des  Originals  wiederzugeben. 

Wir  haben  bereits  im  ersten  Heft  dieses  Jahrganges  Veranlassung 
genommen,  darauf  hinzuweisen,  dafs  Prof.  Woinek  in  der  letzten  Zeit 
einen  erheblichen  Theil  seiner  Thätigkeit  einer  anderen  Art  der  Dar- 
stellung der  Mondoberfläche  gewidmet  hat.  Das  Zeichnen  einzelner 
Mondpartien  in  bedeutend  vergrüfsertem  Marsstube  nach  Photographien 
und  die  nachfolgende  Tuschirung  eines  solchen  Bildes  beansprucht 
zwar  einen  erheblichen  Aufwand  an  Zeit  und  Mühe;  der  Werth  ist  aber 
auch  ein  unvergleichlich  hoher,  den  niemand  bestreiten  wird.  Diese 
Zeichnungen  sind  die  Veranlassung  zu  zahlreichen  photographischen 
Entdeckungen  von  Mondgebilden  geworden,  deren  Oröfso  und  Auf- 
fälligkeit es  mindestens  seltsam  erscheinen  läfst,  dafs  sie  von  unseren 
hervorragenden  Selenographen  übersehen  werden  konnten. 

Welche  Erfolge  diese  Thätigkeit  bisher  zu  verzeichnen  hatte,  da- 
für enthält  die  angeführte  Publikation  zahlreiche  interessante  Beläge;  die 
beiden  Tafeln,  welche  den  ersten  Ergebnissen  dieser  Arbeiten  gewidmet 
sind,  stellen  die  bedeutendsten  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Mond- 
zeichnung dar.  Sie  sind  bisher  weder  erreicht  noch  iibertroffen  und 
werden  überhaupt  für  lange  Zeit  als  Grenze  des  Erreichbaren  zu  be- 
zeichnen sein.  Von  der  Vielartigkeit  des  Details,  aber  auch  von  der 
Schwierigkeit  der  Ausführung,  wird  man  sich  eine  Vorstellung  machen 


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292 


können,  wenn  man  das  diesem  Hefte  beigegebene  Bild  einer  einzigen  Ring- 
ebene sorgsam  studirt;  der  Gesamteffekt,  der  Eindruck  des  Plastischen 
ergiebt  sich  hingegen  besser  bei  der  Betrachtung  aus  einiger  Ent- 
fernung und  hat  eine  überraschende  Aehnlichkeit  mit  dem  Fernrohr- 
bilde bei  den  stärksten  Vergröfserungen. 

Besonderer  Erwähnung  werth  erscheint  noch  ein  zweites  Ver- 
fahren , welches  einer  Nachbildung  des  Mare  Crisium  zu  Grunde  liegt 
Das  Original  wurde  derart  gewonnen,  dafs  die  betreffende  Partie  der 
Platte  viermal  vergröfsert  photographirt  und  dann  in  möglichst  lichter 
Nüancirung  auf  Salzpapier  übertragen  wurde.  Die  besonderen  Fein- 
heiten des  Detail  wurden  dann  auf  dem  Wege  der  Retouohe  eingetragen, 
so  dafs  die  Arbeit  einem  vollständigen  Neumalen  fast  direkt  gleich  kam. 
Der  fühlbarste  Mangel  dieses  Verfahrens  besteht  jedooh  darin,  dafs  die 
Vergrößerung  nicht  erheblich  weiter  getrieben  werden  kann;  dasselbe 
steht  also  hinter  der  Herstellung  einer  direkt  vergrößerten  Zeichnung 
mit  nachfolgender  Tuschirung  in  dieser  Beziehung  wesentlich  zurück. 

Einige  Worte  mögen  der  Erläuterung  unserer  Beilage  dienen. 
Das  Original  derselben,  von  welchem  ein  photographischer  Abzug 
von  Herrn  Professor  Weinek  freundlichst  zur  Veröffentlichung 
überlassen  wurde,  hat  etwa  120  Arbeitsstunden  zur  Vollendung  bean- 
sprucht und  reiht  sich  in  jeder  Beziehung  den  übrigen  bisher  fertig- 
gestellten  Bildern  würdig  an,  namentlich  auch  dem  in  der  Publikation 
heliographisch  reproduzirten  Bilde  der  Wallebene  Petavius.  Vendelinus 
ist  eine  große,  unregelmäßig  gestaltete  Wallebene  nahe  am  Westrande 
des  Mondes,  mit  mäßig  hohem,  wonig  torrassirtem  Walle,  der  von  zahl- 
reichen Thälern  durchbrochen  wird  und  sieh  theilweise  bis  zu  einer  Höhe 
von  1800  m über  das  Innere  erhebt  Der  Rand  wird  im  Süden  (oben)  von 
einigen  kleinen  Hügeln  und  Kratern  gebildet,  theilweise  auch  von  einer 
bedeutenden  Ringebene,  die  in  ihrer  charakteristischen  Form  deutlich  zu 
erkennen  ist,  während  das  Innere  mit  tief  dunklem  Schatten  erfüllt 
erscheint.  Im  Norden  (unten)  besteht  der  Rand  aus  einer  sanft  an- 
steigenden Höhe,  die  mit  einigen  Hügeln  und  kraterähnlichen  Ver- 
tiefungen durchsetzt  ßt,  während  sich  an  denselben  im  Osten  zwei 
bedeutende  Ringebonen  anschließen.  Eine  Centralspitze  fehlt,  dafür 
zeigt  aber  das  Innere  eine  außerordentlich  große  Zahl  von  Unregel- 
mäßigkeiten und  niedrigen  Höhenrücken,  außerdem  auch  einen  kleinen 
Krater.  Die  eigenartigsten  Gebilde  aber, auf  welche  hier  besonders  hinge- 
wiesen sein  mög6t  sind  schwache,  unregelmäßig  gekrümmte,  rillenühn- 
licho  Linien,  die  in  ihrem  Charakter  vollständig  ausgetrockneten  Flufs- 
betten  gleichen.  Obgleich  es  schwierig  ist,  die  Realität  dieser  Gebilde  mit 


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Vendelinus. 

Reproduction  einer  Tuschirung  in  20-facher  Vergröfserung  nach  der  im  Focus 
des  36-zolligon  Refractors  der  Lick  - Sternwarte  aufgenommenen  Jlondphotographie 
vom  31.  August  1890,  von  Prot  Dr.  L.  Weinek  in  Prag. 


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293 


Sicherheit  nachzuweisen,  hat  Professor  Weinek  doch  auf  ver- 
schiedenen Photographien  schon  übereinstimmend  gewisse  Züge  der- 
selben identiflziren  können,  so  dafs  an  ihrer  Existenz  an  sich  kaum  ein 
Zweifel  bestehen  dürfte.  Nichtsdestoweniger  ist  von  verschiedenen 
Seiten  bereits  der  Einwand  geltend  gemacht  worden,  dafs  man  es  hier 
lediglich  mit  Fehlern  in  der  photographischen  Schicht  zu  thun  habe. 
Dem  kann  aber  entgegengehalten  werden,  dafe  thatsächlieh,  wie  es 
scheint  bereits  mit  Erfolg,  in  einigen  Fällen  auoh  optisch  die  Identi- 
fizining  gelungen  ist.  Andererseits  bietet  die  aufserordentliche  Erfah- 
rung, welche  Professor  Weinek  zur  Seite  steht,  eine  sichere  Gewähr 
dafür,  dafs  diese  rillenähnlichen  Objekte  nicht  blofse  Phantasiegebilde 
vorstellen. 

Einige  Bemerkungen  allgemeinerer  Natur  bezüglich  der  Möglich- 
keit, derartige  winzige  Einzelnheiten  auoh  optisch  mit  Sicherheit  zu 
erkennen,  werden  indessen  nicht  überflüssig  erscheinen.  Der  typische 
Charakter  der  Mondformationen  ist  in  der  überwiegenden  Zahl  der 
Fälle  die  Kreisform.  Während  diese  charakteristische  Durchschnitts- 
form bei  den  Gebilden  nahe  der  Mondmitte  ohne  weiteres  erkennbar  ist, 
mufs  eine  starke  perspektivische  Verkürzung  derselben  am  Mondrande 
eintreten:  sie  erscheinen  dort  als  schmale,  langgestreckte  Ellipsen. 
Naturgemäfs  wird  hier  auch  alles  andere  Detail  in  ähnlicher  Weise 
beeinflufst  werden,  weil  der  Gesichtswinkel  für  eine  Region  von  be- 
stimmter Gröfse  bei  mehr  centraler  Lage  erheblich  gröfser  sein  wird, 
als  wenn  sich  dieselbe  dicht  am  Mondrande  befindet 

Hierzu  kommt,  dafs  die  Mondaohse  gewissermafsen  um  eine 
mittlere  Lage  scheinbar  unregelmäfsig  hin-  und  herschwankt,  eine 
Ungleichheit,  die  unter  dem  Namen  „Libration“  bekannt  ist  Diese 
hat  zur  Folge,  dafs  beispielsweise  ein  Krater,  der  in  einem  bestimmten 
Augenblick  genau  in  der  Mitte  der  scheinbaren  Mondscheibe  liegt,  bald 
in  dieser,  bald  in  jener  Richtung  um  ein  kleines  Stück  gegen  den 
Mondrand  hin  verschoben  erscheint.  So  kommt  es,  dafs  thatsächlieh 
nur  etwa  3/j  statt  der  Hälfte  der  Monduberfläche  dauernd  unsichtbar 
bleiben. 

Es  ist  hiernach  leicht  erklärlioh,  dafs  die  an  sich  sohon  stark 
verkürzt  erscheinenden  Gebilde  am  .Mondrande  in  ihren  Sichtbarkeits- 
Verhältnissen  durch  die  Wirkung  der  Libration  wesentlich  beeinträchtigt 
werden  können,  wogegen  sie  zu  anderen  Zeiten  wieder  die  denkbar 
günstigsten  Verhältnisse  für  die  Beobachtung  darbieten  werden,  sobald 
sie  nämlich  dem  Centrum  der  Mondscheibe  näher  gerückt  erscheinen. 


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2!4 


Für  die  in  der  Mitte  derselben  gelegenen  Kegionen  ist  diese  Einwirkung 
naturgemäfs  viel  unbedeutender. 

Erheblich  griifser  ist  der  Einflufs,  welchen  die  Beleuchtung  und 
der  Zustand  der  Atmosphäre  aul'  die  jeweiligen  Sichtbarkeitsverhältnisse 
ausüben.  Die  feineren  Einzelheiten  beispielsweise,  welche  in  der  Nähe 
von  Bergziigen  liegen,  werden  erst  dann  sichtbar,  wenn  sie  aus  dem 
Schatten  derselben  herausrücken,  wenn  also  die  Sonne  hinreichend 
hoch  steht;  dann  sind  aber  ftir  dieselben  die  Beleuchtungsverhältnisse 
an  sich  schon  nicht  mehr  die  günstigsten  zu  nennen.  Dazu  kommt, 
dafs  bei  verschiedenartigem  Sonnenstände  ein  und  dasselbe  Gebilde 
einen  ganz  veränderten  Anblick  bietet.  Auch  hierfür  enthält  die  Prager 
Publikation  zwei  sehr  interessante  Beispiele.  Architnedes  und  Arzachel, 
zwei  schöne  Ringebenen  im  südlichen  Theil  der  sichtbaren  Mond- 
scheibe, die  in  zehnfacher  Vergrofserung  nach  Mondphotographieen  vom 
15.  und  27.  August  1888  gezeichnet  sind,  zeigen  ilie  verschiedenartigen 
Beleuchtungsverhältnisse  bei  Sonnen -Aufgang  und  -Untergang  und 
gleichzeitig  die  Einwirkung  der  Libration  auf  das  allerdeutlichste. 

Während  man  sich  aber  von  dem  Einflufs  der  Beleuchtung  und 
den  Librationswirkungen  durch  Beobachtung  in  verschiedenen 
Lunationen  vollständig  frei  machen  kann,  sind  die  Schwierigkeiten, 
welche  sich  dem  Erkennen  der  zartesten  Einzelheiten  infolge  mangel- 
haften Luftzustandes  entgegenstellen,  rein  zufälliger  Natur  und  insofern 
schwieriger  zu  überwindon.  Man  bedenke,  dafs  von  den  erwähnten 
rillenähnlichen  Gebilden  einige  auf  dem  Original  nur  eine  Breite  von 
etwa  0,005  mm  und  in  der  Zeichnung,  welche  einer  etwa  tausend- 
fachen Okularvergröfserung  entspricht,  eine  solche  von  0,1  mm  haben, 
während  man  bei  optischer  Betrachtung  in  den  weitaus  meisten  Fällen 
mit  Erfolg  nur  eine  etwa  dreihundertfache  Vergrofserung  anwenden 
kann.  Es  gehören  thatsiichlich  außerordentlich  lichtstarke  Instrumente 
und  günstigste  atmosphärische  Bedingungen  dazu,  um  die  Identifizirung 
dieser  „Flufsläufe“  mit  voller  Sicherheit  zu  erlangen,  wenn  nicht  gerade 
die  Boleuchtungswirkungen  ganz  ausgezeichnete  sind. 

Nach  diesen  Bemerkungen  wird  man  es  verständlich  finden,  dafs 
die  Frage  bezüglich  der  Realität  dieser  rillenähnlichen  Objekte  in 
jeder  Beziehung  der  sorgfältigsten  objektiven  Prüfung  nach  allen  Seiten 
hin  bedarf,  und  dafs  es  geboten  erscheint,  die  dahin  zielenden  Unter- 
suchungen mit  vollem  Eifer  und  unverzüglich  in  Angriff  zu  nehmen. 

Q.  Witt 

* 


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295 


Von  der  Pariser  Akademie  ertheilte  Preise. 

Laut  Bericht  in  No.  25  der  Comptes  rendus  (Tome  CXV)  sind 
am  Schlufs  des  vorigen  Jahres  folgende  Preise  für  hervorragende 
Leistungen  in  der  Astronomie  zuerkannt  worden. 

Der  Lalande-Preis  wurde  zweimal  vertheilt,  und  zwar  an  Prof. 
Barnard  von  der  Lick-Stomwarte  für  seine  Entdeckung  des  fünften 
Jupitertrabanten  und  zahlreicher  Kometen,  sowie  an  Prof.  Dr.  Max  Wolf 
in  Heidelberg  für  seine  Entdeckungen  kleiner  Planeten  mit  Hilfe  der 
Photographie. 

Auch  der  Preis  Damoisoau  wurde  zweifach  vertheilt,  und  zwar 
zunächst  an  M.  Radau  in  Paris  ftir  eine  die  Theorie  der  Mond- 
bewogung  wesentlich  fordernde  Preissohrift,  und  aufserdem  an 
M.  Leveau  zu  Paris  in  Anerkennung  seiner  Arbeiten  über  den  Ko- 
meten d’Arrest  und  die  Bewegung  der  Vesta. 

Der  Preis  Valz  wurde  M.  Puiseux  in  Paris  zuerkannt,  welcher 
eine  sorgfältige  Theorie  des  neu  erfundenen  „Equatorial  coude"  ans- 
gearbeitet und  damit  dieses  von  uns  im  zweiten  Jahrgang  (S.  573) 
beschriebene  Instrument  für  exakte  Messungszwecke  verwendbar  ge- 
macht hat. 

Prof.  Tacchini  in  Rom  endlich  wurde  für  seine  vorwiegend 
spectroskopischen  Beobachtungen  der  Protuboranzen  und  für  allgemeine 
Verdienste  um  die  Entwicklung  der  astronomischen  Forschung  in 
Italien  durch  Verleihung  des  1886  von  M.  Janssen  gestifteten  Preises 
ausgezeichnet. 

Neu  ausgeschrieben  wurde  der  Preis  Damoiseau.  Derselbe  soll 
im  Jahre  1894  dem  Erfinder  einer  abgekürzten  Methode  der  Störungs- 
rechnung Tür  kleine  Planeten,  im  Jahre  1896  aber  dem  Autor  einer 
Abhandlung  zuerkannt  werden , welche  die  Erscheinungen  des 
Hai ley sehen  Kometen  mit  Berücksichtigung  der  Anziehung  des 
Neptun  bis  zum  Jahre  1456  zurückverfolgt  und  auf  Örund  dieser 
Untersuchung  eine  genaue  Vorausberechnung  der  im  Jahre  1910  zu 
erwartenden  Wiederkehr  des  Kometen  giebt. 

Die  übrigen  Preise  werden  1893,  wie  alljährlich,  denjenigen 
Astronomen  zugesprochen  werden,  welche  die  bedeutsamsten  wissen- 
schaftlichen Leistungen  des  gegenwärtigen  Jahres  aufzuweisen  haben 
werden. 

f 


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29G 


Ueber  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  Hertzscher  Wellen 

haben  die  bekannten  Genfor  Physiker  Sarasin  und  de  la  Rive  neue 
Experimente1)  angestellt,  welche  wohl  den  grofsartigsten  Versuch  be- 
deuten, jene  langen  Wellenzüge  zu  verfolgen,  die,  von  einem  elek- 
trischen Funken  ausgehend,  den  Raum  mit  der  Geschwindigkeit  des 
Lichtstrahls  durcheilen,  ohne  jedoch  unserem  Auge  sichtbar  zu  sein. 
Dafs  ihnen  diese  Geschwindigkeit  zukomme,  ist  allerdings  eine  Be- 
hauptung, welche  durch  die  Versuche  erst  erwiesen  werden  sollte,  die 
aber  durch  frühere  Untersuchungen  über  die  Fortpflanzung  elek- 
trischer Wellen  längs  metallischer  Leiter  und  zum  Theil  auch  schon 
durch  Versuche  im  freien  Lufträume  wahrscheinlich  gemacht  war. 
Sollten  — und  hierauf  kam  es  nunmehr  an  — auch  längere  Wellen 
auf  eine  längere  Strecke  hin  verfolgt  werden,  so  war  es  nöthig,  die 
Dimensionen  der  spiegelnden  Metallflächen,  welche  schon  bei  den 
Hertz  sehen  Versuchen  keineswegs  gering  waren,  noch  weiter  zu 
steigern.  Die  Stadt  Genf  stellte  den  beiden  Forschern  zu  diesem 
Zwecke  eine  geräumige,  augenblicklich  noch  nicht  benutzte  Maschinen- 
halle zur  Verfügung.  In  diesem  gröfsten  aller  physikalischen  Arbeits- 
räume wurde  eine  Wand  in  einer  Höhe  von  acht  Metern  und  einer 
Breite  von  sechzehn  Metern  mit  Zinkplatten  bedeckt.  Gegenüber  der 
Mitte  dieses  „Spiegels“,  dessen  kleine  Unebenheiten  gegenüber  den 
grofsen  Wellenlängen  durchaus  nicht  in  Betracht  kommen,  wurde  in 
einem  Abstande  von  15  Metern  der  Schwingungserreger  aufgestellt, 
welcher  wie  gewöhnlich  aus  zwei  einander  benachbarten  Motallkörpem 
besteht,  zwischen  denen  die  Funken  eines  Rhumkorffschen  Apparates 
überspringen.  Diese  Funken  repräsentiren  elektrische  Schwingungen, 
d.  h.  der  elektrische  Ausgleich  zwischen  dem  positiven  und  dem 
negativen  Metallkörper  findet  durch  den  Funken  in  der  Weise  statt 
dafs  die  Elektrizität  einige  Male  hin  und  her  geht,  ehe  sie  zur  Ruhe 
kommt.  Die  so  entstehenden  elektrischen  Störungen  breiten  sich  aus, 
werden  von  der  Metallwand  reflectirt,  und  es  entstehen  in  bekannter 
Weise  durch  das  Zusammenwirken  der  primären  und  der  zurück- 
geworfenen Störungen  stehende  Wellen.  Recht  gleichmäfsig  und  kräftig 
waren  die  von  den  Verfassern  erhaltenen  Schwingungen  auch  infolge 
des  Umstandes,  dafs  sie  die  Funken  nicht  in  der  freien  Luft  sondern 
innerhalb  eines  mit  Oel  gefüllten  Gefäfses  überspringen  liefsen.  Die 
Untersuchung  der  stehenden  Wellen  erfolgte  mittelst  der  Hertzschen 
Resonatoren,  kreisförmiger  Drahtstücke,  welche  in  einem  Falle  einen 


*)  Comptes  Rendus.  2fi.  Dozomber  1892. 


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297 


Radius  von  26,  in  einem  zweiten  einen  solohen  von  37  Centimetern 
hatten.  Das  Mitschwingen  der  Elektrizität  in  solchen  Resonatoren 
wird  dadurch  erkennbar,  dass  an  einer  kleinen  Unterbrechungsstelle 
des  Metallkreises  ein  Fünkchen  auftritt,  und  da  dieses  Fünkchen  am 
stärksten  ist,  wenn  der  Resonator  an  dem  Orte  eines  Schwingungs- 
bauches steht,  während  es  im  Schwingungsknoten  ganz  erlischt,  so 
ist  man  im  stände,  den  ganzen  Verlauf  der  stehenden  Welle  zu  unter- 
suchen. Die  Bahn  der  stärksten  Wirkung,  welche  sich  zwischen  der 
Spiegelmitte  und  dem  Schwingungserreger  befindet,  ist  nun  wegen  der 
grofsen  Dimensionen  des  Spiegels  nicht  ohne  weiteres  zugänglich;  sie  be- 
findet sich  in  einer  Höhe  von  vier  Metern  über  dem  Fufsboden ; es  wurde 
deshalb  um  diese  optische  Achse  herum  ein  besonderer  Beobachtungs- 
tunnel gebaut,  dessen  aus  Holz  und  Pappe  bestehende  Wände  die 
elektrischen  Wellen  nicht  im  mindesten  stören,  während  sie  durch 
den  völligen  Ausschlufs  des  Tageslichtes  die  Beobachtung  der  kleinen 
Fünkchen  begünstigen.  Gleichzeitig  dient  dieser  Tunnel  zur  Aufnahme 
einer  Art  optischen  Bank,  welche  eine  Verschiebung  der  Resonatoren 
und  eine  Bestimmung  ihres  Abstandes  vom  Spiegel  gestattet 

Das  Eigenartige  dieser  Versuche  kommt  einem  besonders  zum 
Bewufstsein,  wenn  man  sioh  vorstellt,  wie  die  Forscher  sich  in  diese 
Dunkelkammer  hineinbegeben  und  dort  an  ihren  Drahtstücken  einmal 
ein  Fünkchen  entdecken,  an  einem  anderen  Punkte  das  Ausbleiben  des- 
selben beobachten,  während  doch  alle  erregenden  Apparate  aufserhalb 
der  Kammer  stehen!  — Es  ergab  sich,  dafs  für  beide  Resonatoren 
die  Stärke  der  Einwirkung  in  den  verschiedenen  Punkten  ziemlich 
gut  durch  eine  Wellenlinie  dargestellt  wurde,  und  zwar  lagen  für  den 
kleineren  Resonator  die  Schwingungsknoten  und  -bäuche  in  Abständen 
von  je  einem  Meter;  der  erste  Schwingungsknoten  liegt  immer  im 
Spiegel  selbst  Die  Länge  einer  ganzen  Welle,  d.  h.  der  doppelte 
Abstand  von  zwei  auf  einander  folgenden  Knoten  beträgt  somit 
vier  Meter,  oder  das  Achtfache  des  Kreisdurchmessers.  Entsprechen- 
des ergab  sich  auch  für  den  grofsen  Resonator.  Die  Wellen  liefsen 
sich  in  beiden  Fällen  bis  zum  Abstand  von  etwa  acht  Metern  ver- 
folgen. 

Da  diese  Resultate  in  vollkommener  Uebereinstimmung  mit  den- 
jenigen stehen,  welche  von  denselben  Forschern  bei  den  an  Drähten 
angestellten  Versuchen  erhalten  worden  sind,  so  ist  die  Gleichheit  der 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  in  dem  einen  und  anderen  Falle  nach- 
gewiesen, und  so  mit  Hülfe  dieser  Apparate,  zu  deren  Dimensionen 


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298 


die  experimentellen  Ergebnisse,  äußerlich  betrachtet,  in  einem  Mifs- 
verhältnifs  zu  stehen  scheinen,  ein  neuer  Beleg  für  die  Richtigkeit 
der  von  Faraday  und  Maxwell  entwickelten  und  jetzt  von  dem 
Namen  Hertz  getragenen  Anschauungen  geliefert.  Sp. 


Verzeichnis  der  vom  1.  August  1892  bis  1.  Februar  1893  der  Redaktion 
zur  Besprechung  eingesandten  Bücher. 

Andr6  M.  C.,  Meteorologie  Lyonnaise  1887 — 1890,  Lyon,  Deloroche  1889,90  u.  91. 

Andr(*  M.  CM  Relations  des  Phlnomenes  Met^orologiques  deduites  de  leurs 
Variations  diurnes  et  annuelles.  Lyon,  F.  Plan,  1892. 

Andr6  M.  C.,  Travaux  de  i’Observatoire  de  Lyon,  H.  George,  1892. 

Annuaire  de  l’Observatoiro  Municipal  de  Montsouris  pour  les  Annies  1892 
bis  1893,  Paris,  Gauthicr-Villars  et  Fils. 

Aschieri  T.,  EfTemeridi  del  Sole  e della  Luna  per  L’Orizone  di  Torino  e per 
l’Anno  1893,  Torino,  C.  Clausen,  1893. 

Bai  bis  Allgemeine  Erdbeschreibung,  Lieferung  11 — 18,  Wien,  A.  Hartleben,  1892. 

Berzelius  J.,  Versuch,  die  bestimmten  und  einfachen  Verhältnisse  aufzu 6 nden, 
nach  welchen  die  Bestandtheilo  der  unorganischen  Natur  mit  einander 
verbunden  sind.  (1811 — 1812).  Ostwalds  Klassiker  der  exakten  Wissen- 
schaften. Leipzig,  W.  Engelmann,  1892. 

Br  oster  A.,  Theorie  du  Soleil,  Deel  1,  No.  3.  Amsterdam,  J.  Müller,  1892. 

B unsen  und  H.  E.  Roscoo,  Photographische  Untersuchungen  1855 — 1859 
(Zweite  Hälfte),  Ostwalds  Klassiker  der  exakten  Wissenschaften,  Leipzig, 
W.  Engelmann,  1892. 

Bureau  des  Longitudes,  Annuaire  pour  l’An  1893,  Paris,  Gauthier-Villars  et  Fils. 

Cantor  M.,  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Mathematik.  1.  Band  von  den 
ältesten  Zeiten  bis  zum  Jahre  1200  n.  Chr.,  2.  Band  von  1200 — 1068, 
Leipzig,  B.  G.  Teubner,  1892. 

Figee  und  Onnen,  Vulkanische  Verschijnselen  en  Aardbevingen  in  den 
O.  J.  Archipel,  Waargenomen  Gedurende  het  Jaar  1891. 

v.  Gothard  E.,  Das  Spektrum  des  neuen  Sterns  in  Auriga  im  Vergleich  mit 
demjenigen  einiger  planetarischer  Nebel,  Berlin,  Friedländer  & Sohn,  1892. 

v.  Gothard  E.,  Meteorologische  Beobachtungen  an  dem  Astrophysikalischen 
Observatorium  zu  Herluy  im  Jahre  1890,  Budapest,  Heisler,  1892. 

Haas  H.,  Aus  der  Sturm-  und  Drangperiode  der  Erde.  I.  Band  mit  55  Abbil- 
dungen, Berlin,  Verein  der  Bücherfreunde,  1893. 

Haas.  Katechismus  der  Geologie,  5.  Auflage.  Mit  119  in  den  Text  gedruckten 
Abbildungen,  einer  Tafel  und  einer  Tabelle,  Leipzig,  J.  J.  Weber,  1893. 

Haie  G.  E.,  Photographs  of  Solar  Phenomena.  Reprint  from  Astronomy  and 
Astrophysics  No.  107. 

Haie  G.  E.,  A remarkablc  Solar  Disturhanco. 

Haie  G.  E.,  The  Ultra -Violet  Spectrum  of  the  Solar  Prominences. 

Haie  G.  E.,  Photographs  of  Solar  Phenomena  ,obtained  with  the  Spcctrohelio- 
graph  of  the  Kenwood  Astrophysical  Obscrvatory. 

Hall  A.,  Observations  of  Double  Stars  mado  at  the  United  States  Naval  Obser- 
vatory,  Part  IL  1880— 1891,  Washington,  Government  Priuting  Office,  1S92. 


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299 

Hoogewerff  J.  A.,  Magnetic  Observations  at  the  United  States  Naval  Obser- 
vatory  1891,  Washington,  Government  Printing  Office,  1892. 

Hübners  Geographisch -statistische  Tabellen  aller  Länder  der  Erde,  41.  Aus- 
gabe für  das  Jahr  1892,  herausgogeben  von  Professor  Dr.  Fr.  von  Jura- 
scheck, Frankfurt  a.  M.,  II.  Keller,  1892. 

Jacoby  H.,  The  Rutherfurd  Photographie  Measures  of  the  Stars  about  ß Cygni. 
New -York,  Academy  of  Sciences,  1892. 

Jahrbücher  der  K.  K.  Central- Anstalt  für  Meteorologie  und  Erdmagnetismus. 
Jahrgang  1890,  Wien,  i.  C.  b.  W.  Braunmüllor,  1892. 

Kolbe  B.,  Einführung  in  die  Elektrizitätslehre.  1.  Statische  Elektrizität.  Mit 
75  in  den  Text  gedruckten  Holzschnitten,  Berlin,  J.  Springer,  1893. 

Kopeke  W.,  Dio  photographische  Retouche  in  ihrem  ganzen  Umfange,  Band  I 
und  II.  Berlin,  Oppenheim,  1890  und  91. 

Lagrange,  Etüde  sur  le  Systeme  des  Forces  du  Monde  phvsique.  Bruxelles, 
F.  Hayez,  1892. 

Lamberts  Photometrio  1760,  Theil  1 — 7.  Ostwalds  Klassiker  der  exakten 
Wissenschaften,  Leipzig,  W.  Engelmann,  1892. 

Lavoisier  und  De  Laplace,  Zwei  Abhandlungen  über  die  Wärme  1780  und 
1784.  Üstwalds  Klassiker  der  exakten  Wissenschaften,  Leipzig.  W.  Engel- 
" mann,  1892. 

Lohr  mann  W.  G.,  Mondkarte  in  25  Seetionen  und  2 Erläuterungstafeln,  her* 
ausgegeben  von  Dr.  J.  Schmidt.  Neue  wohlfeile  Ausgabe  mit  einem  Vor- 
wort von  Ebert.  Leipzig,  A.  Barth,  1892. 

Luzi  W.,  lieber  künstliche  Corrosionsfiguren  am  Diamanten,  Berlin,  A. 
W.  Schade,  1892. 

Mechsner  R.,  Karte  des  in  Deutschland  sichtbaren  Sternenhimmels.  Berlin, 

D.  Reimer,  1893. 

Meteorological  Observations  and  Restilts  at  the  United  States  Naval  Obser- 
vatory  1888. 

Müller  F.,  Zeittafeln  zur  Geschichte  der  Mathematik,  Physik  und  Astronomie 
bis  zum  Jahre  1500,  mit  Hinweis  auf  die  Quellenlitteratur.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner,  1892. 

Newcomb-Engelmann,  Populäre  Astronomie,  herausgegeben  von  H.C. Vogel, 
Leipzig,  W.  Engelmann,  1892. 

Pasteur  L.,  Die  in  der  Atmosphäre  vorhandenen  organischen  Körperchen, 
Prüfung  von  der  Lehre  der  Urzeugung,  1862.  Ostwalds  Klassiker  der 
exakten  Wissenschaften,  Leipzig,  W.  Engolmann,  1892. 

Pfeil  L.  Graf  von,  Die  Lufthülle  der  Erde,  der  Planeten  und  der  Sonne,  Berlin, 
F.  Dümmier,  1892. 

Pfeil  L.  Graf  von,  Temperaturveräuderungen  auf  der  Erdoberfläche  und  Erd- 
magnetismus, Polarlicht  und  damit  verbundene  Vorkommnisse,  Leipzig, 

E.  H.  Mayer. 

Pfeil  L.  Graf  von,  Kometische  Strömungen  auf  der  Erdoberfläche  und  das 
Gesetz  der  Analogie  im  Weltgebäude.  4.  Auflage,  F.  Düinmler,  1891. 

Key  er  E.,  Ursachen  der  Deformationen  und  der  Gebirgsbildung,  Leipzig, 
W.  Engolmann,  1892. 

Key  er  E.,  Geologische  und  geographische  Experimente,  II.  Heft,  Vulkane  und 
Masseneruptionen.  Leipzig,  1892. 

Iiicco  A.,  Fumo  di  Vulcano  veduto  dall’  Osservatorio  di  Palermo  durante 
Teruzione  del  1889,  Roma.  1892. 

Ricco  A,  La  Grandissima  Macchia  Solare  del  Febbraio  1892. 


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300 


Ricco  A.  e G.  Mercalli,  Sopra  il  Periodo  Eruttivo  dello  Stromboli  Corning 
oiato  J1  21.  Giugno  1891,  Roma,  1892. 

Rizzo  G.  B.,  Osservazioni  Meteorologiche  fatte  nelT  anno  1891  all  Osservatorio 
della  R Universita  di  Torino.  Torino,  C.  Clausen,  1892. 

Schütt  F.,  Das  Pflanzenleben  der  Hochsee,  mit  35  Textabbildungen  und  einer 
Karte  des  Nordatlantischen  Ozeans,  Kiel,  Lipsius  & Tischer,  1893. 

Schurtz  H.,  Katechismus  der  Völkerkunde.  Mit  67  in  den  Text  gedruckten. 
Abbildungen,  Leipzig,  J.  J.  Weber,  1893. 

See  J.  JM  Die  Entwickelung  der  Doppelstern -Systeme,  Berlin,  i.  C.  b.  Fried- 
länder St  Sohn,  1893. 

Shinn  M.  W.,  The  Lick  Astronomical  Department  of  the  University  of  Cali- 
fornia, San  Francisco,  Bacon.  1892. 

Smithsoman  Institution,  Annual  Report  1890,  Washington,  1891. 

Sohncke,  Gemeinverständliche  Vorträge  aus  dem  Gebiete  der  Physik.  Mit 
27  Abbildungen  im  Text,  Jena,  H.  Fischer,  1892. 

Tetens  O.,  Untersuchungen  über  den  Gang  der  Hauptuhr  der  Bothkamper 
Sternwarte,  Leipzig,  W.  Engelmann,  1892. 

Valentiner  W.,  Veröffentlichungen  der  Grofsherzogl.  Sternwarte  zu  Karlsruhe. 
4.  Heft,  Karlsruhe,  i.  C.  b.  G.  Braun,  1892. 

Violle  J.,  Lehrbuch  der  Physik.  Erster  Theil:  Mechanik,  H.  Band.  Mechanik 
der  flüssigen  und  gasförmigen  Körper.  Mit  309  Textfiguren,  Berlin, 
J.  Springer,  1893. 

Weinek  L.,  Astronomische  Beobachtungen  an  der  K.  K.  Sternwarte  in  Prag 
in  den  Jahren  1888,  89,  90  und  91,  nebst  Zeichnungen  und  Studien  des 
Mondes.  Prag,  A.  Haase,  1893. 

Wernicke  A.,  Beiträge  zur  Theorie  der  centro- dynamischen  Körper,  Braun- 
schweig,  J.  H.  Meyer,  1892. 

Wittwer  W.  C.,  Grundzüge  der  Molekular -Physik  und  der  Mathematischen 
Chemie,  2.  Auflage,  Stuttgart,  K.  Wittwer,  1893. 

Zech  und  Cranz,  Aufgaben  aus  der  theoretischen  Mechanik,  Stuttgart,  1891. 


Verlag  von  Hermann  Paetel  in  Berlin.  — Druck  von  Wilhelm  Gronau's  BuchdruckereJ  in  Borlin. 
FUr  die  Redaction  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Moyer  in  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Ueberselxungsrccht  Vorbehalten. 


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Fclsenthor  an  der  Küste  der  Insel  Wight. 
(Nach  cinor  Photographie.) 


Die  Entstehung  der  Welt  nach  den  Ansichten  von 
Kant  bis  auf  die  Gegenwart 

Von  F.  K.  tiinzel.  Astronom  am  Recheninstitute  der  Könitfl.  Sternwarte  zu  Berlin. 

h 

c \l]a  den  folgenden  Aufsätzen  wird  der  Versuch  gewagt,  das  überaus 
; ) reichhaltige  und  vielfach  in  Zeitschriften  und  Werken  zerstreute 
^ Material  von  Ansichten,  welche  über  die  Entstehung  der  Welt 
und  namentlich  unseres  Sonnensystems  seit  dem  Erscheinen  der  Kant- 
schen  „Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels"  (1755)  geäufsert 
worden  sind,  in  knapper  Form  zusammenzufassen  und  den  Lesern 
dieser  Zeitschrift  hiermit  eine  Uebersicht  des  derzeitigen  Standes  der 
Weltbildungsfrage  vorzulegen.  Die  älteren,  vor  Kant  datirenden 
Hypothesen  sind  nicht  in  den  Hereich  der  Darstellung  gezogen  worden, 
da  sie  unseren  heutigen  wissenschaftlichen  Begriffen  schon  zu  ferne 
liegen  und  manche  selbst  noch  ohne  Kenntnifs  des  Gravitationsgesetzes 
entstanden  sind.  Es  ist  ferner  hier  nicht  überflüssig,  hervorzuheben 
und  zu  erinnern,  wie  sehr  gerade  auf  dem  hier  zu  behandelnden  Gebiete 
der  astronomischen  Wissenschaft,  der  Kosmogonie,  durch  Hypothesen 
aller  und  oft  zweifelhaftester  Art  grobe  Verstiifse  gegen  die  Prinzipien 
wissenschaftlicher  Arbeit  begangen  worden  sind.  In  der  That  würde 
es  unmöglich  sein,  und  nebenbei  bemerkt,  auch  ohne  wissenschaft- 
lichen Gewinn  an  der  Sache  selbst,  die  Monge  der  existirenden 
Theorien  innerhalb  des  Kähmens  einer  Zeitschrift  vollständig  anzu- 
geben; vielmehr  verdienen  nur  solche  Hypothesen  wissenschaftliche 
Berücksichtigung,  deren  Durchfuhrungsart  die  meiste  Garantie  für  den 
logischen  Aufbau  der  Schlufsfolgerungen  bietet  und  deren  Konse- 
quenzen mit  unseren  gegenwärtig  aus  den  Beobachtungen  gezogenen 
Vorstellungen  über  die  Beschaffenheit  des  Kosmos  halbwegs  im  Ein- 
klänge stehen.1) 

’)  Eine  besonders  eingehende  Kritik  der  zur  Sprache  kommenden 
Theorien  konnte  in  den  folgenden  Aufsätzen,  wo  die  Darstellung  der  Theorien 
Himmel  und  Erde.  1693.  V.  7.  21 


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302 


L.  Charakterisirung  der  hauptsächlichsten 
Weltbildungstheorien. 

„Bei  Beantwortung  der  F rage,  wie  sich  die  Welt  aus  dem  Ur- 
stoffe  gebildet  hat,  handelt  es  sich  für  die  Wissenschaft  eigentlioh 
um  den  Nachweis  der  Existenz  von  Grenzen  für  die  Tragweite  der 
Naturgesetze,  welche  den  Verlauf  alles  gegenwärtig  Geschehenden 
beherrschen;  ob  diese  Gesetze  auch  in  der  Vorzeit  von  jeher  giltig 
gewesen  sein  können,  und  ob  sie  es  auch  in  der  Zukunft  immer 
werden  sein  können,  oder  ob  bei  Voraussetzung  einer  ewig  gleich- 
mäfsigen  Gesetzmäfsigkeit  der  Natur  unsere  Rückschlüsse  aus  den 
gegenwärtigen  Zuständen  auf  die  der  Vergangenheit  und  Zukunft  uns 
nothwendig  auf  unmögliche  Zustände  und  die  Nothwendigkeit  einer 
Durchbrechung  der  Naturgesetze,  eines  Anfanges,  der  nicht  mehr 
durch  die  uns  bekannten  Vorgänge  herbeigeführt  sein  könnte,  zurück- 
leiten. Die  Anstellung  einer  solchen  Untersuchung  über  die  mögliche 
oder  wahrscheinliche  Vorgeschichte  der  jetzt  bestehenden  Welt  ist 
also  von  Seiten  der  Wissenschaft  keine  müfsige  Spekulation,  sondern 
eine  Frage  über  die  Grenzen  ihrer  Methoden  und  die  Tragweite  der 
zur  Zeit  gefundenen  Gesetze.“  (Helmholtz.) 

Die  Gründe  für  das  Vorhandensein  derselben  Naturgesetze  bei 
der  Bildung  des  Sonnensystems,  die  noch  heute  in  demselben  unauf- 
hörlich walten,  also  für  eine  völlig  gesetzmäfsige  Entwickelung  der 
Planetenkörper,  fand  der  grofse  Königsberger  Philosoph  aus  einer 
allgemeinen  Betrachtung  des  Baues  und  der  Beschaffenheit  der  uns 
umgebenden  Planetenwelt.  Einer  solchen  Betrachtung  drängt  sich 
zunächst  die  Gleichsinnigkeit  der  Bewegung  der  Hauptplaneten  und 
ihrer  Satelliten,  sowohl  um  die  Sonne  wie  um  ihre  eigenen  Axen 
selbst,  auf,  sodann  die  geringe  Abweichung  der  Ebenen  von  einander,  in 
welohen  sie  ihre  Bewegung  vollziehen.  Ferner  leiten  Beobachtungen 
über  die  Gestalt  und  die  physische  Beschaffenheit  der  Planeten  zu 

selbst  schon  beträchtlichen  Raum  einnimmt,  nicht  unternommen  werden.  Die 
emgcstreuten  Bemerkungen  werden  indefs  hinlänglich  über  den  Werth  ein- 
zelner Hypothesen  instruiren.  Was  von  einem  allgemeineren  Standpunkte  aus 
über  den  Gegenstand  zu  sagen  ist,  wird  in  einem  besonderen  Abschnitte  des 
letzten  Aufsatzes  dargelegt  worden.  — Einen  ähnlichen  Versuch  der  Zusammen- 
fassung der  neueren  kosmogonischen  Theorien  hat  vor  einigen  Jahren  C.  Wolf 
in  Paris  gemacht  (Lee  Ilypotheses  cosmogoniques.  Paris  1886).  Der  Leser 
wird  finden,  dafs  in  den  vorliegenden  Aufsätzen  noch  erheblich  mehr  Material 
verarbeitet  worden  ist,  als  in  dom  letzteren  Werke.  Wer  sich  mit  den  An- 
sichten der  Griechen,  Römer  u.  s.  w.  über  die  Entstehung  der  Welt  vertraut 
machen  wül,  findet  Näheres  in  der  ersten  Abtheilung  des  Buches  von  M.  Fave: 
1,'Origine  du  Monde.  Paris  1885. 


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303 


•der  Vermuthung,  dafs  die  Stoffe,  aus  denen  sie  geformt  sind,  manche 
Verwandtschaft  untereinander  haben  müssen,  und  da  wir  in  der  Gegen- 
wart keinen  dieser  Stoffe  im  Welträume  konstatiren  können,  höchstens 
dem  Welträume  eine  aufserordentlich  feinvertheilte  Materie  zuschreiben 
dürfen,  so  gelaugen  wir  zu  dem  weiteren  Schlüsse,  dafs  die  die  Planeten 
bildenden  Grundstoffe  einstens  im  Welträume  aufgelöst  vorhanden  ge- 
wesen sein  mögen  und  dafs  sich  aus  ihnen  unter  der  Herrschaft  von  An- 
beginn an  wirksam  gewesener  Kräfte  die  Planeten  mit  ihren  gesetz- 
mäfsigen  Verhältnissen  nach  und  nach  entwickelt  haben.  Kant  bedurfte 
also  für  den  Aufbau  seiner  Hypothese  nur  zweier  Voraussetzungen: 
dafs  der  weltbildende  Stoff  ursprünglich  in  feinster  Vertheilung  und 
verschiedenster  stofflicher  Beschaffenheit  den  Raum  erfüllt  habe,  und 
dafs  die  Schwerkraft  zwischen  diesen  zerstreuten  Theilchen  in  Wirkung 
gewesen  sei.  Die  stoffliche  Verschiedenheit  der  Urpartikel  wird  den- 
selben auch  eine  verschiedene  Dichtigkeit  gegeben  haben,  und  im 
allgemeinen  wird  die  Menge  der  dichteren  Theilchen  weniger  zahlreich 
und  im  Raume  zerstreuter  gewesen  sein,  als  jene  von  geringer  Dichte. 
In  einer  so  beschaffenen  Urmaterie  gehen  aber  vermöge  der  zwischen 
den  Theilchen  auftretenden  Anziehung  und  Abstofsung  sofort  Be- 
wegungen vor  sich.  Um  Elemente  dichter  Art  sammeln  sich  Partikel 
von  minderer  Schwere,  diese  selbst  in  Vereinigung  mit  den  dichteren 
Elementen  konzentriren  sich  an  Stellen,  wo  Partikel  von  noch  gröfserer 
Dichte  bereits  einen  Sammelpunkt  gebildet  haben  u.  s.  w.  Sohliefslich 
wird  es  einen  Punkt  geben,  von  dem  aus  die  Anziehung  stärker  als 
an  allen  anderen  Orten  des  Raumes  wirkt;  der  in  Bewegung  gerathene 
Grundstoff  wird  sich  dorthin  senken,  und  die  Bildung  eines  Central- 
körpers ist  in  Vorbereitung.  Andererseits  bewirkt  die  Abstofsungs- 
kraft  zwischen  Theilchen  gleicher  Dichte  eine  Ablenkung  ihres 
Falles  zum  Centralkörper.  Es  entstehen  hierdurch  wirbelartige  Be- 
wegungen, die  Theilchen  beschreiben  unabhängig  von  einander  krumme 
Linien,  und  dies  Spiel  dauert  so  lange,  bis  die  einer  gemeinsamen 
Bewegungsrichtung  widerstrebenden  Kräfte  überwunden  sind,  die 
Theilchen  einander  nicht  mehr  durchkreuzen,  vielmehr  langsam  in 
derselben  Richtung  parallel  laufende  Kreisbewegungen  um  das  gemein- 
same Centrum  ausführen,  d.  h.  der  vermöge  der  allgemeinen  Schwere 
kugelförmige  Centralkörper  zu  rotiren  beginnt.  In  diesem  Central- 
körper wird  der  gröfste  Theil  jener  Partikel  vereinigt  sein,  die  eich 
durch  grofse  Schwere  auszeichnen,  denn  diese  können,  weil  sie 
weniger  schnell  von  ihrem  Wege  abgelenkt  werden  als  die  von  ge- 
ringer Schwere,  am  meisten  in  den  Centralnebel  Vordringen;  die 

81  • 


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304 


anderen  werden  in  weiteren  Entfernungen  davon  schweben  bleiben-. 
Auf  diese  Weise  erscheinen  die  Planeten  von  desto  gröfserer  Dichte, 
je  näher  der  Sonne  sie  gebildet  worden  sind.  Ferner  werden  die 
Kreise,  in  welchen  die  geeinigte  Bewegung  um  den  Centralkörper 
stattfindet,  anfänglich  in  Ebenen  liegen,  die  sehr  verschieden  gegen 
einander  geneigt  sind;  allmählich  aber  wird  sich  aus  der  Verschieden- 
heit der  Bewegungen  eine  Axe  heraussteilen,  gegen  welche  hin  sich 
die  Partikel  näher  zusammendrängen,  und  es  werden  mehrere,  von 
einander  nicht  viel  abweichende  Ebenen  entstehen,  auf  denen  die  Kreis- 
bewegung der  Atome  um  den  Centralnebel  vor  sich  geht  Die 
Planetenbildungen  werden  somit  zwischen  diesen  Ebenen  hauptsäch- 
lich stattfinden.  Die  sich  vermöge  der  Anziehung  zusammensetzenden 
Massen  werden,  da  die  allgemeine  Bewegung  alles  Stoffes  in  Kreisen 
um  den  Hauptnebel  geschieht,  eben  in  derselben  Weise  und  in  derselben 
Richtung  ihre  Bahn  um  den  Centralnebel  verfolgen.  Demnach  müssen 
die  Bahnen  der  Planeten  nahe  kreisförmig  sein  und  fast  in  einer  und 
derselben  Ebene  liegen.  In  ähnlicher  Weise,  wie  sich  aus  dem  zer- 
streuten Urstoff  der  Centralnebel  der  Sonne  und  die  Planeten  sich 
bildeten,  enstanden  die  Satelliten.  Denn  was  die  Sonne  mit  ihren 
Planeten  im  grofsen  war,  stellte  ein  Planet,  der  eine  ausgedehnte  An- 
ziehungssphäre besafs,  im  kleinen  dar.  „Indem  der  sich  bildende 
Planet  die  Partikel  aus  dem  ganzen  Umfange  zu  seiner  Bildung  be- 
wegt, wird  er  aus  dieser  sinkenden  Bewegung  Umlaufsbewegungen, 
und  zwar  solche  erzeugen,  die  eine  gemeinschaftliche  Richtung  haben, 
und  ein  Theil  dieser  so  bewegten  Partikel  wird  die  gehörige  Mäfsigung 
des  freien  Kreislaufes  bekommen  und  in  dieser  Einschränkung  sich 
einer  gemeinsamen  Fläche  nahe  befinden,  ln  dem  Raume  nahe  um 
diese  Fläche  werden  sich  Monde  bilden,  wenn  die  Attraktion  sich 
weit  genug  erstreckt“.  Mondbildungen  können,  da  viel  Stoff  hierzu 
erforderlich  ist  und  eine  weite  Sphäre  der  Attraktion  bedingt  wird, 
nur  bei  Planeten  von  grofser  Masse  (Jupiter,  Saturn  vorzugsweise) 
eintreten. 

Dies  sind  die  Grundgedanken  der  Kantschen  Hypothese. 
William  Herschel  begann  30  Jahre  nach  dem  Erscheinen  der 
„Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels"  mit  gewaltigen,  von  ihm 
selbst  gebauten  Teleskopen  tiefer  als  alle  Astronomen  vor  ihm  in  die 
Geheimnisse  der  Sternenwelt  einzudringen.  Die  überaus  merkwürdigen 
und  mannigfaltigen  Formen  der  Nebelflecke,  die  seine  Instrumente 
enthüllten,  leiteten  auch  ihn  auf  Ansichten  über  den  Aufbau  der 


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Welt.2)  Er  vermuthete  in  den  formlosen  grofsen  Ballungen  der 
helleren  Nebel  den  Anfang  von  Prozessen  zu  werdenden  Welten: 
Ansammlungen  leuchtender  Materie,  in  weloher  Konzentrirungen  statt- 
finden. Die  wohl  begrenzten  kleineren  Nebel  von  kugelförmiger  Ge- 
stalt waren  ihm  schon  in  der  Kondensirung  weit  vorgeschrittene 
Körper,  die  in  deren  Nähe  oft  befindlichen  Sterne,  vielleicht  Satelliten. 
Die  planetarischen  Nebel  mit  ihrem  festen,  vielfach  abgeplattet  er- 
scheinenden Kerne  und  der  feinen  sie  umgebenden  Nebelhülle  waren 
nach  Hersohel  nahezu  fertige,  in  der  letzten  Entwicklungsepoche 
begriffene  Weltkörper. 

Einundvierzig  Jahre  später  als  Kant,  und  zwar  ganz  unab- 
hängig von  diesem,  und  vielleicht  nur  angeregt  durch  die  wunder- 
baren Ile rs ohe Ischen  Entdeckungen,  sprach  der  berühmte  Verfasser 
der  „Mechanik  des  Himmels“,  Pierre  Simon  Laplace  in  seiner 
„Exposition  du  Systeme  du  Monde“  (1796)  seine  Ansicht  über  die 
Entstehung  des  Sonnensystemes  aus.3)  Der  Urnebel  war  eine,  den 
Nebelflecken  ähnliche,  elastische  Gasmasse,  deren  Schichten  sich  in 
Rotation  befanden.  Laplace  setzt  also  einen  bereits  existirenden 
und  röhrenden  Centralnebel  (die  Sonne)  voraus  und  leitet  nicht  erst, 
wie  Kant,  dessen  Entstehung  ab.  Ein  solcher  aus  heifsen,  dünnen 
Gasen  bestehender  Centralkörper  wird  seine  Begrenzung  da  haben, 
wo  die  Centrifugalkraft  der  Schwerkraft  das  Gleichgewicht  hält.  Der 
Umschwung  dieser  Masse  beschleunigt  sich  nach  den  Gesetzen  der 
Mechanik  in  dem  Mafse,  als  die  Abkühlung  der  Gase  an  der  Ober- 
fläche vorwärts  schreitet,  wobei  die  Moleküle  sich  mehr  dem  Centrum 
nähern  und  die  ursprüngliche  Kugelgestalt  eine  erhebliche  Abplattung 
erhält.  Während  der  Abkühlung  und  zunehmenden  Rotation  werden 
von  den  Gasen,  die  sich  bis  an  die  Grenze  ausbreiteten,  wo  die  Cen- 
trifugalkraft der  Schwere  nach  dem  Centrum  gleich  war,  Theile  sich 
abgelöst  haben,  die  frei  um  den  Hauptkürper  weitercirculirten.  Es 
werden  sich  allmählich  ganze  Zonen,  Ringe,  von  der  Sonne  getrennt 
haben,  und  die  Reibung  der  darin  enthaltenen  Moleküle  mufste  die 
Bewegung  aller  schliefslich  auf  dieselbe  Geschwindigkeit  zurückführen. 
Die  gegenseitige  Attraktion  der  Moleküle  zog  einzelne  Ringe  zusammen 
in  eine  Masse,  oder  die  Moleküle  bildeten,  ohne  sich  zu  kondensiren, 
mit  ihren  zerstreuten  Theilchen  einen  Ring,  der  mit  der  Abkühlung 
in  einen  flüssigen  Zustand  gerieth. 

’)  Philosoph.  Transaotions.  1811. 

s)  ln  der  ersten  Ausgabe  dieses  Werkes  Bind  nur  die  Hauptideen  der 
Theorie  niedergelegt  und  erst  in  den  Auflagen  von  1808,  1813,  183S  wurden 
sie  weiter  entwickelt. 


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306 


Die  letztere  Erscheinung  ist  seltener  eingetreten  (nur  beim 
Satumringe),  da  sie  eine  große  Regelmäßigkeit  der  Vorgänge  ver- 
langt; zumeist  erfolgte  nur  die  Kondensirung  der  Ringe  in  viele 
Massen,  die  mit  wenig  verschiedener  Schnelligkeit  um  die  Sonne 
circulirten.  Bald  erhielten  diese  letzteren  Massen  eine  sphäroidische 
(abgeplattete)  Form,  und  da  ihre  inneren  Moleküle  weniger  Schnellig- 
keit hatten,  wie  die  äußeren,  auoh  eine  mit  dem  Umschwung  um  die 
Sonne  gleichsinnige  Rotation;  es  entstanden,  mit  einem  Worte,  Planeten 
in  heißem,  dampf-  oder  gasförmigen  Bildungszustande.  Die  Bahnen 
dieser  Urplaneten  würden,  wenn  die  Entwickelungen  mit  völliger 
Regelmäßigkeit  ihren  Gang  verfolgt  hätten,  Kreise  sein,  deren  Ebenen, 
sowie  die  der  Aequatoren  der  verschiedenen  Planeten,  mit  dem  Sonnen- 
äquator zusammenfallen  müßten;  aber  die  außer  ordentliche  Verschieden- 
heit der  Temperaturen  und  der  Dichten  war  die  Ursache,  daß  Ab- 
weichungen vom  Kreise  eintraten  und  die  Bildung  in  mehreren,  etwas 
von  einander  differirenden  Ebenen  Platz  griff.  Bei  völliger  Regel- 
mäßigkeit würden  die  Moleküle  eines  jeden  Ringes  sämtlich  zu  einer 
sphärischen  Dampfmasse  vereinigt  worden  sein,  und  wir  würden  in 
unserem  Sonnensystem  nur  große  Planeten  haben;  aber  die  Natur 
bietet  uns  in  den  vielen  kleinen,  zwischen  Mars  und  Jupiter  kreisen- 
den Planetoiden  auch  den  Fall  einer  Katastrophe,  bei  der  ein  einst  vor- 
handener großer  Körper  in  viele  Theile  zersprungen  sein  mag. 

Die  beiden  in  Kürze  auseinandergesetzten  Weltbildungsansichten 
sind  in  ihrer  Verbindung  unter  dem  Namen  der  Kant-Laplaceschen 
Nebularhypothese  wohl  bekannt.  Wenn  diese  Hypothese,  um  daraus 
die  heute  von  uns  beobachteten  thatsächlichon  Verhältnisse  des  Sonnen- 
systems zu  erklären,  auch  keineswegs  ganz  einwurfsfrei  ist,  wie  wir 
später  darlegen  werden,  so  spricht  doch  eine  Ueberzahl  von  Gründen 
für  die  Richtigkeit  ihrer  Hauptzüge.  Es  lassen  sich  aus  ihr  nicht 
blos  die  Gesetze  der  Planetenbewegung  ableiten,  sondern  man  gelangt 
mit  ihr  im  allgemeinen  auch  zur  Bestätigung  der  Sohlüsse,  welche 
das  spektralanalytische  Studium  der  Planeten-  und  Steraenwelt  während 
der  letzten  dreißig  Jahre  zu  Tage  gefördert  hat.  „Die  Vorgänge  in 
der  Natur  im  weitesten  Umfange  scheinen  uns,  wenn  wir  sie  rück- 
wärts verfolgen,  auf  diese  Hypothese  allein  zu  führen,  wie  die  Art 
und  Weise  des  Gehens  einer  Uhr  uns  zu  dem  Sohlüsse  führt,  daß 
sie  einst  aufgezogen  wurde.“  (Newcomb).  Es  ist  erklärlich,  wenn 
gewisse  Schwächen  der  mechanischen  Seite  der  Nebularhypothese 
schon  in  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderte,  lange  vor  Begrün- 
dung der  Spektralanalyse,  Angriffe  hervorgerufen  haben  und  wenn 


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sie,  ihres  unbestreitbaren  inneren  Werthes  wegen,  gegen  letztere  ver- 
theidigt  worden  ist.  Einer  der  eifrigsten  und  geschicktesten  ihrer 
Verfechter  war  Friedrich  Weifs;-*)  dieser  bemühte  sich,  die  völlig 
gesetzmäfsige  Entwickelung  der  Planeten  und  Monde  auf  Grund  der 
Prinzipien  der  Nebularhypothese  strenge  nachzuweisen,  daraus  die 
heutigen  Massenwerthe  der  Planeten  und  Dichtigkeiten  abzuleiten,  die 
Balmneigungen  und  Axenstellungen  zu  erklären,  wobei  ihm  freilich 
auch  manche  Kreisschlüsse  unterliefen;  es  gebührt  ihm  ferner  das 
Verdienst,  indem  er  seine  Entwickelungen  bis  zur  Darstellung  der 
Oberflächenbeschaffenheit  der  Planeten,  namentlich  des  Mondes  und 
der  Erde,  verfolgt,  die  Nebularhypothese  in  ihren  Konsequenzen  er- 
schöpfend behandelt  zu  haben. 

Nooh  verständlicher  in  ihrem  Wesen  ist  uns  die  Kant-Lap  lace- 
sche  Ansicht  durch  die  Ausführungen  von  Helmholtz5)  über  das 
Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  geworden.  Nach  diesem  Gesetze, 
das  wir  später  bei  Betrachtung  der  Kosmogonie  der  Sonne  näher  aus- 
einandersetzen wollen,  besitzt  das  Weltall  von  Uranfang  an  einen  ge- 
wissen, der  Gröfse  nach  für  alle  Zeiten  unveränderlich  bleibenden 
Vorrath  an  Kraft,  welcher  während  der  Bildung  des  Sonnensystems 
zum  grofsen  Theil  in  Wärme  verwandelt  worden  ist.  In  dem  Ur- 
Nebelballe  stiefsen  nämlich  die  feinen  Theilchen  boi  dessen  Verdichtung 
aufeinander,  die  lebendige  Kraft  ihrer  Bewegung  wurde  in  Wärme 
umgesetzt,  ein  anderer  Theil  der  Kraft  aber  blieb  dem  Sonnensysteme 
in  der  Anziehung  der  Planeten  durch  die  Sonne  und  in  anderer  Form 
erhalten.  Unter  der  Voraussetzung,  dafs  am  Anfänge  die  Diohte  des 
Umebels  verschwindend  gering  gewesen  sei  gegen  die  heutigen  Dichtig- 
keiten der  Planeten  und  der  Sonne,  ergiebt  die  Rechnung,  dafs 
gegenwärtig  nur  noch  der  464.  Theil  der  ursprünglichen  mechanischen 
Kraft  als  solche  existirt,  und  dafs  das  Uebrige,  in  Wärme  umgesetzt, 
genügend  sein  würde,  eine  der  Masse  der  Sonne  und  Planeten  zu- 
sammen genommen  gleiche  Wassermasse  um  28  Millionen  Grad  Cels. 
zu  erhitzen.  Eine  solche  enorme  Wärmemenge  würde  die  Konden- 
sirung  der  planetarisohen  Körper  auf  ihro  heutige  Dichte  nicht  ge- 
stattet haben,  sie  mufste  erst  gröftsentheils  in  den  Weltraum 
ausstrahlen  und  ging  so  für  das  Sonnensystem  verloren,  blieb  aber 
dennoch  dem  Weltall  erhalten.  Die  Sonne  produzirt  durch  ihre  fort- 
schreitende Verdichtung  auf  viele  Millionen  Jahre  hinaus  noch  die  jetzige 

*)  Die  Gesetze  der  Satellitenbildung.  Gotha  1860. 

l)  „Ueber  die  Wechselwirkung  der  Naturkräfte"  und  „Ueber  die  Er- 
haltung der  Kraft"  (Populäre  wissensch.  Vorträge  II.  Heft.  1876). 


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Wärme.  Die  anderen  Glieder  des  Sonnensystems  haben,  weil  die 
Anziehung  der  zur  Verdichtung  herangezogenen  Massen  bei  ihnen 
geringer  war,  nicht  zu  so  hohen  Temperaturen  gelangen  können,  die 
Erde  bis  auf  9000  Grad.  Letztere,  sowie  die  kleineren  Planeten  und 
der  Mond,  konnten  sich  schneller  abkühlen  und  nahmen  eine  gröfsere 
Dichte  an.  Die  sehr  grofsen  Massen  des  Jupiter,  Saturn,  Uranus. 
Neptun  hatten  wahrscheinlich  hohe  Temperaturen  und  langsame  Ab- 
kühlung, wie  die  Sonne,  und  zeigen  darum,  gleioh  der  letzteren,  eine 
geringe  Dichtigkeit. 

Diese  Gedanken  hat  Xewcombc)  benützt,  eine  allgemeinere 
Ansioht  über  die  Bildungsweise  der  Weltkörper  zu  formuliren. 

Danach  repräsentiren  die  unregelmäfsigen  grofsen  Nebelflecke 
den  primitiven  Zustand  der  Materie,  nämlich  jenen,  in  dem  infolge  von 
Umsetzung  mechanischer  Arbeit  in  Wärme,  der  Aether  des  Welt- 
raumes durch  die  Bewegung  der  Nebeltheilchen  in  Schwingungen 
versetzt  wird,  und  die  Nebel  uns  vermöge  dieser  Bewegungsform  der 
Materie  sichtbar  erscheinen.  Die  Anziehungskraft  bewirkt  in  solchen 
Nebeln  mit  der  Zeit  tegelmäfsigere  Formationen,  Umbildungen  in 
Spiral-  und  Ringnebel,  oder  durch  Verdichtungen  an  einzelnen  Centren 
Kernnebel  und  Nebelsterne.  Die  fortdauernde  Verdichtungsarbeit 
erzeugt  gröfstentheils  Wärme,  welche  zur  Verwandlung  der  Kernnebel- 
massen in  den  flüssigen  Zustand  führt.  Es  sind  damit  Sterne  ge- 
schalten, d.  h.  Körper  aus  glühend-flüssigen  Stoffen,  deren  Temperatur 
eine  so  hohe  ist,  dafs  die  darin  enthaltenen  Elemente  noch  keine 
chemische  Verbindungen  unter  einander  eingehen  können  (Disso- 
ciation).  Die  weifsen  Sterne  befinden  sich  im  höchsten  Glühzustande, 
die  rothen  im  kühlsten,  am  weitesten  in  der  Entwickelung  vorge- 
schrittenen Zustande.  Mit  der  gesteigerten  Ausstrahlung  der  Hitze 
und  Abkühlung  der  Sternoberflächen  konnten  chemische  Verbin- 
dungen und  Niederschlagsprodukte  entstehen.  Die  in  Konzentration 
getretenen  Nebel  liefern  aber  auch,  ganz  im  Sinne  der  Kant- 
Laplaceschen  Hypothese,  abgelöste  Ringe,  die  entweder  bestehen 
bleiben  oder  sich  zu  Trabanten  zusammenballen.  Der  tellurisohe 
Zustand  der  Sterne  tritt  ein,  sobald  der  Entwickelungsprozefs  so  weit 
vorgeschritten  ist,  dafs  die  Abkühlungsprodukte  die  ganze  Oberfläche 
zu  überdecken  beginnen  und  eine  feste  Kruste  sich  vorbereitet.  Ein 
so  weit  ausgebildeter  Stern  erlischt  schliefslich  für  unser  Auge,  oder 
es  finden  auf  ihm  noch  zeitweise  Ausbrüche  der  glühenden  Massen 

')  Populäre  Astronomie.  I.  Aull.  1881. 


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statt  (sog.  neue  Sterne).  Die  schweren  chemischen  Verbindungen 
lagern  sich  gegen  das  Centrum  des  Sternes,  die  leiohteren  an  der 
Oberfläche,  die  Gase  über  der  letzteren.  Vielfache  Wechselwirkungen 
der  die  Atmosphäre  zusammensetzenden  Gase  und  der  festen  Stoffe 
führen  endlich  für  das  werdende  Gestirn  die  ersten  Anfänge  geo- 
logischer Epochen  herbei. 

Auch  Faye7)  läfst  die  Welt  aus  Urstoff,  der  mit  dem  Stoffe  der 
heutigen  Nebelflecke  identisch  ist,  entstehen.  Der  Urnebel  war 
schwach  leuchtend,  von  wirbelartigen  Bewegungen  durchzogen,  wie 
wir  solche  bisweilen  in  unserer  Atmosphäre  bemerken.  Die  meisten 
Spiral-  und  Ringnebel  bildeten  sich  irregulär,  nur  dort,  wo  die  Ge- 
stalt der  Nebel  sphärisch  war,  traten  regelmäßige  Nebelringe  auf. 
Die  Wirbelbewegung  führte  zu  einer  Vielheit  von  großen  Nebel- 
massen; aus  einer  der  letzteren  ging  unser  Sonnensystem  hervor. 
Nur  bis  hierher  zeigt  die  Fayesche  Hypothese  einigermaßen  Aehn- 
lichkeit  mit  der  Newcombschen;  ihre  weiteren  Ausführungen  nehmen, 
wie  wir  im  nächsten  Aufsatze  sehen  werden,  Stellung  gegen  die 
Nebularhypothese. 

Während  die  bisher  in  Kürze  orläuterten  Theorien  sämtlich  von 
einem  äußerst  dünnen  Centralnebel  ausgehen  und  für  die  Bildung  der 
Welt  eine  organisohe,  durch  Jahrtausende  fortgesetzte  Entwickelung 
dieses  Nebels,  mehr  oder  weniger  mit  Beibehaltung  der  Kant-Laplace- 
schen  Ideen,  annehmen,  giebt  es  auch  eine  Anzahl  Hypothesen,  welche 
auf  wesentlich  anderen  Voraussetzungen  fußen.  Hierzu  gehören  die 
Hypothesen  der  Zusammenstöße  kosmischer  Massen.  Nach  Crolls 
Meinung*1)  würde  bei  der  Kollision  zweier  fester  Körper  von  der 
halben  Größe  unserer  Sonne  die  durch  Stoß  erzeugte  Wärme  so  be- 
deutend sein,  daß  beide  Körper  in  Dampf  verwandelt  werden  müßten. 
Dieser  Zusammenstoß  würde  auf  50  Millionen  Jahre  hinaus  Wärme 
liefern,  wenn  man  die  Geschwindigkeit  des  Aneinanderprallens  auf 
200  engl.  Meilen  per  Sekunde  annähme,  und  für  einen  größeren  Zeit- 
raum müßte  man  diese  hypothetische  Geschwindigkeit  noch  beträcht- 
lich erhöhen.  Wird  die  Existenz  solcher  kosmischen  Kollisionen  und 
Geschwindigkeiten  zugegeben,  so  würde  also  unsere  heutige  Sonne  und 
der  zum  Aufbau  des  Sonnensystems  nothwendig  gewesene  Umebel  das 
Resultat  einer  Katastrophe  im  Weltruume  sein  können.  Allein  an  und 
für  sioh  ist  die  Wahrscheinlichkeit  von  Zusammenstößen  im  Welt- 

’)  L’Origine  du  Monde,  Paris  1885.  Chapitre  XIII. 

*)  On  the  probable  origin  and  age  of  the  Sun.  (Quart  Journ.  of 
Science.  1877). 


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gebäude  und  insbesondere  für  das  Sonnensystem  gering,  ferner  über- 
schreiten die  geforderten  Geschwindigkeiten  zwar  nicht  die  Möglichkeit, 
liegen  jedoch  unter  den  wirklich  beobachteten  sehr  hoch.  Bei 
eruptiven  Protuberanzen  der  Sonne  sind  Geschwindigkeiten  bis  zu 
180  engl.  Meilen  wahrgenommen  worden,  bei  einigen  wenigen  Kometen 
war  die  Schnelligkeit  der  Bewegung  in  der  Sonnennähe  beinahe  der 
doppelte  Betrag  der  Protuberanz-Geschwindigkeit.  Abgesehen  von 
alldem  würde  es  zu  einer  Bildung  von  Planeten  im  Crollscben 
Sinne  wegen  vorheriger  Zerstreuung  der  Wärme  im  Raume  gar 
nicht  gekommen  sein.  Die  Hypothese  wird  ferner  erweitert  durch  die 
Behauptung,  dafs  auch  Satelliten  durch  Kollisionen  entstünden,  dafs 
die  Nebelflecke  durch  Zusammenstöfse  ihr  Dasein  erhalten  hätten,  dafs 
aus  einem  völlig  erkalteten  Planetensysteme  durch  Zusammenstöfse 
eine  neue  Sonne  hervorgerufen  werden  könne. 

In  neuerer  Zeit  hat  Professor  Ritter9)  die  Möglichkeit  kosmischer 
Zusammenstöfse  durch  Rechnung  darzuthun  versucht.  Unter  gewissen 
Annahmen  über  die  Beschaffenheit  von  Sternhaufen  zeigt  derselbe, 
dafs  unter  Umständen  im  Innern  solcher  Sternhaufen  zwischen  ein- 
zelnen Sternen  beträchtliche  Bewegungsgeschwindigkeiten  entstehen 
können,  schon  bevor  diese  Körper  in  ihre  gegenseitige  Anziehungs- 
sphäre treten.  Ritter  ist  geneigt,  den  kosmischen  Zusammenstüfsen 
namentlich  in  Beziehung  auf  eile  Bildung  der  Nebelflecke  einen  we- 
sentlichen Antheil  einzuräumen. 

Auch  K.  Braun  stützt  in  seiner  „Kosmogonie  vom  Standpunkte 
christlicher  Wissenschaft“  (Münster  1889) ln)  die  Weltbildung  auf  Zu- 
sammenstüfse.  Nach  ihm  haben  einst  viele  grofse  Nebelmassen  existirt 
Wenn  sich  einige  derselben,  die  einander  verhältnifsmäfsig  nahe  ge- 
nug waren,  verdichtet  hatten,  konnte  die  gegenseitige  Anziehung  so 
wachsen,  dafs  sie  sich  schnell  einander  näherten  und  schliefslich  zu- 
sammenstiefsen.  Die  Spiralnebel  denkt  sich  Braun  auf  solche  Art 
entstanden.  Was  speziell  unser  Sonnensystem  betrifft,  so  schätzt  er 
aus  der  Entfernung  der  nächsten  Fixsterne,  dafs  ein  ursprünglicher 

*)  Zehnte  Abhandlung  der  mathematisch-physikalischen  Arbeit  „Ueber 
die  physische  Konstitution  gasförmiger  Weltkörper*  (Wiedemanns  Annalen, 
neue  Folge,  vol.  XII).  Auf  diese  sehr  interessanten,  neunzehn  Abhandlungen 
umfassenden  Untersuchungen,  welche  die  allermeisten  kosmogonischen  Fragen 
berühren,  werden  wir  in  den  späteren  Aufsätzen  wiederholt  zurückkommen. 

I0)  So  sehr  ein  „christlicher  Standpunkt*  bei  vielen  Dingen  der  Welt 
vielleicht  seine  Berechtigung  hat,  so  soll  doch  bei  wissenschaftlichen  Unter- 
suchungen keinesfalls  irgend  eine  religiöse  Anschauung,  sondern  nur  die 
logische  Behandlung  des  Gegenstandes  mafsgebend  sein.  Im  vorliegenden 
Falle  wird  die  Entschuldigung  dafür  leichter,  da  der  Verfasser  nicht  blos 
Priester,  sondern  zugleich  ein  verdienstvoller  Gelehrter  ist 


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Nebelball  unseres  Systems  solche  Zusammenstöße  mit  Massen  aus  der 
Entfernung  von  50  Billionen  Kilometer  erlitten  haben  kann.  Durch 
einige  derartige  Kollisionen  könnte  die  Masse  der  Sonne,  die  ur- 
sprünglich klein  gewesen  sein  mag,  außerordentlich  vergrößert  worden 
sein;  eine  Rotation  der  Sonne  wurde  durch  Zusammenstöße  nur  in 
Ausnahmefällen  herbeigeführt,  wenn  die  Kollision  nicht  central,  son- 
dern in  excentrischer  Richtung  erfolgte.  Namentlich  von  einer  aus 
großer  Entfernung  durch  Störungen  der  Fixsterne  abgelenkten  Masse 
konnte  die  Stärke  und  Richtung  der  Rotationsbewegung  der  Sonne 
entschieden  werden.  Die  äquatoreale  Zone  der  Sonne  erhielt  die  letzte 
Zufuhr  von  Nebelmaterie  aus  dem  Welträume  und  besitzt,  da  diese 
Materie  am  spätesten  der  Sonne  einverleiht  worden  ist,  noch  einen 
Theil  des  Geschwindigkeitsuberschusses,  indem  sie  schneller  rotirt  als 
die  polaren  Zonen.  In  diesem  rotirenden  Sonnennebel  bildeten  sich  ver- 
schiedene Kondensationscentra,  keine  Ringe;  die  Laplacesche  Ring- 
bildung sei  unriohtig.  Diese  Centra  mögen  fünfmal  weiter  vom  Sonnen- 
centrum entfernt  gewesen  sein,  als  die  Planeten  heute  von  der  Sonne 
abstehen,  und  jedem  dieser  Centra  mag  einer  der  großen  Planeten 
entsprungen  sein.  Jeder  sich  bildende  Planet  war  aber  der  Wir- 
kung dreier  Kräfte  unterworfen:  der  Schwerkraft  gegen  die  Sonne, 
der  Fliehkraft  und  dem  ärostatischen  Auftriebe,  welchen  das  um  den 
Planeten  befindliche,  gegen  das  Sonnencentrum  gravitirende  Gas  auf 
ihn  ausübte.  Mit  zunehmender  Dichte  des  Planetengasballes  wurde 
der  ärostatische  Auftrieb  im  Verhältniß  zu  den  beiden  anderen  Kräften 
schwächer,  die  Schwerkraft  bekam  die  Ceberhand  und  der  werdende 
Planet  ward  näher  zur  Sonne  herangezogen.  Mit  der  Annäherung 
nahm  auch  die  Fliehkraft  zu  und  zwar  mehr  als  die  Schwerkraft,  die 
Bewegung  gegen  die  Sonne  wurde  langsamer  und  der  Gasball  hatte 
Zeit,  seine  Masse  durch  Anziehung  weiteren,  auf  seinem  Wege  befind- 
lichen Stoffes  zu  vermehren.  Mit  der  weiter  wachsenden  Dichte 
wiederholte  sich  das  Spiel  der  Bewegungen,  und  der  Planetenball  kum 
so  allmählich  in  Spirallinien  der  Sonne  näher.  Durch  die  Aufnahme 
des  größten  Theils  des  Umebels  seitens  der  Planeten  auf  ihren  Wegen 
zur  Sonne  ist  gegenwärtig  im  Sonnensysteme  nur  noch  ein  Rest  der 
Nebelmaterie  in  der  Korona  - Umhüllung  der  Sonne  vorhanden. 
Schließlich  hatten  sich  die  Planeten  der  Sonne  soweit  genähort,  daß 
die  Fliehkraft  allein  der  Schwerkraft  gleich  wurde,  dann  folgten  die 
Planeten  in  ihrer  Bewegung  dem  dritten  Kepler  sehen  Gesetze. 1 ‘) 

’■)  Die  Quadrate  der  Umlaufazeiten  verhalten  eich  wie  die  dritten  Potenzen 
der  mittleren  Planetenentfernungen  von  der  Sonne. 


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Ihre  Rotation  um  sich  selbst  erlangten  die  Planeten  durch  den  Wider- 
stand, den  sie  vom  Centrum  der  Sonne  aus  durch  den  daselbst  ver- 
dichteten Nebelstoff  erfuhren;  indem  sie  ihre  Bahn  um  die  Sonne  zu 
verfolgen  suchten,  war  dieser  Widerstand  grüfser  auf  der  ihr  näher 
befindlichen  Seite  als  auf  der  von  ihr  entfernten.  Die  daraus  hervor- 
gehende Hemmung  soll  der  Antrieb  zur  Rotation  gewesen  sein. 

Einige  den  Grundlagen  der  Braunschen  Hypothese  verwandte 
Anschauungen  enthalten  die  verschiedenen  Ausführungen  von  F. 
Kerz.12)  Die  Rotation  des  Sonnennebels  wird  durch  einen  Nebelball 
von  sehr  grofser  Masse  (der  500 — lOOOfachen  der  Erde)  bewirkt, 
welcher  mit  der  Sonne  in  oxoentrischer  Richtung  zusammengestofsen 
sein  soll.  Die  entstehende  ungeheure  Hitze  löste  den  Sonnennebel 
in  Dampf  auf  und  gab  ihm  eine  Ausdehnung  bis  zu  den  Grenzen  des 
Sonnensystems.  Das  so  entstandene  rotirende  Nebularellipsoid  plattete 
sich  ab,  seine  Umdrehungsaxe  verkleinerte  sich,  es  fanden  „Schal- 
ablösungen“ statt,  deren  Nachweis  sich  der  Verfasser  durch  vielfache 
Rechnungen  und  Konjekturen  zu  erbringen  bemüht.  Solche  Schalen 
findet  er  15,  von  denen  9 zur  Bildung  der  8 Planeten  gedient  haben. 
Die  ganze  Hypothese  hat,  obwohl  in  den  betreffenden  Schriften  das 
Gegentheil  versichert  wird,  mit  der  Kant-Laplaceschen  Nebular- 
hypothese keine  Gemeinschaft  mehr. 

Zum  Schlufs  müssen  wir  noch  einer  eigenthümlichen  Welt- 
bildungstheorie gedenken,  die  der  kühne  Umsegler  Asiens,  Professor 
Nordenskjöld  in  der  dritten  Abtheilung li)  seiner  „Studien  und 
Forschungen“  (Leipzig  1885)  aufgestellt  hat.  Nordenskjöld  ist  durch 
zahlreiche  Beobachtungen  in  Polargegenden  zu  der  Ueberzeugung  ge- 
langt, dafs  der  dort  stellenweise  die  Schneefelder  bedeckende  Staub  kos- 
mischen Ursprungs  sei,  d.  h.  der  Erdoberfläche  im  Verlaufe  der  Zeit  aus 
dem  Welträume  zugeführt  werde.  Er  ist  der  Meinung,  dafs  die  Zahl  der 
jährlich  auf  die  Erde  herabstürzenden  Meteoriten  und  namentlich  die 
Quantität  des  fallenden  kosmischen  Staubes  eine  viel  gröfsere  ist,  als 
man  sonst  angenommen  hat.  Nach  seinen  Schätzungen  würde  die  Erde 
jedes  Jahr  eine  Zufuhr  von  mindestens  zehn  Millionen  Tonnen  solcher 
Stoffe  aus  dem  Welträume  erhalten.  Obwohl  wir  über  die  Form,  in 
welcher  der  wahrscheinlich  gegenwärtig  noch  in  grofser  Menge  im 
Welträume  vorhandene,  einstmals  aber  denselben  ganz  erfüllende  kos- 

")  Die  Entstehung  des  Sonnensystems.  Darmstadt  1877.  — Nachträge 
1884,  1888.  — Weitere  Ausbildung  der  Laplaceschen  Nebularhypothese  1890. 

,s)  üeber  die  geologische  Bedeutung  des  Herabfallens  kosmischer  Stoffe 
auf  die  Oberfläche  der  Erde 


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313 


mische  Staub  existirt,  nichts  näheres  wissen,  ist  doch  wahrscheinlich, 
dafs  er  wolkenartige  Ansammlungen  bildet.  Eine  solche  Wolke  fein 
vertheilter  meteorischer  Partikel  von  ungeheurer  Ausdehnung  stellte 
anfänglich  unser  Sonnensystem  vor.  Durch  Attraktion  der  Partikel 
zog  sich  diese  Wolke  zusammen,  ohne  dabei  zu  einer  besonders  hohen 
Temperatur  zu  gelangen.  Es  bildete  sich  schliefslich  ein  fast  scheiben- 
förmiger Körper,  der  schwach  um  eine  Axe  rotirte.  In  diesem  Körper 
konnten  im  Laufe  der  Zeit  zerstreute  Kerne  durch  Attraktion  ange- 
sammelten Staubes  entstehen,  welche  sich  bisweilen  vereinigten  und 
ihre  bei  der  Zusammenziehung  entwickelte  Wärme  durch  Ausstrah- 
lung an  den  Weltraum  verloren.  Auf  diese  Weise  sind  die  Pla- 
neten entstanden;  sie  sind  nichts  weiter  als  Aggregate  kalter,  fester, 
kosmischer  Partikel.  Eine  Erhitzung  trat  erst  ein,  als  feste  Massen 
vorhanden  waren;  dieselbe  wurde  aber  nie  so  bedeutend,  dafs  sie 
den  ganzen  Planeten  hätte  in  den  Schmelzungsprozefs  versetzen 
können.  Selbst  für  den  gegenwärtigen  Zustand  der  Sonne  braucht 
man  nach  Nordenskjöld  nicht  ungeheure  Temperaturen  vorauszu- 
setzen. Wenn  angenommen  würde,  dafs  neben  den  drei  Aggregations- 
zuständen aller  Materie,  dem  festen,  flüssigen  und  gasförmigen,  noch 
ein  vierter  existirt,  bei  welchem  äufsert  fein  vertheilter  Stoff  mit  dem 
Weltäther  verbunden  ist  (Nordenskjöld  denkt  hier  an  Crookes 
- strahlende  Materie“),  so  könnten  die  Stoffe,  die  wir  heute  mit  unseren 
Hilfsmitteln  bei  höchsten  Hitzegraden  nicht  im  stände  sind  zu  ver- 
flüchtigen, schon  bei  der  niedrigen  anfänglichen  Temperatur  des  Ur- 
nebels  alle  in  jener  Form  vorhanden  gewesen  sein. 

Die  bisherigen  Ausführungen  unseres  Artikels  beschränkten  sieh 
darauf,  eine  kurze  Skizzirung  der  hauptsächlichsten  Weltbildungs- 
hypothesen  zu  geben  und  sollten  nur  dazu  dienen,  den  Leser  vorläufig 
auf  dem  Oebiete  der  Kosmogonie  zu  orientiren.  Wir  haben  nun  die 
Konsequenzen  der  einzelnen  Anschauungen  zu  verfolgen  und  darzu- 
legen, welche  Ansichten  aus  ihnen  betreffs  der  Entwickelung  der 
Körper  unseres  Sonnensystems  und  der  Sternenwelt,  der  Sonne,  der 
Planeten  und  Satelliten,  der  Kometen  und  Meteore,  sowie  auch  der 
Nebel  und  veränderlichen  Sterne,  hervorgehen.  Zuerst  wollen  wir  die 
Einwürfe  betrachten,  die  gegen  die  Kant-Laplacesche  Nebular- 
hypothese gemacht  worden  sind,  und  die  Modifikationen,  die  man 
diesbezüglich,  namentlich  über  den  die  Ringbildung  betreffenden  Theil 
der  Hypothese,  vorgeschlagen  hat. 


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Eine  Amerikafahrt  1492  und  1892. 

Nach  seinem  Vortrage  im  wissenschaftlichen  Theater  der  Urania 
bearbeitet  von 


Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 

(Fortsetzung.) 


jyjan  bemühte  sich,  nach  dem  Kompafs  genau  westlich  zu  steuern; 
■ jv.'y  gutes  Wetter  und  günstiger  Ostwind  kamen  dem  Unternehmen 
’ sehr  zu  statten. 


Am  13.  September  machte  nun  Columbus  eine  bedeutungs- 
volle Wahrnehmung,  die  den  ersten  Anstois  zu  vielseitigsten  Beobach- 
tungen um  den  ganzen  Erdball  herum  gegeben  hat.  Er  bemerkte 
nämlich  nicht  nur,  dafs  seine  Magnetnadel,  welche  ja  Beine  einzige 
Führerin  war,  nicht  genau  nach  Norden  hinwies,  sondern  dafs  diese 
Abweichung  auch  eine  Veränderung  mit  der  geographischen  Lage  des 
Schiffes  erfuhr.  Er  entdeckte  die  Declination  der  Magnetnadel,  oder  besser, 
die  Variation  der  Deklination  mit  der  geographischen  Lage.  Es  mag 
hier,  um  Mifsverständnisse  zu  vermeiden,  eingefligt  werden,  dafs  der 
englische  und  mit  ihm  auch  gelegentlich  der  deutsche  Seemann  die 
Deklination  der  Magnetnadel  selbst  als  ihre  „Variation"  bezeichnet, 
während  in  der  Wissenschaft  dieses  Wort  allein  nur  die  tägliche  oder 
säkulare  Veränderlichkeit  der  Richtung  der  Magnetnadel,  d.  h.  der 
Deklination  bedeutet.  Diese  Veränderlichkeit  selbst  scheint  Columbus 


jedoch  erst  am  17.  September  erkannt  zu  haben.  Er  notirte  in  seinem 
Tagebuch  100  Leguen  westlich  von  den  Azoren  eine  magnetische 
Deklination  von  11  ".  Am  30.  September  findet  er,  dafs  die  Dekli- 
nation 0°  ist,  was  allerdings  auf  einem  bedeutenden  Beobachtungs- 
fehler beruhte;  es  mufste  8 0 W.  heifsen.  Es  scheint  nun,  dafs 
Columbus  von  nun  an  auf  den  Isogonen  von  8°  bis  f)1  ■>  0 weiter 
segelte. 


Der  Kompafs  war  den  Chinesen  bereits  zu  Anfang  des  zweiten 
Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung  bekannt,  aber  erst  etwa  zwei 
Jahrhunderte  vor  der  Entdeckung  Amerikas  gelangte  derselbe,  wahr- 


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315 

scheinlich  wieder  durch  Vermittlung  der  Araber,  zur  Kenntnifs  des 
Abendlandes  und  wurde  alsdann  von  den  Seefahrern  benutzt. 

Die  Entdeckung  jener  hochwichtigen  Thatsache  der  Veränder- 
lichkeit der  Magnetnadelweisung  geschah  durch  Anvisiren  gegen  die 
Richtung  des  Polarsterns  oder,  wie  der  seemännische  Ausdruck  lautet, 
durch  Peilung.  Es  war  von  höchstem  Werthe,  diese  Thatsache  entdeckt 
zu  haben,  und  zwar  vom  theoretischen  wie  auch  praktischen  Stand- 
punkte aus.  Den  Gelehrten  wurde  die  erste  Anregung  gegeben,  die 
Geheimnisse  des  Erdmagnetismus  näher  zu  erforschen;  die  praktischen 
Seoleute  erkannten  hierdurch  zuerst,  dafs  sie  sich  auf  ihre  Magnetnadel 
durchaus  nicht  allein  verlassen  dürfen,  da  der  Weg,  den  sie  ihnen 
weist,  bei  der  nun  entdeckten  Veränderlichkeit  ihrer  Lage  zum  wahren 
Meridian  offenbar  keineswegs  der  gerade,  d.  h.  kürzesto  Weg  sein 
kann ; sie  wurden  dadurch  auf  die  Nothwendigkeit  astronomischer  Be- 
obachtungen auf  hoher  See  hingewiesen. 

Uebrigens  ist  bekanntlich  der  kürzeste  Weg  auf  der  Erdkugel 
nicht  derjenige,  welcher  die  Meridiane  derselben  unter  stets  gleichem 
Winkel  schneidet,  so  dafs  es  ein  Umweg  wäre,  einen  Kurs  zu  segeln, 
der  auf  den  Seekarten,  die  in  Merkator-Projektion  ausgeführt  sind, 
als  gerade  Linie  erscheint.  Einen  solchen  Weg  auf  der  Kugel  nennt 
man  im  mathematischen  Sprachgebrauch  eine  Loxodrome,  und  auf 
derselben  sind  früher  die  Seeleute,  indem  sie  der  Weisung  ihres 
Kompasses  folgten,  stets  gesegelt.  Der  kürzeste  Weg  auf  der  Kugel 
ist  dagegen  der  sogenannte  gröfste  Kreis. 

Columbus  konnte  natürlich  nach  Entdeckung  jener  Abwei- 
chung nicht  sogleich  seinen  Entschluss  ändern,  genau  nach  der 
Magnetnadel  zu  fahren.  Wenn  wir  nun  heute  wüfsten,  welche  Ab- 
weichungen von  der  Nordrichtung  die  Magnetnadel  auf  dem  durch- 
fahrenen Gebiete  des  Atlantischen  Ozeans  damals  in  Wirklichkeit  auf- 
wies, so  könnten  wir  den  Weg  des  Columbus  und  die  Stelle  seiner 
Ankunft  in  Westindien  nachträglich  wieder  ermitteln.  Leider  ist  die 
Lage  der  Linien  gleicher  magnetischer  Deklination,  oder  fachmän- 
nisch ausgedrückt,  der  Isogonen,  mit  den  Jahren  einer  langsam  fort- 
schreitenden Veränderung  unterworfen,  welche  nicht  so  gosetzmäfsig 
ist,  dafs  man  sie  auf  vier  Jahrhunderte  zurück  berechnen  könnte. 
Es  wird  also  wohl  ein  ewiges  Geheimnifs  bleiben,  wo  Columbus  zu- 
erst den  Boden  der  neuen  Welt  betrat. 

Gelcich  (Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde,  XX.  Jahr- 
gang, S.  280  u.  ff)  hat  sich  der  Mühe  unterzogen,  einerseits  nach 
Mafsgabe  unserer  gegenwärtigen  Kenntnisse  von  der  säkularen 


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31 B 


Variation  der  magnetischen  Deklination,  andererseits  nach  den  Auf- 
zeichnungen des  Schiffstagebuches  des  Columbus,  soweit  dieselben 
uns  erhalten  sind,  den  Kurs  der  „ Santa  Maria“  nachträglich  zu  be- 
stimmen. Weniger  die  Unsicherheit  unserer  Kenntnisse  über  die  erd- 
magnetischen Konstanten  jener  Zeit,  als  vielmehr  die  Oröfse  der  zur 
Bestimmung  der  Schiffsgeschwindigkeit  angewandten  spanischen 
Leguen  legten  hier  unüberwindliche  Schwierigkeiten  in  den  Weg. 
Nimmt  man,  wie  es  bis  dahin  üblich  war,  die  Legue  zu  3.18  See- 
meilen an,  so  ergiebt  die  unter  Berücksichtigung  aller  Umstande, 
namentlich  auch  der  Strömung,  ausgeführte  .Koppelung“,  d.  h.  An- 
einanderschliefsung  der  verschiedenen,  von  Columbus  für  die  ver- 
schiedenen Tage  angegebenen  Kurse  und  Schiffsgeschwindigkeiten, 
als  Ankunftspunkt  eine  Stelle  auf  Kuba,  wo  in  Wirklichkeit  die  erste 
Landung  unmöglich  stattgefunden  haben  kann.  Gelcich  nimmt 
schliefslich  die  Legue  nur  zu  2.3  Seemeilen  an  und  findet  dann  den 
Landungsplatz  zwischen  den  westindischen  Inseln  Turko  und  Mariguana. 
Mit  gleicher  Wahrscheinlichkeit  jedoch  wie  diese  beiden  können  auch 
noch  die  Inseln  Cat,  Watling,  welcher  letzteren  gewöhnlich,  doch  ohne 
besonderen  Grund,  der  Vorzug  vor  den  übrigen  genannten  eingeräumt 
wird,  und  Samana  als  jenes  Gtianahani  oder  San  Salvador  gelten, 
welches  Columbus  als  das  zuerst  betretene  Land  bezeichnete.  Diese 
fünf  Inseln  liegen  etwa  zwischen  22 0 und  24 0 nördlioher  Breite. 
Col umbus  gab  die  Breite  dieser  Insel  gleich  der  von  Ferro  (28°)  an. 
Es  mag  gleich  an  dieser  Stelle  erlaubt  spin,  einzufügen,  dafs  es  gleich- 
falls ganz  ungewifs  ist,  ob  Columbus  überhaupt  jemals  den  Boden 
des  eigentlichen  amerikanischen  Festlandes  betreten  hat.  Auf  der 
dritten  Reise,  am  1.  August  1498  hat  er  dasselbe  jedenfalls  entdeckt 
und,  es  zunächst  für  eine  Insel  haltend,  Tierra  de  Gracia  genannt. 
Erst  am  20.  August  wurde  es  ihm  und  seiner  Mannschaft  klar,  dafs 
das  ganze  Gebiet,  an  dessen  Küste  sie  bisher  entlang  gefahren  waren, 
ein  einziges  grofses  Festland  bildete.  Er  litt  indefs  damals  schon  so 
stark  an  Gicht,  dafs  es  ihm  unmöglich  war,  das  Schiff  zu  verlassen 
und  war  aufserdem  fast  ganz  erblindet.  Dennoch  unternahm  der  ge- 
brochene Mann  vier  Jahre  später  bekanntlich  noch  eine  letzte,  vierte 
Reise  nach  dem  neuen  Lande,  diesmal  hauptsächlich  zu  dem  Zwecke, 
das  auf  der  dritten  Reise  gesehene  Festland  eingehender  zu  erforschen. 
Das  Geschwader  verliefs  Cadix  am  11.  Mai  1602.  Auf  dieser  Reise 
dürfte  wahrscheinlich  der  greise,  inzwischen  längst  in  Mifsgunst  ge- 
fallene Entdecker  den  Boden  von  Central-Amerika  etwa  in  der  Gegend 
der  Republik  Honduras  oder  in  Nicaragua  bei  Gelegenheit  einer  noth- 


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317 


wendigen  Ausbesserung  seines  Schiffes  betreten  haben.  Dem  offiziellen 
Akte  der  Besitzergreifung  des  Landes  hat  er  dagegen  Krankheits  halber 
sicher  nicht  beigewohnt. 

Auf  allen  diesen  Reisen  bewegte  sich  Columbus  in  jener  Region 
an  der  Qrenze  zwischen  der  heifsen  und  gemäfsigten  Zone,  in  welcher 
zu  der  Jahreszeit,  während  welcher  die  erste  Reise  unternommen  wurde, 
regelmäfsig  östliche  Passatwinde  wehen.  Dieser  glücklichen  Wahl 
ist  ganz  besonders  der  Erfolg  der  Expedition  zu  danken.  Hätte  er 
diejenigen  Qebiete  des  Ozeans  gewählt,  auf  denen  man  heute  den 
kürzeren  Weg  durchschifft,  so  würde  er,  wie  bereits  vorhin  erwähnt, 
in  das  Gebiet  der  Herbststürme  gerathen  sein,  welche  den  kleinen 
Schiffen  gewifs  verderblich  geworden  wären  und  sie  jedenfalls  völlig 
deroutirt  hätten. 

Aber  gerade  dieser  günstige  Umstand  constanten  Ostwindes  bo- 
gann  nach  einiger  Zeit  die  Mannschaft  der  Schiffe  zu  beunruhigen. 
Wenn  hier  wirklich  beständig  Ostwind  herrschte,  wie  sollte  man  dann 
jemals  wieder  nach  der  Heimath  zurückkommen  können?  Gegen  den 
Wind  rudernd,  diese  ungeheure  Strecke  zurückzulegen,  war  doch  ganz 
unmöglich;  und  das  Land,  das  verheifsene,  goldstrotzende  Land,  wann 
sollte  es  endlich  auftauchen?  Vier  Wochen  lang  ging  es  nun  schon 
unaufhörlich  westwärts;  immer  weiter  entfernte  man  sich  von  der  Scholle, 
welche  für  jene,  das  kühnste  der  Abenteuer  unternehmende  Menschen 
der  Inbegriff  der  Welt  war,  und  immer  noch  wollte  die  schreckliche 
Wasserwüste  kein  Ende  nehmen.  Wenn  man  nun  überhaupt  kein  Land 
finden  sollte  und  die  Erde  gröfser,  weit  gröfser  war,  als  man  ange- 
nommen hatte,  so  mulsten  sie  alle  auf  der  nothwendigen  Rückfahrt 
unrettbar  Hungers  sterben,  wenn  sie  nicht  bald  sich  zur  Umkehr  ent- 
schlossen. 

Denn  über  die  wahre  Gröfse  der  Erde  herrschten  damals  in  der 
That  nur  Vermuthungen.  Es  waren  zwar  im  Alterthum,  beispielsweise 
von  Eratosthenes,  und  später  (um  827)  von  den  Arabern,  welche 
bekanntlich  die  Vermittler  der  griechischen  und  altegyptischen  Kultur- 
und  Wissensschätze  für  das  Abendland,  speziell  für  Spanien,  waren, 
Erdmessungen  auf  wissenschaftlich  durchdachter  Basis  ausgoführt, 
die  auch,  wie  es  scheint,  nicht  allzu  falsche  Werthe  ergeben  hatten, 
aber  es  waren  diese  Untersuchungen  nur  wenig  bekannt  geworden; 
auch  konnten  die  Resultate  derselben  natürlich  auf  grofses  Vertrauen 
noch  keinen  Anspruch  erheben. 

Ist  es  nicht  ganz  begreifiioh,  dafs  das  Schiffsvolk  zu  murren 
begann?  Fernando  Colon,  der  Sohn  des  grofsen  Entdeckers,  schrieb 

Himmel  und  Erde  1883.  V.  7.  22 


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318 


hierüber  folgendes:  „Die  Mannschaft  war  der  Ansicht,  der  Admiral 
setze  ihr  Leben  und  ihre  Sicherheit  auf  das  Spiel,  um  seinen  tollen 
Plänen  zum  Zwecke  seines  eigenen  Vortheils  nachzugehen.  Sie  wären 
schon  mehr  nach  Westen  vorgedrungen  als  jemals  andere,  und  dadurch 
wähnten  sie  ihre  Pflicht  erfüllt  zu  haben;  noch  weiter  jenen  Weg  ver- 
folgen, hiefse  sich  selbst  das  örab  graben,  und  man  müsse  an  die  Rück- 
reise denken,  ehe  es  zu  spät  wäre,  da  sonst  die  Lebensmittel  ausgehen 
könnten  und  auch  weil  die  Schiffe,  die  sie  gut  kannten,  schon  in  schlechtem 
Zustande  wären.  Die  Klagen  des  Admirals  gegen  seine  Leute  würden 
ohnehin  gegenstandslos  bleiben,  da  er  ein  Fremder,  ein  Hergekommener 
wäre,  dessen  Ansichten  die  Gelehrten  und  vernünftigen  Männer  schon 
ohnehin  bekämpften;  ja  es  fanden  sioh  Leute,  die  vorsohlugen,  dem 
Streit  durch  Ueberbonl werfen  des  Admirals  ein  Ende  zu  machen  und 
dann  zu  sagen,  er  sei  in  die  See  gefallen,  als  er  gerade  beobachtete. 
Niemand  würde  sich  darum  kümmern,  um  zu  erfahren,  ob  dies  wahr 
sei.“  (Vergl.  die  weiter  oben  bereits  erwähnte  Schrift  von  Gel  eich 
S.  381.)  Ohne  Frage  ging  es  also  dem  kühnen  Seefahrer  oftmals  hart 
an  den  Leib,  wenngleich  es  zu  der  oft  poetisch  verwertheten  Meuterei 
doch  nicht  eigentlich  gekommen  ist 

Am  härtesten  wurde  Columbus  am  10.  Oktober  von  der  Mann- 
schaft bedrängt.  Er  rief  die  Gebrüder  Pinzon,  die  Befehlshaber 
der  beiden  anderen  Schiffe,  zur  Berathung  zu  sich.  Es  gelang  auch 
diesmal  dem  Admiral,  die  Leute  zu  beschwichtigen  und  bis  zum  nächsten 
Tage  zu  vertrösten.  Abermals  segelte  man  also  weiter  dem  unbekannten 
Westen  entgegen. 

Welche  Kämpfe  mögen  zu  dieser  Zeit  die  Seele  des  Columbus 
gefoltert  haben?  Setzte  er  nicht  wirklich  das  Leben  all  dieser  braven 
Menschen  verwegen  aufs  Spiel?  Aber  doch  das  eigene  selbst  mit! 
Durfte  er  jemals  unverrichteter  Sache  zurückkehren,  er,  dessen  ehr- 
geizige und  von  Tausenden  daheim  belächelte  Träume  seit  Jahren 
zwei  grofse  Reiche  in  Bewegung  gesetzt  hatten?  Das  war  ganz  un- 
möglich! Nun  und  nimmer  hätte  er  sich  dem  Spotte  einer  ganzen  Welt 
aussetzen  dürfen.  So  schwebte  er  zwischen  dieser  Selbstqual  und  der 
mehr  und  mehr  schwindenden  Hoffnung,  mit  einem  Schlage  zu  den 
höchsten  Ehren,  zu  gröfstem  Reichthum,  zu  fürstlicher  Macht  empor- 
gehoben zu  werden.  Wie  mögen  starr  Stunden  und  Tage  lang  seine 
Blicke  auf  den  westlichen  Horizont  gerichtet  gewesen  sein,  wo  er  all 
sein  Glück  von  Tag  zu  Tag  erhoffte  aufdämmem  zu  sehen!  Und  da 
endlich  — war  es  denn  möglich!  — sah  sein  von  fieberhafter  Erregung 
fast  übermenschlich  geschärftes  Auge  am  Abend  des  11.  Oktober  ein 


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Licht  am  Horizonte  aufdämmern.  Niemand  sonst  erkannte  es,  niemand 
glaubte  an  die  Riohtigkeit  der  Wahrnehmung,  und  doch  hatte  der 
Admiral  recht  gesehen.  Um  2 Uhr  in  derselben  Nacht  begriifste  ein 
Freudenschrei  den  Kanonendonner,  welcher  von  der  Pinta  ausging  und 
„Land  in  Sicht“  ankündigte.  Ein  Matrose  dieses  Schiffes,  Roderigo 
von  Triaua  war  es,  der  zuerst  die  Küste  der  neuen  Welt  gesehen 
hatte.  Am  dämmernden  Morgen  dos  12.  Oktober  verankerten  sich  die 
Schiffe  angesichts  des  neuen  Landes,  und  die  Mannschaft  schiffte  sich 
auf  den  Booten  aus. 

Welch  ein  Triumph  war  das  für  die  Menschheit,  welch  un- 
berechenbare Folgen  für  dieselbe  zog  dieses  Ereignifs  nach  sioh! 
Wir  alle,  die  wir  die  Früohte  des  Weltverkehrs  der  civilisirten  Nationen 
täglich  und  stündlich  geniefsen,  wir  alle  müssen  dankbar  zurückdenken 
an  die  Thnt  dieser  kühnen  Männer,  welohe  das  Feld  aller  Lebens- 
regungen der  Menschheit  verdoppelte. 

Mögen  wir  anderen  Nationen  wohl  zugestehen  müssen,  dafö  An- 
gehörige derselben  weit  vor  Columbus  dieses  Land  entdeckt  und 
betreten  haben:  So  ist  es  beispielsweise  höchst  wahrscheinlich,  dafs 
die  Chinesen  bereits  in  den  ersten  Jahrhunderten  unserer  Zeitrechnung 
den  Orofsen  Ozean  durchquerten  und  in  Centralamerika  landeten,  das 
seither  unter  dem  Namen  Fusang  ungefähr  dieselbo  Rolle  bei  ihnen 
spielte  wie  jenes  Atlantis  der  Grieohenzeit,  und  ganz  siclior  ist,  dafs 
die  Normannen  auf  ihren  kleinen  Kriegs-  oder  Vikingerschiffen,  kleinen, 
kaum  mit  einem  Segel  versehenen  Ruderbooten,  deren  oft  mehrere 
Hunderte  zugleich  auf  Raubzüge  ausgingen,  um  das  Jahr  1000  herum 
die  Küsten  von  Labrador  und  Neuengland  erreichten  und  dort,  ganz 
unweit  der  gegenwärtig  gröfsten  Yerkohrszentren  der  neuen  Welt. 
Ansiedelungen  gründeten,  die  sie  Hclluland,  Markland,  Vinland,  d.  h. 
Felsen-,  Wald-  und  Weinland  nannten. 

Die  kühnen  Seeräuber  hatten  bereits  ganz  Europa  in  Aufregung 
versetzt,  indem  Bie,  die  Flüsse  liinaufruderud,  mächtige  Städte,  wie 
Paris,  überrumpelten.  Bereits  8(53  entdeckten  sie  Island  und  grün- 
deten dort  Kolonieen,  die  mit  dem  norwegischen  Mutterlande  in  regel- 
mässigem Verkehr  standen.  Von  hier  aus  ging  im  Jahre  982  Erioh 
der  Rothe  nach  Grönland.  Ein  Sturm,  welcher  4 Jahre  später  Bjarni 
Herjulfson  verschlug,  brachte  diesen  zuerst  in  Sicht  der  Küsten 
des  nordöstlichen  Festlandes  von  Amerika.  Sein  Sohn  Leif  siedelte 
sich  hier,  etwa  in  der  Hudsongegend,  also  unweit  des  gegenwärtigen 
New-York,  zuerst  an.  Zwei  bis  drei  Jahrhunderte  lang  hielt  nun  der 
Verkehr  dieser  Kolonieen  mit  Europa  resp.  Island  an,  bis  durch 

22* 


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innere  Kämpfe  mit  dem  beginnenden  Verfall  des  Normannenreiches 
auch  diese  Ansiedelung  um  1350  verlassen  wurde.  Runensteine, 
welche  die  Anwesenheit  nordisch-europäischer  Völkerschaften  aufser 
Zweifel  stellen,  sind  in  Nordamerika  bis  zu  73  0 Breite  aufgofunden 
worden. 

Auch  waren  offenbar  wiederholt  Eingeborene  der  polynesischen 
Inseln  auf  ihren  Kähnen  bis  an  die  amerikanische  Westküste  ver- 
schlagen worden.  Ethnographische  und  vergleichende  Sprachstudien 
weisen  deutlich  auf  verwandtschaftliche  Züge  zwischen  diesen  Insu- 
lanern und  den  mexikanischen  und  zentralamerikanischen  Urein- 
wohnern hin. 

Es  sei  hier  schliefslich  noch  erwähnt,  dafs  wahrscheinlich  die 
Gebrüder  Zeni,  berühmte  Entdeckungsreisende,  zwischen  1388  und 
1404  von  den  FaVöem  aus  Amerika  erreioht  haben. 

Aber  die  völlige  Vergessenheit,  in  welche  das  Land  inzwischen 
gerieth,  berechtigt  uns  zweifellos,  die  Verdienste  nur  flüchtig  zu 
berühren,  welche  jene  Vorläufer  um  die  Entdeckung  Amerikas  besitzen. 
Columbus  erst  entdeckte  die  neue  Welt  für  die  Zivilisation,  er  schenkte 
uns  nicht  nur  einen  neuen  Erdtheil,  er  schuf  selbst  aus  der  alten  Welt 
eine  neue! 

Schenken  wir  deshalb  nicht  allzu  willig  jenen  Stimmen  Gehör, 
welcho  hie  und  da  auftauchend,  den  Ruhm  des  grofsen  Genuesen 
herabzusetzen  trachten!  Es  ist  ja  gewiss  kein  Zweifel,  dafs  das  Gold, 
welches  man  in  dem  neuen  Erdtheile  in  so  märchenhafter  Fülle  er- 
wartet hatte,  der  hauptsächliche  Beweggrund  dieser  und  fast  aller 
Entdeckungsreisen  der  damaligen  Zeit  gewesen  war,  nicht  etwa  das 
Interesse  an  der  Erweiterung  menschlicher  Kenntnisse,  nicht  die  be- 
geisternde Empfindung  von  der  unendlich  hohen  Aufgabe  der  Zivili- 
sation, welche  die  erste  Pflicht  der  Entdecker  und  Eroberer  des  neuen 
Erdtheils  gewesen  wäre.  Decken  wir  mit  dem  Schleier  der  Jahrhunderte 
die  Sünden  zu,  welche  in  den  Wirren  dieser  gewaltigen  Entdeckungs- 
zeit geschehen  sind.  Nicht  allzu  grofee  Vorwürfe  dürfen  wir  gerechter 
Weise  auf  jene  Menschen  schleudern,  welchen  inmitten  ganz  neuer  Ver- 
hältnisse die  erdrückend  schwierige  Aufgabe  wurde,  eine  neue  Welt 
zu  organisiren.  Weit  entfernt  sowohl  von  der  Hülfe  wie  von  der 
Kontrolle  ihrer  Mutterlande,  ihrer  eigenen  Kraft  und  Fähigkeit  über- 
lassen, sollten  sie  über  Völkerschaften  regieren,  die  ihnen  völlig  un- 
bekannt waren,  und  welche  sie  in  der  Anmafsung  abendländischer 
Kultur  menschlich  weit  unter  sich  stehend  erachteten. 

Columbus  hatte  sich  bekanntlich  das  Amt  eines  Vizekönigs 


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über  die  entdeckten  Länder  ausbedungen.  In  Ausübung  desselben 
entwickelte  er  jedoch  offenbar  wenig  Geschick.  Es  hätte  ja  auch 
eines  ganz  außerordentlich  organisatorischen  Genies  bedurft,  unter 
so  schwierigen  und  völlig  neuen  Verhältnissen  hier  ein  Reich  zu  be- 
gründen. Die  Dinge  wuchsen  Columbus  über  den  Kopf,  ohne  dafs 
er  begreiflicherweise  seine  Rechte  fahren  lassen  wollte.  So  kam  es, 
dafs,  nachdem  eine  lange  Zeit  hindurch  die  spanische  Regierung  trotz 
der  immer  deutlicher  hervortretenden  Wirren  auf  den  westindischen 
Inseln,  völlig  korrekt  und  in  dankbarer  Anerkennung  ihre  vortrags- 
mäfsigen  Pflichten  Columbus  gegenüber  erfüllt  und  ihn  mit  allen 
erdenklichen  Ehren  überhäuft  hatte,  sie  endlich  zum  Einschreiten  sich 
unumgänglich  genöthigt  fand,  wenn  sie  nicht  alle  zukünftigen  Vor- 
theile durch  die  offenbare  Mißwirtschaft  vernichtet  sehen  wollte. 
Am  höchsten  hatte  sich  der  durch  stets  bereite  Neider  noch  geschürte 
Unwillo  der  Regierung  gegen  Co  lumbus  während  seiner  dritten  Reise 
gesteigert  Eingefügt  mag  hier  als  Mafsstab  für  die  Gunst,  in 
welcher  Columbus  jeweilig  stand,  werden,  dafs  er  auf  seiner  zweiten, 
am  25.  September  1493  beginnenden  Reise  nicht  weniger  als  14  Kara- 
rellen  und  3 Lastschiffe  mit  1200  Mann  Besatzung  mit  hinüber  nahm, 
auf  seiner  dritten  dagegen  nur  6 Schiffe  bewilligt  erhielt,  die  am 
30.  Mai  1498  in  See  gingen.  Diese  verschiedenen  Expeditionen  hatten 
inzwischen  bedeutende  Summen  gekostet,  ohne  dafs  entsprechende 
Einkünfte  aus  jenem  Lande  einliefen,  welches  man  von  Gold  förmlich 
strotzend  geglaubt  hatte.  Ferdinand  der  Katholische  und  dessen 
Columbus  so  wohl  gesinnte  Gemahlin  Elisabeth  mussten  sich 
deshalb  endlich  überzeugt  halten,  dafs  der  Vizekönig  Columbus  zu 
so  schwierigen  Regierungsgeschäften  untauglich  sei,  und  ließen  ihm 
dios  mittheilen.  Colu mbus  selbst,  wohl  in  der  Ueberzeugung,  seiner- 
seits stets  gethan  zu  haben,  was  seine  Pflicht  und  seine  geistigen  wie 
äufseren  Mittel  ihm  möglich  gemacht  hatten,  bat  selbst  um  Einsetzung 
eines  unparteüsclien  Richters  über  diese  Frage.  Die  Wahl  fiel  reoht 
unglücklich  auf  Franzisco  de  Bobadilla,  der  1499  auf  Sau 
Domingo  landete  und  dort  im  Uebereifer,  ohne  Befehl  dazu  zu  haben, 
den  Vizekönig  sowohl  wie  seine  Brüder  Diego  und  Bartolome, 
welche  sich  mit  ihm  in  die  Regieruugsgeschäfte  teilten,  in  Fesseln 
legen  liefs.  So  wurde  der  kühne  Entdecker  einer  neuen  Welt,  der 
es  trotzig  aussohlug,  als  man  ihm  auf  dem  Schiffe  die  schmach- 
vollen Ketton  abnehmen  wollte,  nach  Spanien  zurückgeführt.  Ent- 
rüstet über  diese  Behandlung,  liefs  hier  der  König  dem  Columbus 
sofort  2000  Dukaten  schicken,  damit  derselbe  festlich  bei  Hofe  erscheinen 


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könne.  Hieraus  geht  wohl  zur  Genüge  das  grofse  Wohlwollen  und 
die  objektive  Stellung  des  Königs  zu  dieser  peinlichen  Angelegenheit 
hervor.  Man  wählte  einen  gerechteren  Richter  in  Ovando,  der  dem 
Columbus  sein  konflszirtes  Vermögen  wieder  zurückerstattete  und 
ihn  seine  westindischen  Einkünfte  geniefsen  liefe,  ohne  ihm  jedoch  seine 
früheren  Hoheitsrechte  wieder  zu  verleihen.  Mit  30  Schiffen  ging  nun 
am  13.  Februar  1502  Ovando  nach  den  neuen  Kolonien  ab,  um  dort 
Ordnung  zu  schaffen.  Ihm  folgte  Columbus  am  9.  Mai  desselben 
Jahres  mit  vier  aus  eigenen  Mitteln  ausgerüsteten  Karnvellen,  wurde 
aber,  am  29.  Juni  vor  San  Domingo  ankommend,  von  Ovando  ver- 
hindert, das  Land  zu  betreten.  Der  Stern  des  Columbus  war  nun 
endgültig  gesunken.  Mit  Krankheit  geschlagen,  zurückgestofsen  von 
seinen  Landsleuten,  die  ihm  jenes  Land  verschlossen,  das  erst  seine 
Thatkraft  für  die  Welt  erobert  hatte,  umherirrend  auf  morschen  Fahr- 
zeugen in  unbekannten  Gegenden,  gerieth  er  endlich  angesichts  seiner 
sinkenden  Schiffe  in  bitterste  Noth.  Der  12.  September  sah  ihn  zuletzt 
auf  amerikanischem  Boden.  Anfang  November  kehrte  er  unbeachtet 
von  der  Welt  nach  Spanien  zurück.  Seine  Gönnerin  Elisabeth 
starb  inzwischen.  Seine  Bemühungen,  seine  Rechte  wieder  zu  erlangen, 
blieben  ohne  Erfolg,  besonders  als  der  Vorschlag,  seine  westindischen 
Würden  gegen  Besitzungen  in  Kastilien  einzutauschen,  von  ihm  starr- 
sinnig zurückgewiesen  wurde.  So  starb  endlich  der  grofse  Ent- 
decker am  21.  Mai  1506  in  Valladolid  so  arm  und  unbeachtet,  als  er 
geboren  war.  Mit  eiserner  Willenskraft  hatte  er  sich  zu  königlicher 
Macht  und  Würde  emporgesehwungen,  diese  selbe  ausartende  Un- 
beugsamkeit  hat  ihn  wieder  gestürzt.  Auch  noch  im  Tode  hatten  die 
Gebeine  des  vielgereisten  Entdeckers  lange  Zeit  keine  Rast.  Sie  wurden 
1513  nach  Sevilla,  um  1560  nach  San  Domingo,  1795  nach  Ilavana  ge- 
bracht, wo  sie  nun  im  dortigen  Dome  endlich  Ruhe  fanden. 

Wie  sehr  es  der  spanischen  Regierung  daran  gelegen  war,  eine 
legitime,  aber  zugleich  auch  dauernd  bestandlähige  Regelung  der  An- 
sprüche des  Columbus  resp.  seiner  Erben  herbeizuführen,  geht  ferner 
daraus  hervor,  dafs  der  König  selbst  nach  dem  Tode  Christophs 
dessen  einzigen  rechtsmäfsigen  Sohn  Diego  aufforderte,  einen  Prozefs 
zur  Klärung  dieser  Verhältnisse  anzustrengen  und  der  erbenden 
Familie  zur  Bestreitung  der  daraus  entstandenen  Kosten  4000  Gold- 
dukaten bewilligte.  Diego  wurde  1608  als  Generalgouverneur  der 
Kolonien  anerkannt,  führte  aber  die  alte  Mifswirthschaft  weiter,  so 
dafs  wiederum  nach  einiger  Zeit  die  Regierung  nothwendig  einschreiten 
musste.  Der  inzwischen  angestrengte  Prozefs,  welcher  von  1608  bis 


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1564  geführt  wurde,  nahm  nunmehr  eine  höohst  merkwürdige  Wendung. 
Die  Erben  der  Pinzonen,  welche  bekanntlich  die  „Pinta"  und  die 
„Nina“  auf  der  ersten  Entdeckungsfahrt  befehligt  hatten,  suohten 
durch  eine  Anzahl  von  Zeugen,  die  jedoch  meist  erst  ein  halbes  Jahr- 
hundert nach  der  bezüglichen  Zeit  auflraten  und  Erzählungen  in- 
zwischen verstorbener  Matrosen  des  Columbus  wiederholen  mufsten, 
darzuthun,  letzterer  sei  überhaupt  gar  nicht  der  Entdecker  Amerikas 
gewesen.  Er  sei  auf  der  Fahrt  schliefslich  von  grofser  Furcht  über- 
fallen worden  und  habe  durchaus  umkehren  wollen,  worauf  sich  einer 
der  Pinzonen  zornig  am  11.  Oktober  mit  seinem  Schiffe  von  ihm  ge- 
trennt und  allein  das  erste  Land  entdeckt,  sowie  im  Namen  der 
Regierung  Resitz  von  domseiben  ergriffen  habe.  Nun  sei  er  zu  den 
beiden  anderen  Schiffen  zurückgekehrt,  um  diese  hinzuführen.  Die 
Beweisführung  gelang  nicht.  Aber  der  Sohn  des  Diego,  also  Enkel 
des  Columbus,  Don  Luis  Colon,  mufste  nun  doch  endlich  auf 
die  Herrscherrechte  in  der  neuen  Welt  verzichten.  Er  behielt  nur 
den  erblichen  Titel  eines  Admirals  von  Indien,  ferner  noch  den  eines 
Herzogs  von  Jamaika,  mit  dom  erblichen  Familienbesitz  der  Insel 
selbst  und  10  000  Golddukaten  jährliche  Rente.  Don  Luis  Colon 
starb  1572  als  Herzog  von  Veraguas.  Vier  Jahre  später  erlosch 
überhaupt  die  männliche  Linie  der  Columbus.  Eine  weibliche  Linie, 
von  einer  Schwester  des  Don  Luis  ausgehend,  besteht  heute  noch 
als  die  der  Herzoge  von  Veraguas. 

Heute  hängt  jene  neue  Welt,  welche  Columbus  uns  erschlofs, 
mit  Millionen  geistiger  Fäden  auf  das  engste  mit  der  alten  Welt  zu- 
sammen, ja  diese  könnte  ohne  jene  garnicht  mehr  bestehen.  Wenn 
die  Ozeanfläche,  welche  ehedem  eine  Schranke  bildete,  die  den  neuen 
Erdtheil  Jahrtausende  lang  völlig  abseits  von  allen  Bewegungen  un- 
serer Kultur  liegen  liefe,  sich  unserem  Verkehr  abermals  verschlösse, 
so  miifsten  zweifellos  viele  Tausende  von  Existenzen  hier  zu  Grunde 
gehen.  Freuen  wir  uns  deshalb,  dafs  die  Bando  immer  inniger 
werden,  welche  uns  mit  der  neuen  Welt  verbinden.  Ein  Dutzend 
Kabel  bilden  heute  die  Sprachrohre,  durch  welche  unausgesetzt  Tag 
und  Nacht  die  neue  Welt  mit  der  alten  sich  unterhält,  und  tausende 
von  Schiffen  bevölkern  den  Atlantischen  Ozean,  auf  welchen  ein 
Strom  von  Menschen  hin  und  wieder  zurückwogt  und  unormefsliche 
Schätze  ausgetauscht  werden.  Eine  einzige  Schiffsgesellschaft,  dio  des 
Norddeutschen  Lloyd  beispielsweise,  hat  in  den  letzton  dreifsig  Jahren 
allein  über  zwei  Millionen  Passagiere  auf  ihren  amerikanischen  Linien 
hin  und  her  befördert. 


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Nichts  vermag  wohl  die  Fortschritte  und  die  Segnungen  unserer 
Kultur,  welche  wir  der  Thatkraft  und  dem  Glücke  des  Columbus 
verdanken,  besser  zu  illustriren,  als  eine  Betrachtung  der  gewaltigen 
Fortschritte,  welche  das  Seefahrtswesen  seit  den  Zeiten  der  Entdeckung 
Amerikas  aufzuweisen  hat.  Zur  400-jährigen  Jubelfeier  dieser  That 
erschien  es  uns  deshalb  angezeigt,  im  wissenschaftlichen  Theater  un- 
serer Urania  im  Geiste  noch  einmal  die  Fahrt  nach  Amerika  zu  unter- 
nehmen, so  wie  sie  mit  den  heutigen  imposanten  Hilfsmitteln  des  See- 
wesens von  Millionen,  oft  in  der  alltäglichsten  Stimmung  der  Selbst- 
verständlichkeit, unternommen  wird. 

Was  von  dem  begleitenden  Texte  dieser  Aufführungen  für  unsere 
Zeitschrift  geeignet  erscheint,  mag  hier  wiederholt  werden. 


Wir  Deutschen  gehen  nach  Amerika  von  Hamburg  oder  Bremen 
aus.  Die  Hamburger  Packctfahrt-Gesellsohaft  sowohl  wie  der  Nord- 
deutsche Lloyd  in  Bremen  verfügen  über  die  mächtigsten  und  schön- 
sten überseeischen  Dampfer  der  Welt.  Der  rege  Wettbewerb  zwischen 
beiden  grofsen  Rhedereien  schafft  immor  vollkommnere  und  elegantere 
Fahrzeuge.  Wir  wählen  einen  Dampfer  der  gröfseren  dieser  beiden 
Gesellschaften,  des  Norddeutschen  Lloyd. 

Wir  sind  am  frühen  Morgen  von  Bremerhaven  abgefahren  und 
befinden  uns  bereits  in  der  freien  Ausfahrt  der  Weser,  in  welche 
uns  das  sichere  Feuer  des  Leuchtthurms  von  Rother  Sand  geführt  hat, 
der  hier  mitten  aus  den  Wogen  emporragt,  unerschütterlich  alle  Schiffe 
mit  seinem  Leitstrahl  begleitend,  oder  duroh  Blitzfeuer  vor  gefährlicher 
Abweichung  von  der  sicheren  Strafse  warnend,  welche  hier  in  die  ver- 
heifsungsreicho  Fremde  oder  zurück  in  die  liebe  Heimath  führt. 

An  einem  klaren  Tage  ist  dies  wohl  nicht  schwer.  Ganz  anders 
aber,  wenn  Stürme  und  Nebel  den  Seefahrer  bedrohen.  Das  Fahr- 
wasser ist  hier  noch  nicht  tief,  und  es  giebt  deshalb  nur  einen  ver- 
hältnifsmiifsig  engen  Weg,  den  so  tiefgehende  Schiffe,  wie  unser 
transatlantischer  Dampfer,  ohne  Gefahr  auf  den  Sand  zu  laufen,  gehen 
dürfen.  Das  feste  Feuer  des  Leuchtthurmes,  welches  nur  einen 
schmalen  Lichtstreifen  in  der  Richtung  des  guten  Fahrwassers  hinaus- 
wirft, wird  durch  die  genau  in  Bezug  auf  die  Kompassweisung  be- 
kannte Richtung  dieses  Leitstrahls  erkannt  Rechts  und  links  von 
dem  erwähnten  festen  weifsen  Leuchtfeuer  geht  ein  blitzartig  auf- 
zuckendes Licht  vom  Thurme  aus,  dem  Schiffer  zur  Warnung,  dafs 
er  von  seinem  Wege  abgewichen  ist.  Die  verschiedenen  Leuchtfeuer 
an  der  Wesermündung  sind  im  übrigen  so  eingerichtet,  dafs  immer 


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eines  das  andere  kreuzt  und  der  Schiffer  also  dem  nächsten  Leit- 
strahle bereits  folgt,  ehe  ihn  der  bisher  befahrene  noch  verlassen 
hat,  der  ihn  noch  dazu  durch  gewisse  Lichtsicnale  auf  die  Nähe  der 
betreffenden  Wendepunkte  der  Kursrichtung  rechtzeitig  aufmerksam 
macht.  Eine  Karte  der  Wesermiindung,  welche  alle  diese  Licht- 
strahle farbig  und  ungemein  klar  aufgezeichnet  enthält,  sollte  es  dem 
Anschein  nach  beinahe  jedem  Laien  möglich  machen,  ein  grofses 
Sohiff  bei  Nacht  von  Bremerhaven  in  die  offene  See  oder  umgekehrt 
zu  führen. 

Will  der  Seemann  sich  nun  mit  Hülfe  eines  solchen  Leuchtfeuers 
auch  auf  jeder  anderen  Seekarte  genauer  orientiren,  so  peilt  er  den 
Thurm  zunächst  an,  d.  h.  er  bestimmt  die  Richtung,  in  welcher  er  das 
Feuer  sieht,  mit  Hülfe  der  Kompafsrose,  über  welche  hin  er  nach 
dem  Thurme  visirt.  Er  zieht  auf  seiner  Seekarte  durch  den  Leucht- 
thurm eine  Linie  in  der  entgegengesetzten  Richtung;  wenn  er  nun 
noch  die  Entfernung  vom  Leuchtthurm  kennt,  so  hat  er  damit  den 
Ort  seines  Schiffes.  Diese  Entfernung  wird  ganz  leicht  durch  die 
Messung  der  scheinbaren  Gröfse  des  Leuchtthurms  bestimmt.  Die 
wirkliche  Groteo  ist  dem  Schiffer  bekannt;  jo  weiter  er  sich  nun  vom 
Leuchtthurme  entfernt  befindet,  je  kleiner  erscheint  derselbe  natürlich. 
Die  Vergleichung  der  scheinbaren  mit  der  wahren  Gröfse  wird  mit 
dem  Sextanten  vorgenommen,  einem  Winkelmefsinstrument,  das  uns 
weiterhin  noch  mehr  beschäftigen  wird  und  das  dem  Seemann  unentbehr- 
lich ist.  Diese  so  gefundene  Entfernung  in  seiner  Seekarte  auf  die 
vorhin  gezogene  Linie  abgetragen,  giebt  ihm  den  Ort  des  Schiffes. 

Es  existirt  begreiflicherweise  noch  eine  gröfse  Menge  anderer 
Methoden  der  seemänuisohen  Orientirung  bei  Land  in  Sicht,  die  in 
vorliegendem  Vortrage  überhaupt  auch  nicht  andeutungsweise  zur 
Sprache  kommen  können.  Nur  die  am  meisten  charakteristischen 
wurden  ausgewiiblt.  Näheres  hierüber  findet  man  in  dem  Artikel  des 
Herrn  Admiralitätsrath  Rottok:  „Die  Ortsbestimmungen  und  Hülfs- 
mittel  zur  Führung  eines  Schiffes  auf  See“;  in  „Himmel  und  Erde“, 
III.  Jahrgang,  Seite  245,  314,  368  u.  f. 

Das  Herannahen  der  englischen  Küste  wird  zunächst  durch  ein 
rothes  Leuchtschiff,  das  hier  verankert  ist,  angekündigt.  Leucht- 
schiffe, Seezeichen,  Bojen,  Tonnen  machen  auch  hier,  wie  längs  der 
Küsten  aller  zivilisirten  Länder,  auf  Untiefen  oder  sonstige  gefährliche 
Stellen  aufmerksam  und  bezeichnen  das  Fahrwasser  beinahe  so,  wie 
die  Chaussee-Bäume  irgend  einen  Weg  auf  dem  Lande.  Man  kann  längs 
den  Küsten,  wenn  die  Elemente  nicht  allzusehr  wüthen,  garnicht  fehlen. 


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Wehe  aber  dem  Schiffe,  das  aus  Unvorsichtigkeit  oder  durch  die  Gewalt 
des  Sturmes  diesen  vorgezeichneten  Weg  verläfst!  Ganz  besonders  die 
Gefährlichkeit  dieser  Gestade  Englands  ist  ja  berüchtigt. 

Mehr  wie  je  ist  hier  dem  Schiffer  nach  überstandenem  Sturm 
oder  nach  einem  Nebeltage  Orientirung  nöthig,  um  den  Gefahren  der 
klippenreichen  Küste  auszuweichen  und  die  enge  Einfahrt  zwischen 
Dover  und  Calais  richtig  zu  finden.  Die  englische  Küste  ist  deshalb 
hier  besonders  dicht  mit  Leuchtfeuern  besetzt. 

Nähert  man  sich  in  der  Nacht  bei  klarem  Wetter  dieser  Küste, 
so  giebt  es  ein  sehr  einfaches  Mittel,  mit  Hülfe  eines  dieser  Leucht- 
thürme  allein  die  Lage  des  Schiffes  zu  ermitteln.  Man  benutzt  hierzu 
die  Kugelgestalt  der  Erde.  Es  läfst  sich  begreiflicherweise  aus  der 
Höhe  des  Leuchtthurmes  leicht  berechnen,  wo  die  Strahlen  desselben 
gerade  noch  die  Erdoberfläche  tangiren  müssen,  d.  h.  es  läfst  sich  der 
Umkreis  finden,  innerhalb  dessen  man  das  Leuchtfeuer  überhaupt  noch 
sehen  kann.  Dieser  Umkreis  ist  natürlich  verschieden  für  verschieden 
hohe  Standpunkte  des  Beobachters.  Der  Matrose,  welcher  im  Mastkorb, 
dem  „Schwalbenneste“,  Auslug  hält,  sieht  das  Leuchtfeuer  frühor  als 
der  Kapitän  auf  der  Kommandobrücke;  da  man  aber  stets  weifs,  wie 
hoch  man  sich  über  dem  Wasserspiegel  befindet,  d.  h.  fachmännisch 
ausgedrückt,  wie  grofs  die  „Kimmtiefe“  des  Horizontes  ist,  so  kann 
man  für  jeden  Leuchtthurm  die  Entfernung  bestimmen,  in  welcher  er 
für  jedes  Schiff  zuerst  auftauchen  mufs.  Es  ist  dann  unmittelbar  ein- 
leuchtend, dafs  man  durch  Peilung  des  eben  am  Horizonte  aufglim- 
menden Leuchtfeuers  sofort  den  Ort  seines  Schiffes  erkennt,  der  durch 
Richtung  und  Entfernung  von  dem  bekannten  festen  Punkte  der  Küste 
ja  gegeben  ist. 

