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Full text of "Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch theoretisch"

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Chor  I. 


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Er      s;e-bot  es  der  Meerflul, 

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und  sie  trockne- te  aus. 


II 


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Er      ge-bot  es  der  Meerflut, 


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2* 


und  sie  trockne -te  aus. 


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I 


Die  Lehre  von  der  musikalischen 
Komposition,  praktisch ... 

Adolf  Bernhard  Marx,  Hugo  Riemann 

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Marx 
positionslehre. 

Dritter  Theil. 


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Marx 

positionslehre. 

Dritter  Theil. 


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Die  Lehre 


von  der 

musikalischen  Komposition, 

praktisch  theoretisch 


von 


Adolf  Bernhard  Marx. 


Fünfte,  unveränderte  Auflage. 


Leipzig, 

Druck  und  Verlag  von  Breitkopf  und  Härtel. 

1879. 

Ent«L-  Stat.  Hall.  London. 


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Die  Herausgabe  einer  UeberseUung  die. -.es  Buches  in  englischer,  französischer  uud  in  anderen 

modernen  Sprachen  wird  vorbehalten. 


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Vorrede 

zur  dritten  und  vierten  Auflage. 


chon  bei  den  ersten  Ausgaben  dieses  dritten  Theils, 
der  in  die  hohem  Aufgaben  wirklicher  Komposition  einführt, 
Iiess  sich  die  Bemerkung  nicht  zurückweisen,  dass  sein  Er- 
scheinen in  einen  Zeitpunkt  fallt,  der  schwächere  Karaktere 
und  Geister  an  der  Bedeutung  und  Wirkenskrafl  dieser  wie 
jeder  ernsthaft  gemeinten  Kunstlehre  zweifelhaft  machen 
könnte. 

Bedarf  man  denn  zu  Hervorbringungen,  wie  sie  heut  zu 
Tage  so  oft  —  was  man  nennt,  Glück  machen,  wirklich  einer 
durchdringenden  Kunstbildung?  Grünen  und  blühn  diese 
Wiesenplane  voll  zarter  Lieder  mit  und  ohne  Worte  nicht 
ohne  weiteres  Zuthun.  wo  die  ganze  Atmosphäre  geschwän- 
gert ist  vom  Musikdunstelement,  an  dem  wir  uns  alle  vollge- 
sogen und  das,  sobald  es  dem  Kunstjüngling  nur  behagt,  kry- 
stallisch  immer  wieder  zusammenschliesst  zu  diesen  Weisen, 
die  uns  oft  genug  schon  träumerisch  behagt  haben,  um  uns 
nochmals  und  vielleicht  immer  wieder  träumerisch  zu  beha- 
gen? Oder  werden  sich  diese  Heuschreckenschwärme  schwir- 
render, zirpender,  rasselnder,  grandios  tobender  Etüden 


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VI 


Vorrede 


nicht  aus  sich  selber  forterzeugen  ohne  weiteres  Zuthun,  so 
lange  sich  unsre  Pianohelden  in  zwölfstündigem  Tagewerk 
ihrer  Finger  Sinn  und  Gedächtniss  ganz  und  einzig  mit  die- 
sem Arpeggiendunst  und  diesen  chromatischen  Quirl ungen 
und  Quälungen,  und  was  sonst  noch  da  fleucht  und  kreucht, 
ausfüllen?  Sollte  nicht,  —  wenn  wir  nur  wagen,  —  selbst 
ein  symphonischer  Bau  gelingen,  sobald  wir  nur  dem  mo- 
dernen Orchester  erst  das  Geheimniss  seiner  Lavageschiebe 
von  Tonmassen  über  Toninassen  abgelauscht  haben?  Von 
da  zu  irgend  einer  mittelalterlichen  Oper  (sie  könnte  zugleich 
wahre  Zukunfts-Oper  sein,  wo  der  Wolf  Fenris  den  Mond 
auffrisst)  wie  weit  ist's?  —  Zu  dem  Allen  bedarf  es  wirklich 
keiner  weiten  Zurüstungen  und  Studien;  das  kommt  dem 
Glückskind',  es  weiss  nicht  wie  und  woher,  das  sieht  man 
ab,  —  und  da  ist's. 

In  der  That  eine  wunderliche  Zeit,  unsre,  wie  sie  es 
nennen,  industrielle!  vielleicht  heilsam,  um  verträumte 
Völker  zur  Realität  —  gleichviel  einstweilen,  welcher  —  zu 
bringen.  Dem  diesen  Interessen  und  Täuschungen  dahinge- 
gebneo  Sinne  mag  wohl  die  Kunst  nichts  mehr  sein  können 
als  der  Lustigmacher,  der  Narr  des  Mittelalters,  oder  der 
Märchenerzähler,  der  aufgeschürzt  zum  Weitervvandern  vor 
den  träg  schlürfenden  Orientalen  tritt.  Aber  diese  Märchen, 
—  sie  sind  Stimmen  und  Zeugen  aus  jenem  überall  fernen 
und  überall  so  nahen,  in  unserm  Herzen,  im  Heiligthum 
unsers  Geistes  sonnig  blühenden  Reiche,  das  unvergänglich 
gegründet  ward  im  selbigen  Augenblick,  da  dem  Menschen 
sein  Antlitz  aufgerichtet  wurde,  die  Himmel  zu  schaun  und 
ringsumher  die  Erde  zu  beherrschen  und  zu  verwalten  für 
höhere  Zwecke  des  Geistes.  Wem  nun  das  Antlitz  aufge- 


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Vorrede. 


VII 


richtet  ist  gen  Himmel,  wem  die  Gevvissheit  —  nur  die  Ah- 
nung jener  höhern  Bestimmung  invvohnt,  dem  kann  an 
wohlfeilen  am  Boden  kriechenden  Interessen  und  Erfolgen 
nicht  geniigen,  der  ringt  unverdrossen  freudig  dem  hohen 
Ziel  entgegen,  der  mag  nicht  gebückt  umhersuchen  nach 
den  Brosamen  unter  den  Tafeln  der  Reichen  und  sich  mit 
ihrem  Abgelegten  herausputzen.  Der  will  aus  dem  Vollen 
und  aus  Herzensgrund  in  behaglicher  Freiheit  und  Selbst- 
heit  schaffen  und  wirken  und  leben.  Dem  ist  Bildung  Be- 
dürfniss,  aber  sie  ist  ihm  auch  Freude,  schon  an  sich  sel- 
ber Belohnung;  denn  sie  vollendet  den  Inhalt  seines  Geists 
und  Daseins.  Ihm,  der  sein  ganzes  Leben  der  Kunst  ge- 
weiht, ist  umgekehrt  die  Kunst  in  all  ihrem  Vermögen,  in 
der  ganzen  weiten  Fülle  und  Herrlichkeit  ihres  Waltens  der 
nothwendige  und  nicht  zu  verkümmernde  Wirkenskreis 
seines  Lebens.  Der  Sinn,  in  dem  er  sich  der  Kunst  eignet 
und  wiederum  sie  zu  seinem  Organ  macht:  das  ist  der  Sinn, 
die  Bedeutung,  die  Ehre  seines  Lebens  selber.  Ich  kann  als 
Künstler  nicht  mehr  sein,  denn  ich  als  Mann  bin ;  und  der 
rechte  ganze  Mann  will  als  Künstler  nicht  weniger  sein, 
—  er  würd'  es  nicht  einmal  wollen  können,  da  in  Einem 
Menschen  nicht  zweierlei  Wesen  wohnt.  Auch  für  den 
Künstler  ist  nicht  Bildung  das  Erste,  sondern  die  Gesin- 
nung ist  es,  der  Sinn  ist  es,  in  dem  er  seine  Bestimmung, 
seines  Daseins  Zweck  fasst  und  festhält.  Daher  ist  auch 
Kunstbildung  nicht  äusserliche  Anlernung;  sie  ist  inner- 
liche Vollendung,  Herausleben  des  Geists  und  der  Gesin- 
nung. 

Wie  diese  Bildung  von  Grund  aus  beschaffen  und  zu 
erlangen,  wie  Zeit  und  Volk  und  Künstler,  wie  Leben  und 


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VIII 


Vorrede. 


Kunst,  Künstlerbildung  und  Volksbildung  ineinandergreifen, 
wie  die  Kunst  geworden  und  der  Künstler  sich  zu  vollenden 
vermöge:  darüber  zu  reden,  würde  hier  —  so  wichtig  und 
der  höhern  Kunstlehre  zugehörig  die  Fragen  sind  —  der 
Raum  fehlen.  Was  ich  darüber  zu  bemerken  gehabt,  ist  in 
der  Methodik  („Die  Musik  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts und  ihre  Pflege")  niedergelegt. 
Berlin,  am  1.  Juli  1857. 

A.  B.  Marx. 


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Dritter  Theil. 
Die  angewandte  Kompositionslehre. 

Seite 


Einleitung   3 

1.  Aufgabe  des  dritten  und  vierten  Theils. 

2.  Neue  Gegenstände  der  Lehre   4 

3.  Rückwirkung  auf  die  vorangehende  Lehre   5 

4.  Vorbildung  zu  der  Lehre   7 

5.  Begrenzung  der  Lehre. 

6.  Fernere  Vorbedingungen   9 

7.  Uebcrsicht  des  ganzen  Gebiets  10 

1.  Der  Rhythmus. 
II.  Das  Zeitmaass. 

III.  Das  Tonwesen. 

IV.  Die  Schallkraft  11 

V.  Die  Natur  und  Behandlung  der  Instrumente  12 

VI.  Der  Gesang. 

8.  Eintheilung  des  neuen  Stoffes. 

ü.  Lehrordnung  13 

Sechstes  Buch. 

Die  Komposition  für  selbständige  Instrumente   15 

Einleitung   17 

Erste  Abtheiluug.  Die  Klavierkomposition  in  den  einfachen  Formen. 
Erster  Abschnitt.   Natur  und  Technik  des  Instrumentes. 

Hierzu  der  Anhang  1   553 

Zweiter  Abschnitt.   Die  Etüde   26 

Dritter  Abschnitt.   Die  höhern  Formen  der  Etüde   36 

Vierter  Abschnitt.   Die  Klavierfuge   43 


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Seite 

Fünfter  Absch  n  itt.   Die  Variation  53 

A.  Das  Thema  5  4 

B.  Die  Mittel  und  Formen  57 

G.  Die  Kunstform  seihst  59 

Sechster  Abschnitt.    Die  Formal- Variation. 

1.  Darstellungen  des  Thcma's  6-2 

2.  Die  harmonische  Begleitung  69 

3.  Die  figurale  Begleitung  73 

Hierzu  der  Anhang  B  563 

Siebenter  Anschnitt.  Die  Karakter- Variation   .  .  .  75 

1.  Debertragupg  in  angewandte  Liedform. 

2.  Uebertragung  in  grössere  Form  77 

3.  Umwandlung  in  polyphone  Kunstformen  78 

Achter  Abschnitt.    Die  Kunstform  der  Variation  88 

Betrachtungen  91 

Hierzu  der  Anhang  C  370 


Zweite  Abtheiluug.   Die  kleinen  Rondoformen   94 

Krater  Abschnitt.    Die  erste  Rondoform   9£ 

Hierzu  der  Anhang  1)  372 

Zweiter  Abschnitt.  Die  zweite  Rondofonn  10* 

Dritter  Abschnitt»  Erleichterungen  dieser  Form  <U 

Vierter  Abschnitt.  Genauere  Betrachtung  der  einzelnen  Theile  .  .  125 

1.  Der  Hauptsatz  136 

3.  Der  Seitensatz  H9 

3.  Der  Gang  131 

4.  Der  Uebergang  134 

3.  Der  Orgelpunkt  133 

Hierzu  der  Anhang  E  578 

Zusatz  *  136 

Hierzu  der  Anbang  F  580 


Dritte  Abtheiluiig.  Die  grösseren  Rondoformen  138 


Erster  Abschnitt.  Die  dritte  Rondoform  im  langsamem  Zeitmaassc 

Zweiter  Abschnitt.    Weiterer  Nachweis  dieser  Form  US 

Hierzu  der  Anhang  G  587 

Dritter  Abschnitt.  Unterschied  des  langsamem  und  bewegtem  Zeit- 

Vierter  Abschnitt.  Die  dritte  Rondoform  im  bewegtem  Zeitmaassc  160 

Hierzu  der  Anhang  H   390 

Fün  fter  Abschnitt.  Die  vierte  Rondoform   175 

Sech  stc  r  Abschn  itt.    Die  fünfte  Rondofonn.   .   .   186 

A.  Der  Schlusssatz   187 

B.  Die  Anordnung  des  Ganzen   190 

Schlussbcmcrkung  199 


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Inhaltsanzeige.  XI 

Vierte  Abt-heiluHg.  Die  Sonatenform   201 

F.  rster  A  hsch  ni  tt.  Di«  Snnatinenfnrm   303 

Zweite  r  A  h  s  c .  h  n  i  I  t .  Nflhejfi  Nachweise  nher  die  Sonatinenfnrm .  ftlÜ 

Dritter  Anschnitt.   Die  Sonatenfonn  •.  .  320 

Vierter  Abschnitt.    Dar  zweite  Theil  der  Snnatenfnrm  

A.  Sofortige  Rückkehr  zum  Hauptsatze   226 

Fünfter  Abschnitt.   Zweite  Art  der  Anknüpfung  und  Bildung  des 

zweiten  Theils   234 

B.  Anknüpfung  mittels  eines  fremden  Zwischensatzes   332 


Sechster  Abschn  it  t.  Die  ferneren  Anknüpfungen  des  zwcitcnTheils  238 

C.  Anknüpfung  mittels  eines  auf  den  Hauptsatz  zurückweisenden 

Schlusses. 

D.  Einführung  des  zweiten  Theils  mittels  des  selbständigen  Schluss- 


satzes  tAJ 

E.  Die  gangartige  Einführung  243 

Siebenter  Abschnitt.  Nachtrage  über  die  Ausarbeitung  des  zwei- 
ten Theils  244 

Achter  Abschnitt.   Der  dritte  Theil  der  Sonatenform  248 

Hierzu  der  Anhang  I  593 

Neunter  Abschnitt.  Die  Sonatenform  in  langsamer  Bewegung  .  251 

Fünfte  Abtheiluug-.   Nähere  Erörterung  der  Sonatenform  255 

Erster  Abschnitt.  Der  Hauptsatz.  . 

A.  Die  Satzform  *   25  6 

B.  Die  Periode   258 

C.  Die  Periode  mit  aufgelöstem  Nachsatz   259 

D.  Die  erweiterte  Periode  .  .   2fi1 

K.  Die  Saigkette   268 

Zweiter  Abschnitt.   Der  Fortgang  zum  Seitensatze  267 

A.  Fortführung  *des  letzten  Gliedes  vom  Hauptsatze  268 

B.  Rückkehr  auf  den  frühern  Gedanken  270 

C.  Fortschreitung  zum  Scitcnsatz  durch  neue  Motive  277 

D.  Modulation  des  Fortgangs  zum  Seitensatze  280 

Dritter  Abschnitt.   Der  fernere  Verlauf  des  ersten  Theils    .  .  .  281 

A.  Satzform   282 

Hierzu  der  Anhang  K   598 

tt.  Perindenfnrm   2S7 

C.  Zweitheilige  Liedform  des  Seitensatzes   288 

D.  Satzkette  als  Form  der  Seitenpartie   289 

Vierter  A  hsc.hni  tt.  Der  /weite  und  dritte  Theil    292 

A.  Der  zweite  Theil. 

4.  Inhalt  des  zweiten  Theils.  ,  .  .  ,  ,  ,   ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  ,  .  293 

Hierzu  der  Anhang  L   .  .  ..  600 

2.  Die  Modulation  297 

P  Der  dritte  Theil. 


Inhaltsanzeige. 

Seite 

Sechste  Abthoiluug.  Mischfonnen  und  verbundne  Formen   30  4 

Erster  Abschnitt.   Die  Einleitung. 

Zweiter  Abschnitt.  Das  sonatenartige  Rondo   307 

Dritter  Abschnitt.  Die  figurale  und  fugenartige  Sonatenform.  .  813 

Hierzu  der  Anhang  M   603 

VierterAbschnitt.  Zusam  menstel  lung  versch  iedener  Sätze  zu  einem 

grössern  Ganzen   819 

Fünfter  Abschnitt.   Die  Sonate  in  drei  Sätzen  ........  880 

S  ochste  r  A  h  sc  h  n  i  1 1     Die  Sonate  mit,  mehr  Sätzen  •   •  3  29 

1.  Menuett   380 

2.  Einleitung   332 

Siebenter  Abschnitt.  Die  ungewöhnlichen  Gestaltungen  der  So» 

natP.   338 

Achter  Ahsen  nitt.    Die  Fantasin   385 

Hierzu  der  Anhang  N   MO 


Siebentes  Buch. 

Die  Elementar-  und  reine  Vokalkomposition   341 

1.  Vorbemerkung   343 

II.  Allgemeine  Uebersicht   345 


Erste  Ahtheilung.  Vorstudien   346 

Erster  Abschnitt.  Das  Organ  des  Gesangs  und  seine  künstleri- 
schen Gesetze  im  Allgemeinen   347 

4.  Die  Rhythmik  des  Gesanges   349 

2.  Ton  folge   350 

Zweiter  Abschnitt.   Das  Stimmorgan   353 

4.  Der  Athem. 

1.  Di«  Stimme.  ! 

3.  Das  Stimmgebiet   354 

4.  Die  Stimmregister   356 

5.  Din  Stirn  mklassftn   357 

Dritter  Abschnitt.  Die  Sprache  nach  ihrer  musikalischen  Natur  362 
4.  Die  Laute. 

2.  Der  Rhythmus   304 

8.  ftar  Tonfall   366 

Vierter  Abschnitt.  Der  Inhalt  des  Gesangtextes   868 

Fünfter  Abschnitt.   Ausdrucksweise  des  Textes  im  Allgemeinen.  374 

Sechster  Abschnitt.  Die  äussere  Form  des  Textes   377 

A.  Die  ungebundene  Rede. 

Bi  Der  Vers   378 

Deberleitung   382 

Zweite  Abtheilnng.  Das  Rezitativ   386 

Erster  Abschnitt.   Allgemeiner  Anblick  der  Form. 

Zwftitpr  A  hart  h  nitt.  Das  einfache  Rezitativ   392 


Inhaltsanzeige.  Xl\] 

Seile 

4.  Textwahl  und  Textstudium  afta 

2.  Wahl  der  Stimme  und  Tonnrt  aoi 

3.  Entwurf  der  Komposition. 

Hierzu  der  Anhang  0  642 

Dritter  Abschnitt.  Höhere  Beispiele  399 

Vierter  Abschnitt.  Das  begleitete  Rezitativ  und  das  Arioso  .  .44  0 

4.  Fortklingende  Begleitung. 

2.  Figurirte  Begleitung  412 

3.  Taktrnässiges  Rezitativ  414 

4.  Die  Begleitung  als  Zwischensatz  415 

5.  Das  Arioso  44  6 

Hierzu  der  Anhang  P  645 

Anhang  419 


Dritte  Abtheilung-.  Die  Liedform   4  21 

Erster  Abschnitt.  Der  Liedtext   4  23 

A.  Der  Inhalt  desselben. 

B.  Die  Form  des  Liedtextes   4  27 

Zweiter  Abschnitt.  Liedkomposition   429 

Dritter  Abschnitt.  Das  durchkomponirte  Lied   484 

Hierzu  der  Anhang  Q   622 

Vierter  Anschnitt.  Das  Chnrlied  und  das  Lind  für  mehrere  Solo- 
stimmen      4:?  9 

Vierte  Abtheilnng.  Die  Begründung  der  Chorkomposition  4  42 

Krster  Ahse, hnitt.  Chor  und  Chortnxt. 

1.  Allgemeinheit  des  Textinhalts  443 

2.  Einfachheit,  Kürze,  Bedeutsamkeit  444 

3.  Die  Sphäre  seines  Inhalts  naher  bezeichnet. 

4.  Unmittelbare  Bestimmung  für  den  Chor  44  6 

5.  Erhebung  der  Einzelrede  zum  Chor  447 

Zweiter  Abschnitt.  Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im 

Allgemeinen  450 

A.  Stimmwnhl. 

B.  Stimmverwendung  452 

C.  Chorkräfte  464 

.    4.  Das  Ausschallen.  _. 

i.  Das  Singen. 

3.  Das  Sprechen  463 


Fünfte  Abtheilnng«  Die  Formen  der  Chorkomposition  465 

Erster  Abschnitt.  Die  Choralfiguration. 

Zweiter  Abschnitt.  Der  Text  zu  einer  einfachen  Fuge  478 

4.  Inhalt  und  Form  des  Textes  für  ein  Fugenthema  479 

2.  Ausdehnung  des  Textes  für  ein  Fugenthema  481 

Dritter  Abschnitt.  Der  Grundhegriff  der  einfachen  Singfuge  .  .  4S5 
A.  Die  redende  Singfuge  486 

Vierter  Abschnitt.  Die  Komposition  der  einfachen  Singfoge   .  .  494 


XIV 


Inhaltsanzeige. 


Seile 

B.  Die  singende  Fuge  498 

Fünfter  Abschnitt.   Die  andern  Gestalten  der  Singfuge   ....  501 
1.  Die  Poppt?!-  und  Tripel  fuge. 

i.  Der  Choral  mit  Fuge  508 

3.  Der  fugirte  Choral. 

4.  Die  Fuge  mit  fremdem  Zusatz 

Sechster  Abschnitt.    Die  freien  Figuralformen  505 

Siebenter  Abschnitt.   DJc  Motette  510 

Sechste  Abtheilung.  Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor  518 

Erster  Abschnitt.  Die  Veranlassung  zum  Doppelchor  319 

Zweiter  Absen n itt.   Der  doppelchör ige  Salz.  527 

1.  Ablösung  einer  Masse  von  Stimmen  durch  die  andre  528 

2.  Gleichzeitige  Gegeneinanderstellung  beider  Chöre  532 

3.  Auflösung  beider  Chöre  in  ihre  Stimmen  534 

4.  Energische  Gegenstellung  von  Masse  und  einzelnen  Stimmen   .  535 

Dritter  Abschnitt.   Die  Formen  des  Doppelchors  538 

Vierter  Abschnitt.   Der  drei-  und  vierfache  Chor  540 

Fünfter  Abschnitt.  Die  Verbindung  von  Chor  und  Solo.  .  .  .  548 

Anhang»  Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile  554 

Notenbeilagen  624 

Sachregister  630 


EINLEITUNG 


1.  Aufgabe  des  dritten  und  vierten  Theils. 

Die  ersten  Theile  der  Kompositionslehre  haben  die  Bestimmung 
gehabt,  in  künstlerischem  Sinn  und  Trachten  in  die  Thätigkeit  des 
Komponisten  einzuführen  und  sich  dem  Mitarbeitenden  in  jeder 
der  künstlerischen  Aufgaben  erweckend ,  erhebend ,  erfreulich  zu  be- 
weisen. Wie  hoch  man  aber  auch  die  bisherige  Bethätigung  an- 
schlage ,  wie  unverkennbar  sie  künstlerischer  Natur  gewesen :  wir 
haben  uns  niemals  (Th.  I,  Sf.  5)  *  bergen  können,  dass  unserm 
Streben  eine  höchst  wichtige  Seite  des  Kunstwesens  ganz  fremd 
bleibe;  und  zwar  eine  solche,  ohne  die  ein  Kunstwerk  gar  nicht 
wahres  und  volles  Leben  bat.  Das  wirkliche  Dasein  der  Musik 
und  jedes  Musikwerks  lebt  im  Erklingen,  ist  also  an  die  Werk- 
zeuge des  Erklingens,  an  die  Musikorgane**  gewiesen.  Eine 
Melodie,  ein  Tonsatz,  der  in  dieser  Hinsicht  unbestimmt  geblieben, 
nicht  für  bestimmte  Organe  (Instrumente,  Singstimmen)  erfunden 
und  geeignet,  ist  nur  abstrakter  Gedanke ,  nicht  lebensfähiges  und 
lebendiges  Kunstgebilde.  Daher  fanden  wir  schon  bei  den  bisheri- 
gen Unternehmungen  Anlass,  uns  an  Vorstellungen  von  bestimmleu 
Organen  (Th.  I,  S.  74,  340)  zu  erfrischen  und  aus  dem  abstrakten 
Tonsetzen  wenigstens  zu  der  Erinnerung  an  lebendige  Musik  hin- 
zuretten. Nur  waren  diese  Erinnerungen  bloss  beiläufige,  sehr  all- 
gemeine, sie  blieben  unerfüllt. 

Die  Aufgabe  des  dritten  und  vierten  Theils  der  Kompositions- 
lehre ist  nun  im  Gegensatz  zu  den  bisherigen:  in  das  wirkliche 
und  volle  Leben  der  Kunst  einzuführen,  die  Erfüllung  des 
bisher  nur  beiläufig  und  höchst  dürftig  Angedeuteten  oder  ganz  bei 
Seite  Gelassenen  zu  geben.    Was  wir  bisher  nur  abstrakt  gedacht, 


*  Alle  Beziehungen  auf  die  ersten  Theile  des  Lehrbuchs  sind  auf  die 
vierte  Ausgabe  der  beiden  ersten  Theile  und  auf  die  sechste  Aus- 
gabe der  allgem.  Musiklehre  gesetzt. 

**  Allgem.  Musiklehre,  S.  6,  141.  Komp.-L.  Th.  IV. 

1  * 


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4 


Einleitung. 


soll  leben,  was  wir  geübt  und  vorbereitet,  soll  angewendet  und  da- 
mit der  Weg  zu  dem  höchsten  Lohn  und  Glück  der  Kunst  er- 
schlossen werden,  die  in  nichts  anderm,  als  im  Ersinnen  und  Voll- 
führen der  Kunstwerke  zu  suchen  sind.  In  diesem  Sinne  heisst  die 
fernere  Lehre 

angewandte  Kompositionslehre, 

im  Gegensatze  zu  der  reinen  Kompositionslehre,  unter  welchem 
(andern  Lehren  entlehnten)  Namen  wir  (Th.  I,  S.  5)  die  frühern 
Lehrtheile  zusammengefasst  haben. 

•  •  • 

2.  Neue  Gegenstände  der  Lehre. 

Unsre  Aufgabe  ist  also,  nicht  mehr  abstrakte  Weisen,  sondern 
Kompositionen  für  bestimmte  Musikorgane  zu  bilden,  —  mithin  Kom- 
positionen, die  für  diese  Organe  in  jeder  Beziehung  geeignet  sind. 
Wir  müssen  daher  mit  diesen  Musikorganen  möglichst  genaue  Be- 
kanntschaft machen,  um  zu  wissen,  was  jedes  derselben  für  sich 
allein  oder  in  Verbindung  mit  andern  leisten  kann,  und  was  sich 
für  jedes  derselben  eignet. 

Schon  oberflächliche  Beobachtung  lehrt,  dass  jedes  der  Musik 
organe  (mit  Ausnahme  einiger  untergeordneter  Schlaginstrumente) 
einer  mehr  oder  weniger  ausgedehnten  Tonreihe  mächtig  und  inner- 
halb derselben  zu  gewissen  Hervorbringungen  (Tonhalten,  Tonfigu- 
ren, schnelle  Tonfolge  u.  s.  w.)  mehr  oder  weniger  geschickt  ist; 
dass  sieb  auch  hierin  die  verschiedenen  Organe  vielfältig  unterschei- 
den, z.  B.  Geigen,  Flöten,  Diskantstimmen  höhere  Tontagen,  Fa- 
gotte, Kontrabässe,  Tenor-  oder  Bassstimmen  dagegen  tiefere,  — 
Klarinetten  eine  vollständigere  und  umfassendere  Tonreihe  haben, 
als  Trompeten;  dass  aber  ganz  abgesehn  vom  Tongehalt  die  ver- 
schied neu  Instrumente  (und  in  gewisser  Hinsicht  auch  die  Singstim- 
men) auch  noch  durch  die  Eigentümlichkeit  ihres  Klan- 
ges, durch  die  Weise,  in  der  ihre  Töne  das  Wesen  des  Instru- 
ments aussprechen  und  unsern  Sinn  ansprechen,  sich  von  einander 
unterscheiden. 

Es  ist  einleuchtend,  dass  wir  das  Wesen  und  Vermögen  aller 
Organe,  durch  die  wir  wirken,  in  deren  Sinn  und  Wesen  wir  kom- 
poniren   wollen,   genau*  kennen  müssen,  wenn  wir  nicht  jeden 


*  Was  die  allgem.  Musiklebre  S.  143  hiervon  miUheilt,  kann  für  die  Aar- 
gabe des  Komponisten  natürlich  nicht  ausreichen,  soll  vielmehr  nnr  die  allge- 
meine, elementare  Einsicht  und  Kenntniss  ertbeiten.  Der  vierte  Theil  der  Kom- 
positionslehre giebl  befriedigendem  Nachweis. 


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Neue  Gegenstände  der  Lehre.  5 

Augenblick  mit  ihnen  in  Widerspruch  geratben ,  ihnen  etwas  Un- 
tunliches oder  Ungünstiges  zumuthen,  das  ihnen  Erreichbare  und 
Günstige  aber  versäumen  oder  verfehlen  wollen.  Wir  dürfen  uns 
also  von  nun  an  keineswegs  damit  zufrieden  geben ,  dass  unser 
Tonstück  nach  den  abstrakten  Anfoderungen  der  reinen  Koniposi- 
tionslehre befriedige,  sondern  erkennen  noch  überdem  die  Aufgabe 
an,  es  nach  der  Fähigkeit  und  dem  Sinn  der  Organe,  für 
die  es  bestimmt  ist,  zu  vollführen. 

Hierbei  tritt  also  ein  bisher  ganz  bei  Seite  gelassenes  Element 
der  Musik,  der  Klang*,  überhaupt  der  Karakter  und  die 
Fähigkeit  der  Musikorgane,  in  unsern  Gesichtskreis. 

Ferner  wissen  wir,  dass  der  menschliche  Gesang  in  der  Regel 
mit  dem  gesungnen  Wort,  mit  dem  Texte  vereint  ist,  und  dass 
die  Sprache  neben  dem  geistigen  Inhalt  ihrer  Worte  und  Sätze 
auch  ihren  eignen  Rhythmus,  ihre  Formen,  ihre  mannigfachen 
und  durchweg  ausdrucksvollen  Klänge  (die  Laute  und  ihre  Ver- 
bindung) in  sich  hat.  Alle  diese  Seiten  der  Sprache  kommen  im 
Gesaug  neben  dem  Rein-Musikalischen  in  Anreguug ;  wir  werden 
folglich  kein  Gelingen  unsrer  Gesangkompositionen  hoffen  dürfen, 
wenn  wir  sie  nicht  hinreichend,  —  das  heisst  möglichst  tief  erkannt 
haben.  Abgesehn  aber  vom  Sprachlichen  tritt  die  Singstimme  nach 
Obigem  in  eine  Reihe  mit  den  andern  Musikorganen  und  will  nach 
Tonumfang,  Geschick,  Klangweise  u.  s.  w.  gekannt  und  bedacht 
sein.    So  tritt  also  nächst 

dem  Elemente  des  Klangs 
noch  ein  zweiter  bisher  fern  gebliebner  Gegenstand, 

die  Sprache,  als  Gesangtext, 
in  die  Reibe  unsrer  Studien.  Wie  wir  nun  schon  in  der  reinen 
Kompositionslehre,  je  tiefer  wir  eindrangen,  um  so  mehr  uns  ge- 
wöhnt haben,  die  verschiednen  Stimmen  (zumal  in  polyphonen  Sätzen} 
uns  als  besondre  und  bestimmte  Persönlichkeiten  (Th.  I,  S.  339; 
Th.  II,  S.  143  u.  a.)  vorzustellen:  so  treten  jetzt  in  der  That  die 
verschiednen  Organe  als  so  viel  besondre  Wesen,  gleichsam  als 
die  verschiednen  Personen  eines  grossen  Dramas  gegenüber,  und 
wir  haben,  wie  der  wahre  dramatische  Dichter,  jede  dieser  Personen 
ihrem  eignen  Sinne  gemäss  zur  Mitthätigkeit  zu  bringen. 

» 

3.  Rückwirkung  auf  die  vorangehende  Lehre. 

Durch  die  neue  Richtung  der  fernem  Lehre  ist  nun  auch  die 
entschiedenste  Rückwirkung  auf  den  Inhalt  der  vorangehenden  be- 


•  Allgemeine  Musiklebrc,  S.  2,  3,  148. 


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6 


Einleitung. 


dingt.  Die  bereite  erkannten  Formen  werden  unter  der  Rücksichts- 
nahme  auf  die  Organe,  für  die  sie  ausgeführt  werden  sollen,  theils 
näher  bestimmt,  theils  mannigfach  umgewandelt;  die  im  zweiten 
Theil  aus  den  dort  (S.  9)  angegebnen  Gründen  übergangenen  For- 
men werden  jetzt  zur  Anschauung  und  Anwendung  gebracht,  die 
Lehre  von  der  Begleitung  und  selbst  die  Elementarlehre  von  Rhyth- 
mus, Melodie  und  Harmonie  haben  manchen  Nachtrag  zu  erwarten. 

Wer  in  den  ersten  Theilen  den  leitenden  Grundsatz : 

nicht  Lehren  und  Lehrgegenstände  aufzuhäufen  gleich  aufge- 
speicherten Waaren ,  sondern  ein  Jegliches ,  soviel  nur  mög- 
lich und  rathsam  *,  in  organischer  Entwickelung  und  an  der 
Stelle  zu  geben,  wo  es  unmittelbar  in  Anwendung  und  Wirk- 
samkeit treten  kann, 

erkannt  und  beherzigt  hat,  wird  auch  jetzt  nicht  muthmassen,  dass 
hiermit  vergessene  oder  versäumte  Lehrpunkte  nachgebracht,  son- 
dern, dass  fernere  Entwickelungen**  gegeben  werden  sollen,  die 
früher  unanwendbar,  mithin  müssig,  störend  und  belästigend  ge- 
wesen wären. 


*  Vergl.  Tb.  I,  S.  X,  9.  Dass  keine  Lehre,  überhaupt  kein  Wort  den 
Gegenstand  in  der  ganzen  Fülle  seines  Daseins  auf  Einmal  fassen  und  darlegen 
kann,  versteht  sieb  von  selbst;  aber  sie  tnuss  so  schnell  und  kräftig  wie  mög- 
lich über  jede  Abstraktion  hinaus  in  die  Fülle  und  Wirklichkeit  des  Lebens 
dringen,  weil  jede  Abstraktion  —  nölhig  oder  unnöthig  —  dem  Kunstwesen  zu- 
wider, mithin  dem  künstlerischen  Wesen  und  Leben  des  Jüngers  störend  ,  ja 
leicht  sogar  von  bleibendem  Nachtbeil  ist.  Nur  der  Ueberreichtbum  der  Gegen- 
stände der  frühern  Theile  und  die  gewichtige  und  künstlerische  Beschäftigung, 
die  sie  dem  Jünger  bieten,  bat  uns  (neben  erbeblichen  methodischen  Gründen) 
zu  der  Scheidung  von  reiner  und  angewandter  Lehre  im  obigen  Sinne  vermocht. 

**  Vergl.  des  Verf.  „Die  alte  Musiklebre  im  Streit  mit  unarer 
Zeit"  S.  14  u.  f.,  eine  Schrift,  deren  Beherzigung  besonders  von  Lehrenden 
und  Vorgesetzten  wir  um  der  Wichtigkeit  der  Sache  willen  sehr  wünschen,  — 
so  schwer  uns  der  Entscbluss  gefallen,  sie  zu  schreiben,  da  in  ibr  der  Schein 
einer  persönlichen  Polemik  nicht  vermieden  werden  konnte.  Dass  so 
Mancher  über  diesen  Schein  nicht  hat  hinauskommen  können,  diese  Polemik 
für  Zweck  statt  für  die  unvermeidliche  Form  einer  zur  Pflicht  gewordnen 
Leistung  im  Dienste  der  Knnstlehre  angesebn :  das  muss  man  zu  ertragen  und 
mit  dem  in  der  Tbat  so  häutigen  Hineinspielen  persönlicher  Interessen  in  Kri- 
tik und  Künstlerleben  zu  entschuldigen  wissen.  Der  Verf.  bat  die  Missdeutung 
vorausgesebn  und  um  so  ruhiger  auf  sich  nehmen  können,  da  sein  ganzes 
früheres  und  späteres  Wirken  Beweise  genug  gegeben,  dass  er  wohl  Unbill  er- 
tragen kann  (wie  es  Bessere  als  er  gemusst;,  nicht  aber  sich  zu  ihrer  Ausübung 
oder  auch  nur  zu  ihrer  Abwehr  herbeilassen  mag. 


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Forbildung  zu  der  Lehre 


7 


4.  Vorbildung  zu  der  Lehre. 

Da  sonach  die  angewandte  Kompositionslehre  (S.  4)  organische 
Fortbildung  und  Fortsetzung  der  reinen  Kompositionslehre  ist:  so 
versteht  sich,  dass  sie  alle  Kenntnisse,  Erkenntniss  und  Geschick- 
lichkeit voraussetzt,  die  mit  dem  Studium  der  vorhergehenden  Lehre 
bezweckt  wurden.  Dass  diese  Vorbildung  in  den  frühern  und  gleich- 
zeitigen Lehrbüchern  nicht  vollständig  und  noch  weniger  in  nnserm 
Sinne  milgetbeilt  worden,  ist  bereits  anderswo  dargelegt;  wieweit 
sie  durch  den  besondern  Unterricht  so  manches  geschickten  Leh- 
rers einzelnen  Jüngern  zugeführt  worden,  muss  der  eignen  Erwä- 
gung jedes  Einzelnen  anheimgestelit  bleiben.  Am  sichersten  wird 
man  sich  allerdings  durch  das  Studium  der  ersten  Theile  unsrer 
Lehre  auf  die  jetzt  nachfolgenden  vorbereitet  wissen. 

Hier  aber  wiederholen  wir  dringend  und  auf  das  Ernstlichste 
den  Rath  (Th.  I,  S.  12), 

sich  nicht  am  blossen  Wissen  genügen  zu  lassen  und  nicht 
eher  in  die  neue  Bahn  einzuschreiten,  als  bis  man  die  Auf- 
gaben der  vorangehenden  Lehre  mit  Sicherheit,  Leichtigkeit 
und  wohlthuendem  Antheil  der  Seele  (Th.  II,  S.  10)  lösen 
kann. 

Selbst  unter  dieser  Voraussetzung  hat  es  uns  stets  vortheil- 
haft  geschienen,  zwischen  der  reinen  und  angewandten  Lehre  einen 
Ruhemoment  eintreten  zu  lassen. 

■ 

5.  Begränzung  der  Lehre. 

Nach  zwei  Seiten  hin  trifft  jetzt  die  Kompositionslehre  auf 
ihre  Granzen. 

Erstens  verbindet  sich  bekanntlich  die  Tonkunst  Jmit  andern 
Zweckeu  und  widmet  sich  Ideen,  die  nicht  unmittelbar  und  aus- 
schliesslich ihr  eigen  sind.  Hierhin  gehört  der  Verein  der  Musik 
mit  dramatischen  Kunstproduktionen  (Oper,  Melodram  u.  |s.  w.) 
und  ihre  Widmung  für  bestimmte  kirchliche  Momente  (Messe  u.  s.  w.), 
dann  die  musikalische  Offenbarung  von  Gemüths-  oder  selbst  äusser- 
lich  sich  kundgebenden  Zuständen  (musikalische  Malerei ,  —  wenn 
man  sich  das  verrufne  Wort  der  Kürze  wegen  ohne  weitere  Er- 
läuterung hier*  gefallen  lassen  will  — ),  selbst  die  Zusammen- 
stellung verschiedner  Musiksätze  zu  einem  grössern  Ganzen  (Sym- 
phonie u.  s.  w.),  sofern  dieses  die  Offenbarung  einer  höhern  Idee, 
nicht  bloss  eine  formelle  Aufeinanderfolge  ist.    Dergleichen  kiinst- 


*  Einstweilen  bietet  des  Verf.  „lieber  Malere»  in  der  Tonkunst"  (Berlin, 
bei  Fink)  Aufklärung. 


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Einleitung, 


lerische  Unternehmungen  können  nicht  eigentlich  gelehrt ,  es  kann 
nicht  darin  unterwiesen,  sondern  (unter  Voraussetzung  des  geistigen 
Inhalts)  zu  ihnen  herangebildet,  über  sie  und  zu  ihrer  Vollführung 
aufgeklärt  werden.  Dies  aber  kann  in  der  Kompositionslehre  nur 
theilweise  geschehn;  die  Vollendung  ist  von  der  Philosophie  der 
Kunst  zu  erwarteu*. 

Zweitens  berührt  jetzt  die  Lehre  Gegenstaude,  deren  Er- 
schöpfung sie  nothwendig  der  allgemeinen  humanistischen  Bildung 
des  Jüngers  überlassen  muss,  und  andre,  die  das  Wort  gar  nicht 
vollständig  aussprechen,  die  sie  nur  unvollstäudig  und  gleichniss- 
weis,  also  nicht  mit  derjenigen  Schärfe  und  Sicherheit  bezeichnen 
kann,  welche  für  Lehre  wünschenswerth  ist. 

Zu  den  erstem  Gegenständen  gehört  die  Sprache  nach  ihrem 
grammatischen,  rhetorischen  und  prosodischen  Bau  und  nach  ihrem 
Inhalt.  Zur  vollen  Ausrüstung  für  den  Beruf  eines  Komponisten 
darf  diese  Kenntniss  und  Bildung  (neben  der  Muttersprache  Kennt- 
niss  des  Lateinischen,  Italienischen  und  Französischen)  gefodert  und 
wenigstens  der  Hauptsache  nach  vorausgesetzt  werden.  Zu  den 
letztem  Gegenständen  gehört  vornehmlich  der  Klang  der  versehied- 
nen  Instrumente  und  ihrer  Verschmelzungen.  Keine  Sprache  reicht 
für  die  Bezeichnung  dieser  so  schwer  zu  bestimmenden  und  doch  so 
bedeutungsvollen  und  einflussreichen  Wesenheiten  hin;  kein  Lehrer 
kann  mehr  als  Andeutungen  geben,  und  selbst  diese  uur  in  der 
Form  ungefährer,  nie  ganz  treffender  Vergleich ungen.  —  Hier  muss 
also  nothwendig  die  sinnliche  Wahrnehmung  des  Jüngers  dem  bloss 
andeutenden  Worte  des  Lehrers  entgegen  und  zu  Hülfe  kommen, 
und  wir  rathen  Jedem,  dem  es  mit  seinen  künstlerischen  Studien 
Ernst  ist,  dringend : 

schon  jetzt  und  von  hier  an  unausgesetzt  den  Klang  der 
verschiednen  Instrumente  —  und  zwar  in  jeder 
Tonlage  —  mit  der  höchsten  Aufmerksamkeit  und  niemals 
nachlassender  Beharrlichkeit  zu  beobachten  und  sich  ein- 
zuprägen. 

Es  ist  die  unerlässliche  Bedingung  für  die  an  Gestalten  und 
Freuden  überreiche  Kunst  der  Instrumentalion ,  überhaupt  für  tie- 
fere und  vollständige  Kunstbildung,  dass  man  sich  in  Klang  und 
Wesen  der  Kunstorgane  ganz  und  mit  inniger  Theilnahme  einge- 
lebt, sich  mit  ihnen  vollkommen  vertraut  gemacht  habe.  Wer  diese 
Bedingung  nicht  erfüllt,  wird  auch  das  Wort  der  Lehre  nicht  fas- 
sen,  viel  weniger  mit  Lebendigkeit  und  Eigentümlichkeit  für  jene 
Organe  erfinden  können. 

*  Das  Seinige  gedenkt  der  Verf.  in  der  „Musikwissenschaft"  dar- 
zulegen. 


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Fernere  Vorbedingungen 


9 


Zu  diesem  Zwecke  genügt  es  übrigens  keineswegs,  dass  man 
bloss  Musik  —  und  war'  es  die  beste  —  höre.  Denn  bei  der  Em- 
pfänglichkeit für  Kunst,  die  in  jedem  Jünger  vorausgesetzt  werden 
muss,  ist,  je  trefflicher  die  Kuustdarslellung,  um  so  mehr  zu  erwar- 
ten, dass  der  Hörer  über  der  Macht  des  Kunstwerkes  im  Ganzen 
die  Beobachtung  der  mitwirkenden,  oft  untergeordneten  Tonstoffe 
versäume.  Es  muss  daher  jede  Gelegenheit  wahrgenommen  werden, 
die  Instrumente  einzeln  und  ausser  jenen  verführerischen  Darstel- 
lungen zu  hören.  Hier,  in  Musikproben,  bei  geringen  interesselo- 
sem Aufführungen  (in  denen  wir  uns  leichter  vom  Ganzen  ab  auf 
die  einzelnen  Stofflheile  wenden)  ist  in  der  That  oft  tiefer  zu 
beobachten,  als  in  wichtigern  und  anziehendem  Musiken. 

6.  Fernere  Vorbedingungen. 

In  gleichem  Sinne  sprechen  wir  aus,  dass  es  dem  Jünger  Jor- 
dersam  für  seine  Kompositionszwecke  sein  kann,  wenn  er  ausser 
dem  Klavier  (noch  einige  Orchester- Instrumente,  wo  möglich  ein 
Streich-  und  ein  Blasinstrument  behandeln  lernt;  wir  würden  zu- 
nächst Violine  oder  Violoneell  und  Klarinette  rathen.  Denn  aller- 
dings führt  keine  Lehre  und  keine  Beobachtung  so  tief  und  sicher 
in  Wesen  und  Technik  eines  Instruments  ein,  als  eigne  Handha- 
bung. Dagegen  kann  ungenügende  Ausübung  mehr  irre  leiten, 
als  sichern,  weil  man  in  solchem  Falle  leicht  für  unausführbar  oder 
ungünstig  hält,  was  nur  der  eignen  Unfertigkeit  schwer  fällt,  — 
und  umgekehrt  im  Bewusstsein  derselben  Manches  für  grössere  Ge- 
schicklichkeit erreichbar  und  wirkungsvoll  meint,  was  selten  oder 
niemals  glücken  kann. 

Unerlässlich  aber  erachten  wir  für  vollen  Erfolg, 

dass  der  Jünger  —  gleichviel,  von  welcher  Beschaffen- 
heit seine  Stimme  ist  —  singen  könne  und  fortwährend 
mit  Antheil  Gesang  übe. 

Denn  der  Gesang,  das  ist  die  dem  Menschen  wahrhaft  eigne 
und  eingeborne  Musik ;  den  eignen  Gesang  fühlt  Jeder  am  lebhafte- 
sten  ;  in  ihm  ist  Jeder,  der  eben  mit  rechtem  Antheil  singt,  auch 
am  vollsten  und  innigsten  betheiligt,  empfindet  Jeder  nicht  nur  sich, 
sondern  erfährt  auch,  wie  dem  Sänger  und  jedem  anl  heilvollen 
Spieler  recht  eigentlich  zu  Muthe  ist.  Gesangkomposition  ist  von 
einein  Nicht-Sänger  kaum  zu  denken;  aber  auch  andern  Komposi- 
tionsaufgaben wird  man  den  Mangel  eignen  Gesanges  nur  gar  zu 
empfindlich  anmerken. 

Fast  eben  so  unerlässlich  ist  für  höhere  Leistung  Geschicklich- 
keit im  Klavierspiel,  um  sich  mit  dem  reichen  Schatze  von  Kunst- 
werken,  die  von  Bach  bis  Beethoven  fast  alle  Meister  dem 


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10 


Einleitung 


Klavier  anvertraut  haben,  in  steter  Berührung  zu  halten  und  an 
diesem  zugänglichsten  Instrumente  das  Zusammentreffen  von  Gedan- 
ken und  Ausgestaltung  stets  zu  beobachten.  Dass  höhere  Geschick- 
lichkeit, die  namentlich  auch  Bekanntschaft  mit  den  Fortschritten 
in  der  Behandlung  dieses  Instruments  gewährt  (die  wir  vor  Andern 
besonders  Liszt  verdanken),  höchst  fordersam  ist,  versteht  sich. 

7.  üebersicht  des  ganzen  Gebiets. 

Bevor  wir  den  L  eberschritt  in  die  neue  Lehre  thun,  ist  es 
rathsam,  uns  noch  einmal  unsern  ganzen  gegenwärtigen  und  künf- 
tigen Besitz  —  mit  tieferm  Einblick,  als  früher,  Th.  I,  S.  4  —  zu 
vergegenwärtigen.  Dies  wird  nicht  nur  zur  Befestigung  und  Auf- 
klärung unsers  Standpunktes  gereichen;  es  wird  auch  Anlass  geben, 
manches  bis  jetzt  Uebergangne,  das  weder  früher  noch  jetzt  eigent- 
licher Lehre  und  Uebung  bedurfte,  nun  aber  in  Anwendung  kommen 
muss,  zu  not  Inger  Erwähnung  und  Einweisung  zu  bringen. 

Was  uns  bisher  beschäftigt  hat  und  fortwährend  beschäftigen 
wird,  war 

I.  der  Ii  Inj  ihm  us. 

Wir  haben  ihn  im  Tastwesen  und  in  seinem  Antheil  an  den 
Konstruktionsformen  (Satz,  Periode,  Theil  u.  s.  w.)  beobachtet  und 
werden  seine  weitere  Wirksamkeit  in  der  Abwägung  der  Tbeile 
grösserer  Kompositionen,  den  Rücktritt  des  bisher  stets  festgehalte- 
nen Tastwesens  (im  Rezitativ) ,  die  zeitweilige  Aufhebung  aller 
Bewegung  (in  der  Generalpause  und  dem  Hall)  kennen  lernen. 

Ihm  schliesst  sich  von  jetzt 

II.  das  Zeitmaass 

an,  von  dem  aus  der  Elementarlehre*  das  Nähere  als  bekannt  vor- 
ausgesetzt werden  darf.  Dass  das  Zeitmaass  nicht  ohne  Einfluss  auf 
die  Gestaltung  der  Tonstücke  ist,  werden  wir  an  mehr  als  einem 
Orte  wahrnehmen ;  es  ist  daher  rathsam,  von  jetzt  an  bei  jedem  zu 
bildenden  Tonstücke  sogleich  ein  bestimmtes  Tempo  festzusetzen 
und  zu  berücksichtigen. 

In  Verein  mit  dem  Rhythmus  hat  uns 

III.  das  Tonwesen 

beschäftigt.  Unsre  Studien  haben  sich  auf  Melodie,  Harmonie,  ho- 
mophone Begleitung,  Polyphonie  und  eine  Reihe  von  Kunstformen 
erstreckt  und  werden  nach  allen  diesen  Seiten  fortschreiten.  Na- 
mentlich wird,  wie  S.  6  gesagt  ist,  die  Formenlehre  von  dem 
Punkte,  wo  wir  sie  früher  aus  bestimmten  Gründen  unterbrochen 
haben,  weit  und  zur  Vollständigkeit  geführt  werden. 


*  Vergl.  hierüber  die  allgem.  Musiklehre,  S.  95. 


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Ueb ersieht  des  ganzen  Gebiets. 


11 


Als  neuer  Gegenstand  unsrer  Betrachtung  tritt  zu  dem  Bishe- 
rigen 

IV.  die  Schallkraß,  —  * 
das  Maass  von  Nachdruck,  der  Wechsel  von  Stärke  und  Schwäche 
[forte,  piano  mit  allen  Abstufungen,  auch  dem  Abnehmen  und  An- 
wachsen), den  wir  einem  Ton,  oder  einer  Tongruppe,  einem 
Satz  in  Verhältniss  zum  andern  zuertheilen.  Es  genügen  hierbei 
statt  eigentlicher  Lehre  (die  hier  überflüssig  erscheint)  folgende  Be- 
merkungen. 

Der  Wechsel  von  forte  und  piano  erscheint  zunächst  als  blosse 
Mannigfaltigkeit;  zu  solchem  Zwecke  wird  bisweilen  von  Kompo- 
nisten '  die  Wiederholung  eines  zuvor  stark  vorgetragenen  Satzes 
im  piano,  oder  umgekehrt  eines  Pianosatzes  im  forte  bestimmt. 
Doch  haben  forte  und  piano  ihre  tiefere  und  eigentümliche  Be- 
deutung. 

Einen  Ton  oder  Satz  stark  vortragen  heisst  nichts  anders,  als 
eine  grössere  Kraft  oder  Masse  von  Tonmaterial  auf  seine  Hervor- 
bringuug  verwenden,  damit  er  selber  als  das  Kräftigere,  Durchdrin- 
gendere, Vorherrschende  erscheine  und  wirke.  So  werden  in  der 
Regel,  ohne  dass  es  einer  ausdrücklichen  Bestimmung  bedürfte,  die 
Haupttheile  im  Takt,  die  Hauptmomente  im  Rhythmus**  durch  stär- 
kere Angabe  betont,  die  entscheidenden  oder  Krufttöne  in  einer  Me- 
lodie hervorgehoben,  unter  mehrern  karakteristisch  verschiednen  zu 
einem  grössern  Ganzen  verbundnen  Sätzen  der  sanftere  vom  kräf- 
tigern unterschieden,  u.  s.  w.*** 

Diesen  tiefern  Sinn  der  dynamischen  Unterschiede  wollen  wir 
stets  in  Obacht  nehmen  und  das  Unsrige  als  Komponisten  dafür 
wohlbedacht  und  sorgfaltig  thun.  Im  Voraus  aber  {wollen  wir  uns 
die  Mittel  für  Hervorbringung  des  forte  und  piano  hier  vorstellen. 
Sie  bestehn 

a)  in  der  grössern  oder  mindern  Kraft,  die  der  Ausübende 
verwendet, 

b)  in  der  schon  an  sich  stärkern  oder  heftigem  Tonlage 
der  verschiednen  Organe, 

c)  in  der  Masse  der  Besetzung  (in  Orchester  und  Chor), 

d)  in  der  Anzahl  der  au   einem   Satze  theilnehmenden 
Stimmen, 

e)  in  der  Weise,  dieselben  zu  verwenden; 


*  So  z.  R.  J.  Havdn  in  der  Menuett  seiner  fldur-Svmphonie,  Nr.  1. 
**  AUgem.  Musiklehre,  S.  133  u.  f. 
***  Die  eigentümlichen,  auf  tiefern  psychologischen  Erörterungen  oder  An- 
schauungen beruhenden  Verwendungen  des  Piano  und  Forte  kommen  in  der 
Musi  k Wissenschaft  zur  Betrachtung,  da  sie  nicht  Gegenstand  der  Lehre 
und  Uebung  sein  können. 


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12  Einleitung. 


dies  Alles  kommt  bei  den  verschiednen  Lehrgegenständen  in  Be- 
tracht. 

.  Ein  für  allemal  setzen  wir  übrigens  fest,  dass  wir,  wenn  bloss 
von  der  grössern  oder  mindern  Kraft  die  Rede  ist,  in  der  Töne 
angegeben  werden,  die  Namen  Schall  und  Schallkrafl  gebrau- 
chen, als  die  allgemeine  Bezeichnung  alles  Hörbaren  (allgem.  Musik- 
lehre,  S.  2)  und  unterschieden  von  Ton  (Höbe  und  Tiefe  des  Schal- 
les) und  Klang  (Ausdruck  der  Wesenheit  des  lautwerdenden  Or- 
gans). 

Gegenstände  unsers  Studiums  sind  ferner 

V.  Natur  und  Behandlung  der  Instrumente 
nach  ihrer  Klangverschiedenheit  und  Technik,  uud 

VI.  Gesang, 

bei  welchem  die  Stimme  als  Organ  des  Tons  und  Klangs  und  die 
Sprache  nach  Inhalt  und  nach  Klang-  oder  Lautgebalt  zur  Betrach- 
tung und  Anwendung  kommt. 

8.  Eintheilung  des  neuen  Stoffes. 

Nach  dem  Obigen  würde  nun  der  fernere  Stoff  sich  am  Ueber- 
sichtlichslen  theilen  in  die  Lehre 

A.  vom  Instrumentalsatz 

und 

B.  vom  Vokalsatz. 
In  der  erstem  Lehre  tritt  uns  zunächst  ein  wichtiger  und  hülf- 
reicher Unterschied  in  der  Beschaffenheit  der  Organe  entgegen.  Ei- 
nige Instrumente  sind  nämlich  für  sich  allein  geeignet,  ein  Tonstück 
nach  den  wesentlichsten  Bestandtheilen  der  Kunst,  als  Melodie  und 
Harmonie  —  und  zwar  diese  als  eigentliche  Mehrstimmigkeit  —  dar- 
zustellen; wir  nennen  sie  selbständige.  Andre  Instrumente  sind 
zu  vollständiger  Darstellung  nicht  geeignet,  können  entweder  bloss 
einzelne  Töne  und  Tonreihen,  oder  zwar  Zusammenklänge,  ja  so- 
gar mehrstimmige  Tonsätze,  aber  nur  in  grosser  Beschränkung 
hervorbringen;  diese  heissen  unselbständige  Instrumente.  Nach 
dieser  Unterscheidung  hat  die  Lehre  vom  Instrumentalsatze 

a)  die  Komposition  für  selbständige,* 

b)  die  Komposition  für  nichtselbständige  Instru- 
mente zu  behandeln. 

Desgleichen  ist  bei  der  Vokalmusik  zu  unterscheiden,  ob  sie 
sich  auf  Singstimmen  allein  beschränkt,  oder  begleitende  Instrumente 
zuzieht;  sie  zerfallt  also 

c)  in  die  reine  Vokalmusik, 

d)  in  die  begleitete  Vokalmusik. 


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Lehrordnung 


13 


Endlich  liegt  eio  wichtiger  Unterschied  für  Lehre  wie  für  Kom- 
position —  und  zwar  sowohl  für  Instrunien talsatt ,  als  für  Vokal- 
satz —  darin,  ob  sämmtiiehe,  oder  doch  die  Hauptstimmen,  oder  einige 
Stimmen  von  Einzelnen  als  Solosängern  und  Solospielern ,  oder  ob 
sie  von  mehrern  zu  einer  einzigen  Stimme  vereinten  Personen  vor- 
getragen werden  sollen.    Hiernach  zerfällt  der  Instrumentalsalz 

e)  in  den  Orchestersatz  (mit  vielfacher  Besetzung  aller 
oder  der  Hauptpartien), 

f)  in  den  Solosatz  (mit  einfacher  Besetzung  aller  oder 
der  Hauptpartien] ; 

desgleichen  zerfallt  der  Vokalsatz 

g)  in  Chorkomposition  (mit  vielfacher  Besetzung  aller 
Stimmen) , 

h)  in  Soloknm  pnsition,  and 

i)  in  Verbindung  von  Solo-  und  Chorgesaug. 

.>  .  .  •    .  . 

9.  Lehrordnnng. 

Allein  so  wohlbegründet  und  übersichtlich  diese  Eintheilung  des 
Lehrstoffs  ist,  so  kann  doch  der  Lehrgang  sich  ihr  nicht  an- 
schliessen.  Eines  Theils  kann  nicht  die  Vokalmusik  für  sich  allein 
in  allen  Formen  durchgearbeitet  werden,  weil  viele  dieser  Formen 
Begleitung  fodern,  also  schon  Kenntniss  und  Hebung  des  Instrumen- 
talsatzes voraussetzen.  Andern  Theils  fodern  wieder  die  höhern 
Aufgaben  des  Instrumenlalsatzes  so  ausgebreitete  und  tiefe  Bildung, 
haben  übrigens  nach  Inhalt  und  Form  so  mancherlei  Beziehungen 
zur  Vokalmusik  und  so  mancherlei  Entlehnungen  aus  ihr,  dass  man 
nicht  hoffen  darf,  durch  einseitige  Beschäftigung  mit  dem  Instrumen- 
tale zu  ihnen  vollkommen  reif  geworden  zu  «ein.  Endlich  ist  auch 
für  den  Sinn  des  Jüngers  Wechsel  in  der  Beschäftigung  jetzt  er- 
frischend und  wünschenswertb,  wie  erlaubt;  seinem  jedesmaligen  Bil- 
dungssland'  aber  allmähliches  Auferbauen  beider  Seiten  zuträglicher, 
als  wollte  mau  ihn  in  dem  Einen  auf  die  Höhe  geleiten  und  dann 
im  Andern  wieder  auf  Anfangsgründe  zurück  nöthigen. 

Daher  erscheint  Theilung  und  Mischung  der  Hauptpartien  wohl- 
gerathen  und  folgender  Gang  vorzuziehn. 

Die  Lehre  beginnt  mit  dem 

I.  Satz  für  selbständige  Instrumente, 

lässt  sich  aber  dabei  vorerst  nur  auf  das  Klavier  ein.  Die  Orgel 
findet  eine  für  den  Gang  des  Studiums  wie  des  Lehrbuchs  geeigne- 
tere Stelle  im  vierten  Theil  des  Werks,  der  dies  zu  seiner  Zeit 
rechtfertigen  wird.  Die  Harfe  aber  kann  nach  ihrer  jetzigen  Stel- 
lung füglicher  zu  den  Orchester-Instrumenten  gerechnet  werden  (so 


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14  Einleitung. 

selten  sie  auch  da  zur  Anwendung  kommt),  da  für  sie  als  selbstän- 
diges Instrument  in  der  Regel  nur  Harfenspieler  oder  deu  Harfen- 
spielern Nahstebende  komponiren,  die  dann  keiner  besondern  und 
genauem  Anweisung  bedürfen.  Seltnere  nnd  geringere  Instrumente 
(Harmonika,  Eupbon,  Guitarre  u.  s.  w.)  können  noch  weniger  be- 
sondre Berücksichtigung  finden,  da  sie  in  der  Kunstwelt  nicht  ein- 
gebürgert sind. 
Es  folgt 

II.  Vokalsolosatz  mit  Begleitung  eines  selbständigen 
Instruments ; 

und  zwar  nur  die  Formen  des  Rezitativs  und  Liedes,  als  Vorschule 
für  alle  Gesangkomposition. 
Sodann 

III.  der  reine  Vokalsatz. 
So  weit  führt  der  vorliegende  dritte  Tbeil.   Ueber  die  weitere 
Ordnung  berichtet  der  vierte  und  letzte  Tbeil  des  Werkes,  der  sie 
durchzuführen  hat. 


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Sechstes  Bach. 


Die  Komposition  für  selbständige 

Instrumente. 


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t 


» 


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Einleitung. 


Die  Reihenfolge  unsrer  Aufgaben  führt  uns,  wie  schon  die 
Einleitung  gesagt,  zuerst  an  das  allbekannte  Klavier.  Hier  kann 
die  noch  ungewohnte  Rücksicht  auf  Natur  und  Technik  der  Organe 
am  wenigsten  schwer  fallen. 

Dies  ist  nicht  nur  für  den  Anfang  erwünscht,  sondern  bietet 
auch  Müsse  und  Gelegenheit,  die  meisten  und  am  häufigsten  zur  An- 
wendung kommenden  Formen,  die  bisher  übergangen  worden  (weil 
sie  sich  besser  in  ihrer  Anwendung  auf  ein  bestimmtes  Organ  an- 
schaulich machen,  als  abstrakt  darstellen  lassen),  kennen  zu  lernen. 


Erste  Abtheilung. 

Die  Klavierkomposition  in  den  einfachen  Formen. 

In  dieser  Abtheilung  werden  nur  Vorübungen  zu  den  wichti- 
gern Aufgaben  der  folgenden  drei,  ebenfalls  der  Klavierkomposition 
gewidmeten  Abtheilungen  angestellt.  Diese  Vorübungen  sind  aber 
nichts  anders,  als  selbst  schon  Kunstgebilde,  gehören  einer  schon 
oft  zu  bedeutenden  Werken  benutzten  Kunstform  an. 


Erster  Abschnitt. 
Natur  und  Technik  des  Instrumentes. 

Vor  allem  sei  bemerkt,  dass,  wenn  von  Klavier  die  Rede  ist, 
natürlich  nicht  das  alte  Instrument  mit  Tangenten,  dem  dieser  Name 
zunächst  eigen  war,  sondern  das  jetzt  Überall  an  seine  Stelle  ge- 
tretene Pianoforte  (und  zwar  in  seiner  heutigen  Ausbildung)  gemeint 
ist.  Jenes  alte  und  eigentlich  Klavier  genannte  Instrument*,  so  wie 
der  ebenfalls  veraltete  Kielenflügel**  und  das  Pantalon***  wichen 


*  Die  Tasten  führten  Messingplättchen  an  die  Saiten  und  brachten  durch 
deren  Andruck  einen  leise  surrenden,  zarten  und  feinen  Klang  hervor. 

**  Die  Tasten  hoben  Holzplättchen  mit  diagonal  eingesetzten  Federspitzen, 
durch  die  die  Saiten  angeschnellt  oder  angerissen  wurden. 
**•  Unvollkommne  Vorart  des  Pianoforte. 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  8 


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18  Klavierkomposition  in  einfachen  Formen. 

in  mancher  Beziehung  —  nicht  bloss  im  Umfang  der  Tonreihe,  son- 
dern auch  in  Kraft,  Fülle,  Art  und  Annehmlichkeit  des  Klanges 
u.  s.  w.  —  vom  Pianoforte  so  bedeutend  ab,  dass  man  die  Werke 
früherer  Komponisten  (namentlich  C.  P.  E.  Bach's)  in  mancher 
Hinsicht  missverstehn  würde,  wenn  man  nicht  bei  ihrer  Auffassung 
der  alten  Instrumentart  gedächte. 

Was  nun  unser  heutiges  Pianoforte  betrifft,  so  scheint  eine 
Verbreitung  über  seine  Natur  und  Behandlung  um  sd  mehr  über- 
flüssig, da  Bekanntschaft  mit  demselben  und  sogar  eine  gewisse 
Geschicklichkeit  in  seiner  Behandlung  (S.  9)  vorausbedungen  ist. 
Wir  erinnern  daher  nur  an  folgende,  Jedem  bekannte  Momente, 
um  aus  ihnen  die  ersten  Gesetze  für  angemessne  Komposition  zu 
ziehen. 

Das  Pianoforte  hat 

\)  grossen  Tonumfang,  —  mit  Ausnahme  der  Orgel  den 
grössten  unter  allen  Instrumenten;  » 

2)  die  Kraft  und  Dauer  seines  Schalls  ist  im  Verhältniss 

zu  den  meisten  übrigen  Instrumenten,  —  nämlich  Ton 
gegen  Ton  gerechnet,  —  nur  gering; 

3)  es  ist  unfähig,  einen  Ton  in  gleicher  Kraft  zu  halten 

oder  gar  anschwellen  zu  lassen ;  selbst  auf  den  schall- 
reichsten Instrumenten  ist  die  eigentliche  Schallkraft 
sehr  bald  nach  dem  Anschlage  dahingeschwunden; 

4)  es  ist  unfähig,  zwei  Töne  so  fest  und  innig  wie  die 

meisten  andern  Instrumente  zu  verbinden,  sie  wohl  gar 
zu  verschmelzen  oder  in  einander  zu  ziebn,  obwohl 
durch  bekannte  Vortragsmittel  ein  gewisser  Anschein 
der  Verbindung  hervorgebracht  werden  kann; 

5)  der  Klang  des  Instruments  ist  in  allen  Tonregionen 

ziemlich  gleichartig,  soweit  die  Verschiedenheit  der 
Höhe  und  Tiefe,  der  längern  und  kürzern  Saiten  (für 
die  tiefern  und  höhern  Töne)  zulässt; 

6)  es  ist  zur  Ausführung  jeder  Art  von  Tonverbindung 

geschickt  und  hierin  allen  übrigen  Instrumenten  über- 
legen. 

Aus  diesen,  jedem  Spieler  bekannten  Beobachtungen  folgen  die 
wichtigsten  Regeln  für  den  Pianofortosntz  leicht  und  sicher.  Wir 
gehn  dabei  natürlich  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  der  Kompo- 
nist hier  wie  überall  die  Absicht  habe,  jeden  Gedanken  auf  das 
Angemessenste  und  Günstigste  hervortreten  zu  lassen. 

Erstens  entbehrt  der  einzelne  Ton  und  die  Folge  ein- 
zelner Töne  oft  jene  Fülle  und  Schallkraft,  die  die  meisten  an- 
dern Instrumente  gewähren  und  die  so  oft  zu  dem  sättigenden  und 
wirkungvollen  Ausdruck  des  musikalischen  Gedankens  wünschens- 


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Natur  und  Technik  des  Instrumentes. 


19 


werth,  ja  unentbehrlich  ist.  Wir  müssen  also,  wo  Letzteres  der 
Fall  ist,  durch  besondere  Mittel  ersetzen,  was  das  Instrument  nicht 
von  selber  gewährt. 

Bisweilen  werden  wir  eine  Melodie,  die  schwellend  vollsaftig 
heraustreten  soll,  z.  B.  diese,  — 


Ped. 


in  der  Oktave,  ja  bisweilen  sogar  in  zwei  Oktaven  verdoppeln 
(Th.  I,  No.  S.  522),  und  zwar  nicht  bloss  in  Fortesätzen,  son- 
dern auch  bei  Melodien,  die  piano,  aber  mit  einer  gewissen  Lei- 
denschaft und  Fülle  der  Empfindung  vortreten  sollen. 

Bisweilen  werden  wir  solche  Oktaven,  um  sie  noch  fliessender, 
in  einander  gehender  und  beweglicher  zu  geben,  in  Oktaven fi - 
guration  auflösen,  — 

Risolulo. 


oder  mit  andern  ahnlich  wirkenden  Figurationen,  z.  B. 
den  Bass  von  Nr.  2  mit  diesen  Figuren  — 

2* 


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20 


Klavierkomposition  in  einfachen  Fomien. 


vertauschen ;  einen  Ton,  der  bedeutungsvoll  und  mächtig  treffen 
soll,  werden  wir  mit  einer  oder  mehr  Oktaven  verstärken, 
ja  oftmals  da,  wo  auf  andern  Instrumenten  ein  einzelner  Ton  aus- 
reicht, durch  vollgriffige  Akkorde  treffen,  oder  auch  einen 
Ton,  der  lange  gehalten  werden  soll,  durch  wiederholten  Anschlag  — 


Allegro*). 


4  l 


AUegro  di  molto  e  con  brio. 


gleichsam  fortsetzen. 

Zweitens  werden  wir  Melodien,  die  gesangvoll  — in  ihren 
Tönen  innig  verbunden  erklingen  sollen,  nicht  in  die  höhern  Ton- 
lagen, sondern  mehr  in  die  mittlem  (kleine,  ein-  und  zweige- 
strichne  Oktave)  setzen,  weil  die  Schalldauer  in  den  höhern  Regio- 
nen mit  der  Länge  der  Saiten  zugleich  abnimmt**.  Ist  aber  die 
höhere  Melodielage  unvermeidlich,  so  werden  wir  durch  einfachere 
und  zarter  gehaltne,  auch  nicht,  zu  nahe  gerückte  Begleitung  das 
Hervortreten  jener  kurzen  und  feinern  Töne  begünstigen. 


*  Das  erstere  Beispiel  ist  aus  Beethoven's  Sonate  Op.  28,  das  andre 
aus  dessen  Sonate  pathötique.  Beide  Bassfiguren  (die  in  diesen  und  andern 
Sätzen  sehr  lange  beibehalten  werden)  sind  der  Klaviermusik  unentbehrlich, 
freilich  aber  bei  ihrer  Allbekanntheit  und  leichten  Ausführbarkeit  oft  miss- 
bräuchlich  und  am  unrechten  Orte  angewendet,  dann  wieder  wegen  des  Miss- 
brauchs eine  Zeitlang  (unter  dem  Namen  Trommel bässe)  verrufen  gewesen. 
Uns  wird  am  rechten  Orte  jede  Form  ewig  recht  und  gut  erscheinen. 

**  Die  Schalldauer  der  tiefern  Saiten  wird,  bei  aufgehobnem  Pedal,  durch 
Miterklingen  der  verwandten  höhern  Saiten  (Oktave  u.  s.  w.)  verstärkt,  was 
ebenfalls  bei  den  höhern  Saiten  wegfällt.  Daher  haben  die  tiefern  Saiten  bei 
aufhörender  Dämpfung  anscheinend  reinem  Klang  und  mehr  Resonanz,  weil 
ihnen  der  Mitklang  ohne  weitere  mechanische  Zuthat  zuwächst. 


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Natur  und  Technik  des  Instrumentes. 


21 


Drittens  werden  wir  die  Gegensätze  von  Forte  und  Piano 
und  die  Abstufungen  zwischen  beiden  bei  der  (in  Vergleich  mit  an- 
dern Organen)  geringen  Fähigkeit  des  Instruments  dazu  durch  den 
Gegensatz  von  vollgriffigem  und  minderstimmigem  Spiel  hervorheben. 
Ein  Satz,  wie  dieser,  — 


I 

kann  auf  dem  besten  Pianoforte  nicht  so  kräftig  vorgetragen  wer- 
den, dass  er  durch  Stärke  wirkte;  selbst  eine  vier-  und  fünfstim- 
mige Ausführung,  die  für  andre  Organe  recht  wohl  zureichen 
könnte,  — 


6 


mm 


m 


T 


würde,  wenn  wir  No.  5  als  einen  Pianosatz  vorausgeschickt  den- 
ken, nur  ein  mezzo  forte  geben;  erst  vollgriffiges  Spiel, 


3  <*■ 


3^ 

5^* 


Con  tutta  la  forza. 

4 — I — \ 


bei  a.,  oder  in  der  vollen  Weite  des  Instruments  (abge- 
von  den  höchsten  schallärmern  Tönen)  auseinandergerückt,  wie 
bei  6.,  —  dass  man  die  mittlem  Tonlagen  mit  zu  hören  vermeinte, 
—  würde  den  Satz  in  voller  Kraft  erschallen  lassen.  —  Statt  vieler 
Beispiele,  an  denen  dasselbe  mit  kleinen  Abweichungen  zu  beobach- 
ten, stellen  wir  unter  c.  einen  Satz  aus  T halberes  Hugenotten- 
Phantasie  vor. 


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22 


Klavierkomposition  in  einfachen  Formen 


Man  erkennt  leicht,  dass  mit  solchen  vollen  Griffen  nicht 
eigentliche  Vielstimmigkeit  beabsichtigt  ist,  so  wenig,  wie  die  Ok- 
taven in  No.  I,  2,  3  als  eigentliche  Zweistimmigkeit  (Th.  I,  S.  83) 
gelten  könnten.  Daher  ist  man  auch  keineswegs  an  die  einmal  er- 
griffne Stimmzahl  gebunden;  die  Sätze  in  No.  7  sind  wesentlich 
nichts  Andres,  als  der  drei-  und  der  vier-  oder  fünfstimmige  Satz 
in  No.  5  und  6 ;  und  eben  deshalb  sind  die  in  solcher  Vielgriffig- 
keit enthaltnen  Oktavfolgen  (dergleichen  schon  Th.  I,  S.  521  und 
anderwärts  vorgekommen)  keineswegs  für  Satzfehler,  sondern  nur 
für  unentbehrliche  Verstärkungsmittel  zu  achten. 

Viertens  müssen  wir,  wenn  figurirte,  überhaupt  polyphone 
Sätze  in  voller  Klarheit  und  Wirksamkeit  heraustreten  sollen, 
uns  durchaus  auf  kleinere  Stimmzahl  beschränken  und,  wo  dies 
nicht  durchweg  geschehn  kann,  wenigstens  möglichst  oft  auf  die 
mindere  Stimmzahl  zurückgehn,  oder  einen  Theil  der  Stimmen  zu 
blosser  Verdopplung  andrer  in  Terzen,  Sexten  u.  s.  w.  (also  nicht 
polyphon)  gebrauchen.  Denn  ganz  abgesehn  von  der  Schwierigkeit, 
vielstimmige  polyphone  Sätze  gut  vorzutragen,  muss  man  die  Un- 
fähigkeit des  Instruments  für  dergleichen  bei  der  kurzen  Dauer 
seiner  Töne  und  der  Unmöglichkeit  wirklicher  Bindung  zugeben. 

Allerdings  sträubt  sich  gegen  ein  solches  Gebot  unser  Gefühl 
und  Bewusstsein  von  der  Herrlichkeit  polyphonen  Satzes.  Allein 
bald,  nach  einer  nicht  lästigen  Reihe  von  Versuchen  und  Uebungen, 
wird  man  gewahr,  dass  auch  unter  der  Beschränkung,  ja  durch 
diese  selbst  neue  Wege  der  Erfindung  geöffnet  werden.  Und  wie 
wir  uns  einst  im  gebundnen  Zustande  des  Anfängers  (Th.  II,  S.  11) 
der  einmal  gebotnen  Form  fügen  mussten,  obgleich  Phantasie  und 
Neigung  uns  auf  andre  Wege  zu  ziehen  trachteten:  so  wird  jetzt 
noch  leichter  gelingen,  Formen  da,  wo  sie  nicht  das  rechte  Leben 
und  Wirken  finden  können,  zurückzuhalten  und  für  die  günstigere 
Stelle  zu  bewahren. 

In  der  That  haben  die  grössten  Meister  der  Polyphonie  jenen 
Grundsatz  thatsächlich  anerkannt.  Hier  ist  vor  allen  Seb.  Bach 
zu  nennen,  von  dem  man  bei  seiner  unbegrenzten  Meisterschaft  und 
Hinneigung  zum  polyphonen  Satz  am  ersten  ein  Hinwegsetzen  über 
jene  von  aussen  kommende  Rücksicht  erwarten  dürfte,  war'  es  nicht 
eben  das  Merkmal  höchster  Meisterschaft,  überall  das  Angemessne 
mit  Bewusstsein  zu  treffen.  Musterhaft  sind  in  dieser  Hinsicht 
seine  grossen  Klavierfugen,  die  chromatische  Phantasie  mit  Fuge, 
die  grosse  A  moll-  und  £moll-Fuge*,  in  denen  der  Fugensatz  drei- 
stimmig, die  Ausführung  in  der  überwiegenden  Zahl  der  Sätze  und 
Takte  nur  zweistimmig  ist.  Aus  den  kleinern  Klavierkompositionen 


*  Vergl.  Band  IV  der  Gesammtausgabe  bei  Peters  in  Leipzig. 


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Natur  und  Technik  des  Instrumentes. 


23 


wären  noch  zahlreichere,  wenn  auch  nicht  so  merkwürdige  Beweise 
beizubringen.  Weniger  ist  dies  der  Fall  mit  dem  wohltemperirten 
Klavier*  und  der  Kunst  der  Fuge.  Allein  im  letzteren  Werke  war 
es  Hauptabsiebt,  eine  Musterreihe  von  Fugen  und  Kanons  aufzu- 
stellen. Im  erstem  Werke  waren  achtundvierzig  Fugen  aus  allen 
Tönen  zu  geben.  Dies  ist  in  grösster  Mannichfaltigkeit  der  Form 
auf  das  Geistreichste  geschehn,  und  auch  hier  war  die  Wirkung  des 
Instruments  so  wenig  Hauptsache,  dass  (wie  den  Kennern  längst 
bekannt)  ein  Theil  der  Fugen  auf  der  Orgel  eine  günstigere  Stelle 
fandet,  ja  sogar  Einzelnes  (z.  B.  der  Schluss  der  ^moll-Fuge  des 
zweiten  Theils)  auf  dem  Klavier  von  zwei  Händen  unmöglich  aus- 
geführt werden  kann. 

Eben  so  entschieden  waltet  die  gleiche  Rücksicht  auf  das  Ver- 
mögen des  Instruments  bei  Beethoven,  den  wir  immer  mehr  als 
den  Hochmeister  der  Klavierkomposition  zu  erkennen  haben.  Nicht 
bloss  in  seinen  homophonen  oder  in  leichtern  Formen  gearbeiteten 
Sätzen  zeigt  sich  Zweistimmigkeit  vorherrschend ;  auch  in  den 
spätem  Werken,  in  denen  er  sich  immer  entschiedner  der  Poly- 
phonie  zuwandte,  ist  gleiches  Streben  merkenswerth.  In  dieser 
Hinsicht  ist  das  Allegro  seiner  grossen  Cmoll-Sonate  (Op.  MI) 
höchst  bezeichnend.  Es  drängt  im  Hauptsatze,  von  Takt  19  an, 
nach  der  Dreistimmigkeit  hin,  oder  vielmehr  ist  geradezu  dreistimmig 
zu  nennen;  das  Fugatothema  mit  seinem  Gegensatz  erscheint 
Takt  19  in  Alt  und  Bass,  Takt  23  umgekehrt  in  Bass  und  Alt; 
dann  tritt  Takt  27  das  Thema  in  einer  dritten  Stimme  (Diskant) 
auf,  und  man  hat  ein  Viertel  lang  wirklich  drei  gleichzeitige  Stim- 
men. Aber  sogleich  tritt  der  Bass  ab  und  lässt  die  Oberstimmen 
allein.  Dasselbe  Spiel  wiederholt  sich  im  zweiten  Theil**,  nur 
dass  da  die  Dreistimmigkeit  ein  paarmal  drei  oder  vier  Viertel  an- 
hält, dann  aber  gehn  zwei  Stimmen  in  Dezimen  mit  einander.  Dieses 
Verhalten  ist  um  so  auffallender  bei  dem  kraftvollen  und  hochpathe- 
tischen Gang  und  der  höchst  ernsten  Haltung  der  ganzen  Kompo- 
sition. Gleiches  ist  bei  der  gewaltigsten  aller  Sonaten,  der  grossen 
Ädur-Sonate  (Op.  106)  zu  beobachten.  Der  übermächtige  und  über- 
reich dahin  stürmende  und  bei  allem  Drang  und  Feuer  so  gehalten 
ernste  erste  Satz  drängt  immerfort,  z.  B.  schon  Takt  5  u.  s.  w., 
dann  Seite  4***,  zur  Mehrstimmigkeit,  und  weilt  doch  fast  durch- 
gehend im  rein  Homophonen  oder  Zweistimmigen.   Ja,  S.  7  wird 


*  Der  Name  »wohltemperirtes  Klavier«  deutet,  wie  bekannt,  auf  die  Stim- 
mung nach  gleichschwebender  Temperatur  (allgem.  Musiklehre,  S.  13,  75),  durch 
welche  alle  Tonarten  auf  gleiche  Tonmaasse  gebracht  und  brauchbar  geworden, 
im  Gegensatze  zur  ungleichschwebenden,  in  der  dies  nicht  der  Fall. 
**  Seite  8  und  9  der  Originalausgabe  von  Schlesinger  in  Berlin. 
***  Der  Originalausgabe  von  Artaria  in  Wien. 


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24 


Klavierkomposition  in  einfachen  Formen. 


das  Hauptmotiv  imitatorisch  und  im  Grunde  vierstimmig  durchge- 
führt. Aber  es  treten  zuerst  die  beiden  Unterstimmen  allein  auf, 
dann  die  beiden  Oberstimmen  mit  einer  Unterstimme,  die  sich  we- 
nigstens rhythmisch  je  einer  der  Oberstimmen  anschliesst;  und  wenn 
endlich  der  Satz  —  er  ist  neununddreissig  Takte  lang  —  vier- 
stimmig wird,  dann  dienen  (mit  einer  flüchtigen  und  sehr  einfachen 
Abweichung)  zwei  Stimmen  nur  zur  Verdopplung  der  andern  zwei, 
so  dass  der  Satz  im  Grunde  wieder  zweistimmig  ist.  —  Aus  glei- 
chem Grunde  ist  die  Schlussfuge  dieser  Sonate,  wie  der  j4sdur-So- 
nate,  Op.  4  40,  nur  dreistimmig  ausgeführt,  obgleich  die  letztere 
offenbar  vierstimmig  intentionirt  war;  ihre  erste  Durchführung  zeigt 
unverkennbar  die  Eintritte  von  Tenor,  Alt,  Diskant  und  (Takt  4  9) 
Bass,  —  in  den  nun  der  Tenor  übergeht.*  Aber  selbst  im  drei- 
stimmigen Satze  schliessen  sich  meistens  zwei  Stimmen  begleitungs- 
weis'  an  einander. 

Fünftens  endlich  haben  wir,  was  dem  Schall  des  Instruments 
an  Fülle  und  Kraft,  und  dem  Klang  an  Intensität,  an  ergreifender 
Gewalt  (im  Vergleich  zur  Singstimme,  zu  Blas-  und  auch  Streich- 
instrumenten) abgeht,  durch  Spiel-Fülle,  durch  Reichthum  und 
Beweglichkeit  der  Tonfolgen,  besonders  der  Figuren  (Passagen),  zu 
ersetzen.  Hierbei  kommt  der  grosse  Tonumfang  und  die  Klanggleichheit 
des  Instruments  zu  statten ;  kein  andres  bietet  für  sich  allein  und  auf 
einmal**  einen  Spielplatz  von  sechs  bis  sieben  Oktaven,  und  bei  kei- 
nem ist  der  Klang  der  Höhe  und  Tiefe  so  gleichartig,  —  obwohl  es 
allerdings  die  Aufgabe  jedes  Instrumentisten  ist,  den  Klang  in  den  ver- 
schiednen  Regionen  möglichst  auszugleichen,  was  sinnvollen  und  wohl- 
geschulten Spielern  auch  in  hohem  Grade  gelingt. 

So  wohlbegründet  nun  in  diesen  und  andern  sich  in  der  Ausübung 
von  selbst  ergebenden  Punkten  Rücksicht  auf  die  Natur  des  Instru- 
ments ist:  so  haben  wir  doch  noch  Eins  zu  beherzigen,  das  über 
Aengstlichkeit  und  einseitiges  Haften  am  Aeusserlichen  hinwegführt 
auf  den  rechten  Standpunkt  des  Klavierkomponisten. 

Jede  tiefere  Betrachtung  des  Instruments  muss  nämlich  über- 
zeugen, dass  es  an  Innerlichkeit,  —  hinsichts  der  Macht  des 


*  Man  könnte  aus  dem  Basseintritte  nichts  als  eine  übervollständige  Durch- 
führung folgern  wollen;  allein  zu  deutlich  tritt  hier  und  anderwärts  (z.  B.  S.  46 
und  \ 8  der  Schlesinger'schen  Originalausgabe)  der  Bass  in  seiner  Grundgewalt 
unterschieden  vom  zarten  Tenor  auf.  Und  am  Ende  wäre  ja  das  ein  blosser 
Namenstreit. 

**  Die  Orgel  hat  grössern  Umfang,  legt  ihn  aber  nicht  auf  einmal  dar. 
Es  ist  ihr  nicht  angemessen,  ihre  zweiunddreissigfüssigen  und  ihre  zwei-  und 
einfüssigen  Register  abgesondert  und  gleichzeitig  neben  einander  zu  stellen ;  sie 
mischt  das  Tiefste  und  Höchste  mit  dem  Mittlern  zu  innerlichem  Reichthum. 


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Natur  und  Technik  des  Instmmentes. 


25 


Schalles,  des  ansprechenden,  das  Gefühl  weckenden  und  befriedi- 
genden Klangs,  der  feinen  und  innigen  Tonverbindungen  u.  s.  w. 
—  den  meisten  andern  Instrumenten  nachsteht,  dagegen  an  äus- 
serlichem  Reichthum,  —  Tonumfang,  Spielgeschick,  Fähig- 
keit für  Harmonie  und  Polyphonie  —  allen  (nur  mit  Ausnahme  der 
Orgel  für  gewisse  Aufgaben)  vorgeht.  Daher  —  und  eben  weil 
Sinnlichkeit  und  das  unmittelbar  mit  ihr  zusammenhangende  Gefühl 
minder  gesattigt  werden  —  ist  es  in  seinem  Wirken  geisti- 
ger, es  weckt  und  reizt  die  Phantasie,  unserm  Empfinden  zu 
ersetzen,  was  das  Instrument  in  der  Wirklichkeit  nicht  giebt,  wäh- 
rend diese  dichterische  Thätigkeit  der  Seele  bei  befriedigendem, 
das  Gefühl  sättigendem  Instrumenten  keinen  so  dringenden  Anlass 
hat,  sich  zu  bethätigen.  Aus  diesen  beiden  Gründen,  —  vermöge 
des  äusserlichen  Reichthums  und  Geschicks  und  vermöge  seines  an- 
regenden Einflusses  auf  die  Phantasie,  —  ist  das  Pianoforte  das 
verbreitetste  und  geistig  herrschendste  Instrument  geworden,  an  dem 
die  Phantasie  des  Komponisten  sich  am  freiesten  und  lufligsten  er- 
geht und  bei  dem  der  Geist  des  Hörers  am  willigsten  folgt,  am 
leichtesten  aus  sich  ergänzt,  was  das  Instrument  bei  seiner  inner- 
lichen Unzulänglichkeit  mehr  anzudeuten,  als  wirklich  zu  geben 
vermag. 

Wir  wollen  also,  auf  dieser  Betrachtung  fussend,  allerdings 
streben,  dem  Naturell  des  Instrumentes  gemäss  zu  schreiben,  es 
auf  das  Günstigste  zu  benutzen  und  zu  bedenken.  Wenn  dann 
aber  das  Vermögen  desselben  doch  nicht  ausreicht  für  unser  ur- 
sprüngliches Empfinden,  für  den  vollen  Ausdruck  unseres  geistigen 
Lebens:  so  wollen  wir  nicht  das  opfern,  was  unser  Eignes  und 
Eigenthümliches  ist,  wollen  nicht  das  Geistige  um  der  Fülle 
des  Körperlichen  willen  aufgeben,  sondern  über  die  Gränzen 
des  Instrumentes  hinaus  auf  die  ergänzende  Phantasie  und  Mitthätig- 
keit  des  Hörers  rechnen.  Die  Kunstherrlichkeiteines  Beethoven 
in  seinen  Klavierkompositionen  beruht  eben  darauf,  dass  er  das  Instru- 
ment auf  das  Intelligenteste  zu  benutzen  und  dadurch  unsem  Geist 
dem  seinigen  auch  dahin  nachzuziehn  wusste,  wo  das  Organ  für  den 
vollen  Ausdruck  des  Gedankens  in  der  That  nicht  mehr  zulangt.* 

Uebergang  zur  Komposition. 

Es  kommt  nun  Alles  darauf  an,  uns  in  die  neue  Richtung  für 
unsre  Kompositionsthätigkeit,  —  in  die  Berücksichtigung  und  Be- 
nutzung des  Organs,  —  hineinzufinden.  Dies  ist  die  neue  Seite 
der  bevorstehenden  Aufgaben,  während  wir  uns  mit  den  andern 

*  Hierzu  der  Anhang  A. 

/ 

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26 


lieber  gang  zur  Komposition 


schon  früher  bekannt  gemacht,  namentlich  eine  Reihe  von  Kunst- 
formen geübt  haben,  aus  denen  die  noch  zu  erlernenden  nur  Folgen 
oder  Zusammensetzungen  sind.  Wir  müssen,  um  uns  in  diese  neue 
Richtung  am  sichersten  hineinzufinden,  eine  Kunstform  aufsuchen, 
die  vorzugsweise  die  Restimmung  hat,  das  Organ  (also  hier 
das  Klavier)  nach  seiner  Eigenthümlichkeit  geltend  zu  machen, 
während  sie  an  die  übrigen  Seiten  der  Kompositionsthätigkeit  nur 
geringe  Anfoderungen  stellt. 

Von  allen  Kunstformen  ist  keine  für  unsern  Zweck  so  geeig- 
net, als  die  Etüde.  In  ihr  ist  die  Renutzung  des  Instruments 
(und  die  Rildung  dafür)  Hauptsache  und*  der  sonstige  Inhalt  nur 
Mittel  zu  jenem  Zwecke,  daher  auch  ihre  Form  die  leichteste  und 
lockerste  von  allen.  In  ihr  finden  wir  also  die  beste  Anknüpfung, 
und  müssen  vemunftgemäss  mit  ihr  beginnen,  um  spater  das  an  ihr 
Erlernte  auch  bei  den  vielseitigem  Anfoderungen  der  hohem  Formen 
anzuwenden. 


Zweiter  Abschnitt. 
Die  Etüde. 

Die  Etüde  ist  ursprünglich  ein  Tonstück,  an  dem  irgend  eine 
technische  Geschicklichkeit  oder  Vortragsweise  in  ansprechender 
künstlerischer  Form  zur  Uebung  kommt.  Dass  der  geschicktere 
Spieler  sich  bei  der  Abfassung  solcher  Etüden  nicht  mit  den  ein- 
fachem Uebungsgegenständen  aufhält,  dass  er  seltnere  und  schwie- 
rigere Formen  und  Motive  aufsucht,  und  dergleichen  mit  Vorliebe, 
ja  bisweilen  mehr  aus  Künstlerlaune,  als  für  den  eigentlichen 
Uebungszweck  durchführt,  —  auch  wohl  mit  einem,  dem  Künstler 
gar  nicht  Übel  anstehenden  Eigensinn  über  die  Gränze  der  nöt In- 
gen Uebung  hinaustreibt,  —  dass  sich  hier  selbst  höhere  künst- 
lerische Erregung  gleichsam  unvorhergesehn  einfinden  und  dem 
ursprünglich  nur  untergeordneter  Sphäre  zugehörigen  Werk  höhere 
Weihe  zuertheilen  kann :  das  würde  jeder  mit  der  Natur  des  künst- 
lerischen Geistes  Rekannte  voraussehn,  wäre  nicht  die  obige  Ent- 
wickelung  schon  in  der  Ausbildung  der  Etüdenform  geschichtlich 
gegeben.  Die  älteren  Etüden,  z.  R.  die  meisten  von  Clementi  und 
C ramer  (denen  sich  A.  Schmitt  und  andre  Lehrer  mit  Ver- 
dienst angeschlossen),  gehören  vorzugsweise  dem  Uebungszweck 
an,  wiewohl  der  erstgenannte  Meister  (in  seinem  Gradus  ad  par- 
nassum)  die  Gelegenheit  wahrgenommen,  manches  Tonstück  von 


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Die  Etüde. 


27 


andrer  Richtung  (z.  B.  Fugen,  die  er  schon  früher  gearbeitet  und 
jetzt  verbessert)  der  Oeffentlichkeit  zu  übergeben.  War  nun  hier 
(unter  Voraussetzung  der  eigentlichen  Elementarübungen)  für  die 
nähern  Bedürfnisse  der  Spielübung  gesorgt,  zugleich  die  Ausübung 
durch  fortgesetztes  und  zweckmässiger  geleitetes  Studium  bedeutend 
gefördert  und  in  machtigem  Fortschreiten :  so  konnten  neuere  Ton- 
setzer schon  weiter  und  freier  vorwärts  schreiten,  schwerere,  aber 
auch  grossartigere  und  sinnigere  oder  phantasie vollere  üebungen 
und  Tonspiele  wagen;  wie  man  von  A.  E.  Müllems  Capricen* 
und  Moscheies'  Etüden**  bis  auf  die  neuesten  Tonsetzer  hat 
beobachten  können.  Vorragend  unter  diesen  sind  Chopin,  Litolff, 
Henselt,  R.  Schumann,  —  obenanstehend  an  Kühnheit  der 
Aufgaben  F.  Liszt  in  seinen  grandes  etudes. 

Auch  wir  wollen  uns  auf  diesem  naturgemässen  geschichtlichen 
Weg  in  die  angemessne  Behandlung  des  Instruments  einführen. 
Irgend  eine  dem  Klavierspieler  nöthige  Geschicklichkeit,  —  diesmal 
sei  es  die  Uebung  der  beiden  schwächsten  Finger,  des  vierten  und 
fünften  an  der  rechten  Hand,  —  soll  uns  das  Hauptmotiv  geben; 
es  sei  dieses: 

Die  nächste  hervortretende  Aufgabe  unsrer  Komposition  wird 
die  sein,  dieses  Motiv  recht  fleissig  als  Uebung  zu  benutzen.  Dies 
muss  aber  in  künstlerischer  Form  geschehn;  nicht  blosse  Finger- 
übung, sondern  diese  in  der  Form  und  mit  der  Annehmlichkeit 
eines  Kunstwerks  ist  Aufgabe.  Folglich  bedarf  es  irgend  einer 
Kunstform,  in  der  unser  Motiv  zu  einem  Ganzen  erwachse. 

Für  so  kleine,  untergeordnete  Aufgaben  genügen  die  einfach- 
sten Formen,  die  des  Prä  lud  i  ums  oder  auch  die  des  Liedes. 

Beide  kennen  wir  schon,  wissen  auch,  wie  leicht  und  gern 
die  erstere  in  die  andre  übergeht.  Versuchen  wir  zuerst  die  zweite, 
als  die  bestimmtere. 

Allegro  commodo. 


m  'f~f~i — r  r  r  f  i — 

m — -ö — i  i  |  L  r-r~i 

j.<<-\2  i,  j 

Y- — *    i  — i 

fc=  j 

H — |=£p  tr-JrT  p 

r  — r  =4 

*  Bei  Peters  in  Leipzig;  sehr  gehaltvoll,  lehr-  und  übungsreich,  nur  lei- 
der monoton  in  der  Form  und  Breite  der  Ausführung. 

**  Bei  Probst  (Kistner)  in  Leipzig  und  Schlesinger  in  Berlin. 


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28 


lieber  gang  zur  Komposition. 


INSU 


PI 


F 


I 


Nach  der  vorherrschenden  Neigung  aller  musikalischen  Gestalten 
zu  rhythmischer  —  das  heisst  also :  satzförmiger  Ordnung  (Th.  II, 
S.  18)  nimmt  auch  unser  Versuch  satzförmige  Wendung,  die  sich 
nur  in  Modulation  und  Rhythmus 


~    1  • 

i 

* 

^=&=  f— r— 

 3'  

aussprechen  kann,  da  das  Hauptmotiv  stetig  beibehalten  und  auch 
die  unterstützende  leichte  Begleitung  in  ununterbrochner  Gleichheit 
fortgeführt  wird;  zu  letzterer  nehmen  wir  bald  zwei,  bald  drei 
Stimmen,  je  nachdem  Spielbarkeit  und  Wohlklang  anrathen. 

Sollen  wir  so  fortfahren?  —  Das  etwas  eigensinnige  Motiv 
(das  nicht  so  glatt  dahinfliesst,  wie  jenes  Bach' sehe,  Th.  II,  No.  224 
betrachtete)  möchte  bald  lästig  werden.  Wir  unterbrechen  es  we- 
nigstens an  dem  Punkte,  wo  der  rhythmische  Abschnitt  aus  Takt  2 
sich  wiederholt,  und  gehen  so  — 


I: 


m 


*  F 

i=fü 


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Die  Etüde. 


29 


m 


t 


5 


r 


4=F 


II  I 


p 

— fl-J 


r 


r 


r 


i 


r 


zu  einem  grössern  Abschnitte ;  es  ist  der  rhythmisch-harmonischen 
Konstruktion  nach 


»  bz 


8  7 
7  * 


flr      6  5 


6  * 


V 


fr        *        2         S7       *  * 


9* 


4: 


H 


fi  6  7 

5       56     4  ff 


ein  im  nächsten  Takt  auf  der  Dominante,  —  mithin  als  ein  erster 
Theil  abschliessender  Liedsatz  von 

2,  2,  und  4  Takten, 
mit  einem  Anhang  von  noch  zwei  Takten. 

Die  Konstruktion  dieses  ersten  Theils  und  die  Gesetze,  nach 
denen  sich  der  zweite,  oder  zweite  und  dritte  Theil  bilden  müsste, 
sind  uns  aus  der  reinen  Formlehre  bekannt.  Hier  kann  mithin  nur 


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30 


Uebergang  zur  Komposition. 


noch  von  der  Angemessenheit  der  Erfindung  für  das  Instrument  die 
Frage  sein.  Die  Erfindung  selbst,  wie  sie  in  No.  8  festgestellt 
worden,  darf  wohl  dem  dort  vorgesetzten  Zweck  entsprechend,  und 
daher  der  Ausführung  werth  genannt  werden ;  auch  die  Begleitungs- 
weise kann  bestehn.  Demungeachtet  wird  man  leicht  inne,  dass 
die  Entwickelung  etwas  eng  und  beschränkt  ausgefallen  ist.  Worin 
liegt  das? 

Erstens  darin,  dass  wir  von  einem  in  sich  schon  eigensinnig 
abgeschlossnen  Motiv  fast  gar  nicht  abgelassen  haben;  ferner  darin, 
dass  wir  es  beinahe  durchweg  an  eine  einzige  Stelle  gefesselt  und, 
wenn  wir  fortschreiten,  es  fast  nur  nach  einer  einzigen  Richtung 
geführt  haben. 

Wenigstens  die  letzte  Einseitigkeit  müsste  mit  dem  Eintritte 
des  zweiten  Theils  aufgegeben  werden ;  man  könnte  von  No.  1 1 
an  so  — 


fortschreiten.  Hier  ist  zwar  in  der  engen  Haltung  des  Ganzen  der 
in  No.  9  und  11  gegebne  Karakter  beibehalten,  doch  aber  nicht 
bloss  dem  Gang  des  Ganzen  andre  Richtung,  sondern  auch  dem 
Motiv  selbst  (bei  a.)  neue  Wendung  gegeben.  Die  weitere  Aus- 
führung mag  Jeder  selbst  suchen.  Allein,  wie  man  sie  auch  treffe, 
das  Ganze  wird  —  wenn  man  nicht  den  ursprünglichen  Karakter 
aufgeben  will  —  etwas  Gebundnes  oder  Gepresstes  behalten,  weil 
es  sich  in  einem  verhältnissmässig  engen  Tonbereich  hält,  statt  den 
weiten  Umfang  des  Instruments  zu  freierem  und  reicherem  Spiel  zu 
benutzen. 


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Die  Etüde.  31 
Dies  wird  nun  nächste  Aufgabe.    Hier  — 


AUegro  impetuoso. 


ist  ein  neuer  Versuch  mit  demselben  Motiv  gemacht  und  ungefähr 
so  weit  wie  der  vorige  geführt.  Die  Behandlung  erscheint  in 
zweierlei  Hinsicht  günstiger.  Erstens  wird  das  Hauptmotiv  zu  An- 
fang und  im  dritten  Takte  fester  auf  einem  Punkte  gehalten,  wäh- 
rend in  No.  9  jeder  Schlag  das  Motiv  auf  eine  andre  Stelle  rückte. 
Da  nun  dasselbe  einen  vollen  Akkord  umschreibt,  so  wird  die  Aus- 
führung eben  so  beschwert  (und  unbeholfen),  als  wenn  man,  wie 
hier  bei  a., 


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32 


Uebergang  zur  Komposition. 


mit  vollen  Akkorden  hin  und  her  gehen  wollte ;  die  im  Motiv  selbst 
liegende  Oktavenfolge  vergrössert  noch  die  Unannehmlichkeit.  Ein 
Blick  auf  b.  in  No.  15  zeigt  den  Vortheil  des  neuen  Entwurfs. 
Zweitens  erhebt  sich  dieser  mit  dem  zweiten  Takt  in  eine  höhere 
Oktave,  und  senkt  sich  dann  wieder  um  anderthalb  Oktaven,  so  dass 
dadurch  dem  Ganzen  grössere  Mannigfaltigkeit  gewonnen  und  der 
Tonumfang  des  Instruments  (S.  24)  weit  günstiger  benutzt  wird, 
als  in  der  ersten  Bearbeitung  geschehn  konnte. 

Demungeachtet  haftet  auch  hier  noch  eine  gewisse  Gedrungen- 
heit am  Satze,  die,  wenn  wir  so  fort  arbeiteten,  lästig  fallen  würde. 
Das  Motiv  ist  zwar  rhythmisch  bewegt,  aber  dabei  —  wie  wir  be- 
reits erkannt  haben  —  harmonisch  gefüllt  und  abgeschlossen;  wir 
müssen  es  durch  die  Behandlung  erleichtern,  und  zwar  nicht  bloss 
im  Vorübergehn,  wie  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Taktes, 
sondern  in  ganzen  Partien. 


Hier  ist  eine  von  sehr  vielen  Anknüpfungen,  in  denen  dasselbe 
Motiv  leichter  fortgeführt  wird;  die  Erleichterung  beruht  auf  der 
Vertheilung  desselben  unter  zwei  ablösende  Stimmen ;  der  neue  In- 
halt des  zweiten  Taktes  würde  wahrscheinlich  in  dem  nächst  zu 


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Die  MMe. 


33 


schreibenden  Takt  in  Cdur  auf  y-h-d-f  einsetzend;  wieder- 
kehren . 

Auch  hier  brechen  wir  ab;  Jeder,  der  den  zweiten  Theil  der 
Lehre  aufmerksam  durchgearbeitet  hat,  wird  leicht  den  obigen  Ent- 
wurf fortführen  oder  mancherlei  Wendungen  und  Erfindungen  an 
die  Stelle  von  No.  16  setzen  können.  Zum  Schluss  der  ganzen 
Versuchsreihe  bringen  wir  noch  einmal  dasselbe  Motiv  in  flüchtigerer 
Bewegung.  In  No.  44  hatten  wir  die  fliessendere  und  ausgebreite- 
lere Führung  des  Motivs  dazu  günstig  befunden.  Beides  ist  hier  — 


Allegro  vivace. 


17 


f 

! 


con  leggerezza  e  piano 


m 


yiEEdiiilli^i 


Pf 


31 


forte 


^'"7     7-4)^      I  ■=P=Z 

4  '  '*  JJJJjf 


vorherrschend  geworden ;  da  sich  zugleich  die  Begleitung  noch  mehr 
untergeordnet  hat,  so  geht  das  Ganze  in  Vergleich  mit  den  frühern 
Versuchen  in  flüchtigster  Weise  und  in  leicht  übersichtlichen  Massen 
vorüber.  Man  sieht  schon  voraus,  dass  im  nächsten  Takte  der 
Anfang  wiederholt  und  wahrscheinlich  nach  der  nächstverwandten 
Tonart   ;7)dur ),  —  vielleicht  in  dieser  Weise  von  Takt  3  an,  — 

Marx.  Koiup.-L.  III.  •">.  Aufl.  .} 


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34  Ueberyang  zur  Komposition. 


weiter  gewendet  werden  wird. 

Soviel  über  diese  Form,  die  zu  den  einfachsten  gehört  und  zu 
der  der  zweite  Theil  des  Lehrbuchs  schon  hinlängliche  Anleitung 
gegeben,  dass  hier  fast  nichts,  als  die  Rücksicht  auf  das  Instrument 
für  Erwägung  und  Uebung  übrig  bleibt.  In  dieser  Hinsicht  haben  wir 

1)  dem  Instrument  selber,  —  dem  Zweck,  seine  Behand- 

lung zu  erlernen,  ein  Motiv  abgewonnen; 

2)  uns  in  einer  leicht  weiter  zu  verfolgenden  Reihe  von 

Versuchen  thatsächlich  überzeugt ,  wie  vielfältig  ein 
solches  Motiv  in  stets  dem  Instrument  angemessener 
Weise  durchgeführt  werden  kann;  dabei  aber 

3)  an  den  verschied nen  Bearbeitungen  zu  beobachten  ge- 

habt, welche  dem  Instrument  und  unserm  Zwecke  gün- 
stiger, und  durch  welche  Mittel  wir  bald  diese,  bald 
eine  andre  Seite  der  Aufgabe  hervorgehoben  haben. 
Dergleichen  Arbeiten,  —  wenn  sie  auch  nicht  über  den  bisher 
i'estgehaltnen  Standpunkt  hinausreichen,  —  müssen  schon  an  sich 
für  den  Kompositionsjünger  wie  für  den  Spieler  anziehend  sein. 
Aber  sie  sind  auch  bildend  und  führen  auf  das  Erwünschteste  in 
den  Kreis  und  Sinn  der  Aufgaben,  die  wir  jetzt  (S.  5)  als  vornehm- 
sten Gegenstand  unsrer  Studien  ansehen.  Wir  finden  uns  in  die 
bisher  ganz  bei  Seile  gelassne  Rücksichtnahme  auf  wirkliche  Dar- 
stellung ,  und  zwar  zu  bestimmten  zunächst  technischen ,  dann 
;iber  auch  künstlerischen  Zwecken  allmählich  hinein,  und  sie  wird 
uns  bis  zu  unbewussler  Sicherheit  zu  eigen,  bevor  wir  noch  zu 
grössere  Aufgaben  schreiten,  deren  wichtigerer  Inhalt  liefere  und 
ungestörte  Versenkung  des  Geistes  fodert ,  bei  denen  jene  Rück- 
sichtnahme schon  so  zur  Natur  geworden  sein  muss,  wie  die  Form- 
bedingungen nach  der  Durcharbeitung  der  Formlehre. 


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Die  Etüde. 


35 


Uebrigens  darf  sich  bei  diesen  Arbeiten  der  Jünger  manche u 
Vorversuch  am  Instrumente  (dergleichen  wir  bisher,  —  Th.  1, 
S.  18,  —  abgerathen)  gestatten  und  in  freiem  Phantasiren  Erre- 
gung und  Stoff  für  seine  Schöpfungen  gewinnen.  Ist  aber  die 
Arbeit  selbst  begonnen,  dann  trachte  er,  sie  ohne  Hülfe  des  Instru- 
ments zu  Ende  zu  bringen,  damit  er  sich  nach  der  vom  Instrument 
herübergeholten  Anfrischung  und  Erweckung  nun  in  der  schon  frü- 
her angeeigneten  Freiheit  des  Geistes  erhalte.  Es  ist  von  jetzt 
an  in  diesem,  wie  in  manchem  andern  Punkte  bestimmtere  Vor- 
schrift unstatthaft.  Allmahlich  tritt,  nach  strengerer  Vorschule  und 
Gebundenheit,  die  Individualität  jedes  einzelnen  Jüngers  in  ihre 
wohlberechtigte  Freiheit  heraus,  und  es  bilden  sich  diese  oder  jene 
abweichende  Gewohnheiten,  von  denen  man  keine  aus  allgemeinem 
Gesichtspunkten  verwerfen  dürfte,  ohne  freier  Entwicklung  und 
Bethatigung  störend  in  den  Weg  zu  treten.  Wir  wissen  von 
wahren  Künstlern,  z.  B.  dem  geistfreien  Beethoven,  dass  sie 
es  liebten  und  ohne  Nachtheil  gewohnt  waren,  ihre  Anregungen 
am  Instrumente  zu  steigern*,  —  während  sich  bei  andern  (i.  B. 
dem  geistreichen  K.  M.  v.  Weber)  ein  nachtheiliger  Einfluss  zu 
häufigen  Versuchens  und  Suchens  am  Klavier  hin  und  wieder  in 
Sätzen  gewahr  werden  lässt,  die  mehr  klavier-  als  Orchester-  und 
gesangmässig ,  —  oder  die  (wie  bei  Dussek,  Prinz  Louis, 
Field  u.  s.  w.)  durch  die  Einwirkung  der  Besonderheit  des  eng- 
lischen Mechanismus  an  ihren  Instrumenten**  einer  einseitigen 
Spielmanier  verfallen  sind.  Wiederum  wissen  wir  von  andern, 
z.  B.  von  W.  A.  Mozart,  wie  leicht  sie  ohne  alle  äusserliche  Bei- 
hülfe, selbst  bei  einem  scheinbar  zerstreuenden  Leben,  die  grössten 
Konzeptionen  begonnen  und  vollendet  haben,  wie  sogar  Altvater 
Bach  jede  Klavierhülfe  verspottete  und  denen,  die  sie  suchten, 
den  Namen  Klavierhusaren  anhing.  Wir  müssen  fähig  sein, 
äussere  Hülfe  zu  entbehren,  wollen  aber  so  wenig  die  Anfri- 
schung, die  das  Instrument  bisweilen  bietet,  wie  irgend  einen  Vor- 


*  Beethoven  phantasirte  (singend  und  spielend-  sogar  noch  am  Instru- 
mente mit  höchster  Erregung,  als  er  schon  gänzlich  des  Gehörs  beraubt  war. 
In  dieser  Zeit  wurde  die  sehnsuchtvoll  klagende  yüdur-Sonate  (Op.  MO)  und 
die  Cmoll-Sonate  (Op.  Hl)  mit  dem  fern  herübertönenden  und  verhallenden 
Finale  geschaffen. 

**  Die  grosse  Satligkcit  des  Klanges,  die  Breite  und  der  tiefe  Kall  der 
Tasten  verlocken  zu  einem  in  breiten  Ton-  und  Stimmlagen  mehr  grandios  oder 
sentimental  als  leicht  und  energisch-durchgeistet  sich  vollendenden  Spiel.  Hier 
erkennt  man  das  Grosssinnige,  aber  auch  monoton  Manieiirte  der  Dussek'- 
schen  und  Louis-  Fe rd ina n d ischen  Kompositioneil.  Auch  die  neuesten  Kla- 
vierwerke tragen  den  Stempel  dieses  jetzt  vorherrschenden  Instrumentenbaues.; 
Organ  und  Geist  slehn  überall  in  Wechselwirkung. 

3* 


4 


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36  Uebergang  zur  Komposition. 

theil  spröde  verschmähn.  Dass  der  Geist  sich  frei  und  reich  offen- 
bare, darum  ist  es  zu  thun;  das  Wie  kann  mancherlei  Formen 
annehmen,  ohne  dass  man  eine  gegen  die  andre  schlechthin  vor- 
zieh n  oder  verwerfen  dürfte.  — 


Dritter  Abschnitt. 
Die  hohem  Formen  der  Etüde. 

Die  ersten  Versuche  gingen  von  dem  Vorsatz  aus,  für  eine 
ganz  specielle  technische  Fertigkeit  üebungstoff  zu  schaffen;  sie 
suchten  dazu  ein  geeignetes  Motiv  und  hatten  im  Wesentlichen  fast 
keinen  andern  Inhalt,  als  dieses  eine  Motiv,  das  in  mehr  oder  we- 
niger glücklicher  Weise  durchgeführt  wurde.  Nach  der  Beschaffen- 
heit dieses  Motivs  (S.  27)  und  damit  ein  so  engbegränzter  Stoll 
nicht  ganz  kleinlich  erscheine,  wählten  wir  die  Liedform;  sie  er- 
scheint auch  wegen  ihrer  Festigkeit  für  die  ersten  Arbeiten  wün- 
schenswerth. 

Hebungen  dieser  Art  reihen  sich  hinsichts  ihrer  Uusserlichen 
Bestimmung  den  Elementar-Spielübungen  an.  Eine  höhere  Beihe 
von  Etüden  schliesst  sich  nicht  in  einer  so  speciellen  Tendenz 
ein,  sondern  setzt  sich  zur  Aufgabe,  irgend  eine  besondere  Spielart 
oder  Darstellungsweise  zur  Hebung  zu  bringen  ;  —  oder  umgekehrt : 
eine  solche  Spielweise  regt  als  Grundgedanke  die  Komposition 
des  Tonstücks  an;  die  Komposition  hat  also  innerlichem  Ur- 
sprung, ist  um  ihrer  selbst  willen  da,  und  der  Uebungszweck  ist 
das  Zweite,  Untergeordnete. 

Hier  öffnet  sich  der  Komposition  freierer  Spielraum.  Sie 
hat  nur  soviel  Anlass,  an  dem  einen  Motiv  festzuhalten,  als  es 
Uberhaupt  im  Wesen  aller  Komposition  liegt,  nach  innerer  Einheit 
zu  streben,  denn  die  Spielweise,  die  ihr  zur  Aufgabe  geworden 
ist,  kann  sich  durch  sehr  vielfaltige  Motive  äussern.  Indem  nun 
der  Inhalt  reicher  und  freier  wird,  begehrt  er  auch  freiere  und 
weitere  Form,  —  und  so  tritt  hier 

die  Präludienform 
in  ihr  besseres  Becht.  Damit  soll  aber  keineswegs  gesagt  sein, 
dass  sie  nothwendig  und  die  Liedform  unzulässig  wäre.  Haben  wir 
doch  schon  die  Polyphonie,  die  ihrem  Wesen  nach  den  bestimmt 
abgegränzlen  Bhythmen  widerstrebt,  sich  in  Liedform  (Th.  II, 
S.  196)  zurückwenden  sehn  und  längst  erkannt,  dass  mechanisch- 
scharfes Abschliessen  der  Gränzen  und  Formen  dem  Wesen  der 
Kunst  widersprechend,  unausführbar  ist. 


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Die  höhern  Formen  der  Etüde. 


37 


Unter  diesen  Voraussetzungen  werde  beispielweis'  ein  leicht 
und  luftig  schwebendes  Spiel  beider  Hände  zur  Kompositionsaufgabe: 
wir  wählen  dazu  dieses  Motiv, 

Allegro  affcttuoso. 


19 


—  oder  das  Motiv  reizt  uns  zu  der  Aufgabe. 

Betrachten  wir  zuerst  diesen  Satz,  den  wir  hier  Motiv  nennen, 
so  ist  seine  mehrfache  Zusammensetzung  sogleich  klar.  Die  vier 
Noten  des  ersten  und  die  des  zweiten  Viertels  sind  die  beiden  er- 
sten Motive ;  das  erste  derselben  zeict  sich  sogleich  im  zweiten 
Takte  beweglich  und  nutzbar,  und  führt  da  (in  den  letzten  drei 
Achteln)  zu  einem  dritten  aus  ihm  gewonnenen  Motive.  Die  Ant- 
wort auf  der  Dominante  und  der  weitere  Fortgang  — 


P 


mm 


cre  -   scen    -  do 


I 


t-f — r^til — — i*=H-  — 

*  5-«Vri-*Li4F-i'  .  «V- 

d.           *  Ped.             *  * 

F  Mf '  s 

f-rcgf-rt 

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38  Uebergang  zur  Komposition. 

sind  nun  in  dieser  oder  einer  andern  Weise  das  Nächstliegende  und 
leicht  festzustellen. 

Man  bemerke,  dass  die  Fessellosigkeit  der  Aufgabe  sich  fort- 
während geltend  macht.  Nimmt  man  die  beiden  ersten  Viertel  in 
No.  19  als  ein  Motiv  zusammen,  so  wird  es  in  demselben  Takt 
einmal,  dann  in  No.  20  Takt  1,  3  und  4  noch  sechsmal  wiederholt 
und  stets  umgestaltet,  während  in  den  frühern  Versuchen  kaum  eine 
vorübergehende  Abweichung  gewagt  werden  durfte.  Auch  im  Uebri- 
gen  ist  diese  Freiheit  wahrzunehmen.  —  Man  wird  sich  dabei  zu- 
gleich überzeugen, 

dass  die  grössere  —  bis  an  Willkür  schweifende  Ungebunden- 
heit  und  die  durch  sie  gewonnene  Mannigfaltigkeit  im  kleinen 
Spiel  der  Formen  dem  Instrument  besonders  zusagt. 
Denn  eben  wegen  der  mindern  Innerlichkeit  des  Klanges  und  der 
im  Vergleich  zu  andern  Organen  geringen  Schallkraft  bedarf  das 
Pianoforte  mehr  als  sonst  die  Musik  (S.  24)  reicherer  Tongruppen. 
In  diesen  sind  nicht  immer  die  einzelnen  Gestaltungen  (Tonfolgen 
das  eigentlich  Wesentliche,  sondern  die  ganze  Tonmasse  ist  es,  die 
gleichsam  statt  Eines  Tons  oder  Intervalls  von  einem  andern  Organ 
gilt.  Folglich  sind  oft  mancherlei  Tongestaltungen  für  Einen  Zweck 
möglich  und  eben  darum  auch  wünschenswerth ,  damit  nicht  das 
Unwesentliche  sich  festsetze,  als  wär'  es  ein  Nothwendiges  und 
Wichtiges. 

Mit  dieser  Beweglichkeit  und  Wechselhaftigkeit  des  Tonspiels 
hängen  mancherlei  Freiheiten  zusammen,  die  man  sich  in  har- 
monisch-melodischer Hinsicht  mit  Recht  gestattet.  Hierhin  gehört  in 
No.  19  auf  dem  letzten  Achtel  der  Hülfston  eis  in  der  Oberstimme, 
nach  dem  man  ein  sofortiges  (/  in  derselben  Stimme  erwarten  sollte. 
Dies  kommt  aber  erst  im  zweiten  Takte  von  No.  20,  als  läge  der 
Tonsatz  in  dieser  Gestalt 


U.  H.  W. 


= 


vor:  —  und  in  der  That  ist  das  der  Grundgehalt  desselben. 

Doch  wir  kehren  zur  Komposition  zurück.  Obgleich  wir  die 
Form  des  Präludiums  in  Absicht  haben,  drängt  doch  unsre  Etüde 
mit  dem  achten  Takte  (in  No.  20)  zu  satzförmigem  Abschluss,  nur 
dass  derselbe  nicht  formell  vollzogen,  sondern  durch  Weiter- 
bewegung wieder  aufgehoben  wird.  Diese  Neigung  aller  Tonbewe- 
gung zum  Abschluss  ist  uns  längst  bekannt.  Folglich  wird  es  auch 
angemessen  scheinen,  auf  den  Anfane  zurückzucehn  das  thut  der 
letzte  Takt  in  No.  20)  und  den  Satz  zu  wiederholen.  Dies  soll 
hier  bis  zum  letzten  Takte  von  No.  20  geschehn. 


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Die  höhern  Formen  der  Etüde.  39 


Hiermit  ist  nun  der  Punkt  gegeben,  auf  dem  sich  unsre  Form 
nothwendig  entscheiden  muss.  Schliessen  wir  jetzt  bestimmt  ab  (in 
C  dur,  oder  G  dur,  oder  mit  einem  Halbschlusse  von  der  Tonika  C 
auf  die  Dominante),  so  ist  die  Liedform  festgesetzt.  Wollen  wir 
die  Präludienform  ausführen,  so  muss  eben  nicht  abgeschlossen 
werden.  Dies  ist  unsre  Absicht  und  dazu,  —  gleichsam  schwebend 
zwischen  beiden  möglichen  Wegen  und  auf  den  Endschluss  hinstre- 
bend, —  weilen  wir  bei  dem  zum  Schluss  führenden  Akkorde.  Nach 
Takt  5  aus  No.  20  (mit  der  Wiederholung  wäre  dies  der  fünfzehnte 
Takt)  fahren  wir  —  also  mit  Takt  16  —  so  fort 


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40 


Uebergang  zur  Komposition. 


Nicht  nur  das  Motiv  (oder  die  Motive]  wird  hier  im  dritten, 
vierten,  sechsten,  achten  Takt  aufgegeben,  der  Gang  führt  auch 
in  eine  fremde  Tonart,  in  der  wir  weilen,  ohne  zu  einem 
Schluss  oder  neuen  Satze  zu  kommen.  Und  so  erweist  sich  unge- 
achtet des  satzartigen  Anfangs  der  präludienhafte  Karakter  als  eigent- 
liche Form  unserer  Etüde.  Beiläufig  zeigt  sich  das  bewegliche  Motiv 
des  ersten  Viertels  aus  No.  19  hier  fortwährend  in  den  wech- 
selndsten Anwendungen  und  —  bei  dem  gangartigen  Karakter  der 
neuen  Takte  —  durchaus  als  das  herrschende.  Wenn  wir  es  zuerst 
glatt  und  leicht  kennen  gelernt,  so  muss  und  kann  es,  anders  mo- 
difizirt,  weiterhin  auch  zum  schallenden  Forte  dienen ;  wieder 
werden-  wir  einmal  an  die  vielseitigen  Wendungen,  die  ein  Grund- 
gedanke zulässt,  praktisch  erinnert. 

Vom  letzten  Takt  von  No.  22  aus  muss,  wenn  wir  uns  nicht 
in  das  Ungemessne,  in  immer  neue  Tonarten  mit  den  schon  viel- 
gebrauchten Motiven  verlieren  wollen,  zum  Ende  eingelenkt  wer- 
den. Allein  —  wir  sind,  wenn  auch  nicht  der  Zahl  der  Takte  nach, 
doch  durch  Fremdheit  der  Modulation  nach  ./Isdur,  und  durch 
gänzliche  Veränderung  des  ursprünglichen  Karakters  ziemlich  weit 
vom  Anfang  abgekommen,  und  können  nicht  hoffen,  mit  einem  ein- 
zigen Akkorde  zufriedenstellend  einzulenken. 

Hier  wird  die  alte  Form  des  0 rgelpunkts  hülfreich.  Allein 
es  versteht  sich  von  selbst,  dass  jetzt  nicht  jene  inhaltschweren 
polyphonen  Orgelpunkte,  die  wir  bei  den  Fugen  kennen  gelernt, 
angemessen  erscheinen  können.  Vielmehr  wird  sich  —  wie  ja  in 
den  Fugen  auch  geschah  —  hier  der  Hauptinhalt  der  jetzigen 
Komposition,  und  damit  der  ursprüngliche  Karakter  derselben  über 
dem  Orgelpunkte  (oder  doch  gleich  nach  ihm)  wieder  herstellen. 
Es  könnte  so  — 


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Die  höhern  Formen  der  Etüde. 


41 


23  < 


5± 


f 


v 


oder  in  ähnlicher  »Weise  eingeleitet  und  eingelenkt,  und  dann  zu 
nöthiger  Abrundung  des  Ganzen  auf  den  Hauptsatz  zurückgegangen, 
oder  in  unmittelbarerer  Weise  über  dem  Halteton  des  Orgelpunkts 
gleich  der  Hauptsatz  selbst  — 


aufgestellt  werden.  Dies  und  der  Schluss  des  Ganzen  bleibe  der 
Ueberlegung  und  Ausarbeitung  eines  Jeden  tiberlassen.  Es  ist  nicht 
die  Aufgabe  des  Lehrbuchs,  fertige  Kompositionen  zu  liefern,  son- 
dern vielmehr,  zu  ihnen  anzuleiten  und  zu  diesem  Zweck  ihre  Ent- 
stehung und  Form  anschaulich  zu  machen. 

Dass  nun  der  Inhalt  der  Etüden  ein  reicherer  und  tiefer  sein, 
die  Form  derselben  (Liedform  sowohl,  als  Präludienform}  weiter 
und  in  mannigfach  abweichender  Weise  ausgeführt  werden  kann, 
muss  dem  Jünger  aus  dem  hier  und  bereits  in  den  frühern  Theilen 
des  Lehrbuchs  Ausgeführten  ohne  Weiteres  klar  sein.  Er  mag  sich 
daher  ohne  weitere  Anleitung  zu  freiem  und  reichern  Gestaltungen 
Bahn  machen,  und  kann  es.  Diese  Uebung  lässt  ihn  schon  jetzt 
manches  erfreuliche  Tonsttick  hoffen ;  der  grössere  Gewinn  besteht 
aber  darin,  dass  er  sich  in  die  Weise  seines  Instruments  finden, 
besonders  die  vielgestaltige  Beweglichkeit  seines  Spiels  hervorrufen 
und  benutzen  lernt,  eine  Seite  der  Kunst,  die  in  allen  bisherigen 
Aufgaben  nur  höchst  untergeordnet  hervortrat.  So  bewährt  sich 
hier  wieder,  was  schon  im  ersten  Theil  des  Lehrbuchs,  S.  13, 
ausgesprochen  worden :  dass  jede  Kunstform  nicht  bloss  an  sich, 
sondern  auch  um  des  Vollbegriffs  der  ganzen  Kunst,  um  unsrer 
sichern  Herrschaft  im  ganzen  Gebiete  willen  wichtig  und  not- 
wendig ist.  Jedes  Musikorgan  eröffnet  neue  Ansichten  vom  grossen 
Ganzen ;  das  Klavier  selbst  werden  wir  ebenfalls  noch  von  andern 
Seiten  kennen  lernen. 

Uebrigens  sei  bemerkt,  dass  ein  Theil  der  Etüden  auch  noch 
andre,  uns  bis  jetzt  fremde  Formen,  die 


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42 


Uebergang  zur  Komposition. 


Rondoform  und  Sonatenform 
angenommen  hat.    Wir  werden  diese  Formen  bald  an  gelegnem) 
Orte  kennen  lernen ;  bis  dahin  muss  der  Jünger  auf  sie  verzichten 
und  hat  für  seine  jetzige  Aufgabe  genügenden  —  und  im  Allgemei- 
nen den  geeignetsten  Spielraum  in  den  obigen  Formen. 

Zum  Schluss  kehren  wir  noch  einmal  auf  den  Ueberblick  (S.  26 
zurück,  der  uns  in  die  Etüdenform  eingeführt  hat.  So  gewiss  jedes 
beweglich  und  etwas  schwierig  gesetzte  Tonstück  zur  technischen 
Hebung  des  Spielers  dienen  kann,  wird  man  doch  einen  Unterschied 
zu  machen  haben  zwischen  solchen  Etüden,  die  ganz  entschieden, 
mit  einer  gewissen  Ausschliesslichkeit  auf  bestimmte  methodische 
Hebung  ausgehn,  wie  die  Arbeiten  im  vorigen  Abschnitt,  —  und 
zwischen  solchen,  denen  mehr  ein  freies  Spiel,  allgemeine  Be- 
fähigung des  Spielers,  oder  sogar  die  Darlegung  eines  Gedankens, 
dem  dieses  Spiel  nur  Mittel  ist  und  der  um  seiner  selbst  willen  aus- 
gesprochen sein  will  (wie  in  unserm  vorigen  Versuche),  Aufgabe  ist. 
Dergleichen  Tonstücke  führten  früher  den  Namen 

Tokkate, 

und  wenn  ihr  Hauptinhalt  oder  ihre  Figuration  von  besonders  eig- 
ner, ja  eigenwilliger  und  eigensinniger  Art  war,  den  Namen 

Caprice  oder  Capriccio. 
Beiderlei  Tonstücke  wurden  auch  wohl  in  der  (später  zu  erwäh- 
nenden) Form  der 

P  h  a  n  ta  sie , 

oder  zusammengestellt  mit  andern  Formen,  z.  B.  der  Fuge,  ausge- 
führt. So  hat  Seb.  Bach  Tokkaten  mit  anschliessenden  Fugen 
nu eh  andern  eingemischten  Nachahmungs-  und  Fugatosätzen)  hinter- 
lassen*, so  könnten  Mozart's  schwung-  und  spielvolle  Cdur-Phan- 
tasie  mit  Fuge**,  so  wie  die  gedrungen  energische  und  dabei  wie- 
der so  anmuthig  besänftigende  Cmoll-Phantasie  von  Seb.  Bach 
Tokkaten  genannt  werden. 

Alle  diese  Formen  sind  so  nah  verwandt  und  nähern  sich  alle- 
sammt  so  sehr  den  unbestimmtesten  Gestaltungen  (dem  Präludium 
und  der  Phantasie),  dass  sie  und  ihre  Namen  haben  in  einander  ge- 
rathen  müssen  und  ein  fester  Unterschied  wohl  niemals  hat  festge- 
halten werden  können.  Der  Name  Tokkate  ist  ausser  Gebrauch 
iiekommen,  die  so  zu  benennenden  Tonstücke  aber  schliessen  sich 
den  Etüden  oder  Phantasien  an.  Die  Benennung  Capriccio  ist  schon 
früher  (z.  B.  von  A.  E.  Müller  und  von  K.  M.  v.  Weber 


*  Vier  derselben  findet  man  Th.  IV  der  Gesammtausgabe  von  Bachs 
Klavierkompositionen  bei  Peters. 

**  Im  achten  Bande  der  Gesammtausgabe  von  Breitkopf  und  Härtel :  No  4 
der  neuen  Ausgabe  der  einzelnen  »Zwölf  Klavierstücke«. 
***  Capric  io  aus  ßdur  hoi  Schlesinger  in  Berlin. 


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Die  Klavierfuge. 


43 


öfters  für  solche  Tonstücke  angewendet  worden,  die  mehr  einer  be- 
stimmten Spielweise  in  geordneter  Durchführung  oder  geradezu  dem 
Zwecke  der  Uebung  gewidmet  waren,  als  einem  eigenwilligem, 
launenhaften  Spiel.  In  neuester  Zeit  scheint  auch  dieser  Name  in 
dem  der  Etüde  aufgegangen  zu  sein  ;  doch  finden  wir  ihn  unter  andern 
an  Kompositionen  von  Mendelssohn.  Uns  kann  an  all'  diesen  Na- 
men* und  subtilem  Unterschieden  nichts  Iieeen.  Wenn  wir  nur 
die  Formen  und  das  Geschick  zu  ihrer  Benutzuni:  gewinnen,  so 
mag  Jeder  den  ihm  beliebigen  Namen  wählen. 


Vierter  Abschnitt. 

Die  Klavierfuge. 

Von  dem  freien  und  leichten  Spiel  der  Etüde  wenden  wir  uns 
zu  einer  gehaltnern,  schon  aus  dem  zweiten  Theil  her  in  ihrem 
Werth  erkannten  Form  zurück,  zur  Fuge. 

Diese  wichtige  Form  wird  noch  an  verschiednen  Orten  der 
Gegenstand  unsrer  Betrachtung  und  Uebung  sein.  Wie  sie  an 
sich  sei,  ist  aus  dem  frühern  Studium  bekannt.  Wenn  wir  nun 
jetzt  und  weiterhin  mehrmals  zu  ihr  zurückkehren,  so  wird  nur  zu 
beobachten  sein :  wie  sie  sich  mit  den  jedesmaligen  Organen  dar- 
stellen lüsst,  —  und  welche  Rückwirkung  die  Natur  dieser  Organe 
auf  die  Form  selbst  oder  deren  Ausführung  äussert. 

In  Bezug  auf  das  Klavier  ist  hier  noch  eine  Erwägung  vor- 
auszuschicken. 

Die  Fuge  (und  die  verwandten  kontrapunktischen  Formen) 
ist  ein  in  sich  und  für  sich  selbst  so  reiches  Werk,  dass  der  mit 
Einsicht  und  Phantasie  Begabte  ihr  hohen  Genuss  abgewinnen  kann, 
selbst  abgesehn  von  ihrer  mehr  oder  weniger  vollen  und  vollge- 
uügenden  sinnlichen  Darstellung,  —  und  dass  dem  Komponisten  die 
Idee  und  Führung  derselben  werth,  ja  unerlässlich  werden  kann, 
selbst  wenn  er  erkennt,  dass  das  Organ  für  die  Darstellung  der  ei- 
gentlichen Intention  nicht  genügen,  sie  nicht  vollkommen  zu  Gehör 
bringen  kann.    Unter  solchen  Umständen  giebt  das  Klavier  we- 


*  Auch  der  Name  S eher zo  ist  oft  für  Caprice  oder  gar  Etüde  gebraucht 
worden.  Diesen  möchten  wir  hier  fern  halten,  weil  er  seine  eigne  Anwendung 
;«nders\vo  findet. 


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44 


Uebergang  zur  Komposition. 


nigstens  einen  Schattenriss,  Andeutungen  dessen,  was  der  Kompo- 
nist eigentlich  hat  austönen  lassen  wollen. 

Als  Beispiel  können  (unter  vielen  andern)  die  Es  dur-,  Edur-, 
B  moli-  und  A  dur-Fuge  im  ersten  Theil  des  wohltemperirten  Kla- 
viers dienen*.  Die  erstgenannte  fodert  offenbar  einen  leisen,  stillen 
sanften  Zug  und  Gesang  der  Stimmen.  Im  massigen  Tempo  (etwa 
Allegro  moderato)  sollen  ganze  Taktnoten  nicht  bloss  ausgehalten 
werden,  dass  sie  eng  und  innig  an  einander  schliessen,  sondern  man 
möchte  sie  gern  auch  an-  und  abschwellen  lassen,  z.  B.  gleich  das 
Thema 


25    g^z£    Q    1  ± 


~P — r 

zcz 


u.  s. 


poco 


in  der  hier  angedeuteten  Weise  nehmen.  Wie  wäre  das  dem  Kla- 
vier möglich?  Wie  soll  auf  dem  Klavier  der  Eintritt  des  Diskants 
in  der  Engführung  Takt  38  — 


NB. 


m 


26 


J  n 


m 


I 


zu  Gehör  gebracht  und  in  der  hohen  Lage  den  Tönen  auch  nur  so 
viel  Dauer  gegeben  werden,  als  sie  in  den  tiefern  Oktaven  (No.  25; 
haben  können  ?  denn  der  stärkere  Anschlag  thut  es  nicht  und  ist 
tiberdem  dem  Sinn  des  Ganzen  zuwider.  — Wie  sollen  in  derfdur- 
und  .ßmoll-Fuge  die  bedeutsamen  Haltetöne  klingend  bleiben !  Wie 
will  man  in  der  H dur-Fuge  neben  dem  schönen,  stillen  und  doch 
so  mächtigen  Zug  des  Thema's  unter  andern  Takt  12  — 

(Thema  NB. 


27 


den  bedeutungsvollen  Gang  der  Stimmen  versinnlichen"?  Es  bedürfte 
dazu  eines  ganz  andern  Organs,  z.  B.  des  Streichquartetts;  den- 
noch wären  aus  andern  Gründen,  die  wir  anderswo  zu  erwägen 
haben  werden,  diese  Kompositionen  für  Streichquartelt  wieder  nicht 
recht  geeignet.    So  wird  man  bei  aller  Unzulänglichkeit  der  sinn- 

*  Hier  und  anderwärts  ist  allemal  die  Breilkopf-Härtel'sche  Ausgabe  zu 
Grunde  gelegt. 


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Ute  Klavier  fuge 


45 


liehen  Erscheinung  dem  Klavier  treu  bleiben  und  dem  Meister  auch 
für  diese  kostbaren  Gaben  danken  müssen. 

Es  kann  also  nicht  die  Rede  davon  sein,  dergleichen  Komposi- 
tionen und  damit  einen  Theil  seines  eignen  Künstlerlebens  zu  opfern 
oder  zurückzudrängen.    Sie  bestehn  in  geistiger  Schöne. 

Soll  aber  eine  eigentliche  Klavierfuge  gegeben  werden,  dann 
müssen  wir  für  diese  Aufgabe  alle  dem  Klavier  nicht  geeigneten, 
von  ihm  nicht,  oder  unvollkommen  darstellbaren  Gestaltungen  auf- 
geben. Wir  müssen  uns  mit  unserm  Bilden  dem  Instrument  und 
seinen  Fähigkeiten  anschliessen,  keinen  Erfolg  von  Formen  (z.  ß. 
aushaltenden  Tönen)  erwarten,  deren  es  nicht  fähig  ist,  und  dagegen 
seine  besondern  Kräfte  benutzen. 

Dies  ist  schon  von  Seb.  Bach  in  seinen  grössern  Klavier- 
fugen auf  das  Lehrreichste  getroffen  worden.  Auch  die  Mehrzahl 
der  Fugen  des  wohltemperirten  Klaviers  ist  vollkommen  klaviermäs- 
sig ;  nur  tritt  hier  (wie  schon  S.  23  bemerkt  ist)  mehr  die  geistige 
Intention  und  wahrhaft  geistreiche  Kunst  des  Meisters  als  Haupt- 
sache hervor.  In  jenen  grössern  Arbeiten  dagegen  trifft  man  über- 
all auf  die  entsprechendsten  Beläge  über  die  Einigkeit  der  Idee  des 
Komponisten  mit  dem  Instrumente. 

Zunächst  erinnern  wir  nochmals  (S.  23),  dass  er  sich  gern  auf 
drei  Stimmen  beschränkt  und  von  diesen  oft  auf  z  wei  zurück- 
geht, weil  das  Instrument  (S.  22)  nicht  wohl  geeignet  ist,  viel- 
stimmiges Gewebe  deutlich  und  wirksam  vorzustellen.  So  in  der 
Fuge  der  chromatischen  Phantasie,  in  der  grossen  .Imoll-und  ismoll- 
Fuge*,  in  der  /fo  moll-Fuge  (mit  vorangehender  Tokkate),  in  der 
Cmoll-Fuge  (mit  Tokkate),  in  der  2?dur-Fuge  (mit  Phantasie)  und 
andern,  —  wie  er  selbst  in  vierstimmigen  Fugen  (z.  B.  in  der 
.lmoll-Fuge  mit  Phantasie)  sich  vorherrschend  mit  drei  oder  zwei 
Stimmen  bewegt.  In  dieser  Fuge  war  übrigens  Vierstimmigkeit 
durch  die  Fülle  und  Majestät  der  vorangehenden  Phantasie  bedingt. 

Sodann  sehen  wir,  dass  er,  der  im  wohltemperirten  Klavier 
und  anderwärts  in  der  grössten  Kürze  so  vielsagend  sein  kann,  in 
den  eigentlichen  Klavier-  oder  Spielfugen  sich  in  einer  Bequemlich- 
keit und  Weite  gehn  lässt,  die  man  nicht  der  Form  und  ihren  An- 
sprüchen, sondern  der  Natur  des  Instruments,  seiner  Fähigkeit  und 
Vorliebe  für  Spielreichthum  und  behaglich  ausgebreitete  Tonmassen 
zuzuschreiben  hat.  So  zählt  die  Fuge  der  chromatischen  Phantasie 
161,  die  grosse  ^lmoll-Fuge  198  Takte. 

Bei  dieser  grossen  Ausdehnung  findet  sich  nun  keineswegs  eine 
verhältnissmässig  häufige  Durch-  oder  Anführung  des  Thema's.  In 


*  Alle  hier  genannten  Werke  sind  im  vierten  Bande  der  Petcrs'schen  Aus- 
gabe enthalten. 


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46 


Uebergang  zur  Komposition. 


der  chromatischen  Fuge  tritt  nach  der  ersten  und  vollständigen 
Durchführung  das  Thema  zweimal  einzeln  in  der  Mittelslimme,  ein- 
mal im  Bass,  einmal  im  Diskant,  dann  einmal  getheilt  unter  Mitlel- 
und  Oberstimme,  und  zuletzt  nochmals  im  Bass  und  Diskant  auf. 
Eine  eigentliche  Durchführung  ausser  der  ersten  findet  nicht  statt, 
die  beiden  letzten  Anführungen,  die  wohl  als  Schlusssatz  des  Gan- 
zen zusammengehören,  sind  durch  einen  Zwischensatz  von  sieben 
Takten  geschieden.  —  Von  den  energischen  Formen  der  Engfüh- 
rung, Verkehrung  u.  s.  w.  ist  in  allen  genannten  Fugen  kein  Ge- 
brauch gemacht. 

Fragen  wir  nun,  welches  denn  der  eigentliche  und  vorherr- 
schende Inhalt  dieser  Sätze  sei,  in  denen  der  grösste  Meister  in 
der  Fuge  so  viel  von  seiner  Kunst  zurückgehalten  hat:  so  findet 
sich,  dass  es 

reichbewegtes,  in  behaglicher  Breite  ergossenes 

Tonspiel 

ist,  das  sich  hier  in  der  Form  der  Fuge  gefällt,  von  derselben  aber 
nur  das  ihm  —  und  damit  dem  Instrument  Zusagende  annimmt. 

Und  somit  muss  sich  Erfindung  und  Konstruktion  diesem  Ge- 
sichtspunkte gemäss  erweiseu. 

Schon  ein  Thema,  wie  das  der  J?moll-Fuge  (Th.  II,  S.  291),  noch 
mehr  das  in  rastloser  Flüchtigkeit  dahineilende  der  A  moll-Fuge 


Allegro  molto. 


bestätigt  dies  und  hat  zur  Folge,  dass  in  der  ganzen  langen  Fuue 
bis  zum  vorletzten  Takte  die  Sechzehntelbewegung,  bald  in  dieser, 
bald  in  jener  Stimme  fortgesetzt,  nicht  ein  einzig  Mal  unterbro- 
chen wird  und  die  Komposition  von  dieser  Seite  her,  durch  das  vor- 
herrschende Spiel,  sich  einipermassen  dem  Etüden-  oder  Tokkaten- 
wesen anschliesst.  Damit  nun  der  Eintritt  des  Gefährten  bequem 
und  fiiessend  geschehe,  fügt  Bach  gleich  dem  ersten  Auftreten  des 
Thema's  einen  Zwischensatz  bei ;  die  obige  erste  Stimme  fährt  so  — 


29 


fort.  Eben  dieser  schwunghaftere  Zwischensatz  [a  wird  nun  aber 
—  so  gewiss  er  in  der  Fuge  als  solcher  nur  Nebensache  heissen 
kann  —  besonders  fleissig   Takt  12  bis  U,  dann  Takt  23  bis  25. 


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Die  Klavierfuge. 


47 


Takt  38  bis  40,  48  und  49  —  und  so  immer  emsiger)  und  für  den 
Zweck,  in  das  Spiel  erhöhten  Schwung  und  Frische  zu  bringen, 
auf  das  Glücklichste  verwendet. 

Gleiches  Verhalten  zeigt  die  chromatische  Fuge.  Das  Thema 
beiläufig  acht  Takte  lang,  nur  dass  die  Schlussnote  verkürzt,  zu 
einem  Achtel  gemacht  ist)  entspricht  in  seinem  ausdrucksvollen,  edlen 
Gesänge  dem  Inhalt  der  vorangehenden  Phantasie  und  dem  Sinn  der 
ganzen  Komposition  vollkommen,  würde  aber,  obwohl  durchaus  dem 
Instrument  angemessen  (man  sehe  es  Th.  II,  S.  274),  zu  grösserer 
Spielentfaltung  keinen  geeigneten  Stoff  bieten.  Auch  hier  schiebt 
Bach  am  Schlüsse  des  Thema's  einen  Zwischensatz  ein,  — 


Schluss  des  Thema  s. 


Zwischensatz. 


30 


der  auf  das  Emsigste  bald  für  die  Zwischensatze,  bald  im  Gegen- 
satz, im  letzten  Theil  des  Ganzen  zum  imposantesten  Schlüsse  be- 
nutzt wird.  Ja,  damit  alle  Elemente  bewegten  Spiels  beisammen 
seien,  führt  der  Meister  noch  diatonische  Sechszehntelfiguren  und 
zur  Förderung  und  Erfrischung  des  erst  elegischen,  dann  zum  Pa- 
thos gesteigerten  Tonwerks  an  zwei  verschiedenen  Stellen  eine  har- 
monische Figuration  — 


31  \ 


ein,  die  im  Thema  und  im  Gegensatz  nicht  die  mindeste  Anreguni: 
gefunden  hat.  Es  versteht  sich,  dass  dergleichen  Einschaltungen 
in  derselben  Ordnung  und  genügenden  Fülle  verarbeitet  werden, 
als  wären  sie  Theile  des  Thema's  oder  Gegensatzes,  ja  dass  eine« 
Fuge,  je  mehr  sie  fremden  und  mannigfaltigen  Stoffes  in  sich  auf- 
nimmt) um  so  gehaltener  und  klarer  durchgeführt  werden  muss,  da 
die  Uebersichtlichkeit  um  so  schwerer  erhalten  wird,  je  mehr  Ver- 
schiedenes zu  Ubersehen  und  zusammenzuhalten  ist. 

In  einer  andern  Weise  kommt  derselbe  Meister  der  klaren  Dar- 


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4S 


Ueberyany  zur  Komposition. 


Stellung  auf  dem  Instrument  in  der  Fuge  der  /vsmoll-Tokkate  zu 
Hülfe.    Das  Thema  ist  zwar  fliessend  und  ansprechend, 

Allegro  vivace.  *  - 


32 


i  i 


B 


r-r-jr 


0 


aber  nicht  energisch  hervortretend,  vielmehr  in  Hinsicht  der  Bewe- 
gung dem  Gegensatz  untergeordnet*  Hier  führt  Bach  den  Satz 
so  durch,  dass  das  Thema  niemals  als  Mittelstimme  erscheint,  folg- 
lich immer  und  überall  die  Vortheile  der  Aussenstimmen,  freieste  Be- 
wegung (Th.  I,  S.  340)  und  deutlichste  Erscheinung  hat.  Es  tritt 
zuerst  im  Alt,  dann  im  Diskant  und  Bass,  und  nochmals  (die  Durch- 
führung ist  übervollständig)  im  Diskant  auf.  Nun  nimmt  es  (eine 
anvollständige  Anführung  im  Basse,  Takt  48,  ungerechnet)  der 
Diskant  noch  einmal  und  zum  dritten  Mal,  dann  der  Bass  zweimal, 
endlich  nochmals  Diskant  und  Bass ;  die  Mittelstimme  hat  es  niemals 
wieder.  —  Wer  dabei  unsrer  Erörterungen  über  Stimmordnung  ge- 
denkt, wird  nicht  bezweifeln,  dass  der  Meister  diese  eieenthümliche 
Ordnung  mit  klarer  und  bestimmter  Absicht  getroffen,  und  wird 
die  Gunst,  die  damit  dem  Thema  widerführt,  erkennen.  Bei 
einem  Instrument  (oder  Singstimmen),  das  schallvoller  und  im  Stande 
wäre,  die  Töne  eng  zu  verbinden,  —  oder  bei  einem  Verein  ver- 
schiedener Instrumente,  dem  es  leicht  gelingt,  eine  Stimme  gegen 
die  andern  hervorzuheben,  wäre  diese  Ordnung  unveranlasst,  und 
dann  zu  tadeln. 

Zum  Schluss  dieser  Beispielreihe  müssen  wir  einer  Fuge  von 
Beethoven  gedenken,  dem  Finale  seiner  grossen  2?dur-So- 
nate,  Op.  10G.  Das  ganze  Tongedicht  geht  an  äussern)  Umfang 
wie  an  Tiefe  und  Macht  des  Inhalts  über  die  Gränzen  hinaus,  die 
bisher,  ja  von  Beethoven  selbst,  in  der  Klaviermusik  erreicht  worden 
sind;  so  musste  denn  auch  ein  kolossaler  Schlussbau  das  Ganze 
vollenden.  Erwägt  man  die  Macht  der  vorhergehenden  Sätze  (na- 
mentlich des  ersten),  den  Reichthum  und  die  Tiefe  des  Inhalts,  in 
dem  gleichsam  Alles,  was  Melodie,  Rhythmus,  Modulation  vermö- 
gen, erschöpft  ist:  so  müsste  man,  ehe  man  noch  das  Finale  er- 
blickt hätte,  voraussagen,  dass  nur  die  mächtigste,  durch  und  durch 
beseelte  Form,  —  die  Fuge,  —  einen  würdigen  und  befriedigenden 


*  Das  umgekehrte  Verhaltniss  ist  auf  das  Glücklichste  zu  gleichem  Re- 
sultat in  der  .Emoll-Kuge  (Th.  II,  S.  291)  benutzt. 


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Die  Klavier  fuge. 


49 


Schluss  gewähren  kann.  Diese  Anschauung  ist  offenbar  auch  Beet- 
hoven's  Bestimmungsgrund  gewesen;  er  rollt  seine  Fuge  durch  zwölf 
Seiten  mächtig  fort  und  geht  auch  hier  —  nicht  bloss  dem  Umfang 
nach,  sondern  in  der  Macht  der  Intention,  —  dies  jedenfalls, 
wenn  auch  vielleicht  nicht  durchaus  im  Gelingen,  —  über  die 
bisherigen  Gränzen  weit  hinaus. 

Schon  in  der  gewaltig  alle  Tonregionen  aufregenden  Einleitung, 
dann  im  Thema  — 


Alleero  risoluto. 


33  ifcrP 


m 


(dessen  Schluss  man  bei  c  anzunehmen  hat),  und  dem  von  über- 
mächtiger innrer  Bewegung  unruhig  weiter  getriebnen  Anhang  zu 
demselben  deutet  sich  Maass  und  Karakter  des  Ganzen  an,  das 
durch  die  Kraft  und  Vertiefung  des  schaffenden  Genius  eine  der 
grössten  Konzeptionen  in  unsrer  Kunstwelt  hat  werden  sollen. 
Aber  auch  schon  im  Thema  nimmt  das  aufmerksame  Auge  die  gänz- 
liche Aneignung  des  Instruments  und  den  Stoff  wahr,  an  dem  es 
sich  in  seiner  eigensten  Weise  bethätigen  kann.  Die  geistige  Macht 
ist  in  diesem  Kunstwerke  zu  hoch  und  herrschend,  als  dass  (wie 
uns  wenigstens  scheint)  irgend  ein  Instrument  und  irgend  ein  Spie- 
ler ihr  vollkommnes  Organ  sein  könnte.  Allein  sogleich  muss  man 
anerkennen,  dass  vor  irgend  einem  Instrument  oder  Verein  von 
Instrumenten  dann  doch  nur  das  Pianoforte  das  geeignetste  sein, 
und  dieser  Inhalt  nicht  füglich  anders  und  besser  dem  Instrument 
angeeignet  werden  konnte,  als  hier  geschehn  ist. 

Dies  spricht  sich  —  abgesehn  davon,  dass  auch  hier  (im  ent- 
schiedensten Gegensatz  gegen  die  Vollgriffigkeit  der  frühern  mehr 
homophonen  Theile)  die  Dreistimmigkeit  bis  zum  freien  Ende  herrscht 
—  in  dem  Spielreichthum,  man  möchte  sagen :  Tonsturm  aus,  der 
bald  leiser,  bald  gewaltiger  durch  das  Ganze  dahinbraust,  und  dem 
die  freieste  und  weiteste  Modulation  (schon  vorbedeutet  in  der  Ein- 
Marx, Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  4 


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50 


Uebergang  zur  Komposition. 


leitung)  angemessene  Räume  bietet.  Diese  Bewegung  ist  aber  we- 
niger eine  üusserlich  dahinstürmende  und  damit  glänzende  Tonmassen 
entfaltende;  sie  ist  vielmehr  (wie  schon  der  Anhang  zum  Thema 
andeutet)  der  Ausdruck  des  innerlichst  erregten,  unruhig  hin-  und 
herwogenden  Gemüths,  gefärbt,  gemildert,  gehalten  von  gewissen 
elegischen  Anklängen,  die  durch  die  ganze  Sonate,  selbst  durch  den 
so  kühn  und  stark  und  hoch  gesinnten  ersten  Satz  herdurchklingen, 
in  dem  wundertiefen  Adagio  ihren  vollsten  und  innigsten  Ausdruck 
finden  und  mitten  in  der  Fuge  (S.  53,  vorbereitet  schon  S.  48) 
einen  formell  ganz  fremden,  aber  im  Gang  der  Empfindung  durchaus 
notwendigen,  im  Lauf  des  Ganzen  höchst  wohlthuenden  Satz  her- 
vorrufen. 

Wenn  nun  nach  dieser  Seite  hin  auf  manche  Kraft  des  Instru- 
ments verzichtet  werden  musste,  so  sehe  man  unter  andern  Seite  49. 
wie  mächtig  das  Motiv  b  benutzt  worden  — 


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Die  Klavier  fuge. 


51 


der  Satz  ist  schon  acht  Takte  lang  vorbereitet  worden),  das  sich 
dazu  so  günstig  erwies,  —  wie  übergewaltig  und  kühn  das  erste 
Motiv  [a  in  No.  33)  Seite  46,  48  und  52  (hier  bis  zur  Wildheit) 
übereinander  gesetzt  wird.  Interessant  ist  es,  zu  beobachten,  dass 
auch  Beethoven  das  Bedürfniss  eines  mildernden  und  dabei 
schwunghaften  Bewegungsmotivs  gefühlt  und  dasselbe  in  ähnlicher, 
wenn  auch  machtvoller  gewendeter  Weise  (ebenfalls  mit  fremder 
Einmischung)  befriedigt  hat,  wie  Bach  (vergl.  No.  29  und  31)  in 
der  chromatischen  und  ,4  moll-Fuge.  Wir  finden  diesen  Satz  zu- 
erst Seite  44  angeknüpft, 


dann  Seite  46  in  neuer  Anordnung  wiederholt  und  mit  seinem 
neuen  Stoffe,  dem  akkordischen  Motiv,  für  Seite  47  sowie  zur  Vor- 
bereitung des  Schlusses,  S.  58,  höchst  willkommen. 

Wir  müssen  uns  versagen,  das  tiberreiche  Tonstück  weiter  zu 
verfolgen,  dürfen  dies  dem  eifrigen  Jünger  überlassen.  Wenn  wir 
nur  flüchtig  noch  darauf  aufmerksam  machen,  wie  umsichtig  Beet- 
hoven selbst  die  fremdern  und  seitnern  Wendungen  der  Fugen- 
form in  den  weiten  Umkreis  seines  Werks  gezogen:  so  ist  weni- 
ger die  Absicht,  an  diese  Formen  und  ihre  Bedeutung  zu  erinnern, 
als  an  die  glückliche  Benutzung  des  Instruments  bei  ihnen.  Hier 
Übergehn  wir  die  Rttckung  des  Thema's  S.  43,  die  Verkehrung 
S.  54,  die  Gegeneinanderstellung  der  Verkehrung  mit  der  rech- 
ten Bewegung  in  der  Engführung  S.  54  (allerdings,  wie  Beet- 
hoven schon  zu  Anfang  der  Fuge  bemerkt  hat,  con  alcune  Ii- 
cenze) ,  und  blicken  zuletzt  auf  die  Vergrößerung  des  Thema's 
Seite  45, 

4* 


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deren  Ausgang  noch  merkwürdig  benutzt  wird.  Hier  ist  der  drei- 
stimmige Satz  dem  Sinne  nach  denn  formell  sind  die  oberste 
und  unterste  Stimme  eine)  —  oder,  will  man  die  der  rechten  Hand 
oben  und  unten  zuertheilten  Töne  nicht  für  eine  einzige,  nach  Art 
des  Instrumentwesens  weit  umhergreifende  Stimme  nehmen,  dem 
Anschein  und  der  Wirkung  nach  vierstimmig  geworden;  und 
eben  dadurch  gewinnt  das  Thema  (man  muss  es  sich  jetzt  als  :V2  Satz 
denken)  an  Fülle  und  Gewicht,  was  es  an  feuriger  Bewegung  auf- 
gegeben hat. 

Dass  der  geistige  Inhalt  demungeachtet  überall  den  vom  In- 
strument genügend  darzustellenden  weit  tiberragt,  man  selbst  bei 
der  genügendsten  Darstellung  mehr  aus  dem  eignen  erregten  Innern 
hinzuzuthun,  als  aus  dem  Instrument  herauszuhören  hat,  ist  wohl 
schon  aus  dem  hier  Mitgetheilten  klar. 

Um  so  überraschender  und  heiterer  bringt  uns  ein  Rückblick 
auf  Bach's  ylmoll-Fuge  (oben  No.  28)  das  anmuthig  leichte,  fast 
leichtfertige,  ganz  im  Instrument  aufgehende  und  befriedigte  Spiel 
zu  Gesicht,  das  auf  das  Beweglichste  überall  (besonders  S.  16  und 
18  der  Gesammtausgabe)  sich  auf-  und  niederschwingt  und  so  den 
weiten  Tummelplatz,  den  das  Instrument  bietet  und  gern  benutzt 
weiss,  auf  das  Günstigste  füllt.  So  wusste  sich  der  tiefsinnig- 
ste Tondichter  auch  in  die  leichten  Spiele  des  Instruments  zu 
schicken,  und  fand  der  grösste  Klavierkomponist  im  reichsten  Auf- 
gebot des  Instruments  nur  unzulängliche  Mittel  für  seine  Idee.  In 
der  Durchgeistung  des  Organs  und  in  der  Ueberragung  des  Geistes, 
in  Beiden  vereint  werden  wir  die  Macht  und  den  Reichthum  der 
Kunst  und  des  Menschengeistes  inne. 


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Die  Variation. 


53 


Fünfter  Abschnitt, 
Die  Variation. 

Die  Ausführung  dieser  Form  ist  zwar  in  den  frühern  Theilen 
des  Lehrbuchs  noch  nicht  gelehrt,  wohl  aber  in  vielfacher  Hinsicht 
vorbereitet  und  voraeübt  worden,  so  dass  Jeder,  der  uns  bis  hier- 
her  gefolgt  ist,  sich  mit  Leichtigkeit  und  reichem  Erfolg  in  sie  wird 
hineinbegeben  können. 

Der  Name  Variation  bezeichnet,  wie  bekannt,  die  verän- 
derte Darstellung  irgend  eines  musikalischen  Gedankens,  z.  B.  eines 
liedförmigen  Satzes.  Dann  wird  bekanntlich  mit  dem  Ausdrucke: 
Veränderungen  (oder:  Variationen  auf  ein  Thema,  oder: 
Thema  mit  Veränderungen)  eine  Komposition  verstanden,  die  aus 
einem  liedförmigen  Tonstücke,  —  Thema  genannt,  —  und  mehrern 
Variationen  desselben  besteht.  Dies  ist  also  eine  für  sich  bestehende 
Kunstform,  die  bald  abgesondert  für  sich  in  einer  selbständigen 
Komposition  dargestellt  wird,  bald  als  Theil  eines  grösseren  Ganzen 
auftritt.  So  hat  Beethoven  in  seinen  /lsdur-,  Fmoll-  und  Cmoll- 
Sonaten  (Op.  26,  57,111),  Haydn  in  seinem  Cdur-Quartett  und 
seiner  Gdur- Symphonie  Themate  mit  Variationen  aufgestellt. 

Allein  ganz  abgesehn  von  diesen  selbständigen  Anwendungen 
der  Variationenform  giebt  es  kaum  eine  Kunstform,  in  der  nicht 
beiläufig  und  doch  mit  entschiedner  Wichtigkeit  von  der  Kunst  des 
Variirens  Gebrauch  gemacht  würde,  um  Sätze  bei  ihrer  Wieder- 
holung neu  und  in  mannigfach  modifizirter  Bedeutung  erscheinen  zu 
lassen.  Hat  man  in  früherer  Zeit  vielleicht  mehr  von  der  selbstän- 
digen Variation  Gebrauch  gemacht,  so  ist  bei  der  höhern  Vollen- 
dung der  Instrumentalmusik,  namentlich  durch  Beethoven,  die 
Kunst  des  Variirens  fleissiger  und  bedeutsamen  bei  der  Ausführung 
der  grössern  Kunstformen  (Rondo-  und  Sonatenform)  angewendet 
worden.  So  findet  also  der  Jünger,  dem  umfassende  Ausbildung 
und  Bethätigung  ernstlich  am  Herzen  liegt,  gegründeten  und  viel- 
fachen Anlass,  sich  in  der  Kunst  der  Variation  einheimisch  zu 
machen,  —  selbst  wenn  ihm  andre  Formen  tiefsinniger  und  ergie- 
biger erschienen.  Ohnehin  muss  man  stets  eingedenk  bleiben,  dass 
jede  Form  in  guter  Stunde  und  zum  rechten  Zweck  der  höchsten 
Erhebung  fähig  und  an  ihrer  Stelle  durch  gar  keine  andre  zu  er- 
setzen ist.  Jede  Vorliebe  für  eine  Form,  die  sich  mit  Ausschlies- 
sung oder  Geringschätzung  andrer  äussert,  bezeichnet  einseitigen 
Standpunkt  oder  unvollendete  Bildung;  dergleichen  Schwäche  ist 
nicht  gründlicher  zu  heilen,  als  indem  man  sich  in  die  gering  ge- 


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54 


Uebergang  sur  Komposition 


schätzte  Form  nur  um  so  tiefer  versenkt,  bis  man  den  Schatz  ihrer 
Kraft  gefunden.  Die  Variationenform  ist  namentlich  von  Beetho- 
ven auf  das  Tiefsinnigste  angewendet  worden;  man  darf  sie  gerade- 
hin einen  Haupthebel  seines  Wirkens  nennen. 

Bei  unsrer  jetzigen  Aufgabe  kommen  drei  Momente  in  Be- 
tracht: die  Erfindung  oder  Wahl  des  Thema's,  die  Mittel  der 
Veränderung,  und  die  Zusammen  Ordnung  des  Thema's  und 
der  Variationen  zu  einem  grösseren  Ganzen.  Wir  haben  sie  theils 
abfertigend,  theils  vorbereitend  hier  zu  erwägen. 

A.  Das  Thema. 

Vom  Thema  wissen  wir  bereits,  dass  es  ein  liedförmiger  Satz 
sein  soll,  sind  auch  zu  der  Erfindung  desselben  schon  aus  dem 
zweiten  Theil  des  Lehrbuchs  in  Stand  gesetzt.  Es  genügen  daher 
wenige  Betrachtungen,  um  uns  bei  der  Erfindung  oder  Wahl  des 
Thema's  zu  leiten. 

Erstens  ist  zu  bedenken,  dass  das  Thema  Grundlage  mehre- 
rer, vielleicht  vieler  aus  ihm  zu  gewinnender  Tonstücke  (der  ein- 
zelnen Variationen)  sein,  uns  zu  ihnen  anregen  soll.  Es  muss  also 
fähig  sein,  dauerndes  Interesse  zu  wecken  und  zu  erhalten;  mancher 
Satz,  den  man  sich  allenfalls  einmal  Wohlgefallen  lässt,  ist  darum 
noch  nicht  der  mehrmaligen  Wiederkehr  würdig.  Das  Thema  muss 
also 

der  Bearbeitung  werth 

sein. 

Wir  setzen  hinzu,  dass  das  Interesse 

in  dem  musikalischen  Inhalte 

des  Thema's,  nicht  etwa  in  äusserlichen  Beziehungen  desselben,  lie- 
gen muss.  Irgend  ein  Satz,  —  ein  Tanz,  Lied,  Marsch  u.  s.  w. 
kann  für  uns  zufälliges  äusserliches  Interesse  haben ;  wir  können  die 
Gattung  oder  den  Komponisten  lieben,  ein  Lied  kann  uns  um  des 
Textes  willen,  als  volksthümlicher  oder  patriotischer  Ausdruck,  um 
der  Erinnerung  an  früher  Erlebtes  willen  lieb  sein.  Das  Alles  hat 
sein  Recht,  aber  nur  ein  äusserliches ;  es  kann  zu  Wiederholungen 
reizen,  nicht  aber  eben  so  sicher  zu  künstlerischer  Bearbeitung 
wecken.  Namentlich  werden  Komponisten  sehr  oft  durch  die  Be- 
liebtheit eines  Liedes  oder  Opernsatzes  irregeleitet;  ja  es  ist  eine 
Zeit  lang  förmlich  Mode  und  Metier  gewesen,  jede  eben  beliebt 
gewordne  Oper  in  allen  einzelnen  nur  irgend  loszureissenden  Stücken 
variationenhaft  zu  verarbeiten,  bloss  in  Spekulation  auf 
die  Gunst  des  Hauptwerks,  ohne  Rücksicht  auf  innere  Angemes- 
senheit der  einzelnen  Aufgabe.  Dergleichen  lässt  denn  freilich  kein 


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Die  Variation. 


55 


künstlerisches  Gelingen  hoffen,  sondern  gereicht  nur  zur  Profana- 
tion  des  Hauptwerks,  das  man  zerreisst  und  stück  weis'  abnutzt. 
Wer  selber  hofft  und  strebt,  jemals  ein  würdig  Kunstwerk  hin- 
zustellen, sollte  sich  weder  durch  Unbedacht  noch  äussern  Vortheil 
zu  so  üblem  Dienst  gegen  andre  Künstler  und  gegen  das  Publikum 
verleiten  lassen. 

Zweitens  ist  es  rathsam,  dass  das  Thema 

von  angemessener  Ausdehnung 

sei.  Zu  grosse  Kürze  hat  leicht  zerstückeltes  Wesen  der 
ganzen  Komposition  zur  Folge,  weil  die  Ausdehnung  der  einzelnen 
Variationen  sich  in  der  Regel  nach  der  des  Thema's  richtet.  Zwar 
können  in  den  Variationen  sehr  weite  Motive  (Figuren)  ausgeführt 
werden,  so  dass  die  Variation  bei  weitem  ton  reicher  wird,  als 
das  Thema;  aber  die  wesentlichen  Momente  bleiben  in  der 
Kegel  dieselben,  und  eben  nach  ihnen,  nicht  nach  der  Tonzahl  be- 
stimmt sich  (wie  wir  schon  bei  der  Choral figuration  erkannt  haben) 
Gang  und  Umfang  des  Tonstücks. 

Wiederum  hat  zu  grosse  Länge  den  entgegengesetzten  Nach- 
theil; die  einzelnen  Variationen  dehnen  sich  dann  leicht  zu  weit 
aus,  —  oder  man  muss  jeder  freiem  und  reichern  Ausführung  ent- 
sagen. 

Im  Allgemeinen  möchte  wohl  die  zweitheilige  Liedform  und 
die  Ausdehnung  jedes  Theils  auf  acht  Takte  als  ungefähre  Norm 
dienen  können.  Dass  aber  kein  absolutes,  —  dass  kaum  ein  an- 
näherndes Gesetz  von  aussen  her  gegeben  werden  kann,  folgt  schon 
aus  der  Verschiedenheit  des  Taktmaasses  und  Tempo's,  die  hier 
natürlich  wesentlich  in  Betracht  kommen,  ist  auch  schon  früher  viel- 
fach (z.  B.  Th.  II,  S.  244)  klar  geworden.  So  hat  Seb.  Bach 
zu  seiner  variirten  Ariette,  desgleichen  Beethoven  zu  seinen 
Variationen  in  der  As  dur-Sonate  (Op.  26)  und  zu  den  »33  Verän- 
derungen auf  einen  Walzer«  (Op.  120)  Themate  von  zweimal 
sechzehn  —  dagegen  K.  M.  v.  Weber  in  seinen  Variationen  auf 
ein  Zigeunerlied  ein  Thema  von  zweimal  vier  Takten  zu  Grunde 
gelegt,  und  der  Erfolg  ihrer  Arbeit  hat  die  Wahl  gerechtfertigt. 

Drittens  ist 

eine  angemessene  Konstruktion, 

besonders  hinsichts  der  Modulation,  für  ein  Variationen thema  noch 
wichtiger,  als  für  einen  nicht  öfters  wiederkehrenden  Liedsatz. 

Wir  wissen  bereits,  dass  Modulationsordnung,  rhythmische 
Einrichtung,  Schlussfälle  den  Gang  eines  Tonstücks  in  seinen  Haupt- 
zügen bestimmen,  und  auf  denselben,  wie  auf  die  Wirkung  den 
nächsten  Einfluss,  mehr  wie  die  Einzelheiten  des  Inhalts,  ausüben. 
Hat  nun  ein  Variationenthema  in  diesen  Hauptbeziehungen  eine 


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56 


üebevgang  zur  Komposition. 


Schwäche,  so  ist  leicht  zu  besorgen,  dass  deren  Wiederkehr  in 
jeder  Variation  immer  empfindlicher  und  nachtheiliger  hervortreten 
werde.  Ein  solcher  bedenklicher  Punkt  zeigt  sich  in  zwei;,  im 
Uebrigen  reizenden  Thematen  von  Mozart,  in  der  Sonate  2  und 
h  des  ersten  Bandes  der  Breitkopf-Härtel'schen  Gesammt-  (No.  2 
und  5  der  neuen  Einzel-) Ausgabe.  Das  erstere  pldur)  schliesst 
seinen  zweiten  und  ersten  Theil  im  Haupttone,  die  beiden  Vorder- 
sätze aber  mit  einem  Halbschluss  auf  der  Dominante,  so  dass  fol- 
gende Form: 

4  Takte  mit  Halbschluss  auf  E,  4  Takte  mit  Ganzschluss  auf  A, 
4-  -  -  -  a;  4  -  -  -  -  A, 
hervortritt.  Im  andern  Thema  (Ddur)  endet  der  erste  Theil  mit 
einem  Ganzschluss  auf  A1  die  Vordersätze  beider  Theile  aber  mit 
einem  Halbschluss  auf  A,  so  dass  dreimal  —  und  zwar  mit  grosser 
rhythmischer  Bestimmtheit  und  sehr  ähnlichen  Wendungen  auf  dem- 
selben Punkte  geschlossen  wird.  Es  hat,  wie  man  schon  voraus- 
setzen wird,  in  beiden  Fällen  dem  unerschöpflichen  Meister  nicht 
an  Hülfsmitteln  gefehlt,  diese  Einförmigkeit  der  Grundlage  zu  über- 
winden, ja  eben  die  bedenklichen  Punkte  hin  und  wieder  zierlich 
zu  schmucken.  Auch  haben  wir  uns  schon  bei  andern  Gelegen- 
heiten gesagt: 

dass  es  bei  dem  vielseitigen  Inhalt  unsrer  Kunst  und  den 
vielen,  unberechenbaren  Kräften  und  Wegen  für  den  ihr 
zugewandten  Geist  nie  an  Hülfsmitteln  fehlen  wird,  sich 
aus  Schwierigkeiten  h'erauszuwinden  oder  Mängel  zu  be- 
decken. 

Allein  das  Sichere  und  Räthliche  ist  doch,  sich  nicht  willkür- 
liche Hindernisse  zu  bereiten. 

Viertens  endlich  ist  es  vortheilhaft,  wenn  das  Thema 

einfachen  Inhalt 
hat;  und  zwar  in  zweierlei  Hinsicht. 

Zunächst  nämlich  liegt  es  im  Sinne  der  Form,  dass  das  Thema 
in  den  Variationen  noch  erkannt  werden  soll ;  denn  sonst  würden 
die  einzelnen  Sätze  als  eine  blosse  Reihe  verschiedner,  innerlich 
nicht  weiter  zusammengehöriger  Tonstücke  erscheinen,  und  man 
thäte  besser,  statt  der  Variationen  geradezu  eine  beliebige  Anzahl 
verschiedner  Sätze,  ungehindert  durch  die  Rücksicht  auf  das  Thema, 
aneinanderzureihen.  Nun  aber  wird  ein  einfacher  Inhalt  natürlich 
leichter  gefasst  und  festgehalten,  als  ein  zusammengesetzter. 

Sodann  besteht  die  Mehrzahl  der  Variationen,  wie  wir  bald 
sehen  werden,  aus  weitern  Ausführungen  des  Thema's.  Je 
mehr  nun  das  Thema  selbst  schon  in  Fülle  seines  innern  Baues  be- 
ginnt, desto  weniger  Spielraum  bleibt  den  Variationen,  oder  desto 
weiter  hinaus  wird  der  Komponist  in  fremde  oder  zusammen- 


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I 


Die  Variation.  57 

gesetzte  (wo  nicht  überladne  und  erzwungne)  Kombinationen 
gedrängt. 

Zwar  wissen  wir  schon,  dass  selbst  die  zusammengesetztesten, 
buntesten  Sätze  sich  auf  immer  einfachere  Unterlagen  zurückführen 
lassen,  wie  die  vollste  Harmonie  (nach  Ausweis  unsrer  Harmonik, 
Th.  I  des  Lehrbuchs)  endlich  auf  die  zwei  Hauptakkorde  (den  toni- 
schen und  Dominantakkord  i,  und  zuletzt  auf  den  Urakkord  (den 
grossen  Dreiklang)  zurückweist.  Auch  werden  wir  weiterhin  von 
der  Zurückführung  der  Themate  auf  ihren  Grundgehalt  vorteilhaf- 
ten Gebrauch  machen;  dies  würde  uns  selbst  bei  den  buntesten 
Thematen  zu  Hülfe  kommen.  Aber  es  wäre  das  nur  ein  Ausweg 
oder  Nebenweg;  denn  als  Regel  für  die  Variationen,  als  deren 
Grundlage  und  Gesetz,  ist  doch  immer  nur  das  Thema,  wie  es  ist 
und  zuerst  dargestellt  wird,  anzusehn. 

Ja,  die  Einfachheit  des  Inhalts  ist  so  erspriesslich,  dass  sie 
sogar  längere  Themate  bisweilen  leichtfasslicher  und  behandelbarer 
machen  kann.  Ein  treffend  Beispiel  giebt  uns  der  von  Beet- 
hoven variirte  Walzer.  Er  bewegt  sich  in  den  fasslichsten  und 
festest  geschlossnen  Abschnitten;  auf  diesen  ersten  — 


Vivace. 

etc. 

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7 



folgt  ein  Schritt  für  Schritt  gleich  konstruirter  auf  der  Dominante, 
so  dass  die  zweimal  vier  ersten  Takte  des  ersten  Theils  so  fass- 
lich, wie  zwei  einfache  Schläge  gleichsam,  verlaufen.  In  derselben 
Weise  beginnt  der  zweite  Theil  mit  zwei  gleichgebauten  Abschnit- 
ten auf  Oberdominante  und  Tonika  ;  auch  der  sonstige  Inhalt  beider 
Theile  ist  im  höchsten  Grade  Übersichtlich  und  klar. 

Eine  weitere  Anweisung  zur  Erfindung  oder  Wrahl  des  The- 
ma's  —  oder  Ansammlung  von  Beispielen  oder  Vorbildern  ist  nach 
allem  früher  schon  Mitgetheilten  um  so  weniger  nöthig,  als  jedem 
mit  Musik  sich  Beschäftigenden  variirte  Themate  genug  bekannt 
sein  müssen. 

Um  so  vollständiger  sind 

B.  die  Mittel  und  Formen 

der  Variation  in  Betracht  zu  ziehen;  dies  wird  in  den  folgenden 
Abschnitten  geschehn.  Hier  wollen  wir  nur  zur  vorläufigen  und 
bloss  allgemeinen  Uebersicht  bemerken,  dass  die  Veränderung  eines 
Satzes 


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58 


Uebergang  zur  Komposition 


4)  die  Haupt  stim  me, 

2)  die  Modulation, 

3)  die  Form  der  Begleitung, 

4)  das  Tongeschlecht, 

5)  den  Rhythmus, 

6)  die  Form,  — 
treffen  kann. 

Wiefern  die  Hauptstimme,  die  Harmonie  in  einzelnen 
Zügen  oder  die  ganze  Modulation  und  der  Rhythmus  verändert 
werden  können,  muss  aus  den  frühem  Theilen  des  Lehrbuchs  von 
selbst  einleuchten. 

Die  Form  der  Begleitung  umfasst,  wie  ebenfalls  bekannt, 
alle  Mittel  der  harmonischen  Figuration,  der  Vorhalts-  und  Durch- 
gangsgestalten und  des  Rhythmus,  die  uns  alle  schon  vertraut  wor- 
den. —  Man  bemerkt  jetzt,  dass  die  Theil  I,  S.  442  zu  No.  598 
angestellten  Uebungen  nichts  anders  als  Variationen  der  Oberstimme 
oder  Begleitung  und  des  Rhythmus  gewesen  sind. 

Die  Veränderung  des  Tongeschlechts  besteht,  wie  man 
schon  erräth,  darin,  dass  ein  Durthema  in  die  Molltonart,  —  und 
umgekehrt  ein  Mollthema  in  die  Durtonart  (und  zwar  in  der  Regel 
derselben  Tonstufe)  übertragen  wird.  Im  ersten  Falle  hiess 
die  Uebertragung  in  früherer  Kunstsprache 

Minore, 

im  letztern  aber 

Maggiore ; 

Ausdrücke,  die  jetzt  meist  (und  mit  Recht  als  unnöthig)  beseitigt 
sind,  die  übrigens  öfters  auch  da  gebraucht  wurden,  wo  ein  andres 
Tonstück  in  anderm  Tongeschlecht  folgte,  z.  B.  ein  Trio  in  Moll 
auf  eine  Menuett  u.  s.  w.  in  Dur,  und  umgekehrt. 

Auch  die  Aenderungen  des  Rhythmus  sind  uns  vielfältig  be- 
kannt. Schon  zu  Anfang  in  der  Elementarlehre  haben  wir  aus 
zweitheiligem  drei-  und  viertheiligen  Takt  gemacht,  weiterhin  auch 
das  Verhältniss  der  einzelnen  Melodiepunkte  geändert,  z.  B.  diesen 
Rhythmus 


Th.  I,  S.  «5  in  No.  613  und  6H  so 


i_r  tfj  1 

verändert  und  benutzt.  Auch  bei  der  Choralfiguration  sind  wir  auf 
dergleichen  Wege  geführt  worden. 


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Die  Formal-  Variation . 


59 


Die  bisher  bezeichneten  Wege  der  Veränderung  wollen  wir 
in  Ermangelung  eines  bessern  Namens) 

die  Formal-Var  iation 

nennen. 

Mit  den  Aenderungen  der  Kunstform  des  Thema's,  die  oben 
S.  58)  zuletzt  aufgeführt  sind,  und  die  wir  die 

Karakte  r-  Variation 
nennen  wollen,  sind  die  Umwandlungen  der  Form  des  Thema's  in 
verschiedne  andre  Kunstformen  bezeichnet,  die  Verwandlung  der 
unbestimmten  Liedform  in  die  Formen  des  Marsches,  eines  Tanzes, 
in  die  später  zur  Uebung  kommende  Rondo-  und  Sonatenform,  in 
die  polyphonen  Formen  der  Figuration,  des  Kanons  und  der  Fuge. 
Alles  dies  wird,  soweit  es  noch  erfoderlich,  in  dem  siebenten  Ab- 
schnitte zur  Ausübung  kommen,  worauf  im  achten  Abschnitte  die 
Zusammenordnung  des  Thema's  und  der  Variationen,  also 

C.  die  Kunst  form  selbst 

in  ihrer  Ganzheit  zur  Betrachtung  zu  ziehen  sein  wird. 


Sechster  Abschnitt. 
Die  Formal -Variation. 

Wir  haben  bereits  im  vorigen  Abschnitt  angedeutet,  dass  unter 
diesem  Ausdruck  alle  Veränderungen  eines  Thema's  zusammenge- 
fasst  sein  sollen,  bei  denen  die  Absicht  des  Tonsetzers  zunächst 
auf  melodische,  harmonische,  rhythmische  Motive  und  ihre  Durch- 
führung gerichtet  ist,  wogegen  der  Name  der  Karakter-Variation 
die  Veränderungen  der  dem  Thema  ursprünglich  eignen  Kunstform 
bezeichnet.  Dass  diese,  in  Ermangelung  treffenderer,  gewählten 
Ausdrücke  nicht  scharf  bezeichnen,  dass  die  sogenannte  formelle 
Variation  auch  zu  karakteristischer  Umwandlung  gedeihen  kann,  — 
oder  vielmehr  niemals  anders  zur  Ausführung  kommen  sollte,  und 
dass  umgekehrt  gar  oft  die  Kunstform  karakterlos  verwandelt  wor- 
den ist  und  noch  werden  wird,  sei  sogleich  zugestanden.  Wenn 
indess  jene  unzulänglichen  Namen  nur  dazu  dienen,  den  reichen 
Stoff  Übersichtlicher  auseinander  zu  halten,  so  wird  man  sie  sich 
schon  eine  Weile  gefallen  lassen  können. 

Was  nun  die  formelle  Variation,  also  alle  Aenderungen,  die 
oben  (S.  58)  unter  \  bis  5  aufgezählt  sind,  anlangt :  so  sind  uns 


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60 


Uebergang  zur  Komposition. 


die  Mittel  und  Anleitungen  bereits  in  den  frühern  Lehrtheilen  tiber- 
liefert worden.  Wir  können  also  sofort  auf  die  Anwendung  im 
Sinne  des  jetzigen  Standpunkts  tibergehn,  die  Komposition  für  das 
Klavier  zeigen;  auch  haben  wir  nicht  nöthig,  uns  der  oben 
(S.  58)  zu  besserer  Uebersicht  des  Stoffs  getroffnen  Eintheilung  zu 
unterwerfen,  da  uns  alle  Einzelheiten  bekannt  sind.  Am  wenigsten 
wird  man  nach  der  hoffentlich  genügenden  Vorbereitung  hier  noch- 
mals formelle  Vollständigkeit  erwarten.  Wir  können  uns  an  einer 
Einführung  in  die  neue  Aufgabe  wohl  befriedigen,  und  diese  soll 
sogleich  in  praktischer  Weise  angeknüpft  werden. 

Fassen  wir  unsre  Aufgabe  gleich  durchgreifend  an.  Es  sollen 
aus  einem  einzigen  Thema  möglichst  viele  Variationen  gezogen 
werden,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  es  angemessen  sein  könnte,  so 
viel  Variationen  als  eine  einzige  Komposition  zusammenzureihen. 
Dieses  Bedenken  wird  im  achten  Abschnitt  erwogen  werden;  hier 
wiegt  der  Zweck  der  Darstellung  und  Uebung  vor.  Daher  wollen 
wir  selbst  unbedeutendere  Veränderungen  nicht  verschmähn,  wenn 
sie  nur  irgend  eine  lehrreiche  Seite  bieten. 

In  Rücksicht  auf  den  Raum  bilden  wir  (in  Widerspruch  mit 
dem  S.  55  ausgesprochnen  Rath'  ein  sehr  kurzes  Thema  von 
acht  Takten,  behalten  uns  aber  dessen  Erweiterung  nach  bekannten 
Grundsätzen  (Th.  II,  S.  27)  vor.  Dem  Jünger  rathen  wir  Glei- 
ches, damit  es  ihm  ohne  zu  grosse  Beschwer  möglich  sei,  die  Auf- 
gabe reich  zu  lösen*.  Allerdings  werden  wir  aber  die  nachtheiligen 
Folgen  zu  grosser  Kürze  oft  zu  empfinden  und,  so  gut  es  gehn 
will,  zu  überwinden  haben. 

Bedingung  für  Thema  und  Variationen  ist,  dass  sie  dem  In- 
strument gemäss  dargestellt  seien.  Hiermit  gewinnen  wir  Anlass, 
denselben  Grundgedanken  vielfältig  dem  Instrument  anzupassen, 
oder,  umgekehrt,  dieses  in  mannigfaltigen  Darstellungen  und  Aus- 
drucksweisen desselben  Grundgedankens  zu  üben. 

Jede  Variation  gilt  als  Aufgabe,  ein  besondres  Motiv  durch- 
zuführen, für  Thema  und  Instrument  zu  benutzen.  Daher 
haben  wir  an  jedem  Motiv  so  fest  zu  halten,  als  der  angemessene 
Gang  des  Ganzen  gestattet.  Dies  verspricht  Einheit  und  Karakter 
jedes  einzelnen  Satzes,  und  zugleich,  weil  wir  treu  und  sparsam 
haushalten,  grössern  Reichthum  für  das  Ganze.  —  Später  werden 
wir  allerdings  Anlass  haben,  hiervon  abzuweichen. 

Dies  — 


*  Die  eifrigem  Schüler  des  Verfassers  haben  demselben  öfters  hundert  und 
mehr  Variationen  zu  ein  und  demselben  Thema  vorgelegt. 


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Die  Formai  -  Variation. 


Hl 


Andante  espressivo. 


40  ) 


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sei  unser  einfaches  Thema.  Wir  wollen  nochmals  Erweiterung  des- 
selben vorbehalten,  wenn  es  bisweilen  nicht  Spielraum  genug  bie- 
tet ;  sie  könnte  sich  durch  eine  mittels  Trugschlusses  oder  unvoll- 
kommner  Vollziehung  des  Schlusses  angehängte  Wiederholung  des 
Hauptmoments,  z.  B.  in  dieser  Weise  von  Takt  7  an  machen: 


(Takt  7) 


■5 


r  r  i  r  r— ^  '  P  * 


I 


T" 

Dass  dies  Thema  keins  von*  den  bedeutenden  oder  besonders 
anziehenden  ist,  mag  uns  eher  lieb  als  niederschlagend  sein;  um 
so  grössern  Spielraum  hat  unsre  Uebung. 

Allein  haben  wir  es  angemessen  dargestellt?  Es  scheint 
so.  Die  Melodie  liegt  in  der  klangvollem  und  dabei  heilern  Region 
des  Instruments,  die  am  geeignetsten  ist  zu  ausdrucksvollem  Vor- 
trag derselben;  die  Begleitung  ist,  um  die  einfache  Melodie  nicht 
zu  beeinträchtigen,  sehr  ruhig,  und  dabei  in  Rücksicht  auf  das  In- 
strument in  klangvollen  Lagen  dargestellt. 

Ehe  wir  an  die  Bearbeitung  gehn,  führen  wir  das  Thema  aul 
seine  noch  einfachere  Grundlage  zurück,  ohne  Rücksicht  auf  die 
Darstellung  am  Instrumente.    Es  wäre  diese: 


4a 


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1  £  • 


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62 


lieber  gang  zur  Komposition. 


Hier  sehn  wir  das  eigentliche  Grundthema  und  das  Grundmo- 
tiv desselben  [a]  im  Gegensätze  zu  manchem,  sofortiger  Abände- 
rung unterworfnen  Zuge  der  ersten  Erfindung.  Dies  Zurückgehn 
auf  das  Grundthema  wird  uns  behülflich  sein,  am  Wesentlichen  des 
Thema's  festzuhalten. 

ünsre  nächsten  Versuche  schliessen  sich  mehr  der  oben  ange- 
regten Frage,  wie  das  Thema  angemessen  darzustellen  sei  ?  an,  als 
dass  sie  sich  tiefer  greifenden  Aenderungen  zuwendeten.  Man  kann 
sie,  zu  besserer  Uebersicht,  unter  der  Rubrik 

1.  Darstellungen  des  Thema's 

zusammenfassen.  Doch  werden  wir  gleich  inne  werden,  dass  schon 
die  Absicht,  das  Thema  anders,  z,  B.  in  andrer  Tonregion  darzu- 
stellen, auch  innere  Veränderungen  nach  sich  zieht,  auch  hier  also 
die  Unterscheidung  nicht  streng  durchzuführen  ist,  woran  auch 
nichts  liegt. 

Wir  haben  die  obige  Darstellung  (No.  40,  k\)  angemessen 
erachten  dürfen;  könnte  aber  das  Thema  nicht  auch  in  höherer 
Oktave  gegeben,  der  Satz  No.  40  um  eine  Oktave  höher  gestellt 
werden  ? 

Das  Eretere  gewiss.  Aber  die  Uebertragung  von  No.  40  in 
die  höhere  Oktave  (ohne  Abänderung)  wäre  eben  so  gewiss  nicht 
günstig;  denn  in  der  höhern  Lage,  bei  der  geringem  Schallkraft 
und  Dauer  der  höhern  Pianofortetöne,  würde  die  Begleitung  den  in 
No.  40  ihr  eignen  vollem  Klang  einbüssen.  Man  würde  besser  ge- 
radezu darauf  verzichten  und  die  Darstellung  nach  dem  feinem 
Klang  der  höhem  Saiten,  —  etwa  in  solcher  Weise,  — 


43 


richten.  In  diesem  Sinn  ist  hier  die  Melodie  für  die  feinern  hohen 
Töne,  Takt  3,  vereinfacht,  damit  der  Hauptton  [f)  ruhiger  und 
sichrer  wirken  könne;  die  Auftaktnoten  die  letzten  Achtel  g  Takt  2 
und  4  in  No.  40),  die  im  Thema  empfindungsvoll  erscheinen  konn- 
ten, sind  hier  verfeinert,  eigentlich  ein  bloss  rhythmischer  Nach- 
schlag der  vorhergehenden  Schlussnoten  geworden.  Indem  sich  die 
Aufmerksamkeit  auf  sie  richtete,  wurden  sie  angeregt,  sich  et- 
was mehr  geltend  zu  machen,  sie  motivirten  sich  Takt  5  als  eigne 
Stimme,  und  hatten  im  folgenden  Takt  eine  Rückwirkung  auf  die 


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Die  Formal-  Variation. 


63 


Melodie  selber.  Das  letztere  würde  als  neue  Wendung  wahrschein- 
lich weitere  Folgen  haben :   der  Schluss  könnte  sich  so  — 


44  < 


4/ 


Ii 


gestalten. 

Vieles  Einzelne  darf  hier  und  im  Folgenden  der  Prüfung  des 
Jüngers  überlassen,  bleiben  ;  dahin  gehört  die  wechselnde  Stimmzahl, 
der  Quersland  in  No.  43,  die  Oktavenfolge  in  No.  44,  und  Andres 
mehr. 

Die  vorliegende  Darstellung  wäre  nicht  zu  verwerfen ;  sie  oder 
eine  ähnliche  Gestaltung  könnte  am  rechten  Orte  ganz  angemessen 
sein.  Allein 

der  Karakter  der  Höhe  des  Instruments 
ist  an  ihr  nicht  befriedigt.  Die  hohen  Saiten  des  Pianoforte  haben 
einen  hellen,  bei  guten  Exemplaren  glockenartigen,  oder  vielmehr 
glöckchenartigen  Klang,  und  in  dieser  Eigenschaft  einen  freundlichen 
Reiz ;  dagegen  sind  sie  für  sangvolle  Darstellung  weniger  geeignet. 
Jene  günstigen  Klänge  sind  hier 


45 

Ped.       *  "Ped.      #       1         1  Ped 

benutzt.  Die  Melodie  ist  mehrmals  geändert,  um  dem  hohen  g  als 
hell  hinausklingender  Quinte  oder  abschliessender  Oktave  rechte  Gel- 
tung zu  verschaffen;  üherhaupt  ist  das  Klingen  dem  Sanghaften 
vorgezogen,  und  dabei  zum  erstenmal  günstig  auf  die  Grundgestalt 
des  Thema's  (No.  42)  zurückgegangen.  —  Am  Schlüsse  wird  doch 
auf  das  Melodische,  als  das  innigere  Element  im  Gegensatze  zu  den 
luftigleeren  Akkordklängen,  eingelenkt;  man  würde  vielleicht  so  — 


46 


zu  Ende  gehn. 


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04 


Ueberyang  zur  Komposition. 


Hier  war  es  das  Klingen,  und  unter  den  mitspielenden  Tö- 
nen das  hohe  g,  das  als  Hauptsache  und  vor  dem  Melodischeu 
geltend  gemacht,  dem  sogar  mehr  als  ein  Zug  aus  der  Melodie  des 
Thema's  aufgeopfert  wurde.  Könnte  nicht  derselbe  Zweck  und  na- 
mentlich derselbe  Ton  erhalten  werden  ohne  Aufopferung  der  Me- 
lodie? —  Wir  versuchen  es  in  einer  neuen  Bearbeitung: 


47 


! 
I 


JkLM 


3  iisli  i 


dolce  piano 


)  lf  Ml 





Hier  schlägt  der  durchklingeode  Ton  den  Melodietönen  nach; 
auch  jenes  /*,  e  der  Melodie  (Takt  3),  das  in  No.  45  dem  hellem 
Klingen  geopfert  wurde,  ist  beibehalten.  Durch  das  Ineinanderspie- 
len  beider  Oberstimmen  ist  lebhaftere  Bewegung  des  Ganzen  ange- 
regt, die  sich  Takt  2  und  4  Luft  zu  machen  sucht. 

Eine  neue  Gestalt  rufen  wir  durch  den  Vorsatz,  die  hohem 
Tonlagen  zu  einer  energischen  Darstellung  zu  benutzen,  hervor. 


Risoluto. 


«8 


i 


I 


Die  Melodie  sollte  in  der  Höhe,  aber  stark  durchgeführt  wer- 
den. Folglich  musste  bei  der  Zartheit  der  hohen  Töne  die  tiefere 
Oktave  helfen;  folglich  mussten  die  Zwischentöne  aus  No.  47  sich 
verstärken  und  volle  Harmonie  werden;  —  und  so  hat  allerdings 
die  eine  beabsichtigte  Aenderung  Verwandlung  des  ganzen  Satzes 
nach  sich  gezogen. 

Wie  würde  sich  unser  Thema  in  tiefern  Oktaven  darstellen  ?  — 
Die  tiefem  Tonlagen  haben  schwerern,  ernstern  Karakter,  sind 
auch  vermöge  der  langsamem  Tonschwingungen  oder  Tonentwicke- 
lung Th.  I,  S.  441)  zu  langsamem  Fortschreitungen  geneigt;  end- 
lich müssen  in  tiefer  Harmonielage  die  Töne  sorgfältig  auseinan- 
der gehalten  werden,  um  sich  nicht  bei  ihrer  grössern  und  langsa- 
mer vibrirenden  Schallmasse  zu  verwirren.  Es  wäre  daher  nicht 
rathsam,  unser  Thema,  wie  es  in  No.  40  aufgestellt  ist,  oder  eine 


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Die  Formal-Variation. 


65 


der  hochliegenden  Variationen  ohne  Weiteres  um  eine  oder  zwei 
Oktaven  hinabzusetzen;  Einiges  könnte  auch  da  passend  sein, 
schwerlich  aber  Alles. 

Für  die  Darstellung  in  der  Tiefe  wünschen  wir  dem  Thema 
vor  allem  mehr  Breite  mnd  Gewicht;  der  Zweivierteltakt  verwandle 
sich  in  Dreivierteltakt. 

Dann  fällt  uns,  indem  wir  an  ernstere  und  gewichtigere 
Darstellung  gehn,  zum  ersten  Mal  die  kleine  und  so  gar  einfache 
Gliederung  (in  zwei  Abschnitte  von  zwei,  und  einen  grössern  von 
vier  Takten,  der  aber  auch  das  Zweitaktmaass  durchfühlen  lässt) 
bedenklich  auf.  So  kleine  Maasse  sind ,  wenn  auch  keineswegs 
unbehandelbar  und  unzulässig,  doch  jedenfalls  ein  Hinderniss  gross- 
artigerer und  tieferer  Entwickelung ;  dem  Gefühl  hiervon  ist  es  bei- 
zumessen, dass  schon  in  No.  47  und  48  die  beiden  ersten  Abschnitte 
sich  mit  einander  zu  verschmelzen  strebten.  Unter  diesen  Rück- 
sichten bildet  sich  folgender  Satz,  — 


der  bei  seinem  schwerern  Tongewichl  gern  noch  einen  Anhang 
über  der  liegen  bleibenden  (oder  vielmehr  rhythmisch  wiederholten) 
Tonika,  oder  nochmalige  Rückkehr  auf  den  Gipfelpunkt  des  Satzes 
;das  hohe  g)  wünschen  liesse.   Würde  das  Letztere  gewählt,  so 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  5 


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66 


lieber  gang  zur  Komposition. 


mttsste  man  jenen  Punkt,  der  schon  zweimal  gewirkt  bat,  wahr- 
scheinlich noch  steigern;  es  würde  sich  statt  der  letzten  Noten  in 
No.  49  vielleicht  von  Takt  8  an  folgende  Melodie wendung 


so  m 


m 


bilden,  aus  e-o-c  der  verlangende  Dominantakkord  mit  der  Sep- 
time in  der  Melodie  ergeben.  Die  Erfindung  eines  schliessenden 
Anhangs  über  der  Tonika  bleibe  Jedem  Uberlassen. 

Bisher  haben  wir  das  Thema  bald  in  höherer,  bald  in  tieferer 
Region  dargestellt.  Liesse  sich  dies  nicht  in  einem  einzigen  Satze 
vereinen  ?  —  Wir  benutzen  dazu  die  breitere  Darstellung  in  No.  49 . 


Adagio. 


54  < 


pes ante 


ipp 


r 

m 


> —       dolce     r  I 


rt-H 


f 


m 


I 


Es  wäre  dies  ein  zusammenfassender  Satz,  der  am  Schluss 
einer  grössern  Folge  oder  Entwickelung  seine  Stelle  fänd'.  In  die- 
sem Sinne,  der  sich  auch  schon  in  dem  Hindurchgehn  durch  drei 
verschiedne  Tonregionen  kundgiebt ,  bedurfte  er  grösserer  Breite 
der  Entfaltung ;  und  dies  hat  sich  nicht  nur  in  der  breitern  Takt- 


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Die  Formal-  Va riation . 


67 


art,  die  wir  gewählt,  sondern  auch  in  dem  grossen  Gewicht  geltend 
gemacht,  das  dem  Gipfelpunkt  des  Satzes  (dem  Ton  g  aus  Takt  5 
in  No.  40)  beigelegt  wird.  Dies  zieht  sogleich  weitere  Ausführung 
der  letzten  Takte  nach  sich;  man  fühlt,  dass  der  Satz  oben  noch 
nicht  schlussreif  ist,  dass  die  Takte  5  bis  8  oder  9  noch  befriedi- 
gende Lösung  erwarten. 

Zu  diesem  ganzen  weit  ausgelegten  Inhalt  bedurfte  es  zuletzt 
noch  eines  festen  Einigungsmotivs;  die  Einheit  des  Inhalts  schien 
hier  nicht  genügend,  da  er  noch  nicht  das  Durchwandern  der  drei 
Oktaven  motivirt.  Hier  kam  nun  das  (schon  in  No.  49  angeregte) 
Bassmotiv 


51  3* 


zu  statten,  das  sich  Takt  3,  5,  7  wiederholt,  Takt  6  und  8  wenig- 
stens andeutet  und  überall  auf  den  gemeinschaftlichen  Bindeton  G 
hinweist.  Nun  erscheint  das  Tonspiel  durch  alle  Oktaven  als 
blosse  Entfaltung  aus  diesem  festen  Grunde. 

Daher  könnte  der  Fortgang  des  Satzes  wohl  so  — 


erfolgen,  so  dass  jener  bisher  als  Grundlage  anschlagende  Halteton 
jetzt  in  den  mittlem  Lagen  (in  rhythmischer  Figurirung)  fortwirkte, 
die  Melodie  mit  der  ihr  fester  anschliessenden  Begleitung  durch  die 
verschiednen  Tonregionen  herdurchschwebte  und  in  jenem  Halteton 
die  einigende  Mitte  fänd'.  Wie  sich  das  im  nächsten  Takte,  wo 
die  Melodielage  mit  der  Lage  des  Haltetons  zusammentrifft,  fort- 
und  zu  Ende  führen  Hesse,  mag  Jeder  versuchen. 

Soviel  über  die  erste  Reihe  der  Variationen,  die  —  wie  sich 
von  selbst  versteht  —  hier  im  Mindesten  nicht  erschöpft  ist  oder 
erschöpft  werden  sollte.  Fassen  wir  das  bisher  von  No.  43  an 
Entwickelte  in  Einem  Ueberblicke  zusammen,  so  ergeben  sich  fol- 
gende Resultate. 

\)  Die  vorherrschende  Absicht  war,  dass  Alles  dem  Instru- 
ment angemessen  heraustrete ;  ohne  diesen  durchgehen- 

5* 


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Uebergang  zur  Komposition. 

den  Zweck  würde  es  kaum  der  Beachtung  werth  ge- 
wesen sein,  denselben  Satz  in  verschiednen  Oktaven 
aufzustellen. 

Diese  Hauptaufgabe  konnte  —  schon  durch  blosse  Ver- 
setzung in  verschiedne  Tonregionen  —  mehrfach,  ja  viel- 
fältig gelöst  werden.  So  eröffnet  sich  gleich  beim  Ein- 
tritt in  das  neue  Gebiet  die  Aussicht  auf  eine  reiche 
Ernte,  auf  unerschöpflich  zu  nennende  Erfolge. 

Jede  Tonregion  des  Instruments  erwies  sich  von  einem 
besondern  Karakter;  wir  können  auf  demselben  (wenn 
auch  weniger  stark  ausgesprochen,  als  in  den  Singstim- 
men und  einigen  andern  Organen)  die  Tenorlage,  — 
ungefähr  zwischen  dem  kleinen  und  eingestrichnen  g, 
—  die  Diskantlage,  —  ungefähr  eine  Oktave  höher,  — 
und  die  über  alle  Gesangregion  hinausgehenden,  mehr 
glöckchenartig  ansprechenden  Töne  der  drei-  und  vier- 
gestrichnen  Oktave  unterscheiden. 

Folglich  nahm  derselbe  Satz  in  den  verschiednen  Ton- 
lagen auch  einen  andern,  von  diesen  motivirten  Karakter 
an ;  er  erschien  rein  und  mild  in  der  Diskantregion,  von 
dunklerer  Empfindung  und  ernsterer  Stimmung  in  der 
Tenorlage,  fein,  hell  und  metallisch  klingend  in  den  ho- 
hen Oktaven. 

Folglich  musste  die  Behandlung  in  jeder  Tonregion  eine 
verschiedne,  dieser  eigenthtimliche  sein.  Sie  bedurfte 
der  Feinheit  für  die  feinen  Klänge  der  hohen  Oktaven 
(No.  43,  44),  und  dies  hatte  auf  die  Melodie  selbst,  z.  B. 
auf  die  Schlussweise  a  (in  No.  43)  in  derselben,  so  wie 
auf  den  spielendern  Ausgang  in  No.  44  Einfluss.  Sie 
bedurfte  vieler  Töne  zu  vollerm  und  dabei  luftigem» 
Klang  in  der  Höhe  (No.  45)  und  grösserer  Breite  für 
die  langsamere  Entfaltung  in  der  Tiefe,  in  No.  49;  — 
und  was  dergleichen  weiter  theiJs  schon  erwähnt,  theils 
noch  zu  bemerken  ist. 

Hier,  wie  früher,  haben  wir  gestrebt,  jedes  Motiv  fest- 
zuhalten ;  wir  haben  längst  und  vielfältig  erkannt,  dass 
die  Kraft  der  Komposition  nicht  in  der  Zahl  aneinander- 
gereihter Einfälle  und  im  umherflirrenden  Wechsel  der 
Empfindung,  sondern  umgekehrt  in  einer  immer  treuem 
und  energischer  festgehaltnen  Vertiefung  in  den  einen 
Gedanken  oder  die  eine  Empfindung  beruht. 

Dabei  haben  wir  uns  vom  Motiv  zu  entfernen  gewusst, 
wo  der  Gesang  des  Satzes  es  foderte;  so  sind  z.  B.  in 


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Die  Formal- Variation. 


69 


No.  47  und  48  besondre  Wendungen  rathsam  gewesen, 
um  die  kurzen  Abschnitte  an  einander  zu  bringen. 
8)  Selbst  in  der  Entwickelung  der  verschiednen  Variationen 
haben  wir  gern  an  denselben  Motiven  wieder  angeknüpft. 
So  hat  sich  das  in  No.  53  herrschend  werdende  g  schon 
in  No.  47,  49  und  51  mehr  oder  weniger  geltend  ge- 
macht; das  Motiv  a  (No.  43)  wird  bedeutender  in  No.  49 
und  noch  mehr  in  No.  51*  und  53;  der  erste  Bass- 
schritt in  No.  49  wird  zum  bedeutsamen  Motiv  (No.  52) 
in  No.  51.  Hierdurch  wird  die  Entfaltung  der  einzelnen 
Sätze  zu  festerer  Einheit  erhoben  und  die  Erfindungs-  . 
kraft  in  das  Unendliche  vervielfältigt. 
Hiermit  ist  nun  die  Einweisung  des  Jüngers  in  die  neue  Auf- 
gabe wohl  genügend  zu  erachten ;  wir  dürfen  uns  daher  von  hier 
ab  an  flüchtigem  Winken  und  einzelnen  Beispielen,  statt  vollstän- 
diger Entwickelung,  vorwärts  bewegen. 

Die  bisherigen  Variationen  hatten  zunächst  keinen  andern 
Zweck,  als  die  Darstellung  des  Thema's,  und  zwar  in  verschiednen 
Tonregionen ;  Alles,  was  sich  sonst  noch  einfand,  war  nur  um  je- 
nes Zwecks  willen  da.  Eine  zweite  Reihe  von  Veränderungen  hat 
zu  ihrem  Ziel 

2.  die  harmonische  Begleitung. 

Wie  vielfältig  irgend  eine  Melodie  sich  harmonisiren  lasse,  ist 
aus  dem  ersten  Theil  des  Lehrbuchs  bekannt.  Es  mag  vom  fleis- 
sigen  Jünger  noch  einmal  an  der  erwählten  Melodie  durchgeübt 
werden,  bedarf  aber  hier  keiner  nochmaligen  Erörterung. 

Eben  so  wohlbekannt  ist  uns 

die  harmonische  Figuration, 

mit  allen  den  Hülfs-  und  andern  Beitönen,  die  sich  hier  (Th.  1, 
S.  419)  einmischen  können. 


*  Diese  Variation  erinnert  an  das  unsterbliche  Thema,  das  Beethoven 
in  seinem  grossen  ßdur-Trio  (Op.  97)  als  Andante  variirt  hat;  gleichwohl 
liegt  von  No.  40  her  am  Tage,  wie  man  hier  auf  jeden  einzelnen  Zug  gekom- 
men und  dass  an  eine  absichtliche  Entlehnung  nicht  zu  denken  ist. 

Wir  erkennen  bei  dieser  Gelegenheit,  wie  leicht  dieselbe  Gestal- 
tung bei  verschiednen  Tonsetzern  hervortreten  kann,  ohne  dass  der  eine  vom 
Werke  des  andern  dabei  Notiz  nimmt.  Nicht  an  solchen  Einzelheiten  ist  das 
Verdienst  oder  der  Vorzug  der  Originalität  eines  Werks  und  eines  Komponisten 
zu  prüfen,  sondern  an  der  Eigenthümlichkeit  der  Grundidee  und  an  ihrer  ge- 
treuen und  folgerechten  Durchführung.  Eben  hier  irrt  das  ürtheil  der  Halb- 
kenner am  häufigsten  und  weitesten  vom  Wege,  da  sie  wohl  Einzelheiten  zu 
merken  und  wieder  zu  erkennen,  nicht  aber  auf  die  tiefere  Grundidee  zu 
dringen  und  die  vernunftgcmässe  Entwickelung  im  Ganzen  eines  Werkes  zu 
verfolgen  und  zu  durchschauen  wissen. 


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70 


Uebergang  zur  Komposition. 


Wollen  wir  letztere  Form  als  Variation  anwenden,  so  kann 
das  in  unzähligen  Weisen  der  Tonfolge,  des  Rhythmus,  der  Aus- 
dehnung u.  s.  w.  geschehn,  muss  aber  wiederum  der  Natur  des  Or- 
gans durchaus  entsprechen.  Auch  hier  ist  es  höchst  rathsam,  dass 
der  Jünger  sich  vom  Einfachsten  folgerecht  und  in  möglichster  Fülle 
des  Gestaltens  vorwärts  bewege. 

Wär'  er  also  bei  dieser  Gestalt  angelangt, 


w 


5* 


1 


die  keineswegs  für  die  einfachste  und  erste  zu  achten,  so  müsste 
nach  irgend  einer  Richtung  hin  der  weitere  Fortschritt  gesucht  wer- 
den. Es  könnte  zunächst  das  untergeordnete  Verhalten  der  untern 
Stimmen  bemerkt  und  deren  Theilnahme  an  der  Bewegung  der  zwei- 
ten Stimme,  z.  B.  in  einer  von  diesen  Weisen 


! 


55  < 


^^^^ 


 .          J        *  *=J 

• 

r     r      r  r 

zur  Aufgabe  werden.  Oder  man  könnte  die  Tonfolge  bereichern 
und  damit  beschleunigen; 


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Die  Formal-Variation 


71 


56 


oder,  —  weil  blosse  Vermehrung  und  Beschleunigung  der  Ton- 
folge am  wenigsten  in  der  harmonischen  Figuration  wahre  innre 
Bereicherung  ist,  die  Motive  mischen  und  der  Einförmigkeit  der 
Tonfolge,  die  jeder  harmonischen  Figuration  eigen  ist,  durch  die 
Kraft  des  Rhythmus  und  der  Modulation  abhelfen, 


Energico 


wie  hier  begonnen  ist.  Auch  dieser  Tonsatz  mtlsste  Übrigens  durch 
Anhänge  oder  ähnliche  Mittel  erweitert  werden,  damit  die  Fülle  der 
Ausführung  dem  Inhalt  entspräche.  Auch  hier  wieder  wie  bei  jeder 
reichem  oder  lebhaftem  Erfindung  steht  die  Kürze  des  Thema's 
hindernd  entgegen.  Obwohl  es,  wie  wir  sehn,  nicht  an  Mitteln 
fehlt,  günstigem  Raum  zu  gewinnen,  wird  man  doch  wohl  bemer- 
ken, dass  diese  Wiederholungen  u.  s.  w.  in  Bezug  auf  das  Thema 
[also  den  Grundgehalt)  eben  nur  äusserlich  nothwendig  gewordne 


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72 


Uebergang  zur  Komposition. 


Zusätze  sind,  und  dass  ein  gleich  ursprünglich  in  genügender  Fülle 
ausgebildetes  Thema  auch  die  Variationen  weit  grossartiger,  gleich- 
sam aus  Einem  festen  Stücke  gegossen,  hervortreten  lassen  würde.  — 
Schon  hier  haben  wir  zu  einer  weitern  Taktart  greifen  und  zu 
erweiterter  Konstruktion  rathen  müssen,  um  dem  breitern  und  ge- 
wichtigern Motiv  Raum  zu  schaffen.  Je  weiter  wir  die  Motive 
ausdehnen,  desto  mehr  müssen  sich  auch  die  Räume  erweitern. 
Gelangten  wir  z.  R.  in  Folge  weiterer  harmonischer  Variationen 
auf  diese  Gestaltung,  — 


Brillante. 


so  wäre  nicht  bloss  die  ursprüngliche  Taktart  um  einen  Theil  er- 
weitert, sondern  jeder  Moment  der  Melodie,  wie  man  hier  ver- 
deutlicht sieht, 


Thema  (nach  No.  42) 


59 


Variation. 


vergrössert ;  —  es  wäre,  wenn  man  Takt  gegen  Takt  setzen  wollte, 
aus  dem  Zweivierteltakt  ein  Sechsviertel takt  geworden.  Alle  diese 
Umgestaltungen  und  Erweiterungen  der  Konstruktion  müssen  aus 


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Die  Formal-Variation. 


73 


der  ersten  Melodielehre  (Th.  I,  S.  37)  und  der  Lehre  von  der 
Liedform  (Th.  II,  S.  27)  einleuchtend  und  geläufig  sein. 

Dass  —  und  wie  sich  nun  zu  der  harmonischen  Figuration 
Vorhalte  (z.  B.  Takt  2  in  No.  58),  Durchgänge  u.  s.  w.  gesellen 
und  neue  Motive  an  die  Hand  geben,  bedarf  keines  nochmaligen 
Nachweises. 

Mit  Hülfe  dieser  vereinten  Tongestalten  erschliesst  sich  eine 
neue  Reihe  von  Veränderungen,  die  wir  in  Erinnerung  an  frühere 
Arbeiten  (Th.  II,  S.  108) 

3.  die  figiirale  Begleitung 

nennen.  Wie  einst  gegen  den  Choral  mit  einer  oder  meh- 
rern Stimmen  figurirt  wurde,  so  kann  es  jetzt  gegen  die  Melodie 
des  Thema's  geschehn;  es  könnte  z.  B.  unsre  Melodie  in  dieser 
Weise  — 


60 


I 


m 


Larghctto. 


9!  3 


3=: 


mm 


V   7  / 


P 


== 


durchgeführt,  oder  die  Bewegung  in  eine  einzige  Stimme,  z.  B.  eine 
Mittelstimme,  — 


6 


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74 


Uebergang  sur  Komposition. 


5= 


— 


= 




gelegt  werden.  Beiläufig  hat  in  diesen  beiden  Fällen  die  Figuration 
auch  auf  die  Hauptmelodie  Einfluss  geäussert;  das  Einfachere  wäre 
gewesen,  die  Melodie  unverändert  beizubehalten. 

Hiermit  aber  haben  wir  von  selbst  den  Uebergang  zu  der  letz- 
ten Reihe  formeller  Veränderungen  gefunden;  wir  wollen  sie  als 

4.  die  Variation  dei*  Melodie 
bezeichnen  und  nur  ein  einziges  Beispiel  davon  — 

Largo. 





geben.  Die  Melodie  (vielmehr  der  erste  Abschnitt  derselben)  tritt 
zuerst  in  der  Oberstimme  auf  und  wird  dann  in  der  Unterstimme  teno- 
risirend  wiederholt:  wahrscheinlich  wird  dieser  wiederholende  Wech- 
sel der  Stimmen  nun  zu  dem  zweiten  Abschnitt  der  Melodie,  und 
so  ferner,  wiederholt.  —  Hier  ist  auf  Aenderung  der  Melodie 
ausgegangen.  Dies  aber  zieht  sofort  auch  Aenderung  der  Begleitung 
nach  sich,  wie  vorher  in  No.  60  und  61  umgekehrt,  weil  —  von 
welcher  Absicht  auch  die  Komposition  ausgehe  —  Melodie  und  Be- 
gleitung nothwendig  zur  Einigung  streben. 

Nur  soviel  ist  nöthig,  um  in  die  verschiednen  Richtungen  for- 
meller Variation  einzuweisen;  das  Weitere  giebt  sich  nach  dem 
jetzt  und  früher  Erkannten  von  selbst.  Je  fleissiger  der  Jünger 
alle  Arten  von  Variationsmotiven  in  folgerechter  Entwickelung  eins 
aus  dem  andern  aufsucht,  je  stetiger  und  kunstmässiger  er  jedes 
nach  seiner  Richtung  verfolgt,  je  freier  er  bei  aller  Stetigkeit  der 


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Die  Kar  akter-  Variation . 


75 


Form  und  dem  Sinne  des  Ganzen  genugzuthun  sucht :  desto  reicher 
wird  auch  nach  dieser  Seite  hin  sein  Geist  und  sein  Kunstbesitz 
emporwachsen.  Diese  Richtung  seiner  Ausbildung  wird  aber,  wie 
schon  S.  53  vorausbemerkt,  nicht  bloss  der  eigentlichen  Variation- 
Arbeit,  sondern  auch  den  bevorstehenden  freiem  und  grössern 
Formen  zu  statten  kommen.  Ja,  er  wird  sich  bald  überzeugen,  dass 
er  durch  sie  selbst  in  den  polyphonen  Aufgaben  der  Figuration  und 
Fuge,  die  scheinbar  so  weit  von  der  Variation  abliegen,  gefördert 
wird  in  Erfindungskraft  und  Freiheit  und  Leichtigkeit  der  Führung; 
wie  denn  überhaupt  nach  unsrer  alten  Vorhersagung  (Th.  II,  S.  8) 
keine  Kunstform  angebaut  oder  versäumt  werden  kann  ohne  ent- 
schieden günstige  oder  nachtheilige  Folge  für  alle  andern*. 


Siebenter  Abschnitt. 

Die  Karakter- Variation. 

Dass  der  Ausdruck  Karakter  hier  besonders  auf  die  Kunst- 
form bezogen  werden  soll,  in  der  man  ein  Thema  darstellt,  ist  be- 
reits S.  59  gesagt.  Sei  der  Ausdruck  auch  nicht  vollkommen  be- 
zeichnend, so  ist  er  doch  insofern  zu  rechtfertigen,  als  die  Kunst- 
form eines  Satzes  der  allgemeinste  Ausdruck  seines  Inhalts,  mithin 
das  allgemeinste  Karakterzeichen  ist.  So  verschiednen  Inhalts  auch 
alle  Märsche,  oder  alle  Fugen  unter  einander  sind,  so  ist  doch  schon 
das  Erste  und  Nächst-Entscheidende  zur  Karakterisirung  eines  Satzes 
gesagt,  wenn  wir  aussprechen  können,  er  gehöre  der  Marschform  oder 
der  Fugenform  an.  Er  ist  damit  von  einer  ganzen  Masse  andrer  Ton- 
stücke »wesentlich  unterschieden. 

Ein  Variationenthema  ist,  wie  wir  S.  54  gesehen,  ein  liedför- 
raiger  Salz,  kann  aber  als  solcher  einer  bestimmten  angewandten 
Liedform  angehören;  ein  Beispiel  zu  Letzterm  haben  wir  an  dem 
Walzerthema,  das  Beethoven  variirt  hat.  Abgesehen  nun  hiervon 
(es  würde  daraus  nur  folgen ,  —  was  sich  von  selbst  versteht  — 
dass  man  ein  solches  Thema  nicht  erst  in  diese  bestimmte  Form 
verwandeln  könne)  hat  die  nächste  Reihe  von  Karakter- Variationen 
es  mit 

\.  Uebertragung  in  eine  angewandte  Liedform 
zu  thun. 

Hierzu  bedarf  es  keiner  Anleitung,  da  wir  schon  früher  und 
noch  im  vorigen  Abschnitt  uns  geübt  haben,  eine  Liedform  in  die 

*  Hierzu  der  Anhang  B. 


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76 


Uebergang  zur  Komposition. 


andre  Überzuführen.  Bisher,  z.  B.  in  No.  61  und  62  oder  57,  ist 
dies  nach  freier  Laune  geschehn ;  schon  hierbei  haben  wir  Melodie 
und  Taktart  geändert.  Jetzt  muss,  wie  sich  von  selbst  versteht, 
die  Aenderung  dahin  gehn,  dem  Thema  die  wesentlichen  Züge  und 
Wendungen  der  neuen  Liedform,  die  man  sich  zur  Aufgabe  gesetzt, 
aufzuprägen.  Sollte  unser  Thema  z.  B.  in  einen  Walzer  verwan- 
delt werden,  so  müsste  es  vor  allem  den  rythmischen  Bau  des 
Walzers  in  dieser  — 

U.  8.  W. 

im 


63 


oder  einer  gehaltreichern  Gestalt  erhalten;  zugleich  müsste  es  — 
nach  dem  Herkommen  dieser  Form,  denn  nothwendig  ist  es  ihr  nicht 
—  zu  einem  zweitheiligen  Lied  erhoben  werden,  was  wir  eben- 
falls schon  (Th.  II,  S.  69)  gelernt  haben. 

Bei  dergleichen  Aufgaben  wird  nun  die  neue  Form  so  wichtig, 
dass  man  noch  weniger  eng  wie  sonst  an  das  Thema  gebunden, 
dies  vielmehr  nur  der  erste  Stoff  zu  einer  gewissermassen  neuen 
Komposition  bleibt.  Die  freieste  Verbrauchung  der  Motive  ist  hier 
nicht  bloss  statthaft,  sondern  auch  nothwendig.  Der  vorige  Versuch 
eines  Walzers  ist  z.  B.  schon  wegen  der  Kürze  der  Melodie  nicht 
wohl  ausführbar ;  man  müsste  der  Kantilene  durch  erweiterte  Aus- 
legung der  Motive  — 

Piacevole.  ,  , 

J     ,.  i 


64 


5 


3 


U  l 


Li  i 


VT' 

n.  «.  w. 


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1=  ir]r-fe5- 


ff 


T 


±Sbz± 


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Ped.  $ 

erst  eine  genügende  Weite  geben.  In  ähnlicher  Weise  könnte  der 
geringen  und  engen  Melodie  der  Marschkarakter  — 
Fiero  e  vivace. 


65 


^tJ1 1  Kit  »  Efg^  I  IJj- 

forte         '      I     T  I 


1 — r 


5^ — 


zugänglich  werden ;  es  ist,  wie  man  sieht,  das  erste  Motiv  dreimal 
auf  verschiednen  Stufen  wiederholt  und  dadurch  ein  rythmisches 
Glied  von  zwei  Takten  gebildet  worden,  dem  sich  ein  gleich  langes 
(wahrscheinlich  mit  a-cis-e-g  nach  Dmoll  ausgehendes)  von  ab- 


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Die  Karakter-Variation 


77 


weichendem,  aber  naheliegendem  Inhalt  anschliessen  wird.  So  wür- 
den aus  den  zwei  ersten  Takten  des  Thema's  (dem  Motiv  e,  d}  c) 
vier  Doppeltakte  —  aus  Zweiviertel-  Viervierteltakt  —  geworden 
sein;  die  nächsten  zwei  Takte  (das  Motiv  e,  d)  würden,  wahr- 
scheinlich auf  der  Dominante,  gleiche  Ausführung  erfahren,  und  nach 
diesen  zwei  Abschnitten  würde  aus  den  letzten  Takten  des  Thema's 
in  gleicher  Erweiterung  —  also  auf  acht  Takte  —  der  Schluss  des 
ersten  Theiles,  wahrscheinlich  in  der  Dominante,  gebildet.  Dann 
müsste  ein  zweiter  Theil  nach  bekannten  Grundsätzen  geschaffen 
werden;  er  könnte  auf  der  Dominante  oder  einem  fremdern  Tone 
(z.  B.  der  Parallele  derselben,  2?moll,  oder  —  da  der  Mollkarakter 
vielleicht  dem  hellen  Wesen  des  Hauptsatzes  nicht  entspricht  —  in 
der  Parallele  der  Unterdominante)  mit  dem  umgekehrten  Motiv  auf- 
treten, — 


66  < 


und  da  sich  in  der  ganzen  Breite  des  Hauptmotivs  oder  vielmehr 
ersten  Abschnitts  (von  vier  Takten)  festsetzen,  oder  in  entschied- 
nerer  Weise  (wie  hier  geschehen)  und  mit  schnellerer  oder  keckerer 
Modulation  vorschreiten*. 

Dergleichen  Umgestaltungen  sind  übrigens  so  oft  dagewesen, 
dass  wir  sie  mit  diesem  Wenigen  für  abgethan  erachten  und  zu  den 

2.  Uebertragungen  in  eine  grössere  Form 
fortschreiten. 

Hiermit  sind  zunächst  Rondo-  und  Sonaten  formen  ge- 
meint, deren  nähere  Bekanntschaft  wir  in  den  folgenden  Abtheilungen 
machen  werden.  Bis  dahin  muss  ihre  Anwendung  auf  die  Variation 
unterbleiben,  und  wir  bemerken  nur  zur  Orientirung,  dass  in  beiden 
Formen  ein  (meist  liedförmiger)  Hauptsatz  sich  mit  Gängen  und  an- 
dern Sätzen  zu  einem  Ganzen  verbindet.  Soll  nun  eine  dieser  For- 


*  Wie  sind  wir  auf  die  Tonarten  Emoll  und  Esdur  gerathen?  —  Wir 
fassten  den  Hauptton  der  letzten  Tonart  und  Harmonie  ig)  als  Median  te,  als 
Terz  einer  andern  Harmonie  und  Tonart  auf,  folgten  also  einem  altbekannten 
harmonischen  Motiv  (Th.  I,  S.  2<9)  zu  modulatorischen  Zwecken.  Die  Auffas- 
sung des  letzten  Haupttons  als  Quinte  hat  das  geringere  Resultat  einer  Modu- 
lation in  die  Unterdominante.  Wohl  aber  können  wir  umgekehrt  die  Terz 
Mediante)  des  letzten  Akkordes  zum  Grundton  erheben  und  damit  in  eine  neue 
Tonart,  z.  B.  von  g-h-d  nach  flmoll  oder  Hdur,  gelangen. 


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78 


Uebergang  zur  Komposition 


men  für  Variation  benutzt  werden,  so  wird  das  Thema  zum  Haupt- 
satze der  neuen  Form  erhoben  und  das  Weitere  frei  (oder  aus  an- 
ders gewendeten  Motiven  des  Hauptsatzes)  zugesetzt.  Weniger  ge- 
schickt und  darum  seltner  gebraucht  ist  übrigens  zu  solcher  Ver- 
wendung die  Sonatenform,  weil  diese  eigentlich  zwei  Hauptsatze 
(oder  gar  Hauptpartien)  hat,  nebst  mancherlei  Nebensätzen  und 
Gängen,  mithin  das  Variationenthema  eine  nur  untergeordnete  Be- 
deutung behaupten  kann. 

Ebenfalls  nur  oberflächlich  ist  einer  dritten  Form,  die  wir 

Va  ria  t  ion  en  f  in  al  e 
nennen  wollen,  zu  gedenken.  Sie  besteht  darin,  dass  das  Thema 
in  mehrmaliger  Wiederholung,  einfach  oder  auf  mannigfache  Weise 
variirt  und  in  verschiednen  Tonarten  mittels  blosser  Modulation  oder 
durch  verbindende  Gänge  zu  einem  grossem  Ganzen  erhoben  wird. 
Bestimmtere  Ordnung  ist  hier  nicht  sichtbar;  vielmehr  gehört  ein 
solches  Tonstück  in  die  Kategorie 

der  Phantasie 
(von  der  ebenfalls  weiterhin  die  Rede  sein  wird),  kann  aber  auch 
von  den  bestimmtem  Formen  des  Rondo  u.  s.  w.  diese  oder  jene 
Wendung  entlehnen. 

Die  letzten  Formen  für  Variation  fassen  sich  als 

3.  Umwandlungen  in  polyphone  Kunstformen 
zusammen.  Das  liedförmige  Thema  soll  Stoff  geben  zu  polyphonem 
Satze. 

Denken  wir  zuerst  der  wichtigen  Fugen  form,  so  ist  klar, 
dass  das  Variationen-Thema  nun  Fugenthema  werden  soll, 
dass  aber  selten  oder  nie  ein  Variationenthema  dazu  sofort  und  ganz 
geeignet  ist.  Man  wird  sich  also  nur  an  einen  Theil  desselben 
(wahrscheinlich  die  ersten  Motive)  zu  halten  und  diesen  nach  den 
Erfodernissen  des  Fugensatzes  umzubilden  und  zu  benutzen  haben. 
Unser  Thema  z.  B.  könnte  in  folgender  Weise 


verwandelt  und  —  bei  der  Buntheit  seiner  nunmehrigen  Gestalt  — 
in  einer  dreistimmigen  (oder  zweistimmigen)  Fughette  ausgeführt 
werden. 

In  dieser  Weise  hat  Beethoven  sein  in  No.  37  angeführtes 


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Die  Karakter-  Variation 


79 


Thema  in  der  vierundzwanzigsten  Variation  zu  einer  Fughette  ver- 
wendet. Er  hält  von  demselben  nichts,  als  den  anfanglichen  Quar- 
tenschritt und  die  Harmonie  (diese  auch  nur  vorübergehend)  fest 
und  gewinnt  dieses  Thema  (vergl.  Th.  II,  S.  323,  No.  478), 
Andante.  | 


68 


— V 


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4 


7 


I 


das  vierstimmig  durchgeführt  und  mit  Hülfe  des  weitern  (aus  No.  37 
nicht  ersichtlichen)  Inhalts  des  Variationenthema's  zu  einem  Schluss 
auf  der  Dominante  geleitet  wird.  Den  zweiten  Theil  bildet  eine  neue 
Durchführung  des  Thema's  in  der  Verkehruns;  und  Engführung,  — 

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69  l 


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der  Bass  und  zuletzt  das  Thema  in  rechter  Bewegung  folgen.  Das 
Ganze  hat  die  Form  der  Bach'schen  fugirten  Giguen  (Th.  II,  S.  333), 
nur  in  einem  ganz  abweichenden  Sinn  angewendet;  stille  Heimlich- 
keit deckt  hier  das  Stimmgewebe  an  der  Stelle  des  sprühenden 
Humors  in  jenen  kleinen  Meisterstücken  Bach's.  Aber  auch  hier 
ist  nicht  bloss  der  sinnige  Geist  des  Tondichters,  sondern  das  eigen- 
tümliche Weben  und  Leben  der  Kunstform  auf  das  Glücklichste 
und  Dankwertheste  bethätigt. 

Nochmals  muss  dem  neuern  Meister  dasselbe  Thema  Anlass  zu 
einer  Doppelfuge  geben,  in  der  zweiunddreissigsten  Variation,  — 
übrigens  in  einer  fremden  Tonart,  jEsdur.  Der  Quartenschritt  und 
die  Wiederholung  des  Melodietons  geben  Stoff  für  das  erste  Sub- 
jekt, das  zweite  Subjekt  wird  frei  zugesetzt. 
Allegro. 


70 


rb  n.  Q  1  I  M  t  I   i  1  1 


forte 


3 


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Dass  hier  mit  Ausnahme  der  ersten  drei  oder  vier  Töne  jede 
Hindeutung  auf  das  Thema  weggefallen,  ist  klar.  WäV  es  Ab- 
sicht des  Komponisten,  dem  Thema  recht  getreu  und  nahe  zu  blei- 
ben, so  würde  er  natürlich  dergleichen  weite  Abweichungen  zu 
vermeiden,  —  folglich  die  Fugenform  auszuschliessen  haben.  Der 
höhere  Sinn  der  Variationen  form  ist  aber,  wie  wir  immer  deutlicher 


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80 


Uebergang  zur  Komposition. 


erkannt,  der:  ein  und  denselben  Grundgedanken  als  Grundlage 
oder  Stoff  in  den  mannigfachsten  Gestalten  und  Karakteren  aus- 
zubilden; eben  dies  ist  hier  Beethovens  Zweck  und  Verdienst. 

Anschliessender  ist  in  den  meisten  Fallen  die  Form  des  Ka- 
nons, da  der  Kanon  eine  weiter  erstreckte  Melodie  zulässt,  als 
das  Fugenthema  sein  kann,  —  ja  beliebig  weit  erstreckte  Fortfüh- 
rung gestattet.  Daher  kann  bisweilen  die  ganze  Melodie  des  The- 
ma's  kanonisch  durchgeführt  werden.  So  liegt  dem  unsern  in  seiner 
Grundgestalt  (No.  42)  oder  einer  Umschreibung,  z.  B. 
Andantino. 


71 


11111111^1 

Uf-r  US 








eine  kanonische  Durchführung  in  der  Unterquinte  oder  Oberquarte 
sehr  nahe;  sie  geht  bis  zu  dem  Zeichen  f  in  der  anführenden 
Stimme  und  würde  freien  Abschluss  erfodern,  könnte  auch  mit 
einem  gehenden  Bass  unterstützt  werden.  Eine  zweite  kanonische 
Durchführung  wäre  in  der  Unterquarte  und  Oberquinte,  wie  hier 
bei  a  — 


72 


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anzulegen  und  könnte,  wie  bei  o,  spielmässig  oder  durch  zugesetzte 
Stimmen  harmonievoller  und  rhythmisch  belebter  werden. 

In  gleicher  Weise  hat  K.  M.  v.  Weber  in  seinen  »Sieben 
Veränderungen  auf  ein  Zigeunerlied«  das  ganze  zweitheilige  Thema 
zu  einem  zweistimmigen  Kanon  in  der  Unterquinte  benutzt*;  er 
lässt  das  Thema  von  der  zweiten  Stimme,  die  einen  Takt  später 
eintritt,  Ton  für  Ton  nachsingen,  so  dass  nun  dieselbe  natürlich 
auch  einen  Takt  später  als  die  anführende  Stimme  schliesst;  eine 

*  Th.  II,  S.  433  des  Lehrbuchs. 


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Die  Kar  akter-  Variation. 


81 


barocke,  hier  aber  von  Weber  eben  so  geistreich  als  sachgemäss 
benutzte  Form. 

Am  reichsten  finden  wir  diese  Form  der  Variationen  in  den 
»dreissig  Veränderungen  einer  Arie«  von  Seb.  Bach*  ausge- 
beutet. Hier  sind  einem  anscheinend  gar  nicht  dazu  geeigneten, 
schon  wegen  seiner  Länge,  —  zweimal  sechzehn  Takte,  —  dann 
wegen  seines  komplizirten  Inhalts  bedenklichen  Thema  (wir  geben 
hier  — 


73 


u.  s.  w. 


1 


nur  den  Anfang),  neben  mancherlei  Nachahmungen,  einer  Fughette 
und  andern  Veränderungen,  Kanons  im  Einklang  und  der  Oktave, 
in  der  Obersekunde,  Unterterz,  Unterquarte  und  Oberquinte  (diese 
beiden  in  der  Verkehrung  antwortend),  in  der  Obersexte  und  Ober- 
septime abgewonnen. 

Die  Ausführung  dieser  Arbeit  war,  wie  man  schon  bei  einem 
Blick  auf  das  Thema  erräth,  nur  möglich,  indem  der  Meister  auf 
die  Grundlage  des  Thema's 


u.  s. 


i 


zurückging,  und,  an  dieser  festhaltend,  sich  die  freieste  Abweichung 
von  der  ursprünglichen  Kantilene  (No.  73)  erlaubte.  Dies  erkennt 
man  gleich  im  ersten  Kanon,  in  der  dritten  Variation,  — 


75 


Iste  Stimme. 

Jr     "^J  J-J  J  J      7  ' 

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2te  Stimme. 

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— ^ 

- 

wo  die  Oberstimmen  im  Einklang  nachahmen,  und  ein  gehender 
Bass  sie  unterstützt;  aus  jedem  Takte  der  Grundlage  (No.  74)  ist 
hier  ein  halber  Takt  geworden.  Von  ähnlicher  Beschaffenheit  ist 
die  fünfzehnte  Variation,  ein  Kanon  in  der  Quinte  und  Verkehrung,  — 


*  Einige  Variationen  sind  für  ein  Klavier  mit  zwei  Manualen  geschrieben, 
doch  auch  auf  Instrumenten  mit  einem,  wie  die  heutigen,  ausführbar. 

Marx,  Komp. -L.  III.  5.  Aufl.  6 


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82  Uebergang  zur  Komposition. 


und  die  reizende  achtzehnte  Variation ,  ein  Kanon  in  der  Sexte, 
deren  Anfang  schon  Th.  II,  S.  454,  No.  658  angeführt  worden. 

Ueberall  blickt  das  Behagen  hervor,  mit  dem  der  alte  Meister 
seine  Aufgabe  im  Sinn  jener  Zeit,  —  wie  Beethoven  die  er- 
wählte ähnliche  im  Sinn  der  unsern,  —  aufgefasst  und  durchgeführt 
hat;  nebenbei  wird  man  überrascht,  so  manche  Spielform  schon 
hier  (wenn  auch  mit  Zurückhaltung,  begränzter  als  unser  Spiel  und 
Instrument  fodert)  zu  finden,  die  ein  Jahrhundert  später  neu  aufge- 
funden wurde.  So  zeigt  die  neunundzwanzigste  Variation  jenes 
Ineinandergreifen  der  Hände,  das  —  wahrscheinlich  ohne  Entleh- 
nung —  in  neuerer  Zeit  von  A.  E.  Müller  und  manchem  ihm 
Nachfolgenden  als  Motiv  benutzt  worden. 


Achter  Abschnitt. 
Die  Kunstform  der  Variation. 

