Goethe in
Nassau ...
Friedrich Otto
3445
842
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5^
$rcsrnt*d bg
(5he («Maas 1891.
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GOETHE
IN
NASSAU
Von
FRIEDRICH OTTO
••i
Separatabdruck aus den
Annalen des Vereins (Qr Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung
XXYII, 53-18«
MIT ZWEI TAFELN
WIESBADEN
DRUCK VON RUI>. BECUTOLD 4 COMP.
1895
Meinem Freunde
dem rheinisches Dichter
August Ammann
gewidmet
511264
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Goethe in Nassau.
Von
Fr. Otto.
Die Statte, die ein grosser Mann betritt,
Sie igt geweiht Tür alle Zeiten.
Nach Goethe.
Die Schöpfungen von keinem andern Dichter sind so sehr Ergebnisse des
eigenen Lebens, als die von Goethe; für keinen ist daher das Selbsterlebte
so wichtig zum Verständnis seiner Werke als für ihn. Dadurch ist hinreichend
der Versuch gerechtfertigt, dasjenige, was er in Nassau, das er wiederholt be-
suchte und hoch zu preisen pflegte, als Jüngling und Greis erlebte, zusammen-
zustellen. Gaben schon die bis jetzt veröffentlichten Briefe und andere Berichte
manches Bemerkenswerte, so haben die im Jahre 1893 erschienenen Tagebücher
von 1814 und 1 8 1 5 l ) über diese inhaltreichsten Jahre seiner Besuche Nassaus
so viele neue Aufschlüsse gewährt, das« es möglich schien, auch ehe die noch
ausstehenden Briefe des Weimarer Goethe- Archivs in der Weimarer Goethe-
Ausgabe mitgeteilt sind, den Vorsuch zu wagen, und der Verfasser dieser
Schrift glaubte damit eine Pflicht der Pietät zugleich gegen den grossen Dichter
und gegen sein schönes Heimatland zu erfüllen.
Grundlage für unsere Darstellung sind vor allem die eigenen Mitteilungen
Goethes, also für die früheren Jahre „Dichtung und Wahrheit", für die Jahre
1814 und 1815 die Tagebücher, dazu die Briefe von Freunden und andere
Berichte; und um den Reiz und die Frische der Unmittelbarkeit nicht zu ver-
wischen oder abzuschwächen, haben wir die einschlägigen Stellen wörtlich
aufnehmen zu sollen geglaubt. So schien uns am lebendigsten entgegenzutreten,
was dem Dichter hier widerfuhr, wie er sein Leben gestaltete, worauf sein
Sinnen und Denken gerichtet war. Dabei könnte uns freilich der Vorwurf
gemacht werden, dass wir mehrfach uns zu sehr auf die Kleinigkeiten des all-
täglichen Lebens eingelassen haben; doch würde derselbe zunächst den Dichter
selbst treffen, dor durch seine Berichte dazu veranlasst auch diese Dinge zu
betrachten und zusammenzustellen. Und schliesslich ist bei einem Manne wie
Goethe selbst das Kleine beachtenswert. Polemik gegen einzelne Punkte in
früheren Darstellungen haben wir im allgemeinen vermieden ; der Kundige wird
von selbst herausfinden, wo etwas berichtigt oder orgänzt werden konnte.
Eine Übersicht des Inhalts findet sich am Ende dieses Aufsatzes; dazu
treten 2 Tafeln, ein Plan des früheren Wiesbaden und ein Kärtchen für die
Lahnreise von 1815.
Wiesbaden, im Dezember 1894. Fr. Otto.
*) Goethe« Werke, herausgegeben im Auftrage der Grossherzogin von Weimar. III, 5.
Goethes Tagebücher, 1813-1816. Weimar, H. Bühlau 189X
5
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Goethe in Nassau.
I. 1763—1764.
Zum erstenmale scheint Goethe als etwa vierzehnjähriger Knabe den Boden
des spateren Herzogtums Nassau betreten zu haben; es war zu der Zeit, als
er in die Gesellschaft mehrerer jungen Leute geraten war, bei denen er durch
seine grosso Fertigkeit Keime und Gedichte zu verfassen zu einem gewissen
Ansehen gekommen war, uud die von dieser seiner Gewandtheit für ihre nicht
immer harmlosen Zwecke Gebrauch machten. Mit ihnen unternahm er wohl
Lustfahrten auf dem Marktschiffc nach Höchst; sie beobachteten dann ihre Reise-
gefährten und liessen sich, neckend und scherzend, mit diesem oder jenem in
ein Gespräch ein. Da zugleich mit ihnen das von Mainz heraufkommende
Marktschiff zu Höchst anlangte, so gab es immer eine vollbesetzte Tafel, nach
welcher sie wieder nach Frankfurt zurückkehrten. In ihrem Kreise hatte er
auch eine herzliche Zuneigung zu einem Mädchen Namens Gretchen gefasst,
welche ihn fester an die Gesellschaft knüpfte, ohne dass sie selbst seine stille
Leidenschaft nährte, sondern nur den unerfahrenen Knaben gut beriet.
Im Frühjahre 17G4 trat die Katastrophe ein, welche diesem von seiten
Goethes harmlosen Verkehr ein jähes Ende bereitete. Als man gewissen Ver-
untreuungen eines von ihm empfohlenen jungen Mannes auf die Spur gekommen
war und ihn sogar beteiligt an denselben glaubte, auch das Verhältnis zu
Gretchen ans Licht gezogen wurde und schlimmen Verdacht erregte, geriet er
in so leidenschaftliche Erregung, dass man auf ernstliche Mittel sinnen musste
ihn zu beruhigen und seinem Sinne eine andere Richtung zu geben. Zu dem
Zwecke gab man ihm einen Aufseher, der ihn begleiten und beaufsichtigen
und durch Arbeit und Zerstreuung allmählich in das rechte Geleise bringen
solle. Da er den Mann hochschätzte, so gelang die Sache. Nach und nach
besorgte man nicht mehr, dass er in seine früheren Neigungen und Verhältnisse
zurückfallen könne; man liess ihm allmählich vollkommene Freiheit. Wir
lassen uunmohr Goethe selbst weiter reden*):
„Durch zufällige Anregung, so wie in zufalliger Gesellschaft stellte ich
manche Wanderungen nach dem Gebirge (dem Taunus) an, das von Kindheit
auf so fern und ernst vor mir gestanden hatte. So besuchten wir Homburg,
Kronenburg, bestiegen den Feldberg, von dem uns die weiro Aussicht immer
mehr in die Ferne lockte. Da blieb denn Königstein nicht unbesucht, Wies-
baden, Schwalbach mit seinen Umgebungen beschäftigte uns mehrere Tage;
wir golnngten an den Rhein, den wir, von jenen Höhen herab, weither schlängeln
gesehen. Mainz setzte uns in Verwunderung, doch konnte es den jugendlichen
Sinn nicht fesseln, der ins Freie ging; wir erheiterten uns an der Lage von
Bibcrich, und nahmen zufrieden und froh unsern Rückweg."
Es wäre bei dem Mangel weiterer Mitteilungen über diese Ausflüge ver-
gebliche Mühe ausforschen zu wollen, was Goethe besonders anzog und
*i „Dichtung und Wahrheit*- II, «.
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beschäftigte; er selbst fügt der Erzählung hinzu, wie er sie benutzte und was
für eine wohlthütige Folge sich für ihn daran anschloss. Er fährt nämlich
also fort:
„Diese ganze Tour, von der sich mein Vater manches Blatt versprach,
wäre beinahe ohne Frucht gewesen: denn welcher Sinn, welches Talent, welche
Übung gehört nicht dazu, eine weite und breite Landschaft als Bild zu begreifen!
Unmerklich wieder zog es mich jedoch ins Enge, wo ich einige Ausbeute fand:
denn ich traf kein verfallenes Schloss, kein Gemäuer, das auf die Vorzeit hin-
deutete, dass ich es nicht für einen würdigen Oegonstaud gehalten und so gut
als möglich nachgebildet hätte. Selbst den Drusenstein auf dem Walle zu
Mainz zeichnete ich mit einiger Gefahr und mit Unstatten'), die jeder erleben
muss, der sich von Reisen einige bildliche Erinnerungen mit nach Hause nehmen
will. Leider hatte ich abermals nur das schlechteste Conceptpapier mitge-
nommen, und mehrere Gegenstände unschicklich auf Ein Blatt gehäuft; aber
mein väterlicher Lehrer Hess sich dadurch nicht irro machen; er schnitt die
Blätter auseinander, Hess das Zusammenpassende durch den Buchbinder auf-
ziehen, fasste die einzelnen Blätter in Linien und nöthigte mich dadurch wirklich,
die Umrisse verschiedener Berge bis an den Rand zu ziehen und den Vorder-
grund mit einigen Kräutern und Steinen auszufüllen. Eonuten seine treuen
Bemühungen auch mein Talent nicht steigern, so hatte doch dieser Zug seiner
Ordnungsliebe einen geheimen Einfluss auf mich, der sich späterhin auf mehr
als Eine Weise lebendig erwies.*
II. 1765.
Zum zweiten Male finden wir Goethe in Nassau im Jahre 1765; er
besuchte damals Wiesbaden. Was ihn dahin führte, in welcher Gesellschaft
er sich befand u. s. w., ist aus der einzigen Quelle, der wir diese Kunde ver-
danken, nicht ersichtlich. Er muss sich längere Zeit hier aufgehalten haben;
am 19. Juli erhielt er einen Brief seiner Schwester Cornelie, den er am 21. des-
selben Monats beantwortete, ohne von eiuom Zeitpunkte der Rückkehr zu reden.
Auch wo er wohnte, ist nur zu vermuten. Wenn sich hinter seinem Hause ein
Garten befand, so scheint das Gast- oder Badhaus, welches ihn beherbergte,
am Abhänge des Berges, der sich längs der einen Seite der Langgasse erhebt,
gelegen zu haben, und da bleibt für Leute seines Standes kaum eine andere
Wahl anzunehmen, als dass er im „Adler" oder im „Schützenhofe" gewohnt habe;
denn die andern ähnlich gelegenen Häuser entbehren entweder des Gartens
oder waren damals meist nur von Leuten niederen Herkommens aufgesucht,
wie die Kurlisten aus den späteren Jahren, aus denen sie noch erhalten sind,
ausweisen.
Der Brief, den er an Cornelie schrieb, lautet also 4 ):
s ) Das mittelhochdeutsche unstate ist jetzt ausser Gebrauch; es bedeutet eigentlich
hilflose, ungünstige Lage, dann auch Mühe, Ungesohirk. Lex er, mhd. Wörterbuch. — *) Er
ist abgedruckt im Goethe-Jahrbuch VII, S. 3 (I88ß) und in dor Weimarer Ausgabe von Goethes
Werken IV, I (1887 t, 8.
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Liobe Schwester.
Damit du nicht glaubest ich habe dich unter den schwärmenden
Freuden eines starck besuchten Bades gantz vergessen; so will ich dir,
einige absonderliche Schicksaale, die mir begegnet, in diesem Briefgen,
zu wissen thun. Doncke nur wir haben allhier Schlangen, das käsalichc
Ungoziefer macht den Garten, hinter unserm Hause, gantz unsicher.
Seit meinem Hierseyo, sind schon 4 erlegt worden. Und heute, lass
es dir erzählen, heute morgen, stehen einige Churgäste und ich auf
einer Torasse, siehe da kommt ein solches Thier mit vielen gewölbten
Gängen durch das Grass daher, schaut uns mit hellen funckelnden Augen
an, spielt mit seiner spitzigen Zunge und schleicht mit aufgehabenem')
Haupte immer näher. Wir erwischen hierauf die ersten besten Steine
warfen auf sie loss und trafFen sie etliche mahl, dass sie mit Zischen
die Flucht nahm. Ich sprang herunter, ries einen mächtigen Stein
von der Mauer und warf ihr ihn nach, er traf und erdruckte sie,
worauf wir über dieselbe Meister wurden sie aufhängeten und zwey
Ellen lang befanden. Neulich verwirrten wir uns in dem Walde, und
musston 2 Stundenlang in selbigem, durch Hecken und Büsche durch-
kriechen. Bald stellte sich uns ein umschatteter Fels dar, bald ein
düstres Gesträuch und nirgends war ein Ausgang zu finden. Gewiss
wir wären biss in die Nacht gelaufen; wenn nicht eine wohlthätige
Fee hier und da, an die Bäume Papagey Schwänze (:die aber unsere
kurzsichtige Augen für Strohwische ansahen:) den rechten Weg uns
zu zeigen gebunden hätte, da wir dann glücklich aus dem Walde
kamen. Dein Briefgen vom 19. Mai war mir sehr angenehm. Inliegen-
den Brief lass Augenblicklich dem Pog zustellen. Lebe wohl. Küsse
Jf. M. von meinetwogon die Hand.
Wisb. d. 21. Jun. 1765. G.
Jf. M. ist sicherlich die Fräulein Charitas Meixner von Worms, eine
Freundin der Cornelie, die sich damals ihrer Ausbildung wegen zu Frankfurt
aufhielt und in dem Hause des Logationsrates Moritz, eines Hausfreundes der
Familie Goethes, wohnte.*) Wer unter Pog gemeint ist, bleibt zweifelhaft;
wenn es Papa gelesen werden müsste, so wäre das „lass . . zustellen" ein
unpassender Ausdruck statt „übergib." — Unter dem Walde, in welchem die
Wanderer sich verirrten, haben wir denjenigen zu verstehen, welcher sich über
den Bergabhang unterhalb der Platte hinzieht und jetzt meistenteils ein anderes
Gepräge zeigt, namentlich viele mittlerweile angelegte Spaziergänge bietet.
Welcher Art dio in dem Briefe erwähnte 8chlange angehört, ist nach
Goethes Worten nicht zu erraten. In Nassau gibt es verschiedene Arten von
Schlangen, die Kirschbaum in der Abhandlung „Die Reptilien und Fische des
Herzogtums Nassau", Programm des Gymnasiums zu Wiesbaden 1859, aufzählt.
*) Aufgehaben, alt statt aufgehoben. Grimm, D. W. I, 8p. CC3. — c ) Über sie gibt
K. Ooedoko, Grundrisa IV 2, 8. 575, 72 einige Litteratur au.
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Von den daselbst genanuten .passt nur die als Elaph'm flareacens bezeichnete,
da nur sie die von Goethe angeführte Länge erreicht; nach demselben Gewährs-
mann findet sie sich nur bei Schlangenbad, das wohl von ihr den Namen habe;
Exemplare, die zu Wiesbaden getroffen wurden, seien abgemagerte und wohl
der Gefangenschaft entronnene Exemplare gewesen. Über Schlangen in Bädern
siehe auch von Heyden, Jahrbücher dos Vereins für Naturkunde im Herzogtum
Nassau XVI, 263 und Becker im Frankfurter Archiv N. S. I, 32.
Wenn Goethe von einem Begleiter auf dem Waldspaziergang spricht, so
könnte man vermuten, dass der Ausflug von 1765 zu den unter No. I erwähnten
gehöre; der Begleiter wäre dann der Aufseher gewesen. Es ist jedoch nicht
wahrscheinlich, dass dessen Amt sich bis in den Sommer 1765 erstreckt habe.
Denn in demselben erscheint Goethe nach „Dichtung und Wahrheit" als durch-
aus geheilt und in munterer, fröhlicher Gesellschaft. Eher kann man an die
„kleinen Reisen" denken, die er mit seinem Freunde Horn (dem „Hörnchen")
machte und die sie nachher poetisch aufstützten.
III. Die Lahnreise von 1772.
Im Sommer des Jahres 1772 weilte Goethe bekanntlich in Wetzlar als
Praktikant bei dem Reichskammergericht. Verhängnisvoll wurde ihm daselbst
die Bekanntschaft mit dem braunschweigischen Legationssekretär Johann Christian
Kestner und dessen Braut Charlotte Buff, welche durch ihre Frische, Natürlichkeit
und Munterkeit, verbunden mit einer bezaubernden Erscheinung, seine gauze
Zuneigung gewann; dor biedere Bräutigam legte den Besuchen Goethes, weil
er dessen Sinnesart genugsam erkannt hatte, kein Hindernis in den Weg, so-
dass die stille Neigung allmählich zu inniger Liebe emporwuchs; Goethe aber war
fest entschlossen den Frieden der Verlobten nicht zu stören und schwankte so
zwischen Liebe und Entsagung, die in ihm kämpften, bis er, durch seinen Freund
Merck aufgerüttelt, beschloss diesem qualvollen Zustand ein Ende zu bereiten.
Am 11. September riss er sich von Wetzlar los, nachdem er von Lotte schrift-
lich Abschied genommen hatte, und begab sich nach Koblenz, um hier mit
Merck bei der Frau von La Roche zusammen zu treffen. Über diose Reise
lassen wir ihn wieder selbst reden 1 ):
„Ich hatte mein Gepäck nach Frankfurt, und was ich unterwegs brauchen
könnte, durch eine Gelegenheit die Lahn binuntor gesendet, und wanderte nun
diesen schönen, durch seine Krümmungen lieblichen, in seinen Ufern so manuich-
faltigen Fluss hinunter, dem Entschluss nach frei, dem Gefühle nach befangen,
in einem Zustande, in welchem uns die Gegenwart der stummlebendigen Natur
so wohlthätig ist. Mein Auge, geübt die malerischen und übermalerischen
Schönheiten der Landschaft zu entdecken, schwelgto in Betrachtung der Nähen
und Fernen, der bebuschten Felsen, der sounigen Wipfel, der feuchten Gründe,
der thronenden Schlösser und der aus der Ferne lockenden blauen Borg-
reihen.
') ,Diohtung und Wahrheit* III, 13.
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Ich wanderte auf dorn rechten L'fer des Flusses, der in eiuiger Tiefe und
Entfernung unter mir, von reichem Weidengebüsch zum Theil vordeckt, im
Sonnenlicht hingleitete. Da stieg in mir der alte Wunsch wieder auf, solche
Gegenstände würdig nachahmen zu können. Zufällig hatte ich ein Taschen-
messer in der linken Hand, und in dem Augenblick trat aus dem tiefen Qrund
der Seele gleichsam befehlshaberisch hervor, ich sollte dieses Messer ungesäumt
in den Fluss schleudern: sähe ich es hineinfallen, so würde mein künstlerischer
Wunsch erfüllt werden; würde aber das Eintauchen des Messers durch die
überhängenden Weidcubüsche verdeckt, so sollte ich Wunsch und Bemühung
fallen lassen. So schnell als diese Grille in mir aufstieg, war sie auch ausge-
führt: denn ohne auf die Brauchbarkeit des Messers zu sehen, das gar manche
Geräthschaften in sich vereinigte, schleuderte ich es mit der Linken, wie ich
es hielt, gewaltsam nach dem Flusse hin. Abor auch hier inusste ich die trüg-
licho Zweideutigkeit der Orakel, über die man sich im Alterthum so bitter be-
klagt, erfahren. Des Messers Eintauchen in den Fluss ward mir durch die
letzten Weidenzweige verborgen, aber das dem Sturz entgegenwirkende Wasser
sprang wie eine starke Fontäne in die Höhe, und war mir vollkommen sichtbar.
Ich legte diese Erscheinung nicht zu meinen Gunsten aus; und der durch sie
in mir erregte Zweifel war in der Folge Schuld, dass ich diese Übungen unter-
brochener und fahrlässiger anstellte, und dadurch selbst Anlass gab, dass die
Deutung des Orakels sich erfüllte. Wenigstens war mir für den Augenblick
die Aussen weit verleidet; ich ergab mich meinen Einbildungen und Empfindungen,
und Hess die wohlgelegenou Schlösser und Ortscharten Weilburg, Limburg,
Diez und Nassau nach und nach hinter mir, meistens allein, nur manchmal
auf kurze Zeit mich zu einem andern geaelleud.
Nach einer so angenehmen Wanderung von eiuigen Tagen gelangte ich
uach Ems, wo ich einigemal des sauften Bades geuoss, und sodann auf einem
Kahne den Fluss hiuabwärts fuhr. Da eröffnete sich mir der alte Rhein; die
schöne Lage von Ober lahn stein entzückte mich: über alles abor herrlich
und majestätisch erschien das Schloss Ehrenbreitstein, welches in seiner
Kraft und Macht, vollkommen gerüstet, dastand."
Wir beerleiten den Wandcror nicht weiter; bei dem Geh. Bat von La
Roche uud seiuer Gemahlin fand er gastliche Aufnahme und unterhaltende
Gesellschaft. Die sonderbare Befragung des Orakels, welche der Bericht mit-
teilt, muss an den Anfang der Wanderung — vor der Ankunft in Weilburg —
fallen. Eine durchaus vorbürgte Sago will wissen, bei Obernhof habe Goethe
auf einer Anhöhe ausgeruht und sich an dem herrlichen Aublick der vor ihm
liogenden Landschaft erfreut; man hat dem Punkte den Namen Goethe-
plätzchen oder Goethopunkt geben wollen.
Von Koblenz aus fuhren Merck und Goethe auf* eiuor Jacht den Rhein
aufwärts, und „obschon", heisst es weiterhin, .dieses an sich sehr langsam ging,
so ersuchteu wir noch überdies die Schiffer sich ja uicht zu übereilen. So
genossen wir mit Müsse der unendlich mannichfaltigcn Gegenstände, die bei
dein herrlichsten Wetter jede Stunde au Schönheit zuzuuehmen und sowohl an
(irösso als an Gefälligkeit immer neu zu wechseln scheinen; uud ich wünsche
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nur, indem ich die Namen Rheiufels und St. Goar, Bacharach, Bingou, Ell fei d
und Biber ich ausspreche, dass jeder meiner Leser im Stande sey Bich diese
Gegenden in der Eriunerung hervorzurufen.*
Am 21. September schrieb Goethe wieder den ersten datierten Briof von
Frankfurt aus.
Hatten die ersten Auaflüge nach Nassau einen heilsamen EinHuss auf die
Stimmung des jungen Goethe und infolge der Ordnungsliebe seines Aufsehers
und Begleiters auf seinen Ordnungssinn ausgeübt, so war die Lahnreise viel-
leicht von noch grösserer Bedeutung für den jungen Mann. Der etwas zweifel-
hafte Ausgang des Orakels drängte die Neigung zur darstellenden Kunst zurück, die
Übung im Zeichnen wurde lässiger betrieben, und um so mächtiger wurde der
Trieb und die Kunst dichterischer Gestaltung des Erlebten, von der alsbald
die Leiden des jungen Werther 1774 Zeugnis ablegten. Goethe wurde so dem
Elemente endgiltig zugewiesen, zu dem er geboren war, in dem er die höchste
Vollendung erreichen sollte. Indessen versäumte er das Zeichnen nicht, und
auch darin brachte er es, wie er denn ein scharfer Beobachter der Natur war
und den Griffel sicher zu handhaben lornte, zu einer mehr als gewöhnlichen
Fertigkeit.
Sein öfterer Aufenthalt auf dem Schlosse zu Dornburg gab ihm später
Gelegenheit die Erinnerung an die schönen Lahngegenden aufzufrischen; denn
hier waren viele Darstellungen ihrer bunten Landschaften aufgehängt und er-
freuten das Auge des Beschauers. 1 ')
IV. 1774, Sindlingen.
Sindlingen, heute ein Dorf des Kreises Uöchst, gehörte bis zu Jahre 1803
zu dem Kurfürstentum Mainz, Amtsvogtei Höchst; so ist das Fest, welches
Goethe am 30. Mai 1774 hier mitbeging, eigentlich dem Kreis unserer Dar-
stellung fremd, doch dürfen wir es wohl nicht ganz übergehen.
An dem oben bezeichneten Tage feierten der Kaufmann Johann Maria
Allesina und seine Frau Franziska Clara, geborene Brentano, das Fest ihrer
goldenen Hochzeit auf einem Gute ihres Schwiegersohnes Schweizer zu Sind-
lingen. Goethe stand damals, wie wir wissen, in naher Verbindung zu der •
Familie La Roche; Maximiliane, die Tochter des Hauses (1756 — 1793), hatte
einige Monate vorher den Kaufmann und kurtrierischen Residenten zu Frankfurt
Peter Anton Brentano geheiratet'), und so war er auch mit dieser Familie in
Beziehung getreten. Daher wurde denn auch er zu dem festlichen Tage einge-
laden und tanzte flott mit. An die Mutter der Maxe, die „Mama" Sophie von
La Roche, berichtet er darüber also"):
") C. A. H. Burkhardt, Ooothea Unterhaltungen mit dem Kanzler Fr. v. Müller,
1870, S. 21. — *) Die Proklamation dea Paares war am 26. Dezember 1 77:t zu Frankfurt er-
folgt; Mar. Belli-Gontard, Leben in Frankfuit VI 48. Der Kurfüret von Trier genehmigte,
ilasM die Trauung in der Hofkirche zu Koblenz stattfinde (Sonntag, den 9. Januar 1774).
0. y. Loeper, Briefe Goethe» an Sophio t. La Roche, S. XX. — ,0 ) v. Loeper, a a. ü.,
8. 41. Goethoa Werke, Weira. Auagabe IV, 2, Iß3.
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„Zu Singlingon (sie) auf der golder en Hochzeit, da ich den Geburtstag Ihrer
lieben Max") herbeitaazte, hab ich Ihrer viel gedacht. 0 Mama! es wareu
viel Lichter da"), und Schweyzers Willemine'*) kriegte mich am Arm und fragte:
warum zündt man so viel Lichter an? Das war eine Frage einen ganzen
Sternhimmel zu beschämen, geschweige denn eine Ilumination. Ich hab mich
nach Ihnen umgesehen, hab Ihrer Max den Arm gegeben wenig Augenblicke."
V. 1774, Ems.
Die Emser Reisen 14 ) des Jahres 1774 knüpfen sich an den Besuch
Lavaters bei Goethe an. Beide hatten ein lebhaftes Interesse, auch ohne sich
gesehen zu haben, zueinander gefasst. Goethe hatte im Jahre 1772 Lavaters
Schrift «Aussichten in die Ewigkeit" in den Frankfurter gelehrten Anzeigen
besprochen, zwar ohne sich zu nennen, doch war es nicht unbekannt geblieben,
wer der Verfasser der Rezension sei; Lavator hoffte von seiner Bekanntschaft
grosse Vorteile für sich; auch hatten ihn mehrere Aufsätze von Goethe sehr
angesprochen, wie der über deutsche Baukunst, das Schreiben des Pastors zu **
an den Pastor zu **. Daraufhin war im Jahre 1773 ein Briefwechsel zwischen
beiden eingetreten, der zur persönlichen Bekanntschaft führte, als der Schweizer
Theologe im Juni des Jahres 1774 seine Rheinreise machte und unter anderm
das Bad zu Erna besuchte. Gross war die Spannung beider, sich von Ange-
sicht zu Angesicht zu sehen. Endlich am Abend des 23. Juni traf Lavater in
Frankfurt ein und nahm bei Goethes Eltern Wohnung. Sio hatten beide eine
ganz andere Vorstellung voneinander gehabt, als sich jetzt darbot, aber die
gegenseitige Zuneigung stieg hei dem persönlichen Verkehr, wenn auch der
ernstere Geistliche den übersprudelnden Humor des jüngeren Freundes bis-
weilen beruhigen musste. Da aber Lavater vielfach von anderen Personen in
Anspruch genommen wurde und deshalb Goethe ihn nicht so gemessen konnte,
wie or wünschte, so beschloss er ihn auf seiner Weiterreise nach Ems zu
begleiteu. Am 29. Juni fuhren also beide in einem besonderen Wagen ab und
verlebten die Zeit in ernsten und heiteren Gesprächen zu ihrer hohen Zufrieden-
heit. Nur einen Tag verweilte Goethe zu Ems, da Geschäfte ihn nach Hause
riefeu; auf dioser Rückreise war es, wo er, im Wagen sitzend, „Erwin und
Elmire u fast zu Ende brachte.
In Frankfurt stellte sich bald ein anderer Gast ein, ganz verschieden von
dem ersten uud ebenso so vielgenannt im deutschen Reich; es war Basedow,
der sich gleichfalls nach Ems zur Kur hegeben wollte; or hoffte zugleich För-
") Ihr Geburtstag war den :»l. Mai. — n ) Dazu bemerkt v. Loepor, 8. 4\i: Die Einfach-
heit der damaligen Zeit zeigt sich in Goethe» Abneigung gegen die ihm als unzulässiger Luxus
erscheinende helle Beleuchtung der /immer. So hebt er hier die vielen Lichter hervor, so
die vielen Lichter am Spieltisch in dem Licde an Lilli „Warum ziehst du mich unwidersteh-
lich'* und in den Briofen aus der Schweiz (erste Abteilung zu Anfang des vorletzten Briefes).
— Schwester von Schweizer. — '*) Hauptquelle ist wieder „Dichtung und Wahrheit"; die
Chronologie lässt sich aus den erhaltenen Briefen feststellen. Vgl. vornehmlich v. Loeper,
Briefe Goethes an Sophie von La Roche u. s. w. 1879 IT. Dflntitcr, Freundesbilder aus
Goethes Leben 1853. L Lavater, 8. 1 ff.
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derer und Gönner für seine neuo Erziehungsanstalt in Dessau, deren Errichtung
wegen des Mangels an den nötigen Geldmitteln ins Stocken geraten war, auf
dieser Reise zu gewinnen; eben hatte er den Plan zu seinem Unternehmen
durch eine Schrift „Vorschläge au das kundige Publikum über Errichtung eiuer
Privatakademio" erscheinen lassen, indem er durch des „kundigen Publikums"
Opferwilligkeit die fehlenden Geldmittel zu erhalten dachte. Von Basedows ihm
vielfach unangenehmen Gebaren entwirft Goethe in „Dichtung uud Wahrheit"
ein anschauliches Bild, auch wie er sich dessen zu erwehren suchte.
Kaum war Basedow abgereist, so beschloss Goethe die beiden Antipoden
in Ems durch seine unerwartete Ankunft zu überraschen, nimmt Urlaub und
reist am 14. Juli ebenfalls nach Ems ab; am 15. ist der „Herr Doctor Goeddee 15 )
aus Frankfurt" in der Kurliste als angekommen verzeichnot. Dio drei ungleichen
Genossen blieben bis zum 18. Wie Goethe lebte, wie er sich vergnügte, davon
entwirft er in „Dichtung und Wahrheit" eine lebendige Schilderung, bei der
ihm nur darin das Gedächtnis untreu war, dass er die erste und die bald folgende
Anwesenheit in Ems nicht voneinander scheidet; ein Irrtum ist es ferner, wenn
er sich über „Werthers Leiden" ausfragen lässt, da diese Schrift doch erst im
Herbst desselben Jahres erschien.
Am 16. oder 17. Juli wurde der Frau v. Stein, der Mutter des späteren
Ministers, ein Besuch abgestattet, und es ist heiter zu lesen, wie Goethe auf
der Heimfahrt Basedow für seine frivole Geschwätzigkeit über die Dreieinigkeit
abstraft, indem er ihn binderte in einem Wirtshause Beinen trockenen Gaumen
anzufeuchten; Basedow hatte gewünscht, der Kutscher möge hier halten, Goethe
aber feuerte denselben an rasch vorbeizufahren. Seine heitere, übersprudelnde
Laune beweist der Brief, den Lavater am Morgen des 18. an seine Frau
schrieb. Goethe lag noch zu Bett, als Lavater zu schreiben begann; kaum
hatte er angefangen, so diktierte ihm jener von seinem Lager aus die Fort-
setzung, an welche dann Lavater wieder anknüpfte:
„Ich schreib Euch (so beginnt dioser) den letzten guten Tag von Ems
aus, Ihr Lieben .... „Unterdess — (diktiert mir Goethe aus seinem Bett heraus)
— Unterdess gehts immer so gerade in die Welt 'nein. Es schläft sich, isst
sich, trinkt sich und liebt sich auch wohl an jedem Orte Gottes wie am andern,
folglich also — schreib er weiter." — Nun ich schreibe:
Tage der Ruh und des DrangB und des neuen Menschen Genusses
Gönnte mein Vater mir hior u. s. w.* '*)
,s ) Vgl. A. SpieBS in den Annalen de» nas*. Vereins für Altertumskunde XII, 286 ff.
Goeddee, wie auch nach seiner Abreise in der Kurliste der Name lautet, hat Goethe offenbar nicht
gelbst gesehrieben, sondern seinen Namen dem Wirte oder Kellner des oranien-nassauifohen
Badhauses angegeben, der ihn dann der Aussprache getreu so niederschrieb. Die landesübliche
Aussprache des Mittelrheins nimmt es noch jetzt mit den Dentalen nicht genau und setzt
vielfach Media (d) statt Tennis oder Aspirata (t, th); ferner spricht sie das Schluss-e in Worten
wie Goethe, Lade lang aus; Goethe selbst muss so gesprochen haben, wie er denn bis in sein
spätes Alter seine rheinische Aussprache nie ganz verleugnete oder auch «tu verleugnen trach-
tete. Er selbst schrieb im Tagebuch Lad*. Vgl. R. Hildebrand, Pmuss, Jahrb. 72 (1*9:*),
S. 447 ff. — '*) Goethes Briefe, Weimarer Ausgabe (IV) 2, 178.
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Aber auch die Dichtung ging nicht leer aus; am 17. Juni entstand „dos
Künstlers Erdenwallen", eine Schilderung des genialen Künstlers, der sich durch
Nahrungssorgen zu olonden Lohnarbeiten gezwungen sieht, am 18. „auf dem
Wasser gegen Neuwied" die ältere Gestalt von „des Künstlors Apotheose",
„des Künstlers Vergötterung. Drama" lT ); in beiden wird die Apotheose durch
dio Bewunderung dargestellt, welche das von dem Meister hinterlassene Bild
der Venus Urania hervorruft; die Ausführung jedoch ist ganz verschieden. Der
Fahrt auf der Lahn, die sie an demselben Tage von Ems weg nach dem Rheino
führen sollte, verdanken die zwei Zeilen ihren Ursprung:
„Auf der Lahn, 18. Juli 1774.
Wir worden nun recht gut geführt,
Weil Basedow du Ruder führt."
Ferner entstand im Anblick von Burg Lahneck auf derselbeu Fahrt:
„Der Getstesgruas.
Hoch auf dem alten Thurme steht
Des Helden edler Geist,
Der, wie das Schiff vorüberzieht,
Es wohl zu fahren heisst.
„8ieh, dioso Senne war so stark,
Diess Herz so fest und wild,
Die Knochen roll von Rittormark,
Der Becher angefüllt.
Hein halbes Leben stürmt 1 ich fort,
Verdehnt' die Hälft' in Ruh,
Und du, du Mensohen-Schifflein dort,
Fahr' immer, immer zu."
Wir übergeheu die weitere Fahrt nach Koblenz und die heitere Sccne
in dem dortigen Gasthause, wo Lavater don Landgeistlichen über die Geheim-
nisse der Offenbarung belehrte, Basedow dem hartnäckigen Tanzmeistcr klar
machte, dass die Taufe ein veralteter Brauch sei, Goethe aber, zwischen beiden
sitzend, sich es wohlschmecken Hess; ebenso muss der Verlauf der Reise nach
dem Niederrhein hier unbeachtet bleiben, nur der Zeilen sei gedacht, dio in
den Versen Goethes auf dem Weg nach Neuwied au Ems erinnern. Zunächst
die bekannten Verse:
„Und wie nach Emaus weiter ging's
Mit Geist und Feuerschritten,
Propheto rechts, Prophete links,
Das Weltkind in der Mitten."
Denn sicherlich wurde er zu dem Vergleiche angeregt durch die Namens-
ähnlichkeit von Ems und Emaus; dass bei unsern Reisendon die Sacho anders
lag, da sie von Ems kamen, nicht dahin gingen, thut nichts zur Sache; ist doch
auch das Verhältnis in einer zweiten Art umgekehrt, indem auf dem Gang
nach Emaus nicht das Weltkind in der Mitto sich befindet, sondern der Herr
und Meister, dem die beiden andern bewundernd zuhören. ,B )
") v. Loeper, a. a. O. S. 55. — '") Darauf macht M. t. Waldberg im Goethe-Jahrb.
IV, :tr>5 mit Recht aufmerksam.
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Sodann sei dos Stammbuch verses „In das Ealondeiioin der Frau Hofrätin
Kämpf. Auf dem Rhein, den 18. Juli 1774" erwähnt, der freilich nur lose mit
Ems zusammenhängt. Zu Ems und Neuwied waren die zwei Brüder Kämpf
Ärzte, JohaDn zu Ems, Wilhelm Ludwig zu Neuwied, beide mit dem Titel Hofrat;
des Emsers werden wir weiter untef noch ausführlicher gedenken. Derselbe
mag die Reisegefährten an jenen empfohlen haben, und so wird es gekommen
sein, dass dessen Gemahlin in Kublenz sich zu ihnen gesellte und auf der
Rheinfahrt abwärts bis Neuwied ihre Begleiterin war und für sie sorgte. An
aio") riohtet nun Ooetho folgende Zeilen in ihr Kalenderlein:
„Sarah kocht unserm Herregott,
Elisabeth Götzen in der Noth,
Nahmen sieh ihres Hauses an,
Waren Gott lieb, waren lieb dem Hann.
Du sorgtest für die Freunde hier;
Drum, liebes Weibchen, dank' ich dir."
Am 25. oder 26. Juli trifft die Reisegesellschaft wieder in Ems zusammen;
Lavater jedoch eilte schon am 27. in die Heimat zurück, die beiden andern
verweilten noch etwa 14 Tage. In diese Zeit muss hauptsächlich das lustige
und ausgelassene Treiben Goethes, von dem „Dichtung und Wahrheit" erzählt,
fallen, während sich Basedow mit weitaussehenden Plänen für Verwirklichung
seiner Anstalt beschäftigte, zu denen vielleicht auch unser Goethe im Vertrauen
hinzugezogen wurde.
Der eben genannte Johann Kämpf (1726 — 1787) war seit dem Jahre 1770
zugleich nassau-oranischer Hofrat, Physikus zu Diez und Brunnenarzt zu Ems* 0 );
ein unruhiger Kopf — ein Zeitgenosse nennt ihn einen grossen Windbeutel und
unverschämten Lügner*') — , auf die Zoitströmungen aufmerksam und zugleich
für das Wohl seines engeren Vaterlandes bedacht, macht er Basedow, als er
von den Schwierigkeiten, die sich der Errichtung der Erziehungsanstalt ent-
gegenstellten, hörte, den Vorschlag 1 '), diese nicht in Dessau, sondern zu Herborn
im Nassauischen zu errichten; er hoffte dabei der daselbst bestehenden"), aber
im Niedergang begriffenen hohen Schule wieder aufzuhelfen und so beide An-
stalten zu fördern. Basedow ging auf die Sache ein, da Kämpf ihn beinahe
nicht von der Seite Hess und seinen Eifer immer mehr anzufachen wusste. 8o
ging denn eine dahin zielende Anfrage Kämpfs vom 6. August nebst einem
Schreiben Basedows vom 4. August nach Dillenburg an den Geh. Rat Winter,
Mitglied der oranien-nassauischen Regierung, ab, fand aber nicht die gehoffte
Aufnahme, und das Projekt musste fallen gelassen werden; im Dezember 1774
wurde die neue Schule in Dessau eröffnet.
") Dass es die Frau des Neuwieder, nicht des Emser Kampf war, lägst sich daraus
abnehmen, dass diese nur kurze Zeit nachher, am Anfang des August, oines Knäbleins genas,
also am 18. Juli wobl nicht mehr eine Rheinreise nach Neuwied unternahm. Vergl. den Brief
in der Westdeutschen Zeitscbr. I, 245, mitgeteilt von Joachim. — *") Strieder, Hess. Gel.
VI, 440. — ") Randbemerkung in einem Exemplare von Strieder a. a. 0. aus Mosers Leben
1772, 11. — u ) E. Joachim, Basedow und die hohe Schule zu Uerborn, Westdeutsche Zeit-
schr I, (1982), 8. 238 — 252. — **> Sie war 1584 gestiftet worden, hatte aber — der Kosten
wegen — auf die kaiserliche Genehmigung des Ranges und Namens einer Universität verzichtet.
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64
Wir kehren nach dieser Abschweifung zu Goethe zurück. Am 31. Juli")
kündigt er der Frau von La Roche seinen Besuch zu Ehrenbreitstein auf
Dienstag (den 2. August) an und bittet zugleich um einige Flaschen Wein —
„oder vieiraehr, fügt er hinzu, ich will sie mitnehmen wenn ich komme, hier
vergiften sie mich mit Getränk." In demselben Briefe thut er eines Unglücks
Erwähnung, welches am 30. Juli zu Ems vorgefallen war. „Am 30. Juli, be-
richten die Dillenburgische Intelligenz -Nachrichten"), sind zu Bad-Ems vier
Knaben, welche krebsen wollten, in der Lahn ertrunken. Nach dem sie drey
viertel Stund unterm Wasser gewesen, so wurden sie herausgezogen, aber der
angewandten Mittel ungeachtet, nicht wieder zu recht gebracht." Über diesen
Unfall schreibt nun Goethe an Frau von La Koche: „Mein Sinn hat sich noch
nicht ganz erholt, da vier Knaben gestern Nacht ertranken und keiner gerettet
wurde. Nur in solchen Augenblicken fühlt der Mensch wie wenig er ist, und
mit heissera Atmen und Schweiss und Thränen nichts würckt."
Dies Ereignis grub sich tief in die Seele Goethes ein; er selbst hat sich
wohl an den Wiederbelebungsversuchen beteiligt oder ist wenigstens bei den-
selben anwesend gewesen. Noch nach einem halben Jahrhundert war die Er-
innerung an sie in soinera Gedächtnis lebendig und fand eine Stelle in den
„Wanderjahren * (II, 12). M ) Hier sind fünf Knaben beim Krebsen ertrunken;
nachdem sie in langem Zuge hereingetragen und in dem Gemeindehause nieder-
gestellt worden sind, glückt es Wilhelm Meister durch ein offenes Fenster hin-
einzuspringen, da man ihn nicht einlassen wollte. „In dem grossen Saale", er-
zählt derselbe weiter, „lagen die Unglücklichen auf Stroh nackt ausgestreckt,
glänzendweisse Leiber, auch bei düsterem Lampenschein hervorleuchtend. Ich
warf mich auf den grössten, auf meinen Freund; ich wüsste nicht von meinem
Zustand zu sagen, ich weinte bitterlich und überschwemmte seine breite Brust
mit unondlichen Thränen. Ich hatte etwas von Reiben gehört, das in solchen
Fällen hülfreich sein sollte; ich rieb meine Thränen ein und belog mich mit
der Wärme, die ich erregte. In der Verwirrung dacht' ich ihm Athem einzu-
blason, aber die Perlonroihen seiner Zähne waren fest verschlossen; die Lippen,
auf denen der Abschiedskuss noch zu ruhen schien, versagten auch das leiseste
Zeichen der Erwiederung. An menschlicher Hülfe verzweifelnd, wandt' ich
mich zum Gebet; ich flehte, ich betete; es war mir als wenn ich in diesem
Augenblicke Wunder thun müsste, die noch inwohnende Seele hervorzurufen,
die noch in der Nähe schwebende wieder hineinzulocken. Man riss mich
weg u. s. w."
Für den Augenblick beschäftigte den Dichter nach seiner Erzählung in
„Dichtung und Wahrheit" (14. Buch) ein andrer Plan, den die Beobachtung
seiner beiden Gefährten in ihm erregt oder gefördert habe; danach wollte er
das Leben Mahomeds dramatisch bearbeiten. Indessen scheint auch hier das
Gedächtnis ihm untreu gewesen zu sein; der „Gesang Mahomeds", welchen er
*'} v. Loeper, a. a. O. S. f»i>. — !& J Mitgeteilt von v. Loepcr a. a. O. — **) Darauf
macht v. Loeper a. b. 0. mit Kocht aufmerksam.
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6B
als dahin gehörig anführt, wurde bereits im Herbste 1773 durch den Göttinger
Musenalmanach bekannt und fällt also früher.
Am 12. August reiste Goethe mit Basedow, der sich nach der Schweiz
begeben wollte, wieder von Ems ab; am 14. war er zu Frankfurt.
VI. 1793, Juni, Juli.
Goethe hat zwar die Geschichte der Belagerung von Mainz im Jahre 1793,
soweit er derselben beiwohnte, oder vielmehr seine Beobachtungen während
derselben in einer besonderen Schrift geschildert, aber dio Ausflüge, welche er
damals nach Nassau machte, nicht erwähnt; die Kunde von denselben verdanken
wir brieflichen Mitteilungen in die Heimat.
Auf den Wunsch seines Herzogs begab er sich im Mai zu dem Belagerungs-
heer; am 27. traf er bei demselben zu Marienborn ein. Dio Einschliessung der
Stadt hatte im April begonnen und der Kampf um sie dauerte bis zum Ab-
schluss der Kapitulation am 23. Juli. In und unmittelbar nach dieser Zeit
falleu zwei Ausflüge, die für uns hier Interesse haben.
Am 9. Juni Rheinfahrt nach Rüdesheim; daselbst probierte der un-
kriegerische Dichter die Keller durch, setzte dann an dem Mäuseturm vorbei
nach Bingen über und kehrte zu Land nach dem Lager bei Marionhorn zurück.")
Nach dem Ende der Belagerung, dem Abzug der Franzosen, des Königs
von Preussen und des Behigerungsheeres war, sagt Goethe, keine Ursache
mehr weiteren Anteil an den Unbilden des Krieges zu nehmen; er orhielt Urlaub
nach Hause zurückzukehren, doch wollte er vorher noch Mannheim besucheu.
Bevor er jedoch dahiu abging, machte er einen Ausflug nach Schwalbach und
Wiesbaden, von dem er am 1. August an Christiane Vulpius Bericht abstattet,
und da er noch am 27. Juli einen Brief von Mainz aus schreibt, so muss der-
selbe in dio Tage vom 28. 31. Juli fallen. Jener Brief an Christiane lautet:
„Maynz den 1. Aug. 1793.
Nun bin ich meine Liebe wieder in Maynz nachdem ich einige Tage
in Schwalbach und Wissbaden mit wenig Freude uud Interesse war.
Es fand sich gute Gesellschaft am ersten Ort, unter andern Umstünden
hätte man sich wohl da vergnügen können." 1 *)
Schwalbach war damals noch der Hauptkurort für die vornehme Welt
und hatte durch die Fürsorge seiner Fürsten sich mächtig gehoben; man ver-
gleiche die Mitteilungen aus den Kurlisten, welche A. Genth aus den Jahren
1788, 1797 und 1798 macht und ebenda dio „Stimmen aus Schwalbach vor
hundert Jahren.** 9 ) Kurz vorher — 1787 — hatte der uns bekannte Joh. Kämpf,
jetzt Geh. Rat zu Homburg v. d. H., Vorschläge zur Hebung des Ortes ge-
macht, die von dem Landgrafen Karl Emanuel (1778—1812) gut geheissen, aber
* T ) Brief an Herder, Weimarer Ausgabe (IV) 10, 8. 79, vom 15 Juli, und an Jaoobi,
8. 89, vom 7. Juli, über das Datum 8. H. Düntzer und F. G. v. Herder, aus Herders
Nachlas« I, 144. — **) Brief an Christiane Vulpius, "Weimarer Ausg. (IV) 10, S. 101. — w ) Nach-
trag zu der Schrift: Geschichte dos Kurort» Schwalbach, 3. Aufl., 1884, 8. 29 und 41 «f.
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Dicht ausgeführt wurden, da Kämpf starb. 50 ) Wiesbaden entbohrte damals fast
aller Veranstaltungen zur Unterhaltung der Kurgäste, die daher auch meist
wirklich Kranke waren, und die Stadt hatte in Ansehung des Äusserlichen wenig
Empfehlendes 81 ); zudem war es in den Kriegsjahren wegen der Nähe von Mainz
mehr Gefahren ausgesetzt. Scharf urteilt über die Stadt ein Bericht aus jener
Zeit (1785). s2 ) „Wiesbaden liegt in einer niedrigen Ebene und in einer Gegend,
die keine besonderen Annehmlichkeiten in sich fasst, sondern sie erst in der
Nachbarschaft und in einiger Eutfernung gegen den Rhein hin suchen muss.
Auch fehlt es an schattigen Spaziergängen und an merkwürdigen Anstalten zu
anständigen öffentlichen Vergnügungen. Wiosbaden ist ein elcndos Städtlein
mit engen Gassen." Nachdem sodann der Verfasser von dem Entwürfe eines
„sehr grossen Brunnenhausos", welches ehemals für den Ort bestimmt
gewesen sei und im Modellhause zu Kassel sich befinde, gesprochen, schliesst
er mit den Worien: „Wie viel hätte nicht Wiesbaden durch die Ausführung
eiues solchen Gebäudes gewinnen müssen!"
Der Plan dieses Brunnenhauses ist für uns, nachdem die Stadt durch die
Erbauung des Kurhauses und durch Erweiterung der früher bestandenen
bescheidenen Anlagen, auf dio wir später kommen werden, die ersten Schritte
zu ihrer jetzigen Bedeutung als „Weltkurstadt" gethan, zu interessant, als dass
wir ihn übergehen dürfen. Er wird folgendermaßen beschrieben:
„Dieses Gebäude hat eine vortreffliche, seiner Bestimmung gemässo An-
ordnung, indem um beide Stockwerke in der Runde zwei grosse Arkadengänge
laufen, die durch sechs grade bedeckte Gallerten mit dem eigentlichen Brunnen-
hause, das in der Mitte liegt, verbunden sind. Auch das geräumige flache Dach
dieser Arkaden und Gallerien dient bey kühlem Wetter zum Spazieren und
hat in seiner Mitte eine Kuppel in Form eines antiken Tempels, die Ruhesitze
enthält. An den Arkaden, die im ersten und zweiton Stockwerk rund um das
Brunnenhaus sich winden und es gleichsam einfassen, sind als Wohnungen für
die Brunnengäste zwei lange Flügel ebenfalls mit einer flachen Decke ange-
hängt und diese endigen sich mit zwei Pavillons, die ein gebrochenes Dach
haben. Bequeme Treppen und Thüren verbinden alle Theile zu einem voll-
ständigen Zusammenhang. Man wird nicht leicht einen Entwurf zu einem grossen
Brunnenhaus finden, der mit der Schönheit des äusseren Ansehens zugleich
soviel gute Anordnung zu seinem Zwecke, soviel Bequemlichkeit, soviel Anmut
und Heiterkeit der inneren Einrichtung vereinigte."
Es ist zu bedauern, dass der Plan dieses Brunnenhauses, wie es scheint,
verloren gegangen ist. Das Modellhaus von Kassel ist in der westphälischen
Zeit von den Franzosen geräumt und zerstört wordon und dabei gingen manche
wertvolle Modelle zu Grunde, wahrscheinlich auch die Darstellung des genannten
Brunnenhauses, sie müsste denn verschleppt worden sein und in irgend einem
Winkel vielleicht einer französischen Sammlung versteckt sein, in Kassel wenig-
stens findet sie sich nicht mehr vor. 38 ) Es bleibt freilich für den Leser manches
**) Genth, a. a. O. 8. 23. — ") Jota. Bernoulli bei Oenth, S. 41. — M > C. C. L.
Hirsobfeld, Theorie der Gartenkunst, 178», V, III- — »*) «riefliche Mittoilung des verstor-
benen Oberbibliothekars Dr. Duncker zu Kassel Tom 8. Januar 1885.
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an der Beschreibung dunkel, vor allom der Ort, wo daa Gebäude errichtet
werden sollte, auch ob der Plan von einer massgebenden Stelle ausging u. 8. w.
Im besten Falle kann die Sache als der erste Gedanke an die etwa zwanzig
Jahre später erfolgte Errichtung des heutigen Kurhauses angesehen werden.
VII. 1814, 29. Juli bis 12. September.
VIII. 1815, 27. Mai bis II. August.
Wir kommen nunmehr zu den Jahren 1814 und 1815. Sie sind für
unsern Zweck bei weitem am reichhaltigsten und lohnendsten nicht blos wegeu
der langen Zeitdauer von Goethes Aufenthalt in Nassau — er füllt den Zeitraum
von im ganzen fast vier Monaton aus — , sondern vornehmlich wegen des In-
halts. Es ist der gereifte Dichter fast am letzten Ziele seiner poetischen Lauf-
bahn, den wir in fröhlicher Schaffenslust verfolgen können, der wissbegierige
Forscher, den wir auf seinen Exkursionen begleiten dürfen, der gefeierte Meister,
hochgeehrt und aufgesucht von allen, die ihm nahen können, aber auch der
nachsichtige Richter, der auch den guten Willen anerkennt, wo Kraft und
Leistung höheren Anforderungen nicht entsprochen, der Freund, welcher im
trauten Verkehr ganz Mensch ist, der sich unter die fröhliche Menge mischt
und aus ihrer frischen Lebenslust sich selbst verjüngt. In den Tagebüchern
der Weimarer Ausgabe (III. 5, 1893) liegt, freilich in knappster Form, ein so
ausführlicher Bericht über das tägliche Leben vor, dass wir auch über die
gewöhnlichen Vorkommnisse desselben genau unterrichtet werden; und was ist
bei einem Manne wie Goethe nicht wissenswert? Erläuternd treten die Annalen
oder Tag- und Jahreshefte der Jahre 1814 und 1815 und andere Aufzeichnungen**)
hinzu, sowie die zahlreichen Briefe von befreundeten Personen und an dieselben,
soweit sie bis jetzt veröffentlicht sind.
Wir haben es für zweckmässiger erachtet die beiden Jahre vereint zu be-
handeln, da vielfach die in beiden vorkommenden Personen und Sachen in ein-
andergreifen und so einer Zerreissung des Zusammengehörenden vorgebeugt wird.
1. Der Entsehluss, 1814.
Goethe hatte seit 22 Jahren nicht den Rhein, seit 17 Jahren nicht seine
Vaterstadt gesehen. Und doch hing er mit inniger Liebe an dieser; schon die
Lektüre von Hebels alemannischen Gedichten lockte ihm das Geständnis ab,
dass sie ihm den angenehmen Eindruck gebe, den wir bei Annäherung von
Stammverwandten immer empfinden. In Bezug auf die Rheingegend und ihre
Herrlichkeit bemerkt er in einem Briefe von Wiesbaden aus (5. Juli 1815)' 5 ),
es komme ihm in dieser schönen Welt denn doch wunderbar vor, dass er seine
Freundo und sich selbst hinter dem Thüringer Wald suchen müsse, da man
hier nur eine Viertelstunde Steigens bedürfe, um in die Reiche der Welt und
M ) Z. B. der Reisebericht an yerechiedene Freunde wie Wolf, Knebel (9. Xov. 1814),
öfter abgedruckt. Vergl. die Anm. «um Tagebuch 8. 354. — JS ) An Meyer in F. W. Riemer,
Briefe von und an Goethe, 1846, S. 105.
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ihre Herrlichkeiten zu sehen; die Thüringer Hügelberge aber nennt er am Abend
seines Lebens trist. Kein Wunder, dass er, als der Friede endlich gesichert
orschicn, ernstlich den Plan erwog wioder einmal nach dem Westen zu reisen.
Denn früher hatten ihn die unsicheren Zeitläufte zurückgehalten, wie er am
11. Juni 1813 seinem Freunde Fritz Schlosser zu Frankfurt schrieb 36 ): „Den
lieben Rheinstrom, besonders die Bergstrasse möchte ich wohl einmal wieder
sehen, ein wildes Ereignis nach dem andern verbietet mir aber solche Genüsse."
Den gleichen Wunsch in Bezug auf seine Vaterstadt spricht er demselben gegen-
über am 22. Februar 1814 aus 37 ), als er durch seinen von Frankfurt zurück-
kehrenden Sohn lebhaft an die Freunde daselbst war erinnert worden.* 8 ) Aber
noch dachte er nicht ernstlich an die Ausführung des Wunsches; am 7. März
schreibt er an Meyer* 9 ), er wolle zunächst nach Berka gehen, um dem gichtischen
Wesen, das ihm manchmal in die Glieder fahre, zu steuern; allenfalls könne
er sich gegen den Herbst noch eioige Wochen nach Böhmen wenden. Doch
allmählich reifte der leise Wunsch zum festen Entschluss, dem er im Mai des
Jahres 1814 schon nahe ist. „Ich habe", so schreibt er am 8. dieses Monats
an Schlosser 40 ), „diesen Sommer keine sonderliche Neigung die böhmischen Bäder
zu besuchen; wohin ich mich wenden soll, ist mir noch nicht ganz klar. Möchten
Sie mir aber eine Schilderung von Wiesbaden geben und von der Lebensart
daselbst, nicht weniger, was etwa eine Person mit einem Bedienten auf einen
vier- oder sechswöchentlichen Aufenthalt zu verwenden hätte, so würde ich es
dankbar erkennen, um so mehr, als ich die Hoffnuog hege, meine wertesten
Freunde auch einmal wieder zu begrüssen. Hiervon bitte ich jedoch nichts
laut werden zu lassen."
Die Antwort Schlossers rauss nicht ganz ermutigend gewesen sein; in der
Erwiderung*') bekennt Goethe abermals seinen Wunsch in der Nähe seiner
Vaterstadt einen Teil des Sommers zuzubringen, allein die Ärzte seien damit
nicht einverstanden und möchten ihn wieder nach den böhmischen Bädern
schicken, die ihm froilich mehrere Jahro bekommen seien. Und, fährt er fort,
„wenn ich aufrichtig sein soll, so hat Ihre treue Schilderung der dortigen Zu-
stände meine früheren Erfahrungen daselbst wieder geweckt und mir in Er-
innerung gebracht, welche Leiden ich dort bei grosser Hitze in den Badhäusern,
Hadern, Gasthöfen u. s. w. erduldet und wie ich mehr wie einmal in die Go-
bi rge geflüchtet."
Den Zweifelnden mögen schliesslich die Freunde Zelter und F. A. Wolf,
welche ihn im Juni zu Berka besuchten und gleichfalls vorhatten die Bäder in
Wiesbaden zu gebrauchen, bestimmt haben seine Bedenken fahren zu lassen
im Hinblick auf den Verkehr, den er mit ihnen dort pflegen konnte. Wolf
freilich, welcher in der letzten Woche des Juni zu Wiesbaden eintraf (er ist
in der Kurliste als Gast des „schwarzen Bockes* eingetragen), war, als Goethe
ankam, wieder abgereist. Dafür hielt um so fester Zelter bei dem Freunde
M ) In Frese, Üoethe-Briefe «tut Fritx Bchloeeors Naohlass, 1877, 8. 52. — w ) Ebenda
8. 58. - ») Th. Creisenaoh, Briefwechsel zwischen Goethe und Marianno v. WUlemer,
2. Aufl. 1878, 8. 28. - M , Ooethe-JabrbQcher IV, 161. - *°) Frese 8. 60. - 4, > Ebenda
S. 61.
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aus; er war am 12. Juli angekommen und ging erst am 81. August wieder
ab, einen Tag früher, als Goethe nach Winkel im Rheingau fuhr.
Kaum war Zelter zu Wiesbaden eingetroffen, als er für Goethe zu sorgen
begann. Von Wolf übernahm er für ihn dessen noch übrigen Vorrat an Weiu
und Mineralwasser; am 15. Juli meldet er 4 *), duas er ein Quartier für ihn
gefunden, drei ordentliche Piecen, welche in zwölf Tagen frei würden, in dem
„Bären" („dem Neste") in der „Angergasse* (offenbar verhört statt „Langen
Gasse" oder „Langgasse"). Er fügt hinzu: „Es ist hier gut und angenehm
loben, da man durchaus nicht gebunden ist. . . Ich habe durch Wolf den hie-
sigen Bibliothekar Hundeshagen kennen lernen; dies ist ein junger violgeschickter
Mann, der hübsch zeichnet, mit Antiquitäten, Botanik und mit Landeshistorie
beschäftigt. Dieser wünscht Dir allerlei Varietäten der Natur und Kunst vor-
zuführen. Willst Du Deine Pferde nicht mitbringen, so ist hier das Fuhrwesen
nicht übermässig theuer, um die schönen Umliogenhoiteu zu befahren. In
Biebrich, wo der Fürst (Herzog Friedrich August) residirt, habe ich gestern
eine Stunde im Garten zugebracht, der sich sehr schön ausnimmt. Von Frank-
furt bin ich auf einem Marktschiff bis Hochheim gefahren und dann zu Lande
hierher. Die bunte Reisegesellschaft hat mir den grössten Spass gemacht.
Dies lebendige Anschauen des Lobens aus der Mitte auf die beiden Ufer ist
wahrhaft lehrreich. Ich habe weinen müssen über die lustigen Lieder, die
dieses Völkloin sang.'
So wusste er dem erwarteten Freunde Hoffnung auf mancherlei Genüsse
zu erwecken.
2. Die Heise, 1814.
„Zu des Rheius gestreckten Hageln,
Hochgesegneten Gebreiten,
Auen, die den Fluss bespiegeln,
Weingeschmflckten Landesweiten,
Müget mit Qedankenflügeln
Ihr den treuen Freund begleiten."
„Was ich dort golebt, genossen,
Was mir all dorther entsprosson,
Welche Freude, welche Kenntnis,
W&r' ein allzulang Geständnis.
MGg 1 es jeden so erfreuen,
Die Erfahrenen, die Neuen. 1 -
Nachdem am 24. Juli die Vorbereitungen zur Reise getroffen waren, reiste
Goethe am 25. bei herrlichem Wetter ab und kam um ü Uhr in Eisenach an,
wo er übernachtete; ein Diener begleitete ihn. Am folgenden Tag um 5 Uhr
ging es weiter, gleichfalls bei herrlichem Wetter über Hünfeld, wo Jahrmarkt
war, bis Fulda; am Abend um 6 Uhr Ankunft daselbst, Weiterreise um 6 Uhr
des folgenden Tages bis Hanau, 7 Uhr; boi Neuhof bemerkte er reifes Korn,
bei Steinau Hanf- und Flachsbrechen, bei Salmünster den ersten Storch und
") Riemer, Briefwechsol zwischen Goethe und Zelter II. lt»33, 8. 12,'».
ü
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erstes Kornschneiden; die Burg zu Gelnhausen, die ihn bald näher beschäftigen
sollte, zieht seine Aufmerksamkeit auf sich; er verzeichnet: „Würde und Enge,
Lust zu zieren ohne Gefühl der Verhältnisse." Hanau fesselte ihn einen Tag,
da er hier Freunde besuchen wollte, doch traf er den Geb. Rat v. Leonhard
nicht zu Hause, da er im Bade zu Schwalbach weilte*'), dagegen zeigten ihm
sein Faktor Joh. Menge und Schwager Blum vieles, was er zu sehen wünschte;
auch das Leislerische Haus und Hofintendant Schaumburg 44 ) wurden aufgesucht.