Den  Schiffer  begleitet  stets  ein  ungemein  wichtiges  Buch  „Die 
Leuchtfeuer  der  Erde“  von  W.  Ludolph  herausgegeben,  welches  alle 
nöthigen  Angaben  betreffs  der  Feuer-  resp.  auch  Schallsignale  sämmt- 
licher  Leuchtthiirme  der  Erde  enthält.  Jeder  Leuchtthurm  unter- 
scheidet sich  von  seinen  Naohbarn  schon  bei  Tage  durch  die  Gestalt, 
Bauart  und  durch  farbige  Streifen,  die  ihn  umgürten;  bei  Nacht,  wo 
er  als  Wegweiser  seine  besondere  Bedeutung  erhält,  durch  die  ihm 
eigene  Art  der  Befeuerung,  die  ihn  durch  die  Farbe  des  Lichtes 
(weifs,  roth  oder  grün,  diese  Farben  auch  abwechselnd)  und  durch 
die  Art  des  Lichtes  mit  oder  ohne  Verdunkelung  (Blink-,  Blitz-,  Dreh-, 
Funkei-  oder  festes  Feuer)  sofort  kenntlich  macht.  Schon  oben  sahen 
wir,  wie  die  Leuchtfeuer  durch  besondere  Einrichtungen  dem  Schiffer 
auch  ein  Abweichen  vom  sicheren  Wege  kund  thun;  gelegentlich 


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giebt  das  Feuer  auch  noch  besondere  Zeichen,  durch  welche  es  die 
Schiffe  über  verschiedene  wichtige  Dinge,  z.  B.  den  jeweiligen  Flutli- 
stand  unterrichtet,  wo,  wie  im  Hafen  von  Calais,  das  Befahren  gewisser 
Gebiete  bei  Ebbe  für  gröfsore  Schiffe  gefährlich  werden  kann.  Am 
Leuchtthurm  von  Calais  kann  man  deshalb  schon  aus  weiter  Feme 
ersehen,  wieviel  Meter  Wassorsland  zur  Zeit  im  Hafen  beobachtet 
werden.  — Das  oben  genannte  Buch  giebt  auch  die  Höhe  des  Thurmes 
sowie  die  Anzahl  von  Seemeilen  an,  in  welcher  das  Leuchtfeuer  zuerst 
am  Horizonte  auftaucht  oder  verschwindet. 

Glückt  diese  Beobachtung  des  ersten  Aufleuchtens  nicht,  oder 
nähert  man  sich  am  Tage  der  Küste,  so  kann  man  sich  durch  zwei 
verschiedene,  gleichzeitig  sichtbare  Objekte  orientiren,  indem  man 
beide  zugleich  peilt;  der  Schnittpunkt  der  beiden,  auf  der  Seekarte 
eingezeichneten  Standlinien  giebt  dann  den  Ort  des  Schiffes. 

Eine  andere  Methode  kann  den  Ort  des  Schiffes  selbst  dann  ergeben, 
wenn  man  sich  in  dem  Leuchtkreise  nur  eines  Feuers  befindet,  auch 
wenn  man  dasselbe  nicht,  wie  es  weiter  oben  dargestellt  wurde,  am 
Horizonte  beobachtet  hat.  Zu  diesem  Zwecke  peilt  man  das  Feuer 
zunächst  aus  einem  vorläufig  noch  unbekannten  Schiffsorte  und  zieht 
die  betreffende  Standlinie  auf  der  Seekarte.  Dann  läuft  man  nach  dem 
Kompafs  seinen  Kurs  eine  Strecke  weiter  und  mifst  durch  später  noch 
anzugebende  Instrumente  die  Länge  des  zurückgelegten  Weges  bis 
zu  einem  anderen  beliebig  zu  wählenden  Orte,  von  welchem  aus  man 
noch  einmal  eine  Peilung  des  Feuers  vornimmt.  Man  zieht  diese 
zweite  Richtungslinie  auf  der  Seekarte  durch  den  Leuchtthurm.  Nun 
befindet  sich  auf  der  letzteren  stets  die  Kompaferose  in  ihrer  mifs- 
weisenden  Lage  aufgezeichnet  Man  bringt  ein  besonders  konstruirtes 
Lineal,  das  parallel  zu  einer  beliebigen  Richtung  auf  der  Karte  zu 
verschieben  ist,  und  mit  welchem  wir  auch  schon  vorhin  die  Peil- 
richtungen aufgetragen  haben,  nunmehr  in  die  gewählte  Fahrrichtung 
zwischen  den  beiden  Standorten,  zirkelt  sich  auf  dem  Lineal  die 
zurückgelegtc  Strecke  in  der  Verjüngung  der  Seekarte  ab  und  sieht 
nun,  wo  diese  Strecke  sich  in  der  gegebenen  Richtung  in  die  beiden 
vorhin  aufgezeichneten  Peilungslinien  des  Feuers  einfügen  läfst.  Die 
so  entstehenden  Schnittpunkte  geben  die  Schiffsorte  für  beide  Peilungen. 

Wir  sind  inzwischen  glücklich  in  den  Kanal  gesteuert  und  eilen 
Southampton  zu,  wo  die  deutschen  Schiffe  bekanntlich  Station  machen, 
um  die  englischen  Passagiere  aufzunehmen.  Schon  vor  der  Einfahrt 
in  den  Hafen  von  Southampton  begleiteten  uns  linker  Hand  die  lieb- 
lichen Landschaften  der  wunderreichen  Insel  Wight,  die  uns  einladen, 


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dem  auch  geologisch  so  hochinteressanten  Eilande  einen  kurzen  Be- 
such abzustatten,  bevor  wir  uns  auf  die  weite  Ooeanfläche  hinaus- 
begeben. 

Die  Insel  besteht  zumeist,  wie  die  nördlich  und  südlich  gegen- 
überliegenden Küsten  von  England  und  Frankreich,  aus  einem  mäch- 
tigen Kreidefelsen,  den  der  durch  den  Kanal  im  gewaltigen  Puls- 
schlag der  Fluthbewegung  hin  und  zurück  wogende  Ocean  noch  nicht 
verschluckt  hat,  an  dem  er  aber  beständig  wühlend  nagt.  So  ist  also 
die  Insel  Wight  mit  unserm  heimatblichen  Rügen  nahe  verwandt,  nur 
dafs  hier  auf  Wight  das  Felsgeklüft  nooh  wilder,  höher,  roman- 
tischer emporstrebt.  Und  wie  überall  die  Bodenbesohaffenheit  einen 
wesentlichen  Einilufs  auf  den  landschaftlichen  Charakter,  ja  selbst  auf 
die  Vegetation  ausübt,  erkennen  wir  auch  hier,  wo  in  noch  viel 
reicherer  Entfaltung,  als  die  wundervollen  hohen  Buchenwälder  Rügens 
sie  aufweisen,  ein  wilder  Zaubergarten,  von  allen  gröfsten  Poeten 
Englands  vielfaoh  besungen,  sich  über  das  Eiland  ausbreitet. 

Man  findet  auf  demselben  im  Sommer  wie  auch  im  Winter  eine 
milde,  wohlige  Temperatur.  Dieses  insulare  Klima  ruft  eine  wunderbar 
üppige  Vegetation  hervor  und  macht  das  Fortkommen  südlicher,  immer- 
grüner Gewächse,  wie  des  Lorbeer,  der  Myrthe,  der  Cypresse,  der 
Stechpalme  möglich.  Das  nahe  Meer,  das  draufsen,  doch  hier  längst 
unhörbar,  an  dem  schönen  Eiland  ohne  Unterlafs  gefräfsig  nagt,  be- 
kränzt das  eigene  Opfer  mit  verschwenderischer  Blumenpracht,  ehe 
es  dasselbe  unrettbar  verschlingt  — 

Wir  sind,  von  Freshwater  Bay  kommend,  durch  diese  wild  para- 
diesischen Gärten  gewandert,  um  die  westlichste  Spitze  der  Insel,  die 
berühmten  Neodles,  zu  erreichen.  In  der  ganzen  Welt  findet  man  so 
wunderbar  kontrastreiche  Landschaften  auf  so  engem  Raume  nicht 
wieder  zusammengedrängt,  als  bei  dieser  Wanderung  von  kaum  einer 
Stunde.  Schon  in  Freshwater  Bay  begegneten  wir  am  Gestade  jenen  gro- 
tesken Felsbildungen,  welche  von  der  Gefräfsigkeit  des  Meeres  beäng- 
stigende Kunde  geben.  Eines  der  Kalkriffe,  welche  aus  den  blauen  Wogen 
mit  ihrem  weifsen  Steingeripp  hervorragen,  bildet  ein  vollständiges  Thor, 
deutlich  an  eine  der  Faraglioni  auf  Capri  erinnernd.  Das  Titelbild 
unseres  vorliegenden  Heftes  stellt  dasselbe  dar.  Ein  anderes,  spitz  zu- 
laufendes Riff  trägt  oben  auf  den  deutlich  schräg  abfallenden  Schichtungen 
ein  überall  wie  ein  Hut  vorragendes  Stück  Humus,  Erdreich  und  Gras, 
ganz  in  derselben  Horizontallinie,  wie  der  Wiesengrund  des  einige 
Zehner  von  Metern  entfernten  Ufers.  Es  zeigt  deutlich,  wie  die  ehe- 
mals zwischen  liegende  Felspartie  von  den  Wogen  hinweggerissen 


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329 


wurde.  Ja,  hier  sieht  man  eine  Strafse  schnurstracks  vom  Abgrund* 
der  fast  senkrecht  ins  Meer  führt,  abgeschnitten.  Geht  man  oben 
weiter  über  die  Wiese  nach  Westen,  so  sieht  man  auf  langen  Strecken 
des  Weges  breite  Furchen  im  Erdreich,  die  in  einigen  Metern  Ent- 
fernung von  der  überall  hier  jäh  zum  Meere  abfallenden  Felswand* 
der  vielfach  ausgebuchteten  Uferlinie  genau  parallel  laufen:  Hier  hat 
sich  das  Meer  bereits  seinen  nächsten  Bissen  abgetheilt,  um  ihn  bei 
guter  Gelegenheit,  wenn  der  Sturm  unten  die  weifsen  Köpfe  der  Wogen 
gegen  die  morschen  Kalkfelsen  peitscht,  dafs  das  Erdreich  rings  er- 
dröhnt, in  seinem  dunklen  Schlunde  zu  begraben.  Aengstlich  weichen 
wir  diesen  Furchen  aus  und  wagen  uns  nicht  näher  an  den  mehr 
als  hundert  Meter  tiefen  Felsabhang,  wo  unten,  zwischen  Wasser* 
Himmel  und  drohender  Felswand,  Möwen  und  Sturmvögel  lautlos 
kreisen.  Geheimnisvoll,  ruhelos  murmelnd  dringt  von  der  weifsen 
Brandungslinie  her  nur  ein  leiser  Laut  zu  uns  empor.  Wir  suchen  einen 
sicheren  Pfad,  um  hinab  zum  Fufse  dieser  Felsen  zu  gelangen,  wo 
wir  sie  besser  übersehen  können. 

Wir  haben  damit  das  Ziel  unseres  Ausfluges,  die  romantisch 
zerklüftete  Westspitze  der  Insel  mit  den  bereits  von  ihr  losgerissonen 
Felsgruppen  der  sogenannten  Needles,  Nadeln,  vor  deren  westlichster 
warnend  ein  Leuchtthurm  aufragt,  erreicht.  Von  der  Südseite  gesehen 
erscheinen  sie  zwar  ziemlich  breit,  sie  spitzen  sich  jedoch  nach  oben 
etwa  meifselförmig  derartig  zu,  dafs  sie,  von  Westen  gesehen,  in  der  That 
wie  scharfe  Nadeln,  vom  Seemann  gar  sehr  gefürchtet,  gespenstisch 
aufragen. 

Kaum  ein  charakteristischeres  Bild  von  der  Denudation  der 
Meereswogen  kann  es  geben,  wie  diese  Needles.  Die  grorsen  Stürme 
kommen  bekanntlich  alle  von  Westen  her  und  treiben  die  Wogen  in 
den  nach  Osten  immer  enger  werdenden  „Aermelkanal“,  wo  sie  sich 
dann  zu  ungeheurer  Fluthwirkung  anhäufen.  Die  Westseite  von  Wight 
ist  diesem  Anprall  zuerst  ausgesetzt.  Sie  hat  sich  deshalb  als  Wogen- 
brecher keilförmig  zuspitzen  müssen.  So  haben  auch  die  Needles 
selbst  eine  keilförmige  Grundfläche : Nach  Westen  hin  laufen  sie  ganz 
spitz  zu,  wenden  dagegen  ihre  langen  Seiten  nach  Norden  und  Süden. 

Wie  unendlich  verschieden  sind  die  Gedanken,  wolobe  dieso 
Landschaft  in  uns  erweckt,  von  denen,  die  in  unsero  Seele  beruhigend 
einzogen,  als  wir  auf  halbem  Wege  zu  diesem  starren  Klippengestado 
unter  dem  schwanken  Laubdach  des  Waldwegs  wanderten!  Dort 
idyllische  Ruhe  einer  still  wirkenden  Natur,  die  keinen  Kampf,  keine 
Zerstörung  zu  kennen  scheint,  hier  überall  die  Spuren  des  wüthendsten 


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330 


Gigantenkampfes,  den  die  Erdscholle  ewig,  seit  sie  einst  vor  Urzeiten 
dem  dunklen  Schoofse  der  Wogen  entsprang,  mit  dem  mütterlichen 
Meere  führt,  das  sein  eigenes  Kind  immer  und  immer  wieder  ver- 
schlingt, wenn  es  neugeboren  abermals  emporgestiegen  war.  Hier 
sehen  wir  den  mächtigen  Pulsschlag  der  Ewigkeit  vom  weltumfas- 
senden Meere  her,  Welle  um  Welle,  hin  und  wieder  rollen,  und  die 
Schauer  der  Unendlichkeit  wehen  uns  von  der  umflorten  Grenze 
zwischen  Meer  und  Firmament  geheimnifsvoll  entgegen;  dort,  in  der 
Waldeinsamkeit  war  alles  intim  und  lauschig  eng  umgrenzt,  recht 
wie  es  erquickend  zum  stillon  Herzen  sprechen  konnte,  und  alles  lebte 
dort  und  quoll  und  blühte  und  freute  sich  des  Daseins;  hier  umgeben 
uns  rings  die  schrecklichen  Mächte  der  Zerstörung,  unbeugsame, 
empfindungslose  Gewalten.  Zwar  scheint  ein  Leben  in  diesem  pulsenden 
Meere,  es  ist  ein  fürchterlicher  Riese,  der  mit  seinen  Armen  die  ganze 
Welt  umklammert  und  aus  gewölbter  Brust  nur  zweimal  des  Tages 
tief  aufathmet,  Fluth  und  Ebbe  erzeugend;  wir  bewundern  und  fürchten 
diesen  Riesen,  er  ist  erhaben,  majestätisch  zwar  wie  das  Sternenge- 
wölbe mit  seinen  unerreichbar  weitherflimmernden  Weltenschwärmen, 
aber  uns  in  seiner  ebenso  unfafsbaren  Gröfse  doch  so  erschreckend 
nahe,  ein  Uebermenschliches,  dem  wir  und  die  Scholle,  welche  uns 
trägt,  ohnmächtig  preisgegeben  sind. 

Wie  gebrochene  Rippen  eines  Riesenloibes,  den  das  Meeresunge- 
heuer verschlungen  hat,  ragen  jene  Felsen  auf,  eine  Phalanx  gegen 
Westen  hin  bildend.  Aber  eine  nach  der  anderen  fallen  die  Felsen- 
nadeln dem  wüthenden  Elemente  zum  Opfer.  Dort,  wo  heute  jener 
Leuchtthurm  aus  dem  Meere  uufragt,  stand  einstmals  eine  eben  solche 
Felsrippe  wie  diese  beiden,  welche  ebenfalls  dem  sicheren  Unter- 
gänge geweiht  sind. 

(Schlafs  folgt.) 


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Sonnenflecke  und  magnetische  Erscheinungen. 

Unter  den  mannigfachen  Räthseln  der  kosmischen  Physik  giel) 
es  kaum  eines,  das  sich  bisher  so  seiner  Lösung  zu  entziehen  ver- 
mocht hätte,  wie  die  merkwürdigen  magnetischen  Erscheinungon  der 
Erde.  Wie  soll  man  sich  die  täglichen  Aenderungen  erklären,  welche 
die  magnetischen  Konstanten,  insbesondere  Inklination  und  Deklination, 
erleiden?  Wie  gar  die  jährlichen  und  die  säkularen  Schwankungen  dieser 
Gröfsen  zum  Verständnis  bringen?  Wie  schliefslich  dem  Zusammen- 
hang derselben  mit  gewissen  Erscheinungen  des  Sonnenballs  den 
Charakter  des  Wunderbaren  rauben?  Der  Präsident  der  physikalischen 
Sektion  der  britischen  Gesellschaft  für  die  Beförderung  der  Wissen- 
schaft, der  durch  seine  Forschungen  auf  elektrischem  Gebiete  rühmlichst 
bekannte  Arthur  Schuster,  hat  neulich  auf  Grund  einiger  durchaus 
plausibler  Hypothesen  der  AufklärungdioserRäthsel  näherzu  kommen  ge- 
sucht. Wir  erwähnten  bereits  auf  Seite  194,  dafs  erdie  täglichen  Schwan- 
kungen der  Magnetnadel  als  die  Folgen  elektrischer  Ströme  in  der  Luft 
ansieht,  die  vom  Sonnonstande  beeinflufst  und  auch  durch  die  täglichen 
Schwankungen  des  Barometers  verrathen  weiden.  Die  Sonne  selbst 
ist  — daran  darf  man  nicht  zweifeln  — der  Sitz  gewaltiger  elektrischer 
Energieen.  Die  Kometenschweife  sind  elektrische  Entladungen,  die 
diesen  Energien  ihre  Entstehung  verdankon,  und  die  Sonnenfinsternisse 
offenbaren  uns  im  Aufleuchten  der  Korona  das  Ausströmen  grofser 
Elektrizitätsmengen  aus  dem  Sonnenleibe.  Sollte  vielleicht  jede  grofso, 
in  Rotation  befindliche  Masse  ein  Magnet  sein,  wie  unsere  Erde?  Dann 
würde  sich  die  Sonne  auch  als  solcher  verhalten,  und  damit  würden 
jene  Ausstrahlungen  in  ähnlicher  Weise  beeinflufst  werden,  wie  nach 
Jakobi  die  Entladungserschoinungen  in  den  Gei fslerschen  Röhren 
durch  einen  Magneten  abgelenkt  werden.  Man  erklärt  die  letzterwähnte 
Thatsache  bekanntlich  so,  dafs  man  annimmt,  jedes  Gas  werde  durch 
eine  hindurchgehende  elektrische  Entladung  selbst  zu  einem  Leiter; 
und  Versuohe  von  Schuster  stützen  diese  Ansicht,  da  sie  zeigen, 


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332 


dafs  viele  für  leitende  Flüssigkeiten  bekannte  Erscheinungen  sich 
auch  bei  Gasen  wiederfinden,  durch  welche  eine  elektrische  Entladung 
geht.  So  hofft  Schuster  primäre  und  sekundäre  Elemente  aufzu- 
finden, bei  denen  ein  Gas  die  Stelle  der  leitenden  Flüssigkeiten  ver- 
tritt. Offenbar  ist  es  auch  möglich,  dafs  Gase  unter  gewissen  anderen 
Bedingungen  zu  Leitern  werden,  und  wahrscheinlich  befinden  sich  die 
oberen  Luftschichten  gerade  in  diesem  Zustande,  da  sie  der  Sitz  des 
Polarlichtes  sind,  und  — wie  erwähnt  — wohl  auch  die  täglichen 
magnetischen  Variationen  durch  die  in  ihnen  fiiefsenden  Ströme  be- 
dingt sind. 

Soll  die  Sonne  durch  den  interplanetaren  Raum  elektrisch  wirken 
können,  so  mufs  dieser  Stoff  genug  enthalten,  um  zu  einem  Leiter  zu 
werden.  Auch  dies  ist  in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  wenn  auch  der 
elektrische  Widerstand  des  Weltraumes  ein  sehr  grofser  sein  mufs, 
da  die  Rotationsachse  der  Erde  in  historischer  Zeit  gröfsere  Ver- 
schiebungen nicht  erfahren  konnte.  Der  innerhalb  dioses  Leiters 
rotierende  magnetische  Erdkürper  ist  aber  offenbar  fähig,  innerhalb 
desselben  Ströme  zu  induzieren,  die  ihrerseits  auf  den  Erdmagnetis- 
mus zurückwirken  mufsten  und  seine  säkularen  Schwankungen  her- 
vorbringen konnten. 

Bei  der  Untersuchung  des  Zusammenhanges  der  Sonnenflecke 
mit  dem  Erdmagnetismus  handelt  es  sioh  zunächst  um  die  Ent- 
scheidung der  Frage:  Was  ist  ein  Sonnenfleck?  Ist  es  eine  unseren 
irdischen  Cyklonen  an  Natur  ähnliche  Erscheinung,  wie  man  allgemein 
annimmt?  Schuster  verneint  dieB,  weil  der  Anblick  der  meisten 
Sonnenflecke  diese  Ansicht  keineswegs  stützt  und  weil  dann  die 
Mitglieder  einer  Fleckengruppe  sich  auf  bestimmte  Art  um  einander 
bewegen  müfsten,  wie  sie  keineswegs  von  den  Beobachtungen 
angezeigt  wird.  Er  glaubt  vielmehr,  im  Anschlufs  an  Ilugginssche 
Untersuchungen,  in  den  Sonnenflecken  eine  Wirkung  jener  elektrischen 
Entladungen  suchen  zu  müssen,  welche  künstlich  die  Verdampfung 
an  der  Sonnenoberfläche  beschleunigen  und  so  an  den  Stellen,  wo 
sie  stark  sind,  eine  Erkältung,  einen  Sonnenfleck  hervorbringen. 
Aber  woher  kommt  ihre  Periodizität  und  damit  diejenige  der  mag- 
netischen Erscheinungen?  Sollte  sie  sich  nicht  auf  eine  periodische 
Aenderung  der  Leitungsfähigkeit  des  Weltraums  zurückführen  lassen, 
welche  ihrerseits  durch  meteorisohe  Materie,  die  gerade  in  den  bekannten 
elf  Jahren  eine  Rotation  um  den  Sonnenball  ausführt,  bedingt  sein 
könnte?  Schuster  schliefst  seine  interessanten  Betrachtungen  durch 
einen  Blick  auf  das  eigenthiimliche  Gesetz,  dem  die  Umdrehung  der 


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3153 


Photosphäre  folgt,  bei  welcher  die  Sonnenllecke  noch  ihre  eigenen 
Bewegungen  ausführen.  (Die  Winkelgeschwindigkeit  der  Photosphäre 
ist  bei  75°  heliographischer  Breite  30  pCt  geringer  als  am  Sonnen- 
äquator). Sollte  hierin  die  Wirkung  herankummender  meteorischer 
Materie  zu  suchen  sein,  wie  W.  Thomson  will,  oder  die  einer  andern 
Kraft?  „Die  Besonderheiten  der  Sonnenoberfläche“,  das  sind  die  End- 
worte Schusters,  „scheinen  mir  die  ganze  Aufmerksamkeit  der  Ge- 
lehrten zu  verdienen.  Ihre  Erklärung  würde,  wenn  man  sie  geben 
könnte,  wahrscheinlich  diejenige  mehrerer  anderer  Erscheinungen  mit 
sich  führen.“  Sm. 

* 


Ueber  die  Ringbildung  als  Auflösungsprozess. 

In  einem  früheren  Artikel  über  den  fünften  Jupitermond  (int 
gegenwärtigen  Jahrgange,  Seite  142  ff.)  wurde  bereits  darauf  hinge- 
wiesen, dafs  auf  der  Oberfläche  des  sehr  kleinen  und  in  der  Nähe 
des  nach  der  Sonne  mächtigsten  Anziehungscentrums  kreisenden 
Mondes  ein  ganz  seltsamer  Wettstreit  zwischen  den  Anziehungskräften 
besteht,  welche  dort  einen  freien  Körper  einerseits  nach  dem  Mittel- 
punkte des  Mondes  selbst,  andererseits  zum  Jupiter  zu  ziehen  streben, 
und  zwar  kam  ich  zu  dem  Sohlusse,  dafs  die  nach  dem  Jupiter  hin- 
wirkende Kraft  entschieden  die  überwiegende  sein  müsse.  Da  dieses 
Resultat  einen  recht  interessanten  kosraogonischen  Gesichtspunkt  er- 
öffnet, auf  welchen  ich  sogleich  kommen  werde,  so  wird  es  zunächst 
von  Wichtigkeit  sein,  darzuthun,  in  wie  weit  das  obige  Resultat 
hypothetisch  ist. 

In  dieser  Hinsicht  erlaube  ich  mir,  meine  im  ersten  Jahrgange 
dieser  Zeitschrift  erschienenen  Artikel  „Eine  beweisführende  Dar- 
stellung des  Weltgebäudes  in  elementarer  Form“  in  Erinnerung  zu 
bringen.  Es  wurde  darin  auch  dem  mathematischen  Laien  gezeigt, 
dafs  man  theoretisch  im  Staude  ist,  mit  vollkommener  Sicherheit  die 
Schwerkraft  zu  bestimmen,  welche  auf  einem  beliebigen  Himmels- 
körper unseres  Planetensystems  stattfindet,  unter  der  Voraussetzung, 
dafs  derselbe  von  einem  anderen  umkreist  wird.  Dieses  Kreisen  ist 
eben  eine  direkte  Folge  der  Anziehungskraft  des  centralen  Körpers, 
welche  erwiesenermafsen  im  ganzen  Sonnensystem  mit  dem  Quadrato 
der  Entfernung  vom  Zentrum  abnimmt.  Gleichzeitig  ist  diese  Sohwere- 
wirkung  von  der  Masse  des  Körpers  direkt  abhängig.  Wenn  man 
Himmel  und  Erde.  1893.  V.  7.  23 


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334 


in  einem  bestimmten  Falle  durch  die  Beobachtung  findet,  dafs  ein 
Mond  nach  seinem  Hauptkörper  hin  um  ein  Bestimmtes  schneller 
fällt,  als  in  der  gleichen  Entfernung  ein  Körper  zur  Erde  hin  fallen 
würde,  so  beweist  dies,  dafs  der  betreffende  Hauptkörper  in  demselben 
Verhältnifs  mehr  Masse  besitzt  als  die  Erde. 

Da  Jupiter  nun  aufser  dem  neuen  vier  altbekannte  Monde  be- 
sitzt, deren  Bewegungen  ganz  genau  studirt  worden  sind,  so  kann 
man  mit  aller  Bestimmtheit  berechnen,  welche  Anziehungskraft  Jupiter 
nicht  nur  auf  einen  Körper  an  seiner  Oberfläche,  sondern  auch  in 
einer  ganz  beliebigen  Entfernung  von  derselben  ausübt.  Wenn  wir 
also  finden,  dafs  in  der  Entfernung  des  ersten,  d.  h.  des  neuen  Jupiter- 
mondes, ein  Körper  in  der  ersten  Sekunde  1.96  m gegen  Jupiter 
fallen  würde,  so  war  dies  mit  unzweifelhafter  Sicherheit  zu  ermitteln.1) 
Versetzen  wir  uns  nun  auf  die  Oberfläche  des  neuen  Mondes,  und 
denken  wir  uns  den  Jupiter  gerade  über  unsern  Häuptern  stehend, 
so  wird  jeder  Gegenstand  der  Oberfläche  das  Bestreben  haben,  in  der 
ersten  Sekunde  um  die  obon  angegebene  Strecke  gegen  Jupiter  hin 
zu  eilen;  für  den  letzteren  hat  man  dies  seine  Fallbewegung  zu 
nennen,  für  den  Mond  ist  es  ein  Eraporstreben.  Es  fragt  sich  nun, 
ob  diese  Kraft  des  Hauptplaneten  gröfser  ist  als  die  Anziehungskraft, 
welche  die  Masse  des  Satelliten  auf  diesen  Oberflächengegenstand 
ausübt.  Diese  letztere  Gröfse  kann  nun  unter  gewissen  Voraus- 
setzungen allein  hypothetisch  ermittelt  werden,  weil  wir  keinen  Körper 
sehen,  auf  den  dieser  Mond  solche  Anziehungskraft  ausübt.  Wir 
müssen  hypothetisohe  Voraussetzungen  über  die  Dichtigkeit  der  Masse 
machen,  aus  welcher  der  Mond  gebildet  ist  und  zugleich  auch  über 
seine  Gröfse,  d.  h.  seinen  Durchmesser.  Was  nun  die  Dichtigkeit 
anbetrifft,  so  haben  die  Anziehungswirkungeu,  welche  die  übrigen 
Mondo  des  Jupiter  auf  einander  ausüben,  ergeben,  dafs  letztere  weniger 
dicht  sind  als  Jupiter  selbst.  Derselbe  besteht  nun  notorisch  aus 
einer  viermal  weniger  dichten  Masse  als  unsere  Erde,  diese  wieder 
ist  im  Durchschnitt  viel  weniger  dicht  als  viele  der  schwereren 
Stoffe,  welche  auf  ihr  Vorkommen,  z.  B.  übertrifft  die  Dichtigkeit  des 
Platin  die  der  Erde  um  das  Vierfache.  Platin  ist  der  dichteste,  der 
schwerste  von  allen  bekannten  Stoffen;  würde  die  Erdo  aus  Platin 


')  Neuere  Beobachtungen  Barnards  haben  für  die  Entfernung  und 
Umlaufszeit  des  neuen  Himmelskörpers  etwas  andere  Werthe  ergeben  als  die 
zuerst  veröffentlichten  und  hier  benutzten.  Man  darf  wohl  um  so  eher  die 
alten  Werthe  zunächst  beibehalten,  als  die  neueren  gleichfalls  noch  nicht  als 
definitive  zu  betrachten  sind. 


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335 


bestehen,  so  mürste  unser  Mond  viermal  schneller  gegen  sie  hinzu- 
fallen streben.  Kein  Himmelskörper,  den  man  daraufhin  untersuchen 
konnte,  besitzt  eine  so  grofse  Dichtigkeit.  Nehmen  wir  also  an,  der 
neue  Jupitermond  besätes  dennoch  die  Dichtigkeit  des  Platin,  so  haben 
wir  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  eine  kaum  mehr  mögliche,  oberste 
Grenze  für  seine  Kraftäufserungen  angenommen.  Unter  dieser  Voraus- 
setzung aber  können  wir  nun  ganz  genau  berechnen,  wie  grofs  der 
neue  Himmelskörper  sein  müfste,  damit  ein  Gegenstand  auf  seiner 
Oberfläche  genau  so  stark  nach  seinem  Zentrum  hin  angezogen  wird, 
wie  vom  Jupiter,  so  dafs  er  also,  wenn  für  ihn  der  Hauptplanet  im 
Zenith  steht,  ganz  ohne  alle  Schwere  sein  würde.  Es  zeigte  sich, 
dafs  jener  neue  Mund  zu  diesem  Ende  einen  Durchmesser  von 
1300  km  haben  müfste.  Die  wahre  Grüfte  dieses  Mondes  ist  nun 
allerdings  nicht  direkt  mefsbar;  er  erscheint,  wie  bekannt,  als  feinstes, 
durchmesserloses  Lichtpünktchen,  welches,  soweit  bekannt,  bisher  nur 
in  zwei  Fernrohren  sichtbar  gemacht  werden  konnte,  von  denen  das 
eine  das  gröfste  der  Welt  ist.  Nun  läfst  sich  aber  wiederum  mit 
Bestimmtheit  berechnen,  dafs  ein  Himmelskörper  von  1300  km  Durch- 
messer in  der  Entfernung  des  Jupiter  einen  Durchmesser  von  nahezu 
einer  halben  Bogensekunde  haben  und  also  in  unseren  guten  Fern- 
rohren der  Neuzeit  wahrnehmbar  sein  müfste.  Da  dies  nun  nicht 
der  Fall  ist,  so  ist  mit  Bestimmtheit  zu  schliefsen,  dafs  ein  frei 
beweglicher  Gegenstand  auf  der  Oberfläche  des  neuen  Mondes  so- 
fort von  ihm  hinweg  nach  dem  Jupiter  hin  fliegen  mufs,  sobald 
sich  letzterer  über  den  Horizont  erhebt  Dieses  Resultat  ist  nur 
in  sofern  hypothetisch,  als  es  nur  dann  umgestofsen  werden  könnte, 
wenn  der  Satellit  aus  einer  sehr  viel  dichteren  Masse  besteht,  als 
wir  sie  jemals  auf  der  Erde  und  im  ganzen,  weiten  Universum  kennen 
gelernt  haben.  Es  sind  deshalb  jedenfalls  viele  Tausende  gegen  Eins 
zu  wetten,  dafs  der  neue  Mond  frei  bewegliche  Gegenstände  auf  seiner 
Oberfläche  nicht  zu  fesseln  vermag. 

Es  ist  nun  auffällig,  dafs  ähnliche,  wenn  auch  meistens  nicht  so 
eklatante  Verhältnisse  für  alle,  ihrem  Hauptkörper  besonders  nahe 
befindliche  Monde  vorliegen.  Die  beiden  Marsmonde,  der  erste  unter 
den  alten  Jupitermonden,  die  ersten  drei  Satumsmonde,  die  ersten 
beiden  Uranusmonde  befinden  sich  in  der  gleichen  Lage,  wenigstens 
unter  der  Voraussetzung,  dafs  die  Masse  der  Monde  nicht  dichter  sei 
als  die  ihrer  Planeten.  Die  hier  beigegebenen,  tabellarisch  geordneten 
Zahlen  mögen  dies  zoigen. 

23* 


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336 


8 

in  Metern 

A 

D 

berechnet 

km. 

D 

Beobachtung 

Phobus 

0.242 

Marsdichto 

2 560 

8.3 

Deimos 

0.049 

« 

409 

7.2 

5.  Jupitermond  1.96 

Jupiterdiohte 

20  600 

— 

n 

Platindichte 

1 300 

— 

I Jupitermond 

0.354 

0.52  Jupiterdiohte 

7 170 

3 814 

II 

0.140 

Jupiterdichte 

1 475 

3 413 

Mimas 

0.549 

Saturn  sdichte 

12  090 

613 

Enseladus 

0.333 

„ 

7 330 

635 

Thetys 

0.217 

»» 

4 790 

989 

Dione 

0.132 

2 920 

941 

Rhea 

0.068 

n 

1 500 

1 295 

Ariel 

0.080 

Uranusdichte 

1 020 

— 

Umbriel 

0.041 

r» 

524 

— 

Titania 

0.010 

n 

123 

925 

Neptunsmond 

0.027 

Neptunsdichte 

229 

3 163 

In  dieser  Tabelle  bedeutet  g den  Fallraum  eines  Körpers  gegen 
den  Planeten  in  der  Entfernung  des  Satelliten;  unter  ,A  ist  die  an- 
genommene Dichte  der  Satellitenmasse  angegeben;  die  beiden  letzten 
Rubriken  geben  den  unter  den  oben  näher  bezeichnoten  Voraus- 
setzungen errechneten  und  den  aus  photometrischen  und  anderen 
Messungen  ermittelten,  wahren  Durohmesser  des  Satelliten. 

Was  wird  nun  unter  den  vorhin  bezeichneten  Umständen  auf 
der  Oberfläche  dieser  Satelliten  vor  sieh  gehen?  Dies  läfst  sich  mit 
Sicherheit  rechnerisch  verfolgen.  Mit  dem  Bestreben  der  nicht  durch 
molekulare  Kräfte  an  die  Oberfläche  gebundenen  Körper,  dem  Jupiter 
entgegenzufliegen,  wird  sich  ihre  Bewegung  in  der  Bahn  des  Mondes 
verbinden,  die  Körper  verlassen  den  Mond  und  streuen  sich  längs 
der  Bahn  hin  aus,  einen  Ring  bildend,  dessen  Durchmesser  kleiner 
als  der  der  Mondbahn  sein  inufs,  und  welcher  in  jeder  Beziehung 
vollkommen  dem  duftigen,  durchsichtigen  Ringe  gleicht,  den  die  hellen 
Saturnringe  umschliefsen.  Kommen  mehr  und  mehr  Gegenstände, 
Staub,  Gestein,  das  sich  von  dem  Monde  losgebröokelt  hat,  hinzu,  so 
wird  der  Ring  immer  dichter  werden  und  sohliefslich  den  hellen 
Saturnringen  gleichen.  An  der  äussem  Grenze  dieser  Ringe  wird  der 
ursprüngliche  Mond  kreisen  und  den  Ring  mit  seinen  abtrünnigen 
Gegenständen  weiter  speisen.  Es  läfst  sich  leicht  zeigen,  dars  es 
niemals  aufhöreu  wird,  solche  abtrünnigen  Gegenstände  auf  der 
Oberiläche  eines  beliebigen,  festen  Körpers  zu  geben,  der  in  unse- 


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337 

rem  Sonnensysteme  um  einen  anderen  kreist.  So  lange  ihn  noch 
Wasser  und  Luft  umgeben,  was  übrigens  in  diesem  Stadium  gamicht 
mehr  möglioh  ist,  besorgt  die  Verwitterung  die  Loslösung;  wirkt  diese 
nicht  mehr,  so  mufs  der  nach  Absorbirung  der  Atmosphäre  um  so 
kräftiger  eingreifende  Wochsei  zwischen  der  Sonnenbestrahlung  und  der 
eindringenden  Kälte  des  Weltraumes  durch  Ausdehnung  und  Zu- 
sammonziehung  der  Oberllächentheile  Iiisse  erzeugen , wie  sie  ja 
bereits  unsere  Mondoberfläche  tausendfach  überziehen,  und  endlioh 
werden  ganze  Gesteinsschollen  der  Oberfläche,  welohe  von  solohen 
Rissen  allseitig  umgrenzt  sind,  sich  losreifsen  müssen.  Dieser  Zer- 
bröckelungsprozefs  wird  zwar  sehr  langsam,  aber  auch  ebenso  unauf- 
hörlich arbeitend,  immer  tiefere  Schichten  erreichen,  sobald  die  oberen 
losgelöst  und  alle  Trümmer  über  den  Ring  ausgebreitet  sind.  Wir 
können  deshalb  heute  viele  Tausende  gegen  eins  wetten,  dafs  der 
fünfte  Jupitermond  längst  einen  solchen  Ring  zu  bilden 
begonnen  hat  und  also  Jupiter  augenblicklich  ganz  ebenso 
wie  Saturn  einen  Ring  in  der  Entfernung  dieses  Mondes 
besitzt.  Wahrscheinlich  aber  ist  derselbe  allzu  lichtschwach,  um 
jemals  wahrgenommen  werden  zu  können.  Immerhin  wäre  es  nicht 
unnütz,  wenn  die  mit  den  besten  Fernrohren  ausgerüsteten  Astro- 
nomen nach  demselben  ausschauen  würden;  ebenso  verhält  es  sich 
mit  den  anderen,  oben  bereits  angeführten  Monden  der  übrigen 
Systeme. 

Durch  die  vorangehenden  Betrachtungen  war  es  also  möglioh, 
ein  neues  Glied  zu  der  immer  gröfsoren  Umfang  gewinnenden  Astro- 
nomie des  Unsichtbaren  hinzuzufugen.  Es  erscheint  ferner  kaum 
zweifelhaft,  dafs  die  Satumringo  das  Produkt  einer  Zersetzung  mehrerer 
ursprünglicher  Saturnmonde  sind,  worauf  auoh  der  Umstand  hindeutet, 
dafs  das  Profil  der  Ringe  sich  nach  aussen  hin  etwa  birnenförmig 
ausdehnt.  Das  dichteste  Konglomerat  von  Trümmern  mufs  sich  nach 
unseren  Betrachtungen  in  der  Thal  aufsen  befinden,  jedenfalls  Iäfst 
sioh  zeigen,  dafs  ein  kugelförmiger  Haufen  loser  Trümmer,  welohe 
den  Planeten  in  der  betreffenden  Entfernung  umkreisen,  diese  Saturn- 
ringe bis  in  alle  Einzelheiten  ihrer  Gestalt  bilden  müssen.  Die  Saturn- 
ringe sind  also  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  nicht,  wie  man  bisher 
glaubte,  als  ein  duroh  noch  unbekannte  Ursachen  stehengebliebenos 
Bildungsstadium  eines  Weltkörpers,  sondern  als  ein  Zerstörungsprodukt 
eines  solchen  aufzufassen. 

Setzen  wir  die  Kant-Laplaoesohe  Weltentstehungshypothese 
als  eine  Thatsache  voraus,  so  Iäfst  sioh  aus  dem  blofsen  Vorhanden- 


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338 


sein  des  6.  Jupitermondes  in  der  beobachteten  Entfernung  schließen, 
dafs  er  seit  seiner  Entstehung  sich  um  ein  beträchtliches  Stück  dem 
Hauptkörper  genähert  hat.  Es  ist  nämlich  unmöglich,  dafs  bei  der 
vorherrschenden  Schwerkraft  des  Hauptkörpers  in  dieser  Entfernung 
eine  Kondensirung  der  Materie  des  ursprünglichen  Ringes  zu  einem 
Satelliten  stattfinden  konnte,  der  nicht  im  stände  ist,  seine  Ober- 
flächentheile  aus  eigener  Kraft  festzuhalten. 

Es  existiren  bekanntlich  nooh  manche  anderen  Gründe,  welche 
eine  allmähliche  Annäherung  der  sekundären  Weltkörper  gegen  das 
Zentrum  ihres  Systems  hin  höchst  wahrscheinlich  machen.  Namentlich 
ist  es  der  überall  im  Weltenraume  vorhandene  Meteorstaub,  welcher, 
den  Bewegungen  der  Himmelskörper  einen  beständigen  Widerstand 
entgegeustellend,  sie  zum  langsamen  Fallen  gegen  die  Anziehungs- 
zentren hin  zwingt  Wenn  nun  diese  Voraussetzungen  richtig  sind, 
so  sieht  man,  wie  dieses  unscheinbarste  und  flüchtigste  Agens  im 
Weltgebäude  einer  der  hauptsächlichsten  Faktoren  für  die  Auflösungs-, 
die  Zerstörungstliätigkeit  der  Weltkörper  bildet  Er  führt  dieselben 
zunächst  bis  an  jene  Grenze,  von  weloher  ab  die  Anziehungskraft  des 
Hauptkörpers  beginnt,  Theile  von  ihrer  Oberfläche  abzulöson.  Hier 
setzt  die  Zerstörungsthätigkeit  ein,  und  in  den  meisten  Fällen  wird  wohl 
weit  bevor  der  Satellit  auf  seinen  Planeten  hätte  fallen  können,  seine 
Auflösung  zum  Ringe  vollständig  geworden  sein.  Alsdann  hätte  also 
der  Meteorstaub,  welcher  die  Ursache  dieser  Hemmung  und  folglich 
auch  jenes  verhängnisvollen  Falles  war,  den  Hauptkörper  doch  zu- 
gleich vor  der  entsetzlichen  Katastrophe  des  Niederstürzens  der  Satel- 
litenmasse als  ein  Ganzes,  bewahrt.  Nur  als  ganz  winzige  Bruch- 
stücke, Sternschnuppen,  Meteoriten,  stürzt  im  Laufe  von  ungezählten 
Jahrtausenden  die  Satellitenmasse  wieder  auf  ihren  Mutterkörper 
zurück. 

Unser  Mond,  auf  welchem  ein  Körper  in  der  ersten  Sekunde 
um  0,829  m fällt,  würde  beginnen  sioh  zu  einem  Ringe  aufzulösen  in 
2,43  Erdradien  Entfernung  vom  Erdmittelpunkte.  Es  ist  nicht  un- 
möglich, dafs  der  Schein  des  Zodiakallichtes  von  einem  Ringe  kleiner 
Meteoriten  herrührt,  welche  das  Zerstörungsprodukt  eines  kleineren, 
ehemals  vorhandenen  Erdmondes  sind. 

Es  mag  sohliefslich  auf  die  auffällige  Thatsache  hingewiesen 
werden,  dafs  alle  diejenigen  Satelliten  unseres  Planetensystems,  die 
sioh  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bereits  innerhalb  der  Zone  befinden, 
in  welcher  die  Auflösungsthätigkeit  der  Anziehungskraft  beginnt,  auf- 
fallend klein  sind,  woraus  zu  vermuthen,  dafs  eben  die  Auflösung 


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bereits  wesentlich  vorgeschritten  ist  Nur  der  bisher  sogenannte 
erste  Jupiter- Satellit  macht,  wenn  er  auch  der  kleinste  unter  den  vier 
alten  ist,  hiervon  eine  Ausnahme.  Es  ist  jedoch  zweifelhaft,  ob  die 
angenommene  Dichte  gleich  der  Hälfte  der  des  Jupiter,  der  Wirklich- 
keit entspricht;  sollte  er  noch  einmal  so  dicht,  also  eben  so  dicht  wie 
Jupiter  sein,  so  befindet  sich  der  Satellit  nooh  außerhalb  der  Zer- 
störungszone. 

Endlioh  geben  auch  die  Krater  unseres  Mondes  einen  Anhalts- 
punkt für  dio  Richtigkeit  der  hier  vorgetragenen  Ansicht.  Lösen  sich 
nämlich  wirklich  die  Satelliten  in  Staubringe  auf,  und  stürzen  aus 
diesen  allmählich  Bruohstüoke  auf  die  feste  Oberfläche  des  Haupt- 
körpers herab,  so  werden  durch  diesen  Aufsturz  Gebilde  entstehen, 
welche,  wie  das  Experiment  beweist,  den  Mondkratern  täuschend  ähn- 
lich sehen.  Der  Einwand,  welchen  man  gegen  die  ältere  meteo- 
rische Hypothese  über  die  Mondkraterbildung  erhob,  dafs  die  grofse 
Anzahl  der  betreffenden  Gebilde  auf  unserem  Satelliten  schwerlich 
von  jenen  sporadischen  Meteoriten  herrühren  könne,  wie  sie  gelegent- 
lich unserer  Erde  begegnen,  fällt  hier  weg.  Solche  Ringmeteoriten 
können  und  müssen  ja  in  den  meisten  Fällen  massenhaft  auftreten 
und  ganzo  Regenschauer  erzeugen,  wie  sie  gewisse  Gebiete  der  Mond- 
oberfläche zu  verrathen  scheinen.  Da  in  jüngster  Zeit  Herr  Dr.  Gilbert 
in  Washington  (Publications  of  the  Astronomical  Society  of  the  Pacific; 
vol.  IV.,  No.  26)  eine  ganz  ähnliche  Ansicht  über  die  Entstehung  der 
Mondkrater  aussprach,  erlaube  ich  mir  darauf  hinzuweisen,  dafs  ich 
in  vollständiger  Uebereinstimmung  mit  dem  genannten  Herrn  diese 
Ueberzeugung  bereits  in  meinem  populären  Bucho  „Die  Königin  des 
Tages“,  Seite  126  u.  f.  (Teschen  1886)  und  in  dem  in  der  Urania  viel- 
fach wiederholt  gehaltenen  Vortrage  „Von  der  Erde  bis  zum  Monde“ 
(Sammlung  populärer  Schriften,  herausgegeben  von  der  Gesellschaft 
Urania  No.  1 Seite  21  u.  f.)  ausgesprochen  habe. 

Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 

* 


Die  Entfernung  der  Fixsterne.  Die  Frage,  wie  weit  die  Sternchen, 
die  man  als  die  besonders  fest  an  den  Himmel  gehefteten  ansah,  von 
uns  entfernt  sind,  ist  bekanntlich  bis  in  unser  Jahrhundert  eine  offene 
gewesen.  Das  einzige  Mittel,  uns  darüber  ein  Urtheil  zu  verschaffen, 
liegt  in  dem  Studium  jener  geringen  Verschiebungen,  welche  die- 
selben scheinbar  erleiden,  während  die  Erde  ihre  jährliche  Bahn  um 


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340 


das  Tagesgestim  vollendet.  Ein  Bild  dieser  Bahn  ist  die  kleine 
Ellipse,  die  jedes  Sternchen  im  Laufe  des  Jahres  am  Himmel  be- 
schreibt. Mifst  man  besonders  in  den  Endpunkten  der  grofsen  Achse 
dieser  Bahn  sorgfältig  den  Abstand  des  Sterns  von  einigen  seiner 
Nachbarn,  die  man  praktisch  für  unendlich  ferne  Sterne  ansehen  kann, 
so  erhält  man  die  Länge  dor  grofsen  Achse  jener  Ellipse,  deren  Hälfte 
man  als  die  Parallaxe  des  Sternes  bezeichnet.  Diese  sorgfältigen 
Messungen  konnten  aber  erst  dann  mit  gehöriger  Genauigkeit  ausge- 
führt werden,  als  den  Astronomen  das  genaueste  Mefsinstrument  in 
die  Hände  geliefert  war.  Erst  einem  Bes  sei  gelang  es  mit  Hülfe 
des  Heliometers  die  Parallaxe  seines  Schwanenstemes  zu  eruiren. 
Freilich  hat  sich  neuerdings  herausgestellt,  dafs  auch  so  alte  Durch- 
gangsbeobachtungen,  wie  die  von  Molyneux  im  dritten  Jahrzehnt 
des  vorigen  Jahrhunderts  zu  Kew  in  England  angestellten,  bei 
welchen  sich  derselbe  eines  eigens  für  Parallaxen -Ermittelung  be- 
stimmten Instrumentes  bediente,  ihrem  Zwecke  angepafst  waren; 
wenigstens  hat  Auwers  für  den  Zenithstern  Druconis  aus  jenen 
Messungen  einen  Werth  der  Parallaxe  erhalten,  der  freilich  mit  einem 
mittleren  Fehler  von  einem  Zehntel  der  Bogensekunde  behaftet  war, 
während  schon  Bessels  erste  Parallaxen- Bestimmung  nur  einen 
solchen  von  einem  Fünfzigstel  der  Bogensokundo  ergab.  Um  die- 
selbe Zeit,  als  Bessel  seine  Heliometer- Beobachtungen  ausführte, 
hatte  Ilenderson  am  Kap  der  guten  Hoffnung  Parallaxen -Bestim- 
mungen versucht  und  für  den  Stein  a Centauri  eine  noch  geringere 
Entfernung  eruirt,  als  Bessel  für  seinen  Schwanenstern  erhielt 
Aber  diese  Erfolge  sowie  einige  spätere  waren  zu  vereinzelt,  um 
auf  den  Bau  des  Weltalls  irgend  einen  Schlufs  zu  gestatten. 

Das  systematische  Bestimmen  von  Fixstern-Entfernungen  hat  erst 
ganz  neuerdings  begonnen,  und  die  dabei  erreichten  Resultate  berech- 
tigen zu  kühnen  Erwartungen  für  die  Zukunft.  Im  wesentlichen  sind 
dabei  drei  Methoden  zur  Anwendung  gelangt.  Kapteyn  hat  gezeigt, 
dafs  jene  ältore  Methode  der  Beobachtung  von  Sterndurchgängen,  bei 
denen  die  Unterschiede  in  der  Position  zwischen  dem  fraglichen 
Sterne  und  bekannten  Nachbarsternen  besonders  in  den  äufsersten 
Punkten  jener  scheinbaren  elliptischen  Bahn  derselben  sich  ergaben, 
keineswegs  so  erfolglos  ist,  als  man  nach  den  Beobachtungen  vor 
Bessel  hätte  glauben  sollen.  Durch  zwei  Jahre  lang  (1885  bis  1887) 
fortgesetzte  Durchgangsbeobachtungen  am  Leydener  Meridiankreis 
hat  der  geschickte  Beobachter  die  Parallaxen  von  etwa  15  Sternen 
von  ganz  verschiedenen  Grofsen  und  sehr  verschiedenen  Eigen- 


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bewegungen  gefunden,  und  die  dabei  übrig  gebliebenen  mittleren  Fehler 
liegen  zwischen  dem  dreißigsten  und  dem  sechzehnten  Theil  einer 
Bogensekundu.  Die  grofse  Sicherheit,  die  ein  gut  geschulter  Be- 
obachter auch  mit  diesem  Verfahren  erreichen  kann,  ist  damit  gezeigt. 
Das  zweite  Verfahren  ist  das  Besselsche.  Elkin  hat  mit  dem 
Heliometer  von  New  Haven,  das  ihm  von  Merz  in  München  geliefert 
war,  alle  dort  sichtbaren  Sterne  erster  Gröfse  auf  ihre  Parallaxe  ge- 
prüft, und  die  noch  übrigen  südlichen  dieser  hellsten  Sterne  waren 
durch  Kap -Beobachtungen,  die  Elkin  vordem  in  Gemeinschaft  mit 
Gill  ausgeführt  hatte,  wohl  bekannt.  Die  Sicherheit  dieser  Messungen 
läfst  dieselben  kaum  um  ein  Dreifsigstel  der  Bogensekunde  fehlerhaft 
erscheinen.  Aber  die  beiden  oben  genannten  Methoden,  so  sicher  sie 
sind,  erfordern  eine  langwierige  Arbeit  für  jeden  einzelnen  Stern. 
Die  Messungen  sind  oft  zu  wiederholen,  weil  das  Auge  des  Beob- 
achters die  Lichteindrücke  eines  Sternes  nicht  fortwährend  genau  an 
derselben  Stelle  empfängt,  dieser  vielmehr  schon  wegen  der  Unruhe 
der  Luft  auf  der  Netzhaut  des  Auges  nicht  so  sicher  seine  Orte  auf- 
zeichnet, als  im  Interesse  so  feiner  Messungen  wünschenswerth  wäre. 
Hier  tritt  wieder  einmal  das  neue  Auge  des  Astronomen,  die  photo- 
graphische Platte,  in  ihr  Recht.  Die  verschiedenen  Lichteindrücke 
eines  Sternes  sammeln  sich  auf  dieser  zu  einem  Gesamtbilde,  dessen 
Mittelpunkt  bei  der  späteren  Ausmessung  der  Platte  sich  viel  leichter 
und  sicherer  aulfassen  läfst,  als  der  Lichtpunkt  bei  den  direkten 
Augenbeobachtungen. 

Die  photographische  Methode  ist  in  den  letzten  Jahren  in  Oxford 
von  dem  verdienten  Leiter  der  dortigen  Sternwarte,  dem  hochbetagten 
Prof.  Pritchard,  zu  einer  solchen  Vollkommenheit  ausgebildet  worden, 
dafs  es  ihm  gelungen  ist,  für  einige  dreifsig  Sterne  zweiter  Grosse, 
die  in  Oxford  sichtbar  sind,  die  Parallaxe  zu  eruiren  und  zwar  mit 
einer  nioht  viel  geringeren  Sicherheit,  als  sie  die  Heliometerbeobach- 
tungen erreichen  lassen.  Schon  der  erste  Versuch,  der  bereits  vor 
sechs  Jahren  mit  Bessels  Schwanenstern  angestellt  wurde,  hatte 
einen  schlagenden  Erfolg  gehabt.  Durch  Vergleich  mit  vier  Nach- 
barsternen war  hier  die  Parallaxe  mit  derselben  Sicherheit,  wie  sie 
Bes  sei  erreicht  hatte,  ermittelt  worden.  Bei  den  ferneren  Arbeiten 
erwies  es  sich  als  völlig  genügend  für  die  Genauigkeit,  wenn  nur 
Messungen  an  den  äussersten  Punkten  der  Bahnellipse,  also  um  zwei 
Zeitpunkte,  die  ein  halbes  Jahr  auseinanderlagen,  angestellt  wurden. 
Sollte  wirklich  diese  Methode  an  Genauigkeit  gegen  die  Heliometer- 
Messungen  zurückstehen,  so  ist  doch  ihr  Vortheil,  dafs  sie  in  viel 


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kürzerer  Zeit  eine  gröfsere  Anzahl  von  Sternen  auf  ihre  Entfernung 
prüfen  läfst,  zu  sehr  in  die  Augen  springend,  als  dafs  man  nicht  in 
ihr  die  Methode  der  Zukunft  erkennen  sollte.  Denn  viele  Sterne 
mufs  man  bezüglich  ihrer  Entfernungen  kennen,  um  über  die  Zu- 
sammensetzung des  Weltalls  eine  einigermafsen  haltbare  Ansicht  zu 
gewinnen.  Was  Elkins  und  Pritchards  Messungen  bisher  erkennen 
lassen,  das  hat  letzterer  neuerdings  zusammengestellt 

Nach  Elkins  Messungen  kommt  den  Sternen  erster  Grösse  eine 
mittlere  Parallaxe  von  0", 089  zu,  nach  Pritchards  photogramme- 
trischen  Bestimmungen  besitzen  diejenigen  der  zweiten  Gröfse  eine 
mittlere  Parallaxe  von  0",  056.  Hieraus  läfst  sich  freilich  leider 
kein  Schlufs  auf  ihre  mittlere  Entfernung  ziehen,  weil  in  jeder  der 
beiden  Klassen  Sterne  von  sehr,  sehr  grofsem  Abstande  von  dem 
Sonnensystem  Vorkommen.  (Merkwürdig  ist  immerhin,  dars  das  Ver- 
hältnifs  jenor  Zahlen  [1,6]  genau  dasjenige  ist,  welches  den  Ent- 
fernungen der  Sterne  zukommen  müsste,  wenn  man  annimmt,  dafs 
ihnen  allen  im  Durchschnitt  dieselbe  Lichtintensität  innewohnt.)  Der 
einzige  Schlufs  hieraus,  zu  dem  sich  Pritchard  berechtigt  glaubt, 
ist  der,  dafs  die  Sterne  erster  Gröfse  uns  im  Durchschnitte  näher 
liegen,  als  diejenigen  der  zweiten  Gröfse.  Ordnet  man  ferner  die 
durchgemessenen  Sterne  nach  der  Grösse  ihrer  scheinbaren  Eigen- 
bewegungen, so  erkennt  man,  dafs  durchschnittlich  die  entfernteren 
auch  eine  geringere  Eigenbewegung  besitzen,  und  das  hätte  man  aller- 
dings voraussetzen  dürfen.  Man  sieht  ein,  dafs,  wenn  auch  die  sichere 
Ausbeute,  die  in  Beziehung  auf  die  Erkenntnifs  des  Universums  aus 
den  Parallaxenbestimmungen  bisher  gewonnen  ist,  noch  recht  gering 
ist,  doch  die  Schritte,  die  in  der  durch  die  angezogenen  Messungen 
bestimmten  Richtung  fernerhin  zu  machen  sind,  uns  dem  bezeioh- 
neten  Ziele  näher  bringen  werden.  Man  wird  dann  auch  die  durch- 
messenen  Sterne  nach  ihrem  Spektralcharakter  anordnen  können,  und 
wir  hoffen,  dafs  sich  hieraus  wichtige  Aufschlüsse  über  den  Bau  de9 
Weltalls  ergeben  werden.  Sm. 

ä 

Der  Wärmeaustausch  an  der  Erdoberfläche  und  in  der  Atmosphäre. 

Unter  diesem  Titel  ist  kürzlich  in  den  Sitzungsberichten  der 
König!,  preufs.  Akademie  der  Wissenschaften  eine  Abhandlung  des 
Herrn  Prof,  von  Bezold  erschienen,  in  welcher  eines  der  wichtigsten 
Probleme  der  Thermodynamik,  nämlich  die  Verfolgung  der  von  der 


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343 


Sonne  gelieferten  Wärmemengen  von  ihrem  Eintritt  in  die  Atmosphäre 
bis  zu  ihrem  Austritt,  einer  ersten  Lösung  zugeführt  werden  soll. 
Ueber  die  Gesichtspunkte,  welche  bei  der  Untersuchung  dieser  perio- 
disch stationären  Vorgänge  maßgebend  sind,  hat  Herr  von  Bezold 
selbst  in  dieser  Zeitschrift  Mittheilimgen  gemacht,1)  auf  welche  zur 
Ergänzung  des  Folgenden  hier  verwiesen  sein  möge. 

Ein  kleiner  Ueberschlag  über  die  Wärmemengen,  welche  bei 
der  Erwärmung  von  Wasser  und  Land,  bei  der  Verdunstung,  Eis- 
schmelzung und  dergl.  verbraucht  werden,  zeigt  unter  anderem,  dafs 
für  die  Bestimmung  der  totalen  Energie  der  Atmosphäre  der  Gehalt 
an  Wasserdampf  mehr  als  bisher  beachtet  werden  mufs,  dafs  dagegen 
die  durch  die  Windbewegung  bedingte  aktuelle  Energie  für  die  meisten 
Zwecke  zu  vernachlässigen  ist.  Selbst  bei  Annahme  einer  mittleren 
Windgeschwindigkeit  der  ganzen  Atmosphäro  von  20  m.  p.  s.  würde 
die  plötzliche  Umwandlung  dieser  Bewegung  in  Wärme  eine  Tem- 
peraturerhöhung von  nur  0°.2  hervorbringen;  es  sind  diese  Energie- 
mengen verschwindend  klein  gegen  jene,  welche  bei  der  Aenderung 
des  Aggregatzustandes  des  Wassers,  insbesondere  bei  der  Verdunstung 
und  Kondensation  zum  Austausch  kommen.  Vergleicht  man  die  für 
diese  Zwecke  verbrauchte  Wärme  mit  den  Mengen,  welche  innerhalb 
einer  gewissen  Zeit  von  der  Sonne  geliefert  werden,  so  findet  man, 
dafs  unter  der  Voraussetzung  einer  mittleren  Niederschlagshöhe  der 
Erde  von  56  cm  und  des  Werthes  2 . 6 für  die  Solarkonstante  zur 
Verdunstung  dieser  Niederschlagsmenge  '/io  der  von  der  Sonne  ge- 
lieferten Wärme  nothwendig  ist  und  dafs  den  unteren  Schichten  der 
Atmosphäre  wenig  mehr  als  >/10  der  gesamten  Strahlung  zu  gute 
kommt.  Man  mufs  daraus  schlinfsen,  dafs  ein  viel  kleinerer  Bruch- 
theil  der  Gesamtstrahlung  zu  uns  gelangt,  als  nach  den  Messungen 
an  wolkenlosen  Tagen  angenommen  wurde;  eine  bedeutende  Wärme- 
menge wird  von  den  Wolken  absorbirt,  eine  noch  gröfsere  Menge  an 
der  oberen  Wolkengrenze  reflektirt  werden. 

Als  die  erste  der  speziellen  Untersuchungen  über  diesen  Gegen- 
stand wird  in  der  genannten  Arbeit  der  Wärmeaustausch  im  Erdboden 
behandelt.  Diese  Betrachtung  bietet  verhältnifsmäfsig  geringe  Schwierig- 
keiten, da  die  Energie  hier  nur  in  der  Form  von  thermometrisch 
mefsbarer  Wärme  auftritt,  sofern  man  von  den  Aenderungen  im 
Wassergehalte  des  Bodens  absieht.  Es  zeigt  sich  dabei,  dafs  man 
zur  Bestimmung  der  Energieänderungen  innerhalb  eines  gegebenen 


>)  Himmel  und  Erde,  V.  Jahrgang,  S.  7 ff. 


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Zeitraumes  von  der  Leitungsfähigkeit  des  Erdbodens  und  den  Strah- 
lungsverhältnissen der  Oberfläche  absehen  kann;  man  braucht  aufser 
der  Wärmekapazität  des  Bodens  nur  die  Aenderung  der  Mittel- 
tomperatur  desselben  von  der  Oberfläche  bis  zu  der  Tiefe,  in  welcher 
die  Schwankungen  unmerklich  werden  — also  bis  zu  mindestens 
6 m Tiefe  — zu  kennen.  Die  Temperaturänderungen  lassen  sich  sehr 
übersichtlich  veranschaulichen  durch  ein  graphisches  Verfahren,  bei 
welchem  die  Temperaturen  als  Ordinalen,  die  Tiefen  als  Abscissen  dar- 
gestellt sind.  Ganz  ähnlich  wie  in  der  Technik  bei  einer  Indikator- 
kurve die  geleistete  Arbeit,  hat  man  in  diesen  Kurven  — der  Verf. 
nennt  sie  Tautochronen  — ein  Mafs  für  die  aufgenommenen  bezw. 
abgegebenen  Wärmemengen.  Man  gelangt  dabei  zu  dem  überraschen- 
den Ergebnirs,  dafs  es  zur  Bestimmung  des  jährlichen  Wärmeaus- 
tausches genügt,  wenn  man  die  Teinperaturvertheilung  im  Erdboden 
zu  jenen  Zeiten  des  Jahres  kennt,  wo  die  Wärmeaufnahme  in  Abgabe 
übergeht  und  umgekehrt. 

Die  praktische  Anwendung  dieser  Untersuchung  wird  an  den 
Tautoohronen  für  München  und  für  Nukufs  am  Amu  Darja  gezeigt, 
indem  aus  dem  Verlaufe  dieser  Kurven  die  ausgetauschten  Wärme- 
mengen und  die  Höhe  der  Wasserschicht,  welche  diese  Mengen  zur 
Verdunstung  bringen  können,  berechnet  wird.  Es  ergiebt  sich,  dafs 
durch  die  ausgetauschte  Wärme  des  Erdbodens  in  München  kaum 
t/s«  des  jährlich  fallenden  Niederschlags  verdunstet  werden  kann  und 
selbst  in  Nukufs,  einem  der  regenärmsten  Gebiete  des  europäisoh- 
asiatischen  Kontinentes,  noch  nicht  die  Hälfte.  Es  spielt  also  der 
Wärmeaustausch  im  Erdboden  eine  verhältnifsmärsig  geringe  Rolle 
im  Wärmehaushalte  der  Atmosphäre;  immerhin  zeigt  aber  schon  diese 
kurze  Untersuchung,  einen  wie  viel  tiefem  Einblick  man  in  das 
Wesen  der  Sache  gewinnt,  sobald  man  an  die  Stelle  einer  rein 
statistischen  Betrachtung  der  Temperaturverhältnisse  eine  mehr  physi- 
kalische Diskussion  der  Energieänderungen  treten  läfst.  Sg. 


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Brester:  Theorie  du  soleiL  Aus  den  .Verhandelingen  der  Kon.  Akademie 
van  Wetenchappen  te  Amsterdam“.  Amsterdam  1892,  Joh.  Müller. 

In  der  vorliegenden  Schrift  veröffentlicht  Brester  eine  sorgfältig  bis 
ins  Einzelne  ausgearbeitete  Theorie  der  Sonne,  die  von  völlig  neuen  und  den 
jetzt  ziemlich  allgemein  angenommenen  Ansichten  direkt  entgegengesetzten 
Grundlagen  ausgeht.  Die  durch  die  Beobachtung  der  Protuberanzen  und  Flecken 
entstandene  Vorstellung,  dafs  auf  der  Oberfläche  des  SonneDballs  beständig 
sehr  lebhafte  Massenbewegungen  vor  sich  gehen,  hält  Brester  nämlich  für 
einen  fundamentalen  Irrthum.  Aus  der  rege lraafsi gen  Schichtung  der  ver- 
schiedenen chemischen  Elemente  nach  ihrer  Schwere  schliefst  Verf.  vielmehr, 
dafs  die  Sonne  ein  in  majestätischer  Ruhe  befindlicher  Feuerball  ist.  Die 
Flecken,  Fackeln  und  Protuberanzen  sollen  da  zur  Erscheinung  kommen,  wo 
vorher  dissociirte  oder  „überdissociirte“  Stoffe  sich  infolge  der  allmählichen  Ab- 
kühlung und  der  damit  verbundenen  Kondensation  trennender  Gase  plötzlich 
unter  Lichtentwicklung  verbinden  (Protuberanzen).  Die  bei  dieser  Vereinigung 
hervortretende  Wärme  (Eruption  de  chaleur)  führt  aber  zu  keiner  Temperatur- 
erhöhung, sondern  zu  einer  Vergasung  boroits  kondensirter  Stoffe,  so  dafs  an 
der  betreffenden  Stelle  eine  starke  Absorption  des  photosphärischen  Lichtes, 
also  ein  Fleck,  entsteht.  Die  Fackeln  endlich  hält  Brester  für  wellige  Auf- 
stauungen der  Photosphäre  oder  Chromosphäre  an  den  Rändern  der  Flecken. 
Die  riesigen,  scheinbaren  Bewegungen,  welche  wir  bei  den  Protuberanzen 
wahrnehmen,  wären  danach  durch  schnelle  Fortpflanzung  des  einmal  einge- 
leiteten Verbindungsvorganges  ohne  materielle  Bewegung  zu  erklären,  ähnlich 
wie  die  schnelle  Ausbreitung  der  Flamme  bei  einer  Explosion.  — Die  ungleiche 
Rotationsdauer  der  verschiedenen  heliographischen  Breiten  sucht  Brester 
durch  die  Annahme  zu  erklären,  dafs  zwar  die  Photosphäre  fast  genau  kugel- 
förmig, der  gasförmige  Sonnenkörpor  aber  sehr  stark  abgeplattet  sei  und  wie 
ein  fester  Körper  rotire.  Dadurch,  dafs  die  sich  bildenden  Kondensationen  in 
das  Niveau  der  Photosphäre  übergehon.  bewirken  sio  die  den  verschiedenen 
Zonen  der  Photospbäro  zukommende,  mit  der  Breite  veränderliche  Rotations- 
geschwindigkeit In  der  Breite  von  11°  stimmt  nach  Brester  die  Rotations- 
dauer der  Photosphäro  mit  dor  des  Gasballs  überein  und  darin  soll  die  Ursache 
für  das  Maximum  der  Fleckenbildung  in  dieser  Zone  liegen. 

Ohne  auf  eine  Kritik  von  Einzelheiten  uns  einzulassen,  müssen  wir  der 
mit  annerkennenswerther  Sorgfalt  durchgearbeiteten  Theorie  Bresters  die  auf 
spektralanalytischem  Wege  festgestellte  Realität  der  gewaltigen  Massenbewe- 
gungen auf  der  Sonne  entgogenhalten.  Gegenüber  den  Beobachtungen  der 
Linienverschiebung  in  den  Protuberanzen  vermag  der  Verfasser  seinen  Stand- 
punkt nur  dadurch  aufrecht  zu  erhalten,  dafs  er  an  dor  Richtigkeit  der  sich 
auf  das  Dopple rsche  Prinzip  stützenden  Schlüsse  zweifelt.  Unseres  Erachtens 
nach  ist  nun  aber  die  Anwendbarkeit  dos  Doppl ersehen  Prinzips  auf  Licht- 
wellen trotz  des  Mangels  eines  mathematischen  Beweises  durch  glänzende 
Erfabrungsbestätigungen  so  sicher  gestellt,  dafs  man  dieses  Prinzip  gewifs 


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nicht  um  einer  Hypothese  willen  wird  aufgeben  dürfen.  B re  ster  selbst  stützt 
«ich  an  anderer  Stelle  sogar  auf  das  Doppl ersehe  Prinzip,  da  er  die  Diskor- 
danz der  Ton  Dunör  und  Crew  an  Linienverschiebungen  gewonnenen  Resultate 
für  die  Sonnenrotation  durch  seine  Theorie  zu  erklären  sucht.  Sonach  scheint 
uns  der  eben  berührte  Punkt  der  Felsen  zu  sein,  an  welchem  die  Brestersche 
Theorie  ihrem  wesentlichen  Inhalte  nach  scheitert,  wofern  es  ihrem  Urheber 
nicht  gelingt,  experimentell  zu  beweisen,  dafs  Linienverschiebungen  auch  ent- 
stehen können,  wenn  sich  ein  mit  Lichtaussendung  verbundener  Vorgang  in 
ruhenden  Gasen  schnell  über  weite  Strecken  hin  ausbreitet  F.  Kbr. 

Annuaire  pour  l'an  1893,  publiö  par  le  bureau  des  longitudes.  Paris, 
Gauthier-Villars.  Prix  1,50  fr. 

Das  diesjährige  Pariser  Annuaire  enthält  neben  dem  vortrefflichen  astro- 
nomischen Kalender  und  den  stets  beigegebenen,  zahlreichen  praktischen 
Tabellen  aus  den  verschiedensten  Wissensgebieten  noch  Abhandlungen  von 
Janssen  über  das  Observatorium  auf  dem  Mont-Blanc,  sowie  über  die  Aero- 
nautik,  ferner  eine  ausführliche  Darstellung  der  Beziehungen  zwischen  elektro- 
statischen und  elektrodynamischen  Erscheinungen  aus  der  Feder  von  A.  Cornu, 
und  endlich  Nachrufe  für  Bonnet,  Mouchez  und  Perrier. 

Dr.  v.  Zech,  Aufgaben  aus  der  theoretischen  Mechanik  nebst  Auf- 
lösungen. Zweite  Auflage  unter  Mithilfe  von  Dr.  C.  Cranz.  Stuttgart 
1801.  J B.  Metzlerscher  Verlag.  Gr.  8°.  VIII  und  225  S.  Preis  4,20  M. 

Den  einzelnen  Abschnitten  dieser  reichhaltigen  und  verdienstlichen  Auf- 
gabensammlung sind  die  nothwendigaten  Erläuterungen  und  Grundformeln 
der  analytischen  Mechanik  vorangestellt,  um  den  Leser  auf  diejenigen  Hilfs- 
mittel hinzuweisen,  deren  er  zur  Lösung  der  nachfolgenden  Aufgaben  benöthigt. 
Während  aber  das  Endorgebnifs  häufig  schon  im  Anschluß  an  den  Text  der 
Aufgabe  selbst  Aufnahme  gefunden  hat,  ist  die  ausführlichere  Lösung  in  der 
Regel  erst  in  einem  Anhang  zu  dem  betreffenden  Kapitel  wiedergegeben;  Re- 
ferent glaubt  dies  als  einen  besonderen  Vorzug  der  Sammlung  hervorhebenzu 
sollen.  Da  dieselbe  sich  namentlich  an  diejenigen  wendet,  welche  sich  dem 
Studium  der  technischen  Wissenschaften  widmen,  so  ist  demzufolge  auch  die 
Mehrzahl  der  gebotenen  Aufgaben,  deren  Lösung  bei  einiger  Uebung  meist 
nicht  eben  besondere  Schwierigkeiten  bieten  wird,  mit  besonderer  Rücksicht 
hierauf  ausgewählt.  Besonders  erwähnt  sei  noch,  dafs  die  vorliegende  zweite 
Auflage  um  eine  Anzahl  von  Aufgaben  bereichert  worden  ist,  welche  in  den 
letzten  Jahren  in  Württemberg  beim  realistischen  Professorratsexamen  gestellt 
worden  sind;  auch  ein  kurzer  Abschnitt  über  die  wichtigsten  Elemente  der 
Graphostatik  (von  Dr.  Cranz)  hat  Aufnahme  gefunden.  Die  Nachrechnung 
einiger  weniger  Aufgaben  und  der  dazu  gegebenen  Lösungen  läfst  erwarten, 
dafs  nur  vereinzelt  ganz  unwesentliche  Versehen  stehen  geblieben  sein  dürften. 
An  verschiedenen  Stellen  möchte  allerdings  eine  etwas  weniger  knappe  Form 
des  Textes  erwünscht  erscheinen,  weil  dadurch  leicht  das  Verständnifs  der 
Aufgaben  erschwert  werden  kann.  G.  W. 

Carl  Heim,  Die  Einrichtung  elektrischer  Beleuchtungsanlagen 
mit  Gleichstrombetrieb.  Verlag  von  O.  Leiner,  Leipzig  1892.  Preis  8 M. 

Die  Verwendung  gleichgerichteter  Ströme  zur  elektrischen  Beleuchtung 
hat  sich  seit  etwa  zehn  Jahren,  eine  Zeit  lang  sogar  fast  allein,  entwickelt  und 
in  neuerer  Zeit  eine  immer  ausgedehntere  Verbreitung  gefunden.  Erst  neuer- 
dings tritt  der  Wechselstrom  mit  in  den  Wettbewerb,  und  deshalb  ist  seine 
technische  Durcharbeitung  bei  weitem  noch  nicht  auf  dem  Wege  eines  so  ruhigen 
Fortschrei tens,  wie  die  des  Gleichstroms.  Aus  diesem  Grunde  hat  der  Verfasser 


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sein  Thema  in  der  durch  den  Titel  seines  Werkes  ausgedrückten  Weise 
beschränkt. 

Zunächst  giobt  der  Verfasser  eine  kurze  physikalische  Einleitung.  Das 
Ohmsche  Gesetz,  die  elektrischen  Maafseinheiten,  die  Beziehungen  zwischen 
elektrischer  und  mechanischer  Arbeit,  das  Güteverhältnifs,  der  Spannungsver- 
lust, die  verschiedenen  Schaltungsarten  werden  kurz  besprochen.  Eine  voll- 
ständige Begründung  für  die  aufgestellten  Sätze  giebt  der  Verfasser  natürlich 
nicht;  wohl  aber  sind  ihre  gegenseitigen  Beziehungen  in  einfacher  und  ver- 
ständlicher Weise  dargelegt.  Der  erste  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  der 
Stromerzeugung;  es  werden  die  Hauptarten  von  Dynamomaschinen  kurz  be- 
sprochen, sowie  allgemeinere  Betrachtungen  über  Spann ungsverlauf  etc.  an- 
gestellt. (Nebenbei  bemerkt,  darf  an  den  Abscissen  der  Diagramme  des 
Spannungs Verlaufs  nicht  die  Bezeichnung  „Ohm“  stehen).  Es  folgen  Be- 
schreibung und  Angabe  der  Leistungsfähigkeit  der  von  den  bedeutendsten 
Firmen  hergestellten  Dynamos,  sowie  der  zugehörigen  Betriebsmaschinen.  Die 
folgenden  Kapitel  seien  nur  kurz  erwähnt  Kap.  II:  „Ueber  Aufspeicherung 
der  Arboit“  enthält  eine  treffliche  Darstellung  des  gegenwärtigen  Standes  der 
Akkumulatorentechnik.  Kap.  III  behandelt  die  elektrischen  Lampen,  Kap.  IV 
spricht  von  der  Leitung,  Schaltung  und  Regulirung,  Kap.  V von  Hülfsappa- 
raten  und  Mefsinstrumenten,  Kap.  VI  behandelt  den  Betrieb  und  die  Betriebs- 
störungen, Kap.  VII  die  besonderen  Einrichtungen,  welche  beim  Anschlufs  an 
eine  Zentrale  nothig  sind,  z.  B.  die  Elektrizitätszähler.  Das  letzte  Kapitel 
endlich  enthält  ausführliche  Angaben  über  Projektirung  und  Kostenberechnung 
einer  Beleuchtungsanlage. 

Es  ist  aus  dieser  Inhaltsangabe  wohl  ersichtlich,  dafs  der  Gegenstand 
nach  allen  Seiten  hin  gründlich  besprochen  worden  ist.  Da  das  Buch  zudem 
durchweg  eine  präzise,  anschauliche  und  einfache  Darstellung  aufweist,  dürfte 
es  sich  im  Kreise  der  Elektrotechniker  bald  einbürgern.  Wir  glauben  aber, 
dafs  es  auch  für  den  Physiker  interessant  und  lehrreich  ist,  einen  Gegenstand, 
den  er  in  der  Regel  nur  von  der  theoretischen  Seite  betrachtet,  hier  in  der 
allerkonkretesten  Form  behandelt  zu  sehen.  Bilden  z.  B.  die  praktisch  bo 
wichtigen  Untersuchungen  übor  die  Gröfse  der  scheinbaren  Verluste  an  Energie, 
oder  die  Preise,  die  man  für  ein  gewisses  Quantum  Energie  je  nach  den  be- 
sonderen Umständen  zu  zahlen  hat,  nicht  eine  lehrreiche  Nebenbetrachtung 
zu  dem  wichtigsten  physikalischen  Gesetze?  Sp. 

Wilh.  Kopeke,  Die  photographische  Retouche  in  ihrem  ganzen  Um- 
fange. I.  Theil:  Praktische  Anleitung  zum  Retouchiren.  II.  Theil: 
Die  zur  künstlerischen  Rotouche  nöthigen  Wissenschaften.  — Berlin 
1890— 91.  Verlag  von  Robert  Oppenheim  (Gustav  Schmidt). 

Der  erste  Theil  behandelt  auf  80  Seiten  8°  zunächst  die  verschiedenen 
Erfordernisse  einer  künstlerischen  Retouche,  giebt  sodann  eine  genügend  aus- 
führliche Anweisung,  sowohl  für  die  Negativretouche  als  für  das  Ueberarbeiten 
der  Kopieen,  die  je  nach  dor  besonderen  Beschaffenheit  des  verwendeten 
Materials  eine  verschiedenartige  Behandlung  beanspruchen,  und  schliefst  mit 
einem  Abschnitt,  in  welchem  das  kiintlerische  Uebermalen  von  Photographien 
als  ein  Zweig  der  Arbeit  des  Retoucheurs  dargestellt  ist.  Der  Verfasser  bietet 
eine  Reihe  von  praktischen  Winken,  durch  deren  Befolgung  dem  künstlerischen 
Eindruck  des  photographischen  Bildes  wesentlich  nachgeholfen  werden  kann, 
unterläfst  es  dabei  aber  nicht,  wiederholt  zu  betonen,  dafs  auch  die  Retouche 
eine  Kunst  ist,  dafs  mit  anderen  Worten  die  künstlerische  Auffassung  des 
Retoucheurs  wohl  ausgebildet,  aber  nicht  erlernt  werden  kann. 

Weniger  befriedigen  wird  der  zweite  Theil,  welcher  die  Perspektive, 


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die  ächattenlehre  und  endlich  die  Anatomie  des  menschlichen  Körpers  auf 
etwa  170  Seiten  abzuhandeln  sucht.  Manchem  werden  die  Darlegungen  des 
Verfassers  zu  lehrhaft  erscheinen,  namentlich  in  der  letzten  Halite,  wo  man 
vergeblich  eine  Bezugnahme  oder  einen  Hinweis  auf  die  Erfordernisse  der 
praktischen  Retouche  suchen  wird,  da  in  Wirklichkeit  nur  eine  schematisirendu 
Aufzählung  der  verschiedenen  Theile  des  menschlichen  Körpers  gegeben  ist, 
für  welche  mindestens  die  Beifügung  der  lateinischen  Bezeichnungen  entbehr- 
lich sein  dürfte.  Auch  der  Form  der  Darstellung  können  wir  nicht  in  jeder 
Beziehung  unseren  Beifall  zollen;  sie  hat  zweifellos  manchmal  auf  Kosten  der  an 
sich  erstrebenswerthen  Kürze  gelitten.  Vor  allem  aber  steht  zu  befürchten,  dafs 
der  Amateurphotograph,  welcher  sich  über  die  schwierige  Arbeit  des  Retoucheurs 
zu  belehren  sucht,  kaum  den  inneren  Zusammenhang  zwischen  den  beiden 
Theilen  des  Werkes  herausßnden  wird.  Aus  diesem  Grunde  erscheint  es  uns 
kaum  berechtigt,  den  zweiten  Theil  als  eine  Ergänzung  zum  ersten  zu  bezeichnen, 
wohingegen  er  als  selbständiges  Ganzes  wohl  bestehen  könnte.  G.  W. 

Hoernes,  M.,  Die  Urgeschichte  des  Menschen  nach  dem  heutigen 
Stande  der  Wissenschaft.  Wien,  Pest,  Leipzig,  A.  Hartleben’s 
Verlag  1892.  Preis  geh.  10  M. 

Wie  so  manche  Wissenschaft  in  den  letzten  Dezennien  einen  neuen, 
belebenden  Impuls  erhalten  hat,  so  auch  die  Lehre  vom  Menschen,  die  eine 
unerwartete  Fülle  von  Material  und  Ergebnissen  gerade  in  den  letzten  Jahren 
zeitigto.  Recht  deutlich  tritt  dies  bei  der  Urgeschichte  des  Menschen  zu  Tage: 
überall  entstanden  Museen  für  Alterthumskunde,  und  Vereine  oder  Gesellschaften 
bildeten  sich , um  neues  Material  herbeizusch affen  oder  früher  gefundenes  zu 
verarbeiten.  Hierbei  macht  sich  aber  dasBedürfnifs  nach  einem  für  gebildete 
Laien  bestimmten  Handbuch  geltend,  denn  das  einzige  Buch  dieser  Art,  im 
Jahre  1880  von  Friedrich  von  Hellwald  herausgegeben,  wurde  diesem 
Wunsche  nur  in  beschränktem  Mafse  gerecht.  Man  kann  daher  das  Erscheinen 
des  oben  angezeigten  Buches  nur  mit  Genugthuung  begrüfsen.  Es  umfafst 
einen  Zeitraum  von  der  „Urquelle  der  menschlichen  Kultur**  bis  in  die  Zeit 
der  Völkerwanderung,  schliefst  aber  im  allgemeinen  bei  jedem  Lande  da,  wo 
die  historische  Zeit,  wenn  man  so  sagen  darf,  beginnt.  Wie  es  ja  bei  einem 
österreichischen  Verfasser,  dem  noch  dazu  die  Schätze  des  Wiener  Museums 
zugänglich  waren,  naheliegt,  werden  Zentral-Europa  und  besonders  die  Alpen- 
länder sehr  ausführlich  behandelt,  aber  auch  der  übrige  Theil  Europas  kommt 
durchaus  zu  seinem  Rechte.  Dagegen  ist  die  Nichtberücksichtigung  oder  das 
doch  nur  gelegentliche  Heranziehen  aufsereuropäischer,  prähistorischer  Kultur- 
stätten ein  Mangel,  den  Roferent  gern  vermieden  gesehen  hätte.  So  fehlen 
die  Ergebnisse  der  Reisen  von  Charnay  in  Mittelamerika,  durch  welche  die 
geheimnifsvollen  Städte  in  Mexiko  undYnkatan  näher  bekannt  wurden,  ferner 
Berichte  über  die  riesigen  Erdbauten  der  Indianer  im  Gebiete  des  Mississippi, 
endlich  die  Erwähnung  der  ostasiatischen  Kultur.  Allerdings  mufs  dem  Ver- 
fasser zugegeben  werden,  dals  diese  Gebiete  noch  nicht  genügend  durchforscht 
sind,  um  ein  fertiges  Bild  hiervon  geben  zu  können,  auch  läfst  sich  über  den 
Umfang  der  Prähistorie  streiten. 

Immerhin  ist  das  reich  illustrirte  Buch  allen  Interessenten  durchaus  zu 
empfehlen;  sie  werden  darin  eine  Fülle  der  Belehrung  und  Anregung  finden, 
sodafs  vielleicht  durch  die  vom  vorliegenden  Werke  empfangene  Hinweisung 
manche  hochwichtigen  Funde  der  Vergessenheit  oder  Zerstörung  entrissen 
werden  könnten.  C.  Kafsner. 

Verlag  von  Hermann  Paetel  in  Merlin.  — Druck  von  Wilhelm  Öronau's  Uuchdruckerei  in  Berlin. 

Kür  dio  Rcdactlou  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 

Uebereetzungsrecht  Vorbehalten. 


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Die  Deutsche  Seewarte  in  Hamburg. 


Mafs  und  Messen. 

Eine  historische  Studie  von  Prof.  I*.  Yolkmanu 
in  Königsberg  i.  Pr. 

berühmter  englischer  Forscher  — - Maxwell  — hat  einmal1) 
gesagt,  dass  das  Symbol  des  ganzen  Systems  des  civilisirten 
Lebens  passend  durch  einen  Mafstab,  eine  Reihe  von  Ge- 
wichten und  eine  Uhr  dargestellt  werden  könnte.  Wenn  dieser  Aus- 
spruch auch  nicht  frei  von  Einseitigkeiten  ist,  so  trifft  er  doch  in  ge- 
wissem Sinne  zu.  Bei  den  wilden,  unkultivirten  Völkerstämmen  finden 
wir  keine  Mafse,  und  wieder,  wo  wir  in  der  Geschichto  der  Völker 
die  Anfänge  einer  Kultur  zu  verzeichnen  haben,  finden  wir  gleich- 
zeitig Angaben  über  räumliche  und  zeitliche  Entfernungen,  über  Ge- 
wichte, über  Raum-  und  Fliichen-Mafse. 

Versetzen  wir  uns  zunächst  auf  den  Standpunkt  der  Naturvölker: 
Die  Wiederkehr  von  Tag  und  Nacht,  der  Wechsel  dor  Jahres- 
zeiten drängen  sich  dom  Menschen  als  Zeitmafs  in  so  einschneidender 
Weise  auf,  dafs  wir  es  als  ganz  selbstverständlich  finden  müssen,  dals 
die  Zeitbestimmungen  aller  Völker  daran  anknüpfen. 

Andere  Mafse  für  Längen,  Flächen,  Räume  und  Gewichte  werden 
dem  unmittelbaren  Bedürfnifs  und  der  unmittelbaren  Anschauung  ent- 
sprungen sein.  Wie  so  häufig,  so  giebt  auch  hier  die  Sprache  selbst 
einigen  Aufschlufs  und  Stütze  für  naheliegende  Vermuthungen. 

Gröfsere  Entfernungen  wurden  nach  Tagereisen,  kleinere  nach 
der  Länge  der  Glieder  eines  erwachsenen  Menschen  gemessen.  Tage- 
reisen hatten  als  Mafs  den  Vorzug  der  Anschaulichkeit ; Schritt,  Fufs, 
Elle  den  Vorzug,  dafs  sie  überall,  wo  Längen  gemessen  wurden,  zur 
Verfügung  standen,  nämlich  in  der  Person  des  Messenden. 

*)  Maxwell,  Thoorio  der  Wärme,  deutsche  Ausgabe  von  F.  Neesen. 
Braunschweig  IS78,  S.  Sfi. 

Himmel  und  Erde.  1693.  V.  8,  24 


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350 


Für  Flächen  gab  ein  Areal,  welches  ein  Gespann  Ochsen  an 
einem  Tage  umpflügt,  ein  bequemes  FeMmafs.2)  Als  Rauinmafs  wurde 
ein  Flüssigkeitsquantum  genommen,  welches  zwei  Ochsen  auf  einem 
Wagen  zu  ziehen  vermochten  — von  der  verschiedenen  Schwere  der 
Flüssigkeiten  konnte  in  jenen  glücklichen  Zeiten  abgesehen  werden! 

Auch  neben  einander  gelegte  Feldfrüchte  und  Getreidekörner 
wurden  nachweislich  Längenmessungen  zu  Grunde  gelegt,  und  ebenso 
als  Gewichtsmafs  das  Gewicht  einer  bestimmten  Anzahl  Getreide- 
körner. 

Der  nächste  Schritt  der  Entwicklung  des  Marsbegriffes  bestand 
naturgemäfs  in  der  wirklichen,  materiellen  Herstellung  von  Mafsen; 
wir  finden  ihn  bei  den  alten  Kulturvölkern  ausgeführt. 

Es  kann  nicht  meine  Aufgabe  sein,  die  verschiedenen  Mafsein- 
heiten  aufzuzählen,  welche  sich  bei  den  Völkern  des  Alterthums  finden, 
ich  will  auch  nicht  versuchen,  dieselben  in  unseren  heutigen  Mafsen 
auszudrücken,  wozu  wir  in  Inschriften  und  Angaben  der  Schriftsteller 
in  Verbindung  mit  den  auf  uns  gekommenen  Münzen,  Bauten  und 
Denkmälern  die  Mittel  haben  — ich  denke  z.  B.  an  die  Pyramiden 
Aegyptens. 

Den  bestimmenden  Einflufs  auf  die  Mafse  des  Alterthums  müssen 
wir  nach  allem,  was  darüber  vorliegt,  den  alten  Babyloniern  zu- 
schreiben. Wir  verdanken  die  gründlichsten  diesbezüglichen  Unter- 
suchungen dom  Alterthumsforscher  A.  Böckh.3)  Man  hat  lange  nach 
einem  gemeinsamen  Bande  zwischen  der  grofsen  Mannigfaltigkeit  der 
Marse  des  Alterthums  gesucht,  und  ist  dabei  zu  keinen  allgemeinen 
Resultaten  gekommen,  weil  man  immer  von  den  Längenmarsen  als 
Grundmafs  ausging.  Böckh  hat  zuerst  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, dafs  sämtliche  Liingenmafse  des  Alterthums  sich  unter  einem 
überraschond  einfachen  Gesichtspunkt  ordnen,  wenn  man  von  einem 
gegebenen  Cubus  Wasser  als  Gewichtseinheit  ausgeht.  Die  ver- 
schiedenen Längenmaafse  des  Alterthums  lassen  sich  im  grofsen  und 
ganzen  als  die  Kantenlängen  von  Würfeln  darstellen,  deren  Raum- 
inhalt in  einem  ganz  einfachen  Zahlenverhältnifs  zu  jenem  Einheits- 
Cubus  stand.  Das  Nebeneinanderbestehen  des  Duodezimal-  und  De- 
zimal-Zahleusystems  gab  ein  verschiedenes  Eintheilungsprincip  und 
somit  Veranlassung  zu  einem  greiseren  und  kleineren  Mais,  wie  es 
sich  bei  den  verschiedenen  Völkern  des  Alterthums  findet. 

:)  Das  altrömische  „Jugerum“. 

s)  A.  Böckh.  Metrologische  Untersuchungen  über  Gewichte,  Münzfufse 
und  Mafse  des  Alterthums  in  ihrem  Zusammenhänge.  Beriin  1838. 


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351 


Fragt  man  nach  dem  Grunde,  wie  es  gekommen  sein  möchte, 
dafs  gerade  ein  Cubus  Wasser  den  Ausgangspunkt  für  die  Längen- 
mafse  und  Gewichte  bildete,  so  mag  darauf  hingewiesen  werden,  dafs 
bei  den  Babyloniern  und  Aegyptem  Mafs  und  Gewioht  von  der  stern- 
kundigen Priestersohaft  geregelt  wurde.  Zu  den  astronomischen  Be- 
obachtungen waren  einigermafsen  genaue  Zeitmessungen  erforderlich, 
und  diese  wurden  nach  uralter  Methode  durch  den  Ausflufs  von  Wasser 
aus  Gefäfsen  gemacht  Die  aufgefangenen  Wassermengen  wurden  aber 
nicht  allein  durch  Längenmessungen  der  Höhe,  bis  zu  der  das  Gefäfs 
gefüllt  war,  sondern  auch  durch  Wägungen  verglichen,  und  damit  sind 
dann  die  Gesichtspunkte  gegeben,  welche  für  das  alte  MafssyBtem 
bestimmend  gewesen  zu  sein  soheinen.  Es  sind  dieselben  .Gesichts- 
punkte, welche  wir  bei  unserem  heutigen  metrischen  System  wieder- 
finden. 

Ein  ausgebildetes  Mafssystem  hatte  für  Aegypten  eine  besondere 
Bedeutung,  wo  die  Abmessung  des  Landes  den  Wohlstand  mitbedingte. 
Die  alljährlich  wiederkehrenden  Ueberschwemmungen  des  Nil  machten 
alle  Felder  und  Marken  unkenntlich,  und  es  mufsten  jährlich  die 
Felder  neu  abgemessen  werden.  Darin  mag  die  Pflege  der  Geometrie 
für  Aegypten  ihren  Ursprung  gehabt  haben,  hat  man  doch  Aegypten 
die  Wiege  der  Geometrie  genannt.  Und  doch  dürfen  wir  uns  keine 
übertriebenen  Vorstellungen  von  der  Genauigkeit  der  Längen-  und 
Gewichtsmafse  bei  den  alten  Aegyptem  bilden,  schon  damals  galt, 
was  houte  noch  gilt: 

Die  mathematischen  Spekulationen  können  zu  bedeutenden  Re- 
sultaten führen,  ohne  dafs  damit  die  physikalischen  Kenntnisse  und 
technischen  Fertigkeiten  fortzuschreiten  brauchen.  Der  Mathematiker, 
auch  wenn  sein  Ausgangspunkt  ein  der  Wirklichkeit,  der  Natur  ent- 
nommenes Problem  ist,  entsagt  so  leicht,  nachdem  er  einmal  den  Stolz 
unabhängiger  und  von  jeder  objektiven  Wirklichkeit  freien  Spekulation 
gekostet  hat,  dieser  Wirklichkeit  und  fühlt  auch  nicht  das  Bedürfnifs, 
im  weiteren  Verlauf  darauf  zurückzukommen.  Die  wissenschaftliche 
Berechtigung  dieses  Standpunktes  soll  damit  natürlich  nicht  bestritten 
werden. 

Dieselbe  Bemerkung  wie  bei  den  Aegyptem,  können  wir  in  noch 
viel  höherem  Grade  bei  den  alten  Griechen  machen.  Das  hohe  An- 
sehen, in  dem  die  Pflege  der  Mathematik,  insbesondere  der  Geometrie, 
bei  den  Griechen  stand  — ich  erinnere  an  die  Inschrift4)  beim  Eintritt 


4)  Der  Spruch  o-iJti;  tiairiu  wird  gewöhnlich  als  pythagoreisch 

bezeichnet. 


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in  Platos  Akademie:  „Kein  der  Geometrie  Unkundiger  gehe  hinein“ 
— tritt  in  einen  ziemlich  scharfen  Gegensatz  zu  der  Geringschätzung, 
mit  der  die  Beschäftigung  mit  Mafs  und  Messen  behandelt  zu  werden 
pflegte;  war  es  doch  selbst  Socrates,  welcher  der  Astronomie  nur 
eine  Bedeutung  für  Nachtwächter  und  Seefahrer  abgewinnen  konnte.5) 

Mit  dem  Verfall  des  klassischen  Alterthums  ging  Hand  in  Hand 
der  Verfall  des  Mafssystems  der  alten  Kulturvölker.  Die  Herkunft 
und  Ableitung  der  verschiedenen  Mafse  wurde  vergessen,  das  römische 
Mafs  mit  grösserer  oder  geringerer  Abweichung  übernommen.  Normal- 
mafse  wurden  vielleicht  von  den  Behörden  einer  Stadt  aufbewahrt, 
aber  es  lag  bei  dem  Mangel  und  der  Schwierigkeit  der  Verkehrs- 
verhältnisse kein  Bedürfnifs  vor,  die  Mafse  verschiedener  Städte  in 
Uebereinstimmung  zu  erhalten;  es  führte  auch  keine  Unbequemlichkeiten 
mit  sich,  für  eine  Stadt  oder  für  einen  Landstrich  die  Mafse  zu  ändern. 
Wissenschaftliche  Fragen,  welche  genaue  Mafse  zur  Voraussetzung 
haben,  existirten  nicht. 

Als  nun  die  Verkehrsverhältnisse  sich  zu  bessern  anfingen,  und 
der  Handel  zunahm,  zeigten  sich  die  Unzuträglichkeiten,  welche  in 
einer  Verschiedenheit  und  Ungenauigkeit  der  Mafse  lagen;  wir 
brauchen  dabei  noch  gar  nicht  einmal  an  die  verschiedenen  Länder 
und  Staaten  zu  denken.  Schon  der  Verkehr  zwischen  benachbarten 
Städten  und  Landstrichen  förderte  diese  Unzuträglichkeiten  zu  Tage. 

So  kam  es,  dafs  während  des  Mittelalters  wiederholt  das  Be- 
dürfnifs und  der  Wunsch  nach  Einigung  der  Mafse  wenigstens 
innerhalb  eines  einzelnen  Landes  auftrat,  und  dafs  man,  um  diese 
Einigung  annehmbar  zu  machen,  immer  an  Objekte  anzuknüpfen 
suchte,  welche  der  jedem  zugänglichen  Natur,  der  Wirklichkeit  ent- 
nommen waren.  Die  anorganische  Welt  stand  dem  damaligen  Ge- 
dankenkreis zu  fern,  so  stellte  man  sich  wieder  auf  den  Standpunkt 
der  Naturvölker  und  knüpfte  an  die  organische  Welt  an;  nur  dass 
man  gleichzeitig  auch  an  die  materielle  Herstellung  ging,  die  dann 
dem  Objekt  entsprechend  recht  verschieden  und  ungenau  ausfiel. 

Die  verschiedensten  Festsetzungen  und  Bestimmungen  suchten 
theilweise  über  die  Verschiedenheiten  und  Ungenauigkeiten  der  Mafse 
hinwegzuhelfen.  Hatte  man  früher  in  England  das  Mafs  der  Elle  auf 
die  Länge  des  Armes  eines  erwachsenen  Menschen  gegründet,  so  be- 
stimmte Heinrich  I.  von  England  1101,  dafs  sie  die  Länge  seines 
Armes  bis  zur  Spitze  des  Mittelfingers  haben  solle.  In  der  Mitte  des 

Xenophon.  Memorabilien  IV.  7. 


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dreizehnten  Jahrhunderts  wurde  dann  weiter  in  England  die  auf  dem 
Gewicht  einer  Anzahl  Weizenkörner  begründete  Gewichtseinheit  dahin 
näher  prüzisirt,  dafe  dieselben  aus  der  Mitte  der  Aehre  genommen 
und  wohlgetrocknet  sein  sollten. 

In  Deutschland  wurde  im  sechzehnten  Jahrhundert,  um  den  ver- 
schiedenen Marsen,  welche  auf  die  Gröfse  des  menschlichen  Fufses 
basirt  waren,  ein  Ende  zu  machen,  vorgeschlagen :#)  rMan  solle  sech- 
zehn Mann  klein  und  grofs,  wie  sie  ungefähr  nacheinander  aus  der 
Kirche  gehen,  einen  jeden  vor  den  anderen  einen  Schuh  stellen  lassen, 
dicselbige  Länge  werde  und  solle  sein  ein  gerecht  gemein  Mefsruth, 
damit  man  das  Feld  mifsL“ 

Selbst  noch  im  achtzehnten  Jahrhundert  finden  sioh  Vorschläge 
für  Naturmafso  aus  der  organischen  Welt.  Die  Entfernung  der 
Pupillen  Erwachsener  und  die  Gröfse  der  Bienenzellen  wurden  ernst- 
lich in  Vorschlag  gebracht  unter  der  Voraussetzung,  dafs  es  unver- 
änderliche Gröfsen  wären. 


Die  Ursache,  warum  man,  wo  man  an  Naturmafse  dachte,  immer 
an  die  organische  Welt  anknüpfte,  die  doch  nur  verhältnifsmäfsig 
ungenaue  Messungen  zuläfst,  und  nicht  an  die  anorganische  Welt, 
lag  in  der  späten  Entwickelung  der  Physik,  der  Wissenschaft  von  den 
allgemeinen  Sätzen  der  anorganischen  Welt. 

Das  Alterthum  hatte  sich  nur  mit  den  Gleichgewichtszuständen 
erfolgreich  beschäftigt,  alle  Bewegungserscheinungen  wurden  organisch 
d.  h.  rein  menschlich  aufgefafst.  Warum  hört  der  Stein  auf  zu  fliegen, 
fragt  Plato,  und  er  antwortet  darauf,  weil  er  müde  wird.  Durch  diese 
und  ähnliche  Auffassungen  war  allen  Bewegungserscheinungen  das 
Fundament  einer  kausalen  Erforschung  entzogen,  und  doch  mufste 
jede  wissenschaftliche  Physik  gerade  an  die  Bewegungszustände  an- 
knüpfen. 

Aristoteles  spricht  zwar  von  dem  Fall  der  Körper,  aber  statt 
sich  durch  den  einfachen  Versuch  davon  zu  überzeugen,  dass  alle 
Körper  gleich  schnell  zur  Erde  fallen,  behauptet  er,  dass  die  Körper 
durch  den  gleichen  Raum  mit  einer  dem  Verhältnis  ihrer  Gröfse  ent- 
sprechenden grösseren  oder  geringeren  Geschwindigkeit  fallen.')  Das 

•)  Man  solle  den  Artikel  über  Mafs  in  Gehlere  physikalischem  Wörter- 
buch. Bd.  VI.  2.  Abtli.  Leipzig  1836.  S.  1255.  Dieser  Artikel  sowie  der  betref- 
fende Uber  Mafs  und  Messen  in  Karstens  Encyklopädie  der  Physik,  Leipzig 
1869,  ist  von  mir  vielfach  benutzt. 

:)  Aristoteles.  Physik  II  o.  8. 


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Mittelalter  staml  noch  vollständig  unter  dem  Banne  dieser  Vorstellungen- 
des  Alterthums,  erst  Galilei  unterwarf  Ende  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts die  BeweguDgszustände  einer  wissenschaftlichen  Behandlung 
und  wurde  dadurch  der  wahre  Begründer  der  Physik. 

Das  siebenzehnte  Jahrhundert  brachte  den  ersten  Vorschlag  eines 
den  allgemeinen  Naturgesetzen  entnommenen  Natnrmafses.  Es  war 
Huygens,  der  berühmte  holländische  Physiker,  der  Begründer  der 
Anschauungen,  welche  wir  noch  heute  von  dem  Wesen  des  Lichtes 
haben,  welcher  im  Anschluss  an  seine  Forschungen  über  das  Pendel 
vorschlug,  die  Länge  des  einfachen  Sekundenpendels  zur  Mafseinheit 
zu  wählen. 

Man  versteht  unter  einem  einfachen  Sekundenpcndel  ein  Pendel, 
welches  zu  einer  Schwingung  eine  Sekunde  Zeit  braucht,  und  welches 
aus  einem  Faden  besteht,  der  durch  eine  kleine  Masse  unter  Wirkung 
der  Schwere  gespannt  ist;  von  dem  Gewicht  des  Fadens  ist  dabei 
ebenso  wie  von  der  Ausdehnung  der  angehängten  Masse  abzusehen. 
Die  Länge  eines  solchen  Pendels  ist  eine  der  Beobachtung,  wenn  auch 
nicht  direkt,  so  doch  indirekt  zugängliche  Gröfse,  welche  mit  einer 
verhältnifsmäfsig  grofsen  Genauigkeit  angegeben  werden  kann. 

Zwar  setzte  Huygens  bei  seinem  Vorschlag  die  Unabhängigkeit 
der  Länge  des  einfachen  Sekundenpendels  von  dem  Beobachtungsort 
auf  der  Erdoberfläche  voraus,  oder  was  auf  dasselbe  hinauskam,  eine 
für  die  ganze  Erdoberfläche  konstante  Schwerkraft.  Sehr  bald  ergab 
sioh  nun  eine  Abhängigkeit  im  allgemeinen  von  der  geographischen 
Breite,  im  einzelnen  auch  von  den  Orten  desselben  Breitengrades; 
indefs  konnte  diese  Verschiedenheit  dem  Vorschlag  von  Huygens 
keinen  Abbruch  thun,  man  konnte  eben  die  Längeneinheit  definiren 
durch  die  Länge  des  einfachen  .Sekundenpendels  für  einen  bestimmten 
Erdort. 

Dieser  Vorschlag  von  Huygens  ist  denn  auch  am  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  ernstlich  in  Erwägung  gezogen,  als  es  sich  zu 
Zeiten  der  französischen  Revolution  um  die  materielle  Herstellung 
eines  konsequent  durchgeführten,  der  Natur  entnommenen  Mafssystems 
handelte.  Der  Vorschlag  hatte  den  Vorzug,  dafs  danach  wirklich 
leicht  und  genau  zu  jeder  Zeit  ein  Längenmafs  hergestellt  werden 
konnte;  aber  er  drang  nicht  durch,  weil  man  dagegen  anführte, 
dass  dabei  auf  die  Einheit  des  Zeitmarse?,  die  Sekunde  zurückgegangen 
würde,  die  Sekunde  aber  als  ein,  wenn  auch  erst  im  Laufe  der  Jahr- 
tausende, veränderliches  Mafs  anzusehen  wäre. 

Man  hoffte  ein  für  alle  Zeiten  unveränderliches  Längenmafs 


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schaffen  zu  können,  und  darum  sollte  die  Einheit  des  Längenmafses 
in  Beziehung  zu  den  Dimensionen  der  Erde  gesetzt  werden.  Durch 
eine  genaue  Gradmessung  zwischen  Formentera  und  Dünkirchen  sollte 
die  Länge  des  Erdquadranten  abgeleitet  und  der  zehnmillionste  Theil 
dieser  Länge  als  Längeneinheit,  als  Meter  proklamirt  werden. 

Stillschweigende  Voraussetzung  dabei  war,  dafs  die  Erde  eine 
Rotationsfigur  wäre,  für  welche  also  alle  Quadranten  dieselbe  Länge 
hätten.  Weitere  Gradmessungen,  welche  sehr  bald  nach  der  französi- 
schen Gradmessung  ausgeführt  wurden,  haben  die  Unrichtigkeit  dieser 
Voraussetzung  ergeben.  Nach  Bessel  ist  die  Länge  des  Erdquadranten 
im  Mittel  nicht  zehn  Millionen  Meter,  sondern  noch  565  Meter  mehr. 
Die  Definition  der  festgesetzten  Einheit  wäre  also  auf  den  Quadranten 
zu  beschränken  gewesen,  der  durch  Formentera  und  Dünkirchen  geht. 

Wägt  man  heute  die  Vortheile  der  Ableitung  der  Längen- 
einheit aus  der  Länge  des  Sekundenpendels  und  aus  der  Grösse 
des  Erdquadranten  gegeneinander  ab,  so  kann  wohl  kein  Zweifel  be- 
stehen, dafs  der  Vorschlag  von  Huygens  den  Vorzug  verdient.  Die 
Bestimmung  der  Länge  des  einfachen  Sekundenpendels  ist  eine  so 
ungleich  einfachere,  durch  einen  Beobachter  auszuführende  Operation, 
dafs  sie  in  gar  keinem  Verhältnis  steht  zu  den  Schwierigkeiten  einer 
Gradmessung,  welche  eine  gröfsere  Anzahl  von  Mitarbeitern  erfordert. 
Entsprechend  ist  die  Länge  des  einfachen  Sekundenpendels  einer  ge- 
naueren Bestimmung  fähig,  als  die  aus  der  Gröfse  des  Erdquadranten 
abgeleitete  Länge  des  Meters.  Der  damalige  offizielle  Hinweis,  dafö 
es  dem  Besitzer  eines  Gutes  ein  Vergnügen  sein  würde,  schnell  und 
leicht  sich  auszurechnen,  welcher  Bruchtheil  der  Erdoberfläche  ihm 
gehöre,6)  kann  wohl  überhaupt  nicht  ernstlich  in  Erwägung  gezogen 
werden. 

Die  bisher  für  die  Begründung  eines  Mafssystems  erwähnten 
und  der  anorganisohen  Welt  entnommenen  Mafse  haben  <las  Gemein- 
same, dafs  sie  sämtlich  auf  terrestrische  Verhältnisse  zurückgehen; 
damit  wirft  sich  von  selbst  die  Frage  auf,  ob  uns  diese  terrestrischen 
Verhältnisse  irgend  eine  Garantie  für  ihre  Unveränderlichkeit  bieten. 
Die  Forderung  unveränderlicher  Mafseinheiten  ist  eine  in  erster 
Linie  wissenschaftliche,  damit  Hand  in  Hand  geht  die  Entscheidung, 
welche  Stellung  wir  den  vorgeschlagenen  Naturmarsen  gegenüber  zu 
nehmen  haben. 

Die  Unveränderlichkeit  der  Sekunde  mittlerer  Sonnenzeit  knüpft 


*)  Vergl.  Dove.  lieber  Mals  und  Mcfsen.  Berlin  1834.  3.  7. 


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an  die  Unveränderlichkeit  der  Rotation  der  Erde  um  ihre  eigene  Aie 
und  um  die  Sonne.  Oegen  die  erste  sind  wir  eher  in  der  Lage  Gründe 
anzufiihren,  als  gegen  die  zweite. 

Wir  haben  mit  zwei  Momenten  zu  thun,  welche  die  Rotations- 
geschwindigkeit der  Erde  um  ihre  Axe  ändern.  Wir  haben  einmal 
die  säkulare  Abkühlung  der  Erde,  infolge  deren  eine  Verkleinerung, 
ein  Zusammenschrumpfen  der  Erde  stattfinden  mufs.  Nach  den  Grund- 
sätzen der  Mechanik  ist  damit  eine  Beschleunigung  der  Rotation  un- 
trennbar verbunden.  Wir  haben  auf  der  anderen  Seite  die  Reibung 
der  rotirenden  Erde  gegen  die  Fluthwellen,  welche  wir  uns  als  be- 
ständig dem  Monde  und  der  Sonne  zugekehrt  und  abgewandt  zu 
denken  haben.  In  dieser  Reibung  liegt  ein  verzögerndes  Moment  für 
die  Rotationsgeschwindigkeit  der  Erde. 

Es  ist  unzweifelhaft,  dafs  in  früheren  Phasen  der  Entwicklung 
der  Erde  das  beschleunigende  Moment  überwog,  und  dafs  wir  uns 
gegenwärtig  am  Ende  eines  Zeitabschnittes  befinden,  in  welchem  dem 
beschleunigenden  Moment  durch  das  verzögernde  das  Gleichgewicht 
gehalten  wird.  In  der  dritten  und  letzten  Epoche  der  Entwicklung 
der  Erde  wird  das  verzögernde  Moment  überwiegen.  Wir  gehen 
darin  einem  Zustand  entgegen,  in  dem  wir  schon  gegenwärtig  den 
Mond  sich  befinden  sehen,  der  uns  immer  dieselbe  Seite  zukehrt, 
dessen  Umlauf  um  die  Erde  also  zusammenfällt  mit  der  Umdrehung 
um  seine  Axe. 

Wenn  wir  noch  einen  Augenblick  der  Umlaufzeit  der  Erde  um 
die  Sonne  gedenken,  so  ist  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dafs 
durch  Meteore,  welohe  auf  die  Sonne  stürzen,  die  Masse  der  Sonne 
vermehrt  wird,  wodurch  eine  Verkürzung  der  Umlaufszeit  der  Erde 
um  die  Sonne  bedingt  sein  würde. 

Das  Resultat  von  Untersuchungen,  die  durch  solche  und  ähnliche 
Fragen  angeregt  sind,  ist  dahin  auszusprechen:  Die  Sekunde,  wie  sie 
uns  der  Astronom  aus  der  Umdrehung  der  Erde  um  ihre  Axe  und 
um  die  Sonne  berechnet  und  überliefert,  ist  zwar  während  unseres 
Lebens  und  erheblich  darüber  hinaus  eine  hinreichend  unveränder- 
liche Mafseinheit,  aber  für  ein  absolut  konstantes  Mafs  dürfen  wir 
sie  trotzdem  nicht  halten. 

Nicht  anders  steht  es  mit  den  Längen mafsen,  welohe  an  den 
Vorschlag  von  Huygens  und  die  bezüglichen  Mafsnahinen  der 
französischen  Revolution  anknüpfen.  Erwägen  wir,  dafs  infolge  der 
säkularen  Abkühlung  die  Erde  zusammenschrumpft,  so  haben  wir 
keine  Garantie,  weder  für  die  Unveränderlichkeit  der  Schwerkraft  an 


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irgend  einem  Ort  der  Erdoberfläche,  noch  für  die  Unveränderliohkeit 
der  Dimensionen  der  Erde,  also  z.  B.  des  Quadranten,  der  durch  Frank- 
reich geht. 

Wollen  wir  ein  für  alle  Zeit  unveränderliches  und  konstantes 
Mafs  der  anorganischen  Welt  entnehmen,  dann  dürfen  wir  nicht  an  ter- 
restrische Verhältnisse  anknüpfen,  wir  müssen  auf  allgemein  physika- 
lische Verhältnisse  oder  auf  Naturgesetze  zurückgehen,  zu  denen  wir 
dadurch,  dafs  sie  eine  grofse  Klasse  von  Erscheinungen  umfassen,  das 
Zutrauen  unbeschränkter  Gültigkeit  haben. 

Eine  Fülle  von  optischen  Erscheinungen  drängt  uns  dazu,  das 
Licht  als  eine  Wellenbewegung  im  Aether  aufzufassen.  Die  Analogie 
der  Farben  mit  den  Tönen  pflegt  in  populären  Aufsätzen  häufig  aus- 
geführt zu  wenien;  es  wird  genügen  hier  darauf  hinzuweisen. 

Die  Schwingungsdauer  bedingt  die  Farbe  des  Lichtes  und  ist 
eine  wenn  auch  nicht  direkt,  so  doch  indirekt  wohl  mefsbare  Oröfse;  sie 
zählt  nach  Billionen  Theilen  einer  Sekunde.  Alle  Gründe  sprechen 
dafür  in  dieser  Schwingungsdauer  irgend  eines  homogenen  Farben- 
lichtes eine  für  alle  Zeiten  und  alle  Orte  vollkommen  unveränderliche 
Grösse  zu  sehen.  So  hätten  wir  z.  B.  in  der  Schwingungsdauer  des 
N'atriumlichtes  ein  unveränderliches  Zeitmafs:  da  dasselbe  für  die 
meisten  Verhältnisse  zu  klein  wäre,  könnte  ein  beliebig  Vielfaches 
dieser  Grörse  als  Einheit  zu  Grunde  gelegt  worden. 

Dieses  Mafs  wäre  nicht  etwa  abhängig  von  unseren  Vorstel- 
lungen über  das  Wesen  des  Lichtes,  von  denen  wir  ausgingen,  es 
würde  seine  Bedeutung  behalten,  selbst  wenn  diese  Vorstellungen  auf- 
gegeben werden  müfsten;  denn  die  Messungen,  durch  welche  das 
Mafs  gewonnen  worden,  können  unmöglich  durch  Vorstellungen  eine 
Aenderung  erfahren. 

Ebenso  unabhängig  von  jeder  Vorstellung  ist  die  Gröfse,  welche 
wir  als  Geschwindigkeit  des  Lichtes  bezeichnen.  Wir  müssen  die- 
selbe im  Vakuum,  also  im  reinen  Aether,  als  eine  konstante  Gröfse 
ansehen,  und  sie  würde  uns  in  Verbindung  mit  der  Schwingungsdauer 
des  Natriumlichtes  ein  Mittel  geben,  für  Längen  eine  Mafseinheit  zu 
gewinnen.  Dafs  die  Geschwindigkeit  des  Liohtes  einen  sehr  hohen 
Werth  hat  — 42  000  Meilen  in  der  Sekunde  — ist  dabei  gleich- 
gültig. 

Andere  Mittel  zur  Aufstellung  unveränderlicher  Mafseinheiten 
bieten  uns  die  Naturgesetze.  Von  allen  Naturgesetzen  haben  wir 
wohl  das  gröfste  Zutrauen  zu  dem  Newtonschen;  es  ist  das  Gesetz, 


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welches  dem  Astronomen  den  Lauf  der  Planeten  und  Trabanten  im 
voraus  zu  berechnen  gestattet,  das  Gesetz,  welches  Leverrier  ge- 
stattete, den  Ort  eines  bis  dahin  noch  nicht  wahrgenommenen  Planeten 
zu  berechnen  — des  Neptun. 

Die  Rechnung  lehrt,  dafs  die  Umlaufszeit  eines  Trabanten,  der 
reibungslos  an  der  Oberfläche  eine  allenthalben  gleich  dichte  Wasser- 
kugel unter  Einwirkung  der  Newtonsohen  Gravitation  umkreist,  un- 
abhängig von  der  Oriifse  der  Kugel  in  circa  3*/3  Stunden  vor  sich 
gehen  würde.  Diese  für  alle  Zeiten  unveränderliche  Umlaufszeit  wäre 
geeignet  uns  ein  Zeitmafs  zu  liefern. 

Gingen  wir  weiter  von  irgend  einem  Längenmafs  aus,  dann 
könnte  uns  das  Newtonsche  Gesetz  eine  Massen-  oder  Gewichts-Ein- 
heit liefern,  welche  als  unveränderlich  und  stets  realisirbar  anzusehen 
sein  würde.  Wir  könnten  eine  Masseneinheit  als  diejenige  fostsetzen, 
welche  in  der  Einheit  der  Entfernung  eine  gleich  grofse  Masse  infolge 
der  Gravitation  in  der  Einheit  der  Zeit  um  irgend  einen  Bruohtheil 
nähern  oder  ihr  die  Einheit  der  Geschwindigkeit  ertheilen  würde. 

Um  eine  Anschauung  davon  zu  geben,  mit  was  für  Gröfsen Ver- 
hältnissen wir  es  hier  zu  thun  haben,  theile  ich  mit,  dafs  nach  dem 
Newtonsohen  Gesetz  sich  zwei  Ein-Kilograram-Stücke  bei  ein  Meter 
Entfernung  um  einen  Millimeter  in  1 Stunde  6 Minuten  nähern  würden ; 
oder  dafs  bei  Zugrundelegung  von  Centimeter  und  Sekunde  wir  in 
dem  Gewicht  von  circa  15  Millionen  Gramm  ein  Gewicht  hätten, 
welches  einem  gleich  grofsen  Gewicht  in  der  Sekunde  die  Geschwindig- 
keitseinheit ertheilen  würde  — die  Gewichte  in  Punkten  konzentrirt 
gedacht. 

Die  vorliegenden  Beispiele  werden  genügen  zu  zeigen,  in  welcher 
Weise  wir  in  der  Natur  Mafse  haben,  welche  wirklich  den  Stempel 
der  Unveränderlichkeit  in  Zeit  und  Kaum  an  sich  tragen.  Wenn  wir 
aber  daran  weiter  die  Frage  knüpfen,  ob  diese  der  Natur  entnommenen 
Mafse  der  Genauigkeit  entsprechen,  welche  wir  brauchen,  mit  der 
wir  messen  können,  müssen  wir  mit  einem  entschiedenen  Nein  ant- 
worten. 

Es  wird  nicht  überflüssig  sein,  an  dieser  Stelle  einige  Bemerkungen 
einzuschalten  zu  dem,  was  man  unter  Genauigkeit  einer  Messung  ver- 
steht, beziehungsweise  verstehen  mufs.  Der  Laie  staunt  in  der  Regel 
ebenso  die  grofsen  Zahlen  an,  zu  denen  astronomische  Messungen 
führen,  dafs  die  Entfernung  der  Sonne  von  der  Erde  20  Millionen 
Meilen  und  des  Mondes  von  der  Erde  60  Tausend  Meilen  ist,  wie  er 


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die  kleinen  Zahlen,  zu  denen  z.  B.  die  Optik  führt,  für  den  Superlativ 
von  Genauigkeit  hält. 

Der  Laie  läfst  sich  dabei  leiten  von  den  Messungen,  die  ihm  das 
gewöhnliche  Leben  veranschaulicht.  Angaben  von  Längen  bis  auf 
Millimeter  oder  von  Zeiten  bis  auf  Sekunden  oder  von  Gewichten  bis 
auf  Theile  eines  Grammes  haben  in  der  Regel  keinen  praktischen 
Zweck  mehr,  und  so  ist  man  denn  gar  zu  sehr  geneigt,  Angaben,  die 
bis  auf  Millimeter,  Sekunden  oder  Theile  eines  Grammes  gehen,  für 
genau  zu  halten.  Hand  in  Hand  damit  pflegt  die  Vorstellung  zu  gehen, 
dafs  grofse  Werthe,  wie  die  Entfernung  der  Sonne  von  der  Erde  bis 
auf  Längen  bekannt  sein  müfsten,  wie  sie  durch  terrestrische  Verhält- 
nisse gegeben  sind;  und  das  Vertrauen  auf  die  Sicherheit  astro- 
nomischer Messungen  pflegt  einen  Stofs  zu  bekommen,  wenn  darauf 
hingewiesen  wird,  dafs  die  mittlere  Entfernung  der  Sonne  von  der 
Erde  vielleicht  um  200  Tausend  Meilen  zu  grofs  gerechnet  sei. 

Die  Genauigkeit  einer  Messung  bemisst  sich  nie  nach  der  abso- 
luten Gröfse  des  Werthes.  sondern  stets  nach  dem  Verhältnis  der 
Genauigkeitsgrenze  einer  Messung  zum  Gesamtwerth  der  Messung. 
Wir  müssen  uns  des  Ausdrucks  bedienen,  eine  Messung  ist  bis  auf 
den  so  und  sovielsten  Theil  des  Gesamtwerthes  richtig.  Wenn  wir  in 
einem  Laden  drei  Meter  Tuch  kaufen,  dann  wird  es  uns  nicht  darauf 
ankommen,  ob  der  Kaufmann  uns  einen  Centimeter  mehr  oder  weniger 
giebt;  wir  werden  nur  eine  Genauigkeit  von  t/3««  in  der  Messung  ver- 
langen; das  ist  ein  anderer  Ausdruck  für  dieselbe  Sache.  Ganz  ebenso 
haben  wir  die  Genauigkeit  von  Angaben  zu  beurtheilen,  die  uns  auf 
fremden  Gebieten  entgegentreten. 

In  keiner  Wissenschaft,  die  sich  mit  einer  äufseren  Wirklichkeit 
entnommenen  Objekten  abgiebt  — ich  schliefse  damit  die  reine  Mathe- 
matik aus  — ist  das  Streben  nach  genauen  Angaben  so  weit  ausge- 
bildet, wie  in  der  Physik  und  Astronomie.  Ist  es  richtig,  dafs  die  Ent- 
fernung der  Sonne  von  der  Erde  um  200  Tausend  Meilen  zweifelhaft 
ist,  dann  ist  die  Genauigkeit  der  Kenntnifs  dieser  Entfornung  '/ioo- 
Wir  werden  analog  die  Genauigkeit,  mit  der  uns  bis  jetzt  die  Licht- 
geschwindigkeit bekannt  ist,  '/soo  setzen,  von  gleicher  Ordnung  die 
Genauigkeit,  mit  der  uns  die  Schwingungsdauer  des  Natriumlichtes 
bekannt  ist. 

Der  Fernstehende  wird  erstaunt  sein,  wenn  er  von  der  verhält- 
nifsmäfsig  geringen  Genauigkeit  hört,  welche  für  einige  dor  Natur  ent- 
nommenen Zahlenwerthe  nur  beansprucht  werden  darf,  und  wird  die 
Frage  aufwerfen,  wie  es  kommt,  dafs  die  Genauigkeit  mit  einem  so 


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grofsen  Aufwand  von  Zeit  und  Kraft  erhaltener  Werthe  so  sehr 
zurücksteht  z.  B.  hinter  einfachen  Lüngenmessungen,  wie  wir  solche 
mit  einem  Marsstab  ausführen. 

Der  Grund  liegt,  um  mich  kurz  auszudrücken,  darin,  dafs  wir  in. 
dem  einen  Fall  unter  sehr  günstigen,  im  andern  Fall  unter  sehr  un- 
günstigen Bedingungen  eine  Messung  ausführen.  Man  wird  zwischen 
direkten  und  indirekten  Messungen  unterscheiden  kennen.  Es  liegt 
auf  der  Hand,  dafs  direkte  Messungen  in  der  Regel  einer  viel  gröfseren 
Genauigkeit  zugänglich  sind,  wo  wir  z.  B.  Längen  durch  direktes 
Heranhalten  eines  Mafsstabes  messen,  als  indirekte,  wo  wir  z.  B.  bei 
der  Entfernung  der  Sonne  von  der  Erde  auf  das  direkte  Anlegen  eines 
Mafsstabes  verzichten  müssen  und  auf  die  Messung  kleiner  Winkel 
angewiesen  sind,  wo  jeder  Fehler  in  Bruchtheilen  einer  Bogensekuude 
bereits  einen  Unterschied  von  Tausenden  von  Meilen  bedingt. 

Mit  solchen  indirekten  Messungen  haben  wir  es  aber  in  allen 
Fällen  der  Natur  zu  thun,  welche  wir  erwähnt  haben,  um  daraus 
Mafse  zu  gewinnen,  welche  für  alle  Zeiten  und  Orte  als  unveränder- 
lich zu  betrachten  sein  sollen.  Was  hilft  uns  die  Ueberzeugung  von 
der  unveränderlichen  Entnahme  von  Mafsen  aus  der  Natur,  wenn  wir 
diese  Mafse  nur  in  einem  so  ungenauen  Grade  hersteilen  können, 
dafs  derselbe  weit  hinter  der  Genauigkeit  zurücksteht,  mit  der  direkte 
Messungen  ausgeführt  werden  können.  Der  zu  erhoffende  Fortschritt 
der  Wissenschaft  wird  diesem  Uebelstande  nicht  abhelfen  können, 
denn  in  demselben  Grade,  in  dem  eine  genauere  Darstellung  von 
Naturmafsen  sich  al6  möglich  erweisen  wird,  in  demselben  Grade  wird 
auch  die  Genauigkeitsgrenze  direkter  Messungen  erweitert  sein. 

Hierin  liegt  der  Grund,  weshalb  man  von  einer  praktischen  Ver- 
wendung dieser  Naturmafse  stets  abgesehen  hat  und  noch  weiter 
absehen  wird.  Mit  einer  gewissen  Ironie  schlägt  Maxwell  solche 
der  Natur  entnommenen  Mafseinheiten  denen  vor,9)  welche  ihren 
Schriften  eine  gröfsere  Lebensdauer  zusprechen  möchten  als  unserem 
Planeten. 

Aber  vielleicht  genügen  die  den  terrestrischen  Verhältnissen  ent- 
nommenen Mafse,  wie  sie  dem  metrischen  System  zu  Grunde  liegen, 
unseren  Ansprüchen  der  Genauigkeit  wenigstens  für  einige  Jahr- 
hunderte. Wenn  die  Sekunde  schon  seit  Jahrtausenden  als  Zeitmafs 
allen  Ansprüchen  der  Genauigkeit  genügt  hat,  dann  wird  es  vielleicht 
auch  das  Meter  als  der  10  Millionste  Theil  des  Erdquadranten  thun? 
Wir  werden  auch  diese  Frage  mit  Nein  beantworten  müssen. 

’)  Maxwell,  Electricity  and  Magnotism.  Vol.  I.  pajj.  3.  Oxford. 


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361 


Es  lässt  sich  weder  das  Meter  ans  Gradmessungen  so  genau 
ableiten,  als  wir  Meter  unter  einander  vergleichen  können,  noch  lälst 
sich  das  Kilogramm  als  das  Gewicht  eines  Liters  Wasser  bei  4°  Celsius 
so  genau  hersteilen,  als  Kilogramme  unter  einander  verglichen  werden 
können.  Wir  wissen  heute  z.  R,  dafs  das  Gewicht  des  ursprünglich 
nach  der  Definition  hergestellten  Kilogramms  17  Milligramm  zu  schwer 
ausgefallen  ist.  Dazu  kommt,  dafs  die  Genauigkeit,  mit  der  Gewichte 
unter  einander  verglichen  werden  können,  bei  weitem  die  Genauigkeit 
übersteigt  mit  der  Längen  unter  einander  verglichen  werden  können. 
Kilogramme  können  bei  den  heutigen  Hülfsmitteln  genauer  als  Vtoooooo 
ihres  Werthes  verglichen  werden. 

Wollte  man  heute  die  Grundlage  des  metrischen  Systems  bis  zu 
ihrer  äufsersten  Konsequenz  beibehalten,  so  würde  jeder  Fortschritt 
der  Mefskunst  eine  Aenderung  der  Etalons  mit  sich  bringen,  und 
wenn  diese  Aenderungen  auch  nicht  sehr  bedeutend  sind,  würden  sie 
hinreichen,  eine  Verwirrung  in  wissenschaftlichen  Mafsangabon  her- 
vorzurufen, die  durch  die  Einführung  des  metrischen  Systems  ver- 
mieden werden  sollte. 

Man  hat  daher  die  frühere  Grundlage  des  metrischen  Systems 
aufgegeben.  Unser  Meter  deflniren  wir  heute  nicht  mehr  als  den  zehn- 
millionsten Theil  des  Erdquadranten,  es  ist  die  Länge  des  in  zahl- 
losen Kopien  vorhandenen  und  in  Paris  auf  bewahrten  Normal -Meter- 
stabes. Ebensowenig  deflniren  wir  heute  ein  Kilogramm  als  das 
Gewicht  von  1 Liter  Wasser  bei  4°  Celsius,  sondern  als  das  Gewicht  des 
in  zahllosen  Kopien  vorhandenen  und  in  Paris  aufbewahrten  Normal- 
Kilogrammes.  Damit  sind  selbstverständlich  die  näherungsweisen 
Beziehungen  des  Meters  zu  den  Dimensionen  der  Erde  und  des  Kilo- 
gramms zu  dem  Gewicht  eines  Liters  Wasser  nicht  aufgegeben. 

Es  mag  mancher  sich  eines  Gefühls  der  Verwunderung  nicht 
erwehren  können,  dafs  das  anfänglich  so  gepriesene  Metersystem  zu 
diesen  Konsequenzen  geführt  hat,  und  man  könnte  die  Frage  auf- 
werfen, warum  wir  in  Deutschland  trotzdem  das  Motersystem  einge- 
führt, und  dies,  nachdem  Bessel  das  altpreufsische  Mafssystem  in 
einer  Weise  reorganisirt  hatte,  welche  an  Genauigkeit  nichts  zu 
wünschen  übrig  liess.  Es  hat  denn  auch  nicht  an  Männern  gefehlt, 
welche  sich  gegen  das  metrische  System  ausgesprochen  haben,  und 
unter  diesen  zählte  als  der  ersten  einer  Bessel.10) 

*•)  F.  W.  Bessel.  Ueber  Mafs  und  Gewicht  im  allgemeinen  und  da» 
Preufsische  Längenmats  im  besondern.  Populäre  Vorlesungen  über  wissen- 
schaftliche Gegenstände,  herausgeg.  von  Schumacher.  Hamburg  IS43.  S. ‘Jiri. 