Unsre  bisherigen  Betrachtungen  und  Vorübungen  betrafen  nur 
die  Einzelheiten  der  Kunstform,  mit  der  wir  uns  bekannt  zu  machen 
haben.  Nachdem  wir  die  wünschenswerthen  Eigenschaften  des  The- 
ma's  erwogen  und  uns  in  der  Erfindung  und  Durchführung  der  ein- 
zelnen Veränderungen  geübt  haben,  werden  wir  uns  leicht  über  die 
Kunstform  selbst  verständigen  und  sie  dann  künstlerisch  an- 
wenden können. 

So  viel  erhellt  schon  von  selber,  dass  die  Uebungen  der  vori- 
gen Abschnitte  wohl  dem  Lehrzweck,  nicht  aber  einem  künstleri- 
schen entsprechen.   Da  wir  bei  jenen  Hebungen  so  viel  wie  mög- 


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Kunstform  der  Variation. 


8:5 


lieh  auf  Vollständigkeit  und  folgerechte  Entwickelung  einer  Gestalt 
aus  der  andern  bedacht  waren:  so  mussten  unvermeidlich  viele 
Gestalten  hervortreten  (als  Beispiele  dienen  No.  54,  55,  56),  denen 
nur  ein  geringes  Interesse  eigen  sein  kann;  andre  Gestaltungen, 
die  vielleicht  für  sich  allein  ansprächen,  konnten  es  nicht  wegen  zu 
grosser  Aehnlichkeit  mit  andern,  neben  ihnen  auftretenden.  Schon 
die  grosse  Ausdehnung  solcher  Arbeiten  macht  ihre  künstlerische 
Wirkung  bedenklich,  da  man  nicht  hoffen  darf,  die  eigne  und  fremde 
Theilnahme  an  demselben  Grundgedanken  ununterbrochen  so  lange 
festzuhalten;  selbst  die  Musterarbeiten  Beethoven's  und  Bach's 
wird  man  nicht  immer  in  ununterbrochner  Folge  sich  und  Andern 
darstellen  mögen. 

Ferner  haben  wir  bei  den  in  den  vorigen  Abschnitten  ange- 
ordneten Uebungen  die  Form  und  das  Motiv  jeder  Variation  so 
stetig,  als  nur  die  kunstgemässe  Entwickelung  des  Ganzen  irgend 
erlaubte,  festgehalten.  Auch  dies  ist  (wie  früher  in  der  Liedform 
und  bei  den  Figurationen)  dem  Uebungszwecke  ganz  entsprechend, 
wird  aber  oft  eine  gewisse  Leere,  oder  auch  Herbigkeit  und  Steif- 
heit nach  sich  ziehn,  wenn  das  Motiv  für  längere  Verfolgung  ent- 
weder zu  unbedeutend,  oder  auch  zu  eigensinnig  und  abgeschlossen 
ist.  Das  Erstere  wäre,  bei  weiter  Ausführung,  mit  dem  Motiv  in 
No.  56,  64  u.  a.,  das  Andre  vielleicht  schon  bei  dem  Motiv  von 
No.  57  der  Fall. 

Diese  und  ähnliche  Bemerkungen  leiten  uns  auf  gewisse 

äusserliche  Regeln, 

unter  deren  Schutz  wir  wenigstens  den  gröbern  Missständen  auszu- 
weichen honen  dürfen.  Allein  man  wird  schon  im  Voraus  darauf 
gefasst  sein,  dass  hier  wie  anderswo  äusserliche  Bathschläge  für 
eine  so  von  innen  heraus  lebende  und  bedingte  Angelegenheit,  wie 
die  Kunst  ist,  nur  unzulänglich  und  zweifelhaft  ausfallen  müssen. 
Das  Hauptsächlichste  ist  wohl  Folgendes. 

E  rstens  halte  man  in  der  Ausdehnung  der  Komposition  Maass; 
man  trachte  nicht  so  viel  wie  möglich,  sondern  nur  Antheilwürdiges, 
—  und  von  diesem  auch  nur  Einiges,  lieber  zu  wenig  als  zu  viel, 
zu  geben. 

Zweitens  halte  man  an  der  folgerechten  Entwickelung  der 
verschiednen  Sätze  aus  einander  nur  so  weit  fest,  als  daraus  keine 
Einförmigkeit  der  Gestalten  zu  befürchten  ist.  Wären  daher  die 
Motive  No.  54,  55,  56,  58,  jedes  für  sich  betrachtet,  auch  vom 
höchsten  Interesse :  so  würde  es  doch  unklug  sein,  sie  zu  künstle- 
rischer Wirkung  nach  einander  abzuhandeln.  Vielmehr  trachte  man, 
die  Reihe  stetiger  Entwickelungen  da,  wo  sie  zu  ermüden  droht, 
durch  abweichende  Gestaltungen  zu  unterbrechen,  das  Ganze  durch 

6* 


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84 


Uebergang  zur  Komposition. 


den  Gegensatz  verschiedner  Bildungen  und  Karaktere  mannigfaltiger 
und  anziehender  zu  machen. 

Drittens  wisse  man  bei  Motiven,  die  kein  zu  langes  Behar- 
ren rathsam  machen,  oder  bei  Thematen  von  ungünstiger  Länge 
oder  Konstruktion  selbst  innerhalb  der  einzelnen  Variationen  mit 
den  Motiven  oder  der  Weise  ihrer  Benutzung  angemessen  zu  wech- 
seln. — 

Die  Unzulänglichkeit  dieser  und  ähnlicher  äusserlicher  Regeln 
leuchtet  ein.  Doch  darf  ihre  Betrachtung  und  einstweilige  Beobach- 
tung, bis  wir  uns  auf  einem  höhern  Standpunkte  befestigt  haben, 
nicht  verschmäht  werden ;  ihre  günstige  Einwirkung  lässt  sich  an" 
den  Kompositionen  gar  vieler  zum  Theil  hochverehrungs würdiger 
Künstler  gar  wohl  erkennen.  Wir  tragen  kein  Bedenken,  einen 
unsrer  grössten  Meister,  W.  A.  Mozart,  als  vollwichtiges  Bei- 
spiel aufzuführen. 

Die  zahlreichen  Leistungen  desselben  in  der  Variation  scheinen 
vom  grössern  Publikum  bei  Seite  gelegt.  Unstreitig  ist  ein  Theil 
derselben  zu  sehr  irgend  einer  flüchtigen  Veranlassung  entsprungen, 
als  dass  man  jenes  thatsächliche  Urtheil  ungerecht  finden  könnte ; 
auch  ist  eben  in  dieser  einfachen  Form  die  Entfaltung  reichern  und 
klangvollem  Spiels,  wie  es  unsre  Zeit  (S.  47)  mit  Recht  fodert, 
allzu  ungern  zu  missen.  Demungeachtet  findet  sich  auch  in  diesem 
Kreise  so  manches  Feine,  Anmuthige,  tiefer  beseelte,  ja  oftmals  so 
entschiedne  Ueberlegenheit  des  Inhalts  vor  vielen  glänzenden  neuern 
Kompositionen  :  dass  der  Kenner  gern  darauf  zurückkommt,  und 
weder  billigen  noch  fürchten  kann,  es  werde  auch  das  Gute  mit 
dem  Geringem  der  Vergessenheit  zum  Raube. 

Hier  nun,  auf  der  Gränze  zwischen  äusserlich  abgefertigten 
und  solchen  Arbeiten,  in  denen  sich  schon  der  erwecktere  Geist  des 
Künstlers  geltend  macht,  kann  jene  äusserliche  Angemessenheit  am 
deutlichsten  beobachtet  werden. 

Bei  mässig  langen  Thematen  (meist  von  zweimal  acht  Takten) 
beschränkt  sich  Mozart  gern  und  klüglich  auf  die  Zahl  von  sechs 
bis  zwölf  Variationen,  selbst  da,  wo  er  sich  für  die  Lösung  der 
Aufgabe  mehr  als  gewöhnlich  angereizt  fühlt;  wie  z.  ß.  in  den 
/>dur- Variationen,  die  das  Finale  der  fünften  Sonate  (des  ersten 
Breitkopf-Härtel'schen  Hefts,  No.  5  der  neuen  Einzelausgabe)  bil- 
den, oder  in  den  G dur- Variationen  auf  das  alte  Lied:  »Unser  dum- 
mer Pöbel  meint«. 

Ueberall  findet  sich  eine  gewisse  Stetigkeit  der  Entwickelung, 
die  meist  übereinstimmende  Schritte  macht  und  sogar  äusserlich 
leicht  zu  bezeichnen  ist.  Die  einfachem  und  kenntlichem  Varia- 
tionen gehen  voran,  die  bewegtem  oder  zusammengesetztem  und 
entferntem  folgen ;  später  fehlt  es  selten  an  einem  Adagio  mit  sehr 


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Kunstform  der  Variation. 


85 


verzierter  Kantilene  (auch  wohl  Minore) ,  worauf  dann  ein  lebhafte- 
rer walzer-  oder  menuettartiger  Satz  schliesst. 

Mit  dieser  Stetigkeit  des  Fortschrittes  geht  die  Sorge  für  Ab- 
wechslung Hand  in  Hand ;  auch  sie  ist  äusserlich  leicht  erkennbar. 
In  den  so  manches  Artige  enthaltenden  Variationen  auf  das  Lied : 
»j4A  /  vous  dirai-je,  Mamam*  vielleicht  am  deutlichsten.  In  der 
ersten  Variation  wird  das  Thema  (wir  haben  es  mit  Buchstaben 
übergeschrieben)  in  der  Oberstimme  leicht  figurirt,  — 

a  g  g 

|^~77  iTMßßßfitßtiißTTf  LLf  f.ffrr* 


77 


worauf  in  der  zweiten  Variation  eine  ähnliche  Figur  in  der  Unterstimme 


78 


als  Begleitung  zu  anziehendem!  Gesang  der  Oberstimmen  wieder- 
kehrt. In  der  dritten  Variation  fasst  die  Oberstimme  das  Thema 
in  freierer  harmonischer  Figuration  in  Achteltriolen ;  dieselbe  Be- 
wegung wird  in  der  folgenden  von  der  Unterstimme  als  Begleitung 
benutzt.  Darauf  folgt  ein  artig  und  sinnig  weiter  geführtes  Wech- 
selspiel beider  Stimmen,  — 


79 


IpX  r     7  t  T      7  ^  T      7  *  T 

und  nach  zwei  bewegten  Variationen  für  die  Unter-  und  für  die 
Oberstimme  ein  fein  empfundnes  Minore  mit  nachahmenden  Stim- 
men, und  ein  ähnlich  gestaltetes  munteres  Maggiore.  Eine  beweg- 
tere, auf  harmonische  Figuration  gegründete  Variation  regt  frische- 
res Leben  an,  worauf  ein  sinnig  und  zierlich  geführtes  Adagio  und 
ein  spiel  vollerer  Satz  den  Beschluss  machen.  —  Das  [Ganze  ist 
voll  artiger  und  empfundner  Nüancen,  was  sich  aus  den  obigen  An- 
deutungen (die  nur  den  Nachweis  der  Gestalten  bezwecken)  nicht 
weiter  entnehmen  lässt**. 

Bei  andrer  Gelegenheit  dient  dem  tiberall,  im  Kleinen  wie  im 
Grossen  so  glücklich  berathnen  Meister  ein  Wechsel  der  Motive 


f- 


*  Heft  2  der  Breitkopf-Härtel'schen  Gesaramtausgabe ,  neuntes  Thema 
(No.  9  der  neuen  Einzelausgabe). 

**  Aehnliches  Verhalten  zeigt  sich  in  den  vierhändigen  Gdur-Variationen 
im  achten  Heft  der  gesammelten  Werke  (in  neuer  Ausgabe  auch  einzeln  er- 
schienen). 


86 


Uebergang  zur  Komposition. 


oder  ihrer  Anwendung,  um,  besonders  bei  einfachen  Thematen, 
Mannigfaltigkeit  in  die  Ausführung  zu  bringen,  ohne  die  Einheit 
des  Inhalts  zu  verlieren.  Dies  zeigt  sich  deutlich  in  den  ,4dur- 
Variationen,  die  mit  ein  Paar  andern  Sätzen  als  Sonate  im  ersten 
Hefte  der  gesammelten  Werke  abgedruckt  sind. 

Das  Thema  schliesst,  wie  schon  S.  56  gesagt  ist,  sowohl  den 
ersten,  wie  den  zweiten  Theil  im  Hauptton,  und  setzt  beide  Vor- 
dersätze deutlich  und  gleichmässig  auf  der  Dominante  ab ;  unstrei- 
tig eine  bedenkliche  Einförmigkeit  der  Konstruktion,  wenn  man  er- 
wägt, dass  dieselbe  sich  durch  alle  Variationen  wiederholen  wird. 
Noch  ungünstiger  erscheint  aber  endlich  das  Thema  (so  anmuthig 
es  ausserdem  ist)  dadurch,  dass  der  Inhalt  des  ersten  Vordersatzes 
sich  fast  unverändert  —  mit  Ausnahme  der  für  die  Konstruktion 
nöthigen  Abweichungen  —  im  Nachsatze  des  ersten  und  zweiten 
Theils  wiederholt. 

Was  nun  der  Grundlage  (dem  Thema)  an  Mannigfaltigkeit  ab- 
ging,  musste  der  Komponist  in  den  Variationen  durch  wechselreiche 
Anordnung  vergüten.  Das  durchgehende  Mittel  war  aber,  die  Ab- 
schnitte des  Thema's  zu  Wendepunkten  der  Variationen  zu  benutzen. 
So  wird  in  der  ersten  Variation  im  Vordersatze  des  ersten  Theils 
dieses  Motiv  — 

Andante  grazioso. 

eis      d  eis 


80 


durchgeführt,  der  Nachsatz  aber  verweist  die  Sechzehntelbewegung 
in  den  Bass  und  nimmt  in  den  Oberstimmen  — 


s^Ti  i  1 1  srrrrr^srrr 


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festere  Melodie;  der  zweite  Theil  ergreift  wieder  das  erste  Motiv 
(No.  80),  zum  Schluss  aber  kehrt  das  andre  (No.  81)  wieder.  Eben 
so  hat  in  der  zweiten  Variation  die  Oberstimme  das  melodisch  ver- 
zierte Thema,  der  Bass  aber  harmonische  Figuration  in  Sechzehn- 
teltriolen  als  Begleitung;  beim  Nachsatz  übernimmt  die  Oberstimme 
die  Triolen  (und  in  ihnen  die  Melodie),  und  der  Bass  befestigt  in 
Achteln  die  Taktbewegung.  Im  zweiten  Theil  wechseln  beide  For- 
men genau  wieder,  wie  in  der  ersten  Variation.  Die  dritte  Varia- 
tion (Minore)  bringt  die  Melodie  in  einer  fliessenden  Sechzehntel- 
figuration,  unter  Sechzehntelbegleitung  des  Basses. 


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Kunst  form  der  Variation.  87 


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Hier  würde  Umkehrung  der  Figuren  wenig  Erfolg  gehabt 
baben;  Mozart  unterscheidet  daher  die  Partien,  genau  wie  in  den 
vorigen  Variationen,  wenigstens  durch  Oktavverdoppelung  der  Ober- 
stimme im  Nachsalze  des  ersten  und  am  Schlüsse  des  zweiten  Theils. 
In  der  nächsten  Variation  war  der  gewohnte  Wechsel  gar  nicht 
rathsam,  und  der  erste  Theil  wurde  einheitvoll  durchgeführt.  Doch 
iässt  es  Mozart  nicht  dabei  bewenden;  er  bildet  den  Vordersatz 
des  zweiten  Theils  ganz  abweichend,  ja  fremd,  —  und  kehrt  mit 
dem  Nachsatz  auf  das  ursprüngliche  Motiv  zurück.  Aehnliches 
Verhalten  ist  auch  in  den  letzten  Variationen  zu  bemerken. 

Solche  Behandlungsweise  ist  nicht  bloss  in  den  Mo z art'schen, 
sondern  auch  in  Haydn'schen,  in  den  frühern  Beethoven'schen 
und  unzähligen  neuern  Variationen  bis  auf  diesen  Tag  zu  beobach- 
ten. Sie  geht  so  einfach  aus  der  Natur  der  Sache  hervor,  dass 
auch  das  innerliche  Gesetz  unsrer  Kunstform  zunächst  auf  sie 
hinführt,  man  also  auch  hier  in  der  Uebereinstimmung  der  Meister 
nicht  etwa  ein  Herkommen  (Th.  II,  S.  7),  sondern  die  Wirkung 
eines  allgemeinen  Vernunftgrundes  erkennt.  Herkommen ,  todte 
Regel,  unfruchtbare  Manier  ist  nur  vorhanden,  wo  man  nicht  auf 
den  Vernunftgrund  hat  dringen  wollen. 

Der  natürliche  oder  vielmehr  kunstvernünftige  Ursprung  unsrer 
Kunstform  ist  nämlich  —  und  hierauf  leiten  alle  bisherigen  Betrach- 
tungen und  Uebungen  hin  —  kein  andrer,  als 

liebevoller  Antheil  des  Komponisten  an  seinem 

Thema, 

und  zwar  an  einem  liedf  örmigen  und  in  sich  befriedigend 
abgeschlossnen.  Schon  einmal  haben  wir  uns  in  Themate  ver- 
tieft und  sie  zu  höherer  Geltung  erhoben ;  das  war  in  der  Fugen- 
form, einigermassen  auch  in  den  Figural-  und  Nachahmungsformen 
der  Fall.  Allein  hier  war  das  Thema  keineswegs  in  sich  befriedi- 
gend abgeschlossen,  schon  an  sich  ein  Kunstwerk;  selbst  das  voll- 
kommenste Fugenthema  konnte  nicht  vollkommen  befriedigend,  kein 
selbständiges  Kunstwerk  genannt  werden,  weil  es  der  Harmonie 
und  jeder  mehrseitigen  Entfaltung  entbehrte.  Daher  eben  regten 
jene  Themate  nothwendig  zu  polyphoner  Behandlung  an ;  es  traten 
die  anfangs  fehlenden  Stimmen  herzu  und  wetteiferten  mit  der 


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88 


Uebergang  zur  Komposition. 


ersten  und  unter  einander,  das  Thema  in  mannigfachen  Bezieh- 
ungen zu  zeigen  und  damit  ein  Kunstwerk  erst  zu  schaffen. 

Das  Thema  zu  Variationen  ist  ein  Lied,  also  ein  in  sich  ab- 
geschlossnes  und  an  sich  ohne  Weiteres  befriedigendes  Kunstwerk. 
Wiefern  ein  solcher  schon  in  sich  vollkommner  Satz  sich  mit  an- 
dern Sätzen  und  Gängen  zu  einem  grössern  Ganzen  verbinden 
könne,  ist  theils  in  der  Lehre  von  der  Liedform  (Th.  II,  S.  27 
gewiesen  worden,  und  wird  in  den  nächsten  Abtheilungen  noch 
weiter  zur  Sprache  kommen.  Hier  aber,  in  der  Variationenform, 
ist  es  das  Lied  an  sich  allein,  das  unsern  Antheil  festhält. 

Der  nächste  Ausdruck  dieser  Theilnahme  ist,  dass  wir  bei  ihm 
weilen,  dass  wir  das  lieb  gewonnene  Lied  wiederholen. 

Nun  aber  ist  es  psychologisch  unmöglich,  lange  bei  der  blossen 
Wiederholung  zu  verweilen.  Unser  Antheil  mag  sich  steigern  oder 
nachlassen,  so  kommen  wir  zu  der  beabsichtigten  Wiederholung  mit 
einer  andern  Stimmung  heran,  wär1  es  auch  nur  eine  gleichartige, 
aber  erregtere  oder  gemilderte.  Dann  aber  ist  bei  der  Regsamkeit 
unsers  geistigen  Lebens  inneres  Fortschreiten ,  selbst  bei  äusserm 
Verweilen,  nothwendig,  ja  unvermeidlich ;  wir  werden  bei  demsel- 
ben Gegenstand  erst  allgemeiner,  dann  mehr  im  Einzelnen,  erst  an 
dieser  Seite  und  diesen  Momenten,  dann  an  andern  theilnehmen : 
sogar  Fremdes  kann  seinen  Einfluss  äussern.  Und  wenn  wir  die- 
sem Wandel  unsers  innern  Lebens,  während  es  auf  denselben  Ge- 
genstand gerichtet  bleibt,  Raum  geben,  wie  Wahrheit  und  Natur 
verlangen,  so  werden  eben  aus  den  Wiederholungen,  die  unsre 
Neigung  uns  abverlangte,  Veränderungen. 

Es  versteht  sich,  dass  Neigung  und  fortschreitende  Stimmung 
mit  ihren  Aeusserungen  nicht  Gegenstand  der  Lehre  und  Uebung 
sein  können.  Eben  so  deutlich  erkennt  man  aber  in  diesen  See- 
lenzuständen  den  Urgrund  der  Kunstform  und  aller  ihrer 
Regeln  und  Hervorbringungen,  die  wir  bisher  mehr  von  aussen 
her,  zum  Zweck  der  Vorübung  und  äusserlicher  Orientirung  zu  uns 
herangezogen  haben;  und  nicht  weniger  haben  alle  Abweichungen 
vom  Rechten  keinen  andern  Grund,  als  dass  wir  etwas  Andres 
gethan,  als  Neigung  und  fortschreitende  Stimmung  verlangten,  — 
oder  dass  wir  unsre  Empfindung  nicht  so  weit  geläutert  und  erho- 
ben, unsre  Bildung  nicht  genugsam  gesteigert  haben,  um  damit  dem 
Standpunkt  unsrer  Zeit  zu  entsprechen. 

Kaum  möchte  sich  irgendwo  ein  edler  Bild  finden,  wie  Neigung 
und  Stimmung  sich  auf  das  Reinste  und  Bescheidenste  künst- 
lerisch ausgeprägt  haben,  als  in  den  Variationen,  die  Haydn  zu 
dem  von  ihm  gesungnen  Volksliede  Oesterreichs  geschrieben.  Das 
sanfte  Lied,  das  so  schön  die  GemÜthstille  eines  glücklichen,  der 
väterlichen  Herrschaft  kindlich  geweihten  Volks  ausspricht,  wird 


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Kunst  form  der  Variation. 


89 


von  den  vier  Instrumenten*  sanft  und  erhebend  vorgetragen.  Dann 
übernimmt  die  zweite  Violine  die  Melodie,  und  die  erste  umgiebt 
sie  schmückend  mit  einer  anmuthigen  Begleitung ;  dies  ist  die  erste 
Variation.  In  den  beiden  folgenden  Variationen  haben  erst  das 
Violoncell,  dann  die  Bratsche  die  Melodie  und  die  andern  Instru- 
mente figuriren  dagegen.  In  der  vierten  und  letzten  Variation  ist 
die  Melodie  wieder  in  die  erste  Violine  zurückgekehrt  und  wird 
durch  bedeutendere  Harmonie  und  einfache,  aber  gefühlte  Wendun- 
gen zu  höherer  Weihe  entzündet.  —  In  ähnlicher  Weise,  aber 
durchaus  heiterm  Sinn  hat  dieser  freudigste  und  heiterste  aller  Ton- 
dichter in  der  G  dur-Symphonie**  ein  Thema  seiner  Arie  aus  den 
Jahreszeiten,  »Schon  schreitet  froh  der  Ackersmann«,  durchgeführt. 

Wenden  wir  uns  zu  den  Werken  für  unser  Instrument  zu- 
rück, so  ist  es  Beethoven,  der  Vollender  der  Klaviermusik,  der 
sich  mit  innigster  Hingebung  und  folglich  auch  im  höchsten  Sinn 
und  Gelingen  der  Variation  gewidmet  hat.  Es  sei  hier  nicht  mehr 
von  seinen  frühern  Arbeiten,  eben  so  wenig  von  der  Verwendung 
unsrer  Form  in  der  siebenten  und  neunten  Symphonie,  in  der 
Eroica,  in  dem  grossen  Ädur-Trio  (Op.  97),  im  Septuor  und  An- 
derm  die  Rede,  sondern  nur  von  drei  besondern  Werken. 

Das  erste  ist  die  Äs  dur-Sonate  Op.  26,  deren  erster  Satz  ein 
Thema  mit  Variationen  bildet.  Beiläufig  kann  die  ganze  Sonate, 
wie  fast  alle  Beethoven'schen,  als  Muster  sinnvoller,  vielseiti- 
ger, wahrhaft  dichterischer  Behandlung  des  Instruments  gelten.  — 
Das  Variationenthema  ist  ein  nicht  entlehntes,  sondern  aus  tiefer, 
sehnsuchtvoll  sich  steigernder  Empfindung  hervorgetreten.  Dieser 
innere  Sinn  bethätigt  sich  in  jeder  der  Variationen,  oder  vielmehr, 
er  schafft  sie.   Der  erste  Aufschritt  des  Thema's,  es-as,  — 

Andante.   


83 


TT* 


wird,  in  solchem  Sinn  höher  beseelt,  gleich  zum  Motiv  der  ersten 
Variation;  — 


84 


*  In  dem  Cdur-Quartett,  No.  h  der  Trau  t  wein'schen  Ausgabe. 
**  No.  6  der  Breitkopf-HärteTschen,  No.  8  der  Bock'schen  Partitur 
ausgäbe. 


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90 


Uebergang  zur  Komposition. 


die  Empfindung  bestimmt,  verstärkt,  vermannigfacht  sich  mit  jedem 
Schritte  mehr,  wenn  das  verlangende  Motiv  bald  immer  höher  em- 
pordringt, bis  in  die  vierte  Oktave  vom  Anfang,  bald  schüchtern 
und  verschlossner  in  die  ursprüngliche  Region  zurücksinkt.  In  der 
zweiten  Variation  ist  Alles  in  Bewegung  aufgelöst,  das  Thema  im 
Tenor,  das  Emporstreben  noch  mächtiger  waltend.  Derselbe  Zug, 
aber  in  vergrämter  Stimmung,  bedingt  den  Gang  der  folgenden  Va- 
riation (Minore),  und  es  ist  eine  Folge  davon,  dass  die  nächste 
Variation  (Maggiore)  milder  und  tröstend,  aber  nicht  festgestellt, 
zwischen  Höhe  und  Tiefe,  Aufschwung  und  Zurücksinken  gleichsam 
schwankt.  Die  letzte  Variation  giebt  das  Thema,  zwischen  Dis- 
kant und  Alt  abwechselnd  vertheilt,  in  bewegter,  aber  doch  sichrerer 
Weise,  und  schliesst  mit  wohlthuend  süsser  Beschwichtigung.  Der 
tiefere  Sinn  des  Ganzen  und  namentlich  des  Schlusses  würde  wohl 
nur  durch  einen  Hinblick  auf  die  folgenden  Sätze  der  Sonate  zu 
deuten  sein,  den  wir  uns  hier  versagen  müssen. 

Noch  abgeschlossner  in  innerer  Einheit  sind  die  Variationen, 
die  den  Mittelsatz  der  unsterblichen  Fmoll- Sonate  (Op.  57)  bil- 
den*. Auch  ihr  Sinn  ist  nicht  anders,  als  aus  dem  Zusammen- 
hang des  ganzen  Tongedichts,  namentlich  aus  dem  vorangehenden 
Satze,  tiefer  zu  erkennen.  Genug,  nach  gewaltigem  Sturm,  in  dem 
leidvolle  und  selige  Klänge,  Leidenschaft  und  ödes  Versinken  schei- 
nen vorübergeweht  zu  werden  ,  setzt  sich  nun  in  leiser ,  dunkler 
Tiefe,  höchst  zusammengehalten,  verlangenvoll  wie  ein  Gebet  in 
tiefster  ümfinsterung,  das  Thema  fest.  Die  erste  Variation  wie- 
derholt es  nur  zagender,  — 


(Thema.) 

Andante  con  moto. 


J   '  JL 


p  e  dolce  r 


Var. 

\       jV.  s.  w. 


1 


7>  !- 


die  Melodie  ist  gebrochen,  der  Bass  schleppt  zögernd,  aber  festge- 
schlossen nach.  Tröstlicher,  in  milderer  Tonlage  und  sanft  bewegt, 
bringt  die  folgende  Variation  den  gelöstem  Gesang  und  führt  un- 
mittelbar in  die  dritte  über,  in  der  das  Thema  in  zarter,  feiner 
Weise,  wie  zu  Harfenbegleitung  — 


*  Ein  ähnlicher  Satz,  nur  von  mindrer  Bedeutung,  ist  das  Andante  der 
Gdur-Sonate  Op.  H. 


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Kunstform  der  Variation 


91 


intonirt  wird.  Mit  etwas  erweiterter  Ausführung  leitet  dieser  Satz 
zum  Thema  in  tiefer  und  mittler  Lage,  in  erster  Einfachheit,  abef 
von  bewegtem  Motiven  angeregt,  zurück,  dann  aber  —  was  nicht 
weiter  hierher  gehört  —  in  das  unruhige,  mächtig  strebende  Finale 
der  Sonate  hinein.  Nirgends  möchte  sich  eine  so  eng  geschlossne, 
so  durchaus  stetige,  an  den  (äusserlich  genommen)  einfachsten  Mo- 
tiven sich  genügen  lassende  Entwickelung  wiederfinden,  als  hier. 
Aus  tiefster  Verlassenheit  trostvoll  emporgeflügelte,  wieder  in  sich 
zurückkehrende  Andacht. 

Das  dritte  Werk,  das  hier,  wenn  auch  nur  flüchtig ,  —  zur 
Anregung,  zur  Hindeutung  auf  Höheres,  —  erwähnt  werden  muss, 
ist  das  Finale  der  Cmoll-Sonate,  Op.  \  \  \.  Ein  tief  empfundnes,  von 
zarter,  inniger  Wehmulh  überfliessendes  Thema  wird  hier  in  höch- 
ster Stetigkeit,  aber  auf  das  Reichste  weiter  und  weiter  ausgeführt ; 
beunruhigter,  dann  anmuthig  erregt  —  aber  in  den  elegischen  Grund- 
ton der  Stimmung  zurücksinkend,  neu  ermuthi^t  und  in  kühnem 
Schwünge  sich  aufraffend,  später  in  tiefster  Versunkenheit ;  —  wer 
wagte,  den  überreichen  geheimstverhüllten  Seelenbewegungen  über- 
allhin mit  Worten  zu  folgen !  — 


Wir  dürfen  diesen  Punkt,  mit  dem  sich  die  erste  Reihe  unsrer 
Mittheilungen  und  Uebungen  abschliesst,  nicht  verlassen,  ohne  zweierlei 

Betrachtungen 

anzustellen. 

Die  erste. 

Ueberblicken  wir  sämmtliche  Motive  der  Variationen  aus  der 
Fmoll-Sonate  (No.  85  und  86),  oder  die  der  ^lsdur- Variationen 
und  der  von  Mozart  angeführten :  so  muss,  zumal  bei  den  erstge- 
nannten, auffallen,  dass  diese  Motive  weder  so  zahlreich,  noch  so 
eigenthümlich  ausgebildet  erscheinen,  als  wir  nach  den  Vorübungen 
der  vorigen  Abschnitte  für  uns  selber  leicht  erreichbar  achten  dürfen. 
Dass  hier  nicht  an  Dürftigkeit  der  Erfindung  oder  Ausbildung  ge- 
dacht werden  darf,  versteht  sich  bei  dem  hohen  Namen  der  Meister 
von  selbst;  hat  doch  Beethoven  eben  in  der  Variationenform  das 
Tiefste  und  Eigenthümlichste  geschaffen,  das  ihr  je  zu  Theil  ge- 
worden, und  gehören  doch  die  zuletzt  erwähnten  Variationen  zweien 
seiner  eigenthümlichsten  und  mächtigsten  Werke  an. 


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92 


lieber  gang  zur  Komposition. 


Eben  hierin  erkennen  wir,  dass  ein  Höheres,  als  das  Trach- 
ten nach  äusserm  Reichthum  oder  originalen  Einzelheiten  die  Mei- 
ster geleitet  hat,  dass  sie  treu  und  rein  der  Stimme  des  Herzens 
oder  der  Idee  ihres  Werks  gefolgt  sind,  und  eben  hierin  sich  und 
ihren  Beruf  am  höchsten  geehrt  haben.  Sie  würden  aber  weder 
die  Kraft  noch  den  Muth  dazu  besessen  haben,  wenn  nicht  das 
redlichste  und  erfolgreichste  Streben  für  ihre  künstlerische  Ausbil- 
dung vorangegangen  wäre  und  sie  in  den  Stand  und  das  Recht  ge- 
setzt hätte,  nur  der  innern  Stimme  zu  folgen.  Auch  ein  minder 
Ausgebildeter  hätte  gar  leicht  auf  Erfindungen,  wie  die  in  No.  86 
aufgewiesnen,  kommen  können.  Aber  in  dem  geheimen  Bewusstsein 
seiner  Beschränkung  würde  ihm  das  Gefundne,  weil  es  nichts 
hinter  sich  hätte,  ungenügend,  trivial  erscheinen,  und  er  würde 
unwiderstehlich  zu  Gesuchterm  hingetrieben  werden,  oder  an  dem 
für  ihn  Dürftigen  gefesselt  stehn  bleiben. 

Die  zweite. 

Hier  zum  erstenmal  ist  nicht  zu  umgehn  gewesen,  von  einem 
tiefern  Sinn,  der  Kunstwerken  inwohne,  Erwähnung  zu  thun. 

Dass  vielen  Kompositionen  tieferer  Sinn  als  blosses 
Tonspiel  oder  bloss  dunkles  Gefühl  inwohnt,  —  dass 
viele  von  einer  mehr  oder  weniger  lichten  und  bestimmten 
Idee  angeregt  und  aus  ihr  heraus  gebildet  sind  :  sollte  füglich  nicht 
bestritten  werden,  da  alle  Meister  unsrer  Kunst  theils  in 
ihren  Werken  (und  zwar  in  ihren  höchsten,  aus  der  reifsten  und 
kräftigsten  Periode  ihres  Schaffens) ,  theils  mit  ausdrücklichen  Wor- 
ten davon  Zeugniss  ablegen,  und  man  wohl  kein  gültiger  Zeugniss 
erwarten  kann,  als  von  denen,  in  welchen  die  Kunst  ihre  höchsten 
Lebensmomente  erreicht,  die  selbst  nichts  anders,  als  ein  Verkör- 
perung, Individualisirung  der  allgemeinen  Kunstidee  sind.  Bezwei- 
felt hat  die  Wirklichkeit  eines  solchen  höhern  Geistes  in  der  Musik 
nur  deshalb  werden  können,  weil  diese  Kunst  am  weitesten  ent- 
fernt ist  von  der  Fähigkeit  klar  bestimmten  und  unzweideutigen  Aus- 
drucks, weil  in  ihr  der  Geist  in  seinem  innerlichen  Verhülltsein  und 
Geheimniss  lebt,  und  weil  derjenige  Beobachter,  dem  die  innerste 
Idee  des  Kunstwerks  entschlüpft  oder  ganz  verborgen  bleibt,  an  den 
mannigfachen  Aeusserungen  f Ur  Sinn  und  Gefühl  noch  einen  so 
Überreichen  Inhalt  empfängt,  dass  er  sich  trösten  und  mit  einigem 
Schein  der  Wahrheit  überreden  kann,  da  sei  schon  der  ganze  In- 
halt des  Werks. 

Das  Dasein  eines  solchen  tiefern  Inhalts  unsrer  Kunst  dem 
Jünger  verhehlen  wollen,  wär'  ein  eben  so  unbefugtes  als  unaus- 
führbares Unternehmen;  die  Werke  und  Worte  der  Meister  und 


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Kunst  form  der  Variation. 


93 


früher  oder  spiiter  die  eigne  Ahnung  der  nach  dieser  Seite  Beruf- 
nen zeugen  zu  laut. 

Allein  die  weitere  Erörterung  gehört  nicht  der  Kompositions- 
lehre zu,  sondern  muss  der  Musikwissenschaft*  vorbehalten  blei- 
ben, und  zwar  deswegen,  weil  die  Entstehung  oder  Bildung  der 
Ideen  und  Gemüthzustände  und  deren  Darstellung  in  Kunstwerken  nicht 
Gegenstand  der  Lehre  und  Uebung  sein  können.  Jener  geistige 
Inhalt  kann  nicht  gegeben  und  gesucht  werden,  sondern  nur  aus 
dem  Gesammtieben  hervortreten;  ihn  und  seine  Ausgeburt  in  Tö- 
nen haben  wir  nur  als  höhere  Gabe  zu  empfangen.  Und  wenn  in 
der  That  bisweilen  die  anregende  Idee  einem  Künstler  von  aussen 
gegeben  worden :  so  konnte  sie  sicherlich  nur  Leben  gewinnen, 
wenn  sie  verwandte  Geistesrichtung  und  -Regung  bereits  vorfand ; 
sie  konnte  nur  wecken,  was  schlummernd  oder  traumhaft  wirklich 
schon  da  war. 

Schon  aus  diesem  Grunde  müssen  wir  dem  Jünger  sogar 
ausdrücklich  rathen,  jenem  geistigern  Gehalt  nicht 
willkürlich  nachzustreben;  er  ist  seiner  Natur  nach  nicht 
oder  nur  ausnahmweise  von  unserm  freien  Willen  abhangig.  Eigen- 
willig aber  ergriffen,  leitet  dieses  Trachten,  das  dann  ein  missver- 
ständiges zu  nennen  ist,  gar  leicht  aus  der  reinen  und  sichern  Sphäre 
unsrer  Kunst  in  Regionen,  wo  unmittelbar  und  durchaus  Musi- 
kalisches sich  fremden  Geistesbethä  tigun  gen  anlehnt  und 
mit  ihnen  zusammengeht  in  eine  neue  und  höhere  Einheit.  Hier 
droht  aber  dem  nicht  ganz  Durchgebildeten  und  Gekräftigten  die 
Gefahr,  an  seinem  musikalischen  Gehalt  einzubüssen,  ohne  des 
höhern  theilhaftig  zu  werden,  ja  diesen  zu  suchen,  wo  er  in  der 
That  gar  nicht  zu  finden  ist. 

So  werden  wir  denn  auch  hier  von  der  Lehre  selbst  an  ein 
Über  alle  Lehre  und  Uebung  hinausliegendes  Höheres  erinnert,  des- 
sen wir  uns  durch  die  gewissenhafteste  Bildung  würdig  und  viel- 
leicht theilhaftig  zu  machen  haben**. 


*  Einiges  ist  darüber  in  der  Schrift  des  Verf.  »Die  alte  Musiklehre  im 
Streit  mit  unsrer  Zeit«  gesagt. 
**  Hierzu  der  Anhang  C« 


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Zweite  Abtheilung. 

Die  kleinen  Rondoformen. 

In  der  vorhergehenden  AbtheiluDg  haben  wir  den  Anfang  ge- 
macht mit  den  Studien  des  Instrumentalsatzes,  und  zwar  mit  dem 
Klavier.  Diese  Studien  wurden  unter  Anwendung  der  leichtesten 
Formen  angestellt,  solcher,  die  uns  dem  Wesen  nach  schon  be- 
kannt waren. 

Auch  jetzt  bleiben  wir  bei  dem  Klavier :  aber  wir  wenden  uns 
zu  neuen  Formen,  —  und  zunächst  zur  Rondoform.  Diese  neuen 
Formen,  die  sich  bald  als  Zusammenstellungen  älterer  einfacher  zu 
erkennen  geben  werden,  sind  so  wenig  wie  die  bisher  betrachteten 
dem  Klavier  ausschliesslich  eigen.  Aber  sie  finden  bei  ihm  ihre 
leichteste  Anwendung,  und  ihre  Vorübung  wird  höhere  Instrumen- 
talstudien auf  das  Erwünschteste  erleichtern,  während  sie  selbst  in 
Hinsicht  ihrer  Anwendung  auf  das  Klavier  schon  in  den  Uebungen 
der  ersten  Abtheilung  genügende  Vorbereitung  finden.  —  Aus  dem 
letztern  Grunde  und  zur  Ersparung  des  Raumes  werden  wir  uns 
auch  oft  gestatten  dürfen,  statt  ausgeführter  Sätze  bloss  Entwürfe 
zu  geben. 

In  der  Variationenform  war  der  als  Thema  dienende  Ii ed för- 
mige Satz  so  entschieden  Hauptsache,  dass  neben  ihm  gar 
nichts  Andres  Raum  fand,  alles  Weitere  nur  Veränderungen,  Zusätze 
u.  s.  w.  an  ihm  waren.  Insofern  waren  wir  mit  dem  ganzen 
Streben  wesentlich  nicht  über  das  Lied  hinausgekommen ;  jede 
Variation  ist  im  Grunde  nichts  als  eine  modifizirte  Wiederholung 
des  Liedes. 

Wie  nun,  wenn  wir  über  das  Lied  hinaus  gehn  wollen? 
wenn  dasselbe,  das  uns  Thema  geworden,  gleichwohl  nicht  voll- 
kommen befriedigt,  wir  noch  ein  Andres,  das  nicht  im  Liede  liegt, 
begehren?  — 

Dieser  Gedanke  leitet  auf  die  weiter  noch  bevorstehenden 
Formen. 

Jenes  Andre,  zu  dem  wir  uns  noch  nach  unserm  Liedsatz, 
—  er  soll  nun,  in  Bezug  auf  seine  Bestimmung  als  Haupttheil  eines 
grössern  Ganzen, 

Hauptsatz 

heissen,  —  getrieben  fühlen,  kann  Gang  oder  Satzkette,  Satz  oder 
Periode  oder  Lied,  also  mit  einem  Worte 


t 

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Die  erste  hondoform. 


95 


Gang  oder  Satz 
sein,  und  zwar  Beides  in  homophoner  oder  polyphoner  Weise. 

Lassen  wir  einem  vollkommen  abgeschlossnen  Liedsatz  einen 
andern  für  sich  bestehenden  ohne  innere  und  feste  Verbindung  fol- 
gen, so  erhalten  wir  keine  neue  Form  sondern  nur  eine  Folge  ver- 
schiedner  an  einander  gereihter  Liedsätze,  dergleichen  wir  schon  im 
zweiten  Theil  der  Lehre,  S.  79,  kennen  gelernt.  Neue  Formen 
dagegen  entstehn,  wenn  verschiedne  Sätze,  oder  Sätze  und  Gänge 
sich  zu  einem  nicht  bloss  äusserlich  aneinandergestellten,  sondern 
innerlich  zusammenhängenden,  festverbundnen  Ganzen  einigen. 

Die  Natur  und  Zahl  der  in  Verein  tretenden  Einzelheiten  und 
die  Weise  ihrer  Verwendung  und  Verknüpfung  begründen  den  Un- 
terschied der  hier  entstehenden  Formen. 

Zunächst  sind  zweierlei  Fälle  zu  unterscheiden. 

Entweder  bleibt  jener  Liedsatz,  von  dem  wir  ausgehn,  allei- 
nige r  Hauptsat  z ,  gegen  den  alles  Weitere  nur  Nebensache 
ist,  und  der  daher  auch  seine  abgeschlossne  Form  festhält.  Oder  es 
tritt  neben  den  einen  Hauptsatz  noch  ein  zweiter  oder  noch  meh- 
rere mit  gleichem  Antheil  und  Rechte,  weshalb  denn  auch  die  im 
andern  Fall  abgeschlossne  Form  sich  löst  und  ändert.  Die  erstere 
Reihe  von  Formen  fassen  wir  unter  dem  Namen 

Rondoform 

zusammen.  —  Einstweilen  denke  man  dabei  der  alten  Form  des 
Rundgesangs  (Rondeau),  in  dem  ein  Einzelner,  oder  Einer  nach 
dem  Andern  einen  Vers  singt,  und  am  Schlüsse  jedes  Verses  der 
Chor  den  Refrain  wiederholt,  der  sich  mithin  als  Hauptsatz  geltend 
macht. 

Das  Nähere  stellen  wir  gleich  mit  praktischen  Versuchen  vor. 
Für  die  beiden  ersten  Rondoformen  setzen  wir  ohne  weitere  Er- 
klärung (sie  folgt  im  dritten  Abschnitte  der  nächsten  Abtheilung) 
fest,  dass  sie  im  langsamen  Zeitmaasse  dargestellt  werden 
sollen. 


Erster  Abschnitt. 
Die  erste  Rondoform. 

Wir  gehn  von  einem  Liedsatz  aus,  der  nun 

Hauptsatz 

werden,  mithin  —  wie  schon  der  Name  andeutet  —  noch  eine  wei- 
tere musikalische  Ergiessung,  noch  einen  Inhalt  ausser  ihm  selber 
nach  sich  ziehn  soll. 


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9(3 


Kleine  Rondoformen, 


Dies  kann  naturgemäss  nur  der  Fall  sein,  wenn  der  Satz  selber 
in  sich  oder  im  Gemüthe,  nach  der  Stimmung  oder  Erregung  des 
Komponisten  nicht  vollkommen  befriedigend  ist.  Denn  wäre  er  an 
und  für  sich  genuglhuend,  so  bedürfte  es  ja  keines  Weitergehens; 
vielmehr  wär'  alles  Fernere  überflüssig,  folglich  belästigend  und 
störend. 

Woran  erkennen  wir  nun,  dass  ein  formell  vollkommen  abge- 
schlossner  Satz  —  denn  das  ist  schon  dem  Kunstnamen  nach  und 
ausdrücklich  (S.  94)  Voraussetzung  —  doch  für  sich  noch  nicht  be- 
friedige und  weitere  Entwickelung  ausserhalb  seiner  verlange?  — 

Da  hier  allein  von  innrer  Befriedigung  die  Rede  sein  kann 
(denn  die  äusserliche  liegt  schon  in  der  formellen  Abrundung 
und  Abschliessung),  so  ist  freilich  an  äusserliche  und  darum  absolut 
bestimmte  Merkmale  nicht  zu  denken.  Wir  können  nur  aussprechen : 
ein  Satz  ist  in  sich  nicht  befriedigend ,  wenn  er  eine  geistige 
Bewegung  hervorruft,  der  er  selber  nicht  zu  genügen,  — 
—  wenn  er  einen  Inhalt  anregt,  den  er  innerhalb  seiner  nicht 
zu  erschöpfen  vermag. 

Aber  selbst  diese  Bestimmung  ist  nicht  vollkommen  ausreichend. 
Denn  da  jeder  geistige  Inhalt  einer  uner messlichen  Erweiterung  nach 
den  verschiedensten  Seiten  fähig  ist,  so  hängt  es  grossentheils  von 
der  Individualität  und  jedesmaligen  Stimmung  ab,  wo  man  sich  be- 
gränzen  und  nach  welcher  Seite  man  sich  ausbreiten  will.  —  Diese 
Unmöglichkeit  absoluter  Bestimmung  ist  aber  nicht  ein  Schade,  son- 
dern eine  Wohlthat;  denn  auf  ihr  beruht  die  Freiheit  der  Kunst, 
die  Möglichkeit  für  jeden  einzelnen  Künstler,  sich  in  seiner  Weise 
frei  und  eigenthümlich  zu  entfalten.  Auch  die  Lehre  hat  sich  nicht 
zu  beklagen.  Ihre  Aufgabe  ist  ja  keine  andre,  als  zur  Freiheit 
zu  fuhren,  alle  Wege  zu  ihr  zu  eröffnen.  — 

Um  Raum  zu  sparen,  wählen  wir  einen  schon  Th.  II,  S.  328 
unter  No.  483  gegebnen  Liedsatz.  Wir  nehmen  an,  er  sei  klavier- 
mässig  geschrieben  (er  ist  allerdings  mehr  im  Sinne  des  Orchesters 
gedacht,  und  wir  werden  die  Folgen  davon  zu  tragen  haben),  und 
lenken  ihn  entweder,  etwa  vom  elften  Takt  an  in  dieser  Weise 


— - 

j. 

ET 

T    ttf  ■ 

(oder  in  der  Th.  II,  No.  485  angegebnen)  zum  Schluss  im  Hauptton. 
oder  behalten  ihn  vollständig  bei  und  geben  ihm  einen  zweiten  Theil. 


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Die  erste  Rondoform.  97 


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Im  ersten  Fall  erscheint  es  ausser  Zweifel,  dass  der  gewichtige 
Inhalt  des  Satzes  in  dem  Räume  von  zwölf  oder  vierzehn  Takten 
sich  nicht  vollständig  ausgesprochen  hat.  Aber  auch  mit  dem  zwei- 
ten Theil  (den  wir  ohnehin  auf  das  Nöthigste  beschränkt  haben) 
werden  wir  uns  noch  nicht  in  der  angeregten  Stimmung  einheimisch 
und  befriedigt  finden.  Schon  der  gedrängte  Wechsel  von  zartem 
höhern  Stimmen  und  wieder  zutretendem,  gewichtigerm  Bass  in  den 
letzten  Takten  ist  wenig  geeignet,  zu  voller  Ruhe  zu  fuhren. 

Diese  letztere  Wahrnehmung  könnte  reizen,  dem  Schlüsse 
durch  einen  Anhang  grösser  Gewicht  und  durch  stetigeres  Weilen 
Ruhe  und  Befriedigung  zu  geben.  Das  Motiv  a  in  No.  88  leitet 
auf  folgenden  Ausgang,  — 


Marx,  Komp.-L.  III.  b.  Aufl.  7 


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98  Kleine  Rondo  formen. 


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^  1- 

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■  »»«  H   

den  man  nach  der  Lehre  von  den  Liedformen  (Th.  II,  S.  17)  leicht 
und  sicher  wird  zu  Ende  führen  können. 

Jeder,  der  uns  bis  hierher  gefolgt  ist,  erkennt  sogleich,  dass 
mehr  als  eine  Motivirung  des  Anhangs  möglich  gewesen  wäre,  dass 
auch  die  obige  auf  der  Form  des  Orgelpunkts  (Th.  I,  S.  239)  be- 
ruhende Weise  mit  einfachem,  im  Satze  selbst  liegenden  Motiven 
hätte  ausgeführt  werden  können,  während  das  Motiv  b  in  No.  89 
nur  entferntere  Beziehung  auf  den  Hauptsatz  hat.  Allein  man  wird 
gleichwohl  auch  unsern  Anhang  gelten  lassen  müssen.  Nach  den 
mannigfachen  Regungen  im  Hauptsatz  und  im  Gegensatze  zu  dem 
ruhenden  Basston  (mit  seinem  treibenden  Rhythmus)  ist  lebhaftere, 
aufwallendere  Bewegung  wohl  motivirt. 

Indess  eben  dieser  Sinn,  dieses  neue  Element  fodert  nun  sein 
Recht;  es  will  gelten,  muss  sich  ausbreiten.  So  wird  denn  aus 
dem  Anhang  mit  dem  wir  zu  schliessen  gedachten, 

ein  Gang, 

oder  —  wenn  man  lieber  will  —  ein  gangartiger  Satz,  der  im  er- 
sten Takt  in  No.  89  anhebt  und  mit  dem  Eintritte  des  fünften  schlies- 
sen wird.  Volle  Befriedigung  kann  dieser  Satz  schon  darum  nicht 
gewähren,  weil  er,  an  den  Orgelpunkt  geheftet,  keinen  vollkomm- 
nen  Schluss  hat ;  er  ist  eben  nur  aufstrebende  Bewegung  vom  Hal- 
teton aus.  Daher  fodert  er  Fortführung,  oder  Wiederholung,  oder 
Gegensatz.  Im  letztern  Falle  würde  die  Form  der  Periode  ent- 
stehe.  Allein  die  entscheidenden  Züge  an  unsrer  neuen  Erfindung 
sind  unstreitig  der  festgehaltne  Basston  und  die  aufstrebende  Bewe- 
gung. Beides  räth  statt  des  Gegensatzes  oder  der  Wiederholung 
Fortführung  an,  die  wir  von  Takt  5  in  No.  89  so  — 


setzen.    Jetzt,  nach  so  langem  Fortgang  und  so  bedeutender  Erhe- 


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Die  erste  Rondoform. 


99 


bung,  ist  noch  weniger  daran  zu  denken,  das  von  No.  89  her  Zu- 
gesetzte als  blossen  Anhang  zu  behandeln  und  damit  zu  schliessen ; 
es  beruhigt  dieser  Satz  nicht,  er  regt  vielmehr  durch  Neuheit  des 
Inhalts  und  Bewegung  zu  weiterm  Fortschritt  an.  Auch  das  Satz- 
artige tritt  gegen  die  verbreiterte  und  gesteigerte  Bewegung  immer 
mehr  zurück  und  das  Gangartige  wird  vorherrschend. 

Was  soll  nun  weiter  geschehen? 

Da  wir  schon  gewiss  sind,  nicht  schliessen  zu  können,  und  so 
lange  auf  einem  Ton  festgehalten  haben ;  so  müssen  wir  jetzt  fort- 
rücken; die  Modulation  muss  frei  und  beweglich  werden.  Dies 
ist  das  Erste,  das  feststeht. 

Da  wir  das  neue  Motiv  (b  in  No.  89)  ergriffen  und  schon  zu 
einem  grössern  (c  in  No.  90)  ausgebildet  haben,  so  müssen  wir  auch 
zunächst  daran  festhalten;  voreiliger  Uebergang  zu  neuen  Motiven 
wäre  zerstreuend.  Dies  ist  das  Zweite,  was  wir  erkennen,  — 
und  damit  ist  der  nächste  Inhalt,  das  Motiv  c,  festgestellt. 

Oder  ist  dieses  Motiv  vielleicht  schon  erschöpft?  ist  es  nicht 
genügend,  dass  wir  es  in  zwei  Abschnitten  sechsmal  gesetzt  haben? 
—  Die  Wiederholung  ist  zahlreich  genug,  aber  nur  einseitig; 
sie  ist  nur  in  einer  einzigen  Stimme  und  nur  in  einer  Richtung  er- 
folgt. 

Sollen  wir  also  das  Motiv  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung fortführen?  —  Das  würde  einen  zur  Ruhe  bringenden  Karakter 
bezeichnen  und  im  Widerspruch  mit  dem  nothwendigen  Vorsatz  sein, 
die  Modulation  fortschreiten  zu  lassen.  Es  soll  also  eine  andre 
Stimme,  —  die  kräftigste,  der  Bass  —  unser  Motiv  übernehmen. 
Wfir  gehn  so  — 


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7* 


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100 


Kleine  Rondoformen 


weiter.    Das  Motiv,  im  Bass  und  Tenor,  dann  im  Diskant,  breitet 
sich  aus  und  führt  auf  eine  Art  von  Halbschluss  in  ilmoll.  Hier, 
mit  dem  Eintritte  des  achten  Taktes,  scheint  dem  Motiv  erst  mehr-, 
seitiges  Genüge  geleistet. 

Nicht  aber  der  Bewegung  und  dem  fremdern  Schlüsse.  In  den 
letzten  Takten  sucht  der  Bewegungstrieb  in  einer  neuen  Form  Be- 
friedigung. Wie  zuvor  das  Motiv  c  erst  in  der  Ober-,  dann  in  der 
Unterstimme  durchgeführt  wurde,  so  wird  jetzt  das  neue  Motiv  d 
erst  von  der  Unter-,  dann  von  der  Oberstimme  dargestellt.  Noch 
einmal  (wir  schreiben  es  nicht  hin)  wird  es  der  Bass  von  der  grossen 
und  dann  die  Oberstimme  von  der  zweigestrichnen  Oktave  aus  wie- 
derholen (wobei  die  Obertöne  aus  dem  letzten  Takte  von  No.  94 
wegbleiben  mögen) ,  und  dann  wird  es  ebenfalls  für  befriedigt  er- 
achtet werden  können. 

Hier  halten  wir  inne  und  erwägen  das  Geschehne. 

Mit  No.  88  schloss  ein  fester  zweitheiliger  Liedsatz,  den  wir 
zu  unserm  Hauptsatz  ausersehn  hatten. 

In  No.  89,  90,  91  und  den  nicht  niedergeschriebnen  zwei 
Takten  ist  eine  neue  Entwickelung  erfolgt,  deren  Inhalt,  formell  an- 
gesehn,  keine  oder  nur  entfernte  Verwandtschaft  mit  dem  Liedsatze 
zeigt ;  selbst  die  Stimmung  ist  —  wenn  auch  nicht  fremd  —  doch 
eine  veränderte,  erregtere  und  anstrebendere  im  Vergleich  zu  der 
gemessenen  des  Hauptsatzes  geworden. 

Schon  in  No.  89  fanden  wir  in  dieser  Entwickelung  den  gang- 
artigen  Karakter  vorherrschend.  Dies  ist  noch  entschied- 
ner  der  Fall  bei  No.  90,  wo  der  Schluss  vermieden,  und  in  No.  91, 
wo  (Takt  8)  selbst  der  schwache  Halbschluss  sogleich  durch  neue 
und  flüssigere  Bewegung  gestört  wird. 


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Die  erste  Rondoform. 


101 


So  dürfen  wir  denn  unbedenklich  die  ganze  Entwicklung  für 
nichts  Andres,  als  einen  Gang  erachten,  einen  Gang,  der  (wie 
jeder  grössere  und  organisirte  Tonerguss)  seine  Abschnitte  zeigt 
und  zu  einem  Abschlüsse  hinneigt. 

Wir  haben  uns  also  vom  Hauptsatz  entfernt,  sind  über  ihn 
hinausgegangen.  —  und  zwar  mit  neuen  Motiven.  Aber  wir  sind 
nicht  zu  einem  neuen  Hauptgedanken,  nur  zu  vorübergehenden 
Vorstellungen  gelangt;  denn  ein  neuer  für  sich  geltender  und  be- 
stehender Gedanke  hätte  in  sich  abschliessen,  abschliessende  Form 
annehmen,  das  heisst  Satz  oder  Periode  werden  müssen. 

Hiermit  ist  nun,  auch  abgesehn  vom  Gange  der  Modulation,  so 
viel  festgestellt: 

dass  wir  mit  dem  Gange,  der  uns  zuletzt  beschäftigt  hat,  nicht 
füglich  schliessen  können. 

Das  Festere  und  damit  Entscheidende  (der  Hauptsatz)  war 
vorausgegangen,  und  wir  sind  jetzt  in  einem  in  sich  selber  nicht 
Abgeschlossnen  begriffen;  wie  sollte  das  ein  höheres  Ganzes  ab- 
schliessen können? 

Es  muss  also  noch  ein  Satz  folgen,  entweder  ein  neuer, 
oder  die  Wiederholung  des  schon  dagewesnen  Hauptsatzes. 
—  Wir  entscheiden  uns  für  das  Letztere,  vor  allem,  weil  es  das 
Einfachere  und  Einheitsvollere  ist;  tiefer  greifende  Gründe 
werden  sich  bald  von  selbst  ergeben. 

Allein  der  Gang  hat  sich  weit  vom  Hauptsatz  entfernt;  es  ist 
nattirjich  und  wohlgerathen,  dass  mit  dem  Vorsatze,  zu  ihm  zurück- 
zukehren, auch  die  Gedanken  sich  auf  seinen  Inhalt  richten.  Hier 


92  <^ 


forte 

sff  ten. 


5 


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102 


Kleine  Rondo  formen. 


m»  - 


haben  wir,  mit  einer  Erinnerung  an  Takt  13  des  ersten,  oder  Takt  7 
des  zweiten  Theils  (Takt  8  in  No.  88),  auf  den  Hauptsatz  zurtick- 
gelenkt;  dies  war  auch  der  geeignete  Punkt,  zu  so  vielen  aufstre- 
benden Bewegungen  den  Gegensatz  zu  geben,  der  aus  dem  erreg- 
tem Gang  in  die  Stille  des  Hauptsatzes  zurückführte.  —  Die 
Modulation  hat  sich  so  gemacht,  dass  wir  den  Schlusston  (die  Do- 
minante von  i4moll)  als  Mediante  der  neuen  Tonart  (des  wieder- 
kehrenden Haupttons)  festhielten,  ja  in  den  letzten  Takten  verstärkt 


Nunmehr  wird  der  Hauptsatz  vollständig  wiederholt.  Werden 
wir  mit  ihm  schliessen?  Es  kann  geschehn.  Allein  der  gangartige 
Mittelsatz,  der  in  No.  89  begann,  muss  sich  so  tief  eingeprägt 
haben,  dass  wir  uns  schwerlich  beruhigen  werden,  ohne  auf  ihn 
zurückgekommen  zu  sein.  Es  könnte  von  Takt  4  in  No.  89  ab 
so  — 


93 


I 


bis 

■   i  H"" *  ■  -J-g-d — . 

LLlj  1 

IM-J--M=HN 

9i 


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zum  Schluss  gegangen  werden.  Nun  ist  jener  zuerst  in  NoT 
erschienene  Satz  dennoch  zum  Anhang  geworden.  Dort  war  das 
unzulässig,  vielmehr  trieb  seine  Neuheit  und  Weise  vorwärts.  Jetzt 
bedürfen  wir  sein,  um  auch  durch  diese  Erinnerung  das  Ganze  ab- 
gerundet und  abgeschlossen  zu  fühlen ;  sein  schon  bekannter  Inhalt 
kann  nicht  mehr  zu  Weiterm  erregen. 


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Die  erste  Rondoform. 


103 


Hiermit  haben  wir  unser  Tonsttick  beendigt.  Betrachten  wir 
es  im  Ganzen,  so  besteht  es  aus 

Satz,  —  Gang  —  und  Satz. 

Da  nun  der  Satz  das  in  sich  Abgeschlossne,  in  sich  Beruhende, 
der  Gang  aber  das  Bewegsame,  nicht  in  sich  selber,  sondern  in  et- 
was Anderm  SchJuss  und  Ziel  Findende  ist,  so  tritt  uns  hier  wieder 
der  Urgegensatz  und  die  Grundform  aller  musikalischen  Gestal- 
tung, 

Ruhe,  —  Bewegung,  —  Ruhe, 
entgegen,  die  wir  zuerst  (Th.  I,  S.  23)  im  Gegensatze  von  Tonika 
und  Tonleiter,  dann  von  tonischer  und  dominantischer  Harmonie, 
später  im  dreitheiligen  Liede  (so  wie,  unentwickelter,  im  zweithei- 
ligen und  jeder  Periode)  gefunden  hatten.  Es  bestätigt  sich  wieder 
einmal  das  Fortwirken  unsrer  ersten  Erkenntnisse,  wir  werden 
es  durch  alle  Formen  hindurch  verfolgen  können,  wenn  sich  auch 
nicht  immer  Zeit  findet,  es  aufzuweisen. 

Daher  ist  einleuchtend,  wie  nahe  die  jetzige  Form  mit  früher 
erkannten,  namentlich  dem  dreitheiligen  Liede,  zusammentreffen  muss. 
Besonders  in  vielen  Polonaisen  besteht  der  zweite  Theil  (bis  an  die 
Wiederkehr  des  ersten  als  dritten)  oft  nur  aus  gangartigem  Passa- 
genwerk. Nur  erscheinen  im  Rondo,  wie  wir  es  bis  jetzt  kennen, 
die  Massen  viel  ausgebreiteter  und  vollständiger  organisirt.  Der 
erste  und  dritte  Theil  eines  Liedes  war  nur  Satz  oder  Periode; 
der  Hauptsatz  des  Rondo's  ist  ein  zweitheiliges ,  kann  auch ,  wie 
Jeder  erräth,  ein  dreitheiliges  Lied  sein.  Auch  die  mittlere  Masse 
ist  in  gleichem  Verhältnisse  nicht  bloss  weiter  und  reicher,  sondern 
dabei  auch  bestimmter  organisirt,  damit  sie  bei  ihrer  Ausdehnung 
noch  fest  und  fasslich  bleibe. 

Ja  es  könnte  selbst  jene  Th.  II,  S.  329  betrachtete  Form,  die 
auf  einen  Liedsatz  ein  Fugato  folgen  lässt  und  mit  der  Wiederholung 
des  Liedes  schliesst,  mit  unsrer  neuen  Form  verglichen  werden,  und 
das  Fugato  ungeachtet  seines  bedeutendem  Inhalts,  im  Vergleich 
seiner  beweglichen  Weise  zu  der  festen  des  Lieds,  als  gangartiger 
Miltelsatz  gelten. 

Dass  übrigens  unser  obiges  Beispiel  in  vielfacher  Beziehung 
anders  hätte  ausgeführt  werden  können,  dass  man  die  Modulation 
zuletzt  auf  die  Dominante  des  Haupttons  lenken,  sogar  bei  der 
Wiederholung  des  Hauptsatzes  manche  kleine  Veränderung  sich 
gestatten  durfte,  sei  beiläufig  als  sich  von  selbst  verstehend  in 
Erinnerung  gebracht. 

Erwägen  wir  aber  zum  Schlüsse  noch  einmal  Inhalt  und  Dar- 
stellung unsers  Satzes,  so  müssen  wir  gestehn,  dass  er  keineswegs 
dem  Karakter  des  Instruments  vollkommen  gemäss  ist.  Es  kann 
dergleichen  auf  ihm  dargestellt  werden ;  —  und  wer  dürfte  mit  dem 


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104  Kleine  Rondoformen. 

Künstler  rechten,  der  sich  in  einer  achten  Klavierkomposition  irgend 
einer  den  obigen  ähnlichen  Wendung  bediente?  Gleichwohl  fühlt 
man  schon  dem  Hauptsatz  an,  dass  er  Vollklang,  breite,  stille  und 
wohlgebundne,  bedeutsame  Führung  der  Stimmen  fodert,  mehr  zu 
orchestraler  als  klaviermässiger  Darstellung  hinneigt.  In  der  That 
ist  jener  alte  Liedsatz  No.  483  des  zweiten  Theils  keineswegs  für 
Klavier,  sondern  mit  der  Vorstellung  still  und  breit  geführter  Streich- 
instrumente und  füllender  Bläser  erfunden  worden.  Da  nun  hiermit 
der  Karakter  des  Ganzen  feststand,  so  musste  auch  in  allem  neu 
Hinzugekommenen,  z.  B.  in  No.  91,  jene  Richtung  nach  dem  Or- 
chestermässigen  fortwirken. 

So  wird  uns  hier  eine  thatsächliche ,  obwohl  nur  äusserlich 
(S.  96)  veranlasste  Mahnung,  bei  der  Erfindung  gleich  von  Haus 
aus  uns  bestimmte  Organe  vorzustellen.  Wo  dies  versäumt  ist, 
kann  stets  nur  halbe  Wahrheit  gegeben  werden,  wird  selbst  ein  im 
Uebrigen  glücklich  Empfundnes  oder  Ersonnenes  unzulänglich  her- 
vortreten ;  —  wie  denn  die  obige  Komposition  eher  für  einen  Kla- 
vierauszug gelten  könnte,  als  für  ein  Klavierwerk*. 


Zweiter  Abschnitt. 
Die  zweite  Rondoform. 

In  der  ersten  Rondoform  hatten  wir  uns  zwar  vom  ursprüng- 
lichen Satz  entfernt;  wir  waren  von  ihm  weggegangen.  Aber 
wir  waren  auf  keinen  neuen  feststehenden  Satz  gekommen,  sondern 
wendeten  uns  zum  ersten  Satze  zurück. 

War  dies  eine  Schwäche,  —  ein  Mangel? 

Keineswegs.  Mag  man  es  nun  dem  hier  gewählten  Hauptsatze 
zugestehen  oder  nicht,  so  ist  doch  denkbar,  dass  ein  solcher  uns 
tief  erfülle,  in  sich  stark  und  ausgeführt  genug  sei,  um  keinen  neuen 
Gedanken  neben  sich  feste  Stellung  nehmen  zu  lassen.  Sind  wir 
von  dem  Ernst,  der  Feierlichkeit,  —  oder  was  nun  der  gewichtige 
Inhalt  unsers  Hauptsatzes  war ,  —  ergriffen :  so  kann  das  beweg- 
liche Gemüth  davon  weg,  darüber  hinaus  verlangen,  um  sich  gegen 
jene  Einwirkung  wieder  festzustellen  oder  sie  austonen  zu  lassen ; 
aber  es  kann  nicht  umhin,  darauf  zurückzukommen  und  darin 
Ruhe  und  Abschluss  zu  finden. 

Hierin  erscheint  unsre  erste  Form  erklärt  und  gerechtfertigt. 
Zugleich  begreift  man  hieraus,  dass  der  Hauptsatz  in  derselben  in 


*  Hierzu  der  Anhang  D. 


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Die  zweite  Hondoform 


105 


der  Regel  ein  zwei-  oder  dreitheiliger  Liedsatz  sein  wird.  Denn  so 
wenig  man  die  Kraft  eines  Satzes  nach  seiner  Länge  messen  wird, 
so  gewiss  strebt  doch  ein  wichtigerer  oder  antheilvoller  gefasster 
Inhalt  nach  einer  gewissen  Vollständigkeit  der  Darstellung. 

Allein  auch  ein  Andres  ist  möglich.  Unser  Hauptsatz  fesselt 
uns  nicht  an  sich;  wir  verlassen  ihn,  um  auf  einen  neuen  Satz 
tiberzugehn.  Gäben  wir  nun  hiermit  den  erstem  ganz  auf,  so 
würde  ein  Gedanke  den  andern  verdrängt  haben ;  es  würde  eine 
Reihe  an  einander  gehängter,  aber  nicht  organisch  mit  einander  ver- 
bundner Sätze  vorüberziehn.  Auch  diese  Gestaltung  ist  möglich, 
und  wir  werden  sie  da,  wo  sie  recht  ist,  kennen  lernen.  Hier  aber, 
wo  wir  uns  von  einem  Hauptsatz  angezogen  und  erfüllt  finden, 
würde  sie  zerstreuend,  also  im  Widerspruch  mit  unsrer  Voraus- 
setzung auftreten. 

Wir  kehren  also  auf  den  Hauptsatz  zurück.  Nun  steht  der 
neue  Satz  eben  so  zwischen  dem  Hauptsatz  und  dessen  Wieder- 
holung, wie  in  der  ersten  Form  die  gangartige  Masse.  Auch  ist 
er  ebensowohl,  wie  diese,  Nebensache  im  Verhältniss  zum 
Hauptsatze,  von  dem  wir  ausgegangen,  und  auf  den  wir  zum 
Schlüsse  zurückkommen,  —  dessen  Name  (Hauptsatz)  auch  nun 
erst  vollkommen  gerechtfertigt  ist.  Im  Gegensatze  zu  ihm  wollen 
wir  den  neuen  Satz  —  Nebensatz,  —  oder ,  da  sich .  künftig  noch 
andre  Sätze  finden  werden,  denen  dieser  Name  eben  so  wohl  und 
besser  gebührt, 

Seitensatz 

nennen ;  er  stellt  sich  jenem  als  zweiter,  wenn  auch  untergeordne- 
ter Satz  zur  Seite. 

Hiermit  ist  die  zweite  Rondoform  der  Hauptsache  nach  karak- 
terisirt.   Sie  enthält 

Hauptsatz  —  Seitensatz  —  Hauptsatz, 

so  wie  die  erste  Rondoform  Satz,  Gang  und  Satz  enthielt. 

Wie  wollen  wir  diese  drei  (oder  eigentlich  zwei)  Sätze  stellen  ? 

Unstreitig  ist  es  ein  bedeutender  Schritt,  wenn  wir  in  einer 
Komposition  von  einem  Satze  zu  einem  andern  fortgehn.  Diesem 
Fortschritt  im  Inhalt  entspricht  auch  die  Modulation.  Sie  betritt 
mit  dem  neuen  Satz  auch  eine  neue  Tonart. 

Dem  Hauptsatze  zu  Anfang  und  Ende  gebührt,  wie  sich 
von  selber  versteht,  der  Hauptton.  Der  Seitensatz  stellt  sich 
in  eine  verwandte  Tonart,  entweder  in  die  der  Ober-  oder 
Unterdominante,  oder  in  die  Parallele,  oder  in  sonst  eine  mit  dem 
Hauptton  in  Reziehung  stehende.  Angenommen  also,  Cdur  wäre 
der  Hauptton,  so  würden  sich  zunächst  folgende  Modulations- 
punkte — 


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106 


Kleine  Rondoformen. 


Cdur    ,    Gdur    ,  Cdur 

C  -     ,    F  -      ,    C  - 

C  -     ,    ÄmoW  ,    C  - 

C  -     ,    Äsdur  ,    C  - 

C  -  ,  Cmoll  ,  C  - 
zur  Auswahl  bieten.  Wir  wollen  indess  gleich  anmerken,  dass  die 
Oberdominante  von  allen  als  der  ungünstigste  Modulationspunkt  er- 
scheint, da  sie  in  Dursätzen  in  der  Regel  schon  im  Hauptsatz  und 
Haupttone  benutzt  worden  ist,  in  Mollsätzen  aber  Moll  auf  Moll 
häufen  würde. 

In  dieser  Weise  haben  wir  schon  früher  (Th.  II,  S.  79)  Lied- 
sätze mit  Trio  geschrieben.  Aber  diese  hingen  unter  einander 
formell  gar  nicht  zusammen,  sie  waren  nur  an  einander  gereiht,  nicht 
verbunden  zu  einem  fest  und  innig  gebildeten  Ganzen.  Von  ihnen 
unterscheidet  sich  die  Rondoform  dadurch,  dass  ihre  einzelnen  Sätze 
förmlich  mit  einander  verbunden  werden. 

Nun  zur  Ausübung.  —  Wir  setzen  folgenden  Hauptsatz  fest, 

Andante  con  moto. 


I 


— f=H — n  

— — ■ 
— • 

* 

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Die  zweite  Rondo  form. 


107 


3  CR 


der  mit  dem  folgenden  Takte  schliessen  wird.  Dann  ist  er  ein  in 
sich  fertiger  Liedsatz,  dessen  Inhalt  noch  genügender  eingeprägt 
wird,  wenn  wir  auch  den  zweiten  Theil  wiederholen. 

Ein  solcher  Satz  kann  ein  für  sich  bestehendes  Tonstück  sein ; 
aber  das  in  ihm  webende  Gefühl  kann  eben  sowohl  auch  den  Kom- 
ponisten zu  weiterm  Fortgange  bewegen.  Dem  vorstehenden  Satz 
würde  das  Letztere  schon  wegen  der  gleich  im  Einsatz  sich  andeu- 
tenden bewegtem  oder  verlangendem  Stimmung  mehr  zusagen. 

Wie  soll  nun  weiter  geschritten  werden  ? 

Sollen  wir  einen  zweiten  abgesonderten  Liedsalz  in  der  Weise 
der  Trio's  anhängen  ?  —  Die  Absonderung  würde  der  eben  voraus- 
gesetzten weiter  verlangenden  Stimmung  nicht  entsprechend,  auch 
dem  fliessenden  Gange  des  Hauptsatzes  nicht  gemäss  scheinen ;  doch 
wäre  diese  Form  möglich.   Ueber  sie  sind  wir  schon  belehrt. 

Sollen  wir  einen  gangartigen  Mittelsatz  bilden,  das  heisst,  die 
erste  Rondoform  anwenden?  Auch  das  hätte  Bedenken.  Denn  der 
ganze  Hauptsatz  ist  schon  bewegungsvoll  und  der  Gang  müsste  die 
Bewegung  überbieten ;  der  Hauptsatz  ist  fliessend  geschrieben,  und 
dem  Gang  ziemte  derselbe  Karakter.  Wenn  man  in  irgend  einer 
Weise  einen  Gang  anknüpft,  z.  B.  so  — 


95 

seca  Wd.  -u. 

* 

*   *  7 

i 

■*■  — 

V 

1 

(wir  denken  uns  die  beiden  ersten  Takte  als  Motiv  des  Ganges  im 
dritten  und  vierten  Takte  wiederholt,  über  beliebiger  Modulation 


*  Es  wird  von  hier  an  oft  nur  in  blossen  Entwürfen  das  Nöthige  ange- 
deutet werden. 


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108 


Kleine  Rondoformen. 


weitergeführt,  zwischen  Ober-  und  Unterstimme  wechselnd  u.  s.  w.), 
und  so  geschickt  und  reich  oder  der  Stimmung  des  Hauptsatzes  an- 
gemessen, wie  man  nur  vermag,  fortführt :  so  wird  man  sogleich 
zu  der  klaren  Anschauung  kommen,  dass  das  gesang-  und  liedmäs- 
sige  Wesen  des  Hauptsatzes  im  Gang  untergeht,  und  der  letzlere, 
um  sich  nur  von  jenem  zu  unterscheiden,  zu  einer  Masse  von  Be- 
wegung getrieben  wird,  die  der  ursprünglichen  Stimmung  des  Gan- 
zen schwerlich  gemäss  sein  kann.  —  Vergleicht  man  den  jetzigen 
Hauptsatz  mit  dem  für  die  erste  Rondoform  benutzten,  so  erkennt 
man,  wie  der  alte  nicht  wohl  etwas  Andres,  als  einen  Gang,  der 
jetzige  lieber  einen  Satz  nach  sich  ziehen  kann. 

In  welchem  Tone  wird  unser  zweiter  oder  Seitensatz  stehn? 
—  Der  Regel  nach,  wenn  nicht  besondre  Gründe  weiter  führen,  in 
einem  nächstverwandten ;  also  in  der  Ober-  oder  Unterdominante, 
oder  Parallele.  Allein  die  beiden  ersten  Modulationen  lehnen  wir 
sogleich  ab ;  unser  ohnehin  weicher  Satz  würde  zu  trüb,  wenn  wir 
Moll  auf  Moll  (Th.  I,  S.  215)  setzen  wollten.  Auch  die  Parallele 
(/Isdur)  genügt  nicht;  sie  ist  im  ersten  und  zweiten  Theile  des 
Hauptsatzes  scharf  berührt  worden,  wird  also  in  der  Wiederholung 
wiederkehren  und  kann  nicht  mitten  inne  die  Hauptstelle  einnehmen, 
ohne  da  oder  doch  später  zu  ermatten.  Wir  wollen  die  Tonika  [F] 
als  Mediante  des  neuen  Tons  festhalten,  kommen  also  nach  Des  dur. 
in  die  Unterdominante  der  Parallele. 

Nun  ist  noch  die  rechte  Anknüpfung  zu  suchen.  Wir  könnten 
den  Hauptsatz  (No.  94J  fest  abschliessen  und  den  neuen  Satz  ohne 
Weiteres  eintreten  lassen.. 


Seilensatz. 


Allein  wenn  auch  der  Seitensatz  noch  so  anziehend  erfunden 
wäre,  so  würde  ihm  doch  die  allzugrosse  Aehnlichkeit  mit  dem 
Hauptsatze  nachtheilig.  Auch  die  zu  grosse  Nähe,  der  unmittelbare 
Eintritt  würde,  wenn  nicht  ein  ganz  abweichender  Satz  folgte,  un- 
günstig wirken. 

Oder  wir  könnten  einen  Gang,  eine  Passage  einflechten ,  die 
den  Uebergang  von  einem  Ton  und  Satze  zum  andern  vermittelte. 
Auch  dies  —  man  stelle  sich  eine  Anknüpfung,  wie  die  von  No.  95 
vor  —  wäre  nur  ein  äusserliches,  mehr  zerstreuendes  als  einendes 
Wesen. 

Wir  ziehen  vor,  aus  Motiven  und  in  der  Weise  des  Haupt- 
salzes den  Uebergang  zu  bahnen. 


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Die  zweite  Rondoform. 


109 


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110 


Kleine  Rondoformen. 


Hier  ist  mit  der  Ueberleitung  zugleich  ein  neuer  Satz  gegeben, 
der  sich  nicht  bloss  durch  einzelne  Wendungen  (das  wäre  von 
No.  96  allenfalls  auch  zu  sagen),  sondern  sogleich  und  entschieden 
durch  veränderte  und  gesteigerte  Bewegung  vom  Hauptsatz  ablöst; 
beide  Sätze  sind  verbunden  und  doch  deutlich  unterschieden ;  das 
verbindende  Mittelglied  gehört  dem  ersten  Satz  an  und  zieht  sich 
doch  auch,  mit  sehr  geringer  rhythmischer  Veränderung,  in  den 
zweiten  hinein. 

Bedurfte  es  des  letzten  zu  wiederholenden  Taktes?  —  Man 
sieht  leicht,  dass  möglicher  Weise  mit  seinem  ersten  Eintritte  ge- 
schlossen werden  konnte.  Allein  erstens  schien  der  Satz  wegen 
seiner  lebhaftem  Bewegung  und  Modulation  vollem,  verstärkten 
Schluss  zu  fodern;  zweitens  verlangte  das  neue  Motiv,  das  von 
Takt  8  an  in  die  Begleitung  getreten ,  sich  geltend  zu  machen ; 
drittens  bedürfen  wir  eines  Motivs  zu  weiterm  Fortgange. 

Betrachten  wir  nämlich  den  Seitensatz,  so  weit  er  sich  in 
No.  97  gebildet  hat,  so  müssen  wir  ihn  vermöge  seines  Schlusses 
auf  der  Dominante  für  den  ersten  Theil  eines  zwei-  oder  vielleicht 
dreitheiligen  Lieds  ansehn.  Im  erstem  Falle  würde  dieser  Theil 
wahrscheinlich  wiederholt,  und  wir  könnten  in  dieser  Weise  — 


(der  erste  Takt  steht  statt  der  Wiederholung  des  letzten  in  No.  97) 
oder  in  einer  ähnlichen  auf  den  Anfang  zurückkommen. 

Wie  nun  ferner  der  zweite,  oder  allenfalls  zweite  und  dritte 
Theil  des  liedförmigen  Satzes  zu  bilden  wär',  darf  hier  als  hinläng- 
lich bekannt  Übergangen  werden.  Wir  nehmen  an,  der  Seitensatz 
schlösse  mit  dem  schon  für  den  ersten  Theil  gebrauchten  Anhang, 
aber  in  seinem  Haupttone,  Ztesdur,  etwa  so: 


99 


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Die  zweite  Rondoform 


Von  hier  aus  muss  aus  doppelten  Gründen  zurückgegangen  wer- 
den in  den  Hauption  und  zum  Hauptsatz:  einmal  nach  dem  Plan 
unsrer  Komposition,  die  in  sich  einig  beschlossen  und  abgerundet 
werden,  nicht  von  einem  Satz  zum  andern  hingehn  und  damit  den 
ersten  verloren  geben  sollte;  dann  schon  der  Modulation  wegen, 
da  wir  ohne  ganz  besondre  Gründe  nicht  ein  Tonstück  aus  Fmoll 
in  Des  duv  schliessen  können. 

Dass  nun  dieser  Rückweg  nicht  füglich  durch  ein  unmittelbares 
Einsetzen  von  Fmoll  mit  dem  Hauptsatze  geschehn  könne,  wenn 
wir  so,  wie  in  No.  99  geschlossen  haben,  ist  schon  daraus  klar, 
dass  wir  ja  den  letzten  Takt  (den  nach  No.  99  folgenden)  auszu- 
füllen haben.  In  äusserlicher  Weise  könnte  dies  mit  einer 
sogenannten  Kadenz,  mit  einem  frei  auslaufenden  Gange,  gewöhn- 
lich in  der  Oberstimme,  geschehn;  etwa  in  dieser  Weise  — 


10 

0 

 ]  _   

1 

m 

0  1     \    -j-  1     Ii  [— 

f     L    f     I  U.  8. 


Oder  es  könnte,  damit  nicht  zu  so  fremden  Motiven  gegriffen 
werden  müsste  (was  nur  selten  begründet  und  gut  erscheint) ,  der 
Schluss  selber  so  gewendet  werden,  dass  er  in  den  Hauptsatz 
hineinführte;  wir  könnten  z.  B.  den  in  No.  99  gesetzten  Schluss  so 


wenden  und  damit  sofort  in  den  Hauptsatz  einlenken.  Man  bemerkt, 
dass  diese  Wendungen  in  unserm  Falle  durch  den  Eintritt  des  Haupt- 
satzes auf  des-f-b  sehr  nahe  lagen.  Allein  dies  ist  nicht  immer 
der  Fall;  und  das  zu  nahe  liegende,  gleichsam  unvermerkte  Hin- 
übergleiten aus  einem  Satz  in  den  andern  kann  wohl  bisweilen  dem 
Sinn  einer  Komposition  zusagen,  wird  aber  in  der  Regel  beide 
Sätze,  indem  es  ihre  Umrisse  verwischt,  schwächen.  Dies  ist  be- 
sonders zu  besorgen,  wenn  der  Inhalt,  wie  hier,  schon  an  sich 
einen  weichern  Karakter  hat. 

Wir  thun  also  besser,  zwischen  dem  Schlüsse  des  Seitensatzes 
und  der  Wiederkehr  des  Hauptsatzes  weitere  Vermittlung  zu 


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112  Kleine  Rondoformen. 

suchen.  Das  Nächstliegende  wäre,  das  Schlussmotiv  selber  weiter 
zu  führen.   Statt  No.  101  setzen  wir  so  — 


tempo  Imo    u.  s.  w. 


Allein  es  muss  schon  äusserlich  auffallen,  dass  hier  einem 
Nebenmotiv  so  viel  Raum  gegönnt  ist;  und  in  der  That  wird  da- 
durch eine  trübere  Stimmung,  die  sich  im  Nebenmotiv  nur  beiläufig 
und  vorübergehend  vernehmen  Hess,  so  ausgebreitet  geltend  gemacht, 
dass  der  Hauptsatz  innerlich  unmotivirt,  der  zuletzt  herrschen- 
den Stimmung  nicht  gemäss  erscheint.  Dabei  haben  wir  uns  Takt  3 
und  am  Schlüsse  noch  nicht  einmal  so  viel  Raum  gegönnt,  als  zu 
behaglicher  Entfaltung  wünschenswerth  gewesen  wäre.  Einiger- 
massen hätten  wir  dem  abhelfen  können,  wenn  wir  ein  Hauptmo- 
tiv zugezogen,  z.  B.  so  — 


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Die  zweite  Rondoform. 


Ii? 


m  m  ^ 


n.  s.  w. 


in  einer  Satzkette  (Gang  aus  Sätzen)  weiter  gegangen  wären,  in 
denen  zwei  Takte  für  ein  Motiv  gelten. 

In  dieser  und  jeder  ähnlichen  Weise  müssten  wir  jedoch  be- 
fürchten, den  Inhalt  des  Seitensatzes,  —  der  nun  zwei  oder  gar 
drei  Theile  und  ausserdem  den  zurückführenden  Gang  (in  No.  402 
sieben  oder  neun  Takte)  auszufüllen  hat,  zu  erschöpfen  und  damit 
zugleich  dem  Hauptsatz  zu  nahe  zu  treten.  Selbst  das  würde  wenig 
fruchten,  wenn  wir  zuletzt  dem  Inhalt  des  letztern  nahe  träten, 
z.  B.  in  No.  102  von  Takt  8  an  so  — 


104 


U.  3.  W 

in  das  erste  Motiv  der  Hauptmelodie  einlenkten. 

Gründlicher  vermeiden  wir  alle  diese  Uebelstände,  wenn  wir 
ein  Mittelglied  zwischen  Seitensatz  und  Wiederanfang  stellen,  das 
uns  zwar  schon  vertraut,  dabei  aber  noch  nicht  verbraucht  und 
auch  im  Hauptsatz  entbehrlich  ist.  Und  ein  solches  haben  wir  in 
dem  Uebergange  vom  Haupt-  zum  Seitensatze  (No.  97)  bereitet. 
Nach  dem  in  No.  99  einmal  festgesetzten  Schlüsse  gehn  wir  so  — 

-A--fr-fc — K  F-u-,  •  7  — «  ,     |  ?    H  ,  •  7 


105  < 


Marx,  Koinp.-L.  III.  5.  Aufl. 


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114 


Kleine  Rondoformen. 


in  den  Hauptsatz  zurück;  die  angeregte  rhythmische  Form  will 
ebenfalls  fortwirken  und  nimmt  die  Stelle  der  ursprünglichen  Be- 
gleitung ein. 

Die  weitere  Durchführung  des  Hauptsatzes  bedarf  keiner  Er- 
läuterung. Nach  so  mannigfaltigem  Inhalt  würden  wir  einen  aus- 
führlichen und  genugthuenden  Schluss  wünschen,  folglich  einen  An- 
hang setzen,  der  wohl  am  besten  dem  vermittelnden  Satz  nachge- 
bildet würde ;  —  vielleicht  schlössen  wir  (von  No.  94  aus  gerech- 
net) in  dieser  Weise, 


die  sich  auch  weiter  verfolgen  Hesse. 


Dritter  Abschnitt. 
Erleichterungen  dieser  Form. 

Das  karakteristische  Kennzeichen  der  zweiten  Rondoform  ist 
das,  aus  zwei  liedförmigen  Sätzen  zu  bestehn.  Unser  Bei- 
spiel zeigt  ein  Rondo  mit  zwei  Sätzen,  die  beide  zweitheilige  Lie- 
der sind.  Wir  haben  auch  nicht  unerwähnt  lassen  können,  dass 
ebensowohl  der  eine  oder  beide  Sätze  hätten  dreitheilig  sein  können. 
Nur  muss  schon  in  unserm,  innerlich  gar  nicht  einmal  weit  ausge- 
dehnten Rondo  eine  gewisse  lästige  Breite  fühlbar  geworden  sein, 
die  in  der  Wiederholung  einer  so  bestimmten  und  gleichmässig 
durchgeführten  Form,  wie  die  zweitheilige  Liedform  ist,  ihren  Grund 
hat.  Bei  der  Verbindung  dreitheiliger  Liedsätze  ist  dieselbe  Un- 
gunst der  Form  natürlich  noch  empfindlicher. 

Diesen  unerwünschten  Umstand  können  wir  zunächst  nur 
bei  dem  zweiten  Satze  (dem  Seitensatze)  gewahr  werden,  da 
unsre  frischeste  Theilnabme  nothwendig  dem  Hauptsatze  gehört, 


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Erleichterungen  dieser  Form. 


115 


der  sie  ja  zuerst  in  Anspruch  genommen.  Alles  was  nach  ihm 
kommt,  kann  im  Verhältniss  zu  ihm  nur  Untergeordnetes 
sein;  daher  eben  erscheint  ein  dem  Hauptsatz  gleich  konstruirter 
Seitensatz  breiter  als  jener,  wenn  auch  sein  Inhalt  eben  so  anzie- 
hend oder  selbst  anziehender  ist.  —  Man  erinnere  sich  aus  häu- 
figen frühern  Bemerkungen,  dass  hier  nicht  sowohl  von  der  arith- 
metischen Ausdehnung  (von  der  Zahl  der  Takte),  als  von  den  das 
innere  Maass  gebenden  Verhaltnissen  die  Rede  sein  kann. 

Daher  fühlt  sich  der  Komponist  oft  bewogen,  entweder 

dem  Seitensalz  nur  eine  einzige  Periode  einzuräumen, 
oder,  wenn  er  zweitheilig  angelegt  ist, 

den  zweiten  Theil  gangartig  aufzulösen, 
das  heisst,  ihn  nicht  nach  dem  Gesetz  der  Liedform  abzuschliessen, 
sondern  ihm  vor  dem  Schluss  gangartige  Fortbewegung  zu  geben, 
die  ohne  weitern  Abschluss  auf  die  Dominante  des  Haupttons  und 
von  da  in  den  Hauptton  zurückleitet. 

Betrachten  wir  nach  dieser  Vorerwägung  einige  Anwendungen 
unsrer  Form,  sowohl  vollständige  als  erleichterte.  Wir  sind  schon 
bei  andern  Anlässen  (z.  B.  in  der  Fugenlehre)  darüber  aufgeklärt, 
dass  man  nicht  verlangen  dürfe,  zwei  oder  gar  alle  zu  einer  Klasse 
gehörigen  Tonstücke  in  allen  Einzelheiten  der  Gestaltung  über- 
einstimmen zu  sehn.  Dies  kann  zufällig  einmal  eintreten;  aber  es 
fodern,  —  hiesse  die  Freiheit  aus  der  Kunst  verbannen,  mithin  das 
Wesen  der  Kunst  verneinen.  Indess  die  Grundlinien,  das  Wesent- 
liche der  Form,  werden  wir  bis  dahin,  wo  höhere  Gründe  Ab- 
weichung, das  heisst,  neue  Form  fodern,  allerdings  in  jedem  ge- 
lungenen Werke  gewahr. 

Das  erste  Tonstück,  das  wir  betrachten,  ist  das  zarte  und 
anmuthige  Andante  in  Mozart's  kleiner  Cdur-Sonate,  der  ersten 
im  ersten  Hefte  der  Breitkopf-Härterschen  Gesammt-  (No.  \  der  neuen 
Einzel-)  Ausgabe.  Hier  belauschen  wir  die  Form  gleichsam  in  ihrem 
Entstehn  aus  der  Liedform  mit  Trio  (S.  106),  so  dass  man  allen- 
falls ungewiss  sein  könnte,  ob  die  Komposition  der  einen  oder  der 
andern  Klasse  zugehört. 

Mozart  beginnt  mit  diesem  Motiv 


107  jH  jj  I  L.-^^^. 


einen  sehr  bestimmt  und  klar  ausgebildeten  zweitheiligen  Lied- 
satz, den  ersten  Theil  in  Cdur,  den  zweiten  in  Fdur  schliessend; 
der  Auftakt  von  drei  Achteln  macht  sich  durch  das  ganze  Stück 
geltend ;  die  Begleitung  ist  höchst  einfach,  fast  nur  harmonisch  un- 
terstützend. Dies  ist  der  Hauptsatz.  Ihm  folgt  ohne  engere  Ver- 
mittelung  ein  zweiter  Liedsatz  in  Fmoll;    man  betrachte  hier 

8* 


1  16 


Kleine  Rondo/ armen. 


108  < 


1  _1  j  4 


U.  6.  W. 
== 


= 


g  7  g  I  J 


den  Schluss  des  Haupt-  und  den  Anfang  des  Seitensatzes.  Hier 
knüpft  sich  vorerst  der  eben  erwähnte  Zweifel  an.  Beide  Sätze 
sind  durch  keine  Art  von  Ueberführung  mit  einander  verknüpft  und 
man  könnte  sie  für  abgesonderte;  Hauptstück  und  Trio  nehmen. 
Allein  das  Trio  hat  in  der  Regel  (Th.  II,  S.  79)  einen  vom  Haupt- 
satz ganz  verschiednen  Inhalt  und  Karakter  und  liebt  deswegen 
auch,  eine  eigne  Tonart  zu  haben.  Hier  aber  bleibt  Mozart,  bloss 
mit  Aenderung  des  Geschlechts,  auf  derselben  Tonika  stehn  und 
knüpft  sogar  (wie  die  Ziffern  in  No.  107  und  108  andeuten)  mit 
dem  Hauptmotiv  des  ersten  Satzes  wieder  an ;  auch  der  Auftakt 
von  drei  Achteln  geht  durch  den  Seitensatz  durch.  Auch  dieser 
hat  vollkommen  ausgebildete  zweitheilige  Liedform,  und  schliesst 
den  ersten  Theil  in  der  Parallele  (i4sdur),  den  zweiten  in  Fmoll.  — 
Uebrigens  wird  jeder  der  vier  Theile  des  Haupt-  und  Seitensatzes 
wiederholt ;  eben  diese  feste  und  sättigende  Abrundung  jeder  Partie 
machte  üeberleitungssätze  oder  Gänge  unrathsam. 

Da  der  zweite  Theil  des  Seitensatzes  das  Hauptmotiv  verlassen 
hat,  so  bringt  es  Mozart  in  einem  Anhange  von  vier  Takten 
noch  einmal  und  lässt  nun,  abermals  ohne  andre  Vermittlung,  als 
die  in  der  Gleichheit  des  Hauptmotivs  liegende,  den  Hauptsatz  voll- 
ständig und  unverändert  wiederholen.  Wenn  schon  das  Minore 
einen  abrundenden  Anhang  erhalten  hat,  so  darf  ein  solcher  noch 
weniger  am  Schlüsse  fehlen.  Mozart  benutzt  dazu  das  Hauptmotiv 
in  Dur,  allein  er  giebt  diesem  die  Bassfigur  des  Minore  No.  108 
zur  Begleitung  und  verknüpft  so  beide  Sätze. 

Ein  zweiter  Fall,  sehr  ähnlich  dem  vorigen,  zeigt  sich  in 
dem  Andante  der  seelenvollen,  tiefbewegten  Z)dur-Sonate  von  Beet- 
hoven, Op.  28.  Der  Hauptsatz  (im  Romanzenton  erzählend)  ist 
ein  zweitheiliger  Liedsatz  in  Z)moll,  dem  ein  andrer  zweilheiliger 
Liedsalz,  D  dur,  folgt ;  darauf  kehrt  der  Hauptsatz  wieder,  anfangs 
einfach,  weiterhin  mannigfach  verändert.  Ein  Anbang  fasst  wieder 
Motive  beider  Sätze  zusammen.  Die  einzige  formelle  Verbindung 
von  einem  Satze  zum  andern  besteht  aus  einer  kurzen  Auftaktnote 
des  Seitensatzes  und  wenigen  überleitenden  Noten,  die  in  den  Haupt- 
satz zurückführen.  Dies  —  der  Anhang  aus  Motiven  beider  Sätze, 
die  Veränderungen  des  Hauptsatzes  bei  der  Wiederholung  —  weise 
die  Rondoform  aus;  auch  der  gegliedertere  und  rhythmisch  kerni- 


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Erleichterungen  dieser  Form. 


117 


gere  Bau  des  Seitensatzes  deutet  dahin,  da  den  Trio's  in  der  Regel 
Th.  II,  S.  79)  eher  ein  fliessendes  Wesen  zukommt.  Auch  hier 
werden  alle  Theile  wiederholt  (der  erste  Theil  des  Hauptsatzes 
schliesst  in  der  Dominante,  ./Imoll),  die  des  Hauptsatzes  auch  bei 
dessen  Wiederkehr,  aber  hier  mit  Veränderungen. 

Diese  beiden  Fälle  haben  uns  also  unsre  Form  unverkürzt  ge- 
zeigt. Den  dritten  Fall  entlehnen  wir  aus  Haydn's  kleiner 
launiger  Es  dur-Sonate,  der  dritten  im  ersten  Hefte  der  Breitkopf-Här- 
tel'schen  Gesammtausgabe  (No.  3  der  neuen  Einzelausgabe). 

Das  Adagio  dieser  Sonate  hat  als  Hauptsatz  einen  zweitheili- 
gen Liedsatz  in  Ädur.    Dies  — 


ist  der  Vordersatz  des  ersten  Theils ;  der  erste  Abschnitt  (a)  wird 
im  Nachsatz  nochmals  gesetzt,  dann  der  ganze  Theil  wiederholt, 
so  dass  in  sechzehn  Takten  jener  Abschnitt  viermal  erscheint  und 
die  Hälfte  des  ganzen  Satzes  ausmacht.  Dieser  Umstand  ist  von 
Einfluss.  Erstens  variirt  Haydn  schon  bei  der  Wiederholung  des 
ersten  Theils  die  Melodie;  zweitens  weicht  der  zweite  Theil  nach 
einer  verwandten  Anknüpfung  an  den  ersten  mit  einer  Wendung 
nach  2?moll  entschieden  von  demselben  ab,  so  dass  sich  seine  ersten 
zehn  Takte  beinah'  als  ein  besondrer  Satz  abgelöst  hätten.  Dies 
erfolgt  jedoch  nicht,  vielmehr  kehrt,  abermals  verändert,  der  erste 
Theil  wieder  und  wird  etwas  erweitert  im  Hauptton  geschlossen. 
Darauf  wird  auch  dieser  ganze  zweite  (oder  zweite  und  dritte) 
Theil  mit  steter  Variirung  wiederholt.  So  haben  wir  also  einen  • 
weit  und  voll  ausgeführten  und  abgeschlossnen  Hauptsatz  vor  uns, 
der  nur  dadurch  ein  Weiterschreiten  verlangt  zu  haben  scheint, 
dass  sein  bei  allem  Gehalt  doch  einfacher  Inhalt,  stets  an  dieselbe 
Tonika  gebunden,  des  Gegensatzes  ermangelt  und  deshalb  unge- 
achtet seines  Reizes  noch  unbefriedigt  lässt.  Allein  nach  so  ausführ- 
licher und  stetiger  Durchführung  des  ersten  Liedsatzes  muss  es  be- 
denklich erscheinen,  einen  zweiten  vollkommen  durch-  und  aus- 
geführten nachzusenden. 

Haydn  setzt,  ohne  Ueberleitung,  seinen  Seitensatz  in  Amol! 
ein,  und  bildet,  wie  hier  — 


ul  \  1 

— «y 

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118 


Kleine  Rondoformen. 


angedeutet  ist,  einen  fest  in  der  Parallele  geschlossnen  ersten  Theil : 
die  Melodie  geht  über  der  fortwogenden  Begleitung  nur  in  leichten 
Zügen  hin.  Nun  begehrt  sie  Ausfüllung  und  der  erste  Theil  einen 
zweiten,  und  so  scheint  doch  geschehn  zu  sollen,  was  wir  vorher 
für  bedenklich  hielten,  dass  dem  breit  ausgelegten  Hauptsatz  ein 
gleicher  Seitensatz  folge. 

Allein  eben  hier  trifft  H  a  y  d  n  ,  —  der  mehr  wie  irgend  ein 
andrer  Meister  Maass  zu  halten  weiss,  —  das  einzig  Rechte. 
Der  zweite  Theil  setzt  ein,  die  Melodie  füllt  und  festigt  sich, 
aber  —  aus  der  liedförmigen  Konstruktion  wird,  eben  auf  dem 
Gipfel,  ein  Gang  — 


nach  der  Dominante  des  Haupttons.  Hier  wird  in  drei  Takten  nach 
einander  über  einem  Orgelpunktbasse  geschlossen,  dann  in  sechs 
weitern  Takten,  immer  über  der  festgehaltnen  Dominante,  der 
Uebergang  zur  Tonika  gemacht,  und  nun  tritt,  mit  abermaligen  Ver- 
änderungen, der  Hauptsatz  wieder  ein ;  der  erste  Theil  wird  wie- 
derholt, statt  der  Wiederholung  des  zweiten  Theiles  wird,  jedoch 
mit  Anspielung  auf  seinen  Inhalt,  ein  Anhang  gebildet. 

Hier  zeigt  sich  also  die  erste  Abweichung  von  der  Grundform ; 
wir  sehn  genau,  wie  weit  letztere  festgehalten,  wo  und  warum  sie 
verlassen  worden,  und  können  uns  dabei  abermals  überzeugen, 

dass  die  Kunst  ihrem  Wesen  nach  weder  Zwang  äusserer 
Gesetze  und  Formen,  noch  Willkür  des  Bildners  kennt, 
sondern  nur  die  in  der  Vernunft  einige  Freiheit 
und  Gesetzlichkeit. 
Das  kleine  Haydn'sche  Adagio  ist  allerdings  nur  ein  einzelner 
Beitrag  zu  dem  Erweis  dieser  folgenreichsten  Wahrheit ;  aber  we- 
gen seiner  durchsichtigen  und  einleuchtenden  Natur  kein  zu  über- 
sehender. 

Hier  haben  wir  auch  zum  ersten  Mal  eine  ganz  entschiedne 
Lossagung  von  der  Form  des  Liedes  mit  Trio.    Das  Haydn'sche 


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Erleichterungen  dieser  Form. 


119 


Minore  kann  unmöglich  Trio  sein,  denn  es  ist  gar  kein  abgeschloss- 
nes  Lied,  sondern  löst  sich  eben  auf  seinem  Gipfel  in  einen  Gang 
nach  dem  Hauptsatz  auf.  Ja,  es  ist  selbst  bei  seinem  Auftreten, 
obwohl  ohne  Uebergang,  von  der  Natur  des  Trio's  durchaus  fern; 
es  tritt  nicht  fliessender,  sondern  gegliederter  auf  und  hat  zum  In- 
halte nicht  ein  neues,  sondern  ein  Motiv  des  Hauptsatzes  (b  in 
No.  109),  das  zuerst  (in  No.  110)  nur  leise  angedeutet  wird, 
dann  aber,  im  zweiten  Theil  (No.  111),  entschieden  heraustritt 
und  sich  geltend  macht.  Aus  diesem  Gesichtspunkte  wird  die  tiefe 
Einheit  der  reizenden  Komposition  noch  einleuchtender  ;  Ein  Haupt- 
motiv (o  in  No.  109)  durchwaltet  das  Ganze,  stets  neu  gewendet 
und  benutzt. 

Einen  vierten  Fall  giebt  das  Adagio  der  kleinen  Fmoll- 
Sonate  von  Beethoven,  Op.  2.  Der  Hauptsatz  ist  ein  zweithei- 
liges Lied  in  Fdur.  Seinem  Schlüsse  folgt  ohne  Weiteres  in  D  moll 
der  Seitensatz.  Er  stellt  sich  anfangs  durchaus  liedmässig  dar; 
seine  ersten  Takte  — 


112 


8va 


r 


st 


Ed 


erscheinen  als  Vordersatz  eines  ersten  Theils,  der  vielleicht  auf 
der  Parallele,  oder  —  da  das  wieder  der  eben  verlassene  Ton  des 
Hauptsatzes  ist  —  besser  vielleicht  auf  der  Dominante  (Ä)  schlies- 
sen  würde.  Allein  auch  dies  —  Moll  auf  Moll  —  konnte  Beet- 
hoven nicht  zusagen;  auch  musste  das  Motiv  des  neuen  Satzes 
wohl  anziehend  und  als  Gegensatz  für  das  Hauptthema  durchaus 
angemessen,  nicht  aber  zu  weiter  Ausführung  geeignet  erscheinen. 
Er  wendet  sich  also  schon  hier  von  der  Liedform  ab  und  geht  mit 
einer  nahe  liegenden  Wendung  (wir  geben  nur  die  Grundmelodie) 


I 


8va 


H3 


t  8 


zu  einem  Schlüsse  nach  Cdur.  Von  da  wird  mit  einer  Kadenz 
zurückgelenkt  in  den  Hauptsatz,  der  variirt  durchgeführt  und  mit 
einem  Anhange  geschlossen  wird. 

Die  Form  ist  hier  abermals  unverkennbar;  aber  das  Liedför- 
mige  des  Mittelsatzes  ist  nur  eben  festgestellt  und  dann  sogleich 
wieder  verlassen.  —  Unleugbar  kann  übrigens,  wenn  auch  nicht 
im  vorliegenden  Falle,  doch  in  ähnlichen  (deren  wir  noch  gedenken 
werden)  Zweifel  entstehn,  ob  ein  so  früh  abgelenkter  Mittelsatz 


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120  Kleine  Rondoformen. 

für  einen  liedförmigen  Satz,  oder  für  einen  Gang  zu  achten;  und 
so  erkennen  wir  hier  wieder  eine  Gränzlinie,  auf  der  zwei  nächst— 
verwandte  Formen,  die  erste  und  zweite  Rondoform,  sich  berühren, 
ja,  bisweilen  nicht  sicher  unterschieden  werden  können,  so  bestimmt 
sie  auch  im  Mittelpunkt  ihres  Wesens  unterschieden  sind.  Aber 
eine  andre  Weise  der  Abscheidung  ist  auch  im  Gebiete  des  freien 
Geistes  nicht  zu  setzen  und  nicht  zu  wünschen.  Es  kommt  vor 
allem  auf  den  festen  Mittelpunkt,  auf  den  bestimmten  Grundbegriff 
jeder  Form  an.  Von  ihm  gehn  wir  aus,  bis  wir  an  die  Mark- 
scheide einer  benachbarten  Form  gelangen ;  hier  werden  beide  For- 
men gegen  einander  frei,  wir  werden  losgelöst  von  dem  anfangs 
uns  haltenden  Mittelpunkt  der  einen  Form,  und  können  uns  in  und 
zwischen  beiden  frei  bewegen. 

Und  so  ziehn  wir  in  einem  fünften  Falle  noch  eine  Form 
uns  näher,  mit  der  wir  hier  bereits  in  mancherlei  Berührung  ge- 
kommen sind,  die  Variation. 

So  viel  erscheint  klar,  dass  der  erste  Liedsatz  in  unsern  beiden 
Rondoformen  im  eigentlichen  Sinne  Hauptsatz  ist.  Er  beginnt,  er 
schliesst ;  wenn  wir  einen  Anhang  brauchen,  denken  wir  zunächst 
an  ihn;  ist  eine  Ueberleitung  nöthig,  so  nehmen  wir  sie 
(S.  113)  ebenfalls  gern  aus  ihm,  ja  öfters  knüpfen  wir  (S.  116) 
sogar  den  Seitensatz  an  Motive  des  Hauptsatzes.  Daher  nimmt  der 
Hauptsatz  (wenn  wir  Anfang  und  Ende  des  Ganzen  zusammenrech- 
nen) auch  den  grössten  Raum  ein,  und  eben  daher  sind  wir  leicht 
veranlasst,  ihn  zu  variiren  und,  wie  Haydn  und  Beethoven  in 
den  beiden  letzten  Fällen  gethan,  noch  ein  besondres,  erneutes  In- 
teresse an  ihn  zu  knüpfen.  Ja,  wir  werden  sogar  ohne  diesen  mehr 
zufälligen  Antrieb  bisweilen  durch  die  abweichende^  Natur  des  Sei- 
tensatzes genöthigt  oder  gereizt,  den  Hauptsatz  bei  seiner  Wieder- 
kehr zu  variiren,  um  die  Verschiedenheit  beider  auszugleichen.  So 
ist  schon  in  No.  105  die  Begleitung  des  Hauptsatzes  geändert  wor- 
den; und  hätten  wir  den  Uebergang  von  No.  104  benutzt,  so  würde 
vielleicht  der  ganze  Hauptsatz  die  Taktart  des  Seitensatzes  ange- 
nommen haben. 

Aus  dieser  Vertiefung  in  den  Hauptsatz  geht  nun  noch  eine 
eigne,  obwohl  naheliegende 

Erweiterung  der  Form 
hervor,  die  wir  an  dem  hochsinnigen  Largo  der  Beetho  ven'schen 
^dur-Sonate  Op.  2  beobachten  können. 

Die  Form  dieses  Tonstückes  ist  die  zweite  Rondoform,  wie  wir 
sie  zuletzt  an  dem  Andante  der  Beethoven'schen  Fmoll-Sonate  wahr- 
genommen haben.  Der  Hauptsatz  stellt  in  Z)dur  den  ersten  voll- 
kommen im  Hauptton  schliessenden  Theil  eines  Lieds  auf,  dem  der 
zweite  Theil  folgt,  in  A  dur  auftretend  und  dann  auf  das  Hauptmotiv 


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Erleichterungen  dieser  Form 


121 


und  den  Hauptton  zurückkehrend.  Nach  vollkommnem  Abschluss  und 
ohne  weitere  Ueberleitunc  schliesst  sich  der  Seitensatz  in  HmoW 
an.  Dieser  hat  unverkennbar  liedförmige,  aber  freier  organisirte 
Gestalt.    Er  tritt  mit  diesem  Satze,  — 

f  M     f  r    r    r  r 

den  man  für  einen  ersten  Theil  zu  halten  hätte,  an ;  nun  aber  wird 
derselbe  Satz  bis  zum  Zeichen  f  in  einer  Mittelstimme  und  ver- 
ändert — 

4- 


W4 


1  7  p  ' 


in  dem  eben  erreichten  ff's  moll  wieder  gebracht,  dann  aber  sogleich 
gangförmig  nach  Gdur,  der  Unterdominante  des  Haupttons,  von  da 
weiter  auf  A  als  Oberdominante  geleitel  und  der  Hauptsatz  wieder- 
holt. In  dieser  Wiederholung  ist  nur  der  Anfang  des  zweiten  Theils 
leise,  durch  blosse  Versetzung  der  Stimmen,  — 

Zuerst.  Jetzt. 


Tff 


9%7  i*  I  p  B 


Sf 


verändert.  Wenn  nun  Beethoven  nach  dem  vollständigen  Abschlüsse 
des  Hauptsatzes  so  — 


117 


T-|  H-T-!    I     MVy^Sr^?^  I 

's 

i  rr  r  *  '   *  1 

weitergeht,  im  nächstfolgenden  Takte  in  Z)dur  schliesst  und  diesen 
ganzen  Satz  (No.  117)  in  mehr  ausgeführter  Figuration  wiederholt: 
so  muss  man  darin  einen  Anhang  erkennen.  Bis  hierher  also  ist 
die  Form  mit  den  früher  betrachteten  übereinstimmend. 

Nun  aber  fühlt  sich  der  Komponist  über  alle  diese  Zwischen- 
reden hinaus  von  dem  edlen  Sinn  seines  Hauptsatzes  angeregt,  ihm 
neue  und  grossartigere  Entwickelung  zu  geben.  Noch  einmal  setzt 
das  Hauptmotiv  in  Moll  und  mit  voller  Energie  ein,  erhebt  sich  aber 


122 


Kleine  Rondoformen. 


i 


in  Kraft  nach  ßdur,  steigert  sich  und  —  wendet  sich  auf  die  Do- 
minante des  Haupttons  zurück ;  denn  allerdings  konnte  mit  so  fremd- 
artiger Erhebung  nicht  karaktergemäss  geschlossen  werden.  Daher 
kehrt  nach  einem  Orgelpunkt  von  vier  Takten  abermals  der  voll- 
ständige Hauptsatz  —  nämlich  der  erste  Theil,  der  ja  sein  Kern  und 
auch  der  Hauptinhalt  des  zweiten  Theils  ist,  —  in  Ddur  und  mit 
neuer,  zartsinniger  Figuration  wieder;  statt  des  zweiten  Theils, 
dessen  eigenthümlicher  Inhalt  ja  im  ersten  Versuch  eines  Anhangs 
(No.  117)  vorweggenommen  ist,  beschliesst  nun  ein  sehr  einfacher 
Anhang  das  innerlich  reiche  und  doch  so  einleuchtend  klar  und  ein- 
fach geordnete  Ganze. 

In  dem  Hergang  desselben  von  der  in  No.  117  angeführten 
Stelle  liegt  das  Neue,  das  wir  zu  beobachten  haben.  Man  kann 
den  ganzen  fernem  Verlauf  von  dem  Eintritte  von  No.  117  an  für 
einen  blossen  Anhang  erklären;  dann  wäre  wenigstens  dessen 
Ausdehnung  (32  Takte,  zu  einem  Tonstücke,  das  bis  zum  angeb- 
lichen Anhange  nur  49  oder  50  Takte  hat)  und  mannigfache  Zu- 
sammensetzung merkenswerth.  Aber  es  leuchtet  ein,  dass  diese 
Auffassung  eine  oberflächliche  sein  würde,  da  sie  auf  den  Inhalt  gar 
keine  Rücksicht  nähme. 

Es  ist  vielmehr  in  dem  ganzen  Hergange  vom  Wiedereintritt 
des  Hauptsatzes  an  Hinneigung  zur  Variationenform,  oder 
Vermischung  dieser  und  der  Rondoform  zu  erkennen.  Der 
erste  Theil  des  Hauptsatzes,  den  wir  schon  als  dessen  Kern 
erkannt  haben,  wird  rondomässig  wiederholt  und  macht  (wie  an- 
fangs) den  Schluss  des  zweiten  Theils.  Nach  einem  rondomässigen 
Zwischensatze  kehrt  dieser  erste  Theil  variirt  in  Moll  wieder, 
löst  sich  aber  rondomässig  in  einen  Gang  auf,  um  sogleich  noch 
einmal  vollständig  in  Dur  und  abermals  variirt  vorüber  zu  gehn. 
Es  sind  die  Vortheile  der  Variationenform  —  veränderte  Wieder- 
holung, mehrseitige  Auffassung  eines  einzigen  Satzes  —  benutzt, 
ohne  ihre  lästige  Breite ;  und  sie  sind  vereint  mit  der  Gunst  einer 
Form,  die  ihre  Bestandteile  nicht  auseinanderfallen  lässt,  wie  die 
Variation,  sondern  sie  in  einer  geordneten  Konstruktion  unter  ein- 
ander verknüpft. 

So  tritt  uns  hier  auch  noch  klarer  und  voller  als  zuvor  der 
Begriff  der  Rondoform  vor  das  Auge:  ein  von  Einer  Vorstellung 
erfülltes  Gemüth,  das  sich  von  ihr  abwendet  zu  Gegensätzen,  zu 
Nebenvorstellungen,  von  diesen  aber  zu  jener  herrschenden  zurück- 
gezogen wird,  sich  tiefer  und  bleibender  in  sie  versenkt,  in  ihr 
befriedigt  ruht. 

Noch  eine  Schlussbetrachtung  können  wir  hier  nicht 
Übergehn. 

Das  wohlthuende  Ebenmaass  in  der  Rondoform  ist,  in  der 


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Erleichterungen  dieser  Form.  123 

Hauptsache,  schon  S.  105  hervorgehoben  worden.  Wir  können  uns 
den  Wechsel  der  Haupltheile,  —  Hauptsatz,  Seitensatz  oder  Gang, 
und  Hauptsatz  in  diesem  Schema  — 

G 

HS  SS  HS 

veranschaulichen.  Allein  dasselbe  Ebenmaass  begleitet  unsre  Kompo- 
sition auch  in  die  einzelnen  und  Nebenpartien.  Merken  wir  Ueber- 
gang  (Gaug),  Anhang,  Theile  ebenfalls  mit  Buchstaben*  an,  so 
vervollständigt  sich  das  Schema  folgendermaassen : 

HS  G  ..  SS  ....  G  ....  HS  ....  A 

1  Th.  2  Th.  *  Th.  2  Th.  4  Th.  2  Th. 

1   ,  2  ,  4  (8)  Th.  |   ,      2  ,  4   ,      2  ,  <  (3)  4  ,  4. 

Und  so  würde  sich  das  wohlthuende  Ebenmaass  mit  Hülfe  frü- 
herer Entwicklungen  (Th.  II,  S.  34;  Th.  I,  S.  70)  bis  in  die  Ab- 
schnitte und  Glieder  jedes  Satzes  oder  Gangs  hinein  verfolgen 
lassen. 

Dieses  ganze  Verhältnissspiel  ist  aber  kein  zwangvolles,  son- 
dern ein  in  jedem  einzelnen  Moment  freies.  Es  können  einzelne 
Partien  des  Ganzen  zurücktreten  oder  ganz  wegbleiben,  oder  auch 
zu  höherer  Geltung  kommen;  es  kann  jedes  Einzelne  auf  das  Man- 
nigfachste gewendet,  es  kann,  was  einer  Partie  auf  der  einen  Seite 
entzogen  ist,  auf  einer  andern  ihr  wieder  ersetzt  oder  zugefügt 
werden. 

Diese  ganze  Anschauung  bestätigt  sich  sogar  in  dem  a  us.se r- 
lichen  Maasse  der  einzelnen  Theile.  Nur  versteht  sich  nach  dem 
früher  bei  der  Liedform  (Th.  II,  S.  34)  Entwickelten  von  selbst, 
dass  man  hier  nicht  ein  mechanisches  Gleichmaass  zu  er- 
warten hat,  sondern  (wie  bei  Vorder-  und  Nachsatz,  erstem  und 
zweitem  Theile  des  Liedes)  auf  ein  freies  Auslaufen  einzelner 
Theile  gefasst  sein  muss,  und  dass  die  äussern  Maasse  schon  als  das 
Aeusserlichste  in  uusrer  wesentlich  innerlichen  und  durchaus  freien 
Kunst  nur  untergeordnete  Bedeutung  haben  können. 

Nehmen  wir  die  erwählten  Beispiele  auch  noch  aus  diesem  Ge- 
sichtspunkte durch. 

Das  Mozart'sche  Andante  hat  folgende  Verhältnisse: 
HS  SS  HS  A 

I  Th.  2  Th.  1  Th.  2  Th.  G  1  Th.  2  Th. 
2X8       2X12     2X8         2X8  i        8        12  4 

16  24         16  16 


40  32  24  Takte. 


*)  HS  bedeutet  Hauptsatz,  SS  Seitensatz,  A  Anhang,  G  Gang,  Uebergang; 
die  Multiplikationsformel  (2x8)  deutet  einfache  Wiederholung  der  Takte 
(ohne  Veränderung)  an. 


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124 


Kleine  Rondoformen . 


Der  Uebergang  musste  zu  der  Summe  des  Seitensatzes  gerech- 
net werden,  da  sein  Inhalt  aus  diesem,  und  zwar  dem  ersten  Tbeil. 
genommen  ist;  man  kann  darin  eine  Andeutung  der  dreitheiligen 
Liedform  sehn.  Der  Anhang  ist  nur  äusserlich  zum  Hauptsatze 
gezogen  worden;  er  ist  eigentlich  eine  Erinnerung  an  den  Haupt- 
inhalt des  Mittelsatzes  und  seines  eben  erwähnten  Anhanges,  des 
Uebergangs. 

Der  Beethove  n'sche  Satz  aus  Op  28  hat  folgende  Verhältnisse : 
HS  SS  HS  A 

1  Th.  2  Th.  1  Th.  2  Th.  1  Th.  2  Th. 

2x8   2x4  4  2X«   2X8  2x8   2X14  17 

16    g28  J6  16_  16  28 

44  32  44  17  Takte. 

Hier  fällt  zunächst  im  Hauptsatze  das  stark  abweichende  Ver- 
hältniss  des  ersten  und  zweiten  Theils  auf.  Allein  der  Inhalt  des 
letztern  erklärt  es.  Da  nämlich  der  erste  Theil  vollkommen  und 
fest  im  Hauptton  (Z)moll)  abschliesst,  so  wird  der  Anfang  des  zwei- 
ten Theils  weggedrängt,  und  es  bildet  sich  ein  orgeipunktartig  auf 
der  Dominante  (A)  stehender,  bisweilen  in  deren  Tonart  L<4dur) 
ausweichender,  sogleich  aber  wieder  zurückkehrender  neuer  Satz, 
dem  nur  befriedigendere  modulatorische  Abrundung  fehlt,  um  für 
selbständig  zu  gelten.  Er  führt  in  die  konzentrirte  Wiederholung 
des  ersten  Theils  zurück,  so  dass  wir  —  abgesehn  von  der  Unzu- 
länglichkeit der  Modulation  —  in  den  äussern  Verhältnissen  im 
Hauptsatz  eigentlich  die  dreitheilige  Liedform  mit 

8,  8  und  6  Takten 

(abgesehn  von  den  Wiederholungen)  vor  uns  haben;  beiläufig  ein 
Mittelwesen  zwischen  zwei-  und  dreitheiliger  Liedform. 
Das  Haydn'sche  Adagio  hat  folgende  Verhältnisse: 
HS  SS  mit  G  HS  A 

1  Th.  2  Th.         4  Th.  2  Th.  und  0      4  Th.  2  Thl 
2X8   2X20        2X4  0         14  8       20  15 

16      40  20 


56  34  43  Takte. 

Auch  hier  besteht  der  zweite  Theil  des  Hauptsatzes  aus  zwei 
Partien,  einer  neuen  (wenn  auch  am  Hauptmotiv  anknüpfenden) 
Entwickelung  von  10  Takten  und  einer  weiter  (nämlich  zu  stär- 
kerem Abschlüsse  des  Hauptsatzes  nach  der  Unterdominante)  geführ- 
ten Wiederholung  des  ersten  Theils  von  10  Takten,  so  dass  hier 
abermals  die  äussern  Verhältnisse  auf  Dreilheiligkeit, 

8,  10  und  10  Takte, 

hinweisen.  Der  Inhalt  entscheidet  wie  im  voriaen  Falle  für  Zwei- 
theiligkeit.  —  Der  Anhang  durfte  in  der  Berechnung  um  so  mehr 


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Betrachtung  der  einzelnen  Theile. 


125 


zu  der  Wiederholung  des  Hauptsatzes  gezogen  werden,  da  er  als 
Wiederholung  des  zweiten  Theils  desselben  anknüpft. 
Das  Beethoven'sche  Andante  aus  Op.  2  enthält 


HS  SS             G  HS  A 

I  Th.  2  Th.  1  Th.  2  Th. 

8         8  jO  _5  8         8  14 

16  15  16  14  Takte; 

endlich  das  Beethoven'sche  Largo  aus  Op.  2,  Z)dur,  enthält 

HS  SS  HS  A 

1  Th.    2  Th.  1  Th.  2  Th. 

8        11  12             8      11  31. 

19  19 


Hier  erscheint  die  Ausdehnung  des  Anhangs  auf  den  ersten  Hin- 
blick unverhältnissmässig.  Wir  müssen  uns  aber  dabei  erinnern, 
dass  dieser  Anhang  mit  dem  Kern  des  Hauptsatzes  sich  an  die  Va- 
riationenform anschliesst  und  damit  ein  für  sich  Bestehendes  bildet. 
Sein  Inhalt  zeigt  dann,  für  sich  allein  genommen,  — 

SS  HS  mit  G  HS  A 

4  und  4  7  und  3  8  6  Takte, 

wieder  ein  wohlorganisirtes  Ganzes*. 


Vierter  Abschnitt. 

■ 

Genauere  Betrachtung  der  einzelnen  Theile. 

Die  erste  und  zweite  Rondoform  hat  sowohl  an  sich,  wie  auch 
als  Grundlage  der  höhern  Rondoformen,  zu  denen  wir  mit  dem  näch- 
sten Abschnitt  tibergehn,  doppelte  Wichtigkeit;  es  kommt  deshalb 
viel  darauf  an,  sie  klar  zu  durchschauen  und  sich  in  ihrer  Aus- 
führung recht  fest  zu  setzen.  Aus  diesem  Grunde  verweilen  wir 
noch  einen  Augenblick  bei  der  Betrachtung  der  einzelnen  Bestand- 
theile.  Da  wir  aber  hier,  wie  überall,  das  abstrakte  Theoretisiren 
für  widersprechend  dem  Wesen  der  Kunst  und  unsrer  Lehrweise 
ansehn  müssen :  so  setzen  wir  voraus ,  dass  der  unserm  Prinzip 
treue  Jünger  schon  nach  Anleitung  der  vorigen  Abschnitte  seine 
Uebungen  begonnen  und  fleissig  fortgeführt  habe,  ehe  er  auf  die 


*  Gern  erinnern  wir  uns  dabei  der  Lehre  Goethe's,  wiewohl  dieser  sie 
nicht  zunächst  in  Bezug  auf  unsre  Kunst  ausgesprochen  hat:  »Ein  Kunstwerk» 
dessen  Ganzes  in  grossen,  einfachen  harmonischen  Theilen  begriffen  wird,  macht 
wohl  einen  edlen  und  würdigen  Eindruck;  aber  der  eigentliche  Genuss,  den 
das  Gefallen  erzeugt,  kann  nur  bei  üebereinstimmung  aller  entwickelten  Ein- 
zelheiten stattfinden«. 


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126 


Kleine  Rondoformen. 


nähere  Befestigung  des  im  Wesentlichen  schon  Bekannten,  die  uns 
hier  noch  obliegt,  übergeht  und  hieran  seine  diesmaligen  Studien 
vollendet. 

Wir  gehen  nochmals  alle  Haupttheile  der  bisherigen  Rondo- 
formen durch. 

I.  Der  Hauptsatz. 

Der  Hauptsatz  ist,  wie  wir  nun  bereits  erkannt  haben,  Kern 
des  ganzen  Rondo's,  von  dem  wir  ausgehn ,  aus  dem  —  oder  in 
Bezug  auf  den  wir  die  mittlem  Partien  bilden,  auf  den  wir  zurück- 
kommen, den  wir  vielleicht  zuletzt  variirend  oder  auszugsweis  im 
Anhang  benutzen. 

Ein  Satz,  der  so  viel  gewähren,  uns  so  erfüllen  soll,  dass 
wir  nicht  von  ihm  ablassen  können,  nach  jeder  Entfernung  auf  ihn 
zurückkommen,  muss  vor  allem  ein  in  sich  selber  befriedigend  ab- 
geschlossner  sein.  Daher  ist  ihm  die  Liedform  eigen,  aber  vollge- 
nügend  wird  auch  sie  nur,  wenn  sie  mit  besonderm  Nachdruck  aus- 
geführt und  abgerundet  ist.   Wodurch  geschieht  dies? 

Das  Nächste,  woran  wir  bei  dieser  Frage  denken,  ist  die  Ge- 
staltung des  Hauptsatzes.  Nicht  bloss  muss  derselbe  in  der  Re- 
gel vollkommnen  Abschluss  im  Hauptton,  sondern  auch  eine  Aus- 
dehnung haben,  die  hinlängliche  Auslegung  und  Abrundung  des 
Inhalts  gestattet.  Wir  finden  daher  die  Mehrzahl  unsrer  Hauptsätze 
in  zweitheiliger  Liedform  ausgeführt  und  noch  obenein  zu 
dreitheiliger  Liedform  hingeneigt,  da  diese  den  Hauptinhalt 
eines  Satzes  am  bestimmtesten  herausstellt. 

Selbst  die  dreitheilige  Liedform  macht  sich  bisweilen 
geltend.  Wir  finden  sie  unter  andern  in  dem  Mittelsatze  zu  Beet- 
hovens l?dur-Sonate,  Op.  14.   Hier  — 

AUegretto. 


rrr 


8va  


f1  JJ3U"J 

| * 1 J  | 

r  r 

 ^  V» 

geben  wir,  freilich  nur  in  magern  Andeutungen  (die  Unterstimme 
in  dieser  wie  in  ähnlichen  Mittheilungen  stellt  den  Bass  vor,  ist 


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Betrachtung  der  einzelnen  Theile. 


127 


aber  nach  Bequemlichkeit  oft  zu  hoch  gerückt),  den  ersten  Theil. 
Ihm  folgt  der  zweite,  — 


H9 


A 


TW 


r 


r 


T    r-  r  fi_r 


worauf  als  dritter  Theil  vom  ersten  die  ersten  acht  Takte  (in  der 
höhern  Oktave)  wiederholt  und  statt  der  fernem  so  — 


120 


bis 


TT 


über  die  Unterdominante  zum  Schluss  auf  die  Tonika  gegangen  wird. 
Auf  dieser  bildet  sich  nun  orgelpunktartig  aus  dem  Motiv  a  in  No. 
120  ein  Anhang  von  zwölf  Takten,  so  dass  sich  im  Ganzen  fol- 
gende Verhältnisse  herstellen ; 

Th.  4  Th.  2  Th.  3  Anhang 

8  und  8,         8  und  8,         8  und  14,         41  Takte. 

Es  kann  übrigens  nicht  unbemerkt  bleiben,  dass  auch  hier  die 
Dreitheiligkeit  nicht  ausser  Zweifel  steht.  Der  zweite  Theil  macht 
nämlich  keinen  Ganzschluss,  sondern  einen  Halbschluss  auf  der  Do- 
minante von  E.  In  diesem  Ton  hat  der  Theil  aber  gar  nicht  ge- 
standen ;  er  schwankte  vielmehr  —  und  das  ist  der  andre  Zweifels- 
grund —  zwischen  Cdur  und  Gdur.  Nur  die  scharf  ausgeprägte 
Satzform  beider  Hälften  dieses  Theils  und  seine  grosse  Ausführlich- 
keit spricht  dafür,  ihm  Selbständigkeit  beizulegen. 

Gestaltung  und  Ausdehnung  waren  die  auffallendsten  Aeusse- 
rungen  der  Wichtigkeit,  die  unsre  Hauptsätze  haben;  die  dritte  ist 
die  feste  Ausbildung  oder  Kons  en tri  rang  des  Inhalts.  Je  mehr 
uns  ein  Motiv  am  Herzen  liegt,  desto  angelegentlicher  beschilftigen 
wir  uns  mit  ihm,  desto  energischer  bilden  wir  nur  aus  ihm  den 
ganzen  Satz  heraus. 

In  dieser  Beziehung  ist  der  eben  angeführte  Beethoven'sche  Satz 
merkwürdig.  Das  so  einfache  Motiv  des  ersten  Taktes  tritt  im  er- 


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12* 


Kleine  Honda  formen. 


sten  Theil  viermal  auf  derselben  Stufe,  im  zweiten  Theil  vier- 
mal auf  derselben  und  zweimal  auf  einer  andern,  im  dritten 
Theile  wieder  viermal  auf  der  ersten  Stufe  auf.  Fast  eben  so 
energisch  erweist  sich  der  Hauptsatz  des  S.  120  angeführten  Largo, 
oder  des  S.  117  angeführten  Haydn'schen  Andante;  wie  denn  in 
dieser  Stetigkeit  der  Motivirung  Haydn  und  Beethoven  vor  andern 
Meistern,  namentlich  vor  Mozart,  sich  auszeichnen. 

Unter  solchen  Umständen  ist  es  sogar  möglich,  dass  der  Haupt- 
satz aus  einer  einzigen,  aber  stetig  ausgebildeten  Periode  be- 
stehe ;  die  Zusammengenommenheit  des  Inhalts  muss  ersetzen,  was 
an  Ausbreitung  fehlt.  Ein  einziges  Beispiel  mag  hier  genügen ;  wir 
nehmen  es  aus  dem  Adagio  der  Cdur-Sonate  von  Beethoven, 
Op.  2.  Das  Adagio  —  ein  Rondo  erster  Form  —  hat  sich  in 
aller  Fülle,  in  zweiundachtzig  Takten,  ausgearbeitet,  ist  also  um- 
fangreicher, als  die  S.  -119  und  121  angeführten  Beethoven'schen 
Sätze.  Gleichwohl  besteht  sein  Hauptsatz  aus  einer  einzigen  Pe- 
riode von  elf  Takten,  während  die  andern  Kompositionen  zwei- 
und  dreitheilige  Hauptsätze  von  sechzehn,  neunzehn  und 
vierund vierzig  Takten  haben. 

Allein  dieser  kurze  Satz  ist  so  zusammengehalten,  in  seinem 
Inhalt  und  Abschlüsse  so  befriedigend,  dass  auf  die  Länge  nichts 
weiter  ankommt,  man  vielmehr  wieder  recht  schlagend  die  Unzu- 
länglichkeit alles  äusserlichen  Messens  gewahr  wird.    Hier  — 


ist,  in  gedrängtem  (und  verscbobnem)  Auszuge,  der  ganze  Haupt- 
satz. Das  Hauptmotiv,  im  ersten  Takt  enthalten,  wird  viermal  ge- 
braucht, der  Vordersatz  im  vierten  Takte  klar  abgesetzt,  die  Pe- 
riode im  achten  Takte  zum  Schluss  geführt,  dann  aber  durch  einen 
Anhang,  der  die  Schlussfigur  (Takt  7)  wiederholt  und  bereichert, 
vergrössert  und  um  so  befriedigender  abgeschlossen.  Hierbei  ist 
sogar  (Takt  7  und  9)  die  Unterdominante  gebraucht,  so  wie  vorher 


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Betrachtung  der  einzelnen  Theile. 


129 


(Takt  6  und  8)  in  die  Oberdominante  und  (Takt  6)  in  die  Parallele 
ausgewichen  worden.  So  ist  in  periodischer  und  modulatorischer 
Abrundung  Alles  geschehn,  was  einen  Satz  befriedigend  und  gesät- 
tigt erscheinen  lässt;  aber  auch  der  fasslich  gegliederte  und  eben- 
mässig  geordnete  Inhalt  —  es  entsprechen  einander  Takt  \  und  2, 
3  und  4,  5  und  6,  7  und  9  —  wirkt  dabei  mit.  Die  innere  be- 
stimmte und  befriedigende  Abgeschlossenheit  ist  es  also,  die  den 
kurzen  Satz  für  seine  Bestimmung  im  Rondo  eben  so  gut,  als  die 
früher  angeführten  grossem  eignet. 

2.  Der  Seitensatz. 

Wir  haben  schon  erkannt,  dass  der  Seitensatz  gegen  den  Haupt- 
satz untergeordnet  erscheint.  Dies  spricht  sich  schon  darin  aus, 
dass  man  den  Seitensatz  aufgiebt,  um  zum  Hauptsatze  zurückzu- 
kehren, dass  also  derselbe  nur  als  Mittel-  oder  Gegenstück  zum 
Hauptsatze  gilt.  Dann  erkennt  man  das  Verhältniss  in  der  häu- 
6gen  Hinneigung  des  Seitensatzes  zu  gangartiger  Auflösung,  die  wir 
schon  mehrmals  beobachtet  haben  und  die  es  mitunter  zweifelhaft 
machen  kann,  ob  die  mittlere  Partie  eines  Rondo  für  einen  Gang 
oder  für  einen  gangartigen  Satz  zu  halten  sei. 

Der  Karakter  des  Seitensatzes  stellt  sich  also,  wie  man  nach 
Obigem  begreift,  nach  dem  des  Hauptsatzes  fest,  zu  dem  ja  der 
erstere  ein  Anderes,  Unterschiednes,  einen  Gegensatz  geben  soll. 
Hier  wirkt  aber  noch  ein  besondrer  Umstand  mit: 

die  Bestimmung  des  Rondo's  in  einem  grössern  Ganzen. 

Schon  jetzt  nämlich,  noch  mehr  aber  aus  dem  Anblick  der 
grössern  Rondoformen,  ist  einleuchtend,  dass  die  Tonstücke  erster 
oder  zweiler  Rondoform  zu  den  enger  begrenzten  und  insofern 
untergeordneten  Gestaltungen  gehören.  Dies  ist  besonders  in  der 
Instrumentalmusik  der  Fall  (denn  der  Vokalsatz  unterliegt,  wie  wir 
schon  im  folgenden  Buch  erkennen  werden,  ganz  andern  Erwägun- 
gen) und  am  meisten  in  der  Klaviermusik,  da  das  Klavier  zu  reicher 
Spielentfaltung  hinneigt,  die  in  jenen  Formen  keinen  Raum  findet. 
Daher  werden  diese  begränztern  Formen  gewöhnlich  in  grössern 
Kompositionen  (Sonaten,  u.  s.  w.)  als 

Mittelsätze  im  langsamem  Tempo 

angewendet,  die  nach  dem  künftig  zu  erörternden  Begriff  der  zu- 
sammengesetzten Komposition  stillern,  sanftem ,  mehr  nach  innen 
gekehrten  Sinn  haben,  im  Gegensatz  zu  den  vorangehenden  und 
nachfolgenden  grössern  und  lebhaftem,  energisch  in  das  Weite  stre- 
benden Sätzen.  Die  Anwendung  unsrer  Formen  in  anderm  Sinn 
oder  für  ein  in  ihnen  abgeschlossnes  Tonstück  ist  in  der  Klavier- 
musik selten  und  als  Ausnahme  zu  betrachten. 

Diese  Bestimmung  der  Form  nun  spricht  sich  naturgemäss  im 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  9 


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130 


Kleine  Rondoformen. 


Hauptsatz  aus;  wir  haben  schon  gefunden,  dass  diesem  meist  ein 
gemessenes,  oder  sanft  und  sangbar  ausgesprochnes  Wesen  eigen 
ist;  so  in  dem  aus  dem  zweiten  Theil  entlehnten,  in  No.  88  zu 
Ende  geführten  Satze,  so  in  No.  94  und  allen  von  Beethoven  und 
andern  Meistern  angeführten  Sätzen. 

Hiernach  muss  sich  der  Karakter  des  Gegensatzes  bestimmen  ; 
daher  haben  wir  ihn  schon  in  No.  97  erhobner  bilden  müssen  gegen 
den  mehr  weich  gehaltnen  Hauptsatz ;  daher  ist  Haydn's  Gegensatz 
in  No.  110  und  111  nachdem  fliessend  sangbaren  Hauptsatz  abge- 
brochen und  dann  hochgesteigert  aufgetreten.  Zu  vollerer  Bestär- 
kung werfen  wir  noch  einen  Blick  auf  das  schon  S.  116  erwähnte 
Beethoven'sche  Andante.    Der  Hauptsatz 


<22 


«Hfl* 


geht  in  enggeschlossner  Weise  seinen  ernsten,  gehaltnen  Gang 
durch  vierundvierzig  Takte.  Den  nöthigen  Gegensatz  muss  der 
Seitensatz  übernehmen,  und  führt  ihn  in  dieser  Weise  — 


1  23 


durch;  das  Motiv  des  ersten  Taktes  wird  Takt  2,  3,  5  und  6  nach 
den  da  gegebnen  Andeutungen  wiederholt  und  dann  in  den  folgenden 
zwei  Takten  nach  der  Art  des  vierten  Taktes  in  .1  dur  geschlossen. 
Fast  von  ganz  gleicher  Beschaffenheit  ist  der  zweite  Theil. 

Ist  aber  ausnahmsweise  der  Hauptsatz  von  kernigerer  Zeich- 
nung, so  wird  nach  denselben  Grundsätzen  der  Seitensatz  fliessen- 
dern  Karakter  annehmen.  Den  nächsten  Belag  hierzu  giebt  schon 
der  Seitensatz  zu  dem  Beethoven  sehen  in  No.  118  bis  120  aufge- 
führten Satze.  Dieser  ist  zwar  fest  geschlossen,  hat  aber  in  dem  stets 
wiederkehrenden  Hauptmotiv  einen  regsamem  Puls,  fliesst  auch 
zum  Schlüsse  beweglicher  in  Achteln.  Der  Seitensatz  hat  kein 
einziges  Achtel,  sondern  geht  in  der  ruhigsten,  durch  nichts  aufge- 
störten Viertelbewegung  — 


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Betrachtung  der  einzelnen  Theile. 


einher,  durch  beide  Theile  und  in  der  Verbindung  der  Theile; 
bis  zuletzt  vier  ruhende  taktlang  gehaltne  Akkorde  in  den  Haupt- 
satz zurückführen. 

3.  Der  Gang. 

In  der  ersten  Rondoform  ist  nicht  einmal  ein  Seitensatz  ausge- 
bildet. Es  ist  nicht  dazu  gekommen ;  man  ist  vom  Hauptsatz  abge- 
gangen, hat  dazu  einen  Gegensatz  gesucht,  aber  den  blossen  Gang 
von  ihm  weg  genügend  befunden. 

Ein  solcher  Gang  kann  sich,  wie  wir  bereits  bei  No.  89  bemerkt 
haben,  aus  Sätzen,  als  Satzkette  (Th.  I,  S.  224)  bilden,  wie  wir 
umgekehrt  Seitensätze  gefunden  haben,  bei  denen  es  (S.  120)  zwei- 
felhaft sein  konnte,  ob  sie  nicht  viel  mehr  von  der  Natur  des  Gan- 
ges an  sich  hätten.  Ebensowohl  kann  aber  auch  der  ganz  satz- 
lose Gang  bisweilen  genügen.  Wir  hätten  dem  ersten  Rondo  ver- 
such an  der  Stelle  von  No.  89  folgenden  Mittelsatz  geben  können, 


der  zwar,  nach  dem  rhythmischen  Triebe,  der  aller  Musik  von  An- 
fang an  (Th.  I,  S.  25)  inwohnt,  sich  auch  in  bestimmte  Glieder  zer- 
setzt, überall  aber  eigentliche  Abschnitte  durch  modulatorische  Mit- 
tel vermeidet  und  deshalb  nur  für  einen  Gang  gelten  kann.  Ein 
solcher  Gang  lässt  sich  nun  beliebig  weit  fortsetzen.  Der  obige  z.  B., 
der  zuletzt  schon  kürzere  Glieder  zeigt,  könnte  mit  ihnen  über  fol- 
gender Modulation  (vom  letzten  vollen  Takt  an) 

9* 


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132 


Kleine  Rondo  formen. 


126 


m 


7 


57  b7 


*>7 


auf  die  Dominante  des  Haupttons  und  von  da  in  den  Hauptton  zu- 
rückgehe oder  auch  auf  einem  andern  Tone  nochmals  die  grössern 
Glieder  wiederbringen  und  endlich  mit  den  kleinern  zu  Ende  gehn. 
Noch  gangartiger  Hesse  sich  No.  95  z.  B.  in  dieser  Weise  — 


127 


■j-  ECS 


und  von  da  vielleicht  über  folgender  Modulation 


bis  ter 


6 

5 


6 

5 


fortführen,  weil  hier  die  Glieder  unter  der  freier  und  fliessender 
fortgeführten  Melodie  noch  weniger  hervortreten. 

Dergleichen  Entwicklungen  sind  durch  das  bisher  Durchgeübte 
reiflich  vorbereitet.  Es  ist  nur  um  des  Gleichgewichts  und  der 
Wohlgestalt  des  Ganzen  willen  (S.  123)  dahin  zu  sehn,  dass  auch 
der  fliessendste  und  freieste  Gang  das  Verhältniss  zum  Ganzen  be- 
obachte, das  dazu  dient,  dem  Inhalt  des  Gangs  genügende  Entwicke- 
lung  zu  geben  und  doch  auch  den  Hauptsatz  nicht  zu  lange  aus  dem 
Sinn  zu  lassen.  Uebrigens  fodert  und  verträgt  der  Gang  weitere 
Ausdehnung,  eben  weil  sein  Inhalt  weniger  bestimmt  auftritt ;  aber 
er  ermattet  und  ermüdet  auch  leichter,  wenn  dieser  Inhalt  nicht 
anziehend  und  mannigfaltig  genug  ist;  wogegen  am  Satz  und  der 
Periode  schon  der  feste  Rhythmus  ein  gewisses  Interesse  weckt 
und  erhält. 

Wohl  aber  müssen  wir  noch  auf  eine  jener  Mittelgestaltungen 
einen  Blick  werfen,  in  denen  das  Wesen  von  Gang  und  Satz  in  ein- 
ander zu  schmelzen  scheint.  Wir  finden  sie  in  dem  in  No.  121 
angeführten  Beethoven'schen  Adagio. 

Schon  dort  (S.  128)  haben  wir  auf  die  gedrängte  Kürze  des 
Hauptsatzes  aufmerksam  gemacht.  Welche  Gestalt  sollte  der  Kom- 
ponist dem  mittlem  Theile  seines  Rondo's  geben?  Satzgestalt?  Dann 


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Betrachtung  der  einzelnen  Theile. 


133 


hätte  er  entweder  den  Seitensatz  voller  und  gewichtiger  ausführen 
müssen,  als  den  Hauptsatz,  oder  er  hätte  lauter  zusammengedrängte 
Sätze  auf  einander  folgen  lassen,  und  wäre  damit  in  zerstückelte 
Darstellung  gerathen.  Da  die  Musik  zunächst  durch  Sinn 
und  Gefühl  zu  uns  spricht,  so  bedarf  sie,  um  aus  zu  tö- 
nen und  uns  durchzustimmen,  einer  gewissen  behag- 
lichen Ausführlichkeit  und  verträgt  weniger  wie  andre 
Künste  eine  längereReihe  lakonischer  Aeusserungen. 
—  Oder  hätte  Beethoven  einen  reinen  Gang  bilden  sollen,  wie  wir 
in  No.  425  und  127  angefangen  haben?  Ein  so  flüssiges  und  unbe- 
stimmtes Wesen  hätte  keinen  gewichtigen  Gegensatz  gegen  den  ker- 
nigen Hauptsatz  abgegeben,  zumal,  da  aus  obigem  Grund  eine  ge- 
wisse Ausführlichkeit  nöthig  gewesen  wäre. 

Die  sichere  Anschauung  dieser  Sachlage  leitete  Beethoven  auf 
eine  Mischgestalt,  die  uns  eben  wegen  ihrer  tiefern  Begründung 
lehrreich  wird.  Er  schuf  einen  Gang,  und  zwar  einen  ausgedehnten 
(zwreiunddreissig  Takte  gegen  einen  Hauptsatz  von  elf  Tak- 
ten), aber  mit  fortwährender  Hinneigung  zur  Satzbildung.  Hier  — 


419 

r  r 

8  8  8 

sehen  wir,  nebst  dem  Hauptmotiv  in  Zweiunddreissigsteln,  das  erste 
Glied  des  Ganges,  das  in  gleicher  Weise  fortgesetzt  wird,  — 


4  30  ^ 


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4 


und  auf  G  (der  Parallele  des  Tons,  in  dem  der  Gang  aufgetreten) 
schliessen  zu  wollen  scheint.  Dies  wäre  dann  der  erste  Theil  eines 
liedförmigen  Satzes  gewesen.  Aber  auf  dem  Schlusstone  selbst  setzt 
ein  neuer  Fortgang  ein,  dem  das  Hauptmotiv  (Takt  1  in  No.  429) 
zwischen  Ober-  und  Unterstimme  zur  Begleitung  dient.  Dieses 
Glied  - 


434 


(Bass  eine  Oktave  tiefer) 

beginnt,  wird  in  den  nächsten  vier  Takten  ähnlich  wiederholt  und 
im  folgenden  fünften  Takte  von  Gdur  nach  Emoll  zurückgeführt. 
Hier  kehrt  das  Glied  No.  1 29  wieder,  wendet  sich  aber  in  seinem 
dritten  Takte  nach  A  moll ;  es  wird  in  A  moll  wiederholt  und  nach 


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134 


Kleine  Rondo  formen. 


Z>moll,  —  hier  wiederholt  und  nach  ismoll  geführt;  von  hier  wen- 
det sich  der  nächste  Takt  durch  einen  verminderten  Septimenakkord 
nach  //.  das  aber  nur  als  Dominante  des  Haupttons  aufgefasst  und 
zu  einem  Orgelpunkte  von  sechs  Takten  (in  der  Weise  von  No.  131) 
benutzt  wird.    Hier  folgt  Wiederholung  des  Hauptsalzes. 

So  hat  Beethoven  das  fliessende  Wesen  des  Gangs  und  ker- 
nige Satzbildung  verschmolzen  an  einer  Stelle,  wo  weder  reiner 
Gang,  noch  reiner  Satz  angemessen  und  befriedigend  sein  konnte. 

4.  Der  Uebergang. 

Wir  haben  schon  erkannt,  wiefern  ein  Uebergang  vom  Haupt- 
in den  Seitensatz  und  von  diesem  zurück  in  den  Hauptsatz  nöthig 
oder  doch  wttnschenswerth  sein  kann. 

Auf  dem  erstem  Punkte  bedarf  es  in  der  Regel  keiner  oder 
nur  sehr  leiser  Vermiltelung.  Auch  bei  unserm  Rondosatze  No.  94 
hätten  wir  den  vermittelnden  Satz  aus  No.  97  wohl  entbehren 
können,  wenn  nicht  der  fremdere  Ton  des  Gegensatzes  ihn  gefo- 
dert.    Wählten  wir  z.  B.  das  Maggiore,  — 


un  poc 

0 

piü  nnimato 

1  *- 

*  rf  ?r  ins 

1  1  '  *  8 

wie  Mozart  in  seinem  Andante  No.  107,  oder  auch  die  Parallele,  — 


so  konnte  der  Seitensatz  unmittelbar  am  Schlüsse  des  Hauptsalzes 
anknüpfen. 

Wichtiger  und  meist  unentbehrlich  erscheint  der  lieber-  oder 
Rückgang  vom  Seitensatze  zum  Hauptsatze.  Er  liegt  auch  gewisser- 
massen  in  der  Idee,  aus  der  die  Form  hervorgegangen,  bedingt. 
Denn  nachdem  wir  uns  aus  dem  Hauptsatz  entfernt  und  den  Seiten- 
satz hingestellt  haben,  ist  die  Frage,  ob  wir  noch  weiter  zu  dritten 
Sätzen  u.  s.  w.  schreiten  oder  vielleicht  mit  dem  Seitensatze  schlies- 
sen,  oder  uns  zu  einheilvoller  Abrundung  des  Ganzen  auf  den 
Hauptsalz  zurückwenden  und  hierzu  imsre  Mittel  und  mannigfach 
angezogne  Theilnahme  sammeln  werden ;  —  und  dies  spricht  sich 
im  Uebergang  aus. 

Die  Beschaffenheit  und  Ausdehnung  desselben  hängt 
aber  zunächst  von  dem  mehr  oder  minder  festen  Abschlüsse  des  Sei- 
tensatzes und  von  seiner  Entfernung  (nach  Inhalt  und  Tonart)  vom 


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Betrachtung  der  einzelnen  Theile. 


135 


Hauptsatz  ab.  Ist  der  Seitensatz  fest  abgerundet  und  weder  sein 
Inhalt  noch  seine  Tonart  zu  weit  entlegen,  so  können  wenige  Töne 
oder  Takte  für  den  Rückgang  genügen ,  wie  wir  schon  bei  dem 
Beethoven'schen  Z)moll-Rondo  (S.  116)  gesehn  haben.  Ist  der  Sei- 
tensatz fest  abgerundet,  dabei  aber  seiner  Tendenz  und  Tonart  nach 
vom  Hauptsatz  entlegner,  so  wird  es  meist  gut  sein,  einen  beson- 
dern vermittelnden  Zwischensatz,  wie  wir  in  No.  101  bis  105  ver- 
sucht, oder  doch  einen  überführenden  Gang  in  Bereitschaft  zu  haben. 
Ist  aber  der  Seitensatz  nicht  fest  abgeschlossen,  so  fällt  ihm  selber 
anheim,  sich  gangweise  fortzusetzen,  bis  entweder  der  Hauptsatz 
selbst  (wie  in  No.  92) ,  oder  die  Dominante  des  Haupttons  zum  Or- 
gelpunkte (wie  in  No.  111)  folgen  kann.  Hätten  wir  dem  Seiten- 
satz in  No.  97  keinen  formirten  zweiten  Theil  geben  wollen,  so 
konnte  von  Takt  13  der  No.  97  ab  so  fortgegangen  werden: 


134  < 


=uciü=Maii 


i 


■Ss— = 

öS 


B  pp  .  R  p 

y  mm  Iii — 9-m-m — t TT  ■  bT  tfp  1  


Entweder  kannte  dies  Motiv  für  sich  allein  an  das  Ziel  füh- 
ren, oder  es  konnte  sich  mit  dem  Schlussmotiv  aus  No.  97  ablösen. 


5.  Der  Orgelpunkt. 

Das  Bedürfniss,  sich  nach  längerer  Entfernung  vom  Hauptton 
auf  dessen  Dominante  festzustellen,  ist  schon  von  früher  her  be- 
kannt. Es  bleibt  daher  hier  nur  die  nahe  liegende  Bemerkung  zu 
machen,  dass  der  Orgelpunkt  sich  natürlich  stets  aus  dem  Inhalte 
des  Satzes  oder  der  Sätze,  zu  denen  er  auftritt,  bildet,  folglich  an 
der  Beschaffenheit  derselben  Theil  nimmt.  Daher  wird  er  in  unsern 
jetzigen  Aufgaben,  die  nur  Liedform  und  Gang  in  sich  fassen ,  nur 
ein  leichtes  Wesen  haben,  in  der  Regel  nur  aus  einer  leichten,  über 
wenig  Harmonien  hinweggeführten  Melodie  oder  rhythmisch  melo- 
dischen Figuration,  bisweilen  aus  einem  blossen  Gang  der  Ober- 


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136 


Kleine  Rondoformen. 


oder  t'nterstimmo  (einer  sogenannten  Kadenz)  bestehn,  dergleichen 
wir  in  No.  92,  93  und  102  gesehn  haben.  Auch  seine  Ausdehnung 
richtet  sich  nach  den  Maassen  der  übrigen  Theile. 

So  viel,  um  der  in  den  vorhergehenden  Abschnitten  ertheilten 
Anweisung,  wenn  es  nöthig,  zu  Hülfe  zu  kommen.  Dem  Jünger 
rathen  wir,  sich  alle  verschiednen  Gestalten  der  beiden  Rondoformen 
an  eben  so  viel  einzelnen  Arbeiten  vorüberzuführen ,  bis  jede  in 
ihrem  Wesen  erkannt  und  mit  ihren  Vortheilen  und  Wirkungen 
geläufig  worden  ist.  Dann  erst  kann  er  ohne  Schwierigkeit  oder  Ver- 
wirrung zu  den  höhern  Formen  fortschreiten*. 


Zusatz. 


Hier,  am  Schlüsse  der  ersten  Reihe  zusammengesetzter  For- 
men, müssen  wir  noch  eine  besondre 

rhythmische  Gestaltung 

in  nähern  Betracht  ziehn,  die  zwar  schon  in  den  einfachen  Formen 
vorkommen  kann  und  vorgekommen  ist,  in  den  zusammengesetzten 
aber  erst  in  ihrer  Notwendigkeit  erkannt  wird,  daher  sie  auch  erst 
in  diesen  zahlreiche,  fast  unaufhörliche  Anwendung  findet.  Auch 
wir  haben  sie  schon  mehrfach  vor  Augen  gehabt**. 
Dies  ist  nämlich 

das  Zusammenfallen  des  Endes  eines  Glieds  oder  Abschnitts 
mit  dem  Anfang  des  folgenden. 
Betrachten  wir  es  gleich  an  bereits  vorliegenden  Fällen. 
In  No.  129  haben  wir  das  erste  Glied  eines  Ganges  vor  uns 
gehabt,  das  offenbar  im  nächsten  (vierten)  Takte  satzmässig  schlies- 
sen  wollte.,  Allein  auf  demselben  Takte  setzt  ein  neues  Glied  — 
oder  vielmehr  die  Wiederholung  des  ersten  auf  dessen  Schlusston 
ein.  Hier 


135 


nr 


Zweites  Glied  iE? 


T 

I 


*  Hierzu  der  Anhang  E. 
**  Man  vergleiche  hiermit  das  Th.  II,  S.  548  u.  f.  Gesagte. 

Die  Mittheilung  hier  und  in  No.  429  ist  der  Kurze  wegen  nicht  genau. 


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Betrachtung  der  einzelnen  Theile.  137 

sehn  wir  beide  Glieder  in  getrennten  Systemen ;  der  vierte  Takt 
des  ersten  Gliedes  geht  in  den  ersten  des  zweiten  auf.  Eben  so 
fehlt  in  No.  130  der  Schlusstakt  für  die  ganze  erste  Hälfte  des 
Gangs;  er  ist  vom  ersten  Takte  der  zweiten  Hälfte  (No.  434)  ver- 
schlungen. Und  so  hat  selbst  der  Hauptsatz  (No.  121)  seinen 
Schluss  eingebüsst;  statt  des  Schlusstaktes  tritt  der  erste  Takt  des 
beginnenden  Gangs  (No.  1 29)  ein,  —  oder  der  Schlusstakt  hat  sich 
in  Gang  aufgelöst. 

Dass  diese  Konstruktion  forttreibende  Gewalt  hat,  da  sie  an 
die  Stelle  der  erwarteten  Abschlüsse  und  Ruhepunkte  stets  neue 
Bewegung,  den  Drang  zu  neuem  Fortschreiten  setzt,  ist  ohne  Wei- 
teres einleuchtend.  Und  so  erkennen  wir  eben  in  ihr  eins  der 
wichtigsten  Binde-  und  Bewegungsmittel  für  alle  zusammengesetzten 
Formen,  deren  Wesen  ja  das  ist,  verschiedne  Bestandteile  zu 
einem  grössern,  in  ununterbrochner  Verbindung  sich  entfaltenden 
Ganzen  zu  einen. 

Nicht  unbemerkt  wollen  wir  den  Einfluss  lassen,  den  diese  Kon- 
struktionsweise auf  die  für  die  Erläuterung  öfters  (z.  B.  S.  423) 
nöthige  Taktzählung  hat.  So  oft  der  Schlusstakt  eines 
Satzes  oder  Gangs  mit  dem  Anfangstakte  des  folgen- 
den zusammenfällt,  wird  er  sowohl  für  jenen  alsdie- 
sen  gezählt;  so  dass  in  der  Rechnung  das  ganze  Tonstück  mehr 
Takte  zu  enthalten  scheint,  als  in  der  Wirklichkeit*. 


*  Hierzu  der  Anhang  F. 


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13S 


Dritte  Abtheiluug. 

Die  grösseren  Rondoformen. 

Die  bisherigen  Rondoformen  haben  uns  die  leichtesten  Kombi- 
nationen aller  zusammengesetzten  Formen,  die  einfachste  Zusam- 
mensetzung gezeigt;  neben  dem  Hauptsalze  stellte  sich  noch  ein 
zweiter  Satz  oder  gar  nur  ein  Gang  auf,  —  dies  waren  die  bei- 
den Hauptpartien,  die  sich  in  jenen  kleinern  Formen  vereinten. 

Nun  aber  haben  wir  schon  erkannt,  dass  neben  den  Hauptsatz 
entweder  ein  Gang,  oder  ein  Seitensatz  ireten,  und  dass  diese 
beiden  sehr  vielfachen  Inhalt  haben,  —  desgleichen,  dass  wir  für 
den  Seitensatz  unter  verschiednen  Tonarten  wählen  können;  so  gut 
wir  einen  Seitensatz,  —  er  soll  mit  A.  bezeichnet  werden,  —  er- 
greifen, eben  so  gut  könnte  es  auch  ein  andrer,  —  er  soll  B. 
heissen,  —  sein ;  und  so  gut  wir  denselben  in  der  Parallele,  eben 
so  gut  können  wir  ihn  in  der  Unterdominante  oder  einem  andern 
Ton  (und  umgekehrt)  auftreten  lassen. 

So  liegt  es  also  nahe,  einem  Rondo 
statt  eines  Seitensatzes  deren  zwei 
zu  geben;  vorher  sahen  wir  ein,  dass  es  einen  oder  den  andern 
haben  könne,  jetzt  beschliessen  wir,  dass  es  einen  und  den  andern 
haben  soll. 

Hiermit  ist  die  Grundbestimmung  für  die  grössern 
Rondoformen  ausgesprochen.    Sie  sind  solche,  die 

aus  einem  Haupt-  und  zwei  Seitensätzen 
bestehn.  Dass  ausser  diesen  drei  Hauptbestandth eilen  auch 
noch  andre  Sätze  und  Gänge  zutreten  können,  sehn  wir  schon  vor- 
aus; haben  doch  auch  die  kleinern  Rondoformen  ausser  ihren  zwei 
Hauptpartien  noch  Gänge  und  Sätze  zur  Verknüpfung,  zum  An- 
hang u.  s.  w.  gebracht. 

In  der  verschiednen  Anordnung,  Verknüpfung  und  Verwendung 
der  Hauptpartien  und  des  sonstigen  Inhalts,  den  wir  allmählich  ken- 
nen lernen  werden,  sind  die  neuen  Formen  begründet  und  unter- 
schieden, die  wir  nun  einzeln  zu  betrachten  haben. 


Erster  Abschnitt. 

Die  dritte  Rondoform  im  langsamem  Zeitmaasse. 

Die  dritte  Rondoform  besteht  im  Allgemeinen  aus  eineniHaupt- 
satz  und  zwei  Sei ten sä tzen.  An  die  Stelle  des  einen  Sei ten- 


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Die  dritte  Rondoform  im  langsamem  Zeitmaasse. 


139 


salzes,  —  möglicherweise  beider,  —  kann  auch  eine  gangartige 
Entwickelung  treten ;  nur  würde,  wenn  beide  Seitensätze  sich  gang- 
artig auflösten,  in  der  Komposition  ein  Missverhältniss,  zu  viel  des 
unsteten  Elements,  zu  besorgen  sein. 

Wir  haben  bis  jetzt  die  Form  nur  äusserlich  nach  ihren  Haupt- 
bestandteilen bezeichnet.  —  Wie  ist  aber  ihre  künstlerische 
Entstehung  zu  fassen?  —  Die  Antwort  auf  diese  Frage  wird 
uns  sogleich  Wesen  und  Gesetz  der  ganzen  Form,  und  den  Grund- 
gedanken der  folgenden  Rondoformen  aufschliessen. 

So  viel  ist  von  selbst  einleuchtend: 

wir  haben  uns  die  dritte  Rondoform  als  hervorgegangen  aus 
der  zweiten  oder  ersten  vorzustellen. 

In  diesen  nämlich  sind  wir  vom  Hauptsatz  abgegangen,  um  ein 
Anderes,  einen  Gegensatz  gegen  ihn  zu  suchen ;  dann  sind  wir  auf 
den  Hauptsatz  zurückgekehrt.  Nun  aber  führt  uns  der  innere  Trieb 
abermals  vom  Hauptton  ab  auf  einen  neuen  Seitensatz,  —  und  wir 
werden  dann  nochmals  auf  den  Hauptsatz  zurückkommen.  Es  sind 
gleichsam  zwei  in  einander  geschobne  Rondo's  erster  oder  zweiter 
Form,  — 

G 

HS— SS— HS 

HS— SS— HS 

die  das  Rondo  dritter  Form  bilden.  Nennen  wir  den  Hauptsatz  A., 
den  ersten  Seitensatz  2?.,  den  zweiten  C,  so  ist  dies  — 

A_B— A— C— A 

das  Schema  der  neuen  Form. 

Hieraus  erkennen  wir  alle  Gesetze  derselben. 

Der  Ha  uptsatz. 

Erstens  muss  der  Hauptsatz  fähig  sein,  zwei  Seitensatze 
zu  ertragen.  —  Er  muss  vor  allem  wichtig  und  kräftig  genug,  oder 
für  neue  Ausbildung  besonders  geeignet  sein,  dass  wir  ihn  zwar 
zweimal  verlassen  dürfen,  doch  aber  jedesmal  angezogen  sind,  auf 
ihn  zurückzukommen.  Dann  muss  er  nicht  von  so  scharf  abge- 
schlossnem  Inhalte  sein,  dass  man  nicht  im  Stande  wär',  ihm  ver- 
schiedne  und  doch  auch  nicht  zu  fremde  Seitensätze  entgegenzu- 
stellen. 

In  dieser  Hinsicht  würden  wir  den  in  No.  88  beschlossnen 
Hauptsatz  zu  einer  Rearbeitung  nach  dritter  Rondoform  wenig  ge- 
eignet finden.  Er  ist  von  einem  so  in  sich  abgeschlossnen  Karakte  r, 
dass  im  Gegensatz  zu  seiner  feierlichen  und  gemessnen  Haltung 
der  eine  bewegtere  und  sich  erhebende  Nebengedanke,  der  den 
Gang  statt  eines  Seitensatzes  angeregt  hat,  genügend  erscheint,  und 


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140 


Die  grösseren  Rondo  formen. 


ein  zweiter  Gegensatz  so  weit  hergeholt  werden  müsste,  dass  da- 
durch der  Hauptsatz  von  unsrer  Theilnahme  hinweggedrängt,  das 
Ganze  uneinig  in  sich  selber  würde.  Auch  lässt  jener  Hauptsatz 
keine  Umgestaltung,  kaum  Aenderungen  und  Zusätze  ohne  Beein- 
trächtigung seines  Karakters  zu. 

Auch  der  in  No.  94  angefangene  Hauptsatz  scheint  wenig  geeig- 
net für  die  weitere  Ausführung  in  unsrer  jetzigen  Form.  Wenn 
man  ihm  auch  Antheil  zuwenden  wollte,  so  würde  doch  das  ihm 
eigne  weiche  Wesen  nicht  inhaltreich  und  nachhaltig  genug  sein, 
um  dreimalige  Darstellung  wünschenswerth  zu  machen.  Gleich- 
wohl werden  wir,  um  Raum  zu  sparen,  diesen  Hauptsatz  mit  sei- 
nem zweiten  Theil  und  dem  Seitensatze  mit  seinen  verschiednen 
Rückwendungen  zum  Hauptsatze  (also  No.  94,  97,  402,  405)  unsern  , 
folgenden  Versuchen  zum  Grunde  legen. 

Aus  ähnlichen  Ursachen  würden  auch  die  von  Mozart  No.  107, 
Haydn  No.  409,  Beethoven  S.  4  49,  und  die  andern  angeführten 
Hauptsätze  für  die  dritte  Form  wenig  geeignet  sein.  Das  Beet- 
hoven'sehe,  S.  4  49  erwähnte  Thema  ist  von  zu  weichem,  wenig 
nachhaltigem  Karakter;  das  S.  426  erwähnte,  so  wie  das  in  No.  421 
mitgetheilte  ist  von  zu  abgeschlossnem  und  unabänderlichem  Karak- 
ter (das  letztere  auch  zu  kurz  und  schnell  vorübergehend) ,  das  in 
No.  4  48  bis  420  angeführte  ist  in  sich  selber  so  erschöpfend  aus- 
geführt, dass  man  es  nicht  ohne  Schmälerung  des  Antheils  zum 
dritten  Mal  aufstellen  möchte.  —  Es  versteht  sich,  dass  diese  Be- 
merkungen keinen  Tadel  jener  Sätze,  sondern  vielmehr  die  Aner- 
kennung aussprechen,  dass  ihre  Erfinder  genau  erkannt,  welche 
Behandlung  für  jeden  die  angemessenste. 

Die  Seitensätze. 

Zweitens  müssen  die  Seiten  sä  tze  beide  mit  dem  Haupt- 
satz aus  einer  Grundstimmung  hervorgegangen  und  dennoch  beide 
gegen  ihn  in  gegensätzlichem  Verhältnisse  sein.  Dies  versteht  sich 
nach  dem  früher  Erläuterten.    Wir  setzen  aber  sogleich  hinzu: 

die  beiden  Seitensätze  müssen  auch  unter  einander  im 
Gegensatze  stehen; 

denn  sonst  wären  sie  mehr  oder  weniger  blosse  Wiederholung  des- 
selben Inhalts  und  würden  nicht  nur  das  Ganze  ohne  Vortheil  ver- 
breitern, sondern  auch  durch  ihre  Übereinstimmende  Wirkung  das 
Interesse  vom  Hauptsatz  ab-  und  auf  sich  hinziehen. 

Hieraus  folgen  sogleich  äusserliche  Entschlüsse,  die  zwar  die 
Sache  nicht  erschöpfen,  doch  aber  als  Fingerzeige  für  den  Neuling 
wohl  merkenswerth  sind. 


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Die  dritte  Rondoform  im  langsamem  Zeitmaasse.  141 

Wir  wollen  den  beiden  Seitensätzen  verschiedne  Tonarten 
zuert  heilen.  Steht  der  eine  im  Minore  oder  der  Parallele,  so  mag 
der  andre  in  der  Unterdominante  stehn,  u.  s.  w. 

Desgleichen  wollen  wir  beiden  Seitensätzen  verschiedne 
Bewegung  geben ;  ist  der  eine  bewegter,  so  sei  der  andre  ruhi- 
ger, oder  wenigstens  in  einer  andern  Form  bewegt. 

Wir  wollen  die  beiden  Seitensätze  verschieden  konstruiren; 

—  wobei  wir  bekanntlich  die  WTahl  zwischen  Gangform  (oder  Satz- 
kette) ,  satzmässiger  oder  periodischer,  zwei-  oder  dreitheiliger,  fest 
abgeschlossner  oder  in  Gangform  sich  auflösender  Liedform  haben.  — 
Das  Weitere  und  Tiefere  hängt  von  Stimmung  und  Anschauung  jedes 
besondern  Falles  ab. 

Verknüpfung. 

Drittens  können  die  Hauptpartien  (Hauptsatz  und  Seitensätze) 
einander  bald  ohne,  bald  mit  vermittelnden  Sätzen  und  Gängen  an- 
schliessen,  kann  der  Schluss  mit  oder  ohne  Anhang  gebildet,  der 
Inhalt  aller  dieser  Nebenpartien  bald  aus  dieser,  bald  aus  jener 
Hauptpartie  genommen,  sogar  neu  gebildet  werden  ;  es  kann  endlich 
jede  der  Nebenpartien  ihr  besondres  Motiv  haben,  oder  auch  nicht. 

—  Dies  und  alles  Nähere  sei  jetzt  praktisch  an  besondern  Fällen 
erprobt. 

Unsre  erste  Aufgabe  soll  sich,  wie  gesagt,  an  den  No.  94  auf- 
gestellten Hauptsatz  knüpfen,  ungeachtet  er  dazu  (S.  UO)  weni- 
ger geeignet  scheint.  Wir  behalten  eben  so  den  Seitensatz 
No.  97  mit  der  zu  ihm  gehörigen  Ueberleitung  bei. 

Sollen  wir  diesen  Seitensatz  zweitheilig  ausbilden,  oder  gang- 
artig ausgehn  lassen,  etwa  wie  in  No.  134  angedeutet  ist?  —  Wir 
würden  das  Letztere  vorziehn;  denn  dadurch  wird  die  Gleichheit 
der  Konstruktion  aufgehoben  und  das  Gewicht  des  Seitensatzes  ge- 
gen den  für  die  jetzige  Form  ohnehin  zu  schwachen  Hauptsatz  ge- 
mindert. 

Nach  diesem  Seitensatze,  —  wie  er  sich  auch  gebildet  haben 
mag,  —  kehren  wir  zum  Hauptsatze  zurück  und  wiederholen  den- 
selben. 

Nun  stehn  wir  auf  der  Gränze  beider  Rondoformen.  Wollen 
wir  der  frühern,  zweiten  Rondoform  anhängig  bleiben,  so  wird  mit 
dem  Hauptsatz  allein,  oder  mit  ihm  und  noch  einem  Anhange  ge- 
schlossen. 

Wollen  wir  zur  dritten  Form  Übergehn  und  noch  einen 
zweiten  Seitensatz  folgen  lassen,  so  wird  schon 

der  Rückgang  vom  (ersten)  Seitensatze  zum  Hauptsatz 
eine  Aenderung  erfahren.  Wir  können  diesen  Rückgang  leichter 
behandeln,  weil  er  doch  nicht  zur  letzten  Hauptpartie  führt,  der 


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Die  dritte  Rondoform  im  langsamem  Zeitmaasse.  143 

(die  Wiederholung  der  Theile  ungerechnet)  wiederkehren.  Dann  im 
ersten  Seitensatze  war  Des  dur  und  abermals  4sdur  (zum  Schlüsse 
des  ersten  Theils,  als  Dominante  von  Des)  aufgetreten.  Von  die- 
sen Tonarten  kann  also  nicht  mehr  die  Rede  sein. 

Sollen  wir  uns  in  die  Dominante  des  Haupttons,  nach  Cmoll, 
wenden?  Dann  würde  Mollauf  Moll  folgen  (Fmoll,  Cmoll,  Fmoll); 
auch  ist  die  Stufe  C  schon  am  Schlüsse  des  ersten  Theils  des  Haupt- 
satzes und  beim  Rückgang  in  letztern  (No.  136}  benutzt  worden 
und  wird  bei  jeder  Wiederholung  des  Hauptsatzes  und  bei  dem 
zweiten  Rückgang  in  denselben  noch  wiederholt  werden  müssen. 

Sollen  wir  die  Unterdominante,  £moll,  wühlen?  Auch  hier 
hätten  wir  die  trübe  Folge  von  Moll  auf  Moll,  durch  den  getrübten 
Karakter  von  2?moll  noch  fühlbarer.  Auch  würde  uns  keine  gün- 
stige Modulation  offenstehn;  denn  die  Dominante  des  neuen  Tons  * 
wäre  der  Hauptton  selber,  die  Parallele  wäre  das  schon  im  ersten 
Seitensatz  gebrauchte  Des  dur.  —  Wir  wählen  also  das  Maggiore, 
Fdur. 

Und  nun  die  Bewegung.  Dem  ersten  Seitensatz  ist  eine  er- 
reglere und  fremde  (dreitheilig  statt  zweitheilig)  eigen;  der  zweite 
muss  sich  hiervon,  wie  vom  Hauptsatz  unterscheiden.  Wir  fuhren 
ihn  —  No.  94  als  Wiederholung  des  Hauptsatzes  vorausgesetzt 
und  mit  Abänderung  des  Schlusstaktes  —  so  ein  — 


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Weiterer  Nachweis  dieser  Form 


145 


ist  der  Satz  Takt  6  bis  9  und  dessen  Wiederholung,  die  aber 
schon  keinen  Abschluss  hat,  sondern  mit  einem  Trugschluss  in 
einen  Gang  übergeht,  worauf  die  letzten  Takte  auf  den  Kernsatz 
zurückführen  und  im  Hauptton  schliessen  zu  wollen  scheinen,  wenn 
sie  nicht  (etwa  mit  Hülfe  einer  Verwandlung  des  letzten  h  in  ces 
nach  As  dur,  und  so  fort)  abermals  in  einen  Gang  übergeführt  und 
endlich  auf  die  Dominante  des  Haupttons  geleitet  werden,  worauf 
dann  der  Orgelpunkt  und  die  letzte  Wiederholung  des  Hauptsatzes 
folgen  und  mit  dieser  oder  noch  einem  Anhang  (etwa  einer  aber- 
maligen, nur  theil weisen  und  veränderten  Wiederholung  des  Haupt- 
satzes) geschlossen  werden  mtisste.  —  Wir  würden  Übrigens,  wenn 
das  Tonstttck  in  der  höhern  Form  ausgeführt  werden  sollte,  nach 
dem  zweiten  Seitensatz  einen  weitern  Gang  durch  mehrere  Tonar- 
ten rathsam  finden.  Denn  da  dieser  Satz  schon  in  F  steht,  so 
bleibt  ohne  vorherige  Entfernung  von  diesem  Tone  kein  Mittel,  den 
Eintritt  des  Orgelpunkts  und  des  Haupttons  (Fmoll  nach  Fdur)  vor 
Einfarbigkeit  zu  bewahren. 


Zweiter  Abschnitt. 
Weiterer  Nachweis  dieser  Form. 

Betrachten  wir  nun  zwei  unsrer  Form  angehörige  Tonstticke. 
In  beiden  wird  sich  die  Form  in  ihren  Grundzügen  bewähren;  in 
beiden  aber  werden  wir  auch,  wie  wir  längst  schon  an  andern 
Formen  erfahren  haben,  Abweichungen  in  einzelnen  Punkten  zu 
bemerken  und  nach  ihren  Ursachen  und  Folgen  zu  forschen  haben. 

Das  erste  Tonstück  ist  das  bekannte  Andante  »£a  consolation«. 
von  Dussek. 

Der  Hauptsatz,  2?dur,  hat  zweitheilige  Liedform.    Dies  — 


438  < 


dol.  . 

P! 

m   4'}  h-drird  *  rf.-fcr-- 

4 — 

|1 'IM  fi' 

*~  Ped.      *  1 

1 — —  - 

i  l^L^ö 

er 
Um 

ist  der  Vordersatz;  der  Nachsatz  wiederholt  die  ersten  Takte  mit 
geringer  Veränderung  und  führt  zum  Schluss  in  der  Parallele,  G  moll, 

Marx,  Komp-L.  III.  5.  Aufl.  *0 


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146 


Die  grössern  Rondoformen. 


eine  in  Dur  (besonders  in  Dussek's  Zeit)  zwar  ungewöhnlichere 
Schlusswendung,  die  aber  in  ihrem  wehmüthigen  Ausdrucke  der 
vorgesetzten  Aufgabe  des  TonstUckes  entspricht  und  nach  dem  be- 
reits für  den  Vordersatz  verwendeten  Schluss  in  der  Dominante 
dient,  Eintönigkeit  der  Schlussfälle  zu  vermeiden.  Der  zweite  Theil 
setzt  mit  dem  Hauptmotiv  des  ersten  in  Cmoll  (als  der  Unterdomi- 
nante von  Gmoll)  ein,  geht  von  da  in  dessen  Parallele  £sdur  (Un- 
terdominante des  Haupttons),  und  wendet  sich  über  #  moll,  —  mit 
einem  ähnlichen  Ausdrucke,  wie  am  Schlüsse  des  ersten  Theils,  — 
im  achten  Takte  zu  einem  Schluss  in  Fdur.  Dann  folgt  mit  leich- 
ten Veränderungen  die  Wiederholung  des  ersten  Theils,  nur  dass 
der  Nachsatz  sich  schon  vom  zweiten  Takte  zum  Schluss  im  Haupt- 
ton wendet.  —  Wir  nannten  oben  die  Form  eine  zweitheilige.  Man 
sieht,  dass  sie  auch  wohl  für  dreitheilig  gelten  könnte,  nur  dass 
der  zweite  Theil  durch  gehäufte  und  unstete  Modulation,  —  Cmoll, 
Es  dur,  Bdur  und  moll,  £sdur  und  Fdur,  —  und  unvollkommnen, 
ja  zweideutigen  Schluss  (er  macht  sich  durch  ges-b-des-e,  weist 
also  eher  nach  Moll)  nicht  festgebildet  und  abgeschlossen  wäre,  — 
was  Übrigens  auch  nicht  nothwendig  ist.  Jeder  der  beiden  Theile 
übrigens,  die  wir  oben  bezeichnet,  wird  wiederholt. 

Nun  setzt  in  B moll  der  erste  Seitensatz  ein,  ebenfalls 
zw7eitbeilige  Liedform.   Sein  Kern  ist  dieser  Satz,  — 


139  < 


der  gesteigert  wiederholt  wird,  bis  sich  die  Bewegung  des  Basses 
unter  alle  Stimmen  vertheilt  und  der  Satz  figurativ  in  der  Parallele, 
Des&uv,  zu  Ende  geht.  Der  zweite  Theil  fasst  das  Hauptmotiv 
des  obigen  Kernsatzes  («  in  No.  139)  auf,  behält  auch  —  wenn- 
gleich nur  in  untergeordneter  Weise  —  die  Sechzehntelbewegung 
bei,  verwendet  aber  beide  in  ermuthigenderm  Sinne,  — 


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Weiterer  Nachweis  dieser  Form. 


147 


und  geht  so  Uber  Ges  dur  und  Es  moll  nach  B  moll  zurück,  wo  im 
fünfzehnten  Takte  die  Wiederholung  des  Kernsatzes  (No.  439)  und 
seiner  Steigerung,  und  —  nur  in  andrer  und  weiterer  Ausführung  — 
der  figurativ  gebildete  Schluss  des  ganzen  Seitensatzes  erfolgt.  Auch 
hier  liegt,  wie  man  sieht,  die  Dreitheiligkeit,  nur  unentwickelt,  in 
der  Zweitheiligkeit  zum  Grunde. 

Betrachten  wir  vor  weiterm  Fortschreiten  den  Seitensatz  im 
Verhältniss  zu  seinem  Hauptsatze,  so  finden  wir  nur  eine  leise,  etwa 
im  Hauptmotiv  (a  in  No.  439)  angedeutete  Beziehung  zum  Haupt- 
satze, der  ebenfalls  das  beruhigende  Niedersinken  auf  den  Haupt- 
takttheil  festhält;  man  kann  es  sich  so  — 

Hauptsatz. 


rä — ri — r— 

Grun 

durch  Begleitung  i 
dzug  des  Hauptsatze 

fr — n 

mit  — 

md  Vortrag  betont 

s. 

1 

f. 

Seite 

m 

nsatz. 

1       5  = 

t^-^  

=±=-  p= 

veranschaulichen ;  auch  die  Gleichheit  der  Tonika  wirkt  für  innere 
Verbindung  beider  Sätze  mit.  Dabei  aber  tritt  das  veränderte 
Tongeschlecht  (doch  auch  hierzu  hat  es  im  Hauptsatze  nicht  an 
Anklängen  gefehlt) ,  die  Form  der  Begleitung  durch  selbständig 
gewordnen  Bass,  der  figurative  Ausgang  beider  Theile  des  Seiten- 
satzes in  entschiednen  Gegensatz  zum  Hauptgedanken,  wie  schon 
an  No.  439  zu  erkennen  gewesen.  Man  hat  hier,  wenngleich  die 
Komposition  nicht  zu  den  tiefsinnigsten  zu  rechnen  ist,  doch  wieder 
Gelegenheit,  die  Einheit  von  Inhalt  oder  Stimmung  und  Form  zu 
beobachten.  Der  ganze  Seitensatz  spricht  das  Zurücksinken  in  Gram 
im  Gegensatz  zur  trostvollen  Erhebung  des  Hauptsatzes  aus.  Dem 
gemäss  stellt  er  Moll  gegen  Dur,  ruhende  Accente  gegen  die  ela- 
stischem Motive  des  Hauptsatzes  (man  vergleiche  in  No.  4  41), 
verschmelzenden  Bassgang  und  fliessende  Figuration  gegen  die  fest- 
gegliederten Rhythmen  des  Hauptsatzes. 

Zugleich  bemerke  man,  dass  der  Seitensatz  in  seiner  geschlos- 
sen hinziehenden  Weise  keine  Wiederkehr,  Veränderung,  weitere 
Ausführung  wünschenswerth  macht,  obgleich  das  alles  bei  ihm,  wie 
bei  jedem  andern  Satze  möglich  wäre.  Nach  einer  Wiederholung 
jedes  Theils  ist  er  für  immer  abgethan. 

Jetzt  kehrt  der  vollständige  Hauptsatz  wieder;  die  Wieder- 
holung seines  ersten  Theils  geschieht  in  veränderter,  belebterer 
Gestalt,  — 


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148 


Die  grössern  Rondo  formen. 


Ped. 

W  *  1 

— i.—  LlIUj 

r?    f     g  .  "C  — i- 

hr~^' 1   1  - — 1 

=  •) 

442 


die  dann  bis  zu  Ende  des  Ganzen  beibehalten  wird. 

Darauf  tritt,  abermals  ohne  weitere  Vermittlung,  der  zweite 
Seitensatz  in  £sdur  ganz  frisch  und  mit  neuen  Motiven  auf.  Dies 


U3 


con  tplrito 


8  8 


ist  der  Kern  des  neuen  Satzes,  der  sich  wie  die  vorigen  zweitheilig 
mit  Wiederholung  jedes  Theils  in  ununterbrochner  Bewegung  voll- 
endet. Welchen  entschiednen  Gegensatz  er  in  seiner  Frische  und 
Beweglichkeit  gegen  den  grämelnden  ersten  Seitensatz  und  gegen 
den  sanften,  oft  wehmüthigen  Hauptsatz  bildet,  ist  ohne  Weiteres 
klar;  seine  Einheit  mit  dem  Vorhergehenden  beruht  hauptsächlich 
auf  der  im  Hauptsatze  (No.  4  42)  erhöhten  und  nun  noch  weiter  ge- 
steigerten Bewegung  und  der  naheliegenden  Modulation  in  die  Unter- 
dominante. 

Bis  hierhin  sind  die  Sätze  ohne  alle  Vermittlung  neben  oder 
nach  einander  aufgetreten  und  man  könnte  insofern  zweifelhaft 
sein,  ob  die  Komposition  wirkliche  Rondoform  oder  nur  eine  Folge 
von  Liedsätzen  darstellte,  wie  wir  sie  Th.  II,  S.  79  kennen  gelernt. 
Nur  das  ständ'  einstweilen  der  letztern  Annahme  entgegen,  dass 
beide  Seitensätze  nicht  fest  genug  gegliedert  sind,  um  für  sich  selb- 
ständig zu  bestehn,  wie  man  vom  Trio  eines  Marsches,  Tanzes 
in  der  Regel  erwartet.  Sie  sind  nur  im  Verein  mit  dem  Haupt- 
satze geltend  zu  machen;  und  darin  eben  offenbart  sich  ihr  Karakter 
als  der  eines  Seitensatzes  und  der  richtige  Formsinn  des  Kompo- 


*  Die  Sextolen  sind  eigentlich  Doppeltriolen.  Vgl.  d.  Verf.  Allgem.  Musik- 
lehre, S.  86,  U6. 


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Weiterer  Nachweis  dieser  Form. 


149 


nisten.  Jetzt  aber  trennen  sich  die  nah  verwandten  Formen  (Lied- 
kette und  Rondo)  unzweideutiger. 

Nach  dem  Abschlüsse  des  letzten  Seitensatzes  wird  die  Bewe- 
gung in  der  Begleitung  beibehalten  und  darüber  ein  neues  Sätzchen 
eingeführt  — 


t  Schlusston 


U4 


con  affetto 


HE 


i        r  m- 


mm 


Dies  wiederholt  sich  mit  einem  Schluss  auf  Es,  abermals  mit 
einer  Wendung  auf  die  Dominante  von  Cmoll,  wird  da  weiter  aus- 
und  auf  die  Dominante  des  Haupttons  zu  einem  Orgelpunkte  von 
neun  Takten  geführt,  wrorauf  der  Hauptsatz  wiederkehrt,  erst 
mit  leichten  Aenderungen,  dann  von  der  Wiederholung  des  ersten 
Theils  an  abermals  mit  gesteigerter  Bewegung,  — 


"5  ZU 


die  vollständig  durchgeführt  und  dann  nebst  dem  Hauptmotiv  zur 
Bildung  eines  Anhangs  — 


446 


von  16  Takten  benutzt  wird. 

So  zeichnet  sich  das  ganze  Tonstttck  in  folgendem  Schema  ab : 
HS     SSI         HS     SS2        G  u.  OP       HS  Anhang. 
Die  Wiederholungen  der  einzelnen  Theile  zugerechnet,  haben 
diese  verschiednen  Theile  folgende  Längen: 

4)  der  Hauptsatz  2x8  und  2x16  Takte 

2)  -    1ste  Seitensatz        2-8    -  2-26  - 

3)  f-    2te        -  2-8-2-8  - 

4)  -    Gang  mit  Orgelpunkt  19  Takte 

5)  -    Anhang  16  - 

Die  Modulation  geht  in  den  Hauptstücken  den  einfachsten  Weg : 
JJdur,  ßmoll,  2?dur,  Zftdur,  ifdur, 


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150 


Die  grossem  Rondoformen. 


kann  sich  aber  im  Innern  der  Sätze  (wie  oben  gelegentlich  bemerkt 
worden)  um  so  freier  gehn  lassen. 

Nur  zweierlei  kann  auffallen :  die  Gleichförmigkeit  in  der  Ge- 
staltung der  drei  Sätze  und  der  Mangel  verbindender  Gänge  vor 
und  nach  dem  ersten  und  vor  dem  zweiten  Seitensatze.  Das  Er- 
stere  könnte  allerdings  zur  Einförmigkeit  fuhren,  wenn  nicht  der 
Inhalt  der  drei  Sätze  so  entschieden  mannigfaltig  wäre.  Der  Gänge 
aber  bedurfte  es  nicht,  da  die  Modulation  sich  im  engsten  Kreise 
bewegt  (namentlich  zu  Anfang  zwischen  Bdur  und  J?moll  hin  und 
her)  und  überdies  beide  Seitensätze,  besonders  der  zweite,  selbst 
so  viel  des  Gangartigen  in  sich  haben,  dass  Zwischengänge  allzu- 
viel Beweglichkeit  in  das  Ganze  gebracht  hätten.  In  Bezug  auf 
den  zweiten  Seitensatz  (No.  143)  scheint  dies  unwidersprechlich ; 
der  erste  Seitensatz  hätte  nach  der  Wiederkehr  seines  Anfangs  im 
zweiten  Theil  auf  der  Dominante  festgehalten  und  gangartiger  von 
da  in  den  Hauptsatz  übergeleitet  werden  können.  Allein  einen  we- 
sentlichen Gewinn  hätte  dies  (ausser  einem  vielleicht  noch  frischern 
Eintritt  des  Hauptsatzes)  nicht  gebracht ;  er  schliesst  auch  jetzt  mit 
acht  figuralen  Takten  und  hat  daran  genug*. 

Die  zweite  Komposition,  die  wir  zu  betrachten  haben,  ist  ein 
Rondo  aus  ,4moll  von  31  o zart**,  eine  der  feinsten  und  gefühl- 
vollsten Klavierkompositionen  jenes  Tondichters,  obwohl  der  Behand- 
lungswreise  des  Instruments  zu  eigen  gegeben,  die  schon  der  dama- 
lige Zustand  der  Instrumente  und  des  Spiels  bedingte. 

Der  Hauptsatz  hat  dreitheilige  Liedform.  Dieser  Vordersatz 
des  ersten  Theils  — 


And 

ante. 

p 

*  r_fr*r'i 

cresc. 

p 

.  -n-.  -Fi- 

M 

r  f 

r 

r 

f  T 

wird  mit  feinen  Aenderungen  als  Nachsalz  wiederholt  und  im  Haupt- 
tone geschlossen.  Der  zweite  Theil  tritt  mit  dem  Hauptmotiv  des 
ersten  (a  in  No.  U7)  unmittelbar  fn  der  Parallele,  Cdur,  auf;  er 
fügt  sich  (wie  Mozart  oft  liebt)  aus  kleinen  Sätzen  zusammen,  — 
einem  von  4  Takten,  mit  Schluss  in  Cdur,  einem  abermals  vier- 
taktigen,  der  über  Cdur  wieder  in  Cdur  schliessen  will,  aber  mit 

*  Hierzu  der  Anhang  G. 
**  Band  6  der  Breitkopf-Härtel'schen  Gesammtausgabe ;  No.  8  der  neuen 
Ausgabe  der  einzelnen  »Zwölf  Klavierstücke«. 


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Weiterer  Nachweis  dieser  Form 


151 


einem  Trugschlüsse  nach  A  moll  wendet,  und  der  Wiederholung  des 
letztern  mit  vollkommnem  Schluss  in  Cdur,  während  die  vorigen 
zwei  Schlüsse  unvollkommen  waren.  Von  dem  Schlusstakte  wird 
in  dieser  Weise,  — 


Wiederanfang. 


also  mittels  des  Hauptmotivs  zu  dem  ersten  Theile  zurückgelenkt  und 
derselbe  als  dritter,  wieder  mit  sinnigen  AendeniDgen,  wiederholt. 

Hiermit  sind  Hauptton  und  Parallele  einstweilen  erschöpft. 
In  welcher  Tonart  sollte  der  Komponist  wohl  den  nun  zu  erwar- 
tenden Seitensatz  aufführen?  Der  nächste  günstigste  Ton,  die  Par- 
allele, ist  schon  vorweggenommen.  Die  Dominanten,  Z)moll  und 
ismoll,  wären,  zumal  bei  der  weichen  wehmtithigen  Stimmung  des 
Hauptsatzes,  zu  trüb;  abgesehn  hiervon  würde  Dmoll  den  Vorzug 
verdienen,  weil  dann  die  Rückkehr  zum  Hauptsatz  einen  Auf- 
schwung böte.  Diese  Sachlage  bewog  den  Komponisten*,  sich  — 
nach  der  Parallele  der  ünterdominante,  nach  Fdur,  zu  wenden; 
akkordisch  liegt  diese  Modulation  (der  Mediante,  s.  Th.  I,  S.  219) 
ebenfalls  nahe. 


*  Nicht  stark  und  oft  genug  kann  man  gegen  die  so  oft  falsch  gefasste 
und  ausgelegte  Vorstellung  protestiren,  dass  im  Künstler  das  Schaffen  »unbe- 
wusst«  vor  sich  gehe  und  dass  man  lieber  das  Studium  und  Nachdenken 
lliehn  solle,  um  nur  jene  »Naive tat«  ja  nicht  zu  stören,  oder  womöglich 
wieder  heranzuträumen.  Ganz  gewiss  waltet  über  den  Schöpfungsmomenten 
des  Künstlers  ein  Mysterium  (können  wir  doch  überhaupt  nicht  angeben,  woher 
uns  Gedanken  kommen!),  und  sicherlich  kann  ein  Kunstwerk  nicht  zu- 
sammengedacht und  zusammengerechnet  werden  ,  —  aber  eben  so  wenig 
zusammengeträumt.  Was  im  Kunstwerk  an  den  Tag  kommt,  muss  zuvor 
im  Künstler  gewesen,  muss  ihm  in  Sinn  und  Geiste  gekeimt  und  aufgewachsen 
sein.  In  welcher  Form  es  ihm  dann  in  der  schöpferischen  Stunde  zugekom- 
men, ob  z.  B.  Mozart  bei  der  Komposition  seines  Rondo  sich  gesagt,  dass  und 
warum  er  den  Seitensatz  in  die  Parallele  der  Unterdominante  stellen  wolle, 
oder  ob  ihn  eine  rasche  Empfindung  der  Verhältnisse  in  diesen  Ton  geführt, 
das  ist  sehr  gleichgültig;  er  hätte  aber  fehlgegriffen  oder  würde  nur  zufällig 
einmal  das  Rechte  ertappt  und  das  nächste  Mal  vielleicht  wieder  fehlgegriffen 
haben,  wäre  nicht  sein  Geist  schon  vor  dem  Beginn  der  Komposition  in  ernstem 
Sinnen  und  Arbeiten  durchgebildet  worden. 

Zufällig  und  glücklich  für  die  Zweifelnden  trifft  es  sich,  dass  Mozart 
über  einen  ganz  ähnlichen  Fall  die  Beweggründe  seiner  Modulation  schriftlich 
hinterlassen  hat.  In  der  Arie  des  Osmin  in  Belmonte  und  Konstanze :  »Solche 
hergelaufne  Laffen«  geht  er  aus  bestimmten  und  bewussten  Gründen,  gleich 
den  oben  angeführten,  von  Fdur  nicht  nach  Dmoll,  sondern  in  die  nächste 
Tonart,  Jmoll.  also  den  gleichen  Weg,  nur  umgekehrt.  Wie  klar  er  seine 
Gründe  darüber  ausspricht,  ist  in  der  Nissen' sehen  Biographie  oder  im  Uni- 
versal-Lexikon  der  Tonkunst  (in  seiner  Biographie  vom  Verf.  dieses)  zu  lesen. 


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152 


Die  grössern  Rondo  formen. 


In  Fdur  also  tritt  der  erste  Seitensatz  auf,  und  zwar,  wie 
hier  — 

3^ 


U9  n 


mag 


 , 


?# — 


I 


äff 


i — k 


der  Vordersatz  (er  schliesst  bei  f)  zeigt,  in  ganz  abweichender, 
nur  durch  die  Stimmung  des  Ganzen  an  den  Hauptsatz  anlehnender 
Weise,  —  wenn  man  nicht  die  Verzierung  des  Anfangs  und  die 
Erinnerung  an  ein  Nebenmotiv  (6  in  No.  147)  als  formell  bestimm- 
tere Anknüpfung  aufnehmen  will.  Der  obige  Satz  wiederholt  sich 
und  wird  noch  weiter,  in  die  Dominante  gewendet,  benutzt ;  so  bil- 
det sich  der  erste  Theil.  Der  zweite  Theil  führt  die  Motive  des 
ersten  über  Cmoll  und  Fmoll  weiter  und  wiederholt  den  ersten 
mit  einer  Schlusswendung  in  den  Hauptton  des  Seitensatzes,  Fdur. 
Der  ganze  Satz  ist  in  der  beweglichen  Weise  des  oben  gezeigten 
Anfangs  lebhaft  und  sinnreich  fortgeführt,  bald  Ober-,  bald  Mittel- 
oder Unterstimme  haben  die  in  No.  149  in  der  Mitte  liegende  Be- 
wegung zu  unterhalten. 

Von  dem  fremdern  Fdur  war  aber  kein  unmittelbarer  Rück- 
schritt zum  Hauplton  und  Hauptsatze  zu  thun.  Daher  setzt  auf 
dem  Schlusstakte  selber  ein  Gang  ein,  aus  Motiven  des  vorigen 
Satzes  gebildet,  führt  zuerst  geradeswegs  nach  AmoW, 


450 


geht  dann  zu  besserer  Befestigung  mit  einem  andern  Motive  des 
Seitensatzes  nach  B,  wo  mit  einem  dritten  Motive  des  Seitensatzes 

ein  Orgelpunkt  gebildet  wird,  der  endlich  zur  Wiederholung  des 
Hauptsatzes  überführt. 

Allein  diese  Wiederholung  ist  unvollständig;   nur  der  erste 

Theil  des  Hauptsatzes  kehrt  wieder.  Woher  diese  Abweichung  oder 
Abkürzung  der  Form  ? 


Weiterei'  Nachweis  dieser  Form. 


153 


Erstens  ist,  wie  wir  schon  erfahren  haben,  der  Inhalt  des 
Hauptsatzes  so  einfach,  dass  vollständige  Wiederbringung  und  da- 
mit breite  Wiederkehr  der  langsamen  Bewegung  nach  der  beseel- 
tem des  Seitensatzes  (man  vergleiche  No.  4  47  mit  149)  eher  lästig 
als  günstig  gefunden  werden  müsste.  —  Wir  werden  jedoch  bald 
die  Folgen  sehn. 

Zweitens  würde  der  zweite  Theil  des  Hauptsatzes  wiederum 
Cdur  in  aller  Breite  gebracht  und  keinen  gleich  frischen  Ton  in 
der  Nähe  des  Haupttons  für  den  zweiten  Seitensatz  übrig  gelassen 
haben. 

Der  dritte  Grund  zeigt  sich  erst  im  zweiten  Seitensatze. 
Dieser' tritt  nämlich  so  ähnlich  dem  Hauptsatz  — 

und  mit  so  naheliegender  Modulation  (nach  A  moll  A  dur)  auf,  dass 
weitere  Ausführung  des  Hauptsatzes  durch  den  Seitensatz  selbst 
überflüssig  wird.  Allein  hierbei  konnte  es  nicht  bewenden ;  der  neue 
Gedanke  musste  mit  dem  vorangehenden  in  Gegensatz  treten,  so 
eng  er  sich  ihm  auch  anfangs  anschloss;  der  wehmüthigen  Stim- 
mung des  Hauptsatzes,  aus  der  sich  schon  der  erste  Seitensatz  er- 
muthigend  losgerissen  und  erhoben,  musste  Mozart's  liebreiches 
Wesen  sanften,  süss  erheiternden  Trost  folgen  lassen.  So  stimmt 
wiederum  das  Verlangen  der  Form  mit  dem  psychologischen  Her- 
gang im  Gemüth  überein ;  nach  dem  sanften  Anschluss  an  die  Klage 
des  Hauptsatzes  belebt  sich  der  Seitensatz  zu  lebendigerer  Regung ; 


aus  gleichem  Stoff  und  in  gleicher  Stimmung  bildet  sich  der  zweite 
Theil  und  schliesst  mit  dem  eben  angeführten  Satz  in  4  dur. 

Hier  war  nun  wieder  ein  Gang  nöthig,  um  das  Erscheinen  des 
Hauptsatzes  zu  vermitteln  und  dem  belebten  Momente  des  Seiten- 
satzes (No.  152)  vollen  Spielraum  zu  gewähren.  Es  wird  zunächst 
der  zweite  Takt  von  No.  152  als  Motiv  ergriffen,  vom  Bass  in 
yldur,  dann  mit  einer  Wendung  nach  F/smoll,  mit  einer  gleichen 
nach  D  dur  gesetzt ;  dann  bildet  sich  aus  diesem  Stoff  und  harmo- 
nischer Figuration  der  weitere  Gang  nach  Cw,  H,  A  dur  über  A  moll 
und  2? dur  nach  E  zu  einem  abermaligen  Orgelpunkte. 


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154 


Die  grössern  Rondoformen. 


Nun  folgt  ordnungsmässig  die  Wiederholung  des  Hauptsatzes, 
und  zwar  vollständig,  wiederum  mit  Veränderungen. 

Dass  ein  so  weit  geführtes  Ton  stück  nicht  leicht  ohne  Anhang 
enden  wird,  ist  ohnehin  vorauszusetzen ;  denn  der  Schluss  des 
Hauptsatzes,  der  für  diesen  allein  genügt  hat,  kann  schwerlich  auch 
für  die  ganze  so  viel  mehr  umfassende  Komposition  befriedigen. 
Allein  zum  Anhang  und  für  denselben  wirken  noch  besondre 
Gründe  mit. 

Der  Hauptsatz  ist,  wie  wir  wissen,  bei  seiner  vorigen  Wie- 
derholung abgekürzt  worden,  —  mit  Recht,  aber  gleichwohl  zu 
seiner  Benachtheiligung.  Sodann  ist  er  ungeachtet  der  neuen  und 
beweglicher  geschmückten  Ausführung  doch  im  Ganzen  zu  ruhig, 
als  dass  er  nach  beiden  bewegten  Seitensätzen  einen  befriedigenden 
Schluss  böte.  Es  muss  zwar  mit  ihm,  aber  mit  der  erhöhten  Be- 
wegung der  Seitensätze  geschlossen  werden. 

Daher  führt  Mozart  zunächst  den  Schluss  mit  ähnlichen  Mo- 
tiven weiter  auf  die  Dominante  und  wiederholt  dann  den  Kern  des 
Hauptsatzes  mit  einer  figuralen  Gegenstimme,  die  zuerst  vom  Basse,  — 


dann  (ganz  frei)  von  der  Oberstimme  (während  der  Bass  den  Satz 
übernimmt)  geführt  wird.  Hiermit  ist  die  Bewegung  des  ersten 
Seitensatzes  repräsentirt;  nun  wird  aber  auch  des  zweiten  gedacht; 
der  Bewegungssatz  desselben  (No.  152)  wird  zweimal  (natürlich  im 
Haupttoni  aufgeführt  und  mit  gleich  bewegter  harmonischer  Figu- 
ration  und  dem  Hauptmotiv  des  Hauptsatzes  (a  in  No.  147)  ge- 
schlossen. 

Die  räumlichen  Verhältnisse  dieser  Komposition  sind  folgende: 

1)  Hauptsatz:  Th.  I,  8,  Th.  II,  44,  Th.  III,  8  Takte; 

2)  erster  Seitensatz  :  Th.  I,  H,  Th.  II,  23  Takte; 

3)  Gang  und  Orgelpunkt:  10  und  7  Takte; 

4)  Hauptsatz:  Th.  I,  wie  oben; 

5)  zweiter  Seitensatz:  Th.  I,  9,  Th.  II,  15  Takte; 

6)  Gang  und  Orgelpunkt :  1 0  und  7  Takte  ; 

7)  Hauptsatz :  wie  oben,  und  4  Takte  weiter  geführt ; 

8)  Anhang:  20  Takte. 


8ra  -   --  --   --  - 


■ß- 


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Unterschied  des  langsamen  and  bewegtem  Zeitmaasses.  155 

Durchweg  sind  dabei  diejenigen  Schlusslakte,  die  zugleich  An- 
fang eines  folgenden  Ganges  sind,  doppelt  gerechnet.  Die  unregel- 
mässigen Taktzahlen  übrigens:  8,  9,  11,  23  u.  s.  w.  werden  Nie- 
mand befremden,  der  unsern  rythmischen  Entwickelungen  bei  der 
Liedform  (Th.  II,  S.  V  u.  f.)  gefolgt  ist. 


Dritter  Abschnitt. 
Unterschied  des  langsamen  und  bewegtem  Zeitmaasses. 

Die  kleinern  Rondoformen  haben  wir  (S.  95)  im  langsamem 
Zeitmaasse  dargestellt,  ohne  zuvor  nähere  Bestimmung  zu  geben; 
wir  haben  einstweilen  auf  Erfahrung  und  Instinkt  des  Jüngers  ge- 
rechnet. Nun  aber  ist  Anlass  und  Nothwendigkeit  vorhanden,  den 
Einfluss  des  Zeitmaasses  auf  die  Form  zu  erwägen;  die 
dritte  Rondoform  bildet  den  Uebergang,  insofern  sie  sich  beiden 
Seiten,  dem  langsamem  und  schnellern  Zeitmaasse  geeignet  erweist. 

Wollen  wir  hier  zu  festen  Resultaten  gelangen,  so  müssen  wir 
uns  klar  machen,  welcher  Sinn  im  Zeitmaasse  liegt?  Wir 
dürfen  dabei  alle  feinem  Abstufungen  bei  Seite  setzen  und  nur  den 
Unterschied  vom  langsamen  und  schnellen  Zeitmaasse  in  das  Auge 
fassen ;  hiernach  begreift  sich  der  Sinn  des  mehr  oder  minder 
schnellen  oder  langsamen  Zeitmaasses  von  selbst. 

Die  Bedeutung  des  Zeitmaasses  ist  keineswegs  damit  erschöpft, 
dass  man  sich  sagt :  das  eine  habe  schnellere,  das  andre  langsamere 
Tonfolge.  Dieser  Gegensatz  kann  in  demselben  Zeitmaasse  dargestellt 
werden;  ein  Gang  von  Sechzehnteln  oder  Zweiunddreissigsteln  im 
Adagio  kann  schneller  sein,  als  ein  Gang  von  Vierteln  oder  Achteln 
im  Allegro;  ein  Adagio  kann  mehr  solcher  schnell  folgenden  Töne 
enthalten,  als  ein  Allegro.  Hier  ist  also  die  zufällige  Bildung  dieser 
oder  jener  Komposition  allein  waltend  und  ein  wesentlicher  Unter- 
schied nicht  zu  finden.    Dennoch  liegt  er  nahebei. 

Der  Sinn  des  langsamen  Zeitmaasses  ist:  vorherrschendes 
Verweilen  bei  den  einzelnen  Momenten.  Wenn  im  Komponisten 
diese  Neigung  waltet,  so  durchdringt  sie  das  Ganze  mit  dem  Hang, 
die  einzelnen  Momente  tiefer,  inniger  und  darum  weilender  zu  fas- 
sen ;  die  Einzelheiten  werden  für  sich  wichtiger  und  selbständiger. 

Der  Sinn  des  schnellen  Tempo  ist:  Vorherrschen  der  Be- 
wegung. Wenn  im  Komponisten  diese  Neigung  waltet,  dann 
bedingt  sie  schnelles  Zeilmaass,  indem  sie  das  Ganze  in  allen 
Partien  durchdringt,  nicht  bloss  beiläufig,  etwa  in  zufälligen 
Sechzehntel-  oder  Zweiunddreissigstelgängen  und  Verzierungen. 
Es  tritt  mehr  die  Bedeutung  des  Ganzen  im  kräftig  einigen  Flusse 


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156 


Die  grössern  Rondoformen 


hervor  und  die  einzelnen  Partien  geben  sich  der  Bewegung  des 
Ganzen  als  dessen  Theile  hin. 

Nun  erinnere  man  sich  der  ersten  Konstruktionsgesetze,  so 
werden  sich  die  Karakterzüge  der  Sätze  in  schnellem)  Tempo  im 
Gegensatze  zu  denen  im  langsamen  Tempo  sicher  und  leicht  er- 
kennen lassen. 

Welches  ist  die  Grundform  der  Bewegung,  nämlich  die- 
jenige Grundform,  in  der  die  Bewegung  vorherrscht?  Der  Gang. 
Folglich  werden  im  schnellen  Tempo  Gänge,  —  gleichviel,  ob  sie 
sich  als  blosse  Tonreihe,  oder  als  harmonische  Folge  oder  als  Satz- 
kette bilden,  —  häufiger  und  in  grösserer  Ausdehnung  stattfinden, 
als  in  Kompositionen  langsamen  Tempo's. 

Welches  ist  umgekehrt  die  feste  Form,  gleichsam  der  ste- 
hend gewordne  musikalische  Gedanke?  Der  Satz.  Dass  dieser, 
wie  die  aus  ihm  hervorgegangnen  Formen  der  Periode  und  des 
zwei-  und  dreitheiligen  Liedes  in  keiner  Komposition  (das  einfachste 
Vorspiel  und  die  präludienhafte  unterste  Gattung  der  Etüde  ausge- 
nommen) entbehrt  werden  können,  wissen  wir  bereits.  Wir  sehn 
aber  voraus :  dass,  wenn  im  schnellen  Zeitmaasse  der  Trieb  der  Be- 
wegung vorherrschen  soll,  häufiger  die  Form  des  Satzes, 
als  die  der  Periode  und  des  zwei-  oder  dreitheiligen 
Liedes  Anwendung  finden  werden.  Denn  die  letzteren  Formen 
bestehn  aus  zwei  oder  mehr  Sätzen,  gewähren  also  der  Neigung 
zur  Stetigkeit  vorzügliche  Geltung.  Dagegen  haben  wir  schon  bei- 
läufig erkannt,  dass  in  Sätzen  langsamen  Zeitmaasses  gern  die 
zwei-  und  dreitheilige  Liedform  ihre  Stelle  nimmt. 

Wodurch  endlich  wird  selbst  im  Satz  oder  in  der  Periode  die 
Bewegung  flüssiger  und  erregter?  Hinsichts  der  Konstruktion 
durch  fliessende,  gleichsam  an  einander  geschmolzne  Glieder,  durch 
fortgehende  und  gleichmässige  Bewegung  der  einzelnen  Theile;  har- 
monisch durch  einfachere,  mehrere  oder  viele  Melodienoten  zu- 
sammenfassende und  damit  verschmelzende  Akkordfolge;  melodisch 
durch  grössere  Gleichheit  der  Bewegung  (Tonfolge  und  Rhythmik) 
und  Richtungen. 

Dies  sind  die  Gesetze,  die  uns  bei  der  Bildung  von  Sätzen  im 
schnellen  Tempo  leiten  werden ;  es  sind  Folgerungen  aus  Anschau- 
ungen und  Grundsätzen,  die  uns  längst*  geläufig  worden  sind. 
Das  Entgegengesetzte  wäre  für  langsamer  bewegte  Kompositionen 
Gesetz. 

Daher  trägt  dieses  Thema  aus  Beethoven' s  Ouvertüre  zu 
Egmont,  — 


*  Th.  [,  S.  415  u.  f. 


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Unterschied  des  langsamen  und  bewegtem  Zeümaasses.  157 


454 


39 


h3? 


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oder  dieses  aus  Mozart's  Gmoll-Syniphonie,  — 


oder  dieses  aus  dem  Allegro  einer  Sonate  von  Hummel  — 


456 


U.  8.  W. 


^i1  J  U  £g 


limile  "  ^ 

den  Karakter  eines  Tonstücks  in  schneller  Bewegung  an  sich;  alle 
diese  Sätze  mttsste  man  als  Allegrosätze  erkennen,  wenn  auch  gar 
kein  Tempo  angegeben  wäre;  ja  man  mUsste  sie  als  Adagiosätze 
geradezu  schlecht  nennen. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  frühern  Beispielen  zurück  und  prüfen 
an  ihnen  die  neuen  Grundsätze. 

Könnte  wohl  das  Thema  No.  94  schnelle  Bewegung  vertra- 
gen? —  Gewiss  nicht;  es  zeigt  kleine  rhythmisch  und  harmonisch 
von  einander  abgesonderte  Glieder,  mannigfache  Motive  der  Melodie, 
ausgeführte,  abwechslungsreiche  Begleitung ;  alles  das  will  vernom- 
men und  gefühlt  sein  und  wiederstrebt  daher  schnellerer  Bewegung. 
Für  eine  solche,  z.  B.  für  ein  Rondo-AI legro,  müsste  sich  der  Satz 
etwa  in  dieser  Weise  — 


157 


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158 


Die  grössem  Rondoformen. 


umgestalten.  Aus  denselben  Gründen,  die  hier  entscheiden,  würden 
die  in  No.  96  und  97  angedeuteten  oder  ausgeführten  Sätze  schon 
lebhaftere  Bewegung  vertragen,  und  das  bei  letzterm  angezeich- 
nete Piü  animato  hat  daher  seinen  innern  Anlass.  Dasselbe  gilt 
von  den  Haydn 'sehen  Thematen  No.  109,  111,  von  den  Beetho- 
ven'sehen  No.  112,  114,  so  wie  auch  das  Tempo  des  Beetho- 
ven'sehen  Satzes  No.  118  hiernach  zu  beurtheilen  ist.  Dieser 
letztere  Satz  ist,  wenn  man  ihn  nach  den  obigen  Grundsätzen 
ermisst,  weder  der  Tendenz  des  langsamen,  noch  des  schnellen 
Tempo's  unbedingt  und  ausschliesslich  angeeignet,  —  und  darum 
hat  er  auch  ein  mittleres  Tempo,  ein  Allegretto  mit  vorherrschen- 
der Viertelbewegung. 

So  viel  über  die  einzelnen  Partien  für  jetzt.  Leichter  noch 
begreift  sich  der  Einfluss  desZeitmaasses  oder  vielmehr  des 
für  das  eine  oder  andre  Zeitmaass  geeigneten  Inhalts  auf  die  For- 
mu  ng  des  Ganzen. 

Im  schnellen  Zeitmaasse  herrscht  das  Prinzip  der  Bewegung 
vor;  folglich  können  wir  nicht  nur,  wir  müssen  mehr  Hauptpartien 
haben,  die  der  Gegenstand  dieser  angeregten  grössern  Gemüths-  und 
Tonbewegung  sind.  Im  langsamem  Tempo  verweilend,  vertiefen 
wir  uns  mehr  in  die  Einzelheilen ;  und  darum  können  wir  für  we- 
niger Partien  Zeit  und  Fassungskraft  finden. 

Daher  kommt  es,  dass  die  kleinern  Formen  vorzugsweise 
für  langsamere  Sätze  geeignet  sind,  und  umgekehrt  bewegte  Sätze 
umfassendere  Formen  bedingen ;  ja  dass  —  wie  wir  weiterhin  sehn 
werden  —  die  umfassendem  Formen,  wenn  man  sie  auf  langsamere 
Sätze  anwendet,  gern  abgekürzt  werden.  Es  war  also  nicht  Will- 
kür, sondern  im  Wesen  der  Sache  begründet,  dass  die  ersten 
Rondoformen  an  Sätzen  langsamen  Tempo's  gezeigt  wurden ;  und 
hierin  erkennen  wir  den  letzten  Grund,  warum  die  Erhebung 
des  in  No.  94  begonnenen  Andante  zu  einem  Rondo  dritter  Form 
(No.  137)  kein  erfreulicheres  Resultat  geben  wollte. 

Die  dritte  Rondoform  ist,  wie  schon  die  Ueberschrift  des  ersten 
Abschnitts  (S.  138)  andeutet,  ebensowohl  für  schnelles  als  lang- 
sames Tempo  geeignet ;  an  sie  knüpft  sich  daher  die  Karakteristik 
des  Tempo's  und  der  Uebergang  zu  den  Formen  des  schnellen  Tem- 
po's am  natürlichsten  an,  —  obwohl  manche  dieser  letztem  nach 
der  geistig-beweglichen  Natur  alles  Tonwesens  sich  rückwärts  auf 
Sätze  langsamen  Tempo's  übertragen  lassen  werden. 

Allein  in  einer  Beziehung  neigt  die  dritte  Rondoform  schon 
mit  Uebergewicht  zu  dem  Vorherrschen  der  Bewegung  hin;  dies 
ist  die  grössere  Anzahl  ihrer  Partien.  Die  dritte  Form  umfasst, 
die  Wiederholungen  eingerechnet,  fünf  Sätze,  ungerechnet  die 


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Unterschied  des  langsamen  und  bewegtern  Zeitmaasses.  159 

Gänge  und  den  Anhang;  und  diese  Sätze  haben  meist  zwei-  oder 
dreitheilige  Liedform.  Diese  Reihe  von  Sätzen,  die  nach  der  Natur 
des  langsamen  Tempo  zur  Vertiefung  in  die  Einzelheiten  ihres 
Inhalts  auffodern,  ja  nöthigen,  muss  in  ihrer  Ganzheit  lastend,  ja 
sie  kann  leicht  ermüdend  erscheinen,  so  anziehend  auch  jede  ein- 
zelne Partie  sein  mag.  Selbst  die  beiden  zuvor  betrachteten  Ron- 
do's  von  Dussek  und  Mozart,  so  sinnig  und  anziehend  sie  — 
besonders  das  Mozart 'sehe  —  fast  in  jedem  Zuge  sind,  scheinen 
uns  doch  eine  gewisse  Länge  fühlbar  zu  machen;  ja  die  Kompo- 
nisten scheinen  diese  gefühlt  und  Alles  aufgeboten  zu  haben,  um 
den  Nachtheil  zu  mindern.  Hierhin  deutet  bei  Dussek  die  bei  jeder 
Wiederholung  des  Hauptsatzes  (No.  138)  gesteigerte  Bewegung 
(No.  142,  145),  bei  Mozart  die  zuletzt  fast  überladne  Auszierung 
des  Hauptsatzes  und  das  Bedürfniss,  denselben  in  der  Mitte  (S.  152) 
zu  verkürzen.  Auch  darin  spricht  sich  die  Hinneigung  zu  der 
Form  des  schnellen  Tempo's  aus,  dass  bei  Dussek  die  Sätze  selbst 
(namentlich  der  zweite  Seitensatz,  No.  U3  ganghaften  Karakter 
annehmen,  bei  Mozart  die  Gänge  und  ganghaften  Sätze  sich  aus- 
zubreiten und  fast  vorzuherrschen  beginnen. 

So  viel  für  jetzt  über  die  Bedeutung  des  Tempo  für  den  Kom- 
ponisten. Dass  nicht  überall  alle  Karakterzüge  getroffen,  dass  bald 
dieses,  bald  jenes  Gesetz  unberücksichtigt  gelassen  und  das  hier 
Versäumte  auf  andre  Weise  ergänzt  oder  ersetzt  werden,  dass  es 
endlich  gemischte  und  Mittelformen  geben  kann,  wie  eben  das  Rondo 
dritter  Form  — :  das  alles  ist  wahr,  kann  uns  aber  nicht  befrem- 
den, da  wir  fortwährend,  schon  in  den  ersten  Theilen  der  Lehre, 
erkannt  haben,  dass  mechanisch  scharfes  Abgränzen  dem  Wesen 
der  Kunst  nicht  gemäss  und  darum  weder  ausführbar  noch  nöthig 
ist.  Auch  hier,  wie  früher  bei  der  Fugenlehre  (Th.  II,  S.  365) 
und  anderwärts,  muss  ausgesprochen  werden  :  dass  der  Begriff  einer 
Kunstform  vollständig  in  keinem  einzelnen  ihr  angehörigen  Werke, 
sondern  in  der  Gesammtheit  aller  enthalten  und  zu  suchen  ist.  Jede 
Kunstform  ist  nur  ein  allgemeinerer  Gedanke,  ein  Gattungs- 
gedanke, dessen  besondere  Bethätigung  in  den  einzelnen  Kunst- 
werken alle  Besonderheiten,  eigenthümliche  Wendungen  und  Abwei- 
chungen an  sich  haben  darf  und  muss,  die  aus  der  besondern  Idee 
des  einzelnen  Werks  hervorgehn.  Je  vielfacher  nun  der  Inhalt 
eines  Kunstwerkes,  desto  häufiger  ist  auch  Anlass  zu  solchen  Be- 
sonderheiten, und  so  kann  selbst  —  bald  mit  Recht,  bald  mit  Un- 
recht und  aus  Schwäche  —  in  einzelnen  Partien  vom  Sinn  und 
Streben  des  Ganzen  mehr  oder  weniger  abgewichen  werden*. 


*  So  kann  z.  B.  durch  die  Begleitung  (vergl.  Th.  I,  S.  449  u.  f.)  ein  und 
demselben  Satz  verschiedne  Bedeutung  und  Richtung  gegeben  werden;  der 


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160  Die  grössern  Rondoformen, 

Nicht  diese  Abweichungen  sind  dem  Jünger  das  zunächst  Wich- 
tige und  Lehrreiche,  sondern  die  Grundform,  aus  der  er  die  ganze 
Reihe  der  dahin  gehörigen  Gestaltungen  und  selbst  die  Abweichungen 
von  ihr  zu  begreifen  hat  und  von  der  auch  seine  ersten  Versuche 
geleitet  werden. 


Vierter  Abschnitt. 
Die  dritte  Rondoform  im  bewegtem  Zeitmaasse. 

Zur  Einführung  in  die  dritte  Rondoform  schnellen  Tempo's  ge- 
nügt nunmehr  die  blosse  Hinweisung  auf  die  vom  Tempo  bedingten 
Unterschiede,  —  oder  vielmehr  auf  die  Unterschiede  des  Inhalte, 
welche  sich  zunächst  in  der  Wahl  eines  andern  Tempo  kundgeben, 
—  von  der  Ausführung  derselben  Form  im  langsamen  Tempo.  Es 
werden  also  sämmtliche  Gesetze  und  Reobachtungen,  die  sich  im 
ersten  und  zweiten  Abschnitt  ergeben  haben,  auch  hier  ihre  An- 
wendung finden ;  nur  wird  der  Inhalt  von  Grund  aus  andre  Ten- 
denz und  Gestaltung  offenbaren. 

Um  diesen  Unterschied  scharf  zu  fassen,  wenden  wir  uns  auf 
unsern  No.  94  aufgestellten  Rondosatz  zurück. 

Es  ist  schon  S.  157  angedeutet  worden,  warum  der  Inhalt 
dieses  Satzes  langsame  Rewegung  innerlich  nothwendig  mache  und 
zu  schneller  Rewegung  ungeeignet  sei.  Versuchen  wir  seine  Um- 
gestaltung, wie  sie  in  No.  457  schon  begonnen  ist,  zu  einem  Satz 
im  schnellen  Tempo,  —  des  Raumes  wegen  nur  in  der  Hauptstimme 
mit  Andeutung  der  Regleitung. 


Mozart'sche  Satz  No.  1 47  erscheint  in  No.  1 53  beunruhigt,  und  der  Allegrosatz 
No.  i  55  könnte  durch  lastendere  Begleitung  und  eine  nacbdruckvollere  Rhythmik — 

£  J  J5j  .  J    !  - 


158 


I 


SB 


allenfalls  in  einen  Andantesatz  umgewandelt  werden.  Aber  es  geschähe  nicht 
nur  zum  Schaden  der  lebenvollen  Mozart' sehen  Komposition,  sondern  es  würde 
der  so  einfachen,  lebendigen  Fluss  heischenden  Melodie  eine  diesem  Verhalten 
schnurgeradeentgegenlaufende  Begleitung  aufgeladen  ;  dieser  innere  Widerspruch 
würde  das  Ganze  als  unwahr  aufweisen  und  jede  lebendige  Wirkung  zerstören. 


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Die  dritte  Rondoform  im  bewegtem  Zeitmaasse. 


161 


Tri  T 

Im  ganzen  Satze,  No.  157  und  159,  giebt  sich  ein  schnelles 
Zeitmaass,  etwa  Allegro  agitato,  zu  erkennen;  die  Stimmung  von 
No.  94  erscheint  in  ihm  leidenschaftlich  gesteigert,  die  einzelnen 
Momente  des  Ganzen  haben  fliessendere,  meist  diatonische  Gestalt 
(No.  157,  Takt  1  bis  2,  No.  159,  Takt  3,  Takt  5  bis  6)  angenom- 
men, die  Motive  werden  weiter  und  in  einheitvollerer  Richtung 
(No.  159,  Takt  8  bis  11)  benutzt;  es  bilden  sich  Abschnitte  von  je 
vier  Takten  statt  der  zweitaktigen  von  No.  94 ;  die  Abschnitte  sind 
nicht,  oder  nicht  bestimmt  und  trennbar  gegliedert.  Endlich  ist 
das  Ganze  ein  einziger  Satz  (der  Vordersatz  schliesst  No.  159, 
Takt  4),  dessen  eigentlicher  Schluss  auf  Takt  12  in  No.  159  fällt; 
das  Weitere  ist  Anhang. 

Schon  das  würde  in  einem  Rondo  langsamer 'Bewegung  nicht 
wohl  angehn,   dass  der  Hauptsatz  aus  einer  einzigen  Periode  be- 
stände*; der  umständlicher  und  feiner  gegliederte  Inhalt  langsamer 
Sätze  (namentlich  der  Hauptsätze)  drängt  von  selbst  zu  einer  Aus- 
einandersetzung in  zwei  oder  drei  Theilen.  In  einem  Rondo  schnel- 
ler Bewegung  dagegen  könnte  eine  voll  ausgeführte,  allenfalls  durch 
Anhänge  noch  befriedigender  abgeschlossne  Periode,  wie  die  vor- 
stehende, füglich  als  Hauptsatz  gelten.    Doch  erscheint  selbst  hier 
die  zweitheilige  Liedform  —  weniger  die  dreitheilige  —  als  die 
dem  Grundgedanken  des  Rondo  günstigere ;  der  eine  Hauptsatz  des 
Ganzen,  auf  den  immer  wieder  zurückgegangen  wird,  erhält  dadurch 
eine  Fülle,  die  ihm  stets  das  Uebergewicht  zuwendet  und  ihn,  gegen 
die  Gänge  und  Seitensätze  gehalten,  als  Hauptgedanken,  auf  dem 
alles  Andre  beruht,  erscheinen  lässt.  —  Man  kann  aussprechen: 
der  Hauptsatz  im  langsamen  Tempo  ist  eher  der  Dreitheiligkeit 
zugeneigt,  als  der  einfachen  Periodenform;  der  Hauptsatz  im 
schnellen  Tempo  würde  eher  die  einfache  Periodenform,  als 
die  Dreitheiligkeit  ergreifen; 


*  Oder  dieselbe  müsste,  wie  der  in  No.  87  geschlossne,  mit  grösster  Aus- 
führlichkeit gebildet  sein. 


Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl. 


14 


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162 


Die  grössern  Rondoformen. 


so  dass  beide  Formen  in  der  Zweitheiligkeit  die  ihnen  gemeinsam 
erwünschteste  Ausdehnung  fänden*. 

Bleiben  wir  vorerst  bei  der  obigen  Gestaltung  des  Hauptsatzes, 
so  kann  von  ihm  aus  entweder  unmittelbar  oder  mit  einem  kurzen 
Gang  oder  Zwischensatz  auf  den  ersten  Seitensatz  übergegangen 
werden;  —  wir  setzen  ihn  z.  B.  nach  dem  Schlüsse  des  Haupt- 
satzes in  der  Parallele  so  — 


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ein.  Der  Schluss  des  Hauptsatzes  fällt  hier  auf  das  erste  Achtel 
von  Takt  2;  sogleich  tritt  ein  Satz  von  drei  oder  vier  Takten  ein 
(der  Schlusstakt  des  Hauptsatzes  kann  füglich  für  ihn  nochmals  ge- 
rechnet werden),  der  uns  in  die  neue  Tonart  versetzt,  daselbst 
schliesst  und  mit  Abänderungen  wiederholt  wird.  Allein  schon  die 
Kürze,  in  der  er  abgefertigt  wird,  lässt  vermutben,  dass  ein  andrer 
Seitensatz  folgen  wird,  —  wiewohl  auch  jener  dazu  hätte  erhoben 
werden  können.  Der  eigentliche  Seitensatz  tritt  nun  Takt  9  bei 
SS  ein ;  ihn  vollständig  hier  auszuführen,  dürfen  wir  uns  nach  dem 
bisher  Erörterten  aus  Rücksicht  auf  den  Raum  erlassen;  vielleicht 
würde  der  verbindende  Satz  (Takt  2)  als  Anhang  und  Fortleitung 
wiederkehren. 

Wie  sind  wir  auf  den  Zwischensatz  geführt  worden? 

Durch  die  fliessende  Bewegung  in  der  Begleitung  des  Haupt- 
satzes (in  No.  157  angedeutet)  war  das  Bedürfniss  festerer  Rhyth- 


Hierzu  der  Anhang  H. 


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Die  dritte  Rondo  form  im  bewegtem  Zeitmaasse.  163 

mik  als  Gegensatz  hervorgerufen  worden;  daher  schien  es  weder 
rathsam,  sogleich  einen  bewegten  Seitensatz,  noch  einen  Gang  an- 
zuknüpfen, der  sich  zunächst  doch  wieder  in  Achteln,  wie  die  Be- 
gleitung des  Hauptsatzes,  hätte  entfalten  müssen.  Oder  hätten  wir 
einen  beweglern  Gang,  etwa  in  Achtel  triolen,  bilden  sollen?  Das 
wär'  eine  neue  Gestaltung  gewesen,  die  zu  ihrer  Ausführung  brei- 
ten Raum  verlangt  hätte;  so  hätte  sich  hier  ein  weit  geführter  Gang 
gestaltet,  ein  gleicher  wäre  nach  dem  ersten,  ein  dritter  nach  dem 
zweiten  Seitensatz  nöthig  geworden  (vielleicht  noch  ein  vierter  vor 
dem  letzten) ,  und  so  würde  das  Gangelement  sich  übermässig  aus- 
gebreitet haben,  —  um  so  bedenklicher,  da  der  Hauptsatz  selbst 
sich  auf  einfache  Periodengestalt  beschränkt. 
Wie  sollen  wir  nun  weiter  gehn?  — 

Vor  allem  muss  der  Seitensatz  ausgeführt  werden.  Hier  stos- 
sen  wir  auf  das  schon  oben  (S.  161)  angedeutete  Bedenken  über 
die  beschränkte  Form  des  Hauptsatzes.  Soll  der  Seitensatz  (und 
zwar  der  erste,  der  sich  jenem  zunächst  anschliesst)  nicht  das  Ueber- 
gewicht  über  den  Hauptsatz  erhalten,  so  können  wir  nicht  füglich 
über  die  Satz-  und  Periodenform  hinausgehen ;  dann  aber  wird  unsre 
ganze  Komposition,  wäre  sie  auch  in  jedem  einzelnen  Momente  be- 
friedigend, eine  gewisse  Hastigkeit  annehmen  (die  Sätze  zwischen 
den  Gängen  hätten  zu  wenig  nachhaltige  Fülle] ,  die  nur  in  beson- 
dern Stimmungen  zusagen  könnte.  Es  bestätigt  sich  daher  hier 
praktisch,  dass  in  der  dritten  Rondoform  auch  im  schnellen  Tempo 
für  den  Hauptsatz  zweitheilige  Liedform  vor  der  blossen  Perioden- 
form im  Allgemeinen  den  Vorzug  hat.  Geben  wir  also  die  erste 
Gestaltung  des  Hauptsatzes  auf;  wir  haben  erkannt,  dass  sie  brauch- 
bar, aber  auch,  dass  sie  nicht  besonders  günstig  wäre. 

Vor  allem  muss  also  der  Hauptsatz  zu  einem  zweitheiligen  Lied 
erhoben  werden.  Wie  dies  geschieht,  ist  uns  längst  bekannt:  es 
könnte  z.  B.  in  No.  159  von  Takt  9  an  der  erste  Theil  so  — 

— L    I     J     I    j*.      i  | 

r     T     T      f  1 

'    f  >  t  r  F 

in  der  Parallele  geschlossen  und  der  zweite  Theil  nach  bekannten 
Grundsätzen  gebildet  werden.  Wir  nehmen  an,  dies  sei  geschehn 
und  so,  wie  in  No.  160  im  Haupttone  geschlossen. 

n  * 


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164 


Die  grössern  Rondo  formen. 


Nun  entsteh n  zwei  Fragen. 

In  welchem  Ton  soll  der  erste  Seitensatz  auftreten*?  —  Wäre 
die  Paralleltonart,  in  der  der  erste  Theil  des  Hauptsatzes  schloss, 
mit  Nachdruck  und  Fülle  geltend  gemacht,  so  würde  deren  noch- 
malige Benutzung  (S.  151)  bedenklich  scheinen  und  ein  fremderer 
Ton,  vielleicht  Desdur,  vorzuziehen  sein.  Allein  die  Stimmung 
des  Hauptsatzes  hat  den  hellem  Durton  nicht  ungestört  lassen 
können,  wir  haben  uns  bald  (No.  161,  Takt  4)  von  ihm  zurück  nach 
Moll  in  den  Hauptton  und  sogar  in  dessen  Unterdominante  (Bmoll, 
Takt  6  in  No.  161)  gewendet  und  nur  die  letzten  Takte  wieder  in 
den  Parallelton  fallen  lassen ;  auch  im  zweiten  Theil  wird  aus  dem- 
selben Grunde  wahrscheinlich  mehr  Gewicht  auf  den  Hauptton  und 
dessen  Dominante  (Cmoll)  gelegt  werden,  als  auf  die  Parallele. 
Wir  können  sie  daher  unbedenklich  zum  Sitz  des  ersten  Seiten- 
satzes machen. 

Wichtiger  ist  die  zweite  Frage :  welche  Gestalt  diesem  Seiten- 
satz die  günstigste  sei? 

In  den  bisherigen  Rondoformen  haben  wir  in  der  Regel  jedem 
der  zwei  oder  drei  Sätze  zwei-  oder  dreitheilige  Liedform  gegeben. 
Dies  war  dort  wohlgerathen,  weil  dem  Satzelemente  das  Ueber- 
gewicht,  also  den  einzelnen  Sätzen  breitere  umfassendere  Form  ge- 
bührte; obwohl  auch  da  sich  schon  (S.  118)  eine  Neigung  zeigte, 
in  den  Seitensätzen  den  zweiten  Theil  gangartig  aufzulösen,  um  der 
Einförmigkeit  und  zu  grossen  Umständlichkeit  in  den  Sätzen  zu  ent- 
gehn.  Allein  in  Rondo's  schneller  Bewegung  würde  mehrmalige 
Anwendung  zwei-  oder  dreitheiliger  Liedformen  leicht  den  Gang 
des  Ganzen  zu  sehr  beschweren.  Hier  also  hat  im  Allgemeinen 
Satz-  oder  Periodenform,  namentlich  auch  jene  entwickeltere  Perio- 
denform, die  aus  drei  oder  vier  Sätzen  statt  aus  blossem  Vorder- 
und  Nachsatz*  besteht,  den  Vorzug.  Ja  es  kann  sogar  statt  des 
einen  Seitenthema's  eine  Folge  von  zwei,  nicht  enger  verbundnen, 
sondern  nur  modulatorisch  an  einander  gereihten  Sätzen  eingeführt 
werden. 

Demnach  kann  sich  unser  Seitensatz  folgendermassen  gestalten : 


•  Th.  H,  S.  46. 


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Die  dritte  Rondoform  im  bewegtem  Zeitmaasse. 


165 


J        J     ,  W    J  J 


11 


Mf  r  r 


r 

Er  knüpft  Takt  2  mit  einem  Motiv  des  Zwischensatzes  an,  der 
in  No.  160  statt  eines  Ganges  zu  dem  dortigen  Seitensatze  führte. 
Allein  der  festere  Eintritt,  die  breitere  Ausführung,  die  gediegnere 
Theilnahme  der  begleitenden  Stimmen*,  die  weitere  Fortführung, 
alles  giebt  den  hier  auftretenden  Satz  als  einen  Haupttheil  des  Gan- 
zen, nicht  als  ein  blosses  Mittel-  oder  Verbindungsglied  zu  erken- 
nen. Auch  ist  offenbar  das  zuletzt  (Takt  14  und  15)  Anschlies- 
sende im  Verhältniss  zu  den  in  Takt  2  und  8  eintretenden  Sätzen 
das  Untergeordnetere,  während  in  No.  160  der  neue,  Takt  9  ein- 
tretende Satz,  obgleich  nur  sein  erster  Abschnitt  gegeben  ist,  sich 
als  das  Festergestaltete  und  dadurch  als  Hauptgedanke  in  dieser 
Partie  der  Komposition  darstellt. 