Am Abend herrliche Beleuchtung der Dörfer und Villen des linken (Main-)
Ufers. Der 29. Juli war der Vaterstadt gewidmet, wo am Abend zuvor eine
Illumination wegen Ankunft des Königs von Preussen stattgefunden hatte. Der
Dichter machte einen Spaziergang vor das Thor und durch einen Teil der
neuen Anlagen; es mögen liebliche Bilder der Erinnerung ihm vorgeschwebt
haben, aber auch Gedanken an die Freunde, die er in der Zwischenzeit hier
verloren hatte. So war er nicht zu Besuchen aufgelegt, nur die zwei Brüder
Schlosser, Fritz und Christian, sah er und tauschte sich mit ihnen aus; Fritz
Schlosser besorgte zudem seine Geldgeschäfte zu Frankfurt, auf die er für
seinen Kuraufenthalt gerechnet hatte. Um 6 Uhr, als sich eben ein Gewitter
auftürmte, verlies« er die Stadt und traf um 11 Uhr zu Wiesbaden eiu, wo
ihn Zelter empfing. So hatte er in fünf Tagen, in die freilich auch ein
längerer Aufenthalt zu Hanau und Prankfurt fällt, sein Ziel erreicht.
3. Der erste Tag, 30. Juli 18H.
Eins der angesehensten Bad- und Gasthäuser, an dessen Stelle schon
zur Zeit der Römer, wie später entdeckte Funde beweisen, Bäder bestand eu,
war das Bad- und Gasthaus zum Adler. Als im Laufe des 15. Jahrhunderts
die Schildnamen der Gasthäuser zu Wiesbaden aufkamen, erhielt es den Namen
„zu der Kannen" oder „zu der Kante" und erscheint so zum erslenmalo im
Jahre 1505. 49 ) Hundert Jahre später vertauschte es ihn mit der Bezeichnung
„zum roten", dann „zum güldenen Adler"; noch im Laufe des 18. Jahrhunderts
ragte das Bild eines goldenen doppelten Reichsadlers auf einem Schilde weit
in die Strasse hinein. Wenn Goethe, der hior zuerst Wohnung nahm, das
Haus zum „weissen Adler" nennt, so irrte er, da der Adler nie die Bezeich-
nung weiss oder, wie der verdiente Geschichtsschreibor Schenck bemerkt,
schwarz führte. 46 ) Hier also stieg Goethe zuerst ab, wahrscheinlich weil seine
Wohnung im „Bären" noch nicht frei war; erst am 5. August zog er dahin
über. Das Badhaus zum Bären war eins der vornehmsten, wie es schon zur
Zeit des dreißigjährigen Krieges bezeichnet wird; reicht sein Alter auch nicht
in die Römerzeit zurück, so muss es doch schon im Mittelalter bestanden haben ;
der Name „zum Bern" erscheint zum erstenmale im Jahre 1471. Es bezog
sein Badewasser aus der Adlerquelle und erwarb zu dem alton Besitz im Jahre
4S ) K. C. v. Leonhard, Aua unserer Zeit in meinem Leben 1854, I, 8. 440. — •*) Vgl.
Goethe, KunsUchfttze am Rhein u. s. w. unter Hanau. — ") F. Otto, Merkerbuch der Stadt
Wiesbaden, 8. 74 f. — M ) Schenck, Gesehicht-Beschrcibung der Stadt Wiesbaden 1758, 8. 445
u. 446, nennt das Haus „zum schwarzen Adler", vorbesserte aber in seinem noch erhaltenen
Handexemplar das Wort „schwär«" in »gülden».
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71
1629 den Anteil derselben Quelle, welcher bis dahin in das Schloss abgeführt
wurde, für 500 Rth., sowie den des neben anstossenden Badhauses zum Riesen,
das mit . ihm verschmolzen wurde. Seinen alten Ruf hat das Haus bis zu
seinem Aufhören vor einigen Jahren stets bewahrt.
Charakteristisch ist, wie Goethe den ersten Tag zubrachte und benutzte.
Zunächst traf er seine „erste Einrichtung" in dem Gasthause, der er am
1. August, da sie sich als mangelhaft herausgestellt haben mochte, die „erste
ordentliche Einrichtung" folgen lioss; denn er hielt auf Ordnung im Zimmer,
und wiederholt verzeichnet das Tagebuch von 1814 „Ordnung im Zimmer*
(19. August) oder „Ordnung" (21. und 31. August) oder „Aufgeräumt. Ge-
ordnet" (10. September). Der Vormittag war sodann der Umschau gewidmet,
die Umgebung der Stadt wurde begangen, die neuen Anlagen und Bauten der-
selben, die er noch nicht gesehen, die Altertümer und Naturmerkwürdigkeiten
wurden aufgesucht. Und in der That hatte die Stadt seit seiner letzten An-
wesenheit sich wesentlich und zu ihrom Vorteile verändert. Sie war freilich
noch klein von Umfang und die Zahl der Bewohner betrug kaum etwas mehr
als 4000; doch war der Anfang zur Vergrößerung gemacht und die Bevölke-
rung stieg, wenn auch nicht so rasch als heutigos Tages, so doch stetig. Be-
deutend waren die baulichen Veränderungen und fielen am meisten in die
Augen. Fast an der Stelle des Wiesenbrunnens mit seiner Einfassung von
einem Kranze bejahrter Rosskastanieo, zu denen eine doppelte Allee von Silber-
pappeln hinführte und kühlen Schatten spendete 47 ), war in den Jahren 1808 — 1810
das Kurhaus errichtet worden, noch jetzt von den Wiesbadenern nach dem
Hauptteil gewöhnlich der Kursaal genannt, wie os auch Gcethe thut, ferner die
Anlagen vor und hinter demselben teils neu geschaffen, teils entsprechend um-
gestaltet. 48 ) In dem Saale waren Nachbildungen antiker Bildsäulen von carra-
rischem Marmor aufgestellt, denen auch Goethe seine Aufmerksamkeit schenkte;
vornehmlich erwähnt er die Kopie des Apollo von Belvedere von Jos. Chinard 49 )
aus Lyon (1756—1813), die der talentvolle Künstler im Jahre 1787 zu Rom
angefertigt hatte. Die neuen Strassen, Wilhelms-, Burg- und Friedrichsstrasse,
waren dem Plane nach entworfen, aber noch nicht ausgebaut, ja die Namen
der beiden ersten standen noch nicht fest; die Wilhelmsstrasse nannte man
entweder AHeestrasse oder nach ihrer Lage am sog. warmen Damm Warme-
damra-AUee, bis sie im Jahre 1817 ihren jetzigen Namen nach dem jungen
Herzoge Wilhelm erhielt; die Burgstrasse aber, weil sie den Marktplatz mit
der neuen Wilhelmsstrasse verband, hatte bis zum Jahre 1821, wo sie genug-
sam „ausgebildet" erschien, den wenig geeigneten, wenn auch bezeichnenden
abstrakten Namen Komraunikationsstrasse. Den warmen Damm nahmen Kraut-
und Baumgärten ein. Die Häuser, auch die der neuen Strassen, waren nach
41 ) Dm Bild in Ritterg Denkwürdigkeiten der Stadt Wiesbaden, 8. 81, sowie die Altere
Zeichnung der Ürtlichkeit in den Annalen des Vereins für nasaauische Altertumskunde XXIV, lC:i.
— '*) 8. den Plan bei Ebhardt, Geschichte der 8tadt Wiesbaden, auf unserer Tafel. - *») Das
ist wohl die richtige Form des Namens, nioht wie Uerning, Die Rheingegenden 8. 19 und nach
ihm andere, auch II e y * 1 im Fremdenführer angibt, tihinard. (Joethe nennt ihn C. P. Chinard,
Uerning C. F. Uhinard, Höfer in der Htogr. gen. X, 31« u. a. Joseph Chinard.
6*
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den heutigen Begriffen klein, wie noch jetzt einzelne Gebäude jener Zeit be-
weisen, ihre innere Einrichtung beschränkt. Goethe urteilt daher mit wohl-
wollender Nachsicht, wenn er schreibt 90 ): „Dem Freunde der Baukunst wird
der grosse Cursaal sowie die neu angelegten Strassen Vergnügen und Muster
gewähren. Diese durch ansehnliche Befreiungen und Zuschüsse von höchsten
Behörden entschieden begünstigten Anlagen, zeugen von des Herrn Baudirectors
Göz 31 ) und des Herrn Bauinspectors Zais") Talenten und Thätigkeit. Die
grossen Wohnräume, die in den neu angelegten Häusern entstehen, beleben die
Hoffnung, dass mancher Vorsatz auszuführen sey, den man hier im Stillen
nährt, um eine so viel besuchte, an Ausdehnung und Umfang täglich wachsende
Stadt durch Sammlungen und wissenschaftliche Anstalten noch bedeutender zu
machen." Dieser letztere Wunsch ist denn auch später in Erfüllung gegangen,
obgleich vielleicht nicht in dem vollen Umfange, der jetzt von manchen ge-
wünscht wird.
Goethe besuchte also an dem ersten Tage in Begleitung seines Freundes
Zelter sogleich die nächsto Umgebung der Stadt, das Bosket, d. h. die Anlagen
um den Kursaal und die ReBte der früheren Anlagen, des Herrngartens zwischen
dem Kursaal und der Stadt, dann den Kursaal selbst, am Nachmittage den
Steinbruch im Mühlbachthale (denn dieser ist gemeint, auch wo der Zusatz „im
Mühlbachtbalc* nicht zugefügt ist; derselbe zog den Mineralogen oft an); dann
kehrte er zurück zu den Resten der Stadtmauer, dem Schützenhof, der im
Jahre 1783 einen Umbau erfahren hatte, und dem Kirchhof hinter demselben.
Hier suchte er das Grab Wilhelms v. Wolzogen auf, der im Jahre 1809 am
17. Dezember zu Wiesbaden gestorben war und daselbst begraben lag; dahin
zog ihn die pietätsvolle Erinnerung auch an Schiller, der bekanntlich Wolzogens
Schwager war. An den Kirchhof stösst die Heidenmauer, „die alte Mauer",
die er mit geschärfteren Augen als früher betrachtete, ohne ihr wie überhaupt
den Altertümern der Stadt, deren Zeit noch nicht gekommen war, grösseres
Interesse abzugewinnen; er erwähnt der Mauer nicht mehr. Die Umschau über
das Ganze schloss am 1. August ein Spaziergang auf der Schwalbacher und
Limburger Strasse ab, die damals nur durch Gärten, Baumstücke und Felder
führten, jetzt von stattlichen Häuserreihen bis weit vor die Stadt bekränzt
sind; auch der Steinbruch lockte ihn abermals an. Dass er den Kochbrunnen
in seiner damaligen unkünstlerischen Gestalt nicht versäumte, dürfen wir vor-
aussetzen, wenn er auch über ihn schweigt; nur am 11. August gedenkt er
eines Besuches desselben („nochmals ausgegangen zur heissen Quelle").
4. Entschluss und Reise, 1815.
Im Frühjahre 1815 befand sich Goethe nicht wohl, eine frühzeitigere Kur
erschien geboten, „wozu ich", schreibt er an den Geh. Rat von Voigt am 10. Mai M ),
**) Kunstschatze am Rhein, Wiesbaden. — *') Georg Karl Florian Götz, Baudirektor
zu Wiesbaden für da« Oberamt Wiesbaden, die Ämter Wallau und Wehen. — **) Christian
Zftia, Bauinspektor zu Wiesbaden für die Amter Eltville, Büdesheim, Kaub, Idstein, Katzeneln-
bogen, Kirberg und Limburg. - ") 0. Jahn, Goethes Briefe au Chr. G. v. Voigt 186«, Nu. 187.
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„durch meino Krankhaftigkeit veranlasst, durch freundliche und ängstliche An-
triebe, ja gewissermas8en durch ein Gebeiss unserer gnädigsten Fürstin genöthigt
werde"; und bald darauf — Mitte Mai 54 ) — an Zelter: „Ich habe mich mehr
aus fremdem Andrang als aus eigener Bewegung entschlossen in diesen Tagen
nach Wiesbaden zu gehen und daselbst so lange zu bleiben, als die Umstände
erlauben wollen."
So verliess er denn rasch entschlossen am 24. Mai des Morgens um 5 Uhr
Weimar. Diesmal bot die Reise weniger Veranlassung zu Bemerkungen; das
Tagebuch beschränkt sich fast nur auf die Notizen über die Orte, durch dio
ihn sein Weg führte, und die Zeit der Ankunft und Abfahrt.
„Am 24. Um 7 7» >n Erfurt. Um 11 in Gotha. Um 3 in Eisenach.
. . . Gospeist allein. Kommandant v. Egloffötein.
„25. Von Eisenach ab 6 Uhr." Von Bercka ab 8V*. Von Fach ab 11.
Von Buttlar ab 1 i /t. Hatte gespeist. Von Hünfeld ab 37i. in Fulda ange-
kommen 67a Uhr. Im Posthause. Gespräch mit dem Postmeister.
„26. Mai. Heller kühler Morgen. Von Fulda 57*. Neuhof 7. Schlüch-
tern 10. Saalraünster 1 1 7». Gelnhausen 1. Gespeist. Hanau 6. Franckfurt") 8.
„27. Mai. Von Frankfurt 87*. In Hadersbeim (Hattersheim) 11. In
Wisbaden 17». Im Bären eingekehrt. Einrichtung."
In Frankfurt machte er keine Besuche, wie sich aus dem Tagebuch er-
gibt, und hielt sich nicht länger auf, als nötig war. Zu Wiesbaden fand er
das Badhaus zum Bären sehr verändert. Als Zelter am 6. Juni ihm angekündigt
hatte, er werde sich ebenfalls einfinden, da ihm das Wasser so gut bekommen
sei, erwidert er am 16. Juni 50 ): „In den alten Bären ist Dein baumoisterlicher
Geist gefahren; er würde Dich in Verwunderung setzen. Der dunkle Gang
ist erweitert, eine durchaus zusammenhängende Reihe von Zimmern angelegt,
der Vorplatz hinter dem Balkon macht jetzt mein abgeschlossenes Vorzimmer;
so ist es auch auf der andern Seite. Wie lange ich bleiben werde, weiss ich
nicht." „Dass der alte Bär", antwortet Zelter am 26., „seine Eingeweide restau-
riert, möge ihm wohl bekommen, wiewohl ich wünsche, dass sein Fell geschont
würdo; das alte rotbraune Gebäu mit den beiden Altanen sah mich immer an
wie ein kupfernes Schaustück früherer Zeiten." Dieser Wunsch Zelters ist so
wenig erfüllt worden, dass sich der alte Bär nicht nur einen Neubau, sondern
in unseren Tagen die völlige Niederreissung musste gefallen lassen, um einer
neuen Strasse, der Bärenstrasse, in deren Namo sein ehemaliges Dasein fort-
leben wird, für den gesteigerten Verkehr Platz zu machen. Die neue Zeit hat
eben auch ihr Recht und verlangt sogar in Nürnberg und Rom, dass ihren Be-
dürfnissen Rechnung getragen werde.
M ) Der Brief ist wohl der im Tagebuch bezeichnete vom 17. Mai; Riemer setzt ihn
Ende Mai. — M ) Goethe schreibt bald Frankfurt, bald Franckfurt, auch Francfurt. Ebenso
ist die Schreibung Ton Wiesbaden wechselnd bei ihm. In seinen rasch hingeworfenen Notizen
legte er, wie die damalige Zeit überhaupt, keinen Wert auf Orthographie. - M ) Riemer
a. a. 0. unter den betr. Tagen.
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5. Kurleben, 1814 and 1815.
In »einem Briefe an Leonhard vom 1. August 1814 ST ) bemerkt Goctho,
er gedenke eine ernsthafte Badekur von wenigstens vier Wochen zu bestehen
und sich während dieser Zeit nicht weit zu entfernen, und übereinstimmend
damit berichtet er F. A. Wolf in dem oben erwähnten Reisebericht vom
November 1814, er habe dio Kur auf das regel massigste gebraucht, doch habe
es nicht an Unterbrechungen gefehlt.
Das Tagebuch bestätigt beide Angabou vollständig. Was zunächst das
Jahr 1814 betrifft, so wurde nur an wenigen Tagon und meist infolge von
äusseren Umständen die Badekur ausgesetzt, sodass die Zahl der Bäder im
ganzen 22 betrug; nur an 4 — 5 Tagen findet sich kein Grund zu einer Unter-
brechung angogeben. Wir werden die Störungen in einem besondern Abschnitt
weiter unten besprechen; hier mögen sie kurz angefahrt werden. Am 3. August
folgte er eiuer Einladung nach Mainz zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät
des Königs von Preusscn; am 15. August fand der Ausflug nach Rüdesheim
statt, der zur Teilnahme an dem Rochusfeste am 16. führte; am 24. und 25.
verlangte die Anwesenheit des Grossherzogs Karl August von Weimar, dass
ihm die ganze Zeit gewidmot werde; am 29. fühlte Goethe sich unwohl, wahr-
scheinlich wegeu der Strapazen, welche die Feier seine» Geburtstages ihm auf-
erlegt hatte. Mit dem Anfang des September war die Kur abgeschlossen, und
es folgten die schönen Herbsttage im Rheingau.
Die Kur des Jahres 1815 verlief anfangs gleich gewissenhaft; vom 28. Mai
bis 22. Juni setzte Goethe in 26 Tagen nur fünfmal aus; nachher verfuhr er
weniger streng; nach einer Pause bis 11. Juli nahm er fünf und nach einer
zweiten vom 16. Juli bis 5. August, in welche die Reise an die Lahn und nach
Köln fällt, noch einige Bäder, die diesmal im ganzen die Zahl dreissig erreichton.
Mit dem Bad verband Goethe das Trinken von Schwalbacher, seltener
Woilbacher Wasser. Jenes rührte zum Teil aus dem Bestand von F. A. Wolf
her, wie wir wissen; er nahm es gewöhnlich des Morgens auf oder vor einem
Spaziergang zu sich. Geilnauer Wassor, das er zu Mainz gekostet hatte,
scheint ihm nicht zugesagt zu haben. In beiden Jahren ist elfmal Schwalbacher,
dreimal Weilbacher Wasser in dem Tagebuch angemerkt.
Die körperliche Bowegung bildet auch einen Teil dos regelmässigen Kur-
lebens. Während des Sommers 1814 beschränkten sich die täglichen Spazier-
gänge meist auf die Anlagen-' 8 ) oder die Gegend vor dem Kursaal, vielfach in
Begleitung Zelters oder eines anderen Bekannten, weitere Ausflüge waren selten,
wir werden sie weiter unten erwähnen; hier sei nur bemerkt, dass am 6. August
dio Fräulein von Stein eine «Föte zu Sonnenberg" veranstalteten und am 9.
und 18. die Platte besucht wurde.
Im Jahre 1815 zeigte sich Goethe, nachdem einmal, wie es schoint, dio
„Krankhaftigkeit" gewichen war, viel unternehmender. In Betreff der Stadt
* T ) t. Leonhard, Aus unserer Zeit in meinem Leben I, 4 1<». — *") Wenn es am 8. Aug.
heisst ,in den Kethmiannischen?) AnIngen*, so ist der Zusatz Bethm. ein Irrtum; solche gab es
zu Wiesbaden nicht.
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gedenkt er — am 29. Mai — eines Besuchs der „Oberen Vorstadt«, ein Name,
der für die kloino Stadt volltönender lautet, als sie verdient. Sonst bildet zwar
auch wieder der Kursaal mit seinen Anlagen namentlich vor Tisch („vor Mittag")
das gewöhnliche Ziel der Spaziergänge und auch die Kalksteinbrflcbe wurden
wiederholt besucht; aber für die Nachmittage oder Abende, manchmal bis in
die Nacht hinein, ist jetzt der Geisberg, den er 1814 nur einmal betrat, der*
jenige Punkt, welcher den Dichter am meisten anzog. Hier verlebte er im
Kreise von Freunden wie Cramer, Boisseree, Schlosser bei einem Glase Wein,
vielleicht von dem gepriesenen Elfer, vergnügte trauliche Stunden, die auch
ihron Niederschlag im west-östlichen Divan gefunden haben. Yon ihm gilt,
was er in einem oben angezogenen Briefe sagt, dass man hier (in Wiesbaden)
nur eine Viertelstunde Steigens bedürfe, um in die Reiche der Welt und ihre
Herrlichkeit zu sehen. Hier bat man die Stadt zu seinen Füssen, weiterhin
erblickt man sanfte Anhöhen hinter und neben ihr, die Berge jenseits des Rheines,
diesen selbst und die Türme des goldenen Mainz, sowie linker Hand die Ebene
bis zum Odenwald bin. Der Geisberg war damals von einem Ökonomiegut
eingenommen, dessen Besitzer zugleich Wirtschaft betrieb; er hiess Hastings"),
sein Kellner war ein schöner, blonder, freundlicher junger Mensch 60 ), an dem
Goethe sein Wohlgefallen hatte; am Sonn- und Montag und während der
Sommermonate auch am Mittwoch und Freitag 61 ) spielte hier eine Musikbande.
Diese scheint nun unsere Gäste weniger angelockt zu haben, denn eine ver-
gleichende Zusammenstellung belehrt uns, dass sie die der Musik entbehrenden
Tilge für ihre Besuche des Ortes vorzogen, aber die anderen doch nicht ganz
vermieden; ist die Rechnung richtig, so betragen jene 12 Tage unter 15.
Andere Ausflüge des Jahres 1815 führten nach der Papiermühle zu
Ciarenthal (am 29. Mai) und der Klostermühle (am 3. August) bei diesem
kleinen Dorfe, welches sich an das ehemalige adelige Nonnenkloster gleichen
Namens (1296—1560) angeschlossen hatte. Von dem Kloster hatte die später
in seiner Nähe angelegte und noch jetzt bestehende Mühle den Namen ; Goethe
nennt sie Nonnenmühle. An beiden Orten wurden den einkehrenden Gästen
Erfrischungen verabreicht. Die Klostermühle erregte aber in ganz andrer Weise
Goethes Interesse. Er glaubte hier ein leibhaftiges Gegenstück zu seiner
Dorothea in „Hermann und Dorothea* gefunden zu haben. Die Mühle hatte
im Jahre 1792 ein Johannes Reinhard aus Nastätten für 2000 fl. erkauft.* 1 )
Als er im Jahre 1813 in einem Alter von 45 Jahren starb, hintcrliess er eino
Witwe mit einer zahlreichen Schar von meist unerzogenen Kindern; die drei
ältesten waren Söhne, welche der Mutter bei dem Betrieb ihres Geschäftes
wohl schon hilfreich zur Seite stehen konnten; es folgte eine Tochter, Katharine
Eleonore, geb. am 30. April 1797, die also zu der Zeit, als Goethe hier weilte,
**) Auch Boisseree nennt den Namen I, 259. — •*) Ebenda, b. auch unten No. 11
(Diran). — •') So lautet z. B. im Wiegbader Wochenblatt vom 11. Juli 1815 die Bekannt-
machung mit dem Zusatz ,wie in den vorherigen Jahren". — **) Staatsarchiv zu Wiesbaden.
Die folgenden persönlichen Verhältnisse der Familie Reinhards sind dem Kirchenbuche von
Wiesbaden entnommen, das einzusehen Herr Pfarrer Friedrich dem Verfasser in gewohnter
Liebenswürdigkeit gestattete.
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7G
eiu Mädchen von 18 Jahren war; die anderen Töchter waren jünger. Katharine
Eleonore muss sich der Geschäfte der Haushaltung und Bewirtung der Gäste
thätig angenommen, auch die Mutter bei der Erziehung der jüngeren Geschwister
unterstützt haben. Sie nuu rief unserm Dichter das Bild seiner Dorothea vor
Augen. So erzählte er am 17. September**) den Frankfurter Freunden in
zahlreicher Gesellschaft von der schönen Müllerstochter auf der Nonnenmühle
bei Wiesbaden, mit der ihn Frau Hansa 64 ) bekannt gemacht habe, als einem
Gegenstück zu seiner Dorothea: „Reinlichkeit, Wohlhabenheit, Schönheit, Derb-
heit. Sie spielt Klavier, dio Brüder sind zugleich Fuhrleute, eine alte Mutter 64 )
steht dem Haus vor. Eine alte Muhme ist der Apotheker aus „Hermann und
Dorothea* und recht gut. Sie hat noch eine Anzahl Geschwister." Noch ein-
mal sah Goethe das Haus, es war auf der Rückreise von Nassau am 31. August,
aber wohl ohne einzukehren, doch vergisst er nicht die Nonnenmühle und dass
er an ihr vorbeigefahron, zu notieren. Die Katharine Eleonore, um das nicht
zu übergehen, heiratete später den Besitzer des ehemaligen sog. Mahrischen
Hofes Jakob Wilhelm Mahr und nach dessen am 17. Novembor 1832 erfolgten
Tode im Jahre 1838 den Badewirt Philipp Daniel Herber; sie starb zum
zweitenmalc verwittwet am 23. Oktober 1872.
Weiter ab lag der Nürnberger Hof, dem der Besuch am 0. Juli galt.
Dio Fahrt war am vorhergehenden Tage mit Cramer verabredet worden, der
zwar nicht unter den Teilnehmern genannt wird, aber doch wohl nicht gefehlt
hat, da seine Farnilio 66 ) zu ihnen gehörte und auch das Gestein untersucht
wurde. Auch dieser Punkt bietet eine herrliche Aussicht auf die vor ihm
liegende Ebene, durch welche majestätisch der Rhein seine Fluten wälzt, um-
geben von zahlreichen Städten, Dörfern und Villen. 67 ) Das Tagebuch gibt dio
kurze Notiz: „Mittag auf dem Hofe. Im Freyen schöne Aussicht."
Regelmässig ist im Tagebuch verzeichnet, wo er zu Mittag speiste. Dies
geschah im Jahre 1814 anfangs an der Tafel seines Gasthauses, wenn keino
Abhaltung durch eine Einladung dazwischen trat. Vom 11. August an aber
heisst es fast immer: „Mittag zu Hause*, oder „Mittag für mich". Er war
in seine Wohnung zum Bären übergesiedelt, und die Gasthaustafel mochte ihm
nun unbequem geworden sein, sei es, dass seine Massigkeit in Speise und Trank
ihm dieselbe verleidete oder er nicht die Unterhaltung fand, die ihn befriedigte,
oder er in anderer Weise sich beengt fühlte. Wir kennen die Genügsamkeit
des freilich vierzehn Jahre älteren Goethe aus den Mitteilungen über seine
w ) 8. Boissert'e, dem wir dieso Mitteilung verdanken I, UHU), nennt Sonntag den
IS. September als den Tag der Erzählung. Der Sonntag dieBer Woche fiel aber im Jahre
l*i:> auf den 17. September. Schon Croizcnach, Briefwechsel zwischen Goethe und
M. r. Willemer S. i>0 bemerkt, dass Boisseroes Angaben der Tage zu dieser Zeit nicht richtig
seien; das Tagebuch setzt die betreffende Gesellschaft auf den IT. Sept. — ") Boisscree
schreibt Pansa. — * 5 i Sio hiess Marie Margarethe und war eine geb. Krekel von Wiesbaden,
lebte übrigens noch bis zum 10. Oktober 18*7. — f «) Vgl. den Abschnitt No. 8, 10 (Philippiuo
Lade). — tT ) Sogar Vogel, Beschreibung des Herzogtums Nassau S. 544, wird in seiner zwar
hOihst lehrreichen, aber trockenen Darstellung zu den Worten hingerissen: „hier hat man
eino unbeschreiblich schöne Aussicht über den Bhein, das Rheingau, dio Pfalz u. s. w. hin."
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tägliche Lebensweise zu Dornburg im Jahre 1828* 8 ); die daseibat erwähnto
Liebhaberei an Artischoken, die er sich selbst zu einem Salat mit feinem
Provenceröl zubereitete und aus Frankfurt hatte kommen lassen, bestand auch
schon in Wiesbaden; seinen Freund Fr. Schlosser bittet er am 20. August
1814 69 ), wobei er sich wegen des sonderbaren Auftrags entschuldigt, er möge
ihm durch einen Fuhrmann, der zweimal wöchentlich nach Frankfurt fahre, ein
halbes Dutzend Artischoken senden; hier (in Wiesbaden) seien sie selten und
dann nicht gut zu haben, und dies Essen sei seine Leidenschaft. Wie wenig
sein Magen aussergewöhnlichen Leistungen gewachsen war, zeigt sein Unwohl-
sein nach der Geburtstagsfeier.
Hier müssen wir die Anekdote, die ein freilich nicht ganz glaubwürdiger
Berichterstatter erzählt, erwähnen. 70 ) „Kurz nach den Befreiungskriegen traf
Goethe*, so heisst es, „mit russischen Offizieren, Liefländern in Wiesbaden an
der table d'hote zusammen; diese brachten ihm den Toast aus: „Sie sollon leben,
Herr Professor!* Goethe, der ganz einfach gekleidet war, entfernte sich und
erschien nach kurzer Pauso wieder mit dem Stern des russischen St. Annen-
Ordens auf der Brust. Die Offiziere gaben ihm nun die Excellenz und baten
ihn um Entschuldigung, die Gesundheit habe nicht ihm, sondern seinen un-
sterblichen Werken gegolten. Die weimarische Excellenz verharrte in stolzem
Schweigen.* Wenn dieser Bericht auf Wahrheit beruht, so muss die Sache
im Gasthaus zum Adler und in den Tagen stattgefunden haben, als Goethe noch
zugleich ebenda wohnte, da er sonst nicht nach kurzer Pause wieder erscheinen
konnte, also im Jahre 1814. Die Tagebücher aber schweigen an diesen wie
an allen Tagen von einer Gesellschaft russischer Offiziere oder von einem Vor-
kommnis der Art, wie das erzählte ist. Wäre Goethe über ein solches miss-
stimmt worden, so hätte er es sicherlich kurz bemerkt, wenigstens die Anwesen-
heit der Offiziere erwähnt. Gesetzt aber auch, dass sich die Sache so verhalten
hat, wie Vehse berichtet, so ist das Benehmen Goethes gewiss weit eher dar-
auf berechnet gewesen, die lärmenden Gesellen zum Schweigen zu bringen, als
aus beleidigtem Stolz wegen Versaguog der Excellenz zu erklären. Die Ent-
schuldigung aber wäre ebenso albern gewesen, als gross die Unwissenheit über
die Stellung des Verfassers der „unsterblichen Werke", die sie hoch „leben* Hessen.
Auch im Sommer 1815 speist er meist zu Hauso; nur wenn Besuche ihn
nötigen, auswärts, und zwar jetzt meist im Kursaal; diese Fälle wiederholen
sich öfter infolge der Anwesenheit Schlossers, Boisserees u. a.
Den Abend brachte er ebenfalls am liebsten zu Hause zu, sei es im
traulichen Gespräche mit einem Freunde oder mit soinen Arbeiten beschäftigt.
Einmal, am 16. Juli 1815, speiste er zu Abend in der Loge. Er ging in der
Regel früh zu Bette, zu Dornburg regelmässig um 9 — 9 1 /« Uhr. Nur äussere
Umstände brachten auch hier eine Änderung hervor, wie die Anwesenheit des
Grossherzogs oder der letzte Abend vor der Abreise der Frau Äbtissin v. Stein,
was er dann niemals zu verzeichnen vergisst. Für das Jahr 1815 finden sich
•*> Goethe-Jahrb. II, 31!». - ") Frese, a. a. 0. 8. «:>. - Tt ) Vohise, Geschichte der
deutschen Höfe, 28, 201.
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selten dahin gehende Bemerkungen in dem Tagebuch; doch darf man vermuten,
dass er es ebenso gehalten hat. Nur die Spaziergänge auf dorn Geisberg dehnten
sich öfter länger aus, bis in die Dunkelheit hinein.
6. Dax Theater.
Hier ist wohl der passende Ort, über Goethes Besuch dos Wiesbadener ,
Theaters zu reden. 71 )
Ein Theater bestand hier schon längere Jahre, wenn auch ein eigenes
Gebäude für dasselbe fehlte; die Vorstellungen wurden in oinem dazu horgo-
richteten Saale des Schützenhofes gegeben. Das Theater, seit 1810 herzoglich
nassauisches Hoftheater benannt, stand seit 1807 unter staatlicher Oberdirektion
und erfuhr dadurch einen höheren Aufschwung. Bei den für notwendig or-
achteten Umänderungen im Inneren des Gebäudes zog man den geschickten
Dekorationsmaler Friedrich Beuther (1776 — 1856)"), der sich damals zu Frankfurt
aufhielt, zu Kate; dieser hatte seine Stärke in der Darstellung der Perspektive
und der „ Hintergründe". Auch in Weimar ging man einige Zeit später, im
Winter 1815 auf 181G, damit um, das Theater, das dort ungleich hoher stand
als in Wiesbaden und, wie Goethe sagt, „sich in Hinsicht auf reine Recitation,
kräftige Deklamation, natürliches und zugleich kunstreiches Darstellen auf einen
bedeutenden Gipfel inneren Wertes erhoben hatte", dem entsprechend in seinen
äusseren Mitteln zu vervollkommnen. Zu dem Zwecke trat Goethe mit Friedrich <
Beuther in Verbindung und gewann ihn für die Weimarer Bühne, bei welcher
er im Jahre 1816 als Theatermaler und Dekorateur angestellt ist.") Als noch
die Verhandlungen schwebten, mag er von ihm selbst vernommen haben, daBs
auch die Wiesbadener Dekorationen von ihm angefertigt worden seion, und
dieser Umstand lenkte die Aufmerksamkeit Goethes auf dieselben hin.
Im Jahre 1814 hatte or dem Theater in Wiesbaden wenig Interesse
entgegengebracht. 74 ) Infolge des Krieges, der sich im Herbste des Jahres 1813
nach dem Mittelrhein gezogen hatte, war der Hof des Herzogs nach Usingen
übergesiedelt (November 1813) und das Theater aufgelöst worden; im Sommer
1814 spielte eine Truppe der Direktrice Müller in den alten Räumen, im
Sommer 1815 die des Georg Dengler; diese beiden konnten den hohen Kunst-
sinn des Weimarer Gastes nicht anziehen und befriedigen; im Sommer 1814
besuchte er das Schauspiel nur einmal, am 25. August. Das wurde auf einmal
anders im Sommer 1815; nunmehr finden wir ihn bald nach seiner Ankunft
und dann noch zweimal im Theater, aber schon die Zusätze, die or bei der
Erwähnung dieser Besuche im Tagebuch macht, lassen vermuten, daas es sich
hier um etwas anderos als um das Schauspiel handelte; am 4. Juni hoisst os:
„Abends Schauspiel; Dekorationen von Beuter" (sie); am 6.: „Im Theater
") Vgl. 0. Weddigcn, Geschichte des Kßnigl. Theaters in Wiesbaden 1894. — ") Ober
ihn die Allgemeine Deutsche Biographic und Goethes Annalen 1815. — '»> Hof- und Staats-
handbuch von Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 2?t. — u ) Über das Folgende s. F. O. im Rhei-
nischen Kurier ?om 8. Juli 1894.
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wegen Dekorationen*, und am 14.: „Im Theater. Dekorationen. 8 Unsere Ver-
mutung wird zur Gewissheit durch einon Brief, den er am 8. Juni an seine
Frau schrieb; in diesem sagte er 76 ): „Nach Beuthers Arbeiten, der das hiesige
Theater einrichtete, habe ich sogleich nachgefragt. Herr Qeheimerath von
Pfeiffer, dem die hiesigen Theatergeschäfte untergeben sind 7 '), hat die ganz
besondere Gefälligkeit, mir an schicklichen Abenden, nach Beendigung dos
Schauspiels, wenn die Erleuchtung noch vollständig ist, mehrere Dekorationen
oder wenigstens Hintergründe zu zeigen, wo ich dann das im grossen sehe,
was wir im kleinen schon kennen und was bey uns grosser ausgeführt worden
soll." Wenn er sagt, dass er im grossen sehe, was sie im kleinen schon kennen,
so geht das wohl auf die Modelle in kleinem Massstabe, die Beuther zu ent-
werfen verstand. Wie es für Wiesbaden als hohe Ehre und Auszeichnung
angeschen werden musste, wenn der grosse Kenner der Bühne und Leiter des
ersten Theaters Deutschlands in damaliger Zeit von dort sich eine Belehrung
oder wenigstens die Anschauung der in Weimar vorzunehmenden Neuerungen
herholte, so war es für diesen von Wichtigkeit über Beuthers Leistungen an
dessen Werken sich ein sicheres Urteil zu bilden. Sobald dieses Interesse
erschöpft war, hört der Besuch des Schauspiels für Goothe auf.
Was es mit der Notiz des Tagebuchs vom 15. Februar 1815: „Wiesbadener
Theaterspass" auf sich habe, vermögen wir nicht zu erklären. Vielleicht gibt
cinor der nicht veröffentlichten Briefe darüber Aufschluss.
Es mögen hier noch zwei andere Kunstgenüsse, die Goethe zuteil wurden,
verzeichnet werden.
Am 6. August 1814 hörte er den Hofgerichts- Advokaten Hall wachs aus
Darmstadt die Glocko von Schiller deklamieren. Darübor borichtot er am 7.
an seine Frau 77 ): „Gestern sah ich eine wunderliche Erscheinung, einen jungen
Mann, Advokaten in Darmstadt, ganz zum Schauspieler gebohren. Schöne
Gestalt, schickliche Bewegungen, wohlklingende Stimme; er deklamirte, in einer
Art von Hamlets Kleide, Schillers Glocke. Leider ist er, in Ansicht auf Dekla-
mation, ganz auf falschem Wege, er müssto völlig umlernen wenn er bey uns
Glück machen wollte .... ein prächtiger Bursch ist's."
Ferner hatte er den Hocbgenuss des Spiels auf der Maultrommel. Tage-
buch vom 30. Juli: „Maultrommel. Gesteigerte Mechanik derselben" und am
13. August: „Gesang und Maultrommel im Adler." Dieses lange verkannte
musikalische Instrument war erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu höherer
Ausbildung gelangt und hatte durch die Vollkommenheit, mit der es von
J. II. Scheibler zu Krefeld (1777—1838) u. a. gehandhabt wurde, allgemeine An-
erkennung und durch G. Chr. Grossheim (1764—1847) don edleren Namen Mund-
harmonika, den Jean Paul aufgebracht, gefunden. 78 ) In Wiesbaden hatte um die
M ) Mitgeteilt ist diese Stelle in den Anmerkungen zn dem Tagebuch, 8. 372. — n ) Franz
Karl Josef (seit 1814 von) Pfeiffer war Geheimer Finanzrat und Geheimer Staatareferendar,
seit dem Oktober 1814 Geheimerrat und Generaldirektor der indirekten Steuorn. Verordnungs-
blatt 1814, No. 22. — "i Die Stelle ist mitgeteilt in den Anmerkungen zum Tagebuch, 8. 3'>IS.
— '•) Schilling, Encjklopüdio der musikalischen Wissenschaften 4, 604.
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Zeit, in der wir uns versetzt sehen, ein gewisser Teichmüller aus Braunschweig 79 )
sich durch scino Kunstfertigkeit auf der Maultrommel ausgezeichnet; er selbst
oder ein Schüler von ihm mag es gewesen sein, don Gootho hier zu hören bekam.
7. Verkehr mit Kurgästen. Besuche auswärtiger Freunde.
Wir werden hier zuerst den Verkehr mit Kurgästen zur Sprache bringen,
die nicht aus Frankfurt waren, dann den mit Frankfurtern, und zwar zunächst
vom Jahre 1814, darauf von 1815, sofern nicht oino Verbindung der beiden
Jahro zweckmässig erscheint.
Den lebhaftesten Verkehr unterhält Goethe während seines Aufenthalts
zu Wiesbaden im Sommer 1814 mit seinem nur wenige Jahre jüngeren Freunde
K. Fr. Zelter (1758—1832), dessen Einfluss und thätige Vorbereitung für dio
Reise schon oben hervorgehoben wurde, auch dass er bis zum 31. August aus-
hielt; am 1. September sahen sich beide für kurze Zeit in Winkel wieder. Da
Zelter auch im „Bären" wohnte, so war der Verkehr um so weniger gehindert
oder erschwert, und so finden wir denn beide fast täglich zusammen, manch-
mal mehr als einmal an demselben Tage, und zu allen Stunden, auf dem Zimmer,
auf Spaziergängen oder Ausflügen; wir glauben nicht nötig zu haben dio einzelnen
Tage aufzuzählen, an denen sie zusammen erscheinen. Von den Ausflügen am
3. August und am 15. — 17. August wird unten die Rede sein unter dem Ab-
schnitt „ Unterbrechungen oder Störungen." Auch zu kleinen Dienstleistungen
war Zelter bereit, wie er z. B. die Rezension des Werkes der Frau v. Stacl
über Deutschland am 11. und 12. August vorlas und am 28. eine allzuauf-
rogendo Feier von Goethes Geburtstag, welcher dieser doch nicht ganz entging,
zu verhüten suchte. „Ich habe alle Hände voll gehabt zu verhindern", schreibt
er am 30. an den Staatsrat Schultz 80 ), „dass vorgestern an seinem Geburtstage
nicht Aufruhr in Wiesbaden wurde, indem ich sagte, er gehe von dannen, wie
er denn auch in Biebrich beim Herzog von Nassau zur Tafel war."
Sie kannten sich schon lange Zeit; das Verhältnis hatte sich aber seit dorn
freiwilligen Tod von Zelters Stiefsohn 1812 zur innigsten Freundschaft gesteigert.
Daraals gebrauchte Goethe in der Anrode zuerst das vertrauliche Du: „Du
hast Dich auf dem schwarzen Probiersteine des Todes als oin echtes geläutertes
Gold aufgestrichen; wie herrlich ist ein Charakter, wenn er so von Geist und
Seele durchdrungen ist", und Zelter durfte seit diesem Briefe denken, an Stello
des verlornen Sohnes einen lebendigen Bruder gewonnen zu haben. Gootho
schätzte an ihm die Kernhaftigkeit seiner Natur, die frei von aller Sentimentalität
war, den offenen ehrlichen Sinn, der empfänglich war für alles Gute und Schöne.
Bei ihm fühlte er sich wahrhaft wohl.
") A. 8chreiber, Topographischer Nomenklator der ganzen RheinkQsto 1813, 8. 63.
Er war nach diesem zugleich PortrStmalor. Schilling sehreibt den Namen DeichmQUcr.
F.'.tis, Biographie des Musiciens VII, 190 Terzeichnet einen K. \V. TeichmQUer, der Künstler
auf der Violine, Flöte und Ouitarre und um 1830 Professor der Musik zu Braunschweig gewesen
sei; auch habe er sich durch sein Spiel auf der Mundharmonika bekannt gemacht. —
") H. Üflntzer, Briefweohsel zwischen Ooethe und Schultz 1853, S. 136.
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81
Die Kur war Zelter zuerst nicht gut bekommen. Am 6. September
meldet er von Bonn aus: „Das Chiragra habe ich nach Wiesbaden gebracht
und das Podagra dazu geholt, doch bin ich sehr vergnügt, indem ich wie ein
Kind an Deiner Brust neue Lebensraiich eingesogen habe." Doch am 8. No-
vember schreibt er 111 ): „Mit meiner Kur bin ich ganz zufrieden, das Wasser
hat alle gichtische Materie nach aussen gelockt, was ein Ausschlag an Händen
und Füssen bekundet, und so Gott will, denke ich künftiges Frühjahr bei Zeiten
wieder an Ort und Stelle zu sein, um den Feind zu verfolgen, der mir das
Beste nehmen will, was an mir ist."
Indessen wurde aus dieser Kur im Jahre 1815 nichts. Obgleich er von
Goethe noch von Weimar aus Ende Mai 1815 aufgefordert wurde, bald nach
Wiesbaden zu kommen und er Hoffnung machte (4. Juni) bald zu erscheinen,
traten ihm Hindernisse entgegen und er musste die Reise aufgeben, fand sich
aber 1816 ein, wo dann Goethe ausblieb, wie wir sehen werden.
Im Sommer 1814 und im Anfang der Kur von 1815 erschien bei Goethe
sehr häufig und war gern gesehen der preussische Hauptmann, später Major
v. Luck, „der Mainzer Humorist", wie ihn Goethe im Jahre 1819 nennt"), „der
ganz unversehens zum Besuche eintritt, sein Bleiben ohne Not verkürzt und
gerade aus Übereilung die Reisegelegenheit versäumt." Er gehörte einer
Familie an, aus der mehrere Glieder in Weimar bedienstet gewesen waren und
zu den ältesten Freunden Goethes auf Weimarer Grund und Boden gezählt
hatten. 83 ) Am 5. August sandte er die Broschüre: „An die Germanen des
linken Rheinufers, u die aber Goethe schon bekannt war. Der Krieg vom
Jahre 1815 entführte ihn nach der Pfalz zur Belagerung der Festung Landau;
am 28. Juni nahm or Abschied. Am 18. Juli richtete Goethe einen Brief an
ihn nach Landau; am 3. August ist im Tagebuch verzeichnet: „Lucks Gedicht",
über welches ein Gespräch mit Boisseree vom 6. August Ausschluss gibt. 84 )
Es heisst dort: „Gespräch über die blosse Kunst der Poesie, bei dem blossen
Talent der Sprache: wie weit es in dieser Phraseologie gebracht werden könne;
er (Goethe) rühmt den Major Luck, es ist auch ein divuses (sie) Wesen in
ihm, aber da thut ihm das Sonett Gewalt an und zwingt ihn zur Einheit.
Darum gibts nicht leicht bessere Sonette als die seinigen, auch in Rücksicht der
Gedanken. Ein Spottgedicht hat er gegen die Arndt'sche Dreieinigkeit gemacht,
von Wellington, Blücher und unserm Herrgott; aber das nicht als Sonett Eine
Strophe, die er Goethe blos in einem Briofe mitgeteilt, als geheimes Einschiebsel,
nur für Vertraute, ist sehr artig. Es lautet ungefähr: Gott ist der grosson
Schrift nicht wort, dieweil er nicht freiwilliger Jäger geworden, das Schiess-
gewehr auf die Schulter genommen hat und in den Landsturm ausgezogen ist."
Gleichzeitig mit Goethe war im Gasthaus zum Adler abgestiegen der
„Graf Henckel von Donnersmark, Rittmeister und General-Adjutant in
königlich preussischen Dienston" 85 ), am 7. August traf ebenda ein „So. Excellenz
Briefweohtel beider, Ton Riemer an dem betr. Orte. — **) Annalen 1819. -
»*) Goetho-Jahrb. X, 26. Brief vom 5. Dezember 1808. — ") Sulp. Boi»«er6e I. 262. -
•*) Kurlirte vom 24.— 31. Juli 1814.
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82
Herr Graf Henckel von Donnersmark, königl. preussischer General." 86 ) Dieser
ist Graf Wilhelm (1773—1823), seit dem 30. Mai 1814 Generalmajor; jener
wird Graf Lazarus sein, welcher im Jahre 1813 zum Adjutant des Generals
v. Steinmetz ernannt worden war. 87 ) Mit der Familie der Grafen war Goethe
schon von Weimar her bekannt, da die Mutter des Grafen Wilhelm, Gräfin
Ottilie geb. v. Lepel, Oberhofmeisterin der Erbgrossherzogin war; später trat
er in ein noch engeres Verhältnis zu derselben, als sein Sohn die Eukelin der
Gräfin, Ottilie v. Pogwisch, heiratete. Ob nun Goethe mit beiden oder mit
welchem von boiden er vornehmlich verkehrte, giebt er nicht an; mit dem
erster en, dem Rittmeister, traf er schon am 30. Juli wahrscheinlich an der
Tafel zusammen, ebenso ist seine Name am 31. Juli und 1. August im Tage-
buch genannt; am 8., 9. und 26. August kann der im Tagebuch aufgeführte
Graf Henckel auch Graf Wilhelm, welcher bis zum 6. September zu Wiesbaden
verweilte, gewesen sein. Mit ihm erscheinen am 9. zusammen die Fräuloin
v. Stein, wie sie das Tagebuch vom 2. August kurz bezeichnet. Sie waren
schon eine Woche früher, zwischen dem 17. und 24. Juli in Wiesbaden einge-
troffen und hatten sich im Badhause zum schwarzen Bock eingemietet. Nach
einem Briefe von Goethe an seine Frau waren es (d. h. wie wir sehen werden,
nur zwei von ihnen) Schwestern dos ehemaligen Oberforstmeisters v. Stein zu
Weimar. 88 ) Es waren im ganzen vier Damen und sie werden in dem Tage-
buch und der Kurliste so übereinstimmend aufgeführt, dass die Vermutung nahe-
liegt, die eine Aufzählung sei aus der anderen geflossen. Die Kurliste sagt
folgendermassen (die eingeklammerten Worte sind bei Goethe weggelassen):
„Fr. 89 ) v. Stein, Äbtissin, von Witzenbach 90 ); Fräulein v. Stein Stifts- und Hof-
dame [bei Ibro Durchlaucht] der Frau Churfürstin von Hessen-Kassel; Fräulein
v. Stein, Stiftsdame und Fräulein v. Willhan 91 ), [beide] von Bobenhausen.« Über
die erste und dritte der Damen geben die weiter unten angeführten Stamm-
buchverse derselben nähere Auskunft. Daselbst unterzeichnete die erste Eleonore
v. Stein, Äbtissin von Waitzenbach, die dritte schrieb Christiane v. Stein;
diese beiden waren die Schwestern 9 *) des Oberforstmeisters v. Stein zu Nord-
und Ostheim (f 1816). Eleonore (1775—1851) war die Fröpstin (so lautete
nach der Stiftungsurkunde der Titel der Vorsteherin) des Stifts Waitzenbach
zu Würzburg, eines lutherischen freiherrlich Truchseasischen adeligen Damon-
stiftes, das im Jahre 1733 für fünf adelige Fräulein von mindestens acht Ahnon
gegründet worden war. 98 ) Christiane (geb. 1779) gehörte dem freiherrlich
v. Steinischen adeligen Damenstifte auf der Birken bei Bayreuth an; dieses
war im Jahre 1740 auf Schloss Birke für vier, seit 1804 sechs arme adelige
Witwen oder Fräulein gegründet worden. 94 )
*) Kurliste vom 31. Juli bis 7. August 1814 und W. Graf Henckel ron Donners-
mark, Erinnerungen 8.344. — w ) t. Schöning, Die Generale der preussisrhen Armee 1840,
No. 1606. — * 8 ) Anmerkung zum Tagebuoh, 8. 355. — •*) Das Tagebuch schreibt hier Frl.,
am 28. Frau. — *°) Auffallend ist der übereinstimmende Fehler Witzenbach statt Waitzenbaoh,
s. gleich unten. — 91 ) Im Tagebuch Willhahn. — '*) Gothaisches Taschenbuch der freiherr-
lioheu Häuser 1853, 8. 454. — GrtUner, Handbuch der Dameostifter, S. 241. — »') Eben-
da, 8. 2C.
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83
Wer die zweito der Fräulein von Stein war, lässt sieb nicht mehr sicher
sagen; sie war, als die Stammbucheinträge verfasst wurden, schon abgereist
und erscheint nicht unter den Schreiberinnen. Da sie zugleich Hofdame der
Kurfurstin von Hessen war, so ist nicht unwahrscheinlich, dass sie dem hessischen
Zweig derer v. Stein angehörte; und in der That findet sich eine Friederike
v. Stein-Liebenstein zu Barchfeld (geb. 1782) als Ehreostiftsdarae zu Schaaken
in Waldeck verzeichnet 95 ) und wenn in dieses Stift nach dem neuen Statut
von 1810 nur Damen aus dem Fürstentume Waldeck aufgenommen werden
durften, vier Fräulein von Adel und sechs Töchter höherer Staatsbeamten,
während die Pröpstin eine Prinzessin von Waldeck sein musste 96 ), so hatten
wohl zwischen der Familie der Friederike v. Stein und Waldeck Beziehungen
statt, die ihre Aufnahme ermöglichten; doch erhielt sie, wie bemerkt, nur den
Charakter einer Ehrenstiftsdame.
An ihrer und der vierten Stelle finden sich unter den Stammbucheinträgen
die Namen Luise v. Wildungen und Lotte v. Bobenhausen; jene, die
sich selbst als junge Freundin dos Dichters bezeichnet, wird die zweite Tochter
des hessischen Oberforstmeisters v. Wildungen gewesen sein"), diese stammte
aus dem im Mannsstamme 183G erloschenen fränkischen Geschlechte v. Boben-
hausen, dessen Stammschloss bei Munnerstädt im Würzburgischen lag und da-
mals in fremde Hände übergegangen war; die letzten Nachkommen lebten zu-
letzt auf Schloss Birken. 98 ) Sie war nicht Stiftsdame, bezeichnet sich wenigstens
nicht so und wird nicht so in der Kurliste und im Tagebuch genannt; sie war
wohl Begleiterin der Christiane v. Stein. Wober die Stiftsdamo (Christiane) v. Stein
zugleich v. Bobenhausen genannt wird, vermag ich nicht zu sagen; es kann
sich hier vielleicht nur um eine unrichtige oder undeutliche Niederschrift in
der Kurliste handeln.
Was nun den Verkehr dieser Damen und des Grafen Henckel mit Goethe
angeht, so gibt das Tagebuch ausser den drei ersten Tagen folgendes an: „den
2. August. Mittags die Fräulein Stein zu Tische. — 5. August. Zu Frl. v. Stein.
— 6. August. F6to der Damen Stein auf Sonnenberg. - -8. August. Zelter
und Graf Henckel. — 9. August. Abends auf der Platte; von Graf Henckel
eingeladen mit den Steiniscben. Herrliche Aussicht. — 17. August. Mit Stein
pp. im Cursaal. — 18. August. Mittag auf der Platte mit Steins, Günderode"),
Steinberg, Löwen. — 25. August. Zu Frl. Stein. — 26. August. Graf Henckel
(zweimal). — 27. August. Nachts bis nach 12 Uhr bei Frau Äbtissin v. Stein."
Bei dem Ausflug auf die Platte am 9. oder vielmehr im Kursaal am 17.
mag es gewosen sein, dass die Einzeich nung in das Stammbuch verabredot
wurde. Das Album ,0 °), welches Goethe bei sich führte, war in gelbes geripptes
Leder gebunden, mit polierten Stahlecken, -Schild und -Schlösschen, der Ein-
schlag von citronongolber Moireseide, Hochformat. Die Einträge, welche sämt-
lich die hohe Verehrung für den Dichterfürsten bekunden, lauten also:
M ) Gothaisches Taschenbuch 1853, S. 453. — M ) Gritzner, 8. 203. — M ) Strieder, He«.
Gelehrter XVII, 59. — M > Gothaischer Tascheokalonder 1883, S. 66. — ") Die richtige Schreib-
ung des Namens ist Günderrode. — ,,m ) Die Beschreibung und die folgenden Hintrage sind
eutnommen dem Artikel von W. Vulpius in der Deutschen Rundschau 18»0, 9, S. 351 ff.
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1. Die Äbtissin Eleonore v. Stein sohrieb:
„Möchte zuweilen dieser höhere Blick,
voll Ruhe und Geist und Grösse hier verweilen,
Und Sie leise den tiefen Wunsch
meinet Herzens zum Allsehenden
für lange, heitre, segensvolle Tage vernehmen.
Ewig mit wahrer Verehrung und Liebe.
Wicsbadon d. 19. August 1814. Eleonore t. Stein,
Äbtissin im Stift Waizenbarh.^
2. „Christiane von Stein
Der Name einer aus treuem und
Dankbaren Herzen Sie innigst
Verehrenden.
Wiesbaden d. 20. August 1814."
3. Luise von Wildungen:
„Darf ich als junge Freundin auch
bitten für Zukunft und itzt,
dass dieser Name nicht ganz verschwinde
unter denen der Bittenden alle
um Andenken und Gunst.
Wiesbaden d. 20. August 1814. Luise von Wildungen."
4. Lotte von Bobenhausen:
„Vergebens flehte ich Apollos Hülfe an
Die Krone der schönen Geister nach
Würde zu besingen; doch immer wäre mein
Lied nicht würdig gewesen, vor Ihrem
Throne zu erscheinen, denn mir fehlen
selbst Worte, den einzig frohen erhabnen
Genuas auszudrucken, den die Augenblicke
Ihrer Gegenwart auch mir gewahrten.
Die Erinnerung derselben wird meine
Zukunft erheitern, und nur mit meinem
Seyn schwinden; so wio mein tiefos
Dankgofühl, mich hier nennen zu dürfen als
Ihre hochachtungsvollste, innigBte Verehrerin
Wiesbaden am 20. 7 [8] 1814. Lotte von Bobenhausen."
5. Graf Henckel (die Unterschrift nicht deutlich):
„Wio vermag ich Ihnen der Ver-
ehrung and des Dankes Gefühle zu
schildern? — Wie kann ich es mehr,
als wenn ich es laut bekenne, wie
ich des eignen Strebens bewusst,
Doch deutlich erkenne, dass durch Ihrer
Lehre geistvolle Helle, ich erkannt des
Lebens innerste Quelle, so weit mir das
Erkennen beschieden ist. — Und wie vermag
ich es besser zu zeigen, dass ich gofasst
Ihrer Lehre erhabeu liebevollen Sinn,
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85
AIb wenn ich noch heut« Ihnen und der Gottheit
Gelobe, daas ioh fest entschlossen bin:
Nioht mit Kummer und ängstlich sorgend oder
zagend, aber mit Math und thfltiger Kraft,
nicht allein das beechiedene Loos zu tragen,
sondern auoh zu schaffen und zu wirken
aus all meiner eignen Kraft, so weit und
so viel, als des Schicksals Wille es gestatten mag."
Wir haben noch Aber die Teilnehmer der Fahrt auf die Platte vom
18. August zu reden. Yon diesen sind die dort zuerst genannten Günderrode und
Steinberg schwer zu bestimmen. Günderrode wird vielleicht der letzte Stadt-
schultheiss der Stadt Frankfurt, Friedrich Maximilian v. Günderrode (1753 — 1824),
gewesen sein, welcher die lange Reihe der Stadtschultheissen, allerdings unter
den veränderten Verhältnissen der napoleouischen Zeit, von 1807 bis Ende 1810
abschloss. 101 ) — Der Name Steinberg erscheint in der Kurliste zweimal, ein
II. v. Steinberg, grossherzoglich würzburgischer Kammerherr aus Meinungen,
(7. — 14. August) und Fr. v. Steinberg aus der Wetterau. Am 30. August
machte Goethe einen Besuch „bey Fr. v. Sternberg", vielleicht ist dies die
eben genannte Fr. v. Steinberg. 10 *) Mit „Löwen" meint er ohne Zweifel den
Oberjägermeister Freiherrn Philipp Low von und zu Steinfurth von Weil-
burg, welcher, wie es scheint, zur Kur hier weilte und in der Woche vom 9.
bis 14. August angekommen war. Geboren am 2G. Januar 1756 war er im
Jahre 1780 in die Dienste des Fürsten von Nassau- Weilburg getreten und genosl
den Ruf nicht nur eines tüchtigen Forstmannes und Jägers, sondern auch eines
frommen und geraden Menschen; er starb hochbotagt am 12. Oktober 1841. 10S )
Wir finden ihn noch einmal bei unserm Dichter am 24. August. Mit der
Familie der Low von Steinfurth war Goethe in Beziehung getreten infolge der
Vermählung der Tochter des Freiherrn Wilhelm Christoph von Diede zum
Fürstenstein mit dem Bruder von Philipp Low zu Steinfurth. 104 ) Den Freih.
v. Diede und seine Gemahlin Luise geb. Gräfin von Callenberg nennt Goethe
seine „werthen Gönner und Freunde" und war ihnen zu Liebe im Februar 1788,
als er zu Rom weilte, aus seiner Zurückgezogenheit herausgetreten. 105 ) Er er-
zählt u. a. von einer Einladung zu einem Konzert auf der kapitolinischen
Wohnung des Senators von Rom Fürsten Rezzonico, wo „die Dame, wegen
des Flügelspiels berühmt, sich hören zu lassen willig war." Und weiter: „Frau
v. Diede spielte, sehr grosse Vorzüge entwickelnd, ein bedeutendes Concert."
Ihre gleichnamige Tochter Luise, geb. 1778, hatte sich, wie gesagt, mit dem
Freih. Georg Low zu Steinfurth vermählt, war aber Ende des Jahres 1811
nach siebenjähriger glücklicher Ehe Witwe geworden und lebte fortan meist
auf ihren Gütern Staden und Ziegenberg in Hessen, ganz der sorgfältigen Er-
"') Schwartz in Ersch und Grubers Encyklopädie, 97. Bd., S. 122 ff. des Separat-
abdruoks. — '•*} Anmerkung zum Tagebnch, 8. 358. — ,0 *) Wilhelm Freih. Low von und
zu Steinfurth, Notizen Ober die Familie derer Frciherrn Low ton und zu Steinfurth, 1868,
8. 114. — Ebenda 8. 110. - »•») Italienische Reise, Bericht zum 22. Februar 1788.
Wiesbaden d. 22. August 1814.
Henckol."
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ziehung ihrer Kinder hingegeben. Sie war eine grosse Verehrerin von Goethe
und eilte, von seiner Anwesenheit zu Wiesbaden unterrichtet, herbei, um ihn
zu begrüssen, am 30. August 18)4. Wir treffen sie 14 Jahre später noch ein-
mal bei dem Dichter, als er zu Doniburg sich aufhielt, mit ihrer Tochter Luise
(nachher vermählt 106 ) mit dem Grafen v. Reveutow). Auch der Sohn des Freih.
Philipp v. Löw, der nachherige Präsident des Oberappellationsgerichts zu Wies-
baden, Ludwig Löw zu St., erbte die Verehrung für Goethe und besuchte den
Dichter einstmals zu Weimar.
Die anderen Begegnungen mit Kurfremden des Jahres 1814 waren mehr
vorübergehender Natur und weniger eingreifend. Das Tagebuch nennt folgende
Namen: nm 30. Juli den preussischen Generalmajor Baron [Fr. L.] v. Lobenthai
aus Luxemburg 107 ), am 1. August einen Dr. Müller nebst Tochter aus Bremen,
am 11. August den Regierungsrat El wert aus Darmstadt und dessen Sohn,
Amtsa8808sor Elwert, am 17. August Ungers aus Berlin; bei dem Buchhändler
Johann Friodrich Unger (f 1804) waren seit 1792 viele Werke Goethes er-
schienen, wie 1792 „Goethes neue Schriften", 1795 „Wilhelm Meisters Lehr-
jahre"; am 20. erscheint der bekannte Theologe Mafheineke im Tagebuch.
Welchor Herr v. Stein es war, der am 14. genannt wird, ist nicht klar; keines-
falls war es der Minister vom Stein, der sich damals zu Nassau aufhielt und
von da am 10. und 19. an den Minister v. Marschall zu Wiesbaden Briefe
richtete ,0Ä ), in der Zwischenzeit also keinesfalls dahin goreist sein wird; jener
v. Stein wird ein Angehöriger der Fräulein v. Stoin gewesen sein.
Das Tagebuch bringt am 6. August die Bemerkung: „Geh. R. Leonhard.
Auf der Durchreise. Prof. Welcker aus Giesen" (sie). Der in der Mitte
zwischen den beiden Namen stehende Zusatz „auf der Durchreise" ist ohne
Zweifel auf beide zu beziehen. Der Philologe Fr. Gottl. Welcker (1784 bis
1868) hatte bereits im Jahre 1805 den von ihm hochgeschätzten Dichter zu
Weimar aufgesucht 109 ), war diesem also schon persönlich bekannt. K. C. v.