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362 


Erst  seit  der  Einigung  der  deutschen  Staaten  1866  datirt  die 
Stimmung  für  das  metrische  System  in  Deutschland,  welche  dann  bald 
nach  dem  französischen  Kriege  zur  Einführung  desselben  geführt  hat. 
Mafsgebend  war  das  Streben  nach  Einigung  der  Längen  und  Gewichts- 
mafse,  von  denen  es  fast  so  viele  gab,  als  deutsche  Staaten  existirten. 
Mufsgebend  war  ferner  das  Streben,  die  Eintheilung  der  Mafseinheiten 
in  direkte  Beziehung  zu  dem  herrschenden  Dezimalsystem  zu  setzen. 
Nicht  zu  unterschätzen  ist  auch  der  für  die  Einführung  des  metrischen 
Systems  günstige  Umstand,  dass  gerade  Frankreich  in  der  ersten 
Hälfte  dieses  Jahrhunderts  sich  einer  Blüthe  der  physikalischen 
Forschung  erfreute,  welche  sich  stets  des  metrischen  Systems  be- 
diente, und  dafs  der  näherungsweise  einfache  Zusammenhang  der 
Gewichte  und  Längenmaafse  des  metrischen  Systems  manch  unnützes 
Rechnen  und  Kopfzerbrechen  spart. 

So  hat  man  denn  auch  in  diesen  Vorzügen  eine  Gewähr  er- 
blicken zu  können  gemeint,  dafs  mit  der  Zeit  weitere  Nationen,  vor  allem 
England  und  Amerika  sich  diesem  System  anschlicfsen  würden.  Bis 
auf  den  heutigen  Tag  ist  diese  Hoffnung  allerdings  nicht  erfüllt,  wenn 
auch  Autoritäten  wie  Sir  W.  Thomson  sich  wiederholt  über  die  Un- 
zweckmäfsigkeit  des  britischen  Mafssystems  ausgesprochen  haben.11) 

Werfen  wir  einen  Rückblick  auf  die  Entwicklung  des  Mafs-  und 
Messwesens,  so  haben  wir  zugleich  damit  ein  Stück  Kulturgeschichte 
entrollt.  Unübersehbar  sind  die  Mafse,  welche  bisher  dem  Handel 
und  Verkehr  sowie  der  Wissenschaft  gedient  haben;  Willkür  und 
Laune  der  Menschen  schuf  sie,  ebenso  wie  Willkür  und  Laune  oder 
nennen  wir  es  Gewohnheit,  die  Temperatur  nach  Reaumur,  Celsius 
und  Fahrenheit  rechnet. 

Es  schien  das  Bestreben  ganz  berechtigt,  der  Natur  Mafse  zu 
entnehmen,  um  der  Willkür  vorzubeugen,  Mafse,  welche  uns  die 
aufsere  Wirklichkeit  womöglich  in  derselben  Weise  aufdrängt,  wie  ja 
thatsüchlich  die  Tages-  und  Jahreseintheilung  uns  aufgedrängt  ist 
Aber  eine  nähere  Untersuchung  führte  uns,  wie  in  so  vielen  Dingen, 
zu  einer  alten  Weisheit  — hier  war  es  die  Weisheit  der  Sophisten, 
dars  der  Mensch  das  Mafs  aller  Dinge  sei.  Somit  blieb  nichts  anderes 
übrig,  als  bei  willkürlicher  Festsetzung  nach  Einigung  und  einheit- 
lichen Mafsen  zu  streben. 

'•)  Man  sehe  Sir  W.  Thomson.  Populäre  Vorträge  und  Reden,  deutsche 
Ausgabe  Bd.  I.  Berlin  1891.  S.  280.  Anmerkung  in  dem  Vortrag  über  die 
Wärmo  der  Sonne. 


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363 


Wie  so  häufig'  die  Entwicklung  der  Dinge  keinen  direkten  Ver- 
lauf nimmt,  sondern  grofse  Umwege  macht,  so  auch  die  Entwicklung 
des  Mafswesens.  Aber  doch  pflegen  alle  Umwege  der  menschlichen 
Wissenschaft  zu  gute  zu  kommen. 

Der  Entwicklung  des  Mafswesens  parallel  lief  die  Entwicklung 
des  Genauigkeitsbegriffes.  Ich  habe  Veranlassung  genommen  davor 
zu  warnen,  die  Genauigkeit  der  Resultate  der  Wissenschaft  zu  über- 
schätzen. Ich  möchte  hinzufügen,  was  damit  zusammenhängt,  dafs 
der  Sinn  für  Genauigkeit  in  der  heutigen  Bildung  noch  wenig  ent- 
wickelt ist,  dafs  man  Zahlenangaben  in  der  Regel  scheinbar  weit 
genauer  aulgeführt  findet,  als  es  den  thatsächlichen  Verhältnissen 
entspricht. 

Diesem  Mangel  mag  Vorschub  geleistet  werden  dui'ch  die  Art 
und  Weise,  wie  das  Zifferrechnen  in  den  höheren  Lehranstalten  be- 
trieben wird.  Es  mag  heute  anders  sein,  aber  zu  meiner  Schulzeit 
wurde  mit  der  Genauigkeit  im  Zifferrechnen  auf  Kosten  von  Zeit  und 
Kraft  ein-  übertriebenes  Spiel  getrieben,  welches  in  keiner  Beziehung 
zur  äusseren  Wirklichkeit  stand. 

Den  der  äufsoren  Wirklichkeit  entsprechenden  Zahlen-Begriff 
und  den  Begriff  für  Genauigkeit  der  Angaben  eines  Zahlenwerthes  in 
Ziffern  auszubilden,  ist  nicht  die  reine  Mathematik  berufen,  die  ja  über- 
haupt mit  Zifferrechnen  so  gut  wie  nichts  zu  thun  hat,  sondern  insbe- 
sondere die  in  Physik  und  Astronomie  angewandte  Mathematik.  Das 
Zifferrechnen  mufs  Hand  in  Hand  gehen  mit  der  Anschauung  in  der 
Wirklichkeit  gegebener  Verhältnisse  und  mit  der  Ausbildung  eines 
der  Wirklichkeit  entsprechenden  Genauigkeitsbegriffes. 

Soweit  die  Angabe  von  Genauigkeitsgrenzen  möglich  ist,  soweit 
dürfen  die  Naturwissenschaften  die  Bezeichnung  exakt  in  Anspruch 
nehmen.  Die  Resultate  einer  exakten  Wissenschaft  lassen  sich  durch 
Angabe  der  Genauigkeitsgrenzen  in  eine  Form  bringen,  die  heute  wie 
nach  Jahrhunderten  gelten  wird.  Sohen  wir  von  dem  Auftreten  neuer 
Erscheinungsgebiete  ab,  so  ist  der  weitere  Fortschritt  überhaupt  in 
der  Erweiterung  der  Genauigkeitsgrenzen  zu  suchen. 

Man  spricht  so  häufig  den  Naturwissenschaften  einen  tieferen 
Bildungswerth  insbesondere  für  die  Jugend  ab,  indem  man  darauf 
hinweist,  dafs  es  den  Naturwissenschaften  z.  B.  völlig  an  ethischen 
Momenten  gebricht,  denen  für  die  Erziehung  zum  Menschen  doch  eine 
sehr  wesentliche  Rolle  eingeräumt  werden  mufs.  Das  in  dem  vor- 
liegenden Aufsatz  behandelte  Thema  giebt  mir  die  Veranlassung, 


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364 


darauf  hinzuweisen,  dafs  z.  B.  die  Begriffe  des  Mafses  und  der  Ge- 
nauigkeit eines  sittlichen  Inhalts  durchaus  nicht  entbehren. 

Ueberall  im  Leben  bedürfen  wir  des  Mafses,  zumal  in  dem  Ver- 
hältnifs  zur  Welt  und  zu  unseren  Mitmenschen.  Täglich  müssen  wir 
in  unserem  vielgeschäftigen,  bewegten  Leben  Stellung  einnehmen  zu 
Menschen  und  Dingen,  die  uns  mehr  oder  weniger  nahe  stehen.  Zum 
wahren  Glück  des  Lebens  gehört  nicht  zum  mindesten  das  Mafs,  was 
wir  an  unser  eigenes  Ich,  unsere  eigenen  Fälligkeiten  gegenüber 
anderen  legen. 

Die  Geistes  Wissenschaften,  welchen  infolge  Bevorzugung  rein 
menschlicher  Gesichtspunkte  die  Superiorität  in  Fragen  der  Bildung 
zugesprochen  zu  werden  pflegt,  entbehren  leicht  eines  Mafssta- 
bes:  sie  laufen  Gefahr  auf  die  „gemeine"  Wirklichkeit  verächtlich 
herabzusehen  und  die  Beziehung  zur  Wirklichkeit  zu  verlieren.  Die 
Naturwissenschaften  haben  den  methodischen  Vorzug  durch  die  be- 
ständige Kontrolle,  welche  zwischen  Denken  und  Sein  besteht,  einen 
Marsstab  nie  aus  den  Augen  verlieren  zu  können. 

Es  ist  kein  Zufall,  sondern  in  dem  Wesen  der  Sache  begründet, 
dafs  es  unter  den  Naturwissenschaften  eine  Disciplin  gjebt,  welche 
ganz  besonders  dazu  berufen  ist,  die  Begriffe  des  Mafses  und  der 
Genauigkeit  auszubilden,  und  welche  daher  unter  allen  Wissenschaften 
eine  besondere  Stellung  wohl  beanspruchen  darf,  die  Physik;  ich 
würde  den  Hauptzweck  meines  Aufsatzes  erreicht  sehen,  wenn  es  mir 
gelungen  wäre,  diese  Thatsache  weiteren  Kreisen  zum  Bewußtsein 
gebracht  zu  haben. 


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Die  Entstehung  der  Welt  nach  den  Ansichten  von 
Kant  bis  auf  die  Gegenwart 

Von  F.  K.  (iinzel.  Astronom  am  Recheninstitute  der  Königl.  Sternwarte  zu  Berlin. 

II.  Die  Hypothesen  über  Ring-  und  Planetenbildung. 

■ INJ  achi lern  wir  in  flüchtigen  Zügen  das  Wesen  der  hauptsächlichsten 

1 1 Theorien  der  Weltentstehung  angedeutet  haben,  können  wir 
nunmehr  näher  auf  die  Konsequenzen  der  Kant-Laplaceschen 
Hypothese  eingehen,  nämlich  zuerst  auf  die  Frage,  wie  sieh  die  Pla- 
neten unseres  Sonnensystems  gebildet  haben. 

Kant  läfst  die  Planeten,  wie  wir  gesehen  haben,  namentlich  längs 
einer  Hauptiläche  entstehen,  innerhalb  welcher  die  Atome  sich  in 
Kreisen  um  die  Sonne  bewegen.  Die  dichtesten  Planeten  zogen  sich 
aus  dem  Urstoff  in  der  Nähe  der  Sonne  zusammen,  da  zu  dieser  hin 
der  Hauptzug  der  Atome  gerichtet  war,  die  leichtesten  Elemente  blieben 
dagegen  in  desto  gröfserer  Entfernung  von  der  Sonne  schweben.  Hatte 
sich  in  einem  der  Kondensationscentra,  aus  welchen  später  die  ein- 
zelnen Planeten  hervorgingen,  eine  sehr  bedeutende  Menge  Stoff  an- 
gehäuft und  war  eine  weite  Sphäre  für  die  Attraktion  vorhanden,  so 
konnte  es  aufserdem  noch  zur  Bildung  von  Satelliten  kommen,  welche 
die  Planeten  umkreisten.  Der  ICntstehungsprozefs  der  Satelliten  spielte 
sich  in  ganz  ähnlicher  Weise  ab,  wie  die  Entwicklung  der  Planeten 
um  den  Zentraikiirper.  Der  Planet  erzeugte  nämlich  durch  die  An- 
ziehung, wie  die  Sonne  in  dem  sie  umgebenden  Urstoffe,  aus  der  sin- 
kenden Bewegung  der  Atome  schliefslich  eine  in  einer  Hauptfläche 
stattfindende  Umlaufsbewegung;  wenn  die  Masse  des  Stoffes  hinreichend 
grofs  war  und  die  Attraktion  sieh  weit  genug  erstreckte,  war  die  Mög- 
lichkeit zur  Entstehung  von  Monden  in  der  Nähe  jener  Fläche  gegeben. 
Es  können  daher  nach  Kant  im  Sonnensystem  nur  die  Planeten  von 
sehr  bedeutender  Masse  durch  eine  gröfsere  Zahl  von  Trabanten  aus- 
gezeichnet sein  (wie  Jupiter  und  Saturn).  Die  bedeutendste  Schwierig- 

Himmel  and  Erde.  1308.  V.  & 25 


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3ßß 


keit  schien  dieser  Theorie  in  dem  Vorhandensein  eines  Ringes  um 
den  Saturn  zu  erwachsen;  allein  Kant  wufste  sich  zu  helfen,  und  wir 
haben  Gelegenheit,  den  Scharfsinn  des  Königsberger  Philosophen 
gerade  bei  der  Erklärung  der  Entstehung  des  Saturnringes  zu  be- 
wundern. Saturn  sei  einer  der  wenigen  Körper  des  Sonnensystems, 
die  ihre  fast  kreisförmige  Bahn  um  die  Sonne  erst  allmählich  erlangt 
hätten;  seine  Bahn  möge  in  der  Urzeit,  da  der  Planet  sehr  fern  von 
der  Sonne  und  aus  den  leichtesten  Stoffen  gebildet  ward,  bedeutend 
excentrisch  gewesen  sein.  Diese  excentrische  Bewegung  brachte  den 
Planeten  wiederholt  in  viel  gröfsere  Nähe  zur  Sonne,  als  es  heute 
möglich  ist;  Saturn  erfuhr  eine  bedeutende  Erhitzung,  und  da  die 
Stoffe,  welche  seinen  Ilauptkürper  bildeten,  zu  den  leichtesten  des 
Sonnensystems  gehörten,  fanden  heftige  Erhebungen  dieser  Stoffe 
auf  der  Saturnoberfläche  statt.  Je  mehr  sich  die  Satumbahn  ihrer 
heutigen  Gestalt  näherte,  desto  gröfser  wurde  die  Entfernung,  bis  zu 
welcher  sich  Saturn  der  Sonne  nähern  konnte,  der  Planet  verlor  all- 
mählich alle  empfangene  Wärme,  erkaltete,  gleichzeitig  verdichteten  sich 
die  emporgerissenen  Dämpfe  und  blieben  schliefslich  in  Form  eines 
Ringes  um  den  Saturn  schweben.  Dafs  sich  dieser  Ring  erhalten 
konnte,  verdankt  er  der  Rotation  des  Saturns  um  dessen  Axe.  Die 
schnellste  Bewegung  müssen  nämlich  die  vom  Aequator  des  Saturn 
aufsteigendeu  Theilchen  gehabt  haben.  Durch  ihre  Schwere  gelangten 
diese  Theilchen  in  verschiedene  Höhe,  aber  nur  jene  konnten  schweben 
bleiben,  deren  Geschwindigkeit  der  ihrer  Entfernung  entsprechenden 
Zentralkraft  das  Gleichgewicht  hielt,  die  andern  wurden  fortgeschleudert 
oder  fielon  auf  den  Saturn  zurück.  In  der  Nähe  der  Aequatorebene 
des  Saturn  mufston  sich  die  meisten  Partikel  anhäufen  und  durch 
Kreisbewegung  in  der  Schwebe  erhalten.  Die  Ringforin  dieser  schwe- 
benden leichtesten  Partikel  des  Sonnensystems  ward  durch  mechanische 
Gründe  nothwendig.  Die  Ausdehnung  des  Ringes  wird  durch  die 
Wirkung  der  Sonne  und  durch  die  Rotationsgeschwindigkeit  der  Saturn- 
kugel bestimmt:  jene  begrenzt  den  iiufseren  Rand,  die  andere  den 
inneren,  indem  sie  noch  Partikel  bis  dahin  schweben  liifst,  wo  Attrak- 
tion und  Bewegungsgeschwindigkeit  einander  das  Gleichgewicht  halten. 
Auch  kann  der  Ring  nicht  eine  Masse  bilden,  sondern  mufs  aus  ver- 
schiedenen Ringen  zusammengesetzt  sein,  wie  aus  den  sehr  verschie- 
denen Graden  der  Geschwindigkeit  der  inneren  und  iiufseren  Partikel 
und  dem  daraus  folgenden,  verschieden  beschleunigten  Umlauf  einzelner 
Iiingtheile  geschlossen  werden  kann;  Kant  fügt  prophetisch  hinzu, 
dafs  kräftige  Fernrohre  einst  eine  ganzo  Anzahl  Theilungen  des  Saturn- 


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367 


ringes  erkennen  lassen  dürften. ')  Aus  den  Abständen  der  Satelliten 
vom  Saturn  und  ihren  Geschwindigkeiten  schliefst  Kant  aufserdem  auf 
eine  schnelle  Rotation  Saturns  und  auf  eine  sehr  bedeutende  (von  den 
Astronomen  der  Zukunft  zu  entdeckende)  Abplattung  der  Saturnkugel.*) 
Kant  erörtert  auch  die  Frage,  warum  die  Erscheinung  eines  den  Pla- 
neten umgebenden  Ringes  im  Sonnensystem  ganz  vereinzelt  dasteht 
und  weshalb  bei  der  Bildung  der  anderen  Planeten  kein  Ring  möglich 
wurde.  Er  berechnet,  wie  weit  sich  die  leichteren  Stoffe  auf  anderen 
Pluneten  hätten  erheben  müssen,  wenn  Rotationsdauer,  Gröfse  der 
Planeten  und  deren  Schwere  an  der  Oberfläche  in  Betracht  gezogen 
werden,  damit  eine  Riugbildung  aus  den  sich  erhebenden  Theilchen 
resultiren  könnte.  Er  findet,  dafs  beim  Jupiter  sich  die  Theilchen  bis 
auf  die  zehnfache  Distanz  des  Halbmessers,  bei  der  Erde  bis  auf  das 
289 fache  des  Erdhalbmessers  hätten  entfernen  müssen,  Dimensionen, 
die  sie  niemals  haben  erreichen  können. 

Den  Grundgedanken  der  Laplaceschen  Vorstellungen  über  die 
Entstehung  der  Planeten  haben  wir  schon  im  ersten  Aufsatze  dar- 
gelegt. Laplac«  leitet  aus  dem  rotirenden  Zentralkörper  die  Noth- 
wendigkeit  von  Ringbildungen  ab.  Mit  dor  sinkenden  Temperatur  des 
Zentralkürpers  und  dessen  beschleunigter  Rotation  lösten  sich  Mole- 
küle ab,  die  sich  durch  gegenseitige  Attraktion  in  Ringe  zusammen- 
zogen, welche  den  Hauptkörper  konzentrisch  umgaben  und  um  ihn 
weiter  rotiren  mussten.  Zumeist  sollen  sich  diese  Ringe  zertheilt  und 
schliefslich  zu  einzelnen  Massen  vereinigt  haben,  welche  die  Kerne 
der  heutigen  Planeten  bildeten.  Bei  der  Verdichtung  der  Planeten 
konnten  an  der  Peripherie  Massen  durch  die  zunehmende  Zentrifugal- 
kraft abgetrennt  werden,  die  sich  zu  Trabanten  zusammenballten  oder, 
wie  beim  Saturn,  als  Dunstring  schwebep  blieben. 

Die  Kant  - Laplacesche  Xebelhypothese  hat  nun  eine  Reihe 
von  Gründen  zur  Stütze,  die  in  dem  mechanischen  Aufbau  des 
Sonnensystems,  sowie  in  der  physischen  Beschaffenheit  der  Haupt- 
körper des  letzteren  und  der  Sternenwelt  überhaupt  zu  suchen  sind. 
Zunächst  ist  in  unserem  Sonnensystem  die  Thatsache  auffallend,  dafs 
•die  Bahnebenen,  auf  welchen  die  Planeten  ihren  Umlauf  um  die  Sonne 
vollführen,  nur  wenig  von  einander  abweichen.  Sie  liegen  meist  in 

*)  Zu  Kants  Zeiten  war  nur  die  Cassinisohe  Theilung  des  Ringes  bekannt; 
die  weiteren  Theilungen  und  der  innere  Ring  sind  Rüde  des  vorigen  und  im  Ver- 
lauf des  jetzigen  Jahrhunderts  durch  Hörschel,  Encke,  de  Vico,  Bond  entdeckt 
worden. 

,J)  Die  Rotation  Saturns  betrügt  10  Stunden  29  Min.  (nach  Herschel); 
Kant  berechnet  <1  h.  24  m.  Die  Abplattung  der  Saturnkugel  ist  etwa  */e- 

25- 


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368 


der  Richtung  der  Erdbahn,  nur  Merkur  und  Venus  sowie  einzelne  Indi- 
viduen aus  der  Gruppe  der  sogenannten  kleinen  Planeten  weichen 
stärker  ab.  Auch  die  Aequatorialebenen  der  Planeten  differiren  nicht 
sehr  weit  von  einander  (die  gröfsten  Abweichungen  haben  Mars,  Erde 
u.  e.  a.).  Ferner  zeigen  die  Bahnebenen  der  Trabanten  einzelner  Pla- 
neten ganz  bemerkenswerthe  Uebereinstimmung;  die  einzige  Ausnahme 
sind  hier  die  Monde  des  Uranus,  deren  Bahn  fast  rechtwinklig  gegen 
die  Bahnebenen  der  grofsen  Planeten  steht  Aufserdem  ist  die  Ex- 
zentricität  der  Bahnen,  namentlich  der  Hauptplaneten,  in  sehr  mäfsige 
Grenzen  eingeschlossen  (nur  Merkur  hat  eine  mehr  exzentrisohe  Bahn), 
die  Bewegung  um  die  Sonne  geht  durchaus  in  demselben  Sinne  vor 
sich,  und  ebenso  auch  die  Rotation  um  die  Planetenaxen,  nämlich  wie 
bei  der  Erde  von  West  nach  Ost  Diese,  den  mechanischen  Aufbau  des 
Sonnensystems  charakterisirenden  Merkmale  können  nicht  zufällige 
sein,  im  Gegentheil  weisen  sie  auf  eine  gewisse  gesetzmäfsige  Ent- 
wicklung des  ganzen  Systems,  und  damit  auf  zu  Grunde  liegende 
gemeinsame  Ursachen.  Die  anderen,  unser  System  belebenden  Körper, 
wie  Meteore  und  Kometen,  können  wir  nach  unsern  heutigen  Kennt- 
nissen über  die  Natur  dieser  Körper  kaum  mit  den  allgemeinen 
Bildungsgesetzen,  aus  denen  die  Planeten  hervorgingen,  in  Verbindung 
bringen,  müssen  denselben  vielmehr,  wie  wir  spater  sehen  werden, 
eine  gewisse  kosmogonische  Ausnahmestellung  einräumen. 

Auch  mit  den  Ergebnissen,  welche  die  Fernrohre  über  die  phy- 
sische Beschaffenheit  der  Himmelskörper  zu  Tage  gefördert  haben, 
und  mit  den  Schlüssen,  die  wir  uns  aus  der  spektralanalytischen  Er- 
forschung des  Wesens  der  fernen  Welten  gestatten  dürfen,  steht  die 
Kant-Laplaoesche  Hypothese  in  Uebereinstimmung.  Aus  diesen  Theilen 
der  Himmelsforschung  wird  zur  Gewifsheit,  dafs  Fortbildungen  und 
Umbildungen  auch  gegenwärtig  noch  in  den  Tiefen  des  Himmels  sich 
vollziehen.  Das  Fernrohr  wie  das  Spektroskop  zeigen  uns  in  der  Welt 
der  Nebelflecke  den  Anfangszustand  von  Weltbildungen,  glühende 
Gasmassen,  Ansammlungen  fester  Körper  in  Form  von  kugeligen 
Haufen,  Uebergangsformen  aller  Art  vom  gasigen  zum  festen  Zustande. 
Die  Sterne  selber  sind  für  uns  werdende  Welten  in  verschiedenen 
Stadien  der  Entwicklung.  Die  weifsen  Sterne  befinden  sich  im  Zu- 
stande der  höchsten  Erhitzung,  nachdem  sie  sich  aus  Nebelflecken 
konstituirt  haben.  Die  rothen  Sterne  haben  den  höchsten  Glühzustand 
schon  überschritten,  Niederschlagsprodukte  sammeln  sich  auf  ihrer 
Oberfläche;  wenn  diese  Produkte  eine  feste  Kruste  bilden,  werden  die 
Sterne  allmählich  erlöschen.  Heftige  Eruptionen  der  Massen  des  Innern 


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369 


durchbrechen  bei  den  „neuen“  Sternen  die  schwache  Kruste  und  lassen 
diese  Körper  neuerdings  aufflammen.  So  sind  alle  diese  Weltbildungen, 
die  leuchtenden  und  erloschenen  Sonnen,  Glieder  einer  Kette  von  Er- 
scheinungen, deren  Grundursache  von  einem  gemeinsamen  Prinzip 
ausgeht.  Als  solch  gemeinsames  Prinzip  können  die  Hauptgedanken 
der  Kant-Laplaceschen  Nebelhypothese  sehr  wohl  betrachtet  werden, 
da  diese  eine  allmähliche  Entwicklung  der  Weltkörper  aus  Urnebein 
betonen  und  das  Durchlaufen  einer  Reihe  von  Epochen  verlangen. 
So  erweist  sich  die  Kant-Laplace'scho  Hypothese  „als  einer  der  glück- 
lichen Griffe  in  der  Wissenschaft,  die  uns  anfangs  durch  ihre  Kühn- 
heit erstaunen  machen,  sich  dann  nach  allen  Seiten  hin  mit  anderen 
Entdeckungen  in  Wechselbeziehungen  setzen  und  in  ihren  Folgerungen 
bestätigen,  bis  sie  uns  vertraut  werden.“  (Hehnholtz.) 

Diesem  letzten  Satze  stimmen  im  allgemeinen  auch  die  Gegner  der 
Hypothese  bei.  Die  Einwendungen  derselben  richten  sich  nämlich  weit 
weniger  gegen  die  Grundlagen,  als  vielmehr  gegen  die  Durchfiihrungsart 
gewisser  Theile  der  Theorie. 

Bevor  wir  diese  Einwendungen  vorführen,  wollen  wir  jedoch 
noch  vorher  eine  wesentliche  Stützung  der  Kant-Laplaceschen  Hypothese 
kennen  lernen. 

Bei  den  Laplaceschen  Auseinandersetzungen  blieben  nament- 
lich zwei  Punkte  sehr  kritisirbar:  die  von  Laplace  nicht  hinreichend 
vertiefte  Art  und  Weise,  wie  sich  die  Ringe  abgelöst  und  aus  ihnen 
Planeten  gebildet  haben,  und  ferner,  wie  die  Planeten  und  Satelliten 
zu  einer  Rotation  gelangt  sind.  Einigen  Ersatz  für  die  fehlende  kon- 
sequente Durchführung  der  Theorie  bot  nur  Plateaus  Experiment,  an 
den  Umformungen  eines  in  Drehung  versetzten  Oeltropfens  die  Bildung 
von  frei  sich  bewegenden  Kugeln,  also  gewissermafsen  die  Entstehung 
eines  Sonnensystems  im  kleinen,  nachzu weisen.3 * * * * * 9)  Diese  Stützung  der 


3)  Plateau  brachte  eine  Mischung  von  Wasser  und  Weingeist,  deren 

spez.  Gewicht  er  jenem  des  Olivenöls  gleich  machte,  in  ein  Geräts,  in  dessen 

Mitte  sich  eine  Kurbel  betand,  an  deren  Drehungsaxe  im  Mittelpunkt  des  Ge- 

fätses  eine  kleine  metallene  Scheibe  angebracht  war.  Er  gots  in  die  Mischung 
eine  Quantität  Olivenöl  derartig,  dats  sich  die  Theilchen  desselben  infolge  der 
Adhäsion  um  die  metallene  Scheibe  sammelten  und  eine  Kugel  bildeten. 

Darauf  wurde  die  Kurbel  in  Drehung  gesetzt,  die  Oelkugel  erhielt  alsbald  eine 

polare  Abplattung  und  nahm  dio  Gestalt  eines  Ellipsoides  an,  welches  sich  bei 
fortgesetztem  Drehen  zu  einer  linsenförmigen  Scheibe  ausbreitete.  Bei  einer 

bestimmten  Rotationsgeschwindigkeit  trennt«  sich  sofort  der  Rand  der  Scheibe  in 
Ringe  ab,  während  das  Oeltröpfchen  wieder  kugelförmig  wurde.  Bei  starker 
Rotation  schleuderte  die  Oelscheibe  Theilchen  weg,  die  selbständige,  rotirende 


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370 


Nebelhypothese,  nämlich  eine  logische  Ableitung  der  gesetzmäfsigea 
Vorgänge,  nach  welchen  die  Ringbildung  erfolgt  ist,  suchte  der  schon 
im  ersten  Aufsatze  erwähnte  Friedrich  Weifs  in  seinen  „Gesetzen 
der  Satellitenbildung“  zu  erbringen.  Konform  mit  Laplace  läfst  er 
die  mit  der  Abkühlung  des  Zentralkörpers  in  der  Aequatorebene  nieder- 
schlagenden Massen  sich  in  eine  Dunstscheibe  ausbreiten,  welche 
sich  mehr  und  mehr  abplattet.  Aus  dieser  Scheibe  bilden  sich  Nebel- 
ringe, sobald  die  Anziehung  von  der  Rotationsgeschwindigkeit  der 
Partikel  übertroffen  wird,  denn  dann  werden  die  Theilchen  durch  die 
Zentrifugalkraft  vom  Zentrum  auf  weite  Entfernungen  fortgerissen  und 
es  tritt  eine  Trennung  der  Scheibe  vom  Zentralkern  ein.  Diese 
Bildungen  erfolgen  in  allen  Systemen,  sowohl  Planeten-  wie  Trabanten- 
systemen, mit  völliger  Regelmäfsigkeit,  so  dafs  die  ursprünglichen 
Dichten  der  gebildeten  Körpor,  ihre  Entfernungen  vom  Zentralkörper 
und  ihre  Umlaufsgeschwindigkeiten  gewisse  geometrische  Reihen  dar- 
stellen, welche  Reihen  Weifs  thatsächlioh  an  den  bestehenden  Ver- 
hältnissen unseres  Sonnensystems  nachweisen  zu  können  glaubt  Die 
Mittelpunkte  der  Nebelringe  werden  schon  in  den  ersten  Stadien  des 
Entstehens  etwas  exzentrisch  gegen  die  Zentralkörper  versohoben  ge- 
wesen sein,  oder,  wenn  dies  nicht  der  Fall  und  das  System  ein  kreis- 
förmiges war,  können  Störungen  mannigfacher  £xt  solche  exzentrische 
Stellungen  mit  der  Zeit  bewirkt  haben.  Wenn  die  Lage  eines  Ringes 
zum  Zentralkörper  besonders  exzentrisch  war,  wurde  an  den  Stellen 
der  gröfsten  Entfernung  vom  Zentrum  die  Schnelligkeit  des  Umlaufs 
der  Dunstmassen  verzögert,  und  da  dies  bei  jedem  Umschwünge  ein- 
trat und  eine  Ausgleichung  des  an  jenen  Stellen  sich  zusammen- 
drängenden Stoffes  nicht  alsbald  möglich  war,  häuften  sich  die  Partikel 
schliefslich  und  bildeten  einen  Kern,  der  unbehindert  mit  dem  Ringe 
um  den  Zentralkörper  weiter  rotirte.  Aus  solchen  Kernen  in  den 
ursprünglichen  Aphelien  (Sonnenfernen)  der  Bahnen  sind  die  nach- 
maligen Planeten  hervorgegangen,  desgleichen  die  Satelliten  aus  Kernen, 
die  sich  in  den  gröfsten  Distanzen  von  den  ursprünglichen  Planetenkernen 
befanden.  Die  auf  diese  Art  entstehenden  Kerne  waren  für  jedes  System 
anfänglich  von  gleicher  Masse;  die  Kerne  der  äuföeren  Ringe  besafsen 
jedoch  eine  geringere  zentrifugale  Geschwindigkeit  als  die  der  inneren, 
ihre  Anziehungskraft  konnte  gröfser  worden  als  die  der  inneren  Kerne, 
und  sie  vermochten  deshalb  bisweilen  mehr  Stoff  um  sich  zu  sammeln 

Kugeln  bildeten,  welche  ihren  Umlauf  um  den  früheren  Mittelpunkt  fortsetzten. 
Die  ganze  Erscheinung  stellt  die  Formation  von  Planeten  durch  Rotation  eines 
Zentralkörpers  im  kleinen  dar. 


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und  sich  zu  vergrößern;  in  diese  ursprünglich  ganz  regelmäßigen 
Vorgänge  haben  zerstreute  Massen  der  äußeren  Ringe,  die  sich  nicht 
mit  den  Kernen  vereinigten,  Störungen  hineingetragen  und  die  früher 
geometrischen  Massenverhältnisse  der  Planeten  und  Satelliten  erheblich 
modifizirt.  Das  Ringsystem  des  Saturn  ist  in  ähnlicher  Weise  durch 
Anhäufung  von  Materie  an  bestimmten  Stellen  der  ursprünglichen,  um 
den  Saturnkern  röhrenden  Nebelscheibo  gebildet.  Dadurch  aber,  daß 
Satelliten  sehr  nahe  dem  Saturn  enßtanden,  trafen  einzelne  Stellen 
dos  Ringes  zu  bestimmten  Zeiten  mit  einzelnen  Satelliten  zusammen 
und  die  Anziehung  dieser  und  der  Umstand,  daß  der  Ring  einen 
flüssigen  Zustand  (Weifs  mußte  noch  die  Peircesche  Vorstellung 
eines  flüssigen  Ringes  adoptiren)  besitzt,  bewirkt  die  Aufhebung 
etwaiger  Kernbildungen  im  Ringo  und  die  Verhütung  von  Störungen 
seiner  Exzentrizität;  ohne  die  Mondo  und  namentlich  ohne  gewisse 
kommensurable  Verhältnisse  der  Umlaufszeiten  derselben4)  würden  ge- 
fährliche Exzentrizitäßveränderungon  Platz  greifen  und  die  Erhaltung 
eines  frei  schwebenden  Ringes  unmöglich  sein.  — Der  Asteroidenring 
(die  kleinen  Planeten  zwischen  Mars  und  Jupiter)  enßtand  vornehm- 
lich unter  der  Einwirkung  dos  mächtigsten  der  großen  Planeten, 
Jupiters.  Dieser  Planet  wurde  aus  einer  der  äußersten  Ringzonon 
des  Sonnensystems  gebildet  (alle  Bildungen  begannen  nach  Weifs  in 
den  äußeren  Ringen)  und  übte  durch  seine  Masse  eine  bedeutende 
Störung  auf  den  Astoroidenring  aus,  indem  er  es  dort  nicht  zu  großen 
Kernbildungen  koramon  ließ;  es  enßtanden  daselbst  nur  eine  sehr 
große  Zahl  kleiner  Ballungen.  Einzelne  starke  Neigungen  der  Bahnen 
der  Asteroiden,  und  übrigens  auch  einzelner  großer  Planeton,  sind 
das  Resulßt  von  Bewegungen  in  den  ursprünglichen  Nebelscheiben, 
indem  diese  während  verschiedener  Epochen  keineswegs  ihre  Lage 
unverändert  gegen  die  Sonne  beibehielten,  sondern  Schwankungen 
durchliefen.  Die  Enßtehung  der  Rotation  der  Planeten  und  Satelliten 
denkt  sich  Weifs  folgenderweise;  Die  Satelliten-  und  Planetenkerno 
hatten  so  lange  keine  Drehbewegung,  als  sie  sich  nur  duroh  Ver- 
einigung mit  den  gemeinsam  mit  ihnen  laufenden  Partikeln  ver- 
größerten. Als  aber  Massen  aus  den  äusseren  Dunstringzonen  in  den 
Anziehungsbereioh  der  Kerne  geriethen,  entstanden  seitliche  Be- 
wegungen ; die  sich  nähernden  äusseren  Massen  steigerten  ihro  Ura- 

*)  Weifs  machte  besonders  auf  das  folgende  kommensurable  Gesetz  auf- 
merksam, dafs  die  Rotationsdauer  des  Ringes  gleich  ist  der  Differenz  der 
Rotationen  des  ersten  und  zweiten  Satelliten,  und  gleich  der  halben  Differenz 
des  dritten  und  vierton. 


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laufsbewegung,  eilten  an  den  Satellitenkemen  voraus,  und  während 
diese  sioh  allmählich  vergrößerten,  erhielten  sie  durch  die  Falllinien 
nach  und  nach  eine  Drehbewegung  im  nämlichen  Sinne,  wie  die  Um- 
laufsbewegung der  voraneilenden  Theilchen  und  die  Kernmasse  hatte. 

Wenn  auch  die  Weifsschen  Ausführungen  zum  Theil  unklar 
und  anfechtbar  sind  (wie  die  Entstehungsart  der  Rotation),  so  gebührt 
ihnen  doch  das  Verdienst,  in  der  Hauptsaohe  eine  wesentliche  Stützung 
der  Nebelhypothese  erreicht  zu  haben.  Mit  ihnen  haben  auch  die 
Vorstellungen  eine  Verwandtschaft,  welche  Newcomb  in  neuerer 
Zeit  über  die  Ringbildungsansicht  von  Laplace  ausgesprochen  hat. 
Auch  nach  Newcomb  hat  sich  der  ursprünglich  kugelförmige  Kern 
des  Sonnensystems  durch  Verdichtung  und  die  Wirkung  der  Zentri- 
fugalkraft immer  mehr  und  mehr  abgeplattet,  bis  die  ganze  Masse  in 
eine  flache  Scheibe  ausgebreitet  war.  Diese  Scheibe  löste  sich  bei 
weiterer  Erkaltung  und  Dichtezunahme  in  Ringe  auf,  und  zwar  waren 
die  inneren,  dem  Zentrum  nahe  gelegenen  viel  weniger  ausgedehnt  als 
die  entfernten  äufseren,  die  die  Peripherie  unseres  Sonnensystems  dar- 
stellten. Ein  sich  auflösender,  um  einen  Kern  sich  zusammenziehender 
Ring  bildete  nach  und  nach  wieder  eine  Nebelscheibe  im  kleineren 
M ifsstabe,  das  Spiel  der  Kräfte  begann  von  neuem,  und  aus  der  Zer- 
theilung  der  Nebelscheibe  in  Ringe  gingen  Satelliten  hervor,  während 
der  Kem  zum  Planeten  wurde. 

Wir  wollen  nun  auf  die  Einwendungen  gegen  die  Nebelhypotheso 
näher  eingehen.  Der  erste  Punkt,  gegen  den  sich  eine  gemeinsame 
Aktion  vieler  Gegner  wendet,  ist  die  von  Laplace  vertretene  Entwicklung 
der  Planeten  aus  den  Ringen,  welche  sioh  von  dem  Hauptkörper  konzen- 
trisch abgelöst  haben  sollen,  Kirkwood,  Faye,  haben  bezweifelt,  dafs 
unter  den  von  Laplace  gemachten  Voraussetzungen  der  ursprüngliche 
Zentralkörper  durch  Konzentrirung  und  vermehrte- Rotation  habe  Ringe 
abgeben  können.  Es  würden  sich  um  die  Sonne  höchstens  eine  Menge 
sohr  kleiner  Weltkörper  gebildet  haben.  Deshalb  gewinnen  die 
mathematischen  Untersuchungen  von  Roohe5)  ein  grofses  Interesse, 
welche  das  Verhalten  des  Laplaceschen  Nebular-Ellipsoides  zu  ver- 
folgen suohen.  Diese  Ermittelungen  zeigen,  dafs  die  Ringbildung  zwar 
stattfindet,  aber  keine  ununterbrochene  ist,  es  tritt  vielmehr  ein  ge- 
wisses Wechselspiel  zwischen  jeder  Ringablüsung  und  der  Konden- 
sation des  Ellipsoides  ein.  Durch  die  Zusammenziehung  wird  Materie 
gegen  das  Zentrum  gefällt,  ein  elliptischer  Streifen  löst  sich  ab,  das 


4)  Essai  sur  la  Constitution  du  Systeme  solaire  Montpellier  1873. 


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Gleichgewicht  stellt  sich  durch  Verminderung  des  Aequatordurch- 
messers  wieder  her  und  die  Ringbildung  hört  eine  Zeit  lang  auf, 
durch  weitere  Abkühlung  der  Oberfläche  tritt  eine  abermalige  Zu- 
sammenziehung ein  und  eine  neuerliche  Streifenbildung  ist  die  Folge 
u.  s.  f.  Die  Ringbildung  ist  also  thatsächlich  möglich.  Trowbridge6) 
hat  aber  eingewendet,  dafs  unter  Festhaltung  der  Laplacesohen  An- 
sicht bei  der  Ringabgabe  die  Masse  des  Urstoffes  nicht  gleichmäfsig 
auf  das  ganze  Sonnensystem  vertheilt  werden  konnte,  dafs  im  Gegen- 
theil  die  äufseren  entfernten  Ringe  eine  aufserordentlich  dünne  Be- 
schaffenheit hätten  annehmen  müssen;  die  Hauptmasse  des  Stoffes 
hätte  sich  nach  der  Sonne  hin,  wahrscheinlich  schon  innerhalb  der  Erd- 
bahn, konzentrirt.  Demnach  wäre  zwar  die  Sonne  ein  aufserordent- 
lich grofser  Körper  geworden,  aber  in  den  entfernten  dünnen  Zonen 
hätte  das  Material  nicht  zugereioht,  um  enorme  Planeten  wie  Jupiter 
und  Saturn  zu  schaffen. 

Roche7)  untersuchte  auch  mathematisch  die  Existenzbedingungen 
einer  gleichförmig  dichten,  flüssigen  Masse,  weloho  rotirt  und  der 
Attraktion  eines  Zentralkörpers  unterworfen  ist.  Er  fand  gewisse 
Dichteverhältnisse,  bei  welchen  das  Gleichgewicht  einer  solchen 
flüssigen  Masse  aufhören  würde  zu  existiren,  bei  welchen  also  eine 
derart  beschaffene  Planetenmasse  sich  als  Sphäroid  nicht  weiter  halten 
könnte.  Dafs  die  entfernteren  der  grofsen  Planeten,  Jupiter,  Saturn, 
Uranus  und  Neptun  bei  sehr  grofsen  Massen  geringe  Dichte  besitzen, 
die  inneren  kleineren  Planeten  aber  erheblich  dichter  sind,  deutet  auf 
Dichtestörungen  während  der  Ringbildungszeit.  Eine  solche  Verände- 
rung der  Materie,  aus  welcher  der  Asteroidenring  entstanden  ist, 
konnte  bewirken,  dafs  sich  ein  einst  dort  befindlicher  Körper  als 
Sphäroid  nicht  halten  konnte  und  in  eine  grofse  Zahl  kleiner  Planeten 
auflöste.  Ein  weiterer  Dichtewechsel  hätte  aber  auch  noch  nach  der 
Entstehung  der  kleinen  Planeten  die  vier  äufsersten  grofsen  Pianeten- 
körper  zu  Wege  bringen  können.  — 

Aus  den  losgelösten  Ringen  sollen  sich  nach  Laplace  kleine 
sphäroidische  Kerne  bilden,  die  sich  dann  vereinigen  und  so  zu  Pla- 
neten werden.  Gegen  diese  Vereinigung  hat  Kirkwood8)  geltend 
gemacht,  dafs  9ie  eine  aufserordentlich  lange  Zeit  in  Anspruch  nehmen 
mufs.  Nach  seiner  Rechnung  würde  es  hunderte  Millionen  Jahre 

*)  On  the  Ncbular-Hypothesis.  (Sillim.  Americ.  Journ.  2 Serie  t.  38;  1864.) 

1 Memoiro  sur  la  tlgure  d une  masso  iluido  soumiae  k l'attraction  d'un 
point  dloignö.  — (Mein,  da  l'Acad.  de  Montpellier.  I.  XL  1849 — 51.) 

•)  Proceedings  of  the  Amer.  Phil.  Soc.  1880. 


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dauern,  bevor  die  Partikel  eines  einzigen  Ringes  zu  einer  Planeten- 
masse  vereint  sein  könnten.  Nachdem  man  es  aber  mit  sehr  vielen 
Ringen  zu  thun  hat,  von  denen  nur  einer  nach  dem  andern  aufgelöst 
worden  sein  kann,  so  würde  man  schon  für  die  blofsen  Urbildungen 
unseres  Sonnensystems  so  ungeheure  Zeiträume  voraussetzen  müssen,  dafs 
sie  im  vorhinein  unwahrscheinlich  sind.  Zudem  würde  bei  einer  so  lang- 
samen Transformation  der  Xebelringe  fast  keine  Hitze  entwickelt 
werden,  die  doch  bei  dem  Eintritt  der  geologischen  Epochen  der  meisten 
Planeten  höchst  wahrscheinlich  in  hohem  Grade  vorhanden  gewesen  ist. 

Faye9)  hat  gegen  Laplace  einzuwenden  versucht,  dafs  beider 
Entstehung  der  Planeten  aus  Ringen  die  Planeten  sich  zwar  alle  in 
demselben  Sinne  um  die  Sonne  bewegen  müfsten,  dafs  aber  ihre 
Rotation  um  die  Axen  und  auch  die  Rotation  der  Satelliten  eine  ent- 
gegengesetzte sein  würde.  Hirn10)  hat  aber  nachgewiesen,  dafs  selbst 
wenn  ein  aus  einem  Ringe  sich  formender  Planetennebel  eine  retro- 
grade Bewegung  gehabt  hätte,  sich  diese  nicht  würde  haben  halten 
können.  Für  die  Urzeit  sei  die  Wirkung  mächtiger  Gezeiten  (Fluth- 
bewegungen)  auf  in  Bildung  begriffeno  Nebel  seitens  der  Sonne  nicht 
unwahrscheinlich.  Eine  solche  Gezeitenwirkung  wird  den  planetari- 
schen Nebel  verlängert  und  allmählich  eine  Gleichheit  seiner  Rotation 
und  seines  Umlaufs  um  die  Sonne  herbeigeführt  haben.  Darauf  ge- 
wann, da  die  Bahngeschwindigkeit  der  äufseren  Parthien  gröfser  als 
jene  der  innem  war,  die  äufsere  Bewegung  das  Uebergewicht  und  die 
Rotation  ordnete  sich  der  allgemeinen  Bewegung  unter,  geschah  also 
im  gleichen  Sinne  wie  der  Umschwung  um  die  Sonne. 

Naoh  der  Ringbildungstheorie  kann  weiter  in  den  Satelliten- 
systemen die  Entfernung  eines  Satelliten  vom  Zentralkörper  nicht  ein 
gewisses  Mafs  überschreiten,  da  nach  Laplace  vorausgesetzt  wird, 
dafs  die  Monde  mit  dem  Planeten  einst  ein  Sphäroid  bildeten  und  sich 
aus  den  von  letzterem  abgelösten  Ringen  entwickelt  haben;  ferner 
kann  vermöge  dieser  Bildungsart  der  Umschwung  der  Monde  um  den 
Planeten  des  betreffenden  Satellitensystems  nicht  schneller  sein,  als 
die  Rotation  des  Planeten  um  seine  Axe  erfolgt  Nun  bemerken  wir, 
dafs  der  Mond  der  Erde  in  einer  respektablen  Entfernung  (384  000 
Kilometer)  von  dieser  sich  bewegt,  und  es  fällt  uns  schwer,  die  heutige 
kleine  Erde  in  der  Urzeit  bis  zu  solchen  Dimensionen  ausgedehnt, 
oder  auch  nur  mit  einem  so  aufserordentlichen  Dunstkreise  umgeben 

•)  Bullet,  de  l’Assoc.  scientlf.  de  Franco.  2.  Serio  VIII. 

,0)  Mfinoire  sur  leg  conditions  d’öquilibre  et  sur  la  nature  probable  des 
anneaux  de  Saturne. 


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375 


zu  denken.  Andererseits  vollzieht  sich  der  Umschwung  des  innem 
der  beiden  Marssatelliten  (Phobos)  in  7 Stunden  39  Minuten,  wahrend 
Mars  selbst  24  Stunden  37  Minuten  zur  Rotation  um  seine  Axe  braucht; 
und  der  innere  Ring  des  Saturn  bewegt  sich  schneller,  als  Saturn 
selbst.  Diese  Einwendungen  gegen  die  Nebelhypothese  haben  sowohl 
Roche  als  Hirn  in  mehreren  Arbeiten  berührt.  Nach  Roche  gehört 
zur  Satellitenbildung  schon  eine  gewisse  Dichte  des  Planeten;  die  Wir- 
kung der  Sonnen-Gezeiten  hinderte  die  Entstehung  von  Monden,  und 
erst  wenn  diese  infolge  des  Wachsens  des  Kernes  nicht  mehr  über- 
wiegen konnte,  wurde  der  Ringablösung  weniger  Schwierigkeiten 
bereitet.  Bei  den  sonnennahen  Planeten,  wie  Merkur,  Venus,  Erde, 
deren  Kerne  der  Sonnengezeit  besonders  unterworfen  waren,  sind  be- 
deutende Ausdehnungen  der  Nebelhüllen  nothwendig  gewesen,  ehe  es 
zur  Bildung  von  Monden  kommen  konnte.  Es  kann  also  auch  das 
Erdellipsoid  eine  Erstreckung  auf  grofse  Distanz  hin  erfahren  haben. 
Wurde  an  den  äufsersten  Grenzen  dieses  verlängerten  Ellipsoides  eine 
Nebelmasse  mit  geringer  Geschwindigkeit  abgegeben,  so  kann  sich 
deren  Dichte  in  dem  Mafse  vergröfsert  haben,  als  bei  der  Verkleine- 
rung des  gestreckten  Nebels  durch  Verminderung  der  Gezeiten  sich 
die  Materie  um  jene  Nebelmasse  verdünnte,  schliefslich  kann  eine 
völlige  Lostrennung  erfolgt  sein,  und  der  entstandene  Mond  vermochte 
auf  diese  Weise  seinen  Umlauf  in  sehr  beträchtlicher  Distanz  von  der 
Erde  auszuführen.  Wir  werden  später  hören,  zu  welchen  Resultaten 
der  Mathematiker  G.  H.  Darw’in  über  die  Mondentstehung  gelangt 
ist.  — Betreffe  des  Marssatelliten  Phobos  läfst  sich  annehmen,  dafs  er 
sich  in  dem  Marssystem  zuletzt  und  zwar  aus  dem  Marskörper  bei 
dessen  Kontraktion  gebildet  hat.  — In  Beziehung  auf  den  Saturnring 
hat  Roche  darauf  hingewiesen,  dafs  die  ursprüngliche  Nebelatmo- 
sphäre des  Saturn  mindestens  doppelt  so  grofs  gewesen  sein  mufs  als 
heute.  Haben  sich  die  Saturnringe  zu  dieser  Zeit  gebildet,  so  mufsten 
sie  eine  die  heutigen  Dimensionen  weit  übertrefTende  Ausdehnung  be- 
sitzen, aber  es  wäre  möglich,  dafs  später  eine  Zusammenziehung  der- 
selben erfolgt  ist.  Nach  Hirn  wäre  dies  durchaus  nicht  unmöglich, 
vielleicht  sogar  eine  Konsequenz  bei  der  Abkühlung  des  flüssigen 
Ringes.  (Hirn  hat  nachgewiesen,  dafs  gasförmige  oder  lliissige  Ringe 
sich  verengen  mufsten,  bis  sie  auf  den  Planeten  fielen.)  Der  Ring 
konnte,  wenn  er  sich  erhielt,  so  seine  eigene  Rotation  selbständig  er- 
langen. Freilich  ist  heutzutage  durch  Maxwell s Untersuchungen 
die  Vorstellung  einer  flüssigen  Beschaffenheit  der  Saturnringe  ab- 
gethan. 


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376 


Man  hat  auoh  die  Abweichungen  in  der  Lage  der  Bahnebenen 
der  Planeten")  gegen  einander  als  Einwurf  der  Nebularhypothese 
benützt  Wir  haben  erörtert,  wie  F.  Weifs  diese  Abweichungen  aus 
Schwankungen  der  Nebelscheiben  um  den  Zentralkörper  zu  erklären 
gesucht  hat.  Die  Schwankungen  sollen  mit  dem  fortschreitenden  Ab- 
lösen von  Ringen,  also  Abnahmen  des  Durchmessers  der  Scheiben, 
ihrer  zunehmenden  Verdichtung  und  gesteigerten  Rotation  allmählich 
zur  Ruhe  gebracht  worden  sein.  Man  geht  wohl  am  richtigsten,  wenn 
man  die  Verschiedenheit  der  Bahnneigungen  der  Planeten  durch  Stö- 
rungen erklärt,  woloho  nicht  gestatteten,  dafs  die  Bahnen  sämtlich  in 
einer  und  derselben  Hauptebene  verblieben.  In  diesem  Sinne  hat 
sich  Leverrier  ausgesprochen.  Nach  ihm  existiren  im  Sonnensystem 
Stellen,  wo  vorhandene  kleine  Massen  durch  die  Störungen  zweier 
grofser  Planeten  ganz  bedeutende  Veränderungen  in  der  Bahnebene 
erleiden  können.  So  können  die  beträchtlichen  Neigungen  der  Bahn 
des  Merkur  durch  Venus  und  Erde,  diejenigen  mehrerer  Asteroiden 
durch  die  Störungen  seitens  Jupiter  und  Saturn  hervorgebraoht  worden 
sein.  Die  Wichtigkeit  der  Rolle,  welche  Jupiter  durch  seinen  stören- 
den Einflufs  bei  der  Bildung  der  Asteroiden  zugefallen  sein  mag,  hat 
auch  Kirkwood  hervorgehoben.  Der  Ring  der  Asteroiden  zeigt  ge- 
wisse Kommensurabilitätsverhältnisse  in  der  Umlaufszoit  der  einzelnen 
kleinen  Planeten,  welche  zu  permanenten  Störungen  durch  Jupiter 
an  denselben  Orten  der  Bahnen  führten  und  Exzentricitäten  sowie 
Neigungen  dieser  Bahnen  erheblich  verändern  muteten.  — In  Ver- 
bindung mit  der  Frage  nach  der  Entstehungsweise  der  Bahnneigungen 
steht  die  Schwierigkeit,  aus  der  Nebularhypothese  die  sehr  ver- 
schiedene Axenstellung  gegen  die  Bahnen  der  Satelliten12)  richtig  zu 
erklären  und  die  der  allgemeinen  Rotation  entgegengesetzte  Bewegung 
der  Monde  des  Uranus  und  des  Neptun  zu  deuten.  Eigentlich  müteten 
die  Rotationsaxen  aller  Planeten  auf  den  Bahnebenen  senkrecht  stehen. 
Indete  finden  wir  dies  kaum  wo  anders  als  bei  Jupiter.  Kant  war 
der  Ansicht,  date  die  Umdrehungsaxen  der  Planeten  in  den  frühesten 


")  Die  gröfsto  Bahnneigung  unter  den  grofscn  Planeten  hat  Merkur 
(7  Grad) ; unter  den  kleinen  Planeten  haben  Pallas  (34  Grad),  Euphrosyne  (26), 
Aethra  (25),  Gallia  (25),  Istria  (26)  sehr  bedeutende  Bahnschiefen. 

**)  Mindestens  die  beiden  äufsersten  der  4 Uranusmonde  sind  rückläufig: 
alle  vier  haben  die  im  Sonnensystem  einzig  stehende  Eigentümlichkeit,  dafs 
ihre  Bahnen  senkrecht  zur  Ekliptik  sind.  Der  Mond  des  Neptun  lauft  gleich- 
falls retrograd,  die  Bahnneigung  beträgt  145  Grad.  Die  Bahnneigungen  der 
Jupitermonde  sind  sehr  mäfsig  (bis  zu  2 Grad),  die  des  Saturn  schwanken 
zwischen  18  bis  28  Grad,  die  beiden  Marsmonde  haben  etwa  26  Grad. 


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377 


Zeiten  sich  nicht  viel  von  den  entsprechenden  Bahnebenen  entfernt 
haben.  Erst  viel  später,  als  die  sich  weiter  ausbildenden  Himmels- 
körper den  flüssigen  Zustand  erlangten,  oder  schon  dem  festen  zu- 
strebten, sei  das  Gleichgewicht  des  Umschwunges  durch  diese  Wand- 
lungen gestört  und  die  Lage  der  Axen  geändert  worden.  Bei  diesen 
ersten  Formationen  entstunden  nämlich  mannigfache  Unregelmäßig- 
keiten, Höhlungen  im  Innern  der  Körper  durch  unvollständige  Sen- 
kung schwerer  Stoffe,  einseitige  Anhäufung  großer  Massen,  nament- 
lich an  den  Aequatoren  der  Planetenkugeln  u.  dergl. ; Störungen 
solcher  Art  hätten  durch  Verschiebung  des  Gleichgewichtes  der  roti- 
renden  Körper  zu  Axenversohiebungen  geführt.  Auch  Weifs  hält 
dafür,  dafs  die  Axenstellung  erst  in  vorgerückteren  Stadien  der  Welt- 
bildung Platz  gegriffen  hat,  wenigstens  bei  mehreren  der  inneren 
Planeten;  diese  sollen  während  der  Kontraktionsepochen  vermöge 
ihrer  geringen  Abplattung,  langsameren  Rotation  und  beträchtlichen 
Schwere  an  ihrer  Oberfläche,  leichter  den  inneren  Störungen  ausge- 
setzt gewesen  sein  und  die  etwa  vorhandenen  schiefen  Axenstellungen 
zur  Zeit  der  ersten  geologischen  Bildungen  erhalten  haben;  die  großen 
äußeren  Planeten  hätten  die  Stellung  ihrer  Axen  schon  in  der  Epoche 
der  Dunstballbildung  angenommen  und  seien  vor  weiteren  Katastro- 
phen durch  ihre  geringe  Schwere,  starke  Abplattung  und  schnelle 
Rotation  geschützt  worden.  Zur  Erklärung  der  Rückläufigkeit  der 
Uranusmonde  berechnet  F.  Weifs,  daß  nach  den  heutigen  Dichtig- 
keits-  und  Massenverhältnissen  der  vier  äußeren  Planeten  Jupiter, 
Saturn,  Uranus  und  Neptun,  die  Dunstringe  dieser  Planeten  zum 
Zwecke  der  Zusammenballung  in  Planetenkugeln  durchaus  nioht  ganz, 
sondern  nur  zum  geringem  Theil  der  Masse  aufgebraucht  worden 
seien;  Jupiter  habe  die  grüßte  Menge  seiner  Dunstscheibe  in  sich 
aufgenommen.  Die  übrig  gobliebenen  Reste  der  Nebelscheiben,  die 
immer  noch  eine  sehr  bedeutende  Masse  Materie  in  sich  vereinigten, 
können  Hemmungen  in  der  Bewegung  benachbarter  Nebelscheiben 
bewirkt  haben,  also  namentlich  der  Uranusscheibe,  die  schon  weiter 
kondensirt  war.  Diese  Hemmungen  werden  ihren  Angriffspunkt  im 
äußeren  Gebiete  des  Uranussystems  gehabt  haben  und  konnten  hier 
die  Bewegungsrichtung  der  im  Enßtehen  begriffenen  Satelliten  wesent- 
lich modifiziren. 

Die  letzteren  Versuche,  um  retrograde  Bewegungen  im  Sonnen- 
system noch  durch  die  Kant-Laplacesche  Nebelhypothese  erklären  zu 
können,  sind  schon  sehr  gewagter  Art  Faye  hat  deshalb,  wie  im 
ersten  Aufsatze  kurz  bemerkt  worden  ist,  die  Laplacesche  Entwick- 


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378 


liingsmethode  ganz  verworfen  und  durch  ein  neues  System  ersetzt. 
Er  nimmt  an,  dafs  die  äufseren  Planeten  Uranus  und  Neptun  sich  unter 
anderen  Umständen  und  viel  später  gebildet  haben  als  die  inneren 
zwischen  der  Sonne  und  Saturn.  Anfänglich  bildete  der  Zentralkörper 
des  Sonnensystem  eine  bis  zum  Saturn  reichende  homogeno,  sphärische 
Neheimasse,  in  welcher  die  Geschwindigkeit  des  Umschwunges  vom 
Zentrum  nach  der  Peripherie  mit  der  Entfernung  zunahm.  Nebelringe 
trennten  sich  hier  ab  und  ballten  sich  zu  Planeten  mit  rechtläufiger 
Bewegung  zusammen.  Nun  konzentrirte  sich  aber  auch  die  Sonne, 
gewann  bald  eine  erhebliche  Dichte  und  eine  überwiegende  Masse. 
Damit  änderte  sich  aber  auch  das  bisherige  Schweregesetz,  und  vari- 
irte  nicht  mehr  direkt  nach  der  Distanz  vom  Zentrum,  sondern  umge- 
kehrt nach  dem  Quadrate  der  Entfernung;  während  also  die  Geschwindig- 
keit des  Umschwunges  früher  vom  Zentrum  nach  aufsen  zunahm,  ver- 
minderte sie  sich  jetzt;  die  Richtung  der  dann  erzeugten  Körper  war 
mithin  denen  der  früher  entstandenen  Planeten  entgegengesetzt,  nämlich 
retrograd.  Durch  die  Annahme,  dafs  die  Planeten  vom  Merkur  bis 
zum  Saturn  entstanden,  als  noch  die  erste  Form  des  Schweregesetzes 
Geltung  hatte,  und  dafs  die  Schaffung  des  Uranus  und  Neptun  erst  ia 
einem  höheren  Alter  des  Sonnensystems,  nach  der  Kondensation  der 
Sonne,  als  die  zweite  Form  des  Schweregesetzes  auftrat,  erfolgte,  ge- 
lingt es  Faye,  die  rückläufige  Bewegung  für  Uranus  und  Neptun  zu 
gewinnen.  Für  die  Erzeugung  der  Satelliten  bedarf  Faye  der  Ring- 
bildung, wio  Laplaoe.  Faye  muthmafst  aber,  dafs  die  Entfernungen 
der  Satelliten  von  ihren  Zontralkörpem  (wie  übrigens  auch  die  Distan- 
zen der  grofsen  Planeten  von  der  Sonne)  ursprünglich  bedeutend 
gröfser  gewesen  sein  müssen,  als  heute.  Die  Ausdehnung  des  ganzen 
Sonnensystems  mag  bei  weitem  erheblicher  gewesen  sein  und  erst  in 
der  Folge  der  Zeiten  schritt  die  Zusainmenziehung  (weniger  durch 
Abkühlung  als  durch  dio  Gravitation)  vorwärts.  Die  Ballungen  zu 
Satelliten  vollzogen  sich  schon  während  dieser  Zusammenziehung,  und 
bei  der  Lostrennung  gelangten  die  Satelliten  in  jene  Entfernungen 
von  ihren  Zentralkörpern,  die  sie  heute  einnehmen. 

Wir  haben  zum  Sohlufs  noch  einige  Momente  der  im  ersten  Auf- 
sätze skizzirten  kosmogonischen  Theorie  des  Pater  Braun  zu  erwähnen. 
Bei  dieser  Theorie  scheint  die  Verschiedenheit  der  Bahnneigungen  der 
einzelnen  Planeten  leichter  erklärlich,  als  nach  der  Nebularhypothese; 
dadurch,  dafs  der  Antrieb  der  Sonne  zu  einer  Rotation  von  aufsen  her, 
durch  Zuwachs  von  Nebelmassen  aus  den  Stemsystemen,  erfolgte,  also 
durch  Streifung  oder  Stofs  derselben,  ist  die  Erzeugung  der  Rotation  des 


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379 


Zentralkorpers  nicht  an  eine  bestimmte  Hauptebene  und  die  Entstehung 
von  Planeten  ebenfalls  nicht  an  diese  Ebene  gebunden,  sondern  dio 
Planeten  konnten  an  verschiedenen  Stellen  des  Zentralnebels  geschaffen 
werden.  In  je  früherer  Zeit  eine  Nebelmasse  eindrang,  desto  mehr 
musste  sie  auf  die  Uahnneigung  und  die  Rotationsebene  des  duroh  sie 
hervorgerufenen  Planeten  von  Einflufs  sein.  Schon  sehr  dünne  Massen 
würden  hingereicht  haben,  beträchtliche  Verschiedenheiten  in  der  Lage 
der  Bahn  zu  bewirken.  — 

Die  bisherigen  Auseinandersetzungen  führten  uns  nur  duroh  den 
allgemeinen  Theil  der  Kosmogonie,  nämlich  nur  bis  zu  den  ersten 
Epochen  des  Werdens  der  Welten;  wir  haben  nun  noch  die  Aufgabe, 
die  weitere  Entwicklung  der  Gestirne  darzustellen  und  beginnen  zu 
diesem  Ende  mit  der  Allherrscherin  unseres  Systems,  der  Sonne. 


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Eine  Amerikafahrt  1492  und  1892. 

Nach  seinem  Vortrage  im  wissenschaftlichen  Theater  der  Urania 
bearbeitet  von 

Br.  M.  Wilhelm  Meyer. 

(Schilift.) 

che  enormen  Werthe  schwimmen  durch  jene  enge  Wasser- 
strafst)  des  Solent  beständig  hin  und  zurück!  Wenn  irgend 
ein  Anblick  den  Geist  des  Columbus  mit  triumphirendem 
Stolze  erfüllen  könnte,  so  wäre  es  dieser!  Wo  vor  vierhundert  Jahren 
sich  nur  kleine,  von  den  Launen  der  trügerischen  Witterung  abhängige 
Nufsschaalen  ängstlich  längs  der  Küstensäume  hinschliohen,  da  stechen 
jetzt,  unbekümmert  um  alle  Elemente,  prunkende  Paläste  mit  rasender 
Geschwindigkeit  unerschrocken  in  die  hohe  See,  ihre  weite  Fahrt  in 
sechs  bis  sieben  Tagen  mit  einer  so  sioheren  Innehaltung  der  Fahrzeit 
ausführend,  beinahe  als  gelte  es  eine  Reise  auf  festem  Lande. 

Der  letzte  Leuchtthurm  ist  uns  inzwischen  aus  den  Augen  ver- 
schwunden. Wir  befinden  uns  bereits  auf  hoher  See.  Der  mächtige 
Dampfer  trägt  uns  mit  Windeseile  über  einer  weiten,  wundervollen 
Welt  hin,  wie  etwa  ein  Luftballon  über  Feld  und  Wald;  über 
einer  Welt,  die  fast  dreimal  so  grofs  ist,  wie  die  wenigen  Erd- 
schollen, welche  aus  dem  meerumflossenen  Planeten  auftauchen.  Wie 
schade,  dafs  schon  in  wenigen  Zehnern  von  Metern  das  Meerwasser 
für  unser  Auge  undurchsichtig  wird!  Welche  Fülle  wunderbarster 
Eindrücke  würden  wir  auf  einer  Oceanfahrt  gewinnen  können,  wenn 
wir,  dem  Luftschiffer  ähnlich,  die  reiche  Welt  hier  unter  uns,  die 
Mysterien  des  Meeresgrundes  belauschen  könnten? 

Die  Bevölkerung  der  Wasseratmosphäre  theiit  sich  ganz  ebenso 
wie  die  des  Luftmeeres  in  Stufen,  so  dafs  gewisse  Tbiere  nur  in  ge- 
wissen Meerestiefen  fortkommen  können.  Dies  ist  hier  auch  noch 
begreiflicher  wie  in  unserer  Atmosphäre  wegen  der  so  ganz  verschie- 
denen Lebensbedingungen,  welche  die  verschiedenen  Meerestiefen  auf- 
weisen. Das  Maximum  der  Entfaltung  liegt  hier  natürlich  an  der 


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Meeresoberfläche  und  nimmt  ab  mit  gröfserer  Tiefe,  also  in  umge- 
kehrter Richtung  wie  in  der  Luft  So  weit  das  Licht  noch  seine 
chemische  Wirkung  auszuüben  vermag,  können  noch  einige  Pflanzen- 
arten, Algen,  fortkoxnmen,  welche  bekanntlich  im  atlantischen  Ocean 
ungeheuer  weite  Strecken,  das  sogenannte  Sargassomeer,  oberflächlich 
anfüllen.  Die  Reise  des  Columbus  führte  durch  dieses  Gestrüpp,  das 
ihm  viel  Sorgen  machte;  unser  Kurs  geht  dagegen  weit  nördlioh  von 
demselben.  Frei  schwimmende  mikroskopische  Algen,  Diatomeen, 
sind  in  jedem  Tropfen  Meerwassers  zu  finden,  lebend,  wenn  man  den 
Tropfen  aus  geringeren  Tiefen  nimmt,  ihre  todten  Kalkpanzer  dagegen 
in  der  Tiefe.  Sie  regnen  mit  den  Schalen  anderer  mikroskopisch  kleiner 
Geschöpfe  in  Ungeheuern  Mengen  beständig  auf  den  Meeresgrund  hinab, 
wo  sie  die  Kreideberge  bilden,  welche  die  Geologen  kommender 
Schöpfungsperioden  für  unsere  Entwicklungsepoche  der  irdischen  Natur 
charakteristisch  finden  werden. 

Die  Meereswelt,  welche  wir  aus  den  Aquarien  oder  landläufigen 
Schilderungen  zu  kennen  pflegen,  bevölkert  nur  den  Meeresgrund  bis 
zu  verhältnifsmäfsig  geringen  Tiefen.  Korallenwälder  und  die  bunte 
Welt  der  übrigen,  mit  Millionen  geschäftiger  Arme  Beute  jagenden 
Pflanzenthiere,  der  Meerrosen,  Aktinien  aller  Art,  trifft  man  meistens 
nur  bis  zu  etwa  hundert  Metern  Tiefe  an.  Dann  vereinsamt  sich  mehr 
und  mehr  der  finstere  Grund  und  nur  hie  und  da  besucht  ihn  eine 
oder  die  andere  jener  bekannteren  Fischarten  des  Meeres.  In  den 
grofsen  Tiefen  dagegen,  über  welche  augenblicklich  unser  Schiff  hin- 
eilt, wird  es  immer  öder  und  öder.  Gleich  nach  dem  ersten  Tage 
unserer  Fahrt  von  Southampton  aus  haben  wir  Tiefen  von  2000  bis 
2700  Metern  unter  uns.  Dann  fahren  wir  über  einen  unterseeischen 
Gebirgsrücken  hin,  der  sich  von  Norden  nach  Süden  durch  den  ganzen 
atlantischen  Ocoan  erstreckt  und  dessen  höchste  Bergspitzen  als  die 
Inselgruppe  der  Azoren  sich  bis  über  die  Wogen  erheben.  Auf  unserem 
Wege  dagegen  ist  er  immer  noch  mindestens  1600  Meter  unter  uns.  Die 
gröfsten  Meerestiefen  weist  bekanntlich  der  pacifische  Ocean  auf,  die 
bis  zu  8500  Metern  oder  so  tief  herabsteigen,  wie  sich  umgekehrt  die 
höchsten  Berge  in  die  Lüfte  erheben. 

In  diesen  Meerestiefen  herrscht  neben  dem  ganz  ungeheuren 
Druck  der  überlagernden  Wassermassen,  die  unsera  Leib  sofort  zu- 
sammendrücken würden,  eine  constante  Temperatur,  die  vom  Gefrier- 
punkt nur  unbedeutend  differirt. 

Die  Temperatur  des  Meerwassers  sinkt  mit  der  Tiefe  bekannt- 
lich in  allen  Breiten  sehr  schnoll  und  erreicht  selbst  in  der  heifsen 

Himmel  und  Erde  1SÖ8.  V.  8.  26 


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382 


Zone  da,  wo  der  Meeresboden  nach  den  Polargegenden  hin  eine  freie 
Zirkulation  des  Wassers  gestattet,  schon  bei  wenigen  hundert  Metern 
Tiefe  den  Nullpunkt,  unter  welchen  es  bei  gröfseren  Tiefen  noch  bis 
auf  — 0°.G  herabsinken  kann.  Der  Grund  hiervon  ist  einerseits  die 
gröfsore  Schwere  des  kalten  Wassers,  welche  sein  beständiges  Nieder- 
sinken bedingt,  andererseits  eine  beständige  Strömung  desselben  auf 
dem  Meeresboden,  welche  von  den  Polen  nach  dem  Aequator  gerichtet 
ist  Wo  diese  Strömung  durch  unterseeische  Barrieren  gehemmt  ist 
wie  beispielsweise  eine  solche  zwischen  England  und  Grönland  vor- 
handen ist  und  dem  kalten  Strome  des  Polarmeeres  den  Zugang  in 
den  atlantischen  Ocean  erschwert,  bleibt  die  Temperatur  noch  in 
gröfseren  Tiefen  auf  derjenigen  Höhe,  welche  auf  der  Kuppe  jenes 
trennenden  Bergrückens  unter  dem  Meere  herrscht.  Dadurch  wurde 
der  atlantische  Ocean  ein  Wärmereservoir  von  grofser  Bedeutung  für 
unsere  klimatischen  Verhältnisse.  Währond  dort  beispielsweise  bei 
1000  m Tiefe  noch  etwa  6°  Wärme  angetroffen  werden,  sinkt  dieselbe 
im  grofsen  Ocean  selbst  unter  dem  Aequator  oft  bei  50  m Tiefe  schon 
um  mehr  als  10 0 unter  die  Temperatur  der  Oberfläche  und  beträgt 
oft  in  mittleren  Breiten  bei  100  m Tiefe  nur  noch  1 0 C.  Sehr  inter- 
essant verhält  sich  in  dieser  Hinsicht  das  mittelländische  Meer,  welches 
von  der  Wasserzirkulation  des  atlantischen  Oceans  durch  die  nur 
360  m tiefe  Meerenge  von  Gibraltar  getrennt  ist.  Die  Temperatur  des 
Mittelmeeres  sinkt  deshalb  niemals  unter  die,  welche  man  in  der  ge- 
nannten Tiefe  des  atlantischen  Oceans  findet,  also  14°,  obgleich  das 
Becken  natürlich  stellenweise  ganz  bedeutend  gröfsere  Tiefen  aufweist, 
die  im  benachbarten  Ocean  beträchtlich  niedrigere  Temperaturen  besitzen. 
Diesem  Umstande  verdankt  das  Mittelmeer  seine  eigenartige,  üppige 
und  reiche  Thierwelt. 

Man  stelle  sich  diese  Umstände  vor:  Ein  Druck  von  vielen 
hundert  Atmosphären,  völlige  Finstemifs,  eisige  Kälte,  um  zu  be- 
greifen, dafs  hier,  wenn  es  denn  überhaupt  hier  noch  Leben  giebt, 
was  erst  die  neuesten  Tiefseeforschungen  erwiesen  haben,  eine  fremd- 
artige Welt  mit  fremdartigen  Geschöpfen  sich  uns  aufthun  würde, 
die  mit  unserer  sonnigen  Welt  des  Landes  kaum  einen  Zug  gemein 
haben  kann.  Abenteuerliche  Formen  von  Fischen  und  Gethier  aller 
Art,  die  meist  einige  selbstleuchtende  Stellen,  wie  Laternen,  die 
ihnen  den  Weg  durch  diese  Finstemifs  weisen  oder  vielleicht  auch 
nur  zur  Anlockung  der  Beute  dienen  sollen,  am  Körper,  gewöhnlich  aber 
ungeheuere  Mäuler  haben,  in  welche  die  Beute  einfach  hineinschwimmen 
mufste,  hat  man  aus  diesen  unwirklichen  Tiefen  ans  Licht  gezogen. 


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383 


Kehren  auch  wir  nach  dieser  kleinen  Gedankenexkursion  wieder 
zurück  zum  heiteren  Tage. 

Seit  mehreren  Tagen  schon  haben  wir  kein  Land  mehr  gesehen. 
Wie  wird  nun  das  Sohiff  sicher  durch  die  scheinbar  endlose  Wasser- 
wüste geführt,  wo  kein  Leuchtthurm,  kein  Seezeichen  den  Weg  mehr 
bezeichnen  kann?  Ueberall  dasselbe  Wasser,  derselbe  Himmel,  und 
man  hat  nun  den  Eindruck,  überhaupt  nicht  mehr  von  der  Stelle  zu 
kommen,  weil  man  eben  nicht  die  geringste  Veränderung  der  Scenerie 
wahrnimmt.  Höchstens  finden  wir,  dafs  die  Meeresfläche  von  immer 
längeren,  ausgedehnteren  Wogenreihen  durchzogen  wird,  immer  majestä- 
tischer und  feierlicher  pulst,  dass  die  Wassermassen  unter  uns  eine 
immer  tiefer  blaue,  ja  beinahe  schwarze  Färbung  annehmen;  sie  machen 
einen  schwereren,  gewaltigen  Eindruck.  Es  schoint  kaum  nooh  Wasser 
zu  sein,  welches  das  Schiff  rastlos  hastend  durcheilt  Wir  erkennen, 
dass  wir  Mitte-Ocean  erreicht  haben,  gleich  weit  entfernt  von  den  beiden 
Welten,  schwimmend  auf  wogender  Fläche. 

Wie  werden  wir  in  den  sicheren  Hafen  gelangen? 

Der  treueste  Begleiter  des  Seemanns  ist  auch  hier  noch,  wie  zu 
Zeiten  des  Columbus,  der  Kompafs.  Aber  wie  unendlich  hat  sich  der- 
selbe seitdem  vervollkommnen  Man  hat  die  Abweichung  der  Magnet- 
nadel für  alle  befahrenen  Breiten  und  Längen  der  Erde  von  der  ge- 
nauen Nord  - Südrichtung  ermittelt.  Diese  sogenannte  „Mifsweisung“ 
beträgt  beispielsweise  gegenwärtig  in  Bremen  13°  W,  in  New-York  da- 
gegen 7°  W,  während  sie  auf  unserer  Fahrt  zwischen  Europa  und 
Amerika  bis  auf  30°  W angewachsen  war.  Ihre  jährliche  Aenderung 
wird  selbstverständlich  gleichfalls  berücksichtigt.  Ferner  wird  der 
Kompafs  wegen  der  magnetischen  Einwirkung  der  Eisentheile  und  der 
elektrischen  Lichtmaschinen  compensirt  und  endlich  auch  das  Ueber- 
liegen  des  Schiffs  nach  rechts  oder  links,  die  sogenannte  „Krängung“, 
gebührend  berücksichtigt. 

Da  der  Einflufs  des  Erdmagnetismus  auf  die  Lage  der  mag- 
netischen Pole  des  Schiffes  mit  dem  Winkel,  welche  das  letztere  zum 
magnetischen  Meridian  bildet  und  mit  der  Gröfse  der  erdmagnetischen 
Kraft  überhaupt  sich  ändern  mttfs,  so  ist  die  Berücksichtigung  des- 
selben für  den  Kurs  des  Sohiffes  durchaus  keine  einfache.  Es  ntufs 
eine  sorgfältige  Untersuchung  des  Kompasses,  zunächst  im  Hafen, 
dann  aber  auch  eine  dauernde  Kontrolle  während  der  Fahrt  durch 
Peilung  der  Sonne  oder  anderer  geeigneter  Gestirne,  deren  Lage  zum 
wahren  Meridian  man  jederzeit  genau  kennt,  stattfinden. 

26* 


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384 


Mit  all  diesen  Kenntnissen  ausgestattet,  steuert  der  Seemann  zu- 
nächst seinen  vorgeschriebenen  Kurs  weiter  und  trägt  ihn  auf  seiner 
Karte  als  Linie  ein.  Um  den  auf  dieser  Linie  wirklich  zurückgelegten 
Weg  zu  bestimmen,  dient  einerseits  das  Log,  oder  die  Zählung  der 
Umdrehungen  der  Schiffsschraube. 

Das  Log  ist  ein  Stückchen  Holz,  das,  an  eine  Leine  gebunden, 
über  Bord  geworfen  wird.  Das  Brettchen  stellt  sich  senkrecht  zur 
Wasserfläche  und  bleibt  defshalb  auf  derselben  Stelle,  auf  welche 
es  hinabgeworfen  war.  Die  Länge  der  Leine,  die  sich  in  einer 
bestimmten  Zeit  abrollt,  während  das  Schiff  weiterfährt,  giebt  dann 
offenbar  die  Geschwindigkeit  des  letzteren,  beispielsweise  in  einer 
Minute  ad,  und  man  kann  daraus  auf  die  ganze,  bisher  zurückgelegte 
Strecke  schliefsen. 

Das  Loggen  ist  in  dieser  Weise  jedoch  bei  den  ungemein  schnell- 
fahrenden,  modernen  Dampfern  nicht  mehr  mit  genügender  Sicher- 
heit auszuführen.  Bei  diesen  zählt  die  Maschine  die  ausgeführten 
Schraubenumdrehungen.  Jede  Umdrehung  bringt  das  Schiff  um  ein 
Bestimmtes  weiter.  Die  ganze  Anzahl  der  Umdrehungen,  deren  die 
20  bis  25  Fufs  messenden  Flügel  der  gewaltigen  Schraube  70  in  der 
Minute  ausführen,  giebt  demnach  den  zurückgelegten  Weg  an.  Natür- 
lich mufs  dabei  der  hemmondo  Einflufs  des  Seeganges,  des  Windes  und 
der  Strömung,  theils  nach  bestimmten  Regeln,  theils  mehr  nach  der 
Empfindung  des  erfahrenen  Seemanns  berücksichtigt  werden. 

Etwas  Mifsliches  besitzt  natürlich  diese  „Schiffsbesteckrechnung“ 
allemal,  und  namentlich  nach  einem  tüchtigen  Sturme  wird  man  der- 
selben nicht  mehr  recht  trauen,  ehe  sie  nicht  durch  die  unerschütter- 
lich sicheren  Weisungen  der  Sonne  und  der  Sterne  controllirt  worden 
ist,  was  selbstverständlich  so  oft  als  irgend  möglich  geschieht. 

Wie  dies  möglich  ist,  kann  in  populärer  Weise,  ohne  Anwendung 
mathematischer  Formen,  nur  angedeutet  werden.  Ausführlicheres  für 
Leser,  welche  der  Trigonometrie  mächtig  sind,  findet  man  in  der  schon 
früher  erwähnten  Abhandlung  des  Herrn  Admiralitätsrath  Rottok  in 
diesen  Blättern. 

Gehen  wir  von  der  allbekannten  Thatsache  aus,  dafs  in  den  ver- 
schiedenen Gegenden  der  Erde  die  Tage  sehr  verschieden  lang  sind. 
Während  die  Sonne  unter  dem  Aequator  Jahr  aus  Jahr  ein  um  6 Uhr 
früh  auf-  und  abends  zu  derselben  Stunde  untorgeht,  kann  sie  in  den 
Polargegenden  Monate  lang  überhaupt  über  dem  Horizonte  bleiben 
oder  gar  nicht  aufgehen.  Dafs  hierin  eine  bestimmte  Gesetzlichkeit 
obwaltet,  so  dafs  man  für  eine  bestimmte  geographische  Breite  die 


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Tageslänge  für  jeden  Tag  des  Jahres  genau  vorher  ausrechnen  kann, 
begreift  man  gleichfalls  ohne  weiteres.  Gesetzt  also,  wir  hätten  irgendwo 
Auf-  und  Untergang  der  Sonne  beobachtet  und  daraus  die  Tageslänge 
bestimmt,  so  wüfsten  wir  offenbar  auch  zugleich,  unter  welcher  Breite 
wir  uns  befinden.  Dieses  Prinzip  wird  vom  Seemann  verwendet.  Nur 
wartet  er  nicht  auf  den  Sonnenauf-  und  Untergang,  sondern  er  bestimmt 
durch  den  Sextanten,  ein  Winkelmefsinstrument,  das  er  in  freier  Hand 
hält,  wie  hoch  sich  das  Tagesgestim  noch  über  dem  Horizonte  befindet, 
woraus  er  gewissermafsen  auf  die  Zeit  seines  Unterganges  schliefst. 

Dies  ist  jedoch  offenbar  nur  möglich,  wenn  er  zweimal  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  die  sich  verändernde  Höhe  der  Sonne  mifst.  Denn 
da  bekanntlich  die  Kreise,  welche  die  Sonne  scheinbar  um  den  Himmel 
beschreibt,  sehr  verschieden  gegen  den  Horizont  geneigt  sind,  so  kann 
in  verschiedenen  Breiten  die  Sonne  sehr  verschiedene  Zeiträume  ge- 
brauchen, um  von  einer  bestimmten  Höhe  bis  zum  Horizonte  herab 
zu  sinken.  Hat  man  aber  zwei  verschiedene  Höhen  gemessen  und 
kann  zugleich  das  Zeitintervall  angeben,  welches  zwischen  den  beiden 
Messungen  liegt,  so  begreift  man  wohl,  dafs  es  eine  Methode  giebt, 
durch  welche  man  aus  der  beobachteten  Höhenveränderung  entweder 
auf  die  Zeit  des  Unterganges,  oder  die  des  höchsten  Standes  der 
Sonne,  d.  h.  auf  den  Ortsmittag  schliefsen  kann.  Diese  beiden  Höhen- 
messungen geben  also  auch  vereint  beide  gewünschten  geographischen 
Coordinaten,  die  Breite  und  die  Länge.  Die  ermittelte  Tageslänge 
liefs  die  Breite  finden.  Der  Schiffschronometer  zeigt  nun  stets  die 
Zeit  von  Greenwich  an.  Der  Zeitunterschied  aber  zwischen  dem  aus 
den  beiden  Sonnenhöhen  errechnten  Schiffsmittag  ist  gleich  dem  Unter- 
schiede der  geographischen  Längen  jener  Sternwarte  und  des  augen- 
blicklichen Schiffsortes.  Für  den  Seemann  tritt  hier  noch  die  Schwierig- 
keit hinzu,  dafs  zwischen  Breiten-  und  Längenbestimmung,  d.  h.  zwischen 
den  beiden  Sonnenhöhenmessungen,  oft  mohrere  Stunden  Zeit  vergehen, 
während  welcher  das  Schiff  seinen  Ort  verändert.  Der  Weg  des 
Schiffes,  durch  die  mechanischen  Methoden  mit  Kompafs  und  Geschwin- 
digkeitsmessung bestimmt,  intifs  dann  gleichfalls  in  Rechnung  gezogen 
werden. 

Der  Chronometer,  dessen  Angaben  gewissermafsen  das  Fundament 
bilden,  auf  welchem  alle  Sohlüsse  des  Seemanns  über  den  Ort  seines 
Schiffes  und  also  die  ganze  Sicherheit  desselben  aufgebaut  sind,  wird 
defshalb  von  ihm  gehütet  wie  sein  Augapfel.  Eine  besondere  Art  der 
Aufhängung  schützt  ihn  vor  den  Stöfsen  des  Schiffes,  ein  doppelter, 
fest  beschlagener  Kasten  vor  der  Einwirkung  der  feuchten  Luft.  Es 


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386 


ist  auch  das  erste  Stüok,  welches  nach  glücklicher  Ankunft  ans  Land 
kommt,  um  unausgesetzt  der  genauesten  Prüfung  unterworfen  zu 
werden. 

Wir  sind  inzwischen  an  den  Neufundlandbänken  vorüber  geeilt. 
Allein  schon  die  empfindlich  kühler  werdende  Temperatur,  die  hier 
zu  herrschen  pflegt,  hätte  uns  dies  verrathen  können. 

Unser  Führer  durch  die  Wasserwüste  hat  natürlich  sicherere  An- 
zeichen, an  denen  er  diese  weitausgedehnten  Versandungen  des  Meeres- 
bodens erkennt,  die  der  mächtige  Ausflufs  der  grofsen  Seen  des  nord- 
amerikanischen  Festlandes,  der  St.  Lorenzstrom,  hier  gebildet  hat 
All  das  Felsgeklüft  und  das  Erdreich,  welches  der  Niagarafall  vielleicht 
seit  Jahrhunderttausenden  unter  seinen  brausenden  Fluthen  zermalmte, 
liegt  hier  am  Grunde  des  Meeres,  eine  neue  geologische  Formation 
bildend.  Der  Seemann  erkennt  ihre  Annäherung  zunächst  an  der 
rapiden  Abnahme  der  Meerestiefe,  welche  er  namentlich  jetzt,  gegen 
Ende  der  Fahrt,  besonders  häufig  durch  das  Loth  bestimmt,  dann  aber 
auch  an  der  besonderen  Art  des  Erdreichs,  welches  das  Loth  mit 
heraufbringt 

Das  Lothen  ist  überhaupt  eine  sehr  wichtige  Art  der  Orientirung 
des  Seemannes  geworden.  Die  Meerestiefen  auf  allen  vielbefahrenen 
Linien  sind  heute  fast  ebenso  gut  bekannt,  wie  etwa  die  Höhen  der 
Bergspitzen  auf  dem  civilisirten  Lande,  und  so  wie  wir  diese  letzteren 
benutzen,  um  uns  zu  orientiren,  so  findet  der  Seemann  seinen  Weg, 
indem  er  sein  geistiges  Auge  hinabsenkt  in  die  Tiefen  dieses  umge- 
kehrten Gebirges  unter  dem  Meeresspiegel.  Ebenso,  wie  zu  Lande 
verschiedenes  Erdreich  die  charakteristische  Verschiedenheit  der  Land- 
schaften ausmacht,  zeigt  auch  der  Meeresboden  so  wesentliche  Unter- 
schiede seiner  Zusammensetzung,  dafs  dies  gleichfalls  ein  Merkmal 
für  den  Ort  des  Schiffes  werden  kann,  wenn  eben  das  launische 
Wetter  die  sicherste  Art  der  Orientirung,  die  an  der  Sonne  und  den 
übrigen  Gestirnen,  für  längere  Zeit  unmöglich  gemacht  hatte. 

Wir  sind  inzwischen  an  den  ersten  Anzeichen  des  amerikanischen 
Landes  bereits  vorüber  gefahren.  Zur  Rechten  der  Fahrtrichtung  er- 
schienen schon  gestern  niedrige  Landstreifen  über  dem  Wasser.  Das 
war  die  Insel  Long-Island,  und  das  erste  Leuchtfeuer,  das  von  Nave- 
sinsk,  winkte  uns  vom  Festland  herüber.  Für  den  Seemann  bedeutet 
das,  festen  Fufs  gefafst  zu  haben;  seine  schwer  verantwortliche  Aufgabe 
ist  erfüllt.  Auch  unsere  Betrachtungen  mögen  damit  an  dieser  Stelle 
abbrechen.  — 


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Vergrößerung  des  Erdschattens  bei  Mondfinsternissen. 

Bekanntlich  erscheint  bei  Mondfinsternissen  der  Kernschatten 
der  Erde,  welcher  bei  diesen  Himmelserscheinungen  über  den  Mond 
wegzieht,  um  etwas  gröfser,  als  er  der  Rechnung  nach  sein  sollte. 
Man  hat  deshalb  bei  den  Berechnungen  der  Finsternisse  schon  seit 
langem  eine  Korrektion  für  diese  Vergröfserung  eingeführt.  Für 
diesen  „Vergrüsserungs-Coefficienten“  sind  von  Tobias  Mayer, 
Cassini,  Lambert,  Miidler  u.  A.  sehr  von  einander  abweichende 
Zahlen  angegeben  worden,  und  es  ist  ein  verdienstliches  Unternehmen 
gewesen,  dafs  vor  einigen  Jahren  die  Herren  Brosinsky  und 
Hartmann  den  Versuch  gemacht  haben,  den  Betrag  der  Vergröße- 
rung aus  einer  Reihe  beobachteter  Mondfinsternisse  abzuleiten.  Die 
Resultate,  welche  aus  den  einzelnen  Finsternissen  gezogen  werden 
konnten,  differiren  indessen  beträchtlich  von  einander,  so  dafs  es  den 
Anschein  hat,  als  existire  bei  jeder  Finsternifs  eine  besondere  Ver- 
gröfserung des  Erdschattens.  Beide  Astronomen  (dio  übrigens  ihre 
Arbeiten  vollkommen  unabhängig  von  einander  und  mit  verschiedenem 
Beobachtungsmaterial  durchgeführt  haben)  neigen  deshalb  zu  der  auch 
schon  von  anderen  betonten  Ansicht,  dafs  die  Ursache  in  unserer 
Erdatmosphäre  liege  und  diese  den  Erdschatten  gröfser  auf  dem  Monde 
erscheinen  lasse,  indem  entweder  jeweilige  meteorologische  Bedingungen 
oder  eine  besondere  äußere  Form  des  Luftmeeres  dabei  mit  in 
Wirkung  treten.  In  einem  Referate  über  die  beiden  erwähnten 
Arbeiten  nimmt  nun  Professor  Seeliger  den  Anlaß,  zu  zeigen,  dafs 
von  einem  Einflüsse  unserer  Atmosphäre  bei  dem  Gegenstände  gar 
keine  Rede  sein  könne,  und  daß  sich  etwa  so  weit  gehende  Hoff- 
nungen, wie  aus  Beobachtungen  des  Erdschattens  zu  Schlüssen  über 
die  Form  der  oberen  Luftschichten  der  Erde  gelangen  zu  können, 
nicht  erfüllen  würden.  Er  beweist  durch  eine  mathematische  Unter- 
suchung, daß  eine  Vergröfserung  des  Radius  des  Kernschattens  nicht 
erfolgt,  auch  wenn  die  Erdatmosphäre  nicht  vorhanden  wäre.  Der 
Grund  ist  im  Gegentheil  ein  physiologischer  und  liegt,  wie  auch  aus 


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388 


einigen  Experimenten  mit  Lichtquellen  und  kreisförmigen  Schirmen, 
die  von  Prof.  Seeliger  vorgenomraen  worden  sind,  hervorgeht,  viel- 
mehr darin,  dafs  das  Auge  die  geometrische  Grenze  des  Kernschattens 
überhaupt  nicht  wahmehmen  kann.  Jeder  Beobachter  ist  geneigt, 
diese  Grenze  um  etwas  in  den  Halbschatten  hinein  zu  verlegen. 
Nachdem  er  dies  auch  bei  der  Beobachtung  der  Mondfinsternifs  thut, 
wo  die  Zeit  angegeben  werden  soll,  bei  welcher  einzelne  Mondkrater 
vom  Kernschatten  berührt  werden,  mufs  die  halbe  Durchgangszeit  der 
Krater  durch  den  Sohatten  zu  grofs,  mithin  auch  der  Radius  des 

Sohattendurchschnittes  gröfser  als  nach  der  Rechnung  gefunden  werden. 

• 

* 


Zwei  Riesenfernröhre. 

Wie  auf  S.  44  erwähnt  wurde,  beobachtete  Herr  Pickering, 
der  Sohn  des  verdienstvollen  Leiters  der  Harvard-Sternwarte,  im 
vorigen  Jahre  längere  Zeit  in  einer  auf  der  peruanischen  Hochebene 
gelegenen  Sternwarte,  und  er  hat  dort  meteorologische  Bedingungen 
vorgefunden,  die  diese  Gegend  als  ein  wahres  Paradies  der  Astro- 
nomen erscheinen  lassen.  Einen  grofsen  Thoil  des  Jahres  hindurch 
ist  der  Himmel  fast  wolkenlos.  Man  hatte  einen  dreizehnziilligen 
Refraktor  dort  aufgestellt,  weloher  eine  merkwürdige  Klarheit  der 
Luft  anzeigte,  und  zwar  Nacht  für  Nacht,  wie  sie  anderswo  nur  sehr 
selten  vorkommt.  Doppelsterne,  deren  Komponenten  viel  weniger 
als  eine  Bogensekunde  von  einander  entfernt  sind,  wurden  sofort 
getrennt,  und  beständig  kann  mau  Vergröfserungen  an  wenden,  die 
sich  wo  anders  von  selbst  ausschliefsen.  Bei  vielen  Untersuchungen 
ist  der  Erfolg  hier  oben  so  grofs,  als  wenn  man  in  der  Ebene 
die  OefTnung  des  Instruments  verdoppelte.  Pickering  richtet  sich 
nun  an  das  gerade  in  seiner  Heimath  von  Privatleuten  oft  schon 
bewiesene  Interesse  für  die  Himmelskunde  und  hofft,  dafs  die  Stern- 
warte von  Arequipa  durch  eine  reiche  Schenkung  mit  einem  Riesen- 
fernrohr wird  ausgestattet  werden  können.  Dieses  würde  dann  gegen 
alle  bisherigen  in  seiner  Aufstellung  gewaltige  Vorzüge  bieten. 
Denn  die  meisten  grofsen  Fernröhre  sind  in  der  Nähe  der  Haupt- 
städte oder  grofser  Universitätsstädte  errichtet  worden  ohne  Rücksicht 
auf  die  Gunst  oder  Ungunst  der  klimatischen  Verhältnisse.  Nun 
eignet  sich  gerade  das  Klima,  welches  die  Gröfse  eines  Landes  oder 
einer  Stadt  mit  bedingt,  oft  am  wenigsten  für  die  Arbeit  der  Himmels- 


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339 


forscher:  so  sind  gerade  Westeuropa  und  die  östlichen  Vereinigten 
Staaten,  die  Striche,  in  denen  die  gröfsten  Sternwarten  liegen,  klimatisch 
unzureichend.  Um  einen  viel  gröfseren  Fortschritt  in  der  Himmels- 
kunde zu  garantiren,  wird  man  zur  Aufstellung  eines  neuen  grofsen 
Fernrohrs  eine  ganz  andere  Gegend  auswählen  müssen.  Das 
Arequipa-Observatorium  hat  den  grofsen  Vortheil,  nur  16  Grade  süd- 
lich vom  Aequator  zu  liegen,  wo  alle  südlichen  Sterne  sichtbar  sind. 
Während  die  allermeisten  grofsen  Fernrohre  jetzt  nördlich  vom 
35.  nördlichen  Parallelkreise  sich  auf  etwa  einem  Fünftel  der  Erd- 
oberfläche zusammengestellt  finden,  gehört  keines  von  den  17  gröfsten 
und  nur  eines  von  den  53  gröfseren  der  südlichen  Halbkugel  an,  ja 
von  den  74  Fernrohren  von  10  Zoll  aufwärts  sind  nur  vier  südlich 
vom  35.  nördlichen  Parallelkreis  zu  finden.  So  kommt  es,  dafs  un- 
gefähr ein  Viertel  des  Himmels  überhaupt  nicht  im  Beobachtungs- 
gebiete grofser  Fernrohre  liegt  Die  Magellanschen  Wolken,  die 
grofsen  Sternhaufen  im  Centauren,  Tukan  und  Schwertfisch,  der  ver- 
änderliche Stern  r,  Argus  und  die  dichten  Theile  der  Milchstrafse  im 
Skorpion,  der  Argo  und  dem  Kreuz  liegen  innerhalb  des  vernach- 
lässigten Gebietes.  Dazu  kommt,  dafs  der  Planet  Mars  bei  seiner 
Erdnähe  immer  weit  im  Süden  sich  befindet,  so  dafs  seine  Oberfläche 
gerade  hier  besonders  leicht  wird  studirt  werden  können. 

Man  sieht,  es  ist  hier  der  Ort,  wo  ein  grofses  Fernrohr  sich  zu 
guten  Diensten  geeignet  erweisen  wird  — man  mag  es  direkt  oder  für 
photographische  Zwecke  benutzen.  Für  200  000  Dollar  hofft  Picke  ring, 
der  Arequipa-Sternwarte  eiuen  Vierzigzöller  bester  Qualität  von  der 
Firma  Alwin  Clark  und  Söhne  in  Boston  beschaffen  zu  können. 
Hoffen  wir,  dafs  diese  Summe  bald  zusammen  sein  wird, um  die  gewaltigen 
Aufgaben,  dio  des  projektirton  Riesenfernrohrs  harren,  nicht  zu  lange 
aufser  Angriff  zu  lassen.  In  Pickerings  Händen  stellt  es  beim 
günstigsten  Klima  der  Welt  Ergebnisse  von  solcher  Wichtigkeit  in 
Aussicht,  wie  kein  anderes. 

Soll  dieses  Fernrohr  ein  Refraktor  sein,  so  ist  für  die  im  Jahre 
1900  in  Paris  stattfindende  Ausstellung  ein  Riesenspiegel  von  ver- 
silbertem Glas  projoktirt,  der  nicht  weniger  als  zehn  Fufs  Durch- 
messer haben  soll,  mehr  als  doppelt  soviel  wie  Commons  zur  Zeit 
grörstes  derartiges  Instrument.  Ebenso  ist  die  Brennweite  von 
140  Fufs  beispiellos;  aber  mit  den  Hilfsmitteln  der  modernen  Technik 
wird  es  hoffentlich  gelingen,  der  gewaltigen  Schwierigkeiten,  welche 
die  Herstellung  und  die  Montirung  eines  solchen  Kolosses  darbieten, 
Herr  zu  werden,  und  wer  immer  um  die  Wende  des  Jahrhunderts 


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390 


der  Technik  in  Paris  weilen  wird,  dem  wird  auch  ein  Blick  durch 
diesen  dann  gewaltigsten  astronomischen  Apparat  gestattet  sein. 
Dieses  Rohr  soll  in  der  That  nicht  in  erster  Linie  wissenschaftlicher 
Forschung,  sondern  zunächst  der  Belehrung  des  Publikums  dienen. 

Sm. 


* 


Vom  Elmsfeuer.  Während  man  bis  vor  wenigen  Jahren  noch 
die  elektrischen  Entladungen,  welche  in  der  Atmosphäre  in  Gestalt 
des  Elmsfeuers  auftreten,  für  selten  hielt,  haben  jetzt  die  Beobachtungen 
der  Sonnblickwarte  ihr  häufiges  Vorkommen  erwiesen.  Wir  haben 
bereits  (Himmel  und  Erde  Bd.  IV.  S.  274)  auf  die  günstige  Lage  hinge- 
wiesen, welche  das  genannte  Observatorium  für  diese  Art  von  Be- 
obachtungen besitzt  und  haben  angezeigt,  dafs  der  dortige  Beobachter 
Peter  Lechner  im  Aufträge  von  Elster  und  Geitel  in  Wolfen- 
büttel, dieselben  systematisch  aufzeichnet.  Dabei  ist  es  seine  Sorge, 
das  Zeichen  des  Elmsfeuers  von  5 zu  5 oder  von  10  zu  10  Minuten 
mit  Hülfe  eines  Bohnenbergerscheri  Elektroskops  festzustellen,  die 
Stärke  des  Phänomens  abz.ischätzen  und  endlich  die  Begleit- 
erscheinungen, als  Schneefall,  Blitze,  Windrichtung  und  -stärke  zu 
notiren.  Lechner  hat  in  den  letzten  zwei  Jahren  ein  zahlreiches 
Material  zusammengetragen,  das  sich  auf  35  Tage  vertheilt  und  670 
Einzelbeobachtungen  umfafst.  Dieses  Material  haben  Elster  und 
Geitel  zu  ähnlichen  Diagrammen,  wie  Fig.  6 a.  a.  O.  zusammen- 
gestellt, und  sie  sind  dadurch  zu  übersichtlichen  Betrachtungen  über 
diese  Erscheinung  gelangt,  die  Interesse  genug  besitzen.  Dies  sind 
die  Ergebnisse:  Elmsfeuer  werden  nicht  blos  als  ständige  Begleiter 
von  Gewittern  beobachtet,  sondern  auch  selbständig,  selbst  im  Winter 
nicht  selten,  wahrgenommen.  Immer  sind  sie  an  das  Erscheinen  von 
Niederschlägen  gebunden  und  finden  meist  gleichzeitig  mit  diesen, 
manchmal  auch  vor  oder  nach  denselben,  nie  aber  bei  heiterem 
Himmel  statt.  Meist  wechselt  die  ausströmende  Elektrizität  während 
des  Elmsfeuers  ihr  Zeichen,  besonders  bei  Gewittern.  Im  Winter  ist 
negatives  Elmsfeuer  viel  häufiger  als  positives  und  zeigt  sich  dabei 
an  das  Erscheinen  von  Staubschnee  gebunden,  während  der  grofs- 
flockige  Schnee,  der  im  Sommer  überwiegt,  fast  nur  positives  Elms- 
feuer in  seiner  Begleitung  hat  Windrichtung  und  -stärke  beeinflussen  die 
Erscheinung  nicht.  Der  a.  a.  O.  bereits  angedeutete  Zusammenhang  mit 
der  Farbe  der  Blitze,  wonach  bei  negativem  Elmsfeuer  diese  bläulich,  bei 


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391 


positivem  röthlich  erscheinen,  und  die  dort  ausgesprochene  Vermuthung, 
dafs  die  Blitze  röthlich  erscheinen,  wenn  die  Erde  den  positiven,  bläulich, 
wenn  sie  den  negativen  Pol  der  elektrischen  Entladung  bildet,  wurde 
von  Elster  und  Geitel  experimentell  begründet  Sie  mufsten  dazu 
die  beiden  Pole,  den  Fels,  der  einen  besseren  Leiter  von  Spitzenform 
darstellt,  und  die  Wolkenschicht,  die  nicht  leitend  zusammenhiingt 
und  ausgedehnter  ist  durch  eine  Metallspitze  und  eine  Wasserober- 
fläche nachahmen,  zwischen  denen  die  Funken  eines  Ruhmkorff  über- 
sprangen. War  die  Spitze  der  positive  Pol,  so  waren  die  Funken 
röthlich  gefärbt  stark  verzweigt  und  von  einem  schwachen  Prasseln 
begleitet,  im  andern  Falle  waren  sie  bläulichweifs,  fast  geradlinig  und 
laut  schallend.  Will  man  die  Häufigkeit  des  Elmsfeuers  gerade  auf 
Bergeshöhen  erklären,  so  wird  man  neben  der  gröfsoren  Dichtigkeit 
der  Elektrizität  als  mögliche  Ursache  an  die  verminderte  Dichtigkeit 
der  Luft  dort  oben  zu  denkeu  haben,  die  in  Sonnblickhöhe  nur  noch 
zwei  Drittel  von  der  hier  unten  herrschenden  beträgt.  Dafs  die  Ent- 
ladungen in  verdünnter  Luft  leichter  vor  sich  gehen,  das  zeigen  schon 
die  Erscheinungen  der  Geifslerschen  Röhren  an.  Elster  und 
Geitel  aber  konnten  beim  allmählichen  Verdünnen  der  Luft  in  einem 
Glasrezipienten  das  deutliche  Anwachsen  des  positiven  Büschellichtes 
bereits  bei  einem  Grade  der  Verdünnung  erkennen,  welcher  dem 
durchschnittlichen  Barometerstände  (von  520  mm)  auf  der  Sonnblick- 
spitze  entsprach.  Sm. 

f 


Ueber  Wasserfallelektrizität.  Durch  frühere  Untersuchungen 
ist  festgestellt,  dafs  die  Zerstäubung  des  Wassers  in  Sturzbächen  eine 
reichlich  fliefsende  Elektrizitätsquelle  ist.  Stets  wird  dabei,  wie  Hoppe 
am  Lauterbrunner  Staubbach,  Elster  und  Geitel  an  den  Wasserfällen 
am  Fufse  des  Sonnblick  beobachteten1),  und  auch  Exner  am  Lido  von 
Venedig  und  am  Strande  von  Ceylon  bei  hohem  Wellengänge  nach- 
weisen  konnte,  die  Luft  mit  negativer  Elektrizität  geschwängert,  deren 
Spannung  bei  Annäherung  an  den  Wasserfall  natürlich  bedeutend 
wächst.  Die  Ursache  dieser  Erscheinung  ward  bisher  in  der  elektrischen 
Vertheilung  gesucht,  durch  welche  die  negativ  geladene  Erdoberfläche 
in  den  umherspritzenden  Wassertheilchen  eine  hohe  negative  Spannung 
erregt,  während  die  normale  positive  Luftelektrizität  durch  die  fallenden 
grorsen  Tropfen  dem  Erdboden  zugeführt  wird.  Sollte  diese  Ansicht 

>)  H.  u.  E.  Bd.  IV  S.  257. 


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392 


richtig-  sein,  so  mufste  an  Wasserstürzen,  die  nicht  in  dem  elektrischen 
Felde  der  Erde  lagen,  mangels  der  Ursache  auch  die  Wirkung  fort- 
bleiben. Erfahrungsgemiifs  liegen  bereits  Hohlwege  von  7 m Tiefe 
aufserhalb  des  elektrischen  Feldes  der  Erde.  An  Wasserfällen  in 
ebenso  tiefen  oder  noch  tieferen  Schluchten  hätten  also  keine  negativen 
Spannungen  wahrgenommen  werden  dürfen.  Nun  ist  aber  von  Lenard 
bei  Gelegenheit  einer  Alpenreise  an  dergleichen  Fällen  die  Erscheinung 
auch  beobachtet  worden.  Mit  Hülfe  eines  Exn ersehen  Elektroskopes, 
mit  dem  eine  kleine  Petroleumflamme  als  Kollektor  verbunden  war, 
stieg  die  beobachtetete  negative  Spannung  in  der  Nähe  wasserreicher, 
tosender  Flüsse  so  hoch,  dafs  das  Elektroskop  zur  Messung  nicht  aus- 
reichte; aber  selbst  an  schwach  geneigten  plätschernden  Bächen  war 
das  Phänomen  noch  erkennbar.  Elster  und  G eitel  hatten  dieselbe 
Erscheinung  im  Sommer  1891  in  der  Kitzlochklamm  bei  Rauris  wahr- 
genommen, und  sie  hatten  ihre  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  älteren 
Erklärung  damit  bekämpft,  dafs  dieser  Wasserlauf  in  seinem  oberen 
Theile  noch  der  Einwirkung  der  Erdelektrizität  ausgesetzt  ist,  und  die 
Weiterführung  der  elektrischen  Massen  beim  Weitersturze  des  Wassers 
nicht  ausgeschlossen  war.  Aber  in  diesem  Jahre  haben  sie  das 
Elektroskop  an  die  vollständig  unterirdisch  fliefsenden  Wasserläufe, 
welche  die  Fülle  der  Reka  in  den  Höhlen  von  St.  Canzian  bei  Triest 
darstellen,  getragen  und  ihre  Resultate  sind  gegen  die  ältere  Ansicht 
entscheidend.  Vor  dem  Eingänge  zu  den  Höhlen  ergab  sich  nämlich 
an  dem  Oblasserfalle  das  Vorhandensein  negativer  Elektrizität,  die 
aber  nicht  duroh  irgend  welche  Strömungen  weiter  getragen  wurde, 
so  dafs  im  Svettinadom,  wo  das  Wasser  ruhig  dahinfliefst,  keine 
Spannung  auffindbar  war;  dagegen  zeigte  sich  der  stark  spritzende 
sechste  Wasserfall,  der  200  m vom  Eingänge  entfernt  liegt,  als  neue 
Quelle  hochgespannter  negativer  Elektrizität,  während  der  achte,  viel 
weniger  bewegte  Fall  weit  geringere  Spannungen  hervorbrachte. 
Hieraus  folgt  nun  — was  Lenard  bereits  erschlossen  hatte5)  — dafs 
das  Abroifsen  von  Wasser  oder  das  Wiederauffallen  der  Tropfen  die 
Ursache  dieser  elektrischen  Erregung  sein,  und  diese  ganz  unabhängig 
von  einer  etwa  vorhandenen  Elektrizität  der  Umgebung  sein  müsse. 
In  der  That  hat  Lenard  durch  eine  Reihe  von  Laboratoriumsver- 
suchen es  schlagend  bewiesen,  dafs  der  Fall  von  Wassertropfen  auf 
Wasserflächen  oder  von  Wasser  benetzte  Gegenstände  eine  Quelle 
negativer  Elektrizität  für  die  verspritzenden  Theilchen  ist,  und  zwar 

-')  Vergl.  das  Heferat  von  Börnstein  in  Met.  Zeitgehr.  Okt  1892. 


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393 


eine  um  so  kräftiger  fließende,  je  heftiger  da6  Auffallen  der  Theilohen 
und  demnach  ihr  Zerstieben  ist.  Auch  das  Verspritzen  der  zur  nassen 
Erdoberfläche  gelangenden  Regentropfen  mufs  demnach  der  Luft 
negative  Elektrizität  Zufuhren,  und  zwar  nach  einer  von  Lenard  an- 
gestellton  Rechnung  eine  so  ungeheure  Menge,  dafs  die  bei  Nieder- 
schlägen statt  lindende  Umkehr  des  Zeichens  der  Luftelektrizität  hier- 
durch erklärt  werden  kann.  Ueberhaupt  sind  diese  neuen  Beobachtungen 
im  stände,  die  Ansichten  über  die  anomale  Luftelektrizität  — wie  sie 
bei  bedecktem  Himmel,  bei  Niederschlägen  und  Gewittern  beobachtet 
wird  — vielfach  abzuändern.  Ihre  Erklärung  findet  die  neue  Beob- 
achtung, wenn  man  annimmt,  dafs  bei  der  Berührung  von  Flüssig- 
keiten und  Gasen  — wie  Wasser  und  Luft  — eine  Spannung  zwischen 
beiden  entsteht.  Die  äufserste  Wasserschicht  wird  positiv,  die  ango- 
grenzte  Luftschicht  negativ  geladen  sein.  Ein  auffallender  Wasser- 
tropfen wird  bei  langsamem  Fallen  vielleicht  nur  die  beiden  Elektrizi- 
täten zum  Ausgleiche  bringen,  bei  heftigerem  dagegen  die  Luft  aus 
seiner  Nachbarschaft  so  schnell  bei  Seite  drängen,  dafs  die  negative 
Elektrizität  weit  fortgedrängt  wird,  und  die  neue  Oberfläche  des 
Wassers  wird  der  Ort  einer  neuen  Kontaktwirkung  sein.  Sm. 


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Dr.  Richard  Lepsius,  Geologie  von  Deutschland  und  den  angrenzen- 
den Gebieten.  Band  I:  Das  westliche  und  südliche  Deutschland. 

Stuttgart,  Verlag  von  J.  Engelhorn.  1887 — 1892. 

Da»  Werk  entsprang  dem  Bedürfnis,  dem  Fachgeologeu  einen  zusammen* 
fassenden  Ueberblick,  dem  Freunde  der  Geologie  einen  ausführlichen  und  doch 
möglichst  kurzen  Leitfaden  der  Geologie  Deutschlands  zu  schaffen.  Denn 
seitdem  durch  Abraham  Gottlob  Werner  eine  selbständige  geologische 
Wissenschaft  begründet  worden,  seitdem  man  erkannte,  eine  wie  höhe  Be- 
deutung die  wissenschaftliche  Bodenuntersuchung  für  die  Praxis  dea  mensch- 
lichen Lebens  besitzt,  besonders  für  den  Bergbau,  den  Strafsen-  und  Wasser- 
bau und  für  die  Landwirtschaft,  seit  dieser  Zeit,  also  Beit  dom  Endo  des 
vorigen  Jahrhunderts,  erschien  eine  schier  unendliche  Zahl  wissenschaftlicher 
Arbeiten  über  gröfsero  und  kleinere  Gebiete  Deutschlands,  theils  in  selb- 
ständigen Werken,  theils  in  fachwissenschaftlichen  Zeitschriften.  Dieser  Reich- 
thum der  Litteratur  machte  es  nun  dem  Freunde  der  Geologie  fast  unmöglich, 
auch  dem  Fachgcologen  zuweilen  sehr  schwer,  einen  Gesamtüberblick  über 
die  geologischen  Verhältnisse  eines  gröfseren  Gebietes  zu  gewinnen.  Um 
diesem  Mangel  abzuhelfen,  unternahm  cs  der  Direktor  der  geologischen  Landes- 
anstalt zu  Darmstadt,  Prof.  Dr.  R.  Lepsius,  in  möglichster  Kürze  das  zu- 
sammenzustollen,  was  von  der  Bodenkunde  Deutschlands  das  Wissens wertheste 
ist.  Der  erste  Theil  seines  Werkes,  welches  gleichzeitig  den  ersten  Band  der 
von  der  Gontralkommission  für  wissenschaftliche  Landeskunde  von  Deutsch- 
land herausgegebenen  Handbücher  zur  deutschen  Landes-  und  Volkskunde 
bildet,  ist  nunmehr  vollständig  erschienen.  In  demselben  behandelt  der  Ver- 
fasser die  geologischen  Verhältnisse  des  westlichen  und  südlichen  Deutsch- 
lands, im  wesentlichen  also  das  ober-  und  niederrheinische  Gebirgsaystem. 
Man  kann  wohl  sagen,  für  diesen  Theil  der  Geologie  Deutschlands  konnte  kein 
besserer  Bearbeiter  gefunden  werden  als  Lepsius;  denn  einerseits  sind  durch 
die  goologische  Landesanstalt  zu  Darmstadt,  deren  Direktor  er  ist,  die  ein- 
gehendsten Untersuchungen  in  den  betreffenden  Gebieten  angestellt  worden, 
andererseits  kennt  der  Verfasser  die  bezüglichen  Verhältnisse  selbst  aus 
zwanzigjährigen  Studien.  Infolge  dessen  entspricht  der  erste  Band  vollkommen 
den  Ansprüchen,  welche  ein  Geologe  von  Fach  an  eine  wissenschaftliche 
Uebersicht  der  Geologie  Deutschlands  stellen  kann.  Aber  auch  jeder  Laie 
wird  aus  demselben  Nutzen  ziehen,  der  sich  nur  einigermafsen  für  diese  Ver- 
hältnisse interessirt  Zwar  dürfte  der  Letztere  an  den  langen  Aufzählungen 
der  in  den  einzelnen  Formationen  vorkomniondon  Fossilien  wenig  Anziehendes 
finden;  aber  es  mag  gleich  hinzugefügt  werden,  dafs  der  Verfasser  sich  hierin 
auf  das  beschränkt  hat,  was  zur  Charakterisirung  der  einzelnen  Schichten  un- 
bedingt noth wendig  ist.  Aber  abgesehen  hiervon,  enthält  das  Werk  des 


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Anziehenden  soviel,  dafs  es  jeder  Laie,  auch  wenn  er  sich  nicht  für  die  Ver- 
steinerungskunde erwärmen  kann,  doch  nicht  ohne  Befriedigung  lesen  wird* 
Durch  eine  grofse  Anzahl  farbiger  und  schwarzer  Profile  werden  die  be- 
deutendsten Erscheinungen  in  dem  Aufbau  der  Erdrinde  erläutert,  soweit  sie  das 
Rheiugebiet  betreffen;  es  geht  aus  vielen  derselben  die  oft  auf  das  äufserste 
knmplizirte  Lagerung  der  Schichten  hervor,  so  dafs  sich  jeder  der  Schwierig- 
keiten bewufst  wird,  welche  diese  dem  Bergbau  auferlegt.  In  klarer,  über- 
sichtlicher Weise  werden  die  gesamten  Erscheinungen  des  Gebirgsbaues,  des 
Vulkanismus,  der  Erdbeben  und  der  erodirenden  Thätigkeit  des  Wassers  dar- 
gestellt Zwar  werden  nicht  die  Ursachen  der  Gebirgsbildung  und  der  mit 
ihr  eng  verknüpften  Erscheinungen,  des  Vulkanismus  und  der  Erdbeben,  aus- 
führlich behandelt;  aber  das  würde  auch  über  den  Rahmen  oiner  Geologie 
Deutschlands  weit  hinausgehen.  Bei  der  Bearbeitung  des  umfassenden  Materials 
ging  der  Verfasser  von  dem  Gedanken  aus,  dafs  er  erst  das  zu  untersuchende 
Gebiet  genauer  bestimmen  müsse.  Die  Eintheilung  ist  demnach  die  folgende: 
zuerst  erhält  der  Leser  eine  orographische  IJebersicht  des  betreffenden  Ge- 
bietes, dann  folgt  eine  Beschreibung  der  in  demselben  vorkommenden 
Schichtsysteme  vom  ältesten  bis  zum  jüngsten,  und  schlicfslich  werden  die 
gleichsam  als  Fremdlinge  auftretenden  Eruptivgesteine  behandelt;  innerhalb 
der  einzelnen  Formationen  werden  dann  wiederum  geographische  Scheidungen 
vorgenommen,  beispielsweise  wie  folgt:  Oberkarbon:  a)  in  Belgien  und  Nord- 
frankreich, b)  dio  Aachener  Kohlenreviere,  c)  das  Steinkohlengebirge  an  der 
Ruhr,  d)  die  Steinkohlen  an  der  Saar  und  Nahe.  Bei  der  Besprechung  der 
jüngsten  Ablagerungen  wird  noch  besonders  der  zahlreichen  Flufsbettver- 
legungen  gedacht,  die  durch  mehrere  Kartenskizzen  und  Profile  dargestellt 
werden.  Ausführlicher  auf  den  reichhaltigen,  des  Interessanten  so  viel  bieten- 
den Inhalt  einzugehen,  gestattet  der  Kaum  eines  Referates  nicht.  Mancher 
Leser  wird  vielleicht  durch  das  Werk  zu  eingehenderen  Studien  angeregt 
werden.  Auch  für  ihn  ist  gesorgt.  In  zahlreichen  Anmerkungen  giebt  der 
Verfasser  einen  ausführlichen  Ueberblick  über  die  wichtigsten,  die  Geologie 
des  Rheingebietes  behandelnden  Schriften.  ms. 

Die  Scenerie  der  Alpen,  von  Dr.  Eberhard  Fraas.  Mit  über  120  Ab- 
bildungen im  Text  und  auf  eingehefteten  Tafeln  sowie  einer  Ueber- 
sichtskarte  der  Alpen.  Leipzig,  1892.  F.  O.  Weigel  Nachfolger  (Chr. 
Herrn.  Tauchnitz).  Preis  geheftet  10,00  Mk.,  elegant  gebunden  12,00  Mk. 

Wer  nicht  als  Bergfex  seine  Befriedigung  in  dem  waghalsigen  Erklimmen 
der  höchsten  Alpengipfel  findet,  wer  ferner  nicht  im  geistigen  Phlegma  die 
ihm  von  Bädeker  vorgeschriebene  Reiseroute  abraacht,  sondern  neben  Aus- 
sichten auch  Einsichten  zu  erlangen  sucht,  den  wird  dio  Großartigkeit  der 
Alpenwelt  mit  überwältigender  Kraft  ergreifen  und  zur  Naturbetrachtung  hin- 
leiten. Indefs  wie  der  Genufs  eines  Gemäldes  durch  das  Verständnis  bedingt 
wird,  so  ist  es  auch  mit  den  vielen  tausenden  von  Landschaftsgemälden,  welche 
die  grofse  Gebirgswelt  der  Alpen  uns  zur  Entzifferung  vorlegt;  sollen  dieselben 
empfunden  und  im  Geiste  fixirt  werden,  so  bedarf  es  hierzu  eines  gewissen 
Maises  von  Einsicht  in  Komposition  und  Technik.  Fehlt  dieses  Mafs  natur- 
wissenschaftlicher Bildung,  so  wird  bei  den  meisten  Alpenfreunden  ein  Gefühl 
des  Unbefriedigtseins  Zurückbleiben,  sie  werden  beim  Verlassen  der  Berge  ge- 
wöhnlich nur  die  Ansicht  mitnehmen,  dafs  sie  hier  vor  einer  Fülle  ungelöster 
und  nicht  löslicher  Räthsel  der  Natur  stehen.  Dieser  Kreis  von  Alpenreisenden 
ist  es.  welchen  Fraas  mit  dem  vorliegenden  Werke  einen  Leitfaden  in  die 
Hand  geben  will,  damit  sie  eine  kurze  gedrungene  Uebersicht  über  die  bis 


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jetzt  gemachten  Erfahrungen  und  Beobachtungen  bekommen  und  so  einen  An- 
schluß für  eigene  Untersuchungen  finden  möchten. 

Da  das  Werk  in  erster  Linie  für  den  Alpenfreund,  nicht  für  den  Fach- 
kundigen, bestimmt  ist,  so  mußten  der  speziellen  Alpengeologie  natürlich  die- 
jenigen Kapitel  der  dynamischen  Geologie  vorausgeschickt  werden,  welche  die 
Fallungatheorie  zum  Gegenstände  haben  und  die  verschiedenen  tektonischen 
Schichtenstörungen  behandeln,  die  dem  Beobachter  in  dem  Alpensysteme 
auf  Schritt  und  Tritt  entgegentreten.  Ein  weiteres  Kapitel  beschäftigt  sich  mit 
dem  Verhalten  der  Gesteine  unter  der  Einwirkung  der  gebirgsbildenden  Kräfte, 
mit  dor  Plastizität  und  Streckung,  dor  Schichtung  und  Schieferung  und  der 
mechanischen  Umwandlung  der  Struktur  durch  Druck.  Der  weitaus  größte 
Theil  des  Buches  behandelt  die  spezielle  Alpengeologie,  die  hier  nach  Mafs- 
gäbe  der  einzelnen  Formationsgruppen  vorgeführt  wird.  Hierin  zugleich  ent- 
rollt der  Verfasser  ein  Bild  der  Alpenscenerien  von  dem  Dunkel  der  Urwelt 
an  bis  in  die  letzte  geologische  Periode. 

Möge  das  Werk  dazu  beitragen,  die  wunderbare  Natur  des  schönsten 
aller  Gebirge  klarer  zu  stellen  und  jedem,  der  auch  nur  flüchtig  das  Alpen- 
land kennt,  dasselbe  näher  zu  bringen  und  heimischer  zu  machen. 

Aus  der  Sturm-  uud  Drangperiode  der  Erde.  Skizzen  aus  der  Ent- 
wickelungsgeschichte unseres  Planeten  von  Dr.  Hippolyt  Haas, 
Prof.  a.  d.  Hochschule  zu  Kiel.  I.  Bd.  Mit  55  Abbildungen  im  Text. 
Berlin,  Verlag  des  Vereins  für  Bücherfreunde.  1892. 

Das  Werkchen  enthalt  ein©  Reihe  geologischer  Bilder  ui  ansprechender 
und  unterhaltender  Form  für  das  größere  Publikum  geschildert.  Zunächst 
lernt  der  Leser  die  Ansichten  über  die  Entstehung  des  Weltalls  und  den  Zu- 
stand des  Erdinnern  kennen  und  im  Anschluß  hieran  die  plutonisohen  Kräfte. 
Die  Feuerberge  Europas  und  ihre  geschichtlich  bemerkenswerten  Paroxismcn 
sind  ausführlich  beschrieben.  Im  zweiten  Abschnitt  wird  das  Baumaterial 
unserer  Erde  lind  die  Kräfte,  welche  dasselbe  bilden  und  wieder  zerstören, 
und  endlich  die  Wirksamkeit  des  Wassers  als  geologischer  Arbeiter  geschildert. 
Die  Illustrationsbeilagen,  die  zahlreich  den  Text  begleiten,  sind  meistens  nach 
neueren  Onginalphotographien  hergestellt 

Webers  illustrirte  Katechismen.  Katechismus  der  Geologie,  von  Dr. 

Hippolyt  Haas,  Prof.  a.  d.  Universität  Kiel.  Fünfte  vermehrte  und 
verbesserte  Auflage.  Mit  149  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen, 
einer  Tafel  und  einer  Tabelle.  Leipzig.  Verlagsbuchhandlung  von 
J.  J.  Weber.  1893.  Preis  3,00  Mk. 

In  der  vorliegenden  fünften  Auflage  des  „Katechismus  der  Geologie-,  bei 
dessen  Bearbeitung  Creduers  treffliches  Werk:  „Die  Elemente  der  Geologie* 
zum  Vorbilde  gedient  haben,  sind  in  erster  Linie  die  paläozoischen  Systeme 
einer  Neugestaltung  unterzogen  worden.  Man  wird  dem  kleinen,  inhaltsreichen 
Buche  das  gleiche  Wohlwollen  entgegenbringen,  mit  dem  die  früheren  Auf- 
lagen entgegeugenommen  worden  sind. 

6*t 


Verlag  von  Hermann  Haetel  io  Derliu.  — Druck  von  Wilhelm  Gronau'»  Buchdruckerei  in  Berlin. 
Kür  die  Kedaclion  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  ln  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
L'ebersetzungereeht  Vorbehalten. 


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Ueber  den  Diamant. 

Von  Dr.  W.  I.uzi  in  Leipzig. 

O/JRJas  kostbare  Produkt  des  Mineralreiches,  der  Diamant,  wird  zu 
iT^y  verschiedenen  Zwecken  benutzt.  Abgesehen  von  seiner  Ver- 
wendung als  Edelstein  findet  er  zum  Olasscbneiden,  zum  Be- 
setzen von  Gesteinsbohrern  und  Steinschneidescheiben,  zum  Abdrehen 
von  harten  Metallgegenständen  und  dergl.  Anwendung.  Vor  allem  in 
der  Gesteinsbohrtechnik  ist  er  jetzt  ein  unschätzbares  Material;  die 
gröfsten  Tunnels  in  den  härtesten  Felsarten  werden  mit  Diamanten 
gebohrt.  Es  würde  dieses  Mineral  infolge  seiner  Eigenschaft,  der 
härteste  aller  Körper  zu  sein,  in  der  Technik  noch  eine  weit  ausge- 
dehntere Anwendung  finden,  wenn  dem  nicht  der  zu  hohe  Preis  des 
Diamanten  entgegenstände.  Die  Kostbarkeit  liegt  darin  begründet, 
dafs  er  auf  unserer  Erde  nur  an  sehr  wenigen  Stellen  und  auch  da 
nur  in  relativ  geringen  Mengen  vorkommt,  und  dafs  er  künstlich  nur 
mit  beträchtlichen  Schwierigkeiten  in  mikroskopisch  kleinen  Körnchen 
hergestellt  werden  kann.  Ohne  Zweifel  würde  die  Technik  von  der 
fabrikmäfsigen  Herstellung  dos  Diamanten  einen  kolossalen  Nutzen 
haben,  manche  Gebiete  dürften  dadurch  einen  neuen  Aufschwung 
nehmen.  Aber  nicht  nur  aus  praktischen,  sondern  vor  allem  aus  wissen- 
schaftlichen Gründen  ist  das  Bestreben,  den  Diamanten  darzustellen,  ge- 
rechtfertigt. Dafs  dieser  Körper  reiner  Kohlenstoff  ist,  das  ist  violfach  be- 
wiesen — aber  wir  stehen  hier  vor  der  in  der  Chemie  nicht  häufigen 
Thatsache,  dafs  die  Analyse  einer  Substanz  noch  nicht  in  befriedi- 
gender und  genügender  Weise  durch  deren  künstliche  Herstellung 
ergänzt  werden  konnte.  Und  das  ist  etwas,  was  immer  zum  Forschen 
reizt.  Weifs  man,  woraus  ein  in  der  Natur  entstandener  Körper  be- 
steht, so  ist  es  eine  wissenschaftliche  Pflicht,  zu  versuchen,  ob  er  sich 

Himmel  und  Erde.  1898.  V.  9.  2? 


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auch  im  Laboratorium,  unter  bekannten  Redingungen,  hervorbringen 
läfst.  Wir  wissen,  dafe  der  Diamant  aus  Kohlenstoff  besteht;  dieses 
Element  tritt  noch  in  mehreren  Modifikationen  auf,  und  nun  handelt 
es  sich  um  die  Frage,  ob  sich  dieselben  auf  irgend  welchen  Wegen 
oder  Umwegen  in  die  Diamantmodifikation  umwandeln  lassen.  Ein 
solcher  Weg  ist  nun  ganz  neuerdings  gefunden  worden.  Wenn  auch 
die  auf  demselben  erzeugten  Diamanten  fast  aussehliefslich  schwarz 
und  von  einer  solchen  winzigen  Kleinheit  sind,  dafs  an  Verwendung 
derselben  — wenigstens  vorläufig  — nicht  zu  denken  ist,  so  zeigt 
uns  diese  Darstellung  doch  eine  Möglichkeit  der  Umwandlung  von  ge- 
wöhnlichem Kohlenstoff  in  Diamantkohlenstoff.  Da  es  nun  aber 
fraglich  ist,  ob  die  natürlichen  irdischen,  grofsen,  farblosen 
Diamanten  auf  eine  dieser  aufgefundenen  künstlichen  Herstellungs- 
methode analogen  Weise  entstanden  sind,  so  ist  diese  ganze  Frage 
noch  nicht  als  abgeschlossen  zu  betrachten.  Nach  wie  vor  ist  die 
Herstellung  verwendbarer,  d.  h.  gröfserer  und  auch  farbloser  Dia- 
manten, sowie  die  Aufklärung  der  Entstehungsweise  derselben  auf 
unserer  Erde,  das  zu  erstrebende  Ziel.  Es  kann  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dafs  man  an  Versuche,  den  Diamant  in  verwerthbarer  Be- 
schaffenheit, also  in  der  Beschaffenheit,  wie  er  sich  auf  den  natür- 
lichen Fundstätten  findet,  herzustellen,  nur  dann  mit  einiger  Aussicht 
auf  Erfolg  gehen  kann,  wenn  die  Eigenschaften  dieses  Körpers  und 
sein  Verhalten  den  verschiedensten  Einflüssen  gegenüber  möglichst 
genau  bekannt  sind.  Zahlreiche  vergebliche  Experimente  vieler 
Forscher  haben  dies  bewiesen.  Durch  blofses  Probiren  mit  der  Hoff- 
nung auf  einen  günstigen  Zufall  wird  man  hier  sicherlich  nicht  weiter 
kommen.  Ein  Haupthindernifs  für  Versuche,  Diamant  hervorzubringen, 
liegt  eben  darin,  dafs  wir  uns  noch  in  Unkenntnifs  über  seine  natür- 
liche Bildungsweise  befinden.  Wäre  diese  aufgeklärt,  wäre  dies  Ge- 
heimnifs  der  Natur  abgelauscht,  so  würde  man  mit  viel  mehr  Hoffnung 
an  Laboratoriumsversuche  herantreten  können. 