Welches  ist  nun  die  Gestalt  unseres  Seitensatzes? 

Sein  eigentlicher  Kern  ist  der  Satz  Takt  2  bis  8.  Dieser 
Satz  hätte  als  Vordersatz  des  ersten  Theils  einer  zwei-  oder  drei- 
theiligen  Liedkomposition  benutzt,  der  erste  Theil  dann  in  der  Do- 
minante, z.  B.  von  Takt  12  an  so  — 


*  Es  bedarf  keiner  Bemerkung,  dass  die  Begleitung  in  No.  4  60  wie  in  vie- 
len andern  Beispielen  nur  entwurfsmassig  angedeutet  ist. 


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166 


Die  yrössern  Rondo  formen. 


...  jg^-^^^M# 

'  t   r     f      •  r 

zum  Schluss  oder  in  den  zweiten  Theil  hinein  geführt  werden  kön- 
nen. Dies  ist  aber  nicht  geschehn,  die  Wiederholung  des  Kern- 
satzes vielmehr  in  einen  ganz  fremden  Ton  gewendet  und  damit  die 
regelmässige  Perioden-  oder  Theilform  aufgegeben  worden.  Der 
Seitensatz  besteht  also  wesentlich  aus  einem  einfachen  Satz  und 
dessen  Wiederholung;  und  dies  erscheint  hier  nicht  grundlos.  Denn 
jener  Satz  ist  in  der  Stimmführung  umständlicher,  als  man  nach  der 
Gestaltung  des  Hauptsatzes  wohl  hätte  erwarten  sollen*;  ja,  er 
neigt  fast  zu  einem  etwas  langsamem  Tempo,  als  der  Hauptsatz. 
Hätte  er  mit  periodischer  Strenge  und  den  Umschweifen  zweier  oder 
dreier  Theile  ausgeführt  werden  sollen,  so  würden  wir  uns  noch 
weit  mehr  in  seine  WTeise  vertieft  und  von  der  fliessenden  Bewe- 
gung des  Hauptsatzes  entfernt  haben. 

Hiernach  wäre  der  Seitensatz  oder  doch  sein  wesentlicher  In- 
halt mit  Takt  14  geschlossen.  In  der  That  könnte  von  hier  weiter 
gegangen  werden;  mit  Motiven  jener  Sätze  Hesse  sich  (wie  mit 
jedem  Motiv!)  ein  Gang  anknüpfen,  — 


*  Wir  müssen  nochmals,  wie  in  den  ersten  Theilen  des  Lehrbuchs,  daran 
erinnern,  dass  man  von  Beispielen  zur  Lehre,  die  eben  zu  Gunsten  ihres  Zweckes 
während  der  Lehrentwickelung,  in  Einem  Gusse  mit  dieser,  erfunden  wor- 
den, nicht  jene  Wärme  und  Einheit  der  Stimmung  gewärtigen  darf,  die  von  einer 
rein  künstlerischen  Konzeption  zu  fodern  —  oder  doch  stets  zu  wünschen  sind. 
Die  Lehrbeispiele  sollen  das  Tonslück  vor  den  Augen  des  Jüngers  entstehn  und 
je  nach  verschiednen  Tendenzen  bald  in  diesem,  bald  in  jenem  Theile  sich  anders- 
wohin wenden  oder  verwandeln  lassen,  ihm  dadurch  das  künstlerische 
Bewusstsein,  — an  das  allein  sich  die  Lehre  wenden,  das  allein  mit  Sicher- 
heit und  Bestimmtheit  erzogen  werden  kann  und  für  die  Stunde  der  freien  künst- 
lerischen Empfängniss  schon  erzogen  sein  muss,  —  öffnen  und  befestigen.  Dann 


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Die  dritte  Rondoform  im  bewegtem  Zeitmaasse.  167 

und  von  diesem  aus  auf  die  Dominante  des  Haupttons  zum  Orgel- 
punkt und  Hauptsatze  fortschreiten.  Allein  einestheils  würden  diese 
im  Kernsatze  No.  162  vorwaltenden  Motive  bei  weiterer  Ausfüh- 
rung leicht  jene  Hohlheit  hervorbringen,  die  der  harmonischen  Fi- 
guration  (Th.  I,  S.  450)  eigen  ist  ;  wie  wir  uns  denn  auch  schon 
Takt  43  in  No.  462  und  Takt  5  in  No.  164  zu  andern  Motiven 
bewogen  finden  mussten.  Anderntheils  erscheinen  jene  Sätze  schon 
ihrer  Modulationswendung  wegen  nicht  genügend  als  alleinige  Sub- 
stanz des  ersten  Seitensatzes.  Dies  ist  der  Grund,  warum  Takt  1 4 
in  No.  162  noch  einen  neuen,  wenn  auch  mit  den  vorhergehenden 
nahe  verwandten  Satz  anknüpft.  Dieser  Satz  wird  wahrscheinlich 
wiederholt  werden  müssen,  —  auf  denselben  oder  andern  Stufen, 
verändert  oder  nicht,  —  aber  er  kann  nur  dazu  dienen,  an  den 
Kern  des  Seitensatzes  den  nun  nöthigen  Gang  anzuknüpfen. 

Dass  dieser  Gang  vorzugsweise  melodischen  Inhalt  haben,  oder 
auf  einer  Harmonienfolge  beruhen  oder  eine  Satzkette  sein  kann, 
wissen  wir.    Er  könnte  von  No.  162  aus  so  anknüpfen,  — 


und  von  hier  an  sich  in  Achteltriolen  (angeregt  im  fünften  Takte) 
rein  und  gangmässig,  oder  in  neu  gebildeten  Sätzen  und  Abschnitten 
fortbewegen. 

Hier  dürfen  wir  von  der  weitern  Verfolgung  des  Beispiels  ab- 
stehn.  Es  ist  uns  schon  bekannt,  wohin  der  Gang  führen,  wie 
sich  der  Orgelpunkt  bilden,  die  Wiederholung  des  Hauptsatzes  und 
alles  Weitere  machen  muss.  Nur  zweierlei  mag,  wenn  auch  viel- 
leicht überflüssig,  nochmals  erwogen  werden.  Erstens,  dass  die 
Gänge  in  der  grössern  und  schneller  vorübereilenden  Komposition 
weitere  Ausführung  fodern  ;  zweitens,  dass  bei  der  kurzgefassten 
Weise  des  ersten  Seitensatzes  der  zweite,  um  dem  Ganzen  Hal- 
tung zu  geben,  wohl  am  besten  breitere,  zwei-  oder-  dreitheilige 
Form  annehmen  und  sich  auch  durch  seine  Bewegungsweise  von 
beiden  vorhergehenden  Sätzen  unterscheiden  wird. 


erst  ist  es  gerathen,  ihn  zu  wirklichen,  freien  Kunstwerken  zu  führen,  deren 
Motive  zwar  ebenfalls  dem  vernünftigen  Bewusstwerden  offen  liegen,  aber  meist 
vielfach  zusammenwirkenden  Ursachen  entsprungen  sind,  deren  Umfang  schon 
schwerer  zu  überschauen  ist. 


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168 


Die  grössern  Rondoformen. 


Betrachten  wir  nun  ein  in  dieser  Form  vollendetes  Rondo, 
das  Finale  von  Beethoven' s  grosser  Cdur-Sonate,  Op.  53.  Man 
muss  sich,  um  seine  Gestaltung  besser  zu  verstehn,  vergegenwär- 
tigen, dass  schon  der  erste  Theil  der  Sonate  ein  höchst  bewegtes 
Wesen,  reiches  Tonspiel  entfaltet  hat.  Es  ist  eine  der  glänzend- 
sten Klavierkompositionen,  die  jemals  geschrieben  worden;  der  Ka- 
rakter  schneller  Bewegung  (S.  455)  herrscht  dergestalt  vor,  dass 
das  Adagio  nicht  sowohl  ein  Mittelsatz  zwischen  dem  ersten  und 
letzten  Allegro,  als  vielmehr  Einleitung  zu  dem  letztern  ist;  Beet- 
hoven nennt  es  auch  Introduktion.  Das  letzte  Allegro  [Allegretto 
moderato,  dann  Pjestissimo)  ist  wie  gesagt  Rondo  dritter  Form. 
Von  all'  dem  Reizenden  und  Merkenswerthen  der  Ausführung  kann 
hier  nicht  näher  geredet  werden,  sondern  nur  von  der  Konstruk- 
tion des  Ganzen. 

Der  Hauptsatz  giebt  (zu  harmonischer  Figurirung  in  Sech- 
zehnteln) folgendes  Sätzchen,  — 


i 

r 

*- 

y== 

166 


dem  ein  gleichgebildetes  auf  der  Dominante  — 


167 


r 


anschliesst.  Takt  a  und  b  werden  in  Dur,  dann  Takt  a  nochmals 
in  Moll  wiederholt,  der  auf  dem  folgenden  Takt  sich  vollendende 
Halbschluss  aber  verlängert  und  orgelpunklartig  über  elf  Takte  aus- 
gedehnt ;  man  muss  daher  einer  dreisätzigen  Periode  gewärtig  sein, 
deren  dritter  Abschnitt  wahrscheinlich  den  ersten  wiederholen  und 
zum  vollen  Schluss  führen  wird.  Dies  wäre  gleichsam  ein  dreithei- 
liger  Liedsatz,  nur  dass  statt  der  Theile  Sätze  ständen.  Allein 
nicht  bloss  deswegen,  sondern  auch  wegen  der  leicht  dahin  spielenden 
Weise,  —  die  Begleitung  der  Sätze  ist  die  hier  bei  a  gegebne,  — 

168  "  ' 


der  Orgelpunkt,  ein  einstimmiger  Gang,  hat  als  Hauptmotiv  die  Fi- 
gur 6,  —  musste  ein  solcher  Satz  dem  Komponisten  für  einen 
Hauptsatz,  zumal  in  einer  grossartig  und  glänzend  ausgeführten 
Komposition,  zu  gewichtlos  erscheinen. 

Daher  wiederholt  er,  wie  vorauszusehen  war,  nicht  nur  den 
ersten  Satz,  und  zwar  in  erhöhter  Gestaltung,  — 


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Die  dritte  Rondoform  im  bewegtem  /  nasse.  169 


sondern  auch  noch  den  zweiten  Satz  und,  nach  einem  Orgelpunkte 
von  drei  Takten,  abermals  den  ersten,  diesen  zu  rollender  diatoni- 
scher Begleitung.  Diese  Reihe  von  fünf  Sätzen  (die  Wiederholun- 
gen eingerechnet) ,  die  durch  Inhalt,  Schlussweise  und  ununterbrochen 
fortflutende  Begleitung  als  Eine  Masse  erscheint,  dient  als  Haupt- 
satz; sie  endet  mit  einem  Ganzschluss,  aber  unvollkommen,  — 


mithin  weiterer  Entfaltung  entgegen  führend. 

Hier  nun  erbebt  sich  die  Komposition.  Noch  als  Nachklang 
der  vorherigen  harmonischen  Figuration,  aber  gesteigert,  wird  mit 
diesem  Satze,  — 


der  sich  in  höherer  Akkordlage  und  Akkordumkehrung  wiederholt, 
zu  dem  ersten  Seitensatze  übergeleitet;  dass  der  vorstehende 
Satz  nicht  selber  der  Seitensatz  ist,  zeigt  sowohl  seine  Gestalt,  als 
seine  Stellung  im  Tone  des  Hauptsatzes. 

Der  Seitensatz  nun  bricht  tosender,  in  der  Parallele,  herein. 
Dies  — 


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170 


Die  grössern  Rondoformen. 


I 


172 


2 


4=, 

g-  

ist  sein  Vordersatz,  der  sogleich  in  der  höhern  Oktave  wiederholt 
wird,  worauf  der  Nachsatz  — 


173 


3=5 


^1    1  -4=1 


und  dessen  im  Bass  veränderte  Wiederholung,  —  der  Bass  bildet 
sich  so,  — 


174 


in  der  tiefern  Oktave  folgt.  Ein  Anhang  über  der  schon  zuvor 
angeknüpften  Sechzehntelfigur  im  Basse,  — 


der  sich  mit  Verlängerung  des  letzten  Sätzchen  (a)  wiederholt, 
führt  allmählich  beruhigend  zum  Schlüsse. 

Ueberblicken  wir  hier  das  Bisherige,  so  überzeugen  wir  uns 
wieder  (wie  bei  jedem  wahren  Kunstwerkel  von  der  Vernünfligkeit 
und  Folgerichtigkeit,  mit  der  Eins  das  Andre  bedingt  und  Eins 


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Die  dritte  Rondo  form  im  bewegtem  Zeitmaasse. 


171 


zum  Andern  sich  verknüpft.  Die  Weise  des  Hauptsatzes  kann  na- 
türlich nur  aus  dem  ganzen  Zug  der  Sonate  in  ihrer  Wahrhaftig- 
keit aufgewiesen  und  muss  hier,  wo  dazu  noch  nicht  Zeit  ist,  als  die 
rechte  vorausgesetzt  werden.  Nimmt  man  aber  das  an,  erkennt 
man  das  erste  Sätzchen  (No.  1 66  und  1 68)  für  recht,  so  ist  sogleich 
klar,  dass  dies  Gebilde  zu  leicht  war,  zu  einer  förmlichen  Periode 
als  Hauptsatz  für  ein  grosses  Finale,  oder  vielmehr  nach  dem  Vor- 
dersatzschluss  auf  der  Tonika  zu  einem  ersten  Liedtheil  ausgedehnt 
zu  werden;  oder  würde  ein  Lied  mit  diesem  ersten  Theile  — 


,7s  l-^i^^^aEp^^^Brf  j  i  j-4 


(denn  so  ungefähr  hätte  er  sich  gestalten  müssen)  genügt  haben, 
würde  er  nicht  bei  dem  leichten  Inhalt  zu  formell  und  beschwert 
mit  einer  gar  nicht  in  ihm  liegenden  Bedeutsamkeit  aufgetreten  sein  ? 
Ihm  sagte  die  spielende  Wiederholung  (in  No.  166)  besser  zu.  — 
Damit  war  der  weitere  Hergang  des  Hauptsatzes,  aus  dessen  steter, 
erst  sanfter,  dann  gesteigerter  Bewegung  dann  wieder  die  Weise 
des  Seitensatzes  bedingt.  Oder  sollte  derselbe  nach  dem  sanften 
Hauptsatze  noch  ruhiger  und  damit  schläfrig,  —  oder  im  grellen 
Widerspruch  mit  der  angeregten  Stimmung  scharf  accentuirt,  — 
oder  durfte  er  nach  einundsechzig  Takten  voll  Sechzehntel  und  Vier- 
tel wieder  mit  der  Sechzehntel-  und  Viertelbewegung  auftreten?  — 
So  war  seine  Gestalt  und  namentlich  seine  Bewegung  in  Sech- 
zehnteltriolen  und  gegenüberstehenden  Achteln  nothwendig.  Nun 
aber  lag  nichts  näher,  als  unter  Beibehaltung  der  Triolenbewegung 
die  Auflösung  der  Achtel  in  Sechzehniel  (No.  174)  und  damit 
(No.  175)  die  nöthige  Beruhigung  und  Rückkehr  in  die  Bewegung 
des  Hauptsatzes,  der  jetzt,  wie  wir  wissen,  wiederholt  werden  muss. 

Allein  wie  soll  der  Uebergang  zu  ihm  geschehn?  Ein  Gang  ist 
nicht  anwendbar,  da  wir  aus  der  lebhaften  Bewegung  noch  nicht 
zur  Ruhe  gekommen  sind  und  der  zu  erwartende  Hauptsatz  wieder 
Bewegung  bringt.  Dennoch  bedarf  es  einer  Ueberleitung  aus  A  moll 
in  den  Hauptton.  — 

Beethoven  schliesst  den  Anhang  förmlich  ab  und  lässt  ihm,  in 
derselben  Tonart,  eine  Erinnerung  an  den  Hauptsatz  folgen;  — 


weil  also  das  ganghafte  Wesen  bis  jetzt  vorgeherrscht  hat,  muss 
nun  statt  des  erfoderlicben  Ganges  ein  Satz,  und  zwar  in  höchster 
Einfachheit  auftreten.    Dieser  Satz  wird  auf  F  wiederholt,  setzt 


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172 


Die  grössern  Rondoformen. 


nochmals  auf  G  ein,  dehnt  sich  aber  hier,  im  Dominantakkorde, 
über  acht  Takte  aus  und  führt  nun  ohne  Weiteres  die  vollständige 
und  genaue  Wiederholung  des  Hauptsatzes  herbei. 

Der  zweite  Seitensatz  tritt  in  Cmoll  und  in  der  Bewe- 
gung des  Hauptsatzes  — 

sempre  forte 


178  < 


auf.  Dieser  enge  Anschluss  ist  durch  den  schon  ausgeprägten 
aufgeregten  und  oft  stürmischen  Karakter  des  Ganzen  motivirt ;  aber 
es  folgt  auch  sogleich  daraus,  dass  hier  abermals  von  keiner  scharf 
geformten  Perioden-  oder  mehrtheiligen  Liedform  die  Rede  sein 
kann ;  die  Rapidität  des  Ganzen  fodert  kurze  rapide  Sätze.  So  wird 
denn  der  erste  Satz  auf  F  wiederholt  und  —  mit  einer  Art  von 
Nachsatz  (in  gleicher  Ausführung)  — 


V79 1  FrF^ 

4M,  „  1 1>*  ,r  J 

X^Ui  $  j  y  y 

f  r  t 

Sva 


in  i4sdur  geschlossen.  Dies  ist  der  zweite  Seitensatz,  oder  der 
Kern  desselben.  Er  wird  sofort  vollständig,  mit  einer  Gegenstimme 
in  Sechzehnteltriolen ,  wiederholt,  also  nochmals  in  As  geschlossen. 
Um  diesen  befremdenden  Ausgang  mit  dem  Haupttone  (Cmoll)  zu 
versöhnen,  führt  eine  Umbildung  des  Satzes  — 


180 


air  sva  r .  .  .  - 


all'  8va 


unter  einem  Gegensatz  in  Sechzehnteltriolen  auf  einen  Schluss  in 
Cmoll;  auch  dieser  neue  Satz  wird  wiederholt,  und  zwar  in  der 
Oberstimme,  während  der  Bass  die  Triolenbewegung  in  freier 
Nachahmung  Ubernimmt.  Dann  bildet  ein  Anhang,  an  den  Nach- 
satz geknüpft,  einen  stark  befestigten  Schluss. 

Auch  hier  kann  von  einem  Gange  zur  Wiederholung  des  Haupt- 
satzes nicht  die  Rede  sein,  noch  weniger  wie  nach  dem  ersten  Sei- 
tensatze, da  sich  die  Masse  der  Bewegung  vergrössert  und  gestei- 


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Die  dritte  Rondo  form  ini  bewegtem  Zeitmaasse. 


173 


gert  hat.  Beethoven  ergreift  daher  wieder  den  Satz  (No.  4  77j, 
der  vom  ersten  Seitensatze  zurückgeführt  hatte,  jetzt  zuerst  in 
Jsdur,  dann  in  Fmoll,  und  zum  dritten  Mal  in  Des  dur.  Hier  wird 
der  letzte  Abschnitt  zweimal  wiederholt  und  mittels  der  Schluss- 
akkorde noch  um  drei  Takte  erweitert,  und  nun  beginnt  in  dieser 


ein  Gang  über  desy  as,  es,  6,  f,  c,  der  sich  nach  nochmaliger  Be- 
setzung von  F  auf  C  niederlässt.  Mit  breiten  Arpeggien  in  Sech- 
zehnteln werden  nun  auf  C,  dann  auf  F,  dann  auf  B  orgelpunkt- 
artige  Gangstücke  (zu  je  dreimal  zwei  Takten)  gebildet,  mit  ge- 
mischten Sechzehntelfiguren  über  es]  as,  des,  g  nach  C  und  von 
da  weiter  auf  die  Dominante  gegangen.  Hier  entfaltet  sich  ein 
breiter  Orgelpunkt,  der  schon  den  Anfang  des  Hauptsatzes  verneh- 
men lässt  und  zu  demselben  zurückfuhrt. 

Ehe  wir  weiter  gehn,  zieht  die  Modulation  der  vorherigen  Par- 
tie unsre  Betrachtung  an. 

Beelhoven  hat  den  zweiten  Seilensatz  in  Cmoll  eingeführt,  also 
durch  Tonika  und  Dominante  in  nächster  Verbindung  mit  dem  Haupt- 
satz und  dadurch  dem  fliessenden  Wesen  der  ganzen  Komposition 
am  angemessensten,  während  die  Verwandlung  des  Tongeschlechts 
(nach  Cdur  Cmoll)  den  notwendigen  Gegensatz  vermittelt.  Eine 
andre  Molltonart  war  im  Kreise  der  Verwandten  nicht  vorhanden, 
da  ✓Imoll  schon  für  den  ersten  Seitensatz  benutzt  worden  :  unter 
den  Durtonarten  wäre  Gdur  am  wenigsten  frisch  (No.  167  u.  a.i, 
Fdur  zu  wTeich  und  als  Unterdominante  eine  Herabstimmung,  ^4sdur 
zu  feierlich,  Fdur  gegen  den  unschuldig  spielenden  Hauptsatz  zu 
glänzend  feurig*  gewesen. 

Hieraus  folgt  alles  Weitere.  Nach  dem  Karakter  des  ganzen 
Tonstücks  und  nach  seinem  eignen  Eintritte  (No.  178)  konnte  der 
Seitensatz  nicht  füglich  strenge  Perioden-  oder  mehrtheilige  Lied- 
form annehmen.  Daher  wendet  er  sich  weder  in  die  Dominante 
(das  ohnehin  so  viel  gebrauchte  G),  noch  in  die  Parallele,  sondern 
in  die  Unterdominante  Moll  und  von  da  in  deren  Parallele,  um  von 
da  den  umgekehrten  Weg  — 


Weise  — 


Cmoll,  Fmoll, 
,4s  dur,  Fmoll, 


As  dur, 
Cmoll  — 


♦  Vergl.  die  Allgem.  Mxisiklehre,  S.  331  der  6.  Auflage. 


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174 


Die  grössern  Rondo  formen. 


zurückzumessen.  Was  also  an  der  Modulation  fremd  und  gewagt 
erscheint,  wird  nicht  bloss  durch  die  oben  (S.  172)  erwähnte  Wieder- 
holung, sondern  auch  durch  den  gemessenen  Rückgang  erläutert 
und  beschwichtigt. 

Nun  aber  stehn  wir  wieder  auf  derselben  Tonika,  über  der 
der  Hauptton  zurückkehren  soll,  oder  vielmehr,  wir  haben  sie  im 
Wesentlichen  noch  gar  nicht  verlassen.  Daher  bedarf  es  eines 
breiten  modulationsreichen  Gangs,  der  die  Tonart  aus  dem  Sinn 
rücke,  damit  sie  frischer  wiederkehre. 

Der  Hauptsatz  kehrt  jetzt  wieder,  aber  abgekürzt;  sein 
erster  Abschnitt  tritt  sogleich  in  der  No.  1 69  gezeigten  Gestalt  auf, 
dann  der  zweite,  dann  der  erste,  der  wie  in  No.  170  schliesst. 

Hiermit  ist  der  Rondoform  im  Wesentlichen  genug  gelhan; 
durch  die  lebendigen  Seitensätze  hat  sich  aber  das  Bedürfniss  er- 
zeugt, auch  den  Hauptsatz  zu  erhöhter  Lebendigkeit  zu  steigern; 
ohnehin  bedarf  der  weit  geführte  Satz  eines  durch  Anhänge  be- 
festigten Schlusses. 

Dies  bereitet  der  Komponist  schon  durch  abgekürzte  Darstel- 
lung des  Hauptsatzes  vor;  sie  lässt  dessen  nochmaliges  Erschei- 
nen voraussehn.  Zunächst  kehrt  das  Motiv  des  ersten  Gangs  (No.  171) 
wieder,  leitet  aber  nicht  zum  ersten  Seitensatze,  sondern  in  bedeu- 
tenderer Ausführung  abermals  auf  die  Dominante  zu  breitem,  bloss 
akkordisch  ausgefülltem  Orgelpunkt.  Dann  kehrt  —  und  zwar  im 
Prestissimo  —  der  erste  Satz  des  Hauptstücks  wieder,  wird  figu- 
rirt,  gangartig  wreiter  geführt;  in  F  wiederholt,  und  nach  [Darstel- 
lung des  zweiten  Satzes  (No.  167)  auf  G  und  weit  modulirenden 
Zwischengängen  nochmals  in  Cdur  und  Cmoll,  in  ylsdur  und 
Fmoll,  und  abermals  in  Cdur  aufgestellt,  worauf  endlich  der  or- 
gel punktartig  an  der  Tonika  festhaltende  Schluss  (der  letzte  Ak- 
kord wird  allein  fünfzehn  Takte  weit  figurirt  oder  wiederholt)  er- 
folgt. 

So  endet  dieser  reiche,  eben  so  feurig  als  leicht  bewegte  Satz. 
Hat  man  erst  die  Lebendigkeit  und  Wärme  seiner  Konzeption  em- 
pfunden und  dann  die  tiefe  Vernünftigkeit  seines  Baues,  die  Folge- 
richtigkeit jedes  seiner  Schritte  erwogen :  so  wird  wieder  einmal 
einleuchtend,  dass  die  höchste  Freiheit  des  Künstlers  nichts  Andres 
ist,  als  die  höchste  Vernünftigkeit,  dass  das  wahre  Kunstgesetz  kein 
andres  ist,  als  die  Kunstvernunft,  und  endlich,  dass  Kunst  und 
Kunstlehre  nur  dann  aus  einander  kommen  oder  einander  wider- 
sprechen können,  wenn  eine  —  oder  beide  in  der  Irre  gehn. 
Die  räumlichen  Verhältnisse  dieses  Rondo's  sind  übrigens  folgende : 

Hauptsatz  62  Takte, 

erster  Seitensalz  mit  dazu  gehörigen  Gängen 
oder  Sätzen  52 


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Die  vierte  Rondo  form. 


175 


Hauptsatz  wie  zuvor   62  Takte, 

zweiter  Seitensatz  mit  den  Gängen   ...  138 

Hauptsatz  bis  zum  Prestissimo   90 

Anhang  (Prestissimo)  144 

Die  Konstruktionsordnung  und  Verhältnissmässigkeit  der  einzel- 
nen Partien  machen  das  Ganze  eben  so  leicht  beweglich  als  fasslich. 


Fünfter  Abschnitt. 
Die  vierte  Rondoform. 

Ueberblicken  wir  die  bisherigen  Gestaltungen  des  Rondos,  so 
hat  sich  die  Entwicklung  zunächst  als  eine  quantitative,  als  ein 
Zuwachs  an  Massen  der  Komposition  erwiesen.  Wir  gingen  vom 
einfachen  Lied  aus,  fügten  einen  Gang,  dann  einen  Seitensatz,  end- 
lich zwei  Seitensätze  nebst  Gängen  und  Anhang  zu.  Es  fragt  sich, 
ob  nicht  noch  eine  —  wo  nicht  gar  noch  mehrere  solche  Erweite- 
rungen stattfinden,  ob  man  nicht  nach  den  bisherigen  Formen  ein 
Rondo  mit  drei  oder  noch  mehr  Seitensätzen  aufstellen  könne? 

Unmöglich,  das  sieht  man  leicht,  wär'  eine  solche  Erweiterung 
nicht;  aber  sie  würde  keine  erwünschten  Resultate  bringen.  Ihr 
Schema 

HS— SS  1—  HS— SS  2— HS— SS  3— HS 
zeigt  schon  warum.  Man  müsste  dreimal  in  den  Hauptton  zurück 
und  dazu  drei  mehr  oder  weniger  ausgedehnte  Orgelpunkte  auf  der- 
selben Stufe  bilden ;  man  müsste  viermal  den  Hauptsatz  bringen  und 
gewärtigen,  dass  über  dem  zweiten  und  dritten  Seitensatze  der 
erste  ganz  vergessen  würde;  zum  Schlüsse  würde  das  Bedürfniss 
eines  Anhangs  in  gleichem  Verhältnisse  mit  der  Ausdehnung  er- 
wachsen und  eine  fünfte  vollständige  oder  theilweise  Aufführung  des 
Hauptsatzes  kaum  zu  umgehen  sein.  Diese  bedenklichen  Verhält- 
nisse wären  nicht  die  einzigen ;  es  würde  selbst  dem  begabtesten 
Komponisten  selten  vergönnt  sein,  in  einer  einzigen  unabgebrochnen 
Komposition  vier  Gegensätze  (den  Hauptsatz  und  die  drei  Seiten- 
sätze) aufzustellen,  die  gleichwohl  durch  Stimmung  und  innere  Be- 
züge eine  einheitvolle  Gesammtmasse  bildeten ;  es  würde  nicht  leicht 
gelingen,  für  so  viele  Hauptpartien  und  die  nöthigen  Verbindungs- 
glieder einen  einheitvollen  und  dabei  nicht  eintönigen  Modulations- 
plan durchzuführen. 

Wir  befinden  uns  also  hier  an  einer  Formgränze,  deren 
Ueberschreitung  zwar  möglich,  nicht  aber  rathsam  erscheint,  und 


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176 


Die  grössern  Rondoformen. 


deshalb  —  soviel  dem  Verfasser  irgend  bekannt  —  auch  noch  nie- 
mals von  einem  namhaften  Künstler  unternommen  worden  ist.  Sties-  v 
sen  wir  doch  schon  in  der  dritten  Form  auf  die  Gefahr,  weitschweifig 
und  ermüdend  zu  werden !  Schon  in  ihr  fanden  wir  uns  mit  so  viel 
von  einander  geschiednen,  im  Grunde  doch  nur  an  einander  ge- 
hängten, nicht  in  einander  verwebten  Partien  beladen,  dass 
wir  Bedacht  nehmen  mussten,  die  Masse  bald  da,  bald  dort  durch 
Abkürzung  einzelner  Theile  zu  erleichtern. 

Aus  dieser  Erkenntniss  geht  das  Streben  nach  innigerer  Ver- 
webung der  einzelnen  Partien  hervor  und  führt  zu  den  weitern  For- 
men des  Rondo's  und  der  Sonate.  Auf  der  andern  Seite  ist  hier 
der  Grund  zu  suchen,  warum  die  dritte  Rondoform,  besonders  in 
schneller  Bewegung,  ungleich  seltener  angewendet  worden  ist,  als 
die  nun  folgenden ;  der  Komponist  fand  sich  entweder  an  den  ersten 
Formen  begnügt,  oder  über  die  dritte  hinausgezogen  zu  fester  aus- 
gebildeten. 

Worin  hat  die  Lockerheit,  der  Mangel  an  festerer  Verbindung 
in  der  dritten  Rondoform  seinen  Grund?  Darin,  dass  stets  ein  Satz 
nach  dem  andern  auf-  und  wieder  abtritt,  und  nur  auf  den  Haupt- 
satz mit  Nachdruck  zurückgegangen  wird;  die  beiden  Seitensätze 
fallen  einer  wie  der  andre  dahin,  um  nie  wiederzukehren;  höch- 
stens kann  im  Anhang  auf  sie  hingedeutet  werden.  Damit  steht 
in  Verbindung,  dass  zuletzt  auch  der  Hauptton  keinen  hinlänglichen 
Inhalt  bekommt ;  in  ihm  kehrt  der  schon  zweimal  gehörte  Hauptsatz 
wieder,  der  kaum  durch  den  Anhang  mit  dem  letzten  Seitensatz  und 
Gang  in  Gleichgewicht  gesetzt  wird. 

Hier  tritt  die  vierte  Rondoform  ausgleichend  ein.  Die 
dritte  hatte  der  Hauptsache  nach  folgendes  Schema : 

HS     SS  1      HS     SS  2  HS. 

Die  vierte  will  den  letzten  Auftritt  des  Hauptsatzes,  auch  ab- 
gesehn  vom  Anhange,  verstärken,  greift  also  zum  ersten  Seiten- 
satze —  denn  der  zweite  ist  ja  eben  dagewesen  —  und  lässt  ihn 
dem  Hauptsatz  nochmals  folgen.  Dies  ist  der  karakteristische 
Zug  der  neuen  Form,  deren  Hauptbestandteile  sich  in  diesem 
Schema 

HS       SS  1       HS  SS  2  HS       SS  \ 

*  "   •>/  '  's/" 

darstellen. 

So  bildet  Hauptsatz  und  erster  Seitensatz  eine  enger  zusam- 
mengehörige Masse.  Dies  war  schon  in  den  frühern  Formen  durch 
die  meist  engere  Verknüpfung  beider  angedeutet ;  jetzt  wird  es  bei 
der  gemeinschaftlichen  Wiederholung  beider  entschieden  und  durch 
die  Modulation  noch  mehr  befestigt.  Denn  da  nunmehr  der 
Seitensatz,  abgesehn  vom  Anhange,  den  Schluss  macht,  so  versteht 


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Die  vierte  Rondoform. 


177 


sich  von  selbst,  dass  er  zuletzt  im  Hauptton  auftreten  muss.  Aber 
auch  in  seinem  ersten  Auftreten  schliesst  er  sich  nun  gern  dem 
Hauptsatze  näher  an ,  indem  er  seinen  Sitz  in  einer  nächstver- 
wandten Tonart  (Oberdominante  oder  Parallele)  zu  nehmen  liebt. 

Die  Abweichungen  der  neuen  Form  von  der  vorhergehenden 
sind  sonach  zwar  entscheidend,  doch  aber  nicht  in  dem  Maasse  neu- 
ernd,  dass  wir  uns  nicht  auf  den  Nachweis  an  einigen  bekannten 
Kompositionen  beschränken  dürften. 

Den  ersten  finden  wir  im  Finale  von  Beethove n's  -4sdur- 
Sonate,  Op.  26. 

Der  Hauptsatz  hat  periodische  Liedform.   Dies  — 

Allegro. 


simile 


ist  die  Skizze  des  Vordersatzes;  der  Nachsatz  — 


!S3 


"■ja*  Jffl  J7]5i 

simile 

f  trf 

Er 

bringt  denselben  Inhalt  in  der  Umkehrung  und  macht  ordnungs- 
mässig  einen  vollkommnen  Schluss  im  Haupttone.  So  entspricht 
dieser  Satz  dem  bei  der  vorigen  Form  in  Bezug  auf  das  schnelle 
Tempo  Gesagten. 

Es  musste  nun  zum  ersten  Seitensatz  fortgeschritten  werden. 
Hierzu  bedurfte  es  eines  Uebergangs,  und  zwar  in  beweglichen  oder 
doch  abgesonderten  Sätzen ;  denn  dem  Sinne  der  ganzen  Sonate 
gemäss  und  entsprechend  der  Tendenz,  die  das  Finale  schon  durch 
den  Hauptsatz  erhalten,  konnten  auch  die  Seitensätze  nicht  füglich 
andre,  als  bewegliche  Gestalt  haben.  Beethoven  bildet  jetzt  diesen 
Satz,  — 


der  in  der  Umkehrung  in  £sdur  und  noch  einmal,  in  erster  Stimmlage, 
in  ylsdur,  hier  aber  mit  einer  abschliessenden  Verlängerung,  — 
2  2  und  4  Takle,  — 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  12 


/ 


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178 


Die  grösseren  Rondoformen 


wiederholt  wird.  Dieser  ganze  Satz  von  acht  Takten  wird  noch- 
mals in  der  Umkehrung  wiederholt.  Nun  erst  wird  aus  den  drei 
ersten  Vierteln  des  Hauptsatzes  (No.  182)  ein  Satz  gebildet  (er  ist 
No.  188  a  zu  sehn),  der  uns  nach  Es  bringt;  er  wird  wiederholt 
und  führt  nach  B. 

Hier  tritt  sofort  der  erste  Seitensatz  ein.  Dieser  Ab- 
schnitt, —  a,  — 


wird  erst  wörtlich,  dann  in  der  Umkehrung  (6)  wiederholt,  hier 
erweitert  und  in  freier  Weise,  mit  dem  Satz  a,  — 


• 

3     *      *  l 

der  noch  zweimal  erweitert  ibei  ö,  zuletzt  wieder  eine  Terz  höher) 
wiederkehrt,  beschlossen.  Ein  kurzer  Orgelpunkt  führt  zur  Wie- 
derholung des  Hauptsatzes. 

Ueber  diesen  ist,  ehe  wir  weiter  gehn,  eine  kleine  Unter- 
suchung nothwendig;  er  zeigt  eine  neue  Gestalt,  die  wir  in  spä- 
tem Formen  öfters  wiederfinden  werden. 

Oben  haben  wir  kurzweg  die  in  No.  182  und  183  skizzirte 
Periode  als  Hauptsalz  bezeichnet;  sie  ist  auch  unstreitig  der  Kern 
desselben  und  in  sich  vollkommen  abgeschlossen.  Allein  ihr  Inhalt 
ist  gangartiger  Natur;  wir  sehn  in  No.  182  einen  Gang,  der  nur 
in  seiner  zweiten  Hälfte  zu  einem  Satz  abgeschlossen  wird,  und  zwar 
wieder  in  fliessender  gangartiger  Weise ;  sogar  Vorder-  und  Nach- 
satz sind  durch  keine  Unterbrechung  des  Sechzehntelflusses  geschie- 
den. Dies  genügt  dem  Komponisten  als  Grundlage  seines  Finale 
nicht,  am  wenigsten  kann  er  nach  einem  ganghaften  Satz  noch  einen 
Gang  bringen.  Daher  stellt  er,  wo  der  Fortschritt  zum  Seitensatz 
erwartet  wird,  wieder  einen  Satz  (No.  184)  auf,  und  dieser  Satz 
scbliesst  sich  mit  seinen  Wiederholungen  abermals  in  periodischer, 
wenn  auch  nicht  nach  der  Grundform  geregelter  Weise  ab.  So 
haben  wir  hier  einen  zweiten  periodischen  Bau  im  Sitze  des  Haupt- 


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Die  vierte  Rondoform.  179 

satzes,  den  wir  durchaus  zum  Hauptsatze  rechnen  müssen,  da  der 
Seitensatz  (No.  185)  erst  später,  und  —  wie  sich's  gebührt  —  in 
einer  andern  Tonart  auftritt,  auch  der  Gang  nach  dem  Seitensatz 
erst  nach  jenem  zweiten  Liedsatz  und  mit  andern  Motiven  erfolgt. 

Oder  ist  der  zweite  Satz  nur  als  zweiter  Theil  des  ersten  zu 
achten?  Gewiss  nicht.  Er  ist  aus  ganz  neuen  Motiven  gebildet, 
und  es  müsste  sonach  ein  dritter  Theil  folgen,  der  den  ganzen  oder 
doch  den  hauptsächlichen  Inhalt  des  ersten  Theils  wiederbrächte; 
auch  würde  man  nicht  zwei  oder  drei  Theile  in  dieselbe  Tonart 
stellen  und  auf  derselben  Tonika  schliessen. 

Wir  haben  mithin 

einen  aus  zwei  Liedsätzen  bestehenden  Hauptsatz 
vor  uns;  jeder  der  Liedsätze  ist  ein  für  sich  selbständig  und  befrie- 
digend abgescblossner  periodischer  Bau ;  der  zweite  ist  eingetreten, 
weil  sich  nach  dem  ersten  weder  der  Seitensatz  noch  ein  Gang 
günstig  anknüpfen  Hess;  auch  der  zweite  gab  zu  beidem  keinen 
Anlass,  und  so  wurde  zum  ersten  zurückgegangen,  um  seine  Motive 
jetzt  gangartig  zu  benutzen.  Ohne  die  Zwischenstellung  des  zwei- 
ten Satzes  würde  dasselbe  Motiv,  das  schon  im  ersten  Satze  zehn- 
mal gewirkt  hatte,  für  den  Gang  ermüdend  abgenutzt  worden  sein, 
oder  der  Komponist  hätte  mit  fremden  Motiven  einen  Gang  bilden 
und  damit  den  Satz  um  alle  Haltung  bringen  müssen.  —  Es  zeigt 
dieser  zweite  Liedsatz  in  einer  höhern  Bildung  dasselbe,  was 
wir  schon  S.  \  05  erfahren  haben,  wo  wir  statt  eines  Ganges  einen 
überleitenden  Zwischensatz  rathsam  fanden. 

Nach  der  ersten  Wiederholung  des  Hauptsatzes,  und 
zwar  beider  Liedsätze  aus  No.  182  und  184  (so  dass  wir  hier  die 
letzte  Bestärkung  unsrer  obigen  Bestimmung  erhalten),  tritt  ohne 
Weiteres  der  zweite  Seitensatz  in  Cmoll  ein.  Er  bildet 
einen  regelmässigen  ersten  Theil  mit  einem  Schluss  in  der  Domi- 
nante Gmoll.  Statt  des  zweiten  Theils  aber  tritt  der  Kern  des- 
selben mit  einem  zweitaktigen  Satze  nochmals  in  Gmoll  auf,  wie- 
derholt sich  zweimal  mit  Schlussfällen  auf  Fmoll,  noch  einmal  mit 
einem  Schluss  in  £sdur,  und  hier  wird  mit  einem  kurzen  Orgel- 
punkt zur  Wiederholung  des  Hauptsatzes  fortgegangen,  die 
abermals  beide  Liedsätze  desselben  vollständig  wiederholt. 

Bis  hierher  ist  nur  die  Doppelmasse  des  Hauptsatzes  neu  ge- 
wesen ;  nun  könnte  möglicher  Weise  mit  oder  ohne  Anhang  ge- 
schlossen werden  und  wir  hätten  dann  ein  Rondo  dritter  Form  vor 
uns.  Allein  es  wäre  weder  rathsam  gewesen,  mit  dem  zweiten 
Liedsatze  (No.  184)  zu  schliessen,  noch  aus  dem  Hauptsatze  sofort 
(S.  1 78)  einen  Gang  und  Anhang  herauszuheben  ;  auch  der  zweite 
Seitensatz,  der  phnehin  eben  dagewesen ,  hätte  —  wie  sein  Kern 


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180  Die  grösseren  Rondoformen. 

zeigt  —  dazu  keinen  günstigen  Stoff  gegeben. 

Hiermit  war  also  der  Uebergang  zur  vierten  Rondoform  gebo- 
ten. Beethoven  geht  nach  dem  Abschlüsse  des  Hauptsatzes,  also- 
von  dem  in  No.  184  angedeuteten  Liedsatze,  mit  einem  aus  dem 
ersten  Liedsatz  (No.  182]  entlehnten  Sätzchen  [a]  — 


weiter  nach  Esdur,  mit  dessen  Umkehrung  nach  l?moll,  mit  aber- 
maliger Umkehrung  nach  Fmoll  und  eben  so  nach  Cmoll;  darauf 
wird  das  Schlussmotiv  (c)  ergriffen  und  damit  der  Gang  zu  einem 
Halbschluss  im  Hauptton,  also  auf  der  Dominante  Es,  geführt,  wo 
denn  der  erste  Seitensatz  eben  so  eintritt,  wie  das  erste  Mal 
auf  der  Dominante  von  iftdur,  und  vollständig  durchgeführt  wird. 
Nun  ist  es  auch  thunlich,  aus  den  Motiven  des  eigentlichen  Haupt- 
satzes (No.  184)  einen  Anhang  zu  bilden;  es  geschieht  in  Orgel- 
punktform auf  der  Tonika. 

Ueberblicken  wir  den  Modulationsplan  in  seinen  Hauptpunk- 
ten, so  ist  er  folgender:  —  wir  wollen  die  beiden  Liedsätze  des 
Hauptsatzes  Ä  und  B  nennen  — 

HS        SSI         HS         SS2  HS  SSI 

A      B  A      B  a"~^~B 

Asdur     Zftdur    ylsdur    Cmoll       «dsdur  Asdxxv. 

Hier  sowohl,  wie  bei  der  Abwägung  der  einzelnen  Massen,  — 
Gänge  und  Anhang  zu  den  vorangehenden  Sätzen  gezählt,  — 
HS       SSI       HS       SS 2       HS       SS  1  und  Anhang 
32        20        28        28        38  31 
wird  die  grössere  und  innigere  Zusammenordnung  der  Massen  und 
die  kräftigere  Konzentrirung  auf  dem  Hauptton  einleuchtend ;  beides 
verdanken  wir  dem  Fortschritte  zur  vierten  Form. 

Noch  eine  Bemerkung  knüpfen  wir  an  dieses  Rondo. 

Es  besteht  fast  nur  aus  Sätzen  —  und  dennoch  ist  nicht  das 
Element  des  Satzes,  sondern  das  des  Ganges  darin  vorherrschend. 
Woher  dies?  Erstens,  weil  alle  diese  Sätze  mehr  oder  weniger 
ganghaften  Inhalt  haben;  zweitens,  weil  auf  keinen  besondres 


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Die  vierte  Rondo  form. 


181 


Gewicht  gelegt  wird,  wie  etwa  auf  die  Hauptsatze  in  den  Formen 
langsamer  Bewegung.  Ja,  der  Hauptsatz  besteht  hier  zum  ersten 
Mal  aus  zwei  vollkommnen  Liedsätzen ;  aber  eben  weil  ihrer  zwei 
in  derselben  Tonart  neben  einander  gestellt  sind,  haben  beide  weniger 
bestehende  Kraft,  als  ein  einziger  mehrtheiliger  oder  sonst  (etwa 
durch  Wiederholung,  vergl.  Anhang  H,  No.  T£¥)  mit  Nachdruck 
ausgeführter. 

Ein  zweites  Beispiel  für  unsre  Form  giebt  das  Finale  der  yldur- 
Sonate,  Op.  2,  von  Beethoven. 

Der  ungemein  reizende  Hauptsatz  hat  zweitheilige  Liedform. 
Dies  — 


189 


ist  der  Vordersatz;  der  Nachsatz  wiederholt  den  ersten  Abschnitt 
(Takt  2  e-fis  auf  dem  Quintsextakkorde  auf  Wis)  mit  einem  Schluss 
in  iidur.  Der  zweite  Theil  hat  einen  figurativen  Vordersatz  auf 
dem  orgelpunktartig  festgehaltnen  e;  der  Nachsatz  bringt  den 
ersten  Abschnitt  (No.  4  89)  wieder  und  schliesst  auf  der  Tonika. 

Da  dieser  Satz  keinen  erwünschten  Stoff  zum  Fortschreiten  bie- 
tet, so  wird  ein  zweiter  beweglicherer  — 


dolce 


490 


m 


angeknüpft,  der  mit  noch  zwei  Takten  fester  schliesst.  Allein  über 
den  Schluss  hinweg  führt  die  ununterbrochne  Sechzehntelbewegung 
zu  einer  Wiederholung  in  der  höhern  Oktave  und  da  zu  einem 
wiederholten  Schlussfall  in  Edur.  —  Man  siebt  hier  einen  Haupt- 
satz von  festerm  Kern,  das  Satzartige  mehr  wie  im  ersten  Beispiel 
befestigt  (das  Tempo  —  Grazioso  —  ist  auch  ein  weniger  schnel- 
les) ,  und  darum  war  der  satzmässige  Abschluss  des  zweiten  Gedan- 
kens (No.  190)  nicht,  wie  im  ersten  Falle,  bedingt. 

Mit  dem  Schlüsse  des  in  No.  490  angeknüpften  Ganges  setzt 
nun  der  erste  Seitensatz  ein.    Dies  — 


191 


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182 


Die  grösseren  Rondoformen. 


ist,  über  fortgehender  Sechzehntelbewegung,  sein  Hauptinhalt;  zwei- 
mal wird  dieses  Sätzchen  mit  gesteigertem  Anfang  wiederholt  und 
dann  mit  einem  kurzen  Gang  über  Z)dur,  C&moll,  Hdur  nach  Adur 
zu  einem  Halbschluss  auf  E  geführt,  worauf  nach  leichtem  Orgel- 
punkte die  vollständige  Wiederholung  des  Hauptsatzes  folgt. 

Der  weitere  Verlauf  wird  uns  die  vierte  Rondoform  eben  so 
bestimmt  zeichnen,  wie  das  erste  Beispiel.  Hier  aber  tritt  noch 
ein,  wenn  auch  nicht  durchgehender,  doch  häufig  anzutreffender 

neuer  Karakterzug 
dieser  Form,  und  zwar 

am  zweiten  Seitensatze 

hervor. 

Blicken  wir  noch  einmal  auf  das  erste  Beispiel  (S.  177)  zu- 
rück, so  zeigen  sich  beide  Seitensätze,  besonders  aber  der  zweite, 
im  Vergleich  zum  Hauptsatz  in  untergeordneter  Entwickelung;  es 
liegt  sogar  im  Karakter  jener  Komposition,  dass  auf  keinen  der  vier 
Sätze  (S.  479)  vornehmliches  Gewicht  gelegt  wird,  sondern  alle 
flüchtig  vor  uns  dahin  eilen.  Demungeachtet  zeigte  sich  schon  dort  . 

man  betrachte  nur  das  Schema  S.  180)  ein  engeres  Zusammen- 
gehören von  Haupt-  und  erstem  Seitensatze,  theils  durch  die  Modu- 
lation, theils  durch  das  beiden  gemeinsame  Motiv  (o  in  No.  183  und 

185),  endlich  durch  den  Verein  beider  am  Schlüsse,  so  dass  ihnen 
gegenüber  der  zweite  Seitensatz  als  isolirtere  Masse  unterschieden 
werden  könnte. 

Dies  ist  nun  mit  voller  Bestimmtheit  in  dem  jetzt  vorliegenden 
Rondo  der  Fall  und  wird  sich  bei  vielen,  wohl  den  meisten  Kom- 
positionen dieser  Form  zeigen.    Es  treten 

drei  Hauptmassen 

hervor,  — 

~^       I  "  II  ^  III  ^ 

HS     SSI      HS  SS2  HS  SS1 

und  damit  kehrt  im  Grossen  und  Zusammengesetzten  diedreithei- 
lige  Form  wieder.  Ja,  dieselbe  ist  schon  im  ersten  Gliede 
dieser  Gestaltung 

I 

1  2  3 

HS  SSI  HS 

vorhanden,  und  auch  (abgesehn  vom  veränderten  Sitze  des  Seiten- 
satzes) im  letzten  wieder  zu  erkennen,  vorausgesetzt,  dass  ein 
Anhang,  und  zwar  aus  Elementen  des  Hauptsatzes,  wie  sich  ge- 
bührt, gebildet  ist. 

Nun  aber  springt  in  die  Augen,  dass  im  obern  Schema  die 
Partie  II  unterliegen  muss  gegen  die  andern  Partien,  deren  jede 


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Die  vierte  Rondoform. 


183 


aus  zwei  Sätzen  und  einer  Wiederholung  (oder  Anhang)  besteht; 
wofern  ihr  nicht  besondres  Gewicht  ertheilt  wird.  Dies  aber 
können  wir  jetzt  an  dem  Beethoven'schen  4dur-Rondo  beob- 
achten. 

Man  erwäge  vor  allem,  dass  der  Hauptsatz  vollkommen  aus- 
gebildet, der  erste  Seitensatz  aber  ohne  besondern  Nachdruck  (dazu 
hätte  erst,  nach  Th.  I,  S.  219,  in  die  Dominante  der  Dominante,  von 
yldur  über //dur  nach  isdur,  gegangen  werden  müssen)  eingeführt 
und  nicht  periodisch  ausgeführt,  nicht  einmal  bestimmt  abgeschlossen 
und  eben  so  gelinde  in  den  Hauptsatz  zurückgegangen  ist. 

Nun  beginnt  der  zweite  Seitensatz.  Schon  seine  Aus- 
dehnung giebt  ihm  das  üebergewicht  gegen  jeden  vorigen  Satz.  Es 
hat  nämlich  —  unter  Zurechnung  der  Gänge  — 

der  Hauptsatz  26  Takte, 

-  erste  Seitensatz  14 

-  Hauptsatz  (seine  Wiederholung  ohne  Gänge)  .16 

-  zweite  Seitensatz  —  mit  den  Wiederholungen  53 
also  fast  gleiche  Ausdehnung  mit  der  vorhergehenden  Masse. 

Dieser  Seitensatz  tritt  ferner,  —  in  A  moll,  —  mit  einer  ganz 
neuen  Figur  (Achteltriolen)  und  schon  dadurch  im  scharfen  Gegen- 
satze mit  dem  Vorigen  auf.  Es  bildet  sich  ein  scharf  gezeichneter 
erster  Theil  mit  vollkommnem  Schluss  in  Cdur,  und  zwar  der  Vor- 
dersatz wie  bei  a,  — 

[A  moll)  _a 


192  < 


i 


staccato  lempre 


// 
ß- 


der  Nachsatz  unter  Umkehrung  beider  Motive  (6)  aus  demselben 
Stoffe.    Eben  so  fest  geformt  bildet  sich  aus  demselben  Stoffe,  — 


193 


unter  Rückkehr  auf  den  Anfang  (No.  192  a),  der  zweite  Theil, 
der  seinen  Vordersatz  in  EmoW  (der  letzte  Akkord  wird  sogleich 
zum  Dominant-  oder  Nonen-Akkorde  von  .dmoll),  den  Nachsatz  aber 
in  A moll  schliesst.  Der  erste  Theil  war  ganz  wiederholt  worden, 
auch  der  zweite  wird  wiederholt;  vom  vorletzten  Takt  an  aber 
bildet  sich  ein  Orgelpunkt,  der  nun  den  vollständigen,  etwas  ver- 


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184 


Die  grösseren  Rondoformen. 


änderten  Hauptsatz  zurückbringt.  Eben  so  kehrt  auch  der 
erste  Seitensatz  wieder,  und  zwar  im  Haupttone;  die  Ueber- 
leitung  bildet  der  schon  zuvor  (No.  190)  gebrauchte  Gang,  nur 
dass  der  Schluss  in  Edur  nur  einmal  gesetzt  und  dann  e  sogleich 
als  Dominante  festgehalten,  also  wieder  auf  den  Hauptton  zurück- 
gegangen wird. 

Hiermit  ist  dem  Wesentlichen  der  Form  genügt.  Es  schliesst 
sich  nun  noch  ein  Anhang  an,  der  mit  mannigfachen  Wendungen 
erst  den  Kern  des  Hauptsatzes,  dann  den  des  zweiten  Seitensatzes, 
endlich  nochmals  den  Hauptsatz  bringt.  Die  reizendsten,  gefühlte- 
sten Wendungen  schenkt  uns  Beethoven  in  diesem  Anhange; 
wer  hätte  sie  empfunden  und  könnte  auch  nur  eine  davon  auszu- 
löschen wagen  !  Und  dennoch  wird  man  sich  das  Gefühl,  dass  hier 
etwas  zu  viel  geschehn,  wohl  nicht  ableugnen  können.  Der  Haupt- 
satz ist  nach  seinem  dreimaligen  Auftreten  erschöpft,  und  die  aber- 
malige reiche  Durchführung  seines  Hauptgedankens  (No.  189),  der 
nun  schon  neunmal  zu  uns  gesprochen  und  im  Anhange  noch 
elf  mal  theils  ausgeführt,  theils  angedeutet  wird,  erinnert  uns  an 
jene  Gränze  (S.  175),  über  die  das  Rondo  schwerlich  mit  Glück 
hinausschreiten  wird.  —  Der  innerlichst  bewegte,  in  der  Verein- 
samung der  Taubheit  und  des  Alleinstehens  immer  tiefer  in  sich 
versinkende  Sinn  des  unsterblichen  Tondichters  hat  oft,  gegenüber 
dieser  Unerschöpflichkeit  seines  Empfindens,  die  kltigliche  zeitige 
Gränze  zu  bewahren  versäumt,  die  weniger  tief  erregte  Gemüther 
ohne  Beschwer  finden  und  achten;  es  war  dies  eine  Bedingung 
seines  Wesens,  das,  wie  jedes  sterbliche,  seine  mangelhaften  Sei- 
ten haben  musste.  Solche  Erkenntniss  verträgt  sich  nicht  bloss 
mit  der  reinsten  Verehrung  und  liebevollsten  Dankbarkeit,  sie  ist 
auch  Pflicht  gegen  uns  und  die  Jünger.  An  den  Thaten  der  Vor- 
gänger sollen  wir  uns  zu  der  Wahrheit  erheben,  die  ihre  wie  unsre 
Aufgabe  und  Pflicht  war,  in  der  sie  wahrhaft  fortleben  und  fort- 
wirken. — 

Ein  drittes  Beispiel  giebt  die  Cdur-Sonate  Beethoven' s, 
Op.  2,  ebenfalls  im  Finale.  Hier  dürfen  wir  uns  schon  kürzer 
fassen  und  vornehmlich  das  vom  Vorigen  Abweichende  hervorheben. 

Der  Hauptsatz  ist,  streng  genommen,  eine  Periode  von 
zweimal  vier  Takten,  deren  Vordersatz  — 


B 


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Die  vierte  Rondoform. 


185 


nur  etwa  durch  den  Schluss  nach  Gdur  hin  bemerkensw erth  ist. 
Nun  setzt  ein  ganz  abweichender  Satz  ein,  — 


495 


gleichsam  ein  zweiter  Theil,  der  nach  Gdur  und  zur  Wiederkehr 
des  obigen  Vordersatzes  (No.  4  94J  führt.  Dieser  aber  macht  einen 
Schluss  nach  EmoW  hin  und  geht  mit  dem  Motiv  a  aus  No.  194 
weiter  fort  nach  Z>dur.  Hier  wird  die  Tonika  zur  Dominante  und 
auf  ihr,  also  nun  in  Gdur,  der  erste  Seitensatz  gebracht. 
Es  ist  nur  ein  Satz,  der  frei  ausgeht,  wiederholt  und  noch  freier 
ganghaft  fortgeführt  wird. 

Hier  nun  wird  Beruhigung  nöthig;  der  letzte  Gang  — 


196 


H.  W. 


zumal  im  Tempo  eines  Allegro  assai  —  ist  zu  unstät  und  hastig, 
als  dass  er  unmittelbar  in  den  Hauptsatz  führen  könnte;  es  wird 
erst  ein  Orgelpunkt  (in  diesem  Sätzchen  — 


197  §^ 


m 


w=5 


m 


— jk;  1  |  —  1  j-—  -—  y  -~  


— -r 


und  dessen  Wiederholung  in  höherer  Oktave)  gebildet  und  dann  in 
leichterer  WTeise  zum  Hauptsatze  zurückgekehrt. 

Allein  nun  zeigt  sich,  dass  der  Komponist  den  Hauptsatz  eben 
so  angesehn,  wie  oben  wir,  und  den  zweiten  Satz  (No.  495)  nicht 
eigentlich  dazu  gerechnet  hat.  Dieses  zweite  Stück  bleibt  weg; 
dafür  wird  mit  dem  Kernsatze  (No.  \  94)  kräftig  weiter  gearbeitet,  — 


198  { 


und  nach  zwei  Wiederholungen  auf  D  und  E  (ohne  Schluss  der  letz- 
ten) weiter  gegangen  zu  dem  sehr  breit  und  ruhig  ausgeführten 
zweiten  Seitensatze. 


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186 


Die  grösseren  Rondo  formen. 


Die  nächste  Wiederholung  des  Hauptsatzes  geschieht  vollstän- 
dig, oder  vielmehr  übervollständig;  denn  die  ganze  Periode  (No.  194) 
wird  in  der  ümkehrung  (frei)  wiederholt  und  dann  auch  noch  der 
unwichtigere  Satz  No.  195  mit  der  Wiederholung  des  Kerns  nach- 
gebracht. Der  weitere  Verlauf  dieses  feurig,  voll  genügend  und 
doch  nicht  zu  weit  ausgeführten  Salzes  bietet  nichts  Neues  für 
unsre  jetzige  Betrachtung. 


Sechster  Abschnitt. 
Die  fünfte  Rondoform. 

In  der  vorhergehenden  Rondoform  traten  schon  immer  deutlicher 
drei  Hauptmassen  hervor,  deren  erste  und  dritte  aus  der  Vereini- 
gung von  Haupt-  und  erstem  Seitensatze  bestand.  Diese  Vereini- 
gung sprach  sich  am  kenntlichsten  in  der  letzten  Masse  aus,  wo 
der  Seitensatz  sogar  seine  Tonart  verliess,  um  sich  auch  in  dieser 
Hinsicht  dem  Hauptsatz  eng  anzuschliessen. 

Hiermit  ist  allerdings  in  Vergleich  zu  den  frühern  Formen  das 
Gewicht  des  Hauptsatzes  vermindert,  und  es  wird  ein  solches  Ge- 
wicht auf  die  Vereinigung  des  Seitensatzes  mit  ihm  gelegt,  dass 
man  Haupt-  und  Seitensatz  vereint  als  ein  einigeres  Ganzes  ansehen 
muss  und  mehr  auf  sie,  als  auf  die  nachfolgende  (mittlere)  Auffüh- 
rung des  Hauptsatzes  ankommt. 

Diese  Erkenntniss  führt  zur  fünften  Rondoform. 

Ihr  erster  Karakterzug  ist  der,  dass  sie  den  Verein  von 
Haupt-  und  Seitensatz  bekräftigt,  so  dass  derselbe 

als  besondrer  Theil 
der  ganzen  Komposition  dasteht.    Dieser  Theil  schliesst  mit  oder 
nach  dem  Seitensatze;  wie,  —  das  wird  sich  weiterhin  zeigen. 
Darauf  tritt  der  zweite  Seitensatz 

als  zweiter  Theil 
und  die  letzte  Wiederholung  von  Haupt-  und  erstem  Seitensatz 

als  dritter  Theil 
auf,  das  Ganze  hat  mithin  diese  Form, 

I  II  III 

HS       SS1  SS  2  HS  SS  1 

eine  Form,  die  an  das  frühere  Schema  (S.  182)  erinnert. 

Man  bemerkt  hier,  dass  die  mittlere  Aufstellung  des  Haupt- 
satzes unterblieben  ist.  In  der  Thal  erscheint  sie  —  und  das  ist 
der  zweite  Karakterzug  —  aus  Gründen,  die  wir  gleich  er- 
fahren werden,  entbehrlich,  oder  doch  im  Vergleich  zu  den  frühern 


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Die  fünfte  Rondoform. 


187 


Formen  unwichtig.  Wir  erkennen,  dass  nur  besondrer  Antheil  am 
Hauptsätze  bewegen  kann,  ihn  wie  in  der  vorhergehenden  Form 
zwischen  erstem  und  zweitem  Seitensatze  zum  zweiten  Mal  zu 
bringen.  Allerdings  haben  wir  aber  an  dieser  Wiederholung  des  Haupt- 
satzes festen  Abschluss  der  ersten  Partie  des  Rondo's  (S.  176)  und 
Befestigung  der  Modulation  gefunden. 

Das  Nächste  und  Wichtigste,  was  wir  demnach  zu  betrachten 
haben,  ist 

der  Abschluss  des  ersten  Theils. 

Kann  mit  dem  ersten  Seitensatze  befriedigend  geschlossen  wer- 
den? —  Nein.  Denn  erstens  ist  er  von  minderm  Gewicht  und 
loserm  Gewebe,  als  der  Hauptsatz;  zweitens  sind  wir  mit  ihm  eben 
in  der  neuen  Tonart  angelangt,  und  es  bedarf  noch  eines  besondern 
Nachdrucks,  in  ihr  zur  Ruhe  zu  kommen. 

Auch  ein  Gang,  der  hinter  dem  Seitensatz  folgte,  würde  diese 
Kraft  nicht  haben ;  der  Gang  löst  und  führt  weiter ,  thut  also  das 
Gegentheil  von  dem,  was  uns  jetzt  noth wendig  ist. 

Wir  bedürfen  also  eines  Satzes,  der  den  Schluss  unsrer 
zusammengesetzten  Masse  oder  unsers  ersten  Theils  befestige,  also 
eines 

Schlusssatzes, 
wie  wir  ihn  bereits  Th.  II,  S.  83  kennen  gelernt  haben.  Blicken 
wir  hierbei  auf  jene  Urform  aller  musikalischen  Bewegung, 

Ruhe,  —  Bewegung,  —  Ruhe, 
Tonika,     Tonleiter,  Tonika, 

zurück,  die  wir  schon  Th.  I,  S.  23  kennen  gelernt  und  überall  in 
steigender  Ausbildung  und  Bewegung  wieder  gefunden  haben,  — 
z.  B.  in  der  Liedform  Th.  II,  S.  78).  in  der  Fugenform  (Th.  II,  S.  366), 
in  den  kleinern  Rondoformen  (S.  4  03):  so  sehn  wir  dieselbe  hier 
abermals  in  grösserer  Ausdehnung  und  Bedeutung  als 

Hauptsatz  —  Seitensatz  mit  Gangen  —  Schlusssatz 

verwirklicht. 

Hiernach  ordnet  sich  die  weitere  Lehre  sehr  einfach.  Wir 
müssen  die  Bildung  des  Schlusssatzes  —  der  einzigen  neuen  Ge- 
stalt an  unsrer  jetzigen  Form  —  und  dann  die  Anordnung  und  Ent- 
wickelung  des  Ganzen  kennen  lernen.  Der  erstere  ist  früher 
Th.  II],  dem  dortigen  Standpunkte  gemäss,  nur  als  Zugabe  behan- 
delt worden  ;  hier  kommt  er  ernstlicher  zur  Erwägung. 

A.  Der  Schlusssatz. 

Die  nächste  Bestimmung  des  Schlusssatzes  ist,  zu  schlies- 
sen;  sein  einfachster  und  zugleich  nothwendigster  Inhalt  wäre  da- 
her, auf  den  harmonischen  Grundbegriff  zurückgeführt,  die  bekannte 
aus  Dominant-  und  tonischem  Akkord  gebildete  Schlussformel. 


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188 


Die  grösseren  Rondoformen. 


Allein  diese  ist  wohl  für  den  Ausgang  eines  Satzes  oder  einer 
Periode  geeignet  (und  auch  da  wird  sie  bekanntlich  —  Th.  II,  S.  29 
—  durch  Zusätze  erweitert  und  verstärkt),  nicht  aber  zum  letzten 
Abschluss  einer  Masse  von  Sätzen  und  Gängen  genügend.  Daher 
bildet  man,  je  nach  der  Ausdehnung  und  dem  Gewicht  des 
Vorangehenden,  Sätze  von  grösserm  oder  minderm  Umfang,  auch 
wohl  Perioden,  oder  wiederholt  die  Sätze  mit  oder  ohne  Aenderun- 
gen,  oder  lässt  sogar  dem  ausgedehntem  noch  einen  kleinern  Satz 
folgen.  Alle  diese  Gebilde  müssen  aber  ihrer  Bestimmung,  zum 
Schlüsse,  mithin  zur  Ruhe  zu  bringen,  getreu  bleiben ;  daher  liegt 
ihnen  allen  mehr  oder  weniger  die  harmonische  Schlussformel  zum 
Grunde  und  ist  der  Inhalt  aller  mit  seltenen  Ausnahmen  ein  beruhi- 
gender. 

Der  unzählige  Mal  in  Opernsätzen  (Arien  u.  s.  w.)  und  ander- 
wärts gehörte  Anhang  — 


t99 


3= 


kann  hier  als  erstes  und  einfaches,  wenn  auch  nicht  einfachstes 
Beispiel  dienen;  dieser  zweite.  — 


200 


(Bass  bloss  angedeutet) 


= 


Bim. 

S?a  


.(fr 


r*  im 


u  &r  w '  ritt 


der  mit  dem  letzten  Takt  sich,  mit  der  Melodie  der  Oberstimme 
im  Bass  oder  einer  Mittelstimme,  zu  wiederholen  beginnt,  —  hat 


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Die  fünfte  Rondoform. 


189 


wesentlich  keinen  andern,  sondern  nur  breiter  ausgeführten  Inhalt, 
als  der  vorhersehende  Schlusssatz.  Er  könnte  von  Takt  12  an  sich 
mit  einem  Trugschluss  in  fremde  Tonarten  wenden,  ja  lange  in  den- 
selben weilen,  wie  z.  B.,  — 


oder  es  könnte,  z.  B.  von  Takt  10  an,  — 


dolce 


202  < 


in  einer  fremden  Tonart  ein  neuer  Satz  eingeschoben,  wiederholt 
und  dann  nochmals  im  Hauption  ein  Schlusssatz  gebildet,  oder  der 
vorige  wieder  benutzt  werden :  —  in  all'  diesen  Fällen  ist  mehr 
oder  weniger  die  Grundformel  des  Schlusses  vorherrschend  und 
die  Neigung  zum  Enden  des  ganzen  Tonstückes  empfindbar,  nur 
bald  verzögert,  bald  durch  Abschweife  scheinbar  aufgegeben,  aber 
dann  wieder  ergriffen;  wie  z.  B.  die  Abschweifungen  in  No.  201 
und  202  sich  schon  durch  ihre  Fremdheit  und  die  Plötzlichkeit 
ihres  gar  nicht  weiter  motivirten  Eintritts  als  etwas,  bei  dem  es 


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190 


Die  grösseren  Rondoformen. 


nicht  bleiben  kann,  von  dem  auf  den  verlassenen  Standpunkt  zu- 
rückgegangen werden  muss,  zu  erkennen  geben. 

Man  sieht  sogleich ,  dass  es  keiner  Vorübung  für  Erfindung 
der  Schlusssätze  bedarf,  wenn  man  sich  nur  ihre  eigentliche  Be- 
stimmung klar  gemacht  hat.  Bildet  man  sie  übrigens  aus  Motiven 
des  Hauptsatzes,  so  bekommt  das  Ganze  noch  stärkern  Zusam- 
menhalt. Doch  ist  dies  weder  nöthig,  noch  immer  ausführbar ;  es 
fragt  sich,  ob  das  Hauptmotiv  zum  Schlusssatze  geeignet  und 
ob  es  nicht  bereits  hinlänglich  in  Thätigkeit  gesetzt  worden  ist. 

B.  Die  Anordnung  des  Ganzen. 

Nach  der  Erläuterung  des  Schlusssatzes  ist  die  Gestaltung  der 
fünften  Rondoform  leicht  zu  fassen.  Sie  zeigt  (S.  186)  drei  ver- 
schiedne  Theile. 

Im  ersten  Theile  tritt  der  Hauptsatz  und  unmittelbar  nach 
ihm,  oder  durch  einen  Zwischengang  oder  Satz  vermittelt,  der  erste 
Seitensatz  auf;  ersterer  im  Haupttone,  dieser  in  der  Dominante 
oder  Parallele.  Ihm  schliesst  sich,  mit  oder  ohne  Zwischengang, 
in  derselben  Tonart  der  Schlusssatz  an.  Hiermit  ist  entweder  der 
erste  Theil  sofort  abgethan,  oder  es  wird  derselbe  vollständig  wie- 
derholt, wobei  es  bisweilen  einer  Zurückleitung  in  den  Anfang  be- 
darf, dergleichen  wir  schon  bei  den  Liedformen  und  anderwärts 
kennen  gelernt  haben.  Statt  der  Wiederholung  des  ersten  Theils 
wird  auch  wohl  bloss  der  Hauptsatz  oder  dessen  Kern  wiederholt. 

Der  zweite  Theil  besteht  aus  dem  zweiten  Seitensatz  und 
einem  Gang  und  Orgelpunkt,  der  uns  in  den  Hauptton  und  zum 
dritten  Theile  bringt. 

Hier  wird  Hauptsatz,  erster  Seiten-  und  Schlusssatz  wieder- 
holt, letztere  beide  treten  aber  nun  im  Hauptton  auf,  und  zu  diesem 
Zweck  nehmen  die  vermittelnden  Gänge,  wie  sich  von  selbst  ver- 
steht, ihre  Richtung  auf  den  Hauptton,  statt  auf  Dominante  oder 
Parallele. 

Ist  der  erste  Seiten-  und  Schlusssatz  anfangs  in  einem  andern 
Tongeschlecht  aufgetreten,  ist  z.  B.  eine  Molltonart  der  Sitz  des 
Tonstücks  und  der  Seitensatz  in  der  Parallel-Durtonart  aufgestellt 
worden :  so  bringt  der  dritte  Theil  den  Seiten-  und  Schlusssatz  in 
der  Regel  wieder  im  Durgeschlechte  des  Haupttons,  so  dass  eine 
Mollkomposition  mit  einem  breiten  Durschlusse  zu  Ende  geht.  Doch 
können  auch  durch  Verwandlung  des  Geschlechts  beide  Sätze,  oder 
wenigstens  der  Schlusssatz  in  Moll  aufgestellt  werden. 

Eine  scharf  gezeichnete  Anwendung  unsrer  Form  findet  sich 
im  Finale  von  Beethoven's  kleiner  Fmoll-Sonate,  Op.  2,  das  wir 


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Die  fünfte  Rondoform. 


191 


statt  Überflüssigen  Vorarbeitens  hier  benutzen.  Wir  werden  (wie 
immer)  mehr  als  eine  Abweichung  von  der  allgemeinen  Skizzirung 
der  Form  gewahr  werden,  aber  keine,  die  uns  nach  dem  bisher 
Bemerkten  irre  machen  könnte. 


Schon  der  Hauptsatz  zeigt  sich  darin  auffallend,  dass  er 
nicht  einmal  vollständige  Periodenform  hat  und  aus  zwei  entschie- 
den fremdartigen  Elementen  besteht.    Zuerst  tritt  dieser  Satz  — 


auf  und  wiederholt  sich ;  man  könnte  ihn  für  eine  blosse  Einleitung 
(Th.  II,  S.  32)  halten,  wenn  nicht  das  Folgende  sogleich  in  einem 
andern  Ton  aufträte  Dem  erstem  Satze  schliesst  sich  nämlich  nun 
dieser  ganz  abweichende  — 


(die  beiden  Unterstimmen  in  tieferer  Oktave)  an,  seine  ersten  Ab- 
schnitte (bis  f)  werden  im  Hauptton  wiederholt,  im  folgenden  Takt 
aber  eine  rasche  Wendung  nach  Gdur  gemacht  und  von  da  nach 
einer  orgelpunktartigen  Befestigung  in  die  Dominante  des  Haupttons 
gegangen,  —  nach  Cmoll. 

Sowohl  die  Unstätheit  in  der  Bildung  des  Hauptsatzes,  der  von 
Fmoll  sich  sofort  nach  Jsdur  wirft,  um  über  Fmoll  in  G  zu 
schliessen  (und  zwar  unvollkommen),  als  die  Wahl  der  Molldomi- 
nante statt  der  Durparallele  sind  dem  leidenschaftlichen ,  bis  zu 
wildem  Schmerz  aufgereizten  Karakterdes  Finale  beizumessen.  Man 
sieht  aber  am  Hauptsatze  bestätigt,  was  uns  schon  S.  161  hat  ein- 
leuchten müssen,  und  wird  sich  leicht  Uberzeugen,  dass  ein  solcher 
Hauptsatz  durchaus  ungenügend  und  unpassend  gewesen  wäre  für 
die  erstem  Rondoformen,  vielmehr  die  letztern  herbeirufen  musste. 

In  Cmoll  tritt  der  erste  Seitensatz  auf,  der  diesen  Kern 


Erster  Theil. 


203 


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192 


Die  grösseren  Rondo  formen. 


206 


w  f  r  r 

6 
5 


6 
5 


6 
5 


*i  7 


(5  7 
4  $5 
5 


zum  Schluss  geht;  auch  dieser  Abschnitt  wird  wiederholt.  Wir 
haben  also  wieder  einen  blossen  Satz  mit  unvollständiger  Wieder- 
holung vor  uns,  von  gleichem  Ungestüm  mit  dem  Hauptsatze,  von 
gleicher  rhythmischer  Gestaltung,  eng  mit  demselben  verknüpft. 

Nun  fühlt  sich  das  Bedürfniss  des  Schlusssatzes,  der  den 
ersten  Theil  beschwichtigend  abrunde.  Die  Triolenbewegung  kann 
zwar  nach  so  heftiger  Anregung  nicht  aufgegeben  werden;  aber 
sie  ordnet  sich  unter,  indem  sie  bloss  als  harmonische  Figuration 
den  Schlusssatz*  — 


207 


t—T 


J>va 


loco 


J    1   I  EjgEjE3 


I 


r  t 

begleitet.  Auch  der  Schlusssatz  wird,  und  zwar  vollständig,  wie- 
derholt. Man  wird  ebensowohl  seinen  abschliessenden,  zur  Ruhe 
bringenden  Karakter,  als  die  Einheit  und  vollständige  Abrundung 
des  ganzen  Theils,  entschieden  über  Alles  hinaus,  was  die  frühern 
Formen  hierin  leisten  konnten,  anerkennen. 

Allein  der  Grundkarakter  des  ganzen  Finale  widerstrebt  die- 
sem ruhigen  Abschluss ;  auch  verlangt  der  so  stürmisch,  im  Haupt- 
satze so  unstät  vorübergeeilte  erste  Theil  Wiederholung,  mithin 
Zurückführung  in  den  vom  Schlusssatze  so  verschiednen  Anfang. 
Daher  wird  nach  dem  Schlusssatze  der  Anfangssatz  (No.  203)  in 
Cmoll  aufgestellt  und  mit  einer  kleinen  Verlängerung  nach  Fmoll, 
zur  Wiederholung  des  ganzen  Theiles  umgebogen.  Das  zweite 
Mal  wird  in  Cmoll  förmlich  geschlossen  und  dann  mit  dem  dreimal 
einfach  angeschlagnen  Dominantakkorde  nach  ^4sdur  gelenkt. 

Diese  Aufstellung  des  Anfangssatzes  in  Cmoll  (sechs  Takte 
lang  bis  zur  Umlenkung  nach  Fmoll)  nimmt  fast  das  Ansehn  eines 
zweiten  Schlusssatzes  an;  —  oder  man  könnte  auf  den  ersten 
Hinblick  geneigt  sein,  sie  als  den  einzigen  Schlusssatz,  und  den 
vorhergehenden  als  ein  zweites  zum  Seitensatz  gehöriges  Gebilde 
anzusehn.  Allein  die  Ruhe  dieses  und  die  Heftigkeit  des  vermeint- 
lichen zweiten  Schlusssatzes  —  man  vergleiche  No.  203  und  207  — 
sprechen  zu  bestimmt  dagegen  und  für  die  obige  Auffassung. 


*  Blosse  Skizze,  wie  viele  Anführungen. 


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Die  fünfte  Rondoform. 
Zweite  r  Theil. 


193 


Der  zweite  Seitensatz  tritt  nun  in  .4sdur,  ruhig  in  vor- 
herrschender Viertelbewegung  auf,  —  ein  entschiedner,  gegen  den 
bisherigen  Ungestüm  labsal voller  Gegensatz.    Er  hat  vollkommen 
abgerundete  zweitheilige  Liedform.    Dies  — 
sempre  piano  e  dolce 


ist  der  erste  Theil,  der  in  höherer  Oktave  und  feiner  ausgeführt 
wiederholt  wird.    Der  zweite  Theil  beginnt  mit  diesem  Satze  — 


209 


im 


i 


□er. 


tr 


1 


der  fliessender  wiederholt  wird,  worauf  das  Wesentliche  des  ersten 
Theils  den  Schluss  macht  und  der  ganze  Theil  wiederholt  wird. 

Nun  knüpft  lebhaftere  Rückkehr  zum  ersten  Satz  (No.  203)  an. 
Dieser  Satz  — 

4        -    j   ,  ■  r-4  -I— -t 


&Ta  -   --   --   --  --   --  --   --  loco 


4- 


.w 


wird  auf  dem  Dominant-  (Terzquart-)  Akkorde  von  Fmoll,  dann  auf 
F  selber  wiederholt;  hier  aber  wird  als  letzter  Akkord  des-f-as 
aufgestellt  und  mit  dem  letzten  Motiv  (a  in  No.  210)  nach  Z>esdur, 
iJmoli  und  Cmoll  gegangen.  Statt  Cmoll  wird  aber  c-e-g  ge- 
setzt und  mit  deutlicherer  Hinweisung  auf  den  Anfang  — 


311 


ein  Orgelpunkt  gebildet,  der  auf  den  Wiederanfang  führt. 

Dritter  Theil. 

Der  dritte  Theil  bringt  vor  allem  den  Anfang  des  Hauptsatzes, 
die  in  No.  203  und  204  aufgewiesenen  Sätze  wieder.    Auch  die 

Marx,  Komp.-L.  LH.  5.  Aufl.  *3 


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194  Die  grössern  Rondo  formen. 

Wiederholung  der  ersten  Abschnitte  von  No.  204  im  Haupttone  ge- 
schieht, hier  aber  durch  Umkehrungen  — 

verdoppelt,  eine  nicht  weiter  folgenreiche  Aenderung. 

Nun  aber  wird  nicht,  wie  anfangs,  nach  G  und  von  da  weiter 
nach  Cmoll  gegangen,  sondern  der  Sitz  der  Modulation  bleibt  Fmoll, 
und  auf  seiner  Dominante  (C)  wird  die  orgelpunktartige  Ausführung 
gemacht,  die  anfangs  auf  der  Dominante  von  Cmoll  (G)  statthatte. 
Hierauf  wird  der  erste  Seitensatz  —  im  Wesentlichen  wie  zu- 
vor, nur  in  andrer  Richtung  der  Figuren  (No.  205),  und  mit 
Schlussmodulation  über  Unter-  und  Oberdominante  — 


"Ö     ö       ö  *ö     6        T~        0   "7         6  1 

5  6  5  5  Ü         4  q 

(vergl.  No.  206)  —  nach  ihm  der  Schlusssatz  vollständig,  aber  im 
Haupttone,  wiederholt.  Auch  der  dem  Anfang  entlehnte  Zusatz, 
der  nach  dem  Schlusssatze  des  ersten  Theils  folgte,  erscheint  hier, 
nur  in  gesteigerter  Bewegung,  — 


f  r  . 

wieder,  so  dass  hiermit  das  Ganze  in  demselben  leidenschaftlichen 
Schwünge  zu  Ende  geht,  mit  dem  es  begonnen.  —  Es  ist  eine 
der  frühem  und  kleinern  Kompositionen  Beethoven' s,  aber  eine 
der  karaktervollsten  und  gehaltensten,  die  je  geschrieben  worden. 

Am  Schlüsse  des  Ganzen  überzeugt  man  sich,  wie  unnöthig 
und  Übel  angebracht  die  mittlere  Wiederholung  des  Hauptsatzes  ge- 
wesen wäre.  In  ihm  gesellen  sich  (S.  191)  zwei  verschiedne  Ele- 
mente, der  heftige  Anfang  (No.  203)  und  der  weichere,  jener  Hef- 
tigkeit gleichsam  bittend  entgegnende  zweite  Satz  (No.  204),  der 

sich  wenn  auch  von  ganz  abweichendem  Inhalte,  doch  mehr  der 

Stimmung  des  zweiten  Seitensatzes  (No.  208)  als  der  des  Anfangs 
nähert.  Was  sollte  nun  zwischen  dem  ersten  Theil  und  dem  zwei- 
ten Seitensatze  wiederholt  werden?  Der  ganze  Hauptsatz?  —  Ab^er 
sein  erster  Gedanke  war  eben  als  Zusatz  (S.  193)  geltend  gemacht, 
und  der  zweite  Gedanke  hätte  den  ähnlich  gestimmten  zweiten 


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Die  fünfte  Rondoform. 


195 


Seitensalz  beeinträchtigt.  Bloss  der  zweite  oder  erste  Gedanke? 
Das  hätte  dieselben  Bedenken  gegeben.  Oder  hätte  man  dem 
Hauptsatz  eine  neue  Form  geben  und  den  zweiten  Gedanken  voran 
stellen  sollen?  Dies  wäre  vor  allen  Dingen  eine  wesentliche  Abän- 
derung des  Hauptsatzes,  nicht  seine  Wiederholung,  sondern  eine 
Umgestaltung  seines  Inhalts  geworden,  die  dem  Rondo  nicht  eigen 
ist,  dergleichen  wir  vielmehr  bei  der  Sonatenform  finden  werden ; 
das  Tonstück  würde  mithin  aus  dem  Kreis  unsrer  gegenwärtigen 
Beurtheilung  fallen.  Aber  es  wäre  auch  ein  durchaus  ungünstiger 
Ausweg,  denn  damit  würde  der  Gegensatz  des  Heftigen  und 
Mildern ,  der  jetzt  so  grossartig  zwischen  erstem  und  zweitem 
Theile  verhandelt  wird,  in  kleinere,  sich  wiederholende  Wechsel- 
sätze zersplittert  sein.  Schon  zu  Anfang,  im  Hauptsatze,  musste 
der  schnelle  Wechsel  der  Stimmung  und  Gestaltung  uns  (S.  191) 
auffallen ;  dort  war  er  aber  vorbedeutend  und  die  Grundstimmung 
befestigte  sich  sogleich  im  Gang  und  ersten  Seitensatze ;  hier  wär' 
er  nur  kleinlich  und  störend. 

Ein  zweites  Beispiel  bietet  uns  das  Finale  von  Beethoven 's 
Sonate  pathetique. 

Erster  Theil. 
Der  Hauptsatz  (Cmoll)  hat  vollständig  ausgeführte  Perio- 
denform; — 


rffff 


i 


4 


1  l 


■* — 


der  Nachsatz  wird  wiederholt  und  noch  ein  Anbang  zugesetzt,  — 

jÜ^  T-^3^ 


216 


t 


7 


ebenfalls  wiederholt,  und  dann  ganz  fest  und  vollkommen  im  Haupt- 
tone geschlossen. 

Ein  Zwischensatz  (statt  Ganges)  — 


217 


JE. 


T 


T 

6 


_  i-^ — r — r-t=£=f  


stellt  uns  in  Fmoll,  seine  Wiederholung  bringt  nach  £sdur  zum 
ersten  Seitensatze. 

13* 


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196 


Die  grössern  Rondo  formen. 


Dieser  ist  ein  sich  wiederholender,  aber  mit  der  Wiederholung 
sich  verwebender  einfacher  Satz,  der  bloss  zur  Erläuterung  der  Ver- 
webung hier  aufgeführt  sei;  — 

<J23L  JJ 


1 


3 


148 


T 


7^ 


i 


(Grundkonstruktion) 


9 


5^ 


vom  sechsten  Takt  an  wendet  sich  die  Modulation  nach  £smoll 
und  von  da  nach  2?dur.  Hier  wird  mit  ganz  neuen  Motiven  ein 
gangartiger  Satz  — 

249 


1 


I 


1 


-*-7 


nach  ITsdur  und  in  der  Wiederholung  über  As  dur  zu  einem  Schluss 
in  ifsdur  geführt.  Mit  dieser  ihrem  Inhalt  nach  mehr  gang-  als 
satzartigen  Ausführung  kann  der  Theil  nicht  zur  Ruhe  gelangen;  es 
folgt  noch  der  Schlusssatz,  von  dem  hier  der  Vordersatz  — 


220 


stehe,  dessen  Nachsatz  sich  ähnlich  bildet  und  in  Es  dur  schliesst. 
Allein  —  auch  dieser  so  kleine  Schlusssatz  kann  nicht  befriedigen ; 
das  erkennt  man,  wenn  man  ihn  mit  dem  in  No.  207  aufgewiesnen 
vergleicht.  Daher  geht  Beethoven  mit  dem  schon  in  No.  219  an- 
geregten Gang  abermals  weiter,  und  zwar  auf  die  Dominante  des 
Haupttons.    Hier  wird  der  Hauptsatz1"  vollständig  wiederholt. 


*  Man  sehe  S.  498. 


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Die  fünfte  Rondoform. 
Zweiter  Theil. 


197 


Der  zweite  Seitensatz  hat  zweitheilige  Liedform.  Dieser 
Vordersatz  (a)  — 


7 


A 


22  \ 


P-i 


IT 


j  mL  J 


■$0— 


j. 


; 


II  I- 


Sv» 


1 


hat  einen  ähnlichen,  in  der  Dominante  schliessenden  Nachsatz  zur 
Folge;  der  hiermit  gebildete  erste  Theil  wird  mit  leichten  Aende- 
rungen  (b)  wiederholt ;  der  zweite  Theil  bringt  einen  kleinen  frem- 
den Zwischensatz  und  dann  die  Wiederholung  des  ersten  Theils  in 
dieser  Umgestaltung  — 


Statt  des  Schlusses  wird  aber  nach  Gdur  umgebocen  und  hier 
erst  in  Sechzehnteln,  dann  breiter  in  Achteltriolen  ein  Orgelpunkt 
in  harmonischer  Figuration  ausgeführt,  der  uns  auf  der  Dominante 
des  Haupttons  festsetzt. 

Dritter  Theil. 

Nun  tritt  der  Hauptsatz  wieder  auf.  Da  aber  von  ihm 
nicht  nach  Es  dur  gegangen,  sondern  der  erste  Seitensatz  im  Haupt- 
tone (Dur)  aufgestellt  werden  soll,  so  fällt  erstens  der  Anhang 
(S.  195),  der  im  ersten  Theile  Cmoll  noch  fester  einzuprägen  diente, 
zweitens  der  Zwischensatz  (No.  217),  der  nach  Es  dnr  überführte, 
weg;   drittens  wird  die  Wiederholung  des  Nachsatzes  in  dieser 


Sva  - 


7 


gl 


sim. 


« — .  1 — 


S2 


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198 


Die  grössern  Rondoformen. 


fortgesetzt,  um  Über  die  Unterdominante  (Fmoll)  nach  der  Ober- 
dominante (Gdur)  zu  bringen  und  hier  den  Seitensatz  im  Haupt- 
ton, aber  in  dem  ihm  eigenthümlichen  Geschlechte  folgen  zu  lassen. 

Er  schliesst,  wie  zuvor,  in  der  Dominante,  hier  also  in  Gdur; 
darauf  folgt  auch  der  Gang  des  ersten  Theils  (etwas  verändert) 
in  Gdur  mit  einem  vollkommnen  Schluss  in  Cdur;  endlich,  in 
derselben  Tonart,  der  Schlusssatz.  In  seinem  Nachsatz  aber 
wendet  sich  schon  der  erste  Abschnitt  nach  Cmoll,  wiederholt  sich 
in  Esdur  und  fuhrt  Uber  Gdur  in  den  Hauptton. 

Hier  bildet  sich  nun  noch  ein  besondrer  Anhang.  Zuvörderst 
wird  der  Hauptsatz  vollständig  mit  abweichender  Wiederholung  sei- 
nes Nachsatzes  wiederholt;  dann  wird  mit  Elementen  des  ersten 
Ganges  (No.  249)  zweimal  ein  Satz  in  Fmoll  mit  Schlüssen  im 
Haupttone  gebildet,  mit  einem  neuen  Motiv  — 


nochmals  der  Hauptton  befestigt,  nach  einer  Fermate  in  ^Isdur 
zweimal  der  erste  Abschnitt  des  Hauptsatzes  gebracht  und  endlich 
im  Haupttone  geschlossen. 

Nur  zwei  Punkte  scheinen  nochmals  Erwägung  zu  fodern. 

Erstens  die  Aufstellung  des  vollständigen  Hauptsatzes  mit  sei- 
nem Anhang  in  der  Mitte,  während  in  dem  vorigen  Beispiel  die 
Wiederkehr  des  Hauptsatzes  ganz  unterbleiben  durfte,  sogar  in  der 
dritten  und  vierten  Form  (S.  153,  485)  die  unvollständige  Anfüh- 
rung bisweilen  genügte.  Allein  die  Beschaffenheit  des  Seiten-  und 
des  Schlusssatzes  foderten  hier  gewichtige  Wiederkehr  des  Haupt- 
satzes. Der  erste  ist  so  flüssig  und  in  seinem  Ausgang  unbe- 
stimmt, der  zweite  so  kurz  und  karg  gehalten,  —  beiden  sind 
nothwendig  Gänge  angehängt :  dass  in  dieser  ganzen  Masse  kein 
fester  Anhalt  und  Abschluss  zu  finden  war;  nur  der  Hauptsatz  mit 
seinem  Anhange  bot  einen  solchen,  war  mithin  unentbehrlich. 

Zweitens  die  weite  Ausführung  am  Ende  des  dritten  Theils 
nach  dem  Schlusssatze.  Hier  walteten  jedoch,  wie  nun  schon  ein- 
leuchtet, dieselben  Gründe  ob,  und  noch  stärker;  weil  jetzt  die 
ganze  Komposition  abgeschlossen  werden  soll  und  der  vorhergehende 
erste  Seiten-  und  Schlusssatz  fast  durchaus  in  Dur  verweilen,  wäh- 
rend für  die  Stimmung  des  Ganzen  Rückkehr  und  Schluss  in  Moll 
hier*  nothwendig  ist.  — 

*  Hier,  —  aber  keineswegs  immer.  Oft  gestattet  Stimmung  und  Ten- 
denz eines  Tonstücks  in  Moll  einen  Schluss  in  Dur;  es  wird  dann  mit 


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Die  fünfte  Rondoform 


199 


Ist  aber  nicht  dennoch  in  diesem  Fall  ein  Rondo  mit  vier- 
maliger Aufstellung  des  Hauptsatzes  gegeben,  also  eine 
(sechste)  Form,  die  uns  oben  (S.  475)  unrathsam  schien?  Nein. 
Der  Hauptsatz  erscheint  zwar  allerdings  viermal;  wir  können  ihn 
aber  bei  seinem  letzten  Erscheinen  nicht  als  neue  Hauptpartie, 
sondern  nur  als  wiederholenden  Anhang  anerkennen,  weil  ihm  keine 
neue  Zwischenpartie  (kein  dritter  Seitensatz,  wie  im  Schema 
S.  475)  vorangeht.  Das  Schema*  dieser  unsrer  Form  würde  sein: 
Th.  L  Th.  IL  Th.  EL 

HS  SS4  SZ  HS         SS2      HS  SS 4  SZ  HS  oder  Anhang. 

Wir  haben  also  wieder  eine  dreitheilige ,  nur  weit  reicher 
zusammengesetzte  Konstruktion  vor  uns,  deren  dritter  Theil  Wie- 
derholung des  ersten  (mit  den  nöthigen  Modulationsänderungen)  ist. 


Schlussbemerkung. 

Hiermit  sind  wir  an  eine  sehr  bezeichnende  Gränze  der  Rondo- 
formen gelangt,  obwohl  noch  nicht  das  letzte  Wort  über  dieselben 
gesagt  werden  kann. 

Ueberblicken  wir  alle  bisherigen  Gestaltungen,  so  tritt  uns  aus 
allen  als  erster  Karakterzug  das  entgegen: 

dass  das  Rondo  als  Kern  und  Hauptsache  einen  liedförmigen 
Satz  (Hauptsatz)  aufstellt,  von  ihm  aus  auf  Gänge  und  andre 
Sätze  (Seitensätze)  tibergeht,  von  diesen  aber  stets  wieder 
auf  den  Hauptsatz  zurückkommt. 
So  ist  also  das  Wesen  der  Rondoform  Aneinanderkettung 
verschiedener  Sätze  und  Gänge;  hierin  liegt  sowohl  die  Ausdeh- 
nungsfähigkeit, die  wir  von  Stufe  zu  Stufe  der  Rondoformen 
haben  wachsen  sehn,  als  die  Lockerheit  des  innern  Verbands 
ausgesprochen.   Daher  wurden  eben  je  grössere  und  grössere  Zu- 
sammensetzungen möglich,  und  wo  man  nicht  wagen  darf,  den  Haupt- 
satz zum  vierten  Mal  mit  einem  dritten  Seitensatze  zu  wiederho- 
len, da  wiederholt  man  ihn  ohne  letztern,  wenigstens  theil  weise  im 
Anhange ;  lässt  ihn  dafür  aber  auch  ganz  oder  theil  weise  in  der 
Mitte  fallen. 

Als  zweiter  Karakterzug  tritt  sodann  in  allen  Rondos 
im  Allgemeinen  der  leichtere,  weniger  wichtig  genommene  In- 
halt vor  Augen.   Jeder  Satz  eilt,  sich  liedförmig  abzurunden,  um 


Seiten-  und  Schlusssatz  in  Dur  geendet,  oder  auch  der  Anhang  in  Dur  ge- 
setzt. 

*  SZ  soll  Schlusssatz  bedeuten,  die  Gänge  sind  unerwähnt. 


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200  Die  grossem  Rondoformen. 

dann  andern  Sätzen  und  Gängen  Platz  zu  machen ;  ja,  die  Seiten- 
sätze lösen  sich  ganz  oder  theilweise  in  Gänge  auf  und  gewähren 
so  noch  leichteres  Tonspiel.  Dieser  Karakterzug  wird  erst  im  Ge- 
gensatz zur  Sonatenform,  zu  der  wir  jetzt  fortschreiten,  vollkom- 
men erkannt  werden.  Einstweilen  vergleiche  man,  um  sich  vor- 
läufig zu  orientiren,  die  Rondoformen  in  der  Lockerheit  ihres  Zu- 
sammenhangs mit  der  uns  schon  bekannten  Fuge.  Die  Fuge  lässt 
ihren  oder  ihre  Gedanken  (die  Subjekte)  nie  los,  das  Rondo  lässt 
einen  um  den  andern  fallen ;  die  Fuge  verwandelt  ihre  Hauptgrup- 
pen (die  Durchführungen,  oder  das  Thema  selbst)  unaufhörlich,  das 
Rondo  hält  seinen  Hauptsatz ,  von  unwesentlichen  Veränderungen 
abgesehn,  stets,  sogar  in  derselben  Tonart  fest.  Diese  Betrachtung 
muss  an  den  Ursprung  der  Rondoform  aus  der  Liedform  und  an 
die  nahe  Verwandtschaft  derselben  mit  der  Liedkette  erinnern,  eine 
so  nahe,  dass  es  bei  einzelnen  Kompositionen  einen  Augenblick 
lang  (S.  115)  zweifelhaft  erscheinen  konnte,  ob  sie  der  Rondoform 
angehörten,  oder  bloss  Lied  mit  Trio  oder  Liedkette  seien.  Die 
Lockerheit  im  Verbände  dieser  letztern  Formen  ist  aber  bereits 
Th.  II,  S.  80  erkannt  worden. 

Beide  oben  bezeichnete  Karakterzüge  treffen  am  wenigsten 
in  der  vierten  und  fünften  Rondoform  zu,  die  aus  Haupt-  und 
erstem  Seitensatz  eine  zusammenhängendere  Masse  zu  bilden  streben. 
Aber  eben  hier  bildet  sich  auch  der  Uebergang  zu  einer  neuen  Form, 
zu  der  Sonaten  form,  die  wir  nun  zu  erkennen  und  zu  üben 
haben. 


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Vierte  Abtheilung. 


Die  Sonatenform. 

Das  lose  Aneinanderreihen  verschiedner  Sätze  und  Gänge  war 
als  Karakterzug  der  Rondoformen  erschienen.  Nur  ein  Satz,  der 
Hauptsatz,  war  ursprünglich  im  Rondo  wichtig  genug,  um  wieder- 
holt zu  werden;  er  war  dann  aber  auch  das  einzige  Feststehende 
des  Ganzen,  und  musste  eben  darum  immer  in  derselben  Weise 
(wenigstens  im  Wesentlichen)  und  in  derselben  Tonart  wieder- 
gebracht werden.  So  hatte  man  an  ihm  steten  Anhalt;  aber 
zugleich  war  die  Modulation  durch  ihren  mehrmaligen  Rückgang 
auf  denselben  Punkt,  von  freierer  und  energischer  Entwickelung  zu- 
rückgehalten, fast  nur  auf  die  Räume  zwischen  Haupt-  und  Seiten- 
sätzen beschränkt. 

Die  vierte  und  besonders  die  fünfte  Rondoform  sind  über  diesen 
beengenden  Kreislauf  hinausgegangen.  Indem  sie  Haupt-  und  ersten 
Seitensatz  zu  einer  einheitvollern  Masse  vereinen,  besonders  im 
dritten  Theile  beide  (mit  dem  Schlusssatze,  wenn  ein  solcher  vor- 
handen) im  Hauptton  eng  verbunden  wiederbringen,  giebt  sich  in 
ihnen  eine  andre  und  höhere  Richtung  zu  erkennen.    Nicht  mehr 

das  Einzelne  (einzelne  Sätze)  in  seiner  Vereinzelung 
soll  gelten,  sondern  der  innige  Verein  der  Einzelheiten  (einzelnen 
Sätze)  zu  einem  Ganzen,  also 

das  Ganze  in  seiner  innern  Einheit 
wird  zur  Hauptsache.  In  diesem  Ganzen  fängt  auch  das  Einzelne 
an,  sich  aus  seiner  Starrheit  zu  lösen ;  es  ist  nicht  mehr  bloss  für 
sich  da  und  muss  auf  sich  beschränkt  seinen  Platz  bewahren;  es 
bewegt  sich  (wenigstens  der  erste  Seitensatz)  von  seinem  ursprüng- 
lichen Sitze  zu  einer  andern  Stelle  (von  der  Dominanten-  oder  Par- 
alleltonart zum  Hauptton),  und  zwar  nach  dem  Bedürfniss  des 
Ganzen,  das  nun  in  grösserer  Einheit  und  mit  grösserer  Masse  im 
Haupttone  sich  abschliessen  will. 

Nur  der  zweite  Seitensatz  ist  dieser  Tendenz  fremd  geblieben. 
Er  steht  für  sich  da,  als  ein  Fremdes  zwischen  dem  ersten  und 
dritten  Theil.  Man  werfe  aus  dem  S.  186  gewiesenen  Schema,  — 
oder  aus  dem  S.  191  betrachteten  Beethoven' sehen  Rondo  den 
zweiten  Seitensatz  mit  seinen  Anhängseln  (Gang  und  Orgelpunkt) 
aus :  so  bilden  erster  und  dritter  Theil  ein  Tonstück  von  so  fester 


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202 


Die  Sonatenform. 


Einheit,  wie  keine  der  Rondoformen  darbietet.  —  Dass  übrigens 
diese  Operation  an  Beethoven' s  Rondo  schon  aus  innern  Grün- 
den (die  leidenschaftliche  Unruhe  des  Ganzen  fodert  den  im  zweiten 
Seitensatze  gebotenen  beschwichtigenden  Gegensatz)  verwerflich  sein 
würde,  kommt  hier  nicht  in  Betracht 

Die  Sonaten  form*  vollführt,  was  die  vierte  und  fünfte 
Rondoform  begonnen  bat.  Sie  thut  dies  im  Allgemeinen  in  zwie- 
facher Weise.  Einmal  dadurch,  dass  sie  das  Fremde,  —  den  zwei- 
ten Seilensatz,  —  das  die  fünfte  Rondoform  zwischen  dem  ver- 
scbmolznen  ersten  und  dritten  Theile  noch  festhält,  aufgiebt  (wie 
wir  oben  S.  201  bloss  aus  formellen  Gründen  vorgeschlagen)  und 
sich  auf  die  enger  vereinigten  Partien  beschränkt.  Dies  ist  die 
kleine  Sonaten-  oder  Sona tinenform.  Dann,  indem  sie 
einen  neuen  zweiten  oder  mittlem  Theil  bildet,  und  zwar  in  Ein- 
heit mit  dem  ersten  Theil,  also  aus  dessen  Inhalte.  Dies  ist  die 
eigentliche  Sonatenform. 

Beide  Formen,  oder  vielmehr  Arten  der  einen  Sonatenform 
werden  für  Sätze  schneller  wie  langsamer  Bewegung  angewendet. 
Wir  werden  sie  zuerst  an  erstem  studiren,  weil  sie  eben  hier,  wo 
die  Bewegung  von  einem  Satze  zum  andern  und  die  Beweglichkeit 
der  Sätze  vorherrscht,  ihre  Natur  am  deutlichsten  enthüllen.  Die 
kleine  Sonatenform  würde  übrigens  kaum  einer  besondern  Aufwei- 
sung bedürfen,  wenn  wir  nicht  damit  zugleich  der  eigentlichen  So- 
natenform vorarbeiteten.  Aus  diesem  Grunde  sei  sie  im  Folgenden 
genau  durchgenommen. 


Erster  Abschnitt. 
Die  Sonatinenform. 

Diese  Form  ist  bei  dem  ersten  Hinblick  als  Zurückfübrung 
der  fünften  Rondoform  auf  zwei  Theile  durch  Auswerfung  des 

mittlem  erschienen.  Allein  es  versteht  sich,  dass  solche  Auffas- 
sungsweise nur  eine  vorläufige  Veranschaulichung  beabsichtigte,  uns 


*  Sonate  heisst  bekanntlich  (wie  weiterhin  zu  besprechen  sein  wird)  ein 
aus  mehrern  abgesonderten  Sätzen,  z.  B.  aus  Allegro,  Adagio,  Scherzo  und 
Finale  zusammengesetztes  Tonstück  für  ein  (oder  zwei)  Instrumente.  Mit  dem 
Namen  Sonatenform  aber  bezeichnen  wir  —  in  Ermanglung  eines  andern 
bereits  geläufig  wordnen  Namens  —  die  ganz  bestimmte  Form  eines  einzigen 
Tonstücks.  Der  hin  und  wieder  gebrauchte  Name  »Allegro«  oder  »Alle- 
groform«  ist  schon  deswegen  unangemessen,  weil  die  Sonatenform  auch  häufig 
für  langsame  Sätze  angewendet  wird. 


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Die  Sonatinenform. 


203 


nur  vorläufig  vergewissern  sollte,  dass  wir  alle  Bedingungen  und 
Voraussetzungen  der  neuen  Form  schon  in  Händen  hätten.  In 
der  That  aber  wird  diese  Form  wie  jede  durch  den  Inhalt  des  Ton- 
werkes, wie  er  sich  in  der  Seele  des  Komponisten  gebiert  und  aus- 
gestaltet, hervorgerufen,  oder  vielmehr :  ist  nichts  als  diese  Ausge- 
staltung. 

Hiermit  verweist  selbst  jene  äusserliche  Anknüpfung  auf  den 
Inhalt  und  Antrieb  der  Sonatinenform. 

Ein  leichterer,  flüchtig  weiter  führender  Satz,  der  nicht  sowohl 
für  sich,  vielmehr  als  Bestandteil  eines  grössern  Ganzen  beweglich 
in  einander  greifender  Bestandteile  gelten  will :  das  ist  der  Keim 
eines  solchen  Tonstücks;  leichte  Fortbewegung  und  Verknüpfung 
ist  hervortretender  Karakterzug  desselben. 

Hier*  — 


225  Aiiegretto. 


I 


7  j  J 
=— * — /—  #  4 


rit. 

•4— & 


7  fr,  A  7  P  D  7  A  ^P- 


=F=F=F  p  r 

haben  wir  einen  solchen  Satz  vor  uns,  der  als  Beispiel  der  So- 
natinenform in  Dur  dienen  soll.  Wollten  wir  auch  annehmen, 
dass  er  irgend  einen  Grad  von  künstlerischem  Interesse  erweckt :  so 
ist  doch  offenbar  sein  Inhalt  ein  nicht  tief  anregender,  das  Ganze 
aus  leichten  Motiven  leicht  und  flüchtig  gewebt.  Der  Satz  erscheint 
für  sich  selbst  nicht  wichtig  genug,  reizt  uns  also  zu  raschem  Fort- 
schreiten.   Sollte  er  Hauptsatz  eines  Rondo's  werden,  so  müssten 


*  In  diesem  und  den  folgenden  Beispielen  hat  aus  Rücksicht  auf  den  Raum 
nur  das  Noth wendigs te  gegeben,  nur  ein  Entwurf  auf  einer  Zeile 
gesetzt  werden  können.  Die  Unterstimme  soll  den  Bass  andeuten  und  ist 
dazu  bald  eine,  bald  zwei  Oktaven  tiefer  zu  stellen,  bald  als  blosse  Harmonie- 
Andeutung  anzusehn.  —  Diese  Abfsssungsweise  hat  auch  auf  den  Inhalt  nach- 
theiligen Einfluss  gehabt;  er  erscheint  zu  einseitig  in  die  Diskantregion  ge- 
drängt, nicht  spielvoll,  nicht  klaviermässig,  überhaupt  nichts  weniger  als  reich 
entwickelt. 


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204 


Die  Sonatenform. 


wir  ihn  durch  festern  Abschluss  wenigstens  zu  einer  formellen  Be- 
stimmtheit fördern,  um  ungeachtet  der  Leichtigkeit  seines  Inhalts 
genügenden  Anhalt  an  ihm  zu  haben.  —  Umgekehrt  hat  in  dem 
S.  \9\  betrachteten  Beethoven 'sehen  Rondo  die  leidenschaft- 
liche, in  scharfen  an  einander  gedrängten  Gegensätzen  sich  kund- 
gebende Bewegung  ersetzt,  was  dem  Hauptsatz  an  fester  Ausprä- 
gung der  Form  abgeht. 

Wie  haben  wir  nun  den  obigen  Anfang  (No.  225)  weiter  zu 
führen  ? 

Er  zeigt  sich  als  ein  Vordersatz,  fodert  also  anscheinend 
seinen  Nachsatz,  das  heisst:  vollendete  Periodengestalt.  Dagegen 
ist  kein  Antrieb  zu  zweitheiliger  Liedform  vorhanden;  der  Inhalt 
ist  nicht  so  bedeutsam,  dass  er  weitern  Raum  foderte;  und  der  (auf 
die  Dominante  fallende)  Halbschluss  lässt  eher  einen  Schluss  im 
Hauptton,  als  in  der  Tonart  der  Dominante  erwarten. 

Wir  gehn  so  weiter: 


h  i 

■  i 


4- 


226 


m 


1 


g     r'jrif.r  ton  t«ij 

Dass  hier  ein  Salz  geschlossen,  ist  klar.  Aber  wie?  nicht 
einmal  mit  einem  Ganzschluss,  weder  im  Haupttone  noch  in  der 


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Die  Sonatinenform. 


205 


Dominante.  Zwar  zeigt  sich  im  dreizehnten  Takte  der  Dominant- 
akkord (oder  gar  nur  verminderte  Dreiklang)  von  Ddur;  aber  er 
tritt  auf  dem  vierten  Viertel,  also  auf  dem  leichtesten  Takttheil, 
in  einer  Umkehrung  und  zu  einer  so  beweglichen  Kantilene  auf, 
dass  gar  nicht  das  Gefühl  des  Schlusses,  sondern  das  Bedürfniss 
weitern  Fortgangs  entsteht.  Darauf  folgt  denn  —  ein  Halbschluss 
im  Hauptton  (wie  in  No.  225  bei  dem  Vordersatz),  und  zwar  mit 
der  Mollharmonie  der  Tonika,  so  dass  man  nicht  einmal  an  einen 
sogenannten  Kirchenschluss  in  D  (Th.  I,  S.  319)  denken  kann.  Die 
ganze  Formel  von  Takt  3  bis  zu  Ende  ist  nichts,  als  ein  befestig- 
ter Halbschluss  im  Haupttone. 

Der  Vordersatz  hätte  zu  einem  Hauptsatze  für  ein  Rondo  be- 
nutzt werden  können ;  jetzt,  wo  die  Flüchtigkeit  der  Gestaltung  zu 
der  Leichtigkeit  des  Inhalts  kommt,  ist  nicht  mehr  an  die  Stabili- 
tät eines  Rondo,  sondern  nur  an  gleich  leichten  Fortschritt  und 
somit  an  den  fortdrängenden  Gang  der  Sonatenform  zu  denken. 

Allein  —  ist  denn  der  Inhalt  unseres  Satzes  ein  drängender? 
Dazu  haben  wir  ihn  wohl  schon  zu  leicht  befunden;  er  fodert 
leichtere  Behandlung,  —  wie  im  Bisherigen,  so  im  Weitern. 

Dies  zeigt  sich  zunächst  in  der  Weise,  wie  der  Seitensatz  an 
den  Hauptsatz  anschliesst;  eine  Weise,  die  der  Sonatinenform 
eigen  und  ihr  auffallendster  Unterschied  von  der  Sonatenform  ist. 
Wir  zeigen  ihn  gleich  praktisch  am  vorliegenden  Falle. 

Der  Schluss  in  No.  226  ist  unstreitig  ein  blosser  Halbschluss 
und  die  Tonart  unverändert  Gdur.  Allein  der  letzte  Akkord,  — 
also  der  Schlussakkord,  —  ist  der  Dreiklang  auf  der  Dominante, 
auf  d.  Nach  einer  längst  uns  geläufigen  Vorstellung  (Th.  I,  S  79) 
erinnert  dieser  Dreiklang  an  die  Tonart  seines  Grundtons,  an 
Ddur;  ja,  in  der  Modulationslehre  haben  wir  schon  (Th.  I,  S.  238) 
erkannt,  dass  ein  nach  einem  Schlüsse  frisch  eintretender  Dreiklang 
uns  in  die  von  ihm  angedeutete  Tonart  versetzen  kann,  —  mittels 
eines  Modulationssprunges.    Ein  solcher  finde  hier  statt. 

Wir  sind  zwar  noch  in  Gdur,  der  Schlussakkord  ist  nur 
der  Dominantdreiklang  von  C,  aber  er  erinnert  an  die  Tonart 
der  Dominante,  Ddur,  und  so  bestimmen  wir: 

er  soll  der  tonische  Dreiklang  dieser  neuen  Tonart  sein. 

Dies  ist  unstreitig  die  leichteste  oder  flüchtigste  Weise,  in  die 
neue  Tonart  und  zum  Seitensatze  gelangt  zu  sein;  es  ist  die  Mo- 
dulationsweise der  Sonatine. 

Wir  fahren  also,  mit  Wiederholung  des  letzten  Taktes  aus 
No.  226,  so  fort:  — 


4 
I 


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BAU 

Sonatenfoim . 

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Der  Seitensatz,  der  hier  mit  dem  zweiten  Takt  anhebt,  hat 
nicht  einmal  den  Weg  zu  periodischer  Bildung  eingeschlagen;  er 
besteht  im  Grunde  nur  aus  einem  einfachen  auf  dem  vierten  Takte 
schliessenden  Satze,  der  mit  einer  Wendung  nach  ITmoll,  dann 
noch  zweimal  in  JEmoll,  —  stets  unter  Versetzung  aus  einer  Stimme 
in  die  andre,  — wiederholt  wird;  auch  hier  also  offenbart  sich  die 
leichte  Weise  des  Ganzen.  Mit  dem  zehnten  Takte  wird  in  den 
jetzigen  Hauptton  (den  Hauptton  des  Seitensatzes)  zurückgegangen 
und  derselbe  nun  festgehalten ;  der  zehnte  bis  zwölfte  Takt  wie- 


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Die  Sonatinenform.  207 

derbolt  (wenigstens  im  Wesentlichen )  den  Kern  des  Seitensatzes, 
so  dass  man  denselben  erst  hier  für  geschlossen  erachten  muss. 

Von  diesem  Abschluss  des  Seitensatzes  an  war  jedenfalls  noch 
ein  weiterer  Fortgang  noth wendig,  um  das  Ganze  in  der  Tonart 
des  Seitensatzes  fester  und  befriedigender  abzurunden ;  dies  war  um 
so  notwendiger,  je  loser  die  Modulation  des  Seitensatzes  sich  ge- 
bildet hatte.  Daher  beginnt  nun  vom  zwölften  Takt  ein  Gang,  der 
in  den  letzten  fünf  Takten  (die  mit  bis  bezeichneten  doppelt  ge- 
rechnet) durch  einen  Schlusssatz  den  ersten  Theil  des  Tonstücks 
endet. 

Nach  dieser  Uebersicht  des  Ganzen  ist  zweierlei  noch  beson- 
ders nachzuholen. 

Erstens:  wir  haben  die  Modulation  des  Seitensatzes  eine 
losere  genannt;  ist  sie  folglich  nicht  tadelnswerth,  da  es  ja  bei  uns 
stand,  sie  fester  zu  bilden?  Nein.  Obgleich  man  von  Sätzen,  die 
nur  zur  Veranschaulichung  der  Lehre  und  Arbeitsweise  verfasst 
worden,  nicht  die  tiefe  Begründung  fodern  wird  (S.  4  66  Anm.), 
die  dem  wahren  Kunstwerk  aus  der  Fülle  des  in  ihn  versenkten 
Künstlergeistes  innere  Notwendigkeit  aller  seiner  Momente  giebt: 
so  ist  doch  die  Bildung  des  Seitensatzes  der  des  Hauptsatzes,  also 
dem  Sinn  des  Ganzen  wohl  entsprechend.  Auch  der  Hauptsatz  ist 
keine  fest  abgerundete  Bildung,  sondern  besteht  wesentlich  aus  dem 
Satz  in  No.  225  (oder  dem  Kern  der  zwei  ersten  Takte  daselbst), 
dem  nun  statt  eines  abschliessenden  Nachsatzes  veränderte  und 
weiter  führende  Wiederholung  (No.  226;  folgt.  Ihm  entspricht  die 
Bildung  des  Seitensatzes,  in  welchem  Takt  3  der  kurze  Kernsatz 
in  wörtlicher  Wiederholung,  nur  in  einer  andern  Stimme,  wieder- 
kehrt und  erst  am  Schluss  anders  gewendet  wird.  Der  Satz  selbst 
ist  hier  befestigt;  aber  es  hat  sich  an  seiner  Wiederholung  eine 
neue  Intention  kundgethan :  der  Wechsel  zweier  Stimmen.  Folg- 
lich musste  auch  dieser  weitere  Folge  gegeben  werden,  wenn  sie 
nicht  als  eine  bloss  zufällige  und  einflusslose  wieder  fallen  sollte ; 
selbst  wenn  die  Wiederholung  der  alternirenden  Stimmen  verzö- 
gert, z.  B.  so  — 


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208 


Die  Sonatenform. 


mit  einem  Zusätze  zu  einem  festen  Satz  (der  hier  mit  dem  sieben- 
ten Takte  schliesst)  abgerundet  würde,  könnte  die  Wiederholung 
—  nunmehr  des  ganzen  Satzes  (sie  beginnt  Takt  8  im  obigen  Bei- 
spiel) nicht  wohl  umgangen  werden;  sie  war  vielmehr  bei  der  grös- 
sern Gewichtigkeit  des  Satzes  um  so  nothwendiger  geworden.  Uebri- 
gens  erkennt  man  an  diesem  Beispiel,  dass  ein  fester  gebildeter 
Seitensatz  weniger  dem  Sinne  des  Tonstücks  entspräche,  als  der  in 
No.  227  festgesetzte. 

Zweitens:  ist  das,  was  wir  in  No.  227  dem  Seitensatze  bis 
zum  Schlusssatze  zugefügt  haben,  wirklich  ein  Gang  ?  —  Wir  haben 
es  oben  kurzweg  so  genannt,  weil  dieses  Zugefügte  jedenfalls 
an  der  Stelle  oder  anstatt  eines  Gangs  ist;  genauer  hätten 
wir  diese  Bildung  als  eine  jener  zweideutigen  oder  Mittelgestalten 
bezeichnen  sollen.  Bei  schärferer  Betrachtung  finden  wir  nämlich 
den  auf  den  elften  Takt  des  Seitensatzes  fallenden  Schluss  in 
Takt  12  und  43  durch  abermalige  Schlussformeln  verstärkt;  mit  dem 
letzten  Takte  beginnt  ein  Satz  von  vier  Takten,  der  abermals  auf 
einen  wiederholten  Schluss  ausläuft;  auch  dieser  Satz  wird  (obwohl 
sehr  geändert)  wiederholt,  und  hier  erst  wird  der  Schluss,  nach- 
dem er  verlängert  worden,  vom  zweiundzwanzigsten  Takte  an  gang- 
artig  weitergeführt,  —  um  bald  wieder  in  den  Hauptton  und  zum 
Schlusssatze  zu  führen.  Vorherrschend  ist  also  hier  die  Satzform, 
und  zwar  mit  fortwährender  Neigung,  einen  Schluss  im  Haupltone 
zu  machen  oder  zu  befestigen;  man  könnte  jeden  der  Sätze  für 
einen  Schlusssatz  erachten,  so  wenig  eigne  Bedeutung  hat  er,  so 
wenig  ist  einer  derselben  um  seiner  selbst  willen  da ;  sogar  der 
eigentliche  Schlusssatz  gewinnt  durch  seine  Stützung  auf  die  Unter- 
dominante festere  Haltung.  Aber  eben  darin  spricht  sich  das  Gang- 
hafte jener  Sätze  aus.  Es  hat  sich  nur  dadurch  verborgen,  dass 
die  Sätze  insgesammt  in  derselben  Tonart  bleiben.  WTären  wir  vod 
Takt  13  an  so,  — 

I     I    I  1  J     J  I 


k±±J  rfr? 


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Die  Sonatinenform. 


209 


oder  auch  nur  nach  Festsetzung  des  ersten  dieser  Sätze  vom  sech- 
zehnten Takte  so  — 


glied-  oder  satzweise  fortgeschritten,  so  würde  die  Natur  des  Ganges 
klarer  hervorgetreten  sein.  Dann  wäre  aber  bei  der  Beweglichkeit 
des  Seitensatzes  ein  Uebergewicht  der  Bewegung ,  eine  Erregung 
die  Folge  gewesen,  die  dem  leichten  Inhalt  und  Gange  des  Ganzen 
nicht  angemessen  schiene.  — 

Hiermit  haben  wir 

den  ersten  Theil 
unsers  Tonstücks,  ähnlich  dem  der  fünften  Rondoform,  festgestellt. 

Soll  jetzt  als  zweiter  Theil,  wie  in  den  letzten  Rondoformen, 
ein  zweiter  Seitensatz  folgen?  —  Der  Inhalt  des  ersten  Theils  ist 
zu  leicht  gefasst  und  abgefertigt,  als  dass  er  zu  weiterm  Fort- 
schreiten, zur  Aufstellung  eines  Gegensatzes  reizen  könnte. 

Daher  geht  nun  unser  Weg  entweder  ohne  Weiteres  zum 
Wiederanfang  des  Hauptsatzes,  oder  es  erfolgt  diese  Rückkehr  des 
Hauptsatzes  nach  einem  überleitenden  Gange,  der  entweder  schon 
auf  der  Dominante  des  Haupttons  orgelpunktartig  steht,  oder  zu 
einem  Orgelpunkte  dahin  führt. 

Im  obigen  Beispiel  würden  wir  den  sofortigen  Wiederanfang 
vorziehn,  weil  Harmonie  und  Melodie  auf  das  Beste  dazu  bereit 
liegen.  Wäre  dies  nicht  der  Fall,  hätten  wir  z.  B.  für  gut  befun- 
den, den  Schlusssatz  lebhafter  hinaufzuführen  — 


eine  Heftigkeit,  die  im  Vorhergehenden  gar  nicht  begründet  wäre), 
so  würden  wir  eines  Ueberleitungssatzes  bedürfen,  um  wieder  auf 
den  harmlosem  Anfang  zurückzukommen;  wir  könnten  so  — 


Marx,  Komp.-L.  HL  5.  Aufl.  14 


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210  Die  Sonatenform. 


zum  Anfang  (im  letzten  Takte)  zurückkehren.  —  Gleiches  Bedürf- 
niss  tritt  hervor,  wenn  Seiten-  und  Schlusssatz  in  einer  fremdern 
Tonart  stehn,  z.  B.  in  einem  TonstUck  aus  Moll  in  der  Parallele. 
Angenommen,  unser  Hauptton  wäre  HmoW  gewesen  und  der  Schluss 
ständ'  also  in  der  Parallele,  Z)dur:  so  wär'  es  nicht  wohlgethan, 
von  da  (nach  No.  227)  sogleich  wieder  nach  //moll,  mit  der  Quinte 
in  der  Oberstimme,  zurückzuspringen;  man  hätte  Grund  zu  einer 
vermittelnden  Ueberleitung,  die  sich  vom  vorletzten  Takte  von 
No.  227  etwa  so,  — 


oder  mit  weiterer  Ausdehnung  so  — 


hätte  machen  und  in  den  Hauptton  (das  jetzt  dafür  angenommene 
//moll)  und  das  erste  Motiv  hätte  zurückführen  können.  —  Man  er- 
kennt hier,  und  schon  im  Schlusssatze  von  No.  227,  wie  vorlheil- 
haft  es  für  innigere  Verknüpfung  des  Ganzen  ist,  wenn  man 
am  Schluss  und  vor  dem  Wiederanfang  auf  die  ersten  Motive  zu- 
rückkommen kann.  Technisch  würde  dies  allerdings  jederzeit  mög- 
lich sein,  nicht  aber  dem  Sinn  jeder  besondern  Komposition  gemäss. 


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Die  Sonatinenform. 


211 


Wir  wollen  uns  also  das  Vortheilhafte  solcher  Ueberleitung  nicht 
entgehn  lassen,  wohl  aber  auch  hier  uns  hüten,  aus  einer  bis- 
weilen oder  oft  erspriesslichen  Maassnahme  eine  allgemeine  zwin- 
gende Regel  zu  raachen. 

Es  ist  noch  ein  dritter  Fall  (S.  207)  möglich.  Wir  be- 
dürfen bisweilen  einer  Ueberleitung  oder  Einschiebung  zwischen 
dem  Schluss  des  ersten  Theils  und  dem  Wiederanfang,  mögen  aber 
dazu  keins  der  schon  vorhandnen  Motive  benutzen.  Angenommen, 
unser  erster  Theil  hätte  den  in  No.  231  aufgewiesenen  Schluss  ge- 
habt und  wir  fühlten  das  Redürfniss,  der  damit  gegebnen  zu  gros- 
sen Erregung  eine  um  so  entschiednere  Reruhigung  entgegen  zu 
setzen:  so  könnte  schon  die  in  No.  232  gegebne  oder  jede 
ähnliche  Rückleitung  zu  lebhaft,  also  für  den  jetzigen  Zweck  unge- 
eignet erscheinen.  Wir  wollen,  um  den  bewegtem  Schluss  besser 
zu  motiviren,  abermals  als  Hauptton  nicht  Gdur,  sondern  Hmoll 
annehmen.  Dann  könnte  sich  eine  Ueberleitung,  wie  die  nach- 
folgende — 


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235 


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ergeben. 

Hier  sehn  wir  abermals,  wie  eng  sich  die  Sonatinenform  und 
durch  sie  die  Sonatenform  an  die  fünfte  Rondoform  anschliesst.  Der 
in  No.  235  auftretende  Satz  tritt  offenbar  an  die  Stelle  des  zwei- 
ten Seitensatzes.  Nur  reift  er  nicht  zu  einem  solchen;  er  ist  viel- 
mehr auf  einfache  Satzform  und  den  Umfang  von  vier  Takten  be- 
schränkt, und  führt  nach  einmaliger  Wiederholung  in  einen  Gang 
und  zum  Wiederanfang,  so  dass  Niemand  ihn  für  gleich  gewichtig 
mit  dem  Haupt-  oder  ersten  Seitensatz  ansehn  wird. 


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212 


Die  Sonatenform 


Wie  nun  auch  der  Rückschritt  zum  Hauptsatz  geschehn  sei, 
mit  seinem  Eintritt  beginnt 

der  zweite  Theil 
der  Sonatine.   Hieraus  ergiebt  sich  schon,  dass  sie  nur  aus  zwei 
Theilen  bestehen  kann;  der  ehemalige  zweite  Theil  (nämlich  aus 
der  fünften  Rondoform  der  zweite  Seitensatz)  ist  ja  ausgefallen  und 
damit  der  ehemalige  dritte  Theil  zum  zweiten  geworden. 

Der  Inhalt  dieses  zweiten  Theils  nun  ist  aus  der  Rondoform 
bekannt;  er  ist  aus 

Hauptsatz,  Seitensatz,  Gang  und  Schiusssatz 
zusammenzustellen,  die  insgesammt  im  Hauptton  —  also  bei  uns 
in  Gdur  —  auftreten. 

Allein  auch  bei  der  Zusammenstellung  waltet  die  leichtere 
Weise  der  Sonatinenform  vor. 

Im  ersten  Theil  endete  der  Hauptsatz  mit  seinen  Anhängseln 
in  einem  Halbschluss  auf  der  Dominante  des  Haupttons,  und  wir 
setzten  damals  fest: 

es  solle  diese  Dominante  für  den  Sitz  der  neuen  Tonart 
Z)dur,  für  den  Seitensatz  gelten. 
Diese  Annahme  war  willkürlich;  eben  so  gut  (oder  vielmehr 
richtiger)  konnte  der  damalige  Schlussakkord  als  Dominante  des 
Haupttons  (Gdur)  gelten,  und  wir  erkannten  nur  in  jener  Leichtig- 
keit, uns  aus  einem  in  den  andern  Ton  zu  versetzen,  einen  Ka- 
rakterzug  der  Sonatine. 

Jetzt  —  im  zweiten  Theile  — "  wird  zuvörderst  der  ganze 
Hauptsatz  mit  seinem  Anhange,  bis  zum  Schlüsse  von  No.  226 
wiederholt.  Nun  aber  wenden  wir  uns  auf  die  andre  Seite  obiger 
Modulationsannahme : 

der  Schlussakkord  soll  als  Dominante  des  Haupttons  geltend 
bleiben ; 

und  hiermit  wird  denn  der  Seitensatz  mit  Gang  und  Schlusssatz, 
wie  er  in  No.  227  gebildet  war,  wiederholt,  jetzt  aber,  zum  Ab- 
schluss  des  Ganzen  (wie  im  Rondo  vierter  oder  fünfter  Form)  im 
Hauptton.   Er  setzt  also  so  — 

v=f=f=l=3     7  Elf  LLü^WfrTffli 

ein  und  geht  mit  kleinen  Abweichungen  oder  in  wörtlicher  Wieder- 
holung zu  Ende. 

Ob  dann  noch  ein  Anhang  gebildet,  ob  in  demselben  —  oder 
gelegentlich  bei  Wiederholung  des  Seitensatzes,  oder  des  nach- 
folgenden Ganges  die  Unterdominante  berührt  werden  soll :  das  ist 


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Die  Sonatinenform. 


213 


in  jedem  einzelnen  Falle  nach  dem  Bedürfnis  desselben  zu  beur- 
theilen.  Der  Anhang  sowohl  als  die  Berührung  der  Unterdominante 
dienen  bekanntlich  zu  festerer  und  ruhigerer  Abschliessung  eines 
Tonstücks ;  es  muss  also  aus  dem  Inhalt  jeder  besondern  Komposi- 
tion entschieden  werden,  ob  und  wie  weit  es  für  sie  einer  solchen 
verstärkten  Abschliessung  bedarf.  Im  vorliegenden  Falle  scheint 
eine  solche  unmotivirt;  bei  dem  leichten  Inhalt  und  dem  langen 
Verweilen  des  Gangs  und  Schlusssatzes  in  der  Tonart  des  Seiten- 
satzes (No.  227),  also  zuletzt  im  Haupttone,  bedarf  es  keiner  wei- 
tern Befestigung  des  Schlusses.  Wäre  dem  aber  anders,  so  könnte 
gleich  beim  Eintritt  des  Seitensatzes  die  Unterdominante  angeregt 
werden,  — 


337 


r 


worauf  das  Weitere  im  Hauptton  folgte,  wie  in  No.  227  in  der 
Dominante.  Oder  man  könnte  einen  Abschnitt  des  Seitensatzes  in 
die  Unterdominante  stellen  — 


238 


A 


#I-J  1 

 ß — a  

r^=  Jt 

1  -&~  4 

¥^ 

— 1  i — 

Bei  a  hätte  sich  der  Satz  nach  A  moll  wenden  sollen ,  wie  in 
No.  227  nach  EmoU;  statt  dessen  tritt  er  in  die  Unterdominante. 
Bei  b  hätte  fortgefahren  werden  können,  wie  in  No.  227  im 
neunten  Takte  des  Seitensatzes ;  statt  dessen  wird  nun  die  Wen- 
dung nach  ylmoll  nachgeholt  und  erst  im  letzten  Takte  wieder  in 
die  ursprüngliche  Weise  eingelenkt,  so  dass  der  Seitensatz  um  zwei 
Takte  erweitert  ist.  Oder  endlich  konnte  im  Gang  oder  einem  An- 
hange die  Unterdominante  benutzt  werden,  was  keiner  weitern  Auf- 
weisung bedarf. 

Dies  ist  die  Form  der  Sonatine.  Sie  zeigt  wieder  zweitheilige 
Konstruktion, 

Theil  I.  Theil  IL 

HS    SS    G    SZ  HS    SS    G  SZ 


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214 


Die  Sonatenform 


dergleichen  wir  seit  den  Lied-  und  Ettidenformen  nicht  mehr  ge- 
funden; ja,  es  ist  sogar  der  zweite  Theil  der  Hauptsache  nach 
nichts  als  Wiederholung  des  ersten.  Und  dennoch :  wie  weit 
reicher  und  gesättigter  ist  hier  die  Form  der  Zweitheiligkeit,  als 
zuvor!  —  Gleichwohl  herrscht  dasselbe  Konstruktionsgesetz,  nur 
auf  grössere  Massen  und  zusammengesetztere  Verhältnisse  ange- 
wandt. Dieses  Fortbestehn  und  immer  weiter  greifende  Wal- 
ten unsrer  ersten  Grundsätze  ist  aber  nicht  bloss,  wie  wir  Th.  1, 
S  7  vorhergesagt,  eine  Bestätigung  derselben,  sondern  eine  mäch- 
tige Hülfe  bei  der  künstlerischen  Konzeption :  denn  damit  werden 
die  so  einfachen  und  doch  so  durchgreifenden  Gesetze  der  Vorstel- 
lungs-  und  Denkweise  dem  Künstler  wahrhaft  zu  eigen ;  sie  lenken, 
bestimmen,  sichern  seine  Auffassungen  vom  ersten  Keim  an  bis  zur 
Vollendung  des  Werks. 

Die 

Sonatinenform  in  Moll 

dürfte  sich  wohl  seltener  gerechtfertigt  finden,  da  der  Karakter  des 
Mollgeschlechts  dem  leichten  ,  flüchtigen  Sinne  der  Sonatinenform 
weniger  entspricht ;  auch  erinnern  wir  uns  keines  erheblichen  Falls 
dieser  Form. 

Sollte  sie  zur  Anwendung  kommen,  so  müsste  sie  denselben 
Gesetzen  folgen.  Nur  ein  mehr  leicht  berührender  als  tief  greifen- 
der Satz,  z.  B.  dieser,  — 


der  nach  erfoderlicher  Weiterführung  einen  befestigten  Halbschluss 
auf  der  Dominante  machte,  z.  B.  — 


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Nähere  Nachweise  über  die  Sonatinenform. 


215 


würde  gegründeten  Anlass  für  die  leichte  Form  geben.  Nach  dem 
Halbschlusse  würde,  eben  wie  in  Dursätzen,  im  ersten  Theile  der 
Seitensatz  in  der  Parallele  eintreten,  z.  B.  — 


im  letzten  Theil  erfolgte  derselbe  Eintritt  im  Haupttone  —  und  zwar 
in  Moll  oder  sogar  in  Dur,  — 


242 


und  zwar  in  allen  Fällen  ohne  eigentlichen  Uebergang,  —  und 
wenn  man  für  gut  befunden  hätte,  den  Seitensatz  auch  zuletzt  in 
Dur  aufzuführen,  so  könnte  Gang  und  Schlusssatz  in  Dur  gesetzt, 
oder  damit  nach  Moll  zurückgekehrt  werden.  Im  letztern  Fall 
würde  es  wahrscheinlich  eines  weitem  Anhangs  bedürfen,  um  dem 
zurückgesetzten  Moll  noch  das  erfoderliche  Gewicht  zu  geben. 


Zweiter  Abschnitt. 
Nähere  Nachweise  über  die  Sonatinenform. 

Wir  haben  im  vorigen  Abschnitte  die  Sonatinenform  an  prak- 
tisch vor  uns  entstehenden  Beispielen  erläutert.  Jetzt  liegt  uns 
der  Nachweis  derselben  an  einigen  Werken  der  Meister  ob. 
Wir  wenden  uns  hier  vornehmlich  an  Mozart;  in  der  Richtung 
seiner  Klavierkomposition  war  es  bedingt,  dass  er  sich  der  leichten 
Form  häufiger  bediente.  Oft  mag  die  Hast,  die  ihm  durch  Ver- 
hältnisse (wie  er  selber  klagt)  geboten  wurde,  dazu  gedrängt  haben ; 
stets  kam  ihm  dann  die  geniale  Leichtigkeit  seiner  Konzeption  zu 
Hülfe,  dergestalt,  dass  man  bei  keiner  seiner  hierher  zu  zählenden 
Kompositionen  Anlass  findet,  sie  anders  oder  statt  ihrer  eine  andre 
zu  wünschen. 

Das  erste  Beispiel  giebt  uns  der  erste  Satz  der  vierhändigen 
D  dur-Sonate*. 

Der  Hauptsatz  ist  noch  leichter  gewebt,  wie  der  unsrige ;  nach 
einem  aus  zweierlei  Motiven  gebildeten  Satze  — 


*  Heft  7,  No.  3  der  Breitkopf-Hörtel'schen  Gesammtausgabe ;  No.  1  der 
neuen  Einzelausgabe. 


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216 


Die  Sonatenfoiw. 


243 


(die  letzten  beiden  Takte  werden  wiederholt)  folgt  ein  zweites 
Sätzchen  — 


4  i 


244 


(das  höchstens  mit  seinem  zweiten  Motiv  an  den  ersten  Satz  erin- 
nert), und  diesem  ein  drittes,  — 


^ffT^fTriirn  ,  | f  J  J  | 

I  T 


das  mit  einem  Halbschlusse  den  ganzen  Hauptsatz  auf  das  Kürzeste 
und  Leichteste  endet. 

Nun  wird  auf  den  Grund  des  Dominantdreiklangs  angenommen, 
dass  wir  uns  in  der  Tonart  der  Dominante  befänden,  und  ohne  Wei- 
teres ein  eben  so  locker  gewebter  Seitensatz  in  Adur  eingesetzt. 
Er  besteht  im  Grunde  nur  aus  dem  Sätzchen,  — 


246 


das  mit  einer  kleinen  Aenderung  wiederholt  und  leichtweg  — 


«*7 


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r 


geschlossen  wird.  Hier  hängt  Mozart  eine  ganghafte,  aber  satz- 
artig schliessende  Stelle  an  — 


248 


tr 

f  1            1  f   

(eine  jener  Mittelbildungen,  die  zwischen  zwei  Formen  stehn  und 
von  beiden  annehmen) ,  und  endet  mit  eben  so  leichtem  Schlusssatze. 
Nun  folgt  als  Ueberleitung  zum  Wiederanfang  eine  Reihe  von 


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Nähere  Nachweise  übei*  die  Sonatinenform. 


217 


einundzwanzig  Takten.  Bemerkt  man,  dass  der  ganze  erste 
Theil  nur  dreissig  Takte  hat,  so  könnte  der  vorläufige  Anblick 
zweifelhaft  machen,  ob  wir  nicht  hier  ein  Rondo  fünfter  Form  vor 
uns  hätten.  Allein  die  genauere  Betrachtung  zeigt  uns,  dass  hier 
von  einem  zweiten  Seitensatze  nicht  die  Rede  sein  kann.  Mozart 
stellt  zuvörderst  einen  neuen,  wieder  aus  zwei  verschiednen  Par- 
tien gebildeten  Satz  in  der  Dominantparallele  auf,  — 


und  wiederholt  ihn  eine  Stufe  tiefer,  also  in  A  dur.  Nun  folgt  ein 
Gang  — 


1—    TT  ^ 


=T       -  |fe 


250 


e 


7 


6  6 

von  acht  Takten,  der  auf  einen  Halbschluss  auf  der  Dominante  des 
Haupttons  und  zwei  Takte  weiter  zum  Hauptsatz  zurückführt.  Es 
ist  klar,  dass  das  viertaktige,  in  der  Modulation  sogleich  weiter 
rückende  Sätzchen  in  No.  249  nur  ein  vermittelnder,  kein  Seiten- 
satz sein  kann.  —  Von  da  an  wird  der  Hauptsatz  mit  seinem 
Halbschluss  unverändert  wiederholt. 

Dasselbe  geschieht  mit  dem  Seitensatze,  der  nun  wie  im  vori- 
gen Beispiel  ohne  Weiteres  im  Hauptton  auftritt,  sieben  Takte  weit. 
Hier  aber  macht  der  Komponist  einen  vollkommnen  Schluss  und 
wiederholt  den  ganzen  Seitensatz,  —  aber  die  ersten  Takte  in  Moll 
(ZJmoll),  —  worauf  dann  Gang  und  Schlusssatz  (dieser  ebenfalls 
erweitert)  das  Ganze  beenden. 

Ein  sehr  ähnliches  Beispiel  bietet  der  erste  Satz  der  vierhän- 
digen Ädur-Sonate  desselben  Meisters*,  nur  dass  sie  in  allen 
Theilen  energischer  zusammengehalten  ist;  schon  der  Hauptsatz, 
noch  mehr  der  Seitensatz  (bei  dessen  Wiederholung  sich  ein  artiges 
Spiel  der  Stimmen  — 


251 


m 


J  iJ    I  i  J 


n  J    J  J 


MM  mnm 


*  In  demselben  Hefte  No.  4 ;  No.  2  der  neuen  Einzelausgabe. 


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218 


Die  Sonatenform. 


XELFW3 


macht)  bezeugen  das.  Daher  bedarf  es  eines  kräftigern  Schluss- 
satzes, der  sich  so  — 


I 


wie  hier  der  dürftige  Auszug  andeutet)  bildet,  mit  Versetzung 
der  Stimmen  wiederholt,  und  noch  eine  Durchführung  des  ersten 
Motivs  aus  dem  Hauptsatze  (gleichsam  einen  Anhang)  nach  sich 
zieht,  die  zu  beruhigenderm  Schluss  und  zugleich  zur  Rückführung 
in  den  Hauptsatz  und  UeberfUhrung  in  den  zweiten  Theil  dient. 
Letztere  macht  sich  einiger  mit  dem  Vorhergegangenen  und  zu- 
gleich kürzer,  als  in  der  Z)dur-Sonate.  Zu  Ende  des  zweiten 
Theils  wird  der  Schlusssatz  in  die  Unterdominante  gewendet,  — 


253 


I 


^4 


von  da  in  die  Oberdominante  und  den  Hauptton,  abermals  wieder- 
holt und  jene  Reminiscenz  aus  dem  Hauptsatze  zu  einem  voll  be- 
friedigenden Anhange  benutzt. 

Das  letzte  Reispiel  gebe  der  erste  Satz  der  freundlichen  klei- 
nen Cdur-Sonate*.  Es  ist  hier,  nach  allem  bereits  Erörterten, 
nur  die  ungleich  reichere  und  buutere  Zusammensetzung  merkens- 
werth. 

Ein  Sätzchen  von  zwei  Takten,  das  wiederholt  wird,  beginnt 
den  Hauptsatz;  ein  bloss  durch  gleiche  Regleitungsform  und  ver- 
wandte Stimmung  mit  dem  ersten  zusammenhängender  zweiter  Satz 
von  vier  Takten,  abermals  wiederholt,  ein  mehr  gangartiger  Zusatz 
von  zwei  Takten  und  dessen  Wiederholung  bilden  den  Hauptsatz, 
und  nun  folgt,  mit  Rerührung  der  Unterdominante,  ganz  kurz  (in 
zwei  Takten)  der  Halbschluss. 

Der  Seitensatz  bringt  zuerst  folgenden  Satz  — 


*  No.  h  des  ersten  Hefts;  No.  1  der  Einzelausgabe. 


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Nähere  Nachweise  über  die  Sonatinenform. 


219 


434 


mm 


mit  seiner  Wiederholung;  dieser  schliesst  sich  unmittelbar  ein  ganz 
verschiedener  — 


255 


ebenfalls  wiederholter  Satz  an,  dem  nach  einer  kleinen  Ausdehnung 
des  Schlusses  eine  Periode,  wieder  ganz  neuen  Inhalts  (statt 
des  Halbschlusses  hat  der  Vordersatz  einen  unvollkommnen  Ganz- 
schluss  in  der  Dominanttonart)  folgt.  Man  könnte  versucht  sein, 
in  diesem  neuen  Gebilde  den  Schlusssatz  zu  sehn,  wenn  nicht  nun, 
wieder  aus  neuem  Stoff,  ein  lebhafterer  gangartiger  Satz  (statt 
Ganges)  und  endlich  der  eigentliche  Schlusssatz  folgte.  —  Was 
diesen  ersten  Theil  der  Sonate  von  den  vorhergehenden  Beispielen 
und  vielen  andern  Arbeiten  in  dieser  Form  unterscheidet,  ist  die 
Vielheit  seiner  Sätze,  die  in  der  zweiten  Partie*  (vom  Seitensatz 
an,  —  sie  zählt  vierzig,  die  erste  achtzehn  Takte)  nur  durch  Ton- 
art und  ungefähre  Stimmung  zusammengehalten  werden. 

Der  zweite  Theil  beginnt  mit  einer  Zwischenpartie  (oder, 
wenn  man  will,  Ueberleitung)  von  gleicher  Beschaffenheit.  Ein 
Satz  von  acht  Takten  in  Gdur  scheint  zu  einem  Orgelpunkt  führen 
zu  wollen;  allein  es  schliesst  sich  mit  einer  Wendung  nach  A  moll 
ein  zweiter  an,  und  dieser  erst  bringt  einen  Orgelpunkt  und,  mit 
dem  Eintritte  des  Haupttons,  den  Hauptsatz  zurück.  Auch  hier 
also  erhalten  wir  wenigstens  einen,  wo  nicht  zwei  Sätze  fremden, 
wenn  auch  verwandten  Inhalts.  Eine  innere  Notwendigkeit  für 
dieselben  möchte  schwerlich  nachzuweisen  sein ;  dem  reichen  Ton- 
dichter hat  es  beliebt,  sich  in  angenehmen  Vorstellungen  zu  erge- 
hen, deren  keine  ihn  tiefer  zu  erregen  und  damit  zu  fesseln  ver- 
mochte; in  gleichem  Sinn  gemessen  wir  seine  Gabe. 


*  Wenn  Haupt-  oder  Seitensatz  aus  zwei  oder  mehrern  Sätzen  besteht, 
wollen  wir  —  um  die  ewige  Wiederholung  des  Wortes  Satz  (das  wir  ohnehin 
so  vielfach  gebrauchen  müssen)  zu  vermeiden  —  gelegentlich  die  Ausdrücke 
Partie,  Hauptpartie,  Seitenplrtie  benutzen. 


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220  Die  Sonatenform. 

Der  Hauptsatz  wird  mit  kleinen  Aenderungen  wiederholt  und 
zu  seinem  Hauptschluss  geführt.  Jetzt  tritt  der  erste  Satz  der 
Seitenperiode  (No.  254)  ein,  —  in  Gdur;  a Hein  sogleich  auf  dem 
vierten  Takte  wendet  sich  die  Modulation  in  den  Hauptton  zurück, 
und  von  hier  an  bietet  der  weitere  Verlauf  nichts  Abweichendes 
oder  sonst  der  Erörterung  Bedürftiges.  —  Jene  Einführung  des 
Seitensatzes  in  der  Dominanten-  statt  Haupttonart  diente  dem  Kom- 
ponisten, sich  um  so  bestimmter  in  die  letztere  zurückzuwenden,  sie 
mit  einem  förmlichen  Uebergang  zu  befestigen.  Dies  war  ihm  nicht 
nur  gestattet,  sondern  auch  nöthig,  weil  die  Seitenpartie  vier  oder 
fünf  Sätze  (der  Schlusssatz  ist  der  fünfte)  mit  ihren  Wiederholun- 
gen zählt.  Er  hätte  also  von  der  Wiederkehr  des  Hauptsatzes  an 
zweimal  sieben  Sätze  (und  noch  einen  Anhang)  in  derselben 
Tonart  eintreten  lassen  müssen,  wenn  er  nicht  jenen  Ausweg  ge- 
funden. 

Ist  nun  die  Mozart'sche  Weise,  dieses  Aneinanderreihen  vieler 
kleiner  Sätze,  nachahmenswerth  oder  tadelnswerlh  ?  —  Keins  von 
beiden.  Dem  Tondichter,  —  zumal  einem  so  Vieles  bringenden, 
—  muss  frei  stehn,  sich  gelegentlich  auch  in  leichter  Weise,  wie 
der  Schmetterling  von  einer  Biüthe  zur  andern  irrt,  im  artigen 
Spiel  mit  leichten  Vorstellungen  gewissermassen  absichtlos  zu  er- 
gehen. Das  Karakteristische  des  Spiels  liegt  aber  eben  in  der  Ab- 
sichtlosigkeit;  der  Komponist  verlässt  eine  Vorstellung,  einen  Satz 
um  den  andern,  nicht  weil  er  es  sich  vorgesetzt  hat,  sondern  weil 
diese  Vorstellung  nicht  die  Macht  gehabt  hat,  ihn  dauernder  zu 
fesseln ;  und  das  ist  die  innere  Nothwendigkeit  solcher  Gestaltun- 
gen. Das  aber  bedarf  keiner  geflissentlichen  Uebung;  vielmehr 
das  Gegentheil,  Festhalten  der  Gedanken  und  Vertiefen  in  diesel- 
ben muss  geübt  und  als  eine  besondre,  eine  der  entscheidendsten 
Fähigkeiten  für  den  Künstler  erzogen  werden. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  Sonatenform. 

Die  Sonatinenform  musste  sogleich  als  eine  der  flüchtigen 
Mittelgestaltungen  erscheinen,  die  zwar  innerlich  und  in  der  Kette 
aller  Kunstformen  berechtigt  und  nothwendig,  in  denen  aber  ein 
bestimmter  Formgedanke  noch  nicht  zu  seiner  Reife  und  Fülle  ge- 
kommen ist. 

Die  Sonatine  strebte  Über  die  Rondoformen  hinaus  zu  einer 
noch  innigeren  Einheit  des  Inhalt%;  aber  sie  erlangte  dieselbe  durch 


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« 


Die  SoncUenfoitn. 


221 


Aufopferung  eines  Theils  des  frühern  Inhalts  —  des  zweiten  Sei- 
tensatzes —  mithin  durch  eine  Verminderung  des  Gehalts.  Und 
dann  war  sie  doch  wieder  geneigt,  statt  des  ausgefallenen  Theils 
einen  Zwischen-  oder  Ueberleitungssatz  einzuführen;  zum  Beweise, 
dass  der  ausgeschiedne  zweite  Theil  seine  gute  Berechtigung  hatte. 
Aber  das  statt  seiner  Eingeschobne  kann  ihn  nicht  ersetzen.  Da- 
her eignet  sich  diese  Form  nur  für  flüchtige  Gebilde. 

Diese  Betrachtung  führt  zu  der  eigentlichen  Sonatenform  und 
sogleich  auf  ihren  wesentlichen  Karakterzug. 

Die  Sonatenform  kann  einen  mittlem  Theil  (zwischen  dem 
ersten  und  letzten  der  Sonatine)  nicht  entbehren,  sie  muss  d rei- 
theil ig  werden.  Aber  dieser  mittlere  oder  zweite  Theil  darf 
nicht  wie  in  den  Rondoformen  Fremdes  —  einen  zweiten  Sei- 
tensatz —  bringen  und  damit  die  Einheit  stören,  deren  vollkomm- 
nere  Erreichung  eben  die  Aufgabe  der  Sonate  ist. 

Folglich  muss  der  zweite  Theil*  der  Sonatenform  den  Inhalt 
des  ersten  Theils  festhalten,  und  zwar 

entweder  ausschliesslich, 
oder  doch  hauptsächlich. 

Hiernach  stellt  sich  nun  die  neue  Form  in  ihren  Hauptzügen 
folgendermaassen  fest:  — 

Theil  1 .  Theil  2.  Theil  3. 

HS  SS  G  SZ    HS  SS  G  SZ 

und  man  erkennt  sogleich,  dass  der  erste  und  letzte  Theil  wenig- 
stens der  Hauptsache  nach  aus  der  fünften  Rondo-  und  Sonatinen- 
form  bekannt,  nur  der  mittlere  Theil  das  wesentlich  Neue  ist. 

Ehe  wir  jedoch  zu  diesem,  als  dem  wichtigsten  Gegenstande 
des  neuen  Studiums  fortschreiten,  ergeben  sich  schon  aus  der  vor- 


*  Dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  nach  erkennt  man  nurzweiTheile 
der  in  Sonatenform  geschriebenen  Tonstücke  an.  Der  erste  Theil,  der  gewöhn- 
lich wiederholt  und  durch  das  Wiederholungszeichen  kenntlich  abgeschnitten 
wird,  gilt  als  solcher;  alles  Weitere,  also  zweiter  und  dritter  Theil  ge- 
meinschaftlich, gilt  als  ein  einziger,  als  zweiter  Theil ;  so  auch  oft  bei  den 
Rondo's  fünfter  Form.  Allein  die  Scheidung  des  zweiten  und  dritten  Theils 
ist,  wie  wir  schon  jetzt  wissen,  so  wesentlich,  dass  wir  sie  nicht  Übergehn 
können,  ohne  die  Anschauung  der  Form  zu  stören  und  ihren  Vernunftgrund  aus 
den  Augen  zu  verlieren.  Dies  ist  auch  früher  gefühlt  worden  und  man  hat  im 
sogenannten  zweiten  Theil  (dem  vereinten  zweiten  und  dritten)  die  Wiederkehr 
des  Hauptsatzes  und  alles  Weitere  die  Reprise,  das  Vorangehende  aber  die 
Durcharbeitung  genannt.  Das  wären  ja  aber  die  drei  Theile  mit  der 
wesentlichen  Abscheidung  des  dritten  vom  zweiten !  Nur  die  Namen  scheinen 
nicht  genau  (der  dritte  Theil  ist  keineswegs  blosse  Reprise  oder  Wiederholung, 
—  Durcharbeitung  findet  in  allen  Theilen  und  obenein  in  vielen  andern  Kunst- 
formen statt)  und  es  wird  —  beiläufig  zur  Erschwerung  des  Studiums  —  als 
zweiter  Theil  zusammengeworfen,  was  gleich  darauf  doch  wieder  geschieden 
werden  muss. 


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222 


Die  Sonatenform 


läufigen  Anschauung  der  Form  einige  Betrachtungen,  die  wir  vor- 
weg nehmen. 

Erstens.  Stellen  wir  uns  im  Voraus  ein  Tonslück  vor,  das 
durch  drei  Theile  an  seinem  Haupt-  und  Seitensatze  festhält:  so 
müssen  wir  diesem  stetigen  Inhalt  eine  tiefere  Bedeutung  beimessen, 
als  dem  der  Sonatinenform ;  oder  was  dasselbe  ist :  der  Komponist 
muss  sich  von  diesen  Sätzen  mehr  angezogen,  er  muss  sich  be- 
stimmt fühlen,  sich  mehr  mit  ihnen  zu  beschäftigen.  Daher  werden 
Sätze,  die  für  jene  flüchtigere  Form  wohl  geeignet  sind,  für  die 
höhere  Sonatenform  zu  leicht  erscheinen.  So  würden  die  im  vorigen 
Beispiel  (No.  225  bis  238)  aufgestellten  Sätze  für  die  höhere  Form 
nicht  eben  so  wohl  geeignet  sein,  als  für  die  Sonatine.  Dasselbe 
darf  von  den  Mozart'schen  (No.  243  bis  255)  behauptet  werden; 
es  ist  damit  nicht  ein  Tadel  des  verewigten  Künstlers  ausgesprochen, 
sondern  vielmehr  die  Anerkennung,  dass  er  auch  in  diesen  Fällen 
jedesmal  die  geeignetste  Form  gefunden  hat.  —  Wenn  wir  dem- 
ungeachtet  unsre  Sonatensätze  weiterhin  auch  als  Beispiele  für  die 
höhere  Form  benutzen,  so  geschieht  es  nur  um  der  Raumersparniss 
willen,  und  um  an  denselben  Sätzen  die  abweichenden  Modifikatio- 
nen der  verschiednen  Formen  um  so  anschaulicher  hinzustellen. 

Zweitens.  Die  blosse  Wiederholung  eines  Satzes  zeigt 
schon  das  Interesse,  ihn  gleichsam  als  einen  Besitz  festzuhalten. 
So  diente  in  den  Rondoformen  besonders  der  Hauptsatz  als  ein  fester 
Moment  des  Ganzen,  auf  den  man  zurückkam,  um  ihn  aber-  und 
abermals  zu  wiederholen.  Ein  höheres  Interesse  zeigt  sich  in  der 
Sonatenform.  Es  findet  nicht  mehr  darin  Befriedigung,  den  fest- 
zuhaltenden Satz  gleich  einem  todten  Besitzstück  wiederzubringen, 
sondern  belebt  ihn,  lässt  ihn  sich  verändern,  in  andern  Weisen, 
nach  andern  Zielpunkten  bin  sich  wiederholen,  —  es  macht  aus 
dem  Satz  ein  Anderes,  das  gleichwohl  als  Ausgeburt  des 
erstem  erkannt  wird  und  statt  seiner  gilt.  Ein  vorläufiges  geringes 
Beispiel  giebt  No.  226,  wo  der  Kern  von  No.  225  mit  einer  we- 
sentlichen Aenderung  (Beugung  in  die  Unter-  statt  Oberdominante) 
wiederholt  wird.  Das  Rondo  konnte  sich  auf  wesentliche  Aende- 
rung der  Sätze  nicht  einlassen,  sondern  nur  auf  beiläufige,  der- 
gleichen die  Sonatenform  auch  zulässt  und  wir  ohne  weitere  Er- 
wähnung in  No.  228  gemacht  haben. 

In  diesen  Umgestaltungen  des  Satzes  liegt  nun  offenbar  die 
Kraft,  mannigfacheres  und  gesteigertes  Interesse  für  denselben  an- 
zuregen, wie  das  selbst  dem  geringen  Fall  in  No.  226  zugestanden 
werden  kann.  Daher  ist  es  möglich,  einen  an  sich  weniger  bedeu- 
tenden Satz  zum  würdigen  und  befriedigenden  Gegenstand  der  grös- 
sern Form  zu  erheben;  ja,  es  zeigt  sich  nicht  selten  eben  an  sol- 


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Die  Sonatenform. 


223 


chen  auf  den  ersten  Anblick  unwichtigem  Anlässen  die  Kraft  der 
Form  und  des  Komponisten  in  vorzüglicherer  Weise,  obwohl  es 
unkUnstlerisch  scheint,  dergleichen  geflissentlich  zu  suchen,  um 
daran  eine  Probe  seines  Kunstgeschicks  abzulegen,  —  und  fahr- 
lässig, mit  dem  ersten  besten  Einfall  ohne  wahren  Beruf  dazu, 
ohne  innere  Erregtheit  dafür  sich  an  die  Arbeit  zu  geben.  Eins 
der  glücklichsten  Beispiele  bietet  der  erste  Satz  von  Beethoven' s 
Gdur-Sonate,  Op.  31.  Der  geistreich  von  Humor  sprühende  Haupt- 
satz hat  diesen  Kern,  — 


Allegro  vivace. 


den  man,  sollte  er  für  sich  allein  und  unverändert  stehn  bleiben, 
wohl  erregt,  nicht  aber  bedeutend  nennen  könnte.  Und  eben  ihm 
gewinnt  der  angeregte  Geist  des  Künstlers  die  geistvollsten  Wen- 
dungen in  reizendem  Wechsel  ab,  die  uns  immer  tiefer  gefangen 
nehmen  und  zuletzt  sogar  weichere  Anklänge  der  unerwartet  ge- 
rührten Seele  bieten.  —  Es  hiesse  dem  Meister  ein  kleines  Schü- 
lerlob erlheilen,  wollte  man  annehmen,  er  habe  seinen  Salz  zu 
solchem  Spiel  technischer  Gewandtheit  erkoren.  Hier  war,  —  bei 
dem  Künstler  ist  nichts  Technik;  was  der  Künstlergeist  ergreift, 
das  wird  unter  dem  Walten  eifervoller  Liebe  seinem  Geist  eigen 
und  lebendiges,  lieberfülltes  Zeugniss  dieses  Geistes.  Das  lässt 
sich  an  diesem  Beethoven' sehen  Satze,  wie  an  jedem  Kunstwerk 
erkennen  und  erweisen,  und  jeder  Künstler  weiss  es.  Der  künst- 
lerischen Liebe  aber  ist  Technik,  —  äusserliches  Geschick,  oder 
gar  eitles  Spiel  mit  ihr  ganz  fern. 

Drittens.  In  der  höhern  Sonatenform,  in  der  das  Ganze 
vom  Drange  nach  einheitvollem  kräftigen  Fortschreiten  und  Fort- 
bilden durchdrungen  und  bedingt  ist,  kann  jene  leichte,  in  ihrer 
Willkürlichkeit  auch  oberflächliche  Weise,  in  der  die  Sonatinen- 
forra  vom  Halbschluss  des  Hauptsatzes  in  den  Seitensatz  und  seine 


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224 


Die  Sonaten  form. 


Tonart  springt,  nichj-  mehr  befriedigen.  Hier  macht  sich  ein  förm- 
licher Uebergang  nothwendig,  der  uns  mit  Bestimmtheit  aus  dem 
Sitze  des  Hauptsatzes  in  den  des  Seitensatzes  führt  und  diesen  be- 
festigt. 

Dazu  wird  nach  längst  bekannten  Grundsätzen  im  ersten 
T  h  e  i  l  vom  Hauptsatz  und  Hauptton  aus  in  die  Dominante  der  Do- 
minante und  von  da  zurück  in  die  letztere  modulirt.  Sollte  z.  B. 
unser  Hauptsatz  aus  No.  225  und  226  für  die  grössere  Sonatenform  ver- 
wendet werden,  so  könnte  schon  vom  neunten  Takt  in  No.  226  an  so*  — 


257 


* 


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1 


1  äii  iLlIiM  £T7i  iTü 


r-fr 

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m 


WM 


WWW& 


über  A  (moll  und)  dur  nach  dem  Dominantakkord  von  Z)dur  (im 
letzten  Takt)  und  nach  dem  Seitensatz  (im  letzten  Takte)  gegangen 
werden.  Dass  übrigens  hier  ein  Halbschluss  auf  der  Dominante 
von  A  gemacht  ist,  geschah  bloss,  um  den  gemässesten  Eintritt  des 
Seitensatzes,  wie  er  einmal  in  No.  227  angenommen,  zu  bewirken ; 
eben  so  gut  konnte  sofort  nach  Z)dur  übergegangen  werden,  — 
z.  B.  vom  drittletzten  Takt  in  No.  257  an,  — 


Seitensatz. 


258 


t  ff  f  r 


*  Es  sei  hier  nochmals  und  zum  letzten  Mal  erwähnt,  dass  die  beschränkte 
Weise  des  auf  eine  einzige  Zeile  gedrängten  Entwurfs  auf  den  Inhalt  selbst 
ungünstigen  Einfluss  geübt  und  diesen  unabsichtlich  und  —  abgesehn  vom  äus- 
serlichen  Anlass  —  tadelnswerth  in  den  hohem  Tonregionen  mit  Ausschluss 
der  tiefern  gefesselt  hat. 


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Der  zweite  Theil  der  Sonatenform. 


225 


wenn  ein  anderer  Seitensatz  (wie  wir  hier  annehmen)  eine  andere 
Einführung  loderte. 

In  Mollsätzen  würde,  wie  uns  ebenfalls  bereits  bekannt  ist, 
in  der  Regel  nicht  in  die  Dominante,  sondern  in  die  Parallele  zu 
moduliren  sein.  Nach  denselben  Grundsätzen  würde  im  dritten 
Theil  entweder  vom  Hauptsatz  aus  über  Unter-  und  Oberdomi- 
nante zum  Seitensatze  modulirt  werden  müssen;  z.  B.  vom  zehnten 
Takt  in  No.  226  an,  — 


und  nun  im  dreizehnten  Takte  von  No.  226  weiter;  oder  man  könnte, 
wie  im  ältern  Beispiel  oder  dem  Mozart'schen,  S.  218  erwähnten 
geschieht,  sogleich  den  Seitensatz  folgen  lassen  und  die  Unter- 
dominante,  wie  in  No.  237  oder  238,  spater  nachbringen,  wie  es  in 
jedem  besondern  Falle  gelegen  oder  der  Tendenz  des  Komponisten 
gemäss  erscheint. 

Von  diesen  leicht  zu  beseitigenden  Punkten  wenden  wir  uns 
nun  zum  wichtigsten,  zur  Konstruktion  des  zweiten  Theils,  die  eine 
abgesonderte  Betrachtung  fodert. 


Vierter  Abschnitt. 
Der  zweite  Theil  der  Sonatenform. 

Der  zweite  Theil,  das  steht  bereits  fest,  erhält  in  der  Sonaten- 
form im  Wesentlichen  keinen  neuen  Inhalt. 

Folglich  muss  er  sich  wesentlich  mit  dem  Inhalte  des  ersten 
Theils, 

mit  dem  Hauptsatze,  — 

mit  dem  Seitensatze,  — 

auch  wohl  mit  dem  Schlusssatze, 
beschäftigen,  und  zwar 

entweder  nur  mit  einem, 

oder  mit  zweien  dieser  Sätze, 
oder  gar  mit  allen. 

Marx,  Komp  -I,  III.  V  Aul!  15 


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226 


Die  Sonaten  form. 


Allein  diese  Beschäftigung  ist  keineswegs,  gleich  der  Behand- 
lung des  Hauptsatzes  im  Rondo,  blosse  Wiederholung.  Die  wie- 
derkehrenden Satze  werden  vielmehr  in  jeder  dem  Moment  der 
Romposition  zusagenden  Weise  gewählt,  geordnet  und  ver- 
knüpft, verändert. 

So  zeigt  sich  schon  im  Voraus  der  zweite  Theil  vorzugsweis 
als  Sitz  der  Mannigfaltigkeit  und  Bewegung,  und  abermals  treten 
uns  die  ursprünglichen  Gegensätze,  das  Grundgesetz  aller  musika- 
lischen Bildung: 

Ruhe  —  Bewegung  —  Ruhe 

in  den  drei  Theilen  der  Sonatenform  vor  Augen. 

Im  Karakter  des  zweiten  (oder  Bewegungs-)  Theils  liegt  nun 
der  Antrieb  zu  grosser  Mannigfaltigkeit  in  der  Anordnung  und 
Verwendung  des  Stoffes.    Die  Aufgabe  ist  im  Allgemeinen: 

vom  Schlüsse  des  ersten  Theils  mit  dem  aus  ihm  erwählten 
Stoffe  zum  Orgelpunkt  auf  der  Dominante  des  Haupttons  und 
zum  Eintritte  des  dritten  Theils  zu  führen. 

Die  Mannigfaltigkeit  aber  findet  zunächst  in  der  Anknüpfung, 
in  der  Weise,  wie  vom  ersten  Theil  weiter  geschritten  wird;  so- 
dann in  der  Durchführung  des  durchaus  oder  wenigstens  der 
Hauptsache  nach  dem  ersten  Theil  entlehnten  Inhalts  statt. 

Es  würde  kaum  möglich,  gewiss  aber  unnöthig  sein,  alle  Fälle 
und  Abweichungen,  die  hiernach  für  den  zweiten  Theil  der  Sona- 
tenform eintreten  können,  aufzuzählen  oder  gar  vorzuarbeiten;  wir 
müssen  und  dürfen  uns  auf  die  w  ichtigsten,  welche  Hauptrichtungen 
andeuten,  beschränken.  Ebensowenig  ist  aber  Anlass  vorhanden, 
ausser  der  Sonatinenform  noch  mehrere  Unterarten  der  Sonatenform 
anzunehmen,  wie  bei  dem  Rondo  geschehn  müssen.  Die  Unter- 
schiede der  Rondoformen  sind  wesentliche,  insofern  sie  die  Zahl  der 
Haupttheile  (Haupt-  und  Seitensätze)  oder  ihre  Kombination  zu 
grössern  Partien  betreffen.  Die  unterschiedlichen  Wege,  die  der 
zweite  Theil  einer  Sonatenform  nimmt,  können  nicht  als  wesent- 
liche gelten,  weil  sie  weder  neue  Haupttheile  bringen,  noch  wesent- 
lich verschiedne  Partien  bilden. 

Hiernach  gehn  wir  nun  die  wichtigsten  Momente  des  zweiten 
Theils  gleich  praktisch  durch  und  legen,  um  den  Raum  möglichst 
zu  schonen,  das  alte  Beispiel  (No.  225)  fortwährend  zum  Grunde, 
ohne  weitere  Rücksicht,  ob  dasselbe  zu  jeder  der  verschiednen 
Entwickelungen  am  geeignetsten  ist,  oder  nicht. 

A.  Sofortige  Rückkehr  zum  Hauptsatze. 

Der  erste  Theil  ist  wie  in  No.  227  geschlossen  und  es  ist  ein 
zweiter  Theil  zu  erwarten.  Der  Schluss,  wie  der  ganze  Inhalt 
des  ersten  Theils  war  ruhig,  nichts  weniger  als  aufregend  oder 


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Der  zweite  Theü  der  Sonatenform. 


227 


mächtig  vordringend ;  daher  eben  erschien  die  Sonatinenform  für  ihn 
als  die  genügende  und  geeignetste.  Jetzt  nehmen  wir  an,  es  sei 
Grund  vorhanden,  einen  zweiten  und  dritten  Theil  zu  bilden, 
also  die  Sonatenform  zu  benutzen.  Da  der  Inhalt  des  Ganzen  und 
namentlich  der  Schluss  nicht  besonders  vordrängend  ist,  so  kann 
nur  ein  lebhafter  Interesse  für  irgend  eine  Hauptpartie  weiter  füh- 
ren.   Dies  kann  aber  im  gegebnen  Falle  nur 

der  Hauptsatz 

sein ;  denn  der  Schlusssatz  (das  Letzte,  das  uns  beschäftigt  hat)  ist 
beschränkt  und  so  eben  wiederholt  dagewesen;  der  Seitensatz  ist 
ebenfalls  kurz  zuvor  gehört  worden  und  besteht  aus  einer  vier- 
oder  fünfmaligen  Wiederholung  seines  ersten  Abschnittes. 

Aber  in  welchem  Tone  soll  der  Hauptsatz  auftreten?  —  Nicht 
in  dem  schon  genugsam  besetzten  />dur,  nicht  in  dessen  Dominante 
A  dur  (weil  wir  sonst  einförmig  von  einer  Dominante  zur  andern,  — 
G,  Z),  A,  —  gingen),  und  noch  weniger  im  Haupttone  Gdur, 
der  dem  letzten  Theil  vorbehalten  werden  muss. 

Die  bequemste  Anknüpfung  wär',  abgesehn  von  dem  eben  be- 
zeichneten Gegengrunde,  unstreitig  Gdur.  Denn  da  der  Hauptsatz 
mit  der  Quinte  anhebt,  so  wäre  sein  Eintritt  durch  den  Schlusston 
des  ersten  Theils  ohne  Weiteres  motivirt.  Da  nun  Gdur  unzulässig 
ist,  so  würde  sich  die  Aufstellung  des  Hauptsatzes  in  Gmoll  — 
Schluss  v.  Th.  i. 


i60 


I  I 

in  formeller  Hinsicht  am  leichtesten  machen.  Allein  diese  Wendung 
scheint  für  die  Stimmung  des  ersten  Theils  zu  ernst  und  trüb,  zu- 
mal da  wir  von  Gmoll  aus  kaum  den  weitern  Hinabschritt  nach 
Cmoll  (D,  G,  C)  umgehn  könnten. 

Wir  ziehn  daher  A/moll,  als  Parallele  der  letzten  Tonart 
(Ddur)  vor.  —  Hätten  wir  Ursach',  auch  diesen  Ton  zu  meiden, 
so  würde  sich  zunächst  JJdur  (Parallele  des  Haupttons  im  Moll- 
geschlecht) darbieten,  zu  dem  der  Schlusston  des  ersten  Theils,  als 
Terz  der  neuen  tonischen  Harmonie,  ebensowohl  Vermittelung 
bietet,  als  zu  moll.  Letzteres  ist  jedoch  näher  verwandt,  und 
J?dur  mit  seinen  nächsten  Umgebungen  (F,  Issdur,  Gmoll)  ist 
ebenfalls  für  die  Stimmung  unsers  ersten  Theils  zu  wenig  hell*. 

Allein  für  i/moll  (wie  auch  für  B  dur)  dient  der  Schlusston 
nicht  zu  so  bequemer  Anknüpfung,  wie  oben  für  Gdur  oder  moll. 
Folglich  werden  wir  —  zu  einer  Aenderung  am  Hauptsatze  gedrängt. 
Er  trete  nunmehr  so  ein:  — 

*  Vergl.  für  jetzt  die  Allgem.  Musiklehre,  6.  Aufl.,  S.  331. 

45* 


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228 


Die  Sonatenform. 


S6( 


1 


7  ff-  "7f'f   j^gPES?  ~7tc7if¥fi 


7TTT 


Hier  sollte  zunächst  bloss  die  erste  Note  geändert  werden,  um 
den  Anschluss  an  die  letzte  des  vorigen  Theils  zu  bewirken.  Dies 
zog  schon  die  Aenderung  des  ersten  Motivs  nach  sich;  erst  der 
Schluss  des  Abschnittes  konnte  in  die  ursprüngliche  Form  (No.  225) 
zurückkehren.  Der  folgende  Abschnitt  musste  sich  dem  ersten,  sei- 
nem nächsten  Vorbilde,  gleich  oder  ähnlich  gestaltet  anschliessen ; 
—  und  so  bildet  sich  eine  theils  verwandelte,  theils  getreue  Wie- 
derholung des  Vordersatzes,  mit  dem  die  Hauptpartie  im  ersten 
Theil  eintrat. 

Wenden  wir  uns  hier  einen  Augenblick  lang  zu  den  Rondo- 
formen zurück,  so  ist  der  Unterschied  der  Sonatenform  von  ihnen 
und  die  ebensowohl  energische  als  einheit vollere  Entwickelung  der 
Sonatenform  mit  dem  ersten  Zuge  des  zweiten  Theils  in  das  un- 
zweideutigste Licht  gestellt.  Auch  hier  tritt  jetzt  der  Hauptsatz 
zum  zweiten  Mal  auf,  wie  in  der  dritten  und  vierten  Rondoform, 
und  wird  abermals,  vielleicht  unverändert,  im  dritten  Theil  erschei- 
nen. Aber  er  ist  ein  andrer  geworden,  und  zwar  in  wesentlichen 
Wendungen  (sogar  im  Tongeschlecht),  nicht  bloss  in  beiläufigen  Zü- 
gen der  Regleitung;  wesentlich  dürfen  wir  jene  Abweichungen 
nennen,  weil  sie,  wie  gezeigt  worden,  aus  den  Verhältnissen,  unter 
denen  der  Hauptsatz  wieder  auftreten  müsste,  als  nothwendig  be- 
dingte hervortreten.  Schon  das  war  entscheidend,  dass  der  Haupt- 
salz hier  seinen  ersten  Silz  eben  so  geflissentlich  zu  vermeiden, 
als  in  den  Rondoformen  zu  behaupten  hatte;  damit  war  das  Prinzip 


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Der  zweite  Theil  der  Sonatenform. 


229 


der  Bewegung,  des  Forlschritts  zur  Herrschaft  erhoben  gegen  das 
untergeordnete  Prinzip  der  Stabilität  in  den  Rondoformen.  — 

In  No.  261  ist  der  Kern,  sogar  der  ganze  Vordersatz  des 
Hauptsatzes  zurückgeführt;  wenn  auch  verändert,  doch  kenntlich 
genug.  Bedarf  es  noch  einer  weitern  Verfolgung  des  Hauptsatzes ? 
—  Nur  deswegen,  weil  der  vorangehende  Halbschluss  einen  Nach- 
satz, und  zwar  (unter  dein  Einflüsse  des  in  No.  226  Gegebnen)  einen 
an  das  Hauptmotiv  des  Vordersatzes  geknüpften  verlangt.  Sobald 
diesem  genügt  ist,  können  wir  das  im  ersten  Theil  Gegebne  ver- 
lassen und  —  weiter  gehen. 

Das  Einfachste  ist  hier,  mit  Motiven  des  eben  aufgestellten 
Salzes  einen  Gang  bilden,  der  zuletzt  auf  den  Orgelpunkt  und 
über  diesen  zum  dritten  Theil  führt.    Es  könnte  so  — 


262 


i 


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230 


Die  Sonatenform. 


Pf  tjpt 

— 

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8 

«  8 

geschehn;  der  dritte  Theil  setzt  hier  mit  dem  Anfang  des  Haupt- 
satzes im  letzten,  der  Orgelpunkt  mit  dem  fünfundzwanzigsten  Takte 
(wobei  die  wiederholten  ausgezählt  sind)  ein. 

Ueberblicken  wir  nun  den  ganzen  Entwurf  des  zweiten  Theils 
(No.  261  und  262),  so  kann  uns  freilich  nicht  entgehn,  dass  in 
demselben  das  Hauptmotiv  (oben  Takt  1)  fast  unausgesetzt  verwendet 
und  die  Wiederkehr  des  Hauptsatzes  gleich  darauf  im  dritten  Theil 
bedenklich  worden  ist.  Hätten  wir  gleichwohl  Uberhaupt  ein  wahr- 
haft tieferes  Interesse  am  Hauptsatze  (hier  ist  bloss  ein  solches  an- 
genommen, um  die  Erörterung  an  das  bereits  vorhandne  Beispiel 
zu  knüpfen,  S.  222),  so  würden  wir  eben  in  dieser  ausdauernden 
Beschäftigung  mit  dem  Hauptmotiv  kein  Uebermaass  empfinden,  oder 
wir  würden  von  demselben  freier  und  weiter,  als  oben  (No.  262, 
Takt  7)  geschehn,  abschweifen  und  wieder  zurückkehren.  So  hätte 
im  Obigen  schon  das  Motiv  des  siebenten  Taktes  weiter  geführt,  — 
oder  vom  zwölften  Takt  mit  einem  andern  Motiv,  z.  B.  dem  des 
zweiten  Taktes,  — 


rit. 


tempo 


rit. 


263  < 


forte 


forte 


TP 


Ms 


4  ^J&l 


ff 


m 


n 


weiter  gearbeitet  werden  können,  oder  man  konnte  an  irgend  einer 
Stelle  aus  der  erst  im  Vorstehenden  unterbrochnen  Achtelbewegung 
zu  einer  erregtem  oder  flüchtigem  Übergehn,  z.  B.  die  letzten  Takte 
von  No.  263  so  um-  und  weiterbilden,  — 


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Zweite  Art  der  Anknüpfung  uml  Bildung  des  zweiten  Theils.  231 


und  später  (vielleicht  erst  über  dem  Orgelpunkt,  am  Schluss  des- 
selben) in  die  ursprüngliche  Bewegung  zurücklenken. 

Diese  Andeutungen  einiger  von  unzähligen  Fällen  genügen 
hoffentlich,  um  dem  bisher  mit  uns  fortgeschrittnen  Jünger  die 
Wege  des  Fortschritts  auch  an  dieser  Stelle  zu  öffnen.  Hier  wie 
überall  kommt  es  vor  allem  darauf  an,  dass  er  sich  überzeuge : 
es  seien  unerschöpfliche  Mittel  und  Wege  dem  Kundigen  bereit; 
dann:  dass  er  sie  alle  durch  Nachdenken,  stetes  Arbeiten  und 
Studium  der  Meister  (das  Letztere  aber  erst,  wenn  er  durch  eigne 
Arbeiten  sich  dieser  Aufgaben  bis  zur  geläufigen  Ausführung  be- 
mächtigt hat,  damit  er  nirgends  nachahme,  überall  aus  eigner  Kraft 
schaffe)  sich  ganz  zu  eigen  mache;  zuletzt:  dass  er  in  ununter- 
brochner  Ausführung  des  einmal  begonnenen  Werks  und  ungestörter 
Vertiefung  in  dessen  Stimmung  und  Gedanken  die  einheitvolle 
Durchführung,  getreu  der  ersten  Anregung,  sichre.  —  Das  Letzte 
ist  in  den  obigen  Versuchen  schlechthin  aus  Rücksicht  auf  den 
Raum  (S.  222)  aufgegeben;  namentlich  scheinen  sich  die  Fortfüh- 
rungen in  No.  263  und  264  von  der  ursprünglichen  Stimmung  ganz 
zu  entfernen;  was  man  denn  hier  als  gleichgültig  auf  sich  beruhn 
lassen  kann. 


Fünfter  Abschnitt. 

Zweite  Art  der  Anknüpfung  und  Bildung  des 

zweiten  Theils. 

Die  im  vorigen  Abschnitt  aufgewiesene  erste  Anknüpfungsweise 
des  zweiten  Theils  kann  insofern  als  die  nächstliegende  in  der 
Reihe  der  Sonatenform  gelten ,  als  sie  sich  der  einfachsten  Sonati- 
nenform  (S.  208)  anschliesst  und  gleichsam  Miene  macht,  den  er- 


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232 


Die  Sonatenform. 


sten  Theil  ohne  Weiteres  zu  wiederholen.  Nur  dass  dabei  nicht 
der  Hauplton  (S.  210)  oder  doch  wenigstens  dessen  andres  Ge- 
schlecht (No.  260)  ergriffen  wird,  nur  das  führt  dann  über  die 
Sonatinenform  hinaus. 

Wie  nun,  wenn  der  Komponist  keinen  Antrieb  hat,  sofort  zum 
Hauptsatze  zu  greifen  ?  —  Dann  muss  ein  andrer  Stoff  für  die  Ein- 
führung des  zweiten  Theils  gesucht  werden.  Es  treten  hier  fol- 
gende Fälle  ein,  die  wir  dem  ersten,  im  vorigen  Abschnitt  aufge- 
wiesenen anreihen. 

A.    Anknüpfung  mittels  eines  fremden  Zwischensatzes. 

Es  wird  vorausgesetzt,  dass  sich  für  keinen  der  im  ersten 
Theil  aufgestellten  Sätze  ein  Antrieb  zu  sofortiger  Wiedereinfüh- 
rung zeigt,  oder  dass  sogar  Grund  vorhanden  ist,  alles  bisher  Ge- 
gebne einstweilen  bei  Seite  zu  schieben.  Einen  solchen  könnten 
wir  im  vorliegenden  Falle  wohl  in  der  ununterbrochen  Achtelbewe- 
gung finden,  die  einförmig  und  lästig  wird,  sobald  wir  die  leichte 
Erfindung  gegen  ihren  eigentlichen  Sinn  in  die  höhere  Sonatenform 
hinauftreiben.  Diese  Achtelbewegung  konnte  früher,  z.  B.  bei  dem 
Seitensatze,  verlassen,  derselbe  statt  wie  in  No.  227  vielleicht  so  — 


365 


ggjpi   Lr— — 1 


eingeführt  werden.  Dies  ist  aber  nicht  geschehn,  gleichviel,  ob  die 
frühere  Bildung  mehr  zusagte,  oder  die  drohende  Einförmigkeit  erst 
zu  spät  bemerkt  wurde. 

Hier  retten  wir  uns  nun  aus  ihr  durch  einen  neuen  Satz  von 
andrer  Bewegungs weise.  Es  kann  der  zweite  Theil  (also  nach 
No.  227)  so  {eine  Nachahmung  von  No.  235)  eingeführt  werden :  — 


«66 


SSO. 1  Iftaa.  *  fc 


* 


Der  Satz  ist  nach  allen  Beziehungen,  besonders  in  seiner  rhyth- 
mischen Konstruktion,  ein  durchaus  neuer.  Sind  wir  durch  seine 
Einführung  auf  die  fünfte  Bondoform  zurückgegangen?  — 


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Zweite  Art  der  Anknüpfung  und  Bildung  des  zweiten  Theils.  233 

Nein.  Der  zweite  Seitensatz  im  Rondo  muss  sich,  um  den 
wiederholt  auftretenden  andern  Partien  das  Gegengewicht  zu  halten, 
bestimmt  liedmässig,  wenigstens  periodisch,  und  mit  befriedigender 
Fülle  ausbilden.  Hierzu  ist  oben  kein  Antrieb  vorhanden.  Der 
neue  Gedanke  schliesst  im  fünften  Takt  in  seiner  Tonart  ab  und 
setzt  sich  dann  in  einer  ganz  andern,  nicht  einmal  nächstverwandten 
fort.  Dies  ist  die  Weise  einer  Satzkette  oder  eines  Gangs,  nicht 
aber  eines  festen  Liedsatzes;  und  so  wird  schon  durch  den  Eintritt 
des  neuen  Satzes  klar,  dass  hier  so  wenig  wie  bei  dem  frühern 
Fall  in  der  Sonatine  (S.  211)  ein  Rondo  im  Werden  ist.  Selbst 
wenn  der  Zwischensatz  durch  Wiederholung  und  weitere  Ausfüh- 
rung, z.  B.  so  — 


befestigt  wird,  kann  man  ihm  nicht  die  Bedeutung  eines  zweiten 
Seitensatzes  im  Rondo  beimessen.  Diese  Befestigung  erscheint  not- 
wendig, damit  der  neue  Gedanke  zur  Reife  und  tiefern  Wirksamkeit 
gelange ;  auch  die  Rückkehr  der  einmal  angeregten  Achtelbewegung 
war,  wenn  nicht  nothwendig,  doch  das  Nächstliegende  für  das  Ton- 
stück, wie  es  sich  nun  einmal  gebildet  hat. 

Hiermit  ist  nun  der  zweite  Theil  eingeleitet,  und  zwar  mit 
einstweiliger  Beseitigung  des  im  ersten  gegebnen  Inhalts.  Nun 
muss  zu  diesem  zurückgekehrt  werden. 

Was  und  wie  viel  wir  von  demselben  ausheben,  in  welcher 
Ordnung  und  Verknüpfung  wir  es  aufführen :  das  hängt  in  jedem 
einzelnen  Fall  von  der  Stimmung  des  Tonstücks,  von  der  Tendenz 
und  Geltung  seiner  einzelnen  Sätze  ab.   Wir  können  nun 

Erstens  vom  Zwischensatz  aus,  also  am  fuglichsten  mit  den 
in  ihm  bereits  gegebnen  Motiven,  auf  den  Hauptsatz  losgehn, 
z.  B.  nach  No.  267  so  — - 


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234 


Die  Sonatenform. 


268 


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1  CD 


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fortschreiten. 

Hier  will  der  Hauptsatz  in  Cdur,  also  in  der  Unterdominante 
des  Hauptions,  und  in  tiefer  Lage  wiederkehren.  Beides  war  uns 
nahe  gelegt.  Der  Auftritt  des  Zwischensatzes  in  fidur  und  Z>moll 
führte  uns  von  allen  erhöhten  Tonarten  [EmoW  u.  s.  w.)  ab,  und 
so  war  die  Unterdominante  allerdings  der  nächstliegende  Ton ;  die 
tiefe  Lage  ergab  sich  mit  gleichem  Recht  aus  der  vorhergegangnen 
Erhebung  in  die  höchsten  Tonlagen. 

Allein  unser  Hauptsatz  bedurfte  wohl  im  Grunde  keiner  Wie- 
deranführung; sein  leichter  Inhalt  findet  Raum  genug  im  ersten  und 
dritten  Theil.  Und  jedenfalls  erscheint  der  Ernst  der  Unterdomi- 
nante und  der  tiefen  Tonlage  wenig  ihm  angemessen.  —  Folglich 
begnügen  wir  uns  mit  seiner  blossen  Anführung  oder  Andeu- 
tung und  gehen  sogleich  weiter  zum  dritten  Theil,  — 


269 


a? 


7 


ff' 


7 


tempo 


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/wette  Art  der  Anknüpfung  und  Bildung  des  zweiten  Theils.  235 


in 


7 


r 


7  V  I 


oder  können  zuvor  statt  der  beiden  letzten  Takle  einen  ausführ- 
lichem Orgelpunkt  aufstellen  und  dann  erst  den  Anfang  des  dritten 
Theils  bringen.  Hier  erscheint  übrigens  der  Orgelpunkt  unnöthig, 
da  die  gewichtige  Unterdominante  und  die  bequeme,  breite  Modu- 
lation des  Hauptsatzes  (im  dritten  Theil)  den  Hauption  genugsam 
befestigen. 

Zweitens  können  wir,  wenn  der  Seitensatz  für  Wie- 
derbenutzung vorzüglicher  scheint,  diesen  zum  Hauptmoment  des 
zweiten  Theils  erheben.  Von  No.  267  ausgehend  waren  hierzu  die 
ersten  fünf  Takte  aus  No.  268  zu  benutzen,  nach  denen  wir  so  — 


270 


fortschreiten,  auf  H  einen  unvollkommnen  Schluss  (an  der  Stelle 
eines  Halbschlusses)  machen,  und  dann  in  J?moll  den  Seitensatz 
aufführen. 

Hiernach  fragt  sich,  ob  derselbe  vollständig  und  unverändert 
aufgeführt  werden  soll  ?  Im  Allgemeinen  ist  wohl  Beides  nicht  rath- 
sam, da  der  dritte  Theil  der  Sonate  (wie  der  fünften  Rondoform) 
Seilen-  und  Hauptsatz  mindestens  vollständig  wiederbringt  und  der 
Bewegungskarakter  der  Sonate  sich  auch  darin  (S.  228)  ausspricht, 
dass  er  die  wiederkehrenden  Sätze,  —  zumal  im  zweiten  Theil, 


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236 


Die  Sonatenform. 


dem  vorzugsweisen  Sitze  der  Bewegung,  —  gern  verändert.  Nur  bei 
ganz  vorzüglicher  Wichtigkeit  und  Gedrängtheit  des  Seitensatzes, 
wenn  sich  eine  Abweichung  ohne  Nachtheil  nicht  ausführbar  zeigen 
sollte,  würde  genaues  Festhalten  an  der  ersten  Gestaltung  rath- 
sam sein;  aber  selbst  dann  müsste  wenigstens  der  Ausgang  ein 
andrer  werden,  da  der  Seitensatz  im  ersten  Theil  zum  Schluss  in 
seiner  Tonart,  im  zweiten  Theil  aber  aus  seiner  Tonart 
heraus  auf  die  Dominante  des  Haupttons  drängt.  Unser  Seilen- 
satz z.  B.  stand  im  ersten  Theil  (No.  227)  in  Ddur  und  zog  den 
Theilschluss  in  derselben  Tonart  nach  sich ;  jetzt  tritt  er  in  2?mol  I 
auf  und  muss  sich  auf  die  Dominante  von  Gdur  wenden. 

Im  vorliegenden  Fall  also  werden  wir  so  wenig,  wie  in  der 
ersten  Ausführung  des  zweiten  Theils  mit  dem  Hauptsatz  (No.  262) 
Anlass  haben,  den  Seitensalz  vollständig  aufzuführen ;  er  giebt  viel- 
mehr erwünschte  Gelegenheil,  uns  noch  einmal  aus  der  Gleichför- 
migkeit der  Achtelbewegung  zu  befreien.  Wir  stellen  ihn  mit  sei- 
ner Fortführung  bis  zum  dritten  Theil  so  auf  — 


/ 

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Zweite  Art  der  Anknüpfung  und  Bildung  des  zweiten  Theüs.  237 


Es  bat  sich  hier  aus  dem  Kern  des  Seilensatzes  und  in  seiner 
ursprünglichen  Form  (mit  einander  antwortenden  Stimmen)  ein  neues 
Gebild'  ergeben,  eben  so,  wie  in  No.  261  der  Hauptsatz  von  einer 
andern  Seite  gezeigt  worden  war;  gleichwohl  ist  in  beiden  Gebil- 
den der  ursprüngliche  Gedanke  unverkennbar  ausgeprägt.  Erwägt 
man  nun,  dass  es  für  solche  Umbildungen  in  der  That  keine  Gränze 
giebt,  weil  jeder  Moment,  jedes  Motiv  irgend  eines  Satzes  An- 
knüpfungspunkt der  mannigfachsten  Neugestaltungen  werden  kann ; 
so  muss  der  unerschöpfliche  Reichthum  der  Sonatenform,  ihre  Be- 
wegsamkeit  und  lebendige  Fortschrittskraft  hier  noch  klarer  als 
früher  (S.  228)  in  das  Auge  fallen  und  uns  die  Gewissheit  geben, 
dass  diese  Kraft  mit  jedem  Schritt  vorwärts  sich  in  das  Unberechen- 
bare vervielfältigen  wird.  Diese  Ueberzeugung  aber  kann  nicht 
früh  und  nicht  stark  genug  eingeprägt  werden,  weil  sie  vor  allem 
geeignet  ist,  die  Schaffenslust  des  Jüngers  von  lähmendem  Zweifel- 
muth,  —  ob  die  Kraft  zureichen  werde?  ob  nicht  der  Künstler  oder 
gar  die  Kunst  selber  (wie  mancher  unsrer  Zeitgenossen  aus  eig- 
nem Ermatten  oder  missverständigen  Folgerungen  aus  den  Lehren 
eines  grossen  Philosophen  annehmen  wollen)  erschöpft  sei?  —  zu 
befreien  und  den  Eifer  für  seine  Durchbildung,  —  die  unerlässliche 
Bedingung  eines  reichen  Künstlerlebens,  —  zu  stählen. 

Drittens  können  in  der  Durcharbeitung  des  zweiten  Theils 
Hauptsatz  und  Seitensatz  mit  einander,  oder  vielmehr 
nach  einander,  benutzt  werden,  —  gleichviel  in  welcher  Ord- 
nung. So  hätten  wir  entweder  nach  der  Ausführung  von  No.  261 
und  262  an  gelegner  Stelle,  statt  auf  die  Dominante  des  Haupttons 


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Die  Sonatenform 


in  eine  andre  Tonart  moduliren,  daselbst  den  Seitensatz  (rein  oder 
verändert)  auffuhren,  und  von  diesem  endlich  auf  die  Dominante 
des  Haupttons  gehn  können.  Oder  umgekehrt  konnten  wir  nach 
der  Ausführung  in  No.  271  statt  der  Dominante  D  eine  andre  Ton- 
art ergreifen,  in  dieser  den  Hauptsatz  aufstellen  und  dann  —  nach 
einer  langern  Ausführung  (damit  der  Eintritt  des  Hauptsalzes  im 
dritten  Theil  durch  die  vorherige  Ausarbeitung  im  zweiten  nicht  zu 
sehr  verliere)  —  auf  die  Dominante  des  Haupttons  und  den  dritten 
Theil  kommen.  Ob  diese  allerdings  weit  umfassendere  Ausführung 
durch  die  Wichtigkeit  der  Sätze,  oder  das  besondre  Interesse  an 
ihrer  Umgestaltung,  oder  aus  irgend  einem  andern  Grunde  motivirt 
sei,  muss  nach  den  besondern  Verhältnissen  jedes  einzelnen  Ton- 
stücks  beurtheilt  werden.  In  keinem  Falle  bedarf  es  weiterer 
Anleitung,  da  die  Ausführung  wohl  umfassender  ist,  mehr  Haupt- 
momente, als  bisher,  begreift,  aber  keiner  wesentlich  neuen  Mittel 
oder  Weisen  benöthigt  wird. 


Sechster  Abschnitt. 
Die  ferneren  Anknüpfungen  des  zweiten  Theils. 

Die  in  den  vorigen  Abschnitten  gezeigten  Weisen,  den  zweiten 
Theil  einzuführen,  müssen  —  wie  gehaltvoll  sie  auch  ausgeführt 
und  wie  richtig  motivirt  sie  in  einzelnen  Fällen  sein  mögen  —  doch 
nur  als  lockere  Anknüpfungen  gelten.  Entweder  geht  dabei  die 
Komposition  auf  einen  Satz  zurück,  von  dem  im  Augenblick  des 
Schlusses  am  wenigsten  die  Rede  gewesen  (nämlich  auf  den  Haupt- 
satz, von  dem  man  durch  Seiten-,  Schlusssatz  und  Gänge  getrennt 
ist),  oder  es  wird  ein  ganz  fremder  Satz  eingeschoben,  der  also 
mit  dem  Vorhergehenden  vollends  keine  Verbindung  hat. 

Diese  Betrachtung  erschliesst  uns  die  folgenden  Anknüpfungs- 
weisen. 

C.  Anknüpfung  mittels  eines  auf  den  Hauptsatz  zurückweisenden 

Schlusses. 

Die  erste  Anknüpfung  (die  im  vierten  Abschnitte  S.  227  ge- 
zeigte) mittels  des  Hauptsatzes  nannten  wir  eben  eine  lose,  weil 
zunächst  vor  dem  Eintritte  des  zweiten  Theils  vom  Hauptsatze  nicht 
die  Rede  gewesen  sei.  Ist  aber  der  Trieb,  den  Hauptsatz  schleunig 
wieder  zu  bringen,  rege,  so  gestaltet  sich  entweder  der  Schluss- 
satz aus  Motiven  des  Hauptsatzes  und  dient  selbst  zur  Ueberleitung 
in  denselben,  oder  es  wird  nach  dem  Schlusssatz  noch  ein  Anhang 


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Die  ferneren  Anknüpfungen  des  zweiten  Theils.  239 


(gleichsam  ein  zweiter  Schlusssatz)  aus  Motiven  des  Hauptsatzes 
gebildet.  Dann  aber  ist  offenbar  eine  innige  Verbindung  beider 
Theile  vorhanden. 

Der  erstere  Fall  ist  offenbar  bei  unserm  Modellsatz  eingetreten ; 
der  Schluss  (in  No.  227)  lehnt  deutlich  genug  an  den  Hauptsatz  an, 
daher  man  auch,  wenn  einmal  ein  zweiter  Theil  gebildet  werden 
sollte,  die  Anknüpfung  an  den  Hauptsatz  (No.  261)  gar  nicht  un- 
motivirt  finden  wird,  gleichviel,  ob  eben  diese  Weise  seiner  Be- 
nutzung angemessen  erscheint. 

Den  andern  Fall  wollen  wir  zunächst  an  No.  231  aufweisen. 

Hier  ist  zwar  derselbe  Schlusssatz,  aber  es  ist  in  fremderer 
Weise  Uber  ihn  hinausgegangen,  worauf  im  folgenden  Takte  der 
Schluss  des  ersten  Theils  und  (nach  Belieben)  dessen  Wiederholung 
folgen  würde.  Statt  dessen  knüpfen  wir  jetzt  an  den  achten  Takt 
von  No.  231  an  und  führen  den  Satz  so  — 


zum  Schluss,  um  nach  der  Wiederholung  des  ersten  Theils  (oder 
sogleich)  ohne  Weiteres  —  oder  mit'  leichter  Verknüpfung,  z.  B. 
statt  der  letzten  beiden  Takte  von  No.  272  so  — 


in  den  zweiten  Theil  und  daselbst  zunächst  in  den  Hauptsatz  ein- 
zuführen. 

Dasselbe  Verfahren  würde  auch  bei  einem  dem  Hauptsatz  ganz 
fremden  Schluss  anzuwenden  sein. 

Setzen  wir  statt  des  ursprünglichen  Schlusssatzes  in  No.  227 
einen  ganz  neuen  und  fremden.  Es  werde  vom  sechsundzwanzig- 
sten Takt  an  so  — 


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240 


Die  Sonatenform. 


soll  er  den  zweiten  Theil  sofort  beginnen,  so  müssen  wir  ihn  ent- 
weder unvermittelt  einfuhren,  oder  eine  Vermittelung  erst  bewerk- 
stelligen. Ja,  sogar  die  sofortige  Wiederholung  des  ersten  Theils 
würde  aus  demselben  Grunde  des  innigem  Zusammenhangs  mit  die- 
sem Schluss  entbehren. 

Deshalb  knüpfen  wir,  so  befriedigend  der  Schlusssatz  für  sei- 
nen nächsten  Zweck  gewesen  sein  mag,  noch  einen  Anhang  oder 
zweiten  Schlusssatz  an,  der  dem  Hauptsatze  wieder  naher  bringt. 
Statt  der  obigen  zwei  Schlusstakte  gehn  wir  so  — 


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Die  ferneren  Anknüpfungen  des  zweiten  Theils.  241 


Ima"  "Hda~~  i  Jt  -  kfj; 


holung  des  ersten  Theils,  mittels  des  Ilda  volta  eben  so  motivirt 
in  den  zweiten  Theil  zur  Aufführung  des  Hauptsatzes  geschritten. 

Dass  freilich  diese  Schlusssätze  und  diese  Weise,  den  Haupt- 
satz wieder  darzustellen,  dem  ursprünglichen  Karakter  unseres 
Modells  nichts  weniger  als  entsprechend  sind ,  kann  nicht  über- 
sehn und  nur  den  äusserlichen  Rücksichten  auf  Raum  und  klare 
Aufweisung  aller  erheblichen  Wendungen  an  demselben  Stoffe  bei- 
gemessen werden.  Je  weiter  wir  dringen,  desto  weiter  müssen 
wir  uns  natürlicher  Weise  vom  eigentlichen  Bedürfniss  und  Karak- 
ter jener  leichten  Erfindung  entfernen. 

D.  Einführung  des  zweiten  Theils  mittels  des  selbständigen 

Schlusssatzes. 

Im  Obigen  haben  wir  dem  ersten  Schlusssatze  (dem  in  No.  274 
aufgestellten)  einen  zweiten  nachgesendet,  weil  jener  uns  nicht  auf 
die  Stelle  brachte,  wohin  wir  begehrten :  zu  der  motivirten  Rück- 
kehr des  Hauptsatzes.  Allein  wir  wissen  ja  bereits,  dass  es  gar 
nicht  nothwendig  ist,  den  ersten  Theil  zu  wiederholen  und  den 
zweiten  mit  dem  Hauptsatze  zu  beginnen.  Es  kommt  wesentlich 
nur  darauf  an : 

in  geschlossener  Einheit  und  Folgerichtigkeit  aus  dem  ersten 
Theile  den  zweiten  zu  entwickeln. 

Hat  nun  der  erste  Theil  mit  dem  Schlusssalze  geendet,  so  ist 
es  ja  dieser,  der  uns  zuletzt  beschäftigt  bat  und  an  den  wir  zu- 
nächst anzuknüpfen  haben,  um  weiter,  in  den  zweiten  Theil  zu 
dringen.  Am  ursprünglichen  Schlusssatz  (in  No.  227)  ist  dies  we- 
niger klar  zu  zeigen,  weil  derselbe  schon  eine  Anspielung  auf  den 
Hauptsatz  enthielt,  mithin  ohne  Weiteres  am  natürlichsten  auf  die- 
sen zurückführt.  Wir  benutzen  daher  den  neuen  Schlusssatz  und 
gehen,  —  vom  vierten  Takt  aus  No.  274  in  den  zweiten  Theil 
zum  Hauptsatze,  — 


f  f  f 

g      m     m     m  m 


Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl. 


46 


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242 


Die  Sonatenform. 


der  hier  in  der  Unterdominante  auftritt,  oder  (an  den  fünften  Takt 
von  No.  276  anknüpfend)  nach  dem  Seitensatze,  — 


Tf 


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ff f  r 


der  in  Ädur  aufgeführt  werden  soll.  Im  erstem  Falle  sind  wir  in 
den  beiden  oder  vier  letzten  Takten  auf  das  Motiv  des  Hauptsalzes 
selber  gekommen;  im  letztern  Falle  kann  schon  das  diatonische 
Motiv  und  die  Synkope  des  zweiten  und  dritten  Viertels  im  Schluss- 
satze, dann  die  ununterbrochne  Viertelbewegung  in  der  Unterstimme 
dem  Eintritte  des  Seitensatzes  (zumal  in  einer  an  No.  $71  erin- 
nernden Darstellungsweise)  zur  Motivirung  gereichen. 

Alle  bisherigen  Einführungen  des  zweiten  Theils  lassen  sich 
auf  zwei  Formen  zurückfuhren :  entweder  wurde  sogleich  zu  einem 
der  Hauptstücke,  und  zwar  (No.  260,  261)  zum  Hauptsatze  gegrif- 
fen, oder  man  bediente  sich  irgend  eines  Salzes  (des  Schlusssatzes 
in  No.  277,  275,  oder  eines  fremden  in  No.  266)  zur  Vermittlung, 
das  heisst  also :  um  sich  mittels  seiner  zu  dem  eigentlichen  Haupt- 
momente (dem  Haupt-  oder  Seitensatze)  hinzubewegen.  Im  letztern 
Fall  ist  ohne  Weiteres  Bewegung  das  nächste  Bedürfniss  des 


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Die  ferneren  Anknüpfungen  des  zweiten  Theils.  243 

zweiten  Theils;  aber  auch  im  erstem.  Denn  wenn  auch  sofort  der 
Hauptsatz  ergriffen  wird,  so  muss  er  doch  auch  nach  dem  Karakter 
der  Sonate  sogleich  in  Bewegung  gesetzt  werden. 

Daher  ist  es  leicht  begreiflich,  dass  noch  eine  letzte  Weise 
für  die  Einführung  des  zweiten  Theils,  nämlich 


E.  die  gangartige  Einführung 

möglich,  und  zwar  diejenige  ist,  in  welcher  sich  der  Grundkarakter 
des  zweiten  Theils,  —  vorherrschende  Bewegung,  —  am 
schnellsten  und  entschiedensten  ausspricht. 

Diese  Einführung  knüpft  bald  an  einem  beweglichen  Motiv  des 
Schlusssatzes  an  und  führt  dasselbe  gangartig  weiter,  bis  ein  geeig- 
neter Punkt  zur  Einführung  eines  Hauptmomentes  erreicht  ist.  Ein 
kleines  Beispiel  bietet  hierzu  No.  234,  wo  das  letzte  und  beweg- 
lichste Motiv  des  Schlusssatzes  (die  Achtel  eis,  g,  e,  eis)  benutzt 
wird,  um  von  Z)dur  über  #moll  nach  Fisdur  zu  führen,  wo  ein 
andres  dem  Hauptsatz  angehöriges  und  schon  vorbereitetes  Motiv 
weiter  zum  Hauptsatz  in  tfmoll  leitet.  — 

Bald  wird  zu  gleichem  Zwecke  nach  Beendigung  des  Schluss- 
satzes ein  zuvor  dagewesenes  Motiv  ergriffen  und  mit  demselben  ein 
Gang  gebildet.  So  könnten  wir  vom  vorletzten  Takt  in  No.  227  auf 
das  letzte  Gangmotiv  zurückkommen  und  damit  weiter  arbeiten,  — 


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oder  wir  könnten  auf  ein  noch  früheres  Motiv  zurückgehn,  das  mit 
dem  letzten  des  Schlusssatzes  besser  zusammenhängt,  — 

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244 


Die  Sonaten  form. 


oder  wir  wttssten  selbst  einem  anscheinend  ungünstigem  Motiv  (aus 
dem  vierzehnten  Takt)  eine  geeignete  Seite  abzugewinnen,  — 


und  jeden  dieser  Gänge  an  das  gesetzte  Ziel  zu  führen. 

Bald  endlich  wird  geradezu  ein  neues,  dem  bisherigen  wenig- 
stens nicht  ganz  widersprechendes  Motiv  ergriffen  und  zum  Gange 
benutzt,  —  freilich  nicht  mit  jener  Innigkeit  und  Kraft,  die  aus 
einheitvoller  Durchführung  eines  oder  weniger  Hauptmomente  ge- 
wonnen werden  können,  und  nur  dann  am  rechten  Orte,  wenn  es 
eines  erfrischenden  Gegensatzes  gegen  die  frühern  einstweilen  er- 
müdeten Motive  bedarf  oder  eine  besondere  Intention  des  Kompo- 
nisten den  Wechsel  gebietet.  Ein  kleines  Beispiel  hierzu,  das  je- 
doch einen  Orgelpunkt  auf  dem  schon  vorhandnen  Halteton,  keinen 
eigentlichen  und  freiem  Gang  bietet,  findet  sich  in  No.  231 ;  der 
ganze  Gegenstand  ist  zu  einfach  und  bei  frühern  Anlässen  schon  zu 
genügend  erläutert,  als  dass  ihm  hiermit  nicht  genug  geschehn  wäre. 


Siebenter  Abschnitt. 

Nachträge  über  die  Ausarbeitung  des  zweiten  Theils. 

Da  die  Einleitung  des  zweiten  Theils  mit  der  weitern  Ausfüh- 
rung desselben  ein  unzertrenntes  Ganze  bildet:  so  ist,  eingedenk 
der  praktischen  Tendenz  und  Methode  des  ganzen  Lehrbuchs,  gleich 
bei  den  verschiednen  Weisen  der  Einführung  in  den  zweiten  Theil 
auch  dessen  weiterer  Verfolg  gezeigt  worden. 

Hierbei  musste  jedoch  das  Augenmerk  zunächst  auf  die  Einfüh- 
rung gerichtet  und  das  Weitere  auf  dem  kürzesten  und  einfachsten 
Wege  beseitigt  werden,  so  dass  daraus  zwar  zu  wiederholten  Malen 
der  volle  Anblick  des  zweiten  Theils  gewonnen  wurde,  wenn  auch 
nicht  der  ganze  Reichthum  seiner  Gestaltungen  aufgewiesen  werden 
konnte. 


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Nachträge  über  die  Ausarbeitung  des  zweiten  Theils.  245 

Unter  diesen  Umständen  bedarf  es  zunächst  einiger  nachträg- 
lichen Winke  über  die  Ausarbeitung  des  zweiten  Theils,  die  sich 
jedoch  mit  wenig  Worten  geben  lassen. 

Zuvörderst  also  versteht  sich 

4. 

von  selbst,  dass  alle  Momente,  die  wir  im  zweiten  Theil  aufgewie- 
sen haben,  in  grösserer  Fülle  und  Ausdehnung  auftreten  können,  als 
im  Lehrbuche,  wo  des  Raumes  wegen  die  beschränkteste  Ausfüh- 
rung, wenn  sie  nur  die  Sache  in  das  gehörige  Licht  stellt,  vor  jeder 
w  eitern  und  reichern  den  Vorzug  haben  muss.  Besonders  wird  es 
für  die  Gänge  und  Orgelpunkte  meist  einer  weitern  Ausführung  be- 
dürfen, als  der  hier  gegebnen ;  unsre  Beispiele  werden  aber  hoffent- 
lich genügen,  da  nach  allem  Vorangeschickten  nichts  leichter  ist,  als 
einen  bereits  angeknüpften  Gang  oder  Orgelpunkt  weiter  zu  führen. 
Wie  weit  übrigens  gegangen  werden  soll,  muss  in  jedem  einzelnen 
Fall  nach  der  besondern  Tendenz  desselben  entschieden  werden ;  es 
lässt  sich  im  Allgemeinen  nur  das  rathen :  dass  man,  —  wenn  nicht 
besondre  Gründe  (die  aus  dem  Inhalt  und  der  Stimmung  der  Kom- 
position sich  ergeben)  ein  Andres  fodern,  —  wohl  thut,  den  ver- 
schiednen  Partien  ein  gewisses  Ebenmaass  oder  Gleichgewicht  ge- 
gen einander  zu  ertheilen,  so  dass  der  zweite  Theil  ungefähr 
eben  so  lang  sei,  als  der  erste,  die  Partie  des  wiederkehrenden 
Haupt-  oder  Seitensatzes  ungefähr  der  vorangehenden  oder  nach- 
folgenden Gangmasse  gleiche,  u.  s.  w.  Dieses  Ebenmaass  der  Ge- 
staltung ist  der  Ausdruck  des  ebenmässigen  Antheils  und  Ueber- 
blicks,  der  im  Komponisten  für  alle  Partien  seiner  Schöpfung  wal- 
ten soll,  und  ruft  das  Wohlgefühl  des  allgerechten  und  sichern 
Waltens  auch  im  Hörer  hervor,  wenngleich  dieser  nicht  berufen 
ist,  nachzurechnen,  vielleicht  von  dem  ganzen  Organismus,  der  ihn 
erfreut  und  fördert,  gar  kein  heller  Bewusstsein  hat.  —  Nur  darf 
das  Streben  nach  solchem  Ebenmaass  nie  in  ängstliches  Nach- 
rechnen und  Auszählen  der  Takte,  zumal  während  der  Kom- 
position, ausarten;  dies  würde  der  Tod  jeder  künstlerischen  Re-^ 
gung  sein.  Haben  wir  doch  schon  bei  der  Liedkomposition,  also  in 
viel  engerm  und  übersichtlicherm  Raum,  längst  den  Fortschritt  vom 
Gleichmaass  zum  Ebenmaass  gethan  und  uns  überzeugt,  dass  es  des 
erstem  für  das  Wohlgefühl  und  die  Vernünftigkeit  des  letztern  nicht 
bedarf.  Wenn  wir  schon  damals  gegen  vier  Takte  mit  fünf, 
sechs  u.  s.  w.  auftreten  durften,  so  kann  es  jetzt  in  so  viel  umfas- 
sendem und  mannigfaltigem  Zusammensetzungen  noch  weniger  auf 
einige  Takte  mehr  oder  weniger  ankommen. 

Wir  wissen  ferner  schon  seit  dem  ersten  Auftreten  der  Poly- 


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24  G 


Die  Sonatenform. 


phonie,  dass  Gänge  und  Sätze  ebensowohl  polyphon  als  homophon 
gebildet  oder  ausgeführt  werden  können.    Daher  versteht  sich 

2. 

von  selbst,  dass  auch  in  der  Sonatenform  und  namentlich  in  den  den 
zweiten  Theil  bildenden  Durchführungen  schon  dagewesener  Sätze 
und  Gangmotive  von  der  Polyphonie  der  ausgedehnteste  Gebrauch 
gemacht  werden  kann.  Durch  sie  vermögen  wir  bekanntlich  einem 
Satze  ganz  neue  Bedeutung  zu  ertheilen,  namentlich  durch  die  For- 
men der  Umkehrung  (Th.  II,  S.  424)  einem  bekannten  Satz  einen 
ganz  neuen  Gesichtspunkt  abzugewinnen,  und  dem  Ganzen  bei  allem 
Wechsel  der  Gestaltung  eine  Einheit  und  Festigkeit  zu  verleihn, 
die  in  grössern  Ausführungen  kaum  anders,  als  mit  den  Formen  der 
Polyphonie  zu  erlangen  ist.  —  Auch  hierüber  bedarf  es  nach  den 
Uebungen  des  zweiten  Theils  keiner  weitern  Anleitung;  die  vor- 
stehenden  Beispiele  für  den  zweiten  Theil  der  Sonate  enthalten  zwar 
nur  sehr  geringe,  aber  doch  genügende  Andeutungen. 
Hieraus  folgt  sogleich  weiter,  dass 

3. 

auch  von  der  Fugenform  in  der  Ausführung  des  zweiten  Theils  Ge- 
brauch gemacht  werden  kann.  Es  ist  aber  klar,  dass  hier  keine 
förmliche  und  selbständige  Fuge,  sondern  nur  Benutzung  ihrer  Form 
für  einen  besondern  Theil  des  Ganzen  statthaben  kann. 

Als  Thema  der  Fuge  kann  natürlich  weder  der  Haupt-  noch 
der  Seitensatz  dienen;  es  muss  aus  Motiven  des  einen  oder  an- 
dern, zunächst  wohl  aus  dem  Anfange,  gebildet  werden.  In  den 
meisten  Fällen  dürfte  die  Wahl  hier  auf  den  Hauptsatz  fallen,  da 
derselbe  aus  schon  bekannten  Gründen  die  energischste,  für  Fugen- 
arbeit zusagendste  Gestaltung  zu  haben  pflegt.  Doch  kann  hieraus 
keine  Regel  gefolgert  werden;  sehr  oft  ist  der  Seitensatz  für  die 
Bildung  des  Fugenthema's  geeigneter,  oder  im  Verlauf  des  zweiten 
Theils  für  die  Stimmung  des  Komponisten  gelegner.  Der  Hauptsatz 
unsers  Uebungsstücks  {So.  225)  würde  z.  B.  für  ein  Fugenthema 
keinen  günstigen  Stoff  bieten,  —  man  müsste  denn  zu  einem  Dop- 
pelthema und  der  Form  der  Doppelfuge,  — 


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Nachtrüge  über  die  Ausarbeitung  des  zweiten  Theils. 


247 


oder  sogleich  bei  der  Einführung  des  Thema's  zu  einem  Gegensatze 
fContinuo  oder  Kontrapunkt)  — 


greifen. 


Ein  so  gebildetes  Thema  wird  meistens  nur  einmal,  wenn  auch 
übervollständig,  oder  zweimal  schnell  hinter  einander  durchgeführt, 
und  dann  wird  wie  in  der  Fuge,  also  in  der  Weise  der  Zwischen- 
sätze, weiter  gearbeitet  bis  zum  Orgelpunkt,  der  —  mit  oder  ohne 
Wiederkehr  des  Thema's  —  zum  dritten  Theil  führt.  Bei  der  Be-  " 
deutsamkeit  der  Fugenarbeit  wird  gewöhnlich  der  gewichtigste  Ton, 
die  Unterdominante,  —  zum  Sitz  des  Fugato  gewählt  und  nach  dem- 
selben nicht  noch  auf  andre  Sätze,  sondern  wie  gesagt  gleich  zum 
dritten  Theil  übergegangen,  oder  auch  der  zweite  Theil  ausschliess- 
lich der  Fugen-Arbeit  gewidmet;  doch  kann  hieraus  keine  Regel  ge- 
bildet, vielmehr  in  jedem  einzelnen  Falle  nur  nach  den  obwaltenden 
Verhältnissen  entschieden  werden. 

Auch  hier  bedarf  es  keiner  fernem  Anweisung.  Das  einzige 
allenfalls  Neue  ist  die  Herausbildung  oder  Hervorhebung  des  Fugen- 
thema's  aus  einem  Satze,  der  in  seiner  ursprünglichen  Beschaffen- 
heit nichts  weniger  als  zu  einem  solchen  geeignet  ist.  Auch  dies 
meinen  wir  durch  die  vorstehenden  Beispiele  (No.  281  und  282)  an 
einem  besonders  ungünstigen  Falle  genügend  angedeutet  zu  haben. 
Wie  wir  einst  (Th.  11,  S.  254)  aus  unzulänglichen  Anfängen  immer 
befriedigendere  mannigfaltige  Fugenthemate  herausgebildet  haben  :  so 
kommt  es  hier  allein  darauf  an,  einen  liedförmigen  oder  doch  für 
ein  Fugenthema  zu  weit  ausgedehnten  und  sonst  ungeeigneten  Satz 
auf  seinen  Kern  zurückzudrängen  und  diesen  fugenmässig  auszuge- 
stalten. 

Zuletzt  ist 

4. 

noch  zu  erwähnen,  dass  bisweilen  der  zweite  Theil  nicht  bloss  durch 
Fortführung  des  Schlusssatzes  eingeleitet,  sondern  ausschliesslich  der 
Durchführung  desselben  gewidmet  wird.  Dies  geschieht,  wenn  der 
Schlusssatz  dem  Komponisten  vorzugsweis  fesselndes  Interesse  ab- 
gewinnt, Haupt-  und  Seitensatz  dagegen  ihrer  Beschaffenheit  nach, 
—  z.  B.  wenn  sie  einen  in  mannigfacher  Weise  wiederholten  Kern- 


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248 


Die  Sonatenform. 


satz  enthalten  und  schon  bei  ihrem  ersten  Auftreten  genügend  viel- 
seitig gezeigt  worden  sind,  —  einer  weitern  Durcharbeitung  weniger 
bedürfen.  Auch  hier  bedarf  es  keiner  weitern  Anleitung.  Wer 
überhaupt  einen  Satz  durchzuführen  versteht,  —  und  dafür  genügen 
die  vorangeschickten  Bemerkungen,  —  dem  kann  es  gleichviel  gel- 
ten, ob  der  durchzuführende  Satz  ursprünglich  ein  Schlusssatz  war, 
oder  ein  andrer. 

Uebrigens  darf  man  wohl  den  Fall  als  einen  Ausnahmfall  be- 
trachten, da  er  das  Hauptgewicht  auf  einen  Nebensatz  statt  auf  eins 
der  Hauptstücke  (Haupt-  und  Seitensatz)  wendet. 


,  Achter  Abschnitt. 
Der  dritte  Theil  der  Sonatenform. 

lieber  die  Bildung  des  dritten  Theils  in  der  Sonatenform  ist 
nach  dem  bei  der  fünften  Rondoform  (S.  193)  und  im  dritten  Ab- 
schnitt von  der  Sonate  (S.  220)  Gesagten  nur  Weniges  nachzutra- 
gen, da  derselbe  im  Wesentlichen  ganz  wie  der  dritte  Theil  jener 
Rondoform  gestaltet  wird. 

Er  beginnt  mit  dem  Hauptsatze,  der  vollständig  wiederholt, 
auch  wohl  an  irgend  einem  besonders  geeigneten  Punkte  verändert, 
vielleicht,  —  besonders  wenn  sich  der  zweite  Theil  mehr  mit  dem 
Seiten-  oder  Schlusssatze  beschäftigt  hat,  —  weiter  ausgeführt  wird. 
So  könnte  unser  Hauptsatz  vom  zweiten  Takt  in  No.  226  an  sich 
auf  die  Unterdominante  Moll  [c-es-g)  wenden  und  dann  vom  vier- 
ten Takte  so  weiter  geführt  werden,  — 


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Der  dritte  Theil  der  SonatSiform. 


249 


und  dann  wie  vom  zwölften  Takt  in  No.  226  zu  Ende  gehn,  an- 
genommen, dass  dieser  Satz  uns  besonders  anzeige  und  im  zweiten 
Theil  Ubergangen  worden  wäre. 

Nach  dem  Hauptsatz  folgt,  wie  wir  bereits  wissen,  der  Sei- 
tensatz, und  zwar  im  Haupttone,  zu  dessen  entschiedner  Einfüh- 
rung bekanntlich  die  Berührung  der  Tonarten  von  Unter-  und  Ober- 
dominante (vergl.  No.  213  und  250)  dient.  Die  Berührung  der  er- 
stem kann  leicht  abgefertigt,  ja  allenfalls  ganz  unterlassen  werden, 
wenn  diese  Tonart  im  zweiten  Theile  mit  Gewicht  hervorgehoben 
worden. 

Diese  Modulation  nun  macht  sich  nach  den  besondern  Umstan- 
den jedes  einzelnen  Tonstücks  verschieden. 

In  den  meisten  Fallen  findet  sie  mittels  einer  gangartigen  Fort- 
führung des  Hauptsatzes  in  derselben  statt;  so  ist  in  No.  259  ge- 
schehn ;  dasselbe  kann  auf  die  mannigfachste  Weise  ausgeführt  werden. 

Bisweilen,  wenn  der  Hauptsatz  fest  abgeschlossen  worden,  wird 
noch  ein  besondrer  Gang  oder  eine  Satzkette  angehängt,  und  in  die- 
ser —  wie  im  ersten  Theil  die  Modulation  in  die  Dominante  der 
Dominante  —  so  im  dritten  die  in  die  Unterdominanle  bewerkstel- 
ligt; die  folgende  Abtheilung  wird  uns  dazu  Beispiele  liefern. 

Bisweilen  kann  es  angemessen  erscheinen,  den  Seilensatz  erst 
leicht  einzuführen,  dann  aber  mit  ihm  selber  nach  der  Unterdominante 
und  hierauf  wieder  zurück  über  die  Oberdominante  in  den  Hauptton 
zu  moduliren.  Hätte  z.  B.  in  unserm  Modell  der  Hauptsatz  vermöge 
des  zweiten  Theils  ein  grösseres  Gewieht  und  entschiednere,  kräf- 
tigere Haltung  gewonnen  :  so  könnte  die  Abschliessung,  die  ihm  in 
den  vier  letzten  Takten  von  No.  226,  —  oder  die  weitere  Ausfüh- 
rung, die  ihm  in  No.  257  und  259  gegeben  worden,  unangemessen 
erscheinen,  und  dafür  im  dritten  Theil  vom  dreizehnten  Takte  von 
No.  226  gleich  ohne  Weiteres  in  den  Seitensatz  gegangen,  hier  aber 
die  Modulation  in  die  Unterdominanle  und  der  Rückgang  in  den 
Hauptton  — 


fr        *        .  y— — — —  fL^— J— -j  1- 

»  I 

gelenkt  werden. 


I 


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250 


Die  Sonaten  form. 


Bisweilen  kann  diese  Stelle  zu  einer  nochmaligen  Durcharbei- 
tung des  Hauptsatzes  oder  seiner  Motive,  —  gleichsam  als  Nach- 
trag zum  zweiten  Theil,  —  benutzt  werden,  wenn  der  Hauptsatz 
besonders  wichtig  oder  ergiebig  erscheint,  oder  wenn  er  im  zweiten 
Theil  nicht  zur  Erörterung  gekommen  ist. 

Hätten  wir  also  in  unsrer  Modell-Arbeit  den  Hauptsatz  im 
zweiten  Theil  gar  nicht,  sondern  dafür  den  Seiten-  oder  Schlusssatz 
mit  Fülle  durchgeführt:  so  würde  die  gleiche  Berechtigung  des  Haupt- 
satzes uns  auflodern,  auch  ihn  irgendwo  noch  ausführlicher  zur 
Sprache  zu  bringen.  Hierzu  wäre  nun  der  Punkt,  wo  er  im  drit- 
ten Theil  wieder  aufgeführt  und  die  Notwendigkeit  einer  weitem 
Modulation  ohnehin  vorhanden  ist,  zunächst  geeignet.  Wir  könn- 
ten den  dritten  Theil  mit  der  Wiederholung  von  No.  225  beginnen 
und  vom  vierten  Takle  in  No.  226  an  bis  in  den  Seilensatz  so  — 


r 


Iis 


3 


ff 


37 


r 


7  *■ 


-J-  j."     J>   J.       J>      1.  J> 


T 


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Die  Sonatenform  in  langsamer  Bewegung.  253 


fortschreiten.  Hier  ist  durch  die  Abwendung  von  der  ursprünglichen 
Weise  des  Hauptsatzes  nicht  bloss  eine  Erweiterung,  sondern  auch 
gleichsam  eine  abermalige  Aufführung  desselben  (in  /fmoll,  im 
zwölften  Takt  anhebend)  gewonnen  worden.  Erst  von  dieser  aus 
wird  nun  über  Unter-  und  Oberdominante  in  den  Hauptton  zurück 
zum  Seitensatze  gegangen. 

Die  Folge  dieser  neuen  Aus-  oder  Durchführung  kann  dann, 
wie  das  obige  Beispiel  andeutet,  eine  ähnliche  Abschweifung  in  der 
Ausführung  des  Seitensatzes  sein. 

Endlich  kann  auch  der  Schlusssatz  oder  der  vorhergehende  Gang 
erweitert  oder  ein  Anhang  zugefügt  werden,  der  dann  zunächst  die 
Bestimmung  hätte,  den  Hauptsalz  noch  einmal  zur  Geltung  zu  brin- 
gen. Alle  diese  Erweiterungen  gehören  nicht  zum  Wesen  der  Form, 
sind  nicht  nothwendig,  können  also  (wie  wir  bei  ähnlichen  Zusätzen 
zur  Rondoform,  S.  184,  gesehn)  leicht  zur  Ueberlast  werden.  Es 
ist  daher  in  jedem  einzelnen  Falle  wohl  zu  erwägen,  ob  Anlass 
zu  solchen  Erweiterungen  vorhanden,  ob  die  Sätze  der  mehrmaligen 
An-  und  Ausführung  bedürftig  und  werth  —  und  ob  die  abermali- 
gen Ausführungen  im  dritten  Theil  durch  ihre  Bedeutung  ihr  Da- 
sein rechtfertigen*. 


Neunter  Abschnitt. 
Die  Sonatenform  in  langsamer  Bewegung. 

Die  Rondoformen  haben  uns,  aus  der  langsamen  Bewegung  an- 
steigend, zur  schnellen  Bewegung  geführt ;  dem  Prinzip  der  letztern 
haben  wir  die  Sonatenform  am  gemässesten  befunden.  Dies  schliesst 
aber  nicht  aus,  dass  dieselbe  Form  nicht  auch  für  Tonsätze  langsa- 
mer Bewegung  zugänglich  wäre,  da  ja  die  Sonatenform  wie  jede 
andre  auch  ihre  stehenden  Momente  hat,  so  gut  wie  umgekehrt  die 
Rondoformen,  selbst  die  ersten,  ihre  Bewegungspartie. 

Das  Prinzip  der  Stabilität  spricht  sich  im  Rondo  (S.  228)  vor- 
nehmlich darin  aus :  dass  der  eine  Hauptsatz  feststehender  Mittel- 
punkt der  ganzen  Komposition  ist,  auf  den  immer  wieder  zurück- 
gekommen werden  muss,  namentlich  am  Schlüsse,  nach  Abfertigung 


Hierzu  der  Anhang  I. 


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Die  Sonatenform. 


der  Seitensätze.  Das  Prinzip  der  Bewegung  äusserte  sich  (schon 
in  den  höhern  Rondoformen  und  dann)  in  der  Sonatenform  zunächst 
darin,  dass  man  nicht  bei  dem  einen  Hauptsatze  stehen  blieb,  son- 
dern zwischen  ihm  und  dem  Seitensatze  hin  und  her  ging,  daher  mit 
dem  Hauptsatze  zwar  den  Anfang  machte,  mit  dem  Seitensatz  da- 
gegen (abgesehn  von  einem  etwaigen  Schlusssatz  oder  Anhang) 
endete. 

Hierin  spricht  sich  vor  allem  erhöhter  Antheil  am  Seitensatz 
aus  ,den  man  nach  seiner  einmaligen  Aufführung  nicht  für  immer  auf- 
geben mag. 

Nun  ist  aber  leicht  begreiflich,  dass  erhöhter  Antheil  eben- 
sowohl bei  einem  Tonstück  erwachen  kann,  das  nach  seinem 
sonstigen  Inhalt  dem  Prinzip  der  langsamen  Bewegung,  also  eher 
den  Rondoformen  angehörig  wäre.  Dann  würde  diese  Konstruktion 
(der  wir  beispielsweis  die  nächsten  Modulationspunkte  beifügen 

HS    —    SS    —    HS   —  SS 
Cdur       Gdur       Cdur  Cdur 
entstehn,  — das  heisst:  eine  Sonatenform,  wenn  auch  in  gedräng- 
tester Fassung. 

Hiermit  ist  nun  sogleich  die  ganze  Lehre  für  die  Sonatenform 
in  langsamer  Bewegung  begründet. 

Dem  Prinzip  der  langsamen  Bewegung  —  und  schon  der  äus- 
serlichen  Rücksicht  auf  die  längere  Dauer  langsam  fortschreitender 
Komposition  gemäss  wird  hier  die  Sonatenform  sich  in  engem 
Schranken  halten ;  sie  wird  vor  allem  ihre  eigentlichen  Bewegungs- 
partien ,  die  Gänge  und  besonders  den  zweiten  Theil ,  entweder 
aufgeben  oder  doch  beschränken ;  auch  die  Sätze  werden  sich  nur 
einfacher  und  beschränkter  entwickeln.  — Da  hiernach  nichts  Neues 
aufzuweisen  ist,  so  genügen  statt  des  Vorarbeitens  einige  Beispiele 
aus  allgemein  zugänglichen  Werken. 

Erstens  :  das  Adagio  aus  Mozart  s  Fdur-Sonate,  der  dritten 
aus  dem  ersten  Hefte  der  gesammelten  Werke  (No.3  der  Einzelausgabe) . 
—  Der  Hauptsatz  tritt  mit  einem  regelmässigen  Vordersatz  auf,  — 

r  £  r  r  T  '  . 

wiederholt  sich  dann  in  Moll  und  schliesst  mit  einem  vollkommnen 
Ganzschluss  — 


*  Blosser  Auszug;  das  Original  ist  reicher,  zierlicher  ausgeführt. 


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Die  Sonatenform  in  langsamer  Bewegung.  253 

auf  der  Dominante  in  Moll.  Hier  tritt  sofort  der  Seitensatz  — 
aber  ganz  normal  in  Dur  —  auf,  wird  durch  Wiederholung  und 
Anhang  befriedigend  ausgebildet,  und  zieht  einen  kleinen  Schluss- 
satz nach  sich,  der  aber  zugleich  den  Orgelpunkt  auf  der  jetzigen 
Tonika  (Dominante  des  Hauptsatzes,  mit  unwesentlichen  Verände- 
rungen und  Verzierungen)  mit  seinem  Schluss  in  der  Tonart  der 
Dominante  —  diesmal  Dur  —  enthält,  — 


288 

r     r  7  , 

>0  -  5 

4  -  3 

und  nun  schliesst  sich,  indem  diesmal  F  als  blosse  Dominante  des 
Haupttons  aufgefasst  wird,  mit  einfacher  Rückwendung  nach  Ädur 
der  Seiten-  und  Schlusssatz  an. 

Hier  haben  wir  nun  alle  Bestandtheile  der  Sonate  beisammen : 
nur  fehlt  vor  allem  der  mittlere  Theil,  und  der  Rückschritt  vom  Schluss 
des  Hauptsatzes  in  den  Hauptton  macht  sich  ebenfalls  mehr  nach  der 
Weise  der  Sonatinenform.  Ferner  ist  die  Modulation  zwischen  Haupt- 
und  Seitensatz  dem  erstem  einverleibt  und  damit  der  besondre  Gang 
zwischen  beiden  erspart;  desgleichen  sind,  abermals  mit  Ueber- 
gehung  eines  Zwischenganges,  Schlusssatz  und  Orgelpunkt  — 


353  tj 

sä 

"^jSSSrir-*8  d 

zusammengefallen.  Endlich  sind  auch  alle  Räume  beschränkt;  der 
Hauptsatz  hat  acht,  der  Seitensatz  mit  seiner  Fortbewegung  und  dem 
Schlusssatz  zwölf,  das  ganze  Tonstück  vierzig  Takte. 

Zweites  Beispiel:  das  Adagio  aus  Beethoven's  Udur- 
Sonate,  Op.  22.  —  Der  Hauptsatz  schliesst  vollkommen  im  neun- 
ten Takt  im  Hauptton  (.Esdur)  ab  und  erhält  dann  noch  einen  An- 
hang von  vier  Takten,  ebenfalls  mit  vollkommnem  Abschluss.  An 
diesen  Anhang  wird  nun  ein  Gang  von  vier  Takten  über  Fdur  in 
die  Dominante  geknüpft  und  hier,  also  in  Udur,  der  Seitensatz  ein- 
geführt.   Dieser  beschränkt  sich  auf  ein  Sätzchen,  — 


das  unmittelbar  (mit  innern  Veränderungen,  ohne  Einfluss  auf  die 
Gestaltung  im  Ganzen)  wiederholt,  mit  einem  kleinen  Anhang  (an 


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254  Die  Sonatenform. 

den  vorherigen  Gang  erinnernd)  befestigt  wird  und  einen  eben  so 
kleinen  Gang  und  Schlusssatz  nach  sich  zieht. 

Hier  haben  wir  nun  einen  vollständigen  ersten  Theil  (Haupt- 
satz, Gang  mit  der  normalen  Modulation  über  die  zweite  Dominante 
in  die  Dominante  des  Haupttons,  Seitensatz,  Gang  und  Schlusssatz) 
vor  uns,  allein  in  den  Baum  von  dre issig  Takten  zusammen- 
gedrängt, ungeachtet  der  festen  und  sättigenden  Ausbildung  des 
Hauptsatzes. 

Nun  bildet  sich  aus  dem  Hauptmotiv  des  Hauptsatzes  ein  zwei- 
ter Theil.  Nach  dem  Schlüsse  des  ersten  in  B  ergreift  der  Bass  g 
zunächst  als  neuen  Grundton  zu  dem  vorherigen  6;  es  wird  aber 
dann  der  Dominantakkord  von  Cmoll  darauf  gebaut  und  hier,  also 
in  der  Parallele  des  Haupltons,  der  Hauptsatz  eingeführt.  Schon  im 
vierten  Takte  verwandelt  er  sich  in  einen  Gang,  — 


291 


9 


W 


der  von  Unterdominante  zu  Unterdominante  nach  Jsmoll  sinkt,  dann 
über  .Esmoll  auf  die  Dominante  B  und  mit  einem  Orgelpunkte  zum 
dritten  Theil  führt;  dieser  wird  ganz  normal  dem  ersten  nach- 
gebildet. Der  zweite  Theil  hat  sechzehn,  der  dritte  ei  nun  d- 
dreissig  Takte. 