Leonhard stand zwar mit ihm schon längere Zeit in brieflichem Verkehr,
doch hatten sie sich noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, und auf
der Reise hatte ihn Goethe, wie wir berichtet haben, zu Hanau nicht ange-
troffen. 110 ) Kaum war er nun in Wiesbaden angekommen, als er — am 1. August
1814 — ihm nach Schwalbach meldet, wie er das Missgeschick gehabt habo
ihn nicht in Hanau zu finden, aber seinen Besuch für seine Rückreise ankündigt.
Daraufbin versagt es sich Leonhard nicht, ihn alsbald — auf seiner Durchreise
- - in Wiesbaden zu besuchen. Den Bericht über diese seine erste Begegnung
mit dem von ihm hochverehrten Manne glauben wir hierher einrücken zu müsseu,
da er lebenswarm darstellt, wie Goethe dorn von ihm hochgeachteten Mine-
ralogen entgegentrat, welchen Eindruck seine Erscheinung auf ihu hervor-
brachte. in )
lM ) F. J. Fromm an n, Daa Frommannsche Haus und seine Freunde 1879, 8. 39. Gocthe-
Jahrb. II, 320. — W. v. Low, Notizen u. 8. w., 8. 110. — » or > Schöning, a. a. O. 8. 236. —
,,)! ') Sauer, Das Herzogtum Natusau Ton 1813 -1*20, 8. 13 u. 14. — lv *) Kekule, Leben
Welckers, S. 37. — Bratrannk, Ooethcs naturwissenschaftliche Korrespondenz I, 281.
— "\i K. C. v. Leonhard, Aua unserer Zeit in meinem Leben 1854, 1. 441.
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Als Leonhard den Brief erhielt, war er freudigst überrascht und bewegt:
er sollte Goethe sehen! „Männer von grossem Namen, fährt er fort, verlieren
nicht selten bei näherer Bekanntschaft. Wie verschieden war das, was ich fand
bei meiner ersten Zusammenkunft mit dem Dichterfürsten, der uns Grosses und
Herrliches gebracht, die höchste reinste Poesie, mit einem Manne, der durch
die Macht reichen, durchdringenden gewaltigen Geistes so unendlich hervorragte
über seine Zeitgenossen.
„Gespannt mit ganz eigenem Gefühl — was soll ich's in Abrede stellen,
nicht ohne scheue Ehrfurcht überschritt ich die Schwelle des Allgefeierten.
„Der Heros der Wissenschaft kam mir entgegen mit dem ihm eigenen
wahrhaft hohen Anstand, mit der edlen geistigen Vornehmheit, in gemessener,
aber dennoch ungezwungener Haltung. Er begrüaste mich zutraulich, bequem
und gütig, offen, frei und herzlich, mit der ihm gegebenen Leichtigkeit sich mit-
zuteilen, es sei schriftlich oder mündlich. Goethe reichte mir die Hand; nun
fühlte ich mich nicht im geringsten weiter in Verlegenheit. Was ich gesagt,
weiss ich nicht mehr, nur das blieb mir im Gedächtniss, dass er, in wohlge-
fälligster Weise, heitere, freundliche Worte an mich richtete.
„Sehr bald belebte sich das Gespräch. Ich gestand Goethe, wie unendlich
er mich ehren und beglücken würde, wenu es ihm gofiel, auf der Rückreise
nach Weimar in Hanau bei mir oinzukehren, mein Haus als das seine betrachten
zu wollen. Das Erbieten wurde offenbar gern entgegengenommen, die Erfüllung
meiner Wünsche jedoch bis zum Spätherbst hinausgeschoben. Seine heimath-
liche Gegend, die Main- uud Rheinlande, hatte mein Gönner lange nicht ge-
sehen, er wollte erfahren, was, nach so vielem Missgeschick, sich daselbst be-
finde, bezüglich auf Kunst und Alterthum und die verwandte Wissenschaft, wie
man zu erhalten, zu ordnen, zu vermehren, zu beleben und zu benutzen gedenke.
„Bezaubert von der Persönlichkeit — die Erscheinung allein war erhebend
— schied ich. Wie hatte sich die Bewunderung gesteigert, welche ich dem
grossen Manne nie versagt.
„Leuchtenden Blicks erzählte ich den Meinen, und wer in Hanau es
hören wollte, vom ausdrucksvollen Gesicht, von der hohen, edlen, gedankenreichen,
majestätischen Stirn, vom Glanz und geistigen Feuer in den Augen, vou Rede,
Stimme, Haltung, Gang — Alles wusste ich begeistert zu schildern, und wie
Goethe mit Mund und Herz nicht genug zu loben und zu lieben sei.
„Er musste den Ruhm kennen, der ihm zurückstrahlte aus allen Ländern
Europas, er war sich dessen bewusst, aber auf eine naive Weise, die nicht
missfallen konnte. Was Bewunderung verdiente, fand sie bei ihm, um jedes
Talent bekümmert er sich, inniges Gefühl hatte Goethe für alles Gute. Iu
unseren Unterredungen fand sich wiederholt Gelegenheit mich zu überzeugen,
dass er die Verdienste früherer uud mitlebender Männer — ich rede jetzt nament-
lich von Dichtern — sorgfältig und rein anzuerkennen bemüht war, dass er
die Fortschritte bedeutender Leistungen und eines nicht unterbrochenen Wirkens
mit froher Theilnahme unablässig begleitete."
Als solcher Mann, so verehrt und hochgehalten, von allen, die seine Grüsso
erkaunten, wandelte Goethe in der Fülle seines Ruhmes unter uns, und auch
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die, welche ihn verkannten, wie er ja auch seine Gegner hatte, vermochten
ihm nicht auf die Dauer zu schaden, im Gegenteil steigerte sich im Laufe der
Zeit die Erkenntnis und damit die Bewunderung Beines Geistes. Dasjenige
aber, was er an dem Tage von Leonhards Besuch in das Tagebuch schrieb,
scheint er auf dessen Stirne abgelesen zu haben; es sind die Worte, die auf
ihu passen, mit den Gegensätzen:
Tätigkeit j Pl "" atcr -
Am ehrenvollsten, aber auch am anstrengendsten für Goethe war die
Anwesenheit des Grossherzogs von Weimar, die wir, weil sie eine Unterbrechung
der gewöhnlichen Lebensweise herbeiführte, in anderem Zusammenhange be-
handeln werden.
Wir gehen zu Frankfurter Freunden, die sich im Jahre 1814 einfanden,
über. Zuerst ist der Geheimerat Johann Jakob v. Willemer zu verzeichnen
und DUe. Jung. Über das Verhältnis beider zu einander und zu Goethe handelt
Th. Crci/.enach, Briefwechsel zwischen Goethe und Marianne v. Willemer.
Zweite Auflage. Stuttgart, 1878. Willemer hatte Marie Anna Jung als sech-
zehnjähriges Mädchen in sein Haus aufgenommen und mit seinen Töchtern
weiter ausbilden lassen; nachdem er zum zweitenmale Witwer geworden war,
führte er sie am 27. September 1814 des Wohlanstands wegen und aus Neigung
mit Zustimmung der Töchter und Schwiegersöhne als dritte Gemahlin zum Altar.
Mit Goethe war er schon lange Zeit bekannt; am 4. August 1814 führte er
die Verlobte zum erstenmale zu ihm ; der baldige Verkehr im Willemerischen
Hause nach der Kur zeitigte manche schöne Frucht an und von dieser seiner Suleika.
Mit Goethe teilte er das Interesse für das Theater und war einige Jahre Mit-
glied der Oberdirektion des Frankfurter Nationaltheaters gewesen; doch da er
sich mit den neuen Direktoren nicht vertragen konnte, war er zurückgetreten,
ohne seine Beteiligung an Theaterangelegenheiten aufzugeben. So hatte er
kürzlich wieder eine Schrift gegen die Theaterdirektoren ausgehen lassen, die
er am 7. August Goethe zusandte: „An die Theater- Aktionäre zu Frankfurt a. M.
Eino Streitschrift. Frankfurt a. M. 1814.«
Auch im Jahre 1815 besuchte Willemer den Dichter zu Wiesbaden; am
3. Juli speiste er mit ihm im Kursaal, verfehlte ihn aber am 21., an welchem
J age Goethe seine Lahnreise angetreten hatte. In einem Briefe vom 7. August
spricht Goethe sein Bedauern aus, ihn am 21. Juli „versäumt" zu haben und
kündigt seine Ankunft zu Frankfurt auf den 12. August an.
Sein Album hatte Goethe bei seiner Abreise 1814 den Frankfurter Freunden
zurückgelassen, damit auch sie ihre Namen eintrügen. Willemer tbat dies am
9. Dezember 1814 und setzte folgende Zeilen dazu: 111 )
„Der Wein begeiotert den Verstand,
Die Liebe das Herz,
Ooetho beide;
La«Rt uns trinken, lieben, Goethes
Werke lesen und
Frankfurt a. M. d. 9. Dec. 1814. Willemer.*
in
') 8. Vulpius in der deutschen Rerue a. «, O.
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Marianne schrieb am 11. Oktober 1814:
„Zu den Kleinen zähl ich mich,
Liebe Kleine nennst Dn mich;
Willst Da immer mich so heissen,
Werd ich Btets mich glttcklioh preisen,
Bleibe gern mein Leben lang
Lang wie breit and breit wie lang."»)
Als den Grftssten kennt man Dich,
Als den Besten ehrt msn Dich,
Sieht man Dich, muas man Dich lieben,
Wärst Du nur bei uns geblieben;
Ohne Dich scheint uns die Zeit
Breit wie lang und lang wie breit.
Ins Gedächtnis pragf ich Dich,
In dem Herzen trag ioh Dich,
Nun möoht' ioh der Gnade Gaben
Auoh noch gern im Stammbuch haben;" 4 )
WÄr's auch nur den alten 8ang:
Lang wie breit und breit wie lang.
Doch in Demuth schweige ich,
Des Gedichts erbarme Dich;
Geh', o Herr, nicht ins Gerichte
Mit dem ungereimten Wichte;"*)
Find es aus Barmherzigkeit
Breit wie lang und lang wie breit."
Sonntag den 7. August 1814 heisst es im Tagebuch: „Brentano,
Quaita 1 "), FraueD, Mad. Holweg." Wen wir unter den beiden ersten Frauen
zu verstehen haben, darüber belehrt uns ebenfalls das Stammbuch, in welches
auch sie ihre Namen eintrugen: Antonia Brentano, Gemahlin des Franz
Brentano, geb. Edle von Birkenstock, über die wir bei Gelegenheit von Goethes
Besuch in Winkel sprechen werden, und Meline (Marie Magdalene) v. Guaita»
Brentano, Tochter des Peter Anton Brentano, des Vaters von Franz, und
der Maxe Brentano, geb. La Roche, vermählt im Jahre 1809 mit Georg
Friedrich v. Guaita. Deren Gemahl verewigte sich durch folgende Zeilen:
"') Zur Erklärung dieser wiederkehrenden Zeile bemerkt Croizenach, 8. 38: „Breit
wie lang, lang wie breit* war ein Lieblingsausdruck des Dichters; er kommt schon in den
siebziger Jahren Tor, in einer später ausgeschiedenen Scene des Jahrmarkts zu Piundersweilern,
aber auoh ein Epigramm aus dem Jahre 1815 ist überschrieben „Breit wie lang". In der
Scene des Jahrmarkts spricht der persische Hinister Haman:
Religion Empfindsamkeit,
s'ist ein Dreek, ist lang wie breit."
Der Anfang der Strophe „Zu den Kleinen zähl ich mich" ist wohl eine Anspielung an den
Eintrag der Kinder zu Winkel; s. unten. — "«) Creizenach gibt diese zwei Zeilen also:
nur mdcht ich von Gnadeugaben
Dich noch gern im 8tammbuch haben.
"») Creizenach: „Mit dem armseligen Wiohte". Wir haben die Fassung und auch
Schreibung des Stammbuohs beibehalten zn sollen geglaubt. — "«) Goethe schreibt meist
Wuaita statt Guaita.
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„Bolicbon Sic sich boy dorn Namen
des unterzeichneten eines Ihrer
aufrichtigsten Verohrer zu erinnern.
Frankfurt d. 24. October 1814. Fr. v. Guaita Hrcntano."
uud darunter Melino:
„Auch ich möchte nicht ron
Ihnen vergessen werden.
Meline t. Guaita Brentano."
Die dritte — Mad. Hol weg — war Susanne, Witwe des Johann Jakob
llolweg (f 1808), geb. v. Bethmann, die Muttor des gelehrten Staatsmannes
v. Bethmann-Holweg (geb. 1795).
Es folgte am 8. August Hr. v. Neufville, der Sohn des oraniou-nassauischeu
Geheimenrates Robert v. Neufville und der Walberta Elisabetha Passavant 117 ),
Johann Anton Friedrich Wilhelm Robert, oranien-nassauischer Oberforstmeister,
f zu Bonn 1819. In dem Hause der Frau v. Neufville zu Frankfurt wareu,
wie Goethe rühmt, vorzügliche Gemälde. Auch der alte Jugendfreund Johaun
Jakob Riese, Kastenschreiber zu Frankfurt, fehlte nicht (10. und 11. August);
ihm verehrte Goethe damals ein Exemplar von , Hermann und Dorothea" "");
er muss viele Exemplare dieses ihm selbst so lieben Gedichtes mitgeführt haben;
denn wie wir sehen werden, erfreute er gern gerade mit ihm auch andere
Leute auf dieser Reise.
Mit dem Geheimenrat Johann Isaak v. Gerning 119 ), dem Sänger des
Taunus und eifrigen Sammler von Antiquitäten und Kunstwerken (1767 — 1837),
stand Goethe schon seit zwanzig Jahren in Beziehung; ihn sah er am 12., 13.
und 18. August zu Wiesbaden, am 17. zu Schierstein. In das Stammbuch
schrieb Gerning am 13. Oktober 1814 folgendes Distichon:
„Taunus, gedankt sei Dir und Deinen verjüngenden Quellen,
Da«* wir jegliches Jahr wieder den Einzigen sehn.
Zur Erinnerung an frohe Wiederkehr
Ton Ihrem
dankbaren Freund und Verehrer
Frankfurt 13. Oktober 1814. Gerning.*
und erhielt von Goethe eine Grabstichelarbeit in Aquatinta" 0 ), die ihm Willemers
Tochtor Rosette, vermählto Städcl, an seinem Geburtstage im Jahre 1815 in
mehreren Exemplaren gegeben hatte; sie stellte Frankfurt dar mit seinem „un-
geschickten Pfarrturm 14 und der alten Brücke, ungefähr wie es sich von der
Gorbermühlo aus ausnimmt. Darunter war diese Widmung:
„Fluss und Ufer, Land und Ilöhen
Rohmen seit geraumer Zeit
So dein Kommen, so dein Gehen,
Zeugen deiner ThXtigkeit.
Weimar, den 5. Mai 1816. Goethe."
"') Gothaischer Taschenkalender von 185G, 8. 425. — Creizenaeh, a. a. 0. 8. 33.
— u 'i Eine Lebensbeschreibung von ihm gibt K. Sohwartz in den Annalen des nassauischen
Vereins für Alterturaskunde XI, 8. 109 ff., der ihn auoh gegen die Angriffe von Düntzer wegen
Aufdringlichkeit in seinen Beziehungen zu den Weimarern in 8ehutz nimmt (S. 179 ff.) und
seine Schriften verzeichnet. — '**) Creizenaeh, 8. 81.
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Der 13. August führte einen Herrn v. Malapert zu Goethe, vielleicht
den Friedrich Philipp Wilhelm v. Malapert gen. Ncufville, Schöffen und Syn-
dikus (1784—1852). Von dem Herrn v. Günderrode ist oben 8. 85 die Rede
gewesen.
Am nächsten von den Frankfurter Freunden standen Goethe die Brüder
Fritz und Christian Schlosser, Söhne von Hieronymus Peter Schlosser
(f 1797), einem Bruder von Goethes Schwager Johann Georg Schlosser; be-
sonders eng war das Verhältnis zu dem älteren, Fritz (1780 — 1852). Obgleich
Rechtsgelehrter und Dr. juris, hatte dieser im Jahro 1812 die Stelle eines Ober-
schul- und Studienrates sowie Direktors des neugegründeten Lycoums zu Frankfurt,
wonn auch nur für kurze Zeit, übernommen und behielt davon den Titel Rat
und Direktor, ein treuer Freund und inniger Vorchrer Goethes, und er wurde
darin nicht beirrt durch die Verschiedenheit der religiösen Ansichten; denn am
21. Dezember 1814 trat er zu Wien mit seiner Frau, dem Vorgang des jüngeren
Bruders folgend, zur katholischen Kirche über; das Freundschaftsverhältnis
blieb von beiden Seiten davon unberührt, gerade so wie das verschiedene Be-
kenntnis von Sulpiz Boissereo nicht hinderte, dass Goethe mit ihm in den
innigston Verkehr trat, aber auch dieser den Altmeister zu verehren lernte und
nicht aufhörte ihn zu verehren. Eine pietätsvolle Darstellung von Fritz Schlossers
Lebensgang und sein Verhältnis zu Goethe hat auf Grund von den Briefen
Goethes an Schlosser Julius Frese entworfen in dem Werko „Goethe-Briefe
aus Fritz Schlossers Nachlass. Stuttgart, 1877", auf welches wir uns schon
mehrfach bezogen haben. Schlosser sammelte u. a. eine reichhaltige, ziemlich
vollständige Goethe-Bibliothek, die später laut testamentarischer Verfügung an
das katholische Seminar zu Mainz übergegangen ist; er war eifrig bestrebt zu
„Dichtung und Wahrheit" Material zusammenzubringen und alles, was an den
teuren Freund erinnerte, zu erhalten. Einen äusseren Halt hatte das Verhältnis
dadurch gewonnen, dass Schlosser nach dem Tode der Frau Rat Goethe auf
Wunsch des Sohnes die Verwaltung von dessen Frankfurter Vermögensteilen
übernahm; so verknüpften geschäftliche und freundschaftliche Bande die beiden
immer fester.
Was nun den Verkehr beider im Jahre 1814 während der Kur angeht,
so beschränkte er sich auf den Besuch Goethes auf seiner Durchreise durch
Frankfurt (oben S. 70) und auf mohrcre Briefe meist geschäftlichen Inhalts.
Am 1. August meldet Goethe seine Ankunft und Wohnung zu Wiesbaden, am
7. dankt er für eine erhaltene Sendung, am 20. bittet er eine für ihn ein-
gegangene Sendung ihm zuzuschicken, am 31. dankt er für dio schöneu Gaben,
die zu seinem Geburtstago angekommen waren, am 9. September kündigt er
seine demnächstige Ankunft an; über die Geldsendungen, die Goethe durch ihn
erhielt, s. weiter uuten. Die Briefe Schlossers sind, wie es scheint, nicht er-
halten, wenigstens nicht veröffentlicht; derselbe hatte nach Goethes Tod sie
sich wieder zu verschaffen gesucht.
Konnte auch Fritz Schlosser während dos Augustmonats zu Wiesbaden
nicht erscheinen, so that es doch Christian Schlosser. Das Tagebuch verzeichnet
folgendes: „25. August. War Schlosser angekommen. — 26. (Abend) Schlosser
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und Zelter. Mit jenem allein. — 27. Mit Zelter und Schlosser auf dem Geis-
berg. — 28. Abends Zelter, Schlosser, Luck. — 30. (nach dem Bad) Schlosser.
Legenden. — 31. Zelter und Schlosser gingen ab* (in der Frühe nach Winkel,
wo Goethe sie am folgenden Tage wieder antraf). Von dem Besuche schreibt
Goethe an Fritz in dem Briefe vom 31. August, dass er ihm viele Freude
bereitet habe; denn er sei ihm (Christian) um gar vieles näher gekommen.
Auf soiner demnächst erfolgenden Reise nach Heidelberg erbat er sich sogar
die Begleitung desselben.
In das Stammbuch trugen die beiden Brüder folgende Zeilen ein:
1. Fritz Schlosser:
„Schnell eilen die Tage roriiber, in welchen
Sie, geliebtester Hann, uns mit Ihrer freund-
lichen und erhebenden Nfihe beglückten. Nie
aber wird Ihr theures Bild und das Anden-
ken dieser köstlichen Tage in unsern Her-
zen erlöschen. Und so möge auch Ihre Güte
der dankbaren Liebe und Verehrung, womit
wir gegen Sie erfüllt sind, zuweilen eine
freundliche Erinnerung schenken.
Frankfurt den 20. September 18U. J. F. H. Schlosser."
Beigefügt haben ihre Namen Schlossers Gemahlin Sophio (gob. Dufay) und
seine Schwester Susanne.
2. Christian Schlosser:
„Auf Gnade
Sey es gethant —
Möchten Sie immerfort
uns Ihre Güte bewahren, und wir
dieser grossen Güte werth werden.
Frf. 20ten 7ber 1814. C. F. Schlosser.«
Wir haben des Geburtstages Goethes schon godacht; auf ihn müssen wir
noch einmal zurückkommen. Ausser Schlosser hatten auch andere wie Fr. Bren-
tano Geschenke eingesandt; eine besondere Feier aber veranstaltete eine zu
Wiesbaden anwesende Verohrerin des Dichters trotz Zelters Gegenbemühungen
(s. S. 80); dies war die Gemahlin des Freiherrn Johann Justinian Georg
v. Holzhausen (1771 — 1846), Karoline Friederike Luise von Holzhausen
(1775—1846), Tochter des nassauischen Oberhofmeisters v. Ziegesar'"), und
da der 28. August auf einen Sonntag fiel, an dem Goethe an den herzoglichen
Hof zu Biebrich geladen war, so musste der Vormittag zu Hilfe genommen
werden. Frau v. Holzhausen war mit ihrem etwa zwanzigjährigen Sohne Karl,
damals Gronadierlieutenant im k. k. Regiment Prinz von Hessen, schon im Juli 1 *')
zur Kur in Wiesbaden angekommen, wo sie in dem Badhause zur Roso Wohnung
nahmen. Es ist nicht zu bezweifeln, dass beide auch schon bald mit Goethe
in Berührung getreten waren, doch erwähnt er ihrer nur am 28. August, wo
es heisst: „Im Cursaale Dejeune gegeben von Fr. v. Holzhausen", und vergisst
m ) Gothaischos Taschenbuch 1856, 8. 321, 1886, 1892. Brünner Genealog. Taschen-
buch 1890, Ü. 579. - ,M , 8o besagt die Kurliste vom 10.-17. Juli.
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dabei nicht des „Apollo, Copie des Belvederischen, von C. P. Chinard 1787"
(s. S. 71) zu gedenken; Bicherlich war derselbe u. a. Gegenstand des Ge-
sprächs gewesen. Auch diese beiden, Mutter und Sohn, schrieben sich in das
Stammbuch ein, die Frau v. Holzhausen mit folgenden Begleitworten:
„Dm Glück, 8ie zu sehen, verdanke
ich dem Himmel, Ihnen den Oenuss:
das« der Eindruck Ihrer hohen
Würde mit der laengst empfundenen
tiefen Verehrung und Liebe unaus-
löschlich in mir lebt.
Wiesbaden d. 30. Aug. 1814. Caroline t. Holzhausen
geb. t. Ziegesar. 44
Karl von Holzhauson:
„Welcher Eindruck auf ein
jugendliches Gemüth kann
Wohl starker und bleibender seyn,
als das schon längst als Ideal
des Keinen, Weisen nnd Guten
Aufgestellte nun in Ihrer so
werthen Person so schön und
edel peraonificirt zu sehen!
Gerade der Verein einer
erhabenen Seele, eines so
hell erleuchteten Geistes,
mit einem Heberollen,
mitchetlcndon, sich so BcbÖn
herablassenden Aeusseren
ist das, was mein Gemttth so
unaussprechlich anreizt,
festhält und zu allem stärkt.
Wiesbaden d. 1. Septbr. 1814. Carl von Holzhausen.*
Wir fugen sofort die Besuche und Briefe von Frankfurter Freunden im
Jahre 1815 au und zwar in der Form des Tagebuchs. „Am 28. Mai [An]
Fr. v. Brentano Franckf. -- 6. Juni Brentanos. [Sie] fuhren [am Abend] ab.
— 15. Sendung von Fr. Brentano. — 1. Juli. Brentanos. Mit ihnen im Adler
gegessen. — 18. [Brief an] Fr. v. Brentano Francf. - 25. [Zwischen Nassau
und Ems] Unterwegs Franz Brentano. — 6. August [An] Frau Brentano Francf.
— 9. Hr. u. Fr. Brentano. Mittag im Adler mit Brentano. Sie reisten ab."
Mit Brentano war Goethe im Herbste 1814 in engere Verbindung getreten
(s. No. 9,4); damals hatte er unter anderem auch die Pauline Serviere schätzen
lernen, und dadurch wird er mit deren Familie in nähere Beziehung getreten
sein. Schon in seiner Jugend hatte er deren frühere Generation gekannt und
erwähnt der Frau Serviere, „Gemahlin eines in Frankfurt lebenden Kauf-
mannes." '*') Am 2. Mai 1815 heisst es im Tagebuch: „Briefe von Willemer
und Serviere." — Am 4.: [An] „Dlle. Serviere nach Frfurt. 6 — Am 6.:
"*) „Diohtung und Wahrheit", B. 13.
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„Serviere gefunden.' Am 21.: „Hr. Scrviore." u. am 9. August: „Dlle. Ser-
viere' wahrscheinlich in Gesellschaft der Frau Brentano.
Am 15. Juni: „Dr. Neefe von Francf.*, eiu kenntnisreicher Botanikor
Frankfurts, Professor und Arzt."*)
Am 1. Juli: „Mad. Crespel", Witwe des humorvollen Jugendfreundes
Goethes Johann Bernhard Crespel, der als Archivar zu Laubach 1813 starb. 1 * 5 )
Am 3.: »Mad. Bansa", mit der die „Nonnenmühle" besucht wurde (S. 76).
Vom 7. — 14. Juli war Fritz Schlosser zu Wiesbaden und in täglichem
Verkehr mit Goethe. Wir lassen auch hier das Tagebuch reden: „7. Juli.
[Nach Mittag] Schlosser. Mit Schlosser auf dem Geisberg. — 8. Spaziergang
mit Schi. Mittag Schlosser. — 9. Schlosser weitumfassondes Gespräch. [Nach
der Rückkehr von Biebrich] Schlosser Fortsetzung der Unterhaltung. — 10. Spa-
zieren mit Schlosser. Mittag mit Schlosser zu Hause. — 11. Mittag mit Schlosser
Cursaal. Nach Tisch spazieren. Mit Cr[amer] und Schi. Geisberg. — ■ 12. Mittag
mit Schlosser Cursaal — 13. [Nach dem Bade] Mit Schlosser zu Hause. Mit
Seh. auf dem Goisberg. ~ 14. Mittag Cursaal mit Sehl."
Und da Schlosser ihn brieflich eingeladen hatte, auf seiner Durchreise
durch Frankfurt wie früher Wohnung bei ihm zu nehmen, so dankt er am
8. August, indem er bemerkt, er habe schon dem Geh. Rat Willemer zugesagt;
denn es sei billig, dass bei wiederholter Erscheinung in seiner Vaterstadt sich
die Wohlwollenden in dio Last der Einquartierung teilten. Und so stieg er
am 12. September in der Gerbermühle ab.
Endlich trat Sonntag den 8. August, als Boissereo sich bei Goethe befand,
ein weiterer Jugendfreund ein, der Forstschreiber Kehr, wie er in der Kur-
ÜBte eingetragen ist, von dem Boisseree folgende Beschreibung macht 1 * 6 ): „ein
altes Männchen in grünem Rock und grünseidener Weste mit schwarzge-
schnittenem Sammt, Forstmeister von Frankfurt, ein alter Schulkamerad von
ihm. Er (Goethe) war unendlich freundlich gegen ihn, Hess ihm zu Trinken
bringen; nach einigen lustigen Reden und Fragen über andere alte, bekannte
Schulkameraden kam Cramer, und nun ging das Gespräch mit diesem und mir
fort; das alte Männchen blieb immer ruhig sitzen, lange, lange Zeit, und trank
sein Gläschen, und wir nahmen immer Rücksicht auf ihn, ohne uns weiter um
ihn zu bekümmeru. Seltsam war es, dass Goethe weder Cramer noch mir,
als wir verschiedentlich fragten, wer der Mann sey? den Namen nicht nannte,
sondern jedesmal freundlich sagte: „Es ist ein alter Schulkamerad von mir, der
kömmt alle Jahre nach Wiesbaden und ist schon 74 Jahre alt." Der Dichter
muss den alten Freund und Kameraden lieb gehabt haben, der so weit hinter
ihm zurückgeblieben war, wie er ja die Frankfurter Freunde und Erinnerungen
hoch hielt. Kehr erwähnt er in einem Briefe vom 30. Oktober 1765. in dem
er als Leipziger Student die Mädchen seiner Stadt und Kehren grüssen lässt.
Kunatachätze u. f. w. in Frankfurt. Nach der Belli-Oontard, Leben in Frank-
furt IX, Hl, X, 11 hie»« er Christian Knut Neef. — Ui ) v. Loeper, a. a. 0. Register. —
'*•) Sulp. Boissereo I, 201.
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Wir gehen nunmehr zu den Besuchen von Nicht-Frankfurtern während
der Kur von 1815 über und bedauern hierbei nur mehrfach die Persönlichkeiten
und ihre Beziehungen zu Goethe nicht sicher feststellen zu können.
27. Mai: „NB. Le Bault des Nantes, Preus. (sie) Ingenieur de Placo"
ist Claude Francois Le Bauld de Nans, Stabskapitän im Ingen ieurkorps seit
1806; er wurde 1828 Inspekteur der zweiten Ingenieur-Inspektion und 1832
als Generalmajor pensioniert. 147 )
4. Juni: „Maj. von Roth." In der Kurliste ist in der Woche vom
28. Mai bis 4. Juni eingetragen „Hr. v. Roth mit Gemahlin, Major von Frank-
furt" (Badhaus zur Rose), vom 9. bis 23. Juli in der Fremdenliste (Gasthaus
zur Stadt Darmstadt) „Hr. v. Rod, Platzmajor von Frankfurt." Vielleicht sind
beido Personen identisch; ein sächsicher Major Johann Heinrich August v. Roth
war im Jahre 1815 zum Kriege ausgerückt. 1 ' 8 )
4. Juni: „Reuss"; es ist zweifelhaft, wer mit diesem Namen gemeint ist.
18. Juni: „v. Natzmer" traf Goethe, wie es scheint, zu Biebrich an der
Tafel des Herzogs. In Mainz stand damals ein Oberst v. Natzmer, der in der
Kurliste von Wiesbaden zweimal vorkommt, in der Woche vom 1.— 7. Mai
und vom 9.— 16. Juli, wohl derselbe (Wilhelm) v. Natzmer, der 1816 als
Kommandeur des 20. Infanterie-Regiments zu Trier stand 1 ' 9 ); schwerlich dürfen
wir an den bald darauf zum General ernannten Oberst Oldwig v. Natzmer 180 )
denken, der eben als Brigade-Kommandeur der Grenadierbrigade der Garde
auf dem Wege zu Blüchers Armee war und am 22. Juli in Paris einrückte;
am 18. konnte er nicht wohl zu Wiesbaden sein, da er an diesem Tage noch
nicht zu Homburg, wohin er später kam, eingetroffen war, nachdem er am 15.
einen Brief von Gotha aus geschrieben hatte.
30. Juni: „v. Natzmer, neugriechische Lieder." Darüber s. No. 11.
20. Juni: „Hr. v. . . . von Wetzlar", vielleicht ein Herr v. Hötzendorf
aus Wetzlar, der in der Kurliste vom 11. — 18. Juni (Badhaus zum Bären)
verzeichnet ist.
30. Juni: „Preuss. Garde einquartiert. Graf Henckel von der Garde."
S. oben S. 81 ff.
4. — 7. Juli: .Major v. Haxthausen" wegen der neugriechischen Volks-
lieder (s. unten No. 11).
4. Juli: Metzler. Mad. Seeligmann und Tochter." In der Kurliste
vom 25. Juni bis 2. Juli ist Geheimerat Metzler aus Offenbach, vom 2. — 9. Juli
Mad. Seelig mit Bedienung aus Hofheim verzeichnet.
9. Juli: „Mittag Bieberich mit Lynckors.' Kurliste vom 2.-9. Juli:
„Hr. v. Linker mit Fr. Gemahlin, Familie und Bedienung, grosaherz. Sachsen-
weimarischer Kammerherr und Oberforstmeister aus Weimar" (Schützenhof).
Auch am 20.: „Fr. v. Lynker und Tochter."
8chöning, Die Generale u. 8. w., S. 303. — N. Nekrolog VII, »00. —
'»*) Hassel, Staat«- und Adress-Handbuch der Teutschon Bundes-Staaten für das Jahr 1816,
S. 353..— '»*) Gneom^r Ernst t. Natzmer, Aus dem Leben des Generals Oldwig v. Natz-
mer, I. 1876, 8. 195 u. 196.
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16. Juli: „v. Hügel" zu Biebrich, 19. Juli auf dem Johannisberg und
vom 1. August an zu Wiesbaden. Der Freiherr Johann Aloys Joseph v. Hügel
war ausserordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister des Kaisers
von Österreich auch am nassauischen Hofe und wohnte zu Frankfurt. Er hatte
am 19. Juli Goethe die Zeitungsnachricht überbracht (s. unten bei dem Aus-
flug auf dem Johannisberg), dass der Kaiser ihm das Kommandeurkreuz des
Leopoldordens verliehen habe, und üborreichte am 1. August bei der Mittags-
tafel im Kursaal Goethe zum Nachtisch den Orden mit einem Begleitschreiben
des Fürsten Metternich, d. d. Paris den 16. Juli. 181 ) In demselben betont der
Fürst, 8. Maj. der Kaiser habe aus Höchsteigener Bewegung"*), unter dem
Drange der Geschäfte und unter der unausgesetzten Sorge für das Glück
seiner Unterthanen in seinem Feldlager [zu Speyer am 28. Juni] ihm diese
Auszeichnung zu beschliessen geruht als eine ehrenvolle Anerkennung seiner
ausgezeichneten Verdienste um die deutsche Sprache und Litteratur. Es galt
nun oin Dankschreiben an den Fürsten abzufassen, was am 4. August geschah:
„Concept, dann Mundum des Briefes" an den Fürsten, heisst es im Tagebuch,
nach welchem das Schreiben von H. v. Hügel weiter befördert wurde.
3. August: „Consistorialrath Horst." Georg Konrad Horst, 1767 — 1832,
ein äusserst fruchtbarer theologischer Schriftsteller und u. a. Verfasser der
Zauberbibliothek, 6 Bände, 1820—1826, war Pfarrer zu Lindheim in der Wetterau
und erhielt 1809 den Charakter eines hessischen KirchenrateB (nicht Konsiatorial-
rates, wie Goethe schreibt), 1823 eines geistlichen Geheimenrates'"); er über-
reichte Goethe seine kleine Schrift „Über das h. Abendmahl, eine dogmen-
geschichtliche Untersuchung nebst Vorschlägen zu einer Beseelung dieses In-
stituts nach den Bedürfnissen unserer Zeit", Giessen, 1815. 1M ) Im Anschluß«
an dasselbe uuterhielt sich Goethe am folgenden Tage mit Boisseree über
theologische Gegenstände, über die katholisch gewordenen Protestanten, wie
Stolberg u. a., sowie über eine auf Mysticismus hinaus laufende Richtung der
Protestanten. — In der Kurliste ist ein Hofgerichtsrat Horst aus Giessen auf-
geführt, ob irrtümlich, ist zweifelhaft; denn es gab auch einen solchen zu Giesson.
Während Goethes Abwesenheit auf der Lahn- und Rheinreise (21. bis
31. Juli) war die Grossfürstin Katbarina, Witwe des Prinzen Peter von Olden-
burg und Schwester des Kaisers Alexander von Russland, und der Grosshorzog
von Oldenburg zu Wiesbaden eingetroffen; sie waren nach der Kurliste in dem
Lang-Geyer'schen Hause abgestiegen. Die Grossfürstin war bekanntlich eine
feingobildete, geistreiche Frau, damals etwa 28 Jahre alt; man sagte von ihr,
sie vereinige die Eigenschaften von Peter dem Grossen, Katharina U. und
Alexander; sie wurde später, im Jahre 1816, die Gemahlin des Kronprinzen
Wilhelm von Würtemberg, der bald nach der Vermählung seinem Vater als
König folgte. Als Schwester des Kaisers Alexander wurde sie in Wiosbaden
hochgefeiert; am 30. Juli veranstaltete man ihr zu Ehren eine für die damaligen
•»') Mitgeteilt im Goethe- Jahrb. XIII, 239. — ,M ) Dazu Tgl. den Brief de« Grossbenogs
unter No. 9, 7. - «•») Scriba, Lexikon hessischer Schriftsteller I, 151. II, 344. - »**) Bei
Boisserie I, 258 ist der Name des Verfassers nicht genannt, aber durch das Buch deutlich
bezeichnet.
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Verhältnisse großartige Mumioation des „Kurgesellschaftshauses" von 6000
Lämpchen; der grosse Saal war mit vielen Wachslichtern erleuchtet, ein
Transparent zeigte den hellerstrahlenden Anfangsbuchstaben ihres Namens, ein
grosses C. Sie hatte kaum von Goethes Ankunft gehurt, als sie ihn zur Tafel
lud, am 2. August; dazu bemerkt das Tagebuch: „Hoheit abgesagt." Doch
er entging seinem Schicksal nicht; nach einem verfehlten Besuch am 4. erfolgte
eine zweite Einladung auf den 5. August, der er sich nicht mehr entziehen
konnte, doch klagte er Boisseree gegenüber, dass er zu ihr sollte; „sie haben
nichts von mir, und ich nichts von ihnen, den Herrschaften. Ich, fahrt jener
fort, vergleiche die fürstlichen Personen und die vornehme Welt mit Gewässer,
welches um uns herum anschwillt, ein Strom, ein See werden kann, worauf
man schifft und segelt, sich aber auch wieder verlaufen kann. Man muss ihm
nicht trauen, ist und bleibt Wasser." Darauf antwortet Goethe: „Nun, zu
hypochondrisch muss man sie nicht nehmen, aber so als Naturkräfte. ■ IM ) Am
8. August machte er „der Herzogin v. Oldenburg K. Hoheit" nochmals Besuch.
4. August: „v. Burgsdorf", Hofrat aus Dresden. Derselbe war am
1 . August mit Boisseree in Schwalbach zusammengetroffen und hatte ihm u. a.
von Tieck erzählt, am 2. ihn „halbwegs" nach Wiesbaden zu begleitet. 196 )
Am 8. August ist der Besuch einer „Dame von Johannisberg pp." an«
gemerkt.
Am 10. August erschien, was das Tagebuch nicht sagt, aber Boisseree
berichtet" 7 ), der preussiscbe Regierungsrat Wilhelm Butte von Köln; er war
Professor der Staatswissenschaften zu Landshut gewesen, dann aus der akade-
mischen Laufbahn ausgeschieden und von der preussischen Regierung ange-
nommen worden, ein fruchtbarer Schriftsteller auf seinem Gebiete und zugleich
auf dem der politischen Tagesfragen. Nach Wiesbaden war er vielleicht ge-
kommen, um mit dem Buchhändler L. Schellenberg über sein neuestes Werk
zu verhandeln, welches bei diesem erschien unter dem Titel: „Die unerlässlichen
Bedingungen des Friedens mit Frankreich, eine freimüthige prüfende Darstellung
der öffentlichen Meinung; hierzu einige Bemerkungen Über das Millingen der
teutschen Bundesakte. Wiesbaden, 1815." Goethe legte er ein älteres Werk
vor, das er in deutscher und französischer Sprache veröffentlicht hatte: „Grund-
linien der Arithmetik des menschlichen Lebens nebst Winken für deren An-
wendung auf Geographie, Staats- und Naturwissenschaft. Nebst IX Tabellen.
Landshut, 1811. XXXIV und 420 S." Die französische Ausgabe erschien
zu Paris 1812; eine Ergänzung bildete die „grosse Karte der beiden Hemi-
sphären* nebst kurzer Erklärung 1812, ebenfalls in den zwei Sprachen verfasst.
Der unstreitig geistreiche Verfasser will nicht nur das menschliche Leben auf
feste arithmetische Gesetze zurückführen, sondern auch andere Gebiete des
Wissens denselben Gesetzen unterwerfen; auf diesem Wege verwirrt er sich
in mathematische Phantasien; kein Wunder, dass er deshalb, gerade wie bei
früheren Werken ähnlicher Art von 1808 und 1809, so auch jetzt ungünstige
Beurteilungen erfuhr; sie verdienten nach seiner Meinung aber den Namen
tu ) 8. B einsehe I, 258. - "*) Ebenda S. 248. ~ WI j Ebenda 8. 286.
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litterarischer Injurien, französische Blätter aber hielten ihn zum Beaten. 1 * 8 )
Goethe äussert sich so: „Wenn man einmal ein solches Spiel zugebe, und zu-
geben müsse man es doch, so sei das äusserst scharfsinnig und hübsch"; . .
die Durchführung ins Einzelne gefiel ihm sehr, nur klagte er, dass der Mann
etwas Cynisches habe; dass er nicht einmal ein reinliches Manuskript und
Karten, sondern beides beschmutzt und befleckt bei sich führe. Unter dem
Manuskript ist vielleicht die oben genannte politische Schrift zu verstehen.
Wir stehen bei dem letzten Besuche, der für Goethe sehr bedeutungsvoll
und offenbar ihm sehr erwünscht war, dem des Sulpiz Boisseree, aus dessen
Aufzeichnungen über seine Unterhaltungen mit Goethe wir schon öfter einzelne
Äusserungen von diesem angeführt haben und weiterhin anführen werden. Denn
sie erstrecken sich über eine lange Reihe von Tagen auch über Wiesbaden
hinaus und betreffen die mannigfaltigsten Gegenstände, die beide gerade be-
wegten oder sich ihnen zufällig darboten. Wir werden hier nur einiges heran-
ziehen.
Es hatte lange gedauert und grosser Mühe bedurft, bis Goethe 1 ' 9 ), dessen
Sinn ganz auf das Altertum gerichtet war, dahin umgestimmt wurde, dass er
auf die ganz der mittelalterlichen Kunst zugewandte Richtung Boisserüea, der ein
grosser Bewunderer und Kenner derselben war, einging und insbesondere sich
dazu herlioss, durch lobende Erwähnung des grossen Domwerks von Boisseree 140 )
dessen Veröffentlichung zu fordern. Allmählich schlug das Herz unseres Dichters
für die Sache und Person des rheinischen Kunstfreundes wärmer, das Misstrauen
gegen den Freund von Fr. Schlegel wich, und os erwuchs ein Bund herzlicher
Freundschaft zwischen den beiden so verschiedenen Männern. Im Jahre 1814
kam es erst zu einer Begegnung in Frankfurt, von wo aus Boisseree den älteren
Freund nach Heidelberg in seino und soines Bruders Bertram Gemäldesamm-
lung geleitete; denn soweit hatte er ihn gewonnen, dass er wiederholt brieflich
den Wunsch aussprach die Heidelberger Schätze bewundern, sich deren erfreuen
und durch sie belehren zu könuen. 141 )
Im Jahre 1815 erfuhr Boisseree am I. August, als er Goethe zu Wies-
baden nicht getroffen hatte, dann nach Schlangenbad und von da nach Schwalbach
gegangen war, im dortigen Posthause, dass Goethe am Tage vorher daselbst
zu Mittag gegessen hatte, und erhielt am Abend einen Brief Goethes vom 1.,
worin er bedauerte, dass Boisseree ihn zu Wiesbaden verfehlt habe; er bittet
ihn, wäre es auch nur auf eine Viertelstunde, zu ihm zu kommen, eine Be-
sprechung sei höchst nötig. 14 *) So erschien dieser denn sofort am 2. August
Mittags; es war ein fröhlicher, herzlicher Empfang, wie er sagt. Was Goethe
zunächst beschäftigte, war das Ersuchen des Ministers v. Stein, mit dem er
eben die Rheinreise gemacht hatte, dass er an Hardenberg ein Schriftstück
über die Kunst und die antiquarischen Angelegenheiten am Rheiu vorfassen
m ) Vorrede zu den Grundlinien, 8. XIX. Boisseree a. a. 0. — ,M ) D Untier, Aus
Goethes Freundeskreisen 1866. 8. Boisser«>e, 8. 286-342. — ,w ) In „Diohtung und Wahr-
heit", 11. 9. Buch. 1812. — m ) Briefe an Sulp .Boisseree II, 40 vom VA. und 30. August von
Wiesbaden aus. — u *j 8. BoiNseree II, ßä. Das folgende nach B. I, 24» ff.
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99
sollte; darüber wolle er ihn beraten. Er ging gleich darauf ein; man könne
das Schriftstück zugleich an Metternich schicken, dem er ohnebin den Dank
für den Orden schuldig sei; Hauptgrundsatz sollo sein, dass die Kunstwerke
und Altertümer viel verbreitet würden, jede Stadt die ihrigen behalte und
wiederbekomme. Vom Domwerk solle gesprochen werden, von Allem, was
einzelne gethan und was zu erwarten sei, wenn die Unterstützung der Regierung
zu Hilfe komme. Dann kam er auf die Farbenlehre, die ihm ja besonders am
Herzen lag; sie werde jedenfalls Anerkennung finden u. s. w. Am folgenden
Tag sprach er von einer neuen Ausgabe seiner Werke, der italienischen Reise, mit
deren Darstellung er eben beschäftigt war, dem Divan. Später klagt er über
die Unredlichkeit der Schlegel und Tieck; in den höchsten Dingen versieren
und daneben Absichten haben und gemein sein, das sei schändlich. Schiller sei
ein ganz anderer gewesen, der letzte Edelmann, möchte man sagen, unter den
deutschen Schriftstellern, sans täche [irrtümlich st. tache] et sans reproche.
Am Nachmittag des 3. August spricht er den Wunsch aus in die Gesell-
schaft der verrückten Hofräte aufgenommen zu werden; der Spass sei allerliebst,
aber man müsse ihm ein gutes ob, d. h. eine gute Begründung ins Diplom
geben, etwa ob varietatem scientiarum. Da sein Wunsch bald erfüllt wurde
wollen wir hier einfügen, wie es mit dieser Gesellschaft stand. 119 ) Etwa im
Jahre 1809 stifteten in Frankfurt der Arzt Joh. Chr. Ehrmann aus Strasaburg 1 * 4 )
(1749—1827) und der Philologe Prof. Friedrich Christian Matthiae (1763 bis
1822)'* 5 ), zuletzt Direktor des Gymnasiums zu Frankfurt, aus eigner Macht-
vollkommenheit den Orden der verrückten Hofräte; der Orden legte den Mit-
gliedern, die sie ernannten, keinerlei Verpflichtung oder Leistung auf; es ge-
- nügte irgend eine zufällige, unschuldige Eigenschaft oder Beschäftigung, eine
Eigentümlichkeit im Thun uud Treiben, um achtbare, hochgestellte Männer der
Mitgliedschaft für würdig zu erachten. Namentlich dem Spürsinn des sonst
sehr ehrenhaften und geachteten Ehrmann, der unter rauhem Äusseren ein treff-
liches Herz besass, entging nicht leicht die schwache Seite eines Ordenskandi-
daten. Die Diplome wurden stets unter dem 1. April ausgestellt, mit grossem
Oblatensiegel versehen und mit dem Namen Timander" 6 ) unterzeichnet. Der
Grund der Ernennung wurde in kurzen treffenden Worten mit ob . . angegeben,
z. B. bei dem Heidelberger Creuzer mit ob pocula mystica, bei Jean Paul ob
iram et studium, bei Boisseree mit ob architectonice mensuratam in crepusculo
turrim Cathedralis Argentiuouais. Goethe erhielt — denn nicht viel später erfolgte
seine Aufnahme — »Kai. Apr. MDCCCXV" — ob orientalismum occidentalem.
Nicht alle nahmen die Sache so leicht auf, manche mit Vcrdruss. Es wurden
bis 1820 hundert Diplome ausgegeben. Im Jahre 1821 zog Ehrmann, der
beiläufig gesagt Schwager des Philologen Ph. Buttmann war, zu seinem Adop-
tivsohn nach Speyer, und so endigte der Scherz nach etwa elfjährigem Be-
stehen.
,4 *) Crcisenach, 8. 47. t. Leonhard, 8. 4.V>. — Ui ) Bclli-Q ontard, Leben in
Frankfurt VI, i;>«. — •«») Eckstein, Nomenciator Philologorum 1*71, tf. :»fil. 14 *i So
schreibt Creizenach, Leonhard Tinander. Timander Khrmann.
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100
Andere Gegenstände der interessanten Unterhaltungen beider Männer
sollen von uns an anderen Stellen angeführt werden, wie die über Pestalozzi
(8. No. 8 unter de Laspee), über Goethes Verhältnis zu seinem Herzoge
(s. No. 9), den Divan (No. 11). Freitag den 11. August verliessen beide Freunde
Wiesbaden; auf der Weiterreise begleitete Boisseree Goethe und schied erst
zu Würzburg am 9. Oktober von ihm. Sein erster Gang nach der Trennung
war in den Dom zum Gebet, gewiss auch für Goethe, der auf der Reise sich
mehrfach unwohl gefühlt und den er „uuter den frömmsten Wünschen" verlassen
hatte. 147 ) Am 11. Oktober traf Goethe in Weimar ein.
H. Verkehr mit Einheimischen.
„Du bist auch am Rhein gewesen,
Auch am Hof zu Bieberich;
Magst nun an dem Maine lesen,
Wie es lustig war um dich.*
Mit diesen Worten drückt der Dichter die Stimmung aus, die von den
angenehmen Eindrücken seines längeren Aufenthalts am Rhein und des Ver-
kehrs am gastlichen herzogliehen Hofe zu Biebrich, auch als er Wiesbaden
verlassen hatte, noch fortdauerte. Nachdem wir im Vorhergehenden betrachtet
haben, wie mannigfaltig sich der Verkehr mit Fremden und Bekannten ge-
staltet hatte, wollen wir nunmehr zu den Einheimischen, den Bewohnern des
nassauischen Landes, übergehen, von denen einige sein höchstes Interesse er-
regten oder sogar seine Freundschaft auch für die Folgezeit gewannen. Wir
beginnen mit dem herzoglichen Hofe.
1. Der herzogliche Hof zu Biebrich.
In dem Aufsatz „ Kunstschätze am Rhein" u. s. w. heisst es von Biebrich 148 ):
„Nach so vielen Ruinen alter und neuer Zeit, welche den Reisenden am Nieder-
rhein nachdenklich, ja traurig machen, ist es wieder die angenehmste Empfin-
dung ein wohlerhaltenes Lustschloss zu sehen, das, ungeachtet der gefährlichsten
Nachbarschaft (von der Festung Mainz) in völligem Stande von seinem Fürsten
bewohnt, durch einen Hof belebt wird, der den Fremden des liberalsten Em-
pfanges gemessen lässt."
Das Schloss war von dem Fürsten Georg August Samuel erbaut und mit
ihm die Anlage eines geschmackvollen Parkes verbunden worden (seit 1704) 149 );
es steht noch im wesentlichen in seiner alten Gestalt; der Park hat verschiedene
Veränderungen erlitten; die bedeutendste Umgestaltung erfuhr er nach den Ent-
würfen des genialen Gartenkünstlers Friedrich Ludwig v. Skell in den Jahren
1817 bis 1824. 15 °) Dem fürstlichen Bauherrn war es nicht vergönnt gewesen
seiner Schöpfung lange zu gemessen; er starb im Jahre 1721, nachdem erat
S. Boisseree I, 291. — •») Auch die Schreibung von Biebrich wechselt in dem
Tagebuch mit Bieberich und Bibrich. — "*) Menzel, Geschichte von Nassau VII, 190.
Spielraann, Annalen des Vereins für nass. Altertumskunde XXIV, «1 f. — ,so ) L. ». Omp-
teda, Rheinische USrten 1886, S. öl ff.
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101
kurz vor seinem Tode eine Hofkapelle hergerichtet worden war, in dem neu-
erbauten Schlosse. Aber erst seitdem die Landesregierung im Jahre 1744 nach
Wiesbaden verlegt worden war, wurde es — für eine lange Roiho von Jahren
— die dauernde Residenz des Fürsten und Herzogs 151 ), bis Herzog Adolf in
dem seit dem Jahre 1830 erbauten Schlosse zu Wiesbaden seine Winterresi-
denz nahm.
In dem Parke liegt von einem Arme des dort angelegten Weihers uni-
fangen die künstlich als Burgruine erbaute Mossburg. Hier hatte ein älteres,
im Jahre 1765 wegen Baufälligkeit zum Teil abgelegtes Gebäude gestanden,
die Burg oder eine Zeit lang nach dem Besitzer die Pentzenau genannt, welches
vordem an Beamte als Wohnsitz, dann als Erblehen ausgegeben worden war;
Herzog Friedrich August kaufte es im Jahre 1804 zurück und Hess an seiner
Stelle jene Burgruine errichten, die er selbst gern bewohnte und die jetzt noch
dem Park zur Zierde gereicht. 1 ") Sie zog auch Goethes Aufmerksamkeit
auf sich.
Die herzogliche Familie 188 ) bestand zu der Zeit, als Goethe den Hof be-
suchte, aus dem regierenden Herzog Friedrich August (geb. 1738), seiner Ge-
mahlin Luise, Tochter des Fürsten Karl August Friedrich von Waldeck, ver-
mählt im Jahre 1775, und zwei Töchtern, Auguste (geb. 1778) und Friederike
(geb. 1784); zwei Söhne waren jung gestorben, ebenso eine zwanzigjährige
Tochter Luise im Jahre 1812; zwei andere Töchter waren vermählt, Luise im
Jahre 1791 an den Markgrafen Friedrich von Baden, Karoline Friederike an
den Herzog August von Anhalt-Köthcn im Jahre 1792; doch wurde diese Ehe
im Jahre 1803 wieder getrennt, und die Geschiedene lebte von da an meist
zu Hochheim. Da der Herzog in früheren Jahren ohne Aussicht auf die Nach-
folge in der Regierung gewesen war, so hatte er auswärtige Dionste und zwar
der Sitte seines Hauses entsprechend in Österreich genommen und blickte auf
eine bewegte und ruhmreiche Vergangenheit zurück; im siebenjährigen Kriege
focht er mit Auszeichnung und errang z. B. bei Hochkirch durch seine Tapfer-
keit den Maria- Theresia-Orden; er stieg von Stufe zu Stufe und wurde 1780
zum Feldmarschalllieutenant, 1790 zum Feldmarschall ernannt. In ruhigeren
Tagen lebte er in der Heimat, meist zu Ufingen, wo das Stammschlose seiner
Vorfahren stand, seit 1786 wegen seines Amtes als Direktor der Reichswerbung
mehr zu Frankfurt a. M. Als im Jahre 1 800 sich die Wahrscheinlichkeit steigerte,
dass er der Nachfolger seines Bruders Karl Wilhelm in der Regierung sein
werde, legte er diese Stelle nieder. Schon nach drei Jahren starb der Fürst
Karl Wilhelm und am 10. Juni 1803 zog Friedrich August als Fürst (seit 1806
Herzog) in seine Residenz zu Biebrich ein. Er wird als ein biederer Herr
geschildert, geschmückt mit allen ritterlichen Tugenden seines Hauses, und zeigte
sich als einen wohlwollenden, für das Beste seiner Unterthanen eifrig sorgen-
den Regenten. 1 **) Ein Beweis des schönen Verhältnisses von Fürst und Volk
m ) Menzel, a. a. O. 8. 427. - ,M ) Ompteda, a. a. O. 8. 69. Fälschlich nahm man
frQher an, hier habe eine kaiserliche Burg gestanden. Vogel, Beschreibung des Herzogtums
Nassau, S. Ml. — ,M ) Menzel a. a. O., S. 907. — ,M j Menzel a. a. O. an verschiedenen
Stellen. Maria Feodora v. Dalberg, Aus dem Üben einer deutschen Kürstin, 8. 1 ff.
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ist folge ü der Vorgaug: Der Herzog hatte in Übereinstimmung mit dem Fürsten
Friedrich "Wilhelm von N.-Weilburg am 1. Januar 1808 die Leibeigenschaft
aufgehoben, am 10./14. Februar 1809 ein Gesetz betr. die Gleichheit der Ab-
gaben und Einführung eines direkten Steuersystems und infolgedessen am
1./3. September 1812 ein weiteres betr. die Aufhebung der älteren direkten
Abgaben erlassen und dadurch die Unterthanen mit lebhaftem Dankgefühl er-
füllt. Dieses offenkundig auszusprechen hatten die sämtlichen Gemeinden des
Herzogtums sich entschlossen, durch eine Deputation von 60 gewählten Abge-
ordneten und 5 Amtmännern dem Herzoge Dankadressen zu überreichen mit
einer Deukmünze, welche das Andenken an diese wohlthätige Umgestaltung
erhalten sollte. So bewegte sich am 1. August 1813 diese Deputation von
Wiesbaden, wo sie sich versammelt hatte, nach dem Schlosse zu Biebrich;
hier fand sich zugleich der Fürst von Weilburg ein, und so nahmen beide Fürsten
die dankbare Huldigung der frohbewegten Abgeordneten entgegen. Darauf
je^m- wurd^ diese zur Tafel gezogen und ihnen für den Abeud der freie Zutritt zu
dem herzoglichen Hoftheater gewährt. Hier empfingen sie die höchsten Herr-
schaften mit einem freudigen Lebe hoch!, in welches das zahlreich versammelte
Publikum einstimmte. 115 )
Unter den Seilten waltete der Herzog als liebender Vater und gewann
es auf die vereinten Bitten seiner Gemahlin und Tochter über sich, die kaum ge-
schlossene Verbindung der letzteren, der Prinzessin Auguste, mit dem Prinzen
Ludwig von Hessen-Homburg (2. August 1804) bald nachher wieder zu trennen
(13. Juli 1805), als er sah und hörte, wie unglücklich sich die Tochter an der
Seite eines zwar ehrenhaften und im Kriege erprobten, aber ungeliebten Mannes
fühlte, da ihr Herz einem audoreu, dem Hofjunker und Lieutenant Friedrich
Wilhelm v. Bismarck gehörte; ja er gestattete in väterlicher Liebe die Ver-
bindung der Liebenden, die dann am 7. September 1807 geschlossen, jedoch
vorläufig geheim gehalten wurde. 156 ) Aber während der langen Kriegsjahre
der folgenden Zeit war Bismarck als Offizier der würtembergischen Truppen
so in Anspruch genommen, dass er erst im Herbste 1814 — mit den Ehren-
zeichen militärischen Ruhms bedeckt — zu seiner Gemahlin zurückkehren
konnte. In der Folge stieg er zu hohen Ehren und Würden empor und starb,
nachdem er im Jahre 1846 seine Gemahlin verloren hatte, im Jahre 1860
zu Konstanz.
Wir haben dies vorausschicken zu müssen geglaubt, um den Kreis, welchen
Goethe hier vorfand, zu schildern. Denn sowohl während des Sommers 1814
als 1815 war er fast jeden Sonntag Gast der herzoglichen Tufel. Er erwähnt zwar
uicht einzelner Persönlichkeiten dos herzoglichen Hauses, aber lernte sie sicher-
lich kenueu, und wenn er auch nicht da* Verständnis und Interesse an allen
,M i Nasa, IntelligenzblaU 1813, No. 32 vom 7. August. Hier findet sich auch die Be-
schreibung der kunstvoll gearbeiteten Denkmünze mit ihren Emblemen und der Vasen, in
welchen sie in dreifacher Prägung (üold, vergoldetem Silber und Silber) den beiden Karsten
überreicht wurde. Vergl. Rhein. Kurier 1894, No. 339, der Abendauagabe zweite» Matt —
,M t M. F. v. Dalberg, a. a O. S. II u. »i'J. Schwartz, Landgraf Friedrich V. von Hessen-
llomburg III, 58.
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103
seinen Schöpfungen und Bestrebungen fand wie zu Weimar, so war er doch
hochbefriedigt von dem Empfange, der ihm in dem gastfreien Schioase zuteil ward.
Zum erstenmale erschien er hier am 7. August 1814, wo er den Park
und das Ritterschloss besuchte, dann am 14. und 21 , an welchem Tage er
auch den Fürsten von Nassau-Weilburg Friedrich Wilhelm antraf. Wenn
dieser auch ein Mann von stärkerem Willen und durchgreifenderer Art war,
so regierte er doch in Eintracht mit seinem Verwandten die vereinigten nassau-
ischen Lande; denn bei dem voraussichtlichen Aussterben der herzoglichen
Linie mussten deren Besitzungen an die Weilburger fallen, und so war die
Regierung und Verwaltung der beiderseitigen Lande schon jetzt so geordnet
worden, dass alle Gesetze und Verordnungen in dem Namen der beiden Regenten
erlassen wurden. Am 25. begleitete Goethe seinen Herzog Karl August nach
Biebrich und nahm sicherlich auch hier am 28. die herzlichsten Glückwünsche
zu seinem Geburtstage entgegen. Nachdem er sich am 11. September verab-
schiedet hatte, begegnete er am 12. auf der Reise nach Frankfurt der Herzogin
nebst Gefolge, die vielleicht ihre Tochter Auguste nach Frankfurt begleitet
hatte, um sie in die Arme Bismarcks zu führen ; denn hier pflegten wenigstens
früher die getrennten Gatten für die kurze Zeit des Urlaubes, den Bismarck
erlangen konnte, unter dem Schutzo der herzoglichen Mutter zusammenzu-
treffen. 157 ) Auch die Fürstin von Nassau-Weilburg, eine Tochter des
Burggrafen Georg zu Kirchberg, Grafen zu Sayn-Hachenburg, sah unser Dichter
zweimal zu Frankfurt, am 17. und 21. September; das Tagebuch meldet am
17.: „zur Fürstin von Nassau«, am 21.: „Fürstin von Nassau.'
Belebter war der Hof zu Biebrich im Sommer 1815. Dazu trug haupt-
sächlich bei, dass der Erzherzog Karl während dieser Zeit Gouverneur der
Festung Mainz war. Derselbe hatte sich im Laufe des Winters 1814/15 mit
einer Tochter des Fürston Friedrich Wilhelm von Nassau- Weilburg, Henriette
Alexandrine Friederike (geb. 1797), verlobt, und dieses verwandtschaftliche Band,
welches auf herzlicher Zuneigung der Verlobten beruhte und eine glückliche
Zukunft der beiden voraussehen Hess, führte nicht nur den Bräutigam und sein
Gefolge mehrmals nach Biebrich, sondern auch den Hof von Weilburg und
andere Persönlichkeiten. So traf Goethe gleich bei seinem ersten Besuch,
Sonntag den 4. Juni, den Chevalier De Lort 158 ) und Graf Künigl u. a. an.