Ueber  die  Eigenschaften  und  das  Verhalten  des  Diamanten  ver- 
schiedenen Agentien  gegenüber  besitzen  wir,  dank  den  im  Laufe 
der  Zeit  angestellten  mannigfaltigen  Untersuchungen,  beträchtliche 
Kenntnisse. 

Im  nachstehenden  Aufsatze  sollen  nun  die  wichtigsten  und  inter- 
essantesten Resultate  der  Forschung  über  das  Verhalten,  die  Eigen- 
schaften und  das  Vorkommen  des  Diamanten,  sowie  die  Schlüsse,  die 
man  daraus  bezüglich  seiner  Entstehung  gezogen  hat,  erörtert  werden. 
Das  meiste  dürfte  denen,  die  sich  nicht  gerade  speziell  mit  der  Kohl  enstoff- 


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litteratur  beschäftigt  haben,  unbekannt  sein.  Man  wird  ersehen,  dafs 
man  von  einer  Lösung  der  Frage,  wie  ist  der  Diamant  in  der  Natur 
entstanden,  noch  entfernt  ist.  Dementsprechend  sind  auch  die  ausge- 
sprochenen Hypothesen  Uber  seine  Bildung  recht  verschiedenartig. 

Zur  Orientirung  mag  noch  kurz  vorausgeschickt  werden,  dafs 
der  Diamant,  wie  mit  aller  Sicherheit  festgestellt  ist,  eine,  und 
zwar  in  der  tetraedrisch-hemiedrischen  Abtheilung  des  regulären 
Systems  krystallisirende  Zustandsforra  des  Elementes  Kohlenstoff  ist 
Dieses  Element  tritt  noch  in  mehreren  anderen  Modifikationen,  die  als 
, gewöhnlicher  amorpher  Kohlenstoff",  als  „Graphit"  und  als  „Graphitit“ 
unterschieden  werden,  auf.  Eine  Charakteristik  der  letztgenannten 
Zustandsformen  des  Kohlenstoffes,  welche  neben  dem  Diamant  existiren, 
kann  hier  nicht  gegeben  werden;  bemerkt  sei  nur  noch,  dafs  der 
Graphitit  erst  in  den  letzten  Jahren  von  W.  Luzi  entdeokt  wor- 
den ist 

Die  chemische  Natur  des  Diamanten  wurde  am  Ende  des  vorigen 
und  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  aufgeklärt,  also  zu  einer  Zeit,  in 
welcher  dank  den  Arbeiten  hervorragender  Chemiker,  wie  Bergmann, 
V auquelin,  Klaproth,  Proust,  Lampadius,  viele  Mineralien  ihrem 
wahren  Wesen  nach  erkannt  wurden. 

Die  Zerstörbarkeit  des  Diamanten  durch  hohe  Temperaturen 
wurde  schon  in  den  Jahren  1694  und  1695  zu  Florenz  beobachtet. 
Daselbst  liefs  der  Grofsherzog  von  Toskana,  Cosmus  III.,  duroh 
Averami  und  Targioni  Versuche  über  das  Verhalten  von  Edel- 
steinen in  dem  Focus  eines  Brennspiegels  anstellen.  Man  benutzte  zu 
diesen  Experimenten  einen  grofsen  Tschirahausischen  Spiegel  und 
fand,  dafs  der  Diamant  unter  Einwirkung  der  konzentrirten  Sonnen- 
strahlen Risse  bekam  und  unter  Funkensprühen  immer  kleiner  wurde, 
um  schliefslich  ganz  zu  verschwinden.  Die  Experimente  wurden  auch 
in  der  Weise  wiederholt,  dafs  man  die  Sonnenstrahlen  von  Zeit  zu 
Zeit  abblendete  und  den  Diamant  untersuchte;  dabei  zeigte  sich  eine 
Abnahme  der  Masse  desselben  in  der  Weise,  dafs  er  zwar  immer 
kleiner  wurde,  aber  dabei  seine  ursprüngliche  Form  beibehielt.  Ferner 
wurde  konstatirt,  dafs  nie  eine  Schmelzung  des  Diamanten  eingetreten 
war.  Eine  Bestätigung  der  in  Florenz  gewonnenen  Resultate  wurde 
dann  zunächst  wieder  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  erbracht. 
Zu  dioser  Zeit  beschäftigten  sich  der  nachmalige  deutsche  Kaiser 
Franz  I.  (der  damals  Herzog  von  Lothringen  war)  in  Wien  und 
dessen  Bruder,  der  Erzherzog  Karl  in  Brüssel,  mit  Versuchen  über 
den  Diamant.  Es  scheint,  dafs  beide  Fürsten  damit  den  Zweck  verfolgten, 

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aus  kleineren  Diamanten  gröfsere  zusammenzuschmelzen.  Es  war 
wohl  das  kostspieligste  chemische  Experiment,  das  je  ausgefiihrt  worden 
ist,  als  der  Herzog  von  Lothringen  für  ungefähr  6000  Qulden  Dia- 
manten und  Rubino  auf  einmal  in  Arbeit  nahm.  Die  Diamanten  wurden 
in  irdenen  Schmelztiegeln  24  Stunden  lang  dem  stärksten  Ofenfeuer 
preisgegeben.  Es  mag  sich  das  Bewufstsein  von  der  häufigen  Unzu* 
länglichkeit  menschlicher  Voraussetzungen  dem  Herzog  sehr  deutlich 
aufgedrängt  haben,  als  er  nach  Beendigung  der  Operation  statt  der 
erhofften  grofsen  Diamanten  nichts  in  den  Tiegeln  fand. 

Bald  darauf,  iin  Jahre  1766,  veröffentlichte  der  französische 
Forscher  d’Arcet  Beobachtungen  über  das  Verhalten  des  Diamanten 
in  der  Hitze  eines  Porzellanofens.  D’ Are  et  fand,  dafs  er  sich  bei 
diesen  Temperaturen  „verflüchtigte“  und  zwar  ebensowohl,  wenn  er 
in  durchlöcherten,  als  auch,  wenn  er  in  verschlossenen  Tiegeln  erhitzt 
wurde.  Später  stellte  er  jedoch  fest,  dafs  die  Diamanten  nicht  ver- 
schwanden, wenn  sie  voll  kommen  luftdicht  eingepackt  wurden.  Ueber 
die  Ursache  des  unter  bestimmten  Bedingungen  eintretenden  Ver- 
schwindens war  man  völlig  im  unklaren.  Daher  fingen  nun  eine 
grofse  Zahl  der  geschicktesten  Chemiker  an,  sich  mit  diesem  räthsel- 
haften  Verhalten  des  Diamanten  zu  beschäftigen.  1771  wurde  von  den 
französischen  Gelehrten  Maoquer,  Rouelle  und  d’Arcet  zum  ersten 
Male  beobachtet,  dafs  der  auf  einem  Probirscherben  unter  der  Muffel 
erhitzte  Diamant  eine  Flamme  erzeugte.  Das  Interesse  an  demselben 
wurde  nun  immer  allgemeiner.  Eine  zahlreiche  Gesellschaft,  zum 
Theil  sehr  hochgestellter  Personen,  wohnte  den  wenig  später  von 
Rouelle,  d’Arcet,  Lavoisier  undMacquer  angestellten  Versuchen 
bei.  Zunächst  zeigte  sich  wieder,  dafs  die  Diamanten  in  der  Hitze  auf 
räthselhafte  Weise  aus  der  Muffel,  resp.  den  Tiegeln,  verschwanden. 
Diese  Ergebnisse  standen  aber  nicht  im  Einklänge  mit  den  Behaup- 
tungen von  Pariser  Juwelieren,  welche  die  Experimente  mit  Aufmerk- 
samkeit verfolgten.  Diese  Leute  erklärten,  dafs  sie  oft  Diamanten,  auf 
bestimmte  Weise  eingepackt,  heftig  geglüht  hätten.  Dabei  seien  diese 
niemals  verschwunden,  nur  gewisse,  dieselben  verunzierende  Flecke 
seien  dadurch  entfernt  worden.  Einer  dergröfsten  Juweliere,  Le  Blanc, 
erbot  sich,  den  Beweis  für  diese  Angaben  zu  erbringen.  In  Gegen- 
wart verschiedener  Chemiker  packte  er  einen  Diamant  in  ein  Gemenge 
von  Kreide  und  Kohlenpulver  in  einen  Tiegel  und  sezte  denselben 
drei  Stunden  lang  einem  heftigen  Feuer  aus.  Als  darnach  der  Tiegel- 
inhalt untersucht  wurde,  war  der  Diamant  zur  Genugtuung  der 
Chemiker  verschwunden.  Die  Juweliere  waren  zunächst  verwirrt,  hielten 


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Bich  aber  nicht  Tür  geschlagen.  Ein  anderer  von  ihnen,  Maillard, 
gab  sofort  drei  Diamanten  dem  Feuer  preis.  Er  hatte  sie  zunächst 
sorgfältigst  in  Kohlenpulver  in  einem  irdenen  Pfeifenkopfe  verpackt 
und  diesen  wieder  in  einen  mit  Sand  gefüllten  und  mit  Kreidepulver 
umgebenen  Tiegel  eingeschlossen.  Nachdem  man  vier  Stunden  lang 
stärkstes  Feuer  gegeben,  wurde  der  Tiegel  geöffnet.  Maoquer  rief 
dabei  Maillard  zu,  er  möge  seine  Diamanten  lieber  im  Rufse  der 
Esse  suchen.  Aber  diesmal  triumphirten  die  Juweliere,  denn  alle  drei 
Diamanten  fanden  sich  unversehrt  im  Tiegel  vor.  Man  wiederholte 
die  Versuche  mit  der  gleichen  Verpackung  und  erhielt  nun  immer  die 
gleichen  Resultate.  Jetzt  galt  für  die  meisten  Chemiker  als  feststehend! 
dafs  der  Diamant  nur  beim  Glühen  unter  Luftzutritt  zerstört  wird,  und 
dafs  es  sich  dabei  um  einen  Verbrennungsprozefs  handelt.  Was  bei 
dieser  Verbrennung  entsteht,  wufste  man  natürlich  noch  nicht.  Um 
dies  aufzuklären,  verbrannte  Lavoisier  den  Diamant  vermittelst  der 
durch  Brennspiegel  konzentrirten  Sonnenstrahlen  unter  einer  mit  Luft 
gefüllten,  durch  Wasser  abgesperrten  Glocke.  Dabei  bildete  sich 
Kohlensäure,  und  man  bemerkte  ein  schwaches  Aufwallen  auf  der  Ober- 
fläche des  Diamanten,  auch  setzte  sich  oft  eine  kohleartige  Materie  auf 
derselben  an.  Man  schlofs  aus  alledem,  dafs  der  Diamant  Kohlenstoff 
enthalten  müsse.  Dasselbe  ergab  sich  aus  späteren  Versuchen 
Smithson  Tennants,  welcher  Diamant  und  Kohle  vermittelst  Sal- 
peter bei  Rothgluth  verbrannte.  Gleiche  Gewichtstheile  Kohle  und 
Diamant  lieferten  dabei  ungefähr  gleiche  Gewichtstheile  Kohlensäure. 
Wenig  später  wurden  von  Guyton  de  Morveau  interessante  Experi- 
mente angestellt.  Zunächst  setzte  er  Diamant  in  reinem  Sauerstoff  der 
Wirkung  konzentrirter  Sonnenstrahlen  aus.  Dabei  entwickelte  der 
Diamant  anfänglich  ein  purpurfarbenes  Lioht  und  zeigte  an  der  Ecke, 
wo  ihn  die  Strahlen  unmittelbar  trafen,  einen  schwarzen  Punkt;  darauf 
wurde  er  ganz  schwarz  und  kohlig,  sodann  nahm  seine  Oberfläche 
Graphitglanz  an  und  schliefslich  wurde  er  gänzlich  aufgezehrt  Es  hatte 
sich  bei  der  Verbrennung  Kohlensäure  gebildet  Einen  weiteren  Auf- 
schlufs  über  die  Natur  des  Diamanten  gab  Guyton  de  Morveau 
dann  (1799)  dadurch,  dafs  er  Schmiedeeisen  durch  Behandlung  mit 
Diamant  in  Stahl  verwandelte. 

Der  gröfste  Theil  der  Naturforscher  hielt  nun  auf  Grund  aller 
dieser  Experimente  den  Diamant  — ungeachtet  seines  eigenartigen 
Aeufsern  — doch  nur  für  eine  sehr  verdichtete  Kohle.  Guyton  de 
Morveau  wies  aber  darauf  hin,  dafs  nicht  nur  die  physikalischen, 
sondern  auch  die  chemischen  Eigenschaften  beider  Substanzen  doch 


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so  verschieden  seien,  dafs  man  nicht  annehmen  könne,  sie  seien  gleich 
zusammengesetzt.  So  hinterlasse  die  Kohle  bei  ihrer  Verbrennung 
stets  einen  Rückstand  von  Asche,  der  Diamant  nie;  der  letztere  er- 
fordere ferner  zu  seiner  Verbrennung  eine  beträchtlich  gröfsere  Menge 
Sauerstoff  als  die  Kohle  und  erzeuge  dabei  viel  mehr  Kohlensäure  als 
diese  etc.  Morveau  glaubte  daher,  dafs  der  Diamant  aus  ganz  reinem 
Kohlenstoff  bestehe,  während  die  Kohle  einen  schon  in  hohem  Grade 
oxydirten  Kohlenstoff  enthalte.  Es  zeugt  von  grofsem  Scharfsinn, 
dafs  Guyton  de  Morveau  um  jene  Zeit  (1799)  die  Natur  der  beiden 
Körper  Diamant  und  Kohle  schon  fast  vollständig  richtig  erkannte; 
denn  in  «len  Kohlen  ist  Kohlenstoff  als  solcher  überhaupt  nicht  ent- 
halten, sondern  diese  sind  ein  Gemenge  von  Verbindungen,  die  im 
wesentlichen  aus  sehr  viel  Kohlenstoff,  ferner  Sauerstoff,  Wasserstoff, 
auch  Stickstoff  und  Schwefel  bestehen.  Die  Kohlen  enthalten  also 
thatsächlich  Kohlenstoff  in  einem  theilweise  oxydirten  Stadium.  — 
Guy  ton  machte  auch  darauf  aufmerksam,  dafs  der  Diamant  zu  seiner 
Entzündung  eine  14  mal  höhere  Temperatur  nöthig  habe  als  die  Kohle, 
und  dafs  die  letztere,  einmal  entzündet,  die  zu  ihrer  weiteren  Ver- 
brennung nöthige  Temperatur  selbst  unterhalte,  während  beim  Diamanten 
die  zu  seiner  Verbrennung  erforderliche  Hitze  sogleich  aufhöre,  wenn 
man  das  durch  konzentrirtes  Sonnenlicht  hervorgebrachte  Feuer  unter- 
breche. 

Nachdem  so  durch  zahlreiche  Experimente  und  scharfsinnige 
Interpretirung  derselben  die  Natur  des  Diamanten  bereits  richtig  er- 
kannt worden  war,  wurde  durch  den  französischen  Mathematiker  Biot, 
welcher  theoretischen  Ansichten  und  Spekulationen  gröfsere  Wichtig- 
keit beimafs  als  denVersuchen,  wieder  Verwirrung  in  die  Anschauungen 
gebracht.  Biot  behauptete,  dafs  die  Strahlenbrechung  des  Diamanten 
weit  stärker  sei  als  die,  welche  die  Brechung  der  Kohlensäure,  des 
Alkohols,  Aethers  und  anderer  Kohlenstoffverbindungen  für  Kohlenstoff 
anzeige,  und  dafs  daher  der  Diamant  nicht  nur  aus  diesem  Körper  be- 
stehe, sondern  dafs  wenigstens  ein  Viertel  seiner  Masse  Wasserstoff 
sei.  Trotzdem  nun  bald  darauf  (1808)  die  englischen  Chemiker  A llen 
und  Pepy  s eine  Abhandlung  „lieber  die  Verhältnifsmenge  des  Kohlen- 
stoffs in  der  Kohlensäure  und  über  die  Natur  des  Diamants“  ver- 
öffentlichten, worin  wiederum  experimentell  bewiesen  wurde,  dafs  der 
Diamant  nur  aus  Kohlenstoff  bestehe  und  keine  Spur  Wasserstoff  ent- 
halte, so  hielten  doch  viele,  zumal  deutsche  Mineralogen,  die  Zu- 
sammensetzung für  immer  noch  nicht  sicher  festgestellt.  Die  Speku- 
lationen Biots  gaben  sogar  zu  der  Anschauung  Anlafs,  dafs  der  Dia- 


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403 


mant  Wasserstoff  enthalte,  dafs  es  aber  fraglich  sei,  ob  sich  derselbe 
überhaupt  durch  Verbrennung  nachweisen  lasse.  Und  dies  zu  einer 
Zeit,  wo  doch  die  Thatsache,  dafs  der  Wasserstoff  bei  der  Verbrennung 
Wasser  liefert  und  durch  die  Bildung  desselben  nachgewiesen  wird, 
ganz  fest  stand.  Sogar  Guyton  de  Morveau  liefe  sich  beeinflussen 
und  war  nioht  ganz  abgeneigt,  im  Diamant  eine  — wenn  auch  nur 
aufserordentlich  geringe,  ja  vielleicht  gar  nicht  mehr  wahmehmbaro 
— Menge  Wasserstoff  anzunehmen. 

Im  Jahre  1808  legte  der  englische  Chemiker  Davy,  der  be- 
kanntlich einer  der  grellsten  Experimentatoren  war,  den  die  chemische 
Wissenschaft  aufzuweisen  hat,  der  Royal  Society  of  London  eine  Ab- 
handlung, betitelt  „Neue  zerlegende  Untersuchungen  über  die  Natur 
einiger  Körper“  vor.  In  derselben  beschrieb  er  auch  „Versuche  über  die 
Zustünde,  in  welchen  sich  der  Kohlenstoff  im  Reifsblei,  in  der  Kohle  und 
in  den  Diamanten  befindet.“  Er  hatte  Diamanten  mit  Kalium  zusammen 
erhitzt  und  glaubte  gefunden  zu  haben,  dafe  das  Kalium  dabei  den  Dia- 
manten Sauerstoff  entziehe.  Davy  schreibt  schliefölich,  dafe  die  Versuche 
mit  dem  Diamant  es  sehr  wahrscheinlich  machen,  dafe  er  Sauerstoff 
enthält.  Zwar  könnte  die  Menge  desselben  nur  sehr  gering  sein,  doch 
reichte  sie  wahrscheinlich  aus,  um  die  Verbindung  zum  Nichtleiter 
(der  Elektrizität)  zu  machen.  Der  englische  Forscher  halte  auch  den 
Graphit  und  die  Kohle  auf  analoge  Weise  untersucht  und  war  dazu 
gekommen,  den  ersteren  für  eine  Verbindung  von  Kohlenstoff  mit 
ungefähr  ein  Zwanzigstel  Eisen  und  die  Kohle  als  einen  Körper, 
welcher  hauptsächlich  aus  reinem  Kohlenstoff  bestehe,  mit  welchem 
aber  eine  kleine  Menge  Wasserstoff  verbunden  sei,  anzusehen.  Auf 
diese  Abweichungen  in  der  Elementarzusammensetzung  der  drei  Sub- 
stanzen Kohle,  Graphit  und  Diamant  schob  Davy  die  Verschieden- 
heit der  Eigenschaften  derselben. 

Alle  diese  fälschlichen  Auffassungen  der  Natur  des  Diamanten 
wurden  nun  endgültig  durch  spätere  genaue  Untersuchungen  widerlegt. 
Nachdem  J ustus  Lieb  ig  die  Methode  der  Analyse  organischer  Körper 
so  aufserordentlich  vereinfacht  und  sie  zu  einer  so  exakten  gemacht  hatte, 
wurde  der  Diamant  oft  auf  diese  Weise  untersucht,  wobei  immer  festge- 
stellt wurde,  dafe  er  reiner  Kohlenstoff  ist.  Nur  aufserordentlich  geringe 
(wechselnde)  Mengen  von  mineralischen  Substanzen  pflegt  er  noch  beige- 
mengt zu  enthalten,  welche  beim  Verbrennen  als  Asche  hinterbleiben. 
So  fanden  Dumas  und  Stafs  gelegentlich  ihrer  Untersuchungen  über 
das  Atomgewicht  des  Kohlenstoffes  (1841),  bei  welchen  sie  zahlreiche 
Diamanten  verbrannten,  dafe  diese  alle  ein  Residuum  hinterliefeen. 


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404 


Diese  Asche  bestand  bald  aus  einem  schwammigen,  röthlich -gelben 
Gefüge,  bald  aus  strohgelben  krystallinen  Brocken,  bald  aus  farblosen, 
aber  auch  krystallinen  Fragmenten.  Also  auch  die  Zusammensetzung 
der  Asche  ist  offenbar  verschieden.  Die  geringste  Menge  Rückstand, 
welche  sich  in  einem  der  untersuchten  Diamanten  fand,  betrug  ein 
Zweitausendstel  von  seinem  Gewicht,  bisweilen  stieg  der  Aschen- 
gehalt aber  auch  auf  ein  Fünfhundertstel  der  Diamantsubstanz.  Dumas 
und  Stafs  glauben,  dafs  die  allerreinsten  Diamanten,  deren  Farbe  und 
Durchsichtigkeit  niohts  zu  wünschen  übrig  lasse,  überhaupt  ohne 
Rückstand  verbrennen  können.  — Die  beiden  Forscher  knüpfen  nun 
an  diese  Beimengungen  des  Diamanten  folgende  sehr  richtige  Be- 
trachtung: „Diese  mineralischen  Stoffe  gehören  dem  Krystall  selbst 
zu;  sie  sind  zwischen  den  Blättchen  desselben  im  Augenblick  seiner 
Bildung  gleiohsam  gefangen  worden,  und  aus  ihrer  genauen  Be- 
stimmung geht  als  unvermeidliche  Folge  eine  sichere  Kenntnifs  der  geo- 
logischen Situation  des  Muttergesteines  der  Diamanten  >)  hervor,  indem 
die  Natur  selbst  in  die  Krystalle  dieses  schönen  Körpers  das  Zertifikat 
seines  so  sehr  und  so  vergeblich  gesuchten  Ursprungs  gelegt  hat.“ 

Diese  mineralischen  Einschlüsse,  welche  die  Diamanten  öfter 
führen,  sind  nur  wenig  untersucht,  einmal  erwiesen  sie  sich  als 
Rutil,  d.  i.  krystallisirte  Titansäure.  Jüngst  angestellte  Analysen  von 
II.  Moissan  ergaben  in  allen  untersuchten  Diamanten,  welche  aus  Süd- 
afrika stammten,  Beimengungen  von  Eisen  und  Silicium;  brasilianische 
Vorkommnisse  enthielten  ebenfalls  alle  Kieselsäure  und  fast  alle  Eisen. 
Ferner  fand  sich  in  den  meisten  Diamanten  auch  Calcium.  — 

Ein  weiterer  Beweis  für  die  Kohlenstoffnatur  des  Diamanten 
wurde  ganz  neuerdings  von  A.  Krause  erbracht.  Derselbe  stellte 
nämlich  aus  der  durch  Oxydation  des  Diamanten  erhaltenen  Kohlen- 
säure- Soda,  also  kohlensaures  Natrium  dar,  und  untersuchte  deren 
Löslichkeit  sowie  ihre  Kiwstallform,  ferner  ihre  Leitfähigkeit  für  den 
elektrischen  Strom,  ihren  Wassergehalt  und  Schmelzpunkt.  Dabei 
stellte  sich,  wie  ja  auch  zu  erwarten  war,  heraus,  dafs  alle  diese 
Eigenschaften  vollkommen  mit  denen  der  gewöhnlichen  Soda  überein- 
stimmten. 

Wir  wollen  jetzt  zu  den  Untersuchungen  übergehen,  welche  an- 
gestellt wurden,  um  das  Verhalten  des  Diamanten  unter  verschiedenen 
Bedingungen,  wie  unter  dem  Einflüsse  hoher  Temperaturen  otc.,  kennen 
zu  lernen. 

*)  d.  h.  des  Alters  und  der  Zusammensetzung  des  Muttergesteines. 


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405 


Was  die  Einwirkung1  starker  Hitzegrade  auf  den  Diamant  be- 
trifft, so  hat  man  da  zwischen  seinem  Verhalten  bei  Abschlufs  von 
Luft,  bei  Gegenwart  von  Luft  resp.  Sauerstoff  und  sohliefslioh  bei 
Gegenwart  anderer,  chemisch  auf  ihn  wirkender  Substanzen  zu  unter- 
scheiden. Es  sind  zunächst  verschiedene  Experimente  hervorzuheben, 
welche  über  die  Eigenschaften  unseres  Minerals  beim  Erhitzen  unter 
Luftabschlufs  Auskunft  geben,  nämlich  die  Untersuchungen,  welche 
1871  von  Professor  Schrötter  in  Wien  und  1872  von  dem  verdienst- 
vollen Mineralogen  Gustav  Rose  in  Berlin  veröffentlicht  wurden. 
Der  erstere  Forscher  legte  einen  Diamant  in  einen  kleinen  hessischen 
Tiegel,  der  halb  mit  fest  eingeprefster  Magnesia  gefüllt  war  und 
füllte  nun  denselben  völlig  mit  diesem  Material  aus.  Hierauf  wurde 
er  mit  einem  Porzellandeckel  gut  verschlossen  und  in  einen  zweiten 
hessischen  Tiegel,  welcher  Graphit  enthielt,  so  eingestellt,  dafs  er  mit 
einer,  etwa  ein  Centimeter  starken  Schicht  von  Graphit  umgeben, 
diesen  äufsern  Tiegel  nirgends  berührte.  Letzterer  wurde  ebenfalls 
gut  verschlossen.  (Die  Einpackung  in  Graphit  hatte  den  Zweck,  der 
etwa  hinzutreteuden  Luft  den  Sauerstoff  zu  entziehen;  bei  sehr  hohen 
Temperaturen  verbinden  sich  nämlich  Graphit  und  Sauerstoff  zu  Kohlen- 
säure.) Das  Ganze  wurde  hierauf  dem  Starkbrande  des  Porzellan- 
ofens an  der  heifsesten  Stelle  ausgesetzt.  Als  nach  dem  Erkalten  die 
Umhüllungen  geöffnet  wurden,  zeigte  sich,  dafs  der  Diamant  nur  an 
seiner  Oberfläche  etwas  matt  geworden  war  ohne  die  geringste 
Schwärzung  oder  Trübung  im  Innern.  Aus  diesem  Versuche  schliefst 
Schrötter,  dafs  der  Diamant  die  höchsten  Temperaturen,  die  wir  in 
unseren  Oefen  erzeugen  können,  auch  bei  langer  Dauer  derselben  er- 
trägt, ohne  eine  merkliche  Veränderung  zu  erleiden.  G.  Rose  stellte 
folgende  Experimente  an.  Zu  dem  einen  Versuche  wurde  zur  Er- 
zeugung der  nöthigen  Hitze  ein  greiser  dynamo-elektrischer  Apparat 
benutzt.  Der  Diamant  wurde  in  einen  starken  gläsernen  Zylinder,  in 
welchen  die  als  Pole  dienenden  Kohlenspitzen  luftdicht  eingesetzt 
waren,  gebracht,  und  zwar  in  eine  der  letzteren  selber.  Nachdem 
der  Zylinder  luftleer  gemacht,  wurde  der  Apparat  in  Gang  gesetzt 
Bald  zersprang  der  Diamant  mit  heftiger  Detonation  in  greisere  und 
kleinere  Stücke,  die  alle  stark  geschwärzt  erschienen.  Dasselbe  trat 
bei  einem  zweiten  Versuche  ein.  Die  Schwärzung  beschränkte  sich 
nur  auf  die  Oberfläche  und  bildete  eine  dünne,  haarstarke  Rinde,  die 
von  der  inneren,  unverändert  und  durchsichtig  gebliebenen  Masse 
scharf  abschnitt  Dieser  Ueberzug  färbte  ab,  und  man  konnte  mit 
ihm  auf  Papier  schreiben;  nach  Roses  Ansicht  bestand  er  aus 


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40G 


Graphit.  Um  das  Zerspringen  des  Diamanten,  das  offenbar  von  der 
zu  plötzlichen  Erhitzung  herrührte,  zu  vermeiden,  stellte  dieser  Forscher 
ein  drittes  lehrreiches  Experiment  auf  folgende  Weise  an.  In  einen 
kleinen,  aus  sehr  fester  Gasretortenkohle  geschnittenen  Würfel  wurde 
ein  Loch  von  der  Gröfse  des  hineinzulegenden  Diamanten  gebohrt 
und,  nachdem  letzterer  oingobracht,  mit  einem  Stöpsel  aus  demselben 
Stoffe  möglichst  luftdicht  verschlossen.  Dieser  Würfel  wurde  in  die  Mitte 
eines  mit  Holzkohlenpulver  angefüllten  Graphittiegels  gestellt  und  das 
Ganze  darauf  wohl  verschlossen  in  einem  der  von  Siemens  kon- 
struirten  Regenerativöfen  eine  halbe  Stunde  lang  einer  Hitze  ausge- 
setzt, bei  welcher  Roheisen  schmilzt.  (Die  Verpackung  des  Diamanten 
in  Kohle  diente,  wie  bei  dem  vorhin  beschriebenen  Sohrötterschen 
Versuche  die  Einstellung  in  Graphit,  zur  Abhaltung,  resp.  durch  Ent- 
ziehung des  Sauerstoffes  zur  Unschädlichmachung  auch  der  geringsten 
Spur  von  Luft.)  Als  nun  nach  dem  Erkalten  der  Tiegel  aus  dem 
Ofen  genommen  und  geöffnet  wurde,  zeigte  sich,  dafs  der  Diamant 
völlig  unverändert  war.  Von  einer  Schwärzung,  d.  h.  also  einem 
Uebergang  in  eine  andere  Kohlenstoffmodifikation,  war  nicht  das 
mindeste  wahrzunehmen.  Rose  wiederholte  nun  den  Versuch  in  der 
Weise,  dafs  er  einen  Diamanten  wieder  genau  so,  wie  eben  beschrieben, 
verpackte,  ihn  aber  diesmal  einer  noch  höheren  Hitze,  nämlich  einer 
Temperatur,  bei  welcher  Stabeisen  schmilzt,  aussetzte.  Obgleich  er 
nur  10  Minuten  in  dieser  Hitze  verblieb,  so  war  dieses  Mal  doch  eine 
grofse  Veränderung  mit  ihm  vorgegangen;  er  war  nämlich  vollkommen 
schwarz  und  undurchsichtig  geworden  und  hatte  starken  metallischen 
Glanz  angenommen.  Die  Schwärzung  hatte,  wie  bei  dem  ersten  Rose- 
schen Experimente,  nur  an  der  Oberfläche  stattgefunden,  indem  die 
schwarze  Masse  eine  sehr  dünne,  an  der  unveränderten  Diamant- 
substanz scharf  abschneidende  Schicht  bildete.  — Es  war  also  eine 
theilweise  Umwandlung  der  Diamantmodifikation  in  eine  andere  Zu- 
standsform des  Kohlenstoffes  eingetreten.  — G.  Rose  gelangt  unter 
Berücksichtigung  des  Ergebnisses  des  vorhin  beschriebenen  Schrötter- 
schen  sowie  seiner  eigenen  Versuche  zu  folgender  Auffassung.  Wenn 
der  Diamant  vor  dem  Zutritte  der  Luft  geschützt,  einer  Temperatur, 
bei  welcher  Roheisen  schmilzt,  oder  der  heftigtsen  Hitze,  die  sich 
in  Porzellanöfen  erzeugen  läfst,  ausgesetzt  wird,  so  verändert  er  sich 
nicht.  Wird  er  aber  (ebenfalls  unter  Luftabschlufs)  einer  noch  höheren 
Temperatur  preisgegeben,  z.  B.  der,  bei  welcher  Stabeisen  schmilzt, 
so  beginnt  er,  unter  Beibehaltung  der  Form,  in  Graphit  überzu- 
gehen. — 


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407 


Es  ist  also  die  den  Diamanten  repriisentirende  Modifikation  des 
Kohlenstoffes  bei  sehr  hohen  Temperaturen  nicht  existenzfähig,  sondern 
es  treten  dann  — wohl  innerhalb  der  Moleküle  — Umsetzungen  ein, 
indem  eine  andere,  auch  bei  sehr  starker  Hitze  beständige  Zustands- 
form dieses  Elementes  entsteht.  Für  die  Erforschung  der  Oenesis 
des  Diamanten  ist  die  Kcnntnifs  dieser  Thatsache  ohne  Zweifel  sehr 
wichtig,  denn  dieselbe  deutet  darauf  hin,  dafs  er  nicht  bei  diesen 
sehr  hohen  Temperaturen  entstanden  ist.  Allerdings  ist  es  ja  aber 
auch  möglich,  dafs,  wenn  vielleicht  neben  sehr  starker  Hitze  gleichzeitig 
ein  mächtiger  Druck  wirkt,  dann  doch  die  Diamantmodifikation  existenz- 
fähig wird  und  somit  ihre  Entstehung  unter  diesen  Bedingungen 
stattgefunden  haben  kann. 

Wie  nun  G.  Rose  glaubte,  war  die  bei  den  hohen  Temperaturen 
aus  dem  Diamant  entstehende  KohlenstolTmodifikation  Graphit.  Dem- 
entgegen  stellte  Luzi  fest,  dafs  die  schwärzlich-graue,  undurchsichtige 
und  wie  es  schien  krystalline  Substanz,  in  welche  sich  der  Diamant 
bei  sehr  starkem  Erhitzen  (auf  circa  1770°  C.)  unter  Luftabschlufs 
umwandelt,  Graphit  nicht  sein  kann.  Dio  betreffende  Masse  gab  näm- 
lich eino  Reaktion  (die  von  Luzi  entdeckte  sog.  „Salpetersäurereaktion 
des  Graphites“,  auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  kann), 
welche  nur  dem  Graphit  und  sonst  keiner  andern  Modifikation  des 
Kohlenstoffes  eigen  ist,  nicht.  Es  mufs  also  hier  eine  andere  Zustauds- 
form desselben  vorliegen,  wahrscheinlich  der  sog.  Graphitit.  — 

Ganz  anderer  Art  sind  die  Erscheinungen,  welche  beim  Erhitzen 
des  Diamanten  unter  Zutritt  von  Luft  stattfinden.  Wie  wir  schon 
vorhin  sahen,  als  wir  die  geschichtliche  Entwickelung  der  Erkenntnifs 
von  der  chemischen  Zusammensetzung  des  Diamanten  betrachteten, 
verbrennt  er  ja  dabei,  aber  es  geschieht  dies  unter  sehr  bemerkens- 
werthen  Begleiterscheinungen. 

Zunächst  sei  hervorgehoben,  dafs  er,  an  der  Luft  entzündet,  nun 
nicht  ohne  weiteres  zu  brennen  oder  zu  glimmen  fortfährt.  Um  ihn  unter 
diesen  Umständen  zu  verbrennen,  bedarf  es  vielmehr  einer  fortgesetzten, 
starken  Zufuhr  von  Wärme.  Wenn  man  pulverisirten  Diamant  z.  B.  auf 
ein  dünnes  Platinblech  bringt  und  dieses  über  einem  Gebläse  erhitzt,  so 
entzündet  er  sich  und  verbrennt,  aber  nur,  so  lauge  man  fortfährt, 
die  Unterlage  im  Glühen  zu  erhalten.  Anders  ist  es,  wenn  man  den 
Diamant  in  reinem  Sauerstoffgase  entzündet;  darin  fährt  er  von  selbst 
fort  zu  brennen  und  wird  schnell  und  vollständig  verzehrt,  ohne  dafs 
es  einer  weiteren  Erhitzung  bedürfte.  Seine  Entzündungstemperatur 
(an  der  Luft)  liegt  ungefähr  beim  Schmelzpunkte  des  Silbers,  also 


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bei  circa  1000°  C.  Nach  jüngst  erfolgton  Angaben  von  Moissan 
soll  die  Temperatur,  bei  welcher  Diamanten  in  reinem  Sauerstoff  ver- 
brennen, zwischen  760°  und  875°  schwanken.  Die  Feuererscheinung, 
welche  das  Verbrennen  des  Diamanten  begleitet,  ist  eine  intensive. 
Es  sei  übrigens  nebenbei  bemerkt,  dafs  nicht,  wie  vielfach  geglaubt 
wird,  der  Diamant  die  am  schwierigsten  verbrennbare  Modifikation 
des  Kohlenstoffes  ist,  sondern  dies  ist  der  Graphit  So  verbrennt  z.  B. 
Graphit  von  Ceylon  oder  von  Ticonderoga  selbst  beim  Glühen  in  einem 
schnellen  Sauerstoffstrome  nur,  wenn  er  sehr  fein  pulverisirt  ist.  Ist  er 
dies  nicht,  so  verbrennen  so  geringe  Mengen,  wie  0,1  bis  0,2  g.,  selbst  bei 
zweistündigem,  starkem  Glühen  im  Sauerstoffstrome  nur  zum  TheiL 
Graphit  ist  also  viel  schwerer  verbrennlich  als  Diamant  Der  Diamant 
ist  somit  bei  hohen  Temperaturen  weder  existenzfähig,  wenn  er  sich 
unter  Luftabschlufs,  und  noch  viel  weniger,  wenn  er  sich  an  der  Luft 
befindet.  Graphit  und  Graphitit  sind  in  dieser  Hinsicht  ungleich  viel 
beständigere  Anordnungen  der  Kohlenstoffatome;  entsteht  doch  z.  B. 
letzterer  unter  dem  Einflüsse  des  elektrischen  Bogenlichtes  aus  den 
als  Pole  oder  Elektroden  dienenden  Kohlenstiften,  also  bei  einer 
Temperatur,  welche  man  ganz  neuerdings  zwecks  Ausführung  gewisser 
chemischer  Operationen  auf  circa  3000°  C.  gesteigert  hat. 

G.  Ro  se  beobachtete  zuerst,  dafs  sich  der  Diamant  beim  Verbrennen 
auf  seiner  Oberfläche  mit  regelmäfsigen,  dreiflächigen  Eindrücken  be- 
deckt Dieselben  stellen  negative  Pyramiden,  also  Tetraeder,  dar. 
Es  sind  dies  Aetzfiguren,  wie  man  sie  an  den  Krystallen  vieler  Sub- 
stanzen beobachten  kann,  wenn  eine  chemische,  losende  Einwirkung 
auf  dieselben  stattfindet.  Diese  Aetzfiguren  stehen  stets,  also  auch  beim 
Diamant,  in  gewissen  gesetzmäfsigen  Beziehungen  zu  der  Krystallform; 
sie  liegen  nicht  wirr  und  regellos  durcheinander,  sondorn  sind  immer 
in  bestimmten  Richtungen  angeordnet. 

Fig.  1 (nach  G.  Rose)  zeigt  eiue  mit  solchen  dreiflächigen  Ein- 
drücken bedeckte  Fläche  (Oktaederfläche)  eines  Diamantkrystalles, 
wie  sie  beim  Verbrennen  desselben  entstehen. 

Fig.  2 (nach  G.  Rose)  stellt  den  letzten  Rest  eines  fast  voll- 
ständig verbrannten  Diamanten  dar. 

Eine  Folge  der  regelmäfsigen  Lage  der  Eindrücke  ist  es,  dafs 
dieselben  bei  längerer  Einwirkung  der  Hitze  zu  Furchen,  zwischen 
denen  sich  scharfe  Kämme  erheben,  zusammentreten  (siehe  Fig.  2). 
Uebergang  in  eine  andere  Kohlenstoffmodifikation  ist  beim  Erhitzen  des 
Diamanten  an  der  Luft  nicht  zu  beobachten,  er  zeigt  sich,  wann  immer 
man  ihn  auch  aus  dem  Feuer  nehmen  mag,  stets  farblos  resp.  weifs. 


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Wie  schon  erwähnt,  leuchtet  der  Diamant  beim  Verbrennen  stark, 
ohne  dafs  dabei  aber  wirkliche  Flammen  erschienen,  oder  dafs  etwa 
Funkensprühen  und  ähnliche  Erscheinungen  aufträten.  Auch  von  einer 
Schmelzung  ist  normaler  Weise  nichts  wahrzunehmen.  Indessen  mag 
hier  eingeschaltet  werden,  dafs  manche  diesbezüglichen  Experimente 
auch  etwas  andere  als  die  eben  beschriebenen  Resultate  ergaben;  es 
herrscht  zwischen  den  Ergebnissen,  welche  zumal  ältere  Beobachter 
bei  Erhitzungsversuchen  unter  Luftzutritt  erhielten,  keine  volle  Ueber- 
einstimmung.  Bei  Experimenten,  die  im  Jahre  1751  von  Franz  I.  an- 
gestellt wurden,  zeigte  sich  z.  B.,  dafs  ein  vollkommen  reiner,  ge- 


schliffener Stein,  nachdem  er  mit  Hülfe  eines  grofsen  Brennspiegels 
theilweise  verbrannt  worden,  dabei  durch  und  durch  geschwärzt 
worden  war.  Dieser  Diamant  wurde  aufbewahrt  und  befindet  sich 
im  Besitze  des  k.  k.  Mineralienkabinets  in  Wien.  — Wie  schon 
Seite  401  erörtert  wurde,  nahm  auch  Morveau  bei  der  Einwirkung 
konzentrirter  Sonnenstrahlen  auf  einen  im  Sauerstoff  befindlichen  Dia- 
manten einen  Uebergang  desselben  in  Kohle  oder  Graphit  wahr. 
Derlei  Beobachtungen  wurden  noch  von  manchen  andern  Chemikern 
gemacht.  Eine  ebenfalls  abnorme  Erscheinung  bot  sich  dem  ameri- 
kanischen Forscher  Sill  im  an  dar,  als  er  Diamanten  vor  das  sog. 
Haru'sche  zusammengesetzte  Löthrohr  brachte;  dieselben  zeigten  näm- 
lich Spuren  einer  angefangenen  Schmelzung.  Es  waren  geschliffene 
Diamanten;  ihre  Ecken  wurden  beim  Verbrennen  jederzeit  abgerundet 
und  meistens  ganz  verwischt.  Es  schien,  als  wären  sie  auf  der  Ober- 
fläche orweicht  — ein  zufällig  abgesprungenes  Stückchen  zeigte  einen 
muscheligen  Bruch  und  verglastes  Ansehen.  — 


Star_ 

a,  b,  c dreiflächige  Corrosiousßguren. 


Fig.  2.  Sehr  stark  vergröfsert. 


(Schlufs  folgt). 


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’V’- 
& 


Die  physische  Beschaffenheit  des  Planeten  Mars  nach 
dem  Zeugnifs  seiner  hervorragendsten  Beobachter. 

Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 

c-  i.- 

cj. geit  Herschel  vor  nunmehr  bereits  110  Jahren  über  den  Pla- 
neten  Mars  die  Meinung  ausgesprochen  hatte,  „seine  Bewohner 
erfreuen  sich  wahrscheinlich  einer  in  vieler  Hinsicht  ähnlichen 
Situation  wie  wir*,  begann  dieser  merkwürdige  Planet  immer  mehr 
das  Interesse  zuerst  der  beobachtenden  Astronomen,  dann  der  Freunde 
der  Himmelskunde  und  endlich  des  grolsen  Publikums  in  Anspruch 
zu  nehmen,  und  heute  hat  der  für  das  b lotse  Auge  durchmesserlose 
Wandelstern,  auf  welchem  nur  die  besten  Fernrohre  seltsame  Details 
zu  erkennen  vermögen,  selbst  dem  Monde  an  allgemeiner  Popularität 
den  Rang  abgewonnen.  Namentlich  seit  der  Laie  dem  Astronomen 
allmählich  zu  glauben  beginnt,  dafs  es  Menschen  oder  überhaupt 
lebende  Wesen  auf  dem  Monde  nicht  geben  kann,  ist  er  ihm  um  ein 
gutes  Stück  gleichgültiger  geworden.  Für  Mars  aber  stand  von  vorn- 
herein der  Wahrscheinlichkeit,  dafs  es  dort  lebende  Wesen  geben 
könne,  kein  unumstofslicher  Grund  entgegen,  und  als  nun  gar 
Sch iaparell i seit  dem  Jahre  1877  sogenannte  Kanäle  dort  entdeckte, 
deren  Entstehung  allein  durch  die  todten  Naturkräfte,  ohne  die  Ein- 
wirkung intelligenter  Wesen  nach  unseren  irdischen  Erfahrungen 
jedenfalls  bedeutende  Erklärungsschwierigkeiten  bot,  mufste  begreif- 
licherweise dieses  Interesse  einen  sehr  hohen  Grad  erreichen,  da  man 
in  unseren  Tagen  ja  aufserdem  in  immer  stärkerem  Maafse  sich  ganz 
im  allgemeinen  für  die  Dinge  außerhalb  der  Erde  interessirt.  Nun 
kam  bekanntlich  im  vergangenen  Jahre  der  Planet  uns  aufsergewiihn- 
J ich  nahe,  so  nahe,  wie  er  seit  dem  denkwürdigen  Entdeckungs- 
fahrt; der  Kanäle.  1877,  uns  nicht  wieder  gestanden  hat  Alle  Welt 
— nur  nicht  die  Astronomen  — war  nun  davon  überzeugt,  dafs  der 
Planet  auf  diesem  Besuche  uns  eine  grofse  Menge  neuer  Wunder 
verrathon  würde.  Es  war  au  sich  ein  gewifs  erfreuliches  Zeichen 
für  den  Fortschritt  der  immer  allgemeiner  werdenden  Freude  an  der 


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411 


Beobachtung  himmlischer  Welten,  dafs  im  vorigen  Jahre,  nament- 
lich um  die  betreffende  Oppositionszeit  zu  Anfang  August  herum, 
alle  Zeitungen  der  zivilisirten  Welt  erfüllt  waren  von  allerhand 
Mittheilungen  über  dieses  wunderbare  Gestirn.  Ja,  der  New- York 
Herald  ging  so  weit,  ihm  geradezu  die  Ehre  eines  königlichen  Gastes 
angedeihen  zu  lassen,  dem  er  ein  ganzes  Heer  von  Interviewern  ent- 
gegensandte. Am  Tage  nach  der  Opposition,  am  5.  August,  erschien 
je  ein  Korrespondent  des  New-York  Herald  bei  jedem  nur  einiger- 
mafsen  namhaften  Astronomen  der  ganzen  Welt,  um  ihn  zu  befragen, 
was  er  neues  an  dem  Planeten  gesehen  habe,  und  alle  diese  Mit- 
theilungen wurden  nach  New-York  telegraphirt  und  in  einer  langen 
Reihe  von  Artikeln  reproduzirt.  Nun,  ich  brauche  unseren  Lesern 
von  „Himmel  und  Erde“  nicht  ausführlich  zu  erklären,  dafs  diese 
sonderbare  Idee  des  etwas  sensationssüchtigen  Blattes  eine  recht  grobe 
Unkenntnifs  des  einschlägigen  Gegenstandes  verräth.  Einmal  unter- 
schieden sich  ja  natürlich  die  Verhältnisse  am  Tage  der  Opposition 
astronomisch  fast  garnicht  von  denen  mehrere  Wochen  vor  und  nachher, 
und  dann  weifs  man,  dafs  es  erst  nach  vollendeter  Oppositionsperiode 
möglich  ist,  aus  der  Gesamtheit  so  ungemein  subtiler  Beobachtungen 
einen  einigermafsen  werthvollen  Schlufs  zu  ziehen.  Endlich  fand  be- 
kanntlich die  vorjährige  Opposition  wegen  des  niedrigen  Standes  des 
Planeten  für  alle  Sternwarten  der  nördlichen  Erdhälfte  unter  so  un- 
günstigen Umständen  statt,  dafs  sehr  viel  Neues  von  dieser  Zusammen- 
kunft von  vornherein  kaum  zu  erwarten  war.  Von  den  südlich  ge- 
legenen Sternwarten  kam  aber  kaum  mehr  als  eine  — die  provi- 
sorische Station  bei  Arequipa  auf  dem  peruanischen  Hochplateau  — 
in  Betracht,  welche  sich  besonders  für  Marsstudien  gerüstet  hatte. 

Das  Jahr  1892  ist  nun  aber  in  anderer  Hinsicht  für  das  Studium 
des  erdnahen  Planeten  von  Bedeutung  gewesen,  und  zwar  durch  das 
Erscheinen  eines  umfangreichen  Werkes,  welches  alle  seit  der  Erfin- 
dung des  Fernrohrs  aufgezeichneten  Studien  über  den  Planeten  sorgfältig 
neben  einander  geordnet  enthält.  Das  grofäe  Werk  rührt  von  dem 
allbekannten  französischen  Astronomen  Camille  Flamraarion  her, 
dessen  Weltberühmtheit  er  seiner  wunderbaren  Gabe  eleganter  und 
begeisterter  populärer  Darstellung  astronomischer  Kenntnisse  verdankt. 
Nach  deutschem  Geschmack  und  dem  Geschmack  der  reinen  Fach- 
gelehrten so  ziemlich  der  ganzen  Welt  ist  ja  allerdings  die  Schreib- 
weise Flammarions  nicht.  Der  Flug  seiner  begeisterten  Phantasie 
mag  sich  wohl  hier  und  da  etwas  zu  weit  über  die  festen  und  un- 
zweifelhaften Grundlagen  des  verbürgten  Wissens  erhoben  haben; 


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412 


aber  ich  werde  es  mir  an  dieser  Stelle  wohl  versagen  müssen,  mich 
irgendwie  kritisch  über  den  Werth  oder  Unwerth  solcher  gelegent- 
lichen Gedankenausflüge,  welche,  von  wissenschaftlich  durcbgebildeten 
Geistern  ausgehend,  schon  sehr  häutig  pfadfindend  geworden  sind, 
auszulassen;  ich  würde  allzu  leicht  in  den  Verdacht  kommen,  pro  domo 
zu  reden. 

Wie  man  nun  aber  auch  über  den  grofsen  Pariser  Popular- 
Astronomen  denken  mag,  sein  Buch  „La  Planete  Mars  et  ses  Con- 
ditions  d'Habitabilite“  bildet  eine  ganz  vortreffliche  und  höchst  sorg- 
fältige Zusammenstellung  alles  dessen,  was  über  die  Oberfläche  des 
Mars  jemals  an  Untersuchungen  und  Zeichnungen  bekannt  geworden 
ist,  und  es  mufs  hier  besonders  hervorgehoben  werden,  dafs  die  hypo- 
thetischen Ausblicke  sich  auf  einen  sehr  kleinen  Bruchtheil  des 
608  Grofsoktavseiten  umfassenden  Werkes  beschränken,  welches 
671  Facsimile-Wiedergaben  von  Marszeichnungen  enthält.  Ich  will 
es  versuchen,  an  der  Hand  dieses  Werkes  und  hauptsächlich  aus  dem- 
selben excerpirend,  einen  Ueberblick  der  Studien  zu  geben,  welche 
sich  bisher  mit  unserer  jedenfalls  sehr  eigenartigen  Nachbarwelt 
befafst  haben,  um  dann  schliefslich  das  hinzuzufügen,  was  die  letzte 
Opposition,  die  in  dem  Werke  noch  keine  Aufnahme  finden  konnte, 
etwa  noch  ergeben  hat. 

Die  Beobachtungen  des  Mars  sind  in  dem  Fla  mm  arion  sehen 
Werke  in  drei  Perioden  zerlegt,  deren  Grenzen  einmal  durch  den 
Beginn  der  Beobachtungen  überhaupt,  dann  durch  die  Beobachtungen 
von  Beer  und  Mädler  (1830)  und  durch  Schiaparelli  (1877)  ge- 
steckt sind. 

Die  erste  Marszeichnung  rührt  von  Fontana  her  und  ist  1636 
ausgeführt  Durch  ein  Fernrohr  gesehen  ist  Mars  natürlich  bereits 
seit  dem  Jahre  1610,  als  Galilei  ein  solches  zuerst  auf  ihn  richtete. 
Der  Letztere  glaubte  auch  bereits  eine  Spur  seiner  Phase  zu  bemerken. 
Fontana  zeichnet  einen  runden  Fleck  in  der  Mitte  des  Mars,  der 
aber,  da  er  später  die  Form  der  Phase  annimmt  und  auch  bei  seinen 
Zeiclmungen  der  Venus  wieder  auftritt,  offenbar  nur  ein  falsches 
Spiegelbild  seines  Fernrohrs  ist.  Es  folgen  dann  Bemerkungen  über 
Marsbeobachtungen  von  Riccioli,  Hirtzgarter,  Iiheita,  Hevelius 
und  Iluygens.  Letzterer  giebt  1636  einen  dunkeln  Gürtel  an,  wel- 
cher die  Marsscheibe  von  einem  zum  anderen  Rande  durchzieht,  und 
am  28.  November  1669  zeichnet  er  etwas  auf,  das  wohl  bereits  jenem 
charakteristischen  Gebilde  der  Marsoberfläche  einigermafsen  ähnlich 
sieht,  das  Schiaparelli  Syrtis  Major  genannt  hat,  für  welches 


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413 


Flammarion  aber  die  alte  Nomenklatur  beibehält  und  es  das  Sand- 
uhrmeer  nennt  (Mer  du  Sablier).  Die  Beobachtungen  von  Cassini 
werden  dann  reproduzirt,  der  1666  deutlich  die  weifsen  Polarflecke 
aufzeichnet,  aber  merkwürdiger  Weise  gelegentlich  deren  vier  sieht, 
dann  weiter  die  von  Salvatore  Serra,  Hooke,  von  Huygens  aus 
den  Jahren  1672  und  1683,  Beobachtungen  und  Zeichnungen  von  Flam- 
sted,  Fontanelle,  Maraldi,  Bianchini,  Cassini  II.,  Messier, 
Lalande,  William  Herschel.  Erst  die  Zeichnungen  dieses  Letz- 
teren weisen  etwas  greifbarere  Details  namentlich  in  der  zweiten  Pe- 
riode von  1781  und  82  auf,  von  denen  man  hier  und  da  wohl  eine 
Kontur  mit  heute  bekannten  aerographischen  Gebilden  identiliziren 
könnte.  Nach  B a i 1 1 v folgt  dann  der  grofse  Planetenbeobachter 
Schröter,  der  von  1785  bis  1803  eine  gröfsere  Anzahl  bereits  reoht 
interessanter  Marszeichnungen  anfertigte,  die  in  dem  Flammarion- 
schen  Werke  wiedergegeben  sind.  Es  werden  überall  Auszüge  des 
Beobachtungsjournals  gegeben  und  Versuche  gemacht,  die  Details  der 
alten  Zeichnungen  mit  den  uns  heute  bekannten  zu  identißziren.  Es 
passiren  dann  noch  Revue  die  Beobachtungen  von  Hahn,  Flauger- 
gues,  Fritsch,  Huth,  Gruithuisen,  Arago,  Kunowsky  und 
endlich  Harding  (1824),  womit  die  erste  Periode  abschliefst 

Man  begreift,  dafs  man  aus  diesen,  mit  noch  sehr  unvollkomme- 
nen Instrumenten  gewonnenen  Beobachtungen  und  Zeichnungen  kein 
auch  nur  einigermafsen  klares  Bild  der  Oberfliichenverhältnisse  auf 
dem  Mars  zusammenstellen  konnte.  Flammarion  schliefst  deshalb 
seine  Zusammenstellung  der  Resultate  dieser  ersten  Periode  mit  den 
Worten: 

.Besitzt  dieser  Planet  eine  feste,  geographisch  gegliederte  Ober- 
fläche wie  diejenige  der  Weltkugel,  welche  wir  bewohnen?  Es  wäre 
unmöglich,  dieses  aus  den  vorangehenden  Beobachtungen  zu  schliefsen. 
Vielleicht  werden  die  Fortschritte  der  Optik  und  der  astronomischen 
Wissenschaft  es  uns  erlauben,  diese  wichtige  Frage  in  der  nächsten 
Periode  zu  entscheiden.  Wir  treten  deshalb  in  der  That  nunmehr 
in  eine  neue  Phase  der  Marsstudien  ein,  welche  man  die  geographische 
nennen  könnte.“1) 

Die  zweite  Periode  1830—1877  beginnt,  wie  bereits  erwähnt,  mit 
den  epochemachenden  Beobachtungen  von  Beer  und  Mädler.  Die 
Zeichnungen  werden  immer  gestaltreicher,  und  die  genannten  Astro- 
nomen konnten  im  Jahre  1840  bereits  einen  Planiglobus  der  Welt 

')  Bei  den  in  den  gegenwärtigen  Aufsatz  oingeflochtonen  L'ehersotzungen 
wolle  man  mir  erlauben,  dem  Geiste,  nicht  dem  Worte  getreu  zu  bleiben. 

Himmel  und  Erd».  1 81*3.  V.  9.  28 


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des  Mars  entwerfen,  auf 
welchem  in  grofsen  Zügen 
die  uns  heute  bekannte 
Konfiguration  wieder  zu 
erkennen  ist.  Wirerlauben 
uns  diese  Karte  hier  zu 
reproduziren. 

Es  folgen  Zeichnungen 
von  John  H ersehet  von 
1830,  Galle  1839,  Julius 
Schmidt,  Warren  de 
la  Rue,  Brodie,  Webb 
und  Secchi.  Letzterer 
bezeichnet  abermals  einen 
bedeutenden  Fortschritt, 
was  die  zunehmende  Fülle 
der  Details  betrifft.  Die 
Zeichnungen  Secchi  s be- 
ziehen sich  auf  die  Oppo- 
sitionen von  1858  und  1802. 

Wir  kommen  nun  zu  sehr 
sorgfältigen  und  schönen 
Mars -Zeichnungen  von 
Lockyer,  gleichfalls  von 
1 802,  ferner  von  P h i 1 1 i p s , 
Lord  Rosse,  Lasseil, 
Knott  und  Kaiser  aus 
demselben  Jahre.  Da  wes, 
weicherden  Planeten  1864 
und  05  zeichnet,  ist  sich 
schon  damals  darüber  klar, 
dafs  die  Lage  und  Aus- 
dehnung der  dunkleren 
und  helleren  Flecke  auf 
dem  Planeten  Veränderun- 
gen unterworfen  ist,  welche 
nicht  allein  der  Undeutlich- 
keit des  Sehens  zugeschrie- 
ben werden  können.  Nun 
folgen  Zeichnungen  von 


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Xankart«  von  Bear  und  Midier  ans  dam  Jahre  1840. 


416 


Franzenau,  Terby,  Williams  und  dann  die  hier  reproduzirte 
Uebersiehtskarte  von  Proctor.  Sohliefolich  finden  wir  nach  einigen 
gelegentlichen  Beobachtern  die  ganz  vortrefflichen  Marszeichnungen 
von  Green  und  Trouvelot,  dann  solche  von  Lohse  und  Holden 
(Washington  1875). 

Als  Resultat  dieser  zweiten  Periode  resumirt  Flammariou 
Seite  242  ff.: 

„Die  Geographie  des  Planeten  Mars  ist  in  ihren  hauptsächlichsten 
Zügen  skizzirt.  Mehrere  Karten  sind  entworfen:  zunächst  von  Beer  und 
Mädler  1840,  dann  von  Kaiser  1864,  von  Phillips  in  demselben 
Jahre,  von  Proctor  1867  und  Green  1873.  Diesen  geographischen 


Proctore  Uebor«ietat»karw  dei  Kart  atu  dem  Jahre  1867. 


Grundzügen  mag  man  noch  unseren  eigenen,  1864  veröffentlichten 
Versuch,  die  bestbekanute  Halbkugel  des  Planeten  darzusteüen,  hinzu- 
fügen, worin  sich  das  Sanduhrmeer  im  Zentrum  befindet.  Die  haupt- 
sächlichen dunklen  Flocken  sind  permanent,  und  es  ist  nicht  mehr 
möglich,  mit  Schröter  anzunehmen,  dafs  sie  atmosphärischer  Natur 
seien.  Dennoch  ist  unser  früherer  Schlufs  beizubehalten:  Die  Form 
und  das  Aussehen  dieser  Flecke  ist  veränderlich. 

„200  neue  Ansichten  des  Mars  sind  in  dieser  zweiten  Periode  vor 
unseren  Augen  vorübergezogen;  verbunden  mit  den  191  ersten 
ropräsentiren  diese  Ansichten  391  verschiedene  Zeichnungen  des  Pla- 
neten, wie  ihn  alle  Beobachter  nach  einander  oder  zugleich  gesehen 
haben.  Ihr  vergleichendes  Studium  zeigt,  dafs  jeder  Beobachter  ver- 
schieden sieht,  je  nach  der  Beschaffenheit  seiner  Augen,  seiner  Ge- 
schicklichkeit, seiner  Instrumente,  und  dafs  er  wiederum  nach  seiner 
besonderen  betreffenden  Anlage  das  Gesehene  verschieden  aufzeichnet. 

„Es  g-iebt  also  für  jede  Zeichnung  eine  Art  von  persönlicher 


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417 


Gleichung,  von  individueller  Auslegung,  und  da  die  Details  auf  einer 
Weltkugel,  welche  man  aus  der  Entfernung  des  Mars  durch  zwei  At- 
mosphären betrachtet,  immer  mehr  oder  weniger  vage  und  nur  äufserst 
delikate  sein  können,  ja  meistens  sich  an  der  Grenze  der  Sichtbar- 
keit befinden,  so  giebt  es  vielleicht  unter  allen  diesen  Zeichnungen 
keine  einzige,  welohe  wirklich  genau  das  wiedergiebt,  was  ein  Be- 
obachter sehen  würde,  der  sich  sehr  nahe  über  der  Oberfläche  des 
Mars  befinden  würde. 

„Nichtsdestoweniger  läfst  sich  ein  fester  Kern  aus  allen  diesen 
Beobachtungen  herausschälen , welchen  wir  in  der  Generalkarte  von 
Flammarion  auf  Seite  424  wiedergogebon  haben.  Andererseits  kann 
die  mangelnde  Uebereinstimmung  zwischen  verschiedenen  Beobachtern 
gewisse  Verschiedenheiten  nicht  erklären,  welohe  als  wirkliche  Ver- 
änderungen anzusehen  sind.  So  ändert  das  Sanduhrmeer  zweifellos 
seine  Ausdehnung  und  seine  Färbung.  Sein  linkes  Ufer  scheint 
namentlich  nach  oben,  nach  der  Halbinsel  Hind  zu,  Gebiete  zu  be- 
sitzen, welohe  zu  Zeiten  trocken  liegen,  zu  anderen  überschwemmt 
werden.  Das  kreisförmige  Meer  Terby  wird  rings,  namentlich  unten, 
von  Gebieten  umgrenzt,  die  oft  hell,  oft  dunkel  erscheinen.  Das  Meer 
Flammarion  ist  oft  von  einer  Art  Sandbank  durchzogen;  die 
Meridianbucht  erscheint  zu  Zeiten  rund,  dann  wieder  viereckig 
oder  auch  länglich  und  gabelförmig. 

„Diese  Erscheinungen  und  Veränderungen  bestätigen  die  Erklärung 
derselben,  wio  wir  sie  bereits  während  der  ersten  Beobachtungs- 
periode gaben,  nämlich,  dafs  die  dunklen  Flecke  ausgedehnte  Flüssig- 
keitsgebiete, Meere,  Seen  sind,  die  hellen  Fleoke  dagegen  feste  Ge- 
biete, Kontinente,  Inseln. 

„Die  Veränderungen  der  polaren  Schneegebiete  bekräftigen  diese 
Annahme  des  Vorhandenseins  von  Wasser,  welches  dieselben  Eigen- 
schaften wio  das  unseres  Planeten  hat,  d.  h.  sioh  in  Schnee,  Eis  und 
Wolken  verwandeln  kann. 

„Die  während  dieser  zweiten  Periode  entdeckte  spektralanalytische 
Untersuchungsmethode  zeigt,  dafs  dieses  Wasser  auch  in  seiner 
chemischen  Zusammensetzung  dem  unseren  vergleichbar  ist. 

„Trotzdem  müssen  diese  Wasseransammlungen  sich  in  einem 
anderen  physischen  Zustande  als  unsere  Meere  befinden;  sie  sind 
vielleicht  weniger  dicht,  weniger  flüssig,  treten  vielleicht  nur  als 
schwere  Nebelmassen  auf. 

„Die  Atmosphäre  ist  weniger  bewogt  als  die  unsrige,  weniger 
von  Wolken  und  Nebeln  durchsetzt,  erzeugt  weniger  Regen,  ist  ver- 


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418 


dünnter  und  durchsichtiger.  Das  Wasser  mufs  sich  darin  leichter 
verflüchtigen  und  leichter  niederschlagen  als  bei  uns.  Man  be- 
obachtet darin  keine  Wirbelstürme,  wie  es  Secchi  früher  geglaubt 
hatte,  aber  man  bemerkt  gelegentlich  sehr  ausgedehnte  Schneefelder, 
selbst  in  ziemlich  grofser  Entfernung  vom  Pol,  namentlich  auf  dem 
mit  Lockver  benannten  Festlande,  welches  man  gelegentlich  für  den 
Pol  angesehen  hat. 

„Es  giebt  weniger  Wasser  auf  dem  Mars  als  auf  der  Erde,  und 
zwar  ist  nicht  nur  seine  Oberflächenausdehnung  eine  geringere,  inso- 
fern es  auf  Mars  nur  ein  Drittel,  auf  der  Erde  drei  Viertel  der  Oesamt- 
oberflache einnimmt,  sondern  die  Meeresbecken  sind  vermuthlich  auch 
weniger  tief.  Die  Veränderungen  der  Färbung  der  Meere  können 
nämlich  dadurch  erklärt  werden,  dafs  zu  Zeiten  ihr  Grund  sichtbar 
wird.  Aufserdem  scheinen  ausgedehnte  Ueberschwemmungen  die  l'fer- 
gebiete  zu  überziehen,  welche  als  sehr  flach  anzusehen  sind. 

„Die  südliche  Halbkugel  des  Mars  ist  hauptsächlich  als  die 
wasserreiche,  die  nördliche  als  die  Landhalbkugel  zu  betrachten;  der 
Boden  dieser  letzteren  befindet  sich  also  auf  einem  durchschnittlich 
höheren  Niveau  als  der  der  ersteren.  Die  geologischen  Ursachen,  welche 
die  Oberfläche  dieses  Planeten  formten,  hoben  also  die  nördliche  und 
senkten  die  südliche  Halbkugel.  Es  ist  interessant  zu  bemerken,  dafs 
ungefähr  das  Gleiche  auf  der  Erde  stattfand.  Die  grofsen  Kontinente, 
Asien,  Europa,  Nordamerika,  die  Hälfte  von  Afrika  nehmen  die  nörd- 
liche Halbkugel  ein;  die  südliche  besitzt  nur  Südafrika,  Südamerika 
und  Australien,  deren  Oberfläche  viel  kleiner  ist 

„Diese  Verschiedenheit  kann  von  der  Wirkung  der  Sonnen- 
attraktion auf  die  während  einer  halben  Umlaufsperiodo  der  Apsiden- 
linie der  Sonne  näher  befindlichen  Marshalbkugel  zu  der  Zeit  her- 
kommen,  als  sich  um  die  betreffende  kritische  Zeit  die  feste  Rinde 
des  Planeten  bildete.  Diese  Anziehung  hätte  dann  die  nördliche 
Halbkugel  in  etwas  seitlicher  Richtung  gehoben.  Der  Mittelpunkt  der 
Landmassen  scheint  im  Kontinent  Huygens  bei  160°  Länge  und  120° 
Breite  zu  liegen,  der  Mittelpunkt  der  Meeresgebiete  ungofähr  ihm 
gegenüber  im  Dawesmeer  bei  330°  Länge  und  30°  Breite.  Für  die 
Erde  sind  diese  selben  Punkte  ungefähr  die  Karpathen  und  deren 
antipodisch  gelegener  Punkt. 

„Es  mufs  auf  der  Oberfläche  des  Mars  Flüsse  geben,  weil  es 
dort  Meere,  Wolken  und  Regen  giebt.  Die  Meridianbucht  scheint  die 
Mündung  zweier  grofsen  Flüsse  zu  sein. 

„Obgleich  die  Weltkugel  des  Mars  vermuthlich  weniger  unregel- 


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4in_ 

mäfsig  ist  als  die  der  Erde,  was  deren  Gebirgsrelief  anbetrifft,  so 
scheint  es  doch,  dafs  einige  recht  hohe  Gebirge  und  Hochplateaus 
existiren.  So  sind  die  beiden  auf  unserer  Karte  (S.  424)  auf  dem  47.  und 
297.  Längengrade  verzeichnten  Inseln  oft  sichtbar  und  verschwinden 
wieder;  es  sind  zweifellos  Berge,  welche  gelegentlich  von  Schnee  be- 
deckt werden.  Es  scheint  auch,  dafs  sich  in  der  Nähe  des  Aequators 
rechts  vom  Sanduhrmeer  ein  ausgedehntes  Hochplateau  befindet,  und 
noch  ein  anderes  bei  der  Kreuzung  des  185.  Längen-  und  65.  nörd- 
lichen Breitengrades. 

„Im  grofsen  und  ganzen  bestätigt  sich  durch  diese  neuen  Be- 
obachtungsreihen wieder  die  Aehnlichkeit  jener  Welt  mit  der  unsrigen. 
Die  klimatischen  Verhältnisse  scheinen  sogar  den  unsrigen  merkwürdig 
ähnlich,  sei  es  nun,  weil  sich  die  Temperatur  ungefähr  auf  demselben 
Grade  erhält  wie  bei  uns,  sei  es,  dafs  die  physischen  Bedingungen 
des  atmosphärischen  Druckes,  der  Dichte,  der  Schwere  ähnliche 
Effekte  bei  einer  verschiedenen  Temperatur  hervorbringen.“ 


Wir  treten  nun  in  die  dritte  und  letzte  Beobachtungsperiode  ein, 
welche  mit  den  berühmten  Untersuchungen  Sch iap arel  1 i s beginnt. 
Die  Resultate  dieser  letzteren  sind  in  gegenwärtiger  Zeitschrift,  so 
weit  sie  von  dem  Mailänder  Forscher  bis  1888  erhalten  wurden,  von 
ihm  gelbst  ausführlich  resumirt  worden,  und  der  in  den  ersten  drei 
Heften  unserer  Zeitschrift  erschienenen  Abhandlung  wurden  bekannt- 
lich zwei  Planigloben  des  Mars,  von  Schiaparelli  gezeichnet,  bei- 
gefügt, welche  inzwischen  sehr  vielfach  reproduzirt  worden  sind. 
Auch  das  Flammarionsche  Werk  giebt  diese  Karten,  von  den  in 
unserem  Besitz  befindlichen  Steinen  abgezogen,  wieder,  wie  auch  dort 
der  gröfste  Theil  der  vorhin  erwähnten  Abhandlung  Schiaparellis 
in  französischer  Sprache  reproduzirt  wurde.  Wir  müssen  deshalb, 
um  nicht  in  Wiederholungen  zu  verfallen,  auf  diese  Abhandlung  zu- 
rückverweisen. 

Die  Anzahl  der  Beobachtungen  des  Planeten  Mars  wird  nun 
eine  so  bedeutende,  dafs  es  nicht  angezeigt  erscheint,  die  damit  ver- 
knüpften Namen  hier  wieder  zu  geben;  ich  möchte  nur,  um  die  General- 
karten, welche  von  dem  Planeten  gezeichnet  worden  sind,  hier  neben- 
einander stellen  und  dadurch  dem  Leser  selbst  ein  vergleichendes 
Studium  ermöglichen  zu  können,  die  Karten  von  Green  (1877),  Lohse 
(1879),  Dreyer  (1879),  Knobel  (1884),  Perrotin  und  Thollon  (1886) 
und  Lohse  (1883/84)  anführen,  denen  schliefslich  noch  die,  alle  die 


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Karte  des  Mars  von  Green  aus  dem  Jahre  1877. 


420 


vorangehenden  zu- 
sammenfassende 
Generalkarte  von 
Flammarion  fol- 
gen möge. 

In  dem  zweiten 
Theile  seines 
Buches  stellt  nun 
Flammarion  die 
Resultate  aus  dem 
Vorangegangenen 
übersichtlich  zu- 
sammen. DasWerk 
behandelt  nicht  nur 
die  Oberflächen- 
beschafffenheit  des 
Planeten,  welche  ich 
hier  in  den  Vorder- 
grund der  Betrach- 
tung stellte,  son- 
dern giebt  im  ersten 
Kapitel  des  zweiten 

Theiles  die  Zusam- 

• 

menstellung  über 
die  Untersuchungen 
der  Bahn  des  Mars 
und  die  über  die 
Neigung  der  Pla- 
netenaxe. 

Das  zweite  Kapitel 
handelt  von  den 
Dimensionen  und 
das  dritte  von  der 
Rotationsdauer  des 
Planeten;  im  vierten 
kommt  der  Autor 
ausführlich  auf  die 
Geographie  des 
Mars  zurück.  Dieses 
Kapitel  beginnt  fol- 
gendermafsen : 


421 


„Alle  in  diesem  Werke  vereinigten  Beobachtungen  zeigen,  dafs 
die  Weltkugel  des  Mars  von  dunklen  und  hellen  Flecken  bedeckt  ist, 
die  eine  feste  Lage  inne  halten;  hierüber  besitzen  wir  seit  zwei  Jahr- 
hunderten übereinstimmende  Beobachtungen.  Mars  ist  deshalb  der 


Karte  dos  Han  von  Lohte  am  dem  Jahre  1879. 


einzige  Planet  unseres  Systems,  dessen  Geographie  wir  studiren 
können;  Venus,  Jupiter  und  Saturn  sind  fortwährend  durch  Wolken 
verhüllt,  die  anderen  zeigen  überhaupt  nichts  Bestimmtes. 


Karte  dei  Mari  tos  Dreyer  aal  dem  Jahre  1879 


„Wenn  man  die  Gebiete  des  Planeten  im  allgemeinen  betrachtet, 
so  kann  man  sie  in  zwei  Klassen  eintheilen;  die  eine  umfafst  die 


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422 


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SUD 


Karte  des  Mars  von  Lohse  ans  den  Jahren  1883—1884. 

hellen  Gegenden,  die  gewöhnlich  dunkelgelb  oder  orangefarben  sind, 
aber  oft  je  nach  der  Lokalität  schnell  nach  einander  alle  Nüancen 
des  Gelb  bis  zum  hellsten  Weifs  oder  andererseits  vom  Orangeroth  bis 
zu  dem  bräunlichen  Dunkelroth  stark  gebrannter  Ziegel  oder  besser 
von  altem  Leder  aufweisen.  Die  zweite  Klasse  ist  die  der  dunklen 
Gebiete  oder  der  eigentlichen  Flecken.  Ihre  Grundfarbe  scheint  eine 


Kart«  de»  Man  von  Perrotin  and  Ttiollon  au»  dem  Jahre  1886. 


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424 


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425 


Art  von  Eisengrau,  etwas  ins  Grüne  hinüberspielend,  zu  sein;  sie 
weist  alle  Abstufungen  vom  Schwarz  bis  zum  Aschgrau  auf.  Ge- 
wöhnlich sind  die  Gebiete  der  zweiten  Klasse  dunkler  als  die  der 
ersten,  aber  es  kommt  doch  vor,  dafs  bei  den  Farbenveränderungen, 
welchen  gewisse  Gebiete  des  Planeten  unterworfen  sind,  die  Flecken 
der  ersten  Kategorie  eine  dunkelrothe  Färbung  annehmen,  während 
die  der  zweiten  sich  heller  färben.  Man  kann  also  nicht  sagen, 
welches  die  helleren  oder  die  dunkleren  sind;  mit  einem  Worte,  es 
handelt  sich  stets  mehr  um  Farbenunterschiede  als  um  Helligkeits- 
verschiedenheiten. Uebrigens  sind  im  allgemeinen,  abgesehen  von 
gewissen  Ausnahmefällen,  die  beiden  Arten  von  Gebieten  deutlich  von 
einander  getrennt  zu  halten. 

„Die  säkulare  Unveränderlichkeit  der  Marsflecken  darf  jedoch 
nicht  in  so  absolutem  Sinne  genommen  werden  wie  die  auf  dem 
Monde.  Die  fortgesetzte  Beobachtung  hat  gezeigt,  dafs  verschiedene 
Gegenden  auf  der  Oberfläche  des  Planeten  innerhalb  gewisser  Grenzen 
ihre  Färbung  verändern  und  die  Sonnenstrahlen  verschieden  intensiv 
zurückwerfen.  Ferner  können  die  Umrisse  der  dunklen  Flecken  Ver- 
schiebungen erleiden,  die,  im  Vergleich  zu  den  Dimensionen  des  Pla- 
neten und  dieser  Flecken  selbst,  zwar  recht  gering  genannt  werden 
müssen,  die  aber  nichtsdestoweniger  doch  unzweifelhaft  sind.  Dann 
ist  ferner  die  Schärfe  der  Umrisse  oft  gröfser,  oft  geringer;  manche 
feinen  Details  sind  zu  gewissen  Zeiten  leichter  sichtbar,  als  zu  anderen, 
abgesehen  von  dem  Einflurs  der  äufseren  Beobachtungsumstände. 
Diese  Details  können  relativ  bedeutenden  Veränderungen  ihres  Aus- 
sehens unterliegen,  die  jedoch  die  Identität  des  Objektes  selbst  nicht 
in  Frage  stellen.  Endlich  besitzt  Mars  eine  Atmosphäre,  in  welcher 
sich  eine  Gesamtheit  von  Vorgängen  abspielt,  die  man  aus  Analogie- 
gründen mit  den  ähnlichen  Vorgängen  auf  der  Erde  meteorologisch 
nennen  mufs,  wenngleioh  sie  von  diesen  wahrscheinlich  doch  sehr 
verschieden  sind. 

„Diese  Veränderungen  verleihen  dem  Studium  des  Mars  ein  viel 
gröfsercs  Interesse,  als  wenn  alles  unveränderlich  und  fest  auf  seiner 
Oberfläche  wäre.  So  schreibt  Schiaparelli  hierüber:  „„Dieser  Planet 
ist  keine  Wüste  aus  starren  Felsen,  er  lebt.  Die  fortgesetzte  Entwickelung 
seines  planetarischen  Lebens  dokumentirt  sich  in  einem  ganzen  System 
sehr  komplizirter  Transformationen,  von  denen  einige  eine  Ausdehnung 
annehmen,  die  grofs  genug  ist,  um  von  den  Bewohnern  der  Erde  ge- 
sehen zu  werden.  Da  liegt  eine  ganze  Welt  von  neuen  Dingen  vor 
uns,  die  unsere  Neugierde  herausfordern  und  den  Entdeckern  eine 


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426 


Fülle  von  Arbeit  an  ihren  Fernrohren  fiir  eine  grofee  Zahl  von 
Jahren  bieten.  Diese  Phänomene  sind  in  der  That  so  verschieden- 
artig, und  sie  weisen  so  viele  Details  auf,  dafs  man  erst  nach  einer 
langen  Reihe  ernster  und  ausgedehnter  Studien  erkennen  wird,  was 
sich  hier  Regelmiifsiges  wiederfindet.  Dies  ist  das  einzige  Mittel,  um 
sichere  und  einigermafsen  wahrscheinliche  Schlufsfolgerungen  über 
die  Ursachen  dieser  Veränderungen  und  die  physische  Konstitution  des 
Mars  zu  ziehen.““ 

„Man  hat  es  sich  nicht  verhehlt,  dafs  solche  Studien  sehr  grolsen 
Schwierigkeiten  begegnen,  wenn  sie  exakt  und  vollständig  sein  sollen. 
Einige  dieser  Veränderungen  auf  unserem  Planeten  Mars  vollziehen 
sich  langsam,  wie  beispielsweise  die  periodische  Vergröfserung  und 
Verkleinerung  der  leuchtenden  polaren  Schneegebiete.  Die  Phasen 
dieser  Veränderungen  sind  verhältnifsmiifsig  leicht  zu  verfolgen,  aber 
es  giebt  noch  Veränderungen  anderer  Art;  die  einen  vollziehen  sich 
in  wenigen  Tagen,  die  anderen  treten  fast  ganz  plötzlich  von  einem 
zum  anderen  Tage  auf;  so  die  räthselhafte  Verdoppelung  der  Kanäle. 
Es  giebt  dort  auch  Erscheinungen,  deren  Periode  deutlich  von  der 
jährlichen  Cmlaufszeit  des  Planeten  abhiingt.“ 

Flammarion  geht  nun  im  Folgenden  zu  Rathschlägen  für  die 
Beobachtung  des  Mars  über.  Das  fünfte  Kapitel  behandelt  dann  die 
Atmosphäre  des  Mars,  seine  Meteorologie  und  Klimatologie  und  die 
Bedingungen  des  Lebens  auf  demselben.  Flammarion  kommt  dabei 
zu  dem  Schlüsse:  „Das  Klima  und  die  Lebensbedingungen  auf  dem 
Planeten  Mars  scheinen  gegenüber  denen  auf  der  Erde  so  geringe  Ver- 
schiedenheiten aufzuweisen,  dafs  lebende  Wesen,  die  von  den  uns  be- 
kannten nicht  allzu  verschieden  sind,  dort  leben  könnten.“  Das 
nächste,  sechste  Kapitel  behandelt  die  Jahreszeiten  auf  dem  Planeten  und 
stellt  alle  betreffenden  Beobachtungen  der  Veränderungen  der  polaren 
Schneegebiete,  sowie  die  wichtigeren  theoretischen  Untersuchungen, 
welche  in  dieser  Hinsicht  ausgeführt  worden  sind,  und  von  denen 
wir  auch  in  diesen  Blättern  gelegentlich  gesprochen  haben,  zusammen. 

(Fortsetzung  folgt ) 


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Die  Entstehung  der  Welt  nach  den  Ansichten  von 
Kant  bis  auf  die  Gegenwart 

Von  F.  K.  (Kitzel,  Astronom  am  Recbeninstitute  der  Königl.  Sternwarte  zu  Berlin. 

(Fortsetzung. ) 

SIII.  Die  Sonne. 

ie  Sonne  ist  nach  den  Kan  t-Lap laceschen  Vorstellungen,  wie 
in  den  früheren  beiden  Aufsätzen  dargelegt  worden  ist,  der 
eigentliche  Urkörper,  aus  welchem  das  Sonnensystem  hervor- 
ging. Sie  bildet  das  Zentrum  des  ursprünglichen  Nebular-Eliipsoides, 
dem  die  Planeten  und  Monde  ihr  Dasein  verdanken.  Aus  den  Nebel- 
massen  um  den  Mittelpunkt  bildete  sich  durch  Verdichtung  allmählich 
ein  leuchtender  Zentralkörper,  die  Sonne.  Demgemäfs  ist  für  Laplace 
die  Soune  ein  Körper,  der  im  Uranfange  jenen  hellen,  aus  einem  Kerne 
und  einer  Nebelhülle  zusammengesetzten  Gebilden  des  Himmels  ähnelte, 
welche  uns  das  Fernrohr  zu  Tausenden  in  den  Tiefen  der  Sternenweh 
erkennen  läfst.  In  der  Weise,  wie  dort  durch  Kondensirung  die  Kern- 
nebel in  Nebelsterne,  d.  h.  in  feste  leuchtende  Gestirne  mit  umfang- 
reicher gasiger  Atmosphäre,  übergehen,  hat  sich  auch  durch  Konden- 
sirung aus  dem  Nebular-Ellipsoide  die  Sonne  gebildet.  Kant  stellt 
sich  vor,  dafs  an  der  Formirung  des  Sonnenballes  vornehmlich  die 
weniger  dichten  Partikel  des  ehemaligen,  unser  Sonnensystem  erfüllen- 
den Urstoffes  theil  genommen  haben.  Der  dichtere,  schwere  Stoff  sei 
hauptsächlich,  da  nur  dieser  zum  völligen  periodischen  Umschwung 
um  das  Zentrum  gelangen  konnte,  zur  Bildung  der  Planeten  aufge- 
braucht worden;  die  leichten,  flüchtigen  Theile,  die  am  ehesten  geeignet 
sind,  einen  flammenden  Körper  zu  bilden,  seien  auf  den  Zentralkörper 
gestürzt  Demnach  ist  die  Sonne  ein  Gestirn,  welches  seine  Leucht- 
kraft durch  diese  feineren  Stoffe  erhalten  habo  und  vielleicht  auch  jetzt 
noch  erhalte.  Es  vollzieht  sich  also  auf  der  Sonne  ein  Verbrennungs- 
prozeß in  Gegenwart  von  Luft,  wie  auf  der  Erde,  nur  in  außer- 
ordentlich grofsartigein  Mafsstabe  und  begleitet  von  heftigem  Empor- 
steigen und  Herabstürzen  der  Verbrennuugsprodukte.  Man  sieht  auf 
der  Sonne  nach  Kant  „weite  Feuerseen,  die  ihre  Flammen  gegen  den 


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428 


Himmel  erheben,  rasende  Stürme,  welche  über  die  Ufer  hinweg  die 
höheren  Gegenden  mit  Feuer  überschwemmen,  bald  ausgebrannte 
Felsen,  die  aus  den  flammenden  Schlünden  ihre  fürchterlichen  Spitzen 
hervorstrecken,  und  deren  Ueberschwemmung  oder  Entblöfsung  vom 
wallenden  Feuer  das  abwechselnde  Erscheinen  und  Verschwinden  der 
Sonnenflecken  verursacht,  dicke  Dämpfe,  die  das  Feuer  ersticken, 
feurige  Regengüsse  u.  s.  f.“. 

Diese  alten  Ansichten  über  die  Erhaltung  der  Sonne  mögen 
heute,  wo  wir  mittelst  der  Errungenschaften  des  Spektroskops  und  des 
Fernrohrs  alle  Aeufserungen  der  gewaltigen  Sonnenthätigkeit  klar  zu 
übersehen  im  stände  sind,  ein  Lächeln  hervorrufen.  Die  Vorstellungen 
über  die  fortwährende  Licht-  und  Wärmeentwickelung  der  Sonne, 
über  ihren  Selbsterhaltungsprozefs,  wenn  man  so  sagen  darf,  haben 
sich  eben  erst  in  den  letzten  dreifsig  Jahren,  in  denen  die  Beobachtung 
der  Sonno  ein  besonderer  Zweig  der  Astronomie  geworden  ist,  klarer 
gebildet.  Dieser  Selbsterhaltungsprozefs,  nämlich  auf  welche  Weise 
der  Sonnenkürper  ununterbrochen  sein  Licht  und  seine  Wärme  erzeugt, 
erscheint  uns  heute  als  eine  wichtige  Vorfrage  nach  dor  Entstehung 
der  Sonne  selbst;  das  Wesen  dieses  Prozesses  mufs  uns  klar  sein, 
bevor  wir  den  Rücksehlufs,  wie  die  Sonne  entstanden  sein  kann,  daran 
knüpfen  dürfen. 

Würde  auf  der  Sonne  ein  Verbrennungsvorgang  im  Sinne  Kants 
stattfinden,  so  hätte,  wie  eine  Rechnung  zeigt,  die  Licht-  und  Wärme- 
entwicklung der  Sonne  schon  nach  3000  Jahren  zu  Ende  sein  müssen. 
Die  von  ihr  ausgestrahlte  Wärme  ist  so  grofs,  dafs  man  auf  jedem 
Quadratfufs  ihrer  Oberfläche  per  Stunde  1500  Pfund  Kohle  verbrennen 
müfste,  um  annähernd  jenes  Wärmequantum  erzeugen  zu  können. 
Besteht  die  Sonne  aus  Stoffen,  aus  denen  unsere  Erde  zusammengesetzt 
ist,  so  würde  infolge  der  fortwährenden  Ausstrahlung  einer  solchen 
Wärme  die  Temperatur  der  Sonne  jährlich  um  4 bis  8 Grad  sinken, 
das  heilst,  in  wenigen  Jahrtausenden  würde  dio  Sonne,  wenn  auf  keine 
Weise  dieser  Verlust  kompensirt  würde,  ein  völlig  kalter,  nicht  mehr 
lichtspendender  Körper  sein.  Bei  Anwendung  der  Hauptsätze  der 
mechanischen  Wärmetheorie  wird  die  fragliche  Kompensirung  des 
Wärmeverlustes  der  Sonne  alsbald  verständlicher.  Zunächst  leiteten 
folgende  Betrachtungen  den  Arzt  Robert  Mayer  auf  eine  Quelle  jener 
Kompensation;  Fällt  ein  Körper  aus  bedeutender  Höhe  auf  die  Erde, 
so  geht  die  Bewegung,  die  der  Körper  beim  Aufschlagen  auf  die  Erde 
scheinbar  verliert,  auf  seine  Moleküle  über,  und  die  Vibration  der 
letzteren  ist  Wärmebewegung,  die  Bewegung  ist  beim  Stofse  in  Warme 


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429 


umgesetzt  worden.  Derselbe  Vorgang  wie  bei  der  Wirkung  der 
Schwerkraft  auf  der  Erde  spielt  sich  in  den  Räumen  des  Universums 
bei  den  Wirkungen  der  Gravitationskraft  ab.  Nähern  sich  vermöge 
dieser  Kraft  einander  zwei  Massen  mit  wachsender  Bewegung,  und 
stofsen  sie  aufeinander,  so  wird  die  Bewegung  duroh  den  Stofs  auf- 
gehoben, aber  gleichzeitig  in  Wärme  umgesetzt,  und  zwar  je  nach  dem 
Aequivalentverhältnifs  von  Wärme  zu  mechanischer  Arbeit  in  höherem 
oder  minderem  Betrage.  Es  lag  nun  der  Gedanke  nahe,  die  Quelle 
der  Wärmekompcnsirung  der  Sonne  in  den  Millionen  von  Meteoriten 
zu  suchen,  welche  im  Sonnensysteme  umhersohwärmen.  Da  die  min- 
deste Geschwindigkeit,  mit  welcher  ein  Körper  auf  die  Sonne  fallen 
kann,  460  Kilometer  in  der  Sekunde  beträgt,  so  würdo  ein  solcher 
stürzender  Körper  eine  aufserordentlich  hohe  Temperatur  erlangen 
müssen,  und  es  ist  erklärlich,  dafs  tausende,  fortwährend  auf  die  Sonne 
stürzende  Meteoriten  eine  sehr  ergiebige  Quelle  für  Licht-  und  Wärme- 
produktion abgeben  könnten,  zum  Ersätze  dessen,  was  dio  Sonne  all- 
jährlich durch  Ausstrahlung  verliert.  Obwohl  das  Hineinfallen  von 
Meteoriten  in  die  Sonne  annehmbar  ist,  ja  möglicherweise  jetzt  noch 
in  reichem  Mafse  stattfindet,  läfst  sich  die  May  ersehe  Theorie  nach 
verschiedenen  Einwendungen,  die  von  W.  Thomson  und  anderen 
erhoben  worden  sind,  nicht  halten.  Die  Sonne  trägt  in  sich  selbst 
schon  Bedingungen,  unter  denen  sie  auf  Millionen  Jahre  hinaus 
Licht  und  Wärme  liefern  kann.  Wenn  ein  Gasball  sich  abkühlt  und 
zusammenzieht,  so  wird  er  zugleich  auch  dichter,  und  durch  die  dabei 
stattfindende  Verdichtungsarbeit  wird  jedesmal  Wärme  erzeugt.  Bei 
der  Sonne  kennt  man  die  jährlich  ausgestrahlte  Wärme,  damit  auch 
den  jährlichen  Kraftbetrag,  und  kann  einen  Schlufs  aus  dem  Aequivalent 
gestrahlter  Wärme  machen,  wie  grofs  die  Zusamraenziehung  sein  müfste, 
um  jene  Wärme  wieder  zu  produziren.  Helmholtz  hat  nun  gezeigt, 
dafs  die  Kontraktion  (Zusammenziehung)  der  Sonne  genügt,  die  durch 
Strahlung  verloren  gegangene  Wärme  fast  ganz  zu  ersetzen.  Die 
Sonne  braucht  sich  zu  diesem  Ende  nur  jährlich  um  70  Meter  im 
Durchmesser  zusammenzuziehen  oder  in  einem  Jahrhundert  etwa  um 
6 Kilometer  kleiner  zu  werden.  Vor  1000  Jahren  würde  also  die 
Sonne  um  60  Kilometer  gröfser  gewesen  sein,  und  wenn  wir  in  die 
Zeiten  zurückgehen,  wo  die  Gaskugel  der  Sonne  so  grofs  war,  wie 
jetzt  das  ganze  Sonnensystem,  so  erhalten  wir  die  Zeit,  welche  die  Sonne 
bis  zu  ihrer  gegenwärtigen  Kontraktion  gebraucht  hat,  immer  voraus- 
gesetzt, dafs  jene  Kontraktion  in  regelmäfsiger  Weise  erfolgt  sei.  Wir 
werden  also  schliefslich  auf  einen  Gasball  von  geringer  Dichte  zurückgt  - 

Himmel  und  Erde.  1893.  V.  9.  29 


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430 

führt,  der  ungeheure  Räume  erfüllt,  das  heifst,  wieder  auf  die  Grundge- 
danken der  Nebularhypothese.  — Im  ersten  Aufsatzeschon  ist  ein 
Naturgesetz,  das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft,  genannt  worden;  dieses 
bestimmt,  dafs  der  in  der  Natur  vorhandene  Kraftvorrath  unveränder- 
lich sei  und  weder  vermehrt  noch  vermindert  werden  könne.  Die 
Formen  der  Erscheinungen,  unter  welchen  dieser  Kraftvorrath  auftrilt, 
wechseln,  aber  das  Quantum,  die  Energie  des  Weltalls,  bleibt  unver- 
änderlich. „Alle  Veränderung  in  der  Welt  besteht  im  Wechsel  der 
Erscheinungsform  der  Energie.  Hier  erscheint  ein  Theil  derselben 
als  lebendige  Kraft  bewegter  Massen,  dort  als  regelmäfsige  Oscillation 
in  Licht  und  Schall,  dann  wieder  als  Wärme;  bald  erscheint  die 
Energie  in  Form  von  Schwere  zweier  gegen  einander  gravierender 
Massen,  bald  als  Spannung  und  Druck  elastischer  Körper,  als  che- 
mische Anziehung,  elektrische  Ladung  oder  magnetische  Verkeilung. 
Schwindet  sie  in  einer  Form,  so  erscheint  sie  sicher  in  einer  anderen.“ 
In  eben  dem  aufgefiihrten  frühem  Aufsatze  haben  wir  nach  Helm- 
holtz  auseinandergesetzt,  dafs  der  gröfste  Theil  der  ehemaligen  Energie 
des  Sonnensystems  gegenwärtig  in  Wärme  verwandelt  ist,  dafs  aber 
ein  stetiger  Verlust  von  Wärme  für  unser  System  stattfindet,  indem 
ein  Theil  der  Wärme,  welcher  den  Körpern  des  Sonnensystems  nicht 
zu  gute  kommt,  in  den  unendlichen  Weltraum  gestrahlt  wird;  und 
lerner  wurde  hervorgehoben,  wie  unter  der  Herrschaft  des  Gesetzes 
von  der  Erhaltung  der  Kraft  in  unendlich  dünnen  Nebelmassen  durch 
den  Zusammenstofs  kleinster  Theilchen  Wärme  erzeugt  und  der  Im- 
puls zur  Bildung  von  Weltkörpern  gegeben  worden  ist.  Vermöge 
jenes  Gesetzes  wird  uns  also  auch  die  Vergangenheit  uud  die  Zukunft 
der  Sonne  verständlicher,  wenn  wir  auf  die  Folgerungen  aus  der 
Kontraktions-Theorie  Rücksicht  nehmen.  Allerdings  entbehren  die 
Schlüsse  in  Bezug  auf  die  Beantwortung  der  Frage,  was  aus  der 
Sonno  einst  werden  soll,  noch  sehr  der  Sicherheit,  da  beim  weiteren 
Zusninmenziehen  der  Sonne  ein  Fallen  oder  Steigen  der  Temperatur 
sehr  von  der  Konstitution  des  Innern  der  Sonne  abhängt,  und  da 
wir  gegenwärtig  noch  im  Zweifel  darüber  sind,  ob  wir  schon  zur  An- 
nahme eines  sich  dem  festen  nähernden  Zustandes  berechtigt  sein 
dürfen  oder  an  der  Vorstellung  eines  gasförmigen,  oder  glühend- 
tlüfsigen  Souneninnern  festzuhalten  haben,  lin  allgemeinen  werden 
wohl  die  Zustandsänderungen  der  Sonne,  die  sehr  wahrscheinlich  von 
den  flüssigen  zu  den  festen  fortschreiten,  eine  Abnahme  der  Wärme 
herbeiführen.  Man  schätzt,  dufe  infolge  von  Kontraktion  die  Sonne  in 
etwa  fünf  Millionen  Jahren  die  Hälfte  ihres  jetzigen  Volumens  eiu- 


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431 


nehmen  und  dann  wohl  auch  bereits  der  Periode  dos  Uebergangs  in 
den  festen  Zustand  nahe  gerückt  sein  wird.  Auf  mehr  als  zehn  Mil- 
lionen Jahre  hinaus  dürfte  die  Wärme  der  Sonne  kaum  mehr  dazu 
ausreichen,  um  das,  was  wir  auf  Erden  Leben  nennen,  zu  erhalten. 

Es  wurde  schon  angedeutet,  dafs  von  der  Sonnenenergie  nur  ein 
sehr  kleiner  Theil  der  Erde  zu  gute  kommt;  thatsäohlich  ist  es  nur 
der  verschwindende  Betrag  von  einem  225-Millionstel  der  Sonnenstrah- 
lung, welcher  von  den  Planeten  unseres  Systems  in  Anspruch  genom- 
men wird,  der  weitaus  gröfsere  Theil  wird  in  den  Weltraum  hinaus- 
gestrahlt und  geht  für  uns  wenigstens  (nicht  für  das  Weltall)  verloren. 
Diese  Erscheinung  im  Haushalte  der  Natur,  wo  sonst  eine  weise  Aus- 
nützung aller  Kraft  geübt  wird,  ist  auffällig.  William  Siemens  hielt 
eine  so  weitgehende  Verschwendung  der  Energie  ohne  regelmäfsigen 
Wiederersatz  in  der  Natur  für  unmöglich  und  meinte,  die  Sonne  möge 
wohl  auf  irgend  eine  Weise  im  stände  sein,  aus  sich  selbst  den 
schliefslich  zum  Bankerott  führenden  Verlust  zu  decken.  Die  soge- 
nannte Regenerativtheorie  der  Sonne  ‘),  die  er  zur  Erklärung  vorschlug, 
stützt  sich  darauf,  dafs  im  Weltenraume  Wasserdampf  und  Kohlen- 
stoffverbindungen  in  sehr  dünnem  Zustande  Vorkommen.  Wenn  nun  diese 
Materien  vermöge  der  rohrenden  Wirkung  der  Sonne  von  den  Sonnen- 
polen aus  nach  dem  Aequator  getrieben  werdet),  und  zwar  in  ununter- 
brochenem Kreisläufe,  so  werden  sie  ihre  eigene  Energie  in  Rostalt 
von  Licht  und  Wärme  abgeben,  und  indem  sie  vom  Aequator  in  den 
Raum  fortgeschleudert  werden,  trennen  sie  sich  als  weiter  nicht  ver- 
brennbare Stolle  von  der  Sonne.  Kohlensäure  und  Wasser  können 
aber,  wie  experimentell  nachgewiesen  werden  kann,  und  wie  wir  auch 
in  der  Natur  wahrnehmen,  durch  die  Sonnenstrahlen  zerlegt  werden. 
Bei  der  Trennung  der  Theilchen  erlangen  diese  wiederum  neue  Energie 
und  werden  fähig,  sich  unter  Licht-  und  Wiirmeproduktion  zu  ver- 
einigen. Auf  diese  Weise,  durch  den  Einsaugungs-  und  Fortschleu- 
derungsvorgang auf  der  Sonne,  die  damit  in  Verbindung  stehende 
Zerlegung  und  Wiedervereinigung  der  Materie,  arbeitet  der  Sonnen- 
körper in  stetem  Kreisläufe,  etwa  wie  ein  Regenerativofen,  und  ver- 
längert so  die  Erhaltung  seiner  Energie  in  fernste  Zeiten.  Siemens  hat 
seine  Theorie  vielen  Einwendungen  von  Thomson,  Morris,  Huut, 
Hirn,  Archibald,  Faye  gegenüber,  geschickt  vertheidigt,  ohne 
freilich  damit  gewichtige  Bedenken  definitiv  aus  dem  Felde  geschlagen 
zu  haben. 

*)  William  Siemens:  Ueber  dio  Erhaltung  der  Sonneucnergie.  Eino 
Sammlung  von  Schriften  und  Diskussionen.  lSSä. 


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432 


Bei  der  Darlegung  der  verschiedenen  Ansichten  über  die  Ent- 
stehung und  Forterhaltung  der  Sonne  können  die  zum  Theil  sehr 
merkwürdigen  Ergebnisse  nicht  übergangen  werden,  zu  denen  Ritter 
in  seinen  mathematisch-physikalischen  Untersuchungen  über  die  Kon- 
stitution gasförmiger  Weltkörper  gelangt  ist.  Die  Ritterschen  Rech- 
nungen fufsen  auf  der  Betrachtung  des  Verhaltens  einer  Gaskugel, 
die  sich  im  indifferenten  Gleichgewichtszustände  befindet  und  dem 
Mariotteschen  Gesetze  unterworfen  ist.  Irgend  eine  Atmosphäre 
eines  gasförmigen  Weltkörpers  befindet  sich  im  „indifferenten  Gleich- 
gewichtszustände“, wenn  die  Temperatur  darin  mit  zunehmender  Höhe 
nach  demselben  Gesetze  abnimmt,  nach  welchem  die  Temperatur  eines 
aufsteigenden  Gastheilchens  abnehmen  würde;  nach  jeder  Störung 
sucht  sich  jenes  Gleichgewicht,  welches  als  das  normale  eines  Gases 
betrachtet  werden  kann,  wieder  herzustellen,  gleichviel,  in  welchem 
Anfangszustand  es  sich  befunden  hat.  Die  Grundbedingungen,  welche 
die  Ritterschen  Untersuchungen  verlangen,  werden  allerdings  bei  den 
Weltkürpem  nur  ausnahmsweise  erfüllt  sein,  und  die  darauf  sich 
gründenden  Resultate  unterliegen  demgemäfs  verschiedenen  astrono- 
mischen Bedenken;  der  rein  wissenschaftliche  Werth  dieser  Arbeiten 
bleibt  indessen  unbestritten.  Wir  haben  hier  von  den  Resultaten  nur 
jene  hervorzuheben,  die  auf  dio  Sonne  Beziehung  haben.  In  dieser 
Hinsicht  hat  Ritter  in  seiner  19.  Abhandlung  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, dafs  die  Meteoriten  als  Erhalter  der  Sonnenwärme  (wenn  auoh 
zugegeben  werden  mufs,  dafe  sie  für  den  gegen  wärtigen  Sonnen- 
zustand nicht  zureichen)  in  entlegenen  Zeiten  eine  weit  wichtigere 
Rolle  gespielt  haben  können,  als  man  bisher  anzunehmen  geneigt  war. 
Für  frühere  Epochen  ist  bei  der  Sonne  ein  gasförmiger  Zustand  und 
die  näherungsweise  Giltigkeit  des  Mariotteschen  Gesetzes  wahr- 
scheinlich. Die  Wärme,  die  beim  Eindringen  von  Meteoriten  in  die 
Erdatmosphäre  entwickelt  wird,  stellt  sich,  wie  Ritt  er  mittelst  der  Theorie 
des  Stofses  aus  dem  Grundprinzips  der  mechanischen  Wärmetheorie  dar- 
hut,  viel  höher,  als  man  mit  Schiaparelli  annimmt.  Während  nach 
Letzterem  bei  einer  Anfangsgeschwindigkeit  von  72  Kilometern  pro 
Sekunde  diese  Wärmezunahme  etwa  40000  Grad  *'strägt,  findet  Ritter 
bei  derselben  Geschwindigkeit  der  Meteoriten  Ute  enorme  Temperatur 
von  3 700  000  Grad,  und  bei  der  Annahme  hyperbolischer  Bahnlinien 
würde  man  zu  noch  höheren  Wärmegraden  gelangen.  Bei  der  Mög- 
lichkeit solcher  Temperaturen  gewinnt  dio  Voraussetzung,  dafs  dio 
Sonne  ehemals,  während  ihrer  Ausbildungszeit,  durch  an  und  für  sich 
vielleicht  mäfsige  Meteoritenschwärme  doch  eine  sehr  wesentliche  Zu- 


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433 


fuhr  an  Wärme  erhalten  habe,  wieder  etwas  Boden.  Ritter  hat  ferner 
(in  seiner  2.  Abhandlung)  untersucht,  welche  Aenderungen  die  Tempe- 
ratur und  die  Gröfse  eines  gasförmigen  Weltkörpers  erleiden,  wenn 
von  aufsen  her  eine  Wärmezuführung  oder  Wärmeentziehung  statt- 
findet. Er  findet,  dafs  bei  einem  die  Sonne  umkreisenden  Körper  der 
Zustand  dieses  Weltkörpers  ein  unveränderter  bleiben  würde,  im  Falle 
er  während  jedes  Umlaufs  eben  so  viel  Wärme  von  der  Sonne  em- 
pfangt, als  er  selbst  ausstrahlt;  dafs  seine  Temperatur  aber  steigen 
würde,  wenn  die  Ausstrahlung  zunimmt,  und  dafs  eine  Abkühlung 
eintritt,  wenn  die  ihm  von  der  Sonne  zukommende  Wärme  überwiegt. 
Aus  den  Rechnungen  in  Verbindung  mit  gewissen  von  Tyndall  er- 
haltenen Resultaten  würde  das  eigenthümliche  Ergebnifs  folgen,  dafs 
die  von  der  Sonne  jährlich  der  Erde  zugesandte  Wärmequantität 
trotz  des  gegenwärtig  fortschreitenden  Wärmeverlustes  der  Sonne  in 
stetigem  Zunehmen  begriffen  ist,  und  in  Bezug  auf  die  Sonne  selbst, 
immer  die  Hypothese  des  indifferenten  Gleichgewichtszustandes  voraus- 
gesetzt, dafs  die  Wärme  des  Sonneninnern  nicht  ab-  sondern  vielmehr 
zunimmt.  Die  von  der  Sonne  bei  ihrer  Zusammenziehung  erzeugte 
Wärme  würde  keineswegs,  wie  wir  früher  haben  annehmen  müssen, 
durch  Strahlung  verloren  gehen,  sondern  nur  20  Prozent  gingen  ver- 
loren, während  80  Prozent  auf  die  Erhöhung  der  Sonnentemperatur 
verwendet  würden.  Was  die  Kontraktion  der  Sonne  selbst  anlangt, 
so  berechnet  Ritter,  unter  Festhaltung  an  der  Auffassung  der  Sonne 
als  einer  im  indifferenten  Gleichgewicht  befindlichen  Gaskugel,  die 
jährliche  Zusammenziehung  des  Sonnenhalbmessers  auf  92  Meter,  und 
die  Temperatur  des  Sonneninnern,  wenn  die  Sonne  ganz  aus  reinem 
Wasserstoff  bestehend  gedacht  wird,  auf  31  Millionen  Grad  Celsius. 

Die  weitere  Verfolgung  des  Verhaltens  einer  in  Kontraktion  be- 
findlichen Gaskugel,  welche  isoplerisch,  d.  h.  deren  Dichtigkeit  durch- 
aus als  gleich  grors  gedacht  wird,  leitet  Ritter  auf  zwei  verschiedene 
Bewegungen,  die  dabei  auftreten  und  sich  gegenseitig  kompensiren, 
nämlich  Zusammenziehung  und  Ausdehnung,  welche  an  und  für  sich 
durch  die  Gravitationskraft  und  innere  Wärme  hervorgebracht  werden 
würden.  Während  der  Expansion  nimmt  die  innere  Wärme  ab,  und 
die  Expansion  erreicht  ihr  Maximum,  wenn  die  Wärme  den  Bedin- 
gungen des  Gleichgewichts  der  Gaskugel  entspricht.  Die  Expansion 
setzt  sich  dann  noch,  langsamer  werdend,  fort,  und  wenn  sie  zum 
Stillstand  kommt,  ist  die  innere  Warme  mittlerweilo  zu  klein  geworden, 
um  der  Gravitation  das  Gleichgewicht  zu  halten.  Es  tritt  nun  die 
Kontraktion  der  Gaskugel  ein,  anfangs  beschleunigt,  später  verzögert. 


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und  das  Zusammenschrumpfeu  hört  auf,  wenn  ein  Ueberschufs  innerer 
Wärme  aufzutreten  beginnt;  darauf  steigt  die  Expansion  wieder,  und 
so  fort.  Es  folgen  also  Expansionen  und  Kontraktionen  in  gewissen 
Perioden  aufeinander,  und  ein  solcher  gasförmiger  Weltkörper  befindet 
sich  grofse  Zeiträume  hindurch  in  einer  Art  puisirender  Bewegung, 
bestehend  in  periodisch  wechselndem  Anschwellen  und  Zusammen- 
schrumpfen des  ganzen  Balles.  Wenn  man  nun  annimmt,  dafs  der 
Urzustand  des  Sonnensystems,  wie  ihn  die  Kant- Laplacesche 
Theorie  verlangt,  ein  äufserst  dünner  bis  zur  Neptunbahn  sich  aus- 
dehnender Gasball  war,  der  seinerseits  durch  den  Zusammenstofs 
mehrerer  Weltkörper  entstand,  so  war  in  der  Urzeit  jener  Gasball 
infolge  des  Zusatnmenstofses  mit  einem  großen  Ueberschusse  von  innerer 
Wärme  ausgestattet.  Der  Gasball  begann  sich  deshalb  rasch  auszu- 
dehnen, die  Expansion  wuchs  über  die  Grenze  hinaus,  bei  welcher 
die  allmählich  kleiner  gewordene  innere  Wanne  ausreichte,  um  der 
Gravitation  das  Gleichgewicht  zu  halten.  Es  trat  alsbald  die  schon 
beschriebene  Pulsation  ein,  und  die  Expansionen  wechselten  so  lange 
mit  Kontraktionen  ab,  bis  sie  durch  die  fortwährend  zunehmende  Dichte 
schließlich  zum  Stillstand  kamen.  So  entstand  nach  Bitter  die  Sonne. 
Die  Periode  der  Pulsationsdauer  (von  einer  Expansion  zur  anderen) 
würde  bei  der  Sonne,  wenn  sie  anfänglich  bis  zur  Neptunbahn  gereicht 
hat,  mehr  als  340  Jahre  betragen  haben.  In  seinen  weiteren  Unter- 
suchungen versucht  Ritter  zu  zeigen  (10.  Abhandlung),  dafs  im  Welt- 
räume in  einem  Sternhaufen,  der  kugelförmig  ist,  und  dessen  Sterne 
alle  eine  gleich  grofse  Masse  besitzen,  zwei  gegeneinander  sich  be- 
wegende Körper  oder  kosmische  Wolken  schon  eine  beträchtliche  Ge- 
schwindigkeit erlangen  können,  bevor  sie  in  den  Bereich  ihrer  gegen- 
seitigen Attraktion  treten.  Besitzen  solche  Wolken  die  entsprechende 
Dichte,  so  kann  selbst  eine  urprünglich  geringe  Anfangsgeschwindig- 
keit hinreichen,  um  beim  Zusammeustofse  beider  Schwärme  ein  Wiirme- 
quantum  zu  erzeugen,  das  die  ganze  Masse  alsbald  in  eine  auf  grofse 
Entfernungen  hin  sich  ausdehneude  Gaskugel  verwandeln  würde. 
Durch  zwei  solche  mit  einer  mäfsigen  Anfangsgeschwindigkeit  gegen 
einander  sich  bewegende  Meteoritenschwärmo  oder  kosmische  Staub- 
wolken kann  man  sich  also  den  ursprünglichen  Gasball  der  Sonne  ent- 
standen denken.  Sollten  sich  mehrere  Kugeln,  aus  unendlicher  Ent- 
fernung kommend,  durch  Zusammenstoß  vereinigt  haben,  so  mußte 
das  Aneinanderprallen  aller  gleichzeitig  erfolgt  sein,  was  an  und  für 
sich  schon  unwahrscheinlich  ist.  Einige  durch  größere  Zeiträume 
getrennte,  also  nach  einander  erfolgende  Vereinigungen  hätten  nur 


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einen  kleinen  öasball  schaffen  können,  da  hiebei  zu  viel  Wärmt) 
durch  die  Ausstrahlung  verloren  gehen  mufste.  Der  Gasball  der 
Sonne  würde,  wenn  ehemals  nur  '/^q  der  Verdiohtungswiirme  verloren 
gegangen  ist,  nicht  bis  zur  Merkurbahn  sich  haben  ausdehnen  können. 
— An  die  Expansions-  und  Kontraktionsvorgiinge  des  «'erdenden 
Sonnenballes  würden  sich  allmählich  jone  Thiitigkeitserscheinungen 
gereiht  haben,  die  wir  gegenwärtig  zum  Theil  an  der  Sonne,  nämlich  auf 
deren  Oberfläche,  wahrnehmen.  Ritter  leitet  diese  Phänomene,  noth- 
wendiger  Weise  unter  weiteren  theoretischen  Annahmen,  aus  seinen 
früheren  Voraussetzungen  ab  und  kommt  zu  hypothetischen  Ergebnissen 
über  das  Wesen  der  Sonnenfleckeu  und  Fackeln,  sowie  der  Erschei- 
nungen der  Sonnenphotosphäre  überhaupt.  (12-,  13.,  14.  und  15.  Ab- 
handlung.) Hiernach  finden  heftige  Strömungen  von  der  Oberfläche 
nach  innen  und  von  dem  als  sehr  dicht  vorausgesetzten  Innern  nach 
aufsen  statt.  Ileifse  Massen  steigen  empor,  während  kalte  versinken, 
und  je  gröfser  die  Temperaturdifierenz  dieser  in  fortwährender  Be- 
wegung befindlichen  Massen  ist,  desto  gröfseren  Helligkeitsunterschied 
zeigen  die  uns  zur  Sichtbarkeit  gelangenden  Strömungen;  es  erscheinen 
auf  der  Oberflächo  dunkle  und  helle  Flecken,  und  die  „Granulation“ 
der  Sonne  (die  bekannten  „Poren”,  „Lichtkörner“)  ist  das  allgemeine 
Resultat  jener  Bewegung.  Wenn  sich  während  eines  labilen  Gleich- 
gewichtszustandes eine  Menge  Substanz  vereinigt,  verdichtet  und,  nach- 
dem sie  eine  beträchtlichere  Dichte  als  die  umgebenden  Massen  er- 
langt hat,  abgekühlt  in  das  Innere  stürzt  und  infolge  der  allmählich 
sich  vollziehenden  Temperaturausgleichung  in  bedeutendere  Tiefe  ge- 
langt, so  wird  uns  diese  Bewegung  als  gröfserer  Sonnenfleck  sichtbar. 
Ueberwiegt  beispielsweise  die  Dichte  der  sinkenden  Masse  jene  der 
Umgebung  um  das  fünffache,  so  würde  dort,  wo  die  Temperatur  der 
sinkenden  Theile  6000  Grad  ist,  die  Temperatur  ihrer  Umgebung 
30000  Grad  betragen,  wodurch  sich  die  Helligkeitsunterschiede  der 
Fleckon  gegen  die  angrenzenden  Gebiete  erklären.  Der  die  Flecken 
vielfach  umgebende  „Hof“  (Penumbra)  würde  als  Projektion  der  nach 
oben  trichterförmig  sich  erweiternden  äufseren  Bewegungsfliiche  des 
hinunterstürzenden  Stromes  zu  deuten  sein,  die  radialen  Streifen  der 
Penumbra  als  die  an  der  Grenzfläche  in  den  Trichter  mit  hinab- 
gerissenen Theile  der  umgebenden  photosphärischen  Masse.  Wio 
Ritter  wahrscheinlich  zu  machen  sucht,  wird  durch  die  auf  der 
Sonne  stattfindende  Wärmeausstrahlung  eine  genügende  Quantität  von 
verdichteter  Substanz  erzeugt,  um  für  die  beständig  sinkenden  Ströme 
verdichteter  Massen  die  erforderliche  Massenzufuhr  zu  liefern.  Dio 


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l’rotuberanzen  sind  das  Resultat  gewisser  theilweiser  Temperaturaus- 
gleichungen, die  in  irgend  welchen  beschränkten  Theilen  der  Gas- 
kugel stattfinden.  Wenn  bei  hoher  Temperatur  und  beträchtlicher 
Dichte  eine  Wärmeübertragung  auf  die  iiufseren  Schichten  hin  erfolgt, 
so  geschieht  diese  Uebertragung  im  allgemeinen  gleichraäfsig,  indem 
die  ganze  Kugel  anschwillt;  sind  aber  die  Ursachen  solcher  Zustands- 
änderung nur  auf  gewisse  Theile  im  Innern  der  Kugel  beschränkt,  so 
können  sehr  heftige  partielle  Anschwellungen  eintreten,  und  Massen 
von  sehr  hoher  Temperatur  können  weit  emporgetrieben  werden. 
Ritter  findet,  dafs  die  Photosphäre  und  die  sich  uns  darbietenden 
Erscheinungen  sich  sehr  wohl  aus  den  Zuständen  einer  idealen  Gaskugel 
erklären  lassen,  und  dafs  es  nicht  nöthig  ist,  in  den  Flecken,  Fackeln 
u.  s.  w.  verschiedenartige  Kondensationsprodukte  zu  sehen,  wie  es 
die  neueren  Sonnentheorien  zumeist  thun.  — Die  Strömungen  im 
Innern  der  Sonne  haben  nach  Ritter  übrigens  eine  andere  Erschei- 
nung zum  Gefolge,  über  deren  Erklärung  gegenwärtig  noch  recht  ver- 
schiedene Meinungen  herrschen:  die  Strömungen  sind  nämlich  an  den 
Polen  dor  Sonne,  wo  die  bedeutendste  Ausstrahlung  herrscht,  am 
intensivsten,  weshalb  dort  keine  Sonnenflecken  erscheinen  können; 
zugleich  aber  üben  diese  heftigen  Bewegungen  dort  eine  verzögernde 
Wirkung  auf  die  Rotationsbewegung  der  Oberflächenschicht,  wodurch 
die  beobachtete  Tliatsache  erklärt  wird,  dafs  die  Rotationsgeschwindig- 
koit  in  verschiedenen  Breitegraden  der  Sonne  verschieden  und  gegen 
die  Pole  hin  langsamer  ist,  überdies  wahrscheinlich  mit  der  Ver- 
theilung  und  jeweiligen  Zahl  der  Flecken  in  einem  Zusammenhänge 
steht.  Auch  Faye  führt  die  Ursache  der  Verlangsamung  der  Sonnen- 
rotation in  den  höheren  Breiten  auf  Strömungen  zurück,  die  vom 
Innern  aus  die  Photosphäre  speisen.  Nach  ihm  bewirkt  die  ver- 
schieden schnello  Rotation  der  Oberflächenschicht  indessen  im  Innern 
die  Abplattung  einzelner  Schichten  und  abnorme  Lagerungsverhältnisse 
derselben,  was  schliefslich  zu  einer  Ausgleichung  und  Umlagerung 
führt  und  alsbald  eine  regelmäfsigere  Rotation  zuwege  bringt  Das 
unaufhörliche  Spiel  der  Strömungen  regulirt  nun  wieder  die  Schichten 
des  Innern  und  erzeugt  abermals  oine  Verlangsamung  der  Rotation. 
Demgemäfs  trägt  die  Umdrehungsgeschwindigkeit  der  Sonne  einen 
periodischen  Charakter  und  steht  mit  der  Periodizität  der  Flecken  in 
unmittelbarem  Zusammenhänge.  Die  Epoche  dieser  wechselnden 
Strömungen  ist  nach  Faye  für  die  Sonne  und  überhaupt  für  jeden 
werdenden  Stern  die  Zeit  des  Licht-  und  Wärmespendens,  in  weloher 
die  Existenz  einer  leuchtenden  Photosphäre  der  Gestirne  an  das  Vor- 


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handensein  jener  Strömungen  geknüpft  ist.  Sind  Dichte-  und  Tempe- 
raturveränderungen in  hinreichendem  Mafse  eingetreten,  so  hören  die 
Strömungen  allmählioh  auf,  die  Epoche  der  Abkühlung  ist  erreicht, 
und  das  Gestirn  steht  an  der  Schwelle  der  ersten  geologischen  Phase.2) 

In  den  Grundannahmen  mit  den  Ritt  ersehen  Hypothesen  ver- 
wandt, in  der  Ausführung  aber  sehr  von  denselben  abweichend,  ist 
die  schon  im  ersten  Aufsatze  in  den  Hauptzügen  aufgoführte  Kollisions- 
theorie von  Pater  Braun.  Nach  derselben  ist  die  Sonne,  respektive 
der  ursprüngliche  Gasball  des  Sonnensystems  ebenfalls,  wie  bei  Ritter, 
das  Resultat  einiger  Zusammenstöße  von  Weltkörpern.  Erfolgten 
mehrere  Kollisionen  in  excentrischer  Richtung,  so  entwickelte  sich 
aus  ihnen  eine  Rotation  des  Hauptballes.  Das  thatsächüche  Vor- 
handensein einer  in  den  verschiedenen  Breitenzonen  der  Sonne 
schnelleren  oder  langsameren  Rotation  führt  Braun  ganz  auf  die  Ur- 
sache solcher  ehemaligen  Vereinigungen  von  Körpern  verschiedener 
Geschwindigkeit  zurück.  Braun  meint,  dafs  die  obersten  Schichten 
der  Sonnenoberfläche  wesentlich  schneller  rotiren  als  die  tiefer  liegen- 
den, dafs,  während  auf  eine  mittlere  Rotation  von  25  Tagen  geschlossen 
werden  darf,  die  der  inneren  Sonne  vielleicht  doppelt  so  groß  sein 
könne,  und  dafs  wahrscheinlich  allmählich  eine  Ausgleichung  der  Ver- 
schiedenheit der  inneren  und  äußeren  Rotation  zu  stände  kommen 
werde.  Das  Produkt  der  kosmischen  Zusammenstöße  war  ein  Gas- 
ball von  hoher,  von  außen  nach  innen  steigender  Temperatur,  der 
sich  in  stabilem  Gleichgewicht  befand.  Da  die  äußeren  Gasschichten 
einer  starken  Ausstrahlung  unterlagen,  und  eine  jähe  Unterbrechung 
der  Temperatur  statthatte,  senkten  sich  erkaltete  Schichten  in  das 
Innere,  stießen  auf  solche  von  größerer  Dichte,  und  andere,  viel 
heißere  stiegen  aufwärts.  Solchen  Vorgängen  war  die  ganze  Sonne 
mit  ihren  Gashüllen  lange  Zeit  unterworfen,  am  intensivsten  die  Photo- 
sphäre. weniger  die  darüber  liegenden  schweren  Metalldampfschichten. 
Bei  fortwährend  steigender  Temperatur  stellten  sich  die  konstanten 
Strömungen  ein,  von  denen  auch  Ritter  und  Faye  sprechen.  Sie  bilden 
gegenwärtig  immer  noch  die  ..Granulation“  der  Sonnenoberfläche,  und 

3)  In  neuerer  Zeit  hat  Wilsing  die  Periodizität  der  Sonnenflecken  durch 
Gleichgewichtsstörungen  zu  erklären  versucht;  es  treten  im  Sonncninnem  bei 
der  Zusammenziehung  der  Sonne  Massenverschiebungen  ein,  die  periodisch 
wieder  ausgeglichen  werden.  Die  Sonnenrolation  ist  der  Rest  einer  ursprüng- 
lichen Strömung.  Der  innere  Kern  rotirt  wahrscheinlich  regelmäfsig,  in  der 
Hülle  aber  wechseln  die  Geschwindigkeiten;  die  bedeutende  Reibung  zwischen 
Hülle  und  Kern  suche  die  Verschiedenheit  der  Rotation  auszugleichen;  eino 
völlige  Gleichförmigkeit  sei  vor  2 Mill.  Jahren  nicht  zu  erwarten. 


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zwar  die  aufsleigenden  die  hellen,  die  niederstürzenden  die  dunklen 
Punkto  des  „Netzwerkes“  der  Photosphäro.  Bei  einer  Temperatur  von 
wahrscheinlich  60  000  Grad  und  enormem  Druck  gelangten  die  abge- 
kühlten Massen  bis  zur  Photosphäre  nicht  mehr  als  Gase,  sondern 
als  Kondensationsprodukte  von  Kohlenstoff,  Bor,  Silicium.  Die  Metall- 
dämpfe bildeten  und  bilden  noch  jetzt  dichte  Schichten,  über  denen 
sich  das  leichte  Wasserstoffgas  lagert.  Letzteres  Gas  befindet  sich 
fortwährend  in  heftigster  Bewegung;  es  ist  gewissermafsen  der  Leiter, 
durch  welchen  die  Wärme-  und  Lichtabgabe  nach  aufsen  hin  erfolgt. 
Die  Metalldämpfe  können  nicht  selten  bis  in  die  Wasserstoffutmosphäre 
hinein  geschleudert  werden,  wodurch  Theile  derselben  auf  eine  fast 
doppelt  hohe  Temperatur  erhitzt  werden  können  und  grofse  Wasser- 
stoff-Protuberanzen  aufsteigen.  Eine  sehr  wesentliche  Rolle  spielt  bei 
diesen  Eruptionen  der  starke  Auftrieb  der  Gase.  Die  Metalldampf- 
Protuberanzen  entspringen  bedeutenden  Tiefen  und  überbieten  infolge 
des  in  diesen  Tiefen  herrschenden  enormen  Druckes  an  Schnelligkeit 
die  Wasserstofferuptionen.  Sie  steigen  bis  zu  aufserordentlicher  Höhe, 
erhalten  hier  eine  energische  Abkühlung  und  sinken  langsam  ab- 
wärts, wobei  sie  die  Photosphäre  durchbrechen:  es  entstehen  Sonnen- 
flecken. Die  Flecken  halten  sich,  bis  keine  Metalldämpfe  mehr  über 
die  Photosphäre  sich  erheben.  Die  nachdrängende  Photosphäre  füllt 
den  Raum  aus,  indem  sie  bisweilen  zahlreiche  kleine  Wellenberge, 
die  Fackeln,  bildet.  Haben  sich  unter  der  Photosphäre  sehr  umfang- 
reiche überhitzte  Schichten  gebildet,  so  entstehen  Hebungen  der  Photo- 
sphäre, gröfsere  Fackeln,  die  nach  oben  drängen  und  eine  heftige 
Eruption  vorbereiten.  In  dieser  Weise  setzt  sich  gegenwärtig  die 
Ausbildung  der  Sonne  fort.  Ihre  Temperatur  nimmt,  da  sie  das  Maxi- 
mum der  Verdichtung  noch  nicht  erreicht  hat,  immer  noch  zu.  Braun 
berechnet,  dafs  die  Strahlung  der  Sonne  in  der  gleichen  Intensität 
wie  bisher  noch  6 bis  8 Millionen  Jahre  anhalten  dürfte.  Gleichwohl 
ist  eine  zunehmende  Vermehrung  der  Kondensationsprodukte,  ein 
Fortschreiten  zur  Erstarrungs-  und  Krustenbildungsepoche  sehr  wahr- 
scheinlich und  dann  ein  schliefsliches  Erlöschen  der  Sonne  unver- 
meidlich. Die  Sonne  würde  darauf  Revolutionen  und  geologische 
Epochen  durchmachen  müssen,  wie  einst  unsere  Erde.  Die  Planeten 
des  Systems  würden  inzwischen,  da  ihnen  alle  Wärme  entzogen  ist, 
völlig  vereisen.  Gegen  jede  Möglichkeit,  die  Thätigkeit  der  Sonne 
auf  unbegrenzte  Zeiten  hinaus  zu  verlängern,  wie  die  Siemenssche 
Regenerativhypothese,  oder  gegen  die  Du  Prelsche  Ansicht,  welche 
aus  dem  Zusauimenstofse  der  erkalteten  Planeten  neue  Körper  und 


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4yy 


neue  Weltsysteme  im  ewigen  Kreisläufe  entstehen  läfst,  verwahrt  sich 
Pater  Braun  sehr  heftig.  Sein  „christlicher“  Standpunkt  verlangt  die 
Aufhebung  alles  Bestehenden. 

Wir  konnten  in  unseren  Auseinandersetzungen  der  zahlreichen, 
über  die  Konstitution  der  Sonne  aufgestellten  Theorien  nicht  ausführ- 
lich gedenken,  sondern  mufsten  uns  auf  jene  beschränken,  welche 
über  die  Kosmogonie  der  Sonne  selbst  Ueberblicke  geben.  Im  all- 
gemeinen dürfte  die  Kntstehung  und  Ausbildung  der  Sonne  auch 
derzeit  noch  mit  den  Kan t- Laplaceschen  Annahmen,  sofern  man 
nämlich  die  Entwicklung  aus  einem  Oasballe  voraussetzt  und  die  ver- 
alteten Seiten  der  Nebularhypothese  nicht  in  Anrechnung  bringt,  ver- 
einbar oder  doch  aus  ihnen  ableitbar  sein.  Die  Ansichten  über  die 
Vergangenheit  und  Zukunft  der  Sonne  von  Helmholtz,  Newcomb, 
Faye  und  die  von  Zöllner,  welche  allgemeiner  gehalten  sind  und 
die  Entwicklung  der  Gestirne  überhaupt  treffen  (und  welche  wir 
später  noch  anführen  werden),  haben  also  gegenwärtig  mit  mehr  oder 
minderen  Einschränkungen  immer  noch  Giltigkeit.  Nicht  mehr  in  Be- 
tracht zu  ziehen  sind  jene  Hypothesen,  welche  noch  den  Sonnenball 
als  festen  dunklen  Körper,  umgeben  von  einer  Lichtsphäre,  ansehen, 
wie  beispielsweise  jene  von  Friedrich  Weifs  (1860),  welche  das 
Lichtmeer  der  Sonne  aus  transversalen  Schwingungen  des  Weltäthers 
entstehen  läfst,  die  der  Aether  infolge  der  an  der  Sonnenoberlläche 
herrschenden  grofsen  Schwere  auszuführen  genöthigt  sei.  — 


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Berichtigung  zu  dem  Artikel:  „Ueber  die  Ringbildung  als 
Auflösungsprozeß“. 