Als  drittes  Beispiel  diene  das  anmuth-  und  empfindungsvolle 
Andante  in  M  oza  rt's  A  moll-Sonate,  der  sechsten  des  ersten  Hefts 
(No.  6  der  Einzelausgabe) .  — Hier  schliessen  Haupt-  und  Seitensalz  im 
ersten  und  dritten  Tbeile  wieder  in  der  Weise  der  Sonatinenform  an 
einander.  Der  zweite  Theil  hebt  in  der  Dominante  (in  der  Seiten-  und 
Schlusssatz  des  ersten  Theils  gestanden)  mit  leiser  Erinnerung  an 
den  Hauptsatz  an,  bringt  aber  dann  neue  Motive  zur  Ausführung, 
bis  endlich  der  dritte  Theil  die  Einheit  des  Ganzen  wieder  be- 
festigt. —  Man  könnte  zweifelhaft  sein,  ob  nicht  ein  Bondo  fünf- 
ter Form  vorläge,  wäre  nicht  jene  Erinnerung  an  den  Hauptsatz 
gegeben  und  der  weitere  Inhalt  bis  zum  dritten  Theil  gänzlich  gang- 
artiger Natur.  Nur  die  ersten  sechs  Takte,  —  eben  die  an  den 
Hauptsatz  anknüpfenden,  —  bilden  einen  Satz,  der  aber  unmöglich 
als  zweiter  Seitensatz  in  der  fünften  Bondoform  (S.  *92)  genügen 
könnte.  Zudem  ist  uns  die  Weise  Mozart's,  von  Erfindung  zu  Er- 
findung lieblich  zu  schwärmen  (S.  220),  schon  bekannt.  Sie  hat  ihr 
gutes  Becht,  wenngleich  ihr  die  Vertiefung  Beethoven' scher  Kon- 
zeption abgeht,  die  dann  wieder  an  andern  Orten  auch  jenem  reich 
gesegneten  Geiste  vergönnt  war. 


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Fünfte  Abtheilung. 

Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 

In  der  vorigen  Abtheilung  kam  es  darauf  an,  auf  dem  gerade- 
sten Weg  in  den  Besitz  einer  Form  einzuführen,  deren  Wichtigkeit 
sich  immer  mehr  herausstellen  wird,  je  weiter  wir  vordringen.  Bei 
diesem  raschen  Gang  konnte  aber  unmöglich  eine  vollgenügende  Er- 
kenntniss  gewonnen  werden ;  es  würde  auch  dem  Grundprinzip  einer 
wahren  Kunstlehre  (die  sich  hierin  von  einer  rein  oder  vorzugs- 
weise wissenschaftlichen  Lehre  wesentlich  unterscheidet)  zu- 
wider gewesen  sein,  hatten  wir  eher  auf  erschöpfende  Einsicht,  als 
darauf  denken  wollen,  den  Jünger  auf  dem  kürzesten  Wege  wieder 
zum  Bilden  und  Schaffen  zu  führen.  Daher  hielten  wir  fast  aus- 
schliesslich an  einem  einzigen,  nach  den  verschiednen  Seiten  hin- 
gewendeten Modell  fest. 

Nunmehr  liegt  Uns  die  nähere  Erörterung  und  zugleich  der 
Nachweis  an  Werken  der  Meister  ob.  Indem  sich  so  zu  den  vor- 
läufig bethätigten  Grundsätzen  die  Erfahrung  an  den  Werken  Andrer 
knüpft,  wird  Erkenntniss  und  Thatkraft  gleichmässig  und  ungetrennt 
reifen,  kann  jene  nicht  zu  einem  abstrakten,  für  den  Künstler  todten 
und  tödtenden  Wissen,  diese  nicht  zu  einer  bloss  empirischen  Nach- 
ahmerei [die  stets  Einseitigkeit  und  Manier  droht)  umschlagen. 


Erster  Abschnitt. 
Der  Hauptsatz. 

Vom  Inhalt  des  Hauptsatzes  aus  wird  nicht  bloss  die  Form  im 
Allgemeinen,  sondern  auch  die  besondre  Weise  ihrer  Ausführung 
und  zunächst  der  weitere  Fortgang  bis  zum  Eintritte  des  Seiten- 
satzes, so  wie  die  Weise  des  letztern  bestimmt.  Aehnliche  Bedeu- 
tung hatte  der  Hauptsatz  schon  in  den  Rondoformen,  auf  deren  Er- 
kenntniss wir  hier  weiter  bauen  können. 

In  den  ersten  Rondoformen  fanden  wir  die  Hauptsätze  meist 
oder  oft  in  zwei-  oder  dreitheiliger  Liedgestalt;  allein  schon  in 
der  vierten,  noch  mehr  in  der  fünften  Rondoform  hatten  wir  Ur- 
sache, beweglichere  Gestaltung  vorzuziehen. 

Dies  ist  auch  bei  der  Sonatenform  der  Fall.  Diese  Form  kann 
den  Hauptsatz  eben  so  oft  —  und  nach  Belieben  noch  öfter  aufstel- 
len, als  irgend  eine  Rondoform.  Aber  sie  versetzt,  verwandelt  ihn, 


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256 


Sähere  Erörterung  der  Sonaten  form. 


verschmilzt  ihn  mit  den  Übrigen  Partien  des  Tonst ücks  mehr  zu  einem 
innig  einigen  Ganzen;  sie  lässt  ihn  nicht  stehen,  wie  im 
Rondo  geschieht,  sondern  bringt  ihn  in  Bewegung,  nach  an- 
dern Tonarten,  zu  andern  Sätzen  und  Gängen  hin.  Daher  ist  hier 
die  zwei-  und  dreitheilige  Liedform  viel  zu  fest  abgeschlossen  und 
stetig ;  man  wird  sie  nie,  oder  nur  in  seltnen  Fällen  (dem  Verfasser 
ist  keiner  erinnerlich)  angewendet  und  anwendbar  finden. 
Die  Sonate  liebt  vielmehr,  ihrem  Hauptgedanken 

A.  die  Satsform 

zu  geben.  Allein  diese  engste  aller  abschliessenden  Formen  würde, 
für  den  Hauptgedanken  eines  grossem  und  inhaltreichen  Tonstücks 
angewendet,  zu  wenig  Gewicht  haben.  Daher  wird  es  Bedürfniss, 
4)  den  Satz  innerlich  zu  erweitern 

und 

2)  durch  Wiederholung  zu  befestigen. 

So  verfährt  Beethoven  in  seiner  geistreichen  JEsdur-Sonate, 
Op.  29  oder  31.    Dies  — 


ist  der  Satz,  der  ihm  als  Hauptsatz,  mithin  als  Hauptgedanke  sei- 
nes ganzen  Tonstückes  dient.  So  eng  begränzt  er  für  diese  Bestim- 
mung erscheint,  so  wollen  wir  doch  nicht  übersehn,  dass  er  schon 
für  sich  als  Satz  einen  ungewöhnlich  reichen  Inhalt  hat ;  der  erste 
Takt  wird  wiederholt;  das  nächste  Motiv  (das  in  den  beiden  folgen- 
den Takten  enthaltne)  wird  wiederholt  und  vorwärts  geführt;  das 
Ganze  hat  eine  Ausdehnung  von  acht  Takten  und  umfasst  minde- 
stens drei  verschiedne  Motive,  den  siebenten  Takt  für  Eins  gerech- 
net. —  Nicht  also  jeder  Satz,  nicht  der  Satz  auf  seiner  untersten 
Stufe,  sondern  der  entwickeltere  und  damit  bereicherte  erscheint  für 
unsern  Zweck  geeignet.  Wie  aber  ein  solcher  Satz  sich  bildet, 
wird  aus  Tb.  II,  S.  27  u.  f.  als  bekannt  vorausgesetzt. 

Dieser  Satz  nun  muss  nach  seiner  wichtigen  Bestimmung  und 
nach  dem  Reichthum  seines  Inhalts  eingeprägt,  gewichtiger  werden. 
—  Beethoven  geht  daher  vom  Schlusston  mit  diesem  Gange  — 


! 


*  Hier  und  in  den  meisten  folgenden  Beispielen  können  und  müssen  Aus- 
züge und  allerlei  Abkürzungen  und  Andeutungen  genügen. 


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Der  Hauptsatz. 


257 


weiter  und  wiederholt  seinen  Satz;  hierbei  wird  der  erste  Takt, 
wie  No.  293  andeutet,  in  der  Höhe,  der  zweite  (die  Wiederholung 
des  ersten)  eine  Oktave  tiefer,  die  beiden  folgenden  noch  eine  Oktave 
tiefer,  die  beiden  nächsten  zwei  Oktaven  höher,  die  letzten  auf  der 
alten  Stelle  (wie  No.  293,  eine  Oktave  unter  den  vorhergehenden) 
genommen ;  so  dass  das  Ganze,  auf-  und  abschwebend  um  seinen 
ursprünglichen  Standpunkt,  sogleich  jene  Beweglichkeit  annimmt,  die 
die  Sonatenform  (S.  252)  karakterisirt. 

Aber  hiermit  noch  nicht  befriedigt  ergreift  der  Komponist  nun 
sein  erstes  Motiv,  bildet  daraus  abermals  einen  Satz,  —  gleichsam 
einen  Anhang  zum  vorigen,  — 

i-f-r-r  nrirrr±h  rjHCff 


294 


r7f  r  0 

und  wiederholt  auch  diesen.  So  hat  sich  der  eine  Satz  (No.  294 
zu  No.  292  gerechnet)  schon  jetzt  über  25  Takte  ausgebreitet,  seinen 
Inhalt  zugleich  eingeprägt  und  doch  beweglicher,  fortschreitender 
erwiesen,  als  die  mehrtheilige  Liedform  oder  selbst  die  Periode  ge- 
konnt hätte;  die  Beweglichkeit  liegt  in  den  mehrmaligen  Abschlüs- 
sen und  in  der  steten  Verwandlung  desselben  Inhalts ;  Eins  nach 
dem  Andern  wird  abgelhan  und  das  Wiederkehrende  neu  gestaltet. 
Und  nach  alle  dem  werden  wir  weiterhin  (S.  271)  erfahren  müssen, 
dass  der  Komponist  seinen  Satz  noch  nicht  losgelassen  hat. 

Uebrigens  ist  unser  Beispiel  als  solches  nicht  ganz  ohne  Zwei- 
fel. Die  in  No.  294  aufgewiesne  Bildung  ist  zwar  durchaus  dem 
Hauptmotiv  des  eigentlichen  Satzes  (in  No.  292)  entsprossen  und 
durfte  insofern  ein  blosser  Anhang  genannt  werden;  allein  sie  kann 
ebensowohl  als  ein  für  sich  bestehender  Satz  gelten.  Will  man 
der  letzlern  Auffassung  beipflichten,  so  würde  der  Fall  nicht  in 
diese  erste,  sondern  in  die  letzte  Kategorie,  die  wir  unter  E.  zu 
besprechen  haben  werden,  gehören. 

Ein  schärfer  ausgeprägtes,  —  wenngleich  ebenfalls  nicht  ausser 
allem  Zweifel  stehendes  Beispiel  bietet  Beethoven's  Sonate  pa- 
thdtique,  Op.  13.    Der  Hauptgedanke  — 


295 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl. 


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258 


Nähere  Erörterung  der  Sonaten  form. 


ist  ein  breit  ausgelegter,  im  Hauptton  ganz  abschliessender  Satz. 
Auf  dem  Schlusstone  wird  derselbe  bis  zum  achten  Takte  wieder- 
holt, da  aber  kurz  in  die  Dominante  gewendet 


296  I^Bg^jl 


*  1 

Es  ist  ein  Uebergang  in  die  Tonart  der  Dominante  und  ein  Ganz- 
schluss ;  aber  so  flüchtig  gehalten,  dass  man  ihm  nur  die  Wirkung 
eines  Halbschlusses  beimessen  dürfte.  —  Was  diesen  Fall  einiger- 
massen  zweideutig  macht,  wird  spater  zur  Sprache  kommen. 

Bei  den  Vorzügen ,  die  sich  schon  hier  für  die  Sonatenform 
am  Satze  zeigen,  ist  klar,  dass  der  letztere  für  den  Hauptsatz  günsti- 
ger und  befriedigender  befunden  wird,  als 

B.  die  Periode. 

Beobachten  wir  eine  solche,  die  Dussek's  Es dur-Sonate, 
Op.  75,  als  Hauptsatz  dient, 


rE-fr— « 


n^rj  »ff  ff 

Wir  finden  (was  schon  bei  der  ersten  Anschauung  dieser  Form, 
Th.  I,  S.  29,  einleuchtend  geworden)  den  Gedanken  durch  die 
gleichmässige  Bildung  von  Vorder-  und  Nachsatz,  so  wie  durch 
die  beiden  einander  entsprechenden  Schlüsse  (der  letzte  Dreiklang 
des  Vordersatzes  bei  f  ist  durch  den  folgerechten  Fortgang  der  Me- 
lodie zu  einem  Dominantakkord  erweitert)  so  sicher  und  befriedigend 
abgeschlossen ,  dass  in  ihm  selber  gar  kein  Trieb  zum  weitern 
Fortschreiten  liegt.  Und  man  beherzige,  dass  dies  nicht  etwa  in 
dem  mindern  Interesse,  das  sein  Inhalt  in  Vergleich  mit  dem 
Beet  ho  ven'schen  vielleicht  erweckt,  sondern  nur  in  der  ab- 
schliessenden Form  seinen  Grund  hat. 

Daher  findet  nun  auch  der  Komponist  (dem  denn  doch  sein 
Gedanke  werth  gewesen  sein  muss,  er  hält'  ihn  sonst  nicht  festge- 
halten) keinen  Anlass,  aus  ihm  etwas  zu  entwickeln,  ihn  weiter  zu 


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Der  Hauptsatz. 


259 


führen  oder  zu  wiederholen,  sondern  er  fügt  ihm  einen  Anhang, 
gewissermassen  einen  Schlusssatz  zu,  — 


bis 


29S 


der  zuletzt  anfangt  zu  gehen,  dann  aber  doch  nicht  weiter  führt. 

In  gleicher  Lage  befindet  sich  Beethoven  in  seiner  Cdur- 
Sonate ,  Op.  2,  an  der  man  lebendige  Bewegung  so  wenig  wie  in- 
neres Interesse  vermissen  wird.  Der  Hauptsatz  hat,  wenn  auch 
in  gedrängtester  Kürze,  Perioden  form,  — 


299 


4 


4  - 


führt  daher  auch  nicht  weiter.  Es  wird  ein  neuer  Satz,  und  zwar 
aus  demselben  Motiv  heraus,  gleichsam  ein  Anhang,  — 


300 


fr 


r 


gebildet,  mit  Versetzung  der  Melodie  in  den  Bass  wiederholt  und 
—  abermals  geschlossen.  Weiler  konnte  dieser  Satz  auch  nicht 
fuhren,  da  sein  Interesse  schon  in  ihm  und  der  Periode,  aus  der 
er  als  Anhang  hervorgeht,  erschöpft  ist. 

Hieraus  begreift  sich  nun  eine  Wendung,  die  überaus  häufig 
genommen  wird.  Der  Satz  für  sich  ist  meist  zu  unbefriedigend, 
die  Periode  zu  abschliessend,  und  zwar  —  wie  wir  längst  erkannt  — 
durch  den  Abschluss  des  Nachsatzes,  der  durch  den  Vordersatz- 
schluss  vorbereitet  und  verstärkt  ist.  Es  kommt  also  darauf  an, 
die  Vortheile  des  Satzes  und  der  Periode  zu  vereinen ,  und  dies 
geschieht  durch 

C.  die  Periode  mit  aufgelöstem  Nachsatz ; 

es  wird  nämlich  ein  regelmässiger  Vordersatz  gebildet,  der  Nach- 
satz aus  den  Motiven  desselben  begonnen,  dann  aber  nicht  zum 
periodischen  Abschlüsse  gebracht,  sondern  gangartig  weiter  geführt 
zum  Seitensatze.  Hierbei  wird  aber  der  Vordersatz,  als  eigent- 
licher und  alleiniger  Kern  der  Hauptpartie,  in  genügender  Fülle 
aufgestellt.    Betrachten  wir  einige  Beispiele  von  Beethoven. 

Das  erste  nehmen  wir  aus  der  kleinen  Fmoll-Sonate,  Op.3. 
Hier  - 

47* 


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260 


Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


301 


6>y 1  i'^j  Fi  'tpft 


A4 


1+ 


6  6  4 

haben  wir  einen  Satz  vor  uns,  aus  dem  sich  die  Hauptparlie  bil- 
den wird,  und  zwar  einen  Vordersatz,  da  der  Schluss  auf  die 
Dominante  fallt*.  Der  Nachsatz  hebt  mit  dem  Hauptmotiv  (a  in 
No.  301)  an,  spielt  sich  mit  dem  zweiten  Motiv  (6  in  No.  304) 
weiter,  — 


303 


findet  aber  keinen  Abschluss,  sondern  läuft  gangartig  zum  Seiten- 
satze hin. 

Ein  zweites  Beispiel  giebt  der  Hauptsatz  des  Finale  der 
Cis  moll -Sonate,  Op.  27.    Er  setzt  so  — 


104 


•    ;  simil 

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• — —  — -^H 

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*  Allerdings  weicht  die  Modulation  einigermassen  ab ;  zwischen  den  toni- 
schen und  Dominant-Dreiklang  schiebt  sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  siebenten 
Taktes  der  Sextakkord  b-des-g\  man  hätte  b-des-f  erwarten  sollen  (den 
Schlussfall  von  der  Unter-  in  die  Oberdominante) ,  wäre  nicht  die  Folge  der 
zwei  Sextakkorde  fliessender  gewesen. 

So  wird  der  Vordersatz  einer  sonst  regelmässigen  Periode,  die  der  liebli- 
chen Fdur-Sonate  von  Beethoven  (Op.  4  0)  als  Hauptsatz  dient,  — 


* 


i 


1 


r 


durch  den  unhemrobaren  Zug  der  Melodie  zu  einem  Schluss  in  die  Unterdomi- 
nante gelenkt,  während  im  Uebrigen  (die  vier  ersten  Takte  sind  Vorspiele  — 
Th.  II,  S.  32  —  die  vier  folgenden  Vordersatz  der  Periode)  die  periodische 
Form  klar  hervortritt. 


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Der  Hauptsatz. 


261 


6         X6  5 
5  * 

6 
4 

5  6 
*  4 

5 
* 

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ein  (nicht  einmal  die  Bezifferung  ist  zuletzt  genau,  nur  das  Nö- 
thigste  sollte  angedeutet  werden),  endet  also  mit  einem  Halbschluss 
—  oder  einem  Schluss  in  der  Tonart  der  Dominante,  der  aber  nur 
die  Bedeutung  eines  Halbschlusses  hat,  —  stellt  sich  mithin  als  ein 
Vordersalz  dar.  In  der  That  wollte  sich  nun  auch  ein  Nachsatz 
bilden ;  es  wird  wieder  mit  dem  Hauptmotiv  (dem  Abschnitt  Takt  1 
und  2  in  No.  304)  eingesetzt.  Allein  der  Nachsatz  fuhrt  gangartig 
zum  Seitensatz  in  Gzsmoll  (also  Dominante  Moll  für  Parallele  Dur), 
statt  sich  und  die  ganze  Periode  fest  zu  schliessen. 

Dergleichen  Gebilde  vereinen  die  Beweglichkeit,  die  ein  kurz 
abbrechender  und  dann  wiederholter  oder  veränderter  Satz  bietet, 
mit  der  innerlichen  Zusammengehörigkeit  und  Abgeschlossenheit  einer 
Periode.  Der  Vordersatz  No.  301  mit  dem  Nachsatz  No.  303,  der 
Vordersatz  No.  304  mit  seinem  Nachsatze  sind  zusammengehöriger, 
als  selbst  die  Sätze  No.  292  und  294,  obgleich  diese  aus  ein  und 
demselben  Motiv  hervorgegangen.  Dabei  sind  sie  verhältnissmässig 
kurz  abgefertigt  und  —  vermeiden  die  Einförmigkeit  mehrmaliger 
Schlussfälle  gleicher  Art;  No.  292  schliesst  auf  Es,  die  Wieder- 
holung ebenfalls,  der  Nachsatz  No.  294  desgleichen;  No.  301 
schliesst  auf  der  Dominante  C,  der  Nachsatz  No.  303  führt  nach 
As  und  wird  noch  weiter,  nach  Es  gehn,  bevor  der  Seitensatz  in 
As  eintritt. 

Aehnliche  Vortheile  bietet 


D.  die  erweiterte  Periode, 

schon  wenn  sie  wirklich  periodisch  abschliesst,  noch  mehr,  wenn 
auch  ihr  Nachsatz  in  Gang  aufgelöst  wird. 

Ein  Beispiel  ersterer  Art  bietet  der  tiefsinnige  erste  Satz  von 
Beethovcn's  £moll-Sonate,  Op.  90.  Dies  ist — im  dürftigen  Auszuge  — 


305 


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262 


Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


—   /Tn   - 


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r  


I  6' 

I 


I 


r 


die  Periode  des  Hauptsatzes.  Das  Hauptmotiv  breitet  sieb  Uber 
vier  Abschnitte  (a,  6,  c,  d)  von  je  zwei  Takten  aus,  von  /imoll 
Uber  d  nach  Gdur,  von  Gdur  Uber  fis  nach  //moil;  ein  fünfter 
(zweigliedriger)  Abschnitt  (e)  weilt  in  G  dur,  ein  sechster  aus  ihm 
enlstandner  (/')  macht  endlich  einen  lialbschluss  im  Hauptton.  Die- 
sem weiten  Vordersatze  (wenn  der  Name  noch  gelten  darf)  von 
sechzehn  Takten  stellt  sich  der  Nachsatz  (g)  von  vier  Takten  ge- 
genüber und  muss,  um  zu  befriedigen,  nach  einem  Trugschlüsse 
wiederholt  werden. 

Hiermit  ist  allerdings  der  Gedanke  eben  so  sättigend  und  jede 
weitere  Fortbewegung  eben  so  entschieden  ablehnend,  wie  jene 
Dussek'sche  Periode  (No.  297),  abgeschlossen;  und  man  kann  sich 
an  ihm  tiberzeugen,  dass  auch  bei  Dussek  nicht  etwa  minderes 
Interesse  am  Inhalte,  sondern  nur  die  erwähnte  Form  Hinderniss 
weitern  Fortgangs  war.  Dabei  aber  hat  die  vielgliedrige  Periode 
Beethoven' s  innerlich  alle  Beweglichkeit  und  Mannigfaltigkeit, 
die  der  Sonate  zukommt. 

Eine  erweiterte  Periode  mit  gangartig  auslaufendem  Nachsatze 
sehn  wir  als  Hauptsatz  in  Bee  thove n's  glanzvoller  Cdur-Sonate, 
Op.  53.    Zuerst  erscheint  ein  Satz,  — 

306   Allegro  con  brio. 

j£_  #  I    L.  I    l  1  0  1   11  «f  *   — T~     !    <  'I 

i        -  "    "    a    Ä  i  4--;-  -  "i 

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der  für  einen  Vordersatz  gelten  könnte,  wenn  nicht  statt  des  Nach- 
satzes eine  Wiederholung  auf  der  tiefern  Sekunde  (Ä)  folgte,  die  also 
nach  F  (erst  Dur,  dann  Moll)  führte ;  dann  erst  wird  in  dieser  Weise  — 


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Der  Hauptsatz. 


263 


307 


r  ¥ 


das  Ganze  als  Vordersatz  geschlossen.  Hierauf  kehrt,  —  man  muss 
nun  annehmen,  als  Nachsalz,  —  der  erste  Satz  (No.  306)  mit  einer 
uns  hier  nicht  wichtigen  Aenderung  wieder;  auch  wiederholt  wird 
derselbe,  aber  nicht  auf  der  tiefern,  sondern  jetzt  auf  der  höhern 
Sekunde,  auf  D  ;  und  nun  wird  sofort  weiter  modulirt  nach  dem 
Seitensatz  hin. 

Aehn lieh  gebildet,  nur  noch  weiter  ausgeführt  und  dabei  inner- 
lich noch  einiger  aneinandergcschlossen  ist  der  Hauptsatz  der  den  dun- 
kelsten Tiefen  eines  mächtig  aufgeregten  Geistes  entstiegnen  Fmoll- 
Sonate,  Op.  57,  von  Beethoven,  eines  der  Werke,  in  denen  der 
Geist  des  Künstlers,  ganz  erfüllt  von  seiner  Aufgabe,  das,  was  der 
Unkundige  oft  als  unvereinbare  Gegensätze  ansieht,  —  freiesten 
Schwung  der  schöpferischen  Kraft  und  tiefste  Folgerichtigkeit,  Ver- 
nünftigkeit, —  als  Untrennbar-Eins  offenbart  *.  Die  Untersuchung  des 
Satzes  darf  ohne  Weiteres  jedem  Nachstudirenden  überlassen  bleiben. 

Von  der  erweiterten  Periode,  die  mehrere  in  ihrer  Form  zu- 
sammengefasstc  Sätze  aufführt,  ist  nur  noch  ein  Schritt  zu  der  letz- 
ten Form,  die  der  Hauptsatz  der  Sonate  anzunehmen  pflegt,  und 
zwar  zu  der  inhaltreichsten  und  in  Vergleich  zu  dem  Hauptsatz 
der  Rondoformen  eigenthümlichsten ;  das  ist 

E.  die  Satzkette, 

eine  Folge  von  Sätzen,  die  zwar  durch  Stimmung,  durch  Modula- 
tionsordnung, durch  verbindende  Mittelglieder,  durch  gemeinsame 


*  Es  ist  lange  genug  von  Fachmännern,  die  mit  ihrer  Bildung  nicht  über 
einen  beliebigen,  rückwärts  gelegnen  Punkt  hinaus  haben  vorwärts  schreiten 
Wullen,  —  und  den  nachsprechenden,  ihre  Unbildung  hinter  technische  Phrasen 
versteckenden  Aesthetikcrn,  Rezensenten  u.  s.  w.  dem  Beethoven  Exzentri- 
zität, Losgebundenheit  von  der  Form,  wo  nicht  Ausschweifung  oder  Ab- 
schweifung und  Formlosigkeit,  beigemessen  worden,  während  man  ihm 
Phantasie,  Genie  zugestand.  Eine  tiefere  Erkenntniss  vom  Wesen  der  Form 
würde  gezeigt  haben,  dass  ebener,  nächst  und  neben  Seb.  Bach,  die  ener- 
gischste Formbildung,  das  heisst  die  tiefste  Folgerichtigkeit  und  Vernünftigkeit 
in  seinen  Werken  beweist,  —  eine  tiefere,  als  meistens  Mozart,  dem  aus 
angeerbter  und  von  Jugend  her  bestehender  Gewöhnung  auch  hier  ein  gar  nicht 
zu  rechtfertigender  Verzug  beigemessen  zu  werden  pflegt. 


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264 


Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


Motive  zu  einander  gehören,  nicht  aber  durch  die  fest  einende  Pe- 
riodenform zu  einer  nothwendigen  Einheit  verschmolzen  sind. 

Hier  müssen  wir  vor  allem  jenes  schon  besprochncn  Falles 
von  No.  292  bis  294  gedenken.  Der  letzte  Salz  ist  dem  ersten 
verwandt,  kann  aber  auch  ohne  ihn  selbständig  bestehn. 

Ein  entscheidender  Beispiel  giebt  Beethove n's  aus  Zartheit 
und  sprühender  Laune  geborne  G  dur-Sonate,  Op.  31.  Zuerst  scheint 
sich  (man  sehe  No.  256)  ein  Vordersatz  zeichnen  zu  wollen,  aber 
weit  ausgedehnt,  mit  einem  Ganzschluss  auf  der  Dominante  statt 
des  Halbschlusses,  und  aus  zweierlei  verschiednen  Motiven  zusam- 
mengesetzt. Nun  werden  zuvörderst  die  ersten  drei  Abschnitte 
eine  Stufe  tiefer,  auf  F,  wiederholt,  dann  aber  das  Hauptmotiv 
(a  in  No.  256)  auf  die  Quartsextharmonie  von  C,  zu  einem  Ganz- 
schluss auf  C,  auf  die  Quartsextharmonie  von  G  und  zu  einem  drei- 
mal wiederholten  Ganzschluss  auf  G  geleitet,  so  dass  der  ganze 
Hauptsatz  aus  vierzehn  Abschnitten  in  dreissig  Takten  besteht. 
Und  damit  ist,  wie  wir  weiterhin  erfahren  werden,  das  Walten 
des  Hauptsatzes  noch  nicht  erschöpft. 

In  diesem  Beispiel  waren  die  einzelnen  Abschnitte  zum  Theil 
so  unbedeutend  (nämlich  für  sich  allein),  dass  man  gleich  erkennen 
musste  :  nicht  in  ihnen,  sondern  im  Ganzen  sei  der  Gedanke  des 
Komponisten  zu  fassen,  jeder  einzelne  Abschnitt  für  sich  sei  nur 
ein  im  Ganzen  geltender  Zug.  Das  Entgegengesetzte  sehn  wir 
in  dem  gross-  und  edelsinnigen  Hauptsatze  der  Sonate  Op.  28  von 
Beethoven.    Dies  — 


308 


ß  ß  ß  ß — w~w 

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117 


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rr      r  r  r 

ist  der  erste  (auf  einem  Orgelpunkt  ruhende) ,  für  sich  befriedigend 
abgeschlossnc  Satz.  Er  wird  in  höherer  Oktave  wiederholt;  dann 
folgt  ein  ähnlicher,  aber  anstrebendercr,  — 


309 


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r 


ffr  T 


der  nach  der  in  den  letzten  Takten  sich  aufschwingenden  üeber- 


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Der  Hauptsatz. 


265 


leitung  abermals  in  höherer  Oktave  wiederholt  und  im  Haupttone 
geschlossen  wird. 

Hier  hatte  der  zweite  Satz  eine  deutlich  ausgesprochne  Ver- 
wandtschaft mit  dem  ersten.  Als  Beispiel  loserer  Aneinanderreihung 
diene  Mozart's  anmuthige  Fdur-Sonatc*,  in  der  Mannigfaltigkeit 
des  Inhalts  und  Fülle  jedes  Satzes  dasjenige,  was  jeder  der 
vorigen  Fälle  nur  theilweis  zeigte,  vereint  darzulegen.  Die  Sonate 
beginnt  mit  einem  Satze,  — 


der  ungeachtet  des  ganz  fremdartigen  Inhalts  seiner  zweiten  Hälfte 
und  der  durch  den  Orgelpunkt  unbestimmt  gewordnen  Form  des 
llalbschlusses  für  eine  Periode  gelten  mag  und  im  zwölften  Takte 
vollkommen  im  Hauption  absch  Messt.  Nun  folgt  (da  die  Perioden- 
form nicht  weiter  führt)  ein  ganz  neuer  Gedanke,  ein  Satz,  — 


der  sich  mit  unwesentlicher  Aenderung  wiederholt  und  einen  voll- 
kommnen,  noch  zweimal  wiederholten  Schluss  abermals  im  Haupt- 
tone macht.  Mag  man  nun  den  ersten  Gedanken  (No.  310)  für 
eine  Periode,  oder  nur  für  einen  periodenähnlichen  Satz  anerkennen : 
das  steht  fest,  dass  nach  ihm  ein  neuer  Satz  kommt  und  somit  der 
Hauptsatz  aus  zwei  oder  drei  ganz  von  einander  verschiednen  Ge- 
danken zusammengestellt  ist.  Dass  aber  der  letzte  Satz  (No.  311) 
ungeachtet  des  vorhergehenden  vollkommnen  Abschlusses  zum  Haupt- 
satze gehört,  zeigt  zunächst  die  Gleichheit  der  Tonart,  dann  noch 
enlschiedner  der  weitere  Verlauf  der  Komposition,  den  wir  später 
zu  betrachten  haben  werden.  Nur  erscheint  hier  die  Benennung 
Hauptsatz  nicht  füglich  noch  anwendbar ;  man  würde  passender 
die  Benennung 

Hauptpartic 
für  den  Inbegriff  alles  bis  zum  Seitensatz  oder  zur 

Sei  tenpa  r tie 

Gegebnen  brauchen. 

*  Im  ersten  Heft  der  Breitkopf- Härtcl'schen  Gosamrat-  (No.  3  der  Einzel-) 
Ausgabe. 


i 


310 


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266 


Nähere  Erörterung  der  Sonaten  form. 


Noch  freier  schreitet  Beethoven  in  seiner  Ddur-Sonate, 
Op.  10,  vorwärts.  Zuerst  führt  er  eine  Periode  mit  verlängertem 
Nachsatz  auf,  — 

Presto.  ,  ^  I 


SS 


« 


312 


der  Nachsatz  wird,  —  leicht  figurirt,  wie  hier  bei  a,  — 

b 


313 


I 


* 


wiederholt ;  dann  wird  auch  der  Vordersatz  bis  Takt  4  wiederholt 
und,  wie  in  No.  343  b  zeigt  —  aber  ebenfalls  mit  unwesentlicher 
Aenderung,  weiter  geführt.  Allein  nach  dem  Halbschluss  auf  der 
Dominante  von  H  (bei  b)  erscheint  nun  ein  neuer,  nach  Tonart 
und  Inhalt  dem  ersten  ganz  fremder  Gedanke,  — 


eine  Periode  in  //  moll  und  auf  dessen  Dominante  schliessend,  die 
man  —  ungeachtet  des  ungewöhnlichen  Schlusses  in  der  Dominante 
statt  Parallele  —  als  ersten  Theil  eines  liedmässigen  Satzes  anzu- 
sehn  hat.  Der  zweite  Theil  führt  nicht  auf  den  ersten  zurück, 
schliessl  auch  gar  nicht,  sondern  läuft  in  einen  Gang  aus,  der 
über  A  dur  und  Fis  moll  Dach  E dur  (Dominante  der  Dominante)  und 
von  da  nach  A  dur  bringt.  Hier  wird  förmlich  und  vollkommen  ge- 
schlossen und  dann  erst  der  Seitensalz  in  ildur,  eine  förmlich  aus- 
gebildete Periode,  deren  Wiederholung  weiter  führt,  gebracht. 

Es  würde  leicht,  aber  überflüssig  sein,  die  Beispiele  zu  ver- 
vielfältigen, auch  deren  von  noch  mannigfacherer  Zusammensetzung 
(man  prüfe  die  Hauptsätze  in  Beethove  n's  grosser  ßdur-Sonate, 
Op.  106,  oder  in  K.  M.  v.  Wcbcr's  As dur-Sonate)  beizubringen. 


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Der  Fortgang  zum  Seitensatze. 


267 


Ueberall  würden  uns,  wie  in  den  vorhergehenden,  schon  aus  dem 
Hauptsatz  als  Karakterzüge  der  Sonatenform  erhöhte  Beweglichkeit, 
reicherer,  unter  steter  Verwandlung  festzuhaltender  Inhalt  entgegen- 
treten. Wo  diese  Beweglichkeit  durch  scharf  abgeschlossne  Satz- 
oder Periodenform  gehemmt  werden  könnte,  muss  ein  neuer  Satz 
{dann  entsteht  die  Satzkette'  ,  oder  eine  Auflösung  der  strengen  Pe- 
riodenform (dann  erscheint  die  erweiterte  Periode  oder  die  gang- 
artige Fortführung  des  Nachsatzes),  oder  eine  weiter  führende  Wie- 
derholung des  Satzes  eintreten,  oder  —  der  Karakter  der  Sonaten- 
form wird  beeinträchtigt,  es  hatte  eine  andre  Form  gewählt  werden 
sollen. 

Beobachten  wir  nun  das  fernere  Walten  dieses  der  Sonate 
eignen  Triebes. 


Zweiter  Abschnitt. 

Der  Fortgang  zum  Seitensatze. 

Wollen  wir  uns  hier  vor  übereilten  und  einseitigen  Urtheilen 
oder  Regeln  bewahren,  so  muss  uns  stets  vor  Augen  bleiben,  wie 
höchst  mannigfaltig  sich  der  Inhalt  der  Sonaten  form  schon  in  den 
wenigen  Hauptsätzen  erwiesen  hat,  die  wir  im  vorhergehenden  Ab- 
schnitte betrachtet.  Sätze,  Perioden  aller  Art,  Folgen  verwandter 
und  verschiedner  Sätze  haben  wir  bereits  als  Hauptpartie  gesehn; 
in  der  Orchesterkomposition  werden  noch  polyphone  Hauptsätze  man- 
nigfacher Art  dazu  kommen.  Keine  von  all'  diesen  Weisen  ist  ver- 
werflich, keine  schlechthin  vorzuziehen.  Aber 

jede  will  ihrer  Natur  gemäss  fortgeführt  sein. 

Dieser  Grundsatz,  —  das  einzige  Gesetz,  das  sich  rechtfertigen 
lässt,  —  ist  an  sich  wohl  ohne  Weiteres  einleuchtend;  es  ist  der- 
selbe, der  uns  immerfort  und  überall  geleitet  hat.  Seine  Anwen- 
dung ist  indess  um  so  sorgfältigerer  Erwägung  bedürftig,  da  es  hier 
zunächst  auf  die  Auffassung  des  Inhalts  eines  jeden  einzelnen  Ton- 
stücks ankommt. 

Die  Bildung  des  Hauptsatzes  ist  das  erste  Ergebniss  der  Idee, 
der  Stimmung,  —  kurz*des  Antriebes  zu  der  Komposition,  die  wer- 
den soll.   Sic  bestimmt  alles  Weitere. 

Zuerst  bestimmt  sie,  dass  die  beginnende  Komposition  über- 
haupt Sonatenform  haben  soll.  Man  durchlaufe  die  im  vorigen  Ab- 
schnitt und  sonst  mitgctheilten  Hauptsätze,  und  es  wird  wenigstens 
das  sogleich  ausser  Zweifel  sein,  dass  keiner  von  ihnen  als  Lied- 
satz für  sich  bestchn,  oder  als  Hauptsatz  für  ein  Rondo  erster  bis 
vierter  Form  geeignet  sein  kann.   Ob  nicht  für  ein  Rondo  fünfter 


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268 


Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


Form?  —  das  kann  bei  einigen  Hauptsätzen  zweifelhaft  sein,  weil 
diese  Rondoform  den  Uebergang  zur  Sonalenform  bildet  und  be- 
kanntlich auf  den  Uebergangspunkten  die  Formgränzen  in  einander 
M  i essen ;  je  sonatenhafler  aber  ein  Hauptsatz  gebildet  ist  (die  unter 
den  Rubriken  D.  und  E.,  S.  261  und  263,  meinen  wir),  das  heisst 
je  enlschiedncr  er  sich  von  der  Lied-  und  allgemeinen  Rondoweise 
lossagt,  desto  weniger  wird  er  auch  für  die  fünfte  Rondoform  ge- 
eignet erscheinen. 

Sodann  bestimmt  die  Rildung  des  Hauptsatzes  auch  die  Weise, 
wie  von  ihm  zum  Scilcnsatze  fortgeschritten  werden  muss.  Man 
hat  die  Wahl  unter  verschiednen  Weisen  des  Fortschrittes;  aber 
diese  Wahl  ist  nicht  der  Willkür  anheimgegeben  (die  wir  überall 
vom  Wesen  der  Kunst  ausgeschlossen  sehn) ,  sondern  bestimmt 
sich  vernunftgemäss  aus  dem  Inhalt  und  Wesen  des  Ganzen,  zu- 
nächst des  Hauptsatzes,  der  von  dem  künftigen  Ganzen  allein 
dasteht. 

Es  lassen  sich  besonders  drei  Weisen  des  Uebergangs  unter- 
scheiden, die  wir  nach  einander  zu  betrachten  haben. 

A.   Fortführung  des  letzten  Gliedes  vom  Hauptsatze. 

Diese  Weise ,  aus  dem  Hauptsatze  fortzuschreiten ,  muss  i  m 
Allgemeinen  die  nächstliegende  und  folgerechteste  genannt 
werden ;  sie  bildet  einen  geraden  Forlgang  von  dem  eben  zuletzt 
aufgestellten  Gedanken  und  aus  ihm  vorwärts.  Allein  sie  muss, 
um  vernunftgemäss  eintreten  zu  können ,  ebensowohl  im  Inhalt 
und  der  Formung  des  Hauptsatzes  begründet  sein,  wie  wir  das  bei 
den  andern  Weisen  finden  werden. 

Wo  können  oder  müssen  wir  nun  unmittelbar  aus  dem  letzten 
Gliede  des  Hauptsatzes  fortschreiten?  — 

Da,  wo  die  Gestaltung  des  Hauptsatzes  diesen  in  sich  selber 
unvollendet,  eines  Fortschritts  bedürftig  zeigt.  Dies  ist  zunächst 
bei  den  (im  ersten  Abschnitt  unter  C.  aufgeführten)  Perioden  mit 
unvollendetem  oder  aufgelöstem  Nachsatze  der  Fall. 

Das  Finale  von  Reethovens  Cis moll-Sonate  zeigt  als  Haupt- 
salz einen  breit  ausgelegten  Vordersatz,  No.  304.  Der  Vordersatz 
foderl  seinen  Nachsatz.  Dieser  folgt  auch,  mit  den  ersten  zwei 
Takten  des  Vordersatzes  eintretend.  Allein  das  arpeggirende  Motiv, 
der  ganze  Inhalt  ist  für  jetzt  schon  befriedigend  dargestellt,  es  be- 
darf nach  der  Fülle  des  Vordersatzes  des  Nachsatzes  nicht  mehr 
um  des  Inhalts  willen,  sondern  nur  um  der  Form  willen,  die  durch 
Modulation  und  Halbschluss  des  Vordersatzes  bedingt  ist.  Daher 
löst  sich  der  Nachsatz  sofort  auf;  nach  der  Wiederholung  der  er- 
sten beiden  Takte  wird  das  Motiv  derselben  hier  — 


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Der  Fortgang  zum  Seitensatze. 


209 


auf  den  ersten  zwei  Takten  wiederholt,  —  und  mit  diesen  zwei 
Akkorden  (oder  vielmehr  gleich  mit  dem  ersten)  ist  die  dem  Seiten- 
satz bestimmte  Tonart  Gwmoll  erreicht,  im  folgenden  Takte  tritt 
ohne  Weiteres  der  Seitensatz  auf. 

So  reissend  schnell  konnte  hier  vorgeschritten  werden,  weil 
der  wesentliche  Inhalt  des  Hauptsatzes,  namentlich  das  Hauptmotiv, 
schon  an  sich  gangartiger  Natur,  und  letzteres,  wie  gesagt,  schon 
befriedigend  genug  aufgeführt  war.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit 
der  grossen  C-Sonate,  von  deren  Hauptsatze  der  Vordersatz  in 
No.  306  und  307  milgetheilt  worden  ist.  Nach  dem  Schluss  des 
Vordersatzes  (No.  307)  kehrt  (wie  schon  S.  203  gesagt)  der  erste 
Abschnitt  (No.  307)  wieder  und  wird  eine  Stufe  höher  wiederholt. 
Dann  wird  mit  dem  letzten  Motiv  weiter,  (Iber  77  nach  E  modulirt,  — 


s  «  5  6 
*       4      #  4 


und  nach  noch  sechs  Takten,  die  auf  der  Dominante  von  E  ruhn, 
in  dieser  Tonart  der  Seitensatz  gebracht.  Es  ist  fast  derselbe  Fall, 
wie  der  vorige,  nur  dass  die  Dominante  der  Dominante  wenigstens 
angeregt,  dann  aber  eine  völlig  orgelpunktartige  Ueberleitung  ge- 
bildet wird.  Auch  hier  ist  der  Kern  (No.  306)  des  Hauptsatzes 
zur  Genüge,  viermal,  aufgestellt  und  die  Ueberleitung  (No.  316) 
durch  die  ahnliche  Schlusswendung  des  Vordersatzes  (No.  307) 
motivirt. 

Noch  kürzer  fasst  sich  die  in  No.  301  angeführte  kleine  Fmoll- 
Sonate.  Schon  im  fünften  Takte  des  Nachsatzes  (No.  303)  ist  die 
Parallele,  in  der  der  Seitensatz  eintreten  soll,  erreicht;  ein  leichter 
Anhang  (nach  No.  303)  bestärkt  die  Modulation,  indem  er  die  Do- 
minanttonart der  Parallele  — 


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270  Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


317 


zweimal  (die  letzten  beiden  Takte  werden  wiederholt)  anregt;  und 
nun  tritt  der  Seitensatz  ein,  im  ersten  Augenblick  sogar  in  der 
Dominanttonart.  Eine  gleiche  Ueberleitungsweise,  nur  in  grössern 
Verhältnissen  ausgeführt,  ist  in  der  grossen  Fmoll-Sonate,  Op.  57, 
zu  beobachten. 

Das  letzte  Beispiel  dieser  Reihe  bietet  uns  die  S.  264  ange- 
führte Sonate.  Wir  wissen,  dass  nach  einer  Periode,  von  der  zu- 
erst der  Nachsatz,  dann  der  Vordersalz  wiederholt  wurde  (No.  313), 
ein  ganz  neuer  Satz  (No.  314)  gleich  dem  ersten  Theil  eines  Lie- 
des in  //moll,  mit  einem  Schluss  in  F&moll,  auftrat.  Aus  den 
Motiven  dieses  neuen  Satzes  —  oder  doch  auf  sie  anspielend  — 
will  sich  ein  zweiter  Theil  bilden;  — 

gis  a  h  ein  h  a  gis   a  b 


318 


eis 


allein,  nachdem  sein  erster  Abschnitt  in  4dur  sich  wiederholt  hat, 
löst  sich  der  Satz  gangartig  auf  — 


319 


und  führt  über  yldur,  F/smoll,  Fdur  nach  yldur  zum  Seitensatze. 

Fassen  wir  alle  angeführten  und  sonst  hierher  gehörigen  Falle 
zusammen,  so  ergiebt  sich:  dass  der  nächstliegende  Fortgang  aus 
dem  zuletzt  ausgesprochnen  Gedanken  dann  erfolgte,  wenn  entwe- 
der dieser  der  einzig  wesentliche  des  Hauptsatzes,  oder  ein  voran- 
gegangner Satz  befriedigend  abgethan  war.  Ist  nun  das  Letztere 
nicht  der  Fall,  hat  der  Komponist  einen  Gedanken  angeregt  und 
ohne  Befriedigung  verlassen,  so  motivirt  sich  zunächst 

B.   die  Rückkehr  auf  den  früheren  Gedanken, 

der  damit  als  Hauptmotiv  des  Hauptsatzes  bezeichnet  wird. 

Dies  können  wir  in  rechter  Fülle  an  den  S.  223  und  256  er- 
wähnten Sonaten  in  Es  und  G  von  Beethoven  beobachten.  Nach 
dem  ersten  Gedanken  der  Fs-Sonate  (No.  292)  ist  ein  zweiter 
(No.  294)  aus  dem  Hauptmotiv  des  ersten  hervorgegangen  und  wie- 
derholt worden.   Von  hier  scheint  sich  schon  ein  Gang  bilden 


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Der  Fortgang  zum  Seitensatze. 


271 


320 


und  in  ftdur,  das  hier  schon  ergriffen  ist,  zum  Seitensatz  fuhren 
zu  wollen.  Allein  der  erste  und  vornehmste  Gedanke  ist  durch 
den  zweiten  (so  untergeordneten,  dass  wir  ihn  nicht  mit  Unrecht 
S.  257  einen  blossen  Anhang  nennen  konnten)  zu  früh  verdrängt 
worden.  Man  muss  auf  ihn  zurückkommen ;  und  nun  erst  wird  mit 
seinem  zweiten,  ausgedehntesten  Motiv  in  die  Dominante  der  Do- 
minante, — 


—  das  zweite  und  dritte  bis  wird  in  der  höhern  Oktave  ausgeführt, — 
und  zum  Seitensatze  fortgegangen.  • 

Noch  sprechender  ist  das  in  der  Gdur-Sonate  vorliegende  Bei- 
spiel. Der  Kern  des  Hauptsatzes  ist  mit  seinem  bezeicbnetsten 
Motiv  a  in  No.  256  gegeben.  Es  wird  ganz  getreu  auf  der  tiefern 
Stufe,  also  in  Fdur,  wiederholt,  schliesst  also  hier  in  C,  wie  es 
vorher  in  D  geschlossen  hatte.  Nun  wird  mit  dein  Hauptmotiv  a, 
oder  vielmehr  dem  letzten  Abschnitte  von  vier  Takten  — 


382 


i 


6 
4 


die  Schlussformel  zweimal  wiederholt,  und  dann,  in  Erinnerung  an 
das  erste  Motiv  (Takt  1  in  No.  266),  ein  ungestüm  herausfahrender 
Gang  gebildet,  — 


3*3 


t 


u.  s.  w. 


BT 


sim. 


der  nach  vierzehn  Takten  mit  einem  Halbschlusse  zur  Ruhe  kommt. 
Dieser  Wurf  war  durch  das  Motiv  des  ersten  Taktes  und  durch 
die  Abgebrochenheit  alles  Fernern   doppelt  noth wendig  bedingt. 


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272 


Nähere  Erlirtentng  der  Sonatenform. 


Allein  zugleich  ist  damit  das  Hauptmotiv  a  verdrängt  und  eine  Hast 
in  die  Komposition  gebracht,  die  ihrem  Hauptinhalte  nach  nicht  vor- 
herrschen darf.  Folglich  —  kehrt  Beethoven  zu  seinem  Anfang 
zurück,  kommt  also  von  jenem  überraschenden  Wurf  auf  das  Motiv, 
das  ihn  vorbereitet  und  erzeugt  hatte  (Takt  \  in  No.  256),  zurück 
und  von  da,  in  weiterer  Verfolgung  des  Kernsatzes,  auf  das  steti- 
gere Hauptmotiv.  Im  achten  Takte  wird  aber,  statt  nach  />,  wie 
anfangs,  jetzt  nach  (//  und)  Fisdur  gelenkt  — 


und  diese  Wendung  durch  einmalige  Wiederholung  des  Ganzen  und 
zweimalige  der  Schlusstakte  befestigt.  Dann  tritt  nach  einer  figu- 
rirten  Verlängerung  des  Schlusstons  — 


der  Seitensatz  in  //dur  ein.  —  Für  den  Jünger  in  der  Kunst  wie 
für  den  bloss  betrachtenden  sinnigen  Kunstfreund  ist  diese  ganze 
Hauptpartie  (mit  Einschluss  der  befremdenden  Tonart  des  Seiten- 
satzes) ein  besonders  lehrreicher  Belag  zu  der  wiederholt  aus- 
gesprochnen  Ueberzeugung,  dass  es  im  wahren  Kunstwerke  nur 
vernünftige  Freiheit,  keine  Willkür  gebe.  Die  ganze  Partie  kann 
dem  ersten  flüchtigen  Hinhören  wohl  den  Eindruck  eines  nur 
von  willkürlicher  Laune,  fast  zusammenhanglos  hinge worfnen  Ton- 
ergusses machen ;  schon  aus  dem  ersten  Motiv  folgt  das  zweite  (a) 
nicht  im  Mindesten,  steht  vielmehr  mit  ihm  in  geradem  Wider- 
spruch. Aber  tieferes  Eingehen  offenbart  immer  heller  die  Fol- 
gerichtigkeit des  Ganzen.  Jenes  fahrige  erste  Motiv,  das  in  fessel- 
loser Laune  gleich  einem  augenblicklichen  Einfall  daherfliegt,  konnte 
(wie  später  auch  geschieht)  einen  Gang,  nicht  aber  einen  Satz  her- 
vorrufen. Daher  muss  es  stocken,  muss  ihm  wie  im  Besinnen  je- 
nes zweite  (o)  folgen  oder  vielmehr  entgegentreten ;  dieses  ist  es, 
das  sich  steigern  und  dabei  zu  einem  Satz  ausrunden  kann.  Nun 
ist  aber  das  erste  verdrängt  und  zugleich  vorschnell  (dem  hastigen 
Sinn  des  Ganzen  eben  hierin  gemäss)  die  Tonart  der  Dominante 
betreten.  Folglich  muss  das  erste  Motiv,  folglich  nach  diesem  wie- 
der das  zweite  zurückkehren.  Dem  flüchtigen  Karakter  des  Ganzen 
wär'  es  dabei  nicht  entsprechend  gewesen,  hätte  dies  auf  der  allen 
Stelle  in  G,  oder  in  der  bereits  angeregten  Dominante  D  geschehn 
sollen;  die  Modulation  macht  also  einen  Sprung  (jeder  förmliche 
Uebergang  wäre  für  die  flüchtige  Abgebrochenheit  des  Satzes  zu 


^iy*  JJJJ  Ij 


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Der  Fortgang  zum  Seitensatze. 


273 


schwerfällig  gewesen)  nach  F.  Hier  aber  erhält  das  zweite  Motiv 
(bei  der  Noth wendigkeit ,  nach  dem  Hauptton  zurückzukehren) 
noch  grösseres  Uebergewicht  Uber  das  erste,  der  Komponist  ist  — 
um  an  einen  alt  bekannten  Ausdruck,  Th.  II,  S.  103,  zu  erinnern 

—  noch  mehr  Schuldner  jenes  Motivs  geworden,  er  muss  es  end- 
lich gewähren  lassen;  und  da  bringt  es  (No.  323)  hervor,  was 
es  kann:  einen  Gang,  und  zwar  seinem  Karakter  gemäss  einen 
höchst  flüchtigen.  Sollte  nun  mit  diesem  Gange  zum  Seitensatz 
hingeeilt  werden?  —  Dann  wäre  das  tüchtigste  Motiv  (a)  aus  dem 
Sinne  gekommen  und  die  ganze  Hauptpartie  hätte  ihre  Haltung  ver- 
loren. Sollte  also  jenes  Hauptmotiv  sofort  wiederkehren?  —  es 
war  nicht  mehr  motivirt,  wie  anfangs,  da  das  andre  Motiv  für 
sich  zu  Ende  gekommen  war.  Es  bedurfte  offenbar  einer  Vermit- 
telung,  und  die  bot  der  Wiederanfang,  aus  dem  sowohl  jener  Gang, 
als  früher  schon  die  Notwendigkeit  des  Motivs  a  hervorgegangen 
war.  Hiermit  war  auch  als  nothwendig  ausgesprochen,  dass 
nicht  jener  Gang,  sondern  das  Satzartige  der  Hauptpartie  den 
üebergang  zur  Seitenpartie  machen  müsste;  das  Bedürfniss  nach 
einem  ganghaften  Hinüberkommen  (Satz  auf  Satz  bricht  sich  ver- 
bindungslos) zog  zuletzt  noch  jene  vermittelnde  Figur  No.  325  herbei. 

—  Auf  den  Seitensatz  und  seine  Tonart  kommen  wir  später  zurück. 

Aehnliche ,  in  derselben  Weise  zu  begreifende  Fälle  zeigen 
sich  in  Beethoven's  —  Sonate  pathetique  (No.  295),  in  Mozart's 
Cmoll-Sonate  (mit  vorangehender  Phantasie),  und  vielen  andern  Kom- 
positionen. Die  Mozart'sche  Sonate  stellt  zuerst  einen  periodi- 
schen Hauptsatz  auf,  — 


dessen  beide  Schlüsse  unvollkommen  sind  (der  Halbschluss  fällt  auf 
einen  verminderten  Septimenakkord — ),  mithin  weiter  treiben.  Allein 
die  beiden  Motive  der  Periode  sind  für  jetzt  befriedigend  und  fertig 
hingestellt;  folglich  tritt  mit  diesem  Anhange,  — 


der  unter  Umkehrung  der  Oberstimmen  wiederholt  wird  und  mit 
ganz  andern  Motiven  fortgeht,  — 


327 


m 


Mar  x ,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl. 


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274 


Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


? 


ein  neuer  Satz  ein.  Allein  der  Hauptgedanke  darf  nicht  aufgege- 
ben, am  wenigsten  durch  einen  nach  Inhalt  und  Form  schwächern 
Gedanken  verdrängt  werden.  Folglich  kehrt  jener  wieder  und  führt 
mit  einem  Schlage  zum  Seitensatze ;  nach  Wiederholung  der  beiden 
ersten  Takte  von  No.  326  ergreift  der  Bass  das  Hauptmotiv,  die 
Oberstimme  einen  Kontrapunkt,  — 


319 


i 


i 


S 


&  IT)  fr  r^Ufrfö 


T 

8 


i 


1    r  r 


und  im  folgenden  Takt  erscheint  in  Iftdur  der  Seitensatz.  —  Es 
ist  hier  abermals  die  Dominanttonart  des  neuen  Tons  [Bdur)  ver- 
säumt worden;  die  Folgen  werden  wir  im  nächsten  Abschnitte 
sehn. 

In  all'  diesen  Beispielen  finden  wir  einen  gemeinsamen  Zug: 
das  entschiedne  und  kurz  gefasste  Hindringen  auf  den  Seitensatz, 
sobald  einmal  der  Hauptsatz  abgemacht  ist.  So  tritt  klar  hervor, 
was  einmal  zur  Hauptsache  bestimmt  ist:  Haupt-  und  Seitensatz; 
die  bloss  vermittelnden  Theile  müssen  sich,  wie  es  ihrer  untergeord- 
neten Bedeutung  gemäss  ist,  beschränken;  doch  nehmen  auch  sie 
gern  (so  viel  bei  ihrer  Bestimmung  möglich  ist)  Satzform  an  und 
bezeugen  in  beiden  Beziehungen  die  Energie  und  durchgreifende 
Uebersicht  ihrer  Bildner. 

Blicken  wir  zum  Schluss  auf  jene  Dussek'sche  in  No.  297 
angeführte  Sonate  zurück.  Der  Hauptsatz,  eine  Periode,  gewährte 
keinen  Fortgang ;  sein  Anhang  oder  der  zweite  Satz  (No.  298) 
wollte  ebenfalls  nicht  dazu  genügen,  hat  aber  doch  den  eigentlichen 
Hauptsatz  zurückgedrängt.  Dieser  muss  also  wiederkehren  und  soll 
durch  einen  lebhaften  Kontrapunkt  oder  Continuo  — 


330 


Siffig  J^"^^^^r^5  '^i+tzs 

fr  .  .  .  .  ....  y'^U 


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Der  Fortgang  zum  Seitensatze. 


275 


(der  Bass  eme  Oktave  tiefer  als  geschrieben  zu  lesen)  beweglicher 
werden.  Allein  dies  ist  nicht  durch  eine  äusserlich  zugethane  Figur, 
sondern  nur  durch  die  innere  Konstruktion,  durch  das  Wesentliche 
des  Satzes,  zu  erreichen,  und  diese  ist  hier  unverändert,  so  unbe- 
wegsam  wie  zuvor,  geblieben.  Es  wird  also  wenigstens  die  perio- 
dische Form  beseitigt  und  im  vierten  Takt  in  der  Dominante  ge- 
schlossen. 

Hierdurch  ist  ein  gewissermassen  neuer  Satz  gebildet,  der  aber 
nur  durch  den  baldigen  Schluss  in  der  Dominante  eine  gewisse 
Fortschrittskraft  vor  der  Periode  No.  297  voraus  hat.  Der  neue 
Satz  fodert  befestigende  Wiederholung,  die  Form  Fortschritt.  Es 
wird  also  (unter  Verlegung  des  Kontrapunkts  in  die  Oberstimme) 
derselbe  in  Bdur  mit  einem  Schluss  auf  F —  und  zum  dritten  Mal 
(der  Kontrapunkt  tritt  wieder  in  den  Bass)  in  Fdur  wiederholt;  — 
in  der  That  kann  diese  Weise  des  Fortschritts,  wo  auf  der  jedes- 
mal nächsten,  in  gleicher  Weise  erreichten  Stufe  wieder  gestanden 
werden  soll  (dies  spricht  die  Satzform  aus),  eher  ein  Fortgescho- 
benwerden heissen. 

Dies  fühlt  der  Komponist  und  löst  in  der  letzten  Wiederholung 
vom  dritten  Takt  an  den  Satz  gangartig  auf,  um  zuletzt  — 


mit  der  letzten  Hälfte  des  vierten  Taktes  abermals  auf  den  Hauptton 
und  den  Ueberleitungssatz  (No.  330)  zurückzukommen,  der  endlich 
geradezu  nach  F  geführt  wird,  um  da  orgelpunktartig  die  Haupt- 
partie zu  schliessen. 

So  liegt  also  ein  Hauptsatz  von  acht  —  oder  mit  dem  anhän- 
genden Satze  von  vierzehn  Takten  vor,  nach  welchem  es  einer 
Partie  von  vierundzwanzig  Takten  zur  Ueberleitung  in  die  Sei- 
tenpartie bedarf;  wesentlich  sind  in  der  That  nur  die  acht  Takte 
der  Periode,  Nebensache  die  übrigen  dreissig  Takte. 

Warum  ist  der  Komponist  nach  dem  ersten  Gange  (No.  331) 


18* 


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276 


Nähere  Erürtertmg  der  Sonatenform. 


nochmals  auf  den  Satz  in  Zssdur  zurückgegangen,  stall  mit  einer 
nahe  liegenden  Wendung  — 


T 

1 

,»  !   « - 

(No.  331  nachgebildet)  sofort  die  Dominante  der  Dominante  zu  be- 
festigen? Offenbar,  weil  die  einförmige  und  unbewegsame  Weise, 
wie  er  von  Dominante  zu  Dominante  Satz  auf  Satz  nach  F  gescho- 
ben, ihm  selbst  als  nicht  genügend,  nicht  genugsam  ganghaft  und 
rasch  entschieden  fühlbar  wurde.  Ob  er  nicht  demungeachtet  frischer 
an  das  Ziel  gekommen  wäre  durch  eine  Wendung,  wie  die  in 
No.  332,  als  durch  die  Rückkehr  nach  dem  Hauptton  und  Anknü- 
pfung eines  zweiten  Ganges  zu  dem  bereits  erreicht  gewesnen  Ziel, 
kann  um  so  billiger  dahingestellt  bleiben,  weil  derselbe  Komponist 
sich  so  vielfältig  formgewandt  bewiesen  hat.  Aber  eben  darum 
springt  uns  der  Grund  und  Kern  der  hier  sichtbaren,  schwerlich  in 
Abrede  zu  stellenden  Schwäche  um  so  deutlicher  in  die  Augen.  Es 
war  zuerst  ein  Hauptsatz  aufgestellt  worden,  dem  durch  seine  Form 
selbst  die  Kraft  der  Fortbewegung  entzogen  sein  musste.  Sodann 
war  für  den  nöthigen  Fortschritt  nicht  das  energische  Mittel  ergrif- 
fen; die  zur  Bewegung  bestimmte  Partie  zeigte  sich  wieder  still- 
stehend —  und  endlich,  dadurch  bei  ihr  wieder  aufgehalten,  verlor 
der  Komponist  den  rechten  Gesichtspunkt  zur  Würdigung  von  Haupt- 
und  Nebensache,  räumte  er  der  letztern  gleichen,  ja  vielmehr  über- 
wiegend zugemessenen  Raum  ein. 

Es  würde  sich  nachweisen  lassen,  dass  bei  allen  Komponisten, 
die  ihre  Aufgabe  mit  minderer  Energie,  mehr  äusserlichen  als  lief- 
innerlichen Antrieben  folgend,  lösen,  dieselbe  Vorbegünstigung 
der  Nebensache,  —  der  Gangpartien,  —  eintritt,  wie  das 
bei  den  sogenannten  Virtuosen-  und  Salonkomponisten  (die  zu  be- 
sondern Gunsten  eines  Instruments,  oder  für  besondre  Spielweise, 
Bravour,  Mode  setzen)  überall,  —  aber  auch  bei  den  Meistern  zu 
bemerken  ist,  wenn  diese,  etwa  in  Konzertstücken,  sich  ausnahms- 
weise solchen  äussern  Zwecken  fügen.  Im  vierten  Theil  dieser 
Lehre  wird  bei  Gelegenheit  der  Konzertkomposition  hiervon  näher 
zu  handeln  sein ;  um  so  weniger  bedarf  es  hier  einer  genauem  Er- 
örterung. 

Wir  sind  hier  gelegentlich  aufmerksam  gemacht  worden,  dass 
der  Hauptsatz  nicht  immer  günstigen  Stoff  zum  Fortschreiten  giebt. 
Dies  führt  auf  die  dritte  Uebergangsweise : 


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Der  Fortgang  zum  Seitensatze. 


277 


C.  Fortschreitung  zum  Seitensatz  durch  neue  Motive. 

Den  ersten  Fall  dieser  Art  giebt  die  in  No.  299  und  300  ange- 
führte Sonate.  Die  Periode  sowohl,  die  als  Hauptsatz  gelten  muss, 
als  der  aus  ihr  gezogne  Satz  mit  seiner  Wiederholung  bewegen  sich 
in  kurz  abgebrochnen  Rucken.  Man  könnte —  und  bei  welchem 
Satze  wäre  das  nicht  möglich?  —  mit  denselben  Motiven,  z.  B. 
aus  der  Wiederholung  von  No.  300,  — 


333 


i 


m 


r 


vorwärts  nach  D  und  G  zum  Seitensatze  gehn.  Aber  würde  damit 
das  spielende  Hauptmotiv,  das  wir  in  seiner  Kurzangebundenheit  zu- 
vor schon  viermal  gehört  haben,  nicht  abgenutzt?  und  wie  viel  Zeit 
würden  wir  brauchen,  um  diese  kurzen,  stets  so  deutlich  absetzen- 
den Glieder  endlich  in  Fluss  und  Schwung  zu  bringen,  der  eben 
nach  solchem  Anfang  doppelt  wtinschenswerth  scheint?  — 

Beethoven,  stets  im  richtigen  Gefühl  der  ganzen  Sachlage, 
reisst  sich  rasch  entschieden  von  seinem  Hauptsatze  los  und  knüpft 
auf  dem  Schlusston  selbst  einen  neuen  ganghaften  Satz  an,  — 


334 


ijhl 

sim. 

±_  sim. 

s 


J  j  J  j  .1— j.j  ;  j   ,  ,  


der  im  nächsten  Takte  wiederholt,  aber  sogleich  (im  dritten  Takte) 
über  j4moll  und  Ddur  nach  Gdur  geführt  wird.  Zur  Befestigung 
dieser  Tonart  und  zum  entschiednen ,  gerundeten  Abschluss  der 
Hauptpartie  dient  ein  orgelpunktartig  auf  G  weilender  Satz,  — 

tr 

J. 


der  wiederholt  und  mit  einer  taktlang  hinabgeführten  Tonleiter  in 
Sechzehnteln  beschlossen  wird.  Es  ist  ein  angehängter  Halbschluss 


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278  Nähere  Erörterung  der  Sonatenform 


in  der  Weise  der  Sonatine,  gleichsam  ein  Schlusssatz  zur  Haupt- 
partie.  Dann  folgt  sofort  der  Seitensatz. 

Die  Aehnlichkeit  dieses  Falles  mit  dem  vorhergehenden  ist  un- 
verkennbar. Auch  hier  ist  eine  Periode  und  ein  ihr  angehängter 
Satz,  die  beide  nicht  haben  weiter  führen  wollen.  Beethoven  er- 
kennt nicht  bloss  dies,  sondern  auch  eben  so  klar,  was  seinem  Haupt- 
satz an  Beweglichkeit  (oder  Fluss)  und  Schwung  fehlt;  er  giebt  das 
Fehlende  mit  einem  Zuge  und  hat  nach  dreizehn  Takten,  die  dem 
Hauptgedanken  gehören,  in  vierzehn  Takten  (der  dreizehnte  des 
Haupt-  und  erste  des  Bewegungssatzes  fallen  zusammen)  sein  Ziel 
erreicht.  Auch  Dussek  erkennt,  was  seinem  Hauptgedanken  zu  wei- 
term  Vordringen  an  Beweglichkeit  fehlt ;  aber  er  will  es  durch  Bei- 
werk, durch  den  zugefügten  Kontrapunkt,  gewinnen,  was  denn  frei- 
lich in  der  Hauptsache  nichts  ändert.  Der  Satz  in  No.  330  ist  so 
wenig  fortbewegend,  als  der  in  No.  297 ;  er  ist  in  der  Hauptsache 
(abgesehn  von  dem  Unterschiede  zwischen  Satz  und  Periodej  ein 
und  dasselbe. 

Ein  zweites  Beispiel  bietet  Mo zart's  Sonate,  deren  zwei  erste 
in  der  Hauptpartie  auftretende  Sätze  wir  in  No.  310  und  311  ken- 
nen gelernt  haben. 

Der  erste  derselben  (die  Periode)  konnte  nicht  weiter  fuhren. 
Man  hätte,  wenn  man  von  ihm  aus  fortschreiten  wollte,  den  Nach- 
satz ausdehnen,  auf  die  Dominante  leiten  (also  einen  ersten  Theil 
bilden)  müssen ;  dann  musste  aber  auch  auf  den  Vordersatz  zurück- 
gegangen, und  endlich  (da  dieser  weniger  bewegsam  ist)  auch  der 
Nachsatz  noch  einmal  angeregt  werden.  Hiermit  wTäre  indess  dem 
ganzen,  anmuthigen,  nicht  aber  sehr  bedeutenden  Gedanken  viel  zu 
viel  Breite  gegeben  —  und  bei  alle  dem  kein  lebhafter  Fortgang 
gewonnen  worden,  zu  dem  kein  Motiv  vorlag. 

Auch  der  zweite  Satz  (No.  311)  bot,  obgleich  lebhafter  als  der 
erste,  keinen  hinlänglich  frischen  Fortschritt.  Seinem  ersten  Ab- 
schnitte musste  vor  allem  eine  Wiederholung  folgen,  wie  auch  bei 
Mozart  geschieht.  Sie  hätte,  statt  auf  derselben  Stelle,  auf  irgend 
einer  andern  Stufe,  z.  B.  höher  und  in  Moll  — 

-       j  k        J  J  J  i  ji  i_j 

^¥  cl;;;lcfc-p5S= 

^s^j      ,     |  III  I 

(hier  hat  das  bewegte  Motiv  a,  das  bei  Mozart  einen  Takt  früher 
eintritt,  verspätet  werden  müssen,  damit  bei  der  fremden  Tonart 
der  innigere  Anschluss  des  Motivs  beruhige) ,  geschehen  und  in  irgend 
einer  Weise  zu  einem  Gang  nach  der  Dominante  — 


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337 


Der  Fortgang  zum  Seitensatze. 


279 


4 

3 


ausgeführt  werden  können.  Allein  auch  hier  würde  die  artige  Er- 
findung ungebührlich  breit  geworden  und  der  leichte  Gang  des  Gan- 
zen verloren  sein;  abgesehen  davon,  dass  Mozart  ohnehin  zu  fein 
und  flüchtig  hinschwebendem  Spiel  geneigter  war. 

Der  Meister  traf  auch  hier,  wie  Beethoven,  das  einzig  Rechte. 
Er  verlässt  den  zweiten  wie  den  ersten,  und  bildet  einen  dritten 
ganghaften  Satz,  — 


338 


m  .  bis 

—  Eftf — tU— 


T-r 

6 

5 


wiederholt  diesen  mit  einer  Wendung  nach  Drooll,  steigert  hier 
sein  Hauptmotiv  zu  höherer  Bewegung  — 


339 


und  geht  damit  nach  Cmoll,  auf  dessen  Dominante  ein  Halbschluss 
<He  Hauptpartie  endet.  M  o  z  a  r  t  hat  hier  nach  zwei  voran  geschick- 
ten Sätzen  dasselbe  gethan,  was  Beethoven  in  dem  vorangehen- 
den Beispiele. 

Aehnliche  Fälle,  z.  B.  in  der  bei  No.  306  angeführten  Sonate, 
bleiben  der  eignen  Betrachtung  überlassen ;  nur  aus  andern  Gründen 
werden  wir  auf  den  hier  genannten  bei  No.  349  zurückkommen. 
AHein  auf  die  kolossale  Bdur-Sonate  von  Beethoven,  Op.  406, 
sei  noch  zuletzt  ein  Blick  geworfen.  Wie  durchweg,  so  hat  dieses 
Meisterwerk  schon  als  Hauptpartie  ein«  ganze  Reihe  tiefer  und 
machtvoller  Gedanken  aufzuführen.  Nach  einer  energisch  empor- 
reissenden  Einleitung  — 


340 


AUegro. 

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1 


TT  ffFTT  i 

tritt  der  erste  voll  ausgeführte  Gedanke  der  Hauptpartie  auf,  eine 
Periode  mit  diesem  Vordersatze  — 


l 


v  rit. 


8 


n  t  f  y 


i — f- 


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280  Nähere  Erörterung  der  Sonaten  form. 


Auf  dem  Schlüsse  dieser  Periode  wird  nun  mit  diesem  neuen 
Satze  (o),  — 


der  sich  viermal  (auf  den  bei  b  angedeuteten  Punkten)  steigernd 
wiederholt,  zu  einem  Halbschluss  auf  der  Dominante  vorgerückt.  Es  . 
versteht  sich  von  selbst,  dass  nach  so  mächtigem  Beginn  und  für 
solchen  Gedanken reichthum  der  Halbschluss  nicht  genügen,  und  dass 
der  für  jetzt  nur  hingeworfne  Anfang  (No.  340)  nicht  ohne  Nach- 
hall, ohne  Fortwirkung  bleiben  kann.  Er  kehrt  wieder,  fasst  aber 
mit  den  letzten  Schlägen  der  Harmonie  d-fts-a  (statt  d-fis-a-c) 
und  hat  so  in  kühnem  Uebergriffe  die  Tonart  des  Seitensatzes, 
Gdur,  erlangt.  Erwägt  man  nun,  dass  die  vorhergegangnen  Sätze 
sehr  harmoniereich  waren  (viel  mehr,  als  in  No.  341  und  3  42  an- 
gedeutet ist)  und  dass  jener  kühne  Griff  in  die  neue  Tonart  dem 
Karakter  des  Ganzen  durchaus  angemessen  ist;  so  begreift  man  auch, 
dass  es  nun  keiner  weitern  Vermittlung  oder  Stärkung  des  neuen 
Tons  durch  die  Dominante  bedarf,  dass  eine  solche  umständlichere 
und  umschweifende  Modulation  nur  die  Macht  des  Ganzen  abschwä- 
chen könnte.  Und  so  nimmt  Beeth o  ven  die  Tonart  für  entschie- 
den an,  macht  uns  aber  durch  einen  breit  geführten  gangartigen  Or- 
gelpunkt, der  an  das  Hauptmotiv  von  No.  340  anknüpft,  in  derselben 
einheimisch,  ehe  der  Seitensatz  folgt.  Die  Einleitung  hat  vier, 
die  Periode  dreizehn,  der  gangartige  Satz  achtzehn  Takte,  von 
denen  der  erste  mit  dem  vorhergehenden  Schlusstakte  zusammen- 
fällt; der  Einleitungsgedanke  hat  wieder  vier,  der  Orgelpunkt 
fünfundzwanzig  Takte,  auf  deren  letztern  der  Seitensatz  be- 
ginnt. Es  stehn  also  fünfundzwanzig  Ueberleitungstakte  (oder 
vielmehr  den  erfolgten  Uebertritt  befestigende)  gegen  achtund- 
dreissig  den  wesentlichen  Sätzen  zugehörige.  So  sehen  wir  hier 
—  nur  im  erweiterten  Umfang  —  alle  bisher  erkannten  Grundsätze 
befolgt. 

Die  letzte  Betrachtung  führt  uns  schliesslich  dahin, 

D.   die  Modulation  des  Fortgangs  zum  Seitensatze 

nochmals  zu  erwägen. 

Die  Regel  war,  den  Weg  über  die  Dominante  der  Dominante 
zu  nehmen,  damit  man  sich  vom  Hauptton  entschieden  losmache  und 
aus  einem  höhern  Punkt  in  die  neue  Tonart  mit  Ruhe  niederlasse, 
um  hier  den  neuen  Gedanken  (den  SeitensaU)  festzustellen.  Der 
obige  Fall  hat  schon  eine  Ausnahme  gezeigt;  die  Sonatinenform 


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Der  fernere  Verlauf  des  ersten  Theils.  281 

weicht  ebenfalls  ab,  weil  ihr  ungewichtigerer  Inhalt  solcher  Um- 
ständlichkeit und  Feststellung  nicht  bedarf.  Beethovens  Fdur- 
Sonate,  Op.  10,  bringt  eine  abermalige  Abweichung.  Hier  bedarf 
Haupt-  und  Seitensatz  der  Abtrennung  um  so  mehr,  da  sie  einander 
in  Stimmung  und  Form  nahe  verwandt  sind.  Gleichwohl  (und  zum 
Theil  eben  deshalb)  würde  der  Hauptsatz  durch  weitere  Ausfüh- 
rung nach  G  und  C  zerfliessen  in  Marklosigkeit,  und  das  Ganze 
durch  Einschiebung  eines  Ueberleitungssatzes  zerstreut  und  aus  der 
Stimmung  gebracht;  auch  würde  Gdur  fremd  ansprechen.  Beet- 
hoven geht  daher  —  in  die  andre  Verwandtschaft  von  Cdur,  nach 
AmoU.  Allein  auch  die  Trübniss  von  Moll  entspricht  dem  Satze 
nicht.  Folglich  geht  er  auf  die  Durdominante  von  A  moll  (und  zwar 
durch  den  E  und  A  zweifelhaft  lassenden  Mischakkord  /-a-c-dis), 
macht  so  einen  Halbschluss,  der  den  Fortgang  in  4  moll  erwarten 
Hesse,  und  wendet  sich  nun  erst  leicht  und  kurz  angebunden  nach 
Cdur.   Es  war  der  einzige  nach  allen  Seiten  hin  befriedigende  Weg. 


Dritter  Abschnitt. 
Der  fernere  Verlauf  des  ersten  Theils. 

Vom  Seitensatze  gilt,  was  wir  schon  bei  dem  Hauptsatz  erkannt 
haben  :  er  kann  die  Gestalt  des  Satzes,  der  Periode,  sogar  der  zwei- 
theiligen Liedform  haben,  oder  eine  Beihe  von  Sätzen  darstellen. 
Stets  folgt  sowohl  seine  Bildung  als  die  fernere  Entwickelung  des 
ersten  Theils  dem  Gesetz,  das  die  Bildung  des  Hauptsatzes  und 
der  fernere  Gang  der  Hauptpartie  geben;  wir  dürfen  daher  diese 
ganze  zweite  Masse  des  ersten  Theils  zusammenfassen  und  uns 
hauptsächlich  nur  auf  die  Betrachtung  solcher  Beispiele  beschränken, 
an  denen  diese  folgerichtige  Entwickelung  nach  ihren  verschiednen 
Richtungen  sichtbar  wird. 

Allein  die  Bildung  der  Seitenpartie  folgt  nicht  mechanisch 
der  der  Hauptpartie ;  etwa  so,  dass  der  Seitensatz  eine  Periode  sein 
müsse,  wenn  der  Hauptsatz  eine  Periode  gewesen  sei,  u.  s.  w.  Viel- 
mehr hat  die  Seitenpartie  nur  in  gleichem  Sinne  zu  vollenden 
(für  den  ersten  Theil  nämlich),  was  die  Hauptpartie  begonnen,  zu 
ergänzen,  was  diese  aus  irgend  einem  Grunde  unbefriedigend  hin- 
gestellt hat:  und  dies  kann  nicht  bloss,  es  m u s s  Öfters  in  ganz 
andern  Formen  geschehen,  als  die  im  Hauptsatz  vorausgegangen. 

Im  Allgemeinen  wissen  wir  vom  Seitensatze  Folgendes: 

Erstens.  Er  hat  mit  dem  Hauptsatze  durch  innere  Stimmung, 
wie  äusserlich  durch  den  Sitz  seiner  Modulation  und  gleiche  Takt- 


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282  Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 

art  (beides  nicht  ohne  Ausnahmen)  ein  Ganzes  zu  bilden,  folglich 
eine  gewisse  Einheit  und  Einigkeit  zu  bewahren,  dabei  aber 

Zweitens  sich  von  ihm  entschieden  als  ein  Anderes,  alsein 
Gegensatz  loszulösen  durch  den  Inhalt,  namentlich  durch  die  Modu- 
lation, gern  auch  durch  die  Form ;  Haupt-  und  Seitensatz  stehn  als 
Gegensätze  einander  gegenüber,  die  in  einem  umfassenden  Ganzen 
zu  höherer  Einheit  sich  innig  vereinen. 

In  diesem  Paar  von  Sätzen  ist  Drittens  der  Hauplsatz  das  zu- 
erst, also  in  erster  Frische  und  Energie  Bestimmte,  mithin  das  ener- 
gischer, markiger,  absoluter  Gebildete  (8.  1 29) ,  das  Herrschende  und 
Bestimmende.  Der  Seitensatz  dagegen  ist  das  nach  der  ersten  ener- 
gischen Feststellung  Nachgeschaffne,  zum  Gegensatz  Dienende,  von 
jenem  Vorangehenden  Bedingte  und  Bestimmte,  mithin  seinem  We- 
sen nach  nothwendig  das  Mildere,  mehr  schmiegsam  als  markig  Ge- 
bildete, das  Weibliche  gleichsam  zu  jenem  vorangehenden  Männ- 
lichen. Eben  in-  solchem  Sinn  ist  jeder  der  beiden  Sätze  ein  Andres 
und  erst  beide  mit  einander  ein  Höheres,  Vollkomm neres. 

Aber  in  diesem  Sinn  und  der  Tendenz  der  Sonatenform  ist 
auch  Viertens  begründet,  dass  beide  gleiche  Berechtigung  haben, 
der  Seitensatz  nicht  bloss  Nebenwerk,  Nebensatz  zum  Hauptsatz 
ist,  mithin  im  Allgemeinen  auch  gleiche  Ausbildung  und  gleichen 
Raum  wie  der  Hauptsatz  fodert;  wobei  natürlich  von  kleinlichem 
Taktabzählen  nicht  die  Rede  sein  darf.  — 

Was  nun  weiter  auf  den  Seitensatz  folgt,  —  Gang  und  Schluss- 
satz, ist,  wie  wir  wissen,  nur  sein  oder  auch  des  Hauptsatzes 
Ergebniss. 

Auf  diese  schon  bekannten  Grundsätze  gestützt,  gehn  wir  ohne 
Weiteres  an  die  Beleuchtung  einzelner  Fälle,  die  wir  nach  den  For- 
men des  Seitensatzes  ordnen. 

A.  Satz  form. 

In  Beethoven's  Asdur-Sonnte  (No.  292)  haben  wir  die  Haupt- 
partie bei  aller  Stetigkeit  des  Hauptmotivs  mannigfaltig  genug  aus- 
gebildet befunden.  Nach  einem  ersten  Satz  bildet  sich  ein  zweiter 
(No.  294),  beide  in  ihren  Wiederholungen  veränderlich;  nach  einem 
neuen  satzartigen  Gang  (No.  320)  kehrt  der  erste  Gedanke  (No.  32f 
ganz  umgestaltet  zurück;  alle  diese  Sätze,  besonders  der  Haupt- 
gedanke, bewegen  sich  in  kurz  abbrechenden  Abschnitten  und  Glie- 
dern.  Wie  ist  nun  die  Seilenpartie  gestaltet? 

Wie  sie  musste,  um  die  Hauptpartie  fortzusetzen  und  zu  er- 
gänzen.. 

Vor  allem  tritt  der  Seitensatz  (schon  mit  Hülfe  der  Begleitungs- 
form, aber  auch  durch  seinen  wesentlichen- Inhalt)  inniger  zusam- 
menhängend und  fliessender  auf,  — 


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Der  fernere  Verlauf  des  ersten  Theih. 


283 


um  nach  den  abgebrochnen  Hauptsätzen  mehr  Halt  und  Fluss  in  das 
Ganze  zu  bringen.  Nach  einem  phantasiefrei  geführten  Lauf  von 
vier  Takten  (wie  oben  der  dritte  Takt  an  die  Hauptpartie  leise  er- 
innernd) wird  dieser  Seitensatz  noch  beweglicher  wiederholt,  und  es 
scheint  sich  schon  hier  ein  Schlusssatz  — 


344 


(der  eine  Oktave  höher  wiederholt  wird)  bilden  zu  wollen.  Allein  so 
gewiss  der  Gegensatz  der  Sehen-  gegen  die  Hauptpartie  ein  günsti- 
ger für  das  Ganze,  so  mag  doch  der  stetige  Komponist  die  letztere 
nicht  ohne  Weiteres  aufgeben.  Er  führt  seinen  Gang  Über  diesen 
vermeintlichen  Schlusssatz  hinaus,  zieht  in  ihm  Motive  des  Gangs 
in  der  Hauptpartie  (No.  320)  wieder  hervor  und  bildet  selbst  den 
Schlusssatz  — 


345 


7 


I 

nicht  ohne  leisen  Anklang  (Takt  2  und  3)  an  das  Hauptmotiv. 
—  So  sind  Haupt-  und  Seitenpartie  nicht  bloss  durch  die  im  Ganzen 
herrschende  Stimmung,  durch  nächste  Verwandtschaft  der  Tonarten 
und  Gleichheit  des  Taktes,  sondern  selbst  durch  gemeinschaftliche 
oder  zurückgerufne  Motive  einander  angehörig  und  dabei  doch  in 
einem  solchen  Gegensatze,  dass  auf  der  einen  Seite  gegeben  wird, 
was  auf  der  andern  versagt  bleiben  musste. 

In  kleinern  Verhältnissen  lässt  sich  das  bei  der  No.  301  ange- 
führten Sonate  beobachten.  Der  Hauptsatz  baut  sich  aus  zweitak- 
tigen  aufwärts  strebenden  Abschnitten ;  der  Seitensatz  antwortet  fast 
wörtlich  genau  durch  ein  abwärts  gewendetes  Motiv,  — 


346 


5 


aimile 


das,  durch  zusammenhängende  und  gleichmässige  Begleitung  (die 


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284  Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


der  Hauptsatz  nicht  hatte)  fliessend,  dreimal  wiederholt,  das  dritte 
Mal  in  einem  schön  geschwungnen  Gang  gleicher  Bewegung  ausge- 
führt wird,  bis  der  Schlusssatz,  ebenfalls  dreimal  wiederholt,  zu  der 
Bewegung  und  Begleitungsform  des  Hauptsatzes  zurückkehrt. 

Das  Gleiche  würde  an  der  in  No.  256  angezognen  Gdur-So- 
nate  nachzuweisen  sein;  hier  aber  beschäftigt  uns  vor  allem  der 
Modulationspunkt.   Der  Seitensatz  tritt  nicht  in  Ddur,  sondern  in 

—  tfdur  auf;  dies  wäre  nach  der  Verbindungsreihe  der  Durtonar- 
ten die  vierte,  wenn  man  von  Ddurdie  Parallele  und  dann  deren 
Durgeschlecht  nimmt,  die  dritte  Tonart  in  der  Reihe  der  Ver- 
wandtschaften. Woher  nun  diese  bedeutende  Abweichung  von  dem 
Grundgesetz  (Th.  I,  S.  21 9  Anm.)  der  Modulation? 

Diese  Frage  —  und  alle  ähnlichen  können  hier  nicht  rein  ge- 
löst werden.  Denn  bei  der  Beurtheilung  jeder  einzelnen  Komposi- 
tion kommen  nicht  bloss  die  allgemeinen  Gesetze  und  Bedingungen 
ihrer  Form,  sondern  es  kommt  auch  der  besondre  Inhalt,  die  Idee, 
Stimmung  u.  s.  w.  eben  dieses  besondern  Werks  in  Betracht;  so 
wie  bei  der  Beurtheilung  eines  einzelnen  Menschen  und  seiner  That 
nicht  bloss  die  Verhältnisse  des  Menschen  überhaupt,  der  Nationa- 
lität, des  Alters,  Geschlechts,  Standes  u.  s.  w.,  sondern  auch  das 
Wesen  und  besondre  Verhältniss  eben  dieser  bestimmten  Person. 
Demungeachtet  geben  jene  allgemeinen  Verhältnisse  (wie  wir  bereits 
bei  andern  Fällen  vielfältig  gesehn)  doch  schon  für  sich  genugsam 
helles  Licht,  um  erkennen  zu  lassen,  dass  auch  hier  wieder  nicht 
nach  Laune,  sondern  aus  Gründen,  die  in  der  Sache  liegen,  von 
einem  Grundgesetz  abgewichen  ist. 

Beethoven  bedurfte  hier,  wie  in  dem  ersten  Fall  (S.  283 ) 

—  und  noch  mehr,  da  der  Hauptsatz  noch  kürzer  und  häufiger  ab- 
gebrochen ist,  —  eines  fester,  zusammenhängender  gebildeten  Sei- 
tensatzes, der  dem  Ganzen  die  nöthige  Haltung  zu  geben  vermöchte 
und  der  eben  zu  diesem  Zweck  von  besonderer  Wichtigkeit  war. 
Wohin  hätte  er  nun  den  Seitensatz  stellen  können? 

Nach  der  Oberdominante  Z)dur?  —  Allein  diese  ist  gleich 
zu  Anfang  (No.  256)  mit  einem  förmlichen  Uebergang,  dann  mit 
jenem  kräftig  eingreifenden  Gang  (No.  323)  und  der  sechs  Takle 
breiten  Arpeggiatur  des  Schlussakkordes  mit  einem  so  entscheiden- 
den Halbschluss  eingeprägt  worden,  dass  ein  abermaliges  Zurück- 
kehren zu  ihr  jeder  Frische  und  Energie  entbehrt  hätte. 

Der  nächste  Gedanke  war  also  die  Parallele  desjenigen  Tons 
(ßdur),  den  man  sich  versagen  musste,  —  //moll.  Allein  dem  lau- 
nig heitern,  sprühend  lebendigen  Karakter  dieser  Sonate,  namentlich 
des  vorangegangenen  Hauptsatzes,  konnte  das  trübe  Moll  nicht  zu- 
sagen; folglich  —  verwandelte  es  sich  in  Dur. 

Nun  beobachte  man  aber  den  fernem  Einfluss  dieser  Wande- 


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* 


Der  fernere  Verlauf  des  ersten  Theils. 


285 


rung  über  Z)dur  und  J/molI  nach  #dur.  Das  Letztere  war  not- 
wendig erschienen,  aber  näher  lag  /fmoll  und  zunächst  Ddur;  diese 
Vorstellung  konnte  nicht  ohne  Einfluss  bleiben.  Zunächst  wird  also 
der  Seitensatz  in  //dur  — 


347 


t 


•vv- 


aufgestellt  und  mit  einer  festen  Schlusswendung  wiederholt.  Dann, 
gleichsam  in  Reue  Über  die  ttbergangnen  Töne,  tritt  derselbe  Satz 
in  —  H moll  auf  (die  Melodie  im  Basse,  die  Begleitung  in  Sech- 
zehnteln), wendet  sich  bei  der  Wiederholung  nach  —  Ddur;  von 
hier  weiter  nach  Fis,  E,  D  —  zu  einem  Schluss  in  H moll,  abermals 
nach  D  und  dann  denselben  Weg  zu  einem  abermaligen  Schluss 
in  //moll.  Hier  folgt  der  kleine  Schlusssatz  in  //  moll.  der  aber 
dann  wieder  an  das  zuerst  so  nothwendige  und  dann  doch  zurück- 
gewichne  Hdur  — 

moll   —  dur    —  moll    —  (viermal) 


348 


erinnern  muss.  So  ist  zwar  dem  ersten  Antriebe  zu  Dur  (//dur) 
genügt  und  derselbe  nicht  vergessen  worden,  aber  die  nähere  Moll- 
tonart hat  ihr  Recht,  und  das  nächst  gelegne  Ddur  in  dreimaliger 
Berührung  so  viel  Genugthuung  erhalten,  als  ihm  unter  diesen 
Umständen  zukam.  Reizend  frisch,  wie  ein  anmuthiger  Liedklang 
aus  der  Fremde,  hat  // dur  uns  angesprochen,  und  unbeschadet  des 
zusammenhaltenden  Wesens,  das  hier  dem  Seitensatz  nothwendig 
war,  ist  ein  so  anregender  Wechsel  in  die  Modulation  dieser  Partie 
gekommen,  dass  sie  dadurch  dem  gaukelnd  muthwilligen  Wesen  der 
Hauptpartie  erst  ganz  entspricht*. 

Zuletzt  in  dieser  Reihe  bringen  wir  zwei  Fälle  zur  Sprache,  in 
denen  der  Seitensatz  aus  Rücksicht  auf  die  Hauptpartie  von  einer 
bedeutendem  Entwickelung  zurückgehalten  werden  musste. 

Den  ersten  bietet  uns  die  in  No.  305  angezogne  Beethoven - 
sehe  Sonate,  eine  der  tiefsinnigsten  Schöpfungen  (wenigstens 
ihrem  ersten  Satze  nach) ,  die  in  der  Musik  überhaupt  uns  vergönnt 
worden,  in  deren  erstem  Satze  kein  Zug  gefunden  wird,  der  nicht 
der  unmittelbare  und  reinste  Ausdruck  eines  tief  bewegten  Geistes 
wäre.  Der  Hauptsatz  ist  als  erweiterte  Periode  reich  bis  zu  voll- 
ster Befriedigung  ausgestaltet,  voll  emphatischer  Beredtsamkeit  auf 
uns  eindringend,  dann  in  sich  geschlossen,  nicht  weiter  führend.  Es 
tritt  also  ein  neuer  Satz  ein,  der  sich  bald  gangartig  — 


*  Hierzu  der  Anhang  K. 


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286  Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


empor-  und  losreisst,  die  gangartige  Hülfe  in  j4moll  und  .Bdur  wie- 
derholt, dann  mit  der  ersten  Hälfte  den  Akkord  ats  (aus  b)-cis-e-g 
erbaut,  und  nun,  Schritt  für  Schritt  voll  beredtesten  Gesangs,  über 
//  nach  Fis  und  damit  sogleich  nach  H  in  oll  zurück  zum  Seitensate 
geht.  Dass  hier  der  Seitensatz  nicht  in  der  Parallele  G  dur,  sondern 
in  der  Molldominante  auftritt,  ist  leicht  zu  begreifen.  Die  Paral- 
lele ist  für  die  Mollkonstruktion  nur  darum  (Th.  I,  S.  245)  der 
regelmässig  nächste  Modulationsmoment,  weil  in  der  Regel  der 
Inhalt  der  Komposition  nicht  das  tiefere  Düster  von  Moll  auf  Moll 
fodert  oder  zulässt;  wo  nun  das  Gegentheil  stattfindet,  fällt  von 
selbst  die  Regel  mit  ihrem  Grunde  weg;  übrigens  tritt  im  vorlie- 
genden Fall  zwischen  beiden  Moll  tönen  Cdur  (No.  349)  und  Bdur 
mit  Nachdruck  auf. 

Allein  der  Seitensatz  selbst  erscheint  im  Verhältniss  zum  Haupt- 
satze von  geringer  Entwickelung ;  er  ist  fast  nichts,  als  die  Ent- 
gegnung auf  den  ersten  Abschnitt  des  zweiten  Satzes  (No.  349) 
der  Hauptpartie,  — 


wird  auch  in  der  gesteigerten  Wiederholung  (Takt  7)  nicht  reicher 
entfaltet ;  und  gleich  auf  dem  Schlüsse  der  Wiederholung  setzt  der 
SchlusssaU  (vier  Takte,  Wiederholung,  Anhang)  ein.  Es  kann  hier 
nicht  davon  die  Rede  sein,  wie  leidenschaftlich  einschneidend,  wie 
schmerzvoll  dahinsterbend  beide  Sätze  sind;  dieser  Inhalt  und 
selbst  die  dem  Tondichter  gewordnen  Motive  hätten  weitere,  noch 
tiefer  eindringende  Ausführung  zugelassen.  Allein  beiden  Momenten 
sollte  und  durfte  kein  grosserer  Raum  gestattet  werden,  weil  das 


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Der  fernere  Verlauf  des  ersten  Theils. 


287 


Männlichere,  Würdigere  und  zugleich  Tiefere  sich  zu  fest  in  der 
Hauptparlie  ausgeprägt  hatte,  als*  dass  es  sich  durch  die  leidenschaft- 
lichen Hingebungen  der  Seitenpartie  hätte  aufwiegen  lassen  dürfen.  — 
Die  Hauptpartie  hat  diesmal  vierundfunfzig,  die  Seitenpartic 
siebenundzwanzig  Takte.  — Es  ist  übrigens  bemerkenswert h. 
dass  jenes  Verhältniss  der  Haupt-  und  Seitenpartie  sich  in  dieser 
Sonate  in  grösserm  Verhältnisse  wiederholt.  Der  erste,  oben  be- 
sprochne  Satz  ist  den  übrigen,  namentlich  dem  zarten,  innigen,  aber 
hinschmachtenden  Finale  eben  so  machtvoll  tiberlegen,  wie  in  ihm 
die  Haupt-  der  Seitenpartie.    Es  konnte  nicht  anders  sein. 

Das  Gleiche  ist  an  K.  M.  Weber's  gehaltvoller  ^sdur-Sonate 
zu  beobachten.  Die  Hauptpartie  hat  sich  in  so  breiten  Lagen  ent- 
faltet (ein  Satz  von  elf,  ein  zweiter  von  acht,  ein  dritter,  der 
die  Ueberleitung  herbeiführt,  von  vierundzwanzig  Takten),  dass 
der  Seitensatz  nach  einer  Vorbereitung  in  den  zwei  letzten  Takten 
sich  auf  zwei  Takte  —  die  wiederholt  werden  —  beschränkt,  weil 
er  Alles,  was  satzmässig  gesagt  sein  will,  schon  bis  zur  Sättigung 
ausgesprochen  findet,  und  seine  gleichmässige  oder  ähnliche  Ausfüh- 
rung zur  höchsten  Ueberladenheit  des  Ganzen  führen  würde.  Hier- 
mit wär'  indess  dem  Ebenmaass  gar  zu  wenig  Rücksicht  ge- 
gönnt; auch  dem  Inhalte  nach  gewährt  der  Seitensatz  nicht  die  Er- 
hebung, die  nach  der  edlen,  aber  zu  weit  ergossnen  Sentimentalität 
der  Hauptpartie  so  wünschenswerth  war.  Daher  reiht  sich  nun 
(anfangs  satzartig}  ein  breiter  Satz,  eine  schwunghafte  Passage  an, 
die  nach  achtzehn  Takten  zum  Schluss  —  oder  vielmehr  zur 
Rückkehr  in  den  Anfang  und  zum  Fortgang  in  den  zweiten  Theil 
mittels  eines  dem  ersten  Satz  entlehnten  Motivs  hinführt.  Die  nähere 
Betrachtung  bleibe  anheimgestellt. 

B.  Periodenform. 

Einen  periodenmässig  gebildeten  Seitensatz  finden  wir  in  der 
Sonate  patheltque.  Nach  den  breiten  Satzbildungen  (No.  295)  der 
Hauptpartie  tritt  eine  gleich  volle,  dabei  aber  doch  leichter  geglie- 
derte Periode  als  Gegen-  oder  Seitensatz  auf.  Auch  hier  hätte  die 
Freundlichkeit  der  Paralleltonart  dem  Sinn  des  Hauptsatzes  nicht 
entsprochen ;  ja,  wenn  im  Gegensatze  gegen  die  breite  Führung  des 
Hauptsatzes  die  Seitenpartie  leicht  gegliedert  auftreten  sollte,  so  wäre 
sie  wohl  gar  in  Dur  kleinlich  oder  Weichlich  erschienen.  Beet- 
hoven geht  daher  auf  dem  oben  (S.  284)  bezeichneten  Wege  über 
Es  dar  nach  jFsmoll;  hier  stellt  er  seinen  Seitensatz  auf,  — 


gtrli. — t — ]— p— f- 

-ff— 

\,  y.  3 — | — l— 

mm 

■    4  1 

4 

der  seinem  düster  und  ungestüm  emporstürmenden  ersten  Gedanken 


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286 


Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


mit  unruhvollen  Klagelauten  antwortet.  Aber  auch  hier  will  die 
eigentlich  nächslberechtigte  Tonart  sich  nicht  vergessen  lassen;  in 
ihr,  in  £sdur,  bildet  sich  ein  zweiter  muthvoli  andringender  Satz 
(gangartig  und  an  Ganges  Statt),  und  wird  mit  stärkerm  Ausgange 
wiederholt.   Auch  der  Schlusssatz  steht  in  Dur. 

Einen  gleichen  Fall  giebt  die  grosse  C-Sonate  (No.  306),  in  der 
die  periodische  Gestaltung  des  Seitensatzes  (beiläufig  gesagt)  unzwei- 
deutiger erscheint,  als  in  der  vorerwähnten  Komposition.  Die  Mo- 
dulation (der  Seitensatz  tritt  in  l?dur  auf)  wird  man  sich  nach  dem 
oben  Gesagten  unschwer  erklären. 

C.  Zweitheilige  Liedform  des  Seitensatzes. 

An  einer  ganzen  Reihe  von  Fällen  haben  wir  schon  die  tiefe 
Vernünftigkeit  in  Beethove  n's  (und  aller  wahren  Künstler)  Wer- 
ken anzuerkennen  gehabt.  Diese  Vernünftigkeit  äussert  sich  zu- 
nächst darin,  dass  stets  der  jedesmaligen  Idee  gemäss,  aus  ihr  her- 
aus das  Ganze  und  jeder  Zug  desselben  geschaffen  wird.  Die  andre 
Seite  dieser  höchsten  Kunstlereigenschaft  ist  aber,  dass  sie  in  der 
Gesammtheit  aller  Werke  die  höchste  Mannigfaltigkeit,  eine  stets 
wahrhafte  Originalität*  hervorbringt,  weil  eben  nicht  nach  irgend 
einer  allgemeinen  Formregel  oder  Schablone**,  sondern  in  jedem 
Werke  nach  dessen  besonderm  Wesen  gebildet  wird. 

Und  so  finden  wir  abermals  in  einem  Beethoven,  in  der 
grossen  Bdur-Sonate  (No.  340)  sogar  die  zweitheilige  Liedform  — 
wenigstens  einen  Ansatz  dazu  —  für  den  Seitensatz  angewendet. 
Dies  — 

'  '8  '  r  rrr  r  r 

ist  der  erste  Theil;  er  möchte  seiner  Kürze  nach  sich  für  einen 
blossen  Vordersatz  ausgeben,  hat  aber  Vordersatzschluss  (im  zwei- 
ten, oder,  wenn  man  auf  die  einfache  Taktart  zurückgeht,  vom  drit- 
ten zum  vierten  Takte)  und  förmlichen  Theilschluss  in  der  Tonart 
der  Dominante.  Der  zweite  Theil  wird  dann  weiter  und  zu  einem 
breiten  satzartigen  Gange  fortgeführt,  der  mit  allem  Nachkommen- 
den hier  keiner  weitern  Erörterung  bedarf;  der  Seitensatz  nimmt, 


*  Die  wahrhafte  Originalität  geht  mit  der  wahrhaften  Treue;  die  falsche 
Originalität  sucht  das,  was  nicht  in  der  Sache  begründet  ist,  als  das  vermeint- 
lich Neue,  Ueberraschende,  Wirksame  herbei  und  zerstört  damit  das  Werk  und 
den  Karakter  des  zu  ihr  verirrten  Künstlers. 

**  So  heissen  bekanntlich  jene  durchbrochnen  Formen,  über  die  —  mit  dem 
dicken  Farbenpinsel  hinfahrend  —  die  Anstreicher  ihre  Kanten,  Rosetten  u.  s.  w. 
fix  und  gleichmössig,  wie  Salonkoroponisten,  an  die  Wand  werfen. 


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Der  fernere  Verlauf  des  ersten  Theils. 


289 


wie  man  bemerkt,  dieselbe  modulatorische  Stellung  zum  Hauptsatz 
ein,  wie  jener  der  Gdur-Sonate  S.  284,  wendet  sich  aber  nicht  nach 
seinem  Moll,  sondern  in  Folge  der  höhern  Kraft  und  Rüstigkeit  des 
Ganzen  nach  seiner  Unterdominante  Cdur  —  mit  Anspielungen  auf 
Cmoll  im  Schlusssatze  —  zurück. 

D.  Satzkette  als  Form  der  Seitenpartie. 

Oben  (S.  285)  haben  wir  Beschränkung  der  Seitenpartie  aus 
Rücksicht  auf  die  Hauptpartie  beobachtet.  In  den  folgenden  Fällen 
finden  wir  Ausdehnung  der  Seitenpartie  aus  derselben  Rücksicht; 
und  zwar  entweder  bloss  um  zwischen  beiden  Partien  ein  gewisses 
Cbenmaass  oder  Gleichgewicht  zu  erhalten,  auf  das  man  ohne  be- 
sondre Gründe  nicht  gern  verzichtet,  oder  um  zu  ergänzen,  was  in 
der  Hauptpartie  etwa  ungeschehen  blieb. 

Das  erstere  Streben  (bei  dem  aber,  wie  schon  gesagt,  nicht  an 
ängstliches  Taktabzählen  zu  denken  ist)  beobachten  wir  zuerst 
an  Beethove  n's  Es  dur-Sonate,  Op.  7.  —  Nach  einem  einleiten- 
den Ansätze  — 


-4 

 m-a  W7~ 

8 

tritt  mit  dem  Abschnitte  6  (der  bei  c  auf  der  Dominante,  sodann 
wieder,  eine  Oktave  über  o,  auf  der  Tonika  wiederholt  wird)  der 
Hauptsatz  auf.  Seine  sehr  freie  Umkehrung  führt  gangartig  auf  das 
Einleitungsmotiv  a,  das  zu  einem  neuen  Sätzchen  — 

354 


wird,  zurück,  und  mit  diesem  weiter  über  Fnach  B  zum  Seitensatze. 
Dieser  ist  dem  Hauptsatze  wenigstens  durch  fortlaufende  Achtel- 
bewegung und  freie  Umkehrung  bei  der  Wiederholung  ähnlich.  Es 
fehlt  also  an  einem  beruhigenden  Satz  als  Gegengewicht  gegen  den 
zweiten  aus  a  gebildeten  Gedanken  der  Hauptpartie ;  und  noch  darf 
nicht  an  den  Schlusssatz  [der  beruhigen  könnte)  gedacht  werden, 
weil  beide  Hauptgedanken  durch  die  gleichmässig  fortlaufende  Ach- 
telbewegung fast  gangartig  wirken  und  dem  Ganzen  die  nöthige 

Marx,  Korap.-L.  III.  5.  Aofl.  19 


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290  Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


Haltung  noch  fehlt.  Daher  tritt  ein  zweiter,  in  halben  Schlägen 
ruhig  wandelnder  Satz  a  — 


355  * 


auf,  der  zuletzt  und  bei  der  Wiederholung  (6)  freilich  wieder  die 
angeregte  Achtelbewegung  in  sich  aufnehmen  muss.  Allein,  so  ge- 
wiss dieser  reich  und  seelenvoll  ausgeführte  Gedanke  nothwendig 
war,  so  bedarf  es  doch  wieder  der  feurigen  Erhebung  zu  dem 
lebendigen  Anfang  und  noch  Uber  ihn  hinaus.  Es  muss  also  ein 
dritter  Satz,  in  Achteln  und  Sechzehnteln  gangartig  empordringend, 
in  der  Wiederholung  noch  stürmischer  gesteigert,  eingeführt  seiu, 
der  statt  eines  Gangs  (es  sind  ja  von  fünf  Sätzen  schon  drei  gang- 
artig)  einen  in  Sechzehnteln  harmonisch  figurirten  Orgelpunkt  nach 
sich  zieht.  —  Hiermit  ist  nun  allerdings  die  Seitenpartie  (bis  hier- 
her 87  Takte)  der  Hauptpartie  (40  Takte)  an  Ausdehnung  und  Ge- 
halt überlegen,  hat  sie  aus  unserm  Sinne  verdrängt.  Folglich  kehrt 
der  Schlusssatz  zu  einem  wohl  ausgeprägten  Motiv  der  Hauptpartie 
(dem  zweiten  in  No  354)  zurück,  um  diese  gegen  die  überlegne 
Seitenpartie  selbst  innerhalb  derselben  zu  unterstützen. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  Seitenpartie  in  der  No.  342 
angeführten  Sonate.  Die  Hauptpartie  brachte  nach  dem  ersten  Satz 
einen  zweiten  (No.  314),  durch  Tonart  und  Inhalt  fremden.  Die 
Seitenpartie  stellt  ihren  ersten  Gedanken  in  der  Dominante  [Adur 
auf  und  wiederholt  ihn,  gleichsam  ungewiss,  unsicher  werdend,  in 
i4moll  auf  dem  verminderten  Septimenakkord  unbefriedigt  anhal- 
tend.  Dann  muss  ein  zweiter  Satz  folgen,  um  anfangs  (a)  — 


r  u 


356 


i  i 


fr 


WI0 


r 


i 


r 


leise,  später  (6)  entschiedner  an  das  Motiv  des  ersten  Hauptsatzes 
zu  erinnern.   Er  führt  zum  Schlusssatze  (o), 


357 


Zt 


*  Eine  Oktave  tiefer  zu  lesen. 


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Der  fernere  Verlauf  des  ersten  Theils.  291 

der  sich  an  dasselbe  Motiv  lehnt  und  einen  zweiten  Schlusssatz  in 
ruhigen  Halbschlügen  nach  sich  zieht.  Und  nochmals  bildet  sich  aus 
demselben  Motiv  ein  Satz,  der  zum  Anfang  zurück-  und  in  den 
zweiten  Theil  hineinfuhrt. 

In  der  Cdur-Sonate  Op.  2  ist  der  erste  Satz  (No.  299)  zu  sin- 
nig und  dabei  zu  fest  die  Tonart  aussprechend,  der  zweite,  der  sich 
zum  Gang  ausbildet  (No.  334),  zu  frisch  und  fest  abermals  im  Haupt- 
ton hingestellt,  der  Schluss  dieser  Partie  endlich  ebenfalls  so  scharf 
und  fest  auf  der  Dominante  des  Haupttons  gebildet,  als  dass  nicht, 
wenn  der  Seitensatz  nun  sogleich  auf  derselben  Dominante,  dem  all- 
gemeinen Gesetz  nach  wieder  in  Dur  aufträte,  das  Ganze  eine  an 
Frivolität  grenzende  Munterkeit  und  Helligkeit  annähme,  —  wovon 
der  besondre  Inhalt  der  Hauptpartie,  namentlich  der  keck  hinein- 
geworfne  zweite  Satz  vorzüglich  Ursach  wäre.  Solche  Wendung 
sagt  aber  dem  Komponisten  nicht  zu;  er  führt  lieber  seinen  Sei- 
tensatz in  —  Gmoll  (statt  Gdur)  ein  und  wiederholt  ihn  —  in 
Dmoll.  Allein  so  sinnig  diese  Wendung  und  Gegenstellung  gegen 
die  kurz  angebundne  Hauptpartie :  so  entlegen,  abpeirrt  vom  eigent- 
lichen Pfad  erscheint  sie  doch  in  modulatorischer  Hinsicht.  Folglich 
muss  sich  jener  erste  Seitensatz,  gleichsam  als  wär'  er  nicht  der 
rechte  gewesen,  von  seinem  G-  und  Z)moll  nach  i4moll  (Hauptpar- 
allele) wenden  und  eine  kurze  Satzkette  über  GmoU  zu  einem 
festen  Schluss  in  Z)dur  fuhren.  Nun  erst  erscheint,  gleichsam  als 
waV  er  erst  der  rechte,  ein  neuer,  ruhig  und  sicher  in  G  dur  aus- 
geführter zweiter  Seitensatz.  Allein  mit  alle  dem  ist  die  Hauptpartie 
weit  zurückgestellt.  —  Da  tritt,  eben  so  keck  wie  das  erste  Mal, 
jenes  frische  Motiv  (No.  334)  zu  einem  Gang  auf  und  macht  sich 
nach  dem,  ähnlich  dem  ersten  Gedanken  (No.  299)  abbrechenden 
Schlusssatze  nochmals  als  letzten  Schluss  geltend. 

Hier  handelte  es  sich  darum,  einer  Einseitigkeit  auszuweichen, 
die  auf  dem  geraden  Wege  von  der  Hauptpartie  zu  dem  regelmäs- 
sigen Standpunkte  des  Seitensatzes  hervorgetreten  wäre;  dann  von 
dieser  Aus-  oder  Abweichung  wieder  einzulenken.  In  der  No.  302 
angeführten  Sonate  ist,  wie  dort  schon  bemerkt,  gar  keine  Modu- 
lation in  die  Dominante  (viel  weniger  über  die  zweite  Dominante, 
von  F  über  G  nach  C)  erfolgt,  sondern  nach  einem  kurz  gefassten 
Schluss  auf  der  Dominante  von  ylmoll  der  Seitensatz  — 


eingetreten,  also  nicht  bloss  ohne  den  vorbereitenden  modulatorischen 
Nachdruck,  sondern  in  unverkennbarer  Aehnlichkeit  mit  dem  ersten 

49* 


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292 


Nähere  Erörterung  der  Sonaten  form. 


Hauptgedanken ,  folglich  —  ungeachtet  seiner  Anmuth  —  als  zwei- 
ter Hauptgedanke  ungenügend.  Dies  Verhältniss  treibt  den  Kom- 
ponisten weiter;  der  Satz  wird  zum  Gange  nach  Gdur,  diese  Ton- 
art (die  zweite  Dominante)  wird  nachdrücklich  eingeprägt  und  nun 
folgt  ein  zweiter  Satz  (Cdur,  dann  Cm  oll,  weil  Cdur  schon  dop- 
pelt in  Wirksamkeit  gekommen) ,  Gang  und  Schlusssatz.  —  In  ähn- 
lichem Sinne  bringt  Mozart's  Cmoll-Sonate  (No.  326)  die  Do- 
minante der  Seitenpartie  (Ädur  von  Es  dur)  nach  dem  ersten  Satze 
der  letztern  nach  und  lässt  dann  einen  zweiten  Satz  folgen.  In  bei- 
den Fällen  ist  rascher  und  frischerer  Fortgang  gewonnen  und  dem 
Modulationsgesetz  doch  Genugthuung  geworden. 


Vierter  Abschnitt. 

Der  zweite  und  dritte  Theil. 

Nach  dem  bisher,  namentlich  im  vierten  bis  achten  Abschnitte 
der  vorigen  Abtheilung,  Vorgetragnen  können  wir  uns  hier  an  we- 
nigen zusammenfassenden  und  ergänzenden  Hinblicken  genügen  las- 
sen ;  sowohl  die  wesentlichen  Momente,  —  welches  die  Bestim- 
mung und  der  Inhalt  des  zweiten  und  dritten  Theils  sei ,  als  die  in 
Anwendung  kommenden  Gesetze  der  Satz-,  Perioden-,  Gangbildung, 
der  Auflösung  jener  in  Gänge  u.  s.  w.,  sind  schon  bekannt  und  an 
Beispielen  genugsam  aufgewiesen. 

A.  Der  zweite  Theil. 

Dieser  ist  in  der  Sonatenform  wie  in  allen  Formen  der  Be- 
wegungstheil.  Auch  die  Sätze  und  Perioden,  die  in  ihm  auf- 
treten, gehören  dem  Elemente  der  Bewegung  an;  dies  zeigt  sich 
schon  darin,  dass  sie  nicht  in  dem  Hauptton  und  der  nächstgehöri- 
gen Tonart  auftreten,  dass  sie  in  sich  selbst  verändert,  also  aus 
ihrem  ursprünglichen  Wesen  herausgeführt,  dass  sie  gangartig  auf- 
gelöst oder  zu  Ende  und  in  andre  Sätze  übergeführt  werden,  ja,  dass 
ihr  Dasein  im  zweiten  Theil  überhaupt  nicht  nothwendig  ist,  son- 
dern bald  der  Haupt-,  bald  der  Seitensatz,  —  und  bei  dem  Vorhan- 
densein mehrerer  Sätze  in  der  Haupt-  oder  Seitenpartie  bald  dieser, 
bald  jener  vorgezogen,  die  andern  aber  übergangen  werden  können. 
Nun  aber  ist  das  Wesen  der  Bewegung  seinem  Begriffe  nach  ein 
schrankenloses,  im  Gegensatz  zu  dem  scharf  bestimmten  des  Satzes 
oder  Ruhemoments.  Der  Satz  muss  sich  abgränzen,  er  muss  sich 
sein  Ende  setzen,  —  und  zwar  ein  bestimmtes  und  notwendiges . 


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Der  zweite  und  dritte  Theil. 


293 


Der  Gang  hat  an  sieb  selber  gar  kein  noth wendiges  Ende;  er 
wird  abgebrochen,  weil  er  eben  nicht  ewig  fortgeführt  werden  kann 
und  weil  höhere  Rücksichten  auf  das  Ganze  den  Komponisten  ab- 
rufen zu  andern  Gestalten.  So  auch  hat  der  Satz  einen  bestimmten 
Modulationssitz;  er  gehört  einer  Tonart  ganz  oder  doch  vornehm- 
lich an  und  muss  gewissen  Modulationsgesetzen,  ohne  die  es  keinen 
Schluss  giebt,  gehorchen.  Der  Gang  dagegen  hat  keinen  bestimm- 
ten Modulationssitz ;  er  kann  ebensowohl  durch  beliebige  Tonarten 
gehn,  als  in  einer  bleiben,  kann  jedes  beliebige  Motiv  befolgen  oder 
auch  verlassen. 

Dieselbe  Freiheit  in  der  Wahl  des  Stoffes,  in  seiner  Anord- 
nung, in  der  Modulation,  in  der  Ausdehnung  ist  dem  zweiten  So- 
natentheil  eigen. 

1.  Inhalt  des  zweiten  Theils. 

Hat  der  Hauptsatz  vorwiegendes  Interesse,  so  beschäf- 
tigt sich  der  zweite  Theil  ausschliesslich  oder  vorzugsweis  mit  ihm. 
So  in  Beethove  n's  Sonate  pathttique,  wo  nach  einem  aus  einer 
Einleitung  genommenen  Zwischensatze  (der  dem  eigentlichen  Be- 
stand der  Hauptmasse  ganz  fremd  ist)  der  Hauptsatz  —  oder  we- 
nigstens ein  ihm  nachgebildeter  Satz  — 


(man  vergleiche  a  mit  295)  zweimal  in  der  Oberstimme,  dann  (der 
Hauptsache,  a,  nach)  dreimal  im  Bass  erscheint,  —  in  2?moll,  G  —  Z), 
F.  B  und  Cmoll,  —  und  dann  mit  kurzer  gangartiger  Fortführung 
zum  Orgelpunkt  gelangt.  So  in  der  £moll-Sonate,  Op.  90,  in  der 
der  Hauptsatz  schon  im  ersten  Theil  das  überwiegende  Interesse  auf 
sich  gezogen  hatte;  Im  zweiten  Theile  wird  erst  sein  Hauptmotiv 
(a  inNo.  305),  dann  sein  zweites  (der  Abschnitt  e),  jedes  besonders, 
mit  innigster  Versenkung  in  den  das  Ganze  beseelenden  Sinn  durch- 
geführt. So  in  der  bei  No.  292  betrachteten  Sonate,  in  der  beide 
Satze  der  Hauptpartie  (No.  292  und  294)  zur  Geltung  kommen. 

In  andern  Fällen  ist  es  der  Se itensatz,  der  im  zweiten  Theil 
Aufnahme  findet.  Dies  sehn  wir  am  entschiedensten  in  der  gros- 
sen Esdur-Sonate  von  Haydn  (Anhang  I.  N.  -yir)>  wo  nach  einer 


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294  Xähere  Erörterung  der  Sonaten  form. 

kurzen  Erinnerung  aus  dem  Schlüsse  des  ersten  Theils  der  Seilen- 
satz in  JEdur  und  nach  einer  weiten  gangartigeo  Ausführung  aber- 
mals in  Cdur  auftritt. 

Häufiger  scheinen  die  Fälle,  in  denen  Haupt-  und  Seiten- 
satz mit  einander  benutzt  werden.  Dies  ist  im  Grunde  schon 
bei  der  eben  erwähnten  Komposition  zuzugestehn;  zwar  tritt  der 
Seitensatz  auf  das  Entschiedenste  als  Hauptsache  hervor,  doch  fin- 
det im  Gang  auch  eine  Partie  des  Hauptsatzes  Gelegenheit,  sich  gel- 
tend zu  machen.  Umgekehrt  dient  in  der  Cis  moll-Sonate  [No.  304) 
das  Motiv  des  Hauptsatzes  zur  Einleitung,  um  von  der  Ober- 
zur  Unterdominante  zu  bringen.  Hier  wird  der  Seitensatz  vollstän- 
dig in  der  Oberstimme  vorgetragen,  in  der  Unterstimme  mit  einem 
Schlussfall  nach  Gdur,  hier  mit  einer  Wendung  nach  Ci-smoll  wie- 
derholt, und  unter  Benutzung  seines  letzten  Motivs  gangartig  auf 
die  Dominante  zum  Orgelpunkt  geführt. 

Dasselbe  sehn  wir  in  der  bei  No.  301  betrachteten  Fmoll-So- 
nate.  Der  erste  Theil  hat  in  .dsdur  geschlossen,  der  zweite  tritt 
mit  dem  ersten  Abschnitte  des  Hauptsatzes  (No.  301  a)  in  demsel- 
ben Ton  auf,  stellt  sich  unter  Wiederholung  des  letzten  Taktes  auf 
die  Dominante,  wiederholt  da  den  Abschnitt  a  und  geht,  wieder  mit 
Wiederholung  des  letzten  Taktes,  auf  die  Dominante  von  2?  moll,  also 
in  die  Unterdominante  des  Haupttons.  Hier  nun  tritt  der  Seitensatz 
acht  Takte  lang  mit  einer  Wendung  nach  Cmoll  (Oberdominante 
des  Haupttons)  ein,  wird  da  zweimal  zwei  Takte  lang  (No.  346 
wiederholt)  von  der  Oberstimme,  wieder  zwei  Takte  lang  vom  Bass, 
nochmals  von  demselben  auf  der  Dominante  von  2?  moll  und  aber- 
mals auf  der  von  l.s  inoll  (das  Moll  der  Parallele,  —  ein  schritt- 
weises Hinabgehn  von  C  nach  B  nach  As  moll)  aufgestellt,  und  nun 
ganz  gangmässig  auf  den  Orgelpunkt  geführt,  wo  zuletzt  ein  Motiv 
des  Hauptsatzes  [a  in  No.303)  zu  demselben  und  damit  in  den  driüen 
Theil  einladet. 

Auch  in  der  grossen  Fmoll-Sonate  (S.  263)  geht  Beethoven 
denselben  Weg.  Der  erste  Theil  hat  in  As  moll  geschlossen;  der 
zweite  tritt  in  einer  Wendung  von  da  nach  J^dur  (as-ces-es, 
gis-h-dis,  —  gis-h-e)  mit  dem  Hauptsatz  auf  und  bildet  nun  aus 
dem  Hauptmoment  desselben  — 

eine  Satzkette,  die  von  hier  aus,  von  zwei  zu  zwei  Takten  abwech- 
selnd in  Ober-  und  Unterstimme  den  Satz  aufstellend  (die  ersten 
Noten  fallen  in  der  Oberstimme  weg,  weil  sie  neben  der  ebenfalls 
bedeutsamen  Gegenstimme  keinen  Raum  finden),  diesen  Weg  — 


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Der  zweite  und  dritte  Theil 


295 


361 


2, 

2, 

a 

2, 

2, 

t  ><=> 

2. 

4  Takt«. 

7 

b7 
1 

1 

auf  die  Dominante  von  Desdur*  geht,  auf  welcher  orgelpunktartig 
die  schon  im  ersten  Theil  gegebne  Einleitung  zum  Seitensatz  —  nur 
noch  weiter  ausgeführt  — ,  und  nach  ihr  auf  der  Tonika  Des  der 
Seitensatz  selber  erscheint.  Dieser  wendet  sich  mit  seinem  Schlüsse 
nach  ifmoll,  wiederholt  sich  da  vollständig,  wendet  sich  ferner  nach 
Gesdur,  und  führt  hier  erst,  nach  abermaliger  Aufstellung  seines 
ersten  Abschnittes,  — 


mit  dem  letzten  Motiv  (b)  und  dann  in  freien  Arpeggien  zum  Orgel- 
punkt, auf  dem  aber  sofort  der  dritte  Theil  mit  dem  Hauptsatz 
eintritt. 

Und  abermals  dasselbe  ist  in  Mozart's  Cmoll-Sonate  (No.  326) 
zu  sehn.  Hier  wird  nach  dem  Schlusssatze  schon  im  ersten  Theil 
der  Vordersatz  des  Hauptsatzes  in  l&dur  gebracht  und  mit  einer  Wen- 
dung auf  die  Dominante  von  Cmoll  geschlossen.  So  dient  er  zuerst, 
um  auf  den  Anfang  (und  die  Wiederholung  des  ersten  Theils)  zurück-, 
dann,  um  in  den  zweiten  Theil  überzuführen.  Dieser  führt  mit  dem 
Hauptmotiv  (a)  und  dem  aus  No.  329  bekannten  Gegensatze  — 


nach  der  Unterdominante,  wo  der  erste  Satz  der  Seitenpartie  (vier 
Takte)  auftritt,  dann  aber  wieder  das  Hauptmotiv  in  Fmoll,  auf  Do- 


*  Beethoven  verbirgt  für  den  ersten  Hinblick  die  letzte  in  No.  361  ange- 
gebne Harmonie,  indem  er  —  um  leichter  gelesen  zu  werden  —  in  derselben 
statt  66  ein  a  setzt ;  er  wechselt  mit  den  Akkorden  a-c-es-ge$  und  c-es-ges-bb, 
was  oben  als  unwesentlich  nicht  angegeben  worden  ist. 


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296  Nähere  Erörterung  der  Sonatenform. 


minante  und  Tonika  von  G  moll,  auf  Dominante,  Tonika  und  aber- 
mals Dominante  von  Cmoll  auftritt  und  nach  kurzem  Orgelpunkte 
(fünf  Takte)  der  dritte  Theil  anhebt. 

Bisweilen  zieht  statt  des  Seitensatzes  der  Schlusssatz  ne- 
ben dem  Hauptsatze  das  Interesse  auf  sich.  Dies  tritt  sehr  ein- 
fach in  Be.ethoven's  Z)  dur-Sonate,  Op.  28,  hervor,  in  der  sich  der 
(erste)  Seitensatz  vollkommen  dem  Sinn  des  Ganzen  gemäss,  nicht 
aber  in  einer  Weise  gebildet  hat,  die  ihm  im  zweiten  Theile  neben 
dem  Hauptsatz  oder  statt  desselben  Geltung  verschaffen  könnte.  Der 
edelsinnige  Hauptsatz  (und  zwar  der  erste,  No.  308)  tritt  zuerst 
hier  wieder,  in  der  Unterdominante  Gdur,  auf  und  wird  mit  anzie- 
hender Veränderung  in  Gmoll  wiederholt.  Nun  ist  das  Interesse 
an  ihn  gefesselt  und  kann  nicht  sobald  ihn  verlassen.  Die  letzten 
Takte  mit  einem  neuen  Gegensatze  — 


werden  auf  der  Dominante,  dann  unter  Umkehrung  der  Stimmen  (so 
dass  sich  gleichsam  ein  kleines  Fugato  macht)  wieder  auf  Tonika 
und  Dominante  ausgeführt  und,  von  hier,  meist  mit  dem  Motiv  des 
letzten  Taktes,  ein  weiter  Gang  und  Orgelpunkt  auf  der  Dominante 
von  H  gebildet,  der  sehr  ruhig  zu  Ende  geht.  Hiermit  ist  nun  der 
Hauptsatz  so  weit  befriedigt,  dass  man  ihn  weder  weiter  verfolgen, 
noch  sogleich  mit  dem  dritten  Theil  wieder  bringen  dürfte.  Der  sehr 
stille  Seitensatz  kann  hier  auch  nicht  lösen;  folglich  tritt  für  ihn 
der  reizende  Schlusssatz  in  7/dur  ein,  wiederholt  in  //moll,  —  und 
nun  wird  mit  Wiederholung  seines  letzten  Gliedes  zum  Hauptton 
und  in  den  dritten  Theil  gegangen. 

Noch  schneller  mischt  die  Es  dur-Sonate  Gedanken  des  Haupt- 
und  Schlusssatzes.  Nach  dem  ersten  des  Hauptsatzes  (No.  353  a) 
und  einem  freien  Achtelgang  zweier  Stimmen  wird  ein  ziemlich  weit 
geführtes  Spiel  mit  einem  Motiv  des  Schlusssatzes  geübt  und  dann 
wieder  zweimal  auf  das  erste  Motiv  des  Hauptsatzes  (mit  neuer 
Fortführung)  zurückgegangen. 

In  der  C dur-Sonate  (No.  306)  dient  der  letzte  Abschnitt  des 
Schlusssatzes  zur  Einführung  (von  2?  moll  und  Cdur)  in  die  Unter- 
dominante, wo  der  Hauptsatz  auftritt,  der  mit  Hülfe  eines  Gangmo- 
tivs, das  im  ersten  Theil  an  den  Seitensatz  anschloss,  auf  den  Or- 
gelpuukt  und  zum  dritten  Theile  leitet. 

Und  so  sehn  wir  endlich  in  der  grossen  5-Sonate  (Op.  106 
im  zweiten  Theile  die  umfassendste  Benutzung  der  Hauptpartie  und 
des  Schlusses ;  —  so  müssen  wir  uns  hier  ausdrücken,  weil  dieses 


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Der  zweite  und  dritte  Theil.  297 

umfassendste  aller  Klavierwerke  neben  mehrern  Sätzen  der  Haupt- 
und  Seitenpartie  auch  zwei  Schlusssätze,  —  einen  zur  Beruhigung 
nach  dem  hoch  gesteigerten  Seitensatze,  den  andern  zu  muthvollerm 
Abschluss  und  Fortschritt  in  den  Wiederanfang  und  in  den  zweiten 
Theil,  —  aufstellt.  Der  letzte  Schlusssatz  (Gdur),  der  noch  einen 
Anklang  an  das  erste  Motiv  des  Ganzen  nach  sich  gezogen  hatte, 
führt  uns  zu  Anfang  des  zweiten  Theils  nach  Cmoll  und  Es&uv. 
Hier  wird  aus  jenem  ersten  Motiv  (die  vier  ersten  Noten  in  No. 
340)  ein  weit  geführter  Nachahmungssatz  erst  zweistimmig,  — 


dann  drei-  und  vierstimmig  gebildet,  der  zum  ersten  Schlusssatz  in 
tfdur  führt  und  in  derselben  Tonart  wieder  anhebt,  um  nach  üdur 
und  sofort  in  den  dritten  Theil  fortzugehn*. 

So  mannigfaltig  die  Benutzung  des  Inhalts,  so  mannigfach  ist 


2.   die  Modulation 

des  zweiten  Theils.  Allerdings  bestehn  im  Allgemeinen  die  modu- 
latorischen Grundsätze  fort.  Man  wird  also  im  zweiten  Theil  nicht 
die  dem  ersten  und  dritten  Theil  angehbrigen  Töne,  den  Hauptton 
und  in  Dur  die  Dominante,  in  Moll  die  Parallele,  hervortreten  las- 
sen, oder  letztere  nur  dann,  wenn  sie  im  ersten  Theil  nicht  zur 
Anwendung  gekommen  sind.  Ferner  wird  man  sich  eher  zu  den 
nächstverwandten  und  nächstnöthigen,  als  zu  entferntem  Tonarten 
hinwenden.  Allein  hiervon  sind  im  Bewegungstheile  mehr  als  ir- 
gendwo sonst  zahlreiche  —  und  die  freiesten  Abweichungen  mög- 
lich und  statthaft,  sobald  sie  in  dem  Gang  und  Inhalt  des  Ganzen 
ihren  Grund  haben.  Es  bedarf  hierzu  keiner  ferneren  Beläge,  da 
deren  schon  genugsam  im  Vorhergehenden  gegeben  sind;  eben  so 
wenig  dürfen  wir  uns  nochmals  über  die  Beweggründe  zu  fremdern 
Modulationen  einlassen,  Uber  die  schon  im  Bisherigen  so  viel  Aufklä- 
rung gegeben  ist,  als  die  Formlehre  —  ohne  Ergründung  des  be- 
sondern Inhalts  der  Kunstwerke  —  darbietet. 

B.   der  dritte  Theil 

hat  vornehmlich  die  Wiederholung  des  ersten  zur  Aufgabe,  je- 
doch bekanntlich  in  der  Weise,  dass  auch  die  Seitenpartie  in  den 
Hauptton  gestellt  wird.  Allein  wir  dürfen  dabei  nicht  aus  den 
Augen  lassen,  dass  er  im  engsten  Verbände  steht  mit  dem  vorher- 

*  Hierzu  der  Anhang  L. 


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298  Nähere  Erörterung  der  Sonaten  form. 


gehenden  zweiten  und  ersten  Theile,  mithin  auf  deren  Gang  ort- 
während Rücksicht  nehmen  und  nötbigcnfalls  das,  was  in  jenem  hat 
versäumt  werden  müssen,  ersetzen  muss.  Dies  aber  kann  in  der 
mannigfaltigsten  Weise  geschehn,  wovon  wir  nur  wenig  Beispiele  zur 
Anregung  weiterer  Forschung  geben. 

1. 

In  der  Fdur-Sonate  (No.  302)  war  der  erste  und  anziehendste 
Gedanke  der  Seitenpartie  ohne  hinlängliche  modulatorische  Vorberei- 
tung (S.  291)  aufgetreten  und  dem  Hauptsatze  so  nah  verwandt,  dass 
man  ihn  eher  zur  Hauptpartie  zählen  möchte,  wenn  nicht  die  Ton- 
art selber  widerspräche.  Der  dritte  Tbeil  benutzt  dies;  er  hängt 
diesen  zweifelhaften  Satz  sogleich  an  den  Hauptsatz,  so  dass  beide 
eine  durch  kein  Yermittlungsglied  erst  an  einander  gehängte,  sondern 
unmittelbar  verschmolzne  Masse,  gleichsam  einen  einzigen  Ge- 
danken bilden.  Erst  mit  diesem  Seitensalze  wird  dann  zur  Domi- 
nante gegangen  und  von  da  an  regelmässig  weiter. 

2. 

Die  Sonate  pathetique  hat  ihren  Seitensatz  (No.  351'  von 
Cmoll  aus  nicht  in  iftdur,  sondern  in  2&moll  aufgestellt,  und  ist  erst 
später  nach  Iftdur  gegangen;  im  zweiten  Theil  ist  sogar  £moll  als 
Hauptmoment  der  Modulation  erschienen,  weil  in  ihm  der  Hauptsatz 
aufgeführt  wird.  Der  dritte  Theil  geht  vom  Hauptsatz  in  Cmoll  nach 
der  Unterdominante  Fmoll,  um  hier  den  Seitensatz  zu  bringen;  erst 
die  Wiederholung  desselben  geschieht  in  Cmoll.  Mit  jener  Wen- 
dung ist  der  Seitensatz  eben  so  scharf  in  sein  eignes  Licht  gestellt, 
wie  im  ersten  Theil  durch  sein  Issmoll,  es  ist  aber  zugleich  der 
Hauptton  (Th.  I,  S.  248)  befestigt.  Demungeachtet  wird  —  wohl 
nicht  ohne  Rücksicht  auf  das  Vorangegangne  —  zuletzt  in  einem  An- 
hange noch  einmal  auf  die  Einleitung  und  den  Hauptsatz,  natürlich 
im  Hauptton,  zurückgegangen. 

3. 

In  der  Cis  moll-Sonate  ist  der  Hauptgedanke  (No.  304)  bei 
aller  Energie  seines  Inhalts  (oder  vielmehr  um  derselben  willen)  ein- 
fach auf  das  eine  Motiv  seines  Vordersatzes  gestellt  und  der  begin- 
nende Nachsatz  fast  nur  eine  Wiederholung  des  erstem.  Der  dritte 
Theil  wirft  diesen  Nachsatz  ganz  weg  und  geht  von  dem  breiten 
Schlüsse  des  Vordersatzes  nach  Sonatinenart  unmittelbar  zum  Sei- 
tensatze. Nun  aber  wird  nach  vollständiger  Ausführung  des  Seiten- 
und  Schlusssatzes  in  einem  Anhange  das  Motiv  des  Hauptsatzes 
nochmals  in  die  Unterdominante  gestellt,  und  der  Hauptgedanke  der 
Seitenpartie  mit  neuem  Ausgang  und  zuletzt  dem  alten  Schlusssatz 
im  Haupttone  wiederholt.  Es  ist,  nur  aus  anderm  Grunde,  dieselbe 
Gestaltung,  wie  oben  bei  1. 


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Der  zweite  und  dritte  Theil. 


299 


4. 

In  der  grossen  Cdur-Sonate  (No.  306)  war  der  Seilensatz  be- 
kanntlich (S.  269)  in  £dur  aufgetreten  und  der  erste  Theil  in  £moll 
geschlossen  worden.  Abgesehn  von  der  tiefern  Begründung  dieser 
Wendung  muss  man  diese  sofort  für  auffallend  und  schon  durch  ihre 
Fremdheit  reizend  anerkennen.  Sie  darf  also  im  dritten  Theile  nicht 
verloren  gehn;  der  Seitensatz  würde  hier  gegen  den  ersten  Theil 
einbüssen,  wenn  er  gleich  normal  in  Cdur  aufträte.  —  Nun  ist 
jenes  ii'dur  im  ersten  Theil  (S.  269)  eigentlich  statt  EmoW  und 
dieses  statt  Gdur  gesetzt.  In  gleicher  Weise  tritt  im  dritten  Theil 
der  Seitensatz  in  i4dur  (statt  ,1m oll,  statt  Cdur)  auf;  hier  aber 
bleibt  er  nicht  (wie  im  ersten  Theil  in  Isdur),  sondern  wird  sofort 
in  - 1  1 1 1  oll  mit  einer  Wendung  nach  C  und  dann  noch  zweimal  in 
Cdur  wiederholt,  macht  also  thatsächlich  den  Weg,  den  wir  gedan- 
kenmässig  dem  Komponisten  zugeschrieben  hatten*,  durch.  Dann 
folgt  das  Weitere  ganz  normal ;  da  aber  der  sinnig-ruhige  Schluss- 
satz für  das  glänzende,  feurig  bewegte  Ganze  keinen  befriedigenden 
Ausgang  gewährte,  so  wurde  mit  ihm  nach  Des  dur  (Anfangs  der 
Sonate  von  C  nach  B  und  von  C  nach  D)  gerückt,  hier  der  Haupt- 
satz und,  nach  einer  weiten  Ausführung,  nochmals  im  Haupttone  der 
Seiten-  und  zuletzt  der  Hauptsatz  gebracht.  Dieser  umfassende  An- 
hang gebührte  dem  reichen  und  kühn  modellirten  Satze. 

5. 

Das  Gleiche  sehn  wir  in  der  Gdur- Sonate.  Ihr  Seitensatz 
war  im  ersten  Theil  (No.  346)  in  //dur  und  //moll  aufgetreten;  im 
dritten  Theil  erscheint  er  daher  in  £dur  und  JS'moll,  wird  aber  dann 
noch  zweimal  in  Gdur  aufgestellt.  Hiermit  ist  aber  der  Haupt- 
satz in  bedenklicher  Weise  zurückgedrängt,  um  so  mehr,  da  er  zu- 
vor nicht,  wie  im  ersten  Theile,  wiederholt  worden.  Folglich  wird 
nun  in  einem  Anhang  zuerst  der  ihm  angehörige  Gang  (No.  323) 
mit  dem  breiten  Halbschlusse  wieder  gebracht,  dann  aus  dem  Haupt- 
motiv selber  — 


r 

*  Noch  einmal  sei  das  Missverständniss  zurückgewiesen,  als  nähmen  wir 
an,  der  Komponist  habe  sich  seinen  Weg  in  logischer  Vollständigkeit  und  Um- 
ständlichkeit herausgedacht.  Ihn  hat  wohl  nur  der  Glanz  und  überhaupt  der 
Sinn  seines  Seitentons  (£dur)  mächtig  angezogen.  Dass  dies  aber  kein  ver- 
führerisches Blendwerk,  keine  Verirrung  gewesen,  zeigt  sich  eben  bei  der  ge- 
dankenmässigen  Prüfung. 


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300  Nähere  Erörterung  der  Sonaten  form. 


ein  reizend  zarler  und  das  launig-gaukelnde  Getriebe  des  Hauptsatzes 
zuletzt  noch  mit  innigerer  Rührung  durchhauchender  Schluss  gebil- 
det, bei  der  anziehendsten  Verwandlung  doch  dem  Grundton  der 
Stimmung  treu,  wie  sich  etwa  mitten  im  muthwilligen  Kindergetän- 
del sinnigere  Schwärmerei,  die  eher  dem  jungfräulichen  Alter  eigen, 
überraschend  ahnen  lässt,  doch  bald  wieder  in  der  spiegelhellen 
Kinderlust  verschwunden  ist. 

6. 

Die  weitumfassende  Udur-Sonate  (No.  340)  setzt  auch  im  drit- 
ten Theil  ihre  kühne  Modulation  durch.  Der  erste  Hauptsatz  tritt 
im  Hauptton,  der  zweite  in  Oes  dur,  dann  wieder  der  erste  in  tfmoll 
(Unterdominante  von  Fis—Ges)  auf;  von  hier  kehrt  die  Modulation 
in  den  Hauptton  zurück,  in  dem  nun  erst  die  vollständige  Seiten- 
partie, unterstützt  von  einem  weiten,  aus  dem  Hauptmotiv  des  ersten 
Gedankens  machtvoll  herausgebildeten  Anhang,  die  befriedigende  mo- 
dulatorische Abrundung  und  Ruhe  herstellt. 


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Sechste  Abtheilung. 

Mischformen  und  verbundne  Formen. 

In  dieser  Abtheilung  fassen  wir  zweierlei,  streng  genom- 
men nicht  zusammengehörige  Gegenstände  zusammen,  weil  beide 
nur  einer  leicht  fasslichen  und,  nach  dem  Studium  alles  Voran- 
gegangnen, leicht  anwendbaren  Einweisung  bedürfen.  Wir  haben 
es  hier  noch  mit  zwei  Reihen  von  Formen  zu  thun. 

Die  erste  bringt  solche  Tongebilde,  die  aus  der  unvoll- 
ständigen Anwendung  einer  der  bisherigen  Formen  hervorgehn, 
mithin  nicht  bestimmt  sind,  für  sich  selber  und  durch  sich  allein  zu 
befriedigen,  — die  nicht  selbständig  sind,  — sondern  auf  ein 
andres  und  befriedigendes  Tongebilde  hinzuführen;  ferner  solche 
Tongebilde,  die  aus  der  Vermischung  der  bisher  aufgewiesnen  rei- 
nen Formen  hervorgehn.  Wir  werden  hier  die  Einleitung ,  das 
sonatenartige  Rondo,  und  die  figurale  und  fugenartige 
Sonate  kennen  lernen. 

Die  zweite  Reihe  zeigt  die  Verknüpfung  zweier  oder 
mehrerer  selbstündiger  oder  unselbständiger  Tongebilde  zu  einem 
grössern  Ganzen.  Hier  haben  wir  die  Sonate  und  die  Phanta- 
sie kennen  zulernen  und  die  Verknüpfung  der  Einleitung  mit 
Hauptsätzen  zu  beobachten ;  noch  andre  Kombinationen  und  Gestal- 
tungen, die  gar  wohl  für  die  Klavierkomposition  anwendbar  wären, 
bleiben  der  Lehre  vom  Orchestersatz  vorbehalten,  weil  sie  sich  bis 
jetzt  nur  in  diesem  gezeigt  haben. 

Die  tiefere  Lehre  von  der  Verbindung  der  Formen,  namentlich 
von  der  Sonate,  kann  nicht  hier,  sondern  nur  in  der  Musik- 
wissenschaft gegeben  werden;  hier  haben  wir  es  nur  mit  der 
Formenlehre  zu  thun. 


Erster  Abschnitt. 
Die  Einleitung. 

Die  Einleitung  oder  Introduktion  ist  bekanntlich,  wie 
schon  ihr  Name  zeigt,  bestimmt,  auf  einen  andern  Satz,  der  als 
Hauptsache  gilt,  vorzubereiten  und  hinzuführen.  Sie  ist  also  nicht 
um  ihrer  selbst  willen  da,  kein  Selbständiges,  für  sich  selber  Befrie- 
digendes, sondern  nur  zur  rechten  oder  kräftigern  Auffassung  eines 
andern  Satzes,  zur  Anregung  und  Stimmung  des  Hörers  (und  vor 
ihm  des  Komponisten)  bestimmt.  Das  Aeusserlichste,  was  ihr  hier- 


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302  Mischformen  und  verbundne  Formen. 

nach  obliegt,  ist :  auf  die  Tonart  des  Hauptsatzes  durch  deren  An- 
gabe vorzubereiten ;  das  Tiefere :  auf  den  Sinn,  in  die  Stimmung 
desselben  einzudringen,  oder  dieselbe  durch  den  Kontrast,  —  da- 
durch, dass  zuvor  eine  entgegengesetzte  oder  doch  verschiedne  an- 
geregt wird,  —  im  Voraus  zu  erhöhn,  zu  schärfen. 

Nach  diesen  Andeutungen  über  die  Bestimmung  des  einleiten- 
den Tonsatzes  ergeben  sich  die  Formen,  in  denen  er  auftritt, 
sehr  leicht. 

Als  unterste  Form  der  Einleitung  ist  der  vorspielartige 
Eintritt  unmittelbar  im  Ton  und  Tempo  des  Hauptsatzes 
anzusehn.  Eine  solche  haben  wir  schon  Th.  II,  No.  34  bis  33 
kennen  gelernt;  die  einleitenden  Takte  sind  nichts,  als  ein  fast 
melodieloses,  nur  akkordisches  Vorspiel,  ohne  nähere  Beziehung  auf 
den  nachfolgenden  Liedsatz.  Ob  dieser  geringe  und  leicht  fassliche 
Satz  einer  vorbereitenden  Einleitung  bedurft  hätte  oder  nicht,  das 
ist  uns  hier  gleichgültig;  genug,  die  Einleitung  ist  da  und  führt 
wenigstens  in  Tonart  und  Taktmaass  ein. 

Aehnliche  Einführungen  haben  wir  bei  Beetho ven's  Sonaten 
Op.  7  und  106  gefunden.  In  der  erstem  (No.  353)  tritt  der  eigent- 
liche Hauptsatz  erst  mit  dem  vierten  Takte  (bei  b)  ein ;  die  vorher- 
gehenden vier  Takte  (o)  gehören  zu  diesem  Satze  nicht,  sind  auch 
harmonisch  und  melodisch  zu  wenig  entwickelt  (sie  haben  nur  einen 
Akkord,  also  nicht  die  kleinste  Bewegung  oder  Gegenstellung  von 
einem  Akkorde  zum  andern),  als  dass  sie  als  Satz  gelten  könnten. 
Sie  sind  bloss  Einleitung  in  Ton  und  Bewegung  des  Hauptsatzes. 
Dasselbe  gilt  von  den  vier  ersten  Takten  der  Ä-Sonate,  No.  340; 
sie  sind,  wenn  auch  bedeutender  als  die  erstem,  doch  wesentlich 
nichts  Andres.  Beide  Einleitungen  werden  Übrigens,  wie  wir  schon 
wissen,  im  Verlaufe  des  Hauptsatzes  mehrfach  benutzt.  —  Auch 
das  Finale  der  Beetho ven'schen  Fmoll-Sonate  (Op.  57)  wird  in 
ähnlicher  Weise,  wenngleich  umständlicher,  eingeleitet.  Das  vor- 
hergehende Andante  in  Des  dur  macht  einen  Trugschluss  auf  dem 
verminderten  Septimenakkorde  von  Fmoll.  Dieser  Akkord  wird  zwei- 
mal, mit  Halten  verlängert,  angegeben,  dann  —  hiermit  tritt  das 
Finale  Allegro  ma  non  troppo  ein  —  rhythmisirt  wiederholt  (o) ,  — 


und  nun  folgt  ein  ganz  neues  Gangmotiv  (6),  das,  in  der  tiefern 
Oktave  wiederholt,  gangartig  weiter  auf  die  Dominante,  abermals 
weiter  auf  die  Tonika  des  Haupttons  und  damit  in  den  Hauptsatz  des  ' 
Finale  führt,  in  dem  es  als  Gegenstimme  fortwirkt. 


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Die  Einleitung.  303 

Die  höhere  Form  der  Einleitung  ist  nun  ihre  durch  Tempo, 
bisweilen  auch  durch  Tongeschlecht  und  Taktart  vom  Hauptsatze 
losgelöste  Aufstellung. 

In  solcher  abgesonderten  Einleitung  besinnt  und  sam- 
melt sich  der  Komponist  für  den  Hauptsatz ;  in  der  Regel  hat  also 
die  Einleitung  langsamere  Bewegung. 

Der  Eintritt  der  Einleitung  ist  in  modulatorischer  Hinsicht  frei: 
er  kann  mit  jedem  beliebigen  Akkorde,  kann  in  fremder  Tonart 
anheben.  Aber  der  Schluss  der  Einleitung  fällt  in  der  Regel 
auf  die  Dominante  des  Haupttons,  weil  von  ihr  aus  der 
Hauptsatz  im  Hauptton  am  geläufigsten  und  zum  Besten  vorbereitet 
eintritt.  So  hebt  z.  B.  Beethoven  die  Einleitung  seiner  grossen 
C  moll-Sonate  (Op.  411)  in  einem  Maestoso  (der  Hauptsatz  ist  ein 
Allegro  con  brio  ed  appassionato)  in  Gmoll  — 


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mit  dem  verminderten  Septimenakkord,  zuletzt  mit  einer  Andeutung 
von  —  Gdur  oder  Cmoll?  —  an. 

Was  nun  näher  den  Inhalt  der  Einleitung  und  dessen  Aus- 
gestaltung, die  Form,  betrifft :  so  spricht  sich  in  ihm  die  eigentliche 
Bedeutung  der  Einleitung  deutlich  aus. 

Der  Komponist  setzt  sich  in  ihr  gleichsam  in  die  Verfassung 
zu  seinem  beginnenden  Werke;  er  setzt  fest,  dass  nun  dasselbe 
beginnen  solle,  hat  also  entweder  sich  in  dem  Tonreich  über- 
haupt erst  eine  Stätte  gleichsam  zu  suchen,  —  dann  gestaltet  sich, 
mehr  oder  weniger  umschweifend,  die  Einleitung  präludienhaft  aus 
einer  Reihe  von  einfachen  oder  figurirten  Harmonien,  aus  einem 
ein-  oder  mehrstimmigen  Gange.  Oder  es  ist  schon  ein  be- 
stimmter Gedanke,  den  er  erfasst,  der  also  die  Form  eines  solchen, 
also  mindestens  Satz  form  haben  muss;  dann  erst  bildet  sich  eine 
wirkliche,  festen,  positiven  Inhalt  habende  Einleitung. 

Dieser  Gedanke  der  Einleitung  ist  aber  nicht  der  hauptsäch- 
liche, welcher  letztere  vielmehr  erst  im  Hauptsatze  gegeben  und 
durchgeführt  werden  soll ;  er  ist  im  Verhältniss  zur  Hauptsache  der 
Nebengedanke,  als  einführender  ungefähr  in  ähnlichem  Ver- 
hältnisse, wie  der  Schlusssatz,  der  in  den  höhern  Rondo-  und  So- 


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304 


Mischformen  und  verbundne  Formen. 


natenformen  zur  festern  Abrundung  dient.  Daher  nimmt  der  Ge- 
danke der  Einleitung  in  der  Regel  Satzform  und  keine  der  hö- 
hern und  umfassendem  Gestaltungen  Periode  u.  s.  w.)  an.  So 
war  der  vorstehende  Beet  ho  ven'sche  Gedanke  (No.  368)  ein  Satz; 
so  wird  die  Sonate  pathetique  mit  einem  —  wenn  auch  weiter  aus- 
geführten —  Satze  begonnen,  — 
Grave. 


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0  2  7 

der  in  der  Parallele  schliessl. 

Allein,  wenn  auch  der  Satz  der  Einleitung  nicht  der  vor- 
nehmste, nicht  —  oder  nicht  in  den  meisten  Fällen  der  Kern  des 
ganzen  Werks  sein  soll,  so  ist  er  doch  der  erste,  von  dem  der 
Komponist  ergriffen,  der  vom  Komponisten  in  der  ungebrochnen 
Energie  des  ersten  Wurfes  gefasst  und  hingestellt  wird.  Und  dies 
letztere  geschieht  überdem  in  dem  Vorgefühl,  mit  dem  Bewusstsein, 
dass  man  über  den  Satz  hinausschreiten,  dass  er  weichen  müsse 
der  kommenden  Hauptsache.  Beides  bedingt  nun  den  Inhalt  und 
die  Verwendung  des  Einleitungssatzes.  Er  bildet  sich  in  der  Regel 
scharf  und  stark,  sein  Motiv  festhaltend  und  nachdrücklich  ausprä- 
gend, ja  nicht  selten  schroff  aus,  in  der  ganzen  Ilerbigkeit  und 
Sprödigkeit  des  ersten  Angriffs  und  im  Gefühl  des  Bedürfnisses, 
schnell  zur  Vollendung  und  entschiednen  Wirkung  zu  kommen. 

Beiden  vorstehenden  Beispielen  wird  man  den  oben  bezeichneten 
Karakter  in  grösserra  oder  geringerm  Maasse  zuerkennen,  zumal 
wenn  man  sie  mit  den  Gedanken  des  nachfolgenden  Hauptstücks 
[zu  No.  369  vergleiche  man  No.  295)  vergleicht.  Selbst  die  weh- 
müthig  stille,  von  ängstlichem  Vorgefühl  der  Trennung  eingegebne 
Einleitung  zu  Beethoven's  unvergänglichem  Seelengemälde,  der 
Sonate  ,,Les  adieux,  Vabsence,  le  retour",  — 


Adagio. 


S70  < 


P  espr. 


£  £3 


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Die  Einleitung. 


305 


spricht  sich  in  schärfern  Accenten  und  gesteigert  aus,  während  im 
nachfolgenden  Hauptsatze  derselbe  Gedanke  — 


zwar  harmonisch  gewichtiger,  aber  in  allen  Stimmen  fliessender,  in 
der  Melodie  gleichmässiger  und  sinkend,  im  Rhythmus  weniger  scharf 
und  bald  zu  noch  grösserer  Ruhe  gewendet  erscheint. 

Dass  demungeachtet  in  besondern  Stimmungen  auch  das  Entge- 
gengesetzte stattfinden,  ein  sehr  stiller,  zarter  Satz  zur  Einleitung 
in  einen  scharf  gezeichneten,  mächtig  oder  leidenschaftlich  gebildeten 
Hauptsatz  dienen  und  durch  den  Gegensatz  denselben  noch  in  seiner 
Wirksamkeit  fördern  kann,  soll  nicht  unbemerkt  bleiben.  Ein  wenig- 
stens einigermassen  passendes  Beispiel  finden  wir  in  Mozart's 
geistvoller  vierhändiger  Sonate  in  Fmoll  und  dur*,  deren  stilles, 
tiefsinniges  Adagio  — 


wenigstens  in  den  einzelnen  Zügen  nicht  so  scharf  gezeichnet  ist, 
als  der  nachfolgende  Hauptsatz,  obwohl  es  den  Grundkarakter  der 
Einleitung  jedenfalls  insofern  festhält,  dass  sein  Hauptgedanke  in 
Einem  Zuge  mit  voller  Bestimmtheit  und  Befriedigung  hervortritt, 
während  der  Inhalt  des  nachfolgenden  Hauptstückes  vielmehr  in  dem 
ganzen  Verlauf  desselben  zur  Entwickelung  kommt. 

*  No.  i  im  siebenten  Hefte  der  Breitkopf-Hörtel'schen  Ausgabe  (No.  3  der 
neuen  Einzelansgabe). 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  20 


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306 


Misch  formen  und  verbundne  Formen. 


Ein  solcher  bestimmt  und  scharf  hingestellter  Einleitungssatz, 
zumal  wenn  er  sich  modulatorisch  nicht  ruhig  entfaltet,  wie  No.  372, 
sondern  —  wie  wiederum  im  Karakter  der  Einleitung  liegt  —  in 
kühner  oder  umhersuchender  Modulation  erst  dem  rechten  Stand- 
punkte, dem  Hauptton,  zustrebt,  bedarf  in  der  Regel  der  Wieder- 
holung, —  bisweilen  der  mehrmaligen,  so  wie  er  aus  gleichem 
Grunde  zu  nachdrücklichem  Festhalten  der  Motive  geneigt  ist,  — 
um  sich  recht  eindringlich  auszusprechen,  bevor  er  für  immer 
oder  für  längere  Zeit  dem  Hauptsatze  weicht.  So  wiederholt  sich 
No.  368,  nachdem  es  sich  von  Gmoll  nach  der  Dominante  von  C 
gewendet,  buchstäblich  in  Cmoll  mit  einer  Wendung  in  die  Domi- 
nante von  F;  No.  369  wird  ähnlich  in  der  Parallele,  £sdur,  auch 
No.  370  wird,  zu  noch  schmerzlicherm  Ausdrucke  gesteigert  und 
noch  unruhiger  modulirend,  wiederholt,  während  in  jenem  Mo zar  lo- 
schen Satze  (No.  371)  schon  der  volle  Ausdruck  seines  Inhalts  ge- 
funden war  und  mit  Recht  ohne  Wiederholung  weiter  geschritten 
werden  konnte. 

Ist  nun  der  Satz  der  Einleitung  genügend  ausgesprochen,  so 
muss  er  verlassen,  es  muss  von  ihm  zum  Hauptsatze  vorgedrungen 
werden.  Folglich  bedarf  es  eines  Ganges,  und  zwar  (S.  303)  in 
der  Regel  auf  die  Dominante  des  Haupttons. 

Dieser  Gang  wird  in  der  Regel  aus  dem  Satze  hervorgehn  und 
in  gedrängter  Kürze  zu  seinem  Ziele  führen.  Doch  kann  er  sich 
auch  satzartig  weiter  ausspinnen,  wie  in  dem  Moz art'schen  Ada- 
gio der  Fall  ist,  oder  er  kann,  wenn  der  vorangehende  Satz  kein 
günstiges  Motiv  zu  seiner  Anknüpfung  darbot,  sich  aus  neuen  Mo- 
tiven bilden. 

Der  Scbluss  kann  orgelpunktartig  zu  einem  Ruhemoment  aus- 
gedehnt werden,  ja,  die  Form  eines  Schlusssatzes  annehmen,  —  so 
Beethoven  in  der  Cmoll-Sonate  (No.  368),  wo  eine  dritte  Wie- 
derholung des  Einleitungssatzes  gangartig  auf  die  Dominante  und 
hier  zu  einem  Schlusssatze  führt,  — 


373  < 


* 


der  eine  Oktave  tiefer  wiederholt  wird. 

Endlich  kann  mit  dem  Schlussakkord  abgesetzt,  oder  von  hier 
an  in  rhythmischer  Bewegung,  gangweise,  in  harmonischer  Figura- 


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Das  sonatenartige  Rondo 


307 


lion  ohne  Unterbrechung  zum  Hauptsätze  fortgegangen  werden. 
Dies  Alles  bestimmt  .sich  nach  dem  Sinn  des  Ganzen  und  kann  nach 
allem  Vorausgegangnen  keiner  weitern  Erörterung  bedürfen. 


Zweiter  Abschnitt. 
Das  sonatenartige  Rondo. 

Die  höhern  Rondoformen  und  die  Sonatenform  haben  wir  bereits 
als  nächstverwandte  kennen  gelernt,  ja,  es  haben  sich  im  Laufe  der 
Untersuchung  schon  Momente  gezeigt,  —  z.  B.  in  den  neuen  Einlei- 
tungssätzen zum  zweiten  Sonatentheil  und  in  den  in  den  Anhängen  E. 
und  L.  betrachteten  Kompositionen,  —  wo  eine  Form  Miene  machte, 
in  die  andre  überzugehn.  Schon  damals  konnte  man  errathen,  dass 
die  beiden  an  einander  gränzenden  Formen  sich  irgendwo  auch  ver- 
mischen, —  ihren  Unterschied  aufheben  würden.  Dies  bleibt  uns 
hier  an  einigen  Beispielen  zu  betrachten,  deren  erstes  noch  nicht 
als  Mischform,  sondern  als  erklärender  Uebergang  zu  derselben  an- 
zusehn  ist. 

Wir  entnehmen  dieses  erste  Beispiel  dem  Finale  der  rei- 
zend beredtsamen  Gdur-Sonate  Op.  14  von  Beethoven.  Dieses 
Finale  ist  ein  Rondo  dritter  Form. 

Der  Hauptsatz  bildet  sich  in  anmuthiger  —  fast  barocker  Laure 
aus  diesem  Motiv,  — 


das,  in  der  höhern  Oktave  wiederholt  und  einen  vollkommnen  Schluss 
auf  G  machend,  den  ersten  Theil  des  Hauptsatzes  abgiebt;  den 
zweiten  beginnt  ein  eben  so  launiges,  kurz  abgebrochnes  Spiel  auf 
dem  Dominantakkorde,  worauf  das  Hauptmotiv  (No.  374)  wieder- 
holt und  zum  Schluss  geführt  wird.  Es  folgt  ein  eben  so  kurz  an- 
gebundner  erster  Seitensatz  und  die  vollständige  Wiederholung  des 
Hauptsatzes  mit  seinem  Schluss  in  Gdur.  Hier  hätte  nun  der  zweite 
Seitensatz,  in  Cdur,  unmittelbar  eintreten  können.  Beethoven 
führt  lieber  das  Spiel  des  Hauptsatzes  fort,  indem  er  den  Anfang 
seines  zweiten  Theils  von  der  Dominante  auf  die  Tonika  versetzt 
und  so  den  Schlussakkord  zum  Dominantakkorde  der  neuen  Tonart 
erweitert.  Hiermit  ist  die  Modulation  noch  inniger  vermittelt  und 
zugleich  das  barockste  Spiel  des  Hauptsatzes  mit  dem  sangvollern, 
zärtlichen  neuen  Seitensatze  in  unmittelbaren  Gegensatz  gebracht.  — 

* 

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30$ 


Mischformen  und  verbundne  Formen. 


Ist  nun  der  Seitensatz  vollständig  durchgeführt,  so  wird  nicht  aus 
ihm,  sondern  durch  das  Hauptmotiv  (No.  374)  der  Rückgang  von 
Cdur  in  den  Hauptton  bewerkstelligt.  —  Nach  Vollendung  des 
Hauptsatzes,  der  offenbar  zu  flüchtig  und  abgebrochen  für  den  Schluss 
einer  ganzen  Sonate  erscheint,  muss  nun  noch  ein  Anhang  gebildet 
werden.  Dies  leitet  sich  wieder,  wie  der  Uebergang  zum  zweiten 
Seitensatz  ein,  führt  —  nach  Fdur,  abermals  zum  Hauptmotiv,  und 
endlich  zu  einem  ganz  neuen,  weit  ausgeführten  und  wiederholten 
Schlusssatze,  nach  welchem  doch  noch  zu  allerletzt  das  Hauptmotiv 
wiederkehrt. 

Hier  machte  sich  also  vor  und  nach  dem  zweiten  Seitensatze 
das  Bedürfniss  fühlbar,  an  dem  Hauptsatze  festzuhalten  und — wenn 
auch  nicht  ihn  vollständig,  doch  seine  Theile  auf  andre  Modulations- 
stufen zu  versetzen.  Nur  haben  diese  Theile  bloss  die  Bestimmung, 
zu  verknüpfen,  zu  vermitteln;  in  allen  wesentlichen  Partien  steht 
die  Rondoform  unzweideutig  fest.  Dass  übrigens  ein  ganz  frem- 
der Schlusssatz  eingeführt  wird,  mag  ebenfalls  an  die  Sonaten-  oder 
fünfte  Rondoform  erinnern;  es  war  hier  nothwendig,  weil  Haupt- 
und  erster  Seitensatz  zu  flüchtig  zum  Abschluss,  der  zweite  Seiten- 
satz aber  zu  sehr  im  Gegensatz  mit  der  Grundstimmung  des  Ganzen 
war,  um  ein  günstiges  Scblussmotiv  zu  bieten. 

Das  zweite  Beispiel  führt  uns  nun  die  im  vorigen  nur  an- 
gedeutete Mischform  unzweideutig  vor.  Es  ist  das  Finale  der  be- 
reits bei  No.  256  angeführten  Sonate. 

Der  Hauptsatz  bildet  aus  diesem  Vordersatz  — 

Allegretto. 

einen  ersten,  auf  der  Tonika  schliessenden  Theil  (das  Ganze  hat 
einen  bequem  dahinschlendernden  Sinn,  der  nach  manchem  feuri- 
gem Aufgähren  immer  wieder  Herr  wird)  und  aus  diesem  einfach 
wiederholt  werdenden  Satz  — 


einen  zweiten  Theil,  der  also  abermals,  und  zwar  zweimal  auf  der 
Tonika  schliesst.  Der  erste  Theil  wird  in  einer  Unterstimme,  ge- 
gen die  der  Diskant  kontrapunktirt ,  dann  auch  der  zweite  Theil 
mit  Umkehrung  der  ersten  Abschnitte  (o  in  No.  376)  wiederholt, 


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Das  sonatenartige  Rondo. 


309 


mit  dem  zweiten  Abschnitte  (6)  wird  über  £moll  und  Ddur  nach 
ytdur  gegangen.  Hier  wird  geschlossen,  auf  dem  Schlusston  aber 
tritt  der  Seitensatz  in  D  ein,  dem  sich  auch  ein  Schlusssatz  anhängt. 

So  weit  hätten  wir  den  Anblick  eines  ersten  Theils  der  So- 
naten- oder  fünften  Rondoform  vor  uns;  allein  sofort  ändert  sich 
Alles.  Beethoven  hat  mit  dem  Gang  aus  dem  Seitensatz  und 
mit  dem  Schlusssatz  eine  Erregtheit  geweckt,  die  er,  ohne  den  Sinn 
des  Ganzen  zu  verletzen,  nicht  gewähren  lassen  kann.  Daher 
kommt  schon  der  Schlusssatz  — 


nicht  zu  einem  wirklichen  Schlüsse,  sondern  wendet  sich  bei  der 
Wiederholung  mit  dem  dritten  Akkorde  des  dritten  Taktes  auf  die 
Dominante  des  Haupttons,  die  noch  drei  Takte  lang  festgehalten 
wird  und  den  vollständigen  Hauptsatz  nach  sich  zieht;  gleichsam 
wie  die  dritte  oder  vierte  Rondoform,  nur  dass  diese  den  Schluss- 
satz nicht  kennen. 

Allein  auch  diese  Formen  werden  nicht  festgehalten.  Der  erste 
Theil  des  Hauptsatzes  wird  mit  einem  Kontrapunkt  in  der  Ober- 
stimme, ähnlich  wie  anfangs  —  nur  in  Moll,  wiederholt  und  dann 
gangartig  weiter  geführt  nach  £sdur.  Hier  mischt  sich  ein  ganz 
neuer  Satz  ein,  — 


bei  dessen  Eintritt  man  einen  zweiten  Seitensatz  erwarten  könnte. 
Allein  auch  hier  würde  weitere  Ausführung  des  heftig  andrängenden 
und  einschneidenden  Gedankens  von  dem  Sinn  des  Ganzen  entfrem- 
det haben.  Beethoven  schreitet  daher  wie  im  zweiten  Theil  der 
Sonatenform  fort.  Wie  zuvor  muss  der  erste  Abschnitt  des  Haupt- 
satzes (a  in  No.  375)  zu  einem  Gange  von  Es  nach  Craoll  dienen, 
wo  jener  neue  Satz  (No.  378)  sich  wieder  aufstellt,  —  dann  nach 
Fmoll,  wo  jener  wieder  anbebt,  ohne  zu  Ende  zu  kommen.  Diese 
Mischung  aus  Haupt-  und  neuem  Satz  führt  endlich  auf  die  Do- 
minante. 


377 


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310 


Mischformen  und  verbundne  Formen. 


Von  hier  folgt,  ganz  wie  in  der  Sonaten-  oder  fünften  Rondo- 
form, Wiederholung  von  Haupt-,  Seiten-,  Schlusssatz  mit  einem  aus 
dem  ersten  gebildeten  Anhange. 

Wir  sehn  also  eine  Komposition  vor  uns,  deren  erster  und 
dritter  Theil  durchaus  sonatenhaft  ist,  deren  zweiter  aber 

\)  eine  Wiederholung  des  Hauptsatzes  wie  die  dritte  und 

vierte  Rondoform, 
Ä)  den  Ansatz  zu  einem  zweiten  Seitensatze,  und 
3)  eine  sonatenartige  Durcharbeitung  aus  dem  Haupt-  und 
—  dem  neuen  Satze 
bringt,  —  unverkennbar  eine  Mischung  von  Sonaten-  und  Rondo- 
formen/die  gleichsam  ein  thalsächlicher  Beweis  von  der  Verwandt- 
schaft derselben,  ja  von  ihrem  Ursprung  aus  einander  ist,  jede  so 
weit  —  und  nicht  weiter  angewendet,  als  eben  der  besondre  Sinn 
dieser  Komposition  rathsam  macht. 

Ein  drittes  (oder  vielmehr  zweites)  Beispiel  giebt  das  Fi- 
nale der  ersten  Sonata  quasi  una  Fantasia  von  Beethoven, 
Op.  27,  in  £sdur. 

Der  Hauptsatz  ist  wieder  zweitheilig;  der  erste  Theil  schliesst 
nach  diesem  Vordersatz  — 


Allegro  vivace. 


im  Haupttone,  der  zweite  desgleichen ;  aus  dem  ersten  Abschnitte 
des  Hauptsatzes  (a),  besonders  aus  dessen  Schlüsse  (b)  wird  ein 
Gang  Über  Cmoll  und  Cdur  nach  F  gebildet,  und  hier  tritt  —  eine 
Art  von  Seitensatz  ein  — 


3S0 


mit  kaum  kenntlichem  Halbschlusse,  der  wiederholt  und  gangartig 
weiter  geführt  wird  zu  einem  Schlüsse  in  J?dur;  er  ist  das  reine 
Ergebniss  des  ruhlosen  Forttreibens,  das  sich  schon  im  Hauptsatz 
und  Gange  herausgestellt  hat  und  auch  den  Schlusssatz  (der  sich 
mehr  akkordisch  bildet)  durchdringt,  und  sogleich  über  den  Schluss 
in  die  Wiederholung  des  Hauptsatzes  führt. 

Allein  auch  hier  läuft  der  zweite  Theil  gangartig  aus  nach 
Gesdur.  Hier  tritt  nun,  aus  dem  Hauptmotiv  des  Hauptsatzes  her- 
ausgebildet, das  Thema  einer  Doppelfuge  hervor,  — 


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Das  sonatenartige  Rondo. 


311 


381 


§5£ 


das  —  sehr  frei  und  nur  zweistimmig  —  kurz  durchgeführt  wird 
und  gangartig  zur  Dominante  des  Haupttons  leitet.  Hier  erscheint 
der  Seitensatz,  — 


382 


i 





4 


fT3 


?.w- 


wird  in  Ces  und  i4smoll  wiederholt,  nach  B  und  Es  und  auf  die 
Dominante  B  geführt,  und  geht  sofort  in  den  Hauptsatz  zurück. 
Von  hier  bildet  sich  der  dritte  Theil  sonatenhaft  aus. 

Hier  liegt  uns  demnach  ein  noch  einfacherer  Fall  vor.  Der 
fremde  Satz,  der  im  vorigen  Beispiel  an  einen  zweiten  Seitensatz 
denken  Hess,  war  hier  unnöthig ;  der  zweite  Theil  hat  sich  streng 
sonatenhaft  aus  Haupt-  und  Seitensatz  gebildet,  und  nur  die  Wie- 
derholung des  Hauptsatzes  zwischen  erstem  und  zweitem  Theil  ist 
dem  Rondo  entlehnt;  dabei  müssten  wir  aber,  abgesehn  von  der 
Bildung  des  ersten  und  dritten  Theils,  an  ein  Rondo  zweiter  Form 
(in  schneller  Bewegung)  denken,  weil  von  einem  zweiten  Seitensatz 
nicht  einmal  eine  Spur  sichtbar  wird. 

Lockerer  gestaltet  sich  das  Finale  zu  Dussek's  Sonate  »Le 
retour  ä  Paris«. 

Der  Hauptsatz  (idsdur)  legt  sich  spielend  (obwohl  der  saftigen 
und  stets  an  das  Sentimentale  streifenden  Manier  Dussek's  getreu) 
in  breiten  Abschnitten,  in  drei  Theilen  (62  Takte  lang)  auseinan- 
der, fest  im  Haupttone  schliessend.  Ihm  folgt  : —  also  schon  nach 
Sonatenart,  wo  die  Hauptpartie  aus  mehrern  Sätzen  bestehen  kann, 
—  ein  zweiter  Salz  (8  Takte),  der  auf  der  Dominante  schliesst  und 
dessen  Wiederholung  gangartig  nach  der  Dominante  Es  führt. 

Hier  —  und  zwar  in  Moll  —  tritt  der  Seitensatz  auf,  führt 
aber  wieder  zu  einem  neuen  Satz  in  Es  dur,  und  von  diesem  führt 
ein  dritter  zum  ersten  (diesmal  in  Dur)  zurück.  Auf  dem  Schlusston 
knüpft  orgelpunktartig  ein  neuer  Gang  an,  nur  durch  die  Triolen- 
bewegung  mit  dem  Vorherigen  in  Einheit,  und  führt  zum  ersten 
Satze  der  Hauptpartie  zurück. 

Nach  seiner  vollständigen  Aufstellung  erscheint  in  der  Unter- 
dominante (Des)  in  periodischer  Form  ein  zweiter  Seitensatz,  dem 
sich  nun  —  der  zweite  Satz  der  ersten  Seitenpartie  anschliesst. 
Ein  Gang  führt  nach  dem  Haupttone  zurück. 


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312 


Misch  formen  und  verbundne  Formen. 


Hier  erscheinen:  zuerst  (in  /l.sinoll  der  erste  Satz  der  ersten 
Seitenpartie,  dann  gangartig  auslaufend  der  hauptsächliche  Inhalt 
des  ersten  Hauptsatzes,  endlich  der  dritte  Satz  der  ersten  Seiten- 
partie, der  wieder  gangartig  auf  die  Dominante  führt  und  den  we- 
sentlichen Inhalt  des  Hauptsatzes  bringt. 

Ein  schlussartiger  neuer  Gedanke  leitet  nun  das  Ende  des 
Ganzen  ein,  das  sich  (nach  Wiederholung  des  Gangs  aus  der  ersten 
Seitenpartie)  aus  dem  Hauptsatze  bildet. 

In  dieser  weiten  Komposition  (die  sich  in  allen  Theilen  eben- 
mässig  mit  dem  ersten  Satze  der  Hauptpartie  entwickelt  hat)  er- 
scheint vor  allem  die  Haupt-  und  erste  Seitenpartie  normal  rondo- 
mässig,  —  nur  dass  beide  aus  verschiednen  Sätzen  bestehn,  hierin 
also  an  dem  beweglichen  Reichthum  der  Sonate  Theil  nehmen. 

Nun  will  sich  eine  zweite  Seitenpartie  bilden.  Allein  in  den 
zahlreich  vorangegangnen  Sätzen  ist  das  Satzelement  schon  so  reich 
ausgeschöpft,  —  dazu  hat  sich  über  alle  Sätze,  bei  allem  Streben 
nach  Verschiedenheit  in  den  Motiven,  so  fühlbare  Monotonie  aus- 
gebreitet: dass  der  Komponist  mit  vollem  Recht  Bedenken  tragen 
musste,  noch  eine  zweite  Seitenpartie  —  und  zwar  im  Verhältniss 
zu  den  vorigen  Partien  wieder  aus  zwei,  drei  Sätzen  —  zu  voll- 
enden. Eben  so  wenig  konnte,  bei  der  Breite  und  geringen  modu- 
latorischen Regsamkeit  des  bisher  Gegebnen,  sofort  mit  dem  Haupt- 
satze nach  zweiter  Rondoform  geschlossen  werden.  Es  blieb  also 
die  sonatenartige  Fortführung,  die  Bildung  eines  zweiten  Sonaten- 
theils  der  günstigste  Weg.  Allein  nun  konnte  es  bei  der  Anzahl 
und  Breite  der  angeregten  Sätze  nicht  zu  eigentlicher  Durcharbei- 
tung kommen,  sondern  nur  zu  einem  Aneinanderreihen  von 
Sätzen  aus  verschiednen  Partien ;  und  dies  Aneinander  musste  um 
so  nothwendiger  in  den  dritten  Theil  oder  Schluss  hinübergehn,  weil 
das  Hauptmotiv  bereits  erschöpft,  und  auch  keiner  der  übrigen 
Sätze  zu  weiterer  Verarbeitung  und  zum  Schlüsse  sich  geneigt  er- 
weist. 

Aebnliche  Gestaltung  aus  gleichen  Gründen  weist  das  Finale 
von  K.  M.  Weber's  S.  287  erwähnter  iüdur-Sonate,  das  der  Be- 
trachtung des  Jüngers  überlassen  bleibe. 

Fassen  wir  nochmals  das  Wesentliche  aller  erwähnten  oder 
noch  hierher  gehörigen  Fälle  zusammen,  so  beruht  es  auf  einer  Ver- 
mischung der  Rondo-  und  Sonatenfonn,  auf  einer  Gestaltung,  die 
sich  bald  diesem,  bald  jenem  Prinzip  anlehnt,  weil  der  Inhalt  weder 
an  dem  einen,  noch  am  andern  vollkommen  Genüge  finden  konnte. 
Auch  hier,  wie  überall,  ist  also  die  Form  nicht  willkürlich  ergriffen, 
—  oder  wo  es  geschieht,  zeigt  es  sich  gewiss  irgendwie  von  Nach- 
theil, —  sondern  durch  den  Inhalt  nothwendig  bedingt.  Entweder 


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Die  figurale  und  fugenartige  Sonatenform.  313 


ist  der  Sinn  des  Ganzen  ein  rondomässiger,  wie  jenes  bequem  da- 
hinsei] lendernde  Finale  (No.  375)  von  Beethoven,  der  aber  von 
Zeit  zu  Zeit  energischer  und  darum  sonatenhaft  einheitvoll  sich 
aufrafft;  oder  es  erweisen  sich  die  einzelnen  Partien,  wie  im  Düs- 
se k'schen  Falle,  zu  bedeutend  für  kleine  und  wiederum  zu  ange- 
füllt für  grosse  Rondoform,  dabei  aber  ungeeignet  für  rechte  sona- 
tenhafte  Durcharbeitung,  so  dass  eine  Mischung  aller  dieser  nur 
bedingt  geeigneten  Formen  eintritt.  Sogar  in  der  Zusammenstellung 
eines  grössern  Ganzen  kann  gegründeter  Anlass  zu  solcher  Misch- 
form liegen ;  auch  dies  mag  wohl  in  beiden  oben  erwähnten  Fällen 
stattgefunden  haben. 

Für  die  Lehre  hat  diese  Mischform  die  wichtige  Bedeutung, 
dass  erst  durch  sie  die  beiden  verwandten  und  doch  wieder  wesent- 
lich geschiednen  Formen  gegen  einander  frei  und  vollendet  werden, 
indem  jede  sich  so  weit  verfolgen  lässt,  dass  sie  in  die  andre  über- 
greift, und  bei  noch  weiterem  Fortschreiten  —  sich  in  die  andre 
verwandeln  mtisste.  Hiermit  ist  also  die  Vollständigkeit  der  beiden 
Formengebiete  nach  ihrer  Richtung  gegen  einander  erwiesen. 

Zugleich  ist  hiermit  gerechtfertigt,  dass  diese  letzten  Gestalten 
weder  bei  dem  Rondo,  noch  bei  der  Sonatenform,  sondern  erst  nach 
beiden  behandelt  worden. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  flgurale  und  fugenaiüge  Sonatenform. 

Schon  vielfältig  haben  wir  bei  der  Sonatenform  Erinnerungen 
an  die  Fuge,  Benutzung  dieser  energischen  Gestaltungs weise  ge- 
funden, noch  zuletzt  in  jenem  Beethoven'schen  i&dur-Finale  bei 
No.  381.  Die  Fugenarbeit  trat  zunächst  da  in  die  Sonatenform, 
wo  diese  sich  zu  ihrer  höchsten  Energie  erhob,  wo  sie  ihre  Gedan- 
ken oder  einen  derselben  stetig  durcharbeitete,  —  im  zweiten  Theile. 
Dagegen  traten  im  ersten  und  dritten  Theile  die  Sätze  mehr  lied- 
förmig,  und  in  ihrer  Verknüpfung  mehr  rondomässig  (mit  den  schon 
bekannten  Unterschieden  vom  eigentlichen  Rondo) ,  nämlich  an  ein- 
ander gereiht,  als  fugenmässig,  nämlich  durch  und  mit  einander  ver- 
arbeitet, auf. 

Allein  ein  Fugenthema  oder  das  Doppelthema  einer  Doppelfuge 
ist  auch  ein  Satz,  und  eine  ganze  Durchführung  ist  ebenfalls  für 
eine  zusammengehörige  Partie,  mithin  für  geeignet  zu  achten,  den 


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314 


Mischformen  und  verbundne  Formen 


Haupt-  oder  auch  Seitensatz  in  der  Sonaten  form  abzugeben ;  — 
gleichviel  für  jetzt,  ob  man  sich  oft  oder  jemals  geneigt  finden  wird, 
eine  so  energische  Form  für  den  Seitensatz  zu  verwenden,  da  der 
Natur  der  Sache  nach  (S.  282)  die  höchste  Energie  dem  Hauptsatze 
zuföllt. 

Ja,  endlich  wissen  wir  längst  (Th.  II,  S.  193),  dass  auch  die  Fi- 
guralformen  fähig  sind,  selbständig  abgeschlossne  Massen,  die  also  für 
Partien,  —  im  freien  und  höhern  Sinn  des  Wortes  für  Sätze  geachtet 
werden  dürfen,  zu  bilden.  Wir  sehn  voraus,  dass  dergleichen  Mas- 
sen ebenfalls  Partie  eines  Sonatensatzes  sein  können ;  und  so  öffnet 
sich  hier  wieder  ein  weiter  Gesichtskreis ,  eine  grosse  Reihe  von 
Gestaltungen,  die  ihren  Ursprung  aus  einer  Verschmelzung  der  Fi- 
gural-  und  besonders  Fugenform  mit  der  Sonatenform  haben ,  die 
sich  (wie  wir  an  dem  Bee tho ven'schen  Beispiel  S.  310  gesehn) 
in  das  sonatenartige  Rondo  hinein  verlieren,  dem  eigentlichen  Rondo 
aber,  bei  seiner  Neigung  zu  satzartiger  und  liedförmiger  Abrun- 
dung,  fern  —  wenn  auch  nicht  absolut  versagt  bleiben. 

Allein  von  diesen  Formen  wird,  wenn  wir  unserem  jetzigen 
Kreise  treu  bleiben  wollen,  hier  nur  Weniges  zur  Sprache  kom- 
men. Bei  der  Unfähigkeit  des  Klaviers,  polyphone  Sätze  mit  sol- 
cher Fülle  und  Wirksamkeit  zur  Aussprache  zu  bringen ,  wie  das 
Quartett,  Orchester  und  der  mehrstimmige  Gesang  vermag,  sind 
jene  Mischformen  weit  weniger  in  Klavierkompositionen,  als  in  Or- 
chester- oder  auch  Quartettwerken  angewendet  worden.  Eher  hat 
man  sich  bereit  gefunden ,  ganze  Sätze  einer  Klavierkomposition 
etwa  der  Fugenform  zu  überweisen,  wie  z.  B.  Beethoven  die  Fi- 
nale's  der  Sonaten  Op.  106  und  110,  als  die  eine  Partie  eines 
Sonatensatzes  mit  allen  Mitteln  des  Klavierspiels  satzartig,  und  die 
andre  in  ungünstigerer  Ausgestaltung  fugenartig  zu  bilden. 

Die  erschöpfendere  Behandlung  dieser  Formen  überlassen  daher 
auch  wir  —  dem  wohl  begründeten  Beispiel  der  Praxis  folgend  — 
der  Lehre  vom  Instrumentalsatz  im  vierten  Theile  des  Lehrbuchs, 
und  werfen  (mehr  zur  Erinnerung  und  Anfrage)  nur  auf  drei  Kla- 
vierwerke einen  flüchtigen  Blick. 

Das  erste  ist  der  Hauptsatz  der  schon  S.  305  erwähnten 
Sonate*  von  Mozart.  Nach  einem  im  selben  Tempo  einleitenden 
homophonen  Satze,  der  uns  hier  nicht  angeht,  tritt  als  eigentlicher 
Kern  der  Hauptpartie  der  erste,  bald  gangartig  auslaufende  poly- 
phone Satz  auf,  — 


*  Die  Sonate  ist  vierhändig  geschrieben  und  soll  ursprünglich  für  ein 
mechanisches  Flötenwerk  bestimmt  gewesen  sein ;  der  Inhalt,  so  anziehend  er 
durchaus,  so  grossartig  er  stellenweis  ist,  widerspricht  dem  nicht. 


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Die  figurale  und  fugenartige  Sonaten  form. 


315 


Allegro. 


der  ganz  normal  über  G  nach  Cdur  zum  Seitensatze  führt.  Auch 
dieser  — 


384  < 


ist  polvphon  gestaltet;  er  führt  gangartig  zum  Schlüsse  des  ersten 
Theils. 

Weiter  ist  hier  nichts  zu  bemerken.  Der  einleitende  Satz 
führt  in  den  zweiten,  dann  in  den  dritten  Theil,  macht  sich  auch 
am  Schlüsse  nochmals  geltend;  dass  der  zweite  Theil  figurativ 
gebildet,  versteht  sich  von  selbst,  da  er  im  ersten  Theile  keinen 
andern  Inhalt  für  sich  vorgefunden;  kurz,  das  ganze  Tonstück  ist 
durchaus  sonatenförmig,  nur  dass  seine  Sätze  vorherrschend  poly- 
phon sind,  wie  die  Sätze  der  eigentlichen  Sonaten  (z.  B.  No.  379) 
beiläufig.  Es  mag  gelegentlich  erinnern  an  polyphone  Satzbildung ; 
reifere  Ergebnisse  des  hier  bloss  Angedeuteten  bringt,  wie  gesagt, 
der  vierte  Theil. 

Das  zweite  Werk  ist  der  erste  Satz  von  Beethove n's 
Cmoll-Sonate,  Op.  4M. 

Hier  tritt  folgender  Satz  — 


erst  einleitend  und  gangartig  verlaufend,  dann  in  vollkommner  ho- 
mophoner Ausgestaltung  — 


386 


jT-ig-if-fg 


auf,  wird  wiederholt  und  weiter  zum  Schluss  geführt. 


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316 


Mischformen  und  verbundne  Formen. 


Aber  so  bedeutsam  und  gewichtig  er  ist,  so  wenig  verlangt  er 
—  und  der  Sinn  des  Ganzen,  den  wir  hier  jedoch  nicht  mit  erwä- 
gen können,  weitere  satzartige  und  damit  vorherrschend  homo- 
phon Ausbildung ;  eher  würde  er,  wie  sich  schon  anfangs  gezeigt 
hat,  gangartig  weiter  gehn,  wenn  das  nicht  noch  zu  früh  und  zu 
oberflächlich  für  das  Ganze  wäre.  Auch  ein  neuer  Satz  kann  noch 
nicht  eintreten,  denn  jener  gewichtige  Gedanke  ist  noch  nicht  durch- 
gesprochen. Folglich  bildet  Beethoven  aus  seinem  Hauptgedan- 
ken ein  Doppelthema,  — 


387 


I 


das  mittels  seines  letzten  Gliedes  (a)  weiter  nach  2&dur  geführt, 
hier  in  der  Umkehrung  wiederholt,  und  nach  As  dur  geführt,  hier 
abermals  umgekehrt  wiederholt  wird. 

Das  ist  der  Hauptsatz.  Nach  der  ersten  homophonen  Auf- 
führung ist  er  polyphon  geworden  und  bietet  den  Anblick  einer 
Fugendurchführung,  —  nur  dass  die  Eintritte  der  Stimmen,  der 
ganze  Modulationsgang  von  der  Fugennorm  durchaus  abweichen. 
Der  mächtige,  sturraartige  Einherschritt  des  Ganzen  gestattete  nicht 
jenes  Fugenschaukelspiel  zwischen  Cmoll  und  Gmoll,  sondern  führte 
vom  Haupttone  sogleich  in  die  überlegne  Dur-Parallele.  Nun  konnte 
zum  Schluss  nicht  mehr  in  diese  übergegangen  werden,  folglich  ver- 
senkte sich  Beethoven  in  deren  ernstere  Unterdominante. 

Hier  erscheint  der  durchaus  homophone  Seitensatz.  Er  ist 
nothwendig,  damit  man  nach  dem  Sturm  des  Hauptsatzes  getröstet 
aufathme ;  aber  nur  Einen  Moment  der  Beruhigung  kann  er  gewäh- 
ren, jenen  mächtigen  Grundgedanken  und  Grundzug  nicht  länger 
aufhalten.  Derselbe  tritt  vielmehr  (unter  einer  Gegenstimme  in 
Sechzehnteln  harmonischer  Figuration)  breiter  und  mächtiger  im 
Basse,  dann  reicher  in  den  Gegenstimmen  ausgebildet  — 


388 


I 


i 


i 


-m- 


3 


4* 


tr 


im  Diskant  auf  und  beschliesst  so  den  ersten  Theil. 


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Die  figurale  und  fugenartige  Sonaten  form. 


317 


389 


Der  zweite  Theil  führt  mit  demselben  Gedanken  in  die 
zuvor  versäumte  Dominante  Gmoll  und  bildet  hier  aus  dem  ersten 
Thema  (No.  385)  und  der  Vergrößerung  seines  ersten  Abschnitts 
wieder  ein  Doppelthema,  — 

(Eine  Oktave  tiefer.)  tr 

das,  in  fortwahrenden  Umkehrungen  auf  Gy  C,  Fmoll  auftretend, 
wieder  den  Anblick  einer  freien  Fugendurchführung  gewährt,  gang- 
artig auf  die  Dominante  zum  Orgelpunkt  und  von  da  —  in  den 
dritten  Theil  führt.  Hier  wird  der  Hauptsatz  vorerst  wieder 
homophon  aufgestellt,  dann  in  derselben  Weise  wie  im  ersten 
Theile  nach  Fugenart,  jedoch  ganz  frei  —  diesmal  auf  Fmoll,  Bmoü 
und  Desdur  auftretend  —  durchgearbeitet,  worauf  alles  Weitere  im 
Hauptton,  wie  zuvor  in  ylsdur,  folgt. 

Auch  hier,  wie  bei  Mozart,  ist  die  Sonatenform  vollkommen 
ausgeprägt  (statt  der  Schlusssätze  wird  das  Ende  durch  einen  mäch- 
tig ausgrollenden  Anhang  bekräftigt),  nur  dass  der  Hauptsatz,  folg- 
lich auch  der  zweite  Theil  von  der  Fugenform  Wendungen  und 
Kräfte  entlehnt  hat,  die  in  der  von  Grund  aus  mehr  homophonen 
und  liedmässigen  Sonatenform  nicht  zu  finden  wären.  Wiederum 
hat  sich  aber  die  Fugenform  dem  Sinn  des  Ganzen  und  seiner  all- 
gemeinen Ausgestaltung  bequemt.  Namentlich  hat  der  Komponist 
aus  der  fugenmässigen  Arbeit  stets  wieder  in  das  Homophone  zu- 
rücklenken, die  Modulation  nicht  nach  den  abstrakten  Gesetzen  der 
allgemeinen  Fugenform,  sondern  nach  dem  besondern  Sinn  dieser 
seiner  Tondichtung  bestimmen,  in  den  polyphonen  Partien  aber  sich 
an  der  Zweistimmigkeit  gentigen  lassen  müssen,  da  die  Eigenschaften 
des  Klaviers  (S.  22)  keine  mehrstimmige  Durchführung  in  solcher 
Energie,  wie  dieses  Werk  vor  vielen  foderte,  gestatten. 

Das  dritte  Werk  ist  das  Finale  von  Beethoven's  Fdur- 
Sonate,  Op.  10.  In  diesem  reizenden  Fa-fresto- Impromptu  wird 
mit  Sonate  und  Fuge  muthwilliger  Scherz  getrieben;  die  letztere 
nimmt  sich  dabei  aus,  wie  ein  Greis,  den  ein  Kind  am  Bart  zupft, 
—  man  könnte  allenfalls  bestreiten,  dass  nur  ein  Gedanke  an  Fuge 
dabei  sei. 

Das  Finale  (Presto)  setzt  dieses  Thema  an,  — 


beantwortet  es  auf  den  letzten  Taktschlägen  in  der  höhern  —  Oktave, 

/ 

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318 


Mischformen  und  verbundne  Formen. 


dann  aber  wieder  mit  einer  höhern  Stimme  auf  der  Dominante.  Von 
hier  wird  mit  dem  Motiv  der  letzten  Takte  (o)  gangartig  und 
leicht  weiter  gearbeitet  und  mit  diesem  Satze  — 


i 


r      r  r- — ^ 

geschlossen.  Offenbar  ist  er  ein  Nachhall  aus  dem  Thema;  will 
man  ihn  Schlusssatz,  oder  gar  Seitensatz  nennen?  —  Oder  soll 
man  ein  im  Gange  aus  der  ersten  Durchführung  entstehendes  und 
figurirt  wiederholtes  Sätzchen  — 


m 


392 


(das  aber  offenbar  aus  dem  Hauptsatz  und  seinem  Gange  hervor- 
getreten ist)  für  den  Seitensatz  und  No.  391  für  den  Schlusssatz 
nehmen?  —  Es  ist  alles  mit  einander  Ein  Muthwille. 

Der  zweite  Theil  stellt  sich  mit  einem  Gang  aus  dem  verkehr- 
ten Motiv  a  in  ylsdur,  bringt  hier  zweimal  das  Thema  (No.  390) 
auf  der  Tonika  und  arbeitet  sich  etwas  eigensinnig  mit  demselben 
Motiv  nach  B}  F,  C,  G,  Z)moll  und  auf  dessen  Dominante  A,  um 
dann  hell  und  hold  und  lieblicher  gestaltet  in  Z)dur  den  Schlusssatz 
(No.  391,  —  der  etwaige  Seitensatz  No.  392  kommt  nie  wieder 
zum  Vorschein)  zu  bringen.  Mit  seiner  letzten  Hälfte  wird  nun 
weiter  gearbeitet  zum  Orgelpunkt  auf  der  Dominante. 

Hier  bringt  der  dritte  Theil  das  Thema  (No.  390)  in  der  tief- 
sten Oktave,  mit  einem  frischern  Gegensatze,  — 


wiederholt  es  unter  Umkehrung  der  Stimmen  auf  derselben  Stufe, 
wiederholt  diese  ganze  Partie  in  Gmoll,  dann  in  2?dur,  wo  das 
Thema  zuletzt  figurirt  und  weiter  geführt  wird  zum  Schlusssatze 
No.  391.  Auch  dieser  erfahrt  ausführlichere  Behandlung ;  —  und 
so  hat  sich  das  Ganze  zu  Ende  gespielt  und  gescherzt,  man  würde 
ohne  Hülfe  des  zuletzt  dreinschlagenden  Fortissimo  kaum  gewiss 
sein,  das  eben  jetzt  geschlossen  wäre.  — 


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Zusammenstelluny  verschiedner  Sätze  zu  einem  grossem  Ganzen.  319 

Dass  nun  diese  Mischform  von  Sonate  uud  Fuge  noch  ganz 
andre  Ausführungen  zulässt,  ist  leicht  zu  ermessen.  Auch  sie  — 
und  vornehmlich  sie  —  wird  im  vierteu  Theile  vollständiger  in  Be- 
tracht kommen*. 


Vierter  Abschnitt. 

Zusammenstellung  verschiedner  Sätze  zu  einem  grössern 

Ganzen. 

Von  diesem  Abschnitt  aus  haben  wir  einen  Blick  auf  die  Kla- 
vierkompositionen zu  werfen,  die  aus  mehrern  für  sich  bestehenden 
und  für  sich  abceschlossnen  oder  doch  nur  mit  formell  unvvesenl- 
iichen  Bindegliedern  an  einander  gehängten  Tonstücken,  —  nun 
wieder  im  weitesten  Sinn  »Sätze«  genannt,  —  bestehen. 

Die  Formen  dieser  einzelnen  Sätze  sind  uns  nunmehr  bekannt; 
einzelne  beiläufige  Entlehnungen  aus  andern  Gebieten  (z.  B.  die 
Einmischung  rezitativischer  Sätze  in  Seb.  Bach's  chromatischer 
Phantasie  und  Beetho  ven's  /)moll-Sonate,  Op.  31)  können  als  Sel- 
tenheiten, die  keinen  wesentlichen  Eintluss  auf  die  Form  im  Ganzen 
äussern,  dahingestellt  bleiben.  Wir  haben  es  daher  nur  mit  Zu- 
sammenstellung der  Sätze  zu  thun;  es  fragt  sich: 

1)  welche  Sätze  können  und  sollen  zusammengestellt  werden  ? 

2)  nach  welcher  Ordnung  und  Weise, 

3)  aus  welchem  Grunde  soll  dies  gcschehn? 

Hier  wird  aber  sogleich  einleuchtend,  dass  der  letzte  Punkt, 
von  dem  aus  offenbar  auch  die  andern  ihre  letzte  Entscheidung  zu 
gewärtigen  haben,  auf  nichts  Anderem,  als  dem  Inhalte,  der  Tendenz 
jedes  besondern  Werkes  beruhen  kann.  Warum  wird  nach  einem 
ersten  selbständigen  Satz  [im  obigen  Sinn  des  Wortes),  den  wir 
komponirt  und  —  der  Form  nach  —  vollkommen  abgeschlossen 
haben,  ein  zweiter  und  vielleicht  noch  dritter  und  vierter  Satz  not- 
wendig? Was  bewegt  den  Komponisten,  seinem  Werke  zwei,  drei 
selbständige  und  verschiedne  Sätze  auzusinnen  ?  Und  worauf  beruht 
die  innere  Einheit  dieser  Sätze,  die  zwar  verschieden  sein  müssen 
(sonst  fielen  sie  ja  in  Einen  Satz  zusammen),  doch  aber  wiederum 
durch  ein  inneres  Band  vereinigt  zu  einem  grössern  Ganzen? 

Der  äusserliche  Bescheid:  man  schreibe  ein  Tonstück  (z.  B. 
eine  Sonate)  in  drei  u.  s.  w.  Sätzen,  weil  es  eben  solche  Tonstücke 
gebe,  kann  uns  nicht  tröstlich  und  hülfreich  sein.  Er  erklärt 
nichts,  —  denn  wie  ist  man  jemals  darauf  gekommen,  dergleichen 
Kompositionen  zu  bilden?  —  und  hilft  uns  nicht  Über  die  Gefahr 

*  Hierzu  der  Anhang  M. 


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320  Mischfarmen  und  verbnndne  Formen. 

einer  ungeschickten  und  unfruchtbaren  Nachahmerei,  über  die  stete 
Gefahr  ewigen  Misslingens  hinaus,  die  dem  bewusstlo9en ,  unauf- 
geklärten Nachmachen  droht. 

Es  ist,  wie  gesagt,  klar,  dass  jene  Fragen  nur  aus  der  An- 
schauung des  Inhalts  jeder  besondern  Komposition  erledigt  werden 
können.  Wenn  die  Erregung,  die  Empfindung,  die  Idee  des  Kom- 
ponisten in  dem  einen  ersten  Satze  nicht  vollständig  zur  Aussprache 
gekommen,  so  bedarf  es,  damit  dies  geschehe  und  der  Geist  des 
Komponisten  wie  des  Hörers  sein  Genügen  habe,  eines  zweiten 
oder  mehrerer  Sülze,  die  mit  dem  ersten  zusammengenommen  den 
einen  Zweck  haben,  also  eine  Einheit,  ein  umfassenderes  Ganzes 
bilden,  dem  jeder  Bestandtheil  (Satz)  unbeschadet  seiner  Abschlies- 
sung  für  sich  als  blosser  Theil  zugehört. 

Ob  also  nach  dem  ersten  Satze  noch  fernere,  —  ob  zu  dem 
ersten  oder  einem  andern  eine  Einleitung  erfoderlich  und  welchen 
Zweck  und  Inhalt  die  verschiednen  Sätze  haben,  das  bestimmt  sich 
nach  dem  Sinn  des  Ganzen.  Hierbei  gelangt  man  allerdings  wieder 
zu  Grundgedanken  oder  Hauptrichtungen,  da  gewisse  Bedingungen 
und  Verhältnisse  sich  in  ganzen  Reihen  von  Kompositionen  wieder- 
holen müssen;  so  bildet  sich  z.  B.  für  die  Sonate  eine  gewisse 
Grundgestalt  aus,  die  fast  das  ganze  Gebiet  beherrscht,  und  von 
der  die  seltenen  Abweichungen  nur  als  Ausnahmsfälle  angesehn 
werden  dürfen. 

Allein  diese  ganze  Erörterung  muss  der  Kompositionslehre  nach 
deren  durchaus  auf  Ausübung  gerichteter  thatsächlicher  Ten- 
denz versagt  bleiben ;  sie  findet  als  ausschliesslich  kunslphiloso- 
phische  ihre  gebührende  Stelle  in  der  Musikwissenschaft.  Nur 
da  ist  sie  gründlich  durchzuführen ;  hier  kann  nur  so  viel  Notiz 
gegeben  werden ,  als  zur  Einweisung  in  die  Praktik  erfoderlich 
und  ohne  vorgängige  kunstphilosopbische  Begründung  möglich  ist. 

Vervollständigung  hat  auch  diese  Formenreihe  im  vierten  TheiK 
in  der  fernern  Instrumentallehre,  zu  erwarten. 


Fünfter  Abschnitt. 
Die  Sonate  in  drei  Sätzen. 

Schon  früher  (S.  202)  haben  wir  den  Unterschied  angemerkt, 
den  wir  zwischen  Sonatenform,  —  der  uns  nun  bekannten  Ge- 
staltung eines  für  sich  abgeschlossnen  Satzes,  —  und  Sonate,  so 
auch  zwischen  Sonatinenform  und  Sonatine  zu  machen  haben. 


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■*  Die  Sonate  in  drei  Sätzen.  :V21 

Die  Sonate  ist  bekanntlich  eine  Komposition,  die  aus  mehrern* 
selbständigen,  aber  dann  wieder  als  Theile  eines  grössern  Ganzen 
(eben  der  Sonate)  einheitvoll  zusammengehörigen  SMzen  besieht. 

Die  Sonatine  ist  ein  in  gleicher  Weise  zusammengesetztes** 
Werk,  nur  von  leichterem  Gehalt  und  beschränkterer  Ausdehnung. 

Bei  der  erstgenannten  Form  unterscheidet  man  ferner  die  eigent- 
liche Sonate  von  der  grossen  Sonate;  letztere  hat  einen  be- 
deutendem, grossartigern  Inhalt  und  in  der  Regel  mehr  Satze,  als 
die  eigentliche  Sonate.  Dass  dieser  Unterschied,  wie  auch  der  von 
Sonatine  und  Sonate  nicht  allzuschnrf  durchzuführen  ist,  sieht  man 
voraus;  ra  der  That  werden  von  Komponisten  und  Lehrern  die 
Benennungen  ziemlich  willkürlich  durch  einander  gebraucht,  und 
namentlich  versagt  man  sich  für  sein  Werk  bald  den  prunkenden 
Namen  einer  grossen  Sonate,  bald  sucht  man  ihn  hervor,  um  etwa 
jenem  ein  vermeintlich  grösser  Ansehn  zu  geben.  Uns  kann 
hier  wie  Uberall  an  scharfer  Durchfechtung  der  Formgränze 
nichts  gelegen  sein;  wir  wissen  längst,  dass  scharfe  Abgren- 
zung der  Kunstformen  dem  freien  Wesen  der  Kunst  zuwider  ist 
und  auf  jeder  Gränze  die  Formen  in  einander  Übergehn.  Eine  Ab- 
iheiluna  vollends  nach  der  mindern  oder  mehrern  Grossartiskeit  des 
Inhalts  ohne  absolute  äussere  Merkmale  ist  gewiss  nicht  scharf 
durchzuführen,  und  wenn,  jedenfalls  ohne  allen  Vortheil. 

Wir  haben  uns  vielmehr  auf  die  Unterscheidung  von  zwei  Rei- 
hen der  Sonatengebilde  zu  beschranken,  die  sich  mit  Bestimmtheit 
und  Erfolg  durchsetzen  lässt.  Es  ist  die  der  regelmässigen  und 
der  ausnahmsweisen  Gestalt  der  Sonate.  Die  regelmässig  ge- 
bildete Sonate  besteht  aus  drei  oder  vier  verschiednen  Sätzen, 
denen  sich  bisweilen,  als  Nebensatz,  eine  Einleitung  in  den  ersten 
—  oder  auch  letzten  Satz  zufügt.  Sie  ist  es,  die  wir  hier  zuerst 
betrachten. 

Wenn  die  Sonate  sich  aus  drei  Sätzen  zusammenstellt,  so 
sind  dieselben  in  der  Regel  schon 

durch  das  Tempo 

von  einander  unterschieden ;  der  mittlere  Satz  wird  in  der  Regel  im 
langsamem  Tempo  (als  Adagio,  Andante  u.  s.  w.)  geschrieben,  und 
bietet  gleichsam  einen  Ruhepunkt,  ein  Moment  zur  innem  Samm- 
lung zwischen  den  lebhaftem  (als  Allegro,  Presto  u.  s.  w.)  ersten 
und  letzten  Sätzen. 


*  Bei  altern  Komponisten  führt  auch  oft  ein  einzelner  Satz  den  Namen 
Sonate,  Klang-  oder  Tonstück. 

**  Auch  die  Sonatine  beschränkt  sich  öfters  auf  einen  einzigen  Satz  in  So- 
natinenform,  so  dass  dann  der  obige  Unterschied  wegfallt. 

Marx,  Kv/mp.-L.  III.  5.  Anfl.  21 


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322  Mischformen  und  verbundne  Formen. 

Obgleich  hier  auf  tiefere  Erörterung  des  Warum  hat  verzich- 
tet werden  müssen,  so  ist  doch  so  viel  klar,  dass  dieser  Gegen- 
satz von  lebendigerer  und  gemässigter  Bewegung,  und  der  Ruhe- 
moment zwischen  erregten  Partien  günstig  und  wohlthuend  für  den 
Hörer,  naturgemäss  im  Gemüthe  des  Komponisten  eintritt.  Wenn 
er  daher  bisweilen  weniger  scharf  durch  das  Tempo  hervorgehoben 
wird,  so  sucht  er  sich  dann  durch  andre  Mittel  zu  verstärken.  So 
ist  der  Mittelsatz  der  Fdur-Sonate  von  Beethoven,  Op.  10,  Me- 
nuetto  Allegretto  überschrieben,  —  und,  wenn  der  Verfasser  nicht 
etwa  dieses  Werk  des  Komponisten  missversteht,  so  muss  seine 
Bewegung,  Viertel  gegen  Viertel,  ja  fast  Takt  gegen  Takt  gemes- 
sen, eine  lebhaftere  sein,  als  die  des  ersten  und  letzten  Satzes. 
Demungeachlet  wirkt  dieser  Mittelsatz  durch  Ruhe  und  Gleichmas- 
sigkeit des  Rhythmus,  der  Melodie  und  Modulation  beruhigend  im 
Gegensatz  zu  dem  strebend,  verlangend-andringenden  ersten  und 
dem  launig  kecken  letzten  Satze. 

Der  Gegensatz,  der  in  den  drei  Partien  der  Sonate  liegt,  ist 
klar;  aber  ebensowohl  die  Einheit,  die  sich  aus  der  Rückkehr  zu 
der  schnellen  Bewegung  ergiebt.  Es  ist  das  Umgekehrte  zu  dem 
Gegensatz,  den  wir  zu  allererst  entdecken  mussten :  Ruhe,  Bewe- 
gung, Ruhe.  Dass  auch  diese  Form  des  Gegensatzes  sich  gelegent- 
lich in  der  Anordnung  einer  Sonate  ausgeprägt  hat,  werden  wir 
später  bemerken.  In  der  Regel  ist  aber  begreiflich,  dass  dem  ersten 
Satz  in  jeder  Hinsicht,  auch  in  Bezug  auf  Bewegung,  höhere 
Energie,  also  auch  schnelleres  Tempo  zu  Theil,  und  hiermit  die 
Umkehrung  jenes  Gegensatzes  nach  dem  Wesen  der  Sache  geboten 
wird. 

Eine  »weite  Scheidung  der  drei  Sätze  liegt 

in  der  Tonart 

derselben.  Man  giebt  —  es  ist  uns  auch  nicht  eine  Ausnahme  be- 
kannt —  dem  zweiten  oder  langsamem  Satz  eine  andre  Tonart, 
als  dem  ersten :  der  dritte  Satz  muss  dann  als  Schluss  des  Ganzen 
als  Finale,  wie  er  oft  genannt  wird)  wieder  die  Tonart  des  er- 
sten Satzes  haben,  so  dass  diese  als  Hauptton  des  ganzen  Werks 
einheitvoll  abschliesst.  Auch  in  Hinsicht  der  Modulation  wird  also 
neben  dem  WTechsel  auch  die  Einheit  des  Ganzen  festgehalten  und 
der  Gegensatz  von^  * 

Ruhe,  Bewegung,  Ruhe 

durch  die  gleich  bedeutenden  Momente  von 

Hauptton ,  Ausweichung .  Hauptton 

ausgesprochen.  Nur  das  geschieht  bisweilen,  dass,  wenn  der  erste 
Satz  in  Moll  stand,  das  Finale  in  derselben  Tonart  in  Dur  gesetzt 
wird.    Wir  wissen  längst,  wie  enge  Beziehungen  die  Dur-  und  Moll- 


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,  1  Die  Sonate  in  drei  Sätzen.  323 

v 

lonart  derselben  Stufe  zu  einander  haben,  und  aus  welchem  Grunde 
Moll  ein  trüberes  und  insofern  gewissennassen  weniger  befriedigen- 
des Wesen  ist  als  Dur.  Daher  kann  uns  besonders  bei  sich  auf- 
heiternden Kompositionen  diese  Versetzung  des  Finale  aus  Moll  in 
Dur  des  Haupttons  nicht  weiter  auffallen. 

Aber  welche  Tonart  gebührt  dem  Mittelsatze*?  —  Dies  kann 
nur  nach  dem  Sinn  des  ganzen  Werkes  bestimmt  werden.  Biswei- 
len wird  es  genügen,  bloss  das  Geschlecht  zu  wechseln,  in  einer 
Dur-Sonate  dem  Mittelsatze  Moll  desselben  Tons  zu  geben ;  so  hat 
Beethoven  in  der  vorerwähnten  Sonate  aus  Fdur  den  Mittelsatz 
in  Fmoll  gesetzt.  —  In  der  Regel  wird  man  die  nächstverwandten 
Tonarten  wählen;  so  hat  Mozart  den  Mittelsatz  seiner  S.  265 
erwähnten  i7  dur-Sonate  in  die  Unterdominante  Udur,  den  seiner 
Cmoll-Sonale  (S.  273)  in  die  Parallele  £sdur  gestellt.  v  Seltener 
wird  man  sich  in  Dur  zur  Oberdominante  entschliessen,  weil  diese 
schon  im  ersten  Satze  stark  zur  Geltung  gekommen  sein  muss  und 
dabei  keinen  so  entschiednen  Gegensatz  bietet,  als  die  Parallele. 
Nur  bei  leichtern  oder  sanftem  Kompositionen  fällt  jenes  Bedenken 
ohne  Weiteres  weg;  so  stellt  Haydn  das  Andante  seiner  kleinen 
freundlichen  Es dur-Sonate*  in  jßdur  auf.  —  Bisweilen  werden 
statt  der  ersten  Verwandten  die  in  der  nächsten  Reihe  stehenden 
gewählt.  So  wendet  sich  Beethoven  in  seiner  Sonate  pathetique 
von  Cmoll  nicht  nach  Es dur,  sondern  nach  dessen  Unterdominanle 
yisdur,  der  Parallele  seiner  Unterdominante;  in  gleicher  WTeise  in 
seiner  Fmoll-Sonate,  Op.  57,  nach  Ztesdur.  Auch  Mozart  geht 
diesen  WTeg  in  seiner  vlmoll-Sonate**,  deren  Mittelsatz  in  Fdur 
steht;  es  wird  also  hiermit  die  im  ersten  Satze  schon  gebrauchte 
Parallele  vermieden,  wie  wir  zuvor  die  in  Dursätzen  gebrauchte 
Oberdominante  weniger  zusagend  fanden.  —  Auch  entlegnere  Be- 
ziehungen werden  nicht  selten  angetroffen.  So  setzt  Haydn  das 
Adagio  seiner  grossen  Es  dur-Sonate  in  —  lfdur,  indem  ihm  der 
Hauptton  Es  als  Dis,  als  die  nach  E  verlangende  Terz  des  Domi- 
nantakkordes von  ZTdur  (als  sogenannter  Leitton)  erscheint  und  eine 
überraschende,  aber  doch  vertraut  ansprechende  Wendung  gewährt. 

Ueberall  wird  man  bei  den  Meistern  Freiheit  und  Mannigfaltig- 
keit in  der  W:ahl  der  zweiten  Tonart  finden,  nie  aber  eine  andre 
Entscheidung,  als  die  durch  den  Sinn  des  ganzen  Werks  gebotne, 
bei  der  sich  dann  auch  eine  allgemeinere  modulatorische  Beziehung 
wie  in  den  vorstehenden  und  manchen  früher  erwähnten  Fällen  (z.B. 
S.  284),  herausstellen  wird.    Niemals  also  wird  willkürlich  ent- 

*  Diese,  wie  die  andre  £s-Sonate,  im  ersten  Heft  der  Breitkopf-Harter- 
schen  Gesammtausgabe  [No.  3  und  No.  <  der  Einzelausgabe). 

*♦  Im  ersten  Heft  der  Breitkopf-Härtcrschen  Gesammtausgabe  (No.  6.  der 
Einzelausgabe!. 

21  * 


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324 


Mischformen  und  verbundne  Formen 


schieden.  Es  war  ein  ärmliches  Hülfsinittel,  wenn  man  durch  die 
willkürliche  Einmischung  einer  fremden,  beziehungslosen  Tonart 
seinem  Mittelsatz  einen  bosondern  Reiz  zu  geben  dächte;  .Befrem- 
den und  Zerstreuung  würde  statt  des  gewünschten  künstlerischen 
Reizes  die  Folge  solcher  Versuche  sein. 

Eine  dritte  Scheidung  liegt  in  der  Wahl 

der  Taktart. 

Selten  oder  nie  wird  man  den  drei,  nicht  leicht  auch  nur  zwei 
auf  einander  folgenden  Sätzen  gleiche  Taktart  zuertheilen  ;  und  wenn 
die  Takttheile  gleich  sein  sollten  und  müssten,  so  würde  man  we- 
nigstens die  Gliederung  durchweg  scheiden,  würde  z.  B.  neben  Sechs- 
achteltakt, also  neben  zweitheilige  Taktordnung  mit  dreiteiliger 
Gliederung,  wenigstens  nur  eine  solche  zweitheilige  Ordnung  stel- 
len, die  zwei-  oder  viergliedrig  zerfiele,  z.  ß.  Zweivierteltakt  mit 
seiner  Gliederung  von  zwei  Achteln  und  vier  Sechzehnteln.  —  Diese 
allgemeinern  Regeln  ergeben  sich  schon  aus  der  Rücksicht  auf  Man- 
nigfaltigkeit der  verschiednen  Sätze.  Andre  Bemerkungen  knüpfen 
sich  an  die  Bestimmung  der  Sätze  selbst. 

Der  erste  Satz,  als  der  aus  frischester  Energie  hervorgetretne 
wird  in  der  Regel  eine  breitere  und  dabei  mannigfaltiger  accentuirle 
Taktart,  z.  B.  lieber  Vierviertel-  als  Zweivierteltakt,  lieber  Sechs- 
achtel- als  Dreiachteltakt  haben.  Der  zweite  Satz,  als  der  lang- 
samer bewegte,  wird  gern  engere  Taktmaasse,  z.  B.  lieber  Zwei-  als 
Viervierteltakt,  der  dritte  Satz,  der  das  Zu-Ende-Gehn  fühlt  uiul 
fühlbar  macht,  wird  sich  gern  schon  in  der  Wahl  der  Taklart  flies- 
send, ruhig  und  gleichmässig  zum  Schluss  eilend  gestalten,  daher 
öfter  zwei-  oder  viertheilige  als  dreitheilige  Ordnung,  öfter  Allabreve- 
bewegung  —  wenn  sie  auch  meist  nicht  ausdrücklich  angezeigt 
wird  —  als  eigentliche  Viertbeiligkeit  annehmen. 

Die  vierte,  ungleich  folgenreichere  und  entscheidendere  Gegen- 
stellung der  Sätze  beruht  auf  der  Wahl 

der  Ku  nstf  orm 
für  jeden.  Hier  ist  wieder  bei  dem  Meister  ein  eben  so  reicher 
und  stets  sinngemässer  Wechsel  zu  beobachten,  wenn  man  ganze 
Reihen  von  Werken  befrägt,  bei  dem  nicht  Durchgebildeten  Ein- 
förmigkeit oder  Willkür.  Das  Geringste  und  Aermste  wär\  immer 
dieselbe  Form  zu  wiederholen ;  das  Rechte  ist,  stets  die  jedem  Satz 
—  und  zwar  in  jedem  besondern  Kunstwerk  —  angemessne  zu  er- 
greifen. Was  nun  in  jedem  einzelnen  Kunstwerke  das  Rechte  sei, 
kann  natürlich  nicht  hier  gefragt  werden ;  diese  Erörterung,  die  zum 
Theil  Untersuchungen  aus  der  Musikwissenschaft  voraussetzt,  ge- 
bührt dem  Komponisten  in  der  Periode  des  Schaffens,  oder  der  Kri- 
tik. Doch  ergeben  sich  auch  hier  aus  der  Bestimmung  der  ein- 
zelnen Sätze  gewisse  allgemeine  Regeln .  die  wenigstens  festen 


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4  Die  Sonate,  in  drei  Sätzen.  325 

Fuss  fassen  helfen,  bis  tieferes  Studium  und  reifer*  Anschauungs- 
und  t rtheilskraft  weiter  führen. 

Der  erste  Satz,  wieder  vermöge  seiner  vorzugsveisen  Ener- 
gie, kann,  um  dem  Reichthum  und  der  Vertiefung  des  schöpferischen 
Geistes  den  günstigen  Schauplatz  zu  eröffnen,  kaum  eint  andre  als 
Sonatenform  annehmen.  Hier  ist  eine  den  Rondoforme.i  gleich- 
kommende oder  überlegne  Satzerfindung,  eine  an  Einheit  nur  von 
der  Fuge  übertroflne,  an  Mannigfaltigkeit  sie  übertreffende  Durch- 
führung der  Gedanken,  innerhalb  welcher  sogar  die  Fugenform  üelber 
noch  Zutritt  findet,  eine  ausgebreitete  und  doch  sinnvoll  gehaltne 
Modulation,  —  kurz  nach  allen  Seiten  der  günstigste  Spielraum  für 
alle  Kräfte  des  Komponisten  geboten.  Daher  wird  man  unter  hun- 
dert Sonaten  und  den  ihr  gleichgestalteten  Orchester-  und  Quartett- 
werken kaum  eins  finden,  dessen  erster  Satz  eine  andre,  als  Sona- 
tenform hätte. 

Engere  oder  leichtere  Werke  beschränken  sich  in  ihrem  ersten 
Satz  auf  die  Sonatinenform.  Dies  wäre  der  einzige  formelle 
Unterschied ,  den  wir  zwischen  Sonate  und  Sonatine  anzugeben 
wüssten*. 

Der  zweite  Satz  nimmt  als  mittlerer,  dann,  weil  er  sich  schon 
vermöge  seiner  langsamem  Bewegung  länger  bei  seinen  Gedanken 
aufhält,  in  der  Regel  eine  leichtere,  einfachere  Form  an.  Biswei- 
len genügt  ihm  schon  die  Liedform,  wie  wir  an  Beethovens 
Fdur-Sonate  Op.  10  sehn,  die  statt  des  Andante  Menuettform  (mit 
Trio  bringt.  —  Oefter  ist  zwar  der  Gedanke  der  Liedform,  nicht  aber 
die  Enge  derselben  an  sich  und  im  Zusammenhang  des  Ganzen  ge- 
nügend. Dann  bietet  sich  die  Form  der  Variation,  die  nach 
Bavdn's  Voraana  von  Niemand  so  reich  und  glücklich  ausgebeutet 
worden,  als  von  Beethoven;  wir  wollen  nur  die  (rdur-Sonate, 
Op.  14,  und  die  aus  fnioll,  Op.  57,  als  Beispiel  anführen.  —  Weit 
häufiger  gestaltet  sich  aus  dem  anfänglich  ergriffnen  Liedsatz  eine 
der  kleinen  Rondo  formen,  die  sich  überall  günstig  erweisen, 
wo  der  erste  Salz  nicht  volles  Genügen  an  sich  selber  bietet  und 
auch  nicht  zu  der  höhern  Gestalt  der  Sonalenform  anregt.  An  der 
Stelle  der  gewöhnlichen  Rondoform  kann  auch  die  bereits  Th.  II, 
S.  329  auftrewiesne  Verbindung  von  Liedsatz,  Fuyato  und  Wieder- 
holung  des  Liedsatzes  zur  Anwendung  kommen.  Ein  Beispiel  giebt 
des   Verfassers  lfmoll-Sonate    (bei   Siegel  in  Leipzig);    aus  Or- 


*  Die  Zahl  der  Safte  bietet  sicherlich  kein  Unterscheidungsmerkmal.  Drei 
der  grössten  Sonaten  von  Beethoven,  Op.  53,  57  und  441,  die  erste  sogar 
Grande  Sonate  genannt,  haben  nur  drei  und  zwei  Sätze.  Zwei  kleine,  leichte 
Werke  von  Mozart  (lieft  4.  No.  3  und  4),  dercn^rsle  Salze  Sonatinenform 
haben,  werden  vom  Komponisten  Sonaten  genannt.  Liszt  hat  eine  grosse  So- 
nate in  einem  Satze  geschrieben;  sie  ist  bei  Breitkopf  u.  Härtel  herausgegeben. 


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V 


32t5  Misch  formen  und  verbundne  Formen. 

ehester-  und  Quartett  werken  Hessen  sich  deren  mehrere  anführen.  — 
Oefters  findet  sich  (S.  254)  auch  die  Sonate n form  für  Mittelsätze 
benutzt,  da^n  aber  auf  ihren  engsten  Raum  zurückgeführt,  meist 
ohne  Durcharbeitung  eines  zweiten  Theils. 

Der  dritte  Satz  endlich  fodert  schon  als  Schluss  des  Ganzen 
und  vernbge  seiner  erhöhten  Bewegung  wieder  eine  ausgedehntere 
Form.  Er  führt  das  Ganze  zu  Ende,  also  zur  Ruhe,  folglich  eignen 
sich  für  ihn  die  leichtern  und  in  sich  selber  stetig  zum  Ende  hin- 
weisenden Formen.  Dies  sind  vor  allem  die  Rondoformen,  weil  sie 
—  gleichsam  an  sich  selber  Schlusssätze  oder  Schlüsse  im  grössten 
Sinn  und  Umfang  —  stets  wieder  auf  Hauptton  und  Hauptsatz,  also 
auf  die  Schlussmomente  zurückführen.  Daher  wird  man  die  meisten 
Finale's  in  Rondoform,  —  und  zwar  zunächst  in  der  dritten 
und  vierten  Rondoform,  weniger  häufig  in  der  fünften,  — 
oder  in  Sonatenform,  oder  statt  in  beiden  letztern  auch  in  der 
sonatenartigen  Rondoform  gesetzt  finden.  Oft  mag,  selbst 
bei  trefflichen  Komponisten,  die  hier  wieder  erwähnte  Mischform 
(S.  307}  aus  keinem  andern  Grund  ergriffen  sein,  als  um  der  Wie- 
derholung der  schon  benutzten  reinen  Sonaten-  und  Rondoform  aus- 
zuweichen. 

Zuletzt  kommen  wir  auf 

*  den  Inhalt 

der  Sätze  zu  sprechen.  Hier  lässt  sich  nur  das  Allgemeinste  fest- 
setzen, alles  Nähere  hängt  von  der  besondern  Stimmung  oder  Idee 
jedes  einzelnen  Werkes  ab. 

Zuvörderst  versteht  sich  von  selbst,  dass  in  der  Regel  jeder 
Satz  seinen  besondern  Inhalt  haben  wird,  eben  weil  er  ein 
besondrer  und  nicht  ein  blosser  Theil  des  vorangehenden  oder  nach- 
folgenden Satzes  ist.  Es  kann  unter  Umständen  wohl  einmal  ein 
Gedanke,  ein  Motiv  aus  einem  Satz  im  folgenden  wiederkehren, 
allein  dann  wird  das  Motiv  in  einem  wesentlich  verschiednen  Sinne 
verwendet,  oder  es  hat  eine  solche  Erinnerung  an  den  Inhalt  des 
frühem  Satzes  besondern  Anlass  in  der  Idee  des  Ganzen. 

Der  besondre  Inhalt  jedes  Satzes  muss  aber  zugleich  der  Be- 
stimmung und  Form  desselben  entsprechen,  oder  umgekehrt :  die  be- 
sondre Bestimmung  jedes  Satzes  wird  nothwendig  einen  besondei  n 
Inhalt  für  jeden  herbeiführen,  und  dieser  wiederum  dem  Satze  die 
rechte  Kunstform  geben.  Hier  würde  also  jede  weitere  Anleitung, 
da  sich  der  individuelle  Inhalt  jeder  Komposition  nicht  voraussehn 
und  vorauserwägen  lässt,  nur  auf  die  Karakteristik  der  Formen 
zurÜckgehn  und  dabei  doch  nur  in  den  Fällen  frommen  können, 
in  denen  eine  künstlerische  Gestaltung  nicht  schöpferisch  von  innen, 
aus  der  Idee  oder  dem  Gefühl  des  Komponisten  herausgetreten,  son- 


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Die  Sonate  in  drei  Sätzen. 


327 


dem  nach  vorbestimmten  Zwecken  und  Formen  unternommen  wird. 
Auch  auf  solchem  Weg  ist  viel  Erfreuliches  geleistet  worden ,  und 
es  lässt  sich  nachweisen,  dass  selbst  die  bedeutendsten  Künstler  ihn 
oft  gegangen  sind.  Demungeachtet  ist  er  nicht  der  Weg,  der  uns 
das  Höchste  hoffen  lässt,  und  für  ihn  giebt  eben  die  Erkenntniss  der 
Formen  genügende  Anleitung. 

Nur  eine  Bemerkung  scheint  hinsichts  des  Finale  noch  der 
Erwägung  werth,  zumal  wenn  es  Sonatenform  oder  sonatenartige 
Rondoform  hat.  Im  erstem  Falle  steht  es  alsdann  dem  ersten  Satze 
gleich,  im  andern  sehr  nahe.  Demungeachtet  ist  seine  Bestimmung 
eine  ganz  andre,  als  die  des  ersten  Satzes,  und  dies  kann  nicht  ohne 
wesentlichen  Einfluss  auf  den  Inhalt  bleiben.  Der  erste  Satz  ist  es, 
in  dem  das  ganze  Werk  frisch  geboren  heraustritt  in  die  Welt, 
kräftig  und  entschieden  die  Wirksamkeit  des  Ganzen  beginnt;  der 
letzte  Satz  ist  es,  mit  dem  diese  Wirkung  sich  vollendet,  also  zu 
Ende  geht,  die  Erregung  und  Bethätigung  des  Komponisten  also 
zur  Ruhe  des  Vollendethabens  zuneigt.  Wie  spricht  sich  dies  in 
der  Ausgestaltung  des  Satzes  aus? 

Dadurch,  dass  das  Finale  —  in  welcher  Form  es  auch  erscheine 
—  sich  gleichsam  als  Ein  grosser  Schlusssatz ,  oder  noch  ent- 
schiedner  gesagt:  als  Ein  Schluss  bezeige.  Und  zwar  in  allen 
Elementen  der  Komposition. 

Die  modulatorische  Konstruktion  wird  im  Finale  zu- 
sammengehaltner ;  sie  entsagt  nicht  bloss  im  allgemeinen  Verlauf  des 
Tonstücks  dem  grossen  Umfang,  dem  freien  Schweifen  in  viele  und 
fremde  Tonarten,  sondern  wird  auch  innerhalb  der  einzelnen  Sätze 
ruhiger  und  richtet  sich  gern  und  oft  auf  die  Schlussakkorde.  Wenn 
bisweilen  für  einzelne  Sätze  eine  entlegene  Tonart  ergriffen  wird, 
so  geschieht  dies  nicht  sowohl,  wie  im  ersten  Satz  einer  Sonate,  in 
kühnem,  aber  fest  vorbereitetem  Andringen,  und  hat  eine  weitere 
oder  langsam  und  in  Fülle  der  Ausführung  zurückkehrende  Modula- 
tion zur  Folge:  sondern  es  geschieht  die  Ausweichung  und  die 
Rückkehr  in  raschem  Zuge,  gleichsam  ruckweis,  so  dass  das  Ganze 
die  Natur  eines  Trugschlusses  annimmt,  —  nur  dass  nicht 
ein  Paar  Akkorde,  sondern  ein  ganzer  Satz  in  den  fremden  Ton 
gerückt  werden. 

Der  Gang  der  Melodie,  — oder  vielmehr  aller  Stimmen 
wird  in  Tonfolge  und  Rythmus  ruhiger,  gleichmässiger,  we- 
niger kühn  anstrebend,  als  zur  Ruhe  führend,  weniger  scharf  ge- 
gliedert, als  verfliessend,  ja,  wo  in  der  Hauptslimme  schärfere  rhyth- 
misch-melodische Zeichnung  eintritt,  bildet  sich  als  Begleitung  gern 
eine  um  so  gleichmässiger  fliessende  Gegenstimme  aus. 

Nicht  alle  diese  Karakterzüge  treffen  in  jedem  Finale  zusam- 
men ;  aber  man  kann  sie  überall  gewahr  werden,  wo  nicht  eine  ganz 


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328 


Misch  formen  und  verbundne  Formen. 


besondre  Idee  den  Komponisten  auf  andre  Wege  geleitet  bat.  So 
findet  man,  • —  um  wenigstens  ein  Paar  Beläge  zu  geben,  —  das 
ganze  weiter  und  energischer,  als  die  frühern  Sätze  ausgeführte  Fi- 
nale von  Beethove n's  Fmoll-Sonate,  Op.  2,  durchweg  in  Sätzen 
und  Gängen  —  nur  mit  Ausnahme  des  zweiten  Seitensatzes  —  in 
Achteltriolen  begleitet,  das  ganze  Finale  der  grossen  D  moll-Sonate, 
Op.  31,  fortwährend,  —  nur  mit  ein  Paar  ruckenden  Achtelnoten 
und  einer  kleinen  Stelle  im  Anhang  —  in  Sechzehntelbewegung. 
Dasselbe  ist  der  Fall  bei  dem  grossen  Finale  der  F  moll-Sonate, 
Op.  57,  mit  wenigen  Abweichungen.  Das  letztere  ist  auch  eins 
der  merkenswerthesten  Beispiele  für  die  gleichsam  schlussartige, 
stets  an  den  Schluss  mahnende  Modulation,  die  den  Finale's  gern 
eigen  wird ;  die  Untersuchung  dürfen  wir  jedem  Einzelnen  überlas- 
sen, da  doch  Niemand  den  Besitz  eines  der  tiefsinnigsten  Werke 
unsrer  Kunst  sich  versagen  wird.  —  Dagegen  erwacht  in  Beetho- 
ve n's  Ddur-Sonate,  Op.  40,  im  Finale  ein  erneutes  angeregteres 
Leben,  das  gleich  zu  Anfange  dem  Rhythmus  einen  beseeltem  Puls- 
schlag ertheilt.  Auch  die  S.  325  erwähnte  £moll-Sonate  hat  nach 
der  Stimmung,  aus  der  sie  hervorgegangen,  ein  durch  Tongeschlecht, 
Rhythmik  (besonders  des  Hauptsatzes)  und  überhaupt  den  ganzen 
Inhalt  energischer  gebildetes  Finale  erhalten. 

Wir  haben  die  Verschiedenartigkeit  der  einzelnen  Sonatensätze 
beobachtet;  nun  aber  muss  zuletzt 

die  Einheit 

derselben,  als  Theile  eines  einigen  Ganzen,  wieder  zur  Sprache  kom- 
men, die  sich  im  Inhalte  zu  offenbaren  hat. 

Bisweilen  bezeichnen  zurückkehrende  Sätze,  Anklänge  aus  den 
erstem  Partien  der  Sonate,  die  man  in  die  spätem,  z.  B.  in  das 
Finale  hinübernimmt,  diese  Einheit  schon  äusserlich  erkennbar;  so 
bringt  Beethoven  in  seiner  wunderwürdigen  A  dur-Sonate,  Op.  4  0 1 , 
zur  Einleitung  des  Finale  den  Hauptgedanken  des  ersten  Satzes 
wieder.  Allein  dergleichen  Rückblicke  sind  weder  nothwendig,  noch 
stets  anwendbar,  das  heisst:  in  der  Idee  des  Ganzen  begründet. 

Es  ist  vielmehr  die  Idee  des  Werks  und  die  dafür  festgehaltne 
Stimmung,  aus  der  die  innere  Einheit  desselben  hervorgeht.  Hier  tritt 
begreiflicher  Weise  jede  Lehre  zurück  und  überlässt  das  Werk  rein 
dem  eignen  Walten  des  künstlerischen  Geistes  und  Karakters  im 
Komponisten.  Es  kann  hier  nur  noch  ein  Rath  ertheilt  werden, 
der  sich  wahrscheinlich  jedem  gereiftem  Künstler  von  selbst  ergiebt. 
der  aber,  je  früher  man  sich  ihn  zu  beherzigen  gewöhnt,  um  so 
glücklichere  Folgen  hat. 

Dieser  Rath,  oder  diese 

Maxime 

ist  keine  andre,  als: 


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Die  Sonate  mit  mehr  Sätzen 


H29 


dass  man  nie  an  die  Ausführung  eines  Werkes  gehe,  ohne  des- 
sen Idee  wenigstens  in  den  Hauptmomenten  gefasst,  durchge- 
lebt oder  geistig  durchgearbeitet  zu  haben. 
Man  muss  trachten,  vom  Gange  des  Ganzen,  —  also  aller  seiner 
Sätze  —  wenigstens  eine  allgemeine  Vorstellung,  gleichsam  An- 
klänge; Grund  klänge  von  seinen  Hauptmomenten  festzuhalten; 
wie  der  Maler  jedes  grössere  Bild  erst  mit  den  flüchtigsten,  nur  das 
Allernothwendigste  andeutenden  oder  umreissenden  Zügen  gleichsam 
aufzuhaschen  trachtet  und  erst  dann  in  oft  wiederholten  Entwürfen 
und  Studien  zur  reifen  Vollendung  führt. 

Wenn  in  diesem  ersten  Akt  der  Schöpfung  das  Ganze  so  weit 
eingelebt  und  befestigt  ist  im  Künstler,  dass  nun  das  eigentliche 
(schriftliche)  Entwerfen  beginnt:  so  ist  ferner  im  gleichen  Sinne 
rathsam : 

dass  man  wo  möglich  das  ganze  Werk  in  einem  Gusse  —  sei 
es  auch  in  den  flüchtigsten  Zügen  —  von  Anfang  bis  zu  Ende 
entwerfe. 

Dies  sichert  am  besten  die  Gleichheit  der  Stimmung  und  Ein- 
heit des  Ganzen,  und  entzündet  schon  durch  die  Aufregung  der 
Geistesarbeit  zu  höherer  Glut. 

Allerdings  wird  aber  dieses  Glück  uns  nicht  immer,  ja  verhält- 
nissmässig  selten  zu  Theil ;  bald  versagt  die  Kraft,  bald  stören  un- 
abweisliche  Verballnisse.  Dann  ist  wenigstens  das  höchst  rathsam : 
dass  man  wo  möglich  keinen  Satz  im  Entwurf  unvollendet  lasse 
und  auch  von  dem  vollendeten  Entwurf  eines  Satzes  nicht 
scheide,  ohne  wenigstens  die  ersten  Momente  des  folgenden 
gewonnen  und  festgehalten  zu  haben. 

Sie  sind  der  Funke,  an  dem  sich  in  einer  zweiten  schöpferi- 
schen Stunde  das  Feuer  wieder  entzündet,  an  dessen  geheimem  Fort- 
glimmen die  Stimmung  sich  hinüberlebt  und  glückliche  Einheit  des 
neuen  Satzes  mit  dem  ersten  verbürgt. 

Wie  viel  nun  einem  Jeden  und  in  jedem  einzelnen  Falle  hierin 
Glück  beschieden  und  Arbeit  erspart  —  oder  auferlegt  sei :  das  muss 
Jeder  an  sich  erfahren  und  danach  seine  Arbeitsweise  regeln. 


Sechster  Abschnitt. 