Dieser, Graf Hermann v. Künigl, war Generalfeld Wachtmeister der öster-
reichischen Armee und damals Artillerie-Direktor der Festung Mainz, später
dem k. k. Armeekorps in Frankreich zugeteilt; Joseph De Lort war Oberst
des 33. Infanterie-Regiments, aber dem Generalstab des Erzherzogs Karl zu
Mainz als Chef desselben zugeteilt; im Jahre 1813 hatte ihn Goethe zu Teplitz
am 5. August kennen gelernt, als er noch Oberstlieutenant im Generalquartier-
meister-Stab war, und über eine Biographie, die er in Pinsk in eines reichen
Juden Bibliothek gefunden hatte, eine Unterhaltung gehabt 159 ); er muss unge-
«*') Dolberg, a.a.O. 8. 168, 175, 176. - ,M ) Goethe sohreibt de 10r, er heisst aber
im österreichischen Staateaohematismus und in einem Aktenstück des hiesigen Staatsarchiv*
Do Lort - '»») Tagebuch, S. 6«.
8*
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wohnlichen litterarischen Sinn an ihm bemerkt haben, denn er setzte den Ver-
kehr mit ihm fort, wie wir aehen werden.
Am 11. Juni war der Erzherzog Karl selbst anwesend. „Besonderes
Glück, heisst es in den Annalen 1815, ereignete sich mir auch zu Bieberich,
indem des Herrn Erzherzogs Carl K. II. die Gnade hatte, nach einem interes-
santen Gespräch, mir die Beschreibung Ihrer Feldzüge mit den höchst genau
uud sauber gestochenen Karten zu verehren." Wie er diese Karten später zu
seinem Zwecke zu verwenden wusste, werden wir bei Gelegenheit der Lahn-
reise (No. 9) erwähnen; für jetzt war er an den zwei folgenden Tagen mit der
Lektüre des Buches beschäftigt.
Am 18. und 25. Juni bildeten die Nachrichten vom Kriegsschauplatze
den Hauptgegenstaud der Unterhaltung; an jenem Tage war es ja, dass die
Entscheidung bei Waterloo erfolgte, von der man freilich noch nichts wissen
konnte; kaum dass man von den vorhergehenden Kämpfen etwas gehört habeu
mochte. Aber es waren unbestimmte Nachrichten von dem bevorstehenden
Aufbruch der Mainzer Besatzung eingetroffen, an deren Stelle auch nasaauische
Truppen einrücken sollten-, der Befehl dazu erging indessen erst am 25. durch
das Gouvernement von Mainz, wurde aber alsbald wieder zurückgenommen. 160 )
Am 25. war zwar der Sieg der Verbündeten bekannt geworden, doch fehlten
noch genauere Nachrichten über die Verluste der nassauischen Truppen; und
Goethe nahm an den Sorgen und Befürchtungen der Nassauer und dos Herzogs
innigen Anteil. Vergl. unten No. 9.
Sonntag den 2. Juli war Goethe nicht in Biebrich, sondern speiste „für
sich." Am 9. heisst es: „Mittag Bieberich mit Lynckers. 181 ) Min. v. Stein.
Einladung. 8 Aus dieser kurzen Notiz könnte man schlicssen, dass auch der
Minister v. Stein anwesend war und dabei Goethe einlud ihn zu Nassau zu
besuchen, doch lässt sich dies nicht sicher behaupten. Noch stand damals der
Minister v. Stein mit dem herzoglichen Hause auf freundlichem Fusse, und
unter seinem Beirate und wesentlichen Eiofluss war die nassauische Verfassungs-
urkunde vom 1./2. September 1814 zu stände gekommen 16 -)) aucn V0Q ' nni gegen
Angriffe auf dem Wiener Kongres.se verteidigt worden, sodass ein Besuch an
dem herzoglichen Hofe nichts Unwahrscheinliches hat. Erst vom Jahre 181 G
au trübte sich das Verhältnis bis zum vollständigen Bruche.
Sonntag den 16. Juli „wurde ein allgemeines Dankfest wegen des von den
verbündeten Heeren unter ausgezeichneter Mitwirkung der herzoglichen Truppen
bei Belle Alliance in den Niederlanden erfochtenen Sieges in allen Kirchen des
Herzogtums mit den gewöhnlichen Feierlichkeiten* gehalten. ,6 ') Als Text für
die Predigt in den Kirchen waren die Verse 14 — 16 des 77. Psalms bestimmt:
„(14). Gott, dein Weg ist heilig. Wo ist so ein mächtiger Gott, als du, Gott,
bist. (15). Du bist der Gott, der Wunder thut; du hast deine Macht beweiset
unter den Völkern. (16). Du hast deiu Volk erlöset gewaltiglich, die Kinder
140 ) Staatsarchiv su Wiesbaden. — 8. S. 95. — '**) Sauer, Das Herzogtum Nassau
in den Jahren lSKt- IS*20, erster Abschnitt. — xts ) Verordnung vom 5. Juli lSlü. Verord-
uungäblmt No. 19 vom 8. Juli 1815.
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Jakoba und Josephs. Sola." Zur Verherrlichung dos Tagos fand am Abond
oino Illumination des Gescllschaftshauses, wie man das Kurhaus damals nannte,
statt; es brannton 5100 Lämpchen, und ein Ball schloss sich an, bei welchem
ein zweites Orchester mitwirkte. Der herzogliche Hof feiorte den Tag durch
eine grosse Mittagstafel, zu der Erzherzog Karl mit dem ganzen Generalstab
und auch Goethe nebst dem Freiherrn v. Hügel geladen waren. Es waren
zu dem Feste Kanonen nach Biebrich gebracht worden, welcho den nötigem
kriegerischen Lärm machen sollton. 16 *) Nach seiner Rückkehr scheint unser
Dichter auch die Illumination sich angesehen zu haben. Mit dem Feste war
oino Geldsammlung verbunden, deren Ertrag verwundeten Kriegorn aus Nassau
und den nächsten Angehörigen der Gebliebenen zugute kommou sollte; er
belief sich zu Wiesbaden auf etwa 400 fl., in ganz Nassau auf etwa 4700 fl.;
der Herzog hatte 157 fl. 12 k. beigesteuert. 168 )
Die beiden folgenden Sonntage war Goethe abwesend, erst am 6. August,
und da zum letztenmale ist er in Biobrich. Anwesend war eine grosse Gesoll-
schaft, ausser dem Erzherzoge der Hof von Weilburg, also auch wohl die Prinzessin-
Braut, und „Dillenburger Dienerschaft." Am 17. September fand die Ver-
mählung des Brautpaares zu Weilburg in der (evangelischen) Stadtkirche durch
den geistlichen Rat Freiherrn v. Brakel nach katholischem Ritus statt; ein
Maskenball zur Feier des Tages schloss die Festlichkeiten. Die damals in
Freude und Heiterkeit versammelte fürstliche Familie sollte bald den Um-
schwung des Glückes erfahren. Das Jahr 1816 raffte rasch hintereinander don
Fürsten Friedrich Wilhelm am 9. Januar, den Herzog Friedrich August am
24. März und dessen Gemahlin Luise am 17. November hinweg. Seit dem
24. März regierte der junge Herzog Wilhelm (geb. 1792) allein die nassauischen
Lande bis zu seinem Tode 1839, wo ihm Herzog Adolf, jetzt ürossherzog von
Luxemburg, folgte. Seit dem Jahre 1866 steht das Schloss zu Biebrich unbe-
wohnt da; der Park entbehrt der früheren Pflege und wird nur durch fremde
Spaziergänger belebt, welche die schattigen Alleen und buschigen Pfade gern
aufsuchen.
Zum Schlüsse wollen wir auch die Kleinigkeit nicht unerwähnt lassen,
das» Goetho am 10. August 1815 an den lloffourier Johann Stritt einen Brief
richtete. Derselbe mochte die Einladungen zur Tafel an Goethe besorgt haben
und verdiente dafür eine metallene Anerkennung. Ein Schreiben an den
Oberhofmarschall L. v. Bismarck zu Biebrich vom 10. September 1814 erwähnt
das Tagebuch; es scheint persönlichen Inhalts gewesen zu sein, da es in den
Akten des Hofmarschallarats nicht enthalten ist.
2. Dio höheren Beamten.
Als hochstehender Beamter eines kleinen deutschen Staates glaubte Goethe
den ihm an Rang gleich- oder nahestehenden Männern Besuche abstatten zu
müssen. Dies geschah denn auch, aber nur wonigen 1 **") ward dieso Auszeichnung
Die Angaben über dio Festlichkeiten nach archivalischen Notizen. — Jfasn. In-
tclligenzbl. 1816. Oktober. — Über die Auswahl derselben vgl. 8. 115.
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10«
zuteil; und diesen wenigen war es, wie es scheint, nicht gegeben oder gelang
ihnen nicht den Gast zu fesseln oder von ihm gefesselt zu werden. Denn es wird
zwar im Jahre 1814 ein äusserlicher Verkehr durch Besuch und Gegenbesuch
angeknüpft, aber weder gestaltet er sich lebendig, noch setzt er sich im Jahre
1815 fort mit der einen Ausnahme des Ministers v. Marschall. Die Ursacho
davon dürfen wir aber nicht allein in den Persönlichkeiten suchen, da z. B.
der spätere Präsident v. Ibell, der bei einer Audienz des Fürsten Hardenberg
rasch dessen Gunst zu erwerben wusste, sicherlich genug Verständnis für Goethes
Werke besass, um auch mit dem Schöpfer derselben sich zu unterhalten und
ihn zu befriedigen. Es liegt auch ein rein äusserlicher Grund zu der Erschei-
nung vor, die Last der Arbeit, welche^ gerade auf den leitenden Männern
ruhete. Die Jahre 1814 und 1815 bezeichnen den Zeitraum, in dem, abgesehen
von den Kriogsnachwehen des Feldzugs von 1813 und 1814, sowie von dem
Kriege von 1815, der Grund gelegt werden musste für alle die organischen
Gesetze, welche die verschiedenen Teile und Teilchen von vormals selbständigen
Territorien, aus denen das Herzogtum nun zusammengesetzt wurde, zu einem
Ganzen verschmelzen sollten; vor allem nahmen die Beratungen über die neue
Verfassungsurkunde und die sich daran schliessenden vorbereitenden Schritte
zu ihrer Ausführung in diesen Jahren die Kraft von dem Minister v. Marschall
und von Ibell vollständig in Anspruch. Wie gewaltige Massen von Stoff ver-
arbeitet werden mussten, ersieht man schon dann, wenn man die Verhandlungen
über das Schulwesen bei Firnhaber in seiner Simultanschule 16 *) oder die Bände
des Verordnungsblattes von den Jahren 1815, 1816 und 181 7 167 ) durchblättert.
Wir wollen dabei nicht leugnen, dass auch die Beamten selbst einige Schuld
trifft; es waren treue und verständige Arbeiter in ihrem Berufe, die ihrer
schweren Aufgabe mit Eifer und Verständnis oblagen und ihre Aufgabe so
glücklich lösten, dass die nouen Einrichtungen Nassaus damals allgemein ge-
priesen wurden und wohlthätige Folgen für die Entwicklung des Landes und
seiner Bewohner herbeiführten; aber zu wissenschaftlichen und künstlerichen
Anregungen und zum Weiterstudium fehlten die Bedingungen in der kleinen
Stadt, die nicht einmal eine höhere Lehranstalt ausser der Lateinschule, der
kürzlich auf etwas besserer Grundlage umgestalteten Friedrichsschulc, besass.
So ergab sich der bemerkenswerte Umstand, dass die wissenschaftlichen Kapa-
zitäten, mit denen Goethe wirklich und dauernd verkehrte, nicht LandeBkindcr,
sondern von aussen berufene oder gekommene Männer waren.
Betrachten wir die einzelnen, die er nennt. Zuerst tritt uns entgegen
„der dirigierende Staatsminister*
Freiherr Ernst Frauz Ludwig Marschall v. Bieberstein. 188 )
Er stand seit dem Jahre 1803 an der Spitze der nassau-usingischen Regierung
zu Wiesbaden, seit 1811 der Verwaltung der zu eirem Ganzen vereinigten
'*•) Firnhaber, Die nasaauische 8imultanschule 1881 — 1883, namentlich in B. I. —
l *' ) Vgl. Sehwart r., Lebensnachrichten über den Regierungspräsidenten K. t. Ibell. Ann. des
Vereins f. nassauische Altertumskunde XIV, 187«. — Einen kurzen Lebensabriaa *. bei
Sauer a. a. O. su Ende.
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107
Lande der beiden Linien Nassau-Usingen und Nassau- Weilburg, dann des durch
die Verträge von Wien und die daran sich anschliessenden Abmachungen ge-
bildeten Herzogtums Nassau. Als Zögling der Karlsschule bosass er eine gründ-
liche philosophische und juristische Bildung, sowie einen auch für Poesio und
Kunst empfänglichen Sinn. Ihn besuchto Goethe zuerst am 5. August 1814,
erhielt den Gegenbesuch am 6., eine Einladung auf den 8., Abschiedsbesuch
am 31. Ähnlich ging es im folgenden Jahr: Die Besuche fanden statt am 1 Juni
und 21. Juni, die diesmal zwei Einladungen am 22. Juni und 20. Juli.
Der Geheimerat Karl Ibell 109 ),
im Jahre 1830 von dem Könige von Proussen geadelt, war unstreitig der be-
deutendste Beamte und Staatsmann Nassaus in damaliger Zeit, dessen Einsicht
und Energie das Meiste und Beste der gesamton Gesetzgebung und Neuge-
staltung des Herzogtums zu verdanken ist. Seine Bedeutung erkannte der
preussiscbe Kanzler Fürst Hardenberg, wie oben bemerkt wurde, bei einer
Begegnung mit ihm im Dezember 1818; die Unterredung schlo9s er mit den
Worten: „Ich hoffe, wir sehen uns öfter und unter anderen Verhältnissen
wieder." 170 ) Im Jahre 1814 bekleidete er das Amt eines Direktors der Staats-
ministerialkanzlei und war zugleich Geheimer Staatsreferendar, im Herbste 1815
trat er als Präsident der Regierung an die Spitze der Verwaltung, wurde aber .
zu allen wichtigeren Veränderungen zugezogen. Nach dem Attentat von Löning
verliess er den nassauischen Staatsdienst, da er die Veränderung der ganzen
politischen Richtung, die der Herzog und Marschall damals einschlug n, nicht
gutheissen konnte. Ihn besuchte Goethe am 10. August 1814, der Gegenbe-
such erfolgte am 12 ; im Jahre 1815 sahen sie sich nicht, vielleicht weil Ibell
durch die territoriale Umgestaltung des Herzogtums mehrfach als Kommissar
auswärts verwendot wurde.
Geheimerat Ludwig Harscher v. Almendingen 171 )
war ein bedeutender Rechtsgelehrter, der auch durch seine Schriften vorteilhaft
auf die Weiterentwicklung der Rechtswissenschaft eingewirkt hat. Er war
Vicedirektor des Hofgerichts und zugleich Geheimer Staatsreferendar. Goethe
besuchte ihn am 10. August 1814, erhielt den Gegenbesuch am 11., wie aus
der Notiz des Tagebuchs „Almedingens (sie) Heft" zu schliessen ist. Im Jahre
1815 ist sein Name am 6. Juni eingetragen. Berühmt war er wegen seiner
Zerstreutheit.
Geheimerat Ernst Heinrich Langsdorff
stand an dor Spitze der Hofkammer. Besuch und Gegenbesuch fand am 21.
und 24. August 1814 statt.
Geheimerat Franz Karl Joseph v. Pfeiffor
ist schon bot Gelegenheit des Theaters oben (S. 79) erwähnt. Das Tagebuch
erwähnt einen Besuch von ihm am 6. Juni 1815.
S. die Lebeninachrichten von Schwartz a. a. O.; Sauer a. a. O. — Dorow,
Erlebtes I, 187. — "') 8. die Biographie in der Allgemeinen Deutschen Biographie; seine zahl-
reichen Schriften sind bei Meusel Terzeichnet. Goethe nennt ihn Almedingen.
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108
Geheimerat Friedrich August Lehr. 1 ")
Denn nur dieser kann unter dem Geheimerat Loehr gemeint sein, den Goethe
im Jahre 1815 zweimal erwähnt. Er war Leibarzt des Herzogs und dabei ein
vielbeschäftigter und hochgeachteter Stadt- und Brunnenarzt, dessen trefflicher
Charakter und wissenschaftliche Tüchtigkeit hoch gerühmt wird. Ihn mag
Goethe am 12. Juni 1815 wegen seiner Kur zu Rate gezogen uud ihm am
1Ü. August ein Honorar zugeschickt haben („Brief an Geh. R. Loehr").
3. Oberbergrat Cramer.
Da Goethe mit dem Oberbergrat 179 ) Cramer am lebhaftesten in den beiden
.Jahren verkehrte, boi ihm die meisten wissenschaftlichen Anregungen fand und
endlich auch in geselliger Beziehung vielfache Unterhaltung hatte, so erscheint
es gerechtfertigt, wenn wir auf das Leben desselben etwas genauer eingehen,
zumal da wir in den Darstellungen seines Verkehrs mit Goethe in der Regel
durch die blosse Anfügung der Worte „tüchtigor Mineraloge" abgefunden werden.
Ludwig Wilhelm Cramer 174 ) war am 9. Oktober 1755 auf dem Schlosse
Friedewald in der Grafschaft Sayn-Altenkirchen 175 ), welche damals dem Mark-
grafen von Brandenburg-Anspach gehörte, in nicht gerade glänzenden Ver-
hältnissen geboren; sein Vater war Amtsaktuar. Seine Schulbildung erhielt
er zunächst auf der Lateinschule zu Altenkirchen, wohin sein Vater als Amts-
verwalter versetzt worden war, danu durch Privatunterricht bei einem Pfarrer
und vom Jahre 1770 bis 1772 durch das Gymnasium zu Weilburg. Er sollte
Theologie studieren, wandte sich aber, als er die Universität Halle bezog, dem
Studium der Rechte zu, mit dem er Mathematik und Physik verband, und auch
diesem blieb er nicht treu, sondern ergriff, durch den Einfluss des Magisters
Hoimann bestimmt, schliesslich die Wissenschaft der Oryktognosie und Berg-
kunde. Nach zweijährigem Aufenthalt zu Halle besuchte er noch ein Jahr
lang die Bergakademie zu Freiberg, von wo aus er auch die wichtigsten Borg-
und Hüttenwerke in Sachsen und den angrenzenden Gebieten Böhmens bereiste
und konuen lernte.
Weil er, in die Heimat im Jahre 1775 zurückgekehrt, nicht sofort in
einem bergmännischen Amte Beschäftigung fand, war er zunächst als Advokat
thätig, erhielt aber bald nicht nur freien Zutritt zu den heimischen Berg- und
Hüttenwerken, sondern auch die Anwartschaft auf das Bergamt Kirchen mit
dem Titel Bergsekretär. Nach mehreren Jahren des Abwartens wurdo ihm
denn auch die Verwaltung dieses Amtes mit dem Titel Bergrat übertragen (1781).
Neben seiner amtlichen Thätigkeit, für welche er im Jahre 1794 einen Berg-
meister als Gehilfen erhielt, war er eifrig bestrebt sich wissenschaftlich weiter-
zubilden, legte eine Mineraliensammlung an, trat mit auswärtigen Gelehrten und
Vereinen in Verbindung und fing an auch litterarisch thätig zu sein: im Jahre
,7r ) Ubensnachrichten s. im Neuen Nekrolog 1831, 8. 212. — '"i Goethe schreibt bald
Oberbergrat, bald Bergrat, auch wohl einmal Rergm[eister|, und im Anfang mehrmals Kramer
statt Cramer. — »*) Neuer Nekrolog X (1832., 432-435. - ■») Dahlhoff, Geschichte der
Grafschaft Sayn, 8. 168.
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100
1792 erschien von ihm eine Abhandlung, „Nachricht über den Hollerter Zug",
in der bergmännischen Zeitung, die 1793 auch separat herausgegeben wurde.
So wurdo er dadurch auch in weiteren Kreisen als tüchtiger Mineraloge be-
kannt, und dies trug ihm im Jahre 1798 die Ernennung zum Ehrenmitglicde,
1804 zum auswärtigen Assessor der mineralogischen Societät zu Jena ein.
Als im Jahre 1803 auf Grund des Reichshauptdeputationsschlusses die
Grafschaft Sayn-Altenkirchen an den Fürsten von Nassau-Usingen (Wiesbaden)
gefallen war 176 ), wurde alsbald, am 7. Juli 177 ), der erprobte und kenntnisreiche
Mann als Oberbergrat mit Sitz und Stimme in der Hofkammer in Bergsachen
und als Mitglied des Hofgerichte mit Sitz und Stimme in Bergsachen nach
Wiesbaden berufen. In diosor Stellung befand er sich, als Goethe nach Wies-
baden kam. Er hatte mittlerweile ein grösseres Werk begonnen, welches die
Summe seiner bisherigen Forschungen und Erfahrungen auf dem bergmännischen
Gebiete zusammenfassen sollte, das aber nicht vollständig erschien, sondern bei
dorn ersten Teile stehen blieb; dieser fuhrt den Titel: „Vollständige Beschreibung
des Berg- Hütten- und Hammerwesens iu den sämtlichen Hochfürstlich Nassau-
Usingischen Landen nebst einigen statistischen und geographischen Nachrichten
von L. W. Cramer. Frankfurt a. M. 1805. 8. Ersten Bandes erste Abteilung,
welche einige statistische und geographische Nachrichten von der Herrschaft
Altonkirchen, dann eine generelle Übersicht des dasigen Berg- Hütten- und
Haramerwesens in sich begreift." 182 Seiten uebst zwei Urkunden-Beilagen.
Als selbständiges Werk folgten im Jahre 1827 die „Goognostischen Fragmcuto
von Dillenburg und der Umgegend." Gicssen. 8°.
Es ist nicht ■ unwahrscheinlich, dass der Namo Cramcrs Goethe bereits
bokannt war wegen beider Beziehungen zu dem Bergrat Prof. Johann Georg
Lenz zu Jena, der Vorsteher des mineralogischen und zoologischen Kabincts
und Direktor der mineralogischen Societät daselbst war (1748— I832) m ), per-
sönlich kannte er ihn sicherlich nicht und stand auch nicht mit ihm in brief-
lichem Verkehr, ja es scheint, dass den Anfang des später von ihm so eifrig
gepflegten Umgangs nicht er, sondern Cramer machte, der ihn am 2. August
1814 zuerst besuchte. Von da vergehen nur wenige Tage, an denen beide
nicht zusammenkamen. Wir wollen die gegenseitigen Besuche und die gemein-
samen Spaziergänge an der Hand des Tagebuchs im Einzelnen verfolgen ;
die mehrfach beigefügten Worte geben den Gegenstand der Unterhaltung oder
der Beschäftigung an.
Am 4. August. (Goethe) „Bey Bergr. Kramer 179 ) Eisenstufen der Nass.
Werke." Es wurden also, wie es bei den damals so eifrig betriebenen mine-
ralogischen Studien Goethes natürlich war, bergmännische Gegenstände bc-
,M ) Weidenbach in den Annalen des nass. Vereine u. s. w. X, 291. - "') Staats-
archiv iu Wiesbaden. — ITi ) Neuer Nekrolog X (1882;, 8. 124 ff. — ,T »i Cramer wohnte in
dem fiskalischen Oebäude, das jetzt das Amtsgericht beherbergt und gegenüber dem Vorschuss-
voreinsgebäude liegt; es war eins der ersten Häuser der Fricdrichsstrassc, die uoior der
Regierung des Herzogs Friedrich August (1803—1818) erbaut wurden; vom 14. November bis
2. Dezember hatte in demselben bei Cramer der General York seine Wohnung. Sauer, Blüchers
Übergang über den Rhein, S. 23.
110
»prochen und Cramers Mineraliensammlung besichtigt; aus dem folgenden Ein-
trag des Tagebuchs scheint hervorzugehen, dass Cramer sein Werk über Alten-
kirchen Goethe mitgeteilt, vielleicht zum Geschenk gemacht hat. Im Goethe-
Archiv zu Weimar findet sich ein Faszikel mit der Aufschrift „Geognosie und
Oryktognosie des Herzogtums Nassau 1814", in weichem sich Aufzeichnungen
meist von Cramers Hand, die mineralogische Litteratur Nassaus betreffend,
Suiten Verzeichnisse und eine Übersicht über Cramers Mineraliensammlung vor-
finden. 180 )
8. August. „Altenkirchen von Cramer." vor dem Bad; Goethe eröffnete
also seine Tagesarbeit — nach einem vorher angemerkten Besuche Zelters —
mit der Lektüre von Cramers Buch über Altenkirchen. Nach der Mittagstafel
boi Minister v. Marschall heisst es: „Bei Bergr. Cramer", und am Schlüsse:
„NB. Mohorn. Bergm. Ausdruck. Siehe Cramers Beschreibung des Nass. Us.
Berg pp. Wesens 1805, p. 86 § 55. Mollkauten. ,81 ) Moll Maulwurf. Moll-
hubel Maulwurfshügel. * Diese ihm unbekannten Worte entnahm Goethe der
bezeichneten Stelle, wo es heisst: „Höchst wahrscheinlich geschah die allererste
Arbeit unter der Oberfläche der Erde mit sogenanntem Moltern oder* mit
Aufsuchen der von Hauptgängen abgeworfenen Geschiebe. Dies war jedoch
wohl hauptsächlich oder vielmehr ausschliesslich bei den wichtigsten Eisenstein-
gängen der Fall . . . Dass das sog. Moltern in der Vorzeit geschehen sein soll,
beruht freilich blos auf mündlichen Sagen, die aber . . . durch das Ansehen der
Erdoberfläche in der Nähe wichtiger Eisensteingänge volle Glaubwürdigkeit
erhalten . . . Man sieht hier mehrere hundert, ich möchte wohl sagen tausend
kleine Vertiefungen oder Kauten (hier sog. Mollkauten), woraus jene Geschiebe
gefördert wurden." Nachdem dann als Zeitgrenze in § 56 der Anfang des
16. Jahrhunderts vermutet ist, wird das Wort moltern auf Moll = Maulwurf
zurückgeführt, indem Moll ein provinzieller Ausdruck für dieses Tier sei und
seine aufgeworfenen Hügel Mollhübel genannt würden. Hier haben wir alle
von Goethe angemerkten Worte wieder. Wir können uns übrigens der Deutung
und Ableitung der Worte, wie sie Cramer hinstellt, nicht ganz anschliessen.
Moltern freilich wird nicht von Molter zu tronnen sein, einem Wort, welches
noch in Hessen und Nassau"') neben Moltruff, Molteroff u. a. statt des hoch-
deutschen Maulwurf vorkommt, ursprünglich Moltwerf = das die Erde, Molte,
aufwerfende Tier 1 *'); von diesem Molter kommt dann auch Molterhauf = ein
vom Maulwurf aufgeworfener Hügel 18 *) und Molterhübel. Aber mit Moll scheint
es anders zu stehen; es wird zwar dialektisch in einzelnen Gegenden Mol,
eigentlich Molch, Eidochse, statt Maulwurf gebraucht 185 ), aber in dem Sayni-
schen Gebiet soll dies nicht der Fall sein, wie von glaubwürdiger, der dortigen
Landessprache kundiger Seite versichert wird. 186 ) Hingegen ist die Herleitung
'*") Anmerkung zum Tagebuch, 8. 3:>6. — •*') So muss gelesen werden, nioht Moll-
kannten, wie das Tagebuch bat. 8. die gleich folgende 8telle au« Cramers Werk. — ,M t Kehr-
ein, Volkssprache und Wörterbuch in Nassau, S. 281. — "*) Lexcr, Mittelhochdeutsches
Wörterbuch III, 740. Heyne in Orimms deutschem Wörterbuch VI, 2477. — Kohrein,
8. 282. — •"*) Lexer, u. d. Wort, Heyne in Orimms deutschem Wörterbuch VI, 2476. —
Auch Kehr ein hat das Wort nicht.
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111
des Wortes Mollkaute von mhd. Holte oder Multe, jetzt Mulde, Staub, Erde
an sich viel einleuchtender und verständlicher, also = Erdkaute, und Moll-
h übel = Erdhügel. Doch wir kehren nach dieser Abschweifung zu unserer
Aufgabe zurück.
Am 9. August begleitete Cramer seinen neuen Freund zu de Laspee. I8T )
Am 10. August sagt das Tagebuch: „Zu Bergr. Cramer. Steinarten bis zu
Ende"; am 11.: „Bei Bergm. Cramer"; am 12.: „Carte von Altenkirchen."
Eine Karte von Altenkirchen ist dem Buche von Cramer nicht beigegeben, aber
in einem Faszikel des Goethe-Archivs zu Weimar, „Papiere auf die Reise am
Rhein, Mayn und Neckar im Jahre 1844, bezüglich", befindet sich u. a.
verzeichnet 188 ): „Charte von Altenkirchen. Bergrath Craraers Literatur jener
Bergworke." An demselben Tage: „Zu Berg. R. Cramer. Marmor Tische. Be-
sonders Kupfer 8tufen." — 13. August: „Bey Oberbergr. Cramer. Bley";
Sonntag den 14.: „Mit 0. B. K. Cramer zurück" von Biebrich. Die folgenden
Tage, 15., 16. u. 17., nehmen den Ausflug nach Rüdesheim und zu dem Rochus-
fest in Oesellschaft von Cramer und Zelter ein; am 19. heisst es wieder: „Bey
Cramer. Die letzteren Metalle"; am 20.: „Zu Bergr. Cramer", Sonntag den 21.:
„Berg R. Cramer", den 22.: „Bey Cramer", den 23.: „Bey Cramer catalogirt.
Im Garten." Nach einer Pause während der Anwesenheit des Grossherzogs
und anderor Besuche kommt erst am 30. Cramer wieder zu Goethe, und, nach
dessen Rückkehr aus dem Rheingau, am 9. September mit Hundeshagen, in
deren Begleitung er einen Spaziergang zu den „Kalksteinbrüchen des Mühl-
thales" macht; am 10. hilft des Morgens Cramer die Mineralien, die Goethe
gesammelt hatte, einzupacken, des Nachmittags die Kasten zuzuschlagen;
den letzten Abend vor der Abreise, Sonntag den 1 1 ., widmet der scheidende
Gast dem zurückbleibenden neugewonnenen Freunde, wohl wie im folgenden
Jahr in der Familie.
Hatte mit der Abreise Goethes auch der persönliche Verkehr, den, wie
man sieht, dieser noch mehr aufsuchte als Cramer und bei dem er mehr der
Empfangende als Gebende war, für jetzt aufgehört, so blieb die oinmal ange-
knüpfte Verbindung doch bestehen. Am 23. September schreibt Goethe einen
Brief zu Frankfurt an Cramer und übersendet ihm eine Kupferlasur von Chesy,
und der Anfang des neuen Jahres vergeht nicht, ohno dass sie einander be-
grüssten, Goethe am 9. Januar 1815, Cramer am 3. Februar.
Nicht ungleich verlief der Sommer 1815, nur dass man jetzt den Bedürf-
nissen nach geselliger Unterhaltung und Spaziergängen mehr Rechnung trägt,
ohne jedoch der Wissenschaft Abbruch zu thun. Namentlich wird jetzt der
Geisberg vielfach das Ziel der Ausgänge. Nach dem ersten Resuche Goethes
am 28. Mai und dem Gegenbesuche Cramer s am 29. folgt am 30. sogleich ein
Spaziergang auf den Geisberg, ebenso am 1. Juni, wo man „spät herein" kam.
Am 2. wurden „Mineralien besichtigt, Rheinbreitenbacher ,89 ) Produkte, phosphor-
s|aures] Kupfer, dergl. Bleye, blätteriger Malachit"; am 3. ist die Rede von
8. unten bei de Laspee. — '"•) Anmerkung zum Tagebuch, S. 35«. — *'") Rhein-
breitbach, Dorf im Amtsbezirk Neuwied.
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Gcbirgsarten und Versteinerungen. Sonntag den 4.: „Mittag Bieberich mit
0. B. R. Cramer"; der 5. und 10. führt wieder auf den Geisberg, am 6. und 4 8.
ist blos der Name 0. B. R. Gramer angomerkt. Am 13.: „O. B. R. Cramer.
Läudertausch. 190 ) Vorher Spaziergang gegen den Cursaal"; am 14.: „Bey Bergr.
Cramer. Bleyerze"; am 15. „0. BergR. Cramer. Oelsberg"; am 17.: „Ob. B. R.
Cramer; in die Steinbrüche, drohendes Gewitter" ; am 18.: „Cramer Steinbruch.
Violetter Quarz. Cursaal*; am 19. abermals zu den Kalkateinbrüchen mit
Cramer; der 20. führt wieder zum Geisberg mit Cramer. Am 23. bildeten die
Nachrichten von dem Verluste der Nassauer in der SchlachtJ bei Waterloo den
Stoff des Gesprächs, aber auch Eisenminer[alie]n, am 24. die mineralogische
Beschreibung des Frauenberges ,9t ) im Fürstentum Hessen you Ulimann. An
die Lektüre dieses Buches schliesst sich für Goetho das Studium einer ganzen
Reihe von bergmännischen Schriften an, das ihn an vielen Tagen, vom 28. Juni
bis 19. Juli beschäftigt, namentlich seitdem die Einladung der Herrn v. Stein
an ihn ergangen und eine Lahnreise geplant war. Es sind dies die Bücher
von Hövel, Becher"'), Schmidt, Werner und schliesslich die Karten des
Werkes von dem Erzherzoge Karl. 19 *) Dabei setzte man indessen die gesel-
ligen Zusammenkünfte nicht aus. Nachdem noch einmal, am 26. Juni, „Mine-
ralien bezeichnet" worden waren, folgte am 29. ein Ausflug „mit Cramers auf
die Papiermühle", am 1. Juli ein Spaziergang mit Cramer auf den Geisberg,
dem das Gedicht im Divan „dem Kellner und dem Schenken" m ) Ursprung
oder Bearbeitung verdankt. Was die „Geschichte mit dem Quasi Vetter", die
am Morgen des 4. Juli und die „mit dem Anmaslichen, auf dem Geisborg,"
welche am Nachmittag desselben Tages verzeichnet ist, zu bedeuten habe, ist
nicht ersichtlich und unseres Wissens nicht bekannt; vielleicht dass ein noch
ungedruckter Brief darüber Licht verbreitet. Am 5. Juli wird ein Ausflug auf
den Nürnberger Hof mit Cramer besprochen, am 6. in Gesellschaft von dessen
Familie ausgeführt. 195 ) 10. Juli: „Bey Cramer"; 11.: „Mit Cr[amerJ und
Schl[osser] Geisberg"; 14.: „Bey Cramer"; 15.: „mit Cramer Geisberg";
17.: „Briefe mit Cramer eingepackt;" am 20. wird wohl mit Cramer der Plan
zur Lahnreise endgiltig festgestellt und diese am 21. angetreten. 196 )
Nach der Rückkehr von der Reiso wird der Verkehr mit Cramer belebter
durch die Ankunft Boisserees, der sich vielfach zu ihnen gesellt; nur noch
zweimal treffen wir Cramer allein bei Goethe, am 1. und 3. August; am 5.
sind die drei Freunde zusammen auf dem Geisberg, wo Cramers jüugsto Tochter
ihre Rechenkunst vorliihrt. Am 0. und 7. sind sie bei Goethe; nachdem am
9. Cramer des Abends einen Abschiedsschmaus, der bis ein Uhr bei Punsch
dauert 197 ), gegeben, trennen sie sich am 10. August.
Aber auch diesmal überdauert der briefliche Verkehr den persönlichen,
und er erstreckt sich noch über eino ganze Reihe von Jahren; gesehen haben
sie sich, wie es scheint, nur noch einmal, am 23. August, wo Cramer den
,w ) S. unton Xo. 9, 6. — w ) So ist zu lesen statt Franckenb. im Tagebuch; s. No. 10
unter dem 24. Juni. — IM j So ist statt Becker im Tagebuch zu lesen; s. Xo. 10. — lw ) S. die
Lahnreiso in No. !> und Lektüre (No. 101.- m ) 8. Di?an in No. 11. — '* 8 ) 8. unter Phil.
Lade in No. 8. — '»•) 8. in No. 9, Lohnreise. — ,M ) Boisseree 1, 265 f.
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Freund in Frankfurt besuchte. 1 * 8 ) Von Briefen Goethes finden wir im Tage-
buch verzeichnet einen vom 19. August 1815, vom 29. Januar und 6. No-
vember 1816. Bekannt sind noch einer von Gramer vom 20. November 1822,
von Goethe vom 28. Dezember 1822. 199 )
Urteile über Cramer. In dem Aufsatz über „Kunstschätze am Rhein*
u. s. w. widmet Goethe dem Oberbergrat folgende Worte: „Das Cabiuet des
Oborbergraths Cramer ist ein vorzüglicher Schmuck dieses Ortes [Wiesbadens].
Es enthält eine vollständige systematische Folge der Mineralien und ausserdem
belehrende Prachtstücke aus den wichtigen Bergwerken des Westerwaldes.
Der gefällige, theoretisch und praktisch gebildete Besitzer, auch als Schrift-
steller seines Faches geschätzt, widmet Curgästen und Durchreisenden jede
freie Stunde zur Unterhaltung und Unterricht.* Und in den Annalen 1814:
„Naturwissenschaft wurde sehr gefördert durch gefällige Mittheilung des Ober-
bergrathes Cramer zu Wiesbaden an Mineralien und Notizen des Bergwesens
auf dem Westerwalde." In einem Briefe an den Staatsrat Schultz vom 11. Sep-
tember 1825-°°) zollt er der eifrigen Tbätigkeit und den geselligen Tugendeu
Cramers zugleich Anerkennung, indem er ihn einen wackeren Lebomann nennt,
der seine Tbätigkeit, auch aus den Geschäften zurückgezogen, nicht lassen
werJe. Bei Boisseree heisst er in einem Briefe vom 14. Januar 181 6* 01 ) der
gute verständige Oberbergrath. Cramer aber gab seiner Verehrung für den hohen
Freund dadurch Ausdruck, dass er ein besonders schönes Mineral des Wester-
waldes Goethit benannte, ein Name, den Lenz in die Wissenschaft einzuführen
«Uchte, der sich aber nicht behauptete; es ist der sogenannte Rubinglimmer,
jetzt unter dem Namen Pyrrhosiderit bekannt, wie Goethe selbst berichtet.* 011 )
Endlich mögen auch dio späteren Lebensschicksale Cramers kurz berührt
werden. Infolge der neuen Organisation der nassauischen Verwaltung und
Justiz nach der Erwerbung von oranischen Landesteilen wurde Cramer im
Jahre 1815 an das Hofgericht zu Dillenburg versetzt, und zwar, wie es scheint,
gegen seinen Willen. Nach sechs Jahren nahm er seinen Abschied und siedelte
nach Wetzlar über, wo er, nach einem vorübergehenden Aufenthalt zu Marburg
von 1828—1831, am 28. Mai 1832 starb. Einen ehrenvollen und vorteilhaften
Ruf des preussischen Finanzministers, der ihm die Stelle eines Direktors und
Bergrichters im Siegener Bergrevier anbot, hatte er abgelehnt. Seine wert-
volle Mineraliensammlung erwarb die preussische Regierung für die neugestiftete
Universität Bonn; sie war in acht Schränken untergebracht und nach Goethes
Aufzeichnungen wenigstens zum Teil unter dessen Mithilfe geordnet. Vielleicht
in Voraussicht seiner Versetzung nach Dillenburg entschloss sich Cramer wegen
der Schwierigkeit — er sagt, wegen der Unmöglichkeit — des Transportes und
aus anderen Gründen diese Lieblingsschöpfung seiner Studien zu verkaufen.-**) Da
'*•) Boisseree I, 270. — '»*) Bratranek, Goethes naturwissenschaftliche Korrespon-
denz I, 96 ff. — **) Dilntzer, Briefwechsel zwischen Goethe und Schultz, 8. 329. —
*") S. Boisseree II, 100. — *•») Goethe, Zur Morphologie, Hempel, 33,97. Vgl. Haus-
mann, Handbuch der Mineralogie II, 1, 354, 357. Creizenach, a. a. Orte 8. 32. Der
Nami des Minerals ist Pyrrhosidcrit, nicht Pyrosiderit, wio Goethe selbst schreibt, von
feuerrot (nicht von rÜ;,) und otJv^o;, Eisen. - *") Staatsarchiv zu Wiesbaden.
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musste er nun traurige Erfahrungen machen. Zuerst trat er in Verhandlung
mit der Universität Heidelberg, welcher jedoch der Preis von 9000 fl. — so
hoch schätzte er die Sammlung — zu teuer gewesen zu sein scheint. Nunmehr
wandte er sich am 7. August 1815 an die nassauische Regierung, der er die
Gelegenheit zur Gründung eines Museums geben wolle. Von der ersten Forderung
von 8000 fl. sank er stufenweise bis zum schliosslichen Angebot von 3000 fl.
herab (23. Juli 1819). Als auch dieses abgelehnt wurde, achloss er mit der
preussischen Regierung, welche 2500 fl. geboten hatte, endlich ab! Bis zu
diesem Zeitpunkte hatten die acht Schränke zu Wiesbaden in einem Lokale
der Regierung mit deren Genehmigung einen Platz gefunden. Mittlerweile
hatte Cramor zu Dillenburg und Wetzlar eine zweite Sammlung augelegt, die
er — ebenfalls ohne Erfolg — im Jahre 1828 der nassauischen Regierung als
Grundstock eiuer Mineraliensammlung des Gymnasiums zu Weilburg anbot —
zugleich mit seiner mineralogischen Bibliothek; aber auch die 1000 fl., welche
er hier forderte, erschienen zu viel.
4. Bibliothekar Hundoshagen.
Über Hundeshagens Beziehungen zu Goethe ist in dem Goethe* Jahrbuch
von 1885 (VI. S. 125 ff.) eine Abhandlung von L. Goiger erschienen, und eine
ausführliche Biographie von J. Noll in dem Osterprogramm des Königlichen
Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums zu Frankfurt a. M. 1891 veröffentlicht. Wir
glauben indessen durch diese Arbeiten einer näheren Beleuchtung seines Ver-
kehrs mit Goethe nicht enthoben zu sein.
Helfrich Bernhard Hundeshagen aus Hanau (1784—1849) hatte sich
bald nach Beendigung seiner Studien durch eine Arbeit über die alte gotische
Kapelle zu Frankenberg (1808, Frankfurt a. M.) nicht unvorteilhaft bekannt
gemacht und kurz nachher eine grössere Behandlung der ehemals freien Stadt
Gelnhausen und des dortigen Kaiserpalastes in Angriff genommen, zu deren
Drucklegung er bereits im Jahre 1810 Subskribenteu zu gewinnen begann.
Als das Werk druckfertig in der Druckerei des Waisenhauses seiner Vater-
stadt lag, ging es mit Ausnahme der Kupfertafeln infolge des Brandes, den die
Beschiessung der Stadt durch Napoleon am 30. Oktober 1813 veranlasste, mit
dem Waisenhause in Flammen auf.
Als dies geschah, war Hundeshagen nicht mehr in Hanau; Ende des
Jahres 1812 war er nach Wiesbaden berufen worden zur Herstellung einer
topographischen Karte, zur Beihilfe bei der Aufsicht über die zu errichtende
Regierungsbibliothek (jetzt Landesbibliothek) und zur Erteilung von Unterricht
an der Militärschule, wurde dann am 3. Juni 1813 zum Bibliothekar an der
Regierungsbibliothek ernannt; da er im Frühjahr 1814 bei dem deutschen General-
bewaffnungskommando zu Frankfurt beschäftigt wurde, erhielt er zugleich die
Erlaubnis die Divisionsabzeichen eines Hauptmanns der Landwehr zu tragen
und wird wohl auch Hauptmann genannt. Indessen fesselte ihn die letzte
Thätigkeit nicht lange auswärts; im Sommer sehen wir ihn wieder zu Wies-
baden, wie es scheiut, mit Herstellung seines Werken über Gelnhausen und
anderen litterarischen Plänen beschäftigt; jenes trat erst im Jahre 1819 an das
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Licht unter dem Titel: Kaiser Friedrichs Barbarossa Palast in der Burg zu
Gelnhausen .... Zweite Auflage, mit XIII Kupferabdrücken. Die Abbildungen
der Burg sind jetzt, da mittlerweile diese mancherlei Schaden erlitten hat,
noch immer sehr schätzenswert.
In dieser Stellung und dieser Thätigkeit war üundeshagen, als Goethe
zu Wiesbaden eintraf. Sein Name war ihm nicht unbekannt, nicht nur weil
Zelter seine Kenntnisse und Bestrebungen gerühmt hatte** 1 ), sondern auch weil
Hundeshagen mit H. Meyer in Weimar bereits im Jahre 1808 Verbindung
angeknüpft und ausdrücklich am 3. November 1808 um Mitteilung seiner Ab-
handlung über eine Eutwickelung der Theorie der griechischen Baukunst an
Goethe gebeten hatte: Gründe genug, die Goethe zu dem Wunsche bestimmen
konnten, den Maun persönlich kennen zu lernen, für Hundeshagen, sich dem
Meister persönlich vorzustellen und seine „ Varietäten von Kunst und Natur"
vorzulegen.
So linden wir denn den Namen Hundeshagen oft in dem Tagebuch
erwähnt, zuerst am 1. August 1814: „Mittag Hundeshagen", am 4. (Nachmittag):
„Mit Hundeshagen an den Cursaal." Am 5. ist schon zu seinem Namen
„Fried. Barbarossa" gesetzt, sodann noch zwei Bemerkungen, die von Interesse
sind, zunächst diese: „Hiesige Verhältnisse." Damit soll unstreitig angedeutet
werden, dass Hundeshagen, vielleicht in ungesuchter Zuvorkommenheit, Goethe
über die Wiesbadener Persönlichkeiten zu unterrichten und auf dessen Verhalten
zu ihnen, Besuche u. s. w. Einfluss zu gewinnen suchte; und wenn wir be-
denken, dass seine Urteile später höchst ungünstig lauteten und Massregeln
gegen ihn hervorriefen, so dürfen wir wohl vermuten, dass sie auch damals
schon nicht allzu günstig waren und eine gewisse Voreingenommenheit bei Goethe
hervorbringen mochten, Boweit dieser sich von anderer Leute Urteil beeinflussen
Hess. Ferner die Notiz: „Georg Churf. v. Saxen Geschenk." Sie wirft Licht
auf eine Mitteilung Hundesbagens, dass er dem Dichter ein schönes altes Bild,
einen Kurfürsten von Sachsen und seine Gemahlin, schenkte, den einzigen
Überrest seiner ehemaligen Gemäldesammlung. 10 *)
Am 6. August ist Goethe mit dem Studium des Palastes von Gelnhausen
beschäftigt, dessen Abbildungen vor ihm lagen, sie trugen gewiss wenigstens
etwas dazu bei, sein Interesse für die Kunst des Mittelalters, der er sich, wie
wir schon früher bemerkten, ganz entfremdet hatte, zu beleben; sein Urteil
über die Ruinen hat er im Tagebuch auf der Reise (s. oben) niedergelegt.
Der 7. August enthält blos den Namen von Hundeshagen; am 10. ist die Rede
von der Tempelherrn-Kapelle zu Cobern an der Mosel, die Hundeshagen im
Jahre 1813 besucht hatte und ähnlich wie den Gelnhauser Palast bearbeiten
wollte**); am 12. von den „Gelnhauser Kirchen" (die Pfarrkirche in romanischem
Stil zur Zeit des Übergangs mit elegantem Chorbau, drei schlanken Türmen
*») 8. o. 8. 69. — *>*) Goethe-Jahrb. VI, 127, mitgeteilt von L. Geiger, nur ist die
Angabe daselbst unhaltbar, dass die Schenkung am Geburtstage GoethoB 1815 stattgefunden
habe, an welchem dieser Wiesbaden schon verlassen hatte. Das Tagebuch stellt Tag und
Jahr fest. Der Kurfürst war Johann Georg. Siehe die Anmerkung zum Tagebuch, S. 350. —
**) 8. die Anmerkung zum Tagebuch, S. 357.
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116
und zierlich durchbrochenen Gallerten); am 13. betrachtet Goethe bei Hundes-
hagen MT ) eine grosse Stromkarte des Rheins. Von da an bis zum 9. September
stockt der Verkehr; an diesem und dem folgenden Tage ist der Name Hundes»
hagen wieder im Tagebuche notiert.
Im Winter des Jahres 1815 schickt Hundeshagen au Goethe einen Ab-
druck seines Planes von Mainz, „den ersten, welcher aus meinen Händen
kommt", so berichtet er in dem Brief vom 15. Februar 1815'*'); „möchte sich
Ihren herrlichen Ideeo, fügt er bei, und umfassenden durchdringendem Begriffen
das Resultat meiner umfassenden Beschäftigungen wenn auch im kleinsten
Massstabe anschliessen, dann könnte ich ihm für mich den grössten Wert bei-
legen." Zugleich bittet er um Verteilung einiger beiliegenden Exemplare des
Werkes an Weimarer Freunde, ein Wunsch, dem Goethe entsprach.
Im Sommer 1815 erscheint sein Name weniger häufig im Tagebuch (am
27. Mai, 2., 5., 17. Juni und 5. August), auch sind die Gegenstände der Unter-
haltung nicht angegeben; doch wir würden irren, wenn wir annehmen wollten,
der Verkehr sei minder lebhaft gewesen. Goethe las in diesem Jahr vornehm-
lich während des Monats Juni, wie er im Tagebuch bemerkt und in anderwärts
mitteilt, eine Reihe der Göttinger gelehrten Anzeigen und anderer Zeitschriften
oder Bücher, die er der Bibliothek entnahm, teils wie es scheint, in dem Lokale
derselben, teils in seiner Wohnung, wie daraus hervorgeht, dass er auch an
Sonntagen mit deren Lektüre beschäftigt ist. Wir dürfen annehmen, dass die
Werke, welche bergmännische Sachen behandeln, meist der Bibliothek Cramers,
die anderen der öffentlichen Bibliothek angehörten; danach wird man beurteilen
können, welche Schriften in unserem Verzeichnisse unter Lektüre (No. 10) den
Diensten von Hundeshagen verdankt wurden.
Wir lassen nunmehr die Äusserungen Goethes über Hundeshagen und
die Bibliothek folgen. In dem Aufsatze über die „Kunstschätze am Rhein"
u. s. w. sagte er: „Hier [in Wiesbaden] ist in gedachter Rücksicht [Sammlungen
und Bibliotheken] schon viel geschehen und mehrere aus Klöstern gewounene
Bücher in guter Ordnung aufgestellt. Ein altes Manuskript, die Visionen der
heiligen Hildegard enthaltend, ist merkwürdig. 10 ") Was neu in dieser AuBtalt
angeschafft wird, hat vorzüglich den Zweck die Staatsdiener mit dem Laufenden
der Htterariseben und politischen Welt bekannt zu machen.* 10 ) Sämtlicho Zeit-
ungen und Journale werden deshalb vollständig und in bester Ordnung gehalten.
Dieses geschieht unter der Aufsicht des Herrn Bibliothokar Hundeshagen,
welcher dem Publikum schon durch die Bemühungen um den Palast Friedrich I.
zu Gelnhausen rühmlich bekannt ist. Leider ist die ganze vollendete Ausgabe
*" T ) Er wohnte in dem Gebttude, wolchea auch die Bibliothek beherbergte, einem der
Sehl ossbaulichkei ton auf dem Markte, die später niedergelegt wurden; im Jahre 1821 kain die
Bibliothek in dos Museuro, und «war in mehrere Zimmer ebener Erde, 1856 in ihre jetzigen
Räumlichkeiten. — w ) Uoethe-Jahrb. VI, 120. — *° 9 ) A. t. Linde, Die Handschriften der
König). Landesbtbliothek zu Wiesbaden. — F. W. E. Roth, Die Codices des Scirias u. ». ye.
in den Quartalblattern des histor. Ver. f. d. 0 rosaherz. Hessen 1887, 8. 18 ff. - «•) Vgl. die
Verordnung vom 12. Oktober 1813 im Verordnungsblatt 1813, 8. 57, und die Vorschriften über
Zweck, Hinrichtung und Oebrauch der öffentlichen Bibliothek zu Wiesbaden »om l. November
1814 im Allg. Intelligenzblatt 1811, 8. 351.
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117
dieses Werkes bei dem Bombardement von Hanau verbrannt, wiewohl die
Kupfertafeln gerettet wurden; deshalb man die Hoffnung nähren kann, dass
die günstigere Zeit auch die Reife dieses Werkes befördern werde. Der Plan
der Festung Mainz, von jenem talentvollen Manne herausgegeben, zeugt nicht
weniger von Fleiss und Geschicklichkeit." Und in den Annalen von 1815
heisst es: „In literarischer Hinsicht forderten mich nicht wenig Göttinger
Anzeigen, deren ich viele Bände auf der Wiesbadener Bibliothek antraf und sie,
der Ordnung nach*"), mit gemüthlicher Aufmerksamkeit durchlas. Hier wird
man erst gewahr, was man erlebt und durchlebt hatte und was ein solches
Werk bedeute, das mit Umsicht aus dem Tage entsprungen in die Zeiten fort-
wirkt. Es ist höchst angenehm, in diesem Sinne das längst Geschehene zu
betrachten. Man sieht das Wirkende und Gewirkte schon im Zusammenhange,
aller mindere Werth ist schon zerstoben, der falsche Antheil des Augenblicks ist
verschwunden, die Stimme der Menge verhallt, und das überbliebene Würdige
ist nicht genug zu schätzen."
Auch in dem Reisebericht an F. A. Wolf vom November 1814 spricht
sich Goethe anerkennend über Hundesbagen aus, indem er sagt: „Herr Haupt-
mann und Bibliothekar Hundeshagen hatte zugleich duroh antiquarische, artistisch-
literarisohe Mittheilung am Vergnügen und Nutzen, die ich aus meinem Aufent-
halt zog, den grössten Antheil. u
Die Hoffnungen freilich, die der talentvolle junge Mann in ihm erweckt
hatte, erfüllten sich nicht. Derselbe richtete in den folgenden Jahren noch
mehrere Briefe an Goethe, in denen er von seinen wissenschaftlichen Be-
schäftigungen, insbesondere dem Funde eines Nibelungen-Kodex und der Blos-
legung eines römischen Bades zu Wiesbaden, Mitteilung macht; aber er
klagt auch bald über Zurücksetzungen, die er zu erdulden habe. Ende des
Jahres 1817 wurde er aus seinem Amte zu Wiesbaden entlassen und siedelte
zunächst nach Mainz, dann nach Bonn über, wo er Vorlesungen an der Universität
hielt und eine Professur zu erlangen hoffte. Noch bis zum Jahre 1825 finden
sich einzelne Briefe an Goethe vor, der aber dann von dem „wunderlichen"
Manne sich zurückzog, welcher auch anderen kein Vertrauen einflösste'") und
immer tiefer sank, bis er sein Leben im Irrenhause endete.
5. Apotheker Otto.
Dr. Karl Philipp Otto* 11 ), geboren zu Grävenwiesbach bei Usingen, hatte
am 22. März 1812 von der nassauischen Regierung die Erlaubnis erhalten eine
,n ) Aber nicht der chronologischen Ordnung nach, wie das Verzeichnis zeigt; s. No. 10.
Auch die Zahl der gelesenen Blinde ist geringer, als man nach diesen Worten vermuten
mochte. — *'*) Auch Y. G. Weloker nennt ihn, wie Goethe in einem Bület an Meyer vom 3. Jan.
1824, das hierher zu gehören scheint (Goethe- Jahrb. VI, 136), einen wunderlichen Mann, der
Oberall seine Netze auswerfe, um einige lukrative Bestellungen irgend einer Art einzufangen.
Briefe an 8. Boiaseree vom 15. August 1831. S. Boisseräe I, 578. — m ) Die nachfolgen-
den biographischen Notizen sind teils dem Staatsarchive zu Wiesbaden, teils Ottos Schrift
„Einleitung in die wissenschaftliche Chemie" n. s. w. entnommen. Die späteren LebongBohick-
sale desselben berührt kurz 8ouer, Das Herzogtum Nassau in den Jahren 1813—1820, 8. 117
und gibt weitere Littcratur Ober ihn an.
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zweite'Apotheke in Wiesbaden zu gründen und dieselbe im Juni 1813 eröffnet,
ein Unternehmen, das wohl hätte glücken können, da die Stadt über 4000 Ein-
wohner zählte, wohl bevölkerte und wohlhabende Dörfer in der Nähe lagen und
die Kur im Sommer viele Kranke und überhaupt Fremde zuführte; dem Be-
dürfnis genügte kaum mehr die Hofapotheke, welche seit 1808 im Besitz des
Apothekers August Lade sich befand. Otto hatte im Jahre 1800 seine pharma-
ceutisch-chemischen Studien mit grossem Eifer begonnen und mit ihuen zugleich
philosophische verbunden und zwar hauptsächlich nach den Lehrbüchern von
Ch. W. Snell, Rektor des Gymnasiums zu Idstein*'*), welcher die Lehren des
grossen Königsberger Philosophen in zahlreichen Schriften und Reden dem
weniger gebildeten Publikum zugänglich und verständlich zu machon suchte;
ihm war Otto von früher Jugend an bekannt und erhält von ihm das Lob, dass
er die von seinen Fähigkeiten gehegte sehr günstige Meinung nicht nur erfüllt,
sondern weit übertroffen habe. Denn dadurch, dass er sich bestrebte Chemie
durch Philosophie zu befruchten, kam er den Anschauungen Snells entgegen,
der sich in der Vorrede zu Ottos Werk also darüber ausspricht: „Physikalische
und chemische Beobachtungen oder Versuche geben, wofern sie nicht durch
Prinzipien geleitet und nach denselben geordnet werden, nur ein totes Aggregat
von Kenntnissen; erst dadurch kommt Geist und Leben in die chaotische Hasse,
dass die Erscheinungen und die in denselben sich offenbarenden, dem Anscheine
nach noch so verschiedenen Kräfte aus einer möglichst geringen Anzahl vou
Grundkröften als aus ihren letzten Quellen abgeleitet werden." Dies sei dem
Otto, wie auch der grosse französische Naturkenner, Herr Senator Berthollet,
be/.euge, in seiner Schrift vortrefflich gelungen.
Von dioser Schrift erschienen zwei Abteilungen des ersten Bandes schon
in dem Jahre 181 4 119 ); die Vorrede Snells ist am 1. April, die Vorerinneruug
des Verfassers im Juli dieses Jahres geschrieben; der uns vorliegende erste Teil
trägt die Jahreszahl 1816 und führt den Haupttitel: .Einleitung in die wissen-
schaftliche Chemie im Geiste von Kants und Berthollets Lehren und mit critisch-
philosophischer Berücksichtigung der damit in Widerspruch stehenden Hypothesen.
Als Leitfaden bei Vorlesungen und beim Selbststudium für in diese Wissen-
schaften schon Eiugeweihete. Mit einer Vorrede begleitet von Dr. C. W. 8nell.
Erster theoretischer Teil." Wiesbaden 181 (i. Der Nebentitel lautot : „Beiträge
zur chemischen Statik oder Versuch eines critisch-philosophi&chen Commentars
über Berthollets und Anderer neue philosophische Theorien. Erster, rein theo-
retischer Theil, enthaltend allgemeine und specielle Critik nebst einer apriorischeu
Darstellung von Berthollets neuer Theorie nach Kants dynamischen Principien
sowie den Erweiterungen des Herrn Fischer und Karsten und den eigentüm-
lichen des Verfassers." Um Goethes Interesse an dem Buche zu erklären, führen
wir auch die Uberschriften der Hauptteile der ersten Abteilung des ersten
Teils (S. 1—200), die ihm damals gedruckt vorlag, an; die Überschrift der-
*") Ober ihn vgl. Strieder, Hess. Gel. 8. v. Sauer, Das Herzogtum Nasiau u.a. w.,
S. 40. — «») Ankündigung den Verlegers am 13. August 1814. Natu. Intelligenzblatt 1814,
No. 33.
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selben lautet: »Allgemeine critisch-pbilosophische Betrachtungen Ober die wissen-
schaftliche Bearbeitung der Chemie sowie über die dynamische[n] und ato-
mistische[n] Systeme und Principien der Dalton- und Berzeliusschen Lehren
u. s. w. als Einleitung für das Ganze; Cap. 1: über das Verhältnis der Philo-
sophie zur Chemie; 2.: über die dynamisch- und atomistisch- metaphysischefn]
Principien und deren Anwendung auf die ersten Gründe der Chemie; Cap. 3:
Kurze bistoriscb-critische Übersicht der Bemühungen zur Begründung einer
rationellen Theorie der Chemie." Das sind allerdings vielversprechende Titel;
der Verfasser des Buches glaubte offenbar eine sichere philosophische Grund-
lage zur wissenschaftlichen Umgestaltung der Chemie gefunden zu haben.
Es ist zweifellos, dass Goethe zuerst durch Hundeshagen auf das Buch
Ottos aufmerksam gemacht wurde, und nicht zu verwundern, wenn der grosse
Kenner der Natur neugierig wurde, dieses und den Verfasser selbst kennen
zu lernen. Denn am Tage nach dem zweiten Gespräch mit jenem, am 5. August
1814, eilt er des Morgens zu dem Apotheker Otto* 18 ), und notiort im Tage-
buch: „Otto chemische Abhandl." und am 6. ist der erste Eintrag in demselben:
„Otts ehem. Statte." An demselben Tage besucht ihn Otto; dabei sind ver-
zeichnet die Namen: (Otto,) „französche (sie) Pharmac. Medecin anglois.
Chirurgien francais. Pharmacio allemaude," verschiedene Bezeichnungen, die
den Gegenstand der Unterhaltung gebildet haben mögen. Es scheint aber nicht,
dass der Mann befriedigende Aufschlüsse über sein System gegeben hat; nur
noch einmal wird sein Name erwähnt und ohno weiteren Zusatz am 20. August.
Was die weiteren Lebensschicksale Ottos betrifft, so geriet er bald nach
Goethes Abreise in Konkurs, Anfang Oktober; über seinen wissenschaftlichen
Arbeiten und Bauspekulationen (er erwarb einen Bauplatz in der Friedrichs-
strasse) mag er sein Geschäft versäumt haben, das nun bald in andre Hände
überging. Vergeblich bewarb er sich um eine Professur in Bonn. Verfolgt
von Missgeschick, verfiel er in Geistesstörung und suchte sich au seinen ver-
meintlichen Feinden durch Denunziationen zu rächen, welche schliesslich die
höchstgestellten Beamten Nassaus nicht verschonten, und endete schliesslich
durch Selbstmord.