In  meine  auf  Seite  333  ff.  dieses  Jahrgangs  veröffentlichten  Be- 
trachtungen über  die  Ringbildung  hat  sich  leider  ein  ziemlich  wesent- 
licher Irrthum  oder  doch  eine  sinnverwirrende  Unklarheit  einge- 
schlichen. Das  bloße  Uebergewieht  der  Anziehungskraft  des  Haupt- 
körpers über  die  des  Satelliten  genügt  selbstverständlich  noch  nicht, 
um  einen  freien  Körper  dem  letzteren  zu  entführen,  was  aus  meinen 
Darlegungen  leicht  hervorgehen  könnte.  Die  Thatsache,  daß  der 
Satellit  eine  geschlossene  Bahn  um  den  Hauplkörper  beschreibt,  be- 
weist ohne  weiteres,  daß  der  Schwerkraft  die  Zentrifugalkraft,  wie  es 
überall  im  Planetensystem  der  'Fall  ist,  genau  die  Wage  hält:  Der 
ganze  Satellit,  also  auch  jeder  freie  Körper  auf  demselben,  fällt 
eben  bereits  um  den  nöthigen  Betrag  zum  Hauptkörper  hin.  Man 
wolle  in  dieser  Hinsicht  noch  einmal  lesen,  was  ich  Seite  335  schrieb: 
„Ein  frei  beweglicher  Gegenstand  auf  der  Oberfläche  des  neuen  Mondes 
muß  sofort  von  ihm  hinweg  nach  dem  Jupiter  hin  fliegen,  sobald 
sich  letzterer  über  den  Horizont  erhebt“.  Hierdurch  wurde, 
wenn  auch  bedauerlicherweise  rocht  unklar,  ausgedrückt,  daß  es  sich 
bei  dieser  Erscheinung  nur  um  die  Differenz  der  Anziehungskräfte 
handeln  konnte,  welche  der  Hauptkörper  auf  den  entferntesten  und 
auf  den  nächsten  Punkt  des  Satelliten  ausübt,  also  um  eine  Art  von 
Fluthanziehung.  Denn  da  ich  später  immer  nur  von  der  Bildung 
eines  Ringes  in  der  Entfernung  des  Satelliten  spreche,  habe  ich  doch 
offenbar  niemals  ein  eigentliches  Fallen,  ein  Näherrücken  der  los- 
gelösten Theile  eintretend  gedacht.  Die  angezogene  Stelle  zeigt 
ferner,  daß  ich  eine  Rotationsbewegung  des  Trabanten  um  seine  Axe 
als  vorhanden  angenommen  habe,  welche  von  seiner  Revolutionszeit 
verschieden  ist,  weil  nur  in  diesem  Falle  der  Hauplkörper  für  den 
Satelliten  auf-  und  untergehen  kann.  Diese  für  einen  so  nahen  Körper 
nicht  sehr  wahrscheinliche  Annahme  komplizirt  die  Frage  noch  weiter, 


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441 


und  es  ist  mir  zweifellos  zur  Last  zu  legen,  dafs  ich  dieselbe  nicht 
eingehend  genug  mathematisch  prüfte.  Dies  ist  nun  inzwischen  in 
dankenswerther  Weise  von  den  Herren  Professoren  Schiaparelli 
und  Seeliger  und  von  unserem  Herrn  Dr.  Schwahn  geschehen. 
Diese  Untersuchungen  führten  in  naher  Uebereinstimmung  mit  einander 
zu  dem  Resultat,  dafs  ein  Satellit,  dessen  Durchmesser  im  Vergleich 
zu  dem  des  Hauptkörpers  klein,  und  dessen  Dichte  der  des  ersteren 
gleich  ist,  die  Möglichkeit,  als  solcher  zu  existiren,  erst  verliert,  wenn 
sein  Abstand  vom  Hauptkörper  kleiner  ist  als  2,1  Halbmesser  des 
letzteren.  Da  nun  der  neue  Mond  2,7  Jupiter-Halbmesser  vou  ihm 
absteht,  ist  die  kritische  Entfernung  hier  noch  nicht  erreicht;  der 
Mond  wird  also  infolge  der  Schwerkraft  allein  sich  nicht  auf- 
lösen  können,  obgleich  er  sich  recht  nahe  an  der  Grenze  möglicher 
Stabilität  befindet.  Die  Satumringe  liegen  dagegen  innerhalb  der  an- 
gegebenen Zone,  und  die  in  meinem  Artikel  hierüber  gemachten 
Schlufsfolgerungen  bleiben  also  unberührt.  Was  aber  die  Auflösung 
jener  am  betreffenden  Orte  angeführten  Monde  anbetrifTt,  so  inüfste 
man  dafür  zu  kleinen  Anfangsgeschwindigkeiten  seine  Zuflucht  nehmen, 
welche  bei  der  Losreifsung  durch  ungleiche  Erwärmung,  Expausions-  oder 
Explosionskraft,  oder  auch  durch  Störungen  der  übrigen  Jupitermondo 
hervorgerufen  werden  konnten.  In  der  That,  bewegt  irgend  eine  noch 
so  geringe  Kraft  einen  freien  Körper  auf  der  Oberfläche  eines  solchen 
nahen  Mondes  in  einer  zur  Bahnebene  tangentialen  Richtung  fort,  so 
mufs,  da  das  Theilchen  nur  eine  sehr  geringe  Schwere  gegen  den 
Satelliten  hin  besitzt,  diese  Bewegung  vom  Nebenkörper  hinweg  unter 
gewissen  Umständen  beständig  andauern,  das  heifst  aber  nichts  anderes, 
als  solche  Theilchen  bilden  einen  Ring  um  den  Hauptplaneten.  Dieser 
Prozefs  aber  wird,  weit  bevor  der  Satellit  die  vorhin  angegebene 
kritische  Entfernung  erreicht  hat,  beginnen. 

Resumiren  wir  also  noch  einmal;  Ein  freier  Körper  auf  dem  in 
meinem  ersten  Aufsatze  genannten  Satelliten  hat  zwar,  wie  dort  an- 
gegeben, unter  den  gemachten  Voraussetzungen  keine  Sohwere  gegen 
den  letzteren  hin,  verliest  denselben  aber  doch  nicht  ohne  weiteres, 
wie  es  dort  angenommen  wurde;  er  mufs  vielmehr,  wenigstens  so 
lange  sein  Abstand  vom  Hauptplaneten  noch  gröfser  ist  als  2,1  Halb- 
messer des  letzteren,  eine  Anfangsgeschwindigkeit  besitzen,  welche 
ihn  von  der  Oberfläche  hinwegtreibt  Ist  dagegen  die  Entfernung 
kleiner,  als  soeben  angegeben,  so  erfolgt  die  Zertrümmerung  ohne 
weiteres  durch  die  Anziehungskraft  des  Hauptkörpers  allein.  Der 
neue  Jupitermond  befindet  sich  nur  wenig  außerhalb  jener  Grenze. 


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442 


Hätte  ich  frühzeitig  genug  übersehen,  (was  wohl  meine  Pflicht 
gewesen  wäre)  dafs  diese  Frage  sich  so  komplizirt  herausstellen  würde, 
so  hätte  ich  den  Artikel  überhaupt  nicht  in  unserer  Zeitschrift  er- 
scheinen lassen  dürfen,  da  wir  ja  Hypothetisches  niemals  zu  bringen 
pflegen,  ehe  es  nicht  das  Urtheil  der  Fachkreise  passirt  hat.  Nun 
war  allerdings  leider  nichts  Anderes  möglich,  als  noch  einmal  darauf 
zurückzukommen. 

l)r.  M.  Wilhelm  Meyer. 


Zur  Frage  nach  der  Rotationsdauer  der  Venus,  die  seit 
Schiaparellis  von  uns  im  zweiten  Bande  (S.  634)  besprochener 
Veröffentlichung  vom  Jahre  1890  noch  nicht  wieder  zur  Ruhe  ge- 
kommen ist,  hat  Trouvelot  im  vorigen  Jahre  einen  höchst  beaehtens- 
werthen  Beitrag  geliefert,  und  Wislicenus1)  unterzog  kürzlich  sämt- 
liche von  Sc  hi  ap  arolli,  Perrotin,  Terby,  Löschardt,  Niesten 
und  Trouvelot  während  der  letzten  drei  Jahre  über  diesen  Gegen- 
stand bekannt  gewordenen  Untersuchungen'2)  einer  gründlichen,  ver- 
gleichenden Kritik,  durch  welche  die  sich  vielfach  widersprechenden 
Ansichten  der  genannten  Forscher  eine  wesentliche  Klärung  erfahren 
dürften. 

Wislicenus  sieht  zunächst  mit  Löschardt  das  Ilauptverdienst 
der  Schiaparellischen  Arbeit  in  deren  kritischem  Theil,  der  mit 
alten,  eingewurzelten  Irrthüinern  definitiv  aufräumt  und  die  Frage 
nach  der  Rotationsdauer  der  Venus  von  neuem  in  den  Vordergrund 
des  Interesses  stellt.  Weniger  glücklich  erscheint  Schiaparellis 
Versuch,  auf  Grund  eigener  Beobachtungen  in  Verbindung  mit  einigen 
gleichzeitigen  und  älteren  Zeichnungen  anderer  Forscher  die  frag- 
liche Rotalionsdauer  neu  zu  bestimmen.  Denn  Wislicenus  weist, 
ebenso  wie  Löschardt  es  früher  getlian,  überzeugend  nach,  dafs 
Schiaparellis  Begründung  der  Annahme  einer  langsamen,  mit  der 
Umlaufszeit  des  Planeten  nahe  übereinstimmenden  Periode  keine 
zureichende  ist. 

Auch  der  Umstand,  dafs  Perrotin  und  Terby  die  Ansicht 
Schiaparellis  durch  ihre  Beobachtungen  bestätigt  gefunden  zu  haben 
glauben,  fällt  nicht  schwer  ins  Gewicht.  Denn  Perrotins  Beob- 
achtungen, die  nach  dessen  eigenen  Worten  zum  Zwecke  einer  solchen 

1 ) Vierteljahrsschrift  der  Astrun.  Gcsellsi  h.  27.  Jahrg.  Heft  4. 

-)  Vgl.  Himmel  und  Ki'de,  II,  S.  2i«0;  III,  2S5f. 


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443 


Bestätigung  unternommen  worden  sind,  haben  den  Verdacht  nicht 
völliger  Unbefangenheit  gegen  sich;  aufserdem  steht  fest,  daß  Per- 
rotin in  kurzer  Zeit  Veränderungen  im  Aussehen  der  Venusscheibe 
wahrgenommen,  die  er  nur  nicht  für  reell  hält.  Leider  macht  die  zu 
geringe  Ausführlichkeit  der  Nizzaer  Publikation  eine  erschöpfende 
Bourtheilung  der  Behauptungen  Perrotins  unmöglich.  — Terbys 
Zeichnungen  hat  dagegen  Wislicenus  einer  Ausmessung  unterzogen, 
auf  Grund  deren  er  durch  Rechnung  nachweisen  konnte,  dafs  die- 
selben besser  mit  einer  fast  genau  24  Stunden  dauernden,  als  mit 
einer  200-tägigen  Rotationszeit  in  Uebereinstimmung  zu  bringen  sind. 

Von  den  Schiaparelli  bekämpfenden  Arbeiten  ist  die 
Löschardtsche  im  wesentlichen  eine  negative  Kritik,  die  durch 
einige  Zeichnungen  der  Venus  erhärtet  wird,  ohne  dafs  aus  letzteren 
eine  Rotationsperiode  abgeleitet  würde.  Wislicenus  weist  auch  an 
diesen  Zeichnungen  durch  sein  vereinfachtes  Rechnungs-Verfahren 
naoh,  dafs  sie  sehr  wohl  einer  Periode  von  rund  24  Stunden  ent- 
sprechen. — Die  Arbeit  von  Niesten  leidet  an  demselben  Fehler, 
wie  die  Perrotins,  sie  bietet  nicht  hinreichendes  Einzelmaterial  zur 
eigenen  Prüfung  der  Folgerungen  des  Verfassers  seitens  des  Lesers. 
Vor  allem  erscheint  hier  auch  die  Anwendung  der  sicher  falschen 
de  Vicoschon  Periode  von  23  h.  20  m.  zur  Reduktion  der  Beob- 
achtungen als  unzweckmäßig. 

Trouvelots  umfangreiche  Studie  besitzt  nach  Wislicenus 
zweifellos  unter  allen  oben  erwähnten  die  größte  Bedeutung  in  Bezug 
auf  die  Entscheidung  der  vorliegenden  Frage.  Der  Verfasser  kommt  da- 
bei, ebenso  wie  Wislicenus,  zu  dem  Schlüsse,  dafs  die  Umdrehungszeit 
der  Venus  nicht  viel  von  24  Stunden  abweicht.  — Im  übrigen  be- 
richtet Trouvelot  auch  über  merkwürdige,  von  ihm  gemachte  Wahr- 
nehmungen bezüglich  des  wechselnden  Aussehens  der  Lichtgrenze  und 
der  Venushörner,  durch  die  alte  Beobachtungen  von  Schröter,  Beer 
und  Madie r wieder  zu  Ehren  kommen  würden.  Zeitweilig  auftretende 
glänzende  Lichtpunkte  nahe  den  Hörnern  führen  Trouvelot  nämlich 
zu  der  Sch röterschen  Vermuthung  hoher  Eisberge  in  der  Nähe  der 
Venuspole  zurück,  deren  Spitzen  über  die  wolkigen  Schichten  der 
Venusatmosphäre  hinausragen  sollen.  Auch  bestätigt  Trouvelot  die 
schon  früher  von  anderen  gemachte  Wahrnehmung,  dafs  sich  die  un- 
beleuchtete Venushälfte  mitunter  nicht  lu  ll,  sondern  im  Gegentheil 
dunkel  gegen  den  umgebenden  Ilimmelsgrund  abhebe.  F.  Kbr. 


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Meyers  Konversations-Lexikon.  6.  gänzlich  neubearbeitete  und  vermehrte 
Auflage.  Heft  1—3.  Leipzig  und  Wien,  Bibi.  Institut.  1893. 

Auf  koinem  anderen  Gebiete  zeigen  sich  die  segensreichen  Wirkungen 
der  Konkurrenz  so  deutlich,  wie  auf  dem  der  Konversationslexika,  wo  es  sich 
namentlich  um  den  Wettkampf  von  Brockhaus  und  Meyer  handelt  Kaum 
hat  das  erstgenannte  Verlagsinstitut  seine  neueste  Auflage  begonnen,  die  das 
altbewährte  Brockhausscho  Lexikon  namentlich  hinsichtlich  des  Reichthums 
an  Bildern,  jenem  so  verführerischen  Anziehungsmittel  aller  Bücher,  dem  hierin 
vorausgeeilten  „Meyer“  nachbringen  sollte,  da  erscheint  auch  letzterer  nach 
nur  dreijähriger  Pause  mit  einer  neuen,  fünften  Auflage,  welche  gerade  in  dem 
beregten  Punkte  alles  bisher  Dageweseno  wieder  weit  übertrifft.  Wohl  mögen 
viele  die  Illustrationen  als  entbehrliches  Flitter-Beiwerk  geringschätzen ; für 
die  naturwissenschaftlichen  Fächer  — und  von  deren  Gesichtspunkt  aus  können 
wir  hier  das  Werk  nur  beurtheilen  — sind  sie  fast  ebenso  wichtig,  wie  die 
Gediegenheit  des  Textes.  Einige  Zahlen  mögen  nun  eine  Anschauung  davon 
geben,  welcher  Fortschritt  in  dieser  Beziehung  mit  der  vorliegenden,  fünften 
Auflage  in  Aussicht  steht.  Dieselbe  wird  etwa  10  000  Textabbildungen  (gegen 
bisher  3600),  sowie  950  Tafeln  (gegen  550  der  vierten  Auflage)  enthalten,  der 
Illustrationsschatz  wird  sonach  reichlich  verdoppelt  sein.  Für  einige  Facher 
sei  noch  die  Zahl  der  Tafeln,  im  Vergleich  mit  den  (eingeklammerten)  für 
die  vorige  Auflage  geltenden  angeführt:  Völkerkunde  32(8),  Zoologie  165(95), 
Botanik  105  (47),  Mineralogie  40  (30),  Technologie  90  (44)  u.  s.  w\  In  den 
ersten  drei  Heften  finden  sich  z.  B.  folgende  vortreffliche,  neue  naturwissen- 
schaftliche Tafeln:  Farbendrucke:  Arktische  Fauna,  Apfelsorten,  Geologie  der 
Alpen,  Aequatorial- Afrika  (1:13  000  000),  Goschichte  Amerikas;  Holzschnitte: 
Antilopen,  Ahorne. 

In  gleich  durchgreifender  Weise  ist  aber  auch  der  Text  revidirt,  vervoll- 
ständigt und  neu  bearbeitet  worden.  Vergleicht  man  z.  B.  den  Artikel  „Afrika“ 
der  neuen  Auflage  mit  dem  der  vorigen,  so  zeigt  sich  derselbe  so  gut  wie  voll- 
ständig neu  gestaltet.  Der  Mitarbeiter  hat  sich  da  nicht  auf  blofse  Hinzufügung 
neuer  Forschungsergebnisse  beschränkt,  sondern  hat  andererseits  die  Darstellung 
vielfach  in  übersichtlichere  Form  gebracht  und  übet flüssigo  Detailangaben  mit 
gutem  Geschick  derart  gekürzt,  dafs  das  für  den  eigenartigen  Kontinent  Cha- 
rakteristische noch  schärfer  horvortritt. 

Nach  alledem  können  wir  jedem  Interessenten  nur  rathen,  bei  etwaiger 
Anschaffung  des  Moy ersehen  Loxikons  die  neue  Auflage  zu  wählen,  wenn  auch 
deren  Vollendung  einige  Jahre  in  Anspruch  nehmen  wird.  F.  Kbr. 


Verlag  von  Hermann  Paetel  ln  lierlin.  — Druck  von  Wilhelm  Gronau“«  Buchdrucker©!  in  Berlin. 
Für  die  Kedaction  verantwortlich:  Dr,  M.  Wilhelm  ilejrer  ln  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  au«  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Uebersotsungsrecht  Vorbehalten. 


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Ueber  den  Diamant. 

Von  I)r.  W.  Lnzi  in  Leipzig. 
c\  ■>  ( Schlu fs.) 

X Vv'uch  im  elektrischen  Bogenlichte  hat  man  den  Diamant  auf  sein 
c Verhalten  geprüft.  Es  hat  sich  dabei  im  allgemeinen  folgendes 
ergeben.  Wird  er  zwischen  die  in  Kohlestifte  endenden  Pole  einer 
äufserst  kräftigen  galvanischen  Batterie  gebracht,  so  glüht  er  mit  einem 
Lichte,  das  die  Augen  nicht  zu  ertragen  im  stände  sind,  er  bläht  sich 
auf,  zertheilt  sich  und  ist  nach  dem  Erkalten  in  eine  metallglänzende 
graue  Masse  umgewandelt,  welche  dem  Koks  aus  gewissen  fetten  Stein- 
kohlen gleicht.  Im  speziellen  beobachteten  Jacquelain,  dafs  er  da- 
bei koksartig  wird,  Despretz,  dafs  er  im  elektrischen  Flamtnenbogen 
zu  kleinen  Kügelchen  schmilzt  und  sich  in  Graphit  verwandelt  (d.  i. 
wohl  sicher  Graphitit)  und  Gassiot,  dafs  er  sich  darin  um  das  acht- 
bis  zehnfache  seines  ursprünglichen  Volumens  aufbläht,  dabei  glas- 
artig, weifs,  undurchsichtig  und  auch  manchmal  kohlearlig  wird. 

Ist  also,  wie  wir  sahen,  der  Diamant  auf  trocknom  Wege,  beim 
Erhitzen  unter  Zutritt  von  Sauerstoff  oder  Luft,  nicht  allzu  schwer 
verbrennlich,  so  gelingt  es  auch  auf  nassem  Wege,  ihn  in  Kohlensäure 
zu  verwandeln.  Wird  or  im  pulverisirten  Zustande  mit  chromsaurem 
Kalium  und  Schwefelsäure  auf  circa  180 — 230  °C.  erhitzt,  so  wird  er  durch 
den  von  diesem  Oxydationsgemische  abgegebenen  Sauerstoff  vollständig 
verbrannt.  Auch  noch  in  anderer  Beziehung  verdient  er  seinon  Namen 
„Diamant-*,  welcher  von  äoauct;,  unbezwingbar,  abgeloitet  ist,  nicht.  Die 
Hülfsmittel  der  modernen  Chemie  haben  dem  „Unbezwingbaren,  Ewigen" 
seinen  alten  Nimbus  genommen  und  gezeigt,  dafs  seine  Substanz  auf 
verschiedene  Weise  angreifbar  und  umwandelbar  ist.  So  stellte  neuer- 
dings W.  Luzi  fest,  dafs  es  sogar  eine  Art  Auflösungsmittel  für  den 
Diamant  giebt.  Luzi  fand  nämlich,  dafs  das  Gestoin,  in  welchem  sich 
Himmel  und  Erde.  IfcKö.  V.  10.  30 


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446 


in  Südafrika  die  Diamanten  finden,  der  berühmte  sog.  -blue  ground“, 
die  Fähigkeit  besitzt,  im  geschmolzenen  Zustande  den  Diamant  mag- 
matisch zu  resorbiren,  d.  h.  zu  verzehren.  Die  Versuche  wurden  in 
folgender  Weise  angestellt.  Das  Oestein  wurde  in  einem  Four- 
quignon-Leclercqschen  Gebläseofen  bei  der  höchst  erreichbaren 
Temperatur,  circa  1770°  C.,  eingoschmolzen.  Sodann  wurde  der  mit 
vollkommen  glatten  (natürlichen)  Flächen  versehene  Diamant  in  das- 
selbe tief  eingebracht,  der  Tiegel  wieder  vorschlosson  und  ungefähr  20 
bis  30  Minuten  stärkste  Hitze  gegeben.  Wurde  dann  nach  dom  Er- 
kalten der  Diamant  aus  dem  erstarrten  Gestein  hcrausgenommen,  so 
war  derselbe  auf  seiner  Oberfläche  mit  unregelmäfsig  — bis  länglich  — 
runden,  oft  auch  halbkugelförmigen  Narben  oder  Höhlungen  von  ver- 
schiedener Gröfse  bedeckt  Einmal  war  ein  Diamantkrystall  auf  einer 
Seite  so  tief  angefressen,  dafs  die  Höhlung  bis  fast  zur  entgegen- 
gesetzten Fläche  reichte,  d.  h.  dafs  der  Diamant  fast  durchlöchert  war; 
der  Krystall  hatte  das  Aussehen  eines  hohlen  Zahnes  bekommen. 
Solche  magmatisch  korrodirten  Krystalle  gleichen  in  Bezug  auf  die 
Korrosionserscheinungen  magmatisch  resorbirten  Hornblenden,  wie  sie 
sich  so  häufig  in  Basalten  finden.  — Es  ist  die  Kenntnifs  der  That- 
saohe,  dafs  der  Diamant  durch  einen  SilikatschmelzHufs  von  der  Zu- 
sammensetzung des  blue  ground  resorbirt  wird,  wohl  geeignet  Ver- 
muthungen über  die  Art  und  Weise  seiner  Entstehung  zuzulassen. 

Dafs  man  im  Stande  ist,  mit  Diamant  Eisen  zu  kohlen  und  so  in 
Stahl  zu  verwandeln,  wurde,  wie  bereits  angeführt,  schon  am  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  von  Guy  ton  do  Morveau  gezeigt  Genauer 
wurde  dieser  Vorgang  1885  von  W.  Hempel  untersucht,  welcher  da- 
bei das  interessante  Resultat  feststellte,  dafs  Diamantpulver  schon  bei 
einer  beträchtlich  niedrigeren  Temperatur  in  das  Eisen  übergeht  und 
sich  in  demselben  als  amorphe  Kohle  auflöst.  Während  letztere  erst 
zwischen  1385  und  1420  0 C.  anfängt,  das  Eisen  zu  kohlen,  thut  dies 
der  Diamant  schon  bei  1160  0 C.  — Also  auch  hier  tritt  wieder  eine 
mindere  Beständigkeit  desselben  gegenüber  den  anderen  Kohlenstoff- 
modifikationen zu  Tage. 

Hempel  weist  nun  auf  die  Analogie  hin,  welche  zwischen  dem 
angeführten  Verhalten  des  Diamanten  und  amorphen  Kohlenstoffes 
einerseits  und  den  Eigenschaften  der  entsprechenden  Phosphormodi- 
fikationen, dem  farblosen  und  dem  amorphen  Phosphor  andererseits, 
besteht  Der  farblose  Phosphor  ist  löslich  in  Schwefelkohlenstoff,  der 
amorphe  nicht,  der  farblose  Kohlenstoff  des  Diamants  löst  sich  im  Eisen 
bei  1 160 0 C.,  der  amorphe  nicht  Der  amorphe  Phosphor  geht  bei 


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447 


einer  bestimmten  Erhitzung  in  den  farblosen  über,  der  amorphe  Kohlen- 
stoff wird  duroh  Erhitzen  auf  1400 0 C.  löslich  in  Eisen,  er  zeigt  also 
dann  Eigenschaften  des  weifsen  Kohlenstoffes.  — Auch  Platin  vermag 
Diamant  aufzunehmen.  Schrötter  stellte  z.  B.  folgenden  Versuch 
an.  Ein  Diamant  wurde  in  ein  dünnes  Platinblech  eingewickelt  und 
sodann,  in  Magnesiapulver  eto.  luftdicht  verpaokt,  dem  Starkbrande 
des  Porzellanofens  ausgesetzt.  Beim  Oeffnen  des  Tiegels  zeigte  sich, 
dafs  der  Diamant  an  seiner  Oberfläche  duroh  eine  rufsähnliche  Masse 
leicht  geschwärzt  und  auch  im  Innern  von  schwarzen  Streifen  durch- 
zogen war.  Das  Platin  war  zu  einem  Tropfen  zusammengesohmolzen 
und  hatte,  wie  die  Untersuchung  ergab,  Kohlenstoff  aufgenommen, 
während  der  Diamant  an  Gewicht  verloren  hatte.  Was  die  Einwirkung 
noch  anderer  Kcagentien  auf  Diamant  anbotrifft,  so  ist  darüber  folgendes 
anzuführen.  Schwefeldampf  greift  den  Diamant  bei  1000°  C.  an  (in- 
dem sich  Schwefelkohlenstoff  bildet).  Wird  Diamant  in  gosohmolzenes 
kohlensaures  Kalium  resp.  Natrium,  welches  auf  eine  hohe  Temperatur 
erhitzt  ist,  eingetragen,  so  wird  er  schnell  aufgezehrt,  wobei  er  Kohlen- 
oxyd liefert 

Die  im  Vorstehenden  angeführten  Experimentaluntersuchungen 
über  das  Verhalten  des  Diamanten  waren  die  wichtigen  und  uns  hier 
am  meisten  interessirenden,  da  aus  ihnen  jedenfalls  einmal  Schlüsse 
über  die  Entstehung  desselben  auf  unserer  Erde  gezogen  werden  können. 
Andere  Arbeiten,  welche  dies  wohl  nicht  ermöglichen,  wie  solche  über 
krystallographische  und  optische  Eigenschaften  etc.,  müssen  wir  — als 
fernerstehend  — übergehen.  Auch  von  den  geologischen  Verhältnissen, 
unter  denen  der  Diamant  auftritt,  kann  hier  aus  Mangel  an  Raum  ausführ- 
licher nioht  gesprochen  werden.  Es  sei  darüber  nur  kurz  folgendes  be- 
merkt. Die  tellurischen  Diamanten  treten  in  verschiedenen  Trümmerge- 
steinen auf,  so  dafs  man  ihr  eigentliches  Muttergestein,  d.  h.  dasjenige,  in 
welchem  sie  entstanden  sind,  noch  nicht  kennt.  Sie  finden  sich  in 
Betten  von  Flüssen,  im  angeschwemmten  Lande,  in  Sanden,  Kiesen, 
Seifen, Gerollen,  in  Sandsteinen  und  Glimmerquarziten  sowie  in  Breccien 
und  Tuffen.2)  Alle  diese  Gesteine  sind,  wie  schon  gesagt,  sog.  klas- 
tische oder  Trümmergesteine,  d.  h.  ein  Material,  welches  erst  infolge 

J)  Unter  Breccien  versteht  man  Felsarten,  welche  aus  eckigen,  nicht  ab- 
gerollten und  abgerundeten  Bruchstücken  von  Mineralien  oder  Gesteinen,  die 
durch  irgend  ein  Bindomittel  zusammengehalten  werden,  bestehen;  Tuffo  sind 
Gesteine,  deren  Material  in  Form  von  vulkanischen  Auswurfsprodukten  (als  Asche, 
I.apUli  etc.)  durch  Eruptionen  geliefert,  oft  noch  durch  Wasser  zusammenge- 
schwemmt, geschichtet  und  zum  Theil  stark  zersetzt  wurde. 

30’ 


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448 


Zerstörung  anderer  Felsarten  entstanden  ist.  Es  ist  begreiflich,  daß 
eben  der  Umstand,  dafs  die  Diamanten  immer  in  klastischem  Gesteins- 
materiale auftreten,  die  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Wo  und 
Wie  ihrer  Entstehung  außerordentlich  erschwert.  Findet  man  den 
Diamant  z.  B.  in  einer  Kiesablagerung,  nun,  so  ist  anzunehmen,  dafs 
er  darin  nicht  entstanden,  sondern  bei  doren  Absatz  durch  die  Ge- 
wässer mit  hineingeschwemmt  worden  ist.  Aber  woher,  aus  welchen 
Gesteinen  stammt  er  denn  nun  eigentlich? 

Es  sind  besonders  die  Untersuchungen,  welche  über  die  (im 
Jahre  1867  entdeckten)  Diamautlagorstätten  in  Südafrika  angestellt 
wurden,  die  darauf  hindeuten,  dafs  das  ursprüngliche  Auftreten  der 
Diamanten  an  plutonischo  Erscheinungen  geknüpft  ist.  Für  eine 
künftige  Klarstellung  der  Genesis  des  Diamanten  in  der  Natur  sind 
ohne  Zweifel  als  bisher  am  bedeutungsvollsten  die  Untersuchungen 
zu  betrachten,  welche  E.  Cohen  über  die  südafrikanischen  Diamant- 
lagerstätten angestellt  hat.  Dieser  Forscher  konstatirte  folgendes. 
Die  Diamanten  finden  sich  in  den  River  Diggins,  d.  h.  zusammen  mit 
den  Gerollen  der  Flüsse  und  in  den  Dry  Diggins.  Diese  letzteren 
sind  kraterförmige  Löcher,  welche  senkrecht  in  die  Tiefe  gehen.  Sie 
sind  mit  einem  Gesteine  ausgefüllt,  welches  mau  als  einen  um  ge- 
wandelten Tuff  eines  in  der  Tiefe  vorhandenen  Eruptiv- 
gesteines anzusehen  hat.  Diese  senkrechten  Kanüle  sind  also  wirk- 
liche Krater.  Aufser  dem  Tuffe  enthalten  dieselben  auch  Bruch- 
stücke des  Nebengesteins.  (Das  Nebengestein,  also  das  Gestein,  welches 
von  den  Kanälen  durchsetzt  wird,  besteht  aus  Schiefern,  Sandsteinen 
sowie  einem  Eruptivgestein,  nämlich  Lagern  von  Diabas.)  Die  Dia- 
manten kommen  nur  in  dem  Tuffe  vor.  Ebenfalls  zu  der  Auffassung, 
dafs  die  Diamanten  in  Südafrika  in  einem  durch  vulkanische  Thätigkeit 
entstandenen  Gesteine  sitzen,  leiten  folgendo  Angaben  von  Wink  lohn  er. 
Die  Felsart,  in  der  die  Diamanten  sich  befinden,  bildet  Gangmassen, 
welche  die  triasische  Karooformation  durchsetzen.  Die  dieselben  ent- 
haltenden Kanäle  sind  oben  trichterförmig  erweitert,  und  die  ersteren 
ragen  wie  flache  Hügel  über  das  Nebengestein  hinaus.  Ihrer  Zu- 
sammensetzung nach  sind  diese  Gänge  bildenden  Gesteine  eine  Ser- 
pentinbreccie,  welche  jedoch  viele  Bruchstücke  anderer  Gesteine  ent- 
hält. Sie  ist  in  der  Nähe  der  Oberfläche  infolge  Verwitterung  gelb- 
braun, in  grüfeeren  Tiefen,  also  im  frischeren  Zustande,  aber  blaugrün 
gefärbt.  Diese  tieferen  Parthieen  der  diamantführenden  Breccie  sind 
der  berühmte  „blue  ground“.  Es  ist  von  großem  Interesse,  dafs  sich 
in  diesem  Gesteine  aufser  unverletzten  Diamantkry stallen  auch  Bruch- 


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stücke  von  solchen  finden  und  zwar  manchmal  von  einer  Gröfse,  dafs 
man  schließen  mufs,  dafs  einzelne  der  ursprünglichen,  ganzen  Kri- 
stalle bis  600  Karat  (1  Karat  = circa  206  mgr)  schwer  gewesen  sind. 
Wahrscheinlich  hat  man  es  hier  mit  zerdrückten,  zerquetschten  Dia- 
mantkrystallen  zu  thun;  der  Akt  der  Zerdrückung,  der  ja  die  Ein- 
wirkung einer  gewaltigen  Kraft  voraussetzt,  dürfte  beim  Emporbrechen 
des  Eruptivgesteines  stattgefunden  haben. 

Weiter  ist  noch  zu  erwähnen,  dafs  mikroskopische  Untersuchungen, 
welche  C.  Lewis  mit  dem  südafrikanischen  diamantführenden  Serpentin- 
gestein vornahm,  ebenfalls  zu  dem  Resultate  führten,  dasselbe  sei  ein  — 
duroh  Verwitterung  umgewandeltes  — Eruptivgestein.  Der  eben  ge- 
nannte Forscher  macht  nun  darauf  aufmerksam,  dafs  meist  da,  wo 
Diamanten  gefunden  werden,  auch  Serpentin  in  der  Nähe  ist,  so  aufser 
in  Südafrika  auf  Borneo,  in  Neusüdwales,  im  Ural,  in  Nord-Carolina 
und  Nord-Kalifornien.  Aus  diesem  Grunde  ist  nach  Lewis  wohl  an- 
zunehmen, dafs  das  wirkliche  Muttergestein  der  Diamanten  der  Erde 
Serpentin  ist,  welcher  durch  Umwandlung  eruptiver  Peridotito  (das 
sind  vorwaltend  aus  Olivin  bestehende  Gesteine)  entstand.  Auch  nach 
Untersuchungen,  welche  von  Knop  angestellt  wurden,  ist  das  Mutter- 
gestein der  in  den  Diamantfeldern  von  Jagersfontein  in  Südafrika  vor- 
kommenden Diamanten  ein  Serpentintuff. 

Dafs  die  Entstehung  des  Diamanten  in  irgend  einer  Weise  mit 
plutonischen  Erscheinungen,  mit  Vorgängen,  welche  sich  bei  höheren 
Temperaturen  und  hohen  Drucken  in  den  tieferen  Schichten  der  Erde 
abspielten,  verknüpft  ist,  darauf  deutet  auch  das  in  letzter  Zeit  kon- 
statirte  Vorkommen  dieses  Minerals  in  Meteoriten  hin.  Dieselben 
mufs  man  als  Bruchstücke  grofser  Himmelskörper  ansehen,  wobei  es 
wahrscheinlich  ist,  dafs  die  meisten  derselben  aus  den  tieferen 
Schichten  der  betreffenden  kosmischen  Gebilde  herrühren,  da  diese  ja 
den  Haupttheil  der  Gesamtmasse  ausmachten. 

Es  war  schon  seit  längerer  Zeit  bekannt,  dafs  in  meteorischen 
Massen  manchmal  Graphit  auftritt.  So  beobachtete  Haidinger  in 
dem  Meteoriten  von  Arva  in  Ungarn  Graphit  und  zwar  eigenthüm- 
licher  Weise  in  regulären  Krystallformen,  während  doch  dieses  Mineral 
eigentlich  hexagonal  ist.  Auch  die  Meteoriten  von  Youndegin  (West- 
australien) und  Cosby  Creek  enthielten,  wie  Fletcher  fand,  reguläre, 
aus  Graphit  bestehende  Krystalle.  Fletoher  glaubte,  dafs  dieser 
Graphit  gewissermafsen  eine  besondere  Modifikation  der  gewöhnlichen, 
hexagonal  krystallisirenden  darstelle,  und  nannte  ihn  „Cliftonit“.  Nach 
einer  älteren,  zuerst  von  Gustav  Roso  ausgesprochenen  Anschauung 


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hat  man  es  jedoch  hier  mit  Afterkrystallen,  mit  Pseudomorphosen  von 
Graphit  nach  Diamant  zu  thun,  d.  h.  also,  es  soll  sich  hier  um  eine 
Umwandlung  von  Diamantkrystallen  in  Graphitkohlenstoff  handeln.  In 
der  Abhandlung,  welche  letzterer  Forscher  1872  in  der  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  Berlin  verlas,  und  welche  die  vorn  beschriebenen 
Versuche  über  das  Verhalten  des  Diamanten  beim  Erhitzen  zum  Gegen- 
stände hat,  findet  sich  der  Passus: 

„Diese  Form  (nämlich  die  Krystallgestalt  der  Graphitpseudomor- 
phosen)  ist  aber  eine  nicht  ungewöhnliche  beim  Diamant,  und  so  könnte 
es  wohl  sein,  dafs  die  Pseudomorphosen  in  dem  Meteoreisen  von  Arva 
aus  Diamant  entstanden  sind;  eine  Hypothese,  die  Wahrscheinlichkeit 
haben  würde,  wenn  man  in  den  Meteoriten  schon  Diamanten  gefunden 
hätte,  was  nicht  der  Fall  ist“ 

Nun,  Diamanten  hat  man  jetzt  in  Meteoriten  auch  gefunden,  sogar 
in  eben  diesem  von  Arva  haben  neuere,  von  Brezina  und  Wein- 
sohenk  augestellte  Untersuchungen  das  Vorkommen  wirklichen  Dia- 
mantkohlenstoffes bewiesen.  Weiter  fand  man  in  dem  am  4.  September 
1 880  bei  Nova  Urei  in  Rufsland  gefallenen  Meteoriten,  welcher  vorwiegend 
aus  Nickeleisen  und  Magnesiasilikaten  (darunter  viel  Olivin)  besteht, 
ungefähr  ein  Prozent  eines  feinen  schwarzen  Staubes  von  der  Härte 
und  der  chemischen  Zusammensetzung  des  Diamanten.  In  Arizona, 
bei  Canon  Diablo,  entdeckte  man  1891  eine  grofso  Anzahl  meteorischer 
Eisenmassen,  zahlreiche  Trümmer  einer  oder  mehrerer  Meteoriten. 
Ein  Bruchstück,  welches  durchschnitten  wurde,  wies  im  Innern  einen 
Hohlraum  auf,  in  dem  sich  neben  schwarzer,  körnig-pulveriger  Kohle 
und  einem  Eisenkarburet  kleine,  schwarze  Diamanten  fanden,  die 
Korund  mit  gröfster  Leichtigkeit  ritzten.  Durch  Behandeln  des  Eisen- 
karburetes  (d.  i.  eine  Verbindung  von  Eisen  und  Kohlenstoff)  mit  Säure 
wurde  auch  ein  farbloser  Diamantkrystall  zu  Tage  gebracht.  Wie 
Friedei  in  der  am  9.  Dezember  1892  abgehaltenen  Sitzung  der  societe 
chimique  de  Paris  mittheilte,  hat  auch  er  in  einem  Meteoreisen  von 
Arizona  Diamanten  in  Form  kleiner  schwarzer,  Korund  ritzender  Körner 
nachgewiesen.  Dieselben  hinterblieben  als  unlöslicher  Rückstand  bei 
der  Behandlung  des  Meteoriten  mit  einer  Säure.  Dafs  man  es  wirklich 
mit  Kohlenstoff  zu  thun  hatte,  also  die  chemische  Natur  der  Körner, 
wurde  durch  Verbrennon  derselben  im  Sauerstoffstrome  ermittelt. 

Schiiefslich  liegt  auch  noch  eine  Untersuchung  von  Moissan  vor, 
welcher  in  dem  (übrigens  nicht  homogenen,  sondern  aus  verschiedenen 
Mineralien  zusammengesetzten)  Meteoriten  von  Canon  Diablo  aufser 
schwarzem  Diamant,  einer  „braunen  Kohle“  und  Graphit,  durchsichtigen 


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Diamant  fand.  Nach  einer  Angabe  von  Friedei  sind  die  Partikelchen 
dieser  durchsichtigen  meteorischen  Diamanten  allerdings  nur  von 
mikroskopischer  Kleinheit. 

Der  als  Experimentalgeologe  allgemein  bekannte  französische  Ge- 
lehrte Daubree  hat  nun  den  Versuch  gemacht,  darzulegen,  dafs  zwischen 
dem  Auftreten  des  Diamanten  in  Meteoriten  einerseits  und  der  Art 
des  Vorkommens  dieses  Minerals  in  den  vorhin  besprochenen  süd- 
afrikanischen Fundstätten  andererseits  Analogien  bestehen. 

Auch  Daubree  glaubt,  dafs  das  Muttergestein  der  in  Südafrika  ver- 
kommenden Diamanten,  jene  an  Magnesiasilikaten  reiche  Gesteinsbreccie, 
eruptiver  Natur  sei.  Die  Begleiter  des  Diamanten  in  derselben  sind  die 
Mineralien  Granat,  Glimmer,  Diopsid,Enstatit,Wollastonit,  Diallag,  Zirkon, 
Ilmenit,  Chromit,  Rutil,  Korund,  Apatit;  ferner  Fragmente  von  Gesteinen, 
nämlich  von  Granit,  Peginatit  und  Schiefer.  Dafs  der  Diamant  nicht 
da,  wo  er  sich  jetzt  findet,  also  in  der  Breccie,  entstanden  sein  kann, 
beweist  das  (vorhin  erörterte)  Vorkommen  von  einzelnen  Krystall- 
bruchstücken  desselben.  Daubree  ist  der  Ansicht,  dafs  der  Diamant 
zusammen  mit  der  ihn  bergenden  Eruptivbreccie  dem  Erdinnern  ent- 
stamme. Dem  letzteren  aber  dürfte  eine  den  Meteoriten  — zum  Theil 
wenigstens  — analoge  Zusammensetzung  zukommen.  Der  diamant- 
führende  Meteorit  von  Novo  Urei  besteht,  wie  schon  angegeben,  vor- 
wiegend aus  Nickeleisen  und  Olivin,  sowie  anderen  Magnesiasilikaten; 
der  Meteorit  von  Arva  enthält  Enstatit,  Augit,  Tridymit,  Nickeleisen, 
Graphit  und  Diamant3).  Wie  nun  der  in  unserer  Erdrinde  sonst  so 
verbreitete  Olivin  ein  fast  unzertrennlicher  Begleiter  des  meteorischen 
Nickeleisens  ist,  so  nähert  wiederum  die  Gegenwart  des  Diamanten  in 
den  Meteoriten  diese  kosmischen  Vorkommnisse  mit  Bezug  auf  Zu- 
sammensetzung den  terrestrischen  Diamantlagern.  Ein  weiteres  Glied 
in  der  Kette  dieser  Analogieen  bilden  die  von  A.  Nordenskiöld  auf- 
gefundenen tellurischen  Nickeleisenmassen  von  Ovifak  auf  der  Insel 
Disko  (Grönland).  Dieselben  linden  sich,  von  Graphit  begleitet,  in 
einem  Dolerit,  also  in  einor  im  wesentlichen  aus  triklinem  Feldspath, 
Augit,  Olivin  und  Magnetit  bestehenden  eruptiven  Felsart  (Basalt- 
varietät) eingeschlossen,  die  aufserdem  Olivinknollen,  Korund  und 
Spinell  enthält.  Der  Graphit  in  diesem  Eruptivgestein  beweist  nach 
Daubröe  das  Vorkommen  von  Kohlenstoff  im  Erdinnern.  (Es  ist 
allerdings  nach  manchen  Mineralogen  noch  nicht  vollständig  gewifs, 

■')  Es  sei  bemerkt,  dafs  ganz  neuerdings  Moissan  angiebt,  auch  in  der 
südafrikanischen  Breccie  Graphit  gefunden  zu  haben. 


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ob  die  erwähnten  Xiekeleisenmassen  wirklich  irdisohes,  durch  den 
Basalt  aus  der  Tiefe  mit  emporgerissenes  oder  vielleicht  auch  erst  aus 
dem  geschmolzenen  Basalt  ausgeschiedenes  Eisen  repräsentiren,  oder 
ob  dieselben  nicht  vielleicht  — was  allerdings  unwahrscheinlicher 
ist  — von  einem  während  der  Eruption  des  feurig-flüssigen  Gesteins- 
magmas hineingestiirzten  Meteoritenschwarm  herrühren.)  Wenn  man 
nun  weiter  einerseits  die  Seltenheit  der  Diamant  enthaltenden  Ab- 
lagerungen auf  der  Erdoberfläche,  andererseits  die  relative  Häufigkeit 
desselben  in  den  nur  zufällig  von  uns  gefundenen,  aus  den  Himmels- 
räumen niederfallenden  Weltkörpertheilohen,  deren  Masse  im  Vergleich 
zu  der  unserer  Erde  so  überaus  gering  ist,  berücksichtigt,  so  wird 
man  nach  Daubree’s  Ansicht  zu  dem  Schlüsse  hingeleitet,  dafs  auch 
die  inneren  Theile  unseres  Planeten  dieses  geheimnifsvolle  Mineral  in 
grofser  Menge  bergen  müssen.  Die  Eruptivkanäle  Südafrikas,  welche, 
obwohl  im  horizontalen  Durchschnitt  kaum  30  ha  Flächenraum  ein- 
nehmend, so  viele  Millionen  von  Diamanlkrystallen  heraufgebracht 
haben,  würden  dann  den  Reichthum  ahnen  lassen,  welcher  uns  wohl 
stets  verborgen  und  unzugänglich  bleiben  wird.  — 

So  wären  wir  denn  an  das  Gebiet  der  Hypothesen  über  die  Ent- 
stehung des  Diamanten  herangetreten,  um  einen  Augenblick  bei  ihnen  zu 
verweilen.  Dieselben  können  nur  eine  kurze  Betrachtung  rechtfortigen, 
denn  keine  darf  als  befriedigend  gelten.  Sie  sind  zum  gröfsten  Theile 
ohne  Berücksichtigung  der  neueren  Feststellungen  über  das  Verhalten 
und  das  Auftreten  des  Diamanten  aufgestcllt.  Es  liegt  dies  daran,  dafs 
die  meisten  dieser  Anschauungen  nicht  erst  in  jüngster  Zeit  ent- 
standen sind. 

Manche  Forscher  neigen  sich  der  Ansicht  zu,  dem  Diamanten  einen 
organischen  Ursprung  zu  geben;  so  betrachtete  vor  allem  Justus  Lie- 
big  den  Diamant  als  das  Endprodukt  einer  kohligen  Vermoderung  or- 
ganischer Substanzen.  Dieselbe  müfste  allerdings  unter  ganz  besonde- 
ren, uns  gänzlich  unbekannten  Bedingungen  erfolgt  sein.  Es  ist  als  fest- 
stehend zu  betrachten,  dafs  der  Graphit  das  wirkliche  Endprodukt  des 
Verkohlungsprozesses  ist  — der  sichere  Beweis  dafür,  dafs  in  der 
Natur  schön  krystallisirter  Graphit  aus  Kohlen  resp.  kohligen  Sub- 
stanzen entstanden  ist  (und  zwar  unter  dem  Einflüsse  der  Kontakt- 
metamorphose), wurde  1891  von  R.  Beck  und  W.  Luzi  erbracht  — ; 
dafs  aber  jener  Prozefs  mit  der  Hervorbring-ung  des  Diamanten  endigte, 
dafür  hat  man  auch  nicht  das  allergeringste  Anzeichen.  Göppert 
folgerte  aus  sandkornähnlichen  Eindrücken,  die  sich  an  Diamanten 
dann  und  wann  finden,  derselbe  müsse  ursprünglich  weich  gewesen 


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sein,  und  ferner  glaubte  dieser  Forscher  aus  manchen  vereinzelt  auf- 
tretenden „algenartigen“  Einschlüssen  den  vegetabilischen  Ursprung 
dieses  Minerals  erwiesen  zu  haben.  Göppert  spricht  sich  in  einer  1868 
erschienenen  Abhandlung  klar  dahin  aus,  dafs  von  ihm  die  „Bildung 
des  Diamanten  auf  nassem  Wege,  aus  Zersetzungs- Prozessen  anorga- 
nischer und  organischer  Stoffe“  nachgewiesen  sei.  Der  Diamant  soll 
sich  anfänglich  in  einem  weichen  amorphen  Zustande  befunden  haben. 
Aus  dieser  Bildungsepoohe  stamme  der  Ursprung  der  von  Brewster 
und  von  Göppert  selbst  beobachteten  Spalten  und  Blasen,  ferner  die 
sandkornähnlichen  Hohldriicke  auf  der  Oberfläche  einiger  Diamanten, 
sowie  die  negativen  Krystallformen  oder  Eindrücke  auf  anderen  Dia- 
mantkrystallen.  Weiter  führt  Göppert  als  Beweis  für  die  ursprüng- 
liche Weichheit  der  Diamanten  von  ihm  nachgewiesene  „Diamant- 
drusenbildung“ an;  die  unklare  Beschreibung  derselben  verhindert 
aber,  zu  erkennen,  was  eigentlich  darunter  zu  verstehen  ist.  Aus 
dem  amorphen  Zustande  soll  sich  dann  der  Diamant  allmählich  er- 
härtend krystallinisch  abgesondert  haben.  Bei  der  Abscheidung  der 
weichen  Diamantmasse  konnten  nun,  wie  Göppert  meint,  sehr  leicht 
Pflanzenreste  verschiedener  Art  in  dieselbe  hineingerathen  und  später 
von  den  inzwischen  gebildeten  Krystallen  eingeschlossen  werden. 
So  soll  einst  in  die  Diamanten  pflanzliches  Gewebe,  welches  jetzt 
noch  in  denselben  vorhanden  und  nachzu weisen  sei,  hineingelangt 
sein.  In  einem  Diamantkrystall  fand  Göppert  z.  B.  eine  sehr  grofse 
Zahl  von  exakt  runden , gleichmäfsig  grüngefärbten  Körnchen  von 
0,0135  mm  Gröfse,  in  einem  andern  ebenfalls  grüne,  weniger  rund- 
liche Körnchen,  die  oft  kettenartig  aneinander  hingen  eto.  Er  bezeichnet 
diese  Bildungen  als  „Algenformen“  resp.  „niederen  Algen  verwandte 
Formen“  und  meint,  dafs,  wenn  auch  nicht  überall  der  bestimmte  Ab- 
schlufs  der  Form  so  entschieden  hervortrete,  man  sich  darüber  bei  der 
unendlich  weichen  Struktur  dieser  mikroskopischen  Pflänzchen  gar 
nicht  wundern  dürfe.  Beistehende,  aus  der  diesbezüglichen  Abhand- 
lung von  Göppert  entnommene  Abbildung  (Fig.  3)  giebt  eine  solche 
von  ihm  im  Diamant  beobachtete  „Algenform“  (bei  300facher  Ver- 
gröfserung)  wieder. 

Nach  dem  heutigen  Stande  unserer  Kenntnisse  über  den  Diamant 
ist  die  Göppert  sehe  Deutung  dieser  Einschlüsse  als  organische  Ge- 
bilde eine  irrthümliche  zu  nennen.  Grüngefärbte  Einschlüsse  oder 
Partieen  sind  in  Diamanten  öfters  wahrgenommen.  So  beobachtete 
Luzi  in  einem  aus  Brasilien  stammenden  Krystalle  griingefärbte 
Stellen,  welche  sich  bei  starker  Vergröfserung  als  nicht  weiter  auf- 


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lösbare,  grüne,  wolkige  Partieen  ohne  irgend  eine  bestimmte  Form 
oder  Umgrenzung  erwiesen.  Die  übrigen  Argumente,  welche  Göppert 
für  den  ehemals  weichen  und  amorphen  Zustand  des  Diamanten  und 
für  die  Bildung  desselben  auf  nassem  Wege  beibringt,  sind  ebenfalls 
nicht  beweisend,  da  die  diesbezüglichen  Erscheinungen  auch  anders 
gedeutet  werden  können. 

Eine  der  eben  erläuterten  ganz  entgegengesetzte  Ansicht  über 
die  Entstehung  des  Diamanten  hat  Göbel  ausgesprochen.  Derselbe 
glaubt,  dafs  bei  hohen  Temperaturen  Alkalimetalle  auf  kohlensaure 
Salze  eingewirkt  und  diese  reduzirt  haben,  wobei  Diamantkohlenstoff 
ausgeschieden  worden  sei.  Diese  Hypothese  hat  auch  nicht  die  Spur  von 


Fig.  3. 


Wahrscheinlichkeit  für  sich.  Erstens  ist  die  Annahme  des  Vorhanden- 
seins freier  Alkalimetalle  in  der  Natur  gänzlioh  unzulässig  und  zweitens 
wissen  wir,  dafs,  wenn  man  diese  Metalle  mit  kohlensauren  Salzen 
in  Reaktion  bringt,  aus  letzteren  gewöhnlicher  schwarzer  amorpher 
Kohlenstoff  ausgeschieden  wird.  Nach  der  Annahme  von  Favre  ist 
der  Diamant  aus  Chlorverbindungen  des  Kohlenstoffes  reduzirt  worden; 
Rossi  und  Chancourtois  glauben,  dafs  er  aus  Kohlenwasserstoffen 
durch  einen  langsamen  Oxydationzprozefs  entstand,  bei  welchem  sich 
der  Wasserstoff  und  ein  Theil  des  Kohlenstoffes  oxydirten,  während 
der  übrige  Kohlenstoff  als  Diamant  krystallisirte.  Simmler  spraoh 
die  Vermuthung  aus,  er  möge  durch  Krystallisation  des  Kohlenstoffes 
aus  seiner  Lösung  in  flüssiger  Kohlensäure  sich  gebildet  haben,  ohne 
aber  nachzuweisen,  ob  der  Kohlenstoff  überhaupt  in  flüssiger  Kohlen- 
säure löslich  ist.  Nach  Griff iths  soll  der  Diamant  aus  einer  Lösung 
in  überhitztem  VTasser  unter  hohem  Drucke  entstanden  sein.  Nun  ist 


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aber  gerade  der  Kohlenstoff  ein  in  Wasser  vollkommen  unlöslicher 
Körper,  und  es  liegt  auch  kein  Anzeichen  vor,  dafs  er  in  überhitztem 
Wasser  irgendwie  löslich  sei.  R.  Smit  glaubt,  dafs  die  in  dem  süd- 
afrikanischen Diamantgestein  vorhandenen  Diamanten  während  oder 
nach  dessen  Eruption  unter  der  Einwirkung  hoher  Temperatur  und 
starken  Druckes  aus  organischer  Substanz  entstanden  sind.  Nach 
A.  Knop  kann  sich  der  Diamant  vielleicht  auf  folgende  Weise  ge- 
bildet haben.  Es  wirkt  im  Innern  der  Erde  Wasser  auf  kohlenstoff- 
haltiges Eisen  ein,  wobei  Eisenoxydul  und  Kohlenwasserstoffe  ent- 
stehen. Die  letzteren  können  dann  vielleicht  Zersetzung  in  der  Weise 
erleiden,  dafs  sich  dabei  Kohlenstoff  in  Form  von  Diamant  abscheidet 

Der  französische  Mineraloge  Friedei  ist  (oder  war  wenigstens 
noch  vor  einigen  Jahren)  der  Ansioht,  dafs  der  Diamant  sioh  nioht  bei 
sehr  hohen  Temperaturen  gebildet  haben  kann.  Er  fand  nämlich,  dafs 
die  vorhin  erwähnten  grüngefärbten  Partieen,  welche  man  zuweilen  in 
brasilianischen  Diamanten  beobachtet,  bei  der  Temperatur  des  siedenden 
Cadmiums  braun  werden,  und  kam  daher  zu  dem  Schlüsse,  dafs  die- 
selben bei  einer  Temperatur  entstanden  sein  müssen,  welche  unterhalb 
der  des  siedenden  Cadmiums  (d.  i.  unterhalb  772°  C.)  liegt.  Dem  ist 
aber  zu  entgegnen,  dafs  die  grüne  Materie  sich  ja  auch  erst  nach 
längst  erfolgter  Abkühlung  der  bei  irgend  einer  hohen  Temperatur 
entstandenen  Diamanten  in  denselben  gebildet  haben  (oder  vielleicht 
auch  in  dieselben  hineingelangt  sein)  kann,  und  dafs  ferner  nicht 
ausgeschlossen  sein  dürfte,  dafs  die  infolge  Erhitzens  der  Diamanten 
über  772°  C.  braun  gewordenen  Partieen  im  Laufe  gröfserer  Zeit- 
räume — durch  Oxydation  oder  Wasseraufnahme  — wieder  ihre 
grüne  Farbe  annehmen.  — Uebrigens  ist  jüngst  auf  künstlichem  Wege 
Diamantkohlenstoff,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  gerade  mit  Hülfe 
sehr  hoher  Temperatur  hergestellt  worden. 

Es  sind  nun  auch  zahlreiche  Versuche  gemacht  worden  und 
werden  jetzt  noch  gemacht,  den  Diamanten  künstlich  herzustelleu. 
Die  in  unseren  Tagen  dieses  Problem  bearbeitenden  Forscher  haben 
ihre  Bemühungen  allerdings  meist  geheim  gehalten.  Verfasser  hat 
aber  von  mehreren  Mineralogen  erfahren,  dafs  sie  sich  mit  Experi- 
menten zur  Diamantherstellung  befassen. 

Oft  ist  es  vorgekommen,  dafs  dieser  oder  jener  behauptete,  den 
Diamanten  wirklich  hergestellt  zu  haben;  indessen  hat  es  sich  hinterher 
in  der  Regel  bald  herausgestellt,  dafs  die  betreffende  Angabe  auf 
Irrthum  beruhte.  So  wurde  von  Lionnet  mitgetheilt,  dafs  er  Kohlen- 
stoff in  Form  von  Diamant  erhalten  habe,  als  er  Schwefelkohlenstoff 


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dadurch  zersetzte,  dafs  er  ihn  mit  einem  spiralförmig  mit  Zinnfolie 
umwickelten  Platinblech  zusammenbrachte.  Auf  andere  Weise  wollte 
Despretz  künstliche  diamantartige  Krystalle  von  Kohlenstoff  hergestellt 
haben.  Im  luftleeren  Raume  wurde  zwischen  einem  aus  reiner  Zucker- 
kohle gefertigten  Zylinder  und  einem  Büschel  aus  Platindrähten  etwa 
30  Tage  lang  ein  durch  einen  Induktionsstrora  hervorgebrachter  elek- 
trischer Lichtbogen  unterhalten.  Darnach  zeigte  sich  an  den  Platin- 
drähten ein  Absatz  von  Kohle,  welcher  unter  dem  Mikroskop  stellen- 
weise krystalline  Beschaffenheit  wie  durchscheinende  Oktaederfrag- 
mente erkennen  liefs.  Künstliche  Diamanten,  welche  Mactear  her- 
gestellt haben  wollte,  zeigten  sich,  wie  bald  darauf  von  N.  St.  Mas- 
kelyno  nachgewiesen  wurde,  als  aus  irgend  welchen  Silikaten  be- 
stehend. Schliefsüch  möge  die  sich  jetzt  noch  in  Lehrbüchern  herum- 
treibende Angabe  von  J.  B.  Hannay  erwähnt  werden.  Derselbe 
wollte  durch  Einwirkung  gewisser  Metalle,  besonders  von  Magnesium, 
auf  Kohlenwasserstoffe  bei  Gegenwart  beständiger  Stickstoffverbindun- 
gen in  der  Rotbgluth  und  unter  hohem  Drucke  Kohlenstoff  in  Form 
von  Diamant  sicher  erhalten  haben.  Indessen  lag  auch  hier  ein  Irr- 
thum vor.  Einer  der  besten  Kenner  der  synthetischen  Mineralogie, 
Bourgeois,  schreibt  in  seinem  mehrere  Jahre  später  erschienenen 
Werke  „Reproduction  artificielle  des  minöraux“  über  diesen  Gegen- 
stand: „Nous  citons  ici  cette  espeoe  (nämlich  den  Diamant)  seulement 
pour  mömoire;  eile  n'a  jamais  etö  reproduite  merae  ä l’ötat  submicro- 
scopique  et  les  conditions  de  sa  formation  sont  absolument  inconnues. 
Nous  n'aurons  donc  ä enregistrer  que  des  essais  infructueux.“  „Tout 
recemment  M.  M.  Mactear  et  Hannay  ont  annonce,  dans  les  Comptes 
rendus  de  l’Academie  des  Sciences,  avoir  obtenu  des  produits  cristallins 
identiques  au  diamant  en  döcomposant  des  substances  organiques  en 
vase  clos  ä haute  tempörature;  l’examen  ultörieur  n’a  pas  confirme  les 
previsions  de  ces  experimentateurs.1- 

Ganz  neuerdings  ist  nun  die  Nachricht  aus  Paris  gekommen, 
dafs  es  in  der  That  gelungen  sei,  den  Diamant  künstlich  herzustellen, 
und  zwar  beschreibt  Moissan  in  den  Comptes  rendus  hebdomadaires 
des  söances  de  l’academie  des  Sciences  vom  6.  Februar  dieses  Jahres 
eine  Darstellung  von  Diamant-Kohlenstoff. 

Das  Prinzip  der  Methode  ist,  Eisen  bei  sehr  hohen  Temperaturen 
(bis  3000°)  mit  Kohle  zu  sättigen  und  hierauf  die  Erkaltung  unter 
Druck  vor  sich  gehen  zu  lassen.  Zur  Erzeugung  desselben  benutzte 
Moissan  die  Ausdehnung,  welche  das  Gufseisen  beim  Ueber- 
gange  aus  dem  flüssigen  in  den  festen  Zustand  erfährt  In  einen 


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457 


Zylinder  aus  weichem  Eisen,  verschliersbnr  durch  einen  Stopfen  aus 
demselben  Materiale,  wurde  gereinigte  Zuckerkohle  stark  eingeprefst. 
Hierauf  wurde  der  Zylinder  in  (bei  sehr  hohen  Temperaturen  in  einem 
von  Moissan  konstruirten  elektrischen  Ofen)  geschmolzenes  weiches 
Eisen  eingebracht  und  nun  der  das  Ganze  enthaltende  Tiegel  aus 
dem  Ofen  entfernt  und  sofort  in  Wasser  eingetaucht.  Wenn  sich,  was 
sehr  schnell  erfolgte,  eine  feste,  noch  rothglühende  Umhiillungssohioht 
gebildet  hatte,  brachte  man  das  Eisen  wieder  aus  dem  Wasser  heraus 
und  liefe  es  an  der  Luft  völlig  erkalten.  Beim  Lösen  des  Metalles  in 
siedender  Salzsäure  hinterblieb  etwas  Graphit,  eine  sehr  dünne  Par- 
tikelchen bildende  kastanienbraune  Kohle  und  endlich  eine  geringe 
Menge  einer  ziemlich  dichten  Kohle.  Aus  der  letzteren  liefeen  sich 
durch  vielfaches  Behandeln  mit  Königswasser,  Schwefelsäure,  Flufs- 


säure,  chlorsaurem  Kali  und  konzentrirter  Salpetersäure  und  schliefe- 
licher  Trennung  vermittelst  Bromoform  einige  sehr  kleine,  theils 
schwarze,  theils  durchsichtige  Fragmente  mit  den  Eigenschaften  des 
Diamanten  abscheiden.  Um  dem  Leser  einen  Begriff  von  der  ge- 
ringen Gröfee  dieser  künstlich  hergestellten  Diamanten  zu  geben, 
mögen  beistehende,  aus  der  M oissanschen  Abhandlung  entnommene 
Abbildungen  dienen.  Fig.  4 stellt  200mal  vergrüfeerte,  schwarze  Dia- 
manten dar.  Dieselben  besitzen  eine  narbige  Oberfläche  und  „une 
teinte  d’un  noir  gris“,  welche  mit  derjenigen  gewisser  Carbonados 
identisch  ist;  sie  ritzen  Rubin,  und  ihr  spezifisches  Gewicht  schwankt 
zwischen  3 und  3,5. 

Fig.  5 stellt  eins  der  erhaltenen  lichtdurohlässigen  Diamantfrag- 
mente, 500  mal  vergröfeert,  dar.  Dieselben  scheinen  zerbrochen  und 
weisen  eine  Anzahl  paralleler  Streifen  auf;  manchmal  zeigen  sie  auch 
.dreieckige"  Eindrücke. 

Bei  den  vielen  Versuchen,  die  Moissan,  dieser  geniale  Experi- 
mentator, angestellt  hat,  entstand  nun  zwar  immer  eine  sehr  harte, 
schwarze  -Kohlevarietät"  von  annähernd  dem  spez.  Gew.  3,  aber  dafs 


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sich  auch  sehr  kleine  durchsichtige  Krystallpartikelchen  mit  allen 
Eigenschaften  des  Diamanten  gebildet  hatten,  kam  nur  einige  Mal  vor. 
— Es  sind  diese  künstlichen,  durch  Auskrystallisiren  aus  Eisen  ge- 
wonnenen Diamanten  in  ihren  Eigenschaften  offenbar  identisch  mit 
den  Diamanten,  welche  man  bislang  in  Meteoreisen  fand.  Die  künst- 
lichen, ebenso  wie  die  meteorischen,  sind  fast  stets  schwarz  und  un- 
durchsichtig, nur  selten  findet  man  einmal  ein  durchsichtiges  Fragment; 
ferner  sind  die  Diamantpartikelchen  in  beiden  Fällen  sehr  klein. 


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Die  physische  Beschaffenheit  des  Planeten  Mars  nach 
dem  Zeugnifs  seiner  hervorragendsten  Beobachter. 

Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 

C.  (Fortsetzung.) 

rl 

c , In  dem  Kapitel  über  die  Jahreszeiten  werden  sämtliche  Beob- 
, achtungen,  welche  über  die  Ausdehnung  und  Lage  der  weifseu 

Polarflecke  seit  Herschel  (1781)  gemacht  worden  sind,  sorgfältig 
zusammengestellt. 

Hier  gelangt  der  Verfasser  in  Bezug  auf  die  Jahreszeiten  dos 
Mars  zu  folgenden  Schlüssen: 

„Die  Jahreszeiten  des  Mars  sind  ungefähr  ebenso  intensiv  wie 
die  unsrigen,  dagegen  nahezu  noch  einmal  so  lang.  Die  wanne  .Jahres- 
zeit umfafst  auf  der  nördlichen  Halbkugel  381  Tage,  auf  der  südlichen 
hat  die  kalte  Jahreszeit  dieselbe  Dauer.  Auf  der  nördlichen  Halb- 
kugel dauert  die  kalte  Jahreszeit  306  Tage,  auf  der  südlichen  hat  die 
heifse  Jahreszeit  dieselbe  Länge.  Jede  Halbkugel  erhält  während 
ihres  Sommers  68  Hundertstel  der  gesamten  jährlichen  Wärmezufuhr, 
im  Winter  37  Hundertstel.  Die  Jahreszeiten  der  südlichen  Halbkugel 
sind  also  extremer  als  die  der  nördlichen. 

„Die  polaren  Schneegebiete  des  Planeten  verändern  sich  mit  den 
Jahreszeiten;  sie  erreichen  ihr  Maximum  drei  bis  sechs  Monate  nach 
dem  Wintersolstiz  jeder  Halbkugel  und  schrumpfen  auf  ihr  Minimum 
zusammen  ebenfalls  drei  bis  sechs  Monate  nach  dem  Sommersolstiz. 
Ebenso  wie  auf  der  Erde  ist  dies  in  den  verschiedenen  Jahren  ver- 
schieden. Auf  beiden  Halbkugeln  scheint  das  polare  Schneegebiet 
im  Winter  einen  Durohmesser  von  45 — 50°  zu  erreichen  und  sich  im 
Sommer  auf  4 — 5°  zu  reduzireu. 


„ Au  feer  diesen  polaren  Eisfeldern  sind  gelegentliche  Sohneefäile 
auch  in  den  temperirten  Zonen  und  selbst  am  Aequator  beobachtet 
worden.  Auf  der  nördlichen  Halbkugel  hat  man  (helle)  spiralförmige 
Banden,  vom  Pol  ausgehend,  gesehen,  welche  atmosphärische  Strö- 
mungen andeuten , die  von  der  Rotationsbewegung  des  Mars  beein- 


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460 


flutet  werden.  (Wir  fügen  eine  Zeichnung  dieser  merkwürdigen 
Streifenbildungen,  von  Schiaparelli  herrührend,  nebenstehend  bei.) 

„Die  nördliche  Polarkalotte  scheint  mit  dem  Pol  konzentrisch  zu 
sein;  die  südliohe  ist  von  ihrem  Pol  6,4°  = 340  km  in  der  Richtung 
des  30.  Meridians  entfernt.  Zur  Zeit  ihres  Minimums  ist  also  der 
Südpol  völlig  eisfrei,  das  Polarmeer  ist  offen.“ 

Flammarion  kommt  nun  auf  die  veraltete  Crollsche  Theorie 
von  dem  Einflufe  der  Exzentrizität  der  Hahn  und  von  der  Bewegung 
der  Apsidenlinien  zurück  und  zeigt,  dafe  sie  durch  die  Beobach- 
tungen auf  dem  Mars  nicht  bestätigt  wird.  Er  fährt  dann  fort: 

„Die  Winterkälte  auf  dem  Südpol  des  Mars  mute  viel  gröteer 
sein  als  die  entsprechende  auf  unserer  Erde.  Die  Polarnacht  ist  fast 
noch  einmal  so  lang  als  die  unsrige,  sie  dauert  338  Tage  statt  182, 
und  die  Luft  ist  dort  zweifellos  nur  halb  so  dicht  wie  die  unsrige; 
dennoch  ist  wenige  Monate  nach  dem  Sommersolstiz  aller  Schnee  ge- 
schmolzen. Diese  Erscheinung  kann  für  den  Südpol  dadurch  erklärt 
werden,  dafe  ihn  warme  Meeresströmungen,  unserem  Golfstrom  ver- 
gleichbar, bespülen.  Aber  diese  selbe  Erklärung  trifft  für  den  Nordpol 
nicht  zu,  weil  er  keine  ausgedehnten  Meere  besitzt.  Wir  dürfen  des- 
halb wohl  annehmen,  dafe  auf  dem  Mars  weniger  Wasser  und  weniger 
Wasserdampf  existirt  als  auf  der  Erde,  also  auch  weniger  Wolken 
und  geringere  Schneefiille,  so  dafe  die  Dicke  der  Eissohicht  viel 
geringer  ist  als  bei  uns.  Vielleicht  auch  ist  der  gegen  den  unsrigen 
um  das  Doppelte  längere  Sommer  leicht  im  stände,  allen  Schnee  zu 
schmcdzen.  Für  die  Bildung  des  Schnees  giebt  es  Grenzen,  während 
die  Sonne  beinahe  ein  ganzes  terrestrisches  Jahr  hindurch  über  dem 
Horizonte  jedes  Poles  verweilt. 

„Zusammenfassend  ist  zu  wiederholen,  dafe  aus  allen  Beob- 
achtungen die  klimatologisohe  Aehnlichkeit  mit  der  Erde  ins  Auge 
sprängt:  Das  Studium  des  Planeten  Mars  wirft  dadurch  ganz  eigen- 
thümliche  Lichter  auf  die  allgemeine  Kenntnifö  unseres  eigenen 
Planeten.“ 

Im  siebenten  Kapitel  seines  Werkes  behandelt  Flammarion 
die  schwierige  Frage  von  den  beobachteten  Veränderungen  auf  der 
Oberfläche  des  Mars.  Er  stellt  zunächst  eine  Anzahl  von  Zeichnungen 
neben  einander,  die  zu  gleicher  Zeit  von  verschiedenen  Beobachtern 
an  verschiedenen  Orten  ausgeführt  worden  sind.  Zwei  derselben, 
beide  von  vortrefflichen  Beobachtern,  Secchi  und  Lockyer,  her- 
rührend, mögen'  auch  hier  neben  einander  Platz  finden.  Sie  zeigen,  wie 
vorsichtig  man  über  die  reello  Natur  der  beobachteten  Veränderungen 


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401 


Schlüsse  ziehen  mufs.  Ks  ist,  wie  Flammarion  zusammenstellt,  zu 
berücksichtigen: 


Weifte  Streifes  auf  der  nördlichen  Halbkugel  des  Mars. 

(Zeichnung  von  Schiaparolli  aus  den  Jahren  1879  und  1881.) 

1.  Das  Auge  des  Beobachters; 

2.  seine  Beobachlungsart; 

3.  die  richtige  Deutung  des  von  ihm  Gezeichneten ; 

4.  die  instrumentelle  Verschiedenheit; 

5.  die  atmosphärischen  Bedingungen,  die  Stunde  der  Beob- 
achtung; 

6.  die  Veränderungen  der  Neigung  des  Mars; 

7.  die  Atmosphäre  des  Mars. 

Nichtsdestoweniger  sind,  wie  auch  schon  oben  angeführt,  wirk- 
liche Veränderungen  unzweifelhaft  konstatirt;  so  beispielsweise  in 
der  Umgebung  des  Moeris-Sees,  von  welcher  wir  drei  Zeichnungen 

Himmel  und  Erde.  1893.  V.  10.  31 


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462 


von  1864,  1879  und  1888  neben  einander  stellen,  die  erste  von 
Dawes,  die  beiden  anderen  von  Schiaparelli.  Die  Umgebung 
dieses  Moeris-Sees  hat  Schiaparelli  Libya  getauft;  derselbe  hat 
von  den  beobachteten  Veränderungen  dieser  (legend  in  dem  früher 
angezogenen  Artikel  (Himmel  und  Erde,  Hand  I.,  Seite  11  u.  ff.)  ge- 
sprochen. Unzweifelhafte  Veränderungen  sind  auch  in  dem  merk- 
würdigen Sonnensee  (Lacus  Solis)  gesehen  worden,  der  ein  ver- 
hältnifsmäfsig  auffallendes  Objekt  und  sehr  viel  beobachtet  worden  ist, 
so  dafs  seine,  1890  beobachtete  Zweitheilung  sicher  vorher  wahrge- 
nommen worden  wäre,  wenn  sie  eben  existirt  hätte. 


Marneichnuog  v.  Üecchi  (19.  Okt.  1S62).  Mtrueichnung  v.  Lockyer(18.  Oct  1961). 
7 h 33  m Pariser  Zeit.  8 h 9 m. 


Flammarion  giebt  folgende  Erklärung  der  Thatsache: 

.Die  einfachste  Hypothese  würde  sein,  sich  vorzustellen,  dafs 
die  Oberfläche  des  Mars  eben  und  sandig  sei,  so  dafs  die  Seen  und 
Kanäle  keine  eigentlichen  Betten  besitzen,  sehr  wenig  tief  sind  und 
deshalb,  je  nach  den  atmosphärischen  Bedingungen,  Regenschauern, 
Fluthbewegungen  der  Meere,  sich  leicht  zurückziehen,  verbrei- 
tern, aus  ihren  Ufern  treten  oder  selbst  ihren  ganzen  Lauf  ändern 
können.  Die  Atmosphäre  kann  dünn,  die  Verdunstung  und  Konden- 
sation des  Wassers  leicht  sein.  Wir  würden  dann  also  Zeugen  mehr 
oder  weniger  ausgedehnter  Ueberschwemmungen  von  wechselnder 
Dauer  seiu.  So  könnte  man  die  Zweithoilung  des  Sonnensees  beispiels- 
weise einer  Verminderung  oder  Verschiebung  seines  Niveaus  zu- 
schreiben; jene  Trennungslinie  wäre  dann  als  eine  Sandbank  aufzu- 
fassen, die  aus  dem  Wasser  emportaucht. 

„Diese  Erklärung  trägt  einem  Theil  der  beobachteten  Thatsachen 


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463 


Rechnung:,  aber  sie  genügt  nicht  für  den  speziellen  Charakter  dieser 
Erscheinungen,  für  die  Verdoppelung. 

„Es  scheint  nicht,  dafs  während  dieser  Zeit  weniger  Wasser  vor- 
handen ist,  denn  die  Abflüsse  des  Sees  werden  zahlreicher,  und  der  links 
(vom  Lacus  Solis)  befindliche  Abllufs  hat  die  Länge  eines  Meeresarms. 

„Ist  es  eine  Wasserbewegung  wie  die  unserer  Gezeiten?  Dann 
müfste  sie  periodisch  sein,  könnte  nur  Stunden  dauern  und  nicht 
ganze  Jahreszeiten  charakterisiren. 

„Müssen  wir  nicht  vielmehr  annehmen,  dafs  die  Sandbank  sich 
über  die  Wasserfläche  erhoben  hat,  und  dafs  ganz  im  allgemeinen 
die  Wasserbewegungen  auf  Erhebungen  des  Erdbodens  zurückzu- 
führen sind? 

„Diese  Deutung  ist  wohl  schwer  zu  acceptiren,  zunächst,  weil 
solche  geringe  Stabilität  des  Erdbodens  etwas  ganz  Aufsergewöhn- 


1880 

Xoeris-Soe  vom  Jahre  1864  (Dawes),  vom  Jahre  1879  und  1888  (Schiaparelli). 


liches  wäre,  und  dann,  weil  diese  Aufblähungen  des  Bodens  ja  im  all- 
gemeinen geradlinig  sein  müfsten.  Endlich  tritt  nach  mehreren  Jahren 
derselbe  Zustand  wieder  ein,  wie  man  ihn  vorher  gesehen  hat;  und 
dann  erklären  solche  Wasserverschiebungen  immer  noch  nicht  die 
Hauptsache,  das  Charakteristische  für  solche  Veränderungen  auf  dem 
Mars,  eben  die  Tendenz  der  Verdoppelung. 

„Wir  müssen  uns  gestehen,  dafs  es  aufserordentlich  schwierig, 
um  nicht  zu  sagen  unmöglich  ist,  diese  Veränderungen  durch  Natur- 
kräfte zu  erklären,  welche  wir  kennen.  Aber  es  ist  hier  vielleicht 
der  Ort,  zu  betonen,  dafs  wir  eben  noch  längst  nicht  alle  Naturkräfte 
kennen,  und  dafs  diese  selbst  in  unserer  nächsten  Nähe  oft  völlig 
unbekannt  bleiben.  Die  Bewohner  der  Tropen,  welche  im  Winter 
zum  ersten  Male  nach  Paris  kommen,  und  die  niemals  Bäume  ohne 
Blätter,  niemals  Sohnee  gesehen  haben,  sind  verblüfft  über  unser 
Klima.  Es  scheint  ihnen  zum  äufsersten  seltsam,  festes  Wasser  in 
ihren  Händen  halten  zu  können,  sie  wundern  sich  über  die  blendende 

31* 


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404 


Weifse  des  Schnees,  und  sie  zweifeln  ganz  gewifs  daran,  dafs  diese 
schwarzen  Baumskelette  nach  wenigen  Monaten  mit  einem  reichen 
Blätterschmucke  bedeckt  sein  werden.  Stellen  wir  uns  einmal  einen 
Bewohner  der  Venus  vor,  der  niemals  Schnee  gesehen  hat;  würde  er 
wohl,  die  Erde  beobachtend,  jemals  verstehen  können,  was  diese  weifsen 
Flecke  bedeuten,  die  unsere  Pole  bedecken?  Ganz  gewifs  nicht!  Wir 
Bewohner  der  Erde  aber  können  dies  beim  Mars.  Dagegen  können 
wir  uns  nicht  erklären  die  Veränderungen  der  Uferlinien,  die  Wasser- 
bewegungen, die  geradlinigen  Kanäle  und  ihre  Verdoppelungen, 
weil  wir  bei  uns  nichts  Analoges  kennen.“ 

Das  letzte  Kapitel  des  grofsen  Werkes  von  Flammarion  be- 
handelt noch  einmal  im  speziellen  „die  Kanäle,  die  Flüsse,  das 
geometrische  Netz  der  Kontinente,  die  Wasserzirkulation.“  Er  kommt 
dabei  zu  folgenden  Schlüssen: 

„Die  Dinge  gehen  dort  so  zu,  als  ob  das  Wasser  nicht  voll- 
ständig flüssig  und  nicht  durch  die  Schwere  in  unveränderlichen 
Becken  festgehalten  würde,  als  ob  vielmehr  seine  Moleküle  getrennt 
wären,  eine  Art  von  dunstiger,  viscoser  Flüssigkeit  bildend,  die, 
schwerer  als  die  Luft,  anderen  Kräften  als  der  Schwere  unterworfen 
ist.  Stellen  wir  uns  einmal  vor,  dafs  diese  Moleküle  zwar  das  Bestre- 
ben, sich  gegenseitig  zu  nähern,  haben,  aber  gleichzeitig  anderen  Ein- 
flüssen gehorchen  müssen,  wie  zum  Beispiel  der  Elektrizität,  dem  plane- 
tarischen Magnetismus  oder  anderen  unbekannten  Kräften.  Dieses 
Wasser,  das  vielleicht  inmitten  der  Meeresbecken  flüssig  ist,  dagegen 
an  den  Ufern  und  über  den  Untiefen,  ebenso  längs  der  Flüsse  oder 
Kanäle  sich  im  Dampfzustände  oder  dem  eines  dichten  Gases  be- 
findet, kann  sich  ausdehnen  oder  zusammenziehen,  je  nach  den  atmo- 
sphärischen Bedingungen,  seinem  Wärme-  oder  Elektrizitätsgehalto, 
ohne  bestimmte  Grenzen  zu  haben.  Diese  Züge  von  Dampfmassen 
zeigen  dann  ein  veränderliches  Aussehen,  veränderliche  Breite  und 
Dichtigkeit.  Wenn  unter  gewissen  Bedingungen  die  Moleküle  elek- 
trisch werden,  können  sie  sich  abstofsen,  wie  sich  die  verschiedenen 
Elektrizitäten  trennen,  und  dadurch  die  beoachteten  Verdoppelungen 
zeigen.  Diese  Kanäle,  diese  Seen,  diese  Wasseransammlungen  können 
ihren  Platz  ändern,  sie  werden  gewissermafsen  zu  dichten  Nebeln, 
welche  leicht  den  auf  sie  wirkenden  Kräften  gehorchen:  Dem  Ein- 
flufs  der  nahen  Meere,  der  Feuchtigkeit  des  Bodens,  dem  hygrome- 
trischen  Zustande  der  Luft,  der  Temperatur,  der  Elektrizität  u.  s.  w. 

„Man  mufs  dann  allerdings  eine  sehr  ruhige  Atmosphäre  voraus- 
setzen, und  es  scheint,  dafs  dies  für  den  Mars  zutriffl. 


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465 


„Eine  solche  Hypothese  würde  die  Veränderungen  des  Aus- 
sehens und  der  Farbe,  die  Verdoppelungen,  das  Verschwinden  und 
Wiedererscheinen  mit  den  Jahreszeiten  und  alle  die  anderen  un- 
zähligen Veränderungen  dos  Aussehens  erklären,  für  welche  eine 
Deutung  bei  Annahme  eines  dom  unsrigen  ganz  gleichen  Wassers 
jedenfalls  sehr  schwierig  wäre. 

„Das  Wasser  kann  weder  chemisoh  noch  physisch  dasselbe  sein 
wie  bei  uns;  dagegen  wird  es  in  vielen  Punkten  ihm  ähnlich  sein, 
was  aus  dem  Aussehen  des  Schnees  hervorgeht,  der  zerschmilzt  und 
sich  unter  der  Wirkung  der  Sonnenwärme  verflüchtigt,  wie  wir  es 
auf  der  Erde  beobachten.  Diese  Aehnlichkeit  wird  noch  durch  die 
Absorptionsbanden  im  Spektrum  der  Marsatmosphäre  erhöht,  die  mit 
denen  des  irdischen  Wasserdampfes  übereinstimmen. 

„Es  ist  möglich,  dafs  anstatt  des  Chlornatriums,  wolohes  sich  in 
unseren  Meeren  mit  dem  Wasserstoff  und  Sauerstoff  gemischt  hat,  dort 
eine  ganz  andere  Kombination  von  Elementen  auftritt. 

„Die  Dichtigkeit  des  Wassers  ist  ferner  eine  andere  wie  hier. 
1 cbm  irdischen  Wassers  wiegt  1000  kg;  1 cbm  Wasser  auf  dem  Mars 
hat  das  Gewicht  von  711  kg  unter  der  Voraussetzung,  dafs  dio 
Dichtigkeit  dieses  Wassers  der  mittleren  Dichtigkeit  des  Planeten  pro- 
portional sei.  Wenn  das  Marswasser  dieselbe  absolute  Dichtigkeit 
wie  das  unsere  hätte,  so  würden  die  dasselbe  zusammensotzenden 
Materialien  eine  spezifische  Schwere  von  3.91  statt  5.50  haben.  An- 
dererseits aber  ist  die  Verschiedenheit  der  Schwere  noch  viel  gröfser, 
weil  1000  irdische  Kilogramm,  auf  die  Oberfläche  des  Mars  transportirt, 
nur  noch  376  kg  wiegen  würden. 

„Die  Bedingungen  sind  dort  also  völlig  verschieden  von  den 
unsrigen,  und  ebenso  ist  es  mit  der  Atmosphäre,  deren  Druck  eine  so 
wichtige  Rollo  für  den  Kreislauf  des  Wassers  spielt.  Wenn  die  irdische 
Atmosphäre  verschwände,  so  würde  sich  sofort  das  Wasser  der  Meere 
verflüchtigen,  um  eine  neue  wässrige  Atmosphäre  zu  bilden,  bis  deren 
Druok  wieder  grofs  genug  wäre,  um  den  Rest  des  Wassers  flüssig  zu 
erhalten.  Wenn  nun  weiter  und  weiter  dieses  Wasser  verschwinden 
würde,  so  müfsten  die  Meere  vollständig  austrocknen. 

„Wenn  Mars  dieselbe  Atmosphäre  hätte  wie  die  Erde,  so  würde 
sie  doch  viel  weniger  dicht  sein  als  die  unserige  und  zwar  im 
Verhältnis  von  375  zu  1000.  Der  Barometer  würde,  statt  760  mm  am 
Meeresspiegel  zu  zeigen,  sich  auf  286  einstellen,  welchen  Druck  der  Ba- 
rometer auf  unseren  höchsten  Bergspitzen  bei  8000  m Höhe  anzeigt 


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466 

Wir  würden  uns  also  selbst  am  Meeresniveau  eine  sehr  verdünnte  Luft- 
schicht vorzustellen  haben,  und  es  scheint,  dafs  dies  der  Fall  ist. 

„Dieselbe  kann  aber  Substanzen,  Gase,  Dämpfe  enthalten,  die  bei 
uns  nicht  Vorkommen. 

„Verhehlen  wir  es  uns  jedoch  nicht,  dafs  die  gröfste  Schwierig- 
keit bestehen  bleibt:  das  geradlinige,  geometrische  Netz  der  Oberfläche 
scheint  nicht  natürlich.  Je  mehr  wir  diese  Gestaltungen  anschauen, 
je  weniger  scheint  es  uns,  dafs  wir  ihr  Entstehen  blinden  Ursachen 
zuschreiben  kennen.  Aber  nochmals:  vergessen  wir  nicht,  dafs  wir 
weit  entfernt  sind,  alle  Naturkräfte  zu  kennen. 

„Sind  wir  jedoch  andererseits  berechtigt,  von  vorn  herein  die  Hy- 
pothese einer  intelligenten  Einwirkung  von  Seiten  der  Bewohner, 
welche  diesen  Planeten  bewohnen  könnten,  zurückzu  weisen? 

„Die  gegenwärtigen  Bedingungen  der  Bewohnbarkeit  dieser  Welt- 
kugel sind,  wie  wir  weiter  oben  schon  gesehen  haben,  derartige,  dafs 
niemand  die  Behauptung,  sie  könne  von  einer  Menschenart  bewohnt 
sein,  deren  Intelligenz  und  deren  Hilfsmittel  die  unsrigen  weit  über-, 
treffen,  zu  widerlegen  im  stände  wäre. 

„Angesichts  unserer  absoluten  Unfähigkeit,  diese  Dinge  anders 
zu  erklären,  ist  es  unwissenschaftlich,  die  Möglichkeit  zu  bestreiten, 
dafs  diese  Wesen  die  ursprünglichen  Flüsse  regulirt  hätten,  als  all- 
mählich das  Wasser  rar  wurde,  und  sich  so  ein  Kanalsystem  zu  dem 
Zwecke  gleichmiifsiger  Wasserversorgung  herstellten. 

„Die  Hypothese  der  Erzeugung  dieser  Kanalzüge  durch  Einwir- 
kung der  Intelligenz  nöthigt  sich  unserem  Geiste  von  selbst  auf,  ohne 
dafs  wir  ihr  widerstehen  könnten.  So  kühn  dies  auch  ist,  wir  sind 
doch  gezwungen,  sie  in  Betracht  zu  ziehen.  Ganz  gewifs  sind  ja 
auch  die  Einwendungen  dagegen  zahlreich.  Ist  es  denn  wahrscheinlich, 
dafs  die  Bewohner  eines  Planeten  so  gigantische  Werke  erzeugen 
können,  Kanäle  von  100  km  Breite?  Darf  man  ernstlich  daran  denken, 
und  welchen  Zwecken  dienen  sie? 

„Doch  ist  es  seltsam  genug,  dafs  man,  unter  der  Voraussetzung 
eines  menschlichen  Ursprungs  dieser  Linienzüge,  die  Erklärung  der- 
selben im  Zustande  des  Planeten  selbst  finden  kann.  Wir  haben 
schon  gesehen,  dufs  die  Stoffe  dort  weniger  schwer  sind  als  bei  uns; 
andererseits  geben  die  kosmogonischen  Theorieen  dieser  Nachbarwelt 
ein  weit  höheres  Alter  als  dem  Planeten,  welchen  wir  bewohnen. 
Wir  können  daraus  schliefsen,  dafs  sie  früher  bewohnt  war  als  die 
Erde,  und  dafs  ihre  Menschheit,  wie  sie  auch  sonst  beschaffen  sein  mag, 
vorgeschrittener  als  die  unsrige  ist.  Während  die  Durchbohrung  der 


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Alpen,  die  Durchbrechung  des  Suez-  und  Panamakanals,  der  unter- 
seeische Tunnel  zwischen  Frankreich  und  England  uns  als  riesenhafte 
Unternehmungen  der  Wissenschaft  und  Industrie  unserer  Epoche  er- 
scheinen, werden  diese  Dinge  doch  nur  Kinderspiele  für  die  Mensch- 
heit der  Zukunft  sein.  Wenn  man  die  Fortschritte  nur  des  letzten, 
neunzehnten  Jahrhunderts  ins  Augo  fafst,  die  Eisenbahnen,  die  Tele- 
graphie, die  Anwendung  der  Elektrizität,  die  Photographie,  das  Tele- 
phon u.  s.  w.,  bo  fragt  man  sich,  wie  grofö  unser  Erstaunen  sein 
würde,  wenn  man  die  materiellen  und  sozialen  Fortschritte  sehen 
könnte,  welche  das  20.  und  21.  Jahrhundert  und  spätere  Zeiten  der 
zukünftigen  Menschheit  Vorbehalten.  Es  gehört  kaum  noch  ein  opti- 
mistischer Geist  dazu,  um  die  Luftschifffahrt  als  den  gewöhnlichen 
Verkehrsmodus  vorherzusehen,  durch  den  die  unnatürlichen  Völker- 
grenzen für  immer  vom  Erdboden  verschwinden,  und  die  verab- 
scheuungswürdige Hydra  des  Krieges  mit  der  heute  noch  unvermeid- 
lichen Thorheit  der  permanenten  Heere,  dem  Ruin  eines  intelligenten 
Sozialstaates,  vernichtet  werden  dürften  in  dem  glorreichen  Auf- 
schwünge einer  erleuchteten,  freien,  denkenden  Menschheit.  Müssen 
wir  nicht  in  ganz  logischer  Woiso  annehmen,  dafs  die  ältere  Mensch- 
heit des  Mars  auch  vollkommener  sei,  und  dafs  die  fruchtbare  Einig- 
keit der  Völker,  die  Arbeiten  des  Friedens,  eine  wesentlich  glücklichere 
Entwickelung  dort  erreichen  konnten?  — 

„Wir  wissen  nicht,  was  diese  langen  dunklen  Linienzüge,  welche 
die  Kontinente  durchkreuzen,  bedeuten,  wenn  ihre  ganze  Breite  wirk- 
lich homogen  ist,  und  ganz  gewifs  beweist  nichts,  dafs  es  mit  Wasser 
gefüllte  Kanäle  sind.  Tausend  verschiedene  Annahmen  sind  dafür 
möglich;  man  kann  in  ihnen  Bewässerungsanlagen  auf  dem  Planeten 
sehen,  auf  welchem  das  Wasser  seltener  zu  werden  beginnt.  Man 
kann  sich  dort  auch  eine  Art  von  Katastereintheilung  vorstellen  für 
Gesamtkulturen  auf  einer  Welt,  die  zu  dem  Zeitalter  allgemeiner  Har- 
monie vorgeschritten  ist.  Man  erinnert  sich  wohl,  dafs  Proctor  in 
einem  interessanten  Artikel  der  Times  die  Idee  verfolgt  hat,  dafs  die 
Bewohner  des  Mars  mit  umfangreichen  Feldmefsarbeiten  beschäftigt 
sind,  da  wir  diese  Linien  in  jeder  Richtung  so  gezogen  sehen,  dafs 
ihre  Entfernungen  untereinander  constant  und  bedeutsam  sind.  Auch 
Mr.  Green,  der  geschickte  Beobachter  des  Mars,  kam  in  einer  Sitzung 
der  Royal  Astronomical  Society  of  London  auf  diese  Deutung  zurück 
und  fügte  hinzu,  dafs  er  dabei  keineswegs  die  Absicht  habe,  sich  über 
einen  so  wichtigen  wissenschaftlichen  Gegenstand  lustig  zu  machen, 
dafs  vielmehr  solche  geographischen  Erscheinungen  die  gröfstmügliche 


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Aufmerksamkeit  verdienen,  und  dafs  es  von  höchstem  Interesse  sei, 
sie  zu  verifiziren.  Mr.  Maunder  von  der  Greenwicher  Sternwarte 
macht  besonders  auf  die  höchst  seltsame  Thatsache  aufmerksam,  dafs 
diese  Kanäle  ihren  Platz  zu  wechseln  scheinen,  bald  sichtbar, 
bald  wieder  unsichtbar  sind.  Für  manche  Beobachter  sind  es  gar 
keine  eigentlichen  Kanäle,  sondern  vielmehr  die  Begrenzungen  von 
mehr  oder  weniger  dunklen  Distrikten.  Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls 
kann  der  Natur  nachgeholfon  worden  sein.  Die  leicht  eintretenden 
und  beständig  drohenden  Uebersckwennnungen  der  Kontinente,  welche 
durch  den  Zahn  der  Zeit  nivellirt  worden  sind,  können  zu  der  Idee 
einer  rationellen  Wasserregulirung  geführt  haben.  Es  scheint  wirk- 
lich, dafs  es  uns  nicht  leichter  möglich  sein  wird,  dieses  geometrische 
Netz  ohne  die  Einwirkung  des  Intellekts  zu  erklären,  als  ein  Bewohner 
der  Venus  sich  unser  Eisenbahnnetz  durch  das  Spiel  geologischer 
Kräfte  zu  erklären  vermöchte. 

„Die  Weltkugel  des  Mars  mufs  durch  die  Arbeit  der  Jahr- 
hunderte nahezu  nivellirt  worden  sein,  und  Wasser  ist  dort  nur  noch 
in  geringer  Quantität  vorhanden.  Was  nach  einigen  Millionen  Jahren 
für  die  Erde  eintreten  mufs,  ist  für  Mars  bereits  eingetroffen.  Durch 
die  Thätigkeit  des  meteorischen  Wassers  (der  Niederschläge)  werden 
langsam  unsere  Berge  abgetragen,  die  Flüsse  führen  die  Trümmer  in 
die  Oceane,  deren  Grund  sich  mehr  und  mehr  ausfüllt.  Aber  gleichzeitig 
nimmt  die  Menge  des  W7assers  ab,  indem  es  in  die  Erdkruste  ein- 
dringt  oder  sich  mit  dem  Felsgestein  zu  Hydraten  verbindet.  Jede 
begrenzte  Weltkugel  nivellirt  sich  langsam;  es  ist  deshalb  keineswegs 
überraschend,  dafs  auf  Mars  die  Bestrebungen  sich  hauptsächlich  darauf 
gerichtet  haben,  eine  fruchtbringende  Vertheilung  der  Vrasser  über  die 
Oberfläche  der  gealterten  Kontinente  zu  schaffen. 

„Diese  geradlinigen,  alle  Meere  des  Mars  mit  einander  in  Ver- 
bindung setzenden  Linienzüge  scheinen  durchaus  absichtlich.  Fliefst 
aber  dort  auch  VTasser?  Im  Prinzip  ist  dies  wohl  zu  bejahen;  aber  es 
kann  sich  damit  jene  andere  Form  des  Wassers  verbinden,  von  welcher 
wir  soeben  sprachen;  Ueberlagemde,  langgezogene  Nebelstreifen,  welche 
die  Wasserläufe  in  unseren  Augen  verbreitern  und  die  wesentlichen 
scheinbaren  Veränderungen  derselben  verursachen. 

„Vielleicht  verbinden  sich  auch  noch  Vegetationserscheinungen 
mit  dieser  Wasserzirkulation. 

„Vras  nun  die  Verdoppelungen  anbetrifft,  so  ist  wohl  schwerlich 
anzunehmen,  dafs  sich  wirklich  von  einem  Tage  auf  den  anderen 
ähnliche  und  mit  den  ursprünglichen  parallel  laufende  Kanäle  bilden. 


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Wir  müssen  es  vorziehen,  anzunehmen,  «late  sie  jenen  vorhin  er- 
wähnten Nebeln  oder  vielleicht  einer  doppelt  brechenden  Wirkung  der 
Marsatmosphäre  zuzuschreiben  sind.  Bei  den  herrschenden  Tempe- 
raturbedingungen (die  Sonnenwärme  dringt  leicht  in  die  Marsatmo- 
sphäre ein  und  kann  die  Oberfläche  des  Planeten  leicht  erwärmen) 
mufs  die  Verdampfung  sehr  intensiv  sein,  weshalb  über  den  Wasser- 
läufen  eine  grofse  Menge  Wasserdampf  schnell  abgekühlt  werden  und 
dadurch  zu  ganz  besonderen  Reflektionsphänomenen  Anlafs  geben  mufs. 
Es  scheint  uns,  dafs  man  solche  Brechungserschoinungen  nicht  aufser 
Acht  lassen  darf,  namentlich  wegen  der  Eigenthiimlichkeit,  dafs  oft- 
mals jede  Spur  eines  Kanals  verschwindet,  um  zwei  neuen  Linien 
Platz  zu  machen,  welche  sich  in  der  Nähe  des  ersteren  befinden. 

,.Herr  A.  de  Boe  hat  die  Verdoppelung  jenen  Doppelbildern  zu- 
geschrieben, welche  im  Auge  des  Beobachters  entstehen,  wenn  man 
eine  schwarzo  Linie,  die  etwas  diesseits  oder  jenseits  der  Grenzen 
deutlicher  Sichtbarkeit  liegt,  auf  einem  weifeen  Grunde  betrachtet.  Darf 
man  jedoch  annehmen,  dafs  die  Beobachter  der  Kanäle  diese  Verdoppe- 
lung nur  sehen,  wenn  das  Fernrohr  nicht  ganz  scharf  eingestellt  ist? 

„Was  es  aber  auch  für  eine  Bewandtnifs  mit  diesen  ganz  ge- 
w’ifs  noch  verfrühten  Erklärungsversuchen  haben  mag,  die  wir  nur 
als  erste  Hypothesen  geben,  so  ist  es  doch  unzweifelhaft,  dafs  die 
ausgedehnten  Veränderungen  der  Wassergebiete  Zeugnifs  ablegen  von 
einer  ungemein  energischen  Lebensäufserung  auf  dem  Planeten.  Die 
verschiedenen  Bewegungen  scheinen  für  uns  ganz  ruhig  vor  sioli  zu 
gehen  eben  wegen  der  grofsen  Entfernung,  die  uns  davon  trennt. 
Aber  während  wir  gemächlich  diese  Kontinente  und  diese  Meere 
beobachten,  wie  sie  durch  die  Umdrehung  des  Planeten  um  seine 
Achse  langsam  an  unseren  Blicken  vorübergeführt  werden,  und 
während  wir  uns  dann  vielleicht  fragen,  an  welchem  der  Ufer  es 
wohl  am  angenehmsten  zu  leben  wäre,  mögen  in  demselben  Mo- 
mente Stürme,  Vulkanausbrüche,  soziale  Tumulte,  der  schreckliche 
Kampf  um  das  Dasein  dort  wüthen.  Ebenso  würden  die  Astronomen 
der  Venus,  wenn  sie,  mit  ähnlichen  optischen  Instrumenten  versehen 
wie  wir,  unsere  Erde  betrachten,  wie  sie  dahinzieht  in  stillem  Gleich- 
maafs  durch  die  Sterne  des  Firmaments,  sicherlich  nicht  ahnen,  dafs 
über  den  von  der  Sonne  vergoldeten  Ländern  und  über  den  azurnen 
Meeren,  welche  sich  mit  so  feinen  Linien  in  Meerbusen  zertheilen, 
eine  wilde  Interessenwirthschaft,  ein  ungebiindigter  Ehrgeiz,  die  Scham- 
losigkeit, die  Barbarei  ihre  selbst  heraufbeschworenen  Stürme  zu  jenen 
unvermeidlichen  Katastrophen  mischen,  welche  die  unvollkommene 


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470 


Natur  unseres  Planeten  erzeugt.  Wir  dürfen  doch  wenigstens  hoffen, 
dafs  die  ältere  Welt  des  Mars  eine  vorgeschrittenere  und  bessere 
Menschheit  beherbergt,  und  dafs  es  allein  Arbeiten,  Bewegungen  des 
Friedens  sind,  welche  seit  vielen  Jahrhunderten  dieses  nachbarliche 
Vaterland  erfüllen.“ 

Flammarion  schliefst  nun  sein  Buch  mit  folgenden  Be- 
trachtungen: 

_Es  giebt  im  Leben  reizvolle  Stunden,  köstliche  Freuden,  himm- 
lische Glückseligkeiten,  unsagbare  Wonnen.  Nun ! Unter  diesen  wunder- 
vollen Stunden  giebt  es  wenige,  die  eine  vollständigere  Befriedigung 
in  unsere  Seele  giefsen,  die  uns  in  edlerer  und  höherer  Weise  be- 
wegen könnten,  als  die  Stunden,  welche  der  Beobachtung  der  Gestal- 
tungen auf  dem  Planeten  Mars  in  einer  reinen  Sommernacht  gewid- 
met werden.  Es  ist  wahrhaft  beklagenswerth,  dafs  so  wenig  Menschen 
diesen  Eindruck  empfunden  haben:  Vor  sich  eine  Welt  zu  sehen,  eine 
andere  Welt  mit  ihren  Kontinenten,  ihren  Meeren,  ihren  Ufern,  ihren 
Meerbusen,  ihren  Vorgebirgen,  ihren  Inseln,  ihren  Flufsmündungen, 
ihren  blendenden  Schneegebieten,  ihren  sonnenvergokleten  Landschaf- 
ten, ihren  dunklen  Gewässern,  so  wie  sie  in  unsern  Fernrohren  vor 
uns  steht,  und  wie  sie  langsam  sich  um  sich  selbst  dreht,  Tag  und 
Nacht  ihren  verschiedenen  Gebieten  gebend,  den  Frühling  auf  den 
Winter,  den  Sommer  auf  den  Frühling  folgen  lassend,  ein  Miniatur- 
bild unserer  Erde  im  weiten  Himmelsraume!  Diese  Betrachtung  trägt 
uns  bis  zu  den  höchsten  Mysterien  der  Natur,  zur  Frage  nach  dem 
universellen,  dem  ewigen  Leben,  sie  stellt  uns  vor  die  Fragen  nach 
der  letzten  Wahrheit,  vor  den  Schöpfungsgedanken.  Die  Erde  wird 
zu  einer  Provinz  des  Universums,  und  unsere  Empfindung  bevölkert 
andere  Vaterländer  in  der  Unendlichkeit  mit  unbekannten  Brüdern. 

«Und  dann  verbindet  sich  mit  diesen  Empfindungen  wohl  auch 
diejenige  von  der  Schönheit  und  Gröfse  der  astronomischen  Errun- 
genschaften unserer  Zeit;  das  Neue  hat  immer  für  uns  eine  ganz  be- 
sondere Anziehungskraft.  Es  ist  das  erste  Mal  seit  dem  Beginn  der 
Menschheit,  dafs  wir  am  Himmel  eine  neue  Welt  entdecken,  die  der 
Erde  ähnlich  genug  ist,  um  unsere  Sympathie  zu  erwecken;  es  ist 
das  erste  Mal,  dafs  ein  Werk  wie  das  gegenwärtige  entstehen  konnte; 
viele  Jahre  werden  zweifellos  vergehen,  bis  ein  ernstliches  Studium 
über  unseren  Nachbarplaneten  Venus  ein  so  vollständiges  Material 
gesammelt  haben  wird,  wie  dasjenige,  welches  wir  hier  über  die  Welt 
des  Mars  Revue  passiren  lassen  konnten. 

«Aber  manche  Wunder  der  Wissenschaft  wird  die  Zukunft  noch 


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unseren  Nachfolgern  Vorbehalten,  und  wer  wird  heute  noch  für  unmög- 
lich erklären  dürfen,  dafs  eines  Tages  die  Menschheit  des  Mars  mit 
der  der  Erde  in  Verbindung  treten  könne!  Generationen  werden  ver- 
gehen, und  der  Fortschritt  wird  noch  lange  seinen  aufsteigenden  Weg 
fortsetzen. 

„Für  uns  selbst  (den  Autor),  die  wir  von  Beginn  unserer  wissen- 
schaftlichen und  iitterarischeu  Laufbahn  stets  die  Lehre  von  der  Mehr- 
heit der  Welten  verfochten  haben,  und  es  uns  zur  Lebensaufgabe 
machten,  zu  zeigen,  dafs  das  Endziel  der  astronomischen  Wissenschaft 
nicht  bei  der  Mechanik  des  Himmels  stehen  bleiben  darf,  dafs  sie  sich 
vielmehr  bis  zu  der  Erkenntnifs  der  gegenwärtigen,  vergangenen 
und  zukünftigen  Lebensbedingungen  im  unendlichen  Universum  auf- 
schwingen mufs;  es  ist  ein  Glück  für  uns,  lange  genug  gelebt  zu  ha- 
ben, um  der  Geburt  und  Entwickelung  der  Astrophysik  beigewohnt 
zu  haben,  mit  eigenen  Augen  die  erste  Welt,  deren  Erforschung  in 
dem  Himmelsraume  begann,  betrachten  zu  können  und  den  Vorzug 
zu  besitzen,  ihre  Geschichte  zu  schreiben.  Mögen  unsere  Leser  diese 
Genugthuung  mit  uns  theilen,  indem  sie  dieser  Entwickelung  der 
Wissenschaft  beiwohnen.  Dio  vorangegangenen  Blätter  sind  nur  ein 
bescheidenes  und  oberflächliches  Präludium  zu  den  Entdeckungen, 
welche  der  Fortschritt  unseren  Nachfolgern  vorbehält.“ 

Es  ist  kein  Zweifel,  dafs  das  grofse  und  schöne,  mit  eben  so  viel 
Wärme  wie  Gründlichkeit  und  Sorgfalt  verfafste  Werk  dos  berühmten 
französischen  Astronomen  von  den  Fachleuten  sowohl  wie  von  allen 
Freunden  der  astronomischen  Wissenschaft  mit  Genufs  gelesen  werden 
wird,  und  dafs  sein  Erscheinen  einen  für  die  gegenwärtige  und  zu- 
künftige Wissenschaft  höchst  werthvollen  Fortschritt  bedouteL*) 

Flammarion  hat  die  gestellte  Aufgabe,  alle  vorhandenen  Beob- 
achtungen über  Mars  so  zusammenzustellen,  dafs  jedermann  sich  ein 
eigenes  Urtheil  über  die  bisher  aufgestelllen  Hypothesen  von  der  Ober- 
flächenbeschafl'enheit  des  Mars  selbst  bilden  kann,  vortrefflich  erfüllt. 
Es  lag  im  übrigen  keineswegs  in  der  Absicht  des  Verfassers,  einen 
Ueberblick  über  die  Hypothesen  selbst  zu  geben ; er  vertritt  nur 
seine  eigene,  der  Existenz  intelligenter  Wesen  günstige  Ansicht,  in- 
dem er  nur  ganz  gelegentlich  andere  Ansichten  streift. 

Es  darf  jedoch  an  dieser  Stelle  nicht  vergessen  werden,  dafs 

*)  Es  möge  beigefügt  werden,  dafs  das  bei  Gau  thier  in  Paris  in  Lexi- 
konformat (608  Seiten,  580  Illustrationen  und  23  Karten)  erschienene  Werk  für 
den  ungemein  billigen  Preis  von  10  Frs.  erhältlich  ist. 


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47-2 


andere  gewiegte  Beobachter  zu  ganz  entgegengesetzten  Ueberzeugungen 
von  der  Beschaffenheit  des  Mars  gekommen  sind;  wir  wollen  in 
dem  folgenden  Artikel  einige  derselben  anführen,  indem  wir  zu- 
gleich auch  die  in  dem  Flammarionschen  Werke  noch  nicht  berück- 
sichtigten Beobachtungen  der  Opposition  von  1892  heranziehen,  um 
schliefslich  das  Beobachtete  und  Gedachte  zu  einem  Gesamtbilde  zu 
vereinigen,  so  weit  dieses  bei  dem  heutigen  Stande  unserer  Kenntnisse 
möglich  ist 

(Fortsetzung  folgt.) 


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Die  Entstehung  der  Welt  nach  den  Ansichten  von 
Kant  bis  auf  die  Gegenwart 

Von  F.  K.  (iinzei,  Astronom  am  RecheninsUtute  der  König!.  Sternwarte  zu  Berlin. 

(Fortsetzung.) 

IV.  Die  Darwinsche  Gezeitentheorie  und  die  Entwickelung 
des  Systems  Erde-Mond. 

Unter  den  neueren  kosmogonischen  Ansichten  nehmen  die  inter- 
essanten Untersuchungen  eine  wichtige  Stelle  ein,  weiche  der  Mathe- 
matiker U.  II.  Darwin  (nicht  zu  verwechseln  mit  dem  berühmten 
Charles  Darwin,  dem  Verfasser  der  „Entstehung  der  Arten1)  über 
den  Einflurs  der  Reibung  der  Gezeiten  ausgeführt  hat;  >)  diese  Ergeb- 
nisse bilden  wichtige  Beiträge  zur  Erklärung  mancher  Eigentümlich- 
keiten des  Sonnensystems  und  des  Entstehungsprozesses  des  Mondes, 
besonders  aber  der  Erde.  Wir  müssen  deshalb  das  Nötigste  hierüber 
auseinandersetzen. 

Bekanntlich  erzeugt  die  Attraktionswirkung  des  Mondes  und  der 
Sonne  in  dem  flüssigen  Elemente,  das  unsere  Erde  bedeckt,  periodisch 
wiederkehrende  Bewegungen,  die  Flut-  und  Ebbeersoheinungen.  Es 
ist  möglich,  dafs  diese  Bewegungen,  „Gezeiten11,  wie  man  sie  auch 
nennt,  sich  nicht  blofs  auf  das  Wasser  der  Erdoberfläche  beschränken, 
sondern  auch  auf  die  derzeit  etwa  noch  flüssigen  Theile  des  Erd- 
innere erstrecken  und  dort  ähnliche  Stauungen  des  flüssigen  Magmas, 
allerdings  in  weit  geringeren»  Grade  als  in  den  Meeren,  veranlassen. 
Für  die  Zeiten,  in  welchen  sich  die  Weltkörper  noch  in  der  Aus- 
bildung befanden,  also  noch  mit  keiner  festen  Kruste  bedeckt  waren, 
sondern  zum  gröfsten  Theil  den  flüssigen  Zustand  repräsentirten, 
mufste  wahrscheinlich  die  Wirkung  solcher  „Gezeiten“,  wenn  sie  durch 
Planeten  von  bedeutender  Masse  hervorgerufen  wurden,  eine  viel  er- 
heblichere sein.  Es  ist  nun  das  Verdienst  G.  H,  Darwins,  den  Ein- 


')  In  einer  Reihe  von  Memoiren  seit  1S79,  die  gröfstentheils  in  den  „Philo- 
sophical  Traneactions“  enthalten  sind. 


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474 


flute  wechselseitiger  Gezeiten,  unter  bestimmten  theoretischen  Vor- 
aussetzungen, streng  entwickelt  zu  haben. 

Darwin  betrachtet  mathematisch  die  Gezeiten  viscoser,  das 
heilst  nicht  starrer,  sondern  zähflüssiger  und  umformbarer  Massen. 
Es  ergiebt  sich,  dafe  durch  eine  mächtige  Gezeit,3 * 5)  die  auf  einem 
viscosen  Planeten  durch  ein  Gestirn  hervorgerufen  w'ird,  infolge  der 
Reibung  die  Rotationsgeschwindigkeit  des  Planeten  allmählich  verlang- 
samt wird.  Dieser  Verlangsamung  entsprechend  stellt  sich  eine  Ver- 
mehrung der  Bahngeschwindigkeit  ein.  Im  System  Erde-Mond  würde, 
von  allen  anderweitigen  Störungen  abgesehen,  die  Wirkung  der 
Gezeiten -Reibung  etwa  folgende  sein:  Wenn  die  Erde  in  einer 

kürzeren  Zeit  um  sich  selbst  rotirte,  als  die  Umlaufszeit  des  Mondes 
ist,  so  würde  die  Einwirkung  der  Mondgezeiten  die  Erdrotation  zu 
verlangsamen  suchen.  Die  Reaktion  auf  den  Mond  bestände  darin, 
date  er  sich  mehr  von  der  Erde  zu  entfernen  suchen  würde,  indem 
sich  seine  Bahn  erweitert  Der  Tag  der  Erde  wird  länger,  die  Um- 
laufszeit des  Mondes  nimmt  zu,  und  wenn  schlietelich  eine  Gleichheit 
beider  Zeiten  erreicht  ist,  würden  sich  Erde  und  Mond  wie  starre 
Körper  um  ihr  gemeinschaftliches  Trägheitszenti-um  drohen  und  ein- 
ander dieselben  Flächen  zuwenden.  In  ähnlicher  Weise  sucht  ein 
um  die  Sonne  kreisender  Planet  auf  der  Sonne  eine  Gezeit  zu  er- 
zeugen, deren  Reibung  die  Rotation  der  Sonne  zu  verlangsamen 
strebt;  dabei  wird  die  Bahngeschwindigkeit  des  Planeten  gesteigert, 
und  der  letztere  trachtet  seine  Distanz  von  der  Sonne  zu  vergröfsern. 
Der  Effekt  der  Gezeiten,  welchen  die  Sonne  hervorruft,  ist  gegenüber 
dem  Effekte  der  Gezeiten  des  Planeten  au  teerordentlich  überwiegend, 
im  Falle  Sonne-Erde  113000  mal  gröteer  als  die  von  der  Erde  auf 
der  Sonne  bewirkte  Gezeit.  Darwin  hat  nun  unter  Betrachtung 
der  Verhältnisse  unseres  Planetensystems  gezeigt,  date  die  Rotation 
der  Planeten  einstens  aufserordentlich  schneller  hätte  gewesen  sein 
müssen,  damit  die  Wirkung  der  Sonnengezeiten  die  Abstände  der 
Planeten  bis  zu  den  heutigen  Entfernungen  vergröfsern  konnte.  Da 
es  aber  wenig  wahrscheinlich  ist,  date  unsere  Planeten  jemals  enorme 
Rotationsgeschwindigkeiten  besessen  haben,  so  ist  an  eine  erhebliche 
Veränderung  der  Planetenabstände  von  der  Sonne  als  Folge  der 
Gezeitenwirkung  nicht  zu  denken.  Dagegen  fiel  den  Sonnengezeiten 

3)  Solche  Gezeiten  sind  selbstverständlich  nicht  wie  die  Ebbe-  und  Fluth- 

bewegungeu,  also  nur  die  Oberfläche  eines  Körpers  treffend,  aufzufassen,  son- 

dern sie  beziehen  sich  auf  die  ganze  Masso  des  Körpers. 


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475 


eine  wichtige  Rolle  bei  der  Bildung  der  Satelliten  zu.  Wenn  nämlich  *» 

ein  im  Werden  befindlicher  Planetennebel  sich  zusammenzog  und 
in  dem  Mafse,  als  er  dichter  wurde,  schneller  rotirte,  konnte  die 
Sonnengezeit,  welche  die  Rotationsgeschwindigkeit  des  Planetennebels 
zu  verlangsamen  suchte,  unter  Umständen  verhindern,  dafs  der  Planet 
Satelliten  erhielt.  War  die  Sonnengezeit  in  jener  Kontraktionsperiode 
des  Planeten  eine  sehr  schwache,  so  konnte  bei  ungehindert  ge- 
steigerter Rotationsgeschwindigkeit  schliefslich  eine  Ueberschreitung 
des  Gleichgewichtszustandes  des  Nebels  und  eine  Ablösung  von 
Massen  eintreten;  eine  starke  Sonnengezeit  dagegen  vermochte  die 
Rotation  derart  zu  verändern,  dafs  der  kritische  Moment  von  der 
drehenden  Masse  nicht  erreicht  wurde,  und  somit  keine  Satelliten- 
bildung eintreten  konnte.  Auf  diese  Weise  mögen  durch  starke 
Gezeiten  die  der  Sonne  nahen  Planeten  Merkur  und  Venus  an 
einer  Satellitenschaffung  verhindert  worden  sein,  während  Jupiter, 

Saturn,  da  sie  solchen  Wirkungen  viel  weniger  ausgesetzt  waren, 
öfteren,  vielleicht  periodischen  Gleichgewichtsstörungen  unterlagen  und 
hierdurch  eine  Reihe  von  Satelliten  erhielten.  Die  Erde  bekam  ihren 
Mond  wahrscheinlich  erst  in  einer  mehr  vorgeschrittenen  Bildungsepoche, 
wie  die  im  Verhältnis  zur  Erde  sehr  beträchtliche  Masse  des  Mondes 
vermuthen  läfst.  Der  Reibung  der  durch  die  Sonne  ausgeübten  Gezeiten 
dürfen  auch  einige  Besonderheiten  zugeschrieben  werden,  welche  die 
Bahnen  der  Satelliten  des  Jupiter,  Saturn  und  Mars  zeigen.  Diese 
Monde  haben  im  Verhältnis  zu  ihren  Zentralkörpern  (namentlich 
hinsichtlich  Jupiter  und  Saturn)  sehr  geringe  Massen;  bei  Jupiter  und 
Saturn  wurde  die  Rotation  dieser  Planeten  durch  Sonnengezeiten,  die 
in  Anbetracht  der  grofsen  Sonnenentfernung  nur  schwach  sein  konnten, 
nur  langsam  verzögert.  Die  Monde  selbst  riefen  vermöge  ihrer  Kleinheit 
kaum  irgend  welche  Gezeiten  auf  Jupiter  und  Saturn  hervor.  Wenn 
sie  sich  bei  solchen  Verhältnissen  auf  die  beträchtlichen  Abstände 
von  ihren  Zentralkörpern  entfernen  konnten,  in  denen  sie  sich  gegen- 
wärtig befinden,  und  hierdurch  eine  viel  langsamere  Umlaufszeit  er- 
hielten, als  die  Rotationsperiodo  ihrer  Planeten  betrug,  so  deutet  dies 
auf  eine  sehr  frühzeitige  Entstehung  der  Satelliten;  das  Mondsystem 
des  Jupiter  und  Saturn  ist  daher  wahrscheinlich  weit  älter  als  der 
Mond  unserer  Erde.  Bei  Mars  war  die  Einwirkung  der  Sonnengezeiten 
eine  entschiedenere.  Der  Satellit  Phobos,  der  sich  gegenwärtig  viel 
schneller  um  den  Mars  bewegt,  als  dieser  um  sich  selbst  rotirt,  produ- 
zirte  vermöge  seiner  geringen  Gröfse  eine  nur  unbedeutende  Gezeit 
und  entfernte  sich  ursprünglich  vom  Planeten.  Nachdem  seine  Um- 


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laufsdauer  gleich  der  Rotation  des  Mars  geworden  war,  erlangte  die 
Wirkung  der  Sonnengezeiten  das  Uebergewicht,  Mars  rotirte  langsamer 
und  der  Satellit  näherte  sich,  indem  sich  die  Schnelligkeit  seiner 
Bahnbewegung  steigerte,  allmählich  mehr  dem  Planeten  und  gelangte 
schliefslich  in  eine  Bahn,  wo  sein  Umschwung  schneller  war  als  die 
tägliche  Umdrehung  des  Mars  selbst 

Wenn  man  den  Einflufs  der  Gezeitenreibung  bei  der  Bildung 
der  Planeten  des  Sonnensystems  vielleicht  auch  etwas  überschätzt  so 
ist  der  grofso  Antheil,  den  diese  Erscheinung  im  speziellen  Falle  des 
Systems  Erde-Mond  gehabt  hat  dagegen  zweifellos.  Unser  Mond  be- 
sitzt unter  allen  andern  Satelliten  die  gröfste  Masse,  demgemiifs  sind 
die  von  ihm  hervorgerufenen  Gezeitenwirkungen  sehr  mächtig  und 
spielten  jedenfalls  zu  Zeiten  der  Erschaffung  des  Mondes  eine  grofse 
Rolle.  Die  Darwinschen  Ergebnisse  gestatten  die  Vermuthung,  dafs 
Mond  und  Erdo  einst  einen  einzigen  Körper  gebildet  haben  mögen, 
der  sich  mit  viel  gröfserer  Geschwindigkeit,  als  heute  die  Erde,  um 
sich  selbst  drehte.  Auf  diesen  zähflüssigen  Körper,  dessen  innerer 
Zusammenhang  nur  bei  der  Nichtüberschreitung  einer  gewissen 
Rotationsgeschwindigkeit  gewahrt  bleiben  konnte,  hatten  vielleicht  die 
Gezeiten  der  Sonne  einen  solchen  Einflufs,  dafs  eine  Trennung  er- 
folgte. Es  waren  dann  zwei  Massen  vorhanden,  die  gröfsere  die 
Erde,  die  kleinere  der  Mond.3)  Im  Momente  des  Zerreifsens  wird  die 
Revolutionsdauer  des  Mondes  nahe  so  schnell  gewesen  sein  wie  der 
Umschwung  der  Erde,  nämlich  nur  wenige  Stunden.  Wäre  dio  Be- 
wegung des  Mondes  in  den  ersten  Tagen  seiner  Geburt  schneller 
gewesen  als  die  Erdrotation,  so  hätte  er,  da  ein  solches  System  dy- 
namisch nicht  stabil  bleiben  kann,  auf  die  Erde  stürzen  müssen. 
Die  Darwinschen  Entwickelungen  lassen  die  Phasen,  dio  ein  auf 
irgend  eine  Weise  in  der  Nähe  der  Erde  geschaffener  Mond  durch- 
machen mulste,  übersehen.  Die  anfänglich  sehr  bedeutenden  Mond- 
gezeiten strebten  die  Rotationsdauer  der  Erde  zu  verlängern,  und  als 
Rückwirkung  davon  nahm  auch  die  Umlaufszeit  des  Mondes  zu.  Die 
Exzentrizität  der  Mondbahn  wuchs  sehr  schnell,  verminderte  sich  aber 
wieder,  nachdem  die  Dauer  des  Monats  etwa  der  halben  Erdrotations- 


*)  In  welcher  Weise  sich  der  Vorgang  thatsächlieh  abgespielt  haben 
mag,  läfst  sich  bei  unserer  Unkenntnifs  der  Stabilitätsbedingungen,  welchen 
die  Urmasse  unterworfen  gewesen  sein  mag,  nicht  beantworten  und  dio  obige 
Folgerung  ist  nur  eine  theoretische.  Die  anfängliche  Form  des  Mondes  kann 
ein  Ring  oder  ein  Schwarm  kleiner  Körper  gewesen  sein,  da  eine  grofse,  die 
Erde  fast  berührende  Masse  sich  nicht  würde  haben  halten  können. 


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dauer  gleich  war.  Später  trat  wieder  ein  Anwachsen  der  Exzentrizität 
ein.  Die  Neigung  der  Mondbahn  gegen  die  Ekliptik  machte  ähnliche 
Schwankungen  durch.  Anfänglich  mag  die  Bewegung  des  Mondes 
fast  ganz  in  der  Ebeno  der  Erdbahn  gelegen  haben.  In  dem  Mafse, 
als  sich  der  Mond  aber  von  der  Erde  entfernte  und  die  Sonnen- 
gezeiten mehr  an  Herrschaft  gewannen,  traten  Verschiebungen  in  der 
Lage  der  Mondbahn  auf.  Wir  sehen  den  Mond  im  Laufe  der  Zeiten 
sich  mehr  und  mehr  von  der  Erde  entfernen,  welche  Entfernungs- 
zunahme indessen  keine  stetige  ist,  vielmehr  zeitweise  Abnahmen  in 
sich  einschliefst;  der  Weg,  den  unser  Trabant  geht,  ist  dem  einer 
Spirallinie  ähnlich.  Jo  näher  wir  der  Gegenwart  kommen,  desto  mehr 
verlieren  die  Veränderungen  in  der  Dauer  des  Monats  und  der  Lage 
der  Mondbahnebene,  sowie  die  Variationen  des  Erdentages  an  Effekt. 
Schliefslich  ist  der  Monat  fast  30  mal  länger  als  der  Erdumschwung, 
der  Mond  kehrt  der  Erde  dieselbe  Seite  zu  und  der  heutige  Zustand 
ist  erreicht.  Darwin  berechnet,  dafs  zur  Erlangung  dieses  Zustandes 
etwa  54  Millionen  Jahre  nothweiidig  gewesen  sein  dürften. 

Die  Gezeiten-Theorie,  deren  Wichtigkeit  in  Beziehung  auf  die 
Bewegung  des  Mondes  auch  schon  von  Delaunay,  Eerrel  gewür- 
digt worden  ist,  hat  übrigens  einen  Vorläufer  in  Kant  gehabt  In 
einer  1754  erschienenen  Abhandlung  „Ob  die  Erde  veraltet“  zeigte 
Kant,  wie  bedeutend  der  Einflufs  der  Erdgezeiten  auf  einen  rohren- 
den, von  einer  flüfsigen  Hülle  umgebenen  Körper  ist  Er  weist  nach, 
dafs  sich  die  Erde  selbst  unter  der  Einwirkung  der  Sonnen-  und  Mond- 
gezeiten wie  in  einem  Hemmschuh  bewegt,  und  dafs  durch  diese  Ge- 
zeiten wahrscheinlich  die  ehemals  schnelle  Rotation  der  Erde  wesent- 
lich verlangsamt  worden  sei,  und  ferner,  dafs  sioh  die  Periode  der 
Axendrehung  des  Mondes  dem  Umlaufe  um  die  Erde  entsprechend 
anpassen  musste.  Die  Kantschen  Gedanken  sind  unbeachtet  geblieben, 
bis  sie  wenige  Jahre  vor  Darwin  von  J.  H.  Sohmick  wieder  auf- 
gegriffen wurden.  Schmick  entwickelte  die  Wichtigkeit  der  Ge- 
zeiten'1) für  die  Entstehung  der  Weltkörper,  indessen  fehlte  seinen 
Darlegungen  noch  der  strenge  mathematische  Boweis;  diesen  zu  geben 
blieb  Darwin  Vorbehalten.  Schmick  behauptet  völlig  richtig,  dafs 
mächtige  Plutherscheinungen  einst  der  Rotation  des  Mondes  entgegen- 
gewirkt und  diese  nach  und  nach  zum  Stillstände  gebracht  haben 
mögen.  Die  anfänglich  festen  Bildungen  an  der  Mondoberfläche 

*)  Hinsichtlich  des  Mondes  namentlich  in  der  Schrift  „Der  Mond  als 
glänzender  Beleg  für  die  kosmisch  bewirkte  säkulare  Umlegung  verschiebbarer 
Bcstandthoile  der  Weltkörper.“  Leipzig  1876. 

Himmel  und  Erde,  1808.  V.  10,  32 


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trugen  zu  einer  starken  Reibung  der  Fluthwellen  viel  bei  und  för- 
derten hierdurch  die  Verlangsamung  der  Rotation.  Als  letztere  zum 
Stillstand  gekommen  war,  mufste  der  Mond,  der  als  zum  Theil  noch 
flüssiger  Körper  ohne  die  Rotation  sich  nicht  symmetrisch  in  Beziehung 
auf  seinen  Schwerpunkt  halten  konnte,  eine  ellipsoidische  Verlänge- 
rung gegen  die  Erde  hin  erleiden.  Da  nämlich  die  Anziehung  der 
Erde  auf  die  niichstgelegenen  Oberflächentheile  des  Mondes  eine 
stärkere  war  als  auf  das  Zentrum,  verschoben  sich  die  Massen,  und 
das  geometrische  Zentrum  des  Mondes  rückte  etwas  in  der  Richtung 
auf  die  Erde  zu.  Hieraus  sei  die  von  Hansen  nachgewiesene  That- 
sache  zu  erklären,  dafs  der  Schwerpunkt  des  Mondes  um  8 Meilen 
vom  geometrischen  Mittelpunkte  entfernt  liege.  Infolge  dieser  Ver- 
änderung seiner  Gestalt  fing  der  Mond  an,  wie  ein  Pendel  um  seinen 
Aufhängepunkt,  um  das  geometrische  Zentrum  hin  und  her  zu 
schwanken  und  zwar  in  der  Richtungslinie  zur  Erde  hin.  Diese 
Pendelbewegungen  mögen  tausende  von  Jahren  angedauert  haben. 
Inzwischen  war  die  Schollenbildung  von  den  Mondpolen  aus  weiter 
vorwärts  geschritten  und  leistete  den  Fluthungen  einen  sehr  ungleich- 
mäßigen Widerstand.  Durch  das  Zusammenwirken  der  pendelartigen 
Bewegungen,  des  ungleichen  Widerstandes  der  ersten  Mondkruste 
und  aufserdem  der  Mond-Libration  liefen  die  Fluthwellen  über  die 
beiden  Mondhälften  hin  und  her  und  zertrümmerten  vielfach  die  Ur- 
bildungeu.  Es  fanden  Aufquellungen  und  Senkungen  der  heftig  be- 
wegten Massen  statt,  die  alte  Mondschale  versank  gröfstentheils.  Eine 
in  der  nachfolgenden  Epoche  der  Erzeugung  einer  neuen  Schale  ein- 
getretene Gleichgewichtsstörung,  etwa  das  massenhafte  Ueberfliefsea 
in  einer  zur  Librationswirkung  nicht  parallelen  Richtung,  war  die  Ur- 
sache, dafs  die  Mitte  der  Schwingungen  des  pendelnden  Körpers  sich 
verschob  und  so  der  Mond  um  die  gegen  die  Erde  hin  gerichtete 
Axe  gedreht  wurde.  Schmick  hat  die  Wichtigkeit  der  Gezeiten  für 
die  Bildung  des  Mondes  erkannt,  in  den  Folgerungen  aber  ist  er  über 
die  logischen  Grenzen  hinausgegangen  und  darum  ist  seine  eben  dar- 
gelegte Theorie  verworfen  worden. 

Wir  treten  nun  der  Frage  näher,  wie  sich  die  Oberfläche  des 
Mondes  gebildet  hat,  und  welche  Kräfte  seine  eigentümlichen  For- 
mationen, die  gewaltigen  Ringgebirge,  die  ausgedehnten  Wallebenen 
und  tausende  von  kleinen  Kratern,  die  wenigen  Merkmale  lang  ge- 
gestreckter  Höhenzüge  gegenüber  dem  ausgesprochensten  Ueber- 
wuohern  der  Kreisform,  erzeugt  haben,  und  aufserdem,  welche  Ursachen 
hingegen  der  Erdoberfläche  ein  wesentlich  antleres  Gepräge  zu  geben 


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vermochten.  Zunächst  knüpfen  wir  an  die  Folgeerscheinungen  der 
hypothetischen  Pendelbewegungen  an,  welche  Schm  ick  für  die  Zeit 
der  Ausbildung  der  Mondoberfläohe  voraussetzt.  Vermöge  jener 
Schwingungen  des  Mondes  überflutheten  die  flüssigen  Massen  periodisoh 
die  ursprüngliche  Mondkruste,  und  zwar  wurden,  da  die  Stauungen 
entgegen  der  ost- westlichen  Schwingungsrichtung  stattfanden,  ab- 
wechselnd nach  Westen  und  Osten  hin  Wellenkämme  geworfen,  von 
denen  fort  und  fort  Reste  zurückblieben,  die  alsbald  erstarrten.  Durch 
diese  Brandungsaufschüttungen  erlangten  die  aufgeworfenen  Massen 
eine  regelmäfsige  Zufuhr,  und  es  bildeten  sich  die  Wälle  der  heutigen 
Mondkrater,  welche  eine  kreisförmige  Gestalt  zeigen,  da  die  Durch- 
bruchsstellon  der  sehr  dünnen  Mondkruste  zumeist  eine  eben  solche 
Form  hatten.5) 

Selbstverständlich  weifs  Schmick  auch  die  weiteren  Einzelheiten 
der  Bildungsvorgänge  auf  der  Mondoberfläche  zu  erklären,  wie  über- 
haupt kaum  einer  der  Herren  Kosmologen  in  dieser  Hinsicht  eine 
Verlegenheit  zeigt,  da  sie  alles  für  ihre  Theorieen  zu  deuten  wissen, 
vorausgesetzt  freilich,  dafs  man  die  Grundlagen  dieser  Theorieen  zu- 
giebt  — In  weit  plausiblerer  Weise  verwendet  Ebert  die  regel- 
inäfsigen  Ebbe-  und  Flutherscheinungen  zur  Erklärung  der  Ring- 
gebirge, indem  er  letztere  als  besondere  Erstarrungsvorgänge,  hervor- 
gerufen durch  jene  Gezeiten,  darstellt,  wie  schon  in  vorliegender 
Zeitschrift  auseinandergesetzt  worden  ist  (HI.  Jahrg,  Seite  179). 