Die  Sonate  mit  mehr  Sätzen. 

Im  vorigen  Abschnitte  wurde  die  Gestaltung  der  Sonate  aus 
drei  Sätzen  betrachtet.  Sie  darf  als  Grundgestalt  gelten,  weil  jene 
drei  Sätze  den  nothwendigen  Gegensatz  (S.  322)  aussprechen  und 
in  allen  regelmässigen  Gestaltungen  vorhanden  sind. 


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330 


Mischformen  und  verbundne  Formen. 


Dieser  Umkreis  ist  aber  auf  mehr  als  eine  Weise  erweitert 
worden:  durch  Einfügung  eines  vierten  Satzes,  gewöhnlich  Me- 
nuett oder  Scherzo  genannt,  —  durch  Einleitung  in  das 
Ganze  oder  den  ersten  Satz,  —  durch  Einleitung  in  andre  Sätze. 
Das  sind  die  Momente,  die  wir  hier  zu  überblicken  haben;  einer 
eigentlichen  Lehre  bedarf  es  dabei  nicht. 

I.  Menuett. 

Der  entschiedenste  Schritt  über  die  Dreisatzigkeit  der  Sonate 
geschieht  durch  Zufügung  eines  neuen  Satzes  lebhafterer  Bewegung, 
früher  stets  Menuett,  seit  Beethoven  bald  Menuett,  bald 
Scherzo,  auch  wohl  gar  nicht  besonders  genannt. 

Die  Stelle  dieses  Satzes  war  früher,  —  namentlich  bei  Haydn, 
der  hier  als  wahrer  Begründer  zu  nennen  ist,  —  stets  nach  dem 
langsamen  Mittelsatze;  er  sollte  gegen  den  Ernst  oder  die  tiefere 
Versenkung  desselben  einen  erheiternden  Gegensatz,  zwischen  ihm 
und  dem  bedeutenden  Finale  einen  Moment  leichtern  Ergehens  ge- 
währen. Seit  Beethoven  (auch  früher,  z.  B.  bei  Dussek)  tritt 
dieser  Satz  auch  bisweilen  vor  dem  Mittelsatz  auf.  Die  Entschei- 
dung über  diese  beiden  Stellen  ist  nur  nach  der  Idee  und  dem 
Bedürfniss  jedes  einzelnen  Kunstwerkes  zu  treffen.  Wenn  z.  B. 
Beethoven' s  so  strebsam,  so  lebensfrisch  beginnende  Dd ur- 
Sonate, Op.  10,  im  Largo  einer  tiefen,  bis  zu  unheimlicher  Vergrä- 
mung  hinabsinkenden  Schwermuth  Raum  giebt:  so  bedarf  es  nach 
diesem  Satze  des  trostmilden,  im  Trio  frisch  ermuthigenden  neuen 
Satzes  (Menuett  genannt) ,  um  aus  jener  Nacht  des  Grams  zu  neu- 
erfrischtem, gesundem  Leben  sich  aufzuraffen,  das  im  Finale  sich  regt 
und  das  ganze  Werk  einheitvoll  abschliesst.  Und  wenn  wiederum 
derselbe  Tondichter  in  seiner  As  dur-Sonale,  Op.  110,  dem  ersten 
Satz,  obwohl  mit  Moderato  (also  Allegro  moderato)  bezeichnet, 
den  unverkennbaren  Karakter  eines  Adagio  (er  setzt  auch  dem 
Moderato  ein  cantabile  molto  espressivo  zu)  ertheilen  muss :  so 
folgt  schon  hieraus, —  abgesehn  von  den  Beweggründen,  die  aus 
der  Idee  des  Ganzen  hervortreten,  —  dass  nun  nicht  sofort  ein 
Adagio  (gleichsam  ein  zweites  Adagio)  folgen  könne,  sondern  ein 
Satz  lebhafter  Bewegung  folgen  müsse.  So  erscheint  es  auch  in  der 
grossen  JJdur-Sonate,  Op.  106,  sogleich  unausführbar,  dass  nach 
dem  Übergewaltigen  ersten  Allegro  ein  ihm  entsprechendes  Adagio 
folge.  Je  tiefer  letzteres  sich  gebären  mtisste,  um  dem  ersten  Satz 
ebenbürtig  und  zulässig  zu  sein,  desto  unvereinbarer  und  unerträg- 
licher würde  der  Gegensatz  beider,  —  in  gewissem  Sinne  des  höch- 
sten Allegro  und  des  tiefsten  Adagio  in  der  Sonatenwelt,  —  auf- 
fallen; es  bedarf  des  vermittelnden  Zwischensatzes,  den  Beetho- 
ven Scherzo  vivace  assai  überschreibt. 


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Die  Sonate  mit  mehr  Sätzen. 


331 


Schon  diese  flüchtigen  Hinblicke  zeigen,  dass  der  neu  zutretende 
Satz,  wie  er  auch  heisse,  oft  viel  tiefere  Bedeutung  im  Zusam- 
menhang des  ganzen  Werks  habe,  als  die  anfangs  wohl  allein  her- 
vorgetretne  eines  gewissermassen  zur  Erholung  dienenden  Mittel- 
satzes ;  die  Musikwissenschaft  wird  sich  auf  diese  mannigfach  wech- 
selnde tiefere  Bedeutung  einzulassen  haben.  Hier  aber  folgt  schon 
so  viel  daraus  :  dass  die  Benennungen  Menuett  und  Scherzo  (beson- 
ders die  erstere  aus  der  frühern  Periode  uns  überkommne)  für  den 
jedesmaligen  Inhalt  keine  bestimmtere,  bindende  Bedeutung  haben. 
Diese  Menuette  sind  oft  himmelweit  vom  Karakter  der  Tanzmenuett 
oder  auch  der  in  der  frühern  Periode,  besonders  von  Haydn  umge- 
schaflhen  Menuett  verschieden,  wie  schon  die  obige  Andeutung  über 
die  sogenannte  Menuett  in  Beethoven's  Z)dur-Sonate  zeigt;  so 
auch  darf  bei  der  Benennung1  Scherzo  keineswegs  immer  an  einen 
durchaus  heitern,  scherzhaften  Inhalt  gedacht  werden ;  in  seiner 
,4s dur-Sonate  hat  Beethoven  sogar  diesen  Namen  verbannt  und 
nur  die  Tempobezeichnung  gegeben. 

Daher  ist  auch  die  Form  keineswegs  immer  die  der  Menuett; 
mindestens  wird  der  zweite  Theil  so  weit  ausgeführt,  wie  in  der 
eigentlichen  Menuett  (Th.  II,  S.  94)  in  der  Regel  nicht  denkbar; 
Öfters  tritt  statt  der  Menuettform  die  erste  oder  zweite  Rondoform 
in  lebhafter  Bewegung  ein;  die  der  Menuett  eigne  Führung  wird 
ebenfalls  nicht  streng,  bisweilen  gar  nicht  beibehalten,  selbst  das 
Taktmaass  verlassen  und  Zweivierteltakt  —  oder  ein  andrer  dafür 
eingeführt,  wie  es  die  Idee  des  Ganzen  und  die  Stimmung  des  Kom- 
ponisten eben  erfodert.  Diese  Wandelbarkeit  und  Mannigfaltigkeit 
In  Form  und  Inhalt  kann  nicht  auffallen,  da  das  Scherzo  nur  als 
vermittelnder  Nebensatz  zwischen  den  ersten  und  zweiten  —  oder 
zweiten  und  dritten  Hauptsatz  tritt,  sich  also  von  ihnen  und  nach 
seiner  Stellung  zwischen  einem  von  beiden  Paaren  (vor  oder  nach 
dem  Adagio)  bestimmen  lassen  muss. 

Was  nun  zuletzt  seine  modulatorische  Stellung  anlangt, 
so  ist  auch  sie  —  und  durch  sie  die  modulatorische  Stellung  der 
vier  Sonatensatze  überhaupt  eine  sehr  mannigfache,  oft  weit  mehr 
als  die  der  drei  Sätze  einer  einfachem  Sonate.  Auch  hier  ist  na- 
türlich die  Idee  des  Ganzen  der  letzte  Bestimmungsgrund;  daher 
wird  man  bei  den  Meistern  nie  willkürliche  Abweichungen  vom 
Grundgesetze  der  Modulation  finden. 

Bisweilen  fodert  diese  Idee  eine  sehr  einfache  modulatorische 
Konstruktion.  Eine  solche  zeigt  Beethoven'sD  dur-Sonate,  Op.  1 0 . 
Dass  der  schwermüthige  zweite  Satz  (Largo,  moll)  auf  denselben  Stufen 
auftritt,  auf  denen  gleich  zuvor  im  Hauptsatze  (Z)dur)  das  frischeste 
Leben  andrang,  macht  den  Schmerz  gleichsam  zu  einem  vertrautern, 


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332 


Mischformen  und  verbundne  Formen 


gräbt  ihn  ein  in  dasselbe  Bett,  in  dem  der  Lebensstrom  so  rüstig 
weit  dahinschoss.  Dann  muss  der  Trost  des  dritten  Satzes  (Me- 
nuett und  Trio)  wieder  denselben  Fusstapfeü  folgen,  um  sich  ganz 
anzuschmiegen,  und  muss  sich  die  fester,  gesicherter  auftretende  Er- 
muthigung  in  der  Unterdominante  (Trio,  Gdur)  aufstellen,  von  da 
der  Aufschwung  in  den  Hauptton  zum  Finale  erfolgt.  —  Eine  eben 
so  nahe  Modulationsfolge  zeigt  Beethoven's  Fmoll- Sonate,  Op.  2  : 
Fmoll,  Fdur,  Fmoll  und  wieder  Fmoll;  der  abweichende  Karakter 
der  Sätze  ist  demungeachtet  genügend  ausgesprochen.  —  Ein  drit- 
tes Beispiel  bietet  die  A dur-Sonate,  Op.  2  :  4  dur,  Z)dur,  Adur  und 
nochmals  4  dur. 

Andre  Sonaten  haben  wenigstens  Einen  fernem  Schritt  gethan. 
Die  Beethoven'sche  Sonate  Op.  7  stellt  z.  B.  den  ersten,  dritten 
uud  vierten  Satz  in  Es  dur,  das  Largo  aber  in  Cdur  auf  (diese 
Tonart  ist  schon  im  ersten  Satze  angeregt) ;  die  C dur-Sonate, 
Op.  2,  hat  ihr  Adagio  in  Fdur,  die  grosse  B dur-Sonate,  Op.  106, 
das  ihre  in  Fismoll  aufgestellt. 

Noch  mannigfaltiger  modulirt  unter  andern  Dussek  in  seiner 
Es  dur-Sonate,  Op.  44;  die  Einleitung  steht  in  Fs  moll,  der  erste 
Satz  in  Fsdur,  das  Adagio  in  //dur,  die  Menuett  und  Trio  in  Gis 
(As)  moll  und  As  dur,  das  Finale  in  Es  dur.  Der  auffallende  Mo- 
ment ist  das  nach  Es  dur  folgende  //dur;  doch  ist  die  modulatori- 
sche Verknüpfung,  wie  Jeder  selbst  erräth,  nicht  zu  fernliegend.  In 
der  S.  325  erwähnten  Fmoll-Sonate  tritt  die  Einleitung  in  A  dur  auf, 
der  erste  Satz  steht  in  Fmoll,  das  Adagio  in  .4  dur,  das  Scherzo 
(bloss  Prestissimo  genannt)  in  //moll,  das  Trio  desselben  in 
Gdur,  das  Finale  (nach  einer  Einleitung  in  Fmoll)  in  Fdur.  Die 
Gründe  für  diesen  Gang  könnten  nur  aus  dem  Inhalt  erkannt 
werden. 

2.  Einleitung. 

Zweck  und  Form  der  Einleitungen  haben  wir  schon  S.  301 
kennen  gelernt.  Es  bleibt  hier  nur  zu  bemerken,  dass  in  der  So- 
nate nicht  bloss  zum  ersten  Satze,  sondern  bisweilen,  namentlich  zur 
Vermittlung  entlegner  Karaktere  und  Modulationspunkte,  zu  spätem 
Sätzen  Einleitungen  nothwendig  erscheinen.  So  bedarf  Beetho- 
ven in  seiner  As  dur-Sonate,  Op.  110,  nach  dem  wildfrechen  Scherzo 
einer  Einleitung  in  das  tief  klagende  (Adagio)  Arioso,  in  der  B  dur- 
Sonate,  Op.  106,  schon  der  Modulation  wegen,  nach  dem  Adagio 
FismoU  in  das  Finale  B  dur. 

Hat  aber  einmal  eine  Einleitung  sich  mit  Nachdruck  ausgespro- 
chen, so  tritt  sie  oder  doch  ihr  Hauptmotiv  auch  gelegentlich  im 
Verlauf  der  Komposition  wieder  auf.  Dies  können  wir  an  der  So- 
nate pathdtique  beobachten,  deren  Einleitungsmotiv  (No.  369)  zwei- 


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Die  ungewöhnlichen  Gestaltungen  der  Sonate.  333 

mal,  zur  Einleitung  des  zweiten  Theils  und  des  Anhangs  vom  ersteu 
Satze,  wiederkehrt;  eben  so  an  der  No.  370  angeführten  Einleitung, 
aus  deren  Hauptmotiv  der  seelenvolle  Schluss  und  Anhang  des  ersten 
Satzes  erwachsen  ist,  —  wie  es  sich  schon  im  Seitensatze  wieder 
fühlbar  gemacht  hat. 


Siebenter  Abschnitt. 
Die  ungewöhnlichen  Gestaltungen  der  Sonate. 

Neben  den  drei-  und  viersätzigen  Sonaten,  deren  Gestaltung  in 
den  vorigen  Abschnitten  als  Grundform  mit  sehr  unwesentlichen  Ab- 
weichungen in  einzelnen  Zügen  aufgewiesen  worden,  finden  sich  nun 
noch  mehr  oder  weniger  abweichende  Zusammenstellungen,  diegleich- 
wohl  dem  Namen  und  der  Hauptsache  nach  der  Sonate  zugehören. 
Wir  können  hier  folgende  Abweichungen  unterscheiden. 

Erstens  begegnet  uns  die  im  Ganzen  vollkommen  ausgeführte 
Gestalt  der  Sonate,  —  nur  dass  einer  der  Sätze  sich  nicht  zu  fester 
Form  und  Selbständigkeit  vollendet  hat. 

Das  erste  Beispiel  bietet  Beethove n's  Cdur-Sonate,  Op.  53. 
Der  erste  und  letzte  Satz  haben  in  Fülle  und  Bedeutsamkeit  des 
Inhalts  das  Interesse  fast  ausschliesslich  auf  sich  gezogen ;  das  Adagio 
ist  dabei  nicht  selbständig  geworden,  es  ist  gleichsam  nur  Zwischen- 
satz,  nur  Ueberleitung  zum  Finale,  wie  schon  äusserlich  seine  Kürze 

—  eine  Seile  gegen  dreizehn  und  abermals  dreizehn  —  kundgiebt. 
Ein  einleitender  Gedanke  (Fdur)  führt  zu  einem  bestimmten  Satze 
(Fdur),  nach  dem  jener  erstere  wieder  anschliesst  und  sofort  — 
mithin  ohne  Abschluss  des  Ganzen  —  auf  die  Dominante  des  Haupt- 
tons und  in  das  Finale  (Cdur)  führt. 

Reicher  und  doch  im  Wesentlichen  nicht  anders  gestaltet  sich 
das  Andante  der  Sonate  »Les  adieux«,  in  dem  das  öde  Gefühl  des 
Alleinseins  bei  der  Abwesenheit  des  Geliebten  unruhig  und  nirgend 
befriedigt  sich  her  und  hin  wendet,  nirgend  eine  Stätte  findet,  auf 
der  man  weilen  könnte.  So  tritt  ein  Satz  in  Gmoll,  Gdur  auf,  wie- 
derholt sich  in  C  moll,  sucht  hier  vergebens  sich  zu  erfüllen ,  muss 
wieder  nach  Gmoll,  und  zieht  nun  in  Gdur  einen  zweiten  Gedanken 

—  wie  weinende  Hoffnung  und  schmerzliche  Erinnerung  (Gmoll) 
nach  sich.  Noch  einmal  wird  dieser  Kreis  schwankender  Gedanken 
in  fremden  Tönen  durchlaufen  —  und  nun,  ohne  Abschluss  auf  die 
Dominante  des  Haupttons  (iFsdur)  gelangt,  stürmt  die  Stunde  des 
Wiedersehns  mit  allen  Freudenglocken  und  mit  den  seligen  Rufen: 
»Ich  habe  dich  wieder!«  im  Finale  und  seiner  Einleitung  darein! 


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334 


Mischformen  und  verbundne  Formen. 


Zweitens  sehn  wir  bisweilen  den  Kreis  der  Sätze  unvoll- 
ständig —  oder  vielmehr  unvollzählig  —  gezogen.  So  fehlt  in 
Beethove n's  i?moll-Sonate,  Op.  90,  der  Mittelsatz,  das  Adagio, 
ganz;  was  dieses  hätte  aussagen  können,  ist  in  dem  tief  gefühlten 
ersten  Satze  mit  aller  Energie  eines  ersten  Allegro  und  aller  In- 
nigkeit eines  Adagio  schon  zur  Sprache  gebracht.  So  besteht  die 
Cmoll-Sonate,  Op.  Hl,  nächst  der  Einleitung  nur  aus  einem  ersten 
Satze  (Cmoll)  und  einem  Adagio,  einer  Ariette  (Cdur)  mit  Varia- 
tionen. Die  Idee  des  Tongedichts  wollte  es  so;  kann  sie  auch 
nicht  hier  zur  Erörterung  kommen,  so  fühlt  doch  Jeder  schon  ohne 
ihre  Enträthselung,  erkennt  man  schon  an  der  Fülle  des  zweiten 
Satzes,  dass  kein  dritter  folgen  konnte  und  durfte.  —  Auch  die 
Ct$  moll-Sonate  gehört  hierher,  die  Adagio,  Menuett  oder  Scherzo 
(Allegretto  genannt)  und  Finale,  also  die  drei  letzten  Sätze  einer 
viergliedrigen  Sonate  ohne  den  ersten  Satz  aufstellt ;  wiederum  der 
tiefen  Idee  getreu,  die  sie  schuf. 

Drittens  finden  wir  bisweilen  den  Karakter  der  vollständig 
vorhandnen  Sätze  wesentlich  anders  bestimmt.  Einigermassen  könnte 
schon  Beethoven's  S.  256  angeführte  Es dur-Sonate  hierher  ge- 
rechnet werden.  Nach  dem  Hauptsatze  giebt  sie  ein  Scherzo  (in 
sehr  frei  modulirter  Sonatenform) ,  dann  statt  des  Adagio  eine  Me- 
nuett, obwohl  in  mässiger  Bewegung,  dann  das  Finale.  Entschied- 
ner  ist  das  Beispiel  der  Beethov  en'schen  As  dur-Sonate,  Op.  26. 
Statt  der  Sonatenform,  die  im  Allgemeinen  unstreitig  die  angemes- 
senste für  den  ersten  Satz  ist,  bringt  diese  Sonate  ein  Andante 
mit  Variationen,  dann  folgt  ein  Scherzo ;  statt  des  Adagio  oder  als 
solches  ein  Marsch  (Marcia  funebre  sulla  morte  dun'  eroe) ,  nach 
ihm  das  Finale.  So  giebt  auch  Mozart  in  der  zweiten  Sonate  des 
ersten  Hefts  (No.  2  der  Einzelausgabe)  erst  Variationen,  dann  ein 
Tempo  di  Minuetto,  als  Finale  das  bekannte  Alla  turca.  Der  erste 
und  letzte  Satz  des  Mozart'schen  Werks  (dem  wir  mehr  als  ein 
ähnliches  zufügen  könnten)  ist  reizend,  die  Beethov en'sche  So- 
nate ist  in  jedem  Satze  bedeutend ;  doch  würden  wir  nur  bei  den 
beiden  letzten  Beetho  v en'schen  Sätzen  die  Idee  dieser  Kombina- 
tion mit  einiger  Sicherheit  aufzuweisen  vermögen. 

Einen  anziehenden ,  unstreitig  tiefer  begründeten  Fall  sehn 
wir  in  der  A  dur-Sonate,  Op.  101.  Nach  dem  ersten  Satze  folgt  — 
in  Fdur  und  #dur  ein  Scherzo  in  der  Form  eines  mächtig  sich  em- 
porkämpfenden Marsches  mit  Trio ;  das  Adagio  (hauptsächlich  A  mollj 
ist  unselbständig,  wie  die  S.  332  erwähnten,  mehr  eine  Ueberleitung 
zum  Finale;  doch  wird  zwischen  beiden  noch  der  Hauptgedanke 
des  ersten  Satzes  zurückgerufen.  —  Das  letzte  hierher  gehörige 
Beispiel  bietet  endlich  die  Sonata  quasi  una  Fantasia  in  Es  dur. 
Der  erste  Satz  ist  ein  Andante,  das  einen  zweitheiligen  Liedsatz, 


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Die  Fantasie. 


335 


einen  zweiten  ebenfalls  zweitheiligen,  abermals  in  Es  duv  stehenden, 
stark  nach  Cdur  hinwendenden  Liedsatz  bringt  und  mit  der  Wie- 
derholung des  ersten  Liedsatzes  schliesst.  Nun  folgt,  —  gleichsam 
als  Trio  zu  dem  Vorangegangnen,  —  ein  lebhaftes  Allegro  (zwei- 
theiliges Lied)  in  Cdur,  und  dann  die  Wiederholung  des  ersten 
Liedsatzes  in  Es,  mit  einem  Anhange.  Diese  ganze  Masse  ist  als 
erster  Satz  anzusehn,  —  wenigstens  ein  abgerundeter  Inbegriff 
von  Gedanken  an  der  Stelle  eines  ersten  Satzes.  Darauf  folgt  als 
zweiter  Satz  ein  Allegro  molto  vivace,  ein  normal  ausgebildetes 
Scherzo,  ein  Adagio  (4sdur)  und  das  S.  310  besprochne  Finale. 
Dieses  aber  schliesst  nicht  unmittelbar  ab,  sondern  zieht  nach  einem 
Halt  auf  der  Dominante  den  Hauptgedanken  des  Adagio,  diesmal 
im  Haupttone  (jEsdur),  nach  sich;  nun  erst  wird  im  Tempo  und  aus 
Motiven  des  Finale  wirklich  geschlossen. 


Achter  Abschnitt.  i 
Die  Fantasie. 

Ueberall  haben  wir,  von  einer  Grundform  als  Kern  eines 
ganzen  Formengebiets  ausgehend,  eine  Reihe  von  Gestaltungen  ge- 
funden, die  sich  von  jener  Grundform  aus  mannigfachen  Gründen 
mehr  und  mehr  loszulösen,  zu  emanzipiren  suchten,  selbst  bis  zur 
Granze  einer  andern  Form  und  über  sie  hinaus.  So  hat  sich  auch 
in  der  letzten  Reihe  von  Fällen  ein  immer  grösseres  Loslösen  von 
der  Grundform  der  Sonate  ergeben,  so  dass  in  den  letzten  vom  Re- 
griff  der  Sonate  im  Grunde  doch  nur  das  Allgemeine  blieb :  sie  sei 
ein  Inbegriff  verschiedner  selbständig  geformter  und  abgeschlossner, 
durch  eine  das  Ganze  durchdringende  oder  schaffende  Idee  und 
Stimmung  einheitlich  zusammengehöriger  Sätze.  Und  auch  das  nicht ; 
mehrmals  fanden  wir  das  Adagio  nicht  selbständig  abgeschlossen; 
sogar  die  Rildung  einzelner  Sätze,  z.  R.  des  ersten  in  der  zuletzt 
erwähnten  Komposition,  wich  von  den  regelmässigen  Formen  mehr- 
fach ab. 

So  sind  wir  denn  in  der  That  bereits  zu  dem  Punkte  gelangt, 
wo  wir  jede  der  bisher  festgestellten  Formen,  —  Satz  und  Gang, 
Lied  und  Fuge,  Rondo  und  Sonate,  und  wie  wir  sie  sonst  noch 
nennen  und  gegen  einander  stellen  mögen,  —  frei  ergreifen  und 
frei  wieder  verlassen,  wie  uns  die  höhere  Idee  eines  grössern  Gan- 
zen oder  auch  die  ziel-  und  fessellos  schweifende  Laune  gerade 
eingiebt.  Wissen  wir  doch  (Th.  II,  S.  93)  längst,  dass  sich  eine 
willkürlich  reiche  Zahl  von  Liedsätzen,  —  etwa  wie  eine  Folge 


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336  Mischformen  und  verbundne  Formen. 

lyrischer  Gedichte,  oder  wie  eine  unbestimmt  weit  gehende  Folge 
von  Gestalten  im  Basrelief,  —  an  einander  reihen  lässt,  nur  durch 
eine  allgemeine  Idee  oder  Stimmung,  vielleicht  gar  nur  durch  einende 
Modulation  zusammengehalten.  Einer  solchen  Folge  fehlt  die  ge- 
drungne Kraft  einer  ihren  Inhalt  mit  und  durch  einander  verarbeiten- 
den und  innerlichst  einenden  Form.  Aber  nicht  überall  ist  diese 
Kraft,  folglich  die  sie  hervorbringende  Form  Bedttrfniss.  An  die 
Stelle  jener  fest  ausgeprägten  Formen  kann  eine  tiefere,  kräftig 
einende  Idee  andre  frei  gewählte  und  frei  wechselnde  setzen.  Und 
zuletzt  hat  im  heitern  Kunstleben  auch  das  leichte  Schweifen  und 
Umherirren  sein  gutes  Recht,  ohne  Ziel  und  Zweck  als  sich  selber. 

Hiermit  erst,  —  indem  wir  erkennen,  dass  es  möglich  und 
statthaft  sei,  jede  voraus  bestimmte  Form  aufzugeben,  daranzugeben 
an  die  Freiheit  unseres  Geistes,  der  kein  andres  Gesetz  erkennt, 
als  sich  selber,  —  hiermit  erst  ist  die  ganze  Formenlehre 
an  ihrZiel  geführt,  sind  wir  inund  mit  ihr  unddurch 
sie  frei  geworden.  Es  ist  aber  das  nicht  die  vermeintliche 
Freiheit  des  Ungebildeten,  der  in  seiner  Armuth  und  Beschränktheit 
sich  frei  dünkt,  weil  er  nicht  vorauszusehn  vermag,  wie  oft  und 
wie  überall  er  auf  die  Schranken  und  in  die  Irr-  und  Rückgänge 
seiner  Wegesunkunde  gerathen  wird,  sondern  die  sichere  Freiheit 
dessen,  der  alle  Richtungen  und  Wege  kennt t  folglich  jeden  mit 
dem  andern  vertauschen,  auch  wohl  querfeldein  gehn  kann  ohne 
Gefahr  sich  zu  verirren. 

Die  Gestaltungen,  in  welchen  sich  dieser  letzte  Schritt  zur 
Freiheit  thut,  fassen  wir  mit  dem  Namen 

Fantasie 

zusammen,  ohne  weitere  Rücksicht  auf  die  bisweilen  nebenbei  auf- 
geführten Namen  der  Tokkate  (wenn  sich  in  der  Fantasie  ein 
besondrer  Spielreichthum  zeigt),  des  Capriccio  (wenn  besonders 
eigensinnige  Gedanken  oder  Spielweisen  geltend  werden),  des  Potr- 
pourri  (meist  ein  Ragout  aus  Andrer  Schüsseln)  und  andrer,  die 
den  besondern  Inhalt  der  Komposition  unterscheiden  sollen. 

Es  liegt  im  Begriff  der  Sache,  dass  die  Fantasie  keinen  be- 
stimmten Weg  gehn,  keine  bestimmte  Form  haben  kann ;  denn  ihr 
Wesen  beruht  ja  eben  darauf,  von  jeder  bestimmten  Form  abzu- 
gehn.  Daher  ist  auch  für  sie  schlechthin  gar  kein  Gesetz,  nicht 
einmal  das  zu  geben:  dass  ein  Hauptton  festgehalten  oder  zuletzt 
wiedergebracht  werden  müsse,  —  obgleich  das  Letztere  meist  zu- 
treffen mag.  Wir  können  vielmehr  beobachten,  dass  die  Gestalten 
der  Fantasie  von  einer  festen,  nur  frei  gewählten  Formung  an  bis 
in  das  freieste  Sicbgehnlassen  wechseln,  werden  also  auch  ge- 
fasst  sein  müssen,  hier  wie  auf  jeder  Formgränze  Gestalten  zu 


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Die  Fantasie. 


337 


begegnen,  von  denen  sich  gar  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen  lässt, 
ob  sie  hüben  oder  drüben  zu  Hause  sind. 

So  hat  Beethoven  zwei  Sonaten  (ü'sdur  und  C&moll,  Op.  27) 
den  Beinamen  »quasi  una  Fantasia«  gegeben,  um  die  Ab- 
schweifung von  der  festern  und  vollständigen  Sonatenform  anzudeu- 
ten ;  es  liegt  in  der  Benennung  selbst  ausgesprochen,  dass  sich 
nicht  habe  festsetzen  lassen,  ob  die  Kompositionen  Sonaten  oder 
nicht  viel  mehr  Fantasien  seien.  Umgekehrt  hat  uns  Mozart  mit 
zwei  Kompositionen  (sie  gehören  zu  seinen  schönsten  Klavierwerken) 
beschenkt,  die  so  fest  geformt  sind,  —  ja  noch  einheitvoller,  als 
irgend  eine  Sonate,  gleichwohl  von  der  Grundform  der  Sonate  ent- 
schieden abweichen.  Die  eine  bringt  nach  einem  einleitenden  Adagio 
(No.  372)  einen  sonatenförmigen  Satz  (No.  383)  als  Hauptpartie 
des  Ganzen  und  kehrt  von  ihm  auf  das  einleitende  Adagio  zurück, 
das  in  weiterer,  tief  ernster  Ausführung  den  Schluss  des  Ganzen  bil- 
det; die  drei  Sätze,  —  Fmoll,  f'dur,  /?moll,  —  sind  formell  eng 
verbunden,  indem  die  beiden  ersten  auf  der  Dominante  schliessen, 
also  zum  weitern  Fortgange  drängen*.  Die  andre  Komposition** 
hat  eine  sehr  ähnliche  Konstruktion.  Sie  stellt  zuerst  nach  einer 
Einleitung  im  selben  Tempo  (Allegro,  Fmoil)  ein  Fugato  auf,  das 
in  kühner  Modulation  zum  Einleitungssatze  zurückgreift  und  auf  der 
Dominante  schliesst.  Hier  —  also  ohne  Abschluss  —  folgt  in 
Xsdur  ein  seelenvolles  Andante,  das  wieder  auf  die  Einleitung 
(erst  i46'dur,  dann  .Fmoll)  zurückführt,  und  zwar  ebenfalls  ohne 
festen  Abschluss.  Auch  das  Fugato,  mit  einem  neuen  Gegensatz 
und  neuer  Behandlung,  kehrt  wieder,  der  Einleitungssatz  giebt  aber- 
mals den  Schluss  und  damit  das  Ende  des  Ganzen.  Diese  letztere 
Komposition  steht  der  Grundform  der  Sonate  insofern  noch  näher, 
als  die  erstere,  weil  sie  mit  lebhaften  Sätzen  beginnt  und  schliesst 
und  einen  langsamem  in  die  Mitte  stellt.  Gleichwohl  hat  Mozart 
diese  Fantasie  und  jene  Sonate  genannt,  ein  offenbares  Zeugniss, 
dass  auch  er  strenge  und  sichere  Bezeichnung  der  Form  un- 
möglich fand.  —  Von  der  Sonate  unterscheiden  sich  übrigens  beide 
Kompositionen  nicht  bloss  dadurch,  dass  ihre  Sätze  stets  in  einan- 
der überführen,  sondern  auch  durch  die  Bückkehr  auf  den  ersten 
Satz,  während  die  Sonate  zwar  an  denselben  erinnern  kann,  stets 
aber  ein  eigentümliches  Finale  bringt. 

Freier  gestaltet  sich  schon  Mozart's  Fantasie  und  Fuge*** 


*  Hier  ist  der  alte,  S.  322  in  Erinnerung  gebrachte  Gegensatz:  Ruhe  — 
Bewegung  —  Ruhe,  also  Norm  geworden. 

**  Sie  ist  ebenfalls  vierhändig  und  findet  sich  im  achten  Heft  der  Breitkopf- 
Härtel'schen  Ausgabe  (ist  in  neuer  Ausgabe  auch  einzeln  erschienen).  Vergl. 
Th.  II,  S.  475. 

***  Im  achten  Heft  (No.  4  der  einzeln  herausgegebnen  »Zwölf  Klavierstücke«). 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  22 


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338  Mischformen  und  verbundne  Formen. 


in  Cdur.  Eine  Einleitung  (Adagio)  führt  zu  einem  weit,  geistreich 
und  schwunghaft  geführten  vorspielartigen  Satz  (er  hat  keine  be- 
stimmte Tonart,  sondern  fangt  in  Z)moll  an,  schweift  ganz  frei 
weiter,  unterbricht  sich  endlich  auf  D-  und  A  moll,  führt  nochmals 
weiter  auf  die  Dominante),  worauf  eine  ziemlich  streng  durch- 
geführte Fuge  (Cdur)  das  Ganze  beschliesst. 

Noch  weit  mannigfaltiger  stellt  sich  die  grosse  Fantasie  und  So- 
nate aus  Cmoll*  von  Mozart  dar.  Den  Gipfel  des  Ganzen  bil- 
det die  Sonate,  von  der  schon  S.  273  und  295  Einiges  erwähnt 
worden,  so  dass  die  Fantasie  zu  ihr  gewissermassen  die  Einleitung 
bildet,  aber  eine  so  umfassende,  dass  sie  vielleicht  eher  für  sich 
befriedigen,  als  noch  auf  Weiteres  und  gar  auf  eine  neue  Kom- 
position in  drei  abgesonderten  Sätzen  hindrängen  mag.  Ein  einlei- 
tendes Adagio,  Cmoll,  führt  zu  einem  neuen  Satze  (der  uns  An- 
dante scheint)  in  Ddur;  ihm  folgt  ein  Allegro,  in  AmoW  eintretend, 
diesem  einAndantino  inifdur,  dann  ein  neues  Allegro  in  G  moll,  end- 
lich im  Hauptton  und  erster  Bewegung  der  erste  Salz,  jedoch  in 
neuer  Ausführung;  so  dass  wir  bis  zur  Sonate  fünf  oder  sechs 
Partien  zu  unterscheiden  haben,  die  alle  in  einander  überführen 
und  deren  jede  nach  Mozart'scher  Weise  aus  mannigfachen  Sätzen 
und  Zügen  gebildet  ist. 

Und  hier  müssen  wir  zuletzt  noch  auf  unsern  Altmeister  Se- 
bastian Bach  zurückkehren,  der  sich  auch  in  der  Fantasie  viel- 
fach auf  das  Glücklichste  und  oft  auf  das  Tiefsinnigste  bewegt  und 
bewährt  hat;  die  meisten  seiner  Fantasien  (oft  auch  Tokkaten  ge- 
nannt) werden  dann,  wie  man  vom  Fugenmeister  schon  erwarten 
muss,  von  einer  Fuge  gekrönt.  Von  allen  sei  nur  seine  chro- 
matische Fantasie**  in  Erinnerung  gebracht,  eins  der  reich- 
sten und  tiefsinnigsten  Werke,  in  jedem  Zuge  des  Geistes  voll, 
auch  nicht  in  einem  einzigen  —  wie  man  wohl  gelegentlich  selbst 
von  guten  Musikern  hören  muss  —  ein  leeres,  der  veralteten  Mode 
jener  Zeit  ( — ! — )  verfallnes  Tonspiel.  Man  lerne  sie  nur  kennen 
und  gehe  mit  der  Pietät  heran,  die  einem  der  grössten  Meister  aller 
Kunst  gebührt,  um  sie  ganz  zu  durchdringen. 

Nur  ungern  versagen  wir  uns  hier  nach  der  Bestimmung  und 
den  nothwendigen  Schranken  des  Werks  näher  Eingehn  auf  ein 
unsterbliches  Werk,  dem  nicht  nur  die  Abwendung  vieler  Zeit- 
genossen, sondern  eine  —  wie  uns  scheint  —  missverständige  Tra- 


*  Heft  6  der  Breitkopf-Httrtel'schen  Gesammt-,  No.  M  der  Einzelausgabe ; 
die  Fantasie  ist  auch  besonders  als  No.  7  der  einzelnen  »Zwölf  Klavierstücke« 
erschienen. 

**  Band  4  der  Peters'schen  Gesamratausgabe.  Eine  näher  auf  ihre  Idee  ein- 
gehende Abhandlung  vom  Verf.  findet  sich  in  No.  3  der  Allgem.  musik.  Zeitung 
von  1848. 


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Die  Fantasie. 


339 


dition  über  die  Vortragsweise  des  Komponisten  und  seiner  Nächst- 
angehörigen in  Wirkung  und  Verbreitung  hinderlich  geworden. 
Bloss  das  Eine  sei  angemerkt,  dass  aus  hastig,  unstät  vortiberja- 
gender  Tonflucht  sich  endlich  feste  Harmoniemassen  emporheben  und 
als  Hauptpartie  der  Fantasie  ein  tief  bedeutungsvolles  Rezitativ  gar 
Viel  zu  klagen  und  zu  erzählen  hat,  ehe  die  Fuge  ihren  festern 
Gesang  anstimmt  und  denselben  zur  Macht  eines  grosssinnig  klagen- 
den Hymnus  emporhebt. 

Hier  deutet  schon  die  wesentlich  nicht  der  Instrumentalmusik 
eigne  Form  des  Rezitativs  an,  dass  dem  Tondichter  wohl  eine  be- 
stimmtere Idee  vorgeschwebt  haben  müsse.  Ein  Gleiches  Hesse  sich 
von  der  zuvor  erwähnten  Cis moll-Sonate  von  Beethoven  nach- 
weisen, deren  drei  Sätze  eine  durchaus  psychologische  Folge  von 
Seelenzuständen  enthüllen.  Gleichen  Antrieben,  jedoch  von  ganz 
abweichendem  Inhalt,  ist  der  Verfasser  sich  bewusst,  in  seinen  vier- 
bändigen Fantasien  »Um  Mitternacht«  und  »Am  Nordgestadear  * 
gefolgt  zu  sein.  Das  Fugato,  das  die  erstere  eröffnet,  der  Ueber- 
gang  desselben  zu  einem  Arioso  oder  Monolog,  der  heftige  Allegro- 
satz, in  dem  Liedform  und  Doppelfuge  sich  mischen,  die  Erinnerung 
an  den  Anfang  :  das  Alles  mochte  wohl  nicht  ohne  innere  Notwen- 
digkeit so  geworden  sein,  da  äusserlich  bequemere,  annehmlichere, 
gewohntere  Gestaltungen  näher  oder  eben  so  nahe  gelegen  hätten. 
Allein  dem  Künstler  stellen  sich  bisweilen  andre  Aufgaben,  als  die 
zunächst  liegenden  und  zunächst  fasslichen ;  er  geht  nicht  ihnen, 
sie  gehen  ihm  nach  und  er  muss  ihnen  gehorchen. 

In  andern  Fantasien  ist  eine  bestimmtere  Idee  nicht  nachweis- 
bar; wenigstens  wüsste  der  Verfasser  sie  in  der  andern  Sonata 
quasi  una  Fantasia  (aus  Zssdur)  von  Beethoven,  in  den  zahl- 
reichen Fantasien  Seb.  Bach's  (mit  Ausnahme  der  chromatischen), 
sowie  in  Mozart's  Cdur-  und  dessen  grosser  Cmoll-Fantasie 
nicht  aufzufinden.  Hier  waltet  eben  die  fessellos  schweifende  Phan- 
tasie des  Tondichters  und  reiht  Stimmungen  an  einander,  die  sich 
nicht  weiter  haben  bestimmen  lassen.  Es  tritt  hier  die  andre  Seite 
der  Musik  (und  des  Seelenlebens)  hervor,  die  nicht  sowohl  aus  An- 
regungen zu  bestimmtem  Gefühlen  und  Vorstellungen  vorschreitet, 
sondern  vielmehr  umgekehrt  das  Feste,  das  in  Bewusstsein  oderStim- 
mung  vorhanden  war,  auflöst  und  wie  im  Halbschlummer  oder 
Traum  eins  um  das  Andre  vorüber-  und  dahinschwinden  lässt  auf 
den  luftigen  Ton  wellen  und  gleich  ihnen. 

Man  würde  eben  so  arg  fehlen,  wenn  man  diese  oft  so  reiz- 
vollen, oft  wahrhaft  beseligenden  Träume  verbannen  oder  gering 
achten,  als  wenn  man  jene  Bildungen  von  bestimmtem)  Inhalt  verkennen 


*  Bei  Hofmeister  in  Leipzig  herausgegeben. 

22* 


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340 


Mischformen  und  verbundne  Formen. 


wollte,  oder  gar  der  Tonkunst  die  Fähigkeit  dazu  abzusprechen  sich 
unterfinge;  alle  Meister  ohne  Ausnahme  haben  für  Beides  (wenn 
auch  nicht  alle  in  der  Form  der  Fantasie)  Zeugniss  abgelegt.  Jeder 
Künstler  nimmt,  was  ihm  gegeben  oder  in  ihm  gezeitigt  wird,  dank- 
bar und  pflichttreu  auf  und  bildet  es  mit  Liebe  und  Hingebung  aus. 
Am  wenigsten  ziemt  es  dem  Jünger,  Eins  oder  das  Andre  zu  suchen 
oder  zu  bannen.  Ohnehin  ist  ihm  aber  die  Fantasie  keine  zur 
Uebung  gestellte  Form,  —  das  absolut  Freie  kann  nicht  nach  Vor- 
schrift gebildet  werden,  —  sondern  nur  eine  solche,  die  er  kennen 
muss,  die  im  Kreise  der  gesammten  Formen  nicht  übergangen  wer- 
den durfte. 

Dass  endlich  gar  oft  Künstler  unter  dem  Titel  von  Fantasien, 
auch  mit  bestimmterer  Angabe  des  Inhalts,  bei  ihren  Kompositionen 
Gemüthzustände  und  Vorstellungen  im  Sinne  getragen,  die  musika- 
lisch zu  offenbaren  ihnen  nicht  gelungen  oder  überhaupt  nicht  mög- 
lich war  (man  denke  an  so  viele  Schlacht-  und  Naturgemälde  älte- 
rer Tonsetzer,  an  die  zahllosen  Souvenirs  de  Paris  u.  s.  w.  unserer 
Virtuosen,  an  die  parfttmirt-poetisirenden  Titel  oder  andeutenden 
Motto' s  aus  »Faust«  oder  andern  Gedichten  in  neuester  Zeit)  kann 
und  soll  nicht  geleugnet  werden.  Allein  beweist  das  Misslingen 
oder  Irren  in  noch  so  viel  einzelnen  Fällen  etwas  gegen  eine  ganze 
aus  dem  Wesen  der  Kunst  und  so  viel  gelungnen  Werken  voll- 
kommen festgestellte  Kunstrichtung?  —  Oft  sogar  liegt  das  schein- 
bare Verfehlen  nur  in  einer  nicht  bezeichnend  genug  gewählten  An- 
deutung des  Inhalts,  oder  in  der  Natur  desselben,  wenn  dieser 
zwar  ein  künstlerisch  darstellbarer,  aber  dem  Vorstellungskreis  der 
Meisten  weniger  nahe  liegender  ist.  Denn  allerdings  ist  jenes  Wort 
Goethe's 

Wer  den  Dichter  will  verstehn, 
Muss  in  Dichters  Lande  gehn 

nicht  Jedermanns  Sache;  und  stets  hat  das  dem  Gewohnten  Näher- 
liegende, das  Leichtfassliche,  das  Alte  unter  dem  Scheine  der  Neu- 
heit vor  dem  Tiefern,  Fremdern,  Neuen  die  erste  und  ausgebrei- 
tetste  Gunst  davon  getragen. 

Wie  es  sich  aber  auch  damit  verhalte  (die  Musikwissenschaft 
wird  darauf  ernstlicher  eingehn  müssen) ,  so  liegt  doch  in  der  Zwei- 
felhaftigkeit  solcher  Unternehmungen  hinlänglicher  Grund,  den  Jün- 
ger nicht  zu  ihnen  hinzulocken,  sondern  eher  von  ihnen  abzumah- 
nen, —  bis  innere,  unabweisbare  Nothwendigkeit  ihn  dahin  zieht*. 


*  Hierzu  der  Anhang  N. 


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Siebentes  Buch, 


Die  Elementar-  und  reine  Vokal 

komposition. 


I.  Vorbemerkung 


Der  Gegenstand  dieses  Buches  ist  in  mehrfacher  Hinsicht  von 
vorzüglicher  Wichtigkeit. 

Die  Gesangkomposition  ist  die  eine  Hälfte  unsrer  Musik,  und 
zwar  diejenige,  welcher  die  umfassendsten  Kunstaufgaben, 
das  Oratorium  und  die  Oper,  angehören. 

Sie  ist  zugleich  als  die  ursprüngliche  Musik,  als  die 
dem  Menschen  eigenste  und  treueste  anzusehn;  denn  sie  ist 
nicht  bloss  wie  alle  Kunst  Erzeugniss  seines  Geistes,  sondern  auch 
in  der  Ausführung  —  folglich  im  vorempfindenden  Sinne  des  Künst- 
lers gleichermassen  —  unmittelbare  und  reine,  durch  keine  Ein- 
mischung fremder  äusserer  Werkzeuge  zerstreute  und  getrübte 
Aeusserung  des  Lebensorganismus  selber.  Darum  empfinden  wir 
in  ihr  am  tiefsten  und  können  an  ihr  sicher  treffende  Beobachtun- 
gen und  Erfahrungen  über  das  innerste  Wesen  aller  Musik  über- 
haupt sammeln,  die  zu  unsrer  höchsten  Ausbildung  nöthig,  auch  in 
unsrer  rein  instrumentalen  Kunstthätigkeit,  richtig  verwendet,  vom 
wichtigsten  Einflüsse  sind. 

Endlich  schliesst  sich  auf  ihrem  Gebiete  der  Bund  zwischen 
Musik  und  Sprache,  Tonkunst  und  Dichtkunst.  Hiermit  ver- 
doppelt sich  zunächst  Kraft  und  Reichthum  des  Künstlers,  erwächst 
ihm  aber  zu  gleicher  Zeit  die  Pflicht,  sich  auch  in  dem  neuen  ver- 
wandtschaftlichen Gebiet  einheimisch  zu  machen,  damit  ihm  nicht 
der  Angewinn  zur  Belästigung  und  Hemmniss  werde,  statt  zur  För- 
derung und  Kräftigung.  Sodann  aber  werden  ihm  durch  den  Zutritt 
des  heller  bewussten  Geistes  in  der  Sprache  Einsichten  in  die  eigne 
Kunst  eröffnet  oder  bestätigt,  die  er  in  dem  verhüllten  Wesen  der 
Musik  gar  nicht  oder  nicht  mit  gleicher  Sicherheit  gewinnen  könnte. 

Aus  diesen  Gründen  muss  ernstlichst  ausgesprochen  werden, 
dass  ohne  tiefes  Studium  der  Gesangmusik  die  Bildung  des  Künst- 
lers nicht  nur  unvollständig  und  einseitig,  wie  bei  jeder  Lückenhaf- 
tigkeit (Th.  I,  S.  13)  bleiben,  sondern  auch  der  tiefsten  Begründung 
und  Befestigung  entbehren  würde.  Wer  nicht  singen  kann,  — 
gleichviel  ob  mit  schöner  oder  weniger  schöner  Stimme,  ob  mit 
Sängerfertigkeit  (Bravour)  oder  nicht,  —  wer  nicht  mit  vollem 
An t heil  der  Seele  singt  oder  gesungen  hat:  dem  kann  Voll- 
endunginderMusikschwerlich  zuTheil  werden;  oder, 


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344 


Vorbemerkung. 


wenn  doch,  nur  mit  unberechenbar  grösserm  Arbeits-  und  Zeitauf- 
wand und  stets  wieder  von  Zweifeln  beunruhigt  und  gestört,  die 
dem  Sangeskundigen  und  eignen  Sanges  Frohen  gar  nicht  mehr 
nahen  können. 

Aber  wiederum  ist  künstlerische  Vollendung  des  Gesangs  oder 
der  tiefsten  Empfänglichkeit  und  Verständniss  dafür  ohne  Aus- 
bildung der  Sprache,  ohne  befruchtenden  und  bildenden  vertrauten 
Umgang  mit  der  Dichtkunst,  überhaupt  mit  der  Litteratur,  nicht 
wohl  denkbar,  wie  oft  uns  auch  einseitige,  aber  dabei  hohe  Begabung 
eines  Sängers  vergnügen,  ja  entzücken  und  jener  höchsten  Foderung 
vergessen  machen  möge. 

Und  so  gelangen  wir  allerdings  zuletzt  zu  der  Einsicht:  dass 
man  vollendeter  Mensch  sein  müsse,  um  vollende- 
ter Künstler  zu  sein,  und  dass  die  Bildung  für  eine  Kunst, 
wenn  sie  sich  vollenden  will,  weit  über  die  Grenzen  dieser  Kunst 
hinaus  sich  auszudehnen  habe,  weil  eben  —  wie  wir  oft  gesehn  — 
im  Leben  des  Geistes  keine  scharfe  Gränzlinie,  innerhalb  deren 
man  sich  absperre  und  genüge,  gezogen  werden  kann*. 

Sollen  aber  die  vornehmsten  Helfer  in  diesem  Studium  —  mehr 
dürfen  wir  uns  hier  nicht  gestatten  —  zum  voraus  bezeichnet  wer- 
den:  so  nennen  wir  die  Namen  Seb.  Bach,  Händel,  Gluck 
aus  der  Reihe  der  Musiker,  die  Luther'sche  Bibel  und  Goethe 
aus  dem  weiten  Reiche  der  deutschen  Litteratur  als  diejenigen,  de- 
ren vertrautester  Umgang,  deren  tiefstes  Studium  Niemandem  ohne 
unersetzlichen  Schaden  entbehrlich  ist.  Es  versteht  sich  dabei  von 
selbst,  dass  Gluck  nur  in  der  Sprache,  für  die  er  komponirt  hat, 
mit  seinen  französischen  und  italienischen  Urtexten,  wahrhaft  er- 
kannt werden  kann.  Bei  Handel  in  Bezug  auf  seine  englischen 
Texte  hindert  den  Verfasser  Mangel  an  vertrauterer  Kenntniss  der 
englischen  Sprache  an  einem  bestimmten  Urtheil.  Die  Verwandt- 
schaft dieser  Sprache  mit  der  unsrigen  scheint  der  Erkenntniss  des 
Komponisten  auch  mit  deutscher  Uebersetzung  förderlich ;  zudem 
möchte  manche  Eigenthümlichkeit  des  englischen  Idioms  für  reine 
und  edlere  Musikwirkungen  dem  deutschen  Sinne  störender  sein, 
als  der  Verlust,  den  jede  Uebersetzung  in  Vergleich  mit  dem  Ori- 
ginal bringt.  Doch  hindert,  wie  gesagt,  zu  grosse  Unkunde  der 
Sprache,  dieser  Vermuthung  den  Nachdruck  eines  vollkommen  be- 
gründeten Unheils  zu  geben.  Die  Sprache  Shakespeare^  und 
B  y  ron's  birgt  wohl  Schönheiten  andrer  Art,  die  sich  nur  dem  Ver- 
trauten erschliessen. 


*  In  des  Verf.  Methodik  (Die  Musik  des  neunzehnten  Jahrhun- 
derts und  ihre  Pflege)  ist  dieser  Gedanke  befriedigender  ausgeführt  und 
der  Weg  zur  höchsten  künstlerischen  Vollendung  gebahnt. 


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345 


II.  Allgemeine  Uebersicht. 

Alle  Gesangmusik  wird  ausgeübt  entweder  von  blossen  Sing- 
stimmen und  heisst  dann 

reine  Vokal-  oder  Gesangmusik, 
oder  von  Singstimmen  unter  Mitwirkung  eines  oder  mehrerer  In- 
strumente und  heisst  dann 

begleitete  Gesangmusik. 
Ferner  ist  eine  Gesangkomposition  entweder  zum  Vortrag  durch 
einen  einzelnen  Sänger  —  gleichviel  ob  mit  oder  ohne  Begleitung  — 
bestimmt  und  heisst  dann 

Sologesang,  — 

der  Sänger  aber 

Solosänger; 

oder  sie  enthält  mehrere  durch  einzelne  Sänger  (Solosänger)  aus- 
zuübende Stimmen  und  heisst  dann 

Ensemble, 

und  zwar  nach  der  Zahl  der  Singstimmen  Duett,  Terzett, 
Quartett  u.  s.  w.;  oder  es  soll  die  eine  Singparlic  oder  von  meh- 
rern Singstimmen  eine  jede  von  mehrern  oder  vielen  mit  einander 
wirkenden  Sängern,  —  im  Tutti,  —  ausgeführt  werden;  dann 
heisst  sie 

Chor, 

oder  es  sollen  zwei  Chöre  (Doppelchor)  oder  Chor  und  Solo 
u.  s.  w.  vereint  wirken. 

Im  gegenwärtigen  siebenten  Buche  kommen  von  den  Formen 
des  Sologesangs  nur  zwei  in  Betracht,  das  Rezitativ  und 
das  Lied,  von  den  Chorformen  ebenfalls  das  Lied,  dann  die 
Figural- und  Fugenformen,  und  die  Motette.  Es  sind  dies 
Formen,  die,  ohne  tiefere  Rücksicht  auf  Begleitung  erfassbar,  allen 
weitern  im  Studium  vorangeschickt  werden  müssen.  Die  andern 
Gesangformen  können  erst  nach  der  Lehre  von  der  Orchester- 
behandlung (im  zehnten  Buche)  befriedigend  und  mit  Erfolg  dar- 
gestellt werden. 


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Krstc  Abtheilung. 


Vorstudien. 

Der  Gesang  ist  ohne  eine  der  Berücksichtigung  bedürfende 
Ausnahme*  mit  der  Sprache,  mit  Worten,  die  gesungen  wer- 
den und  in  dieser  Beziehung  bekanntlich  der  Text  oder  Gesang- 
text heissen,  verbunden.  Abgesehen  hiervon  ist  der  Gesang  eine 
durch  die  menschliche  Stimme  zu  verwirklichende  Musik ,  d  i  e  S  t  i  m  m  e 
ist  das  Gesangorgan. 

Dieser  Hinblick  auf  das  neue  Gebiet  zeigt  uns  die  nächsten 
Gegenstände  unsers  Studiums.   Wir  müssen  uns 
mit  dem  Gesangorgan, 

mit  der  Sprache  im  Allgemeinen,  zufolge  ihrer  Vereini- 
gung mit  dem  Gesang, 
mit  dem  Text,  den  für  Gesang  bestimmten  sprachlichen 

Sätzen,  —  und  den  Bedingungen, 
unter  welchen  die  Sprache  sich  zur  Vereinigung  mit  dem  Gesang 
und  zur  Verwendung  für  bestimmte  Kompositionen  eignet,  vertraut 
machen. 

Diese  Gegenstände  sind  in  unserm  Kreise  neu  und  zugleich  die 
nächstnöthigen,  da  ohne  sie  keine  Gesangmusik  besteht.  Ihnen  ge- 
sellt sich  noch  ein  vierter  Gegenstand, 

die  Begleitung  des  Gesangs  durch  Instrumentspiel, 
an.  Er  ist  unstreitig  ein  höchst  wichtiger.  Dennoch  kann  er  für 
unsern  gegenwärtigen  Standpunkt  nur  untergeordnete  Geltung  haben; 
denn  einestheils  ist  die  Begleitungslehre  schon  Th.  I,  S.  389  und 
anderwärts,  so  wie  die  Behandlung  wenigstens  eines  zur  Gesang- 
begleitung vorzüglich  geeigneten  Instruments,  des  Klaviers,  Th.  III, 
S.  17  zur  Berücksichtigung  gekommen;  anderntheils  kann  die  Be- 
gleitung bei  dem  Gesänge  bald  ganz  entbehrt  werden,  bald  in  höchst 
untergeordneter  Weise  genügen;  endlich  aber  kann  das  Höchste, 
was  sie  zu  leisten  hat,  erst  nach  der  Bekanntschaft  mit  dem  Or- 
chester, im  vierten  Theil,  seine  gebührende  Stelle  finden. 

Daher  wird  die  Begleitung  in  den  nächstfolgenden  Abtheilungen 
nur  als  beiläufiges  Hülfsmittel  zur  Sprache  und  Anwendung  kommen. 


*  Die  Ausnahmen  wären:  1}  Solfeggicn,  bekanntlich  blosse  Stiromübun- 
gen  (gangartig,  präludienartig,  Med-  oder  auch  wohl  arienförmig)  ohne  bestimm- 
ten Text;  4)  bloss  begleitende  Singstimmen  zur  Unterlage  einer  mit  Text  ver- 
sehenen Hauptstimme.  Spontini  hat  in  seiner  Nurmahal  einen  Genienchor 
bloss  auf  A  vokalisirend  gesetzt,  um  ihm  ätherische  Durchsichtigkeit  zu  ertheilen. 


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Organ  des  Gesangs  u.  seine  künstler.  Gesetze. 


347 


Erster  Abschnitt. 

Das  Organ  des  Gesangs  und  seine  künstlerischen  Gesetze 

im  Allgemeinen. 

Das  Organ  des  Gesangs  ist  bekanntlich  die  menschliche  Stimme, 
die  einen  ganzen  Kreis  von  Organen  des  Körpers  für  sich  in  An- 
spruch nimmt. 

Jede  Stimmäusserung  erfolgt  bekanntlich  mittels  des  Athems, 
der  durch  die  Thätigkeit  der  Lunge  und  der  dieser  dienenden  Mus- 
kulatur der  Brust  iu  einer  Weise  ausgeströmt  wird,  die  sich  zur 
Ton-  und  Klangerzeugung  eignet.  Diese  Ton-  und  Klangerzeugung 
geschieht  im  Kehlkopf,  in  dem  vorzugsweis  so  genannten  Stimm- 
organ. Der  hier  geschaffne  Ton  und  Klang  findet  im  Munde 
Verstärkung  und  theils  durch  den  Bau  und  die  Haltung  desselben 
weitere  Modifikation  im  Klange,  theils  auch  tritt  durch  die  im  oder 
am  Munde  konzentrirten  Sprachwerkzeuge  dem  Tonklange 
noch  die  Artikulation  (die  Bildung  der  Sprachlaute)  zu.  So 
nehmen  wir  also  bei  dem  Gesang  zunächst  die  Thätigkeit  dreier 
Organe  (oder  Systeme  von  Organen)  wahr: 
\)  das  Organ  der  Athmung, 

2)  das  Organ  der  Ton-  und  Klangbildung, 

3)  das  Organ  der  Lautbildung  oder  kurzweg  der 
Sprache, 

deren  nähere  Zergliederung  und  Erkenntniss  wir  uns  hier  erlassen 
dürfen. 

Diese  Organe  offenbaren  vor  allem  eine  karakteristische  Eigen- 
schaft, die  wohl  zu  beherzigen  ist,  weil  sie  sogleich  eine  Reihe 
höchst  wichtiger  Lehren  anschaulich  und  eindringlich  macht.  Sie  sind 
nämlich 

recht  eigentlich  die  Organe,  aus  denen  die  Musik  des 
Menschen,  —  die  musikalisch  und  zu  musikalischer  Aeusse- 
rung  erweckte  Seele,  der  von  Musik  erfüllte  und  in  ihr  zur 
Bethätigung  kommende  Geist  des  Menschen,  —  unmittel- 
bar sich  kundgiebt. 

Der  Athem  —  das  Brustleben  —  ist  vor  allem  erste  Aeusse- 
rung  des  entbundnen  Lebens,  seine  Bewegung,  seine  Kraft  u.  s.  w., 
unmittelbarer  Ausdruck  der  grössern  oder  mindern  Erregtheit 
und  Kraft  des  Lebens;  die  Modulation  von  Ton  und  Klang  im 
Kehlkopf  und  Mund  ist  unmittelbarer  Ausdruck  der  musikalischen 
Empfindung,  Vorstellung  im  Menschen;  die  Lautbildung  ist  theils 
derselben  Sphäre  zugehörig,  theils  die  musikverwandte  Grundlage 
für  die  Sprache,  für  das  eigenste  Organ  des  Gedankens.  So  ist  die 


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348 


Vorstudien. 


Bethätigung  der  Singorgane  das  unmittelbare  Erzeugniss  und  der 
unmittelbare  Ausdruck  der  musikalischen  Regung ;  diese  Regung  und 
jene  Aeusserung  oder  Bethätigung  sind  so  innig  verbunden,  wie 
Leib  und  Seele. 

Nicht  in  gleicher  Weise  verhält  es  sich  mit  der  instrumentalen 
Hervorbringung  der  Musik.  Bei  allen  Instrumenten  wird 
der  Schall  aus  einem  todten  Werkzeug  hervorgerufen 
und  hängt  zunächst  und  hauptsächlich  von  dessen  Beschaffenheit  ab ; 
die  Einwirkung  des  Menschen  auf  diese  Instrumente  ist  aber  Vor- 
zugs weis  eine  mechanische,  —  obwohl  bei  dem  Druck  der  spie- 
lenden Hand  und  noch  mehr  bei  dem  Einhauch  in  das  Blasinstrument 
und  der  Mitthätigkeit  des  Mundes  eine  gewissermassen  sympathe- 
tische Theilnahme  des  Gefühls  nicht  unbeachtet  bleiben  kann. 

Aus  dieser  Anschauung  des  Gesangorgans  ergiebt  sich  so- 
gleich, dass  demselben  nur  solche  Bethätigung  gemäss  und  durch 
dasselbe  zweckmässig  wirksam  sein  kann,  die  eben  so  unmittelbar 
und  einfach  aus  dem  Gefühl  der  musikalisch  angeregten  Seele  her- 
vorgeht, die  die  reinen,  gleichsam  ursprünglichen  Regungen  des  Em- 
pfindens musikalisch  wiedergiebt.  Wie  weit  auch  die  Musik  fähig 
sei,  Vorstellungen,  Ideen  mannigfacher  Art  zu  verwirklichen,  oder 
ahnen  zu  lassen,  —  eine  Frage,  die  erst  in  der  Musikwissenschaft 
erörtert  werden  kann,  —  und  wie  weit  und  reich  sich  auch  zu 
solchen  Zwecken  der  Kreis  ihrer  Mittel  und  Gestaltungen  in  der 
Instrumentalmusik  ausdehne :  die  Gesangmusik  ist  schon  durch  das 
Wesen  ihrer  Organe  Vorzugs w eis  —  mit  nicht  entscheidenden, 
erst  in  der  Musikwissenschaft  zu  berührenden  Ausnahmen  —  auf 
den  reinen  Ausdruck  der  menschlichen  Seelenbewe- 
gungen angewiesen,  da  sie  in  all'  ihren  Elementen  schon  gar  nichts 
Andres  ist,  als  Ausbruch,  Ausdruck  dieser  Erregungen. 

Von  Grund  aus  hat  daher  vor  allem  die  Gesangkomposition  die- 
sem ihrem  Ursprung  unverbrüchlichste  Treue  zu  bewahren ;  Verir- 
rung,  Willkür  oder  Unwahrheit  ist  in  ihr  um  so  viel  mehr  störend 
und  verletzend,  je  enger  sie  organisch  mit  dem  Gefühl  im  Menschen 
zusammenhängt.  Dafür  spricht  aber  auch  die  Wahrheit  und  Tiefe 
der  Gemüthsbewegung  aus  ihr  um  so  viel  mächtiger,  als  aus  den 
dem  Menschen  entlegnem  Organen  der  Instrumentalmusik. 

Alle  Gesetze  ferner,  die  wir  überhaupt  in  der  Musik  erkennen, 
werden  in  der  Gesangmusik  von  doppelter  Wichtigkeit,  Verstösse 
gegen  jene  werden  in  dieser  von  doppeltem  Nachtheil  sein.  Ueber- 
blicken  wir  alle  Grundgestaltungen  der  Musik,  so  ergiebt  sich  aus 
obiger  Ueberzeugung  eine  Reihe  leitender  Bemerkungen,  die  sich 
weder  für  ganz  erschöpfend  ausgeben  wollen  (denn  wer  kann  hoffen, 
alle  Wege  und  Abwege  der  schöpferischen  Thätigkeit  vorauszusehn  ?) , 


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I 


Organ  des  Gesangs  u.  seine  künstler.  Gesetze.  349 

noch  für  durchaus  unverbrüchliche  Kunstgesetze  (Th.  [,  S.  15),  wohl 
aber  das  Nachdenken  wecken  und  die  Erkenntniss  schärfen  und  be- 
festigen können. 

\.   Die  Rhythmik  des  Gesanges. 

Schon  längst  haben  wir  erkannt,  dass  im  Rhythmus  ordnende 
und  bestimmende  Kraft  liegt,  dass  erst  durch  seinen  Zutritt  (Th.  I, 
S.  26)  die  Tonfolge  zur  Melodie  wird.  Die  Mittel  des  Rhythmus 
sind  bekanntlich  zweierlei :  stärkere  Betonung  und  längeres  Verwei- 
len. Durch  eins  oder  beide  wird  ein  Ton ,  ein  Glied  einer  Ton- 
reihe u.  s.  w.  vor  dem  andern  oder  mehrern  andern  hervorgehoben 
als  Hauptsache  vor  der  Nebensache;  durch  die  Mannigfaltigkeit  die- 
ser Unterscheidungen  gewinnt  die  Komposition  an  geistiger  Beweg- 
lichkeit, durch  die  ebenmässige  Anordnung  derselben  an  Wohlge- 
stalt. Beides  ist  in  jeder  künstlerischen  Schöpfung  von  hoher  Be- 
deutsamkeit, vorzüglich  im  Gesänge.  Daher  ist  umgekehrt  Man- 
gel an  rhythmischer  Belebung  nirgend  empfindlicher,  als  wieder  im 
Gesänge;  denn  hier  ist  nicht  bloss  die  unrhythmische  oder  wenig 
rhythmische  Gestaltung  unbefriedigend  für  den  Geist,  sondern  schon 
in  Widerspruch  mit  dem  Gefühl  und  Wesen  des  Organs. 

Nichts  ist  für  das  Gesangorgan  ermüdender  und  ihm  widri- 
ger als  länger  dauernde  Gleichförmigkeit  der  rhythmi- 
schen Bewegung,  zumal  im  langsamem  Tempo.  Eine  Reihe 
von  Sechzehnteln  oder  Achteln  in  schneller  oder  doch  mässiger 
Bewegung  lässt  sich,  wenn  sie  nicht  gar  zu  ausgedehnt  ist,  noch 
ohne  grosse  Beschwer  durchlaufen;  eine  grössere  Reihe  von  Vier- 
teln oder  halben  Noten  *  ist  ebensowohl  für  das  Gesangorgan  er- 
schöpfend, als  für  den  Geist  des  Ausübenden  und  Hörenden  ermü- 
dend. Der  Geist  begehrt  Ordnung,  —  Anordnung  der  einzelnen 
Momente  (Töne  u.  s.  w.)  zu  einem  fasslich  geordneten  Ganzen,  — 
Unterordnung  der  Nebenmomenle  unter  die  Hauptmomente,  — Haupt- 
niomente,  auf  die  er  sich  stützen,  auf  denen  er  ruhen,  Neben- 
momente,  über  die  er  leichter  hin  wegeilen,  bei  denen  er  es  sich 
leicht  machen  kann.  Dasselbe  Bedürfniss  geht  unmittelbar  auf  das 
Organ  über. 

Aus  gleichem  Grunde  sind  alle  rhythmischen  Formen  schon 
dem  Gesangorgan,  wie  dem  im  Gesang  am  regsamsten  sich  erwei- 
senden Gefühl  unbequem,  die  Störung  oder  Verhüllung  der  rhyth- 
mischen Ordnung  in  ihren  Hauplmomenten  hervorbringen.  Es  sind  dies 
besonders  zwei  Formen.  Erstens  die  (in  der  Mitte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts einmal  zur  unvermeidlichen  Mode  gewordne)  Synkope, 


*  Aus  diesem  Grunde  hat  schon  Nägel i  in  seiner  Gesangschule  auf  den 
Nachtheil,  den  zu  häufiges  Choralsingen  in  den  Singstunden  für  das  Organ 
hat,  aufmerksam  gemacht. 


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350 


Vorstudien. 


wenn  sie  sich  über  ganze  oder  gar  mehrere  Takte  ausdehnt,  und  die- 
jenige Art  der  Bindung,  die  die  Haupttheile  des  Taktes  durch  Ver- 
schmelzung mit  vorhergehenden  kleinern  Taktgliedern  ihrer  rhythmi- 
schen Kraft  beraubt,  ohne  auch  nur  einen  andern  Takttheil  statt  ihrer 
mit  Nachdruck  hervorzuheben.  Von  dieser  Art  ist  eine  Figur,  die 
Beethoven  im  Amen  seiner  unsterblichen  D  dur-Messe*  durchführt, 


a  -  men,  a  -  men,  a  -  men. 


in  der  der  Fiuss  der  Stimmen  durch  das  Hangenbleiben  vom  vierten 
zum  fünften  Achtel  u.  s.  w.  gehemmt,  oder  der  Sänger  —  gegen  die 
Vorschrift  des  Komponist!)  —  zum  Vorstossen  des  zweiten  der 
gebundnen  Achtel  genöthigt  wird. 

2.   Die  Tonfolge. 

Von  der  Toufolge  gilt  vorerst,  was  wir  eben  von  der  rhythmi- 
schen Bewegung  gesagt  haben :  Gleichförmigkeit,  zu  lange  forlgesetzt, 
ist  dem  Musiksinn,  der  sich  im  Gesangorgan  besonders  angeregt  fühlt, 
•  wenig  zusagend.  Daher  gelingen  chromatische  Ton  folgen  von  grösserer 
Ausdehnung,  zumal  in  schnellerer  Bewegung,  nicht  nur  den  wenigsten 
Singenden,  sondern  sind  auch  bei  dem  besten  Gelingen  von  kleinlicher 
oder  gar  peinlicher  Wirkung  ;  daher  macht  sich  die  uns  schon  früher 
(Th.  I,  S.  415)  bekannt  gewordne  Einförmigkeil  und  Leere  lang  fort- 


♦  Op.  4  23,  bei  Schott  in  Mainz  in  Partitur,  obige  Stelle  Seite  479.  Die- 
ses Werk  steht  so  gewiss  unvergleichlich  da  in  Tiefe  und  Macht  der  Konzep- 
tion, namentlich  in  seinem  Credb,  als  es  —  leider  unleugbar!  —  durch  man- 
cherlei Rücksichtlosigkeiten  in  Bezug  auf  Stimmumfang  und  Behandlung  (von 
denen  der  letzte  unsrer  grossen  Vorgänger  auch  in  andern  Werken  sich  nicht 
frei  gehalten)  die  Aufführung  erschwert  und  die  Verbreitung  —  bis  jetzt  we- 
nigstens —  gehindert  hat. 


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Organ  des  Gesangs  u.  seine  künstler.  Gesetze.  351 


gesetzter  harmonischer  Figuration  im  Gesänge  doppelt  fühlbar.  — 
Dass  übrigens  chromatische  Läufer  und  so  auch  ausgedehnte  arpeg- 
gienartige  Figuren  (z.  B.  in  Rossini's  Semiramis)  als  besondre 
Kraft-  und  Kunststücke  der  Bravoursängerinnen  oft  bewundert  wor- 
den, spricht  nicht  gegen,  sondern  für  obige  Ansicht;  es  werden 
damit  jene  Figuren,  besonders  die  chromatischen,  als  Seltenheiten, 
mithin  als  das  dem  Organ  und  Sinne  n  i  c  h  t  Natürliche  und  Genehme 
bezeichnet.  —  Auf  der  andern  Seite  sagen  aber  auch  zu  bunt  ge- 
bildete, durch  Vorhalte  mit  verzögerter  Auflösung  und  ähnliche  Um- 
schweife zu  häufig  verzierte  oder  herumgeführte  Weisen  dem  Ge- 
sang —  wie  dem  einfachen  unverstellten  Gefühl  weniger  zu. 

Vermöge  des  im  Gesang  und  für  denselben  erwecktem  Sinnes 
sind  auch  Abweichungeu  von  der  nächstgehörigen  Fortschreitung 
der  Harmonien,  die  wir  uns  aus  mancherlei  Gründen  gestatten,  — 
z.  B.  die  Septime  des  Dominantakkordes  hinauf,  die  Terz  hinab  zu 
führen  u.  s.  w.,  —  im  Gesang  empfindbarer  und  insofern  bedenk- 
licher, als  im  Instrumentale.  Jeder,  auch  der  geübteste  und  unter- 
richtetste  Sänger,  wird  bald  gewahr,  dass  dergleichen  Fort- 
schreitungen (z.  B.  in  g-h-d-f  das  f  nach  g  oder  das  h  nach  g) 
für  seinen  Gesang  etwas  Befremdendes  haben,  dass  er  sie  seiner 
Stimme  gleichsam  abzwingen  muss,  und  dass  er  dabei  leichter  als 
sonst  unrein  singt,  —  und  zwar  bei  dem  wider  den  ursprünglichen 
Zug  der  Harmonie  erzwungnen  Hinaufschreiten  zu  hoch,  bei  dem 
Hinabschreiten  zu  tief.  In  gleicher  Weise  fühlt  aber  auch  der  Hö- 
rer das  Erzwungne  solcher  Schritte,  selbst  wenn  sie  dem  Sänger 
vollkommen  gelingen. 

Dieses  wachsame  Gefühl  sträubt  sich  selbst  gegen  solche  Fort- 
schreitungen, Harmonien  und  Modulationen,  die  vollkommen  folge- 
recht gebildet,  aber  in  der  Reihe  der  Harmonieentwickelungen  die 
alierentlegensten  und  darum  (vergl.  Th.  I,  S.  530)  dem  unmittel- 
baren Gefühl  fremdartig  sind.  Hierhin  gehören  die  überweiten,  die 
Oktave  und  Dezime  übersteigenden  Intervalle*,  weil  sie  nicht  bloss 
das  Stimmorgan  zu  heftigen  Dehnungen  oder  Zusammenziehungen 
in  die  entgegengesetzten  Haltungen  nothigen,  sondern  auch  in  der 
Regel  unmotivirt,  ohne  innere  Nothwendigkeit  erscheinen. 

Von  den  Harmonien  sind  hier  besonders  die  im  System  zuletzt 
erschienenen,  nicht  einmal  einer  bestimmten  Tonart  angehörigen 
Mischakkorde  zu  erwähnen.  Sie  sind,  wie  sich  von  selbst  ver- 
steht, nicht  unzulässig ;  aber  ihre  Zweideutigkeit,  ihr  schillerndes, 
unbestimmt  schwankendes  Wesen  wird  im  Gesänge  fühlbarer,  sogar 


*  Auch  sie  sind  eine  Zeit  lang  hei  Sängern  und  Komponisten  Mode  gewe- 
sen, zuletzt  besonders  von  Righini  und  Reicbardt  (und  dem  Nachahmer 
des  letztern,  Zelter)  gepflegt. 


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352 


Vorstudien. 


ihre  Ausübung  ist  unsichrer,  als  die  der  näher  am  Quell  der  Har- 
monie gelegnen  Akkorde;  und  so  erhalten  wir  hier  noch  nach- 
träglich einen  Erfahrungsbeweis  für  die  Wahrheit  des  Harmonie- 
systeras. 

An  den  Modulationen  ist  noch  zuletzt  das  Wesen  des  Gesang- 
organs und  des  in  ihmjbesonders  wachen  Musiksinns  zu  beobachten. 
Während  die  Instrumentalmusik  allerdings  eines  weiten  Gebiets  von 
Tonarten  bedarf,  um  sich  in  diesen  Räumen  (Th.  1,  S.  249)  nach 
dem  Erforderniss  ihrer  Idee  oft  sehr  wechselvoll,  oft  in  kühnen  Wen- 
dungen zu  ergehn  und  auszusprechen,  scheinen  dem  Gesang  so  zahl- 
reiche, oder  so  kühn  schlagende  Modulationen  weder  nöthig,  —  denn 
seine  Aufgabe  ist,  sich  in  den  herrschenden  Affekt  zu  verliefen,  ihn 
zu  steigern  oder  zu  sänftigen,  oder  auch  nach  der  Natur  des  Ge- 
fühllebens in  den  einfachen  Gegensatz  überzugehn,  —  noch  zu- 
sagend ;  zahlreiche  und  entfernte  Modulationen  gelingen  und  wirken 
im  Gesang  weniger,  als  im  Instrumentale. 

Es  wäre,  wie  schon  gesagt,  ein  Miss  verstand,  der  das  Wesen 
der  Kunst  aus  den  Augen  liesse  und  der  Freiheit  des  Künstlers  ein 
Ende  machte,  wenn  man  diese  Bemerkungen  zu  Gesetzen  erhebeu, 
etwa  dem  Komponisten  vorschreiben  wollte,  welche  Rhythmen,  Ton- 
folgen, wie  viele  und  wie  weite  Modulationen  u.  s.  w.  er  in  Gesang- 
kompositionen nicht  gestatten  dürfe.  Vielmehr  ist  hier  wie  Uberall 
das  dem  System  nach  entfernteste,  das  aus  allgemeinen  Rücksichten 
Bedenklichste  zulässig,  wenn  die  besondre  Idee  der  Komposition 
es  als  das  ihr  eigne  oder  Zusagende  fodert.  Daher  wär'  auch  nichts 
leichter,  als  zu  jeder  der  obigen  Bemerkungen  eine  Reihe  von  Fäl- 
len aufzufinden,  in  denen  das  als  bedenklich  Bezeichnete  mit  Glück 
und  Recht  angewendet  worden ;  auch  lässt  sich  das  an  sich  Ungün- 
stige durch  mancherlei  Hülfsmittel  erleichtern,  wie  z.  B.  jenen  Beet- 
hoven'schen,  den  Rhythmus  verwischenden  Bindungen  in  No.  394 
der  scharf  markirende  Gegensatz  befestigend  zu  Hülfe  kommt.  Al- 
lein auch  abgesehn  von  solchen  htil freichen  Nebenumständen  würden 
alle  diese  Fälle  nur  beweisen,  was  wir  überall  bestätigt  gefunden : 
dass  das  oberste  Gesetz  für  jede  Kunstschöpfung  nur  in  ihrer  eig- 
nen Idee  zu  finden  ist.  Auch  hier  also  wollen  wir  uns  vor  abs- 
trakten Gesetzen  verwahren ,  wohl  aber  das  Wesen  der  Kunst  von 
seinen  allgemeinsten  bis  zu  den  besondersten  Beziehungen  uns  klar 
und  vertraut  zu  machen  streben.  Und  hierzu  können  jene  Bemer- 
kungen, kann  die  durch  sie  alle  hindurchgehende  Wahrnehmung: 
wie  tief  und  stark  das  Musikgefühl  im  Gesangorgange  lebt  und  wie 
tiefwirkend  darum  jeder  Zug  in  der  Gesangkomposition,  wie  bedenk- 
lich eben  hier  jeder  Fehlgriff  ist,  allerdings  die  Bahn  eröffnen. 


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Das  Stimmorgan 


353 


Zweiter  Abschnitt. 
Das  Stimmorgan. 

Wir  lassen  jetzt  das  Spraehorgan  ganz  bei  Seite  und  betrachten 
das  eigentliche  Stimmorgan  im  Verein  mit  dem  Organ  des  Athems, 
durch  das  jenes  erst  in  Wirksamkeit  gebracht  wird. 

1.  Der  Athem. 

Das  Erschallen  der  menschlichen  Stimme,  die  Kraft  und  Dauer 
desselben  hängt  zunächst  von  der  Masse  und  Verwendung  des  Athems 
ab.  Die  letztere  ist  ein  wichtiger  Gegenstand  des  Singstudiums,  das 
durch  sparsame  und  wohlgerichtete  Verwendung  des  Athems  rich- 
tige Intonation  und  möglichste  Ausdauer  im  Gesänge  zu  fördern  hat; 
für  uns  liegt  dieser  Gegenstand  seitwärts,  obwohl  seine  Kenntniss 
wie  überhaupt  das  Gesangstudium  jedem  Komponisten  wichtig  ist. 
Wie  sehr  nun  auch  das  Studium  der  Athemverwendung  zu 
Hülfe  komme,  jedenfalls  bedarf  der  Sänger  häufiger  Erneuung  des 
Athems,  —  und  zwar  einer  um  so  häufigem,  je  tiefbewegter  oder 
leidenschaftlicher  der  vorzutragende  Gesang  ist.  Jedes  Einathmen 
ist  aber  Unterbrechung  des  Gesangs,  und  es  liegt  nicht  bloss 
dem  Sänger,  sondern  schon  dem  Komponisten  ob,  dafür  zu  sorgen, 
dass  diese  Unterbrechungen  ohne  Nachtheil  für  den  Sinn  der  Kompo- 
sition geschehen  können.  Der  Sänger  benutzt  dazu  Pausen  und  die 
Absätze  der  Abschnitte  und  Glieder  in  der  Melodie  wie  im  Texte. 
Der  Komponist  aber  hat  zu  weite  Abschnitte  oder  Sätze  möglichst 
zu  vermeiden  und  das  Gefühl  für  das  Athembedürfniss  des  Sängers 
in  sich  rege  zu  halten,  damit  die  Komposition  sich  auch  in  dieser 
Hinsicht  schon  instinktartig  sangmässig  gestalte,  und  dem  Sänger  we- 
der unnöthige  Anstrengung,  noch  sinnwidrige  Zerstückelung  der  Me- 
lodie aufgenöthigt  werde. 

Was  nun 

2.  die  Stimme 

selbst  betrifft,  so  ist  sie  bekanntlich  einer  bedeutenden  Kraft  und 
Fülle  des  Schalls,  und  innerhalb  ihres  Umfangs  aller  Ton- 
abstufungen fähig,  nicht  bloss  der  in  unserm  Tonsystem  aufge- 
nommnen  Ganz-  und  Halbtöne,  sondern  aller  dazwischen  liegenden, 
die  zwar  nicht  genannt  und  vorgeschrieben,  wohl  aber  als  Vortrags- 
mittel, durch  Ueberziehn  von  einer  festen  Tonstufe  zur  andern, 
benutzt  werden  können.  Innerhalb  dieses  Tongebiets  ist  die  Stimme 
fähig,  durch  die  mannigfachsten  Stärke  grade,  durch  An- 
und  Abschwellen,  Binden  undStossen  der  Töne,  durch 

Marz,  Komp.-L.  m.  5.  Aufl.  23 


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354 


Vorstudien. 


Aushalten  einzelner  oder  schnelle  Folge  verschiedner  Töne  (in 
den  sogenannten  Passagen  und  Verzierungen)  und  durch  Darstellung 
aller  möglichen  Tonverbindungen  jeder  Regung  und  Wendung  des 
Gefühls  zu  entsprechen.  Sie  gewahrt  sogar  mehr,  als  dem  reinen 
im  Gesang  waltenden  Gefühl  eigen  und  genehm  ist,  dann  aber  lässt 
sie,  wie  oben  gesagt,  das  Unangemessene  um  so  deutlicher  fühlen. 

3.  Das  Stimmgebiet. 

Jede  Stimme  hat  einen  gewissen  Umfang,  den  sie  entweder  gar 
nicht,  oder  nur  mit  Verlust  ihrer  Kraft,  Anmuth,  ihrer  Ausdrucks- 
fähigkeit und  zum  Nachtheil  des  Organismus  tiberschreitet.  Inner- 
halb dieses  Umfangs  kann  man  drei  Gebiete  unterscheiden, 

d  i  e  M  i  tt  e,  wo  die  Stimme  am  bequemsten  und  ruhigsten  ist, 
die  Tiefe,  nach  welcher  hin  sie  schwächer  und  dumpfer 

wird  bis  zum  Erlöschen, 
die  Höhe,  nach  welcher  hin  sie  stärker,  schärfer,  hefti- 
ger wird,  bis  endlich  auch  hier  die  Gränze  erscheint. 

In  den  Mitteltönen  setzt  jede  Stimme  am  bequemsten  ein  und 
kann  sich  in  ihnen  am  ausdauerndsten  bethätigen ;  in  ihnen  ist  auch 
in  der  Regel  der  Klang  am  wohllautendsten.  Dagegen  ist  Höhe  und 
Tiefe  für  den  ersten  Einsatz  weniger  günstig,  bei  anhaltender  Ver- 
wendung für  Ausdauer  und  Wohlklang  erschöpfend.  Hierzu  kommt, 
dass  auch  die  Aussprache  in  der  Mitte  der  Stimme  am  deutlichsten, 
wohllautendsten  und  bequemsten  erfolgt. 

Hieraus  ergeben  sich  für  den  Komponisten  nicht  genug  zu 
beherzigende  Lehren  für  den  Gebrauch  der  Stimmen.  Vor  allem  muss 
er  sich  auf  den  allgemeinen  Umfang  der  Stimmen  zu  beschränken 
wissen ;  selbst  das  darf  ihn  nicht  verleiten,  die  allgemeine  Gränze 
zu  überschreiten  —  ausser  etwa  in  Sologesängen  für  bestimmte  In- 
dividuen von  ausserordentlicher  Begabung*,  —  dass  sich  allerdings 
stets  einzelne,  das  gewöhnliche  Maass  der  Höhe  oder  Tiefe  weit 
überschreitende  Stimmen  finden.  Denn  diese  Einzelnen  können  die 
nothgedrungne  Ausschliessung  der  grossen  auf  das  gewöhnliche  Stimm- 
maass  angewiesnen  Mehrzahl  nicht  ersetzen,  und  auch  bei  ihnen  tritt 
(nur  später)  jene  Scheidung  ein,  dass  ihre  hohen  und  höchsten  Töne 
heftig  und  gewaltsam,  ihre  tiefen  schwächer  und  erlöschend  heraus- 
kommen**. 


*  So  hat  Mozart  die  Arie«  der  Königin  der  Nacht  für  seine  besonders 
begabte  Schwägerin  Lange  und  eine,  wie  es  scheint,  verloren  gegangne  Arie 
bis  zum  viergestrichnen  C  für  die  Italienerin  la  Bastardella  gesetzt. 

**  Man  könnte  sich  versucht  fühlen,  diese  Regel  für  höchst  überflüssig  zu 
halten,  weil  sie  sich  ja  von  selbst  verstehe,  —  wenn  sie  nicht  selbst  von  ein- 
sichtigen Männern,  ja  von  bedeutenden  Komponisten  so  oft  schon  verabsäumt 
worden  wäre.   Statt  vieler  Beläge  wollen  wir  nur  auf  Milton's  Morgengesang 


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Das  Stimmorgan. 


355 


Sodann  wird  der  sangeskundige  Komponist  seine  Stimmen  am 
liebsten  in  den  Mitteltonen  einführen  und  vorzüglich  in  ihnen  be- 
schäftigen. Von  hier  aus  gelingt  das  Fortschreiten  zur  Höhe  oder 
Tiefe,  selbst  zu  den  äussersten  Punkten,  zumal,  wenn  nach  diesen 
hin  nur  in  den  stimmgemässesten  Weisen,  akkordisch  oder  diato- 
nisch, gegangen  wird ;  hier  erholen  sich  die  Stimmen,  wenn  sie  durch 
Bethätigung  in  der  äussersten  Höhe  oder  Tiefe  augenblicklich  ermü- 
det oder  angegriffen  sind,  hier  vermählt  sich  Wohllaut  des  Gesangs 
mit  Deutlichkeit  im  Vortrag  des  Wortes*.  Allerdings  wird  sich 
in  einzelnen  Fällen  die  Nothwendigkeit  eines  weniger  günstigen  Ein- 
satzes oder  eines  für  die  Stimme  angreifenden  längern  Verweilens 
in  der  Höhe  oder  Tiefe  ergeben.  Allein  in  den  meisten  Fällen  wird 
man  auch  hier  das,  was  der  richtige  Gedankengang  fodert,  mit  dem, 
was  Rücksicht  auf  das  Stimmvermögen  gebietet,  übereinkommend 
finden.  Denn  mit  seltenen  Ausnahmen  wird  auch  die  Gesangkompo- 
sition in  ruhigerer  Stimmung  beginnen,  sich  erst  allmählich  zu  grös- 
serer Heftigkeit  des  Affekts  steigern,  und  die  Momente  der  höchsten 
Steigerung  wie  des  tiefsten  Versinkens  werden  nach  der  Natur  der 
Seelenbewegungen  die  seitnern  und  schneller  vorübergehenden  sein; 
dies  entspricht  aber  so  ganz  dem,  was  der  Stimme  das  Natur- 


von  J.  F.  Reichardt  verweisen,  wo  Seite  3,  6,  12,  22,  23,  1\  der  Partitur 
die  Bässe  bis  zum  grossen  Es  und  C  hinunter-  und  bis  zum  eingcstrichnen  g  hin- 
aufgeführt werden.  Mag  er  auch  vielleicht  damals  in  der  F a sc hi sehen  Sing- 
akademie, für  die  er  jene  Hymne  schrieb,  einige  so  umfangreiche  Stimmen  ge- 
funden haben  :  so  kann  doch  durch  einige  Indiviiuen  nicht  eine  Kraft  gleich 
der  eines  vollen  Chors  in  der  Allen  zugänglichen  und  bequemen  Tonregion 
dargestellt  werden. 

*  Wenn  daher,  —  um  wieder  nur  Ein  Beispiel  statt  vieler,  und  von  einem 
unsrer  grössten  Meister  zu  geben,  —  Beethoven  in  seiner  letzten  Messe  ein 
Fugenthema  im  Diskant  (Seite  i  67  der  Partitur  und  öfter)  —  nach  Pausen,  wie 
bei  a  — 

b 

3^ 


cu  -  Ii.  Qui 


se  -  des   ad  dex  -  te  -  ram  pa-tris. 


einsetzen  und  an  einer  andern  Stelle  (S.  68)  abermals  auf  dem  hohen  b  ziem- 
lich bewegt,  im  Larghetto,  sprechen  lässt:  so  hat  er  zwar  die  Granze  der  Dis- 
kantstimme nicht  überschritten,  aber  er  hat  dem  äussersten  Punkt  etwas  zuge- 
muthet,  was  in  solcher  Weise  —  in  freiem  Einsatz,  mit  Tonwiederholung,  mit 
emphatischen  Textworten  zu  jeder  Note  —  nie,  oder  nur  höchst  selten  vom  Chor 
geleistet  werden  wird.  —  Bei  der  höchsten  dem  unsterblichen  Tondichter  ge- 
bührenden Ehrfurcht  dürfen  wir  doch  solche  Wahrheit,  so  warnend  für  alle 
Schwächern  eben  an  dem  Grossen,  uns  nicht  verhehlen. 

28* 


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356 


Vorstudien. 


^emässe  und  Zusagende  ist,  dass  man  auch  hier  die  innigste  Ueber- 
einstimmung  des  Seelenorgans  mit  dem  Seelenleben  anerkennen  muss, 
und  der  Komponist  auch  für  die  Stimme  kein  andres  Gesetz  auf  sich 
zu  nehmen  hat,  als  das  im  Sinn  seiner  Aufgabe,  in  der  Idee  seines 
Werks  liegende. 

4.  Die  Stimmregister. 

Jede  Stimme  umfasst  in  ihrer  gesammten  Tonreihe  verschiedne 
Klangarten,  —  Arten,  die  Töne  hervortreten  zu  lassen,  mit  merk- 
licher Veränderung  des  Stimmklangs  und  der  Stimmbrauchbarkeit,  — 
die  man  Register  oder  Stimmregister  nennt.  Mit  Uebergehung 
der  feinern  Unterscheidungen,  die  dem  Gesangstudium  von  Bedeutung 
sein  müssen,  ist  für  den  Komponisten  wenigstens  die  wichtigste  und 
fühlbarste  Scheidung  hervorzuheben. 

In  jeder  Stimme  —  besonders  hervortretend  und  gebraucht  aber 
in  den  hohen,  Tenor  und  Diskant  —  erscheint  in  der  Höhe  eine  Reihe 
von  Tönen,  die  sich  von  den  andern  ziemlich  auffallend  unterschei- 
den, obgleich  es  die  mehr  oder  weniger  ausführbare  Aufgabe  jedes 
Sängers  bleibt,  diese  Verschiedenheit  in  seiner  Tonreihe  möglichst 
auszugleichen  oder  doch  zu  verbergen.  Die  Töne  dieser  Reihe  oder 
dieses  Registers  heissen 

Falsett  oder  Fistel-Stimme 

und  unterscheiden  sich  von  der  Reihe  der  unter  ihnen  liegenden 
Töne,  —  die  im  Gegensatz  zu  jenen 

Brusttöne  oder  Bruststimme 

genannt  werden,  —  vor  allem  durch  einen  mehr  flötenartigen  als 
sprachlichen  Klang  und  durch  das  nicht  bloss  im  Sänger  vorhandne, 
auch  auf  den  Hörer  übergehende  Gefühl,  dass  sie  durch  ein  gewisses 
zwanghaftes  Zusammenziehn  im  Stimmorgan  hervorgebracht  werden. 

Den  unter  den  Stimmbildnern  streitigen  Punkt,  ob  eine  höhere 
Tonreihe  der  weiblichen  Stimme,  Kopftöne  oder  Kopfstimme 
genannt,  dem  Brust-  oder  Falsettregister  angehöre,  können  wir  hier 
bei  Seite  lassen. 

Der  sprachlicheKlang  —  wir  wollen  damit  den  der  Sprache, 
dem  Sprechen  zusagendsten  bezeichnen  —  ist  der  Bruststimme 
eigen;  in  ihr  tritt  das  Wort  naturgemäss  und  in  kräftigster,  aus- 
drucksvollster, austönendster  Artikulation  hervor  und  spricht  mit  der 
vollen,  überzeugenden  Gewalt  des  in  ihn  gelegten  Gefühls  zum  Her- 
zen des  Hörers.  Auch  im  Register  des  Falsetts  kann  gesprochen 
werden ;  aber  es  ist  ein  gleichsam  falscher,  zurückgedrückter  und 
gekünstelter  Beiklang,  der  sich  hier  zu  den  Accenten  der  Sprache 
mischt  und  ihr  den  vollgewichtigen  Ausdruck  der  Aufrichtigkeit  und 


Das  Stimmorgan. 


Offenheit  nimmt  oder  verkümmert*.  In  dieser  Hinsicht  wird 
man  also  das,  was  mit  Gewicht,  mit  Eindringlichkeit  gesprochen 
werden  soll,  in  der  Komposition  nicht  dem  Falsett,  sondern  der 
Region  der  Brusttöne  anzuvertrauen  haben. 

In  Bezug  auf  den  blossen  Stimmklang,  abgesehn  von  der  Sprache, 
zeigt  sich  die  Bruststimme  kernig,  fest,  voll,  aber  weniger  beweglich, 
die  Falsettstimme  von  geringerer  Kraft  und  Ausdauer,  aber  oft  wei- 
cher oder  flötender  und  beweglicher,  besonders  für  engere,  z.  B.  dia- 
tonische Tonfolgen.  Jedenfalls  ist  die  Tonreihe  des  Falsetts  für  die 
meisten  Sänger  (besonders  für  Sopran  und  Tenor)  nicht  zu  entbeh- 
ren. Man  wird  daher  von  der  Bruststimme,  als  der  vornehmsten, 
ausgchn  und  ihr,  so  viel  der  Gang  der  musikalischen  Gedanken  zu- 
liisst,  besonders  das  kräftig  und  ausdrucksvoll  Vorzutragende  anver- 
trauen, die  Falsettstimme  aber  für  leichtere  Bewegungen,  z.  B.  Läufe 
und  Koloraturen,  oder  da,  wo  es  eines  weitern  Tongebiets  zur  Aus- 
führung der  musikalischen  Idee  bedarf,  benutzen.  Auf  die  Frage, 
wo  die  hiernach  so  wichtige  Gränze  der  Register  zu  finden,  werden 
wir  bei  den  Stimmklassen  zurückkommen.  Es  sei  nur  gleich  im 
Voraus  bemerkt,  dass  auch  hier  eine  scharfe  Gränze  nicht  zu  ziehen 
ist  ;  denn  eines  Theils  findet  sie  sich  bei  den  einzelnen  Singenden, 
auch  derselben  Stimmklasse,  um  eine,  zwei  —  drei  Stufen  höher 
oder  tiefer  gestellt,  andern  Theils  kann  jeder  nur  einigermassen  ge- 
übte Sänger  seine  Bruststimme  um  ein  Paar  Töne  höher  führen 
und  die  Falsettstimme  um  ebensoviel  tiefer  eintreten  lassen. 

Eine  noch  höhere  Reihe,  als  die  gewöhnlich  im  Gesang  gebrauch- 
ten Falsetttöne,  ein  zweites  und  bisweilen  ein  drittes  Register  der- 
selben (man  könnte  sie  Vogel  töne  nennen),  entfernt  sich  noch 
weiter  von  der  Region  des  ausdrucksvollen  und  sprachlichen  Ge- 
sangs. Sie  kann  nur  im  Sologesang  in  sogenannten  Bravoursätzen 
oder  Koloraturen  zur  Anwendung  kommen,  hier  aber  allerdings  (wie 
Mozart  in  den  Arien  der  Königin  der  Nacht  gezeigt  hat)  eigen- 
thümlichen  Reiz  üben.  Nur  ist  dieser  Reiz,  die  ganze  Wirkung 
der  hohen  und  höchsten  Falsetttöne  gcwissermassen  mehr  instrumen- 
taler als  gesangartiger  Natur;  denn  das,  was  den  Kern  und  Werth 
des  Gesangs  ausmacht :  Seelenausdruck  und  innigste  Beseelung  der 
Sprache,  tritt  hier  noch  mehr,  wie  bei  dem  untern  und  häufiger 
angewendeten  Falsett  zurück. 

5.  Die  St i m m k  1  asse n. 

Die  Singstimmon  unterscheiden  sich  bekanntlich  zunächst  nach 
dem  Geschlecht  in  männliche  und  weibliche;  den  letztern 
werden  wegen  der  gleichen  Stimmlage  und  unentwickelten  Mann- 


*  Die  Frauen  sprechen  meist  in  solcher  Stimmlage ;  daher  ist  ihre  Laut- 
gebung  so  oft  undeutlich  und  unkräftig.    Sie  flöten  mehr  als  sie  sprechen. 


358 


Vorstudien. 


haftigkeit  die  Knaben-  und  Kastratenstimmen  zugezählt,  auf 
deren  Besonderheiten  hier  nicht  weiter  einzugehen  ist.  Die  weib- 
lichen Stimmen  sind  weicher,  singender,  fliessender  und  beweg- 
licher, die  männlichen  sind  kerniger,  voller,  mehr  für  energische 
Tonfolgen,  —  sie  sind  ausserdem  in  der  Regel  geeigneter  für  tiefen 
und  karakteristischen  Ausdruck  und  für  die  volle  Gewalt  der  Sprache, 
während  die  weiblichen  sich  in  der  Regel  mehr  von  dem  Sprechen- 
den und  bestimmt  Karakteristischen  zum  allgemein-Singenden  oder 
allgemein-Musikalischen  hinneigen.  Es  spricht  in  den  Stimmen  der 
volle  Karakter  der  Geschlechte  sich  aus. 

Hiernach  erst  sind  die  Stimmklassen  selbst  in  Betracht  zu 
ziehen.  Bekanntlich  stehn  deren  vier,  Sopran  (Diskant),  Alt, 
Tenor  und  Bass,  fest.  Diese  Stimmen  werden  jede  in  ihrem 
Schlüssel*,  Diskant  und  Alt  (auch  der  Tenor)  bisweilen  auch  im 
Violinschlüssel  (der  Alt  bisweilen  auch  im  Diskantschlüssel)  notirt.  — 

Diskant.  Alt.  Tenor.  Bass. 

Ihren  Umfang  giebt  dieses  Schema  an  — 


Sopran. 

■  ... ,  r 

—  p  i 

— e — l  

l  T 

Alt. 

^rrf  , 

1»  J  j 

Tenor. 

4T   

Bass. 

=*=^ 

Die  mit  einem  Bogen  überzognen  Noten  umfassen  die  Mitte  der 
Stimme,  die  mit  Viertelnoten  bezeichneten  Töne  in  der  Tiefe  fehlen 
manchem  sonst  gutbegabten  Sänger  und  sind  bei  den  meisten  schwä- 
cher und  weniger  hellklingend ;  die  als  Viertel  notirten  hohen  Töne 
stehn  ebenfalls  nicht  allen  Sängern  zu  Gebot  und  haben  bei  den 
meisten  härtern,  heftigem,  auch  wohl  gellenden  Klang. 

Die  Kopf-  oder  Falsetttöne  setzen  im  Sopran  meist  bei 
dem  zweigestrichnen  e  oder  /*,  das  Falsett  im  Tenor  meist  bei 
dem  eingestrichnen  f  oder  g  ein ,  obwohl ,  wie  schon  S.  357  ge- 
sagt, diese  Gränze  bei  verschiednen  Individuen  abweichend  und 
bei  demselben  Individuum  beweglich  ist.  Der  Alt  macht  wenig, 
der  Bass  selten  oder  nie  von  jenem  Register  Gebrauch;  jener 
könnte  sie  nur  im  Nothfalle  für  das  zweigestrichne  c  oder  d,  dieser 
für  das  eingestrichne  es  oder  e  gebrauchen,  worauf  hier  keine  wei- 
tere Rücksicht  zu  nehmen  ist. 

*  Kenntniss  der  Schlüssel  und  Hebung  in  ihrem  Gebrauch  müssen  hier 
(allenfalls  unter  Hinweisung  auf  die  Allgem.  Musiklehre  des  Verf.,  S.  20) 
vorausgesetzt  werden. 


0 

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Das  Simmorgan, 


359 


Von  den  Gränzbestimmungen  der  vier  Stimmklassen  ist  mehr 
oder  weniger  dasselbe  zu  sagen ;  man  findet  in  jeder  Klasse  Indi- 
viduen, deren  Umfang  nach  Tiefe  oder  Höhe  bedeutender  oder  ge- 
ringer, deren  Mitteltöne  etwas  mehr  nach  der  Höhe  oder  Tiefe  ge- 
rückt oder  ausgedehnt,  deren  tiefe  Töne  stärker,  deren  hohe  mil- 
der sind*.  Demungeachtet  werden  sich  obige  Bestimmungen  als 
Grundmaass  für  die  Mehrzahl  der  Sänger  wohl  bewähren,  und  eben 
auf  ein  solches  Grundmaass  kommt  es  dem  Komponisten  hauptsäch- 
lich an. 

Zwischen  diesen  vier  Hauptklassen  treten  nun  noch  Mittel- 
klassen auf,  von  denen  wir  nur  den  Mezzosopran  —  eine 
Stimmgattung,  die  die  Mitte  hält  zwischen  Sopran  und  Alt  und  etwa 
vom  kleinen  6  oder  a  bis  zum  zweigestrichnen  f  oder  g,  —  und 
den  Bariton  —  eine  hohe,  sich  dem  Tenor  nähernde  Bassstimme, 
die  vom  grossen  A  bis  zum  eingestrichnen  f  reicht  —  anführen ; 
die  Mitte  beider  Stimmen  würde  etwa  von  f  bis  c  oder  d  gehen. 
Der  Mezzosopran  wird  jetzt  stets  im  Diskant-  oder  Violinschlüssel 
gesetzt**,  der  Bariton  im  F-Schlüssel.  Ausserdem  unterscheidet 
man  auch  wohl  hohen  und  tiefen  Sopran,  Tenor  und  Bass,  Alt  und 
Kontraalt  (contr'alto,  tieferer  Alt)  *** ;  doch  sind  alle  diese  Neben- 
abtheilungen  nur  von  untergeordneter  Bedeutung. 

Wichtig  aber  in  hohem  Grade  ist  das  Studium  und  die  lebendige, 
für  immer  festgestellte  Einprägung  der  Hauptklassen.  Zunächst  muss 
es  einleuchten,  wie  übel  berathen  ein  Komponist  ist,  der  den  Stim- 
men etwas  zumuthet,  das  sie  nicht  oder  doch  nur  unbefriedigend 
zu  leisten  vermögen;  —  und  wie  voll  sind,  wenn  wir  eine  Masse 
von  Kompositionen  durchgehn,  die  Stimmblätter  von  Sätzen,  die  stark 

*  Daher  kann  es  nicht  befremden,  wenn  man  auch  bei  den  Lehrern  abwei- 
chende Bestimmungen  findet;  in  früherer  Zeit  wollte  man  sich  mit  Einem 
Schema  für  alle  Stimmen  — 

— 

behelfen,  was  denn  wohl  mehr  bequem  als  richtig  erscheint.  Selbst  die  Zeit 
ändert  hier  vielfach.  So  haben  Bach  und  Händel  ihre  Altstimmen  bis  zum 
kleinen  f  (der  Vcnetianer  Be  nedetto  Ma reell o  sie  bis  zum  kleinen  d)  hin- 
unterführen dürfen,  weil  ihre  Chöre  mit  Knaben  —  mit  grellem  und  tiefern 
Stimmen  —  besetzt  wurden,  während  unsre Sängerinnen,  mit  denen  unsreChöre 
meist  besetzt  werden,  selten  so  tiefreichende  und  in  der  Tiefe  so  kräftige  Stimmen 
haben.  —  Wir  werden  schon  hier  gewahr,  dass  das  Studium  selbst  der  bewähr- 
testen Meister  ohne  Berücksichtigung  der  Verhältnisse  leicht  irre  führen  kann. 

**  Er  erhielt  früher  auch  wohl  seinen  C-Schlüssel  auf  der  zweiten  Linie, 
so  dass  die  fünf  Linien  von  klein  a  bis  eingestrichen  h  reichten.  Wohl  ange- 
messen —  wenn  die  Unterscheidung  wichtig  wäre. 

***  Ziemlich  von  gleicher  Stimmlage  war  die  von  den  Franzosen,  z.  B.  zu 
Gluck's  Zeit,  mit  haute-contre  bezeichnete  Stimme,  ein  um  drei,  vier  Stufen 
höher  liegender  Tenor. 


360  Vorstudien. 

erschallen  sollen  und  in  zu  grosser  Tiefe  matt  verloren  gehn,  — 
oder  von  zu  hoch  gelegten,  die  falsettirt  oder  heftig  herausgestossen 
werden  müssen  und  beiläufig  die  Sänger  erschöpfen,  während  sie 
sanft,  ausdrucksvoll,  edel  hervortreten  sollten !  und  wie  viel  schöne, 
tiefgefühlte  Gedanken  sind  auf  solche  Weise  ihrer  Wirkung  zum 
Voraus  verlustig! 

Dann  aber  —  und  dies  erachten  wir  wegen  seiner  Rückwirkung 
auf  den  Geist  des  Komponisten  für  noch  wichtiger  —  bietet  jede 
Stimmklasse  durch  ihren  besondern  Umfang,  durch  die  eigenthttm- 
liche  Lage  ihrer  Mitteltöne  u.  s.  w.,  durch  den  hierdurch  unterstütz- 
ten Karakter  ihres  Klangs  und  ihrer  ganzen  Weise  dem  Komponi- 
sten ein  festes  Karakterbild,  bieten  alle  vier  Klassen  ihm  einen  Kreis 
bestimmter,  karakteristischer  Ideal-Personen  und  befördern  so  im 
Komponisten  das,  worauf  zuletzt  in  der  Kunst  Alles  ankommt :  sie 
heben  ihn  aus  dem  Allgemeinen,  Abstrakten,  Unbestimmten  in  das 
Gebiet  der  bestimmten  Wahrheit,  des  Individuellen  und  Karakteri- 
stischen; und  zwar  in  grossartiger  Weise,  frei  vom  allem  kleinlich 
und  eng  Persönlichen.  Es  sind  hier  nicht  einzelne  Menschen  mit 
den  Zufälligkeiten  und  Besonderheiten,  die  an  jedem  haften,  sondern 
es  sind  in  grossem  Styl*,  in  grossartiger  Auffassung  die  bedeu- 
tungsvollen Gegensätze,  die  sich  in  der  Natur  des  Menschen  her- 
ausstellen :  der  Diskant  und  Alt  weiblich,  der  Tenor  und  Bass 
männlich;  — der  Diskant  jugendlich,  jungfräulich,  zu  froher 
leichter  Bewegung,  auch  zu  heisser  weiblicher  Leidenschaftlichkeit 
geneigt,  der  Alt  mehr  matronenhaft,  ernster  und  inniger,  weicher 
elegischer  Rührung,  tiefer  Klage  und  Trauer  seine  Weisen  darbie- 
tend, der  Tenor  jünglinghaft,  bald  für  schmelzende  Innigkeit,  bald 
für  glühende  Leidenschaft  erregt,  der  Bass  männlich  reifer,  von 
kernig  nachhaltiger  Kraft,  würdig  und  ruhig,  aber  gewaltsamer  Aus- 
brüche der  Leidenschaft  fähig ;  — die  hohen  Stimmen,  Diskant 
und  Tenor,  heller,  beweglicher,  die  tiefen  Stimmen,  Alt  und 
Bass,  dunkler,  ruhiger. 

Alle  diese  Andeutungen  —  denn  wer  könnte  ohne  förm- 
liche Abhandlung  so  inhaltvolle  Karaktere  erschöpfend  schildern !  — 
können  eben  nur  Hinweisungen  auf  den  reichen  und  in  jedem  Zug 
bedeutsamen  Gegenstand  sein ;  weder  sie  noch  eine  viel  vollständi- 
gere Schilderung  können  ihn  erschöpfen,  sie  können  und  sollen  nur 
aufmerksam  machen,  die  eigne  Beobachtung  wecken  und  leiten.  Diese 
aber  darf  kein  Komponist  sich  erlassen  oder  vor  dem  Angewinn 
einer  sichern  und  tiefen  Verständniss  fallen  lassen ;  überall  muss  er 
den  Klang  und  die  ganze  Weise  jeder  Stimmklasse  an  ganzen  Mas- 
sen im  Ghorgesang,  wie  an  möglichst  vielen  Einzelnen  beobachten 


*  Vergl.  Th.  I,  S.  339;  Allgem.  Musiklehre,  S.  450. 


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Das  Stimmorgan. 


361 


und  sich  möglichst  klar  machen,  dabei  jede  Besonderheit  —  sei  sie 
auch  noch  so  reizend,  —  die  er  an  diesem  oder  jenem  Sänger  ge- 
wahrt, sorgfältig  von  dem  Bilde  des  Ganzen  absondern,  so  dass  ihm 
nur  das  reine,  aber  volle  BiJd  des  Klassenkarakters  vor  dem  innern 
Auge  bleibt.  Die  rein  persönlichen  Besonderheiten,  die  an  Einzel- 
nen karakteristisch  hervortreten,  sind  ebenfalls,  aber  nicht  hier, 
sondern  auf  einer  andern  Stufe,  ein  wichtiger  Gegenstand 
für  das  höhere  Studium.  * 

Es  ist  wohl  nicht  zu  leugnen,  dass  die  altern  Komponisten,  na- 
mentlich Händel  und  Seb.  Bach  —  und  vor  allen  der  erstere,  — 
in  der  treuen  Beobachtung  der  Stimmkaraktere  es  den  neuern  zu- 
vorgethan  haben,  und  dass  dieser  Treue  ein  grosser  Antheil  an  dem 
Erfolg  ihrer  Kompositionen  beigemessen  werden  muss;  namentlich 
ist  dies  von  ihren  Chorkompositionen,  besonders  bei  Händel,  zu 
erweisen,  der  oft  mit  nicht  eben  tief  erfundnen  oder  energisch  ver- 
arbeiteten Sätzen  entschieden  bedeutendere  Wirkung  erlangt,  als 
seine  Nachfolger  mit  ihren  oft  geistig-tiefern  und  reicher  entwickel- 
ten Gedanken.  Dies  liegt  zunächst  darin,  dass  keiner  Stimme  so 
leicht  etwas  zugemuthet  wird,  was  sie  nicht  gut  gewährt,  —  dann, 
dass  schon  durch  die  gewissenhafte  Scheidung  der  Stimmgebiete  die 
vier  Grundkaraktere  festgestellt  und  aus  einander  gehalten  wurden. 
Der  alte  Meister  hatte  das  w  ahrhaft  dramatische  Prinzip*, 
das  in  aller  (mehr  als  einstimmigen)  Komposition  lebt,  erkannt  und 
sich  zu  eigen  gemacht: 

er  wollte  nicht  selber  sprechen,  sondern  die  Per- 
sonen seines  Drama's,  —  die  Stimm en  sollten  spre- 
chen, jede  wie  es  ihr  eigen  und  recht  wäre. 
So  eewann  er  vier  lebensvolle,  frei  bewegte,  innii*  und  eigen- 

O  7  Ks       J  W  O 

thümlich  beseelte  Persönlichkeiten,  deren  Wechselrede  und  Gegen- 
spiel schon  als  Ausdruck  frischer  und  gesund-selbständiger  Wesen 
anzieht,  wenn  selbst  das,  was  sie  eben  mit  einander  zu  verkehren 
haben,  von  minderer  Anziehungskraft  wäre.  Im  Gegensatze  dazu 
wollen  neuere  Komponisten  oft  nur  sich  selber  hören  lassen,  und  die 
Stimmen  sind  ihnen  nur  Werkzeuge  zu  beliebigem  Gebrauch,  Un- 
terthanen,  die  ohne  eignen  Willen  und  Karakter  sclavisch  nur  sagen 
und  thun  sollen,  was  der  Alleinherr  eben  will.  Da  wird  denn  der 
Alt  in  den  Diskant,  der  Bass  in  den  Tenor  hinaufgetrieben,  jedem 
wird  zugemuthet,  was  ihm  nicht  recht  und  eigen  ist,  und  somit  das 
reizende  Gegenspiel  mannigfaltiger  Karaktere  in  einer  nirgends  ge- 
rechten Uniformität  aller  Stimmen  gehemmt  und  unterdrückt. 


*  Vergl.  Th  II,  S.  4  64 


362 


Vorstudien. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  Sprache  nach  ihrer  musikalischen  Natur. 

Wenn  der  Verein  von  Sprache  und  Musik  im  Gesang  ein  sinn- 
gemässer ,  kein  gegenseitig  störender  sein  soll ,  so  muss  es  ver- 
wandtschaftliche Beziehungen  für  beide,  etwas  Gemeinsames  in  bei- 
der Natur  geben,  und  der  Komponist  muss  sich  dessen  bemächtigen. 
Dieses  Gemeinsame  muss  nicht  bloss  in  dem  geistigen  Inhalt  liegen 
(eine  Gemeinsamkeit  des  geistigen  Inhalts,  der  Idee  kann  auch  zwi- 
schen unvereinbaren  Künsten,  z.  B.  zwischen  Poesie  oder  Musik  und 
Malerei,  statthaben  ohne  Macht,  die  unvereinbaren  zu  verschmel- 
zen), sondern  in  ihrem  wirklichen  —  geist-leiblichen  Wesen.  Und 
dies  ist  allerdings  zwischen  Sprache  und  Musik  vorhanden. 

Wir  finden  in  dem  geist-leiblichen  Wesen  der  Sprache  alle  mu- 
sikalischen Elemente  wieder,  nur  allerdings  in  der  den  Sprachzwecken 
gemässen  Gestaltung.  Eben  hierauf  beruht  die  Möglichkeit,  beide 
sinngemäss  zu  verschmelzen.  Die  tiefe  Auffassung  jener  Elemente 
ist  eine  der  wichtigsten  Grundlagen  für  Gesangkomposition. 

1.  Die  Laute. 

Erstens  bietet  uns  die  Sprache  eine  grosse  Reihe  von  Klän- 
gen dar  in  ihren  Lauten.  Hier  werden  bekanntlich  zuerst  die 
Selbstlaute  (Vokale)  von  den  Mitlauten,  und  in  beiden  Reihen  die 
Mittel-  und  Mischlaute  von  den  einfachen,  so  wie  hier  wieder  die 
im  Wesentlichen  gleichen,  aber  im  Grade  der  Schärfe  oder  Milde 
von  einander  abweichenden  unterschieden. 

Am  wichtigsten  sind  uns  hier  die  Selbstlaute,  die  wir  in 
folgender  Reihe 

I,  E,  A,  0,  U 

aufstellen  ;  wir  haben  den  spitzesten  und  feinsten  vorangestellt,  gehen 
von  da  zu  dem  Mittelvokal  A  und  von  diesem  weiter  zu  den  dunk- 
lern und  dumpfern.  Im  A  tritt  die  Stimme  vollkommen  ungehemmt 
aus  der  für  ihren  Vollklang  günstigsten  Mundhaltung  und  Mundöff- 
nung hervor,  im  E  und  noch  mehr  im  I  wird  sie  durch  die  innere 
Mund-  und  Zungenhaltung  zusammengedrückt  und  geschärft,  im  0 
und  noch  mehr  im  U  wird  sie  durch  die  äussere  Mundhaltung  im 
Heraustreten  gehemmt  und  verdunkelt. 

Es  folgt  schon  hieraus  :  dass  man  die  Gesangpartien,  die  am  hell- 
sten, ungetrübtesten  hervortreten  sollen,  mit  keinem  Laut  günstiger, 
als  mit  dem  A,  mit  keinem  ungünstiger,  als  mit  I  und  U  verbinden  darf. 

Jeder  dieser  Vokale  hat  Abstufungen  grösserer  Helle  und  Schärfe 
und  Dumpfheit,  —  es  ist  z.  B.  ein  spitzeres  und  milderes  I  (Yj, 


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Die  Sprache  nach  ihrer  musikalischen  Natur.  363 


ein  dreifaches  E  zu  unterscheiden ;  ferner  stellen  sich  zu  den  Vo- 
kalen noch  die  Doppellaute,  die  Iheils  wieder  nur  Färbungen  der 
ursprünglichen  Vokale  sind,  —  z.  B.  Ü  und  Ä  nichts  als  Modifika- 
tionen von  I  und  E,  —  theils  Verknüpfungen  von  verschiednen  auch 
in  der  Verbindung  noch  getrennt  bleibenden  Vokalen,  z.  B.  Au,  Ei 
u,  s.  w.*  Wir  haben  also  auch  hier  einige  Kerngestalten,  die 
mannigfache,  zuletzt  in  einander  übergehende  Umgestaltungen  oder 
ümfarbungen  erfahren. 

Zu  den  Vokalen  als  ihr  Vor-  oder  Nachlaut  kann  sich  zunächst 
der  Hauchlaut  H  gesellen,  die  fühlbar  und  hörbar  gewordne  Aus- 
athmung,  das  Zeichen  einer  heftigem  Erregung  im  Athemlebens- 
prozess. 

Die  Mitlaute  (Konsonanten)  endlich  sind  besondre  mittels 
dieser  oder  jener  Organe  des  Mundes  gebildete  Klänge,  die  sich  den 
Vokalen  zugesellen  (wie  auch  ihr  Name  zeigt)  und  ihre  körperli- 
chere Abgränzung  bilden.  Auch  sie  stellen  sich  in  gewisse  Grup- 
pen zusammen,  —  z.  B.  die  Folgen  von  w-v-f-ff,  b-p,  d-t-th,  s,  ss, 
c,  —  oder  verknüpfen  sich  nach  Art  einiger  Doppellaute  unter- 
scheidbar mit  einander,  z.  B.  pf,  st,  z  oder  ct. 

So  bietet  uns  also  die  Sprache  eine  Reihe  mannigfacher  Klänge 
in  verschiednen  Graden  und  Verschmelzungen,  deren  jeder  seine  be- 
sondre musikalische  Wirksamkeit,  seinen  besondern  Klangkarakter 
hat.  Wenngleich  nicht  hier,  sondern  erst  in  der  Musikwissenschaft 
hierauf  näher  eingegangen  werden  kann,  so  musste  doch  an  diese 
Seite  der  Sprache  erinnert  werden ;  denn  jedes  lebhafte  und  fest- 
gehaltne  Gefühl  von  dem  Ausdrucksvollen  und  Bedeutenden  in  der 
Sprache  kann  im  Komponisten  zu  einem  karaktervollen  Moment  der 
Komposition  erwachsen.  Es  ist  auf  das  Bestimmteste,  namentlich 
an  Gluck,  dem  grossen  Sprachmeister  unter  den  Musikern,  nach- 
zuweisen :  dass  der  vollendete  Gesangkomponist  nicht  bloss  den  all- 
gemeinen Sinn  seiner  Aufgabe,  nicht  bloss  die  Bedeutung  des  ein- 
zelnen Wortes,  sondern  auch  den  Klang  jedes  bedeutsam  eintreten- 
den Lauts  in  den  Kreis  seiner  Empfindung  und  daher  seiner  Schö- 
pfung zieht,  dass  bei  ihm  die  Weise,  der  Ton  das  Wort,  —  aber 
auch  der  Laut  den  Ton  färbt,  gestallet,  belebt,  und  dass  so  das 


*  Es  ist  vielleicht  nicht  überflüssig,  anzumerken,  dass  alle  unterscheid- 
bar bleibende  Doppellaute  im  Gesang  womöglich  dergestalt  umgewandelt  wer- 
den, dass  der  erste  Laut  als  A  erscheint ;  z.  B.  Geist,  Einer,  Euer  wird  wie 
Ga-ist,  A-iner,  A-üer  ausgesprochen,  —  die  zweite  Hälfte  des  Doppellauts 
gleichsam  zum  nachfolgenden  Laut  gezogen.  So  gewinnt  der  Gesang  eine 
Reihe  günstiger  A's,  die  die  Sprache  nicht  hat. 


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361 


Vorstudien. 


ausgebildete  Gefühl  und  Bewusstsein  vom  Körper  der  Sprache  zu 
einer  mächtigen  Hülfsquelle  der  Komposition  wird*. 

2.  Der  Rhythmus. 

Das  zweite  Gemeinsame  der  Sprache  mit  der  Musik  ist  der 
Rhythmus,  der  sich  in  beiden  durch  Längen  und  Kürzen,  durch 
grössere  oder  mindere  Stärkegrade,  Betonung  ausspricht.  Für  die 
Musik  sind  diese  rhythmischen  Mittel,  ist  der  Rhythmus  überhaupt 
von  weit  höherer  Bedeutung  und  Nothwendigkeit,  als  für  die  Sprache, 
deren  Sinn  in  den  Worten  ungleich  bestimmter  und  darum  fassli- 
cher und  schnelltreffender  ist.  Daher  wird  man  leicht  gewahr,  dass 
die  Sprache  sowohl  viel  ärmer  ist  an  Abstufungen  der  Betonung 
und  des  Verweilens,  —  wie  wenig  hat  sie  unsrer  Reihe  von  Be- 
tonungen vom  härtesten  fortissimo  des  ganzen  Orchesters  bis  zum 
säuselnden,  ganz  verhallenden  pianissimo,  oder  vom  flüchtigsten 
Hundertachtundzwanzigstel  bis  zur  Taktnote  oder  mehrern  verbund- 
nen  Taktnoten  entgegenzustellen!  —  als  auch  viel  unbestimmter; 
—  denn  bei  ihr  sind  jene  genauen  Abmessungen,  die  unser  Takt- 
system gewährt,  nicht  vorhanden,  weil  sie  ihrer  nicht  bedarf,  ja,  sie 
sind  eben  deswegen  gegen  den  Geist  der  freien,  für  sich  bleiben- 
den Sprache.  Bei  aller  dieser  Unbestimmtheit  oder  mindern  Be- 
stimmtheit hat  aber  die  Sprache  bekanntlich  ihre  feststehenden  Mo- 
mente der  Betonung  und  des  Verweilens,  die  entweder  aus  dem 
Sprachbau  oder  aus  dem  gegen  einander  abzuwägenden  Sinn  der 
einzelnen  Worte  hervorgehn. 

Diese  feststehenden  Momente  müssen  nun  auch  im  Gesang  fest- 
gehalten werden ;  eine  kurze  oder  betonte  Silbe,  ein  dem  Sinn  ge- 
mäss hervorzuhebendes  Wort  darf  nicht  unbetont  bleiben  oder  zu- 
rücktreten in  der  Komposition. 

Allein  mit  dieser  allgemeinen  Regel  ist  noch  wenig  gethan.  Denn 
nun  kommt  erst  die  bestimmtere  und  reichere  musikalische  Rhythmik 
und  Betonung  herzu  und  hebt  die  sprachlichen  Accente  aus  ihrer 
Unbestimmtheit  und  Beschränktheit  zu  sich  empor;  auf  der  andern 
Seite  muss  aber  in  gewissen  Verhältnissen  die  Musik  von  ihrer 
scharfen  Bestimmtheit  nachlassen,  um  die  frei  fliessende  Sprache 
nicht  unzeitig  und  unangemessen  zu  hemmen  und  zu  zwängen.  So 
bildet  sich  aus  dem  Rhythmus  der  Sprache  und  der  Musik,  —  so 
einig  beide  ihrem  Grunde  nach  und  so  verschieden  in  ihrer  Ent- 
wickelung,  —  ein  drittes  Wesen,  das  man  nicht  zu  beherrschen 
hoffen  darf,  wenn  man  nicht  jede  Seite,  also  namentlich  den  sprach- 


*  Eben  dies  ist  der  Grund,  warum  man  seine  Werke  nur  mit  ihrem  Ur- 
text (S.  344)  vollkommen  erfassen  und  mit  vollem  Erfolg  studiren  kann. 


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Die  Sprache  nach  ihrer  musikalischen  Natur. 


365 


liehen  Rhylhmus,  für  sich  tief  empfunden,  erkannt,  sich  angeeig- 
net hat. 

Man  betrachte  einige  im  sprachlichen  Rhythmus  ziemlich  über- 
einkommende Zeilen : 

4)  Gemächlich  schreitet  er,  — 

2)  Geduldig  leidet  er,  — 

3)  Gelinde  zieht  der  Bach,  — 

4)  Gewaltig  reisst  der  Strom,  — 

5)  Gebrochen  sinkt  er  hin,  — 

6)  Gestürzt  erbebet  er.  — 

Sie  lassen  sich  in  sprachlicher  Beziehung  —  kleine  Abweichun- 
gen (zwei  lange  Silben  statt  einer  kurzen  und  einer  langen)  bei  Seite 
gelassen  —  füglich  auf  ein  einziges  Grundmaass,  — 

auf  den  Wechsel  von  kurzen  und  langen  Silben  bringen.  Aber  welch 
eine  Mannigfaltigkeit  erwächst  hier  durch  den  Zutritt  der  bestim- 
menden musikalischen  Rhythmik!  Unterscheidet  man  die  sechs  Zei- 
len nur  obenhin  nach  dem  ungefähren  Gewicht  ihres  Inhalts,  so  er- 
geben sich  gleich  zunächst  fünf  oder  sechs  verschiedne  Rhythmen  ;  — 

o  |  J  i  J    J  ^J-J  ^  

S)  -a_J  |  J    J-4-+J  J— +-J  

3,  JL)_J  JL_jJ  £_4_J  

4,  ■^L+JJU    j!  |  J=j  1  

5)  _4_J — j-J—p-J  1  J  i-  j  1  J  n  

6)  _|  J|J     r  7-J*|  o1       7  /*[  o1  r>    J   ■ 

geht  man  aber  auf  den  Sinn  und  das  Gewicht  der  einzelnen  Momente 
in  den  Texten  näher  ein,  so  ergeben  sich  noch  ganze  Reihen  ver- 
schiedner,  bald  in  einer,  bald  in  einer  andern  Beziehung  ausdrucks- 
voller Rhythmen;  es  könnte  z.  B.  der  zweite  Text  so  — 

l  J  |  J.  J  |  J    J  J  

3  J  |  J    J_|_r  J       |  J  

f-i+J  J  i-^nqij-j-j— 

der  dritte  so  — 

|  jf—|7  }  *  * — i  jrpj 
g    1  jr~p/  j>  /   |  jrpj 


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360 


Vorstudien 


der  sechste  so  — 

|  J1  1  J  ■   |  i»  7  /  /  /  J  |  

aufgefasst  werden.  Dass  beide  Reihen  von  Fällen  die  hier  möglichen 
und  wirksamen  Gestaltungen  des  Rhythmus  nicht  erschöpfen,  ist  klar. 

Ein  rhythmisches  Klangmittel  ist  noch  besonders  zur  Sprache 
zubringen;  das  ist  der  Reim.  Dieser  rundet  die  Versformen  so 
entschieden,  so  sinnlich  nachdrucksvoll  (und  bisweilen  so  innerlich 
beziehungsvoll)  ab,  dass  ihm  in  der  Komposition  schwer  widerstrebt 
werden  kann.  Aber  eben  deswegen,  und  weil  Jeder  des  Reims  und 
seiner  Gewalt  von  selbst  inne  wird,  haben  wir  nicht  nöthig,  hier 
weiter  von  ihm  zu  handeln. 

Das  dritte  Gemeinsame  endlich  zwischen  Sprache  und  Musik  ist 

3.  der  Tonfall. 

Die  Sprache  hat  ihre  Melodik  so  gut  und  durchaus  von  glei- 
chem Sinne,  wie  die  Musik.  Die  Stimme  des  Sprechenden  hebt 
und  senkt  sich,  stetig  oder  schweifend,  jenachdem  seine  Stimmung 
sich  gestaltet,  erregter  oder  beruhigter,  stetiger  oder  schwankender 
wird ;  die  Sprache  hebt  und  senkt  sich  in  weitern  oder  mässigern, 
gleichern  oder  ungleichem  Schritten,  jenachdem  die  Stimmung  ge- 
waltsamer oder  gemässigter  ist ;  ja ,  im  lebendigsten  Affekt  treten 
sogar  Andeutungen  bezeichnender  Intervalle,  Ueberziehn  aus  einer 
Tonstufe  in  die  andre,  kurz  alle  Elemente  des  (melodischen)  Ton- 
wesens hervor.  Dies  Alles  ist  nicht  —  oder  nur  ausnahmsweise  in 
den  Momenten  des  höchsten  Affekts  —  so  bestimmt  und  so  klar 
fasslich,  wie  in  der  Musik,  eben  weil  in  der  Sprache  neben  den 
festbestimmten  Ausdrücken  des  geistigen  Inhalts  die  Laute  des  ver- 
hülltem Seelenlebens  nur  den  zweiten  Rang  einnehmen.  Allein 
wenn  auch  verhüllter,  so  behalten  doch  alle  diese  Tonbewegungen 
ihre  Redeutung  und  werden  durch  den  Eintritt  der  wirklichen  Musik 
in  die  Sprache  bestimmter  und  damit  gesteigert.  Dass  also  dieser 
tonische  Inhalt  der  Sprache  von  der  höchsten  Redeutung  für  die 
Komposition,  dass  ein  vollkommnes  Gelungensein  der  letztern  ohne 
Einklang  des  Tonischen  —  oder  geradezu  genannt  Seelischen  — 
in  Sprache  und  Musik  nicht  denkbar  ist,  bedarf  hiernach  wohl  keines 
weitern  Reweises. 

Fassen  wir  nun  diese  eesammten  Sprachmittel  wieder  zu  einem 
jetzt  in  allen  seinen  Gliedern  oder  Restaudtheilen  erkannten  Körper 
zusammen :  so  können  wir  an  der  Sprache  in  ihrer  Ganzheit  die- 
selben zwei  Grundbestimmungen  inne  werden,  die  sich  auch 
in  der  Musik  (überhaupt  in  allen  Künsten)  herausstellen. 

Zunächst  ist  die  Sprache  fähig,  sich  in  einer  gewissen  Wohl- 
gestalt, in  einem  mannigfaltigen  und  doch  ebenmässigen  Spiel 


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Die  Sprache  nach  ihrer  musikalischen  Natur. 


367 


aller  ihrer  Elemente  zu  zeigen;  dies  ist  die  Anmut h  oder  allge- 
meine Schönheit  der  Form.  Sie  beruht  erstens  auf  einem  wohl 
geordneten  Wechsel  der  Laute,  namentlich  der  Vokale,  in  dem  so- 
wohl die  eintönige  Anhäufung  desselben  Lauts,  als  das  grelle  und 
zu  häufige  Widereinanderstossen  der  einander  zu  fremden,  zu  wi- 
derstrebenden Laute  vermieden  und  ein  sanfter  oder  lebensvoller 
Schwung  der  Lautirung  gewonnen  ist;  zweitens  auf  einer  eben- 
müssigen  und  doch  frei  entfalteten  Rhythmisirung ;  auf  einem  anmu- 
thig  wechselnden  und  ebenmässigen  Spiel  der  Accente  in  Länge  und 
Kürze,  Schwere  und  Leichte  der  Betonung;  drittens  auf  einem 
Tonfall  des  Redenden,  der  in  schwungvoller  und  dabei  sanfter,  von 
heftiger  Bewegung  wie  von  starrem  oder  trägem  Stehnbleiben  gleich 
entfernter  Weise  in  der  Sprache  selbst  eine  Ahnung,  einen  Abglanz 
von  Melodie  durchschimmern  lässt,  ohne  doch  die  Gränze  von  Sprache 
und  wirklicher  Musik  zu  Uberschreiten.  Dies  ist  die  allgemeine  oder 
äussere  Schönheit  der  Sprache,  der  Ausdruck  von  dem  sichern,  an- 
muthig  leichten  Walten  und  Wohlgefühl  des  Redenden  in  derselben. 
Sie  ist  mehr  oder  weniger  in  der  Sprache  jedes  Volks  vorhanden 
und  in  jeder  durch  den  ausgebildeten  Sinn  des  Redenden  zu  erhöhen ; 
in  der  deutschen  Sprache  ist  sie  nach  dieser  oder  jener  Seite 
vielleicht  nicht  so  schimmernd  als  in  mancher  andern,  aber  dafür 
mannigfaltiger  als  in  den  meisten,  selbst  die  griechische  nicht  aus- 
genommen, —  die  italische  nun  gar  nicht.  Der  höchste  Meister  aber 
scheint  hier  Goethe  zu  sein.  Seine  Sprache  im  rechten  Munde  darf 
Musik  heissen;  manches  seiner  Gedichte,  z.  B.  der  Fischer 

»Das  Wasser  rauscht,  das  Wasser  schwoll«, 
müsste  selbst  den  des  Inhalts  unkundigen  Ausländer  bewegen  und 
ihm,  bei  erwecktem  Musiksinn,  schon  durch  den  Klang  der  Worte 
und  den  Ton  der  Silben  eine  Ahnung  von  dem  Element,  in  dem 
es  lebt,  erwecken. 

Sodann  berührt  aber,  wie  wir  oben  angedeutet  haben,  die 
Sprache  schon  in  ihrer  Aeusserung  vielfältig  und  oft  höchst  mäch- 
tig dieselben  Saiten  der  Empfindung,  der  Leidenschaft,  die  durch 
den  feststehenden  Sinn  der  Worte  zum  Hörer  sprechen,  —  und  hier 
kann  sich  im  Ganzen  keine  Sprache  mit  der  unsrigen  messen;  we- 
nigstens ist  ihr  keine  eben  hier  überlegen. 

Nach  allen  diesen  Beziehungen  muss  die  Sprache  beobach- 
tet, in  ihren  vorzüglichsten  Schriftstellern  und  Dichtern  studirt,  es 
muss  im  Leben  selbst  der  Ausdruck  der  verschiednen  Stimmungen 
und  Affekte,  vom  Zustande  der  Beruhigung  bis  zur  höchsten  Auf- 
regung der  Leidenschaften,  belauscht,  es  muss  die  eigne  Sprachweise 
zur  Reinheit  jedes  Lauts,  zu  jener  Wohlgestalt  der  Sprache,  zu 
dem  treffenden  Ausdruck  der  Affekte  durch  Lautlesen  und  aufmerk- 
sam geregeltes  Selbstreden  ausgebildet  werden.    Je  getreuer  man 

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368 


Vorstudien. 


sich  hier  einarbeitet,  je  feiner  und  tiefer  man  beobachtet,  je  hinge- 
gebner man  sich  der  leidenschaftlichen  Gewalt  des  lebendigen  Worts 
überlässt  und  sie  damit  zu  seinem  Eigenthum  macht :  desto  reicher 
wird  der  Geist  für  Gesangkomposition,  für  Musik  überhaupt  befruch- 
tet werden. 


Vierter  Abschnitt. 
Der  Inhalt  des  Gesangtextes. 

Die  nächste  und  folgenreiche  Betrachtung  gilt  dem  Inhalt,  der 
sich  in  der  Sprache  für  Gesang  darbietet,  durch  den  das  Wort  der 
Sprache  zur  Aufgabe,  zum  Text  für  den  Gesang  wird. 

Hier  tritt  uns  vor  allem  vor  Augen,  dass  der  Geist  durch 
das  Organ  der  Sprache  ungleich  bestimmter  und  damit  schnel- 
ler entschieden,  schneller  verstanden  sich  kundgiebt, 
als  durch  das  Organ  der  Musik.  »Ich  liebe,  ich  hasse,  ich  freue 
mich,  ich  traure«  —  jedes  dieser  Worte  ist  sofort  und  unzweideu- 
tig verstanden,  sobald  es  vernommen  ist.  Wie  viel  Umschweife, 
welchen  Aufwand  von  einzelnen  Anregungen  braucht  die  treffendste 
Musik,  um  eine  dieser  Stimmungen  in  der  Vorstellung  des  Hörers 
hervorzurufen!  —  Allerdings  hat  sie  dann  auch  mehr  gethan,  als 
dem  einfachen  Ausdruck  der  Sprache  möglich  war. 

Hiermit  tritt  eine  wichtige,  durchgreifende  Wahrheit  für  die 
Gesangkomposition  vor  das  Auge.  Im  Bunde  der  Sprache  und  Mu- 
sik ist 

die  Sprache,  —  der  Text  das  Bestimmende  und  die 
Musik  das  Bestimmtwerdende 

vermöge  der  höhern  Kraft  der  Bestimmtheit  in  der  erstem. 

Nach  dem  Inhalte  des  Textes  ist  vor  allem  zu  bestimmen : 

ob  derselbe  zur  Komposition  geeignet? 
Es  ist  aber  dann  weiter  nach  ihm  zu  bestimmen, 

in  welcherWeise  er  komponirt  werden  kann?  — 

oder  um  es  auf  den  uns  schon  geläufigen  Ausdruck  der  Kunstlehre 

zurückzuführen : 

die  Form  aller  Gesangkomposition  bestimmt  und 
entwickelt  sich  nach  den  vom  Text  gebotenen  Ver- 
hältnissen. 

Wrir  werden  in  diesem  und  im  zehnten  Buch  (im  vierten  Theil 
des  Lehrbuchs)  sehn,  dass  in  der  Gesangkomposition,  —  abgesehn 
von  einigen  neu  hinzukommenden,  —  alle  uns  bisher  bekannt  ge- 
wordnen Kunstformen  wiederkehren.    Sie  alle  werden  ergriffen  und 


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Der  Inhalt  des  Gesangtextes.  369 

> 

umgebildet  nach  dem  Erfodern  des  jedesmaligen  Textes.  Der  letz- 
tere Punkt,  —  in  welcher  Weise  ein  an  sich  komponirbarer  Text 
behandelt  werden  könne  oder  müsse,  —  wird  in  den  folgenden  der 
Gesangkomposition  gewidmeten  Abtheilungen  Schritt  für  Schritt  zur 
Erörterung  kommen.  Hier  beschäftigt  uns  die  erste  Frage,  die  wir 
genauer  jetzt  so  fassen : 

welcher  Inhalt  der  Sprache  ist  geeignet  zur  Kom- 
position? — 

Alles  nun,  was  überhaupt  durch  die  Sprache  offenbart  wird, 
lässl  sich  auf  drei  Formen  des  Bewusstseins ,  oder  des  geistigen 
Lebens  zurückführen. 

Die  erste  ist  die  Form  der  Vorstellung  oder  Schilde- 
rung, die  sich  darin  bethätigt,  einen  irgendwie  wahrgenommnen 
äussern  Gegenstand  ohne  weitere  Beziehung  auf  das  Innerliche  des 
Anschauenden  festzuhalten  oder  dem  Hörer  zu  geistiger  Anschau- 
ung zu  bringen.  Schon  die  blosse  Nennung  eines  Gegenstandes: 
der  Baum,  der  Horizont,  —  noch  bestimmter  jede  Verknüpfung  die- 
ser Nennung  mit  näherer  Bezeichnung:  der  blütenbedeckte  Frucht- 
baum, der  Nachthimmel  in  seiner  Sterne  Fracht,  —  eben  so  jede 
Erzählung  eines  wirklichen  oder  vorgestellten  Ereignisses :  die 
Schlacht  ist  geschlagen,  —  oder  jenes  Homerische  — 

Eos  mit  Rosenfingern  entstieg  dem  Bett  des  Tithonos, 

Sterblichen  Menschen  das  Licht  und  unsterblichen  Göttern  zu  bringen 

fallt  unter  den  Begriff  dieser  Form,  gleichviel  wie  gedrängt  oder 
ausgedehnt,  wie  anziehend  (und  in  welchem  Sinn)  oder  nicht  die 
Aeusserung,  und  welches  ihr  Gegenstand  ist.  Der  Beschreibende 
oder  Schildernde  kann  daher  auch  sich  selber  zum  Gegenstand  sei- 
ner Darstellung  werden:  »ich  bin  so  oder  so  gestaltet,  —  ich  wanke 
gebeugt  dahin,  mir  ist  die  Stirn  vom  stolzen  Lorbeer  umkränzt,  von 
der  dunkeln  Cypresse  überschattet «  —  dies  alles  sind  Aeusserun- 
gen  derselben  Klasse. 

Die  zweite  Form  umfasst  die  Aeusserungen  des  in  unzähligen 
Gestaltungen  der  Zu-  und  Abneigung,  des  Verlangens  und  Abwei- 
sens u.  s.  w.  sich  bewegenden  Gefühls  - oder  Seelenlebens. 
Alle  Ausdrücke  des  Wohlgefühls  oder  des  Leidens,  des  Hoffens  oder 
Zagens,  der  Liebe  und  Freude,  des  Hasses  und  der  Trauer  können 
als  Beispiele  gelten. 

Die  dritte  Form  ist  die  der  Vernunft thätigkeit.  Alles, 
was  die  Vernunft  als  absolut  nothwendige  Grund-  oder  aus  andern 
Vernunftsätzen  gefolgerte  Wahrheit  feststellt,  z.  B.  die  Grund-  und 
Lehrsätze  der  Wissenschaft,  die  Gesetze  des  Rechts  und  der  Sitte, 
die  Glaubenssätze  einer  Religion,  —  gleichviel  ob  einer  dieser  Sätze 
in  künstlerischer  Form  erscheint,  z.  B.  jene  Verse  des  Dichters  : 

Marx,  Komp.-L.  HI.  b.  Aufl.  24 


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370 


Vorstudien. 


Das  Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht  I  — 
In  deiner  Brust  sind  deines  Schicksals  Sterne ! 

gehören  hierher. 

Nur  die  zweite  Reihe  von  Aeusserungen  ist  der  Musik,  der 
Sprache  des  Gefühls-  oder  Seelenlebens,  gleichartig.  Die  Bewegun- 
gen der  Seele,  von  der  einfachen  Empfindung  an  bis  zu  den 
Ketten  von  einzelnen  bald  einstimmigen,  bald  einander  fremdern  oder 
widersprechenden  Gefühlsmomenten,  die  wir  als  Sti  mmungen,  als 
ganze  Lebensperioden  der  Seele  auffassen,  die  uns  einen 
Einblick  in  das  ganze  Geistesleben,  eine  Ahnung  der 
in  ihm  waltenden  Idee  gönnen :  das  alles  ist  der  Musik  eigen, 
folglich  von  ihr  theilnehmend  aus  der  sprachlichen  Aeusserung  auf- 
zufassen und  wiederzugebären.  Dagegen  sind  die  Sphären  der  rei- 
nen Vernunftthätigkeit  und  der  Schilderung,  ist  Gedanke  und  Bild  oder 
Anschauung  dem  Wesen  der  Musik  fremd.  Es  wird  keines  wreitern 
Beweises  bedürfen,  dass  alle  Beispiele,  die  wir  für  die  erste  und 
dritte  Reibe  sprachlicher  Aeusserungen  gegeben,  an  sich  selber  nicht 
musikalisch,  nicht  zu  musikalischer  Auffassung  geeignet  sind.  Aller- 
dings kann  man  zu  jenen  Worten  Töne  gesellen,  —  wo  wäre  das 
nicht  möglich?*  —  aber  der  Inhalt  beider  wird  nicht  zusammengehö- 
ren, eins  wird  dem  andern  widersprechend  und  störend,  das  Wort 
gereicht  der  Musik  zur  blossen  Last  und  Hemmniss,  die  Musik  er- 
stickt das  ihr  fremde  Wort  mit  seiner  Bedeutung. 

Wir  haben  hier  von  einer  scharfen  Sonderung  des  sprachlichen 
Inhalts  ausgehn  müssen,  um  feste  Anhaltpunkte  zu  gewinnen,  durf- 
ten uns  dabei  sogar  von  solohen  Momenten  nicht  ganz  abwenden, 
bei  denen  schwerlich  irgend  ein  nur  oberflächlich  mit  der  Musik  Be- 
kannter —  und  nicht  durch  äusserliche  Verhältnisse  Genötbigter  oder 
Verleiteter  —  an  Komposition  denken  wird;  wem  kann  es  ernst- 
lich einfallen,  sittliche  oder  wissenschaftliche  Wahrheiten  für  sich 
selber  in  Musik  setzen  zu  wollen  *?  Allein  in  dem  Gebiete,  wo  vor- 
aussetzlieh allein  von  Komposition  die  Rede  sein  kann,  tritt  der  In- 
halt des  Textes  nicht  so  rein  einseitig  hervor;  er  ist  entweder 
ein  gemischter,  so  dass  Schilderung  und  Gedanke  (wie  in 
jenen  Homerischen  Versen)  —  oder  Schilderung  und  Gefühl  (wie  bei 
jenem  Redenden,  der  seine  Stirn  vom  stolzen  Lorbeer,  von  der  trau- 
rigen C\  presse  uuizogen  sieht)  —  Gefühl  und  Gedanke ,  oder  alle 
drei  Formen  geistiger  Thätigkeit  sich  verknüpfen  ;  oder  er  ist  2)  ein 
solcher,  der  noch  eine  tiefere  Beziehung  verschwiegen 
oder  angedeutet  in  sich  trägt,  zu  der  das  Geäusserte  nur 
Andeutung  ist,  gleichsam  wie  das  Rathsei  zu  seiner  Lösung. 
Ein  Beispiel  letzterer  Klasse  ist  jenes  Goethe'sche  Gedicht: 


*  Gretry  erl>nt  »ich  scherzweis,  eine  holländische  Zeitung  zu  kouipnniren. 


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Der  Inhalt  des  Gesangtextes.  371 

Ueber  allen  Gipfeln  ist  Ruh', 

In  allen  Wipfeln  spürest  du 

Kaum  einen  Hauch; 

Die  Vögelein  schweigen  im  Walde; 

Warte  nur,  balde 

Ruhest  du  auch. 

Die  Schilderung  tiefster,  stillster  Naturruhe  ist  hier  nur  die 
Hülle,  die  die  geheime  Hoffnung  eines  verwundeten  Herzens,  bald 
zur  letzten,  stillsten  Ruhe  zu  gelangen,  —  denn  für  das  Begehr  einer 
andern  wäre  das  Gedicht  zu  viel  und  seine  Bewegung,  so  still  und 
so  tief J  zu  innig,  —  uns  mehr  verräth  als  offenbart.  Eben  dies 
zart  jungfräuliche  Geheimniss  ist  der  Reiz,  die  Seele,  —  der  wahre 
Inhalt  des  Gedichts;  in  Verhältniss  zu  ihm  wird  die  geschilderte 
Umgebung,  wie  die  Natur  im  Verhältniss  zum  Menschen,  zur 
Allegorie. 

Ja,  endlich  kann  3)  ein  an  sich  selber  bloss  gedankenmässigcr 
oder  beschreibender  Inhalt  durch  irgend  ein  Verhältniss  zu  un- 
sermSeelenleben  eine  solche  feststehende  Bedeutung  für  das  Ge- 
fühl erhalten  haben,  dass  wir  dieses  in  ihn  hineinzutragen  gereizt 
sind,  sobald  er  sich  uns  auf  künstlerischer  Bahn  nähert.  Dies  ist 
unter  andern  mit  den  Glaubenssätzen  der  Fall.  Das  Bekenntniss, 
dass  wir  an  Einen  Gott,  Schöpfer  Himmels  und  der  Erden  glauben, 
enthält  an  sich  einen  —  gleichviel  aus  und  mit  welchem  Grunde 
von  der  Vernunft  für  wahr  angenommnen  Gedanken,  mit  dem  das 
Gefühl  unmittelbar  gar  nichts  zu  thun  hat.   Wird  aber  das 

Credo  in  unum  Deum, 
factorem  coeli  et  terrae! 

aus  gläubigem  Mund,  oder  gar  im  Namen  Alier,  die  sich  in  erhe- 
bendem Weihegefühl,  in  Freudigkeit  und  Hoffnungseligkeit  zu  dem 
Einen  bekennen ,  angestimmt :  so  sind  es  nicht  mehr  die  Worte 
und  ihr  nächster  Inhalt,  uicht  jener  Vernunftsatz,  es  ist  die  Bedeu- 
tung, die  das  erweckte  Gemüt h  an  ihn  knüpft  und  durch  ihn  sich 
neu  angewinnt,  die  durch  die  Worte  spricht  und  ihnen  eine  der 
Musik  zugängliche  Beziehung  erst  verleiht. 

In  all'  diesen  gemischten  Verhältnissen  ist  allerdings  die 
Entscheidung  nicht  so  einfach  und  leicht,  wie  in  den  einfachen,  von 
denen  wir  ausgegangen.  Die  Verknüpfung  von  Schilderung  und 
Gedanke  kann  nicht  zur  Komposition  führen ,  da  beide  Faktoren 
nicht  musikalisch  sind.  Die  Verknüpfung  von  Gefühlsmomenten  mit 
Momenten  der  Schilderung  oder  Vernunftthätigkeit,  —  oder  der 
Hinzutritt  einer  nur  verhüllt  angeregten  oder  von  aussen  herzu- 
getragnen Stimmung  und  Erregung  des  Gefühls  kann  das  Ganze 
in  die  musikalische  Sphäre  heben. 

Allein  hier  kommt,  —  wie  Jeder  voraussieht,  —  alles  auf  die 
Macht  und  Ausdehnung  an,  die  jedes  der  verschiednen  Mo- 


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372 


Vorstudien. 


mente  im  Verhältniss  zu  den  andern  an  sich  hat.  Wo  Ge- 
danke und  Schilderung  nach  der  in  sie  gelegten  Bedeutung  und  der 
ihnen  gegönnten  Breite  der  Darstellung  vorwalten,  da  wird  das  Ge- 
fühlsmoment zurücktreten  und  Komposition  gar  nicht,  oder  nur  in 
untergeordneter  Weise  statthaben  können ;  wo  das  Gefühl  mächtig 
den  Vorrang  behauptet,  wird  es  in  der  Komposition  die  an  sich 
unmusikalischen  Momente  der  Gedankenform  oder  Schilderung  über- 
tragen. 

Die  entschiedensten  und  darum  am  kräftigsten  verdeutlichenden 
Beispiele  der  erstem  Reihe  bieten  uns  die  Dichter  des  klassischen 
Alterthums  Überali.  Auch  nicht  Ein  Gedicht  von  einiger  Bedeutung 
wird  sich  aufweisen  lassen,  in  dem  nicht  —  ganz  gemäss  dem  ob- 
jektiv nach  aussen  gewendeten  Sinn  der  Alten  —  Schilderung  und 
Gedanke  mit  höchster  Uebermacht  vorwalteten.  Selbst  von  den 
Choren,  in  denen  ihre  Dramatiker  auf  die  höchste  Mitwirkung  der 
Musik*  rechneten,  selbst  von  denjenigen  Chören,  in  denen  die 
Wellen  des  Affekts  am  höchsten  aufschlagen,  gilt  dies  durchaus. 
So,  wenn  in  den  »Schul zf ieh enden«  desAischylos  (Ueber- 
setzung  von  Droysen)  die  Danaiden  in  bitterster  Angst  vor  den 
nahe  drängenden  Verfolgern  ausrufen : 

Du  holmreich  Land !  du  theures  Heiligthum ! 
Was  wen]  ich  dulden,  ach  in  Apia  wohin 
Entfliehn,  wo  dunkle  Stätte  finden,  auszuruhn? 
Ein  schwarzer  Rauch  möcht*  ich  fliehn, 
Zeus  Wolken  nach  von  hinnen  ziehn, 

Lautlos  verschwinden, 
Möcht'  ein  leiser,  leichter  Staub 
Emporgeweht  flügellos  verfliegen! 

Nein  fluchtlos  bliebe  hier  nicht  meine  Furcht!  — 
Und  dunkelwogend  pocht  das  Herz  in  meiner  Brust! 
Des  Vaters  Wort,  es  traf  mich,  ich  vergeh'  vor  Angst!  — 
So  werd'  der  Tod  eh'  mein  Theil, 
Hoch  aufgeknüpft  im  bittren  Seil, 

Eh'  diesen  Busen 
Rührt  der  Gottverfluchten  Hand, 
Eh'  will  ich  todt,  will  ich  des  Todes  Raub  sein. 

Wo  lind'  ich  einen  Ort  nur,  hoch  in  luft'ger  Höh', 

Um  den  die  nebelfeuchte  Wolke  wird  zu  Schnee, 

Ein  stilles,  jähes,  gemseneinsames,  abgrundschwindelndes, 

Adlernistendes  Felsgehäng, 

Tiefen  Sturzes  Zeuge  mir, 
Eh'  dieser  Brautnacht  dunkelem  Fluch  mein  brechend  Herz 

anheimfällt? 


*  Nur  dass  die  griechische,  überhaupt  die  alte  Musik  eine  ganz  andre 
war,  als  die  unsre.  Man  vergl.  einstweilen  die  Artikel  des  Verf.  über  griech  i  - 
sehe  Musik  im  Universallexikon  der  Tonkunst. 


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Der  Inhalt  des  Gesangtextes. 


373 


und  so  fori!  Angsl,  liefe  Bekümmerniss,  heftige  Gemüthaufre- 
gung  bis  zum  Entschlüsse  des  Selbstmords  erfüllen  hier  die  Seele 
der  Redenden,  sprechen  aus  dem  Ganzen  des  Gedichts;  aber 
stets  und  tiberall,  fast  in  jedem  einzelnen  Zuge  tritt  die 
Empfindung  in  das  ausserlich  Anschaubare  über,  das  der  Musik 
fremd,  der  Komposition  unerreichbar  ist,  ja,  ihr  ungeachtet  der  zum 
Grunde  liegenden  Gemütsbewegung  widerstrebt.  An  die  Stelle 
des  unmittelbaren  Gefühlsausdrucks  sind  Reflexionen  in  Gestalt  von 
Gleichnissen  oder  Nennung  und  Schilderung  von  Stätten  getreten, 
deren  in  der  Angst  gedacht,  zu  denen  hin  verlangt  wird.  Dies  alles 
ist  dem  reinen  und  unmittelbaren  Gefühlsausdruck  der  Musik  fremd 
uud  unerreichbar,  also  störend ;  die  reinen  Accente  der  Klage  oder 
Angst,  oder  welcher  andern  Empfindung,  die  die  Musik  auf  »holm- 
reich Land  —  Apia  —  ein  schwarzer  Rauch  —  Zeus  Wolken  nach« 
u.  s.  w.  fallen  lassen  muss,  werden  lächerlich  gemacht  durch  den 
Widerspruch  mit  dem  Textinhalt  aller  dieser  Momente.  Und  um- 
gekehrt werden  alle  diese  Züge  des  Gedichts  in  dem  allgemeinen, 
ihnen  fremd  bleibenden  Musikaufguss  ertränkt.  —  Und  dies  ist  eins 
der  musikgünstigsten  Beispiele,  die  man  in  der  gesammten  Poesie 
der  Hellenen  finden  wird*. 

Zwischen  den  sprachlichen  Aeusserungen  also,  die  durchaus  der 
Musik  fremd,  und  denen,  die  ihrem  Eintritt  unzweifelhaft  günstig 
sind,  steht  eine  Reihe  solcher,  in  denen  musikalische  und  wider- 
musikalische Tendenzen  sich  in  unzähligen  Abstufungen  mischen, 
so  dass  man  allerdings  in  jedem  einzelnen  dieser  Fälle  zu  erwägen 
hat,  ob  und  wiefern  hier  Komposition  statthaft  sei.  Diese  Prüfung 
ist  nicht  bloss  dazu  nöthig,  das  durchaus  der  Komposition  Unzugäng- 
liche zu  vermeiden,  sondern  sie  zeigt  sich  auch,  —  wie  wir  wei- 
terhin sehen,  —  bei  der  Form  der  Komposition  von  erheblichem 
Einfluss. 


*  Dass  man  auch  zu  solchen  ungeeigneten  Gedichten  Noten  setzen  kann, 
versteht  sich,  wie  es  denn  auch  schon  öfter  nicht  bloss  in  neuester  Zeit,  sondern 
früher  von  Reichard  t,  ja  schon  vor  drei  Jahrhunderten  geschehn  ist.  Auch 
können  sich  in  solcher  wie  in  jeder  andern  Komposition  anziehende  Momente 
zeigen  und  diese  sowohl,  wie  die  Neuheit  oder  Seltenheit  des  Unternehmens, 
die  nie  ganz  zu  ertödtende  Mncht  des  alten  Dichters,  der  scenische  Reiz  — 
können  auch  solchen  Unternehmungen  Gunst  gewinnen.  Demungeachtet  kann 
nie  ein  Kunstwerk  im  höhern  Sinne  des  Worts  entstehn,  wo  ein  unversöhn- 
licher Widerspruch  der  beiden  zu  demselben  sich  vereinenden  Künste  das 
Wort  durch  den  Ton  und  den  Ton  durch  das  Wort  aufhebt  oder  entkräftet. 


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374 


Vorstudien. 


Fünfter  Abschnitt. 
Ausdrucksweise  des  Textes  im  Allgemeinen. 

Setzen  wir  nun  im  Dichter  oder  Redenden  einen  der  Musik 
zugänglichen  Inhalt  voraus,  so  kommt  es  zunächst  auf  die  Weise 
an,  wie  dieser  Inhalt  vom  Redenden  zu  erkennen  gegeben  wird. 
Im  Allgemeinen  lässt  sich  ein  Gedanke  oder  Gefühl  entweder  ge- 
radezu und  aufrichtig  aussprechen,  oder  er  soll  verneint, 
verborgen,  verleugnet  werden.  Dies  kanu  geschehen  mit 
der  Absicht  der  Unwahrhaft igkeit,  um  zu  täuschen,  zu 
verhehlen  u.  s.  w.,  oder  in  der  Absiebt,  die  Wahrheit  suchen,  er- 
rathen  zu  lassen,  z.  B.  aus  Neckerei,  Koketterie,  Ironie 
u.  s.  w.  In  all'  diesen  Fällen  besagen  die  Worte  etwas  Andres, 
als  der  Redende  eigentlich  für  wahr  hält;  das  innere  Bewusstsein 
desselben  ist  mit  seiner  Aeusserung  in  Widerspruch. 

Das  Gefühl  aber  kennt  an  sich  nur  eine  gerade,  unumwundne 
Aeusserung;  nur  der  Verstand  kann  seinen  Inhalt  ebensowohl  ver- 
neinen, verkehren  und  verstellen,  als  aufrichtig  hingeben,  er  kann 
also  auch  das,  was  er  am  innern  Gefühl  wahrgenommen,  verneinen, 
verleugnen  oder  verstellen.  Nicht  das  Gefühl  ist  Verstellung  oder 
verstellt,  sondern  an  die  Stelle  seiner  stets  aufrichtigen  Aeusserung 
wird  vom  Verstand  eine  andre  geschoben. 

Diese  Verleugnungen  oder  Verfälschungen  nun  vermag  die  Musik 
so  wenig  als  das  Gefühl  sich  wahrhaft  anzueignen;  sie  kann 
nur  durch  den  Widerspruch,  in  den  sie  mit  dem  Worte  des  herr- 
schenden Verstandes  tritt,  die  Falschheit  errathen  lassen,  kann 
die  Stimmung,  welche  die  Falschheit  im  Redenden  antrifft  oder  her- 
vorruft, verrathen  —  und  damit  allerdings  den  Ausdruck,  das 
Karakterbild  des  sich  verleugnenden,  Verstellenden  vollenden.  In 
den  allermeisten  Fällen  wird  aber  der  innere  Widerspruch  ihre  Kraft 
brechen,  oder  doch  ihre  Wirkung  schwächen. 

Aus  diesem  Gesichtspunkt  ist  es  der  Musik  leichter,  sich  be- 
jahenden, als  verneinenden  Aeusserungen  anzuschlicssen. 
Ich  liebe  dich  nicht,  —  ich  freue  mich  nicht,  —  dies  sind  Aeusse- 
rungen, die  das  Gefühl,  was  sie  nennen,  zugleich  verneinen. 
Die  Gleichgültigkeit,  die  Belrübniss  (oder  welcher  Gegensatz  nun 
im  Sinne  behalten  wird)  ist  im  Gemüth  und  muss  also  der  Inhalt 
der  Komposition  sein ;  aber  sie  trifft  mit  dem  Ausdruck  Liebe,  Freude 
zusammen,  und  in  diesem  Widerspruche  von  Wort  und  Musik  kann 
die  letztere  nicht  mit  so  sichrer,  ungestörter  Kraft  treffen,  als 
wenn  sie  vom  übereinsli turnenden  Worte  bestätigt  und  bestärkt  wird. 

Aus  gleichem  Grunde  sind  Ironie  und  Verstellung  der 
Musik  nicht  zusagende  und  sie  nicht  begünstigende  Formen.  Es 


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Ausdrucksweise  des  Textes  im  Allgemeinen.  375 

hiesse  allerdings,  der  schöpferischen  Geistesmacht  ungerecht  miss- 
trauen und  der  Kunst  unbefugt  Schranken  ziehn,  wollte  man  diese 
und  ähnliche  Formen  schlechthin  als  unstatthaft  bezeichnen;  doch 
scheint  es  wöhlgerathen,  auf  die  in  ihnen  liegende  Schwierigkeit 
hinzudeuten,  damit  sie  nicht  dem  Schaffenden  unerwartet  als  ein 
unenträthseltes  Hemmniss  störend  werde.  So  kann  denn  allerdings 
in  Nebenmomenten  eines  grössern  Ganzen,  oder  bei  leichter  zu  fas- 
senden oberflächlichen  Aufgaben,  z.  B.  bei  komischer  Musik,  auch 
Ironie  und  Verstellung  als  zulässige  Form  gelten.  Wollte  man  sie 
aber  für  ein  grösseres  und  ernstlichen  Tendenzen  bestimmtes  Ganze, 
oder  auch  nur  für  Hauptmomente  eines  solchen  gebrauchen:  so 
würde  der  Musik  schon  durch  diese  Form  des  Textes  ihre  eigent- 
liche Sphäre  —  die  der  aufrichtigen  und  darum  tief  treffenden,  das 
(lemüth  tief  bewegenden  Wahrhaftigkeit  —  verschlossen. 

Ein  schlagend  Beispiel  giebt  hierzu  das  Goethe'sche  Gedicht 
»die  erste  Walpurgisnacht «,  wenn  man  es  für  musikalische 
Behandlung  bestimmen  will,  wie  von  Mendelssohn*  geschehn 
ist.  Dies  Gedicht  stellt  bekanntlich  die  Anhänger  der  alten  deut- 
schen Gottheiten  dar  in  ihrer  Bedrängniss  durch  die  Bekenner  des 
Ghristenthums,  in  ihrer  Zuversicht,  dass  das  reine  Licht  (angeblich 
ibr  Glaube)  doch  siegen  werde,  wie  sie  sich  als  Hexen  und  Zau- 
berer verstellen,  um  die  abergläubigen  Christen  zu  verscheuchen 
und  ungestört  den  nächtlichen  Götterdienst  auf  dem  Brocken  feiern 
zu  können.  Abgesehn  von  allem,  was  sich  Über  die  Grundidee  des 
Ganzen  zu  bedeuken  giebt  und  was  schwerlich  einem  in  der  Idee 
und  im  Bewusstsein  unsrer  Zeit  lebenden  Tondichter  es  gewähren 
konnte,  mit  der  Kraft  und  Glut  eigner  Ueberzeugung  auf  sie  ein- 
zugehn,  sind  diese  Hexen-  und  Spukchöre,  die  das  Gedicht  fodert, 
kein  wahrer  Spuk:  ihr  Inhalt  ist  nicht  von  denen,  die  sie  darstel- 
len, geglaubt  und  darum  für  sie  subjektiv  wahrhaftig;  sondern  es 
ist  von  ihrer  Seite  und  für  die  Hörer  verübte  Verstellung,  — 
und  zwar  nicht  eine  im  leichten  Scherz  verübte,  sondern  zu  ernst- 
hafter Wirkung,  auch  im  Gedicht  zu  einer  solchen  bestimmte.  Die 
Komposition  kann  hierauf  nur  mit  Ernst  eingehn;  auch  sie  kann 
nicht  im  leichten  Scherz  darüber  hingleiten,  sondern  muss  uns  den 
Spuk  in  all'  seiner  —  vorgeblichen  Wirklichkeit,  Wildheit  u.  s.  w. 
darstellen;  und  doch  ist  es  kein  Spuk,  ist  alles  nicht  wahr. 
Diese  Unwahrheit  —  oder  Halbwahrheit  und  Halbheit  (aus  dem  mu- 
sikalischen Gesichtspunkte)  konnte  zu  interessant  unterhaltenden  und 
anregenden  Momenten  in  der  Komposition,  zu  Beweisen  vom  Talent 
des  Komponisten  Anlass  geben,  nicht  aber  zu  den  tiefern,  weil  wahr- 
haftem Wirkungen,  die  bei  gleichem  Talent  eine  dem  Wesen  der 
Musik  eignere  Aufgabe  möglich  gemacht  hätte. 

*  Auch  von  Löwe,  aber  allzuflücktig  abgefertigt. 


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376 


Vorstudien. 


Nächst  der  rednerischen  Form  des  Ausdrucks  ist  sodann  auch 
das  äusserliche  Maass  desselben,  — die  Länge  der  Rede, 
—  von  Bedeutung  für  die  Komposition.  Allerdings  ist  das  Wort 
in  gewisser  Beziehung  gleichsam  nur  Thema  für  die  Musik,  das 
sie  nicht  bloss  auszusprechen,  sondern  auszulegen  und  auszuführen, 
durch  Wiederholung  und  Ausführung  reich  zu  erfüllen  und  tiefer 
zu  beseelen  hat.  Allein  hierzu  darf  eben  das  Wort,  der  Text  nicht 
zu  ausgedehnt  sein,  um  der  Musik  nicht  noch  weitere  Ausdehnung 
oder  fluchtiges  Ueberhingehn  aufzudrängen,  —  und  eben  so  wenig 
zu  eng  gemessen,  damit  sie  für  ihre  Ausführung  auch  genügenden 
materiellen  Anhalt  finde  ohne  ungebührliche  Wiederholung  des  Wor- 
tes. So  finden  sich  z.  B.  in  den  Dramen  des  Galderon  ganze 
Partien,  die  dem  Inhalte  nach  zur  Koniposition  gar  wohl  geeignet 
wären,  wenn  sie  nicht  das  der  Musik  noch  zuträgliche  Maass  über- 
schritten. Umgekehrt  sind  viele  der  zur  Komposition  bestimmten 
und  dem  Inhalte  nach  durchaus  —  ja  verführerisch  musikalischen 
Gedichte  in  Goethe's  Singspielen  (z.  B.  in  Jery  und  Bätely, 
Scherz,  List  und  Rache  u.  a.)  für  die  geeignete,  ja  nothwendige 
Kompositionsform  zu  kurz.  Dass  übrigens  auch  hier  besondre  Ver- 
hältnisse die  zu  kurzen  wie  die  zu  langen  Texte  annehmbar  machen 
können,  bezeugen  sogleich  die  unzähligen  Kompositionen  von  Kyrie 
eleison  und  Amen. 

Dieses  Hinderniss  verknüpft  sich  mit  dem  früher  erwähnten  in 
einer,  den  Dichtern  wohl  zusagenden  Form,  in  der  Antithese. 
Mag  diese  nun  gedrängt  —  wie  etwa  »Sieg  oder  Tod!«  »Kurz 
ist  der  Schmerz  und  ewig  ist  die  Freude!«  —  oder  in  wiederho- 
lender Fortführung  (wie  oft  bei  Calderon)  auftreten,  immer  wird 
der  Raum  für  den  Ausdruck  der  beiden  Seiten  fehlen,  von  denen 
die  eine,  die  zur  Hebung  der  andern  angeregt  wird  (z.  B.  in  jenem 
Wort  der  Jungfrau  von  Orleans  die  Erinnerung  an  den  entschwin- 
denden Schmerz  bei  der  Vorahnung,  dem  emporfltigelnden  Gefühl 
der  Seligkeit),  doch  nicht  unempfunden  bleiben  kann. 

Nur  so  viel,  —  mehr  Andeutung  als  Abhandlung,  rausste  und 
.durfte  hier  zur  Sprache  kommen.  Das  Weitere  und  Tiefere  findet 
seine  günstigere  Stelle  in  der  Musikwissenschaft,  weil  es  mehr  mit 
der  allgemeinen  humanistischen  Bildung  und  der  Wissenschaft,  als 
mit  der  Kompositionslehre  in  Beziehung  und  Zusammenhang  treten 
kann. 


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Die  äussere  bovin  des  Textes. 


\M1 


Sechster  Abschnitt. 
Die  äussere  Form  des  Textes. 

Es  ist  bekannt,  dass  alle  Rede  sich  ungebunden,  in  Form  der 
Prosa,  und  in  gebundner  Form,  als  Vers  gestalten  kann.  Beide 
Formbegrill'e  kommen  auch  an  dem  zur  Komposition  bestimmten 
Texte  zur  Erscheinung.  Ks  ist  daher  wenigstens  ein  Ueberblick 
über  ihr  Wesen  und  die  besondern  in  ihnen  enthaltnen  Gestaltungen 
hier  Pflicht,  obgleich  eine  tiefer  gehende  Betrachtung  ebensowohl 
wie  der  Gegenstand  des  vorigen  Abschnitts  eine  günstigere  Stelle 
erwartet. 

Zuvörderst  leuchtet  ein,  dass  gerade  die  äussere  Form  der 
Rede  zunächst  von  der  Komposition  berührt  und  ergriffen  wird  ; 
vor  allem  schlügst  sich  der  Ton  an  den  Laut,  die  Tonweise  an  die 
Laut-  und  Worlreihe,  —  erst  nach  dieser  Vereinigung  oder  Ver- 
schmelzung ist  die  Frage  aufzuwerfen,  ob  der  Sinn  der  Töne  auch 
mit  dem  der  Worte,  des  Textes  zusammentrifft.  Es  ist  klar,  dass 
diese  Hauptfoderung  an  alle  Gesangkomposition  durch  die  äussere 
Textform  in  ihrer  Erfüllung  begünstigt  oder  gehemmt  werden  kann. 

A.   Die  ungebundne  Rede. 

Die  ungebundene  Rede  hat  bekanntlich  kein  ander  Gesetz,  als 
das  allgemeine  der  Sprache  zu  beobachten  und  sehliesst  sich,  so 
weil  es  diese  erlaubt,  unbedingt  dem  Gedanken  und  Gefühl  des  Re- 
denden Schritt  für  Schritt  an.  Sie  ist  in  dieser  Hinsicht  der  reinste 
und  unverholenste  Ausdruck  ihres  Inhalts.  Daher  aber  begünstigt 
sie  auch  den  reinsten  und  tiefsten  Ausdruck  der  Musik,  die  (wie 
wir  oben  erkannt)  als  Gefühlssprache  ebenfalls  nur  den  geradesten, 
aufrichtigsten  Ausdruck  ihrem  Wesen  gemäss  findet.  Mit  dem  freien 
Worte  schaltet  die  Musik,  so  weit  es  nur  das  allgemeine  Sprach- 
geselz erlaubt,  durchaus  frei ;  sie  verweilt  und  eilt,  betont  und  er- 
leichtert, wie  es  der  Sinn  der  Rede  in  jedem  einzelnen  Momente 
fodert.  Neben  diesem  Sinn  ist  nur  die  musikalische  Form  (der 
Sätze,  Gänge  u.  s.  w.)  zu  beobachten;  ihre  Herstellung  aber  ist 
so  leicht  wie  möglich,  weil  keine  Nebenbedingungen  stören.  Selbst 
über  das  niedergeschriebne  Wort  hinaus  stehen  dem  Komponisten 
die  rednerischen  Formen  der  Wort-  und  Satzwiederholung,  Unter- 
brechung u.  s.  w.  offen,  so  weit  der  Sinn  des  Textes  es  erlaubt, 
und  helfen  ihm  bei  dem  Gestalten.  Wo  es  daher  auf  den  freiesten, 
stärksten,  tiefsten  Ausdruck  ankommt,  ist  in  der  Regel  die  unge- 
bundne Rede  für  Komposition  die  günstigste  Form. 


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378 


Vorstudien. 


B.    Der  Vers. 

Der  Vers  bildet  sich  bekanntlich  aus  dem  Wechsel  von  Länge 
und  Kürze,  Betonung  und  Nichtbetonung  der  Silben  und  wird 
bisweilen  durch  die  Anklänge  des  Reims  noch  bestimmter  ge- 
zeichnet. In  ihm  stellt  sich  eine  mehr  oder  minder  feste  äussere 
Gestaltung  der  Rede  dar,  die  keineswegs  dem  eigentlichen  Inhalte 
Punkt  für  Punkt  oder  auch  nur  in  der  Hauptsache  streng  anschliesst, 
sondern  neben  demselben  auch  blosse  Wohlgestalt,  eine  theils  be- 
deutsame, theils  anmuthvolle  oder  anregende  Sprachmelodie  gleich- 
sam sein  will,  entsprechend  dem  Wohlgefühl  und  der  Bewegtheit, 
mit  denen  die  Seele  des  Dichters  über  ihrem  Gegenstande  schwebt 
und  die  sie  in  die  Seelen  der  Hörer  überwallen  lässt. 

Hier  also  findet  der  Komponist  zweierlei  aufzufassen :  den  un- 
mittelbaren Inhalt,  und  die  keineswegs  mit  diesem  durchaus  überein- 
kommende Form  des  Textes.  Seine  Aufgabe  ist  daher  eine  zusam- 
mengesetztere, und  nicht  immer  wird  es  gelingen  können,  beide 
Seiten  gleich  vollkommen  zu  befriedigen ;  bald  wird  der  Inhalt  we- 
niger erschöpfend  zum  Ausdruck  kommen,  bald  wird  die  Versforni 
einen  leichten  Eineriff  erdulden  müssen.  Nicht  bloss  das  Erstere, 
auch  das  Letztere  kann  bedenklich  werden ;  denn  die  Versform  — 
zumal  die  scharf  ausgeprägte  —  bleibt  auch  durch  Abweichun- 
gen hindurch  fühlbar,  schon  weil  sie  selbst  den  gewandtesten  Vers- 
künstler oft  zu  Wortstellungen  und  Wendungen  nöthigt,  die  nur 
in  ihr,  nicht  im  realen  Inhalt  der  Rede  ihren  Grund  haben.  Es 
bringt  der  Versbau  dem  Komponisten  eine  festere  Sprachgestaltung, 
die  er  annehmen  kann,  wenn  sie  ihm  günstig  ist,  mit  der  er  ringen 
inuss,  sofern  sie  seiner  musikalischen  Intention  widerstrebt.  So 
ist  er  durch  den  Vers  stets  gereizt,  bisweilen  gefördert,  biswerlen 
gehindert;  sind  aber  die  Hindernisse  nicht  unübersteigbar,  so  kön- 
nen sie  dazu  dienen ,  den  Tondichter  zu  ungewöhnlichen ,  neuen 
Gestaltungen  zu  führen. 

Welche  Verse  nun  sind  dem  Musiker  am  meisten  und  welche 
am  wenigsten  förderlich? 

Gehn  wir  zunächst  auf  das  Wesentliche  und  von  der  obigen 
Bemerkung  (S.  374)  aus,  dass  die  Musik  nur  im  schlichten  g  e  r  a - 
den  Ausdruck  des  Gefühls,  nicht  in  dessen  Verleugnung, 
Verhehlung  u.  s.  w.  ihre  volle  Kraft  bewährt:  so  folgt  hieraus, 
dass  diejenigen  Versarten  ihr  die  günstigsten  sind,  die  sich  am  in- 
nigsten dem  natürlichen  Gang  der  Rede  anschmiegen  und  damit  dem 
Tondichter  das  Gleiche  gewähren.  Jenes  Goethe'sche  Gedicht,  das 
man  S.  371  liest,  hat  für  seinen  Versbau  dem  natürlichen  Redegang 
nicht  das  mindeste  Opfer  abgefodert,  ist  daher  durch  den  Vers- 
bau dem  Musiker  nicht  im  Mindesten  störend,  so  unerreichbar  es 


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Die  äussere  Form  des  Textes. 


379 


ihm  dem  Inhalte  nach,  —  so  tiefe  zartverschwiegne  Seelenregung 
in  so  engem  Räume !  —  sein  dürfte.  Die  gleich  dahinter  (S.  372) 
folgenden  Verse  des  griechischen  Dichters,  wie  tiefbedeutend  sie 
seien  und  wie  glücklich  übersetzt,  entfernen  sich  schon  entschieden 
von  dem  einfachem  Redegang;  sie  tragen  neben  dem  nächsten  Aus- 
drucke des  natürlichen  Gefühls  das  Pathos  der  Tragödie  —  und  ihres 
erhabensten  Helden  Aischylos,  gewahren  also  auch  von  dieser  Seile 
dem  Musiker  nicht  freie  That. 

Dies  ist  eine  Seite.  Die  andre  Seite  der  Musik  ist,  dass 
sie  nicht  bloss  dem  Gefühlsausdruck  Punkt  für  Punkt  und  im  Ganzen 
zu  genügen  hat,  sondern  auch  zu  ihrer  Wirkung  fasslicher  gleich- 
oder  ebenmässiger  Formen  bedarf.  Wir  wissen,  dass  sie 
ihre  Satze  in  gleichmassigen  Taktzahlen  (zu  2,  4,  8  Takten)  zu 
bilden,  in  Gleichmassigkeit  (2  gegen  2,  4  gegen  4,  2  mal  2  gegen 
4,  weniger  gern  schon  3  gegen  3  Takte  u.  s.  w.)  gegen  einander 
zu  stellen ,  kurz  vom  Kleiusten  bis  zum  Grössten  Ebenmaass 
und  Gleichgewicht  zu  erhalten  liebt.  Sie  kann  diese  Wohlgestalt, 
diese  Leichtigkeit  und  Sicherheit  des  Baues  in  einzelnen  Fällen  auf- 
geben ;  aber  das  sind  eben  nur  Ausnahmfalle  —  und  zwar  selten, 
nur  aus  tiefern  Gründen  zu  rechtfertigen,  und  selbst  dann  das  Be- 
dürfniss  nach  ebenmässigern  Gestaltungen  nur  noch  schärfer  hervor- 
rufend. 

Hieraus  erkennen  wir,  dass  im  Allgemeinen  diejenigen  Vers- 
arten der  Form  nach  am  günstigsten  für  Komposition  sind,  die  dem 
Musiker  ebenmässiges  Gestalten  erleichtern,  also  zunächst  Versarten 
von  gleich  langen  und  gleich  gebildeten  Strophen  und  d»»bei  von  leicht 
theilbarer  Strophenzahl,  von  2,  4,  zweimal  4,  zweimal  3  Strophen 
u.  s.  w.  Namentlich  für  alle  ruhiger,  leichter,  fliessender  sich  aus- 
sprechenden Zustünde  sind  diese  Formen  die  günstigen.  Allein 
beschränkt  hierauf  ist  der  Musiker  keineswegs.  Längst  kennen 
wir  die  Erweiterungen  der  Sätze  und  Perioden  durch  Anhänge 
u.  s.  w.,  die  uns  bereits  auf  Gestalten  von  3.  5  Abschnitten  oder 
Sätzen  geführt  haben,  mithin  den  ungleichmässigern  Versarten  ent- 
sprechende Form  bieten ;  auch  haben  wir  bereits  S.  365  angeschaut, 
auf  wie  vielfaltige,  bald  engere,  bald  gedehntere  Weise  das  Wort 
gefasst  werden  kann.  Ja,  es  ist  vorauszusehn,  dass  im  Vokalsatze, 
wo  das  Wort  den  Sinn  der  Musik  erläutert,  noch  kühner  vorge- 
schritten werden  kann*,  als  im  Instrumentalsatze. 


*  In  der  That  hol  sich  auch  der  musikalische  Rhythmus  nirgends  freier, 
mannigfaltiger,  kühner  entfaltet,  als  im  Gesänge.  Gluck 's  Kompositionen,  be- 
sonders die  Buiidischc  Iphigenie,  in  der  seine  Idee  sich  am  entschiedensten  ver- 
wirklicht hat,  sind  voll  von  Belägen;  sie  könnten  vielen  unsrer  Zeitgenossen, 
die  eben  hier  oft  zaghaft  und  befangen  auftreten,  heilsam  werden  gleich  einem 


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380 


Vorstudien. 


So  wenig  man  also  hier  (wie  anderswo  im  geistigen  Gebiet) 
eine  bestimmte  Gianze  ziehn,  einige  Versarten  für  anwendbar,  an- 
dre für  nicht  anwendbar  erklären  kann :  so  ist  doch  klar,  dass  die 
Komposition  um  so  mehr  erschwert,  von  den  natürlichem  und  im 
Allgemeinen  günstigem  Formen  abgelenkt  wird,  je  ungünstiger  der 
Versbau  für  ebenmässige  Musikgestaltung  ist.  Es  leuchtet  ein,  dass 
eigenwillig  und  dabei  scharf  ausgeprägte  Versformen,  so  anziehend 
sie  auch  an  sich,  so  gewiss  sie  dem  Musiker  bisweilen  zu  eigen 
thumlichen  Wendungen  Anlass  und  Sporn  sein  können,  —  doch  in 
den  meisten  Füllen  gar  leicht  dem  Komponisten  zur  Fessel  werden 
und  ihn  nöthigen,  entweder  den  Versbau  aufzulösen,  oder  um  seiner 
Erhaltung  willen  den  Sinn  des  Gedichts  —  hiermit  aber  auch  die 
tiefere  Bestimmung  der  Komposition  —  fallen  zu  lassen.  Eins  oder 
das  Andre  ist  namentlich  bei  der  Komposition  antiker  Versmaasse 
oder  neuerer,  ihnen  nachgebildeter  Verse  (z.  B.  Klopstock's  und 
Platen's)  kaum  zu  vermeiden.  Wenn  z.  B.  Mendelssohn  gleich 
im  ersten  Chor  der  Sophokleischen  Antigone  singen  lasst: 
397  (Tenöre  und  Basse  im  Einklang.)  a  b 


hl*-? 


t-w-g  '[■  p 


x 


m 


Strahl  des  He-li-os,  schönstes  Licht,  das  der  siebenthorigen    Stadt  Thebe's 
üe-ber  unserem  Dach  um-gähnt'  er  den  siebenthorigen  Mund  mit  blut- 


-i — i- 


i 


■h — r 

nimmer  zu-vor  er -schien,  du  strahlst  endlich,  des  goldnen  Tags  Auf-blick 
lech-zenden  Speeren  rings,  und  floh,     e  -  he  mit  un-serm  Blut'  er  voll 


r  f  r  r  r 


herr-lich  her  -  auf.  u.  s.  w. 

Gier-de    den  Schlund  füllen  mocht'  und  e  -  he  der  Thurm'  Um  -  krän  -  zung 


kräftigenden  Stahlbad.  Auch  in  den  ächten  Volksliedern  deutscher  Zunge  (und 
in  den  schottischen,  scandinavischen  und  französischen}  waltet  eine  rückhalt- 
los freie  Rhythmik ;  hat  sich  doch  sogar  das  Lied  vom  »Prinz  Eugen«  mit 
innerer  Notwendigkeit  (man  sehe  die  Volkslieder  von  Erk  und  Irmer)  im 
Künfvierteltakt  gestaltet.  Und  ein  andres,  Jahrhunderte  altes  Volkslied  (aus  Win- 
terfeld's  Evangelischem  Kirchengesang,  Tb.  I)  mischt,  wie  man  hier  — 

3= 


396 


Wo  soll  ich  mich  hin-keh-ren,  ich 
Wie  soll  ich  mich  er  -  näh  -  ren?  mein 


ar  -  mes  Brü  -  der- 
Gut  ist     viel  zu 


lein? 
klein. 


Als 


ich  ein  We-sen      ha'n,  so 


ich 


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Die  äussere  Form  des  Textes.  381 

so  Hann  nicht  übersehn  werden,  dass  die  Einschnitte,  die  die  Musik 

unter  der  Herrschaft  des  Versmaasses  in  die  zusammengehörenden 

Worte  bringt,  — 

Strahl  des  Helios,  schönstes  Liebt, 

Das  der  siebenthorigen  Stadt  

Thebe's  nimmer  zuvor  erschien, 
Lieber  unserm  Dach  umgahnt'  —  — 

Er  den  siebenthorigen  Mund  

Mit  blutlechzenden  Speeren  rings, 

Und  floh,  ehe  mit  unserm  Blut'  er  voll  Gierde  den  Schlund  

Füllen  mocht'  und  ehe  der  Thurm'  Umgränzung 
Tilgt'  Hephaistos  in  Fackelglut. 

gegen  Sinn  und  Zusammenhang  der  Rede  Verstössen,  dass  hier  das 
Versmaass  und  nicht  der  Inhalt  des  Gedichts  dem  Komponisten  die 
Gliederung  seiner  Musik  vorgezeichnet  hat.  Die  Abschnitte  bei  a, 
by  c  trennen  Zusammengehöriges,  verknüpfen  Unzusammengehö- 
riges ;  und  das  sind  nicht  etwa  einzelne  zufällige  Fehlgriffe,  sondern 
Gleiches  findet  sich  in  diesem  Werke  wie  in  andern  derselben  Rich- 
tung überall.  Dies  hätte  nur  dadurch  vermieden  werden  können, 
dass  der  Komponist  den  Versbau  aufgelöst  und  sich  getreu  dem  In- 
halt —  und  zwar  nicht  bloss  der  allgemeinen  ungefähren  Stimmung, 
sondern  tiefer  allen  Rewegungen  und  Vorstellungen  des  Gedichts 
—  hingegeben  und  gewidmet  hätte.  Allein  das  war  wieder 
unmöglich ;  denn  der  Inhalt  dieses  Chors ,  wie  der  aller  griechi- 
schen Poesie ,  erwies  sich  für  unsre  Musik ,  —  für  das ,  was  die 
Musik  im  Laufe  zweier  Jahrtausende  geworden  und  uns  nach  unser 
aller  Bedürfniss  und  Bewusstsein  wirklich  ist,  —  unzugänglich  und 
unerregend.  Der  Fehler  hat  also  seinen  ersten  Grund  in  der  Wahl 
eines  Gedichts*,  das  der  Komponist  als  ungeeignet  zur  Komposi- 


Irr  J  J  l 

p— n — w~ 

1     1  t- 

—4 — C — i 

bald  da 

E3= 


von.    Was  ich  heut  soll  ver-zeh-ren,  das 


hab'  ich 


z: 


ferd  ver    -  than. 

beobachten  kann,  zwei-  und  dreitheilige  Takte  unbefangen  und  mit  richtigem, 
feinem  Gefühl  durch  einander.  Auch  der  Verf.  ist  in  seinen  »Spanischen  Ge- 
sängen« und  noch  viel  früher  in  den  »Zwölf  Gesängen«  auf  solche  Bildungen 
geleitet  worden.  Dergleichen  willkürlich  —  etwa  aus  dem  Verlangen,  neu  zu 
sein  oder  original  —  herbeiführen  wollen,  wäre  freilich  klägliche  Verirrung. 
Wohl  aber  mag  eben  an  dieser  Stelle,  wo  die  Bedingungen  des  Verses  abgewo- 
gen werden,  eine  Erinnerung  an  die  weit  ausdehnbare  Macht  freien  Gestal- 
tens ziemen. 

*  Es  ist  bekannt,  dass  Me  nd  c  I  ssoh  n  die  Komposition  der  Antigone  und 
später  des  Oedip  in  höherm  Auftrag  übernahm    Allein  der  äusserliche  Anlass 


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382  Vorstudien. 
• 

tion  erkennen  musste;  er  trat  nur  deutlicher  heraus  auf  den  An- 
stoss  des  selbständig  und  energisch  ausgebildeten  Versbaues,  der 
nicht  füglich  aufgegeben  werden  konnte  zu  Gunsten  eines  Textes,, 
der  dennoch  unmusikalisch  bleiben  musste. 

So  viel,  um  im  Voraus  auf  die  Momente  hinzuweisen,  die  bei 
der  Gesangkomposition  von  erstem  Einflüsse  sind.    Das  Nähere 
kommt  theils  bei  den  einzelnen  Kompositionsformen,  theils  in  der 
-Musikwissenschaft  zur  Sprache. 


Ueberleitung. 

In  allen  folgenden,  der  Gesangkomposition  gewidmeten  Abthei- 
lungen der  Lehre  knüpft  nun  die  Entwickelung,  getreu  dem  oben 
(S.  368)  ausgosprochnen  Grundsatze,  bei  dem  Text  an  und  fragt,  — 
nachdem  festgestellt  worden, 

dass  und  wiefern  derselbe  überhaupt  für  musikalische  Auffas- 
sung geeignet,  also  ein  wirklicher  Gesangtext  ist, 
bei  jedem  einzelnen  nach: 

in  welcher  Weise  er  zu  komponiren  sei? 
Hier  ergeben  sich  zuerst  die  verschiednen  Formen  der 
Gesangkomposition,  jede  in  ihrer  innern  Noth wendigkeit,  — 
sodann  knüpft  sich  hier  die  Betrachtung  an,  wie  jede  dieser  For- 
men für  jeden  besondern  Text,  oder  wie  jeder  Text  nach  seiner 
Besonderheit  und  in  jeder  seiner  Partien  aufzufassen  und  zu  be- 
handeln sei;  mit  einem  Worte:  das  Textstudium.  Es  versteht 
sich  von  selbst,  dass  jede  Lehre,  —  wie  weit  man  sie  auch  aus- 


kommt bei  der  ßeurtheilung  eines  Kunstwerkes  nicht  in  Betracht.  Der  Künstler 
niuss  selber  dafür  einstehn,  ob  ein  an  ihn  gelangender  Auftrag  ausführbar  ist 
ohne  Beeinträchtigung  der  Foderungen,  die  sich  im  Wesen  der  Kunst  begrün- 
det erweisen ;  übernimmt  er  —  zumal  ein  so  unabhängig  gestellter  und  durch 
alle  Verhältnisse  begünstigter  Künstler  —  den  Antrag,  so  hat  er  ihn  unbe- 
dingt zu  vertreten. 

Uebrigens  slehn  diese  Unternehmungen  nicht  allein.  Abgesehn  von  der 
Komposition  der  Euripideischcn  Mcdea,  die  Herr  Kapellmeister  Ta  u  he  rt  nach 
der  Antigene  zu  unternehmen  hatte,  sind  schon  einige  Jahre  früher  Horazische 
Gedichte  von  Löwe  herausgegeben  worden,  talentvoll  und  zum  Theil  höchst 
reizend  gesetzt,  aber  demselben  Fehl  unvermeidlich  —  denn  er  liegt  ja  nicht 
in  der  Ausführung,  sondern  in  der  Aufgabe  —  verfallen.  Aehnliches  ist  schon 
vor  Jahrhunderten  vielfältig  geschehn,  stets  mit  Benachtheiligung  der  Musik 
oder  des  Gedichts;  ein  Theil  der  Kompositionen  aus  Goethe's  Faust  and 
sonst  mancher  neuere  Versuch  gehört  eben  hierher. 

Um  so  mehr  schien  es  Pflicht,  den  Jünger  auf  das  Bedenkliche  dieser  Rich- 
tung aufmerksam  zu  machen,  zumal  wenn  so  viel  Talent  und  äussere  Gunst  sich 
einen,  die  Verirrung  zu  verbergen  oder  gar  als  eine  neue  und  edle  Bahn  zu 
bezeichnen.  An  andrer  stelle  w  ird  erschöpfender  hierauf  zurückzukommen  sein. 


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Die  äussere  Form  des  Textes. 


383 


dehnen  mag,  —  hier  nur  anleiten  und  eine  Strecke  weit  zu  grös- 
serer Sicherung  geleiten  kann,  während  das  Textstudiuni  an  jeder 
einzelnen  Aufgabe  für  Komposition  einen  neuen  Gegenstand  für 
seine  Bethätigung  findet  und  für  jeden  Komponisten  nur  mit  dem 
Knde  seiner  Thätigkeit  mit  Fug  sein  eignes  Ende  erreicht. 

Die  Wichtigkeit  dieses  Studiums  ist  wohl  Jedem  einleuchtend; 
man  darf  aber  zusetzen :  sie  ist  grösser,  als  bisher  von  den  mei- 
sten Komponisten  angenommen  worden.  Wie  viel  Werke,  wie  viel 
Opern  und  Oratorien  namentlich  sind  gefallen,  —  sind  schon  vor 
der  ersten  niedergeschriebnen  Note  zum  Untergang  unrettbar  be- 
stimmt gewesen,  wie  viel  Talent  und  Arbeit  ist  verloren  gegangen 
durch  entscheidenden  Fehlgriff  in  der  ersten  Grundlage,  in  der 
Wahl,  Ausbildung,  Verwendungsweise  des  Textes! 

Und  doch  ist  vielleicht  die  Rückwirkung  solcher  Fehlgriffe  auf 
den  Künstler  noch  verderblicher.  Auf  der  einen  Seite  die  Erschüt- 
terungen des  Misslingens,  um  so  herber,  je  unerklärlicher  sie  mit 
dem  gerechten  Bewusstsein  von  Talent  und  redlicher  Arbeit  zusam- 
menstossen  ;  auf  der  andern  Seile  das  noch  gefährlichere  sich  Drein- 
ergeben in  eine  Bethätigung  seines  Berufs  bei  dem  geheim  nagen- 
den Bewusstsein  innerer  Un Wahrhaftigkeit ;  und  selbst  bei  äusserlich 
glücklichem  Erfolg  der  Gedanke,  dass  dieser  Erfolg  mit  seinem  gan- 
zen Gewicht  in  die  Wagschale  der  Halb  Wahrheit  oder  Unwahrhaf- 
tigkeit  fällt.  Denn  das  Falsche  oder  Unwahre  wirkt  und  wuchert 
in  seinen  Folgen  so  gewiss  fort,  wie  das  Wahre,  um  so  nach- 
drücklicher, je  bedeutender  Talent  und  Ruf  des  Irrenden  und  je 
glücklicher  der  äussere  Erfolg,  der  sich  leicht  an  den  schon  ander- 
weit erworbnen  Ruf  hängt  und  kaum  die  Möglichkeit  eines  Grund- 
irrthums begreifen  lässt.  Nach  allen  Seiten  Beweggründe  genug, 
auch  das  ernstlichste  Textstudium  nicht  zu  schwer,  nicht  erlässlich 
zu  finden.  — 

Wir  kehren  zur  Entwickelung  zurück. 

Schon  oben  (S.  373)  ist  darauf  hingewiesen  worden,  dass  zwi- 
schen den  beiden  Extremen,  —  dem  durchaus  musikalischen  und 
dem  durchaus  nichtmusikalischen  Text,  —  eine  unberechenbar  ab- 
gestufte Reihe  von  solchen  Texten  stehe,  die  bald  mehr,  bald  we- 
niger für  musikalische  Auffassung  geeignet  seien ;  auch  ist  bereits 
ausgesprochen,  dass  der  Grad  und  die  Weise  musikalischer  Befähi- 
gung eines  Textes  und  sein  näherer  Inhalt  von  Einfluss  sei  auf 
seine  Behandlung;  —  endlich,  dass  ein  an  sich  weniger  oder  gar 
nicht  musikalischer  Text  durch  mitwirkende  Verhältnisse  für  die 
Musik  gewonnen  werden  könne. 

Auf  diesem  Punkt  ergiebt  sich  uns  schon  die  erste  Kunst- 
Gestaltung,  in  der  Wort  und  Musik  zusammentreten,  die  jedoch 


384 


Vorstudien. 


nicht  der  Gesangmusik  angehört,  auch  keiner  besondern  Unterwei- 
sung bedarf,  daher  hier  in  der  Einleitung  betrachtet  und  beseitigt 
werden  kann. 
Es  ist 

das  Melodrama. 

Im  Melodrama  wird  bekanntlich  das  Wort  des  Dichters  ge- 
sprochen, nicht  gesungen;  es  ist  also  an  sich  oder  unter 
den  obwaltenden  Umständen  nicht  geeignet  oder  bestimmt,  selbst 
Musik,  —  im  Gesang  aufgenommen  zu  werden.  Allein  dies  schliesst 
zweierlei  nicht  aus. 

Erstens  das  einfache  Vorhandensein  der  Musik  und  ihr  nur 
äusserliches,  nicht  verschmelzendes  Zusammentreffen  mit  dem  Wort. 
Wie  dies  im  wirklichen  Leben  zufallig  geschieht,  so  kann  es  in 
einen«  Kunstwerk  absichtlich  zu  künstlerischer  Wirkung  herbei- 
geführt werden.  Wenn  also  in  einer  dramatischen  Scene  kriegeri- 
schen Inhalts  von  ferne  (z.  B.  bei  der  Scheidung  des  Max  Picco- 
lomini  von  Thekla  und  Wallenstein)  die  Rufe  der  andrangenden 
oder  abziehenden  Schaaren  gehört  werden,  so  erkennen  wir  in 
dieser  Einmischung  der  Musik  eine  nähere  Bezeichnung  der  hier 
eingreifenden  Verhältnisse.  Wenn  zu  dem  Monolog  der  Jungfrau  — 
Die  Waffen  ruhn,  des  Krieges  Stürme  schweigen 

nach  der  Anordnung  des  unsterblichen  Dichters  »hinter  der  Scene 
Flöten  und  Hoboen«  ertönen :  so  bedeuten  sie  uns  nicht  bloss  äus- 
serlich  Klänge  des  Friedens,  wie  sie  wirklich  bei  solchem  Anlass 
gehört  werden  mögen ;  sie  giessen  auch  den  Balsam  des  Friedens- 
gefühls in  die  Brust,  die  die  Kriegsnoth  der  Franken  mit  empfun- 
den, und  lassen  die  schmerzliche  Klage  der  Jungfrau  — 

Doch  mich,  die  all'  dies  Herrliche  vollendet, 
Mich  rührt  es  nicht,  das  allgemeine  Glück 

durch  den  Gegensalz  tiefer  uns  zu  Herzen  gehen.  —  Auch  Ge- 
samte können  in  solchem  Sinne  melodramatisch  neben  dem  Wort 
erschallen,  so  z.  B.  das  Hochamt  im  Faust  neben  den  Angstworten 
Gretchens  und  den  Zuflüsterungen  des  bösen  Geistes. 

Diese  Art  des  Melodrama  bedarf  offenbar  keiner  weitern  An- 
leitung. Wie  die  erfoderlichen  Tänze,  Märsche,  Gesänge  zu  kom- 
poniren,  ist  oder  wird  anderwärts  gelehrt;  welcher  Musik  es  be- 
darf, bestimmt  das  Gedicht. 

Zweitens  kann  aber  auch  die  Musik  im  Melodrama  nicht 
als  ein  bloss  äusserliches,  gleichsam  zufällig  mit  der  Rede  zusam- 
mentreffendes Ereigniss,  sondern  als  ein  andres  Organ  des 
Dichters  geltend  werden,  um  in  freier  künstlerischer  Weise  die 
Stimmung  des  Redenden,  oder  auch  die  seine  Stimmung  moliviren- 
den  Verhältnisse,  —  z.  B.  die  Nähe  unsichtbarer,  geheimnissvoll 


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Die  äussere  Form  des  Textes.  385 

einwirkender  Geistesmaeht,  oder  (mehr  materiell  andeutend)  einem 
Klagenden  gegenüber  die  hart  schlagende  Schicksalsmacht  u.  s.  w.  — 
zur  Ahnung,  oder  der  Vorstellung  näher  zu  bringen.  So  fodert 
Goethe  für  die  phantastisch-poetischen  Momente  des  Euphorion  im 
Faust  melodramatische  Musikbegleitung,  um  jenem  Flügelflammen- 
leben  die  einzig  eigne  Atmosphäre  zu  bilden. 

Hier  ist  die  Musik  ganz  formfrei,  sie  ist  Fantasie  in 
weitester  Bedeutung  des  Worts,  nähert  sich  der  Weise,  wie  Re- 
zitative  begleitet  und  mit  Zwischensätzen  u.  s.  w.  durchflochten 
werden,  findet  also  die  nöthige  Anweisung  wiederum  an  andern 
Orten  der  Lehre. 

Die  nähere  Würdigung  der  Gattung  des  Melodrama  gehört  nicht 
hierher,  sondern  in  die  Musikwissenschaft.  Uns  aber  dient  ihre 
Betrachtung  zum  Uebergang  in  die  Gesangkomposition. 


Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl. 


25 


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Zweite  Ablkeiluug. 

Das  Rezitativ. 


Erster  Abschnitt. 
Allgemeiner  Anblick  der  Form. 

Wir  haben  schon  jenen  Gegensatz  in  das  Auge  gefasst: 
Das  Wort  (die  Sprache)  kann  ganz  ungeeignet  sein,  in  Musik 
überzugehn,  —  oder  es  kann  durchaus  dazu  geeignet,  durch- 
aus musikeigen  sein. 

Das  Letztere  ist  der  Fall,  wenn  sich  im  Worte  nach  Inhalt  und 
Form  bestimmt  und  genügend  ein  Moment  des  Seelenlebens,  das 
Musik  werden  kann,  ausspricht. 

Ist  dies  der  Fall,  ist  ein  solches  Moment  bestimmt  und  in  ge- 
eigneter Form  ausgesprochen,  so  muss  ihm  naturnothwendig  auch 
bestimmte  Form  in  der  Musik  entsprechen,  die  Musik  muss  Satz, 
Periode,  Lied  werden,  oder  irgend  eine  zusammengesetzte,  aber 
bestimmte  und  fest  abgeschlossne  Gestalt  haben. 

Nun  ist  aber  ein  Mittelfall  —  und  zwar  in  mancherlei  Weisen 
—  möglich.  Es  kann  ein  Text  sich  aus  der  Sphäre  der  natürlichen 
Sprache  in  die  der  Musik  erheben,  aber  noch  nicht  zu  fester  Musik- 
form hinführen,  mithin  eine  Form  hervorrufen,  die  zwischen 
derWeisederSpracheundder  Musik  mitten  inne  steht. 

Dies  ist  die  Form  des  Rezitativs.  Sie  wird  also  eben- 
falls durch  die  Weise  des  Textes  bedingt. 

Ein  Text  kann  nämlich  erstens  über  die  Sphäre  des  Nicht- 
musikalischen hinausgehn,  er  kann  musikalisch  angeregt,  erregt  sein : 
aber  die  Anregung  ist  nicht  kräftig  oder  bestimmt  genug,  um  be- 
stimmte, feste  Musikform  hervorzurufen.  Wenn  z.  B.  im  Evangelium 
des  Lukas  die  Geburt  Christi  verkündigt  ist  und  die  Erzählung 
(2,  43)  fortgeht,  — 

Und  alsbald  war  da  bei  dem  Engel  die  Menge  der  himmlischen  Heer- 
schaaren,  die  lobeten  Gott,  und  sprachen: 

so  ist  hier  so  freudige  Erregung  durch  die  Botschaft  und  in  der 
Erwartung  des  himmlischen  Lobgesanges  erweckt,  dass  man  in  die 
Saiten  greifen  und  die  Rede  in  Gesang  überführen  möchte.  Aber 


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Allgemeiner  Anblick  der  Form. 


387 


noch  ist  die  musikalische  Erregung  nicht  fest  geworden,  nicht  in 
jenen  Worten,  sondern  im  folgenden  Vers  ertönt  der  wirkliche  Lob- 
gesang. Jene  Worte  sind ,  musikalisch  zu  reden ,  der  Gang  zu 
dem  festen  Satze  des  Lobgesangs;  sie  bedingen  die  Rezitativform. 

Oder  der  Text  kann  zweitens  an  sich  selber  kein  Bedürfniss 
musikalischer  Gestaltung  haben,  aber  er  ist  Theil  eines  grössern 
Ganzen,  das  der  Musik  angehört,  das  komponirt  wird.  So,  wenn 
Jesus  in  der  bekannten  Erzählung  des  Matthäus  (26,  \Q)  zu  den 
Jüngern  spricht: 

Was  bekümmert  ihr  das  Weib?  Sie  hat  ein  gutes  Werk  an  mir 
gethan. 

Hier  ist  in  den  Worten  des  Textes  kein  Bedürfniss  musika- 
lischer Gestaltung  vorhanden.  Nehmen  wir  aber  an,  dass  derselbe 
in  einem  grössern  und  komponirten  Gedichte  aufgenommen  würde, 
wie  er  denn  in  der  grossen  Passionsmusik  Seb.  Bach's  seine  Stelle 
gefunden:  —  so  könnte  und  müsste  auch  er  in  die  Musik  aufge- 
nommen werden,  und  so  ergäbe  sich  für  ihn  wiederum  die  Form 
des  Rezitativs. 

In  dieselbe  Form  gehören  drittens  solche  Aeusserungen,  die 
—  wenn  auch  rein  aus  dem  Gefühlsleben  —  entgegengesetzte  Stim- 
mungen gedrängt  neben  einander  stellen.  So  ist  die  Verkündigung 
des  Jesaia  (54,  8),  — 

Ich  habe  mein  Angesicht  im  Augenblick  des  Zorns  ein  wenig  vor  dir 
verborgen ;  aber  mit  ewiger  Gnade  will  ich  mich  deiner  erbarmen, 

in  der  vorherrschend  die  tröstliche  Versicherung,  aber  dicht  dabei 
die  Erinnerung  an  den  bangen  Augenblick  des  Zorns  zum  Ausdruck 
kommt. 

Desgleichen  viertens  solche  Aeusserungen,  die,  wenngleich 
von  einer  einigen  Stimmung  voll,  doch  dieselbe  in  der  Form  der 
Anschauung  oder  Schilderung  laut  werden  lassen,  wie  z.  B.  der 
Zuruf  aus  dem  Jeremias  (25,  34): 

Heulet  nun,  ihr  Hirten*  und  schreiet,  wälzet  euch  in  der  Asche, 
ihr  Gewaltigen  über  die  Heerde!  Denn  die  Zeit  ist  hier,  dass  ihr 
geschlachtet  und  zerstreuet  werdet  und  zerfallen  müsset,  wie  ein 
köstliches  Gefäss. 

hr  all'  diesen  Fällen  stellte  sich  die  Form  des  Rezitativs  als 
noth wendig  dar,  weil  der  Text  in  sich  selber  noch  nicht  zu  der 
Bestimmtheit  oder  Ausschliesslichkeit  einer  festen  Stimmung  gelangt 
war,  die  eine  feste  Musikform  motiviren  konnte.  Nun  aber  ist  zu- 
letzt fünftens  noch  des  Falls  zu  gedenken,  dass  ein  Text  zwar 
durchaus  musikalischer  Stimmung  und  Form  ist,  die  erstere  aber 


*  Es  sind,  wie  sich  von  selbst  versteht,  die  Fürsten  gemeint. 

25* 


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388 


Das  Rezitativ 


in  so  gewaltsamer  Aufregung,  in  so  überwältigender  Leidenschaft 
ausbricht,  dass  für  sie  jede  festere  Musikform  nur  ungehörige 
Schranke,  unwahre  Mässigung  wäre.  Hier  also  würde  der  festere 
Gesang  sich  wieder  auflösen  in  rezitativische  Form;  —  ein  Fall, 
der  nicht  hier,  sondern  erst  bei  der  Form  der  Scene  im  vierten 
Theil  zur  Sprache  und  Anwendung  kommen  kann. 

Wir  haben  schon  oben  das  Rezitativ  als  Mittelform  der  na- 
türlichen und  der  Musiksprache  bezeichnet.  Beide  haben  bekannt- 
lich (S.  362)  dieselben  Elemente  der  Stimmung  und  ihres  Ausdrucks, 
Klang,  Rhythmus,  Tonfall,  in  sich,  nur  dass  diese,  —  und  nament- 
lich Tonfall  und  Rhythmus,  besonders  aber  der  erstere,  —  in  der 
Sprache  unbestimmt  bleiben,  in  der  Musik  sich  aber  zur  Bestimmt- 
heit erheben.  Dies  ist  also  der  Grundunterschied  in  der 
Form  der  Rede  und  des  Gesangs;  folglich  liegt  hier  auch 
der  vermittelnde  Uebergangspunkt.  Die  Rede  geht  in  Gesang  überr 
wenn  sie  ihren  unbestimmten  Tonfall  (und Rhythmus)  bestimmt;  der 
Gesang  wird  zur  Rede*  wenn  er  von  dem  bestimmten  Tonfall 
und  Rhythmus)  der  Musik  zu  dem  unbestimmten  der  Sprache  zu- 
rückgeht. 

Jetzt  können  wir  das  Wesen  des  Rezitativs  ganz  einfach  be- 
zeichnen : 

DasRezitativ  ist  eine  zu  musikalischer  Bestimmt- 
heit erhobne  Rede. 

Es  behält  also  in  allem  Uebrigen  die  Eigenschaften  der  Rede, 
namentlich  die  höchste  Worttreue  und  die  Freiheit  von  jeder  fest 
abgeschlossnen  Musikform,  erhält  aber  für  den  unbestimmten  Ton- 
fall der  Rede  bestimmten,  oder,  —  im  allgemeinen  Sinne  des  WTorts, 
(Th.  I,  S.  26)  Melodie. 

Die  Melodie  des  Rezitativs  kann  aber  nicht  eine  bestimmt 
in  sich  abgeschlossne  Form  (des  Satzes,  der  Periode  u.  s.  w.) 
für  eine  entschiedne  Stimmung,  sondern  nur  die  Form  des  Gan- 
ges haben,  —  wiewohl  wir  längst  und  vielfältig  erfahren,  dass 
diese  sich  der  festern  Form  des  Satzes  annähern  kann.  Dies  folgt 
aus  dem  bei  dem  Text  und  Anlass  des  Rezitativs  Vorausbemerkten. 

Da  sich  in  jeder  Melodie  irgend  eine  harmonische  Grundlage 


*  Dieser  Fall  mag  seltner  motivirt  und  erfahren  sein,  er  ist  aber  weder 
unerhört,  noch  unberechtigt.  Wer  die  grosse  Dramatikerin  Schröder-De- 
vrient  gehört  hat,  z.  B.  in  Meyerbeer's  Hugenotten,  der  wird  bemerkt  und 
tief  mit  empfunden  haben,  wie  sie  in  den  äussersten  Momenten  des  Entsetzens 
den  Gesang  auf  Augenblicke  fallen  und  das  Wort  mit  seiner  unbestimmtem  Mo- 
dulation —  gleichsam  wie  sich  im  Schreck  oder  Entsetzen  die  Glieder  ent- 
stricken,  ihre  Haltung  und  Bestimmung  verlieren,  —  walten  lasst,  wo  jede 
festere  Tonfolge  ein  unwahrer  Halt  und  Trost  wäre. 


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Allgemeiner  Anblick  der  Form 


389 


ausspricht,  so  fehlt  diese  auch  der  Melodie  des  Rezitativs  nicht ;  das 
Rezitativ  bewegt  sich  über  irgend  einem  Akkord,  oder  irgend  einer 
Reihe  von  Akkorden.  Aber  da  es  überhaupt  keine  bestimmt  ge- 
schlossne  Form  hat,  so  bedarf  es  auch  keines  bestimmten  Modu- 
lationsgesetzes. Es  wählt  seine  harmonische  Unterlage  nur  nach  dem 
innern  »Bedürfniss  seines  Inhalts  und  ist  sogar  an  die  im  Wesen  ge- 
wisser Akkorde  oder  der  Modulation  überhaupt  liegenden  Gesetze 
(nothwendige  Fortschreitung  gewisser  Töne  oder  ganzer  Akkorde, 
Zusammenhang  der  auf  einander  folgenden  Harmonien)  weniger  streng 
gebunden,  als  irgend  eine  andre  Musikform.  Es  ist  daher  auch  nicht 
im  Mindesten  zu  Einheit  der  Tonart  oder  Schluss  in  einer  Hauptton- 
art —  etwa  der  zuerst  ergriffenen  —  genöthigt,  obwohl  es  in  der 
Regel  ebensowohl  wie  die  ganz  unmusikalische  Rede  das  Bedürfniss 
haben  wird,  sich  ein  bestimmtes  und  deutliches  Ende  zu  setzen, 
also  einen  musikalischen  Schluss  zu  machen. 

Zur  schnellern  und  treffendem  Angabe  der  Harmonie,  wie  zur 
äusserlichen  Unterstützung  des  Gesangs  (damit  er  die  richtige  Ton- 
folge sicher  treffe  und  festhalte)  bedarf  das  Rezitativ  einer  Beglei- 
tung. Allein  diese  kann  von  Haus  aus  nur  untergeordnete  Bedeu- 
tung haben,  da  die  Rede  noch  nicht  eigentlich  Musik  geworden  ist  ; 
sie  ist  zunächst  nichts,  als  Befestigung  der  Tonfolge. 

Wir  haben  schon  oben  darauf  hingedeutet,  dass  der  Unterschied 
von  Rezitativ  und  Rede  mehr  in  der  Bestimmung  der  Tonfolge  als 
in  der  Bestimmung  des  Rhythmus,  oder  der  Längen  und  Kürzen 
liege.  Jene  ist  durchaus  nothwendig;  denn  ohne  sie  würden  wir 
eben  die  bloss  natürliche,  gar  nicht  musikalische  Rede  vor  uns  haben. 
Dagegen  ist  bestimmte,  festgeformte  und  festgehaltene  Rhythmik 
dem  Rezitativ,  das  eben  keine  bestimmt  ausgeprägte  Form  hat, 
nicht  eigen,  sondern  eher  zuwider.  Daher  ist  ihm  auch  schär- 
fere Ausmessung  der  Längen  und  Kürzen,  Takthalten  —  in 
genau  gegen  einander  abgemessenen  Vierteln,  Achteln  u.  s.  w.  — 
durchaus  fremd.  Es  unterscheidet  nach  den  Gesetzen  der  Sprache 
und  des  Redeinhalts  Längen  und  Kürzen,  accentuirte  und  nicht  accen- 
tuirte  Momente,  und  zwar  in  verschiednen  Abstufungen;  aber  es 
bleibt  hierbei  der  Ungebundenheit  der  Rede  getreu  oder  doch  näher, 
als  der  Bestimmtheit  des  musikalischen  Taktes.  —  Wenn  demunge- 
achtet  die  Rezitative  mit  Noten  bestimmter  Geltung  und  in  der  Re- 
gel im  Viervierteltakte  geschrieben  werden,  so  geschieht  dies 
nur,  um  dem  Sänger  und  der  Begleitung,  zumal  im  Orchester, 
festern  Anhalt  zu  geben.  Die  niedergeschriebnen  Viertel,  Achtel, 
Sechzehntel  u.  s.  w.  sollen  nicht  streng  gemessen  werden,  sondern 
nur  Längen  und  Kürzen  bedeuten,  allenfalls  in  mannigfaltigen  Ab- 
stufungen, —  so  dass  also  Achtel  um  ein  Unbestimmtes  kürzer  als 
Viertel,  aber  um  ein  Unbestimmtes  länger  als  Sechzehntel  u.  s.  w. 


390 


Das  Rezitativ. 


gehalten  werden ;  oft  greift  der  Komponist  zu  längern  oder  kürzern 
Geltungszeichen,  bloss  um  den  einmal  erwählten  Viervierteltakt  aus- 
zufüllen. *  Dieser  aber  ist  ebenfalls  nur  eine  äusserliche  Form,  um 
dasGesammte  von  Gesang  und  Begleitung  übersichtlicher  zu  machen: 
daher  man  eben  ein  für  allemal**  diese  breite  Taktart  gewählt  hat, 
ohne  besondre  Bedeutung,  also  ohne  die  Nothwendigkeit,  bisweilen 
zu  andern  Taktarten  zu  greifen. 

Hieraus  folgt  schon  von  selbst,  dass  das  Rezitativ  auch  kein 
eigentliches  bestimmtes  Zeitmaass  hat,  sondern  hierin  wieder  nur 
der  Stimmung  der  Rede  folgt.  Die  Angabe  des  Zeitmaasses  soll 
ebenfalls  nur  Andeutung  des  Grades  von  Bewegung  sein,  der 
der  Erregung  der  Stimmung  entspricht.  Für  die  Begleitung,  sofern 
sie  zwischen  die  Gesangpartien  als  selbständiger  Zwischensatz  tritt, 
hat  die  Angabe  des  Tempo  bestimmtere  Bedeutung. 

So  viel  Über  das  Wesen  und  die  Form  des  Rezitativs  im  All- 
gemeinen. 

Nun  ist  aber  klar,  dass  dasselbe  als  eine  Mittel-  oder  Ueber- 
gangsstufe  noch  mehr  wie  bestimmtere  Gestaltungen  geneigt  sein 
wird,  sich  bald  der  einen,  bald  der  andern  Formgränze  zu  nähern, 
bald  der  freien  Rede  getreuer  zu  bleiben,  bald  sich  mehr  und 
mehr  der  ausgebildeten  Musik  anzuschliessen. 

Das  letztere  geschieht  zunächst  in  der  Begleitung.  Von 
Grund  aus  ist  diese  bloss  äusserliche  Stütze  des  Gesanges.  Allein 
—  sie  ist  nun  einmal  da,  und  da  geschieht  es  leicht,  dass  der  Kom- 
ponist auch  sie  inniger  in  sein  Gefühl  nimmt  und  sich  ihrer  bald 
zu  äusserer  Hülfsleistung  bedient,  —  um  den  Takt  auszufüllen,  — 
bald  zu  wesentlicher  Mitwirkung,  zu  vollständiger  Ausprägung  seiner 
Idee  bemächtigt,  —  um  die  Stimmung  oder  Vorstellung  des  Sängers, 
oder  die  Verhältnisse,  in  denen  (unter  deren  günstigem  oder  be- 
drängendem Einfluss)  er  erscheint,  zu  bezeichnen. 

Hiermit  ist  der  erste  Unterschied  in  der  Gattung  des  Rezitativs 
begründet.  Das  Rezitativ  mit  bloss  äusserlich  helfender  Begleitung 
heisst 

einfaches  Rezitativ 


*  Um  diese  mehr  äusserlich  aufgedrungenen,  als  innerlich  wahren  Be- 
zeichnungen wenigstens  möglichst  zu  ersparen,  hat  J.  F.  Reich ardt  bei  der 
Komposition  Goet he' scher  Monologe  ohne  alle  Takteintheilung,  in  einer  fort- 
laufenden Reihe  von  Achteln,  Vierteln  u.  s.  w.  geschrieben.  Allein  der  Vor- 
theil dieser  Auskunft  —  deren  man  bei  richtiger  Erkenntniss  vom  Wesen  des 
Rezitativs  ohnehin  nicht  benöthigt  ist  —  wiegt  den  Verlust  an  Uebersichtlich- 
keit  nicht  auf;  in  Orchesterwerken  wäre  jene  Abfassungsweise  schlechthin  ver- 
wirrend und  störend. 

**  Ausnahmsweise  wird  auch  bisweilen  der  Dreivierteltakt  gefunden.  Dies 
kann  gelegentlich  bequemer  sein,  hat  aber  nach  Obigem  keine  weitere  Bedeutung. 


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Allgemeiner  Anblick  der  Form.  391 

(recitativo  secco),  im  Gegensatz  zu  dem 

begleiteten  Rezitativ 
(recitativo  accompagnato) ,  in  welchem  die  Begleitung  selbständige 
Bedeutung  gewonnen  hat.  Einer  solchen  Begleitung  kann  dann  da, 
wo  sie  als  Einleitung,  Zwischensatz  und  Schluss  des  Rezitativs  er- 
scheint, jede  ihrem  Inhalt  gemässe  Taktart  und  Bewegung  zuer- 
theilt  werden. 

Macht  sich  eine  Begleitung  von  besondrer  Bedeutung  und  Ge- 
staltung nicht  bloss  zwischen  den  Momenten  der  Rede,  sondern 
auch  während  derselben  geltend,  —  ist  sie  in  ihren  ausgeprägtem 
und  festbestimmten  Partien  nicht  bloss  Zwischensatz,  sondern  wirk- 
liche Begleitung,  gleichzeitig  mit  dem  Gesänge  :  so  versteht  sich  von 
selbst,  dass  der  Gesang  selbst  sich  mehr  oder  weniger  genau  dem 
Taktmaass  .  der  Begleitung  anschmiegen  muss;  diese  Weise  des  Re- 
zitativs heisst 

taktmässiges  Rezitativ 
(recitativo  a  tempo),  wird  übrigens  ebenfalls  so  frei  vorgetragen, 
wie  das  nöthige  Zusammentreffen  mit  der  Modulation  der  Beglei- 
tung nur  irgend  gestattet. 

Hiermit  ist  der  rezitativische  Gesang  selber  dem  festern  Wesen 
der  Musik  schon  näher  gekommen.  Dies  kann  ebensowohl  aus  dem 
Inhalte  des  zu  Singenden  unmittelbar  hervorgehn.  In  einem  rezi- 
tativischen Texte  können  einzelne  Partien  so  entschiedne  und  kon- 
zentrirte  Stimmung  haben,  dass  sie  für  sich  allein  feste  Musikform, 
—  wenn  auch  vermöge  ihrer  untergeordneten  Stellung  keine  selb- 
ständige Komposition  veranlassen.  Diese  erhalten  dann  Satz-  oder 
sonst  liedartige  Form  und  heissen 

Arioso. 

So  könnte  z.  B.  der  Anfang  des  79.  Psalms,  — 

Herr,  es  sind  Heiden  in  dein  Erbe  gefallen,  die  haben  deinen  heiligen 
Tempel  verunreiniget  und  aus  Jerusalem  Steinhaufen  gemacht. 

Sie  haben  die  Leichname  deiner  Knechte  den  Vögeln  unter  dem 
Himmel  zu  fressen  gegeben  und  das  Fleisch  deiner  Heiligen  den 
Thieren  im  Lande. 

Sie  haben  Blut  vergossen  um  Jerusalem  her,  wie  Wasser;  und  war 
niemand,  der  begrub. 

abgesehen  von  seiner  psalmodischen  Bestimmung  und  Stellung,  die 
aus  später  zu  erörternden  Gründen  auch  ganz  andre  Formen  zu- 
liesse,  füglich  keine  andre,  als  rezitativische  Form  erhalten,  in 
den  letzten  Worten  aber  — 

Und  war  niemand,  der  begrub 
sich  zu  bestimmterer  Gestaltung,  zum  Arioso,  erheben. 


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392 


Das  Rezitativ. 


Zweiter  Abschnitt. 

Das  einfache  Rezitativ. 

Endlich  beginnen  wir  nun,  nach  langen  theoretischen  Vorbe- 
reitungen, die  praktische  Gesangkomposition.  Ueber  jene  mag  uns 
das  trösten,  dass  sie  ein  ganz  neues  Kunstgebiet  zu  eröffnen  be- 
stimmt und  nöthig  waren. 

Die  erste  Aufgabe,  die  uns  hier  entgegentritt,  ist  die  Kompo- 
sition des  einfachen  Rezitativs. 

In  demselben  ist,  wie  wir  wissen,  die  Begleitung  auf  ihre  ein- 
fachste Bestimmung  beschränkt;  sie  soll,  ohne  eigenthümlichen  In- 
halt, bloss  äussere  Stutze  des  Gesanges  sein.  Dieser  ist  also  mit 
höchstem  Uebergewicht  Hauptsache,  er  ist  fast  Alles  in  Allem.  Eben 
darum  beginnt  die  Lehre  mit  ihm. 

Das  Studium  des  einfachen  Rezitativs  ist  aber  von  doppeller 
und  höchster  Wichtigkeit.  Erstens  um  der  Kunstform  selbst 
willen,  die  in  grössern  Werken  (oft  sogar  auch  in  kleinern)  kaum 
zu  umgehn  ist.  Zweitens,  weil  wir  in  ihm  zuerst  und  auf  das 
Leichteste  und  Kräftigste  zugleich  die  Fähigkeit  erwerben,  ohne  die 
ein  wahrhaftes,  tieferes  Gelingen  in  der  Gesangkomposition  schlecht- 
hin unmöglich  ist:  das  Wort  zur  Musik  werden  zulassen, 
Wort  und  Musik  auf  das  Innigste  zu  verschmelzen.  Wo  das  nicht 
gelingt,  da  kann  vielleicht  eine  interessante  Musik  neben  dem 
Worte  hergehen,  kann  auch  im  Allgemeinen  und  Oberfläch- 
lichen (S.  382)  die  Stimmung  vom  Inhalte  des  Textes  hergenommen 
sein.  Aber  alles  Tiefere,  Besondre  und  Karakteristische,  die  volle, 
ganze  Wahrheit,  die  volle  Einigkeit,  Einheit  und  Ganzheit  des  Kunst- 
werks in  seinen  beiden  wesentlichen  Bestandteilen  wird  unerreicht 
bleiben,  Wort  und  Ton  werden  sich  in  jedem  einzelnen  Moment 
(wenn  nicht  zufällig  einmal  das  Rechte  getroffen  wird)  fremd  und 
störend  berühren,  das  Wort  wird  in  der  Verhüllung  einer  ihm 
fremden  Musik  seine  Bedeutung,  ja  seine  Fasslichkeit  verlieren,  die 
Musik  wird  mit  Worten  beladen,  die  für  sie  ohne  eigentliche  Be- 
deutung, ihr  nur  ein  unnützer,  störender  Beiklang  sind;  sie  würde 
sich,  —  wenn  man  nicht  an  die  Mitwirkung  des  vernünftigen 
Worts  gewöhnt  wäre,  —  alsSolfeggio,  etwa  auf  dem  wohl- 
klingenden A  gesungen,  freier  bewegen  und  besser  ausnehmen. 

Diese  innigste  Vereinigung  von  Wort  und  Ton  ist  nun  das 
einzig  Wirksame,  oder  doch  mit  höchstem  Uebergewicht  Vorwaltende 
im  einfachen  Rezitativ.  Die  Begleitung  ist,  wie  gesagt,  im  höchsten 
Grade  untergeordnet:  eine  fest  ausgebildete  Musikform  ist  nicht  vor- 


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Das  einfache  Rezitativ. 


393 


handen,  —  selbst  des  Arioso  wollen  wir  uns  vorerst  enthalten ;  die 
Tonfolge  und  Bewegung  der  Singstimme  bestimmt  sich  einzig  nach 
dem  Sinn  und  Ausdruck  der  Rede,  verzichtet  also  damit  auf  jeden 
Reiz  einer  selbständig  entfalteten  Melodie.  So  bleibt  unser  einzig 
Geschäft  und  unsre  einzige  Kraft  die  Ueberführung  des  Worts  in 
Musik,  —  also  die  wahre  Grundlage  aller  Gesangkomposition. 

Wer  auf  dieses  Studium  mit  Ernst,  Anhaltsamkeit  und  immer 
tiefer  eindringender  Reobachtung  eingeht,  dem  werden  sich  für  die 
Gesangkomposition  neue,  oft  ungeahnte  Kräfte  und  Mittel  ergeben. 
Wer  es  versäumt,  wer  das  Rezitativ,  —  das  selbst  von  vielen  be- 
deutenden Komponisten  oberflächlich  abgefertigt  wird,  —  nur  nach 
hergebrachter  Routine  übt  und  anwendet  (was  sehr,  sehr  leicht  ist  , 
der  versäumt  ein  nach  unsrer  festen  Ueberzeugung  kaum  zu  ersetzen- 
des Bildungsmittel. 

Wir  beginnen  mit  den  einfachsten  und  unschwersten  Aufgaben, 
mit  der  Komposition  von  Texten,  die  kurz,  leichten  Inhalts  und 
günstiger  Form  sind.  Die  günstigste  Textform  ist  aber  für  das 
Rezitativ  die,  welche  ihm  —  als  der  freiesten  Gesangweise  —  die 
freieste  Bewegung  gestattet,  ungebundne  Rede.  Von  den  Vers- 
arten sind  die  einfachsten  (z.  R.  die  jambischen)  die  günstigem,  je 
eigenthümlicher  das  Versmaass  und  je  schärfer  es,  z.  R.  mit  Hülfe 
des  Reims,  ausgeprägt  ist,  desto  mehr  hemmt  es  den  freien  Fluss 
der  Rede  und  den  Ausdruck  ihres  Inhalts.  Eine  vorzügliche  Fund- 
grube für  Rezitativtexte  ist  die  Bibel. 

\.  Textwahl  und  Textstudium. 

Wir  wählen  als  ersten  Text  die  Worte: 

Da  traten  herzu  die  obersten  Väter  unter  den  Leviten  und  redeten 
mit  ihnen  im  Lande  Kanaan  und  sprachen: 

aus  Josua  21,  \ — 2. 

Dieser  Text  hat  an  sich  gar  nicht  die  Restimmung  musika- 
lischen Vortrags  ;  er  ist  eine  vollkommen  gleichgültige ,  wenigstens 
nicht  höher  gestimmte  Erzählung.  Nur  im  Zusammenhang  eines 
grössern,  für  Gesangvortrag  geeigneten  und  bestimmten  Ganzen  als 
untrennbarer  Theil  desselben  (S.  387)  könnte  diese  Rede  Musik  — 
und  dann  nichts  anderes,  als  Rezitativ  werden.  Wir  nehmen  an, 
dass  wir  es  mit  einem  solchen  Rruchstück  eines  im  Ganzen  musi- 
kalischen Textes  (vielleicht  eines  Oratoriums)  zu  thun  hätten.  Hier- 
mit sind  wir  berechtigt  zur  Komposition  und  haben  nun  eine  der 
einfachsten  Aufgaben  vor  uns. 

Die  Stimmung  des  Textes  kann  nur  eine  höchst  ruhige,  um 
nicht  zu  sagen  untheilnehmende  sein ;  nur  einigermassen  tritt  eine 
gewisse  Spannung  oder  Erhebung  in  sie,  da  wir  auf  die  Rede  der 
»obersten  Väter«,  als  auf  etwas  Wichtigeres,  hingewiesen  werden. 


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394 


Das  Rezitativ. 


Nach  dieser  —  hier  sehr  leichten  —  vorläufigen  Verständigung 
lassen  wir  nun  das  Wort  des  Textes  in  uns  sinnlich-lebendig 
werden,  indem  wir  ihn  mit  dem  ihm  gebührenden  Ausdruck  wieder- 
holt laut  aussprechen*;  wär'  er  tiefern  Gehalts,  so  würden  wir 
trachten  müssen,  uns  in  seine  allgemeine  Stimmung  zu  versenken. 
Beobachten  wir  uns  nun  bei  dieser  lauten  Rede,  so  werden  wir 
inne,  dass  der  ganze  Text  sich  in  folgende  mehr  oder  weniger 

scharf  getrennte  Glieder  auseinander  stellt: 

1  2  3 

Da  traten  herzu  —  die  obersten  Väter  —  unter  den  Leviten  —  und 
4  5  6  7 

redeten  mit  ihnen  —  im  Lande  Kanaan  —  und  sprachen. 

von  denen  das  zweite  Glied  den  Gipfelpunkt  des  ganzen  Textes 
bildet.  Die  Accente  der  Rede  fallen  hauptsächlich  auf  die  mit  1  bis 
7  bezeichneten  Silben. 

2.  Wahl  der  Stimme  und  Tonart. 

Sobald  es  vom  Komponisten  abhängt,  wird  er  für  jeden  Text 
diejenige  Stimme  wählen,  deren  Karakter  der  Stimmung  des  Textes 
am  entsprechendsten.  Unser  Text  ist  so  wenig  antheil-  oder  stim- 
mungerregend, dass  wir  in  ihm  keinen  Grund  finden,  eine  oder  die 
andre  Stimmklasse  vorzuziehn.  Wir  wählen  also  —  ganz  will- 
kürlich —  den  Tenor;  er  ist  wenigstens  als  höhere  Stimme  an- 
regender und  als  männliche  geeigneter  für  redenden  Ausdruck. 

Ebenso  wird  die  Stimmung  des  Textes  dem  Komponisten  auch 
die  Tonart  angeben,  mit  welcher  er  eintritt;  —  dass  er  an  deren 
Festhaltung  nicht  gebunden  ist,  wissen  wir  bereits.  Unser  Text 
erweist  sich  auch  hierin  gleichgültig;  wir  dürfen  ohne  Weiteres  die 
indifferente  Tonart  Cdur  als  Standpunkt  wählen,  von  dem  wir  aus- 
gehn,  —  gleichviel  ob  wir  in  dieser  Tonart  bleiben,  oder  nicht. 

3.  Entwurf  der  Komposition. 

Sobald  wir  nun  den  ersten  Standpunkt  festgesetzt  haben,  — 
es  soll  hier  also  Cdur  und  zwar  der  tonische  Dreiklang  sein,  — 
gelten  uns  zunächst  die  Stufen  des  ergriffnen  Akkords  als  die  Ton- 
punkte, auf  denen  und  durch  die  unsre  in  bestimmte  Intervalle  über- 
gehende Rede  sich  zu  bewegen  hat. 

Jeder  Akkord  ist  uns  jetzt  wieder  (Th.  I,  S.  249}  ein 
Raum,  innerhalb  dessen  sich  unsre  Melodie  bewegt,  bis  sie  ihn 
verlässt,  um  einen  andern  Raum,  also  einen  andern  Akkord,  zu 
betreten.  So  auch  ist  jede  Tonart  ein  grösserer  Raum  für 
die  Entfaltung  der  musikalischen  Rede.  Innerhalb  eines  Raumes 
bleibt  die  ganze  melodische  Entwickelung  auf  das  Einigste  und  In- 

*  Der  Verf.  hat  sehr  förderlich  gefunden,  anfangs  den  Schülern  dergleichen 
Textsätze  vorzulesen  —  und  zwar  wiederholt,  mit  stets  beibehaltnem  Tonfall 
der  Rede  —  und  sie  diesem  Tonfall  gemäss  notiren  zu  lassen. 


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Das  einfache  Rezitativ.  395 

nigste  verbunden ;  mit  dem  Austritt  aus  dem  einen  Akkord  also  in 
einen  andern  wird  auch  ein  Fortschritt  oder  Abschnitt  der  Rede 
ausgesprochen,  mit  dem  Austritt  aus  einer  Tonart  in  die  andre  ein 
wichtigerer  Fortschritt. 

Es  kommt  also  zunächst  darauf  an,  einen  Akkord  so  lange 
festzuhalten,  dass  er  für  den  ihm  zufallenden  Redetheil  ausreiche, 
ohne  die  Tonfolge  zu  sehr  an  wenige  Stufen  zu  fesseln.  Hierzu 
dient  erstens  die  Wiederholung  der  Akkordstufen  durch  den  ganzen 
Umfang  der  erwählten  Stimme;  unser  Dreiklang  z.  B.  bietet  dem 
Tenor  folgende  Tonreihe:  — 

^  oder: 

Zweitens  kommt  uns  hier  jene  innerliche  Erweiterung  der 
Akkorde  zu  statten,  die  wir  in  der  Elementarlehre  (Th.  I,  S.  107) 
mit  Hülfe  des  emphatischen  und  benutzen  gelernt;  —  aus 

wird         c-e-g  und  6, 

c-e-g    -    b  und  d  oder  des,  > 
oder  e-g-b-d  oder  des,  u.  s.  w.   Jene  erste  Erweiterung  treibt  uns 
in  die  äussersten  Regionen  der  Stimme,  die  andre  erschliesst  den 
innern  Reichthum  der  Harmonie. 