6. Habel zu Schierstein.
Der naasauische Hofkammerrat Christian Friedrich Habel SIT ), geb. 1747,
hatte, nachdem er im Jahre 1808 in den Ruhestand getreten war, eine Be-
sitzung zu Schierstein gekauft und hier seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Er
war während seiner Dienstzeit fortwährend wissenschaftlich thätig geblieben
und hatte mehrere Schriften verfasst oder kleinere Mitteilungen in Zeitschriften
veröffentlicht; nunmehr gab er sich ganz seinen Lieblingsbeschäftigungen hin,
welche hauptsächlich die Altertümer der Heimat und Mineralogie zum Gegen-
stande hatten; für beide hatte er schon früher Sammlungen angelegt, die er
*") Er wohnt« nicht weit Ton Goethe in der Langgasse. — * ,T ) Lebensnachriohteii
über die beiden Habel, den Hofkammerrat Christian Friedrich und den 8ohn, Archivar Fried-
rich Gustav Habel, gibt 8ohwarti in den Annalen des nass. Altertumsvereins XI, 91 IT. u.
186 8.
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jetzt durch Ausflüge, welche er z. T. mit seinem Freunde v. Gerning*") machte,
zu bereichern suchte. Die mineralogische Sammlung brachte er auf 2100 Num-
mern, die er in ein wohlgeordnetes Verzeichnis, einen Quartband von Drei-
Finger Dicke mit einem Rücken von Leder, eigenhändig eintrug. Der Tod über-
raschte ihn am 20. Februar 1814. Sein damals zweiundzwanzigjähriger Sohn
Friedrich Gustav erbte die Liebhabereien seines Vaters für Altertümer und
Geschichte und wurde später ein Mitbegründer und Hauptförderer der Alter-
tumsforschung und des Vereins für nassauische Altertumskunde und Geschichts-
forschung. Damals (1814) war er eben von der Universität zurückgekehrt und
wohnte bei seiner Mutter zu Schierstein.
Goethe mochte von der Habeischen Sammlung durch Cramer Kunde er-
halten haben und beschloss, als er von dem Ausflug nach Rüdesheim und dem
Rochusfeste zurückkehrte, dieselbe in Augenschein zu nehmen. So machte er
am 17. August 1814 auf der Fahrt von Eltville nach Wiesbaden zu Schierstein
Halt und trat mit seinen Reisegefährten Cramer und Zelter bei Habel dem
Sohne ein. Das Tagebuch bemerkt „Habel und Gerning«, woraus man schlieasen
möchte, das» Gerning damals bei Habel sich aufgehalten habe, zumal da ein
zweiter Besuch zu Schierstein nicht mit „und* angeknüpft wird. Es könnte
sogar möglich sein, dass Gerning den Besuch bei Habel vorbereitet und die
Freunde dort erwartet habe. Habel wusste die Ehre, Goethe in seinem
Hause gesehen zu haben, wohl zu schätzen; noch an demselben Tage schickte
er ihm ein Mineral zum Geschenk, welches wahrscheinlich dessen besondere
Aufmerksamkeit erregt hatte. Wir sind durch die freundliche Mitteilung des
Herrn Pfarrers L. Conrady, eines Neffen des Archivars und Scbenkers, in den
Stand gesetzt, dieses Geschenk noch genauer zu bezeichnen; es war in dem
Kataloge unter No. 1433 eingetragen und also beschrieben: „Röthl. und gelbl.
Glaskopfartiger Eisonstein mit gekippertcn Dendriten, vom Paulisch Werk bei
Alfljendorf." Dabei ist zugefügt: „Dem Herrn Geh.-Rth. v. Goethe aus
Weimar verehrt den 16. Aug. 14." Der Tag stimmt freilich nicht mit dem
Tagebuch, in dem zum 17. angemerkt ist: „Sendung von Schierslein" ; aber
beide Notizen geheu offenbar auf dieselbe Thatsache, und da eine auf einem
Irrtum beruhen muss, so wird man sich für die Richtigkeit der Tagebuchnotiz
entscheiden, da kaum anzunehmen ist, dass die Reise nach Rüdesheim, nach
Tisch unternommen, durch einen oder vielmehr mehrere Besuche in Schierstein
unterbrochen wurde, während man auf der Rückfahrt den ganzen Tag vor
sich hatte.
Was den Eisenstein selbst und seine Herkunft angeht, so erwähnt Wenck
in der hessischen Landesgoachichte"*) und Habel in Klipsteins mineralogischem
Briefwechsel I. 1781 der Eisensteinbergwerke von Allendorf bei Katzenelnbogen;
Eisensteingruben nebst einem Hüttenwerk hatte kurz vor 1740 der Bergrat
Wagner angelegt und nachher ein gewisser Pauli aus Köln erworben, woher
*'*> Gerning nannte nach ihm eine Quölle oder einen Brunnen üabeUborn in seinem
Gedicht .Die Heilquellen am Taunna« III, 90, 8. 125 und rühmt 8. 235 seine Verdiente um
die Wissenschaft; auch Schierstein erfahrt sein Lob III, 1U5 IT. - ™) I, 157.
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121
sie den Namen Pauli'sche Werke erhielten.** 0 ) Zu welcher Gruppe der von
Habel genannte Rot- oder Brauneisenstein gehörte, lässt sich aus seiner Be-
schreibung nicht wohl feststellen.
Goethe erwies sich dankbar, sei es für das Geschenk oder die freundliche
Aufnahme in dem Habel'schen Hause; er verehrte dem jungen Habel ein
Exemplar seiner Dichtung „Hermann und Dorothea*, das später leider ab-
handen gekommen ist. Die Schwester Habels aber, nachher Frau des Hof-
kammerrats Conrady, wusste in der Folgezeit ihren Kindern zu erzählen, dass
Goetho ein schöner, grosser Mann gewesen sei.*")
Ausser dem Habeischen Hause besuchte Goetho in Schierstein auch das
der Frau v. Hertling 8 "), der Witwe des Freiherrn Philipp v. Hertling zu
Frohnhof und Scbierstein, welcher im Jahre 1810 gestorben war und mehrere
Söhne hinterlassen hatte; ob auch einer von diesen (der älteste war 1786
geboren) anwosend war, ist nicht ersichtlich. Die Frau v. Hertling, die uns
noch einmal begegnen wird, starb im Jahre 1843.»")
7. Hofrat Götz zu Rüdesheim.
Der nassauische Beamte zu Rüdesheim, Hofrat Wilhelm Friedrich Götz,
war nicht nur für Goethe auf dem Weg zum Rochusfest oin freundlicher „Ge-
leitsraann" und zuvorkommender Wirt (s. unten No. 9, 2), sondern or besass
auch eine Sammlung von Mineralien, die er, noch bevor man den Weg zum
Rochusberg antrat, dem wissbegierigen Jüugcr der mineralogischen Wissen-
schaft in der Frühe des 16. August 1814 vorzeigen musste. Über diese spricht
Goethe sich nicht weiter aus und besuchte sie auch nicht wieder, als er am
Anfang des September acht Tage in dem nahe gelegenen Winkel weilte und
mancherlei Spaziergänge zur Belehrung und Unterhaltung nach der Umgegend
machte. Aber von dem Besitzer bemerkt er in dem „Rochusfest" mit sicht-
licher Befriedigung, dass die Begegnenden ihn allo freundlich begrüssten und
rühmten, wie er wesentlich zu dem Gelingen der Feier beigetragen habe. Götz
wurdo im folgenden Jahre von Rüdesheim versetzt und starb, nachdem er
mehrere höhere Staatsämter zu Wiesbaden und Dillenburg bekleidet hatte, als
Goheimerat und Mitglied des Oberappellationsgerichtes am 25. Oktober 1823
zu Wiesbaden.
Wonigo Monate vor diesem Tage, als Goethe sich zu Marienbad befand
(es inuss am 21. Juli 1823 gewesen sein), sollte er auf eine eigentümliche
Weise an seinen Rüdesheimer Bekannten erinnert worden. Der Vorfall ist ein
Gegenstück zu der scherzhaften Weise, wie sich Goethe im Jahre 1772 bei
dem Professor Höpfner zu Giessen einführte, und wurde von dessen Tochter,
der Gemahlin des Geh. Kabinetsrates Aug. Wilh. Rehborg, ins Werk gesetzt.
"*) Staatsarchiv in Wiesbaden. Vgl. auch jetzt die Beschreibung der Bergreviere Wies-
baden und Dioz 1893, 8. 167. — *") Auch diese beiden Notizen verdanken wir der freundlichen
Mitteilung des oben genannten Pfarrers Conrady, eines Sohnes von Habels Schwester. —
m ) 8o ist am leson statt „v. Harding* im Tagebuoh. — "*) Gotbaisches genealog. Taschenbuch
der freiherrlichen Häuser 1860, 8. 329. — 8. unten 8. 128 Anm. 249.
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Wir glauben ihn, obwohl er nur lose mit Götz zusammenhängt, hier einfügen
zu sollen, zumal da die Bemerkung in dem weiter unten folgenden Briefe der
Frau Rehberg, dass der schwarze Todesengel schon über dem Freund geschwebt
habe, den Zeitpunkt ausser allen Zweifel stellt."*) Wir schicken den erwähn-
ten Scherz Goethes voraus, wie er von Höpfners Frau berichtet wird.
„Eines Tages, so erzählte die Frau Höpfners ihrem etwa vierzehnjährigen
Stiefenkel, dem nachherigen Obersteuerrat Hallwachs in Darmstadt, den Vor-
fall von 1772*"), meldete sich ein junger Mann in vernachlässigter Kleidung
und mit linkischer Haltung zum Besuche bei Höpfner mit dem Vorbringen an,
er habe dringend mit dem Herrn Professor etwas zu sprechen. Höpfner, ob-
gleich damit beschäftigt, sich zum Gange in eine Vorlesung vorzubereiten,
nahm den jungen Mann an. Die ganze Art und Weise, wie sich derselbe boim
Eintreten und Platznehmen anstellte, Hess Höpfner vermuten, dass er es mit
einem Studenten zu thun habe, der sich in Geldverlegenheiten befinde. In
dieser Ansicht wurde er dadurch bestärkt, dass der junge Mann damit seine
Unterhaltung anfing, in ausführlicher Weise seine Familien- und Lebensver-
hältnisse zu schildern, und dabei von Zeit zu Zeit durchblicken Hess, dass diese
nicht die glänzendsten seien. Gedrängt durch die herannahende Kollegienstunde
entechloBs sich der Professor sehr bald dem jungen Mann ohne weiteres eine
Geldunterstützung zufliessen zu lassen und dadurch zugleich der peinlichen Unter-
haltung ein Ende zu machen. Kaum gab er jedoch diese Absicht dadurch zu
erkennen, dass er nach dem Geldbeutel in seiner Tasche suchte, so wendete
der vermeintliche Bettelstudent das Gespräch wissenschaftlichen Fragen zu und
entfernte sehr bald den Verdacht, dass er gekommen sei, um ein Geldgeschenk
in Anspruch zu nehmen. Sobald der junge Mann merkte, dass der Herr Pro-
fessor eine andere Ansicht von ihm gewonnen, nahm das Gespräch jedoch die
alte Wendung und die Andeutung des Studenten, dass es schliesslich doch auf
das Verlangen nach einer Unterstützung abgesehen sei, wurde immer verständ-
licher. Nachdem Höpfner auf diese Weise ein und das andere Mal sich in der
Lage befunden hatte dem jungen Mann Geld anzubieten und dann wieder da-
von abstehen zu müssen glaubte, entfernte sich der Student und Hess den Herru
Professor voll Zweifel und Vermutung über diesen rätselhaften Besuch zurück.
„Als Höpfner am Abend desselben Tages, doch etwas später wie gewöhn-
lich, in das Lokal trat, wo sich die Professoren der Universität gesellschaftlich
zusammenzufinden pflegten, fand er daselbst ein vollständiges Durcheinander. Die
ganze zahlreiche Gesellschaft war um einen einzigen Tisch herum gruppiert,
teils sitzend, teils stehend, ja einige der gelehrten Herrn standen auf Stühlen
und schauten über die Köpfe der Kollegen in den Kreis der Versammelten
hinein, aus dessen Mitte die volle Stimme eines Mannes hervordrang, der mit
begeisterter Rede seine Zuhörer bezauberte. Auf Höpfners Frage, was da
"*) Scherer im Ooctho-Jahrb. VI, 147 hat den Scherz schon aus anderen 0 runden richtig
iu dos Jahr 1823 gesetzt, der Tag ergibt sich aus der Angabe des Tagebuchs, dass das Reh-
borgsche Ehepaar ihn am 21. Juli besuchte, y. Loeper, Goethe-Jahrbuch VII 1, 170. —
* n ) Scheror im Ooetho-Jahrl». VI, 315. Vgl. damit Goethe« Darstellung in »Dichtung und
Wahrheit', 12. Buch.
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vorgebe, wird ihm die Antwort, Goothe aus Wetzlar sei schon seit einer Stunde
hier. Die Unterhaltung habe nach und nach sich so gestaltot, dass Goethe
fast allein nur spräche und alle verwundert und begeistert ihm zuhörten.
„Höpfner, voll Verlangen den Dichter zu sehen, besteigt cinon Stuhl,
schaut in den Kreis hinein und erblickt seinen Bettelstudenten zu einem Götter-
jüngling umgewandelt. Höpfners Erstaunen lässt sich denken . . . . u
Es war nuu im Jahre 1823, als Höpfners Tochter diesen Scherz erwiederte.
Sie liess sich als Bäuerin und Verwandte des Geheimerats Götz in Rüdesheim
bei Goethe melden und wurde angenommen. Wir wollen sie selbst über ihro
nun folgende Unterhaltung mit Goethe sprechen lassen durch einen Brief, den
sie am 30. November schrieb; der Anfang desselben muss sich auf eine Bo-
gebenheit bezieben, die ihr von dem Adressaten mitgeteilt worden war und
wohl den Tod des Geheimerats Götz betraf, welcher nach einer uns als glaub-
würdig verbürgten Hitteilung ein freiwilliger gewesen sein soll. Die Thatsache,
obgleich nicht in dem Totenregister eingetragen, findet darin eine Bestätigung,
dass die Bestattung entgegen der bestehenden Vorschrift und Sitte am Tage
nach dem unglückseligen Ereignisse statt hatte. Frau Rehberg also schrieb'**):
»Welch eine Geschichte haben Sie mir von Göz erzählt! Wirklich ich
musste dreimal lesen, eh ich mich überzeugen konnte, dass Sie das wirklich
geschrieben hätten! Peinlich wird mir doch immer der Gedanke bleiben den
Freund zum Instrument in einer Posse gebraucht zu haben, über dem schon
der schwarze Todesengel schwebte. — Aber die ganze Posse überhaupt war
vielleicht nicht löblich. — Indess ich untornahms im Vertrauen auf den Cato-
chismus, der da spricht: Nothlüge ist erlaubt. Und da der Erfolg den Heldeu
oder Thoren macht, so darf ich ja wohl den Kopf in die Höhe heben.
„Gern möcht ich Ihnen und H. [Hallwachs] recht viel vom Gespräch mit
Goethe erzählen können, aber es geht aus vielen Gründen nicht. Am Morgen,
da ich bei ihm allein war, blieb natürlich die Unterhaltung in der Sphäre der
Gewöhnlichkeit ; ich hatte mich so gut in meinen Basenraantel eingemummt, dass
ihm gar kein Zweifel aufsteigen konnte, als habe ich je eine Zeile von ihm
gelesen, ja ob ich überhaupt lesen und schreiben könne, blieb ungewiss. „Ach
sage Se raer doch, Ihr Excelenz, ob Se sich wieder recht gut befinde, ach wie
wird sich mein Herr Vetter freie! und viele, vielo Leit werdo sich freie! ls
es denn wahr, dass Sie sich selbst curirt habe? — Die Leit habe sagt der
Dokter hätte Sie nicht ksund mache könne. u
„Er kam nicht aus dem Lächeln über die komische Base, zog sie immer
wieder aufs Canape und sagte, ob sie denn heuto nicht in Marienbad bleiben
wolle? — „Ach nein, Ihr Exe. sehn 8ie, ich reis' mit einem alten Herrn, der
hat absolut nich herkwollt, aber ich hab'n soviel kbitt, bis ors kthan hat. —
Mer wolle nach Prag, das soll e schöne Stadt sein, und zu Drosde, soviel
schöne Bilder* etc. Was war auf solches Zeug zu antworten und was konnte
man so einer Base sagen?"
'} Goethe- Jahrb. VI, 347. Milt. des oberhess. ae»ch.-Yer, V (WM), 8. 162.
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Im Vorzinimor hinterliou sie beim Weggehen als Geschenk ihre« Vetters
Gütz einen Krug Rüdesheimer und einige wertvolle Mineralien. An den Krug
war eino Vignette mit folgender Inschrift geheftet:
0 find ich doch gleich Wort und Zeichen,
Für meines Herzens heissen Dank,
Ich möchte Dir den Labebecher reichen,
Gefüllt mit reichem Wundertrank,
Und joden Balsam in den Becher senken,
Den die Natur erschafft,
Und voll und immer Toller Dir ihn schenken
Mit Lebensfttll und Kraft.
Am Nachmittag ging Frau Rehberg mit ihrem Gemahl zu dem Dichter,
um sich „Pardon" zu holen, der ihr gewährt ward. Beim Abschied gab er
ihr zwei Steine aus seiner Mineraliensammlung mit den Worten: t Ich muss
Ihnen doch auch ein Andenken schenken, da sind ein paar Steine, aber ich
nenne sie Ihnen nicht, denn wir haben auch unsere Geheimnisse. Fragen Sie
nur den ersten besten Mineralogen danach.* Der über die Namen befragte
Professor zu Güttingen Hausmann gab nach Fr. Rehberg die Auskunft, der
eine heisse Pyroxene = Feuergast, der andere Amphibole = die Zweideutige.
„Da hatte ich also meine gnädige Strafe", schliesst der Bericht. Hausmuun
hat übrigens wohl geantwortet, die Steine gehörten zu der Klasse der Pyroxene
und Amphibole, da die Bildung Pyroxene und Amphibole als Feminina des
Singularis ungriechisch ist. Beide Steine gehören zu den hornblendartigen
Mineralien, und es hat die Sippe der Amphibole den Namen davon, dass die
meisten Arten ihrem Ansehen nach leicht mit anderen Mineralien verwechselt
worden können, die der Pyroxene, weil man glaubte, dass sio trotz ihros Vor-
kommens in vulkanischen Felsarten durch Wasser entstanden seien." 7 ) Es
war eine sinnige Erwiederung Goethes!
8. Kammerherr v. Nauendorf.
Die Herrn v. Nauendorf waren ein noch nicht lange in Nassau einge-
wanderter Zweig der sächsisch-thüringischen Adelafamilie; im Jahre 1812 wurde
ihr Adel in Nassau anerkannt; Ludwig v. Nauendorf war im Jahre 1808
zum Kammerjunker des Herzogs ernannt worden, erhielt im Jahre 1810 den
Titel Bergrat und im Jahre 1813 den Rang eines Kammerherrn. Er hatte
Liebhaberei an Mineralien und legte eine Sammlung an, die er Goethe am
4. Juni 1815 vorzeigte; auch nachher begegnen sie sich noch öfter, am 11. und
25. Juni, als Goethe in Biebrich zur Tafel war (am 25. sagt das Tagebuch:
„Bey Hrn. v. Nauendorf") und am 22. und 23. in Wiesbaden. Von der
Mineraliensammlung heisst es in dem Aufsatz über Kunstschätze am Rhein
u. s. w. : „Die hier [im Schlosso zu Biebrich] befindlichen Bibliotheken und
Naturaliensammlungen, deron Ordnung durch die vieljährigen Unbilden des
Kriegs gelitten, werden nun bald auch zum Nutzen und Vergnügen der Ein-
m ) Leunis, 8chul-Naturgeschichtc III, § 15» Anm. und § 15«; Anm. Hausmann,
Mineralogie II, 1, 4<i'.l u. 500.
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heimischen und Vorübergehenden aufgestellt sein ; wie denn Herr Kammerhorr
von Nauendorf seine ansehnliche und wohlgeordnete Mineraliensammlung dem
Liebhaber mit Vergnügen belehrend vorweist.* Bei dem ersten Besuche, am
4. Juni, ist zu Nauendorfs Namen ,Lepidokrokit u gesetzt; wahrscheinlich hat ein
Exemplar dieses nach seiner schuppig-faserigen Beschaffenheit benannten Eisen-
steins Goethes Aufmerksamkeit besonders erregt.
Über das Schicksal und den ungefähren Umfang der Sammlung hat sich
bei genauer Nachforschung folgendes ergeben. Der Bergrat L. v. Nauendorf
wurde im Jahre 1818 zum Oberforstmeister in Geisenheim mit dem Titel Obor-
jägorraeister ernannt und starb hier am 25. November 1820. Etwa zehn Jahre
später begann der Verein für Naturkunde im Herzogtum Nassau, welcher kurz
vorher ins Leben getreten war, eine mineralogische Sammlung anzulegen, zu
welcher ein Geschenk* des Herrn v. Stein den Grund legte; als nächste Er-
werbung folgten die Sammlungen des Oberforstmeiaters v. Nauendorf und Berg-
meisters Jung.**') Die Rechnungen und Archivalien des Staatsarchives und
Vereins für Naturkunde'") ergaben nun, dass die Nauendorf 1 sehe Sammlung
von der Witwe des Besitzers im Jahre 1831 für 300 fl. dem Verein überlassen
wurde; die erste Rate der Kaufsumme wurde am 20. September 1831, die
anderen in den folgenden Jahren ausgezahlt. Der Transport der Sammlung
von Mainz, wo sie sich befand, nach Wiesbaden kostete 13 fl. 21 kr. Ferner
wurden in eben dieser Zeit verschiedene Kasten und Kästchen für Mineralien
vom Buchbinder Selenka angefertigt, und zwar Ende August 250, im September
550, im Oktober 650, zusammen 1450. Nehmen wir dazu, dass der Vorsitzende
des Vereins in der nächsten Generalversammlung die Nauendorfscbe Sammlung
als in mancherlei Rücksichten ausgezeichnet nennt, so dürfen wir sie nicht
gorado für unbedeutend halten, und Goetho mag nicht blos aus Artigkeit von
ihr das Wort „ansehnlich" gebraucht haben; die Ordnung freilich hatte notgelitten
und es bedurfte einer Neuordnung, welche der Archivar Habel übernahm. Von
den 1450 Kästchen möchte ich die am Ende September und im Oktober ab-
gelieferten 1050 für die in Rede stehenden Mineralien in Anspruch nchineu.
9. Johannes de Laspee.
Johannes de Laspee* 0 ) entstammte einer aus Belgien nach dem Rhein-
gau eingewanderten Familie und wurde am 25. September 1783"') in dem
'**) Thomae, Geschichte des Vereins für Naturkunde 1842, 8. 42. — m i Wir ver-
danken die Einsicht in dieselben der Freundlichkeit des Herrn Sanitfitsrates Dr. A. Pagen-
Stecher und des Herrn Archivrate« Dr. W. Sauer. — m ) So schreibt die Familie jetzt den
Namen, wie ein Schreiben des Sohnes vor. Joh. de Laspee und dessen müudliche Vorsiehorung
verbürgt. Ooethe hat im Tagebuch die Formen: de Laspee, Delaspe'e und de la Spce; Johann
de Laspee schrieb anfangs (vor 1814) de l'Aspfo, und so fehlt nur noch d'Elaspee, um alle
Möglichkeiten der Schreibung zu erschöpfen. Lebensnachrichten von Johannes de I<asp^e
finden sich im Neuen Nekrolog 1825, S. 1379, abgedruckt aus der Schulzeitung, und danach
Schwanz, Ann. des nass. Vereins u. s. w. XVIII, 122; dazu traten für ans mündliche Mit-
teilungen des genannten Sohnes von de Laspee, Herrn August de Laspee. — J ") So, und
nicht 1784, nach der Mitteilung dos eben genannten Herrn August de Laspee dahier und
naoh der Inschrift auf dem Grabstein.
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Dorfe Johannisberg geboren. Soin Vator war Maurer, und der Sohn sollto das-
selbe Handwerk treiben; da er aber den Wunsch hatte sich höhere Bildung
zu erwerben, so suchte er Mittel und Wege auf dies zu erreichen und verweilte
dosshalb einige Zeit zu Mainz, dann in dem Kloster zu Königstoin, zuletzt in
Höchst, wo er dem Küster beistand und den Unterricht mehrerer Kinder über-
nahm. Als er hier von Pestalozzi horte, besohloss er dessen Schüler zu werden
und begab sich zu Fuss unter vielen und harten Entbehrungen zu dem Meister
nach Ifferten. Anfangs mit wenig Vertrauen und Entgegenkommen aufgenommen
gewann er doch die Liebe Pestalozzis und wurde ein eifriger, dem Lehrer teurer
Schüler und bis zu soinem Ende treu ergebener Freund. Als er die Methode
völlig zu beherrschen glaubte, wandte er sich nach Wiesbaden und erhielt am
!). November 1808 die Erlaubnis daselbst eine Elementarschule nach Pestalcz-
zischen Grundsätzen zu errichten. Sie wurde im Jahre 1809 eröffnet"'); das
Lokal befand sich anfangs in der Mitte der Langgasse, nach alter Zählung in
No. 184, am Eingange in die Kirchhofsgasse, später in einem Hause der neu-
angelegten Friedrichsstrasse, wo jetzt die nach de Laspee benannte Strasse ist.
Das Glück war dem Unternehmen günstig, und das Vertrauen des Publikums
lohnte die Bemühungen des thätigen und geschickten Mannes, der bald nachher
eine Privatanstalt zur Erziehung von Knaben damit verband. Die Anstalt
erfreute sich bald eines ausgezeichneten Rufes und zahlreichen Besuches aus
allen Gegenden Deutschlands, ja auch ausser deutschen Gebieten, sowie von
Gelehrten und Pädagogen, welche die Lehrart, Ziele und Erfolge der Schule
kennen lernon wollten. Im Jahre 1810 hielt sie die erste öffentliche Prüfung
ab, nach zwei Jahren die zweite; von der dritten, die am 25. und 26. August
1814 stattfand und der Goethe beiwohnte, liegt ausführliche Ankündigung vor;
wir setzen sio eben wegen der angeführten Tbatsache vollständig hierher/")
„ Unterzeichneter ladet das hochzuverehrende Publikum zu der auf den
25. und 26. August festgesetzten dritten öffentlichen Prüfung der hiesigen
Pestalozziachen Anstalt hierdurch höflichst ein. Sie wird in dem Mährischen
Gartensaale vor dem Schwalbacher Thore jeden Tag Morgens von 8 — 11 und
Nachmittags von 2 — 5 Uhr gehalten werden. Dio Gegenstände des Examens
sind: Lesen, Schreiben, Rechnen, Algebra, Geometrie, Zeichnen, Singen, deutsche
und französische Sprache, Naturgeschichte, Geographie. Religionsunterricht und
Gymnastik sind keine Gegenstände der öffentlichen Prüfung. Da auf der Prüfung
nur Resultate erscheinen, darum werde ich suchen am folgenden Tage dem
27. in den oben genannten Stunden für die Freunde der Pädagogik, die es
wünschen, den Gang der Methode in meiner Schule darzustellen.
Wiesbaden den 20. August 1814. Joh. de Laspoe."
Über die Besuche von Fremden liegt uns das Konzept eines Briefes von
de Laspee vor, dessen Mitteilung wohl am Platze sein möchte 184 ); der Brief
m ) Firnhaber, Simultanscliulo 1, 237. — m ) Wiesbadener Wochenblatt No. 34 xom
22. August 1814. Die vierte Prüfung fand am 19. und 20. Juni 181« im Bchiitzenhofe statt.
— *••) Wir verdanken der Gefälligkeit des Enkels von de Laspee, Herrn Instttutsvorateher
Kreis dahior, diese und andere Mitteilungen.
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ist gerichtet an den Geheimerat v. Schilling zu Karlsruho, von dem oin Sohn
am 8. April 1815"*), oin zweiter am 12. Juli 1816 in die Schule eintrat;
da in dem Schreiben nur über die Fortschritte des älteren berichtet wird, so
w'rd es vor dem Eintritt des zweiten niedergeschrieben sein und zwar, da die
Anwesenheit der meisten dort benannten Personen nur für den Sommer 1815
nachweisbar ist, etwa am Eode des Sommerhalbjahres 1815. „Die vielen Be-
suche unserer Schule von Gelehrten und hohen Personen, so schroibt de Laspee,
die meistens noch meine ohnebin kurze freye Zeit des Tages oft bis in die
Nacht aufzehren, waren Schuld, dass ich Ihnen nicht früher eine Nachricht
über den Standpunkt Ihres wahrhaft guten Eduard gab. Im Glauben, dass Sie
vielleicht einige Besuche unserer Schule genannt haben wollen, bin ich so frey
Ihnen den Geh. Rath Goethe [zu nennen ; er] war in unserer Schule 8 Stunden,
der preussische Staatsrath Süveru" 6 ) 5 Stunden, der bairische Hofkommissär
Baron v. Andrian» 9 *) etliche 20 8tuuden, der Oberschulrath Schulz 188 ) 5 St.,
der preussische Regierungsrath Butte" 9 ) und H. v. Kesten 7 St., Graf Sievers* 40 ),
Generalmajor in russischen Diensten, von Morgens bis Abends 9 Uhr nebst
mehreren von ihm zur Erlernung der Pestalozziseben Methode geschickten Offi-
zieren; der Staatsrath Hatzfeld 141 ), die Frau v. Wolzogen* 4 *) über 14 St., die
Gräfin Trebra aus Cleve über 9 St., die Grossfürstin '**) nebst dem Fürsten
Gagarin* 44 ) und der Fürstin Wolhanna und noch mehrere ihres Hofes über
15 St. Sie hat mir gestern die Erzieherstelle ihrer Prinzen angetragen (die
ich ausschlug), und mehr als CO grösstenteils Gelehrte von allon europäischen
Nationen." Dahin gehörten z. B. die Philologen F. A. Wolf und Buttmanu,
der Minister Freiherr v. Wangenheim, Clemens Brentano, der sich auf mehrere
Wochen bei do Laspee einquartierte und dem Unterrichte beiwohnte; die Zahl
der Zöglinge belief sich zu Zeiten auf 40 Pensionäre und 100 Externe. 24 ')
Goethe, aufmerksam auf jede neue Erscheinung, die den Keim zu otwas
Gutem in sich zu bergen schien, hatte auch die Pestalozzische Lehrmethode
nicht übersehen, aber noch keine Gelegenheit gefunden in eigner Person sich
über doren Weise und Resultate zu unterrichten; im Tagebuch findet sich am
7. Juli 1814 die Bemerkung: „Sinn des Posta] ozzischen Wesens; wunderliche
Versuche von .... in Königsberg." Als er daher nach Wiesbaden gekommen
war und von de Laspee hörte, sicherlich durch Cramer 146 ), dessen jüngste
Tochter die Anstalt besuchte, besebied er alsbald den Vorsteher zu sich und
m ) t. Schilling aus Karlsruhe ist in der Kurlist« vom 2.-9. April eingetragen.
— »»*) Kurliste rom 2.-9. Juli 181.». Boisser^e I, 258. — m ) Kurliste Tom 1«. 23. Juli:
H. t. Andrian, Kammer he rr von Wilrzburg. — ,M ) Der bekannte Johannes Schulze, damals
Direktor des Gymnasiums zu Hanau; dort sah ihn Goethe auf der Rückreise am 24. Oktober
1814. — *") Im August 1815. 8. oben 8. 97 und Boisser^e I, 266. — '") Boisser^e I,
260. — *") Kurliste rom 20.— 27. August (und 30. Oktober — 5. November) Staatsrath
t. Hatzfeld aus Düsseldorf. - »«) Die Frau t. Wolzogen war öfter zu Wiesbaden. - M ) Die
Grossfürstin Katharina, Grossherzogin von Oldenburg, , nebst Suite"; Kurliste vom 16.— 23.
Juli 1815. S. oben 8. 96. — ,M ) Kurliste vom 16.-23. Juli 1815; der Fürst Gagarin „nebst
Suite." - M ) Schwartz, Annalen a. a. 0. - »") Wohl nicht durch Willemer, den er in
Frankfurt damals nicht besucht hatte, wie wir wissen; doch konnte am 4. August zu Wiesbaden
die Rede auf die Anstalt gekommen sein.
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am 8. August zum zweiten Male, wie dieser an demselben Tage Pestalozzi
berichtet* 47 ); das Tagebuch schweigt über beide Unterredungen; in der zweiten
äussert er, es sei ihm lieb, wenn er die Schule besuchen dürfe. „Er kommt,
fährt de Laspee in dem eben genannten Briefe fort, morgen oder übermorgen.
Kr fragte, ob ich selbst bei Pestalozzi gewesen. Sonst konnte ich nicht viol
über die Methode mit ihm reden; aber in meiner Schule, wenn er die Fakta
nicht absprechen kann, muss es gehen; auch suchte ich gar nicht mit ihm
über die Methode zu roden, bevor er in meiner Schule war. Auch habe ich
grosse Hoffnung, dass Geheimerath Zelter, der die Musik nach Pestalozzi lehrt,
oin Busenfreund von Goethe, sich dieser Tage in meiner Schule einfindet. 0,
wie freue ich mich königlich."
Und in der That trat Goethe am 9. August 1814 in die Schule, wie nun
auch das Tagebuch, aber ohne de Laspees Namen zu nennen, besagt. 248 ) In dem
angeführten Briefe fährt dieser also fort: „Soeben, 9. Aug., lässt sich Goethe
melden. Es ist halb elf I hr. Wie freue ich mich! Wenn mir's nur gelingt,
dass ich auch vom Guten Gutes, vom Grossen Grosses sagen kann. Gott helfe
mir! Ich setze jetzt zwei Stühle! Er kommt! Adieu. — Er ist soeben fort und
wie ich glaube, mit grosser Zufriedenheit weg. Er blieb bis 1 Uhr. In der
Grammatik fragte er manches selbst; besonders interessirte ihn die Kopfalgebra
und überhaupt das Kopfrechnen, aber über alles ein Examen über deutsche
Sprache. Ich aber fürchtete, das Ganze erscheine ihm als Prunk." Uni zu
verhüten, dass die frappanten Resultate dem Uneingeweihten als Auswendig-
gelerntes und mechanisch Eingeübtes erschienen, forderte de Laspee jeden
Fremden und so auch Goethe zum Selbstexaminieren auf. „Als er erfreut sagte,
ich möchte doch selbst fortfahren, nahm ich eine neue Sprachseite, von der
meine Kinder noch nie etwas gehört hatten, was sie selbst auch laut vor ihm
bekannten. Vorerst muss ich sagen, dass sie mir selbst neu war. Aber alles
gelingt mir nur mit. den Kindern und zwar dann am allerbesten, wenn ich
mich in einem für die Menschen entscheidenden Augenblick dazu auffordere
oder dazu aufgefordert werde. . . Weil mir dieses schon so oft, wie ich glaube,
gelungen ist, fürchteto ich mich auch nicht vor Goethe, und die Kinder zeigten
sich kräftig und selbständig, dass sich Goethes Gefallen an der Sache zunehmend
zeigte. Soeben erfahre ich, dass Goethe zum zweiten Male kommen will,
so gut habe es ihm gefallen. Überhaupt halten die meisten Leute Anfangs
nichts auf den Gang, sobald sie aber die Kraft gesehen haben, wollen sie nun
diesen wissen. Mit ihm war Oberbergrath Cramer und Fräulein Hertling* 49 )
(diese grosse Dame)' 50 ) hier. Der"') stärkste Gogner nach Schnell'") im Nassau-
M ) Morf, Zur Biographie Pestalozzis IV, 312 ff. Das Konzept des Briofee lag uns
ebenfalls yor. — „Bey . .. Unterricht im Pestalu zzischon (sie) Sinne." — ,w ) Gemeint ist
die oben S. 121 genannte Frau Giftberta t. Hertling, welche denn auch in der Kurliste vom
21. — 2H. August Terzeichnet ist als Frau v. Hertling aus Schierstein. — ,w ) Diese Bezeichnung
mag sich auf ihre würdige Haltung gründen, die Tcrhunden war mit Wohlbeleibtheit; ein Brief
▼om :t. Januar 1814 berichtet, dass „diese dicke Dame, als die Russen am Freitag Abend
[31. Dezember 18I.S] zweimal ihre Stubenthüre im Schützenhofe, wo sie wohnte, gestürmt hitten,
sich durch das Fenster flüchtete und bei dem Hauseigentümer, dem alten Käseberger, Schutz
suchte." Wiesbadener Wochenblatt 1882, No. 140, 8. 24. — ■»') Das hier Folgende ist dem
Konzept dos Briefes entnommen. — Es ist der oben orwShnto Rektor des Gymnasiums
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ischen war am Freitag [5. August] das erstemal in meiner Schule. Er hat
die Sache im rechten Lichte gesehen und ist ganz in Flammen für die Sache
und ich soll ihn die Methode lehren, dafür will er mir Unterricht in der Astro-
nomie etc. geben; er ist der grösste Mathematiker und Schriftsteller in dieser
Wissenschaft und Hofrath dahicr. P. Scr. vom 10.: Goethe hat den 10. August
einige meiner Kinder mit „Hermann und Dorothea" beschenkt" [ähnlich wie
Habel und Riese].
Dieser nassauische Hofrat war der Kammerkonsulent und Advocatus fisci
Heinrich Christian Brodreich, früher fürstlich Solms-Lichischer Regierungsrat,
der auf seine Bitte 1804 als Hofrat von Nassau übernommen wurde; im Jahre
1815 wurde er pensioniert und starb einige Jahre später etwa 60 Jahre alt. 253 )
Geschrieben hatte er nach Meusel im Jahre 1805 „Versuch einer Theorie des
Schwungrades und der Kurbel, zweyer für die Maschinenlehre sehr wichtigen
Gegenstände nebst Prüfung der bisher über selbige bekannt gewordenen Grund-
sätze. Frankfurt a. M.*
Dass Goethe 2 ! /s Stunden dem Unterrichte in der de Laspeeschen Schule
beiwohnte, lässt sein Interesse an der Sache erkennen und dass er das Wesen
derselbe ergründen wollte. In den folgenden Tagen bildete die Pädagogik
Pestalozzis einen Hauptgegenstand der Unterhaltung mit Cramer 154 ); leider bat
er selbst nichts über den Eindruck, der ihm zuteil wurde, niedergeschrieben.
Doch war mit dem einen Besuch sein Interesse nicht erschöpft. Als ihm
de Laspee am 20. August .Pestalozzische Schriften" über bracht hatte, sehen
wir ihn sofort an diesem und dem folgenden Tage mit der Lektüre von „Lien-
hard und Gertrude" (so schreibt er beide Male] beschäftigt.
Am 26. war ein Freudentag für de Laspee und die ganze Austalt: Goethe
wohnte der Prüfung am Morgen und Nachmittage bei, also etwa 6 Stunden
lang, wodurch sich die 8 Stunden, die in dem oben angeführten Briefe an
Schilling vorkommen, als Summe in runder Zahl ergeben. Für dieses .Mal
entbehren wir nicht nur wieder einer Äusserung Goethes, sondern auch de Laspees,
der doch gewiss einen Bericht nach Ifferten abgesandt hat.
Noch einmal erscheint 1814 de Laspee bei Goethe, am 30. August, wo
im Tagebuch die kurze Notiz steht: „De la Spce Pestaluzziana."
Im Jahre 1815 wurde die Verbindung zwar wieder angeknüpft, aber sie
beschränkte sich auf zwei Besuche, und es war nicht die Schule, die sie herbei-
führte, sondern die Schülerinnen, von denen eine die folgende schöne Erzählung
niedergeschrieben hat; sie nennt sich D. St. geb. Cr., was ohne Zweifel zu
deuten ist als Dorothea St.«") geb. Cramer; Dorothoa Sophie hiess die jüngste,
zu Idstein Ch. W. Snell, ein verdienter und in hohem Ansehen stehender Schulmann, deu fCr
sich zu gewinnen de Laspee äusserst wichtig war; deswegen lud er ihn damals zu der öffent-
lichen Prüfung ein mit dem lockenden Zufügon, er werde dann aueh Goethe kennen lernen;
8nell jedoch lehnte ab und bedauerte nicht kommen zu können. Schreiben vom 24. August.
Wir werden nioht irren, wenn wir annehmen, dass er froh war einen Grund zur Ablehnung
zu haben.
**») Staatsarchiv zu Wiesbaden ; VorordnungBbl. von 181">. — *»*) S. Boisser«>e 1, 2«0.
- Den Namen ihres Mannes war bis jet/.t nicht möglich au>uiidig zu machen.
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am 29. Dezember 1801 geborone Tochter Gramere und war Schülerin de Laspees.
Goethe erwähnt den Vorfall am 23. Juni 1815 mit dem Namen, den wir denn
auch der Episode geben wollen:
„Gedicht für die Kinder.*
„Bekanntlich, so erzählt D. St."*), hatte de l'Aspee, einer der besten
Schüler Pestalozzis, in Wiesbaden eine Elementarschule gegrüudet, welche ich
ID. St. geb. Gr.] mit mehreren meiner Gespieliunen besuchte. Um den Namens-
tag [24. Juni] ■") unseres hochverehrten und inniggeliebten Lehrers zu feiern,
hatten wir einmal einige Zoilen aufgesetzt, in denen wir ihm unsere Glück-
wünsche darzubringen gedachten. Da taucht plötzlich in uns der Gedanke auf,
dass Goethe sich vielleicht bewegen Hesse unsere Zeilen in Verse umzusetzen.
Schüchtern naht sich die Kinderscbaar dem grosseu Manne und trägt ihm ihr
Anliegen vor, indem sie ihm die niedergeschriebenen Sätze übergibt. Darauf
erwiederte Goethe erst mit einem gelinden Verweise, dass wir ihm ein zu
kleines Stück Papier gebracht hätten; man müsse, fügt er hinzu, stets auf
einem grossen Stück Papier beginnen, der kleine Raum beenge die Gedanken.
Nachdem wir hierauf ein grösseres Blatt herbeigebracht, schrieb Goethe, während
wir ihm staunend zuschauten, in kurzer Zeit auf dasselbe einige Strophen,
welche den Inhalt unserer Worte wiedergaben. Noch heute sehe ich im Geiste
den grossen Mann, wie er erst einzelne Worte in angemessenen Zwischenräumen
niederschrieb und dann die Silben mit der Federspitze zählend die Lücken all-
mählich ausfüllte; zuletzt zeichnete er unter die Verse eine aufgehende Sonne
und schrieb auf ihre Strahlen unsere Namen, die er sich von uns nennen Hess."
Wieder ein Beweis für das gute Herz des grossen Dichters, das den
Kindern soviel Vertrauen einflösste, dass sie es wagten ihn mit ihrer Bitte an-
zugehen, ihn aber dazu trieb darauf einzugehen! Es war wohl noch den
Mädchen im Gedächtnis, wie aufmerksam und teilnehmend er im verflossenen
Jahre dem Unterricht in der Schule und der Prüfung beigewohnt hatte; dazu
ermutigte sie der zwanglose heitere Verkehr mit Gramer, in dessen Hause er
sicherlich oft auch Dorothea gesehen und mit ihr gescherzt hatte. Diese wird
denn auch unter die Anstifter ihres Unterfangens gehört haben.
Das Gedicht für die Kinder hat sich leider nicht erhalten; die Nachkommen
de Laspoes versichern, dass sich unter dessen nachgelassenen Papieren nichts
vorfinde, das so genannt werden könne. Damals gab es Veranlassung, dass
der Verkehr wieder angeknüpft wurde; de Laspee besuchte Goethe am 1. Juli,
wohl um ihm für seine Teilnahme und Mitwirkung zu danken, Goethe erwiederte
den Besuch am 10. Juli. Und damit endete für dieses Mal uud für immer
sein Verkehr mit de Laspee.
Indessen kam Goethe noch einmal zu Wiesbaden auf das, was er in der
Schule de Laspees gesehen und gehört hatte zurück, eine Episode, die S. Bois-
'*•) Die ErzUilung ist abgedruckt in Picks Monatsschrift I (1875), 287. — n1 ) Also
fallt, wie auoh du Tagebuch angibt, der Vorfall in das Jahr 1815; am 24. Juni 1814 war Goethe
noch nicht in Wiesbaden.
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seree erzählt"') und die wir mit dessen Worten hier wiedergeben wollen; bei
ihr spielt wieder eine Tochter Cramers eine Rolle und zwar eben diese Dorothea,
als sie eine Probe ihrer Rechenkunst, die sie nach Pestalozzischer Methode
erlernt hatte, ablegte. Dass es Dorothea war und nicht eine andere der
Cramerischen Töchter, geht daraus hervor, dass diese, wie wir bald sehen werden,
nicht die Pestalozzisohe Schule besucht hatten, und wenn Boisseree sie als etwa
sechzehnjährig bezeichnet, so beruht dies auf einem Irrtum; sie war im August
1815 noch nicht volle 14 Jahre alt.
Die Rechenkunst der Dorothea Cramer.
„Abends [am 5. August 1815], berichtet Boisscr6e, war ich mit Goethe
und Oberbergrath Cramer auf dem Geisberg, es wurde oben gezecht in der
Schenke ... Ein Schwager von Cramer aus Hanau kam nach; das Töchfercheu
des alten Oberbergraths, etwa sechzehn Jahre alt, führte ihn zu uns, ein ganz
einfaches, frisches Kind. Goethe neckte sie mit ihrer grossen Pestalozzischen
Rechenkunst, erzählte uns von der Schule hior und Hess dem Mädchen keine
Ruhe, bis sie sich selbst eine algebraische Aufgabe, aber in Zahlen gab und J l
die Auflösung machte. Es war eine verwickelte Aufgabe, drei unbekannte
Zahlen, von denen nur die Verhältnisse unter sich angegeben waren. Mir
wurde ganz schwindelig bei der Auflösung; vorerst war es einmal nicht möglich
zu folgen, dann aber die Bestimmtheit, die Förmlichkeit, womit das Kind die
trockenen Dinge aussprach, die man sonst nur in den mathematischen Hörsälen
zu hören kriegt, und wie sich dies arme Köpfchen was darauf zu gut that, mit
den hohlen Zahlen und Verhältnissen herum zu wirthschnften; wie es selbst
mit über diese Kunst sprach und vernünftelte, warum es Elementarunterricht
genannt werde, da es doch, wie Goethe bemerkte, ganz darüber hinausgehe,
weil jeder selbst finde und erfinde; endlich über Buchstaben-Rechnungen,
Gleichungen u. s. w. Das alles, mit der festen, schulmeisterlichen Haltung,
setzte mich wahrhaft in Schrecken."
Goethes Urteil über das Pestalozzische Wesen nach Boisserees
Mitteilungen.
„Als wir im Dunkel, so berichtet Boisseree weiter, gegen zehn Uhr nach
Hause kamen, klagte Goethe seinon Jammer über dies Pestalozzische Wesen.
Wie das ganz vortrefflich nach seinem ersten Zweck und Bestimmung gewesen,
wie Pestalozzi nur die geringe Volksklasse im Sinne gehabt, die armen Menschen,
die in einzelnen Hütten in der Schweiz wohnen und die Kinder nicht in die
Schule schicken können. Aber wie es das Verderblichste von der Welt werde, sobald
es aus den ersten Elementen hinaus gehe, auf Sprache, Kunst und alles Wissen
und Können angewandt werde, welches nothwendig ein Überliefertes voraus-
setze, und wo man nicht mit unbekannten Grössen, leeren Zahlen und Formen
zu Werk gehen könne. Und nun gar der Dünkel, den dieses verfluchte Er»
ziehungswesen errege; da sollte ich nur einmal die Dreistigkeit der kleinen
Buben hier in der Schule sehen, die vor keinem Fremden erschrecken, sondern
»»») 8. Boiaserle I, 259.
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ihn in Schrecken setzen! Da falle aller Respekt, Alles weg, was die Menschen
unter einander zu Menschen macht. Was wäre aus mir geworden, sagte er,
wenn ich nicht immer genöthigt gewesen wäre Respekt vor Andern zu habeu.
Und diese Menschen mit ihrer Verrücktheit und Wuth, alles auf das einzelne
Individuum zu reduciren und lauter Götter der Selbstständigkeit zu seyn; diese
wollen ein Yolk bilden und den wilden Schaaren widerstehen, wenn diese ein*
mal sich der elementarischen Handhaben des Verstandes bemächtigt haben,
welches nun gerade durch Pestalozzi unendlich erleichtert ist. Wo sind da
religiöse, wo moralische und philosophische Maximen, die allein schätzen können?
Er fühlte recht eigentlich einen Drang mir über alles dieses sein Herz auszu-
schütten, und ich selbst war von all diesem voll, es sprach mich gleich an,
wie eine Meldung des jüngsten Tages, und die Furcht vor den Russen war
mir beim Namen Sievers, den Cramer als einen der schärfsten Prüfer und
grössten Rühmer der hiesigen Schule genannt hatte, in ihrer ganzen Macht
aufgegangen. — So führten wir uns wechselseitig in das Gespräch hinein, und
Goethe bat mich wiederholt um Gotteswillen, nicht in die Schule zu gehen,
ich würde zu sehr erschrecken. Cramer hatte mir schon vor seiner Rückkehr
gesagt, dass ihn das Pestalozzische Wesen ausserordentlich interessire und er
immer davon spreche."
Wir dürfen wohl annehmen, dass von diesem verwerfenden Urteil der
grössere Teil Boisseree angehört; er hat den Funken in Goethes Seele zum
hellen Brande angefacht und in seinem Sinne uns vorgeführt; Goethe hatte
sicherlich nur die Ausartungen und verkehrte Anwendung treffen wollen, die
jode neue Erscheinung mit sich zu führen pflegt. Indessen finden sich Stellen
namentlich in den „Wanderjahren*, die zu den oben ausgesprochenen Äusserungen
stimmen, wie wenn er der Ehrfurcht eine so grosse Bedeutung für die Er-
Ziehung beilegt, überhaupt den Weg und das Ziel derselben dort ganz anders
gestaltet haben will, als durch blos formale Schulung erreicht werden kann.
Auch in den Gesprächen mit Kanzler v. Müller ist er nicht ein Freund der
mathematischen Methode. .Die Mathematik, sagt er"'), steht ganz falsch im
Rufe untrügliche Schlüsse zu liefern. Ihre ganze Sicherheit ist weiter nichts
als Identität; 2X2 ist nicht vier, sondern es ist eben 2X2, und das nennen
wir abgekürzt vier . . . Die Pythagoreer, die Platoniker meinten Wunder, was
in den Zahlen stecke, die Religion selbst, aber Gott muss ganz anderswo
gesucht werden." —
Johannes de Laspee leitete seine Anstalt bis zu seinem Tode, der am
20. März 1825 eintrat, geehrt von seinem Fürsten, hochgeachtet von allen, die
mit ihm in Berührung kamen.
10. Pbilippine Lade.
Das für Frauenschönheit und Frauenliebe leicht empfängliche Herz des
damals 65jährigen Dichters fand auch in Wiesbaden Gelegenheit, wenn auch
nicht in hellen Flammen zu entbrennen, so doch eine zarte Neigung zu einem
**»; tturckli»rdt, Unterhaltungen mit Kanzler v. Müller, 8. JÜ.H.
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jungen Mädchen zu fassen, das er im Hause des Oberbergrates Cramer kennen
lernte. Dieser hatte ausser der im vorigen Abschnitte genannten Dorothea
noch mehrere ältere Töchter, von denen zwei, Luise und Sophie, damals etwa
18 Jahre zahlten; sie hatten die Friedrichsschule* 60 ) besucht, welche, aus der
alten Lateinschule hervorgegangen, auch Madchen ihre Bildung gab und sie
mit dem 14. Lebensjahre entliess; mit dieser Entlassung war gewöhnlich nach
nassauischem Brauche die Konfirmation verbunden. Die beiden Töchter Cramers
wareu im Jahre 1810 konfirmiert worden und am 7. Mai 1810 aus der Schule
geschieden. Ihnen und ihren Mitschülerinnen widmeten bei der Entlassung
aus der Schule ihre Lehrer folgende, gut gemeinte
„Letite heilliche Worte 1 "):
Erfüllet redlich Eure Pflicht
Und hoffet dann mit Zuversicht:
Gott sorgt mit Vaterliebe!
Zu ihm erhebet Euren Blick!
Kr gorgt für Eurea Lebens Gluck,
Wftr' auch der Himmel trübe.
Gehorchet nicht der Sinnlichkeit!
Gehorchet Gott! Was er gebeut,
Ist, wenn Ihr folgt, Euoh Segen.
Von drohenden Gefahren fern
Fahrt auf der Bahn der Tugend gern
Er Euch dem Glück entgegen.
Gott theilt Euch seinen Beistand mit;
Drum gehet stets mit festem Schritt
Fort auf d om Pfad der Tugend !
Die Lust verführt, — die Tugend nie;
Ein guter Gott belohnet sie.
O ehrt sie in der Jugend!
„Gott, Ihre goldne Jugendzeit
Flieh edel hin snir Ewigkeit!
Lehr* Sie die Weisheit wühlen!
Mach' Sie zum Dienst der Welt bereit!
Laas Tugond, Fleisa und Frömmigkeit
Nie Ihrem Leben fehlen!"
Die Namen der Schülerinnen waren: Johanne Bönning, Luise und
Sophie Cramer, Christiane Frey, Luise Menke, Charlotte Niess, Amalie
Pfarrius, Wilhelmine Schmidt.
Nur wenig jünger als die Töchter Cramers war Philippine Lade 5 "),
welche sie in der Schule mochte kennen gelernt haben und mit ihnen befreundet
blieb. Sie war am 8. Februar 1797 geboren und wurde im Jahre 1811 kon-
,c0 ) Vgl. des Verfassers Geschichte der Friedrichsachnle, Orterprogramm des Kgl. Gym-
nasiums au Wiesbaden 1880. — *") Ein Exemplar des seltenen Gedichte» befindet sich im
Besitz des Verfassers dieser 8chrift. Wir fügen es hier ein, weil es für dio Zeit diarakte-
rirtiscb ist; Verfasser ist wohl der Rektor der Schule, Schellonberg. — *«*) Vgl. oben 8. 01
Aum. 15 Uber die Aussprache des Nsmens.
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firmiert. Ihr Vater, Christoph AuguBt Lade, war herzoglicher Hofkammer-
schreiber gewesen und lebte nunmehr ala Pensionär in Wiesbaden, wo er ein
eigoes Haus in der Nähe des früher städtischen Wirtshauses zum goldenen
Löwen bosass, nicht fern von der Wohnung des Oberbergrats. Als am 30. Nov.
1813 das Yorksche Offizierskorps einen Ball veranstaltete, dem auch der König vou
Preusaen beiwohnte, war Philippine gleichfalls anwesend und hatte die Ehre u. a.
mit dem Feldmarschall Blücher zu tanzen, dem sie, da er durch einen Fehltritt
bei dem Tanae in die Knie gesunken war, wieder auf die Füsse half.***)
Nicht viel später, im September des Jahres 1814, hatte sie abermals die
Ehre, wenn auch nicht in der Gesellschaft von Königen und grossen Heer-
führern sich zu bewegen, so doch die Aufmerksamkeit eines Königs im Reiche
der Dichtkunst auf sich zu ziehen, zunächst nicht durch ihre Schönheit, son-
dern durch ihre klangvolle Stimme. Das Tagebuch erwähnt ihrer zwar nicht
im Jahre 1814, aber ein Brief Huodeshagens vom 5. Februar 1815 sagt** 4 ),
dass sie das Glück gehabt habe die letzten Stunden in Wiesbaden zu ver-
schönern; danach würde die Bekanntschaft Goethes mit ihr gegen das Ende
seines Aufenthalts, nach der Rückkehr aus dem Rheingau, vielleicht erst auf den
lt. September zu setzen sein.
Über ihren Verkehr mit Goethe liegen zwei Berichte vor, von Goethe
selbst ein kurzer in den Gesprächen mit Kanzler v. Müller und ein längerer
von M. Belli-Gontard in der Didaskalia, dem belletristischen Beiblatt zum Frank-
furter Journal, zu denen Creizenach in dem Briefwechsel von Marianue
v. Willemer mit Goethe einige Zusätze gibt. Wir wollen die beiden vollständig
hier mitteilen, Creizenachs Zusätze und unsere eigeuen Bemerkungen an
passenden Stellen einfügen.
Am 12. Mai 1815 also erzählte Goethe dem Kanzler v. Müller „von einem
reizenden jungen Mädchen, der Tochter eines Sekretärs bei irgend einem De-
partement zu Wiesbaden, die die höchsten Anlagen zur Deklamation und zum
theatralischen Spiel besitze. 8ie habe ihm den Wassertaucher [Taucher von
Schiller] vordeklamiert, aber mit zuviel Malerei und Gestikulation, darauf habe
er sie statt aller Kritik gebeten es noch einmal zu thun, aber hinter dem
Stuhle stehend und dessen Lehne mit beiden Händen festhaltend. Das schöne
Kind habe bald Absicht und Wohlthat dieser Bitte empfunden und lebhaft
dafür gedankt. Verwechsle man doch nicht, schloss er, epische Darstellung mit
lyrischer oder dramatischer."
Der zweite Bericht ist ausführlicher und lautet also:
„Philippine war zu Besuch bei den beiden Töchtern des Bergrath Cramer
in Wiesbaden und die drei jungen Mädchen allein im Zimmer. Plötzlich geht
die Thüre des Nebenzimmers auf uud in derselben steht ein alter schöner Herr.
— „Ei, sprach er, das ist ja eine hübsche junge Gesellschaft; es war da eine
Stimme, die mich anzog." Darauf erkundigte er sich bei der einen der beiden
Schwestern, ob sie sänge, und auf ihre bejahende Antwort ersuchte er sie um
M> ) Brief vom 4. März 1814 im Wieab. Tagblatt 1882, Xo. Hl, 8. 16. - »•«) Goethe-
Jahrb. VI, 127. Vgl. die Antwort Goethes weiter unten.
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ein Lied. Auch die zweite raupte singen, Fräulein Lade aber antwortete,
dass sie nicht musikalisch sei. „Das ist die Stimme, rief Goethe sogleich nach
diesen Worten und dann fragte er: „Kennen Sie die Werke Goethes?" —
„Nein, antwortete sie, sie ziehen mich nicht an." — „So! [Zusatz Creizenachs:
»Nun ja, für so liebe kleine Wesen sind auch meine Sachen nicht."] Welchen
Schriftsteller lieben 8ie denn ganz besonders?" — „Schiller, rief Fräulein Lade,
den liebe ich über alles. Ich kenne das Meiste von ihm auswendig." — „Iloho,
meinte Goethe, dann deklamieren Sie mir einmal etwas, z. B. den Anfang der
Braut von Messina." Fräulein Lade errötete betroffen, begann aber: „Nicht
eigne Wahl" u. s. w. und sprach den ganzen Monolog ohne Anstoss. Goethe
klatschte Beifall und bat sie dann noch um den Taucher.
„Nachdem sie auch diese Ballade gesprochen, bemerkte Goethe, ihre Be-
wegungen mit dem Arm seien zu heftig gewesen, bei einer Ballade passe sich
das nicht. Sie musste wiederholen und dabei eine Stuhllehne festhalten; bei
den Hauptscenen jedoch wackelte der Stuhl gewaltig.
„An dem Tage musste Fräulein Lade stets an Goethes Seite bleiben und
bei Tisch neben ihm sitzen, wodurch sie, obwohl noch im Alter des Back-
fisches, ein Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit wurde.
„Goethe beschäftigte sich von da an viel mit Fräulein Lade. Es war
im Jahre 1814, er gebrauchte die Kur in Wiesbaden und hatte seinen eigenen
Wagen bei sich. Täglich fuhr er mit ihr spazieren und nahm sie mit ius
Theater. Dann musste sie ihm ihre Meinung ssgen, wenn ihr etwas gefiel
oder missfiel und w esshalb, wobei er sich dann angelegen sein Hess ihren Ge-
schmack zu läutern und zu bilden. Natürlich gewann er dadurch an dem
jungen Mädchen eine enthusiastische Verehrerin."
Wir unterbrechen hier den Bericht, um eiuige Bemerkungen und Ein-
schränkungen zu dem zuletzt Gesagten zu machen. Soweit sich dieses auf das
Jahr 1814 bezieht, kann nicht davon die Rede sein, dass Goethe sich viel mit
Fräulein Lade beschäftigte und oft mit in das Theater nahm. Denn damals,
wie auch im folgenden Jahre, besuchte er das Theater selten, im Jahre 1814
nur einmal. Sodann hatte er sie am Ende seines Aufenthaltes von 1814 kennen
gelernt, wie er in der Antwort auf den Brief Hundeshagens selbst berichtet.
Auf eine Sendung Goethes hatte dieser am 15. Februar erwidert: „Da sich
der schätzbare Inhalt theilen liess, so konnte ich dem Lüsten nicht widerstehen
denselben mit der artigen Deklamatrice zu theilen, wolche das Glück hatte
u. s. w. u Darauf erwidert Goethe: „Dass Sie Ihre schöne Mitbürgerin au
mich erinnern und von den übersandten Gedichten vielleicht Einiges aus ihrem
Munde hören wollen, weiss ich recht sehr zu schätzen; sagen Sie dem lieben
Kinde, dass ich bei mancher Rollenvertheilung an sie denke und mich freue
nächsten Sommer nicht in den letzten, sondern in den ersten Tagen meines
Aufenthalts zu Wiesbaden ihrer angenehmen Gegenwart zu gemessen."
Sodann ist die Bemerkung, dass Goethe einen eigenen Wagen gehabt
habe, höchst verdächtig; er hatte nicht einen eigenen Wagen, sondern machte
seine Spaziergänge zu Fuss; nur zu den kleineren Ausflügen mietete er einen
Wagen, der nach Schlossers Versicherung leicht und nicht teuer zu beschaffen
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war. In einem solchen mag Philippine den Dichter nach der Papier- oder
Klostermühle begleitet haben. Hätte er einen eigenen Wagen gehabt, so hätte
er bei der Fahrt nach Rüdesheim anspannen lassen, nicht aber, wie er er-
zählt, einen Wagen bestellen müssen.
Wenn unser Bericht und danach Creizenach damit schliesst, dass Goethe
bei seinem zweiten Abschiede von Wiesbaden am 4. August 1815 dem Kammer-
schreiber Lade das Versprechen abnahm ihn mit seiner Tochter in Weimar
zu besuchen, so kann — ganz abgesehen von dem falschen Datum — dies
nur im September 1814 geschehen seiü, aus dem einfachen Grunde, weil Lade
im August 1815 schon ein Vierteljahr lang tot war; denn er war am 26. Mai
desselben Jahres 70 Jahre alt gestorben. Aus demselben Grunde ist es kaum
glaublich, dass schon am Tage nachhor, am 27. Mai. dem Tage seiner Ankunft,
Goethe die junge Freundin gesehen hat; wenn hier im Tagebuch ihr Name
steht, so wird das zu bedeuten haben, dass er sich sofort nach ihr befragte
und die Mitteilung des Trauerfalles in ihrer Familie entgegennahm, nicht dass
er sie sofort etwa zu sich beschieden oder sie ihn von selbst besucht hat.