Wio  Schmick  ein  Gegner  aller  jener  Hypothesen  ist,  welohe  zur 
Entstehung  der  Kreisformen  der  Mondgebirge  vulkanische  oder  hebende 
Kräfte  zu  Hilfe  nehmen,  findet  er  darin  einen  Partner  an  Frie- 
drich Weifs,  der  ebenfalls  den  Vulkanismus  als  Mondbildner  nicht 
gelten  läfst  Weifs  erblickt  die  Ursache  der  Verschiedenheit  der 
Gebirgsformationen  der  Erde  und  des  Mondes  hauptsächlich  in  dem 
Umstande,  dafs  die  äquatoreale  Rotationsgeschwindigkeit  beim  Monde 
nahe  104  mal  geringer  ist  als  bei  der  Erde.  Infolge  dieser  geringen 
Axendrehung  fehlten  auf  dem  Mondo  jene  Strömungen,  welche  auf  der 
flüssigen  Erde  in  der  Richtung  der  Rotation  hin  auftraten,  und  die 
Bewegungsdifferenzen  zwischen  Rinde  und  Kern.  Auf  der  Erde  kam 
es  infolge  der  schneller  rotirenden  Rindentheile  vorzugsweise  nur  zur 
Bildung  von  linearen  und  Parallelketten,  auf  dem  Monde  konnten  die 

*)  Schmick  stellt  sich  vor,  dafs  das  Anprallen  des  flüssigen  Magmas 
an  der  Oberfläche  Ringwcllen  bildete,  etwa  in  derselben  Weise,  wie  in  oiner 
Schüssel  Wasser  durch  Anstofsen  oder  in  einem  Teiche  durch  einen  plötzlich 
emportauchenden  Fisch  sich  Ringwellen  zeigon. 

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Lagerungen  der  Oebilde  in  regelmäfsiger,  langsamer  und  ungestörter 
Weise  Platz  greifen,  und  darum  mufste  vorzugsweise  die  Kreisform  Ver- 
breitung gewinnen.  — Aus  der  Zeit,  wo  Plutonisten  und  Neptunisten 
einander  scharf  bekämpften,  sei  als  Kuriosum  die  Ansicht  Büttners6) 
über  die  Entstehung  des  Mondes  erwähnt,  welche  illustrirt,  wohin  ein 
einseitiger  wissenschaftlicher  Standpunkt  führen  kann.  Nach  dieser 
Hypothese  war  der  Mond  eine  Nebeltnasse,  deren  Kern  neben  festen 
Bestandtheilen  und  Wassermassen  auch  lebende  Wesen  enthielt.  Die 
Vergröfserung  dieses  Kernes  absorbirte  den  grüfsten  Theil  des  Wassers, 
ein  anderer  Theil  ging  verloren,  der  Rest  durchfurchte  auf  vielfache 
Weise  die  schliefsliche  feste  Oberfläche  und  brachte  so  Berge  und 
Thiiler  hervor.  Von  Wirkungen  des  Feuers  sei  auf  dem  Monde  so 
wenig  zu  sehen  als  auf  der  Erde,  und  die  vermeintlichen  vielen  Krater 

des  Mondes  seien  sicherlich  Täuschungen Frankland  hat  in 

einer  Abhandlung1)  darauf  aufmerksam  gemacht,  dafs  auf  der  Mond- 
oberfläche mindestens  an  zwei  Stellen  sichere  Spuren  alter  Gletscher 
vorhanden  sind.  Allein  gegen  eine  selbst  nur  theilweise  Existenz 
von  Eis  tritt  sofort  die  Schwierigkeit  auf,  dafs  sämtliche  astrono- 
mischen Beobachtungen  bisher  keine  Spur  von  Wasser  auf  dem 
Monde  haben  erkennen  lassen,  und  dafs  aufserdem  das  Vorhandensein 
einer  halbwegs  dichten  Atmosphäre  kaum  wahrscheinlich  ist  Frank- 
land wies  jedoch  darauf  hin,  dafs  der  Mond  bei  seiner  kleinen  Masse 
vermutlilich  sehr  rasch  erkaltet  ist  und  dafs  bei  dieser  schnellen  Kon- 
zentrirung  Höhlenbildungen  im  Innern  eine  nothwendige  Erscheinung 
sein  werden.  Hätte  sich  die  Mondmasse  im  selben  Verhältnifs  wie 
der  Granit  zusammengezogen,  so  würde  eine  Erkaltung  um  180®  F. 
Blasenräume  von  enormen  Dimensionen  haben  schaffen  können,  und 
die  auf  der  Oberfläche  stehenden  Wassermasson  würden  füglich,  wenn 
sie  nicht  zum  Theil  vereist  wären,  vom  Mondinnern  absorbirt  worden 
sein.  Zöllner  hat  später  in  seinen  berühmten  „Photometrischen 
Untersuchungen“ ")  dargethan,  dafs  die  Existenz  von  Eis-  und  Schnee- 
massen auf  dem  Monde  sehr  wohl  auch  ohne  das  Vorhandensein  einer 
Atmosphäre  möglich  ist  wenn  diese  Schneemassen  eine  Temperatur 
von  minus  20°  C.  besitzen.  Nach  seinen  Ausführungen  würde  alle 
Wärme,  die  der  Mond  von  der  Sonne  empfängt,  zur  Verdampfung  des 

*)  Die  Entstehung  des  Erdballes,  Mondes  und  anderer  grofser  Welt- 
körper. 1847. 

’)  Poggendorf.  Annal.  Bd.  123  S.  128. 

a)  IV.  Abtheilung.  Leber  die  physische  Beschaffenheit  der  Himmels- 
körper. § 84. 


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Eises  verwendet  werden  müssen,  und  der  Wiirmetransport  müfste  ein 
so  schneller  sein,  dafs  es  zu  Wolkenbildungen  gar  nicht  kommen 
könnte.  Demnach  wäre  die  Franklandsche  Hypothese,  dafs  Eis- 
bildungen an  der  Veränderung  der  Mondoberfläche  einen  wesentlichen 
Antheil  gehabt  haben,  nicht  ganz  abzuweisen.  Uebrigens  wird  die 
Ansicht,  dafs  das  Wasser  in  gefrorenem  Zustande  derzeit  noch  grofse 
Flächen  des  Mondes  bedecke,  auch  von  dem  Philosophen  Schopen- 
hauer getheilt.  In  England  haben  Ericsson  und  Peal  ähnliche 
Ideen  vertreten.  — Die  Franklandsche  Idee  der  Entstehung  von 
Hohlräumen  durch  rasche  Erkaltung  des  Mondes  adoptirt  auch  Pater 
Braun  in  seiner  Kosmogonie.  Die  Ringgebirge  wären  nach  ihm  das 
Resultat  von  gewaltigem  Gewölbeschub.  Die  Decke,  welche  die 
grofsen  Hohlräume  nach  oben  abschlofs,  konnte  sich  beim  Vergrüfsern 
der  Blasen  nicht  halten,  stürzte  ein  und  prefste  die  Seitenwände  des 
eingestürzten  Gewölbes  nach  oben.  Solche  Einstürze,  welohe  meist 
kreisförmige  Kessel  hervorbrachten,  hätten  auf  der  Erde  aus  dem 
Grunde  weit  weniger  Vorkommen  können,  weil  die  viel  bedeutendere 
Schwerkraft  die  Erzeugung  von  grofsen  Höhlungen  verhindert  hätte. 
Eine  von  anderen  Gelehrten  ausgesprochene  Ansicht,  welche  die  über- 
aus zahlreichen  Ringgebirgsformationen  daraus  erklärt,  dafs  in  der 
Bildungszeit  des  Mondes  Kollisionen  unseres  Satelliten  mit  kosmischen 
Massen  vorgekommen  sein  könnten,  und  das  Hineinstürzen  letzterer 
die  -Ursache  der  Kesselgebirge  sei,  findet  Pater  Braun  „recht  kind- 
lich“, mufs  aber  später  gestehen,  dafs  diese  Vorstellung  einige  Be- 
rechtigung hat  Und  in  der  That  ist  diese  Berechtigung  eine  ansehn- 
liche geworden,  seit  wir  aus  Darwins  Untersuchungen  wissen,  dafs 
der  Mond  ursprünglich  wahrscheinlich  einen  Schwarm  kosmischer 
Körper  dargestellt  hat  die  sich  zum  Theil  in  eine  Masse  vereinigt  haben. 
Proctor  scheint  der  Erste  gewesen  zu  sein,  der  die  Idee,  dafs  die 
hauptsächlichsten  Mondformationen  durch  den  Sturz  von  Meteoriten 
hervorgebracht  worden  sein  können,  ausgesprochen  hat  In  neuester 
Zeit  hat  Gilbert9)  diese  Hypothese  in  seiner  „Impakt-Theorie“  be- 
sonders ausgebildet  Nach  derselben  war  der  Mond  ursprünglich  ein 
in  Meteore  aufgelöster  Ring,  wie  es  heute  noch  der  Ring  des  Saturn 
ist  Diese  Meteore  haben  sich  nach  und  nach  zusammengeballt  und 
einen  Körper  gebildet  Die  bei  diesen  Vereinigungen  entwickelte 
Hilze  reichte,  da  sie  zum  Theil  durch  Ausstrahlung  verloren  ging, 
nur  zu  einer  theilweisen  Schmelzung  der  Massen  hin.  War  die 

v)  The  moons  face,  a study  of  the  origin  of  its  features  (Philosophical 
Society  of  Washington,  Bullet  vol.  XU,  1892.) 


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Bahn  des  Meteorringes  eine  derartige,  dafs  sie  mehr  innerhalb  der 
Distanz  Erde-Mond  lag,  so  konnten  die  kosmischen  Körperchen  die 
innere  Fläche  des  Mondes  treffen.  Unter  gewissen  Voraussetzungen 
über  die  Schnelligkeit  der  Meteoriten  und  ihren  Fallwinkel  findet 
Gilbert10),  dafs  die  meisten  elliptischen  Krater  durch  das  Eiuschlagen 
von  solchen  Meteoriten  in  den  erweichten,  partiell  geschmolzenen 
Boden  erzeugt  worden  sind,  deren  Richtungswinkel  etwa  30  Grad 
gegen  die  Oberfläche  betrug.  Die  tangentiale  Komponente  der  Kraft, 
mit  der  die  Meteore  gegen  die  Mondoberfliiche  anprallten,  hat  wahr- 
scheinlich, da  sie  gröfser  wurde  als  die  Umdrehungsgeschwindigkeit 
des  Mondes,  die  Rotation  des  letzteren  allmählich  geändert. 

Die  Hypothesen,  welche  für  die  Erklärung  der  Formationen  der 
Mondoberfläche  vulkanische  und  hebende  Kräfte  in  Anspruch  nehmen, 
sind  sehr  zahlreich.  Bessel  hatte  das  Aussehen  der  Ringgebirge 
mit  den  Resten  von  Luftblasen  verglichen,  welche  in  zähflüssigen 
Substanzen  vor  dem  Erkalten  aufsteigen  und  zerplatzen.  Bernhard 
Cotta  baute  hierauf  eine  Ansicht,11)  nach  welcher  die  chemische 
Zusammensetzung  der  festen  Stoffe  des  Mondes  eine  wesentlich  andere 
als  die  der  Erde  ist;  beim  Erkalten  dieser  ehemals  geschmolzenen 
Massen  trat  eine  aufserordentliche  Entwickelung  von  Gasen  auf,  welche 
gewaltige  Blason  emportrieben;  die  Gase  wurden  beim  Zerplatzen  der 
Blasen  frei,  schlugen  sich  während  der  raschen  Abkühlung  des 
Mondes  in  fester  Form  nieder,  und  die  emporgetriebenen  Ränder  der 
Blasen  blieben  als  Ringgebirge  erhalten.  Der  Engländer  Ilooke  und 
in  neuerer  Zeit  Falb12)  lehnen  sich  an  ähnliche  Meinungen  an.  Nach 
Falb  strebten  die  dünneren  ersten  Schollen  der  Mondoberfläche  in- 
folge der  Rotation  nach  den  Polen  hin , die  dichteren  Massen  nach 
dem  Aequator.  Die  Ebbe-  und  Fluthbewegungen  des  Mondinnem 
haben  wesentlich  an  einer  Sonderung  jener  Massen  mitgewirkt;  die 
älteren  dichten  Flächen  sind  „Hartboden“,  die  jüngeren,  weniger  dichten 
lagerten  sich  höher  und  sind  „Weichland.“  An  den  Rändern  beider 
Bildungen  traten  Spaltungen  und  infolge  davon  das  Emporquellen 
von  Bergketten  ein;  im  Weichlande  durchbrachen  mächtige  Gasent- 
wickelungen den  Boden  und  warfen  Blasen  auf,  deren  Resto  als  Ring- 
gebirge bestehen  blieben.  Beiden  Hypothesen,  sowohl  der  Co  ttaschen 

10)  Gilbert  gründet  seine  Auseinandersetzungen  auf  Experimente,  die 
er  mit  Thonkugeln,  die  von  einem  Apparate  mit  bestimmter  Geschwindigkeit 
unter  gemessenen  Winkeln  gegen  eine  weiche  Thonscheibe  geschleudert 
wurden,  vorgenommen  hat. 

’*)  Geologische  Fragen. 

'*)  Grundzüge  zu  einer  Theorie  der  Erdbeben  und  Vulkanausbrüche. 


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wie  der  Falb  sehen,  sind  eine  Menge  Gründe  entgegen  gehalten 
worden,  die  wir  zum  Theil  schon  in  den  Werken  von  Weifs  und 
Schinick  vorfinden.  Dem  Versuche,  die  Theorie  der  Erhebungs- 
krater von  Hopkins1®)  auf  die  Mondoberfläche  anzuwenden,  ist  schon 
Friedrich  Weifs  entgegengetreten.  Nach  dieser  Theorie  konnten 
kreisförmige  Erhebungen  nur  in  dem  Falle  erfolgen,  wenn  die 
hebenden  Kräfte  sich  auf  einen  bestimmten  Punkt  oder  ein  eng- 
begrenztes Gebiet  der  Fläche  beschränkten;  erstreckten  sich  dagegen 
die  Hebungen  auf  ganze  Zonen  der  Rinde,  so  erzeugte  die  Streckung 
der  letzteren  Sprünge,  welche  an  der  Oberfläche  in  ziemlich  regel- 
mäfsiger  Weise  als  rechtwinklig  sich  kreuzende  Längs-  und  Quer- 
spalten zu  Tage  traten.  Auf  der  Erde  steht  nun  die  Verbreitung 
von  ringgebirgartigen  Bildungen  zu  Parallelketten  in  einem  gleich- 
mäfsigen  Verhältnisse.  Nach  F.  Weifs  hat  man  keinen  Grund,  den 
hebenden  Kräften  auf  dem  Monde  eine  grüfsere  Intensität  zuzu- 
schreiben als  jenen  der  Erde.  Die  Erhebungen  der  Mondfläche  sind 
nicht  bedeutender  als  die  der  Erde,  dagegen  besteht  in  den  Senkungen 
unter  das  Niveau,  nämlich  der  Mondkrater  einerseits  und  der  Meeres- 
tiefen der  Erde  andererseits,  eine  grofse  Verschiedenheit,  die  zu  den 
kreisförmigen  Senkungen  auf  beiden  Weltkürpem  in  keinem  Ver- 
hältnis steht.  Die  Ringgebirge  übertreffen  an  Flächeninhalt  die  ring- 
förmigen Kessel  der  Erde  ganz  aufserordentlich , und  hierin  sieht 
F.  Weifs  den  wirksamsten  Einwurf  gegen  die  Anwendbarkeit  der 
Hopkinsschen  Theorie.  In  neuerer  Zeit  haben  Nasmyth  und  Car- 
penter  in  ihrem  Werke  über  den  Mond14»  für  die  Entstehungsweise 
der  Mondkrater  und  Ringgebirge  die  Aufschüttungstheorie  von  Scrope 
verwendet  und  im  8.  Kapitel  des  Breiteren  auseinandergesetzt  Diese 
Theorie  führt  die  Entstehung  kreisförmiger  l’mwallungen  um  vul- 
kanische Kegelberge  auf  die  Anhäufung  der  Auswurfsprodukte  aus 
der  Eruptivspalte  des  Vulkans  selbst  zurück.  Je  nach  der  Heftig- 
keit und  Zahl  der  Ausbrüche  variirt  die  Höhe  der  entstandenen  Um- 
wallung; es  kommt  zur  Bildung  von  Doppelwällen,  mitunter  zu  „Fort- 
blasungen“ des  Gipfelkegels,  und  nach  dem  Nachlassen  des  Spiels 
der  vulkanischen  Kräfte  zu  weit  reichenden  Einsenkungen.  Dabei 
ist  noch  an  Hansens  Bemerkung  zu  erinnern,  dafs  infolge  der  Ver- 
schiedenheit des  Mondschwerpunktes  vom  geometrischen  Zentrum 
jene  Kräfte  auf  der  einen  Mondhälfte  vielleicht  viel  geringerem 
Widerstande  begegnet  sein  können  als  auf  der  entgegengesetzten 

**)  Researches  in  physical  Geology  | Philos.  Transact.). 

")  The  Moon,  considered  as  a Planet,  a world  and  a satellite.  London  1874. 


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484 


Halbkugel.  Damit  würden  auch  die  mitunter  außerordentlichen 
Dimensionen  der  Mondkrater  nicht  mehr  so  unerklärbar  bleiben. 

Man  war  früher  geneigt,  die  Oberflächenphysiognomie  des  Mondes 
als  von  jener  der  Erde  vollständig  verschieden  zu  betrachten,  eine 
grofsartige  vulkanische  Thätigkeit  unseres  Trabanten  anzunehmen,  und 
die  Verwischung  der  Uebereinstimmung  beraerkenswerther  Konfigu- 
rationen beider  Weltkörper  ganz  auf  Reohnung  der  Arbeit  des 
Wassers  und  der  Luft  zu  setzen.  Dies  hat  sich  in  dem  Mafse  ge- 
ändert, wie  sich  unsere  Kenntnifs  der  Topographie  der  Mondoberfläche, 
namentlich  in  den  letzten  zwanzig  Jahren,  weiter  entwickelt  hat.  Die 
Anwendung  kraftvollerer  Instrumente  und  die  hierdurch  ermöglichten 
Detailstudien  haben  gezeigt,  dafs  sich  beträchtliche  Partieen,  die  man 
sonst  als  Ringgebirge  auffafste,  nur  als  von  Bergketten  umgebene  Hoch- 
länder enthüllten,  eine  Menge  Krater  sich  als  blofse  Berggipfel  heraus- 
stellten, schroffe  Böschungen  verschwanden  u.  s.  f.;  dafür  tauchte  eine 
Menge  feinen  Details  auf,  das  auch  auf  unserer  Erde  zu  finden  ist. 
Wenn  man  erwägt,  dafs  die  den  Erdformationen  etwa  ähnlichen 
Gebilde  des  Mondes  wegen  ihrer  geringen  Ausdehnung  zu  den  am 
schwierigsten  wahrnehmbaren  Gegenständen  gehören,  und  dafs  die 
Erkenntnis  des  wahren  orographischen  Charakters  der  Mondland- 
schaften schon  bei  den  erheblichen  Formationsarten,  geschweige  denn 
bei  feinen  Objekten,  mit  zwei  Hauptschwierigkeiten  fort  und  fort 
zu  kämpfen  hat,  nämlich  mit  den  komplizirtcn  Beleuchtungs-  und 
Librationsverhältnissen  der  Mondoberfläche,  so  wird  man  die  Hinder- 
nisse würdigen,  die  in  Bezug  auf  die  Vergleichung  der  Oberfläohen 
beider  Weltkörper  der  Forschung  hier  entgegenstehen.  Erst  in 
neuerer  Zeit  häuft  sich  brauchbares  Material,  welches  die  Entdeckung 
von  Analogieen  im  Gebirgsbau  ermöglichen  und  einen  Schlufs  darüber 
zulassen  wird,  welche  Kräfte  etwa  auf  der  Erde  und  dem  Monde  in 
ein  und  derselben  Weise  bildend  gewesen  sind.  Bis  jetzt  ist  nur 
einer  der  gediegenen  Kenner  des  Mondes,  Julius  Schmidt,  auf  die 
Feststellung  einiger  Hauptlinien  zu  solchen  Vergleichungen  bedacht 
gewesen,15)  indem  er  allgemeine,  charakteristische  Verhältnisse  in 
dieser  Beziehung  festgestellt  hat.  Die  Selenographen  Beer  und 
Mädler  haben  in  ihrem  grundlegenden  Werke16)  in  vorsichtiger 


ls)  Der  Mond.  Leipzig  1856. 

'*)  Der  Mond  nach  seinen  kosmisch,  u.  indiv.  Verhältnissen.  1837.  — Inter- 
essenten finden  dort  derlei  Bemerkungen  über  die  Ringgebirge  Geminus,  Mene- 
laus,  Sulpicius  Gallus,  Aristoteles,  Autolycus,  aufsordem  einige  allgemeine  An- 
sichten Seite  403. 


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Theil  der  Mondoberfläche.  Der  Vesuv  und  seine  vulkanische  Umgebung. 

Gegenüberstellung  vulkanischer  Gegenden  des  Mondes  und  der  Krdo. 

(Nach  Nasmyth  und  Cariieiiter.) 


485 


Weise  das  zusammengestellt,  was  ihnen  in  Betreff  auf  das  Wirken 
vun  Kräften  in  bestimmten  Richtungen  und  an  besonderen  Merk- 
malen aufgefallen  ist.  Der  Geologe  Boue  hat  in  einer  Abhand- 
lung17) die  terrestrischen  Eigenthümlichkeiten  zusammengefafst,  in 
denen  man  gegenwärtig  noch  die  Spuren  einer  zerstörten  oder  ver- 
wischten mondartigen  Plastik  erkennen  kann.  Nach  ihm  liegen 
uralte  Krater  in  Zentralfrankreich  (Mont  dor,  Lozöre,  Puy  de  Dome, 
Ardeche),  Nordfrankreich  (Spuren  zwischen  den  Vogesen  und  Ar- 
dennen, der  Manche  und  Bretagne),  Spanien  (das  Duero-,  Gra- 
nada- und  Madrider  Becken),  Rufsland  (Niederungen  zwischen  dem 
Ural  und  Podolien),  Asien  (Tianschan,  Altai,  Pamir,  Becken  von 
Südchina)  u.  s.  w.  Als  Theile  ehemaliger  Krater  sind  zu  betrachten: 
die  Ebene  des  Po,  die  wallachisch-bulgarische  Niederung  zwischen  dem 
Balkan  und  den  transsylvanischen  Alpen,  das  spanische  Becken  des 
Ebro  und  Guadalquivir.  Reste  ähnlicher  Formationen  finden  sioh  in 
Süd  westfrankreich  und  dem  südöstlichen  England.  Auf  den  ringgebirg- 
ähnlichen  Bau  und  eine  ehemals  elliptische  Form  weisen  verschiedene, 
durch  Flufsläufe  bestimmte  Bildungen  hin:  so  bewässern  Euphrat  und 
Tigris  in  Mesopotamien  einen  elliptischen  Krater,  der  nach  Süden 
offen  ist  und  an  seinen  Rändern  plutonische  und  trachytische  Eruptious- 
punkte  zeigt.  In  Hindustan  läuft  der  untere  Ganges  in  einer  ellip- 
tischen Vertiefung,  die  nach  Südost  geöffnet  ist.  Aehnliche  solche 
Spuren  findet  man  in  der  Gobi,  am  unteren  Irawaddi,  in  Frankreich 
zwischen  der  Loire,  Allier,  Vienne  und  Glain  u.  s.  f.  Die  Umwallungen 
von  Böhmen  und  Ungarn,  Siebenbürgen,  verschiedene  eben  solche 
in  Kleinasien  und  Persien  gehören  gleichfalls,  ohne  dafs  sie  als  Krater 
aufgefafst  zu  werden  brauchen,  zu  bemerkenswertheu  Parallelen  der 
Mondplastik.  — Nasmyth  und  Carpenter  haben  nach  Beer- 
Mädlers  Mondkarte  die  Ringgebirge  plastisch  hergestellt  und  photo- 
graphirt.  Freilich  können  auf  solche  Photographieen  gegründete 
Schlüsse  sich  leicht  als  Illusionen  erweisen.  Dafs  dem  Anscheine 
nach  Kongruenzen  der  Mond-  und  Erdformationen  vorhanden  sind, 
deren  Eindruck  durch  künstliche  Mittel  gesteigert  werden  kann, 
während  ihnen  in  der  That  nur  eine  sehr  bescheidene  Beweiskraft 
zukomrat,  sieht  man  aus  dem  diesem  Aufsatze  beigegebenen  Doppel- 
bilde (siehe  das  Titelblatt),  welches  dem  Nasmyth-Carpentersohen 
Werke  entlehnt  ist  und  eine  Vergleichung  der  unter  bestimmten  Be- 

")  Ueber  den  Begriff  der  Beatandtheile  einer  Gebirgskette,  sowie  die 
Gebirgssystemvorgleiuhung  der  Erd-  und  Mondoberfläche.  (Sitzungsber.  d. 
Wiener  Akademie  d.  Wissensch.  Bd.  69,  I.  Abth.  Mathem.  Klasse.) 


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486 

leuchtungsverhältnissen  stehenden  Plastik  der  Umgebung  von  Neapel 
mit  den  Ringgebirgen  einer  Mondlandschaft  vorstellt. 

Die  Frage,  welche  Ursachen  bei  der  Gestaltung  der  Erdober- 
fläche, besonders  in  Hinsicht  auf  die  Anordnung  der  Kontinente  und 
Meere,  mitgewirkt  haben,  können  wir  hier  nur  flüchtig  berühren,  da 
Erörterungen  hierüber  schon  in  den  Bereich  der  Geologie  gehören. 
Wir  wollen  nur  zwei  Hypothesen  zitiren,  welche  kosmische  Gründe 
dafür  aufführen.  Es  ist  auffällig,  dafs  die  gröfsten  Erhebungen,  die 
bedeutendsten  Gebirge  und  Plateaus  sich  in  der  äquatorealen  Zone 
vorfinden,  dafs  hingegen  die  grofsartigsten  Senkungen  auf  der  Süd- 
halbkugel, in  den  Meerestiefen  des  stillen  Ozeans,  der  Südsee  und 
des  atlantischen  Meeres  vereinigt  erscheinen.  Man  hat  diese  Ver- 
theilung  des  Festen  und  Flüssigen  resp.  der  Erhebungen  und  Senkungen 
aus  einer  ehemals  anderen  Stellung  der  Erdaxe  gefolgert,  indem  durch 
eine  Aenderung  dieser  eine  plötzliche  Katastrophe  in  der  Vertheilung 
hervorgerufen  worden  sein  soll.  Nach  F.  Weifs  würde  nun  die  An- 
ziehung des  Mondes  auf  die  äquatoreale  Anschwellung  der  Erde,  welche 
bei  der  Bildung  der  Erde  als  ellipsoidischer  Körper  resultirte,  hin- 
reichend gewesen  sein,  um  eine  solche  Störung  der  Rotationsaxe  zu 
bewirken  und  ein  Uebergewicht  der  einen  Erdhälfte  über  die  andere 
herbeizuführen.  Nach  anderen  Meinungen  bildeten  sich  durch  un- 
regelmäfsige  Rücksenkungen  des  Festen  gegen  den  flüssigen  Erdkern 
eine  Reihe  zusammenhängender  grofser  Hohlräume,  welche  schliefslich 
geborsten  sind  und  die  mittlerweile  niedergeschlagenen  Wassermassen 
in  sich  aufgenommen  haben. 


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Der  Finlaysche  Komet,  dessen  erstmalige  Wiederkehr  in  diesem 
Jahre  erwartet  wurde,  ist  von  Finlay  selbst  am  17.  Mai  auf  der  Kap- 
sternwarte  als  schwacher  Nebel  wieder  aufgefunden  Morden.  Wegen 
der  ungünstigen  Stellung  des  Kometen  nahe  bei  der  Sonne  konnten 
sich  von  vornherein  eigentlich  nur  die  südlicher  gelegenen  Obser- 
vatorien von  einer  Nachsuchung  Erfolg  versprechen;  aus  demselben 
Grunde  werden  auch  Beobachtungen  des  Gestirns  in  unseren  Breiten 
vorerst  noch  unmöglich  sein. 

Finlay s Komet  gehört  bekanntlich  zu  der  kleinen  Gruppe  von 
Kometen  mit  kurzer  Periode,  da  er  einen  Umlauf  um  die  Sonne  schon 
in  etwa  6,7  Jahren  vollendet.  Er  wurde  im  Jahre  1886  entdeckt  und 
zeigte  anfänglich  in  seinen  Bewegungsverhaltnissen  grofse  Aehnlich- 
keit  mit  dem  1844  entdeckten,  ebenfalls  periodischen,  aber  seither  nicht 
wieder  aufgefundenen  De  Vicoschen  Kometen.  Die  Vermuthung  einer 
Identität  zwischen  den  beiden  Himmelskörpern,  welche  sich  auf  die 
Annahme  einer  beträchtlichen  Störung  dos  Kometen  von  1844  gründete, 
erwies  sich  indessen  als  unzutreffend,  und  die  nun  erfolgte  Auffindung 
des  F in lay sehen  Komoten  nabe  an  dem  durch  die  Rechnung  vorher 
bestimmten  Orte  ist  ein  fernerer  Beweis  dafür,  dafs  ein  innerer  Zu- 
sammenhang zwischen  ihnen  nicht  besteht  G.  W. 

f 

Aufsteigendes  Meteor.  Die  Bahnbestimmung  einos  am  7.  Juli 
1892,  8h  2m  Weltzeit,  über  Oesterreich  und  Italien  gezogenen  Meteors 
hat  Prof.  v.  Niessl*)  zu  dem  bemerkenswerthen  Ergebnifs  geführt, 
dafs  in  diesem  Falle  der  Meteorkörper  im  letzten  Theile  der  Flugbahn 
zweifellos  eine  aufsteigende  Bewegung  ausgeführt  hat.  Obgleich  ein 
derartiges  Aufsteigen  eines  Meteors  nach  Erreichung  der  Erdnähe  P 
(vergl.  die  Figur)**)  durchaus  als  nicht  unmöglich  gelten  mufste,  hat 

•)  Sitzungsber.  der  Akad.  der  Wissensch.  in  Wien.  Math.-naturw.  Klaase. 
Bd.  C II,  Abth.  II  a. 

**)  Die  Flugbahn  A E des  Meteors  ist  in  der  Figur  geradlinig  gezeichnet, 
da  es  ein  so  kleiner  Theil  der  um  die  Sonne  beschriebenen  Hyperbel  ist,  dafs 


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488 


doch  vordem  noch  kein  einziger  Fall  dieser  Art  mit  Sicherheit  fest- 
gestellt werden  können.  In  den  bisher  berechneten  Fällen  drangen 
die  Meteorkörper  meist  so  tief  in  die  Atmosphäre  ein,  dafs  bereits  vor 
erreichter  Erdnähe  eine  völlige  Hemmung  der  Bewegung  und  eine 
Auflösung  der  meteorischen  Massen  eintrat.  Das  Kriterium  für  eine 
zuletzt  wieder  aufsteigende  Balm  liegt  offenbar  in  der  Höhe  des 
Radiationspunktes  (unendlich  fernen  Punktes  der  Verlängerung  von  EA) 
in  Bezug  auf  den  Horizont  E II  des  Verlüschungspunktes  E.  Liegt 
nämlich  der  Radiationspunkt  unter  diesem  Horizont,  dann  war  die 
Meteorbahn  zuletzt  aufsteigend.  Im  vorliegenden  Falle  lag  nun  Punkt 
E in  der  aufserordentlichen  Höhe  von  158  km  über  einer  etwa  70  km 


von  der  Tibermündung  entfernten  Stelle  des  tyrrhenischen  Meeres. 
Der  scheinbare  Radiationspunkt  lag  in  a = 349°,  5 = -i-  8°  und  so- 
^ £ nach  91,  j°  unter  dem  Horizont  des  Endpunk- 

'/i.  tes  E,  die  Bahn  war  also  in  der  That  eine 

*/y'  aufsteigende.  Die  gesamte  beobachtete,  mit 

A / f \ \ der  rasenden  Geschwindigkeit  von  87  km  in 

/ jT’'J  I '*er  Sekunde  durcheilte  Bahnlänge  A E be- 

\ J läuft  sich  auf  etwa  1100  km,  und  die  Erd- 

\ J nähe  P (in  der  Gegend  von  Karakal  in  Ru- 

N.  mänien)  war  immer  noch  fi8  km  von  der 

Erdoberfläche  entfernt  Entsprechend  dieser 
grorsen  Höhe,  in  welcher  sich  die  Erscheinung  abspielte,  war  die 
Helligkeit  der  Feuerkugel  keine  übermäfsige,  und  es  wurde  eine  Deto- 
nation nirgends  gehört.  Während  sich  mitten  im  Laufe  wiederholt 
kleinere,  bald  verlöschende  Theile  vom  Hauptkörper  loslösten,  scheint 
am  Verlöschungspunkte  eine  mit  Zerspringen  verbundene  Hemmung 
gar  nicht  stattgefunden  zu  haben,  sondern  die  Massen  haben  sich  ent- 
weder durch  das  Glühen  allmählich  gänzlich  verzehrt,  oder  es  haben 
gar  Reste  desselben  sohliefslich  wieder  unsere  Atmosphäre  verlassen, 
um  im  Weltraum  ihre  hyperbolische  Bewegung  um  die  Sonne  weiter 
fortzusetzen.  F.  Kbr. 


* 

Ueber  die  veränderlichen  Sterne,  die  einem  bedeutenden  Wechsel 
ihres  Glanzes,  aber  erst  in  langen  Zeiträumen  unterworfen  sind,  wie 
H|  o Ceti  und  H2y  Cygni  hat  Townley  vom  Lick  - Observatorium  in 


von  der  Krümmung  noch  nichts  zu  merken.  Auch  die  Wirkung  der 'Erdan- 
ziehung kann  wogen  der  schnellen  Bewegung  der  Meteore  in  der  Regel  ganz 
vernachlässigt  werden. 


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489 


einem  der  letzten  Hefte  der  Publ.  of  the  Astr.  Soc.  of  the  Pacific  eine 
längere  und  zusammenfassende  Arbeit  veröffentlicht.  Die  Veränder- 
lichen überhaupt  werden  in  fünf  Klassen  untergebracht,  von  denen 
die  erste  die  neuen  Sterne  — wie  Tychos  Nova  von  1572  und  die 
vorjährige  im  Fuhrmann  — umfafst,  die  dritte  solche  Sterne  enthält, 
deren  Lichtwechsel  sich  nach  unbekannten  Gesetzen  und  zwar  stets 
in  engen  Grenzen  vollzieht,  wie  Beteigeuze  und  a Cassiopejae,  die 
vierte  sich  aus  denjenigen  zusammensetzt,  die  ihr  Licht  kontinuirlicb, 
aber  mit  grofser  Regelmäfsigkeit  innerhalb  eines  Zeitraums  von  weniger 
als  einem  Monat  wechseln,  wie  ft  Lyrae  und  3 Cephei,  die  fünfte  aber 
die  Sterne  vom  Algoltypus  vereinigt,  deren  Licht  mit  grofser  Regel- 
mäfsigkeit  während  einer  mehrtägigen  Periode  auf  einige  Stunden 
stark  herabgeht.  Die  zweite  Klasse  endlich  bilden  132  Sterne,  deren 
Lichtwechsel  sich  in  grofsen  Perioden  von  mehrmonatlicher,  selbst 
Jahre  langer  Dauer  vollzieht,  die  nie  weniger  als  65  Tage,  meist  mehr 


Fig.  1. 

als  100  Tage  und  in  41  pCt.  aller  Fälle  300  bis  400  Tage  beträgt 
Der  Betrag  des  Wechsels  ist  dabei  gewöhnlich  fünf  bis  acht  Gröfsen- 
klassen,  was  einer  Vermehrung  oder  Verminderung  des  Glanzes  um 
das  100-  bis  1500-fache  entspricht.  Der  allgemeine  Verlauf  der  Licht- 
änderungen ist  dabei  für  fast  alle  Sterne  der  zweiten  Klasse  derselbe; 
nur  in  Besonderheiten  weicht  er  ab,  so  dafs  einige  Sterne  flache 
Helligkeitsmaxima,  andere  scharfe  besitzen,  einigen  scharf  ausgeprägte 
Minima  und  flach  verlaufende  Maxima  zukommen,  und  auch  das  Um- 
gekehrte vorkommt.  Fast  alle  aber  wachsen  schneller  zu  ihrer  gröfsten 
Helligkeit  an,  als  sie  zum  geringsten  Glanze  verblassen.  (Vergl.  z.  B. 
die  oben  abgezeichnete  Lichtkurve,  Fig.  1.)  Fast  alle  Sterne  dieser 
Klasse  sind  von  rother  Farbe,  und  hier  wie  bei  den  anderen 
Klassen  scheint  das  Gesetz  zu  gelten,  dafs  der  Grad  der  Rothe  desto 
höher  wird,  je  länger  die  Periode  ist  Dementsprechend  ist  auch 
das  Spektrum  dieser  Sterne  vom  Typus  III.,  d.  h.  Roth  herrscht  darin 


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490 


vor,  und  es  enthält  ausgeprägte  Absorptionsbanden.  Nach  den  Ur- 
sachen für  die  Veränderlichkeit  dieser  Sterne  suchend,  wird  man 
natürlich  hier  alle  diejenigen  Theorieen,  durch  die  man  auch  die  Natur 
der  anderen  Variablen  zu  erklären  versucht  hat,  anzuwenden  haben 
und  dabei  den  verschiedenen  oben  bezeichneten  Eigentümlichkeiten 
gerecht  werden  müssen. 

Die  für  die  Sterne  vom  Algoltypus  durch  die  Spektralmessungen 
zur  höchsten  Wahrscheinlichkeit  gebrachte  Theorie,  dafs  ein  dunkler 
Trabant  uns  zeitweise  das  Licht  des  Sternes  entzieht,  kann  hier  aber 
schon  deshalb  nicht  angewendet  werden,  weil  dann  das  Licht  der 
fraglichen  Sterne  wenigstens  für  die  halbe  Umlaufszeit  des  Trabanten 
konstant  sein  müfste,  während  die  Veränderungen  hier  allmählich  vor 
sich  gehen.  Man  könnte  ferner  annehmen,  dafs  diese  Sterne  eine 
Achsendrehung  durchmachen,  bei  der  sie  uns  Oberflächentheile  von 
verschiedener  Albedo  zeigen;  bei  der  Gröfse  der  fraglichen  Veränderung 
ist  aber  selbst  diese  Vermuthung  von  der  Hand  zu  weisen,  die  übrigens 
auch  den  eigenthümlichen  Gang  der  Aenderung  nicht  erklären  würde. 
Die  von  Klinkerfues  aufgestellte  Hypothese,  die,  von  dem  Charakter 
des  Spektrums  ausgehend,  der  Atmosphäre  dieser  Sterne  sehr  ab- 
sorptive  Eigenschaften  zumuthet  und  annimmt,  dafs  ein  Trabant  in  der- 
selben gewaltige  Fluthwirkungen  hervorbringt  und  so  die  Höhe  der 
absorbirenden  Schichten  zeitweise  gewaltig  erhöht,  bietet  ebenso  wenig 
eine  Erklärung  für  das  eigenthümliche  Gesetz  des  Lichtwechsels,  da  ja 
dann  das  Intervall  vom  Maximum  zum  Minimum  der  Helligkeit  eben- 
so oft  kürzer  wie  länger  sein  müfste  als  das  andere.  Sodann  liefse 
sich  an  eine  Aehnlichkeit  mit  dem  Tagesgestirn  denken,  das  offenbar 
seine  Helligkeit  ändert,  wenn  die  Zahl  der  Sonnenflecke  ab-  oder  zu- 
nimmt. Wenn  man  die  Kurve  für  die  Häufigkeit  der  Sonnenflecke 
zeichnet  und  sie  mit  der  Lichtkurve  dieser  Veränderlichen  vergleicht, 
so  ist  eine  gewisse  Aehnlichkeit  in  der  That  unverkennbar.  Ebenso 
entspricht  das  Erscheinen  heller  Spektrallinien,  das  man  bei  diesen 
Sternen  zur  Zeit  des  höchsten  Glanzes  wahrgenommen  hat,  dem 
helleren  Aufleuchten  der  Korona  zur  Zeit  der  Sonnenfleckenmaxima. 
Aber  doch  sind  Unterschiede  von  solchem  Range  vorhanden,  dafs  sie 
gegen  diese  Hypothese  den  Ausschlag  geben.  Die  Sonne  erreicht 
nämlich  ihren  höchsten  Glanz  gerade  zur  Zeit  ihrer  höchsten  Thätig- 
keit,  d.  h.  wenn  die  Zahl  der  Flecke  ihr  Maximum  erreicht,  während 
man  das  Umgekehrte  erwarten  sollte.  Andererseits  ist  die  Differenz 
ihrer  maximalen  und  minimalen  Helligkeit  eine  sehr  geringe  im  Ver- 
gleich mit  derjenigen  unserer  Variablen.  Es  ist  auch  gar  nicht  zu 


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491 


verstehen,  dafs  der  Niederschlag’  erkalteter  und  starr  gewordener 
Materie,  durch  die  man  sich  ja  die  Fleckenbildung  erklärt,  je  einen 
so  hohen  Grad  erreichen  sollte,  dafs  er  eine  Helligkeitsänderung  um  das 
Tausendfache  erklären  könnte.  Schliefslioh  hat  auch  die  Sonne  einen 
ganz  anderen  Spektralcharakter  als  unsere  Variablen.  So  bleibt  uns  nur 
noch  die  von  Lockyer  aufgestellte  Hypothese  übrig,  dafs  wir  in 
diesen  Sternen  es  gar  nicht  mit  kompakten  Körpern  zu  thun  haben, 
sondern  dafs  sie  aus  Massen  von  kleinen  Himmelskörpern  bestehen, 
also  Meteorschwärme  sind.  Wenn  wir  uns  für  einen  Augenblick 
auf  den  Boden  dieser  Theorie  begeben  wollen,  so  wird  es  uns  in  der 
That  gelingen,  eine  hinreichende  Erklärung  für  das  sonderbare  Phä- 
nomen zu  finden.  Nehmen  wir  dazu  nur  an,  dafs  um  jenen  Körper 
oder  besser  jenen  Meteorschwarm  ein  eben  solcher  in  einer  sehr  ex- 


centrischen Bahn  sich  herumbewegt  (vgl.  Fig.  2),  dann  wird  es  mög- 
lich sein,  dafs  die  Sterne  zu  gewissen  Zeiten  einander  nahe  genug 
kommen,  um  die  Zusommenstöfse  zwischen  den  einzelnen  Elementen 
zu  vervielfachen,  und  ein  stärkeres  Aufleuchten  des  Objekts  her- 
vorzubringen, während  zu  anderen  Zeiten  jenes  Aufleuchten  seltener 
ist.  Die  sekundären  Maxiina  liefsen  sich  durch  das  Eindringen  eines 
zweiten  Meteorschwarms  in  den  erston  wohl  erklären,  und  so  bleibt 
nichts  bei  dieser  Theorie  unerklärt.  Sie  ist  es  ja  auch,  die  mit  Vor- 
theil für  die  Erklärung  des  vorjährigen  neuen  Sternes  sich  anwenden 
liefe;  und  wenn  man  erwägt,  dafs  wir  in  den  Meteorschwärmen  der 
Leoniden  und  Andromediden,  die  uns  seit  langen  Zeiten  bekannt 
sind,  solche  Meteorschwärme  keimen,  die  trotz  ihres  langjährigen  Be- 
standes noch  nicht  in  einen  gleichmäfsig  dichten  Ring  aufgelöst  sind,  so 
läfst  sich  an  dieser  Erklärung  in  der  That  kaum  etwas  aussetzen. 
Freilioh  wird  besonders  von  den  Spektralforschern  noch  einiges  ge- 
schehen müssen,  um  die  Wahrscheinlichkeit  des  Prinzips,  das  Lockyer 
hier  aufgestellt  hat,  festzustellen.  Sm. 


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Das  Augettleuchten  und  die  Erfindung  des  Augenspiegels,  dargestellt  in 
Abhandlungen  von  v.  Brücke,  Cumening,  v.  Helmholtz  und 
Rüte.  Hamburg  u.  Leipzig,  Verl.  v.  Leop.  Vofs.  Preis  geb.  2,50  M. 

Das  vorliegende,  sehr  sauber  ausgestattete  Büchlein  bildet  den  ersten 
Band  einer  Sammlung  älterer  Beiträge  zur  Physiologie  der  Sinnesorgane, 
welche  Prof.  A.  König  herauszugeben  beabsichtigt.  Das  Unternehmen  wird 
sicherlich  in  den  Kreisen  der  Physiologen  und  Aerzte  ebenso  freudig  begrüfst, 
wie  Ostwalds  Klassiker  der  exakten  Wissenschaften  in  den  betreffenden 
Fachkreisen.  Von  den  im  vorliegenden  Bande  abgedruckten  6 Abhandlungen 
behandeln  die  ersten  drei  von  Brücke  und  Cumening  das  ohne  Instrument 
unter  Umständen  zu  beobachtende  Augcnleuchten,  während  die  drei  letzten 
Abhandlungen  von  Helmholtz  und  Hüte  die  Erfindung  des  Augenspiegels 
und  den  Gebrauch  desselben  in  seiner  einfachsten  Gestalt  zum  Gegenstand 
haben,  F.  Kbr. 

Wildermann:  Jahrbuch  der  Naturwissenschaften.  8.  Jahrgang.  1892—93. 

Freiburg  i.  B.  1893,  Herderscher  Verlag.  Preis  6 M.,  geb.  7 M. 

Dem  von  uns  bei  der  Anzeige  des  vorigen  Jahrgangs  ausgesprochenen 
Wunsche,  auch  auf  dem  Gebiet  der  Astronomie  alle  wichtigeren  neuen  Ent- 
deckungen zu  besprechen,  ist  von  Seiten  der  Redaktion  bereitwillig  Folge 
gegeben  worden , was  wir  hiermit  dankbar  anerkennen.  Im  übrigen  zeigt 
auch  der  vorliegende  Jahrgang  die  gleiche  Reichhaltigkeit  und  das  gleiche 
Geschick  in  der  Auswahl  der  wichigsten  Fortschritte  der  gesamten  Natur- 
wissenschaften und  der  Technik,  wie  seine  bereits  früher  empfohlenen  Vor- 
gänger. F.  Kbr. 


Drorkfchlerberichtigung. 

In  der  Bezeichnung  der  Marskarten  im  letzten  Hefte  sind  zwei  Fehler 
unterlaufen:  Unter  die  Karte  auf  Seite  415  ist  dieselbe  Unterschrift  gesetzt  wie 
unter  die  vorangehende;  es  ist  statt  ihrer  darunter  zu  setzen  „Karte  des  Mars 
von  Kaiser  aus  dem  Jahre  1S64U.  Unter  die  zweite  Karte  auf  Seite  423  ist 
zu  setzen  „Kanäle,  beobachtet  von  Perrotin  und  Thollon  im  Jahre  1886“. 
Diese  Karte  selbst  ist  eine  Reproduction  der  allbekannten  Zeichnung  Schia- 
parellis,  und  nur  die  darauf  mit  Buchstaben  verschonen  Kanäle  sind  von  den 
Nizzaer  Beobachtern  verifleirt  worden.  D.  R. 


Verlag  tod  Hermann  Paetel  in  Berlin.  — Druck  von  Wilhelm  Qronau's  Huchdruckerei  in  Berlin. 
Kür  die  Hcdactmu  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  ZeiUchrifl  untersagt. 
UebemeUungarecht  Vorbehalten. 


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Galileo  Galilei 

Vortrag,  gehalten  im  mathematischen  Verein  zu  München 
von  Professor  Or.  von  llranamtihl. 

fm  7.  Dezember  des  vergangenen  Jahres  hat  die  Universität 
Padua  unter  zahlreicher  Betheiligung  von  Gelehrten  und  Ge- 
bildeten aller  Nationen  ein  Fest  gefeiert  zum  Gedächtnifs  eines 
Mannes,  dessen  Andenken  nio  erlöschen  wird,  solange  die  Mensch- 
heit die  Freiheit  des  Denkens  und  die  Freiheit  der  wissenschaftlichen 
Forschung  als  die  höchsten  idealen  Güter  des  Lebens  betrachtet. 

An  diesem  Tage  waren  es  nämlich  300  Jahre  geworden,  seit 
Galileo  Galilei  seine  Lehrthätigkeit  in  Padua  begonnen  hatte  — ein 
Zeitpunkt,  der  nicht  nur  von  jener  Stadt  im  Gedächtnifs  behalten  und 
gefeiert  zu  werden  verdient,  sondern  der  für  die  ganze  gebildete  Welt 
von  Interesse  und  Bedeutung  ist,  da  während  Galileis  Aufenthalt  in 
Padua  einerseits  seine  unvergleichliche  Lehrbegabung  zur  glänzenden 
Entfaltung  gelangte,  und  andererseits  die  Grundlagen  zu  seiner  refor- 
matorischen  Thätigkeit  im  Gebiete  der  Naturphilosophie  geschalfeu 
wurden. 

Es  dürfte  daher  wohl  am  Platze  sein,  wieder  einmal  auf  diesen 
gewaltigen  Mann  hinzuweisen,  von  dessen  Auftreten  an  eine  neue  Aera 
der  naturwissenschaftlichen  Forschung  datirt  werden  mufs,  und  unter 
Schilderung  der  wichtigsten  Momente  seines  ereignil'sreichen  Lebens 
vor  allem  die  Stellung  zu  charakterisiren,  die  ihm  als  dem  Träger 
neuer  bahnbrechender  Ideen  unter  seinen  Zeitgenossen  zukommt. 

Nach  den  neuesten  Forschungen  ist  Galileo  Galilei  wahr- 
scheinlich am  16.,  nicht  am  18.  Februar  1564  zu  Pisa  geboren  als 
Sohn  des  Vinoenzio  di  Michelangelo  Galilei  aus  Florenz  und 
dessen  Gattin  Giulia  di  Cosimo  Anuuananti  aus  Pescia.  Sein 

Himmel  und  Erde.  1898.  V.  11.  33 


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494 


Vater  stammte  aus  einer  vornehmen  Familie,  war  aber  mehr  mit 
Kindern  als  mit  irdischen  Glücksgütern  gesegnet  Doch  liefs  er  sich 
die  Erziehung  seiner  Nachkommen  sehr  angelegen  sein  und  unter- 
richtete, als  ein  Mann,  der  selbst  in  den  Künsten  vielfach  bewandert 
war,  namentlich  den  jungen  Galilei  schon  frühzeitig  in  der  praktischen 
und  theoretischen  Musik,  die  auch  Zeit  seines  ganzen  Lebens  die  Er- 
holung von  seinen  ausgedehnten  Studien  blieb.  Wie  sich  Galileo 
später  im  Lautenspiele  so  hervorthat,  dafs  er  mit  den  hervorragendsten 
Vertretern  dieser  Kunst  wetteiferte,  so  brachte  er  es  auch  im  Zeichnen 
und  Malen  so  weit,  dafs  die  bedeutendsten  Künstler  seiner  Zeit, 
wie  Bronzino  und  Cigoli,  oft  seine  Ansichten  und  seinen  Rath 
einholten. 

Sein  Vater,  der  selbst  einen  Tuchhandel  betrieb,  hatte  ihn  zuerst 
für  den  kaufmännischen  Beruf  bestimmt;  als  er  aber  seine  eminenten 
Fortschritte  im  Studium  der  klassischen  Sprachen  sah,  die  er  unter 
Leitung  eines  sehr  mittelmäfsigen  Lehrers  betrieb,  sowie  seine  Ge- 
schicklichkeit in  der  Konstruktion  von  Maschinen  aller  Art  erkannte, 
gab  er  seine  Absioht  auf  und  schickte  ihn  im  Alter  von  17  Jahren 
zum  Studium  der  Medizin,  das  damals  sehr  einträglich  war,  auf  die 
Hochschule  in  Pisa,  wo  er  am  5.  September  1D81  immatrikulirt  wurde. 
Hier  studirte  er  neben  Medizin  auoh  die  peripatetische  Philosophie, 
die  damals  allgemein  gelehrt  wurde,  und  eignete  sich  die  gründlichsten 
Kenntnisse  in  dieser  Wissenschaft  an,  um  sie  dann  zeitlebens  mit  den 
scharfen  Waffen  seines  Geistes  zu  bekämpfen. 

In  diese  Zeit  seines  Studienaufenthaltes  in  Pisa  fallt  bereits  die 
Entdeckung  des  Isochronismus  der  Pendelschwingungen1) 
(1582)  — die  Geschichte  von  der  schwingenden  Lampe  im  Dome  zu 
Pisa,  die  ihn  auf  diese  Entdeckung  geführt  haben  soll,  ist  ja  allge- 
mein bekannt.  — Auch  soll  Galilei  diese  Entdeckung  zur  Kon- 
struktion eines  Apparates  zur  Messung  der  Pulsschläge  verwerthet 
haben,  doch  ist  uns  hierüber  nichts  Genaueres  überliefert. 

Damals  hatte  Galilei  noch  nioht  die  mindesten  mathematischen 
Kenntnisse,  und  wir  haben  auoh  nur  Vermuthungen  und  märchenhafte 
Erzählungen  darüber,  wie  er  zu  dem  Studium  dieser  Wissenschaft  ge- 
führt wurde.  Nnr  soviel  ist  sicher,  dafs  er  von  Ostilio  Ricci,  einem 
Lehrer  der  Mathematik  in  Pisa,  seinen  ersten  Unterricht  im  Euklid 
genofs  und  bald  solche  Freude  an  der  Geometrie  fand,  dafs  er  in 


1 ) Man  versteht  darunter  bekanntlich  das  Gesetz,  dafs  die  Schwingungs- 
zeit von  der  Gröfse  des  Ausschlagwinkels  unabhängig  ist. 


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seinen  Vater  drang,  ihm  die  Erlaubniß  zum  Aufgeben  des  medizinischen 
Studiums  zu  ertheilen,  was  derselbe  auch  nach  langem  Zögern  und 
mit  schwerem  Herzen  that,  naohdem  er  sich  von  dem  unüberwindlichen 
Hange  seines  Sohnes  zu  den  mathematischen  Wissenschaften  über- 
zeugt hatte. 

üa  aber  Vincenzio  Galilei  nicht  die  Mittel  besafs,  um  seinen 
Sohn  noch  länger  in  Pisa  studiren  zu  lassen,  und  da  daselbst  auch 
nicht  besonders  viel  in  der  Mathematik  zu  holen  war,  so  kehrte 
Galilei  nach  Florenz  zurück  und  widmete  sich  mit  aller  Energie  dem 
Studium  der  alten  Geometer.  Aus  dieser  Zeit  sind  uns  einige  Arbeiten 
von  ihm  bekannt.  Archimedes  Bestimmung  des  Silber-  und  Gold- 
gehaltes der  Krone  des  Königs  Hiero  von  Syrakus  durch  Wägung 
veranlafste  ihn  zur  Erfindung  der  hydrostatischen  Waage.  Außer- 
dem machte  er  eingehende  Studien  über  den  Schwerpunkt  der 
Körper,  um  die  Lücken  in  einem  Werke  des  Commandinus  zu  er- 
gänzen, bis  er  fand,  dafs  Lu  ca  Vaierio  die  Theorie  des  Schwer- 
punktes bereits  vollständig  behandelt  hatte.  Namentlich  diese  letzteren 
mathematischen  Arbeiten,  von  denen  erst  jüngst  Bruchstücke  im  ersten 
Bande  der  neuen  Galilei-Ausgabe  publizirt  wurden,  machten  den 
Marquis  Guido  Ubaldo  del  Monte,  einen  hervorragenden  Mathe- 
matiker der  damaligen  Zeit,  auf  ihn  aufmerksam  und  flößten  ihm 
solche  Bewunderung  ein,  daß  er  sagte,  seit  Archimedes  sei  kein 
solches  Genie  mehr  in  der  Wissenschaft  erschienen  wie  Galilei. 
Dieser  Guido  Ubaldo  und  sein  Bruder,  der  Kardinal  Franoesco 
Maria  del  Monte,  nahmen  sich  warm  des  jungen  Galilei  an  und 
verschafften  ihm  durch  ihre  Empfehlung  im  Juli  1689  vorerst  auf  drei 
Jahre  den  Lehrstuhl  der  Mathematik  in  Pisa,  der  durch  den  Tod  von 
Galileis  erstem  Lehrer  Ricci  erledigt  war.  Das  Gehalt,  das  er  hier 
bezog,  betrug  allerdings  nur  1 Frcs.  täglich,  aber  Galilei  war  doch 
wenigstens  für  den  Augenblick  von  der  drückendsten  Noth  befreit 

Schon  damals  widmete  er  sich  mit  aller  Energie  dem  Studium 
der  Be  wegungsgosetze,  die  er  als  den  Schlüssel  zu  einer  richtigen 
Erkenn tniß  der  Naturerscheinungen  ansah. 

Aber  auch  schon  von  diesem  Zeitpunkte  an  ist  der  Beginn  des 
Kampfes  zu  datiren,  den  Galilei  sein  ganzes  Leben  hindurch  gegen 
die  Aristotelischen  Prinzipien  der  Naturphilosophie  führte,  die 
mit  einer  jetzt  gar  nicht  mehr  zu  begreifenden  Gewalt  damals  alle 
Geister  beherrschte. 

Wohl  hatten  schon  vor  ihm  einige  selbständige  Köpfe,  wie 
Varchi  (1544)  und  Benedetti  (1663)  diese  Schranken  zu  durch- 

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brechen  gesucht,  aber  es  fehlte  ihnen  theils  die  hinreifseude  Macht 
der  Bered  tsamkeit,  die  Galilei  besafs,  theils  auch  der  Muth  und  die 
geistige  Kraft,  um  aus  ihren  Anschauungen  die  letzten  Konsequenzen 
zu  ziehen.  Wir  besitzen  aus  jener  Zeit  von  Galilei  noch  zwei  Ab- 
handlungen, in  denen  er  die  Fallgesetze  behandelt;  die  eine  mit 
dem  Titel  „De  motu“,  wurde  zum  ersten  Male  im  ersten  Bande  der 
neuen  Ausgabe  seiner  Werke  veröffentlicht,  während  die  andere: 
„Sermones  de  motu  gravium“,  die  etwas  später  entstand,  seit 
1854  bekannt  ist.  In  beiden  Abhandlungen  greift  er  die  Aristotelis- 
sche  Ansicht  an,  dafs  es  schwere  und  leichte  Körper  gebe,  indem  er 
behauptet,  dafs  jeder  Körper  der  Schwere  unterworfen  ist;  ferner  wendet 
er  sich  gegen  die  Ansicht,  dafs  die  Geschwindigkeit  der  fallenden 
Körper  ihrem  Gewichte  direkt  und  der  Dichte  des  Mediums,  in 
welchem  der  Fall  stattfindet,  umgekehrt  proportional  sei;  auch  findet 
er  bereits  das  Gesetz,  dafs  die  Geschwindigkeiten  beim  freien 
Fall  proportional  der  Zeit  wachsen,  und  beweist  es  durch  Ex- 
perimente mittelst  der  Fallrinne;  endlich  wendet  er  sich  gegen  die 
Anschauung,  dafs  bei  der  sogenannten  gewaltsamen  Bewegung, 
wie  z.  B.  beim  Wurfe,  die  Ursache  der  Fortdauer  der  Bewegung  nach 
Aufhören  des  veranlassenden  Stofses  in  dem  bewegten  Mittel  — der 
Luft — liege.  Nach  Galileis  Ansicht  erklärt  sich  dieser  Umstand  viel- 
mehr aus  der  „virtus  impressa“,  d.  h.  aus  einer  dem  bewegten  Körper 
durch  die  ursprüngliche  Bewegungsursache  „eingeprägten  Kraft“  oder, 
was  dasselbe  ist,  aus  dem  Beharrungsvermögen,  eine  Erklärung, 
die  übrigens  auch  schon  sein  Vorläufer  Benedetti  gegeben  hatte. 

Allerdings  sind  seine  Anschauungen  über  diese  „eingeprägte 
Kraft“  noch  vielfach  unrichtig,  indem  er  z.  B.  glaubt,  dieselbe  nehme 
mit  der  Fortdauer  der  Bewegung  beständig  ab,  um  schliefslich  ganz 
zu  erlöschen.  Auch  unterscheidet  Galilei  in  den  Sermones  im  An- 
schlufs  an  Aristoteles  beständig  zwischen  natürlicher  und  ge- 
waltsamer Bewegung  und  behält  diese  merkwürdige  Auffassung,  die 
der  Weiterentwickelung  der  Mechanik  am  meisten  im  Wege  stand, 
auch  in  den  reifsten  Sohriften  der  späteren  Periode  seines  Lebens  bei. 
Aber  wenn  auch  seine  Ansichten  damals  und  manchmal  auch  später 
noch  nicht  überall  das  Richtige  trafen,  so  hat  er  doch  das  unschätz- 
bare Verdienst,  dafs  er  überhaupt  die  Bewegung  beobachten  lehrte 
und  durch  soine  Fallversuche,  die  er  aufser  mit  der  schiefen  Ebene 
auch  auf  dem  schiefen  Thurme  von  Pisa  anstellte,  zum  ersten  Male 
das  Experiment  als  ein  der  Spekulation  ebenbürtiges  Mittel  der 
wissenschaftlichen  Forschung  einführte. 


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Auf  diese  Sermones,  von  denen  ich  nur  weniges  mitgetheilt  habe, 
ist  Galilei  noch  einmal  am  Ende  seines  Lebens  zurückgokommen. 
Sie  bilden  nämlich  das  Fundament  seines  grofsartigsten  Werkes,  der 
„Diseorsi“,  in  denen  er  die  Gesetze  der  gleichförmigen  und  der 
gleichförmig  beschleunigten  Bewegung  niederlegte  und  so  die 
Basis  der  Dynamik  schuf.  Dabei  ist  es  wichtig,  zu  bemerken,  dafs 
Galilei  viele  Sätze  fast  wörtlich  aus  den  Sermones  in  seine  Diseorsi 
aufnehmen  konnte,  weil  daraus  horvorgeht,  dafs  er  schon  anfangs  der 
zwanziger  Jahre  seines  Lebens  seine  Grundgedanken  fafste  und  sogar 
deren  wesentlichste  Konsequenzen  zog. 

Obgleich  die  Neuheit  und  Schönheit  seiner  Experimente,  vor 
einem  immensen  Publikum  ausgeführt,  einerseits  einen  grofsen  Enthu- 
siasmus errregten,  so  riefen  sie  andererseits  auch  Neid  hervor.  Zu- 
gleich machten  ihm  seine  Angriffe  gegen  die  Aristotelische  Schul- 
weisheit die  herrschenden  Peripatetiker  zu  Feinden,  zumal  er  schon 
damals,  wie  überhaupt  während  seines  ganzen  Lebens,  den  Streit 
selten  auf  das  absolut  nöthige  Mafs  beschränkte,  sondern  ihn  geradezu 
aufsuchte.  Doch  kümmerte  sich  Galilei  sehr  wenig  um  den  Anstofs, 
den  er  durch  seine  reformatorischen  Bestrebungen  erregte,  da  er  sich 
durch  die  Gunst  seines  Landesherrn  gesichert  glaubte.  So  sagt  er 
z.  B.  in  den  Sermones  einmal:  „Quod  hoc  multorum  opinioni  adver- 
setur,  nil  mea  refert,  dummodo  rationi  et  experientiae  congruat.“5) 

Aber  diese  Gunst  wurde  durch  die  Einflüsterungen  seiner  Gegner 
allmählich  geschwächt  und  war  bald  ganz  verscherzt,  als  er  eine 
Maschine  für  unbrauchbar  erklärte,  welche  Johann  von  Medioi, 
ein  natürlicher  Sohn  des  Fürsten  Cosmo  L,  zur  Reinigung  des  Hafens 
von  Livorno  erfunden  hatte.  So  mufste  Galilei,  nachdem  sein  Tri- 
ennium  vorüber  war,  Pisa  verlassen  und  stand  ohne  Mittel  und 
Stellung  der  drückenden  Aufgabe  gegenüber,  die  zahlreiche  von  soinem 
inzwischen  verstorbenen  Vater  hinterlassene  Familie  zu  erhalten.  Dooh 
kam  ihm  auch  diesmal  wieder  sein  Gönner  Guido  Ubaldo  hilfreich 
entgegen,  indem  er  ihn  an  den  reichen  Patrizier  Salviati  in  Florenz 
empfahl,  der  ihn  thatkräftig  unterstützte  und  mit  dem  vornehmen 
Venetianer  Sagredo  bekannt  machte.  Dieser  verschaffte  ihm  zu- 
nächst auf  6 Jahre  den  Lehrstuhl  der  Mathematik  in  Padua,  der 
durch  den  Tod  Molcttis  erledigt  war.  Die  beiden  genannten  Männer 
Salviati  und  Sagredo  blieben  zeitlebens  Galileis  beste  Freunde, 


’)  Dafs  dios  dor  Ansicht  vieler  widerspricht,  ist  mir  ganz  gleichgültig, 
wenn  es  nur  mit  der  Vernunft  und  der  Erfahrung  übereinstimmt. 


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und  zum  Danke  dafür  errichtete  er  ihnen  ein  unvergängliches  Denk- 
mal, indem  er  sie  in  seinen  unsterblichen  Dialogen  über  die  beiden 
Weltsysteme  wie  in  seinen  Disoorsi  als  redende  Personen  einführte. 

Am  7.  Dezember  1592  also  begann  Galilei  seine  Lehrthätigk eit 
in  Padua,  die  er  in  einer  Stadt,  die  unter  dem  Senate  der  Republik 
Venedig  stand,  mit  weit  größerer  Freiheit  als  in  Pisa  auszuüben  im 
Stande  war.  Hier  hielt  er  Vorlesungen  über  Gnomonik,  Mechanik, 
sphärische  Astronomie  und  Befestigungskunst,  und  zwar  vor 
so  zahlreichem  Publikum,  dafs  die  gröfsten  Säle,  die  in  Padua  zu 
finden  waren,  die  Menge  der  Zuhörer  nicht  fassen  konnten,  ein  bis 
dahin  nie  dagewesenes  Ereignifs,  denn  die  mathematischen  Vorlesungen 
hatten  vor  Galilei  so  wenig  Zugkraft,  dafs  es  sich  für  die  Staaten 
kaum  verlohnte,  einen  Professor  der  Mathematik  anzustellen.  Der 
Grund  dieser  Erscheinung  war  ein  doppelter:  Einmal  wufste  Galilei 
jedes  der  ihm  vorgeschriebenen  Kapitel  von  ganz  neuem  Standpunkte 
aus  zu  behandeln  und  durch  Experimente  und  Demonstrationen  zu 
erläutern,  und  dann  war  seine  Lehrbegabung  eine  so  eminente,  sein 
Vortrag  von  solcher  Klarheit  und  Durchsichtigkeit,  seine  Diktion 
auf  dem  Katheder  wie  in  seinen  Schriften  von  so  klassischer  Schön- 
heit, dafs  er  alle  seine  Zuhörer  unwiderstehlich  mit  sich  fortrifs. 

Von  dem  Inhalt  der  Vorträge  in  Padua  sind  uns  nur  Bruch- 
stücke erhalten,  die  theilweise  noch  nicht  veröffentlicht  wurden,  doch 
können  wir  einiges  darüber  anführen,  und  heben  das  Interessanteste 
hervor. 

Eine  Vorlesung  über  Mechanik,  die  uns  erhalten  blieb,  wurde 
im  Jahre  1634  von  dem  berühmten  P.  Mersenne  in  Paris  ins  Franzö- 
sische übersetzt  und  veröffentlicht  und  15  Jahre  später  in  italienischer 
Sprache  von  Luca  Danesi  herausgegeben.  In  derselben  behandelt 
Galilei  die  Gesetze  der  Statik,  indem  er  von  dor  Definition 
des  Momentes  einer  Kraft  ausgeht.  Darunter  versteht  er  aber  nicht 
die  spezielle  Idee,  die  wir  heute  mit  diesem  Begriffe  in  der  Statik  ver- 
binden, sondern  er  fafst  den  Begriff  viel  weiter  und  allgemeiner,  in- 
dem er  darunter  die  Wirkung,  die  Energie  oder  den  „impetus“  der 
Kraft  versteht,  welcher  nöthig  ist,  um  die  Maschine  in  Bewegung  zu 
setzen,  so  dafs  zwischen  zwei  Kräften  dann  Gleichgewicht  besteht, 
wenn  ihre  Momente,  die  im  Stande  sind,  die  Maschine  nach  entgegen- 
gesetzten Richtungen  zu  bewegen,  einander  gleioh  werden.  Dabei 
setzt  er  das  Moment  proportional  der  Kraft  multiplizirt 
mit  der  virtuellen,  d.  h.  möglichen  Geschwindigkeit  in  der 
Kraftrichtung.  Von  diesem  Prinzip  der  virtuellen  Gesohwindig- 


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keilen,  das  wohl  von  Leonardo  da  Vinoi  erkannt  und  von  Guido 
Ubaldo  auf  den  Hebel  angewendet  worden  war,  machte  Galilei 
schon  damals  und  später  in  den  Discorsi  den  ausgedehntesten  Ge- 
brauch, um  die  Gleiohgewichtsbedingungen  für  die  sämmtlichen  ein- 
fachen Maschinen  zu  erhalten. 

Nebenbei  sei  bemerkt,  dafs  spätere  Schriftsteller  dieses  Prinzip 
wieder  verliefsen.  Erst  Johann  Bernoulli  wies-  1717  auf  seine 
Wichtigkeit  hin,  und  Lagrange  machte  es  dann  zum  Fundament 
seiner  analytischen  Mechanik,  indem  er  aber  ausdrücklich  bemerkte, 
dafs  schon  Galilei  in  seinen  Discorsi  dasselbe  als  eine  überall  an- 
wendbare Grundanschauung  auffafste,  in  der  zugleich  die  Vorstellung 
von  der  wahren  Ursache  des  Gleichgewichtes  und  überhaupt  des  gegen- 
seitigen Aufwiegens  der  Kräfte  zu  suchen  sei. 

Aufser  mit  den  statischen  Untersuchungen,  die  in  der  ange- 
führten Abhandlung  enthalten  sind,  beschäftigte  sich  Galilei  damals 
auch  mit  der  Ausbildung  der  reinen  Bewegungslehre.  So  kannte 
er  schon  1602  den  Satz,  dafs  die  sämtlichen  Sehnen,  welche  in  dein 
tiefsten  Punkte  eines  vertikal  stehenden  Kreises  zusammenlaufen,  von 
einem  schweren  Punkte  in  derselben  Zeit  durchfallen  werden.  Ferner 
hatte  er  sich  auch  damals  schon  mit  dem  Wesen  der  beschleu- 
nigten Bewegung  insoweit  vertraut  gemacht,  als  er  die  Nothwen- 
digkeit  erkannte,  dafs  der  sich  bewegende  Körper,  um  vom  Zustande 
der  Ruhe  ausgehend  einen  gewissen  Geschwindigkeitsgrad  zu  er- 
langen, alle  zwischenliegenden  Geschwindigkeitsstufen  durchlaufen 
haben  müsse.  Diese  Nothwendigkeit  betont  er  auch  in  seinen  späteren 
Schriften  mit  der  gröfsten  Bestimmtheit  und  Klarheit,  weil  das  Ver- 
ständnis gerade  dieses  Punktes  Galileis  Zeitgenossen  die  gröfste 
Schwierigkeit  bereitet  zu  haben  scheint. 

Es  wird  gut  sein,  wenn  wir,  an  diesem  Punkte  angelangt,  den 
historischen  Gang  unserer  Darlegung  unterbrechen  und  eine  Erörte- 
rung über  die  schon  wiederholt  erwähnten  Discorsi  cinschalten,  um 
so  Galileis  Leistungen  im  Gebiete  der  Mechanik  zusammenfassend 
besprechen  zu  können. 

Diese  Discorsi  oder  „Gespräche  und  mathematische  De- 
monstrationen über  zwei  neue  Wissen  szweige,  die  Mechanik 
und  die  Fallgesetze  betreffend“,  wie  der  vollständige  Titel 
lautet,  sind  die  reifste  Frucht  seines  schöpferischen  Geistes.  Schon 
beim  Beginne  seiner  wissenschaftlichen  Thätigkeit  erkannte  Galilei, 
wie  erwähnt,  das  Studium  der  Gesetze  der  Bewegung  als  den  Angel- 
punkt der  richtigen  Erkenntnifs  der  Naturerscheinungen.  Dieses 


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500 


Studium  bildet  die  Basis  aller  seiner  späteren  physikalischen  Arbeiten, 
und  nachdem  er  sich  mühsam  durchgerungen  zu  einer  neuen  und 
durchaus  selbständigen  Auflassung  der  Bowegungserscheinungen,  zu 
jener  Auffassung,  die  das  Fundament  unserer  heutigen  Mechanik 
bildet,  war  es  ihm  noch  gegönnt,  seine  unsterblichen  Forschungen  der 
Nachwelt  in  diesen  Gesprächen  zum  grofsen  Theile  in  fertiger  Form 
zu  überliefern. 

Im  Jahre  1638,  als  Galilei  längst  von  der  Inquisition  verurtheilt 
und  bereits  erblindet  war,  erschienen  die  Disoorsi  als  eine  Unterredung 
zwischen  seinen  beiden  schon  lange  verstorbenen  Freunden  Salviati 
und  Sagredo  und  einem  Vertreter  der  Aristotelischen  Richtung 
Simplicius.  In  ungezwungenem  Gesprächston  verkehren  diese  drei 
Männer  an  6 Tagen  miteinander;  Salviati  ist  es,  der  des  Autors  Person 
vertretend,  dieneuen  Ideen  entwickelt,  d.h.  alles  das,  was  Galilei  während 
seines  langen  Lebens  über  die  Gesetze  der  Statik  und  Dynamik  Neues 
gefunden  hatte.  Sagredo  trägt  durch  geistreiche  Einwürfe  und 
Fragen  zur  Klärung  der  Begriffe  bei,  während  Simplicius,  der  als 
echter  Peripatetiker  wenig  von  Mathematik  versieht,  den  auf  seine 
Wissenschaft  stolzen  Zweifler  darstellt,  der  sich  übrigens  oftmals 
durch  die  klaren  Deduktionen  Sulviatis  und  Sagredos  klein  bei- 
zugeben gezwungen  sieht. 

Da  die  Kürze  der  Zeit  es  nicht  gestattet,  näher  auf  den  Inhalt 
des  grundlegenden  Werkes  einzugehen,  so  will  ich  wenigstens  ver- 
suchen, in  kurzen  Worten  das  zu  schildern,  was  das  Werk  für  die 
Naohwelt  unsterblich  gemacht  hat,  nämlich  die  darin  eingeschlagene 
Forschungsmethode  und  die  neu  gewonnenen  Prinzipien  der 
Mechanik. 

Galileis  Methode  der  Untersuchung  unterscheidet  sich  dadurch 
von  der  seiner  Vorgänger,  dafs  er  nicht  wie  diese  fragt,  welche  Ur- 
sachen es  sind,  die  die  Bewegung  hervorrufen,  sondern  wie  die 
Bewegung  vor  sich  geht;  er  betrachtet  dieselbe  in  der  Natur,  in  der 
Bewegung  der  Thiere,  im  freien  Fall  der  Körper  und  deducirt  durch  An- 
wendung mathematischen  Denkens  die  Gesetze,  nach  welchen  die  Er- 
scheinungen sich  zeigen.  Bei  ihm  deckt  sich  daher  die  Aufgabe  der 
Mechanik  vollständig  mit  dem  Begriffe,  den  Kirchhoff  an  die  Spitze 
sein  er  Mechanik  stellte,  indem  er  sagt:  „ihre  Aufgabe  ist  es,  die 
in  der  Natur  vor  sich  gehenden  Bewegungen  vollständig 
und  auf  die  einfachste  Weise  zu  beschreiben.“  Auch  ist  sich 
Galilei  dieses  Unterschiedes  seinen  Vorgängern  gegenüber  vollständig 


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501 


bewirfst,  denn  er  sagt  am  Eingänge  zum  3.  Tage  seiner  „Gespräche“ 
wörtlich: 

„Einiges  von  geringerer  Bedeutung  hört  man  nennen 
(nämlich  von  Seiten  seiner  Vorgänger),  wie  z.  B.  dafs  die  natür- 
liche Bewegung  fallender  schwerer  Körper  eine  stetig  be- 
schleunigte sei.  In  welchem  Mafse  aber  diese  Beschleuni- 
gung stattfinde,  ist  bisher  nicht  ausgesprochen  worden; 
denn  soviel  ich  weifs,  hat  niemand  bewiesen,  dafs  die  vom 
fallenden  Körper  in  gleichen  Zeiten  zurückgelegten 
Strecken  sich  zueinander  verhalten,  wie  die  ungeraden 
Zahlen.  Auch  hat  man  wohl  beobachtet,  dafs  Wurfge- 
schosse eine  gewisse  Kurve  beschreiben,  dafs  diese  aber 
eine  Parabel  sei,  hat  niemand  gelehrt.  Die  Richtigkeit 
dieser  Sätze  und  noch  vieles  andere  Wissenswerthe  wird 
von  mir  bewiesen  werden,  und  es  wird,  was,  wie  ich  glaube, 
höher  anzuschlagen  ist,  der  Zugang  zu  einer  höchst  um- 
fassenden und  vorzüglichen  Wissenschaft  erschlossen 
werden,  für  welche  diese  unsere  Arbeiten  die  Elemonte 
bilden  müssen,  und  in  welcher  tiefer  eindringende  Geister 
das  Verborgenere  und  Entlegenere  beweisen  werden.“ 

Klarer  hätte  er  wohl  kaum  die  Vergangenheit,  Gegenwart  und 
Zukunft  seiner  Wissenschaft  zusammenlässen  können! 

Mit  den  dynamischen  Betrachtungen  verknüpft  erscheinen 
bei  Galilei  die  Untersuchungen  über  die  Gesetze  der  Statik,  und 
das  sie  verknüpfende  Element  ist  das  Prinzip  der  virtuellen  Ge- 
schwindigkeiten. Denn  er  fafste  den  Gleichgewichtszustand  immer 
als  eine  Grenze  der  möglichen  Bewegungen  des  Systems  auf. 

Besonders  betont  hatte  er  dieses  Gesetz  bereits  in  seinem  1612 
erschienenen  Buche  über  die  schwimmenden  Körper,  wo  er  dasselbe 
auf  das  Gleichgewicht  und  die  Bewegung  in  Flüssigkeiten  anwandte. 
So  gelang  es  ihm  dort  zum  ersten  Male,  die  Hydrostatik  als  ein 
Glied  der  allgemeinen  Mechanik  darzustellen,  indem  er  in  dem  Prin- 
zipe  der  virtuellen  Geschwindigkeiten  das  passendste  Mittel  zur  Er- 
klärung der  Gleichgewichtsgesetze  der  Flüssigkeiten  erkannte. 

Doch  findet  sich  ein  wesentlicher  Mangel  in  Galileis  Einsicht 
in  die  Prinzipien  der  Mechanik,  den  er  nie  ganz  auszugleichen  ver- 
standen hat;  er  kennt  nämlich  nur  theilweise  die  Möglichkeit,  eine 
Kraft  auf  eine  bestimmte  Richtung  zu  reduziren.  Denn  nur 
bei  der  Darstellung  des  horizontalen  Wurfes  bedient  er  sich  des 
Kräfteparallelogrammes,  oder  besser  Rechteckes,  das  aus  der  verti- 


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kalen  Schwert*  und  aus  der  horizontalen  Geschwindigkeit  konstruirt 
wird.  Aber  auch  dieser  Fall  bietet,  genau  betrachtet,  nur  ein  Beispiel 
fiir  die  Behandlung  einer  Bewegungserscheinung,  während  es 
sich  beim  Parallelogramm  der  Kräfte  bekanntlich  um  die  Zusammen- 
setzung oder  Zerlegung  der  Gröfsen  derjenigen  Ursachen  handelt, 
die  diese  Bewegungsphänomene  veranlassen.  Daraus,  dafs  Galilei 
diesen  Unterschied  nicht  erkennt,  erklärt  es  sich  auch,  dafs  für  ihn 
wohl  die  Zusammensetzung  der  Bewegungen  eine  ganz  geläufige 
Vorstellung  ist,  während  er  nicht  im  Stande  ist,  das  Prinzip  der  Zu- 
sammensetzung und  Zerlegung  bei  den  Betrachtungen  der  Statik, 
z.  B.  bei  der  schiefen  Ebene,  in  Anwendung  zu  bringen. 

Fügen  wir  noch  einige  Worte  bei  über  das  sogenannte  Be- 
harrungsprinzip, indem  wir  die  vielumstrittene  Frage  streifen,  ob 
Galilei  als  der  Entdecker  dieses  Fundamentalgesetzes  zu  betrachten 
sei.  Mir  scheint  diese  Frage  in  folgender  Weise  beantwortet  werden 
zu  müssen.  Das  Beharrungsprinzip  ist,  w*ie  Diihring  in  seiner 
kritischen  Geschichte  der  Prinzipien  der  Mechanik  treffend  sagt,  eine 
Naturth atsache,  die  in  ihrer  Ein fachheit  durch  Zergliede- 
rung der  Verfahrungsarten  der  Natur  in  den  zusammenge- 
setzten Hergängen  nachgewiesen  und  herausgehoben  sein 
will,  aber  nicht  als  eine  blofse  Denknothwendigkeit  ange- 
sehen werden  darf.  Und  das  ist  auch  unzweifelhaft,  wie  ich  glaube, 
Galileis  Auffassung;  denn  Galilei  benutzt  und  formulirt  von 
diesem  Prinzip  immer  nur  gerade  soviel,  als  bei  der  aktuellen  Frage 
in  Betracht  kommt. 

Klar  zeigt  sich  dies  in  den  Dialogen  über  die  beiden  Welt- 
systeme, denn  dort  spielt  natürlich  das  Beharren  der  Bewegung  die 
wichtigste  Rolle,  weil  ohne  dieses  das  Kopernikanische  System  sich 
mit  den  alltäglichen  irdischen  Vorgängen  nicht  in  Uebereinstimmung 
bringen  läfst.  Aber  vergebens  wird  man  daselbst  nach  einer  Formu- 
lirung  des  Prinzipes  in  unserm  Sinne  suchen;  es  ist  dort  immer  nur, 
wenn  auch  nicht  immer  in  richtiger  Weise,  von  jener  Kreisbewegung 
die  Rede,  welche  den  Körpern  durch  die  Rotation  der  Erde  ertheilt 
wird.  Daraus  hat  man  mit  Unrecht  geschlossen,  Galilei  habe  die 
Beharrung  in  der  Kreisbewegung  als  Naturgesetz  ange- 
sehen. Dagegen  spricht  nämlich  z.  B.  eine  Stelle  am  Eingang  zum 
4.  Tage  der  „Gespräche“.  Galilei  sagt  daselbst,  bevor  er  die  Wurf- 
bewegung zu  behandeln  beginnt,  wörtlich:  „Wenn  ein  Körper  ohne 
allen  Widerstand  sich  horizontal  bewegt,  so  ist  aus  allem 
Vorhergehenden,  ausführlich  Erörterten,  bekannt,  dafs 


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503 


diese  Bewegung  eine  „gleiohförmige“  sei  und  unaufhörlich 
fortbestehe  auf  einer  unendlichen  Ebene.  Ist  letztere  hin- 
gegen begrenzt  und  ist  der  Körper  schwer,  so  wird  derselbe, 
am  Ende  der  Horizontalen  angelangt,  sich  weiterbewegen 
und  zu  seiner  gleichförmigen  unzerstörbaren  Bewegung 
gesellt  sich  die  durch  die  Schwere  erzeugte,  so  dafs  eine 
zusammengesetzte  Bewegung  entsteht,  die  ioh  Wurfbe- 
wegung nenne.“  Hier  ist  also  in  ganz  anderer  Weise  als  in  den 
Dialogen  diejenige  Seite  des  Boharrungsprinzipes  verwerthet,  die  ge- 
rade für  die  Wurfbewegung  nöthig  ist;  und  so  liefsen  sich  noch  ver- 
schiedene Stellen  anführen,  die  für  meine  Behauptung  sprechen,  dafs 
sich  Qalilei  der  Tragweite  und  Bedoutung  des  Prinzipes  vollständig 
bewufst  war,  wenn  er  es  auch  nicht  zu  einem  Satze  formulirte.  Nun 
frage  ich,  ist  derjenige,  welcher  eine  Naturthatsache  in  allen  ihren 
Wirkungen  erkennt,  als  ihr  Entdecker  zu  bezeichnen  oder  erst  der, 
welcher,  dieselben  zusammenfassend,  ihnen  den  Ausdruck  eines  Ge- 
setzes verleiht?  Je  nachdem  man  diese  Frage  beantwortet,  ist  Galilei 
als  Entdecker  des  Gesetzes  der  Trägheit  zu  bezeichnen  oder  nicht. 
„Thatsächlich  genügte  auch“,  wie  Wohl  will  in  seinen  Untersuchungen 
über  das  Beharrungsgesetz  sagt,  „ein  Geist  vom  Range  Balianis, 
ein  klarer  Kopf  ohne  hervorragende  schöpferische  Begabung,  um  den 
Worten  des  Meisters  zu  entnehmen,  was  dieser  unausgesprochen  ge- 
lassen hatte“,  und  die  verschiedenen  Momente  dieses  Prinzipes  in  der 
Form  eines  einzigen  Gesetzes  zusammenzufassen.  Doch  kehren  wir 
nach  dieser  längeren  Abschweifung  über  Galileis  mechanische 
Leistungen  zu  seiner  weiteren  Thätigkeit  in  Padua  zurück. 

Diese  erschöpfte  sioh  nicht  in  seinen  theoretischen  Arbeiten  und 
in  seinem  Lehrberufe,  sondern  sie  erstreckte  sich  auch  auf  die  prak- 
tische Anwendung.  Aus  diesem  Umstande  ging  die  Erfindung  eines 
Proportionalzirkels  1597  hervor,  über  den  Galilei  1606  eine 
eigene  Schrift  veröffentlichte,  die  noch  erhalten  ist.  In  dieser  Ab- 
handlung beschreibt  er  die  Konstruktion  des  Proportionalzirkels  und 
bespricht  eingehend  dessen  Verwendung  für  die  Zwecke  des  Ingenieurs. 
Wenn  auch  kein  Zweifel  besteht,  dafs  vor  Galileis  Erfindung  schon 
ähnliche  Instrumente  bestanden  hatten,  so  hat  er  dieselben  doch  so 
wesentlich  verbessert,  dafs  ihre  Verwendbarkeit  in  hohem  Marse  ge- 
steigert war.  Auch  machte  er  mit  dieser  Erfindung  damals  grofses 
Aufsehen  und  setzte  eine  Menge  Instrumente  im  In-  und  Auslande  ab. 
Jetzt  ist  freilich  dieser  Proportionalzirkel  durch  Jobst  Bürgis  un- 
gefähr gleichzeitig  erfundenen  Reduktionszirkel  längst  verdrängt. 


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504 


In  die  Zeit  zwischen  1593  und  1597  fällt  auch  nach  Angabe 
Vivianis,  des  Biographen  und  letzten  Schülers  von  Galilei,  die 
Erfindung  eines  Luftthermometers  in  einfachster  Form.  Die  Neu- 
heit des  Gedankens  bei  dieser  Erfindung  besteht  darin,  die  direkt  nur 
dem  Gefühle  wahrnehmbare  greisere  oder  geringere  Warme  dem 
Gesichtssinn  zugänglich  zu  machen.  Dafs  die  Ausführung  des 
Instrumentes  noch  sehr  mangelhaft  war,  indem  dasselbe  namentlich 
auch  den  Schwankungen  des  Luftdruckes  ebenso  ausgesetzt  war  wie 
der  Temperatur,  schmälert  nicht  das  Verdienst  der  Originalität  des 
Gedankens.  Man  hat  diese  Erfindung  für  verschiedene  Zeitgenossen 
Galileis  in  Anspruch  genommen,  aber  mit  Unrecht,  denn  Briefe 
Sugrodos  aus  jener  Zeit  an  Galilei  lassen  deutlich  das  Anrecht 
desselben  auf  die  Priorität  der  Erfindung  erkennen. 

(Sehlufs  folgt.) 


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Die  physische  Beschaffenheit  des  Planeten  Mars  nach 
dem  Zeugnifs  seiner  hervorragendsten  Beobachter. 

Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 


(Fortsetzung.) 


-GiT^Jnter  den  Forschern,  welche  die  Aehnlichkeit  des  Planeten  Mars 
\Jt.v  mit  der  Erde  und  seine  Bewohnbarkeit  in  Zweifel  ziehen, 
nehmen  der  Direktor  der  Lick  Sternwarte,  Professor  Holden, 
und  der  Observator  derselben  Sternwarte,  Professor  Schaeberle,  die 
vornehmste  Stelle  ein.  Die  Meinungen  dieser  beiden  Männer  — denn 
nur  von  Meinungen,  keineswegs  von  Beweisen  für  oder  wider  kann 
leider  die  Rede  sein  — fallen  um  so  schwerer  ins  Gewicht,  als  sie 
in  der  glücklichen  Lago  sind,  jene  merkwürdige  Nachbarwelt  mit  dem 
kräftigsten  aller  bis  jetzt  vorhandenen  Sehwerkzeuge  untersuchen  zu 
können. 


Es  mufs  hier  jedoch  sogleich  eingelegt  werden,  dafö  die  Gröfse 
des  Objektivs,  d.  h.  die  gröfsere  Lichtfülle  des  Instruments,  durchaus 
keinen  wesentlichen  Vortheil  für  die  Beobachtung  des  Mars  gegen- 
über kleineren  Instrumenten  bietet.  Ja,  als  Schiaparelli,  der  seine 
epochemachenden  Untersuchungen  bekanntlich  mit  einem  nach  heutigen 
Begriffen  sehr  kleinen,  achtzölligen  Fraunhoferschen  Refraktor  an- 
gestellt hat,  einen  in  allen  Theilen  ganz  vortrefflichen  Achtzehnzöller, 
der  inzwischen  gebaut  worden  war,  auf  das  wohlbekannte  Objekt 
richtete,  war  er  in  der  ersten  Zeit  recht  enttäuscht;  er  bekannte  oft, 
dafs  er  zeitweise  in  dem  alten  Achtzöller  mehr  sehe,  als  in  dem  so 
ungemein  viel  mächtigeren  neuen  Sehwerkzeuge,  und  erst  nach  und 
nach  gelang  es,  ihm  bessere  Resultate  abzuzwingen.  Dem  Astronomen 
sind  die  Ursachen,  welche  solche  scheinbaren  Anomalien  hervorbringen, 
sehr  wohl  bekannt;  wir  können  uns  jedooh  hier  nicht  weiter  darauf 
einlassen.  Es  kommt  eben  nicht  auf  Lichtfülle  an,  die  Mars  auch  für 
kleinere  Instrumente  zur  Genügo  besitzt,  sondern  auf  möglichst  feine 
Definition,  die  durch  Ueberstrahlungen  und  andere  Fehler  gerade  bei 
grofsen  Instrumenten  leichter  getrübt  wird. 


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506 


Wie  Professor  Schaeberle  den  Mars  während  der  letzten 
1892  er  Opposition  in  dem  großen  Instrumente  der  Lick  Sternwarte 
gesehen  hat,  zeigt  die  als  Titelblatt  beigegebene  Tafel,  welche  nach 
einer  uns  von  Herrn  Professor  Holden  gütigst  zur  Verfügung  ge- 
stellten Photographie  der  Originalzeichnung  hergestellt  ist. 

Welche  Ueberzeugungen  man  nun  auf  der  Liok  Sternwarte  über 
den  Zustand  des  Planeten  Mars  besitzt,  geht  aus  einem  von  Professor 
Holden  vor  einigen  Monaten  in  einer  amerikanischen  Revue  unter 
der  Ueberschrift  „What  we  really  know  about  Mars“  veröffentlichten 
Artikel  horvor.  Nachdem  er  in  demselben  zunächst  die  unumstöß- 
lichen geometrischen  Gröfsen-  und  Lagen  Verhältnisse  der  Marskugel 
und  ihrer  Hahn  angegeben  und  kurz  resumirt  hat,  was  man  seit 
Galilei  auf  der  Oberfläche  des  Mars  beobachten  konnte,  stellt  Order 
Flammari onsohen  zwei  andere  Hypothesen  gegenüber,  die  derselben 
nach  zwei  verschiedenen  Richtungen  hin  diametral  gegenüberstehen. 

Die  eine  ist  die  schon  1877  von  John  Brett  ausgesprochene, 
nach  welcher  Mars  anstatt  von  einer  sehr  durchsichtigen  Atmosphäre, 
welche  alle  übrigen  Beobachter  auf  das  bestimmteste  annehmen  zu  müssen 
glauben,  mit  einer  ungemein  dichten  umgeben  ist.  Er  leitet  dies  aus  dem 
Umstand  ab,  dafs  die  Details  auf  dem  Planeten  immer  nur  in  der  Mitte 
der  Scheibe  deutlich  hervortreten,  die  Randpartieen  aber  viel  ver- 
waschener erscheinen  als  selbst  beim  Jupiter.  Da  es  nun  nach- 
gewiesen ist,  dafs  sich  sehr  viel  Wasserdainpf  in  der  Atmosphäre  des 
Mars  befindet,  während  Wolken  sich  notorisch  dort  überhaupt  nicht 
oder  nur  äußerst  selten  bilden,  so  inüsso  nothwendig  die  Luft  beständig 
so  warm  erhalten  werden,  dafs  eine  Kondensirung  des  Wasserdampfes 
nicht  möglich  wird.  Denn  wenn  — so  schließt  der  Gonannto  — die 
weißen  Flecke  am  Pol  wirklich  aus  Schnee  bestehen,  so  müßte  sich 
über  diesen  ausgedehnten  Eisfeldern  der  Wasserdampf  nothwendig  zu 
'Wolken  kondensiren,  weil  er  dort  unter  allen  Umständen  dann  genü- 
gende Abkühlung  finden  würde.  Da  dies  nicht  beobachtet  wird,  so 
ist  Brett  überzeugt,  dafs,  ganz  abweichend  von  der  allgemeinen 
Meinung,  Mars  sich  noch  in  einem  sehr  jungen  geologischen  Stadium 
befindet,  nur  eine  sehr  dünne  Kruste  besitzt  und  sehr  große  Wärme- 
mengen an  die  Atmosphäre  abgiebt.  Die  Veränderungen  der  bisher 
sogenannten  Land-  und  Seegebiete  müßten  dann  also  fürchterlichen 
geologischen  Revolutionen  zugesohrieben  werden.  Die  weißen  Polar- 
flecke erklärt  er  als  Wolkengebilde  in  den  höheren  Regionen  der 
Atmosphäre,  welche  mit  den  Jahreszeiten  kommen  und  sich  auflüsen, 


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607 


ihre  oft  beobachtete  schwarze  Umrandung  als  die  Schatten  dieser 
Wolkenkalotte. 

Dieser  Meinung  Bretts  schliefst  sich  die  des  bekannten  Astro- 
nomen der  Liok  Sternwarte  Barnard  am  meisten  an,  der  vom  1.  Juli 
vergangenen  Jahres  an  wöchentlich  einmal  Gelegenheit  hatte,  mit  dem 
36-Zöller  die  Nachbarwelt  zu  prüfen.  Auch  er  beobachtete  so  auf- 
fällige und  schnelle  Veränderungen  der  verschieden  gefärbten  Re- 
gionen der  Marsoberfläche,  dafs  sie  ihm  zu  folgendem  Ausspruch  Ver- 
anlassung gaben: 

„Diese  auffälligen  Veränderungen  sind  angethan,  uns  stutzig  zu 
machen,  sodafs  wir  uns  fragen  müsson,  ob  das,  was  wir  dort  am 
Himmel  sehen,  wirklich  eine  Veit  gleiflh  der  unsrigen  ist,  mit  nahezu 
unveränderlichen  Land-  und  Ozeangebieten,  oder  ob  sie  nicht  vielmehr 
unserer  Erde  in  ihren  jungen  Tagen  gleicht,  als  die  Kontinente  und 
die  Meere  sich  verschoben,  ehe  die  Oberfläche  der  Erde  durch  den 
Abkühlungsprozefs  fest  wurde.  Ist  dieses  letztere  der  Fall,  so  können 
wir  sicher  sein,  dafs  Mars  von  höheren  Lebensordnungen  nicht  be- 
völkert ist.“ 

Gleichfalls  ganz  verschieden  von  der  allgemein  adoptirten  Ueber- 
zeugung  ist  die  von  Professor  Schaeberle.  Er  sagt  in  der  bereits 
früher  angezogenen  Revue  (The  Forum,  November  92):  „Schiapa- 
relli,  Flammarion  und  die  meiston  anderen  Beobachter  des  Mars 
stimmen  darin  überein,  dafs  sie  die  dunkleren  Regionen  des  Mars 
Wasser,  die  helleren  Land  nennen.  Meine  eigenen  Beobachtungen 
von  1890  und  1892  haben  mich  gerade  zu  der  entgegengesetzten  An- 
sicht geführt“ 

Professor  Holden  fügt  diesem  Ausspruch  folgendes  hinzu: 

.Wenn  die  dunkleren  Flecke  Wasser  wären,  wie  könnten  wir 
dann  die  unregelmäfsige  Schattirung  dieser  Partieen  erklären,  welche 
nach  dem  Zeugnifs  der  Beobachtung  feste  Oberflächenpartieen  sind? 
Wenn  hingegen  die  dunkleren  Partieen  sich  als  Land  erweisen,  so  sind 
solche  Schattirungen  ganz  natürlicherweise  zu  erwarten.  Licht,  das  von 
einer  sphärischen  Wasseroberfläche  reflektirt  wird,  mufs  gleichförmig 
vom  Mittelpunkte  des  Planeten  nach  seinen  Rändern  hin  abnehmen,  wie 
es  bei  den  hellen  Regionen  die  Beobachtung  bestätigt.  Sofern  die  dunk- 
leren Regionen  Wasser  sind,  müfsten  sie  am  wenigsten  dunkel  gegen  das 
Zentrum  hin  sein;  aber  die  Beobachtungen  zeigen,  dafs  sie  am  auf- 
fälligsten dunkel  in  der  Mitte  der  Scheibe  auftreten,  und  dafs  die 
Kontraste  zwischen  Licht  und  Schatten  hier  am  kräftigsten  sind.  Zu 
manchen  Zeiten,  die  sich  nicht  Vorhersagen  lassen,  erscheinen  gewisse 


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begrenzte  Gebiete  in  den  hellen  Regionen  heller  als  irgend  welche 
anderen  Theile  der  Scheibe,  so  etwa,  als  wenn  die  reflektirende  Ober- 
fläche sich  in  einem  Zustande  der  Unruhe  befände.  Diese  Erscheinung 
gleicht  der  Spiegelung  auf  einer  ruhigen  resp.  einer  bewegten  Wasser- 
oberfläche. Die  dunkeln  Gebiete  werden  nicht  selten  von  noch  dunkleren 
Streifen  durchzogen,  welche  oft  hunderte  von  Milos  nahezu  geradlinig 
verlaufen.  Die  sogenannten  Kanäle  in  den  rothen  Gebieten  scheinen 
Fortsetzungen  dieser  dunkeln  Streifen  zu  sein.  Die  „Kanäle“  würden 
dann  Gebirgsketten  entsprechen,  welche  zum  gröfsten  Theil  im  Wasser 
stehen,  und  die  Verdoppelung  dieser  Kanäle  erklärt  sich  einfach  aus 
der  Annahme  von  Parallelketten,  für  welche  die  Erde  manches  Bei- 
spiel bietet  Professor  Schaelterle  giebt  mehrere  andere  Beispiele 
von  Wahrnehmungen  auf  dem  Mars,  welche  zu  zeigen  geeignet  sind, 
dafs  die  dunklen  Regionen  eher  als  Land  denn  als  Wasser  aufgefafst 
werden  können,  und  er  bezieht  sich  dabei  auf  eine  auffällige  That- 
sache,  welche  man  von  der  Höhe  des  Mount  Hamilton  stets  beobachten 
kann.  Wir  befinden  uns  hier  2400  Fufs  über  dem  benachbarten 
Thale,  und  die  Bay  von  San  Franzisco  breitet  sich  wenige  Miles  von 
uns  aus.  Zu  allen  Stunden  des  Tages  und  unter  allen  Beleuchtungs- 
umständen erscheint  nun  die  Bay  heller  als  das  Land  unserer  Um- 
gebung. Die  hellen  Gebiete  dieser  irdischen  Landschaft  sind  Wasser. 

„Die  Beobachtungen  des  Professor  Schaeberle  sind  völlig  unab- 
hängig, und  die  grofso  Zahl  von  vorzüglichen  Messungen  und  Zeich- 
nungen, die  er  erhielt,  werden  von  seiner  Geschicklichkeit  und  Ausdauer 
gebührendes  Zeugnifs  ablegcn,  sobald  sie  veröffentlicht  sind.*)  Während 
diese  Beobachtungen  ausgefuhrt  wurden,  habe  ich  selbst  alle  Nächte 
den  Planeten  examinirt  und  sein  Aussehen  mit  älteren  eigenen  Zeich- 
nungen verglichen.  Mir  scheint  es  nun,  dafs  zwei  sehr  wichtige  Be- 
merkungen auf  seine  Schlüsse  hier  Anwendung  finden.  Ich  möchte 
nicht  so  bestimmt,  wie  er  es  thut,  behaupten,  dafs  die  dunkleren  Re- 
gionen des  Mars  viel  dunkler  und  deutlicher  im  Zentrum  der  Planeten- 
scheibe sichtbar  sind,  und  ich  möchte  dann  ganz  besonders  auf  einen 
Punkt  hinweisen,  welchen  Professor  Schiaparelli  zuerst  anführte, 
und  der  die  Kanäle  betrifft,  nämlich,  dafs  alle  innerhalb  der  hellen 
Regionen  auftretenden  „Kanäle“  in  den  dunkleren  Regionen,  welche 
man  Meere  oder  Seen  nennt,  beginnen  und  enden,  oder  dafs  sie  sich 
mit  anderen  Kanälen  verbinden.  Insoweit  scheint  dies  ein  Beweis, 


•)  Einen  Theil  derselben  sind  wir  so  glücklich,  heute  in  der  beigelegten 
lithographischen  Tafel  (siehe  Titelblatt)  zuerst  zu  veröffentlichen. 


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ItWJ  Amt  94.111'  0»>±  K».U 

X 18  ’.  ß - rr 


1892  An#.  '.81,  8'i  0»'  l'  R.t- 
X W',  ß 13  . 


18«  An#.  20,  11*>  0"  P.  ».  t 
X A4*,  ß - 12*. 


1892Au«7.llN>,"-l|l4A'"P...t 
X 170*.  ß - 12*. 


1892  Au#.  27.  loh  10»'  p.«.l. 

X :B9*  ß 12“. 


1892  An«.  14,  l»1  SO"'  P nt. 
X 120“.  ß - «*. 


1892  Au«  7.  IS11  0“’  l'.«.l. 
X 189“.  ß 12*. 


lM92Aa#-8.9b80,n  IOl'.S"’P  «.l 
X 139*.  ß - 12*. 


1892  Juli  31.  18b  80"  P.«.t 
X 268*.  ß 13*. 


Marszeichnungen  von  Professor  J.  M.  Sohaeberle 

(.Kl-zfilligpr  Refraktor  d«r  I,ick-Stemwarte.) 


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dafs  sie  Wasser  enthalten.  Gebirgsketten  brauchen  nicht  diese  Eigen- 
tümlichkeit zu  zeigen,  wie  sie  bei  Kanälen  notwendig  ist.  Während 
es  ferner  wohl  im  allgemeinen  richtig  ist,  dafs  die  rothen  Gebiete 
heller  im  Zentrum  der  Planetenscheibe  sind,  so  giebt  es  doch  auffällige 
Ausnahmen  davon.  Gewisse  Inseln  auf  der  südlichen  Halbkugel 
(Hellas,  Argyre)  habe  ich  öfter  am  hellsten  gegen  den  Rand  zu  ge- 
sehen, und  dieselbe  Erscheinung  ist  in  Bezug  auf  kontinentale  Gebiete 
auf  der  nördlichen  Halbkugel  bemerkt  worden.  Diese  Wahrnehmung 
ist,  wie  gesagt,  von  Professor  Schiaparelli  zuerst  gemacht  worden, 
und  die  Resultate  von  Professor  Schaeberle,  von  mir  selbst  und, 
so  viel  ich  weifs,  von  allen  übrigen  Beobachtern  auf  Mount  Hamilton 
stimmen  hiermit  vollkommen  überein.  Während  wir  oben  die  Regel 
konstatirt  haben,  giebt  es  doch,  wie  ich  denke,  so  viel  Ausnahmen 
davon,  dafs  es  schwer  ist,  zu  irgend  einem  definitiven  Unheil  heute 
schon  zu  gelangen. 

_Die  drei  Ansichten,  welche  wir  hier  mitgetheilt  haben,  sind  in 
gewisser  Weise  berechtigt;  alle  beruhen  auf  ernstem  Studium,  und 
wenigstens  zwei  derselben  müssen  Autorität  beanspruchen.  Flam- 
marion  betrachtet  es  als  sehr  wahrscheinlich,  dafs  die  dunkeln  Ge- 
biete des  Mars  Wasser,  dio  hellen  Land  sind;  Professor  Schaeberle 
wird  durch  seine  Beobachtungen  mil  dem  gröfsten  Fernrohr  der  Welt 
unter  den  denkbar  besten  Bedingungen  zu  absolut  entgegengesetzten 
Schlüssen  geführt.  Brett  zweifelt  daran,  dafs  überhaupt  Wasser  und 
Land  auf  dem  Mars  existirt,  und  giebt  gute  Gründe  dafür  an,  dafs 
der  Planet  sich  noch  in  einem  sehr  heifsen  Stadium  befindet,  wie  wir 
es  beispielsweise  bei  Jupiter  voraussotzen.  Teleskopische  Beob- 
achtungen zeigen,  dafs  der  Planet  Venus  für  einen  entfernten  Beob- 
achter der  Erde  viel  ähnlicher  ist  als  Mars.  Wenn  wir  an  ein  Studium 
der  Eigenthümlichkeiten  auf  der  Oberfläche  des  Mars  herangelien,  so 
finden  wir  eher  Verschiedenheiten  als  Aehnlichkeiten  mit  gewissen 
Details  auf  der  Erde.  Unter  diesen  Umständen,  und  so  lange  derartig 
auseinandergehende  Ansichten  von  kompetenten  Beobachtern  noch 
verfochten  werden  können,  scheint  es  mir  der  rechte  Weg  zu  sein, 
jedes  Urtheil  zu  unterdrücken  und  zunächst  noch  mehr  Licht  über 
den  Gegenstand  zu  verbreiten.  Ich  bin  gewifs,  dafs  die  Lick  Stern- 
warte, wenn  eine  befriedigende  Erklärung  endlich  erreicht  worden  ist, 
auch  ihr  Theil  dazu  beigetragen  haben  wird.“ 

Eine  andere  Reihe  von  Ansichten  über  die  Zustände  auf  dem 
Mars  knüpft  an  die  gröfsere  Entfernung  des  Planeten  von  der  Sonne 
an,  mit  welcher  eine,  nur  3/-t  der  irdischen  betragende  Sonnonbe- 

Himmel  und  Erde.  1893.  V.  11.  34 


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Strahlung  des  Planeten  verbunden  ist.  Wenn  die  atmosphärischen 
Bedingungen  auf  den  beiden  Weltkörpera  als  die  gleichen  vorausge- 
setzt werden  müfsten,  so  wäre  mit  der  geringeren  Bestrahlung  aller- 
dings ein  Temperaturzustand  auf  der  Oberfläche  des  Mars  nothwendig 
verbunden,  welcher  das  Vorhandensein  von  flüssigem  Wasser  auch 
unter  dem  Aequator  ganz  unmöglich  machen  würde.  Maunder  be- 
rechnet unter  diesen  Bedingungen  die  mittlere  Temperatur  des  Mars 
auf  130 — 140°  unter  Null.  Hierauf  basirt  Dr.  A.  Schmidt  (s.  auch 
„Himmel  und  Erde“,  Bd.  V,  S.  186)  in  einem  in  der  .Deutschen  Revue“ 
erschienenen  Artikel  die  Hypothese,  dafs  die  Meere  des  Mars  mit 
flüssiger  Kohlensäure  gefüllt  seien;  die  Kontinente  seien  seit  undenk- 
lichen Zeiten  bereits  völlig  vereist,  und  über  den  weiten  Schneeflächen 
habe  der  Meteorstaub,  weloher  ja  auch  in  unsere  Atmosphäre  be- 
ständig eindringt,  eine  rostig  rothe  Färbung  erzeugt,  wie  das  auch 
gelegentlich  in  unseren  Polarschneogebieten  beobachtet  wird.  Daher 
riihre  die  Färbung  der  Marskontinente.  Es  beständen  also  die  weifsen 
Polarflocke  aus  Kohlensäureschnee;  die  Kanäle  seien  weit  ausgedehnte 
Risse  in  den  kontinentalen  Eisfeldern,  in  denen  Evaporationen  und 
Kondensationen  ihr  Wechselspiel  derartig  trieben,  dafs  die  überlagernde 
Kohlensäure- Atmosphäre  lange  Wolkenzüge  über  diesen  Spalten  er- 
zeuge, welche  die  Ursache  der  scheinbaren  oder  wirklichen  Verdoppe- 
lung wären.  Leben  könnte  also  unter  diesen  Umständen  auf  dem 
Mars  nicht  mehr  existiren. 

Gegen  diese  Hypothese  läfst  sich  jedoch  von  vornherein  ein- 
wenden, dafs  die  Voraussetzung  einer  ganz  gleichen  Atmosphäre,  unter 
welcher  allein  diese  Kältegrade  auf  dem  Mars  eintreten,  hier  nicht 
festgehalten  wird.  Die  Atmosphäre  soll  aus  Kohlensäure  bestehen, 
also  grundverschieden  von  der  unsrigen  sein;  welche  Absorptionsver- 
hältnisse in  einer  solchen  stattfinden,  ist  nicht  untersucht  worden. 
Wenn  wir  jedoch  eine  chemisch  gleichartige  Atmosphäre  beibehalten, 
so  können  unter  gewissen  modifizirten  Bedingungen,  die  an  sich  ganz 
plausiblen  Voraussetzungen  entsprechen,  mittlere  Temperaturen  auf 
der  Oberfläche  des  Mars  entstehen,  die  von  den  unsrigen  wenig  ver- 
schieden sind.  In  dieser  Hinsicht  hat  wieder  Maunder  darauf  hin- 
gewiesen, dafs  etwa  die  Hälfte  der  Sonnenwärrae  in  der  irdischen 
Atmosphäre  durch  den  Staub  und  die  Absorption  in  den  Wolken  von 
der  Erdoberfläche  ferngehalten  wird;  aus  allen  Beobachtungen  geht 
nun  aber  hervor,  dafs  die  Marsatmosphäre  zweifellos  viel  reiner  und 
durchsichtiger  ist  als  die  unsrige.  Ferner  geht  wegen  der  dünneren 
Luft  dort  beim  Aufstieg  der  Luftströmungen  durch  die  mechanische 


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Arbeitsleistung  nicht  so  viel  Wärme  verloren,  und  die  Kondensation  ist 
entsprechend  schwächer.  Damit  eine  Luftmasse  auf  Mars  ihr  Volumen 
verdoppelt,  mufs  sie  um  16000  Meter  steigen.  Der  Siedepunkt  aber  fällt 
in  viel  geringerem  Mafse  auf  Mars;  bei  16000  Meter  nur  um  13°,  bei  uns 
um  85°  — auf  der  Oberfläche  des  Mars  liegt  er  bei  46°  — alles  unter 
der  Voraussetzung,  dafs  die  Dichte  seiner  Atmosphäre  entsprechend  der 
Schwere  auf  Mars  nur  2/5  der  irdischen  ist  Die  Atmosphäre  des  Mars 
kann  deshalb  viel  mehr  Wasserdampf  fassen,  ohne  undurchsichtig  zu 
werden;  dagegen  wird  der  Wasserdampf  sich  bei  Nacht  zu  dichten 
Schleiern  schnell  kondensiren,  um  sich  bei  Anbruch  des  Tages  ebenso 
schnell  wieder  zu  verflüchtigen.  Gewisse  Ausbuchtungen  der  Lichtgrenze 
und  das  Fehlen  aller  Dämmerungserscheinungen  deuten  darauf  hin. 

An  dieser  Stelle  mag  auch  noch  eine  recht  beachtenswerte  Be- 
merkung des  Herrn  J.  Plassmann  in  WTarendorf  Platz  finden  (Natur- 
wissenschaftliche Rundschau,  8.  Jahrgang,  No.  12),  welcher  darauf 
hinweist  dafs  namentlich  für  die  Polargebiete,  von  welchen  man  den 
Schnee  so  sehr  viel  schneller  schmelzen  sieht,  als  es  auf  der  Erde 
der  Fall  ist  die  Strahlungsverhältnisse  auf  dem  Mars  sich  wesentlich 
anders  gestalten  als  auf  der  Erde.  Es  ist  bekannt,  dafs  von  einem 
gewissen  Sonnenstände  an  die  Gesamtmenge  der  Einstrahlung  von 
dem  Aequator  nach  den  Polen  hin  eine  Zunahme  erfährt,  so  dafs  in 
den  Sommermonaten  die  Gesamtmenge  der  zugestrahlten  Wärme  an 
den  Polen  gröfser  ist  als  am  Aequator.  Dieses  tritt  noch  mehr  auf 
Mars  als  auf  der  Erde  hervor,  dessen  Achse  gegen  seine  Bahn  mehr 
geneigt  ist  als  die  der  Erde.  Plassmann  berechnet  dafs  diese  Ge- 
samtmenge beim  höchsten  Sonnenstände  unter  dem  Aequator  0.29,  am 
Pol  0.42  beträgt.  Zieht  man  nun  die  zweifellos  gröfsere  Durchsichtig- 
keit der  Marsatmosphäre  und  die  gröfsere  Länge  des  Marsjahres  in 
Betracht  wodurch  die  Sonne  beinahe  ein  irdisches  Jahr  lang  beständig 
auf  die  Polarregion  herabscheint,  so  ist  es  wohl  erklärlich,  dafs  die 
Schneeschmelze  dort  intensivor  ist  als  bei  uns. 

Wir  sehen  aus  diesen  Betrachtungen  und  Einwendungen  jeden- 
falls, dafs  wir  über  die  Schwierigkeit  welche  die  gröfsere  Entfernung 
des  Mars  von  der  Sonne  betreffs  der  Temperaturverhältnisse  erzeugt 
durch  verhältnifsmäfsig  sehr  geringfügige  Modifikationen  der  Mars- 
atmosphäre, wie  sie  für  irdische  Verhältnisse  durchaus  begreiflich  und 
für  Mars  wahrscheinlich  sind,  leicht  hinwegkomraen  können  und  deshalb, 
da  logisch  zwingende  Gründe  für  dieselbe  nicht  vorhanden  sind,  von 
einer  so  absonderlichen  Hypothese  wohl  absehen  müssen,  wie  die  der 
Kohlensäure-Meere  des  Mars. 

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Es  bleiben  nun  noch  zwei  weitere  Hypothesen  übrig1,  welche 
unter  der  grofsen  Zahl  derer,  die  hier  nicht  erwähnt  werden  konnten, 
als  typische  Repräsentanten  auftreten.  Es  wird  indessen,  ehe  wir  an 
eine  Kritik  derselben  gehen,  von  Nutzen  sein,  noch  die  letzten,  im 
vergangenen  Jahre  angestellten  Beobachtungen,  welche  Argumente 
für  oder  wider  darzubieten  im  stände  sind,  hier  Revue  passiren  zu 
lassen. 

Unter  den  neueren  Beobachtern  des  Mars  nimmt  die  hervor- 
ragendste Stelle  unstreitig  William  H.  Pickoring  ein,  der  Sohn 
des  berühmten  Direktors  der  Sternwarte  von  Cambridge  U.  S.,  welcher 
namentlich  während  der  letzten  Opposition  vor  allen  anderen  Beo- 
bachtern den  ungemeinen  Vorsprung  besafs,  auf  der  höchstgelegenen 
aller  Sternwarten  und  unter  dem  wolkenlosen  Himmel  der  Aequatoreal- 
regionen  sein  kräftiges  Fernrohr  auf  die  Nachbarwelt  richten  zu 
können.  Er  beobachtete  in  der  sogenannten  Boydenstation  bei  Are- 
quipa  auf  der  peruanischen  Hochebene.  Der  grüfste  Theil  des  ver- 
schleiernden, beunruhigenden,  die  Farbennuancen  fälschenden  Ein- 
flusses unserer  Atmosphäre  ist  hier  überwunden,  und  die  dortigen 
Beobachter  können  nicht  genug  die  wunderbare  Ruhe  und  Reinheit 
des  Fernrohrbildes  rühmen.  Es  ist  kein  Zweifel,  dafs  von  hier  aus 
die  tiefsten  Einblicke  in  die  Geheimnisse  des  Himmels  einstmals  ge- 
schehen werden.  Es  gelang  dem  jungen  Picke  ring  mit  seinem  Ge- 
fährten Mr.  Douglas,  in  der  Zeit  vom  9.  Juli  bis  zum  24.  September 
des  vergangenen  Jahres  373  Zeichnungen  von  Oberflächentheilen  des 
Mars  herzustellen,  von  denen  14  am  Fernrohr  kolorirt  wurden. 

Die  Beobachter  auf  Arequipa  haben  auch  ihr  besonderes  Augen- 
merk auf  die  Farbennuaucen  geworfen,  welche  die  verschiedenen 
Partieen  des  Mais  zeigen.  In  einem  Artikel,  überschrieben  „Colours 
exhibited  by  the  Planet  Mars“  und  erschienen  in  der  amerika- 
nischen Revue  „Astronomy  and  Astrophysios " vom  Juni  und 
August  1892,  sagt  Pickering,  dafs  das  Licht  des  Mars  lange  nicht 
so  roth  ist,  wie  das  einer  Kerze;  es  ist  röther  als  elektrisches  und 
blauer  als  Kerzenlicht.  Ein  Ziegelsteingebäude,  welches  aus  2 '/2  Miles 
Entfernung  gesehen  wird,  so  dafs  sich  also  die  blauen  Schleier  unserer 
Atmosphäre  darüber  hinziehen,  ergiebt  im  Fernrohr  dieselbe  Farbe 
wie  Mars.  Ferner  zeigte  es  sich,  dafs  der  Rand  des  Planeten  immer 
gelber  als  die  Mitte  war,  so  dafs  dort  derselbe  absorbirende  Effekt 
auftritt  wie  in  unserer  Atmosphäre.  Dann  giebt  es  auf  Mars  graue 
und  grüne  Regionen,  welche  letzteren,  wie  Pickering  sich  über- 
zeugte, keine  Kontrastwirkungen  sein  können,  ln  einzelnen,  wenn 


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auch  seltenen  Fällen  war  Grün  sogar  die  auffälligste  Farbe.  Eine 
ähnliche  Färbung  konnte  beispielsweise  auf  Jupiter  nicht  wahrge- 
nommen werden.  Hauptsächlich  treten  diese  grünen  Gebiete  in  der 
Nähe  der  Pole  auf  und  können  gelegentlich  mit  Schnee  verwechselt 
worden  sein.  Es  zeigte  sich,  dafs  unsere  irdische  Vegetation,  bei 
elektrischer  Beleuchtung  aus  der  Ferne  betrachtet,  diese  selbe  blau- 
grüne Färbung  besitzt,  wie  die  betreffenden  Marsgebiete. 

Es  treten  oft  ganz  erstaunlich  schnelle  Farbenveränderungen  auf 
dem  Mars  auf;  manche  derselben  sind  wohl  durch  den  Einllufs  un- 
serer eigenen  Atmosphäre  zu  erklären,  andere  müssen  dagegen  ihre 
Ursachen  auf  dem  Mars  haben.  Pickering  beobachtete  in  dieser 
Hinsicht,  dafe,  wenn  man  das  Grün  einer  Landschaft  von  einem  Berge 
aus  betrachtet,  es  viel  weniger  grün  als  in  der  Nähe  erscheint,  und 
wenn  der  Schatten  einer  Wolke  oder  Nebel  davortreten,  verwandelt 
es  sich  in  ebenmäfsiges  Grau.  Aehnliches  wird  gelegentlich  auf  Mars 
beobachtet.  Der  nordwestliche  Theil  der  grofsen  Syrthe  erschien  zu 
verschiedenen  Zeiten  grau,  grün,  blau,  braun  und  selbst  violett.  Wenn 
dieses  Gebiet  um  die  Zeit  der  Herbstnachtgleichen  der  nördlichen 
Halbkugel  sich  im  Mittelpunkt  der  Scheibe  befindet,  so  ist  die  öst- 
liche Region  deutlich  grüner  als  dio  westliche;  wenn  die  .Jahreszeit 
zu  Ende  geht,  wird  die  Farbe  matter,  und  der  grüne  Hauch  erscheint 
nur  noch  unmittelbar  auf  den  Uferländom  der  Syrthe.  Am  27.  Juni  1890 
11  Tage  vor  dem  Frühlingsaequinoktium  der  südlichen  Halbkugel, 
erschien  ein  gelber  Fleck  im  äufsersten  Norden  des  Dreiecks  (der 
Syrthe);  mit  der  vorrüokenden  Jahreszeit  nahm  dieser  Fleck  zu, 
bis  er  das  ganze  Gebiet  überzog.  Im  Jahre  1892  erschien  diesolbe 
Region  zuerst  völlig  grün;  am  9.  Mai,  17  Tage  vor  der  Frühlings- 
nachtgleiohe,  tauchte  dagegen  jener  gelbe  oder  vielleicht  rothe  Fleck 
wieder  an  derselben  Stelle  auf  wie  im  Jahre  1890  und  konnte  seitdem 
weiter  verfolgt  werden.  Entsprechend  den  früheren  Wahrnehmungen 
von  1890  mufste  dann  dio  grüne  Stelle  auf  Mars  bald  nach  dem 
Frühlingsaequinoktium  vorschwinden;  deshalb  ist  in  der  Opposition 
nichts  davon  gesehon  worden.  Pickering  ist  überzeugt,  dafs  diese 
Erscheinung  mit  der  Gegenwart  eines  der  grofsen  Zweige  dos  organi- 
schen Lebens  auf  dem  Planeten  zusammenhängt. 

Hier  taucht  also  eine  ganze  Reihe  von  neuen  und  hochinter- 
essanten Details  auf,  welche  abermals  zeigen,  wie  auf  diesem  Planeten 
alles  lebt  und  beständigen  Veränderungen  unterworfen  ist.  Uebrigons 
hatte  auch  früher  schon  Sohiaparolli  auf  beobachtete  Farbenver- 
änderungen aufmerksam  gemacht. 


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Im  übrigen  resümirt  in  einem,  im  Dezember  1892  in  der  früher 
genannten  Revue  erschienenen  Artikel  Piokering  seine  Beobachtungen 
folgendermafsen : 

„1.  Die  Polarkappen  sind  im  Aussehen  sehr  verschieden  von 
Wolkenformationen  und  können  mit  diesen  nicht  verwechselt  werden. 

2.  Wolken  existiren  unzweifelhaft  auf  dem  Planeten,  doch  sind 
dieselben  in  mancher  Hinsicht  verschieden  von  denen  der  Erde,  nament- 
lich was  ihre  Dichtigkeit  und  Helligkeit  betrifft. 

3.  Eis  befinden  sioh  zwei  stets  dunkle  Regionen  auf  dem  Pla- 
neten, welche  unter  günstigen  Umständon  blau  erscheinen  und  wahr- 
scheinlich von  Wasser  herrühren. 

4.  Andere  Partieen  der  Oberfläche  sind  zweifellos  allen  mög- 
lichen Veränderungen  der  Farbe  unterworfen,  welche  nicht  durch 
Wolken  zu  erklären  sind. 

6.  Mit  Ausnahme  der  beiden  oben  erwähnten  dunklen  Regionen 
nehmen  alle  übrigen  dunkleren  Partieen  zu  Zeiten  eine  grünliche 
Färbung  an,  zu  anderen  Zeiten  erscheinen  sie  völlig  farblos;  deut- 
lich grüne  Gebiete  sind  zuweilen  in  der  Nähe  der  Pole  gesehen 
worden. 

G.  Zahlreiche  ausgedehnte  Kanäle  existiren  auf  dem  Planeten, 
so  wie  sie  hauptsächlich  von  Professor  Schiaparelli  gezeichnet 
worden  sind;  einige  derselben  sind  nur  wenige  Miles  breit.  Auffällige 
Verdoppelungen  sind  während  der  Opposition  von  1892  nicht  ge- 
sehen worden. 

7.  Durch  die  dunkleren  Regionen  laufen  gewisse  gebogene  und 
verzweigte  dunkle  Linien;  sie  sind  zu  ausgedehnt  für  Flüsse,  aber 
sie  mögen  ihren  Lauf  angebon. 

Eine  grofse  Anzahl  von  feinen  schwarzen  Flecken  fanden  wir 
über  die  Oberfläche  des  Planeten  ausgestreut,  namentlich  auf  der  den 
beiden  Meeren  gegenüberliegenden  Seite.  Sie  treten  fast  ausnahmslos 
bei  den  Verbindungen  der  Kanäle  mit  einander  und  mit  den  dunk- 
leren Partieen  des  Planeten  auf.  Sie  haben  30  bis  100  Miles  Durch- 
messer und  sind  bisweilen  kleiner  als  die  Kanäle,  bei  denen  sie  sich 
befinden.  Wir  entdeckten  deren  über  40  und  nannten  sie  vorläufig 
Seen.“ 

Noch  einige,  ganz  besonders  eigenartige  Beobachtungen  mögen 
hier  erwähnt  werden.  Pickering  schreibt: 

„Als  der  schmelzende  Schnee  sich  zu  den  Polen  zurüokzog,  sah 
man  eine  schmale,  nahezu  geradlinige  Region,  wo  er  länger  verweilte 
als  sonstwo.  Ende  September  war  das  Schneegebiet  in  zwei  Theile 


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getrennt,  von  denen  der  eine  lang  und  schmal,  der  andere  von  un- 
regelmäßiger Gestalt  und  etwas  fleckig  war.  Es  hatte  den  Anschein, 
als  ob  dies  von  einer  Gebirgskette  und  andererseits  von  einem  Ge- 
biete mit  unregelmäfsigen  Erhöhungen,  zwischen  denen  ein  Thal  liegt, 
herrühre.  Von  diesem  Thale  ging  im  Juli  eine  dunkle  Linie  aus, 
welche  es  mit  dem  Nordmeer  verband 

Wegen  des  sohmelzonden  Schnees  war  die  Marsatmosphäre  von 
Wolken  erfüllt,  so  dafs  sie  sich  erst  Ende  August  aufklärte,  als  die 
Opposition  längst  vorüber  war.“ 

Dieso  dunklen  Stellen  und  Streifen  in  den  weifsen  Polargebieten, 
von  denen  Pickering  spricht,  und  die  auch  gelegentlich  Schiapa- 
relli  bei  früheren  Oppositionen  gesehen  hat,  sind  1892  auch  von 
Young,  Swift  und  auf  der  Lick  Sternwarte  beobachtet  worden.  Sie 
erklären  sich  wohl  am  einfachsten  eben  durch  Thalsenkungen,  in 
denen  der  Schnee  zuerst  schmolz.  Jedenfalls  werden  diese  Wahr- 
nehmungen vernichtend  für  die  zweifellos  als  veraltet  zu  betrachtende 
Hypothese,  welche  die  weifsen  Polargebiete  für  Wolkenbildungen  hält. 

Genauere  Messungen  der  wechselnden  Ausdehnung  dieser  Polar- 
kappen sind  1892  von  üarnard  und  Comstook  (Washburn  Obser- 
vatory)  ausgeführt  worden.  Von  Ende  Juni  bis  Anfang  September 
ist  die  Ausdehnung  von  10  Sekunden  auf  3 Sekunden  zusammenge- 
schrumpft, d.  h.  an  Fläche  auf  den  19.  Theil.  Barnard  knüpft  daran 
die  Bemerkung,  dafs,  wenn  dies  Schnee  war,  die  L'eberführung  des 
Wassers  nach  der  anderen  Halbkugel  eine  merkwürdige  Schwankung 
der  Rotationsachse  hätte  hervorbringen  müssen.  Dies  ist,  wie  wir  in 
einer  früheren  Notiz  gegenwärtiger  Zeitschrift  bereits  mittheilten,  von 
Lohse  aus  Beobachtungsresultaten  wirklich  vermuthet  worden. 

Barnard  sagt  ferner:  „Ich  glaube,  dafs  einmal  jemand  die 
Meinung  ausgesprochen  hat,  gewisse  breite,  dunkle  Ausläufer,  welche 
von  der  Polarkappe  aequatorwärts  strahlen,  seien  Sohmelzwasser;  dies 
ist  aber  zweifellos  nur  Einbildung.  Es  giebt  jedoch  lange  neblige 
Gebiete,  welche,  von  der  Polarkappe  ausgehend,  aequatorwärts  streben; 
diese  haben  zu  jener  Idee  geführt  Es  sind  dies  aber  so  schnell  und 
über  ein  so  grofses  Gebiet  vorgehende  Veränderungen,  dafs  sie  schwer- 
lich nur  den  Wirkungen  der  Sonne  auf  das  Polareis  zugeschrieben 
werden  können,  wenn  Eis  und  Sohnee  nicht  etwa  sehr  verschieden 
von  dem  unsrigen  sind.“ 

Auch  Barnard  bestätigt  die  von  Pickering  gemachte  Wahr- 
nehmung, dafs  von  Ende  Juli  ab  die  Kappe  verschleiert  erschien,  und 
nur  zwei  leuchtende  weifse  Punkte  hervortraten.  Auch  er  beobachtete 


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den  dunklen  Kanal  in  der  Schneemasse  ebenso  wie  Pickering  zu- 
erst am  21.  August  Von  da  ab  gingen  schnelle  Veränderungen  in  der 
Kappe  vor  sich,  und  wenige  Tage  später  war  nur  noch  ein  schwacher 
Schein  der  vormals  so  glänzenden  Kappe  übrig  geblieben. 

Was  die  sogenannten  Meere  des  Mars  anbetrillt,  so  ist  Pickering 
der  Ansicht,  dafs  mit  Ausnahme  der  beiden  früher  erwähnten,  stets 
dunklen  Regionen,  welche  schwache  Spuren  einer  Polarisation  mit 
radialer  Ebene  zum  Planeten  zeigen,  diese  Gebiete  wahrscheinlich  keine 
eigentlichen  Seen  bilden.  Diese  wie  die  Kanäle  verdanken  nach  seiner 
Ansicht  ihre  Farbe  höchstens  indirekt  der  Anwesenheit  von  Wasser. 

Gelegentlich  beobachtete  Pickering  auch  einmal  einen  weifsen 
Kanal,  der  von  der  Schneeregion  sich  nördlich  fortsetzte. 

Schliefslich  raufs  hier  noch  einer  eigeuthümlichen  Wahrnehmung 
gedacht  werden,  welche  aufser  Pickering  sowohl  die  Astronomen  der 
Lick  Sternwarte  als  auch  Perrotin  in  Nizza  machten;  sie  sahen 
nämlich,  dafs  gelegentlich  ungeheure  Wolkenbildungen  sehr  deutlich 
über  den  Rand  der  Marsscheibe  hervorragten.  Da  diese  Erhebungen  mit 
einer  gewissen  Regelmäfsigkeit  auftauchton  und  wieder  verschwanden,  so 
hatte  ein  Pariser  Feuilletonist  hieran  die  phantastische  Behauptung  ge- 
knüpft, es  möchten  Signale  sein,  welche  die  Marsbewohner  uns  horüber- 
sandten.  Es  wurde  in  diesem  Feuilleton  darauf  hingewiesen,  dafs  bereits 
im  Jahre  1869  ein  gewisser  Cros  die  Mittel  zu  einer  derartigen  inter- 
planetarischen Lichtkorrespondenz  angegeben  hatte.  Mau  könne  bei- 
spielsweise durch  ungeheure  Reflektoren  die  Wolken  beleuchten  und 
dadurch  auf  der  Erde  durch  Lichtzuckungen , etwa  nach  dem  System 
der  Morsetelegraphen-Zeiohen,  auf  weitere  Strecken  hin  telegraphische 
Mittheilungen  befördern.  Was  nun  in  Wirklichkeit  diese  Lichtaus- 
buchtungen gewesen  sind,  hat  nicht  mit  Sicherheit  ermittelt  werden 
können.  Jedenfalls  aber  müssen  wir,  so  lange  wir  noch  derartige 
Phänomene  mit  irdischen  Erscheinungen,  wie  in  diesem  Falle  mit 
den  sehr  hohen  leuchtenden  Wolken  unserer  Atmosphäre  zu  vergleichen 
vermögen,  die  Hypothese  der  Einwirkung  intelligenter  Wesen  zurück- 
weisen. Wir  kommen  darauf  sogleich  noch  zurück. 