Hiernach  entwerfen  wir  nun  mit  Rücksicht  auf  die  Zergliede- 
rung des  Textes  unsre  Tonfolge  folgendermassen :  — 

 <  _2       _ 


399 


T  Da  tra-ten  her  -  zu  die  o  -  bersten  Va  -ter  un-ter  den  Le- 
3  4  5  6  7 


I 

vi-ten  und  re-de-ten  mit  ih-nen  im  Lan-de  Ka- na -an,  und  sprachen : 

Hier  sind  vor  allem  die  beiden  Hauptabschnitte  des  Textes  durch 
den  Harmoniewechsel  und  durch  vorläufige  Taktstriche  bezeichnet. 
Noch  genauer  hätten  auch  die  letzten  Silben  des  ersten  Abschnitts 
der  ersten  —  und  die  des  zweiten  der  zweiten  Harmonie  zuertheilt 
werden  sollen :  — 


400 


=#T     ß       ß       i  1 


\  und 

 *   T.   t  ß- 


un-ter  den  Le  -  vi-ten  Ka-na-an,  und  sprachen: 

Allein  dann  wäre  nach  dem  ersten  Abschnitt  eine  Lücke,  gleich- 
sam ein  Riss  in  die  Rede  entstanden,  und  das  letzte  Wort  »und 


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396 


Das  Rezitativ. 


sprachen«  hätte  alles  Gewicht  verloren,  mit  dem  es  auf  die  nun  zu 
erwartende  Rede  der  Väter  hinweist. 

Prüfen  wir  in  altgewohnter  Weise,  was  wir  in  No.  399  ge- 
leistet und  was  daran  falsch  oder  ungenügend  ist:  so  findet  sich 
zuerst  die  Stimme  in  ihrer  ruhigen  Mitte,  also  mit  Ruhe  des  Aus- 
druckseingeführt; dann  steigernd  empor,  bei  dem  Schlüsse  des  ersten 
Textabschnitts  (Leviten)  wieder  beruhigend  hinab,  noch  einmal  hin- 
auf und  zum  Schlüsse  des  Ganzen  wieder  hinabgeführt,  doch  in 
höherer  Lage,  als  der  Anfang  hatte,  endend.  Wir  finden  ferner 
die  Accente  des  Textes  (S.  394)  bei  1,  2,  4,  5,  6,  durch  Empor- 
schritte herausgehoben,  bei  3  und  7  durch  Schlusssenkungen  be- 
zeichnet. 

Dagegen  fehlt  vor  allem  die  Takteintheilung.  Diese  soll  uns 
nicht  bloss  Ordnung  bringen,  sie  soll  auch  die  rednerischen  Accente 
dadurch  verstärken,  dass  sie  sie  auf  Haupttheile  des  Taktes  fallen 
lässt.  Dies  ist  bei  3  und  7  schon  der  Fall,  es  soll  auch  noch  bei 
1  und  5  geschehen ;  hiernach  richten  wir  unser  Rezitativ  so  ein  :  — 

d  d 


401 


T  Da   tra-ten  her  -  zu    die   o  -  ber-sten  Va-ter  un-ter  den  Le- 


e 


T 

vi-ten  und  re-de-tcn  mit 
f   a  tempo. 


6 
5 

in  -  nen  im  Lan-de 


W 

Ka  -  na-an,  und 


r     h  tt 

spra-chen : 


II 


Der  Anfang  erscheint  nun  als  Auftakt,  das  »herzu«  erhält  den 
ihm  gebührenden  hinw  eisenden  Nachdruck,  die  accentuirten  und  nicht 
accentuirten  Silben  sind  durch  Haupt-  und  Nebentakttheile  oder  Takt- 
glieder angemessen  betont.  — 

Ferner  bewegt  sich  unsre  Tonreihe  noch  in  aller  Steifigkeit  und 
Leerheit  harmonischer  Figuration.  Wir  helfen  uns  hier  mit  Durch- 
gängen und  Vorhalten,  die  der  Kürze  wegen  mit  Buchstaben  über 
den  abzuändernden  Noten  bezeichnet  sind.  — 

Endlich  entspricht  es  dem  beweglichen  Karakter  einer  leicht  ge- 
haltnen  Erzählung,  dass  wir  die  Begleitung  nicht  auf  dem  festge- 
stellten Grundakkorde  c-e-g,  sondern  auf  seinem  Sextakkord  ein- 
treten lassen.   Hiernach  wäre  der  erste  Basston  zu  ändern. 

Nun  konnte  das  Rezitativ  allenfalls  gelten.  Es  hat  allerdings 
einen  zu  unbedeutenden  Text  nicht  bedeutender  machen  können, 
spricht  ihn  aber  doch  in  einer  nicht  ganz  unangemessnen  WTeise 


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Das  einfache  Rezitativ. 


397 


aus.  Nur  Folgendes  wäre  hinsichts  der  Treue  gegen  die  Redeaccente 
zu  bemerken.  Erstens  ist  kein  Grund  vorhanden,  das  »herzu«  so 
bedeutend,  wie  hier  durch  die  auf  die  Tonika  schlagende  Quarte 
und  den  Haupttakttheil  geschieht,  hervorzuheben.  Zweitens  ist  noch 
weniger  Anlass,  die  Worte  »Kanaan  und«  durch  gesteigerte  Ton- 
folge auszuzeichnen;  die  richtigere  Würdigung  des  Textes  erkennt 
vielmehr  in  ihnen  eine  nur  untergeordnete  Bestimmung  und  würde 
eher  die  Stimme  sinken  lassen,  wie  hei  A,  — 

A  

und  re-de-tenmit  ih-nen  im  Lan-de  Ka  na-an,  und  sprachen: 

&  *;' '■  i j •■  - ;  i 

Ka  -  na  -  an,  und  sprachen : 
als  erheben.  Allein  eben  die  Rede  und  folglich  ihr  getreuer  Aus- 
druck erscheinen  hier  so  wenig  gewichtvoll,  dass  wir  uns  allenfalls 
eine  so  geringe  Abweichung  von  der  Worttreue  gestatten  durften, 
um  damit  ebenmässigern  Aufschwung  für  die  Tonfolge  zu  ge- 
winnen. Je  wichtiger  freilich  der  Inhalt  des  Textes,  desto  nach- 
theiliger und  unstatthafter  wäre  jede  Abweichung  von  der  ihm  ge- 
bührenden Redeweise.  Drittens  endlich  könnte  das  Ende  des  Re- 
zitativs, wie  es  in  No.  401  steht,  zu  fest  und  abschliessend  für  einen 
Text  sein,  der  uns  erst  auf  ein  Weiteres  hinführt.  Dies  ist  in 
No.  401  durch  das  a  tempo  und  den  weiter  schreitenden  Bass  an- 
gedeutet, der  einen  neuen  Abschnitt  oder  sonst  einen  festern  Satz 
erwarten  lässt;  es  könnte  auch  wie  in  No.  402  bei  B  geschlossen 
werden,  wo  das  letzte  Wort  ganz  abfällt,  die  Singstimme  einen 
Quartsextakkord  andeutet  und  die  Begleitung  den  damit  vorbereiteten 
Schluss  übernimmt,  —  der  dann  irgend  eine  neue  Folge  nach  sich 
ziehen  würde. 

Wir  geben  denselben  Text  nochmals  in  andrer  Weise.  — 
  g  e   ^ 

t>  Da  tra-ten  her  -  zu    die    o  -  bersten  Vä  -  ter  un  -  ter  den  Le- 

r  v  9  if 

6  6 

vi-ten  und  re-de-ten  mit  ih  -  nen    im  Lan-de  Ka  -  na-an,  und  sprachen : 
Hier  ist  der  Eintritt  auf  dem  Sextakkord  des  Dominantdrei- 
klangs beweglicher,  der  Einhergang  der  Erzählung  zu  Anfange  mil- 


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398 


Das  Rezitativ. 


der  und  fliessender,  die  unmotivirte  Steigerung  von  No.  4(M  bei  der 
Nebenbemerkung  »im  Lande  Kanaan«  vermieden,  dagegen  ein  andres 
Wort,  »Leviten«,  eben  so  unbefugt  hervorgehoben;  man  hätte 
eher  so  — 


404 


un-ter  den  Le-vi-ten    und  re-de-ten  mit  ih-nen    im  Lan-de 


(oder  di8  im  Bass) 

Ka  -  na  -  an,  und   sprachen  : 

setzen  können,  wäre  aber  dabei  auf  neue  Wendungen  der  Modu- 
lation gefuhrt  worden. 

Mit  der  fliessenden  Bewegung  in  No.  403  war  auch  erhöhte 
Bewegung  in  der  Modulation  angeregt.  Daher  schreitet  der  erste 
Sextakkord  nicht  auf  dem  nächstliegenden  Weg  in  den  tonischen 
Dreiklang,  sondern  in  dessen  Sextakkord,  der  sich  bei  »redeten« 
zu  einem  Quintsextakkord  (c-e-g  u  n  d  6)  erweitert  und  in  die  Un- 
terdominante, dann  mittels  eines  Trugschlusses  in  deren  Parallele 
führt,  durch  beides  eine  ernstere,  vielleicht  trübere  Fortsetzung  der 
Rede  andeutend.  In  No.  404  macht  sich  an  derselben  Stelle  durch 
die  Andeutung  von  .1  moll  und  dann  durch  die  Wendung  nach  der 
Oberdominante  zuerst  unsichre,  bedenklichere,  dann  aufgeklärtere 
Stimmung  fühlbar;  erst  die  Folge  des  Textes  würde  entscheiden, 
ob  eine  dieser  Wendungen  hier  motivirt  wäre. 

Dergleichen  Wendungen  der  Harmonie  in  das  Fernere  statt 
Nächstliegende  sind  dem  Rezitativ  bei  der  Armuth  seiner  musika- 
lischen Mittel  oft  nöthige  Hülfen.  —  Die  weitere  Prüfung,  nament- 
lich auch  der  bei  No.  403  mit  Buchstaben  angedeuteten  Aenderun- 
gen  bleibe  Jedem  überlassen.  Wir  finden  einige  Schlussbemerkungen 
wichtiger. 

Erstens.  Hier  sind  nun  zwei  Kompositionen  desselben  Textes 
gegeben;  sollte  nicht  schon  daraus  folgen,  dass  eine  oder  gar  beide 
falsch  oder  unzulänglich  wären?  Doch  nicht.  Je  unbestimmter 
und  gleichgültiger  ein  Text,  desto  weniger  fodert  er  oder  macht 
er  nur  möglich  eine  bestimmte,  innerlich  nothwendige  Ausdrucks- 
weise. Je  tiefer  eine  Wahrheit,  desto  bestimmter  muss  nothwendig 
ihr  Ausdruck  sein,  je  oberflächlicher,  allgemeiner,  vielumfassender 
und  vieldeutiger  ein  Gedanke,  desto  freiem  Spielraum  findet  der 
Ausdruck,  der  sich  bald  dieser,  bald  jener  Seite  des  Gedankens 
anschliessen  kann,  ohne  falsch  genannt  zu  werden. 

Zweitens.  Der  Jünger  verschmähe  doch  ja  nicht,  sich  an- 
fangs recht  anhaltend  mit  ruhigen,  ja  gleichgültigen  Texten  zu  be- 


Höhere  Beispiele. 


399 


schäftigen,  und  bewähre  seine  Treue  und  Wahrhaftigkeit  darin,  dass 
er  sich  ihnen  in  der  Komposition  ganz  anspruchslos  anschliesse, 
ohne  das  Bestreben,  ihnen  in  der  Musik  ein  Interesse,  eine  Bedeut- 
samkeit aufprägen  zu  wollen,  die  sie  nicht  in  sich  haben.  Nur  so 
wird  er  das  lernen,  worauf  hier  Alles  ankommt :  die  Accente  der 
Rede  zu  belauschen  und  in  Musik  zu  Übertragen.  Dies  aber  muss 
bei  jeder  neuen  Aufgabe  mit  gleicher  genauester  Beobachtung  geübt 
werden.  Die  erzählenden  Partien  in  der  Bibel  bieten  ihm  über- 
genug des  Uebungsstoffes,  sobald  er  (wie  wir  oben)  voraussetzt, 
der  Text  gehöre  einem  grössern  für  Musik  bestimmten  Ganzen  zu. 
Anfangs  hüte  er  sich  dabei  vor  zu  weiten  Texten  und  vor  solchen, 
die  durch  Anhäufung  fremder,  nichts  bedeutender  Namen  oder  Neben- 
umstände der  Komposition  ungünstige  Last  aufbürden.  Ist  übrigens 
ein  Text  im  Ganzen  gut,  so  kann  er  durch  Auslassung  des  Unnützen 
und  Belästigenden  verbessert  werden;  so  würden  wir  bequemer  und 
besser  haben  schreiben  können,  wenn  wir  die  für  uns  unnütze 
Nebenbemerkung 

»im  Lande  Kanaana 

weggelassen  hätten. 

Drittens  endlich  muss  diese  Uebung  über  alle  vier  Stimm- 
klassen erstreckt,  es  müssen  besondre  Rezitative  für  den  Diskant, 
Alt  u.  s.  w.  geschrieben  werden,  damit  man  sich  gewöhne,  für  jede 
den  ihr  eignen  Sprachton  (S.  354)  zu  finden.  Den  Anfang  mache 
aber  Jeder  in  der  Stimmklasse,  zu  der  seine  eigne  Stimme  gehört, 
und  trage  sich  diese  —  sowie  nach  Vermögen  alle  Gesangkompo- 
sitionen wiederholt  so  gut  und  mit  so  aufmerksamer  Prüfung  wie 
möglich  vor*. 


Dritter  Abschnitt. 

Höhere  Beispiele. 

Sobald  der  Jünger  sich  so  weit  geübt  hat,  dass  er  Sätze,  wie 
den  in  No.  401  und  403  gegebnen,  mit  Sicherheit,  Gewandtheit  und 
Bewusstsein  der  bestimmenden  Gründe  hervorbringen  kann,  —  aber 
nicht  eher,  —  ist  es  für  ihn  Zeit  und  noth wendig,  Rezitative 
der  Meister,  und  vor  allen  andern  der  nachbenannten,  zu  studiren. 
Dies  muss  zuvörderst  mit  der  ganzen  Unbefangenheit  des  Kunst- 
freundes geschehn,  der  keine  weitere  Absicht  hat,  als  sich  am  Kunst- 
werke zu  erfreuen,  und  der  sich  ihm  darum  am  unbedingtesten 
hingiebt.    Dann  muss  das  Rezitativ  zergliedert  und  in  allen  Be- 

*  Hierzu  der  Anhang  0. 


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400  Das  Rezitativ. 

Ziehungen  und  Theilen  geprüft  werden,  —  und  zwar  vom  Text  aus 

—  ohne  Scheu  vor  dem  Namen  des  Meisters,  den  wir  nicht  höher 
ehren  können,  als  wenn  wir  die  letzte  Wohlthat,  die  er  uns  darbietet, 

—  Aufklarung  und  Lehre,  —  dankbar  und  achtsam  von  ihm  an- 
nehmen, damit  er,  damit  das,  was  in  ihm  das  Wahrhafte  und  Ewige 
ist,  durch  uns  weiter  fortwirke. 

Zur  Anknüpfung  dieses  Studiums  diene  zuerst  ein  kleines  Rezi- 
tativ aus  Hände  Ts  Messias.  — 


  "f^  -TT-  


405 


7 
4 
2 

Es  wa  -  ren  Hir  -  ten  da  -  selbst  auf  dem  Fei -de,  die 

4 


= 




— —  ~"  ""—  ■  ,(f.d/ 

hü  -  te  -  ten    ih  -  re   Heer -den  des  Nachts. 

Der  Text  (Lukas  2,  8)  ist,  abgesehn  von  dem  was  weiter 
folgt,  eine  eben  so  schlichte,  ruhige  Erzählung,  wie  die  in  No.  401 
behandelte,  ja  noch  kürzer  und  darum  leichter  zu  fassen.  Daher 
nimmt  die  Komposition  fast  denselben  Gang;  der  erzählende  Auf- 
schritt aus  der  unbestimmten  Quinte  des  Akkords  zur  Tonika,  die 
Senkung  in  den  Raum  des  neuen  Akkords  bei  dem  Schlussfall  des 
ersten  und  zweiten  Textabschnittes,  das  Ganze  kürzer  und  darum 
noch  ruhiger,  enger  zusammengehalten.  Nur  der  orgelpunktartige 
Rass  findet  aus  dem  Text  selber  nicht,  sondern  aus  dem  Nachkom- 
menden seine  Erklärung. 

Und  siehe,  der  Engel  des  Herrn  trat  zu  ihnen  — 
heisst  es  im  Folgenden;  und  so  bleibt  die  Modulation  des  ersten 
Rezitativs  an  ihren  Grundton  gefesselt,  gespannt  bis  zu  jenem 
Fortschritte  stehen. 

Das  zweite  Studium  wendet  sich  an  ein  Rezitativ  aus  Glucks 
Iphigenia  in  Aulis*.  Die  hochsinnige,  fürstlich  vornehme  Klytem- 
nästra  ist  mit  der  Tochter  im  Laser  der  Griechen  angelangt,  ver- 
meintlich  zur  Vermählung  der  Tochter  mit  dem  glänzendsten  Hel- 
den, Achilles,  sie  selber  die  stolze  Gemahlin  des  Heerführers,  dem 
ganz  Griechenland  mit  allen  seinen  Königen  sich  beugt.  Jetzt  ist 
sie  und  die  Tochter  von  den  Festliedern  und  Tänzen  der  huldigen- 


*  Wir  werden  unsre  Gluck'schen  Beispiele  ausschliesslich  aus  dieser  Oper 
entlehnen,  die  sich  zwar  auf  der  Bühne  nicht  in  gleicher  Gunst  hat  erhalten 
können  (aus  Gründen,  die  hier  nicht  hergehören),  wie  die  andre  Iphigenia,  Ar- 
mide und  Alceste,  die  aber  in  Hinsicht  auf  Wahrheit  und  Tiefe  der  Diklion, 
Karakterentwickelung  und  innern  mannigfaltigsten  Reichthum  als  das  höchste 
Werk  Gluck's  und  als  wichtigster  Gegenstand  für  das  Studium  erscheint. 


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Höhere  Beispiele. 


401 


den  Jugend  begrüsst  worden  und  hat  sich  der  mütterlichen  Freude 

an  der  Tochter  in  gemildertem  Stolze  hingegeben. 

Que  faime  ä  voir  ces  hommages  flatteurs, 
Qu'ici  Von  s'empresse  ä  vous  rendre. 
Pour  une  mere  lendre 
Que  ce  spectacle  a  de  douceurs; 

mit  diesen  Worten  hat  sie  (in  Liedform,  Gdur)  ihr  Gefühl  aus- 
gesprochen und  wendet  sich  nun  im  Rezitativ  an  die  Tochter. 


406*)  < 


De  -  meu-r6z  dans  ces  lieux,  ma  fil  -  le,      et  sans  par- 


I  )a  -  ge        re  -  ce  -  vcz  les  bonneurs,     qui    nous  sont  a  -  dres  - 


Je  vais   voir,  si    lc   roi,      de  nos  voeux  em-presse,  con- 


1 


sent  ä    re  -  ce  -  voir  l'hom-ma  - 


6 
4 


7 
ff 


Vor  niiherm  Kingehen  auf  dieses  kleine  Meisterstück  müssen 
wir  noch  anmerken,  dass  die  Stimme  der  Klytemnüstra  ein  tieferer 
Sopran  (Mezzo-Sopran)  ist ;  hiernach  hat  man  die  Stimmlage  zu  be- 
urtheilen.  Dem  Karakter  aber  der  Klytemnästra  ist  durchweg  eine 
gewisse  fürstliche  Herbigkeit  eigen,  die  ihr  später  Kraft  leiht,  sich 
gegen  den  vermeintlich  treulosen  Achill  feindlich-stolz  zusammen- 
zufassen, gegen  den  erhabnen  Gemahl,  ja  zuletzt  gegen  die  Götter 

*  Auch  hier  nöthigt  uns  die  Rücksicht  auf  Raumersparnis*  zu  gedrängterer 
Abfassung.    Der  Bass  der  Begleitung  liegt  eine  Oktave  tiefer. 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  26 


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402 


Das  Rezitativ 


selbst  sich  mit  erhobner  Stirn  zu  behaupten,  —  die  schon  hier  die 
Möglichkeit  ahnen  lässt,  dass  der  Mord  des  Gatten  ihr  nicht  unaus- 
führbar sein  wird  zur  Sühne  des  beleidigten  Mutterrechts;  es  ist 
eine  der  tiefsten  Karakterentwickelungen,  die  je  irgend  einer  Kunst 
geworden.  —  Hier  ist  die  herbe  Kraft  des  Karakters  verhüllt  (die 
Instrumente  ziehn  ihre  Akkorde  über  die  Singstimme  bedeckend 
weg),  er  ist  unter  so  beglückenden  Verhältnissen  im  vorhergehenden 
Gesänge  (Gdur)  zu  einer  gewissen  Freudigkeit  und  Freundlichkeit 
geschmeidigt  worden,  wenn  auch  nicht  zu  reiner  Hingebung  und 
Heiterkeit,  die  ihm  fremd  sein  müssen,  gelangt.  Auch  die  weitere 
Rede  —  das  vorstehende  Rezitativ  —  ist  eher  mild  und  herab- 
lassend, als  heiter;  daher  die  Wendung  nach  Zsmoll. 

Fasst  man  diesen  Gesichtspunkt,  so  ist  einleuchtend,  dass  aus 
dem  Karakter  der  Redenden  und  aus  den  Verhältnissen  eine  höhere 
Bewegung  in  die  Rede  kommen  musste  bei  aller  Gehaltenheit  oder 
Bemessenheit  mütterlicher  und  fürstlicher  Würde,  die  sich  der  inner  n 
Bewegung  nicht  hingeben  darf.  Daher  hebt  die  Modulation  auf 
dem  beweglichen  Sextakkorde  der  Dominante  an  und  wendet  sich 
in  so  engem  Räume  von  £moll  nach  #moll,  nach  4dur,  während 
die  Singstimme  den  Umfang  einer  kleinen  Sexte  nicht  tiberschreitet 
und  nie  einen  grössern  Schritt  als  eine  Quinte  macht. 

Die  drei  Tonarten  sind  die  Räume  für  die  drei  Hauptabschnitte 
des  Textes: 

4)  Demeure'z  dans  ces  lieux,  ma  fUle,  —  %)  et  sans  partage  receve'z 
les  honneurs,  qui  nous  sont  adressts.  —  8)  Je  vais  votr,  si  le  rot,  de 
nos  voeux  empressi,  consent  ä  recevoir  l'hommage.  — 

Der  Uebertritt  erfolgt  aber  so,  dass  mit  dem  entscheidenden 
Akkorde  jedesmal  das  entscheidende  Wort,  —  nsans  partage«  — 
nie  roi«,  —  hervorgehoben  wird.  Die  Akkorde,  als  untergeordnete 
Räume  für  den  fortschreitenden  Redeinhalt,  dienen  gleichem  Gesetze ; 
sie  runden  die  untergeordneten  Abschnitte  bei  den  Worten  »fille* 
—  » adresse's «  —  »consent«  —  ab.  Die  letzten  zwei  Takte  sind 
Arioso,  kommen  also  für  jetzt  nicht  weiter  zur  Betrachtung,  ob- 
wohl sie  demselben  Gesetz  folgen. 

IIiemächst  endlich  dient  auch  die  taktische  Anordnung  zur 
Herausstellung  aller  accentuirten  Silben  durch  Haupt-  oder  gewe- 
sene Haupttheile*  des  Taktes,  so  dass  die  verständige  Anordnung 
des  Textes  Zug  um  Zug  in  die  Komposition  übergegangen  ist. 

Gehen  wir  nun  auf  das  Innere  der  Komposition  näher  ein,  so 
zeigt  sich  zuerst  in  der  rhythmischen  Anordnung  neben  dem, 
was  die  Einrichtung  des  Viervierteltaktes  und  die  Berücksichtigung 
der  Redeaccente  im  Allgemeinen  foderte,  eine  vorherrschende  Nei- 


*  Allgem.  Musiklehre,  S.  4  05. 


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Höhere  Beispiele. 


403 


gung  zu  anapästischer  Bewegung  (zwei  kurze  und  eine  lange 
Silbe  oder  Note  als  Versfuss  oder  rhythmisches  Motiv) ,  in  der  sich 
Gluck 's  energischer  Karakter  Uberhaupt  gefallt  und  bezeichnet,  die 
aber  auch  dem  erregtem,  thatkräftigen  Sinne  der  Klytemnästra  wohl 
zusagt.  Allein  diese  Bewegung,  die  die  Verskuost  nur  in  einer 
Form  kennt,  nimmt  in  der  Komposition  zweierlei  Gestalten  an:  eine 
energischere ,  schnelltreffende  (zwei  Sechzehntel  vor  einem  Viertel) 
bei  den  Worten  »demeurez  —  recevez  —  je  vais  voir  —  de  nos 
voeuxii,  die  das  Bestimmende  oder  (gemäss  dem  Stolze  der  Fürstin) 
das  Leichtabfertigen  bei  »de  nos  voeux«  aussprechen ,  und  eine 
sinnigere,  weilende  (zwei  Achtel  und  ein  Viertel)  bei  ndans  ces 
lieux  —  les  honneurs  —  si  le  roi  —  empresse1«,  gemäss  der  Be- 
deutung dieser  Worte.  —  Wenn  auch  allerdings  (S.  389)  die  Gel- 
tung der  Noten  im  Rezitativ  vom  Vortragenden  nicht  nach  der  sonst 
erfoderlichen  Schärfe  abgemessen  werden  soll,  so  deutet  sie  doch 
den  Sinn  und  die  Absicht  des  Komponisten  an,  zumal  wenn  eine 
andre  Abfassungsweise  so  nahe  lag,  wie  hier. 

Was  endlich  den  Tonfall  betrifft,  so  haben  wir  schon  auf 
dessen  Bemessenheit  hingewiesen,  in  der  sich  die  vornehme  Zurück- 
hallung  und  die  Ruhe  und  Milde  der  jetzigen  Stimmung  zeichnen. 
Gleichgültig  fällt  das  »et  sans  partage«,  vornehmkühl  das  »nous 
sont  adresse'sa  (mit  absichtsloser,  vornehm  gewohnter  Betonung  des 
»nows«)  hin ;  die  eigentlich  bestimmenden  Worte  »demeurez  —  je 
vais  voir«  erhalten  in  der  bestimmten,  auf  den  Grundton  hinauf- 
schlagenden Quarte  ihre  Betonung,  —  und  so  findet  sich,  dass  in 
der  That  kein  Wort  anders  gesprochen  werden  kann,  ohne  dass 
irgend  ein  feiner  Karakterzug  dabei  verloren  ginge.  Man  versuche 
vorerst  die  Worte  im  Sinn  des  oben  geschilderten  Karakters  zu 
sprechen,  —  sodann  spreche  man  sie  nach  Anleitung  der  Noten  in 
den  von  diesen  bestimmten  grössern  oder  kleinern  Hebungen  und 
Senkungen  (wenn  auch,  nach  Art  der  Rede,  nicht  in  bestimmten  Inter- 
vallen) :  und  man  wird  mit  voller  Befriedigung  den  Gang  der  Rede 
und  der  Komposition  Übereinkommen  sehn ;  oder  endlich  versuche 
man  irgendwo  Aenderungen  (wie  sie  uns  bei  No.  401  so  leicht  und 
schadlos  gelangen),  um  sich  zu  überzeugen,  dass  keine  ohne  Nach- 
theil erfolgen  würde.  Setzen  wir  z.  B.  den  Anfang  anders,  — 
A  B 


Deraeuröz  dans  ces  lieux,  ma  fil-le,    demeu-rözdansces  lieux,  ma  fil-le 

so  wird  bei  A  das  dreimal  betretne  fis  eintönig  ermüdend,  und 
das  »ma  —  fillea  wird  den  warmen  mütterlichen  Accent  einbüssen 
und  kalt  oder  klagend  heraustreten.  Oder  setzen  wir  im  dritten 
Takte,  wie  hier,  — 

26* 


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404  Das  Rezitativ. 

A  B 

Re-ce-vez  les  honneurs,     re  -  ce  -  v6z  les   hon-neurs,  qui 

^=5-  S'      f  = 

nous  sont    a  -  dres-s6s. 

so  wird  bei  A  das  »receväz*  den  verbindlichen  Ausdruck  des  Ori- 
ginals gegen  den  eines  ganz  unmotivirten  sentimentalen  Verlangens 
verlieren,  bei  B  wird  dieses  Wort  einen  kalten  Accent  fühlen 
lassen,-  die  »honneurs«  werden  sich  wichtig  thuend  vordrängen, 
das  mous«  wird  vollends  auf  die  Spitze  getrieben  und  der  Schluss 
dabei  klagend  ausklingen.  Und  dies  alles,  wenn  man  einmal  so 
anfangen  wollte,  wär'  ohne  noch  lästigere  Eintönigkeit  nicht  zu 
vermeiden. 

Der  letzte  Gegenstand  unsrer  Betrachtung  sei  ein  Rezitativ  aus 
der  Kirchenmusik,  die  Seb.  Bach  zu  Luther's  Choral:  »Ein' 
feste  Burga  geschrieben  hat.  *  In  tiefsinniger  Weise  wird  das 
Kirchenlied  mit  anderswoher  genommenen  Betrachtungen  durch- 
flochten, und  so  wird  schon  der  zweite  Vers  — 

Mit  unsrer  Macht  ist  nichts  gethan, 
in  Verbindung  mit  einem  andern  Texte  — 

Alles,  was  von  Gott  geboren, 

Ist  zum  Siegen  auserkoren,  u.  s.  f. 

in  streitfertigster  protestantischer  Freudigkeit  durchgeführt.  Darauf 
folgt  unser  Rezitativ: 

Erwäge  doch,  Kind  Gottes,  die  so  grosse  Liebe,  da  Jesus  sich  mit 
seinem  Blute  dir  verschriebe,  womit  er  dich  zum  Siege  wider  Sa- 
tans Heer  und  wider  Welt  und  Sünde  geworben  hat.  Gieb  nicht  in 
deiner  Seele  dem  Satan  und  den  Lastern  statt,  lass  nicht  dem  Herz 
den  Himmel  Gottes  auf  der  Erden  zur  Wüste  werden,  bereue  deine 
Schuld  mit  Schmerz,  dass  Christi  Geist  mit  dir  sich  fest  verbinde. 

Die  letzten  Worte  — 

dass  Christi  Geist  mit  dir  sich  fest  verbinde 

sind  als  Schluss  und  Resultat  des  Ganzen  Arioso  geworden,  mit- 
hin von  unsrer  musikalischen  Betrachtung  jetzt  ausgeschlossen. 

Dieser  Text,  eine  religiös-moralische  Ermahnung,  fodert  für  sich 
nicht  musikalische  Behandlung.  Nur  der  hohe  Eifer  des  Predigers  — 
so  darf  gewiss  der  Redende  hier  heissen  —  und  die  Stellung  inner- 
halb eines  durchaus  musikalischen  Ganzen  gestatten  die  Ueber- 
tragung  in  Musik.  Hiermit  (und  mit  Rücksicht  auf  die  Stellung  im 
Zusammenhange  des  Werks)  war  rezitativische  Form  bedingt. 


♦  In  Partitur  herausgegeben  bei  Breitkopf  und  Härtel. 


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Höhere  Beispiele 


405 


Bach  hat  hier  und  anderswo  den  Karakt  er  und  die  That  eines 
Predigers  mit  solcher  innerlichen  Hingebung  und  Macht  ergriffen, 
dass  man  von  ihm  sagen  darf :  er  predigte  gewaltig  und  nicht  wie 
die  Schriftgelehrten,  —  und  dass  in  einer  an  Schwächeres  und  Her- 
kömmliches oder  Nachgeahmtes  gewöhnten  Zeit  auch  jenes  andre 
Wort  (Matthäus  7,  28)  bisweilen  in  Erfüllung  gehen  mag :  es  ent- 
setzte sich  das  Volk  über  seine  Lehre.  Wir  haben  in  unserm  Re- 
zitativ einen  ganz  von  seinem  Beruf  und  von  dem,  was  der  Augen- 
blick, was  sein  Vorhaben  im  Ganzen  und  jedes  Wort  dabei  will, 
erfüllten  Mann  Gottes,  einen  Eiferer  um  den  Herrn  —  wie  man  in 
religiös-erhobner  Zeit  sagen  würde  —  vor  uns,  der  gewaltig,  un- 
widerstehlich,  glaubens-  und  zuversichtsvoll  seine  ganze  Kraft  in 
jedes  Wort  legt.  So  ist  denn  die  Rede  von  einer  Heftigkeit,  ist 
das  einzelne  Wort  bald  von  einer  Uebermacht  des  Andringens,  bald 
von  einer  Zuversicht  oder  verklärten  Freudigkeit  erfüllt,  die  uns 
befremden,  ja,  die  als  Uebertreibung  ansprechen  können,  so  lange 
wir  uns  nicht  ganz  erfüllt  haben  mit  dem  Bild  und  Gefühl  einer 
glaubensvollen  Zeit  und  eines  Eiferers  um  den  Glauben.  Dann  erst 
verstehen  wir  Bach  und  erfahren  zugleich  an  seinem  Werke  die 
hohe  Macht  der  Kunst  und  der  Kunstform,  die  wir  uns  jetzt  ange- 
winnen möchten. 

Es  versteht  sich,  dass  Bach  für  diese  Aufgabe  keine  andre 
Stimme  als  den  männlich  kräftigen  und  würdevollen  Bass  erwählen 
konnte.    Dies  ist  das  Rezitativ,  bis  zu  dem  Arioso.  — 


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406 


Das  Rezitativ. 


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worben  hat.  Gieb  nicht  in  deiner  Seele  dem  Satan  und  den  Lastern  statt,lass 


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5 


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nicht  dein  Herz  den  Himmel  Got-tes  auf  der  Er-den    zur  Wü  -  ste 


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2 


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Arioso. 
a  tempo. 


SS-. 


wer-den,  be-reu  -  e  dei  -  ne   Schuld   mit  Schmerz. 


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5? 


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3 


Die  entscheidendsten  Betrachtungen  knüpfen  sich  an  dieses 
Meisterwerk.  Möge  sich  erst  ein  Jeder  aus  vollem  Herzen  hinein- 
singen und  hineinfUhlen,  und  dann  dem  Wenigen,  was  wir  uns 
zu  bemerken  erlauben,  sein  weiteres  Nachforschen  folgen  lassen. 

Zuvörderst,  ehe  wir  auf  die  Komposition  selbst  eingehn, 
sprechen  wir  zweierlei  aus,  das  Jeder,  der  es  nicht  schon  in  sich 
erfahren  oder  von  ächten  Künstlern  vernommen,  am  vorliegenden 
Meisterwerk  und  sonst  sich  zurecht  zu  stellen  suche. 

Erstens.  In  dem  rechten  Kunstwerke  giebt  es  keine  nur 
einseitig  lebendige  oder  einseitig  wahre,  sondern  nur  eine  voll-leben- 
dige und  ganz-wahre  Auffassung.  Der  rechte  Komponist  giebt  nicht 
bloss  den  Sinn  der  Worte  (wenn  auch  tief  aufgefasst  oder  ausgelegt) 
und  nicht  bloss  die  allgemeine  Stimmung  der  Rede,  —  und  nicht  bloss 
dies  Beides  zusammen.  Sondern  vor  ihm,  vor  dem  emporgehobnen 
Auge  seines  Geistes  steht  der  Redende  selber,  wie  er  leibt  und  lebt, 
wie  er  fühlt  und  gestimmt  ist,  wie  er  redet  und  jedes  Wort  empfindet 
und  denkt  —  mit  all  dem  unausgesprochnen  bei  den  Worten 
Empfundnen  und  Gedachten  seines  Geistes.  So  hat  Bach  hier  und 
anderwärts  den  Redenden  mit  dem  Geredeten  geschaut  und  ver- 
nommen, —  gleichviel  ob  er  sich  dessen  so  klar  bewusst  geworden, 
dass  er  es  mit  besondern  Worten  hätte  bezeugen  können. 


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Höhere  Beispiele 


407 


Zweitens.  In  einem  solchen  Werke  des  begeisterten  — 
denn  dies  Schauen,  in  dem  ein  neuer  Geist  gleichsam*  in  uns  tritt, 
ist  Begeisterung  —  und  durchgebildeten  Künstlers  erfüllen  sich 
dann  alle  jene  Bedingungen,  die  jedes  Kunstwerk  und  namentlich 
die  besondre  Aufgabe  eben  dieses  Werkes  als  inbegriffen  in  seine 
Aufgabe  anerkennen  muss,  wie  von  selbst,  und  jede  so  vollbefrie- 
digend, als  wär'  es  nur  um  sie  zu  thun  gewesen. 

So  zeigt  der  erste  Anblick  des  Bach'schen  Rezitativs  eine 
Entfaltung  und  Darlegung  der  Stimme,  die  nichts  zu 
wünschen  lässt.  Dem  bedeutenden  Inhalt  und  der  hohen  Stimmung 
des  Textes  gemäss  entfaltet  auch  die  Stimme  des  Redenden  ihr 
ganzes  Vermögen.  Sie  wird  von  der  Tiefe  {A)  bis  zur  äussersten 
Höhe  (eingestrichen  e)  in  Bewegung  gesetzt ;  dies  geschieht  durch- 
aus in  schwungvoller  Weise,  in  mannigfach  wechselnden  besonders 
mächtigen  Schritten,  auf  das  Günstigste  für  den  Basskarakter ;  zu 
den  äussersten  Punkten,  namentlich  zu  dem  hohen  e,  wird  die  Stimme 
stufenweis  vorbereitend  und  mit  tiefern  zur  Erholung  dienenden 
Zwischentönen  emporgeleitet;  selbst  die  weitesten  Schritte,  z.  B. 
gleich  der  Anfang  ais-g-e-cis,  sind  durchaus  sangbar,  ja  leicht 
und  sicher  zu  treffen,  da  sie  innerhalb  eines  einzigen  und  fasslichen 
Akkordes  liegen.  Das  alles  —  ganz  abgesehen  von  seiner  tiefern 
Bedeutung  —  lässt  nichts  zu  wünschen  übrig. 

Lassen  wir  noch  immer  den  nähern  Inhalt  bei  Seite  und  bleiben 
nur  dabei  stehn,  dass  die  Stimmung  eine  hoch  und  ernst  bewegte 
ist:  so  müssen  wir  anerkennen,  dass  die  allgemein-musika- 
lische Gestaltung  (das  Abstrakt-Musikalische)  jener  Stimmung 
auf  das  Eigenste  entspricht.  Die  Modulation  —  von  7/moll  nach 
Fismoll,  Z)moll,  idmoll,  Ddur,  £moll,  //moll,  C?sdur,  Fü  — 
ist  reich  und  nicht  abschweifend,  aber  energisch  geführt.  Die  Ak- 
korde sind  fest  an  einander  geschlossen,  doch  aber  gelegentlich  auch 
mit  starker  Eigenwilligkeit  gewendet;  man  beachte  (mit  Rückblick 
auf  S.  389)  die  ausbiegende  Auflösung  in  Takt  2  und  10  zu  11; 
dabei  sind  sie  von  der  Singstimme  reich  ausgelegt.  Die  Kantilene 
der  letztern  aber  ist  mannigfaltig  und  vorherrschend  in  grossen 
Richtungen  bewegt;  schon  vor  dem  Arioso,  das  den  Schluss  des 
Ganzen  macht,  nähert  sie  sich  im  dritten  Takt  (und  einen  Augen- 
blick lang  auch  im  drittletzten)  dem  festern  Gesang  des  Arioso. 
Die  Stimmung  des  Ganzen  war  so  entschieden  und  andringend,  dass 
nur  der  Gedanken reichthum  des  Textes,  das  Gewicht,  das  jedes 
Wort  für  den  Redner  hat  und  in  seinem  Munde  für  uns  haben  soll, 
festere  Gestaltung  statt  der  Rezitativform**  ausschliessen. 


*  Vergl.  »Die  alte  Musiklehre  im  Streit  mit  unsrer  Zeit«  S.  51. 
**  In  der  That  hat  Bach  einen  ähnlichen  Text  (in  der  bei  Simrock  in  Bonn 


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408 


Das  Rezitativ. 


Und  nun  gehe  man  erst  auf  den  Inhalt  ernstlicher  ein.  Der 
Hauptton  der  ganzen  Kirchenmusik  und  namentlich  des  dem  Rezi- 
tativ vorausgehenden  Satzes  war  das  feurige,  kriegsfertige  Ddur. 
In  der  Parallele,  in  dem  trübheissen  tfmoll  tritt  der  eifernde,  dring- 
liche Bussredner  des  Rezitativs  auf,  und  zwar  innerhalb  des  vermin- 
derten Septimenakkords,  des  schwankend  beweglichen  Restes  aus 
dem  weitgetriebnen  bangen  kleinen  Nonenakkorde.  Hier  fällt  das 
»Erwäge  doch«  auf  Grundton  und  Septime,  die  aber  eigentlich 
Terz  und  None  sind,  das  »Kind  Gottes«  auf  die  ursprüngliche  Sep- 
time und  Quinte,  jeder  Ton  aus  dem  innersten  Gefühl  des  Worts, 
das  Ganze  in  mächtigen  Schritten  rasch  andringend,  das  »Kind 
Gottes«  hoch  erhoben,  wie  ein  weckender  Namenruf,  der  dir  deine 
höhere,  wahre,  einzige  Bedeutung  und  Bestimmung  als  Abwehr 
»wider  Welt  und  Sünde«  vorhält,  —  und  doch  wieder  liebreich 
gemildert  durch  den  Aufschritt  der  sanften  Sexte.  Der  folgende 
Textabschnitt  wendet  sich  in  das  schwülere  F/smoll,  dann  aber  mit 
heller  Zuversicht  des  Sieges  nach  />dur,  wobei  wir  die  zelotische 
Ereiferung  bei  den  Worten  »wider  Satans  Heer  und  wider  Welt 
und  Sünde«  nicht  übersehn  wollen. 

Es  ist  nicht  unsre  Absicht,  dem  mit  uns  Gehenden  die  Unbe- 
fangenheit und  erhöhte  Freude  eignen  Versenkens  und  Forschens 
durch  eine  erschöpfende  Zergliederung  zu  beeinträchtigen.  Die  we- 
nigen Andeutungen  genügen,  um  zu  bezeichnen,  wie  tief  und  durch- 
dringend hier  der  Geist  gewaltet  hat;  es  ist  in  der  That  auch  nicht 
eine  Note  anders,  als  nach  dem  innerlichsten  Gebot  der  Wahrheit 
gesetzt.  Wer  sich  erst  in  dieses  Meisterwerk  hineingesungen  und 
mit  Gefühl  und  Ueberlegung  hineinversetzt  hat ,  der  prüfe  nur  — 
ohne  Furcht  vor  dem  Namen  des  Tondichters,  durch  den  es  uns 
gegeben  worden,  —  ob  er  irgendwo  eine  Note  ohne  offenbare  Be- 
einträchtigung des  Inhalts  ändern  könnte. 

Zum  Schluss  noch  eine  allgemeinere  Bemerkung.  —  Wer 
dieses  Rezitativ  und  andre  Bach'sche  mit  derjenigen  Weise  des 
Rezitativs,  die  wir  durch  die  Mehrzahl  der  Kompositionen  (selbst 
der  vorzüglichsten)  gewohnt  worden,  vergleicht:  dem  kann  im 
ersten  Augenblick  die  Bach'sche  Weise  übertrieben  erscheinen. 
Und  ferner,  was  im  Grunde  dasselbe  ist,  —  wer  die  Bach'sche 
Redeweise,  wie  sie  sich  in  seinem  Rezitativ  ausprägt,  mit  der 
Redeweise  zusammenhält,  die  wir  in  den  gewöhnlichen  Lebensver- 
hältnissen an  uns  und  andern  gewahr  werden :  der  kann  zweifelhaft 
werden,  ob  jene  Bach'sche  Redeweise  natürlich,  ob  sie  mit  der 
Weise  der  natürlichen  Sprache  übereinstimmend,  ob  sie  nicht  viel- 


herausgegebnen  Kirchenmusik :  »Herr,  deine  Augen  sehen  nach  dem  Glauben«) 
in  eigenthümlicher  und  wunderwürdiger  Weise  als  Arie  behandelt. 


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Höhere  Beispiele. 


409 


mehr  baare  Uebertreibung  und  Unnatur  ist?  Dieser  doppelte  Zweifel 
beseitigt  sich,  sobald  man  nur  beherzigt,  wie  unendlich  weit  der 
Inhalt  und  Eifer  des  Bach'schen  Rezitativs  über  dem   in  den 
meisten  rezitativischen  Aufgaben  und  in  der  Überwiegenden  Masse 
alles  dessen,  was  im  gewöhnlichen  Leben  zur  Sprache  kommt, 
erhaben  und  überlegen  ist.    Die  felsenstarke  üeberzeugung  des 
gläubigen  —  und  der  Feuereifer  des  pflichtgetreuen  Seelsorgers, 
dem  jedes  Wort,  das  er  ja  nicht  aus  sich,  sondern  aus  dem  ge- 
heiligten Schatz  des  Evangeliums  und  der  auf  ihm  festgegründeten 
Kirche  spendet,  dem  also  jedes  Wort  eine  That,  ein  Schlag  ist  im 
Kampfe  gegen  das  Böse,  oder  ein  Siegesruf  zur  Weckung  und  Auf- 
richtung der  Schwachen  und  Verzagenden:  das  lebte  in  Bach  so 
stark  und  glühend  und  freudig,  wie  je  in  Luther  oder  einem  andern 
der  vorangeschrittnen  Glaubenshelden.  Von  jedem  Worte  ganz  er- 
füllt, legt  er  die  ganze  Macht  seines  Gemüths  in  jedes  Wort,  und 
so  spricht  es  uns  allerdings  unendlich  Tieferes  und  Reicheres  aus, 
als  die  Werkeltagstunde  der  gewöhnlichen  lauen  Stimmungen,  die 
sonst  wohl  unsern  Reden  und  Rezitativen  schlägt.  Hier  ist  nichts 
blosses  Wort  oder  Gleichniss,  alles  ist  baarer  wörtlicher  Ernst. 
So  ungestüm  mit  vorbewegten  Armen  und  Händen  und  weit  offnen, 
den  ganzen  Menschen  in  sich  aufnehmenden  Augen  dringt  der  Pre- 
diger mit  seinem  Anruf  zu  Anfang  auf  das  Beichtkind  ein,  wie  jene 
ersten  Noten,  die  wir  oben  erwogen.  So  beweglich  ist  ihm  selber 
bei  der  Erwähnung  Jesu,  als  seine  Stimm-  und  Bassmelodie  (Takt  3) 
es  zeigt.  So  muthig  und  stark  ist  ihm  bei  dem  verheissnen  Siege, 
und  so  ereifert  er  sich  mit  geflügelten,  übereilt  stürzenden  Worten 
bei  der  Erwähnung  des  Feindes;  ihm  und  seiner  Zeit  ist  »Satans 
Heera  kein  blosses  Gleichnisswort,  er  lässt  das,  was  das  Gleich- 
niss (wenn  es  ihm  eins  wäre)  uns  bedeuten  könnte,  das  »Welt 
und  Sünde«  gewichtvoll  nachfolgen  und  gönnt  sich  hier  keinen 
Ruhepunkt,  so  sorglich  genau  (aber  auch  bedeutungsvoll)  sonst, 
z.  B.  Takt  \  und  9,  für  die  Athemmomente  gesorgt  ist.  Und  eben 
so  gewiss  hoben  sich  ihm,  wie  er  »dein  Herz  den  Himmel  Gottes 
auf  Erden«  nannte,  Seele,  Blick  und  Haupt  und  beide  Arme  mit 
offnen  Händen  wie  zum  Anschaun  und  Empfangen  empor.  —  Hat 
man  zuerst  das  Rezitativ  so  geprüft,  dass  man  sich  den  Text  vor- 
gelesen und  danach  die  Komposition  beurtheilt :  so  kehre  man  nun 
die  Probe  um.  Man  versuche  —  ohne  absichtliche  Uebertreibunt: 
oder  Steifigkeit,  aber  mit  Muth  und  Hingebung  die  Worte  nach 
der  Andeutung  der  Noten  zu  lesen,  —  ohne  Scheu  vor  den 
durch  sie  gebotenen  weiten  Aufschwüngen  u.  s.  w. :  und  man  wird 
Überrascht  auf  eine  eifervolle  und  durchaus  dem  Inhalt  und  der 
Stimmung  des  Moments  getreue  Redeweise  geführt  sein,  die  man 
—  allerdings  nicht  für  seine  alltägliche,  wohl  aber  für  eine  dem 


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410 


Das  Rezitativ 


hohen  Standpunkte  jenes  Moments  ganz  natürlich  eigne  erkennen 
wird. 

Umgekehrt  folgt  aber  hieraus,  dass  es  noch  keineswegs  ein 
Vorwurf  ist,  wenn  die  meisten  Rezitative,  besonders  in  Opern, 
nicht  auf  der  Höhe  des  Bach'schen  Rezitativs  stehen.  Denn  wie 
ungleich  leichter  und  geringer  ist  bei  jenen  meistens  der  Inhalt  der 
Rede  und  die  Bedeutung  des  Moments !  Meistens  sind  sie  im  grös- 
sern Ganzen  nur  Uebergänge  von  einem  bedeutenden  Punkte  zum 
andern,  die  als  solche  gewissermassen  Augenblicke  der  Erholung 
nach  einem  vorangehenden  und  der  Sammlung  zu  einem  neuen 
Hauptmomente  bieten.  Sie  mit  solcher  Tiefe  und  Gewalt  aussprechen, 
wie  Bach's  Rezitative,  wär'  üebertreibung  und  Unwahrheit  und 
zugleich  eine  Zerrüttung  im  wohlbedachten  Bau  des  ganzen  Kunst- 
werkes,  in  dem  sich  wie  überall  die  Nebenmomente  den  Haupte 
momenten  unterordnen  müssen.  Ein  Grund  mehr,  das  Studium  des 
Rezitativs  bei  leichtern  und  gleichgültigem  Aufgaben  zu  beginnen 
(S.  398)  und  lange  festzuhalten. 


Vierter  Abschnitt. 
Das  begleitete  Rezitativ  und  das  Arioso. 

Sobald  das  Wesen  des  Rezitativs  erfasst  ist,  bedarf  sein  Ueber- 
gang  (oder  seine  Hinneigung)  zu  festerer  Form,  den  wir  schon  S.  390 
bezeichnet  haben,  nur  eines  Hinblicks,  keines  besondern  und  weit- 
geführten Einarbeitens.  Es  ist  vielmehr  rathsam,  so  lange  als  mög- 
lich an  der  Form  des  einfachen  Rezitativs  sich  genügen  zu  lassen 
und  von  der  selbständigem  Begleitung  nur,  wo  es  der  Sinn  des 
Ganzen  gebieterisch  fodert,  Gebrauch  zu  machen. 

Die  Schritte,  die  das  Rezitativ  über  seine  ursprüngliche  und 
einfachste  Weise  hinaus  thut,  sind  folgende. 

4.   Fortklingende  Begleitung. 

Die  Begleitung  hat  ursprünglich  nur  die  Singstimme  durch  An- 
deutung der  Harmonie  zu  stützen ;  so  ist  in  No.  404  und  402  ge- 
sehe Im.  Die  Harmonie  wird  hier  wie  überall  nicht  bedeutungslos 
bleiben,  aber  sie  macht  noch  nicht  Anspruch ,  anders ,  als  in  der 
Singstimme  zu  eigentlicher  Geltung  zu  kommen. 

Der  erste  Fortschritt  ist  nun  der,  dass  das  Dasein  der  Har- 
monie in  der  Begleitung  im  Gegensatz  zum  Gesang  hervortreten 
soll.  So  hat  es  Händel  schon  in  dem  kleinen  Rezitativ  No.  405 
gewollt.  Das  orgelpunktartige  Ausklingen  fesselt  die  Erwartung  und 


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Das  begleitete  Rezitativ  und  das  Arioso. 


411 


bereitet  auf  das  Nachfolgende  vor.  In  dem  Gluck'schen  Beispiel 
No.  406  dient  das  Fortklingen  der  Harmonie,  deren  Oberstimme 
meist  Über  der  Singstimme  liegt,  zur  Verschleierung  und  Milderung 
der  letztern.  Es  ist  ein  Karakte rzug,  der  erst  tiefer  nachwirkt  und 
gefasst  wird,  wenn  Klytemnästra  gleich  im  folgenden  Rezitativ  mit 
nackter,  harter  Stimme  — 


410 


j  "tu » 


II  faut  sau  -  vor  notre  gloi-re  of-fensee,  ma 





Iphigenie. 


)         fil  -  le  ,     il  faut  par-tir       ä  l'in  -  stant   de  ces  lieux,  Par- 


tir,  sans  voir  A  -  chil  -  le? 


6     Dieux ! 


t 

M 

17 


ff  r 


die  fröhlichen  Tänze  der  Jugend  zerreisst  in  der  Entrüstung  über 
Achilles'  vermeintlichen  Treubruch.  Der  herrische  Befehl:  Allez ! 
der  erste  Ausbruch  dessen,  was  die  Stolze  zuerst  fühlt  und  erkennt 
(» il  faut  sauver  notre  gloire  offenste*} ,  steht  nackt  und  hart  da, 
ohne  Zweifel,  ohne  Einspruch  des  Herzens,  ohne  Schleier.  Bei 
der  Wendung  an  die  Tochter,  die  hinweg  soll  aus  der  Nähe  des 
Geliebten,  fast  vom  Altar  des  süssen  Bundes,  scheint  sich  ein  leises 
Mitgefühl  wie  ein  Flor  in  den  fortklingenden  Akkorden  über  die 
Worte  zu  legen.  Iphigeniens  erste  Frage  tritt  im  ersten  Schreck 
eben  so  nackt  hervor;  sie  kann  nicht  fassen,  dass  Er  .  .  .  »de  qui 

tardeur  empressee«  diese  Worte,  vom  obigen  6  Dieux! 

an,  sind  wieder  von  der  fortklingenden  Harmonie  verschleiert.  In 
denselben  fortklingenden  Akkord  tritt  wieder  das  befehlerische  Wort 
der  weiblich  aufgeregten  Mutter: 

AchiUe  dtsormais  doii  vous  Hre  odieux. 


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412 


Dos  Rezitativ 


Nun  aber,  wenn  sie  in  ihrem  guten  Rechte  (denn  sie  ist  ohne 
Schuld  getäuscht)  fortfährt: 

Indigne  de  l'honneur,  promis  a  sa  tendresse,  dans  de  nouveaux 
liens  ses  voeux  sont  retenus. 

und 

Fuyons  la  honte  d'un  refus  et  ne  lui  montrons  point  une  Idche 
faiblesse. 

slehen  die  Worte  wieder  hell  und  bloss  zu  Tage,  Iphigeniens  Schmerz- 
ruf aber  — 

Qu'  entends  je  ?  6  ciel ! 
ist  von  der  Begleitung  verhüllt,  und  ihr  letztes 

Hölas ! 

fällt  auf  die  Schlussakkorde. 

In  einem  andern  und  doch  nahverwandten  Sinne  hat  S e b.  Bach 
den  Fortschritt  zu  mitklingenden  Akkorden  und  den  Gegensatz  von 
einfacher  Begleitung  geltend  gemacht.  In  seiner  Matthäi'schen  Pas- 
sion spricht  der  Evangelist,  dessen  Erzählung  den  Anhalt  aller  der 
bald  dramatischen,  bald  lyrischen  Momente  des  grossen  Ganzen  bildet, 
stets  (mit  einer  Ausnahme,  wenn  er  das  Erdbeben  und  die  Aufer- 
stehung der  Todten  bei  Jesu  Hinscheiden  erzählt)  im  einfachen  Re- 
zitativ ;  so  auch  die  andern  im  Rezitativ  Redenden  alle.  Nur  wenn 
Jesus  redet,  legen  sich  die  Akkorde  in  weiten  Lagen  (die  Geigen 
ganz  hoch)  und  leisem  Zug  der  Stimmen,  wie  ein  verklärender  und 
zugleich  umhüllender  Heiligenschein  um  die  Worte.  Wenn  er  aber 
am  Kreuze  ausruft: 

Mein  Gott,  mein  Gott!  Wie  hast  du  mich  verlassen! 

dann  ist  der  Heiligenschein  erloschen;  so  fehlt  er  auch,  wenn  dem 
Landpfleger  die  einzige  Antwort  wird,  die  er  erhalten  sollte. 

2.   Figurirte  Begleitung. 

Sobald  die  Begleitung  in  energischerer  Weise  fortwirken  soll, 
genügt  der  ruhig  ausgehaltene  Ton  oft  schon  deswegen  nicht,  weil 
er  in  solcher  Weise  auf  manchen  Instrumenten,  z.  B.  den  Streich- 
instrumenten und  dem  Klavier,  nicht  in  gleicher  und  voller  Kraft 
fortdauert.  Dann  tritt  also  schon  aus  äussern  Gründen  die  Not- 
wendigkeit der  Tonwiederholung  ein. 

Die  einfachste  Weise  ist  das  Tremolo,  die  schnelle  Tonwieder- 
holung ohne  nähere  oder  doch  ohne  für  sich  bedeutende  rhythmische 
Gliederung.  Ein  solches  Rezitativ  finden  wir  am  Schluss  der  ersten 
Scene  von  Gluck's  Iphigenie  in  Aulis.  Agamemnon  betet  zwischen 
Bangen  und  Hoffen  zu  den  Göttern  um  Rettung  der  Tochter,  hat 
aber  selber  schon  Vorsorge  getroffen,  ihre  Ankunft  im  Lager,  die 


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I 


Das  begleitete  Rezitativ  und  das  Arioso. 


413 


sie  dem  Opfertode  zuführen  würde ,  durch  List  zu  hindern.  Hier 
am  Schluss  seiner  Arie  (des  Gebets),  tritt  das  Rezitativ  ein,  — 


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son    fa  -  ta!    de -st  in      la   con  -  duit   en   ces  lieux, 


Ö  7  6 

5  *  5 

n'en  ne  peu(  /o  sawver  du  Iransport  homicide  de  Calchas  des  Grecs 
et  des  Dieux. 

und  wird  von  verbundnen  Akkorden,  in  den  Oberstimmen  im  Tre- 
molo, eingeleitet  und  durchweg  bis  zum  Schluss  begleitet.  —  Dass 
dieses  Beben  der  Instrumente,  nur  gezUgelt  durch  die  festern  Takt- 
streiche des  Basses,  mit  der  Stimmung  des  Vaters  sympathisirt,  der 
selber  die  Tochter  hat  herbeirufen  müssen  und  im  Zweifel,  ob  sie 
noch  gerettet  werde,  bebt,  wird  Jeder  von  selbst  gewahr. 

Aeusserlich  ganz  verschieden  und  doch  verwandt  ist  das  unter- 
brochne,  aber  gemessen  wiederholte  Anschlagen  der  Akkorde.  Schon 
am  Schlüsse  von  No.  410  hat  sich  diese  Form  gezeigt;  ausgebildeter 
finden  wir  sie  in  einem  andern  Rezitativ  Iphigeniens,  die  sich  eben- 
falls an  Achilles7  Treue  hat  zweifelhaft  werden  lassen  und  nun  beim 
ersten  Wiedersehn  den  Glauben  der  Liebe  wiederfindet.  — 


41* 


Mon  trouble  ,  mnt  ennnmM        mnn  ri^-nit.        ma  rinn- 


m 


mes  soupgons,      mon  dtf-pit,       ma  dou- 


r 


r 


FT 

8  8 


f 


leur,  tout  vous  a    prou  -  ve"    ma    len-dres  -  se. 


Das  Stocken  der  Beschämung,  das  Geständniss  der  scheu  sich 
verrathenden  Zärtlichkeit  lassen  hier  keine  ununterbrochne  Rede  zu, 


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414 


Das  Rezitativ. 


und  die  Begleitung  schliesst  sich  wie  die  Geberde  der  Rede  an, 
beide  von  gleichem  Gefühl  getrieben  und  gehemmt.  Auf  dem  Gipfel 
bei  dem  Hout  vous  a  prouve1«  tritt  ein  starker  Akkord  ein  und 
deckt  das  Geständniss. 

Selbständiger  bildet  sich  die  Begleitung  unter  andern  in  jenem 
Rezitativ  aus,  das  in  Händel's  Messias  nach  dem  in  No.  403  mit- 
getheilten  folgt.  Nach  der  Erzählung,  es  seien  Hirten  Nachts  auf 
dem  Felde  gewesen,  tritt  zu  den  rezitativischen  Worten: 

Und  siehe,  der  Engel  des  Herrn  trat  zu  ihnen  

die  hier  bei  A  — 


tiotirte  und  weiter  in  einem  vierten  Rezitativsatze  — 


Und  alsbald  war  da  bei  dem  Engel  die  Menge  der  himmlischen  Heer- 
schaaren   

die  bei  B  angegebne  Begleitung  (die  Oberstimmen  Geigen,  die  Un- 
terstimme Bratsche  und  Violoncell)  ein,  im  leisen  Wehen  das  Her- 
annahen der  Himmelsboten  und  ihr  schwebendes  Dasein  —  oder, 
wenn  man  dies  nicht  erkennen  will,  die  höhere  Erregtheit  bei  ihrer 
Erwähnung  andeutend. 

An  die  bisher  aufgewiesnen  Gestaltungen  knüpfen  sich  noch 
zwei  zu  bemerkende  Gegenstände. 

Zunächst  ist  klar,  dass  bei  den  bestimmten!  Figurationen  der 
Begleitung  die  Nothwendigkeit  eines  mehr  oder  weniger  scharf  zu 
beobachtenden  Taktmaasses  eintritt.  In  dem  Falle  von  No.  441  ist 
der  Takt  wenigstens  schärfer  bestimmt,  als  in  den  Beispielen  bis 
No.  440;  in  No.  442  muss  Begleitung  und  Gesang  schon  genlauer 
in  einander  greifen;  die  Begleitungen  in  No.  443  und  ähnliche 
fodern  festgemessene  Bewegung,  wenngleich  der  Gesang  innerhalb 
jedes  Akkordes  so  taktfrei  sich  ergehen  mag,  als  dem  Ausübenden 
und  Dirigirenden  Recht  scheint.  Wir  sind  also  bei  der  stufenweisen 
Ausbildung  der  Begleitung  zu  dem 

3.  taktmässigen  Rezitativ 

(recilativo  a  tempo)  gelangt. 

Sodann  hat  der  Zwischen  tritt  der  Begleitung  zwischen  Ab- 
schnitte der  Singstimme,  wie  wir  an  No.  440  und  442  beobachten 
können,  allerdings  seinen  eigentlichen  und  gerechten  Anlass  in  der 
Stimmung  und  den  Verhältnissen,  unter  denen  das  Rezitativ  her- 
vortritt. Aber  eine  andre  Seite  hiervon  ist  doch  auch  die,  dass 


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Das  begleitete  Rezitativ  und  das  Artoso. 


415 


durch  solchen  Zwischentritt  die  auch  im  Rezitativ  nicht  ganz  zu 
entbehrende  Ordnung  des  Taktes  (S.  389)  und  die  verständige  Glie- 
derung des  Textes  durch  Loslösung  seiner  Abschnitte  von  einander 
höchlich  befördert  wird.   Dies  wird  bewirkt,  indem 

4.  die  Begleitung  als  Zwischensatz 
zwischen  die  Abschnitte  des  Gesanges  tritt.   Schon  in  No.  410  ge- 
schieht dies  im  ersten  Takte  mit  vier  Akkorden.   Dasselbe  findet 
von  No.  442  an  statt;  nach  vier  Zwischenakkorden  geht  das  Re- 
zitativ weiter: 

Ah,  qu'il  vous  est  aisö  de  tromper  ma  faiblesset  

A  vous  croire  mon  coeur  n'est  que  trop  empressi. 

Der  in  No.  442  anhebende  Zwischensatz  trennt  und  verbindet 
das  Vorhergehende  und  das  hier  Folgende ;  ein  zweiter  Zwischensatz 
tritt  zwischen  die  beiden  Hälften  des  letzten  Textes. 

Auch  solche  Zwischensätze  können  in  selbständiger  Bedeutung 
mannigfacher  Art  den  Ideengang  des  Rezitativs  unterstützen.  Wenn 
z.  B.  in  unsrer  Iphigenie  endlich  das  Schicksal  sich  trotz  allem 
Widerstreben  zu  erfüllen  droht,  Iphigenie  selbst  sich  dem  Willen  des 
Vaters  und  der  Götter  kindlichfromm  unterworfen  und  die  Mutter 
der  Obhut  ihrer  Frauen  überlassen  hat;  erhebt  diese  sich  zum  Gipfel 
ihres  Karakters ;  dem  Gemahl,  dem  versammelten  Griechenland,  den 
Göttern  selbst  wird  sie  die  Tochter  streitig  machen.  Mit  gewaltig- 
stem Ausbruche,  im  höchsten  Tone  der  Leidenschaft  ruft  sie,  — 


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Dieux  puissans,    que  j'at  -  te-ste!  non,  je  ne  le  souffri  -  rai 


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416 


Das  Rezitativ 


und  gewaltsam  reisst  nach  ihrem  Nein !  das  Orchester  hinein ,  wie 
die  Fürstin  sich  den  hemmenden  Armen  des  Gefolges  entreissen  und 
der  Tochter  nacheilen  will  zum  Altar.   Durch  das  Folgende : 

Privte-moi  du  jour,  que  je  de'teste,  —  dans  ce  sein  maternel  —  en- 
fonctz  le  couteau,  —  et  qu'au  pied  de  lautet  funeste  —  je  trouve  du 
moins  mon  tombeau  — 

kehren  bei  jedem  Absätze  diese  Schläge  des  Orchesters  wie  wissen- 
der Seelenschmerz  wieder,  bis  bei  den  Worten 

Ah,  je  succombe  ä  ma  douleur  mortelle! 

Klytemnästra  besinnungslos  niedersinkt.  Das  Orchester  schliesst  mit 
zwei  dürren  Akkorden  in  //moll. 

Nun  scheinen  Rufe  im  Orchester  und  seufzende  Accente  den 
Moment  des  Todesopfers,  das  sich  bereitet,  naher  zu  rücken.  — 

Moderato.  ^________________. . 

bis 


Es  ist  hiermit  ein  neuer  Moment  und  ein  neuer  Seelenzustand 
für  Klytemnästra  eingetreten.   Sie  erwacht  aus  der  Betäubung  — 

f^—         „  PP 


3 


4*6 


Ma  til-le! 


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vois  sous  le    fer  in-hu-main 

zu  dem  Anblick  dessen,  was  ihrer  Tochter  bevorsteht,  bis  die  Kraft 
der  Mutter  aus  der  Mutterangst  neu  ersteht.  Das  Weitere  gehört 
nicht  hierher.  —  Hier  bietet  sich  also  die  Begleitung  zu  wieder- 
holten Zwischensätzen  und  hat  in  ihnen  zwei  oder  drei  verschiedne, 
aber  für  die  Scene  höchst  bedeutsame  Vorstellungen  gezeichnet.  Die 
Handlung  selbst  würde  ohne  diese  Zwischensätze  gar  nicht  darstell- 
bar sein,  aber  auch  das  Seelenbild  würde  ohne  jene  nur  durch  die 
Begleitung  ausführbaren  Züge  durchaus  unvollständig  bleiben. 
Zuletzt  ist  noch 

5.  das  Arioso, 
der  vorübergehende  Eintritt  fester  geformten  Gesangs  in  das  Rezi- 
tativ, zu  erwähnen. 


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Das  begleitete  Rezitativ  und  das  Arioso.  417 

Von  der  allgemeinen  musikalischen  Stimmung,  die  bei  jedem 
Rezitativ  vorausgesetzt  wird,  bis  zu  einer  bestimmtem  und  darum 
auch  bestimmtere  musikalische  Gestalt  fodernden  Stimmung  ist  oft 
nur  ein  kleiner  Schritt,  Daher  treten  kleine  Regungen  dieser  Art 
Läufig  mitten  im  Lauf  eines  Rezitativs  gleichsam  unabsichtlich  her- 
vor, z.  R.  in  No.  409  bei  dem  Wort  »Wüste  a  und  noch  bedeu- 
tender im  dritten  Takte.  In  den  meisten  Fällen  aber  wird  erst 
durch  den  Verlauf  und  daher  am  Schlüsse  des  Rezitativs  die  Stim- 
mung zu  feslerer  Form  erhoben,  und  erst  diese  Sätze  pflegen  durch 
den  Namen  Arioso  ausgezeichnet  zu  sein.  Als  Reispiel  stellen  wir 
liier  das  Arioso  zu  dem  in  No.  409  gegebnen  Rezitativ  her.  — 


Chri-sti  Geist  mit  dir  sich  fest    ver-bin      -      -        de,  mit 


dir  sich  fest  ver-bin      -       -      de,  sich  fest  ver-bin- 


ä 

de. 

1  

Dass  die  Vermahnung  des  Rezitativs  zu  festester  Zuversicht 
hinleite,  dass  diese  Zuversicht  im  Prediger  zuletzt  sich  unerschüt- 
terlich und  mächtig  erweise,  ist  so  natürlich,  als  dass  sie  dann 
auch  in  der  Musik  feste  Form  annehme.  So  bildet  sich  also  mit 
Nothwendigkeit  der  Satz  von  Anfang  bis  in  den  dritten  Takt  aus, 
dessen  Tonfolge  zwar  im  Allgemeinen  dem  Wortausdruck  so  getreu 
folgt,  wie  im  freien  Rezitativ,  aber  schon  durch  scharfe  Gemessen- 
heit des  Taktes  und  das  rein-musikalische  Tonmotiv  bei  dem  Wort 
»verbinde«  Uber  die  Gränze  der  bloss  zur  Musik  erhobnen  Rede- 
weise (des  Rezitativs)  hinausgeht.  Dieser  Satz  wird  ganz  und 
Theile  von  ihm  werden  noch  zweimal  wiederholt.  Auch  die  natür- 
liche Rede  kennt  Wiederholungen,  und  das  freie  Rezitativ  kann  sie 
nachbilden.  Aber  sie  sind  weder  so  umfassend,  noch  bedürfen  sie 
der  Mehrmaligkeit;  denn  die  Rede  ist  schon  ohnedem  sicher,  in 
jedem  Wort  ihres  Inhalts  schnell  und  deutlich  verstanden  zu  wer- 
den, während  die  Gemüthstimmung  sich  auslassen,  voll  ergiessen 
und  an  ihrem  eignen  Ausdruck  ersättigen  will,  mithin  —  wo  sie 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aull.  27 


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418 


Das  Rezitativ. 


über  das  Wort  hinaus  zur  vollen  Herrschaft  kommt  —  die  grössere 
Ausführlichkeit  der  Musik,  die  wir  Uberall  kennen  gelernt,  bedingt. 

Einer  eigentümlichen  Anwendung  des  Arioso  ist  hier  noch  zu 
gedenken,  wenngleich  wir  sie  seit  Seb.  Bach  nirgends,  —  oder 
doch  nirgends  in  so  bestimmter  Gestaltung  wieder  gefunden. 

Es  finden  sich  nämlich  bei  jenem  Meister,  namentlich  in  seiner 
Matthäischen  Passion,  öfter  Sätze,  die  er  als  Rezita tive  bezeich- 
net. Der  Gesang  wird  in  ihnen  von  einer  oft  so  eigen  gezeichneten 
und  reich  benutzten  Begleitung  getragen,  —  wir  geben  hier  ein  Paar 
Begleitungsmotive,  — 


dass  der  Satz  ohne  Frage  taktmässig  vorgetragen  werden  muss. 
Dabei  herrscht  in  der  Singstimme  zwar  der  Redeausdruck  vor, 
neigt  sich  aber  bei  jedem  Anlass  den  bestimmtem  musikalischen 
Motiven  zu.  Diese  Motive  werden  nicht  nach  der  Weise  musika- 
lischer Formen  durchgeführt,  es  entsteht  kein  Lied  (wie  wir  es 
aus  Th.  II,  S.  48,  kennen),  keine  Arie  (vielmehr  folgt  eine  Arie 
in  der  Regel  für  dieselbe  Stimme  nach),  sondern  eine  Mittelform 
zwischen  dem  freien  Rezitativ  und  dem  Liede,  die  vom  erstem  den 
Inhalt,  vom  letztern  die  festere  Form  und  selbständige  Abschlies- 
sung,  wenn  auch  nicht  die  Einheit  der  Tonart  an  sich  hat,  mit 
letzterer  aber  sich  auch  vom  eigentlichen  Arioso  unterscheidet,  das 
nur  ein  ungetrennter  Theil  eines  Rezitativs  ist.  —  Mit  dieser  Mitte  1- 
oder  Mischform  ist  also  die  Kunstform  des  Rezitativs 
systematisch  abgeschlossen,  denn  in  ihr  geht  sie  zu  andern  For- 
men über.* 

Ueberblicken  wir  nun  alle  aus  dem  einfachen  Rezitativ  hervor- 
gegangnen  Formen,  so  erkennen  wir  jede  in  ihrer  Notwendigkeit 
für  die  mannigfachen,  dem  Rezitativ  eignen  oder  sich  aus  ihm  ent- 
wickelnden Ausdrucksweisen.  Aber  wir  tiberzeugen  uns  zugleich, 
dass  das  für  Belehrung  und  Ausbildung  zunächst  und 
hauptsächlich  Wichtige  das  einfache  Rezitativ  bleibt. 
In  ihm  lernen  wir  musikalisch  sprechen,  und  zwar  ist  es  nur  die 
reine  musikalisch  gewordne  Rede,  die  es  bietet,  die  wir  aber  als 
etwas  bis  jetzt  uns  ganz  Neues  und  nirgend  so  unbedingt  rein 
Wiederkehrendes  als  vorzüglichen  Gegenstand  für  unsrc  Ausbildung 
anzuerkennen  haben.  Dagegen  ist  alles  Weitere,  —  die  Bildung 
von  Sätzen,  die  Durchführung  musikalischer  Motive,  das  Liedför- 


*  Zu  bestimmterer  Anschauung  geben  wir  als  Beilage  I  eins  dieser  Re- 
zitative  im  Klavierauszug. 


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Anhang. 


419 


mige,  —  iheils  schon  anderweit  gewonnen  worden,  theils  wird  es 
noch  anderswo  und  günstiger  zur  Uebung  kommen.   Somit  kehren 
'  wir  also  auf  den  Rath  (S.  398),  das  einfache  Rezitativ  hauptsächlich 
zu  Üben,  ernstlich  zurück.* 


Anhang. 

Bei  der  Lehre  vom  Rezitativ  haben  wir  bis  jetzt  ohne  Weiteres 
angenommen ,  es  werde  von  einer  einzelnen ,  von  einer  S  o  1  o-S  limme 
gesungen.  Nach  unsrer  Weise,  stets  vom  Einfachsten  auszugehn 
und  jede  Lehre  und  jeden  Lehrbegriff  erst  in  dem  Augenblick  ein- 
zuführen, wo  sie  auch  sogleich  zur  Anwendung  kommen  könnten, 
durften  wir  Sologesang  als  das  Einfachste  voraussetzen  und  dürfen 
wir  auch  noch  jetzt  die  Feststellung  des  Begriffs  vom  Chorgesang 
bis  zu  dem  Moment,  wo  er  in  das  Leben  tritt,  verschieben.  So 
viel  ist  schon  bekannt,  dass  eine  Chorstimme  von  mehrern  oder 
vielen  einzelnen  Sangern,  die  dieselbe  Weise  vorzutragen  haben, 
gleichzeitig  gesungen  wird;  und  einleuchtend  ist,  dass  der  Verein 
verschicdner  Chor-  oder  Solostimmen  zu  gleichzeitigem  Gesang  eine 
taklinässig  festgeordnete  Komposition  bedingt. 

Auch  ohne  tieferes  Eingehn  abzuwarten,  wird  man  erkennen, 
dass  das  Wesen  des  Rezitativs  den  Sologesang  bedingt.  Bei  der 
Verschiedenheit  menschlicher  Karaktere,  Gefühlsweisen,  Vorstellungen 
u.  s.  w.  kann  eine  Anzahl  von  Individuen  wohl  in  einem  allgemeinen 
Gedanken  oder  einer  allgemeinen  Stimmung  übereinkommen,  nicht 
aber  in  allen  Einzelheiten  einer  Reihe  von  Vorstellungen.  Im  erstem 
Fall  ist  also  vermöge  des  Zusammenstimmens  auch  Zusammensingen 
möglich;  es  entsteht  dann  Chor-  oder  Ensemblegesang,  und  zwar 
—  gemäss  dem  Inhalt  —  in  irgend  einer  festern  Kunstform.  Im 
andern  Falle  ist  Zusammensingen  vernünftiger  Weise  eben  so  un- 
denkbar, als  die  Uebereinstimmune  in  allen  von  Wort  zu  Wort 
eintretenden  Vorstellungen;  folglich  kann  hier  nur  Sologesang  ein- 
treten, und  zwar  in  der  Form  des  Rezitativs. 

Demungeachtet  ist  von  einem  neuern  Meister  ein  Chor-Re- 
zitativ gewagt  worden,  von  Spontini.**  In  seinem  Fer- 
dinand Cortez,  bei  der  Empörung  des  Heeres  gegen  den  Helden, 
erschien  dem  Ungestüm  seines  grossartigen  napoleonischen  Karakters 
die  mürrische  Beschwerde  im  Munde  Einzelner  zu  gewichtlos,  auch 
materiell  zu  matt  im  Verhültniss  zu  den  vorangehenden  und  nach- 
folgenden Schlägen.  Er  Hess  diese  Sätze,  die  einen  rezitativischen 
Dialog  bilden,  von  vier  und  vier  Individuen  vortragen.  Dem  Wesen 


*  Hierzu  der  Anhang  P« 
**  Dass  —  und  mit  welchem  Recht  andre  Komponisten  diese  Form  nachge- 
braucht haben,  kommt  in  der  Musikwissenschaft  zur  Prüfung. 

27* 

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420 


Das  Rezitativ. 


des  Rezitativs  als  der  freien  Musiksprache  ist  dies  wohl  fremd  zu 
erachten,  weil  das  Miteinandersprechen  verschiedner  Individuen  in 
derselben  Weise  für  jeden  Einzelnen  die  Freiheit  aufhebt.  Was 
hier,  abgesehn  von  dem  mächtigen  Wollen  eines  so  eigentümlich 
und  grossarlig  schaffenden  Künstlers,  —  das  wenigstens  subjektive 
Berechtigung  hat,  —  für  den  Komponisten  spricht,  ist  der  beschränkte 
soldatische  Gesichtskreis,  die  dem  Soldaten  auch  geistig  anwachsende 
Uniform,  die  das  Individuelle  und  die  Freiheit  des  Subjekts  aufgehn 
lässt  im  esprit  de  cor/w,  so  dass  ganze  Rotten  (im  soldatischen  Sinn 
des  Worts)  wie  Ein  Mann  auftreten.  Es  kann  und  soll  dies  keine 
Rechtfertigung  einer  —  wie  uns  scheint  —  an  einem  inner- 
lichen Widerspruch  leidenden  Gestaltung  sein,  —  sondern  nur  dazu 
dienen,  mit  dem  Widerspruch,  so  weit  es  angeht,  zu  versöhnen. 

Es  ist  dies  eine  von  den  Gestaltungen,  die  ihr  Recht  —  so  viel 
sie  dessen  haben  —  nur  aus  der  Eigentümlichkeit  ihres  Schöpfers 
und  den  ihn  bewegenden  besondern  Verhältnissen  herleiten,  deren 
Nachahmung  oder  Wiederholung  von  Andern,  ohne  diese  Eigenthüm- 
lichkeit,  ohne  den  Adelsbrief  der  Originaliliit,  um  so  weniger  zu 
rathen  und  zu  billigen  wäre. 


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Dritte  Abtheilung. 


Die  Liedform. 

Das  Rezitativ  war  die  geeignete  Form  für  solche  Texte,  die 
zwar  durch  ihren  Inhalt  (oder  auch  nur  durch  ihr  Verhältnis»  als 
Theile  eines  grössern  musikalischen  Ganzen)  sich  in  die  Sphäre  der 
Musik  erhoben ,  aber  noch  nicht  zu  einer  der  festen  Musikformen 
gelangen  konnten,  weil  sie  keine  feststehende  Stimmung  an  sich  hatten, 
durch  die  ein  bestimmter  musikalischer  Ausdruck  möglich  geworden 
wäre.  Daher  musste  sich  die  Musik  dem  Wort,  der  Rede  in  allen 
ihren  einzelnen  Momenten  bei-  und  unterordnen.  Für  das  Wort, 
für  jeden  einzelnen  Zug  wurde  sie  bedeutend,  und  allerdings  ver- 
breitete sich  von  da  aus  auch  eine  allgemeine,  dem  Sinn  des  Textes 
im  Ganzen  entsprechende  Stimmung.  Aber  nicht  diese  war  ihr 
wesentliches  Ziel,  sondern  jener  Einzelausdruck;  das  Allgemeine 
ergab  sich  beiläufig,  so  weit  es  eben  ging ;  das  Besondre  von  Moment 
zu  Moment  war  die  eigentliche  Kraft  der  Komposition. 

Jetzt  kehrt  sich  das  Verhältniss  um.  Ein  Text,  z.  B.  ein  Ge- 
dicht bietet  uns  in  seinem  ganzen  Zusammenhang  feste  ftlr  Musik 
geeignete  Stimmung,  während  seine  Einzelheiten  entweder  für  be- 
stimmte musikalische  Auffassung  durchaus  nicht  geeignet  sind,  oder 
doch  für  dieselbe  einen  weniger  günstigen  Stoff  bieten,  als  die  Stim- 
mung, der  Seeleninhalt  des  Ganzen. 

In  diesem  Fall  ist  es  die  Stimmung  des  Ganzen,  die  der  Kom- 
position zur  Aufgabe  wird.  Diese  Stimmung  ist  dann  ein  fester,  be- 
stimmt zu  fassender  Gegenstand;  es  ist  Freude,  und  zwar  kindliche, 
oder  Naturfreude,  sanfte  oder  stürmischer  erregte,  —  oder  es  ist 
Trauer,  Wehmuth,  Zärtlichkeit  u.  s.  w.t  —  oder  der  Uebergang  aus 
einem  dieser  Gemüthzustände  in  den  andern,  die  Folge  zweier  Zu- 
stände, —  also  wieder  ein  in  sich  einiger  und  darum  bestimmt  zu 
fassender  Moment  des  Seelenlebens.  Und  weil  die  Stimmung,  die 
den  eigentlichen  oder  vornehmsten  Inhalt  des  Gedichts  ausmacht,  eine 
bestimmte  ist:  so  ruft  sie  auch  in  der  Komposition  eine  bestimmte 
Form,  —  weil  sie  eine  einfache  ist,  ruft  sie  eine  einfache  Form 
hervor.  Die  bestimmte  und  einfache  Form  der  Musik  ist  aber,  wie 
wir  wissen,  Satz,  Periode,  Liedform;  —  im  Gegensatz  zu  der 
unbestimmten  Form  des  Gangs  (und  Rezitativs,  wie  wir  jetzt  zu- 
setzen können)  und  den  zusammengesetzten  Formen  des  Rondo  u. s.w., 
die  wir  einstweilen  nur  als  Instrumentalformen  kennen  gelernt. 


422 


Die  Liedform. 


Die  Stimmung  ist  ein  allgemeines  Element.  In  ihr  können 
daher  verschiedne,  viele  Individuen  übereinkommen.  Hieraus  folgt, 
dass  die  Liedform  ebensowohl  für  Ein  Individuum  (einen  Solo- 
sänger), als  für  mehrere  gleichzeitig  wirkende  Einzelne 
(Solostimmen),  als  endlich  für  verbundne  Massen  (Chor)  geeignet 
sein  kann.  Mehrere,  ganze  Massen  können  gleichzeitig  von  Freude, 
Schmerz  —  und  zwar  von  diesem  bestimmten  Schmerz  u.  s.  w.  er- 
griffen werden,  mithin  in  dem  allgemeinen  Ausdruck  des  gemein- 
samen Gefühls  übereinkommen,  das  heisst,  auf  Musik  Übertragen,  ein 
Lied  mit  innerer,  psychologischer  Wahrheil  gemeinsam  singen.  Im 
Einzelnen  hingegen,  wenn  auf  dasselbe  vorzugsweise  Gewicht  gelegt 
werden  sollte,  würden  sie  auseinandergehn,  es  würde  sich  sogleich 
die  Verschiedenheit  der  Einzelnen,  —  von  denen  der  eine  lebhafter, 
der  andre  träger  ist,  der  eine  diesen,  der  andre  jenen  Punkt  leben- 
diger auffasst  u.  s.  vv. ,  geltend  machen,  und  ein  Zusammenbleiben 
mit  psychologischer  Wahrhaftigkeit  nicht  denkbar  sein,  wie  S.  449 
in  Bezug  auf  das  Rezitativ  angedeutet  worden. 

Wir  haben  uns  zuerst  mit  dem  Lied  für  eine  einzelne  Stimme, 
dann  mit  der  Liedkomposition  für  mehrere  und  Chor  zu  beschäftigen. 
Die  für  beide  Gattungen  des  Lieds  bestimmte  Liedform  selbst  ist 
von  ihrer  rein-musikalischen  Seite  bereits  aus  Th.  II,  S.  48,  be- 
kannt. Wie  eine  Komposition,  und  so  auch  ein  Lied,  den  bestimmten 
Ausdruck  einer  vorgesetzten  (vom  Gedicht  angeregten)  Stimmung 
haben  könne,  wie  ferner  ein  Gedicht  nach  seinem  gesammten  — 
und  besonders  auch  nach  seinem  Gefüblsinhalt  zu  verstehen:  das 
alles  fällt  ausserhalb  des  Gebiets  der  Kompositionslehre.  Naturell 
und  allgemeine  Bildung  müssen  den  Komponisten  über  den  Sinn 
seines  Gedichts  aufklären ;  eignes  Gefühl  und  die  zum  eignen  Er- 
lebniss  gewordne  Kenntniss  vom  Wesen  der  Musik,  —  dann  der 
Zusammendrang  aller  Kräfte  im  schöpferischen  Augenblick  müssen 
ihm  die  Weisen  des  Ausdrucks  erschliessen.  Die  Kompositionslehre 
zeigt  bloss,  wie  er  das,  was  in  ihm  ist,  zur  Gestalt  zu  bringen  hat. 

Hier  also  —  wo  auch  diese  Gestalt  wenigstens  abstrakt  schon 
bekannt  ist  —  bleibt  der  Lehre  nur  wenig  zu  thun.  Sie  hat  nur 
nachzuweisen,  welche  Gedichte  —  und  wie  diese  Gedichte  in  Musik, 
und  zwar  in  Liedform  zu  übertragen  sind.  Die  Lehre  hat  eine 
leichte,  der  Komponist  eine  unerschöpfliche  Aufgabe. 


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Der  Liedtext. 


423 


Erster  Abschnitt. 
Der  Liedtext. 

A.  Der  Inhalt  desselben. 

Aus  den  Vorkenntnissen  (S.  368)  ist  uns  schon  klar  geworden, 
welche  Texte  überhaupt  für  Musik  geeignet  sind.  Wir  setzen  also 
hier  einfach  zu:  dass  ein  Uberhaupt  musikalischer  Text  seinem  In- 
halt nach  dann  für  Liedkomposition  geeignet  ist,  wenn  die  allgemeine 
aus  ihm  sprechende  Stimmung  ein  überwiegendes,  der  Inhalt  in  seinen 
Einzelheiten  aber  ein  untergeordnetes  Interesse  bietet,  wenn  diese 
Einzelheiten  nicht  sowohl  um  ihrer  selbst,  als  um  der  durch  sie  und 
in  ihnen  angeregten  Stimmung  willen  aufgefasst  und  zur  Sprache 
gebracht  worden  sind. 

An  dem  Goethe'schen  Nachtgesang  — 

0  gieb,  vom  weichen  Pfühle, 
Träumend,  ein  halb  Gehör! 
Bei  meinem  Saitcnspicle 
Schlafo!  was  willst  du  mehr? 

Bei  meinem  Saitenspiele 

Segnet  der  Sterne  Heer 

Die  ewigen  Gefühle  ; 

Schlafe!  was  willst  du  mehr?  u.  s.  w. 

können  wir  uns  dies  Verhaltniss,  das  die  Liedkomposition  begrün- 
det, zu  festerer  Anschauung  bringen.  Was  einzeln  darin  erwähnt 
wird,  —  der  weiche  Pfühl,  das  Saitenspiel,  der  Sterne  Heer,  — 
das  sind  nur  einzelne  Striche  und  Farbenpunkte  zu  dem  Bilde  der 
Geliebten,  die  sich  der  Sänger  im  Schlummer  auf  weichem  Pfühle, 
träumend  unter  den  halbvernommnen  Klängen  seines  Spiels,  vor- 
stellt.   Aber  auch  dieses  Bild  ist  nicht  der  Kern  des  Inhalts,  das 
eigentliche  Leben  und  Herz  des  Liedes ;  die  süsse,  liebesandächtige 
Hinneigung  seiner  Seele  ist  es,  die  den  Sänger  erfüllt,  die  jene 
Vorstellung  der  Schlummernden  erst  geschaffen  oder  ihr  erst  die 
wahre  Bedeutung  gegeben,  und  nur  um  ihrer  selbst  willen  alle  das 
Bild  vollendende  Einzelheiten  gewahr  geworden  ist  und  ausgesprochen 
hat.    Dies  ist  so  entschieden ,  dass  der  Dichter  selbst  seinem  Ge- 
dicht musikalische  Weise  gegeben  hat.    Die  letzte  Strophe  klingt 
(als  Refrain)  wie  ein  musikalisches  Motiv  immer  wieder  an;  die 
dritte  jedes  Verses  kehrt  bei  dem  folgenden  Vers  als  erste  wieder 
(der  dritte  Vers  z.  B.  beginnt  »die  ewigen  Gefühle«),  und  so  ver- 
einigt sich  Alles,  um  das  Ganze  zu  einem  stillbewegt  dahinfliessenden 
Erguss  zu  verschmelzen. 


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424 


Die  Liedform. 


Man  vergleiche  diesen  Text  mit  einem  rezitativischen,  z.  B. 
mit  dem  Bach'schen  aus  No.  409  und  417,  so  werden  Rezitativ 
und  Lied  sich  gegenseitig  erläutern.  Auch  im  Rezitativ  kann  eine 
allgemeine  und  einheitvolle  Stimmung  walten  ;  in  jenem  Bach'schen 
z.  B.  der  ernstliche,  zuversichtvolle  Eifer  des  Ermahnenden.  Allein 
es  würde  wenig  gethan  sein,  wenn  man  in  der  Komposition  nur 
diesen  Grundton  des  Ganzen  träf;  es  ist  wichtig,  die  einzelnen 
Momente  des  Textes  mit  Energie  zur  Sprache  zu  bringen.  Das  ist 
die  eigentliche  Aufgabe  des  Komponisten,  die  Stimmung  des  Ganzen 
tritt  aus  der  richtigen  Auffassung  des  Einzelnen  von  selbst  hervor. 
In  jenem  Liede  dagegen  kann  der  Musik  gar  nichts  darauf  ankom- 
men, die  Einzelheiten  hervorzuheben,  die  nur  Mittel  zum  Zweck 
sind;  ja,  sie  ist  ganz  unfähig,  sich  hierauf  einzulassen ; das  Heer  der 
Sterne,  der  weiche  Pfühl  sind  Gegenstände  für  das  Vorstellungs-, 
nicht  für  das  Gefühlsvermögen .  Hier  tritt  als  Hauptsache  und  als 
das  der  Musik  allein  Erreichbare  die  Stimmung  des  Sängers,  die 
Seele  des  Gedichts  hervor. 

Blicken  wir  hier  noch  einmal  auf  Mendelssohn's  (und  der 
andern  S.  380  Genannten)  Kompositionen  klassischer  Gedichte  zu- 
rück, so  linden  sich  dieselben  hauptsächlich  in  Liedform  gesetzt;  es 
hat  also  die  allgemeine  Stimmung  des  Gedichts  anklingen  sollen. 
In  der  That  war  dies  noch  die  einzige  künstlerisch  mögliche  — 
einen  künstlerischen  Eindruck  zulassende  Weise  der  Auffassung,  da 
jene  Gedichte  (namentlich  die  Chöre  der  Tragödie)  in  den  einzelnen 
Momenten  keine  oder  höchst  seltene  Anregung  ßtr  Musik  bieten. 
Daher  kann  die  Formwahl,  wenn  einmal  komponirt  werden  musste, 
nicht  zum  Vorwurf  —  und  im  Auge  des  sachkundig  Nachdenkenden 
ebensowenig  zu  besonderm  Verdienst  gereichen ;  sie  war  eine  un- 
vermeidliche.* Allein  eben  so  unvermeidlich  war  nun  die  Beiseit- 


*  Wie  die  Griechen  selber  ihre  Chöre  aufgeführt,  gehört  nicht  hier- 
her (Einiges  hat  der  Verf.  darüber  in  seinen  Artikeln  über  griechische  Musik 
im  Universallcxikon  der  Tonkunst  gesagt,  mehr  wird  an  einem  andern  Orte 
folgen),  wo  es  bloss  darauf  ankommt,  zu  erörtern,  welches  Yerhaltniss  u  n  s  rc 
heutige  Musik  zur  Dichtkunst,  zu  den  sich  ihr  darbietenden  Texten  haben 
kann.  Hierzu  gaben  klassische  Gedichtsatze  schlagende  Beläge  und  Lehren; 
zugleich  schien  es,  wie  gesagt,  nothwendig,  einer  Verirrung  so  manches  talent- 
vollen Kunstgenossen  warnend  entgegen  zu  treten,  die  darin  besteht,  die  Kom- 
position unkomponirbarer  Gedichte  (verführt  von  ihrem  absoluten  dichterischen 
Werth  und  vielleicht  ihrer  Neuheit  für  Musik)  zu  unternehmen  und  damit  beide 
Künste  und  sein  eignes  Talent  in  ungünstige  Lage  zu  bringen.  —  Die  Gunst 
und  der  Ruhm,  die  namentlich  der  Mendelssolm'schen  Antigone  gespendet 
worden,  kann  (wie  überhaupt  der  Erfolg)  ein  auf  das  Wesen  der  Sache  sich 
gründendes  ürtheil  nicht  erschüttern,  sondern  nur  die  Pflicht  eindringlicher 
Prüfung  unerlösslicher  zeigen.  Es  ist  in  dieser  und  andern  Richtungen  von  allen 
Seiten  —  von  Schaffenden  und  Aufnehmenden  —  dem  Gefühl  unsrer  Zeit,  der 


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Der  Liedtext. 


425 


Schiebung  und  Verdunkelung  des  besondern  Inhalts,  aller  dieser  tief 
gefassten  und  tief  ergreifenden  Anschauungen,  Erinnerungen,  Ge- 
danken, deren  reicher  Strom  dem  Hörer  allzuviel  Theilnahme  und 
Mitthätigkeit  abfodert,  als  dass  nicht  das  Untertauchen  in  die  allge- 
meinstimmende  Weise  eine  Beeinträchtigung  des  Gedichts  —  und 
wiederum  das  Herleihen  der  Musik  zu  so  untergeordnetem  und 
missgenügendem  Dienst  ein  Unrecht  an  dieser  Kunst  genannt  wer- 
den müsste,  die  in  ihrer  rechten  Sphäre  ganz  Andres  vermag. 

Jenes  Goethe'sche  Gedicht  nun  stellt  sich  als  eine  unzwei- 
deutige Aufgabe  dar;  der  Dichter  selbst  hat  es  durch  die  musika- 
lische Form  bekräftigt.  In  andern  Fällen  kann  es  zweifelhafter  sein, 
ob  ein  Gedicht  Uberhaupt  Musik  fodere  und  ob  nicht  das  Einzelne 
ein  eben  so  grosses  Recht  auf  den  musikalischen  Ausdruck  habe,  als 
die  allgemeine  Stimmung,  oder  gar  ein  überwiegendes.  So  spricht 
sich  z.  B.  in  einem  andern  Goet he'schen  Gedichte,  dem  andern 
kophtischen,  das  der  Dichter  unter  die  »geselligen  Lieder« 
stellt,  ein  männlich-rüstiger,  seiner  selbst  behaglich  sicherer  Sinn 
aus.   Allein  der  Inhalt  selbst,  in  allen  einzelnen  Momenten, 

Geb  !  gehorche  meinen  Winken, 

Nutze  deine  jungen  Tage, 

Lerne  zeitig  klüger  sein! 

Auf  des  Glückes  grosser  Wage 

Steht  die  Zunge  selten  ein;  u.  s.  w. 

fällt  nicht  in  das  musikalische,  sondern  in  das  Gebiet  der  Reflexion, 
die  sich  der  Form  nach  als  Lehre  des  welterfahrnen  Mannes  für  den 
Jüngling  ausspricht.  Wiederum  in  jenem  unsterblichen  Gedicht,  das 
ein  Grundstein  genannt  werden  mag  für  die  Philosophie  der  Kunst 
und  den  Glauben  des  Künstlers  (im  Westöstlichen  Divan),  — 


drangvollen  Ahnung :  dass  ein  Fortschritt,  dass  Neues  kommen  müsse,  Folge 
gegeben.  Und  da  geschieht  es  wohl,  dass  man  Verirrung  für  Vorwärtsschritt 
und  Hervorholen  des  einstmals  Lebendig-  und  Herrlich-Gowesncn,  für  uns  aber 
durchaus  Unlcbensfähigcn  für  das  verheissne  Neue  hält,  währen»!  das  wahrhafte 
Neue,  der  Lebensfunke  eines  heilem  und  herrlichem  Morgen,  entweder  wirk- 
lich noch  nicht  entzündet  ist,  oder  übersehen  und  misskannt  fortglimmt,  bis  die 
Augen  »wacker  geworden  sind,  zu  schauen«.  Denn  das  neu  aufgeschmücklc 
Alte  ist  leichter  zu  erkennen  als  das  von  innen  heraus  Neue. 

Eine  unschuldigere,  aber  ganz  unfruchtbare  Auffassung  antiker  Gedichte 
sei  ebenfalls  erwähnt:  die  rezitativische,  —  die  in  unsrer  Zeit  versucht,  aber 
nicht  der  Oeffentlichkeit  übergeben  worden,  oder  auch  die  blosse  Uebertragung 
des  Versmaasses  in  melodische  Form,  die  im  sechzehnten  Jahrhundert  (und 
früher)  unternommen  worden.  Es  haben  dergleichen  Versuche  wohl  anfangs, 
besonders  bei  Gelehrten  und  Enthusiasten  für  das  Alterthum,  Aufschn  erregen, 
nie  aber  fortleben  können.  Am  erfolgreichsten  waren  die  florentiuischen  Ver- 
suche (des  Vinzentio  Galilei  u.  A.),  die  klassische  Tragödie  wieder  her- 
zustellen. Sie  konnten  natürlich  ihr  eigentliches  Ziel  nicht  erreichen,  führten 
aber  zum  Entstehn  der  Oper. 


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426 


Die  Liedform. 


Selige  Sehnsucht. 

Sagt  es  niemand,  nur  den  Weisen, 
Weil  die  Menge  gleich  verhöhnet, 
Das  Lebend'ge  will  ich  preisen, 
Das  nach  Flammentod  sich  sehnet. 

ist  jeder  Zug  durchglüht  von  jenem  begeisterten  Gefühl  des  Ewigen 
in  uns,  das  unser  wahres  Sein,  ohne  das  unser  äusserliches  Leben 
nur  Tod,  für  das  unser  Dahingehen,  unser  Tod,  Geburt  zum  wahren 
Leben  ist,  — 

Und  so  lang'  du  das  nicht  hast, 
Dieses :  Stirb  und  werde ! 
Bist  du  nur  ein  trüber  (last 
Auf  der  dunkeln  Erde.  — 

ist  jedes  Wort  Uberfliessend  voll  jener  seligen  Sehnsucht,  die  nach 
Flammentod  und  Wiedergeburt  hinzieht :  dass  durchaus  und  überall 
die  Seele  strömt  in  Musik.  Und  doch  tritt  die  Fülle  des  Gedan- 
kens im  Worte  so  Ubermächtig  heraus,  zieht  so  tief  unsern  Geist 
in  den  Prophetenspruch  des  Dichters  hinein,  dass  auf  die  allgemeine 
Fühlung,  also  auf  das  Gesang-Werden  des  Gedichts  wenig  anzu- 
kommen scheint,  ja,  dass  man  fürchten  möchte,  den  tiefen  Sinn  des 
Worts  verschleiert  zu  finden  durch  die  in  Musik  hervorgehobne 
Stimmung  des  Ganzen. 

In  so  zweifelhaften  Fallen  liegt  die  Entscheidung  oft  in  der 
augenblicklichen  subjektiven  Stellung  des  Komponisten  zum  Gedicht. 
Jenes  kophlische  Gedicht  giebt  in  seinen  Lehren  zu  denken ;  in 
solchem  Sinne  weist  es  die  Musik  zurück.  Allein  sind  uns  die 
Lehren  nicht  mehr  neu ,  sind  wir  mit  ihnen  dem  Gedanken  nach 
fertig,  so  gewähren  sie  uns  das  Bild  des  lebensfriseben  Mannes,  der 
sie  selber  erprobt,  —  und  sein  Gefühl  dabei  kann  dem  Komponisten 
Musik  werden.  J.  F.  Reichard  t  hat  in  der  That  das  Gedicht  in 
diesem  Sinne  glücklich  gefasst.  Auch  das  andre  Gedicht  ist  von 
Zelter  —  handwerksmässig  genug,  und  wenn  wir  nicht  irren,  für 
Männerquartelt  —  in  Noten  gebracht  worden.  Wenn  wir  auch  in 
diesem  besondern  Falle  nicht  zustimmen  können,  so  ist  wenigstens 
zuzugestehn ,  dass  es  für  die  einzelnen  Fälle  nicht  immer  — 
dass  es  oft  allgemeine  Entscheidung  nicht  giebt;  dem  Einen 
kann  die  musikalische  Seite  lebendiger  hervor-  und  näher  treten 
als  dem  Andern,  ohne  dass  darum  dieser  oder  jener  durchaus  un- 
recht hätte.  Nur  so  viel  darf  als  allgemein  gültig  ausgesprochen 
werden :  je  zweifelhafter  es  ist,  ob  ein  Gedicht  überhaupt  Musik  — 
und  ob  es  besonders  Liedform  fodert,  desto  schwieriger  und  zweifel- 
hafter ist  der  Erfolg  der  Komposition. 


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Der  Liedtext. 


427 


B.  Die  Form  des  Liedtextes. 

Von  der  musikalischen  Liedform  wissen  wir  schon :  sie  ist  ein 
Satz;  — oder,  wenn  dieser  sich  zu  eng  begränzt  erweist,  Periode, 
Lied  in  zwei  oder  mehr  Theilen.  Hierzu  muss  nun,  wie  sich  von 
selbst  versteht,  der  Text  A  n  I  a  s  s  und  Spielraum  geben ;  so  findet 
sich  denn  auch  hier,  dass  ein  dem  Inhalt  nach  liedmässiger  Text 
der  Form  nach  mehr  oder  wenig  günstig  sein  kann. 

Da  die  Liedform  eine  bestimmte,  fest  abgerundete  ist,  so  er- 
scheinen rhythmisirte,  versifizirte Texte  (Gedichte),  insofern  sie  schon 
eine  bestimmte  Form  mitbringen,  im  Allgemeinen  günstiger,  als 
Texte  in  ungebundner  Rede.  Es  versteht  sich  von  selber,  dass  auch 
solche  liedförmig  gefasst  werden  können  und  oft  gefasst  worden  sind. 
Doch  widerstreben  sie  nicht  selten  da  oder  dort  der  liedmässigen 
Form,  oder  fuhren  schon  durch  die  verlockende  Freiheit  des  Worts 
darüber  hinaus;  ungefesselt  durch  die  Versform,  wird  der  Komponist, 
je  tiefer  er  von  seinem  Gegenstand  erfüllt  ist,  um  so  mächtiger 
hineingezogen  in  den  vollen  Ausdruck  der  wichtigsten  oder  aller 
Momente,  —  und  muss  so  die  enge  Liedform  überschreiten.  Irgend 
einige  Sätze  aus  der  Bergpredigt,  z.  B. 

Selig  sind  die  Sanftmüthigen ;  denn  sie  werden  das  Erdreich  besitzen. 
Selig  sind,  die  da  hungert  und  dürstet  nach  der  Gerechtigkeit ;  denn 
sie  sollen  satt  werden. 

könnten  in  Liedform  gefasst  werden;  aber  ihr  tiefer  Inhalt  und 
noch  mehr  der  Gedanke  an  das  Gemüth  des  Verkünders  würde,  — 
fessellos  wie  er  dasteht,  —  weit  über  die  Liedform  hinausführen. 
Besonders  dem  Anfänger  ist  daher  —  im  Gegensatze  zu  dem  S.  393 
für  das  Rezitativ  Empfoblnen  —  dringend  anzuralhen,  für  die  Lied- 
komposition Gedichte  zu  wählen. 

Bei  dem  Gedichte  nun  bestimmt  wieder  die  Form  des  Verses 
den  musikalischen  Bau.  Zunächst  kommt  hier  wieder  die  Aus- 
dehnung in  Betracht.  Ungünstig  für  Komposition  müssen  im  Allge- 
meinen die  zu  weiten  und  die  zu  eng  begränzten  Verse  genannt  wer- 
den, weil  sie  die  Liedform  zu  überladen  oder  zu  beschränken  dröhn. 
Die  S.  372  mitgetheilte  Aeschyleische  Strophe,  —  oder  jene  gött- 
lichen Verse  der  sich  panthelstisch  in  die  Allnatur  wieder  auflösen- 
den Gestalten  aus  dem  Gefolge  der  Helena  (aus  Gocthe's  Faust)  — 

Wir  in  dieser  tausend  Aeste  Flüsterzittern,  Säuselschweben, 
Reizen  tändelnd,  locken  leise,  wurzelauf  des  Lebens  Quellen 
Nach  den  Zweigen;  u.  s.  w. 

würden  auch  abgesehn  von  der  Ungeeignetheit  des  Inhalts  nur  schwer 
und  ungünstig  in  Liedform  eingehn.  Doch  kann  diese  Schwierig- 
keit durch  die  Kraft  des  Komponisten  noch  leichter  bewältigt  wer- 
den, als  die  entgegengesetzte  zu  enger  Begränzung.   Einige  der 


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428 


Die  Liedform. 


dem  Inhalt  nach  musikgünstigsten  Gedichte  Goethes  erscheinen 
aus  diesem  Grund  unerfasslich  für  einfache  Liedkomposition ;  z.  B. 
das  glückselige  Mailied,  — 

Wie  herrlich  leuchtet 
Mir  die  Natur! 
Wie  glänzt  die  Sonne! 
Wie  lacht  die  Flur! 

das  für  feuriges  Entzücken  beflügelten  Einherschritt  verlangt,  und 
dem  Komponisten  zu  einem  Strom  von  Lust  und  Wonne  nur  wenig 
Augenblicke  gönnt. 

Die  Geeignetheit  eines  Gedichts  einmal  vorausgesetzt,  bestimmt 
seine  Form  auch  die  der  Komposition.  Der  vorstehende  Vers  mit 
seinen  zweimal  zwei  Zeilen  bedingt  offenbar  zwei  Sätze  (oder  Vor- 
der- und  Nachsatz)  in  der  Komposition.  Ein  anderes  Gedicht  von 
Goethe,  der  Abschied,  — 

i  Lass  mein  Aug'  den  Abschied  sagen, 

Den  mein  Mund  nicht  nehmen  kann! 
a  Schwer,  wie  schwer  ist  er  zu  tragen! 

Und  ich  bin  doch  sonst  ein  Mann. 

fodert  ebensowohl  zwei  Sätze,  deren  jeder  (oder  der  zweite)  sich 
wieder  in  zwei  Abschnitte  gliedert.  Dieselbe  Eintheilung  im  Grossen 
bedingt  der  Musensohn,  — 

1  Durch  Feld  und  Wald  zu  schweifen, 

Mein  Liedchen  wegzupfeifen, 

So  gehl's  von  Ort  zu  Ort! 
*  Und  nach  dem  Takte  reget, 

Und  nach  dem  Maass  beweget 

Sich  alles  in  mir  fort. 

dessen  ersler  Satz  in  drei,  dessen  zweiter  ebenfalls  in  drei  oder 
zwei  Abschnitte  zerfallen  dürfte.   Zuletzt  das  Gedicht  an  L  u  n  a  — 

1  Schwester  von  dem  ersten  Licht, 

Bild  der  Zärtlichkeit  in  Trauer! 

Nebel  schwimmt  mit  Silberschauer 

Um  dein  reizendes  Gesicht; 
4  Deines  leisen  Fusses  Lauf 

Weckt  aus  tagverschlossnen  Höhlen 

Traurig  abgeschiedne  Seelen, 

Mich  und  nächt'ge  Vögel  auf. 

zeigt  wieder  zwei  Sätze,  der  erste  von  zwrei  Abschnitten  und  wie- 
derum der  erste  Abschnitt  von  zwei  Gliedern  gebildet,  während  der 
zweite  Satz  keinen  oder  nur  einen  Einschnitt  fodert.  Gedichte  von 
fünf  Strophen,  z.  B.  Goethe's  Märzlied,  — 

Es  ist  ein  Schnee  gefallen, 
Denn  es  ist  noch  nicht  Zeit, 
Dass  von  den  Blümlein  allen, 
Dass  von  den  Blümlein  allen 
Wir  werden  hoch  erfreut. 


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Liedkomposüion. 


429 


das  dem  Wortinhalt  nach  vierteilig  ist,  durch  die  Wiederholung 
der  dritten  Strophe  aber  ftlnfzeilig  wird,  —  ferner  von  sieben 
Strophen,  z.  B.  das  Burschenlied  in  Auerbachs  Keller,  — 

Es  war  eine  Ralf  im  Kellernest, 
Lebt'  nur  von  Fett  und  Butter, 
Halt'  sich  ein  Kanzlein  angemäst't, 
Als  wie  der  Doktor  Luther. 
Die  Köchin  hat  ihr  Gift  gestellt: 
Da  ward's  so  eng  ihr  in  der  Welt, 
Als  hätte  sie  Lieb'  im  Leibe. 

oder  sonst  ungleich  abgezahlten  oder  ungleich  lang  ge- 
bildeten Strophen  verhindern  auch  in  der  Komposition  gleich- 
massige  Satzbildung,  wofern  sie  nicht  doch  durch  ungleiche  Behand- 
lung der  einzelnen  Momente  (durch  Dehnung  der  zu  kurzen  und 
Zusammendrängen  der  zu  weiten  Partien  des  Gedichts)  hergestellt 
werden  kann.  Wer  aber  aus  Th.  II.  S.  27  u.  f.  die  Erweiterungen 
der  Satz-  und  Periodenform ,  die  freiem  und  ungleichmässigern 
Rhythmen  sich  geläufig  gemacht  hat,  wird  in  solchen  Versformen 
keineswegs  ein  unübersteiglich  Hinderniss  finden ,  selbst  wenn  die 
Zurttckführung  auf  das  Gleichmaass  unthunlich  sein  sollte. 

Wir  haben  bis  hierher  nur  einen  einzelnen  Vers  des  Gedichts 
erwogen.  Die  meisten  für  Liedkomposition  bestimmten  Gedichte 
haben  aber  deren  mehr.  Soll  nun  ein  solches  Gedicht  von  mehrern 
Versen  rein  liedmässig  aufgefasst,  das  heisst,  die  Stimmung  des- 
selben alle  Verse  hindurch  in  einer  einzigen  Liedweise  festgehalten 
werden :  so  ist  nicht  nur  das  nöthig ,  dass  in  allen  Versen  diese 
Grundstimmung  fortwalte,  sondern  auch,  dass  der  Bau  aller  Verse 
derselbe  bleibe.  Dies  bedarf  kaum  einer  Erwähnung,  wie  denn 
Uberhaupt  bei  der  Ausbreitung  der  Liedkompositionen  schon  bis  hier- 
her eher  viel  zu  viel  als  etwas  zu  wenig  gelehrt  sein  mag.  — 
Nur  das  Eine  sei  noch  angemerkt,  dass  bei  zu  kurzem  Versbau  bis- 
weilen die  Zusammenziehung  von  zwei  und  zwei  Versen  hülfreich 
werden  kann,  wofern  sie  nach  Inhalt,  Bau  und  Verszahl  möglich  ist. 


Zweiter  Abschnitt. 

Liedkompo8ition. 

Auch  über  die  Komposition  des  Lieds  ist  bei  der  Einfachheit 
der  Aufgabe  und  der  überall  verbreiteten  Anschauung  nur  wenig  zu 
sagen.  Die  Stimmung  eines  Gedichts  allgemeinhin  zufassen 
und  wiederzutönen,  diese  Grundaufgabe  aller  Liedkomposition,  das 


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430 


Die  Liedform. 


ist  zu  jeder  Zeit  empfänglichen  und  kompositionsfähigen  GemUtbern 
leicht  gelungen,  —  und  begreiflicher  Weise  haben  Diejenigen,  die 
sich  hieran  ohne  Weiteres  genügen  Hessen,  oft  und  zu  jeder  Zeit 
Anklang  gefunden,  sogar  mehr,  als  die  tiefer  Auffassenden.  Denn 
die  Stimmung,  oberflächlich  aufgefasst,  diese  allgemeine  Angeregt- 
heil des  Gemüths  nach  der  lichtem  oder  dunklern  Seite  hin,  in  der 
der  Kern  der  bestimmtem,  dem  Bewusstsein  nähern  Empfindung 
schwimmt,  wie  das  Dotter  im  Eiweiss,  —  diese  allgemeine  Stim- 
mung ist  in  jeder  rührsamen  Brust  vorhanden ;  in  ihr  finden  sich 
begreiflicher  Weise  ungleich  mehr  Gebende  und  Empfangende  zu- 
sammen, von  denen  jeder  die  kleinen  eignen  Abweichungen  und 
Ergänzungen,  die  sich  in  seinem  Fühlen  und  Sinnen  regen,  still- 
schweigend hinzuthut  oder  hinzudenkt.  Seltener  ist  das  tiefere  Ein- 
dringen bei  einer  äusserlich  so  einfachen  Aufgabe,  —  eben  so  viel 
seltener  bei  den  Sängern  als  bei  den  Dichtern ;  von  Allen  wird  jener 
allgemeine  Anklang  von  Freude,  Zärtlichkeit,  Wehmuth  (oder  was 
sonst)  leicht  gefasst ;  von  den  Wenigsten  dagegen  begriffen  und  fest- 
gehalten, dass  jede  Stimmung  in  verschiednen  Persönlichkeiten  und 
unter  verschiednen  Verhältnissen  und  Einflüssen  eine  wesentlich 
andre  wird.  Diese  spezifische  Wahrheit,  die  eigentlich  das  einzig 
Ganz-Wahre  und  darum  für  das  Geroüth  einzig  Ergiebige  und 
Fördernde  ist,  hat  sich  stets  nur  Wenigen  ergeben,  nur  Wenige 
haben,  sie  zu  erkennen  und  in  treuer  Widmung  ihr  nachzutrachten, 
Beruf  und  ernstlichen  Willen  gehabt.  Auch  geben  nur  wenig  Ge- 
dichte im  Verhältniss  zu  dem  allverbreiteten  Grundwasser  unsrer 
Lyrik  dem  Musiker  Anlass  zu  solch  tieferm  Schaffen,  —  und  dann 
führt  ihn  seine  innigere  Vertiefung  oft  unvorhergesehn  aus  den 
Schranken  der  Liedform  anderswohin. 

Diese  Verhältnisse  zeigen  sich  schon  in  unsern  deutschen  Volks- 
liedern. Hunderte  schwimmen  in  dieser  allgemeinen,  Alles  —  und 
Nichts,  wie  man  es  nehmen  will,  entfaltenden  GemUth  lieb  keil  dahin, 
kaum  Eins  vom  Andern  unterscheidbar;  einzelne  treten  in  felsfester 
Bestimmtheit  hervor,  herb  oder  süss,  muthig  oder  entsagend,  al>er 
ganz  voll  und  treu.  Dasselbe  Hesse  sich  durch  die  ganze  Reihe 
der  Liedkoni ponisten  nachweisen ,  vom  alten  H  i  1 1  e  r ,  Schulz, 
Reichardt,  Mozart,  über  Härder,  bis  zu  unsern  Zeitgenossen, 
Methfessel,  Weber,  Schubert,  Kurschmann,  Kücken, 
Meyerbeer,  Proch,  Truhn,  Mendelssohn,  Reissiger, 
Hoven, R.Franz  —  w  er  kann  die  beliebten  Namen  alle  aufzählen  1 
und  wer  mag  heraussuchen,  wie  viel  allgemein  Annehmliches  und  wie 
viel  tiefer  Gefasstes,  spezifisch  Wahres  dem  Einen  oder  Andern  ge- 
lungen ist?  Löwe  hat  besonders  in  seiner  ersten  Zeit  Unschätzbares 
im  letztern  Sinne  gegeben;  Beethoven  (z.  B.  in  seinen  Gellert- 
schen  und  den  schottischen  Liedern),  auch  L.  Berger  und  wie 


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Liedkomposition. 


431 


manchem  oben  Genannten  oder  Uebergangnen  verdanken  wir  Glei- 
ches, das  der  künstlerischen  Unsterblichkeit  fähig  und  würdig  ist. 
Denn  das  in  sich  Vollkommne,  Ganz-Wahre  hat  allein  eigenthüm- 
liches  Leben  und  einen  gleichsam  persönlichen  Fortbestand,  während 
das  Allgemeine,  Superfizielle  mit  seines  Gleichen  zusammenrinnt, 
wieder  in  die  Elemente  gleichsam  zurückgeht  und  aufgesogen 
wird. 

Welcher  Sinn  und  welches  Ziel  nun  auch  dem  Liedkomponisten 
gegeben  sei,  jeder  kann  nur  von  der  Auffassung  des  Gedichts  in 
seiner  Ganzheit  ausgehn,  wenngleich  es  oft  geschieht,  dass  zuerst 
irgend  ein  einzelner  Zug  ihn  vor  dem  Uebrigen  angezogen  und  zu 
Tönen  erweckt,  ihm  vielleicht  das  Motiv  zum  Ganzen,  oder  einen 
entscheidenden  Satz  gegeben  hat.  Das  ganze  Gedicht  giebt  die 
Stimmung  (oft  schon  der  erste  Vers,  dass  man  sich  kaum  von  ihm 
losreissen  und  Über  ihn  hinweg  die  andern  mit  in  den  ersten  schöpfe- 
rischen Akt  hineinziehn  kann),  und  so  die  Form  des  Ganzen  auch 
die  Grundlinien  für  die  Komposition.  Dies  ist  bereits  im  vorigen 
Abschnitt  angedeutet  worden  ;  in  welcher  Form  der  Musiker  die  ein- 
zelnen Sätze  des  Gedichts  auffasse,  —  ob  als  Satze  und  Glieder,  ob 
als  Perioden  oder  verschiedne  Theile,  —  das  hängt  theils  von  der 
Ausdehnung  und  dem  Sinn  der  Verse,  theils  von  der  Anschauung 
und  Stimmung  des  Musikers  ab,  und  lässt  keine  Vorausbestimmung 
zu.  Eben  so  steht  es  bei  dem  Musiker,  ob  er  durch  strophische 
Wiederholung  die  Form  des  Gedichts  erweitern  und  ebenmässiger 
ausbilden,  oder  einen  Hauptzug  verstärken  will.  Oefters  zeichnen 
die  Dichter  (z.  B.  Goethe  in  dem  S.  423  und  den  beiden  zuletzt 
angeführten  Gedichten)  solche  Wiederholungen  vor,  oder  nöthigen 
dazu  durch  allzukurze  Fassung ;  die  Überflüssigen  Wiederholungen 
gereichen  meistens  zur  Schwächung  des  Eindrucks. 

Die  bestimmende  Kraft  des  Gedichts  bleibt  übrigens,  wie  sich 
von  selbst  versteht,  nicht  auf  die  allgemeinen  Umrisse  beschränkt ; 
sie  dringt  durch  bis  zu  den  Einzelheiten  der  musikalischen  Ge- 
staltung. Denn  obwohl  sich  diese  zunächst  der  Stimmung,  dem 
allgemeinen  Gemüthsleben  des  Gedichts  zuwendet  und  widmet:  so 
darf  doch,  wie  ohne  Weiteres  einleuchtet,  der  Inhalt  desselben  in 
seiner  nähern  Bestimmung  nicht  aufgegeben  oder  versäumt  werden. 

Zunächst  also  durchdringt  Ordnung  und  Sinn  des  Gedichts  den 
rhythmischen  und  tonischen  Bau  der  Komposition,  bestimmt  nicht 
bloss  das  Allgemein-Nothwendige,  —  etwa,  dass  im  Musen  söhn 
die  betonten  Silben  auf  die  Haupttheile,  die  leichten  auf  Nebentheile 
des  Taktes  fallen,  — 

J I J  J  i  J  J  |  J  J 

oder,  —  damit  sich  sogleich  die  Viertaktigkeit  (Th.  1,  S.  27) 


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432 


Die  Liedform. 


herausstelle  und  der  Auftakt  regelmässig  weil  er  verfolgt  werde,  — 
vielmehr  so:  — 


419 


3S= 


*fp?l  = 


durch  Feld  und  Wald    zu    schwei-fen,    mein  Lied-chen  u.  s.  w- 

sondern  entscheidet  auch,  ob  und  wo  statt  dieser  nächslgelegnen 
und  einfachsten  Rhythmisirun^  andre  in  andren  Taktarten  (Vier-, 
Dreiviertel  u.  s.  w.)  und  mit  mannigfacher  Gliederung  eintreten,  ob 
z.  B.  die  erste  Strophe  an  Luna  in  dieser  einfachsten  Gliederung, — 

_ g — J — J— i-J  J  |  J  J  |  J  

oder  vielleicht  in  dieser  accentstärkern,  — 


r  a 

er  -  sten 


Schwester  von  dem     er  -  sten  Licht 

als  dreitaktiger  Rhythmus,  oder  mit  einem  die  Viertaktigkeit  ergän- 
zenden Nachspiel  gefasst  und  wie  jede  dieser  Weisen  weiter  geführt 
werden  soll. 

Wie  weit  nun  das  Gedicht  in  seine  Einzelheiten  verfolgt  und 
diesen  neben  der  allgemeinen  Grundstimmung  genügt  werden  könne, 
leidet  und  fodert  keine  besondre  Anweisung.  Nur  als  letztes  — 
oder  vielmehr  einziges  Beispiel  für  den  ganzen  Abschnitt  folge  hier 
eine  Komposition  des  G  o  e  t  h  e'schen  M  ä  r  z  1  i  e  d  e  s.  Es  ist  dem 
Wortinhalt  nach  vierstrophig,  wird  aber,  wie  schon  oben  an- 
gemerkt, durch  Wiederholung  der  dritten  Strophe  fünfzeilig.  — 

Andantino  con  moto. 


Mi  < 


4—7- 


1 


Es 


dolce  legato 


ist  ein  Schnee  ge  -  fal  -  len,  denn 


es  ist  noch  nicht  Zeit, 


dass  von  den  Blümlein    al    -    len,  dass 


Der  Liedtext 


433 


von  den  Blümlein   al   -    len  wir   wer  -  den 


hoch 


I 


er  -  freut. 


6= 


iÜllS^li^l 


Der 


'WS 


Hier  schliesst  der  Vordersatz  mit  dem  vierten  Takt  der  Sing- 
stimme und  hat  zwei  Abschnitte  von  je  zwei  Takten ;  am  gleich- 
mässigsten  hätte  sich  also  auch  der  Nachsatz  mit  zwei  Abschnitten 
von  je  zwei  Takten  gebildet.  Allein  der  Text  des  ersten  dieser 
Abschnitte  wird  vom  Dichter  selbst  wiederholt  und  damit  auch  in 
der  Musik  die  Wiederholung  des  Abschnitts,  —  also  eine  Summe 
von  zwei  Abschnitten  oder  zweimal  zwei  Takten  bedingt.  Nun 
konnte  ein  letzter  Abschnitt  von  zwei  Takten  folgen,  — 


422 


m 


und  damit  das  Ganze  kurz  angebunden  abschliessen.  Hier  war 
indess  in  der  Wiederholung  der  Strophe,  durch  die  Steigerung  aus 


Marx,  Komp.-L.  III.  b.  Aufl. 


28 


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434 


Die  Liedform. 


dem  Dominant-  in  den  Nonenakkord,  ein  innigeres  —  oder  elegische- 
res Gefühl  (wie  man  es  zu  bezeichnen  beliebt)  angeregt  worden, 
und  führte  zu  einer  Dehnung  des  Schlussabschnitles,  so  dass  folgende 
Konstruktion 

Vordersatz  (Nachsatz) 
2    -4-    2    =    2    ■+-    2  ( so  4)  -f.  4  Takte 
entsteht.  Wäre  jene  Wiederholung  leichter  oder  heiterer  genommen 
worden,  z.  B. 

6 

so  konnte  auch  leicht,  wie  in  No.  422,  geschlossen  werden. 

Dass  auch  von  Seiten  des  Musikers  dergleichen  Wort-  oder 
Satzwiederholungen  (wofern  sie  nur  sinngemäss  für  das  Gedicht  er- 
scheinen) eingeführt  werden  können,  ist  schon  oben  (S.  431)  gesagt. 
Sie  dienen  zunächst  zur  Verstärkung  des  Ausdrucks,  dann  aber  auch 
zur  Vollendung  oder  Erweiterung  des  musikalischen  Periodenbaues. 


Dritter  Abschnitt. 
Das  durchkomponirte  Lied. 

Im  vorigen  Abschnitt  ist  das  Lied  in  seiner  einfachsten  Gestalt 
angeschaut  worden,  eine  einzige  Liedkomposition,  die  für  alle  Verse 
des  Gedichts  gelten  soll.  Dies  setzt  voraus,  dass  die  Komposition 
auch  zu  allen  Versen  nach  Form  und  Inhalt  passe. 

Was  die  Form  anlangt,  so  kann,  wie  sich  von  selbst  ver- 
steht, eine  einzige  Komposition  dann  nicht  für  alle  Verse  passen, 
wenn  letztere  von  verschiedner  Grösse  oder  (S.  429)  zu  abweichen- 
der Gestalt  sind.  Beispiele  für  beide  Fälle  giebt  Goethe's  Mai- 
lied — 

Zwischen  Weizen  und  Korn 
und  dessen  »Auf  dem  See«  — 

Und  frische  Nahrung,  neues  Blut. 

Im  erstem  steht  zwischen  zwei  fünfstrophigen  Versen  ein  acht- 
zolliger, auch  innerlich  abweichend  im  Rhythmus ;  im  andern  steht 
zwischen  zwei  achtzeiligen,  abweichend  rhythmisirten  Versen  einer 
von  vier  Strophen.  Bisweilen  sind  die  Abweichungen  der  Verse  von 
einander  nicht  so  bedeutend,  es  zeigt  sich  nur  irgendwo  eine  Silbe 
mehr  oder  weniger,  ein  veränderter  Versfuss.  Goethe's  Erl- 
könig bietet  gleich  in  den  ersten  Versen  ein  Beispiel.    Beide  — 


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Das  durchkomponirte  Lied. 


435 


Wer  reitet  so  spät  durch  Nacht  und  Wind? 
Es  ist  der  Vater  mit  seinem  Kind; 
Er  hält  den  Knaben  wohl  in  dem  Arm, 
Er  fasst  ihn  sicher,  er  hält  ihn  wann. 

Mein  Sohn,  was  birgst  du  so  bang  dein  Gesicht?  — 
Siehst,  Vater,  du  den  Erlkönig  nicht?  — 
Den  Erlenkönig  mit  Krön'  und  Schweif?  — 
Mein  Sohn,  es  ist  ein  Nebelstreif.  — 

weichen  in  der  ersten,  zweiten  und  vierten  Strophe  ab,  wie  hier 

*)    w    T  w  w  I  ' 

w   •—  |  w  w 

2)     -  |  —  —  [  —  ~  - 

*)   -  I  I  | 


das  ungefähre*  prosodische  Schema  zeigt. 

In  jenen  erstem  Fällen  ist  offenbar  die  Romposition  des  einen 
Verses  zu  dem  ganz  abweichend  gebildeten  andern  gar  nicht  an- 
wendbar, und  es  bedarf  einer  besondern  Romposition  für  jeden  der 
abweichenden  Verse.  Bei  den  geringem  Abweichungen  dagegen 
genügen  eben  so  leichte  Aenderungen  in  der  im  Wesentlichen  bei- 
behaltnen  Romposition.  J.  F.  Reichardt  z.  B.,  der  den  Erlkönig 
liedmässig  komponirt  hat  (und  wenn  er  liedmässig  gesetzt  werden 
sollte,  so  ist  die  Komposition  meisterhaft),  bildet  die  erste  Strophe 
für  den  ersten  und  zweiten  Vers  ungefähr  so,  — 


424 


— 


fc — 


wie  hier  aus  sehr  früher  Erinnerung  angeführt  ist. 

Was  den  Inhalt  anbetrifft,  so  können  hier  zuvörderst 
kleine  Abweichungen  stalthaben  (in  den  obigen  Versen  des  Erlkönig 
z.  B.  hat  die  zweite  und  dritte  Strophe  im  zweiten  Vers  den  Sinn 
einer  Frage,  im  ersten  nicht),  denen  nötigenfalls  mit  eben  so  ge- 
ringen Aenderungen  in  der  Romposition  entsprochen  werden  kann. 


*  Um  die  hellste  Ansicht  zu  befördern,  sind  —  nicht  genau,  aber  für  den 
Zweck  genügend  —  alle  Versfüsse  auf  zwei  zurückgeführt,  die  dem  Musiker 
gleich  die  einfachste  Uebertragung  in  das  zwrei-oder  dreitheilige  Taktmaass,  z.  B. 


u.  s.  w. 


-I- 

andeuten. 


3 
4 


28 


O.  8.  W 


u.  s.  w. 


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430 


Die  Liedform 


Oftaber  zeigen  die  verschiednen  Verse  ganz  abweichende  Stimmungen, 
oder  es  zeigt  der  folgende  Vers  eine  so  gesteigerte,  wenn  auch 
gleichartige,  dass  die  ganze  Komposition,  so  gewiss  sie  für  den 
ersten  Vers  geeignet  war,  —  für  den  zweiten  unpassend  oder  un- 
genügend erscheinen  muss.  —  Ja,  man  muss  endlich  erwägen,  wie 
psychologisch  undenkbar  es  Uberhaupt  ist,  dass  eine  Seelenstimmung 
unverändert,  gleichsam  erstarrt  stehen  bleibe.  Die  Stimmung,  die 
der  erste  Vers  in  uns  gefunden  oder  angeregt,  muss  vielmehr  noth- 
wendig  durch  den  neuen  Inhalt  des  zweiten  in  irgend  einer  Weise 
verändert,  wenigstens  gesteigert  oder  gemildert  werden.  Sogar  die 
Wiederholung  desselben  Inhalts  würde  eine  von  diesen  beiden  Folgen 
haben ;  sie  würde  tiefer  eindringen  und  aufregen,  wenn  der  Gegen- 
stand noch  frische  Sympathie  in  uns  fände,  oder  im  andern  Fall 

* 

ermatten. 

Hiermit  bietet  sich  nun  wieder  eine  Reihe  von  Möglichkeiten 
für  den  Komponisten,  über  die  er  in  jedem  einzelnen  Falle  zu  ent- 
scheiden hat. 

Erstens  kann  er,  wie  im  vorigen  Abschnitt  angenommen  wurde, 
eine  einzige  Komposition  für  alle  Verse  seines  Gedichts  zureichend 
finden,  wenn  dies  im  Wesentlichen  eine  einzige  Stimmung  festhält 
und  allenfalls  die  Vortragsmittel  des  Sängers  zu  den  nöthigen  Steige- 
rungen und  Nüancirungen  genügen. 

Zweitens  kann  er  einzelnen  geringen  Abweichungen  des  Ge- 
dichts in  Form  oder  Inhalt  durch  ähnliche  unwesentliche  Aenderung 
der  Komposition  zu  entsprechen  suchen.  So  haben  wir  in  No.  424 
gesehn. 

Drittens  kann  (wie  wir  aus  der  Begleitungslehre,  Th.  I,  S. 
393,  wissen)  schon  durch  verschiedenartige  Begleitung  derselben 
Melodie  der  Ausdruck  des  Ganzen  mannigfach  gesteigert,  gemildert, 
verändert  werden.  Das  Höchste  hat  hierin  Beethoven  in  seinem 
früher  längere  Zeit  fast  übersehenen  Liederkreis  »an  die  Entfernte« 
geleistet. 

Viertens  endlich  kann  für  verschiedne  Verse  eine  ganz  ab- 
weichende Komposition  gegeben  werden.  Hiermit  entsteht  dann  eine 
Kette  von  Liedsätzen  für  den  Gesang ,  wie  wir  sie  für  die  Tanz- 
formen, Th.  II,  S.  92,  kennen  gelernt  haben.  Erst  diese  Form  heisst 

das  durchkompon  irte  Lied, 
wiewohl  man  auch  die  vorige  so  nennen  darf,  wenn  die  Verwand- 
lung und  Durchführung  der  Begleitung  von  wesentlichem  Gehalt  ist. 

In  dem  durchkomponirten  Lied  nun  folgen  für  einen  oder  meh- 
rere Verse  neue  Weisen  auf  die  des  ersten  Verses;  es  kann  selbst 
Anlass  sein,  eine  oder  die  andre  Stelle  rezitativisch  zu  behandeln, 
also  vom  Lied  zum  Rezitativ  zurückzugehn,  wie  wir  S.  418  gesehn 
haben,  dass  das  Rezitativ  sich  der  Liedform  nähert.    Findet  sich 


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Das  durchkomponirte  Lied 


437 


Gelegenheit,  auf  die  erste  Weise  —  gleichsam  als  Hauptsatz  — 
zurückzukommen,  so  befestigt  sich  die  innere  Einheit  des  Ganzen. 
Die  äussere  Einheit  bedingt  in  der  Regel  Festhalten  eines  Haupt- 
tons, also  Rückkehr  zum  Uauptton,  wenn  er  bei  den  neuen  Sätzen 
verlassen  worden.  Alles  Weitere  bleibt  der  Stimmung  des  Kom- 
ponisten und  der  Auffassung  des  Gedichts  überlassen. 

Eine  besonders  hervortretende  Stelle  nimmt  in  der  Galtung  des 
durchkomponirten  Liedes 

die  Ballade 

ein,  wie  sie  von  Zumsteeg  geschaüen  und  von  Löwe  (besonders 
in  seinen  ersten  Werken)  mit  überlegner  Kraft  weiter  gebildet  wor- 
den  ist;  der  mannigfache  und  entschiedne,  oft  in  scharfen  Gegen- 
sätzen heraustretende  Wechsel  von  Zuständlichkeiten  und  Stim- 
mungen, der  der  Ballade  vor  dem  eigentlichen  Lied  eigen  ist,  führte 
hier  schneller  und  bestimmter  auf  die  Notwendigkeit  des  Durch- 
komponirens. 

Die  Kompositionslehre  hat  nach  dem  bereits  über  Liedform  Aus- 
geführten hier  kein  weiteres  Geschäft.  Jede  einzelne  Gestaltung, 
die  im  durchkomponirten  Lied  eingeführt  werden  kann,  ist  uns  schon 
geläufig ;  Wahl  und  Zusammenstellung  bleiben  dem  Urlheil  und  der 
Stimmung  des  Komponisten  in  jedem  einzelnen  Fall  überlassen.  Die 
liefere  Lehre  gehört  der  Musikwissenschaft  an. 

So  viel  über  das  einfache  und  durchkomponirte  Lied.  Eine  aus- 
führlichere Lehre  scheint  schon  deshalb  unnöthig,  weil  es  (wie  ge- 
sagt) Niemandem  an  praktischer  Anschauung,  an  Kennlniss  zahl- 
loser Lieder  aller  Art  —  und  vieler  gelungner  —  fehlen  kanu,  und 
jeder  zu  Komposition  Angeregte  in  der  Regel  zuerst  und  früh  sich 
an  Liedern  versucht,  hier  auch  in  der  Thal  ein  glückliches  Naturell 
und  eine  erregte  Stimmumz  eher  als  bei  den  meisten  Kunslaufgaben 
ohne  tiefere  Bildung  genügen  mag.*  Ja,  eine  ausgebreitetem  oder 
tiefer  dringende  Lehre  würde  hier  leicht  nachtheilig  werden. 

Denn  das,  worauf  es  bei  dem  Liede  zunächst  ankommt,  ist  eben 
das  Hervorheben  der  allgemeinen  Stimmung  aus  dem  Gedicht  in  die 
Musik ;  dieses  Allgemeine  ist  hier  das  durchaus  Vorwaltende,  das 
Einzelne  dagegen,  der  spezielle  Inhalt  ist  das  Untergeordnete.  Jenes 
Allgemeine  kann  aber  nicht  gelehrt  werden,  es  ist  (S.  422)  un- 
mittelbares Erzeugniss  des  Naturells,  der  allgemeinen  Bildung  und  der 
augenblicklichen  Stimmung.  Daher  ist  auch  nicht  zu  leugnen,  dass 


*  Zu  allen  Zeiten  hat  es  daher  Liederkomponisten  gegeben,  die  ohne  tiefere 
Bildung,  ja  selbst  ohne  tiefe  Begabung  viel  Erfreuliches,  bisweilen  Ausgezeich- 
netes im  Liedfache  geleistet  und  sich  und  ihren  Gesängen  ausgebreitete  —  wenn 
auch  in  der  Regel  nur  vorübergehende  Gunst  erworben  haben. 


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438 


Die  Liedform. 


der  Liedkomposition  —  vom  höhern  künstlerischen  Standpunkt  an- 
gesebn  —  bei  aller  in  ihr  erschliessbaren  Innigkeit  u.  s.  w.  oft,  ja 
meist  eine  gewisse  Oberflächlichkeit  eigen  ist,  die  ihren  Grund  in 
der  Abstraktion  von  dem  Besondern  des  dichterischen  Inhalts  hat, 
so  dass  in  dieser  Hinsicht  eben  die  inhaltreichern  Gedichte,  z.  B. 
viele  Goethe'sche,   bei  der  Komposition  ein  Edleres   (den  Ge- 
danken- und  Vorstellungs-Inhalt)  zu  verlieren  scheinen  gegen  den 
Gewinn  der  hervorgehobnen  allgemeinen  Stimmung,  —  die  bei  nicht 
durchkomponirten  Liedern  doch  meist  nur  für  den  ersten  Vers  ge- 
nügend erfasst  wird.  Ja,  es  kann  diese  Superfizialität  der  Liedkom- 
position bei  solchen  Komponisten,  die  sich  dieser  Gattung  ausschliess- 
lich oder  mit  zu  weitgehender  Hingebung  widmen,  leicht  zu  einer 
gewissen  Verflachung  oder  Karakterlosigkeit  führen;  Öfters  schon 
hat  sich  das  an  den  grössern  Werken  glücklicher  Liederkomponisten 
gezeigt,  während  umgekehrt  Künstler,  die  auf  das  Tiefere  und  Ka- 
rakteristische sich  hinwendeten,  leicht  über  die  Gränze  des  Liedes 
hinausgeführt  wurden  und  bei  diesen  kleinen,  scheinbar  leichtern 
Aufgaben  oft  weniger  glücklich  waren.    Wir  scheuen  uns  nicht, 
hier  Beethoven  als  Beispiel  anzuführen,  der  so  leicht  geneigt  war, 
über  die  eigentliche  (einfache)  Liedsphäre  —  in  »Adelaide«,  in 
»Herz  mein  Herz«,  im  »Liederkreis«  (hier  wenigstens  mit  der 
Begleitung)  u.  s.  w.  —  hinauszugehn  und  im  einfachen  Lied  minder 
begabte  Künstler  (z.  B.  Reichardt  in  manchem  Goethe'schen 
Liede)  keineswegs  übertroffen  hat. 

So  viel,  um  der  Ueberschätzung  des  Lieds,  die  sich  aus  einem 
auferwecklen  und  ausgebreiteten  Dilettantismus  her  von  Zeit  zu  Zeit 
herausstellt  und  von  einer  falschen  oder  übertriebenen  Einmischung 
des  Prinzips  der  Einfachheit,  Natürlichkeit,  Volkstümlichkeit  unter- 
stützt wird,  wenigstens  eine  flüchtige  Erinnerung  entgegen  zu  stellen. 

Dagegen  über  den  hohen  Reiz,  über  die  Bedeutung  und  den  mäch- 
tigen Einfluss  des  Lieds  auf  Sänger  und  Hörer  zu  reden,  scheint 
durchaus  überflüssig;  wer  hätte  das  alles  nicht  schon  empfunden?  — 
Für  die  Bildung  des  Gesangkomponisten  aber  ist  das  Lied  die  andre 
Grundlage,  wie  das  Rezitativ  die  erste.  Im  Rezitativ  wird  er 
des  Worts,  des  Inhalts  in  seinen  einzelnen  Momenten  Herr;  im 
Liede  wird  er  der  Grundstimmung,  eines  treffenden  und  zusammen- 
gefassten  Ausdrucks  derselben,  wie  sie  das  Gedicht  giebt,  mächtig. 
Die  Stimmung  aber,  das  ist  das  Erste  und  Letzte ,  was  die  Musik 
vermag,  und  in  diesem  Sinn  ist  allerdings  wahr,  was  wir  selbst 
zum  Anbeginn  der  Lehre  und  bei  den  vom  Lied  entferntesten  For- 
men erfahren:  dass  alles  musikalische  Gestalten  immer  wieder  zum 
Lied,  zum  abgeschlossnen  Ausdruck  einer  Stimmung  hinführt.  Nur 
nicht  einer  gefesselten,  sondern  einer  lebendig  fortschreitenden.  Und 
diese  führt  uns  eben  über  das  Lied  hinaus,  sobald  der  Inhalt  des 


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Das  Chorlied  und  das  Lied  für  mehrere  Solostimmen.  439 

Gedichts,  oder  die  Lebendigkeit  und  Energie  unsrer  Theilnahme  an 
seinem  Inhalt  uns  mehr  darbieten,  als  den  Grundklang  des  Ganzen.* 


Vierter  Abschnitt. 
Das  Chorlied  und  das  Lied  für  mehrere  Solostimmen. 

Die  allgemeine  Stimmung  eines  Liedes  kann  ihrer  Natur  nach 
von  mehrern  Einzelnen  oder  ganzen  Massen  von  Menschen  gleich- 
zeitig und  gleichartig  empfunden  werden.  Dass  dieselbe  Anregung 
genau  genommen  in  jedem  Individuum  nach  dessen  besondrer  Natur 
und  Lage  anders  wirkt,  eine  andre  Stimmung  hervorruft,  dass  z.  B. 
Liebe  oder  Freude,  auch  dieselbe  Freude  (z.  B.  an  der  Natur,  am 
Tanz  u.  s.  w.)  in  vcrschiednen  Menschen  sich  verschieden  gestaltet, 
wird  hier  bei  Seite  gelassen ;  die  Stimmung  wird  so  weit  nur  ge- 
fasst,  als  sie  in  allen  Theilhabenden  eine  gleiche  ist,  —  eben  wie 
die  Stimmung  eines  Gedichts  in  der  Liedkomposition  nur  in  so  weit 
zum  Ausdruck  kommt,  als  sie  die  allgemeine  aller  Verse  ist,  abge- 
schn  von  den  besondern  Schattirungen  oder  Umstimmungen,  die  sie 
bei  den  einzelnen  Versen  erfährt. 

Mit  dieser  Betrachtung  ist  die  Komposition  des  mehrstimmigen 
und  des  Chorliedes  begründet.  Der  besondere  Anlass,  ein  Gedicht 
nicht  für  Sologesang  einer  einzelnen  Stimme,  sondern  für  mehrere 
Solostimmen  oder  Chor  als  Lied  zu  komponiren,  kann  bald  in  dem 
blossen  Behagen  am  vollem  Klang  und  Gehalt  der  Mehrstimmigkeit 
liegen,  bald  in  der  eigenthümlichen  Bestimmung  des  Gedichts. 

Ueber  den  erstem  Fall  ist  für  jetzt  (die  folgen.de  Abtheilung 
bringt  Näheres)  nur  das  zu  sagen,  dass  man  wenigstens  nicht  solche 
Gedichte  zu  mehrstimmigem  Gesang  herbeiziehen  sollte,  die  ihrem 
Inhalt  nach  jede  Gemeinsamkeit  oder  Oeffentlichkeit  ausschliesson. 
Jenes  S.  371  mitgetheilte  Gedicht  von  Goethe,  — 

Ueber  allen  Gipfeln  ist  Ruh', 
oder  ein  träumerisch-sinniges  von  H.  Heine,  — 
Ein  Fichtenbaum  steht  einsam,  — 

beide  sind  nur  die  stille  Betrachtung  eines  Einzelnen,  und  besonders 
bei  dem  ersten  ist  das  geheime  Verlangen  des  wundenmüden  Her- 
zens so  entschieden  abgeneigt,  laut  zu  werden,  dass  man  nicht  ein- 
mal einem  einzelnen  laut  werdenden  Sänger,  geschweige  einer 
ganzen  Schaar  das  verschwiegne  Wort  ausliefern  möchte.  Gleich- 


*  Hierzu  der  Anhang  Q. 


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440 


Die  Liedform. 


wohl  sind  beide  Gedichte  für  Männerchor  komponirl  worden.  — 
Es  kann  ungeachtet  eines  solchen  Missgriffes  dabei  wie  Uberall 
manches  Anziehende  und  Talentvolle  hervortreten;  allein  die  Wahr- 
heit des  Gedichts,  sein  eigentlicher  Sinn  ist  schon  durch  die  erste 
falsche  Auffassung  verletzt,  und  dies  wird  an  der  Komposition  wie 
am  Komponisten  nicht  ohne  nachtheilige  Folge  bleiben. 

Zu  den  Gedichten,  die  mehrstimmige  Komposition  fodern,  ge- 
hören Wecbselgesänge  (z.  B.  Goethe's  »Trost  in  Thräncn«), 
gesellige  und  Chorlieder,  überhaupt  alle,  die  dem  Sinne  nach  ganz 
oder  theilweis  (z.  B.  mit  einem  wiederkehrenden  Refrain,  der  den 
allgemeinen  Gedanken  ausspricht,  wie  in  Goethe's  »Rechenschaft«) 
in  den  Mund  eines  Vereins  oder  einer  Masse  von  Menschen  gelegt 
sind.  Hierbei  darf  aber  selbst  den  vorzüglichem  Dichtern  nicht  ohne 
Weiteres  geglaubt  und  gefolgt  werden.  Sie  haben,  was  man  ihnen 
nicht  verübeln  darf,  —  zunächst  ihre  eignen  Vorstellungen  und  Ge- 
danken zu  Herzen  genommen,  haben  dabei  vielleicht  eine  flüchtige, 
unbestimmte  Vorstellung  vom  Zutritt  der  Musik,  vom  Chorusmachen 
(das  bei  geselligen  Liedern  so  ermunternd  wirkt) ,  oder  von  der 
Feierlichkeit,  Pracht,  Gewalt  u.  s.  w.  eines  Chorgesangs  herzu- 
getragen, ohne  zu  schärferer  Anschauung  und  Prüfung  Beruf  zu  fühlen, 
oft  ohne  tiefere  Einsicht  in  das  Wesen  der  Musik,  oft  auch  wohl 
durch  das  täuschende  Vorbild  des  griechischen  Chors  verleitet,  der 
ja  auch  (nur  zu  andrer  Musik  und  in  einer  Zeit,  die  nicht  mit 
unserm  Musiksinn  zuhörte!)  gesungen  worden.  Da  ist  denn  von 
ihnen  Vieles  als  »geselliges  Lied«,  oder  als  ein  chormässig  zu  sin- 
gendes bezeichnet  worden,  was  sich  dem  Musiker  nicht  als  solches, 
vielleicht  Überhaupt  nicht  als  komponirbar  zeigt,  und  an  dem  Goe  the's 
Verheissung  — 

Was  wir  in  Gesellschaft  singen, 
Wird  von  Herz  zu  Herzen  dringen 

durch  Komposition  überhaupt,  oder  durch  die  vom  Dichter  selbst  an- 
gerathne  Chor-  oder  Ensembleform  verhindert  wird,  in  Erfüllung 
zu  gehn.  Goethe  selbst,  so  Unschätzbares  er  auch  dem  Kom- 
ponisten oft  dargeboten,  hat  unter  seinen  geselligen  Liedern  gar 
manches,  das  sich  nicht  zum  Chorgesang  eignet,  obwohl  es  durch 
jene  Bezeichnung  und  die  angeführten  verheissenden  Verse  dazu  be- 
stimmt scheint;  so  z.  B.  das  Stiftungslied,  — 

Was  gehst  du,  schöne  Nachbarin, 

die  glücklichen  Gatten,  offne  Tafel  —  und  Mehreres. 

Allein  so  rathsam  es  ist,  auch  bei  der  Form  des  mehrstim- 
migen oder  Chorliedes  wenigstens  darauf  Bedacht  zu  nehmen,  dass 
man  nicht  das  geradezu  Ungeeignete  wähle,  oder  mit  dem  Sinn  des 
Gedichts  durch  die  Form  der  Komposition  in  Widerspruch  gerathe : 


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Das  Chorlied  und  das  Lied  für  mehrere  Solostimmen.  441 

so  ist  doch  eben  diese  Form  eine  lässliche  zu  nennen,  weil  es 
schon  in  ihrem  Sinne  Hegt,  dass  sie  sich  leicht  und  ohne  tieferes 
Bedenken  dem  Komponisten  hergiebt.  Denn  das  Lied  hat  es,  wie 
schon  gesagt,  zunächst  nur  mit  dem  Wiederklingen  der  allgemeinen 
Stimmung  zu  thun;  der  Chor  wird  eben  so  allgemein  aufgefasst, 
jede  Stimme  wirkt  nur,  insofern  sie  im  Allgemeinen  die  Stimmung 
der  andern  und  des  Ganzen  theilt.  Hiermit  tritt  denn  jedes  tiefere 
Eingehn  auf  die  einzelnen  Züge  des  Gedichts,  wie  auf  die  einzel- 
nen im  Chor  oder  Ensemble  zusammentretenden  Stimmen  zurück ; 
die  Komposition  kann  genügen,  wenn  nur  die  allgemeine  Stimmung 
getroffen,  wenn  nur  im  Allgemeinen  Mehrstimmigkeit  zulässig 
und  jede  der  Stimmen  nicht  gegen  den  Karakter,  wenigstens  nicht 
mit  Verletzung  des  Stimmumfangs  u.  s.  w.,  den  ihre  Klasse  fodert, 
behandelt  ist. 

Das  Tiefere  der  Ensemble-  und  Chorkomposition  ist  also  durch 
die  Liedform  nicht  herausgefodert,  es  wird  vielmehr  durch  deren  Ten- 
denz mehr  oder  weniger  entschieden  ausgeschlossen.  Daher  ist  auch 
hier  gar  nicht  der  Ort,  es  zur  Erkcnntniss  und  Uebung  zu  bringen  ; 
die  folgende  Abtheilung  wird  zu  den  geeignetem  Formen  das  Chor- 
studium, das  zehnte  Buch  die  Komposition  des  Ensemble  bringen. 
Wer  sich  beides  angeeignet  hat,  dem  wird  es  dann  rückwirkend 
auch  bei  den  Chor-  oder  Ensemble-Liedern  frommen,  wird  diesen 
Liedern  erst  höhere  Vollendung  geben. 

Hier  ist  erschöpfende  Einführung  demnach  nicht  zu  erwarten 
und  Jedem  rücksichtsloser  Ergeh n  in  Liedern  für  Chor  oder  En- 
semble ungestört  zu  überlassen. 


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442 


Die  Begründung  der  Chorkomposition. 


Vierte  Abtheiliug. 

Die  Begründung  der  Chorkomposition. 

Die  Chorkomposition  bedarf  wegen  ihrer  Wichtigkeit  und  wegen 
des  Reichthums  an  Mitteln  und  Formen,  den  sie  in  sich  fasst,  einer 
vorbereitenden  Lehre.  Diese  ist  der  Inhalt  der  jetzigen  Abiheilung; 
die  folgende  führt  uns  zu  den  Chorformen. 


Erster  Abschnitt. 

Chor  und  Cliortext. 

Der  Chor  ist  bekanntlich  (S.  345)  die  Vereinigung  einer  Mehr- 
zahl oder  Masse  von  Singenden  zur  Ausführung  einer  —  oder,  bei 
mehrstimmigem  Salze,  zur  Ausführung  einer  jeden  der  den  Satz 
bildenden  Stimmen.  Alle  die  verschiednen  Individuen,  die  im  Chor 
zum  Vortrag  einer  Stimme,  z.  B.  des  Diskants  oder  Basses,  ver- 
einigt sind,  stellen  eine  einige  Person  dar. 

Sie  sind  eine  Person,  nicht  aber  ein  einzelner  Mensch.  Die 
Person,  welche  durch  eine  Chorstimme  —  also  durch  eine  Masse 
von  Individuen  dargestellt  wird,  ist  viel  mehr;  sie  ist  ein  ideales 
Wesen,  das  eine  ganze  Klasse  von  Menschen,  die  Jungfrauen,  die 
Jünglinge,  die  Männer,  die  Matronen  (S.  360)  oder  wie  man  sie 
sich  vorstellen  will,  in  die  feste  und  machtige  Einheit  einer  Person 
bringt.  Dies  ist  sie  für  den  Künstler;  seine  Aufgabe  ist,  auch  in 
der  Vorstellung  des  Hörers  diese  Idee  zu  beleben. 

Jede  der  Chorstimmen  ist  also  eine  ideale  Person  für  sich,  die 
ihr  eignes  Leben  und  Wesen,  ihren  eigenthümlichen  Karakter,  ihre 
eigentümliche  Gefühls-  und  Ausdrucksweise  (S.  357)  hat.  Was 
wir  schon  in  den  abstrakten  Uebungen  der  Begleilungs-,  Figural- 
und  Fugenlehre  erkannt  und  als  Ziel  vorgesetzt  haben,  —  die 
Bedeutsamkeit  und  der  Reichthum  der  Mehrstimmigkeit,  besonders 
der  eigentlichen  Polyphonie,  die  Karakleristik  und  Gegensetzung  der 
Stimmen :  das  tritt  nun  in  das  Leben ;  und  zwar  an  den  bedeutendsten 
Organen,  an  den  Menschenstimmen,  in  der  aufklärenden  Verbin- 
dung mit  der  Sprache.  Hier  ist  also  der  Punkt,  das  Studium  der 
Polyphonie  und  zugleich  das  der  Stimme  und  musikalischen  Rede 


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Chor  und  Chortext. 


443 


auf  den  Gipfel  zu  führen ;  es  zeigt  sich  uns  hier  die  Wichtigkeit 
der  Chorkoniposition  als  einer  der  bedeutendsten  und  zugleich  aus- 
bildendsten Gattungen. 

Hiermit  haben  wir  den  innern  Reichthum  des  Chors  in  dem 
polyphonen  Gewebe  der  ihn  zusammensetzenden  Stimmen  vor  uns 
ausgebreitet  liegen.  Auf  der  andern  Seite  kann  aber  der  Chor  nun 
auch  unzergliedert,  in  der  ganzen  Pracht  des  mehrstimmigen  Klanges 
vieler  Singenden  auftreten,  alle  Stimmen  wie  aus  Einem  Munde,  wie 
das  Wort  Eines  Mannes  schallend.  Hier  wird  zwar  jede  Stimme, 
—  so  weit  das  eng  geschlossne  Ganze  gestattet  —  in  ihrer  Weise, 
wenigstens  in  ihrer  Tonlage  aufgeführt,  aber  die  Besonderheit  einer 
jeden  ist  aufgegeben,  sie  sprechen  allesammt  nur  eine,  die  ihnen 
allen  gemeinsame  Stimmung  ohne  weitere  Unterscheidung,  wie  mit 
Einem  Wort  aus.  Dies  Wort  ist  dann  das  Allgemeine,  in  dem 
Alles  übereinkommt.  Hier  also  ist  der  ganze  Chor  ein  Indi- 
viduum geworden,  wie  zuvor  alle  zu  einer  Stimme  des  Chors 
Verbundenen. 

Nachdem  wir  uns  hiermit  einen  vollem  Anblick  vom  Chor  ver- 
schallt, wird 

der  Chortext 

im  Allgemeinen  und  nach  den  verschiednen  Tendenzen  und  Formen 
der  Komposition  leicht  kenntlich  werden. 

1.  Allgemeinheit  seines  Inhalts. 

Der  Chortext  ist  bestimmt,  vom  Chor,  also  von  einer  Masse 
von  Individuen  verschiedner  Karaktere  u.  s.  w.  ausgesprochen  zu 
werden.  Diese  Masse  von  Individuen  kann  nalurgemäss  nur  im 
Allgemeinen  einer  Stimmung,  einer  Vorstellung  u.  s.  w.  überein- 
kommen. Wenn  sie  nicht  bloss  im  Allgemeinen,  sondern  auch  im 
Besondern,  in  einzelnen  Momenten  des  Gefühls,  der  Vorstellung 
zusammenstimmte,  so  wäre  gar  keine  geistige  Verschiedenheit  der 
Individuen  vorhanden  ;  dies  aber  ist  nicht  bloss  unwahr,  es  ist  auch 
die  ärmlichste  und  darum  unkünstlerischste  Vorstellung,  die  man 
vom  Leben  und  Chor  fassen  könnte. 

Folglich  kann  der  Chortext  nur  jene  allgemeinen  Vorstel- 
lungen oder  Stimmungen  aussprechen,  in  denen  naturgemäss 
das  Uebereinkommen  Aller  denkbar  ist.  Das  Vaterunser  spricht 
allgemeine  Gedanken  aus,  zu  deren  jedem  sich  die  Masse  der 
Menschen  bekennen  und  vereinen  kann;  wir  Alle  können  das 

Unser  Valor,  der  du  bist  im  Himmel, 

oder  das 

Und  führe  uns  nicht  in  Versuchung 
mit  Erhebung,  mit  Sorge  u.  s.  w.  aussprechen  und  sind  darin  einig, 


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444 


Die  Begründung  der  Chorkomposition. 


während  die  nähere  Vorstellung,  die  Weise  und  der  Grad  der  Er- 
hebung, in  jedem  Geschlecht,  bei  der  Jugend  und  dem  frühem  Alter, 
—  ja  zuletzt  bei  jedem  Individuum  abweichen  vom  andern.  Jene 
Worte  des  Urtextes  können  also  wohl  als  Chortexte  gefasst  wer- 
den. —  Nun  aber  sind  bekanntlich  von  verschiednen  Dichtern  (z.  B. 
Klopstock,  Mahlmann)  Umschreibungen ,  dichterische  Ausfuhrungen 
und  Auslegungen  des  Vaterunser  gegeben  worden.  Diese  können 
für  irgend  einen  besondern  Standpunkt,  mithin  für  ein  Individuum, 
das  sich  auf  ihn  versetzt,  durchaus  wahr  und  geeignet  sein.  Je 
weiter  sie  aber  über  das  Allgemeine  des  Urtextes  hinausgehn,  desto 
gewisser  sind  sie,  ihre  Kompositionsfähigkeit  überhaupt  vorausgesetzt, 
bloss  als  Ausdruck  eines  Individuums  zu  fassen  und  eben  darum 
ungeeignet  für  Chorkomposition. 

2.  Einfachheit,  Kürze,  Bedeutsamkeit. 

Das  Allgemeine  aber,  in  dem  Massen  von  Individuen  Überein- 
stimmen, kann  auf  der  einen  Seite  nicht  anders  als  von  einfachem 
und  kurzem  Ausdrucke  sein,  weil  alle  mehr  in  das  Besondre, 
Individuelle  gehende  Ausführung  dem  Gedanken  des  Chors,  der 
Gemeinsamkeit  widerspricht  und  dem  Sologesang,  der  Aeusserunu; 
der  Individuen  zufällt.  Auf  der  andern  Seite  muss  das,  was 
nicht  bloss  einem  Einzelnen,  sondern  ganzen  Massen,  Allen  eigen 
werden  soll,  auch  von  vorzüglicher  Bedeutung  für  Alle, 
von  der  Macht  erfüllt  sein,  Alle  zu  ergreifen  und  zu  erfüllen.  Jenes 
Heine'sche  Gedicht  (S.  439),  das  von  der  Sehnsucht  der  Fichte  im 
Norden  nach  der  Palme  im  heissen  Süden  träumt  und  ein  Sinn- 
bild geheimen  und  ewig  ungestillten  Verlangens,  ewig  weiter 
Scheidung  von  dem  Gegenstand  desselben  bietet,  kann  nur  in  der 
Dichterbrust  und  in  irgend  einem  einsam  da  —  dort  mit  ihm  sinnig 
Träumenden  Bedeutung  haben,  nicht  die  Massen  eines  Chors  er- 
greifen. Das  kophtische  Lied  (S.  425)  kann  als  Aeusserung  tüch- 
tigen, thatkräftigen  Mannsinnes  Musik  werden,  aber  nicht  Chor; 
als  Bekenntniss,  Wahlspruch,  Ausdruck  einer  Masse  müsste  die 
Reihe  von  Gegensätzen,  die  dem  Einzelnen  so  behagen  und  ziemen, 
auf  den  gedrängtem  und  energischem  —  und  darum  kürzern  und 
einfachem  Ausdruck  des  Sich  geltend  Machens,  Sich  Gewähren- 
lassens,  oder  Sich  Behauptens  zusammengefasst  werden. 

3.  Die  Sphäre  seines  Inhalts  näher  bezeichnet. 

Die  vorzügliche  Bedeutsamkeit  des  Chortextes  ist  aber  zunächst 
darin  zu  setzen,  dass  derselbe  nicht  bloss  im  Allgemeinen  von  Ge- 
wicht und  von  einfacher,  schlagender  Fassung,  sondern  dass  er 
auch  vorzüglich  geeignet  sei,  in  musikalischer  Behandlung  als  Chor- 


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Chor  und  Chortext 


445 


komposition  diese  Bedeutsamkeit  heraustreten  zu  lassen,  dass  er 
noch  entschiedner  als  andre  Musiktexte  in  der  musikalischen  Sphäre 
geistiger  Aeusserung  walte.  Jene  grossen  Worte  der  Bibel,  in  denen 
das  Gefühl,  die  Stimmung  eines  ganzen  Volks  in  unmittelbarer,  ein- 
fachster und.  stärkster  Weise  zum  Ausdruck  kommt,  —  freudiges 
Lob  Gottes  (Psalm  9,  2,  Psalm  47,  2),  — 

Ich  freue  mich  und  bin  fröhlich  in  dir,  und  lobe  deinen  Namen,  du 
Allerhöchster ! 

Frohlocket  mit  Händen,  alle  Völker,  und  jauchzet  Gotte  mit  fröh- 
lichem Schall  1 

oder  der  Seufzer  der  Busse  und  Sorge  (Psalm  6,  2,  Psalm  4,  2),  — 

Ach,  Herr,  strafe  mich  nicht  in  deinem  Zorn  und  züchtige  mich  nicht 
in  deinem  Grimm! 

Erhöre  mich,  wenn  ich  rufe,  Gott  meiner  Gerechtigkeit,  der  du  mich 
tröstest  in  Angst;  sei  mir  gnädig,  und  erhöre  mein  Gebet! 

sie  bieten  dem  Musiker  die  günstigsten  Chortexte  und  ihm  oder  dem 
Dichter  die  lehrreichsten  Vorbilder.  —  Auch  die  mehr  der  Form  des 
Gedankens  oder  Begriffs  (S.  370)  zugeneigte  Aeusserung  ist  wohl- 
geeignet für  Ghorkomposition,  wofern  der  ausgesprochne  Gedanke 
aus  einem  Gefühlsmoment  als  Resultat  der  wirklich  erlebten  Empfin- 
dung heraustritt  und  daher  Macht  hat  Über  das  Gemüth.  So  jener 
Satz  aus  Psalm  47,  3,  — 

Denn  der  Herr,  der  Allerhöchste,  ist  erschrecklich,  ein  grosser  König 
auf  dem  ganzen  Erdboden! 

der  uns  mit  Schauern  vor  der  Macht  und  Herrschaft  des  Allerhöchsten 
erfüllt,  —  weil  diese  Schauer  schon  in  der  Seele  dessen  erlebt  wor- 
den sein  müssen,  der  den  Herrn  einen  Erschrecklichen  nennt.  — 
Weniger  geeignet  für  Chorkomposition  erscheinen  Aeusserungen  in 
der  Form  der  Anschauung,  Schilderung,  des  Gleichnisses.  Denn 
das ,  was  sie  zunächst  aussprechen ,  ist  nicht  Gefühl ,  das  wir 
(S.  370)  als  das  unmittelbar  Musikalische  erkannt  haben,  sondern 
nur  ein  Gegenstand,  an  dem  das  Gefühl  erwachen  kann,  öder  durch 
den  es  bezeichnet  werden  soll.  Dies  ist  aber  weder  der  einfachste 
und  unmittelbar  treffende  Ausdruck  des  Gefühls,  noch  ist  der  Zu- 
sammenhang zwischen  dem  anregenden  oder  bezeichnenden  Gegen- 
stand und  dem  —  vielleicht!  durch  ihn  angeregten  Gefühl  ein  so 
sicherer,  zuverlässiger,  noch  endlich  ist  es  naturgemäss,  psycholo- 
gisch wahr,  dass  eine  Masse  von  Individuen  nicht  bloss  im  Gefühl, 
sondern  auch  in  dem  anregenden  oder  gleichnissweis  bezeichnenden 
Gegenstand  Übereinkommen  sollte.  Viele,  eine  Masse  von  Men- 
schen, können  in  dem  Verlangen  nach  Gott,  nach  seiner  Nähe  im 
Glauben  oder  in  der  Stunde  der  Bedrängniss  übereinkommen,  sie 
können  zusammenstimmen  in  dem  Rufe  des  Verlangens,  auch  noch 


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446 


Die  Begründung  der  Charkomposition 


in  dem  zwar  schon  gleichnissweisen,  aber  doch  nächsten  und  ein- 
fachsten Ausdrucke  des  Psalm  42,  3  : 

Meine  Seele  dürstet  nach  Gott,  nach  dem  lebendigen  Gott. 
Dem  Einzelnen  kann  sich  dann  auch  jenes  wunderschöne  Gleich- 
nisswort V.  2  desselben  Psalms  — 

Wie  der  Hirsch  schreiet  nach  frischem  Wasser,  so  schreiet  meine 

Seele,  Gott,  zu  dir! 

beseelen,  er  kann  sich,  fern  von  Gott,  vereinsamt,  verirrt,  ver- 
schmachtend fühlen,  wie  das  bange  Wild  im  dunkeln  Forst  nach 
der  Labung  des  Quells  lechzt.  Dass  aber  eine  Menge,  ein  Chor 
mit  dem  Ausdrucke  des  allgemeinen  Verlangens  auf  dieses  selbige 
Gleichniss  gelangte,  ist  schon  nicht  wohl  anzunehmen;  und  wenn 
demungeachtet  ein  Komponist  für  diesen  Text  Chorkomposition  wählt, 
so  wird  ihm  der  inbrünstige  Ausdruck  des  Gleichnisses  versagen, — 
oder  er  wird  sich  dahin  gedrängt  sehn,  für  den  Chor  nicht  chor- 
mässig  zu  schreiben.* 

4.  Unmittelbare  Bestimmung  für  den  Chor. 

Dass  ein  Text,  der  sich  schon  seinem  Inhalte  nach  als  Aus- 
druck einer  Vereinigung  von  Individuen  bezeichnet,  hierdurch  vor- 
zugsweis  die  Chorkomposition  fodert,  —  vorausgesetzt,  dass  er  die 
anderweiten  Bedingungen  derselben  erfüllt,  —  ist  ohne  Weiteres 
einleuchtend.  Allein  mit  gleichem  innern  Recht  können  auch  solche 
Texte  für  Chorkomposition  benutzt  werden,  die  nur  zulassen,  dass 
man  sie  als  Ausdruck  einer  Menge  von  Individuen  auffasse,  gleich- 
viel, ob  es  unbestimmt  geblieben,  wem  der  Dichter  sie  in  den 
Mund  hat  legen  wollen,  oder  ob  sogar  feststeht,  dass  sie  eigentlich 
als  Aeusserung  eines  Einzelnen  gelten  sollen.  Die  S.  4  55  ange- 
führten Psalmen verse  können  ebensowohl  als  Aeusserungen  eines 
Einzelnen,  als  einer  Mehrzahl  gelten.  Das 

Miserere  mei,  Dens,  secundum  magnam  misericordiam  tuam 
(Psalm  51)  ist,  so  viel  wir  wissen,  als  Gebet  eines  Einzelnen, 
Davids,  angenommen;  demungeachtet  darf  der  Komponist  das  Re  ch  t 
der  ümdichtung  in  solcher  Weise  üben,  dass  er  diesen  Satz 
oder  Psalm,  wie  alle  obigen  Sätze,  —  da  sie  es  ihrem  Inhalt  nach 
zulassen,  —  in  den  Mund  des  Chors  lege. 

Unberechtigt  und  un wahrhaft  muss  dagegen  erscheinen,  wenn 
ein  Salz  im  Widerspruch  mit  seinem  Inhalt,  der  nur  im  Mund  eines 


*  Der  obige  Psalmvers  wie  der  S.  447  angeführte  sind  von  Mendelssohn 
für  Chor  gesetzt  worden ;  Aehnliches  Hesse  sich  von  filtern  and  neuern  Kom- 
ponisten anführen.  Allein  weder  die  Gellung  eines  beliebten  Namens,  noch  das 
Talent,  das  bisweilen  einer  Verirrung  vom  Wahren  und  Einzigrechten  be- 
schönigende Reize  leihen  mag,  noch  das  sinnliche  Wohlbehagen  am  Vollklang 
des  Chorgesangs  (oder  gar  die  Berechnung,  wie  viel  Mangel  und  Wahrheit- 
widrigkeit sich  damit  zudecken  lasst)  darf  uns  gegen  die  künstlerische  Treue 
in  Stadium  und  Selbstthat  gleichgültig  oder  schlafT  und  zaiihafl  werden  lassen. 


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Chor  und  Chortext 


447 


Einzelnen  gedenkbar  ist,  als  Chor  aufgefasst  wird.  Auf  diese  Ueber- 
zeugung  sind  wir  schon  (S.  439)  bei  zwei  Gedichten  geführt  wor- 
den, deren  Inhalt  —  wie  sinnig  und  dichterisch  wahr  er  auch 
befunden  werde  —  doch  nur  als  Ausdruck  einer  ganz  besondern, 
nur  in  diesem  oder  jenem  Einzelnen  gedenkbaren  Stimmung  oder 
Phantasie  aufgefasst  werden  kann.  Allein  dasselbe  gilt  auch  von 
Sätzen,  deren  Inhalt  im  Wesentlichen  wohl  ein  allgemeiner,  mög- 
licherweise Vielen  gemeinsamer,  deren  Ausdrucksweise  (die  nähere 
Bestimmung  des  allgemeinen  Inhalts)  aber  durchaus  die  eines  Ein- 
zelnen ist.  Die  Hoffnung  auf  Gott  mitten  aus  unsern  Aengsten 
heraus  ist  ein  ebensowohl  für  eine  vereinigte  Menge  als  für  den 
Einzelnen  denkbares  Gefühl.  Sie  ist  der  Grundgedanke  des  Verses 
(6,  Psalm  42)  : 

Was  betrübst  du  dich,  meine  Seele,  und  bist  so  unruhig  in  mir? 
Harre  auf  Gott,  denn  ich  werde  ihm  noch  danken,  dass  er  mir  hilf 
mit  seinem  Angesicht. 

Allein  hier  ist  der  allgemeine  Gedanke  durchaus  zu  dem  Aus- 
druck eines  Einzelnen  geworden.  Dieses  Insichkehren ,  in  dem 
der  eignen  Seele,  dem  geheimverschwiegnen  Innern,  dem  unruhig 
klopfenden  Herzen  zugesprochen  wird ,  —  dies  beschwichtigende 
Zureden  zu  stillem  Ausharren,  —  dies  zartinnige  Hinwegeilen  des 
frommen  Gemüths  zu  dem  Labsal  des  Dankens,  bevor  noch  der 
Hülfe  gedacht  worden,  —  diese  stillgeistige  Bezeichnung,  dass  Gott 
mit  dem  Hinblick,  mit  dem  gnadenvollen  Hinwenden  seines  Ange- 
sichts allein  schon  geholfen  habe:  alles  das  kann  nur  im  Innern 
eines  Einzelnen,  in  der  Stille  eines  von  der  lauten  Welt  abgezognen 
—  wir  möchten  sagen,  weiblich  zarten  und  magdlich  frommen  Ge- 
müths, nicht  im  Gedrüng  oder  kompakten  Verein  einer  lauten, 
schon  in  sich  festen  —  oder  in  ihrer  Masse  viel  materieller  empfin- 
denden und  zu  ergreifenden  Menge  erlebt  und  gedacht  werden. 

5.  Erhebung  der  Einzelrede  zum  Chor. 

Ja,  es  können  —  im  Gegensatz  zu  der  (S.  446)  voran  geschickten 
Frage  —  Texte,  die  nach  ihrer  äusserlichen  Bestimmung  nicht  für 
eine  Menge,  sondern  nur  als  Aeusserung  eines  Individuums  sich 
darstellen,  durch  besondre  Bedeutung  und  Gewichtigkeit  ihres 
Inhalts  in  die  Sphäre  des  Chors  erhoben  werden;  die  äusserliche 
prosaische  Wahrheit  wird  einer  höhern  poetischen  oder  idealen 
Wahrheit  mit  Recht  zum  Opfer  gebracht.  So  ist  z.  B.  Erzählung 
und  Schilderung  nur  im  Mund  eines  Einzelnen  (oder  mehrerer  sich 
ablösender  Einzelner,  —  aber  immer  nur  Einzelner)  denkbar ;  denn 
der  Zweck  ist  hier  nicht  Ausströmung  des  gemeinsamen  Ge- 
fühls, sondern  Mittheilung  irgend  eines  Wissens,  zu  der  der 
einzelne  Mittheilende  genügt,  ja  besser  als  eine  nie  ganz  einige 


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448 


Die  Begründung  der  Chorkomposition. 


Menge  genügt.  Demungeachtet  ist  sehr  oft  zu  dergleichen  Mit- 
theilungen der  Chor  verwendet  worden.  Wenn  Händel  in  seinem 
Messias  auszusprechen  hat: 

Durch  Einen  kam  der  Tod,  durch  Einen  kommt  auch  der  Todten 
Auferstehung ! 

oder  Haydn  zu  Anfang  seiner  Schöpfung  erzählt: 

Und  der  Geist  Gottes  schwebte  auf  dem  Wasser.  Und  Gott  sprach : 
Es  werde  Licht.    Und  es  ward  Licht. 

so  sind  das  Worte  der  Ueberlieferung  und  Erzählung,  die  nach  dieser 
ihrer  nächstliegenden  Bestimmung  nur  einen  Erzählenden  oder  Ver- 
kündenden fodern.  Allein  in  Wahrheit  handelt  es  sich  hier  nicht 
um  eine  Erzählung,  deren  Inhalt  als  längst  bekannt  gelten  darf; 
das  Bekannte  wird  vielmehr  nochmals  erwähnt,  ausgesprochen,  dass 
wir  sein  volles  Gewicht  empfinden,  dass  wir  es  in  seiner  ganzen 
Bedeutsamkeit  beherzigen.  Dieses  Aussprechen  muss  nicht  nur  in 
der  höchsten  Macht,  also  durch  den  Chor,  geschehn ,  sondern  ist 
auch  eben  so  gewiss  im  Munde  Vieler  psychologisch  und  künstlerisch 
wahr,  als  Viele  zu  der  gleichzeitigen  Beherzigung  einer  ihnen  allen 
eindringlichen  Wahrheit  kommen  können. 

Noch  kühner  und  eben  so  rechtmässig  legt  Händel  in  seinem 
Israel  in  Aegypten  die  Worte: 

Sie  konnten  nicht  trinken  das  Wasser,  denn  der  Strom  war  ver- 
wandelt in  Blut. 

dem  Chor  in  den  Mund,  obgleich  deren  Inhalt  zunächst  blosse  Er- 
zählung ist.  Der  Chor  aber  hat  diese  Worte  nicht  bloss  mit  Nach- 
druck auszusprechen,  wie  bei  den  vorigen  Sätzen,  sondern  er  — 
jede  seiner  Stimmen,  versetzt  und  versenkt  sich  in  die  Lage  jener 
Aegypter,  die  lechzend  sich  zum  Strom  drängen  und  voll  Abscheu 
klagenvoll  zurückgestossen  werden;  aus  der  Erzählung  ist  ein 
dramatisches  Bild  von  ergreifender  Lebendigkeit  geworden.  Und 
von  tiefer  Wahrheit;  denn  auch  der  wirkliche  Erzähler  kann  vom 
Gegenstand  seiner  Schilderung  so  erfüllt,  ergriffen  werden,  dass  er 
mit  ihm  —  in  ihm  lebt  und  fühlt,  dass  er  Ton  und  Geberde  dessen 
annimmt,  von  dem  er  als  ein  dritter  Vermittelnder  nur  zu  berichten 
hat.  —  Wenn  dagegen  in  demselben  Werke  Wrorte  wie : 

Und  es  kamen  unzählige  Fliegen  und  stechende  Mücken  in  ihre 
Häuser,  und  der  Heuschrecken  dunkler  Schwärm  verzehrte  schnell 
die  Frucht  auf  dem  Feld. 

ebenfalls  dem  Chor  übertragen  werden  —  und  zwar  einem  reich 
ausgeführten  achtstimmigen  Doppelchor :  so  ist  die  Kleinlichkeit  der 
vorgestellten  Gegenstände  im  Widerspruch  mit  der  Grossartigkeit 
der  gewählten  Kunstform.  Allerdings  sind  diese  Gegenstände,  die 


Chor  und  Chortext. 


449 


Fliegen  und  Mücken,  nur  das  Mittel;  es  ist  die  Plage,  die  Gott 
über  Aegypten  gesendet,  die  auf  sein 
Er  sprach 

(Worte,  die  dem  Komponisten  als  würdiger  und  wiederkehrender 
Anhalt  glücklich  zu  Hülfe  kommen)  sie  straft  und  mahnt,  diese  ist 
der  eigentliche  Inhalt  des  Chors,  wie  denn  die  Aufzählung  der 
einzelnen  Plagen  eine  Reihe  von  Hauptmomenten  für  das  ganze 
Oratorium  geworden  ist.  In  solchem  Sinne  nun  —  und  in  einer 
Zeit  und  Gesinnung,  der  das  Wort  der  Bibel  schon  als  sqjches  ein 
hochwichtiges  war,  —  konnte  auch  dieser  Chor  der  Grossartigkeit, 
die  wir  so  vielfach  an  Handel  zu  bewundern  haben,  nicht  ganz  ver- 
lustig gehn ;  allein  die  Kleinlichkeit  des  Textes  hat  eben  so  gewiss 
eingewirkt.  Nicht  bloss  in  der  Begleitung  wird  das  Sumsen  und 
Schwirren  der  Insekten  gemalt;  der  Chor  selbst  kann  sich  der  Vor- 
stellung des  beweglichen  kleinen  Lebens  nicht  entziehn,  er  geräth 
in  kleine  Bewegsamkeiten,  — 

Andante  Larghetto. 

(Sopran  und  Alt.) 


425 


Und  es  ka-men  un-zfih-li  -  ge     Flie  -  gen, 


m 


— 


und 


7 


426  < 


un  -  zäh  -  Ii  -  ge  Flie  -  gen. 
Chor  II. 


nr 

Und  es 

PS 


kamen  un  -  zäh  -  Ii  -  ge  Fi 


cen  in 


ie-gen  und  jü-c& 

ytü      jii^  j i  i 


Chor  I. 


I  i 


ih  -  re  HUu-ser. 


Und  es 


r 


Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aafl. 


29 


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450 


Die  Begiiindung  der  Chorkomposition. 


Und  so  giebt  uns  das  Beispiel  eines  der  grössten  Komponisten  zu 
beherzigen,  wie  unvermeidlich  der  Einfluss  eines  ungünstig  ge- 
wählten oder  zu  ungeeigneter  Form  bestimmten  Textes*  auf  die  Kom- 
position, wie  wichtig  also  Wahl  und  Bestimmung  des  Textes  ist. 


Zweiter  Abschnitt. 
Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im  Allgemeinen. 

Ehe  wir  auf  die  besondern  Formen  der  Chorkomposition  ein- 
gehn,  wird  es  dienlich  sein,  einen  Ueberblick  der  Chorkräfte  und 
ihrer  Verwendung  oder  Gestaltung  im  Aligemeinen  zu  gewinnen. 
Zweierlei  kommt  hier  in  Erwägung:  die  Stimm  wähl  oder  äussere 
Anlage  des  Chors,  und  die  Stimm verwen du ug. 

A.  Die  Stimmwahl. 

Wie  viel  und  welche  Stimmen  einem  Chor  zukommen,  das  be7 
stimmt  sich  nach  seiner  etwaigen  Stellung  und  Bedeutung  in  einem 
grössern  Ganzen. 

Die  Normalzahl  ist  hier  wie  überall  die  Vierstimmigkeit, 
dargestellt  durch  Diskant,  Alt,  Tenor  und  Bass.  Von  hier  steigt 
der  Chor  bei  besonders  wichtigen  oder  grossartigen  Anlässen  zur 
Fünf-,  Sechs-,  Achtstim  migkeit,  oder  zieht  sich  bei  leichtem 
Aufgaben,  oder  um  die  einzelnen  Stimmen  mit  besondrer  Klarheit 
und  Freiheit  wirken  zu  lassen,  auf  Drei  -  und  Zweistimmigkeit 
zurück.  Nicht  unerhört  sind  einstimmige  Chöre;  doch  müssen 
sie,  wo  nicht  ein  besondres  Verhältniss  sie  rechtfertigt,  als  unvoll- 
kommne  Gestalten  gelten,  da  sie  eine  Menge  von  Individuen  auf 
den  engsten  Begriff  einer  einzigen  Person  bringen. 

Die  Normalzahl  ist  fast  in  allen  Werken  der  Meister  so  vor- 
herrschend, dass  gegen  sie  die  mehr-  oder  minderstimmigen  Sätze 
als  blosse  Ausnahmen  erscheinen.  Händel  z.  B.  ist  in  der  Mehr- 
zahl seiner  Oratorien  vierstimmig,  nur  in  Israel  in  Aegypten 
legt  er  es  häufig  auf  Achtstimmigkeit  (oder  Doppelchörigkeit)  an, 
wiewohl  auch  da  meistens  zwei  oder  mehr  Stimmen  zusammenfallen, 
der  Satz  also  sieben-  oder  sechsstimmig  wird.  Der  Komponist 
scheint  hier  den  Pomp  der  Mehrstimmigkeit  besonders  darum  nöthig 
gefunden  zu  haben,  weil  dies  Oratorium  statt  wahrhaft  dramatischer 
Entwickelung  nur  eine  Reihe  vereinzelter  Momente  (die  Plagen 
Aegyptens,  den  Untergang  im  Meer  und  Lobgesänge)  bietet,  zum 
Theil  von  untergeordneter  musikalischer  Bedeutung,   mithin  im 

*  In  wie  weit  der  Zusammenbang  eines  umfassenden  Werks  den  Kompo- 
nisten zu  willkürlicherer  Bestimmung  über  einzelne  Partien  seines  Textes 
bewegen  könne  und  wie  dies  hier  bei  Handel  der  Fall  gewesen,  kommt  in  der 
Musikwissenschaft  zur  Sprache. 


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Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im  Allgemeinen.  451 

Ganzen,  wie  für  einzelne  Momente  einer  vorzüglich  erhebenden 
Darstellungsweise  bedurfte.  Im  Messias  sind  die  Chore  vierstimmig ; 
der  eine  aber,  »Hoch  thut  euch  auf«,  wird  fünfstimmig,  nicht  bloss 
weil  er  besonders  feierlich  ertönen  soll,  sondern  weil  er  sich  in 
Frage  und  Gegenrede  doppelchörig  zerspaltet,  so  dass  nun  zwei 
gegen  drei  Stimmen  treten.  Baeh  ist  in  den  meisten  Werken  vier- 
stimmig; in  der  hohen  Messe  (//moll),  die  er  mit  besondrer  Feier- 
lichkeit und  Fülle  gesungen,  herrscht  Fünfstimmigkeit  vor  und  steigert 
sich  zur  Sechs-  und  Achtstimmigkeit.  —  Ohne  tiefern  Grund  hat 
Cherubini  dreistimmige  Messen,  zartsinnig  Pergolese  sein 
jungfräuliches  Stabat  maier  zweistimmig  gesetzt;  Bach  liisst 
in  seiner  Kirchenmusik  zu  Luther's  fester  Burg  den  dritten  Vers, 
»Und  wenn  die  Welt  voll  Teufel  wärV,  gegen  das  streitlustige 
Orchester  im  Einklang  aller  Chorstimmen  einstim m ig  singen. 

Schon  längst  ist  uns  klar  geworden,  dass  mit  der  Zahl  der 
Stimmen  die  Freiheit  ihrer  Führung  und  somit  die  Wirksamkeit  einer 
jeden  nothwendig  im  umgekehrten  Verhaltnisse  steht ,  dass  folglich 
bei  mehr-  und  vielstimmigem  Satze  zwar  an  Pracht  und  Vollklang 
gewonnen  wird,  nicht  aber  ohne  Verlust  an  der  innern  Bedeutsam- 
keit des  Stimmgewebes.  Dies  muss  bei  dem  beschränktem  Tongebiet 
der  Singstimmen  (das  man  nicht  Uber  drei  und  eine  halbe  Oktave 
ausdehnen  kann)  noch  mehr  der  Fall  sein,  als  in  der  Instrumental- 
komposition. Hiermit  erklärt  und  rechtfertigt  es  sich,  dass  im  Chor- 
satze die  Vierstimmigkeit  als  Norm  gilt.  Auch  wir  wollen  uns  für 
unsre  Studien  auf  sie  beschränken,  da  sich  hier  weder  eine  innere 
Notwendigkeit  ergeben  kann,  von  ihr  abzuweichen,  noch  es  für 
den,  der  der  Vierslimmigkeit  mächtig  ist,  einer  besondern  Anleitung 
zu  mehr-  oder  minderstimmigem  Salze  bedarf. 

Soll  nun  aber  von  der  Normalzahl ,  oder  auch  von  den  nor- 
malen Stimmklassen  abgewichen  werden,  so  fragt  sich,  welche 
Stimmen  zu  wählen  seien  !  Hier  entscheidet  der  Inhalt  der  Komposition 
gemäss  dem  Karakter  der  Stimmen.  Je  nachdem  das  Ernstere  oder 
Leichtere,  Kräftige  oder  Zarte,  Feste  oder  Bewegliche  vorherrschen 
soll,  je  nachdem  wird  man  zu  tiefern  und  männlichen,  oder  höhern 
und  weiblichen  Stimmen  ausschliesslich  greifen,  oder  ihnen  dasUeber- 
gewicht  über  die  andre  Seite  geben ;  ein  fünf-  oder  sechsstimmiger 
Satz  mit  zwei  Sopranen  oder  Tenoren,  —  oder  mit  Verdopplung 
beider  Stimmen  wird  heller,  jugendlicher,  mit  Verdopplung  von  Alt 
und  Bass  wird  ernster  und  dunkler  erklingen.  Dies  alles  ergiebt 
sich  dem  Stimmkundigen  von  selbst;  um  so  auffallender  scheint  es, 
dass  verhältnissmässig  nur  selten  von  solcher  karakteristischen  Wahl 
der  Stimmen  Gebrauch  gemacht  worden.  Die  Komponisten  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  haben  es  gethan ;  aber  es  kann  uns  davon 
unmittelbar  wenig  zu  Gute  kommen,  da  die  Kunst  jener  Zeit 

29* 


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452 


Die  Begründung  der  Chorkomposition. 


noch  zu  unentwickelt  erscheint,  als  dass  sie  für  uns  wahrhaft 
künstlerische  Bedeutung  hätte;  —  wir  haben  einen  unschätzbaren 
Reichthum  in  der  Entfaltung  der  Melodie,  Harmonie,  Polyphonie, 
der  Kunstformen,  der  Instrumentation  voraus.  Es  folgt  aber  daraus 
nicht,  dass  wir  auch  nur  jenes  eine  geistig  bedeutsame  und  sinnlich 
reizende  Mittel  der  Vorzeit  ausser  Acht  lassen  müssten. 

B.  Stimmverwendung. 

Schon  haben  wir  die  grossen  Gegensätze  homophoner  und  poly- 
phoner Schreibart  in  Bezug  auf  den  Chor  (S.  442)  in  Erinnerung 
gebracht;  beide  gewinnen  erhöhte  Bedeutung  durch  das  Organ  be- 
seelter und  begeistigter  Stimmen  und  durch  die  Mitwirkung  des  Textes. 
Ein  durchaus  homophoner  Chorsatz,  z.  B.  dieser  aus  Hände  Ts 

Israel  in  Aegypten,  — 

Grave. 


Chor  I.  | 


427  < 


f 


4 


Er      ge-bot  es  der  Meerflut, 

t — 


t 


5 


und  sie  trockne -te  aus. 


"7i7 


Chor  II. 


* 


Et? 


Er      ge-bot  es  der  Meerflut, 


m 


r 


y  y  \  t  t 

und  sie  trockne- te  aus. 


1 


i 


Er 


ge-bot  es  der  Meerflul, 


und  sie  trockne- te  aus. 


I 


7: 


n 


Er 


ge-bot  es  der  Meerflut, 


g  7  ?  ■ 


- 


r 

und  sie  trockne -te  aus. 


I 


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Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im  Allgemeinen.  453 

in  dem  keine  Stimme  einen  wahrhaft  eigentümlichen  Gang  nimmt, 
ein  wahrhaft  karakterislischer  Inhalt  weder  in  der  Melodie,  noch 
im  Rhythmus,  noch  in  der  Harmonie  aufzuweisen  ist,  wirkt  doch 
durch  das  edelste  Organ,  die  Menschenstimme,  —  durch  den  höchsten 
Aufwand  desselben,  die  Vielstimmigkeit,  —  in  einer  Weise,  die 
neben  aller  anderswo  zu  findenden  Wirkung  geradezu  unerreichbar, 
unersetzbar  zu  nennen  ist.  Der  Chor  ist  eine  einzige  Person  gewor- 
den, —  kaum  das  kann  man  hier  sagen,  wo  es  an  jeder  entfalteten 
Karakteristik  mangelt,  —  er  ist  bloss  der  Mund,  durch  den  der 
Tondichter  das  inhaltschwere  Wort  ausspricht,  —  bloss  ausspricht 
mit  Ernst  und  Gewicht :  und  schon  hier  übt  das  Tonwort  eine  Macht 
aus,  die  nur  von  der  Macht  des  bewegten,  das  Wort  des  Dichters 
zu  vollem  Lebenslauf  erhebenden  Geistes  überragt  wird.  Nicht  un- 
bemerkt wollen  wir  lassen,  das  Händel  in  künstlerischer  Weisheit 
hier  das  Rechte  gegeben,  nicht  Weiteres  geben  konnte  und  durfte. 
Das  Gebot  Gottes  und  die  Erfüllung,  beides  ist  nur  ein  Moment, 
der  nur  ausgesprochen,  nicht  in  Weisen  durchgelebt  und  ausgebreitet 
sein  wollte;  sein  Gewicht,  seine  Bedeutung  mag  Jeder  im  stillen 
Geist  erwägen,  seine  Folgen  mag  der  Fortgang  des  Oratoriums 
bringen. 

Es  ist  höchlich  zu  wünschen,  dass  der  Jünger  sich  ganz  erfülle 
von  der  Macht  der  einfachsten  Chorweise,  damit  sie  ihm  in  ihrer 
Fülle  zu  rechter  Zeit  zu  Gebote  stehe.  Erst  von  ihr  aus  ist  der 
Fortschritt  zu  den  reichern  Gestaltungen  mit  vollem  Gefühl  und  Er- 
folg zu  thun. 

Sobald  wir  nun  den  leichtesten  Fortschritt  aus  dieser  absoluten 
Einigkeit  aller  Chorstimmen  hinausthun,  erfahren  wir,  mit  wie 
überlegner  Gewalt  das  Wort  des  Dichters  zur  Beseelung  und  Wirk- 
samkeit dringt,  wenn  die  Chorstimmen  aus  ihrer  Fessel  treten,  sich 
individualisiren  zu  eigenthümlichen  Personen.  —  Hier  kommt  uns, 
wie  geschaffen  zur  Uebergangsstufe,  eine  Behandlung  des  Chorals 

«» pmm^mm  r  ?  r  i  r  r ' 

Chri-stus,  der  ist  mein   Le  -  ben,  Ster-ben  ist  mein  Ge-winn. 

von  Seb.  Bach*  zu  Hülfe.  Der  Choral  wird,  wie  schon  seine 
erste  Strophe  zeigt,  — 


*  Aus  der  musterhaften  Ausgabe  von  «J.  S.  Bach's  vierstimmige  Kirchen- 
gesänge (Choräle),  geordnet  und  mit  einem  Vorwort  von  C.  F.  Becker«  (S.  43, 
bei  Friese  in  Leipzig,  1843),  deren  Anschaffung  und  Studium  jedem  Musiker 
sicher  und  reich  lohnen  wird. 


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454 


Die  Begründung  der  Chorkomposition. 


in  schön  geführten,  aber  durchaus  homophon  bei  einander  bleibenden 

Stimmen  gesungen.   Da  hat  der  Text  der  zweiten  Strophe,  dieses 

Sterben  —  ist  mein  Gewinn! 
den  Sänger  tief  ergriffen,  Stimme  auf  Stimme  fallt  mit  schmerzlich- 
sehnsüchtigem  Verlangen  in  das  Wort  »Sterben«,  das  ihr  der  Ruf 
zur  Seligkeit  ist.  Wie  hier  jede  gleichsam  mit  langem,  verlangen- 
dem Hinblick  auf  dem  »Sterben«  weilt,  wie  sich  der  ersten  Stimme 
die  zweite,  dieser  die  dritte  anschliesst  in  den  tiefern  Septimen, 
endlich  der  Bass  gegen  die  drei  vorhaltenden  obern  Stimmen  eintritt 
und  das  eine  Wort  im  Dominantakkorde  weiter  verlangend  ausklingt, 
dann  der  Gesang  so  lieblich  schmeichelnd  weiter  geht:  —  das  alles 
ist  so  einfach  und  so  tiefempfunden,  dass  man  aus  technischem  Punkte 
bezweifeln  mag,  ob  hier  Uberall  von  Polyphonie  die  Rede  sein  könne, 
während  aus  höherm  Gesichtspunkt  angesehn  doch  jede  Stimme  im 
tiefsten  Gefühl  wie  frei  und  allein  auftritt  und  sich  zum  Ganzen  fügt. 

Werfen  wir  zuletzt  noch  einen  Blick  auf  nachstehenden  Chor 
aus  Bach's  Matthäischer  Passion,  — 

430  _^  m.  JfX^ 


Wahrlich,dieser,  dieser  ist  Got 


tes  Sohn  ge-we  sen. 


c.  b.  i — r 

Wahrlich, die 


ser  ist  Gottes  Sohn 


ge-we  -  sen. 


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Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im  Allgemeinen.  455 

so  haben  wir  im  engen  Raum  eines  kleinen  Satzes  den  vollkommnen 
Anblick  polyphoner  Gestaltung,  vier  Stimmen,  jede  in  eigenthüm- 
licher  melodischer  Gestaltung,  alle  zu  einem  Ganzen  vereint. 
Die  tonische  Gestaltung  ist  uns  schon  seit  den  Studien  des  zweiten 
Theils  nichts  Neues.  Bemerkenswerth  ist  aber  hier,  wie  nicht  bloss 
das  Ganze  die  Stimmung  des  Moments,  —  fromme  Zuversicht  eines 
tief  gerührten,  nun  endlich  bis  zur  Verwunderung  klar  und  gänzlich 
überzeugten  Gemüths,  —  austönt,  sondern  auch  jede  einzelne  Stimme 
dasselbe  in  ihrer  eigenthümlichen  Weise  spricht  und  singt,  dass 
Uberall  dem  Wort  und  der  Ton  folge  und  der  Empfindung  volles 
Recht  wird. 

Es  handelt  sich  also  —  dies  sei  nochmals  wohl  beherzigt  — 
hier  nicht  um  die  Technik  des  homophonen  und  polyphonen  Ge- 
staltens,  die  wir  uns  längst  angeeignet  haben  müssen.  Sondern  darum : 
das  Heraustreten  aller  Gestalten  aus  dem  Wort  des  Textes  und 
aus  dem  Gefühl  des  Moments  im  Chor  zu  beobachten  und  sich  auf 
gleiche  Geburten  aus  dem  eignen  Innern  gefasst  zu  machen,  zu 
ihnen  zu  sammeln  und  anzuschicken. 

Auf  diesem  Punkte  hat  sich  in  der  Lehr-  und  Lernübung  eine 
kleine  vorbereitende  Arbeit  oft  fördernd  erwiesen ,  die  hier  ihre 
Stelle  findet.  Sie  besteht  darin,  dass  irgend  ein  fruchtbares,  nicht 
aber  zu  scharf  karakteristisches  Wort  (weil  es  sonst  keine  mannig- 
fache Behandlung  zulässt)  erst  in  einfachster,  dann  immer  bedeu- 
tungsvollerer Weise  für  den  Chor  gesetzt  wird.  Die  einfachste 
Auffassung  wie  jeder  Fortschritt  müssen  sich  aus  der  unbefangen 
anknüpfenden  und  immer  tiefer  dringenden  Betrachtung  des  Textes 
ergeben. 

Wir  wählen  zu  einem  kurz  gefassten  Beispiel  den  Text: 

Ich  rufe  zu  Gott,  dem  Allerhöchsten. 

Dieser  Text  setzt  eine  andächtige  Bewegung  des  oder  der  ihn 
Aussprechenden  voraus,  giebt  aber  von  ihrer  eigentlichen  Stimmung, 
—  ob  sie  sich  in  Freude  oder  Leid,  mit  Fassung  oder  Erregtheit, 
oder  gar  Leidenschaft  zum  Allerhöchsten  wende,  —  keine  nähere 
Kunde ;  jenes  allgemein  Übliche,  der  blossen  Reflexion  entsprungne 
Beiwort  deutet  auf  eine  nicht  zu  tiefe,  Über  die  Sphäre  gewöhnlicher 
Andacht  nicht  zu  leidenschaftlich  übergreifende  Stimmung. 

Das  Nächste  nun  ist,  dass  das  Wort  des  Textes  musikalisch 
ausgesprochen  werde.  Hier  — 


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456 


Die  Begründung  der  Chorkomposition. 


434  < 


i 


Andante. 


r 


n 


1/ 


r 


i 


f 


m 


zu  Gott,  dem  AI  -  1er  -  höch  - 


ist  dies  in  einer  dem  Sinn  des  Wortes  wenigstens  nicht  wider- 
sprechenden Weise  geschehn ;  der  Rhythmus  des  Textes  ist  beobachtet, 
durch  taktischen  und  tonischen  Accent  treten  die  Accente  desselben 
hervor,  das  »zu  Gotta  wird  wenigstens  in  der  Hauptstimme  betont. 
Dagegen  ist  jenes  Beiwort,  »dem  Allerhöchsten«,  nur  eben  hin- 
gesprochen; es  sinkt,  statt  uns  mit  sich  zu  erheben.  Die  Unler- 
stimmen  sind  ohne  selbständigen  Inhalt. 

Beseitigen  wir  vor  allem  jene  Schwäche  des  Redeausdrucks. 
Hier  — 


3 


432  i 


r  r 

Ich   ru  -  f e 


zu  Gott,  dem  AI  -  1er  -  höch 


UM 


sten. 


* 


strebt  die  Oberstimme  empor  zur  Mitte) stelle  des  vorher  (No.  431) 
versäumten  Ausdrucks,  während  Bass  und  Tenor  das  vergleichende 

Vorwort,  »dem  Aller  höchsten«,  hervorheben.   Noch  sind  die 

Stimmen,  zumal  rhythmisch,  an  einander  gebunden ;  aber  schon  gehen 
sie  in  der  Betonung  —  und  damit  so  zu  sagen  in  der  Auslegung 
jenes  Beiworts  aus  einander,  sie  geben  zwei  Rede-  und  Auffassungs- 
weisen statt  der  einen  im  ersten  Satze. 

Allein  wir  müssen  schon  zu  unsrer  ersten  Auslegung  des  Textes 
zurück.  Nicht  jenes  Beiwort,  sondern  dass  wir  uns  »zu  Gott!« 
wenden,  das  ist  der  Kern  des  Satzes.  Ob  man  nun  dieses  Haupt- 
wort in  höherer  Erweckung  treffender,  nachdrücklicher,  inniger 
aussprechen  könne,  als  oben  geschehn,  und  wie?  —  das  bleibe 
hier  ganz  bei  Seite.  Genug,  uns  hat  es  sich  jetzt  so  und  nicht 
anders  ergeben,  und  wir  bleiben  dabei.  Gleichwohl  haben  wir  die 
Angemessenheit  nachdruck vollem  Ausdrucks  einmal  erkannt;  es 
bleibt  also  nichts  Übrig,  als  durch  Wiederholung  zu  erlangen,  was 
in  unserm  ersten  Zuge  weniger  genügen  mag. 


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Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im  Allgemeinen.  457 


433  < 


i 


P-h 


rfi  i  i 


Ich  ru-fe   zu  Göll,  zu  Gott,  dem  AI  -  ler-htich    -  sten. 
II'* 


Hier  ist  das  »zu  Gott«  wiederholt,  und  zwar  mit  einer  Steige- 
rung in  der  Hauptsümme,  der  ganze  Salz  wird  dadurch  zu  höherer 
Erhebung  bewogen  und  den  Stimmen  ein  erregterer  Gang  eigen ;  ob 
bei  dem  »Alle r- höchsten«  nicht  eine  ruhigere  Fortschreitung,  z.  B. 


434  < 


zu   Gott,  dem  AI  -  1er  -  höch  -   -   -  sten. 


m 


i 


erwünschter  sei,  bleibe  dahingestellt. 


Allein  eben  hier,  wo  das  Wort,  das  wir  für  den  Kern  des 
Ganzen  erkannt,  durch  Wiederholung  bekräftigt  werden  soll,  kommt 
die  Unzulänglichkeit  oder  Unwahrhaftigkeit  des  homophonen  Satzes 
für  den  Chor  an  den  Tag.  Wenn  bisher  alle  Stimmen  mit  einander 
den  Text  nur  so  hinsprachen,  wie  es  jeder  gegeben  war:  so  konnte 
das  gelten ,  weil  der  Text  für  jede  derselben  gleichen  Antheil  — 
und  darum  auch  gleichzeitigen  gewährt.  Nun  aber  soll  ein  Moment 
durch  Wiederholung  bekräftigt  werden.  Ist  das  durchaus  not- 
wendig ?  Nein ;  nur  dann  ist  es  recht,  wenn  eine  höhere  Erregtheit 
eintritt.  Dies  aber  kann  bei  einer  Stimme  geschehn,  bei  der  andern 
nicht,  bei  einer  früher,  bei  der  andern  später;  ja,  es  ist  natur- 
gemäss  —  und  zugleich  die  reichere  Anschauung,  dass  Stimmen 
von  verschiednem  Karakter  hierin  sich  unterscheiden.  So  sehn  wir 
in  diesem  Satze: 


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15$ 


Die  Begründung  der  Chorkomposüion. 


435  i 


^5 


1 


Ich  ru-fe  zu  Gott, 


zu  Gott, 


dem  Aller- 


Bgj=f=f=g=g 


str- 


ich ru-fe  zu  Gott,  zu  Gott, 


zu 


mm 


Gott, 
e — 


dem 


Ich  ru  -fe  zu  Gott, 


ich  ru  -  fe    zu  Gott, 


dem 


-3- 


Ich  ru-fe  zu  Gott, 


ich  ru-fe    zu  Gott, 


EE 


/  _ 


hoch 


sten. 


AI 


ler    -  höchsten. 


;fScS 


AI  -  ler  hoch 


sten. 


5 


dem  AI- ler  -  höchsten. 


Der  Alt  hat  sich  aus  seiner  Ruhe  erhoben  und  das  Hauptwort 
steigernd  wiederholt,  der  Diskant  Überbietet,  die  Unterstimmen 
wiederholen  den  ganzen  ersten  Abschnitt  des  Textes.  In  gleicher 
Weise  tritt  hier  — 


436 


WS 


Ich  ru-fe   zu  Gott, 


zu  Gott, 


dem 

£££ 


Ich  ru-fe   zu  Gott, 


ich  ru 


fe  zu 


Ich  ru-fe    zu   Gott,  zu  Gott, 


zu 


t 


i 


Ich    ru   -    fe  zu 


Gott, 


zu  Gott, 


dem 


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Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im  Allgemeinen.  459 


ler  -  hoch 


sten. 


Gott,  dem     AI -ler -hoch  -  sten. 


Gott,  dem  AI -ler  -  hoch 


sten. 


AI 


1 


ler  -  höch 


sten. 


der  Tenor,  nach  seinem  Karakter  berufener  zu  einer  Steigerung 
als  der  Alt,  mit  der  Wiederholung  hervor.  Ist  seiue  Tonlage  zu 
niedrig,  um  die  Wiederholung  eindringlicher  zu  machen,  so  kommt 
ihr  doch  die  Harmonie  (Uass  der  vorgreifende  Ton  Vorhalt  wird) 
zu  statten;  es  könnte  auch  die  weitere  Führung  der  Stimme,  z.  B. 
vom  zweiten  Takt  an,  — 


-p,b  p- 


P 


3zz: 


-  0 


± 


m 


1 


Gott, 


zu  Gott, 


zu 


Gott,  zu   Gott,  dem 


«37  s 


Gott, 


ich    ru  -  fe    tu    Gott,  dem 


3ee 


Gott,  zu  Gott, 


ich   ru  -  fe   zu  Gott,  dem  AI  -  ler- 


2& 


P 


Gott, 

■fc-T  g  f 


zu  Gott, 


zu 


Gott, 


dem 


m 


AI  -  ler  -  höch    -  sten. 


1 


höch     -     -     -  sten. 


IC 


l  1, 


AI  -  ler  -  höch    -  sten. 
das  Hervortreten  steigern  und  als  karakteristisch  rechtfertigen. 


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460 


Die  Begiiindung  der  Chorkomposition. 


Schon  hier  (in  No.  436)  tritt  der  Bass  —  wenn  auch  ohne 
tiefere  Bedeutung  —  den  übrigen  Stimmen  voraus.  Dies  führt  uns 
auf  die  letzte  Gestaltung,  der  hier  Raum  gegönnt  werde. 


438  < 


Ich   ru  -  fe  zu 


Ich  ru  -  fe   zu  Gott, 


ich    ru    -  - 


Ich  ru  -  fe  zu    Gott,  dem  AI  -  1er  - 


-m- 


Ich 


Gott, 


dem    AI  -  1er  -  hoch  -  sten. 


fc     zu  Gott,  dem   AI  -  ler   -   hoch  -  sten. 


■t. 


höch    -    -    sten,  dem    AI  -  ler  -   höch  -  sten. 


ru 


fe  de 


e    dem    AI  -  ler  -  höch-sten. 


Hier  treten  alle  Stimmen  selbständig,  jede  für  sich  ein  und 
bilden  erst  später  eine  Masse,  deren  Fortschritt  nicht  weiter  hierher 
gehört.  Es  ist  dies  die  letzte  Gestaltung,  an  die  wir  hier  zu  er- 
innern nöthig  haben ;  dass  ausser  ihr  noch  unzählige  Umbildungen 
und  Fortbildungen  des  gegebnen  Satzes  möglich  sind,  versteht  sich. 
Keine  der  aufgewiesnen  oder  noch  hervorzurufenden  Gestalten  bietet 
für  den  bis  hierher  mit  uns  Fortgeschrittnen  technisch  etwas  Neues 
oder  neu  zu  Uebendes.  Was  daran  zu  beobachten  und  zu  üben, 
ist  einzig  und  allein  :  wie  diese  Tongebilde  im  Ganzen  und  in  jeder 
Stimme  aus  dem  Wort  hervorgehn;  wie  zuerst  nur  daran  ge- 
dacht wird,  das  Wort  auszusprechen  (No.  431)  und  dabei 
jede  Stimme  ihrer  Lage  gemäss  und  sonst  schicklich,  wenn  auch 
nicht  karakteristisch  oder  ausdrucksvoll ,  zu  bethätigen ;  wie  dann 
No.  432)  wenigstens  in  der  Hauptstimme  derSinn  des  Worts 
berichtigt  und,  sobald  dies  zum  Bewusstsein  kommt,  auch  in 


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Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im  Allgemeinen.    46  t 

den  Nebenstimmen  der  Ausdruck  gelegentlich  bedacht  wird;  wie 
ferner  (No.  433)  der  Hauptpunkt  durch  Wiederholung  ge- 
steigert, sogleich  aber  (No.  435,  436)  die  Wiederholung 
wechselnden  Stimmen  übertragen  und  damit  in  das  Feld  der 
Polyphonie  übergegangen  wird,  die  dann  endlich  (No.  438)  als 
reichste  Entfaltung  des  Chors  frei  hervortritt,  sofort  aber 
(wenn  auch  nicht  immer  so  schnell,  als  des  Raumes  wegen  in 
No.  438)  das  Verlangen  nach  dem  homophonen  Ausschallen  der 
Chormasse  in  ihrer  Einheit  als  der  schlagendsten  Kraft  des  Chors 
erweckt. 

Die  nähere  Erwägung,  wie  das  alles  hier  geschehn  und  wie 
es  weiter  hätte  geschehn  können,  bleibe  Jedem  Uberlassen ;  sie  wird 
zur  sorgsamen  und  weitgeführten  Uebung  locken  und  diese  sicher 
Frucht  tragen. 

C.  Chorkräfte. 

Zum  Schlüsse  dieser  gesammten  Vorbereitungen  überblicken  wir 
noch  einmal  alle  Vermögen,  die  sich  uns  überhaupt  im  Gesänge, 
besonders  im  Chorgesange,  darbieten. 

Der  Sänger  hat  vor  allen  Dingen  den  Ton,  oder  noch  allge- 
meiner gefasst  den  Schall, 

\.   das  Ausschallen  seiner  Stimme 

von  grosser  innerlicher  Macht  (im  Zarten  wie  im  Starken)  und 
äusserlicher  Gewalt.  Dies  Element  ist  mächtiger  in  einer 
Chorstimme  durch  die, vereinte  Kraft  vieler  Einzelner,  am  m ä c h - 
tigsten  im  vereinten  Chor,  wo  es  (nach  bekannten  Grund- 
sätzen) den  weiten  Akkord  zu  glanzvollem  Klange,  den  engliegenden 
zu  gedrungner  Kraft,  die  Oktavverdopplung  zu  mächtigem  Andringen, 
den  Einklang  zu  schmetternder  Eindringlichkeit  fördert. 

Der  Sänger  hat  sodann  die  Ton  Verbindung;  im  allgemeinen  Sinn 
aufgefasst,  wollen  wir  sie 

2.   das  Singen 

nennen  zum  Unterschied  (in  der  Lehre)  von  »dem  Gesänge«, 
welcher  Ausdruck  dem  künstlerischen  vereinten  Wirken  von  Ton- 
und  Wortgeben  zukommt.  Dieses  Singen  ist  die  Tonbewegung, 
sofern  sie  nicht  dem  unmittelbaren  Ausspruche  des  Worts  angehört, 
also  z.  B.  die  Tonreihen,  die  in  No.  434  bis  434  auf  die  Silbe 
»Höch — stena,  die  in  No.  435  im  Alt  und  in  No.  436  im  Tenor 
auf  das  Wort  »Gott«  fallen. 

Das  Singen  erschallt,  wie  sich  von  selbst  versteht,  in  einer 
Chorstimme  voller  und  mächtiger,  als  in  einer  einzelnen.  Aber 


462 


ie  Begründung  der  Chorkomposition. 


die  Tonfolge  wird  auch  dabei  undeutlicher,  erstens  weil  jeder  stär- 
kere Schall  vermöge  seines  kräftigern  Aushallens  mehr  Zeit  zu  seiner 
Verbreitung,  Vernehmung,  Scheidung  von  nachfolgenden  Schallen 
braucht,  zweitens  weil  selbst  bei  der  sorgfältigsten  Uebung  viele 
Stimmen  unmöglich  so  vollkommen  wie  eine  einzige  zusammen 
stimmen  und  zusammen  fortschreiten.  Es  folgt  hieraus  die  wichtige 
doppelte  Lehre,  dass  man  den  Ghorstimmen  in  dem,  was  wir  das 
Singen  nennen,  nicht  zumuthen  darf,  was  Solostimmen  leisten, 
dass  namentlich  grössere  Tonfolgen  erstens 

nicht  so  schnell  bewegt 

sein  dürfen,  wie  der  Sologesang  und  noch  mehr  die  Instrumental- 
musik" gestattet,  —  und  dass  sie  ferner  zweitens 

nur  einfach  gestaltet 

sein  dürfen.  Beides  ist  aber  nicht  bloss  aus  materiell-akustischen 
und  technischen  Gründen,  es  ist  auch  aus  dem  Wesen  des  Chors 
selbst  zu  rechtfertigen.  Denn  einmal  ist  jede  Masse  gewichtiger, 
also  weniger  zur  Schnellbeweglichkeit  geneigt,  als  ein  Einzelner, 
dann  ist  eine  Menge  nur  im  Allgemeinern  und  Einfachem  (S.  443) 
übereinstimmend,  folglich  jede  zu  eigen  oder  zu  vielfach  zusammen- 
gesetzte Tonfolge  ihr  nicht  angemessen. 

Hinsichts  der  Bewegung  scheinen  —  obwohl  sich  ein  ganz  be- 
stimmtes Maass  nicht  festsetzen  lässt  — 


Sechzehntelfolgen  im  Allegro  moderato 

ungefähr  das  ausserste  Maass  von  Schnelligkeit,  das  man  mit  Sicher- 
heit vom  Chor  fodern  kann,  wobei  aber  natürlich  viel  von  der 
grössern  oder  mindern  Ausdehnung  und  Leichtigkeit  (Ausführbarkeit) 
der  Tonfolgen  abhängt. 

Hinsichts  der  Tonfolge  sind  die  auf  die  Tonleiter  begründeten,  z.  B. 


439 


i 


■4.„  I 


und  kürzer  gegliederten  (weil  jedes  Glied  einen  Stttta-oder  Sammel- 
punkt abgiebt,  der  den  weitern  Folgen,  z.  B. 


mangelt),  Überhaupt  die  nicht  allzuweit,  nicht  ttber  vier  bis  acht 
Viertel  ohne  Unterbrechung  geführten  die  leichtern.  Daher  wird 
selbst  bei  sonst  eigen thümlichen  Komponisten  stets  die  einfachen 


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Die  musikalische  Gestaltung  des  Chors  im  Allgemeinen.  463 

und  darum  allgemeinern  und  gebrauchtesten  Tonfolgen  wiederkehren 
sehn,  so  leicht  es  bekanntlich  ist,  andre  Wendungen  an  deren  Stelle 
zu  setzen. 

Hier  so  wenig,  wie  anderwärts  genügen  äusserliche  Regeln; 
nichts  würde  leichter  sein,  als  die  Zusammenstellung  einer  Reihe 
von  schwierigem  oder  ausgedehntem  Tonbewegungen,  die  gleich- 
wohl in  dem  besondern  Sinn  irgend  einer  Komposition  ihr  volles 
Recht  finden,  an  ihrer  Stelle  nothwendig  erscheinen.  Dennoch  ist 
das  Studium  und  die  Erwägung  dessen,  was  im  Allgemeinen  dem 
Chor  wohlgeeignet,  unerlässlich,  wenn  man  nicht  in  Gefahr  kommen 
will,  treffliche,  nur  abstrakt  —  ohne  Rücksicht  auf  die  erwählten 
Organe  gefasste  Intentionen  an  ihrer  Unausführbarkeit  scheitern  zu 
sehn.  Es  ist  übrigens,  selbst  bei  der  ausführlichsten  Lehre,  kaum 
zu  hoffen,  dass  Jemand,  der  nicht  selber  singen  kann,  hier  stets 
das  Rechte  sicher  treffe. 

Dar  Dritte  endlich,  was  der  Sänger  hat,  ist 

3.  das  Sprechen, 

das  Wort  im  Verein  mit  dem  Singion.  Der  letztere  nun  verdunkelt 
mehr  oder  weniger  stets  den  Sinn,  die  Wirksamkeit  der  Rede, 
theils  durch  die  grössere  Macht  des  Stimm-  oder  Singklangs  vor 
dem  Klange  der  Redelaute,  theils  weil  ein  Theil  der  Aufmerksamkeit 
von  dem  reinen  Redeinhalt  ab  auf  den  musikalischen  Inhalt  gezogen 
wird.  Und  umgekehrt  nagt  die  Artikulation  der  Rede  am  reinen 
Stimmschall.  Reide  —  Rede  und  Singschall  —  begränzen  und  be- 
einträchtigen sich  gegenseitig,  von  beiden  wird  geopfert,  um  ein 
drittes  Kunstwesen,  den  Gesang,  von  neuer  und  hoher  Redeutung 
zu  gewinnen. 

Aus  dieser  Retrachtung,  die  mancherlei  Folgerungen  in  sich 
trägt,  sei  hier  zunächst  nur  eine  gezogen : 

je  mehr  die  Redelhätigkeit  vortritt,  je  mehr  Redetheile  in  engem 
Räume  sich  vereinen,  desto  mehr  wird  Stimm-  und  Singwirkung 
zurückgedrängt. 

Dies  muss  im  Chorgesang  noch  mehr,  als  bei  dem  Sologesang 
der  Fall  sein,  weil  wieder  die  Aussprache  Vieler  nicht  so  genau 
zusammentreffen,  Eins  sein  kann,  wie  die  eines  Einzelnen.  Und 
am  stärksten  muss  die  Reeinträchtigung  sein,  wenn  nicht  bloss  eine 
einzige  Chorstimme,  sondern  ein  ganzer  Chor  mit  Redethätigkeit 
überhäuft  wird. 

Wir  müssen  also,  wenn  unser  Chor  wirken  soll,  weder  zu 
viel  (zu  viel  vereinzelte  Laute,  —  Silbe  auf  Silbe  für  jeden  Ton) 
noch  zu  schnell  sprechen  lassen.  Der  in  No.  425  und  426  ange- 
führte Händel'sche  Chor  z.  R.  wird  in  den  in  Achteln  und  Sech- 


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464 


Die  Bekundung  der  Chorkomposition. 


zehntein  artikulirenden  Partien  seinen  Vollklang  nicht  entwickeln 
können;  ja,  sollte  er  eine  schnellere  Bewegung,  etwa  die  des  Allegro 
moderato,  annehmen,  so  würde  Stimmklang  und  Klarheit  der  Rede 
gleichmässig  beeinträchtigt  werden.  Händel  hat  vor  den  meisten 
Komponisten  so  häufig  —  fast  Überall  die  grossartigste  und  macht- 
vollste Behandlung  des  Chors  bethätigt,  dass  diese  Bemerkung  un- 
möglich der  ihm  gebührenden  Ehrfurcht  zu  nahe  tritt;  ohnedem  war 
es  in  jener  Stelle  der  Text  und  Uberhaupt  die  Auffassung  seines 
Stoffes,  der  ihn  zu  solcher  Behandlung  nöthigte. 

So  viel  von  den  drei  Vermögen,  über  die  der  Komponist  zu 
gebieten  hat.  Dass  er  jedes  nur  nach  dem  Sinn  seiner  jedesmaligen 
Aufgabe  in  Thätigkeit  setze,  versteht  sich.  Gelingt  es  ihm  aber, 
keines  unbenutzt  zu  lassen,  einem  durch  das  andre  einen  hebenden 
Gegensatz  und  eine  Stütze  zu  gewähren:  dann  erst  kann  er  sich 
von  seinem  Chor  die  vollste  Wirkung  versprechen;  die  singende 
Stimme  leiht  ihren  Schmelz  der  artikulirenden,  die  ausschallende 
Stimme  bindet  und  ergänzt  die  bewegtem. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  der  Komposition. 


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Fünfte  Abtheilung. 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 

Nicht  alle  Formen  und  Verwendungen  des  Chors  kommen  hier 
zur  Sprache,  sondern  nur  diejenigen  Formen,  in  denen  Orchester, 
überhaupt  Begleitung  entweder  gar  nicht  erfoderlich ,  oder  doch 
möglicherweise  nur  auf  die  untergeordnete  Bedeutung  eines  blossen 
Hülfsmittels  beschränkt  werden  kann.  Diese  Formen  sind  es  aber, 
die  allen  Übrigen  Chorformen  zu  Grunde  liegen ,  in  denen  der 
wichtigste  Fortschritt  im  Gesangstudium  von  Rezitativ  und  Lied  aus 
geschieht,  die  also  auch  allen  weitern  Gesangstudien  zur  Vorschule 
und  Vorbedingung  dienen.  Grund  genug,  ihnen  vorzugsweise  Auf- 
merksamkeit zu  widmen. 

Erster  Abschnitt. 
Die  Choralflguration. 

Die  Choralfiguration  war  diejenige  Form,  an  der  wir  (Th.  II) 
die  begleitenden  Stimmen  zur  Selbständigkeit  erhoben,  in  freie  poly- 
phone Bewegung  setzen  lernten.  Dies  und  hiermit  auch  die  Formen 
der  Choralfiguration  haben  wir  nun  in  unsrer  Gewalt.  Es  soll  jetzt 
die  ausgebildetste  derselben,  in  der  eine  Einleitung  in  den  Choral, 
Zwischensätze  von  Strophe  zu  Strophe  führen ,  auf  den  Chor  an- 
gewendet werden. 

Die  Choralfiguration  für  den  Chor  ist  eine  besonders  von  den 
Meistern  des  vorigen  Jahrhunderts  fle issig  angebaute  Form;  ihr  Ge- 
danke ist  aber  so  sinnig,  dass  die  Kirchenmusik  —  besonders  der 
Prolestanten,  ihrer  gar  nicht  entrathen  kann,  so  lange  sie  am  Choral 
selbst  festhält.  Dass  der  feste  Gesang  des  Kirchenlieds  von  freiem 
und  eigenthümlichen  Betrachtungen  bald  der,  bald  jener  Person  (im 
idealen  Sinne,  S.  442)  theilnehmend  umgeben  wird,  dass  der  Choral 
in  seiner  zusammenfassenden  stillen  Gewalt  dahinzieht  und  alle 
Singenden  in  ihren  sinnigen  besondern  Aeusserungen  nicht  hemmt 
oder  ausschliesst,  sondern  in  sich  versammelt,  sich  und  ihnen  zu 
reichern),  erhebendem  Gewinn  :  das  ist  psychologisch  und  symbolisch 
so  wahr,  dass  es  künstlerisch  nicht  anders  als  bedeutend  und  schön 
befunden  werden  kann  und  sich  erhalten  oder  stets  wieder  erzeugen 
muss,  so  lange  die  Vorbedingung  —  der  Choral  in  der  christlichen 
Kirche  —  besteht. 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  30 


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460 


Die  Formen  der  Choj%kompo$ition. 


Dies  ist  die  Wichtigkeit  der  Form  an  sich.  Sie  hat  aber  noch 
eine  besondre  und  nirgend  sonst  zu  erlangende  Wirkung  in  unserem 
Lehrgange. 

Bei  der  abstrakten  Choral figuration  gingen  wir  von  einem 
Figuralmotiv  aus  und  suchten  besonders  anfangs  es  als  Kern  oder 
doch  Anknüpfungspunkt  getreu  festzuhalten.  Doch  wurden  wir  schon 
damals  bald  inne,  dass  die  Bedeutung  der  Figuration  im  Grunde  nicht 
auf  dem  Motiv  beruhte,  sondern  auf  der  Bewegung  jeder  und  aller 
Stimmen,  zu  denen  das  Motiv  nur  den  ersten  Anstoss  gab ;  daher 
gelangten  wir  dazu,  den  verschiednen  Stimmen  gelegentlich  auch 
verschiedne  Motive  zu  ertheilen  und  sie  endlich  ganz  unbekümmert 
nur  in  gleichem  Sinne  gehn  zu  lassen. 

Dass  im  Gesänge  noch  weniger  auf  das  Festhalten  an  einem 
Motiv  ankommt,  ist  einleuchtend.  Hier  handelt  es  sich  um  den  ge- 
treuen und  tiefen  Ausdruck  des  Textes;  wie  wenig  will  dagegen 
—  wenn  zwischen  Beiden  zu  wählen  ist  —  das  Festbalten  an  ein 
Paar  Noten  sagen!  Doch  werden  wir,  wenn  auch  nicht  immer 
das  Motiv,  wenigstens  die  karakteristische  Weise,  in  der  unsre 
Figuralstimmen  zum  Choral  treten,  festzuhalten  haben,  um  dem 
Ganzen  die  für  jedes  Kunstwerk  nöthige  Einheit  der  Gestaltung  zu 
bewahren. 

Sänger  und  Hörer  würden  ermüdet,  wenn  eine  weit  ausgeführte 
Figuration  bloss  durch  Singstimmen  dargestellt  werden  sollte.  Wenig- 
stens —  wenn  wir  auch  nicht  behaupten  mögen,  dass  dies  unaus- 
führbar —  ist  einleuchtend,  dass  der  Zutritt  eines  Instrumentale, 
das  Einleitung  und  Zwischensätze  oder  einen  Theil  derselben  über- 
nimmt, vielleicht  auch  ein  Nachspiel  zur  Abschliessung  des  Ganzen 
giebt,  grosse  Vorlheile  gewährt.  Es  ist  daher  äusserst  rathsam,  — 
ja  fast  unerlässlich,  dass  wenigstens  zuerst  nie  ohne 

Instrumentalb  egleitung 

gesetzt  werde.  Diese  hat,  wie  gesagt,  einzuleiten,  überzuleiten 
(wo  es  die  Singstimmen  nicht  selbst  thun)  und  nach  Erfodern  den 
Nachsatz  zu  geben.  Während  des  Gesanges  wird  sie  Begleitung  im 
eigentlichen  Sinne. 

Die  Instrumentalpartie  müssen  wir  für  jetzt  auf  Klaviersatz 
beschränken,  da  uns  noch  kein  andres  Instrument  zu  Gebote  steht. 
Wer  sich  dabei  —  wenn  auch  vielleicht  nur  in  unbestimmtem  Um- 
rissen ,  mehr  ahnend  als  einsehend  —  Wirkungen  des  Orchesters 
vorstellt,  der  wird  der  eigentlichen  Würde,  in  der  sich  unsre  Auf- 
gabe darstellen  sollte,  näher  treten.  Jedenfalls  kann  das  Instrumen- 
tale an  Beweglichkeit  und  sonstigem  Inhalt  nicht  weit  über  das 
hinausgehn,  was  nachgehends  den  Singstimmen  gebührt.  Wenn  z.  B. 
Seb.  Bach  in  der  später  zu  betrachtenden  Figuration  des  Chorals: 


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Die  Choralfigur ation. 


467 


»O  Mensch,  bewein'  dein'  Sünde  gross«*  den  Singstimmen  vor- 
herrschend Achtelbewegung  zuertheilt,  so  haben  statt  dieser  die  In- 
strumente zwar  Sechzehntelbewegung,  aber  in  einer  Weise,  — 


Instrumentale. 

die  die  Achtelbewegung  als  bedingende  Grundlage  hervortreten  oder 
durchfühlen  lässt. 

Wo  die  Singstimmen  wirken,  wollen  wir  unsre  Begleitung  so 
viel  wie  möglich  unterordnen.  Denn  das  Höhere  und  oft  einzig  Be- 
friedigende wird  uns  erst  im  Orchester-Studium  eigen  und  würde 
uns  hier  von  der  Hauptsache,  dem  Chorstudium,  abziehn. 

Schliesslich  rathen  wir  noch,  für  die  ersten  Uebungen  Choräle 
zu  wählen,  die  dem  Komponisten  nach  Text  und  Melodie  besonders 
werth  sind,  deren  Text  einen  bestimmten  kräftigen  Ausdruck  fodert 
und  gewährt  und  die  nicht  zu  lang  sind. 

Bei  der  schon  sichern  Bekanntschaft  der  Form  bedarf  es  nur 
einer  Aufweisung  an  zwei  besonders  lehrreichen  Beispielen. 

Das  erste  ist  Seb.  Bach's  Figuration  des  Chorals:** 


442 


Ma-che  dich,  mein  Geist,  be- reit:  wa-che,  fleh'  und  be  -  te, 
dass  dich  nicht  die     bö  -  se  Zeit    un-ver-  hofft  be  -tre-te! 


p=fYf\ '  \  jllllBljlliliii  1 1  Ü 


Denn  es  ist  Satans  List  ü-ber  vie-le  Frommen  zur  Versuchung  kommen. 
Bach  versetzt  vor  allem  den  Choral  in  den  feierlich  breiten 
und  vermöge  der  Dreitheiligkeit  doch  beweglichem  Sechsvierteltakt 
und  schickt  ihm,  in  dieser  Weise  anknüpfend,  — 
Vni. 


443 


V  -fr  -  T  —   f  - 


I 


*  Am  Schlüsse  des  ersten  Theils  der  Matthliischen  Passion. 
**  Bis  jetzt  nur  in  der  »Sammlung  vorzüglicher  Gesangstücke  u.  s.  w.  von 
F.  Rochlitz«  (bei  Schott  in  Mainz),  Band  3,  Abtheilung  I,  S.  89,  gedruckt. 
Die  vollständige  Herausgabe  dieser  Kantate  wäre  verdienstlich. 

30» 


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468 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


eine  Instrumentaleinlei  tu  na;  voraus.  Diese,  die  instrumentalen 
Zwischensätze,  Nachspiel  und  Begleitung  lassen  wir  ganz  bei  Seite 
und  wenden  uns  nur  auf  den  Gesang,  jetzt  unsre  Hauptsache.  Ein 
sonntäglicher  Karakter,  wie  wenn  man  sich  zum  Kirchgang  in  freu- 
diger Sammlung  bereitet  hat  und  nun  in  die  Kirche  tritt  unter 
den  ersten  Klängen  der  erwachenden  Orgel,  hat  sich  schon  durch 
die  Einleitung  ausgesprochen  und  geht  in  den  Gesang  über. 

Dies  ist  die  erste  —  und  bei  der  Wiederholung  dritte  Strophe.  — 


P 


8* 


r 


Ma  -  -  che  dich, 
dass       dich  nicht 


raein  Geist, 
die    bö    -  - 


-  se 


be  -  reit : 
Zeit 


t 


444  { 


Machedich,  mein 
dass  dich  nicht  die 


Geist,  be- 
bt) -  se 


Machedich,  raein 
dass  dich  nicht  die 


Geist,  be  -  reit, 
bö  -    se  Zeit, 


£3 


ma-che 
dass  dich 


f  _.*. 


Mache  dielt,  mein 
dass  dich  nicht  die 


Geist,  he-reit,  mn  -  che  dich,  mein  Geist,  be- 
bö  -  se  Zeit,  dass riiehnichtdie  bö    -  -  se 


reit, 
Zeit, 


ma-che  dich, 
die  bö 


mein  Geist,  be  -  reit: 
-    -    se  Zeit 


* 


3= 


dich,  mein  Geist,  dich, 
nicht,  dich  nicht  die  bö 


mein  Geist,    be  -  reit ; 
se  Zeit 


3= 


reit,   

Zeit,  die  bö 


 mein  Geist,  be  -  reit: 

se    Zeit,  die    bö  -  se  Zeit 


Das  festlich  spielende  Motiv  (a),  das  den  Eintritt  »Mache  dich« 
so  erweckend  macht  und  dem  »mein  —  Geist«  auch  noch  eine 
kleine  Beherzigung  gönnt,  stimmt  zur  Einleitung  und  giebt  mit  ihr 
den  Grundton  der  oben  angedeuteten  Empfindung  zu  hören.  Jede 
Stimme  zergliedert  und  wiederholt  ihren  Text,  hebt  gelegentlich  bald 


Die  Choral figuratmi. 


469 


dieses ,  bald  jenes  Wort  (z.  B.  der  Tenor  das  »bereit«  und  »mein 
Geist«)  hervor  und  geht  mit  den  andern  frei  und  reich  und  schön 
bewegt  zu  Ende;  die  Figuralstimmen  bilden  einen  Nachsatz  zum 
cantus  firmus  und  schliessen  später,  worauf  denn  das  Instrumentale 
zur  folgenden  Strophe  weiter  führt. 

Hier  ist  ein  hervortretendes  und  bedeutsames  Motiv  durch  die 
Stimmen  gegangen.  Demungeachtet  wird  Niemand  es  für  die  Haupt- 
sache, für  mehr  als  den  ersten  Anstoss  erachten  können;  noch 
weniger  ein  zweites  Motiv  (6),  das  sich  beiläufig  hergiebt.  Der 
Gesang  der  Stimmen  im  Ganzen,  wie  er  dem  Sinn  des  Lieds  und 
einzelnen  Wortes  nachtrachtet,  ist  hier  die  Hauptsache.  Daher  lässt 
gleich  die  zweite  Strophe  alles  Vorangegangne  fallen  und  spricht  bloss 
ihr  Wort  mit  Macht  aus,  — 


I 


445  i 


wa  -  che,  fleh' 


und    be    -   -  te, 


T 


5§i 


wache, 
wache, 


fleh'  und  be 

fleh'  und  be    -    te,  fleh' 


T 


-  -  -  -  te, 
und    be   -  -  te, 


wache,    fleh*     und  be    -    te,  fleh'      und  be 

worauf  denn  (schon  mit  dem  vorletzten  Takte}  das  Instrumentale 
wieder  in  seiner  Weise  (No.  443)  auftritt.  Ist  schon  hier  der 
fassende  Anruf  »Wache!«,  das  bewegliche  »fleh'  und  bete«, 
besonders  das  zweite  »fleh'«  in  Tenor  und  Bass  ein  lautes  Zeug- 
niss  für  die  Intention,  die  hier  herrscht;  so  muss  man  dieselbe  Zeile 
in  der  Wiederholung  betrachten,  — 


446  < 


f 

un  -  verbofft  be    -   tre    -  te,  un  -  verhofft  be  -  tre    -  te! 


=t~T  - 


3 


'  i  ^_ ä     '  i  =fc 


dar 


T 


wie  dieselbe  Anlage  sich  dem  abweichenden  Sinn  des  neuen  Textes 
bequemt,  wie  beidemal  jede  Stimme  in  göttlicher  ünbesorgtheit  um 
das  Leibliche,  um  einen  augenblicklichen  Widerklang,  sich  nur  dem 
Geistigen,  dem  Sinn  und  Gefühl  des  Wortes  hingiebt. 

Die  folgenden  zwei  kurzen  Strophen  werden  vom  Chor  nur 


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470 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


einfach,  unfigurirt  iotonirt,  in  der  folgenden  kehrt  das  Hauptmotiv  (o) 
wieder,  — 


447 


ü    -    ber  vie    -  le 


Krom 


inen 


über  viele       From    -    men,  ii-ber  vie   -    le  From-men 


t 


ü-ber  viele  Frommen,  ü-ber  vie  -  le  From 


men 


0  • 


3=£ 


über  viele  From  -  men,  über  viele  From-men 


in  der  letzten  wenden  sich  die  Stimmen  in  jenem  andern,  scheinbar 
vergessnen  Motiv  [b  in  No.  444)  hin  und  her;  — 


448 


i 


 *— 


2i 


zur 


Ver  -  su  -  chung  kom  - 


zur  Ver  -  su  -  chung  kommen, 


zur  Vrer-su  -  chung 


3e 


 1»- 


zur  Ver- su  -  chung    kom  -  men, 


zur  Ver- 


zur   Ver  -  su   -  chung,  zur  Ver- 


men. 


kom   -   --   --    -   --  -- 


nie». 


I 


su  -  chung  kom 


I 


men. 


su  -  chung  kom 


men. 


Google 


Die  Choralfiguration. 


471 


ist  das  zufälliges  —  oder  technisches  Spiel?  —  oder  hat  das  Wort 
»Versuchung«  so  hin  und  her  gelockt?  Das  Letztere  wäre  gar  wohl 
in  Bach's  Weise,  der  seine  Aufgabe  im  Ganzen  und  Einzelnen,  in 
den  tiefsinnigsten,  treffendsten,  gefühltesten  Zügen  und  zugleich  in 
leisen  beiläufigen,  ja  ganz  äusserlichen  Andeutungen  und  Anspie- 
lungen (man  denke  an  das  »Eli  lama«  und  dann  wieder  an  das 
»Ehe  der  Hahn  krähet«  in  der  Matthäischen  Passion)  gleichzeitig 
zu  fassen  liebt. 