Erst am 19. Juni erscheint sie bei ihm mit einer verheirateten Schwester,
dann am 6. Juli zu dem Ausflug auf den Nürnberger Hof, wie das Tagebuch
zu diesem Tage bemerkt, den aber unser zweiter Bericht, zu dem wir nun-
mehr zurückkehren, zu einer Landpartie nach Georgenborn macht.
.Auf einer Landpartie nach Jörgenborn bei Schlangenbad [also richtiger:
auf den Nürnberger Hof] musste Fräulein Lade wieder neben ihm im Wagen
sitzen und da sie spater eine Skizze nach der Natur machte, wünschte er diese
zu sehen und fing an zu kritisieren. , Ach! Sie können alles besser machen
als ich", rief sie, nahm ihm das Blatt aus der Hand und zerriss es, wahrschein-
lich ein wenig gereizt. „Aber eins kann ich, was Sie doch nicht können,"
und damit lief sie rasch einen steilen Weinberg hinan. Goethe ihr nach. Auf
der Höhe aber stolperte er und fiel an dem steilen Abhang zu Boden. Mit
beiden Händen klammerte er sich an, bis auf des jungen Mädchens Geschrei
einige Herren von der Gesellschaft herbei eilten und ihn aus seiner gefährlichen
Lage befreiten. Fräulein Lade zerfloss in Thränen, Goethe aber lachte und
suchte sie zu beruhigen."
Schliesslich wollen wir nicht unterlassen zu bemerken, dass die Legende,
Hundeshagen habe sich um Philippinens Hand beworben, schon frühe'r als Irr-
tum erwiesen ist" 5 ); sie blieb un vermählt und erreichte ein hohes Alter.
Noch einmal, am 9. August 1815, steht ihr Name im Tagebuch; ea war
der letzte Abend, den Goethe bei Cramor zubrachto, und der Abschiedsschmaus,
zu dem sie auch zugezogen war; man war guter Dinge und trennte sich spät.
Das Verhältnis Goethes zu Philippine war hervorgerufen durch ihre An-
lage zu Deklamation und theatralischer Darstellung, die joner sofort erkannte
und vielleicht auszubilden und für die Weimarer Bühne zu verwerten gedachte;
desshalb wird er sie eingeladen haben ihn zu Weimar zu besuchen, wo sie
vollendete Vorbilder auf der dortigen Biihue seheu und dadurch selbst zu dem
üoethe Jahrb. a. a. Ü.
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Wunsche nach Volle ü du Dg veranlasst werden konnte. Eine tiefere Neigung
entwickelte sich nicht zu dem jungen Mädchen, das durch die grösseren Vorzüge
einer Marianne v. Willemer bald in Schatton gestellt wurde.
11. Gerbermoistor Behringer u. a.
Das Bild, welches wir von Goethes Verkehr eutworfen haben, würde un-
vollständig sein, wenn wir eine Unterredung mit dem Gerberraeistcr Bohrtngcr
zu erwähnen unterlassen und einiges Gleichartige übergehen wollten, das er im
Tagebuch anmerkt.
Behringer war der Nachbar Brentanos zu Winkel; als Goethe sich da-
selbst aufhielt, unterhielt er sich mit ihm am 6. September 1814 und fragte
den mitteilsamen Manu über sein Gewerbe und den Weinbau aus. Was er
von ihm erfuhr, hat er in dem Supplement zum Rochusfost kurz verzeichnet;
im Tagebuche ist fast nur mit blossen Substantiven notiert, was dort doch
wenigstens in Sätzen niedergeschrieben ist. Wir wollen hier den Wortlaut des
Tagebuchs wiedergeben; er lautet also:
»Zu Mittag Nachbar Behringer Gerber meister. Über Eichen wuchs, 13
bis 14 Jahre, schälen der jungen Eichen. Schaale aller Orten hergehohlt, über
Heidelberg!,] bey Trier, Erleichterung durch Wasserfracht. Häutef,] Nord-
amerikanische auch während des Krieges über Frankreich. Anstalteu von
Mühlen u. s. w. Zeit des Garwerdens. Sprichwörter und Redensarten. Wein-
bau, Mühe, Vortheile." 6 ) Gewinn, Verlust, Zohcnte. Ao 1811 wurden in
Winkel 800 8tück Wein gebaut. Spätes Lesen. Streit zwischen armen und
Reichen. Vorzüge des Johannisberges.*
Und wie er hier Redensarten und Sprüchwörtor sammelte und sie in
seinem „Rochusfeste* niederlegte, so findet sich im Tagebuch folgendes der
Art aufgezeichnet:
31. Juli. „Trunkener Bauer, der zum König von Wirtonborg sagt:
Vor allem nehmen sie sich vor dem eilfer in Acht."
An demselben Tage: „Jodein was er will[,] es ist noch einmal so viel.*
31. August: „Morgens rund,
Mittags gestampft,
Abends in Scheiben,
Dabey will ich bleiben.
(Cartoffeln.) 1 "*)
An demselben Tag: „Kein Kupfergang so gut,
Er hat einen Eisernen llut. u
Der erste von den beiden letzten Sprüchen wird im „Rochusfeste* einem
Bergbewohner, also doch offenbar aus der Nahegegend, mit etwas verändertem
Schlüsse in den Mund gelegt. Wenn Goethe aber ihn allein mit den darauf
folgenden vom Kupforgang in das Tagebuch und zwar unter dem 31. August
***) Über den Weinbau, seine Mühen und Erträgnisse u. s. w. 1. O. Sartorius, Der
Weinbau in Sassau, Berlin 1871. - **"•) Vgl. Goethe-Jahrb. IX, 227.
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irss
setzte, so imias es mit der Herkunft und Heimat derselben eine andere Be-
wandtnis haben. Der zweite ist ein Bergmannsspruch, der einer Mitteilung Cramers
— am 30. August — entstammen mochte und daher sicherlich dessen Heimat,
dem Westerwalde, angehörte. Warum nicht auch der Spruch auf die Kartoffeln,
zumal da der Wcsterwälder ein Liebhaber derselben ist und sie in den vor*
schiedonsten Arten der Zubereitung zu gemessen liebt? Dass der Dichter ihn
nachher frei verwendete, darf keinen Anstoss erregen und ist sein Hecht.
Als am 1. September geschrieben findet sich die Winzerrogel :
„Wiesbaden den 1. September 1814.
Was der August nicht thut,
Macht der September gut."
Vgl. die Weimarer Ausgabe von Goethes Werken V, 4, 247.
9. Störungen nnd Unterbrechungen des regelmässigen Kurlebens.
a. Im Jahre 1814.
Wir haben oben gehört, dass Goethe die Kur im Jahre 1814 zu Wiesbadon
ernstlich und regelmässig durchmachen wollte, dass es aber auch nicht an
Störungen und Unterbrechungen fehlte; dieselben mussten wir auch schon bei
einzelnen Gelegenheiten berühren. Nunmehr sollen sie im Zusammenhang be-
sprochen werden.
1. Die erste Störung trat im Jahre 1814 sehr bald nach Beginn der Kur
ein, am 3. August, dem Geburtstage des Königs von Preussen, der zum ersten -
male nach der Befreiung des linken Rheinufers von französischer Herrschaft
in dem neugewonnenen Mainz gefeiert werden sollte. Dazu lud der Kommandant
dor Stadt, der preussische Oberst v. Krauseneck MT ), am Tage vorher Goethe
ein, und dieser glaubte Folge leisten zu müssen ; Zelter begleitete ihn am Morgen
des 3. August dorthin. Nachdem er an der „Funktion*, d. h. der militärischen
Feier des Tages auf der neuen Anlage teilgenommen und sich dabei an der
„herrlichen Nähe des Rheines" erfreut hatte, besuchte er den Kommandanten,
die Zitadelle, das Kasino und fand sich dann bei dem Festesseu ein. Es folgte
ein Feuerwerk, das er verpasste 5 "*) und der Festball, auf dem er jedoch nicht
lange aushielt. Von neuen Bekanntschaften nennt er: „die Österreicher* Gouver-
neur Johann Freiherr v. Frimont, Feldzeugmeister und General der Kavallerie***),
den Generalfeldwachtmeister Heinrich Graf Hardegg und den Generalfeldwacht-
meister August v. Swrtnick* 7 *); die „Preussen* Prinz Ludwig von Hessen -
Homburg, Generallieutenant und damals Gouverneur von Luxemburg (von 1829
Der Oberst Wilhelm Johann t. Krauseneok (1775—1850; trat aua Anspaofaiscfaen
Diensten in die preussisohen ein und schied im Jahre 1848 als Genera) der Kavallerie aua
denselben. Sohuning, Die Generale der preussisohen Armee, S. 239. Poten, Handwörter-
buch V, 291. — ***) Goethe gebraucht dieses Wort in dem doppelton 8inn: harrend an sich
vorbeigehen lassen, z. B. ein Gewitter — und harrend Terabs&uincn. W aIcker, Gr. Deutsches
Wörterbuch XII, 958. — ***) Die genauere Bezeichnung der Stellung ist dem Staats-Adress-
handbuch der teutochen Bundesstaaten für das Jahr 1816 entlehnt — 1T0 ) Goethe schreibt
Cwertenic.
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bis 1880 war er regierender Landgraf von Hessen-Homburg)"'), den juogon
Prinzen Leopold Friedrich von Anhalt-Dessau (1794—1871), welcher seinem
Gross vater im Jahre 1817 in dor Regierung nachfolgte; er hatte den Feldzug
von 1813 — 1814, aber im österreichischen Heere, mitgemacht*'*); endlich den
Obersten Krauseneck; zuletzt die „Mainzer" F. J. Bodmann'"), den bekannten
öoschichtsforscher und Sammler von Urkunden, und den Freiherrn v. Jungen-
feld. Am 4. August kehrte er über den „bewegten Rhein" nach Wiesbaden
zurück, nachdem er noch den befreundeten Hauptmann v. Luck gesehen hatte.
Um 8 Uhr trat er den Heimweg an.
2. Zum 15. August bemerkt das Tagebuch: „Einfall nach Rüdosheim zu
gehen. 11 ') Anstalten dazu. Mit Zelter zu Hause gespeisst. Mit ihm und Cramer
nach Tischo abgefahren." In Übereinstimmung damit ist nach der Erzählung
im „8. Rochusfesto** dieser Ausflug plötzlich beschlossen und ausgeführt worden;
nur darin weicht diese ab, dass nach ihr der Mittag schon vorbei war, als die
Anstalten getroffen wurden. „Vertraute gesellige Freunde, heisst es hier,
welche schon Wochen lang iu Wiesbaden der heilsamen Kur genossen, empfanden
eines Tages eine gewisse Unruhe, die sie durch Ausführung längst gehegter
Vorsätze zu beschwichtigen suchten. Mittag war schon vorbei und doch ein
Wagen augenblicklich bestellt, um den Weg ins* 7 *) angenehme Rheingau zu
suchen.* Es war also ursprünglich nicht die Absicht, wie aus beiden Dar-
stellungen hervorgeht, etwa dem bevorstehenden Rochusfest, das in diesem
Jahr wieder zum erstenmale nach der französischen Zeit und mit besonderem
Qlanze gefeiert werden sollte, beizuwohnen; erst als die drei Freunde in Rüdes-
heim die grossartigen Vorbereitungen zu dem Feste und die fröhliche Stimmung
der Menschen über die wieder ermöglichte Feier des folgenden Tages sahen
und man ihnen grosse Freudo und grossen Genuss bei der Teilnahme in Aus-
sicht stellte, beschlossen sie sich der Menge anzuschliessen und den ohnehin
anlockenden Aussichtspunkt des Rochusberges aufzusuchen. Da der Meister
selbst in anmutiger formvollendeter Darstollung eine Beschreibung des Festee
uns hinterlassen hat, so kann es nicht unsere Absicht sein einen ausführlichen
Bericht über seine Erlebnisse und Beobachtungen hier zu geben; man muss
dies alles bei ihm selbst nachlesen und dazu das lobcnsvolle Bild von dieser
Gegend des Mittelrheins und dem regen Thun und Treiben der Menschen da-
selbst nehmen, welches der rheinische Dichter August Ammann in dem lieder-
reichen Büchlein „der Rochusberg bei Bingen am Rhein. A. Koch, Darmstadt
1893" gezeichnet hat. Wir wollen nur einiges herausheben, was zum Teil
dem Tagebuch entnommen ist.
Durch die gesegneten Fluren des Rheingaues wurden unsere Reisenden
rasch dahingetragen; für jede Stadt, für jedes Dorf und jedo Villa hat Goethe
ein freundliches Wort, für Besonderheiten stets offene Augen. Nach 8 1 /* Stunde
"') Derselbe, welcher oben 8. 102 vorkam. Schwarte, Landgraf Friedrich V. too
flessen-Hoinburg III, 74. — m ) Allg. Deutecho Biogr. — * u ) Das Tagebuch schreibt Both-
mann. — *") Vgl. Dttntzer, Goethe and die Kochuskapelle. Manch. Allg. Z. 1883, Nu. 3HU
u. 361. — *'*;» Der Utere, »Schliche Gebrauch des Wortes Rheingau ist am Mittelrhein allge-
mein QbHch geblieben; das Volle sagt hier gewöhnlich das Rheingau.
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ist Rüdesheim erreicht, wo das Gasthaus zum Adler"') sie aufuimmt. Der
Bcamto des Orts, Hofrat Götz (s. oben), wohl mit Gramer als Sammler von
Mineralien bekannt, gesellt Bich zu ihnen und mag ihr Führer bei dem Spazier-
gang am Rhein, zu der Burg des Grafen von Ingelheim, aber auch zu der
besten Quelle des Elfers, den man kostete, gewesen sein; deun dieser stand
damals auf der Höhe seiner Güte, und von ihm, einem „ Hauptjahr* entsprossen,
hiess es, er sei „vorzüglich gut und viel gewesen, wie seit Jahren nicht."*")
Aber auch für wissenschaftliche Belehrung sorgte Götz, wie wir oben gesehen
haben. Nachdem die drei Freunde am folgenden Tage unter seinem Geleitc
über den Rhein gefahren, den Berg erstiegen und unter der fröhlichen Menge
verweilt hatten, kehrton sie befriedigt zurück und fuhren nach freundlicher
Bewirtung durch ihren „Geleitsmann« noch am Abend desselben Tages nach
Eltville zurück, wo sie übernachteten. Der Morgen des* 17. August brachte
sie wieder, nach dem Besuche bei Habel (s. o.) nach Wiesbaden.
Die Eindrücke, welche Goethe auf dem Ausflüge empfangen, die Unter-
haltungen der Leute und die Reden, die er vernommen hatte, wirkten so
mächtig nach, dass er schon unterwegs den Gedanken fasste den Besuch des
Rochusberges litterarisch zu verwerten. In der Nacht vom 16. auf den 17. Aug.
hatte es stark geregnet und liess es rätlich erscheinen die Abfahrt von Eltville
zu verzögern. So fand sich für ihn in der Frühe des 17. noch Müsse „das
Schema des Rochusfestes", wie das Tagebuch sagt, zu entwerfen, und auch in
Wiesbaden „setzte er das Schema" fort; noch mehrfach holte er es in den
nächsten Tagen, am 19. und 2G. wieder hervor. Die Ausarbeitung jedoch er-
folgte erst im Jahre 18 IG wie auch die Stiftung des Rochusbildes, das er
„gelobt" und durch Luise Seidler zu Jena hatte ausführen lassen. Die all-
mähliche Entstehung und der Abschluss der Erzählung sowohl als des Bildes
lässt sich an der Hand des Tagebuchs genau verfolgen: jene wurde vom 25. Mai
1816 bis Ende des Jahres vollständig ausgearbeitet und ausgefeilt, gedruckt
im zweiten Heft des ersten Bandes „Über Kunst und Altertum", 1817, dieses
wurde wohlverpackt durch die fahrende Post den IS. Juli 1816 abgesandt,
nachdem ein Brief an die geistliche Behörde in Bingen wegen des Auspackons,
der Behandlung und des Gegenstandes des Bildes vorausgegangen war.
3. Eine dritte Unterbrechung erlitt der ruhige Gang des täglichen Lobens
durch die Ankunft des [GrussJHcrzogs Karl August von Weimar. Derselbe
gebrauchte in diesem Sommer das Bad zu Aachen; nm 2. August meldete ihm
dorthin Goethe seine Ankunft in Wiesbaden und empfing am 8. von ihm die
Ankündigung, dass er bald Aachen verlassen und nach Mainz kommen werde;
ein zweites Schreiben vom 16. gibt nähere Bestimmung über den Zeitpunkt.
„Ich eile Dich zu benachrichtigen, schreibt der Grossherzog, dass ich künftigen
Sonnabend den 20. von hier weg und gerade nach Coblenz reise, um den 22.
bei guter Essenszeit in Maynz zu seyn. Wo ich logiren werdo, weiss ich
nicht . . . Wir werden uns schon findou. Den 23. Nachmittags wollte ich
nach Biebrich uud Abends nach Wiesbaden gehen, um von dorten Visiten beim
* ia ) Im RochusfcBt heisat oe Kur Krone. - »") Sartoriua, a. a. 0. 8. 36.
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Minister v. Stein in Nassau, in Schlangenbad u. s. w. zu machen. Sehr freue
ich mich Dich wieder zu sehen. Lebewohl."*")
Der letzte Satz wie auch der ganze Ton des Briefes lässt klar das gauz
eigenartige Verhältnis erkennen, das damals zwischen dem Fürsten und seinem
Diener bestand und fortdauerte, bis der Tod es löste. Ein Jahr später spricht
sich Goethe in der Unterhaltung mit Boisseree am 8. August darüber also
aus' 7 '): „Was die Vorhältnisse mit Fürsten theuer und werth macht, sey das
beständige und beharrliche darin, wenn oinmal ein Vertrauen entstanden; so
zwischen ihm und dem Herzog. Durch allen Wechsel der Verhältnisse und
Gesinnungen durch habe der Herzog ihn immer denselben gefunden, gesehen,
dass er einen braven, ehrlichen Menschen an ihm habe und so sey der Herzog
uoch jetzt wie in ihrem ersten Freundschaftsverhältniss ; er habe ihm kürzlich
einen Brief geschrieben, ein Resultat seiner Leetüre während einer Unpäßlich-
keit, ganz wie aus jener Zeit so herzlich."
Lassen wir jetzt über die Tage des Zusammenseins das Tagebuch reden:
„[Am Nachmittag des 23. August] kam Geh. Secr. Vogel [Scatullier im Adress-
buch genannt]. Mit ihm nach Mainz." 0 ) Mit Serenissimo bis tief iu dio Nacht.
— 24. Mit Dr. Stark."") [Geh. Hofrat u. Leibarzt] nach Wisb. . . Mit Stark
die Brunnen und Bäder [besucht]. Die Gegend. Cursaal und Anlagen. Im
Cursaal mit Stark und Zelter. Kam der Herzog. In der Gesellsch. bis Nachts.
— 25. Mit Serenissimo. Zu Frl. Stein. Nach ßibrieh. Nach Hause. Ins Schau-
spiel. In den Cursaal. — 26. Mit Serenissimo. Graf Henkel. Briefe von Weimar
an Serenis. Fuhr der H(erzog) ab. [am Abend] An Sereuis. [nachgeschickt]
das Stunden Blatt der Estafette, nach Francfurt. u
Es waren anstrengende Tage, wenn auch der Verkehr mit dem fürstlichen
Gönner und Freunde noch so angenehme Stunden brachte. Die Kur stand
still, und es bedurfte einiger Tage, bis sie wieder aufgenommen wurde.
Es erhellt übrigens aus dem Mitgeteilten, dass Goethe den Grossherzog
weder zu dem Herrn v. Stein nach Nassau noch nach Schlangenbad und anderen
Orten begleitete, wie man angenommen hat.
4. Für die Kur hatte Goethe vier Wochen in Aussicht genommen; diese
waren mit dem Ende des August abgelaufen, und wenn er auch am 0. Sep-
tember noch einmal des Bades genoss, so bilden die Herbst tago im Rh ein -
gau, zu denen wir jetzt kommen, streng geuommen keine Unterbrechung,
sondern den Abschluss des Kuriebons. Indem wir jedoch auch auf sie noch
einen Blick an dieser Stelle werfen zu sollen glauben, wird es gcrado wio bei
der Rochusfahrt genügen die Tagebuchnotizen hierherzusetzen, da er selbst
in dem Anhang zum Rochusfeste sie ausführlicher aufgenommen hat; einige
anderweitige Mitteilungen werden beide ergänzen.
Am 1. September reiste Goethe zu der befreundeten Familie des Franz
Brentano, nach dessen Landsitz in Winkel am Rhein, und verweilte daselbst
acht Tage. Betrachten wir zuerst don Kreis, in den er dort eintrat. Wir
"») Briefwechsel des (irossherzogs Karl August mit Goethe, II. — ,J ») 8. Boisseree I,
264. - *">> Goethe »ehrieb irrtümlich Wisbaden statt Mainz. - * M f Dos Tagebuch hat Starke.
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lernen ihn kennen aus den Eintragen, welche die Mitglieder des Hauses in
das Stammbuch Goethes machten und die wir weiter unten mitteilen werden.
Das Haupt der Familie war Franz Brentano, Schöff und Senator von Frankfurt,
Sohn erster Ehe des nachmals mit Maximiliane von La Roche vermählten Peter
Anton Brentano. Seine Gemahlin war Antonia, Tochter des k. k. Hofrats
Johann Melchior v. Birkenstock, Beide haben wir schon unter den Frankfurter
Besuchen in Wiesbaden anführen müssen. Dann folgen im Stammbuch die
Namen der Kinder von beiden, Georg, Maximiliane, Josephine, Franziska uud
Karl, und die Frankfurter Verwandten, Vettern und Cousinen, Claudine, Sophie,
Franz und Ludwig Brentano, ferner Claudine Piautaz, die seit dem Tode der
Maximiliane Brentano (1703) die Erziehung der Töchter P. A. Brentanos gc-
loitet , '* , ) hatte, der Hauslehrer Wildfeyr und Pauline Serviere aus dem uns
bekannten Hause Serviere. Dazu traten für den ersten Tag als Gäste Zelter,
Christian Schlosser und der Frankfurter Arzt und kurerzkanzlerische Hofrat
Dr. Wenzel.'")
Das Tagebuch also berichtet: „1. September. Früh 7 Uhr aus Wiesbaden,
um 0'/» Uhr in Winkel. Bey Brentanos fand ich Zelter und Schlosser, aueh
Geheimerat Wenzel, Arzt und Accoucheur von Frankfurt. Nach Tische gingen
jene weiter auf 884 ) Bingen. Mit Brentanos und Wenzel fuhr ich auf Eibingen,
herab auf Rüdeshoira. Brömserisches Haus.* 85 ) Stadtkirche. Rückfahrt beym
schönsten Abend.* — Die Ausflüge am 2 , 3. und 4. September fehlen im
Tiigebuch, wir ergänzen sie in Kürze aus den .Herbsttagen": am 2. wurdo
Schloss Vollraths und Johannisberg besucht, am 3. Geisenheim, die Stätte des
kurz vorher säkularisierten und dann aufgegebenen Kapuziner-Klosters Not-Gottes,
der Niederwald, den man vom Jagdschloss aus bis zu dem Tempel durch-
wanderte, sich an den wunderbaren Aussichten erfreuend, am 4. die verfallene,
in ein Winzerhaus verwandelte Kapelle des h. Rhabanus ,M ), Weinheim am
anderen Ufer des Rheines, Niederingelheim, wo man die Reste des Palastes
Karls des Grossen aufsuchte.* 87 )
Das Tagebuch fährt fort: „5. August. Auf Rüdesheim. Im Kahn bey
wogigem Strome nach Bingen. Spaziergang. Gyps. Woher? Melancholische
Wirthin mit seltsamem Bewusstsein ihres Zustandes. Abfahrt. Rochusberg,
jone verfallenen Stationen. Rochuskapelle. Orgel. Weiche Orgel. Nonnen-
orgel. Herrliche, niemals genug zu schauende Aussicht. Gestein oben, unten.
Fahrt hinabwärts. Kempten lincks. Herrliche Chaussee. Leicht zu bearbei-
tender flacher Boden. Lincks ab von der Chaussee. Sand, junge Fichten.
Sanfte Höhen. Besserer Boden. Weinbau. Oberingelheim. Reinlich wohl
gepflastert. Wenig Menschen zu sehen. Altos weitläufiges Schloss. Kirche.
Ausgeraeiselt die Wappen der Grabsteine. Bunte Fenster. Weinhaus. Alter
M *) Creizenach, 8. 16. r > Anmerkung. - ,M ) Belli-Gontard IX, 18. — **) Auf
statt nach, ein am Rhein weit verbreiteter Provinzialismus, auch bei Goethe sehr gewöhnlich.
— w ) Ober die Burgen in Radesheim vgl. A. v. Cohausen in den Annalen des nass.
Vereins XX, II ff. — **•) Vgl. R. Görz in den Denkmälern aus Nassau, H. I, 39: Da« graue
Haut zu Winkel. — m ) Vgl. P. Clemen, Der karolingische Kaiserpalast zu Ingelheim. West«
deuUche Zeitschr. IX, 54 u. 97.
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Wirtb. Complcx der acht Ortschaften. Ehemalige geringe Abgabe. Fran-
zösche (sie) Zeit. Weinbau sonst nur weiss. In Nachahmung und Nacheiferung
von Assmansbausen roth. Handel mit demselben. Vorzüge. Eilfer. Rückfahrt
bis Weinheim. Kahn, Knaben, schnelle Fahrt.
„6. September. Früh Hr. Brentano nach Francfurt. Redacktion und
Abschrift der bisherigen No taten. Spaziergang erst allein, dann mit Mad.
Brentano und Dlle. Serviere. Frl. v. Güoderode Leben und Tod. m ) Ort ihres
Selbstmordes. Kurz vorhergehend. Zu Mittag Nachbar Behringer Gerber [s. oben].
,8. September. Die bisherigen Aufsätze durchgegangen. Mit Fr. v. Brentano
und Dlle. Serviere an den Mühlen hin, Clause." Unter diesem Namen
wird gewöhnlich die ehemalige St. Georgsklause am Fusse des Johannisberges
verstanden. Mit dem Kloster Johannisberg war ursprünglich ein Nonnenkloster
verbuuden, das aber später von jenem abgelöst und unter dem Namen St. Georgs-
klause in das Thal verlegt wurde; er bestand bis zum Jahre 1452, wo es auf-
gehoben und seine Güter der Abtei Johannisberg einverleibt wurden.** 9 )
Das Tagebuch fährt fort: „Mittag. Eiosezung der Jesuiten. Worners
Übertriebenheiten." Diese beiden Einträge bildeten wohl den Gegenstand der
Unterhaltung des Nachmittags. Papst Pius VII. hatte am 7. August 1814 in
feierlicher Versammlung die Bulle Sollicitudo omnium ecclesiarum verlesen,
durch welche der Orden der Jesuiten formlich und feierlich in alle seine
früheren Privilegien wieder eingesetzt wurde. Mit dem Namen Werner ist
ohne Zweifel der Romantiker Zacharias Werner (17(58—1823) gemeint; nach
einem höchst ungeregelten Leben war er im Jahre 1811 katholisch, 1814 Priester
geworden und machte damals durch sein excentrisches Wesen viel von sich
reden* 90 ); nicht lange vor seinem Tode trat er in den Orden der Rederap-
toristen.
Die Abreise Goethes erfolgte an demselben Tage; „Nach Wiesbaden», so
schliesst das Tagebuch den Bericht.
Es waren genussreiche Tage, die Goethe iu der „geliebten und verehrten
Familie Brentano" verlebte, und dankbar gedenkt er der „glücklichen Stunden".
Die „Herbsttage" beendet er mit don „glücklichen Rundworteu":
„Am Rhein, am Rhein,
Da wachsen unare Reben."
Der Familie Brentano verehrte er ein Frankfurter Landschuftsbildchen,
uutor welches er zur Erinnerung an Winkel die Zeilen setzte:*")
„Wasserfalle, LandesgrGsse,
Heitrer Himmel, Trohe Balm;
Diese Wellen, diese Flösse*»»)
Landen auoh in Winkel an.*
*'•) Karoline t. Günderrode, geb. am 11. Februar 1780, starb bekanntlich in den Fluten
des Rheines eines freiwilligen Todes am 26. Juni 1806. Vgl. Schvrartz in der EncyklopSdie
von Ersch und G ruber I, Bd. 97, 8. 56 des Separatabdrucks. — **•> Vogel, Beschreibung
des Herzogtums Nassau, S. 51)7. — **) Vgl. Arndt, Meine Wanderungen und Wandolungen
mit Herrn t. Stein, 8. 231. — *") Creizenach, S. 86. — nt ) 8o die Weimarer Ausgabe I,
4, 69, Creizenach minder passend: Flösse.
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Die oboa erwähnten Stammbucheinträge des Brentanoischou Hauses sind
folgende.» 93 )
1. Antonia Brentano schrieb:
„Winkel im Rheingau.
Hier stand die Natur, da sie aus
reicher Hand aber Hügel und Thal
belebende 8ch8pfung goss, mit ver-
weilendem Tritte still — hier gefiel
es auch Ihnen acht schöne Tage zu weilen, 0
und Ihrer Gegenwart Bonnenblick
schien mir der Anmuth Vollendung,
d. 8. Sept. 1814. Antonia Brentano
gobohreno Edle von Birkonstock."
2. Franz Brentano:
„So wie das wohlthltigo Jahr 1811
hier den edlen Bebensaft zum
Nektar erhob, so verherrlichte
in diesem Jahr Ihr freundlicher
Besuch unsere Gefühle!
Das Andenken daran wird mir
UDvergeaslich bleiben.
Winkel im Rheingau d. 8. Sept. 1814. Franz Brentano."
3. Die folgende Seite trägt in schöner, aber steifor, unausgeschriebener
Kinderhand die Überschrift:
„Auch die Kleinen Hessen 8io zu sich kommen"
und darunter dio Namen der Kinder deB Hauses:
„Georg Brentano
Maximiliane Brentano
Josephine Brentano
I-'raneiska Brentano
Carl Brentano."
Dor Xarne dos damals einjährigen Karl und dio Unterschrift: „ Winkel
im Rheingau, den 8. Sopt. 1814« sind von der Hand der Mutter.
4. „Auch wir gehören zu den Kleinen"
sagt die dritte Seite und zeigt die Namen der Frankfurter Vettern und Cousinen :
„Claudine Brentano
Sophie Brentano
Franz Brentano
Ludwig Brentano."
sowie der Claudine Piautaz, die schon im nächsten Jahre berufen war Mutter-
stelle an den verwaisten Kindern zu vertreten.
5. Der Hauslehrer Wildfeyr:
„Omne tulit punctum qui misouit utile duki.
Vinicellae 8. Sept. 1814. Wildfeyr.
(Jodwoden 8ehicksalsschlag verwindet,
wer Tüohtiges mit Liebliohem verbindet.)"
m ) Vulpius, Rundschau, a. a. O. 8. 355 ff
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fi. Pauline Serviere:
, Sonst könnt ich zu Gedanken Worte Baden,
Doch nun, da ich so nahe bei Dir wohne,
Traf mich ein Strahl au» Deiner 8ternenkrone,
Ich wurde stumm und fühlte mich erblinden.
Ach, wer kann Deinem Zauber sich entwinden!
Ich wag es nicht, dem guten Geist zum Hohne.
Mir würde Spott und Schande bald zum Lohne,
Wollt ich mit Schwachheit kühnen Trotz verbinden.
Ich schleiche zum Parnaaa als armer Kranker,
Da such ich nun mit tiefbewegtem Herzen
Und vierzehn Helfern Lindrung meiner (Jualen.
An Deiner Gate lieg k-h hier vor Anker,
Ein freundlich Wort heilt alle meine Schmerzen,
Doch kann ich nie der Wohlthat Freude malen.
Winkel, d. 8. 8eptember 1814. Pauline Serviere."
„Die lieben Kleinen, so erfahren wir später** 4 ), haben sich gar nicht gefreut,
wenn der Gefeierte Winkel als Gast beehrte; sie mussten dann sehr brav und
sehr still sein, durften nicht auf dem grossen Speicher spielen u. s. w. Da-
gegen hatten sie bei den Spaziergängen nebenher zu trippelo, um dem hohen
Herrn die Steine, Muscheln u. s. w. aufzulesen, die er mit seinem Stocke be-
zeichnete und mit seinem Bergmannshämmerchen untersuchte."
b. Im Jahre 1815.
5. Nachdem im Jahre 1814 Napoleon besiegt, Paris eingenommen und
der Friede geschlossen war, schien es, als ob eine weitere Störung der Ruhe
für längere Zeit nicht zu befürchten sei. Daher war der Sinn der Menschen
von heftigen politischen Einflüssen frei und die Teilnahme an öffentlichen An-
gelegenheiten beschränkte sich für Goethe höchstens auf Rückblicke in die
Vergangenheit oder das Durchblättern von Broschüren über Fragen, die doch
anderswo entschieden wurden.
Ganz anders im Jahre 1815. Als er zu Wiesbaden ankam, stand man
am Beginn nouer gewaltiger Kämpfe, denen man, seit Napoleon Elba verlassen
und seinen Einzug in Paris gehalten hatte, unzweifelhaft entgegenging. Der
Achtserklärung des französischen Eroberers durch die Mächte am 13. März
folgte eine neue Verbindung derselben zu seiner Bekämpfung und Entsetzung
am 25. März; die übrigen Fürsten traten deren Kriegsbündnis nach einigen
Verhandlungen bei; unter den ersten waren der Herzog Friedrich August und
Fürst Friedrich Wilhelm von Nassau.' 99 ) Diese hatten schon am 23. März
den Befehl zu Rüstungen gegeben und am 25. eine allgemeine Landesbewaffnung
angeordnet; u. a. sollte neben don bestehenden Reserve- und Scharfschützen-
kompagnien bei jedem Landsturms- Bataillon eine Voteranenkompagnie unver-
züglich aufgestellt werden, welche zu bilden sei 1. aus den älteren Milizen
— , ^_
Mitteilung des nachmaligen Gemahls der Joseph a, Anton Brentano, au Vulpiua.
S. Rundschau a. a. O. - »*) Menzel, Geschichte von Nassau III ^VII), 846.
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bis zum 45. Jahr, 2. aus allen unverheirateten Landsturmmännern bis zum
45. Jahr, 3. aus freiwilligen Milizen und zum Linieudienst nicht zugfähigen
Reservisten dritter Klasse, welche im Falle des Aufgebots zur Vaterlandsver-
teidigung, mit der Landwehr sofort ins Feld zu rücken sich verbindlich machen;
diese sollten zur Auszeichnung eine silberne Borte um den Kragen tragen.* 9 *)
Während noch die Rüstungen und Übungen von Landsturm und Landwehr
fortdauerten, rückte am 21. Mai das erste Regiment in das Feld ab, das zweite
stand noch vom vorigen Jahre her in den Niederlanden; beide nebst den
nassau-oranischen Truppen wurden dem Kommando des Herzogs von Wellington
unterstellt. 197 ) Und da gogen diesen Napoleon sich zuerst wandte, so war es
natürlich, dass in Wiesbaden und ganz Nassau die 8pannung ausserordentlich
gross war, welches der Verlauf und der Ausgang der bevorstehenden Kämpfe
sein werde.
Mitten in dies aufregende Treiben, in die zwischen Hoffnung und Be-
fürchtung schwankende Stimmung fiel die Ankunft Goethes, und wie er, selbst
gespannt auf die Entwicklung der Dinge, das militärische Wesen vor seinen
Augen sich abspielen sieht und hört (am 31. Mai wurde zu Wiesbaden der
Landsturm verpflichtet, am 4. Juni zu Weilburg die Fahnenweihe und Beeidigung
des Landsturmbataillons vollzogen), auch von dem nunmehrigen Major v. Luck
eingehendere Nachrichten erhält, da lässt er sich mehr als einmal, wie das
Tagebuch verrät, von seinen mineralogischen Studien bei Cramer und seinen
west-östlichen Dichtungen wegreissen und greift zu der ihm sonst nicht genehmen
Lektüre der politischen Blätter. So verzeichnet das Tagebuch gleich am 29.
und 30. Mai, dann am 5. und 7. Juni «politische Zeitungen" oder .Blätter".
Auch auswärtige Ereiguisse werden aufgenommen, wie die Nachricht von der
am 23. Mai erfolgten Einnahme Neapels durch die Österreicher; König Murat
hatte sich am 31. März für Napoleons Sache erhoben, aber durch die unglück-
lichen Kämpfe bei Tolentino im Anfang Mai sich gezwungen gesehen nach
Frankreich hin zu flüchten, wodurch den Gegnern in Italien freie Hand blieb.
In gleicher Weise ist am 4. Juni Marschall Berliners Tod verzeichnet, der
am 1. Juni durch einen Sturz von dem Balkon des Bamberger Schlosses seineu
Tod suchte.
Näher gingen ihn schon die „neuesten Abtretungen und Besitznehmungen",
sowie der „Ländertausch" (5. und 13. Juni) an, die er mit Cramer, dessen
Heimat sie zum Teil betrafen, besprochen haben mag; durch die Verträge vom
14. Juli 1814 und 31. Mai 1815 hatten sich die beidon nassauischen Haupt-
linien, dann die walramische mit Preussen so verständigt, dass durch verschiedene
Abtretungen und Tausche das schön abgerundete Herzogtum für Nassau und
besser zusammengelegte Länderstrecken für Preussen geschaffen wurden.***)
Cramers Heimat fiel infolgedessen an die Krone Preussen. Zur Ausfuhrung
dieser Vereinbarungen waren alsbald Kommissäre bestellt worden; ihre bis-
***) Verordnungsblatt 1815, No. 10. — *") Menzel, Ge«ohiohte von Nassau VII (III),
876. Vor dem Aufmarsch des ersten Regiments war ror dem Kurhaus« zu Wiesbaden am
17. Hai ein feierlicher Gottesdienst Ton dem katholiaohen und evangelischen Geistlichen ab-
gehalten worden. Nass. lutelliganzbl. 18i:>. — m ; Menzel III, 778, 8.14.
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herigen Unterthanen in den abgetretenen Gebieten entliessen die Pürsten von
Nassau aus dem Uoterthanenverbande am -y^/^- 1815.***) Am 16. Juni, wo
die Entscheidung bevorstand, bringt Major von Luck wieder „Politica Militaria"
zum Gespräch.
Am 11. Juni war Goethe die eben erschienene und gerade in jenen Tagen
doppeltes Interesse erregende Broschüre des Grafen v. Truchsess- Waldburg in
die Hände gefallen; „Napoleons Reise von Fontainebleau nach Frejus"* 0 ); sie
zeigte den Imperator auf der tiefsten Stufe moralischer Schwäche und Halt-
losigkeit, indem der eben noch so gewaltige und übermütige Mann, um vor
dem Unwillen seiner ehemaligen Unterthanen geschützt zu sein, es nicht ver-
schmähte österreichische Uniform anzulegen, die weisse Kokarde der Bourbonen
anzustecken und im Dunkel der Nacht die gefürchteten Orte vermied oder
eilends durchfuhr.
Beunruhigend wirkte zuletzt noch am 18., an dem entscheidenden Tage,
die Nachricht, dass die Garnison von Mainz aufbrechen solle (s. oben), an
deren Stelle auch nassauische Truppen rücken sollten. Doch bald — aber
erst drei Tage nachher, am 21. — kamen günstige Nachrichten von dem Kriegs-
schauplätze, nachdem ihnen schlimme vorausgegangen waren. Darüber, sowie
über die ganze vorhergehende Zeit schreibt Goethe in den Annalen: „Napoleons
Wiederkehr erschreckte die Welt; hundert schicksalschwere Tage mussten wir
durchleben. Die kaum entfernten Truppen kehrten zurück; in Wiesbaden traf
ich preussische Garde.* 01 ) Freiwillige waren aufgeboten und die friedlich be-
schäftigten, kaum zu Athem gekommenen Bürger fügten sich wieder einem
Zustande, dem ihre physischen Kräfte nicht gewachsen und ihre sittlichem nicht
einstimmig waren. Die Schlacht von Waterloo, in Wiesbaden zu grossem
Schrecken als verloren gemeldet, sodann zu überraschender, ja betäubender
Freude als gewonnen angekündigt. In Furcht vor schneller Ausbreitung der
französischen Truppen, wie vormals über Provinzen und Länder, machten Bade-
gäste schon Anstalten zum Einpacken und konnten, sich vom Schrecken er-
holend, die unnütze Vorsicht keineswegs bedauern.*
Die Nachricht des Sieges erfuhr Goethe, wie es scheint, durch den Minister
v. Marschall, doch war der Bericht noch unvollständig; genaueres meldete am
22. v. Luck, zugleich aber verlautete, dass die Nassauer zahlreiche Verluste
erlitten hätten. Und in der That waren diese bedeutend; denn da sie zwei
der am meisten gefährdeten Punkte, das Schloss Hougomont und den Hof la
Haye Sainte, zu verteidigen hatten, und gegenüber wiederholten kräftigen
Angriffen ihre Aufgabe glänzend lösten, so waren viele tapfere Männer gefallen
*•■) Verordnungsblatt 1815, No. 20. - »*») 8. den Titel in dem Abschnitt 10, Lektüre.
— *") Das Tagebuch erwähnt diese erat am 30. Juni, dabei den Grafen Heockel. Übrigens
war die Einquartierung von Wiesbaden in diesem Jahre nicht bedeutend. Der Oberbefehls-
haber der mittelrheinisohen Armee, Feldmarschall Barolay de Tolly, hatte den Befehl erlassen,
da«* die rheinischen Bader wahrend der Badezeit von aller Einquartierung verschont bleiben
sollten. Wiesbadener Wochenblatt, Bekanntmachung vom 20. nnd 27. Juni 1815. In Über-
einstimmung damit weisen die Einquartierungsliaten des KSnigl. Staatsarchivs dahier für Wies-
baden nur wenige einquartierte Offisiero und Soldaten auf.
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148
oder verwundet wordeu ; aber wie gross die Verluste waren, konnte sofort nicht
festgestellt werden 30 *), und so schwebte man noch Tage lang zwischen Furcht und
Hoffnung. Goethe nahm an diesen Sorgen Anteil; er schreibt am 5. Juli an
Meyer: „Die grossen Nachrichten des Verlustes erst, dann des Gewinnes trafen
hier heftig. Der Nassauer einzelne Leiden und Sorgen teilte man mehrere
Tage." Nachdem am 27. das „neueste Bulletin vorgerückte Hauptquartiere«
gemeldet hatte, erfährt er am 30. durch den Kamraerherrn v. Nauendorf eine
„genauere Relation der grossen Schlacht."
Damit war für Goethe die Beschäftigung mit Politik, soweit es das Tage-
buch erkennen lässt, erschöpft; er kehrte zu seiner gewöhnlichen Thütigkeit
zurück, die der Wissenschaft und Kunst gewidmet war.
6. Wir wissen, dass der Erzherzog Karl am herzoglichen Hofe zu
Biebrich unseren Dichter gesehen hatte. Dies gab ihm die Veranlassung zu
einer Einladung nach Mainz, der Goethe am 18. Juli Folge leistete. Bei der
Tafel werden noch Leute aus dem Gefolge der kaiserlichen Hoheit gewesen
sein, mit denen ein Ausflug auf den Johannisborg, der am folgenden Tage
stattfinden sollte, verabredet wurde. Auch den Obersten „Chevalier* de Lort
besuchte Goethe damals zu Mainz.
7. Die Fahrt auf den Johannisberg am 19. Juli machte Goethe zum
Zeugen eines für die Geschichte des Schlosses denkwürdigen Vorgangs. Das
Kloster Johannisberg, gestiftet 1106, hatte sich anfangs rasch zu einer gewissen
Blüte erhoben, aber Misswirtschaft und Verfall der Zucht brachten es all-
mählich so herunter, dass der Erzbischof Daniel von Mainz (1555 — 1582) es zu
einer Kellerei einrichtete, und als auch in der Folge die Verhältnisse sich nicht
besserten, schien es geraten sich lieber des ganzen Besitzes zu entäussern.
Der Fürstabt von Fulda, Konstantin v. Buttlar, wie Johannisberg dem Bene-
diktiner-Orden angehörig und Primas desselben in Deutschland, beschloss die
ehemalige Abtei zu erwerben und kaufte sie am 20. Juni 1710. Den alten
Stand aber führte er nicht wieder zurück, sondern begann alsbald an der Stelle
der Klostergebäudc ein Schloss zu erbauen, das von seinem Nachfolger im
Jahre 1730 vollendet wurde. Unter der Fuldaischen Verwaltung hob sich der
Weinbau ausserordentlich und gelangte zu seiner jetzigen Berühmtheit. Die
politischen Stürme zu Anfang des 19. Jahrhunderts führten einen raschen
Wechsel der Besitzer des Schlosses herbei. Auf das Haus Nassau-Oranien,
dem es unter den Entschädigungen für Verluste in den Niederlanden im Jahr
1802 zuteil wurde, folgte am 20. August 1807 der französische Marschall
Kellermann, dem es Napoleou zum Geschenk machte, und im Herbste 1813
(6. November) die Besetzung durch die Alliierten; vorläufig wurde eine Admi-
nistration bestellt, die bis zur Entscheidung über den Besitz die Verwaltung
des Gutes führen sollte; sie stand unter der General-Administrations-Kommission
zu Mainz und wurde dem k. k. Geheimerat und bevollmächtigten Minister Freiherrn
3u1 ) Noch jeUt sohwanken die Angaben der verschiedenen Berichte; Tgl. die Regiments-
goschiohten yoii Isi-mbart <2. Regiment; und v. Rösaler (1. Regiment), Menzel III
87»; Kolb, Freih. ». Kruse, S. «7.
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v. Hügel übertragen. Nach den Wiener Verträgen, Artikel 51 der Kongrcss-
akte, und dem Vertrag vom 12. Juni 1815 zwischen Österreich und Preussen
ging das Schloss in das Eigentum des Kaisers von Österreich über, und der
Erzherzog Karl erhielt den Auftrag Besitz von demselben zu ergreifen. Dieser
ernannte darauf den Geheiraerat Paul Anton v. Handel zum „Übernahme-
Kommissarius" mit dem Auftrage die Übernahme am 19. Juli 1815 zu voll-
ziehen. So begab sich derselbe in Begleitung mehrerer Offiziere und Beamten
aus der Umgebung des Erzherzogs an dem bestimmten Tag an Ort und Stelle;
der bisherige Kellner Pater Arnd legte die letzten Rechnungen und die In-
ventare vor und empfing die Bestätigung seines Amtes, worauf die Besitzer-
greifung Namens des Kaiserhauses ausgesprochen und zum Zeichen derselben
das kaiserlich österreichische Wappen an das Hauptthor angeschlagen wurde.*")
Diesem Akte wohnte Goethe gemäss der Einladung bei und berichtet
darüber im Tagebuch in der gewohnten Kürze; nach der Übergabe wurde von
den Anwesenden ein Spaziergang um den Berg gemacht, woboi der Pater
Arnd den Führer und „über die Kultur desselben" Mitteilungen gemacht haben
wird. Daran schloss sich ein heiteres Mittagsmahl. Als Teilnehmer an dem-
selben haben wir die in dem Tagebuch genannten Persouen zu denken : den Herrn
v. Hügel, den Grafen v. Westphalen, wohl den k. k. wirklichen Geheimerat
Clemens August (1754 — 1818), den Generalfeldmarschall-Lieutenant Gottfried
Freiherrn v. Strauch, Vizegouverneur der Festung Mainz, den Geheimerat Paul
Anton v. Handel* 0 *), später Direktor der Bundespräsidialkanzlei, den Regierunga-
rat Joachim Kleyle aus dem Hofstaat des Erzherzogs und den Adjutanten des-
selben, den Obersten Karl Freiherrn v. Gudenau."**) An den Grossherzog von
Weimar berichtet Goethe darüber also* 04 ): „Nach vollbrachter Übergabe, nach
einem Umgang um Schloss und Burg, sodann einem heiteren Mittagsmahl, die
Gegend immerfort bewundernd, sah ich dann den kaiserlichen Adler über den
alten, in Eisen gegossenen fuldischen Kreuzen schweben und also auch den
Besitz dieses merkwürdigen Erdpunktes entschieden." Entschieden aber war
er nun doch nicht völlig; denn am 6. November 1816 ging er durch kaiserliche
Schenkung an den Fürsten Metternich als ein volles Eigentum über mit dem
Zusatz, dasB das Gut unter kaiserlicher Oberherrlichkeit bleibe und jährlich ein
Kanon, bestehend in dem Zehnten des Weinertrags, entrichtet werde. 3 ")
Der 19. Juli war für Goethe noch in anderer Beziehung wichtig und er-
freulich; an diesem Tage erhielt er durch eine Zeitungsnotiz die Nachricht, dass
der Kaiser von Österreich ihm das Kommandeur-Kreuz des Leopoldsordens
am 28. Juni zu Speyer verliehen habe. Die Nachricht davon empfing er, wie
es scheint, noch zu Wiesbaden durch Herrn v. Hügel. Als er sich dazu be-
•*•) Ober die Gesohichte dea Johannisberges handelt nach Siteren und eigenen Forsch-
ungen in grandlicher Weise der Archivar Habel in dem Berichte der Kommission der nass.
Stunde zur Untersuchung der staatsrechtlichen Verhältnisse des Schlosses Johannisberg Tom
15. Mäns 184», in populärer Darstellung Zwenger in der Zeitschrift Hossenland S. 1H8,
200 u. 235 und K. Braun in seiner Art in den Bildern aus der deutschen Kleinstaaterei I,
282 ff. *'*) Das Tagebuch schreibt: Reg. K. Henckel. — '"'') Ebenda heisst er Ucn. Adj.
Bar. Guthenau. - O. Jahn, Goethes Briefe an Voigt, S. 532. - *"j Habel, a. a. O. S. 6S.
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reitet«, so berichtet er seinem Fürsten am 20. Juli 908 ), auf den Johannisberg
zu fahren, sei dieser hereingetreten, um ihm Glück zu wünschen zu der Ehrung,
wobei er (Qoethe) sich erinnert habe, dass er auch dieses Gut des Grossherzogs
früherer Verwendung verdanke. Zunächst war es nur die Mitteilung einer
Zeitung, die diese Neuigkeit brachte; Goethe schnitt die Notiz aus derselben
heraus und sandte den Zettel, in einen Brief eingeklebt, an den Gebeimerat
v. Voigt mit folgendem Zusatz 8 » 9 ): .Was den Orden betrifft, habe ich weiter
kein Dokument als obige Stelle aus einer Wiener Hofzeitung, nach welchem
als einem untrüglichen auf dem Johannisberg mir von H. v. Hügel und sonstigen
Anwesenden gar freundlich gratuliert worden. Ich vermuthete, es sei an Ihre
Hoheit den Grossherzog gesendet, und freute mich es aus dieser Hand zu er-
halten. Ew. Excellenz erlangen vielleicht nähere Kenntniss durch unseren
Geschäftsträger in Wien. Wenn es einmal seyn soll, so wünschte ich mich
an Ser. Geburtstag damit zu schmücken." Der Grossherzog aber gratulierte
ihm am 28. Juli also 310 ): »Empfange meine besten Glückwünsche zum heiligen
Leopold. Es freut mich, dass er angelangt ist, schon seit einem Jahre war
er mir versprochen worden." Aus diesen und Goethes oben angeführten Worten
geht hervor, dass die Anregung zur Verleihung des Ordens von Weimar aus-
ging, diese also nicht der eigenen Entschliessung des Kaisers zuzuschreiben
war und es längerer Zeit bedurfte, bis sie endlich erfolgte. Die Überreichung
des Ordens fand denn am 1. August zu Wiesbaden statt. m )
8. Die Lahnreise am 21., 22. und 23. Juli 811 ') war bisher in ihrem ge-
naueren Verlaufe wenig bekannt; in den Annalen ist sie mit kurzen Worten
abgethan: „Eine Fahrt in verschiedene Gegenden zu beiden Seiten der Lahn
mit Oberbergrath Gramer begonnen und mit ihm grösstentheil durchgeführt, gab
manche schöne Kenntniss und Einsicht; auch verdiente sie wohl unter die
kleinen geognostischen Reisen aufgenommen zu werden" — das ist alles, was
wir von ihr hören, und unter die kleinen Reisen ist sie nicht aufgenommen
worden. Das Tagebuch gibt nur dürftigen aber doch einigen Aufschluss über
den Umfang, die Dauer und äusseren Erlebnisse der Reise, nicht aber hin-
reichenden über den Gewinu an Kenntnis und Einsicht, der ihr zu verdanken war.
Die Veranlassung zu ihr gab wohl die Einladung des Ministers v. Stein
nach Nassau; denn beide Ausflüge konnten miteinander verbunden werden.
Zu der mineralogischen Exkursion mögen die Mitteilungen Cramers mit bestimmt
haben; auch war Goethe die Lahngegend nicht fremd, und er konnte die Er-
innerung an die Wanderung des Jahres 1772 neu beleben. Endlich hatte er
diese Gegenden in ihrer geographischen Gestaltung durch das Studium des
Werkes von dem Erzherzog Karl über den Feldzug von 1796 genauer kenneu
gelernt. Auf deu beigegebenen „höchst genau und sauber gestochenen Karten"
fand sich gerade „die Umgebung der Lahn von Wetzlar bis Neuwied", und
ihre Betrachtung lenkte seine Gedanken unwillkürlich von ihrer eigentlichen
Bestimmung, die militärischen Bewegungen in jenem Krieg deutliclt vor Augen
*°*f O. Jahn, Goethes Briefo an t. Voigt, 8. .-,82. s " 1 *) Ebenda 8. 342. — s " ) ) Brief-
Wechsel II, 54. — in ) 8. oben 8. 96. — *"*) Siehe die Tafel für die Lahnreise.
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zu führen, ab auf ihre sonstige Brauchbarkeit. „Ich machte die Bemerkung,
sagt er, dass eine gute Militärkarte zu geognostischen Zwecken die allerdien-
lichste aei u . Nachdem also der Entschluss zu der Reise gefasst war, nahm er
eifrig das Studium eben dieser Karten und von Schriften über die geognostische
Beschaffenheit dieser sowie ähnlicher Gegenden wieder vor 812 ), um sich vor-
zubereiten und Fragen stellen zu können, deren Lösung er dort hoffen konnte.
Verfolgen wir nunmehr an der Hand des Tagebucha den Weg, welche
unsere Reisenden einschlugen. Am 21. Juli fuhren sie über die Platte nach
Idstein, wo die Kirche und das Schloss ihre Aufmerksamkeit erregte. Das
auf einem Felsen, der sich in der Ebene erhebt, auferbaute Schloss steht an
der Stelle einer älteren Burg, die Graf Ludwig II. (1602 — 1627) im Jahre
1615 niederreissen liess, weil sie baufällig geworden war; den sofort begonnenen
Neubau vollendete sein Nachfolger Johannes (1627 — 1677) und umgab ihn mit
Gartenanlagen, die leider verschwunden sind. Das neue Schloss blieb die Resi-
denz der Grafen, bis Johanns Nachfolger, Fürst Georg August, das Schloss zu
Biebrich erbaute und mit ihm die Linie Nassau-Idstein erlosch. Graf Johannes
hatte zugleich die Kirche in seinen letzten Rogierungsjahren im Innern kunst-
voll ausbauen, mit Säulenarkaden von Marmor und Gemälden schmücken
lassen. 91 ") Von Idstein ging es nach Oberselters, wo eine minder bedeutende
Mineralquelle ist, dann nach dem berühmteren Niederselters; über die Ver-
hältnisse der Orte gaben der Verwalter Münz und der herzogliche Brunnen-
kommissarius Alexander Westermann Aufachluss.' 1 *) Die Nacht brachte man
in dem Dorfe Blessenbach (nicht Plessenbach, wie das Tagebuch bietet) bei
dem reformierten Pfarrer des Ortes Johann Jakob Mess zu; vielleicht besucht«
man auch am Abend die Dachschieforgruben, die damals noch betrieben wurden.
Am 22. Juli kehrte man durch die waldreiche Lange Hecke, die dem
Dorfe den Namen gegeben hat, nach Langhecke zurück; man war am vor-
hergehenden Tage an ihm vorbeigefahren, wahrscheinlich weil der arme und
kleine Ort kein geeignetes Nachtquartier bot. In der Langen Hecke gab es
viel zu sehen; es wurde dort Dachschiefer, Blei und Eisen gewonnen, letzteres
auch verhüttet. Der Hütteuschroiber Eppstein gab Mitteilungen Uber das, was
seines Wissens war; der Betrieb der Gruben reichte zum Teil in sehr frühe
Zeit zurück. 915 ) Am Mittag fanden sich der Pfarrer Mess und der Brurnen-
kommissar Westermann wieder ein. Dann fuhr man nach Limburg, wo der
„rote Ochse" Nachtquartier gewährte. 816 ) In einem Briefe an seine Frau
vom 8. August vergisst Goethe nicht zu erwähnen, dass die Lange Hecke
„berüchtigt sei wegen Schinderhannes Fluchtwinkel 11 ; und in der That war die
Gegend von jeher berüchtigt und gefürchtet, weil sie oftmals einzelnen Räubern
"»") Wir haben sie oben 8. 112 erwähnt; die vollständigen Titel 8. in Abschnitt 10,
Lektüre, schon Ende Juni, dann Tom 14. Juli an. — * u ) Rizhaub, Einige Nachrichten
Ton der Stadt Idstein. Programm des Gymnasiums zu Idstein 1787, 8. 35 ff. W. Cuntz,
Die Kirche zu Idstein, 1868. — su ) Über den Brunnen am Ende des vorigen Jahrhunderts
vgl. Schlöxers Briefwechsel IV, 22, 8. 275 u. VIII, 4H, 8. 11. — «•») Vgl. Wenokou-
hach, Bcschreihung des Bergrrviers Weilbarg, 1879, 8. 114, 122, l.T> ff. — a,a ) Jetzt im Be-
sitz der Witwe Künigsbergor (Lederhandlung), sehrag der Post gegenüber.
11*
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152
und ganzen Banden eine Zufluchtstätte geboten hatte. Der bekannte Räuber-
hauptmann Schinderhannes (Johann Bückler) wurde bei Wolfenhausen in der
Nähe dea Dorfes Langhecke am 31. Mai 1802 gefangen genommen und am
21. November 1802 mit mehreren seiner Genossen zu Mainz hingerichtet. Es
wird auch von ihm und seineu Thaten, über die vieles Schreckliche und auch
Heiteres umlief und noch jetzt erzählt wird, in der Mittagsgesellschaft die Rede
gewesen sein. 817 )
Der 23. Juli führte von Limburg nach Nassau. Zuerst bemerkt das
Tagebuch: .Preussisch Militär 11 ; seitdem Preussen im Besitz von Koblenz mit
dem Rheinland und der Stadt Wetzlar war, bedurfte es einer Etappenatrasse,
die beide Landesteile verband; diese war, so lange das Herzogtum Nassau
bestand, die Strasse an der Lahn und berührte Weilburg, Limburg, Diez u. s. w.
Unseren Reisenden begegneten also preussische Truppen, welche zunächst nach
Wetzlar bestimmt waren. — Dann gelangten sie nach Holzappel, ehemals
Esten, dann nach dem kaiserlichen General Peter Melander, Grafen von Holz-
appel, der die Herrschaft im Jahre 1643 gekauft hatte"*), Holzappel (nicht
Holzapfel) genannt. Hier empfing sie der Bergkommissär Schreiber, der sie
nach der Silberschmelze"*) geleitete und nachher freundlich bewirtete. Be-
deutend und anregend müssen die Gespräche über das .Verschieben der Gänge
und Andres Geologisches" gewesen sein, zumal da hier der Verfasser eines
gediegenen Buches darüber damals sich aufhielt, das Goethe zu Wiesbaden
gelesen hatte. Darüber bemerkt Goethe in den Annalen: „In Holzapfel (sie),
bei Gelegenheit des dortigen höchstmerkwürdigen Ganges, kam Werners Theorie
der Entstehung der Gänge (von 1791) zur Sprache, ingleichcn des dort auge-
stellten Schmidts Verschiebung der Gänge (von 1810). S!0 ) Diese richtige, von
mir so oft betrachtete und immer geheimnissvoll bleibende Erscheinung trat
mir abermals vor die Seele, und ich hatte das Glück im Lahnthal einer auf-
gehobenen Abtei ungefähr gegenüber [Arnstein], auf einer verlassenen Halde
Thonschieferplatten mit kreuzweise laufenden sich mehr oder weniger verschieben-
den Quarzgängen zu finden, wo das Grundphänomen mit den Augen gesehen,
wenn auch nicht begriffen, noch weniger ausgesprochen werden kann." Die
Erwähnung der aufgehobenen Abtei Arnstein hat uns schon in „die Lahn-
schluchten* hinabgeführt ,,,, ); fast scheint es, als ob über den wissenschaftlichen
Rauchhaupt, AktenmSstige Geschichte des berüchtigten RAuberhauptmanns
Joh. Bückler, genannt Schinderbannes, 1891. — •") Vogel, Beschreibung des Herzogtum*
Nassau, S. 774. — W. Hofmann, Peter Melander, Reichsgraf zu Holzappel, 1882, 8. 139.
— "*) Ober die Blei- und Silberhütten daselbst siehe die Besehreibung der Bergreviere Wies-
baden und Die*, 1893, S. 106. ~ *■*) Siehe Abschnitt 10, Lektüre, 14. bis 17. Juli. -
s "> Wahrend dea Druckes wurde uns Ton befreundeter Seite mitgeteilt, dose an der Lahn
der Ort, wo Goethe ausgeruht habe (vergl. 8. 58), jetzt Goethe winke! genannt werde;
er befinde sich in einer Schlucht /.wischen zwei Bergen bei Obernhof. Ist dies begründet —
und wir haben keinen Grund es zu bezweifeln — , so kann der Zeitpunkt von Goethes An-
wesenheit daselbst recht wohl auch in die zweite Lahnreise 1815 fallen, nls er durch die „Lahn-
Schluchten* zur Lahn hinabstieg, also in den 23. Juli 1815, nur dürfte dann von einem Aus-
ruhen nicht gesprochen werden, sondern höchstens von einem Verweilen etwa bei der Gelegen-
heit, dass er Gestein untersuchte, dn er den Weg nicht zu Fuss zurücklegte und eines Aus-
ruhens nicht bedurfte.
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153
Beobachtungen und dorn Funde, den er hier machte, ganz vergessen habe
den Blick auf die aus der waldigen Einsamkeit plötzlich hervortretende, prächtige
romanische Kirche von Arnstein zu werfen, da or ihrer nicht weiter gedenkt.
Mit der Ankunft in Nassau war das Ziel der mineralogischen Seite der Lahn-
reise erreicht; die Wege der Reisenden werden sich hier getrennt haben, indem
Cramer den Heimweg antrat, Goethe nunmehr zu dem Besuche des Ministers
v. Stein sich anschickte. Doch werden die Unterhaltungen vor der Trennung,
am Abend des 23. und am Morgen des 24. Juli, noch einmal das „Verwerfen der
Gänge" aufgenommen haben, wie aus den Bemerkungen des Tagebuchs zu
schliessen ist; die letzte Notiz des 23. beisst: „Theorie des Gang-Verwerfons",
die erste des 24.: „Verwerfen der Gänge."