Pickering  giebt  die  Hervorragung  dieser  Wolken  über  die 
Oberfläche  auf  20  Miles  an.  Er  knüpft  daran  die  Bemerkung,  dafs 
der  Planet  mindestens  um  l/70  abgeplattet  erschien,  während  er  theo- 
retisch nur  eine  Abplattung  von  '/soo  haben  dürfe;  auch  diese  Er- 
scheinung schreibt  Pickering  Wolkenwirkungen  in  Aequatorregionen 
zu,  welche  in  bedeutenden  Höhen  auftreten  miifsten. 

(Schlüte  folgt.) 


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ÜIMÄiM 


M 


Die  Entstehung  der  Welt  nach  den  Ansichten  von 
Kant  bis  auf  die  Gegenwart 

Von  F.  K.  Ginzel,  Astronom  am  Recheniustituto  dor  Königl.  Sternwarte  zu  Berlin. 

(Fortsetzung.) 

V.  Ent wickel ungsprozefs  der  Weltkörper.  Kosmogonie 
der  Kometen. 

I 1:  ■ beiden  ersten  Aufsätze  unserer  Darstellung  lieferten  eine 
ji?  Ucbcrschau  der  Meinungen  betreffs  des  Zustandekommens  der 
Unbildungen  des  Sonnensystems,  die  beiden  letzten  Aufsätze 
beschäftigten  sich  dagegen  schon  mit  spezieller  Kosmogonie,  nämlich 
mit  der  Ausbildung  dos  Sonnenkörpers  und  dos  Systems  Erde-Mond. 
Im  Anschlufs  hieran  haben  wir  noch  einige  Hypothesen  vorzutragen, 
welche  den  Gang  des  Entwickelungsprozesses  der  grüfseren  Planeten 
sowie  der  überhaupt  dem  festen  Zustande  entgegenstrebenden  Gestirne 
betreffen. 

Zöllner  hat1)  aus  der  Kantschen  Nebularhypothese,  nämlich 
unter  Voraussetzung  einer  ursprünglich  glühenden,  röhrenden  Gas- 
masse, welche  die  wesentlichsten  der  uns  bekannten  Stoffe  enthält, 
den  Schilift  gezogen,  dafs  der  vollständige  Entwickelungsprozefs  eines 
werdenden  Wehkörpers  mehrere  Phasen  durchlaufen  mufs.  Man  könne 
etwa  fünf  Perioden  unterscheiden.  Die  erste  bildet  der  Zustand  eines 
glühenden  Gases,  in  welchem  sich  uns  gegenwärtig  noch  die  plano- 
tarischen  Nebelflecke  zeigen.  Fortdauernde  Kondensirung  leitet  zur 
zweiten  Epoche,  der  des  glühend-flüssigen  Zustandes.  Die  dritte  ver- 
bindet die  sinkende  Temperatur  mit  dem  Auftreten  von  Kondensations- 
produkten i Schlackenbildung  nach  Zöllner)  und  theilweiser  Krusten- 
bildung. In  der  vierten  Periode  hat  der  Weltkörper  die  Schaffung 
einer  festen  Hülle  vollendet,  über  Eruptionen  oder  Zersprengungen  durch 
das  gluthflüssige  Innere  stören  noch  den  Entwickelungsgang.  Die 

’J  Photoraetrische  Untersuchungen  §Ss  72,  78. 


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518 


fünfte,  letzte  Epoche  ist  die  der  vollständigen  Erkaltung  und  der  vor- 
geschrittenen geologischen  Formationen.  Diese  allgemeine  Entwicke- 
lungsgeschichte der  Gestirne  läfst  sich  nach  Zöllner  mit  grofser 
Wahrscheinlichkeit  auch  auf  die  Körper  des  Sonnensystems  anwenden, 
welche  sich  aus  dom  glühend-gasförmigen  Zentralkörper  entwickelt 
haben,  also  in  Bezug  auf  die  sie  zusammensetzenden  Stoffe  nur  quan- 
titative Unterschiede,  aber  geringe  Abweichungen  hinsichtlich  der 
Qualität  der  Materien  zeigen  können.  Die  Zeit,  welche  die  Planeten 
von  der  ersten  Epoche  ab  bis  zu  einer  bestimmten  Temperaturerniedri- 
gung ihrer  Oberflächen  bedurft  haben,  hängt  hauptsächlich  von  der 
Masse  der  Planeten  ab  und  wird,  bei  der  thatsiichlichen  grofsen  Ver- 
schiedenheit dieses  Massenverhältnisses,  für  die  einzelnen  Planeten 
sehr  verschieden  gewesen  sein.  Im  allgemeinen  wird  die  vollständige 
Entwickelung  desto  eher  beendet  worden  sein,  je  kleiner  die  Masse 
des  Planeten  war.  Die  Abkühlung  dürfte  in  der  zweiten  Epoche  er- 
heblich schneller  stattgefunden  haben  als  in  der  ersten,  da  der  Ueber- 
gang  vom  gasförmigen  in  den  flüssigen  Aggregatzustand  an  bestimmte 
Temperaturen  gebunden  ist  und  sich  rasch  vollzieht,  wobei  die  in  den 
glühend  - flüssigen  Zustand  gerathene  Masse  infolge  ihres  stärkeren 
Absorptionsvermögens  für  Licht  und  Wärme  eine  erhöhte  Menge 
Wanne  und  Licht  ausgestrahlt  haben  wird.  Darauf  sank  die  Tem- 
peratur schnell  und  ermöglichte  die  Bildung  von  Kondensationspro- 
dukten; diese  traten  anfangs  in  Form  von  Schollen  und  Schlacken 
auf,  gewannen  allmählich  festeren  Zusammenhang  und  hüllten  schliefs- 
lich  den  Planeten  in  eine  Kruste  ein.  Hierdurch  wurde  die  Wärme- 
ausstrahlung des  gluth-flüssigen  Innern  weiter  beschränkt;  die  der 
Kruste  nächst  gelegenen  Schichten  erkalteten  schnell,  da  der  Wärme- 
verlust der  Oberfläche  bei  deren  geringer  Leitungsfähigkeit  nicht  in 
entsprechendem  Mafse  durch  die  Wärme  des  Innern  ersetzt  werden 
konnte.  Wurde  dieser  Verlust  nicht  durch  die  Sonne  wieder  kom- 
pensirt,  so  verdichteten  sich  schließlich  auch  die  die  Kruste  um- 
gebenden Dämpfe  und  schlugen  sich,  wenn  die  Temperaturerniedri- 
gung ohne  Störung  weiter  dauerte,  auf  der  Oberfläche  als  Schnee- 
und  Eisdecken  nieder.  Eruptionen  des  heifsen  Innern,  hervorgerufen 
durch  die  in  dieser  Epoche  eintretende  starke  Kontraktion,  veranlagten 
Durchbrechungen,  Ueberfluthungen  der  Rinde ; der  dabei  stattfindende 
Wärmeverlust  des  Innern  gestattete  abermals,  und  zwar  leichter  als 
früher,  eine  weitere  und  festere  Krustenbildung  und  vermehrte  Nieder- 
sohläge ; so  wurde  der  Planet  der  geologischen  Epoche  näher  geführt. 
Zöllner  zieht  aus  diesen  kosmogonischen  Ueberlegungen  und  gestützt 


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519 


auf  Relationen,  die  sich  aus  Messungen  der  Lichtstärke  der  Planeten 
ergeben,  allgemeine  Schlüsse  über  die  Entwickelungsdauer  der  Pla- 
neten. Danach  gehören  unser  Mond  und  der  Mars  zu  den  frühzeitig 
vollendeten  Planeten,  da  ihre  Kleinheit  und  Entfernung  von  der  Sonne 
eine  frühere  Erkaltung  und  Kondensirung  ermöglicht  hat.  Merkur 
und  Venus  werden  zwar  ihre  Wärme  rasch  verloren  haben,  doch  er- 
hielten sie  von  der  Sonne,  da  sie  sich  dieser  viel  näher  befinden  als 
die  Erde,  eine  sehr  erhebliche  Zufuhr  an  Wärme,  so  dafs  ihre  Ent- 
wickelung langsamer  wurde  als  jene  der  Erde.  Die  Planeten  Jupiter 
und  Saturn,  welche  die  Erdo  an  Masse  bei  weitem  übert reifen,  brauch- 
ten sehr  lange  Zeiträume  zu  ihrer  Kondensirung;  gegenwärtig  befin- 
den sich  beide  wahrscheinlich  noch  in  der  zweiten  Evolutionsepoche. 
Uranus  und  Neptun  dagegen  sind  vermuthlich  schon  lange  erkaltet, 
da  sie  viel  kleiner  als  Jupiter  und  Saturn  sind,  und  ihr  Wärmeverlust 
kaum  mehr  durch  die  Sonne  ersetzt  worden  sein  kann. 

Zu  ähnlichen  Schlüssen  gelangt  Ritter  in  seinen  früher  schon 
erwähnten  Untersuchungen  (18.  Abhandlung).  Naoh  demselben  lehrt 
die  Untersuchung  des  adiabatischen  Gleichgewichtszustandes  gas- 
förmiger Weltkörper,  dafs  ein  wesentlicher  Unterschied  in  den  Zu- 
standsänderungen auftritt,  je  nachdem  der  Weltkörper  von  sehr  grofser 
oder  von  sehr  kleiner  Masse  ist.  Bei  sehr  grofsen  Planeten,  wie  die 
Sonne,  rnufs  die  Kontraktion  (Zusammenziehung)  langsam  stattfinden, 
während  sie  sich  bei  Planeten  von  kleiner  Masse  während  des  Uober- 
ganges  vom  labilen  zum  stabilen  Gleichgewichtszustände  in  sehr 
kurzer  Zeit  oder  fast  plötzlich  vollzieht  Auf  diese  von  Ritter  als 
„dynamische  Kontraktion“  bezeichnete  Zustandsänderung  folgt  bei 
kleinen  Weltkörpem  rasche  Abkühlung  und  die  Bildung  von  Kon- 
densationsprodukten. Ritter  meint,  dafs  bei  der  Formation  der  Pla- 
neten aus  den  Ringen,  die  sich  nach  der  Kant- Laplaceschen  Theorie 
vom  Zentralkörper  ablösten,  ein  beträchtlicher  Energie  Verlust  erfolgen 
und  der  Niederschlag  von  Kondensationsstoffen  schon  eintreten  mufste, 
als  die  Ringe  sich  abtrennten.  Das  Vorherrschen  der  Kondensations- 
produkte kann  bei  längerem  Anhalten  der  Ringform  eine  vollständige 
Kondensirung  der  Ringmasse  und  den  Uebergang  derselben  in  einen 
Schwarm  kleiner  fester  Kugeln  zur  Folge  gehabt  haben,  wie  der 
Planetoidenring  und  der  Ring  des  Saturn  beweisen.  Sobald  sich  aus 
den  abgelösten  Ringen  Planeten  von  kleiner  Masse  zusammengezogen 
hatten,  befanden  sich  diese  Planeten  im  Stadium  der  dynamischen 
Kontraktion,  es  bildete  sich  bei  ihnen  schnell  ein  sehr  dichtes  Zen- 
trum, und  die  ferneren  Phasen  des  Weltkörpers  standen  dann  unter 


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520 


den  Gesetzen  einer  rasch  fortschreitenden  Abkühlung-.  Bei  den  sehr 
grofsen  Planeten,  wie  Jupiter,  war  die  Dichte  des  Kernes  nach  Be- 
endigung der  Epoche  der  dynamischen  Kontraktion  noch  nicht  be- 
deutend; ein  solcher  Planet  hatte  darauf  die  Periode  der  „statischen“ 
Kontraktion  durehzuinachen,  während  welcher  die  weitere  Zusammen- 
ziehung  langsam  und  bei  steigender  Wärmeerzeugung  vor  sich  ging. 
Demgemäfs  werden  die  kleinen  Planeten  Erde,  Merkur,  Venus  und 
Mars  in  ihrem  Entwickelimgsprozefs  die  Sonne  schnell  überholt 
haben.  Die  grofsen  Massen  des  Jupiter  und  Saturn  blieben  aber  nooh 
lange  in  der  Ausbildung  ihres  Dichtezustandes  hinter  den  übrigen 
Planeten  zurück.  Der  Jupiter  hat  gegenwärtig  nahezu  die  Dichtigkeit 
der  Sonne  erreicht;  hierzu  wird,  da  die  Dichte  seit  Beendigung  der 
dynamischen  Kontraktion  während  der  darauf  folgenden  langsamen 
statischen  um  das  Doppelte  gewachsen  sein  mufs,  ein  Zeitraum  von  vielen 
Millionen  Jahren  erforderlich  gewesen  sein.  Ritter  schliefst  aus  seinen 
weiteren  Betrachtungen,  dafs  der  Planet  Jupiter  jetzt  in  einen  Zustand 
gelangt  ist,  in  welchem  seine  Mittelpunkttemperatur  einige  hundert- 
tausend Grad  beträgt.  Das  Gebiet  der  Oberflächenschicht,  innerhalb 
dessen  die  Entstehung  von  Kondensationsprodukten  vor  sich  geht, 
ist  sehr  tief;  es  kann  angenommen  werden,  dafs  der  Planet  bis  zu 
300  Meilen  unter  seiner  scheinbaren  Oberfläche  eine  wolkenartige  Be- 
schaffenheit besitzt.  Diese  dichte  Wolkendecke  verhindert  vielfach 
die  Wärmeausstrahlung,  welche  demzufolge  als  beträchtlich  geringer 
sich  herausstellen  wird,  als  wenn  die  Oberflächenschioht  einen  rein 
gasförmigen  Aggregatzustand  besäfse. 

Pater  Braun  entwirft  in  seiner  Kosmogonie  ein  allgemeines 
Bild  von  den  Vorgängen,  die  bei  der  Kontraktion  eines  glühend- 
flüssigen sphiiroidischen  Planeten  stattlinden.  Die  Stoffe,  welche  die 
Masse  zusammensetzten,  lagerten  sich  nach  ihrer  Schwere  gegen  den 
Mittelpunkt  hin;  der  gröfste  Theil  blieb  in  Dampfform  über  dem 
glühendflüssigen  Kern  schweben.  Diese  Atmosphäre  enthielt  enorme 
Mengen  von  Kohlensäure,  aufserdem  Schwefel,  Chlor,  Jod,  Zink  u.  s.  w. 
Bei  der  fortschreitenden  Kondensirung  schlugen  sich  die  Dämpfe, 
mannigfache  chemische  Verbindungen  bildend,  nebst  ungeheuren  Massen 
von  Wasserdampf  auf  dem  Kern  nieder.  Letztere  beförderten  die 
Heftigkeit  der  nun  eintretenden  Zirkulationen.  In  dem  Mafse,  als  der 
obersten  Schicht  des  Kernes  Wärme  entzogen  wurde,  zogen  sich  aus 
den  festen  Stoffen  Schollen  zusammen,  die  zum  Theil  versanken,  ge- 
schmolzen wurden,  bei  zunehmender  Festigkeit  aber  Zusammenhang 
untereinander  erlangten  und  schliefslich  eine  Kruste  zusammensetzten. 


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521 


Eruptionen  und  thermische  Veränderungen  der  Kruste  im  Verein  mit 
den  niedergeschlagenen  heifsen  Wässern,  den  „L’rmeeren",  bereiteten 
die  ersten  geologischen  Epochen  vor.2)  Neben  dieser  Darstellung, 
die  für  die  meisten  Planeten  zutreffend  sein  dürfte,  müssen  wir  eine 
Eigenthiimlichkeit  der  Braunschen  Ansichten,  die  speziell  die  Erde 
betrifft,  notiren.  Das  Gleichgewicht  der  Erdkruste  erfordert,  dafs  den 
gewaltigen  kontinentalen  Massen  gegenüber  von  der  Seite  der  grofsen 
Senkungen  her  ein  entsprechender  Gegendruck  ausgeübt  wurde; 
unterhalb  der  letzteren,  das  heifst  der  Meere,  sei  deshalb  die  Kruste 
viel  dicker  gewesen  als  unter  den  Kontinenten.  Als  sich  die  Kruste 
so  weit  äbgekühlt  hatte,  dafs  die  flüssige  Masse  unter  ihr  ein  ge- 
ringeres Volumen  einnahm,  bildete  die  Kruste  zum  Theil  Wölbungen, 
die  vermöge  des  seitlichen  Druckes  einbrachen  und  Verwerfungen 
und  Verschiebungen  der  bereits  geschaffenen  Gebirge  hervorriefen, 
auch  gewaltige  Massen  halbflüssigen  Stoffes  neuerdings  emporprefsten. 
Von  diesen  Katastrophen  soll  nun  der  Meeresboden  deshalb  verschont 
geblieben  sein,  weil  die  Kruste  unter  ihm  viel  dicker  und  also  wider- 
standsfähiger gewesen  sei.  — Als  kosmogonische  Hypothesen  können 
noch  einige  Ansichten  betrachtet  werden,  welche  die  einstmalige  Ver- 
eisung eines  grofsen  Theiles  der  Erdoberfläche  zu  erklären  versuchen. 
(Lieber  den  Antheil  der  „Eiszeit“  an  der  Veränderung  der  Erdrinde 
sehe  man  den  Aufsatz  von  Prof.  Penck  in  dieser  Zeitschrift,  IV.  Jahr- 
gang.) James  Croll3)  benutzt  die  Variationen  der  Exzentrizität  der 
Erdbahn,  welche  eine  Periode  von  ungefähr  21000  Jahren  umfassen, 
zur  Ableitung  sehr  beträchtlicher  Klimaschwankungen.  Die  Exzentrizi- 
tät kann  sich  während  jener  E’eriode  bis  auf  das  Drei-  selbst  Vierfache 
der  jetzigen  vergröfsem.  Die  Erdhalbkugel,  welche  bei  dieser  ver- 
mehrten Exzentrizität  ihren  Winter  während  der  Sonnenferne  hatte, 
war  bis  zu  tiefen  Breitegraden  herab  vermehrten  Eis-  und  Schnee- 
bildungen ausgesetzt  Der  Sommer  konnte  nicht  zur  Ausgleichung 
dieser  Kältezeit  ausreichen,  und  es  trat  jeden  Winter  eine  durch  die 
ganze  Aphelperiode  (Sonnenferne)  wachsende  Vereisung  der  Halb- 
kugel ein.  In  der  zweiten  Hälfte  der  Exzentrizitätsperiode,  mit  Ueber- 
schreitung  des  Aphels  durch  das  Vorrücken  der  Tag-  und  Nacht- 
gleichenpunkte, traten  die  entgegengesetzten  Verhältnisse  ein:  die 
früher  vereiste  Hemisphäre  wurde  die  warme,  die  frühere  warme  ver- 
eiste. Vielleicht  nicht  ohne  allen  Grund  ist  die  Meinung  Heers,  dafs 

*)  Diese  plutonisch-nejitunistische  Auffassung  finden  wir  für  die  Erde 
bei  Sterrey  Hunt  wieder. 

*)  Climate  and  Time  in  their  geological  relations.  London  1875. 


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522 


die  Erde  während  des  Fortrückens  des  ganzen  Sonnensystems  (be- 
kanntlich schreitet  dieses  samt  der  Sonne  einem  Punkte  in  der  Gegend 
des  Sternbildes  Herkules  zu  und  macht  jährlich  einen  Weg  von  vielen 
Millionen  Meilen)  einst  in  einen  Theil  des  Weltraumes  gelangt  sein 
kann,  in  welchem  die  absolute  Temperatur  eine  besonders  niedrige 
war.  Braun  versucht  eine  lange  Eisperiode  der  Erde  aus  der  Kos- 
mogonie  unseres  Planeten  selbst  abzuleiten.  Die  Sonne  war  ursprüng- 
lich sehr  wenig  dicht  und  ihren  Dimensionen  nach  viel  ausgedehnter 
als  gegenwärtig.  (Man  vergleiche  den  zweiten  und  dritten  unserer 
Aufsätze.)  Die  Zunahme  der  Dichte  und  damit  auch  die  Temperatur- 
Steigerung  trat  nur  ganz  allmählich  ein.  Die  Erde,  sowie  die  kleineren 
Planeten  überhaupt,  haben  sich  rasch  gebildet  und  die  Sonne  im  Ent- 
wickelungsprozefs  überholt.  Zur  Zeit,  wo  die  Erde  bereits  an  der 
Schwelle  geologischer  Epochen  stand,  war  die  von  der  Sonne  ge- 
spendete Wärme  noch  gering.  Die  Abkühlung  der  Erde  erfolgte 
dann  so  rasch,  dafs  die  Sonnenwärme  für  den  Wärmeverlust  keine 
Kompensation  bieten  konnte,  und  eine  theilweise  Vereisung  war  die 
Folge.  Nachdem  aber  die  Energie  der  Sonne  gewachsen  und  sie 
schliefslich  in  den  Glühzustand  gerathen  war,  konnte  die  Eisperiode  der 
Erde  durch  die  Sonnenstrahlung  allmählich  wieder  aufgehoben  werden. 

Wir  verlassen  nun  die  Bildungsgeschichte  der  Planeten  und 
Satelliten  des  Sonnensystems  und  wenden  uns  Körpern  zu,  die  eine 
besondere  Ausnahmestellung  in  der  Kosmogonie  beanspruchen.  Es 
sind  dies  die  Kometen.  Hier  wird  es  sich  nicht  darum  handeln,  die 
Ansichten  zu  besprechen,  welche  die  Erklärung  der  physischen  Kon- 
stitution dieser  Körper  versuchen  und  die  Kräfte  deuten,  die  bei 
der  Entstehung  der  Kometen  thätig  sind,  und  wir  sind  in  dieser  Hin- 
sicht der  unangenehmen  Pflicht  enthoben,  das  ebenso  fruchtbare  wie 
problematische  Gebiet  der  Kometentheorien  berühren  zu  müssen; 
vielmehr  ist  hier  nur  die  Kosmogonie  der  Kometen  zu  erörtern,  d.  h. 
die  Frage,  ob  die  Kometen  gleichzeitig  mit  den  Planeten  und  Satel- 
liten des  Sonnensystems  entstanden,  also  integrirende  Bestandtheile 
desselben  sind,  oder  ob  sie  ihre  Entstehung  aufserhalb  unseres  Systems 
haben. 

Kant  wollte  die  Kometen  keineswegs  als  eine  besondere  Gat- 
tung von  Himmelskörpern  angesehen  wissen;  sie  verdanken  wie  die 
Planeten  ihren  Ursprung  dem  ehemaligen  Zentralnebel,  und  der  Haupt- 
unterschied besteht  nur  darin,  dafs  sie  in  den  entferntesten  Theilen 
des  Sonnensystems  und  aus  den  dünnsten  Partieen  des  Urstofles  ge- 
bildet worden  sind.  An  den  Grenzen  des  Zentralnebels  war  der 


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523 


Grundstoff  in  der  feinsten  Verkeilung,  und  daselbst  auch  die  Kraft 
am  schwächsten,  welche  eine  allgemeine  sinkende  Bewegung  der  Par- 
tikel zum  Zentrum  hin  veranlafste  (man  vergleiche  die  Hauptgedanken 
der  Kantschen  Hypothese  im  ersten  Aufsatze).  Es  kam  in  jenen 
Theilen  der  Materie  nicht  mehr  zu  einem  gleichmäfsigen  Kreisura- 
schwunge  um  den  Zentralkörper;  noch  ehe  dieser  Umschwung  er- 
reicht werden  konnte,  hatte  der  Urstoff  vermöge  der  dort  ganz  unbe- 
hinderten gegenseitigen  Anziehung  eine  Menge  kleiner  Körper  ge- 
bildet und  eine  zerstreute  Verkeilung  angenommen.  Die  Bahnen 
dieser  Massen  wurden,  gemäfs  dieser  Entstehungsart,  sehr  selten 
kreisförmig,  sondern  diese  Nebelstoffe  näherten  sich,  indem  sie  andere 
in  sich  aufnahmen,  auf  weit  gezogenen  Wogen  allmählich  der  Sonne; 
die  Bahnen  der  Kometen  gestalteten  sieh  desto  mehr  exzentrisch,  je 
weiter  ihr  Ursprung  von  der  Sonne  entfernt  lag.  Bei  den  der  Sonne 
näher  gestandenen  Massen  mufste  der  Umschwung  der  Kometen  in 
demselben  Sinne,  wie  sich  die  Planeten  bewegen,  erfolgen  (direkte 
Bewegung),  bei  den  sehr  fernen  konnte  die  Bewegung  aber  auch  eine 
ganz  entgegengesetzte  werden  (retrograde  Kometen).  Die  aufser- 
ordentliehe  Verschiedenheit  des  Winkels,  unter  welchem  die  Kometen- 
bahnen gegen  die  Ekliptik  geneigt  sind,  ist  erklärlich,  da  die  Ver- 
einigung der  Nebelstoffe,  weit  ab  von  der  Hauptebene  des  Planeten- 
bildungsgebietes, in  allen  Theilen  des  Himmels  vor  sich  gehen  konnte; 
desgleichen  seien  die  aufserordentlichen  Veränderungen  der  Kometen 
und  die  Flüchtigkeit  ihrer  ganzen  Erscheinung  nicht  befremdend,  da 
schon  sehr  mäfsige  Hitzegrade,  wie  bei  den  der  Sonne,  fern  bleiben- 
den Kometen,  so  ausnehmend  feinen  Stoff  ganz  auflösen  oder  doch 
sehr  verdünnen  können. 

Dieser  Ansicht  steht  auch  Faye  in  seiner  Kosmogonie  recht 
nahe.  Er  sucht  ebenfalls  den  Ursprung  der  Kometen  in  den  sehr  ent- 
fernten Theilen  des  ursprünglichen  Zentralnebels,  welche  der  allge- 
meinen Anhäufung  in  der  Sonne  entgangen  sind,  und  zwar  in  den  haupt- 
sächlich an  den  Polen  gelegenen  Theilen  der  Nebeloberflächo.  Diese  Par- 
tieen  haben  nach  ihm  weite  Wurflinien  beschrieben,  die  mit  der  Zeit 
durch  die  Attraktion  der  Sonne  in  Ellipsen  verwandelt  wurden;  die 
Ellipsenbahnen  wurden  desto  exzentrischer,  je  entfernter  das  Gebiet 
lag,  wo  die  Kometenmasse  sich  zusammengezogen  hatte.  Bei  den  ent- 
ferntesten Kometen  wurde  die  Dauer  des  Umlaufes  um  die  Sonne  auf 
viele  Millionen  Jahre  hin  ausgedehnt.  Auf  diese  Weise  soll  für  die 
parabolischen  und  elliptischen  (periodisch  zur  Sonne  wiederkehrenden) 
Kometen  ein  gemeinsamer  Ursprung  abgeleitet  werden. 


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524 


Während  also  Kant  und  Faye  (mit  denen  auch  Braun  der 
Hauptsache  nach  übereinstimmt)  für  die  Bildung  der  Kometen  das 
ursprüngliche  Nebularellipsoid  als  Ausgangspunkt  gelten  lassen  und 
diesen  Körpern  damit  ihre  kosmogonische  Stellung  im  Sonnensysteme 
zuweisen,  war  Laplace  geneigt,  in  den  Kometen  fremde,  dem  Sonnen- 
system nicht  angehörende  Körper  zu  sehen.  Er  betrachtet  die  Ko- 
meten als  kleine  in  den  Sternsystemen  umherwandernde  Nebelmassen, 
die  aus  der  Verdichtung  der  im  Welträume  zerstreuten  Nebelmaterie 
entstanden  sind.  Diese  Massen  können  in  Räume  gelangen,  in  welchen 
die  Anziehungskraft  der  Sonne  vorherrscht,  und  können  hierdurch  ge- 
zwungen werden,  dieses  Gestirn  fernerhin  in  elliptischen  oder  hyper- 
bolischen Bahnen  zu  umkreisen.  Die  hyperbolische  Form  der  Bahnen 
sei  die  ursprüngliche  und  beweise,  dafs  die  Kometen  an  und  für  sich 
keine  Verbindung  mit  unserem  Sonnensystem  gehabt  haben.  Gaufs 
und  Lamont  zeigten  aber  bald,  dafs  Kometen,  welche  auf  solche 
Weise  in  den  Bereich  der  Sonnenanziehung  geriethen,  sich  in  ver- 
schiedenen Arten  von  krummen  Linien  um  die  Sonne  bewegen  kön- 
nen; und  Lamont  schtofs  aus  der  beobachteten  Thatsache,  dafs  im 
Gegentheil  nur  Kometen  mit  parabolischer  oder  elliptischer  Bahn 
anzutreffon  sind,  und  in  den  sehr  seltenen  Fällen  einer  Hyperbel  diese 
wahrscheinlich  das  Resultat  einer  Störung  ist,  auf  die  von  Kant  ver- 
tretene Ansicht,  welche  die  Kometen  als  zum  Sonnensystem  gehörend 
betrachtet.  Lamont  versuchte  zur  Stützung  dieser  Meinung  aus  der 
Untersuchung  der  Verfheilung  von  178  berechneten  Kometenbahnen 
nachzu  weisen,  dafs  die  Lage  der  Perihelien  der  Kometen  (der  Punkte 
ihrer  gröfsten  Sonnennähe)  vorzugsweise  auf  gewisse  Punkte  des 
Himmels  falle.  Er  fand,  dafs  dio  Perihelien  jener  Kometen,  welche 
eine  rechtläufige  Bewegung  (eine  direkte,  im  gleichen  Sinne  wie  die 
Planeten)  besitzen,  zahlreicher  gegen  den  Sommersonnenwendepunkt 
(bei  90°  Rectaszension)  gruppirt  sind,  bei  den  rückläufigen  (retro- 
graden) hingegen  zur  Richtung  gegen  das  Wintersolstitium  (bei  270° 
Rectaszension)  an  Häufigkeit  zunehmen.  Ferner  schien  in  Beziehung 
auf  den  Neigungswinkel,  welchen  die  Kometenbahnen  mit  der  Ekliptik 
einschliefsen,  hervorzugehen,  dafs  dio  gröfste  Zahl  der  Bahnen  sich 
einem  Winkel  von  etwa  45  Grad  nähere.  Der  schon  mehrfach  er- 
wähnte Friedrich  Weifs  machte  in  seinem  übrigens  löbliohen  Be- 
streben, dio  Kant-Laplacesche  Theorie  zu  stützen,  den  als  verun- 
glückt zu  bezeichnenden  Versuch,  auf  Grund  jener  Ergebnisse  eine 
Entstehung  der  Kometen  aus  den  elliptischen  Dunstringen  des  Nebular- 
ellipsoides  abzuleiten.  Er  sieht  in  den  Lamontschen  Resultaten  den 


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Beweis,  dafs  die  Kometenperihelien  nicht  viel  von  der  Linie  ab- 
weichen, in  welcher  die  Forts chreitung  des  Sonnensystems  im  Raume 
sich  vollzieht.  Die  Kometen  sollen  nun  infolge  dieses  Fortschreitens 
und  des  Widerstandes  des  Welläthers  aus  den  Zusammenballungen 
der  äufsersten  elliptischen  Dunstringe  des  Zentralnebels  und  zwar 
hauptsächlich  aus  jenen  Hälften  der  Ringe  entstanden  sein,  deren 
Umlaufsbewegung  dem  allgemeinen  Fortschreiten  des  Sonnensystems 
entgegengesetzt  war.  Aber  abgesehen  davon,  dafs  dieses  Fortschreiten 
keinen  Anlafs  zu  besonderen  Weltenbildungen  in  dein  ehemaligen 
Nebularellipsoide  gehen  konnte,  haben  sich  auch  die  vermutheten  Be- 
ziehungen zwisohen  der  allgemeinen  Lage  der  Kometenbahnen  und 
der  Bewegungsrichtung  des  Sonnensystems  als  Blusionen  heraus- 
gestellt (durch  die  späteren  Arbeiten  von  Mohn  und  C'arrington). 
Die  Resultate  von  Lamont,  denen  sich  die  Untersuchungen  von 
Brorsen.  Houzeau,  Svedstrup  über  die  Anhäufung  der  Kometen- 
perihelien an  die  Seite  stellten,  haben  in  neuester  Zeit  ihre  richtige 
Erklärung  durch  die  Arbeit  von  Holetschek  „über  die  Richtungen 
der  grofsen  Axon  der  Kometenbahnen“  erhalten.  Die  Ursache  des  Zu- 
sammenfallens  der  Kometenbahnen  in  gewissen  Himmelsrichtungen  liegt 
in  den  Verhältnissen,  unter  welchen  die  Kometen  für  die  Erde  und 
für  die  Nordhalbkugel  insbesondere  sichtbar  werden.  Die  Kometen 
werden  desto  leichter  aufgefunden,  je  näher  ihre  Perilielslänge  der 
während  des  Periheldurchganges  stattfindenden  heliozentrischen  Länge 
der  Erde  liegt.  Für  die  Nordhemispbäre  ist  die  Möglichkeit,  Kometen 
zu  entdecken,  bei  welchen  dieser  Zusammenhang  besteht,  im  Sommer 
gröfser  als  im  Winter,  woil  uns  die  Partieen  des  Himmels,  die  von 
der  Sonne  eine  geringe  Elongation  haben,  und  in  denen  die  Kometen 
am  schnellsten  hell  zu  werden  pflegen,  leicht  zugänglich  sind.  Im 
Winter  können  wir  die  Kometen  jedoch  in  sehr  bedeutenden  Elon- 
gationen von  der  Sonne,  selbst  in  der  Opposition,  sehen.  Hierdurch 
erklärt  sich,  warum  die  Perihelien  der  Kometen  einerseits  bei  270°, 
andrerseits  bei  90"  Länge  überwiegen  müssen.  Die  Kometen  mit 
kleiner  Poriheldistanz  verhalten  sich  entgegengesetzt,  können  aber  die 
Zahl  der  einseitigen  Perihelanhäufungen  nicht  sehr  verwischen,  da  die 
Anzahl  solcher  Kometen  eine  geringe  ist  Die  Kometen  gelangen 
also  aus  allen  möglichen  Gegenden  des  Himmels  und  mit  einer  von 
der  Fortschreitung  des  Sonnensystems  ganz  unabhängigen  Ge- 
schwindigkeit zur  Sonne.  Daraus  kann  man  schliefsen,  dafs  die  Ko- 
meten in  den  Sternenräumen  ein  besonderes  System  bilden,  welches 
uns  während  des  gemeinsamen  Fortschreitens  aller  Planeten  und  Sa- 

Himmel  und  Erde.  1493.  V.  11.  35 


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telliten  begleitet.  Sie  erscheinen  uns  somit  nicht  als  Produkte  der 
Entwickelung  des  Nebularellipsoides,  sondern  gewissermafsen  als  los- 
gerissene Bruchstücke  jenes  Systems. 

Man  kann  sich  nun  vorstellen,  dafs  in  dem  wandernden  Kometen- 
heere die  Kometen  sich  als  einzelne  Individuen  zerstreut  oder  zu  Gruppen 
vereinigt  vorlinden,  welche  letzteren  bisweilen  durch  die  Attraktion  der 
Sonne  aufgelöst  werden,  wodurch  sie  in  unser  Sonnensystem  gelangen. 
Diese  Idee  der  Existenz  besonderer  Kometengruppen  hat  namentlich 
Hoek  vertreten.4)  Er  war  der  Ansicht,  dafs  gewisse  Kometen  einst 
in  sehr  grofser  Entfernung  von  der  Sonne  einander  nahe  gestanden 
und  mit  einander  nicht  zufällig  verbunden  gewesen  seien.  So  hätten 
die  Kometen  1860  III,  1863  I und  1863  VI  eine  solche  Gruppe  ge- 
bildet, desgleichen  die  von  1677  und  1683.  Der  Beweis  ihres  gemein- 
samen Ursprungs  sei  durch  die  Gemeinsamkeit  des  Durchschnitts- 
punktes ihrer  Bahnen  auf  der  Himmelskugel  erbracht.  Obwohl  nämlich 
die  Anziehung  der  Sonne  die  ursprüngliche  Bewegung  der  in  das 
Sonnensystem  tretenden  Kometen  modiflzire,  müfsten  doch  die  Ebenen 
der  neuen  Bahnen  der  Kometengruppe  den  Punkt  gemeinsam  haben, 
auf  welchen  hin  die  anfängliche  Bewegung  gerichtet  gewesen  ist  Die 
Entstehung  solcher  Kometengruppen  hat  nach  Hoek  wahrscheinlich 
in  der  Zerstreuung  von  grofsen  Kometenmassen  durch  Sterne  ihren 
Grund.  Etwa  in  der  Art,  wie  Theilungen  von  Kometen  oder  Kometen- 
köpfen mehrfach  in  unserem  Sonnensysteme  vor  sich  gegangen  und 
vermuthlich  der  Einwirkung  der  Sonne  zuzuschreiben  sind,  könnte 
eine  mächtige  Sternmasse  einen  Kometen  in  Theile  aufgelöst  haben, 
die  so  lange  eine  Gruppe  bilden  mufsten,  bis  sie  auf  ihrer  Wanderung 
in  das  Sonnensystem  gelangt  sind.  Irgend  ein  Planet,  dem  die  Kometen 
nahe  kommen,  kann  dort  wiederum  eine  abermalige  Veränderung  der 
Bahnen  bewirken  und  unter  Umständen  die  Ursache  sein,  dafs  ein 
Komet,  der  einstmals  in  fernen  Systemen  wandelte,  durch  eine  ellip- 
tische Bahn  für  immer  an  unsere  Sonne  gekettet  wird.  — Den 
Hoek  sehen  Ansichten  der  Existenz  besonderer  Kometengruppen  ist 
jedoch  Hol  et  sch  ek5)  entgegen  getreten.  Nach  dem  letzteren  ist  der 
Beweis  durch  die  Gemeinsamkeit  der  Schnittpunkte  ein  illusorischer. 
Diese  Punkte  fallen  in  die  Himmelsgegend,  wo  die  Kometenfernen 
sich  häufen  (zwischen  90  und  270  Grad);  da  aber  durch  Holetschek 
schon  früher  die  Ursache  jener  Häufigkeit  auf  terrestrische  Verhältnisse 
zurückgeführt  worden  ist,  und  die  Kometengruppen  nur  besondere 

4)  Archives  nderlandaiscs  des  Sciences  exactes  et  naturelles.  IX. 

*)  Sitzungsber.  d.  Wiener  Akad.  d.  W.  Bd.  98  u.  99. 


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Fälle  dieser  Anhäufung  darstellen,  ist  kein  Grund  vorhanden,  hier 
kosmische  Vorgänge  zu  vermutben. 

Muß  man  aus  diesen  und  einigen  anderen  Gründen  die  Annahme 
von  Kometengruppen  auch  fallen  lassen,  so  kann  die  beobachtete  That- 
sache  der  Theilung  eines  Kometen  in  mehrere  nebeneinander  laufende 
nach  Bredichin6)  doch  die  Ursache  des  Ursprunges  der  periodischen 
Kometen  sein.  Bredichin  stellt  sich  vor,  dafs  solche  Trennungen  durch 
explosionsähnliche  Vorgänge  eintreten  können.  In  dem  Falle,  wo  die 
fortgeschleuderte  Masse  eines  parabolischen  Kometen  sich  im  Zustande 
eines  gravierenden  Systems  erhalten  kann,  werden  die  Theilchen  der- 
selben sich  nicht  in  einen  Meteorschwarm  auflösen,  sondern  die  Bahn 
des  Schwerpunktes  der  Gesamtmasse  verfolgen,  und  es  wird  auf  diese 
Weise  im  Sonnensystem  ein  periodischer  Komet  geschaffen  sein. 
Bredichin  macht  sogar  eine  Reihe  periodischer  Kometen  namhaft, 
welche  er  als  die  ehemaligen  Theilungsresultate  bestimmter  Kometen 
ansieht.  Gegen  die  Annahme  von  Explosionen  sprechen  indessen 
Seeligers  Untersuchungen  über  die  Zusammenstöße  und  Theilungen 
planetarischer  Massen.7)  Danach  sind  bei  solchen  Trennungen  immer 
nur  relativ  geringfügige  Kräfte  im  Spiel;  so  beim  Kometen  von  1882, 
wo  die  Bewegungsdifferenz  zweier  sich  trennender  Kerne  anfänglich 
nur  2.6m  auf  478  km  Entfernung  betrug.  Zudem  sind  Rückwirkungen, 
die  sich  bei  Explosionen  an  einer  selbstständigen  Bewegung  der  abge- 
trennten Massen  zeigen  müssten,  bisher  in  keinem  Falle  in  den  Beob- 
achtungen wahrnehmbar  gewesen. 

Die  Frage  der  Entstehung  elliptischer  Kometenbahnen  (also 
periodisch  zur  Sonne  zurückkehrender  Kometen)  aus  ursprünglich 
parabolischen  Kurven  durch  die  störende  Kraft  von  Planeten  ist  in 
neuester  Zeit  durch  H.  A.  Newton,  Tisserand  und  Callandreau 
studirt  worden.  Ersterer8)  hat  gefunden,  dafs  von  tausend  Millionen 
Kometen,  welche  sehr  nahe  an  dem  Jupiter  vorübergingen,  126  Kometen 
Ellipsenbahnen  von  weniger  als  sechs  Jahren  Umlaufszeit  erhnlten 
würden,  und  viel  größer  wäre  die  Zahl  der  enßtehenden  elliptischen 
Kometen  mit  größerer  Umlaufszeit.  Auf  so  umgeformten  Bahnen 
müßten  sich  der  „gefangene“  Komet  und  der  Jupiter  nun  öfter  nach 
gewissen  Zeitabschnitten  begegnen  und  einander  nähern,  und  durch 
diese  Summirung  der  Jupiterwirkung  kann  die  Umlaufszeit  des  Kometen 
noch  weitor  verkürzt  werden.  Allerdings  kann  durch  diese  Einwirkung 

5)  Astron.  Nachr.  No.  2877. 

')  Abhandlg.  d.  bair.  Acad.  d.  W.  11.  CI.  Bd.  17  II.  Abth. 

*)  On  the  capture  of  Comets  (American  Journ.  of  Science,  vol.  42,  1831.) 

35* 


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des  Planeten  Jupiter  die  fertige  Ellipse  schliefslich  in  eine  Hyperbel 
verwandelt  und  der  Komet  dadurch  auch  ganz  aus  dem  Sonnensystem  ent- 
fernt werden.  Erst  wenn  der  ruhelos  umhergetriebene  Komet  keinen 
Katastrophen  durch  den  Jupiter  mehr  ausgesetzt  ist,  oder  etwa  die  Mit- 
wirkung anderer  Planeten  eingegrifTen  hat,  darf  man  den  Kometen  als 
ständiges  Mitglied  unseres  Sonnensystems  ansehen.  Tisserand9)  hat 
gezeigt,  dafs  mindestens  15  der  jetzt  vorhandenen  periodischen  Kometen 
sich  durch  direkte  Bewegung,  geringe  Noigung  gegen  die  Ekliptik  und 
in  der  Nähe  der  Jupiterbahn  liegende  Aphelien  auszeichnen,  und  dafs 
diese  Kometen  durch  Annäherungen  an  den  Jupiter  aus  ursprünglich 
parabolischen  Bahnen  in  elliptische  überführt  worden  sein  dürften. 
Callandreau l0)  erweitert  nooh  diese  Untersuchungen,  indem  er  diese 
allmähliche  Umbildung  der  Bahn  in  ihren  einzelnen  Phasen  verfolgt 
Der  gestörte  parabolische  Komet  kann  schon,  bevor  er  dem  Jupiter 
besonders  nahe  kommt,  in  einer  lang  gestreckten  Bahn  wandeln  und 
seine  Periheldistanz  erheblich  verkürzt  sein.  Innerhalb  der  Wirkungs- 
sphäre des  Jupiters  sind  die  Störungen  so  bedeutende,  dafs  zwei  ein- 
ander vorher  sehr  ähnliche  parabolische  Bahnen  nach  dem  Durchgänge 
in  zwei  vollständig  verschiedene  Ellipsen  verwandelt  sein  können. 

Wie  man  aus  unseren  Darstellungen  ersieht,  ist  nur  ein  Theil 
der  Frage  über  die  Kosmogonie  der  Kometen  gegenwärtig  klar  gelegt, 
nämlich  die  Art  der  Bahnveränderungen,  die  sie  erleiden,  sobald  sie 
in  das  Sonnensystem  eingedrungen  sind.  Dagegen  ist  ihr  eigentlicher 
Ursprung  nooh  in  Dunkel  gehüllt.  Wir  dürfen  höchstens  vermuthen, 
dafs  sie  unsere  Sonne  auf  ihrer  Wanderung  durch  den  unendlichen 
Weltraum  begleiten  und  mit  deren  Bewegung  ungefähr  gleichen  Schritt 
halten. 


*)  Bulletin  astronomique.  1889  Juni,  Juli. 

,0)  Annales  de  l'Obisorv.  de  Paris,  Mi'moirt's.  Tome  XX. 


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Bringt  die  Sonne  magnetische  Stürme  hervor? 

Diese  Frage  hat  bei  der  letzten  Jahresfeier  der  Londoner  könig- 
lichen Gesellschaft  Lord  Kelvin  (Sir  William  Thomson),  der 
Präsident  der  Gesellschaft,  in  einer  Weise  beantwortet,  die  vielen 
Hypothesen  den  Boden  entzieht.  Während  man  die  Erde  selbst  als 
einen  sehr  kräftigen  Magneten  ansieht,  nimmt  man  im  allgemeinen  an, 
dafs  die  Aenderungen  in  der  Richtung  und  Stärke  desselben  von 
außerhalb  unseres  Planeten  liegenden  Kräften  bewirkt  werden.  Gewisso 
periodische  Störungen  des  Erdmagnetismus,  die  zeitlich  mit  grofsen 
Revolutionen  in  dem  Sonnenballe  — wie  sie  die  Sonnenflecke  an- 
zeigen  — zusammenfallen,  haben  Sir  Edward  Sabine  vor  40  Jahren 
veranlagt,  diese  Störungen  für  Wirkungen  der  Sonnenenergie  zu  halten, 
und  die  Maxwellsche  Theorie  über  die  Ausbreitung  der  elektrischen 
Wellen  hat  diese  Ansicht  genährt.  Ueberlegen  wir  aber  einmal,  wie 
grofs  die  von  der  Sonne  entwickelte  Energie  sein  inufs,  welche  in 
der  Entfernung  von  150  Millionen  Kilometern  von  ihrem  Mittelpunkte 
noch  im  stände  ist,  einen  magnetischen  Sturm  auf  der  Erde  hervor- 
zubringen. Als  Beispiel  nimmt  Lord  Kelvin  einen  solchen  von 
mittlerer  Gröfse,  der  am  25.  Juni  1885  aoht  Stunden  lang  anhielt  und 
von  W.  G.  Adams  beobachtet  wurde.  Um  wirklich  jenen  Sturm 
hervorbringen  zu  können,  hätte  die  Sonne  mit  364  mal  so  viel 
Pferdestärken  arbeiten  müssen,  als  ihr  gewöhnlich  zukommen,  oder 
— mit  anderen  Worten  -1—  sie  hätte  in  jenen  acht  Stunden  gerade 
soviel  an  Arbeit  leisten  müssen,  als  sie  sonst  in  vier  Monaten  an 
Wärme-  und  Lichterzeugung  fertig  bringen  kann.  Darum  ist  es  im 
hohen  Grade  unwahrscheinlich,  dafs  irgend  eine  dynamische  Wirkung, 
die  von  der  Sonne  ausgeht,  sei  sie  direkt  magnetisoh  oder  eine  Folge 
von  Stürmen  in  ihrer  Photosphäre,  irdische  Magnetstürme  erzeugen 
kann.  Woher  sollte  auch  eine  solche  kolossale  Steigerung  der 
Sonnenenergie  kommen?  Etwa  von  Meteoriten,  die  offenbar  häufig 
in  grofser  Zahl  in  den  Sonnenball  stürzen?  Lord  Kelvin  hat  es 
längst  erkannt,  dafs  die  jährlich  in  die  Sonne  stürzenden  Meteoriten 


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zusammen  eine  viel  zu  geringe  Masse  besitzen,  um  die  von  der 
Sonne  in  Licht  und  Wärme  ausgestrahlte  Energie  nähren  zu  können, 
und  hat  sich  Helmholtz'  Ansicht  zu  eigen  gemacht,  dafs  durch  die 
Kontraktion  des  Sonnenballes  das  fortwährend  entstehende  Manko 
an  Energie  gedeckt  und  seit  einigen  Millionen  .Jahren  die  Strah- 
lung der  Sonne  in  ihrem  alten  Betrage  aufrecht  erhalten  werde.  Zu 
einer  so  gewaltigen  Steigerung  der  Sonnenenergie  aber,  wie  sie 
ein  Magnetsturm  voraussetzt,  ist  der  Opfertod  solcher  Meteoriten  am 
wenigsten  fähig.  Es  bleibt  also  vorläufig  nichts  übrig,  als  anzunehmen, 
dafs  wir  in  der  vermeintlichen  Verbindung  von  Sonnenflecken  und 
Magnetstürmen  nichts  weiter  als  eine  blofso  Koinzidenz  vor  uns  haben. 
„Je  wunderbarer  und  unerklärlicher  damit  die  periodischen  Aende- 
rungen  des  Erdmagnetismus  werden,  desto  mehr  müssen  sie  die 
Forscher  anregen,  die  früher  oder  später  ihr  Werk  belohnt  sehen 
werden.  Wir  haben  gegenwärtig  zwei  gut  und  sicher  festgestellte 
Verbindungen  zwischen  Magnetstürmen  und  anderen  Erscheinungen: 
das  Polarlicht  über  und  die  Erdströme  unter  der  Erde  arbeiten  sicher 
in  völliger  Sympathie  mit  Magnetstürmen.“  — r. 

t 

Witterungs -Typen  in  Australien. 

Von  Meteorologen  ist  vielfach  der  Wunsch  nach  genauerer 
Kenntnifs  des  Witterungsverlaufes  auf  der  südlichen  Hemisphäre  aus- 
gesprochen. Längere  Beobachtungsreihen  liegen  zwar  von  verschie- 
denen Orten  derselben  vor,  aber  das  Studium  der  synoptischen  Meteo- 
rologie, der  gleichzeitigen  Aenderungen  dos  Wetters  auf  einem  gröfseren 
Gebiete,  war  bis  vor  kurzem  unmöglich,  denn  das  einzige  Material, 
die  vom  meteorologischen  Amto  der  Vereinigten  Staaten  herausge- 
gebenen internationalen  Wetterkarten  für  1878  bis  1884  enthielten 
nur  die  Angaben  von  durchschnittlich  5 Stationen  der  südlichen  Halb- 
kugel. Seit  1887  haben  sich  jedoch  die  Verhältnisse  für  Australien 
wesentlich  geändert.  Auf  Anregung  des  Direktors  am  Brisbane  Obser- 
vatorium, Herrn  Wragge,  wurden  zunächst  für  Queensland  Wetter- 
karten auf  Grund  der  Aufzeichnungen  von  ca.  70  Stationen  aus  allen 
Theilen  des  australischen  Kontinents  veröffentlicht  Fast  gleichzeitig 
wurde  im  Aufträge  der  Regierung  von  Neu-Süd-Wales  eine  ähnliche 
Publikation  herausgegeben,  die  sich  mit  manchen  europäischen  Wetter- 
karten sehr  wohl  messen  kann,  wenn  man  davon  absieht,  dafs  an 
Sonn-  und  Feiertagen  die  Veröffentlichung  unterbrochen  wird. 

Herr  Russell,  der  Direktor  des  Sydney-Observatoriums  hat  die 


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australischen  Wetterkarten  einer  eingehenden  Prüfung  unterzogen; 
naturgemäfs  wurden  dabei  in  erster  Linie  nicht  wie  bei  uns  die  Zug- 
strafsen  der  Depressionen,  sondern  das  Verhalten  der  für  Australien 
typischen  Hochdruckgebiete  untersucht.  Als  bemerkenswerthestes  Re- 
sultat ergab  sich  hierbei,  dafs  die  Anticyklonen  nicht  längere  Zeit  fast 
unbeweglich  über  dem  Kontinent  liegen  bleiben,  sondern  dafs  in  rascher 
Reihenfolge  immer  neue  Maxima  — im  Jahresdurchschnitt  42  — 
Australien  durziehen  mit  einer  Geschwindigkeit  von  rund  64  km  pro 
Tag,  also  ungefähr  ebenso  rasch  wie  die  Depressionen  in  unseren 
Breiten.  Für  die  Anticyklonen  ist  ferner  charakteristisch,  dafs  sich 
ihre  Axe  bei  dem  Erreichen  der  Ostküste  um  ca.  90°  im  Sinne  des 
Uhrzeigers  dreht.  Die  Veränderungen  im  Hochdruckgebiet  werden 
zum  grofsen  Theile  bestimmt  durch  die  an  der  Südküste  von  Ost  nach 
West  wandernden  Depressionen.  Diese  Gebilde,  welche  als  Theil- 
depressionen  des  grofsen  südpolaren  Minimums  aufzufassen  sind,  ent- 
ziehen sich  jedoch  einer  genaueren  Untersuchung,  da  ihr  Zentrum 
selten  das  Festland  berührt;  typisch  für  dieselben  ist,  dafs  ihre  Ge- 
schwindigkeit in  der  Nähe  des  Kontinents  sich  verringert,  so  dafs  Schiffe 
die  von  Kap  Leeuwin  nach  der  Bafsstrafse  fahren,  häufig  diese  Wind- 
systeme überholen. 

Untersuchungen  der  erwähnten  Art  haben  nicht  nur  den  prak- 
tischen Werth,  zum  Verständnifs  der  Witterungsvorgänge  in  Australien 
und  zur  Verbesserung  der  Prognosen  daselbst  beizutragen,  sondern 
sie  gestatten  auch  allgemeine  Schlüsse  über  die  Beziehungen  zwischen 
Anticyklonen  und  Depressionen.  Auch  bei  uns  sind  wandernde  Maxima 
nicht  selten,  jedoch  gestalten  sich  die  Verhältnisse  hier  so  komplizirt, 
dafs  Versuche,  Gesetzmäfsigkeiten  zu  erkennen,  bisher  nicht  erfolgreich 
gewesen  sind.  Hier  können  uns  die  gleichmäfsigeren  und  deshalb 
einfacheren  Vorgänge  auf  der  Südhemisphäre  wichtige  Fingerzeige 
geben.  Sg. 

* 

Treibeis  in  südlichen  Breiten. 

Eine  in  seemännischen  Kreisen  Aufsehen  erregende  und  nament- 
lich in  den  „Annalen  der  Hydrographie“  von  Herrn  Kapitän  Dinklage 
mehrfach  besprochene  Naturerscheinung  ist  die  grofse  Eistrift,  welche 
im  südatlantischen,  indischen  und  stillen  Ozean  seit  Ende  des  Jahres 
1889  beobachtet  wurde,  sich  aber  erst  im  April  1892  in  voller  Mächtig- 
keit zeigte  und  langsam  mit  zeitweisen  Rückwärtsbewegungen  nach 
Ost  trieb.  Die  Ilauptoismasse  wurde  Ende  September  zwischen  44  und 


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40°  S.  Br.  und  34  und  22°  W.  Lg.  angetroffen;  es  war  auf  diesem  ca. 
250  Seemeilen  breiten  und  550  Seemeilen  langen  Streifen  das  Meer 
mit  Eisbergen  und  abgebröckelten  Eisstücken  völlig  übersät.  Bei 
einzelnen  Bergen  wurde  eine  Höhe  von  100  m über  dem  Wasser  und 
eine  Länge  von  1,5  Seemeilen  sicher  festgestellt;  berücksichtigt  man, 
dafs  ein  solcher  Berg  höchstens  mit  einem  Fünftel  seiner  ganzen 
Mächtigkeit  aus  dem  Wasser  herausragt,  so  erhält  man  für  diesen  Kolofs 
ein  Gesamtvolumen  von  rund  4000  Millionen  Kbm.  Der  Anblick 
dieser  Berge  wird  als  ein  höchst  imposanter  geschildert;  sie  erscheinen 
von  fern  in  den  verschiedensten  Farben,  die  zwischen  Grau,  Schwarz. 
Grün  und  blendendem  Weifs  wechseln;  bei  stürmischem  Winde  rauchen 
die  Berge  vom  Gischt  und  Wasserdampf  der  sich  brandenden  Wogen 
wie  Vulkane  und  überschlagen  sioh,  wenn  eine  Seite  zu  kopfschwer 
geworden  ist,  mit  furchtbarem  Getöse.  Das  übliche  Kennzeichen  für 
die  Annäherung  an  Eisberge,  die  Abnahme  der  Meerestemperatur,  er- 
wies sich  in  vielen  Fällen  als  unzuverlässig;  auch  scheint  die  Wasser- 
temperatur,  welche  in  diesen  Breiten  während  des  Sommers  ca.  14°  C. 
beträgt,  keinen  erheblichen  Einflufs  auf  die  Verminderung  der  Eis- 
massen auszuüben.  Die  Trift  im  südatlantischen  Ozean  ist  bei  ihrer 
Wanderung  nach  Ost  Ende  Oktober  aus  der  üblichen  Segelroute  her- 
ausgekommen, jedoch  sind  Anfang  dieses  .Jahres  neue  Eismassen  aus 
Südost  bis  48°  S.  Br.  und  47°  W.  Lg.  vorgerückt  und  dürften,  nach 
der  Gröfse  der  Eisberge  zu  schliefsen,  ebenfalls  längere  Zeit  der  Schiff- 
fahrt gefährlich  werden. 

Die  aufsergewöhnlichen  Treibeismengen  bieten  nicht  allein  nau- 
tisches, sondern  auch  meteorologisches  Interesse  dar.  Eine  so  bedeutende 
Wärmeanomalie,  wie  sie  diesem  Phänomen  entspricht,  wird  wahrschein- 
lich nicht  in  den  höhern  südlichen  Breiten  allein  einen  Ausgleich 
finden,  sondern  man  wird  auch  die  Witterungsvorgänge  in  niedem 
Breiten  damit  in  Zusammenhang  bringen  müssen.  Für  das  Bestehen 
eines  solchen  Zusammenhanges  haben  hervorragende  Meteorologen 
mehrfach  sich  ausgesprochen;  ein  direkter  Nachweis  ist  bisher  nicht 
geführt,  dürfte  aber  vielleicht  bei  Untersuchung  der  letzten  Jahre  mit 
ihren  scharf  ausgeprägten  Witterungsepochen  Erfolg  haben.  Sg. 

Neues  über  den  elektrischen  Lichtbogen. 

Die  von  Davy  im  Jahre  1821  entdeckte  und  heute  in  so  grofsem 
Mafsstabe  nutzbar  gemachte  Erscheinung  des  elektrischen  Lichtbogens 
entsteht  bekanntlich  in  der  Weise,  dafs  zwei  Kohlenstäbe,  von  denen 


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der  oine  mit  dem  positiven,  der  andere  mit  dem  negativen  Drahte 
einer  Leitung  verbunden  ist,  in  Kontakt  gebracht  und  dann  um  eine 
kleine  Strecke,  etwa  1 — 10  mm,  von  einander  entfernt  werden.  Der 
bei  der  Berührung  zu  stände  kommende  Strom  hört  nach  der  Tren- 
nung nicht  auf;  vielmehr  bildet  sich  zwischen  den  Kohlen  ein  in  der 
Mitte  bläulich,  am  Rande  in  der  Regel  gelblich  leuchtendes,  llammen- 
ähnliohes  Gebilde,  welches  den  Strom  leitet.  Die  Bogenform  tritt  auf, 
wenn  man  die  Kohlen  etwas  weit  von  einander  entfernt,  und  besonders, 
wenn  man  sie  wagerecht  stellt;  sie  ist  lediglich  eine  Folge  des  auf- 
steigenden Stromes  erwärmter  Luft.  Das  hellste  Licht  geht  indefs 
nicht  von  diesem  Flammenbogen  aus,  sondern  von  den  glühenden 
Kohlenspitzen,  vornehmlich  von  der  positiven  Kohle.  Dies  die  be- 
kannten Tliatsachen,  denen  wir  im  Folgenden  einige  neuere  Resultate 
beifügen  wollen. 

I.  Die  Temperatur  des  elektrischen  Flaramenbogens. 
Da  der  Lichtbogen  zu  den  wirksamsten  Mitteln  der  Erzeugung  hoher 
Temperaturen  gehört,  und  infolgedessen  die  Messung  seiner  Tem- 
peratur grofse  Schwierigkeiten  darbot,  erscheint  es  nicht  verwunder- 
lich, dafs  man  schliefslieh  in  übertriebene  Vorstellungen  von  dieser 
Temperatur  verfiel.  Man  nahin  an,  dafs  sie  4000,  ja  wohl  gar  4500 
Celsiusgrade  betrage.  Neuere  Untersuchungen  über  diesen  Gegenstand 
sind  am  Schlüsse  des  vorigen  Jahres1)  von  Herrn  Prof.  Violle  in 
Paris  angestellt  worden,  und  zwar  nach  einer  geistvollen,  wenngleioh 
im  Prinzip  sehr  einfachen  Methode.  Violle  überzeugte  sich  zunächst 
durch  photometrische  Messungen  davon,  dafs  die  Temperatur  des  hell- 
sten Theiles  der  positiven  Kohle  stets  dieselbe  ist,  gleichviel  ob  die 
Stromstärke  einen  hohen  oder  geringen  Betrag  hat.  Die  Versuche 
wurden  angestellt  mit  Strömen,  welche  einer  mechanischen  Leistung 
von  0,7—46  Pferdekräften  entsprachen.  Schon  dieses  Resultat  ist  sehr 
auffallend  und  wichtig.  Die  Sache  ist  danach  genau  so,  wie  wenn 
man  Wasser  mit  Hülfe  einer  geringen  oder  einer  sehr  starken  Wärme- 
zufuhr zum  Sieden  bringt;  es  hat  bekanntlich  in  beiden  Fällen  die 
Temperatur  denselben  Werth,  nämlich  100°.  Violle  zieht  aus  seiner 
Beobachtungauch  den  entsprechenden  Schlufs:  In  dem  elektrischen 
Flammenbogen  kommt  der  Kohlenstoff  zum  Sieden;  die 
Wärmewirkung  des  elektrischen  Stromes  steigert  deshalb  die  Tem- 
peratur nicht  weiter,  sie  macht  die  feste  Kohle  luftförmig.  — Diesen 
unmittelbaren  Uebergang  aus  dem  festen  in  den  luftförmigen  Zustand 


')  Comptes  readus,  Tome  115,  No.  26. 


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534 


haben  wir  uns  dem  Verhalten  des  Eises  unter  der  Luftpumpe  analog 
zu  denken.  Das  etwa  in  kleinen  Mengen  gebildete  Schmelzwasser 
verdampft  sofort,  so  dals  man  geradezu  sagen  kann,  das  Eis  ver- 
wandle sich  unmittelbar  in  Wasserdampf;  entsprechendes  würde  also 
auch  für  den  Kohlenstoff  im  Flammenbogen  gelten. 

Weiterhin  kam  es  nun  darauf  an,  diese  Siedetemperatur  zu  be- 
stimmen. Violle  schlug  ein  kalorimetrisches  Verfahren  ein.  Die 
Kohle  wurde  nahe  ihrem  Ende  mit  einer  Einschnürung  versehen,  so 
dars  sich  an  der  Spitze  ein  Knopf  von  etwa  2 cm  Durchmesser  be- 
fand. Sobald  die  Beobachtung  im  Pbotometer  zeigte,  dafs  dieser 
Theil  gleichmäfsig  glühend  war,  wurde  er  durch  einen  Stofs  in  ein 
kleines  Kupfergefafs,  dessen  Wände  mit  Kohlenplatten  bedeckt  waren, 
geschleudert.  Dieses  Geräfs  gab  in  der  üblichen  Weise  seine  W'ärme 
an  eine  bestimmte  Wassormenge  ab,  deren  Temperaturerhöhung  dann 
gemessen  wurde.  Unter  Annahme  gewisser  wahrscheinlicher  Werthe 
für  das  Wärmefassungsvermögen  der  Kohle  ergab  sich,  dafs  jenes  ab- 
gelöste Stück  eine  Temperatur  von  3500°  besessen  haben  müsse. 
Dies  ist  also  die  Temperatur  der  hellsten  Stelle  der  positiven  Kohle 
und  gleichzeitig  der  Siedepunkt  der  Kohle. 

Dieses  Sieden  des  Kohlenstoffes  ist  nach  Prof.  Berthelot  inso- 
fern kein  rein  physikalischer  Vorgang,  wie  etwa  das  Sieden  des  Was- 
sers, als  es  sich  gleichzeitig  um  einen  Zerfall  von  Molekülgruppen 
des  festen  Kohlenstoffes,  also  um  einen  Vorgang  bandelt,  den  man 
als  einen  chemischen  zu  bezeichnen  pflegt;  ein  Theil  der  Stromenergie 
wird  zu  dieser  Trennung  verbraucht. 

Die  Energie,  welche  dem  gasförmigen  Kohlenstoff  innewohnt, 
tritt  wieder  zu  Tage  in  den  beträchtlichen  Wärmemengen,  welche  die 
explosiblen  Gemische  von  Kohlenwasserstoffen  oder  anderen  gas- 
förmigen Kohlenstoffverbindungen  mit  Sauerstoff  zu  erzeugen  ver- 
mögen. Man  erhält  durch  solche  Explosionen  Temperaturen  von  4«XK)° 
und  darüber,  tvenngleich  es  ja  seine  Schwierigkeit  haben  würde, 
diese  Temperaturen  nun  auch  einem  benachbarten  festen  Körper  mit- 
zutheilen. 

f 

Das  Gesetz  der  Transformation  der  Knochen.*)  — Wenn  wir 
im  Folgenden  einmal  auf  die  Ergebnisse  im  Gebiete  medizinischer 
Forschung  zu  sprechen  kommen,  so  geschieht  dies,  weil  unseres 

*)  Nach  einem  vom  Reg.- Rath  Geitel  in  dar  polytechnischen  Gesellschaft 
zu  Borlin  am  2.  März  gehaltenen  Vorträge  (Pol.  Centralbl.  V,  13  und  15). 


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535 


Wissens  in  keinem  Falle  so  klar  wie  in  dem  zu  besprechenden  die 
Anpassung1  der  Organe  des  lebenden  Körpers  an  die  ihnen  ob- 
liegenden Funktionen  zu  Tage  tritt,  weil  besonders  diese  Anpassung 
sich  hier  in  so  kurzer  Zeit  vollzieht,  dafs  sie  sich  während  ihres  Ver- 
laufes verfolgen  läfst,  während  man  bisher  bei  der  Länge  der  dazu 
nöthigen  Zeiträume  auf  allerdings  sehr  wahrscheinliche  Hypothesen 
angewiesen  war.  Wenn  man,  den  Aufbau  eines  Blattes  studirend,  in 
den  Rippen  die  I-Träger  wiedererkennt,  welche  dem  Bau  eines  Hauses 
Festigkeit  geben,  so  ergiebt  sich  zwar  als  sehr  wahrscheinlich  die 
Anpassung  dieser  Organe  an  das  Festigkeitsbedürfnifs  der  Pflanze, 
aber  es  ist  damit  nicht  gesagt,  in  welchen  Zeiträumen  diese  Kon- 
struktionen gerade  die  ihnen  heute  eignende  Form  angenommen  haben. 


Ferner  hat  die  Hypothese  — man  kann  es  nicht  leugnen  — noch 
etwas  Unwissenschaftliches  an  sich,  da  ja  gerade  die  Werkzeuge  der 
Menschen  den  natürlichen  Organen  abgesehen  sind  — nach  Kapp 
„Organprojektionen“  darstellen  — , und  das  verliert  sich  erst,  sobald 
von  jenen  Werkzeugen  mit  Hilfe  der  Mechanik  bewiesen  ist.  dafs  sio 
den  Gesetzen  der  Festigkeit  und  der  Material -Oekonomie  gerade  in 
der  Form,  in  der  sie  angewandt  werden,  besonders  Genüge  leisten. 
Die  wissenschaftliche  Theorie  der  Baukonstruktionen  ist  aber  durch 
die  Erfindung  der  Graphostatik  so  gefördert  und  vereinfacht  worden, 
dafs  man  jetzt  leicht  diejenige  Form  eines  Instrumentes,  bei  der  es 
jene  Gesetze  befriedigt,  auffinden  kann.  So  sind  die  leichten  Brücken- 
konstruktionen, der  moderne  Eisenbau  der  Häuser,  der  Eiffelthurm 
möglich  geworden;  so  ist  auch  der  elegante  Fairbairn-Krahn  erfunden 
worden.  Zeigt  es  sich  nun,  dafs  ein  solchermafsen  nach  den  Prinzipien 
der  Graphostatik  aufgebautes  Instrument  mit  einem  thierisehen  oder 


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536 


pflanzlichen  Organ  übereinstimmt,  so  ist  erst  der  Beweis  geführt,  dato 
auch  die  Natur  bei  der  Bildung  ihrer  Organe  dieselben  jenen  Gesetzen 
der  Festigkeit  und  Oekonomie  anpafst.  Ein  sehr  einfaches  Beispiel 
dieser  Art  ist  der  menschliche  Oberschenkelknochen  (Fig.  1 und  2),  der 
genau  jenen  Fairbairn-Krahn  nachahmt.  Schneidet  man  einen  thierischen 
Knochen  der  Länge  nach  entzwei,  so  erblickt  man  darin  eine  grofse 
Menge  kleiner  Knochenfasern,  die  auf  den  ersten  Blick  ohne  besonderes 
Gesetz  durcheinander  laufen,  die  sogenannten  Spongiosabiilkchen.  Der 
Erfinder  der  Graphostalik  C ul  man  in  Zürich  erkannte  nun  zuerst, 
dafs  diese  liälkchen  im  Oberschenkelknochen  nicht  anders  verlaufen, 
als  auch  die  stützenden  Querbalken  in  einem  Fairbairn-Krahn  ver- 


Fig.  3. 


Fig.  4. 


laufen  mufsten,  wenn  ihnen  zugemuthet  wurde,  die  gröfsto  Festigkeit  beim 
geringsten  Materialaufwand  zu  gewährleisten.  Die  Anpassung  erreicht 
also  bereits  einen  an  Evidenz  grenzenden  Grad  von  Wahrscheinlich- 
keit Aber  völlig  wird  sie  zur  Evidenz  gebracht,  wenn  man  verletzte 
Knochen  zur  Heilung  bringt.  Prof.  J.  Wolff  in  Berlin  hat  in  dieser 
Hinsicht  die  Erfahrung  mehrerer  Decennien  gesammelt  und  jetzt  auf 
Kosten  der  Berliner  Akademie  herausgegeben.  Es  zeigt  sich  in  allen 
untersuchten  Fällen,  dufs  die  Knochen  während  des  Heilungs- 
prozesses  sowohl  in  ihrem  äufseren  — der  Dicke  der  Wände  — als 
auch  in  ihrem  innern  Bau  — in  der  Lage  jener  Spongiosabälkchen  — 
sich  genau  dem  Dienste  anpassen,  den  sie  zu  leisten  haben.  Wir 
brauchen  nur  die  beiden  Figuren  3 und  4 anzusehen,  welche  einen 
gebrochenen  Oberschenkelhals  kurz  nach  dem  Bruche  und  nach  voll- 
zogener Heilung  darstellen.  Während  zu  den  Seiten  der  Bruchstellen 
neue  Knoohenmasson  mit  neuen  Spongiosabälkchen  dem  Organe  die 
Festigkeit  wiedergeben,  hat  sich  im  Kopfe  des  Schenkels  eine  dem 
neuen  Zustande  angepafste  Verschiebung  jener  Bälkchen  vollzogen. 


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537 


die  mit  der  Aufzehrung  des  nun  überflüssig  gewordenen  Materials  bei 
B verbunden  war.  So  zeigt  sich,  dafs  die  Natur  nioht  blos  in  den 
langen  Zeiträumen,  in  welchen  die  Wandlungen  der  organischen  Welt 
sich  sonst  vollziehen,  immer  höhere  Stufen  der  Anpassung  erstrebt, 
sondern  auch  in  der  kurzen  Spanuo  Zeit,  die  ein  Knochenbruch  zu 
seiner  Heilung  erfordert,  die  Gesetze  der  Anpassung  an  die  Erfordernisse 
der  Festigkeit  unter  strengster  Material-Oekonomie  befolgt.  — r. 

* 

Ueber  E.  E.  Barnards  Lebensgang  wurden  am  8.  März  1893 
einige  bemerkenswerthe  Einzelheiten  bekannt,  als  derverdiente  Kometen- 
jäger und  Entdecker  des  fünften  Jupitormondes  von  der  Vanderbilt- 
Universität  in  Nashville  U.  S.  zum  Ehrendoktor  ernannt  ward.  Nach 
den  bei  dieser  Gelegenheit  gemachten  Mittheilungen  war  Barnard  erst 
ein  ununterrichteter  Knabe,  der  in  einer  photographischen  Gallerie  Be- 
schäftigung fand.  Dort  verbrachte  er  seine  Tage,  während  er  Nachts 
bei  klarem  Wetter  stets  auf  dem  Dache  des  Hauses  zu  finden  war, 
wo  er,  einer  unüberwindlichen  Neigung  folgend,  mit  einem  kleinen 
Fernrohre  den  Himmel  durchmusterte.  Bald  darauf  wurde  er  Student 
der  Vanderbilt-Universität  und  bildete  sich  als  solcher  aufs  eifrigste 
nicht  nur  theoretisch,  sondern  auch  praktisch  in  der  Astronomie  aus, 
da  er  zur  Sternwarte  freien  Zutritt  erlangte.  Nun  machte  er  sich  in 
kurzer  Zeit  einen  Namen  als  Kometenentdecker.  Dies  hatte  seine  Be- 
rufung an  die  Licksternwarte  zur  Folge,  wo  er  nun,  einer  der  treuesten 
Arbeiter  am  gröfsten  Fernrohr  der  Welt,  eine  Fülle  wichtiger  Beob- 
achtungen ausführte  und  durch  die  Entdeckung  des  fünften  Jupiter- 
mondes  glücklich  genug  war,  seinen  Namen  mit  dem  Galileis  ver- 
knüpfen zu  können. 

•u 

* 


Neu  entdeckter  Komet. 

Auf  dem  Privatobservatorium  Flammarions  in  Juvisy  bei  Paris 
hat  am  9.  Juli  Quenisset  einen  sehr  hellen  Kometen  entdeckt.  Der- 
selbe bewegt  sich  mit  grofser  Geschwindigkeit  aus  dem  Sternbild  des 
Luxes,  in  welchem  er  aufgefunden  wurde,  in  südwestlicher  Richtung  und 
kann  nach  Eintritt  der  Dunkelheit  selbst  mit  ganz  kleinen  Instrumenten 
leicht  wahrgenommen  werden.  Einer  ersten  rohen  Bahnberechnung 
zufolge  hat  der  Komet  am  7.  Juli  das  Perihel  passirt;  er  entfernt  sioh 
schon  jetzt  schnell  von  der  Erde  und  wird  merklich  schwächer.  G.  W. 


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Arthur  Mee:  Observationml  Astronomy,  a book  for  beginnet«,  to  which 
is  added  a bricf  meraoir  of  the  Rev.  Prebendary  Webb,  with  a specially 
contributed  appendix.  With  il  lu  strati  o ns.  — Daniel  Owen  and  Cnm- 
pagny,  Cardiff  1893.  VIII,  79  und  VII  Seiten  gr.  3°.  Preis  2 sh.  9 d. 

Das  vorliegende  Buch  ist  in  der  Hauptsache  bestimmt,  dem  astronomischen 
Laien  in  knapper  Form  eine  anschauliche  Darlegung  der  neuesten  Ergebnisse 
auf  dem  Gebiete  der  physischen  Astronomie  zu  vermitteln;  daraus,  dafs  es  sich 
ausschliefslich  an  englische  Leser  wendet,  erklärt  sich  manche  Eigen thümlich- 
keit,  die  der  deutsche  Beurtheiler  im  Interesse  der  Gerechtigkeit  und  gröfserer 
Allgemeinheit  gern  vermieden  gesehen  hätte.  Für  den  englischen  Leserkreis 
mag  es  ja  recht  interessant  sein  zu  erfahren,  was  auf  heimischem  Boden  oft 
mit  den  bescheidensten  instrumenteilen  Hilfsmitteln  erreicht  worden  ist;  noth- 
wendigerweiße  erhält  aber  dadurch  die  ganze  Anlage  des  Buches  eine  uner- 
wünschte Einseitigkeit,  welche  in  populären  Schriften  so  wenig  wie  in  der 
Wissenschaft  angebracht  erscheint.  Der  Verfasser  hätte  diesen  Einwürfen  sehr 
einfach  begegnen  können,  wenn  er  dem  gewählten  Titel  noch  das  Wörtchen 
„English“  vorgesetzt  hätte. 

Die  Darstellung  an  sich  kann  sowohl  ihrer  fesselnden  Form  wegen  als 
auch  inhaltlich  wohl  unseren  Beifall  finden.  Die  vielen  Hinweise  auf  andere 
Publikationen,  in  denen  der  Leser  gründlichere  Belehrung  findet,  als  dies  in 
dem  knappen  Abrifs  möglich  ist,  würden  indessen  vollständig  entbehrlich  ge- 
wesen sein,  zumal  die  angeführten  Quellen  dem  Laien  im  allgemeinen  nicht 
eben  leicht  zugänglich  sind;  eine  einfache  Verweisung  beispielsweise  auf 
Newcombs  «Populäre  Astronomie“  oder  ein  ähnliches  Werk  wäre  vollständig 
hinreichend  gewesen. 

Alle  diese  Bedenken  könnten  indessen  kaum  schwor  genug  ins  Gewicht 
fallen,  um  von  der  Lektüre  des  Werkes,  das  manches  treffliche  Kapitel  und 
einen  gediegenen  Anhang  mit  Originalbeiträgen  anderer  Forscher  enthält, 
gänzlich  abzuraten;  was  aber  zu  besonderen  Ausstellungen  Anlafs  bietet,  das 
ist  die  — sagen  wir  es  kurz  — eigentümliche  bildliche  Ausstattung.  Man 
mag  Elger  als  Mondforscher  noch  so  hoch  schätzen,  — künstlerisch  sind  seine 
Mondzeichnungen  nicht,  und  es  ist  nicht  gerechtfertigt,  sie  als  Muster  in  popu- 
lären Darstellungen  zu  reproduziren.  Was  an  dieser  einen  speziellen  Gruppe 
von  Abbildungen  getadelt  ist,  das  gilt  — mit  wenigen  Ausnahmen  — von  allen 
übrigen;  es  sei  beispielsweise  nur  noch  eine  Reproduktion  erwähnt,  die  dor 
Unterschrift  zufolge  den  Orion-Nobel  darstellen  soll.  Theilweise  mag  die 
mangelnde  Sorgfalt  nach  der  technischen  Seite  hin  dio  Schuld  tragen,  denn 
die  Illustrationen  von  Instrumenten  beispielsweise,  für  welche  offenbar  vor- 
handene Clichäs  benutzt  wurden,  lassen  nichts  zu  wünschen  übrig;  aber  eine 
wirkliche  Entschuldigung  wird  darin  schwerlich  gefuuden  werden  können. 
Weniger,  aber  besser!  — würde  im  vorliegenden  Fall  nur  erwünscht  ge- 
wesen sein  G.  W. 

* 


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539 


F.  Stolze,  Photographische  Bibliothek.  Bd.  I.  Die  photographische 
Ortsbestimmung  ohne  Chronometer.  Berlin  18U3,  Verlag  von  Mayer 
und  Müller.  Preis.  Mk.  2,00. 

Die  vorliegende  Abhandlung  setzt  eine  sehr  bedeutungsvolle,  bislang 
noch  nicht  hinreichend  beachtete  Anwendungsart  der  photographischen  Me- 
thode in  der  Wissenschaft  auseinander,  nämlich  die  Lösung  der  Aufgabe,  dio 
geographische  Länge  und  Breite  ohne  Chronometer  zu  bestimmen.  Wenn 
schon  an  sich  eine  Methode  der  Ortsbestimmung,  die  das  wichtigste  Instru- 
ment des  messenden  Astronomen,  die  Uhr,  entbehrlich  macht,  ein  hohes  theo- 
retisches Interesse  beanspruchen  darf,  so  erhöht  sich  die  Bedeutung  des  hier 
angegebenen  Verfahrens  besonders  durch  den  für  jeden  Forschungsreisenden 
eminent  praktischen  Werth  desselben,  der  sich  auf  verschiedene  Umstände 
gründet.  Erstens  ist  nämlich  ein  regelmäfsiger  Gang  eines  Chronometers  bei 
Landreisen  auf  schlechten  Wegen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  gar  nicht  zu  er- 
zielen, sodafs  alle  sich  auf  Zeitbestimmungen  stützenden  Feststellungen  schon 
deshalb  sehr  unsicher  ausfallen  müssen.  Zweitens  aber  sind  geographische 
Forschungsreisende  meist  keine  geübten  Fachastronomen,  so  dafs  es  fiir  sie  eine 
starke  Zumuthung  ist,  nach  vollbrachtem,  mühsamem  Tagesmarsch,  der  ihre  Kräfte 
nach  jeder  Richtung  hin  voll  in  Anspruch  nahm,  noch  bei  den  vielfachen 
Störungen  des  Lagerlebens  doppelt  anstrengende  wissenschaftliche  Beob- 
achtungen auszufuhren.  Die  Erfahrung  lehrt  dementsprechend,  dafs  die  Re- 
sultate der  unter  solchen  Umständen  gewonnenen  Beobachtungsdaten  oft  eine 
so  geringe  Genauigkeit  besitzen,  dafs  die  auf  die  Reduktionsrechnungen  ver- 
wandte Mühe  fast  vergeudet  erscheint.  Kann  nun  aber  an  Stelle  der  Augo- 
Ohr-Methode  die  rein  mechanische  Arbeit  einer  photographischen  Aufnahme 
treten,  so  wird  dadurch  nicht  nur  dom  Reisenden  eine  wesentliche  Erleichte- 
rung gegeben  sein,  sondern  auch  der  Astronom,  dem  doch  schliefslich  die 
rechnorische  Bearbeitung  des  Beobachtungsmaterials  zufällt,  wird  eine  wesent- 
lich dankbarere  Aufgabe  bei  der  Reduktion  zu  erfüllen  haben,  da  er  ja  auch 
selbst  die  Ausmessung  der  Platte  mit  aller  erreichbaren  Genauigkeit  besorgen 
kann  und  sonach  im  Grunde  genommen  seine  eigenen  Beobachtungen  reduzirt 

Die  vom  Verfasser  angegebene  Methode  besteht  nun  darin,  dafs  man  zu- 
nächst einen  Stern  (oder  die  Sonne)  eine  Zeit  lang  seinen  Weg  auf  der  photo- 
graphischen Platte  einzeichnen  läfst  und  die  Zenithdistanzen  des  Anfangs- und 
End-Punkts  der  Spur,  sowie  die  Differenz  der  Azimuthe  dieser  beiden  Punkte 
mifst.  Alsdann  führt  die  Rechnung  auf  Grund  dieser  Daten  leicht  zur  Kennt- 
nifs  der  Breite,  der  Zeit  und  der  Lago  des  Meridians.  Für  die  Bestimmung 
der  geographischen  Länge  jedoch  ist  auch  hier,  wie  bei  gewöhnlichen  Orts- 
bestimmungen, in  der  Regel  Zuflucht  zu  nehmen  zur  Fixirung  des  Mondortes 
in  Bezug  auf  irgend  welche  Gestirne;  aus  den  durch  eine  Parallaxenrechnung 
auf  den  Erdmittelpunkt  reduzirton  „Monddistanzen“  läfst  sich  nämlich  dann 
wegen  der  schnellen  Bewegung  des  Mondes  leicht  die  zugehörige  Weltzeit  und 
damit  dio  geographische  Länge  des  Beobachtungsortes  finden.  — Der  Verfasser 
giebt  nun  in  seiner  Schrift  nicht  nur  die  Theorie  seiner  Methode,  sondern  er 
läfst  sich  auch  ausführlich  über  die  praktische  Ausführung  aus,  untorsucht  die 
erreichbare,  durchaus  hinreichende  Genauigkeit  und  giebt  eine  bis  ins  Einzelne 
geheude  Beschreibung  seines  für  den  vorliegenden  Gebrauch  besonders  zweck- 
mäfsig  konBtruirten  photographischen  Theodoliten,  der  an  Stelle  eines  Universal- 
instrumentes mit  Vortheil  äuge  wendet  werden  kann. 

In  einem  Anhang  wird  das  Stativ,  das  Negativgitter  und  die  Spiegel,  so- 
wie die  Verpackung  des  Theodoliten  behandelt,  ferner  werden  Anweisungen 


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540 


für  topographische  Aufnahmen  zur  Verbindung  der  astronomisch  bestimmten 
Punkte  gegeben,  die  Nützlichkeit  telestereoskopischer  Aufnahmen  betont  und 
schliefslich  noch  ein  neues  Wegerad  beschrieben.  Das  Büchlein  bietet  sonach 
jedem  Forschungsreisenden  eine  Fülle  wichtiger  und  dankenswerter  Winke 
in  Bezug  auf  die  Heranziehung  der  allezeit  dienstbereiten  Photographie  zur 
Erleichterung  und  Vervollkommnung  der  Lösung  der  wichtigsten  Aufgaben 
der  Topographie.  F.  Kbr. 

f 

Hammer,  E.,  Prof.;  Zeitbestimmung  (Uhrkontrole)  ohne  Instrumente 
durch  Benutzung  der  Ergebnisse  einer  Landesvermessung.  All- 
gemein verständlich  dargestellt  Mit  Tafel  der  Sonnendeklination  und 
der  Zeitgleichung  für  1893  bis  1896  und  einer  Figur.  Stuttgart, 
J.  B.  Metzler  1893. 

Nach  einem  kurzen  Ueberblick  über  den  Werth  der  Zeitbestimmung  ver- 
mittels der  populären  Zeitmesser  von  der  Sonnenuhr  an  bis  zum  Chronodeik 
trägt  der  Verfasser  sein  Verfahren  vor,  welches  als  Hilfsmittel  nur  eines 
Senkels  bedarf.  Im  wesentlichen  besteht  diese  Methode  darin,  dafs  man  den 
Antritt  der  Sonnenränder  an  den  Sonkelfaden  in  einem  bekannten  Azimuth 
beobachtet.  Ein  solches  Azimuth  erhält  man,  wenn  man  als  Beobachtungsort 
und  Zielpunkt  zwei  durch  die  Landesvermessung  ihren  Koordinaten  nach  be- 
stimmte Lokalitäten  wählt,  was  in  den  Kulturstaaten  keine  Schwierigkeiten 
bieten  dürfte,  da  selbst  in  der  Nähe  kleinerer  Ortschaften  genügend  trigono- 
metrisch festgelegto  Punkte  (Thurmspitzen,  Fahnenstangen,  Blitzableiter  etc.) 
zur  Verfügung  stehen.  Aus  den  rechtwinkeligen  Koordinaten  des  beobachteten 
Ortes  und  des  Visirpunktes  wird  dann  das  Azimuth  der  Absehenslinie,  also 
das  Sonuenazimuth,  gefunden,  und  hieraus  ergiebt  sich,  da  ja  die  Polhöhe  des 
Beobachtungsortes  aus  den  Karten,  die  Deklination  der  Sonne  aus  dem  Jahr- 
buch entlehnt  werden  kann,  in  bekannter  Weise  der  Stundenwinkel  der  Sonne 
und  mithin  auch  die  Uhrkorrektion.  Um  das  Jahrbuch  zu  ersparen,  hat  der 
Verfasser  eine  Tabelle  der  Zeitgleichung  und  der  Sonnendeklination  für  den 
Zeitraum  von  1893  bis  1896  beigefügt.  Der  Verfasser  glaubt  nach  vielen  Ver- 
suchen den  mittleren  Fehler  einer  derartigen  Bestimmung  auf  kaum  über 
+ 0,05  m annehmen  zu  dürfen.  Obwohl  die  Telegraphenstationen  täglich  die 
amtliche  Zeit  übermittelt  erhalten,  ist  doch  sicher  oft  eine  Zeitkontrole  an 
kleineren  Orten  geboten,  weil  hier  nicht  selten  eine  gewöhnliche  Schwarzwälder 
Uhr  die  Rolle  einer  Normaluhr  Übernehmen  mute.  Diese  Kontrole  kann  jeder- 
mann, selbst  ein  geübter  Schüler,  nach  der  angegebenen  Art  ohne  instrumcntelle 
Hilfsmittel  leicht  und  schnell  ausführen.  Schw. 


Verlag  von  Hermann  Partei  ln  Berlin.  — Druck  von  Wilhelm  Qronau's  Buchdruckerei  in  Berlin. 
Flir  die  Redaetion  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  unterlagt. 
Uebersetgunjrsrecht  Vorbehalten 


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Galileo  Galilei. 

Vortrag,  gehalten  im  mathematischen  Verein  zu  München 
von  Professor  Dr.  von  Rranmniihl. 

(Schlafe.) 

rrT'; 

1 'Za  ls  im  Jahre  1598  Galileis  Dienstzeit  in  Padua  abgelaufen  war, 
f erneuerte  der  Senat  zunächst  die  Anstellung  auf  weitere  6 Jahre 
■ ’ und  später  bis  zum  Jahro  1609  mit  einer  jedesmaligen  Vermeh- 
rung seines  Gehaltes,  was  ihn  zu  neuer  Thätigkeit  anspornte.  Fassen 
wir  dieselbe  etwas  näher  ins  Auge. 

Wir  sahen,  wie  Galilei  durch  seine  dynamischen  Untersuchungen 
sich  immer  mehr  in  Widerspruch  mit  den  herrschenden  Ansichten 
der  Peripatetiker  setzte.  Nun  bot  sich  ihm,  der  den  Kampf  liebte,  un- 
erwartet eine  erwünschte  Gelegenheit,  sich  ofTen  gegen  dieselben  zu 
erklären,  als  am  10.  Oktober  1604  plötzlich  zum  Staunen  und  Schrecken 
der  Peripatetiker  ein  neuer  Stern  im  Sternbilde  des  Schlangenträgers 
erschien.  Da  nach  Aristoteles  der  Himmel  unzerstörbar  und  un- 
veränderlich ist,  so  konnte  diese  augenfällige  Veränderung  nach  An- 
sicht der  herrschenden  Schule  nur  in  der  Sphäre  zwischen  Mond  und 
Erde  vor  sich  gegangen  sein.  Galilei  aber  hielt  im  Dezember  1604 
drei  öffentliche  Vorträge,  in  denen  er  nicht  nur  nachzuweisen  suchte, 
dafs  der  Stern  unmöglich  innerhalb  der  Entfernung  des  Mondes  von 
der  Erde  entstanden  sein  könne,  sondern  dafs  sich  derselbe  sogar 
weiter  als  alle  Planeten  von  der  Erde  entfernt  befinde,  also  in  die 
Region  der  Fixsterne  zu  versetzen  sei.  Gegen  diese  Vorträge,  die 
auch  im  Druck  erschienen,  aber  nur  mehr  bruchstückweise  erhalten 
sind,  eröffneten  in  der  nächsten  Zeit  die  Peripatetiker  heftige  Angriffe, 
in  denen  sie,  obwohl  vergebens,  für  die  bedrohten  Grundlagen  ihrer 
Philosophie  eintraten.  Doch  scheint  sich  Galilei  darum  wenig  be- 

Himmel  und  Erde.  18S3.  V.  12  3<» 


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kümmert  zu  haben,  da  ihn  schon  wieder  andere  Studien,  besonders  solche 
über  Magnetismus  fesselten.  Aber  halten  wir  uns  hierbei  nicht 
länger  auf  und  eilen  wir  zu  den  Jahren  1609  und  1610,  welche  eine 
Epoche  in  der  Geschichte  der  Astronomie  bedeuten. 

1609  hatte  Galilei,  wie  er  selbst  erzählt,  die  Nachricht  erhalten, 
dafs  in  Holland  ein  Instrument  erfunden  worden  sei,  mit  dem  man 
entfernte  Gegenstände  näher  rücken  und  so  genauer  betrachten  könne. 
Ob  er  Näheres  über  diese  Erfindung  ermittelte  oder  wohl  gar  eines 
der  in  Holland  gefertigten  Fernröhre  zu  Gesicht  bekam,  läfst  sich 
nicht  mehr  feststellen;  wohl  aber  ist  sicher,  dafs  er  in  wenigen  Tagen 
durch  Herausprobiren,  wie  er  selbst  angiebt,  ein  Fernrohr  fertig- 
gestellt  hatte.  Dasselbe  stellte  er  dom  Senate  in  Venedig  durch  seinen 
Freund  Sagred o zur  Verfügung,  mit  einer  Schrift  begleitet,  worin 
sein  Nutzen  für  Nautik  und  Astronomie  auseinandergesetzt  war. 
Hierauf  beeilte  sich  der  Senat,  unter  Verdreifachung  des  Gehaltes 
seine  Professur  in  eine  lebenslängliche  zu  verwandeln. 

Mit  dieser  wichtigen  Erfindung  beginnt  jene  Periode  in  Galileis 
lieben,  in  welcher  er  seine  gröfsten  Triumphe  feierte.  Er  hatte  den 
glücklichen  Gedanken,  das  neuerfundene  Fernrohr,  das  er  bis  zu  einer 
dreifsigfachen  linearen  Vergröfserung  verbessert  hatte,  gegen  den  ge- 
stirnten Himmel  zu  richten,  und  war  dadurch  in  die  Hage  versetzt, 
Dinge  zu  schauen,  die  noch  kein  menschliches  Auge  vor  ihm  gesehen 
hatte.  Seine  astronomischen  Entdeckungen  und  Beobachtungen,  die 
er  damals  machte,  legte  er  in  dom  im  März  1710  erschienenen  „Nuncius 
sidereus“  oder  „Sternboten“  nieder,  der  bei  seinem  Erscheinen  unge- 
heueres Aufsehen  erregte,  was  wohl  zu  begreifen  ist;  denn,  hatte  alles 
das  seine  Richtigkeit,  was  Galilei  in  diesem  denkwürdigen  Buche 
mittheilte,  so  war  das  Gebäude  der  alten  Philosophie  in  seinen  Grund- 
festen erschüttert,  und  es  war  schwer  abzusehen,  wo  sich  neue  Stützen 
für  seine  wankenden  Mauern  finden  sollten! 

Den  Mond,  den  die  Peripatetiker  für  eine  glänzende,  spiegel- 
glatte Scheibe  gehalten  hatten,  schildert  Galilei  in  diesem  Buche  als 
eine  mit  hohen  Gebirgen  und  Thälern  ausgostattete  Welt  gleich  der 
unsrigen;  die  Milchstrafse,  die  man  für  einen  Nebel  oder  für 
Meteore  angesehen  hatte,  erklärt  er  für  ein  Heer  unzähliger  Sterne; 
in  den  Plejaden,  von  denen  man  bisher  nur  6 Sterne  kannte,  zählte 
er  deren  40,  ebenso  im  Haupte  des  Orion  21  u.  s.  w.  Aber  die 
wichtigste  daselbst  mitgetheilte  Entdeckung  war  die  der  4 Jupiters- 
trabanten, denn  dadurch  war  ad  oculos  demonstrirt,  dafs  sich  ein 
Zentrum  von  Bewegungen  selbst  wieder  bewegen  könne,  was  damals 


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für  undenkbar  galt.  Galilei  weist  auf  diese  wichtige  Konsequenz 
auch  sofort  im  «Sternboten“  hin,  indem  er  sagt,  dafs  damit  die 
Möglichkeit  des  Copernikanischen  Systems  klar  be- 
wiesen sei. 

Am  7.  Januar  1610,  Nachts  1 Uhr  erblickte  er  zum  ersten  Male 
drei  der  Trabanten  Jupiters  und  am  13.  desselben  Monates  alle  vier; 
er  beobachtete  ihre  Bewegungen  während  zweier  Monate  aufs  ge- 
naueste und  theilte  ihre  Stellungen  bei  diesen  Einzelbeobachtungen  im 
„Sternboten“  mit,  wo  er  ihnen  auch  schon,  dem  Hause  von  Toscana 
zu  Ehren,  den  Namen  Mediceische  Gestirne  beilegte. 

Hier  will  ich  gleich  bemerken,  dafs  or  später  die  Umlaufszeiten 
festgestellt,  sowie  Tafeln  berechnet  hat,  die  ihm  dazu  dienen  sollten, 
die  Verfinsterungen  dieser  Trabanten  zur  geographischen  Längenbe- 
stimmung zu  gebrauchen.  Die  Methode,  die  er  hierzu  angab,  wollte 
er  zuerst  an  Spanien,  dann  an  die  tleneralstaaten  verkaufen,  griff 
aber  in  seinen  Forderungen  so  hoch,  dafs  sich  die  lange  Zeit  durch 
seinen  Freund  Elie  Diotata  in  Paris  geführten  Unterhandlungen 
wieder  zerschlugen. 

Durch  seine  astronomischen  Entdeckungen  war  Galileis  Namen 
in  aller  Mund  gekommen,  und  der  Grofsherzog  Cosimo  n,  der  am 
7.  Februar  1609  unter  Vormundschaft  seiner  Mutter  die  Regierung  in 
Toscanu  übernommen  hatte  und  ein  Schüler  Galileis  war,  drang  in 
ihn,  Padua  zu  verlassen  und  nach  Florenz  überzusiedeln.  Zu  seinem 
Unglücke  gab  Galilei  diesem  Drängen  nach  und  verliefe  die  Republik 
Venedig,  unter  deren  freien  Gesetzen  er,  geehrt  vom  Senate  und  mit 
den  einflufsreichsten  Senatoren  durch  Freundschaftsbande  verbunden, 
seine  reformatorischen  Ideen  ungehindert  hätte  entwickeln  können, 
und  begab  sich  in  ein  Land,  dessen  Regierung  unter  direktem  Ein- 
flüsse Roms  und  der  Jesuiten  stand. 

Am  10.  Juli  1610  wurde  er  zum  ersten  Hofmathematiker  des 
Grofsherzogs  ernannt  und  mit  Gunstbezeugungen  überhäuft,  auch  hatte 
er  keine  öffentlichen  Vorlesungen  mehr  zu  halten,  wahrscheinlich, 
neben  seiner  Liebe  zur  Heimath,  der  Hauptgrund,  der  ihn  zu  diesem 
Schritte  veranlafst  hatte,  der  später  für  ihn  so  unheilvoll  werden  sollte. 

Nachdem  Galilei  noch  in  Padua  die  merkwürdige  Gestalt 
Saturns  beobachtet  hatte,  den  er  bei  der  schwachen  Vergrößerung 
seiner  Fernröhre  für  ein  Drillingsgestirn  hielt,  machte  er, 
kaum  in  Florenz  angekommen,  am  11.  Dezember  1610  die  für  ihn 
viel  wichtigere  Entdeckung  der  Phasen  der  Venus  und  des 
Merkurs;  diese  Entdeckung  war  für  ihn  deshalb  von  so  grofser 

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Wichtigkeit,  weil  sie  einmal  die  Dunkelheit  der  Planeten  bewies  und 
dann,  weil  sie  zeigte,  dafs  sich  dieselben  um  die  Sonne  bewegen,  wie 
der  Mond  um  unsere  Erde,  ein  neuer  Wahrscheinlichkeitsgrund  für 
die  Richtigkeit  der  Copernikanischen  Lehre  von  der  zentralen  Stellung 
der  Sonne  im  Planetensystem.  Hiervon  gab  er  sofort  Kepler  und 
dem  Jesuiten  Clavius  am  Collegium  Romanum  Nachricht,  mit  dem 
er  schon  lange  in  freundschaftlichem  Verkehr  stand,  und  reiste  am 
23.  März  1611  nach  Rom,  um  dort,  in  der  Zentrale  der  Gelehrsamkeit, 
seine  astronomischen  Entdeckungen  den  Gelehrten  selbst  zu  zeigen, 
da  sie  denselben  noch  grofsentheils  ungläubig  gegenüberstanden.  Er 
wurde  in  Rom  mit  grofsen  Ehren  aufgenommen,  und  es  gelang  ihm 
auch  sehr  bald  durch  seine  Demonstrationen  und  Vorträge,  seine 
Gegner  vollständig  zu  überzeugen.  Ja,  auf  Betreiben  des  dem 
Jesuitenorden  angehörigen  Kardinals  Bellarmin  wurde  ihm  von 
Clavius  und  drei  andern  Professoren  des  römischen  Kollegs  ein  Gut- 
achten ausgestellt,  welches  die  Wahrheit  der  neuen  Entdeckungen  be- 
zeugte. Damals  wurde  er  auch  Mitglied  der  Accademia  dei  Linoei, 
die  1603  von  dem  Fürsten  Federigo  Cesi  gestiftet  worden  war. 
Ob  Galilei  zu  dieser  Zeit  schon  seine  Ansicht  über  das  Copernika- 
nische  Weltsystem  rückhaltlos  äufserte,  ist  nicht  bekannt;  aber  bei 
Freunden  und  Feinden  stand  es  fest,  dafs  er  völlig  überzeugter 
Copemikaner  sei,  und  es  dauerte  auch  nicht  lange,  bis  er,  durch  seine 
Erfolge  in  Rom  kühn  gemacht,  mit  dieser  seiner  Ueberzeugung  öffent- 
lich hervortrat.  Dies  geschah  zum  ersten  Male  in  seinen  Briefen 
über  die  Sonnen  fleck en,  die  im  Jahre  1613  der  Oeffentlichkeit 
übergeben  wurden. 

Werfen  wir  einen  kurzen  Blick  auf  die  Entstehungsgeschichte 
dieser  Briefe.  Am  12.  Oktober  1611  sohrieb  der  Jesuit  Christoph 
Scheiner,  Professor  der  Mathematik  in  Ingolstadt,  an  den  Augs- 
burger Patrizier  Marcus  Welser,  der  mit  allen  hervorragenden  Ge- 
lehrten seiner  Zeit  in  Korrespondenz  stand,  einen  Brief,  in  welchem 
er  ihm  mittheilte,  dafs  er  bereits  im  März  1611  Flecken  auf  der  Sonne 
entdeckt  habe,  und  legte  eine  Reihe  von  systematischen  Beobachtungen, 
die  er  im  Oktober  1611  begonnen  hatte,  mit  Abbildungen  versehen, 
bei.  Diesem  Briefe  folgten  rasch  noch  2 weitere,  und  M.  Welser 
beeilte  sich,  dieselben  in  Augsburg  unter  dem  Pseudonym:  Apelles 
latens  post  tabulam  drucken  zu  lassen,  und  sandte  am  6.  Januar  1612 
ein  Exemplar  davon  an  Galilei,  ihn  um  seine  Ansicht  über  die  da- 
selbst besprochene  Entdeckung  ersuchend.  Am  4.  Mai  desselben 
Jahres  nun  antwortete  Galilei  in  einem  umfangreichen  Schreiben, 


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worin  er  sofort  die  Priorität  der  Entdeckung  auch  dieser  Erscheinung 
für  sich  in  Anspruch  nahm,  indem  er  bemerkte,  er  habe  schon  vor 
etwa  18  Monaten,  also  im  November  1610,  die  Fleoken  auf  der  Sonne 
beobachtet  und  dieselben  auch  bei  seinen  Demonstrationen  in  Rom 
den  dortigen  Gelehrten  und  Prälaten  gezeigt.  In  einem  in  unserer 
Zeit  wieder  aufgefundenen  Privatbriefe  behauptet  er  sogar,  die  Flecken 
schon  im  Juli  oder  August  1610  gesehen  zu  haben;  jedenfalls  hat  er 
aber  damals  die  Wichtigkeit  der  Erscheinung  nicht  erkannt,  da  er 
nicht  einmal  seinen  Freunden  davon  Mittheilung  machte. 

Diesem  Briefe  Galileis  vom  4.  Mai  1012  folgten  dann  im  August 
und  September  desselben  Jahres  noch  2 weitere  au  M.  Welser  nach, 
die,  mit  dem  ersten  vereinigt,  das  genannte  Buch  über  die  Sonnen- 
flecken ausmachen. 

ln  diesen  Schriften,  die  viel  Interessantes  enthalten,  griff  er 
Scheine rs  Ansichten,  der  übrigens  für  sich  die  Priorität  damals  nicht 
in  Anspruch  genommen  hatte,  an  und  machte  denselben  dadurch  und 
noch  mehr  durch  seine  späteren  Angriffe  zu  seinem  erbittertsten  und 
zugleich  gefährlichsten  Gegner.  Auf  den  heftigen  Kampf,  der  in  der 
Folge  zwischen  diesen  beiden  Männern  entstand,  kann  ich  nicht  weiter 
eingehen  und  will  nur  Galileis  Anspruch  auf  die  Priorität  der  Ent- 
deckung feststellen.  Ich  habe  diese  Frage  früher*)  einmal  genau 
untersucht  und  kam  zu  dem  Resultate,  dafs  man  wohl  Galilei  wird 
zugeben  müssen,  dafs  er  die  Sonnenflecken  zum  ersteD  Mal  sah,  dafs 
dagegen,  was  die  Daten  der  Beobachtungen  und  der  Publikationen 
anlangt,  an  erster  Stelle  Johann  Fabricius,  an  zweiter  Stelle 
Christoph  Sohoiner  und  eist  an  dritter  Stelle  Galilei  zu  nennen 
ist.  Doch  hat  er,  was  seine  Anschauung  über  das  Wesen  der  Flecken 
anlangt,  seinen  Gegner  Scheiner  sofort  übertroffen,  indem  er  schon 
in  seinem  ersten  Briefe  an  Welser  sie  für  wolkenartige  Gebilde  einer 
die  Sonne  umgebenden  Atmosphäre  hielt,  während  Scheiner  anfangs 
noch  glaubte,  sie  seien  dunkle  Körper,  die  die  Sonne  in  nächster  Nähe 
umkreisen.  Ueberdies  lehrten  Galilei  seine  Sonnenfleckenbeob- 
achtungen, dafs  die  Sonne  eine  Rotationsbewegung  besitze,  und  gaben 
ihm  so  von  neuem  eine  Waffe  gegen  die  Aristotelische  Ansicht 
von  der  Unveränderlichkeit  des  Himmels  in  die  Hand.  Aufserdem 
spricht  er  sich  am  Ende  seines  dritten  Briefes  hauptsächlich  auf  Grund 
der  Planeten phasen  zum  ersten  Male  unumwunden  zu  Gunsten  des 
Copernikanischen  Systems  aus  und  bot  mit  diesen  Dingen  seinen 
Neidern  eine  längst  ersehnte  Gelegenheit  zum  Angriff. 

*)  Beilage  zur  „Allgemeinen  Zeitung“  1890  No.  107. 


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Mil  grorsem  Geschicke  lockten  ihn  diese  auf  das  gefährliche  Ge- 
biet der  theologischen  Fragen,  indem  sie  am  Hofe  von  Toscana  ein 
Tischgespräch  über  die  Nichtvereinbarkeit  von  Galileis  Ansichten 
mit  der  Bibel  in  Scene  zu  setzen  wuTsten,  bei  dem  Galileis  intimster 
Freund,  der  Benediktiner  Castelli,  anwesend  war,  der  für  seines 
Meisters  Lehren  eifrig  eintrat.  Natürlich  gab  er  auch  Galilei  von 
diesem  Gespräche  und  den  Angriffen  seiner  Gegner  Nachricht,  und 
dieser  antwortete  ihm  am  21.  Dezember  1613  in  einem  langen  Schreiben, 
worin  er  eine  ausführliche  Darlegung  seiner  Ansichten  über  die  Inter- 
pretation der  Bibel  gab  und  diese  Anschauungen  auf  diejenigen  Stellen 
der  hl.  Schrift  an  wandte,  welche  der  Copemikanisohen  Lehre  ent- 
gegenstehen. 

Damit  war  nur  erreicht,  was  seine  Gegner  wünschten.  Da  sie 
trotz  aller  Bemühungen  das  Original  dieses  Briefes  nicht  erhalten 
konnten,  so  verschafften  sie  sich  eine  Kopie,  die  der  Dominikanerpater 
Lorini  benutzte,  um  Galilei  bei  der  Inquisition  zu  verdächtigen. 
Diese  hatte  sich  schon,  unabhängig  von  den  geschilderten  Vorgängen, 
seit  einiger  Zeit  ernstlich  mit  der  Frage  beschäftigt,  wie  die  Kirohe 
sich  zu  der  Lehre  des  Copernikus  über  die  Erdbewegung  zu  ver- 
halten habe.  Denn,  während  70  Jahre  das  Buch  des  letzteren  nicht 
nur  unbeanstandet  geblieben  war,  sondern  die  Kirche  die  Verbreitung 
der  Copernikanischen  Lehre  sogar  eher  gefordert  als  gehemmt  hatte, 
da  man  dieselbe  nur  für  eine  mathematische  Hypothese  hielt,  erfunden 
zur  leichteren  Berechnung  der  Planetenbewegung,  so  war  jetzt  die 
Gefahr  wesentlich  gestiegen,  seit  Galilei  für  die  Realität  dieses 
Systems  eintrat.  Namentlich  hatte  der  schon  genannte  Kardinal 
Bellarmin,  so  sehr  er  auch  Galilei  persönlich  zugethan  war  und 
ihn  später  zu  schützon  suchte,  und  so  sehr  er  auch  dessen  neue  Ent- 
deckungen mit  Interesse  verfolgte,  doch  die  Gefahr  erkannt,  welche  in 
der  neuen  Weltanschauung  lag,  die  aus  der  Reform  der  astro- 
nomischen Ansichten  sich  zu  entwickeln  drohte.  Daher  waren  seine 
Bemühungen  darauf  gerichtet,  durch  ein  Verbot  der  Copernika- 
nischen Lehre  diesen  Bestrebungen  frühzeitig  einen  Riegel  vor- 
zuschieben. 

So  wurde  denn  dieses  Verbot  beschlossen,  und  es  half  Galilei 
nichts,  dafs  er  im  Jahre  1615  selbst  nach  Rom  reiste,  um  persönlich 
diesen  Beschlufs  zu  hintertreiben,  dafs  er  all’  seine  glänzende  Beredt- 
samkeit  aufbot,  um  seine  Gegner  zu  überzeugen,  ja  dafs  er,  wie  Ohren- 
zeugen aus  jener  Zeit  bekunden,  in  seinen  Disputationen  die  gröfsten 
moralischen  Erfolge  erzielte. 


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Am  5.  März  1616  wurde  durch  ein  Dekret  der  Indexkongregation 
des  Copernikus  Buch  solange  suspendirt,  bis  es  verbessert  sei. 

Aufserdem  hatte  das  hl.  Oflizium  sohon  am  25.  Februar  desselben 
JahreB  den  Kardinal  Bellarmin  beauftragt,  Galilei  zu  ermahnön, 
seine  Meinung  aufzugeben,  und  wenn  dieser  sich  zu  gehorchen 
weigere,  so  solle  ihm  der  Kommissär  der  Inquisition  vor 
Notar  und  Zeugen  den  Befehl  ertheilen,  dafs  er  sich  durch- 
aus enthalte,  diese  Meinung  zu  lehren  oder  zu  vertheidigen 
oder  über  sie  zu  handeln;  wenn  er  sich  aber  hierbei  nicht 
beruhige,  so  solle  er  eingekerkert  werden. 

Dafs  der  Kardinal  Bellarmin  seinen  Auftrag  ausführte,  ist 
sicher,  denn  er  stellte  Galilei  über  diesen  Verwarnungsakt  ein  Zeug- 
nifs  aus,  das  noch  erhalten  ist,  aber  blofs  dahin  lautet,  dafs  er  in  Zu- 
kunft nur  noch  hypothetisch  über  die  Copernikanische  Lehre 
schreiben  und  nicht  für  die  Wahrheit  derselben  eintreten  dürfe.  Von 
einem  Sonderverbot  in  der  vorhin  erwähnten  Form  vor 
Notar  und  Zeugen  ist  aber  hierin  nicht  die  Rede;  und  doch 
stützt  sich  gerade  die  Anklage  gegen  Galilei,  die  im  Jahre 
1633  zu  seiner  Verurthoilung  führte,  auf  die  Kxi stenz  eines 
solchen  Sonderverbotes.  Man  hat  daher  mit  Recht  die  Echtheit 
eines  in  den  Prozefsakten  vorhandenen  Blattes  angezweifelt,  das  den 
Erlafs  eines  solchen  Verbotes  unter  dem  26.  Februar  1616  registrirt. 

Aber  sei  dem,  wie  ihm  wolle,  wenu  auch  Galilei  ein  solches 
Verbot  wirklich  erhalten  hat,  so  ist  zwar  das  Verfahren  gegen  ihn  iin 
späteren  Prozesse  formell  gerechtferügt,  aber  die  ganze  Handlungs- 
weise wird  dadurch  gewifs  nioht  entschuldbar.  — 

Auf  diesen  betrübenden  Ausgang  der  Verhandlungen  hin  gab 
jetzt  Galilei  allerdings  den  sohon  lange  gefafsten  Plan  auf,  ein  rein 
wissenschaftliches  Werk  „De  systemate  mundi“  zu  veröffentlichen,  aber 
offenbar  in  dem  Glauben,  durch  das  Zeugnifs  des  Kardinals  Bellarmin 
geschützt  zu  sein,  und  dadurch  ermuthigt,  dafs  ein  Gönner  von  ihm, 
Maffeo  Barberini,  als  Urban  VIII  1623  den  päpstlichen  Thron 
bestieg,  begann  er  bald,  seine  Gedanken  und  Beweise  zum  Copemika- 
nischen  System  in  eine  andere  Form  umzuarbeiten,  von  der  er  glaubte, 
dafs  sie  keinem  Angriffe  ausgesetzt  sein  werde. 

Dadurch  entstanden  seine  unsterblichen  Dialoge  über  die  beiden 
Weltsystcmo  (siehe  das  Titelbild),  die  nach  Ueberwindung  von 
mancherlei  Schwierigkeiten,  man  mufs  sagen,  unbegreiflicher  Weise, 
das  Imprimatur  der  Zensurbehörde  erhielten  und  im  Februar  1632  im 
Drucke  erschienen. 


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Diese  Dialog«  umfassen  die  an  4 Tagen  stattiindenden  Gespräche 
zwischen  denselben  drei  Personen,  denen  wir  schon  bei  Besprechung  der 
Discorsi  begegneten:  Salviati,  Sagredo  und  Simplioio.  Schon  in 
der  Form  sind  die  Dialoge  ein  Kunstwerk  ersten  Ranges;  jede  der 
drei  Personen  ist  mit  psychologischer  Feinheit  ganz  individuell  charak- 
terisirt.  Bewundemswerth  ist  die  dramatische  Kunst,  die  die  Erwartung 
aufs  höchste  zu  steigern  vermag,  wenn  die  Lösung  irgend  eines 
Räthsels  bevorsteht,  bewundemswerth  auch  die  kunstvolle  Entwirrung 
der  aufgestellten  Paradoxa.  Dabei  zeigt  sioh  hier,  wie  in  den  Discorsi, 
neben  dieser  dramatischen  Begabung  auch  wieder  glänzend  Galileis 
großartiges  Lehrtalent,  mit  dem  es  ihm  durch  den  Mund  Salviatis 
oftmals  gelingt,  dem  schwachen  Simplicius  die  schwierigsten  Dinge 
klarzulegen,  indem  er  sich  hierbei  häufig  des  Mittels  bedient,  durch 
geschickte  Fragen  ihm  selbst  die  richtigen  Antworten  zu  entlocken, 
die  seiner  eigenen  Aristotelischen  Wissenschaft  widersprechen. 

Aber  alle  diese  formalen  Vorzüge  w'erden  überragt  von  der 
Höhe  des  Standpunktes,  zu  dem  sich  Galilei  durch  seine  wirk- 
lich geniale  Begabung  über  alle  seine  Zeitgenossen  emporgehoben 
hat.  Nicht  nur  beherrscht  er  die  ganze  Wissenschaft  seiner  Zeit  mit 
souveräner  Gewalt,  sondern  er  versteht  es,  überall  das  Unnatürliche 
und  Geschraubte  in  ihren  Sätzen  und  Beweisen  aufzudecken  und  durch 
alleinigen  Anschluß  an  die  Natur  und  deren  Beobachtung  durch  die 
einfachsten  Gedanken  und  Ueberlegungen  zu  ersetzen.  Um  es  mit 
einem  Worte  zu  sagen:  Galilei  denkt  völlig  modern,  er  denkt  wie 
wir,  oder  vielleicht  richtiger  gesagt,  wir  denken  jetzt,  wie  er  schon 
damals  in  einer  Zeit  dachte,  deren  Art  zu  denken  wir  heute  schlechter- 
dings nicht  mehr  zu  begreifen  vermögen. 

Darin  allein  liegt  auch  der  unsterbliche  Werth  der  Dialoge,  darin 
die  Gewalt,  die  sie  noch  jetzt  auf  den  Leser  ausüben,  und  Jeder,  der 
einmal  dieses  Werk,  sei  es  im  Originale  oder  in  der  trefflichen  Ueber- 
setzung  von  Straufs,  die  erst  vor  kurzem  erschienen  ist,  in  die  Hand 
nimmt,  wird  den  Zauber  fühlen,  der  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  zu 
fesseln  vermag. 

Es  war  Galileis  Absicht  nicht,  in  diesem  Werke  etwa  eine  ein- 
gehende Darstellung  davon  zu  geben,  wie  sich  die  einzelnen  Erschei- 
nungen durch  die  schwerfälligen  Annahmen  des  Ptolemäus  oder 
durch  die  einfacheren  des  Coperniku  s erklären  lassen,  oder  ausein- 
anderzusetzen,  welche  Vortheile  durch  die  neuentdeckten  Kepl er- 
sehen Gesetze  erreicht  waren  — nein,  die  letzteren  werden  auch  nicht 
mit  einem  Worte  erwähnt;  ihm  war  es  vielmehr,  wie  Straufs  ganz 


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richtig  sagt,  nur  darum  zu  thun,  gegen  die  mehr  oder  weniger  thörichten 
Vorurtheile  seiner  Zeit  bezüglich  der  Erdbewegung  aufzutreteu.  Von 
diesen  Vorurtheilen  waren  es  aber  nur  die  physikalischen  Einwände, 
welche  eine  ernsthafte  wissenschaftliche  Widerlegung  forderten,  und 
diese  linden  daher  fast  ausschliefslich  in  den  Dialogen  ihre  Behand- 
lung. — 

Man  wird  es  nach  dem  Wenigen,  was  ich  von  dem  Inhalte  der 
Dialoge  mitgetheilt  habe,  begreiflich  finden,  dafs  das  Erscheinen  dieses 
Buches  einen  Sturm  in  der  Welt  der  Gebildeten  hervorrufen  mufste, 
wie  er  noch  nie  erlebt  worden  ist.  Wenn  Galilei  auch  in  der  durch  die 
Zensurbehörde  korrigirten  Vorrede  sagte,  „der  Zweck  seines  Werkes 
sei  nur  der,  den  fremden  Kationen  zu  beweisen,  dafs  man  in  Italien 
über  diese  Materie  ebensoviel  wisse,  als  nur  immer  die  Forschung  des 
Auslandes  darüber  ermittelt  haben  mag“,  wenn  er  auch  im  Laufe  der 
Dialoge  wiederholt  vorsichtig  bemerkt,  dafs  alle  für  das  Copernika- 
nische  System  sprechenden  Gründe  zurücktreten  müfstcn  hinter  den 
Worten  der  Bibel,  so  vermochte  er  doch  so  wenig  seine  Begeisterung 
für  die  von  ihm  erkannte  Wahrheit  zu  unterdrücken,  dafs  jeder  Leser 
erkennen  mufste,  für  welches  System  er  das  Wort  ergriffen  hatte  und 
welche  Absicht  er  mit  seinem  Buche  verfolgte. 

Auch  warben  die  Dialoge  thatsächlioh  dem  Copernikanischen 
System  immer  mehr  Freunde  und  Anhänger,  und  gerade  diese  An- 
schuldigung war  es,  mit  der  sie  der  Inquisition  denunzirt  wurden,  wie 
aus  den  jetzt  veröffentlichten  Prozefsakten  hervorgeht.  Man  kann 
Galilei  nicht  von  der  Schuld  freispreohen,  dafs  er  durch  seine  all- 
zugrofse  Kampflust,  die  er  auch  in  den  Dialogen  so  wenig  wie  in 
seinen  früheren  Schriften  zu  unterdrücken  vermochte,  seine  Gegner 
zu  dieser  Denunziation,  welche  die  Wiederaufnahme  des  Prozesses 
gegen  ihn  veranlafste,  gereizt  hat.  Welche  Persönlichkeit  es  war,  der 
die  Anzeige  bei  der  Inquisition  zur  Last  zu  legen  ist,  hat  sich  bis 
jetzt  nicht  feststellen  lassen,  da  sie  in  den  Prozefsakten  nicht  genannt 
wird;  dooh  weist  eine  gegründete  Vermuthung  auf  Christoph 
Scheiner  hin,  denn  gerade  ihn  hatte  Galilei  in  den  Dialogen  wieder 
neuerdings  in  beleidigender  Weise  angegriffen  und  ihn  seiner  schönsten 
Entdeckungen  im  Gebiete  der  Sonnenllecken  zu  berauben  gesucht. 

Jedenfalls  ist  es  auffallend,  dafs  Scheiner,  obwohl  er  vom 
Kaiser  zweimal  nach  Deutschland  zurückberufen  worden  war,  nicht 
eher  von  Rom  fortging,  als  bis  der  Prozefs  gegen  Galilei  sein 
trauriges  Ende  gefunden  hatte.  Es  ist  mir  vor  einiger  Zeit  gelungen, 
diesen  Umstand,  der  bisher  nicht  erwiesen  war,  durch  Auffindung  einer 


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Notiz  in  einem  handschriftlichen  Kodex  der  hiesigen  Universitäts- 
bibliothek unzweifelhaft  festzustellen. 

Doch  verfolgen  wir  die  weitere  Entwickelung  der  Dinge!  Da 
Oalilei,  wie  wir  wissen,  die  Druckerlaubnifs  für  sein  Buch  erhalten 
hatte,  so  blieb  seinen  Feinden  nur  der  eine  Weg,  ihm  beizukommen, 
dafs  man  auf  jenes  Sonderverbot  zurückging,  das  ihm  am  26.  Fe- 
bruar 1616  ertheilt  worden  sein  sollte,  und  ihn  beschuldigte,  mit  Um- 
gehung desselben  die  Druckerlaubnifs  erschlichen  zu  haben.  Ich  habe 
schon  erwähnt,  dafs  gewichtige  Gründe,  namentlich  das  Zeugnifs  des 
Kardinals  Bellarmin,  dagegen  sprechen,  dafs  ihm  überhaupt  ein 
solches  Sonderverbot  ertheilt  wurde,  und  dafs  daher  gegründeter  Ver- 
dacht besteht,  der  Inhalt  der  in  den  Akten  wirklich  vorhandenen  Auf- 
zeichnung über  den  Erlafs  eines  solchen  Verbotes  sei  mit  Absicht 
gefälscht  worden,  um  juristisch  ein  wirklich  belastendes  Moment  gegen 
ihn  in  die  Hand  zu  bekommen. 

Doch  fassen  wir  uns  kurz:  Der  69jährige  Greis  wurde  vor  die 
Inquisition  geladen  und  verliefe  am  20.  Januar  1633  Florenz,  um  sich 
nach  Rom  zu  begeben.  Aber  erst  am  12.  April  fand  das  erste  Verhör 
gegen  ihn  statt,  während  er  in  der  Zwischenzeit  aus  Rücksicht  für  seinen 
Grofsherzog  in  dem  Palaste  des  Toscanischen  Gesandten  Niccolini 
hatte  wohnen  dürfen.  Auf  die  Einzelheiten  des  Prozesses,  wie  sie  uns 
jetzt  durch  die  Veröffentlichung  der  Prozeßakten  bekannt  sind,  kann 
ich  nicht  eingehen  und  will  nur  bemerken,  daß  er  im  ersten  Verhör 
angab,  von  einem  gegen  ihn  ergangenen  Verbote  nichts  zu  wissen, 
und  zur  Bekräftigung  dieser  Aussage  das  Zeugnifs  von  Bellarmin 
vorlegte;  in  den  weiteren  Verhören,  die  am  30.  April,  am  10.  Mai  und 
am  21.  Juni  1033  stattländen,  verleugneto  er  auf  das  entschiedenste, 
jemals  die  Copernikanisehe  Lehre  für  die  richtige  gehalten  zu  haben, 
behauptete,  er  habe  die  Dialoge  nur  geschrieben,  um  die  Gründe  für 
die  Copernikanisehe  Lehre  als  nicht  stichhaltig  zu  erweisen,  und  gab 
an,  die  scheinbare  Bevorzugung  jener  Lehre  in  den  Dialogen  sei  nur 
aus  Eitelkeit  auf  seine  ungewöhnlich  scharfsinnigen  Einfälle  hervor- 
gegangen. — Da  ihm  dies  die  Richter  natürlich  nicht  glaubten,  so 
wurde,  wiedas  Verurthoilungsdekret  sagt,  gegen  ihn  zum  examen 
rigorosum  geschritten,  d.  h.  in  der  Sprache  der  Inquisition,  zur 
Folter.  Die  Prozefsakten  aber  enthalten  hiervon  niohts;  es  bleibt 
also  auch  hier  wieder  eine  dunkle  Stelle,  die  aufzuhellen  sich  nament- 
lich Emil  Wohlwill  viel  Mühe  gegeben  hat.  Nach  seinen  scharf- 
sinnigen Untersuchungen  ist  es  das  Wahrscheinlichste,  dafs  Galilei 
nur  die  sogenannte  territio  durchmachen  mußte,  d,  h.  dafs  er  in  die 


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Folterkammer  abgeführt  und  dort  unter  Hinweis  auf  die  Folterwerk- 
zeuge noch  einmal  über  die  Wahrheit  seiner  Aussagen  befragt  wurde, 
worauf  er,  wie  das  Dekret  sagt,  „katholisch“  geantwortet  hat. 

Am  22.  Juni  1633  mufste  er  dann  im  Dominikanerkloster  Santa 
Maria  sopra  Minerva  in  Gegenwart  der  Kardinale  und  Prälaten  des 
hl.  Offiziums  der  Verlesung  des  Urtheils  beiwohnen,  das  auf  lebens- 
länglichen Kerker  lautete,  und  knieend  vor  der  ganzen  Versammlung 
seine  ketzerische  Ansicht  über  das  Copernikanische  System  ab- 
schwören. „Mit  diesem  erzwungenen  Meineid“,  sagt  Straufs,  „er- 
reichte die  Scene  ein  Ende,  eine  der  barbarischsten,  welche  in  der 
Weltgeschichte  je  aufgefiihrt  wurden.“  — 

Man  hat  die  verschiedensten  Reflexionen  über  das  merkwürdige 
Verhalten  Galileis  bei  diesem  Prozesse  angestellt,  indem  man  z.  B. 
hervorhob,  dafs  es  eines  solchen  Geisteshelden  würdiger  gewesen 
wäre,  wenn  er  an  seiner  Ansicht  festgehalten  hätte,  statt  sie  zu  ver- 
leugnen. Die  Richtigkeit  dieser  Behauptung  wird  niemand  bestreiten. 
Andererseits  dürfen  wir  es  aber  einem  70jährigen  Greise,  der  durch 
die  Verfolgung  und  das  harte  Verfahren  gegen  ihn  geistig  und  körper- 
lich völlig  gebrochen  war,  doch  wohl  nicht  so  hoch  anrechnen,  wenn 
er  sich  von  dem  sicheren  Tode  auf  dem  Scheiterhaufen  zu  erretten 
suchte  durch  Verleugnung  seiner  wissenschaftlichen  Ueberzeugung, 
für  die  er  sein  ganzes  Leben  hindurch  gekämpft  hatte.  Doch  sei  dem, 
wie  ihm  wolle,  jedenfalls  war  dieser  Ausgang  für  die  Wissenschaft 
ein  Glück.  Denn  da  die  ihm  zuerkannte  lebenslängliche  Kerker- 
strafe durch  die  Gnade  des  Papstes  in  eine  lebenslängliche  Ver- 
bannung auf  sein  Landhaus  bei  Aroetri  verwandelt  wurde,  war  es  ihm 
ermöglicht,  jene  Discorsi  zu  vollenden,  deren  hohen  wissenschaftlichen 
Werth  wir  bereits  besprochen  haben.  Dieses  Werk  mufste  er  jedoch 
im  Auslande  drucken  lassen,  da  die  Herausgabe  irgend  eines  neuen 
von  ihm  verfafsten  Werkes  seit  1633  in  Italien  verboten  war,  eine 
Mafsregel,  aus  der  man  deutlich  erkennt,  dafs  es  seinen  Feinden  nicht 
so  sehr  um  die  Rettung  der  alten  Weltanschauung,  als  vielmehr  um 
die  gänzliche  Vernichtung  ihres  gefährlichsten  Gegners  zu  thun  war. 

Ueberhaupt  blieb  Galilei  bis  zu  seinem  Lebensende  in  seinem 
eigenen  Hause  ein  Gefangener  und  streng  Ueberwachter  und  genofs 
nur  im  schriftlichen  Verkehr  mit  ausländischen  Freunden  und  Ver- 
ehrern einige  Freiheit.  Erst  als  er  1637  das  Augenlicht  zuerst  auf  dem 
rechten,  dann  auf  seinem  linken  Auge  verloren  hatte  und  überhaupt 
körperlich  sehr  leidend  war,  wurde  ihm  erlaubt,  um  bessere  ärztliche 
Pflege  zu  erhalten,  in  sein  Haus  nach  Florenz  zurückzukehren,  aber 


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auch  dies  erst,  als  der  eigens  zur  Konstatirung  seines  Zustandes  zu 
ihm  gesandte  Inquisitor  von  Florenz,  Funano,  bezeugt  hatte,  dars  er 
mehr  einem  Todten  als  einem  Lebenden  zu  vergleichen  sei.  Daselbst 
erholte  er  sich  jedoch  etwas  ganz  wider  Erwarten,  und  es  war  ihm, 
den  nie  seine  geistige  Kraft  verlassen  hatte,  ein  grofser  Trost,  als  im 
Juli  1639  Viviani  und  1641  Toricelli  die  Erlaubnifs  erhielten,  als 
Schüler  mit  ihm  zu  verkehren.  So  war  es  ihm  wenigstens  noch  ver- 
gönnt, die  letzten  Jahre  seines  ereignifsreiohen  Lebens,  das  er  am 
8.  Januar  1642  zu  Arcetri  beschlofs,  in  einer  ihm  zusagenden 
Umgebung  und  Unterhaltung  zuzubringen. 

Hiermit  sind  wir  am  Schlüsse  unserer  Betrachtung  augelangt. 
Ich  habe  es  versucht,  in  kurzen  Zügen  das  reiche  Leben  eines  Mannes 
zu  schildern,  der,  wie  er  selbst  sagt,  seine  Aufgabe  darin  sah,  überall 
in  der  Wissenschaft  die  Wahrheit  zu  suchen,  der  mit  den  grofsen 
Mitteln  eines  genialen  Geistes  ausgestattet  in  den  Kampf  für  die  Wahr- 
heit eintrat,  aber  in  diesem  Kampfe  unterlag. 

Doch,  wenn  er  es  auch  nicht  mehr  selbst  erlebte,  die  von  ihm 
vertretene  wissenschaftliche  Wahrheit  hat  schliefslich  den  Sieg  er- 
rungen und  so  die  Worte  des  grofsen  Mannes  glänzend  bestätigt, 
„dafs  es  kein  unfehlbares  Buch  als  die  Natur  giebt,  in 
weloher  die  ganze  Philosophie  in  mathematischen  Charak- 
teren verzeichnet  ist.“ 


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Die  physische  Beschaffenheit  des  Planeten  Mars  nach 
dem  Zeugnifs  seiner  hervorragendsten  Beobachter. 
Von  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer. 

(Schlufs.) 


(VT .ichfiem  wir  nun  dir  hauptsächlichsten  Beobachtungen  aus  letzter 
jTc,  Zeit  liier  aufgeführt  haben,  wollen  wir  sehen,  inwieweit  die- 
selben das  Bild  der  Oberflächen  beschaffenheit  des  Mars  in 
unserer  Anschauung  zu  vervollständigen  im  stände  sind,  und  welcher 
der  drei  früher  entwickelten  Hypothesengruppen  sie  das  Ü'ebergewicht 
verleihen. 