Ueberblicken  wir  nun  das  Ganze,  so  findet  sich  die  erste  Strophe 
und  die  dritte  (Wiederholung  der  ersten)  figurirt,  die  zweite  und  vierte 
(Wiederholung  der  zweiten)  zwar  reich  gesungen,  nicht  aber  eigent- 
lich figurirt,  die  fünfte  und  sechste  einfach  vorgetragen,  die  siebente 
und  achte,  jede  mit  einem  andern  Motiv  aus  der  ersten,  figurirt. 
Ueberall  geht  die  Figuration  über  den  Schluss  des  cantus  firmus 
hinaus,  bei  der  letzten  Strophe  kommt  sie  ihm  zuvor;  überall  dient 
das  Instrumentale  zur  Verknüpfung  der  Gesangmassen. 

Einen  freiem  und  vollem  Anblick  gewährt  der  schon  oben 
(S.  467)  genannte  Choral.  Hier  ist  kein  eigentlich  hervortretendes 
Motiv,  sondern  die  Stimmen  gehen  um  den  cantus  firmus  herum 
und  mit  ihm  fort  in  andächtigem  Gesang;  oder  —  soll  von  einem 
Motiv  die  Rede  sein,  so  ist  es  das  in  No.  441  angedeutete,  die  Folge 
einiger  diatonischen  Schritte,  die  für  das  Instrumentale  reicher  aus- 
geführt wird.  Letzteres  lassen  wir  wieder  bei  Seite ;  das  darüber 
für  jetzt  Nöthige  ist  aus  der  frühem  Lehre  bekannt. 

Nach  einer  breiten ,  stillen  Einleitung  setzt  die  erste  Strophe 
so  ein  — 


0    Mensch,  be   -    wein'  dein'  Sün-de  gross 


be-wein\  bewein',oMensch,bewein'dein'Sündegross, 


Die  Figuralstimmen  treten  später  und  bewegter,  als  der  cantus 


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472 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


firrmts  ein,  aber  mit  einander,  so  dass  sie  insgesammt  Einen  Gegen- 
satz gegen  ihn  bilden  und  so  auch  über  ihn  hinaus  zu  Ende  gehn. 
Das  Instrumentale  führt  weiter,  zur  zweiten  Strophe,  — 


450  { 


P 


Da    -    -  rum 


Ghri  -  stus      sein's     Va    -  ters 


Da  -  rum  Christus 


sein  »  Va    -  ters 


Darum  Christus  sein's  Vaters  Schoos,      sein's  Vi 


sein's  Va     -  ters 


* — I 


Darum  Christussein  s  Vaters 


SÄ» 


E 


CT 


Schoos 


Schoos,  da-rum  Chri-stus  sein's  Va  -  ters  Schoos 


5 


Schoos,  da-rum  Chri-stus  sein's  Va-  ters  Schoos 


3= 


Schoos 


und  von  da  zur  dritten  — 


45t 


aus 


sert      und  kam  auf  Er   -  den. 


äussert  und  kam  auf  Er 


den,  äussert  und  kam  auf  Er  -  den 


äussert  und  kam  auf  Er 


den,  äussert  und  kam  auf  Er  -  den. 


tt  ^    ^        *  *  Ii" 


äussert  und  kam  auf  Er   -   den,  äussert  und  kam  auf  Er  -  den 


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Die  Choral figuration. 


473 


Hiermit  ist  der  erste  Theil  des  Chorals  geschlossen  und  wird 
bei  den  Strophen 

Von  einer  Jungfrau  rein  und  zart 
Für  uns  er  hie  geboren  ward, 
Er  wollt'  der  Mittler  werden 

Note  für  Note  wiederholt ;  nur  die  erste  Strophe  wird  vom  zweiten 
Takt  an  so  — 

452    )  rein    und      zart,  von  ei  -  ner  Jungfrau  rein    und  zart 

JSifi    £  f  >     i    J"  jTl  I  1 

^B^^^zctxUr'j  er  f  1  r_= 

zu  Ende  geführt.  Fassen  wir  nun  diese  Strophen  zusammen,  so 
sehen  wir 

h)  überall  den  cantus  firmus  als  anführende  Stimme,  die 
andern  als  nachfolgende, 

2)  die  Figuralstimmen  in  der  ersten  und  allenfalls  zweiten 
Strophe  über  den  Schluss  des  cantus  firmus  hinaus- 
gehend ; 

3)  in  der  ersten  Strophe  sehen  wir  sie  zusammengehalten 
als  eine  einige  Masse,  einen  einfachen  Gegensatz  gegen 
den  cantus  firmus  bildend; 

4)  in  der  zweiten  Strophe  zergliedert  sich  —  setzt  sich 
diese  Masse  aus  einander,  die  Stimmen  treten  einzeln 
auf,  halten  sich  übrigens  nah  zu  einander; 

5)  die  dritte  Strophe  endlich  bildet  ein  Mittleres  gegen  die 
beiden  vorherigen,  indem  sie  die  Stimmen  von  einander 
löst,  aber  doch  nicht  gänzlich ;  die  Mittelstimmen  bleiben 
beisammen,  der  Bass  folgt. 

Hiermit  ist  nach  Bach's  stets  fester,  sicher  vorschreilender 
Weise  die  Grundlage  zu  weiterem  Fortgang  gewonnen,  in  der 
Komposition  wie  im  Texte  werden  nun  gleichsam  die  Folgerungen 
des  Vorhergehenden  gezogen.  Nach  abermaliger  Instrumentalein- 
leitung tritt  die  erste  Strophe  des  zweiten  Theils  auf,  — 


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474 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


458*)  < 


Den 


1__T__J=S?^ 


Tod  -  ten  er 


das 


Le  -  ben  gab- 


Den  Todten  er  das  Le     -     -     ben  sab,  d 


1 


ben  gab,  den  Tod- 


Den  Todten  er 


das  Le    -  ben 


Den  Todten  er  das  Leben  gab,  den  Todten  erdas  Le     -     -  ben 


i 


3 — tr 


S=P= 


ten   er    das  Le 


ben  gab 


gab,  den  Tod  -  ten  er    das    Le  -  ben  gab 


m 


gab,  den  Tod-ten    er   das    Le-ben  gab 


hoch  und  gewichtvoll  gegen  den  tief  unten  einsetzenden  Bass. 
Dieser  schwingt  sich  höher  und  näher,  und  da  erst  tritt  der  All 
vermittelnd,  zuletzt  erst  der  Tenor  in  seiner  leidenschaftlichen  Weise 
zu.  Die  ganze  Komposition  hat  einen  höhern  und  freiem  Auf- 
schwung genommen,  und  zwar  im  Ganzen,  wie  in  jeder  einzelnen 
Stimme.   Dies  bedingt  die  nächste  Strophe,  — 


-cj-rJ— 4 


* 


_4  1 


454  t 


1^ 


und  legt  da-bei    all'  Krankheit  ab,    und  legt  da  -  bei  all' 


i 

*  Die  Vorzeichnung  bleibe  ein-  für  allemal  weg. 


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Die  Choral figuration. 


475 


heit  ab,  all'  Krank  heit  ab, 

2  2 


■xr 


in  der  die  Stimmen  weit  über  den  cantus  firmus  hinausgehn,  so 
wie  die  folgende,  in  der  sie  demselben  vortreten,  und  die  vierte, 
die  sie  mit  der  fünften  verbinden. 


455 


dass  er  für  uns  ge-opfert  würd',füruns  ge-op-  fert  würd',  dasser  für 


I 


uns  ge-op  - 


fort  würd',  für  uns 


ge-op  -  fert  würd', 


i 


trüg* 


unsrer 


—  für  uns  ge-op  -  fert  würd',      trüg'  unsrer  Sünden  schwere  Bürd\  — 


i 


—  un-srer  Sün-den  schwere  Bürd' 

1A  1  *  *  J>  ,  ^ 


-     t   *   = 

Wie  dann  die  letzte  Strophe  das  Ganze  wunderschön  schliesst, 
kommt  nebst  allen  nur  erwähnten  Strophen  und  den  Zwischenspielen 
des  Orchesters  hier  nicht  weiter  zur  Betrachtung. 


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476 


Die  Formen  der  Chorkomposition 


Verfolgen  wir  die  Seile  473  angeknüpfte  Uebersicht  weiter,  so 
finden  wir 

6)  in  der  dritten  (oben  ausgelassenen)  Strophe  des  zweiten 
Theiis  die  Stimmen  dem  canlus  firmus  vorangegangen, 

7}  die  vierte  und  fünfte  durch  die  Stimmen  ohne  Zwischen- 
tritt des  Orchesters  verbunden, 

8)  die  Ordnung  der  Stimmeintritte  mannigfach  verschieden, 
üeberall  herrscht  diatonische  Führung  in  den  Stimmen  vor, 
also  das  Motiv  aus  No.  441,  —  wenn  man  diese  einfachste  und 
allgemeinste  Bewegungsweise  Motiv  nennen  will,  üeberall  wird  sie 
ganz  frei  für  den  Ausdruck  —  oder  auch  bloss  für  das  Aussprechen 
des  Textes  gebraucht  und  —  wie  man  am  entschiedensten  bei  den 
Ausgängen  von  No.  449,  450,  454  und  bei  der  Strophenverbindung 
in  No.  455  sieht  —  zu  den  mannigfachsten  Resultaten  und  Schlüssen 
gelenkt.  Wie  treflend  fast  überall  das  Wort  hervorgehoben,  wie 
reich  das  Musikalische  sich  zugleich  mit  dem  Ausdruck  des  Textes 
entfaltet,  wie  erhaben  und  tief  rührend  sich  das  Ganze  in  innigster 
Wahrheit  und  Treue  des  Sinns  ausgestaltet  hat.  wird  Jeder  von 
selbst  fühlen  und  prüfen. 

Hiermit  ist  nun,  dürfen  wir  hoffen,  der  volle  Anblick  der  wich- 
tigen Form  gegeben.  Sie  ist,  wie  wir  schon  S.  466  gesagt,  nicht  bloss 
als  Kunst  form  an  sich,  sondern  als  eins  der  vornehmsten  Bildungs- 
mittel wichtig.  Wie  wir  im  Rezitativ  lernten,  eine  einzelne  Stimme 
zu  musikalischer  Rede  zu  bringen,  so  gilt  es  hier,  zwei,  drei 
Stimmen  reden  zu  lassen  (denn  das,  und  nicht  irgend  ein 
Motivenspiel  ist  offenbar  die  Hauptsache),  aber  unter  den  schwierigen 
Bedingungen,  die  ein  cantus  firmus  und  die  ihm  nothwendige  Mo- 
dulation dem  freien  Redefluss  entgegensetzen.  Daher  ist  es  aller- 
dings nicht  möglich,  sich  überall  in  voller,  freier  Kraft  dem  Ausdruck 
des  Textes  zu  widmen ;  es  genügt  aber  auch,  wenn  dessen  Haupl- 
mornente  ihrer  Bedeutung  gemäss  gefasst  und  im  Uebrigen  die  Be- 
wegungen der  Rede  im  Allgemeinen  wiedergegeben  werden.  Dies, 
und  nicht  mehr,  hat  auch  Bach  nur  gewollt  und  vermocht.  Was 
dabei  von  dem  vollsten  Ausdruck  des  Worts,  wie  er  nur  im  Rezi- 
tativ erlangbar  ist,  aufgegeben  werden  muss,  ersetzt  sich  durch  die 
festere  liedmässige  und  damit  musikalisch  reichere  Gestaltung  der 
einzelnen  Figuralmelodien  und  der  Komposition  in  ihrer  Ganzheit, 
die  sonach  gewissermaassen  als  eine  Verknüpfung  der  rezitativischen 
und  der  Liedweise  —  und  zwar  für  das  reiche  Organ  des  Chors  — 
gelten  darf. 

Hiermit  ist  auch  der  einzige  methodische  Wink  begründet, 
dessen  es  zu  der  Ausübung  dieser  Kunstform  bedürfen  kann. 

Dass  eine  solche  Komposition  leichter  und  sicherer  gelingt,  wenn 
man  sie  erst  in  leichtem  Entwurf  arbeitet  und  dann  ausführt,  ist  uns 


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Die  Choral figuration. 


477 


schon  bekannt.  War  ein  solcher  Entwurf  schon  bei  abstrakten 
Figurationen  rathsam,  so  ist  er  es  noch  mehr,  wenn  der  Text  zutritt 
und  zugleich  mit  dem  Musikalischen  Beachtung  fodert.  Hier  ist 
es  kaum  möglich,  ohne  Störung  im  Flusse  des  Entwurfs  und  damit 
in  der  Einheit  der  Komposition  überall  nicht  bloss  den  Gang  aller 
Stimmen,  sondern  auch  noch  die  vollständige  Textstellung  sofort 
festzuhalten.  Es  gentigt  aber  auch,  die  Stimmen  redend  einzu- 
führen und  hier  und  da  ein  bedeutungsvoll  hervortretendes  Wort 
wie  früher  ein  Motiv  oder  sonst  eine  entscheidende  Wendung  fest- 
zusetzen, oder  bei  einer  schneller  mit  dem  Text  zu  Ende  gekommnen 
Stimme  (oder  bei  weiterer  Ausdehnung  Uber  den  cantus  fimius 
hinaus)  die  Wiederholung  des  Textes  oder  eines  Textabschnittes 
anzudeuten.  So  könnte  z.  B.  die  erste  Strophe  des  Lutherliedes  so  — 

 =j 


456 


Ein'  fe  -  ste 

Ein'  fe 


ein'    fe  - 


Loja 


* 


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t 


2£F 


ein'  fe  -  ste 


ein 


ein*  fe 


ein'  fe-ste  Burg 

entworfen  werden;  ohne  Sorge  um  die  in  Noten  und  Text  befind- 
lichen Lücken,  die  vielleicht  in  dieser  Weise  — 


457 


IE 


5 


m 


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ein'  fe 


Sli 


1 


ste 


Burg 


ist 


p — # — r 


U — U — ^ 


Ein'  fe-ste  Burg  ist       un-scr  Gott,  ist   un-ser  Golt, 


Ein'  fe  -  ste       Bur»  ist  un 


ser  Gott, 


3 


Ein'  fe 


ste 


Burg 


ist 


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478  Die  Formen  der  Chorkomposüion. 


ü     !  m  ö  

|/  r  r  

11        un     -    -    -  ser 

4^Mt — /  =  =s*>3 — :  

ist   un  -  ser,  un  -  ser 
hrr&  w  -f  ■■    5  — b   

— f— — - — - —  

ist   un  -  ser,   un  -  ser 

H  J    n  p  P 

un    -   ser,         un     -  ser 

sich,  wenn  auch  mit  ein  Paar  Abweichungen  vom  Entwurf,  aus- 
füllen Hessen.  Dass  das  diatonische  Motiv  aus  den  vorhergehenden 
Betrachtungen  in  dies  kleine  Fragment  übergegangen,  ist  —  wie 
dessen  innerer  Werth  —  gleichgültig;  es  sollte  nur  den  einzig  nöthigen 
Fingerzeig  für  die  Weise  des  Entwerfens  und  Ausführens  geben. 


Zweiter  Abschnitt. 
Der  Text  zu  einer  einfachen  Fuge. 

Wie  früher,  so  führt  uns  auch  hier  die  Choralfiguration  zur 
Fuge.  In  jener  ist  der  Choral,  in  dieser  ist  das  Thema  der  feste 
Gedanke,  aus  dem  und  um  den  sich  die  Komposition  gestaltet. 

Dieses  Thema  war  bei  der  abstrakten  Fuge  und  ist  bei  allen 
Instrumental  fugen  durchaus  unsrer  freien  Erfindung  oder  Wahl  anheim 
gegeben.  In  der  Singfuge  muss  es,  wie  sich  von  selbst  begreift, 
vom  Text  angeregt  werden,  es  setzt  das  Thema  sowohl,  wie  die 
ganze  Singfuge  einen  Text  voraus,  der  in  ihr  Musik  werden  und 
zwar  Fugengestalt  gewinnen  soll. 

Folglich  muss  umgekehrt  ein  zur  Fugenkomposition  bestimmter 
Text  auch  für  dieselbe  geeignet  sein,  wofern  wir  nicht  bei  seiner 
Behandlung  in  mancherlei  Unannehmlichkeiten  gerathen  oder  schei- 
tern sollen.  Die  nächsten  Aufklarungen  giebt  uns  die  Anschauung 
der  Form  selbst. 

Die  einfache  Fuge  hat  bekanntlich  ein  Thema  und  ausser 
ihm  einen  Gegensatz  nöthig,  der  aber  schon  aus  dem  Thema 
selber  genommen  sein  kann.  Ausserdem  kann  in  den  Zwischen- 
sätzen und  am  Schlüsse  noch  ein  neues  Motiv,  ein  neuer  Satz 


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De?*  Text  zu  e/wer  einfachen  Fuge. 


479 


eingeführt  werden ;  dies  ist  aber  keineswegs  nöthig,  es  muss  viel- 
mehr als  Ausnahme  gelten  und  einer  Fuge,  die  ihren  ganzen  Inhalt 
aus  dem  Thema  allein,  oder  aus  Thema  und  Gegensatz  gewinnt,  der 
Vorzug  grösserer  Einheit  beigemessen  werden. 

Das  Thema  der  Fuge  ist,  wie  wir  ferner  wissen,  deren  Haupt- 
gedanke, derjenige,  aus  dem  und  um  desswillen  die  ganze  Kompo- 
sition entsteht,  muss  also  vor  allem  ein  bestimmter,  also  in  sich  selbst 
abgeschlossner  und  für  sich  redender,  —  für  sich  selbst  verständ- 
licher sein,  das  heisst:  er  muss  nach  Inhalt  und  Form  ein  Satz 
oder  eine  Periode  sein. 

Ausserdem  begehren  wir  von  ihm  mit  Recht  eine  Wichtig- 
keit, die  es  werth  erscheinen  lasse,  der  Kern  einer  ganzen  Kom- 
position zu  sein,  —  und  endlich  eine  Ausdehnung,  die  es  weder 
zu  kurz  vorübergehend,  noch  zu  umständlich  für  seine  Bestimmung 
erscheinen  lasse. 

Dies  sind  die  uns  schon  bekannten  Haupterfodernisse  desFugen- 
thema's.  Hiernach  lassen  sich  die  Erfodernisse  des  Fugentextes 
mit  Sicherheit  erkennen.  Wir  müssen  dabei ,  wie  bei  der  Fuge 
selbst,  unterscheiden,  ob  das  Thema  —  also  der  Text  desselben 
alleiniger  Inhalt  der  ganzen  Fuge  sein,  mithin  auch  den  Stoff 
zu  Gegen-  und  Zwischensätzen  geben  soll,  oder  ob  ausser  ihm  noch 
anderweite  Motive  oder  Gedanken  für  Gegen-  und  Zwischen- 
sätze herbeigezogen  werden.  Auf  diesen  zweiten  Fall  kommen  wir 
zuletzt. 

4.  Inhalt  und  Form  des  Textes  für  ein  Fugenthema. 

Das  Nächste,  was  wir  vom  Text  für  ein  Fugenthema  ver- 
langen, ist:  dass  er  einen  bestimmten,  in  sich  geschlossnen  Gedanken 
ausspreche,  der  nach  Kraft  und  Gestalt  zu  einem  Thema  werden 
könne,  —  zum  Vereinigungs-  und  Mittelpunkte  für  einen  Chor  und 
zur  Hauptidee  einer  Fuge.  Auch  hier  werden  wir  wieder  an  die 
Bibel  gewiesen,  die  uns  die  glücklichsten  Aufgaben  zur  Ausführung, 
oder  Vorbilder  zur  Nachbildung  darbietet.   Sätze  wie 

Herr,  strafe  mich  nicht  in  deinem  Zorn,  — 
Gross  sind  die  Werke  des  Herrn,  — 
Wohl  dem,  der  den  Herrn  fürchtet,  — 

(Ps.  38,  2,  Ps.  4  4  4,  2,  Ps.  4  42,  4)  entsprechen  nach  der  in  ihnen 
ausgesprochnen  oder  für  sie  voraussetzlichen  Stimmung  und  nach 
ihrer  festen  Abgeschlossenheit  sofort  der  Vorstellung,  die  wir  von 
einem  Thema  bereits  mitbringen.  Dasselbe  gilt  von  diesen  Sätzen, 

Herr,  ich  traue  auf  dich;  lass  mich  nimmermehr  zu  Schanden  werden,  — 
Ich  hoffe  auf  den  Herrn,  darum  werde  ich  nicht  fallen,  — 

(Ps.  74,  4,  Ps.  29,  4},  die  durch  ihre  zwei  Glieder  vielleicht 
periodische  Gestaltung  veranlassen  würden. 


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480 


Die  Formen  der  Chorkomposüion. 


Andern  Sätzen  fehlt  bald  die  feste  Abgeschlossenheit  ihres  In- 
halts, z.  B.  Ps.  57,  2,  Ps.  56,  2,  Ps.  74,  5  — 

Sei  mir  gnädig,  Gott,  sei  mir  gnädig;  denn  auf  dich  trauet  meine 
Seele,  und  unter  dem  Schatten  deiner  Flügel  habe  ich  Zuflucht,  bis 
dass  das  Unglück  vorübergehe,  — 

Gott,  sei  mir  gnädig,  denn  Menschen  wollen  mich  versenken ;  täglich 
streiten  sie  und  ängstigen  mich,  — 

Denn  du  bist  meine  Zuversicht,  Herr,  Herr,  meine  Hoffnung  von 
meiner  Jugend  an,  — 

(abgesehn  von  manchem  nicht  Tongemässen  in  ihnen),  bald  ist  schon 
die  Form  der  Abfassung  —  und  zwar  besonders  die  Fragform,  z.  B. 
Ps.  74,  I,  — 

Gott,  warum  verstössest  du  uns  so  gar? 

wegen  ihres  unfesten,  in  sich  unbefriedigten  Abschlusses  der  Ueber- 
tragung  auf  ein.  Fugenthema  ungünstig. 

Wir  haben  oben  mit  Recht  verlangt,  dass  der  Text,  wie  das 
Thema  der  Fuge,  ein  für  sich  abgeschlossner  Satz  sei,  also  vor 
allen  Dingen  für  sich  selbständigen  Sinn  gebe.  Diese  Foderung 
bedarf,  sobald  wir  bei  der  Vorstellung  einer  für  sich  allein  stehenden 
Fuge  beharren,  keiner  weiteren  Rechtfertigung.  Sobald  aber  die  Fuge 
nur  Theil  eines  grössern  Ganzen  ist,  kann  ihr  Thema  gar  wohl  an 
einen  Satz  geknüpft,  ein  Satz  ihr  zum  Thema  werden,  der  nur  in 
Bezug  auf  etwas  Vorausgehendes  seine  volle  Verständlichkeit  und 
Bedeutung  gewinnt.  Wenn  z.  B.  Händel  in  seinem  Messias  die 
Worte 

Durch  seine  Wunden  sind  wir  geheilet, 

oder  in  seinem  Israel  die  Worte 

Sie  konnten  nicht  trinken  das  Wasser,  denn 
der  Strom  war  verwandelt  in  Blut 

für  eine  Fuge  benutzt,  so  kann  allerdings  keiner  dieser  Sätze  ohne 

die  vorausgehende  Mittheilung,  —  dass  der  Heiland  es  sei,  durch 

den  wir  unser  Heil  finden  sollen,  dass  der  Strom  der  Aegypter  zu 

ihrer  Plage  verwandelt  sei,  —  vollkommen  verstanden  werden. 

Allein  diese  Vorausschickung  ist  ja  erfolgt;  und  sie  vorausgesetzt, 

geben  die  Texte  einen  genügenden  und  für  die  sie  Bekennenden 

oder  Aussingenden  bedeutsamen  Sinn.* 

•  Hiermit  findet  auch  ein  öfters,  unter  andern  von  Gottfr.  Weber  gegen 
einen  Theil  des  Messentextes  angeregtes  Bedenken  seine  Erledigung.  Sehr 
häufig  und  so  auch  in  Mozart's  Requiem  sind  die  Worte  Quam  olim  Abrahae 
promisisti  et  semini  ejus  zu  einem  Fugenlhema  benutzt,  durchfugirt  worden. 
Allerdings  geben  sie  für  sich  allein  keinen  Sinn,  sie  sagen  nicht,  was  ver- 
sprochen ist  und  wer  versprochen  hat.  Allein  aus  dem  vorhergehenden  Text 
wissen  wir,  dass  es  die  lux  sunt  ta  oder  vita  aeterno  ist,  die  Gott  seinem  Volke 
verheissen  hat  ;  und  dies  vorausgesetzt,  giebt  der  Fugentext  einen  nicht  bloss 
verständlichen,  sondern  für  die,  die  auf  Erfüllung  der  Verhe issung  hoffen,  auch 
anregenden,  beherzigenswerthen  Sinn.  —  Es  kommt  dazu,  dass  die  Komponisten 


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Der  Text  zu  einer  einfachen  Fuge.  481 

2.  Ausdehnung  des  Textes  für  ein  Fugenthema. 

Schon  bei  der  rein  musikalischen  Erwägung  des  Fugenthema's 
mussten  wir  zu  weite  Ausdehnung  ablehnen,  konnten  uns  aber 
allerdings  einem  bloss  äusserlichen  Messen  nicht  unterwerfen,  ein 
äusserliches  Gesetz,  —  wie  lang  das  Thema  sein  müsse  oder  nicht 
sein  dürfe,  —  weder  geben  noch  anerkennen.  Dasselbe  Verhältniss 
tritt  bei  dem  Fugentext  ein. 

Wir  können  sehr  leicht  aussprechen :  ein  Fugentext  müsse  lang 
genug  sein,  um  einem  Fugenthema  zur  Grundlage  zu  dienen,  —  und 
nicht  so  lang,  um  zu  einer  ungünstigen  Ausdehnung  des  Thema's 
zu  nöthigen.  Den  allgemeinen  Grundsatz  wird  man  für  wahr  aner- 
kennen müssen,  aber  zugleich  für  unzulänglich.  Denn  es  fehlt  ihm 
nicht  nur  jede  nähere  Bestimmung  und  muss  ihm  fehlen,  weil  es 
kein  absolutes  äusserliches  Maass  für  das  Thema  (Th.  II.  S.  244) 
giebt;  sondern  es  kann  durch  die  Behandlung  des  Textes,  wie  wir 
gleich  sehen  werden,  ejnem  an  sich  selber  ungünstig  oder  un- 
brauchbar erscheinenden  Texte  gar  viel  abgewonnen  werden. 

Sehr  oft  ist  das  eine  Wörtchen 

Amen ! 

oder  sind  die  Gebetrufe 

Kyrie  eleison,  — 
Christe  eleison,  — 
Halleluja,  — 

fugirt  worden,  die  freilich  in  nackter  Uebertragung  nur  zwei,  vier, 
sieben  Noten  ergeben  würden,  die  aber,  wie  man  sogleich  sieht, 
im  »Singe na  (S.  461)  oder  durch  Wiederholung  zu  genügender 
Tongestalt  —  man  betrachte  nur  das  Amen-Thema  am  Schlüsse  von 
Händel's  Messias  — 


458 


A  men,  a  men 

ausgeführt  werden  können.  Auf  der  andern  Seite  haben  sich  auch 
sehr  umfassende  Texte  behandelbar  erwiesen,  z.  B.  der  nachstehende, 
ebenfalls  aus  dem  Messias. 

«•  lg  r  i  p  p  I  fz^-r-yjr^^tx^^i 

Er  trau-e-te  Gott,  der  hei     -     fe  ihm  nun  aus,  und  der  er- 


ret  -  te   ihn,      hat    er   Ge  -  fall'n  an  ihm. 


hier  einer  gewichtigen  Kunstform  zum  Abschluss  eines  Abschnittes  der  Messe 
bedürfen  und  jenen  Satz  gern  dafür  benutzen,  da  es  nicht  unstatthaft  erscheint. 

Marx,  Korap.-L.  III.  5.  Aufl.  34 


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482 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


Hiermit  haben  wir  nun  die  Erfodernisse  des  Fugentextes  im 
Allgemeinen  in  das  Auge  gefasst,  uns  aber  auch  wieder  über- 
zeugt, dass  erst  das  tiefere  Eingehen,  die  Prüfung  jedes  einzelnen 
Textes  genügende  Belehrung  und  Förderung  verspricht.  Daher 
treten  wir  denn  aus  dem  abstrakt-Theoretischen  wieder  auf  den 
Standpunkt  des  Komponisten. 

Nicht  immer  soll  —  meistens  kann  nicht  der  zur 
Fugenkomposition  ausersehene  Text  alleiniger  Inhalt  der  Fuge  sein, 
so  wenig  wie  in  den  abstrakten  Uebungen  oder  der  Instrumental- 
komposition das  Thema  mit  seinen  Motiven  jedesmal  den  Inhalt 
für  die  ganze  Komposition  hergeben  kann  und  soll.  Vielmehr 
finden  wir  die  Mehrzahl  der  Texte,  die  zur  Fugenkomposition 
veranlassen,  entweder  zu  ausgedehnt,  oder  mit  Vor-  und  Bei- 
sätzen verbunden,  die  zwar  nicht  zu  entbehren,  doch  aber  nicht  so 
eng  mit  dem  Hauptgedanken  verbunden  sind,  dass  sie  mit  jenem 
in  das  Fugenthema  treten  müssten.  Alles  nun,  was  vom  Texte 
nicht  auszuscheiden,  aber  auch  nicht  für  das  Fugenthema  selbst  zu 
gebrauchen  ist,  findet  seine  Anwendung 

1)  im  Gegensatze, 

2)  in  den  aus  Thema  und  Gegensatz  sich  entwickelnden 
Zwischensätzen, 

3)  in  besondern,  zur  Fuge  selbst  gar  nicht  gehörigen  Ein- 
leitungs-,  Schluss-  und  fremden  Zwischensätzen. 

Betrachten  wir  z.  B.  den  nachstehenden,  aus  Psalm  38,  22  ge- 
nommenen Text: 

Verlass  mich  nicht,  Herr,  mein  Gott,  —  sei  nicht  ferne  von  mir, 

so  könnte  derselbe  seiner  Ausdehnung  nach  gar  wohl  vollständig  in 
das  Fugenthema  treten,  man  könnte  ihn  vielleicht  so  — 

460       (Alt)  jer " 

ftefft.  j  J Ig  LflJL  aj  \  g|C;g  cp^p 

Verlass  mich  uicht,  Herr,  mein  Gott,  sei  nicht  fer  -  ne  von  mir,  sei  nicht 
lass         mich  nicht  

fer  -  ne  von    mir,  Herr 

setzen.  Sollte  die  Stimmung  eine  leidenschaftlichere  sein ,  so 
würde  schon  das  Thema  gedrängtere  Gestalt  annehmen  müssen, 
und  dann  wär'  es  ralhsam,  schon  den  Text  zu  theilen,  seinen 
zweiten  Abschnitt  für  den  Gegensatz  zu  bestimmen;  es  könnten 
z.  B.  Thema  und  Gegensatz  sich  folgendermaassen  — 


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461 


m 


Der  Text  zu  einer  einfachen  Fuge. 

(AH.) 


483 


(Tenor.)  . 

r,.  f  ff 


Ver  -  lass      mich    nicht,  Herr,  mein 


Ver-lass  mich  nicht,  Herr, mein  Gott,      sei  nicht  fer-ne  von 
Ver    -  lass 


Gott,  sei 


iott, 


nicht       fer  -  ne 


mir,  sei 


nicht      fer   -  ne 


gestalten.  Diese  Auffassung  ist  auch  für  den  Text  die  schärfere 
und  energischere,  da  dessen  zweite  Hälfte  nur  die  schwächere 
Wiederholung  der  ersten  ist. 

Hier  hing  es  von  uns  ab,  wie  wir  den  Text  auffassen  und 
vertheilen  wollten ;  in  andern  Fällen  tritt  die  Nothwendigkeit  einer 
Eintheilung  schärfer  hervor.    So  im  Psalm  417: 

1.  Lobet  den  Herrn,  alle  Heiden; 

2.  preiset  ihn,  alle  Völker! 

3.  Denn  seine  Gnade  und  Wahrheit  waltet  Uber  uns  in  Ewigkeit, 
Halleluja ! 

Hier  versteht  sich  von  selbst,  dass  schon  nach  äusserem  Maasse 
nicht  der  ganze  Text  Fugenthema  werden  kann.  Prüfen  wir  ihn 
näher,  so  findet  sich,  dass  er  wenigstens  aus  zwei  wohl  unter- 
schiednen  Partien  besteht;  die  erste  (mit  1.,  2.  bezeichnete),  die  den 
Aufruf  zum  Lobgesang,  —  die  andere  (mit  3.  bezeichnete) ,  die  das 
von  Gott  hier  Gepriesene  oder  zu  Preisende,  den  Grund  zum  Lob- 
gesang, enthält.  Die  erste  Partie  zerfällt  ferner,  wie  die  Nummern 
andeuten,  abermals  in  zwei  denselben  Gedanken  wiederholende  Ab- 
schnitte. Von  der  andern  Partie  ist  aber  ebenfalls  der  Jubel-  oder 
Feierruf  »Halleluja«  auszuscheiden;  ja,  wir  können,  sobald  wir 
wollen,  auch  noch  die  Worte  »in  Ewigkeit«  vom  Hauptsatze  trennen, 
ohne  dessen  Sinn  zu  stören  oder  wesentlich  zu  beeinträchtigen. 
Wie  sollen  wir  nun  diesen  Text  behandeln  ?  —  Wir  werden  die 
erste  Partie  als  blosse  Einleitung  zum  Hauptsatz  aufzufassen  haben ; 
der  Kern  des  Hauptsatzes  — 

»Denn  seine  Gnade  und  Wahrheit  waltet  über  uns  in  Ewigkeit« 

31* 


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484 


Die  Formen  der  Chorkomposition 


wird  Fugentheina  werden,  der  Ausruf  »Halleluja«  wird  Gegensatz 
und  Zwischensatze,  —  vielleicht  auch  bloss  einen  Anhang  bilden ; 
vom  Hauptsätze  selbst  können  wir  nach  Umständen  die  Worte  »in 
Ewigkeit«,  ja  sogar  den  ganzen  Schluss,  »über  uns  in  Ewigkeit«, 
loslösen  und  in  den  Gegensatz  statt  in  das  Thema  stellen. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Sanctus  (Jes.  6,  3),  — 

1.  Heilig,  heilig,  heilig  ist  der  Herr  Zebaoth, 

2.  alle  Lande  sind  seiner  Ehre  voll ! 

in  dem  die  mit  \ .  bezeichnete  Partie  sich  als  Einleitung  zu  der  mit 
2.  bezeichneten  darstellt.  Die  letztere  ist,  da  sie  das  Bestimmtere 
aussagt,  oder  wenigstens  die  weitere  und  schliessen de  Ausführung 
der  ersten  giebt,  als  Hauptsatz  oder  wenigstens  als  Beschluss  und 
insofern  Befriedigung  des  Ganzen  anzusehn  und  kann  Fugenthema 
werden.  —  Im  Messentext  folgt  übrigens  noch  das  Osanna  in  excelsis 
und  wird  zur  Fugirung  benutzt. 

Es  muss  einleuchten,  dass  auch  hier  das  Studium  und  die  Auf- 
fassung, die  erste  Einrichtung  des  Textes  von  entscheidender  Wich- 
tigkeit sind.  Allerdings  lassen  viele  Texte,  —  wie  unsre  Beispiele 
selbst  schon  zeigen,  —  mehr  als  eine  Auffassung  und  Einrichtung 
zu;  allein  daraus  folgt  keineswegs,  dass  jede  gleichbedeutend  und 
dass  jede  richtig  sei.  Was  man  auch  von  jenen  in  No.  460  und 
461  aus  dem  Stegreif  gegebnen  Auffassungen  der  Worte  ; 

Verlass  mich  nicht,  Herr,  mein  Gott,  sei  nicht  ferne  von  mir, 

und 

Verlass  mich  nicht,  Herr,  mein  Gott, 
als  Fugentheniate  urtheilen  und  wie  man  sie  auch  anders  komponiren 
möge  (vorausgesetzt,  dass  man  nicht  absichtlich  die  eine  stärkt, 
die  andre  schwächt,  sondern  ehrlich  und  unbefangen  sich  dem  Wrort- 
gehalt  und  der  Stimmung  überlässt)  :  immer  wird  der  breitere  Text 
zu  einem  fliessendern  und  beweglichem,  der  enger  zusammengefasste 
zu  einem  schärfern  und  energischem  Thema  führen  —  und  es  wird 
keines  von  beiden  absoluten  Vorzug  behaupten  können ;  jenachdem 
die  Stimmung  und  der  Sinn  des  ganzen  Werks  sich  erweisen,  wird 
das  eine  oder  das  andre  das  rechte  sein.  WTelche  Kräfte  man  auch 
zur  Komposition  mitbringe,  stets  wird  bei  der  Auffassung  des 
\  17.  Psalm  (S.  483)  die  zweite  Partie  Hauptsatz  und  —  wenn  eine 
Fuge  eintreten  soll  —  Fugentext  werden  müssen.  Wollte  man  es 
umkehren,  so  würden  erstens  die  allgemeinem  Aeusserungen  der 
ersten  Partie  keinen  prägnanten  Anlass  zu  einem  Thema,  —  das 
heisst  zu  einem  bestimmten  und  durch  Bestimmtheit  karakte- 
ristischen  und  wichtigen  Kernsatze,  —  geben;  zweitens  würde 
der  Text  zum  Thema  durch  Spaltung  in  zwei  Dasselbe  aus- 
sprechende Abschnitte  unkonzentrirt  erscheinen  und  die  energische 
Komposition  eines  einheitvollen  Thema  s  —  wenn  man  dem  Sinn  der 


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Der  Grundbegriff  der  einfachen  Singfuge. 


485 


Worte  nicht  abfallen  will  —  hindern;  drittens  würde  der  be- 
stimmtere, der  eigentliche  Hauptgedanke  aus  dem  Hauptsatze  der 
Komposition,  aus  der  Fuge  verdrängt  und  könnte  nur  zu  einem  An- 
hange, gleichsam  zu  einem  Schlusssatze  für  die  Hauptpartie  (S.  484) 
benutzt  werden,  hier  aber  nicht  zu  gebührender  Beherzigung  kommen. 
—  Diese  Ausführung  bestärkt  sich,  wenn  man  des  Grundgedankens 
der  Fuge  sich  erinnert :  dass  ein  wichtiger  Gedanke  zuerst  von  Einem 
aufgefasst  wird,  dann  einen  Zweiten,  Dritten,  nach  und  nach  Alle 
ergreift.  Allgemeine  Gedanken,  wie  unser  »Lobet  den  Herrn«, 
sind  Gemeingut  Aller,  liegen  in  eines  Jeden  Sinne  schon  reif  und 
bereit;  sollen  sie  zum  Ausspruch  kommen,  so  ist  es  ihrer  Natur 
gemäss,  dass  Alle  gleichzeitig  oder  im  schnellsten  Aneinanderschliessen 
sie  bekennen.  Der  besondre  Gedanke  dagegen  wird  seiner  Natur 
nach  erst  von  irgend  Einem  erfasst  und  ausgesprochen,  und  geht 
dann  von  diesem  auf  Andre  und  Alle  über.  Dies  ist  aber  der  Sinn 
der  Fuge. 


Dritter  Abschnitt. 
Der  Grundbegriff  der  einfachen  Singfuge. 

Nach  der  Verständigung  über  den  Text  und  nachdem  wir  die 
Fugenform  längst  im  Abstrakten  kennen  gelernt,  bedarf  es  wieder 
nur  allgemeiner  Betrachtungen  und  einzelner  Fingerzeige  für  die 
Singfuge.  Es  wird  hierbei  die  etwaige  Einleitung  derselben ,  die 
Unterbrechung  durch  fremde  Zwischensätze  und  die  Zuziehung  von 
Instrumentalbegleitung  ganz  bei  Seite  gelassen.  An  der  Stelle  der 
Letztern  werden  wir  nur  in  gewissen  Fällen  eines  gehenden  Basses 
{basso  continuo)  bedürfen. 

Die  Singfuge  nun  bietet  zwei  Seiten :  einmal  insofern 
sie  eine  Form  ist,  in  der  ein  bestimmter  Text  zu  musikalischem 
Ausdrucke  kommt;  dann  als  Musikstück,  das  schon  als  solches 
vermöge  seines  musikalischen  Inhalts  auf  uns  wirkt.  Beide  Seiten 
müssen  nothwendig  mit  einander  vorhanden  sein;  doch  kann 
bald  die  eine,  bald  die  andre  vorwalten.  Sonach  hat  die  Singfuge 
zwiefache  Bestimmung  an  sich  und  kann  bald  der  einen,  bald 
der  andern  zugeneigter  sein.  Sie  kann  erstens  ihrem  eigenthüm- 
lichen  Sinne  gemäss  angewendet  werden  als  eine  Kunstform,  in  der 
sich  dieser  bestimmte  Gedanke,  das  Thema,  oder  vielmehr  der 
Sinn  des  Textes,  der  die  Fugenform  um  seiner  selbst  willen,  nach 
seiner  eignen  Bedeutung  erfodert,  —  angemessen  ausspreche.  Oder 
sie  kann  zweitens  als  eine  bedeutende  und  bei  beliebig  weiter 


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466 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


Ausarbeitung  doch  stets  einheitvolle  Form  verwendet  werden,  als 
ein  durch  seinen  musikalischen  Inhalt  wirkendes  Ton  stück ,  das  um 
seiner  selbst  willen  da  ist,  oder  auch,  zu  kraftvoll  befriedigendem 
Abschluss  eines  grössern  Werkes  oder  Theiis  eines  solchen  dienen 
soll.  Dieser  Unterschied  ist,  wie  wir  bald  erkennen  werden,  ein 
entscheidend  einflussreicher,  und  wir  dürfen  ihn  nicht  aus  der  Aoht 
lassen.  Gleichwohl  werden  wir  die  aus  ihm  hervorgehenden  zweierlei 
Gestaltungen  öfters  ihre  Stelle  wechseln  sehn,  bisweilen  aus  Grün- 
den, die  im  besondern  Werke  liegen,  bisweilen  —  nach  dem  Lauf 
alier  menschlichen  Dinge  —  mit  Unrecht. 

A.  Die  redende  Sing  fuge. 

Wir  betrachten  zuerst  die  Singfuge  von  der  erstem  Seite,  in 
der  sie  ihre  ursprüngliche  und  reine  Bestimmung  zu  erfüllen,  ihren 
Textgedanken  tonkünstlerisch  auszusprechen  hat.  Nach  dieser  Seite 
nun ,  —  ohne  alle  äussern  Rücksichten  auf  den  Zusammenhang 
eines  grössern  Werks ,  auf  Vorliebe  für  die  bei  aller  Einheit  so 
weit  ausführbare  Fugenform  u.  s.  w.,  —  hat  die  Singfuge  zunächst 
nur  den  einen  Zweck :  das  Thema ,  nämlich  den  dem  Thema  zu 
Grunde  liegenden  Text,  musikalisch  auszusprechen,  und  zwar  nach 
einander  in  allen  Stimmen  zur  Sprache  zu  bringen  und  durch  den 
aus  ihm,  oder  zu  ihm  sich  ergebenden  Gegensatz  in  das  rechte  Licht 
zu  stellen.  Daher  der  ihr  oben  gegebne  Name,  der  sie  nur  im 
Lehrgange  unterscheiden  soll. 

Nach  diesem  ihrem  Sinn  ist  ihr  erstens  und  vor  allem  ein 
geeigneter  Text  von  gedrungener  Wichtigkeit  nöthig. 

Daher  ist  die  zweite  Aufgabe  die,  diesen  Text  in  seiner  Tiefe 
und  vollen  Kraft  zu  erfassen  und  zum  Fugenthema  zu  gestalten.  Je 
treffender  im  Ganzen  und  in  jedem  Zuge  das  Wort  in  Musik  über- 
gegangen, je  weniger  ein  Wort  des  Textes  in  seiner  Bedeutung 
verloren  gegangen,  eine  Note  —  oder  ganze  Motive  bedeutungslos, 
also  nicht  bloss  Überflüssig,  sondern  hemmend  und  verdunkelnd  ge- 
setzt worden :  desto  kräftiger  und  befriedigender  ist  das  Wort  in 
seinem  Hauptgedanken  begründet. 

Ein  in  solchem  Sinne  gebildetes  Thema  wird  jederzeit  ein 
redendes  sein,  das  heisst  eine  getreue  und  tiefe  Auffassung  und 
Uebertragung  des  Text-Gedankens  in  Musik,  nicht  bloss  eine  mehr 
oder  weniger  interessante  oder  allenfalls  die  allgemeine  Stimmung 
in  eben  so  allgemeinen  Zügen  andeutende  musikalische  Phrase.  Es 
wird  aber  ferner  ein  plastisches,  ein  festgestaltetes  sein,  das 
heisst  nicht  eine  in  rezitativischer  Freiheit  auf  Töne  gebrachte  Dekla- 
mation der  Wrorte  (was  bekanntlich  nicht  einmal  für  das  Rezitativ 
in  seiner  höchsten  Bedeutung  genügt) ,  sondern  bei  aller  Treue  für 
das  einzelne  Wort  und  bei  aller  Energie  in  der  Aussprache  des- 


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Der  Grundbegriff  der  einfachen  Singfuge.  487 

selben  zugleich  ein  fest  ausgebildeter,  in  seinem  Gesammtwesen  dem 
Sinn  des  Textes  in  seiner  Ganzheit  entsprechender  —  oder  vielmehr 
gleichbedeutender,  ihn  zum  wirklichen  und  erhöhten  Leben  bringen- 
der Musikgedanke. 

Es  mag  zugestanden  sein,  dass  diese  zwiefache  Foderung  sich 
nicht  so  hantig  erfüllt  sieht.  So  hohe  Erfüllung  kann  nur  dem 
durchgebildeten  und  von  seinem  Gegenstande  ganz  erfüllten  Künstler 
zu  Theil  werden.  Allein  dies  sind  eben  —  wie  oft  man  auch  Eins 
oder  das  Andre  misse  oder  vergessen  und  leugnen  wolle  —  die  un- 
erlässlichen  Bedingungen  künstlerischen  Voll-Gelingens;  und  der  in 
sich  begründeten  Foderung  lässt  sich  nichts  abdringen  aus  äusser- 
licher  Rücksicht  auf  den  hier  oder  dort  fühlbaren  Mangel  des  ein- 
zelnen Künstlers,  oder  einzelner  Werke. 

Wohl  darf  schon  das  in  No.  459  mitgetheilte  HändePsche  Thema 
ein  entsprechendes  beissen.  Hart  und  düster  wirft  es  in  seiner 
entsprechenden  Tonart  das  »Er  trau- ete  Gott«  hin,  über  das  letzte 
Wort  scheu  und  trotzig-schnell  weggehend  zu  dem  hämisch  ab- 
brechenden zweiten  Gliede  »der  hel-fe  ihm  nun  aus«,  dann  heraus- 
fodernd  und  pochend  auf  das  »und  der  er-ret-te  ihn«  und  dann 
verachtungsvoll  ruhig  zurückgehend.  Ein  verwandter  Sinn  spricht 
sich  in  diesem  Thema  von  Bach  aus.* 


Sie     ha  -  ben  ein  har-ter  An- ge  -  sieht  denn  ein    Fels,  und 


 j  — — 


wol  -  len  sich  nicht  be  -  keh       -  ren. 

Die  Tonart  ist  G  moll.  Ernster  und  kälter  setzt  sich  das  Thema 
auf  der  Unterdominante,  schlägt  bei  dem  »här-ter«,  wie  in  Un- 
willen zurückgewendet,  hinunter  auf  die  Terz  des  neuen  Dominant- 
akkordes (vielmehr  in  den  gepressten  verminderten  Dreiklang,  —  so 
dass  die  angedeutete  Harmonie,  das  Abfallen  der  Tonrichtung,  die 
kleine  Quinte  der  Melodie,  die  Unaufgelöstheit  des  c  mit  dem  zurück- 
kehrenden Gmoll  zusammenwirken  zu  dem  Einen  Ausdruck  der 
unwilligsten  und  doch  mitleidvoll  theilnehmenden  Missbilligung),  zieht 
das  »denn «  zaudernd  nach  und  wirft  dann  das  strafende  Vergleichs- 
wort »Fels«  hart  und  schroff,  wie  der  felsharte  Sinn  ist,  hin.  So 
schlagend  hier  jedes  Wort  hingestellt  ist,  ganz  eben  so  treffend 
trödelt  und  schlendert  die  Melodie  bei  dem  »und  wollen  sich  nicht 
bekehren«  hinab  und  zu  Ende,  —  oder  vielmehr  ohne  deutliches 


*  Aus  der  bei S i m r o c k  in B o n n herausgegebenen  Kirchenmusik :  »Herr, 
deine  Augen  sehen  nach  dem  Glauben«. 


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4SS 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


Ende  in  den  Gegensatz  hinein,  —  wie  eben  das  in  Gleichgültigkeit 
und  Engherzigkeit  verdrossen  hinschlendernde  Wesen  der  Glaubens- 
und Liebeleeren.* 

Ist  nun  das  Thema  in  Fülle  der  Wahrheit  ausgesprochen,  so 
ist  damit  zugleich  der  Hauptgedanke  und  Hauptinhalt  des  Ganzen  in 
einer  Kraft  und  Klarheit  hingestellt,  die  nur  in  einer  Gesangkom- 
position, nur  in  dem  Zusammenwirken  von  Wort  und  Ton  —  von 
dem  klar  und  schnell  bestimmenden  Wort  und  der  ausfüllenden  und 
auslegenden  Musik  —  erlangbar,  jeder  Instrumentalwirkung  an 
Schnellkraft  und  Sicherheit  der  Wirkung  durchaus  Uberlegen  ist. 

Hier  knüpfen  wir  nun  die  dritte  und  wie  uns  scheint  wich- 
tigste Bemerkung  an ;  die  wichtigste,  weil  wir  sie  nicht  ohne  Opfer 
an  dem,  was  wir  in  der  Fugenkunst  bereits  errungen  und  lieb- 
gewonnen, bethätigen  können.  Wir  gehen  dabei  von  einem  allge- 
meinen Grundsatz  aus,  der  sich  schon  in  mannigfachen  Gestalten 
gezeigt  und  bewährt  hat. 

Je  inniger  das  Gemüth  von  irgend  einer  Empfindung  oder  Vor- 
stellung ergriffen  ist,  desto  fester  hält  es  an  derselben,  desto  ent- 
schiedener hält  es  alles  Andre  als  üeberüüssiges  oder  Störendes  sich 
fern.  Und  eben  so  :  je  tiefer  wir  wirken  wollen,  desto  mehr  müssen 
wir  unsre  Wirkungskraft  auf  Einen  Punkt  beschränken,  damit 
das  Gemüth  des  Andern  von  diesem  einen  Moment  und  von  gar 
nichts  weiterem  berührt  und  erfüllt  werde.  Auf  diesem  einen  (nur 
von  zwei  Seiten  festgestellten)  Grundsatze  beruht  die  Lehre  vom 
Festhalten  des  Motivs  und  die  Form  der  Fuge  selber. 

In  der  Fuge  nun,  —  auch  in  der  am  weitesten  ausgeführten, 
—  ist  und  bleibt  allerdings  das  Thema  Hauptgedanke.  Aber  es  bleibt 
nicht  der  einzige  Gedanke.  Vielmehr  tritt  ihm,  je  weiter  die  Fuge 
sich  ausdehnt,  immer  mehr  und  mehr  Anderes  als  Gegensatz  und 
Zwischensalz  gegenüber,  es  treten  Engführungen,  Verkehrungen, 
Orgelpunkt  u.  s.  w.  auf,  die  zum  Theil  das  Thema  selber  in  sich 
begreifen,  aber  doch  zum  andern  Theil  auch  Fremdes  oder  neue 
Beziehungen  und  Verhältnisse  des  Thema's.  Dies  alles  ist  erst  der 
volle  Inbegriff  der  Fuge  und  Vieles  davon  oder  sogar  Alles  kann 
möglicherweise  in  einem  einzelnen  Kunstwerke  zur  Sache  gehören. 
Gleichwohl  wissen  wir,  dass  die  geistige  Vollkommenheit  eines 
Kunstwerks  nicht  von  seiner  materiellen  Ausdehnung  abhängt,  dass 
der  Werth  einer  Fuge  nicht  durch  die  Zahl  ihrer  Durchführungen 
bedingt  wird,  dass  es  nicht  erfoderlich,  nicht  einmal  ausführbar  ist, 
in  einer  einzigen  Fuge  alle  Beziehungen  ihres  Thema's**  zu  geben, 

*  Aehnliche  Vorbilder  sind  gelegentlich  im  Th.  II  gegeben  und  mehrere 
in  den  Werken  der  Meister,  besonders  Seb.  Bachs,  zu  finden. 

**  Vogler  hat  in  seiner  Fugenkunst  eine  Art  von  Modell-Fuge  gegeben, 
die  Alles  enthalten  soll  —  und  doch  nicht  enthält;  abgesehen  davon,  dass  sie 
an  dem  Streben  nach  Allumfassen  auseinandergegangen  ist. 


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Der  Grundbegriff  der  einfachen  Sing  fuge.  489 

alle  Wendungen  und  Gestalten  der  Fugenform  zu  erschöpfen.  Ueberall 
bildet  die  besondre  Idee  des  Kunstwerks  einen  abgeschlossnen  Kreis 
von  Gestalten  um  sich  her,  in  dem  sie  ihren  genügenden  Ausdruck 
findet;  was  darüber  geschieht,  ist  überflüssig,  also  belästigend, 
erschöpfend,  störend. 

Nun  zur  Sache  zurück. 

Die  Singfuge  bedarf  eines  weit  weniger  ausge- 
dehnten Kreises,  um  ihre  Aufgabe  zu  erfüllen,  als  die  abstrakte 
oder  Instrumentalfuge.  Denn  schon  ihr  Thema  spricht  mit  Hülfe  des 
Textes  seinen  Inhalt,  also  den  Hauptinhalt  der  Fuge  selber,  ungleich 
entschiedner  aus,  als  das  wortlose  Thema  der  nicht  gesungenen 
Fuge.  Folglich  bedarf  es  nicht  so  zahlreicher  Wiederholungen,  als 
das  Thema  der  Instrumental  fuge. 

Ist  also  die  erste  Durchführung  der  Singfuge  gesetzt,  so  ist 
weit  mehr  geschehen  oder  erreicht,  als  in  der  Instrumentalfuge  am 
gleichen  Punkt.  Erkennen  wir  nun,  dass  nach  dieser  ersten  Durch- 
führung keine  weit  ausgeführte  Arbeit,  keine  grosse  Reihe  von  neuen 
Durchführungen  stalthaben  wird,  so  bedarf  es  keiner  umständ- 
lichen Abschliessung  des  ersten  Theils,  wie  wir  der 
Grundform  zufolge  in  den  abstrakten  und  Instrumenlalfugen  rathsam 
fanden.  Beschränkt  sich  die  Zahl  der  Durchführungen,  so  bedarf  es 
ferner  keiner  so  ausgedehnten  Modulation,  folglich  auch 
keines  —  oder  keines  ausgeführtem  Orgelpunkts,  —  dessen 
Halteton  ohnehin  über  lebende  Stimmen  unlöbliche  Todtheit  ver- 
breitet, der  Lebendigkeit  des  Gesangs  und  dem  Sinn  der  Sprache 
gleichmässig  zuwider  ist,  —  und  ferner  wird  weder  Notwendigkeit 
noch  selbst  Raum  für  zahlreiche  besondre  Gestaltungen  (man- 
nigfache Engführungen,  Durchführungen  in  der  Vergrösserung  und 
Verkleinerung  u.  s.  w.)  vorhanden  sein.  Ja,  manche  dieser  Ge- 
staltungen, z.  B.  die  Verkehrung,  wird  sich  in  Rücksicht  auf  den 
richtigen  Ausdruck  des  Textes  oft  unanwendbar  zeigen.* 


*  Oft,  nicht  immer.  Das  sehen  wir  an  dem  ersten  Satze  von  Seb.  Bachs 
sogenannter  Gdur-Messe,  der  bekanntlich  einer  Kirchenmusik  angehörig  war. 
Dieser  Satz  ist  eine  Tripelfuge,  deren  erstes  Thema  — 


»63  ^hf^fH^lj-l^-^^ßf^^^ 


Sie  -  he  zu,  dass  deine  Gottesfurcht  nicht  Heu  che  -  Iei  sei. 

zugleich  in  rechter  und  verkehrter  Bewegung  — 

* 


*«  jgll§  I  -T^Stff^ 


Sie -he  zu,  dass  deine Gottes-furcht  nicht  Heu     -     che-lei  sei. 

benutzt  wird.  In  jeder  er  beiden  Wendungen  wird  das  Wort  des  Textes  in 
einem  andern  Sinn  und  jedesmal  vollkommen  wahr  ausgesprochen. 


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490 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


Allerdings  lässt  sich  nicht  durch  eine  allgemeine  Regel  festsetzen, 
wie  weit  eine  Singfuge  sich  erstrecken  dürfe,  ob  sie  gewisse  be- 
sondre Gestaltungen,  z.  B.  die  Engführung,  aufnehmen  müsse  oder 
nicht  benutzen  könne.  Von  der  Verirrung  —  und  von  dem  Be- 
dürfniss  solcher  äusserlichen  Gesetzgeberei  sind  wir  nun  wohl 
entbunden.  Allein  dabei  fehlt  es  nicht  an  einem  berathenden  geistigen 
Prinzip.    Dies  finden  wir  im  Grundgedanken  der  Fuge. 

Ihm  zufolge  kommt  es  zunächst  darauf  an,  dass  das  Thema  in 
voller  Kraft  und  von  allen  Stimmen  nach  einander  ausgesprochen 
werde.  Ist  dies  geschehn,  so  ist  eigentlich  die  Idee  der  Fuge  im 
Wesentlichen  verwirklicht.  Hat  eine  Stimme  das  Thema  noch  nicht 
in  voller  Kraft  (z.  B.  in  der  günstigsten  Stimmlage)  ausgesprochen, 
oder  ist  in  besondern  Umständen  Veranlassung  gegeben:  so  mag 
diese  Stimme  das  Thema  noch  einmal  bringen.  Ist  die  gesammte 
Durchführung  noch  nicht  genügend,  das  Thema  befriedigend  zu 
zeigen,  —  oder  ist,  z.  B.  nach  ausgeführtem  Gegen-  und 
Zwischensätzen,  eine  nochmalige  Befestigung  im  Hauptton  veran- 
lasst, —  oder  fodert  der  Inhalt  der  ersten  Durchführung  und  des 
ihr  anhängenden  Zwischensatzes  gesteigerten,  eifervollen  Fort- 
gang: so  kann  zu  einer  zweiten  Durchführung,  zu  einer  Eng- 
ftthrung  u.  s.  w  gegründeter  Anlass  sein.  Aber  je  tiefer  das  Thema 
gefasst,  je  energischer  es  behandelt  worden,  desto  weniger  wird 
es  einer  breiten  Ausdehnung  bedürfen  ;  und  je  konzentrirter  sich  das 
Ganze  bildet,  desto  energischer  wird  es  wirken. 

Daher  finden  wir  in  der  That  die  energischsten  Fugengebilde 
der  Meister  auch  am  engsten  zusammengehalten ;  sie  schränken  sich 
selbst  auf  eine  einzige  Durchführung  ein  (man  mag  sie  dann  Fugato's 
nennen)  ,  weil  Wort  und  Ton  sich  bereits  da  in  vollster  Kraft 
ausgesprochen  haben  und  alles  Weitere  nur  nutzlose,  verwildernde 
oder  ermattende  Dehnung  sein  würde.  Dies  ist  schon  früher  (Th.  II. 
S.  321)  an  Seb.  Bach's  Fugensatze 

Lass  ihn  kreuzigen! 

in  der  Matthäischen  Passion  nachgewiesen  worden,  der  sich  auf  eine 
einzige  Durchführung,  —  Bass,  Tenor,  Alt,  Diskant  und  abermals 
Diskant,  —  beschränkt.  In  gleicher  Weise  bildet  sich  ein  andrer 
Fugensatz  aus  demselben  Werke  — 

Sein  Blut  komme  über  uns  und  unsre  Kinder! 

aus  einer  einzigen  Durchführung  mit  Wiederholung  des  Thema's  im 
Bass  und  Diskant.  In  diesem  merkwürdigen  Satz  kommt  aber- 
mals zur  klarsten  Anschauung,  wie  es  dem  rechten  Künstler  nur 
um  volle  Erfassung  des  Moments,  um  treueste  objektive  Wahr- 
heit zu  thun  ist.    Jener  Gedanke  der  Selbst  Verwünschung  muss 


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Der  Grundbegriff  der  einfachen  Singfuge. 


491 


vom  ganzen  Volke  bekannt  werden,  das  heisst  von  Stimme  zu 
Stimme  gehn,  also  Fugenform  haben.  Allein  die  höchste  Aufregung 
widerspricht  der  Allmählichkeit,  in  der  sich  in  der  Fuge  erst  eine 
Stimme  ausspricht,  dann  zwei,  allmählich  alle.  Im  wilden  Ge- 
tümmel brechen  alle  Stimmen  mit  einander  los,  — 


Sein  Blut  kom 


me 


ber 


ü-ber  uns  und  un  -  sre  Kin- 


465  1 


Sein  Blut  kom  -  me 


1  i  i 


Sein  Blut   kom  -  me  ü 


ber      uns  und    un  -  sre 


uns  und  un-sre    Kin  - 


mm 


5  ... 

der,  sein  Blut  kom         -         me    ü  ber  uns 

der,       sein     Blut  kom  -  me     ü  -  ber      uns  und  un-sre  Kin- 


"     r     r     r  <      '  r  Dl  * 

Kio-der,  ü-ber  uns  und  un-sre  Kin    -    der,  un-sre  Kin   -  der. 

und  es  mag  im  ersten  Anlauf  zweifelhaft  bleiben,  dass  hier  im 
Gedräng  von  vier  leidenschaftlich  anstürmenden  Stimmen  der  Anfang 
einer  Fuge  gegeben  und  der  Satz  des  Basses  —  wiewohl  er  doch 
als  der  gewichtvollere  und  fester  gebildete  (besonders  gegen  die  Ober- 
stimmen) erscheint  —  ein  Fugenthema  sein  soll ;  aber  schon  kehrt 
dieser  Satz  im  dritten  Takt  als  Antwort  des  Tenors  wieder,  von 
den  Bratschen  geführt  und  von  den  Flöten  in  der  höchsten  Oktave 
verstärkt.  Nun  sollte  man  den  Alt  auf  den  Stufen  des  Basses  und 
den  Diskant  auf  denen  des  Tenors  erwarten.  Aber  was  im  Bass 
als  Grundstimme  mächtig  war,  würd'  im  Alt  nur  still  erklingen. 
Der  Diskant  Übernimmt  den  Führer,  dass  er  in  der  Höhe  wild  er- 
klingt, der  Alt  antwortet  in  der  Unterdominante.  — 


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492 


I 


466  < 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 
der!  Sein 

 jg  j- 


Blut  kom  -  me 


uns  und  un-sre  Kinder,  ü  -  ber  uns  und  un  -  sre  Kin  -  -  - 
Kin-der,  ü-ber  uns  und  un-sre  Kin  -   - 


4  \  i-r^F^- 


der,  sein  Blut 


kom 


ü    -    ber     uns  und  un-sre  Kin-der,  ü-ber  uns  und  un - 


der ! 

-   der,  un 


f 


5 


Sein 


sre  Kin 


Blut  kom  -  me 
der, 


sein 

l 


uns  und  un-sre  Kin     -      -     der,  ü    -     ber  uns 


und  un-sre 


Nach  einem  kleinen  Zwischensatze  giebt  noch  einmal  der  Bass, 
von  e  nach  h  schlagend,  und  zuletzt  der  Diskant  (also  beide  Aussen- 
stimmen) in  der  vorigen  Lage  das  Thema,  —  es  bleibt  bei  dem. 
was  gesagt  ist!  — steigert  sein  letztes  Motiv  auf  g  und  auf  a,  und 
dann  wird  schnell  und  klar  entschieden  in  Ddur  geschlossen. 

Auch  jene  Händel'sche  Fuge 

Sie  konnten  nicht  trinken  das  Wasser 

bildet  sich  in  gedrungner,  nur  auf  den  dem  Künstler  vorschweben- 
den Moment  gerichteter  Gewalt  aus.*   Das  Thema  — 


467 


m 


5* 


lr — - 


Sie  konnten  nicht  trln  -  ken  das  Was  -  ser,  der  Strom  war  ver- 
They  loathed  to   drink  of   the    ri  -  ver,    He    tur-ned  their 


*  Dasselbe  Thema  findet  sich  in  Handels  Werken  —  wahrscheinlich  nach 
der  Benulzung  in  Israel  —  für  die  Orgel  ausgeführt;  und  zwar  (wenn  wir  nicht 
irren)  viel  weiter,  als  im  vorliegenden  Fall  statthaft  gewesen  wäre. 


zed  by  Go 


Der  Grundbegriff  der  einfachen  Singfuge. 


493 


p=^=2* — 


Sie  konnten  nicht  trin-ken  das  Was    -    ser,  der  Strom  war  ver- 

I 


wan 
Wa 


delt  in 

ters  to 


wird  Schlag  auf  Schlag  von  Tenor,  Alt,  Diskant  und  Bass  durch- 
geführt —  und  das  ist  die  einzige  Durchführung.  Die  weiblichen 
Stimmen  wenden  sich  von  der  mehr  gigautisch  als  weiblich  sich 
geberdenden  Weise  ab;  noch  einmal  erscheint  sie  (in  Fdur)  im 
Tenor;  dann  (in  Iftdur)  im  Bass  und  abermals  (in  Gmoll)  in  der- 
selben Stimme,  die  also  nun  das  Thema  in  ungeberdiger  Höhenkraft 
auf  denselben  Stufen,  wie  zu  Anfang  der  Tenor,  intonirt,  alles  dies 
nach  trennenden  Zwischensätzen.  In  den  andern  Stimmen  (zuerst 
den  weiblichen)  hat  sich  ein  chromatisches,  klagendes  Motiv  hervor- 
gethan,  z.  B.  nach  dem  letzten  Abtritt  des  Thema's  — 


468 


Sie  konnten 


1  j 

t-_*  SS.  


1 


I 


ohne  sich  etwa  zu  einem  zweiten  Thema  auszugestalten. 

Diese  Beispiele  (denen  noch  genug  andre,  namentlich  aus  den 
Oratorien  unsers  feinsinnigen  und  tief  kunstverständigen  Haydn 
zugefügt  werden  könnten)  mögen  den  Grundbegriff  der  Singfuge 
zum  Unterschied  von  dem  allgemeinen  Begriff  der  Fuge  befestigen. 


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494 


Die  Formen  der  Chorkomposition 


Vierter  Abschnitt. 


Die  Komposition  der  einfachen  Singfuge. 

Nachdem  wir,  ohnehin  mit  Fugenform  und  Fugenarbeit  bekannt, 
die  eigentliche  Aufgabe  der  Singfuge  festgestellt  haben,  bleibt  Uber 
die  Komposition  nur  wenig  zu  erörtern. 

Dem  redenden  Thema  (wie  wir  es  S.  486  bezeichneten)  tritt 
am  verwandtesten  ein  redender  Gegensatz  gegenüber,  aus  dem  sich 
Zwischensätze  von  gleicher  Grundtendenz  ergeben.  So  bildet  Händel 
seinen  Gegensatz  zu  dem  in  No.  459  mitgetheilten  Thema  — 


469  < 


Er   trau  -  e  -  te  Gott,  der  hei 


fe       ihm  nun  aus, 


hat  er  Ge-fall'n, 


hat  erGefall'n  an  ihm,  der  rette 


und  der    er  -  ret  -  te  ihn, 


-mm 


hat  er    Ge  -  fall'n  an 


1 


ihn, 
(Alt.) 


hat  er 
Er  trau 

±  1_ 


Ge-fall'n,  hat  er 
e  -  te 


Ge  -  fall'n  an 


-r— 

ihm, 


hat   er  Ge- 


Kl 


ihm,  hat    er   Ge  -  fall'n 


an 


und  in  ähnlicher  Weise  auch  die  Zwischensätze,  z.  B.  den  nach  der 
ersten  Durchfuhrung: 

(Schluss  des  Thema'*.1 


470 


HE 


und    der  er  -  ret  -  te  ihn, 


und  der  er  -  ret  -  te  ihn, 


und    der  er- 


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Die  Komposition  der  einfachen  Sing  fuge. 


495 


und  der    er  -  ret-te  ihn, 


hat  er 


1 


Ge-fall'n 


v    -  *  t    B  ß  "  | 

und  der  er  -  ret  -  te  ihn,  hat  er 

hat    er  Ge-fall'n 


Ge- 


IA  £ 


I 


ret-te  ihn. 

an  ihm. 


Thema  im  Alt. 


r— rr 


fall'n     an  ihm,  Er 
an  ihm.  hat   er   Ge  -  fall'n 


Er      trau    -     e  -  te  Gott, 


der 


Hier  waltet  das  Sprachliche  entschieden  vor;  aber  es  kann  uns 
nicht  entgehn,  dass  sich  damit  (S.  449)  eine  gewisse  Nüchternheit 
und  Trockenheit  über  den  ganzen  Satz  verbreitet,  die  hier  karakter- 
gemäss  erscheint,  unter  andern  Umständen  aber  nicht  bloss  uner- 
freulich, sondern  auch  unangemessen,  sogar  unwahr  sein  würde. 
Besonders  einem  scharf  entschiednen  Thema  gegenüber  ist  ein  mehr 
fliessender,  —  mehr  musikalischer  oder  singender  (S.  463)  Gegen- 
satz oft  zur  Vermittlung  des  Worts  im  Gemütbe,  zu  seiner  musi- 
kalischen Auslegung,  zur  Verschmelzung  des  Ganzen  durchaus  not- 
wendig. Dies  erkannte  Händel  gar  wohl  in  dem  in  No.  467  mit- 
getheilten  Satz  und  gab  in  beiden  einander  entgegengesetzten  Fällen 
jedesmal  das  ganz  Rechte.*  In  gleicher  Weise  stellt  Bach  dem 
strengen  Spruch  in  No.  462  einen  singenden  Gegensatz  gegenüber,  — 


— sr 


-ß — ß- 


Sie 


471  < 


um 


ha  -  ben  ein  här-ter      An-ge  - 


I 


3 


-  I  i 


*  Beiläufig  sei  bemerkt,  dass  der  Gegensau  im  Originaltext  auf  das  Wort 
Waters  (Wasser)  fällt. 


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Die  Formen  der  Chorkomposition. 

(Alt.) 

sieht,  denn  ein  Fels,         und     wol-len  sich  nicht  be- 


1  J— 

3 

 r  1  

-•-cd — 

der  in  gleicher  Weise  von  Bass  und  Tenor  bis  zum  Eintritte  des 
Diskants  fortgeführt  wird;  hier  wird  Bassstimme  und  Tenor  mehr 
redend,  während  der  Alt  den  singenden  Gegensatz  fortführt. 

Allerdings  lässt  sich  nicht  bestimmen,  in  welcher  Weise  —  und 
noch  weniger,  in  welchem  Maasse  der  Gegensatz  theils  redend,  theils 
singend  gestaltet  werden  soll;  dies  hängt  von  dem  besondern  Inhalt 
jeder  einzelnen  Aufgabe  und  von  der  Auffassung,  also  zum  Theil  von 
der  Subjektivität  und  Stimmung  des  Komponisten  —  die  sich  aber  im 
höchsten  Gelingen  mit  jenem  Inhalt  identißziren,  sich  ganz  dem  Sinn 
und  Willen  der  Aufgabe  hingeben  —  ab.  Aeusserlich  gestaltet  sich 
der  Satz  um  so  günstiger,  je  glücklicher  die  drei  Kräfte  des  Gesangs: 
Rede,  Aushallen,  Singen  (S.  463)  sich  gegenseitig  ablösen  und  heben. 
Wie  weit  dies  in  jedem  einzelnen  Falle  möglich  ist,  kann  nur  aus 
dem  besondern  Sinn  desselben  ermessen  werden. 

Und  hier  kommen  wir  zu  dem  Letzten,  was  zur  Einweisung 
in  die  Komposition  hülfreich  sein  kann,  nämlich  zu  dem  Entwurf 
der  Singfuge.  Schon  die  abstrakte  oder  Instrumentalfuge  wurde  in 
der  Regel  nicht  sogleich  vollständig  niedergeschrieben,  sondern  erst 
entworfen  und  dann  ausgeführt.  Bei  der  Singfuge  müssen  wir  diese 
Weise  der  Arbeit  noch  rathsamer  finden,  da  hier  ausser  dem  Musi- 
kalischen noch  der  Text  zu  fassen,  oder,  wo  seine  Stellung  nicht 
sogleich  klar,  einzurichten  und  zu  vertheilen  ist.  Die  Arbeit  kann 
in  der  Regel  nicht  eher  beginnen,  als  bis  der  Text  (oder  der  Haupt- 
abschnitt desselben)  das  Thema  hervorgerufen  hat.  Ob  nun  der 
Schluss  des  Textes  mit  dem  Schluss  des  Thema's  zusammenfällt,  wie 
in  No.  469,  oder  Uber  denselben  hinausgeht,  wie  in  No.  467  und 
471  (462),  —  ob  ferner  für  Gegen-  und  Zwischensätze  einzelne 
Textglieder  aus  dem  Thema  wiederholt  oder  vorbehaltne  Worte  und 
Abschnitte  (S.  486  dafür  benutzt  werden  sollen:  das  kann  nicht 
immer  im  ersten  Entwürfe  sogleich  klar  sein,  darf  der  Ausarbeitung 
überlassen  bleiben.  Wo  es  aber  angeht,  oder  wo  sich  ein  frischer 
oder  bedeutungsvoller  Texteintritt  ergiebt,  da  ist  rathsam,  schon  im 
Entwürfe  wenigstens  ein  Paar  andeutende  Silben  zu  geben. 

Bisweilen  endlich  wird,  besonders  bei  ruhigen  Abschnitten  des 
Thema's,  ein  gehender  Bass  (oder  ein  Kontrapunkt  oder  eine  selb- 
ständige Begleitung,  —  welche  letztem  Fälle  wir  jedoch  hier  noch 


496 


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Die  Kompositum  der  einfachen  Singfuge. 


497 


bei  Seite  lassen)  nöthig.  Auch  dieser  muss  im  Entwurf  angedeutet 
werden. 

Statt  weiterer  Erörterung  folgt  hier  der  Entwurf  eines  Fugen- 
anfangs mit  gehendem  Basse.  Der  Text  ist  aus  Ps.  39,  9  genommen. 

Er-ret  -  te 


m 


472  { 


m 


Er-ret  -  te  mich  von  al    -    1er  mei    -    ner  Sün 


I    f  f — i — r 


mich 


m 


de  von 


er  -  ret  - 


3=r 


r 


er-  mich 


von 


Er- 


er-  al    -    1er  al- 


al-ler  meiner 

von  al- 

^—  &  - 

 tzj,  tt*ß 


errette 
ler  Sün  -  de,  von  al 


ler  mei  -  ner 


er  -  ret    -     te     I  V 
Marx,  Komp.-I/.  III.  5.  Aufl. 


S2 


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498 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


Auf  den  Inhalt  selbst  ist  hierbei  nicht  weiter  einzugehn,  es 
ist  z.  B.  gleichgültig,  warum  —  und  ob  mit  Recht  der  Bass  zwei- 
mal nach  einander  das  Thema  nimmt;  nur  die  Weise  des  Entwerfens 
sollte  zur  Anschauung  kommen. 

Und  hier  wenden  wir  uns  zum  Schluss  auf  die  im  vorigen 
Abschnitte  S.  485  gemachte  Unterscheidung  zurück  zu  der  andern 
Fugenweise,  in  der  die  Form  um  ihrer  musikalischen  Fülle  und 
Wirkung  zur  Erscheinung  kommt ;  wir  nennen  sie  (bloss  der  Orien- 
tirung  im  Lehrgange  wegen) 

B.   die  singende  Fuge. 

Hierbei  ist  nun  nicht  etwa  daran  zu  denken,  dass  das  Wort  in 
der  ausgeführtem  oder  mehr  dem  Reinmusikalischen  zugewendeten 
Fuge  vernachlässigt  werde;  es  ist  nur  nicht  das  entschieden  Vor- 
herrschende. Und  wenn  es  dies  sogar  im  Thema  ist,  so  bleibt  es 
nicht  so,  die  Ausführung  geht  weiter,  als  das  Bedürfniss,  den  Text 
zum  vollen  Ausdruck  zu  bringen.  Die  Schlussfuge  zu  Haydn's 
Schöpfung  kann  hier  als  Beispiel  dienen.  Das  Thema,  wie  es  hier  — 


473 


I 


(Alt.) 


* 


iE 


Des  Herren  Ruhm,  er  bleibt  in 


(Diskant.) 


m 


E  -  wig  -  keit.  A    -  - 


men.  Des  Herren 


Ruhm,  er       bleibt,  er  bleibt  in    E  -  wig  - 


im  Alt  und  Diskant  auftritt,  spricht  Ton  auf  Silbe  und  wohl  ange- 
messen den  Text  aus,  der  auch  im  Gegensatze  (wie  schon  hier  der 
Tenor  zeigt)  zur  Geltung  kommt.  Allein  nicht  hieran  konnte  sich 
Haydn  genügen  lassen;  er  musste  einen  musikalisch  befriedigenden 
Schluss  für  sein  Oratorium  gewinnen.  Daher  stellt  er  gleich  von 
Anfang  an  einen  singenden  Gegensatz  (mit  dem  dazu  vorbehaltnen 
Textwort  »Amen«)  gegen  das  Thema  und  führt  nun  seine  Fuge  so 
voll  und  breit  aus  (durch  vierundsiebzig  Takte  mit  Zuzähl ung 
des  freien  Schlusses),  dass  schon  der  flüchtigste  Ueberblick  über- 
zeugt: es  komme  hier  nicht  sowohl  auf  den  vollen  Ausdruck 


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Die  Komposition  der  einfachen  Singfuge. 


499 


des  Textes  in  Fugenform,  sondern  auf  die  Verwendung  einer  breit 
und  bewegt  ausgeführten  Fuge  als  eines  sättigenden  Musikstücks  zu 
befriedigendem  Abschluss  eines  grossen  Werks  an. 

Unter  solchen  Umständen  mag  sich  auch  das  Thema  ziemlich  frei 
gegen  seinen  Text  verhalten,  nämlich  so  bilden,  dass  man  keines- 
wegs behaupten  kann,  es  müsse  der  Text  gerade  so  ausgesungen 
werden.  Ein  Beispiel  bietet  uns  die  Schlussfuge  aus  Seb.  ßach's 
Motette:  »Singet  dem  Herrn«.   Der  Text  der  Fuge  — 

Alles,  was  Odem  hat,  lobe  den  Herrn,  Alleluja! 

konnte  in  voller  Kraft  des  Wortes  in  Musik  Ubergehn,  zu  einem 
redenden  Thema  werden.  Bach  fasst  die  Vorstellung  des  Lob- 
singens auf  — 

tptti  flTfrc  i  rtrfTr  \  tt-t-^*** 


474  §t 


t— r 


AI 


les,  was  0 


■9- 


5 


-  dem  hat,  lo-be  den  Herrn! 
K 


AI  -  le  -  lu 


lu-ja,     AI    -    le    -    lu  -  ja,      AI  - 

und  erlangt  damit  einen  schwungvollen,  ganz  sättigenden  Schluss  für 
sein  Werk. 

In  diesem  Sinne  kann  es  sogar  nöthig  werden,  dass  die  musi- 
kalische Fassung  eines  Textes  dem  Sinne  desselben  nicht  vollkommen 
entspreche.  Wenn  in  Mozart's  Requiem  die  Worte  Kyrie  eleYson 
und  Christe  eleison  so  — 

Chrisle  ele-  ,  ,  ,  .     I  ;  ;  :  iTT"* 

(Bass.)  (Aiy  js  Js        Jy==  STJZ    j| |  j  +±Ti 


475 


Säe 


Ky-ri-  e    e  -  Je     -      i  -  son,  e  -  le 


1 


und  die  letztern  spater  so  — 


32* 


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500 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


Christe  e  -  le  -      -      -  i 


i    -  son 


gefasst  werden :  so  ist  damit  ihrem  Sinn,  dem  Ausdruck  frommen, 
demüthigen,  vor  dem  Mittler  inbrünstigen  Flehens  nicht  Genüge 
gethan,  und  G.  Weber's  Kritik  (in  seinen  Untersuchungen  über  die 
Aechtheit  des  Mozart'schen  Requiems)  dürfte  in  dieser  Hin- 
sicht, abgesehen  von  mancher  Härte  und  sogar  Unwahrheit  des 
Ausdrucks,  nicht  widerlegt  werden  können.  Demungeachtet  ist  sie 
eine  irrige,  weil  einseitige.  Sie  übersieht,  dass  es  hier  —  nach 
dem  ganzen  Sinn  des  Werkes  —  nicht  zunächst  auf  einen  tief- 
getreuen Ausdruck  jener  Worte,  sondern  auf  befriedigende  kirchlich- 
feierliche  Abrundung  und  Abschliessung  eines  ganzen  Abschnitts, 
des  weit  ausgeführten  Gebets  für  die  Verstorbenen,  ankam.  Ob 
jene  Worte,  oder  ob  selbst  die  ganze  Seelenmesse  tiefer  aufgefasst 
werden  konnten  und  sollten,  das  ist  hier  gar  nicht  die  Frage.  Wir 
müssen  uns  dem  Komponisten  zur  Seite  stellen,  mit  ihm  das  Re- 
quiem, das  lux  perpetua  u.  s.  w.  im  Geiste  komponirt  haben,  und 
dann  uns  fragen :  was  nun  noch  zur  Besiegelung  des  Ganzen  not- 
wendig sei ;  mit  Einem  Worte  :  wir  müssen  nicht  abstrakt,  sondern 
das  Werk  aus  sich  selber  beurtheilen.  Dann  ist  die  Mo- 
zart'sche  Auffassung  gerechtfertigt.*  Dass  übrigens  ein  bloss  oder 
vorzugsweise  singendes  Thema  den  Sinn,  die  Stimmung  des  Textes 
auf  das  Tiefste  aussprechen  könne,  daran  erinnere  das  Kyrie  aus 
Bach's  Hoher  Messe.** 


Und  hiermit  ist  auch  das  Über  die  singende  Fuge  (wenn  man 
das  Unterscheidungswort  gestatten  will)  zu  Erinnernde,  so  weit 
es  nöthig  schien,  abgethan.  Denn  wie  man  eine  Fuge  ausführe, 
welche  Hülfsquellen  zu  einer  weiten  Ausführung  zu  Gebote  stehn, 
ist  bereits  aus  der  abstrakten  Fugenlehre  bekannt. 

Dass  endlich  bisweilen  Fugen,  die  ihrer  ersten  Anlage  nach 
hätten  redende  werden  mögen,  eine  weitere  Ausdehnung  gewinnen, 
als  der  ausschliessliche  Ausdruck  des  Textes  foderte,  —  und  um- 
gekehrt, dass  mehr  dem  Musikalischen  zugewendete  Fugen  bisweilen 
eine  sehr  gedrängte  Fassung  haben :  kann  uns  bei  der  Mannigfaltig- 
keit der  in  einem  Kunstwerke  zusammenwirkenden  geistigen  Motive 


*  Vergl.  Berl.  allgem.  musik.  Ztg.,  Jahrgang  2  (4815),  S.  381 . 

*  Bei  Simrock  in  Bonn. 


477 


Ky  -  ri  -  e   e  -  le 


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Die  andern  Gestalten  der  Singfuge. 


501 


nicht  befremden.  So  ist  Händel's  bei  No.  459  angeführte  Fuge 
(man  vergleiche  auch  No.  469  und  470)  ihrem  Inhalt  nach  durchaus 
eine  redende.  Ihre  Ausführung  geht  aber  unverkennbar  über  den 
Zweck  des  blossen  Textausspruchs  hinaus;  vielleicht  war  es  eben 
die  Trockenheit  des  hart  und  dürr  hingesprochnen  Worts,  die  im 
Komponisten  das  Bedürfniss  einer  musikalischen  Befriedigung  nährte. 
Auf  der  andern  Seite  ist  die  Fuge  (oder  das  Fugato)  Osanna  in 
eoccelsis  in  Mozart* s  Requiem  eine  mehr  singende  als  redende 
Aeusserung ;  aber  sie  flammt  so  feurig  und  freudig  auf,  dass  sie  — 
auch  abgesehn  von  der  Gewohnheit,  das  Osanna  in  der  Messe  kurz 
zu  fassen  —  sich  und  uns  schnell  befriedigt  und  einer  weitern 
Ausführung  gar  nicht  bedarf. 


Fünfter  Abschnitt. 

» 

Die  andern  Gestalten  der  Singfuge. 

Die  vorigen  Abschnitte  enthalten  das  Wesentlichste  über  die 
Komposition  aller  Arten  der  Singfuge,  wenngleich  zunächst  in  An- 
wendung auf  die  einfache  Fuge.  Ueber  die  andern  Arten  bleibt  uns 
nur  weniges  Einzelne  zu  bemerken. 

1.  Die  Doppel-  und  Tripelfuge. 

Wir  wissen  schon,  dass  die  Doppelfuge  zwei,  die  Tripelfuge 
drei  Subjekte  durchfuhrt,  wissen  ferner,  wie  diese  Subjekte  gebildet 
und  das  ganze  Werk  angelegt  und  ausgeführt  werden  muss.  Es 
bleibt  also  nur  die  Frage :  wann  die  Form  der  Doppel-  oder  Tripel- 
fuge für  den  Gesang  veranlasst  sei? 

Der  eigentliche  Anlass  muss,  wie  man  voraussieht,  im  Texte 
liegen. 

Ein  Text,  der  wesentlich  einen  einigen  Gedanken  aus- 
spricht, —  und  zwar  einen  für  Fugenform  geeigneten,  —  veranlasst 
ein  einiges  Thema,  also  eine  einfache  Fuge.  Nur  in  besondern 
Verhältnissen  könnte  ein  Anlass  liegen,  für  denselben  Text  zwei 
verschiedne  Themate  zu  bilden.* 


*  Es  sei  erlaubt,  ein  Beispiel  aus  dem  »Mose«  des  Verf.  (Partitur  und 
Klavierauszug  bei  Breitkopf  und  Härtel)  zu  entlehnen.  Der  zweite  Theil  des 
Oratoriums  schliesst  mit  dem  auflodernden  Dank-  und  Lobgesang  des  geretteten 
Volks.  Hier  konnte  es  nicht  fehlen,  dass  die  Stimmen  sich  wetteifernd  herzu- 
drängten, ehe  noch  eine  die  andre  recht  ausreden  lassen  und  ausgehört  hatte. 
So  ergaben  unvorhergesehn  zwei  Textsätze  drei  Subjekte,  — 


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502 


Die  Formen  der  Chorkomposition 


Ein  Text,  der  zwei  unvereinbare  Gedanken  ausspricht, 
wird  füglich  nicht  anders  behandelt  werden  können,  als  so.  dass 
man  jeden  Gedanken  abgesondert  vorträgt. 

Ein  Text,  der  zwei  zusammengehörende,  einander 
ergänzende  Gedanken  in  sich  fasst,  bedingt  —  vorausgesetzt, 
dass  dieselben  Fugenform  fodern  oder  doch  zulassen  —  die  Form 
der  Doppelfuge.* 

Ein  Text  endlich,  der  drei  solche  Gedanken  in  sich  fasst, 
bedingt  die  Form  der  Tripel  fuge. 

So  würden  z.  B.  diese  Texte  (Ps.  30,  2,  Ps.  38,  2)  — 

Ich  preise  dicb,  Herr,  denn  du  hast  mich  erhöhet  —  und  lassest 
meine  Feinde  sich  nicht  über  mich  freuen. 

Herr,  strafe  mich  nicht  in  deinem  Zorn,  —  und  züchtige  mich  nicht 
in  deinem  Grimm ! 

wohl  in  der  Form  der  Doppelfuge  (die  beiden  Subjekte  sind  durch 
Gedankenstriche  abgegränzt)  ihre  rechte  Fassung  finden.  Es  ist  ein- 
leuchtend, dass  in  jedem  derselben  die  beiden  Sätze  zusammen- 
gehören, gleichwohl  —  schon  der  Länge  des  Ganzen  wegen,  dann 
besonders  wegen  des  nahverwandten,  aber  doch  eine  Unterscheidung 
fodernden  Sinnes  —  nicht  in  einen  Satz,  in  ein  einziges  Thema 


478 


i 


Er  hat  für- 


Er  hat  fürwahr,     er  hat  für- 


Ross  und  Mann  hat  er  in's  Meer  ge-stürzt,  Herr  ist  sein 


wanr 


ei  -  ne 


herr    -    Ii  - 


wahr         ei  -  ne      herr   -  Ii 


herr   -    fi  che 
Ross  und  Mann  hat  er  in's 


Na 


me! 


so  dass  statt  der  Doppel-  eine  Tripelfuge  (übrigens  nach  Erfodern  des  Moments 
in  gedrängtester  Fassung)  entsteht,  wie  oben  statt  der  einfachen  eine  Doppelfuge. 

Auch  das  Mozart'sche  Christe  eleison  (No.  475  und  476)  hat  zwei  nicht 
unwesentlich  verschiedne  Gestalten,  wiewohl  die  zweite  aus  der  ersten  hervor- 
geht, —  wie  im  vorstehenden  Falle  das  dritte  Subjekt  aus  dem  zweiten. 

*  Doppelfugentexte  finden  sich  unter  anderra  Psalm  68,  85  und  95,  f — 3. 


:ed  by  Co 


Die  andern  Gestalten  der  Singfuge.  503 

zusammengedrängt  werden  können,  und  dass  man  eben  so  wenig 
sie  ganz  von  einander  scheiden  und  abgesondert  behandeln  darf. 

So  könnte  auch  jener  in  No.  460  behandelte  Text,  der  sich  da 
ganz  in  das  Thema  stellt,  in  No.  464  aber  auf  Thema  und  Gegen- 
satz vertheilt,  möglicherweise  die  zwei  Subjekte  einer  Doppelfuge 
veranlassen.    Nur  scheint  jeder  seiner  Abschnitte  — 

Verlasse  mich  nicht,  Herr  mein  Gott,  —  sei  nicht  ferne  von  mir. 

der  Ausdehnung  nach  zu  beschränkt  und  dabei  dem  Inhalte  nach 
gar  zu  identisch  mit  dem  andern,  als  dass  es  für  ihn  der  gewich- 
tigern und  breitern  Form  bedürfte.  Statt  weiterer  Ausführung  diene 
das  Th.  II,  S.  474  und  S.  496  bereits  Ausgeführte. 
Auch  in  Bezug  auf  die  Formen 

2.  des  Chorals  mit  Fuge 

und 

3.  des  fugirten  Chorals 

bedarf  es  nur  einer  Verweisung  auf  das  Th.  II  Gesagte. 

Es  bleiben  nur  noch  über  einen  schon  S.  484  angeregten 
Gegenstand  — 

4.  die  Fuge  mit  fremdem  Zusatz 

einige  leichte  Bemerkungen  zu  machen. 

Wir  haben  bereits  S.  482  von  Texten  geredet,  die  zum  Theil 
die  Form  der  Fuge  —  jetzt  können  wir  zusetzen,  auch  der  Doppel- 
oder Tripelfuge  —  fodern,  jedoch  noch  Bestandteile  in  sichschliessen, 
die  weder  im  Thema,  noch  im  Gegensatz  oder  den  aus  beiden 
entwickelten  Zwischensätzen  Erledigung  finden.  Der  S.  483  ange- 
führte und  zergliederte  Psalm  1 1 7  gab  uns  ein  treffendes  Beispiel ; 
die  dort  mit  4 .  und  2.  bezeichneten  Vorausschickungen,  dann  das 
Wort  »Halleluja«,  vielleicht  auch  das  »in  Ewigkeita  sollten  nicht 
in,  sondern  neben  dem  Fugenthema  und  dem  sonst  zur  Fuge  streng 
Gehörigen  ihre  Stelle  rinden.    Wie  geschieht  dies  nun?  — 

Die  Antwort  ist  leicht. 

Die  dem  eigentlichen  Fugentext  zugehörigen,  nur  aus  Rücksicht 
auf  dessen  Ausdehnung  oder  zu  besserer  Hervorhebung  ausgeson- 
derten Worte  werden  gleichsam  als  fremde  Motive  in  Zwischen- 
sätzen, oder  als  freier  Ausgang  zum  Schluss  der  Fuge,  —  auch  wohl 
zum  Schlüsse  des  ersten  Theils  und  dann  abermals  zum  Schluss  des 
Ganzen,  —  vielleicht  auch  zu  einem  Orgelpunkte  (wenn  ein  solcher 
vielleicht  mit  Hülfe  eines  Instrumentalbasses  stattbat)  zur  Sprache 
gebracht.  So  könnten  z.  B.  im  Psalm  die  Worte  »in  Ewig- 
keit« und  »Halleluja«  gesetzt  werden. 


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504 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


Solche  Theile  des  Textes  dagegen,  die  eine  eigne,  nicht  bloss 
beiläufige  Behandlung  verlangen,  werden  als  Einleitungen  (S.  483) 
oder  Nachsätze  (Schlusssätze  von  besonderm  Inhalte,  S.  484)  be- 
handelt. Dies  kann  mit  mehr  oder  weniger  Gewicht  und  Aus- 
dehnung geschehn.  So  schliesst  z.  B.  Seb.  Bach  die  in  No.  474 
angeführte  Fuge  in  folgender  Weise  ab.  — 


479  < 


i 


T. 


™  -  le  -  lu  -  ja ! 
chluss  des  Thema's)  AI      -----  - 


(Schluss  des  Thema's) 


"^7 

AI  -  le  -  lu  -  ja! 


9* 


f 


le  -  lu  -  ja! 

Er  bedient  sich  des  Worts  Alleluja,  das  er  schon  innerhalb  der 
Fuge  (man  sehe  No.  474)  in  den  Gegensatz  gebracht,  nun  noch  zu 
einem  Schlüsse,  der,  wenn  auch  dem  Inhalte  der  Fuge  verwandt, 
doch  ein  freier  genannt  werden  kann.  Wiederum  giebt  er  der  in 
No.  477  angeführten  Fuge  eine  freie  Einleitung  zu  demselben  Texte,  — 


480 


m 


V 


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Die  freien  Figur al formen. 


505 


die  mit  dem  fernem  Inhalte  der  Komposition  formell  gar  nichts 
gemeinsam  hat,  nur  auf  ihren  Sinn  einfuhrt,  —  dies  aber  mit  der 
Macht  Bach' scher  Wahrheit  und  Tiefe  ;  —  eine  jener  unsterblichen 
Schöpfungen  im  engsten  Räume. 

Einer  Anleitung  bedarf  es  hier  weiter  nicht;  die  etwa  wünschens- 
werthe  Vorübung  ist  S.  455  u.  f.  gegeben. 


Sechster  Abschnitt. 
Die  freien  Figuralfornien. 

In  der  abstrakten  Lehre  des  zweiten  Theils  dienten  uns  die 
freien  Figurationen  als  Vorbereitung  zur  Fugenform;  schon  damals 
war  die  innige  Verwandtschaft,  das  Ineinandergehen  beider  Formen 
bemerkt  worden. 

Einer  Vorbereitung  zur  Singfuge  konnte  es  jetzt  nicht  mehr 
bedürfen,  und  so  gehen  wir  den  umgekehrten  Weg  von  ihr  zu  den 
freien"  Figurationen. 

Die  freie  Figuration  tritt  für  den  Ghorgesang  ein,  wenn  ein 
Text  durchgesprochen,  polyphon  durchgenommen  werden  soll 
und  sich  zur  eigentlichen  Fugenform  nicht  hinlänglich  festgeschlossen 
oder  sonst  diese  Form  sich  nicht  genugsam  motivirt  findet.  In  dieser 
Bestimmung  schon,  die  der  Natur  der  Sache  nach  nicht  anders  als 
negativ  ausfallen  konnte,  sieht  man,  warum  wir  diese  Formen  der 
festen  Fugenform  nachfolgen  lassen.  Das  Unbestimmtere  und  darum 
Gesetzlosere  wird  leichter  und  sicherer  gefasst,  wenn  das  Feste 
vorangegangen  ist.* 

Freie  Figuration  haben  wir  schon  an  mehrern  der  voran- 
geschickten Beispiele  vor  uns  gehabt;  es  waren  das  Sätze  (z.  B. 
No.  436,  480),  die  sich  vermöge  der  polyphonen  Ausgestaltung  aller 
Stimmen  unter  diesen  Begriff  (Th.  II,  S.  196)  stellten.  Allein  die 
Grundlage  war  eben  Satzform;  der  Text  war  durch  die  polyphone 
Behandlung  zu  reicherer  Geltung  gekommen,  hätte  aber  auch  ein- 
fach gesetzt  werden  können. 

Oft  ist  dies  nicht  ohne  Beeinträchtigung  des  Textgehalts  mög- 
lich. Wenn  z.  B.  Seb.  Bach  in  seiner  Matthäischen  Passion  er- 
zählt, wie  die  Hohenpriester  und  Pharisäer  sich  sämmtlich  zu  Pilatus 
drängen  und  sprechen  : 


*  In  der  frühern  Lehre  mussten  wir  den  umgekehrten  Weg  nehmen,  weil 
die  Fugenform  zu  viel  des  Neuen  auf  einmal  gebracht  hätte. 


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506 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


\.  Herr,  wir  haben  gedacht,  dass  dieser  Verführer  sprach,  da  er 
Doch  lebete: 

2.  Ich  will  nach  dreien  Tagen  auferstehen. 

3.  Darum  befiehl,  dass  man  das  Grab  verwahre  bis  an  den  dritten  Tag, 

4.  auf  dass  nicht  seine  Jünger  kommen  und  stehlen  ihn, 

5.  und  sagen  zum  Volk: 

6.  Er  ist  auferstanden  von  den  Todten ; 

7.  und  werde  der  letzte  Betrug  ärger,  denn  der  erste. 

(Matth.  27,  63—64.) 

so  kann  er  in  seiner  bei  der  Darstellung  des  biblischen  Hergangs 
durchaus  dramatischen  Weise  sich  unmöglich  an  einem  blossen  musi- 
kalischen Hersagen  befriedigen,  sondern  fasst  den  Moment  in  seiner 
Lebensfülle,  wie  die  Aufgeregten  sich  in  Haufen  und  ungestüm  vor- 
drängen, mit  einander  und  durch  einander  gross  Redens  haben  und 
nicht  genug  thun  können,  und  immer  Einer  noch  mehr  wie  der 
Andre  vorzubringen  hat.  Dies  gehässige  Gewimmel  muss  sich  über- 
drängen und  überstürzen,  und  an  irgend  eine  ruhig  sich  entfaltende 
Weise,  an  einen  festgehaltnen  Hauptsatz  ist  nicht  zu  denken.  So 
drängt  Bach  Satz  auf  Satz.    Zuerst  — 

481 


§3* 


ist,  bei  dem  ersten  Anbringen,  Alles  bei  der  Hand  und  einstimmig. 
Dann  bei  dem  Wiedersagen  jener  sorge  weckenden  Verkündung 
(Satz  2)  überbietet  schon  einer  den  Andern,  — 


482 


Ü 


mm 


— 


rzr 


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Die  freien  Figural formen. 


507 


und  die  Weissagung  des  Auferstehens  thürmt  sich  in  dem  Wortlärm 
gleich  einer  hohlen  Prahlerei  auf.  So  schwirrt  und  poltert  Satz  auf 
Satz*  ohne  Rast  und  Sammlung  und  Würde,  ein  Spiegelbild  jenes 
Moments  im  grossen  Lebensdrama,  vorUber.  Die  Form  ist  hier  der 
unmittelbare  Ausdruck  derSache;  es  konnte  fürdiesekeine  andre  geben. 

Eine  ähnliche  Aufgabe  bot  sich  Händel  im  ersten  Chor  seines 
Messias.    Der  Text  — 

Denn  die  Ehre  des  Herrn  wird  offenbaret;  —  2.  alles  Fleisch  mit 
einander  wird  sehen,  —  dass  Jehovah's  Mund  geredet  hat. 

bietet  zwei  Abschnitte,  deren  zweiter  in  zwei  Glieder  zerfallt.  Beide 
Abschnitte  sind  bedeutend,  und  es  wäre  nicht  zu  behaupten,  dass  einem 
vorzügliches  Gewicht  vor  dem  andern  gebührte.  Der  erste  würde  sich 
fugenmässig  verkündigen  lassen,  der  zweite  wäre  für  ein  Fugenthema 
(andrer  Gründe  zu  geschweigen)  zu  lang  und  zur  Zerlegung  in  zwei 
Themate  noch  weniger  geeignet,  weil  das  erste  Glied  keinen  vollstän- 
digen Sinn  giebt;  den  ganzen  zweiten  Abschnitt  aber  als  Anhang  zu 
dem  ersten  fugenmässigen  behandeln,  würde  jenen  —  oder  bei  gewich- 
tiger Behandlung  diesen  beeinträchtigen.  Händel  zergliedert  daher 
seinen  Text  und  mischt  die  Glieder  in  bewegter,  durchaus  frei  gestalteter 
Figuration  dergestalt,  dass  bald  dieses,  bald  jenes  zum  gerechten  Aus- 
spruch kommt  und  das  Ganze  lebendig  erregt  vorüberzieht.  Nach  einer 
instrumentalen  Einleitung,  zu  der  die  beiden  ersten  Sätze  des  Chors 
(No.  483  und  484)  benutzt  sind,  wird  der  erste  Abschnitt  —  und 
zwar  schon  zergliedert  —  aufgeführt.    Der  Alt  intonirt,  — 

*= 


483 


Denn  die     Eh  -  re,    die    Eh  -  re    des  Herrn 

der  Bass  unter  Zutritt  der  übrigen  Stimmen  wiederholt;  dann  schliesst 
sich  das  zweite  Glied  dieses  Abschnittes  an,  — 


464 


3E= 


— r*  r* 


wird  of  -  fen 


wird  of 


fen  -  ba 


ret. 
4- 


T  r 


wird 


ba  - 
Denn  die 


of    -    fen  -  ba      -  ret. 

beide  vereinen  sich,  bis  der  erste  etwas  verlängerte  Satz  (die 
Melodie  wieder  im  Basse)  in  der  Dominante  den  ganzen  Abschnitt 
ausspricht  und  ein  Zwischenspiel  des  Orchesters  mit  dem  Motive  des 


*  Man  findet  den  ganzen  Satz,  —  formell  eine  eben  so  bedenkliche  als 
glücklich  gelöste  Aufgabe,  in  der  Beilage  III. 


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508  Die  Formen  der  Chorkomposition 


zweiten  Satzes  in  E  schliesst.  So  bildet  sich  gleichsam  ein  erster 
Theil  eines  figuralen  Liedsatzes. 

Jetzt  tritt  ohne  Weiteres  und  wieder  im  Haupttone  das  erste 
Glied  des  zweiten  Abschnittes  im  Alt  auf,  — 

AI  -  les  Fleisch  mit  ein  -  an -der  wird  se  -  hen 

wird  vom  Tenor  in  der  Unterdominante  wiederholt;  und  nun  in- 
toniren,  wieder  im  Haupttone,  Tenor  und  Bass  das  letzte  Glied, 
und  die  Oberstimmen  setzen  das  vorige  entgegen. 


r-    -  — i— J-n 

■ 

-1  

• 

...  #J 

r  i 

Alles  1 

1 

a — =1 

Fleisch  mit  ein- 

-an  -  der  wird  se  - 

■■ia-)al 
he«. 

*Ufc 

1   11 

Dass  Je  -  ho     -     vah's  Mund      ge-re-det  hat. 


Hiermit  ist  der  Text  ausgesprochen  und  der  ganze  Inhalt  der 
Musik  festgesetzt.  Allein  wir  erfahren  hier,  was  wir  schon  früher 
bei  der  Figurati on  gewahr  werden  mussten:  nicht  in  dem  einen  oder 
in  mehrern  Motiven  liegt  die  Kraft  dieser  Form,  sondern  in  ihrem 
Spiel  und  dem  Gewebe  der  Stimmen,  des  Ganzen,  das  aus  ihnen 
entsteht.  So  ist  das  zweite  und  dritte  Motiv  Händel's  unbedeutend, 
das  erste  und  vierte  wenigstens  nicht  von  solcher  Bedeutung,  dass 
sie  für  sich  befriedigen  könnten.  Alles  das  konnte  nach  dem  Text- 
inhalt nicht  wohl  anders  sein.  Aber  nicht  in  diesen  Einzelheiten, 
sondern  in  ihrer  Verwebung  will  sich  Händel's  Kraft  entfalten. 
Wieder  intonirt  der  Diskant  auf  e  das  vierte  Motiv,  die  andern 
Stimmen  spielen  mit  dem  dritten  dagegen,  dann  intonirt  Tenor  und 
Bass  auf  Ä,  und  so  bildet  sich  ein  Schluss  auf  diesem  Tone.  Unter  Vor- 
tritt des  Orchesters  kehrt  jetzt  der  erste  Satz  (die  Melodie  im  Basse) 
im  vollen  Chor  in  #  wieder,  —  der  dritte  spielt  nach,  —  der  Diskant 
intonirt  auf  der  Quinte  des  neuen  Tons  das  »Jehovaha  und  der  Alt 
setzt  den  ersten  Gedanken  entgegen.  In  solcher  WTeise,  höchst  frei, 
spielt  sich  der  Chor  mit  seinen  vier  Sätzen  über  E  nach  A  zurück 
und  zu  Ende,  überall  regsam  und  anregend  —  und  ist  eben  damit  die 
durchaus  angemessene,  weissagende  Einleitung  des  grossen  Werks. 

Aehnliche  Gestaltung  zeigt  dasselbe  Werk  zu  dem  Texte: 

Denn  es  ist  uns  ein  Kind  geboren,  und  ein  Sohn  ist  uns  gegeben, 
welches  Herrschaft  ist  auf  seiner  Schulter;  und  sein  Name  wird 
heissen:  Wunderbar,  Herrlichkeit,  der  starke  Held,  der  Ewigkeiten 
Vater,  der  Friedefürst. 


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Die  freien  Figur al formen.  509 

Hier  wird  nach  einer  instrumentalen  Einleitung  mit  dem  ersten 
Gedanken  zuerst  (und  zwar  von  Solostimmen)  der  erste  Satz  intonirt,  — 

rill       (ioco)  7  zi-J  i         r  i  r 


Denn  es  ist  uns  ein  Kind  ge  -  bo-ren,      und  ein  Sohn         ist  uns  ge- 


p  p — i 

i ; ;  ^  — 

der  Tenor  wiederholt  und  der  Diskant  schliesst  sich  singend  an; 


488 


w 


r-fy-r-r-r'7* 


U.  8.  W. 


3 


in  gleicher  Weise  folgen  Alt  und  Bass  in  der  Dominante,  worauf 
der  Tenor  den  folgenden  Abschnitt  giebt,  — 


«89  gp^g^gS^^g^^E^gg^ 


Welches  Herrschaft,  welches  Herrschaft  ist  auf  sei   -   ner  Schulter 
der  vom  Diskant  wiederholt,  von  allen  vier  Stimmen  ausgeführt  — 
Schul     ------    ter,auf  sei- ».  .  v 

I  r^&s^U  k 


490 


We 


elches  Herrschaft  ist  auf  sei     -    ner  Schulter,  und  sein 


Na  - 


m 


'S  V 
me   wird    heis  -  sen 

1  *  *  * 


PI 


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510 


Die  Formen  der  Chorkomposüion 


wird  und  unter  dem  fröhlichen  Schall  des  Orchesters  zu  dem  frischen, 
ganz  homophonen  Ausspruche  des  letzten  Texlabscbnitts  vom  ganzen 
Chor  führt,  mit  dem,  wieder  auf  der  Dominante,  ein  Schluss  — 
gleichsam  des  ersten  Theils  erfolgt. 

Wieder  beginnt  das  Spiel  der  ersten  Sätze  (No.  488  und  490 
und  führt  zu  dem  letzten  in  Gdur;  nochmals  angeknüpft  führt  es  in 
die  Unterdominante  zum  letzten  Satze;  und  zum  letzten  Mal  machen 
beide  Partien  mit  einem  freien  Anhang  und  einem  Nachspiel  des 
Orchesters  über  das  Motiv  von  No.  487  den  Schluss. 

Schon  die  Lockerheit  dieser  Bildungen  zeigt,  dass  sie  sich  auf 
die  mannigfaltigste  Weise  ausführen  lassen.  Sie  nähern  sich  auf 
der  einen  Seite  der  Satz-  oder  Liedform,  auf  der  andern  der  Fugen- 
form, in  andrer  Beziehung  der  Form  der  Motette,  die  wir  im 
folgenden  Abschnitte  kennen  zu  lernen  haben.  Ja,  es  kann  uns 
nicht  befremden,  wenn  wir  bisweilen  auf  Gebilde  treffen,  die  es 
einigermaassen  zweifelhaft  lassen,  ob  sie  freigebaltne  Fuge  oder 
fugenähnliche  Figuration,  ob  sie  Figuration  oder  vielleicht  schon  eine 
leichtere  Motettengestalt  sind.  Dergleichen  zwei-  oder  mehrdeutige 
Gestaltungen  finden  sich  stets  und  nothwendig  auf  der  Gränze  ver- 
wandter Formen;  wir  haben  sie  schon  öfter  als  die  Punkte  be- 
zeichnet, auf  denen  die  Formen  in' einander  Ubergehn  und  gegen 
einander  frei  werden,  ihre  Schranke  überwunden  haben. 


Siebenter  Abschnitt. 
Die  Motette. 

Der  Kunstausdruck  Motette*  bezeichnet  zweierlei  Kunstformen. 

Erstens  werden  Kirchenkompositionen  so  genannt,  denen  ein 
Kirchenlied  mit  oder  ohne  beigemischte  biblische  Sätze  —  oder  auch 
eine  Reihe  von  Bibelstellen  als  Text  zum  Grunde  liegen  und  in  denen 
die  verschiednen  Sätze  des  Textes  als  abgesondert  für  sich  bestehende 
Tonstücke  behandelt  sind.  In  einer  Motette  in  diesem  Sinne  des  Worts 
könnte  also  der  erste  Liedvers  als  einfacher  oder  figurirter  Choral, 
der  zweite  als  Arie,  der  dritte  als  fugirter  Choral  u.  s.  w.  behandelt, 

*  Er  hat  auch  zweierlei  Ableitungen,  die  jenen  zwei  Bedeutungen  wohl 
entsprechen.  Nämlich  einmal  hangt  er  (aus  der  Zeit  der  niederländischen  Schule 
mit  dem  französischen  Worte  möt  zusammen,  das  bekanntlich  »Wort«,  in  alter 
Sprache  aber  vorzugsweise  »Bibelwort«  (wie  unser  deutsches  «Spruch«)  be- 
deutet. Motette  war*  also  eine  Komposition  von  Bibelstellen.  Dann  aber  (be- 
sonders bei  den  ältern  Deutschen)  wird  Motette  (alt:  Mutete)  von  mutare 
(verändern)  abgeleitet  und  deutet  auf  Veränderung  der  »Kompositionsweise*, 
auf  das  Abgehn  von  einer  Weise  oder  Form  auf  die  andre. 


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Die  Motette. 


511 


es  könnten  Rezitative,  Fugen,  Duette,  lnstrumenlalsälze  in  be- 
liebiger —  nach  dem  jedesmaligen  Text  sich  bestimmender  Auswahl 
und  Anordnung  an  einander  gereibt  werden.  In  solcher  Weise  hat 
unter  andern  Seb.  Bach  seine  Motette :  »Jesu  meine  Freude«  ge- 
schrieben. Ueber  diese  Kompositionsweise  ist  hier  nicht  weiter  zu 
reden.  Sie  ist  nicht  eine  besondre  Kunstform,  sondern  eine  Reihe 
von  Tonstücken  in  verschiednen,  theils  uns  schon  bekannten,  theils 
noch  künftig  zu  betrachtenden  Formen. 

Zweitens  bezeichnet  das  Wort  Motette  eine  wirkliche  für 
Chorkomposition  bestimmte  Kunstform,  über  die  wir  uns  hier  noch 
zu  verständigen  haben.    Dass  diese  Form  wie  alle  Gesangformen 
ihren  Grund  in  der  Beschaffenheit  des  Textes  hat,  muss  schon  (S.  382 
vorausgesetzt  werden.    Wir  knüpfen  daher  bei  dem  Text  an. 

Die  bisher  betrachteten  Chortexle  —  abgesehn  für  jetzt  von  den 
liedförmig  oder  figural  zu  behandelnden  —  zeigten  einen  Haupt- 
gedanken, der  das  Thema  einer  einfachen  Fuge,  oder  zwei  oder  drei 
Hauptgedanken,  die  die  zwei  oder  drei  Subjekte  einer  Doppel-  oder 
Tripelfuge  werden  konnten,  mithin  eine  dieser  Fugenformen  be- 
gründeten; die  Beiläufigkeiten,  die  in  die  Zwischensätze,  in  Einleitung 
und  Schluss  der  Fuge  treten  konnten,  lassen  wir  hier  bei  Seite. 

Schon  für  die  Tripelfuge  war  der  Anlass  selten ;  seilen  fodert 
ein  Text  diese  Form,  und  wir  haben  längst  (Th.  II,  S.  496)  einsehn 
müssen,  dass  mit  der  Zahl  der  Subjekte  die  Klarheit  und  Wirk- 
samkeit jedes  einzelnen  in  gleichem  Yerhältniss  abnimmt.  Wie  also, 
wenn  sich  ein  Text  darbietet,  der  selbst  das  Maass  der  Tripelfuge 
überschreitet,  dessen  Glieder  eine  volle  und  fasslich  eindringliche 
Behandlung  fodern,  nicht  bloss  ein  Zueinanderdrängen,  wie  die  Durch- 
führung mehrerer  Subjekte  mit  einander,  —  auch  nicht  ein  flüch- 
tiges Ueberhingehn,  wie  die  Figuralsälze?  —  Unser  erster  Gedanke 
muss  sich  hier  dahin  richten,  dass  dann  jedes  der  Glieder  abge- 
sondert für  sich  zu  behandeln  wäre,  wie  in  der  Motette  erster  Art. 
Wie  aber,  wenn  die  Glieder  bei  aller  besondern  Wichtigkeit  doch 
auch  wieder  so  eng  zusammengehören,  dass  sie  nicht  getrennt  werden 
dürfen  ?  — Dann  müssen  die  verschiednen  Sätze  sich  zu  einem  einigen 
Tonstücke  verbinden.    Dies  ist  die  Kunstform  der  Motette. 

Hier  nehmen  also  wieder  die  einzelnen  Sätze  verschiedne  Ge- 
stalt an;  es  können  liedförmige,  figurale,  Fugensätze  in  beliebiger 
Zahl  und  Ordnung  neben  einander  treten.  Aber  diese  verschiednen 
Sätze  verknüpfen  sich  zu  einem  einigen  Ganzen. 

Jede  der  einzelnen  Formen,  die  hier  sich  verbinden,  ist  uns 
schon  bekannt,  bedarf  also  keiner  weitern  Erörterung.  Es' wird 
daher  nur  auf  die  Anwendung  und  Verknüpfung  ankommen. 

Jeder  der  anzuwendenden  Sätie,  namentlich  auch  die  FugensäUe, 


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512 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


ist  nurTheil  eines  grossem  und  zusammenhangenden  Ganzen  ;  keiner 
kann  sich  also  in  solcher  Fülle  und  Breite  vollenden,  wie  wenn  er 
für  sich  allein  aufträte,  jeder  muss  zusammengedrängt  auf  seinen 
wesentlichen  Inhalt  vorübergehen,  um  sich  schnell  geltend  zu  machen 
und  dann  dem  Folgenden  zu  weichen,  ohne  dass  das  Ganze  in  un- 
günstiger Breite  auseinanderfliesse.  Namentlich  die  Fugensätze  wer- 
den mit  einer  einzigen  Durchführung  abzufertigen  sein ;  oder  wenn 
sie  eine  zweite  (oder  eine  einzige  tibervollständige)  fodern,  so  wird 
man  sich  um  so  weniger  mit  den  Beiläufigkeiten  langer  Zwischen- 
sätze aufhalten  dürfen.  Auf  diesem  Punkt  erkennen  wir  also  schon 
die  Macht  und  grosse  Bedeutung  der  Motettenform  :  jeder  ihrer  Sätze 
drängt  seine  ganze  Kraft  auf  den  möglichst  engsten  Baum  zusammen. 
—  Hierin  liegt  aber  auch,  beiläufig  gesagt,  der  Unterschied  der 
Motettenform  von  den  S.  505  u.  f.  betrachteten  Figuralformen. 
Auch  diese  berühren  und  verknüpfen  mancherlei  Sätze.  Aber  sie 
gehn  leicht  über  sie  dahin,  während  die  Motettenform  jedem  das 
volle  Gewicht  einer  vorzüglichen  Bedeutung  giebt. 

In  der  uneingeschränkten  Reihe  verschiedner  Sätze,  die  sich  in 
der  Motette  zu  einem  Ganzen  verknüpfen,  können,  wie  gesagt,  auch 
Fugensätze  ihre  Stelle  finden.  Wir  setzen  jetzt  zu:  auch  Doppel- 
fugensätze, —  auch  zwei,  ja  möglicherweise  mehr  Subjekte  können 
nach  einander  durchgeführt  werden.  Diese  unterscheiden  sich 
dann  von  der  ersten  Form  der  Doppelfuge  (Th.  II,  S.  462)  dadurch, 
dass  die  Subjekte  nur  nach,  nie  gegen  einander  zur  Durch- 
arbeitung kommen.  —  Wir  werden  hier  an  die  schon  bekannte 
Form  des  fugirten  Chorals  erinnert;  er  giebt  sich  jetzt  als  Motette 
zu  erkennen,  aber  als  eine  einseitig  ausgebildete,  nur  auf  Fugen- 
sätze beschränkte.  Diese  Beschränkung  ist  kein  Fehler,  sondern 
vielmehr  die  Form,  in  der  der  Inhalt  des  Chorals  zur  reichsten  und 
machtvollsten  Geltung  kommt.  Aber  die  Motettenform  ist  zu  mannig- 
faltigem Gestaltungen  befähigt. 

Die  Verknüpfung  aller  dieser  Sätze  wird  nun 

1)  durch  ihre  ununterbrocbne  Folge, 

2)  bisweilen,  aber  nicht  nothwendig,  durch  verbindende 
Glieder  oder  Tonsätzchen, 

3)  durch  eine  zweckmässig  geordnete  Modulation,  die  jedem 
der  verschiednen  Sätze  den  bestimmten  Sitz  in  der  ge- 
sammten  Folge  der  Tonarten  anweist, 

4)  bisweilen  durch  Zurückführung  auf  den  ersten  Satz, 
der  damit  gleichsam  als  Hauptsatz  erscheint, 

5)  bisweilen  auch  durch  weite,  vollgenügende  Ausfüh- 
rung des  letzten  Satzes,  der  sich  damit  als  Ziel  aller 
vorhergehenden  darstellt, 

bewirkt.  —  Dass  dieser  Verbindung  die  Kraft  der  Sonatenform  (in 


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Die  Motette. 


513 


welcher  die  Hauptgedanken  gegen  und  in  einander  gearbeitet  wer- 
den) abgeht,  ja,  dass  sie  selbst  den  festern  Abschluss  der  Rondo- 
form, auf  einen  Hauptsatz  zurückzukommen,  nicht  immer  hat:  ist 
klar ;  der  aufklärende  und  schnellfassliche  Zusammenhang  des  Textes 
muss  und  kann  hier  dem  Mangel  festern  musikalischen  Verbandes 
ergänzend  zu  statten  kommen.  Doch  ist  allerdings  Bedacht  zu 
nehmen,  dass  dieser  Mangel  nicht  durch  allzugrosse  Häufung  der 
Sätze  und  willkürliche  oder  unentschiedne  Modulation  ein  unUber- 
tragbarer  Fehler  werde. 

Wenden  wir  uns  nun  zum  Praktischen  zurück.  Es  wird  dabei 
nur  der  Anschauung  fertiger  Werke  bedürfen,  da  die  einzelnen  an- 
zuwendenden Formen  uns  geläufig  sind.  Zuerst  fragen  wir  nach 
dem  Text. 

Könnte  jener  S.  506  aus  dem  Matthäus  angeführte  Text  Motetten- 
form erhalten?  —  Nein.  Kein  einziges  seiner  Glieder  ist  für  sich 
so  wichtig,  dass  es  einer  abgesonderten  und  dabei  nachdrücklichen 
Behandlung  bedürfte.  So  sehen  wir  auch  (Beilage  III)  dass  Bach 
zwar  die  einzelnen  Glieder  der  Deutlichkeit  wegen  von  einander 
gesondert,  keines  aber  anders  als  flüchtig  vorübergehend,  keines 
mit  dem  Nachdruck  einer  fest  ausgeprägten  Form  behandelt  hat; 
eben  das  hastige,  von  Erbosung  und  Sorge  aufgestachelte  Vorüber- 
drängen war  Karakter  des  Moments  und  der  Komposition. 

Wäre  der  S.  507  angeführte  Händel'sche  Text  zur  Motette 
geeignet?  —  Nein.  Soll  er  entschieden,  wie  es  die  Art  der  Motette 
ist,  zerlegt  werden,  so  kann  das  sinngemäss  nur  in  zwei  Abschnitte 
geschehen : 

1.  Denn  die  Ehre  des  Herrn  wird  offenbaret; 
8.  alles  Fleisch  mit  einander  wird  sehen,  dass  Jehovah's  Mund  ge- 
redet hat. 

Beide  Sätze  sind  nur  ein  und  dieselbe  Ankündigung  des  zu  Erwar- 
tenden (Geburt  des  Heilandes)  von  zwei  verschiednen  Gesichts- 
punkten ;  kein  Satz  ist  ohne  den  andern  genügend,  aber  auch  keiner 
für  den  Zweck  der  Verkündigung  von  vornehmlicher  Wichtigkeit, 
—  Gott  soll  sich  verherrlichen  durch  Erfüllung  des  Verheissnen, 
aber  die  Menschen  mit  einander  müssen  es  erkennen.  Folglich 
können  die  Sätze  nicht  motettenartig  nach,  sie  müssen  mit  einander 
auftreten.  Also  könnten  sie  vielleicht  gegen  und  mit  einander  auf- 
geführt werden  in  Form  der  Doppelfuge  ?  Das  erlaubt  schon  die 
Ausdehnung  nicht,  auch  würde  in  dem  Gegeneinander  der  beiden 
Subjekte  die  Deutlichkeit  eines  jeden  beeinträchtigt  zu  Gunsten  der 
musikalischen  Gesammtwirkung.  Folglich  mussten  die  Sälze  herold- 
artig verkündet  werden,  sich  hin  und  wieder  ablösen  und  in  diesem 
Vortiberspielen  jeder  seine  Deutlichkeit,  keiner  ein  ungebührliches 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  33 


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514 


Die  Formen  der  Chorkomposition 


Uebergewicht,  das  Ganze  die  Lebendigkeit  und  das  vorüberwallende 
Wesen  einer  Verkündung  von  erweckendem  Inhalt  an  sich  nehmen. 
So  hat  Händel  komponirt;  dies  bedingte  seine  Form. 

Oder  endlich :  könnte  jener  Anfang  des  ersten  Psalms,  den  wir 
anderswo  (Th.  II,  S.  496)  als  Text  einer  Tripelfuge  bezeichnet 
haben,  — 

Wohl  dem,  der  nicht  wandelt  im  Rath  der  Gottlosen,  —  noch  tritt 
auf  den  Weg  der  Sünder,  —  noch  sitzet  da  die  Spötter  sitzen. 

Motette  werden?  —  Nein.  Sein  zweiter  und  dritter  Satz  sagt  im 
Wesentlichen  dasselbe,  was  der  erste ;  beide  können  also  nur  mit 
dem  ersten  —  oder,  wenn  sie  getrennt,  nach  ihm  behandelt  werden 
sollten ,  ohne  Gewicht  (was  sie  an  sich  als  blosse  Wiederholungen 
nicht  haben)  vorübergeführt,  nicht  zu  der  Wichtigkeit  der  Motetten- 
sätze erhoben  werden. 

Betrachten  wir  nunmehr  den  nachfolgenden  Text  aus  einer 
Kirchenmusik  Seb.  Bach's. 

4.  Herr,  deine  Augen  sehen  nach  dem  Glauben. 

2.  Du  schlagest  sie,  aber  sie  fühlen  es  nicht,  —  du  plagest  sie, 
aber  sie  bessern  sich  nicht. 

3.  Sie  haben  ein  härter  Angesicht,  denn  ein  Fels  und  wollen  sich 
nicht  bekehren. 

Er  lässt  vor  allem  zwei  Hauptgegensätze  erkennen :  dass  Gott 
nach  dem  Glauben  sehe  und  wie  man  sich  ihm  verschliesse.  Das 
Letztere  scheint  unter  2.  und  3.  in  drei  verschied ncn  Formen  in 
ziemlich  gleichem  Sinn  ausgesprochen ;  doch  kann  man'in  der  letzten 
Form  auch  den  Sinn  angedeutet  finden,  dass  eine  Verhärtung  von 
Grund  aus,  vielleicht  eine  absichtliche  oder  doch  schon  zur  Lebens- 
gewohnheit gewordne  vorhanden  sei,  während  zuvor  (in  2)  nur 
der  augenblicklichen  Achtlosigkeit  gedacht  war.  So  sehen  wir  drei 
wichtige  Sätze  vor  uns  —  oder  vier,  denn  der  zweite  unter- 
scheidet im  Nichtfühlen  und  im  Nicht-sich-Bessern  auch  zwei  er- 
hebliche Momente,  —  deren  jeder  beherzigt  sein  will,  und  die  doch 
in  einander  greifen  als  ein  untrennbar  Ganzes. 

Hier  haben  wir  die  Noth wendigkeit  der  Motettenform  vor  Augen. 

Bach  führt  nach  einer  breiten  und  eifrigen  instrumentalen  Ein- 
leitung den  ersten  Gedanken  als  Satz,  als  ein  Feststehendes  auf; 
zuerst  so,  — 


Herr! 


l 

Herr !      dei  -  ne  Augen  se  hen  nach  dem  Glauben 

dass  nach  dem  Anruf  des  ganzen  Chors  eine  Stimme  (der  Alt)  den 
Vorredner  macht  und  dann  erst  der  Chor  bekräftigt.  — 


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Die  Motette. 


515 


492 


Herr!  dei  -  ne    Au  -  gen      se  -  hea  nach  dem  Glau-ben 

i  i  i  ML-JJÄ  J  i  i 


r 

Dieser  Chorsatz  wird  ähnlich  wiederholt  und  mit  einem  Halb- 
schluss  auf  die  Dominante  gebracht,  worauf  (in  Z)moll)  der  Diskant 
den  Satz  des  Altes  und  der  Chor  seine  beiden  Sätze  (ähnlich) 
wiederholt. 

Hier  schliesst  Bach  sogleich  den  zweiten  Textabschnitt,  gleich- 
sam als  Gegensatz  und  zweiten  Theil  eines  Liedes,  zu  dem  das 
Vorherige  der  erste  wäre,  an,  — 

rt  — _i — j— j. 


&  gf 


± 


m 


deine 


(Glauben)  du  schlagest  sie,   du  pla 


j 


gest  sie : 


Herr, 

7  i 


SS 


f 


Aber  sie  fühlen  es  nicht,  aber  sie  bessern  sich  nicht 

kehrt  aber  sofort  zu  dem  ersten  Gedanken  zurück  und  führt  ihn 
figurativ  auseinandergesetzt  in  Z)moll  zum  Schluss.  Jene  Worte 
des  zweiten  Textabschnittes  haben  sich  nur  in  vorgreifendem  Eifer 
herzugedrängt ;  es  macht  sich  hier  eine  ähnliche  Weise  geltend,  wie 
in  der  bei  No.  482  erwähnten  Figuration;  aber  sogleich  tritt  der 
Hauptgedanke,  durch  den  Gegensatz  nur  verstärkt,  wieder  in  sein 
Recht  und  wird  hefriedigend  (noch  mit  einem  Nachspiel  besiegelt) 
abgeschlossen. 

Jetzt  erst  tritt  —  mit  einer  Rückkehr  in  den  Hauptton  —  der 
zweite  Textsatz  in  seine  Rechte.  Er  wird  für  sich  allein  fugenmässig 
durchgenommen;  die  Worte 

Du  schlagest  sie 

werden  Thema,  der  fernere  Text  wird  Gegensatz,  — 


u.  s.  w. 


Du  scblä  -----      gest  sie,       a  -  her  sie 

Alt,  Diskant,  Bass,  Tenor  bilden  die  eigentliche  Durchführung,  gleich 
dahinter  meldet  sich  eine  (freie)  Engführung  —  wenigstens  des 

38* 


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516 


Die  Formen  der  Chorkomposition. 


ersten  Gliedes  des  Thema's,  die  aber  bald  einem  Zwischen-  oder 
vielmehr  Nachsatz  {an  das  Motiv  des  Gegensatzes  geknüpft)  weichen 
muss.  Dieser  Ausgang  führt  nach  Cmoll,  wo  das  Orchester  an  den 
Kern  des  ersten  Satzes  (No.  492)  erinnert. 

Nun  tritt  der  wichtigere  dritte  Textsatz  in  Fugenform  auf. 
Das  Thema  (No.  462)  wird  durch  Bass,  Tenor,  Alt,  Diskant  und 
nach  einem  kurzen  Zwischensatz  abermals  durch  Diskant,  Alt,  Tenor 
und  Bass  geführt. 

Aber  eben  hier  schlägt  der  Fugensatz  unerwartet  und  kühn  in 
den  ersten  Satz  (No.  492)  zurück,  der  so  wie  das  erste  Mal  zu 
Ende  geführt  wird  und  das  Ganze  abrundet. 

Ein  zweites  Beispiel  giebt  uns  der  erste  Satz  von  Mozart' s 
Requiem.    Der  Text  — 

4 .  Requiem  aetemam  dona  eis,  Domine, 

2.  et  lux  perpetua  luceat  eis. 

3.  Te  decet  hymnus ,   Deus ,   in  Sion ,  et  tibi  reddetur  votum  in 
Jerusalem. 

4.  Exaudi  orationem  meam,  ad  te  omnis  caro  veniet. 

5.  Kyrie  eleison,  Christe  eleison. 

zeigt  fünf  Sätze,  von  denen  No.  \  und  2  sich  verbinden,  3  und  4 
sich  trennen,  No.  5  sich  vollkommen,  oder  doch  entschiedner  wie 
die  Übrigen  Sätze  unter  einander,  absondern  liesse. 

Mozart  führt  nach  einer  instrumentalen  Einleitung  den  ersten 
Satz  fugenmässig,  und  zwar  gleich  in  der  Enge,  — 


Adagio. 


♦  95  9* 


1*      f 1 


IS    I    JL    ^  ^ 


Re  -  qui-em  ae  -  ter  -  nam, 

im  Haupttone  durch,  nachdem  das  Orchester  eine  gleiche,  nur  weniger 
enge  Durchführung  desselben  Thema's  vorausgeschickt.  Mit  diesen 
zwei  Durchführungen  ist  der  Hauptgedanke  festgestellt  und  wendet 
sich  zum  Halbschluss  auf  die  Dominante. 

Das  lux  perpetua  tritt,  nur  durch  einen  vermittelnden  Akkord 
eingeführt,  satzartig  und  homophon  in  der  Parallele  auf,  schliesst  aber 

8va  bapsa 


496 


8va  bassa  8 va  bassa 

u  u  u     t  i      nv  t  >  TT 


I 


es 


— 


in  deren  Unterdominante  (#dur)  ab;  es  ist  vom  ersten  TextsaUe 


I 


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Die  Motette. 


517 


gesondert,  doch  aber  nicht  eigentlich  selbständig  behandelt  (der 
Schluss  in  der  Unterdominante  zeigt,  dass  es  nicht  ein  wesentlich 
gelten  sollender  Satz  ist),  sondern  nur  als  Schlusssatz  des  ersten 
Abschnittes  zu  betrachten. 

Nach  einem  einleitenden  Takt  ergreift  das  Orchester  in  der- 
selben Tonart  dieses  Thema  (oder  diese  Figur)  — 


497 


und  führt  damit  eine  freie  Figuration  gegen  den  Solo-Sopran  aus, 
der  den  dritten  Textsatz  in  kirchlicher  Intonation  vortragt  und  in 
G  moll  schliesst.  Eine  neue  Figuration  von  Chor  und  Orchester 
bringt  das  exaudi,  wahrend  der  Chordiskant  zu  denselben  Worten 
die  Melodie  des  Te  decet  hymnus  wiederholt.  — 


♦98  < 


i — i 


U.  8.  W. 


E  *  g  '  7  C  g  '  7  fWg 


Ex-au-di, 


ex-au-di  o- 


ex-  au-di, 


Ex-au-di,        ex  -  au-di,        ex  -  au   -    di,  ex- 

So  ist  derselbe  canlus  firmus  zweimal  gegen  verschiedne 
Figurationen  vorgetragen  und  damit  der  zweite  Hauptabschnitt  des 
Ganzen  in  Cdur  —  mit  einem  Schluss  in  Gmoll  befriedigend  ab- 
geschlossen worden. 

Hier  wandet  sich  das  Orchester  mit  dem  ersten  Motiv  der  vor- 
herigen Figuration  (No.  497)  in  den  Hauptton  zurück.  Das  Fugen- 
thema (No.  495)  erscheint  wieder  im  Basse,  jenes  Figuralsätzchen 
(No.  497)  giebt  zu  den  Worten  dona  eis  [Domine)  einen  Gegensatz 
für  den  Alt;  der  Tenor  beantwortet  das  erste,  der  Diskant  das 
zweite  Subjekt.  Nochmals  bringt  (in  der  Unterdominante)  der  Alt 
das  erste  und  dagegen  der  Tenor  das  zweite,  dann  der  Diskant  (in 
der  Parallele,  Fdur)  das  erste  und  der  Bass  das  andre  Subjekt. 
Das  lux  perpetua  kehrt  (ähnlich)  wieder  und  bringt  einen  Halbschluss 
auf  der  Oberdominante.  Damit  bricht  die  eigentliche  Motettenform 
ab ;  zu  ihrer  Besiegelung,  zum  vollen  Abschluss  des  ganzen  Satzes 
folgt  nun  die  bei  No.  477  angeführte,  breit  und  in  feierlicher  Pracht 
entfaltete  Doppelfuge. 


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518 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


Sechste  Abtheilung. 
Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 

In  der  Chorkomposition  wurde  ein  zwiefach  mächtiges  Organ  in 
Tätigkeit  gesetzt.  Der  Chor  bot  sich  in  seiner  Gesammtheit  einer- 
seits dar  als  einen  für  die  Darstellung  einer  einzigen  Idee  einig 
gebildeten  Verein  vieler  Stimmen,  als  eine  einzige  Person  (S.  453); 
andrerseits  als  eine  Schaar  selbständig  (polyphon)  gebildeter 
Stimmen  (S.  455),  die  den  Reichthum  polyphoner  Gestaltung  als 
edelste  Organe  zum  Leben  brachte. 

Fassen  wir  nun  den  Chor  in  seinen  Einheit,  als  eine  einige 
Person :  so  können  wir  dieser  einen  Person  eine  andre ,  ja  mehr 
als  eine  andre  entgegenstellen,  wir  können 

zwei  oder  mehr  Chöre  mit  und  gegen  einander 
führen;  und  so  entsteht 

der  Doppelchor, 
der  dreifache,  vierfache  Chor  u.  s.  w.    Wir  wollen  uns 
zunächst  auf  den  Doppelchor  beschränken. 

Der  Doppelchor  hat  seinem  Wesen  nach  zwei  Chöre  als 
zwei  Personen  gegen  einander  zu  stellen.   Es  kommt  dabei  auf 
die  Zahl  und  Verwendung  der  einzelnen  Stimmen  nicht  weiter  an, 
sondern  zunächst  darauf,  dass  jeder  der  Chöre  sich  als  ein  an  sich 
selbständiger  Körper  geltend  mache,  wenn  auch  nicht  durch  die  ganze 
Komposition  hindurch,  doch  wenigstens  so  weit,  dass  man  ihn  als 
ein  Anderes  dem  andern  Chor  gegenüber  erkenne  und  fasse.  Es  ist 
dieselbe  Foderung  an  zwei  verbundene  Chöre,  die  wir  früher  an 
die  Stimmen  eines  polyphonen  Satzes  gemacht;  sie  sollten  sich 
karakteristisch  und  selbständig  zeichnen ,  durften  aber  dann  aus 
ihrer  Selbständigkeit  und  Besonderheit  heraustreten  und  zu  einer 
homophonen  Einheit  mit  einander  verschmelzen.   Daher  ist  der  in 
No.  427  mitgetheilte  Satz  von  Händel  eigentlich  kein  Doppelchor, 
sondern  ein  achtstimmiger  (oder  vielmehr  sieben-  bis  vierstimmiger! 
einfacher  Chor;  denn  seine  beiden  mit  Chor  I  und  II  bezeichneten 
Partien  unterscheiden  sich  nirgend  als  besondre  Körper  oder  Per- 
sonen von  einander. 

Nach  dieser  vorläufigen  Festsetzung  des  Begriffs  vom  Doppelchor 
bedarf  es  nach  allem  Vorangegangenen  nur  weniger  Betrachtungen, 
um  in  seine  Komposition  einzuführen. 


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Die  Veranlassung  zum  Doppelchor 


519 


Erster  Abschnitt. 
Die  Veranlassung  zum  Doppelchor. 

Die  Form  des  Doppelchors  kann  zwiefache  Veranlassung  haben, 
entweder  im  Text,  oder  in  der  Weise,  wie  sich  eine  bestimmte 
Komposition  im  Geiste  des  Komponisten  gestaltet. 

Zuerst  also  im  Inhalt  des  Textes,  wenn  dieser  das  Gegen- 
einandertreten  verschiedner  Massen,  also  Chöre,  bedingt.  Ein 
solcher  unzweideutiger  Fall  zeigt  sich  unter  andern  im  Samson, 
in  dem  Feierchor  der  Diener  Jehovah's,  denen  der  Chor  der  Gott 
Dagon  Anbetenden  entgegensingt.  Jeder  der  beiden  Kulte,  jede  der 
beiden  Volksmassen,  deren  Gegensatz  und  Kampf  die  Grundlage  des 
dramatischen  Hergangs  im  Oratorium  bilden,  musste  würdig  und 
vollbefriedigend  vertreten  werden,  jedes  Volk  konnte  nur  als  ein 
Chor  auftreten  und  die  Vereinigung  beider  zum  Doppelchor  war  so 
nothwendig  für  den  Komponisten,  als  die  Gegeneinanderstellung  für 
den  Dichter.  —  Ein  eben  so  unzweideutiger  Anlass  bot  sich  dem 
Verf.  in  jenem  Moment  des  Mose,  wo  Pharao  das  Begehr,  die 
Israeliten  zum  Opferdienst  Jehovah's  zu  entlassen,  mit  Hohn  zurück- 
weist. Es  musste  gezeigt  werden,  dass  dies  nicht  persönlicher  Eigen- 
wille des  Herrschers,  sondern  der  Sinn  und  Wille  seines  ganzen 
Volks  ist,  das  nicht  unverdient  von  den  Plagen  und  Strafen  des 
Gottes  getroffen  werden  konnte.  Daher  stimmen  die  Aegypter  in 
leidenschaftlich  aufgeregtem  Nationalhass  — 

Wohl  her  nun,  lasst  sie  uns  plagen!  He!  Werden  sie  opfern?  wird 
man  sie  lassen?  —  Euere  Freudentage  sollen  zu  Trauertagen  werden. 

dem  Gebieter  bei.  Aber  das  wiederum  durfte  kein  blosser  Hohn  der 
Masse  sein  gegen  die  einzelstehenden  Mose  und  Aaron ;  es  musste 
der  unversöhnliche  Zwiespalt  beider  Nationen  zur  Aussprache  kommen 
und  zugleich  ihre  beiderseitige  Stellung  gegen  einander  bezeichnet 
werden,  dem  wilden  Hochmuth  der  Aegypter  gegenüber  die  Ver- 
zagtheit der  Israeliten ,  die  in  vierhundertjährigem  Druck  sogar  zu 
hoffen  verlernt  haben  und  aus  der  augenblicklichen  Begeisterung,  die 
Mose  entflammt  hatte,  bei  dem  ersten  Widerspruch  zurücksinken  in 
angeerbte  Sclaven furcht: 

Ihr  habt  uns  Unglück  zugerichtet!   Grauen  ist  auf  mich  gefallen. 

Diese  beiden  Texte  mussten  zusammentreten  zum  Doppelchor. 

Nicht  immer  ist  der  Gegensatz  und  seine  Noth wendigkeit  so 
entschieden,  wie  in  diesen  Fällen.  Daher  können  einerseits  manche 
Aufgaben  zweierlei  Behandlung  zulassen,  andrerseits  entstehn  in  der 


520 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


Komposition  Mittelformen,  die  mit  mehr  oder  weniger  Grund  bald 
als  einfache,  bald  als  Doppelchöre  angesebn  werden  dürfen. 

Einen  Fall  ersterer  Art  bietet  ein  andrer  Moment  aus  dem  Mose. 
Wenn  im  Zug  durch  die  Wüste  das  stets  verzagende  und  stets  auf- 
sätzige Volk  endlich  in  vollem  Aufruhr  gegen  seine  Führer  ausbricht : 

Du,  Mose  und  Aaron,  der  Herr  richte  zwischen  uns.  Waren  nicht 
Gräber  in  Aegypten,  dass  du  uns  musstest  wegführen  in  die  Wüste? 

so  konnte  allerdings  ein  einfacher  Chor  das  Volk  allenfalls  darstellen, 
auch  die  Vielköpfigkeit  des  Aufruhrs,  die  ordnungslose  Auflösung 
konnte  durch  die  Kraft  polyphoner  Gestaltung  allenfalls  zum  Ausdruck 
kommen ;  es  wär'  also  die  einfache  Chorform  keineswegs  unzulässig 
gewesen,  wie  bei  den  vorerwähnten  Fällen.  Nur,  dass  sich  die 
Massen  des  Volks  gegen  seine  Führer  heranwälzten,  dass  die 
Empörung  in  Massengewalt  und  dabei  durch  und  durch  beseelt 
und  gegliedert  heranstürmt :  —  das  wäre  nicht  zum  vollen  Ausdruck 
gelangt ;  hierzu  kam,  dass  im  ganzen  Wüstenzuge  den  Komponisten 
die  Vorstellung  des  in  zwei  ungeheuren  Heersäulen  neben  einander* 
fortrückenden  Volks  bestimmte  und  der  Darstellung  mannigfache 
Vortheile  bot.   Und  so  musste  sich  der  Moment  doppelchörig  — 


Allegro  impetuoso. 

Chor  [. 


n  J; 


r  r  'f- 


du,  Mo-se  und  Aa-ron,  der  Herr 
du,   Mo      -     -      se,  der  Herr 


T 

richte, 
richte 


Bs 


rieh  -  te 
zwi  -  sehen 


499 


Chor  II. 


¥- 


du,    Mo-se  und 


— i  1 


gestalten. 

Einen  Fall  der  andern  Art  bietet  uns  der  Chor 

4.  Hoch  thut  euch  auf  und  öffnet  euch  weit,  ihr  Thore  der  Welt, 
dass  der  König  der  Ehren  einziehe. 


*  Noch  jetzt  ist  dies  die  Bewegungsweise  grosser  Karavanen  oder  Volks- 
züge im  Orient,  die  sich  auch  in  der  antistrophischen  Form  vieler  Psalme  aus- 
geprägt und  erhalten  hat. 


Die  Veranlassung  zum  Doppelchor. 


521 


2.  Wer  ist  der  König  der  Ehren? 

3.  Der  Herr  stark  und  mächtig  im  Streite,  Gott  Zebaotb,  er  ist  der 
König  der  Ehren. 

aus  Händel's  Messias.  Dieses  ganze  Werk  hat  nur  einfache,  und 
zwar  vierstimmige  Chöre.  Auch  der  vorstehende  Text  foderte  nur 
einfachen  Chor,  wenn  nicht  die  in  2.  und  3.  eingeführte  Frage  und 
Antwort  einen  Gegensatz  von  Stimmen  bedingte.  Diese  Form  der 
Frage  und  Antwort  ist  nur  eine  feierlich  festliche  Form,  den  Ge- 
danken zu  recht  vollem  Austönen  zu  bringen ;  es  ist  nicht  ein  wirk- 
lich der  Antwort  bedürfender  Frager,  sondern  Frage  und  Entgeg- 
nung spielen  hin  und  her,  um  dem  Gedanken  Frische  und  Fülle  des 
Ausdrucks  zu  leihen.  Aber  eben  für  den  Ausdruck  dieser  Feierlust 
war1  eine  einzelne  Fragstimme  unwürdig  und  entstellend  gewesen, 
sie  hätte  sogleich  aus  der  Frage  Ernst  gemacht;  es  musste  ein  Chor 
fragen  und  der  andre  antworten.  —  und  wiederum  dieser  fragen 
und  der  erste  antworten.  Dies  —  und  dies  allein  schien  die  Form 
des  Doppelchors  zu  fodern,  der  im  Uebrigen  nicht  veranlasst  er- 
scheint. Händel  wusste  das  scheinbar  Widersprechende  (in  einem 
einfachen  Chor  die  Form  des  Doppelchors)  zu  vereinen.  Er  erwei- 
tert die  Stimmzahl  des  Chors  von  vier  auf  fünf.  Nun  leiten  die 
Oberstimmen  (zwei  Soprane  und  Alt]  ein,  — 


5  00 


X 


m 


Hoch  thut  euch  auf,     hoch  thut  euch  auf    und    öff-net  euch  weit,  ihr 


P 


rho-re  de 


V  I  I  V 

der  Welt,  dass  der  Kö-nig  derEh  -  ren   ein  -  zie  -  he. 


die  Unterstimmen  fragen,  — 


er  ist  der  König  der  Ehren? 


SM 


Wer  ist  der  König,  der 


Kö-nig  der  Eh-ren,    wer    ist  der  Kö-nig  der  Eh  -  ren  ? 
und  die  obern  geben  wieder  die  Antwort: 


522  Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 

Der  Herr  stark  u.  mächtig,derHerr  stark  u.  mächtig,  stark  u.  mächtig  im  Streite. 

Jetzt  tritt  der  Alt  zu  den  Unterstimmen  und  trägt  mit  ihnen 
den  ersten  Satz  (ähnlich  No.  500)  vor,  die  Oberstimmen  (beide 
Soprane  und  Alt,  —  so  dass  die  fünf  Stimmen  als  zweimal  drei 
wirken)  fragen,  die  Antwort  setzt  wieder  mit  den  drei  Unterstim- 
men an.  Hiermit  ist  aber  jener  Feierform  von  Chor  und  Gegen- 
chor Genüge  gethan ;  von  hier  an  treten  beide  Soprane  zusammen 
und  der  Chor  geht  als  ein  einfacher,  und  zwar  vierstimmiger  zu 
Ende. 

Zweitens  kann  die  Form  des  Doppelchors  aus  der  Anschau- 
ung und  Stimmung  hervorgehn,  die  sich  im  Komponisten  von  seiner 
Aufgabe  gebildet  hat,  ohne  dass  der  Text  diese  Form  schlechthin 
geböte.  Dies  ist  dann  der  Fall,  wenn  der  Komponist  sich  gedrun- 
gen fühlt,  seine  Aufgabe  oder  einen  Moment  in  derselben  mit  be- 
sondrer Fülle,  Macht,  Feierlichkeit,  oder  mit  Prunk  und  Glanz 
u.  s.  w.  zu  behandeln.  Denn  allerdings  bietet  zu  diesen  und  ähn- 
lichen Darstellungen  der  Doppelchor  einen  dem  einfachen  Chor  ver- 
sagten Reichthum  an  Mitteln.  Der  einfache  Chor  kann  nur  als 
Masse  (homophon)  oder  zergliedert  (polyphon)  wirken ;  der  Doppel- 
chor kann 

1)  als  einige  und  in  der  Regel  stimmreichere  Masse  wirken, 

2)  sich  in  seine  beiden  Chöre  zerlegen,  also  Masse  gegen 
Masse  führen, 

3)  einen  oder  den  andern  Chor,  oder  endlich 

4)  beide  zugleich  polyphon  auflösen; 

und  dies  alles  in  mannigfachster  Weise  und  Mischung. 

Dieser  Gewinn  ist  so  entschieden,  dass  man  ihn  selbst  im  ein- 
fachen Chor  sich  gern  aneignet  und  wenigstens  stellenweis,  so  viel 
die  Stimmzahl  erlaubt,  die  Form  der  Doppelchörigkeit  benutzt.  Ein 
Beispiel  bietet  schon  der  vorerwähnte  Händel'sche  Chor,  nur  dass  in 
diesem  der  Text  selber  Anlass  gegeben  zu  einer  Art  von  Doppel- 
oder antistrophischem  Gesang.  Einer  ähnlichen,  nur  reichern  Ge- 
staltung begegnen  wir  im  Sanctus  der  Hohen  Messe  von  Seb.  Bach. 
Ohne  allen  Anlass  im  Text,  nur  dem  Bedürfniss  erhöhter  Feier  ge- 
horchend,  schreitet  Bach  hier  aus  der  bisher  festgehaltnen  Fttnf- 
und  Vierstimmigkeit  zu  der  Erweiterung  des  Chors  auf  sechs  Stim- 
men und  bildet  die  erste  Hälfte  des  Satzes  antistrophisch.  Zwei 
Diskante  und  ein  Alt  treten  einem  zweiten  Alt,  dem  Tenor  und 
Bass  entgegen,  — 


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Die  Veranlassung  zum  Doppelchor. 


523 


503 


-J  J    JD-l/TJ  q 

San  -  ctus,  san 

ctus,  san  - 

rßi 

r  3  :  

San  -  ctus, 


san  -  ctus, 


rr 

■ 

san     -  ctus, 

worauf  in  zwei  Takten  sechsstimmig  auf  der  Dominante  geschlossen 
wird;  im  folgenden  Takte  bilden  wieder  beide  Diskante  mit  dem 
Bass  gegen  beide  Alte  mit  dem  Tenor  einen  Gegensatz,  — 


504  { 


^  l 


ctus, 


san  -  ctus, 

j  mm 


san  -  ctus,  san 


-    ctus.  san 


X 


i 


san  -  ctus, 


san  -  ctus, 


san  -  ctus 

i 


i 


ctus,  san 


san    -  ctus, 


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524 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


so  dass  man  hier  wie  zuvor  in  No.  503  Chor  gegen  Chor  hört  (nur 
dass  die  Massen  nicht  stehend  festgehalten  werden,  wie  im  eigent- 
lichen Doppelchor,  sondern  sich,  wie  man  sieht,  wechselnd  umge- 
stalten) ,  dann  wieder  —  in  den  oben  ausgelassenen  und  andern 
Stellen  —  einen  einigen  sechsstimmigen  Chor  bald  polyphon,  bald 
homophon,  von  da  wieder  auf  die  doppelchörige  Form,  —  z.  B. 


zurückgeführt  wird. 

So  einleuchtend  nun  schon  im  vorläufigen  Hinblick  (S.  522) 
der  Reichthum  und  die  Macht  des  Doppelchors  geworden  sein  muss : 
so  wenig  werden  wir  uns  auch  hier  Willkür  in  der  Wahl  der 
Form  gestatten  dürfen.  Schon  aus  äusserlichen,  aber  triftigen  Gründen 
sollte  man  sich  des  Doppelchors,  wo  er  nicht  in  der  Idee  des  Kunst- 
werks nothwendig  geboten  ist,  enthalten ;  denn  die  Besetzung  eines 
Doppelchors  sowohl  als  eine  zweckmässige  Aufstellung,  —  ein  Chor 
muss  vom  andern  unterscheidbar  getrennt,  doch  aber  nicht  so  weit* 


*  Ein  besondrer  Fall,  der  ausserhalb  des  rein  künstlerischen  Gesichtskreises 
und  unsrer  Betrachtung  liegt,  ist  der,  wo  ein  in  einer  dramatischen  Handlung 
notwendiger  Moment,  oder  eine  besondre  für  irgend  ein  Fest  nöthige  Anord- 
nung, oder  endlich  der  Ritus  einer  Kirche  (z.  B.  der  katholischen)  antistrophi- 
schen Gesang  zweier  abgesondert,  ja  sogar  entfernt  von  einander  aufgestellten 
Sängermassen  fodert,  deren  eine  z.  B.  vom  Orgelchor,  die  andre  vom  Altar 
her,  —  oder  eine  hinter,  die  andre  auf  der  Bühne  gegen  einander,  einander 
ablösend  wirken.    Hier  tritt  die  Musik  in  den  Dienst  der  Kirche  oder  sonst 


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Die  Veranlassung  zum  Doppelchor.  525 

von  ihm  abgestellt  sein,  dass  sie  nicht  sicher  zusammenwirken  und 
zusammen  als  ein  einiges  Ganzes  gehört  werden  könnten,  —  sind 
natürlich  doppelt  so  schwer  zu  bewirken,  als  die  eines  einfachen 
Chors.    Dann  aber  ist  der  einfache  Chor  konzentrirter  in  seiner 


äusserlicher  Absichten  und  hat  sich  ohne  eignen  Willen  dem  Anspruch  derselben 
zu  bequemen.  Sollen  in  solchem  Fall  die  von  einander  entfernten  Chöre  nicht 
bloss  abwechselnd,  sondern  auch  gleichzeitig  wirken :  so  muss  für  die  Momente 
ihres  Zusammentreffens  die  höchste  Einfachheit  in  der  Komposition  herrschen. 
So  schliessen  die  Improperien  des  Pal  es  tri  na  (die  allerdings  durchweg  höchst 
einfach  gesetzt  sind,  wie  hier  — 

Chor  I. 


506  l 


Po  -  pu-le     me-us,  quid  fe-ci  ti 


i 


-   -  bi? 


Chor  II. 


Aut   in  quo  contrista-vi  te?  Re-spon 


mi      -      hi ! 
J_  J  I  j=l 


der  Anfang  zeigt)  in  dieser  Weise,  — 


507 


— 


r 


Mi    -    se   -    re  -  re      no    -  bis. 


-  re  no 


und  das  in  gleichem  Styl,  nur  im  ersten  Chor  etwas  bewegter  geschriebne  Mi- 
severe  des  Gregorio  Allegri  (fünf  und  vier  Stimmen)  schliesst  so: 


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526 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


Wirkung ;  er  hat  als  Ersatz  für  die  fehlende  breite  und  prachtvolle 
Fülle  des  Doppelchors  mehr  Schlagkraft  und  mehr  Beweglichkeit; 
seine  Stimmen  finden,  da  sie  (in  der  Regel)  minder  zahlreich  sind, 
als  die  Stimmen  des  Doppelchors,  freiem  Spielraum  und  können 
deutlicher  vernommen  und  unterschieden  werden ;  endlich  erhält  man 
sich  die  mächtige  Wirkung  des  Doppelchors  frisch,  wenn  man  diese 
höhere  Form  nicht  bei  solchen  Aufgaben,  für  die  der  einfache  Chor 
genügt  hätte,  verbraucht.  Dies  ist  der  Grund,  warum  die  Meister 
nur  sparsam  vom  Doppelchor  Gebrauch  machen  und  sich  meist  mit 


D.  i. 


g    o.  33 


-t 


Tunc  im  -  po-nent  su  -  per  Al-ta  -  re 
D.  II 


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508  ) 


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Der  doppelchörige  Satz. 


527 


dem  einfachen  Chor  begnügen.  Händel  hat  in  seinen  Oratorien  fast 
nur  den  einfachen  Chor  gebraucht;  in  Israel  in  Aegypten  weicht 
er  von  diesem  Grundsatz  ab,  wahrscheinlich  um  den  einzelnen  Haupt- 
momenten dieses  Oratoriums  ein  um  so  grösseres  Gewicht  zu  ver- 
leihn,  je  weniger  das  Werk  als  Ganzes,  durch  eine  künstlerisch 
wohlerwogne  Anordnung,  der  Grossheit  und  Macht  des  Händel'schen 
Geistes,  wie  derselbe  sich  im  Messias  und  anderwärts  bewährt,  zu 
entsprechen  scheint.  Dazu  aber  kommt,  dass  die  acht  Stimmen  der 
Doppelchöre  meist  zu  sieben,  sechs,  vier  real  unterschiednen  Stim- 
men zusammengezogen  werden.   Auch  Bach  hat  meist  vier-  und 
fünfstimmig  in  einfachem  Chorsatz  geschrieben ;  nur  in  einigen  Mo- 
tetten greift  er  in  Ermangelung  einer  Ruhepunkte  gewährenden  Be- 
gleitung und,  hier  sowohl  wie  in  der  Matthäischen  Passion,  be- 
wogen durch  die  besondre  Macht  der  Konzeption,  zu  der  Form  des 
Doppelchors.  Wenn  aber  die    Item  Komponisten  (der  niederländi- 
schen, alt-italienischen  und  alt-deutschen  Schule)  häufigem  Gebrauch 
von  Doppel-,  ja  drei- ,  vier-  und  mehrfachen  Chören  gemacht  haben  : 
so  thaten  sie  es,  um  durch  Stimmfülle  und  Stimmwechsel  zu  er- 
setzen, was  ihnen  an  reicherer  und  bedeutungsvoller  Entfaltung  der 
Melodie,  der  Rhythmik,  der  Kunstformen,  kurz  aller  Elemente  und 
Gestaltungen  noch  nicht  gegeben  war,  was  erst  im  Laufe  der  letzten 
zwei  Jahrhunderte  dem  rastlosen  und  allseitigen  Vordringen  des  künst- 
lerischen Geistes  erreichbar  wurde;  abgesehn  davon,  dass  sie  oft 
dem  Ritus  ihrer  Kirche  und  dem  in  gewissen  Perioden  hervortre- 
tenden Bedürfniss  derselben,  auch  die  Musik  sich  in  besondrer  Pracht 
entfalten  zu  lassen,  unbedingt  Folge  leisten  mussten. 


Zweiter  Abschnitt. 
Der  doppelchörige  Satz. 

Nachdem  wir  im  vorigen  Abschnitt  das  Wesen  und  die  Bedingung 
des  Doppelchors  im  Gegensatz  zum  einfachen  Chor  bezeichnet  und 
dessen  Spuren  schon  im  letztern  (No.  500  bis  505)  aufgefunden,  bleibt 
nur  wenig  über  die  Komposition  selbst  zu  sagen.  Was  nämlich  vom 
einfachen  Chor  und  den  für  denselben  sich  darbietenden  Kunstformen 
gezeigt  worden,  gilt  vom  Doppelchor  ebenfalls,  so  weit  nicht  der 
diesem  eigne  Inhalt  die  Umgestaltung  der  Formen  bedingt.  Wie  aber 
und  wie  weit  dies  geschieht,  werden  wir  leicht  erkennen,  sobald 
wir  uns  die  dem  Doppelchor  eigenthümlichen  Aufgaben  (wenigstens 
die  wesentlichern)  vergegenwärtigt  haben.  Es  fragt  sich  also  zu- 
nächst : 


528 


Der  doppel-  und  mehrfache  Chor. 


IÄÜÜL 


was  vermögen  wir  durch  den  Doppelchor,  im  Gegensatz  zum  ein- 
fachen (oder  Uber  die  Gränzen  desselben  hinaus  zu  erreichen? 

Als  das  Nächste  scheint  allerdings  die  Benutzung  einer  grössern 
Stimmzahl,  als  im  einfachen  Chor  verwendet  zu  sein  pflegt,  er- 
wähnt werden  zu  müssen.  Hierauf  ist  aber  kein  weiteres  Gewicht 
zu  legen;  denn  einmal  kann  ein  einfacher  Chor  ebensowohl  acht- 
oder  neunstimmig  gesetzt  werden,  wie  ein  Doppelchor  (und  dieser 
minderstimmig) ,  dann  wissen  wir,  dass  der  Gewinn  an  Stimmzahl 
kein  reiner,  sondern  durch  Verlust  an  Bewegsamkeit,  Karakteristik 
und  Fasslichkeit  der  einzelnen  Stimmen  verkümmert  ist.  Erst  die 
Gebrauchsweise  der  Stimmen,  ihre  Vertheilung  in  zwei  Massen  be- 
dingt das  Wesen  des  Doppelchors  und  gewährt  die  ihm  eignen  Vor- 
theile.   Diese  sind  zunächst  folgende. 

I.  Ablösung  einerMasse  von  Stirn  mendurchdieandre. 

Wenn  ganz  einfach  Masse  gegen  Masse  tritt,  eine  die  andre 
ablösend,  gleichsam  eine  Wechselrede  von  Chören:  so  muss  dadurch 
das  Ganze  an  Beweglichkeit  und  Mannigfaltigkeit  gewinnen.  Der 
Anfang  der  Palestrinensischen  Improperien  (No.  506)  veranschaulicht 
dies  am  einfachsten  Inhalt.  Wenn  nach  dem  Schlüsse  des  ersten 
Chors  auf  D  der  andre  Chor  auf  C  einsetzt  und  so  beide  wechseln, 
bis  sie  zuletzt  (No.  507)  verschmelzen :  so  muss  das  nothwendig  man- 
nigfaltiger erscheinen  und  belebender  wirken,  als  wenn  ein  einziger 
Chor  die  Sätze  nach  einander  vortrüge  * ;  auch  würde  dann  wahr- 
scheinlich (wenigstens  in  unsrer  Zeit,  wäre  man  auch  von  derselben 
Weise  ausgegangen)  die  Modulation  von  einem  Satz  zum  andern 
eine  andre  geworden  sein.  Die  Mannigfaltigkeit  dieses  Chorwechsels 
wirkt  noch  entschiedner,  wenn  die  beiden  Chöre  nach  Stimmzahl 
verschieden  zusammengesetzt  sind,  wie  z.  B.  das  Miserere  von 
Allegri  (dessen  Schluss  wir  in  No.  508  gesehn  haben),  in  dem  ein 
fünfstimmiger  Chor  (zwei  Diskante,  Alt,  Tenor,  Bass)  einem  vier- 
stimmigen (zwei  Diskante,  Alt,  Bass)  gegenübertritt.  Aber  auch 
ohne  dieses  Hülfsmittel  kann  das  Ablösen  der  Chöre  dem  Ganzen 
anmuthige  Beweglichkeit  mittheilen. 

Ein  genügendes  Beispiel  giebt  die  wahrscheinlich  von  Johann 


*  Erschallen  nun  die  Chöre  von  verschiedenen  Seiten  her,  vielleicht  unsicht- 
bar in  verdunkelter  Kirche  (wie  in  der  Charwoche  in  der  Sixtina  in  Rom,  wie 
es  vor  Jahren  Spohr  in  der  Allg.  mus.  Ztg.  so  schön  beschrieben),  setzt  der 
folgende  Chor  im  leisesten  Hauch  und  allmählich  anschwellend  ein,  während  die 
letzte  Harmonie  des  ersten  Chors  noch  in  den  Lüften  zu  vorschweben  scheint : 
so  kann  die  Wirkung  allerdings  eine  bezaubernde,  —  aber  doch  mehr  auf  dem 
sinnlichen  Element  der  Darstellung,  des  Verhallens  und  Anschwellens  schöner 
Stimmen  und  reiner  Harmonien,  als  auf  dem  geistigen  Inhalt  beruhende  sein. 


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Der  doppelchlirige  Satz 


529 


Christoph  Bach  komponirte  Motette*:  »Ich  lasse  dich  nicht«. 
Hier  intonirt  der  erste  Chor  — 


509 


im 


Ich 


r~Tr 

las  -  se  dich    nicht,  du      seg  -  nest  mich 

1  i 


denn. 


4 


i— i  u 


t- 


und  der  andre  wiederholt;  der  erste  giebt  einen  zweiten,  dritten 
Satz,  der  andre  wiederholt,  stets  nach  dem  Schlüsse  des  ersten  und 
wörtlich.  Der  vierte  Satz  wird  auch  noch  gesondert,  aber  unvoll- 
ständiger wiederholt ;  erst  viel  später  greifen  die  Chöre  in  einander. 

Ein  zweites  ähnliches  Beispiel  entlehnen  wir  einem  Kyrie  von 
G.  H.  Stölzel  für  Doppelchor  mit  Begleitung  des  Streichquartetts 
und  der  Orgel.  Nach  einer  Intonation  des  Kyrie  durch  beide  ver- 
einte Chöre  mit  Zwischenspiel  des  Orchesters,  die  uns  hier  nichts 
angeht,  intonirt  der  erste  Chor  diesen  kanonischen  Satz  — 

Ky  -  ri  -  e,    Ky     -     ri-e  e  -  le 


510  < 


f 


u 


1  r 

Ky  -  ri  -  e, 


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13 


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Ky    -     ri-e   e  -  le 
ky    -    ri  -  e 


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9t 


i 


II  c 


Ky     -     ri  - 


i-son.  f 


in  Unterquinte  und  Oktave.  Von  f  (Takt  8  in  No.  510)  an  tritt 
nun  in  gleicher  Weise  mit  demselben  Kanon  der  zweite  Chor  zu, 
so  dass  sein  Diskant  den  des  ersten  Chors,  sein  Alt  den  ersten  Alt 
ablöst,  und  so  fort.  Es  bildet  sich  also  hiermit  ein  unendlicher 
Kanon,  nur,  wie  hier 


*  J.  Seb.  Bach's  Motetten,  in  Partitur  bei  Breitkopf  und  Härtel,  Heft  I, 
No.  3.  Von  Seb.  Bach  ist  diese  oben  erwähnte  Motette  gewiss  nicht; 
wahrscheinlich,  wie  gesagt,  von  Johann  Christoph. 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  31 


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530 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


Chor  II. 


5H  { 


fknr  IT 


Chor  I. 


I  | 


Chor  II. 
Chor  I. 


Chor  I. 


Chor  II. 


mm 


Chor  II. 


die  Ueberschriften  anzeigen,  mit  ablösenden  Stimmen.  —  Auf  diesen 
zweiten  Chor  stellt  sich  nun  wieder  der  erste  mit  einem  neuen  (dem 
ersten  freilich  gar  zu  ähnlichen)  Kanon  zum  Christe  — 


511 


Christe, 

Christe  e  - 

le 

u.  s.  w. 

 M  1 

i  T 

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I  l 

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 W-ß- 

C=  M"J 

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 m 

auf,  der  vom  zweiten  Chor  anschliessend  wiederholt  wird;  auf  des- 
sen Schlüsse  wiederholt  der  erste  und  dann  der  zweite  das  Kyrie, 
und  nun  erst  schliessen  beide  vereinte  Chöre. 

Ganz  abgesehn  von  der  grössern  oder  mindern  Tiefe  der  Kon- 
zeption entsteht  bei  solchen  Konstruktionen  die  bedenkliche  Frage  : 
ob  nicht  durch  die  Zertheilung  des  Chors  an  Energie  und  Wohl- 
klang der  Stimmen  mehr  verloren,  als  durch  die  Abwechselung  ge- 
wonnen wird?  Wenigstens  bei  längerer  Fortsetzung  erscheint  diese 
Gestaltung  als  eine  ungünstige.  Dagegen  gewährt  sie,  bloss  an- 
fangs, zur  Einleitung  eines  Doppelchors  angewendet,  den  Vortheil 
einer  klaren  Auseinanderstellung  beider  Massen;  bei  energischer 
Erfassung  der  Aufgabe  wird  dann  der  Komponist  den  Wechsel  der 
Chöre  zeitig  dringender  werden  und  einen  Chor  in  den  andern  ein- 
greifen  lassen.  Eins  der  leuchtendsten  Vorbilder  bietet  hier  die 
vierte  Bach'sche  Motette*,  — 


*  Die  erste  im  zweiten  Hefte  der  Breitkopf- Härtel'schen  Ausgabe. 


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Der  doppelchlirige  Satz. 


531 


513  l 


Lentö. 

br  3 

Komm, 


9*£ 


komm,  komm  Je  -  su,  komm, 

±A  A.A  A 


J. 


Komm,    komm,  komm, 


komm  Je  -  su, 


.,,1  j 


komm  Je  -  su,  komm, 


t 

komm  Je  -  su,  komm. 


komm, 

J 


komm  Je  -  su,   komm,  komm  Je  -  su, 


von  der  überhaupt  gesagt  werden  darf,  dass  sie  des  heiligen  Geistes 
voll  ist.  Hier  drangt  wirklich  Masse  auf  Masse,  es  schleicht  nicht 
eine  der  andern  nach,  sondern  jede  führt  weiter,  was  die  andere 
vorausgebracht;  —  und  doch  ist  das  nur  d<jr  Eingang. 

Wir  wollen  noch  einen  verwandten  Fall  anführen,  den  Anfang 
der  zweiten  Bach'schen  Motette*,  — 


*  Im  ersten  Hefte. 


34* 


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532 


514 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


Fürchte  dich  nicht, 


7  e  e  i 


33 


ich  bin  bei  dir, 

7  /  hi; 


be  i 


Fürchte  dich     nicht,  ich  bin  bei 


dir, 


5 


bei 


Fürchte  dich  nicht, 


7 


-b  ^ — 

ich  bin  bei 

/  J?  J 


Fürchte  dich     nicht,  ich  bin     bei  dir, 

in  dem  ein  Satz  (fürchte  dich  nicht  —  ich  bin  bei  dir)  Glied  um 
Glied  vom  ersten  Chor  angestimmt,  vom  andern  nachgeahmt  wird, 
dies  aber  nur  von  den  drei  Oberstimmen  jedes  Chors,  während  der 
vereinte  Bass  beider  Chöre  die  das  Ganze  verbindende  und  tragende 
Grundlage  bildet.  Im  dritten  und  vierten  Takt  folgt,  unter  Vortritt 
des  zweiten  Chors,  die  (ähnliche)  Wiederholung,  deren  Schluss  auf  A 
zurückfällt,  und  dann  die  weitere  Ausführung  unter  stetem  Wechsel 
der  Chöre,  — 


~r  L     T  II      1  ~H 


die  erst  zuletzt  wieder,  wie  bei  Takt  2  und  4,  auf  einen  Augen- 
blick zusammentreffen.  Noch  lange  dauert  dieses  Wechselspiel  der 
Chöre  fort ;  —  zu  lange,  müsste  man  fürchten,  wenn  nicht  die  Macht 
neuer  Gedanken,  gediegner  Modulation,  mannigfacher  Gliederung, 
und  besonders  der  dieses  Wechselspiel  krönende  Gedanke  (No.  520) 
den  breiten  Unterbau  kräftigte  und  rechtfertigte. 

t 

2.  Gleichzeitige  Gegeneinanderstellung  beiderChöre. 

Schon  in  den  vorhergehenden  Fällen  traten  die  beiden  Chöre 
als  zwei  einander  entgegenstehende  Massen  auf,  aber  entweder  voll- 
kommen von  einander  gesondert  (No.  506,  509),  oder  nur  durch  eine 
Unterlage  (No.  514)  verbunden,  die  weder  der  einen,  noch  der 
andern  Masse  ausschliesslich  gehörte,  oder  endlich  mehr  oder  weniger 


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Der  doppelchörige  Satz. 


533 


ineinandergreifend  (No.  513,  499),  doch  kenntlich  genug  unterschie- 
den durch  die  Zeitfolge  des  Eintritts.  Im  nachfolgenden  Beispiel, 
dem  Anfang  von  Seb.  Bach's  erster  Motette:  »Singet  dem  Herrn 
ein  neues  Lied«  (Psalm  U9),  — 


516 


 1 

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gi      p  ra 

*(f  ^4^r; 

ggf  '  " — — -d 

Sin  - 

Singet,  singet, 

ij  ^ 

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sin  -  get, 

i  i 

lf  *  

sin  -  get, 

1  l 

-+?  =r-=i 

,..g_ir.,r=j^ 

H — r  ^~H=?— -=» 

treten  beide  Chöre  gleichzeitig  auf,  aber  der  Inhalt  unterscheidet  sie  5 
die  drei  Oberstimmen  des  ersten  Chors  figuriren  gegen  die  Anrufe  des 
zweiten,  wahrend  derBass  des  ersten  die  Grundlage  des  Ganzen  giebt. 

Gleiches  geschieht  bei  dem  Fortgang  der  vierten  Bach'schen 
Motette  von  No.  513  ab;  der  zweite  Chor  setzt  den  Anruf,  der 
das  erste  Motiv  gegeben,  fort,  während  der  erste  im  Text  und  der 
bis  dahin  nur  angeregten  Stimmung  weiter  schreitet,  — 


317 


feg1 


Gieb  Trost  mir  Mü 


f. 


4^ 


3 


r 


-j — K.t 


— 


i,             komm,  komm, 
=k  ^_ 

| — »   ■  \-f~'  m- 


m 


gieb  Trost  mir 
j  ■  ■  


komm,  komm,  komm,  komm, 

bis  auch  der  zweite  Chor  den  neuen  Gedanken  ergreift  und  mit  dem 
ersten  vereint  abschliesst. 


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534 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor, 


Ein  dritter  Fall  bietet  sich  an  dem  S.  520  aus  Mose  ange- 
führten Chor.  Den  Aegyptern  gegenüber,  die  in  ihrer  Aufregung 
wild  durch  einander  rufen,  tritt  der  Gegenchor  der  Israeliten  ängstlich 
zusammengedrückt,  wie  eine  gescheuchte  wehrlose  Schaar  auf;  — 


518    Sopr.  i.  II.  Alt  1. 

Q  


i 


feto« 


J— M 


X 


pla 


t 


gen 


Lasst  sie  uns  pla    -    -    gen,  lasst 
Wohl  her  nun,      wohl  her  nun, 


-  i —  -t     —  — 1  L»» — - —        l  — 

Bass  1.  Wohl  her,  wohl  her,  lasst  sie  uns 

Alt  II.  sempre p 


* 


Ten.  II. 


Ihr  habt  uns  Un 


glück  zu-ge-rich-tet, 


sempre  p 


■r-rt 


x 


J  V 


Bass  II. 

beide  Chöre  sind  durchaus  geschieden ,  der  erste  polyphon ,  der 
zweite  im  Einklang  aller  Stimmen. 

3.  Auflösung  beider  Chöre  in  ihre  Stimmen. 

Bringen  wir  uns  diese  Form  an  einem  der  karaktervollsten 
Gebilde,  die  die  Kunst  kennt,  zur  Anschauung.  Es  ist  der  Chor 
der  wüthigen  Juden  (aus  der  Matthäischen  Passion),  die  Jesus  »des 
Todes  schuldig«  urtheilen.  — 

Er  ist  des  Todes  schul    -    dig,  er  ist  des  To  -  des 


3E£ 


¥   '  ¥ 

Er  ist  des  To    -    des  schul    -    dig,  er  ist  des  Todes  schul- 
EristdesTo  -     des     schul     -    dig,  er  ist  des 

,  /  §  t         W\¥¥      iHtez       zxfc    »    -7—     P  * 


7 


i 


Er  ist  des  Todes  schul    -  dig, 
Er  ist  des  Todes  schul 


i 


dig, 
-4— 


I 


Er  ist  des  To 


des  schul 
Er  ist  des  Todes  schul- 


I 


N    H  > 


ir  ist  des 


des  schul 


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Der  doppelchlirige  Satz 


535 


schul        -       -       difz,  des  To  -  des  schuldig! 


1  

§*=e- — =Hp^^N 

dig,            des  To        -        des  schuldig! 
To-des  schul    -    dig,  des          To  -  des  schuldig ! 

1  

i  

F  •?  -  4—  | 

er  ist  des  To    -    des         schul      -  dig! 
—  er  ist  des  Todes   schul        -       -  dig! 

dig,  er  ist  des  To    -    des         schul       -  dig! 
dig,      ist  des  To-des    schul       -  dig! 

i 

- 

dig,  er  ist  des    To  -  des         schul       -  dig! 

Hier  sind  beide  Chöre  polyphon  aufgelöst  und  bilden  einen  eini- 
gen achtstimmigen  Satz.  Dennoch  ist  der  Körper  jedes  Chors  deutlich 
zu  unterscheiden,  sowohl  in  der  Stimmordnung,  —  Diskant,  Tenor, 
Alt,  Bass,  und  abermals  Diskant,  Alt,  Bass,  Tenor,  —  wie  auch  im 
Vorherrschen  des  ersten  Chors  zu  Anfang  und  des  zweiten  Chors  zu 
Ende,  das  sich  besonders  in  den  Oberstimmen  zeichnet.  Dieses 
Festhalten  der  Grundbildung  mitten  in  der  allgemeinen  Auflösung  in 
einzelne  Stimmen  darf  wohl  als  eine  Energie  und  Schönheit  der  künst- 
lerischen Gestaltung  bezeichnet  werden  (sie  ist  Bach  fast  tiberall 
eigen),  wenn  man  sie  auch  nicht  zu  einer  unerlässlichen  Bedingung 
erheben  kann.  Denn  warum  sollte  nicht  der  Doppelchor  auch  in 
dieser  Weise  zur  Form  des  einfachen  Chors  zurücktreten,  wie  dieser 
gelegentlich  an  den  Vortheilen  des  Doppelchors  seinen  Antheil  sucht? 

4.  Energische  Gegenstellung  von  Masse  und  einzelnen 

Stimmen. 

Schon  der  einfache  Chor  kann  gegen  eine  seiner  Stimmen  den 
Verein  der  übrigen  aufführen ;  allein  der  Gegensatz  ist  nicht  bloss 
ein  minderer,  sondern  die  Fortführung  desselben  eine  beschränkte 
nach  der  Minderzahl  der  Stimmen,  deren  sich  der  einfache  Chor  zu 
bedienen  pflegt.  Soll  im  vierstimmigen  Chor  z.  B.  der  Bass  gegen 
die  übrigen  Stimmen  treten,  so  hat  er  nur  drei  jung  klingende  Stim- 
men als  Masse  gegenüber;  soll  nun  dieser  Gegensatz  fortgeführt 
werden,  so  muss  man  zu  einer  der  obern  Stimmen  nach  der  andern 
greifen,  und  es  ist  die  Frage,  ob  jede  derselben  angemessen  er- 


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53(>  Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


scheint.  Betrachten  wir  dagegen  dieselbe  Gestaltung  in  einem  Dop- 
pelchor; —  es  ist  die  Fortsetzung  der  in  No.  514  und  515  ange- 
führten Motette.  — 


Ich        stärke  dich,  ich  stärke 


ich  stär      -      -      -      ke  dich. 


Hier  tritt  vor  allem  der  abgesonderten  Stimme  eine  Masse  von 
sieben  andern,  getragen  und  gestärkt  durch  einen  Bass  als  Unter- 
stimme, gegenüber ;  der  Komponist  hatte  unter  allen  Stimmklassen 
stets  freie  Wahl  für  die  vortretende  Partie,  konnte  also  zweimal 
den  Bass  vorführen ,  ohne  auf  dieselbe  Stimme  zurückzukommen ; 
Ober-  und  Unterstimme  jeder  Masse  waren  frei  und  konnten  (man 
sehe  den  Bass  im  ersten  und  letzten,  den  Diskant  im  dritten  Eintritt) 
in  aller  Macht  frei  gewählter  Intervalle  eintreten,  wenn  auch  Dis- 
kant oder  Bass  vorangegangen  war. 


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Der  doppelchörige  Satz. 


537 


Ein  eben  so  mächtiges  Beispiel  entnehmen  wir  der  bei  No.  513 
angeführten  Motette.  — 


121 


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Das  Ziel 


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Das  Ziel  ist  nah,  die  Kraft        ist  klein. 


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Das  Ziel  ist  nah'  die  Kraft  ist 


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das  Ziel 


das  Ziel  ist  nah ,  die  Kraft     ist  klein, 


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das  Ziel 


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klein, 


dasZiel  ist  nah,  die  Kraft      ist  klein, 


Hier  war  es  um  energische  Darstellung  des  Hauptgedankens  zu 
thun.  Viermal  wird  er  vom  Bass  vorgetragen,  eben  so  oft  vom 
Diskant  beantwortet  und  jedesmal  von  einer  frischern  Stimme  ein- 
gesetzt ;  der  Bass  tritt  in  seiner  Kraft  und  männlichen  Beredtsamkeit 
(vergl.  S.  357)  allein  auf,  der  zartere  Diskant,  in  seiner  beweg- 
lichem und  weiblich  anmuthigen  Weise,  wird  vom  Schluss  des 
Bassgesangs  und  den  ganz  untergeordneten  Mittelstimmen  getragen : 
bloss  hierauf  beschränkt  sich  der  Gegensatz  von  Masse  und  Einzel- 


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538 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


stimme.  Das  ganze  Gebilde  war  offenbar  nur  durch  den  Doppel- 
chor darstellbar. 

So  viel,  um  die  eigenthümlichsten  Gestaltungen  des  Doppelchors 
anzudeuten.  Zu  erschöpfen  sind  sie  schon  darum  nicht,  weil  jedes 
neue  Werk  neue  Gebilde  bringen  kann;  auch  würde  eine  er- 
schöpfende oder  möglichst  erschöpfende  Darstellung  eher  nachtheilig 
und  hindernd,  als  vortheilhaft  sein,  da  sie  der  Erfindung  mehr  als 
nothwendig  Vorgriffe.  Ohnedem  kann  und  will  die  Lehre  das  Studium 
der  Meisterwerke  nicht  überflüssig  machen,  sondern  vielmehr  auf 
dasselbe  nach  Kräften  hinführen  und  vorbereiten.  Unsre  Liebe  und 
unsre  Bildung,  beide  können  die  stete,  tiefste  Durchdringung  der 
Meisterwerke  nimmer  entbehren,  ja  ohne  sie  nicht  wohl  gedacht 
werden. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  Formen  des  Doppelchors. 

Haben  wir  im  vorigen  Abschnitte  die  Macht  des  Doppelchors 
angeschaut,  in  ihm  eins  der  gewaltigsten  Organe  der  Kunst  erkannt : 
so  ist  doch  eben  in  der  Weise  dieser  Macht  ein  letzter  Grund  für 
sparsame,  nicht  nach  Willkür,  sondern  nach  innerer  Notwendig- 
keit zu  treffende  Anwendung  (S.  524]  gegeben.  Die  Massenwirkung 
(S.  526)  bringt  im  Verhältniss  zur  Grösse  der  Masse  auch  Mangel 
an  freier  Bewegsamkeit  und  Durcharbeitung,  so  wie  Schwierigkeit 
der  Auffassung  mit  sich.    Die  Ablösung  eines  Chors  durch  den 
andern  (S.  530)  halbirt  die  Kraft  des  ausführenden  Personals  und 
kann  nicht  ohne  Bedenken  lange  fortgeführt  werden ;  ähnlich  verhält 
es  sich  mit  allen  dem  Doppelchor  eignen  Gestaltungen.  Man  erkennt: 
dass  der  Doppelchor  den  einzelnen  Moment  mit  überwiegender 
Kraft  darstellen  kann,  dass  er  aber  eben  desshalb  um  so  schneller 
seine  Aufgabe  erfüllt,  um  so  weniger  das  Bedürfniss  und  das 
Recht  weiter  Ausdehnung  hat. 

Niemand  wird  die  Macht  der  in  No.  519  bis  524  mitgetheilten 
Sätze  verkennen,  aber  keinem  derselben  wird  man  breitere  Aus- 
führung wünschen  oder  ohne  Verderbniss  zufügen  können. 

Daher  begreift  man,  dass  der  Doppelchor  sich  auf  die  breitern 
Kompositionsformen,  namentlich  auf  Choralfiguration  und  Fuge,  in 
der  Regel  nicht  einlässt;  diese  Formen  würden  in  Anwendung  auf 
ihn  zu  weite  Ausdehnung  erhalten  müssen.  In  Bezug  auf  die  Fuge 
ist  dies  schon  früher  genügend  besprochen  worden.  In  Bezug  auf 
die  Choralfiguration  ist  dem  Verfasser  nur  der  weiterhin  zu  be- 
sprechende Einleitungschor  in  die  Matthäische  Passion  als  Ausnahme 
bekannt.    Seb.  Bach  hatte  hier  ein  in  höchster  Feierlichkeit  vor- 


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Die  Formen  des  Doppelchors. 


539 


zugsweise  doppelchörig  angelegtes,  weitumfassendes  Werk  einzuleiten 
und  fand  sowohl  hierin,  als  schon  im  Text  entscheidende  Gründe 
zu  seiner  Form.  Wo  ihn  aber  nicht  die  Lage  der  Sache  selbst 
nöthigte,  ging  er  mit  seinen  Choralfigurationen  stets  vom  Doppelchor 
auf  Vierstimmigkeit  zurück;  so  in  demselben  Werke  mit  dem  den 
ersten  Theil  schliessenden  Choral:  »O  Mensch,  bewein'  dein'  Sünde 
gross«,  so  in  der  zweiten,  bei  No.  5U  angeführten  Motette.  Auch 
die  bei  No.  509  angeführte  Motette  geht  bei  einer  später  eintreten- 
den Choralfiguration  auf  den  einfachen  Chor  zurück. 

So  ist  denn  vorzugsweise  der  Satz,  oder  eine  Folge  von 
Sätzen,  motetlenartig  verbunden,  die  Form,  die  der  Doppelchor 
annimmt ;  den  Satz  kann  er  in  überlegner  Fülle  und  Energie  hin- 
stellen und  abthun,  eutweder  sofort  schliessend,  oder  nach  befrie- 
digendster Erledigung  des  ersten  einen  zweiten  mit  gleichem  Nach- 
druck folgen  lassend. 

Wie  viel  solcher  Sätze  in  einem  Gusse  folgen  dürfen?  —  das 
lässt  sich  im  Allgemeinen  nicht  bestimmen.  Nur  so  viel  ist  gewiss, 
dass  mit  der  Zahl  der  an  einander  gereihten  Sätze  der  Antheil  und 
die  Dauerkraft  des  Schaffenden  wie  des  Hörenden  von  den  voran- 
gegangnen Sätzen  durch  die  nachfolgenden  abgezogen,  zerstreut, 
endlich  geschwächt  und  zersplittert  wird,  dass  man  sich  also  hier, 
bei  der  Gewichtigkeit  des  Organs  und  der  Aufgaben,  möglichst  zu 
beschränken  wohl  thut.  Die  Bach' sehen  Motetten  haben  zum  Theil 
grosse  Ausdehnung ;  man  kann  aber  selbst  von  ihnen  nicht  sagen, 
dass  ihr  allerdings  unschätzbarer  Werth  mit  der  Ausdehnung  in 
gleichem  Verhältniss  ständ' ;  vielmehr  dürfte  eben  einigen  der  be- 
schränktem Sätze  die  höchste  Vollendung  zu  Theil  geworden  sein. 
Unvergleichlich  stehn  dagegen  die  Doppelchöre  der  Matthäischen 
Passion  da,  die  fast  alle  auf  den  Raum  weniger  Takte,  auf  einen 
oder  ein  Paar  Sätze  beschränkt  sind  und  in  dieser  Begränztheit  die 
Kraft  gefunden  haben,  die  bedeutungsvollsten  Momente  der  ewigen 
Geschichte  in  der  Fülle  ihres  tiefen  Inhalts  hinzustellen. 

Eben  so  wenig  lässt  sich  im  Allgemeinen  vorausbestimmen,  in 
welcher  Wahl  und  Folge  die  Mittel,  die  der  Doppelchor  anbietet, 
zur  Anwendung  kommen  sollen.  In  der  Regel  wird  man  mit  dem 
Verein  beider  Massen,  oder  auch  mit  der  Rückkehr  zum  einfachen 
Chor,  als  der  einheit-  und  nachdruckvollsten  Verwendung  des 
Ganzen,  zu  schliessen  wünschen ;  gern  wird  man  (S.  530)  zu  Anfang 
die  Massen  sondern,  um  so  das  Organ  in  seinen  Hauplpartien  klar 
auseinanderzusetzen.  Allein  dergleichen  Regeln  oder  Rathschläge 
müssen  stets  der  Anfoderung  der  jedesmaligen  Aufgabe  weichen, 
oder  ergeben  sich  dem  bis  hierher  Vorgedrungnen  von  selbst. 


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540 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor 


Vierter  Abschnitt. 
Der  drei-  und  vierfache  Chor. 

Die  Macht  des  Doppelchors  beruhte  im  Wesentlichen  darauf, 
dass  ein  Chor  dem  andern  entgegengesetzt  werden  konnte.  Hierzu 
sind  also  zwei  Chöre  erfoderlich.  Wieviel  gegen  diesen  Gewinn 
an  Beweglichkeit,  Formreichthum  u.  s.  w.  eingebüsst  wird,  haben 
wir  gesehn. 

Die  Verknüpfung  von  drei  und  mehr  Chören  bringt  keinen 
neuen  wesentlichen  Gewinn  und  häuft  die  Schwierigkeiten  und 
Hindernisse,  die  wir  schon  bei  dem  Doppelchor  anerkennen  mussten. 
Zwölf,  sechzehn  reale  (wesentlich  verschiedne)  Stimmen  sind,  zu- 
mal im  Bereich  der  Singstimmen,  nicht  zu  führen;  und  wenn  sie 
zu  führen  waren,  so  würden  sie  vom  Hörer  nicht  unterschieden 
werden  können,  mithin  bloss  als  volle  Masse  wirken.  Hierzu  genügt 
aber  der  Doppelchor  (wenn  nicht  schon  der  einfache;  vollkommen 
und  lässt  dabei  doch  die  Weise  der  einzelnen  Stimmen  klarer  durch- 
klingen. Wir  werden  später  (im  vierten  Theil  des  Lehrbuchs)  er- 
fahren, dass  im  Orchester  zwölf  und  mehr  verschieden  gebildete 
Stimmen  mit  einander  zu  guter  Wirkung  geführt  werden  können. 
Dies  ist  desshalb  der  Fall,  weil  derselbe  Gedanke  von  verschieden 
Instrumenten  verschieden  dargestellt  werden  muss  und,  wenn  sich 
verschiedne  Instrumente  zu  demselben  Satze  jedes  in  seiner  Weise 
vereinen,  man  nicht  das  einzelne  Instrument  hören  will  und  hört, 
sondern  nur  die  Gesammtwirkung  aller  in  ihrer  Verschmelzung. 
Mit  Singstimmen  verhält  es  sich  anders.  Das  Organ  des  Menschen, 
gewidmet  der  bestimmten  sprachlichen  Aeusserung,  ist  ein  zu  per- 
sönliches, zu  geistvolles,  als  dass  man  seine  Vermischung  zu  un- 
unterscheidbarer  Masse  billigen  könnte. 

Aus  diesen  Gründen  hat  der  drei-  und  vierfache  Chor  seit  der 
höhern  Ausbildung  unsrer  Kunst  bei  den  Meistern  keine  Anwendung 
gefunden,  ausser  in  solchen  Gestaltungen,  in  denen  zwar  drei,  vier 
unterscbiedne  Massen,  nicht  aber  drei  oder  mehr  vollständige  Chöre 
auftreten.  In  dramatischen  Scenen  kann  es  bisweilen  nothwendis 
werden,  drei  und  mehr  Massen  gegen  einander  zu  führen ;  in  den 
Opern  S p o n t i n  i ' s  und  Meyerbeer's  sind  dergleichen  Kombina- 
tionen zu  treffen.  Allein  dann  wird  einer  oder  werden  mehrere  der 
Chöre  durch  eine  einzige  Chorabtheilung  oder  Chorstimme  vertreten, 
Tenöre  und  Bässe  bilden  z.  B.  einen  oder  zwei,  Diskant  und  All 
einen  oder  zwei  andre  Chöre,  die  eine  Partei  wird  von  dem  Chor- 
bass,  zwei  andre  werden  von  andern  Männer-  und  den  Frauen- 
stimmen dargestellt,  so  dass  bei  dem  Zusammentritt  aller  doch  nur 
vier  bis  acht  Stimmen  zusammenwirken. 


Der  drei-  und  vierfache  Chor.  541 

Merkenswerther  für  das  Studium,  als  alle  diese  mehr  von  den 
Bedingungen  der  Scene  abhängigen  Kombinationen,  ist  der  schon 
S.  538  erwähnte  Einleitungschor  der  Matthäischen  Passion.  Dieser 
Chor  musste  sowohl  nach  dem  in  Frage  und  Entgegnung  auseinander- 
tretenden Text,  — 

Kommt,  ihr  Töchter,  helft  mir  klagen, 
Sehet  —  »wen?«  —  den  Bräutigam, 
Seht  ihn  —  »wie?«  —  als  wie  ein  Lamm, 
Sehet  —  »was?«  —  seht  die  Geduld, 
Seht  —  »wohin?«  —  auf  unsre  Schuld 

u.  s.  w. 

als  in  Uebereinstimmung  mit  der  ganzen  Auffassung  des  Werkes 
sich  als  Doppelchor  gestalten;  zu  beiden  Chören  tritt  aber,  von 
einem  dritten  Chor  von  Diskanten*  gesungen,  der  Choral:  »0 
Lamm  Gottes,  unschuldig«.  Hier  war  also  ein  dreifacher  Chor 
nothwendig;  aber  in  seiner  Gesammtheit  zahlt  er  nur  neun  Stimmen, 
und  der  Choral  stärkt  vielmehr  in  seinem  gleichförmigen  Einher- 
schritt  die  Haltung  des  Ganzen,  als  dass  er  sie  stören  könnte. 

Dergleichen  seltene  und  dann  bei  zweckmässiger  Auffassung  in 
sich  selber  vereinfachte  und  erleichterte  Fälle  ausgenommen,  dürfen 
wir  die  Anwendung  von  drei-  und  vierfachen  Chören  als  unange- 
messen, keinen  wesentlichen  Vortheil,  sondern  entschiednen  Verlust 
an  der  Rüstigkeit  und  Macht  des  einfachen  und  Doppelchors  bringend, 
mithin  als  unkünstlerisch  von  uns  weisen.  Nur  in  der  Periode  der 
Niederländer,  der  altrömischen  und  venedischen  Schule  wurde  die 
Kraft  der  Musik  in  solchen  (und  noch  viel  weiter  gehenden)**  Auf- 
thürmungen  gesucht,  die,  wie  schon  S.  527  erwähnt,  ersetzen 
sollten,  was  der  Kunst  an  geistigen  Mitteln  und  Bildung  noch  nicht 
zugewachsen  war;  die  Hinterlassenschaft  dieser  Zeit  —  und  in  ihr 
auch  der  dreifachen  und  vierfachen  Chöre  —  ist  dann  von  histo- 
rischen Kunstdileltanten  in  einem,  seinem  Ursprung  nach  löblichen 
liebevollen ,  aber  unerleuchteten  Eifer  Uberschätzt  worden ,  kann 
jedoch  die  unbefangne  Prüfung  dessen,  der  mit  dem  Wesen  unsrer 
Kunst  vertraut  ist,  nicht  von  den  absoluten  Gesetzen  abwenden, 
unter  denen  das  Werk  des  Künstlers  entsteht,  muss  vielmehr  er- 
fahrungsgemäss  bestätigen,  was  umsichtige  Erwägung  schon  im 
Voraus  zu  erkennen  vermag.  Mit  der  Anzahl  der  Stimmen  und 
Chöre  wächst  die  Schwierigkeit,  die  einzelnen  Stimmen  zu  indivi- 


*  Es  ist  Soprano  tipieno  vorgeschrieben;  die  vielfache  Besetzung 
dieser  Stimme  würde  sich  auch  von  selbst  verstehn,  da  eine  Solostimme  nicht 
zwei  Chöre  und  Orchester  beherrschen  könnte. 

**  Dass  man  endlich  auch  pedantische  Eitelkeit  mit  der  (so  wohlfeilen !) 
Kunst  vielstimmigen  Satzes  getrieben,  zeigen  Versuche:  für  zwölf  Chöre 
'scheinbar  ach  tu  nd  vi  er  z  i  gs  timmig !)  zu  setzen.  Diesmal  waren  nicht 
Deutsche  die  Pedanten,  sondern  Italiener. 


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542 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


dualisiren.  gebt  also  die  höchste  geistige  Kraft  der  Chorkomposition 
(die  polyphone)  und  —  wie  wir  schon  bei  dem  Doppelchor  be- 
merken mussten  —  die  Möglichkeit,  reichere  Kunstformen  vortheilhaft 
anzuwenden,  mehr  und  mehr  verloren.  Aber  auch  die  Massenkraft 
wird  geschwächt,  da  die  Zertheilung  der  Sänger  in  zwölf  oder  sech- 
zehn Stimmen  zu  ungünstigen  Lagen  und  Schritten  zwingt  und  alles 
auf  einander  drückt,  sowohl  in  Tiefe  als  Höhe. 

Werfen  wir,  damit  es  nicht  ganz  an  Belägen  fehle,  einen  Blick 
auf  ein  dreichöriges  (zwölfstimmiges)  Benedictes  von  Joh.  Gabriel i. 
Der  erste  Chor  besteht  aus  drei  Diskanten  und  Tenor,  der  zweite  aus 
Diskant,  Alt,  Tenor  und  Bass,  der  dritte  aus  Tenor  und  drei  Bässen.  — 


522     Chor  I. 


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in  no-mi-ne, 


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Der  drei-  und  vierfache  Chor.  543 


Do      -      -  mi-ni. 


Der  letzte  Takt  ist  dreitheilig  (3/4)  und  im  nächsten  setzt  Osama 
ein,  von  dem  wir  (mit  üebergehung  von  dreizehn  Takten)  den 
wieder  in  der  ersten  Taktart  stehenden  Schluss  geben.  — 


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544 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


Dass  diesem  Satze  besonders  in  seinem  ersten  Theil  (No.  522) 
Feierlichkeit  und  Würde,  —  wenn  auch  nicht  der  treffende  Aus- 
druck des  in  den  Worten  ausgesprochen  Gedankens,  —  inwohnt, 
dass  der  Wechsel  des  dämmerungtiefen  dritten  Chors  mit  dem  hoch 
und  hell  hineinklingenden  ersten  überaus  sinnig  (man  möchte  sagen, 
wie  ein  de  profundus  clamavi  und  ein  osanna  in  excelsis) ,  anmuth- 
voll  und  andächtig  zugleich  anspricht  und  der  mittlere  gemischte 
Chor  wohlbedacht  und  wohlerwogen  die  Extreme  der  andern  Chöre 
vermittelt:  wem  könnte  das  entgehn?  Allein  hierauf  beschränkt  sich 
—  und  muss  sich  beschränken  der  wesentliche  Gehalt  dieser  und 
aller  gleich  angelegten  Kompositionen.  Die  reiche  Musikentfaltung, 
die  Mannigfaltigkeit  und  Spannkraft  der  grössern  Kunstformen,  die 
durchdringende  Individualisirung  der  Stimmen,  der  tiefe  und  durch- 


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Der  drei-  xmd  vierfache  Chor.  545 

gehende  Einklang  zwischen  dem  Gedanken  des  Textes  und  der  Musik, 
zwischen  dem  Wort  und  seiner  Weise,  daher  endlich  die  karakte- 
ristische  Gestaltung  jeder  einzelnen  Komposition  und  ihre  not- 
wendige und  wesentliche  Verschiedenheit  von  jeder  andern :  das  alles 
war  in  solcher  Fassung*  nicht  erreichbar.  Was  aber  Wesent- 
liches erreicht  worden,  würde  sich  mit  bescbränktern  Mitteln,  z.  B. 
im  achtstimmigen  Satze  (Takt  3  bis  5  bei  A.y  Takt  9  und  10  bei  B.) 


ve  nit,  be-ne-di  -  ctus 


erreichen  lassen  (selbst  ohne  den  Bass  in  die  selten  erreichbare  Tiefe 
von  C  und  D  zu  drängen)  und  damit  die  Möglichkeit  einer  reichern, 
individualisirten  Gestaltung  der  Komposition  gewonnen  sein. 


*  Es  konnte  überhaupt  in  jener  Zeit,  wo  die  Musik  noch  nicht  freie 
Kunst  war,  sondern  im  Dienst  der  Kirche  stand,  weder  erreichbar  noch  not- 
wendig und  begehrt  sein.  Diese  einander  ablösenden,  in  einander  wehenden 
Stimmmassen  der  zwei  und  drei  Chöre  Hessen  in  einer  höhern  und  schönern 
Sprache,  als  der  gemeinen  des  Alltags,  das  Wort  der  Verkündigung  oder  des 
Gebets  vernehmen  und  stimmten  so  in  die  allgemeine  Heiligung,  die,  zunächst 
von  der  Priesterschaft  persönlich  vertreten,  das  Grundelement  des  katholischen 
Gottesdienstes  genannt  werden  darf.  Hierzu  war  ein  tiefes,  auslegendes  und 
ausdeutendes  Eingehn  auf  das  Wort  weder  nöthig,  noch  zulässig;  erst  der 
Protestantismus  hat  dem  Volk  das  Wort  (die  Bibel)  gegeben,  eingedenk,  dass 
das  Volk  ein  priesterlich  Volk  sein  solle.  Daher  war  auch  nähere 
Individualisirung  der  Stimmen,  kurz  alles  damals  nicht  Gegebne,  weder  nöthig, 
noch  zulässig.  Es  soll  also  auch  alles  oben  Angemerkte  nicht  ein  Tadel  der 
alten  Weisen  sein;  wie  unhistorisch  und  unkritisch  war'  es,  eine  Zeit  nach 
den  Bedürfnissen  und  Begriffen  einer  andern  zu  richten !  Fragt  sich  aber,  was 
unsrer  Zeit  gebührt:  so  dürfen  und  müssen  wir  uns  an  den  Zeugniss  geben- 
den Werken  der  frühern  Zeit  zum  Bewusstsein  bringen,  ob  das  Damalige 
noch  ein  Recht  auf  die  Gegenwart  hat.  Nicht  über  die  alten  Meister  und  ihre 
Werke,  sondern  über  unsre  Aufgabe  und  Obliegenheit  ist  hier  zu  urtheilen  ge- 
wesen. Dem  Jünger  darf  keine  Kunstperiode  und  Kunstrichtung  fremd  bleiben  ; 
aber  keine  darf  seine  Vernunft  unter  dem  Glauben  und  Vorurtheil 
gefangen  nehmen. 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  85 


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546  Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  das  hier  Bemerkte  bei  dem 
vierfachen  Chor  noch  in  höherm  Grade  zutreffen  muss.  Das 
Werk  eines  sehr  geschickten  Meisters  der  neuern  Zeit,  Faschs 
sechzehnstimmige  Messe,  gebe  uns  als  einzig  nöthigen  Belag  den 
Schluss  des  Kyrie.  — 


525 


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II. 


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IV. 


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Fasch  schrieb  diese  Messe,  durch  vierchörige  Kompositionen 
von  Orazio  Benevoli  zur  NacheiferungT  zu  dem  Versuch  ange- 
regt, was  die  Kunstfertigkeit  seiner  Zeit  (Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts) in  solchen  Aufgaben  der  alten  Meister  vermöge.  Dass  er 
technisch  zu  seinem  Unternehmen  wie  irgend  einer  seiner  Zeit- 
genossen gerüstet  und  befähigt  war,  hat  er  in  diesem  und  andern 
Werken  sattsam  erwiesen.  Dass  sein  Antrieb  ein  mehr  äusser- 
licher  (Nacheiferung,  Erprobung  des  Kunstgeschicks)  war,  kein  rein 
künstlerischer;  dass  ihm  auch  nicht  die  kirchliche  Erhebung  zu 
Hülfe  kam,  die  die  alten  Meister  im  unmittelbaren  Dienst  der  Kirche 


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Der  drei-  und  vierfache  Chor. 


547 


gekräftigt  haben  mag:  kann  hier  unerwogen  bei  Seite  bleiben. 
Nicht  in  all  diesen  Verhaltnissen,  sondern  in  der  Natur  der  Auf- 
gabe liegt  das  Bedenkliche  ihrer  Lösung;  nur  dies  zu  erkennen,  liegt 
uns  ob,  wahrend  eine  Kritik  des  würdigen  Tonsetzers  weder  unsre 
Pflicht  noch  uns  ziemend  ist,  da  es  hier  gar  nicht  auf  seine  Be- 
urtheilung  ankommt.  Führen  wir  die  sechzehn  Stimmen  auf  ihren 
Tongehalt  zurück,  so  erscheint  etwa  folgendes  Resultat,  — 

I      _  I      .      J  J  J 


das  aber  die  Verdopplungen  der  Töne  und  deren  Ablösungen  nicht 
genau  und  vollständig  hat  aufnehmen  können.  Wenn  hier  die 
Stimmen  einander  drücken,  drangen  und  kreuzen,  die  Töne  der 
einfachsten  Akkordfolge  — 


527 


I 


J  _J 


-J 


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fast  unkenntlich  durcheinanderziehn,  im  fünften  Takt  wieder  a,  im 
siebenten  und  zehnten  wieder  #  in  die  Oberstimme  tritt,  offenbar 
nur,  um  für  alle  Soprane  noch  eine  Tonstufe  mehr  zu  erringen :  so 
ist  das  alles  kein  Vorwurf  für  den  Komponisten,  sondern  nur  ein 
Beweis  für  die  Ungunst  der  Aufgabe.  Und  wie  soll  nun  vollends 
der  Hörer  aus  diesem  Tongewimmel  die  einzelnen  Stimmen,  oder 
auch  nur  die  eigenthümlicher  geführten  (z.  B.  den  Diskant  des 
ersten,  den  Tenor  des  vierten  Chors)  heraushören?  —  Bei  alle  dem 
ist  aber  der  Satz  nicht  einmal  sechzehnstimmig;  die  Bässe  des 
zweiten  und  vierten  Chors  sind  für  eine  Stimme  zu  achten,  der 

35* 


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548 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


des  dritten  schliesst  sich  ihnen  bis  auf  zwei,  der  Tenor  des  zweiten 
Chors  bis  auf  vier  Takte  an  u.  s.  w.  Auch  das  ist,  wenn  einmal 
die  Aufgabe  feststand,  kein  Vorwurf,  war  vielmehr  nothwendig  oder 
doch  vortheilhaft;  jede  neue  Stimmabweichung  hätte  das  Gewirr 
vermehrt. 

So  erscheint  uns  denn  der  Doppelchor  —  und  zwar  der 
achtstimmige  —  als  Gränze  für  die  Chorkomposition, 
die  nur  in  seltnen  Fällen  und  dann  nicht  mit  vierstimmigen  Chören 
zu  Zwölf-  oder  gar  Sechzehnstimmigkeit,  sondern  mit  Chören, 
die  insgesammt  nicht  über  acht  oder  neun  Stimmen  hinausgehn,  über- 
schritten werden  soll.  Muss  es  aber  doch  geschehn,  so  bedarf  es 
dazu  keiner  neuen  Lehre,  auch  keiner  besondern  Vorübung.  Die 
für  den  Doppelchor  aufgefundnen  Grundsätze  und  Anschauungen 
werden  sich  für  die  noch  umfassendem  Kombinationen  ebensowohl 
genügend  erweisen. 


Fünfter  Abschnitt. 

Die  Verbindung  von  Chor  und  Solo. 

Zum  vollständigen  Besch luss  der  ganzen  Lehre  von  der  Chor- 
komposition, so  weit  sie  hier  zu  geben,  bedarf  es  nur  noch  weniger 
Bemerkungen  über  die  Verbindung  und  Vermischung  von  Chor-  und 
Sologesang.  Meist  findet  sie  in  umfassendem  und  dann  begleiteten 
Kompositionen  statt;  daher  ist  auch  erst  im  vierten  Theil  des 
Lehrbuchs  gründlicher  von  ihr  zu  reden.  Doch  kann  auch  im 
reinen  Vokalsatz  Solo  und  Chor  verbunden  werden;  es  muss  daher 
wenigstens  das  Nächste  schon  hier  Erwähnung  finden. 

Ein  im  Allgemeinen  für  Chorkomposition  bestimmter  Text  kann 
einzelne  Partien  enthalten,  die  sich  nur  als  Aeusserung  Einzelner 
fassen  lassen,  mithin  Sologesang  werden  müssen.  Hiermit  ist  also 
die  Verbindung  von  Solo  und  Chor  bedingt. 

Die  Solosätze  können  nur  einer  einzigen,  oder  mehrern  Solo- 
stimmen zuertheilt  werden.  In  unbegleiteten  Vokalsätzen  wird  man 
in  der  Regel  das  Letztere  vorziehn  müssen. 

Sie  können  mit  den  Chorsätzen  abwechseln,  oder  sich  mit  ihnen 
gleichzeitig  verbinden. 

Der  erstere  Fall  kann  zunächst  im  Chorlied  eintreten.  Es 
kann  ein  Vers  mehr  für  Sologesang,  der  andre  mehr  für  Chorgesang 
geeignet  sein ;  dann  wird  entweder  für  beide  dieselbe  Weise  benutzt, 
nur  zuerst  von  den  Solo-,  dann  von  den  Chorstimmen  vorzutragen. 


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Die  Verbindung  von  Chor  und  Solo. 


549 


Oder  es  kann  bei  einem  solo  vorzutragenden  Liede  der  Schlusssatz 
(als  sogenannter  Refrain)  vom  Chor  gesungen  werden.  Oder  es 
kann  nach  einem  Chorsatz  ein  neuer  Satz  für  Solostimmen  folgen 
und  dann  der  Chorsatz  wiederholt  werden,  so  dass  die  zweite 
Rondoform  — 


heraustritt.  Aehnlicher  Kombinationen  sind  noch  manche  theils 
schon  versucht,  theils  noch  möglich.  Wir  werden  deren  später 
kennen  lernen. 

Der  andre  Fall,  das  gleichzeitige  Wirken  von  Solo  und  Chor, 
ist,  wenn  nur  eine  Solostimme  dem  Chor  gegenübertritt,  so  anzu- 
sehn,  als  diente  der  Chor  der  Solostimme  nur  zu  einer  mehr  oder 
weniger  eigentümlich  gestalteten  und  ausgebildeten  Begleitung. 
Denn  aus  doppelten  Gründen  muss  der  Solostimme  eine  vor- 
herrschende Stellung  gegeben  werden ;  einmal,  weil  sie  als  Organ 
einer  einzelnen  Person  ein  bestimmtes  Individuum  darstellt,  das, 
gegenüber  einer  verbundnen  Masse  von  Individuen,  vornehmliche 
Bedeutung  behauptet;  dann,  weil  nur  in  hervorgehobner  Stellung 
eine  einzelne  Stimme  sich  der  materiell  überwiegenden  Masse  eines 
Chors  gegenüber  vernehmbar  und  geltend  machen  kann. 

Wenn  endlich  mehrere  Solostimmen  dem  Chor  gegenüberstehn 
(wie  wir  unter  andern  in  Haydn's  Oratorien  und  Beethove n's 
grosser  Messe  sehen),  so  treten  die  Grundsätze  vom  Doppelchor 
ein;  die  Solostimmen  stellen  den  einen  Chor  dar,  der  wirkliche 
Chor  den  andern.  Auch  hier  muss  aus  den  oben  erwähnten  Grün- 
den durch  Hervorhebung  der  Solostimmen  und  Unterordnung  des 
Chors  in  den  Momenten,  wo  beide  gleichzeitig  wirken,  dafür  gesorgt 
werden,  dass  die  erstem  vernehmbar  und  in  der  ihnen  gebührenden 
Bedeutsamkeit  hervortreten. 

Was  nun  den  Satz  der  Solopartie  betrifft,  so  scheint  es  — 
sobald  er  von  der  Anordnung  des  Komponisten  abhängt  —  rathsam, 
die  Solopartie  nicht  in  gleicher  Stimmzahl  mit  dem  Chor,  sondern 
in  minderer  zu  setzen.  Denn  jede  Stimmzahl  bringt  (wie  wir  aus 
den  ersten  Theilen  des  Lehrbuchs  wissen)  eine  besondre  Satz- 
weise mit  sich,  die  von  der  einer  andern  Stimmzahl  sich  karakte- 
ristisch  unterscheidet;  man  denke  an  die  Karakterverschiedenheit 
der  drei-,  vier-,  fünfstimmigen  Choräle  und  Fugen.  Ein  drei-  oder 
zweistimmiger  Solosatz  wird  sich  daher  von  einem  vier-  oder  fünf- 
stimmigen Chorsatze  nicht  bloss  durch  Besetzung  und  Inhalt,  son- 
dern auch  durch  die  der  Stimmzahl  eigne  Behandlung  unterscheiden. 
Dies  bedarf  kaum  eines  weitern  Nachweises ;  daher  sei  nur  auf 
einen  dafür  sprechenden  Fall  hingewiesen,  auf  den  Chor  mit  Solo : 


HS 
Chor 


SS 
Solo 


HS 
Chor 


Der  Herr  ist  gross  in  seiner  Macht 


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550 


Der  Doppel-  und  mehrfache  Chor. 


in  Haydn's  Schöpfung.  Wenn  hier  Solo  und  Chor  gegen  einander 
treten,*  — 

Solo. 


528 


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so  trägt  unverkennbar  die  Dreistimmigkeit  des  Solosatzes  bei,  den- 
selben vom  Chor  noch  deutlicher  zu  unterscheiden.  Gleichen  Vor- 
theil genoss  Haydn  in  den  Jahreszeiten;  dagegen  hatte  er  nicht 
Ursach,  denselben  da  festzuhalten,  wo  —  wie  im  Schlussgesang  der 
Schöpfung  —  Solo  und  Chor  nur  abwechselnd  nach ,  nicht  gegen 
einander  auftreten. 

Dass  Übrigens  bei  dem  Wechsel  oder  Zusammenwirken  von 
Solo-  und  Chorsatz  jede  der  beiden  Partien  ordnungsgemäss,  nämlich 
satz-  oder  abschnittweis,  eintritt  und  ihren  Satz  vollständig  zu 
Ende  führt,  wofern  nicht  ein  besondrer  Inhalt  Anderes  verlangt, 
folgt  schon  aus  der  Lehre  vom  Doppelchor  und  selbst  von  der 
Stimmführung.  Ueberhaupt  bedarf  es  hier  weder  weiterer  Anleitung 
noch  —  bis  zur  Lehre  des  vierten  Theils  —  der  Uebung  oder 
Vorübung. 


*  S.  4  58  und  160  der  Partitur.  Dass  die  obigen  besonders  ihrer  Popularität 
wegen  gewählten  Sätze  Orchesterbegleitung  haben,  thut  hier  nichts  zur  Sache. 


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Anhang. 


Erläuterungen  und  Zusätze 

zum 

dritten  Theile. 


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A. 

Die  nachbeethoven'sche  Richtung  der  Klavierbehandlung. 

Zu  Seite  25. 

In  allen  Künsten  und  Kunstschöpfungen  trifft  man  bei  tieferni 
Eindringen  auf  einen  nie  ganz  zu  tiberwindenden  Zwiespalt  zwi- 
schen Inhalt  und  Ausgestaltung.  Das  Ideal  findet  seiner  Natur  nach 
keine  vollkommen  entsprechende  Verkörperung ;  der  Künstler  muss 
sich  am  möglichst  Erreichbaren  und  Entsprechenden  genügen  lassen 
—  und  Ergänzung  des  unerreichbar  Gebliebnen  von  der  Sympathie 
und  Phantasie  der  Hörer  oder  Schauenden  erwarten. 

Dies  muss  um  so  häufiger  der  Fall  sein,  je  weiter  der  Stoff*, 
in  dem  der  Künstler  arbeitet,  hinter  den  in  der  Sache  liegenden 
Erfodernissen  zurückbleibt.  Die  Musik  fodert  Schallmacht,  Klang- 
reichthum, Ausdauer  und  Anwachsen  des  Tons,  Verschmelzung  der 
Töne  zu  fliessendem  Gesänge,  Durch-  und  Gegensetzung  verschied- 
ner  Stimmen  gegen  einander,  —  und  wir  haben  erfahren  müssen, 
wie  viel  das  Klavier  von  all  diesen  Ansprüchen  unerfüllt  lässt. 

Der  bequemste  Ausweg  ist  der,  den  die  Mehrzahl  der  Virtuo- 
sen, tonsetzenden  Klavierlehrer  und  Salonkomponisten  geht:  sie 
richten  ihren  etwaigen  geistigen  Inhalt  nach  dem  technischen  Ver- 
mögen des  Instruments  zu,  —  oder  vielmehr,  sie  haben  keinen 
andern  Inhalt  mitzutheilen,  als  den  aus  ihren  technischen  Studien 
am  Instrumente  geschöpften.  Bei  ihnen  lenkt  nicht  der  Geist  die 
Hand,  sondern  die  Hand  ist  der  Geist.  Daher  haben  sie  kein  Be- 
denken getragen,  wahre  Kunstwerke  (namentlich  Beethoven' s), 
die  über  jene  Gränze  hinausgingen,  für  »nicht  klaviermässig«  zu 
erklären,  —  oder,  seit  es  nicht  mehr  thunlich  scheint,  sich  ihrer 
zu  enthalten,  sie  nach  eigner  rein  technischer  Weise  herunterzu- 
arbeiten, unbekümmert  um  den  tiefern  Inhalt. 

Diesem  Abwege  gegenüber  steht  der  andre:  sich,  ohne  Rück- 
sicht auf  Verwirklichung  am  Instrumente,  seinen  Tonphantasien  hin- 
zugeben. Die  Idee  des  Künstlers  ist  aber  kein  wesenloses  Phan- 
tom, sondern  ringt  nach  Verwirklichung ;  das  eben  ist  der  schöpfe- 
rische Drang  im  Künstler,  ohne  den  das  Brüten  des  Geistes  nur 
leerer  Traum  bleibt.    Man  gesteht  sich  diese  Verirrung  meist  so 


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554 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


wenig  zu.  als  man  jener  andern  aus  geistiger  Schwäche  sich  erge- 
henden bewusst  wird.  Allein  sie  beginnt  und  verräth  sich  häufig 
genug,  wo  für  Verwirklichung  des  Gedankens  die  vorhandnen  Mittel 
nicht  gemäss  verwendet  worden  sind,  wo  der  Künstler  zu  kühl, 
zu  fern  von  der  geistsinnlichen  Glut  der  Begeisterung  für  seine  Idee 
geblieben,  —  oder  zu  fahrlässig  oder  fluchtig  gewesen  ist,  sein 
Gedankenbild  zu  vollsaftigem  Leben  heranreifen  zu  lassen. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  besonders  ein  Theil  der  Mo- 
zart'schen  Klavierkompositionen  solche  Unzulänglichkeit  in 
der  Darstellungsweise  an  sich  trägt.  Einmal  war  das  Instrument 
selber  noch  weit  von  seiner  heutigen  Vervollkommnung  entfernt,  ja, 
man  möchte  es  fast  ein  andres  Instrument  nennen.  Das  Hämmer- 
werk war  leicht  und  schwach,  die  Saiten  dünn,  von  geringer  Schall- 
kraft und  leicht  zu  sprengen,  daher  musste  das  Spiel  leicht,  fein  und 
fern  von  der  Fülle  und  Kraft  sein,  die  es  mit  Hülfe  der  spätem 
Vervollkommnung  des  Instruments  zu  seinem  grossen  Vortheil  an- 
nahm. Dann  war  die  Spielfertigkeit,  deren  es  zu  vollem  und  glän- 
zendem, oder  intensivem  Darstellungen  bedarf,  noch  nicht  so  weit 
ausgebildet  und  ausgebreitet,  wie  jetzt ;  Mozart  selbst  würde  nach 
dieser  Seite  nicht  mit  unsern  heutigen  Virtuosen  in  die  Schranken 
treten  können,  so  weit  er  ihnen  auch  an  geistiger  Kraft  Uberlegen 
wäre.  Endlich  aber  ist  Mozart  in  der  Hast  und  vielfachen  Be- 
drängtheit  seines  kurzen  Lebens  gar  oft  veranlasst  gewesen,  sich 
mehr  nach  dem  Geschmack,  nach  den  Fassungs-  und  Darstellungs- 
kräften der  Zeitgenossen  zu  richten,  als  ihm  selber  für  seine  eigent- 
lichen Intentionen  recht  und  lieb  war;  er  hat  es  oft  genug  gestanden 
und  schmerzlich  beklagt,  dass  er  seinem  Berufe  nicht  noch  freier 
und  reicher  (er,  der  üeberreiche ! )  leben  könne.  Und  so  gereicht 
uns  die  Begränzung  eines  der  grössten  Künstler  aller  Zeiten  zur 
Mahnung,  für  unsre  Vollendung  umsichtig  und  rastlos  eifrig  Sorge 
zu  tragen,  damit  wir  wenigstens  nicht  durch  eigne  Versäumniss  die 
Mängel  vergrössern,  die  mindere  Anlage  und  ungünstige  Verhältnisse 
unsern  Werken  anheften. 

Gleichwohl  liegt  gerade  dieser  Abweg,  den  wir  oben  als  den 
phantastischen  haben  bezeichnen  müssen,  neben  einem  Pfade,  der 
oft  schon  zu  den  tiefsten  Offenbarungen  geführt  hat.  Es  giebt  eben 
Tonvorstellungen,  die  nirgends  vollgenügende  Verwirklichung  finden, 
die  sich  unvorhergesehn  und  unab weislich  aus  dem  klar  und  treu- 
lich innegehaltnen  Lebenskreise  des  Instruments,  an  den  eine  Schö- 
pfung gewiesen  ist,  hinaus-  und  emporheben.  Im  Künstler  ruhn 
vielerlei  Vorstellungen,  im  Tonktinstler  sind  deren  einige  orchestra- 
len, andre  vokalen  Gehalts,  andre  gehören  dem  Klavier  an;  das 
lässt  sich  nicht  immer  scharf,  wie  mit  einem  Scheermesser  trennen. 
Und  gerade  das  in  sich  unbefriedigende  Naturell  des  Klaviers  reizt 


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Die  nachbeethoven'sche  Richtung  der  Klavierbehandlung.  555 

die  Phantasie,  in  seinen  Klängen  andre  zu  vernehmen ;  daher  wer- 
den öfters  gerade  die  tiefsten  Geister  Uber  die  Schranke  desselben 
hinausgeführt. 

Dies  ist  namentlich  bei  Beethoven  unverkennbar.  Unvorher- 
gesehn  geht  er  in  seinen  Klavierwerken  öfters  orchestralen  Vor- 
stellungen nach  (z.  B.  in  seiner  As dur-Sonate  in  den  Variationen, 
-  oder  in  der  Sonate  »Les  Adieux«),  oder  es  wollen  die  instru- 
mentalen Weisen  zu  wirklichem  Gesang,  zu  gesprochenem  Worte 
sich  hintiberringen,  z.  B.  in  der  4s dur-Sonate,  Op.  -MO,  und  in 
der  Dmoll-Sonate.  Gleiches  haben  Andre  vor  ihm  und  nach  ihm 
erfahren,  —  z.  B.  Seb.  Bach  in  der  chromatischen  Fantasie,  und 
Rob.  Schumann  im  alla  burla  seiner  Fi'smoll- Sonate,  —  mag 
auch  das  letztere  mehr  burlesker  Laune  entsprungen  sein,  als  tie- 
fern Antrieben. 

Alle  diese  Wege  und  Abwege  kann  die  Lehre  nicht  beschwei- 
gen  oder  verhehlen ;  sie  muss  sie  erleuchten,  den  Jünger  da  bera- 
then,  wo  bald  Beispiel,  bald  Bequemlichkeit  oder  innere  Verlockung 
ihn  zu  verleiten  bereit  sind. 

Das  Geistige  dem  herkömmlichen  Technischen  opfern  oder  nach- 
stellen, wird  kein  geistig  Erweckter  über  sich  gewinnen,  —  oder 
er  wird  das  Bewusstsein  der  Untreue  gegen  den  eignen  Geist  als 
Strafe  tragen  müssen.  Ein  solcher  Abfall  ist  in  denen,  die  uns  bis 
hierher  anhänglich  geblieben,  nicht  vorauszusehn.  Eben  so  sicher 
ist  zu  erwarten,  dass  die  männliche  Arbeit,  die  wir  vom  Anbeginn 
dem  Jünger  nichts  weniger  als  ersparen  mögen,  ihn  auch  jetzt  vor 
leben-  und  saftlosem  Träumen  bewahren  werde. 

Wie  jenes  Hinüberlangen  vom  Klavier  in  andre  Regionen  der 
Kunstwelt  vollkommen  berechtigt  sein  kann  und  öfters  schon  gewe- 
sen ist,  haben  wir  nicht  verhehlt.  Gleichwohl  sollte  der  Lehrer 
dem  noch  nicht  bis  zur  Freiheit  durchgebildeten  Jünger,  und  dieser 
sich  selber  hier  Schranken  setzen,  weil  auf  diesem  Standpunkte  die 
Gefahr  grösser  ist,  als  der  etwaige  Gewinn.  Nur  was  im  Bereiche 
des  Kunstwerks  und  seines  Elements  ausgesprochen  worden  ist, 
kann  Anerkennung  fodern,  was  darüber  hinausliegt,  mag  sie  hoffen 
und  bisweilen  gewinnen,  fällt  aber  leicht  in  den  Bereich  des  bloss 
neben  dem  Kunstwerke  Gedachten,  das  also  nur  im  Bildner,  nicht 
in  Wirklichkeit  besteht. 

Das  rechte  Sicherungsmittel  gegen  solche  Verirrung  ist  tiefes 
und  be wusstvo  1  les  Studium  des  Instruments,  das  unsers 
Geistes  Organ  zu  sein  bestimmt  ist.  Wir  müssen  es  beherrschen, 
so  weit  uns  das  erlangbar  ist.  Dazu  aber  müssen  uns  all  seine 
Kräfte,  muss  uns  alles,  was  es  über  unser  eigen  Vermögen  hinaus 
vermag  und  bereits  geleistet  hat,  klar  bewusst  sein,  damit  wir  im 
Bilden  weder  durch  die  Gränze  des  eignen  technischen  Geschicks 


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556  Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

beschränkt,  noch  durch  die  besondre  Richtung  desselben  zur  Ein- 
seitigkeit und  Manier  verleitet  werden,  —  wie  der  Mehrzahl  der 
Virtuosen  stets  geschehn  ist.  Ja,  man  muss  für  den  Zweck  der 
Komposition  dem  Bewusstsein,  der  klaren  Anschauung  von  den 
Kräften  des  Instruments  vor  seiner  technischen  Bewältigung  den 
Vorzug  einräumen,  da  jenes  über  jede  Gewöhnung  und  Vorliebe 
hinaushebt,  diese  zum  Theil  von  Zufälligkeiten  abhängt  (wer  kann 
einem  Liszt  auch  nur  technisch  gleichkommen  ohne  die  Weite  und 
Schmiegsamkeit  seiner  Hand  ?)  und  schwere  Opfer  an  Zeit  und  Kraft 
bedingt. 

Dieses  Studium  muss  alle  Perioden  des  Klavierspiels  umfassen 
und  aus  allen  das  Wesentliche  hervorzuheben  trachten.  Wesentlich 
heisst  aber  hier,  was  dem  Instrument  eine  neue  Kraft  abgewonnen 
oder  eine  schon  angeregte  zu  voller  Entfaltung  gebracht  hat,  gleich- 
viel, was  man  sonst  von  den  Gebilden  nach  ihrer  geistigen  Höhe 
und  künstlerischen  Ausgestaltung  zu  urtheilen  habe,  was  man  an 
ihnen  liebe  oder  von  sich  weise. 

Zu  beginnen  ist  dieses  Studium  nothwendig  bei  Seb.  Bach. 
Ganz  abgesehn  vom  geistigen  Reichthum  und  der  künstlerischen 
Vollendung  seiner  Werke  zeigt  sich  in  ihnen  unvermuthet  oft  so 
viel  Zartheit  und  Macht  des  Klangs  und  eine  so  reizvolle  gediegne 
Spiel  fülle,  dass  ihres  Gleichen  nicht  wiedergekommen  ist,  wohl  aber 
den  spätem  Komponisten  angemerkt  werden  kann,  ob  und  wie  weit 
sie  sich  am  Marke  des  Löwen  genährt  haben. 

Gleich  sein  Nachfolger  am  Klavier,  Emanuel  Bach,  fand 
nach  eignem  Bekenntniss  den  Pfad  des  Vaters  zu  steil  und  kühn 
und  vergnügte  sich  an  freundlichem,  bequemem  Seitenwegen.  Ihm 
gefiel  die  fein  und  sinnig  angebrachte  Verzierung.  In  diesen  leich- 
ten einfallartig  nach  Laune  eingestreuten  Fiorituren  ist  er  der  Vor- 
gänger Hummel1 8  (man  blicke  in  dessen  Adagio's),  wie  dieser  der 
keineswegs  zurückstehende  Vorgänger  Chopin's.  Hierin  aber  war 
schon  J.  Haydn  der  Nachfolger  Emanuels  gewesen,  nur  mit  freierm 
und  reicherin  Geiste  und  mit  einer  bisweilen  (man  betrachte  seine 
grosse  lis-Sonale)  selbst  Mozart  voranschreitenden  Freiheit  und 
Laune  in  der  Behandlung  des  Instruments.  Der  Kompositionsjünger 
mag  sich  E.  Bach 's  Studium  erlassen;  Bekanntschaft  mit  einigen 
von  Haydn's  Klavierwerken  wird  ihm  sicher  lohnen. 

Ueber  Mozart  und  über  Beethoven  muss  und  darf  ge- 
schwiegen werden.  Ihr  Studium  ist  unbedingt  vorauszusetzen,  und 
unziemend  wär'  es  besonders,  von  letzterm  anders  als  in  wür- 
digender Fülle  zu  reden,  —  unmöglich  erscheint  es,  bei  ihm  Geistes- 
gehalt und  Verkörperung  zu  sondern. 

Während  bei  beiden,  namentlich  bei  Beethoven,  der  geistige 
Gehalt  vor  der  Versinnlichung  durchaus  den  Rang  behauptete  und 


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Die  nachbeethoven'sche  Richtung  der  Klavierbehandlung.  557 

«las  Bestimmende  blieb,  wurde  schon  neben  ihnen  durch  Dussek*, 
A.  E.  Müller  und  Andre  das  Streben  nach  vollsaftigerm  Klang 
und  breiterer  Spielfülle  geweckt,  wogegen  K.  M.  Weber  beide 
Richtungen  geistvoll  zu  verwerthen  trachtete.  Beiläufig  ist  neben 
und  nach  Beethoven  kein  Fortwuchs  sichtbar,  dessen  Keim  nicht 
in  seinen  Werken  gelegen  hätte,  so  wie  schon  im  alten  Bach 
(man  sehe  seine  Variationen  nach)  Motive  und  Spielmanieren  der 
späteren  Klaviermeister,  namentlich  auch  A.  E.  Müller's,  versucht 
sind.  Man  darf  dabei  nicht  an  Entlehnungen  denken;  die  Natur 
des  Instruments  hat  immer  und  immer  auf  dieselben  Punkte  führen 
müssen,  während  seine  Verbesserung  und  der  Fortschritt  in  seiner 
Behandlung  auch  seine  Komponisten  nach  der  materialen  Seite  hin 
weiter  geführt  hat.  Der  Kompositionsschüler  mag  sich  allenfalls 
der  Müller' sehen  Leistungen  entschlagen,  von  Dussek  sollte  we- 
nigstens ein  Werk  (etwa  die  Sonate  Retour  ä  Paris  oder  Vinvo- 
cation)  studirt  werden.  Hummel  und  Weber  stehn  uns  ohne 
Erinnerung  näher. 

Hier  nun  schliesst  sich  den  ältern  Schulen  die  des  heutigen 
Virtuosenthums  und  der  Klavierkomposition  folgerecht  und  mit  in- 
nerer Nothwendigkeit  an.  Von  ihrem  geistigen  Inhalt  ist  hier  nicht 
zunächst  zu  reden,  wohl  aber  von  ihrem  Ergebniss  für  das  Ver- 
mögen des  Instruments.  Schon  im  Allgemeinen  hat  Steigerung  und 
Verbreitung  der  Fertigkeit  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Komposition 
bleiben  können.  Spielkraft  bringt  Spiellust  und  steigert  sie ; 
sie  bedingt  aber  auch  breitern  Raum  für  diese  Lust,  und  greift 
damit  in  den  Inhalt  selber  ein.  Verfolgt  man  dies  Ringen  durch 
alle  Richtungen  und  Momente,  so  erkennt  sich  erst,  wie  weit 
man  des  Instruments  mächtig  geworden,  wie  weit  man  es  immer 
nach  neuen  Seiten  befähigt  hat,  dem  Willen  des  Künstlers  und 
den  Uber  allen  Willen  hinausliegenden  Ahnungen  und  Sehnungen 
seines  Geistes  ein  fügsam  Organ  zu  werden.  Durch  den  ganzen 
Vorgang  zieht  sich  aber  jene  Zwiespältigkeit  hindurch ,  deren  zu 
Anfang  gedacht  ist,  des  Geistigen,  das  sich  sinnlich  offenbaren  will, 
und  des  Sinnlichen,  das  in  seiner  emporquellenden  Fülle  den  Geist 
zu  umhüllen  und  zu  binden  droht.  Und  ebensowohl  in  der  Aus- 
beutung und  Bereicherung  des  Stofflichen,  das  man  dem  Instrument 
abgewinnt,  als  in  der  Fortbewegung  und  den  Wendungen  oder 
Abwendungen  des  geistigen  Inhalts  zeichnet  sich  der  Karakter  der 
Kunst  und  ihrer  Träger,  der  Künstler. 

Diese  Gedanken  durften  hier  nur  angedeutet  werden  (ebenso 
wie  der  geschichtliche  Rückblick)  und  haben  ausführliche  Entwicke- 
lung  an  andrer  Stelle  zu  erwarten.    Hier  kam  es  zunächst  darauf 


*  Vergl.  Anhang  G. 


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558 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile 


an,  ein  für  Komposition  wichtiges  Studium,  aber  auch  dessen  eigent- 
liches Ziel  zu  bezeichnen.  Es  genügt  nicht,  zu  bemerken,  was 
Alles  dem  Instrument  abgewonnen  ist  oder  abgewonnen  werden 
kann;  es  muss  auch  erwogen  werden,  welchen  Einfluss  das  Gewon- 
nene auf  das  Kunstwerk  haben  kann  oder  muss. 

Besonders  wichtig  und  ergiebig  ist  diese  Erwägung  gegenüber 
der  neuesten  Richtung  des  Klavierspiels.  Sie  vereint  unleugbaren 
und  bedeutenden  Fortschritt  mit  eben  so  unverkennbarer  Gefahr  oder 
Behinderung  der  geistigen  Bewegung  in  der  Kunst.  Allerdings 
hängt  sie  mit  der  ganzen  Zeitrichtung,  mit  deren  Wendung  auf  das 
Materielle  und  Industrielle,  auf  blendenden  Schein  und  Gewaltsam- 
keit zusammen.  Der  werdende  Künstler  aber  muss  sich  ihres  Ge- 
halts bewusst  werden,  um  ihn  je  nach  seiner  eignen  Richtung  sich 
anzueignen  oder  zu  meiden.  Bei  der  Prüfung  muss  man  sich  ge- 
wissermassen  unparteiisch  verhalten  gegen  den  geistigen  Inhalt  der 
Komposition ;  dieser  kann  theilweis  bedenklich  oder  selbst  verwerf- 
lich befunden  werden,  während  sich  gleichwohl  ein  beachtenswerther 
Fortschritt  in  der  Ausbeutung  des  Instruments  an  ihn  knüpft. 

Die  erfolgreichen  Arbeiten  der  neuen  Schule  lassen  sich  als 
das  Streben  bezeichnen,  dem  Instrumente  gerade  nach  den  mangel- 
haftesten Seiten  bin  erhöhte  Kraft  zu  gewinnen. 

Zunächst  wird  die  Schallkraft  durch  erweiterte  Vollgriffigkeit 
vergrössert.  In  No.  7  ist  schon  ein  Beispiel  von  Thalberg  ge- 
geben; ein  zweites  von  R.  Schumann  (aus  No.  2  der  6  Etüden. 
Op.  10)  finde  hier  — 

Sostenuto 
I.  H. 


7 


seine  Stelle,  wär'  es  auch  nur,  um  an  ganz  gleichartiger  Aufgabe 
dem  einigermassen  brutalen  Materialismus  des  Virtuosen  gegenüber 
die  feinere  Organisation  des  Tondichters  zu  bezeichnen,  der  selbst 
die  schlagkräftige  Masse  durchscheinend  und  vergeistigt  werden 
muss;  —  vielleicht  konnte  statt  der  ersten  Akkordlage  bei  a  die 
bei  b  genommen  werden,  um  den  hier  vorausgesetzten  Doppelzweck 
noch  sichrer  zu  erreichen. 