9. Über den Besuch bei dem Minister v. Stein waren wir bisher
ebenfalls nur ungenügend unterrichtet; nicht einmal wie es dazu gekommen, wusste
E. M. Arndt richtig anzugeben' 11 ), wonn er sagt, Stein habe zufällig gehört,
da 88 Goethe auf einer Lahn Wanderung, die er blos zur Erinnerung an die frühere
unternommen, in Nassau im Löwen abgestiegen sei: „er [Stein] flugs in don
Löwen und holt und zwingt den Sträubigen in sein Schloss hinauf." Nein,
lieber Arndt, so war es nicht, wie uns das Tagebuch meldet. Die vorausge-
gangene Einladung Steins haben wir oben angeführt und auch den wissenschaft-
lichen Zweck der Reise genugsam erkannt. Und am Morgen des 24. Juli kam
nicht Stein zu Goethe, um ihn abzuholen, sondern dieser Hess sich, wie es sich wohl
geziemte, bei dem Minister anmelden, machte dann einen Spaziergang „übers
Wasser", da die jetzige Kettenbrücke noch nicht erbaut war, und durchwanderte
die dortigen Anlagen auf dem Gebiete der Burg Stein. Ein „eintretendes Ge-
witter verpasste**) er im Adler." Daun begab er sich in das Schloss des
Ministers.
Wie die beiden grossen Mänuer, der grosse Dichter und grosse Staatsmann,
beide zu jener Zeit ohne Zweifel die grössten Deutschen, die aber so ganz
verschiedene Vergangenheit hatten, bo ganz verschiedener Thätigkeit und auch
religiöser Anschauung waren, damals sich entgegengetreten sein mögen, jeder
des anderen Grösse achtend, Stein ausserdem als Hausherr, der den Gast ge-
laden, doppelt zuvorkommend und fast seine eigene Natur verleugnend, das
können wir der Schilderung von E. M. Arndt, der sie bald darauf zu Köln zu
beobachten Gelegenheit hatte, entnehmen; als er mit Eichhorn im Dom zu Köln
Stein begrüsst hatte und sie nun Goethe vor dorn Dombild stehend erblickten,
sagte Stein zu ihnen: „Lieben Kinder, still! still! nur nichts Politisches! das
mag er nicht; wir können ihn da freilich nicht loben, aber er ist doch zu gross!*
„Wunderbar, fährt er fort, gingen die beiden deutschen Grossen hier neben
einander her wie mit einer gegenseitigen Ehrfurcht." Und weiter: „Ich kann
mir denken, wie die beiden Reisegefährten jeden Zusammonstoss vermieden; es
war gewiss die äsopische Reise des steinernen und irdenen Topfes. So gingen
sie auch in Köln noben einander hin mit einem zarten Noli mo tangere.
"*) E. M. Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Keiohafreiherni
t. 8tein, 1858, 8. 225. — * M ) Über terpaeeon s. oben 8. 13S, Amn. 268.
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15 J
Nirgonds habo ich Steina Rede in Gesellschaften stiller tönen hören. ""') An
einer anderen Stelle führt er seinen Vergleich mit der fabelhaften Reine des
diesmal eisernen und thönernen Topfes weiter aus ; sie seien mit der aufmerk-
samsten und vorsichtigsten Zärtlichkeit nebeneiuauder hergegangon, ohne gegen-
einander zu stossen; Goethe habe Stein eine Art erstaunter Ehrfurcht gezeigt,
Stein aber sei ungewöhnlich sanft und mild gewesen und habe den kühnen und
geschwinden Atem seiner Natur angehalten, den Löwen gezügelt, sodass er
nimmer herausguckte." 11 )
In solcher Stimmung mögen die beiden Männer, auf die Deutschland stolz
war und noch ist, einander entgegengetreten sein, Charaktere, die Goethe im
„Tusso* in Konflikt gezeigt hat, und es ehrt beide, daas sie, jeder des anderen
Verdienste anerkennend, die Klippe vermieden, an der Tasso scheiterte. Über
den Inhalt ihrer Unterredungen sind wir leider wieder dürftig unterrichtet; nur
die Gegenstände derselben können wir nach dem Tagebuche verfolgen. Wir
wollen danach den Verlauf des Aufenthalts von Goethe überhaupt darzustellen
versuchen.
Zunächst wurde die Reise Goethes besprochen, die „Mineralien", die er
gefunden, die Woge, die er eingeschlagen, und im Anschluss daran „Landkarten"
hervorgeholt. Dann wendete sich das Gespräch auf Politik. Stein wusste,
wie wenig Vertrauen der Dichter der begeisterten Erhebung des deutschen
Volkes im Jahre 1813 entgegengebracht hatte; der bekannte Ausspruch; „Ja,
schüttelt nur an ouren Ketten, der Mann ist euch zu gross!" war ihm hinter-
bracht worden, und er hatte dazu gesagt: „Lasst ihn, er ist alt geworden."* 4 *)
Aber jetzt war das Werk geschehen, war der korsische Eroberer zweimal be-
siegt und Hoffnung vorhanden, dass ein dauernder Friede und bessore Gestaltung
auch der deutschen Verhältnisse eintrete. Eben war man zu Paris damit be-
schäftigt die Früchte der schweren Kämpfe und Siege einzuernten, und Stoin
selbst sollte durch seine wuchtige Stimme dazu mitwirken. Er stand in fort-
währender Verbindung mit den leitenden Staatsmännern; am 26. Juli, als er
mit Goethe zusammen war, erging ein Schreiben des Staatskanzlers Hardenberg
an ihn" 7 ), welches ihn beschwor so schnell als möglich nach Paris zu kommen,
und am 28. ein gleiches von Capodistria; am 31., dem Tage ihres Abschieds,
kündigte er seine Abreise auf den 8. August an, da das Emser Wasser und
die Landluft seine Gesundheit hinreichend hergestellt hätten, um die Reise
nach Paris unternehmen zu können. Kein Wunder, wenn sein Herz voll war
von Gegenständen, denen Goethe soeben wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte
und auch nicht zu schenken liebte, auf die er aber jetzt eingehen musste.
Nach dieser ersten Begegnung kehrte Goethe in seinen Gasthof zurück.
Das Tagebuch fährt dann fort: „Einrichtung" [im Gasthof]; sodann „im Garten.
Spazieren; zu Tafel; Frl. v. Walmoden; im Garten; auf die Burg; Enfschluss
nach Cöln zu fahren."
iU ) Arndt a. a. O. — 1,5 ) Portz, Leben Steins IV, 483. Die Fabel rom eisernen und
irdenen Topf findet sich bei Lafontaine V, 2; sie passt indessen nur für die Reise selbst
auf Stein und Goethe, nicht für den Ausgang. - »•> Portz III, 374. - *") Ebenda IV, im ff.
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155
Die Familio des Ministers bestand damals aus seiner Gattin Wilhelmine,
geb. Gräfin v. Wallmoden-Gimborn, mit der er nunmehr 22 Jahre verbunden
war und ein glückliches, aber vielfach durch Staatsgoschäfto und die Achts-
erklärung Napoleons gestörtes Leben geführt hatte, und zwei Töchtern, von
denen die ältere damals 19 Jahre, die jüngere 12 Jahre alt war; anwesend
war ausserdem eine Frl. v. Walmoden und (am 29. genannt) eine Fr. v. . . .,
deren Name Goethe outfallen war; sie war eine geb. Gräfin Brühl.
Die Burg Stein, am Fusse der Burg Nassau gelegen, da, wo jetzt das
Standbild des Reichsfreiherrn steht, bildete einen beliebten Spaziergang der
Familie; schattige Wege liefen zwischen den belaubten Bäumen hin, und seit-
wärts eilte in der schmalen Wiese der Mühlbach dem Wasser der Lahn zu.
Hier hatte, als* im Herbste 1814 endlich die Rückkohr des Schlossherrn bevor-
stand, ein alter Maurermeister, vor langen Jahren des Ministers Spielkamerad,
durch mühevolle und kunstreiche Zusammenstellung von Steinen, Moosen,
Blumen und Zweigen die Thatcn und Leiden der jüngsten Feldzüge, den Brand
Moskaus, die Leipziger Schlacht u. s. w. bildlich dargestellt und Steins Wappen
und Namen und wohlverdiente Kränze an verschiedenen Stellen angebracht.
Als Stein diese seine Verherrlichung erblickte, geriet er in Zorn und wollte
alles sogleich wegschaffen lassen; erst die Fürbitten seiner Schwester, Arndts
und andrer Gäste brachten es fertig, dass er erlaubte, dass Wind und Wetter
das Werk des treuen Maurermeisters zerstören durften.***)
Hier, auf der Burg Stein, scheint der Minister Goethe den Vorschlag
mit ihm nach Köln zu fahren und ihn zugleich mit seinem Wunsche bekannt
gemacht zu haben, dass Goethe eino Denkschrift über Kunst und Altertum in
den Rheinlanden ausarbeiten und dem Fürsten Hardenberg einreichen möge,
wie wir schon oben bei Boisseree dargelegt haben. Goethe ging darauf ein,
und so unternahm er in der „ehrenden Gesellschaft des II. v. Stein" die Reise
nach den niederrheinischen Städten Köln, Bonn u. s. w., die wir hier übergehen
müssen. Am 25. Juli sagt das Tagebuch: „Mit H. v. Steiu zu Wagen bis
Ems, ferner bergan und bergab bis Thal Ehrenbreitstein, [von da] im Nachen
abwärts" u. s. w. Nach einer mehrtägigen Abwesenheit trafen spät am Abend
des 28. Juli unsere Reisenden wieder in Koblenz ein. Am folgenden Tage
veranstaltete dor Präsident dos rheinischon Revisionshofes von Meusebach, der
früher in Dassau-oranischen Diensten zu Dillenburg geweseu war, ein Frühstück
zu Ehren der beiden Männer auf der Carthausc, wozu hervorragende Persön-
lichkeiten von Koblenz geladen waren; doch die Hoffnung desselben Goethe
nähor treten zu können verwirklichte sich nicht, da dieser zu sehr mit den
mineralogischen Funden beschäftigt war, die ihm von einer Art Famulus zuge-
tragen wurden; er mochte wohl auch au Meusebachs, in der Art Jean Pauls
nach künstlichen Gedankensprüngen haschender Unterhaltung keinen Gefallen
finden. Meusebach war von dem Zusammensein mit Goethe höchst unbe-
friedigt.*")
,w ) Arndt a a. 0. S. 222 ff. - "*) Das Tagebuch nennt ihn Meuaburg. Über ihn
vgl. Annalen dos nass. AltcrttimsTereins XXI, 43 ff. und XXII, 1 ff., besonders 8. 8.
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15fi
Nachdem man am 29. in Nassau wieder angelangt war, blieb Goethe,
wie os scheint, während des Tages ganz in dem Hauso dos Ministors. Das
Tagebuch berichtet: „Mit der Familie gespeist. Schiiz Gemälde.*") Abends
Thee bey Fr. v. Stein" und am 30.: „Im Garten mit Hrn. v. Stein und den
Damen. Gesprochen uud contradicirt. Mittag Familientafel. Spaziergang mit
den Damen in ein Thal über dem Wasser [Mühlbachthal]. Thee und Essen
bei Fr. v. Stein. Präsident] v. Motz zu Diez." 381 ) Und am 31.: „Gepackt. Mit
Hrn. v. Stein und Motz im Garten. Dazu die Damen. Abschied. 8 Der Rück-
weg führte nach Schwalbach, wo Goethe an der Tafel den Gr. Hatzfeld, Hrn.
Gontard mit Familie und v. Oppel aus Sachsen traf, von da nach glücklicher
Fahrt an der Nonnenmühle vorbei nach Wiesbaden. Unterwegs überdachte
er dio Ausarbeitung der Denkschrift über die Kunstschätzo am Main und Rhein,
die ihn demnächst noch weiter beschäftigen sollte in Gemeinschaft mit S. Boisseree.
In Wiesbaden fand er viele Briefe und Packete. Das Tagebuch schliesst den
Bericht über den Verlauf des Tages mit den Worten: „Ausgepackt. Einge-
richtet.* Am 10. September richtete er an den Minister einen Brief, der wohl
eine Mitteilung über das Ende der Reise und einen Dank für die freundlicho
Aufnahme enthalten hat.
Denn von dieser, sowie von dem Gewinn des Zusammenseins mit dem
Reichsfreiherrn war er sehr befriedigt. An den Geheimerat v. Voigt schrieb
er am 1. August darüber also: „(Die achttägige Reise) war sehr fruchtbar an
Vergnügen und Belehrung. Dass ich mit H. v. Stein in so nahe Berührung
gekommen, ist für mich, in vielfachem Sinne, höchst bedeutend und es ergeben
sich aus diesem Anfange, für mich und für andre, gewiss erwünschte Folgen.«* 31 )
10. Lektüre.
Es erscheint zweckmässig, um die Lektüre Goethes während seines
Aufenthalts zu Wiesbaden leicht zu überschauen, die Bücher oder geschriebenen
Aufzeichnungen, welcho er in dem Tagebuch uonnt, Tag für Tag zusammen-
zustellen. Wir geben diese Zusammenstellung im Folgenden mit Zufügung der
Seitenzahl, unter welcher in diesem Aufsatze jede Schrift erwähnt wird.
1814.
Donnerstag den 4. August: „Broschüre: Adresse an dio Germanen des
linken Rheinufere". Der volle Titel ist: Europa in Bezug auf den Frieden.
Adresse an dio Germanen des linken Rheinufers. Im Mai 1814. [S. 81.
Freitag don 5. August: „Otto chemische Abhandl." S. den Titel S. 118.
Samstag den 6. August: „Otts ehem. Static." [S. 118.
„ » „ „ „Barbarossas Palast". [S. 114. 115.
**>) Vielleicht ein Gemälde de« Frankfurter Malers Ohr. 0. Schatz (1768- 1823); vgl.
0» inner, Kunst und Künstler in Frankfurt, 8. 321. — MI ) Der Geheimerat Karl t. Motz
war Yizedirektor dca Oborappellationsgerichts zu Diez, wurde im Septoml.er 1815 zum Direktor
der Oberrcohnungskommisaion zu Dillenburg ernannt und schied im Anfang des Jahres 1816
aus dem nassauischen Dienste. Verordnungsblatt So. 8 Tom 16. MSrz 1816. - w ) Briefe
u. s. w. No. 188 8. 342.
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157
Sonntag don 7. August: „Willomers Stroitschrift gogcn die Theater«
dircktion". [S. 88.
Montag den 8. August: „Altenkirchen von Gramer". [8. 109. 110.
Dienstag den 9. August: „Verschiedene Bücher und Broschüren".
Mittwoch den 10. August: „Hundeshagen Tempelherrn Capelle an dor
Mosel.« [8. 116.
Donnerstag den 11. August: „Almedingens Heft*. Über dasselbo Hess
sich nichts ermitteln., [S. 117.
„Serenissimo Aachen, Sartorius Reconsion". Die Recension des Göttinger
Professors Sartorius betraf das Buch von Weisse, Neueste Geschichte des König-
reichs Sachsen seit dem Präger Frieden. Bd. III. 1764 — 1812, und ist in don
Göttingor Gelehrten Anzeigen 1814, No. 122, S. 1209 ff. abgedruckt.
„Zelter las die Jenaische Recension des Werks der Frau v. Stael" :
Madame la Baronesse de Stael-Holstein, de l'Allemagno, 6 Teile, 1813 und
1814, abgedruckt in der Jenaischen Allgemeinen Litteraturzeitung von 1814,
No. 139—144, 8p. 161—206, und mit ** unterzeichnet. [8. 80.
Freitag den 12. August: „Carte von Altenkirchen". [8. 111.
„Zelter. Reconsion fortgesetzt'. 8. den 11. August. „Neueste Stücke
dor Minerva Freyh. von S— a über deutsche Litteratur" = Barbarei der deutschen
Litteratur, aus den ungedruckten Memoiren des Freyh. v. 8— a. Minerva,
1814, 1.
Samstag den 13. August: „Gernings Carte aufgezogen". Karte des Taunus?
„Grosse Stromkarte des Rheins". [S. 116.
Sonntag den 14. August: „Rheinisches Archiv". So hioss die Monats-
schrift für Geschichte und Litteratur, die seit dem Juhro 1810 bis Ende 1814
N. Voigt (zuletzt J. Neeb) und J. Weitzel herausgaben.
Freitag den 19. August: „Berliner Zeitung".
Samstag den 20. August: „Lienhard und Gertrudc 8 , von H. Pestalozzi,
4 Teile, zuerst gedruckt 1781. [8. 120.
Sonntag den 21. August: „Lienhurd und Gertrudc". [8. „
Montag den 29. August: Englische Karte.
1815.
Mittwoch den 31. Mai: „Tavernier". Jean-Baptiste Tavernier (1605—1689)
machte grosse Reisen im Orient, deren Beschreibung unter dem Titel erschien:
Les six voyages de J.-B. Tavernier, qu'il a faits en Turquie, en Perse et aux
Indes pendant l'espacc de quaranta ans et par toutes les routes que Ton
peut tenir. Paris, 3 vol. 4°. 1676—1679. Goethe studierte sie und machte
Excerpte aus Bd. I und II; von Tavernier sagt er: „Protestantische Franzosen,
die cultivirtesten Menschen, die es je gab." 8. die Anmerkungen zu den Notou
und Abhandlungen zum Divan, Weimarer Ausgabe (I, 7 der Werke) 8. 285.
Vgl. den Text der Noten u. s. w. 8. 214 und die Annalcn 1815. 8. 164.
Donnerstag den 1. Juni: „Göttinger Anzeigen". [S. 116.
Samstag den 3. Juni: „Göttinger Zeitungen 1814". „ „
Montag den 5. Juni: „Göttinger Zeitungen 1814". „ „
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158
Dienstag den 6. Juni: „Göttinger Anzeigen*. [S. 116.
Mittwoch den 7. Juni: „Güttingor Anzeigen*. „ „
Donnerstag den 8. Juni: „Göttinger Anzeigen repetirt*. „ „
Freitag den 9. Juni: „Tavernier". 8. den 31. Mai.
Samstag den 10. Juni: „Göttinger Zeitungen*. „ „
Sonntag den 11. Juni: „Nupoleons Reise nach Elba". „Tavernier*. —
Die Reise Napoleons behandelte das Schriftchen: Napoleon Buonaparto's Reise
von Fontainebleau nach Frejus vom 17. bis 29. April 1814. Herausgegeben
von dem zur Begleitung Napoleon Buonapartc's allerhöchst ernannten königl.
Preuss. Commissarius Grafen v. Truchses- Waldburg, königl. Preuss. Obersten
u. h. w. Einzig rechtmässige Ausgabe. Berlin 1815. Sie ist bald darauf in
das Französische übersetzt und später neu herausgegeben worden von J. Alex.
Frcih. v. Helfert, Napoleon I. Fahrt von Fontainebleau nach Elba April bis
Mai 1814. Mit Benutzung der amtlichen Reiseberichte des kaiserlich öster-
reichischen Commissars General Koller. Wien, 1874. [S. 147.
Montag den 12. Juui: „Werck des Erzherzogs*. — „Tavernier". — Grund-
sätze der Strategie erläutert durch die Darstellung des Feldzuges von 1796 in
Deutschland. 3 Bde. Wien, 1814. [S. 104.
Dienstag den 13. Juni: „Erzh. Carls milit. Schrift.* — „Tavernier Diamant-
gruben". In Taverniers Werk ist die Gewinnung von Diamant ausführlich
behandelt.
Mittwoch den 14. Juni: „Leipz. Lit. Zeitung*. — „Göttinger Anzeigen*.
— „Tavernier*.
Mittwoch den 21. Juni: „Göttingor Zeitungen". [S. 116.
Samstag den 24. Juni: „Göttinger Anzeigen 1812*. „ „
„Ullmanns Franckenb.*. — Unter diesem Namen ist, sei es aus Irrtum
oder durch einen Schreibfehler, versteckt das Werk des Marburger Professors
der Staatswissenschaft, Berg- und Hüttenkunde Joh. Chr. Ullmann (1771 bis
1821): Mineralogische Beschreibung des Frauenberges im Oborfürsteuthum Hessen.
Vgl. Strieder, hess. Gel. XVI 239, XVII 394. [S. 112.
Samstag den 25. Juni: „Göttinger Zeitungen 1812«. [S. 116.
Mittwoch den 28. Juni: „v. Hövels Gebirge der Grafschaft Marek*. =
F. v. Hövel, königl. Preuss. Landrat zu Herbeck, Geognostische Bemerkungen
über die Gebirge in der Grafschaft Mark nebst einem Durchschnitt der Gebirgs-
lagen, welche das dortige Kohlengebirg mit der Grauwacke verbinden. Han-
nover, 1806. 70 S. 4*. [S. 112. 151.
Donnerstag den 29. Juni: „v. Hövel*. [„ „ „
Freitag den 30. Juni: „Beckers Dillenburg*. Gemeint ist das Buch von
Joh. Phil. Becher, mineralogische Beschreibung des Westerwaldes, 1786, oder
mineralogische Beschreibung der oranien-nassauischen Lande mit einer petro-
graphischen Charte der or.-nass. Lande und drei Kupfern. Marburg, 1789. 8°.
Über den bedeutenden Mineralogen Becher (1752 — 1831) s. Vogel, Archiv der
nass. Kirchen- und Gelehrtengeschichte I. S. 174 ff. Gümbel, Allg. Deutsche
Biographie. [S. 112.
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Sonntag den 2. Juli: „Amusemens des eaux de Schwalbach". = Mervillieux,
Amüsements des Eaux de Schwalbacb, des Bains de Wisbaden et Schlangenbad
usw., 1738, und deutsch: Amusemens des Eaux de Schwalbach oder Zeitvertreibe
boy den Wassern zu Schwalbach, denen Bädern zu Wisbaden und dem Schlangen-
bad nebst zweyen lesenswürdigen Erzehlungen, darunter die eine von dem Neuen
Jerusalem und die andere von einem Theile der unter Niemandes Bothmässig-
keit stehenden Tartarey handelt. Mit Kupferstichen versehen und aus dem
Französischen ins Deutsche übersetzt. Lüttich, 1739. [S. 116.
Freitag den 14. Juli: „Schmidt Verrückung der Gänge*. = Joh. Chr.
Leberecht Schmidt, Bergmeister zu Bicken, Theorie der Verschiebung älterer
Gänge mit Anwendung auf den Bergbau. Frankfurt 1810. 118 S. 8°. [S. 112. 152.
Samstag den 15. Juli : „Schmidt Verschiebung der Gänge 1810". [„ , „
Sonntag den 16. Juli: „Werner Gangtheorie". = Abrah. Gottlob Werner,
Neue Theorie der Entstehung der Gänge mit Anwendung auf den Bergbau,
besonders den Freibcrger. 1791. Werner (gb. 1749, f 1817) war Bergbeamter,
zuletzt wirklicher Bergrat zu Freiberg. [S. 112. 152.
Montag den 17. Juli: „Werners Gangtheorie". [„ „ „
Dienstag deo 18. Juli: „Werk des Erzherzogs". [S. (114) 150 f.
Mittwoch den 19. Juli: „Erzherzogs Werk. Grundsätze der Strategie."
[8. (114) 150 f.
Donnerstag den 20. Juli: „Strategie Zwischen der Sieg und Lahn."
„Orientalisches".
Samstag den 5. August: „Schreibers Rheinreise". = Aloys Schreibor,
Taschenbuch für Reisenden am Rhein und durch seine Umgebungen. Heidel-
berg, 1813. [8. 116.
Donnerstag den 10. August: W. Butte, Grundlinien der Arithmetik des
menschlichen Lebens. Den Titel des Buchs s. oben. [S. 97.
11. Eigenes Schaffen.
1. Di van.
Die Jahre 1814 und 1815 bezeichnen bekanntlich den Zeitraum, in dem
Goethe den grössten Teil der Lieder dichtete, dio er unter dem Namen west-
östlichcr Divan 318 ) vereinigt hat. Die Dichtung des Orients war ihm in früheren
Jahren nicht fremd geblieben; die poetischen Bücher des alten Testamentes,
namentlich das hohe Lied, den Koran und arabische Dichtungen hatte er schätzen
gelernt; aber eine ganz neue Welt ungeahnter Genüsse und Anregungen er-
wuchsen ihm, als er J. v. Hammers Fundgruben (1809) in die Hand bekam.
Es begann damit für ihn ein neues dichterisches Leben, das uns die köstlichsten
Erzeugnisse seiner Lyrik schaffeu sollte.
,M ) Divan = Sammlung verschiedener Stücke in Proea oder Poesie, die gewöhnlich nach
dem Tode des Verf. zusammengestellt wurden. Wurm, Kommentar zu Goethes west-östlichem
Divan 8. 9.
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1(50
Im Herbste des Jahres 1313, als die Kricgsstürmo aa Weimar vorbei-
gesaust waren, sehen wir den nicht mehr jungen Mann im eifrigen Studium
der Grammatik des Orients; er macht Schreibübungen mit hebräischen, syrischen
und arabischen Buchstaben, verzeichnet sich Worte, bemächtigt sich der Dekli-
nation und Konjugation. SM ) Bald versucht er sich in eignen Übertragungen und
Nachbildungen, wobei er auf glückliche Weise den Reichtum und die Anmut
seiner Vorbilder mit der Gedankenfülle und Tiefe deB Occidonts zu verschmelzen
weiss oder eigne Wege wandelnd in den eignen Schöpfungen den Glanz des
Orients wiederspiegeln lässt.
Die ersten Lieder, die Goethe in den Divan aufnahm, sind im Frühjahro
1814 zu Berka gedichtet, wo er das Schwefelbad von der Mitte Mai an ge-
brauchte, daun zu Woimar im Juli; von den datierten gehören hierher:
1. 21. Juni, I, 8 835 ): Erschaffen (Hans Adam war ein Erdenklose) ; W(eim).
A(usg). 8. 16.
2. 26. Juni II, 1: Beiname (Mohamed Schemseddin sage); W. A. S. 33.
3. — II, 3: Fetwa (Hafis Dichterzüge sie bezeichnen); W. A. 36.
4. II, 4: Der Deutsche dankt (Heiliger Ebusund, hast's ge-
troffen); W. A. 37.
5. 22. Juli I, 7: Elemento (Aus wie vielen Elementen); W. A. 14.
6. IV, 1: Rath (Höre den Rath, den die Leier tönt); W. A. 67.
Das Gedicht I, 5 (Vier Gnaden) hat das Datum 6. Februar 1814, doch
vermutet der Herausgeber der Weimarer Ausgabe, dass es dem Februar 1815
angehört (S. 366 der Anmerkungen).
Kaum aber hatte Goethe im Jahre 1814 die Reise an den Rhein ange-
treten und ihn die frische Luft der thüringischen und hessischen Fluren um-
fangen, so entströmte seiner Brust oino Füllo von Liedern; er zählt sie in
Briefen an seine Frau auf. 888 )
Phänomen (Wenn zu der Regenwand); W. A. 17.
Liebliches (Was doch Buntes dort verbindet) ; W. A. 18.
Sollt* einmal durch Erfurt fahren; W. A. 278.
Zwiespalt (Wenn links an Baches Rand); W. A. 19.
Im Gegenwärtigen Vergangnes (Ros' und Lilie morgen-
thaulich); W. A. 20.
Dorb und Tüchtig (Dichten ist ein Übcrmuth); W. A. 24.
Lieblich ist des Mädchens Blick; W. A. 70.
Keinen Reimer wird man finden; W. A. 97.
Übermacht, ihr könnt es spüren; W. A. 99.
Wenn Du auf dem Guten ruhst; W. A. 100.
So lang man nüchtern ist; W. A. 205.
Und was im Pend-Nameh steht; W. A. 71. 387 )
***) Goethes Werke, Weimarer Ausgabe I, 7, 8. 300. — m ) Bezeichnung nach der
Hempclschen Ausgabe. — SM ) Weimarer Ausgabe I, 6, 8. 318. — **') Dieses und die folgenden
Gedichte tragen den Tag der Entstehung in der Unterschrift. Das Gcdioht ,der Jahrmarkt
zu Hünfeld" vom 26. Juli fand keine Aufnahme in den Divan.
7.
25. Juli
I, 9:
8.
I, 10:
9.
IV, 19:
10.
26." Juli
I, 11:
11.
I, 12:
12.
I, 15:
13.
ji
IV, 4:
14.
V, 2:
15.
V, 5:
16.
»»
V, 7:
17.
n
IX, 5:
18.
IV, 5:
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101
19. 27. Juli Y, 8: Als wenn das auf Namen ruhte; W. A. 102.
20. 29. Juli I, 16: Allloben (Staub ist eins der Elemente); W. A. 26.
L'ater»»g* iln
Diese zwanzig Gedichte brachte Goethe nachweisbar mit nach Wiesbaden
oder hatte sie vor seiner Ankunft gedichtet und vierzehn von ihnen auf der
Reise. „Denn, wie er Boisseree mitteilte" 8 ), kämen ihm die Gedichte auf ein-
mal und ganz in den Sinn, wenn sie recht wären; dann müsste er sie aber
gleich aufschreiben, sonst finde er sie nie wieder; darum hüte er sich auf den
Spaziergängen etwas auszudenken. Es sei ein Unglück, wenn er es nicht ganz
im Gedächtniss behalte; sob«ld er sich besinnen müsste, würde es nicht wieder
gut, auch ändere er selten etwas; ebenso sei es ein Unglück, wenn er Gedichte
träume, das sey meist ein verlorenes." So schrieb er No. 8 im Angesicht von
Erfurt, No. 11 zu Fulda Abends 6 Uhr, No. 15 ebenda 8 Uhr und 16 ebeuda
zur gleichen Stunde; No. 20 dichtete er unterwegs in der Nacht.
Nachdom Goethe in Wiesbaden um 11 Uhr in der Nacht des 29. Juli
eingetroffen war, ist er sogleich am 30. mit dem Divan beschäftigt. Kaum
hat er die erste Einrichtung getroffen, so schrieb er „Gedichte an Hafts" ab
und kehrte am Abend mit Zelter zu Hafis zurück; am 31. ist im Tagebuch
dreimal, Morgens vor und nach dem Bad sowie nach der Tafel wieder der
Divan notiert: „ Divan geordnet ... In obigem fortgefahren . . Fortsetzung
des obigen." Es werden die auf der Reise entstandenen Gedichte gewesen
sein, die er hier in Reinschrift niederschrieb und in (vorläufige) Ordnung brachte.
Dazu aber trat bald ein neues mit der Unterschrift W[ies]B[aden] d. 31. Juli
1814", Hempel I, 18; es trug früher die Überschrift „Sclbstopfer" (Wiesbadener
Register 52) oder „Buch Sud Gasele I.« Zu Grunde liegt dem Gedichte die
dem Orient beliebte Allegorie, nach welcher der Nachtfalter das Sinnbild
der treuesten, sich selbst opfernden Liebe ist; er umflattert das Licht, seine
Geliebte, die nie ihm sich ihr zu nähern gestattet, bis er am Ende sich seibat
in ihren Gluten verzehrt. Hafis:
Wie dio Kerze brennt die Seele
Hell an Liebeaflammon,
Und mit reinem Sinne hab ich
Meinen Leib geopfert.
Bis du nicht wie Schmetterlinge
Aua Begier verbrennest,
Kannat du nimmer Rettung finden.
Vor dem Gram der Liebe.
Und dieses Bild wird zum Ausdruck der GotteBÜebe erhoben:
Wirft «ich der Schmetterling dea Nachts in Kerzenschein,
Werft Kuch in Gottes Feuermeer hinein!"*)
Danach also dichtete Goethe am 31. Juli zu Wiesbaden:
(1.) Selige Sehnsucht.
Sagt ea niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
w ) S. Boiaser4e I, 261. - M ») Wurm S. 55 ff. t. Loeper zu I, 18.
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102
Das Lcbond'ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.* 411 )
In der Liebesn&ohte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Oberfallt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Korse"') leuchtet
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsterniss Beschattung,
Und dich reisset neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
•
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast 14 *)
Auf der dunklen Erde.
Auf diesen viel verheissenden Anfang verstummt plötzlich die Muse unseres
Dichters. Wir dürfen wohl annehmen, dass zunächst die wissenschaftlichen An-
regungen ihn zu sehr in Anspruch nahmen, vorab die mineralogischen Studien;
auch die Kur verlangte ihr Recht, Bosuche und der Verkehr mit den Freunden
traten dazu. Erst am Ende des folgenden Monats, den 31. August, schrieb
er wieder zwei Gedichte nieder. Das erste, Hemp. III, 16, W. A. 8. 61, früher
(Wiesb. Reg. 68) überschrieben »UnverwchrteB 4 , erhielt später die Überschrift
„Unvermeidlich* ; die ersten Zeilen erinnern an Hafis: Wer kann wohl gebieten
Still zu sein auf der Flur 548 )? Es lautet:
(2.) Unvermeidlich.
Wer kann gebieten den Vögeln
Still zu sein auf der Flur?
Und wer vorbieten zu zappeln
Don Schafen unter der Schur?
Stell ich mich wohl ungebärdig,
Wenn mir die Wolle kraus't?
Nein! Die Ungeberden entzwingt mir
Der Seherer, der mich zerzaus t
Wer will mir wehren zu singen
Nach Lust zum Himmel hinan,
Den Wolken zu vertrauen,
Wie lieb sie mir's angetfaan?
•*•) Diese Strophe steht bei Hang am Ende des Gedichtes: Kennet wohl der Pöbel —
Grosser Perlen Zahlwerth? — Gib die köstlichen Juwelen — Nur den Eingeweihten. — * 41 ) Die
stille Kerze ist das Licht des höheren Lebens, der irdischen entgegengesetzt v. Loeper.
— ***) Gaste auf Erden sind die Hensohen auch bei Firdusi (v. Loeper):
Die Welt ist ein Gasthof, pack auf, geh fort;
Hier geht ein Alter, ein Neuer kommt herein.
941 ) Wurm 8. 105.
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163
Das zweite Gedicht, früher „Glücklich Geheimnias* oder (Wieso. Reg. 69)
„Liebchen« üborechrieben, steht jetzt als „Geheimes* im Divan III, 7, W. A.
S. 62 und lautet:
(3.) Geheimes.
Über meine« Liebchens Augein. 144 )
Stehn verwundert alle Leute;
Ich, der wissende, dagegen
Weiss recht gut, was das bedeute.
Denn es heisst: ich liebe diesen,
Und nicht etwa den und jenen.
Lasset nur, ihr guten Leute,
Kuer Wundern, euer Sehnen!
Ja, mit ungeheuren Mächten
Blicket sie wohl in die Runde;
Doch sie suoht nur zu verkünden,
Ihm die nächste süsse Stunde.
Anregung gab Hafia:
Ober meines Liebchens Äugeln
Staunen alle Unerfahrne:
Ich bin so, wie ich erschoine,
Während sie es anders wissen.'**)
Am 29. August schrieb Goethe an Riemer: „Die Gedichte an Ilaiis sind
auf 30 angewachsen und machen ein kleines Ganze, das sich wohl ausdehnen
kann, wenn der Humor wieder rege wird." 3 * 6 ) Und er wurde während der
folgenden Monate wieder rege, besonders aber, als der Mai 1815 den Dichter
wieder an den Rhein führte, und wieder war es die Reise, welche ihm zuerst
eine grosse Anzahl Lieder entlockte. Gleich am ersten Tag derselben (24. Mai)
schrieb er zu Eisenach au seine Frau: „Kund und zu wissen jedermann, den
es zu wissen freut . . ., Dass mich unterwegs sogleich die guten Geister des
Orients besucht und mancherley gutes eingegeben, wovon Vieles auf das Papier
gebracht wurde."" 7 ) Und am 27.: „Mein Divan ist mit 18 Assessoren vermehrt
worden." Von diesen 18 Assessoren können wir sieben als zu Eisenach
am 24. Mai, sechs als zu Frankfurt am 27. Mai und einen als zu Wiesbaden
am 27. niedergeschrieben nachweisen; dazu tritt ein Gedicht vom 28. und ein
undatiertes vom Mai, zu Wiesbaden wenigstens abgeschlossenes:
1. am 24.: III, 10. Schlechter Trost. W. A. 57.
2. , : VIII, 2. Dass Suleika ... W. A. 144.
3. „ : VHI, 3. Da du nun Suleika heissest ... W. A. 145.
4. „ : IX, 6. Warum du nur oft so unhold bist? W. A. 206.
5. „ : X, 9. Vom Himmel steigend ... W. A. 235.
G. „ : X, 10. Es ist gut. W. A. 236.
7. „ : XI, 2. Wenn der Mensch ... W. A. 243.
Äugeln = freundlich blicken, liebäugeln. Grimm, Deutsches Wörterbuch I, 801.
- «») Wurm 8. 106. — sw ) Goethes Werke, Weimarer Ausgab« I, 6, 8. 319 - ■*'> Eben-
da S. 324.
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164
14. am 27. zu Wiesbaden
15. um 28. zu „
IG. Dez. 1814— Mai 1815
8. am 27. zu Frankfurt
I, 6. Geständnis. W. A. 13.
III, 12. Gruss. W. A. 59.
III, 15. Ergebung. W. A. 60.
IV, 6. Reitest Du . . . W. A. 72.
IV, 24. Ilüchste Gunst. W. A. 88.
IX, 7. Wenn der Körper . . . W. A. 207.
VII, 2. An Suleika. W. A. 139.
I, 2. Segenspfänder. W. A. 7 (zum Teil).
XII, 10. Siebenschläfer. W. A. 267.
Wie.bad.-n.
Nunmehr ruhete die Muse einige Zeit; es lagen etwa hundert Gedichte
vor, wie ein Brief vom 7. Juni besagt, der ganz aus der frohen Stimmung,
welche die Beschäftigung mit dem Orient hervorbrachte, geschrieben ist: „Die
Hosen blühen vollkommen, die Nachtigallen singen wie man es nur wünscht
und so ist es keine Kunst sich nach Schiras zu versetzen. Auch sind die neuen
Glieder des Divana reinlich eingeschaltet und ein frischer Adresskalender der
Versammlung geschrieben, die sich nunmehr auf hundert beläuft, die Beygänger
und kleine Dienerschaft nicht gerechnet." 848 ) Es war nun die erste Arbeit des
Aufenthalts zu Wiesbaden ein wohlgeordnetes Verzeichnis zu machen, und das
geschah nach dem Tagebuch am 27., 28., 29. und 30. Mai; am 30. war es
beendet Es führt den Titel: „Des deutschen Divans manigfaltige Glieder",
und umfasst hundert Nummern 849 ), in Kürze genannt „das Wiesbader
Register." In der endgiltigen Redaktion des Divan wurde es wieder ver-
lassen und durchaus umgestaltet.
Daneben liefen Studieu der Reisebeschreibung vou Tavernier**), dessen
Name am 31. Mai, 9., 11., 12., 13. und 14. Juni im Tagebuch vorkommt;
auch am 8. Juli, am 9., 12. ist der Divan, am 20. „Orientalisches* angemerkt.
Von Tavernier heisst es in den Noten zum Divan: „Tavernier, Goldschmidt und
Juwelenhändler [im 17. Jahrhundert], dringt mit Verstand und klugem Betragen
... an die orientalischen Höfe und weiss Bich fiberall zu schicken und zu
finden. Er gelangt nach Indien zu den Demantgruben . . . Dessen hinterlassene
Schriften sind höchst belehrend.*
Zu Wiesbaden sind nach den Unterschriften im Jahre 1815 folgende
Gedichte des Divan niedergeschrieben, gedichtet oder endgiltig redigiert 5 "):
1. An Suleika, VII, 2, im Wiesbadener Register 58 »Rosenöl" über-
schrieben, am 27. Mai. Um auch nur eine kleine Menge Rosenöl zu erhalten,
bedarf man eine grosse Anzahl von Rosen; mit diesem Gedanken ist verbunden
die im Orient beliebte Anschauung von der Liebe der Nachtigall (Bulbul) zur
Rose. Wie Timur Tausende von Menschenschädeln zum Bau eines Turms ver-
wendete, so dürfen wir auch die Rosen zu unserem Vergnügen gebrauchen. 3 **)
»*•) Ebenda 8. 324. - •*•) Abgedrückt ebenda 8. 314 f. — 8. No. 10 (Lektüre)
und die Noten und Abhandlungen cum besseren Verständnis des wett-Oetlichen Divan. "Weira.
Ausg. I, 7 8. 214. — Ml ) Die litterarisohen Notizen stützen sioh vornehmlich auf die Aumerk-
ungeu von Hurdach in der Weimarer Ausgabe de* Divan, I. Ii, 313 ff. — Wurm S. 182.
v. Loeper, Annierk. zu dem Gedicht.
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165
An Suleika.
Dir mit Wohlgeruch zu kosen SM >, Einer Welt von Lebenatrieben,
Deine Freuden zu erhöh n, Die in ihror Fülle Drang
Knospend müssen tausend Rosen Ahneten schon BullmU Liehen,
Erst in Qluthen untergehn. Seelerregenden Gesang.
Uni ein FlSschchen zu besitzen Sollte jene Qual uns quälen,
Das den Ruch'*') auf ewig halt, Da sie unsre Lust vermehrt?
Schlank wie deine Fingeropitzen, Hat nicht Myriaden Seelen
Da bedarf es einer Welt, Timurs Herrschaft aufgezehrt?
2. Segenspfänder, I, 2, "WieBb. lieg. 4. Schon am 1. Januar 1815
erwähnt das Tagebuch die zweite Strophe mit etc. (Amuletc etc.), am
3. August las Goethe S. Boisseree vor Talismane, Amulete, Abraxas, Siegel-
ring der Araber = erste, zweite, vierte und fünfte Strophe. Zum 28. Mai
1815 bemerkt das Tagebuch: Talismane, Amulete, und das Wiesb. Reg. 5: Talis-
mane, Amulete, Abraxas und Siegel. Wenn auch alle diese Bezeichnungen von
I, 2 nicht ganz zutreffen, so beweisen sie doch, dass ein Gedicht dieses Inhalts
vorgelegen hat, also die vier Strophen fertig waren ; die dritte mag nachher ein-
geschoben sein, und zwar im Anschluss an das jambische Metrum der fünften
im Gegensatz zu dem trochäischen der anderen ; dieser Wechsel der Metra soll
vielleicht den Gegensatz der Zaubermittel des Orients zu den Symbolen des Occi-
dents, Siegeln und Inschriften, auch äusserlich kennzeichnen.
Zum Verständnis des Gedichtes bemerken wir, dass Talisman, persisch
Telisme, = Bezauberung ist, heute gewöhnlich eine Inschrift auf Stein, Onyx,
Carneal u. s. w., dass Amulet, arabisch Hamele, ein mit einem frommen
Spruch beschriebenes Papier ist, und die Talismane meist von Frauen, die
Amulete von Männern getragen werden. Abraxas war der Name der Talis-
maue bei den Gnostikern: die Buchstaben als griechische Zahlzeichen ergeben die
Zahl 365, die Zahl der Engel und Himmel; die Inschriften und eingegrabenen
Bilder waren oft seltsam, wie die vierte Strophe und der Spruch der zahmen
Xenien besagt:
Nichts schrecklicheres kann den Menschen gesclieh'n,
Als das Absurde verkörpert zn seh'n.»**)
Segenspfänder.
Talisman in Carneol
Gl&ub'gen bringt er Glück und Wohl;
Steht er gar auf Onyx Grunde,
Kflss ihn mit geweihtem Munde!
AlleB Übel treibt er fort,
Schützet dich und schützt den Ort:
Wenn das eingegrabne Wort
Allahs Namen rein verkündet,
Dich zu Lieb 1 und That entzündet.
Und besonders werden Frauen
Sich am Talisman erbauen.
'"'» Vgl. Hildebrand im Deutschen Wörterbuch V, 1845: mit Dativ, wie früher lieb-
kosen und wie schmeicheln. — a *'j Ruch — Geruch, veraltet, aber noch bei Dichtem hie und
da in Gebrauch. Heyne im Deutschen Wörterbuch VIII, 1340. - s ■*> Wurm S. 31 n".
12
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1GG
A mutete aind dergleichen
Auf Papier gcschriebne Zeichen;
Doeli man ist nicht im Gedrängo
Wie auf edlen Steines Enge,
Und vergönnt ist frommen Seelen
Längre Verse hier *u wählen.
Männer hangen die Papiere
Gläubig um als Scapulire.
Die Inschrift aber hat nicht» hinter sich,
Sie ist sio selbst, und rauss dir alles sagen,
Was hinterdrein mit redlichem Behagen
Du gerne sagst: Ich sag' es! Ich!
Doch Abraxas bring' ich selten I
Hier soll meist das Fratzenhafte,
Das ein düstrer Wahnsinn schaffte,
Für das Allerhöchste gelten.
Sag 1 ich euch absurde Dinge,
Denkt, dass ioh Abraxas bringe.
Ein Siegelring ist schwor zu zeichnen,
Den höchsten Sinn im engsten Kaum;
Doch weisst du hier ein Echtes anzueignen,
Gegraben steht das Wort, du denkst es
3. Auch die „Siebenschläfer*, XII, 9, aind wahrscheinlich schon früher
entstanden, da das Tagebuch am 29. Dezember 1814 notiert „Siebenschläfer" ;
die Unterschrift lautet „Jena [wohl verschrieben statt Weimar] 1 *) Ende Dec.
bis Mai 1815. W i es b "Jaden]; da das Gedicht im Wiesb. Reg. 99 genannt ist,
muss es vor dem 30. Mai niedergeschrieben sein. Die Erzählung verbindet die
Sage des von einer Fliege vorfolgten Nimrud, des Götzendieners, der dem
Abraham nach dem Leben trachtete, und die Legende von den Siebenschläfern,
die, wegen ihres Glaubens von Kaiser Decius (249-251) verfolgt und samt
ihrem treuen Hunde eingemauert, unter Theodsiua 11. (408—450) aus ihrem
Schlafe erwachten.* 5 )
Siobenschläfer.
Sechs Begünstigte des Hofes Nun — so sagen sich die Knaben —
Fliehen vor dos Kaisers Grimme, Sollt' ein Flieglein Gott vorhindern?
Der als Gott sich lässt verehren, Sollt' ein Gott auch trinken, speisen.
Doch als Gott sich nicht bewährt: Wie wir andern? Nein, der Eine,
Denn ihn hindert eine Fliege Der die Sonn' erschuf, den Mond auch,
Guter Bissen sich zu freuen. Und der 8terne Gluth uns wölbte,
Seino Diener scheuchen wedelnd, Dieser ist's, wir fliohn! - Die zarten
Nicht vorjagen sie die Fliege. Leicht beschuht-, beputzten Knaben
8ie umschwärmt ihn, sticht und irret Nimmt ein 8chäfer auf, verbirgt sie
Und verwirrt die ganze Tafel, Und sich selbst in Felsenhöhle.
Kehret wieder wie des häm'schen
Flicgellgotte8 ,, ") Abgesandter.
Schäfershund er will nicht weichen,
Weggescheucht, den Fuss zerschmettert,
***) Goethe verweilte vom 7. — IS. Dezember in Jena; am Ende des Monats, vom IS. an,
war er wieder in Weimar. S. Tagebuch. ~ *» T ) Die Quellen gibt an Wurm 8. 272 ff. Vgl.
v. Loepers Anmerkungen. — 9M ) Fliegengott = Beelzebub.
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IGT
DrSngt er sich an seinen Herren,
Und gesellt sich zum Verborgnen,
Zu den Lieblingen des Schlafes.
Und der Fürst, dem sio entflohen,
Liobentrüstet, sinnt auf Strafen,
Weiset ab so Schwert als Feuer,
In die Höhle sie mit Ziegeln
Und mit Kalk sie lässt vermauern.
Aber jene schlafen immer,
Und der Engel** 9 ), ihr Beschützer,
Sagt vor Gottes Thron berichtend:
So zur Rechten, so zur Linken
Hab' ich immer sie gewendet,
Dass die schönen jungen Glieder
Nicht dos Moders Qualm verletze.
Spalten riss ich in die Felsen,
Dass die Sonne steigend, sinkend,
Junge Wangen frisch erneute:
Und so liegen sie beseligt. —
Auch auf heilen Vordorpfoteu,
Schläft das Hündlein sübsod Schlummer.
Jahre fliehen, Jahre kommen,
Wachen endlich auf die Knaben' 60 .»,
Und die Mauer, die vermorschte,
Altershalben ist gefallen.
Und Jamblika 5 *') sagt, der Schöne,
Ausgebildete von allen,
Als der Schäfer fürchtend zaudert:
Lauf ich hin! und hol' euch Speise,
Leben wag" ich und das Goldstück! —
Ephesus, gar manches Jahr schon,
Ehrt dio Lehre des Propheten
Jesus. (Friede sei dem Guten!)
Und er lief, da war der Thorc
Wart 1 und Thum und alles anders.
Doch zum nächsten Bäckerladen
Wandf er sich nach Brot in Eile. -
Schelm! so lief der Bäcker, hast du,
Jüngling, einen Schatz gefunden !
Gib mir, dich verräth das Goldstück,
Mir die Hälfte zum Versöhnen!
Und sie hadern. — Vor den König
Kommt der Handel; auch der König
Will nun theilen wie der Bäcker.
Nun bethätigt sich das Wunder
Nach und nach aus hundert Zeichen.
An dem selbsterbauten Palast
Weiss er sich sein Recht zu sichern.
Denn ein Pfeiler durchgegraben
Führt zu scharfbenams'ten Schätzen.
Gleich versammeln sich Geschlechter
Ihre Sippschaft zu beweisen.
Und als Ururvator prangend
Steht Jarablika's Jugcndfülle.
Wie von Ahnherrn hört er sprechen
Hier von seinem Sohn und Enkeln.
Der Urenkel Schaar umgibt ihn,
Als ein Volk von tapfern Männern,
Ihn den jüngsten zu verehren.
Und ein Merkmal Qber's andre*
Dringt sich auf, Beweis vollendend;
Sich und den Gefährten hat er
Dio Persönlichkeit bestätigt.
Nun zur Höhle kehrt er wieder,
Volk und König ihn geleiten. —
Nicht zum König, nicht zum Volke
Kehrt der Auserwählte wieder:
Denn dio Sieben, die von lang her,
Achte waren's mit dem Hunde,
8ich von aller Welt gesondert,
Gabriels geheim Vermögen
Hat, gemäss dem Willen Gottes,
Sio dem Paradies geeignet 3 «*),
t'nd die Höhle schien vermauert.
4. „Frage nicht, durch welche Pforte", IV, 12, ist mit der Über-
schrift versehen: „Meinem Sohn, zum dreissigsten Mai 1815", und mit der
Unterschrift: „Wiesbaden. Goethe", nach dem Tagebuch aber am 10. Juni 1815
verfasat oder abgeschickt; es war ein Glückwunsch zum fünfzigjährigen Dienst-
jubilüum des Geh. Ilofrats Kirms und des Geh. Rats Schardt zu Weimar und
**•) Gabriel, der auch am Ende des Gedicht« mit seinem Namen genannt ist. — **") Unter
Kaiser Theodosius II, 408—459, wie oben bemerkt wurde, nachdem sio 184 Jahre geschlafen
hatten. — **') Jamlicha bei Hammer, nach andern Berichten Jamlcekha und Dschemlicha,
beides = Jamblichus; er war der älteste der 8chläfcr und ging den anderen in Allem voran.
— "*') Dio sieben Schläfer und ihr Huud sind zu der Ehre besondere Schutzherren zu sein
gelangt; der Schäfer hios* Habil (Abel), der Hund Kitmir; die Namen der anderen, auch die
christlichen s. bei Wurm S. 275.
12*
1G3
durch die Reise verspätet. Die Urschrift, veröffentlicht im März 1858 in ver-
schiedenen Zeitungon nach einem Blatt, das im Besitz des Kreiarichters Krakow
in Ziegenruck war, enthielt sieben Strophen, von denen nur die vier ersten in
dem Divan Aufnahme fanden; v. Loeper fügt die fünfte hinzu. Das ganze
Gedicht lautet nach der Weimarer Ausgabe:
Frage nicht durch welche Pforte
Du in Gottes 8tadt gekommen,
Sondern bleib am stillen Orte
Wo du einmal Platz.
Schaue dann umher nach Weisen
Und naoh Mächt'gen, die liofehlen;
Jene werden unterweisen.
Diese That und Kräfte stählen.
Wenn du nützlich und gelassen
So dem Staate treu geblieben,
Wisse! niemand wird dich hassen
Und dich werden viele lieben.
Und der Fürst erkennt die Treue,
Sie erhält die That lebendig;
Dann bewährt sich auch das Neue
Nächst dem Alten auch beständig.
Und vollbringst du, kräftig milde,
Deiner Laufbahn reine Kreise,
Wirst du auch zum Musterbilde
•T fingeren nach deiner Weise,
So Ihr beiden, heut gefeiert,
Vor Tiel Tausenden erlesen.
Fühlet jene Pflicht erneuert.
Die Euch heilig stets gewesen.
Sei dem fröhlichen Vereine
Dieses späte Lied entschuldigt,
Das, vom alten deutschen Rheine,
Eurem schönen Tage huldigt.
5. „Süsses Kind, die Perleureihen", VIII, 17, ist wio No. 2 u. 3 früher
gedichtet, da es in dem Wiesb. Reg. 62 (Abraxas) verzeichnet ist, aber nach
der Unterschrift zu Wiesbaden am längsten Tage 1815 redigiert und um 8. August
Boisseree vorgelesen, der es als zu bitter, hart und eiuseitig zu verwerfen riet 3 * 5 );
doch wurde es später als 17. Gedicht des achten Buches aufgenommen; in der
Weimarer Ausgabe steht es unter dem Nachlass. Die Uberschrift „au Suleika"
ist von Eckennann zugefügt, Boisseree nennt es .Hass des Kreuzes", nicht
gauz mit Recht; denn er verkennt, dass dieser Hass oder vielmehr diese Ab-
neigung, die doch eigentlich nur der Darstellung des Gekreuzigten gilt, aus
Liebe zu der Trägerin des Kreuzes überwunden wird. Chosroes Parvis, König
des Perserreiches, aus dem Geschlechte der Sassaniden (591 bis 028), hatte
seiner Gemahlin Sira oder Schirin (= die Süsse), deren Schönheit, Verstand
und musikalische Talente in den Dichtungen der Perser viel gepriesen werden,
eine kostbare Perlenschnur geschenkt, an der er einst ein Kreuz (Boisseree sagt:
von Bernstein) befestigt findet; denn sie war zugleich eine fromme Christin
zum Leidwesen der Perser, die deswegen dem Chosroes die Verbindung mit
ihr zu verleiden suchten, und auch er mag nicht die „moderne Narrheit*" 1 ),
einen „Abraxas", das „Jammerbild am Holze", so sehr er auch die Vorgänger
Christi, Abraham, Moses und David, sowie Christus selbst wegen ihres Glaubens
an den einen Gott feiert; zu ihnen gesellt er — vorgreifend — Mahomed,
während Salomo sich habe verführen lassen viele Götter anzubeten. Und so
Ms ) S. Boisseree I, 265.- ,M i Boisseree sagt lUör- oder Schreibfehler?): .nordische <T.
Narrheit."
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16!)
will auch er wider seiue Überzeugung und seinen Glaubon aus Liebe zu Schirin
das Kreuz an ihrem Ilaiso sich gefallen lassen, ja sogar einen Vitzliputzli, der,
ein mexikanes Götzenbild, im Muude dos Chosroes sich freilich sonderbar
ausnimmt.
Wir lasson nunmehr das Gedicht nach dem Texte der Weimarer Aus-
gabo folgen.
Süsses Kind, die Pcrlenreihon,
Wie ich irgend nur vermochte,
Wollte traulieh dir verleihen,
Als der Liebe Lampendoohto.
Und nun kommst du, hast ein Zeichen
Dran gehangt, das, unter allen
Don Abraxas seinesgleichen,
Mir am schlechtsten will gefallen.
Diese ganz moderne Narrheit
Magst du mir nach Schiras bringen!
Roll ich wohl, in seiner Starrheit,
llölzchen quer auf Hölzchen singen?
Abraham, den Herrn der 8terne
Hat er sich zum Ahn erlesen;
Moses ist, in wüster Ferne,
Durch den Einen gross gewesen.
David aueb, durch viel Gebrochen,
Ja, Verbrochen durch gewandelt,
Wusste doch sieh los zu sprechen:
Einem hab' ich rocht gehandelt.
Jesus fühlte rein und dachte
Nur den Einen Qott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte
Krftnkte seinen heil'gen Willen.
Und so muss das Rechte scheinen
Was auch Mahomot gelungen;
Nur durch den Begriff des Einen
Hat er allo Welt bezwungen.
Wenn du aber dennoch Huld'gung
Diesem leid'gen Ding verlangest;
Diene mir es zur Kntschuld'gung
Dass du nicht alloino prangest. —
Doch allein! — Da viele Frauen
Salomonis ihn verkehrten,
Götter betend anzuschauen
Wie die Narrinnen vorehrten.
Isis Horn, Anubis Rachen
Boten sie dem Judenstolze.
Mir willst du zum Gotte machen
8olch ein Jammerbild am Holze!
Und ich will nicht besser scheinen
Als es sich mit mir cr&ugnet,
Salomo verschwur den seinen,
Meinen Gott hab' ich vcriaugnct.
Lass die Renegatenbürde
Mich in diesem Kuss verschmerzen:
Denn ein Vitzliputzli würde
Talisman an deinem Herzen.
An die Besprechung des Gedichtes mit Boissorec knüpft Goethe, als jener
es zu verwerfen riet, folgendes an, „er wolle es seinem Sohn zum aufheben
geben, dem gebe er alle seine Gedichte, die er verwerfe; er habe eine Menge,
besonders persönliche und zeitliche. Es sey nicht leicht oine Begebenheit, wo-
rübor er sich nicht in einem Gedicht ausgesprochen. So habe er seinon Ärger,
Kummer und Verdruss über die Angelegenheiten des Tages, Politik u. s. w.
gewöhnlich in einem Gedicht ausgelassen, es sey eine Art Bedürfnis und Herzens-
erleichtcrung, Sodes p. Er schaffe sich so die Dinge vom Halse, wenn er sie
in ein Gedicht bringe. Sonst habe er dergleichen immer verbrannt, aber sein
Sohn verehre alles von ihm mit Pietät, da lasse er ihm den Spass.*
6. Firdusi spricht; IV, 26. Auch dieser Titel steht schon im Wiesb.
Reg. 49, und wenn unter dem Ganzen als Tag der Abfassung der 1. Juli 1815
bemerkt ist, so bezieht sich dies auf den letzten Teil desselben. Nach Notizen
im Tagebuch vom Dezember 1814 und Februar 1815 werden die zwei ersten
Teile in diesem Winter gedichtet sein, Der ersto Teil ist dem Scbah-Nameh
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170
Firdusis entlehnt (Fundgruben TT, 04), der zweite Goethes Entgegnung, der
dritte eine selbständige Ausführung des Begriffes Reichtum im Sinne des Orients
als Genügsamkeit.
Firdusi spricht.
O Wolt! wie schamlos und boshaft du List!
Du nShrst und erziehest und tödtest zugleich.
Nur wer von Allah begünstiget ist,
Der nährt sich, erzieht sich, lebendig und reich.
Was heisst denn Roichthum? Eine wSrmendo Sonno,
Ocniesst sie der Bettler, wie wir sie gemessen!
Es möge doch keinen der Reichen vordriessen
Des Bettlers im Eigensinn soligo Wonne.
7. Dem Kellner. Dein Schenken, IX, 8. Dieses Gedicht muss eben-
falls dio nachbessernde Hand im Jahre 1815 erfahren haben: es steht schon
im Wiesb. Tieg. 74, ist also danach vor dem 30. Mai 1815 gedichtet, trägt
aber die Unterschrift: 1. 7. 15. Es bezieht sich auf den Kellner, der Goethe
auf dorn Geisberg bediente und von Boisseree zweimal erwähnt wird, einmal
als ein schöner, freundlicher, blonder Aufwärter, dann als schöner, junger,
blonder Kellner bezeichnet. 565 ) An der zweiten Stelle sagt Boisseree ausdrück-
lich, dass dieser der Gegenstand des Gedichtes sei. Das Gedicht stellt diesem
als freundlichen Schenken einen groben Kellner entgegen.
Dem Kellner.
Setze mir nicht, du (Jrobian,
Mir den Krug so derb vor die Nase!
Wer mir Wein bringt sehe mich freundlich au,
Sonst trübt sich der Eilfer im Olase.
Dem Schenken.
Du zierlicher Knabe, du komm herein,
Was stehst du denn da auf der Schwelle?
Du sollst mir künftig der Schenke sein,
Jeder Wein ist schmackhaft und helle.
Wir habon schon mehrfach bemerken müssen, dass Goethe im August
des Jahres 1815 Gedichte des Divan seinem Freunde Sulp. Boisseree vorlas.
Dass er das Bedürfnis hatto dies zu thun, ist ein Beweis, wie sehr er in diesen
damals ihn ganz erfüllenden Schöpfungen lebte, wie befriedigt er sich in dem
Godaukenkreise des Orients fühlte. Und da or wohl dasjenige zur Mitteilung
au den in einer ganz anderen Welt stehenden Romantiker auserwählte, was
ihm am geeignetsten schien in die Anschauung des Orients einzuführen und
nach seiuor Ansicht am besten geluugen war von den vollendeten Gedichten,
so ist es nicht ohne Interesse diesen Punkt weiter zu verfolgen und die Reihe
der vorgelesenen Gedichte zusammen zu stellen; unter den Text Boisserees
setzeu wir die Stelleu, wo dio betreffenden Stücke sich in der Hempelschen
S. Boisserce I, 2:»!», 2tW.
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171
und Weimarer Ausgabe sowie im Wiesbadener Register finden nebst dem Tage
ihrer Entstehung, wenn dieser bekannt ist. Für einige glauben wir von den
Bemerkungen der Weimarer Ausgabe, der wir sonst viel verdankeu, abweichen
zu müssen.
.[Arn 3. August 1815]. Er las mir, berichtet Boisseroe, eine sinnreiche
Introduktion, eine Exposition des ganzen Oriontalismus und seines eigenen
Verhaltens dazu vor. Dies letzte zuerst anfangend von dem Gegensatz der
Zeit und Trost suchend im Orient. (1.) Talismane, Anmiete, Abraxas, Siegel-
ring der Araber. (2.) Hafiz, der Korankundige, wurde zum Eigennamen
des Dichters; Goethes Gedicht an ihn vergleicht sich mit ihm, weil er sich die
Bibel angeeignet, wie das göttliche Angesicht sich auf das Tuch abgedrückt hat. (3)
„4. August. Nach Tische besprach er die Fortsetzung des Divan: das
Rosenöl (4.); behandelt dio Weiber mit Nachsicht (5.); Spiel in den Locken (6.);
Hans Adams Geburt (7.); der Tulbend (8.); Freude der Freigebigkeit (9.); Vor-
sprechungeu des Liebhabers (10.) Alle Pracht des Orients hat doch am Ende
nichts Höheres, wie die liebenden Herzen. Stolz der Armut dos Liebenden
und viele andere herrliche, prächtige und anmutige Dinge. Ich sagte Goethe,
dass es mich an Faust erinnere, wegon der Grossartigkeit und Kühnheit und
doch wieder in der Natürlichkeit und Einfachheit der Sache und in der
Form und Sprache, was ihm dann ganz recht und lieb war.