Zunächst  kann  wohl  konstatirt  werden , dafs  unter  den  heutigen 
maßgebenden  Beobachtern  Barnard  allein  dasteht  mit  Zweifeln 
über  die  schneeige  Beschaffenheit  der  Polarflecke,  indem  dieser  nur 
noch  allein  sich  der  alten  Hypothese  von  Brett  zuneigt.  Seine  Ueber- 
zeugung  von  dem  wolkigen  Charakter  dieser  Gebilde  basirt  der  junge 
Astronom  auf  die  Veränderlichkeit  und  das  schnelle  Verschwinden 
dieser  Flecke.  Wir  haben  schon  früher  gesehen,  wie  dieses  durch 
die  sehr  veränderten  Strahlungsverhältnisse  auf  dem  Mars  wohl  erklärt 
werden  kann,  und  kommen  noch  weiter  darauf  zurück. 

Was  nun  ferner  die  Meinung  des  Herrn  Professor  Schaeberlo 
anbetrifft,  dafs  nämlich  die  helleren  Stellen  auf  dom  Mars  Meere,  die 
dunkleren  Land  seien,  weil  einerseits  auch  in  den  dunkleren  Gebieten 
Schattierungen  und  Gestaltveränderungen  vor  sich  gehen,  und  anderer- 
seits von  der  Lick  Sternwarte  aus  die  Uay  von  San  Franzisko  stets 
heller  erscheint  als  die  umgebenden  Landgebiete,  so  wird  man  auch 
diese  Argumente  gegen  die  allgemeinere  Meinung  nicht  allzu 
schwer  beseitigen  können.  Die  Landschaft  um  Mount  Hamilton 
mufs  wohl  jedenfalls  dicht  bewaldet  sein;  in  diesem  Falle  ist  es  aller- 
dings ganz  natürlich,  dafs  das  Land  dunkler  erscheint.  Auch  wird 
die  Sonne  meistens  vor  dem  Beobachter,  nicht  hinter  demselben  stehen, 
so  dafs  der  von  der  Meeresfläche  reilekiirte  Strahl  ins  Auge  gelangt. 
Bei  sandigen  und  felsigen  Uferpartieen  werden  diese  fast  immer  viel 


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heller  erscheinen  als  das  Wasser,  unter  allen  Umständen  dann,  wenn 
die  Sonne  hinter  dem  Beobachter  steht.  Man  braucht  nur  irgend  eine 
Bildergallerie  zu  durchwandern,  um  zu  erkennen,  dafs  man  fast  immer 
das  Wasser  dunkler  gesehen  hat  als  die  umgebende  Landschaft.  Nun 
beziehen  sich  Schaeberle  und  Holden  freilich  hauptsächlich  auf 
bewegtes  Wasser,  dessen  Wirkung  mit  der  eines  Spiegels  allerdings 
nicht  unmittelbar  verglichen  werden  kann.  Sehen  wir  bewegtes  Wasser 
unter  einem  spitzen  Winkel,  so  reflektirt  die  uns  zugekehrte  Seite 
des  Wogenberges  stets  sehr  viel  Licht  gegen  uns  hin,  da  ihre  Neigung 
alle  möglichen  Qröfsen  annehmen  kann.  Je  höher  die  Wogen  gehen, 
d.  h.  je  verschiedenartigere  Lagen  zur  Horizontalen  die  Böschungen 
der  Wogenberge  besitzen,  desto  mehr  Licht  wird  im  allgemeinen  nach 
allen  Seiten  hin  reflektirt  werden;  zerknittertes  Staniol  beispiels- 
weise wird,  wenn  die  Sonnenstrahlen  nicht  allzu  schräg  auffallen, 
stets  als  Licht  rellektirende  Fläche  auftreten.  Eben  solche  Verhält- 
nisse denken  sich  die  Astronomen  der  Lick  Sternwarte  auf  Mars  vor- 
handen. Es  scheint  mir  aber,  dars  wir  gar  keine  Veranlassung  haben,  die 
Meere  des  Mars  als  beständig  in  grofser  Aufregung  befindlich  annehmen 
zu  müssen;  ganz  im  Gegentheil  sprechen  alle  Gründe  dafür,  dafs  die 
Marsatmosphäre  viel  ruhiger  ist  als  die  unsrige,  und  dafs  deshalb 
nicht  durch  unregelmäfsige  Ausstrahlungen,  durch  Wolkenbildungen  etc., 
Sturmbewegungen  möglich  sind.  Ferner  ist  es  völlig  sicher,  dars 
Flutherscheinungen  wie  diejenigen,  welche  unsere  Meere  in  beständiger 
Bewegung  erhalten,  auf  Mars  garnicht  oder  nur  in  äufserst  schwachem 
Mafse  auftreten.  Wie  die  Atmosphäre,  so  müssen  auch  die  Meere  des 
Mars  im  allgemeinen  ruhig  sein;  ganz  besonders,  wenn  sich  die  be- 
treffende Region  im  Zentrum  der  Marsscheibe  befindet,  also  die  Sonnen- 
strahlen ziemlich  senkrecht  auflallen,  wird  die  Wirkung  der  Kräuse- 
lung der  Meeresoberfläche  für  uns  eine  minimale  sein,  und  die  Meere 
müssen  noth wendig,  wenn  sie  aus  Wasser  bestehen,  dann  eine  tief- 
dunkelblaue Färbung  annehmen  wie  bei  uns  unter  denselben  Bedin- 
gungen. Dies  beobachtet  man  aber  in  Wirklichkeit  auf  Mars.  Jenes 
besondere  Argument  des  Herrn  Professor  Schaeberle  kann  uns 
deshalb  an  sich  nicht  veranlassen,  von  der  sonst  ganz  allgemein  adop- 
tirten  Ueberzeugung,  dafs  die  dunklen  Flecke  des  Mars  unseren 
Meeren  entsprechen,  abzu  weichen. 

Aber  der  genannte  hervorragende  Astronom  führt  noch  ein 
anderes,  jedenfalls  viel  schwerer  wiegendes  Argument  fiir  seine  An- 
sicht an,  nämlich  die  von  allen  Marsbeobachtern  wahrgenommene  Er- 
scheinung, dafs  in  den  meisten  sogenannten  Meeren  häufig  Verände- 


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rangen  der  Farbennuancen  und  auch  topographische  Details  hervorlreten. 
Sind  es  wirklich  Meere  wie  die  unsrigen,  su  ist  dies  nicht  erklärlich. 
Nun  haben  wir  schon  vorhin  gesehen,  dars  Picker ing  in  der  That 
nur  zwei  hauptsächliche  Regionen  für  wirkliche  Meere  ansieht,  die 
stets  tief  dunkel  auftreteu  und  keinerlei  Detailzeichnung  aufweisen. 
Die  weiteren  dunkleren  Gebiete  müssen  wir  also  für  Gegenden  erklären, 
welche  meist  überschwemmt  sind  und  nur  in  solchen  Zeiten  den  Charakter 
von  Meeren  besitzen,  oft  aber  auch  theilweise  oder  ganz  vom  Wasser 
freigelegt  werden.  Dann  überziehen  sich  dieselben,  wie  man  deut- 
lich bemerken  konnte,  mit  frischem  Grün.  — Dafs  derartige  Wasser- 
bewegungen in  der  That  sehr  schnell  geschehen  und  das  Aussehen 
solcher  Gebiete  ganz  gründlich  verändern  können,  vermögen  irdische 
Verhältnisse  jeden  Tag,  wenn  auch  in  kleinerem  Mafsstabe,  zu  zeigen. 
Am  deutlichsten  tritt  die  analoge  Erscheinung  bei  den  versandeten 
Mündungen  von  Strömen  auf,  beispielsweise  im  Wesergebiet.  Während 
der  Ebbe  kann  hier  der  sandige  Grund  auf  weite  Strecken  sehr  schnell 
aus  dem  dunkeln  Wasser  hell  hervortreten.  Nun  können  zwar,  wie 
soeben  bemerkt,  solche  Flutherscheinungen  von  kurzen  Perioden  auf 
Mars  nicht  auftreten,  aber  es  müssen  dort  nothwendig  verhältnifsmäfsig 
starke  Austauschbewegungen  des  Wassers  zwischen  den  beiden  Halb- 
kugeln um  die  Nachtgleichen  herum  stattfinden.  In  der  That  be- 
obachtet man  solche  schnellen  Veränderungen  der  Nuancen  und  Kon- 
turen dieser  Gebiete  am  häufigsten,  ja  wie  es  scheint  ausschliefslich, 
zu  diesen  Zeiten.  Ebenfalls  läfst  sich  die  auf  der  Lick  Sternwarte 
gemachte  Wahrnehmung,  dafs  man  gelegentlich  die  Kanäle  sich  bis 
in  die  Meere,  und  zwar  als  dunkle  Linien,  fortsetzen  sieht,  ohne 
weiteres  erklären.  Besorgen  diese  Kanäle  bei  dem  notorischen  Mangel 
eines  das  nördliche  mit  dem  südlichen  Meere  verbindenden  Ozeans 
diesen  halbjährlichen  Wasseraustausch,  so  werden  sie  den  Boden  der 
Meere  bis  auf  gewisse  Strecken  hinaus  aufwühlen,  und  das  Wasser 
wird  hier  in  der  Fortsetzung  der  Kanäle  also  dunkler  erscheinen. 

Haben  uns  nun  allerdings  auch  die  neueren  Beobachtungen  in 
unserer  Ueberzeugung  nicht  erschüttern  können,  dafs  die  dunklen 
Gebiete  meistens  vom  Wasser  bedeckte  Oberflächentheile,  die  hellen 
Gebiete  Land  seien,  so  bleibt  doch  die  Schwierigkeit  für  die  Erklärung 
der  diese  letzteren  Gebiete  durchziehenden  geradlinigen  Kanalgebilde 
immer  noch  bestehen.  Zwar  scheint  der  beste  Kenner  des  Mars, 
Schiaparelli,  mehr  und  mehr  zu  der  Ueberzeugung  zu  kommen, 
dafs  eine  rein  geologische  Erklärung  dieser  Kanalsysteme  doch  wohl 
möglich  sei.  In  einem  erst  ganz  jüngst  erschienenen  vortrefflichen 


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populären  Aufsatze,  der  von  der  italienischen  Revue  „Natura  ed  Arte“ 
unter  der  Ueberschrift  „II  Planeta  Marte“  gebracht  wurde,  sagt  bei- 
spielsweise der  berühmte  Forscher:  „Das  Netz  der  Kanäle  ist  wahr- 
scheinlich infolge  des  geologischen  Zustandes  des  Planeten  iin  Laufe 
von  Jahrhunderten  gebildet.  Man  kann  nicht  annehmen,  dafs  hier 
ein  Werk  intelligenter  Wesen  vorliegt,  und  trotz  der  fast  geometrischen 
Regelmäfsigkeit  des  Systems  neigen  wir  uns  heute  der  Ansicht  zu,  dafs 
die  Kanäle  Produkte  der  Entwickelung  des  Planeten  sind,  ähnlich  wie 
auf  der  Erde  der  Kanal  La  Manche  und  der  von  Mozambique.“  An  einer 
anderen  Stelle  fügt  er  noch  hinzu,  dafs  die  Annahme  intelligenter 
Wesen  den  geometrischen  Charakter  der  Verdoppelungen  erklären 
kann,  indefs  nicht  unbedingt  gemacht  werden  mufs.  „Die  Natur 
zeigt  einen  solchen  geometrischen  Zug  auch  in  vielen  anderen  Er- 
scheinungen, bei  welchen  die  Vorstellung  einer  künstlichen  Herbei- 
führung völlig  ausgeschlossen  ist.  Die  so  überaus  vollkommenen 
Kugelformen  der  Himmelskörper  und  der  Ring  des  Saturn  sind  auch 
nicht  auf  der  Drehbank  gearbeitet,  und  Iris  zeichnet  ihren  schönen 
regelmäfsigen  Bogen  nicht  mit  dem  Zirkel  in  die  Wolken;  und  was 
sollen  wir  von  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  schöner  und  sym- 
metrisch gebauter  Körper  sagen,  die  uns  in  dem  Reiche  der  Krystalle 
entgegentreten!  Und  endlich  in  der  organischen  Welt,  sind  es  da  nicht 
treffliche  geometrischo  Regeln,  welche  die  Stellung  der  Blätter  gewisser 
Pflanzen  bestimmen,  welche  den  symmetrischen  Figuren  so  vieler 
Blumensterne  zu  Grunde  liegen,  sowie  denjenigen  der  strahlenförmigen 
Meeresthiere,  und  die  endlich  jene  in  schön  geschwungenem  Bogen 
zulaufenden  Gehäuse  der  Muscheln  bauen,  deren  Bauplan  hinter  dem 
der  schönsten  gothischen  Bauwerke  nicht  zurücksteht?!  In  allen 
diesen  Fällen  sind  die  geometrischen  Formen  nur  einfache  und  noth- 
wendige  Folgen  der  Gesetze,  welche  die  physikalische  und  physio- 
logische Welt  beherrschen.  Dafs  diese  letzteren  als  Aeufserungen 
einer  höheren  Intelligenz  aufgefafst  werden  könnten,  hängt  mit  unserer 
Frage  nicht  zusammen. 

„Entsprechend  dem  Prinzip,  dafs  man  in  der  Erklärung  der 
Naturerscheinungen  immer  von  den  einfachsten  Annahmen  auszugehen 
hat,  haben  die  ersten  Hypothesen  über  die  Natur  der  Verdoppelungen 
hauptsächlich  auf  unorganische  Vorgänge  Bezug  genommen.  Da 
handelt  es  sich  entweder  um  Lichteffekte  in  der  Atmosphäre  dos  Mars, 
oder  um  optische  Täuschungen,  die  durch  Dämpfe  in  irgend  welcher 
Weise  hervorgerufen  werden,  oder  um  Vorgänge  in  den  Eismassen 
eines  ewigen  Winters,  zu  welchem  der  ganze  Planet  verdammt  sein 


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soll,  oder  um  Risse  in  seiner  Oberfläche,  die  sich  verdoppeln,  oder 
endlich  um  einfache  Spalten,  deren  Bild  sich  dadurch  verdoppelt,  dafs 
aus  ihnen  Rauch  in  langen  Streifen,  welche  vom  Winde  seitwärts  ge- 
trieben werden,  heraustritt.  Die  Prüfung  dieser  sinnreichen  Versuche 
führt  allemal  zu  dem  Schlufs,  dafs  keiner  unter  ihnen  den  beobachteten 
Thatsachen  im  ganzen  und  im  einzelnen  vollkommen  entspricht 
Einige  unter  diesen  Hypothesen  würden  überhaupt  nicht  entstanden 
sein,  wenn  ihre  Autoren  die  Verdoppelungen  mit  eigenen  Augen 
hätten  sehen  können.  Allerdings  mufs  ich  bekennen,  dafs  auch  ich, 
wenn  mich  Jemand,  der  auf  subjektive  Beweise  Wert  legt,  fragen 
wollte,  ob  ich  eine  bessere  Erklärung  habe,  mit  einem  offenen  Nein 
antworten  müfste. 

„Viel  leichter  kommen  wir  zum  Ziel,  wenn  wir  Kräfte  in  Betracht 
ziehen,  welche  der  organischen  Natur  angehüren;  denn  hier  ist  der 
Spielraum  plausibler  Annahmen  ein  ungeheurer,  da  man  sich,  selbst 
bei  Beschränkung  auf  einfache  und  kleine  Mittel,  alle  möglichen  Kom- 
binationen ersinnen  kann,  welcho  die  Beobachtungen  erklären.  Ein 
Wechsel  der  Vegetation  auf  weiten  Landstrecken,  Schaaren  von 
gröfseren  oder  sogar  kleineren  Thieren  in  ungeheurer  Zahl  könnten 
sich  auf  solche  Entfernungen  sehr  wohl  sichtbar  machen.  So  würde 
ein  Beobachter  auf  dem  Mond  Kenntnifs  gewinnen  von  den  Jahres- 
zeiten, während  deren  in  unseren  weitgestreckten  Ebenen  die  Bestellung 
der  Aecker  erfolgt,  das  Getreide  grünt  und  geerntet  wird.  Ja,  das 
Hervorspriefsen  der  Gräser  in  den  ungeheuren  Steppen  Europas  und 
Asiens  müfste  auch  für  einen  Beobachter  auf  dem  Mars  durch  einen 
Wechsel  der  Farbe  bemerkbar  werden,  und  ebenso  wird  sicherlich 
auch  uns  ein  ähnlicher  Vorgang  auf  diesen  Gestirnen  erkennbar  sein. 
Aber  wie  schwierig  würde  es  für  die  Bewohner  des  Mondes  oder  des 
Mars  sein,  die  wahren  Ursachen  solcher  Aenderungen  im  Aussehen 
der  Erde  ohne  eine  wenigstens  oberflächliche  Kenntnffs  der  irdischen 
Verhältnisse  zu  erkennen.  So  macht  auch  für  uns,  die  wir  so  wenig 
von  der  physikalischen  Beschaffenheit  des  Mars  und  nichts  von  seiner 
etwaigen  organischen  Welt  kennen,  der  grofse  Reichthum  an  plau- 
siblen Annahmen  alle  Erklärungsversuche  unsicher;  er  bildet  geradezu 
ein  Hindernifs  für  die  Gewinnung  sicherer  Erkenntnifs.  Alles,  was 
wir  hoffen  können,  ist,  dafs  sich  mit  der  Zeit  diese  Unbestimmtheit 
schrittweise  verringern  wird,  zum  mindesten  in  der  Weise,  dafs  wir 
zeigen  können,  was  jene  Verdoppelungen  nicht  sind.  Wir  müssen 
auch  etwas  Vertrauen  in  das  setzen,  was  Galilei  die  Höflichkeit  der 
Natur  nannte,  der  zufolge  sie  uns  von  Zeit  zu  Zeit  von  ganz  uner- 

Himmel  und  Erde.  1898.  V'.  12.  37 


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warteter  Seite  her  einen  Lichtstrahl  zusendet  und  uns  Uber  Dinge 
aufklärt,  welche  zuvor  jeder  Spekulation  unerreichbar  schienen.  Ein 
schönes  Beispiel  hierfür  bietet  uns  die  Spektralanalyse  der  Himmels- 
körper. Hoffen  wir  also  und  arbeiten  wir  weiter!“ 

Man  wird  nicht  verkennen,  dafs  auch  dem  grofsen  intelligenten 
Forscher  die  Erklärung  der  Kanalsysteme  als  blofse  Naturprodukte 
nicht  völlig  gelingt,  und  ich  möchte  es  wagen,  entgegenzuhalten,  dafs 
die  Anführung  von  regelmäfsigen  Figuren,  welche  die  Natur  sonst 
hervorgebracht  hat,  wie  die  Kugelgestalt  der  Planeten,  den  Ring  des 
Saturn,  die  Krystalle  etc.,  mir  an  dieser  Stelle  nicht  für  Analogie- 
schlüsse ausreichend  erscheinen  will.  Die  Kugelgestalt  der  Planeten 
ist  die  Folge  eines  einfachen  Naturgesetzes  und  als  nothwendig  un- 
mittelbar zu  begreifen.  Die  regelmäfsige  Gestalt  der  Krystalle  bleibt 
zwar  wunderbar  und  vorläufig  noch  unerklärt,  aber  wir  könnten  aus 
ihr  heraus  es  nur  begreiflich  machen,  dafs  auf  anderen  Weltkörpern 
entstehende  Krystalle  ähnliche  Formen  besitzen.  Eine  Ideenverbin- 
dung von  diesen  kleinen  Gebilden  zu  der  der  Oberflächengestaltung 
eines  Planeten  hat  doch  wohl  einen  gar  zu  grofsen  Weg  zu  machen, 
um  als  Analogieschlufs  noch  Geltung  behalten  zu  dürfen.  Topo- 
graphische oder  orographische  Gestaltungen  von  solcher  Regelmäßig- 
keit auf  weite  Flächen  hin  treten  auf  der  Erde  durchaus  nicht  auf, 
auch  ist  keinerlei  Tendenz  zu  einer  derartigen  Ausgestaltung  in  der 
Zukunft  zu  entdecken.  Auf  dem  Monde  zwar  kommen  regelmäfsige. 
geradlinige  Gestaltungen  vor,  die  bekannten  Strahlensysteme.  Deren 
Lagenverhältnisse  sind  aber  aus  einer  einzigen  Stofs-  oder  Druck- 
wirkung völlig  zu  erklären,  wieviel  auch  sonst  daran  noch  unerklär- 
lich bleiben  mag.  Aohnliches  trifft  für  das  Kanalsystem  des  Mars 
nicht  zu.  Wir  sind  also  nicht  in  der  Lage,  diese  seltsamen  Gestal- 
tungen mit  irdischen  Verhältnissen  durch  Analogieschlüsse  in  Ver- 
bindung zu  bringen,  wenn  wir  ausschließlich  Naturwirkungen  voraus- 
setzen. 

Wenn  wir  nicht  unser  völliges  Unvermögen  eingestehen  wollen, 
auch  nur  Wahrscheinlichkeiten  über  die  Zustände  des  Mars  Vorbringen 
zu  können,  so  sind  wir  auf  die  Annahme  des  Eingriffs  intelligenter 
Wesen  allein  angewiesen.  Aber  es  ist  völlig  begreiflich,  dafs  ernste 
und  kritische  Forscher  sich  zu  einer  solchen  Annahme  so  schwer 
verstehen  mögen,  nicht  etwa,  weil  sie  die  Möglichkeit  der  Existenz 
solcher  Wesen  auf  anderen  Himmelskörpern  überhaupt  für  unwahr- 
scheinlich erachteten,  sondern  weil  in  dieser  scheinbar  einheitlichen 
Annahme  tausend  und  aber  tausend  Hypothesen  versteckt  enthalten 


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sind.  Die  Intelligenz,  welche  die  Naturkräfte  zu  lenken  gelernt  hat, 
vermag  eben  beinahe  alles,  wenn  wir  nur  ihre  Wirkungen  bei  solchen 
idealen  Annahmen  genügend  multipliziren.  Man  denke  an  den  be- 
rühmten Ausspruch  des  Archimedes,1)  welchen  die  Menschheit  sicher 
sohon  längst  wahr  gemacht  hätte,  wenn  ihr  eben  dieser  Standpunkt 
aufserhalb  der  Erdo  gegeben  wTorden  wäre.  Die  Arbeit  des  Forschers 
aber  sucht  die  Erscheinungen  immer  auf  einfachere  Ursachen  zurück- 
zuführen; die  Annahme  der  Intelligenz  komplizirt  die  Dinge,  sie  führt 
unzählbare  neue  Hypothesen  ein.  Nicht  viel  besser  steht  es  mit  dem 
Tröste,  welchen  Flammarion  und  Andere  angesichts  gelegentlicher 
Probleme  sich  selbst  geben,  indem  sie  von  unbekannten  Naturkräften 
die  Erklärung  erhoffen.  Sicherlich  wird  es  solche  geben,  sie  aber  in 
unsere  Betrachtungen  einzuführen,  hiofse  eine  vorliegende  Hypothese 
durch  eine  noch  vagere  ersetzen. 

Jedenfalls  müssen  wir,  wenn  wir  uns  schon  der  Annahme  intelli- 
genter Einwirkungen  nicht  erwehren  können,  die  allereinfachston  Ein- 
griffe solcher  Wesen,  die  über  unsern  eigenen  geistigen  Horizont  nioht 
wesentlich  hinausragen,  voraussetzon,  falls  nicht  unsere  Betrachtung 
ganz  und  gar  in  das  Reich  der  Phantasie  verwiesen  werden  soll. 

Nun  liegt  aber  die  Herstellung  so  weit  zergliederter  Kanalsysteme, 
wie  deutlich  auch  die  Anlage  des  ganzen  Netzes  von  der  Zwekmäfsig- 
keit  für  den  Verkehr  intelligenter  Wesen  unter  einander  sprechon 
mag.  wegen  der  ungeheuren  Breite  dieser  Gebilde  ganz  aufserhalb 
des  Horizontes  der  menschlichen  Fähigkeiten,  und  aufserdem  ist  die 
Nothwendigkeit  einer  so  ungeheuren  Breite  für  uns  wieder  ganz  un- 
erfindlich. 

Man  möge  es  mir  inders  am  Schlüsse  dieser  Betrachtungen 
gestatten,  ein  Bild  davon  zu  entwerfen,  wie  unter  bestimmten,  hier 
deutlich  zu  markirenden,  plausiblen  Voraussetzungen  alle  diese  Er- 
scheinungen wenigstens  in  einen  leidlich  abgerundeten  Zusammenhang 
gebracht  werden  können. 

Die  erste  Voraussetzung  ist,  dafs  Mai«  als  Planet  vielleicht 
älter,  jedenfalls  aber  eben  so  alt  wie  die  Erde  ist;  die  zweite,  dafs  er 
aus  nahezu  denselben  Stoffen  besteht.  Bei  der  wohl  selbstverständ- 
lichen weiteren  Voraussetzung,  dafs  dieselben  Naturkräfte  auf  unserem 
Nachbarplaneten  wirken  wie  bei  uns,  folgt  dann  hieraus,  dafs  sich 
auf  Mai«  eine  Vertheilung  von  Land  und  Wasser  vorlinden  rnufs, 
dafs  aber  (wie  bereits  nach  Flammarion  angeführt  wurde)  die  Er-  - 


’)  Pa  mihi  punctum  extra  trrram  et  terram  movebo. 

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6G0 


höhungen  der  Kontinente  sieh  durch  die  Wirkungen  des  nivellirenden 
Wassers  abgetragen  und  entsprechend  auch  die  Meere  verflacht  haben. 
Denn  da  Mars  kleiner  ist  als  die  Erde,  müssen  alle  die  Wirkungen 
der  Naturkräfte,  welche  wir  am  Bau  unseror  Erde  theilnehmen  sehen, 
dort  gegen  die  Erde  vorgeschrittenere  Stadien  bis  zur  gegenwärtigen 
Epoche  gezeitigt  haben.  Da  wir  ferner  bei  uns  wahrnehmen,  dafs 
das  Wasser  allmählich  von  dem  Oestein  absorbirt  wird,  so  mufs  auf 
Mars  im  Verhältnifs  zur  ganzen  Oberfläche  mehr  Land  und  weniger 
Wasser  existiren  als  auf  der  Erde.  Dies  wird  durch  die  Beobachtung 
unter  der  Voraussetzung  bestätigt,  dafs  eben  jene  Gebiote,  die  man 
bisher  dafür  hielt,  wirklich  Land  sind.  Die  Pickeringsche  An- 
nahme, dafs  es  überhaupt  nur  zwei  eigentliche  permanente  Meere  dort 
giebt,  während  allo  anderen  Gebiete  entweder  dauernd  oder  zeitweise 
aus  dem  Wasser  hervorragen,  würde  sogar  auf  eine  sehr  vorge- 
schrittene Wasserabsorption  sohliefsen  lassen.  Mit  der  Wasser- 
absorption geht  auch  die  der  Luft  parallel;  die  Marsatmosphäre  mufs 
also  sehr  dünn  sein,  was  sich  wiederum  durch  eine  grofse  Zahl  von 
Beobachtungen  bestätigt.  Diese  dünnere  Atmosphäre  läfst  zunächst 
eine  weit  gröfsere  Menge  von  Sonnenstrahlen  auf  die  Marsoberfläche 
gelangen,  wodurch  mindestens  zum  Theil  die  wegen  der  gröfseren  Entfer- 
nung des  Mars  von  der  Sonne  geringere  Gesamtintensität  der  Strahlung 
wieder  ausgeglichen  wird.  Die  Atmosphäre  kann  dadurch  viel  mehr 
Wasserdampf  in  sich  aufnehmen,  ohne  dafs  sich  derselbe  zu  Wolken 
kondensirt.  Es  können  höchstens  leichte  Schleier,  cirruswolkenartige 
Gebilde,  wie  Schiaparelli  glaubt,  dort  tagüber  auftreten.  Nachts 
wird  dagegen  sehr  schnell  ein  Nebelschleier  aufsteigen  müssen,  der 
die  Ausstrahlung  der  von  der  Oberfläche  eingesogenen  Wärme  ver- 
hindert. Wegen  der  notorisch  geringen  Wolkenbildung  und  der  ge- 
ringeren Menge  Wasser  überhaupt  wird  es  also  auf  Mars  auch  in 
den  Polargegenden  viel  weniger  schneien  als  bei  uns.  Die  im 
Winter  gebildete  Schneedecke  ist  deshulb  nothwendig  von  bedeutend 
geringerer  Dicke;  es  entsteht  vielleicht  zuweilen  nur  eine  Art  von 
Reifbildung,  die  über  Nacht  auftritt,  dabei  weite  Gebiete  weifs  färbt 
und  ebenso  schnell,  nach  einer  Sonnenbestrahlung  von  wenigen  Tagen, 
wieder  verschwinden  kann.  Die  schnellen  Veränderungen  in  der 
Ausdehnung  des  weifsen  Polarfleckes  sind  hierdurch  ganz  ungezwungen 
erklärt.  Immerhin  aber  werden,  wenn  sich  jene  Polarregionen  auch 
nur  mit  etwa  einer  fufsdicken  Schneedecke  oder  Reifschicht  während 
des  langen  Winters  überziehen,  beträchtliche  Wasserraengen  sich  an- 
sammeln, daselbst  festgehalten  und  der  sich  in  ihrem  Sommer  beflnd- 


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liehen  Halbkugel  entzogen  werden.  Diese  Wassermengen  müssen 
halbjährlich  von  einer  zur  anderen  Halbkugel  hin  wandern  und  er- 
zeugen dadurch  die  ausgedehnten  Ueberschwemmungen , welche  ja 
notorisch  mit  den  Jahreszeiten  kommen  und  versohwinden. 

Nachdem  wir  uns  diese  Verhältnisse  klar  vorgestellt  haben, 
wollen  wir  nun  die  Hypothese  machen,  Mars  sei  einstmals,  zu  einer 
Zeit,  welche  seinem  schnelleren  Lebenslaufe  entspricht,  mit  intelligenten 
Wesen  bevölkert  gewesen,  die  unsere  Kapazitäten  besessen  haben. 
Das  ist,  denke  ich,  eine  Voraussetzung,  welche  man  wohl  machen 
darf,  ohne  sich  dem  Vorwurf  der  Leichtfertigkeit  auszusetzen.  Diese 
Wesen  bemerkten,  dars  das  Wasser  rar  zu  werden  begann;  sie  legten 
deshalb  zur  Bewässerung  der  fruchtbringenden  Landschaften  Kanäle 
an  in  der  Ausdehnung,  wie  wir  es  thun.  Diese  Kanäle  verbanden 
die  Flüsse  mit  einander  selbst  über  die  Wasserscheiden  hinweg, 
welche  die  Zuflüsse  der  südlichen  und  nördlichen  Meere  von  ein- 
ander trennten;  die  Gebirge  hatten  sich  ja  ohnedies  abgeflacht. 
Nun  sieht  man  auf  jeder  Marskarte,  dafs  rings  um  den  Aequator 
herum  sich  ein  zusammenhängender  Gürtel  schliefst,  so  dafs  das  Nord- 
und  Südmeer  nur  durch  die  gegenwärtig  wahrgenommenen  so  un- 
geheuer breiten  Kanalsysteme  mit  einander  in  Verbindung  stehen. 
Wir  nehmen  an,  dafs  diese  Verhältnisse  damals,  als  die  Marsbewohner 
jene  verbindenden  Kanäle  zwischen  den  Flufssystemen  schufen,  bereits 
ähnliche  waren.  Der  Wasseraustausch  während  der  sommerlichen 
Sohneeschmelze  von  einer  zur  anderen  Halbkugel  konnte  also  nur 
durch  die  Flüsse  und  diese  neu  geschaffenen  Verbindungskanäle  statt- 
finden. Vielleicht  wurden  sie  ebon  gerade  in  dieser  Absicht  gebaut, 
um  den  überhand  nehmenden  Ueberschwemmungen  einen  Abflufs  zu 
schaffen.  Nun  aber  wurden  durch  das  halbjährliche  Hin-  und  Iler- 
wogen  dieser  Schmelzwasser  in  den  Kanälen  resp.  Flüssen  die  ohnehin 
seichten  Ufer  immer  mehr  ausgewaschen.  Die  Marsbewohner  regulirten 
zwar,  soweit  es  ging,  die  Flufsläufe  und  gaben  ihnen  eine  gerade 
Richtung;  aber  auf  die  Dauer  war  es  doch  nicht  möglich,  den  rastlos 
arbeitenden  Naturgewalten  Einhalt  zu  thun;  die  Kanäle  verbreiterten 
sich  mit  den  Jahrtausenden  mehr  und  mehr,  bis  sie  ihre  heutige  Aus- 
dehnung annahmen.  So  bietet  also  die  ungeheure  Breite  der  Kanäle, 
welche  nach  dieser  Ansicht  durch  die  Natur  allein  erzeugt  worden 
ist,  unter  dieser  einzigen  Annahme  keinerlei  Schwierigkeiten  mehr, 
dafs  intelligente  Wesen  von  unseren  Kapazitäten  die  Naturkräfte  in 
die  von  ihnen  gewünschten  Bahnen  gelenkt  haben. 

Die  Verdoppelungen  der  Kanäle  bleiben  allerdings  unter  diesen 


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Voraussetzungen  immer  noch  ein  Riithsel.  Hätten  nicht  nach  Schiapa- 
rellis  eigenen  Angaben  8 bis  10  Beobachter  diese  Verdoppelungen 
unabhängig  von  einander  wahrgenommen,  so  möchte  man  wahrlich 
an  der  Thatsache  der  Wahrnehmung  selbst  zweifeln.  Es  scheint 
schliefslich,  dafs  ihre  Ursache  in  gewissen  eigentümlichen  optischen 
Erscheinungen  der  Marsatmosphäre  zu  suchen  ist,  wolehe  nur  bei 
einem  bestimmten  meteorologischen  Zustande  derselben  auftreten. 
Wieviel  wunderbare  Lichterscheinungen  haben  nicht  bei  uns  ihren 
Ursprung  in  jenen  höchsten  Regionen  unseres  Luftkreises,  deren  Zu- 
stand mit  der  Marsatmosphäre  soviel  Aehnlichkeit  bietet  Bekanntlich 
sind  die  Quelle  der  meisten  dieser  Erscheinungen  unsere  Cirruswolken, 
deren  Vorhandensein  man  auch  auf  dem  Mars  voraussetzen  mufs. 
Aber  alle  auf  ähnlichen  Voraussetzungen  basirenden  Erklärungsver- 
suche sind  ungenügend  geblieben. 

Genug,  dafs  wir  unter  den  hier  noch  einmal  zu  wiederholenden 
V oraussetzungon : 

1.  dafs  Mars  als  Planot  in  einem  vorgeschritteneren  Lebensstadium 
sich  befindet  als  die  Erde, 

2.  dafs  die  ihn  zusammensetzenden  Stoffe  und  die  dort  wirkenden 
Naturkräfte  im  allgemeinen  ähnliche  Resultate  hervorbrachten 
wie  auf  der  Erde, 

3.  dafs  die  reine  Atmosphäre  des  Mars  insoweit  eine  stärkere  Sonnen- 
bestrahlung seiner  Oberfläche  zuläfst,  dafs  die  geringere  Gesamt- 
menge der  zufliefsenden  Wärme  gegenüber  der  Erde  für  die 
Wirkung  auf  seiner  Oberfläche  nahezu  kompensiert  wird, 

4.  dafs  intelligente  Wesen  von  unseren  Fähigkeiten  zu  irgend  einer 
vergangenen  Epoche  auf  dem  Mars  gelebt  haben, 

alle  Wahrnehmungen  bis  in  die  Details  hinein,  mit  einstweiligem  Aus- 
schlufs  der  allerneuesten,  der  Verdoppelungen,  die  noch  nicht  genügend 
studirt  worden  sind,  ungezwungen  erklären  können.  Es  hängt  also 
vom  Leser  ab,  ob  er  diese  vier  Voraussetzungen,  welche  nicht  be- 
wiesen werden  können,  acceptieren  will  oder  nicht.  Mit  ihrer  Annahme 
lesen  wir  heute  vom  Himmel  die  Zeichen  brüderlicher  Intelligenz  ab, 
welche  von  den  Naturkräften,  die  der  Geist  immer  mehr  und  mehr 
in  seinen  Dienst  zwingt,  wohlthätig  so  vergröfsert  wurden,  dafs  sie 
von  Bruder-  zu  Bruderplanet  hinüberwinken  und  uns  ermuthigen  zu 
immer  neuen  und  gröfseren  Unternehmungen,  welche  der  Wohlfahrt 
der  Allgemeinheit  dienen. 

Man  möge  es  mir  gestatten,  diesen  Artikel  mit  den  schönen 


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Worten  Schiaparellis  zu  schliefsen,  welche  sich  an  solche  Betrach- 
tungen knüpfen: 

„In  Frankreich  hat  die  durch  Flammarion  hervorgerufene  An- 
regung der  Gemüther  aufserordentliche  Wirkungen  hervorgebracht 
Dort  sind  allen  Ernstes  ungeheure  Summen  ausgesetzt  worden  als  Be- 
lohnung für  denjenigen,  welcher  zuerst  durch  unmittelbare  Beobachtung 
beweisen  wird,  dafs  auf  einem  Gostirne  sichere  Zeichen  des  Vorhanden- 
seins intelligenter  Wesen  existiren.  In  Amerika  und  in  Frankreich 
ist  man  mit  der  Konstruktion  neuer  Fernrohre  von  ungewohnter  Kraft 
beschäftigt,  deren  Kosten  sich  auf  Millionen  belaufen  werden.  Unter 
den  vielen  Zeichen  unserer  Zeit  giebt  dieses  wenigstens  uns  ein  Recht, 
Gutes  von  der  Zukunft  zu  hoffen.  Die  Aengstlichkeit,  mit  welcher 
viele  in  das  Dunkel  der  Zukunft  schauen,  scheint  mir  in  keiner  Be- 
ziehung gerechtfertigt.  . . .“ 

.,Es  ist  nicht  wahr,  dafs  dem  gegenwärtigen  Zeitalter  mehr  als 
der  Vergangenheit  ideale  Bestrebungen  fehlen.  Das  19.  Jahrhundert 
kann  mit  Stolz  auf  seine  Leistungen  blicken;  seine  Stellung  in  den 
Annalen  des  menschlichen  Fortschritts  wird  keine  rühmlose  sein. 
Unter  Aufwand  heroischer  Opfer  und  unglaublicher  Anstrengungen 
hat  es  die  Erforschung  der  ganzen  Erdoberfläche  unternommen,  deren 
Karte  nur  noch  wenige  Lücken  aufweist.  Durch  tieferes  Eindringen 
in  das  Innere  unseres  Planeten  hat  es  die  Geschichte  der  Umwälzungen, 
denen  er  unterworfen  war,  erkannt  und  ungezählte  Generationen,  welche 
ihn  während  Millionen  von  .fahren  bevölkerten,  aus  ihrem  Grabe  auf- 
erstehen lassen.  Das  Studium  der  Archäologie,  der  Ethnographie  und 
der  Philologie  hat  die  wahren  Adelsbriefe  des  menschlichen  Geschlechts 
aufgefunden  und  die  ersten  Produkte  seiner  Kultur  ans  Tageslicht  ge- 
bracht. Durch  Vereinigung  zahlreicher  geduldiger  und  unermüdlicher 
Beobachter  ist  das  Studium  der  Atmosphäre  und  ihrer  Gesetze  be- 
gonnen worden,  dessen  Fortsetzung  eine  der  gröfsten  Aufgaben  des 
zwanzigsten  Jahrhunderts  bilden  wird.  Aber  alles  dies  genügte  noch 
nicht.  Nachdem  das  Studium  des  Himmels,  der  Erde  und  der  Natur- 
kräfte in  der  von  früheren  Jahrhunderten  begonnenen  Weise  fortge- 
setzt worden  war,  wurde  die  Chemie  der  Gestirne  entdeckt,  von  der 
auch  nur  zu  sprechen  früher  wie  ein  Wahnsinn  erscheinen  mufste. 
Und  jetzt  streben  wir  nach  höheren  Zielen  und  beginnen  sorgfältig 
umherzuspähen,  ob  nicht  aus  den  Tiefen  des  Weltalls  ein  Zeichen  der 
Sympathie,  ein  Brudergrufs  zu  uns  hernieder  kommen  könne.  Und 
um  ein  Anzeichen  davon  zu  erhalten,  sind  wir  bereit,  für  ein  einziges 
Teleskop  gröfsere  Summen  zu  opfern,  als  sie  alle  früheren  Jahrhunderte 


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zusammen  zu  Gunsten  reiner  Wissenschaft  gestiftet  haben.  Das  ist  nur 
einer  unter  so  vielen  grofsen,  edlen  und,  mau  könnte  sagen,  dichterischen 
Zügen,  unter  welchen  sich  dieses  Jahrhundert  der  unparteiischen  Nach- 
welt zeigen  wird,  — ein  Jahrhundert,  welches  dem  einseitigen  Beob- 
achter vorzugsweise  ein  Zeitalter  der  Prosa,  des  Eigennutzes,  einer 
rohen,  materialistischen  Geistesrichtung  zu  sein  scheint  Wir  sind 
besser,  als  wir  zu  sein  glauben;  gerade  der  Umstand,  dafs  wir  nicht 
ganz  mit  uns  zufrieden  sind,  ist  ein  Zeichen  des  Fortschritts  und  der 
Kraft.“  — 


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1 '.S  '15 ?Js i r- H' M ?Joi 7s  IvaT^-HSIW l? W^i^s V ■? W-1’<LW$ 
-'  • "-1  -'■■-0!  Jlift-fJ/J  Vtf  LT-^-üj  ülS'^,%  f/J  3.  AJ4' 


I 


TrywgBW  ff^rw)  rr  ui  w CTTZTüiWErw  yrtry  m gai 

■-.'A  Aebt-W.  -it-. 


Die  Entstehung  der  Welt  nach  den  Ansichten  von 
Kant  bis  auf  die  Gegenwart. 

Von  F-  K.  Ginzel.  Astronom  am  Reciieninstitute  der  KünigL  Sternwarte  zu  Berlin. 

VI. 

IC  o s in o g o n i e tl er  Sterne,  N e b e 1,  der  Veränderlich  e n , 
Doppelst e rne  und  Meteoriten.  — Schlufsbemerkungen. 
apWj  (Schluß.) 

r-  rj^ii1  Ansichten,  wie  sich  die  Sterne  gebildet  haben  mögen,  sind 
zum  Theil  schon  in  den  Darlegungen  unserer  früheren  fünf 
Aufsätze  enthalten.  Wir  haben  schon  hervorgehoben,  dafs  nach 
den  Hypothesen  von  Her  sc  hei,  Newcomb  und  Faye  die  Vorstufe 
der  Sterne  von  den  Nebelflecken  repräsentirt  wird.  Die  sonst  gewöhn- 
liche Ansicht,  dafs  die  Nebelflecke  durch  den  Verdichtungsprozefs  des 
Urstoffes  fbei  Faye  durch  wirbelartige  Bewegungen)  erzeugt  worden 
sind,  theilt  Ritter  in  seinen  schon  mehrfach  zitirten  Untersuchungen 
nicht,  Gemäß  seinen  Rechnungen  würde  bei  dem  grofsen  Volumen  der 
Nebelflecke  und  der  jedenfalls  sehr  geringen  Dichte  derselben  ein  blofser 
Verdichtungsvorgang  nicht  ausgereicht  haben,  um  hinreichend  Wärme 
bis  zum  Glühen  der  Nebel  hervorbringen  zu  können;  man  müfste  denn 
annehmen,  dafs  Nebelflecke  existiren,  die  mehr  als  das  tausendfache 
der  Sonnenmasse  betragen.  Ritter  ist  deshalb  geneigt,  den  Glüh- 
zustand der  Nebel  durch  den  Zusammenstoß  ausgedehnter  kosmischer 
Wolken  zu  erklären,  welche  beim  Beginne  ihrer  gegenseitigen  An- 
näherung bereits  eine  gewisse  interstellare  Anfangsgeschwindigkeit 
gehabt  haben.  Bei  zwei  Massen  von  der  Größe  unserer  Sonne  und 
der  Dünne  der  Luft  würde  ein  zehutausendfaobes  Wärmequantum  her- 
vorgerufen werden  können,  wenn  die  Anfangsgeschwindigkeit  beider 
<>-V,  Meilen  pro  Sekunde  betrug.  Die  Entstehung  solcher  Geschwindig- 
keiten hält  Ritter  auf  Grund  seiner  Untersuchungen  über  kugelige 
Sternhaufen  für  möglich.1)  Dieser  Hypothese  zufolge  würden  also  die 

>)  Die  Entstehung  der  Sanne  selbst  wird  dureh  Ritter,  wie  im  dritten 
Aufsatz.»'  bemerkt  wurde,  auf  den  Zusammenstoß  kosmischer  Wolken  zuriick- 
gefuhrt. 


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56ti 


Nebelflecke  Glasmassen  sein,  die  eine  sehr  geringe  Dichte  und  einen 
grofsen  Ueberschuls  an  Wärme  besitzen.  Letztere  bedingt  ein  stetiges 
Wachsen  des  Volumens  und  diese  Expansion  eine  Abnahme  der  inneren 
Wärme;  die  Leuchtkraft  der  Nebel  müfste  daher  im  Laufe  der  Zeiten 
abnehmen. 

Fiir  die  weitere  Entwickelungsgeschichte  der  Sterne  aus  den 
Nebeln  kann  man  die  im  fünften  Aufsätze  auseinandergesetzten  fünf 
Stadien  des  Prozesses  gelten  lassen,  nämlich  die  Zustände  der  gas- 
förmigen und  glühendflüssigen  Konstitution,  die  Perioden  der  Schlacken- 
bildung, der  Eruptionen  und  der  vollständigen  Erkaltung.  (Zöllner.) 
Nach  Ritter  hat  man  aber  betreffs  der  Dauer  dieses  Ausbildungspro- 
zesses sehr  darauf  Rücksicht  zu  nehmen,  ob  es  sich  um  die  Kon- 
traktion sehr  grofser  oder  sehr  kleiner  Massen  handelt.  Im  allge- 
meinen ist  zwar  die  Kontraktionsgeschwindigkeit  ungefähr  der  Masse 
des  Körpers  proportional,  kann  aber  bei  Fixsternen,  die  beträchtlich 
gröfser  sind  als  die  Sonne,  dementsprechend  verschieden  sein.  Die 
Abkühlungsdauer  eines  Fixsternes  beispielsweise,  dessen  Masse  acht- 
mal so  grofs  ist  als  die  Sonnenmasse,  kann  man  auf  mehr  als  die 
doppelte  Zeit  veranschlagen,  welche  die  Sonne  brauoht.  Ritter  illu- 
strirt  die  von  ihm  gefundenen  physikalischen  Sätze  am  Sirius,  dessen 
Masse  er  13,8  mal  so  grofs  als  die  Sonnenmasse  annimmt.  Bevor  der 
Stern  zum  Beginn  der  Abkühlung  gelangen  kann,  inufs  er  den  Kulmi- 
nationspunkt der  Wärmeausstrahlung  erreichen.  Diese  Uebergangs- 
periode  ist  für  die  Sonne  einige  Millionen  Jahre,  müfste  sich  aber  für 
einen  Stern  wie  den  Sirius  schon  in  einigen  hunderttausend  Jahren 
vollziehen.  Ritter  weist  auch  darauf  hin,  dafs  in  dieser  Epoche  der 
Stern,  von  der  Erde  aus  gesehen,  eine  Veränderung  seiner  Farbe  zeigen 
mufs.  Alten  ägyptischen  Berichten  nach  soll  der  Sirius  thatsäehlich  im 
Alterthum  eine  mehr  röthliche  Färbung  gehabt  haben.  Ritter  berechnet 
die  Dauer  des  Ueberganges  von  der  rothen  zur  heutigen  bliiulichweifsen 
Farbe  dieses  Sternes  auf  2040  Jahre;  die  Oberflächentemperatur  des 
Sirius  wäre  vor  dieser  Zeit  um  20  pCt  kleiner  gewesen  und  hätte  gegen- 
wärtig dio  Oberflächentemperatur  der  Sonne  um  37  pCt  überschritten; 
diesen  Temperaturveränderungen  würde  die  Variation  der  Farbe  ent- 
sprechen. Nach  seinen  Hypothesen  würde  weiterhin  die  Intensität  der 
hlaucn  Farbe  des  Siriuslichtes  bedeutend  zunehmen,  da  die  Oberflächen- 
temperatur  gegenwärtig  noch  lange  nicht  den  ihr  in  Anbetracht  der 
Masse  des  Sternes  zukommenden  Maximalwerth  erreicht  hat  Die  Sterne 
also,  welche  eine  beträchtlich  gröfsere  Masse  besitzen  als  die  Sonne  — 
und  deren  sind  am  Himmel  gewifs  nicht  wenige  — würden  zur  Absol- 


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r>67 

virung  der  Hauptstadien  ihres  Entwickelungsprozesses  sehr  grofse 
Zeiträume  beanspruchen.  Haben  sie  das  Maximum  ihrer  Oberflächen- 
temperatur einmal  erreicht,  so  wird  die  Abkiihlungsepoche,  die  Zeit 
des  Zurücksinkens  von  der  bläulich  - weifsen  Strahlung  zum  rothen 
Lichte,  auf  hunderte  Millionen  Jahre  geschätzt  werden  dürfen.  Bei 
jenen  Massen,  welche  die  Sonne  bei  weitem  übertreffen,  würde  die 
anfängliche  dynamische  Kontraktion  (man  vergleiche  hierüber  unseren 
fünften  Aufsatz)  sehr  rasch  erfolgen,  aber  bald  einer  langsamen  Kon- 
traktion Platz  machen.  Die  ganze  Erscheinungsdauer  eines  Fix- 
sterns, welcher  der  Sonne  an  Masse  gleichkommt,  schätzt  Ritter  auf 
58  Millionen  Jahre,  wovon  etwa  16  Millionen  Jahre  auf  die  Nebel- 
fleckperiode, 4 Millionen  Jahre  auf  die  zwischen  deiu  Kulminations- 
punkte der  Wärmestrahlung  und  jenem  der  Oberflächentemperatur 
liegende  Periode  der  mit  Temperaturzunahme  verbundenen  statischen 
Kontraktion,  und  etwa  38  Millionen  Jahre  auf  den  der  Fortdauer  des 
Leuchtens  entsprechenden  Theil  der  Abkühlungsepoche  zu  rechnen 
sein  würden. 

Diesen  Betrachtungen  über  die  Entwickelungsdauer  der  Sterne, 
welche  sich  übrigens  nur  auf  rein  theoretischen  Grundlagen  aufbauen 
und  mit  ITilfo  einiger  plausibler  Annahmen  abgeleitet  sind,  möchten 
wir  die  Hypothesen  über  die  veränderlichen  Sterne  anschliefsen. 
Das  Licht  dieser  Sterne  schwankt  bekanntlich  innerhalb  gewisser 
Perioden  auf  und  ab  und  bei  manchen  Sternen  in  einer  sehr  regel- 
miifsigen  Weise.  Klinkerfues2)  erklärte  diese  Veränderlichkeit  des 
Glanzes , indem  er  annahm , diese  Sterne  wären  einander  sehr  nahe 
stehende  Doppelsterne,  die  uns  im  Fernrohre  als  einfach  erschienen. 
Die  gegenseitige  Anziehung  erzeuge  in  den  die  Sterne  umgebenden 
Atmosphären  bedeutende  Ebbe-  und  Flutherscheinungen,  durch  welche 
die  Absorption  der  Atmosphären  periodisch  verändert  würden,  und 
die  Folge  dieser  Veränderlichkeit  der  Absorption  sei  die  Variabilität 
des  Sternlichtes.  Zöllner3)  zog  die  bei  der  Bildung  der  Sterne  auf- 
tretende Periode  der  Sohlackenniederschläge  zur  Erklärung  heran, 
indem  er  sie  mit  der  Rotation  der  Sterne  in  Verbindung  brachte. 
Auf  einem  noch  glühendfliissigen  Sterne  würden  die  Schlackenschollen 
infolge  des  Umschwunges  des  Sterns  von  den  Polen  aus  zum  Aequator 
schwimmen,  jedoch  nicht  in  der  Richtung  eines  Meridianes,  sondern, 
da  sie  dabei  in  Gegenden  von  gröfserer  reeller  Geschwindigkeit  ge- 
langen, in  einer  der  Rotation  entgegengesetzten  Richtung,  und  würden 

-}  Nachrichten  d.  Kiinigl.  Ges.  d.  W.  Güttingen.  1865. 

’)  Photom.  Untersuch.  § 76. 


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56S 


sonach  seitlich  verschoben  werden.  Hierdurch  käme  es  in  den  Schlacken- 
feldern zu  Stauungen,  gröfsere  Theile  der  Sternoberfläche  blieben  ganz 
frei,  während  andere  von  weit  hinreichenden  Krusten  bedeckt  würden; 
der  Sternumschwung  zeigt  uns  dann,  je  nachdem  uns  die  dunklen 
Flächen  oder  die  schlackenfreien  zugewendet  sind,  eine  Periode  des 
Lichtes.  Gylden4)  korrigirt  diese  Hypothese,  indem  er  darauf  hin- 
weist, dafs  weniger  die  Rotation,  als  vielmehr  die  bei  werdenden 
Sternen  wahrscheinlich  sehr  bedeutende  Schwankung  der  Rotationsaxe 
zur  Trägheitsaxe  die  Ursache  der  Verschiebungen  der  Schlackenfelder 
sein  dürfte.  Diese  Hypothese  würde  auch  den  sehr  unregelmäfsigen 
Lichtwechsel  mancher  Veränderlichen  erklären.  Bei  den  regelmäfsig 
Periodischen  kann  man  sich  nach  Bruns5)  mit  der  Vorstellung  einer 
ungleichen  Oberflächenbeschaffenheit  des  Sternes,  der  gleichförmig 
um  eine  feste  Axe  rotirt,  begnügen  und  braucht  nicht,  wie  Pickering, 
zeitweilige  Verfinsterungen  des  Sternes,  hervorgerufen  durch  den  Um- 
lauf eines  dunklen  Begleiters  oder  Meteorschwarmes,  anzunehmen. 
Die  plötzliche  Zunahme  der  Helligkeit  eines  sonst  im  Lichte  un- 
veränderlichen Sternes  oder  das  Auftauchen  eines  neuen  bisher  dunklen 
gehört  nach  Zöllners  Entwickelungsphasen  der  Sterne  in  die  vierte 
Epoche,  in  die  der  Eruptionen.  Infolge  einer  bedeutenden  Steigerung 
des  Druckes  des  flüssigen  Innern  gegen  die  diinue  Kruste  finden 
Durchbrüche,  begleitet  von  heftigem  Emporschnellen  der  Oberflächen- 
temperatur und  damit  verbundener  vermehrter  Lichtemission,  statt. 
Es  können  aber  auch  Katastrophen  anderer  Art,  wie  man  aus  einigen 
neuestens  beobachteten  Fällen  (dem  neuen  Stern  im  Andrumeda-Xebel 
und  dem  Stern  im  „Fuhrmann“)  geschlossen  hat,  Anlafs  geben,  solche 
Lichterscheinungen  zu  erzeugen,  z.  B.  das  Zusammenstofsen  von 
Sternen  in  einem  Sternhaufen  oder  das  Eindringen  eines  Wcltkörpers 
in  eine  meteoritische  Staubwolke.  — Im  dritten  Aufsatze  haben  wir 
auf  die  Ergebnisse  Ritters  hingewiesen,  nach  welchen  bei  einer  im 
Gleichgewichtszustände  befindlichen  Gaskugel  zwei  verschiedene  Be- 
wegungsursachen, und  zwar  abwechselnde  Kontraktion  und  Expansion, 
eine  besondere  Entwickelungsphase  hervorbringen  können,  nämlich 
den  Zustand  der  Pulsation.  Ritter  erachtet  es  für  zulässig,  die 
Variabilität  der  Lichtstärke  der  „veränderlichen“  und  „neuen"  Sterne  aus 
jener  in  abwechselnden  Zusammenziehungen  und  Ausdehnungen,  also 
aus  der  in  periodischen  Temperaturwechseln  bestehenden  Epoche,  zu  er- 

«)  Sur  la  theoric  math£matkjue  de«  rhangements  d'gtat  des  dtoiles  variables 
(Comptes  rendus  t 8t.) 

l)  Monatsber.  d.  Berliner  Akad.  d.  W.  1881. 


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5f>9 


klären.  Nacli  dieser  Hypothese  würde  ein  Schwanken  der  Lichtstärke 
bei  Fixsternen  nur  in  der  Zeit  Vorkommen  können,  wo  dieselben  noch 
der  Pulsation  unterliegen,  wo  sie  also  noch  keine  grofse  Dichtig- 
keit erlangt  haben,  d.  h.  in  dem  Jugendalter  der  Sterne.  Das  plötz- 
liche Auftauchen  der  „neuen“  Sterne  würde  sich  aus  der  grofsen 
Länge  der  Pulsationsperioden  mancher  Sterne  erklären  lassen.6)  Den 
Anlafs  zur  Bildung  einer  Gaskugel,  aus  der  sich  der  Stern  allmählich 
entwickelt,  können  die  schon  früher  (im  3.  Aufsatze)  beschriebenen 
Zusammenstöfse  zweier  oder  mehrerer  Weltkörper  geben.  Die  bei 
einzelnen  Veränderlichen  vorkommenden  grofsen  Unregelmäfsigkeiten 
möchte  Ritter  Abweichungen  zuschreiben,  welche  durch  eine  un- 
gleiche Aenderung  der  Dichte  (Abirren  vom  isoplerischen  Zustande) 
hervorgerufen  werden. 

Ritter  hat  auch  (19.  Abhandlg.)  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dafs  den  Meteoriten  oder  Meteorschwärmen  einige  Bedeutung  in  be- 
treff des  Leuchtens  der  Sterne  und  der  Nobel  zukommen  kann,  da 
diese  Körper  viel  höhere  Temperaturen  erreichen  können,  als  man 
bisher  vorausgesetzt  hat  (Man  vergleiche  hierüber  unsern  dritten 
Aufsatz.)  Die  Meteoriten  können  als  fördernde,  wie  als  störende  Ur- 
sachen der  Leuchtkraft  mancher  Gestirne  auftreten.  Ritter  möchte 
sogar  zu  der  Ansicht  neigen,  dafs  ohne  die  Meteoritenfälle  mehrere 
Erscheinungen  an  Weltkürpern  überhaupt  nicht  für  uns  sichtbar 
werden  würden.  — Zu  einer  wahrhaft  universellen  Herrschaft  hat  der 
berühmte  Spektralanalytiker  Lockyer  die  Meteoriten  zu  erheben  ver- 
sucht.7) Geleitet  durch  bekannte  Uebereinstimmungen  einiger  Meteor- 
schwärme mit  der  Lage  von  Kometenbahnen  und  namentlich  gestützt 
auf  verschiedene  angebliche  Analogieen  in  den  Spektren  der  Kometen, 
Nebelflecke  und  Meteoriten,  erklärt  er  die  Entstehung  der  Nebel  durch 
die  Kollisionen  von  Meteoriten;  je  nachdem  die  Bahnen,  in  denen 
letztere  um  ein  Gravitationszentrum  laufen,  mehr  oder  minder  excen- 
trisch sind,  entsteht  eine  gleichmäfsig  leuchtende  Wolke  (kugelförmige 
Nebel),  ein  zusammengedrängter  Haufe  mit  leuchtendem  Kerne  (Kern- 
nebel, Nebelsterne)  oder  eine  durch  den  Ineinandersturz  zusammen- 
gebackene glühende  Masse  (Fixsterne).  Die  veränderlichen  Sterne 
wären  lose  Massen,  um  welche  Meteorschwärme  kreisen  und  hierdurch 
den  Lichtwechsel  hervorbringen.  Die  irregulären  Variablen  bedürfen 
mehrerer  solcher  Schwärme,  oder  sie  sind  das  Resultat  des  Eindringens 

•)  Die  Pulgationsdauer  unserer  Sonne  betrug  nach  Ritter  340  Jahre. 

’)  J.  N.  Lockyer:  The  Meteoritic  Hypothesis,  a Statement  of  the  results 
of  a spectroscopic  inquiry  into  the  origin  of  cosmical  Systems.  — London  1890. 


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570 


von  Meteoriten  in  Sternsysteme.  Audi  die  „neuen“  Sterne  bilden  sich 
beim  Aufeinandertreflen  von  Meteoritenschwiinnen.  Diese  kühne  Hypo- 
these bedarf  jedenfalls  noch  mancher  Diskussion,  bevor  sie  festen 
Boden  finden  kann.  In  Beziehung  auf  die  Mechanik  kann  sie,  den 
Bemerkungen  fl.  H.  Darwins  zufolge,  zugestanden  werden,  und  jeden- 
falls mögen  einige  ihrer  Zweige,  wie  verwandte  Anschauungen  Ritters 
bekräftigen,  richtig  sein.  Allein  die  weitgehende  Identifizirung  der 
Spektren  der  verschiedenen  Klassen  der  Himmelskörper  seitens 
Lockyers  erfreu!  sich  keineswegs  derzeit  schon  des  allgemeinen 
Beifalls  der  Spektralanalytiker,  so  da  Cs  die  Hypothese  in  der  Allge- 
meinheit und  Ausdehnung,  in  der  sie  uns  dargeboten  wird,  nicht  an- 
nehmbar erscheint. 


Zum  Schlufs  soll  noch  eine  neue  Hypothese  über  die  Entstehung 
der  Doppelsterne  berührt  werden,  welche  der  Amerikaner  T.  See8) 
«'<  . aufgestellt  hat.  Dieselbe  nimmt  die 

V'-'  ‘■■ov  Darwinsche  Gezeitentheorie  zu  Hilfe, 

//  '~x'  \ und  da  wir  diese  im  vierten  Aufsatze 

I A»./  ;S-  „Ä— u J ; auseinandergesetzt  haben,  können  wir 

\ \ '■£'  //'  uns  über  die  Hypothese  kurz  fassen. 

— pgCv.:V.v  Die  mathematische  Untersuchung  der 

f ' Gleichgewichtsflgur  rohrender  Flüssig- 

Fig.  1.  Entstehung  des  Apioids  am  keitsmassen  ergiebt,  dafs  ein  dreiachs- 
einam  EoutiomeUipaoid.  jgefi  Efljpsoid,  wenn  die  Rotationsge- 
scliwindigkeit  gewisse  Grenzen  überschreitet,  eine  bimförmige  Gestalt 
(Apioid,  Fig.  1)  annimmt  und  sich  schliefslich  in  zwei  Körper  trennt. 
Solche  Fälle  können  bei  der  Kontraktion  der  wahrscheinlich  zumeist 


homogenen  Nebelflecke  vielfach  eingetreten  sein.  Die  Spaltungen  in 
zwei  Massen  wären  dann  immer  in  gewissen  komparablen  Verhältnissen 
erfolgt.  Die  Doppelnebel,  von  welchen  die  Figur  2 ein  Beispiel  giebt, 
mögen  auf  diese  Weise  entstanden  sein.  Die  abgelöste  Masse  be- 
schreibt zunächst  um  den  Mutterkörper  eine  kreisrunde  Bahn.  Wenn 
die  Axendrehung  vermöge  der  Kontraktion  schneller  wird  als  der 
Umlauf,  beginnen  die  Gezeitenwellen  ihren  Reibungswiderstand  fühl- 
bar zu  machen.  Allmählich  gewinnt  die  Gezeitenreibung  den  Ilaupt- 
einflufs  auf  die  grofse  Axe  der  Bahn  des  Nebenkörpers  und  fahrt 
fort,  die  Exzentrizität  dieser  Bahn  bis  auf  ein  Maximum  zu  steigern; 
darauf  findet  ein  langsamer  Rückgang  der  Exzentrizität  statt,  der  sein 
Ende  wahrscheinlich  erst  erreicht,  wenn  die  beiden  Körper  dunkel 


*)  Die  Entwickelung  der  Doppelstemsysteme.  Inaugural-Dissertation. 
Berlin  1893. 


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r»7t 


geworden  sind,  da  dann  keine  Kontraktion  mehr  möglich  ist.  Dann 
kehren  beide  Sterne  einander  dieselben  Flächen  zu  und  kreisen 
fernerhin  wie  ein  starr  verbundenes  Systorn  um  einander.  See  hat 
seine  mathematischen  Ergebnisse  auf  ein  fingirtes  Beispiel,  jedoch 
unter  plausiblen  Prämissen,  angewendet.  Die  umstehende  Figur  3 
zeigt  die  beiden  mit  einer  Abplattung  von  0,4  versehenen  um- 
einanderkreisenden Flüssigkeitssphäroiile  in  der  Entfernung  von 
30  astronomischen  Einheiten.  Unter  annehmbaren  Bedingungen  für 
die  Dichte  der  Körper  ergiebt  sich,  dafs  die  halbe  grofse  Axe  von 
30  auf  49,388  Einheiten  wächst,  während  die  Exzentrizität  sich  bis 
auf  0,57  steigert  — in  der  That,  ein  eindringliches  Beispiel  der  Wirkung 
der  Gezeitonreibung.  See  findet,  dafs  die  mittlere  Exzentrizität  der 
bisherbekannten  Doppelstern  bahnen 
12  Mal  gröfser  ist  als  die  mittlere 
Exzentrizität  unseres  Planetensy- 
stems, nämlich  0,45,  was  mit  der 
durch  das  erwähnte  Beispiel  illu- 
strirten  Wirkung  der  Gezeiten  auf 
die  Exzentrizität  der  Doppelstem- 
bahnen  im  Einklänge  stände. 

Wir  haben  in  diesen  Aufsätzen 
eine  bedeutende  Zahl  von  kosmogo- 
nischen  Ansichten  dargelegt  und 
uns  bezüglich  des  wissenschaftlichen 
Werthes  derselben  auf  wenige  kri- 
tische Bemerkungen  beschränkt. 

Es  wäre  nun  noch  ein  allgemeineres  Urtheil  über  jene  Ansichten 
vorzutragen.  Hierzu  sind  zuvor  einige  Erörterungen  über  den  Fort- 
schritt der  astronomischen  Erkenntnifs  und  das  Wesen  der  Hypothesen 
nöthig. 

Ein  halbwegs  aufmerksamer  Blick  auf  das  Arbeitsfeld  und  die 
Arbeitsmethoden  der  heutigen  Astronomie  zeigt,  dafs  die  Zeiten,  in 
welchen  grofse  Ideen  einen  Fortschritt  anbahnen  konnten,  ohne  dafs 
ihnen  grotee  zu  leistende  Arbeit  vorhergehen  mufste,  vorüber  sind. 
Heutzutage  spielen  Beobachtungen,  rechnerische  und  mathematische 
Untersuchungen  die  Hauptrolle,  die  Hypothesen  treten  viel  bescheidener 
zurück  als  ehemals.  Dies  ist  aus  der  fortschreitenden  Vertiefung  der 
einzelnen  Spezialgebiete  erklärlich.  Die  Schwierigkeiten,  die  ver- 
schiedenen astronomischen  Erscheinungen  richtig  zu  erklären,  zwingen 
uns  unabänderlich,  zunächst  die  Hauptarbeit  auf  möglichste  Vergröfse- 


Kiff.  2.  Doppelnebel. 


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572 


rung  der  Zahl  der  Beobachtungen  zu  richten;  erst  wenn  diese  der- 
artig gewachsen  ist,  dafs  sich  die  Aussicht  eröffnet,  die  Wahrneh- 
mungen durch  eine  verbindende  Voraussetzung  gemeinsam  zu  deuten, 
tritt  irgend  eine  Hypothese  in  den  Vordergrund.  Diese  Hypothese 
leitet  eine  Zeit  lang  die  Forschung,  bis  die  unveränderlich  fortgesetzte 
Beobachtungsarbeit  Thatsachen  an  derselben  Erscheinung  zu  Tage 
gefordert  hat,  die  sich  mit  der  Hypothese  nicht  mehr  vertragen;  die 
Idee  wird  dann  entweder  modiflzirt,  oder  es  tritt  eine  ganz  andere  an 
deren  Stelle.  Auf  diese  Weise,  nämlich  indem  eine  fortwährende 
Vergleichung  der  beobachteten  Erscheinungen  mit  den  Konsequenzen 

der  Hypothese  stattfindet,  also  die 
Idee  als  blofse  Leitung  benützt  wird, 
nähern  wir  uns  allmählich  der  Wahr- 
heit. Jeder  Ideensprung,  beispiels- 
weise der  Versuch,  die  Thatsachen 
der  Idee  anpassen  zu  wollen  und 
nicht  die  Idee  den  Thatsachen,  rächt 
sich  alsbald.  Auf  diese  Weise  ist 
der  moderne  astronomische  Fort- 
schritt in  Hinsicht  auf  Erklärung 
der  Einzelgebiete,  zum  Beispiel  der 
Matur  der  Kometen,  des  Wesens  des 
Sonnenkörpers,  ein  zwar  langsamer 
aber  sicherer.  Er  ist  längst  nicht 
mehr  wie  früher  mit  wilden  Speku- 
lationen in  Verbindung,  sondern 
bewegt  sich  zwischen  Ufern,  deren  Begrenzung  sicher  gestellt 
ist.  In  der  modernen  Kosmogonie  ist  von  einem  ähnlich  gestalteten 
Vorgehen  bei  der  Erforschung  des  Zusammenhanges  der  Dinge  bisher 
wenig  zu  bemerken.  Man  sollte  im  Hinblick  auf  die  aus  den  anderen 
astronomischen  Gebieten  kommende  Warnung  zur  Vorsicht  in  den 
Schlüssen  zum  mindesten  erwarten  dürfen,  dafs  das  Vergleichen  der 
Voraussetzungen  mit  den  faktischen  im  Kosmos  stattlindenden  Ver- 
hältnissen sorgfältig  durchgeführt  wird,  und,  wo  sich  keine  Ueberein- 
stimmung  findet,  eine  Prüfung  der  Hypothesen  vorgenommen  werde. 
Thatsächlich  hat  aber  eher  das  Entgegengesetzte  statt:  entweder 
werden  die  aus  den  Hypothesen  folgenden  Vorgänge  gewaltsam  ver- 
kehrt, damit  sie  den  Beobachtungen  genügen  sollen,  oder  es  werden 
aus  den  letzteren  nur  solche  hervorgesucht,  die  sich  aus  den  Hypo- 
thesen ableiten  lassen,  die  dagegen  sprechenden  Beobachtungen  aber 


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573 


todtgeschwiegen.  Man  mufs  manche  Kosmologen  recht  bei  der  Arbeit 
sehen,  z.  B.  bei  der  Beantwortung  der  Frage  nach  der  Entstehung 
der  charakteristischen  Gebilde  der  Mondoberfliiche,  mit  welchor  Fixig- 
keit sie  da  alles  erklären.  Nirgend  sehen  sie  Schwierigkeiten,  und 
keinem  kommt  die  Erinnerung  ins  Üedäehtnifs,  dafs  wir  trotz  der 
Bereicherung  der  Topographie  des  Mondes  durch  Beer  und  Mädler, 
Schmidt,  Lohrmann  und  Neison  in  Beziehung  auf  eine  wissen- 
schaftliche Vergleichung  der  Erde  und  des  Mondes,  also  in  Beziehung  auf 
die  Basis  für  jene  Frage  und  die  daraus  zu  ziehenden  Schlüsse,  derzeit 
noch  kaum  die  ersten  Grundlagen  gewonnen  haben.  Nur  in  dem  einen 
Punkte  stimmen  die  Herren  miteinander  überein,  dafs  jeder  die  Theorie 
des  Anderen  für  unhaltbar  erklärt  Ebenso  häufig  ist  in  der  modernen 
Kosmogonie  die  Erscheinung,  dafs  irgend  eine  beobachtete  Thatsache, 
die  an  sich  nur  eine  untergeordnete  Bedeutung  hat,  übertrieben  und 
den  Erklärungen  zu  Grunde  gelegt  wird,  wodurch  die  Hypothese  auf 
Einseitigkeit  geräth.‘J)  Dies  ist  z.  B.  der  Fall  bei  Nordenskjölds 
Meteorhypothese,  bei  Lockyers  Evolutionstheorie.  Vielfach  sind  die 
Mifsverständnisse  in  der  Anwendung  der  Gesetze  der  Mechanik,  bei- 
spielsweise bei  Friedrich  Weifs,  Kerz  u.  A.  Am  allerhäufigsten 
sind  rein  hypothetische  Voraussetzungen,  auf  welchen  die  weitgehendsten 
Schlüsse  gegründet  werden,  z.  B.  bei  Braun  die  Kollisionen  und 
die  dadurch  bewirkte  Rotation  der  Sonne;  bei  Schmick  die  Pendel- 
bewegungen des  Mondes  u.  s.  w. 

Verbinden  sich  solche  zweifelhaften  Grundlagen  untereinander, 
so  kann  man  das  darauf  erbaute  Gebäude  trotz  aller  sogenannten  von 
den  Urhebern  der  Hypothesen  beigebrachton  Beweise,  Rechnungen 
u.  s.  w.  nur  mit  Mifstrauen  betrachten.  Es  ist  in  neuerer  Zeit  in  dieser 
4 Hinsicht  auf  dem  Gebiete  der  Kosmogonie  entschieden  besser  ge- 

worden, dadurch,  dafs  man  versucht  hat.  einzelne  Hypothesen  mathe- 
matisch zu  behandeln.  Indessen  kann  auch  eine  solche  Verfolgung 

’)  Voreingenommener  oder  tendenziöser  Standpunkt  kann  bei  der  Ab- 
leitung der  Konsequenzen  einer  Hypothese  zu  wunderlichen  Schlüssen  führen. 
Ein  Beispiel  hiervon  giebt  Braun  in  seiner  Kosmogonie.  Da  für  ihn  die 
Uebereinstiminung  der  Bibel  mit  wissenschaftlicher  Forschung  eino  wichtige 
Sache  ist,  so  mufs  er  nicht  nur  die  Erde  zu  Ctrunde  gehen  lassen,  sondern 
auch  das  Menschengeschlecht.  Um  dios  in  möglichst  sicherer  Weise  zu  thun, 
greift  er  zu  den  als  Scharfrichter  der  bösen  Menschheit  längst  von  der  Wissen- 
schaft abgethanen  Kometen,  liifst  durch  den  Zusammenstofs  der  Erde  mit 
einem  solchen  das  Festland  überschwemmen,  die  Werke  des  Fleifses  durch 
Stürme  vernichten;  die  Menschen  verbrennen  und  ersticken  in  der  Hitze  des 
Kometen,  und  auf  die  wenigen  Leute,  die  von  diesen  Schrecknissen  unge- 
schoren bleiben,  regnet  es  Blausäure  aus  dem  Kometen. 

Htmmet  und  Erde  1863.  V.  12.  ;;g 


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r.74 


der  Sache  durchaus  noch  nicht  vor  verfehlten  Schlüssen  schützen; 
denn  nothwendiger  Weise  müssen  solchen  Untersuchungen  bestimmte 
Voraussetzungen  zu  Grunde  gelegt  werden,  und  wir  haben  keine 
Garantie,  dafs  diese  Bedingungen  mit  den  thatsächlichen  Verhältnissen 
der  Entwickelung  zusammengetroffen  sind.  So  konnten  die  Unter- 
suchungen von  Roche,  G.  H.  Darwin,  Ritter,  Hirn,  See,  Saal- 
schützln)  nur  unter  gewissen  Voraussetzungen  ausgeführt  werden  und 
hängen  betreffs  der  Schlufsresultate  von  der  Richtigkeit  der  letzteren 
ab.  Der  Werth  der  Arbeiten  dieser  Mathematiker  für  die  Kosmogonie 
besteht  aber  in  der  logischen  Durchführung  und  Ableitung  der  Kon- 
sequenzen, die  aus  einem  acceptirten  Grundgedanken  folgen.  Finden 
wir  mit  der  Zeit  aus  Beobachtungen  der  Verhältnisse  im  Kosmos,  dafs 
die  Grundannahme  in  der  größeren  Zahl  der  Fälle  thatsächlich  zu- 
trifft, so  ist  die  Richtigkeit  der  Hypothese  gesichert  So  befremdend 
manche  Folgerungen  Darwins  aus  dem  Verhalten  eines  viskosen 
Ellipsoides,  oder  Ritters  Schlüsse  aus  dem  adiabatischen  Gleich- 
gewichte einer  Gaskugel  erscheinen,  so  wäre  es  doch  kein  wissen- 
schaftlicher Rückschritt  zu  nennen,  wenn  man  diese  Resultate  späterhin 
bestreiten  müfste;  vielmehr  läge  dann  nur  der  Beweis  vor,  dafs  die 
Grundannahmen  nicht  zutrafen,  und  es  wäre  dies  an  die  Wissenschaft 
eine  Aufforderung,  nach  einer  wahrscheinlicheren  Basis  zu  suchen.  — 

Aus  dem  mifslichen  Umstande,  dars  die  logische  Behandlung  kosmo- 
gonischer  Probleme  meist  nur  ein  unsicheres  Resultat  ergeben  kann, 
welches  zu  der  Mühe  der  mathematischen  Durcharbeitung  in  keinem 
Verhältnisse  stellt,  erklärt  sich  auch,  dafs  die  Mehrzahl  der  astronomi- 
schen Fachleute  dem  Gebiete  der  Kosmogonie  fern  bleibt,  ja  dafs  der 
gröfste  Theil  derselben  dieses  Terrain  vorsichtig  vermeidet  Die 
Astronomen  finden  in  den  auf  verbürgten  Wegen  sicher  erlangbaren  I 

Resultaten  der  beobachtenden  und  rechnenden  Astronomie  reiche 
wissenschaftliche  Befriedigung  und  ziehen  mit  Recht  die  positive 
Arbeit  jeder  Spekulation  vor.  Aber  hierdurch  räumen  sie  einer  Un- 
zahl von  Leuten  das  Feld,  welche  sich  häufig  mit  unzureichenden 
Kenntnissen  auf  das  so  schwierige  Gebiet  der  Kosmogonie  stürzen 
und  es  zu  einem  Tummelplätze  ihrer  Hypothesen  maohen.  Das  der 
Astronomie  ferner  stehende,  gebildete  Publikum,  dem  durch  unsere 
populäre  Littoratur  vornehmlich  nur  Resultate  geboten  werden,  und 

,0)  Die  mathematische  Untersuchung  der  Kant-Laplaceschen  Nebular- 
hypothese von  Seiten  dieses  Autors  haben  wir  früher  nicht  besonders  erwähnt; 
sie  beschäftigt  sich  mit  den  für  diese  Hypothese  gegebenen  Möglichkeiten  itu 
allgemeinen.  (Königsberger  Ges.  d.  W.  Bd.  28.) 


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welchem  die  Anforderungen  an  strenge  wissenschaftliche  Arbeit  noth- 
wendiger  Weise  nioht  bekannt  sind,  sieht  dann  allzusehr  in  den  reich- 
lich auftauchenden  kosmogonischen  Brochuren  und  Essais  der  Gegen- 
wart wirklichen  Fortschritt,  während  diese  Elaborate  nur  zu  oft  mit 
jenem  nichts  zu  thun  haben.11) 

Aus  allen  diesen  Erörterungen  folgt,  dafs  es  auf  dem  Gebiete 
der  Kosmogonie  viel  schwieriger  als  in  den  anderen  astronomischen 
Spezialfächern  ist,  die  Frage  direkt  zu  beantworten,  welche  der 
Theorien  einen  bleibenden  Werth  für  unsere  Vorstellungen  über  die 
Entwickelung  der  Gestirne  haben.  Unsere  Ansichten  über  den  Aus- 
bildungsprozefs  der  Weltkörper  soheinen  richtig  zu  sein,  da  Zöllner 
und  Bitter  auf  wesentlich  verschiedenen  Wegen,  durch  Photomotrie 
und  mathematisch -physikalische  Betrachtung,  zu  im  ganzen  sich 
deckenden  Resultaten  gelangen,  mit  welchen  überdies  die  spektral- 
analytische Forschung  übereinstimmt.  Zweifelhafter  ist  schon,  ob  die 
Kant-Laplacesche  Theorie  gegenwärtig  immer  noch  ein  ausreichendes 
Fundament  für  die  Erklärungen  bietet.  Die  Grundlagen  dieser 
Theorie  gelten  gewifs  noch  für  lange  Zeit,  dagegen  läfst  sich  nicht 
behaupten,  dafs  die  Mechanik  der  Nebularhypothese  gegen  alle  Ein- 
würfe gesichert  ist.  Die  Möglichkeit  der  Ringbildung  und  der  Zu- 
sammenziehung  der  Ringe  in  Planeten  dürfte  derzeit  zuzugeben  sein; 
es  sind  aber  sonst  doch  noch,  wie  aus  den  Darlegungen  unseres 
zweiten  Aufsatzes  hervorgeht,  manche  Punkte  der  Hypothese  einer 
Stützung  sehr  bedürftig.  Die  Darwinschen  Arbeiten  haben  der 
Nebularhypothese  weder  widersprochen  noch  sie  fester  basirt.  Zweifel- 
haft ist  die  Kosmogonie  der  veränderlichen  Sterne,  auch  Sees  Hypo- 
these über  die  Entstehung  der  Doppelsterne  ist  angreifbar,  noch  viel 
mehr  problematisch  sind  die  geäufsorten  Ansichten  über  die  Ent- 
stehung der  Mondoberflüche,  sowie  die  derzeitige  Kosmogonie  der 
Kometen  und  Meteoriten. 

Bei  solcher  Lage  der  Dinge  ist  Bescheidenheit  vor  unserem 
derzeitigen  kosmogonischen  Wissen  nur  unsere  eigene  Pflicht.  Wenn 
jedoch  die  Kosmogonie,  mehr  als  es  bisher  geschah,  von  astronomischen 
Fachleuten  gepflegt  und  von  Mathematikern  und  Physikern  unterstützt 
wird,  so  dürfte  bald  dadurch  ein  Damm  gegen  das  Uebcrwuohern  der 
„wilden“  Hypothesen  errichtet  sein;  die  Wissenschaft  wird  dann  auch 

n)  Der  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  hat  in  seinem  Aufsatze  „lieber 
populäre  Wissenschaft  und  Halbbildung“  (II.  Jahrgang)  die  Plage  der  Hypo- 
thesenkrankheit, namentlich  das  Wuchern  der  „wilden“  Hypothesen  in  der 
Astronomie,  drastisch  aber  wahr  geschildert. 

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auf  diesem  Gebiete,  allerdings  wohl  durch  eine  viel  längere  Reihe 
von  Negationen  als  in  den  anderen,  positiven  astronomischen  Zweigen, 
festen  Grund  gewinnen.  Allen  jenen  aber,  die  den  Aufbau  der  Welt  für 
eine  leichte  Sache  halten  und  sich  gerne  in  Hypothesen  versuchen, 
seien  noch  die  goldenen  Schlufs Worte  zugerufen,  welche  Laplace  im 
4.  Kapitel  des  fünften  Buches  seiner  „Exposition  du  systfeme  du  monde“ 
niedergeschrieben  hat:  „Ein  für  den  Fortschritt  der  Wissenschaften 
wahrhaft  nützlicher  Philosoph  ist  nur  jener,  welcher  mit  einer  um- 
fassenden Einbildungskraft  eine  grofse  Strenge  in  seinen  Schlüssen 
und  bei  seinen  Beobachtungen  vereinigt  und  zugleich  auf  der  einen 
Seite  von  dem  Verlangen,  sich  zu  der  Ursache  der  Erscheinungen  zu 
erbeben,  und  auf  der  anderen  von  der  Furcht,  sich  in  Ansehung  jener, 
welche  er  ihnen  beilegt,  zu  täuschen,  beunruhigt  wird.“ 


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Der  Luftmangel  des  Mondes.  — Uebor  dieses  Thema  äufsert 
sich  der  englische  Astronom  Sir  Robert  Ball  in  Cambridge  in  der 
Zeitschrift  Science,  wie  folgt: 

Der  Mangel  an  Luft,  an  dem  der  Mond  leidet,  ist  eine  nothwendige 
Folge  der  kinetischen  Gastheorie,  nach  welcher  jedes  Gas,  Wasser- 
stoff wie  Sauerstoff,  aus  kleinsten  Theilchen  besteht,  die  sich  mit  einer 
gewaltigen  Geschwindigkeit  bewegen.  So  kämen  z.  B.  die  Wasser- 
stoff-Moleküle, die  unter  gleichen  Temperaturbedingungen  freilich  die 
gröfsten  Wege  zurücklegen,  bei  0°  in  einer  Sekunde  um  1844  m vor- 
wärts, wenn  nichts  sie  in  ihrem  Laufe  hemmte.  Sauerstoff  und  Stick- 
stoff haben  im  allgemeinen  weit  geringere  Geschwindigkeiten.  Dabei 
ist  aber  noch  zu  berücksichtigen,  dafs  einzelne  Moleküle  im  Verlaufe 
ihrer  Bewegungen  häufig  einen  ihre  durchschnittliche  Geschwindigkeit 
um  vieles  übertreffenden  Weg  durchmessen.  Nun  läfst  sich  zeigen, 
dafs  der  Mond  eine  derartige  Masse  und  Ausdehnung  besitzt,  dafs 
jeder  Körper,  welcher  von  seiner  Oberfläche  mit  einer  gewissen  Ge- 
schwindigkeit — sagen  wir  von  800  in  in  der  Sekunde  — weg- 
geschleudert würde,  zu  einer  beträchtlichen  Höhe  aufsteigen,  zuletzt 
aber  infolge  des  Ueberwiegens  der  Mondanziehung  wieder  zurück- 
fallen müfsle.  Wenn  jedoch  seine  Anfangsgeschwindigkeit  um  soviel 
gröfser  wäre,  dafs  sie  einen  gewissen  kritischen  Betrag  von  ungefähr 
1600  m erreichte,  so  würde  der  Körper  den  Bewegungsgesetzen  gcmärs 
von  der  Mondoberfläche  aufsteigen  und  immer  weiter  sich  von  ihr 
entfernen,  ohne  jemals  durch  die  Mondanziehung  wieder  an  des  Mondes 
Oberfläche  zurückgeführt  zu  werden.  Stellte  man  sich  nun  die  Auf- 
gabe, heute  den  Mond  mit  einer  neuen  Hülle  von  Sauerstoff  oder 
Stickstoff  zu  umgeben,  so  würden  die  Moleküle  dieser  Gase  natürlich 
mit  den  ihnen  eigenthümlichen  Geschwindigkeiten  durcheinander 
fliegen.  Im  allgemeinen  bleiben  diese  freilich  innerhalb  solcher 
Grenzen,  dafs  der  Mond  jene  Moleküle  in  seiner  Gewalt  behält,  aber 
häufig  genug  werden  einzelne  Moleküle  mit  einer  Geschwindigkeit 
begabt  sein,  welche  jenem  kritischen  Betrage  von  1600  m in  der  Se- 


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_ 578 

künde  gleichkommt  oder  ihn  übertrifl't.  Wenn  dergleichen  in  den 
oberen  Schichten  der  Lufthülle  geschieht,  so  werden  die  Theilchen 
alle  miteinander  den  Mond  verlassen,  andere  werden  ihnen  auf  dem- 
selben Wege  folgen,  und  daher  kommt  es,  dafs  eine  aus  jenen  oder 
ähnlichen  Gasen  zusammengesetzte  Lufthülle  auf  dem  Monde  nicht 
dauernd  sich  niederlassen  konnte.  Auf  der  Erde  bleibt  dagegen  eine 
dichte  Lufthülle  bestehen,  weil  die  Erde  Masse  genug  besitzt,  um  jedem 
Projektil,  das  nicht  eine  Geschwindigkeit  von  fast  10  km  in  der  Se- 
kunde besitzt,  den  Austritt  aus  ihrem  Wirkungskreise  zu  wehren. 
Aber  die  Sauerstoff-  und  Stickstofftheilchen  werden  diese  Geschwindig- 
keit weder  im  allgemeinen  noch  überhaupt  jemals  erreichen,  und  so 
vermag  die  Erde  ihre  Lufthülle  festzuhalten,  während  der  Mond  dazu 
unfähig  ist.  Und  was  die  Erde  konnte,  das  vermochten  auch  Venus, 
Mars  und  Jupiter. 

Eine  andere  — wie  uns  scheint  — plausiblere  Hypothese  für 
den  Luftmangel  des  Mondes  ergiebt  sich  aus  dem  frühen  Altern  dieses 
Körpers,  dessen  verwitternde  Gesteine  Zeit  genug  besafsen,  um  die 
Atmosphäre  in  sich  aufzusaugen.  Sm. 

* 

Die  Schmidtsche  Sonnentheorie. 

Wir  haben  bereits  im  vorigen  Jahrgange  unserer  Zeitschrift 
(Seite  329)  unter  dem  Titel  „Strahlenbrechung  auf  der  Sonne“  eine 
neue  Ansicht  von  Dr.  A.  Schmidt  über  die  Ursachen  mancher  Er- 
scheinungen auf  der  Sonne  erwähut.  Nach  derselben  besitzt  die  Sonne 
keine  eigentliche  dampfförmige  oder  flüssige  Oberfläche,  sondern  ist 
ein  glühender  Gasball,  dessen  Dichte  von  innen  nach  aufsen  zu  ganz 
allmählich  abnimmt,  so  dafs  der  Uebergang  einer  Gasscliicht  in  die  an- 
dere successive  stattfindet,  und  die  äufserste  Schicht  eine  Konsistenz 
besitzt,  die  wahrscheinlich  viel  geringer  ist  als  die  des  Luftmeeres  der 
Erde.  Es  wurde  auch  am  angeführten  Orte  das  eigenthümliche  Ver- 
halten von  Lichtstrahlen  in  Gaskugeln  von  grofser  Dichte  betont  und 
Schmidts  Meinung  dargelegt,  wonach  ein  beträchtlicher  Theil  der 
Sonnenerscheinungen,  wie  die  Flecken,  Protuberanzen,  auf  Refraktions- 
phänomene der  Sonnenatmosphäre  wenigstens  theilweise  zurück- 
geführt werden  könnte.  Schon  Kummer  hat  die  Wichtigkeit  der 
Strahlenbrechung  für  die  Erklärung  optischer  Erscheinungen  erkannt. 
Zöllner  hat  in  seinen  „Photometr.  Untersuchungen“  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  dafs  ohne  Berücksichtigung  der  Refraktion  der  Sonnen- 


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atmosphäre  Täuschungen  in  Hinsicht  auf  die  Deutung  mancher  Er- 
scheinungen unterlaufen  könnten. ') 

In  Anbetracht  der  Wichtigkeit  der  Schmidtschen  Darlegungen, 
welche,  wenn  sie  sich  bestätigen,  eine  ganz  wesentliche  Veränderung 
unserer  gegenwärtigen  Theorieen  der  Sonne  bewirken  müssen,  haben 
wir  den  Wunsoh  geäufsert,  die  Schmidtschen  Ausführungen  möchten, 
da  sie  nur  in  geometrischer  W'eise  erläutert  Vorlagen,  durch  eine 
analytische  Behandlung  näher  geprüft  werden.  Diese  Erwartung  ist 
schneller,  als  wir  gehofft  haben,  in  Erfüllung  gegangen.  Eine  Habi- 
litationsschrift von  Dr.  0.  Knopf2)  beschäftigt  sich  eingehender  mit 
der  Sache,  und  da  seine  Untersuchung  die  Schmidtsche  Anschauung 
bestätigt,  so  wird  es  erwünscht  sein,  dafs  bald  auch  Gegengründe  von 
berufener  Seite  geltend  gemacht  werden,  die  entweder  die  Hypothese 
beseitigen  oder  auf  das  richtige  Mafs  zurückführen. 

Der  Verfasser  der  erwähnten  Schrift  gelungt  auf  mathematischem 
Wege  zu  denselben  merkwürtügen  Refraktionsverhältnissen  für  eine 
bestimmte  Gattung  von  Himmelskörpern,  wie  Schmidt.  Es  zeigt  sich, 
dafs  in  einem  glühenden  Gasballe  gewisse  Lichtstrahlen  überhaupt  nicht 
die  Atmosphäre  verlassen  können,  sondern  zum  Theil  sogar  um  das 
Zentrum  herumlaufen  müssen.  Von  der  äufsereten  Schicht  gelangen 
nur  Lichtstrahlen  zu  uns,  die  aus  jener  Schicht  stammen.  Die  Strahlen 
der  mittleren  Schichten  können  aber  einen  solchen  Weg  nehmen,  dafs 
sich  das  Bild  der  mittleren  Schichten  auf  das  der  innersten  projizirt. 
Dadurch  wird  in  unserem  Auge  der  Eindruck  einer  scharfen  äufseren 
Begrenzung  des  Gasballes  hervorgerufen,  während  in  Wirklichkeit 
eine  so  wohl  begrenzte  Schicht  denselben  nach  aufsen  hin  gamicht 
abschliefst,  vielmehr  dessen  Gas  sich  in  allmählich  zunehmender  Dünne 

')  „Uebrigens  glaube  ich  bemerken  zu  müssen,  dafs  man  bei  allen  bisher 
aufgesteliten  Theorioen  der  Sonnenflecke  den  Kinflufa  der  Refraktion  der  Sonnen- 
atmosphäro  auf  die  Gestalt  dor  an  ihrer  Oberfläche  wahrgenommenen  Objekte 
mit  Unrecht  vernachlässigt  hat.  Selbst  wenn  die  Penumbra  in  gleichem 
Niveau  mit  dem  dunklen  Kerne  auf  der  Sonnenoberfläche  sich  befände,  so 
würde  man  lediglich  durch  Annahme  einer  hinreichend  starken  Refraktion  im 
stände  sein,  sowohl  die  Vergrößerung  des  dem  Sonnenrande  zugekehrten  Theiles 
der  Penumbra  als  auch  jene  scheinbaren  Vertiefungen  zu  erklären,  welche  sich 
am  Sonnenrande  öfter  an  der  Stelle  zeigen,  wo  infolge  der  Rotation  ein  Fleck 
verschwindet  Dio  interessanten  Kummerschon  Resultate  scheinen  mir  die 
Berücksichtigung  der  Refraktion  in  der  Sonnenatmosphäre  für  jede  Hypothese 
über  die  Sonnenflecke  durchaus  nothwendig  zu  machen “ (Seite  246.) 

»)  Die  Schmidtsche  Sonnentheorie  und  ihre  Anwendung  auf  die  Me- 
thode der  spektroskopischen  Bestimmung  der  Rotationsdauer  der  Sonne.  — 
Habilitationsschrift.  Jena  1893. 


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von  innen  nach  aufsen  verliert.  Jede  Veränderung  des  Druckes  wird 
in  einem  solchen  Gasballe  eine  Veränderung  der  Dichte  und  somit 
auch  des  Brechungsexponenten  hervorrufen.  Es  können  folglich  irgend 
welche  Vorgänge  unserem  Auge  an  Orten  erscheinen,  die  in  der  That 
an  ganz  anderen  Stellen  sich  vollziehen.  Bei  der  Auffassung  der  Sonne 
als  einen  solchen  glühenden  Gasball  könnten  demnach  verschiedene 
Erscheinungen,  wie  das  plötzliche  Emporschiefsen  von  Protuberanzen 
und  manches  andere,  blofse  Refraktionsresultate,  erzeugt  durch  Dichte- 
veränderungen der  inneren  Schichten,  sein.  Vermöge  solcher  Re- 
fraktionserscheinungen unterliegt  auch  die  Ableitung  der  Rotations- 
dauer der  Sonne  aus  spektralanalytischen  Beobachtungen  nach  dem 
Verfasser  manchen  Bedenken.  Nach  dieser,  von  Zöllner  vorgeschlage- 
nen Methode  inffsl  man  die  Verschiebungen,  die  zwischen  zwei  Absorp- 
tionslinien tellurischen  Ursprunges  und  zwei  solchen  des  Sonnenspektrums 
während  der  Umdrehung  der  Sonne  stattlinden.  Als  Messungsstellen 
benützt  man  zwei  einander  gegenüber  liegende  Punkte  des  Sonnen- 
randes. Die  Methode  setzt  voraus,  dafs  die  Absorption  nahe  der 
scheinbaren  Oberfläche  der  Sonne  stattfindet,  während  nach  der  Schmidt- 
schen  Hypothese  die  Absorptionslinien  dos  Sonnenspektrums  in  sehr 
tief  gelegenen  Schichten  der  Sonne  ihren  Ursprung  haben.  Die 
Messungen  beziehen  sich  dann  auf  Stellen,  an  denen  sich  die  Ab- 
sorptionslinien des  Sonnenspektrums  thatsäohlich  nicht  befinden.  Hier- 
durch wird  der  aus  spektroskopisohen  Beobachtungen  abgeleitete  Be- 
trag der  Umdrehungsdauer  der  Sonne  in  Frage  gestellt.  Nur  in  den 
Fällen,  wo  die  Messungen  in  der  Ebene  des  Sonnenäquators  gemacht 
■werden,  ist  das  Resultat  zuverlässig.  Die  Rotationsdauer,  welche  die 
in  der  Ebene  des  Aequators  gemachten  spektroskopischen  Beobach- 
tungen ergeben,  stimmt  mit  jener  nahe  überein,  die  aus  der  Bewe- 
gung der  Sonnenflecken  gefunden  worden  ist.  Dr.  Knopf  macht 
aber  darauf  aufmerksam,  dafs  aus  der  spektroskopischen  Beobachtung 
von  Absorptionsslellen  des  Aequators  vielmehr  eine  geringere  Rotations- 
dauer erwartet  werden  sollte,  weil  unter  Festhaltung  der  Schmidt  - 
schen  Theorie  die  Absorption  tief  im  Innern  der  Sonue  statt  hat.  Da 
jedoch  auch  diese  tief  gelegenen  Stellen  denselben  Betrag  des  Sonnen- 
umschwungs liefern,  wie  die  anderweitigen  auf  die  Oberfläche  sich 
beziehenden  Beobachtungen,  so  sei  der  Sohlufs  berechtigt,  dafe  die 
Sonnenrotation  von  aufsen  nach  innen  zu  eine  schnellere  wird.  » 

t 


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Die  Erwärmung  der  Pflanzenblätter.  — Seit  einer  Reihe  von 
.Jahren  ist  man  stetig  bestrebt,  den  Einfluß  der  klimatologischen  Ver- 
hältnisse auL  die  Entwicklung  der  Pflanzen  bis  ins  Einzelne  zu  ver- 
folgen. Die  Resultate,  welche  auf  diesem  als  „Phänologie1-  bezeich- 
neten  Gebiete,  besonders  durch  die  Bemühungen  Hoffmanns  in 
Giefsen,  erzielt  wurden,  waren  merkwürdig  genug.  Es  gelang,  die 
einzelnen  Momente  des  Pflanzenlebens  auf  ihre  Abhängigkeit  von 
der  Wärme,  welche  auf  der  Erde  von  Jahr  zu  Jahr  und  von  Ort  zu 
Ort  Schwankungen  unterworfen  ist,  zu  prüfen.  Wenn  auch  die  erlangten 
zahlenmäßigen  Ergebnisse  rein  äufserliche  waren,  so  zeigten  sie 
deutlich,  dafs  für  jeden  besonderen  Schritt  im  Wachsthum  jeder 
I’flanzenspezies  eine  ganz  bestimmte  Wärmemenge  erfordert  werde. 
Freilich  wie  grofs  diese  etwa  für  die  Keimung,  das  Aufblühen  u.  s.  w. 
einer  bestimmten  Art  in  Wärmeeinheiten  gemessen  sei,  das  liefs 
sich  auf  diesem  Wege  noch  nicht  erkennen.  Dazu  sind  beson- 
dere Studien  nöthig,  welche  eine  Reihe  von  einzelnen  Daten  zu 
liefern  haben,  und  das  Problem  wird  dadurch  viel  komplizirter  als 
dasjenige,  welches  die  Wärmeaufnahme  der  Luft  und  des  Erdbodens 
betrifft.  Die  ersten  Daten,  die  erforderlich  sind,  beziehen  sich  auf  die. 
Fähigkeit  der  Blätter,  die  ihnen  zugestrahlte  Wärme  zu  absorbiren 
oder  durchzulassen.  Die  bezüglichen  Experimente  sind  neuerdings 
von  A.  G.  Mayer  im  physikalischen  'Laboratorium  der  Harvard- 
Universität  zu  Cambridge  (U.  S.)  ausgefiihrt  worden.  Folgendes  waren 
die  Resultate,  die  durch  Beobachtungen  an  Blättern  der  verschiedensten 
Holz-  und  Krautgewächse  sich  ergaben,  die  thoils  an  sonnigen  Stand- 
orten, theils  im  Schatten,  theils  sogar  im  Wasser  Vorkommen.  Es  zeigte 
sich,  dafs  die  Größe  der  Strahlung  dieser  Blätter,  und  zwar  an  ihrer 
Ober-  sowohl  wie  an  ihrer  Unterseite,  eine  kaum  zu  übertreffende,  nämlich 
dieselbe,  wie  die  Strahlung  des  Lampenrufses  ist,  obwohl  bekanntlich 
gerade  die  Unterseite  der  Blätter  einen  besonderen  Farbstoff  — das 
Anthokyan  — enthält,  den  man  als  die  Wirksamkeit  der  Ausstrahlung 
verhindernd  ansah.  Nur  boi  den  Unterseiten  der  Klettenblätter  zeigt 
sich  eine  Ausnahme,  da  sie  nur  81  pCt  des  erwähnten  Strahlungs- 
betrages erreichen.  Wohl  mit  Recht  nimmt  der  genannte  Forscher 
an,  dafs  wir  hier  eine  ähnliche  Art  von  Anpassung  au  die  Lebens- 
bedingungen dieser  Pflanzen  haben,  wie  bei  den  Fischen,  deren  Ober- 
seite fast  ausnahmslos  dunkler  als  die  Unterseite  gefärbt  ist.  Die 
Blattrosette  der  Klette  liegt  dem  Boden  dicht  an  und  empfängt  auf  der 
Unterseite  fast  keine  direkten  Strahlen  der  Sonne.  So  müßte  die 
Pflanze  leicht  ihre  Wärme  verlieren,  wenn  die  Unterseite  nicht  durch 


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die  erwähnte  Eigenschaft  geschützt  wäre.  Aehnliche  schützende 
Wirkungen  hat  für  die  Blätter  der  Thau,  wie  zahlreiche  Versuche  be- 
weisen. Ein  nur  schwach  bethautes  Blatt  strahlt  blos  .78  pCt.  der- 
jenigen Wärme  aus,  die  es  im  trockenen  Zustande  emittirt,  während 
eine  dicke  Thauschicht  nur  66  pCt.  dieser  Wärmemenge  herauslärst. 
Das  ist  um  so  merkwürdiger,  als  auf  Körper  von  schwächerem 
Strahlungsvermögen  die  Bethauung  gerade  umgekehrt  wirkt.  So 
ergiebt  sioh,  dafs  wir  in  der  Natur  der  Blätter  schlagende  Bei- 
spiele von  Anpassung  besitzen.  Der  Umstand,  dafs  ihre  Oberfläche 
zu  den  besten  Wärmestrahlern  und  die  Blätter  demzufolge  auch  zu 
den  am  besten  absorbirenden  Körpern  gehören,  müfste  es  nämlich  be- 
wirken, dafs  während  der  Nacht  ein  guter  Theil  der  am  Tage  auf- 
genommenen Wärme  wieder  ausgestrahlt  werden  würde,  wenn  die 
nächtliche  Thaudecke  nicht  diese  Ausstrahlung  auf  zwei  Drittel  ihres 
sonstigen  Werthes  beschränken  würde. 

Fernere  Versuche  über  die  von  den  Blättern  absorbirte  und 
durchgelassene  Wärme  zeigen,  dafs  von  den  dunklen  Wärmestrahlen, 
die  man  durch  ein  Blatt  fallen  läfst,  etwas  mehr  als  80  pCt.  vom  Blatt 
absorbirt  und  nur  etwas  weniger  als  20  pCt.  durchgelassen  werden, 
ein  Verhältnis,  das  freilich  von  Individuum  zu  Individuum  ein  wenig, 
von  Art  zu  Art  etwas  mehr  variirt,  aber  keineswegs  von  der  Dicke 
und  Zähigkeit  der  Blätter  direkt  abhängig  ist.  Blumenblätter  erwiesen 
sich  dabei  etwas  durchlässiger  wie  Laubblätter.  Auch  zeigten 
die  Blätter  gegen  die  ihnen  zugesandten  Strahlen,  ähnlich  wie  die 
irdische  Lufthülle  den  einzelnen  Strahlengattungen  gegenüber,  ein 
wählerisches  Verhalten.  Der  Betrag  von  Wärmestrahlen,  welchen  ein 
einzelnes  Blatt  durchgehen  läfst,  beläuft  sich  — wie  erwähnt  — auf 
20  pCt.  Gestattet  man  aber  der  durch  das  erste  Blatt  gegangenen 
Wärme,  auf  ein  zweites  zu  fallen,  so  findet  man,  dafs  schon  78  pCt 
von  dieser  Wärme  durchgelassen  werden;  ein  drittes  läfst  gar  fünf 
Sechstel  von  der  Wärme  hindurch,  welche  durch  zwei  Blätter  gegangen 
ist,  und  ein  viertes  Blatt  stellt  dem  Durchgänge  der  so  ausgewählten 
Wärmestrahlen  schon  koin  merkliches  Hindemifs  mehr  entgegen. 
Dabei  spielt  das  Blattgrün  keineswegs  die  bedeutende  Rolle,  die  man 
ihm  wohl  ohne  die  Grundlage  des  Experiments  zugeschrieben  hat. 
Blätter,  die  man  mit  Alkohol  ihres  Chlorophyllgehaltes  beraubt  hatte, 
erwiesen  sich  in  nicht  viel  höherem  Grade  passirbar  für  dunkle 
Wiirmestrahlen,  als  grüne  Blätter.  Die  Rolle  des  Blattgrüns  wird  wohl 
— wie  frühere  Forscher  annehmen  — diejenige  sein,  dafs  es  leuch- 
tende Strahlen  in  erwärmende  zu  verwandeln  vermag  und  so  mehr 


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indirekt  für  die  Erhaltung  der  wärmenden  Energie  der  Pflanzen  bei- 
trägt. So  zeigt  sich,  dafs  im  Kampfe  ums  Dasein  die  Blätter  der  ver- 
schiedensten Pflanzenspezies  sich  der  geeignetesten  Fähigkeit,  Wärme 
durchzulassen  und  auszustrahlen,  angepafst  haben,  so  dafs  heute  kein 
bemerkenswertlier  Unterschied  zwischen  ihnen  besteht.  Ihre  Ober- 
flächen sind  die  besten  unter  den  bekannten  Wärmeverzehrern,  und 
der  Nachtheil,  dafs  sie  demnach  auch  unter  die  besten  Wärmestrahler 
gehören,  wird  dadurch  wieder  aufgehoben,  dafs  der  Thau,  der  sich 
Nachts  auf  ihnen  sammelt,  sie  vor  zu  starker  Ausstrahlung  schützt. 
Zum  Schlüsse  mag  auch  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dafs  die 
erlangten  Zahlen  einer  künftigen  Untersuchung  der  dem  Lande  zu- 
gestrahlten Wärme  zu  Gute  kommen  werden,  da  der  gröfste  Theil  des 
Landes  auf  Erden  mit  Vegetation  bedeokt  ist.  Sm. 


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Jahrbuch  für  Photographie  und  Reproduktionstechnik  für  das  Jahr  1893. 

Unter  Mitwirkung  hervorragender  Fachmänner  herausgegeben  von  Dr.  J. 

M.  Eder.  VII.  .Jahrgang.  Halle  o.  S.,  W.  Knapp. 

Der  auf  dem  Gebiete  der  Photographie  als  hervorragende  Kraft  bekannte 
Herausgeber  hat  es  iin  Laufe  der  Jahre  verstanden,  einen  außerordentlich 
zahlreichen  Kreis  tüchtiger  Fachmänner  als  Mitarbeiter  für  sein  Jahrbuch 
heranzuziehen  und  sich  zu  erhalten,  so  dafs  auch  der  vorliegende  7.  Jahrgang 
in  einer  Reihe  von  Originalbeiträgen,  welche  der  bekannten  kurzen  jährlichen 
Uebersicht  über  die  Fortschritte  der  Photographie  in  den  abgelaufenen  Jahren 
vorangeht,  eingehende  und  gründliche  Bilder  der  einzelnen  Zweige  liefert. 
Es  mufs  an  dieser  Stelle  genügen,  die  allerwichtigsten  Arbeiten  ihrem  Inhalte 
nach  kurz  zu  erwähnen. 

Bei  der  grofsen  und  umfangreichen  Rolle,  welche  die  künstlichen  Licht- 
quellen in  der  heutigen  Photographie  spielen,  ist  eine  Arbeit  von  Glasenapp 
über  das  Aluminium  sehr  zeitgemäß  (S.  6).  Dieselbe  ergiebt,  dafs  dieses 
Metall,  als  „Bronze“,  d.  h,  gepulvert  angewendet,  das  Magnesium  nicht  nur  an 
Wirkung  erreicht,  sondern  noch  um  eine  Wenigkeit  übertrifft  und  weniger 
Rauch  entwickelt.  R.  Schwarz  (Wien)  veröffentlicht  S.  33  eine  Anleitung 
zur  direkten  Aufnahme  lebensgrofser  Porträts,  welche  um  so  wichtiger  er- 
scheint, da  sie  ganz  einfache  Mittel  verlangt  So  dient  z.  B.  als  Objektiv  die 
achromatische  Landschaftslinse  oder  sogar  das  Brillenglas,  welches  natürlich 
beim  Gebrauche,  um  Verzeichuuugen  zu  verhüten,  Btark  abzublenden  ist; 
aufserdem  mufs  eine  Korrektion  behufs  Einhaltung  des  chemischen  Fokus  an- 
gebracht werden,  welche  z.  B.  bei  einem  Glase  von  95  cm  Fokuswoite  5 cm 
in  der  Richtung  des  Objektivs  beträgt.  Sehr  charakteristisch  ist  auch  die  Art 
und  Weise,  in  welcher  der  Autor  — zur  Erzielung  kurzer  Expositionszeiten  — 
das  Tageslicht  durchweg  durch  einen  geeigneten  Magnesiuralichtapparat  er- 
setzt Ueber  die  neuen  Entwickler  Metol  und  Amidol  reforirt  der  Heraus- 
geber (S.  62  u.  65).  Während  der  erstere  zu  den  gewöhnlichen  organischen 
Entwicklern  zu  zahlen  ist,  d.  h.  nur  in  alkalischer  Lösung  wirkt  allerdings 
ohne  Aetzkalien,  so  ist  das  Amidol  dadurch  bemerkenswert!^  dafs  es  bei 
blofsein  Zusatz  von  Natriumsulfit  selbst  in  saurer  Lösung  energisch  entwickelt. 
Hierdurch  dürfte  gerade  das  Amidol  eine  Zukunft  haben:  denn  jeder  Praktiker 
weifs,  wie  sehr  die  Alkalien  die  Gelatineschicht  der  Platten  zu  schädigen  ver- 
mögen. R.  Tal  bot  (S.  92)  hat  in  einer  grofsen  Versuchsreihe  die  Thomas’ 
und  Edwards’  Diapositivplatten  erprobt  und  giobt  Rezepte  für  geeignete 
Hydrochinonentwickler.  Ref.  mufs  aber  hierzu  bemerken,  dafs  die  erwähnten 
Erzeugnisse  Bromchlorsilberplatten  sind  und  — bei  gröfserer  Empfindlichkeit 
— mit  reinen  Chlorsilberplatten  nicht  wetteifern  können;  gerade  für  Pro- 
jektionszweckc  sind  letztere  wegen  der  absoluten  Klarheit  der  Bilder  bei 
weitem  vorzuziehen.  — Von  neuen  Apparaten  nennen  wir  nur  An  schütz’ 
Momentcamera  mit  reguürbarora  Verschlufsspalt  (S.  105),  welche  zu  den 
leistungsfähigsten  Momentapparaten  der  Gegenwart  gezählt  werden  mufs,  und 
Krügen ers  neue  Foliencamera  (S.  274),  an  welcher  das  Auswechseln  der 


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tafelförmigen  empfindlichen  Celluloidfolien  auf  die  denkbar  einfachste  und 
sicherste  Weise  mittelst  Herausziehens  eines  vielfach  gefalteten,  schwarzen 
Papierstreifens  bewirkt  wird.  — Bei  dem  regen  Interesse,  welches  in  den  letzten 
Jahren  den  Versuchen  zur  Herstellung  farbiger  Bilder  entgegengebracht  wird, 
seien  die  einschlägigen  Abhandlungen  des  Jahrbuchs  besonders  hervorgohoben. 
Während  H.  W.  Vogel  (S.  285)  aufser  einigen  historischen  und  kritischen 
Bemerkungen  über  das  angeführte  Thema  nichts  Neues  bringt,  giebt  Jves 
(Philadelphia)  eine  wesentliche  Verbesserung  seiner  schon  vor  vier  Jahren 
publizirten  Methode  der  Aufnahme  farbiger  Biider  an  (S.  298).  Das  Wesent- 
liche daran  ist  die  Konstruktion  des  „Heliochromoskops“,  eines  Apparates, 
welcher  durch  besondere  Vorrichtungen  die  Vereinigung  dreier  durch  ver- 
schiedenfarbige Gläser  gleichzeitig  gemachten  Aufnahmen  desselben  Gegen- 
standes zu  einem  einzigen  in  den  natürlichen  Farben  erscheinenden  Bilde  be- 
wirkt. Nicht  mit  Unrecht  setzt  der  Autor  seinen  Apparat  mit  dem  Stereoskop 
in  Parallele  und  hofft,  denselben  besonders  für  technische  und  künstlerische 
Zwecke  in  nicht  zu  ferner  Zeit  anerkannt  zu  sehen.  Auf  demselben  Prinzip 
beruht  die  Erzeugung  vielfarbiger  Projektionsbilder  mittels  Photographie  ohne 
Farben  von  Vidal  (S.  302).  In  einer  kurzen  Notiz  (S.  321)  veröffentlicht  der 
Herausgeber  eine  briefliche  Mittheilung  von  Lippmann,  in  welcher  dieser 
einige  sein  bekanntes  Verfahren  zur  chromatischen  Aufnahme  des  Spektrums 
betreffende  Anweisungen  giebt.  Ein  gröfserer  Aufsatz  von  Zenker  (S.  114) 
verbreitet  sich  eingehend  über  die  Theorie  der  Entstehung  der  Lippmann- 
schen  Farbenaufnahmen:  der  Gang  der  Lichtstrahlen  hierbei  wird  einer  ge- 
nauen Diskussion  unterzogen.  — Eino  ganze  Reihe  von  Beiträgen  beschäftigt 
sich  mit  der  Theorie  und  Praxis  der  Astrophotographie.  Besonders  bemerkens- 
werth  ist  hier  eine  Abhandlung  von  Soret  (S.  247)  über  die  allgemeinen  Be- 
dingungen, unter  denen  sich  die  mittelst  optischer  Instrumente  erhaltenen 
virtuellen  Bilder  in  objektive,  also  photograp hirbare  verwandeln  lassen.  In 
sehr  übersichtlicher  Weise  wird  gezeigt,  in  wie  einfacher,  auf  den  gewöhn- 
lichen Grundsätzen  der  Optik  basirender  Weise  der  Astronom  und  Mikro- 
skopiker  seine  Instrumente  für  photographische  Aufnahmen  selbst  horriebten 
kann,  und  dafs  diese  Thatsacho  bisher  nur  infolge  von  Unkenntnifs  oder  Leicht- 
fertigkeit sicli  der  allgemeinen  Benutzung  entzogen  hat.  Die  Fortschritte  der 
Astrophotographie  im  Jahre  1892  bespricht  Spitaler  (S.  268).  Besonders  er- 
wähnenswerth  sind  die  Untersuchungen  Wolfs  (Heidelberg)  über  die  Anzahl 
von  Sternen,  die  bei  verschieden  langer  Belichtung  ein  Bild  geben.  Bei 
Expositionszeiten,  die  sich  verhalten  wie  1:3:13,  ergab  sich  das  Verhältnifs 
der  Anzahlen  etwa  wie  1:2:4.  Der  neue  Stern  im  Fuhrmann  war  für  die 
Photographie  ein  besonders  interessantes  Objekt  und  hat  daher  als  solches 
rege  Berücksichtigung  gefunden;  die  Entdeckung  mehrerer  Nebel  auf  photo- 
graphischem Wege  ist  ebenfalls  zu  erwähnen.  Die  zuerst  von  Weinek  1883 
angegebene  Methode  der  Planctenentdeckung  durch  die  Photographie  ist  durch 
Wolf  (Heidelberg)  in  umfassender  Weise  zur  Ausführung  gebracht  (s.  auch 
dessen  Arbeit  S.  310);  er  hat  hierbei  nicht  nur  viele  verloren  gegangene 
Planeten  wiedorgcfuuden , sondern  auch  nicht  wenige  neue  den  alten  Ver- 
zeichnissen hinzugefügt.  Selbst  Kometen  kann  mau  auf  diesem  Wege  finden, 
wie  die  Entdeckung  eines  solchen  durch  Baruard  beweist.  Der  Autor  selbst 
hat  auf  der  Wiener  Sternwarte  direkte  Vergröfserungeu  von  Mondgegenden 
am  Fernrohre  photographirt  und  schöne  Bilder  erhalten.  Weinek  in  Prag 
hat  die  schönen  Glasdiapositive  von  Mondaufnahnicn  der  Licksternwarte  unter 
starken  Vergröfserungen  studirt  und  hiernach  Detailzoichnungen  einzelner 
Partieeu  mittelst  Stift  und  Pinsel  mit  virtuoser  Technik  und  unerreichter  Treue 


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reproduzirt.  Bei  dieser  Arbeit  wurden  bisher  unbekannte  Krater  und  Rillen 
gefunden  und  merkwürdige  feine  Furchen  der  Mondoberfläche  entdeckt.  — 
Sehr  interessaute  und  besonders  für  den  Amateur  nützliche  und  willkommene 
Winke  giebt  Schmidt  (Karlsruhe)  in  seinen  Randbemerkungen  für  die  photo- 
graphische Praxis  (S.  192). 

In  der  den  Originalarbeiten  folgenden  Uebereicht  über  die  Fortschritte 
der  Photographie  in  den  Jahren  1891/92  finden  wir  vieles  Interessante  und 
Neue.  Was  Apparate  betrifft,  so  ist  zu  erwähnen,  dafs  infolge  der  Konkurrenz 
der  Celluloidplatten  die  Vorrichtungen  der  Rollkassetten  nach  Kräften  ver- 
vollkommnet sind  (S.  357  ff.).  Von  neuen  Platten  sind  Thomas'  „Sandoll- 
platten“  zu  nennen,  die  mit  mehreren  über  einander  liegenden,  verschieden 
empfindlichen  Bromsilbergelatineschichten  überzogen  sind.  Hierdurch  wird  die 
Bildung  von  Lichthöfen  durch  zu  stark  erleuchtete  Partien  des  Objekts  erfolg- 
reich vermieden,  überhaupt  die  schädliche  Wirkung  der  Ueberexposition  viel 
besser  korrigirt,  als  dies  hoi  einfachen  Platten  möglich  ist  (S.  378).  Eine  sehr 
eingehende  Uebersioht  über  die  Wirkung  und  Anwendung  der  modernen  Ent- 
wickler (S.  405)  dürfte  sehr  willkommen  sein;  dieselbe  ist  bis  auf  die  neuesten 
Errungenschaften  durchgeführt  Gleiche  Uebersichten  finden  sich  über  Photo- 
graphie in  natürlichen  Farben  (S.  426),  über  Diapositive  (S.  439),  über  Kopir- 
verfahren  (S.  451),  über  Ton-  und  Tonfixirbäder  (S.  454)  und  diverse  Verviel- 
faltigungsverfahren.  — Eine  ganze  Reihe  von  Kunst beilagen  schliefst  das 
Jahrbuch  und  trägt,  neben  dem  gediegenen  Inhalt  desselben,  dazu  bei,  es  als 
die  empfehlensw'ertheste  Anschaffung  für  den  Fachmann  wrio  den  Amateur 
erscheinen  zu  lassen.  Dr.  L. 

Die  Quadratur  des  Kreises.  Von  Dr.  Andr.  Ozegow'ski.  Ostrowo  1893. 
14  S.  8«  und  1 Tafel. 

Die  Quadratur  des  Kreises  ist  entdeckt  die  mathematische  Wissenschaft 
mufs  von  Grund  auf  reformirt  werden,  so  schwer  es  ihr  auch  werden  mag,  die 
Wahrheit  gegen  lange  verfochtene  Irrthtimer  einzutauschon ! Leider  hat  der 
Verfasser  — einer  von  den  vielen  Weltverbesserern  und  -Beglückern  — sein 
Opus  unter  den  Nachdruckparagraphen  gestellt,  sonst  w’ürden  wir  unseren 
Lesern  die  neu  gefundenen  Wahrheiten  nicht  vorzuenthalten  brauchen.  Unter 
diesen  Umständen  müssen  wir  uns  aber  mit  der  Anführung  begnügen,  dafs  der 
Autor  nur  mit  grofsem  Widerstreben  „seine  Arbeit,  die  bei  Gott  nicht  leicht 
w’ar“,  den  Gelehrten  zur  Prüfung  vorlegt,  aber  in  demselben  Athemzuge  ver- 
sichert, dafs  das  Urtheil  des  Lesers  lauten  werde:  „Die  Sache  ist  ja  kinder- 
leicht!“ Jedenfalls  ist  durch  vorliegende  Arbeit  — wenn  auch  nur  nach  An- 
sicht ihres  Urhebers  — die  Irrationalzahl  r ein  für  alle  Mal  aus  der  Welt  ge- 
schafft und  kann  nach  Belieben  durch  die  Zahlen  3 und  5P/i  ersetzt  werden. 
Sapienti  sat!  G.  W. 

Untersuchungen  über  die  Bahn  des  O Iberischen  Kometen.  Von  F.  K.  Ginzel. 

I.  Theil.  Discussion  der  Erscheinung  des  Kometen  im  Jahre  18S7/88 
und  Störungen  zwischen  den  Periheldurehgängen  1815  und  1987.  — 
Berlin  1893.  Ford.  Dümmler’s  Verlagsbuchhandlung. 

Eine  frühere  Arbeit  des  Verfassers,  welche  die  erste  Erscheinung  des 
periodischen  Olbersschen  Kometen  im  Jahre  1815  diskutirte,  wurde  s.  Z.  von 
der  Holländischen  Akademie  der  Wissenschaften  preisgekrönt;  die  vorliegende 
umfassende  Untersuchung  erstreckt  sich  auf  die  Wiedererscheinung  im  Jahre  1887 
und  behandelt  auf  das  eingehendste  das  hierüber  vorliegende  Beobachtungs- 
raaterial.  Die  ungemein  mühsame  und  langwierige  Arbeit  ist  leider  in  der 
vorliegenden  Publikation  insofern  nicht  zu  ihrem  vollen  Recht  gekommen,  als 


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nur  das,  was  zum  Verständnifs  und  zur  Beurtheilung  der  gewählten  Unter- 
suchungsmethode unerläfßlich  schien,  im  Druck  mitgetheilt  ist.  Sicherlich 
wird  man  aber  auch  in  dieser  Form  allseitig  mit  Interesse  der  weiteren  Ver- 
öffentlichung der  zum  Abschluß  gebrachten  Rechnungen  seitens  des  Verfassers 
entgegensehen.  G.  W. 

t 

Verzeichnif*  der  vom  1.  Februar  1803  bis  1.  August  1893 
der  Redaktion  zur  Besprechung  eingesandten  Bücher. 

Augenleuchten,  das,  und  die  Erfindung  des  Augenspiegels.  Dargestellt  in 
Abhandlungen  von  E.  von  Brücke,  W.  Cumming,  H.  von  Helmhoitz  und 
G.  C.  Rueto.  Mit  12  Abbildungen  im  Text.  Hamburg,  L.  Voss,  1893. 
Balbis  Allgemeine  Erdbeschreibung.  Lieferung  19- -30.  Vollkommen  neu 
bearbeitet  von  Dr.  F.  Heiderich.  Wien,  A.  Hartleben,  1893. 

Bebber,  W.  J.  van,  Katechismus  der  Meteorologie.  3.  Auflage.  Mit  63  in  den 
Text  gedruckten  Abbildungen.  Leipzig,  J.  J.  Weber,  1893. 

Brewer,  C.  E.,  Katechismus  der  Naturlehre  oder  Erklärung  der  wichtigsten 
physikalischen,  meteorologischen  und  chemischen  Erscheinungen  des 
täglichon  Lebens.  4.  Auflage.  Mit  53  in  den  Text  gedruckten  Figuren- 
abbildungen. Leipzig,  J.  J.  Weber,  1893. 

Das  akademische  Berlin,  Sommerhalbjahr  1893.  Mayer  & Müller,  Berlin,  1893. 
Dun6r,  N.  C.,  Sur  les  ('•loments  de  l’6toile  variable  Y Cygni.  Stockholm,  1893. 
Eder,  J.  M.,  Jahrbuch  für  Photographie  und  Reproduktionstechnik  für  das 
Jahr  1893.  7.  Jahrgang  mit  145  Holzschnitten  und  Zinkotypien  im  Texte 
und  34  artistischen  Tafeln.  Halle  a.  S.,  W.  Knapp,  1893. 

Ern  ecke,  F.,  Preisliste  No.  11  über  physikalische  Apparate.  Berlin,  1893. 
Faulmann,  K.,  Im  Reiche  des  Geistes,  lllustrirto  Geschichte  der  Wissen- 
schaften. Mit  13  Tafeln,  30  Beilagen  und  200  Textabbildungen.  1.  Lieferung. 
Wien,  A.  Hartleben,  1893. 

Feichtinger,  A.  v.,  Praktische  Tabellen  für  Touristen,  um  die  Seehöhen 
mittelst  Barometer  an  Ort  und  Stelle  ohne  Berechnung  zu  bestimmen. 
Fiume,  C.  Spiess,  1893. 

Folie,  F.,  Annuaire  de  l’observatoire  royal  de  Belgique,  1893.  Bruxelles, 
F.  Hayez,  1893. 

Hartlebens  statistische  Tabelle,  I.  Jahrgang.  Wien,  A.  Hartleben,  1893. 
Hammer,  E.,  Zeitbestimmung  (Uhr-Kontrole)  ohne  Instrumente  durch  Be- 
nutzung der  Ergebnisse  einer  Landesvermessung.  Mit  Tafeln  der  Sonnen- 
Deklination  und  der  Zoitgleichung  für  1893 — 1896  und  einer  Figur. 
Stuttgart,  J.  B.  Metzler,  1893. 

Hellmann,  G.,  Neudrucke  von  Schriften  und  Karten  über  Meteorologie  und 
Erdmagnetismus.  No.  1 : L.  Reynmann,  Wettorbüchlein  von  wahrer  Er- 
kenntnis des  Wottors,  1510.  No.  2:  Blaise  Pascal,  Rdcit  de  la  Grande 
Exp£rience  de  rEquilibre  des  Liqueurs,  Paris,  1648.  Facsimiledruck  mit 
einer  Einleitung.  Berlin,  A.  Asher  & Co.,  1893. 

Hildebrand  Hildobrandsson,  Bulletin  mensuel  de  fobBOrvatoire  m6t6oro- 
logique  de  TUniversite  d’Upsal.  Vol.  XXIV,  Anm'e  1892.  Upsala,  E. 
Bering,  1892—93. 

Hoernes,  R.,  Erdbebonkundo.  Mit  zahlreichen  Abbildungen  und  Karten  im 
Text,  nebst  zwei  Tafeln.  Leipzig,  Veit  & Co.,  1893. 

Josse,  O.,  Die  mitteleuropäische  Zeit.  Mit  einer  Karte  des  Doutschcn  Reiches. 
Berlin,  D.  Reimer.  1893. 


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Keeler,  J.  E.,  Visual  Observations  of  the  Spectrum  of  ß Lyrae.  Note  of  the 
Spectrum  of  P.  Cygni.  Reprint  from  Astronomy  and  Astrophysics. 

Klein,  H.  J.,  Katechismus  der  Astronomie.  Belehrungen  über  den  gestirnten 
Himmel,  die  Erde  und  den  Kalender.  Achte  Auilage.  Mit  einer  Stern- 
karte und  163  Abbildungen.  Leipzig,  J.  J.  Weber,  1893. 

Lancaster.  A.,  Le  climat  de  la  ßelgique  en  1892.  Brüssel,  E.  Hayez,  1893. 

Linsenbarth,  H-,  Astronomische  Neuigkeiten.  Berlin,  R.  Lesser,  1893. 

Marth,  A.,  Galactic  Longitudes  and  Latitudes  of  the  brighter  Stars  in  a Zone 
of  the  Heavens  containing  the  milky  Way. 

Marth,  A.,  Ephemeridis  of  the  five  inner  Satellitps  of  Saturn,  1893. 

Mayer,  R.,  Die  Mechanik  der  Wanne  in  gesammelten  Schriften.  Stuttgart, 
J.  G.  CottAs  Nachfolger,  1893. 

Mayer,  R.,  Kleinere  Schriften  und  Briefe  nebst  Mittheilungen  aus  seinem 
Leben.  Herausgegeben  von  Dr.  J.  J.  Weyrauch.  Mit  zwei  Abbildungen. 
Stuttgart,  J.  G.  Cottas  Nachfolger,  1S93. 

Mee,  A.,  Observational  Astronomy.  Cardiff,  D.  Owen  & Co.,  1893. 

Meyers  Konversationslexicon.  Fünfte,  gänzlich  neu  bearbeitete  Auflage.  Mit 
ungefähr  10000  Abbildungen  im  Text  und  ca.  950  Bildertafeln,  Karten 
und  Plänen.  Band  1 : A bis  Aslang.  Leipzig  und  Wien,  Bibliographisches 
Institut,  1893. 

Ozegowski,  A.,  Die  Quadratur  des  Kreises.  Ostrowo,  G.  Fiedler,  1893. 

Pizzighelli,  G.,  Anleitung  zur  Photographie  für  Anfänger.  5.  Auflage. 
Halle  a.  S.,  W.  Knapp,  1893. 

Precht,  J.,  Absolute  Messungen  über  das  Ausströmen  der  Elektrizität  aus 
Spitzen.  Leipzig,  J.  A.  Barth,  1893. 

Ricco,  A.,  Lavori  Esequiti  Xel  R.  Osservatorio  dell’Universita  di  Catania. 
Genua,  1893. 

Rizzo,  G.  B.,  II  Climat  di  Torino.  Turin,  C.  Clausen,  1893. 

Sehaeberle,  J.  M.,  Terrestrial  Atmospheric  Absorption  of  the  Photographie 
Rays  of  Light.  Sacramento,  1893. 

Sec c hi,  Die  Einheit  der  Naturkräfte.  Uebersetzt  von  R.  Schulze.  Braun- 
schweig, O.  Salle,  1891.  2.  Auflage. 

Stolze,  F.,  Photographische  Bibliothek.  Band  I:  Dio  photographischen  Orts- 
bestimmungen ohne  Chronometer  und  die  Verbindung  der  dadurch  be- 
stimmten Punkte  unter  einander.  Berlin,  Mayer  & Müller,  1893. 

Stolze,  F.,  Band  II:  E.  J.  Marey,  Die  Chromophotographie.  Uebersetzt  von 
A.  von  Hevdebreck.  Berlin,  Mayer  & Müller,  1893. 

Vogel,  H.  W.,  Das  photographische  Pigment-Verfahren  und  seine  Anwendungen 
in  der  Htdiographie  und  Photogravüre.  3.  veränderte  und  vermehrte 
Auflage.  Berlin,  R.  Oppenheim,  1892. 

Walter,  J.,  Allgemeine  Meereskunde.  Mit  72  in  den  Text  gedruckten  Ab- 
bildungen und  einer  Karte.  Leipzig,  J.  J.  Weber,  1893. 

Wernicke,  Beiträge  zur  Theorie  der  centro-dynamischen  Körper.  Braun- 
schweig, J.  H.  Meyer,  1892. 

Wild  ermann,  M.,  Jahrbuch  der  Naturwissenschaften  1892—93.  Achter  Jahr- 
gang. Mit  31  in  den  Text  gedruckten  Holzschnitten  und  einem  Kärtchen. 
Freiburg  i.  Breisgau,  Herdersche  Verlagsbuchhandlung,  1893. 

Ziemssen,  O.,  Makrokosmos.  Grundideen  zur  Schöpfungsgeschichte  und  zu 
einer  harmonischen  Weltanschauung  Gotha,  E.  F.  Thieneraann,  1893. 


Verlag  von  Hermann  Paetel  ln  Berlin.  — Druck  von  Wilhelm  Gronau'»  Buchdruekerei  in  Berlin. 
Für  die  Kedaction  verantwortlich:  Dr.  M.  Wilhelm  Meyer  in  Berlin. 

L'u  berechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Uebersetxungsrecht  Vorbehalten. 


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