Hiermit  nahverwandt  sind  Spiel-  und  Schreibarten,  die  den 
Zweck  haben,  einzelne  Stimmen  schärfer  oder  zu  festerm  Zusam- 
menhange verbunden  hervortreten  zu  lassen.  Als  Beispiel  dienen 
zwei  Sätze  aus  Liszt's  Reminiscences  de  Normet,  — 


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Die  nachbeethoveii  sehe  Richtung  der  Klavierbehandlung.  559 


r  t 


(Gjnoll.) 

-typ::  f  iggg 


(G  dur.) 
bis 


i 


ff 


FT* 


J  J  J  J| J  J  J 

HH  Hfl 


denen  leicht  mehr  und  anziehendere  (als  Andante  der  Cmoll-Sym- 
phonie)  zugesellt  werden  könnten.  Ueberhaupt  ist  gerade  dieser 
grösste  der  Pianisten  tiberreich  im  kunstsinnigen  Gebrauche  von 
Spielarten,  die  dem  ersten  Hinblicke  bisweilen  als  virtuosischer 
Eigensinn  erscheinen  mögen,  während  ihnen  ein  wohlerwogner 
Zweck  zum  Grunde  liegt. 

Von  der  Führung  einer  Melodie  in  zwei  und  drei  Oktaven  sind 
bereits  Th.  I  dieses  Buchs  (S.  522  der  4.  Ausg.,  No.  Beispiele 
gegeben.  Dort  kam  es  darauf  an,  die  Melodie  zart  und  duftig, 
dabei  aber  klangvoll,  gleichsam  in  Ausbreitung  des  Klangs  zu  fuh- 
Hier  — 


S 
7 


)dn  lf  y 


r 


1 — W 


erinnern  wir  an  scharf  durchdringende  und  (aus  tfdur)  weit  ausge- 
legte Oktavverdopplung ;  die  letzte  Stelle  wird  in  grösserer  Fülle  im 
Fortissimo  wiederholt,  beide  gehören  den  Reminiscences  de  Robert 
le  diable  von  Liszt;  ebenso  die  folgende  Stelle,  — 


53  ,i 


3 


die  Vollgriffigkeit  und  Oktavbewegung  mit  Hervorheben  der  Melodie 
vereint. 

Endlich  entspringt  dem  Verlangen,  dem  kurzverhallenden  Klange 


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560 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


des  Instruments  Fortdauer  zu  geben,  jene  Neigung  zu  den  mannig- 
faltigsten Arpeggien  bald  als  Begleitung  fester  Melodien,  bald  als 
Gänge  oder  Passagen,  sowohl  für  zarte  wie  klang-  und  sturmvolle 
Wirkung.  Nur  zwei  Stellen  (aus  Liszt's  grandes  üudes)  mögen 
hier  — 


teil. 


teu. 


7  s 


Ped 


,3. 


3FF  Jf¥f 


Ul-p   >>j    iT      '  -T  *  »  r- 


leggierissimo 


wegen  ihres  Wohlklangs  aus  der  ungezählten  Menge  ähnlicher  noch 
Raum  finden. 

Es  kann  nicht  die  Rede  davon  sein,  unter  so  wenig  Gesichts- 
punkte die  Leistungen  so  vieler  zum  Theil  höchst  begabter  Künstler 
zusammenzufassen;  eben  so  wenig  kommt  es  darauf  an,  eine  rei- 
chere Blumenlese  zu  sammeln.  Nur  ein  Wink  sollte  gegeben  wer- 
den für  das  Studium  der  Kompositionsjünger ;  Jeder  mag  nach  Nei- 
gung und  Glück  Beides  vermehren. 

Wer  auf  dieser  Bahn  voransteht  durch  unbegränzte  virtuosische 
Macht,  durch  gewaltige  nach  allen  Seiten  hin  titanisch  ringende 
Geisteskraft,  die  neben  dem  Härtesten  den  süssesten  Wohllaut 
beherrscht:  das  ist  Franz  Liszt.  Wie  fern  oder  nahe  sich  auch 
ein  Theil  der  Zeitgenossen  seinen  künstlerischen  Schöpfungen  ge- 
stellt finde:  was  er  für  das  Instrument  gethan,  kann  gar 
nicht  hoch  genug  angeschlagen  und  nicht  dringend  genug  dem  Stu- 
dium der  Komponisten  empfohlen  werden.  Schallmacht  und  Schall- 
klarheit, WTohllaut,  Anmuth  der  sinnlichen  Seite  des  Tonwerks,  — 
brauchen  wir  das  alles  dies  umfassende  Wort  einer  geistvollen 
Fremden :  sonorite  —  das  ist  seine  Domaine ,  und  dafür  hat  er 
mehr  gethan  wie  irgend  einer  der  Klavierkomponisten.  Die  vielen 
Umsetzungen  und  Bearbeitungen  fremder  Werke  und  Melodien 


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Die  nachbeethoven'sche  Richtung  der  Klavierbehandlung.  561 


(Cmoll-  und  andre  Symphonien  von  Beethoven,  Seh u b ert'sche 
Lieder  u.  s.  w.)  sind  seine  Studien,  seine  eignen  Werke  (nament- 
lich die  Annees  de  pelerinage  und  die  Harmonies  poetiques  et 
religieuses)  bieten  daraus  die  mannigfachsten  und  reizvollsten  Er- 
gebnisse; oft  wird  der  Klang  selber  zur  Poesie,  wie  die  Luft  sich 
zum  Luflgeist  Ariel  verdichtet  und  in  persönliches  Leben  eingeht. 
In  dieser  Beziehung  ist  es  karakteristisch,  wie  oft  der  dem  Piano 
verwandte  Glockenklang  dem  Klangmeister  vorschwebt.  Die  Schauer- 
schliige  der  Todtenglocke  in  den  funeraüles,  die  fern  herüber  lieb- 
lich und  geheimnissvoll  lockenden  cloches  de  Genöve ;  das  ahnung- 
weckende Glockenspiel  in  der  elften  seiner  grandes  etudes  (Heft  2) 
sind,  abgesehn  von  ihrer  konkreten  Bestimmung,  Zeichen  von  der 
Atmosphäre  des  Künstlers;  in  andrer  Weise  zeigt  das  Pastorale 
mit  seinem  übermüthig-kecken  Einsatz  (wir  selber  haben  dergleichen 
auf  den  Felshöhn  vor  Chamounix  vernommen)  die  rücksichtslos  ge- 
treue Hingebung  des  Künstlers  an  sein  Element.  Und  rücksichtlose 
Treue  muss  trotz  alledem  und  alledem  erste  Tugend  des  Künstlers 
genannt  werden;  sie  allein  verbürgt  wahre  Originalität,  —  und  bei 
vollkommner  Durchbildung  und  Läuterung  des  Geistes  das  höchste 
Gelingen,  gleichviel,  welches  das  Unheil  der  Zeit  sei.  — 

Dennoch,  so  gewiss  die  neue  Behandlungsweise  des  Instru- 
ments reiche  und  künstlerisch  werth volle  Früchte  gebracht  und 
ernstlicher  Beobachtung  höchst  werth  ist,  dennoch  darf  nicht  über- 
sehn werden,  dass  jene  Behandlungsweise  den  höhern  idealen  Reich- 
thum der  Kunst  zurückdrängt,  da  sie  die  Hände  für  das  reiche  die 
Melodie  umspielende  Material  in  Anspruch  nimmt,  da  sie  anregt,  die 
Melodie  (die  eine,  .für  die  Alles  geschieht  und  nötigenfalls  Alles 
geopfert  wird)  selbst  durch  breite  Auslage  für  die  spielreiche  Um- 
gebung günstig  zu  gestalten,  und  durch  Beides  die  reiche  polyphon- 
dramatische  Durchführung  der  künstlerischen  Idee  nothwendig  zu- 
rückgedrängt wird.  Die  eine  Kantilene,  der  Alles  schmüekend  und 
umschimmernd  dient  und  sich  unterordnet,  setzt  an  die  Stelle  jener 
von  unsern  Meislern  so  reich  und  objektiv  ausgestalteten  Dramatik 
die  lyrisch  oder  gar  rein-sinnlich  erregte  Subjektivität  des  Künstlers, 
und  führt  zu  zarten  oder  glänzenden  und  anziehenden  —  aber  mit 
innerer  Notwendigkeit  stets  einander  ähnlichen,  sich  wiederholen- 
den Ergüssen.  Keineswegs  ist  diese  Ansicht  durch  reichere  Gaben 
eines  Liszt,  Rob.  Schumann  u.  A.  widerlegt;  keine  persön- 
liche Energie  kann  die  Natur  der  Sache  ändern,  nie  wird  jenes 
lyrisch-sensuale  Streben  dem  unerschöpflichen  Reichthum  gleichkom- 
men, den  unsre  Meister  auf  dem  andern  WTeg  errungen. 

Uebrigens  sei  hier  ein  für  allemal 

gegen  zweierlei  Missverstehn 
ernstlichst  gewarnt. 


Marx  ,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl 


36 


562 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile 


Wenn  wir  oben  an  dem  unsterblichen  Mozart  und  anderwärts 
an  andern  seiner  hohen  Genossen  irgend  einen  Punkt  ihres  Bildens 
als  minder  genügend  bezeichnen:  so  bedenke  man,  dass  keinem 
Menschen  Vollkommenheit  zu  Theil  wird  und  dass  die  Kunst  viel 
zu  umfassend  ist,  als  dass  sie  das  Erbtheil  eines  Einzigen,  von 
einem  Einzigen  zu  vollenden  und  zu  erschöpfen  sein  könnte.  Die 
wahre  Liebe  und  Verehrung  verträgt  sich  nicht  nur  mit  solcher 
Erkenntniss,  sondern  sie  bewährt  sich  in  ihr  als  eine  tiefbegrtlndete 
vor  jener  phantastischen,  die  ihren  Gegenstand  —  vielleicht  nur 
den  allgertlhmten  Namen  —  umklammert,  ohne  zu  wissen,  was  sie 
eigentlich  an  ihm  hat. 

Solche  absichtliche  und  feige  Blindheit  würde  übrigens  Nie- 
mandem übler  zu  stehn  kommen,  als  dem,  der  sich  um  seine  und 
andrer  Bildung  gewissenhaft  bemüht.  Nicht  der  Name  und  Ruhm 
eines  grossen  Mannes,  und  nicht  der  Enthusiasmus,  den  er  in  uns 
erweckt  hat,  sind  lehrreich  und  bildend,  sondern  die  Einsicht 
in  sein  Wesen  und  Handeln,  die  aber  nicht  ohne  Prüfung  und  Ur- 
theil  erreichbar  ist.  Jener  Enthusiasmus  könnte  uns  höchstens  zu 
Nachahmern  des  bewunderten  Vorgängers  machen ,  es  giebt  aber  in 
Wahrheit  nichts  Unnützeres  und  Unbefriedigenderes,  als  in  der  Kunst 
die  Nachahmer.  Nur  Prüfung  und  Einsicht,  die  uns  —  in  Liebe 
und  Ehrfurcht  geübt  —  an  den  Werken  der  Meister  heranreifen 
lassen,  sind  die  ächte  Form  der  Dankbarkeit  gegen  jene;  durch 
sie  bringen  ihre  Werke  aber-  und  abermals  neue  Frucht.  Gott 
selbst  hat  seine  Werke  unserm  Urlheil  nicht  entzogen. 

Sodann  wenn  an  irgend  einem  Wrerk  oder  einer  Reihe  von 
Werken  eine  mangelhafte  Seite  hat  erkannt  werden  müssen:  meine 
man  nicht,  dass  hier  etwa  durch  Hinzuthun  und  Bessern  noch  nach- 
geholfen werden  könne.  Ein  Kunstwerk  tritt  aus  den  Händen  des 
Meisters  als  ein  abgeschlossenes,  für  sich  vollendetes  WTerk.  Kaum 
dem  Meister  gelingt  dann  noch  eine  wahrhafte  Verbesserung.  Ein 
Dritter,  —  wohl  gar  aus  späterer  Zeil  Zutretender,  ist  in  den  ge- 
heimsten Tiefen  seiner  Individualität  doch  nur  ein  Fremder  und  die 
Kunstweise  der  neuern  Zeit  ist  dem  Werke  der  frühern  fremd  und 
störend.  So  unleugbar  in  Mozart's  Zeit  und  einem  Theile  seiner 
Werke  das  Instrument  und  seine  Behandlung  noch  nicht  zu  der 
spätern  Vervollkommnung  gediehen  waren:  so  gewiss  würde  Um- 
schreibung Mozart'scher  Komposition  nach  neuerer  (z.  B.  Beet- 
hoven'scher  Weise  die  Einheit  des  Werkes  zerstören,  mit  dem 
Mo  zart' sehen  Geist  in  Widerstreit  gerathen.  Denn  wahrlich,  er 
müsste  nicht  der  wahre  Künstler  gewesen  sein,  wenn  sich  nicht 
sein  Geist  und  seine  Behandlung  des  Instruments  auf  das  Innigste 
durchdrungen,  wahrhaft  identifizirt  hätten.  So  gebührte  es  Ihm  und 


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Beethovens  Muster-  Variation. 


563 


zu  seiner  Zeit:  und  eben  aus  dem  Grunde  gebührt  uns  in  unsrer 
Zeit  ein  Andres. 

B. 

Beethoven's  Muster- Variation. 
Zu  Seite  75. 

Schon  die  allgemeine  Uebersuht  und  die  wenigen  Andeutungen, 
die  uns  der  Raum  gestattet,  machen  zur  Genüge  auf  den  Reichthum 
und  damit  auf  die  Wichtigkeit  der  Variationenform  aufmerksam.  In 
der  Thal  ist  auch  diese  Form  seit  einem  Jahrhundert  wohl  am  fleis- 
sigslen  angebaut  worden.  Wenn  sie  aber  dann  in  den  Jahrzehnten 
von  Mozart  auf  Beethoven  und  unsre  Tage  gar  oft  auf  das 
Seichteste  behandelt  und  gemissbraucht,  ja  sogar  hierdurch  bei  ern- 
stem Kunstfreunden  hin  und  wieder  in  eine  Art  von  Verruf  ge- 
kommen ist :  so  soll  das  nicht  irre  machen ;  wir  werden  zwischen 
ihrem  Reichthum  und  der  Armuth  so  manches  Bearbeiters  zu  unter- 
scheiden wissen.  Steht  doch  neben  manchem  Schwachem  mit  den 
herkömmlichen  Bravour-  oder  Unterhaltungsvariationen  ein  Beet- 
hoven, dem  diese  Form  die  tiefsten  Entwickelungen  verdankt, 
vieler  andern  Meister  von  Bach  und  Haydn  bis  auf  unsre  Zeit 
nicht  zu  gedenken. 

Hier  ist  nun  zur  letzten  Bestärkung  unsrer  Anschauung  vom 
Reichthum  der  Form  eines  der  merkwürdigsten  und  lehrreichsten 
Erzeugnisse  zur  Sprache  zu  bringen,  dessen  wohlüberlegtes 
Studium  jedem  Strebenden  zur  Pflicht  gemacht  wird.  Es  sind  die 
schon  erwähnten 

33  Veränderungen  über  einen  Walzer  (von  A.  Diabelli) 

von  Beethoven*. 
Doch  mögen  wir  nicht  ohne  eine  Vorerinnerung  an  das  Wrerk  gehen. 

Beethoven  unternahm**  diese  Komposition  im  Jnhre  1823, 
nach  den  ersten  acht  Symphonien,  den  Sonaten  Op.  1 1 0, 1 H  u.  s.  w ., 
und  vor  der  neunten  Symphonie,  also  auf  dem  Gipfel  seines  Wir- 
kens. Wie  er  sich  in  seine  Arbeit  vertieft  hat,  ist  schon  vorweg 
an  der  Ueberschreitung  seines  Auftrags  und  der  für  die  gewöhnliche 
Bestimmung  von  Variationen  räthlichen  Gränzen  zu  erkennen;  es 
sollten  sechs  oder  sieben  Variationen  werden  und  wurden  dreiund- 
dreissig. 


*  Op.  4  20.  Wien,  bei  C.  A.  Spina.  Leipzig,  bei  Breitkopf  und  Härtel. 
•*  Vergl.  die  Biographie  Beethoven's  von  Schindler,  S.  433.  Der 
Verf.  erscheint  in  seinem  Umgänge  mit  Beethoven  hier  genau  unterrichtet. 

36* 


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564 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile 


Dies  bestimmt  sogleich  den  Standpunkt  des  Werkes.  Schon  dem 
Umfange  nach  wird  es  nur  in  seitnern  Fällen  zur  künstlerischen 
Produktion  als  ein  wesentlich  zusammengehöriges  Ganzes  benutzt 
werden,  dürfte  auch  in  seiner  weiten  Ausdehnung,  mit  seiner  lan- 
gen Reihe  einander  zum  Theil  fremdartiger  Gestaltungen  kaum  als 
künstlerischer  Ausdruck  einer  Stimmung,  fortschreitenden  Gemüths- 
bewegung  oder  Reihe  künstlerisch  zu  einander  gehöriger  Vorstel- 
lungen aufzufassen  sein.  Von  einem  Kunstgenuss  im  gewöhnlichen 
Styl  und  Umfange  kann  hier  nicht  die  Rede  sein.  Vielmehr  hat 
der  Meister  in  freier  Lust  des  Bildens  seine  Kraft  an  diesem  Thema 
versucht ;  und  zwar  seine  längst  überlegne  und  nun  Vollreife  Kraft. 
Es  ist  in  seiner  Weise  ein  Werk  geworden,  wie  Seb.  Bach's 
Kunst  der  Fuge*  in  der  ihrigen. 

Natürlich  hat  aber  der  neuere  Meister  so  wenig  wie  der  ältere 
unternehmen  mögen,  sein  Thema  zu  erschöpfen;  wir  wissen  längst, 
dass  jedes  Thema  unerschöpflich  ist.  Er  hat  vielmehr,  wie  sein 
erhabner  Vorfahr,  das  Eigenthümlichste  und  Bedeutsamste  hervor- 
gehoben und  damit  Denksteine  seiner  schöpferischen  Thätigkeit,  aber 
allerdings  auch  Marksteine  gesetzt;  denn  noch  ist  Niemand  in  die- 
sem Gebiete  weiter,  — oder  nur  bis  zu  der  von  Beethoven  ge- 
setzten Gränze  vorgedrungen. 

Hieraus  begreift  sich  vor  allem,  dass  uns  hier  manche  Gestal- 
tung im  Einzelnen  oder  Grössern  erwartet,  die  uns  fremd,  ja  wider- 
spruchvoll und  entfremdend  entgegensteht.  Mehr  wie  irgendwo  hat 
sich  der  tiefsinnige  Meister  in  düstere,  geheimnissvolle  Labyrinthe 
von  Klängen  und  Tongängen  verloren,  in  die  wir  ihm  vielleicht 
nicht  immer  folgen  können  oder  mögen.  Dergleichen  finden  wir  in 
der  zweiten  Variation  und  anderwärts.  Dagegen  treten  andre  Va- 
riationen, z.  B.  No.  24,  29,  31,  I,  4  4,  10,  43,  in  einer  Schönheit, 
Tiefe  der  Empfindung,  Originalität  und  Frische  der  Führung  ent- 
gegen, dass  man  sie  neben  die  liebsten  Schöpfungen  des  Meisters 
stellen  muss;  und  kaum  eine  einzige  Variation  findet  sich  des  Gei- 
stes leer  oder  unwürdig,  den  wir  als  den  Vollender  der  Instrumen- 
talmusik bis  auf  diesen  Tag  verehren  und  lieben. 

So  ist  dieses  Werk  eins  der  belehrendsten  für  den  edel  und 
eifrig  emporringenden  Jünger  geworden.  Nicht  den  Irrgängen  des 
einsamen,  oft  ganz  in  sich  versunkenen  Meisters  haben  wir  nach- 
zuspüren ;  in  aller  ihm  schuldigen  Ehrfurcht  lassen  wir  schweigend 
auf  sich  beruhen,  was  wir  uns  noch  nicht  (vielleicht  auch  nie)  an- 
eignen können.  Aber  nachfolgen  wollen  wir  ihm  auf  den  Wegen, 
auf  denen  sich  die  künstlerische  Schöpferkraft  entfaltet  und  steigert. 


*  Th.  II,  S.  253  des  Lehrbuchs. 


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Beethoven' s  Muster-  Variation . 


5(55 


Hier  sei  nun  mit  Ausschluss  alles  Weitern  auf  die  Energie 
des  Blicks  aufmerksam  gemacht,  mit  der  der  Meister  seine  Mo- 
tive findet;  auf  die  Gewalt  der  Vertiefung  und  Umsicht, 
mit  der  er  sie  durchsetzt.  Jeder  Punkt,  auf  den  er  hinschaut,  wird 
ihm  lebendig,  Gestalt,  Erzeuger  neuer  Gestalten.  — 

Wir  haben  in  No.  37  den  ersten  Abschnitt  des  Thema's  ge- 
sehn und  erfahren,  in  welcher  Weise  er  sich  wiederholt  und  im 
zweiten  Theil  weiter  wirkt.  Hier  knüpft  Beethoven  natürlich 
seine  Variationen  an. 

Zuerst  bemerkt  er,  dass  der  Anfangs-Akkord  festge- 
halten wird,  und  zwar  in  den  Oberstimmen,  während  der  Bass 
(wenn  auch  nur  zuletzt)  sich  abwärts  bewegt.  Diese  oberflächliche 
Bemerkung  belebt  sich  ihm,  indem  er  Gewicht  auf  den  Akkord  legt. 
So  beginnt  seine  erste  Variation.  — 

Alla  Marcia  maestoso. 


62 


(  /      «/  s/  sf 


* 


Da  auf  den  Akkord  Gewicht  gelegt  wird,  er  dem  Selbstgefühl 
des  Meisters  schon  genügt,  so  theilt  sich  das  Nachdrückliche  dieses 
Setzens  dem  ganzen  Satze,  zunächst  dem  Rhythmus  mit;  und  der 
Bass,  das  hohle  Wesen  des  Thema's  aufgebend,  zieht  stolz  und 
festlich  unter  dem  Akkorde  seine  Bahn.  Hiermit  ist  zu  dem  Ge- 
gebnen (dem  stetigen  Akkorde]  ein  Neues  gekommen,  und  so  theilt 
der  Bass  seinen  feierlich  festen  Einherschritt  bald  auch  dem  ganzen 
Satze  mit,  — 


62  * 


m 


3=3=1* 


der  in  einer  Konsequenz  und  steigenden  Macht  und  Stattlichkeit  hin- 
zieht, dass  wir  ihm  in  diesem  Sinne  keinen  zweiten  zur  Seite  zu 
stellen  wüsslen. 

Dieser  Gedanke  zieht  später  einen  andern,  obwohl  dem  Sinne 
nach  ganz  abweichenden  nach  sich;  es  ist  in  der  zehnten  Variation. 
Auch  hier  halten  die  Oberstimmen  den  Akkord  fest  und  der  Bass 


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560 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


entfernt  sich  von  ihm ;  aber  dieser  ßassgang  ist  ein  leichter  und 
fluchtiger,  regt  auch  den  Akkord  zu  flüchtig-leichter  Figuration  an. — 

Presto.    ^       ^  ^  ^       ±  ±  f:       £££       ±   ±  fc 


8 
62 


sempre  ßtaccato  ma  leggiermente 


4 


•m — *r  I 


r  r  1 1* 


mm 


T 


Hiermit  ist  der  Karakter  des  ganzen  TonstUcks  gegeben,  das 
im  luftigsten,  geistreichsten  Humor  den  einen  Grundzug  von  allen 
Seiten  wendet  zum  artigsten  Gewinn.  Bei  der  Leichtigkeit  des 
Motivs  darf  es  nämlich  nicht  durch  Wiederholung  geschwächt  und 
eben  so  wenig,  ohne  die  Einheit  und  Leichtigkeit  des  Ganzen  ein- 
zubüssen,  aufgegeben  werden.  So  wird  also  bei  der  Wiederholung 
des  Theils  vorerst  das  Bewegungsmoli v  in  die  Oberstimmen  und 
das  stationäre  in  den  Bass  gelegi,  der  ganz  lustig  und  muthwillig 
jene  herbeilrommelt,  — 


K_ 

62 


Im  zweiten  Theil  und  seiner  Wiederholung  kehren  beide  For- 
men wieder,  aber  die  Gänge  gehn  aufwärts.  —  Man  bemerke, 
wie  angemessen  für  Bassgänge  blosse  Oktaven,  für  die  klangärmern 
Oberstimmen  volle  Akkorde,  für  den  Haltemoment  in  den  Oberstim- 
men figurirte  Akkorde,  im  Bass  ein  fortmurmelnder  und  rollender 
Triller  ist.  Beiläufig  bietet  die  Variation  dem  geübten  und  sinn- 
vollen Spieler  eine  so  reizvolle  Aufgabe,  wie  sie  in  gleich  kleinem 
Räume  sich  selten  finden  wird. 

Hier  haben  wir  schon  den  Haltemoment  (wenn  auch  nur  in 


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Beethoven1 $  Muster- Variation. 


567 


einen  einzigen  Ton  zurückgedrängt)  abwechselnd  in  den  Ober-  und 
Unterstimmen  gefunden.  In  der  zweiten  Variation  tritt  der  aushal- 
tende Akkord  vollständig  in  die  Unterstimmen.  —  Aber  dann  be- 
gehren die  Oberstimmen  ihrer  eigentlichen  Natur  nach  (Th.  I,  S.319) 
Melodie,  und  zwar  inhaltvollere,  als  die  Bassgünge  in  den  vorigen 
Variationen;  auch  darf  die  Tonmasse  in  den  Unterslimmen  nicht 
lastig  werden.  Dies  führt  zu  folgendem  Motiv  in  der  zweiten  Va- 
riation ;  — 


5 

62 


I 


leggiermente 


das  wühlig  weiche  Tonspiel,  später  noch  durch  eigne  rhythmische 
Um  Wechsel  unsen  — 


6* 


aufgeregt,  treibt  sich  allerdings  bis  in  ein  Ineinanderklingen ,  das 
vielleicht  nie  wieder  seine  Veranlassung  findet. 

Andre  Variationen,  die  demselben  Motiv  (dem  blossen  Festhal- 
ten des  ersten  Akkordes)  entspringen,  z.  B.  die  achte,  in  der  der 
Bass  aus  den  ersten  melodischen  Motiven  des  Thema's  [h-c  im 
Diskant,  c-g  im  Bass)  eine  neue  Figur  bildet,  — 

Poco  vivace. 

I 


1_ 
62 


sempre  ligato 

die  fünfundzwanzigste  von  ähnlicher  Richtung,  die  neunzehnte,  in 
der  der  feststehende  Akkord  nachahmend  figurirt  wird,  die  sechs- 
und  siebenundzwanzigste,  die  ebenfalls  den  Akkord  harmonisch  figu- 
riren,  Übergehn  wir  des  Raumes  wegen.  Noch  einmal  wird  die 
blosse  Vorstellung  des  Festhallens  auf  das  Geistreichste 
und  Karakteristischste  in  der  dreizehnten  Variation  benutzt.  Der 
Akkord  —  aber  ein  fremder  —  wird  hastig  und  heftig  angeschla- 


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563         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


gen,  findet  aber  keinen  rechten  Fortgang,  sondern  nur  einen  un- 
siehern  Nachhall ;  in  gleicher  Weise  wird  in  den  rechten  Ton  ein- 
gelenkt; — 


Vivace. 

ra. 


— 


= 


8 

62 


P 


mm 


r*  r*  r 


Mjjb 


= 


= 


*3 


wie  eigenthUmlich  und  kühn  diese  einfachen  Elemente  sich  weiter 
ausbilden,  Hesse  sich  nur  dem  vollständigen  Original  gegenüber  sagen 
und  bewundern.  —  Und  gleich  die  folgende  Variation  gewinnt  dem- 
selben Stoff  eine  neue  Kombination  ab,  — 


9 

■ 


Grive  e  maestoso. 


EBB* 


— Cl'r  'tTf1 

""F*^  cresc. 


2«  O  "2 

2, 

s 

2S1 

in  glücklichster  Abweichung  von  der  allgemeinen  Regel  über  Stimm- 
lage (Th.  I,  S.  1 47)  dem  Instrument  eigentümliche  Klangweise  zu 
tiefsinniger  Verwendung  abgewinnend. 

Das  Thema  schlägt,  wie  wir  in  No.  37  gesehen,  zuerst  auf 
den  Ton  c.  Diese  geringe  Wahrnehmung,  mit  Energie  festgehal- 
ten, giebt  das  Hauptmotiv  der  einundzwanzigsten  Variation.  — 


I? 

62 


Allegro  con  brio. 

*—  tr 


tr  & 


-H  1- 


Aber  dieser  Schlag  geschieht  nicht,  wie  hier,  in  der  Oktave, 
sondern  es  ist  vielmehr  folgendes  —  in  der  neunten  Variation  in 
Moll  durchgeführte  Motiv,  — 


Allegro  pesante  e  risoluto. 

rr-t 


LG       1    «  u- 


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Beethoven's  Muster-  Variation. 


569 


das  in  den  Hauplton  führt.  Die  Quintessenz  dieses  Motivs  ist  h-c; 
—  daraus  geht  in  Energie  und  Konsequenz  die  sechste  Variation  — 


42 


Allegro  ma  non  troppo  e  serioso. 

tr  tr 

3  %§  Qb^jE^E 


, — 


fr 


fr 


5 


hervor.  — 

Doch  vorwaltender  ist  noch  das  Intervall  der  Quarte.  Schon 
in  der  dritten  Variation  — 

Poco  Allegro.  


Ii 
62 


J'Lj  I  |    I  I  I  JlJJllj] 

dolce  1 


wird  mit  ihr  gespielt,  und  es  entsteht  eine  empfindungsvolle  Melodie 
mit  mancher  sinnigen  Nachahmung.  Rhythmisch  energischer  regt 
sie  zu  der  fünften  Variation  an,  — 

Allegro  vivace. 


14 

62  ) 


1  ja  1  - 


einem  von  heimlich  verhaltnem  und  dann  wieder  reizend  w  ild  aus- 
brechendem Humor  geschaffnen  Tongedicht;  —  bis  endlich  in  der 
zweiundzwanzigsten  Variation  plötzlich  die  geheime  Verwandtschaft 
des  armen  Walzerthema's  mit  einem  berühmten  Mozarl'schen  Satze 
in  kühner  Ironie  an  das  Tageslicht  gebracht  wird,  die  dem  w  itzigsten 
Reminiszenzenjäger  Ehre  gemacht  hätte. 

Es  ist  weder  unsre  Absicht,  noch  für  den  Jünger  und  dessen 
Antheil  am  Beetho  ven'schen  Werke  ralhsam ,  dieses  in  alle 
Einzelheiten  zu  begleiten,  oder  auch  nur  bei  einer  der  vielen  Va- 
riationen den  weitern  Verfolg  zu  zeigen.  Das  mag  Jeder  für  sich 
erforschen.  Hier  sollte  nur  angedeutet  werden  :  w  ie  gering  die  Keime 
sein  könnten,  aus  denen  der  Kundige  die  mannigfachsten,  oft  geist- 
und  gefühlvollsten  Gestaltungen  zu  erziehn  vermöchte;  dann  aber 
auch :  welche  Macht  ein  schöpferischer  Geist  im  treuen  und  folge- 


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570 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile 


rechten  Festbalten  gewinne.  Eben  in  diesen  Beziehungen  erscheint 
dris  Be  et  ho  ve  n'scbe  Werk  vor  allen  andern  gleicher  Gattung 
lehrreich,  gleichviel,  was  von  einigen  Einzelheiten  in  demselben  zu 
urlheilen  wäre.  Ohnehin  handelt  es  sich  ja  bei  uns  nie  um  Entlehnen, 
Nachahmen  fremder  Gestaltungen,  sondern  um  die  Erkenntniss  und 
Aneignung  des  gestaltenden  Prinzips,  das  (wie  wir  wieder  recht 
anschaulich  erblicken)  in  allen  Künstlern  dasselbe  ist. 

C. 

K.  M.  v.  Weber' s  Karakter-Variationen. 

Zu  Seite  93. 

Eine  eigentümliche  Seite  hat  K.  M.  v.  Weber  der  Variation 
im  höhern  Sinn  abgewonnen.  Während  er  in  einigen  Arbeiten  dieser 
Art  (z.  B.  denen  auf  »Vien  qua,  Dorina  bella«,  auf  ein  norwegisches 
Lied  mit  Violinbegleitung],  auch  wohl  denen  auf  die  Romanze: 
»Ich  war  Jüngling  noch«  aus  Mehül's  Oper  Joseph  in  Aegypten) 
nur  dem  rein-musikalischen  Entwickelungsgang ,  übrigens  in  oft 
eigentümlicher  und  anziehender  Weise  folgt,  scheint  er  bei  zwei 
andern  Werken,  den  Variationen  auf  ein  russisches  (Kosaken-)  Lied 
und  denen  auf  ein  Zigeunerlied,  von  äusserlich  angeregten  Vor- 
stellungen geleitet  worden  zu  sein,  in  den  einzelnen  Variationen 
Momente  aus  jenen  Lebenszuständen  des  leicht  dahin  in  alle  Weite 
ziehenden  Kriegers  (die  Komposition  datirt  aus  der  Periode  der 
Napoleon ischen  und  Befreiungskriege,  oder  doch  nicht  viel  später)  und 
des  nomadischen,  von  seiner  List  und  Kühnheit  in  wilder  Grazie 
und  Kraft  das  Leben  gewinnenden  Zigeunervolks  aufgegriffen  und 
in  seinen  Weisen  angedeutet  zu  haben. 

Weder  das  Detail  dieser  Vorstellungen ,  noch  ihr  Nachweis 
soweit  er  überhaupt  gelingen  möchte  gehört  hierher.  Jedenfalls 
haben  sie  eine  unser  Gemüth  berührende  Seite  und  können  folglich 
zu  musikalischer  Darstellung  anregen,  so  gut,  wie  andre  Lebenszu- 
stände  (man  denke  an  die  vielen  alla  marcia,  an  die  Pastora le's  oder 
Siziliano's  u.  s.  w.)  es  schon  oft  gethan.*  Weber  verdankt  ihnen 
manche  originelle,  ja  manche  ohnedem  nicht  zu  motivirende  oder 
sogar  unstatthafte  Erfindung.  Und  wenn  die  Musik  von  ganzen 
äussern  Lebenszuständen  ohne  Zweifel  nichts  aufzufassen  vermag, 


♦  Ein  andrer  Komponist,  L.  Berger.  hat  dasselbe  russische  Lied  Schöne 
Minka,  ich  muss  scheiden)  geschrieben  und  ist  urkundlich  auf  ahnlichen  Wegen 
gegangen.  Eine  Variation  überschreibt  er  ausdrücklich  »ftete  de  Minka«. 


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K.  M.  v.  Weber' s  Kar  akter- Variationen. 


571 


als  die  Stimmung,  und  nichts  wiederzugeben,  als  gleichnissartige 
Andeutungen  oder  Beziehungen,  bei  denen  zuletzt  doch  auf  den 
guten  Willen  und  die  ergänzende  Phantasie  gemüthverwandter  Hörer 
gerechnet  werden  muss :  so  ist  auch  gegen  diese  Richtung  und  die 
Gaben,  die  sie  uns  bietet,  nichts  zu  sagen;  es  ist  eine  von  den 
unzähligen  Weisen ,  in  denen  unsre  schöpferische  Kraft  erregt  und 
genährt  wird. 

Doch  dürfen  wir  auch  das  Bedenkliche  dieser  Richtung  nicht 
bergen.  Regt  uns  ein  Zustand  an,  der  nicht  durchaus  dem  innern 
Leben  angehört  (wie  bei  den  S.  90,  91  erwähnten  Variationen  aus 
Beethoven's  Fmoll-  und  Cmoll-Sonate),  der  also  nicht  durchaus 
und  ganz  Musik  werden  kann:  so  muss  nothwendig  in  unserm 
Innern  ein  Theil  jenes  Inhalts  zurückbleiben,  dessen  Vorstellung 
wir  neben  unsrer  Musik  festhalten,  da  sie  doch  hätte  in  sie  treten 
sollen.  So  ist  also  das  Kunstwerk  kein  vollständiges,  insofern  es 
nicht  den  ganzen  Inhalt  in  sich  trägt  und  sich  auf  etwas  ausser  ihm 
Seiendes  und  Fremdes  beziehen  muss,  das  sehr  leicht  dem  Dritten 
bei  der  Auffassung  des  Werkes  nicht  gegenwärtig  oder  ganz  unzu- 
gänglich sein  kann.* 

Um  so  weniger  können  wir  eine  solche,  schon  an  sich  be- 
denkliche Richtung  für  den  Jünger  gelten  lassen.  Seine  Aufgabe  ist, 
sich  in  die  Musik  hineinzuleben,  während  jene  Richtung 
sehr  leicht  verleiten  kann  'und  oft  verleitet  hat),  sich  aus  der 
Musik  herauszuleben.  Er  hat  sich  ganz  in  die  Musik  zu  ver- 
tiefen und  nichts  Bessers  zu  wünschen,  als  dass  sie  ihn  ganz  er- 
fülle. Dass  ihm  dabei  sein  anderweiter  geistiger  Inhalt  bleibe,  er 
denselben  nach  andern,  besonders  der  Kunst  verwandten  Seiten 
ausbilde  und  bereichere,  dieser  dann  mittelbar  oder  auch  unmittelbar 
ihm  wieder  musikalische  Anregung  und  Kräfte  gebe:  das  alles  ist 
recht  und  nothwendig;  aber  jener  Rückgang  des  allgemeinen  oder 
fremden  geistigen  Inhalts  in  die  Musik  bleibe  der  innerlieh  geschäf- 
tigen Natur  und  der  Vorsehung  des  Künstlers  überlassen. 
Nur  der  gereifte  und  zu  höherm  Bewusstsein  durchgebildete  Künstler 
darf  hier  ungestraft  eingreifen;  er  darf  in  sich  die  Einsicht  und 
Kraft  hoffen,  alles  Fremde  abzulehnen  und  alles  Zugängliche  in 
Musik  zu  verwandeln. 

*  Sehr  lehrreich  weist  Goethe  '»Aus  meinem  Leben«,  achtes  Buch)  auf 
das  Gefährliche  dieser  Richtung  an  Oeser's  Beispiel  hin.  »Weil  er  nun  eine 
eingewurzelte  Neigung  zum  Bedeutenden,  Allegorischen,  einen  Nebengedanken 
Erregenden  nicht  bezwingen  konnte  noch  wollte,  so  gaben  seine  Werke  immer 
etwas  zu  sinnen  und  wurden  vollständig  durch  einen  Begriff,  da  sie 
es  der  Kunst  und  der  Ausführung  nach  nicht  sein  konnten.« 
U.  s.  w. 


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572         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile 


D. 

Die  Formbeweglichkeit  der  Homophonie. 

Zu  Seite  104. 

In  allen  Formen,  die  ganz  oder  vorzugsweise  der  Homophonie 
angehören,  wird  man  grössere  Freiheit  und  Mannigfaltigkeit  in  der 
Gestaltung,  als  in  den  polyphonen  Arbeilen  beobachten  können. 
Diese  Bemerkung  trifft  die  Rondoformen ,  dann  aber  auch  die 
Sonatenformen. 

Woher  dies?  —  Die  Ursachen  scheinen  folgende  zu  sein. 

Die  pohphonen  Formen,  —  besonders  die  vornehmste  der- 
selben, die  Fuge,  —  dienen  einem  in  jedem  Moment  reichen  Inhalte, 
beschäftigen  in  jedem  Momente  mehrseitig,  stellen  durchaus  zwei 
oder  mehr  selbständige  Melodien  auf,  deren  jede  gleichzeitig  mit  der 
andern  und  in  ihrem  Gegensatze  zu  der  oder  den  andern  gehört 
sein  wollen,  die  als  handelnde  und  redende  Personen  eines  Drama's 
auftreten.  Der  Komponist  selber  (Th.  II,  S.  443)  wie  nach  ihm  der 
tiefer  theilnehmende  Hörer  sind  von  der  Dramatik  und  dem  Gewicht 
jedes  Momentes  hingenommen,  und  so  kommt  entschieden  mehr  auf 
die  Aufstellung  dieses  Inhalts  als  auf  seine  äussere  Anordnung  an ; 
die  Anordnung  dient  vorzüglich,  ihn  klar  und  wirkungsvoll  vorüber- 
führen zu  können.  Daher  findet  man,  dass  die  inhaltvollsten  Sätze 
(wie  z.  B.  der  erste  Chor  in  Seb.  Bach's  Hoher  Messe,  die  meisten 
Sätze  aus  dessen  Kunst  der  Fuge  und  viele  andre  Fugen  des 
Meisters)  oft  in  der  einfachsten  Aussengestalt,  z.  B.  mit  einer  fast 
gar  nicht  vom  Hauptton  loslassenden  Modulation  auftreten.  Der 
Komponist  findet  die  Kraft  nicht  in  der  Aufeinanderfolge,  son- 
dern in  der  Inhaltstiefe  der  Sätze. 

Ein  in  Gewisser  Hinsicht  umgekehrtes  Verhältniss  zeigt  sich 
in  der  homophonen  Komposition.  Hier  ist  offenbar  nicht  die  Tiefe 
des  einzelnen  Moments  oder  Satzes,  sondern  die  Aufeinanderfolge 
verschiedner ,  oft  zahlreicher  Sätze  das  Vorherrschende;  nicht 
Melodie  gegen  Melodie  will  walten  und  wirken,  sondern 
Melodie  nach  Melodie;  es  sind  nicht  dramatische  Personen,  die 
gegen  einander  auftreten  und  vielseitig  anziehn  und  fesseln  möchten, 
sondern  es  ist  die  eine  Person,  die  aus  der  Hauptstimme  zu  uns 
spricht,  uns  eine  Folge  von  Eröffnungen  zu  machen  hat,  uns  also 
auf  das  Fortschreiten  hinweist,  so  dass  dieses  und  seine  Weise, 
wie  die  ganze  Anordnung  der  Mitlheilung  erhöhte  Wichtigkeit 
gewinnen.  —  In  den  gehaltvollem  Kompositionen  der  Rondo-  und 
Sonatenform  wird  sich  allerdings  gewöhnlich  eine  Einmischung  oder 
Annäherung  von  Polyphonie  zeigen,  so  dass  der  oben  bezeichnete 
Unterschied  nicht  in  seiner  Nacktheit  und  Absolutheit  heraustritt. 


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Die  Formbeweglichkeil  der  Homophonie.  573 


Aber  die  Grundtendenz  beider  Schreibarten  möchte  doch  wohl  überall 
sich  geltend  machen. 

Sieht  sich  nun  der  Komponist  nach  der  Natur  der  Sache  mit 
grösserm  Antheil  auf  die  Nacheinanderfolge  und  ihre  Ordnung  hin- 
gelenkt, so  ist  es  natürlich,  dass  eben  hierin  seine  Kraft,  die  Stimmung 
des  Werks,  seine  Eigenthümlichkeit  sich  mit  besondrer  Energie 
geltend  machen.  Daher  eben  in  dieser  Hinsicht  die  Mannigfaltigkeit 
der  Formen,  die  vielerlei  Abweichungen  vom  Einzelnen  des  Grund- 
gesetzes. Diese  Mannigfaltigkeit  ist  so  gross,  dass  man  lange 
Zeit  die  Notwendigkeit,  ja  die  Möglichkeit  einer  Lehre  für  diese 
Formen  bezweifelt  hat.  Uns  scheint  vielmehr  eben  hierin  die 
Notwendigkeit  der  Formlehre  doppelt  einleuchtend.  Diese  Lehre 
soll  und  darf  Freiheit  des  Gestaltens  so  wenig  hier,  wie  anderswo 
verkümmern ;  sie  soll  nur  festen  Grund  und  Anhalt  geben  und  vor 
den  Abschweifungen  und  Verirrungen  der  Willkür  bewahren. 

Die  erste  Rondo  form  ist  ohnehin  mehr  in  andern  Kompo- 
sitionen, als  in  Klaviermusik  angewendet  worden.  Das  Klavier 
fodert  mehr  Beweglichkeit  (S.  24)  und  liebt  daher  auch  mannigfachere 
Kompositionsformen ;  wie  wir  denn  später  erkennen  werden,  dass 
es  alle  Formen,  die  es  mit  dem  Orchester  und  Gesang,  ja  selber 
mit  dem  Quartett  gemeinsam  hat,  mannigfaltiger  und  beweglicher 
ausführt. 

Dies  lässt  sich  in  Bezug  auf  die  genannte  Form  schon  an 
einem  Beispiele,  dem  ersten  Satz  von  Beethoven's  Fdur-Sonate, 
Op.  54,  beobachten. 

Der  Hauptsatz  dieses  Tonstücks  ist  in  seinem  ersten  Ab- 
schnitte — 


i  V 


schon  karakterisirt.  Dieser  Abschnitt  wird  wiederholt,  es  folgen 
zwei  kleinere  von  je  zwei  Takten,  die  ebenfalls  auf  der  Tonika 
kurz  abschliessen,  dann  wieder  ein  grösserer  von  vier  Takten,  aber- 
mals mit  einem  Schluss  auf  der  Tonika,  und  nun  werden  die  beiden 
kleinern  und  der  letzte  grössere  Abschnitt  wiederholt.  Achtmal  ist 
derselbe  Schluss  erfolgt,  nicht  bloss  die  einzelnen  Abschnitte  sind 
wiederholt,  sondern  alle  sind  von  dem  einen  Motiv,  das  wir  in 
K°  Y«3  gesehen,  erfüllt.  Das  Ganze  hat  ein  kerniges,  kurz  ab- 
gebrochenes und  dabei  doch  anmuthiges  Wesen,  wie  schon  der  erste 
Abschnitt  gezeigt. 

Der  Satz  ist  anziehend,  aber  er  kann  für  sich  allein  nicht  be- 
friedigen und  festhalten.  In  diesem  Urtheil.  das  wir  in  dem  Gefühl 


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574 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


des  Komponisten  selbst  voraussetzen  müssen,  ist  entschieden,  dass 
über  ihn,  also  über  die  Liedform,  hinausgegangen  werden  muss; 
das  Nächste,  was  sich  darbot,  war  die  erste  Rondoform,  die  sich 
dem  Lied  am  engsten  anschliesst  und  dasselbe  als  Hauptsatz  so 
wohl  erhalt.    Beethoven  geht  so  — 


fort;  man  hat  sich  die  Unterstimme  eine  Oktave  tiefer  und  mit 
Oktaven,  die  Oberstimme  ebenfalls  mit  tiefern  Oktaven  unterstützt 
zu  denken. 

Was  ist  dies  nun?  Der  Inhalt  ist  unstreitig  vorherrschend 
gangartig,  der  Halbschluss  im  letzten  Takte  dagegen  mahnt  an  die 
Satzform.  Indess  der  Fortgang  entscheidet  wieder.  In  den  letzten 
Noten  von  No.  2/93  hebt  die  Wiederholung  des  gangartigen  Satzes 
an,  nur  mit  umgekehrten  Stimmen  ;  diese  Wiederholung  treibt  schon 
gangarliger  weiter,  obwohl  sie  von  einem  Ganzschluss  in  der  Do- 
minante (Cdur)  ausgeht,  aber  erst  im  zehnten  Takte.  Und  nun 
wird  das  erste  satzartige  Stück  wörtlich  in  ylsdur  wiederholt  mit 
einem  Schlussfall  auf  Es,  dann  das  zweite,  auf  zwölf  Takte  er- 
weitert, mit  einem  Schluss  auf  As.  Von  hier  wird,  immer  mit 
gleichem  Inhalte,  durch  einen  Abschnitt  von  zwei  Takten  nach  fmoll. 
durch  einen  gleichen  nach  Des  dur  gegangen  (es  ist  wieder  einmal 
die  altbekannte  Modulation  mit  terzenweis  absteigendem  Basse,  Th.  I, 
S.  123,  No.  154,  nur  jeder  Akkord  zur  Tonart  erhoben),  von  hier 
wird  mit  dem  Motiv  a  aus  No.  */M  in  vier  Takten  die  Dominante 
des  Haupttones  erreicht  und  diese  mit  jenem  Motiv  erst  im  Diskant, 
dann  im  Bass  allein  acht  Takte  lang  gleichsam  als  Orgelpunkt  fest- 
gehalten. Hier  kann  man  schon  die  Wiederkehr  des  Hauptsatzes 
voraussehn. 

Wofür  ist  nun  dieser  ganze  Mittelsatz  zu  nehmen?  —  Un- 
geachtet seiner  mehrmaligen  satzartigen  Abschlüsse  doch  nur  für 
einen  gegliederten  Gang;  denn  bei  der  weitgeführten  Fortsetzung 
macht  sich  der  Inhalt  immer  bedeutender  geltend,  und  die  schnelle 
Abwendung  von  der  Dominante  zu  fremden  Tonarten  ist  ebenfalls 
mehr  dem  uusteten  Gangwesen,  als  der  Feststellung  eines  neuen 
Salzes  angemessen.  — 


_2_ 
93 


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Die  Formbeweglichkeit  der  Homophonie.  575 


Hierauf  kehrt  der  Hauptsatz  wieder.    Allein  sein  auf  einem 
einzigen  Motiv  beruhender  Inhalt  befriedigt  den  Komponisten  nicht 
mehr;  er  wird  verändert.    Nachdem  der  erste  Abschnitt  (No. 
getreu  wiedergekehrt  ist,  wird  dessen  Wiederholung  variirt.  — 


Darauf  werden  die  drei  folgendeu  Abschnitte  vorgetragen,  erst 
einfach,  dann  ebenfalls  in  gleicher  Weise  variirt. 

Allein  diese  Darstellung  war  eher  anregend,  als  zum  Schlüsse 
beruhigend.  Folglich  muss  der  Komponist  weiter  gehn.  Noch  ein- 
mal beginnt  er  mit  dem  in  No.  2/93  gezeigten  Abschnitte  seinen 
gangartigen  Mittelsatz,  führt  ihn  aber  anders  und  kurz,  bloss  mit 
vier  Takten  weiter  zu  einem  Halt  (von  vier  Takten  harmonischer 
Figuration)  auf  die  Dominante. 

Und  nun?  —  Da  wir  uns  hier  im  Wesentlichen  genau  auf 
derselben  Stelle  finden,  wie  bei  dem  ersten  Abschluss  des  Mittel- 
satzes, so  muss  auch  wieder  der  Hauptsatz  folgen;  erst  der  erste 
Abschnitt  nach  No.  >/M  unverändert,  dann  dessen  Wiederholung  mit 
voller  ausgeführter  Figurirung.  — 


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576 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


Der  nächste  Abschnitt  kehrt  unverändert,  die  beiden  folgenden 
und  die  Wiederholung  aller  drei  mit  steigenden  Veränderungen  wie- 
der ;  der  letzte  Abschnitt  wird  weiter  aus-  und  nochmals  auf  die 
Dominante  geführt,  und  nun  endlich  aus  dem  letzten  Glied  (oder 
Abschnitte)  aus  No.  */w  ein  Anhang  gebildet,  der  den  Schluss  macht. 
Da  aber  auch  auf  den  Mittelsatz  durch  die  Erinnerung  an  ihn  ein 
grösseres  Gewicht  gelegt  ist  als  gewöhnlich,  so  muss  ihn  wenigstens 
der  Bass  durch  gleiche  Bewegung  (in  Achte Itriolen)  noch  einmal 
anklingen  lassen.  Der  Anhang  steht  übrigens  grösstentheils  orgel- 
punktartig  auf  der  Tonika  fest. 

Hier  haben  wir  nun  der  Hauptsache  nach  unstreitig  die  erste 
Rondoform  vor  uns,  einen  Hauptsatz,  der  nach  einem  vorherrschend 
gangartigen  Mittelsatze  wiederkehrt.  Allein  der  Komponist  fühlte 
sich  nicht  befriedigt  und  fand  es  doch,  bei  der  Ausführlichkeit  des 
Hauptsatzes  und  des  Ganges,  unangemessen,  zu  neuen  Sätzen  vor- 
zuschreiten. Folglich  wiederholte  er  seine  Form,  kam  nochmals  auf 
den  Gang  und  abermals  auf  den  Hauptsatz  zurück.  Wenn  die 
Grundform  sich  so  — 

HS— G— HS 

(Hauptsatz,  Gang  u.  s.  w.)  aussprechen  lässt,  so  ist  für  den 
Beethoven 'sehen  Satz  dieses  — 

HS— G — HS — G — HS 

das  Schema. 

Die  Erfindung  gehört  nicht  zu  den  bedeutendem  des  Meisters, 
der  uns  so  Tiefes  und  Ueberreiches  oft  gespendet  hat.  Um  so  lehr- 
reicher ist,  wie  er  mit  sicherer  Hand  und  klarer  Anordnung  aus  so 
wenig  bedeutendem  Inhalt  ein  doch  so  ansprechendes  Tonstück  hat 
bilden  können. 

In  einer  formell  weniger  auffallenden,  dem  Inhalt  nach  aber 
ungleich  bedeutendem  Weise  können  wir  dasselbe  an  dem  unver- 
gleichlichen, von  Zärtlichkeit  und  Anmuth  durch  und  durch  be- 
seelten Cdur-Adagio  der  ersten  Sonate  Op.  29  desselben  Tondichters 
beobachten. 

Eine  reizend  und  zierlich  geführte  Melodie  von  acht  Takten, 
die  auf  der  Tonika  schliesst  und  gleich  verändert  und  anmuthig  leicht 
verziert  wiederkehrt,  um  auf  der  Dominante  zu  schliessen,  bildet 
den  ersten  Theil,  ein  fremder  Zwischensatz  und  die  Wiederkehr 
der  ersten  acht  Takte  (neu  verziert)  den  zweiten  Theil  des  Haupt- 
satzes. Hier  wendet  sich  der  Komponist  mit  einem  satzartigen 
Uebergange  Über  Cmoll  nach  ylsdur  und  entwickelt  eine  gang- 
artige Satzkette,  die  ihn  mit  orgelpunktähn liebem  Ausgang  (auf  der 
Dominante  des  Haupttones)  wieder  zum  Hauptsatze  bringt.  Dieser 
wird,  abermals  und  in  höherer  Lebendigkeit  und  Regsamkeit  ver- 
ändert, vollständig  durchgeführt  und  sein  Hauptmotiv  noch  zu  einem 


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Die  Formbeweglichkeit  der  Homophonie.  577 


den  Schluss  befestigenden  Anhang  benutzt.  —  Absichtlich  geben  wir 
hier  keine  Notenbeispiele.  Sie  würden  bei  der  Ausdehnung  des  Ganzen 
in  allen  Theilen  zu  viel  Raum  federn ;  und  die  Komposition  ist  eine 
von  denen,  die  wir  gern  in  den  Händen  eines  Jeden  voraussetzen. 

Als  drittes  Beispiel  fuhren  wir  das  in  No.  121  bezeichnete 
B eethoven'sche  Adagio  an.  Dass  dem  Hauptsatze  desselben  ein 
weit  ausgeführter  Gang  folgt  und  dann  der  Hauptsatz  wieder  eintritt, 
ist  S.  128  bereits  auseinandergesetzt,  auch  auf  die  gedrängte  Kürze 
des  Hauptsatzes  hingewiesen. 

Dem  weit  und  reich  ausgeführten  Gang  gegenüber  würde 
der  kurze  Hauptsatz  ungenügend  zusammengeschwunden  sein.  Daher 
nimmt  der  Komponist  nach  seiner  vollständigen  Darstellung  ein  Motiv 
desselben  zur  Ueberleitung,  — 
JL 


FfTTT 


geht  damit  zu  seinem  Mittelgange  zurück  und  führt  erst  das  Haupt- 
motiv desselben  (aus  No.  129)  zu  folgendem  Basse,  — 


«47         B    B7        &  7 
B  4  # 


dann  das  in  No.  131  angedeutete  Motiv  in  dieser  Weise  — 


3E 


(Bass.) 


3f=r  'j^'jFjgg 

6  &  6  B7 

4 


5-i 


4 

3 


4 


S  S7  6 

4  *  4 


m 


durch.  Im  folgenden  Takte  wird  nun  auf  dem  tonischen  Akkorde 
selbst  in  einfacher  Figuration  zum  Hauptsatze  zurückgegangen,  — 


dieser  aber  verändert  dargestellt  und  nochmals,  wieder  verändert, 
übrigens  unvollständig,  als  Anhang  benutzt. 


Karx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl. 


37 


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578 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile 


Vj. 


Eine  Mischform  zwischen  zweitem  Rondo  und  Sonate. 

Zu  Seite  436. 

Bei  der  grossen  Mannigfaltigkeit,  die  wir  an  den  zusammen- 
gesetzten Kunstformen  (S.  301)  bereits  kennen  gelernt  haben,  kann 
die  Lehre  sich  zwar  nicht  auf  die  Auf  Weisung  aller  möglichen,  oder 
nur  aller  schon  gebrauchten  Abweichungen  (Th.  II,  S.  6)  einlassen  ; 
wohl  aber  muss  sie  sich  solche  Mischformen  angelegen  sein  las- 
sen, in  denen  sich  verschiedne  Formen  berühren.  Denn  in  diesen 
liegt  der  Gränzpunkt  beider  Formen,  dessen  richtige  Erkenn tniss 
die  Anschauung  des  Grundbegriffs  jeder  Form  vollendet  und  den 
Jünger  zur  Freiheit  leitet,  während  seine  Verkennung  leicht  irre 
führen  oder  doch  unsicher  machen  kann. 

Daher  fügen  wir  den  dringendem  Erwägungen  des  geraden 
Lehrganges  hier  die  beiläufige  Betrachtung  noch  einer  abweichen- 
den Gestalt  hinzu.  Es  ist  die  des  tief  empfindungsvollen  Largo 
aus  Beethove n's  fsdur-Sonate,  Op.  7. 

Der  Hauptsatz,  Cdur,  hat  zweitheilige  Liedform.    Dies  — 

Largo  con  grand'  espressione. 

PP 


ist  der  Vordersatz  und  Kern  des  ersten  Theils;  da  er  schon  auf 
die  Dominante  gegangen  ist  (nur  dass  er  auf  dem  Schlussakkorde 
wieder  umkehrt),  so  sieht  man  schon  voraus,  dass  der  Theil  selber 
im  Haupttone  schliessen  wird.  Der  zweite  Theil  kommt  auf  das 
Hauptmotiv  des  ersten  zurück  und  schliesst  mit  einem  Anhange. 

Wenige  Zwischennoten  führen  nun  den  Seitensatz  in 
Asdur  — 


8  8  8 


herbei,  der  sich  in  vier  andern  Takten  sogleich  nach  Fmoll  fort- 
setzt, dann  sogleich  in  Des  dur  wiederholt,  nach  G,  nach  fis-a-c-es 
und  von  da  auf  die  Dominante  von  —  2?  dur  wendet. 


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Eine  Much  form  zwischen  zweitem  Rondo  und  Sonate.  579 

Bis  hierher  würde  der  Seitensatz  und  die  ganze  Konstruktion ,  — 
allenfalls  von  der  Wechsel  vollen  und  weit  gehenden  Modulation  abge- 
sehn,  —  nichts  von  der  ursprünglichen  Form  Abweichendes  haben. 
Allein  nun,  statt  dass  der  Uebergang  in  den  Hauptton  erwartet 
werden  sollte,  erscheint  unerwartet  in  der  fremden  Tonart  —  der 
Hauptsatz,  oder  wenigstens  sein  entscheidender  Anfang,  der  sich 
jedoch  schon  im  dritten  Takte  — 


nach  Cmoll  und  von  da  im  sechsten  nach  Cdur  wendet.  Nun  erst 
erfolgt  die  rechte  und  vollständige  Wiederholung  des  Hauptsatzes 
mit  seinem  Anhange. 

Allein  noch  kann  der  Satz  nicht  schliessen;  sein  Inhalt  und 
seine  vielfach  gewendete  Modulation  erfodern  einen  Anhang.  ^Hierzu 
benutzt  Beethoven  zuerst  die  Melodie  des  Seitensatzes,  die  er 
aber  in  den  Tenor  legt  — 


und  auf  G  führt,  worauf  noch  ein  weiterer  Anhang  aus  dem  Haupt- 
motiv des  ersten  Satzes,  —  zuerst  mit  einer  abermaligen  Anfüh- 
rung seines  Anfangs,  — 


den  Beschluss  macht. 

Dass  nach  einem  weiten  und  inhaltreichen  Mittelsatz  oder 
Gang  ausser  dem  Hauptsatze  noch  ein  längerer  Anhang,  theils  mit 
Erinnerungen  aus  dem  Mittelsatze,  theils  mit  Anführungen  (und  Ver- 
änderungen) des  Hauptsatzes,  nöthig  befunden  wird,  ist  bereits 
aus  ähnlichen  Fällen  (S.  121)  bekannt.  Nur  mag  in  dieser  Hinsicht 

37* 


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580         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

bemerkt  werden,  wie  tief  der  Komponist  sein  Thema  in  der  Seele 
getragen,  dass  es  ihn  auch  im  letzten  Schlüsse  nicht  verlassen. 

Neu  ist  dagegen  die  Anführung  des  Hauptsatzes  im 
mittlem  Theile;  und  zwar  nicht  etwa  eines  beiläufig  ergriffnen 
und  benutzten  Motivs,  sondern  des  entscheidenden  ersten  Abschnitts, 
und  dies  mit  der  bestimmt  ausgesprochnen  Absicht,  als  ein  be- 
sondrer selbständiger  Satz,  nicht  bloss  als  Glied  des  Ganges  aufzu- 
treten, —  so  dass  man  hiermit  den  Abschluss  des  ganzen  Rondo's 
erwarten  dürfte,  wenn  nicht  die  fremde  Tonart  (Ädur  statt  Cdur) 
zu  entschieden  widerspräche. 

In  der  vierten  und  fünften  Abtheilung  wird  klar  werden, 
dass  in  dieser  eigenthttmlichen  Gestaltung  eine  Misch  form  zwi- 
schen Rondo  und  Sonate  zu  erkennen  ist.  Hier  wollen  wir 
nur  daran  festhalten,  dass,  wie  am  Schlüsse,  so  in  der  Mitte  der 
Tondichter  von  seinem  ersten  Gedanken  auf  das  Innigste  unablöslich 
erfüllt  gewesen.  Sobald  er  das  Wesentliche  des  Seitensatzes  aus- 
gesprochen, findet  er  keine  Müsse  und  Befriedigung  in  einem  wei- 
tern Gange,  der  etwa  den  Seitensatz  an  den  Hauptsatz  und  dessen 
rechte  Tonart  herangeführt  hätte ;  sinnend  ergreift  er  gleichsam  die 
erste  beste  Tonart,  ist  von  As-  und  Des dur  aus  zufrieden,  das 
milde  Üdur  erlangt  zu  haben,  und  lässt  hier  seinen  Hauptsatz  in 
zarter  Höhe  leise  anklingen.  Allein  bald  fühlt  er,  dass  hier  kein 
Weilen;  und  so  sinkt  er  in  das  trübe  Cmoll  hinab  und  findet  von 
da  die  rechte  Stätte. 

Eben  dies  Verlorensein  in  den  fremden  Tönen  veranlasst  dann 
auch  die  Erinnerung  an  den  Seitensatz  im  Hauptton  und  den  gan- 
zen Anhang. 

Es  ist  wieder  eine  jener  isolirten  Gestaltungen,  die  nicht  nach- 
geahmt, aber  durchdacht  sein  wollen ;  denn  in  ihnen  lässt  sich  das 
Ineinanderspielen  zweier  Grundformen  und  der  wesentliche  Unter- 
schied beider  fein  und  sicher  beobachten. 


F. 

Ueber  Notwendigkeit  und  Art  des  Entwurfs. 

Zu  Seite  137. 

Vor  der  Einführung  in  die  grössern  Formen  ist  rathsam, 
noch  einmal  auf  einen  Theil  des  Verfahrens  bei  der  Komposition 
hinzuweisen,  der  für  das  Gelingen  von  äusserster  Wichtigkeit  ist, 
gleichwohl  öfter  versäumt  oder  unzweckmässig  behandelt  und  selbst 
von  Lehrern  mitunter  unzweckmässig  oder  irreführend  gewiesen 
wird.    Wir  meinen 


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Ueber  Notwendigkeit  und  Art  des  Entwurfs.  581 
den  Entwurf, 

der  der  eigentlichen  Ausarbeitung  und  Vollendung  einer  Kompo- 
sition —  namentlich  einer  grossem  —  vorangehen  muss. 

Jede  Komposition  ist  ein  Fortschreitendes;  die  Gedanken  be- 
wegen sich  von  Takt  zu  Takt  vorwärts  bis  zur  Vollendung  des 
Ganzen.  Das  ist  der  Lebensfaden  des  Werks.  Aber  in 
jedem  Takt,  —  in  jedem  Zeitpunkte  breitet  sich  der  Inhalt  in  der 
Form  von  Begleitung,  Gegenstimmen  u.  s.  w.  aus.  Das  Insge- 
sammt  von  dem  Allen  bildet  die  Fülle  des  Lebens.  Beides 
zusammengenommen  ist  erst  das  volllebendige  Werk.  Jeder  mehr 
als  einstimmige  Satz,  selbst  jeder  Harmoniegang  giebt  diesen  An- 
blick. Der  Satz  bewegt  sich  vom  Anfang  bis  zu  seinem  Schlüsse ; 
mit  diesem  erst  ist  er  ein  Satz  geworden,  dieser  Fortschritt  ist 
also  die  Bedingung  seines  Daseins.  Was  diesem  seinem  Lebens- 
faden sich  an  melodischen  Momenten,  Harmonie  und  sonstigem 
Zubehör  anreiht,  —  oder  vielmehr :  was  diesen  Lebensfaden  ma- 
teriell bildet,  das  ist  die  Fülle,  der  Inhalt  des  Satzes. 

Beides,  Fortgang  und  voller  Inhalt  aller  Momente,  bietet  sich 
keinem  Künstler  auf  einmal  dar  (weil  der  Mensch  nicht  zweierlei 
auf  einmal  denken  kann),  sondern  nur  nach  einander.  Dies  Nach- 
einander kann  mehr  oder  weniger  rasch  erfolgen,  je  nach  der  gei- 
stigen Schnellkraft  des  Schaffenden  und  der  Ausdehnung  und  Fülle 
seiner  Aufgabe.  Jedenfalls  aber  fodert  Beides,  —  Fortführung  des 
Ganzen  zum  Ende,  Vertiefung  in  die  einzelnen  Momente  und  Er- 
füllung derselben,  —  sein  Recht  und  will  Jedes  nach  seiner  Natur 
behandelt  sein,  die  Fortführung  unaufhaltsam  und  ununterbrochen, 
die  Erfüllung  mit  jener  Besonnenheit  und  Sammlung,  ohne  die 
keine  Vertiefung  möglich  ist. 

Daher  haben  alle  Künstler,  —  Dichter,  Bildhauer,  Maler, 
Musiker,  —  stete  der  Vollendung  ihrer  Werke,  wenigstens  aller 
umfassendem,  Entwürfe,  Modelle,  Zeichnungen  und  Farbenskizzen 
vorangehn  lassen;  es  sind  deren  ebensowohl  von  Raffael  und 
Rubens  als  von  Mozart  und  Beethoven  bekannt.  Ob  einmal 
irgend  ein  Musiker  (wie  man  vom  Maler  Horace  Veraet  erzählt) 
ungestraft  eine  Ausnahme  macht,  durch  ausserordentliche  Erinne- 
rungs-  und  Vorstellungskraft  begünstigt:  das  ändert  nichts  an  der 
Natur  der  Sache.  Dieser  gemäss  wird  in  den  allermeisten  Fällen 
selbst  der  hochbegabte  Künstler  die  Schnellkraft  des  Fortschritts, 
den  Fluss  und  die  Einheit  des  Ganzen  gefährden ,  wenn  er  nicht 
der  Ausfuhrung  und  all'  ihren  Zweifeln  den  Entwurf  voranschickt. 
Schon  die  Zeit  und  Mühe  der  umständlichen  Aufzeichnung  des  ge- 
sammten  Inhalts,  —  dieser  Hunderte  von  Akkorden  und  Tausende 
von  Noten,  — wird  den  Musiker  um  die  Seele  seines  Schaf- 
fens, die  Stimmung,  bringen. 


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582         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

Daher  war  es  Pflicht  dieses  Werks,  stets  auf  diesen  Punkt 
hinzuweisen.  Schon  die  Einleitung  zu  Th.  I  (S.  18)  schärft  ein: 
scharf  und  klar  und  frei  ersinnen,  —  rasch  und  kühn 
entwerfen,  —  gewissenhaft,  eigensinnig  prüfen;  schon 
.  128  wird  die  Bezifferung  als  Hülfsmittel  für  den  Entwurf  be- 
zeichnet; die  Einleitung  zu  Th.  II  (S.  18)  wiederholt  diese  Erinne- 
rung und  empfiehlt,  rasch,  entschieden,  wo  möglich  in  Einem  Zuge 
zu  entwerfen;  bei  den  Figural-  und  Nachahmungsformen  wie  bei 
der  Fuge  (S.  142,  219,  309,  530)  wird  mit  Entwürfen  begonnen, 
denen  die  Ausarbeitung  nachfolgt.  Es  versteht  sich,  —  und  ist 
den  treulich  Nachfolgenden  jetzt  schon  zur  andern  Natur  geworden, 
—  dass  auch  die  Aufgaben  der  angewandten  Kompositionslehre  zu- 
vor im  Entwürfe,  dann  erst  in  der  Ausarbeitung  gelöst  werden 
müssen,  selbst  die  begrenztem,  die  bis  hierher  aufgestellt  worden, 
geschweige  die  nun  kommenden  grössern. 

Die  Wichtigkeit  des  Entwurfs  steht  fest,  in  der  Form,  im 
ganzen  Verfahren  können  mancherlei  Abweichungen  stattfinden ;  es 
wäre  pedantisch  und  störend,  hier  in  Neigung  und  Gewöhnung  der 
Einzelnen  einzugreifen,  —  wofern  nur  die  Abweichungen  nicht  dem 
Zweck  entgegenwirken. 

Im  Allgemeinen  lassen  sich  bei  der  Komposition  drei  Ab- 
schnitte unterscheiden,  die  auch  in  diesem  Werke  (Th.  I  und  II, 
S.  18)  bezeichnet  sind:  das  Ersinnen,  Auffindung  des  Stoffs 
oder  der  schöpferischen  Idee,  —  der  Entwurf,  die  Umrisse  der 
ganzen  Gestalt,  die  das  Werk  haben  soll,  —  die  prüfungsvolle 
A  usarbeitung. 

Der  erste  Theil  der  Arbeit,  die  Auffindung,  lässt  für  den 
Künstler  keine  Bestimmung  von  aussen  her  zu;  können  wir  doch 
selber  nicht  willkürlich  Gedanken  bilden  oder  gar  Stimmung  oder 
Begeisterung  herbeirufen.  Gleichwohl  müssen  auch  die  Künstler 
jenes  übermüthige  Wort  aus  Faust : 

Gebt  ihr  euch  einmal  für  Poeten, 
So  kommandirt  die  Poesie ! 

über  sich  ergehn  lassen;  die  Welt,  die  Verhältnisse  gebieten  oft, 
ohne  der  rechten  Stunde  warten  zu  wollen;  Gluck,  Mozart, 
Meyer  beer,  —  wer  nicht?  —  haben  sich  zu  Gelegenheitsarbeiten 
herbeigelassen;  die  Durchbildung  des  Künstlers  erweist  sich  eben 
daran,  dass  er  zu  jeder  Stunde  fähig  sei,  Alles  was  begehrt  wird 
zu  bilden.  Wie  weit  übrigens  diese  Werkthätigkeit  von  der  ge- 
weihtem Stunde  fernliegt,  —  ist  eine  Frage  für  sich.  Wie  lange 
nun  der  Künstler  ein  Werk  in  sich  trägt,  bis  es  zum  Entwürfe 
reif  ist,  —  ob  er  mehr  als  einen  Stoff  zugleich  zeitigt,  vielleicht 
mancherlei  Gebilde  (Harmonien,  Passagen  u.  s.  w.)  beslimmungslos 
aufbewahrt,  —  ob  er  das  Alles  mehr  oder  weniger  dem  Ge- 


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Ußber  Notwendigkeit  und  Art  des  Entwurfs.  583, 

dächtniss  anvertraut  oder  in  Skizzen ,  Notizbüchern  u.  s.  w.  (wie 
der  von  Reisen  vielzerstreule  Mozart)  festhält:  das  Alles  richtet 
sich  nach  Persönlichkeit  und  Umständen;  Niemand  hat  da  einzu- 
reden. 

Dem  Schüler  kann  die  Freiheit  des  Künstlers  nicht  gewährt 
werden,  aus  dem  einfachen  und  unumstösslichen  Grunde,  weil  sonst 
Richtung  und  Zeit  des  Lehrgangs  unberechenbar  wären.  Er  muss 
sich  bestimmten  Aufgaben  unterziehn,  und  er  muss  sie  sofort 
angreifen  und  durchführen.  Nicht  unbedacht  und  ohne  Sammlung 
soll  er  herantreten,  aber  eben  so  wenig  darf  er  sich  jenem  Ent- 
gegenharren auf  »glückliche  Einfälle«,  auf  »Stimmung«  (und  wie 
die  Ausreden  sonst  heissen ,  hinter  denen  sich  Zerstreutheit  und 
Schlaffheit  bergen)  hingeben.  Er  muss  das  Goethe'sche  Wort  über 
seine  Thür  schreiben. 

Das  ist  die  Tapferkeit  des  Schülers  —  und  des  Künstlers. 
Ohne  sie  hätten  die  Meister  nicht  so  unglaublich  viel  schaffen 
können  und  werden  die  Jünger  nicht  Meister.  Unter  Hunderten 
von  Schülern  hat  der  Verf.  die  rasch  Zugreifenden  stets  als  die 
tüchtigsten  und  aussichtvollsten,  die  Wähligen  stets  als  die  zweifel- 
haften befunden. 

Mit  dem  Entwürfe  beginnt  erst  die  wahre  Arbeit  —  und  zu- 
gleich die  wahre  unaufhaltsame  Schaffenslust.  Das  Vorhergehende 
giebt  die  Möglichkeit  eines  Werks,  der  Entwurf  seine  Wirklich- 
keit. Einiges  (mehr  oder  weniger)  ist  vorhanden  und  gewiss, 
Andres  unbestimmt,  Andres  fehlt  noch  gänzlich.  Jetzt  gilt  es, 
Thatkraft  und  jene  Tapferkeit  vereint  zu  bewähren.  In  Einem  Zuge 
muss  das  Werk  —  oder  wenigstens  ein  wesentlicher  karakter- 
beslimmender  Theii  desselben  hingeworfen  werden.  Was  sich  bei 
der  Ausführung  sicher  von  selbst  findet,  was  unter  dem  Entwerfen 
zweifelhaft  oder  noch  gar  nicht  vorhanden  ist,  bleibt  weg,  wie  die 
Entwürfe  in  diesem  Werke  zeigen.  —  Warum  soll  man  nicht  ein 
Wort  drucken  lassen ,  das  man  sich  nicht  scheut  auszusprechen  ? 
Der  Verf.  sagt  säumigen  unentschlossnen  Schülern : 

»Der  Zweifel  ist  der  Teufel!« 

■ 

und  er  ist  es,  der  Thatkraft  und  Freude  zernagt. 

Im  Entwürfe  wird  das  Werk  festgestellt  —  wenn  auch  nur 
im  Umrisse.  In  ihm  wird  dem  Schaffenden  erst  seine  Stimmung 
fest,  sein  Vorhaben  klar.  In  ihm  wird  erlangt,  was  erste  und 
letzte  Bedingung  jedes  Werks  ist:  Einheit  und  Fluss  des 
Ganzen;  ohne  sie  bleiben  alle  möglichen  Einzelheiten  nichts  als 
Schutt,  oder  zusammengebackner  Staub,  —  Pise  nennt  es  ein 
Goethe' scher  Denkvers  in  sehr  verfänglicher  Weise.  Daher  soll 
man  den  Entwurf  zwar,  nachdem  er  vollendet,  —  nicht  eher !  — 
wiederholt  und  gewissenhaft  prüfen,  aber  nicht  ohne  dringende  Noth, 


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584         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

ohne  die  klare  Erkenntniss  von  seiner  Unnahbarkeit  oder  Ver- 
besserungsbedürftigkeit, ändern  oder  gar  fallen  lassen.  Wer  darüber 
hinausgeht,  wer  ohne  Noth  —  nur  etwa  um  vermeintlich  Besseres 
oder  Schöneres  zu  gewinnen  —  umhersucht  und  den  ersten  Ab- 
druck seiner  Stimmung  und  Anschauung,  die  niemals  unverändert 
wiederkehren,  verlässt:  der  findet  sich  selten  wieder  zur  Einheit 
dessen,  was  er  eigentlich  gewollt,  —  oder  überhaupt  zu  einheit- 
voller Vollendung  zurecht,  und  gewöhnt  sich  in  jene  Zweifel- 
müthigkeit,  vor  der  oben  gewarnt  worden.  Ein  nachdenklich  Beispiel 
im  Grossen  giebt  für  den  Kenner  Beethove n's  Umarbeitung  seiner 
Oper  Leonore  in  die  jetzige,  Fidelio  genannte  Gestalt  derselben. 
Einmal  vom  ersten  Weg  ablenkend  hat  er  es  bis  zu  vier  Ouver- 
türen gebracht,  und  man  dürfte  schwerlich  die  folgenden  (besonders 
die  letzte,  jetzt  feststehende)  der  ersten  vorziehn,  noch  weniger  das 
jetzige  Duett :  »0  namenlose  Freude«  der  ersten  Gestalt  desselben, 
und  so  noch  Andres.  Dagegen  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  in 
andern  Fällen  (z.  B.  bei  der  Umgestaltung  des  Scherzo  in  der 
A  dur-Symphonie)  wesentliche  Aenderungen  auf  das  Glücklichste 
vorgenommen  worden  sind.  Hier  folgte  Beethoven  seiner  rein 
künstlerischen  Ueberzeugung ;  dort  suchte  er  der  Rücksicht  auf 
Bühnengewohnheit  genugzuthun,  —  die  allerdings  auch  ihr  Recht 
hat,  aber  schon  im  Entwurf  oder  vielmehr  vor  seinem  Beginn  mit 
in  Rechnung  kommen  muss. 

Einen  wunderlichen  Rath  giebt  ein  neueres  Lehrbuch:  Nach 
Erfindung  der  Hauptgedanken  soll  der  Schüler  den  ersten  Abschnitt 
aus  seiner  .Skizze  (es  ist  damit  die  Aufsammlung  der  einzelnen 
Gedanken  oder  Themate  gemeint,  —  also  er  soll  den  ersten  Ge- 
danken) zum  Thema  nehmen  und  ihn  möglichst  viele  Mal  immer  anders 
darzustellen  suchen.  Es  werden  10  Beispiele  gegeben  und  dazu 
wird  (ganz  richtig)  bemerkt,  dass  noch  hundert  und  aber  hundert 
neue  Gestaltungen  daraus  zu  ziehen  wären.  So  soll  der  Schüler 
jeden  Abschnitt  (Gedanken)  für  sich  so  lange,  als  ihm  noch  Ver- 
änderungen beifallen,  umwandeln.  Macht  er  20  Veränderungen,  ist 
es  gut,  macht  er  40,  50,  ist  es  noch  besser.  Dann  soll  er  aus 
diesen  mannigfaltigen  Skizzen  die  besten  Modelle  wählen. 

So  gründlich  und  bildend  dies  Verfahren  dem  in  der  Kunst 
Fremden  (eine  Bezeichnung,  die  durchaus  nicht  etwa  auf  den 
dasselbe  Vorschlagenden  zu  beziehn  ist)  auf  den  ersten  Hinblick 
erscheinen  könnte,  so  widerkünstlerisch  und  irreleitend  ist  es  in 
der  That. 

Schon  die  Voraussetzung,  dass  zuvörderst  »die  Hauptgedanken 
erfunden  werden  müssten,  ist  verfänglich.  Es  kann  sein  und  ist 
(wie  z.  B.  Beethove  n's  Skizzenbücher  allerdings  zeigen)  bis- 
weilen oder  öfter  geschehn,  dass  Künstler  einzelne  (vielleicht  alle] 


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lieber  Nothwendigkeit  und  Art  des  Entwurfs.  585 

Themate,  oder  Motive  zu  denselben,  zuvörderst  irgendwie  notirt 
haben,  bevor  sie  an  den  eigentlichen  Entwurf  gingen;  natürlich 
kann  überhaupt  der  Entwurf  nicht  begonnen  werden,  bevor  man 
irgend  einen  Theil  des  Inhalts,  vor  allem  den  Anfang,  gefunden. 
In  diesem  Bande  selber  (S.  329)  ist  auf  den  Vortheil  hingewiesen 
worden,  den  es  gewährt,  wenn  man  vor  der  Ausführung  eines 
Werks  die  Hauptmomente  desselben  gefasst  hat.  Wie  viel  das  aber 
sei,  ob  man  das  Gefundne  notirt  oder  im  Gedächtniss  bewahrt,  das 
macht  sich  bei  verschiednen  Künstlern,  ja  bei  demselben  Künstler 
unberechenbar  verschieden.  Mendelssohn  hatte  den  ersten  Theil 
seiner  Ouvertüre  zum  Sommernachtstraum  vollständig  in  Partitur 
gebracht,  als  er  bewogen  wurde,  Alles  mit  alleiniger  Ausnahme 
der  vier  ersten  Akkorde  und  des  Elfentanzes  schlechthin  wegzu- 
werfen und  das  Ganze  so,  wie  es  bekannt  geworden,  zu  gestalten ; 
der  Satz  (tfdur),  der  auf  die  Rüpel  und  den  verwandelten  Zettel 
(gis-ai's)  hindeutet,  kam  unter  dem  Schreiben  zuletzt  zu,  und  dann 
erst  konnte  an  den  zweiten  Theil  gedacht  werden,  während  der 
Schluss  (Rückkehr  des  ersten  Satzes)  von  Haus  aus  feststand,  aber 
unnotirt,  bloss  im  Sinne  behalten.  Nach  Verwerfung  der  ersten 
Partitur  war  also  gar  kein  Inhalt  festgestellt  als  die  Einleitung  und 
der  £moll-Satz.  — 

Nun  aber  lässt  jene  Anleitung  gerade  das,  was  erste  und 
unerlässliche  Bedingung  jeder  künstlerischen  Schöpfung  ist,  voll- 
ständig aus  den  Augen,  oder  vielmehr,  macht  es  von  Grund  aus 
unmöglich:  den  Drang  und  die  Lust  des  Gestaltens,  die  in  ihrer 
höchsten  Potenz  Begeisterung  (gänzliche  Erfülltheit  des  Geistes  von 
der  einen  Idee,  augenblickliches  Aufgehn  des  ganzen  Daseins  in 
diese  eine  Idee)  heisst,  —  und  die  nur  daher  erreichbare  Einheit 
und  den  Fluss  des  Werks,  das  als  wirkliches  Leben  dahinströmt. 
Wie  vorwaltend  diese  Bedingung  vor  allen  Einzelheiten  ist,  kann 
vielleicht  an  keinem  Werke  so  schlagend  gewiesen  werden,  als  an 
Mozart's  Ouvertüre  zu  Cosi  fan  tutte.  Man  darf  jeden  ein- 
zelnen Satz  des  Allegro  unbedeutend  nennen,  —  und  das  Ganze 
strömt  im  frischesten  Lebensergusse  reizend  und  unwiderstehlich 
mit  fortziehend  dahin ;  so  mächtig  waltet  der  unverkümmerte,  ganz 
ungehemmte  Gestaltungstrieb. 

Wie  soll  dergleichen  möglich  werden,  wenn  man  erst  an  je- 
dem Satze  herumprobirt  und  20,  40,  50  Gestaltungen  aufsucht  und 
niederschreibt,  bevor  man  an  den  eigentlichen  Entwurf  geht?  Wie 
soll  man  da  nicht  ermüdet,  ja  angewidert  werden  von  dem  ewigen 
und  niemals  zu  wirklicher  Vollständigkeit  kommenden  Herumprobiren  ? 
Das  heisst  nach  dem  alten  burlesken  Worte :  »den  Enthusiasmus 
auf  Flaschen  ziehn«.    So  entsteht  kein  Kunstwerk,  sondern 


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586         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


schales  Machwerk,  so  wird  kein  Künstler  erzogen,  sondern  Zwei  fei  - 
muth  und  Gleichgültigkeit. 

Und  ferner:  wozu  dienen  diese  Vorversuche,  wenn  sie  nicht 
alle  Gestalten  vollständig  liefern4?  kann  nicht  gerade  die  51ste,  vor 
der  man  Stenn  geblieben,  die  rechte  sein4?  oder  die  501  ste?  und  wo 
ist,  wenn  man  auch  erschöpfend  sein  und  Jahre  für  einen  einzigen 
Fall  aufwenden  wollte,  das  Ende  zu  finden?  Nirgends;  die  Gestalten- 
reihe wächst  mit  jedem  neuen  Schritte,  statt  sich  zu  erschöpfen, 
wie  dieses  Werk  überall  bewiesen  hat. 

Und  endlich:  hier  liegen  nun  50  oder  500  »mannigfaltige 
Skizzen«;  daraus  sollen  »die  besten  Modelle  zu  wählen«  sein. 
Das  unkünstlerische  Wählen  (der  Künstler  wählt  gar  nicht)  mag 
dahingestellt  bleiben;  aber  nach  welchem  Bestimmungsgrunde  soll 
man  wählen?  welches  »Modell«  ist  das  beste?  giebt  es  überhaupt 
ein  schlechthin  Bestes?  Unmöglich  wird  man  einen  andern  Be- 
stimmungsgrund auffinden,  als  die  Idee  und  den  Zusammenhang  des 
Ganzen;  sonst  könnte  man  willkürlich  Sätze  (z.  B.  Seitensätze) 
des  einen  Bondo  oder  Sonatensatzes  in  ein  ander  Rondo  versetzen. 
Man  versuche  das  nur,  selbst  bei  demselben  Komponisten,  aus  der- 
selben Periode  desselben,  bei  gleicher  Ton-  und  Taktart! 

Niemals  hat  ein  Kunstwerk  so  entstehen,  ein  Künstler  (ausser 
bei  den  Spässen  des  Potpourri's)  so  verfahren  können.  Kein  Kunst- 
werk wird  zusammengestückelt  aus  dem  Schutt  von  Vorversuchen, 
es  würde,  hätte  sich  auch  Leben  geregt,  an  dem  erkältenden,  bis 
zum  Uebelwerden  schalen  Herumversuchen  vor  der  Geburt  erstickt. 
Der  Künstler,  getrieben  von  seiner  Empfindung  oder  Idee,  im 
frischen  Behagen  der  schöpferischen  Kraft  überlässt  er  sich,  sobald 
die  Keime,  wie  die  Knospen  im  Frühjahr  zum  Herausbrechen 
schwellend  gezeitigt  sind,  dem  Zuge  des  Ganzen.  Nichts  darf  ihn 
hier  stören  und  irren,  wenn  der  Lebensstrom  nicht  verzettelt  und 
getrübt  werden  soll;  die  Kräfte  dazu  muss  er  zuvor,  vor  dem 
Beginn  in  sich  gesammelt  und  gezeitigt  haben. 

Hierzu  muss  der  Schüler  erzogen  werden.  Schritt  für  Schritt 
muss  man  ihn  von  den  einfachen  Bildungen  zu  den  grössten  und 
zusammengesetztesten  emporleiten,  an  jeder  muss  ihm  Einsicht, 
Lust,  Bildungskraft,  Umblick  und  Herrschaft  über  alle  Möglichkeiten 
des  Gestaltens  wachsen.  Damit  tritt  er  zu  jeder  höhern  Aufgabe 
mit  erhöhter  und  zureichender  Kraft  und  hat  nicht  nöthig,  mitten 
im  Gestalten  seiner  Schöpfungen  sich  durch  endlose  Versuche  um 
Stimmung,  Lust  und  Selbstgewissheit  zu  bringen. 


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Zu  Dussek's  Karakteristik 


587 


Zu  Dussek's  Karakteristik. 
Zu  Seite  150. 

Nicht  ohne  besondre  Absicht  haben  wir  in  den  Beispielen  zu 
dieser  Lehre  auf  Dussek  hingewiesen. 

Dussek  ist  einer  von  denjenigen  Künstlern,  die  ihre  Anlagen 
höchst  achtungswerth,  ja  einflussreich  und  bedeutend  ausgebildet 
und  geltend  gemacht  haben,  gleichwohl  nicht  in  solcher  Vielseitigkeit 
und  Vertiefung  in  ihre  Aufgabe,  dass  an  ihrer  Person  ein  wesent- 
licher Entwickelungsmoment  im  Leben  der  Kunst,  eine  neue  Offen- 
barung des  Kunstgeistes  erlebt  worden  wäre,  der  ihrer  Geltung  dann 
ewige  Dauer  gegeben  hatte.  Er  ist  daher  von  der  geistigen  Macht 
Beethoven's,  selbst  von  nicht  höher,  sondern  minder  begabten, 
uns  aber  in  der  Zeit  näher  gerückten  Komponisten  in  Schatten  ge- 
stellt, vielen  unter  uns  ganz  aus  dem  Gesichtskreise  verdrängt 
worden.  So  wenig  aus  höherm  Gesichtspunkte  dieses  Schicksal 
ein  ungerechtes  zu  nennen,  so  gewiss  es  viele  von  seinen  Nach- 
folgern noch  näher  bedroht,  zum  Theil  schon  betroffen  hat :  so  guten 
Grund  haben  wir  doch,  den  Jüngern  der  Klavierkomposition  ein 
antheilvolles ,  aber  auch  aufrichtiges  Studium  der  wichtigsten 
Dussek' sehen  Werke*  anzurathen. 

Vorerst  giebt  sich  in  diesen  Werken,  namentlich  in  den  spätem 
und  grössern,  eine  Innigkeit  der  Empfindung  und  ein  grosssinniger 
Ernst  der  Konzeption  zu  erkennen,  die  nicht  verfehlen  können,  uns 
Antheil,  Mitempfindung  und  Hochachtung  abzugewinnen,  ja  die  dem 
ältern  Meister  vor  vielen  neuern  entschiednen  Vorrang  anweisen. 
Ein  gewisses  Etwas,  das  wir  weiterhin  zu  bezeichnen  haben, 
schmälert  oder  lähmt  allerdings  den  Antheil,  den  unser  Gemtith 
noch  jetzt  an  jenen  Kompositionen  nehmen  kann,  vermag  aber 
keineswegs  ihn  zu  verneinen. 

Sodann  aber  —  und  das  ist  für  unsern  Zweck  das  Wichtigere  — 
ist  Dussek  der  erste,  der  mitEntschiedenheit  und  bedeutendem  Erfolg 
sein  Instrument,  das  Pianoforte  studirt,  und  in  seinen  Kompositionen 
wohlbedacht  hat,  ohne  gleichwohl  in  diesem  Trachten  das  Geistigere 
der  Komposition  so  weit  aus  dem  Sinne  zu  lassen,  wie  nach  und  neben 
ihm  oft  geschehn  ist.  Diese  Tendenz  ist  aber  eine  höchst  wichtige 
und  beachtenswerthe.  Wie  seicht  es  auch  jedem  tiefer  in  unsre  Kunst 
Eingeweihten  erscheinen  muss,  wenn  man  ihr  etwa  nur  die  Bestimmung, 


*  Zunächst  und  vornehmlich  empfehlen  wir  seine  Sonaten  Le  retour  ä 
Paris,  L'invocation  und  die  in  Jss,  Op.  44. 


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588         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

das  Ohr  zu  ergötzen  *,  beimisst :  unleugbar  ist  ihr  doch  dieser  Sinn 
als  Weg  zu  unsrer  Seele  angewiesen.  Sie  bedarf  also  der  Organe, 
die  zu  diesem  Sinne  reden  und  kann  ihren  Zweck  nur  durch  deren 
angemessenen  Gebrauch  erreichen.  Idee  des  Kunstwerks  und  Organ 
verhalten  sich  (S.  522)  wie  Geist  und  Körper;  so  dass  es  eine  der 
ersten  und  entscheidendsten  Fragen  ist :  in  welchem  Verhältniss  beide 
sich  im  Kunstwerk  offenbaren,  ob  das  Geistige  oder  Leibliche  ver- 
säumt, ob  Geist  oder  Material  vorherrschend  geworden  ist.  Wir 
haben  (S.  554)  nicht  unerwähnt  lassen  dürfen,  dass  selbst  bei  einem 
Mozart,  hauptsächlich  aus  äussern  Gründen,  die  in  der  Zeit  lagen, 
das  Organische  bisweilen  weniger  vollkommen  entwickelt  ist;  an 
Beispielen,  wo  das  Geistige  hinter  dem  Materialen  zurückgesetzt 
worden,  hat  es  weder  in  unsrer  Zeit  noch  früher  gefehlt;  nur  in 
dem  Vollender  der  Pianofortemusik,  in  Beethoven,  finden  wir 
beide  Seiten  in  glücklichster  Harmonie.  Hiernach  ist  das  grosse 
Verdienst  Düsse  k's  zu  ermessen,  dessen  Wirksamkeit  zwischen 
Mozart  und  Beethoven  füllt,  in  gleiche  Zeit  mit  Glementi, 
Cramer,  Wölfl,  Himmel,  dem  geistreichen,  aber  mehr  dilet-  . 
tantischen  Louis-Ferdinand**  und  Andern. 

Betrachten  wir  nun  Dussek's  Klaviermusik,  namentlich  die 
spätem  karakteristischen  Werke:  so  finden  wir  bald  heraus,  was 
er  vornehmlich  dem  Instrument  abzugewinnen  trachtete,  dessen 
Klangarmuth  ihm  nicht  entgehen  konnte,  obwohl  ihm  besonders 
später  die  klangvollem  englischen  Flügel  zu  Gebot  standen.  Fülle 
des  Klanges  dem  Instrument  im  Widerspruch  mit  seiner  ursprüng- 
lichen Dürre  (im  Vergleich  zu  Streich-  und  Blasinstrumenten)  ab- 
zugewinnen, das  ward  ihm  —  gleichviel  ob  klar  oder  minder  klar 
bewusst  —  zur  Aufgabe;  und  unstreitig  war  die  Aufgabe  eine 
richtige  und  verdienstvolle.  Breite  Akkordlagen,  Uberhaupt  Fülle 
der  Harmonie,  breitgeführte  Gänge,  viel  harmonische  Figuration, 
häufige  Verdopplung,  —  in  Folge  dessen  breite  Ausführung  der 
Sätze,  eine  weitgehende  Modulation,  und  wiederum  in  ihrer  Würze 
vielfache  Durchgänge,  Durchgangsakkorde,  Hülfstöne,  daher  wieder 
ein  fast  ununterbrochen  gebundnes  Spiel,  —  dann  wieder  zum  er- 
frischenden Gegensatz  häufige  Naturharmonie***,  aber  zu  saftigerm 
Klang  in  Verdopplungen  ausgeführt:  —  das  ungefähr  sind  die 
Formen,  in  denen  sich  der  Meister  zu  offenbaren  liebt.  Dem  allen 
entsprach  die  Spiel-  und  Klangart  der  englischen  Flügel,  deren  er 


*  Vergl.  des  Verf.  Schrift:  »Die  alte  Musiklehre  im  Streit  mit  unsrer 
Zeit«,  S.  40,  66  u.  a. 

**  Auch  von  ihm  seien  das  Fmoll-Quatuor,  das  Oktett,  Variationen  u.  A. 
empfohlen. 

*♦*  Th.  I,  S.  55. 


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Zu  Dussek's  Karakteristik 


589 


sich  bediente,  wie  auch  umgekehrt  die  verführerische  Saftigkeit 
dieser  Instrumente  auf  die  Geistesrichtung  des  Komponisten  gewiss 
nicht  ohne  Rückwirkung  geblieben  ist.*  —  Ein  edler  Sinn,  ein 
weiches  und  dabei  grossartigen  Aufschwungs  fähiges  Gemüth  hat 
hier  die  ihm  zusagende  Ausdrucksweise  gefunden ;  dies  ist  es,  was 
wir  an  Dussek  zu  lieben  und  zu  studiren  haben. 

Allein  das  aufrichtige  Studium  wird  weder  durch  Verehrung 
oder  gar  Autorität,  noch  durch  Liebe  oder  Vorliebe  von  dem  ernst- 
lichen Dringen  auf  volle  Erkenn tniss  der  Wahrheit  zurückgehalten. 
Und  so  darf  uns  denn  auch  die  mangelhafte  Seite  des  trefflichen 
Tonsetzers  nicht  verborgen  bleiben;  wir  müssen  von  ihm  aus- 
sprechen: die  Vertiefung  in  sein  Organ,  und  zwar  jene  Weise 
seiner  Verwendung,  die  wir  oben  bezeichnet  haben,  ist  ihm  so  vor- 
herrschend geworden,  hat  ihn  so  ganz  hingenommen,  dass  zumal  in 
seinen  liebsten  und  inhaltvollsten  Werken  gar  nicht  mehr  aus  ihr 
herauszukommen  ist,  dass  in  dieser  ununterbrochen  Fülle  der 
Harmonien  und  Gänge  das  frische  Leben  untergeht  und  erstickt,  wie 
einst  jener  englische  Herzog  im  Malvasierfasse.  Gänge  und  Sätze 
verschwimmen  in  einander,  weil  über  alle  Gränzpunkte  hinweg  die 
ewig  vollgefüllte  Spielweise  Alles  unter  derselben  Form  und  Farbe 
erscheinen  lässt;  der  Rhythmus  verliert  seine  Federkraft,  die  stete 
Folge  breit  ausgelegter  Massen  und  Sätze  verbreitet  über  das  Ganze, 
während  man  fast  jeden  einzelnen  Zug  als  edel  und  grossartig  ge- 
lungen lieben  und  preisen  darf,  oft  ermüdende  Langweile. 

Aus  einem  andern  Gesichtspunkte  (S.  456)  könnte  man  aus- 
sprechen: es  walte  in  Dussek  durchweg  die  Tendenz  des  lang- 
samen Tempo  vor.  Daher  sind  seine  Adagio's  zum  grossen  Theil 
ganz  vorzüglich  ansprechend ,  seine  Allegro's  ungeachtet  langhin 
gestreckter  Gänge  und  Sätze  durch  stete  Spielfülle  und  Ausführlich- 
keit im  Einzelnen  zu  unbewegsam,  um  ihre  Bestimmung  ganz  zu 
erfüllen  und  den  Adagio's  zum  rechten  Gegensatze  zu  dienen. 

Hätte  Dussek  sich  vielfältig  in  den  Formen  des  Orchester- 
und  Vokalsatzes  bewegt  und  ausgebildet,  so  würde  ihm  jene  Ein- 


*  Derselbe  Einfluss  des  Instruments  auf  die  Weise  des  Tonsatzes  lässt 
sich,  wenn  auch  mit  theil  weis  abweichenden  Resultaten,  an  Field,  an  Louis- 
Ferdinand  u.  A.  im  Gegensatze  zu  den  Spielern  der  Wiener  Schule  und 
Instrumentweise,  einem  Hummel,  Moscheies  u.  A.,  beobachten.  Der  ge- 
sättigtere, in  sich  selbst  begnügtere  Klang  der  englischen  und  der  nach  ihrer 
Weise  gebauten  Instrumente,  die  breitere  Tastenlage,  der  tiefere  Fall  und 
schwerere  Anschlag  der  Tasten,  der  längere  und  vollere  Nachklang  müssen 
auf  die  Technik,  dann  auf  die  Vortrags-  und  Sinnesweise  des  Spielers  endlich 
jenen  Einfluss  üben,  den  wir  an  Dussek  gewahr  zu  werden  meinen  ;  nur  ein 
sehr  entschiedner  Künstlerkarakter  vermöchte  sich  ihm  zu  entziehen. 


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590 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


seitigkeit  wobl  fern  geblieben ,  oder  gewiss  ihre  Ueberwindung 
leichter  geworden  sein.*  Und  so  wird  er  durch  seine  Vorzüge 
wie  durch  seine  Mängel  als  Gegenstand  unsrer  Verehrung  und 
Ueberlegung  bezeichnet. 

HL 

Periodenform  für  den  Hauptsatz  im  langsamen  Rondo. 

Zu  Seite  162. 

Es  kommt,  wie  jedermann  voraussieht,  zu  viel  auf  die  Bildung 
der  einzelnen  Sätze  und  auf  die  Tendenz  der  einzelnen  Kompo- 
sitionen an,  als  dass  sich  hier  ein  bestimmterer  Ausspruch  thun 
Hesse.  Der  abweichenden  Falle  giebt  es  auf  beiden  Seiten  genug; 
nur  wird  es  dann  auch  nicht  zu  schwer  sein,  die  Gründe,  die  zur 
Abweichung  berechtigten,  oder  die  nachtheilige  Wirkung  einer  un- 
berechtigten Abweichung  zu  erkennen.  Ein  Paar  Fälle  gehen  wir 
hier  noch  kurz  durch. 

Beethoven  bildet  das  As dur- Adagio  seiner  Sonate  pathetique 
nach  der  dritten  Rondoform  und  —  sein  Hauptsatz  ist  eine  einfache 
Periode,  aus  Vorder-  und  Nachsatz  bestehend,  ohne  Anhang.  Zwar 
hat  der  Vordersatz  statt  des  Halbschlusses  eine  förmliche  Aus- 
weichung in  die  Dominante ,  mithin  den  Schluss,  der  eigentlich 
einem  ersten  Theil  gebührt;  allein  dem  ungeachtet  ist  die  Form  des 
Vordersatzes  so  unzweideutig,  die  Ausweichung  so  vorü hergehend, 
dass  auf  jene  Andeutung  einer  Zweitheiligkeit  wenig  Gewicht  gelegt 
werden  kann. 

Allein  dieser  bloss  periodische  Hauplsatz  legt  sich  durch  den 
grandiosen  Zug  seiner  Melodie,  durch  die  Breite  und  den  ununter- 
brochen Fluss  der  Begleitung  (a)  — 


I 

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159  j 

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*  Vergl.  Th.  II,  S.  8. 


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Periodenform  für  deii  Hauptsatz  im  langsamen  Rondo.  591 

in  solcher  Fülle  aus,  dass  schon  hiernach  eine  grössere  Ausdehnung 
zu  unsrer  Befriedigung  nicht  nöthig  erschien.  Nun  aber,  damit  er 
sich  tief  einpräge,  wird  er,  und  zwar  in  unabgebrochnem  Zu- 
sammenhang mit  der  ersten  Aufstellung  und  in  noch  breiterer  Aus- 
lage der  Begleitung  (6)  vollständig  wiederholt,  so  dass  nun  doch 
eine  Masse  von  Zweimal  acht  Takten,  zwei  periodische  Ausführun- 
gen, wenn  auch  nicht  verschiednen  Inhalts,  vor  uns  stehn. 

Hiermit  ist  denn  das  Satzelement  (S.  456)  vornehmlich  aus- 
geprägt und  herrscht  durch  die  ganze  Komposition.  Ohne  Zwischen- 
gang tritt  gleich  nach  dem  Schlüsse  des  Hauptsatzes  der  erste 
Seitensatz  auf.  Er  hat  blosse  Satzform,  auch  seine  Modulation  ist 
keine  fest  abschliessende;  nachdem  der  Satz  in  Fmoll  aufgetreten 
und  sich  da  festgesetzt,  geht  er  nach  Es  dur  und  macht  hier  seinen 
vollkommnen  Schluss.  Nun  wird,  um  diese  Tonart  als  die  eigent- 
lich herrschende  zu  bezeichnen,  ein  Schlusssatz  — 


angehängt,  aus  dessen  Wiederholung  ein  kleiner  Gang  gebildet  und 
der  Hauptsalz  kehrt  ohne  Wiederholung  wieder. 

In  ähnlicher  Weise  bildet  sich  der  zweite  Seitensatz.  Sein 
Vordersatz  steht  und  schliesst  in  As  moll,  der  Nachsatz  wendet 
sich  nach  Edur;  mit  Abschnitten  aus  ihm  wird  in  den  Hauptton 
zurückgegangen,  der  Hauptsatz  mit  Wiederholung  wiedergebracht 
und  mit  einem  Anhange,  gesangvoll  und  ruhig  wie  das  Ganze, 
geschlossen. 

Aehnliche  Bewandtniss  hat  es  mit  dem  Adagio  aus  Mozarts 
grosser  Cmoll-Sonate.*  Vor  der  nähern  Untersuchung  ist  jedoch 
einer  Eigentümlichkeit  zu  gedenken,  die  sich  in  vielen,  besonders 
Klavierkompositionen  des  Meisters  erkennen  lässt. 

Mozart  war  so  reich  musikalisch-begabt,  so  gleichsam  unter- 
getaucht im  Musikelemente,  dass  jeder  Augenblick  seines  Lebens 
sich  fast  unbewusst  zu  einem  musikalischen  Ausdruck  gestaltete. 
Dieser  Reichthum  musikalischer  Erzeugung  ist  längst  allgemein  be- 
wundert worden  und  kann  nur  dann  ganz  geschätzt  werden,  wenn 
man  die  Mozart' sehen  Kompositionen  mit  denen  der  nächsten 
Vorgänger  und  Zeitgenossen  vergleicht**;   denn  Vieles  ist  uns 


*  Fantasie  und  Sonate  aus  Cmoll,  Heft  6  der  Breitkopf  -  Härtel'schen 
Ausgabe  (No.  4  7  der  Einzelausgabe). 

**  Auch  Haydn  (und  sogar  dem  schwachem  Pleyel)  war  eine  solche 
Fülle  der  Tonerfindung  beschieden ;  doch  hielt  bei  jenem  das  humoristische  Spiel 
das  er  oft  bis  zum  Neckischen  und  Eigensinnigen  trieb,  den  Erguss  zusammen. 


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592         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

durch  ihn  und  seine  Nachfolger  so  geläufig  worden,  dass  wir  ver- 
gessen, es  ihm  als  Erfindung  anzurechnen. 

Mit  diesem  unerschöpflichen  rein-musikalischen  Bildungstriebe 
geht  aber  durch  einen  Theil  seiner  Kompositionen,  besonders  derer 
für  das  Klavier,  ein  zweiter  Karakterzug,  ein  vorwärts  treibendes 
Verlangen,  gleichsam  das  Gefühl  von  der  Eile  des  Lebens,  das  ihm 
oft  nicht  Ruhe  gönnt,  sich  in  einen  bestimmten  Satz  zu  versenken, 
bei  ihm  ausschliesslich  zu  weilen  und  ihm  damit  jene  Tiefe  und 
abgeschlossene  Einheit  zu  verleihen,  die  uns  an  den  Sätzen  eines 
Beethoven  und  Bach  fesselt  und  unwiderstehlich  in  die  Stimmung 
und  Vorstellung  des  Tondichters  hineinzieht.  Mozart  selbst  klagt, 
dass  ihm  die  Hast  seines  Lebens  nicht  vergönne,  mit  der  Müsse 
und  vollkommnen  Hingebung  zu  arbeiten,  die  allein  ihn  zufrieden- 
stellen könnte;  allein  es  war  wohl  nicht  allein  die  äusserlich 
unbegtinstigte  Lage,  die  ihn  fortzog  und  trieb,  sondern  die  Eigen- 
tümlichkeit seines  Naturells  und  die  ihm  gewordne  Aufgabe  in 
der  Entwickelung  der  Kunst,  wie  an  einem  andern  Orte  näher  zu 
erörtern  sein  wird. 

Eine  Aeusserung  dieser  zweiseitigen  Eigentümlichkeit  ist  nun 
die:  dass  Mozart  sich  gar  häufig  in  kleinen  Sätzchen  weiter  be- 
wegt, ohne  festern  Zusammenhang,  als  den  aus  der  allgemeinen 
Stimmung  hervorgehenden.  Dies  giebt  seinen  Kompositionen  jenen 
Reiz  des  ewig  Wechselnden,  Neuen,  beweglich  weiter  Verlangen- 
den, —  zum  Ersatz  für  das  tiefer  Eindringende,  bestimmter  in 
unser  Gemüth  Greifende,  das  den  Instrumentalkompositionen  Beet - 
hoven's  eigen  ist.  Dass  aber  dieser  häufigere  Wechsel  nicht  zur 
Zerstreuung  und  Störung  der  Einheit  gereiche,  dafür  sorgt  nächst 
der  Stimmung,  die  sich  in  jeder  Arbeit  aus  Einem  Guss  sicherer 
erhält,  die  feste  Form  und  Anordnung  der  grössern  Partien.  Von 
alle  dem  wird  bei  spätem  Formen  noch  manches  Beispiel  mitzu- 
teilen sein. 

Jenes  Adagio  nun  beginnt  mit  einem  aus  zwei  Abschnitten 
gebildeten  Satze,  — 


fetef  £3=£  — * 

 i  

sotto  voce        '           ^  f« 

n\  ejlf  t& 

*= 

orte 

a 

= 

F  

i — — 

der  durch  einen  andern,  ganz  abweichend  gebildeten  (nur  dass  er 
sich  auch  in  Sechzehnteln  bewegt)  in  der  Weise  eines  Vorder- 
satzes geschlossen  wird.    Dann  kehrt  der  Kernsatz  No.  */|M  wie- 


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Eine  ältere  Sonatenform 


593 


der  und  es  erfolgt,  mit  ganz  neuen  Motiven,  ein  Zusatz ,  der  das 
Ganze  vollkommen  im  Hauptton  abschliesst.  Unmittelbar  danach 
tritt  der  erste  Seitensatz  ein. 

Hier  besteht  also  der  Hauptsatz  aus  einer  einzigen  perioden- 
artigen Bildung  und  wird  nicht  einmal,  wie  der  oben  angeführte 
Beethoven'sche,  wiederholt.  Demungeachtet  kann  er  genügen, 
weil  erstens  der  Kern  sich  vollständig  wiederholt  und  zweitens  der 
Inhalt  durch  die  beiden  schliessenden  Abschnitte  ein  in  der  That 
satzreicher  geworden  ist ;  wir  haben,  No.  3/i59  fur  Eins  gerechnet, 
drei  —  und  mit  der  Wiederholung  des  Kerns  vier  Sätze.  In  ähn- 
licher Weise  gestalten  sich  die  Seitensätze  und  aller  sonstige  Inhalt. 

Andre  Abweichungen  werden  wir  bei  den  spätem  Rondoformen 
noch  finden. 


I. 

Eine  ältere  Sonatenform. 
Zu  Seite  251. 

Keine  Kunstform  giebt  ein  so  anschauliches  Bild  von  dem  Fort- 
bestehn  der  Grundgesetze  bei  freiester  Entwickelung  der  einzelnen 
Gestalten,  als  die  beweglichste  und  mannigfachste  aller  Formen,  die 
Sonatenform.  Die  vierte  und  fünfte  Abtheilung  und  mancher  spätere 
Abschnitt  der  Lehre  bieten  hierzu,  wenn  auch  nicht  vollständige, 
doch  genügsame  Beläge ;  reichere  würde  die  Darlegung  der  ge- 
schichtlichen Entwickelung  dieser  Form  liefern,  die  jedoch  ausser 
dem  Kreise  der  Kompositionslehre  liegt.  Nur  eine  einzige  Wendung 
heben  wir  aus  der  Fülle  von  Gestaltungen  heraus,  die  früher  be- 
liebt, ja  fast  nothwendig  erschienen,  jetzt  gar  nicht  oder  nur  als 
seltene  Ausnahme  anzutreffen  sind.  Hier  könnte  man  nun  auf  das 
alte  Vorurtheil  zurückkommen,  dass  die  Kunstformen  auf  Her- 
kommen (Th.  II,  S.  7)  beruhten  und  deshalb,  —  hier  theilen 
sich  die  Ansichten,  —  unverbrüchlich  festzuhalten,  oder  geradehin 
nicht  zu  beachten  seien.  Aber  eben  hier  wird  eine  tiefer  dringende 
Anschauung  uns  überzeugen,  dass  nie  und  nirgend  todtes  Herkom- 
men, sondern  stets  nur  die  Vernunft  der  Sache  Bestimmungsgrund 
für  die  Form  hat  sein  können  und  dass  diese  sich  nur  mit  den  zu 
verschiednen  Zeiten  waltenden  Vernunftgründen  hat  ändern  oder 
weiter  ausbilden  können. 

In  unsrer  Sonatenform  weisen  sich  im  ersten  Theile  zwei  scharf 
von  einander  geschiedne  Partien,  die  des  Haupt-  und  des  Seiten- 
Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  38 


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594         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

satzes.  Wie  mannigfaltig  jede  derselben  komponirt  sein  mag,  so 
trennen  sie  sich  doch  mit  Hülfe  der  Modulation  und  des  Inhalts 
ganz  unzweideutig.  Was  im  Haupttone  steht  und  von  diesem  aus- 
geht, gleichviel  ob  es  ein  Satz  ist  oder  mehrere,  mit  einem  oder 
mehr  Gängen,  das  bildet  die  Hauptpartie.  Mit  der  Tonart  der  Do- 
minante oder  Parallele  (oder  auch  einer  statt  ihrer  gewählten  frem- 
dern) tritt  die  Partie  des  Seitensatzes  ein,  die  schon  durch  den 
Abschluss  der  Hauptpartie  in  der  Sonatine  (S.  205),  oder  durch  die 
entscheidende  Modulation  in  der  Sonatenform  (S.  223),  noch  mehr 
aber  durch  ihren  ganz  neuen  Inhalt  von  dem  Vorangehenden  durch- 
aus geschieden  ist. 

Anders  finden  wir  es  oft  in  ältern  Sonaten,  namentlich  noch 
bei  Haydn,  der  nach  C.  P.  E.  Bach  so  viel  für  die  Fortbildung 
der  Sonatenform  gelhan  hat. 

Hier  wird  nämlich  die  Partie  des  Hauptsatzes  fest  abgeschlossen 
und  dann  —  in  der  Tonart  des  Seitensatzes  nochmals  an  den  Haupt- 
satz erinnert,  ehe  der  Seitensatz  eintritt. 

Als  erstes  Beispiel  diene  die  geistreiche,  in  übermüthiger 
Laune  aufsprühende  Sonate  aus  Es,  die  erste  im  ersten  Hefte  der 
gesammelten  Werke*.   Der  Kern  des  Hauptsatzes  — 


wird  mit  neuen,  mehr  gangartig  benutzten  Motiven  bis  zur  Einlei- 
tung eines  Ganzschlusses  fortgeführt,  worauf  er  im  folgenden  (neun- 
ten) Takte  wiederkehrt  — 


mit  einer  neuen  Fortführung,  die  uns,  ganz  im  Einklang  mit  un- 
serm  Modulationsgesetz  über  die  Dominante  der  Dominante  (Fdur, 
—  im  dreizehnten  Takte)  nach  der  letztern  bringt.  Allein  hier  (in 
Ädur,  im  siebzehnten  Takte)  kehrt  der  Kern  des  Hauptsatzes  wie- 
der und  wird  in  abermals  neuer  Weise  (obwohl  der  vorherigen 
ähnlich  anknüpfend)  fortgeführt,  — 


♦  In  der  Breitkopf-Härtel'schen  Ausgabe  (No.  4  der  Einzelausgabe). 


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Eine  ältere  Sonatenform 


595 


3  9  0. 


bis  nach  einem  vollkommnen,  selbst  durch  die  vorangeschickte  Unter- 
dominante (J?sdur,  der  Hauptton,  jetzt  zudem  herrschenden  ßdur 
Unterdominante)  bestärkten  Schluss  in  Bdur  in  derselben  Tonart, 
im  siebenundzwanzigsten  Takte,  der  wirkliche  Seitensatz  folgt. 
Dieser  ist  vom  Hauptsatze  seinem  gesammten  Inhalte  nach  durchaus 
geschieden,  führt  aber  dennoch,  schon  nach  sechs  Takten,  wieder 
auf  denselben  zurück,  — 


dann  erst  wird  zum  Schlusssatz  und  Ende  des  ersten  Theils  ge- 
gangen. 

Vom  zweiten  Theil  ist  nur  so  viel  hier  zu  bemerken ,  dass  der 
Seitensatz,  den  wir  im  ersten  Theii  gewissermassen  gegen  den 
Hauptsatz  zurückgesetzt  sehen  mussten,  hier  zweimal,  und  das 
zweite  Mal  überaus  geistvoll  eingeführt  wird,  während  der  Kern 
des  Hauptsatzes  keine  Stelle  findet  und  erst  mit  dem  dritten  Theil 
wiederkehrt,  hier  aber  sich  eben  so  geltend  macht,  wie  im  ersten. 

Was  spricht  sich  nun  in  dieser  besondern  Gestaltung,  im  Ver- 
gleich zu  der  neuern  Sonatenform  aus? 

Ein  vorzugsweises  Festhalten  am  Hauptsatz  als  demjenigen 
Gedanken,  der,  wie  Anfang  und  Ursprung,  so  auch  Halt-  und 
Mittelpunkt  der  ganzen  Komposition  sein  sollte.  Dieses  Gewicht 
ist  ihm  nicht  um  seinetwillen  beigelegt  worden ;  denn  er  ist 
nicht  besonders  wichtig,  auch  nicht  schwieriger  zu  fassen  (eher  das 
Gegentheil)  als  der  Seitensatz.  Er  ist  auch  nicht  dem  Komponisten 
vorzugsweis  vor  den  andern  Sätzen  lieb;  denn  er  wird  nach  kurzem 
Abbruch  jedesmal  in  andrer  und  sehr  loser  Weise  zu  Ende  geführt, 
während  der  Seitensatz  im  zweiten  Theile  mit  Gewicht  und  kon- 
sequenter Fortführung  wieder  erscheint.  Nur  um  der  festern 
Einheit  und  Hallung  desGanzen  willen  ist  dieses  Zurück- 
gehn auf  den  Hauptsatz  in  dem  dem  Seitensatz  gehörigen  Umkreise 
geschehn.  Haydn,  der  der  Periode  des  vorherrschenden  Fugen- 
satzes um  ein  halbes  Jahrhundert  näher  stand  und  der  —  was  viel- 
leicht, wenn  auch  unbewusst,  doch  noch  entscheidender  mitwirkte 
—  in  seiner  Zeit  noch  lange  nicht  jene  Geläufigkeit  und  Vertraut- 
heit der  Musiksprache  vorfand,  die  erst  durch  ihn  und  Mozart 


38* 


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596         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

und  die  andern  Zeitgenossen  und  Nachfolgenden  bis  auf  uns  sich 
jetzt  allenthalben  fühlbar  macht:  Haydn  musste  sich  zu  einer  Für- 
sorge für  die  Haltung  und  Fassbarkeit  seiner  Kompositionen  bewogen 
finden,  die  unsrer  Zeit  in  gleichem  Grade  keineswegs  nothwendig, 
die  jetzt  überflüssig,  lästig,  hemmend  erscheinen  müsste. 

Erheben  wir  uns  Über  die  kleinen  Unterschiede  der  Personen 
und  Jahrzehnte,  betrachten  wir  die  Kunst  als  ein  einiges,  in  Allen 
fortlebendes  Ganzes,  so  dürfen  wir  sagen :  die  Musik  ist  zu  festerm 
Bewusstsein  ihres  Inhalts,  zu  grösserer  Sicherheit  und  Gewissheit 
ihres  Gestaltens  gelangt  und  hat  damit  das  Recht  und  die  Pflicht 
eines  entschiednern,  ungehemmtem  Einhergangs  erworben.  Sie  bildet 
in  einem  Beethoven  den  Hauptsatz  der  Sonate  mit  voller  Ent- 
schiedenheit und  zu  hoher  Befriedigung  aus,  um  dann  mit  gleicher 
Entschiedenheit  ihn  ganz  verlassen  und  zum  Seitensatz  Übergehn 
zu  können,  der  nun  erst  Freiheit  gewonnen  hat,  sich  ebenfalls  in 
aller  Fülle  und  Ungestörtheit  zu  entfalten ;  dies  konnte  und  durfte 
geschehn,  nachdem  die  sorglichere  Zusammenfassung  um  einen  einigen 
Kernsatz  herum  in  Haydn  erst  die  schnellere  und  sicherere  Ver- 
standniss  im  Schaffenden  und  Empfangenden  erzogen  hatte. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus,  der  bei  verschiednen  Zeitab- 
schnitten, z.  B.  dem  von  Haydn  und  dem  von  Beethoven  ver- 
tretnen,  die  Einheit  der  Grundform  und  die  Berechtigung  der  Ab- 
weichungen oder  Fortbildungen  in  Einem  Blicke  zusammenfassen 
lasst:  kann  auch  der  Missverstand  beurtheilt  und  Uberwunden  wer- 
den, den  die  nicht  fortschreitenden  Anhänger  einer  frühern  Periode 
gegen  den  fortschreitenden  Künstler  erheben ,  als  sei  derselbe  der 
Form  untreu,  formlos,  exzentrisch,  phantastisch  u.  s.  w.  geworden ; 
Vorwürfe,  die  so  oft,  und  noch  in  neuester  Zeit  gegen  Beethoven 
gehört  worden  sind.  Vielmehr  ist  auch  auf  den  Künstler,  in  dem 
sich  ein  Fortschritt  der  Kunst  verwirklicht,  jenes  ewige  Wort  des 
wahren  Fortschritts  anzuwenden:  »Ich  bin  nicht  gekommen, 
das  Gesetz  aufzuheben,  sondern  zu  erfüllen«. 

In  der  richtigen  Erkenntniss  dieses  Wortes  ist  die  wahre  Frei- 
heit, die  gleichmässige  Sicherung  gegen  Erstarrung  und  Halbings— 
losigkeit,  zu  gewinnen.  Schon  die  frühem  Abschnitte  unsrer  Lehre 
haben  auf  dieses  Grundthema  jeder  wahren  Kunstlehre,  auf  diese 
Freiheit,  die  nichts  Andres  ist,  als  das  Wirken  in  der  Ver- 
nunft der  Sache,  die  Lebensbedingung  für  den  Künst- 
ler, stets  hingewiesen.  — 

Der  obige  Fall  ist  insofern  eins  der  entschiedensten  Beispiele 
für  die  ältere  Form  und  ihre  Veraünftigkeit ,  weil  der  Beschluss, 
die  Partie  des  Seitensatzes  mit  dem  Kern  des  Hauptsatzes  einzu- 
leiten, auf  die  ganze  fernere  Entwickelung  fortgewirkt  hat.  Es 
erscheint  nun,  wie  gesagt,  jener  Kern  nochmals  als  Schluss  des 


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Eine  ältere  Sonatenfo7*m. 


597 


Seitensatzes  und  dieser  erholt  sich  von  seiner  Beeinträchtigung 
(Th.  II,  S.  403)  im  zweiten  Theil,  wo  er  allein  und  bedeutend  zur 
Wirksamkeit  kommt. 

Ein  zweiter  Fall  zeigt  in  der  Hauptsache  dasselbe  und  den- 
noch andre  Verhaltnisse;  wir  heben  ihn  aus  der  andern  Sonate  in 
Es,  der  dritten  in  jenem  Haydn 'sehen  Hefte  (No.  3  der  Einzel- 
ausgabe), heraus. 

Hier  wird  der  Hauptsatz  — 


weit  einheitvoller  zu  einer  Periode  mit  Anhang  (den  wir  hier  weg- 
lassen) ausgebildet.  Nach  vollkommnem  Abschlüsse  wird  aus  einem 
neuen  Motiv  ein  Gang  gebildet,  der  ganz  normal  über  Fdur  nach 
Bdur  führt.  Hier  im  Gebiete  des  Seitensatzes,  wird  nun  wieder 
mit  dem  Hauptsatz  angeknüpft,  — 

und  dann  erst  folgt  der  Seitensatz  (zwei  verschiedne  Themate  ent- 
haltend) mit  Gang  und  Schlusssatz,  ohne  weitere  Erinnerung  an 
den  Hauptsatz.  Da  dieser  schon  in  der  ersten  Aufstellung  befrie- 
digend ausgebildet  war,  bedurfte  es  keiner  nochmaligen  Anführung. 
Dafür  konnte  er  nun  nebst  dem  Seitensatze  (beiden  Thematen  des- 
selben) im  zweiten  Theile  geltend  gemacht  werden.  Dies  geschieht 
zu  Anfang  desselben  (nach  einem  freien  Einleitungssatz)  und  Über 
dem  Orgelpunkte ;  so  dass  auch  hier  der  Hauptsatz  Überall  als  An- 
halt der  Romposition  hervortritt. 

Auf  eine  vollständigere  geschichtliche  Entwickelung  muss,  wie 
gesagt,  hier  verzichtet  werden.  Doch  wird  die  Betrachtung  dieser 
einen  Erscheinung  dem  nachdenkenden  Jünger  hoffentlich  über  die 
Bedeutung  ähnlicher  Licht  geben. 


— 


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598 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


K. 

Noch  einmal  Grundform  und  Abweichung. 

Zu  Seite  285. 

Wir  können  diesen  anziehenden  Fall  nicht  verlassen,  ohne  auf 
einige  Betrachtungen  zurückzukommen,  die  uns  zwar  nicht  neu 
sind,  bei  jeder  Rückkehr  aber  an  Wichtigkeit  gewinnen. 

4. 

Wir  haben  in  der  Reihe  der  bisher  und  weiterhin  betrachteten 
Fälle,  —  ebenso  wie  früher  bei  der  Fuge,  Th.  II,  S.  386,  —  neben 
einer  Alles  durchdringenden  und  zusammenfassenden  Grundform 
eine  fast  eben  so  grosse  Reihe  von  Abweichungen,  in  denen  sich 
ein  Werk  von  dem  andern  unterscheidet,  zu  beobachten  gehabt. 
Hier  wie  in  jener  merkwürdigen  Form  (beide  sind  Gipfel  eines 
ganzen  Formgebiets,  die  Fuge  von  den  Figural-  und  kano- 
nischen Formen,  —  die  Sonate  von  den  Lied-  und  Rondoformen) 
wurde  weder  die  Grundform  durch  die  Abweichungen  aufgehoben, 
noch  diese  durch  jene  als  Verirrungen  bezeichnet ;  beide  waren  nur 
der  Ausdruck  vom  Wesen  der  Sache,  —  Inhalt  und  Form  untrenn- 
bar Eins,  —  beide  beruhten  auf  der  künstlerisch-schaffenden  Ver- 
nunft, die  in  der  Grundform  das  Allgemein-Wrahre  Über  die  ganze 
Reihe  hierher  gehöriger  Bildungen,  in  der  Abweichung  das  konkrete 
Wahre  von  diesem  einen  besondern  Fall  aussprach. 

Wir  wollen  stets  eingedenk  sein,  dass  erst  in  solcher  Weise  der 
Begriff  der  Form  in  seiner  Wahrheit  erfasst  wird.  Die  Form  ist  für 
den  wahren  Künstler  nicht  eine  hergebrachte,  grundlose  und  darum 
beengende  und  alle  Eigentümlichkeit  in  ein  ödes  Einerlei  zwängende 
Schranke;  wo  sie  in  solchem  Sinn  ertragen  wird,  stirbt  unter  ihrem 
Joch  Kunstwerk  und  Künstler,  wie  an  Tausenden  von  Beispielen 
nachgewiesen  werden  könnte.  Auf  der  andern  Seite  ist  die  Abwei- 
chung von  ihr  nur  in  den  besondern  Verhältnissen  des  einzelnen 
Kunstwerkes  begründet,  oder  —  sie  ist  Verirrung. 

Je  eigenthümlicher  nun  eine  solche  Abweichung,  die  man  ir- 
gendwo vorgefunden  oder  willkürlich  ersonnen  :  desto  irrthümlicher 
und  störender  ist  ihre  Nachahmung,  ihre  Zulassung  da,  wo  'die  sie 
begründenden  Verhältnisse  nicht  statthaben.  Wenn  Beethoven 
in  seiner  G-Sonate  den  Seitensatz  in  tfdur,  in  seiner  Ä-Sonate 
(S.  288)  denselben  in  Gdur  aufstellt  und  was  dergleichen  mehr:  so 
haben  wir  die  vernünftigen  Gründe  dafür  in  dem  eigentümlichen 


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Noch  einmal  Grundform  und  Abweichung. 


599 


Wesen  dieser  besondern  Werke  zu  erkennen  gehabt.  Wenn  wir 
aber  diesen  Abweichungen  auch  anderswo  ohne  die  rechtfertigenden 
Gründe  Zulass  geben  wollten,  —  etwa  um  originell  oder  neu  zu 
erscheinen,  —  so  würden  wir  so  gewiss  von  der  Wahrheit,  vom 
Rechten  und  allein  Wirksamen  abweichen,  als  Beethoven  abge- 
wichen wäre,  hätte  er  an  der  allgemeinen,  hier  aber  nicht  mehr  zu 
rechtfertigenden  Form  haften  wollen.  Beide  Verirrungen  sind  nur 
derselbe  Fehler :  Mangel  an  innerlicher  Wahrhaftigkeit  und  Treue. 

2. 

Dass  nun  der  Künstler  auch  bei  solchen  Abweichungen  nicht  um- 
ständlich und  bewusst-ausrechnend  zu  Werke  geht,  wie  wir 
für  das  Studium  ihm  nachrechnend  gefolgt  sind,  dass  er  das  Rechte 
vielmehr  durch  augenblickliche  Anschauung  im  Segen  schöpferischer 
Stunden  ergreift:  ist  gewiss.  Allein  diese  Anschauung,  diese  Be- 
geisterung ist  nichtsdestoweniger  nur  eine  Aeusserungsweise  der 
künstlerisch  ausgebildeten  Vernunft.  Die  Arbeit  des  Denkens  ist 
bildend  vorausgegangen  und  jede  scheinbar  aus  unmittelbarer  Ein- 
gebung hervorspringende  Schöpfung  ist  nur  ihre  Blüte,  bei  der  gar  leicht 
die  Arbeit  und  der  Zusammenhang  beider  vergessen  wird.  Daher  kann 
es  oft  der  Fall  sein,  dass  der  schaffende  Künstler  sich  selber  der 
Gründe  und  Wege,  die  ihn  zum  Resultat  geführt  haben,  nicht  bewusst 
ist,  oder  erst  später  bewusst  wird ;  demungeachtet  sind  jene  vorhanden 
gewesen,  und  dieselbe  Gedankenreihe  in  der  wir  sein  Werk  be- 
greifen, muss  —  vorausgesetzt,  dass  wir  es  wahrhaft  begriffen  — 
sein  Geist  irgendwann  und  irgendwie  durchlaufen  haben. 

Hierzu  finden  sich  in  der  That  in  den  Ueberschriften,  Bezeich- 
nungen, Vorreden,  mündlichen  und  brieflichen  Aeusserungen  der 
grössten  Künstler  so  viel  Beläge,  dass  man  kein  Recht  hat,  die  Ge- 
dankenarbeit im  Künstler  zu  bezweifeln,  oder  das  Streben,  ihn  ge- 
dankenmässig  zu  begreifen,  als  ein  dem  Wesen  der  Kunst  fremdes  und 
feindliches  zu  scheuen  oder  nichtig  zu  meinen.  Es  ist  vielmehr  der 
einzige  Weg,  sich  am  Kunstwerke  zu  bilden.  —  Statt  vieler  Beläge 
stehe  hier  ein  einziger  kleiner  aus  einem  Briefe  Mozart' s  vom  26. 
September  1781,  in  dem  er  seinem  Vater  die  Beweggründe  mittheilt, 
die  ihn  da  und  dort  bei  der  Komposition  von  Belmonte  und  Konstanze 
geleitet  haben.  Bisweilen  sind  diese  Gründe  zufällig  und  äusserlich 
eingreifende,  wenn  auch  keineswegs  unkünstlerische ;  z.  B.  wenn  er 
bei  der  Osmin-Arie  an  den  Sänger  (Fischer)  denkt  und  dessen  »schöne 
tiefe  Töne  schimmern  lassen«  will.  Oft  treffen  sie  aber  unmittelbar 
das  Wesen  der  Sache,  mag  auch  der  formell-logisch  nicht  sehr  geübte 
Tondichter  sich  weniger  schulgerecht  aussprechen.  So  heisst  es 
von  derselben  Arie  zuletzt:  »Das:  drum  beim  Barte  des  Propheten 
—  ist  zwar  im  nämlichen  Tempo,  aber  mit  geschwinden  Noten, 


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600        Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

und  da  sein  Zorn  immer  wächst,  so  muss,  da  man  glaubt,  die  Aria 
sei  schon  zu  Ende,  das  Allegro  assai  ganz  in  einem  andern  Zeit- 
maass  und  andern  Ton  eben  den  besten  Effekt  machen ;  denn  ein 
Mensch,  der  sich  in  einem  so  heftigen  Zorne  befindet,  überschreitet 
ja  alle  Ordnung,  Maass  und  Ziel,  er  kennt  sich  nicht,  —  und  so 
muss  sich  auch  die  Musik  nicht  mehr  kennen.  Weil  aber  die  Leiden« 
Schäften,  heftig  oder  nicht,  niemals  bis  zum  Ekel  ausgedrückt  sein 
müssen,  und  die  Musik  auch  in  der  schaudervollsten  Lage  das  Ohr 
niemals  beleidigen,  sondern  doch  dabei  vergnügen,  folglich  allezeit 
Musik  bleiben  muss :  so  habe  ich  keinen  fremden  Ton  zum  F. 
sondern  einen  befreundeten,  aber  nicht  den  nächsten  (D minore), 
sondern  den  weitern  (A  minore)  dazu  gewählt.« 

Da  die  Arie  in  Fdur  steht,  so  war  der  nächste  Ton  Cdur; 
dieser  war  aber  zu  befreundet  und  als  Dur  zu  heiter ;  folglich  ging 
Mozart,  ähnlich  wie  wir  oben  bei  Beethoven  gefunden,  in  die 
Mollparaliele  des  Tons,  der  sich  ihm  als  nächstverwandter  zuerst 
darbot.  Oder  hat  er  (wie  es  scheint)  zuerst  die  Nothwendigkeit 
des  Moll  gefühlt,  so  kam  er  nach  seiner  Beschreibung  zu  demselben 
Resultat. 

Nachdenken,  Durchdenken  fremder  Werke  (nachdem  wir  sie 
durchgefühlt)  wird  stets  das  unentbehrliche  und  unersetzliche  Mittel 
bleiben,  unserm  Geist  für  die  schöpferische  Stunde  den  rechten  Weg 
zu  öffnen,  unserm  Earakter  die  Sicherheit  —  und  das  Recht  freier 
Wahl  und  Bewegung  zu  erwerben. 


Ii. 

Zwischengestalt  zwischen  fünfter  Rondo- und  Sonatenform. 

Zu  Seite  297. 


Wir  haben  schon  zu  Anfang  (S.  202)  die  nahe  Verwandtschaft 
der  fünften  Rondo-  und  der  Sonatenform  in  das  Auge  gefasst.  Es 
kann  nicht  befremden,  wenn  auch  hier,  wie  auf  andern  Gränz- 
punkten,  bisweilen  zweifelhafte  Gestalten  hervortreten. 

Als  eine  solche  zeigt  sich  Beethoven' s  Fdur-Sonate  No.  302. 
Der  erste  Theil  hat  nach  einem  wiederholten  Schlusssatz  a  — 


8*5  P 


4- 


noch  mit  der  Schlussformel  6,  —  einer  ganz  allgemeinen,  ohne  alle 


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Zwischengestalt  zwischen  fünfter  Rondo-  und  Sonatenform.  601 

besondre  Bedeutung  oder  Beziehung  auf  das  Vorausgegangne,  — 
geendet.  Diesen  ganz  beiläufigen  Moment  fasst  Beethoven  auf 
und  versieht  ihn  vor  allen  Dingen  mit  einem  im  Vorausgegangnen 
durchaus  nicht  angeregten  Gegensatze.  — 

L  i  1  ,l7TTRf^^^# " 


So  wird  er  auf  A,  dann  mit  Umkehrung  der  Stimmen  nochmals 
auf  D  und  A  wiederholt,  und  führt  zu  einem  abermals  ganz  neuen 
Satz  in  Dmoll,  — 


3 
365 


4^ 


sim. 


=3: 


H — 


! 


6  6 


der  in  Gmoll  schliesst,  da  wiederholt  und  in  Cmoll  schliesst,  weiter 
nach  ßdur  geht,  hier  wiederholt  und  auf  dem  Schlusston  (auf  dem 
vierten  Takt  in  No.  3/365)  zu  dem  vorherigen  Satze  (No.  2/365) 
führt,  der  —  wie  früher  auf  D  und  A  —  auf  B  und  F  und  mit 
Umkehrung  der  Stimmen  abermals  auf  B  und  F  ausgeführt  und  dann 
gangartig  auf  die  Dominante  von  D  leitet.  Nun  erst  erscheint  in 
Z)dur  der  Hauptsatz  vollständig,  wendet  sich  dann  mit  seinen  ersten 
Motiven  nach  Gmoll  und  auf  die  Dominante  von  Fdur  und  zieht 
den  dritten  Theil  nach  sich. 

Bis  auf  diese  Anführung  des  Hauptsatzes,  —  der  hier  in  der 
That  nur  zur  Ueberleitung ,  gleichsam  zum  Aufsuchen  des  rechten 
Tons  für  den  Wiederanfang  oder  dritten  Theil  dient,  —  enthält 
also  der  zweite  Theil  eine  dem  ersten  ganz  fremde  Ausführung; 
denn  jenes  aus  ihm  entlehnte  Motiv  (6  in  No.  l/m)  ist  in  der  That 
eine  zu  lose  Anknüpfung,  als  dass  wir  sie  uns  anrechnen  lassen 
könnten.  Liegt  nun  hier  die  fünfte  Rondo-  oder  die  Sonaten- 
form vor? 

Doch  wohl  die  letzte.  Wie  spät  auch  der  Hauptsatz  erscheine 
und  wie  er  sich  auch  eher  dem  folgenden  dritten  als  dem  zweiten 
Theil  anzuschliessen  suche :  doch  ist  er  vorhanden ,  und  zwar  in 
einer  dem  dritten  Theile  fremden  Tonart.  Und  dann  hat  der  sonstige 
Inhalt  des  zweiten  Theils  entschieden  den  Karakter  eines  Gangs  oder 
einer  Satzkelte,  nichts  weniger  als  die  Liedfestigkeit  eines  zweiten 
Seitensatzes  in  der  fünften  Rondoform.  Gleichwohl  ist  die  Sonaten- 
form nicht  so  fest  ausgeprägt,  wie  gewöhnlich. 

Wie  ist  Beethoven,  der  sonst  so  energisch  festhält  und 
durchfuhrt,  hier  zu  dem  Entgegengesetzten  bewogen  worden? — Sein 
Hauptsatz  und  der  erste  Satz  der  Seitenpartie  bedurften  bei  ihrer 


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602         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


innern  Verwandtschaft  nicht  nur  keiner  weitern  Ausführung,  son- 
der hätten  sie  gar  nicht  zugelassen,  wenn  man  nicht  in  abmattende 
Wiederholung  oder  fremdartige  Wendungen,  in  Steigerungen  und 
Aufreizungen  über  den  sanften,  stillen  Sinn  des  Ganzen  hinaus  sich 
verirren  wollte;  der  zweite  Gedanke  der  Seitenpartie  und  der  Schluss- 
satz aber,  so  vollkommen  sie  ihrer  Bestimmung  im  Zusammenhange 
des  Ganzen  entsprechen,  sind  für  sich  zu  wenig  bedeutend  und  er- 
giebig, als  dass  sie  höhere  Befriedigung  geboten  hätten,  als  jenes 
neue  Gewebe,  das  vor  ihnen  den  Reiz  der  Neuheit  und  Frische 
voraus  hat. 

Oder  sollte  der  mittlere  Theil  ausfallen  und  die  Sonatinenform 
erstehn?  —  Dazu  war  der  Inhalt  uns  zu  innig  an's  Herz  gelegt; 
sollte  nach  dem  Schluss  des  ersten  Theils  sogleich  wieder  der  Haupt- 
satz im  Hauptton  u.  s.  w.  folgen,  so  würde  diese  Hast  unser  Ge- 
fühl, die  Sinnigkeit  des  Ganzen  gestört  haben. 

Oder  sollte  endlich  eine  fünfte  Rondoform  geschaffen  werden? 
—  Die  hätte  wieder  einen  fest-  und  vollausgeführten  zweiten  Seiten- 
satz gefodert,  im  Widerspruch  und  zur  Beeinträchtigung  der  so 
leichten  und  wechselvollen  zarten  Sätze,  aus  denen  der  erste  Theil 
gewoben  ist. 

Aehnliche  Bewandtniss  hat  es  mit  Mozart's  Fdur-Sonate,  die 
wir  bei  No.  340  kennen  gelernt.  Der  zweite"  Theil  hebt  in  Cdur 
mit  einem  neuen  Satz  an ,  der  wiederholt  wird  und  mit  all'  den 
vorausgegangnen  Sätzen  nur  durch  die  Stimmung  des  Ganzen  zu- 
sammenhängt. Nach  ihm  wird  weder  aus  der  Haupt-  noch  aus  der 
Seitenpartie  ein  Satz,  sondern  aus  letzterer  das  Gangmotiv  ergriffen 
und  hiermit  auf  die  Dominante  von  Z)moll  und  dann  kurzweg  zum 
dritten  Theil  gegangen.  Jener  erste  neue  Satz  ist  zu  unbedeutend, 
als  dass  man  ihn  für  den  zweiten  Seitensatz  fünfter  Rondoform 
ansehen  könnte;  die  ganze  Ausführung  ist  (wie  in  den  meisten 
Sonaten  von  Mozart)  leicht  und  kurz  gefasst,  doch  aber  bedeutend 
genug,  um  den  Gedanken  an  die  Sonatinenform  auszuschliessen. 
Wir  müssen  also  auch  hier  die  Sonatenform,  wenngleich  in  nicht 
reicher  Entwickelung,  anerkennen. 

Die  Rechtfertigung  dieses  Verfahrens  liegt  aber  in  der  leichten 
Weise  des  ganzen  Werks  und  in  dem  Grundkarakter  Mozart'scher 
Klavierkomposition,  über  den  wir  uns,  namentlich  im  Gegensalze  zu 
Beethoven,  schon  S.  592  ausgesprochen  haben. 


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Form  und  Formlehre 


603 


M. 

Form  und  Formlehre. 
Zu  Seite  349. 

Am  Schlüsse  der  Formenlehre  (nach  ihrem  wesentlichen  Inhalte) 
ziemt  sich  wohl  eine  letzte  Prüfung  des  Wesens  von 

Form  und  Formlehre, 

wie  beide  dem  Beobachter  unsrer  Kunst  erscheinen  und  dieses  Werk 
sie  darzulegen  trachtet.  Mag  auch  Vieles  von  dem  hier  Auszu- 
sprechenden im  Werke  schon  hin  und  wieder  angeregt  sein,  Anderes 
ist  es  nicht,  —  und  neuere  Abirrungen  von  Seiten  sonst  gewiss 
achtungswürdiger  Kunst-  und  Lehrgenossen  erinnern  daran,  dass 
man  nicht  müde  werden  darf  im  Dienste  der  Wahrheit,  da  Miss- 
verstand und  Fahrlässigkeit  auch  nicht  müde  werden,  stets  wieder- 
zukehren. 

Diese  Betrachtungen  sind  noch  aus  einem  besondern  Grund  an 
der  Zeit.    Der  Musik  ist  Form  und  Formlehre  wichtiger  als  jeder 
andern  Kunst,  weil  sie  sich  nicht  so  schnell  und  bestimmt  aus- 
sprechen kann,  wie  die  andern;  man  zerrütte  ihr  die  Formen,  und 
sie  wird  unverständlich  ;  man  entzieh'  ihr  den  Beichthum  der  Form- 
entwickelung,  und  sie  versumpft.    Daher  hat  sich  der  Fortschritt 
stets  durch  vernunftgemässe  Fortentwickelung  der  Formen  bezeichnet, 
die  Beschränktheit  stets  durch  Einsperren  in  wenig  Formen ,  der 
Mangel  an  Durchbildung  stets  durch  Unbeachtetlassen  der  tiefen 
Vernunftgesetze,  die  der  Form  zum  Grunde  liegen.  Wenn  Künstler 
fehlgreifen,  so  mag  das  im  Bausche  der  schöpferischen  Stunde, 
selbst  (wie  bei  unsern  Zukunftsgiganten  von  pariser  Faktur)  in  dem 
allerdings  künstlerischen  Drange,  Neues  zu  schaffen,  Erklärung 
finden.   Womit  aber  wollen  sich  Lehrer  rechtfertigen,  die  die  Be- 
sonnenheit im  Gesammtieben  der  Kunst,  das  klar  Alles  tiberblickende 
Bewusstsein  vertreten,  und  durch  nichts,  was  sie  nicht  meiden 
konnten,  darin  gestört  sind?  Dem  Künstler  im  Schaffensdrange  ziemt 
jener  Zug  zum  Ursprünglichen  und  Ureignen,  —  vers  Vinconnu! 
nennt  es  abenteuernd  der  Franzos.  In  jenen  Momenten  kann  er  nicht 
zurückblicken  auf  den  Zusammenhang  der  Kunstentwickelung  und  auf 
das  ihm  Vorangegangne;  da  ist  er  nur  selber,  ganz  und  einzig 
seinem  Werke  dahingegeben.   Was  ihm  zu  betrachten,  zu  lernen 
zu  üben  nöthig,  muss  zuvor  abgethan  sein,  —  und  dazu  allein 
kann  und  muss  Lehrer  und  Vorbild  verhelfen.    Dem  Lehrer  da- 
gegen ist  jener  Zusammenhang,  die  stetige  Vernunftentwickelung, 


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604         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

Grundlage  seines  Wirkens  und  Stutze  bei  jedem  Schritte,  selbst 
da,  wo  er  dem  Jünger  das  schöne  Recht  freiester,  scheinbar  will- 
kürlicher Selbstbestimmung  einräumt,  —  scheinbar  willkürlicher, 
weil  die  vernünftige  Nothwendigkeit  nicht  Zug  um  Zug  blos- 
gelegt  ist. 

Form  ist  vernunftgemässe  —  der  Vernunft  der  Sache  gemässe 
Gestaltung.  Es  giebt  nur  ein  Gesetz  für  alle  Form:  die  Vernunft 
der  Sache.  In  seiner  Anwendung  auf  den  unermessbar  reichen 
Inhalt  der  Kunst  ruft  dieses  eine  Gesetz  die  unermessbar  zahlreichen 
Kunstformen  und  Einzelgestalten  aller  Kunstwerke  hervor.  Man 
gewinnt  erst  einen  Begriff  vom  Reichthum  und  der  Tiefe  der  Kunst, 
wenn  man  dieses  Heer  von  Gestaltungen  in  Einem  Ueberblicke 
zusammenfasst,  in  dem  die  schöpferische  Vernunft  alle  Möglichkeiten 
ihrer  Welt  zu  durchbilden  trachtet,  wie  die  Natur  im  Heer  ihrer 
Gestalten  alle  Möglichkeiten  des  Daseins.  Beginne  man,  wo  man 
wolle :  thatgewordnes  Denken  lässt  aus  dem  einfachsten  Motiv  den 
unbestimmbar  verlaufenden  Gang  entstehn,  beschliesst  den  Gang 
zum  Satze,  vereint  Satz  und  Gegensatz  zur  Periode,  eröffnet  die 
Periode  zum  zwei-,  zum  dreitheiligen  Liede.  Stelle  man  die 
Grundzüge  der  Rondo-  und  Sonatenformen  — 


HS 

G 

HS 

HS 

SS 

g 

HS 

HS 

SS1 

g 

HS 

SS  2 

g 

HS 

HS 

SS  4 

g 

HS 

SS  2 

g 

HS 

SS  \ 

HS 

SS  4 

g 

Sz 

SS  2 

g 

HS 

SS  4  g 

Sz 

HS 

SS 

g 

Sz 

HS 

SS  g 

Sz 

Erster  Theil. 

Letzter  Theil. 

HS 

SS 

g 

Sz 

HS 

SS  g 

Sz 

Erster, 

zweiter, 

dritter  Theil. 

zusammen,  deren  letzte  und  entwickeltste  zurückweist  auf  die  höchste 
Entwickelung  der  einfachsten  Gestalt  (dreitheilige  Liedform)  und  den 
Urgegensatz  aller  Musik,  — 

Ruhe,  Bewegung,  Ruhe, 

Tonika,  Tonleiter,  Tonika, 

ton.  A,  Dominantakkord,  ton.  A: 

überall  waltet  stetiges  Vernunftgesetz.  Schalte  man  jenen  und  den 
hier  tibergangnen  Formen  alle  Zwischen-  und  Mischgestalten  ein, 
die  sich  in  gleich  stetiger  Vernünftigkeit  der  Reihe  der  Grundgestalten 
ein-  und  zufügen :  da  hat  man  die  Werkstätte  unsrer  Kunst  und 
des  in  ihr  waltenden  Geistes  vor  Augen.  Nicht  der  Witz  oder 
Tiefsinn  eines  Einzelnen  hat  das  geschaffen ;  es  ist  das  gemeinsame 
Werk  der  Jahrhunderte  und  aller  Künstler,  die  zum  selben  berufen 
gewesen  und  noch  ferner  berufen  werden.   Nachdem  einmal  diese 


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Form  and  Formlehre.  605 

Gestaltenfülle  in  ihrer  Einheit  und  Tiefsinnigkeit  aufgewiesen,  ist 
nicht  mehr  erlaubt,  das  zu  verhehlen  oder  zu  verkürzen.  Man 
verleugnet  damit  den  Geist  der  Kunst  selber  und  seinen  Künstler- 
oder Lehrerberuf. 

Die  Bildung  für  Kunst  beruht  wesentlich  und  zum  grossen  Theil 
auf  Einführung  und  Feststellung  in  den  Formen  und  ihrem  Geist ; 
ohne  Formerken ntniss  bleibt  jedes  Werk  und  jeder  Satz  ein  unbe- 
stimmt Etwas,  wie  die  Natur  uns  ein  Chaos  bleibt,  wenn  wir  nicht 
ihre  verschiednen  Reiche,  Gattungen,  Arten  sondern  gelernt.  Form- 
verständniss  giebt  dem  Zuhörer  gesicherte  Sachverständniss,  dem 
Vortragenden  klare  Auffassung.  Für  den  Komponisten  ist  sie 
schlechthin  Bedingung  seiner  Aufgabe,  ohne  deren  Erfüllung  diese 
gar  nicht  gelost  werden  kann;  der  roheste  Naturalist,  der  Wild- 
ling, der  jede  Form  als  Fessel  flieht,  weil  er  nicht  in  ihr  heimisch 
ist:  sie  bilden  sich  nothgedrungen,  aus  kläglich  lückenhafter 
Erinnerung,  so  gut  es  gehn  will,  ihre  Form,  —  und  sind  ihr,  sie 
wissen  nicht  wie,  verfallen,  können  nicht  von  ihr  los.  Denn  aller- 
dings ist  jede  einzelne  Form  eine  Fessel  für  alle  Gedanken  und 
Vorwürfe,  denen  sie  nicht  von  innen  heraus  eignet;  erst  der  Be- 
sitz aller  Formen,  —  dies  Werk  hat  S.  336  und  sonst  schon  oft 
darauf  hingewiesen,  —  macht  frei. 

Hier  zeigt  sich  neben  der  bewundernswürdigen  Herrlichkeit  der 
Formentwickelung  der  erste  Grund,  sie  vollständig  zu  geben;  un- 
vollständige Formentwickelung  verkümmert  nicht  bloss  den  Begriff 
der  Kunst,  sie  macht  auch  unfrei,  indem  sie  in  eine  oder  wenig 
Formen  einsperrt,  die  zum  Gefängniss  werden  für  alle  anderswohin 
strebende  Gedanken.  Man  denke  sich  (wie  neuerdings  versucht 
worden)  die  Rondoformen  auf  eine  einzige  zusammengeworfen,  die 
Sonatenform  an  einem  einzigen  Schema  oder  Beispiel  gewiesen : 
wie  eng  wird  die  weite  Welt!  wie  eintönig  beschränkt  oder  ver- 
hehlt und  veruntreut  der  heitre  Reichthum  ihrer  Gestalten!  wie 
werden  die  nach  allen  Seiten  Luft  und  Wachsthum  nach  ihrer 
WTeise  begehrenden  Gedanken  des  Schülers  gedrückt  und  gestossen 
und  im  Prokrustesbett  räuberischer  Gewaltsamkeit  bald  ausgerenkt, 
bald  verschnitten !  Zwar  kann  keine  Lehre,  —  dazu  mangelt  Zeit  und 
Nothwendigkeit,  und  jeder  Tag  bringt  Zuwachs,  —  alle  möglichen 
Gestalten  aufweisen  und  durcharbeiten;  aber  eine  gewissenhafte 
Lehre  muss  freigebig,  ja  reichlich  mittheilen,  muss  vor  allem  die 
wesentlichen  Gattungen  und  Arten  vollständig  darstellen  und  dem 
Jünger  alle  Wege  zu  weiterm  Fortschreiten  öffnen  und  weisen, 
wenn  sie  ihn  nicht  umdtistern  und  verkümmern,  oder  irgendwo 
beliebig  im  Stiche  lassen  will.  Geizt  sie  um  einige  Wochen  oder 
Bogen,  wird  sie  aus  Besorgniss,  zu  ausführlich  und  zu  breit  zu 
werden  (was  allerdings  auch  nicht  rathsam  ist),  allzuknapp  und 


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606         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

schlügt  die  Hälfte  des  ihr  Anvertrauten  unter:  so  betrügt  sie  — 
der  wahre  »Geizhals,  der  sich  selbst  bestiehlt«  —  sich  selber  und 
den  Schüler  um  ebensoviel  des  ihm  gebührenden  Reichthums,  und 
dazu  um  Einsicht  und  Freiheit;  sie  sperrt  ihn  ein  in  ihre  Enge, 
mag  er  sehn,  wie  er  loskommt. 

Ein  zweiter  Grund,  die  Formen  nicht  spärlich,  sondern  in  Fülle 
aufzuweisen  und  durcharbeiten  zu  lassen,  liegt  in  dem  unverleug- 
baren  Bedtirfniss  ausgedehnter  Uebung.  Niemand  wird  an  ein  Paar 
Versuchen  Komponist,  an  ein  Paar  Fugen  oder  Sonatensätzen  der 
Fugen-  oder  Sonatenform  mächtig;  Meisterschaft  lodert  und  ver- 
dient umfassende,  durchdringende  Bildung.  Was  soll  also  geschehn  ? 
will  man  den  Schüler  an  einer  oder  wenig  Formen  festhalten  und 
mit  deren  wiederholter  Durcharbeitung  ohne  Wechsel  und  Fort- 
schritt ermüden  ?  oder  will  man  die  Zahl  der  unerlässlichen  Uebungen 
auf  die  verschiednen  Formen  vertheilen  und  dem  Schüler  die  nur 
bei  stetem  Fortschritt  mögliche  Frische  bewahren?  —  Die  Wahl 
kann,  selbst  abgesehn  vom  reichern  Gewinn  und  Ueberblick,  nicht 
zweifelhaft  sein. 

Ein  dritter  Grund  endlich  für  reiche  Gliederung  und  Durch- 
arbeitung der  Formen  liegt  in  dem  Bedürfnisse,  den  Schüler  zum 
Selbstanschaun,  Selbstdenken  —  und  damit  zu  Freiheit  und  Selbst- 
ständigkeit zu  bringen.  Vorerst  nimmt  ihm  jede  Aufgabe  seine 
Freiheit;  warum  soll  er  gerade  Dies  arbeiten  und  nichts  Anderes, 
das  ihm  vielleicht  näher  liegt?  warum  soll  er  es  so  und  nicht  anders 
machen?  gleichwohl  ist  keine  Lehre  und  Bildung  ohne  bestimmte 
Aufgaben  —  gleichviel,  welche  und  in  welcher  Folge  —  denkbar. 
Wie  soll  man  nun  den  Schüler  aus  dieser  augenblicklichen  Unter- 
jochung zur  Freiheit  führen?  Indem  man  ihn  selber  die  Einseitig- 
keit jeder  Aufgabe  und  die  Unanwendbarkeit  jeder  Form  auf  andre 
Verhältnisse  durch  anders  geartete  Aufgaben  klar  erkennen  lässt 
und  ihn  damit  auf  eine  neue  Wendung  —  das  heissl :  Form  — 
nach  der  andern  hinleitet.  So  lernt  er  viele  Formen  kennen,  jede 
bestimmtem  Zweck  und  Inhalt  gemäss,  bis  er  dahin  gelangt,  dass 
jeder  Inhalt  seine  gemässe  Form  findet  oder  sich  neu  bildet.  Bei- 
spiele für  dieses  Verfahren  finden  sich  überall  in  diesem  Werke, 
unter  andern  in  der  Fugenlehre  und  ihrer  Methodik,  Th.  II,  S.  528 
und  566.  Hier  knüpft  sich  der  Fortschritt  an  den  Uebergang  zum 
zweiten  Theile.  Was  ist  da  zu  thun?  —  Zunächst  scheint  nur 
zweierlei  möglich ;  es  kann 

\)  sogleich  wieder  das  Thema,  oder  zuvor 

2)  ein  neuer  Zwischensatz 
eintreten.    Das  erste  wird  als  Nächstliegendes  zuerst  ausgeführt, 
und  zwar  gern  an  einer  Mollfuge,  wo  der  Uebertritt  in  die  Parallele 
dem  sofortigen  Wiedererscheinen  des  Thema's  in  der  frischen 


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Form  und  Formlehre. 


607 


Tonart  günstig  ist ;  die  Räthlichkeit  des  Zweiten  wird  gern  an  einer 
Durfuge  nach  übervollständiger  erster  Durchführung  anschaulich  ge- 
macht. Allein  das  Thema  könnte  für  jetzt  schon  genügend  benutzt 
und  ein  weiterer  Zwischensatz  ebenfalls  unrathsam  sein;  da  wird 

3)  die  Form  der  Engführung 

(energischere  Bethätigung  der  Stimmen  am  Thema,  Anschluss  an  1) 
als  Auskunft  gefunden.  Wie  aber,  wenn  die  Engführung  unanwend- 
bar, oder  schon  im  ersten  Theile  verwandt,  oder  nach  steter  Ruhe 
und  Stille  der  Führung  frischere  Belebung  Bedürfniss  ist?  Das  wird 
an  einer  vierten  Fuge  gewiesen,  die  mit  belebterm  neuen  Zwischen- 
satze (Anschluss  an  2) 

4)  die  Form  der  Verkleinerung 

(Belebung  des  Thema's),  und  im  Gegensatze  zu  ihr 

5)  die  Form  der  Vergrößerung 

(Gewichtigung  des  Thema's)  hervorruft.  Mit  gleichmässig  aufge- 
wiesner  Notwendigkeit  oder  Vernünftigkeit  treten 

6)  die  Form  der  Verkehrung, 

7)  die  erste  Form  der  Doppelfuge 

(Themawechsel)  und  die  andern  Gestalten  der  Fuge  hervor;  jeder 
Blick  und  Schritt  öffnet  der  Uebersicht,  der  Einsicht,  der  freien 
EntSchliessung  und  bildenden  Kraft  neue  Wege.  Gleiches  Verfahren 
ist  am  Rondo-  und  Sonatensatz  u.  s.  w.  zu  beobachten.  — 

Ist  nun  wohl  (wir  kommen  auf  die  Frage  S.  606  zurück)  die 
Kunst  der  einfachen  und  Doppelfuge  mit  acht  oder  neun  und  der 
Rondoform  mit  fünf  Arbeiten  (mehr  sind  zur  Feststellung  nicht 
nothwendig,  wenngleich  oft  räthlich)  zu  theuer  erkauft?  —  oder 
will  man  lieber  neun  und  fünf  Arbeiten  fortschrittlos  nach  einem 
einzigen  zufälligen  Muster  oder  nach  einer  einzigen  unbestimmten 
und  darum  unbestimmt  lassenden  Vorschrift  auferlegen  und  damit 
die  Vernünftigkeit,  den  Reichthum  der  Kunst  verhehlen,  die  Ein- 
sicht und  Selbstbestimmung  des  Schülers  unterschlagen?  —  Diese 
Frage  bezeichnet  nicht  den  Streit  zweier  Methoden,  sie  ist  nicht 
eine  Schulfrage,  sondern  stellt  die  Wahl  zwischen  Erkenntniss, 
Freiheit  und  Fortschritt  einerseits,  Fesselung  des  Geistes  und  Rück- 
schritt andrerseits. 

Diesem  Verfahren,  das  man  das  rationelle  nennen  darf, 
steht  scheinbar  das  empirische  der  alten  Lehre  gegenüber.  Aber 
nur  scheinbar. 

Die  alte  Lehre  giebt  irgend  eine  Summe  von  Kenntnissen,  führt 
durch  irgend  eine  Reihe  von  Uebungen,  und  verweist  dann  ohne 
Weiteres  —  oder  nach  Ertheilung  einiger  äusserst  allgemeiner 
Form  Vorschriften  und  Abrisse  auf  »Muster«  und  Vorbilder. 
Noch  in  den  letzten  Jahren  hat  ein  Schriftsteller  dies  »die  natür- 
lichste, angenehmste,  sicherste  und  schnellförderndste  Methode«  ge- 


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608 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Thede. 


nannt,  »nach  der  sich  alle  Meister  ohne  Ausnahme  gebildet.  Alle 
haben  (setzt  er  zu)  die  Werke  guter  Meister  studirt,  die  Bildungs- 
maximen derselben  sich  abstrahirt,  und  danach  unablässig  eigne  Ge- 
staltungen versucht.«  Wunderlich  nimmt  sich  dabei  die  Schaar  von 
Hunderten  ein-,  zwei-  und  viertaktiger  Fragmente  aus,  die  dem 
»Studium  der  Meister«  zum  Grunde  gelegt  werden,  indem  sie  zu 
»Modellen«  für  die  Motive  des  Schülers  und  seine  »thematischen 
Versuche«  dienen  sollen.  So  haben  die  Meister  keines- 
wegs studirt. 

Der  Gegensatz,  wiederholen  wir,  des  empirischen  und  unsers 
Verfahrens  ist  nur  ein  scheinbarer.  Am  allerwenigsten  wird,  wer 
auch  nur  einen  flüchtigen  Blick  in  diese  Bände  gethan,  ihn  dahin 
aussprechen :  das  eine  Verfahren  lege  die  Meister  dem  Studium 
zum  Grunde,  das  andre  nicht. 

Von  Zweien  kann  nämlich  auf  dem  Wege  der  alten  Lehre  nur 
Eins  geschehen. 

Entweder  beschränkt  man  sich  auf  ein  einziges  Muster,  — 
nehmen  wir  an,  in  den  Fugen  von  Bach,  in  der  Sonatenform  von 
Beethoven.  Aber  nicht  zwei  Fugen,  nicht  zwei  Sonaten  sind 
gleichgebildet,  bei  jeder  folgt  die  Gestaltung  dem  besondern  Inhalt 
und  Antriebe.  Die  fremde  Form  nun  in  rücksichtloser  Anwendung 
auf  jeden  beliebigen  Vorwurf  schablonenartig  wiederholen,  tödtet 
die  Denkkraft,  lähmt  die  Phantasie,  bildet  nicht  Künstler,  sondern 
knechtische  Nachahmer.  Vergebens  hat  E.  T.  A.  Hoff  mann  einst 
das  ganze  Mo  zart 'sehe  Requiem  Zug  um  Zug  nachgebildet;  es 
blieb  todtes  Machwerk  und  er  ein  Dilettant. 

Oder  man  bleibt  nicht  bei  einem  einzigen  Muster  stehn,  man 
sammelt  deren  mehrere,  viele,  —  vergleicht,  beurtheilt  sie,  bildet 
sich  so  ein  allgemeines  Urtheil  von  der  Sache,  wonach  man  selber 
verfahren  will.  Aber  das  ist  ja  das  rationelle  Verfahren !  Nur  dass 
die  alte  Lehre  und  ihre  neuen  Wiederholer  sehr  bald  zurücktreten 
und  die  Arbeit  dem  Schüler  überlassen,  —  wenigstens  nach  ihren 
Schriften  zu  urtheilen.  Dabei  ist  besonders  Eins  bedenklich,  ja 
unerträglich;  das  nämlich:  dass  Jeder  die  Arbeit  für  sich  von 
Neuem  beginnt,  die  irgend  wie  weit  schon  von  Andern  gethan  ist. 
So  kann  kein  rüstiger  Fortschritt  statthaben,  so  stockt  der  Fluss 
des  Lebens  und  verzettelt  der  Einzelne  seine  Jahre!  Und!  dazu 
wird  auf  den  Vorgang  der  Meister  verwiesen !  Natürlich  haben 
unsre  Vorgänger  nicht  Bildungswege  gehn  können,  die  sich  erst 
nach  ihrer  Zeit  erschlossen.  Wenn  Einige  von  ihnen  gleich- 
wohl zu  meisterlicher  Vollendung  gelangt  sind,  so  ist  das  begreif- 
licher Weise  nicht  dem  Mangel  allgemein  zugänglicher  Bildungs- 
mittel zuzuschreiben,  sondern  der  Kraft  in  ihnen,  jenen 
Mangel  zu  ersetzen.   Und  wenn  die  neue  Lehrweise  (wie  schon  vor 


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Form  und  Formlehre 


609 


einem  Jahrzehnt  ein  heisser  Anhänger  ersehnte)  noch  kein  Bach 
und  Beethoven  »hervorgebracht«:  so  hat  das  vielleicht  darin 
seinen  Grund,  dass  Überhaupt  keine  Lehre  in  der  Welt  für  sich 
vermag,  wozu  Naturell,  Zeit  und  die  Konstellation  günstiger  Ver- 
hältnisse mit  ihr  den  Bund  sch  Ii  essen  müssen.  Keine  Lehre,  kein 
Lehrer  kann  die  Schüler  schaffen ;  man  kann  sie  nur  nehmen,  wie 
sie  sich  darbieten,  muss  sie  aber  dann  so  gut  und  vollständig ,  als 
Vorarbeiten  und  eignes  Vermögen  gewähren,  unterrichten  und 
bilden. 

Was  nun  die  Formlehre  betrifft,  so  kann  ihr  nur  dreierlei 
obliegen ;  nichts  davon  darf  versäumt  werden,  wenn  Erkenntniss, 
Thatkraft  und  Selbständigkeit  gedeihen  sollen. 

Das  Erste  ist,  dass  jede  Gestaltung,  zu  der  man  tritt,  aus 
dem  Vorhergehenden  entwickelt  und  im  blossen  Grundrisse  (theo- 
retisch) gezeichnet  werde.  Hiermit  weiss  der  Schüler,  was  ge- 
schehn  soll. 

Das  Zweite  ist,  dass  der  Schüler  zum  eignen  Bilden  geführt 
werde.  Dazu  arbeitet  der  Lehrer  die  jedesmalige  Aufgabe  dem 
Schüler  auf  der  Stelle  und  aus  dem  Stegreif,  unter  steter  Be- 
rathung  mit  demselben,  im  Entwurf  oder  in  voller  Aus- 
führung, nach  Umständen  auch  nur  theilweise,  vor.  Hier  sieht  der 
Schüler  das  WTerk  vor  sich  entsteh n,  erhält  von  allen  Erfodernissen 
und  Wegen  praktisch  die  Anschauung,  muss  sich  auf  alle  zur 
Sache  gehörigen  Erwägungen  einlassen.  So  aufgeklärt  und  an- 
gereizt tritt  er  nun  zum  eignen  Bilden.  Die  Vorarbeit  ist  ihm  nicht 
Muster,  sondern  Hülfsmittel  zur  eignen  Einsicht  und  Erkenntniss; 
sie  kann  ihn  daher  nicht  fesseln  oder  zur  Nachahmerei  verleiten, 
sondern  nur  aufklären  und  leiten.  Muster  —  wenn  man  deren 
haben  wollte  —  kann  die  Vorarbeit  nicht  sein,  denn  sie  ist  nicht 
Kunstwerk,  nicht  aus  künstlerischem  Antrieb  und  in  künstlerischer 
Vertiefung  hervorgegangen.  Das  kann  auch  nicht  gelehrt  und  ver- 
liehen werden,  wohl  aber  jene  Werktüchtigkeit,  die  Goethe  (S.  582) 
im  Sinne  hat  und  ohne  die  es  keinen  Künstler  giebt;  zu  der  kann 
und  muss  angeleitet  und  gefördert  werden. 

Jetzt  weiss  der  Schüler  nicht  bloss,  worauf  es  ankommt,  er  hat 
sich  schon  mit  eigner  Kraft  und  That  in  die  Form,  die  ihm  eigen 
werden  soll,  hineingefunden.  Nun  erst  ist  das  Dritte  an  der 
Zeit;  nun  erst  wird  der  Schüler  in  die  Meisterwerke  eingeführt, 
ihre  Form  wird  ihm  aus  ihrem  Inhalt  erläutert,  die  Abweichungen 
vom  gegebnen  Grundriss  und  der  Vorarbeit  werden  gewiesen  und 
erklärt,  das  Mangelhafte  oder  Verfehlte  der  eignen  Arbeit  wird  gegen- 
über den  Meisterwerken  begreiflich.  Das  fodert  Vertiefung,  also 
Weilen;  die  Meisterwerke  nehmen  uns  ein  und  hin,  ihre  Ueber- 
legenheit  mag  einen  Augenblick  betroffen  machen,  —  und  nur  der 

Marx,  Komp.-L.  III.  5.  Aufl.  39 


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610         Erläuferungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

empfindet  sie  ganz  und  tief,  der  sich  schon  selbst  versucht  hat. 
Aber  eben  daran  ist  der  junge  Künstler  auch  seiner  Bildenskraft 
froh  bewusst;  die  Hoheit  des  Meisters  kann  ihn  nicht  niederdrücken, 
denn  auch  er  hat  irgend  ein  Maass  jener  Kraft  in  sich  empfunden 
und  thatsächlich  bewährt.  Von  »Mustern«,  denen  man  nacharbeiten 
soll,  um  daran  Freiheit  und  Eigentümlichkeit  einzubüssen,  kann 
hier  nicht  mehr  die  Rede  sein. 

Voraussetzlich  hat  jeder  Jünger  schon  vor  der  Lehrzeit  die 
Kunst  geliebt  und  in  naiver  Hingebung  in  irgend  einer  Reihe  ihrer 
Werke  kennen  gelernt.  Die  vollendete  Lehre  muss  ihn  geläutert, 
gekräftigt  und  erleuchtet  dem  naiven  —  das  heisst  naturwüchsigen 
Leben  in  der  Kunst  zurückgeben.  Naturwüchsig  aber  ist  nicht  bloss 
der  Ungebildete,  sondern  auch,  der  in  der  Bildung  Freiheit 
und  Eigen thümlichkeit  sich  bewahrt  hat. 


HT. 

Vier  händiger  Satz. 
Zu  Seite  340. 

Es  bliebe  nach  dem  S.  18  über  die  Behandlung  des  Klaviers 
und  im  ganzen  sechsten  Buch  über  die  Klavierkomposition  Vor- 
getragnen noch  ein  Gegenstand  für  die  Besprechung  übrig  : 

die  vierhändige  Behandlung  des  Instruments. 

So  wenig  wir  uns  aber  erlauben  konnten,  ihn  unerwähnt  zu 
lassen,  so  wenig  bedarf  er  einer  Unterweisung. 

Die  Vierhändigkeit  hat,  wie  sich  von  selbst  versteht,  das  voraus, 
dass  durch  sie  Vieles  leichter  ausführbar  —  oder  gar  erst  möglich 
wird,  was  die  Zweihändigkeit  sich  versagen  muss.  Diese  vollen 
Akkorde,  diese  in  Oktaven  rollenden  Bässe,  diese  klar  und  leicht 
darstellbare  und  im  Vortrag  sicher  zu  unterscheidende  Polyphonie, 
—  welcher  Spieler  hätte  sich  nicht  schon  an  ihr  erfreut?  Gar  manche 
treffliche  Komposition  von  Mozart  und  Düsse k,  viele  Ueber- 
tragungen  von  Orchesterwerken  auf  Klavier  wären  anders  als  vier- 
händig nicht  auszuführen  gewesen,  gar  nicht  unternommen  worden. 

Auf  der  andern  Seite  wird  aber  dem  Klavierspiel  in  der  Vier- 
händigkeit eine  seiner  vorzüglichsten  Seiten  gelähmt  oder  doch 
entkräftet  :  das  ist  die  vollkommne  Freiheit  der  Darstellung  durch 
den  einzigen,  ganz  ungehemmt  sich  selbst  überlassnen  Spieler,  unter 
dessen  alleinigem  Walten  wirklichund  wahrhaft,  nicht  gleichsam 
und  beinah,  Alles  aus  Einem  Geist  und  Herzen  hervortritt.  Selbst 
die  technischen  Mittel  reichen  bei  der  heutigen  Ausbildung  des  Spiels 


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Vierhändiger  Satz. 


611 


zu  Aufgaben,  die  man  früher  in  solcher  Weise  für  unlösbar  hätte 
halten  müssen*,  und  die  vier  Hände  verdoppeln  nicht  etwa  das 
Vermögen,  sondern  rauben  auch  äusserlich  jedem  der  an  einander 
gedrängten  Spieler  einen  erheblichen  Theil  seiner  Wirksamkeit. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  natürlich,  wird  auch  sein  Bewen- 
den dabei  behalten,  dass  Originalkompositionen  nur  selten  vierhändig 
abgefasst,  dass  aber  Uebertragungen  vollstimmiger  Orchesterwerke 
gern  und  öfters  der  Vierhändigkeit  anvertraut  werden. 

Allein  der  Unterweisung  bedarf  es  dabei  nicht.  Wer  die  Technik 
des  Instruments  kennt,  wird  bei  einigem  Nachdenken  leicht  finden, 
was  er  mit  vier  Händen  auszurichten  und  wie  er  seinen  Stoff  unter 
die  beiden  Spieler  und  die  vier  Hände  zu  vertheilen  hat.  Muster- 
haft sind  in  dieser  Hinsicht  die  grossen  vierhändigen  Sonaten  von 
Dussek,  Mozart's  vierhändige  Kompositionen  (nur  dass  er,  um  es 
den  zu  seiner  Zeit  wenig  geübten  Spielern  stets  bequem  und  dabei 
jedem  stets  anziehend  zu  machen,  die  Melodie  öfters  in  zu  tiefen 
Lagen  vorbringt,  wenn  er  einen  Satz  wiederholen  und  dabei  den 
zweiten  Spieler  bedenken  will),  Friedrich  Schneide r's  vier- 
händiges  Arrangement  von  Beethove n's  Sinfonia  eroXca,  und 
manches  andre  Arrangement  von  Hummel,  Czerny  und  Andern, 
die  wir  nicht  alle  hier  zu  nennen  im  Stande  sind.  Czerny  hat 
in  seinen  Bearbeitungen  Beethoven  'scher  Orchesterwerke  den  Satz 
für  vierhändiges  Spiel  bedeutend  und  mit  eben  so  viel  Ingeniosität 
als  Sorgfalt  bereichert.  Nur  das  können  wir  nicht  gut  heissen, 
dass  er,  um  freien  Spielraum  für  Figuren  und  Stimmfulle  zu  ge- 
winnen oder  auch  der  Spielseligkeit  des  Piano  zum  Ersatz  der 
unersetzlichen  Orchestereffekte  Zutritt  zu  öffnen,  zu  Zeiten  die 
Stimmlagen  ändert,  oft  in  die  höchsten  Oktaven  sich  verliert  und 
damit  die  Orchesterartigkeit  des  Originals  und  Überhaupt  die  Treue 
gegen  letzteres  aufopfert  bis  zur  Erregung  falscher  Vorstellungen 
vom  Original  werk. 


*  Mit  grosser  Achtung  ist  hier  Liszt's  zweihändige  Darstellung  von 
Beethoven's  Cmoll-Symphonie  zu  nennen.  Die  Pastoralsymphonie  verliert 
auf  dem  Klavier  bei  jeder  Art  der  Darstellung  zu  viel. 


39* 


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612 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


o. 

Das  Rezitativ  und  seine  Handhabung. 

Zu  Seite  399. 

Ein  schwerer  Uebelstand  für  das  Studium  wie  für  die  Wirkung 
des  Rezitativs  ist  es,  dass  so  wenige  selbst  unsrer  ausgezeichneten 
Sänger  und  Sängerinnen  es  vollkommen  sinngemäss  vorzutragen 
wissen,  der  jüngere  Komponist  daher  so  selten  ein  voll  genügend  es 
Vorbild  für  sein  Schaffen  im  Leben  findet.  Es  muss  dieser  Punkt 
bei  der  Kompositionslehre  zur  Sprache  kommen,  damit  dem  Einfluss 
irreleitender  Vorbilder  möglichst  gewehrt  werde. 

Den  ersten  Anstoss  zur  Vernachlässigung  des  Rezitativs  haben 
allerdings  die  Komponisten  gegeben.  Die  Weise  der  ältern  italieni- 
schen Oper  'die  noch  auf  die  Opern  Mozart's  und  seiner  Schule, 
so  wie  auf  die  verwandte  Gattung  des  Oratoriums  nicht  ohne  Nach- 
wirkung geblieben  ist)  war  die :  nicht  das  Ganze  als  ein  solches,  als 
einen  einheitvoll  in  allen  Gliedern  ausgebildeten,  in  allen  Einzelheiten 
in  einander  greifenden  und  geschlossen,  durchaus  aus  einer  Idee 
geschaffnen  und  darum  durchaus  kunstvernünftigen  Organismus  auf- 
zufassen; sondern  vielmehr  in  ihm  nur  eine  mehr  oder  weniger 
anziehende,  geschickt  geordnete  Verknüpfung  von  Einzelheiten  zu 
sehn,  die  das  eigentlich  Wesentliche  sein  sollten  und  unter  denen  dann 
wieder  die  Arien  der  ersten  Sängerinnen  und  Sänger  als  Glanzpunkte 
hervortraten.  Da  die  Handlung,  der  Zusammenhang  des  Ganzen 
hiermit  zur  Nebensache  wurde,  so  konnten  auch  die  Rezitative,  die 
bloss  zur  äusserlichen  Verknüpfung  dienten,  keine  sonderliche  Be- 
deutung und  Beachtung  finden,  so  dass  man  sie  in  Deutschland  und 
Frankreich  zuletzt  lieber  durch  natürliche  Rede  ersetzte.  Unter  den 
Mozart'schen  Opern  ist  Idomeneus  noch  ganz  ein  Werk  älterer 
italischer  Wreise,  obwohl  allerdings  in  mehrern  Arien,  im  Terzett, 
Quartett  und  mehrern  Chören  sich  die  Uebermacht  des  Mozart'- 
schen Genius  glänzend  offenbart,  —  bisweilen  in  einer  dramatischen 
Tiefe  und  Wahrhaftigkeit,  die  selbst  in  den  spätem  Meisterwerken 
nur  selten  wieder  erstrebt  worden  ist. 

Unter  solchen  Umständen  haben  denn  die  Komponisten  das 
Rezitativ  leichter  behandelt.  Einzelne  Partien  desselben  wurden  an- 
ziehend befunden  und  trugen  dann  das  Siegel  der  schöpferischen  Macht 
an  der  Stirn ;  das  Uebrige  wurde  leicht,  bisweilen  gar  sehr  leicht 
hingeworfen,  ja  nicht  selten  Schülern,  —  sogar  erfahrnen  Theater- 
kopisten zu/  Ausfüllung  und  der  Einsicht  und  Laune  der  Sänger  zu 
beliebiger  Ausführung  tiberlassen,  die  aber  in  der  Regel  eben  so 


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Das  Rezitativ  und  seine  Handhabung.  613 

wenig  Anlass  finden  konnten,  dem  Rezitativ  tiefere  Gerechtigkeit 
und  Weihe,  als  es  unter  solchen  Umständen  zu  fodern  hatte,  zu 
ertheilen.  Wer  die  in  Deutschland  gewöhnlich  und  wohl  mit  Recht 
ausbleibenden  Rezitative *  zum  Don  Juan  unbefangen  prüft,  erkennt 
gewiss  die  leichtere  Behandlung  der  überwiegenden  Masse  in  Ver- 
gleich zu  jenen  glücklichern  Momenten,  die  Mozart' s  tiefere  Theil- 
nabme  federten  und  zuliessen.  War  einmal  die  Anlage  des  Ganzen 
und  der  Text  des  Rezitativs  von  solcher  Beschaffenheit,  so  würde 
der  Komponist  zweckwidrig  und  unwahr  geschrieben  haben,  hätte 
er  mehr  gegeben. 

Diese  abfertigende  Weise  ist  nun  seit  länger  als  einem  halben 
Jahrhundert  unter  den  Sängern  (und  noch  mehr  unter  den  Sänge- 
rinnen) eingewurzelt.  Entweder  wird  das  Rezitativ  eintönig  und 
schnellabfertigend  hingeplaudert —  um  nicht  zu  sagen,  hingeplappert 
(wie  man  an  unsern  italischen  und  französischen  Zeitgenossen  be- 
obachten kann) ,  oder  man  trägt  eine  dunkle  Vorstellung  von  der  tiefern 
Bedeutsamkeit  der  Musik  und  das  schulmässige  Bestreben,  ja  jeden 
Ton  recht  scalagerecht  auszumünzen,  hinein  und  verfällt  in  eine  eben 
so  eintönige  als  schwerfällige,  unbewegsam  psalmodirende  Singweise. 
Diese  letztere  ist  mehr  in  Deutschland  verbreitet  und  macht  sich 
besonders  bei  dem  Vortrag  in  Oratorien  und  Kirchenmusiken  fühlbar, 
also  gerade  da,  wo  das  Rezitativ  im  bedeutendem  Text  und  der 
Freiheit  von  scenischen  Rücksichten  zu  tiefem  Aeusserungen  geeignet 
ist.  Dass  eine  freie,  lebendige  und  stets  wahre,  nach  dem  Sinn 
des  Textes  und  der  Situation  bald  weilende  oder  nachdrückliche, 
bald  beflügelte  Sprache  die  Grundlage,  das  eigentliche  Wesen  des 
Rezitativs  ist,  wird  auf  beiden  Abwegen  vergessen. 

Hierzu  gesellt  sich  ein  Drittes.  Die  Kantilene  des  Rezitativs 
kann  als  reiner  Ausdruck  des  Worts  nicht  die  Reize  einer  rein- 
musikalisch ausgestalteten  Melodie  haben ;  sie  hat  dafür  ihre  eignen 
in  der  Wahrhaftigkeit  des  Redeausdrucks  beruhenden.  Wird  das 
nun  vergessen,  ist  es  vielleicht  schon  vom  Komponisten  ausser  Acht 
gelassen  worden :  so  wird  der  Sänger  im  Rezitativ  durch  manche 
Einförmigkeit  oder  Schroffheit  der  Tonfolge  gereizt,  dieser  abzu- 
helfen. So  sind  jene  all  verbreiteten  und  überall  sich  eindrängenden 
sogenannten  Hülfsnoten  entstanden,  Hülfstöne  von  oben,  durch 
die  das  Rezitativ  abgeschliffner  und  tonbeweglicher  werden  soll,  die 
aber  bei  ihrer  überhäufigen  Anwendung  nur  eine  neue  und  weich- 
liche Eintönigkeit  Über  das  Ganze  verbreiten  und  gar  oft  bedeut- 
same Züge  verwischen.  Man  nehme  an,  ein  Rezitativ  hätte  diesen 
Gang :  — 


*  Sie  finden  sich  in  der  Breitkopf-Härterschen  Partiturausgabe. 


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614         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


404 


f 

2 

und  man  wollte  die  Schlüsse  seiner  Glieder  ton  beweglicher  machen,  — 


l 

2  2 

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J  .  1 

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so  würden  durch  die  Hülfstöne  bei  4,  2,  3  die  unter  gleicher  Ziffer 
nachfolgenden  Töne  schon  nach  allgemein-melodischen  Grundsätzen 
entkräftet.  Die  Fälle,  in  denen  der  Ausdruck  des  besondern, 
vielleicht  Strenge,  Herbigkeit,  Härte,  Ueberraschung ,  Stutzen, 
Schreck  u.  s.  w.  aussprechenden  Wortes  verweichlicht  und  ganz 
verloren  wird,  sind  zu  häufig,  als  dass  man  sich  auf  erläuternde 
Fälle  einlassen  dürfte. 

Bei  den  bessern  Sängern  beschränkt  sich  unter  diesen  Umstän- 
den der  antheüvollere  und  wirkungskräftigere  Vortrag  auf  einzelne 
Momente,  die  von  des  Komponisten  oder  ihrer  eignen  Vorliebe  als 
Hauptpunkte  hervorgezogen  wurden.  In  solchen  einzelnen  Schlag- 
momenten ist  Öfters,  z.  B.  von  der  Milder  in  Gluck'schen  Opern, 
Ausserordentliches  geleistet  worden  ;  aber  dies  musstedazu  beitragen, 
das  Wesen  des  Rezitativs  zu  verschleiern,  die  Einheit  und  Wahrheit 
der  ganzen  Rede  aus  den  Augen  zu  rücken  bei  dem  auf  Einzelheiten 
einseitig  stark  geworfnen  Lichte.  Es  würde  nicht  schwer  sein,  die 
Rückwirkung  selbst  auf  bedeutende  Komponisten  unsrer  Zeit  nach- 
zuweisen. 

Unter  solchen  Umständen  darf  nun  allerdings  der  Jünger  sich 
selbst  dem  Vorbild  bedeutender  Sänger  nicht  mit  unbedingtem  Ver- 
trauen hingeben;  er  muss,  hier  mehr  noch  wie  in  andern  Fällen, 
die  Idee  rein  und  stark  in  sich  aufnehmen  und  sich  aus  ihr  unter 
dem  unbefangnen,  andachtvollen  Studium  der  Meister  seine  eigne 
Welt  erschaffen.  Nirgends  könnte  ihm  das  Ansehn  berühmter 
Namen  und  die  Nachahmung  bedeutender  Vorgänger  so  gefährlich 
werden,  wie  hier. 


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Noch  einmal  das  Rezitativ.  615 

V. 

Noch  einmal  das  Rezitativ. 
Zu  Seite  419. 

Am  Schluss  der  Lehre  vom  Rezitativ  könnte  wohl  die  Frage 
entstehn,  ob  nicht  der  Hauptsatz  derselben  :  man  habe  die  Sprache 
in  ihren  Accenten  der  Schwere  und  Leichte,  Länge  und  Kürze,  und 
besonders  in  ihrem  Tonfall  zu  beobachten,  —  noch  einer  Nachhülfe 
von  bestimmten  Vorschriften,  wie  man  sich  in  dem  oder  jenem  be- 
sondem  Redefall  zu  benehmen  habe,  fähig  und  bedürftig  sei?  In  der 
That  sind  dergleichen  Vorschriften  für  besondre  Fälle,  —  z.  B.  wie 
man  eine  Frage,  oder  eine  Ausrufung  musikalisch  ausdrücken  könne? 
—  von  ältern  Lehrern  gegeben  worden:  in  Beethoven' s  Studien 
(von  Seyfried  bei  Haslinger,  in  neuer  Auflage  bei  Schuberth  und 
Comp,  in  Hamburg  herausgegeben)  finden  sich  zu  dergleichen  Auf- 
gaben förmliche  Rezepte  von  Seiten  seines  fleissigen  Lehrers 
Albrechtsberger. 

Uns  muss  schon  der  Versuch  solcher  Lehrweise  oder  Hülfs- 
leistung  als  Fehlgriff  erscheinen.  Je  weiter  er  geführt  wird,  das 
heisst :  je  mehr  Redefälle  unter  Vorschrift  und  Formel  gebracht  wer- 
den, desto  mehr  Boden  wird  der  schöpferischen  Thätigkeit  des  Kom- 
ponisten entzogen :  so  weit  die  Formeln  reichen,  so  weit  komponirt 
er  gar  nicht,  sondern  trägt  fremde  Ausdrücke  zusammen,  etwa 
wie  Jemand,  der  sich  in  einer  fremden  Sprache  ausdrücken  soll, 
aus  Lexikon  und  Grammatik  Redensarten  zusammensucht,  die  nicht 
seine  eigne,  nicht  die  Sprache  seines  Geistes  sind.  Nun  aber  ist 
es  obenein  ganz  unausführbar,  für  alle  möglichen  Fälle  die  treffen- 
den Ausdrücke  vorauszusehn ;  wie  viel  kann  z.  B.  gefragt  werden? 
und  wie  vielfach  verschieden  nach  Sinn  und  Stimmung  kann  die- 
selbe Frage  auszusprechen,  zu  betonen  sein?  Trotz  aller  Formeln 
wird  da  der  Komponist  doch  aus  eignem  Gefühl  und  nach  eigner 
Auffassung  reden  müssen.  Und  endlich,  wenn  er  wirklich  einige 
treffende  Redensarten  aufgelesen,  wer  hilft  ihm  im  Uebrigen? 

Von  diesem  wohl  ohne  Weiteres  zuzugebenden  Satze  von  der 
Unmöglichkeit,  der  Rede  durch  Formeln  künstlerische  Belebung 
zu  verleihen,  wenden  wir  uns  an  ein  Werk  und  eine  Rolle  darin, 
die  in  überraschender  Weise  den  reichsten  Belag  dazu  geben.  Es 
ist  die  Passion  nach  Matthäus  von  Seb.  Bach*  und  in  derselben 
die  Rolle  des  Evangelisten.  Bach  nimmt  bekanntlich  in  seinem 
Werke  die  Leidensgeschichte,  das  26.  und  27.  Kapitel,  aus  dem 

*  In  Partitur  in  der  Gesammtausgabe  Bach  scher  Werke,  neuerlich  auch 
bei  Breitkopf  und  Härtel  herausgegeben,  ein  unentbehrliches  Werk  für  jeden 
Tieferstrebenden. 


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€16         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


Matthäus  wörtlich  und  vollständig  auf.  Der  Evangelist  erzählt  den 
Hergang  und  führt  die  Übrigen  dramatisch  selbstredenden  Personen, 
Christus,  die  Apostel  u.  s.  w.,  mit  »Er  sprach  —  er  hat  gesagt« 
und  ähnlichen  gleichbedeutenden  Ausdrücken  ein.  Durchgängig  (mit 
einer  einzigen  Ausnahme)  ist  der  Erzähler  (hoher  Tenor)  dabei  auf 
das  einfache  Rezitativ  beschränkt.  Und  doch,  welche  Mannigfaltig- 
keit der  Redeweise  zu  denselben  geringen  Worten !  und  wie  getreu 
jedesmal  der  Stimmung,  die  der  Augenblick  im  Redenden  hervorrief! 

Zu  Anfang,  nach  dem  erhabnen  Klagechor  in  EmoW,  tritt  der 
Erzähler  kindlich  hell  und  klar  und  einfach  auf,  wie  der  Sinn  des 
Evangeliums.  — 


*  * 


Da  Jesus  diese  Rede  vollendet  hatte,  sprach  er  zu  seinen  Jüngern  : 

Wie  im  Anfang  »Jesus«,  so  wird  zuletzt  das  »er«  und  »seinen« 
gelind  hervorgehoben;  die  Einführungsformel  ist  ruhig,  schon  ge- 
fangen durch  die  im  Bass  beginnende  Begleitung  (S.  <M2)  zu  den 
kommenden  Worten  Jesu. 

In  gespannter  Haltung,  aber  noch  ruhig,  wird  im  nächsten 
Rezitativ  (Anfang  in  Z)dur)  von  der  Berathung  der  Hohenspriester, 
Jesus  zu  fangen  und  zu  tödten,  zu  ihrer  Rede  (Doppelchorj  über- 
geführt, —  A.,  — 

A 


I 

418 


.. . .  und     töd  -  te  -  ten.    Sie  spra-chen     a  -  ber 


B 


wur-den  sie    un  -  wil  -  lig   und     sprachen  : 

während  im  folgenden  Rezitativ  die  unbedachten  Worte  der  Jünger 
mit  einem  fast  fragweisen  Ausdruck  (B)  des  »und  sprachen«  ein- 
geführt werden. 

Beruhigend  und  mild  und  still  überlegen  wird  Jesus  ihnen  ant- 
worten.   Dies  führt  der  Evangelist  so  (A)  — 

A  * 


3 
418 


-p- 


i 


Da   das   Je  -  sus   mer-ke- te,    sprach   er    zu  ih-nen 


zu   den  Ho  -  hen  -  priestern  und  sprach 


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Noch  einmal  das  Rezitativ. 


617 


ein,  während  gleich  im  folgenden  Rezitativ,  wenn  Judas  sich  zum 
Verrath  anbietet,  das  »und  sprach«  wie  ein  schmerzlicher  Ausruf 
scharf  emporfährt,  —  und  in  dem  bald  folgenden  Moment,  wo  das 
Wort  Christi  in  das  böse  Gewissen  des  Judas  schlägt,  —  . 

(Judas) 

I  W1  t 

Da   antworte-  te  Judas,    der  ihn  verrietb,  und  sprach  :  Bin  ich's, 

Rab-bi?  er  sprach  zu  ihm: 

die  Rede  hin-  und  hergerissen  wird,  ohne  Halt. 

Es  ist  also  mit  aller  Formelkunst  nichts  gethan  und  keine  andre 
Hülfe,  als  tiefes  Studium  der  Sprache,  des  jedesmaligen  Textes  und 
Verhältnisses,  und  der  Meister  in  diesem  Felde,  —  dann  im  Augen- 
blicke der  Komposition  tiefstes,  innigstes,  von  keiner  nachlässigen 
oder  feigen  Rücksicht  auf  Herkommen  und  Alltagsgewohnheit  ge- 
hemmtes Versenken  in  die  Aufgabe. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  erscheinen  uns  Gluck  und  Seb. 
Bach,  wie  schon  aus  Frtiherm  erhellen  muss,  als  die  höchsten 
Muster.  Und  unter  ihnen  ist  es  wieder  der  letztere,  der  — 
namentlich  in  seiner  Matthäischen  Passion  —  die  reichste  und  glück- 
lichste Aufgabe  für  das  Rezitativ  gefunden  und  mit  heldenmüthiger 
Treue  und  genialer  Vielgestaltigkeit  gelöst  hat.  Es  wird  schwerlich 
gelingen ,  ohne  Kenntniss  jenes  Werks  die  Form  des  Rezitativs  in 
ihrem  Umfang  und  ihrer  Tiefe  zu  fassen. 

Vom  kurzen  Anführungswort  »Er  sprach«  bis  zu  der  ausführ- 
lichen Erzählung  von  den  Zeichen  bei  Jesu  Tode,  vom  einfachen 
Rezitativ  bis  zu  dem  fast  in  Lied-  oder  Arienform  tibergehenden 
Arioso  finden  sich  alle  Formen  beisammen.  Eines  dieser  Arioso's 
(No.  25,  »O  Schmerz!  hier  zittert  das  gequälte  Herz!«)  umschliesst 
sogar  einen  vom  Chor  gesungnen  Choral,  —  eine  eigenthümliche 
Anwendung  der  Choralfiguration. 

Die  verschiedensten  Karaktere  werden  in  diesen  Rezitativen  oft 
mit  wenigen  flüchtigen  Zügen  sprechend  gezeichnet.  Wir*  heben  nur 
Einen  zum  Belag  hervor,  den  Judas. 

Er  bietet,  nachdem  die  Erzählung  sich  von  A-  nach  Z)dur 
gewendet,  seinen  Verrath  den  Hohenpriestern  so  an.  — 

nü^S  1     '  I  f  — Hj= 

r  jk 
Was  wollt  ihr  mir  ge-ben?  Ich  will  ihn  euch  ver-ra-then. 


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618 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


Ganz  muthig  tritt  er  in  seinem  Ddur  hin  und  fragt  recht  be- 
stimmt nach  dem  Lohne;  nur  das  »ich  will  ihn  euch  verrathen  «kommt 
im  kümmerlichen  verminderten  DreiklaDg  zu  Tag  und  schliesst  ganz 
haltungslos  und  verirrt.  Wie  auf  Jesu  Weissagung  das  »Bin  ich's, 
Rabbi?«  herausgestossen  wird  in  athemlos  feigem  Trotz,  ist  oben 
(No.  */m)  zu  sehen  gewesen.  —  Hiernach  erscheint  er  nur  noch 
zweimal.   Zuerst  bei  dem  verräterischen  Gruss,  — 


Ge  - 

•  grüs-set  seist  du,  Rab-bi! 

schreierisch  hoch,  mit  viel  unnöthigem  Aufwand  und  Dreistigkeit  zur 
Decke  für  innere  Hohlheit  und  Schwäche.  Zuletzt,  wenn  ihm  bangt  bei 
den  Folgen  des  Verraths,  und  er  zu  den  Hohenpriestern  spricht :  — 

Ich  ha-be  ü-bel  gethan,  dass  ich  unschuldig  Blut  verrathen  habe 

und  das  »Uebelgethan«  ihm  durch  das  innerste  Mark  dringt,  nun 
der  Schrei  um  das  unschuldige  Blut  und  die  erbleichende  Scham  über 
den  Verrath  heillos  zu  spät  kommen.  —  Uebrigens  ist  das  Karakter- 
bild  des  Judas  nicht  etwa  als  ein  besonders  gelungenes,  sondern 
als  eines  der  gedrängtesten  hier  vorgezogen  worden. 

Der  Gipfel  des  Ganzen  und  das  Höchste ,  was  im  Rezitativ  je 
einem  Künstler  gegeben  worden,  ist  aber  Jesus,  dessen  Reden  natür- 
lich keine  andre  Form  als  die  des  Rezitativs  finden  konnten,  aber 
durch  die  Tiefe  des  Gefühls  häufig  und  in  wunderwürdiger,  ganz 
unerhörter  Weise  sich  zum  Arioso  erheben.  Unerhört  sind  überhaupt 
diese  Reden ;  es  konnte  solche  Weise  nur  von  solcher  Persönlichkeit 
und  unter  diesen  Umständen  vernehmbar  werden,  daher  hier  mehr 
als  irgendwo  (S.  408)  gar  nicht  daran  zu  denken  ist,  die  Redeweise 
des  Alltags  als  Prüfstein  der  Komposition  anzuwenden,  sondern  man 
die  tiefere  Redeweise  der  tiefern  Natur  und  der  ausserordentiichsten 
Verhältnisse  und  Stimmungen  erst  in  sich  erschaffen  und  begreifen 
lernen  muss.  Nur  zwei  Momente  seien  hier  noch,  als  Andeutungen 
zu  durchdringendem  Studium,  hervorgehoben. 

In  Heblichster  Weise  (Gdur,  Halbschluss  auf  der  Dominante) 
haben  die  Jünger  im  Chor  den  Herrn  gefragt,  wo  sie  ihm  das  Oster- 
lamm  bereiten  sollen.  — 


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■ 


Noch  einmal  das  Rezitativ.  619 


ihm:  Der  Meister  lässt  dir  sagen:  Meine  Zeit  ist  hin,  ich  will  bei  dir  die  Ostern 


 4— 

T 

1  

^  S  E 

=]■=*=*- 

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— 1  

hal  -  ten 

f — — 

mit  mei-nen 

Jün-gern. 

In  eben  so  lieblich  holder  Weise  entgegnet  er  ihnen.  Aber  hier 
bot  der  Text  eine  eigne  Schwierigkeit,  die  in  der  Einschachtelung 
der  selbstredend  eingeführten  Personen.  Nach  der  Einführung  durch 
den  Evangelisten  spricht  4)  Jesus  zu  den  Jüngern  und  gebietet,  es 
sollten  2)  sie  reden,  was  3)  er  ihnen  gesagt;  er  führt  sie  redend  ein 
und  sie  sollen  ihn  redend  einführen.  Die  Form  des  Textes  aber  war 
dem  Komponisten  nicht  bloss  als  Schriftstelle  unveränderlich,  sie  ist 
auch  in  der  That  kindlicher  und  dem  kindlichen  Sinn  der  Jünger  ge- 
mässer,  sie  ist  wärmer  und  persönlicher.  Die  Worte  des  Evangelisten 
nun  scheiden  sich  durch  die  besondre  Stimme,  der  sie  anvertraut  sind, 
leicht  von  dem  Uebrigen;  in  diesem  aber  soll  die  dreifache  Scheidung 
von  ein  und  derselben  Stimme  hervorgehoben  werden. 

Die  Weise,  in  der  dies  geschehn  ist  und  allein  geschehn  konnte, 
führt  auf  den  S.  354  ausgesprochnen  Grundsatz  von  der  karakte- 
ristischen  Scheidung  der  Stimmen.  Die  ersten  Worte  Jesu  — 

Gehet  hin  in  die  Stadt  zu  einem  und  sprecht  zu  ihm: 

haben  die  Lage  eines  höhern  Basses;  ihr  Mittelpunkt  ist  die 
Worte,  die  die  Jünger  als  die  ihrigen  sprechen  sollen,  — 

Der  Meister  lässt  dir  sagen : 

sind  in  der  tiefern  Basslage;  ihr  Mittelpunkt  ist  das  tiefere  d\  die 
letzten  Worte,  die  sie  als  Rede  des  Meisters  zu  bestellen,  für  ihn, 


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620 


Erläutemngen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


aus  seinem  Munde  anzuführen  haben,  treten  wieder  in  die  erste 
Stimmlage.  Dabei  geschieht  die  Einführung  jeder  Lage  so  unge- 
zwungen und  wohl  verschmolzen  mit  der  vorhergehenden,  dass  man 
ohne  den  erläuternden  Text  nur  eine  einheitvoll,  wenngleich  reich 
entfaltete  Stimme  vernehmen  würde.  Diese  inhaltreiche,  schön- 
geschwungne Stimme  geziemt  aber  dem  glücklich  reichen  Organismus, 
den  wir  für  die  Person  Jesu  vorauszusetzen  haben,  —  und  ferner 
entspricht  die  höhere  Lage  der  ersten  und  letzten  Worte  dem  hellen 
Sinn  und  der  Bewegtheit  des  innern  Lebens,  so  wie  der  tiefere 
Mittelsatz  der  Demuth  und  Ernsthaftigkeit  der  Jünger. 

Die  zweite  Stelle,  die  wir  noch  hervorheben,  ist  die  Be- 
scheidung ,  die  Jesus  den  Jüngern  ertheilt,  da  diese  mit  Unmuth  und 
vielem  Aufheben  sich  nicht  zufrieden  geben  können  über  das  Weib, 
das  Jesum  kostbar  gesalbt,  statt  den  Erlös  für  das  Salböl  den 
Armen  gegeben  zu  haben.  Dies  hat  sich  in  einem  Chore  .1  inoll. 
Schluss  in  D  moll)  ausgesprochen  und  der  Evangelist  Jesum  redend 
eingeführt,  wie  in  No.  3/418  A  gezeigt  worden.  Nun  die  Rede 
Jesu,  —  oder  vielmehr  nur  ihr  Anfang.  — 




9 
418 


fit 


-TA  X, 


5= 


Was  bekümmert  ihr  das  Weib?  Sie  bat  ein  gut  Werk  an  mir  ge- 

-I  1  


3 


thaiu    Ihr    ha  -  bet   al  -  le  -  zeit    Ar  -   me   bei   euch,  mich 


r 


-r=r- 


±E£E 


6  fi 


t 


a  -  ber  habt  ihr  nicht  al  - 


le  -  zeit. 


Der  weitere  Fortgang,  der  in  Prophetenglut  aufleuchtet,  bleibe 
dem  eignen  Forschen  überlassen. 

Von  dem  lieblichmilden  Fdur,  in  dem  Jesus  (No.  8;418)  ein- 
geführt war,  wendet  sich  die  Rede  sogleich  ernster  gegen  die  Unter- 
dominante, setzt  sich  aber  nicht  in  ihr,  sondern  in  wehmüthigem 


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Noch  einmal  das  Rezitativ. 


621 


Mitgefühl  mit  dem  gescholtnen  Weib  und  der  Blindheit  der  Jünger 
im  weichen  Gmoll,  mit  Berührung  der  Unterdominante,  —  des 
trübkalten  Cmoll,  —  fest. 

Jene  Wendung  nach  J?dur  und  gleich  weiter  auf  die  Dominante 
von  G  giebt  nun  sogleich  der  Frage  — 

Was  bekümmert  ihr  das  Weib? 

nicht  bloss  den  allgemeinen  rhetorischen  oder  deklamatorischen  Frag- 
accent,  sondern  den  vollen  Ausdruck  für  die  allgemeine  Stimmung 
des  Fragenden  und  für  die  Bedeutung  jedes  Worts.  Die  Frage 
spricht  sich  schon  in  der  Emporhebung  des  »Was«  und  des  Schluss- 
tons aus,  da  die  steigende  Tonfolge  (Th.  I,  S.  22)  nicht  beruhigt, 
sondern  anregt,  wie  die  Frage  zur  Antwort.  Verstärkt  ist  dieser 
Ausdruck  durch  das  Schwankende,  das  der  die  Frage  schliessenden 
Umkehrung  und  dem  Trugschluss  eigen  ist.  Der  Stimmung  im 
Allgemeinen  entspricht  die  Modulation  und  die  Senkung  der  Stimme, 
wo  die  Frage  sie  nicht  emporzieht.  So  tritt  nun  vor  allem  das 
»Was«  (aus  welchem  Grunde?  mit  welchem  Recht?  zu  welchem 
Nutzen?)  in  sein  volles  Gewicht,  um  sogleich  den  vorangegangnen, 
ungestüm  aufgeregten  Chor  zu  stillen.  Und  doch,  wie  mild!  der 
hohe  Ton  ist  noch  kein  heftiger  in  der  Bassstimme;  er  ist  im 
Akkorde  die  unbestimmte  Quinte,  nicht  so  positiv  wie  der  Grundton, 
nicht  so  scharf  bestimmend  wie  die  Terz ;  von  ihm  sinkt  die  Stimme 
in  einer  sanften  Sexte  hinab  in  die  Septime  des  hiermit  zu  einem 
Dominantakkord  erweiterten  Dreiklangs,  wodurch  zugleich  das  »be- 
kümmert« seinen  rechten  Ausdruck  findet.  Der  Schluss  der  Frage 
ist  durch  den  bedeutenden  Emporschritt  bezeichnet  zur  Genüge, 
aber  wiederum  mild  und  schonend;  jener  Schritt  ist  eine  Sexte, 
der  neue  Ton  wieder  die  Quinte  des  neuen  Akkords  und  dieser 
öffnet  eine  neue  Region,  wir  fühlen  aus  dem  Zusammenhange  das 
Gmoll  voraus. 

Anders  treten  die  folgenden  Worte  — 

Sie  hat  ein  gut  Werk  an  mir  gethan 

hervor.  Hier  tritt  sogleich  Grundton  und  Oktave  des  Akkords  in 
die  Singstimme  auf  »sie«  und  noch  bezeichnender  auf  »gut«;  im 
letztern  Moment  nimmt  auch  die  Harmonie  den  Grundakkord  statt 
der  Umkehrung.  Wiederum  erweitert  sich  der  Dreiklang  zum 
Dominantakkorde;  die  Septime  bezeichnet  mit  jenem  wehmüthigen 
Vorgefühl  das  »mir«,  der  Schluss  fällt,  mit  einer  Antizipation,  auf 
die  Terz. 

Es  bedarf  keiner  weitern  Zergliederung,  weder  für  das  Folgende 
(wo  wir  nur  auf  den  dreimaligen  auseinandersetzenden  Nachdruck 
im  letzten  Abschnitt  aufmerksam  machen),  noch  für  diejenigen  der 
vorangehenden  Fälle,  bei  denen  wir  nur  einige  Resultate  ohne  nähern 


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622         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 

Nachweis  gegeben  haben.  Was  bei  einem  der  beleuchteten  Fälle 
erkannt  ist,  wird  den  andern  zu  Statten  kommen.  Die  letzte  Be- 
weisführung ist  doch  nicht  hier,  sondern  in  der  Musikwissenschaft 
zu  geben;  für  die  künstlerische  Anschauung  genügt  aber  hoffentlich 
das  hier  Angedeutete. 

Die  Liedform  in  freier  Anwendung  auf  Gesang. 

Zu  Seite  439. 

Im  Lehrgange  ist  nur  vom  eigentlichen  Liede  zu  reden  gewesen, 
das  in  der  Regel  Gedichte  von  mehrern  Versen  zur  Aufgabe  hat. 
Nicht  selten  wird  aber  die  Liedform  auch  auf  Gedichte  angewendet, 
die  nicht  in  mehrere  Verse  zerfallen,  oder  deren  Verse  zu  einer 
einzigen  unzertheilten  Masse  zusammengezogen  werden.  Dann 
fällt  die  Schwierigkeit  —  oder  streng  genommen  Unmöglichkeit  — 
hinweg,  einem  durch  verschiedne  Verse  fortschreitenden  Gedicht, 
einer  von  Vers  zu  Vers  sich  mehr  oder  weniger  verwandelnden 
Stimmung  durch  eine  einzige  enggeschlossne  Komposition  zu  ge- 
nügen. Dann  wird  es  erreichbarer,  neben  der  allgemeinen  Stimmung 
auch  dem  Einzelnen  genügenden  Ausdruck  zu  verleihen;  wir 
sagen:  erreichbarer,  —  denn  zum  vollen  Genügen  wird  es  meist 
umfassenderer  Formen  bedürfen,  von  denen  erst  im  zehnten  Buche 
die  Rede  sein  kann. 

Niemand  ist  in  dieser  Hinsicht  Tieferes  und  Merkwürdiseres 
gegönnt  worden,  als  Gluck,  der  besonders  in  der  aulidischen 
Iphigenie  schon  um  des  raschen,  dramatischen  Fortschritts  willen 
mehrern  Arien  Liedform  gegeben  hat.  In  solcher  Form  spricht  sich 
jener  fluchtige  Augenblick  des  Glücks  und  der  Milde  (S.  401)  aus, 
den  Klytemnästra  vor  uns  erlebt ;  in  ihr  werden  Nebenmomente  der 
Handlung,  z.  B.  die  Preisgesänge  auf  Achill,  Vindomptable  Hon  und 
son  front  est  couronne1,  —  ohne  den  dramatischen  Einherschritt 
irgend  zu  beschweren  —  zu  schnelltreffender  Macht  erhoben,  dass 
mit  einem  einzigen  Zug  ein  ganzer  Karakter,  ein  volllebendiger 
Zustand  des  Menschen  vor  unser  erstauntes  Auge  springt.  Es  war 
das  einzige  Mittel,  in  dem  nicht  durchaus  günstig  angelegten  Drama 
die  Heldengrösse  Achills  und  seine  Bedeutung  für  Volk  und  Heer 
der  Hellenen  —  ohne  die  das  Ganze  entscheidungslos  fiel  —  scharf 
und  rasch  genug  in  das  Licht  zu  stellen. 

In  der  Beilage  II  geben  wir  ein  solches  Lied :  den  ersten  Ab- 
schied Iphigeniens  von  Achill.  Iphigenie  hat  sich  nicht  bloss  in  kind- 


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Die  Liedform  in  freier  Anwendung  auf  Gesang.  623 

licher  Demuth  dem  Gebot  der  Götter  und  des  Vaters  zum  Opfer 
ergeben;  sie  vollbringt  auch  das  Opfer,  von  dem  Anhauch  des 
Liebens  und  Geliebtseins  durchwärmt,  erhoben  in  dem  BemUhn,  den 
Schmerz  der  Mutter  und  des  Geliebten  zu  beschwichtigen,  sie  mit 
dem  Vater  zu  versöhnen,  Ubergossen  mit  jener  Anmuth,  die  noch 
dem  Leid,  dem  nahenden  Tode  Reize  zu  leihen  weiss.  Dies  ist 
der  Zustand,  in  den  der  Gesang,  den  wir  mittheilen,  tritt. 

Nun  spiele  man  ihn  vorerst  bloss  am  Klavier,  oder  singe  ihn 
mit  Hinweglassung  und  ohne  Berücksichtigung  des  Textes :  so  wird 
man  der  Sanftmuth,  der  stillen  Versenkung  zum  Schluss  des  ersten, 
der  erhöhten  Bewegung  zu  Anfang  des  zweiten  Theils  inne  werden, 
wird  den  Grundton  des  Ganzen,  sanftbewegte  Anmuth,  vernehmen. 
Dann  aber  gehe  man  in  das  Einzelne,  —  und  man  wird  es  mit- 
empfinden, wie  bei  dem  jusqü'au  tombeau  dem  innernAugelphigeniens 
die  Schauer  der  zu  früh  geöffneten  Gruft  nicht  verborgen  blieben, 
wie  sie  nicht  etwa  in  erkünsteltem  Pathos  oder  Heroismus  das  mensch- 
liche Gefühl  erdrückt  oder  verhehlt,  doch  aber  in  ihrer  Pietät  es  zu 
überwinden  vermag.  Und  wie  anmuthig  und  voll  Adel  beugt  sie 
sich  bei  dem  Oui  sous  le  fer  de  Calchas  im  Geiste  schon  unter 
das  Opfermesser  des  Priesters !  wie  weilt  sie  in  den  letzten  Augen- 
blicken bei  dem  Geständniss  ihrer  Liebe,  dem  letzten  Liebespfand 
für  den  bald  Verlassnen,  wie  jungfräulich  scheu  eilt  sie  leicht  und 
flüchtig  über  das  et  mon  dernier  soupir  weg,  dass  nun,  nach  solchen 
Regungen,  das  que  pour  vous  anspruchlos,  ohne  Bedtirfniss  und 
Kraft  zu  besonderm  Nachdruck  hingegeben  wird !  Es  liesse  sich  die 
tiefe  Wahrheit  der  Konzeption  in  jeder  Note  nachweisen.  Und 
doch  ist  die  volle  Bedeutung  dieses  Gesangs  nicht  ohne  durch- 
dringende Betrachtung  des  ganzen  Karakters  und  der  ganzen  Oper 
zu  fassen. 


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624 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


Beilage  I« 

Rezitativ  (No.  9.)  aus  der  Matthäischen  Passion  von  Seb.  Bach. 


Andante. 
AU. 

^Hrre—  ~  5  fc-nr*  fc-r*  sc  5  ß  fc  fc — 

ffT"  ^  '  *     d  W             Li     ä  1 

Du  He  -  ber  Heiland, 

(Flöten.) 

-1  :  / — * — • — 0  

du,                    wenn  dei-ne 

(Bässe  pizz.) 

^%**H  *B — -~i  **  

1  — i  -  

i 


■t—n 


r 


 W~  -9—* 

Jünger  thöricht  streiten,      dass    die-ses  fromme  Weib 


mit 


v 


1 


Salben  dei-nen  Leib 


-0  0- 


3= 


Je 


so 


zum    Gra-be  will  be-rei-ten: 


93 


r 


lasse  mir  inzwischen  zu,  von  meiner  AugenThränenflüssen  ein  Wasser 


 <  1  LP 

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Beilage  II. 

Arie  aus  Gluck's  Iphigenia  in  Aulis. 


Lento.  (Andante.) 


II    faut  de  raon  de  -  stin 

*4 


sub  -  ir   la    loi  su  -  prß  -  me ; 


4= 


3 


^^^^^ 


jus  -  qn'au  tom-beau  je  bra-ve-rai  ses  coups.  Oui,sousle 
l,     i  t — i  1  ,— i  n— J— 


i 


i 


i 


fer    de   Cal-chas     m6  -  me        je  vous  di  -  rai,  que  je  vous 


=8= 


i 


■  i- 


Marx,  Korap.-L.  III.  6.  Aufl. 


40 


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626 


Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theüe. 


Lento. 


a  teinpo. 


ai   -  me,  que  je    vous  ai 


me ;    et   mon  der-oier  sou- 


JM  .  ]>  i    f  j=qL|  » 

— ^  * — p — q* —  «— «-1 

— i- 

M  

pir  ne  se  -  ra    que  pour  vous. 


r 


3 


I 


Beilage  III. 

Aus  Seb.  Bach's  Matthüischer  Passion, 


(Zwei  Chöre  zu  4  Stimmen.) 


Herr,  wir    ha  -  ben  gedacht, dass  die 

=3 


ser  Ver-füh-rer  sprach, 


^^^^^^^^^^^^^^ 


Herr,  wir    ha  -  ben  gedacht, 


dass  die-ser  Ver-füh 


rer 


Herr,  wir    ha  -  ben  ge-dacht,       dass  die-ser  Ver-füh    -  rer 


1 


r  u  u 


Herr,  wir    ha  -  ben  ge-dacht,       dass  die-ser  Ver-füh 


ror 


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Beilage  III.  627 


_fc  f    b  J  J> 

^      |       heule  Chore  vereint) 

\~-tl-  .  

da    er   noch  le  -  t 
s 

-4 — -k    ~>  h j- 

>e  -  le : 

 „  

sprach,  da    er  noch   le  -  b 

e  -  le 

,»  J 

M 

: 

 1 

  7=^=^ 

sprach,  da     er  noch  le  -  L 

>e  -  te 

M 

ich   will  nach 

sprach,  da    er    noch  le  -  be  -  te:      ich  will  nach  dreien    Ta  -  gen 


* 


ich  will  nach  drei  -  cn  Ta 


1 


ich  will  nach  dreien  Ta  -  gen  wieder  auf-er-ste 


hen, 


drei-en  Ta-  gen  wieder   auf-er-ste  -  hen,  nach  drei-en  Ta 


wie-der  auf  -  er  -  ste 


hen,  ich  will  nach  dreien 


— h 


-    gen  wie-der    auf-er-ste  -  hen.  Da  -  rum  be-fiehl, 


dass 


wie 


der  auf-er-ste  -  hen. 


Darum  be-fiehl, 


gen   wie-der  auf-er-ste  -  hen. 


Da-rum  be- 


===* 


Ta-gen  wie-der  auf-er  -  ste  -  hen. 


Da- 


40* 


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628         Erläuterungen  und  Zusätze  zum  dritten  Theile. 


£=£=£ 


man  das  Grab  ver-wah 


re  bis 


tlass  man  das    Grab      ver  - 


wah  -  re     bis  an 

rT  r  > 


den 


fiehl,  dass  man  das  Grab  vt 


dass  man  das  Grab  ver  -  wah-re     bis    an  den 


W- 


rum  be- fiehl,  dass  man  das  Grab  ver  -  wah-re     bis    an  den 


P 


an  den  dritten  Tag; 


auf  dass  nicht  sei-ne 


drit  -  ten 


Tag; 


§1^ 


auf  dass  nicht  sei  -  ne  Jün-ger 

3=£ 


x 


1 


drit   -  ten  Tag; 


auf  dass  nicht  sei  -  ne  Jün-ger  kom- 

nf  ?=£ 


1 


— 9 


drit  -   ten      Tag;  auf  dass  nichtsei-ne    Jün-ger  kom    -    men  und 


* 


Jün-ger      kom  -  men  und  stehlen  ihn,  und  steh 


len,  und 


kom 


men  und  steh 


len  ihn,  und  steh 


mon  und  stehlen  ihn 


§0 


£=* 


£=5 


,  und  steh  -  len     ihn,  und 


stehlen       ihn,  auf  dass  nicht  sei-ne  Jünger  kom -men  und 

-ür  er  t — rn  fr-t=feg=-r  j  /  1 


steh- len  ihn, 


und    sa  -  gen    zu  dem  Volk:    er  ist 


~-9 


len  ihn, 


0 


Sc 


und 


sa  -  gen   zu    dem  Volk 

g  :*=£=£ 


1 


steh  -  len  ihn, 


und    sa  -  gen   zu   dem  Volk: 


Sieh  -  len      ihn,  und  sa 


m 


gen   zu  dem  Volk 


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Beilage  III. 


629 


auf  -  er  -  stan-den  von  den  Tod 


ten,  und 


* 


er    ist  auf-er  -  standen  von  den  Tod -ten,  und 


er  ist  auf  -  er -standen  von  den  Todten,  auf-er  -  stan-den,  und 


"H  4 


"3  M  ' 

1— f— 


er     ist  auf-er  -  standen  von  den   Tod-ten,  und 


— *F£f  f.  rr-r-f-t—? 


wer-de  der  letz-te  Be-trug 


är 


wer-de  der  letz 


te  Be-trug  är 


SS 


wer-de  der  letz 


te  Be-trug  är 


ger,  är 


wer-de  der  letz  te  Be  -  trug  är 


-  ger  denn  der  er-ste,  är 


ger  denn  der  er 


sie. 


-  ger,  är  ger  denn  der  er      -  ste. 


ger,  denn 


der  er  -  ste. 


ger  denn  der  er 


ste. 


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I 


Sachregister. 


A. 


Abschwellen.  353. 
Achtstimmigkeit.  450. 
Adagio.  24L2. 
Aeschylus.  322. 
Affekt.  34JL 
Akkord.  394. 
Albrechtsberger.  645. 
Allegri  (Gregorio).  525. 
Allegro,  Allegroform.  2Ü2. 
Alt.  858. 
Anapäst.  408. 

Andeutung,  Anführung.  2JL4. 

Anhang.  SÄ,  412,  IAA.  l  s ', , 

Anknüpfung,  22Ä.  231.  2M,  iajl 

Anschwellen.  353. 

Arioso.  311,  2M,  iliL  41G.  4UL 

Artikulation,  s.  Lautbildung. 

Athem.  347. 

Ausarbeitung.  214, 

Aushalten.  3  5  4. 

Ausschalten.  461. 

Auszählen.  24JL 

B. 

C.  P.  E.  Bach.  4_8_,  5_5£, 
J.  M.  Bach.  52Ä. 

Seb.  Bach.  12,  42,  45,  5_L  55.  aL  337, 
311.  3fiL  4JLL  4M.  ill  4JJL  151, 
467.   490.  SU.  Sag.   534.  536.  5A5, 

572.  608.  61  Ii.  £21.  616, 
Ballade.  43JL 

Bariton.  359. 
Bass.  äüL 
Bastardella.  354. 
C.  F.  Becker.  4SI. 

Beethoven.  liL  20,  23,  2iL  3jL  4JL  5J_. 
3JL55.5JL6JL  liL  SiL  ILL  116.  Iii 
133  168.  17  0.  190.  iü£.  2ÜL  2ü3^ 
236.  2M,  27JL  2ÄÄ,  ÜLL  1G2.  Ml. 
EU  330.  355.  430.  553.   355.  563. 

573.  877.  578.   584.  588.   590.  6JUL 
Begleitung.  2JJL  4ÜL  4UL  4M. 
tigurale  Begleitung.  Ii 

Benevoli  (Orazio).  546. 
L.  Berger.  48JL  57JL 
Bewegung.  IM,  3_4JL 
Bewegungsprinzip.  251 , 
Bewegungstbeil.  292. 
Bewusstsein.  599. 
Bibel.  14A, 
Binden.  353. 
Bravour.  343 

ßruststimme,  Brustton.  35fi. 
Byron.  314_ 


C. 


Caldcron.  376 
Cantus  firmus.  473 
Capriccio.  Gapricc.  41,  33fl. 
Cherubini.  4  54. 
Chopin.  22,  556. 
Chor.  3_ÜL  412.  450. 
dreifacher  Chor.  540.  542. 
vierfacher  Chor.  540.  546. 
fugirter  Choral.  503. 
Choralfiguration.  16JL 
Choral  mit  Fuge.  503. 
Chorform.  315.  465. 
Chorkoraposition.  11,  442. 
Chorkräfte.  4M. 
Chorlied.  439. 
Chorrezitativ.  449. 
Chorstimme.  442. 
Chortext.  412. 
Clementi.  2JL  588. 
Contr'alto,  s.  Kontra-Alt. 
C ramer.  26.  5M. 
Czerny.  61 1 . 

D. 

Devrient  (Schröder).  3ää. 
Dichtkunst,  all 
Diskant.  358. 

Doppelchor.  3_ÜL  4M.  ÖI8,  522.  älü, 
Sil, 

Doppelfuge.  21fi.  5JLL 
Doppellaut.  363. 
Doppeltriole.  148. 
Dreistimmigkeit.  45JL 
Duett.  äiJL 
Durcharbeitung.  21 1 , 
Durchführung.  22JL 

Dussek.  äS,  L4Ä,  2JÜL  212.  Iii.  330. 
332.  5Jil.  587.  610. 

E. 

Ebenmaass.  121, 
Einführung,  s.  Anknüpfung. 
Einleitung.  3JLL  311, 
Einstimmigkeit.  450. 
Ensemble.  315- 
Entwurf.  580. 
Etüde.  2Ä.  3JL 

F. 

Falset.  ä&fi. 

Fantasie.  41,  4A,  Ifi.  3_0JL  33JL  33  7. 

339.  340. 
Fasch.  546. 


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Sachregister. 


631 


Ferdinand  (Louis).  35.  588.  .'»H9. 
Field.  3JL  522. 
Kiguralform.  3A5.  üflL 
Figuralmotiv.  466. 
harmonische  Figoration.  6JL 
Finale  28.  2Ü1  J2L 
Fistel,  s.  Falsett, 
Formal- Variation.  6JL 
verbundne  Formen.  301 , 
Formlehre.  836.  691. 
Forte.  IL 

Fortführung,  Fortgang,  268.  377. 
R.  Franz.  430. 
Fünfstimmigkeil.  450. 
Fugato.  i4L  296.  337. 
Fuge.  4i  246_  13JL  478. 
Fugenform.  7JL  34S. 
Fugentext.  478. 
Fugenthema.  22.  479.  481 . 
Fughette.  18. 

6. 

J.  Gabrieli.  üAl 
V.  Galilei,  425, 
Gang.  9&  HL  45JL  IM.  387. 
Gangpartie.  222. 
Gegensatz.  322. 
Gesang,  12,  346. 
Gesangform.  345. 
Gesangkomposition.  34g. 
Gesangmusik.  345. 
Gesangorgan.  346. 
Gesangtext,  s.  Text. 
Gigue.  22. 
Gleichmaass.  122. 

Gluck.  ÜL  26JL  3.22.  4M,  401.  41L 

412-  £12.  Sil-  625. 
Goethe,  iü  34JL  3_4_L  361,  222.  423. 

4M.  442.  57L 
Gr6lry.  370. 

Griechen,  griechische  Musik.  424. 
Grundklang.  3_ül 
Grundkonstruktion.  195. 

IL 

Händel.  24L  22L  40JL  4ÜL  4JL  442. 

L5JL  451.  42L  422.  4SI.  50L  SIL 
Härder.  43JL 
Hauchlaut.  363. 
Hauptmasse.  182. 
Hauptpartie.  437.  249.  225. 
Hauptsatz.  9J.  122,  126,  L22.  üüL  im 

117_  24JL  25JL 
Haute-contre.  359, 

J.  Haydn.  iL  52,  112.  293,  830.  441, 
493.  4M.  B42,  222.  B2L  52L  222, 
IL  Heine  439. 
Henselt  2JL 
Herkommen.  593. 
Hiller.  4M. 
Höhe.  IM. 


E.  T.  A.  Hoffmann.  60s. 
Hoven.  4M. 

Hülfsnote  (im  Rezitativ).  648. 
Hummel.  ill.  5M.  252.  5&9_.  21L 

I. 

Inhalt.  122. 

Instrumentalsatz.  12. 

nicht  selbständige  Instrumente.  42. 

selbständige  Instrumente.  12*  IL  15. 

Introduktion,  s.  Einleitung. 

K. 

Kadenz.  441. 
Kanon.  8JL  äL 
Karakter-Variation.  5JL  75. 
Kastraten-Stimme.  357. 
Katholizismus.  52L  528.  &4JL 
Kehlkopf.  347. 
Kernsatz.  145.  485. 
Kielenflügel.  47. 
Klang,  2.  5.  2.  12. 
Klavier.  12.  553. 
Klavierfuge.  4_3_  9JL 
Klavierhusar.  8JL 
Klavierkomposition.  IL  553. 
Klavierspiel.  40. 
Klingen.  63. 
Klopstock.  311. 
Knabenstimme.  357. 
Koloratur.  357. 
Konsonant,  s.  Mitlaut. 
Kontra-Alt.  252. 
Konzentrirung.  4  87 
Kopfstimme,  s.  Kopfton. 
Kopfton.  356. 
Kücken.  430. 
Künstler.  844. 
Künstlerlaune.  26. 
Kunstaufgabe.  343. 

Kunstform.  51.  52.  152.  31L  593.  598. 
Kunstlehre.  255. 
Kurschmann.  430. 

L. 

Lange.  354. 
Lauf.  312, 
Laut.  3fi2. 
Lautbildung.  347. 
Lied.  22,  215.  386, 
durchkomponirtes  Lied.  434 
Liedform.  12.  212.  825.  420.  6i2. 
angewandte  Liedform.  25. 
Liedkomposition.  429 
Liedtext.  42a.  421. 
Lizt.  22.  551.  560.  21L 
Litolflf.  22. 

Löwe.  325.  382.  422.  437, 
M. 

Männerchor.  440. 
Maggiore.  5JL  IM, 


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632 

i 


Sachregister. 


Marcello  (Benedctto).  3.5JL 
Marsch.  334. 
Maxime.  aiü, 
Melodie.  HL 
Melodrama.  382, 

Mendelssohn.  115,  380.424.t30.44fi.5S5. 

Menuett.  13JL 

Methfessel.  430, 

Meyerbeer.  EM,  430, 

Mezzo-Sopran.  359, 

Milder.  6±L 

Minore.  5JL 

Mischform,  Mischgestalt.  133,  am.  il!L 
R7«.  finn 

Mi  Haut  ni, 

Mitte  der  Stimme.  354. 
Mittelklasse  der  Stimme.  35 H 
Mittelsatz,  121, 

Modulation.  10JL  17JL  20JL  i&IL  29JL 

an,  a3_L 

Moscheies.  21,  5&9_ 
Motette.  3JJL  5JJL 

Mozart.  15.  42,  14,  Ü5,  IM,  IM,  2ÜL 

2ii  252,  2jll  211,  tu.  211,  üül 

30fi.   344.  883.   385.  333.  337.  .354. 

3,->7.   430.   /.99.  ÜÜL  515,  5M, 

Ml  6_L0_ 
A.  E.  Müller,  21,  42,  82,  551, 
Musik.  311, 

Musiklehre.  1,  5,  6,  Sl,  Iii,  22L 
Musikorgan.  iL 

Musikwissenschaft.    8,   Ii*  93,  IM, 
310.  3JJL  3&IL 

N. 

Nachrechnen.  24JL 
Nageli.  149. 
Naivetät.  4M, 
Nehcnmotiv.  Hi 
Nebcnparlic.  123. 
Nebensache.  9JL  4  05. 
Nebensatz.  4  05. 
Nissen.  454. 

O. 

Oktaven.  1_9_ 
Oktavenfiguration.  iL 
Oper.  141,  4  25. 
Oratorium.  343. 
Orchestersatz.  ÜL 
Organ,  5,  341, 
Orgel.  24, 

Orgelpunkt.  4iL  115, 

P. 

Palestrina.  525t 
Pantalon.  iL 
Partie.  211, 


Passage.  24, 

Pergolesc.  4SI. 

Periode.  251,  25JL  211,  3JÜL 

Periodenform.  211* 

Phantasie,  s.  Fantasie. 

Piano,  4_4_, 

Pianoforte.  17_  1Ä, 

Platen.  asjL 

Pleyel.  5M_, 

Polyphonic.  24JL  3fii,  4JVL 
Potpourri.  III, 
Präludienform.  3JL 
Präludium.  ü, 
Proch.  4M. 
Prosa.  377. 
Protestantismus.  545. 

Quartett.  3_4JL 

R. 

Recitativo  accompagnato,  begleitetes 
Rezitativ.  IM,  4ilL 

Recitativo  a  tetnpo,  taklmässiges  Rezi- 
tativ. 394 

Recitativo  secco,  einfaches  Rezitativ. 
IM, 

Register,  s.  Stimmregister. 

Reichard t.  3JÜ,  155,  378,  3M,  426,  430. 

415, 
Rein.  Uli 
Reissiger.  430. 
Reprise.  224. 

Rezitativ.  34T,.  3Sfi.39Q.39j.394.642.64  5. 
Rhythmik  des  Gesanges.  3  4  9. 
Rhythmus.  HL  411,  121,  114, 
Righini.  Iii, 
Rochlitz.  417- 
Rondo.  iftSL 

sonatenartiges  Rondo.  304  307. 
Rondoform.  42,  TL  M,  15.  itti,  nt, 
425.  III,  LßJL  iÜL  IM.  125,  112,  604. 
Rossini.  351 . 

S. 

Sängerfertigkeit.  343. 
Salon-Komponist.  211,  211, 
Satz.  151,  292,  3&6_ 
Satzform.  25JL 
Satzkette.  IM,  211,  211, 
Schall.  12,  151, 
Schallkraft,  n . 
Scherzo.  41,  212,  3JÜL 
Schindler.  IM* 

Schlusssatz.  111.  24i.  iM,  32L  591. 
A.  Schmitt.  üL 
Fr.  Schneider.  Iii, 
Schubert.  410. 
Schulz.  4M, 

R.  Schumann.  11,  IM,  55SL  5G1. 


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Sachregister. 


033 


Sechsstimmigkeit.  450. 
Seitenpartie.  2JJL  265. 
Seitensatz.  iüL  14JL  142,  L61L 

173   184.  las,  249. 
Selbstlaut. 
Sextole.  Ü8, 
Singen,  &  34JL  46L 
Singfuge.  4M,  4M.  4&L  5JLL 
Solfeggio.  üül 
Sologesang.  äÜL 
Solokomposition.  ÜL 
Solosänger.  345. 
Solosatz.  iL 

Sonate.  Ml.  aM  all,  3ÜL  333, 
figurale  Sonate.  Mi,  3JL3. 
fugenartige  Sonate.  301.  .'i  1 3 
grosse  Sonate.  321 .  aiiL 
Sonatenform.  4g.  77  424.  380.248.  254. 

i5JL  3ÜL 
Sonatine.  3  i  1 . 

Sonatinenform.  iPJL  HL  UJL  äUL 
Sopran.  :<5S, 
Spielfülle.  24, 
Spohr.  51Ä, 

Spontfni.  346.  449.  540. 
Sprache.  iL  34a,  34JL  äJH. 
Sprachwerkzeug.  347. 
Sprechen,  46JL 
Stabilitätsprinzip.  25t, 
Stärkegrad.  aiLL 
Stimme.  iL  346.  3JüL 
Slimmgebict.  354. 
Stirn mkarakter.  300. 
Stimmklasse.  357. 
Stimmorgan.  347.  3 r> 3 . 
Stimmregister.  356. 
Stimmung.  42'.). 
Stimmverwendung.  450.  452. 
Stimmwahl.  450. 
Stölzel.  &1Ä, 
Stossen.  8.18. 
Styl.  IlfiJL 
Synkope.  aAS, 

T. 

Taktart.  324* 
Taktvcrwandlung,  7JL 
Taubert.  afii, 
Technik.  4JL 
Tempo.  4JL  4ä£,  äiL 
Tenor.  aSÄ, 
Terzett.  ä4JL 
Text.  iL  alfi,  aiX  3üiL 
Textstudium.  aal,  3SL 
Thalberg.  11.  äüfi. 


Theil.  lü£L  2J11,  202,  Iii, 
Thema.  54.  60.  6i. 
Tiefe  der  Stimme.  354. 
Tokkate.  41,  4JL  3JÜL 
Ton.  11, 
Tonart.  211, 
Tonfall.  Efifi,  il>iL 
Tonfolge.  31L  E5JL 
Tonhöhe.  £LL 
Tonkunst.  :u:t. 
Tonspiel.  4£,  SSL 
Tontiefe.  fiJL 
Tonwesen.  dJL 
Trio.  IM, 
Tripelfuge.  5Ä1. 
Trommelhass.  KL 
Trugschluss.  Ell, 
Truhn.  43JL 
Tutti.  3AJL 

U. 

Ucbergang.  4  34. 
Ueberzichen.  3">3. 
Umkehrung.  246 
Urform.  187. 
Urgegensatz.  4  03,  l&i. 

V. 

Variation.  5X  IM.  32A  5_M,  57JL 
Variationenform,  81, 
Variationenthema.  7JL  8JL 
Variationfinale,  s.  Finale. 
Verknüpfung.  444  . 
Vers.  378. 
Vierhändigkeit.  61  o. 
Vierstimmigkeit.  450. 
Virtuos.  22£, 
Vogler.  488. 
Vokal,  s.  Selbstlaut. 
Vokalmusik.  13. 
Vokalsatz.  12. 
Vokalsolosatz.  14, 
Volkslied.  3Ä1L 
Vorbildung.  2, 

W. 

G.  Weber.  4SJL 

K.  M.  v.  Weber.  3JL  41.  5JL  8JL  266. 
SU.  4M,  5.ÜL  äTJL 

z. 

Zelter.  i5X  41&. 
Zumsteeg.  437. 
Zweistimmigkeit.  450. 
Zwischenpartie.  21Ü, 
Zwischensatz.  ULL  HS,  211,  41iL 


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*?R  2  6  1938 


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