Utmpel*
Weimarer
Aa*f*be.
Wiesbadener
i.
I, 1.
5.
3. Hegire.
21. XII. 14.
Ilegire. Nord und West und Süd.
2.
I, 2.
7.
4. Segons-
pfXnder.
1.1.15.28 V.15.
Segen8pflnder. Talisman in Carneol.
3.
II, 1.
33.
H.Bojnahme.
26. VI. 14.
Beiname. Mohamet Sohemseddin sage.
4.
vir, 2.
139.
58. Rosenöl.
27. V. 15.
Au Suleika. Dir mit Wohlgeruch zu
kosen.
5.
IV, 15.
SO.
30. Adam und
Eva.
Bebandelt die Frauen mit Nachsicht.
6.
III, 6.
54.
27. Locken.
Versunken. Voll Lookon kraus an Haupt
so rund.
7.
I, 8.
16.
17. Urvater.
21. VI. 14.
Erschaffen und Beloben. Hans Adam war
ein Erdenkloss.
8.
VIII, 14.
155.
31. Tulbend.
17. II. 15.
Komm, Liebchen, komm ! Umwinde mir
die Mutze.
9.
IV, 4.
70.
24. Schön
Bittende.
26. VII. 14.
Lieblich ist des Mädchens Blick, der
winket.
10.
VIII, 16.
158.
57.Überboten.
17. II. 15.
Hätt' ich irgend wohl Bedenken.
„Den 6. August [Sonntag Nachmittag, als Goethe von Biobrich zurück-
kam]."*) Nachher Gespräch über den Divan. Entstehen^] (11.); Lob des
***) Zum Vormittag und Naohmittag des «. August hat Boisseroe vergessen das Datum
zu bemerken; dass die betr. Stelle dem 6. angehört, geht daraus hervor, dass Goethe an diesem
Tage, einem 8onntage, in Biebrich an der herzoglichen Tafel war.
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172
Weins (12.); Frechheit gegen das Gesetz (13.); Die Perle (14.); Unwillen
über die Deutschen (15.); ihre Neuerungsucht und Zerstreuung (16.)
„Sonntag am 6. Abends las mir Goetho wioder einen Teil aus seinem
Dt van vor, worunter das schönste „Adam und Eva* (17.) war, wie der Schöpfer
sie macht und seine Freude au ihnen hat. Er legt dem Adam die Eva an die
Seite, uud möchte dubei stehen bleiben. Ein Bildchen, eine Idylle von der
schönsten, reinsten Naivität und wieder der höchsten Grösse; es machte mir
den Eiudruck wie das beste plastische Werk der Griechen. Dann las er, wie
Jesus das Evangelium gebracht hat und wieder mit zum Himmel genommen
hat (18.) Aber was dio Jünger, jeder auf seine Art davon behalten, verstanden
und missverstanden, ist soviel, dass die Menschen genug daran haben für immer
zu ihrem Bedarf. Liebesgedichte (19.) Was ich verlange, ist nur wenig;
aber für die Geliebte alle Schätze. Ein prachtvolles Stück, worin alle Herrlich-
keit und der ganze Handel des Orients vorkömmt; wo alle Elemente, alle
Kräfto der Natur und Menschen in Bewegung gesetzt werden, um der Geliebten
Geschenke zu bringen, die ihr aber doch nichts sind gegen die Freuden der
Liebe. Dio Feueranbeter der alten Parseu (20.) Ein solcher stirbt und spricht
seine Lehre als Vermächtniss aus. Verehrung der Sonne, durch Ordnung und
Reinlichkeit, damit sie sich nicht betrübe, den Schmutz und Wüstenei der
Menschen uud Erde zu sehen. (Stiftung, eine Gasse zu reinigen, damit die
Sonne mit Freuden hinein scheine.) In demselben Bezug, Ackerbau. (Auf
ähnliche humane Weise erklärt Goethe sich die Verehrung der Kuh, als nütz-
lichstes Haustier, und des goldenen Kalbes, und sey also nicht gar so absurd
und abgeschmackt, als es aussehe.) Verehrung der Feuers als irdischer Sonne. 14
Hon pel«
Weimarer
Wi«»t)»<l.n»r
An* gab«.
Aufgabe.
KegUter.
11.
IX, 3.
203.
34. Koran u.
12.
JX, 4.
204, 1.
Becher.
i43.Truncken-
13.
IX, 4.
204, 2.
1 heit.
14.
X, 4.
230.
33. Perle
Wider-
»pänstig.
15.
V, 4.
98.
92. Leidiger
Trost.
10.
V. 8.
102.
47. Lsnds-
leute.
17.
X, 10.
2<Jb.
(»0. Gottesge -j
danken.
1H.
X, 9.
233.
59. Evange-
lium.
19.
VIII, 15.
156.
56. Kayscr-
gaben.
20.
XI, 1.
239.
05. Vermacht-
j nis.
Uedirhtet.
20. V. 15. Ob der Koran von Ewigkeit sei?
7. II. 15.
Trunken müssen wir alle sein!
Da wird nicht mehr nachgefragt!
Die Perle die der Muschel »ich
27. VII.
23. XII.
24. V. 15.
24. V. 15.
1 7. III
17. III. j
17. V. I
];..
Befindet sich einer heiter und gut.
Als wenn das auf Namen ruhte.
Es ist gut.
Vom Himmel steigend Jesus bracht*.
Nur wenig ist» was ich verlange.
Vermächtnis altpcrsischcn Olaubons.
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173
„Dienstag den 8. Abends liest Goethe wieder Stücke aus dem Divan.
Der Wenko (1. Schenke) (21.) Kuss auf die Stirno (22.) Eifersucht. Das
Mädchen sey eine böse ermüdende Liebhaberei für den alten Freund. Da«
Ganze als ein edles, freies pädagogisches Verhältniss, als Liebe und Ehrfurcht
der Jugend gegen das Alter; vorzüglich schön ausgesprochen in einem Gedicht:
die kürzeste Nacht (23.), wo Morgenroth und Abondroth zugleich am Himmel
sind. Astronomie Ethik. Ein andres Gedicht bezieht sich auf den schönen,
jungen, blonden Kellner auf dem Geisberg (24.)
„Timurs Wintorfcldzug. (25.) Parallelstück zu Napoleons Moskowitischem
Feldzug. Kriegsrath. Der Winter tritt redend auf gegen Mars; Fluch oder
Vcrheissung; groäs, gewaltig. Hass des Kreuzes. (26.) Schirin hat ein Kreuz
von Bernstein gekauft, ohno es zu kennon; ihr Liebhaber Cosken (1. Chosroes)
findet es an ihrer Brust, schilt gegen die westlich nordische (I. modische) Narr-
heit u. s. w. Zu bitter, hart und einseitig, ich rathe es zu verwerfen.* Vgl.
oben S. 168.
HcnipcU
Weimartr
Wle»b«d«o«r
Gedichtet.
21.
IX, 16.
215.
78. Schwän-
Okt. 14.
Schenke.
oben und
Schwan.
22.
IX, 9.
2(W.
75. DesSehen-
Okt. 14.
Schenko spricht.
ken Eifer-
sucht.
23.
IX, 20.
220.
89. Sommer-
1(5. XII. 14.
Sommernacht.
nacht.
24.
IX, 8.
208.
74. Kellner u.
1. VII. 15.
I Dem Kellner.
Schenke.
1 Dem Schenken.
25.
VII, 1.
137.
84. Winter u.
11. XII. 14.
Der Winter uud Timur.
Timur.
2«.
VIII, 17.
288.
62. Abraxas.
Redigiert am
Süsses Kind, die Pcrlonrcihen.
Nach)«*.
längsten Tage
1815.
Es sind also vorgelesen
aus Buch I: 3 Gedichte;
„ II: 1 Gedicht;
• III: 1
-
TT n ' • - »
„ „ VI: nichts;
„ IV: 2 Godichto;
. V: 2
aus Buch VII: 2 Gedichte;
. » VTTI: 4 ,
n n IX: 7
r n X: 3 „
XI: 1 Gedicht;
„ „ XU: nichts.
2. Im Herbst des Jahres 1813 begann Goethe die Dichtung einer Oper,
deren Titel „der Löwenstuhl" sein sollte. Das war bisher aus den Annaion 1813
bekannt, wo es heisat: „Der Löwenstuhl, eine Oper, gegründet auf die alte
Überlieferung, dio ich nachher in der Ballade »Die Kinder sie hören es gern"
ausgeführt, geriet ins Stocken uud vorrharrte darin." Die letzte Bemerkung
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174
ist jedoch nicht ganz zutreffend. Im Tagebuch erscheint der Name der Oper
Löwenstuhl zuerst am 28. Oktober 1813, dann am 29. die Worte, welche auf
sie hinweisen: „die Kinder sie hören es gerne", am 30.: „die Kinder pp." t
am 31.: Es hörens die Kinder so gerne', und endlich am 20. November: „Die
Kinder sie hören pp.° Indessen kehrt der Dichter im Jahre 1814 noch zwei-
bis dreimal zu diesem Stoffe zurück; auf der Reise nach Wiesbaden entwarf
er den Plan zu der Oper, sei es am 27. Juli, als er von Fulda bis Hanau
fuhr, wio eino Notiz besagt**'), odor zu Hanau am 28., wo das Tagebuch den
„Plan des Löwenstuhls* anfuhrt — wenn nicht beidos zusammenfällt und
irgend ein Gedächtnisfehler bei der ersten Aufzeichnung mituntergelaufen ist.
Aber auch am 1. August ist der Löwenstuhl im Tagebuch genannt: „Schema
des Löwenstuhls" — und danach erst geriet die Dichtung ins Stocken und
verharrte darin, bis sie später in die Form einer Ballade umgegossen und von
Goethe selbst einmal als „Die Sänger und die Kinder" 1 **) benannt, von Späteren
als „Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen" betitelt wurde.
Der Umstand, dass Goethe die Oper in Wiesbaden — am 1. August 1814 —
noch einmal vornahm, veranlasst uns ihr einige Worte zu widmen.
Den Stoff entnahm er, wie die Noten zu der Ballade berichten, oiner
altenglischen Erzählung, die unter der Regierung der Königin Elisabeth nieder-
geschrieben wurde."**) Nach ihr war der Sohn des bei Evesham am 4. August
1265 im Kampfe mit König Heinrich von England gefallenen Grafen von
Leicester, Heinrich von Monfort, in der Schlacht des Augenlichts beraubt, aber
gerettet worden und wählte nunmehr das Los eines Bettlers; seine schöne
Tochter jedoch erweckte die Liebe eines Ritters, dem sie auch ihre Hand reichte;
auf der Hochzeit erschien ihr Vater und trägt zur Laute eiu Lied vor, iu
welchem er sich als Sohn des Grafen zu erkennen gibt. Diesen Stoff bildete
unser Dichter durch Benutzung von einer Erzählung in Boccaccios Decamerone
(II, 8) um; in ihr wählt ein Graf freiwillig, veranlasst durch Verläumdungen
der Königin von Frankreich, das Los eines Bettlers, bis die Nichtigkeit jener
Beschuldigungen nach dem Tode der Königin an den Tag kommt; aus ihr
entnahm insbesondere Goetho das Motiv, welches in dem wiederkehrenden „die
Kinder sie hören es gerne" enthalten ist, da die Kinder seiner ihn nicht er-
kennenden Tochter den freundlichen Bettler liebgewinnen, und ferner die harteu
Worte, welche der Gemahl der Tochter des Bettlers wegen deren Freundlichkeit
gegen diesen an sie richtet. Neu hinzu that er den Hintergrund, in dem er
die Vertreibung und Rückkehr dos Grafen an grosse politische Kämpfe, den
Sturz und die Wiedereinsetzung des rechtmässigen Königs, anknüpft.
Von der Dichtung Löwenstuhl sind im Jahre 1892 aus dem Nachlasse
Goethes in dem 12. Bande der ersten Abteilung der Weimarer Ausgabe folgende
Stücke veröffentlicht worden: I. der Plan des Löwenstuhls, S. 421 f.; 2. ein
Fragment, vielleicht das obengenannte Schema, mit wenigen eingestreuten Versen,
**') Goethes Werke I, 3, 37«: .Plan zur Oper Löwenstirhl, auf der Reise im Juli
zwischen Fulda und Hanau entworfen und copirt ." — '*") Goetho, zur Naturwissenschaft Ober-
haupt. — '*») Vgl. Th. Porcy, Relique» of ancient english poetry. London 1845. 8. 12».
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8. 296—209; 3. ein Bruchstück von mehr oder weniger ausgearbeiteten Scencn,
S. 300 — 307; 4. oinc Reihe von einzelnen unzusammenbängenden Versen,
S. 422 ff. Aua dem zweiten und dritten Bruchstück geht hervor, woashalb
dor Dichter sein Werk Löwenstuhl benannte: in dem grossen Prachtsaale der
Burg, die der Graf ohedem erbaut hatte (II, 28: „Und er baute don Palast,
Ach ein Gott erschien er fast") befand sich ein Freistuhl oder Sessel (III, 133)
mit zwei goldenen Löwen (II, 34: „Und zwei goldne Löwen waren Zeichen dor
Gerechtigkeit"), aufweichen die Kinder den Greis sich zu setzen nötigon wollen;
wie der Stuhl nach den Löwen Löwenstuhl hiess, so der Saal Löwensaal. Dio
Entdeckung des wahren Standes der Tochter und ihres Vaters wird auf eine
wunderbare Weise herbeigeführt, indem die im Saale aufgestellten Rüstungen
lebendig werden (S. 299).™)
3. Über den Plan und die Ausführung des St. Rochusfestes habon wir
oben (S. 140) schon gesprochen.
4. In dem Jahre 1815, zu dem wir nun übergehon, beschäftigte »ich
Goethe neben dem Divan eifrig mit der Abfassung der italienischou Reise, die
bekanntlich im Jahre 1816 und 1817 erschien. Gleich vom zweiten Tage seines
Aufenthalts zu Wiesbaden an verzeichnet das Tagebuch dahin weisende Be-
merkungen; so am 29. und 30. Mai und 4. Juni: „Neapel dictirt", am 31. Mai
uud 6. Juni: „dictirt Sicilien", am 3.: „dictirt Vesuv L", am 18.: „dictirt
Palermo", und wenn am 1., 2., 5., 7., 8., 9. und 19. bis 24. blos „dictirt"
bemerkt ist, so sind wir berechtigt ebenfalls an die italienische Reise zu denken.
Die Tage vom 10. — 13. waren dem „Corrigiren zum Abschreiben" gewidmet,
am 26. und 27., als die Krankheit seines Dieners Karl sich verschlimmerte
und hindernd dazwischen trat, wurde „Sicilien durchgesehen". So waron während
des Mai und Juni 25 Tage auf diese Arbeit verwendet worden; vom 28. Juni
au traten andere Abhaltuugen dazu, sodass die weitere Beschäftigung mit der
italienischen Reise — wohl aus Schonung für seinen Karl — fortan während
der Kurzoit zu Wiesbaden unterblieb.
5. Das Gedicht für dio Kinder vom 23. Juli ist oben (S 130) erwähnt.
(». Der Sommer 1815 brachte Goethe die Bekanntschaft mit neugriech-
ischen Liedern, die freilich für die nächste Zeit keine Früchte zeitigte, aber
doch ihn lebendig anregte und schliesslich die Übersetzung der „neugrioebisch-
epirotischeu Heldenlieder" und der „neugriechischen Liebe- Skolicu* der zwanziger
Jahre hervorrief. s "j Die Aunalen 1815 sagen darüber folgendes: „Wenig
Fromdes berührte mich; doch nahm ich grossen Autheil au griechischen Liedern
neuerer Zeit, die in Original und Übersetzung mitgethoilt wurden, und die ich
bald gedruckt zu sehen wünschte. Die Herren v. Natzmer [?] und Haxthausen
hatten diese schöne Arbeit übernommen." Das Tagebuch berichtet über diese
beiden: „30. Juni. v. Natzmer [?] Neugriechische Gedichte. — 2. Juli. Major
[von Haxthausen]. — 3. Major v. Haxthausen Griechische Volkslieder. —
»»•) Üher die Ballade und ihre Quellen trI. St. Wactxoldt in der Zeitschrift für
deutschen Unterricht, IN, fj, 502—515. a7 V Die Heldenlieder sind von Goethe «hersetzt im
Jahre 1822, gedruckt 1823, die Skolion 1825 uod 1827. S. die Wehn. Ausgabe I, :s, 429 ff.
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176
4. Überlegung wegen Ausgabe der Volkslieder. — 5. Major v. Haxthausen
Griechische Volkslieder. . . . Mit Haxthausen auf dem Oelsberg. Symbolic der
Sprachverhältoisse. — 7. v. Haxthausen, Neugr. Volks L." —
Was für ein Natzmer es gewesen sein mag, der die Arbeit der HerauB-
gabo der Lieder mit Haxthausen übernehmen wollto, ist nicht überliefert, ja
der oben (S. 95) genannte Oldwig v. Natzmer versicherte dem Verfasser eoiner
Hiographie, der ihn darum befragto 87 *), ihm sei diese litterarische Arbeit ganz
fremd und er habe in jener Zeit keinen Natzmer gekannt, der sich mit Schrift-
stcllerei beschäftigte; von ihren näheren Verwandten könne dieser Natzmer
gewiss nicht gewesen soin. Und der Verfasser der Biographie erklärt, er habe
nicht in Erfahrung bringen können, welcher N. die Ehro dor Mitarbeit gehabt
habo. Sollte Goethe sich im Namen geirrt haben? Sollte nicht vielmehr v. Haxt-
hausen im Tagebuch am 30. Juni gelesen werden? Denn dass jener Namo
neben Haxthausen auch in den Annalen steht, thut nichts zur Sache, da die-
selben nach den Tagebüchern bearbeitet sind.
Der Major Werner v. Haxthausen (1780 — 1842) war wohl Ende Juni
(zwischen dem 25. Juni und 2. Juli) in Wiesbadcu eingetroffen und ist in der
Kurliste als Major v. H. von Hannover zweimal (No. 1838 und 1910) verzeichnet. 873 )
Er hatte mehr als 100 neugriechische Volkslieder teils geschenkt erhalten teils
selbst gesammelt, und es kam ihm nun darauf an den wertvollen Schatz den
Freunden dieser Dichtungsart zugänglich zu machen. Goethe sollte dahor für
die Mitwirkung bei der Herausgabe gewonnen werden und sie durch seine Teil-
nahme oder doch Empfehlung unterstützen. 874 ) Mit welchem Interesse er in
der That die Lieder las, beweist der Umstand, dass er schon am 5. Juli, also
nachdem er sie kaum in die Hände bekommen hatte, an H. Meyer schrieb 875 ):
„Lassen Sie sich von August etwas über den Fund neugriechischer Balladen
(so mögen sie gonannt werden) sagen. Das ist das Beste, was mir in dieser
Woche vorgekommen. Sie sollen dem vergangenen Jahrhundert angehören,
dem Besten gleichend, was wir in dieser Art haben." Und noch am 21. Sep-
tember desselben Jahres ist er voll von dem Genusso dor Lektüre und erzählt 876 )
zu Heidelberg seiuon Gästen Creutzer und Daub bei Tische „von don neu-
griechischen Dichtungen vor etwa fünfzig Jahren her. Die Helden seyen meist
unabhängige Seeräuber und in den Gebirgen Landräuber, oder Familien auf
kleinen Inseln, es seyen meist dramatische Romanzen. Alle Elemente, lyrische,
dramatisch-epische, seyen in einer Form. Der Geist derselben sey der nordische,
schottische mit dem südlichen und altmythologischen verbunden. Das Gospräch
eines Adlers mit dem abgeschlagenen Haupt einos Räuberanführers, welches er
auf die Folshöhe getragen. Charon, ein Reiter, welcher die Seelen der Ge-
ST *> Qneomar E. y. Xatzmer, aus dem Leben O. t. XaUmer, I, 192. — m ) Er wech-
selte sein Logis, daher ist er zweimal eingetragen, gerade wie auch Goethe im Jahro 1814.
Lebensnachrichten tod ihm s. in der AUg. Deutschen Biographie. — ,7 *) 8. Steig, Goethe
und die Brüder Grimm, 1892 8. 160 ff. und Goethe-Jahrb. XII, 33 ff., besonders 67; Reiffer-
scheid, Freundesbriefo Ton Wilhelm und Jakob Grimm. 1878 8. 3'.». — »") Riemer, Briefe
an und von Goethe, 1846 8. 104. — *'*) Boisseree I, 288, dor fälschlich sagt, es sei Don-
nerstag den 22. gewesen; der Donnerstag war aber der 21.
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storbenen hinten an den Schweif seines Rosses bindet, die Kinder an den
Sattel hängt. Ein Pferd, welches seinen erschlagenen Herrn beklagt und mit
der Hufe scharrt. Ein Bräutigam, der auf der Überfahrt zur Braut, in einem
siegreichen Gefecht mit den Türken bleibt und wünscht, es solle der Braut
verschwiegen werden."
Das erste der hier genannten Lieder hat Goethe später unter den griechisch-
epirotischen Heldenliedern als No. VI herausgegeben. Es lautet bei ihm:
Der Olympos, der Kissavos,*" )
Die zwei Berge haderten;
Da entgegnend spraoh Olympos
Also zu dem Kissavos :
„Nicht erhebe dich, Kissavos,
Türken- da Getretener.
Bin ich doch der Greis Olympog,
Den die ganze Welt vernahm.
Zweiundsechzig Gipfel zahl' ich
Und zweitausend Quellen klar.
Jeder Brunn hat seinen Wimpel,
Seinen Kampfer jeder Zweig.
Auf den höchsten Gipfel hat sich
Mir ein Adler aufgesetzt,
FuMt in seinen mächfgen Klauen
Eines Helden blutend Haupt."
„Sage, Haupt, wie ist's ergangen?
Fielest du verbrecherisch ?" —
Speise, Vogel, meine Jugend,
Heine Hannheit speise nur!
Ellenlänger wächst dein Flügel,
Deine Klaue spannenlang.
Boi Louron, in Xeromeron
Lebt' ich in dem Kriegerstand,
So in Chasia, aufm Olympos
Kämpft ich bis in's zwölfte Jahr.
Sechzig Agas ioh erschlug sie,
Ihr Gefild verbrannt' ich dann;
Die ich sonst noch niederstreckte,
Türken, Albaneser auch,
Sind zu viele, gar zu viele,
Daas ich sie nioht zahlen mng;
Nun ist meine Reihe kommen,
Im Gefechte fiel ich brav.
Das zweite Lied, Charon, ist No. VII.:
Die Borgoshöh'n warum so schwarz?
Woher die Wolkenwoge?
Ist es der Sturm der droben kämpft,
Der liegen, Gipfel peitschend?
Nicht ist's der Sturm der droben kämpft,
Nicht Regen, Gipfel peitschend;
Nein Charon ist's, er saust einher,
Entführet die Verblichnen;
Die Jungen treibt er vor sich hin,
Schleppt hinter sich die Alten;
Die j unguten aber, Säuglinge,
In Reih' gehenkt am Sattel.
Da riefen ihm die G reise zu,
Die Jünglinge sie knieten:
„0 Charon halt'! halt' am Geheg,
Halt' an beim kühlen Brunnen!
Die Alten da erquicken sich,
Die Jugend schleudert Steine,
Die Knaben zart zerstreuen sich
Und pflücken bunte Blümchen.**
Nicht am Gehege halt' ioh still,
Ich halte nicht am Brunnen;
Zu schöpfen kommen Weiber an,
Erkennen ihre Kinder,
Die Männer auch erkennen sie,
Das Trennen wird unmöglich.
7. Dies sind die dichterischen Ergebnisse, welche Goethe aus dem
Aufenthalte zu Wiesbaden und am Rhein nach dem Tagebuche und anderen
Aufzeichnungen davontrug. Dass aber auch andere Studien und Beobachtungen
fruchtbringenden Gewinn brachten, haben wir zum Teil früher gehört, wenn
sie, wie die Lahnreise, auch nicht litterarisch verwertet wurden. Wir wollen
noch einiges hierzu bemerken. Am 1. Juli 1815 finden wir Goethe mit der
■") Kissavos ist der
Elimbos, gegenüber liegt; beide
Name des Ossa, welcher dem Olympos, j. Oliri
trennt das enge Thal Tempe.
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178
Farbfen] Tab[elle] beschäftigt, wie er zu »einer Farbenlehre, die ihm so sehr
am Herzen lag, auch im Jahre 1814 durch einen Brief von Staatsrat Schultz
war hingeführt worden. 378 ) Ferner wurde or im Jahre 1815 bei der Beratung
über das Blücher-Denkmal in Rostock zu Kate gezogen; auf einen Brief des
Kamnierherrn v. Preen antwortete er am 14. Juli 1815, den er fälschlich für
den Geburtstag Gollerts hielt 879 ) und demgemäss unterzeichnete „am Geburtstage
Gollerts", dessen das Tagebuch ebenfalls am 14. gedenkt; auch in der Folge
war er für das Denkmal thätig und verfasste bekanntlich die Inschrift.**")
Endlich müssen wir die Nachwirkungen hier erwähnen, welche die Tage
am Rheine hatten, vor allem die Aufsätze „über Kunst und Alterthum in den
Rhein- und Main-Gegenden" u. a. in der Zeitschrift über Kunst und Altertum
181 G ff. Und sicherlich verdanken manche Lieder des Schenkenbuchs im Di van
der frohen Erinnerung an den Elfer, der auch im „St. Rochusfest" verherrlicht
wird, ihren Ursprung. Und wie jugendlich frisch, fast überschäumend kündet
das „Ghasel auf den Eilfer" den Ruhm dieses Göttertrankes! In seiner ur-
sprünglichen Gestalt, die nach dem Tagebuche am 18. Oktober 1815 zu
Meiningen auf der Heimreise niedergeschrieben und erst vor wenigen Jahren
veröffentlicht wurde 1 "), schien es dem Dichter für den üivan zu feurig, sodass
er für ihn eine abgeschwächte, kürzere Fassung schuf, die aber doch keine
Aufnahme fand, sondern erst 1868 aus dem Nachlasse bekannt gemacht wurde."*)
In ihr lautet das Gedicht also:
Wo man mir Gates erzeigt überall Von meinen Liedern sprechen sie
s* ist eine Flasche Küfer. Fast rühmlich wie vom Eilfer,
Am .Rhein und Main, im Neckarland, Und Itlum' und Zweige brechen sie
Man bringt mir lächelnd Eilfer, Mich kränzend und den Kilfer.
Und nennt gar manchen braven Mann Pas alles wär* ein gröasres Heil,
Viel seltener als den Eilfer: Ich theilte gern den Eilfer —
Hat er Menschheit wohl gethan, Nahm' Hafis auch nur Beinen Theil
Ist immer noch kein Eilfer. Und schlurfte mit den Eilfer.
Die guten Fürsten nennt man so, Drum eil' ich in das Paradies,
Heinahe wie den Eilfer; Wo leider nie Tom Eilfer
Uns machen ihre Thaten froh, Die Gläub'gen trinken. Sei er sühb
8ie leben hoch im Eilfer. Der Himmelswein! Kein Eilfer.
Und manchen Namen nenn' ich leis Geschwinde, Hafis, eile hin !
Still achöppelnd meinen Eilfer: Da steht ein Römer Eilfer!
Sie weiss es wenn es niemand weiss,
Da schmeckt mir erst der Eilfer.
12. Abreise. Erfolge. Urteile.
Die Heimreise aus der Kur trat Goethe im Jahre 1814 am 12. September
an. Auf der Fahrt nach Frankfurt beobachtete er bei Flörsheim „Kalk Tuff
mit Üopchylien" und besuchte den Schwefelbrunnen zu Weilbach Iu Frank-
37n ) Düntzer, Briefwechsel zwischen Goethe und Staatsrat Schultz, 1803 S. 13G. —
Geliert ist am 4. Juli 1715 geboren; abgeschekt ist der Rrief am 16. Juli. _ »■»> Vgl.
den Aufsatz iu Raumers historischem Taschenbuch, 18(12 S. 343 IT. — "'I Rurdach im
Goethe-Jahrb. XI, 8. 3 n*. (1890). — Berlin, 1S6H, jetzt iu der Weimarer Ausgabe I, 6,
8. 302.
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179
furt kehrte er bei Fritz Schlosser, der ihn freundlich eingeladen hatte, ein und
verweilte dort im Verkehr mit alten Freunden und Bekannten bis zum 24. Nach-
dem er sich darauf vom 24. September bis 9. Oktober mit Christian Schlosser
zu Heidelberg bei S. Boisseree aufgehalten hatte, kehrte er nach Frankfurt
zurück und reiste am 20. nach Hanau, wo er bei Leonhard einige Tage blieb,
dann über Gelnhausen, Fulda und Eisenach nach Weimar und traf am 27.
wieder dort ein.
Im Jahre 1815 verliess er am 11. August morgens nm 6 Uhr Wiesbaden
in Gesellschaft von S. Boissere6. Der Weg führte sie zunächst nach Mainz.
„Auf der Höhe, erzählt dieser 1 * 1 ), sahen wir das Rheingau bis Bingen. «Was
muss das, bemerkte Goethe, für eine Gewalt gewesen seyu, was muss eine Zeit
dazu gehört haben, ehe nur das Wasser da zum Durchbruch gekommen: das
hat da gewiss lang als See gestanden, wie der Bodensee. Und nicht allein
die Berge haben gehindert, sondern auch das Meer, ehe seine Gewässer abge-
nommen." In Mainz wurden unter der Leitung des Professors Lehne die
Kunstschätze und die Altertümer in Augenschein genommen. Vor dem Schlafen-
gehen betrachteten sie noch leuchtendes Holz, das Goethe aus Wiesbaden mit-
gebracht hatte. Samstag den 12. August fuhren sie nach Frankfurt; auf der
„Höhe" von Höchst wurde stillgehalten wegen der prächtigen, reichen Aussicht,
die im schönsten Sonnenlicht vor ihnen lag. In Frankfurt angekommen fuhr
Goethe sofort nach Willemers Landsitz, der Gerbermühle, wo er einzukehren
zugesagt hatte und den grössten Teil der folgenden Zeit wohnte. Hier ent-
wickelte sich das zarte Verhältnis zu Marianne v. Willeraer, das Creizenach in
seinem Werden und Bestehen in dem mehrfach angezogenen Buche ausführlich
geschildert hat, zu voller Blüte und Hess die lieblichen Früchte des siebenten
Buches des Di van, des Buches Suleika, hervorspriesson. Am 18. September
verliess der Dichter seine Vaterstadt, die er von da an nicht wiedersah; von
Heidelberg aus, wohin er sich nochmals gewandt hatte, wurde Mannheim und
Karlsruhe besucht, und am 7. Oktober die Reise nach Weimar angetreten, das
er am 11. erreichte. Vgl. S. 100.
Seines Aufenthalts am Rhein und Main gedenkt Goethe verschiedene Male
mit hoher Befriedigung. So sprach er sich am 12. Mai 1815, kurz vor seiner
zweiten Reise, dem Kanzler v. Müller gegenüber lobpreisend „über Nassaus
Länder und Staaten" aus und teilte manche hübsche Episode seines dortigen
geologisch-politischen Lebens mit 1 * 4 ); in den Annalen 1814 bemerkt er kurz:
„Die Reise nach den Rhein-, Main- und Neckargegenden gewährte eine grosse
Ausbeute und reichlichen Stoff an Persönlichkeiten, Kunstwerken und Kunst-
resten." Ausführlicher ist, was er über die ganze Reise des Jahres 1815 be-
merkt: „Heitere Luft und rasche Bewegung gaben sogleich mehreren Pro-
duktionen im neuen östlichen Sinne Raum. Ein heilsamer Badeaufenthalt, länd-
liche Wohnung in bekannter von Jugend auf betretener Gegend, Theilnahme
geistreicher, liebender Freunde gedieh zur Belehrung und Steigerung eines
glücklichen Zustandcs, der sich einem jeden Reinfuhlendeu aus dem Divan
389 ) 8. Boisseree I, 266. - "*) Burkhordt ». a. 0 , 8. 16.
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180
darbieten muss.* Dieser Stimmung verdaukte wohl das Distichon den Ursprung,
welches überschrieben ist:
„Zum Andenken des 2M. August 1815.
AU die Tage noch wuchsen, gefiel das Leben mir wenig,
Nun abnehmend mit EU', könnten gefallen sie mir. 4
Doch vergisst er auch nicht das, was ihm weniger in Nassau gefallt, zu
sagen, zunächst in Betreff des Zustandes von Land und Leuten, über den er
an Voigt den 1. August 1815 schreibt - **) : „Was für Übel den Franzosen be-
gegnen mag, so günnt man es ihnen von Grund des Herzens, wenn man dio
Übel mit Augen sieht, mit welchen sie seit zwanzig Jahren diese Gegend
quälten und verderbten, ja auf ewig entstellten und zerrütteten. Die neue
Regierung [in Nassau] findet schwere Aufgaben. Davon mündlich. Auf alle
Fälle leben wir dorthinten, mit mehr oder weniger Seelen, wie in limbo patrum.""*)
Und in Bezug auf Kunst und Wissenschaft äussert es sich in dem Briefe vom
5. Juli 1815 an Meyer also: , Kunst und Wissenschaft und deren Verwandte
spielen hier (d. h. in ziemlich weitem Kreise) eine sonderbare Rolle." Damit
vergleiche man, was wir oben selbst boi No. 8, S. 106 tagen raussten, oder
wie man — und diese Schuld fiel hauptsächlich auf den Minister — die Mineralien-
sammlung Cramers anzukaufen versäumte u. a. mehr. Erst später erwachte
namentlich durch des Herzogs Adolf eifrige Sorge für Kunst und Wissenschaft
ein regeres Streben, um auch hierin hinter den anderen Gegenden Deutschlands
nicht zurückzubleiben. Freilich konnte sich damals die Stadt Wiesbaden, die
nicht einmal ein Gymnasium besass, und Nassau, das eine Universität entbehrte,
in keiner Weise mit Weimar messen; die eben erst von dem Herzogtume ge-
wonnene hohe Schule zu Herborn fristete mit Mühe ihr Leben noch bis zum
Jahre 1817 und die beiden Gymnasieu zu Idstein und Weilburg waren, von
dem Wehen der neuen Kunst und Litteratur wenig berührt, den klassischen
Studien nach altem Muster treu geblieben. Über das Leben zu Wiesbaden
überhaupt meint Goethe am 6. März 1816* 87 ), dass es dort zu leicht, zu heiter
sei, als dass man nicht verwöhnt würde fürs übrige Leben. Er möge daher
nicht zu oft hinreisen;* Karlsbad störo das innore Gleichgewicht schon weit
weniger. Oft bestimme die kleinste Zufälligkeit die dauerndsten Verhältnisse im
Leben, und am meisten wirkten Berge auf die Verschiedenheit der Sitten und
Charaktere, weit mehr als Klima und Sprache.
Zu der Befriedigung, die Goethe über seinen Aufenthalt zu Wiesbaden
empfand, trug nicht wenig der günstige Erfolg der Kur bei. Wiederholt sprach
er in Briefen an Freunde aus, wie gut ihm das Bad bekomme oder bekommen
sei: dies schrieb er an Schlosser am 7. und 20. August 1814**), an Boisseree
am 13. und 30. August 1814 und am 2. Juni 181 5 M '), an Knebel am 2. No-
vember 181 4. 3W ) Dabei bemerkt er dem ersten, der ihn von Frankfurt aus mehr-
Mi ) O. Jahn, Goethes Briefo an v. Voigt, 8. 343. - »«) Limbus ist u. a. der Ort,
an dem die Seelen der vor Christus verstorbenen frommen Mftnner weilen, die nicht der vollen
Seligkeit teilhaftig, aber ihr nahe sind. Wetzer und Welte, Kircheulexikon. — **') Burk-
hardt a a. O., S. 19. - M ") Frese a. a. 0., 8 63, G4. - »*») S. Boisseree II, 40. Vgl.
Goethe- Jahrb. VI, 123. >*") Briefwechsel «wischen Goethe und Knebel, 18Ö4.
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181
fach mit Geld versorgte, man spure in Wiesbaden sehr, dass die Münze rund sei,
und dieser Ware bedürfe man daselbst überall, wie es scheine, mehr als anders-
wo. Wie hoch sich übrigens seine Ausgabeu auf der Reise und insbesondere
in der Kur beliefen, lässt sich aus den nur vereinzelten Erwähnungen in Briefen
nicht feststellen. Am 7. August 1814 bescheinigt er Schlosser 324 fl., am
9. September 216 fl. erhalten zu haben. *
Von entscheidender Bedeutung endlich war die zweimalige Rheinreise für
Goethes Kunstrichtung.'* 1 ) Während er bis kurze Zeit vor dem Jahre 1814
einem fast einseitigen Klassizismus gohuldigt hatte, befestigten ihn nunmehr
die beiden Reisen in der neuen Bahn, die er eingeschlagen hatte. Wir haben
oben schon auf den Einfluss Boisserees hingewiesen, dessen Sammlungen mittel-
alterlicher Kunst er jetzt selbst kennen lernte, wie er die Kunstschätze am Rhein
und Main von nun an mit ganz anderen Augen betrachtete. Dazu trat der freie
Verkehr mit alten und neuen Freunden, sowie die ungehinderte Bewegung unter
der heiteren Bevölkerung der Rhein- und Mainlande, die sein Ohr und Herz
dorn Leben und Treiben seiner Landsleute und den Liedern fremder Nationen
mehr und mehr öffneten. Freudig Hess er die gewonnenen Eindrücke in eignen
Schöpfungen austönen. So konnte er später mit Recht sagen:
„Wir sind rielleicht zu antik gewesen;
Nun wollen wir es moderner lesen."
IX. Spätere Beziehungen zu Nassau, 1816, 1825, 1828.
1. Auch im Jahre 1816 gedachte Goethe das Bad zu Wiesbaden zu
gebrauchen.***) Zelter, der gleichfalls die Kur daselbst wiederholen wollte, hatte
ihn im Juli zu Weimar besucht, und es war abgesprochen worden, dass er
wieder für eine Wohnung sorgen sollte. Dies that er auch sofort nach seiner
Ankunft zu Wiesbaden am 16. Juli, indem er ein „ stilles Quartier in der Rose
festlegte." Doch in letzter Stunde wurde die Sache vereitelt. Denn kaum war
Goethe am 20. Juli mit Meyer, der ihn begleiten wollte, abgereist, als nach
zweistündiger Fahrt, kurz vor Münchenholzen „der ungeschickteste aller Fuhr-
' knechte" den Wagen umwarf. Da Meyer, wenn auch nicht gefährlich, verletzt
worden war, musste die Weiterreise zunächst aufgegeben werden, und da die
Heilung wenigstens 14 Tage in Anspruch nehmen sollte, so ontschlosa sich
Goethe, um den besteu Monat nicht zu verlieren, nach Tennstedt zu gehen,
von dessen Wassern er die beste Wirkung hoffte. Das für ihn gemietete
Logis in der „Rose" bestellte Zelter sofort nach der Meldung hiervon ab, musste
aber 13 fl. Entschädigung bezahlen, „ein Preis, fügt er in dem Briefe vom
26. Juli zu, der nicht zu gross seyn würde, wenn Du etwas dafür genossen
hättest, denn das Quartierchen schien mir recht für Dich zu passen."
K. Burdach, Goethe-Jahrb. XI, 14 ff. — »») Riemer, Briefwechsel zwischen
Goethe und Zelter, II, 282 ff. Goetlie änderte übrigen» seinen Plan und wollte nach Baden
gehen, wo denn Cotta ein Quartier bestellte.
13
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1*2
2. Im November des Jahres 1816 schreibt der Grossherzog Karl August
an Goethe 395 ): »Wenn mau nur den Codex der h. Hildegard geliehen bekommen
könnte, um ihu selbst zu bearbeiten. Über die Jagd nach den Nibelungen
hat man die h. Hildegard vergessen. Es existiert der Original-Codex und eine
Copie desselben in Wiesbaden. Schreibe doch an Minister v. Marschall, er
möchte uns die Copie leihen, er hatte mir dieses schon im vorigen Herbst ver-
sprochen.' 1 Im Oktober 1815 war der Grossherzog am Rhein; damals mag er
den Minister v. Marschall gesehen und seinen Wunsch mitgeteilt haben, wie
er auch am 22. Oktober sich eine Mitteilung der für Nassau erlassenen Ver-
fassungsurkunde ausbat. 3 **) In wie weit der in obigem Brief ausgesprochene
Wunsch, den Codex der Hildegard zu erhalten, erfüllt wurde, ob Goethe die
nötigen Schritte dazu that, konnte nicht festgestellt werden.
3. Nicht übergehen wollen wir ferner, dass am 16. Oktober 1825 auf
Ministerialbeschluss vom 13. Oktober dem Staatsminister v. Goethe auf Ansuchen
ein Privilegium gegen den Nachdruck einer von ihm beabsichtigten neuen
Ausgabe seiner Werke auf einen Zeitraum von 50 Jahren erteilt und dieser
Beschluss alsbald den Buchdruckern und Buchhändlern in Nassau mitgeteilt
wurde. Die neue Ausgabe erschien im Jahre 1827 und den folgenden Jahren.
Und als im Jahre 1835 ein Nachdruck derselben zu Paris veranstaltet wurde,
so verbot die nassauische Regierung — am 2. April — den Vertrieb desselben
in Nassau. 395 )
4. Goethe und der Verein für nassauische Altertumskunde und Geschichts-
forschung. 39 *) Die ersten Anregungen zur Gründung oines Vereins zunächst
zur Erforschung der römischen Altertümer in Nassau gehen in das Jahr 1811
zurück; namentlich betrieb der ältore Habel noch während des Jahres 1812 die
Sache sehr eifrig 397 ), doch traten die politischen Verhältnisse bald hindernd
dazwischen. Indessen muss Goethe von dem Plane unterrichtet worden sein;
denn iu dem Aufsatze über die Kunstschätze am Rhein u. s. w. sagt er: „Schon
haben sich mehrere Freunde der Kunst, der Natur und des Altertums [zu
Wiesbaden] unterzeichnet, eine Gesellschaft zu bilden, welche sowohl überhaupt
als besonders für diese Gegend um alles Merkwürdige bemüht wäre. Herr
v. Gerning, der das Taunusgebirg zum Gegenstand seiner Dichtungen und
Betrachtungen vorzüglich gewählt, möchte wohl zu bewegen sein seine reiche
Sammlung hierher zu verlegen und einen Grund zu legen, worauf die Gunst
der Fürsten und die Bereitwilligkeit mancher dankbaren Fremden gewiss mit
Eifer fortbauen würde." Dicso Wünsche sollten sich verwirklichen, freilich
später als man damals hoffte, indem in der That drei Vereine jetzt die drei
Gebiete der Kunst, Natur und Altertümer zum Gegenstand ihrer Pflege gemacht
haben. Aber die Zeiten, die auf die grossen Kriege folgten, waren diesen fried-
lichen Beschäftigungen nicht hold; gerade in den Rheingegenden und vornehm-
3 ") Briefwechsel II, 77. — SM ) Sane r, Das Herzogtum Nassau in den Jahren 1813- 1820,
8.26. - '*•) Staatsarchiv zu Wiesbaden. S. Hirzel, Verzeichnis oinor Goethe- Bibliothek, 1S»4,
8. 99 ff. — M ') Die folgenden Mitteilungen beruhen, wo nichts audores bemerkt ist, auf den
Akten des Vereins. — i9v ) Annnlcn des Vereins XI, 5 uud XVII, 05.
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183
lieb in Nassau fingen politische Interessen die Gemüter zu beherrschen und
zu beunruhigen an, geheime und offene Bewegungen und Verbindungen störten
die Freudigkeit zu wissenschaftlicher Thütigkeit und führten schliesslich die
Regierung zu energischen Massregeln gegen das Vereinswesen. 898 ) 80 kam
es erst zehn Jahre nach den ersten Ansätzen — im Jahre 1821 — zur Gründung
des ältesten der genannten Vereine, des Voreins für nassauische Altertumskunde
und Geschichtsforschung, und auch der zweite Wunsch des Altmeisters, dass
die Sammlung des H. v. Gerniog zu Wiesbaden eine bleibende Stätte finden
möchte, ging im Jahro 1824 in Erfüllung.* 99 ) Als dor Verein auf eine mehr-
jährige erfolgreiche Thätigkeit zurückblicken durfte, glaubte man mit Ehren
vor der wissenschaftlichen Welt auftreten zu können und beschloss in einem
ersten Hefte der „Annaleu des Vereins" Mitteilungen über die Ergebnisse seiner
Forschungen zu machen, sowie eine Anzahl namhafter Gelehrten zu Ehrenmit-
gliedern des Vereins zu ernennen, denen dieses und die folgenden Hefte der
Annalen unentgeltlich zugehen sollten. Sobald also das im Druck befindliche
Heft fertiggestelt war — Ende des Jahres 1827 — , machte man auf Grund
früherer Besprechungen ein Verzeichnis von 30 Männern der Wissenschaft und
Kunst, denen das Diplom ihrer Ehronmitgliedschaft zugleich mit der Druckschrift
zugesandt werdon sollte. Der Vereiu hatte damals zwei Direktoren, einen in-
ländischen für die Geschäfte innerhalb Nassaus und einen ausländischen für
die Geschäfte ausserhalb des Herzogtums; letztere Stelle bekleidete der ge-
nannte Geheimerat v. Gerning zu Frankfurt, dem zu Liebe sie geschaffen war.
Ihm wurden also am 1). Jaouar 1828 21 Diplome zur Unterzeichnung zugesandt,
die für Goethe und einige andere Herren folgten erst am 25. April. Fast drei
Monate später — am 20. Juli — überschickte Gerning dem Vorstande ein
Dankschreiben Goethes zugleich im Original und in Abschrift mit der Bitte ein
Exemplar zu behalten, das andere ihm wieder zuzusenden. Trotz eifrigen Nach-
suchens in den Akten des Vereins ist es nicht gelungen das eine zurückbe-
haltene Exemplar aufzufinden.
Inzwischen hatte es der Sekretär des Vereins, der jüngere Habel, welcher
in dem Annalenhefte über seine bedeutungsvollen Entdeckungen der „Ruinen
von Heddernheim", namentlich zweier Mithras-Tempel berichtete, nicht über
sich gewinnen können ganz in den Hintergrund zu treten und am 17. Februar
1828 an Goethe ein Schreiben gerichtet, das er mit dem genannten Hefto an
diesen absandte. Das Konzept desselben hat sich erhalten und lautet also:
„Ew. Excellenz
beehre ich mich durch gütigen Einschluss meines Freundes Braun 400 ) ein Exem-
plar der gegen Ende vorigen Jahres erschienenen Annalen unseres Alterthums-
Vereines zu übersenden, aus welchen Hochdieselben die Ergebnisse unserer
bisherigen Bestrebungen sowie die Richtung unseres Wirkens geneigtest ersehen
wollen.
**•) Sauer, Du Herzogtum Kassau in den Jahren 1813—1820, 8.98. Meinecke, Die
deutschen Gesellschaften und der floffmannische Bund, 1891. — **•) Annalen XI, S. 13«. —
"*j Prof. Dr. Braun zu Mainz war ein eifriges Mitglied des Vereins.
13*
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184
Unter den mancherlei interessanten Punkten unseres Landes hat der
Verein den erat einige Jahre unter meiner Leitung begonnenen 401 ) Unter-
suchungen der römischen Überreste bey Heddernheim eine vorzugliche Auf-
merksamkeit geschenkt. Ich wage es den in unserer Zeitschrift abgedruckten
Bericht über die dortigen Ausgrabungen der nachsichtsvollen Beurtheilung
Ew. Excellenz zu empfehlen.
Ohnstreitig sind Ew. Excell. durch das Stuttgarter Kunstblatt vor mehreren
Monaten mit der letzten interessanten Ausbeute aus diesem ausgedehnten Über-
reste, der Entdeckung zweier Mithrastempel, bekannt geworden. Die im Inneren
desselben gefundenen merkwürdigen Reliefs wurden jedoch in diesem Blatt durch
Herrn Hofrath Dr. Dorow auf eine so unbescheidene und unwahre Weise dar-
gestellt, dass sich der Verein veranlasst sah eine Zeichnung dieser plastischen
Überreste einstweilen im Urariss lithographiren zu lassen, um die Meinung
competenter Gelehrten über diese manigfaltigen und z. Th. neuen Symbole zu
vernehmen.
In dieser Absicht erlaube ich mir einen Abdruck dieser Lithographien
beyzuschliesseu. Nicht nur der Verein, sondern das ganze gelehrte Publicum
Deutschlands würde sich unendlich freuen, hierüber die Ansichten eines xo
grossen Kenners des Alterthums zu vernehmen, und Ew. Excell. würden mich
besonders verpflichten, wenn Dieselben mir erlauben wollten dieselbe in unsern
Aunalen bekannt machen zu dürfen.
In Bozug auf die Lithographien bemerke ich nur noch, dass auf Taf. III
die Figuren 4-4% auf Taf. V die Figuren 1-1« in meiner Abwesenheit
durch Versehen des Zeichners hinzugefügt worden sind, welche nicht zu den
in unserm Mithraeum gefundenen Gegenständen gehören. Eine ausführliche
Beschreibung und die Grundrisso beyder Mithraen dürften in dem zweiten Hefte
von mir folgen. 40 *)
Genehmigen Ew. Excell. die Versicherung der ausgezeichnetsten Verehrung,
mit der ich beharre
Exped. den 17. Februar 1828. Ew. Excell. gehorsamer Diener
F. G. H[abel|."
Unter dem Schreiben steht die Notiz: „Das Diplom zur Übersendung über-
geben (an Gerning) den 25. April 1828." Eine Autwort Goethes hat sich in
Habels Nachlass nicht aufgefunden.
In dem zweiten Hefte der Annalen, das im Jahre 1830 erschien, sind
63 Ehrenmitglieder des Vereins in alphabetischer Ordnung aufgeführt, unter
ihnen auch Goethe mit Zufügung der Namen aller seiner Orden.
Wir sind zu Ende; denn weitere Mitteilungen oder Andeutungen von Be-
ziehungen Goethes zu Nassau haben sich bis jetzt nicht gefunden, wenn er
sicherlich auch noch immer der nassauischen Lande uud seiner Besuche der-
selben gern gedachte und die wissenschaftlichen Bestrebungen der Bewohner,
die er erhofft und gewünscht, freudig begrüsste.
«") Seit dem Jahr«- Ann. 1, 1, 8 48. - *"') Qeaehah in Ann. 1, 2 (1830», 8. 161-196.
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185
Inhaltsangabe.
I.
1763—1764 ....
54
II.
III.
Die Lahnreise von 17 72 .
57
IV.
1774. Sindlingen . . .
5!>
v.
1771. Ems. Juni — .Juli .
<!0
VI.
17H3
«5
VII.
1814, 29. Juli bis 12. Sept.]
G7
VIII.
1815, 2 7. Mai bis 11. Aug.)
1. Der Entschluß, 1814 .
67
2. Die Reise, 1814 . .
(>!)
3. DcrcrsteTag,30.Juli 1814
70
4. Entschlussu. Reise, 1815
72
Kurl eben, 1814 u.
Das Theater . .
1,
dort'
IL Johannes de Lasnöc
Gedicht für die Kinde
Pin Rechenkunst rtpr
Puruthe.a (. ' ramer
Goethes I ' rtril über d a.s
1 Wq)ny/i«4ie Wesen
74
15
7. Verkehr mit Kurgästen.
Besuche auswärt. Freunde SJJ
s. Verkehr mit Kinhci -
mi sehen , . , 1 00
Biebrich ....
10O
2
Die höheren Beamten
105
3.
Oberbergrat Cramcr .
108
4
Bibliothekar Hundes-
hagen . . . .
114
5.
Apotheker Otto . .
117
Ii,
Tinhol zu SphipTKtoiii
119
7.
Hofrat Götz zu Rüdes-
hp.im ,
121
s.
Kainmci'hcrrY. Nauen-
121
12 5
im
im
10. I'liilippinc Lade
132
11. Gerbcrmstr. Behriuger
{). Störungen und Unter-
brechungen des regel-
mässigen Kurlebens . .
IX. Spätcrc Beziehungen Goethes.
zu Nassau 1816, 1825, 1828
Stil»
137
138
a. Im Jahre 1814:
1. Des Köuigs v. Freussen
Geburtstags -Feier zu
13*
2.
Das St. Rochusfest .
1 3it
3.
Der Grossherzog Karl
August in Mainz und
Wiesbaden . . .
140
•i,
Herbsttage im Rhein-
LEI
b Tm .Iiihrp. 1815:
5.
Politische Aufregungen
LAS
Ii.
Zu Mainz bei Erz-
herzog Karl . . .
LAS
Auf dem Johannisberg
148
8.
Lahn reise ....
150
?>.
Besuch hei dem Mi-
nister v. Stein
153
10.
Lektüre
156
11.
Eignes Schaffen .
159
1.
Der Pivan . . .
LÜH
Der Löwenstuhl . .
L7J1
3.
Das St. Rochusfest .
140
1,
Italienische Reise .
Uli
5,
Gedicht für die Kinder
130
ti.
Neugriechische Lieder
Iii
7 .
Verschiedenes; Nach-
wirkungen 69. 100.
ELZ
12. Abreise. Erfolge. Urteile
Elfi
Lfii
180
Verzeichnis
clor
für Goethes Aufenthalt am Rhein bemerkenswertesten Namen.
(Vgl. dio Inhaltsangabe und den Abschnitt „Lektüre".)
(Dl« ZaHen bedeuten ilia Seiten.)
v. Almeudiiigen, L. Harscher 107.
Arndt, E. M. 1S&
Arnstein L52 f.
Bacharach 5JL
Hansa, Frau 7^ 24.
Hascdow fifl ff.
Bebringer, Gerbenneister 137.
Bcrthier, Marschall 14fi,
Heuther, Fr. 7_£ f.
Biebrich JLL fÜL Q1L lüü ff.
Bingen 59.. üä- 142.
v. Bismarck, Fr. W. 1Ü2 f.
I.. lüi
Blcsscnbach 151.
v. Bobenhausen, Lotte S3 f.
Bodmann, F. J. 139.
Boisscree, S. Ii SL 2S ff. 13L, 14L
LOS f. Hüft". 179.
Brentano, Maxe ä2 f.
„ Frauz u. Antonia Ü1L 93. 1 41 ff
„ Kinder und Verwandte 142 ff.
v. Burgsdorf äJ_
Butte. W. 1LL 1-^7
Chinard, Jos. 7_L 23_
Clause 143.
Cramer, L. W. 7JL lüfi ff. I2t> LH ff.
152. L3Ü ff. IM ff.
Cramer, Luise und Sophie 133 ,
„ Dorothea, Sophie 122 ff.
Crespcl, Frau 24.
Cronberg Ü4.
De Laspee, Job. 12h ff.
De Lort, Jos. 103. 148.
Diez &£.
Dillcnburgcr Dienerschaft Hifi.
Drususstein ü
Ehrenbreitstein ܣL
Ei hingen 142
Eltville LiiL
Elwert S4.
Ems 58. 6fl ff.
Eppstein IST.
Feldberg 54.
Flörsheim 1 78,
v. Frimont, J. 138.
Geilnauer Wasser 74,
Geisberg 7JL 22. IM. LU f. 131
Geisenheim 142.
v. Gerning, J. J. 9JL 120. 18-3
Georgenborn 13fi.
Goethe, Geburtstag 1814 8JL 22, loa.
„ Kleine Gedichte £2. 20. 143.
„ Hermann und Dorothea JJL 90.
LLL L2JL
Goethe, Leopoldsorden 2fL 142 f.
„ Orden der verrückten Hofrfitc 22.
Gocthepuukt, Goethewinkel fifi. 1£2 Anm.
Goethit 113
Götz, G. K. Fl. 12.
Goetz, W. Fr. LH ff. UiL
v. Günderrode, (Fr. M.) 8JL
„ Karoline 14H.
v. Guaita-Breutano, G. F. 82 f.
„ ., Melinc 8ii f.
v. Gudenau, K. 14 it.
Habel, Fr. G. LL2 f. L£3_ f .
Hallwachs 7_9_
v. Handel, P. A. 149.
v. Hardegg, Graf Heinrich 138.
v. Haxthausen, W. 2S. 175,
Henckel v. Donnersmark, Graf L. 8_1 f.
W. 8.1 f.
v. Hertling, Frau L2_L v.?s
Hildegard, die heilige llti. 182.
Höchst fLL 1 79
Holweg, Susanne üü.
Holzappel 152.
1S7
v. nolzhauscn, Karolino 22 f.
„ Kail 02 f.
Horst, G. K. 2iL
v. Hügel, Job. AI. Jos. 9JL 112 f.
Hundeshagen, B. 62. HA ff. 131 f.
Ibell, K. IUI.
Idstein IM.
Ingelheim, Ober- und Nieder- LH
Johannisberg 142. 148 f.
v. Jungenfeld l3fl.
Kämpf, Frau G3.
„ Joh. fü 65.
Karl, Erherzog LOS ff. 118.
Karl August, [Gross]Herzog 65. Hilf. L5JL
Katharinc, Grossfürstin 2ü f. 127.
Kehr, Forstschreiber JLL
Klcylc, Joach. 112.
Klostermühle 15.
Koblenz 5Z. 62.
Königstein 51.
v. Krauseneck, W. J. 13tf.
v. Künigl, Graf Hermann 103.
tade, Philippinc L32 ff.
Lahneck £2.
Lahnstein 58.
Lahnreisen 5Z f. 15ü ff.
Langhecke 151.
Langsdorf, E. H. LüZ.
La Roche, Sophie ML Iii.
Lavatcr £0. ff.
Le Bauld de Nans, Cl. 25.
Lehne, Prof. zu Mainz 112.
Lehr, F. A. HS.
v. Leonhard, K. C. 86 ff.
Leopold Friedr. , Prinz von Anhalt-
Dessau 139-
Limburg 5JL 151.
v. Lobcnthal, Fr. L. SIL
Löw von und zu Steinfurth, Ph. 83. 85.
„ „ „ Luise tÜL
v. Luck ß_L 132.
Ludwig. Prinz von Hesscu-Homburg LiilL
13S,
v. Lynckcr 25.
Mainz 51. 65. IILL 138. LLL 112.
v. Malapcrt, F. Ph. W. 21.
Marheineke 86.
v. Marschall, E. F. L. IM f. HZ. 182.
Maultrommel 12.
Mäuseturm 65.
Metternich, Fürst 2IL
Metzler, Geh.-R. 25.
v. Meusebach 155. ,
Mcss, J. J. L5L
v. Motz, K. 156.
Müller, Dr. 86.
Münz L5_L
Murat 116.
Napoleon \4\>. 117.
Nassau, Herzog Friedrich August 62.
101 ff.
Nassau, Fürst Friedr. Willi. 103, IM.
„ Herzogin Luise 101. 103.
„ Fürstin „ LQJL
,. Prinzessin Auguste lül f.
„ „ Henriette IM. LQ5.
„ Stadt 5JL 152.
„ Land 53. (67J 180.
., Kriegsrustungen 115 ff.
v. Natzmer, (W.) 25. (175 f.)
v. Nauendorf, L. 121 f. HS.
Neef, Chr. E. 21.
v. Neufville, J. A. F. W. R. SIL
Neuwied 63.
Niederwald HL
Nonncnmühlc 15.
Not Gottes 112.
Nürnberger Hof Z6. IM.
Obernhof 58. L52 Anm.
Otto, K. Ph. HI ff.
Papiermühle 15.
Pestalozzi IM ff.
v. rfeiffer, F. K. J. 12. Lül.
Piautaz. Frl. 112.
Platte 74, 83.
Bchberg, Frau 121 ff.
Reinhard, Kath. El. 15 f.
Rcuss 25.
Rhein 51. 58. Iii. UitL 113.
Rheinfels 52.
Rheingau HL 112.
Kiese, J. J. 2Ü.
v. Roth 25.
Rüdeshcim 65. HiL HiL
S. Goar 02.
S. Rochusberg L3JL 112.
S. Rochusfest 132 f.
Schierstein LL2.
Schlosser, Chr. 7JL 15. 21 f. 112.
Fritz fiS. ZiL 15. 21. 21 f.
Schmidt, J. Ch. L. 152.
Schreiber 152.
Schwalbach 51. 65.
Schwalbacher Wasser ZI.
Sceligmann, Frau 25.
Selters, Ober- und Nieder- 151.
188
Serviere
„ Pauline üiL 142. L1Ä.
Sindlingen Ü1L
Sonnenberg IL
Stark 14L
v. Stein, Mntter des Ministers 1LL
„ der Minister 104 1Ü3 ff.
„ Frau und Töchter 155.
v. Stein 8JL
„ Christiane 82 ff.
,, Eleonore 12. S2 ff.
„ Friederike 82.
v. Steinberg (Sternberg) 8JL
v. Strauch. II. LLL
Stritt, J. LQIu
v. Swrtnick, A. 13H
Taunus
Ungers 8iL
Vogel LLL
Vollraths 142.
v. Walmoden, Frl. 1£4 ff.
Waterloo KLL 141.
Weilbach 1HL
Weilbacher Wasser I_L
Weilburg 5JL
Wclcker, Fr. G. 8JL
Wenzel 142.
Wcstcrmanii, AI. 151.
v. Wcstphalen. Graf ÜJL
Wetzlar &1
Wiesbaden ä4 ff. f!5 f . fifi f . 1Ü ff. LLL
„ ßadhfiuscr: Adler KL 16 f.
Bär ßa f. lä. Rose L8_L
Schützenhof IS. Schwarzer
Kock fiS. 82. tteidenmauer 12.
„ Anlagen IL. 141. Kalkstein-
brflehe im Mtthlbachthal 12.
lö. LU ff. Kursaal IL 14.
Ül M. Iii LLL Koch-
brunnen 12. Landesbiblio-
thek LLL LUL
Wildfeyr 142.
v. Wildungen, Luise 8Ü f.
v. Willemer, J. J. fifi.
„ Marianne HÜ f.
Willhan, Frl. 82.
Winkel 141 ff.
Wolf, F. A. fifi. 14. 121
v. Wolzogen, W. 12.
Zais, Chr. 12.
Zelter, K. Fr. fifi f. 12. 14 f. üüf. 12JL
IM f. LLL L8L
S. 77j z - 13 des Texten t. o. lies Liefländer,
8. 83, Z. 10 , „ v. u. , Steins st. Stein.
S. IIB, Z. 1«) „ n v. o. streiche in [anderwärts].
Annal. d Vereins f. Nass Altert u Gesch Bd XXVII
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nach Ebhardt,
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zu Seilt- 70
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